[][][][][][][][][[I]]
Das
Leben Jesu,

kritisch bearbeitet


Erster Band.

Mit Königl. Würtembergischem Privilegium gegen den Nachdruck.
Tübingen,:
Verlag von C. F. Osiander.
1835.

[[II]][[III]]

Vorrede.


Dem Verfasser des Werkes, dessen erste Hälfte
hiemit in die Hände des Publikums gelangt, schien es
Zeit zu sein, an die Stelle der veralteten supranatu-
ralen und natürlichen Betrachtungsweise der Ge-
schichte Jesu eine neue zu setzen. Dass sie veral-
tet sei, wird in unsern Tagen von der zweiten eher
als von der ersteren Ansicht zugegeben werden.
Denn während das Interesse an den Wundererklä-
rungen und dem Pragmatismus der Rationalisten
längst erkaltet ist, sind die gelesensten Evangelien-
commentare jezt diejenigen, welche die supranatu-
ralistische Auffassung der heiligen Geschichte für
[IV]Vorrede.
den neueren Geschmack zuzubereiten [wissen]. De[n]-
noch hat sich die orthodoxe Ansicht von dieser G[e]-
schichte in der That schon früher als die rationali-
stische überlebt gehabt, da nur, weil die erstere
der fortschreitenden Bildung nicht mehr genügte,
die leztere ausgebildet wurde; die neueren Versuche
aber, mit Hülfe einer mystischen Philosophie sich
wieder in die supranaturale Anschauungsweise unse-
rer Vorfahren zurückzuversetzen, verrathen schon
durch die gesteigerte Stimmung, in welcher sie sich
halten, dass sie lezte, verzweifelte Unternehmungen
sind, das Vergangene gegenwärtig, das Undenkbare
denkbar zu machen.


Der neue Standpunkt, der an die Stelle der
bezeichneten treten soll, ist der mythische. Er
tritt in gegenwärtigem Buche nicht zum erstenmal
in Berührung mit der evangelischen Geschichte.
Längst hat man ihn auf einzelne Theile derselben
angewendet, und er soll jetzt nur an ihrem ganzen
Verlaufe durchgeführt werden. Das heisst keines-
wegs, dass die ganze Geschichte Jesu für mythisch
[V]Vorrede.
ausgegeben werden soll, sondern nur Alles in ihr
kritisch darauf angesehen, ob es nicht Mythisches
an sich habe. Wenn die altkirchliche Exegese von
der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den
Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens
eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der
Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen weg-
warf, doch nur um desto fester an der ersten zu
halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich
natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf die-
sem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen blei-
ben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung
fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und
wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf histo-
rischem Grund und Boden stehen. Diess ist der na-
türliche Gang der Sache, und insofern die Erschei-
nung eines Werkes wie das gegenwärtige nicht bloss
gerechtfertigt, sondern selbst nothwendig.


Damit ist freilich noch nicht erwiesen, dass ge-
rade der Verfasser desselben Beruf hatte, in dieser
Stellung hervorzutreten. Dessen ist er sich lebhaft
[VI]Vorrede.
bewusst, dass viele Andere ein solches Werk un-
gleich gelehrter auszustatten im Stande gewesen wä-
ren, als er. Doch glaubt er andrerseits wenigstens
Eine Eigenschaft zu besitzen, welche ihn zur Über-
nahme dieses Geschäftes vor Andern befähigte. Den
gelehrtesten und scharfsinnigsten Theologen fehlt in
unsrer Zeit meistens noch das Grunderforderniss ei-
ner solchen Arbeit, ohne welches mit aller Gelehr-
samkeit auf kritischem Gebiete nichts auszurichten
ist: die innere Befreiung des Gemüths und Denkens
von gewissen religiösen und dogmatischen Voraus-
setzungen, und diese ist dem Verfasser durch philo-
sophische Studien frühe zu Theil geworden. Mögen
die Theologen diese Voraussetzungslosigkeit seines
Werkes unchristlich finden: er findet die gläubigen
Voraussetzungen der ihrigen unwissenschaftlich. So
sehr in dieser Hinsicht der Ton dieser Arbeit gegen
den andächtig-erbaulichen oder mystisch-begeister-
ten neuerer Bücher über ähnliche Gegenstände ab-
sticht, so wird man doch nirgends den Ernst der
Wissenschaft vermissen, oder Frivolität finden kön-
[n]en: dass ebenso die Beurtheilungen im wissenschaft-
[VII]Vorrede.
lichen Gebiete sich halten, und nicht Ketzereifer
und Fanatismus einmischen mögen, scheint eine bil-
lige Forderung zu sein.


Den inneren Kern des christlichen Glaubens
weiss der Verfasser von seinen kritischen Untersu-
chungen völlig unabhängig. Christi übernatürliche
Geburt, seine Wunder, seine Auferstehung und
Himmelfahrt, bleiben ewige Wahrheiten, so sehr ihre
Wirklichkeit als historischer Fakta angezweifelt wer-
den mag. Nur die Gewissheit davon kann unsrer Kritik
Ruhe und Würde geben, und sie von der naturali-
stischen voriger Jahrhunderte unterscheiden, welche
mit dem geschichtlichen Faktum auch die religiöse
Wahrheit umzustürzen meinte, und daher nothwen-
dig frivol sich verhalten musste. Den dogmatischen
Gehalt des Lebens Jesu wird eine Abhandlung am
Schlusse des Werkes als unversehrt aufzeigen: in-
zwischen möge die Ruhe und Kaltblütigkeit, mit wel-
cher im Verlaufe desselben die Kritik scheinbar ge-
fährliche Operationen vornimmt, eben nur aus der
Sicherheit der Überzeugung erklärt werden, dass al-
[VIII]Vorrede.
les das den christlichen Glauben nicht verlezt. Dess-
wegen könnten übrigens doch durch Untersuchungen
dieser Art Individuen in ihrem Glauben sich verlezt
finden. Sollte diess bei Theologen der Fall sein,
so haben diese in ihrer Wissenschaft das Heilmittel
für dergleichen Verwundungen, welche ihnen, sofern
sie hinter der Entwicklung unsrer Zeit nicht zurück-
bleiben wollen, unmöglich zu ersparen sind; für
Nichttheologen allerdings ist die Sache noch nicht
gehörig vorbereitet, und desswegen die gegenwärtige
Schrift so eingerichtet worden, dass wenigstens die
Ungelehrten unter denselben bald und oft zu merken
bekommen, die Schrift sei nicht für sie bestimmt,
und, lassen sie aus Fürwiz oder Verketzerungssucht
sich dessenungeachtet mit derselben ein, so tragen
sie dann doch, wie Schleiermacher bei ähnlicher
Gelegenheit sagt, die Strafe in ihrem Gewissen mit
sich, indem sich ihnen das Gefühl recht aufdringt,
dass sie das nicht verstehen, worüber sie doch reden
möchten.


Einer neuen Ansicht, die sich an die Stelle von
[IX]Vorrede.
älteren setzen will, gebührt es, sich mit diesen voll-
ständig auseinanderzusetzen. Daher ist hier der
Weg zur mythischen Ansicht für jeden einzelnen
Punkt durch die supranaturalistische und rationali-
stische und deren respektive Widerlegung genommen
worden, so jedoch, dass, wie es der ächten Wider-
legung geziemt, aus den bekämpften Ansichten ihr
Wahres anerkennend herausgezogen, und dem neuen
Standpunkt einverleibt wurde. Hiedurch ist zugleich
der äussere Vortheil erreicht worden, dass das Werk
nun als Repertorium der vornehmsten Ansichten und
Verhandlungen über alle Theile der evangelischen
Geschichte dienen kann. Dabei ist jedoch keines-
wegs Vollständigkeit der Literatur angestrebt, son-
dern, wo es sich thun liess, an den Hauptwerken
der verschiedenen Richtungen festgehalten worden.
Für die rationalistische Richtung bleiben die Paulus'-
schen Schriften classisch, und sind daher vorzugs-
weise berücksichtigt; für die orthodoxe war der Com-
mentar von Olshausen besonders wichtig, als der
neueste und beliebteste Versuch, die wundergläubige
Auslegung philosophisch und modern zu machen;
[X]Vorrede
für eine kritische Bearbeitung des Lebens Jesu aber
sind die Commentare von Fritzsche die trefflichste
Vorarbeit, indem sie neben der ungemeinen phi-
lologischen Gelehrsamkeit zugleich diejenige Un-
befangenheit und wissenschaftliche Gleichgültigkeit
gegen Resultate und Consequenzen zeigen, welche
die erste Bedingung eines Fortschritts auf diesem
Gebiete ist.


Der zweite Band, welcher mit einer ausführ-
lichen Untersuchung über die Wunder Jesu sich
eröffnen, und das ganze Werk schliessen wird, ist
bereits ausgearbeitet, und kommt mit der Vollen-
dung dieses ersten unter die Presse.


Tübingen den 24. Mai. 1835.


Der Verfasser.


[[XI]]

Inhalt des ersten Bandes.


  • Seite
  • Einleitung. Die Genesis des mythischen Stand-
    punkts für die evangelische Geschichte
    1—76
  • §. 1. Nothwendige Ausbildung verschiedener Erklärungs-
    weisen heiliger Geschichten 1
  • §. 2. Verschiedene Deutungen der Göttersagen bei den
    Griechen 3
  • §. 3. Allegorische Auslegung bei den Hebräern. Philo 4
  • §. 4. Die allegorische Auslegung unter den Christen.
    Origenes 6
  • §. 5. Wie die Naturalisten des 17ten und 18ten Jahr-
    hunderts die heilige Geschichte auffassten. Der
    Wolfenbüttelsche Fragmentist 11
  • §. 6. Die natürliche Erklärungsart der Rationalisten.
    Eichhorn. Paulus15
  • §. 7. Kant's moralische Interpretation 25
  • §. 8. Entstehung der mythischen Auffassungsweise der
    heiligen Geschichte, zunächst in Bezug auf das A. T. 27
  • §. 9. Die mythische Erklärungsweise in ihrer Anwen-
    dung auf das N. T. 38
  • §. 10. Der Begriff des Mythus in seiner Anwendung auf
    die heilige Geschichte von den Theologen nicht
    rein gefasst 41
  • §. 11. Der Begriff des Mythus nicht umfassend genug
    angewendet 46
  • §. 12. Bestreitung und Vertheidigung der mythischen An-
    sicht von der evangelischen Geschichte 51
  • Seite
  • Erster Abschnitt. Geschichte der Geburt und
    Kindheit Jesu
    77—306
  • Erstes Kapitel. Verkündigung und Ge-
    burt des Täufers
    79—104
  • §. 13. Die Erzählung des Lukas und deren unmittelbare,
    supranaturalistische Auffassung 79
  • §. 14. Die natürliche Deutung der Erzählung 89
  • §. 15. Die mythische Ansicht von der Erzählung auf ver-
    schiedenen Stufen 97
  • Zweites Kapitel. Jesu Davidische Ab-
    kunft nach zwei Stammbäumen
    105—128
  • §. 16. Die beiden Genealogieen Jesu ohne Bezug auf einan-
    der betrachtet 105
  • §. 17. Vergleichung beider Genealogieen. Versuche, ihren
    Widerstreit zu lösen 115
  • §. 18 Die Genealogieen unhistorisch 126
  • Drittes Kapitel. Verkündigung der Em-
    pfängniss Jesu; Benehmen Josephs;
    Besuch der Maria bei Elisabet
    129—197
  • §. 19. Abriss der verschiedenen, kanonischen und apo-
    kryphischen Berichte 129
  • §. 20. Abweichung der beiden kanonischen Evangelien in
    Bezug auf das Formelle der Verkündigung 133
  • §. 21. Inhalt der Engelsbotschaft. Erfüllung der Weissa-
    gung des Jesaias 143
  • §. 22. Jesus durch den heiligen Geist erzeugt. Kritik der
    orthodoxen Ansicht 151
  • §. 23. Rückblick auf die Genealogieen 156
  • §. 24. Die natürliche Erklärung der Empfängnissgeschichte 166
  • §. 25. Die Geschichte der Erzeugung Jesu als Mythus 173
  • §. 26. Verhältniss Josephs zu Maria. Brüder Jesu 180
  • §. 27. Besuch Maria's bei Elisabet 191
  • Viertes Kapitel. Geburt und erste
    Schicksale Jesu
    198—278
  • §. 28. Die Schatzung 198
  • Seite
  • §. 29. Nähere Umstände der Geburt Jesu, sammt der Be-
    schneidung 208
  • §. 30. Die Magier und ihr Stern, die Flucht nach Ägyp-
    ten und der bethlehemitische Kindermord. Kritik
    der supranaturalistischen Ansicht 220
  • §. 31. Versuche natürlicher Erklärungen für die Geschich-
    te von den Magiern. Übergang zur mythischen
    Auff[as]sung 236
  • §. 32. Die Erzählung von den Magiern und was damit zu-
    sammenhängt, rein mythisch 243
  • §. 33. Chronologisches Verhältniss des Besuchs der Magier
    sammt der Flucht nach Ägypten bei Matthäus zu
    der Darstellung im Tempel bei Lukas 254
  • §. 34. Die Darstellung Jesu im Tempel 259
  • §. 35. Rückblick. Differenz zwischen Matthäus und Lukas
    in Bezug auf den ursprünglichen Wohnort der
    Eltern Jesu 265
  • Fünftes Kapitel. Der erste Tempelbe-
    such und die Bildung Jesu
    279—306
  • §. 36. Der 12jährige Jesus im Tempel. Schwierigkeiten
    der geschichtlichen Auffassung 279
  • §. 37. Auch dieses Stück noch mythisch 288
  • §. 38. Über die äussere Existenz Jesu bis zu seinem öf-
    fentlichen Auftritt 294
  • §. 39. Jesu geistige Ausbildung 298
  • Zweiter Abschnitt. Geschichte des öffent-
    lichen Lebens Jesu
    307 ——.
  • Erstes Kapitel. Das Verhältniss Jesu zum
    Täufer Johannes
    309—368
  • §. 40. Chronologisches Verhältniss zwischen Johannes und
    Jesus 309
  • §. 41. Persönliches und reales Verhältniss des Täufers
    zu Jesu 319
  • §. 42. War Jesus von Johannes als Messias anerkannt? Wi-
    dersprechende Angaben hierüber 331
  • Seite
  • §. 43. Urtheil der Evangelisten und Jesu über den Täu-
    fer, nebst dessen angeblicher Selbstbeurtheilung.
    Resultat über das Verhältniss beider Männer 355
  • §. 44. Die Hinrichtung des Täufers Johannes 364
  • Zweites Kapitel. Taufe und Versuchung
    Jesu
    369—428
  • §. 45. Warum hat Jesus sich von Johannes taufen lassen? 369
  • §. 46. Die Vorfälle bei der Taufe Jesu als übernatürliche
    und als natürliche aufgefasst 374
  • §. 47. Versuche einer Kritik der Berichte. Mythische Auf-
    fassung derselben 381
  • §. 48. Verhältniss des Übernatürlichen bei der Taufe Jesu
    zu dem Übernatürlichen bei seiner Erzeugung 391
  • §. 49. Ort und Zeit der Versuchung Jesu. Abweichungen
    der Evangelisten in Darstellung derselben 396
  • §. 50. Die Versuchungsgeschichte im Sinne der Evange-
    listen aufgefasst 403
  • §. 51. Die Versuchungsgeschichte als innerer, oder als
    äusserer natürlicher Vorgang; dieselbe als Parabel 410
  • §. 52. Die Versuchungsgeschichte als Mythus 417
  • Drittes Kapitel. Lokal und Chronologie
    des öffentlichen Lebens Jesu
    429—462
  • §. 53. Differenz zwischen den Synoptikern und Johannes
    über den gewöhnlichen Schauplaz der Thätigkeit Jesu 429
  • §. 54. Der Wohnsiz Jesu in Kapernaum 445
  • §. 55. Abweichung der Evangelisten in Bezug auf die Chro-
    nologie des Lebens Jesu. Dauer seiner öffentlichen
    Wirksamkeit 453
  • §. 56. Die Versuche einer chronologischen Anordnung der
    einzelnen Begebenheiten des öffentlichen Lebens Jesu 458
  • Viertes Kapitel. Jesus als Messias463—519
  • §. 57. Jesus ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου 463
  • §. 58. Wie bald Jesus sich als Messias gefasst, und bei
    Andern als solcher Anerkennung gefunden habe 469
  • §. 59. Jesus als ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ 478
  • §. 60. Jesu Sendung und Vollmacht; seine Präexistenz 482
  • Seite
  • §. 61. Der messianische Plan Jesu. Politische Seite 487
  • §. 62. Data für einen rein geistigen Messiasplan Jesu.
    Ausgleichung 491
  • §. 63. Verhältniss Jesu zum mosaischen Gesez 494
  • §. 64. Umfang des messianischen Plans Jesu. Verhältniss
    zu den Heiden 502
  • §. 65. Verhältniss das messianischen Plans Jesu zu den
    Samaritanern. Sein Zusammentreffen mit der sa-
    maritanischen Frau 507
  • Fünftes Kapitel. Die Jünger Jesu520—568
  • §. 66. Die Berufung der ersten Begleiter. Differenz zwi-
    schen den beiden ersten Evangelien und dem vierten 520
  • §. 67. Der Fischzug des Petrus 532
  • §. 68. Berufung des Matthäus. Gemeinschaft Jesu mit den
    Zöllnern 541
  • §. 69. Die zwölf Apostel 548
  • §. 70. Die Zwölfe einzeln betrachtet. Die drei oder vier
    vertrautesten Jünger Jesu 553
  • §. 71. Die übrigen von den Zwölfen und die siebenzig Jünger 563
  • Sechstes Kapitel. Reden Jesu in den
    drei ersten Evangelien
    569—630
  • §. 72. Die Bergrede 569
  • §. 73. Instruction der Zwölfe. Klage über die galiläischen
    Städte. Freude über die Berufung der Einfältigen 587
  • §. 74. Die Parabeln 593
  • §. 75. Vermischte Lehr- und Streitreden Jesu 613
  • Siebentes Kapitel. Reden Jesu im vier-
    ten Evangelium
    631—676
  • §. 76. Die Unterredung Jesu mit Nikodemus 631
  • §. 77. Die Reden Jesu Joh. 5—12. 645
  • §. 78. Einzelne, dem vierten Evangelium mit den übrigen
    gemeinsame Aussprüche Jesu 657
  • §. 79. Die neueren Verhandlungen über die Glaubwürdig-
    keit der johanneischen Reden. Resultat 664
  • Seite
  • Achtes Kapitel. Begebenheiten aus dem
    öffentlichen Leben Jesu
    (mit Aus-
    schluss der Wundergeschichten)
    677—731
  • §. 80. Vergleichung der Erzählungsweise der verschiede-
    nen Evangelisten im Allgemeinen 677
  • §. 81. Einzelne Anekdotengruppen. Beschuldigung eines
    Bundes mit Beelzebul und Zeichenforderung 686
  • §. 82. Besuch der Mutter und der Brüder Jesu und die
    seligpreisende Frau 692
  • §. 83. Die Erzählungen von Rangstreitigkeiten unter den
    Jüngern und von Jesu Liebe zu den Kindern 696
  • §. 84. Die Tempelreinigung 702
  • §. 85. Die Erzählungen von der Salbung Jesu durch ein Weib 709
  • §. 86. Die Erzählungen von der Ehebrecherin und von
    Maria und Martha 723
[[1]]

Einleitung.
Die Genesis des mythischen Standpunktes
für die evangelische Geschichte.


§. 1.
Nothwendige Ausbildung verschiedener Erklärungsweisen
heiliger Geschichten.


Wo immer eine auf schriftliche Denkmale sich stützen-
de Religion in weiteren Raum- und Zeitgebieten sich gel-
tend macht, und ihre Bekenner durch mannigfaltige und
immer höher steigende Entwickelungs- und Bildungsstufen
begleitet: da thut sich früher oder später eine Differenz
hervor zwischen Geist und Form jener alten Urkunden und
zwischen der neuen Bildung derer, welche an dieselben
als an heilige Bücher gewiesen sind. Diese Differenz kann
bald mehr nur das Unwesentliche und Formelle betreffen,
daſs Ausdruck und Darstellung in jenen Schriften der Sa-
che unangemessen gefunden werden; bald aber tritt sie
selbst an den wesentlichen Inhalt heran, und es wollen auch
die Ideen und Grundansichten solcher Bücher der fortge-
schrittenen Bildung nicht mehr genügen. So lange diese
Differenzen entweder nicht so bedeutend sind, oder nicht
so allgemein zum Bewuſstsein kommen, um eine völlige
Lossagung von jenen Urkunden, als heiligen, herbeizufüh-
ren: so lange muſs unter denen, welche sich derselben
heller oder dunkler bewuſst geworden sind, ein Vermitt-
lungsproceſs entstehen und sich erhalten, [welcher] in der
Auslegung jener Bücher vor sich gehen wird.


Das Leben Jesu I. Band. 1
[2]Einleitung. §. 1.

Ein Hauptbestand[t]heil aller Religionsurkunden ist hei-
lige Geschichte, ein Geschehen, in welchem das Göttliche
unvermittelt in das Menschliche hereintritt, die Ideen un-
mittelbar sich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung über-
haupt Vermittlung ist: so wird die fortschreitende Bildung
der Völker auch der Vermittlungen immer deutlicher sich
bewuſst, welche die Idee zu ihrer Verwirklichung bedarf,
und so erscheint jene Differenz der neuen Bildung und der
alten Religionsurkunden in Bezug auf deren geschichtarti-
gen Theil namentlich so, daſs jenes unmittelbare Eingrei-
fen des Göttlichen in das Menschliche seine Wahrschein-
lichkeit verliert. Wozu, da das Menschliche jener Urkun-
den ein Menschliches der Vorzeit, also ein relativ unent-
wickeltes, nach Umständen selbst rohes ist, auch ein un-
behagliches Sichabwenden von diesem insbesondere sich ge-
sellen kann. Das Göttliche kann nicht so (theils
überhaupt unmittelbar, theils noch dazu roh) geschehen
sein
, oder das so Geschehene kann nicht Gött-
liches gewesen sein
— so wird die Differenz sich
aussprechen, und wenn die Auslegung dieselbe zu vermit-
teln sucht, so wird sie dahin streben, entweder das Gött-
liche als nicht so Geschehenes darzustellen, also den alten
Urkunden die historische Geltung abzusprechen, oder das
Geschehene als so nicht Göttliches aufzuweisen, also aus
jenen Büchern den absoluten Inhalt hinwegzuerklären. In
beiden Fällen kann die Auslegung befangen oder unbefangen
zu Werke gehen: befangen, wenn sie gegen das Bewuſst-
sein der Differenz zwischen der neuen Bildung und der al-
ten Urkunde sich verblendet, und nur den ursprünglichen
Sinn der letzteren zu ermitteln sich einbildet; unbefangen,
wenn sie klar erkennt und offen eingesteht, daſs sie das,
was jene alten Schriftsteller erzählen, anders ansieht, als
diese selbst es angesehen haben. Dieser letztere Stand-
punkt ist jedoch keineswegs schon ein Sichlossagen von den
alten Religionsschriften, sondern es kann auch hier noch
[3]Einleitung. §. 2.
bei Festhaltung des Wesentlichen das Unwesentliche un-
gescheut preiſsgegeben werden.


§. 2.
Verschiedene Deutungen der Göttersagen bei den Griechen.


Man kann nicht sagen, daſs die hellenische Religion
auf schriftlichen Urkunden beruht habe, aber sie hatte doch
dergleichen z. B. in Homer und Hesiod, und wie diese, so hat
auch ihre mündliche Göttersage bei fortschreitender Bil-
dung des griechischen Volkes jene verschiedenen Deutun-
gen erfahren müssen. Der ernsten griechischen Philosophie
gieng frühzeitig das Bewuſstsein auf, daſs das Göttliche
sich nicht in solcher menschlichen Unmittelbarkeit und
Roheit verwirklichen könne, wie die wilden Kämpfe der
hesiodischen Theogonie und das behagliche Treiben der
homerischen Götter es darstellten; daher Plato's Zwist mit
Homer 1), daher, daſs Anaxagoras, dem man wohl auch
die Erfindung der allegorischen Auslegung zuschrieb, die
homerischen Gedichte auf die ἀρετὴ und δικαιοσύνη be-
zog 2), daſs die Stoiker die hesiodische Theogonie von dem
Proceſs der Naturprinzipien verstanden, deren oberste Ein-
heit ihnen das Göttliche war 3), womit diese Philosophen
zwar einen absoluten Inhalt, jeder nach seiner Weise, der
Eine einen physischen, der Andere einen ethischen, in je-
nen Darstellungen fanden, aber die Form derselben, als ei-
ner menschlichen Geschichte, aufhoben. Umgekehrt war
der mehr populären, sophistisch-räsonnirenden Bildung An-
derer, wie ihnen jeder göttliche Inhalt überhaupt sich ver-
flüchtigt hatte, so auch in Bezug auf die Göttergeschichten
zum Bewuſstsein gekommen, daſs ein solches Treiben, wie
es hier den Göttern zugeschrieben wurde, kein göttliches
1*
[4]Einleitung. §. 3.
sei; sie lieſsen also jene Erzählungen zwar als wirkliche
Geschichte gelten, nur machten sie mit Euemerus 4) die
Subjecte derselben aus Göttern zu Menschen, zu Helden
und Weisen der Vorzeit, zu alten Königen und Tyrannen,
welche durch Thaten der Kraft und Gewalt sich göttliche
Ehre zu Wege gebracht haben; wenn man nicht gar mit
einem Polybius 5) die ganze Götterlehre als eine von den
Gründern der Staaten zur Bändigung des Volks ersonnene
Fabel betrachtete.


§. 3.
Allegorische Auslegung bei den Hebräern. Philo.


Die Stabilität des hebräischen Volkes, sein starres
Festhalten am supranaturalistischen Standpunkt, muſste
zwar bei ihm die Entstehung ähnlicher Erscheinungen ei-
nerseits beschränken, andrerseits aber muſsten diese,
wo sie einmal sich zeigten, nur um so markirter her-
vortreten, je entschiedener die Geltung der schriftlichen
Religionsurkunden war, je behutsamer und kunstgerechter
man also bei ihrer Deutung verfahren muſste. Daher ent-
wickelten sich selbst in Palästina, in der nachexilischen,
und noch mehr in der nachmaccabäischen Zeit allmählig
manche Kunstgriffe in der Auslegung des alten Testaments,
durch welche es möglich wurde, Anstöſse, die man in dem-
selben fand, zu beseitigen, Lücken zu ergänzen, und
neuere Ideen hineinzutragen, eine Auslegungsweise, von
welcher die Beispiele in den rabbinischen und selbst in den
neutestamentlichen Schriften sich finden 1); aber zusam-
menhängend, namentlich in Bezug auf den historischen
Inhalt des A. T., wurde eine solche Interpretationsmethode
erst an demjenigen Orte ausgebildet, wo am entschieden-
[5]Einleitung. §. 3.
sten die jüdische Bildung, durch Berührung namentlich
mit der griechischen, über sich selbst hinausgegangen war,
in Alexandrien. Nach mehreren Vorgängern war es be-
sonders Philo, welcher die Ansicht von einem gemeinen
und einem tieferen Sinne der heiligen Schriften ausbildete,
von welchen er den ersteren zwar keineswegs überhaupt
verworfen wissen wollte, sondern groſsentheils beide ne-
beneinander hergehen lieſs: in vielen Fällen jedoch den
buchstäblichen Sinn und die geschichtliche Auffassung völ-
lig bei Seite setzte, und das Erzählte nur als bildliche
Darstellung von Ideen gelten lieſs, namentlich so oft in der
heiligen Geschichte sich Züge fanden, welche Gottes un-
würdig zu sein, auf Materialismus und Anthropomorphis-
mus in Bezug auf das göttliche Wesen zu führen schie-
nen 2). Daſs sich neben dieser Erklärungsweise des A. T.,
welche, um die Reinheit des absoluten Inhalts zu retten,
nicht selten die Form des historischen Geschehenseins auf-
gab, nicht auch die entgegengesetzte (euemeristische) aus-
bildete, die Geschichte zwar stehen zu lassen, aber sie zu
einer gemein-menschlichen zu entgöttern, erklärt sich aus
dem supranaturalistischen Standpunkt, welchen die Juden
immer festgehalten haben. Erst von den Christen ist auch
diese Art der Auslegung über die Bücher des A. T. ver-
hängt worden 3).


[6]Einleitung. §. 4.

§. 4.
Die allegorische Auslegung unter den Christen. Origenes.


Den Christen der ersten Zeit, welche vor der Fest-
stellung des christlichen Kanon sich vorwiegend noch des
A. T. als heiliger Urkunde bedienten, war eine allegori-
sche Auslegung desselben noch weit mehr Bedürfniſs, da
[s]ie entschiedener als selbst die gebildetsten Juden über den
A. T. lichen Standpunkt hinausgeschritten waren. Kein
Wunder, daſs man fast allgemein in der ersten christli-
chen Kirche diese, schon unter den Juden übliche Ausle-
gungsweise adoptirte. Am meisten aber bildete sie sich
auch unter den Christen wieder in Alexandrien aus, wo
sie vornehmlich an den Namen des Origenes geknüpft
erscheint. Wenn Origenes überhaupt nach seiner anthro-
pologischen Trichotomie der Schrift einen dreifachen Sinn
zuschrieb, einen buchstäblichen als den leiblichen, einen
moralischen als den psychischen und einen mystischen als
den pneumatischen 1): so läſst er in der Regel zwar alle
drei Arten des Sinnes nebeneinander stattfinden, in einzel-
nen Fällen aber soll die buchstäbliche Auffassung auch gar
keinen oder nur einen verkehrten Sinn geben, um nur de-
sto entschiedener den Leser zur Entdeckung des mystischen
Gehaltes hinzutreiben 2). Namentlich in Bezug auf den
geschichtlichen Inhalt des A. T. glaubt Origenes mit Phi-
lo auf manche σκάνδαλα und προσκόμματα zu stoſsen, auf
Erzählungen von Begebenheiten, welche so nicht gesche-
hen, auf Gesetze und Verordnungen, welche so nicht ge-
geben sein konnten 3). Nicht selten erinnert er bei
[7]Einleitung. §. 4.
biblischen Erzählungen, daſs durch dieselben uns nicht
alte Mähren berichtet, sondern Anweisung, recht zu leben,
ertheilt werden solle 4); stumpfsinnig müſste nach ihm
sein, wer nicht von selbst bemerkte, daſs Vieles in der
Schrift als geschehen dargestellt sich finde, was nicht wirk-
lich so sich ereignet habe 5); ja Manches, buchstäblich
aufgefaſst, könnte ihm zufolge nur zum Ruin der christli-
chen Religion dienen 6), weſswegen er den Spruch: der
Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig — auf den
Unterschied der buchstäblichen und der allegorischen Schrift-
auslegung bezieht 7). Zu solchen, nur allegorisch zu ver-
stehenden Erzählungen rechnete Origenes ausser denjeni-
gen, welche Gott zu sehr zu vermenschlichen schienen 8),
namentlich auch solche, in welchen von Personen, die sonst
in ein genaues Verhältniſs zu Gott gesezt waren, anstössi-
ge Handlungen berichtet wurden 9).


Doch nicht allein vom A. T. wich die christliche Bil-
dung des Origenes so weit ab, daſs er, um die Achtung
3)
[8]Einleitung. §. 4.
vor demselben nicht aufgeben zu müssen, durch eine alle-
gorische Erklärung den dadurch in seinem Bewuſstsein ge-
sezten Widerspruch zu lösen genöthigt war: sondern auch
im neuen Testamente fand er manches, seiner philosophi-
schen Bildung so wenig Zusagende, daſs er zu einem ähn-
lichen Verfahren auch mit dem N. T. sich veranlaſst fand.
Ist doch, dachte er, das N. T. Werk desselben Geistes, wie
das alte, und dieser wird bei der Einrichtung von jenem
nicht anders als bei der von diesem verfahren sein, dem
buchstäblich Geschehenen Nichtgeschehenes einzuweben, um
auf den geistigen Sinn hinzuweisen 10). Ja selbst mit
theilweise fabelhaften Erzählungen aus der profanen Ge-
schichte und Mythologie stellt Origenes die evangelischen
Berichte nicht undeutlich zusammen in der merkwürdigen
Stelle, contra Celsum 1, 42., wo er sich folgendermaſsen
äussert: „Fast bei jeder Geschichte, so wahr sie auch sein
mag, ist es eine schwere, ja nicht selten unlösbare Auf-
gabe, sie als wirklich geschehen zu erweisen. Gesezt näm-
lich, es läugnete Einer, daſs es einen trojischen Krieg ge-
geben habe, namentlich wegen der in seine Geschichte ver-
webten Unmöglichkeiten, wie die Geburt des Achilleus von
einer Meergöttin u. dgl. — wie wollten wir die Wirklich-
keit desselben beweisen, besonders, gedrängt, wie wir
wären, durch die offenbaren Erdichtungen, welche sich
auf unbekannte Weise mit der allgemein angenommenen
Kunde von dem Kampf zwischen Hellenen und Trojern
verwoben haben? Nur dieſs bleibt übrig: wer mit Ver-
stand die Geschichte studiren und sich von Täuschungen
[9]Einleitung. §. 4.
in derselben frei erhalten will, der wird überlegen, wel-
chem Theile derselben er ohne Weiteres glauben dürfe,
welchen er dagegen blos bildlich auf[z]ufassen habe (τίτα
δὲ τροπολογήσει
), mit Rücksicht auf die Absicht der Refe-
renten, und welchem er endlich, als aus Menschengefäl-
ligkeit geschrieben, ganz misstrauen müsste. Diese Vorbe-
merkung wollte ich, schlieſst Origenes, in Bezug auf die
ganze in den Evangelien gegebene Geschichte Jesu ma-
chen, nicht um zu blindem und grundlosem Glauben die
Einsichtsvolleren aufzufordern, sondern um zu zeigen,
daſs zum Studium dieser Geschichte Verstand und fleissige
Prüfung nöthig ist, und so zu sagen ein Eindringen in
den Sinn der Schriftsteller, um ausfindig zu machen, in
welcher Absicht ein Jedes von ihnen geschrieben sei.“ —
Man sieht, hier ist Origenes beinahe über seinen sonsti-
gen allegorischen Standpunkt hinaus auf den neueren my-
thischen übergegangen 11). That nun aber schon in Bezug
auf das A. T. Origenes, um Anstoſs in der orthodoxen
Kirche zu vermeiden, sich die offenbare Gewalt an, daſs
er von mancher Erzählung, deren buchstäbliche Geltung
er für sich gewiss verwarf, diese doch nicht ausdrücklich
umstieſs, sondern sich begnügte, neben die buchstäbliche
Deutung eine geistige zu stellen: so fand er es noch mehr
beim N. T. gerathen, zurückzuhalten, und die Proben
fallen daher äusserst kärglich aus, wenn man nun fragt,
von welchen Erzählungen des N. T.s Origenes die geschicht-
liche Wirklichkeit geläugnet habe, um die gotteswürdige
Wahrheit festzuhalten. Denn was er im Verlauf der an-
geführten Stelle beispielsweise anführt, buchstäblich lasse
sich unter Andrem das nicht verstehen, daſs der Satan dem
Herrn auf einem Berge alle Reiche der Welt gezeigt ha-
be, da dieſs für ein leibliches Auge unmöglich sei: das
[10]Einleitung. §. 4.
giebt eigentlich keine allegorische Erklärung, sondern nur
eine andere Wendung des buchstäblichen Sinnes, welcher,
statt von einem äusseren, von dem innern Factum einer Vi-
sion handeln soll. Auch sonst, selbst wo die lockendste
Veranlassung war, den buchstäblichen Sinn gegen einen
geistigen aufzuopfern, wie z. B. bei der Verfluchung des
Feigenbaums 12), geht Origenes nicht frei mit der Spra-
che heraus; am meisten noch bei der Geschichte von der
Tempelreinigung, wo er das Verfahren Jesu, buchstäblich
gefaſst, als anmaſsend und tumultuarisch bezeichnet 13).
Daſs es demunerachtet sehr Vieles war, an dessen ge-
schichtlicher Auffassung Origenes verzweifelte, verräth er
indirect durch die anscheinend sonderbare Wahl der Bei-
spiele, wo es darauf ankam, zu zeigen, daſs er keines-
wegs überall die Realität der Historie aufzugeben gemeint
sei; indem er hier nichts Besseres anzuführen weiſs, als,
historisch bleibe doch immer, daſs Abraham, Isaak und
Jakob in der doppelten Höhle bei Hebron begraben wor-
den, daſs Joseph Sichem zum Antheil bekommen, daſs
Jerusalem die Hauptstadt von Judäa sei, in welcher Sa-
lomo einen Tempel gebaut habe u. dgl. 14). Gewiſs, Ori-
genes würde sich nicht auf Anführung solcher statistischen
Grunddata beschränkt haben, wenn ihm nicht die speciel-
leren historischen Facta mehr oder minder wankend ge-
wesen wären; ob er gleich hinzusezt, daſs des historisch
Wahren in der Schrift immer noch weit mehr sei, als
des blos geistig zu Verstehenden 15).


Bei dem fast allgemeinen Eingang, welchen die allego-
rische Auslegung sofort in der Kirche fand, wurde nun
[11]Einleitung. §. 5.
gerade dasjenige, was den interessantesten Punkt in der
Schrifterklärung des [frühe[r]] verketzerten Origenes bildete,
aufgegeben, daſs er nämlich, um im N. T. allenthalben
göttlichen Inhalt in seinem Sinne finden zu können, die ge-
schichtliche Form in manchen Fällen auflösen zu müssen
glaubte, und es findet sich etwas Aehnliches eigentlich nur
bei einigen gnostischen Parteien, welche gewisse Begeben-
heiten im Leben Jesu nicht als wirkliche, sondern nur als
scheinbare Vorgänge betrachteten, durch welche übersinn-
liche Thatsachen und Ideen haben vorgebildet werden sollen.


§. 5.
Wie die Naturalisten des 17. und 18. Jahrhunderts die heilige Ge-
schichte auffassten. Der Wolfenbüttelsche Fragmentist.


Hatte sich in der beschriebenen Weise die Eine der
Auslegungsarten entwickelt, welche bei fortrückender Bil-
dung, wie alle Religionsurkunden überhaupt, so auch die
christlichen in Bezug auf ihren geschichtlichen Theil erfah-
ren muſsten, diejenige nämlich, welche das Göttliche in
denselben anerkennt, aber das leugnet, daſs es sich in die-
ser unmittelbaren Weise geschichtlich verwirklicht habe:
so bildete sich die andere Hauptform der Auslegung, wel-
che eher geneigt ist, den geschichtlichen Hergang zuzuge-
ben, nur aber denselben nicht als einen göttlichen, sondern
als einen menschlichen faſst, zunächst bei den Gegnern des
Christenthums, einem Celsus, Porphyrius, Julianus aus,
welche zwar viele Erzählungen der heiligen Geschichte als
blose Mährchen verwarfen, Manches jedoch, was von Mo-
ses, Jesus u. A. erzählt ist, als geschichtlich stehen lies-
sen, nur daſs sie es meistens als entsprungen aus gemeinen
Beweggründen und bewerkstelligt durch groben Betrug oder
gottlose Zauberei erklärten. Dergleichen Ansichten blieben
jedoch nicht für immer ausserhalb der christlichen Kirche
stehen, sondern mit der anbrechenden Aufklärung der
neueren Zeit drangen sie unaufhaltsam in diese selber ein.
[12]Einleitung. §. 5.
Bei den englischen Deisten und Naturalisten im siebzehn-
ten und achtzehnten Jahrhundert vorzüglich giengen B[e]-
streitung der Ächtheit und Glaubwürdigkeit der Bibel und
Herabwürdigung der darin erzählten Thatsachen zum Ge-
meinen bunt durcheinander. Während Toland1), Boling-
broke
2) u. A. die Bibel für eine Sammlung unächter und fabel-
hafter Bücher erklärten, gaben sich Andere alle Mühe,
die biblischen Personen und Geschichten jedes Schimmers
von höherem göttlichem Lichte zu berauben. So ist nach
Morgan3) das Gesez des Moses ein elendes System des
Aberglaubens, der Blindheit und Sclaverei, die jüdischen
Priester Betrüger, die Propheten Urheber der Zerrüttung
und der Bürgerkriege in den beiden Königreichen. Die
jüdische Religion kann nach Chubb4) unmöglich eine von
Gott geoffenbarte sein; dessen moralischer Charakter in
ihr nur entstellt ist durch die willkührlichen Gebräuche,
die sie ihn vorschreiben läſst, durch seine vorgegebene
Parteilichkeit für das jüdische Volk, und vor Allem durch
den blutigen Befehl zur Ausrottung der kanaanitischen
Völkerschaften. Auch gegen das N. T. wurden von diesen
und andern Deisten Streifzüge unternommen, der Charak-
ter der Apostel als eigennützig und gewinnsüchtig ver-
dächtigt 5), selbst der Charakter Jesu nicht geschont 6),
und namentlich die Auferstehung desselben geläugnet 7).
Das unmittelbarste Einschlagen des Göttlichen in das Mensch-
[13]Einleitung. §. 5.
liche im Leben Jesu, seine Wunder, machte besonders
Thomas Woolston zum Gegenstand seiner Angriffe 8),
ein Mann, der auch durch die eigenthümliche Stellung noch
besonders bemerkenswerth ist, welche er sich zwischen
der alten allegorischen und der neuen naturalistischen
Schrifterklärung giebt. Seine ganze Darstellung nämlich
bewegt sich in der Alternative: wolle man die Wunder-
erzählungen als wirkliche Geschichte festhalten, so verlie-
ren sie allen göttlichen Gehalt, und sinken zu ungereimten
Streichen, elenden Possen, oder gemeinen Betrügereien
herunter: wolle man daher das Göttliche in diesen Erzäh-
lungen nicht verlieren, so müsse man mit Aufopferung ih-
res geschichtlichen Charakters sie nur als geschichtartige
Darstellungen gewisser geistlichen Wahrheiten fassen, wo-
für sofort die Auctoritäten der gröſsten Allegoristen unter
den Kirchenvätern, eines Origenes, Augustinus u. A. ange-
führt werden, so jedoch, daſs ihnen Woolston die Meinung
unterstellt, als wollten sie, wie er, durch die allegori-
sche Erklärung die buchstäbliche verdrängen, während sie
doch, wenige Beispiele bei Origenes abgerechnet, beide
Erklärungen nebeneinander bestehen zu lassen geneigt sind.
Die Darstellungen Woolstons können Zweifel übrig lassen,
auf welche der zwei von ihm einander gegenübergestellten
Seiten er mit seiner eignen Ansicht gehöre; bedenkt man
die Thatsache, daſs er, ehe er als Gegner des gewöhnlichen
Christenthums hervortrat, sich mit allegorischer Schrifter-
klärung beschäftigte 9): so könnte man diese für seine ei-
gentliche Meinung ansehen; wogegen aber die Ausführun-
gen über die Ungereimtheit des buchstäblichen Sinns der
Wundergeschichten mit solcher Vorliebe von ihm gegeben
[14]Einleitung. §. 5.
sind, und das Ganze mit ihrem frivolen Tone so sehr fär-
ben, daſs doch vermuthet werden muſs, der Deist wolle
sich durch sein Dringen auf allegorische Deutung nur den
Rücken sichern, um desto ungescheuter gegen den buch-
stäblichen Sinn losziehen zu können.


Auf deutschen Boden wurden diese Deistischen Ein-
würfe gegen die Bibel und die Göttlichkeit ihrer Geschichte
hauptsächlich durch den Ungenannten verpflanzt, dessen
in der Wolfenbüttelschen Bibliothek aufgefundene Frag-
mente Lessing seit dem Jahr 1774 herauszugeben anfieng.
Sie betrafen, ausser Mehrerem, was gegen eine geoffenbarte
Religion überhaupt gesagt war 10), theils das alte 11), theils
das neue Testament 12). In Bezug auf jenes fand dieser
Verfasser die Männer, welchen dasselbe einen unmittelba-
ren Umgang mit Gott zuschreibt, so schlecht, daſs Gott
durch ein solches Verhältniſs, seine Wirklichkeit angenom-
men, auf's Äusserste compromittirt würde; die Ergebnisse
dieses Umgangs aber, die vorgeblich göttlichen Lehren und
Gesetze, so craſs und zum Theil verderblich, daſs sie un-
möglich Gott zugeschrieben werden können; die begleiten-
den Wunder endlich so ungereimt und unglaublich, daſs
aus Allem zusammengenommen erhelle, der Umgang mit
Gott sei nur vorgegeben, die Wunder Blendwerke gewesen,
um gewisse, den Herrschern und Priestern vortheilhafte
[15]Einleitung. §. 6.
Gesetze in Vollzug zu setzen. So findet der Verf. an den
Patriarchen und den ihnen angeblich zu Theil geworde-
nen göttlichen Mittheilungen, wie der an Abraham ergan-
genen Aufforderung, seinen Sohn zu opfern, Vieles auszu-
setzen; ganz besonders aber sucht er in einem langen Ab-
schnitte den Moses mit aller Schmach eines Betrügers zu
beladen, der die schändlichsten Mittel nicht gescheut ha-
be, um sich zum despotischen Beherrscher eines freien
Volkes zu machen. Zur Einleitung dieses Plans habe er
Gotteserscheinungen erdichtet, und göttliche Befehle zu
Maſsregeln vorgegeben, welche, wie die Entwendung der
Geräthe aus Ägypten und die Ausrottung der Bewohner
Kanaans, sonst als Betrug, Strassenraub, unmenschliche
Grausamkeit gebrandmarkt werden würden, nun aber durch
das Hinzukommen der paar Worte: Gott hat es gesagt —
plötzlich zu gotteswürdigen Handlungen gestempelt werden
sollen. Ebensowenig vermag der Fragmentist in der neu-
testamentlichen Geschichte eine göttliche zu finden. Der
Plan Jesu ist ihm ein politischer; sein Verhältniſs zum
Täufer ein abgeredeter Handel, daſs der Eine den Andern
dem Volk empfehlen solle; Jesu Tod ist eine von ihm kei-
neswegs vorausgesehene Vereitelung seiner Absichten, ein
Schlag, den seine Jünger nur durch das betrügerische
Vorgeben seiner Auferstehung und eine schlaue Änderung
ihres Lehrsystems wieder gut zu machen wuſsten.


§. 6.
Die natürliche Erklärungsart der Rationalisten. Eichhorn. Paulus.


Während gegen die englischen Deisten von den dortigen
zahlreichen Apologeten, und gegen den Wolfenbüttelschen Un-
genannten von der groſsen Mehrheit deutscher Theologen die
Realität der biblischen Offenbarung und das Göttliche in der
israelitischen und urchristlichen Geschichte im supranaturali-
stischen Sinne festgehalten wurde: ergriff eine andere Klasse
von Theologen in Deutschland einen neuen Ausweg. Wie
[16]Einleitung. §. 6.
nämlich bei der euemeristischen Auffassung der alten Göt-
terlehre der zwiefache Weg offen stand und auch einge-
schlagen wurde, daſs man die Götter der Volksreligion
entweder als gute und wohlthätige Menschen der Vorzeit,
als weise Gesezgeber und gerechte Fürsten nahm, welche
eine dankbare Mit- und Nachwelt mit dem Glanze göttli-
cher Würde umgeben haben sollte; oder aber in ihnen
schlaue Betrüger und grausame Tyrannen fand, welche
sich, um das Volk sich unterthänig zu machen, in den
Nimbus der Göttlichkeit gehüllt haben: so war auch bei
der rein menschlichen Auffassung der biblischen Geschichte
neben dem von den Deisten betretenen Wege, die Subjekte
derselben für schlechte und betrügerische Menschen anzu-
sehen, immer noch der andre übrig, jene Subjekte zwar
der unmittelbaren Göttlichkeit entkleidet zu lassen, ihnen
aber dafür die reine Menschheit ungeschmälert zuzugeste-
hen; ihre Thaten zwar nicht als Wunder anzustaunen,
ebensowenig aber als Blendwerke zu verschreien, sondern
sie für natürliche zwar, aber sittlich untadelhafte Handlun-
gen zu erklären. Während der dem kirchlichen Christen-
thum überhaupt feindliche Naturalismus zu jener ersteren
Auffassungsweise geneigt sein muſste, so war auf die
zweite der Rationalismus angewiesen, welcher innerhalb
der Kirche verharren wollte. Unmittelbar gegen jenen
Naturalismus ist diese Ansicht von Eichhorn gekehrt wor-
den in einer Beurtheilung des Wolfenbüttler Fragmenti-
sten 1). Eine unmittelbare göttliche Einwirkung, wenig-
stens in der A. T. lichen Urgeschichte, nicht anzuerkennen,
darin ist Eichhorn mit dem Fragmentisten einverstanden.
Die mythologischen Forschungen eines Heyne hatten seinen
Gesichtskreis bereits so erweitert, daſs er einsah, wie eine
[17]Einleitung. §. 6.
solche Einwirkung entweder allen Völkern in ihrer Urzeit
zugeschrieben, oder allen abgesprochen werden müsse. Bei
allen Völkern, bemerkte er, in Griechenland wie im Orient,
ward alles Unerwartete und Unbegriffene auf die Gottheit
zurückgeführt; die weisen Männer dieser Völker lebten
immer im Umgang mit höheren Wesen. Während man
diese Darstellung (so giebt Eichhorn den Stand der Sache
weiter an) in Bezug auf die hebräische Geschichte immer
wörtlich und buchstäblich verstand, pflegte man bei Nicht-
hebräern solche Erscheinungen bisher insgemein durch die
Voraussetzung eines Betrugs und grober Lügen, oder ent-
stellter und verdorbener Sagen zu erklären. Offenbar aber,
meint Eichhorn, fordere die Gerechtigkeit, Hebräer und
Nichthebräer auf gleiche Weise zu behandeln, so daſs
man entweder alle Nationen während ihres Kindheitszustan-
des mit den Hebräern unter gleichem Einfluſs höherer
Wesen stehen lassen, oder einen solchen Einfluſs auf bei-
den Seiten leugnen müsse. Denselben allgemein anzu-
nehmen, sei bedenklich wegen des nicht selten irrigen In-
haltes der unter jenem Einfluſs angeblich geoffenbarten Re-
ligionen; wegen der Schwierigkeit, aus jenem Zustande der
Bevormundung heraus das Erstarken der Menschheit zur
Selbstständigkeit zu erklären; endlich weil, je heller die
Zeiten und zuverlässiger die Nachrichten werden, jene
unmittelbaren Einflüsse der Gottheit immer mehr verschwin-
den. Wenn somit die Einwirkung höherer Wesen bei
Hebräern wie bei andern Völkern geleugnet werden muſs:
so scheint sich, nach Eichhorn, zuerst die Ansicht, welche
man bisher auf das heidnische Alterthum anwendete, auch
für die Urgeschichte des hebräischen Volkes darzubieten,
daſs nämlich dem Vorgeben jener Offenbarungen Betrug
und Lüge, oder den Berichten davon entstellte und verdor-
bene Sagen zum Grunde liegen, eine Ansicht, welche wirk-
lich der Fragmentist gegen die A. T.liche Geschichte gewendet
hat. Allein näher betrachtet, sagt Eichhorn, muſs man
Das Leben Jesu I. Band. 2
[18]Einleitung. §. 6.
vor einer solchen Vorstellung erschrecken. Die gröſsten
Männer der früheren Welt, die auf die Bildung ihrer Zeit-
genossen so mächtig und wohlthätig gewirkt haben, soll-
ten alle Betrüger gewesen sein, und zwar ohne daſs es
von den Mitlebenden bemerkt worden wäre? —


Zu einer solchen Miſsdeutung wird man nach Eich-
horn
nur dadurch verleitet, daſs man es versäumt, jene
alten Urkunden im Geiste ihrer Zeit aufzufassen. Frei-
lich, wenn sie mit der philosophischen Präcision unserer
jetzigen Schriftsteller redeten, so könnten wir nur entwe-
der wirkliche göttliche Einwirkung, oder ein betrügliches
Vorgeben einer solchen in ihnen finden. So aber, als
Schriften aus einer unphilosophischen, kindlichen Zeit, re-
den sie unbefangen von göttlicher Einwirkung nach alter-
thümlicher Vorstellungs- und Ausdrucksweise, und so ha-
ben wir zwar keine Wunder anzustaunen, aber auch kei-
nen Betrug zu entlarven, sondern nur die Sprache der
Vorzeit in unsere heutige zu übersetzen. So lange das
Menschengeschlecht, erinnert Eichhorn, dem wahren Ur-
sprung der Dinge noch nicht auf den Grund gekommen
war, leitete es Alles von übernatürlichen Krätten oder der
Dazwischenkunft höherer Wesen ab; höhere Gedanken,
groſse Entschlieſsungen, nüzliche Erfindungen und Einrich-
tungen, vorzüglich auch lebhafte Träume waren Einwir-
kungen der Gottheit, unter deren unmittelbarem Einfluſs
man zu stehen glaubte. Die Proben ausgezeichneter Kennt-
nisse und Geschicklichkeiten, mit welchen Einer das Volk in
Erstaunen sezte, galten für Wunder, für Beweise über-
natürlicher Kräfte und des besondern Umgangs mit höhe-
ren Wesen, — und nicht nur das Volk war dieser Mei-
nung, sondern auch jene ausgezeichneten Männer selbst
lieſsen sich keinen Zweifel dagegen beifallen, und rühm-
ten sich mit voller Uberzeugung eines geheimen Umgangs
mit der Gottheit. Gegen den Versuch, alle Erzählungen
der mosaischen Geschichte in natürliche Ereignisse aufzu-
[19]Einleitung. §. 6.
lösen, kann Niemand etwas haben, bemerkt Eichhorn, und
giebt damit die Vordersätze des Wolfenbüttler Fragmenti-
sten zu: aber daraus zu folgern, daſs Moses ein Betrü-
ger gewesen, diesen Schluſssatz des Fragmentisten erklärt
er für eine Übereilung und Ungerechtigkeit. So nahm
Eichhorn, wie die Naturalisten, der biblischen Geschich-
te ihren unmittelbar göttlichen Inhalt, nur daſs er den
übernatürlichen Schein, welcher dieselbe umkleidet, nicht
mit jenen aus absichtlich trügerischer Färbung, sondern
als von selbst entstanden durch die alterthümliche Beleuch-
tung erklärte.


Nach diesen Grundsätzen suchte nun Eichhorn d[i]e
Geschichten eines Noa, Abraham, Moses natürlich zu er-
klären. Im Lichte ihrer Zeit betrachtet, sei die Berufung
des Lezteren nichts Andres gewesen, als daſs dieser Pa-
triot den lange gehegten Gedanken, sein Volk zu befreien,
als er ihm im Traume mit erneuter Lebendigkeit wieder-
kehrte, für eine göttliche Eingebung hielt; das Rauchen
und Brennen des Sinai bei seiner Gesetzgebung war wei-
ter nichts als ein Feuer, welches er, um der Einbildungs-
kraft seines Volkes zu Hülfe zu kommen, auf dem Berge
anzündete, womit zufällig noch ein starkes Gewitter zu-
sammentraf; das Leuchten seines Angesichts endlich war
eine natürliche Folge groſser Erhitzung, was mit dem
Volke auch Moses selbst, weil er dessen wahre Ursache
nicht kannte, für etwas Göttliches hielt. — Sparsamer war
Eichhorn in Anwendung dieser Erklärungsweise auf des
N. T., und es waren hauptsächlich nur einige Fakta aus
der Apostelgeschichte, welche er derselben zu unterwer-
fen sich erlaubte, wie das Pfingstwunder 2), die Bekeh-
rung des Apostels Paulus 3) und die zahlreichen Engeler-
2*
[20]Einleitung. §. 6.
scheinungen 4). Auch hier führt er Alles auf die bildliche
Sprache der Bibel zurück, in welcher, was z. B. den lez-
ten Punkt betrifft, bald ein glückliches Ungefähr ein ret-
tender, bald eine geistige Freudigkeit ein grüſsender, bald
eine innere Beruhigung ein tröstender Engel genannt wor-
den sei. In Bezug auf die Evangelien werden wir unten
das Auffallende sehen, daſs Eichhorn theils die richtige
Einsicht in die Unzulässigkeit der natürlichen Erklärung
hatte, theils bei manchen Erzählungen selbst zu einer hö-
heren fortgeschritten war.


Viele Schriften in ähnlichem Geiste erschienen, welche
zum Theil auch das neue Testament in den Kreis ihrer
Erklärungen zogen 5); aber den vollen Ruhm eines christ-
lichen Euemerus sollte sich erst Dr. Paulus erwerben in
seinem von 1800 an erschienenen Commentar zum N. T.
Gleich in der Einleitung dieses Werkes 6) stellt er es als
die erste Anforderung an den Forscher der biblischen Ge-
schichte hin, zu unterscheiden, was in derselben Faktum
und was Urtheil sei? Faktum ist ihm dasjenige, was den
bei einer Begebenheit betheiligten Personen als äussere oder
innere Erfahrung gegeben war; Urtheil die Art, wie sie
oder die Erzähler jene Erfahrung deuteten und auf ihre
vermeintlichen Ursachen zurückführten. Diese beiden Be-
standtheile mischen und verschlingen sich nun aber nach
Paulus sowohl in den ursprünglich Betheiligten als in den
Nacherzählern und Geschichtschreibern leicht so, daſs
das Urtheil vom Faktum nicht mehr unterschieden, und
mit eben der historischen Sicherheit wie dieses geglaubt
[21]Einleitung. §. 6.
und weiter erzählt wird, eine Vermengung, welche sich
besonders auch in den geschichtlichen Büchern des N. T. s
zeigt, da zur Zeit Jesu noch immer die Neigung herr-
schend war, jedes auffallende Erlebniſs sofort von einer
unsichtbaren, übermenschlichen Ursache abzuleiten. Die
Hauptaufgabe des pragmatischen Historikers, namentlich in
Bezug auf das N. T., ist daher, diese beiden so eng ver-
wachsenen und doch so verschiedenartigen Bestandtheile
zu sondern, und aus der Hülle von persönlichen und
Zeitmeinungen den reinen Kern des Faktums herauszu-
schälen. Das Verfahren, welches er hiebei zu Hülfe zu
nehmen hat, ist, wo ihm keine reiner gehaltene Relation
als berichtigende Parallele zu Gebote steht, dieſs, daſs er
sich auf den Schauplatz der Begebenheiten und in den
Standpunkt der Zeit möglichst lebhaft versetze, und von
diesem aus die Erzählung durch vorauszusetzende erklä-
rende Nebenumstände zu ergänzen suche, welche der Er-
zähler selbst, in seinem supranaturalistischen Urtheil be-
fangen, oft nicht einmal andeutete. In welcher Weise die-
sen Grundsätzen zu Folge Paulus in seinem Commentar
und neuerlich auch in seiner Schrift über das Leben Je-
su 7) die neutestamentliche Geschichte behandelt hat, ist
bekannt. Indem er die historische Wahrheit der Erzäh-
lungen durchaus festhält, und einen engen chronologischen
und pragmatischen Zusammenhang in die evangelische Ge-
schichte zu bringen strebt, entzieht er derselben jeden un-
mittelbar göttlichen Gehalt, und läugnet jedes übernatür-
liche Einwirken höherer Kräfte. Nicht der Sohn Gottes
im Sinne der kirchlichen Ansicht ist ihm Jesus, sondern
ein weiser und tugendhafter Mensch, und nicht Wunder
sind es, die er vollbringt, sondern Thaten bald der Freund-
lichkeit und Menschenliebe, bald der ärztlichen Geschick-
lichkeit, bald auch des Zufalls und guten Glückes 8).


[22]Einleitung. §. 6.

Eine nothwendige Voraussetzung bei dieser Eichhor-
nisch-Paulusschen Auffassung der biblischen Geschichte
ist, daſs die Urkunden derselben, die A. und N. T.lichen
Schriften, sehr genau und treu, also auch sehr bald nach
den erzählten Begebenheiten, wo möglich von Augenzeu-
gen, verfaſst sein müssen. Denn soll sich in einer Erzäh-
lung das ursprüngliche Faktum von dem beigemischten
Urtheil unterscheiden lassen: so muſs die Relation noch
sehr rein und ursprünglich sein; bei einer später entstan-
denen, minder urkundlichen hätte ich ja keine Bürgschaft,
ob nicht auch das, was ich für den thatsächlichen Kern
halte, nur der Meinung und Sage angehöre? Daher suchte
Eichhorn die Abfassung, namentlich auch der A. T.lichen
Schriften so nahe als möglich zu der Zeit der Begeben-
heiten hinanzurücken, wobei ihm und den mit ihm
gleichdenkenden Theologen selbst das Widernatürlichste,
wie z. B. die Voraussetzung der Abfassung des Penta-
teuchs auf dem Zug durch die Wüste 9), nicht zu hart
8)
[23]Einleitung. §. 6.
war. Doch erlaubte sich der genannte Kritiker wenigstens
bei einigen Theilen des A. T., wie z. B. bei dem Buche
der Richter, die Bemerkung, die in demselben enthaltenen
Berichte seien nicht gleich Anfangs aufgezeichnet worden,
sondern der Geschichtschreiber habe seine Helden im Nebel
der verflossenen Zeit gesehen, in welchem sie leicht zu
Riesengestalten sich haben vergröſsern können. Einem von
ihm selbst gesehenen, oder ihm wenigstens nahe liegenden
Faktum freilich würde nur derjenige Geschichtschreiber
einen glänzenden Anstrich geben, welcher geflissentlich auf
Kosten der Wahrheit unterhalten wollte. Ganz anders,
wenn eine Geschichte längst vergangen sei. Da finde sich
die Einbildungskraft nicht mehr durch den Widerstand
der festen Gestalt historischer Wirklichkeit gehemmt, son-
dern durch die Vorstellung, daſs in früheren Zeiten Alles
besser und gröſser gewesen, ihren Schwung verstärkt, und
der Schriftsteller werde zu höheren Ausdrücken und einer
verherrlichenden Sprache hingerissen. Am wenigsten sei
dieſs dann zu vermeiden, wenn der spätere Concipient sei-
ne Erzählung aus dem Munde der Vorwelt niederschrei-
be, und die abenteuerlichen Thaten und Schicksale der
Vorfahren, welche der Vater dem Sohne, dieser dem En-
kel in begeisterter Sprache überliefert und Dichter mit
poëtischem Schmucke umgeben hatten, in eben dieser er-
höhten Ausdrucksweise schriftlich verzeichne 10). Übrigens
auch bei dieser Ansicht von einem Theile der A. T.lichen
Bücher glaubte Eichhorn den historischen Boden noch nicht
zu verlieren, sondern getraute sich noch immer, über Ab-
zug der mehr oder minder starken traditionellen Zuthaten
den natürlichen Geschichtsverlauf herausbekommen zu
können.


Doch bei Einer A. T.lichen Erzählung wenigstens ist
der Meister der natürlichen Erklärungsweise für das A. T.
[24]Einleitung. §. 6.
über diese zu einer höhern hinausgeschritten, nämlich bei
der Geschichte der Schöpfung und des Sündenfalls. Hat-
te er in seiner so einfluſsreich gewordenen Urgeschich-
te 11) die erstere Erzählung gleich Anfangs für Poësie er-
klärt: so hatte er von der lezteren damals noch behauptet,
wir haben an ihr keine Mythologie, keine Allegorie, son-
dern wahre Geschichte, und diese geschichtliche Grundla-
ge bestimmte er nach Abzug alles Übernatürlichen dahin,
daſs die menschliche Natur in ihren ersten Anfängen durch
den Genuſs einer giftigen Frucht zerrüttet worden sei 12).
Er fand es zwar an sich wohl möglich, und durch zahl-
reiche Beispiele aus der Profangeschichte bestätigt, daſs
an der Spitze rein historischer Erzählungen eine mythische
stehen könnte: aber durch eine supranaturalistische Vorstel-
lung schlug er in Bezug auf die Bibel diese Möglichkeit
wieder nieder, indem er es der Gottheit unwürdig fand,
in ein Buch, das so unleugbare Spuren des Ursprungs von
ihr enthalte, ein mythologisches Fragment einrücken zu las-
sen. Später indessen 13) erklärte Eichhorn selbst, daſs
er nun über Genes. 2 und 3. in vielen Stücken anders den-
ke, indem er jezt in jenem Abschnitte statt historischer
Nachrichten von einer Vergiftung vielmehr das mythisch
eingekleidete Philosophem finde, wie die Sehnsucht nach
einem besseren Zustande, als der in welchem man sich be-
finde, die Quelle alles Übels in der Welt sei. So zog
Eichhorn wenigstens an diesem Punkte vor, lieber die Ge-
schichte aufzugeben, um die Idee festzuhalten, als mit
Aufopferung jedes höheren Gedankeninhalts an der Ge-
[25]Einleitung. §. 7.
schichte festzukleben. Im Übrigen blieb er jedoch mit Pau-
lus
u. A. dabei, das Wunderhafte in der heiligen Geschich-
te für ein Gewand zu nehmen, das man nur abziehen
dürfe, um die reine historische Gestalt hervortreten zu sehen.


§. 7.
Kant's moralische Interpretation.


Unter diesen natürlichen Auslegungen, welche das
Ende des 18ten Jahrhunderts in reicher Fülle hervorbrachte,
war es ein merkwürdiges Zwischenspiel, mit Einem Male
die alte allegorische Erklärung der Kirchenväter herauf-
beschworen zu sehen in Kant's moralischer Schriftauslegung.
Ihm, als Philosophen, war es nicht, wie den rationalisti-
schen Theologen, um eine Geschichte, sondern wie jenen
Alten in der geschichtlichen Hülle um eine Idee zu thun,
wenn er gleich diese Idee nicht wie jene als absolute,
sowohl theoretische als praktische, sondern einseitig als
praktische, als moralisches Sollen und dadurch mit der
Endlichkeit behaftet, auffaſste, auch als das diese Ideen
in den biblischen Text hineinlegende Subjekt nicht den
göttlichen Geist, sondern den des philosophischen Schrift-
auslegers, oder in einer tieferen Andeutung die moralische
Anlage in den Verfassern jener Bücher bestimmte. Kant
beruft sich darauf 1), daſs es mit allen alten und neuen,
zum Theil in heiligen Büchern abgefaſsten Glaubensarten
jederzeit so sei gehalten worden, daſs verständige und
wohldenkende Volkslehrer sie so lange gedeutet haben,
bis sie dieselben ihrem wesentlichen Inhalte nach mit den
allgemeinen moralischen Glaubenssätzen in Übereinstimmung
brachten. So haben es die Moralphilosophen unter den
Griechen und Römern mit ihrer fabelhaften Götterlehre ge-
[26]Einleitung. §. 7.
macht, daſs sie den gröbsten Polytheismus doch zulezt als
bloſse symbolische Vorstellung der Eigenschaften des Ei-
nen göttlichen Wesens umzudeuten, und den mancherlei
lasterhaften Handlungen ihrer Götter, den wildesten Träu-
mereien ihrer Dichter einen mystischen Sinn unterzulegen
wuſsten, um den Volksglauben, welchen zu vertilgen nicht
ersprieslich war, einer moralischen Lehre nahe zu brin-
gen. Auch das spätere Judenthum und selbst das Chri-
stenthum bestehe aus solchen zum Theil sehr gezwunge-
nen Deutungen, übrigens zu ungezweifelt guten und für
alle Menschen nothwendigen Zwecken. Nicht minder
wissen die Muhamedaner den üppigen Beschreibungen ih-
res Paradieses einen geistigen Sinn unterzulegen, und
dasselbe thun die Indier mit ihren Veda's, wenigstens
für den aufgeklärteren Theil ihres Volkes. Ebenso müssen
nun nach Kant die christlichen Religionsurkunden des
A. u. N. T.s durchgängig zu einem Sinn gedeutet werden,
welcher mit den allgemeinen praktischen Gesetzen einer reinen
Vernunftreligion zusammenstimmt, und es muſs eine solche
Deutung, sollte sie auch, scheinbar oder wirklich, dem Text
Gewalt anthun, einer solchen buchstäblichen vorgezogen wer-
den, welche, wie namentlich auch bei manchen biblischen Ge-
schichten der Fall ist, entweder schlechterdings nichts für die
Moralität in sich enthält, oder den moralischen Triebfedern
wohl gar entgegenwirkt. So werden nun z. B. die rache-
schnaubenden Ausdrücke mancher Psalmen gegen Feinde auf
die Begierden und Leidenschaften umgedeutet, welche wir al-
lerdings streben müssen, nachgerade alle unter den Fu[ſ]s
zu bringen, und das Wundervolle, was im N. T. von Jesu
Herabkunft vom Himmel, seinem Verhältniſs zu Gott u. s. f.
gesagt ist, wird als bildliche Bezeichnung des Ideals
der gottwohlgefälligen Menschheit genommen 2). Daſs ei-
ne solche Deutung möglich ist, ohne eben immer wider den
[27]Einleitung. §. 8.
buchstäblichen Sinn jener Urkunden des Volksglaubens zu
sehr zu verstoſsen, kommt nach Kant's tiefergehender Be-
merkung daher, weil lange vor diesem lezteren die Anlage
zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft ver-
borgen lag, wovon zwar die ersten rohen Äusserungen
blos auf gottesdienstlichen Gebrauch ausgegangen seien,
und zu diesem Behuf selbst jene angeblichen Offenbarun-
gen veranlaſst, hiedurch aber auch etwas von dem übersinn-
lichen Charakter ihres Ursprungs selbst in jene Dichtun-
gen, obwohl unvorsäzlich, gelegt haben. Auch gegen den
Vorwurf der Unredlichkeit glaubt Kant diese Auslegungs-
weise durch die Bemerkung schützen zu können, daſs sie
ja keineswegs behaupte, der Sinn, welchen sie den heili-
gen Büchern jezt gebe, sei von ihren Verfassern auch durch-
aus so beabsichtigt worden, sondern dieses lasse sie dahin-
gestellt, und spreche für sich nur die Möglichkeit an, die-
selben auch auf ihre Art zu deuten.


Wenn Kant auf diese Weise aus den biblischen
Schriften auch ihrem geschichtlichen Theile nach morali-
sche Gedanken herauszudeuten suchte, ja diese Gedanken
selbst als die objektive Grundlage jener Geschichten anzu-
erkennen geneigt war: so nahm er doch einestheils diese Ge-
danken nur aus sich und der Bildung seiner Zeit, weſswe-
gen er nur in seltenen Fällen annehmen konnte, sie haben
wirklich schon bei den Verfassern jener Schriften zum
Grunde gelegen; anderntheils unterlieſs er eben deſswegen
nachzuweisen, wie sich jene Gedanken zu diesen symboli-
schen Darstellungen verhalten, wie es komme, daſs jene
in diesen sich ausgeprägt haben.


§. 8.
Entstehung der mythischen Auffassungsweise der heiligen Geschichte,
zunächst in Bezug auf das A. T.


Bei einem so unhistorischen Verfahren auf der einen
Seite, und einem so unphilosophischen auf der andern
[28]Einleitung. §. 8.
konnte um so weniger stehen geblieben werden, je mehr
das immer allgemeiner und erfolgreicher betriebene mytho-
logische Studium auch auf die Ansicht von der biblischen
Geschichte seinen Einfluſs äusserte. Wenn schon Eich-
horn
für hebräische und nichthebräische Urgeschichte glei-
che Behandlung verlangt hatte, so verschwand diese Gleich-
heit immer mehr, je mehr man für die profane Urge-
schichte den mythischen Gesichtspunkt ausbildete, für die
hebräische aber bei der natürlichen Erklärungsweise ste-
hen blieb. Und Paulus konnten es doch nicht Alle nach-
thun, welcher die Consequenz der Behandlung dadurch
herstellte, daſs er, wie die biblischen, so auch die zur Ver-
gleichung sich bietenden griechischen Sagen natürlich zu
erklären sich geneigt zeigte: sondern man half lieber auf
der andern Seite und fieng an, auch manche biblische Er-
zählungen als Mythen zu betrachten. So wurde durch
Gabler1), Schelling2) u. A. der Begriff des Mythus als
ein ganz allgemein, für alle älteste Geschichte, heilige wie
profane, gültiger aufgestellt, nach dem Heyne'schen Grundsa-
ze: a mythis omnis priscorum hominum cum historia tum
philosophia procedit
3) und Bauer wagte es sogar, mit ei-
ner „hebräischen Mythologie des alten und neuen Testa-
ments“ aufzutreten (1802). Die älteste Geschichte aller
Völker, meint Bauer, sei mythisch: warum sollte die he-
bräische allein eine Ausnahme machen? da vielmehr der
Augenschein der heiligen Bücher zeige, daſs auch sie my-
thische Bestandtheile enthalten. Eine Erzählung nämlich
ist, wie Bauer nach Gabler und Schelling ausführt, als
Mythus erkennbar, wenn sie aus einer Zeit stammt, in der
es noch keine schriftlich dokumentirte Geschichte gab,
sondern die Fakta nur durch mündliche Überlieferung fort-
[29]Einleitung. §. 8.
gepflanzt wurden; wenn darin entweder absolut unerfahr-
bare Gegenstände, wie Fakta einer übersinnlichen Welt,
oder doch relativ unerfahrbare, bei welchen der Umstände
wegen Niemand Zeuge sein konnte, in geschichtartiger
Weise erzählt werden; oder endlich, wenn diese Erzäh-
lungen ins Wunderbare verarbeitet und in einer symboli-
schen Sprache vorgetragen sind. Solche Erzählungen nun
finden sich auch in der Bibel nicht wenige vor, und daſs
man auf dieselben den Begriff des Mythischen nicht an-
wenden wolle, habe seinen Grund nur in falschen Vorstel-
lungen einerseits von dem Wesen des Mythus, andrerseits
von dem Charakter der biblischen Bücher. In ersterer
Hinsicht verwechsle man Mythen mit Fabeln, vorsäzlichen
Lügen und willkührlichen Erdichtungen, statt dieselben
als die nothwendigen Träger der ersten Regungen des
menschlichen Geistes erkennen zu lernen; in der andern
Rücksicht sei es freilich, den Inspirationsbegriff vorausge-
sezt, unwahrscheinlich, daſs Gott von Thatsachen oder
Ideen mythische statt der eigentlichen Darstellungen ein-
gegeben haben sollte: allein die genauere Betrachtung der
biblischen Schriften zeige, daſs der Begriff ihrer Inspiration,
weit entfernt, ihre mythische Auffassung zu hindern, viel-
mehr selbst nur ein mythischer sei 4).


Bestimmte man hienach von Seiten der genannten
Forscher den Mythus im Allgemeinen als Darstellung einer
Begebenheit oder eines Gedankens in geschichtlicher, aber
durch die sinnliche, phantasiereiche Denk- und Sprechwei-
se des Alterthums bestimmter Form: so unterschied man
zugleich verschiedene Arten von Mythen 5). Die Einen
seien historische Mythen, d. h. Erzählungen wirkli-
[30]Einleitung. §. 8.
cher Begebenheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche,
Göttliches mit Menschlichem, Natürliches mit Übernatürli-
chem vermengende Denkart; es gebe aber auch philoso-
phische
Mythen, oder solche, welche einen bloſsen Ge-
danken, eine Speculation oder Zeitidee, in Geschichte ein-
kleiden; überdieſs aber können beide Arten theils sich
mischen, theils durch dichterische Überarbeitung zu poëti-
schen
Mythen werden, bei welchen hinter der phan-
tasiereichen Einkleidung so ursprüngliches Faktum wie
Idee beinahe verschwinden. Zwischen diesen verschiede-
nen Arten von Mythen ist die Unterscheidung deſswegen
schwierig, weil auch diejenigen, welchen bloses Raisonne-
ment zu Grunde liegt, mit gleichem historischem Anspruch,
wie die auf geschichtlichem Grunde ruhenden, auftreten;
doch geben die genannten Gelehrten auch für diese Unter-
scheidung einige Regeln an. Vor Allem müsse man darauf
sehen, ob und was für ein Zweck der Erzählung sich
entdecken lasse. Wo gar kein Zweck sichtbar sei, um
dessen willen die Sage erdichtet sein könnte: da werde
Jedermann den historischen Mythus finden. Entsprechen
aber alle Hauptumstände einer Erzählung der Versinnli-
chung einer bestimmten Wahrheit: so sei der Zweck der
Erzählung sicher nur eben dieser, und der Mythus somit
ein philosophischer. Die Mischung des historischen und
philosophischen Mythus sei daran kenntlich, wenn sich
die Tendenz zeige, gewisse Thatsachen aus ihren Ursachen
abzuleiten. Daſs Geschichtliches zum Grunde liege, lasse
sich bisweilen auch durch anderweitige Nachrichten erwei-
sen, bisweilen stehen gewisse Angaben eines Mythus mit
einer bekannten wahren Geschichte in genauer Verbindung,
oder trage er in sich selbst unverkennbare Spuren der
Wahrscheinlichkeit, so daſs der Kritiker zwar die Einklei-
dung verwerfen, doch aber die Grundlage für geschichtlich
halten könne. Am schwersten fiel es, den sogenannten
poëtischen Mythus zu unterscheiden, und Bauer weiſs nur
[31]Einleitung. §. 8.
das negative Kriterium anzugeben, wenn einerseits die Er-
zählung so wunderbar klinge, daſs die Begebenheit sich
unmöglich so habe zutragen können, andererseits aber
doch kein Zweck erkennbar sei, einen bestimmten Gedan-
ken zu versinnlichen: so sei zu vermuthen, daſs die ganze
Erzählung der Phantasie eines Dichters ihren Ursprung
zu danken habe. In Bezug auf sämmtliche Mythen macht
besonders die Schelling'sche Abhandlung auf das Kunstlose
und Unbefangene in ihrer Entstehung aufmerksam, indem
sie theils von den historischen Mythen bemerkt, daſs das
Ungeschichtliche in denselben nicht künstliches Produkt
absichtlicher Erdichtung sei, sondern sich im Laufe der
Zeit und Überlieferung von selbst eingeschlichen habe;
theils in Bezug auf die philosophischen erinnert, daſs nicht
allein zum Behuf eines sinnlichen Volks, sondern auch zu
ihrem eigenen Behufe die ältesten Weisen das Gewand
der Geschichte für ihre Ideen gewählt haben, um in Er-
mangelung abstrakter Begriffe und Ausdrücke das Dunkle
ihrer Vorstellung durch eine sinnliche Darstellung auf-
zuhellen.


Da dem früher Bemerkten zufolge die natürliche Deu-
tung namentlich der A. T.lichen Geschichte nur so lange sich
halten konnte, als die Urkunden derselben für ganz oder
nahezu gleichzeitig mit den Begebenheiten galten: so sind
die Männer, welche die leztere Meinung umgestoſsen haben,
Vater und de Wette, zugleich diejenigen gewesen, durch
welche die mythische Ansicht jener Geschichte fest be-
gründet worden ist. So wird nach der Bemerkung des
Ersteren 6) der eigenthümliche Charakter der Nachrichten
im Pentateuch erst dann begreiflich, wenn man annimmt,
daſs dieselben nicht von Augenzeugen herrühren, son-
dern durch die Hand der Tradition hindurchgegangen
[32]Einleitung. §. 8.
sind. Dann nur fallen uns nicht mehr die deutlichen
Spuren einer späteren Zeit, nicht mehr die zu groſsen
Zahlangaben, nebst andern Unrichtigkeiten und Widersprü-
chen, nicht mehr das Helldunkel auf, welches über man-
chen Begebenheiten schwebt, nicht mehr Vorstellungen,
wie die, daſs die Kleider der Israeliten während des Zugs
durch die Wüste nicht veraltet seien. Namentlich kann,
nach Vater, das Wunderbare nur dann aus dem Penta-
teuch ohne Gewalt gegen den ursprünglichen Sinn der
Schriftsteller wegerklärt werden, wenn man der Tradition
einen groſsen Antheil an der Darstellung jener Begeben-
heiten zuschreibt.


Noch entschiedener als Vater hat sich de Wette
gegen die natürliche und für die mythische Auffassungs-
weise gewisser Theile des A. T. erklärt. Um die Glaub-
würdigkeit eines Berichtes zu prüfen, sagt er 7), muſs man
zuerst die Tendenz des Erzählers untersuchen. Will er
nicht reine Geschichte erzählen, auf etwas anderes wir-
ken, als auf die historische Wiſsbegierde, will er er-
getzen, rühren, eine philosophische oder religiöse Wahr-
heit anschaulich machen: so hat seine Relation keinen
historischen Werth. Selbst wenn sich der Erzähler nur
einer geschichtlichen Tendenz bewuſst ist, kann er doch
vielleicht nicht auf dem historischen Standpunkt ste-
hen, sondern ein poëtischer Erzähler sein, nicht sub-
jektiv als Dichter, wohl aber objektiv als begriffen in
und abhängig von der Poësie. Kennzeichen davon ist,
wenn er bona fide Dinge erzählt, welche durchaus un-
möglich und undenkbar sind, welche nicht allein die Er-
fahrung, sondern auch die natürlichen Gesetze über-
schreiten. Erzählungen dieser Art entstehen nament-
lich durch die Tradition. Die Tradition, sagt de Wette,
ist unkritisch und parteiisch, nicht von historischer, son-
[33]Einleitung. §. 8.
dern von patriotisch-poëtischer Tendenz, die patriotische
Wiſsbegierde aber begnügt sich mit Allem, was ihrem In-
teresse schmeichelt: je schöner, ehrenvoller, wunderbarer,
desto annehmlicher, und wo die Überlieferung Lücken gelas-
sen hat, da tritt sogleich die Phantasie mit ihren Ergänzungen
ein. Indem nun, fährt de Wette fort, ein guter Theil der
A. T. lichen Geschichtsbücher dieses Gepräge trägt, so hat
man (von Seiten der natürlichen Erklärer) bisher geglaubt,
die Ausschmückungen und Umbildungen des geschichtli-
chen Stoffs von diesem trennen und so doch noch jene
Erzählungen als historische Quelle benützen zu können.
Dieſs lieſse sich thun, wenn wir über dieselbe Geschichte
neben der wunderhaften noch eine andre, reingeschichtli-
che Relation [besäſsen]. Das ist aber in Bezug auf die
A. T.liche Geschichte nicht der Fall, sondern wir finden
uns ganz an jene Berichte gewiesen, welche wir nicht
für reinhistorische erkennen können. In diesen aber ist
uns kein Kriterium zur Unterscheidung des Wahren und
Falschen gegeben, weil sie Beides in bunter Vermischung
und mit gleicher Dignität enthalten. Die ganze natürliche
Erklärungsweise ist nach de Wette im Allgemeinen schon
durch den Satz widerlegt, daſs die einzige Erkenntniſs-
quelle einer Geschichte die Relation ist, die wir über die-
selbe besitzen, und über die Relation der Historiker nicht
hinausgehen darf. Diese berichtet uns aber im gegenwär-
tigen Falle nur den übernatürlichen Hergang der Sache,
welchen wir nur entweder annehmen oder verwerfen kön-
nen; im letzteren Falle aber müssen wir uns bescheiden,
von dem Hergang gar nichts zu wissen, und dürfen uns
nicht erlauben, einen natürlichen zu erdichten, von welchem
die Relation nicht das Mindeste sagt. Es ist also 8) incon-
sequent und willkührlich, der Poësie nur die Einkleidung
A. T.licher Thatsachen zuzuschreiben, die Fakta aber der
Das Leben Jesu I. Band. 3
[34]Einleitung. §. 8.
Geschichte retten zu wollen, da vielmehr mit dem Einzel-
nen auch das Ganze dem poëtischen und mythischen Ge-
biete verfällt. So, wenn der Bund Gottes mit Abraham 9)
in dieser Gestalt als Factum aufgegeben, aber doch eine
geschichtliche Grundlage der Erzählung festgehalten wird,
nämlich die, es habe zwar nicht ein objektiver Verkehr
Gottes mit Abraham stattgefunden, wohl aber subjektiv im
Gemüthe des Mannes seien in der Vision oder im natürli-
chen Wachen Gedanken aufgestiegen, welche er im Geiste
der alten Welt auf Gott zurückgeführt habe: so richtet
de Wftte an so verfahrende Ausleger die Frage, woher
sie denn wissen, daſs Abraham aus sich selber diese Ge-
danken gehabt habe? Unsre Relation, bemerkt er, leitet
dieselben von Gott ab; nehmen wir dieſs nicht an, so wis-
sen wir von solchen Gedanken Abrahams gar nichts mehr,
auch davon nicht, daſs sie ihm natürlich aufgestiegen. Über-
haupt haben solche Hoffnungen, wie sie den Inhalt jenes
Bundes bilden, Stammvater eines Volks zu werden, wel-
ches das Land Kanaan besitzen sollte, natürlicherweise gar
nicht in Abraham entstehen können; wohl aber sei das na-
türlich, daſs die zum Volke gewordenen und in den Be-
sitz des Landes gekommenen Israëliten jenen Bund ihrem
Stammvater zur Verherrlichung angedichtet haben, — so
daſs die natürliche Erklärungsweise durch ihre eigne Un-
natürlichkeit immer wieder zur mythischen hinführe.


Eichhorn selbst hat die Unzulässigkeit der natürlichen
Erklärungsweise, welche er in Bezug auf das A. T. aus-
gebildet hatte, in Betreff der evangelischen Geschichte ein-
gesehen. Was in diesen Erzählungen einen übernatürlichen
Anstrich hat, bemerkt er 10), dürfen wir nicht verlangen,
in ein natürliches Ereigniſs umzubilden, weil dieſs ohne
Zwang nicht möglich sei. Wenn nämlich einmal in einer
[35]Einleitung. §. 8.
Erzählung durch Zusammenflieſsen der Volksdeutung mit
dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön-
ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer-
den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht
vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie
über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23.
die Erzählung des Josephus 11). Da solche controlirende
Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der
Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er
bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche
Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in
der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie
Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä-
rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.


Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen
Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf
die Wundergeschichten Krug12) bezeichnen wollte, wenn
er eine physikalische oder materiale, und eine genetische
oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene
untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig-
niſs
, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän-
den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich
gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh-
lung
von diesem Wunderereigniſs nach und nach entstan-
den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er-
zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem
Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh-
lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart
hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor-
schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er-
klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere
3*
[36]Einleitung. §. 8.
Weg, indem man auf demselben zu Resultaten gelange,
welche ein Licht über sämmtliche Wundererzählungen ver-
breiten. Namentlich gewähre er dem Exegeten den Vor-
theil, daſs er bei Erklärung seines Textes demselben nicht
die mindeste Gewalt anzuthun brauche, sondern Alles buch-
stäblich so auslegen könne, wie es der alte Erzähler ge-
meint habe, auch wenn das Erzählte unmöglich sein soll-
te: wogegen derjenige, welcher auf materielle oder phy-
sikalische Erklärung ausgehe, zu hermeneutischen Kunst-
griffen verleitet werde, welche ihm den ursprünglichen
Sinn der Erzähler aus dem Gesichte rücken, und diesen
etwas ganz Andres unterschieben, als sie sagen konnten
oder wollten.


Ebenso empfahl Gabler13) die mythische Ansicht als
das beste Mittel, um den zur Mode gewordenen gekünstel-
ten, angeblich natürlichen Erklärungen der biblischen Ge-
schichte auszuweichen. Der natürliche Erklärer, bemerkt
er, will gewöhnlich die ganze Erzählung natürlich machen,
und weil dieſs nur selten gelingen kann, so erlaubt er
sich die gewaltsamsten Operationen, durch welche die
neuere Exegese selbst bei Laien in übeln Ruf gekommen
ist. Auf dem mythischen Standpunkte hingegen braucht
man dergleichen nicht, weil der gröſsere Theil einer Er-
zählung oft blos zur mythischen Darstellung gehört, der
faktische Kern aber nicht selten ganz klein ist, wenn man
die später dazu gefügten wundersamen Hüllen weggenom-
men hat. Auch Horst konnte sich mit dem atomistischen
Verfahren nicht vereinigen, welches aus wunderhaften
Erzählungen der Bibel nur einzelne Züge als unhistorische
herausnahm, und andere, natürliche, an ihre Stelle setzte,
[37]Einleitung. §. 8.
statt das Ganze solcher Erzählungen als religiös-morali-
schen Mythus, in welchem irgend eine Idee sich darstelle,
zu erkennen 14).


Besonders entschieden hat ein Ungenannter in Ber-
tholdt
's kritischem Journal sich gegen die natürliche Er-
klärungsweise der heiligen Geschichte und für die mythi-
sche ausgesprochen. Wesentliche Gebrechen der natürlichen
Auslegung, wie sie im Paulus'schen Commentar culmnire,
sind nach diesem Verfasser vor Allem das durchaus unhi-
storische Vnrfahren, welches sie sich erlaubt, Urkunden
durch Vermuthungen zu ergänzen, eigne Speculationen für
gegebnen Buchstaben zu halten; das höchst gezwungene
und immer undankbare Bemühen, natürlich darzustellen,
was doch die Urkunde als etwas Wunderbares geben will;
endlich die Entleerung der biblischen Geschichte von allem
Heiligen und Göttlichen, die Herabwürdigung derselben zur
eiteln Unterhaltungslectüre, die selbst den Namen der Ge-
schichte nicht verdient. Diese Mängel der natürlichen Er-
klärungsweise, wenn man sich doch bei der supranatura-
listischen auch nicht beruhigen kann, führen nach dem
Verfasser zu dem mythischen Gesichtspunkte, welcher das
Material der Erzählung unangefochten läſst, und es nicht
wagt, daran im Einzelnen zu deuteln, dafür aber das Gan-
ze nicht für wahre Geschichte, sondern für heilige Sage
nimmt. Für diese Auffassung spricht die Analogie mit dem
ganzen politischen und religiösen Alterthum, da so man-
che Erzählungen des A. und N. T.s den Mythen des profanen
Alterthums aufs Genaueste ähnlich sehen; hauptsächlich
aber dieſs, daſs die zahllosen, sonst nie zu lösenden
Schwierigkeiten der heiligen Geschichte in Bezug auf die
Harmonie der Evangelien und die Chronologie bei der my-
thischen Ansicht wie mit Einem Schlage verschwinden 15).


[38]Einleitung. §. 9.

§. 9.
Die mythische Erklärungsweise in ihrer Anwendung auf das N. T.


So war die mythische Auslegungsweise nicht allein in
das alte Testament, sondern auch in das neue aufgenom-
men, doch nicht ohne daſs man diesen Schritt besonders
zu rechtfertigen sich veranlaſst gesehen hätte. Schon Gab-
ler
hatte an dem Paulus'schen Commentar das ausgesezt,
daſs er zu Weniges über den mythischen Gesichtspunkt ge-
be, der bei gewissen N. T. lichen Erzählungen angenom-
men werden müsse. In manchen von diesen Erzählungen
nämlich finden sich nicht blos unrichtige Urtheile, wie sie
auch von Augenzeugen gefällt werden können, so daſs sich
durch deren Berichtigung ein natürlicher Hergang gewin-
nen lieſse: sondern nicht selten finden sich auch falsche
Thatsachen und unmögliche Erfolge angegeben, welche von
keinem Augenzeugen so erzählt, sondern nur in der Über-
lieferung haben fingirt werden können, also mythisch auf-
gefaſst werden müssen 1).


Die Hauptschwierigkeit, welche bei Übertragung des
mythischen Gesichtspunktes aus dem A. T. in das neue zu
beseitigen war, ist diese, daſs man Mythen nur in der fa-
belhaften Urzeit unsres Geschlechtes zu suchen pflegte, in
welcher überhaupt noch keine Begebenheiten schriftlich
verzeichnet wurden: wogegen zur Zeit Jesu das mythi-
sche Zeitalter lange vorüber und namentlich die jüdische
Nation längst eine schriftstellerische geworden war. Indeſs
schon Schelling (in der angeführten Abhandlung) hatte
wenigstens in einer Anmerkung eingeräumt, im weiteren
Sinne könne auch diejenige Geschichte mythisch genannt
werden, welche noch zu einer Zeit, da Alles längst schrift-
15)
[39]Einleitung. §. 9.
lich verzeichnet zu werden pflegte, im Munde des Volks sich
fortgepflanzt habe. Demgemäſs ist nach Bauer2) im N. T.
zwar nicht eine Reihe von Mythen, eine total mythische
Geschichte zu suchen, doch aber können einzelne Mythen
in demselben vorkommen, sei es, daſs sie aus dem A. T.
in das neue übertragen, oder daſs sie ursprünglich in die-
sem entstanden sind. So findet sich nach Bauer nament-
lich in der Jugendgeschichte Jesu Manches, was vom my-
thischen Gesichtspunkte betrachtet sein will. Wie von ei-
nem berühmten Manne bald allerlei Anekdoten sich bilden,
welche unter einem wundersüchtigen Volke die Sage mit
Wunderdingen aller Art vergrössert: so wurde Jesu in
Dunkelheit verlebte Jugend, da er später so berühmt und
endlich durch seinen Tod noch mehr verherrlicht war,
mit den wunderhaftesten Erzählungen ausgeschmückt. Wenn
in dieser Jugendgeschichte himmlische Wesen mit Namen
und in Menschengestalt erscheinen, die Zukunft verkün-
digen u. dgl.: so haben wir, meint Bauer, doch wohl ein
Recht, hier einen Mythus anzunehmen, und als den Grund
seiner Entstehung den zu vermuthen, daſs man die gros-
sen Wirkungen Jesu aus übersinnlichen Ursachen erklärt,
und diese Erklärung mit der Geschichte vermischt habe.
— In gleicher Beziehung bemerkte Gabler3), wie der Be-
griff von alter Zeit ein relativer sei; gegen die mosaische
Religion gehalten, sei die christliche allerdings jung, doch
aber an sich selber alt genug, um die Urgeschichte ihres
Stifters zu den alten Zeiten rechnen zu dürfen. Daſs es
aber damals über andere Gegenstände bereits schriftliche
Urkunden gegeben habe, beweise hieher nichts, sobald es
sich zeigen lasse, daſs man eben über Jesum, besonders
[40]Einleitung. §. 9.
über seine ersten Lebensumstände, längere Zeit nichts
Schriftliches, sondern nur mündliche Erzählungen gehabt
habe, welche leicht allmählig in's Wunderbare gemalt, mit
jüdischen Zeitideen versezt, und so zu historischen My-
then werden konnten. Über manches Andre hatte man
nach Gabler gar keine Tradition, man war also der eige-
nen Muthmaſsung überlassen, man machte um so mehr
Schlüsse, je weniger Geschichte man hatte, und diese hi-
storischen Conjecturen und Raisonnements im jüdisch-christ-
lichen Geschmacke kann man die philosophischen Mythen
der christlichen Urgeschichte nennen. Wenn auf diese
Weise, schlieſst Gabler, der Begriff des Mythus bei meh-
reren Erzählungen des N. T.s Anwendung findet, warum
sollte man die Sache nicht beim rechten Namen nennen
dürfen, warum, — im wissenschaftlichen Verkehr versteht
sich, — einen Ausdruck vermeiden, der nur bei Befange-
nen oder Falschberichteten Anstoſs erregen kann? — Aus
dem Wesen des Christenthums selber suchte Horst die
Entstehung einer christlichen Mythologie zu erklären. Nach
ihm ist das Christenthum seiner ursprünglichen Natur nach
mystisch, d. h. nur in inneren Gefühlen und Ideen sich
bewegend; aber schon die ersten Stifter desselben, und
noch mehr die folgenden Zeiten, bezogen diese Ideen auf
bestimmte Objekte und Fakta, und sobald der Mysticismus
seine Gedanken und Empfindungen aus sich heraus und
auf äussere Objekte überträgt, ist er Mythologie 4).


Wie aber auf Seiten des A. T.s die mythische Auffas-
sung nur von denjenigen festgehalten werden konnte, wel-
che zugleich die Abfassung der A. T.lichen Geschichtsur-
kunden durch Augenzeugen und Zeitgenossen bezweifelten:
so auch auf Seiten des N. T.s. Nur mittelst der Annah-
me, daſs durch die drei ersten Evangelien sich blos ein
[41]Einleitung. §. 10.
dünner Faden des apostolisch beglaubigten Urevangeliums
hindurchziehe, welcher selbst im Matthäusevangelium von
einer Masse unapostolischer Zusätze umgeben sei, wuſste
Eichhorn viele ihm anstössige Erzählungen aus allen Thei-
len des Lebens Jesu als unhistorische Sagen aus dem We-
ge zu räumen, wie ausser dem evangelium infantiae z. B.
das Nähere der Versuchungsgeschichte, mehrere von Jesu
verrichtete Wunder, die Auferstehung der Heiligen bei sei-
nem Tode, die Wache an seinem Grabe u. s. f. 5). Be-
sonders aber seit sich die Ansicht von dem Ursprung der
drei ersten Evangelien aus mündlicher Tradition festge-
stellt hat 6), sind in denselben immer mehr theils mythi-
sche Ausschmückungen, theils ganze Mythen gefunden wor-
den 7). Dagegen halten jezt die Meisten das Johanneische
Evangelium als authentisch und damit auch als historisch
zuverlässig fest; nur wer mit Bretschneider8) seine apo-
stolische Abfassung bezweifelt, kann auch in diesem Evan-
gelium dem mythischen Elemente eine bedeutende Stelle
einräumen.


§. 10.
Der Begriff des Mythus in seiner Anwendung auf die heilige Ge-
schichte von den Theologen nicht rein gefasst.


Der hiemit auch für die Erklärung der biblischen Ge-
schichte gewonnene Begriff des Mythus wurde indessen
noch geraume Zeit weder selbst rein gefaſst, noch in ge-
hörigem Umfang angewendet.


Nicht rein gefaſst. Mit der Unterscheidung historischer
Mythen nämlich von den philosophischen hatte der Begriff
[42]Einleitung. §. 10.
des Mythus ein Merkmal in [s]ich aufgenommen, welches
ihn leicht wieder zu der kaum verlassenen natürlichen Er-
klärungsweise hinunterziehen konnte. Auch bei'm histori-
schen Mythus entstand ja für den Kritiker die Aufgabe,
aus der unhistorischen, wunderhaften Ausschmückung ei-
nen natürlichen und als geschichtlich festzuhaltenden Kern
herauszuschälen, — und durch den allerdings wesentlichen
Unterschied, daſs bei der Annahme eines historischen My-
thus jene Ausschmückung nicht wie bei der natürlichen Er-
klärungsart aus dem Urtheil der Betheiligten und der Er-
zähler selbst, sondern aus der Tradition hergeleitet wird,
lieſs man das Verfahren nur wenig modificirt werden.
Konnte der Rationalist, ohne seine Methode wesentlich zu
verändern, historische Mythen in der Bibel aufzeigen: so
war auch dem Supranaturalisten die Annahme historischer
Mythen, durch welche doch die geschichtliche Auffassung
der heiligen Erzählungen nicht ganz aufgehoben wird, we-
niger anstöſsig, als die Voraussetzung sogenannter philoso-
phischer, bei welchen auch die lezte historische Grundlage
aufgegeben wird. Kein Wunder daher, daſs die Ausleger,
wo sie den mythischen Gesichtspunkt in Anwendung brach-
ten, fast durchaus nur von historischen Mythen sprachen,
daſs Bauer unter einer ziemlichen Anzahl von Mythen, die
er aus dem N. T. namhaft macht, nur einen einzigen phi-
losophischen hat, und daſs ein Gemische von mythischer
und natürlicher Erklärung entstand, welches noch wider-
sprechender als die rein natürliche Auslegung war, deren
Schwierigkeiten man hatte entgehen wollen. So glaubte
Bauer1) die Erzählung von der Verheiſsung Jehova's an
Abraham historisch-mythisch zu erklären, wenn er als das
zum Grunde liegende Faktum dieſs annahm, daſs Abraham
bei Betrachtung des sternbesäten Himmels seine Hoffnung
auf zahlreiche Nachkommenschaft neubelebt gefunden ha-
[43]Einleitung. §. 10.
be; ein Andrer glaubte den mythischen Gesichtspunkt an-
zuwenden, wenn er von der Verkündigung der Geburt des
Täufers zwar alles Wunderbare hinwegräumte, doch aber
das Verstummen des Zacharias als historische Grundlage
stehen lieſs 2); ebenso legt Krug (in der angef. Abhand-
lung), nachdem er eben versichert hatte, nicht die Materie
der Geschichte (natürlich), sondern die Entstehung der
Erzählung (mythisch) erklären zu wollen, der Erzählung
von den Weisen aus Morgenland eine zufällige Durchreise
orientalischer Kaufleute zum Grunde; am schreiendsten aber
ist der Widerspruch, wenn man in einer Mythologie des
N. T.s, wie die Bauer'sche, ein solches Nichtverstehen des-
sen, was ein Mythus ist, findet, daſs z. B. bei den Eltern
des Täufers wirklich eine lange, unfruchtbare Ehe ange-
nommen, die Engel bei Jesu Geburt durch ein feuriges
Phänomen erklärt, bei seiner Taufe ein Bliz und Donner-
schlag sammt einer zufällig überhin fliegenden Taube voraus-
gesezt, bei der Verklärung ein Gewitter zum Grunde ge-
legt, und die Engel im Grabe des Auferstandenen zu weis-
sen Leintüchern gemacht werden. Auch Kaiser, welcher
über das Unnatürliche so mancher natürlichen Erklärungen
Klage führt, läſst doch mit der Bemerkung, es wäre ein-
seitig, alles Wunderbare im N. T. auf Eine und dieselbe
Weise zu erklären, die natürliche Auslegung neben der
mythischen stehen. Erkenne man nur an, daſs der alte
Autor ein Wunder habe erzählen wollen, so sei die na-
türliche Erklärung oft gar wohl zulässig. Sie sei bald eine
physikalisch-historische, wie bei der Erzählung vom Aus-
sätzigen, welchem Jesus ohne Zweifel die nahe Genesung
angesehen habe; bald eine psychologische, indem bei man-
chen Kranken der Ruf Jesu und das Vertrauen auf ihn das
Meiste gewirkt habe; bald sei auch der Zufall in Rechnung zu
[44]Einleitung. §. 10.
bringen, indem, wenn in Jesu Gegenwart Scheintodte von
selbst wieder zum Leben kamen, er als Ursache davon ange-
sehen worden sei. Bei andern Wundergeschichten übrigens
ist nach Kaiser die mythische Erklärung anzuwenden, nur
daſs er auch hier dem historischen Mythus viel mehr ein-
räumt, als dem philosophischen. Die meisten Wunder des
A. u. N. T.s sind nach Kaiser wirkliche Vorfälle, mythisch
ausgeschmückt, wie der Stater im Fischmaul, die Verwand-
lung des Wassers in Wein, welcher nach ihm ursprüng-
lich wohl ein humaner Scherz Jesu zum Grunde lag; We-
niges nur ist rein nach jüdischen Ideen erdichtet, wie Jesu
wundervolle Geburt, der Bethlehemitische Kindermord u.
dergl. 3)


Gabler besonders machte auf den Miſsgriff aufmerk-
sam, daſs man bisher manchen philosophischen Mythus als
historischen behandelt, und so Thatsachen angenommen
habe, welche niemals vorgefallen seien 4). Zwar will er
ebensowenig lauter philosophische Mythen im N. T. anneh-
men als lauter historische, sondern, einen Mittelweg ein-
schlagend, je nach Beschaffenheit des Inhalts bald die eine
bald die andre Art. Man müsse sich ebensosehr vor der
Willkührlichkeit hüten, welche da bloſs Philosopheme an-
nehme, wo wirkliche Fakta durchschimmern, als vor der
entgegengesetzten Neigung, Manches natürlich und ge-
schichtlich zu erklären, was doch nur zur mythischen Ein-
kleidung gehöre. Namentlich wenn die Ableitung eines
Mythus aus einem Räsonnement sehr leicht und natürlich
ist, hingegen jeder Versuch, das reine Faktum aus dem-
selben hervorzusuchen und dadurch die wunderbare Ge-
schichte natürlich zu erklären, entweder sehr gekünstelt ist,
oder gar in's Lächerliche fällt, so ist dieſs, nach Gabler,
ein sicherer Beweis, daſs man hier einen philosophischen,
[45]Einleitung. §. 10.
nicht einen historischen Mythus zu suchen hat. Die phi-
losophisch-mythische Deutung, schlieſst er, sei überdieſs in
manchen Fällen weit weniger anstöſsig, als die Behand-
lung aus dem historisch-mythischen Gesichtspunkt 5). —
Bei dieser Neigung Gabler's zum philosophischen Mythus
in Bezug auf die biblische Geschichte muſs man sich wun-
dern, wenn man sieht, wie er selbst in concreto nicht
zu wissen scheint, weder was ein historischer, noch was
ein philosophischer Mythus ist. Wenn er nämlich (in der
angef. Abh.) von den bisherigen mythologischen Erklärern
des N. T.s sagt, Einige von ihnen sehen in der Geschichte
Jesu nur historische Mythen, wie Dr. Paulus, Andre lau-
ter philosophische, wie der ungenannte E. F. in Henke's
Magazin: so ist klar, daſs er natürliche Erklärungen mit
historisch-mythischer Auffassung verwechselt, denn in Pau-
lus
Commentar sind nur die ersteren zu finden, da ja die
Sage nicht als Vermittlung der Erzählungen gefaſst wird;
ebenso wiederum historische Mythen mit philosophischen,
denn jene Abhandlung steht nach der oben mitgetheilten
Probe so sehr nur auf dem historisch-mythischen Stand-
punkt, daſs man ihre Erklärungen sogar für natürliche
halten könnte. — Am entschiedensten erklärte sich gegen
den Versuch, in den Mythen des N. T.s noch eine histo-
rische Grundlage zu suchen, der Ungenannte in Bertholdt's
kritischem Journal 6). Ihm scheint auch der von Gabler
vorgeschlagene Mittelweg zwischen ausschlieſsender An-
nahme von historischen und von philosophischen Mythen
nicht anwendbar zu sein, da zwar den meisten Nachrich-
ten des N. T.s etwas wirklich Geschehenes zum Grunde
liegen möge, ohne daſs es jedoch jezt noch möglich wäre,
[46]Einleitung. §. 11.
es von der mythischen Beimischung zu sondern und zu
entscheiden, wie viel zu diesem, wie viel zu jenem Be-
standtheile gehöre.


Es zeigte sich somit die Unfähigkeit, den Begriff des
Mythus in Bezug auf die biblische Geschichte rein zu fas-
sen einestheils in der überwiegenden Neigung zur Annah-
me historischer Mythen, welche nichts andres ist, als Man-
gel an Zutrauen zum Geist und zur Idee, als ob diese
nicht im Stande wären, rein aus sich heraus Erzählungen
zu erzeugen, sondern es hiezu durchaus einer äusseren,
wenn auch noch so zufälligen Begebenheit als Veranlassung
bedürfte; andrerseits in einer Vermengung des historisch-
mythischen Standpunkts mit der natürlichen Erklärung,
indem ohne Rücksicht auf den zugestandenen sagenhaften
Charakter des Berichts seine einzelnen Züge in der Erklä-
rung so urgirt wurden, als ob er aus dem Munde von
Augenzeugen aufgenommen wäre.


§. 11.
Der Begriff des Mythus nicht umfassend genug angewendet.


Aber nicht nur unrein gefaſst wurde der Begriff des
Mythus bei seinem ersten Aufkommen unter den Theolo-
gen, sondern auch auf die biblische Geschichte nicht um-
fassend genug angewendet.


Wie Eichhorn nur an der allerersten Schwelle der
A. T.lichen Urgeschichte einen wirklichen Mythus aner-
kannte, alles Folgende aber als historisch auf natürliche
Weise erklären zu müssen glaubte; wie man hierauf eine
Zeit lang zwar im A. T. mythische Bestandtheile zugab,
aber im N. T. an nichts dergleichen denken mochte: so
muſste, einmal in das N. T. zugelassen, der Mythus auch
wieder lange an dessen erster Schwelle, der Kindheitsge-
schichte Jesu, stehen bleiben, und jeder weitere Schritt
[47]Einleitung. §. 11.
wurde ihm streitig gemacht. Ammon1), der ungenannte
E. F. in Henke's Magazin u. A. machten einen bedeuten-
den Unterschied geltend zwischen dem historischen Wer-
the der Nachrichten von Jesu öffentlichem Leben und von
seiner Kindheit. Die Geschichte der letzteren könne un-
möglich gleichzeitig geschrieben sein, da damals noch Nie-
mand so sehr auf Jesum geachtet habe; ebensowenig in
seinen drei letzten Lebensjahren, weil sie nicht den käm-
pfenden und leidenden, sondern den verherrlichten Jesus
im Sinne habe; also könne sie erst nach seiner Auf-
erstehung verfaſst sein. Damals aber lieſsen sich kei-
ne sichern Nachrichten mehr über die Kindheit Jesu
einziehen; denn die Apostel waren nicht selbst Genos-
sen derselben gewesen; Joseph lebte wahrscheinlich nicht
mehr; der Maria, welche noch übrig war, hatten sich
indeſs manche Umstände in der Erinnerung herrlicher
ausgemalt, und wurden noch mehr von denen, welche es
von ihr hörten, nach ihren Messiasbegriffen, verherr-
licht; Manches bildete sich auch ohne historische Nach-
richten nach Zeitbegriffen und A. T.lichen Orakeln (wie
von der schwanger werdenden Jungfrau) aus. Durch al-
les dieses aber soll nach jenen Verfassern die Glaubwür-
digkeit der Evangelisten bei der folgenden Geschichte des
Lebens Jesu nicht das Mindeste verlieren. Ihr Zweck und
ihre Aufgabe war blos, eine sichere Geschichte der drei
letzten Lebensjahre Jesu zu geben, und in dieser verdie-
nen sie allen Glauben, weil sie theils selbst gegenwärtig
gewesen waren, theils, was sie schrieben, aus dem Munde
anderer glaubwürdiger Zeugen wissen konnten. — Diese
Grenzlinie zwischen der Glaubwürdigkeit der evangelischen
Geschichte des öffentlichen Lebens Jesu und der Fabelhaf-
tigkeit seiner Jugendgeschichte wurde dadurch noch schär-
fer gezogen, daſs manche Theologen geneigt waren, die
[48]Einleitung. §. 11.
beiden ersten Kapitel des Matthäus und Lukas, welche die
Jugendgeschichte enthalten, als unächt und spätere Zu-
sätze zu verwerfen 2).


Wie den ersten Anfang, so fassten aber bald einige
Theologen auch das letzte Ende der Lebensgeschichte Jesu,
seine Himmelfahrt, mythisch auf 3), so daſs dieselbe nun
an ihren beiden äussersten Rändern von kritischen Zwei-
feln angefressen wurde, während ihr eigentlicher Kern,
die Periode von der Taufe bis zur Auferstehung, immer
noch unangetastet bleiben sollte, oder daſs man, wie ein
Recensent von Greiling's Leben Jesu sich ausdrückt 4),
durch das Prachtthor der Mythe in die evangelische Ge-
schichte hinein, und durch ein ähnliches wieder hinaus-
fuhr, für das Dazwischenliegende aber mit den krummen
und mühseligen Pfaden der natürlichen Erklärung sich be-
gnügte.


Etwas mehr erweitert findet sich die Anwendung des
mythischen Gesichtspunktes bei Gabler5), wenn er den
Unterschied zwischen Wundern, die Jesus that, und sol-
chen, die an ihm vorgiengen, in der Art geltend macht,
daſs zwar die letzteren mythisch, die ersteren aber natür-
lich erklärt werden sollen. Gleich nachher übrigens spricht
Gabler wieder so, als ob er mit den oben erwähnten The-
ologen blos die Wunder aus der Kindheit Jesu mythisch
zu fassen gesonnen wäre, was eine Beschränkung des vo-
rigen Gesichtspunktes ist, da zwar alle Kindheitswunder
in unsern Evangelien an ihm vorgegangene (nicht von
ihm gethane) sind, dergleichen aber auch in seinem folgenden
Leben manche vorkommen. Ungefähr nach der Gabler'-
[49]Einleitung. §. 11.
schen Unterscheidung von Wundern Jesu und an Jesu
scheint auch Bauer in seiner hebräischen Mythologie die
Auswahl dessen eingerichtet zu haben, was er im N. T.
mythisch fassen zu dürfen glaubte, indem er nur die über-
natürliche Empfängniſs Jesu nebst den ausserordentlichen
Umständen bei seiner Geburt, die Scene bei der Taufe,
die Verklärung, den Engel in Gethsemane und die am Gra-
be mythisch behandelte, was zwar Wundergeschichten aus
allen Theilen des Lebens Jesu, aber nur solche sind, die
an Jesu vorgiengen, nicht von ihm verrichtet wurden, ob-
gleich auch jene nicht vollständig.


Wie unzulänglich und inconsequent ein solches unvoll-
ständiges Anwenden des Mythusbegriffs auf die Lebensge-
schichte Jesu sei, hat besonders der schon mehrmals an-
geführte Verfasser der Abhandlung über die verschiedenen
Gesichtspunkte, in welchen der Biograph Jesu arbeiten
kann, anschaulich zu machen sich bemüht 6). Der ge-
mischte Gesichtspunkt, auf welchem die evangelische Er-
zählung zum Theil als reine Geschichte, zum Theil als
mythisch betrachtet wird, verdankt nach ihm seinen Ur-
sprung solchen Theologen, welche die Geschichte nicht
aufgeben, und doch auch bei ihren klaren Resultaten sich
nicht beruhigen mögen, und auf diesem Mittelwege beide
Parteien vereinigen zu können meinen: ein eitles Bemühen,
welches der strenge Supranaturalist verketzern, der Rationa-
list verlachen wird. Indem diese Vermittler, bemerkt der Verf.,
gerne begreiflich machen möchten, was nur irgend möglich
ist, so ziehen sie sich alle die Vorwürfe zu, die man der natür-
lichen Erklärung mit Recht macht; indem sie aber auch
noch der Mythe Raum geben, so trifft sie die Klage über
Inconsequenz mit aller ihrer Schwere, der schlimmste
Vorwurf, der einem Gelehrten gemacht werden kann.
Überdieſs ist das Verfahren dieser Eklektiker das allerwill-
Das Leben Jesu I. Band. 4
[50]Einleitung. §. 11.
kührlichste, da sie meist nach subjektiven Gründen ent-
scheiden, was der Geschichte, und was der Mythe ange-
hören solle, — wenigstens wissen die Evangelisten, die
Logik und die ihr angehörige historische Kritik nichts von
solchen Unterscheidungen. Den Begriff des Mythus auf den
ganzen Umfang der Lebensgeschichte Jesu anzuwenden,
in allen Theilen derselben mythische Erzählungen oder
wenigstens Ausschmückungen zerstreut zu finden, dieſs ist
der Standpunkt dieses Verfassers, welcher nicht blos die
Wundererzählungen aus der Kindheit Jesu, sondern auch
die aus seinem öffentlichen Leben, und nicht blos die an
ihm vorgegangenen, sondern auch die von ihm verrichte-
ten Wunder unter die Kategorie des Mythischen stellt.


Wenn de Wette den drei ersten Evangelien einen sa-
genhaften und zum Theil sogar mythischen Charakter zu-
schreibt, und aus diesem ihre Abweichung in den Erzäh-
lungen und selbst in ihrer Darstellung der Reden und Leh-
ren Jesu erklärt 7), wenn er das Wunder bei Jesu Taufe
als Mythus betrachtet 8), wenn er zugiebt, daſs manche von
Jesu angeblich verrichtete Wunder in der Überlieferung
entstanden, oder doch vergröſsert worden sein mögen 9),
und endlich selbst den Zweifel stehen läſst, ob Jesus leib-
lich oder nur geistig auferstanden und wiedererschienen
sei 10): so scheint er ziemlich auf demselben Standpunkte
mit dem zuletzt angeführten Verf. zu stehen, und man be-
greift schwer, wie er dazu kommt, den Standpunkt jener
Abhandlung als zu weit geführte mythische Ansicht zu
bezeichnen 11). Es mag dieſs wohl daher rühren, daſs
de Wette das Johannes-Evangelium als Richtschnur der
[51]Einleitung. §. 12.
Kritik für den Inhalt der Geschichte und Lehre Jesu ge-
brauchen zu können glaubt 12); wozu noch in dem gan-
zen der Geschichte Jesu gewidmeten Abschnitt seiner bi-
blischen Dogmatik ein gewisses Schwanken zwischen my-
thischer und natürlicher Erklärung kommt 13).


Die ausgedehnteste Anwendung des Begriffs von phi-
losophischem Mythus, welchen man aber in Beziehung auf
das alte und neue Testament besser als den dogmatischen
bezeichnet, auf das Leben Jesu war schon 1799 in der
anonymen Schrift über Offenbarung und Mythologie ge-
macht worden. Das ganze Leben Christi, heiſst es hier,
was er im Allgemeinen thun sollte und wollte, war lange
vorher in der Idee und Anschauung der Juden abgezeich-
net. Jesus als Individuum war nicht so da, lebte nicht
wirklich so, wie er nach den Erwartungen jenes Volkes
gelebt haben sollte. Nicht einmal das, worin alle Anna-
len, die seine Thaten berichten, übereinstimmen, ist durch-
aus wirkliche Thatsache. Aus verschiedenen Volksbeiträ-
gen bildete sich eine Volksstimme von seinem Leben, und
nach dieser erst sind die Evangelien gemacht 14). Freilich
bemerkte dagegen ein Recensent, der Verfasser scheine
doch weniger Historisches anzunehmen, als den Erzählungen
wirklich zum Grunde liege; er hätte besser gethan, sich
durch nüchterne Kritik des Einzelnen, als durch einen all-
gemeinen Skepticismus leiten zu lassen 15).


§. 12.
Bestreitung und Vertheidigung der mythischen Ansicht von der
evangelischen Geschichte.


Durch den im Bisherigen dargelegten mythischen Ge-
sichtspunkt für die biblische Geschichte hatte man sich der
4*
[52]Einleitung. §. 12.
alten allegorischen Auslegung wieder genähert. Denn wäh-
rend die natürliche Erklärungsweise der Rationalisten sammt
der schmähenden der Naturalisten der Richtung angehört,
welche mit Aufopferung des göttlichen Gehaltes der heili-
gen Geschichte die leere historische Form derselben fest-
hält: so geht die mythische wie die allegorische darauf
aus, lieber umgekehrt mit Aufopferung der historischen
Wirklichkeit des Erzählten seine absolute Wahrheit fest-
zuhalten. Nach der den beiden letzteren Erklärungsarten
(wie auch der moralischen) zum Grunde liegenden Ansicht
giebt der Geschichtschreiber zwar etwas scheinbar Histo-
risches: aber ihm bewuſst oder unbewuſst 1) hat ein hö-
herer Geist dieſs Geschichtliche als bloſse Hülle einer über-
geschichtlichen Wahrheit oder Meinung zubereitet, und
nur der wesentliche Unterschied findet zwischen den zu-
letzt angeführten Erklärungsweisen statt, daſs nach der
allegorischen dieser höhere Geist unmittelbar der göttliche
selbst, nach der mythischen der Geist eines Volks oder
einer Gemeinde (nach der moralischen in der Regel der
des auslegenden Subjektes) ist, und somit die Erzählung
nach der ersteren Ansicht aus übernatürlicher Eingebung
sich herschreibt, nach der andern auf dem natürlichen
Wege der Sagenbildung sich entwickelt hat; womit noch
dieſs zusammenhängt, daſs die allegorische Auslegung (und
die moralische) mit der ungebundensten Willkühr jeden
Gedanken, den sie für gotteswürdig (moralisch) hält, der
Geschichte als Inhalt unterschieben kann, wogegen die my-
[53]Einleitung. §. 12.
thische durch die Rücksicht auf die Angemessenheit an den
Geist und die Vorstellungsweise eines Volks und einer Zeit
in Aufsuchung der den Erzählungen zum Grunde liegen-
den Ideen gebunden ist.


Gegen diese neue Ansicht von der heiligen Geschichte
sprachen sich übrigens beide Parteien, Orthodoxe wie Ra-
tionalisten, aus. Gleich Anfangs, so lange die mythische
Auffassung noch innerhalb der Grenzen der A. T.lichen
Urgeschichte stand, hat sich von ersterer Seite namentlich
Hess gegen dieselbe geäussert 2). So unglaublich man es
finden mag, so läuft doch der ganze Inhalt seiner ziem-
lich umfangreichen Abhandlung auf die drei Schlüsse hin-
aus, welche jede weitere Bemerkung überflüssig machen,
ausser der, daſs Hess keineswegs der letzte Orthodoxe war,
welcher die mythische Erklärungsart durch solche Waffen
bekämpfen zu können meinte. 1) Mythen sind uneigent-
lich zu verstehen; nun wollen aber die biblischen Geschicht-
schreiber eigentlich verstanden sein: folglich erzählen sie
keine Mythen. 2) Mythologie ist etwas Heidnisches; die
Bibel ist ein christliches Buch: also enthält sie keine My-
thologie. Der dritte Schluſs ist complicirter, und wie sich
unten zeigen wird, auch mehrsagend: Wenn blos in den
ältesten biblischen Büchern, die weniger historisch ver-
bürgt sind, Wunderbares vorkäme, in den späteren aber
nicht mehr, so könnte man das Wunderbare für ein Kenn-
zeichen des Mythischen halten; nun aber kommt das Wun-
derbare in den späteren, unleugbar historischen Büchern
noch ebenso vor, wie in den frühsten: folglich kann es
nicht als ein Kriterium des Mythischen gelten. Selbst die
schaalste natürliche Erklärung, wenn sie nur noch etwas
von Geschichte stehen lieſs, mochte sie auch jeden höhe-
[54]Einleitung. §. 12.
ren Inhalt derselben vernichten, war diesen Orthodoxen
noch lieber, als die mythische Auslegung. Das Schlech-
teste von natürlicher Deutung ist doch gewiſs jene Eich-
horn
'sche Ansicht von dem Baum der Erkenntniſs als ei-
nem Giftbaum, indem hier die Erzählung vom Sündenfall
in dem Stande der tiefsten Erniedrigung und Entäusserung
von ihrem absoluten Gehalte erscheint, wogegen desselben
Gelehrten spätere mythische Erklärung der Erzählung ei-
nen immerhin würdigen Gedankeninhalt in derselben fin-
det 3). Dennoch erklärte sich Hess mit der ersteren Deu-
tung weit mehr zufrieden, und nahm sie gegen die späte-
re, mythische in Schutz 4): — so gewiſs ist es, daſs ei-
nem solchen Supranaturalismus nach der Weise der Kin-
der die bunte historische Hülse, auch ausgeleert von jedem
göttlichen Inhalte, doch immer noch weit lieber ist, als
der reichste Inhalt, welchem man jenes farbige Gewand
ausgezogen.


So unangenehm es aber den Orthodoxen war, durch
die aufkommende mythische Erklärungsweise in ihrem hi-
storischen Glauben gestört zu werden, so waren doch die
Rationalisten nicht minder ungehalten, daſs das kunstrei-
che Gewebe ihres Pragmatismus durch dieselbe zerrissen
und die Kunststücke ihres natürlichen Erklärens nun mit
Einemmale für verlorene Mühe erklärt werden sollten.
Nur ungern läſst Dr. Paulus die Ahnung an sich kommen,
daſs man in Bezug auf seinen Commentar vielleicht aus-
rufen werde: wozu alle die Mühe, dergleichen Legenden
historisch zu erklären? wie sonderbar, daſs man Mythen
wie Geschichte behandeln, wunderbare Dichtungen nach
dem Causalgesez sich begreiflich machen will 5)! Der Quä-
lerei seiner natürlichen Erklärungen gegenüber erscheint
[55]Einleitung. §. 12.
dem genannten Theologen die mythische Auffassungsweise
nur als eine Geistesträgheit, welche mit der evangelischen
Geschichte auf dem leichtesten Wege fertig zu werden
wünsche, deſshalb alles Wundersame und Schwerverständ-
liche durch das dunkle Wort: Mythus auf die Seite schie-
be, und um sich der Mühe der Sonderung des Wunder-
baren vom Natürlichen, des Faktums vom Urtheil zu über-
heben, die ganze Erzählung in die camera obscura alter
heiliger Sage zurückstelle 6).


Mit noch stärkerer Miſsbilligung hatte sich Greiling
gegen Krug's Empfehlung der genetischen d. h. mythischen
Wundererklärung ausgesprochen, aber es war ihm begeg-
net, fast mit jedem Streich, den er auf diese führen woll-
te, vielmehr seine eigene, natürliche Auslegungsweise zu
treffen. Unter allen Versuchen, meinte er, dunkle Stellen
des N. T.s aufzuklären, könne schwerlich einer der ächt-
historischen Auslegung, der Ausmittelung der eigentlichen
Thatsachen und ihrer verständigen Absicht nachtheiliger
sein (d. h. dem Fürwiz natürlicher Erklärer mehr Abbruch
thun), als der Versuch, mit Hülfe einer dichtenden Phan-
tasie (so verhält sich die des natürlichen Erklärers, wenn
er Nebenumstände einschiebt, von welchen im Text keine
Spur ist; der mythische Erklärer verhält sich nicht dich-
tend, sondern nur Dichtung erkennend und aufdeckend)
der Geschichtserzählung aufzuhelfen. Eine solche unnö-
thige, willkührliche Dichtung der Phantasie ist nach Grei-
ling
die genetische oder formelle Erklärungsart der Wun-
der (sezt man noch einen grübelnden Verstand dazu, so
ist genau die natürliche Erklärung geschildert). Viele
Thatsachen, die sich als solche wohl noch retten lassen,
heiſst es weiter, werden dadurch entweder in das Fabel-
land gespielt, oder an deren Stelle selbsterfundene Dich-
tungen gesezt (mit Unterschiebung solcher Dichtungen giebt
[56]Einleitung. §. 12.
sich nur etwa die historisch-mythische Erklärungsweise ab,
aber eben sofern sie keine ächt-mythische, sondern mit der
natürlichen identisch ist). Namentlich eine Erklärung der
Wunder, meint Greiling, dürfe das Faktum selbst nicht
verändern und durch die Auslegung taschenspielerisch ein
andres unterschieben (was nur die natürliche Erklärung
thut), sonst würde ja das dem Verstand anstöſsige Objekt
nicht erklärt, sondern das vorausgesezte Faktum geleug-
net, womit die Aufgabe nicht gelöst wäre (es ist falsch,
zu behaupten, daſs ein Faktum zur Erklärung vorliege;
was unmittelbar vorliegt, ist nur ein Bericht, von welchem
erst ausgemacht werden muſs, ob ihm ein Faktum zum
Grunde liegt, oder nicht). Statt dessen müssen nach dem
angeführten Gelehrten namentlich die von Jesu verrichte-
ten Wunder natürlich, näher psychologisch, erklärt wer-
den, wobei man dann am wenigsten Ursache habe, die er-
zählten Thatsachen zu verändern, zu beschneiden, mit
Dichtungen so lange zu versetzen, bis sie selbst zur Dich-
tung werden (mit welchem Rechte dieſs der natürlichen
Erklärungsweise nachgerühmt wird, geht schon aus dem
Bisherigen hervor) 7).


Ueberhaupt, durchgeht man die Gründe, mit welchen
von den bezeichneten beiden Seiten die mythische Erklä-
rungsweise bekämpft worden ist: so findet man zum grö-
ſseren Theile nur Miſsverständnisse und Cirkel im Beweise.
Was soll man z. B. sagen, wenn Paulus die Einleitung zu
seinem exegetischen Handbuch mit einer Freude darüber
eröffnet, daſs das Lukas-Evangelium in seinem Prologe
uns recht angelegentlich von der Glaubwürdigkeit der ge-
sammelten Thatsachen, und von der prüfenden Sorgfalt
des Sammlers versichere; wenn er zuversichtlich fragt, was
dadurch entschiedener werde, als daſs wir in diesem Evan-
gelium keine Mythen, sondern reine Thatsachen bekommen
[57]Einleitung. §. 12.
sollen, da doch Niemand mythische Dichtungen mit einem
solchen Vorwort beginnen würde. Diese ganze Argumen-
tation fällt durch die einfache Unterscheidung, daſs Lukas
zwar allerdings so nicht sprechen konnte, wenn er das
von ihm zu Erzählende selbst als Mythen erkannte, gar
wohl aber, wenn er davon nichts ahnte, was nach dem
Geiste seiner Zeit zum Voraus wahrscheinlich ist. Eben-
damit fällt das Andere, was Dr. Paulus hinzusezt, es sei
nicht begreiflich, wie es dem Pauliner Lukas möglich ge-
wesen wäre, Mythisches in sein Evangelium aufzunehmen,
da gerade sein Lehrer Paulus so oft und stark gegen ju-
daisirende Mythen eifere (1. Tim. 1, 4. 4, 7. Tit. 1, 14.).
Zugegeben auch die paulinische Authentie der citirten Brie-
fe, und das enge Verhältniſs des Verfassers des dritten
Evangeliums zum Apostel Paulus, so waren einmal die in
jenen Briefen bekämpften Mythen offenbar andrer Art,
nämlich unerbauliche Ausgeburten einer jüdischen oder
christlichen Gnosis, wogegen das, was in dem Evangelium
als my[stis]ch in Anspruch genommen wird, auf die erbau-
lichste Weise christlichen, wenn auch judaisirenden, Ideen
dient; dann aber konnte den Lukas die paulinische Abnei-
gung gegen Mythen nicht von der Aufnahme solcher Er-
zählungen abhalten, welche er selbst nicht als Mythen er-
kannte. Aber freilich, Dr. Paulus kennt in Bezug auf
das N. T. nur eine absichtliche Einkleidung in Mythen,
um welche also auch Lukas bei der Aufnahme mythischer
Stücke in sein Evangelium gewuſst haben müſste, und stüzt so
eine irrige Voraussetzung durch eine andre noch verkehrtere.


Das Wort Mythus, erklärt er in dieser Beziehung 8),
sollte schon deſswegen auf die evangelische Geschichte nicht
angewendet werden, weil man es bei dieser Anwendung
in einem ganz andern Sinn nehmen müsse, als die Wort-
bedeutung und der ursprüngliche Gebrauch mit sich brin-
[58]Einleitung. §. 12.
ge. Von der alten classischen Mythologie nämlich hat
Paulus die richtige Einsicht, daſs in ihr die Voraussetzung
eines Eingreifens höherer Wesen in das menschliche Trei-
ben nicht blos Einkleidung, noch weniger frommer Betrug
gewesen sei; es stand, wie er ausdrücklich versichert, nicht
so, als ob die Menschen, und namentlich die Dichter, die
sichtbaren und natürlichen Ursachen der Fakta für sich
richtig gewuſst, und nur zur Verherrlichung des Gesche-
henen die übersinnlichen Ursachen hinzugedacht hätten:
vielmehr haben alle, und auch die Dichter, das Dasein
und Einwirken unsichtbarer Wesen so gewiſs, als das
Sichtbare selbst, geglaubt. Nun aber auf die Anfänge der
N. T.lichen Geschichte angewendet, solle, meint Dr. Pau-
lus
, das Wort Mythus gewöhnlich die Bedeutung einer
Einkleidung haben, in welche man erst in der Folgezeit
die frühsten, nicht genau bekannten Ereignisse absichtlich
eingehüllt habe; es solle also hier nicht wie dort eine be-
wuſstlose, unwillkührliche, sondern eine bewuſste und ab-
sichtliche Dichtung bezeichnen. Allein wer giebt dem ge-
nannten Ausleger das Recht, einen so verkehrten Begriff
von N. T.lichen Mythen zum Grunde zu legen, als sollten
sie künstliche Produkte absichtsvoller Dichtung sein, eine
Vorstellung, welche von allen, die auf gründliche Weise
über Mythen in der heiligen Geschichte gehandelt haben,
ausdrücklich ausgeschlossen worden ist? 9) Freilich denkt
er sich die Sache eigentlich so, im classischen Alterthum
sei das Mythische die psychologische Täuschung der bei
der Sache Gegenwärtigen, Mitredenden und Mithandeln-
[59]Einleitung. §. 12.
den gewesen, welche durch natürliche Erklärung zurecht
zu stellen sei; wogegen die im N. T. angenommenen My-
then die auf vergangne Fakta zurückgetragne Meinung der
später Lebenden enthalten, und dadurch der natürlichen
Erklärung entzogen werden sollen. Allein, was Paulus als
Beleg dieser Ansicht von der heidnischen Mythologie an-
führt, das sind doch nur solche Punkte, wie Begeisterung
des Dichters durch die Musen, Einsprache der Götter im
Traum u. dgl., was nur mythische Vorstellungen, nicht
aber eigentliche Mythen sind; diese selber, die mythischen
Erzählungen, z. B. vom Argonautenzug, vom trojischen
Krieg u. s. f., würde ihm doch schwer fallen, aus psy-
chologischer Täuschung der Mitlebenden zu erklären, und
es würde ihm kaum etwas Andres übrig bleiben, als sie
für zurückgetragene Vorstellungen der Nachgeborenen zu
halten, also sie ebenso zu behandeln, wie, wer im N. T.
Mythen anerkennt, mit diesen verfährt.


Kaum einer Erwähnung werth sind solche Einwände,
wie man sie dessen ungeachtet nicht selten noch zu lesen
und zu hören bekommt: da das Christenthum eine histo-
rische Religion sei, so können in seinen Urkunden keine
Mythen sich finden (als ob nicht nach der vorgefundenen
Beschaffenheit der Urkunden unsre Vorstellung von dem
historischen Charakter des Christenthums sich zu richten
hätte); mythologisch sei nur der Polytheismus, der Mono-
theismus sei antimythologisch; bei den Völkern, welche
Mythen haben, laufe Alles auf das Suchen eines Höheren,
einer Gottheit hinaus, und so lasse sich der Mythenbegriff
auf das A. und N. T. schon deſshalb nicht anwenden,
weil in ihnen die Lehre von dem wahren Gott schon ge-
funden sei 10) (allerdings drückt die mythische Darstellung
ein Suchen und Ringen, das noch nicht gefunden hat,
[60]Einleitung. §. 12.
aus, aber nicht nach einem Inhalte, der nun im Christen-
thum gefunden wäre, sondern nach einer Form, der des
klaren Begriffs, und diese war in der ersten Christenge-
meinde noch nicht vorhanden, weſswegen sich in ihr, un-
erachtet ihrer Erkenntniſs der religiösen Grundwahrheiten,
doch ein Bedürfniſs nach mythischer Darstellung derselben
äussern konnte). Wenn ferner geltend gemacht wird, die
angeblich mythischen Erzählungen im N. T. seien viel zu
genau und umständlich auch in Nebenzügen, die man sich
nicht die Mühe genommen haben würde, zu erdichten 11):
so braucht man sich nicht einmal mit Horst zu bemühen,
daran zu erinnern, daſs gerade diese redselige Umständ-
lichkeit einer Erzählung als Kennzeichen des Sagenhaften
und Dichterischen angesehen werden könne, da der ernste
Geschichtschreiber selten so glücklich sei, mit den Bege-
benheiten so ganz bis auf deren leiseste Schattirungen ins
Reine zu kommen 12); sondern man darf in der Regel bei
demselben Verfasser nur einige Blätter umschlagen, um ge-
rade auf die entgegengesetzte Argumentation zu stossen,
wie sich nämlich da oder dort eine fingirte Legende deſs-
wegen nicht annehmen lasse, weil in einer solchen Alles
ausführlicher und ausgeschmückter sich zeigen müſste 13).
Indem so die Erzählung der Evangelisten bald zu ausführ-
lich, bald zu wenig ausführlich, das Einemal zu genau
bis in die kleinsten Züge hineingezeichnet, das Andremal
nicht ausgemalt genug sein soll, um für mythisch angese-
hen werden zu können, indem also die Bestreiter der my-
thischen Auffassung sich das Entgegengesetzte gleicherwei-
se zu Nutze zu machen wissen: so kann man sie in die-
sem Stücke durch ihren eigenen Widerspruch als wider-
[61]Einleitung. §. 12.
legt betrachten. Übrigens hat gegen das zuletzt angeführte
Argument Schneckenburger mit Recht erinnert, daſs es
auch im Kreise des Mythischen ein Mehr oder Minder ge-
be 14), was näher dahin zu bestimmen ist, daſs die My-
thenproduktion überall zwei Perioden, eine primäre und
eine secundäre hat, und daſs die gesunden Produkte der
ersten immer, wie unsre kanonischen Evangelien, durch
edle Simplicität, die krankhaften Erzeugnisse der zweiten
aber durch Unnatur und Übertreibung, wie die N. T.li-
chen Apokryphen, sich bemerkbar machen. Verdienter-
maſsen hat daher schon Schelling über diejenigen, wel-
che, um den mythischen Charakter einer alten Sage zu be-
streiten, mit groſsem Triumph ausrufen: es ist doch gar
keine Kunst in ihr bemerkbar, sie ist viel zu einfältig,
sie macht zu wenig Jagd auf das Wunderbare, als daſs
man sie einen Mythus nennen könnte, — das procul este
profani
! ausgesprochen 15).


Was einer der neuesten Bestreiter der mythischen Aus-
legung, Heydenreich, insbesondere gegen die Wunderscheue,
als die Hauptquelle, wie der alten natürlichen, so der neuen
mythischen Ansicht vorbringt 16), ist theils gar zu obso-
let, theils für seine eigne supranaturalistische Ansicht ge-
fährlich. Einer verschollenen Weltansicht gehört es an,
wenn er sagt, obgleich Gott für gewöhnlich nur mittelbar
auf die Welt einwirke, so werde doch hiedurch nicht aus-
geschlossen, daſs er nicht bisweilen ausnahmsweise auch
unmittelbar auf dieselbe sollte wirken können, sobald er
es zur Erreichung eines besondern Zweckes nöthig finde,
und wenn sofort an den einzelnen göttlichen Eigenschaften
der Reihe nach gezeigt wird, wie ihnen ein solches Ein-
wirken nicht widerspreche, und an den einzelnen Wun-
[62]Einleitung. §. 12.
dergeschichten, wie bei ihnen gerade ein göttliches Eingrei-
fen ganz besonders schicklich gewesen sei. Wenn aber
hierauf Heydenreich, nach Herder's Vorgange 17), manche
Wunder als symbolische Vorgänge betrachtet, wenn er be-
merkt, es habe sich durch dieselben wie im leiblichen Sinn-
bilde dasjenige dargestellt, was Jesus an der Menschheit
geistig bewirken sollte; es habe, wenn er körperlich Kran-
ke heilte und Todte erweckte, dadurch die Heilung der
kranken, die Neubelebung der sittlich erstorbenen Seele
symbolisch angedeutet und das Verlangen nach solcher gei-
stigen Hülfe geweckt werden sollen: so führt er durch
diese Betrachtungsweise die gefährliche Möglichkeit herbei,
diesen symbolischen Charakter der Wundergeschichten so
zu verstehen, daſs der Geist der ersten Christengemeinde
sich eben jene Ideen in der symbolischen Hülle nicht wirk-
lich vorgefallner Geschichten zum Bewuſstsein zu bringen
gesucht habe.


Der gewichtigste, oder eigentlich der einzige gewich-
tige Einwurf, welchen die Bestreiter des mythischen Ge-
sichtspunktes für die Erklärung des N. T.s vorbringen, ist
der, daſs der Ursprung zweier Evangelien von Augenzeugen,
und auch bei den beiden andern die wahrscheinlich sehr
frühe Abfassung das Einschleichen unhistorischer Sagen in
dieselben undenkbar mache; weſswegen sich dann auch
dieser Einwurf bei den neuesten, von dem mythischen
Standpunkt her besonders bedrohten Auslegern vorzüglich
häufig wiederholt. Die dabei zum Grunde liegende An-
sicht über den Ursprung unsrer Evangelien wird theils auf
innere Gründe, theils auf äussere Zeugnisse gestüzt. In
ersterer Beziehung sind alle diejenigen Stücke in den Evan-
gelien, welche sich weigern, anders als mythisch sich aus-
legen zu lassen, eben so viele innere Gründe gegen die
[63]Einleitung. §. 12.
Voraussetzung einer Abfassung derselben durch Apostel
oder solche, welche unmittelbar von Aposteln ihre Erkun-
digungen eingezogen hätten; auf innere Gründe also kann
die Authentie der Evangelien nicht gebaut werden, ehe
sämmtliche Erzählungen derselben darauf angesehen sind,
ob sie eine historische oder eine mythische Auffassung ver-
langen. Freilich, wenn die äussern Zeugnisse für einen
apostolischen Ursprung der Evangelien zwingend wären:
so würde dieſs ein bedenkliches Hinderniſs der mythischen
Ansicht von ihren Berichten sein. Allein so sind jene äus-
sern Gründe keineswegs beschaffen. Denn so hoch gehen
doch die Zeugnisse weder für das Matthäus- noch für das
Johannes-Evangelium hinauf, daſs uns ein Bekannter die-
ser Apostel die Mittheilung machte, sie haben Evange-
lien, und zwar eben diejenigen geschrieben, welche wir
jezt unter ihren Namen lesen. Für das johanneische Evan-
gelium findet sich gerade bei Polykarpus, welcher den Jo-
hannes gekannt haben soll, nicht blos in dem, was uns
von ihm Schriftliches übrig ist, kein Zeugniſs, sondern
auch Irenäus, sein Schüler, weiſs sich für die Ächtheit je-
nes Evangeliums auf keinen Ausspruch seines Lehrers zu
berufen 18). Auch aus Papias, der als Ἰωάννου ἀκου[ς]ὴς be-
zeichnet wird, wissen die Väter, welche die alten Zeug-
nisse für unsre Evangelien sorgfältig aufgesammelt haben,
nichts für das johanneische Evangelium beizubringen. Da-
gegen bezeugt Papias von Matthäus, daſs er ein Evange-
lium (denn das will er allerdings durch τὰ λόγια bezeich-
nen 19)) geschrieben habe 20); allein theils wird Papias
nicht wie des Johannes, so auch des Matthäus Bekannter
[64]Einleitung. §. 12.
genannt; theils führt er keine Stellen aus dem von ihm
dem Matthäus zugeschriebenen Werke an, aus welchen
wir beurtheilen könnten, ob es dasselbe mit dem uns vor-
liegenden angeblichen Matthäus-Evangelium sei; theils end-
lich hat nach ihm Matthäus hebräisch geschrieben, und daſs
nun unser erstes Evangelium gerade eine Uebersetzung die-
ser Apostelschrift sei, beurkundet weder er noch ein andrer
Kirchenschriftsteller, sondern man sezt es nur voraus.
Man wird die Forderung überspannt nennen, für die Au-
thentie eines Buchs ein Zeugniſs von einem Bekannten des
Verfassers, also gleichsam von einem Augenzeugen des
Aktes der Abfassung und einem Ohrenzeugen der Versiche-
rung des Autors, es geschrieben zu haben, zu verlangen.
Sie wäre es, wenn es sich nur um Wahrscheinlichkeit,
wenn auch noch so hohe, der Authentie einer Schrift han-
delte: hier aber wird Nothwendigkeit, oder ein Zeugniſs
verlangt, welches uns auch gegen das etwaige Ergebniſs
der inneren Kritik doch bei der Annahme eines apostoli-
schen Ursprungs der genannten Evangelien zwingend fest-
hielte. Ein zwingendes Zeugniſs müſste die angeführte
Beschaffenheit haben, und da ein solches fehlt: so bleibt
uns die Möglichkeit offen, je nach der inneren Beschaf-
fenheit jener Evangelien sie als Werke von Aposteln oder
Nichtaposteln zu behandeln. — Die beiden mittleren Evan-
gelien sollen Werke von Apostelgehülfen sein. Vom
zweiten meldet Papias, aus dem Munde des πρεσβύτερος
Ἰωάννης, daſs es von Markus, der dem Apostel Petrus
als Dolmetscher gedient, aus Erinnerungen an dessen Vor-
träge geschrieben worden sei 21), und Andre lassen diese
Schrift noch dazu von Petrus durchgesehen und gebilligt
werden 22). Allein wie sich diese leztere Notiz durch
den eigenen Widerspruch ihres Gewährsmanns wider-
[65]Einleitung. §. 12.
legt 23): so trifft die erstere Angabe, daſs Markus nach den
Vorträgen des Petrus, also nach einer eigenthümlichen Quelle
gearbeitet habe, bei unsrem jetzigen zweiten Evangelium
durchaus nicht zu, welches augenscheinlich aus Matthäus und
Lukas zusammengeschrieben ist 24); abgesehen davon, daſs
das οὐ τάξει, welches Papias von der Schrift des Markus
prädicirt, auf die uns vorliegende in keiner Hinsicht An-
wendung finden kann, so daſs auch hier der anfängliche
Schein verschwindet, als rede Papias von unsrem jetzigen
Markus-Evangelium 25). — Das Lukas-Evangelium hat
ein starkes Zeugniſs seiner Abkunft von einem Apostel-
schüler in der Apostelgeschichte desselben Verfassers, in
welcher er einigemale als Begleiter des Paulus nament-
lich auch auf seiner Reise nach Rom, erscheint. Und
zwar hat man aus dem abgebrochenen Schluſs der Apostel-
geschichte, welcher nur noch eines zweijährigen Aufent-
halts Pauli zu Rom, aber keines Ausgangs seiner Sache
Meldung thut, folgern zu dürfen geglaubt, daſs Lukas die
Apostelgeschichte eben während seines Zusammenseins mit
Paulus in Rom, in den Jahren 63—65 geschrieben, folg-
lich sein Evangelium, welches er im Eingang der Apostel-
geschichte als den πρῶτον λόγον bezeichnet, etwas früher,
also zu einer Zeit verfaſst habe, in welcher er bei Paulus
und andern Aposteln die genauesten Erkundigungen über
das Leben Jesu einziehen konnte. Allein aus dem Schwei-
gen der Apostelgeschichte über den weiteren Verlauf und
das Ende der Gefangenschaft des Paulus ihre Abfassung
während der Dauer von dieser zu schlieſsen, ist ein un-
Das Leben Jesu I. Band. 5
[66]Einleitung. §. 12.
zulässiges argumentum ex silentio, welches, um einiges
Gewicht zu bekommen, durch innere Gründe verstärkt
werden müſste 26); so daſs Lukas immerhin sein Evange-
lium möglicherweise viel später, und zu einer Zeit geschrie-
ben haben könnte, in welcher er der Unterstützung des
Paulus (der übrigens mit den Thatsachen des Lebens Jesu
nur mittelbar, und wegen seines seltenen Zusammenseins
mit Aposteln auch nur unvollkommen bekannt gewesen zu
sein scheint), und ebenso der übrigen Augenzeugen ent-
behrte, also der Möglichkeit ausgesetzt war, im Geiste seiner
Zeit mythische Elemente unter die historischen aufzunehmen.


Ist somit, die Augenzeugenschaft, oder ein solches
Verhältniſs zu Augenzeugen, welches die Aufnahme von
Mythen undenkbar machte, von keinem der Verfasser
unsrer Evangelien durch äussere Zeugnisse streng zu be-
weisen: so fragt sich noch, ob nicht, abgesehen von den
Verfassern, die Zeit ihrer Abfassung so frühe zu setzen
ist, daſs sie die Annahme mythischer Nachrichten in den-
selben unmöglich macht? Da dieſs, in Ermanglung ver-
läſslicher Zeugnisse, nur aus der inneren Beschaffenheit
der Evangelien erhellen kann: so wollen wir uns, um der
folgenden Untersuchung nicht vorzugreifen, vorläufig nur
etwa dreissig Jahre Zwischenzeit zwischen Jesu Tod und
der Entstehung unsrer Evangelien ausbedingen. Wer die
Möglichkeit der Entstehung von Mythen in dieser Zwi-
schenzeit leugnete, der würde, um mit Usteri27) zu re-
den, wenig Kenntniſs davon verrathen, wie kurze Zeit
dazu nöthig ist, daſs nicht etwa blos verborgene und ge-
heime, sondern öffentliche und bekannte Thatsachen durch
die Tradition eine neue Wendung und einen Anstrich des
Wunderbaren erhalten, wenn einmal die Gemüther hiezu
disponirt sind. Herodot bezeugt (1, 95.), daſs zu seiner
[67]Einleitung. §. 12.
Zeit, also beiläufig 70 Jahre nach Cyrus Tode, ausser dem
von ihm mitgetheilten Berichte solcher über Cyrus, welche
nicht darauf ausgehen, σεμνοῦν τὰ περὶ Κῦρον, noch τριφα-
σίας ἄλλας λόγων ὁδοὺς φῇναι
. Wenn Heydenreich gegen
diese Instanz zuversichtlich fragt, welches von unsern
Evangelien denn, wie von den Urhebern der von Herodot
verworfenen Berichte nach seinen Worten vorausgesetzt
werden müsse, ein βούλεσϑαι σεμνοῦν τὰ περὶ Ἰησοῦν zeige? 28)
so antworten wir eben so getrost: alle. Wenn er aber
weiter mit Paulus bemerkt, daſs in dem angeführten Falle
der zwischen Faktum und Sagenbildung liegende Zeitraum
ungleich gröſser sei, als der zwischen Jesu Tod und dem
Ursprung unsrer Evangelien anzunehmende 29): so haben
wir uns allerdings hiefür keine 70 Jahre erbeten, sondern
vorläufig nur dreissig. Wenn aber nun Paulus, als ob das
angeführte Beispiel die kürzeste Zeit für mögliche Sagen-
bildung angäbe, darauf sogleich die Behauptung baut, daſs
nur etwa erst in der dritten Generation nach dem Faktum
mythische Verschönerungen ihren Anfang nehmen können:
so sind ihm aus demselben Herodot die offenbaren Legen-
den entgegen zu halten, welche dieser nicht blos über Cy-
rus, sondern auch über den nur etwa 30 Jahre hinter der
Abfassungszeit seiner Geschichte zurückliegenden zweiten
Perserkrieg zu erzählen weiſs, wie, daſs das von den Bar-
baren bedrohte Delphi durch Erdbeben und kämpfende
Heroën gerettet worden sei (8, 37 f.); daſs der von den
Persern verbrannte heilige Oelbaum auf der athenischen
Burg über Nacht wieder einen ellenhohen Sproſs getrieben
(8, 55.); daſs zum Beginne der Salaminischen Schlacht ein
φάσμα γυναικὸς mit vernehmlichen Worten aufgefordert
habe (8, 84.). Freilich gerade gegen Dr. Paulus ist mit
diesen Instanzen wenig auszurichten, da vor seinem Scharf-
5*
[68]Einleitung. §. 12.
sinn auch die angeführten Herodotischen Wunder sich als-
bald in natürliche aber treu berichtete Begebenheiten ver-
wandeln werden, wie er ja manche profane Mythen, de-
ren man sich als Analogieen zur Unterstützung der mythi-
schen Ansicht von gewissen neutestamentlichen Erzählun-
gen zu bedienen pflegt, durch Umdeutung in wirkliche,
aber natürliche Vorfälle zu jener Beweisführung unbrauch-
bar zu machen gesucht hat. Wenn aber der genannte Ge-
lehrte darauf noch besonderes Gewicht legt, wie undenk-
bar es sei, daſs sich in Palästina selbst, wo die Augenzeu-
gen noch lebten, Sagen über Jesum und Sammlungen von
solchen gebildet haben: so darf man sich hier nur die
Vorstellungen von Palästina und von Augenzeugen näher
entwickeln, um zu sehen, daſs sie die Entstehung von Sa-
gen in so früher Zeit keineswegs undenkbar machen. Zu-
gegeben, daſs sich diese Sagen alle in Palästina gebildet
haben: wer sagt uns denn, daſs dies gerade an denjeni-
gen Orten geschehen sein müsse, wo Jesus am längsten
sich aufgehalten hatte, wo also seine wahren Schicksale
bekannt waren? Was aber die Augenzeugen betrifft, so
müſste, sofern die Apostel darunter verstanden sein sol-
len, diesen eine wahre Allgegenwart zugeschrieben wer-
den, wenn sie an allen Orten und Enden, wo unhistori-
sche Sagen über Jesum aufkeimten und fortwucherten, zu
deren Ausjätung sollten zugegen gewesen sein; Augen-
zeugen im weiteren Sinne dagegen, welche Jesum nicht
ununterbrochen begleitet, sondern ihn nur das eine oder
andere Mal gesehen hatten, muſsten wohl sehr geneigt
sein, die Lücken ihrer Kenntniſs von seinem Lebensgang
durch mythische Vorstellungen auszufüllen. Daſs endlich
zu Lebzeiten der Apostel auch schon Sammlungen von
Sagen über das Leben Jesu in allgemeinen Umlauf ge-
kommen, und daſs namentlich eines von unsern Evange-
lien einem Apostel bekannt und von ihm anerkannt wor-
den sei, wird niemals bewiesen werden können.


[69]Einleitung. §. 12.

Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat
noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische
Auffassung mancher N. T.lichen Erzählungen ausgespro-
chen 30). Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit
zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan-
gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem,
ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den
religiösen Sinn und die keineswegs unpoëtische Natur des
jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu
dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei-
se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun-
gen seien viel zu vortrefflich, als daſs sie erdichtet sein
könnten, durch die Bemerkung, daſs sie nur eine Vertraut-
heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus-
setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we-
nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der
angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar-
auf dringen, daſs man die orientalische Phantasie und Be-
geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta-
lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög-
lichkeit behaupten, daſs von einem religiösen Palästinen-
ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym-
bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan-
gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können.
Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be-
trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au-
gen- und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön-
nen? Nur muſs man sich nach Usteri die Entstehung sol-
cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu
seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der-
[70]Einleitung. §. 12.
gleichen, wie Dichtungen, verfertigt und niedergeschrie-
ben; sondern der Ursprung derselben verliert sich in ein
Dunkel, wie bei jeder Sage, und ist nicht mehr nachweis-
bar; sie entstanden allmählig, gewannen allmählig Con-
sistenz, und das bleibende Resultat sind unsre schriftlichen
Evangelien. Auch von den oben gerügten beiden Fehlern
einer unreinen Auffassung und einer unvollständigen An-
wendung des Begriffs von Mythus hat Usteri den ersteren
durch die richtige Einsicht vermieden, welche er aus-
spricht, wie viel an den so entstandenen Mythen geschicht-
liche Grundlage auf der einen und poëtische Symbolik auf
der andern Seite sei, lasse sich jetzt nicht mehr unter-
scheiden, durch kein noch so scharfes kritisches Messer
lassen sich diese beiden Elemente jetzt noch von einander
sondern, höchstens könne es zu einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit gebracht werden, daſs bei der einen Sage
mehr Historisches zu Grunde liege, bei einer andern mehr
das Poëtische und Symbolische vorherrsche. Auf den Um-
fang der Anwendbarkeit des Mythusbegriffs bezieht sich
die Bemerkung Usteri's, wenn Mythen nur in einer vor-
geschichtlichen Zeit sich bilden können, so haben wir auch
im N. T. eine relativ vorgeschichtliche Zeit, nämlich die
vor dem öffentlichen Auftritt Jesu und seinem Zusammen-
sein mit den Jüngern; über diese Periode haben daher
ganz natürlich mythische Erzählungen entstehen können.
Hier zeigt sich Usteri in dem oben gerügten Fehler einer
ungehörigen Beschränkung des Mythischen in der Lebens-
geschichte Jesu noch befangen. Eine solche Schranke will
sich nirgends ziehen lassen, und sowohl vom Anfang als
vom Ende der evangelischen Geschichte dringt das Mythi-
sche mit Macht auch in den Kern derselben ein. Setzt
man nämlich von vorn herein die Taufe Jesu durch Jo-
hannes als den Endpunkt des Mythischen: so ist nicht nur
diese selbst noch mythisch erzählt, sondern es folgt auf
[71]Einleitung. §. 12.
sie die auch von Usteri mythisch gefaſste Versuchungsge-
schichte; einmal aber durch jene Pforte eingedrungen,
weiſs ich nicht, ob der Mythusbegriff nicht auch noch an-
dere Erzählungen aus der Periode des öffentlichen Lebens
Jesu sich vindiciren wird, wie das Wandeln auf dem Meer,
den Stater im Fischmaul u. dgl. Ebenso, wenn man am
Ende der Geschichte Jesu zwar die Himmelfahrt mit ihren
Engeln der mythischen Auffassung preiſsgeben will: so
findet sich doch auch in der Engelerscheinung am Grabe
des Auferstandenen etwas Analoges, und noch weiter zu-
rück in dem Engel in Gethsemane etwas, das deutlich nach
Legende schmeckt, endlich selbst die am Anfang der Lei-
densverkündigung stehende Verklärungsgeschichte will sich
so wenig als die Himmelfahrt einer historischen Auffassung
bequemen: so daſs, jener willkührlichen Grenzmarken spot-
tend, das Mythische auf allen Punkten der Lebensgeschich-
te Jesu zum Vorschein kommt.


Wer gegen diesen Augenschein dennoch darauf beste-
hen wollte, daſs die historische Zeit, in welche das öffent-
liche Leben Jesu fällt, die Bildung von Mythen über
dasselbe undenkbar mache, dem ist zu erwiedern, daſs um
ein groſses Individuum, zumal wenn an dasselbe eine in
das Leben der Menschen tief eingreifende Umwälzung ge-
knüpft ist, sich frühzeitig, selbst in der trockensten histo-
rischen Zeit, ein unhistorischer Kreis sagenhafter Verherr-
lichung bildet. Man denke sich eine junge Gemeinde, wel-
che ihren Stifter um so begeisterter verehrt, je unerwar-
teter und tragischer er aus seiner Laufbahn herausgerissen
worden ist; eine Gemeinde, geschwängert mit einer Masse
neuer Ideen, die eine Welt umschaffen sollten; eine Ge-
meinde von Orientalen, von gröſstentheils ungelehrten Men-
schen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form
des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der con-
ereten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten
[72]Einleitung. §. 12.
sich anzueignen und auszudrücken im Stande waren: so
wird man erkennen: es muſste unter diesen Umständen
entstehen was entstanden ist, eine Reihe heiliger Erzäh-
lungen, durch welche man die ganze Masse neuer, durch
Jesum angeregter, so wie alter, auf ihn übertragener Ideen
als einzelne Momente seines Lebens sich zur Anschauung
brachte. Das einfache historische Gerüste des Lebens Je-
su, daſs er zu Nazaret aufgewachsen sei, von Johannes
sich habe taufen lassen, Jünger gesammelt habe, im jüdi-
schen Lande lehrend umhergezogen sei, überall dem Pha-
risäismus sich entgegengestellt und zum Messiasreiche ein-
geladen habe, daſs er aber am Ende dem Haſs und Neid
der pharisäischen Partei erlegen, und am Kreuze gestor-
ben sei: — dieses Gerüste wurde mit den manchfaltigsten
und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexionen [und] Phan-
tasieen umgeben, indem alle Ideen, welche die erste Chri-
stenheit über ihren entrissenen Meister hatte, in Thatsa-
chen verwandelt, seinem Lebenslaufe eingewoben wurden.
Den reichsten Stoff zu dieser mythischen Verzierung lie-
ferte das alte Testament, in welchem die erste, vornehm-
lich aus dem Judenthum gesammelte Christengemeinde lebte
und webte. Jesus als der gröſste Prophet muſste in sei-
nem Leben und seinen Thaten Alles vereinigt und überbo-
ten haben, was die alten Propheten, von welchen das A.
T. erzählt, gethan und erlebt hatten; er als der Erneurer
der hebräischen Religion durfte hinter dem ersten Gesez-
geber in keinem Stücke zurückgeblieben sein 31); an ihm,
[73]Einleitung. §. 12.
dem Messias, endlich muſste Alles, was im A. T. Messia-
nisches geweissagt war, in Erfüllung gegangen sein, er
konnte nicht anders, als dem von den Juden im Voraus
entworfenen Schema des Messias, so weit die in seinen
historisch bekannten Schicksalen und Reden an diesem Sche-
ma gemachten Abänderungen es erlaubten, entsprochen ha-
ben. Daſs bei dieser Uebertragung des Erwarteten in die
Geschichte des wirklich Erfolgten, überhaupt bei der my-
thischen Ausschmückung des Lebens Jesu keine Art von
31)
[74]Einleitung. §. 12.
betrügerischer Absichtlichkeit und schlauer Erdichtung statt-
gefunden, sollte in unsrer Zeit nicht mehr zu bemerken
nöthig sein. Sagen eines Volks oder einer Religionspartei
sind ihren ächten Grundbestandtheilen nach nie das Werk
eines Einzelnen, sondern des allgemeinen Individuums je-
ner Gesellschaft, ebendaher auch nicht bewuſst und ab-
sichtlich entstanden. Ein solches unmerkliches gemeinsa-
mes Produciren wird dadurch möglich, daſs dabei die
mündliche Ueberlieferung das Medium der Mittheilung ist;
denn während durch die Aufzeichnung das Wachsthum
der Sage sistirt, oder doch nachweisbar gemacht wird, wie
viel jedem folgenden Schreiber Antheil an den Zuthaten
gebühre: so kommt bei mündlicher Ueberlieferung die Sa-
che so zu stehen, daſs das Ueberlieferte im zweiten Munde
vielleicht nur um Weniges anders sich gestaltet als im er-
sten, im dritten ebenfalls nur Weniges hinzukommt im
Verhältniſs zum zweiten, auch im vierten dem dritten ge-
genüber nichts Wesentliches geändert wird: und doch kann
im dritten und vierten Munde der Gegenstand ein ganz an-
drer geworden sein, als er im ersten war, ohne daſs ir-
gend ein einzelner Erzähler diese Änderung auf bewuſste
Weise vorgenommen hätte, sondern sie kommt auf Rech-
nung aller zusammen, und entzieht sich eben um dieser
Allmählichkeit willen dem Bewuſstsein, wie dieſs schnee-
ballartige Anwachsen der Tradition schon von Lessing in
Bezug auf die evangelische Geschichte bemerkt worden
ist 32).


Nimmt man dieſs Alles zusammen, so wird der An-
nahme von Mythen in allen Theilen der evangelischen Ge-
schichte wenig mehr im Wege stehen. Die Benennung,
[75]Einleitung. §. 12.
Mythen, selbst aber wird bei Verständigen ebenso wenig
Anstoſs erregen, als jemals ein bloſses Wort einen solchen
hervorbringen sollte. Denn Alles, was durch die Erinne-
rung an die heidnische Mythologie jenem Worte Zweideu-
tiges anklebt, schwindet ja durch die bisherige Ausfüh-
rung, welcher zufolge unter neutestamentlichen Mythen
nichts Andres, als geschichtartige Einkleidungen urchrist-
licher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage,
zu verstehen sind.


Durch das Bisherige ist gezeigt, daſs, wer den my-
thischen Standpunkt auf die evangelische Geschichte in An-
wendung bringt, nicht einem Einfall von heute, sondern
dem vielhundertjährigen Gang der Sache selbst folgt. Nach
dieser Rechtfertigung des Standpunkts der folgenden Un-
tersuchungen könnte nun aber noch eine Darlegung der
leitenden kritischen Grundsätze derselben, und namentlich
der Kriterien erwartet werden, durch welche ein Element
der evangelischen Geschichte sich als mythisches erweisen
soll. Da jedoch diese Grundsätze und Kriterien doch nur
aus der durchgearbeiteten Masse einzelner Fälle ihrer An-
wendung abstrahirt werden könnten, und abgesehen von
diesen sich nicht einmal mit gehöriger Anschaulichkeit dar-
stellen lassen: so ist es wohl besser, ihre Exposition dem
Verlauf der Untersuchung einzuflechten; ob Einheit in
denselben und Consequenz in ihrer Anwendung sei, wird
der kundige Leser auch ohne eine vom Verfasser voran-
gestellte Zusammenfassung selbst finden. — Was man wei-
ter hier erwarten könnte, eine vorgängige Untersuchung
über die zu Grunde zu legende Eintheilung des Lebens
Jesu in Perioden, hat mehr nur für eine pragmatische
Bearbeitung desselben Wichtigkeit, während für die kriti-
sche die gewöhnliche Eintheilung beibehalten werden kann;
ebenso muſs die weitere Zerfällung des Stoffes in Kapitel
und Unterabtheilungen zwar bei einem der reinen Wis-
[76]Einleitung. §. 12.
senschaft angehörigen Gegenstande aus diesem selber mit
Nothwendigkeit hergeleitet werden, bei einer Kritik hin-
gegen, welche den Stoff durchweg von aussen nimmt,
dient sie mehr nur der äusseren Bequemlichkeit der Über-
sicht, weſswegen über die Freiheit, mit welcher sich in
dieser Hinsicht die folgende Untersuchung bewegt, wohl
Niemand im Ernste mit dem Verfasser rechten wird.


[[77]]

Erster Abschnitt.
Geschichte der Geburt und Kindheit
Jesu.


[[78]][[79]]

Erstes Kapitel.
Verkündigung und Geburt des Täufers.


§. 13.
Die Erzählung des Lukas *) und deren unmittelbare, suprana-
turalistische Auffassung.


Dem öffentlichen Auftritt Jesu schicken alle unsre
Evangelisten den des Täufers Johannes voraus: seinem er-
sten Eintritt in das Leben den Lebensanfang des Täufers
voranzustellen, ist dem einzigen Lukas eigen. Diese Er-
zählung kann auch von einer, eigentlich nur dem Leben
Jesu gewidmeten Betrachtung nicht übergangen werden,
theils wegen des engen Zusammenhangs, in welchen schon
von vorn herein das Leben des Täufers mit dem Leben
Jesu gesetzt wird, theils wegen des Beitrags, welchen der
bezeichnete Abschnitt zur Charakteristik der evangelischen
Berichte bietet. Denn daſs derselbe, sammt dem Übrigen
der beiden ersten Kapitel des Lukas, unächt und spätere
Zuthat sei, war eine unkritische Vermuthung Solcher, wel-
che den damals noch neuen mythischen Standpunkt, wel-
chen diese Kindheitsgeschichte zu fordern schien, auf das
übrige Evangelium anzuwenden sich scheuten 1).


[80]Erster Abschnitt.

Ein frommes priesterliches Ehepaar ist kinderlos geal-
tert: als auf Einmal dem Priester beim Räuchern im Hei-
ligthum der Engel Gabriel erscheint, und ihnen in ihren
alten Tagen einen Sohn verheiſst, der als Gottgeweihter
leben, und der wegbereitende Vorläufer des in der messia-
nischen Zeit sein Volk heimsuchenden Gottes sein werde.
Als Zacharias wegen seines und der Elisabet hohen Al-
ters die Verheiſsung bezweifelt, wird ihm vom Engel als
Zeichen und Strafe zugleich bis zur Erfüllung Stummheit
auferlegt, welche wirklich andauert, bis bei der Beschnei-
dung des nunmehr geborenen Sohnes der Vater ihm den
vom Engel vorgeschriebenen Namen beilegen soll, worauf
er mit wiedererlangtem Sprachvermögen in einen Hymnus
ausbricht (Luk. 1, 5—25. 57—80.).


Daſs hiemit der evangelische Bericht wirklich eine Rei-
he äusserer, und zwar wunderbarer Vorgänge: eine von
Gott veranstaltete, durch die Erscheinung eines der höch-
sten Geister vermittelte Vorherverkündigung des messiani-
schen Vorläufers, eine nicht ohne besondern göttlichen Se-
gen bewirkte Schwangerschaft, und eine auf ausserordent-
liche Weise sowohl eingetretene als gehobene Stummheit
erzählen wolle, scheint sich zunächst von selbst zu verste-
hen. Eine andere Frage ist, ob auch wir dieser Ansicht
des Referenten beitreten und uns überzeugen können, daſs
wirklich der Geburt des Täufers eine solche Reihe von
wunderbaren Ereignissen vorangegangen sei?


Den ersten Anstoſs, welchen die neuere Bildung in der
vorgelegten Erzählung nimmt, bildet die Engelerscheinung,
theils als solche überhaupt, theils diese in ihrer besonderen
Beschaffenheit. Was das Letztere betrifft, so giebt sich
1)
[81]Erstes Kapitel. §. 13.
der Engel selbst zu erkennen als Γαβριὴλ, ὁ παρεςηκως
ἐνώπιον τοῦ ϑεοῦ
(1, 19.), und hier findet man es nun undenk-
bar, daſs der göttliche Geisterstaat wirklich gerade so be-
schaffen sein sollte, wie sich die nachexilischen Juden den-
selben dachten, und daſs sogar die Namen der Engel in
der Sprache dieses Volkes gegeben sein sollten 2). Selbst
der Supranaturalist auf seinem Boden kommt hier in eini-
ges Gedränge. Wären nämlich Namen und Rangordnung
der Engel, wie sie hier vorausgesetzt werden, ursprüng-
lich auf dem Boden der geoffenbarten hebräischen Religion
erwachsen, hätte Moses oder einer der älteren Propheten
dieselben festgesetzt: so könnten und müſsten sie auf su-
pranaturalistischem Standpunkt als richtig angenommen
werden. Nun aber finden sich jene näheren Bestimmungen
der Engellehre erst in dem makkabäischen Daniel 3) und
dem Apokryphum Tobia 4), offenbar in Folge des Einflus-
ses der Zendreligion, wie denn die Juden selbst bezeugen,
daſs die Engelnamen ihnen aus Babylon gekommen seien 5).
Hieraus ergiebt sich eine Reihe für den Supranaturalisten
Das Leben Jesu I. Band. 6
[82]Erster Abschnitt.
äusserst bedenklicher Fragen. Sind diese Vorstellungen,
so lange sie noch bloſs bei auswärtigen Völkern waren,
falsch gewesen, und erst, als sie zu den Juden über-
giengen, wahr geworden? oder sind sie von jeher wahr
gewesen, und haben also abgöttische Völker eine so hohe
Wahrheit früher entdeckt, als das Volk Gottes? Waren
jene Völker von besondrer göttlicher Offenbarung ausge-
schlossen, kamen sie also durch ihre eigne Vernunft früher
auf jene Entdeckung, als die Juden mittelst ihrer Offenba-
rung: so scheint ja die Offenbarung überflüssig, oder nur
negativ, d. h. zur Verhinderung eines zu frühen Bekannt-
werdens wirksam zu sein; nimmt man aber, um dieser
Consequenz auszuweichen, lieber auch bei jenen nichtisraë-
litischen Völkern einen oftenbarenden Einfluſs Gottes an:
so löst sich der supranaturalistische Standpunkt auf, und
wir dürfen, da in den sich gegenseitig widerstreitenden
Religionen doch nicht Alles geoffenbart sein kann, kritisch
auswählend verfahren. Da werden wir es nun einer ge-
läuterten Idee von Gott keineswegs angemessen finden, ihn,
wie einen menschlichen König, von einem Hofstaat umge-
ben zu denken, und wenn Olshausen sich für die Realität
solcher Thronengel auf die vernünftigerweise anzunehmen-
de Stufenleiter der Wesen beruft 6), so wird hiemit nicht
die hebräische Vorstellung gerechtfertigt, sondern ihr eine
moderne untergeschoben. Man wäre also auf den Ausweg
hingetrieben, eine Accommodation von Seiten Gottes anzu-
nehmen, d. h. daſs er einen höheren Geist abgesendet habe
mit der Weisung, sich, um bei dem Vater des Täufers
Glauben zu finden, der jüdischen Vorstellung gemäſs, ei-
nen Rang und Titel beizulegen, die er eigentlich nicht
hatte. Da aber, wie sogleich der Erfolg zeigte, Zacharias
auch so dem Engel nicht glaubte, sondern erst dem Er-
folg: so war jene ganze Accommodation unnütz und kann
[83]Erstes Kapitel. §. 13.
daher nicht von Gott veranstaltet worden sein. Was im
Besondern noch den Namen des erscheinenden Engels be-
trifft, und die Unwahrscheinlichkeit, daſs die Engel ge-
rade hebräische Namen haben sollen: so macht zwar Ols-
hausen
darauf aufmerksam, daſs der Name Gabriel appel-
lativisch in der Bedeutung: Mann Gottes genommen, ganz
richtig die Natur eines solchen Wesens bezeichne, und in-
dem er sich in dieser Bedeutung in allen Sprachen wie-
dergeben lasse, keineswegs an die hebräische gebunden
sei 7): aber damit umgeht er eben das eigentlich Anstös-
sige, was er lösen sollte, indem er das offenbar als Ei-
gennamen sich gebende Wort als bloſses Appellativum nimmt.
Es müſste also auch hier eine Accommodation angenommen
werden, daſs nämlich der Engel, um sich nach seinem
Wesen zu bezeichnen, einen Namen sich beigelegt hätte,
welchen er nicht wirklich führte, — eine Accommodation,
welche mit der vorigen beurtheilt ist.


Aber nicht allein Name und angebliche Stellung des
Engels, sondern auch sein Reden und Benehmen hat man
anstöſsig gefunden. Zwar wenn Paulus sich dahin äussert,
nur ein levitischer Priester, nicht aber ein Engel Jehova's
habe für nothwendig erachten können, daſs der Knabe in
nasiräischer Abstinenz leben sollte 8): so läſst sich dage-
gen geltend machen, daſs auch der Engel wissen konnte,
unter dieser Form werde Johannes am Meisten auf seine
Nation zu wirken im Stande sein. Bedenklicher aber ist
das Andre. Als nämlich Zacharias in einem aus Überra-
schung und einer nahe liegenden Reflexion hervorgegange-
nen Zweifel sich ein Zeichen erbittet: so wird ihm das
vom Engel alsbald zum Verbrechen gerechnet, und er mit
der Strafe des Verstummens belegt. Wenn man nun auch
nicht mit Paulus behaupten mag, ein wirklicher Engel
6*
[84]Erster Abschnitt.
würde den Untersuchungsgeist des Priesters vielmehr ge-
lobt haben: so wird man ihm doch in der Bemerkung bei-
stimmen können, daſs ein so imperioses Verfahren weniger
einem wirklichen himmlischen Wesen, als der damaligen
jüdischen Meinung von einem solchen angemessen sei. Auch
auf supranaturalistischem Boden hat man keine rechte Pa-
rallele zu diesem harten Verfahren. Denn gegen die Pau-
lus
'sche Berufung auf das ungleich mildere Verfahren Je-
hova's mit Abraham, welchem die ganz gleiche Frage selbst
ohne Tadel hingeht, gilt es nur in Bezug auf die Stelle
1. Mos. 15, 8., was Olshausen erinnert, Abraham habe
dieſs, nach V. 6, aus einer gläubigen Gesinnung heraus-
gesprochen; wogegen nicht allein nach Kap. 18, 12. der
weit markirtere Unglaube der Sara in gleichem Falle un-
gestraft bleibt, sondern auch nach 17, 17. Abraham selbst
die göttliche Verheiſsung bis zum Lachen unglaublich fin-
det, ohne auch nur getadelt zu werden. Noch näher liegt
das Beispiel der Maria, welche Luk. 1, 34. eigentlich ganz
dieselbe Frage wie Zacharias macht, so daſs man immer
mit Paulus wird sagen müssen, gewiſs nicht das Verfahren
Gottes oder eines höheren Wesens, sondern nur die Vor-
stellung der Juden von demselben werde so inconsequent
gewesen sein. — Eben weil es ihnen in der Art, wie es vor-
lag, selbst ein Anstoſs war, haben die orthodoxen Theo-
logen für dieses Verstummenlassen allerhand Gründe aus-
gesonnen. Hess glaubte das Verfahren des Engels gegen
den Vorwurf der Willkührlichkeit dadurch rechtfertigen
zu können, daſs er die Stummheit des Zacharias als das
einzige Mittel betrachtete, eine Sache auch wider seinen
Willen geheim zu halten, deren frühzeitiges Bekanntwer-
den für das Kind Johannes ähnliche gefährliche Folgen
hätte haben können, wie das Bekanntwerden der Geburt
Jesu durch die Magier sie für das Jesuskind hatte 9). Al-
[85]Erstes Kapitel. §. 13.
lein erstlich sagt von einem solchen Zwecke der Engel nichts,
sondern einzig als Strafe und Zeichen zugleich verhängt er
die Stummheit (V. 20.); dann aber muſs Zacharias den
Hauptinhalt der gehabten Erscheinung doch auch während
seiner Stummheit wenigstens seiner Gattin schriftlich mitge-
theilt haben, wie wir daraus sehen, daſs diese, noch ehe
man ihren Mann befragt, den dem Kinde bestimmten Na-
men kennt (V. 60.); endlich, was half es, das ungeborne
Kind zwar durch erschwerte Mittheilung seiner wunder-
vollen Ankündigung sicher zu stellen, wenn das kaum ge-
borene sogleich aller Gefahr dadurch preiſsgegeben wurde,
daſs durch die gelöste Zunge des Vaters und das Aufsehen
der Scene bei seiner Beschneidung die ganze Umgegend
des Redens von dieser Sache voll ward (V. 65.)? An-
nehmlicher wäre, wie Olshausen die Sache ansieht, indem
er die ganze wundervolle Begebenheit, also namentlich auch
das Verstummen, als ein sittliches Erziehungsmittel für Za-
charias betrachtet, durch welches er seinen Unglauben ken-
nen und überwinden lernen sollte 10); allein auch hievon
steht theils nichts im Texte, theils würde das unverhoffte
Eintreten des für unmöglich gehaltenen Erfolgs gewiſs
auch, wenn der Engel statt des Verstummens nur etwa ei-
nen Verweiſs angebracht hätte, seinen Unglauben gehörig
beschämt haben, so daſs auch durch diesen angeblichen
Zweck, als einen keineswegs einzig durch das angegebne
Mittel erreichbaren, die Verhängung der Stummheit über den
Zacharias nicht gerechtfertigt werden kann.


Möchte übrigens der dem Zacharias erschienene Engel
sich noch so gotteswürdig benommen haben: schon die
Engelserscheinung als solche würden Viele in unsern Ta-
gen unglaublich finden. Der Verfasser der hebräischen My-
thologie hat geradezu den Satz aufgestellt: wo Angelopha-
[86]Erster Abschnitt.
nien sind, da ist ein Mythus, wie im A. T., so im neuen 11).
Vorausgesetzt auch, daſs es Engel gebe, so können sie
doch, urtheilt man, den Menschen nicht erscheinen, denn
sie gehören der übersinnlichen Welt an, welche auf unsre
Sinnorgane nicht einwirken kann, so daſs es immer gera-
then bleibt, ihre angeblichen Erscheinungen auf die bloſse
Einbildungskraft zurückzuführen 12). Es sei nicht wahr-
scheinlich, sagt man ferner, daſs Gott sie der gewöhnli-
chen Vorstellung gemäſs gebrauche, denn es lasse sich kein
rechter Zweck ihrer Sendungen erkennen, indem sie ge-
wöhnlich nur der Neugier dienen, und noch dazu ihr Ein-
wirken die Menschen von selbstständiger Leitung ihres Le-
bens abziehen würde 13). Auch das müsse auffallen, daſs
diese Wesen in der alten Welt zwar bei den geringsten
Veranlassungen sich geschäftig zeigen, in der neuen aber
selbst bei den wichtigsten Begebenheiten müssig bleiben 14).
Wenn aber ihr Erscheinen und Einwirken in die Men-
schenwelt, so ist ebendamit auch ihr Dasein überhaupt
bezweifelt, weil eben in jenen Funktionen ein Hauptzweck
ihrer Existenz liegen müſste. In Bezug auf das Dasein der
Engel darf gewiſs die Schleiermacher'sche Kritik als ab-
schlieſsend betrachtet werden, weil sie das Ergebniſs der
Bildung neuerer Zeit der alten gegenüber auf das Adäqua-
teste ausspricht 15). Zwar lasse sich, meint Schleierma-
cher
, das Dasein von Engeln nicht als unmöglich nach-
weisen, doch sei die ganze Vorstellung eine solche, wel-
che in unsrer Zeit nicht mehr entstehen würde, sondern
ganz nur der alterthümlichen Weltanschauung angehöre.
Denn wenn der Engelglaube eine gedoppelte Quelle und
[87]Erstes Kapitel. §. 13.
Wurzel habe, die eine in dem natürlichen Verlangen unse-
res Geistes, mehr Geist in der Welt vorauszusetzen, als
in der menschlichen Gattung verwirklicht ist: so ist nach
Schleiermacher dieses Verlangen für uns jetzt Lebende
durch die Vorstellung befriedigt, daſs auch andre Welt-
körper ausser dem unsrigen auf entsprechende Weise be-
völkert seien, womit diese erste Quelle des Engelglaubens
abgeleitet ist; die andre aber, die Vorstellung Gottes als
eines von seinem Hofstaat umgebenen Königs, ist ohnehin
nicht mehr die unsere, auch die Veränderungen in Natur
und Menschenwelt, welche man sich sonst als von Gott
selbst durch dienende Engel bewirkt dachte, wissen wir
uns jetzt aus Naturursachen zu erklären, — so daſs der
Engelglaube jedes wahren Anknüpfungspunktes an einen
in der Bildung der neueren Zeit wahrhaft Begriffenen ent-
behrt, und nur noch auf todte, traditionelle Weise vor-
handen ist.


Diesem für die Annahme von Engeln negativen Resul-
tate der Zeitbildung gegenüber sucht Olshausen ebendersel-
ben, nach ihrer speculativen Seite, positive Gründe für die
Realität der vorliegenden Erscheinung abzugewinnen. Die
evangelische Erzählung, meint er, widerspreche einer rich-
tigen Weltansicht keineswegs, da ja Gott der Welt imma-
nent, sie von seinem Hauche bewegt sei 16). Allein, eben
wenn Gott der Welt immanirt, so braucht er am wenig-
sten durch Intervention von Engeln auf sie zu wirken;
nur wenn er ferne, oben im Himmel thront, braucht er
Engel herabzusenden, um auf der Erde etwas vorzuneh-
men. Man würde sich wundern müssen, wie Olshausen
auf jene Weise argumentiren könne, wenn nicht aus der
Art, wie dieser Ausleger die Angelologie und Dämonolo-
gie durchweg behandelt, erhellte, daſs ihm die Engel nicht
sowohl individuelle, persönlich für sich bestehende Wesen
[88]Erster Abschnitt.
sind, als vielmehr nur göttliche Kräfte, vorübergehende
Ausflüsse und Fulgurationen des göttlichen Wesens, so
daſs die Vorstellung Olshausen's von den Engeln in ihrem
Verhältniſs zu Gott der sabellianischen von der Trinität zu
entsprechen scheint; daſs aber dieſs nicht die biblische Vor-
stellung sei, folglich auch, was für jene vorgebracht wird,
für diese nichts beweise, ist hier nicht weiter auseinander
zu setzen. Auch was der genannte Theologe ferner sagt,
man dürfe die Gemeinheit des Alltagslebens nicht auch für
die reichsten Lebensmomente unsres Geschlechtes postuli-
ren; in der Zeit, als das ewige Wort sich in das Fleisch
versenkte, seien Erscheinungen der geistigen Welt in die
unsrige eingetreten, die in minder reich bewegten Zeiten
kein Bedürfniſs waren 17) — beruht auf einem Miſsverständ-
niſs. Denn die Alltäglichkeit wird in solchen Momenten
eben dadurch unterbrochen, daſs Geister wie der des Täu-
fers in die Menschheit eintreten, und es würde kindisch
sein, die Zeiten und Umstände, unter welchen ein Johan-
nes entstand und sich heranbildete, deſswegen alltäglich
zu nennen, weil es ihnen an Verzierung durch Engelerschei-
nungen gefehlt hätte; ebenso, was in solchen Zeitpunkten
die intelligible Welt für die unsrige thut, ist eben, daſs
sie ausserordentliche Menschengeister sendet, nicht daſs sie
Engel auf ‒ und niedersteigen läſst.


Wenn zur Vertheidigung der buchstäblichen Auffassung
dieser Abschnitte endlich angedeutet wird, eine solche Vor-
zeichnung des Erziehungsplans für das zu gebärende Kind
durch den Engel sei nöthig gewesen, um es zu dem Manne zu
machen, der es werden sollte 18): so würde das zu viel vor-
aussetzen, nämlich, daſs alle groſsen Männer, um zu sol-
chen erzogen zu werden, auf ähnliche Weise in die Welt
[89]Erstes Kapitel. §. 14.
eingeführt werden müſsten; überhaupt würde hiedurch zu
viel Gewicht auf die Erziehung zum Nachtheil der Entfal-
tung des Geistes von innen heraus gelegt; endlich aber ist
umgekehrt gegen die Auffassung der Erzählung als einer
wirklichen Wundergeschichte mit Recht das geltend gemacht
worden, daſs vielmehr Vieles in dem folgenden Leben des
Täufers ganz unerklärlich werde bei der Voraussetzung,
daſs sich wirklich so viele wundervolle Begebenheiten vor
und bei seiner Geburt ereignet haben. Denn allerdings,
wenn Johannes schon von Anfang an so wunderbar auf
Jesus, als den, dessen Vorläufer er sein sollte, hingewie-
sen war: so ist es nicht zu begreifen, wie er ihn vor sei-
ner Taufe nicht gekannt haben, und selbst später noch an
seiner Messianität irre geworden sein kann (Joh. 1, 30.
Matth. 11, 2.) 19).


Man wird somit der rationalistischen Kritik und Pole-
mik in dem negativen Resultate Recht geben müssen, daſs
es vor und bei der Geburt des Täufers nicht so übernatür-
lich zugegangen sein könne; nur fragt es sich jetzt, wel-
che positive Ansicht von der Sache an die Stelle der um-
gestossenen zu setzen ist?


§. 14.
Die natürliche Deutung der Erzählung.


Die leichteste Änderung, welche mit der vorliegenden
Erzählung durch Unterscheidung des reinen Faktums von
dem Urtheil der betheiligten Personen im Sinne der ratio-
nalistischen Auslegung vorgenommen werden könnte, wäre
nun diese, die Thatsache nach ihren beiden Haupttheilen,
der Erscheinung des Engels und dem Verstummen des Za-
charias als wirklichen äusseren Erfolg stehen zu lassen, nur
aber sie auf natürliche Weise zu erklären. Dieſs wäre in
[90]Erster Abschnitt.
Bezug auf die Angelophanie so möglich, daſs das Erschie-
nene für einen Menschen genommen würde, der dem Za-
charias, was dieser zu hören glaubte, wirklich gesagt hät-
te, von dem Priester aber für einen himmlischen Boten ge-
halten worden wäre. Da jedoch diese Ansicht in Betracht
der Umstände gar zu unwahrscheinlich ist, so sah man
sich genöthigt, einen Schritt weiter zu gehen, und die
Thatsache aus einer äussern zu einer innern zu machen,
sie vom Gebiete des physischen in das des psychischen Ge-
schehens zu verlegen. Hiezu bildet schon die Bahrdt'sche
Andeutung, das von Zacharias für einen Engel Gehaltene
könne vielleicht ein Bliz gewesen sein 1), einen Uebergang,
weil hiebei doch das Meiste Zacharias selbst aus seinem
Innern hinzugethan haben müſste. Daſs aber in gewöhnli-
chem Seelenzustande Jemand aus einem einfachen Blitze
eine solche Reihe von Reden und Gegenreden sich heraus-
spinnen werde, ist nicht glaublich; es müſste also ein be-
sonderer Zustand stattgefunden haben, sei es eine durch
Schrecken über den Bliz bewirkte Ohnmacht 2), wovon
aber im Texte keine Spur (kein Niederfallen, wie etwa
A. G. 9, 4.), oder ohne Veranlassung durch den Bliz ein
Traum, welcher aber bei'm Räuchern im Tempel nicht
wohl stattfinden konnte; daher wird man genöthigt, mit
Paulus sich darauf zu berufen, daſs es auch im Zustande
des Wachens Ekstasen gebe, in welchen der Seele sul-
jektive Bilder mit dem Scheine von objektiven Begegnissen
vorschweben 3). Solche Ekstasen sind freilich nichts Ge-
wöhnliches; aber bei Zacharias, meint Paulus, kam auch
Manches zusammen um einen so ungewöhnlichen Zustand
bei ihm hervorzurufen. Die lange Sehnsucht nach Nach-
[91]Erstes Kapitel. §. 14.
kommenschaft; nun das auszeichnende Loos, im Heiligen
des Tempels mit dem Weihrauch die Gebete des Volks zu
Jehova aufsteigen zu lassen, was ihm für ein günstiges
Vorzeichen der Erhörung auch seines Gebetes gelten konn-
te; vor seinem Abgang von Hause vielleicht noch eine An-
mahnung von seiner Frau, wie die von Rahel an Jakob,
1. Mos. 30, 1. (!). In der erhöhten Stimmung im halb-
dunkeln Heiligthum denkt er nun betend auch seines höch-
sten Wunsches, jezt oder nie erwartet er Erhörung, und
ist daher geneigt, in Allem, was sich darbieten mochte,
ein Zeichen derselben zu erblicken. Der aufsteigende Weih-
rauch, erhellt von den Lampen des Leuchters, bildet Fi-
guren: da glaubt der Priester eine himmlische Gestalt zu
sehen, von der er anfänglich erschreckt wird, bald aber
die Gewährung seiner Wünsche zu vernehmen glaubt.
Kaum ist ihm ein leiser Zweifel hiegegen aufgestiegen: so
hält der überfromme Priester dieſs bereits für frevelhaft,
glaubt sich vom Engel dafür gescholten und — hier ist
nun wieder eine gedoppelte Erklärung möglich — entwe-
der lähmt wirklich ein Schlagfluſs auf einige Zeit seine
Zunge, was er für gerechte Strafe seines Zweifels nimmt,
bis sich dann bei dem freudigen Anlaſs der Beschneidung
seines Sohns die Sprache wieder einfindet, so daſs dieser
Zug als äussere, physische, wiewohl wunderlose Bege-
benheit festgehalten wird 4); oder wird auch dieser Vor-
gang blos als ein psychischer gefaſst, daſs nämlich Zacha-
rias aus jüdischer Superstition den Gebrauch der vermeint-
lich miſsbrauchten Zunge sich selbst auf einige Zeit unter-
sagt habe 5). Neubelebt übrigens durch den ausserordent-
lichen Vorfall kehrt diesen Deutungen zufolge der Priester
zu seiner Gattin zurück, und sie wird eine zweite Sara.


[92]Erster Abschnitt.

Was nun die Paulus'sche Erklärung der Engelerschei-
nung betrifft, auf welche alle andern entweder im Wesent-
lichen hinauslaufen, oder durch ihre offenbare Unhaltbar-
keit hingetrieben werden: so kann man geradezu sagen,
daſs sie das Wunderbare, zu dessen Entfernung sie so
viele Mühe anwendet, nicht einmal vermeide. Denn ihr
Urheber gesteht selbst zu, daſs von einer solchen Vision,
wie er sie hier voraussezt, die meisten Menschen keine Er-
fahrung haben 6); sollen nun doch in einzelnen Fällen der-
gleichen Zustände vorkommen, so muſs doch theils eine be-
sondre Disposition dazu vorhanden sein, von welcher bei
Zacharias sonst keine Spur zu finden, die auch bei seinem
vorgerückten Alter nicht zu vermuthen ist, — theils muſs
eine bestimmte Veranlassung hinzutreten, welche hier durch-
aus fehlt 7); denn ein so lange gehegter Wunsch äussert
sich nicht mehr in ekstatischer Heftigkeit, und das Räu-
chern im Tempel konnte einen alten, gedienten Priester
nicht wohl ausser sich bringen. So hat Paulus hier nur
ein göttliches Wunder in ein Wunder des Zufalls umge-
wandelt; ob aber gesagt wird: bei Gott ist kein Ding un-
möglich; oder: dem Zufall ist kein Ding unmöglich, ist
beides gleich precär und unwissenschaftlich.


Aber auch das Verstummen des Zacharias wird auf
diesem Standpunkte nur sehr unbefriedigend erklärt. Denn
war dasselbe nach der einen Erklärung durch einen Schlag-
fluſs herbeigeführt, so hat dieſs zwar nicht die Schwierig-
keit, welche Paulus darin finden will, daſs ein stumm ge-
wordener Priester nach 3. Mos. 21, 16. ff. sogleich von
den Funktionen hätte abtreten müssen, während doch nach
V. 23. Zacharias erst nach dem Ende seiner Dienstwoche
von Jerusalem weggieng; dieſs nämlich erledigt sich leicht
durch die Bemerkung, welche schon Lightfoot gemacht
[93]Erstes Kapitel. §. 14.
hat 8), daſs eine, wenn auch nur vermeintlich, auf wun-
derbare Weise entstandene Sprachlosigkeit nicht mit einer
Stummheit als natürlichem Gebrechen in Eine Klasse würde
gestellt worden sein. Wohl aber wird man sich mit
Schleiermacher darüber verwundern müssen, wie Zacha-
rias unerachtet jenes Schlagflusses frisch und übrigens ge-
sund nach Hause geht 9), so daſs er gerade mit dieser
theilweisen Lähmung anderntheils die Kraft erhalten haben
müſste, seinem langgehegten Wunsche Realität zu schaffen.
Auch das muſs als ein sonderbarer Zufall bezeichnet wer-
den, daſs gerade am Beschneidungstage des Sohnes die
Lähmung der Zunge des Vaters gewichen sein soll, da,
wenn dieſs der Gewalt der Freude zugeschrieben wird 10),
diese gewiſs am Tage der Geburt des Sohnes gröſser
gedacht werden muſs als an dem späteren Beschneidungs-
tage, wo sich der Vater an den Besiz des Kindes be-
reits gewöhnt hatte. — Die andre Erklärung aber, daſs
das Nichtredenkönnen des Zacharias nicht eine physische
Unmöglichkeit, sondern nur ein psychologisch zu erklärendes
Meinen, nicht reden zu dürfen, gewesen sei, ist dem Wort-
sinn bei Lukas zuwider. Denn was beweisen alle die Stel-
len, welche Paulus zum Beweis dafür aufhäuft, daſs οὐ
δύναμαι
nicht allein ein wirkliches non posse, sondern
auch ein bloſses non sustinere bedeuten könne 11), gegen
den klaren Zusammenhang unsrer Stelle? Wenn nämlich
etwa auch das erzählende οὐκ ἠδύνατο λαλῆσαι ἀυτοῖς
(V. 22.) mit Noth in jenem Sinne genommen werden könn-
te: so würde doch V. 20. der Engel in der visionären Vor-
stellung des Zacharias, wenn er diesem das Reden nur
[94]Erster Abschnitt.
verbieten, nicht unmöglich machen wollte, nicht gesagt ha-
ben: καὶ ἔσῃ σιωπῶν, μὴ δυνάμενος λαλῆσαι, sondern: ἴσϑι
σιωπῶν, μηδ' ἐπιχειρήσῃς λαλῆσαι
, wie auch das διέμενε
κωφὸς
(V. 21.) am natürlichsten von wirklicher Stumm-
heit verstanden wird. Soll also der Bericht, was auf die-
sem Standpunkte durchaus vorausgesezt wird und werden
muſs, genau das wiedergeben, was Zacharias selbst über
das ihm Begegegnete erzählte: so müſste, wenn man eine
wirklich eingetretene Stummheit leugnet, da er doch durch
den Engel sich wirklich eine solche ankündigen läſst, an-
genommen werden, er habe, unerachtet er hätte reden
können, sich doch für stumm gehalten, was auf Verrückt-
heit führen würde, die man doch dem Vater des Johannes
ohne Nöthigung durch den Text nicht wird aufbürden
wollen.


Auch das berücksichtigt diese natürliche Erklärung zu
wenig, daſs ihr zufolge einer aus so abnormem Seelenzu-
stande entsprungenen Vorherverkündigung der Erfolg mit
unbegreiflicher Genauigkeit entsprochen haben müſste. Ein
solches Eintreffen einer visionären Voraussagung würde
der Rationalist in keinem andern Gebiete glaublich finden.
Wie, wenn etwa Dr. Paulus von einer Somnambüle zu
lesen bekäme, sie habe in einer Ekstase die den Umstän-
den nach im höchsten Grade unwahrscheinliche Erzeugung
eines Kindes, und nicht nur eines Kindes überhaupt, son-
dern speciell eines Knaben, und zwar mit genauer Angabe
sogar seiner künftigen Geistesentwickelung und geschicht-
lichen Stellung vorausgesagt, und Alles sei auf's Genauste
eingetroffen: würde er ein solches Zusammentreffen an-
nehmlich finden? Gewiſs, er würde einen solchen Blick in
die geheimste Werkstätte der zeugenden Natur keinem
Menschen in keinem Zustande zugestehen; namentlich wür-
de er über Frevel an der menschlichen Freiheit Klage er-
heben, welche durch die Annahme aufgehoben werde,
daſs sich der ganze intellektuelle und moralische Entwick-
[95]Erstes Kapitel. §. 14.
lungsweg eines Menschen wie der Ablauf eines Uhrwerks
vorherbestimmen lasse, und er würde ebendeſswegen über
Ungenauigkeit der Beobachtung und Unzuverläſsigkeit ei-
nes Berichtes sich beschweren, welcher so unmögliche
Dinge als geschehene erzähle. Warum thut er dieſs nicht
auch in Bezug auf unsern N. T.lichen Bericht? warum
findet er hier annehmlich, was er dort verwirft? Herr-
schen denn in der biblischen Geschichte andere Gesetze als
in der übrigen? Dieſs muſs der Rationalist voraussetzen,
wenn er das sonst Unglaubliche in der evangelischen Ge-
schichte glaublich findet; damit aber kehrt er zum supra-
naturalistischen Standpunkt zurück, denn eben die Annah-
me, daſs die sonst gewöhnlichen Naturgesetze für jene Ge-
schichte nicht gelten, ist das Eigenthümliche des Supra-
naturalismus.


Vor dieser Selbstvernichtung sich zu retten, bleibt der
dem Wunder ausweichenden Erklärungsart nichts Anderes
übrig, als die buchstäbliche Richtigkeit der Erzählung zu
bezweifeln. Daſs dieses die einfachste Auskunft wäre, be-
merkt auch Paulus, wenn er selbst vermuthet, man werde
sein Bemühen mit natürlicher Erklärung eines Berichtes
überflüssig finden, welcher nichts Andres als eine von den
lobpreisenden Jugendgeschichten sei, wie sie von jedem
groſsen Manne nach seinem Tode oder selbst noch zu sei-
nen Lebzeiten gedichtet werden. Dennoch glaubt Paulus
nach unparteiischer Erwägung diese Analogie hier nicht
anwenden zu dürfen. Sein vornehmster Grund ist die all-
zukurze Zwischenzeit zwischen der Geburt des Täufers
und der Abfassung des Lukas-Evangeliums 12), was wir
nach dem in der Einleitung Bemerkten geradezu umkeh-
ren und den genannten Ausleger fragen können, wie er
begreiflich machen wolle, daſs von einem so gefeierten
Manne wie Johannes, in einer so aufgeregten Zeit, seine
[96]Erster Abschnitt.
Geburtsgeschichte nach mindestens 60 Jahren noch mit ur-
kundlicher Genauigkeit habe überliefert werden können?
Hier hat Paulus die auch von Andern (wie Heydenreich,
Olshausen
) gebilligte Antwort bereit, vermuthlich sei
der von Lukas 1, 5—2, 39. eingerückte Aufsaz eine unter
der Verwandtschaft des Täufers und Jesu circulirende,
wahrscheinlich von Zacharias verfaſste Familiennachricht
gewesen 13), — eine aus der Luft gegriffene, moderne
Hypothese, welche viel zu ernsthaft behandelt wird, wenn
man ihr mit K. Ch. L. Schmidt entgegenhält, eine so ent-
stellte (wir würden blos sagen: ausgeschmückte) Erzäh-
lung könne unmöglich ein Familienaufsaz sein, sondern
wenn sie nicht ganz in die Klasse der Legenden gehöre,
so sei doch ihre etwaige geschichtliche Grundlage nicht
mehr zu unterscheiden 14). Weiter wird angeführt, in
der Erzählung selbst finden sich Züge, welche kein Dich-
ter hätte ersinnen können, welche somit darauf hinweisen,
daſs der Bericht ein unmittelbarer Abdruck des Faktums
sei. Ein solcher Zug soll von Allen der sein, daſs die
messianischen Erwartungen der verschiedenen Luc. 1. u. 2.
redend eingeführten Personen so richtig nach ihren Um-
ständen und Verhältnissen gezeichnet seien 15): allein diese
Unterschiede sind gar nicht so scharf vorhanden, wie sie Pau-
lus
dafür ausgiebt, sondern sie verhalten sich mehr nur als
Fortschritt vom Allgemeinen zum Bestimmteren, der auch ei-
nem Dichter oder einer Volkssage natürlich ist. Ueber-
haupt wird man mit Schleiermacher sagen müssen, diese
Reden lassen sich gerade am wenigsten als historisch ge-
nau im engsten Sinne nehmen, und behaupten, Zacharias
habe wirklich in dem Augenblick, als er die Sprache wie-
der erhielt, sie auch zu jenem Lobgesang benüzt, ohne
[97]Erstes Kapitel. §. 15.
durch die Freude und Verwundrung der Versammlung ge-
stört zu werden, durch welche doch der Erzähler selbst
sich unterbrechen läſst, — sondern es müſste auf jeden
Fall angenommen werden, daſs der Verfasser von dem
Seinen hinzugefügt, und die Geschichtserzählung durch die
lyrischen Ausbrüche seiner Muse bereichert habe 16); denn
was Kuinöl vermuthet, Zacharias habe den Lobgesang erst
nachher verfertigt und niedergeschrieben, ist doch, neben
dem Wunderlichen, dem Texte zu sehr zuwider. — End-
lich, wenn die Erklärer sich darauf berufen, am allerwe-
nigsten würde ein Erfinder gewisse andre Züge so richtig
getroffen haben, wie das Zuwinken, den Streit des Fami-
milienraths, und daſs der Engel gerade zur rechten Hand
des Altars gestanden 17): so zeigen sie nur, daſs sie von
Poësie und Volkssage entweder keinen Begriff haben, oder
hier keinen haben wollen, da ja ächte Dichtung und Sage
gerade durch Anschaulichkeit und Natürlichkeit der einzel-
nen Züge sich auszeichnet 18).


§. 15.
Die mythische Ansicht von der Erzählung auf verschie-
denen Stufen.


Die oben nachgewiesene Nothwendigkeit und die zu-
letzt dargelegte Möglichkeit, die historische Treue des vor-
liegenden Berichts zu bezweifeln, hat mehrere Theologen
veranlaſst, die ganze Relation über die Verkündigung der
Geburt des Täufers für eine Sage zu erklären, entstanden
aus der Wichtigkeit, welche Johannes als Vorläufer für
die Christen hatte, und aus Nachbildung einiger A. T.li-
chen Erzählungen, in welchen Isaaks, Samuels und nament-
Das Leben Jesu I. Band. 7
[98]Erster Abschnitt.
lich Simsons Geburt auf ähnliche Weise angekündigt wird.
Doch nicht rein erdichtet sollte die Sache sein, sondern
als historische Wahrheit möge zum Grunde liegen, daſs
Zacharias mit Elisabet lange in einer unfruchtbaren Ehe
gelebt, daſs ihm einmal im Tempel eine Stockung des Bluts
seine alte Zunge gelähmt, bald darauf aber seine bejahrte
Frau ihm einen Sohn geboren, und er in der Freude hier-
über das Sprachvermögen wieder bekommen habe. Schon
damals, noch mehr aber als Johannes ein merkwürdiger
Mann wurde, machte die Geschichte Aufsehen, und es bil-
dete sich die vorliegende Sage 1).


Man muſs verwundert sein, unter anderem Titel hier
beinahe wieder dieselbe Erklärung sich vorgeführt zu se-
hen, welche bisher als natürliche beurtheilt worden ist, so
daſs die aufgenommene Voraussetzung möglicher Einmi-
schung späterer Sagen in die Relation fast keinen Einfluſs
auf die Ansicht von der Sache selbst gehabt hat. Da die
Erklärungsweise, auf deren Boden wir jetzt getreten sind,
das Vertrauen zu den Berichten, als ächthistorischen, ein-
mal aufgegeben hat: so müssen ihr alle Züge derselben an
sich gleich problematisch sein, und ob sie einige doch als
geschichtlich festhalten soll, kann sich nur darnach bestim-
men, ob ein und der andere Zug theils für sich nicht so
schwierig, theils nicht so im Geist, Interesse und Zusam-
menhang der Sage ist, daſs sein Ursprung aus dieser wahr-
scheinlich würde. Als solche Züge werden hier festgehal-
ten die lange Unfruchtbarkeit der Elisabet und das plöz-
liche Verstummen des Zacharias, so daſs nur die Erschei-
nung und Vorhersagung des Engels preiſsgegeben wird.
Da aber eben durch die Wegschaffung der Angelophanie
die Stummheit des Zacharias in ihrem plözlichen Eintre-
ten und Wiederaufhören ihre einzig genügende übernatür-
[99]Erstes Kapitel. §. 15.
liche Ursache verliert: so kehren hier alle die Schwierig-
keiten zurück, welche an der natürlichen Deutung in's
Licht gestellt worden sind; wozu noch die Inconsequenz
kommt, daſs man bei einmal betretenem mythischen Stand-
punkt gar nicht nöthig hat, sich in diese Verlegenheit zu
begeben, da man ja nicht mehr durch die Voraussetzung
historischer Treue der Berichte an Festhaltung derselben
gebunden ist. Das Andre aber, was als geschichtlich bei-
behalten wird, die lange Kinderlosigkeit der Eltern des
Täufers, ist so ganz im Geist und Interesse der hebräi-
schen Sagenpoësie, daſs von diesem Zuge am wenigsten
der mythische Ursprung verkannt werden sollte. Wie ver-
worren hat dieses Verkennen z. B. das Räsonnement von
Bauer gemacht! Man habe, sagt er 2), im jüdischen Gei-
ste so geschlossen: Alle nach langer Unfruchtbarkeit im
vorgerückten Alter der Eltern gebornen Kinder werden
groſse Männer; Johannes war von alten Eltern da und
wurde ein angesehener Lehrer der Buſse: folglich glaubte
man berechtigt zu sein, seine Geburt durch einen Engel
ankündigen zu lassen. Welch ein Ungethüm von einem
Schlusse, und das aus keinem andern Grunde, als weil er
das Spätgeborensein des Johannes als gegeben voraussezt.
Man mache es zu etwas erst Erschlossenem: so gestaltet
sich der Schluſs ohne alle Schwierigkeit. Von groſsen Män-
nern, lautet er nun, nahm man gerne an, daſs sie Spätge-
borene seien 3), und ihre, menschlicherweise nicht mehr
7*
[100]Erster Abschnitt.
zu erwartende Geburt durch himmlische Boten verkündigt
werde; Johannes war ein groſser Mann und Prophet: also
machte die Sage auch ihn zu einem Spätgeborenen, und
lieſs seine Geburt durch einen Engel verkündigt werden.


Weil auf diese Weise die Deutung der vorliegenden
Erzählung als eines halben (sogenannten historischen) My-
thus von allen Schwierigkeiten einer halben Maſsregel ge-
drückt ist: so hat sich schon Gabler lieber der Annahme
eines reinen (sogenannten philosophischen, besser: dog-
matischen) Mythus zugewendet 4), und Horst hielt, wie
die ganzen zwei ersten Kapitel des Lukas, so auch diesen
Theil derselben für eine sinnreiche Dichtung, in welche
mit der Geburtsgeschichte des Messias auch die seines Vor-
läufers aufgenommen, und die Vorhersagen über dessen
Charakter und Wirksamkeit nach dem Erfolge gebildet
seien; wobei gerade auch die redselige Umständlichkeit der
Erzählung den Dichter verrathe 5). Ebenso hat Schleier-
macher
wenigstens das erste Kapitel des Lukas für ein
kleines poëtisches Kunstwerk erklärt, in der Art mehrerer
jüdischer Dichtungen, die wir noch unter den Apokryphen
finden. Er will zwar nicht das Ganze für durchaus er-
sonnen erklären, sondern es mögen Thatsachen und weit-
3)
[101]Erstes Kapitel. §. 15.
verbreitete Tradition zu Grunde liegen, wobei jedoch der
Dichter sich die Freiheit genommen, das Entfernte zusam-
menzurücken und das Schwankende der Ueberlieferung
in festen Bildern zu bestimmen; weſswegen das Bestreben,
die geschichtliche und natürliche Grundlage noch heraus-
zufinden, leer und vergeblich sei 6). Als Verfasser des
Stücks hat schon Horst einen judaisirenden Christen ver-
muthet, und auch Schleiermacher nimmt an, daſs es von
einem Christen aus der veredelten jüdischen Schule zu ei-
ner Zeit verfaſst sei, in welcher es noch reine Johannis-
jünger gab, welche es zum Christenthum herüberlocken
sollte, indem es die Beziehung des Johannes auf Christus
als seine eigentliche höchste Bestimmung angab, selbst
aber von der Wiederkunft Christi noch zugleich eine äus-
serliche Verherrlichung des Volkes erwartete.


Daſs eine solche Ansicht des Abschnitts die einzig
richtige sei, wird vollends ganz klar werden, wenn wir
die A. T.lichen Erzählungen genauer betrachten, welchen,
wie die meisten Erklärer erinnern, diese Verkündigungs-
und Geburtsgeschichte des Täufers auffallend ähnlich ist.
Das älteste Urbild aller Spätgeborenen ist Isaak, und aus
dessen Geschichte ist in unserer Erzählung namentlich der
auf das hohe Alter der beiden Eltern gegründete Unglaube
des Vaters und seine Frage nach einem Zeichen genom-
men. Wie nämlich Abraham, als ihm Jehova von einem
Leibeserben eine Nachkommenschaft verheiſsen hatte, wel-
che das Land Kanaan besitzen werde, zweifelnd fragte:
κατὰ τί γνώσομαι, ὄτι κληοονομήσω ἀυτήν; (sc. τὴν γῆν.
1. Mos. 15, 8. LXX): so hier Zacharias: κατὰ τί γνώσο-
μαι τοῦτο;
(V. 18.). Der Unglaube der Sara ist für Elisa-
bet nicht benüzt; dieser Name der ϑυγάτηρ Ἀαρὼν aber
könnte an den gleichen Namen von Aarons Gattin (2. Mos.
6, 23. LXX) erinnern. — Aus der Geschichte eines andern
[102]Erster Abschnitt.
Spätgebornen, des Simson, ist der Engel genommen, wel-
cher die Geburt des Sohnes verkündigt. Daſs er in unsrer
Erzählung dem Vater im Tempel erscheint, während er
dort (Richter 13.) zuerst der Mutter, dann dem Vater
auf dem Felde sich zeigt, ist eine Umänderung, welche
sich von selbst aus der Standesverschiedenheit der beider-
seitigen Eltern ergab, indem die Priester nach späterer
jüdischer Vorstellung eben beim Räuchern im Tempel nicht
selten Angelo- und Theophanien hatten 7). Ebendaher ist
die Vorschrift genommen, welche den Johannes schon vor
seiner Geburt zum Nasiräat bestimmt, indem bei Simson
schon seiner Mutter während der Schwangerschaft Wein,
starke Getränke und unreine Speisen verboten werden,
dann aber auch dem Sohne die gleiche Diät vom Engel vor-
geschrieben wird 8), und zwar ähnlich wie bei Johannes,
mit dem Beisatz, daſs der Knabe schon von Mutterleib an
Gott geheiligt sein werde 9). Auch die Verheiſsung der
für ihr Volk segensreichen Wirksamkeit beider Männer ist
analog (vgl. Luc. 1, 16. 17. mit Richter 13, 5.), so wie
die Schluſsformel über das hoffnungsvolle Heranwachsen
der beiden Knaben 10). — Aus der Geburtsgeschichte ei-
[103]Erstes Kapitel. §. 15.
nes dritten Spätgebornen, des Samuel, möchte es zwar zu
kühn sein, die levitische Abstammung des Johannes als
bloſse Nachbildung abzuleiten (vgl. mit 1. Sam. 1, 1.
1. Chron. 7, 27.); aber die lyrischen Ergüsse sind dieser
Geschichte abgesehen, welche sich im ersten Kapitel des
Lukas finden. Wie nämlich Samuels Mutter bei der Über-
gabe ihres Sohnes an den Hohenpriester in einen Hymnus
ausbricht (1. Sam. 2, 1 ff.): so hier der Vater des Täufers
bei der Beschneidung seines Sohns; nur daſs im Einzelnen
dem Loblied der Hanna weniger das des Zacharias, als
das der Maria nachgebildet erscheint, auf welches wir spä-
ter kommen werden. Der einzige ungewöhnliche Zug, für
welchen eine Analogie in diesen A. T.lichen Stellen fehlt,
ist das Verstummen des Zacharias, worauf sich Olshau-
sen
gegen die mythische Ansicht von unsrer Erzählung be-
ruft 11). Allein bedenkt man nur, daſs das Fordern und
Bekommen von Zeichen zur Versicherung einer Voraussa-
gung bei den Hebräern gewöhnlich war (vgl. Jes. 7, 11 ff.),
und daſs als ausserordentliche Strafe nach einer himmli-
schen Erscheinung auch sonst der Verlust eines Sinnes
bis auf eine gewisse Zeit verhängt wird (A. G. 9, 8. 17 f.):
so kann man sich die Entstehung dieses Zuges in der Sage
auch ohne geschichtliche oder vorbildliche Veranlassung
gar wohl erklären. — Von zwei wunderlosen Nebenzügen
ist der eine, die gesetzliche Gerechtigkeit der Eltern des
Johannes (V. 6.) in jedem Falle blos auf den Schluſs ge-
gründet, daſs nur ein so gottseliges Ehepaar mit einem
solchen Sohne habe begnadigt werden können, und hat
also keinen historischen Werth; wogegen die Angabe (V. 5.),
daſs Johannes unter dem König Herodes (dem Groſsen)
geboren sei, eine ohne Zweifel richtige Berechnung ist.


[104]Erster Abschnitt.

So stehen wir also hier ganz auf poëtisch-mythischem
Grunde, und was wir als sichre historische Thatsache fest-
halten können, ist nur dieſs: der Täufer Johannes hat
durch seine spätere Wirksamkeit und deren Beziehung auf
Jesus so bedeutenden Eindruck gemacht, daſs sich die christ-
liche Sage zu einer solchen Verherrlichung seiner Geburt
in Verbindung mit der Geburt Jesu getrieben fand.


[105]Zweites Kapitel. §. 16.

Zweites Kapitel.
Jesu Davidische Abkunft nach zwei
Stammbäumen.


§. 16.
Die beiden Genealogieen Jesu ohne Bezug auf einander betrachtet.


Hatten wir für die Geburtsgeschichte des Täufers nur
den einzigen Bericht des Lukas: so fällt bei dem Übergang
auf die Abstammung Jesu auch Matthäus ein, so daſs nun
durch die gegenseitige Controle zweier Erzähler unser kri-
tisches Geschäft theils vervielfältigt, theils aber doch er-
leichtert wird. Auch die zwei ersten Kapitel des Matthäus
übrigens, welche die Geburts- und Kindheitsgeschichte Je-
su enthalten, sind, wie die parallelen Abschnitte des Lu-
kas, in Bezug auf ihre Ächtheit angezweifelt worden 1):
doch nur von demselben befangenen Standpunkt aus wie
jene, weſswegen auch hier durch gründliche Widerlegun-
gen die Zweifel zum Schweigen gebracht sind 2).


[106]Erster Abschnitt.

Der Geschichte der Verkündigung und Geburt Jesu
ist bei beiden Evangelisten eine Stammtafel — bei Matthäus
voran ‒ (1, 1—17.), bei Lukas nachgeschickt (3, 23—38.),
welche die Davidische Abkunft Jesu als des Messias do-
cumentiren soll. Von einer genaueren Untersuchung die-
ser Genealogieen mahnt uns zwar Luther ab, da ja Pau-
lus ausdrücklich 1. Tim. 1, 4. vor den γενεαλογίαις ἀπε-
ράντοις
warne, weil sie mehr nur ζητήσεις, als ὀικονομίαν
ϑεοῦ τὴν ἐν πίςει
zur Folge haben 3); indessen geben sie, so-
wohl jede für sich, als beide in Vergleichung mit einan-
der betrachtet, so wichtige Aufschlüsse über den Charak-
ter der evangelischen Nachrichten in diesem Abschnitt,
daſs eine genaue Prüfung derselben nicht umgangen wer-
den kann. Nehmen wir zuerst jede ohne Rücksicht auf
die andere, so ist wiederum jede, und zwar soll es zuvör-
derst die des Matthäus sein, theils an sich, theils in Be-
ziehung auf die A. T.lichen Stellen zu betrachten, mit
welchen sie parallel läuft.


Bei der von dem Verfasser des ersten Evangeliums mit-
getheilten Genealogie ist eine Vergleichung derselben mit
sich selber deſswegen von Erfolg, weil sie an ihrem Schlus-
se (V. 17.) ein Resultat, eine Summe, zieht, und nun durch
Vergleichung des Vorausgeschickten untersucht werden
kann, wiefern demselben jenes Resultat wirklich entspricht.
Es sagt nämlich die Zusammenfassung am Schlusse aus,
von Abraham bis auf Christus seien es dreimal 14 Glieder:
einmal von Abraham auf David, dann wieder von diesem
zum babylonischen Exil, und endlich von da bis auf Chri-
stus herab. Zählen wir nun nach, so treffen von Abra-
ham bis auf David, beide miteingeschlossen, die Vierzehn
zu (V. 2—5.); ebenso von Salomo bis auf denjenigen, nach
welchem des babylonischen Exils gedacht ist, Jechonias
[107]Zweites Kapitel. §. 16.
(6—11.); aber von diesem bis auf Jesus bringt man, den
letzteren selbst noch mitgezählt, blos 13 Glieder heraus
(V. 12—16.). Wie ist diese Differenz zwischen der vom
Verf. gezogenen Summe und den vorausgeschickten Zahlen
zu erklären? Die Vermuthung, daſs von den Gliedern der
dritten Tessareskaidekade eines durch Versehen der Ab-
schreiber weggefallen sei 4), wird durch die Notiz höchst
unwahrscheinlich, daſs schon Porphyrius dieses Glied ver-
miſste 5); der von einigen Handschriften und Versionen
zwischen Josias und Jechonias eingeschobene Ἰωακεὶμ 6)
aber würde nicht die dritte, mangelhafte Tessareskaidekade
ergänzen, sondern die zweite, die schon ohne ihn voll ist,
überfüllen 7). Da somit dieser Mangel ohne Zweifel schon
vom Verfasser der Genealogie herrührt, fo fragt sich nur,
auf welche Weise er gezählt hat, daſs er auch für seine
dritte Abtheilung 14 Glieder herausbrachte? Eine Möglich-
keit, verschieden zu zählen, ergiebt sich leicht durch den
Unterschied des Inclusiven und Exclusiven. Freilich sollte
man denken, wer bei der vorhergehenden Klasse einge-
schlossen war, der müsse bei der folgenden ausgeschlossen
werden; doch könnte es sein, der Verfasser dieser Stamm-
tafel hätte anders gedacht; wenigstens nennt er in seiner
Zusammenrechnung den David zweimal: wie, wenn er ihn
auch, so falsch dieſs gerechnet wäre, sowohl zur ersten als
zur zweiten Reihe gezählt hätte? Freilich würde dieſs,
wie oben die Einschaltung des Jojakim, den Mangel in der
dritten Reihe nicht ersetzen, sondern nur die zweite über-
zählig machen; man müſste denn mit einigen Auslegern 8)
die zweite Reihe nicht, wie gewöhnlich geschieht, mit Je-
[108]Erster Abschnitt.
chonia, sondern schon mit seinem Vormann Josia schlies-
sen, dann käme der durch die doppelte Zählung Davids
in der zweiten Reihe überflüssig gewordene Jechonia der
dritten zu Gute, und sie hätte mit Jesus ihre 14 Glieder.
Allein es scheint doch gar zu willkührlich, daſs der Ver-
fasser zwar das abschlieſsende Glied der ersten Dekatetras
auch wieder zur zweiten gezählt haben soll, nicht aber
ebenso das Schluſsglied der zweiten noch einmal zur drit-
ten; weſswegen man es mit Andern vorziehen könnte,
wie den David, so auch den Josias doppelt zu zählen, wo-
durch dann die dritte Klasse schon ohne Jesum 14 Glieder
bekäme 9). Aber, indem diese Zählung eine Anomalie ver-
meidet, fällt sie in eine andere, daſs nämlich V. 17. zwar
in dem Satze: ἀπὸ Ἀβραὰμ ἕως Δαυὶδ κ. τ. λ. der Letz-
tere eingerechnet wird, in dem Satze aber: ἀπὸ τὴς μετ-
οικεσίας Βαβυλῶνος ἕως τοῦ χριςοῦ
dieser ausgeschlossen. Noch
ein gröſseres Gebrechen haben die beiden zuletzt angeführ-
ten Zählungsweisen mit einander gemein. Indem nämlich
der Verfasser der Genealogie V. 11. und 12. sagt: Ἰωσίας
δὲ ἐγέννησε τὸν Ἰεχονίαν — ἐπὶ τῆς μετοικεσίας Βαβυλῶνος·
μετὰ δὲ τὴν μετοικεσίαν Βαβυλῶνος Ἰεχονίας ἐγέννησε τὸν
Σαλαϑιήλ:
so setzt er augenscheinlich den durch das Exil
gebildeten Abschnitt [zwischen] der zweiten und dritten De-
katetras nicht schon hinter Josia, sondern erst nach Je-
chonia, dessen Namen er dann zu Anfang der dritten Rei-
he ganz ebenso wiederholt, wie am Anfang der zweiten
den Namen Davids. Da also, um nicht gegen den klaren
Sinn des Schriftstellers zu verstossen, jede Erklärung zu
vermeiden ist, bei welcher schon mit Josia die zweite Ab-
[109]Zweites Kapitel. §. 16.
theilung geschlossen werden müſste, dennoch aber der drit-
ten Reihe zu ihrer 14 Zahl geholfen werden muſs: so bleibt
nichts übrig, als den, wenn David nur einfach gezählt wird,
die zweite Reihe abschliessenden Jechonia am Anfang der
dritten noch einmal zu zählen, um so mit Jesus 14 Glie-
der zu bekommen. Dabei findet dann freilich wieder das
Ungleichmäſsige statt, daſs nur bei dem Schluſsglied der
zweiten Klasse die doppelte Zählung angewendet wird,
nicht aber auch bei dem der ersten; allein da jeder andre
Ausweg gröſsere Schwierigkeiten hat, so bleibt nur dieser
übrig, welchem zufolge der Redacteur dieser Genealogie,
falls ihm für diese dritte Reihe keine bestimmte Zahl von
Gliedern vorlag, aus Versehen eines zu wenig genommen
haben müſste, falls ihm aber in irgend einer unbekannten
Quelle nur 13 Glieder gegeben waren, sich, um die 14 Zahl
zu erhalten, vielleicht bewuſst und absichtlich durch die
doppelte Zählung des Jechonia geholfen hätte.


Halten wir hierauf die Genealogie des Matthäus, — im-
mer noch ohne Rücksicht auf die des Lukas, — mit den
entsprechenden Stellen des A. T. s zusammen: so stimmt
sie mit diesen nicht durchaus überein, und es zeigt sich
das dem eben gewonnenen äusserlich entgegengesetzte Re-
sultat, daſs, wenn für sich betrachtet die Genealogie ein
Glied verdoppeln muſste, um ihr Schema zu füllen: sie in
Vergleichung mit dem A. T. von den in diesem an die
Hand gegebenen Gliedern mehrere ausläſst, um ihre 14 Zahl
nicht zu überschreiten. Mit A. T. lichen Angaben nämlich
läſst sich diese Genealogie, als die berühmte Stammtafel
des Davidischen Königsgeschlechts, vergleichen von Abra-
ham bis auf Serubabel und seine Söhne, von wo an das
Davidische Haus in die Dunkelheit zurückzutreten anfängt,
und bei dem Schweigen des A. T.s von demselben die Con-
trole für die Matthäische Genealogie aufhört. Und zwar
ist das Geschlechtsregister von Abraham bis Juda, Perez
und Esron hinlänglich aus der Genesis bekannt; das von Pe-
[110]Erster Abschnitt.
rez bis David finden wir am Schlusse des Buchs Ruth und
im 2ten Kapitel des ersten Buchs der Chronik; das von
David bis auf Serubabel im dritten Kap. desselben Buchs;
Parallelen für Einzelnes noch ungerechnet. Vollziehen wir
nun die Vergleichung: so finden wir die Linie von Abra-
ham bis David, also die ganze erste Tessareskaidekade un-
serer Genealogie in den Männernamen den A. T. lichen
Angaben gleichlautend, nur fügt sie einige Frauen ein,
von welchen Eine Schwierigkeit macht. Daſs nämlich (nach
V. 4.) Rahab des Boas Mutter gewesen, ist nicht nur oh-
ne Bestätigung im A. T., sondern es sind auch, wenn sie
zur Urgroſsmutter Isai's, des Vaters von David, gemacht
wird, zwischen ihrer Zeit und dem Davidischen Zeitalter,
beiläufig von 1450—1050 v. Chr. zu wenige Generationen
gesetzt, nämlich, die Rahab oder den David mitgezählt,
4 für 400 Jahre. Doch dieser Fehler fällt insofern auf die
A. T.lichen Genealogieen selber zurück, als Isai's Urgroſs-
vater Salmon, welchen Matthäus zum Gatten der Rahab
macht, auch Ruth 4, 20. wie bei Matthäus, Sohn eines
Nahasson ist, welcher nach 4. Mos. 1, 7. noch der Zeit
des Zugs durch die Wüste angehörte 10), von wo aus es
denn nahe lag, seinen Sohn mit jener Rahab, welche die
israëlitischen Kundschafter gerettet hatte (Jos. 2.), in Ver-
bindung zu bringen, um diese Frau, auf welche der pa-
triotische Israëlite einen besondern Werth legte (vgl. Jak.
2, 25. Hebr. 11, 31.), in das Geschlecht Davids und des
Messias hereinzuziehen. — Mehrere Abweichungen finden
sich in dem Abschnitt von David bis zu Serubabel und des-
sen Sohn, oder der 2ten Dekatetras sammt den ersten Glie-
dern der dritten.


[111]Zweites Kapitel. §. 16.

Erstlich, während es hier V. 8. heiſst: Ἰωρὰμ ἐγέννησε
τ[ὸ]ν Ὀζ[ί]αν
: so wissen wir aus 1. Chron. 3, 11. 12., daſs
Usia nicht der Sohn, sondern der Enkel des Sohns von
Joram war, und drei Könige zwischen beide fallen, näm-
Ahasja, Joas und Amazia, hierauf erst Usia (2. Chron.
26, 1.; oder, wie er 1. Chron. 3, 12. und 2. Kön. 14, 21.
heiſst, Asaria).


Zweitens heiſst es in unsrer Stelle V. 11: Ἰωσίας δὲ
ἐγέννησε τὸν Ἰεχονίαν καὶ τοὺς ἀδελφοὺς αὐτοῦ
. Aber aus
1. Chron. 3, 16. ersehen wir einerseits, daſs der Sohn und
Nachfolger des Josias Jojakim hieſs, und erst dessen Sohn
und Nachfolger Jechonia oder Jojachin (2. Kön. 24, 6.
2. Chron. 36, 8.) 11); andrerseits werden von Jechonia,
dem hier αδελφοὶ zugeschrieben sind, in jener Stelle keine
Brüder erwähnt, wohl aber hatte Jojakim Brüder: so daſs
die Erwähnung der ἀδελφοὶ Ἰεχονίοῦ bei Matthäus aus einer
Verwechslung der genannten beiden Männer hervorgegan-
gen zu sein scheinen könnte, wenn nicht 2. Chron. 36, 10.
als Bruder des Jojachin oder Jechonia Zedekia namhaft
gemacht würde, welcher 1. Chron. 3, 16. dessen Sohn,
2. Kön. 24, 17. aber, vgl. mit 1. Chron. 3, 15. und Jer.
37, 1. sein Oheim heiſst, so daſs in diesem Stücke in den
A. T.lichen Nachrichten selbst ein Schwanken zu bemer-
ken ist.


Eine dritte Differenz findet in Bezug auf Serubabel
statt. Während dieser hier V. 12. ein Sohn Salathiels
heiſst, wird er 1. Chron. 3, 19. nicht durch Sealthiel, son-
dern durch dessen Bruder Ped[a]ja von Jechonia abgeleitet,
wogegen jedoch Esra 5, 2. und Haggai 1, 1. Serubabel wie
[112]Erster Abschnitt.
hier als Sohn Sealthiels bezeichnet ist. Endlich der hier
als Serubabels Sohn genannte Abiud ist 1. Chron. 3, 19. f.
unter den Kindern Serubabels nicht zu finden.


Von diesen Abweichungen sind die zweite und dritte
unverfänglich, und können sich ohne Absicht und auch
ohne zu groſse Nachläſsigkeit eingeschlichen haben; denn
die Auslassung des Jojakim kann wirklich durch den Gleich-
klang der Namen veranlaſst sein, und durch eben diese
Verwechslung auch die Erwähnung von Brüdern des Je-
chonia, eine Differenz, welche sammt der folgenden über-
dieſs das Schwanken auch der A. T.lichen Angaben für
sich hat. Aber die zuerst aufgeführte Abweichung, das
Ueberspringen von drei wohlbekannten Königen, läſst sich
nicht ebenso leichten Kaufs auf die Seite schaffen. Nimmt
man die Weglassung als unabsichtlich, so daſs der Verf.
von Joram statt auf Ahasja (bei den LXX Ὀχοζίας)
auf den ähnlich lautenden Ὀζίας gesprungen sein soll:
so würde dieſs doch, zusammengenommen mit dem Falle
bei Jojakim, eine Nachläſsigkeit und beinahe Blindheit des
Genealogisten voraussetzen, welche an das Undenkbare
grenzt. Man wird daher schwerlich umhin können, mit
Hieronymus anzunehmen, der Verfasser habe absichtlich
drei Namen weggelassen, um seine 14 rein herauszubekom-
men 12). Da er nämlich von Abraham bis David, wo der
[113]Zweites Kapitel. §. 16.
erste Absaz sich ergab, 14 Glieder vorfand: so scheint er
gewünscht zu haben, auch die übrigen Abtheilungen die-
ser ersten gleichzählig zu finden; es boten sich aber von
selbst noch zwei dar, indem in die ganze noch übrige Reihe
das babylonische Exil als Scheidepunkt eintrat. Da nun
jenem Wunsche die zweite Reihe in der Art nicht ent-
sprach, daſs die Stammtafel der Davididen bis zum Exil
vier Glieder über 14 darbot: so lieſs er vier Namen weg
(warum gerade diese, möchte schwer zu entscheiden
sein 13)); umgekehrt, für den dritten Abschnitt enthielt
entweder seine Quelle einen Mann zu wenig und er suchte
sich dadurch zu helfen, — oder er wurde dadurch verlei-
tet, selbst einen zu wenig aufzuführen, daſs sich der nach
der Erwähnung des Exils noch einmal genannte Jechonia
auch zur dritten Reihe zählen lieſs.


Warum dem Verfertiger dieser Genealogie so viel an
der dreimal gleichen Zahl lag, davon könnte zwar der
Grund, wie Einige annehmen, ein lediglich mnemonischer
gewesen sein, leichterer Behaltbarkeit wegen die Genealo-
gieen nach orientalischer Sitte in gleiche Abschnitte zu thei-
len 14); doch möchte sich wohl mit diesem zugleich ein
mystischer Grund verbunden haben. Es fragt sich, ob die-
ser in der bestimmten Zahl, welche sich dreimal wieder-
holt, oder überhaupt nur darin, daſs dieselbe Zahl drei-
12)
Das Leben Jesu I. Band. 8
[114]Erster Abschnitt.
mal wiederkehrt, zu suchen sei? Daſs es dem Genealogi-
sten um die Wiederholung gerade des Vierzehn, als der
doppelten heiligen Sieben zu thun gewesen 15), ist un-
wahrscheinlich, weil er sonst schwerlich die 7 so ganz in
die 14 versteckt haben würde; noch weniger läſst sich mit
Olshausen zuläſsig finden, daſs die 14 als der Zahlwerth des
Namens David besonders hervorgehoben sei 16); denn solche
Künsteleien der rabbinischen Gematria finden sich sonst in
den Evangelien nicht. Mithin möchte es mehr nur um die
Wiederholung der gleichen Zahl, nachdem sich zufällig
zuerst die 14 ergeben hatte, bei Festhaltung von dieser zu
thun gewesen sein, indem die Juden ausserordentliche gött-
liche Heimsuchungen, erfreuliche wie strafende, in be-
stimmten Zwischenzeiten wiederkehrend sich dachten, so daſs,
wie auf den Gründer des heiligen Volks in 14 Generationen
der König nach dem Herzen Gottes gefolgt war: ebenso 14
Generationen nach der Wiederherstellung des Volks der
Sohn Davids, der Messias gekommen sein muſste 17).


Diese apriorische Behandlungsweise seines Stoffes, das
Prokrustesbette, auf welches er, fast wie ein construi-
render Philosoph, denselben bald dehnend bald verkürzend
legt, erweckt kein günstiges Vorurtheil für den Verf. un-
serer Genealogie, und es wird nichts gut gemacht durch
Kuinöl's Bemerkung, daſs die orientalischen Genealogisten
sich auch sonst solche Auslassungen zu erlauben pflegen;
[115]Zweites Kapitel. §. 17.
denn Willkühr bleibt Willkühr, ob sie Einem für sich al-
lein eigen ist, oder mit einer ganzen Klasse gemein.


Der Genealogie bei Lukas für sich genommen sieht
man nicht so viele Fehler, wie der des Matthäus an. Denn
einmal ihre Vergleichung mit sich selbst liefert gar kein
Resultat, da sie nicht wie jene durch Ziehung einer Sum-
me sich selbst controlirt; dann aber auch von Seiten des
A. T. fehlt ihr die Controle groſsentheils, weil sie von
David und Nathan an fast durch lauter unbekannte Ge-
schlechter herabläuft, von welchen sich im A. T. kein
Stammbaum findet. Nur in 2 Gliedern berührt sie von da
an eine im A. T. erwähnte Linie, in Sealthiel und Seru-
babel, kommt aber eben hiedurch in Widerspruch mit
1. Chron. 3, 17. 19. f., indem sie den Sealthiel einen Sohn
von Neri nennt, da doch nach der angeführten Stelle Je-
chonia sein Vater war; als Sohn Serubabels aber einen
Resa namhaft macht, welcher in der Chronik unter Seru-
babels Kindern fehlt. Auch in der vorabrahamischen Ge-
schlechterreihe findet sich die Differenz, daſs zwischen
Arphachsad und Sela Lukas einen Καϊνὰν einschiebt, wel-
cher im hebräischen Texte 1. Mos. 10, 24. sich nicht findet,
übrigens schon von den LXX als Καϊνᾶμ eingeschaltet war.


§. 17.
Vergleichung beider Genealogieen. Versuche, ihren Widerstreit
zu lösen.


Noch weit auffallendere Resultate ergeben sich aber,
wenn man die beiden Genealogieen bei Matthäus und Lu-
kas mit einander vergleicht, und ihrer Abweichung von
einander sich bewuſst wird. Einige der stattfindenden Dif-
ferenzen zwar sind unverfänglich und selbst unbedeutend,
wie die Verschiedenheit der Richtung, daſs die Geschlechts-
tafel bei Matthäus abwärts geht von Abraham auf Jesus,
die bei Lukas aber aufwärts, von Jesus auf seine Vorfah-
ren zurück; ebenso die Verschiedenheit des Umfangs, wel-
8*
[116]Erster Abschnitt.
chen Lukas weiter absteckt als Matthäus, indem dieser das
Geschlecht Jesu nur bis auf Abraham, jener dagegen auf
Adam und Gott selbst zurückführt. Eigentlich lag, was
den Zweck dieser Genealogieen betrifft, nur daran, Jesum,
den Messias, als davidischen Abkömmling darzustellen,
worin dann schon lag, daſs der Davidide auch ein Abra-
hamide sei; schon das war also ein opus supererogati-
vum
, daſs Matthäus von Abraham ausholte; noch mehr aber
scheint es nur dem unwillkührlichen Fortgehen in der ein-
mal begonnenen genealogisirenden Bewegung zuzuschrei-
ben, daſs Lukas sogar über Abraham hinaus auf Adam
den Gottgeschaffenen zurückgeht 1), wodurch nach Schlei-
ermacher
's Bemerkung das (für die messianische Würde
Jesu) Beweisende in der Genealogie nur versteckt ist 2).
Bedenklicher schon ist der nicht geringe Unterschied in der
Zahl der Generationen für gleiche Perioden, indem von
David bis auf Joseph Lukas 41, Matthäus dagegen nur 26
Geschlechter hat. Der Gröſse des Zeitraums ist die Zahl
bei Lukas angemessener; denn von David bis Joseph, d. h.
von beiläufig 1050—50 vor Christo sind 26 Generationen
zu wenig, indem da auf eine Generation über 38 Jahre
kommen, wogegen nach Lukas, der Wahrscheinlichkeit
näher, etwas weniger als 25. Die Hauptschwierigkeit je-
doch liegt darin, daſs Lukas zum Theil ganz andre Indi-
[117]Zweites Kapitel. §. 17.
viduen zu Vorfahren Jesu macht, als Matthäus. Zwar
stimmen sie in der Angabe derselben nicht allein darin
überein, daſs beide das Geschlecht Jesu durch Joseph
auf David und Abraham zurückführen, sondern auch
in Bezug auf die Mittelglieder, durch welche sie dieſs
thun, treffen sie in den Generationen von Abraham bis
David, und später in den beiden Namen Sealthiel und Se-
rubabel zusammen. Der eigentlich verzweifelte Punkt ist
nun aber der, daſs von David bis auf den Pflegevater Jesu,
mit Ausnahme von zweien ungefähr in der Mitte, lauter
verschiedene Namen bei Lukas und Matthäus sich finden.
Nach Matthäus nämlich hieſs der Vater Josephs Jakob,
nach Lukas Eli; nach Matthäus ist der Sohn Davids, durch
welchen Joseph von diesem König abstammte, Salomo,
nach Lukas Nathan, und so läuft dann das Geschlechtsre-
gister des Matthäus durch den bekannten Königsstamm her-
unter, das bei Lukas durch eine unbekannte Nebenlinie;
nur in Sealthiel und Serubabel treffen beide zusammen,
doch so, daſs sie sogleich wieder Sealthiels Vater und den
Sohn Serubabels verschieden haben. Da diese Differenz
ein vollkommener Widerspruch zu sein scheint: so ist man
von jeher mit Lösungsversuchen äusserst geschäftig gewe-
sen. Um von offenbar ungenügenden Auswegen, wie my-
stischer Deutung 3) oder willkührlicher Änderung der Na-
men 4) nichts zu sagen, so haben sich besonders zwei Hy-
pothesenpaare ausgebildet, von welchen je ein Paar sich
gegenseitig stützt oder doch verwandt ist.


Das erste Paar bilden die Voraussetzung des Augusti-
nus, daſs bei Joseph ein Adoptionsverhältniſs stattgefun-
den, und nun der eine Evangelist seinen wirklichen, der
andre seinen Adoptiv-Vater nebst dessen Stammbaum gebe 5),
[118]Erster Abschnitt.
— und die Annahme des alten Chronologen Julius Africa-
nus, daſs bei Josephs Eltern eine Levirats-Ehe eingetre-
ten sei, und nun der Stammbaum des einen Evangelisten
dem natürlichen, der andere dem gesetzlichen Vater Josephs
angehöre; durch den einen habe er von der Salomonischen,
durch den andern von der Nathanischen Linie des Davidi-
schen Geschlechtes abgestammt 6). Die nähere Frage, wel-
che von beiden Genealogieen den natürlichen, und welche
den gesetzlichen Vater mit seinem Stammbaum angebe,
kann nach zweierlei Kriterien entschieden werden, deren
eines mehr dem Buchstaben, das andere mehr dem Geist
und Charakter der beiden Evangelisten angehört, und wel-
che eine entgegengesetzte Entscheidung herbeiführen. Au-
gustinus und auch schon Julius haben darauf gesehen,
welcher von beiden Evangelisten zur Bezeichnung des
Verhältnisses zwischen Joseph und demjenigen, den er als
dessen Vater namhaft macht, sich eines Ausdrucks bedie-
ne, welcher bestimmter als der des andern auf ein natür-
liches Sohnesverhältniſs hinweise. Einen solchen gebraucht
nun Matthäus; indem er nämlich sagt: Ἰακὼβ ἐγέννησε τὸν
Ἰωσὴφ
: so scheint das γεννᾷν nur das natürliche Verhält-
niſs bezeichnen zu können, während das Ἰωσὴφ τοῦ Ἡλὶ
bei Lukas ebensowohl das Verhältniſs eines Adoptivsohns,
oder eines solchen, der vermöge des Leviratsverhältnisses
als Sohn angesehen wird, anzeigen zu können scheint. Al-
lein da die Verordnung der Leviratsehe gerade den Zweck
hatte, Namen und Geschlecht eines kinderlos Verstorbenen
zu erhalten: so war es jüdische Sitte, den aus solcher Ehe
zuerst entsprossenen Sohn nicht in das Geschlechtsregister
des natürlichen Vaters einzutragen, wie hier Matthäus thun
soll, sondern in das des gesetzlichen Vaters, wie dieſs Lu-
kas nach der obigen Voraussetzung beobachtet. Daſs nun
[119]Zweites Kapitel. §. 17.
aber gerade der so ganz jüdisch gebildete Verfasser des
ersten Evangeliums, oder der Genealogie insbesondere, ei-
nen solchen Verstoſs begangen haben sollte, kann man nicht
wahrscheinlich finden, weſswegen z. B. Schleiermacher
dem Geiste der beiden Evangelisten gemäſs annehmen zu
müssen glaubt, daſs Matthäus, unerachtet seines ἐγἐννησε,
doch nach jüdischem Brauche den Stammbaum des gesetz-
lichen Vaters gebe, Lukas aber, vielleicht kein geborener
Jude und der jüdischen Gewohnheiten minder kundig, ha-
be die Stammtafel der jüngeren Brüder Josephs zur Hand
bekommen, welche nicht, wie der Erstgeborene, auf das
Geschlecht des verstorbenen gesetzlichen, sondern des na-
türlichen Vaters geschrieben wurden, und diese habe er
nun auch für die Stammtafel des Erstgeborenen, Joseph,
gehalten, was sie nur nach dem natürlichen Momente war,
auf welches aber die jüdische Genealogistik keine Rück-
sicht nahm 7). Allein abgesehen von dem erst unten zu
Erweisenden, daſs die Genealogie bei Lukas schwerlich vom
Verf. des Evangeliums herrührt, also aus dessen minder
jüdischer Bildung kein Schluſs auf die Deutung des von
ihm aufgenommenen Geschlechtsregisters gilt: so würde der
Genealogist im ersten Evangelium sein ἐγέννησε nicht so oh-
ne allen Beisatz hingeschrieben haben, wenn er an ein
blos gesetzlicher Vaterverhältniſs gedacht hätte; weſswegen
die beiden Ansichten von dem Verhältniſs der Genealogieen
in dieser Beziehung gleich schwierig sind.


Indeſs, wir müssen uns diese, bis jetzt nur im Allge-
meinen bezeichnete Hypothese erst näher vor die Vorstel-
lung bringen, um über ihre Zulässigkeit urtheilen zu kön-
nen. Da in Bezug auf die Voraussetzung der Leviratsehe
Verfahren und Ergebniſs im Ganzen dasselbe bleibt, ob
wir mit Augustin und Julius dem Matthäus, oder mit Schleier-
[120]Erster Abschnitt.
macher dem Lukas die Angabe des natürlichen Vaters zu-
schreiben: so wollen wir das Verhältniſs beispielsweise in
der ersten Form betrachten, um so mehr, da uns Euse-
bius nach Julius eine sehr genaue Ausführung hierüber
hinterlassen hat. Nach dieser Vorstellungsweise war also
Josephs Mutter zuerst mit demjenigen Manne verheurathet,
welchen Lukas als Josephs Vater nennt, mit Eli; da aber
dieser ohne Kinder starb, so ehelichte vermöge des Levi-
ratsgesetzes sein Bruder, der von Matthäus als Vater Jo-
sephs genannte Jakob, die Wittwe, und erzeugte mit ihr
den Joseph, welcher nun gesetzlich als Sohn des verstor-
benen Eli angesehen wurde, wie dieſs Lukas angiebt, wäh-
rend er natürlich der Sohn seines Bruders Jakob war,
eine Betrachtungsweise, welcher Matthäus gefolgt ist.


Allein, blos so weit geführt, würde die Hypothese
keineswegs ausreichen. Denn wenn die beiden Väter Jo-
sephs wirkliche Brüder, Söhne desselben Vaters waren:
so hatten sie Einen und denselben Stammbaum, und es
müſsten in diesem Falle die beiden Genealogieen nur den
Vater des Joseph verschieden haben, über demselben aber
sogleich wieder zusammenlaufen. Um zu erklären, wie sie
bis auf David hinauf divergiren können, muſs man die
zweite Hypothese hinzufügen, welche auch Julius gemacht
hat, daſs die beiden Väter des Joseph nur Halbbrüder ge-
wesen, nämlich nur einerlei Mutter, nicht aber denselben
Vater gehabt haben. Man müſste also annehmen, die Mut-
ter der beiden Väter Josephs habe nach einander in zwei
Ehen gelebt, einmal mit dem Matthan des Matthäus, wel-
cher durch Salomo und die königliche Linie von David
descendirte, und diesem habe sie den Jakob geboren; aus-
serdem aber sei sie vor- oder nachher mit dem Matthat
des Lukas verchlicht gewesen, welcher durch Nathan Da-
vids Nachkomme war, und dieser habe den Eli mit ihr
erzeugt, nach dessen Verheurathung und kinderlosem Ab-
leben sein Halbbruder Jakob seine Wittwe geheurathet
[121]Zweites Kapitel. §. 17.
und gesetzlich für den Verstorbenen den Joseph erzeugt
habe 8).


Müssen wir schon bis hieher die Hypothese einer ge-
rade in zwei aufeinanderfolgenden Gliedern so complicir-
ten Ehe, zu welcher die Differenz der beiden Genealogieen
uns trieb, zwar keineswegs unmöglich, aber doch unwahr-
scheinlich finden: so wird die Schwierigkeit durch die un-
willkommene Übereinstimmung noch verdoppelt, welche
sich, wie schon erwähnt, mitten unter den abweichenden
Reihen, in den beiden Gliedern Sealthiel und Serubabel,
findet. Um nämlich zu erklären, wie sowohl Neri bei Lu-
kas als Jechonia bei Matthäus Vater des Sealthiel, des
Vaters von Serubabel, heiſsen könne: müſste nicht nur die
Annahme einer Leviratsehe wiederholt werden, sondern auch
die, daſs die beiden sich in der Ehe gefolgten Brüder dieſs
[122]Erster Abschnitt.
nur mütterlicher Seits gewesen seien 9). Daſs nun dieser
eigenthümliche Doppelfall sich nicht allein zweimal wieder-
holt, sondern daſs auch beidemale die Genealogisten sich
in die Angabe des natürlichen und des gesetzlichen Vaters
auf die gleiche Weise und beidemale stillschweigend ge-
theilt haben sollten, das ist so unwahrscheinlich, daſs auch
die Hypothese einer Adoption, welche nur von der Hälfte
dieser Schwierigkeiten gedrückt ist, schon daran mehr als
genug hat. Da nämlich zur Adoption kein brüderliches,
oder sonstiges Verwandtschaftsverhältniſs des natürlichen
und des Adoptivvaters erfordert wird: so fällt zwar die
zweimalige Zuflucht zu einer Halbbruderschaft weg, und
es bleibt nur die Nothwendigkeit, zweimal ein Adoptions-
Verhältniſs anzunehmen und zweimal das Eigene, daſs die
eine Genealogie es unjüdisch ignorirte, die andere aber
nur stillschweigend berücksichtigte.


Auf weit einfachere Weise glaubte man daher in neue-
rer Zeit den Knoten durch die Annahme zu lösen, daſs
wir nur bei dem einen Evangelisten die Genealogie des Jo-
seph, bei dem andern aber die der Maria haben, deren
Differenz also kein Widerspruch wäre 10); wozu man ger-
[123]Zweites Kapitel. §. 17.
ne noch die Annahme fügt, daſs Maria eine Erbtochter ge-
wesen sei 11). Die Ansicht, daſs auch Maria aus Davidi-
schem Geschlechte gewesen sei, ist schon alt. Zwar der
Idee zulieb, daſs in dem Messias, als zweitem Melchisedek,
die königliche Würde mit der priesterlichen vereinigt sein
sollte 12), und verleitet durch die Verwandtschaft der Ma-
ria mit der Aaronstochter Elisabet, wie sie von Lukas 1, 36.
an die Hand gegeben ist 13), lieſsen nicht nur schon frühzeitig
Manche den Joseph von einer aus den Stämmen Juda und
Levi gemischten Familie abstammen 14), sondern auch die
Ansicht war nicht selten, daſs Jesus durch Joseph zwar
aus königlichem, durch Maria aber aus priesterlichem Ge-
schlechte gewesen sei 15). Gewöhnlicher jedoch wurde bald
[124]Erster Abschnitt.
die Ansicht von einer davidischen Abstammung Maria's.
Mehrere Apokryphen sprechen sich dahin aus 16), ebenso
Justin der Märtyrer, bei welchem man den Ausdruck, daſs
die Jungfrau aus dem Geschlechte Davids, Jakobs, Isaaks
und Abrahams gewesen, selbst als eine Andeutung ausle-
gen könnte, daſs er eines unsrer Geschlechtsregister, wel-
che ja ebenso über David auf Abraham zurückgehen, auf
die Maria bezogen hätte 17); auch die Juden, indem sie
eine Maria, Tochter Eli's, als gequält in der Unterwelt
vorstellen 18), scheinen den von Eli ausgehenden Stamm-
baum bei Lukas für den der Maria genommen zu haben.


Fragt man nun aber, warum gerade der Stammbaum
bei Lukas, oder überhaupt, welcher der beiden Stamm-
bäume als der der Maria gefaſst werden solle, so scheint
dieſs eigentlich bei keinem von beiden möglich zu sein,
indem beide gar zu bestimmt sich als Genealogieen des Jo-
seph ankündigen, der eine in den Worten: Ιακωβ ἐγέννησε
τὸν Ἰωσὴφ, der andre durch die Worte: υἱὸς Ἰωσὴφ τοῦ
Ἡλί
. Dennoch aber lautet auch hier das ἐγέννησε des
Matthäus bestimmter als das τοῦ des Lukas, welches nach
jenen Auslegern wohl auch einen Schwiegersohn oder En-
kel bedeuten könnte, so daſs die Genealogie bei Lukas in
den Worten 3, 23. entweder sagen wollte: Jesus war nach
der gewöhnlichen Ansicht ein Sohn Josephs, welcher selbst
ein Schwiegersohn des Eli, Vaters der Maria, war 19);
oder: Jesus war, wie man glaubte, ein Sohn Josephs,
[125]Zweites Kapitel. §. 17.
und durch Maria ein Enkel des Eli 20). Indem man hie-
gegen einwenden kann, daſs die Juden bei ihren Genea-
logieen auf die weibliche Linie keine Rücksicht zu neh-
men pflegten 21): so kommt hier die weitere Hypothese
zu Hülfe, daſs Maria eine Erbtochter, d. h. die Tochter
eines söhnelosen Vaters gewesen, in welchem Falle es nach
4. Mos. 36, 6. und Nehem. 7, 63. die jüdische Sitte mit
sich gebracht habe, daſs der Mann, den eine solche Toch-
ter ehlichte, nicht nur aus demselben Stamme mit ihr sein
muſste, sondern sich auch in ihr Geschlecht aufnehmen
lieſs, und somit ihre Vorfahren zu den seinigen machte.
Allein nur das Erstere ist aus der mosaischen Stelle er-
weislich, wogegen aus der andern in Vergleichung mit
mehreren ähnlichen (Esra 2, 61. 4. Mos. 32, 41. vergl.
mit 1. Chron. 2, 21. f.) nur so viel erhellt, daſs ausnahms-
weise bisweilen Einer nach den mütterlichen Vorfahren be-
nannt wurde. Indem so die Schwierigkeit wegen der jü-
dischen Sitte bleibt, so tritt sie doch ganz zurück hinter
einer ungleich bedeutenderen. Wenn es nämlich gleich
nicht geleugnet werden kann, daſs das bei Lukas zu sup-
plirende υἱὸς nach dem Hebräischen auch Schwiegersohn
oder Enkel bedeuten könnte, so dürfte doch der Zusammen-
hang nicht so entschieden dagegen sein, wie hier. Etlich
und 70mal deutet in dieser Genealogie das τοῦ den eigentli-
chen Sohn an: wie könnte es das Einemal bei Joseph
den Schwiegersohn bezeichnen 22)? oder wie gar nach
Andern das durchaus im Nominativ zu supplirende υἱὸς
in immer steigender Progression: Sohn, Enkel, Uren-
kel, bis zum entferntesten Abkömmling hin? Beruft man
sich auf das Ἀδὰμ τοῦ ϑεοῦ, wo das τοῦ auch nicht Sohn im
[126]Erster Abschnitt.
eigentlichen Sinne bedeuten könne 23): so zeigt es doch
auch hier auf den unmittelbaren Daseinsurheber hin, ein
Begriff, unter welchen weder Schwiegervater noch Groſs-
vater subsumirt werden können. — Eine weitere Schwie-
rigkeit hat diese Auffassung der beiden Stammbäume mit
der ersteren gemein, nämlich das Zusammentreffen beider
in den Namen Sealthiel und Serubabel zu erklären. Man
könnte auch hier wie dort eine Leviratsehe supponiren;
doch die hichergehörigen Erklärer ziehen meistens die An-
nahme vor, daſs diese gleichen Namen in den beiden Ge-
nealogieen gar nicht dieselben Personen bezeichnen: allein
bei der Berühmtheit des Serubabel, Sohns von Sealthiel
zur Zeit des Exils ist kaum glaublich, daſs Lukas mit die-
ser Bezeichnung nicht eben ihn gemeint haben sollte 24).


Ueberhaupt findet sich sonst im N. T. nicht nur keine
Spur von einer davidischen Abstammung der Maria, son-
dern mehrere Stellen sprechen sogar dagegen. Matth. 1, 20.
wird nur Joseph als υἱὸς Δαυὶδ bezeichnet; Luc. 1, 27. be-
zieht sich das ἐξ οἴκου Δαυὶδ nur auf das zunächst stehende:
ἀνδρὶ ᾦ ὅνομα Ἰωσὴφ, nicht aber auf das entferntere:
παρϑένον μεμνηςευμένην; hauptsächlich aber die Wendung
Luc. 2, 4.: ἀνέβη δὲ καὶ Ἰωσὴφ-διὰ τὸ εἶναι ἀυτὸν ἐξ
οἴκου καὶ πατριᾶς Δαυὶδ, ἀπογράψασϑαι σὺν Μαρίᾳ κ. τ. λ.
,
wo so leicht statt ἀυτὸν ἀυτοὺς gesezt werden konnte, wenn
der Verfasser einen Gedanken an eine davidische Abkunft
auch der Maria hatte, — entscheidet gegen die Möglich-
keit, die davidische Genealogie gerade des dritten Evange-
listen auf die Maria zu beziehen.


§. 18.
Die Genealogieen unhistorisch.


Bedenkt man die unüberwindlichen Schwierigkeiten,
in welche sich alle diese Vereinigungsversuche unvermeid-
[127]Zweites Kapitel. §. 18.
lich verwickeln: so wird man wohl mit freier denkenden
Exegeten an der Möglichkeit einer Friedensstiftung zwi-
schen beiden verzweifeln und ihren gegenseitigen Wider-
spruch anerkennen müssen 1). Indem so zunächst wenig-
stens nicht beide richtig sein können: so wäre, wenn ge-
wählt werden sollte, eher die des Lukas als historisch an-
zunehmen, da sie doch nicht dieselbe Willkühr im Zählen
und Gleichmachen der Perioden, und auch darin weniger
verherrlichendes Bestreben als die des Matthäus zeigt, daſs
sie, mit der davidischen Abkunft überhaupt zufrieden, das
Geschlecht Jesu nicht wie jene gerade durch die könig-
liche Linie herunterführt. In der That aber hat eigent-
lich doch keine vor der andern etwas voraus, sondern,
wenn die eine auf unhistorischem Wege entstehen konnte,
so konnte es auch die andere, zumal es sehr unwahrschein-
lich ist, daſs nach den Zerrüttungen des Exils und der fol-
genden Zeiten in der obscuren Familie des Joseph noch so
weit hinaufreichende Genealogieen vorhanden gewesen 2).
Erkennen wir somit beide als willkührliche Compositionen:
so möchten wir nicht einmal mit Fritzsche das als histo-
rische Grundlage festhalten, daſs Jesus von David abge-
stammt habe, und nur die Mittelglieder dieser Abstam-
mung von Verschiedenen verschieden ergänzt worden seien 3).
[128]Erster Abschnitt.
Denn die durch den Census veranlaſste Reise der Eltern Jesu
nach Bethlehem, welche allerdings ihre Abkunft von David
wahrscheinlich machen könnte, steht selbst nichts weniger als
fest, wie wir bald genug sehen werden, und der Jesu oft
beigelegte Titel υἱὺς Δαυὶδ kann auch lediglich den Mes-
sias bezeichnen 4), von welchem man, hatte er sich nur
sonst Anerkennung verschafft, auch die davidische Ab-
stammung, den Weissagungen gemäſs, vorauszusetzen ge-
neigt war. Wie denkbar daher, wenn ein Galiläer, des-
sen Abstammung weiter hinauf gar nicht bekannt war, sich
den Ruf des Messias erworben hatte, daſs sich bald in
verschiedenen Formen die Sage von der davidischen Ab-
kunft desselben bildete, und daſs nun nach diesen Sagen
Genealogieen von ihm verfaſst wurden, welche aber, weil
es an urkundlichen Nachrichten fehlte, nothwendig so ab-
weichend und widersprechend ausfallen muſsten, wie nun
die Geschlechtsregister bei Matthäus und Lukas sich zu
einander verhalten.


Fragt man daher nach der geschichtlichen Ausbeute,
welche diese Genealogieen gewähren, so besteht sie nur
in dem auch sonsther Gewissen: Jesus hat, persönlich
oder durch seine Jünger, auch auf streng jüdisch Gesinnte
einen so entschiedenen Eindruck der Messianität gemacht,
daſs diese nicht zweifelten, auch das prophetische Merk-
mal davidischer Abstammung müsse bei ihm zugetroffen
haben, und mehr als Eine Feder sich in Bewegung sezte,
um durch genealogische Nachweisung dieses Merkmals seine
Anerkennung als Messias zu rechtfertigen 5).


[129]Drittes Kapitel. §. 19.

Drittes Kapitel.
Verkündigung der Empfängniss Jesu;
Benehmen Josephs; Besuch der Maria
bei Elisabet.


§. 19.
Abriss der verschiedenen, kanonischen und apokryphischen,
Berichte.


In Bezug auf die nächste Herkunft Jesu ist in unsern
kanonischen und apokryphischen Evangelien eine bedeu-
tende Abstufung, ein Fortschritt vom Unbestimmten zum
Bestimmten, vom Einfachen zum Ausgeschmückteren zu
bemerken. Die unterste Stufe in Bezug auf die Ausführ-
lichkeit nehmen Markus und Johannes ein: sie setzen die
Geburt Jesu als gegeben voraus und begnügen sich, im
Verlauf ihrer Erzählungen Maria als die Mutter (Marc.
6, 3.) und Joseph als den Vater Jesu (Joh. 1, 46.) nam-
haft zu machen. Höher stehen Matthäus und Lukas, wel-
che die Entstehung der messianischen Person Jesu gene-
tisch darstellen, indem sie seine Geburt sammt den die-
selbe vorbereitenden Umständen berichten. Unter den ge-
nannten Beiden selbst geht Lukas noch etwas höher hinauf
als Matthäus. Dieser nämlich läſst Maria, als Verlobte Jo-
sephs, schwanger befunden werden, und als nun hieran
ihr Bräutigam Anstoſs nimmt, und damit umgeht, sie zu
entlassen, wird er im Traume durch den Engel des Herrn
von dem göttlichen Ursprung und der hohen Bestimmung
der Leibesfrucht Maria's nach einer A. T.lichen Weissa-
gung vergewissert, was die Folge hat, daſs er die Maria
heurathet, doch bis zur Geburt Jesu nicht ehlich berührt
Das Leben Jesu I. Band. 9
[130]Erster Abschnitt.
(Matth. 1, 18—25.). Ist somit bei Matthäus die Schwan-
gerschaft der Maria eine vorgefundene und erst nachträg-
lich durch den Engel gerechtfertigte: so wird dieselbe bei
Lukas durch eine himmlische Erscheinung bevorwortet und
angekündigt. Derselbe Gabriel, welcher dem Zacharias die
Geburt des Johannes angesagt hatte, kündigt nun auch der
mit Joseph verlobten Maria ihre durch göttliche Kraft zu
bewirkende Schwangerschaft an, worauf die künftige Mut-
ter des Messias mit der schwangeren Mutter des Vorläu-
fers auf bedeutungsvolle Weise zusammentrifft, und ihre
Empfindungen in hymnischer Form mit derselben tauscht
(Luk. 1, 26—56.). Nahmen Matthäus und Lukas wenig-
stens das Verhältniſs zwischen Maria und Joseph als ge-
gebenes, so suchen apokryphische Evangelien, namentlich
das Protevangelium Jacobi1) und das Evangelium de na-
tivitate Mariae
2), deren Inhalte auch die Kirchenväter gros-
sentheils beistimmen, auch dieses in seiner Genesis darzu-
stellen; ja sie gehen selbst bis zur Geburt der Maria zu-
rück, welcher sie eine ähnliche Vorausverkündigung, wie
Lukas der Geburt des Täufers und Jesu, voranschicken.
Wie die Geburtsgeschichte des Johannes bei Lukas der des
Samuel und Simson im A. T.: so ist nun die Geburtsge-
schichte der Maria in den genannten Apokryphen der des
Täufers, sammt jenen A. T.lichen, nachgebildet.


Joachim, so lautet die apokryphische Erzählung, und
Anna (wie Samuels Mutter hieſs) fühlen sich unglücklich
in langer kinderloser Ehe (wie die Eltern des Johannes):
da erscheint ihnen beiden (wie Simsons Eltern) an ver-
schiedenen Orten ein Engel und verheiſst ihnen ein Kind,
die Gottesgebärerin, welche (wie der Täufer) von dem En-
gel einer nasiräischen Lebensweise bestimmt wird. In frü-
her Kindheit wird nun Maria (wie Samuel) von ihren El-
[131]Drittes Kapitel. §. 19.
tern in den Tempel gebracht, wo sie von Engeln besucht
und gespeist, auch göttlicher Anschauungen gewürdigt, bis
zum zwölften Jahre verweilt. Mit den Jahren der Mann-
barkeit soll sie aus dem Tempel entfernt werden, und über
ihre weitere Versorgung und Bestimmung wird dem Ho-
henpriester das Orakel zu Theil, daſs, zufolge der Weis-
sagung Jes. 11, 1 f.: egredietur virga de radice Jesse, et
flos de radice ejus ascendet, et requiescet super eum
spiritus Domini
, — alle der Familie Davids angehörige,
heurathfähige, unverehelichte Männer nach der einen 3),
oder alle Wittwer im Volke nach der andern Erzählung 4)
ihre Stäbe herbeibringen sollten, und an wessen Stabe sich
(wie am Stabe Aarons) ein Zeichen ereigne, nämlich das
in der angeführten Prophetenstelle verheiſsene, der solle
die Maria zu sich nehmen. Dieſs Zeichen ereignete sich
an dem Stabe Josephs, indem aus demselben, ganz nach
dem Orakel, eine Blume hervorsproſste und eine Taube
sich auf die Spitze desselben setzte 5). Joseph war nach
den Apokryphen und Kirchenvätern schon alt 6); doch fin-
det der Unterschied statt, daſs nach dem Evang. de nativ.
Mariae
unerachtet des von Maria vorgewendeten Keusch-
heitsgelübdes und der Weigerung des Joseph wegen seines
Alters, dennoch auf priesterliches Geheiſs eine wirkliche
Verlobung und später eine Heurath eintritt (c. 8 u. 10.),
(welche freilich im Sinne des Verfassers ohne Zweifel eine
9*
[132]Erster Abschnitt.
keusche blieb); wogegen es dem Protevang. Jacobi zufolge
gleich von Anfang an gar nicht auf Verlobung und Ehe,
sondern nur auf Behütung der Jungfrau durch den Joseph
abgesehen scheint 7), und dieser noch bei der Reise nach
Bethlehem zweifelt, ob er sie als Tochter oder Frau ein-
schreiben lassen solle, weil er durch das letztere, des Al-
tersverhältnisses wegen, lächerlich zu werden fürchtet
(c. 17.); wie auch, wo bei Matthäus Maria ἡ γυνὴ des
Joseph heiſst, das Apokryphum sie vorsichtig nur als ἡ
παῖς bezeichnet, und selbst das παραλαβεῖν gerne vermei-
det, oder mit διαφυλάξαι vertauscht 8), womit auch man-
che Kirchenväter zusammenstimmen 9). In Josephs Haus
aufgenommen, erhält nun nach dem Protevang. Maria mit
mehreren Jungfrauen den Auftrag, Zeug zum Tempelvor-
hang zu verfertigen, wobei ihr durch das Loos die Bear-
beitung des Purpurs zu Theil wird. Während indeſs Jo-
seph in Geschäften abwesend ist, bekommt Maria den Be-
such des Engels; Joseph, bei seiner Rückkehr, findet sie
schwanger, und stellt sie, nicht als Bräutigam, sondern als
verantwortlicher Ehrenwächter, zur Rede; sie aber hat die
Worte des Engels vergessen, und betheuert, die Ursache
ihrer Schwangerschaft nicht zu wissen. Indem nun Jo-
seph damit umgeht, die Maria seiner Obhut heimlich zu
entlassen, wird ihm im Traum durch den Engel der be-
ruhigende Aufschluſs zu Theil. als die Sache vor die Prie-
ster kommt, müssen beide wegen des Verdachts der Un-
keuschheit das ὕδωρ τῆς ἐλέγξεως trinken, werden aber,
da sie durch dasselbe unbeschädigt bleiben, frei gespro-
chen, worauf die Schatzung und Jesu Geburt folgt 10).


[133]Drittes Kapitel. §. 20.

Wie diese apokryphischen Erzählungen lange Zeit in
der Kirche für historisch gehalten, und gleich den Berich-
ten der kanonischen Evangelien vom supranaturalistischen
Standpunkt aus auf wunderhafte Weise erklärt wurden:
so haben sie in neuerer Zeit auch das Loos der natürli-
chen Erklärung mit den N. T.lichen Erzählungen theilen
müssen. War nämlich in der älteren Kirche der Wunder-
glaube so überschwenglich stark, daſs er auch noch über
das N. T. hinaus für apokryphische Erzählungen zureich-
te und über deren offenbar unhistorischen Charakter ver-
blendete: so war in einzelnen Herolden der neueren Auf-
klärung der rationalistische Pragmatismus so überkräftig,
daſs sie, wie z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte
des groſsen Propheten von Nazaret, denselben sogar den
apokryphischen Mirakeln gewachsen glaubten, weſswegen
der genannte Verf. getrost auch die Erzählungen von der
Abkunft und Jugend der Maria, natürlich gedeutet, in den
Kreis seiner Darstellung aufgenommen hat 11). Wenn man
in unsern Tagen mit der Einsicht in den offenbar mythi-
schen Charakter solcher apokryphischen Erzählungen so-
wohl auf jene Kirchenväter, als auf diese natürlichen Er-
klärer herabblickt: so fragt es sich, ob nicht doch diese
beiden Eines vor jenen Herunterblickenden voraus haben,
nämlich die Consequenz, mit welcher sie so verwandte
Erzählungen, wie die von den Lebensanfängen der Maria
auf der einen, und des Täufers und Jesu auf der andern
Seite, auch auf gleiche Weise fassten, entweder beide wun-
derhaft oder beide natürlich, nicht aber wie jetzt gewöhn-
lich ist, die eine zwar mythisch, die andre aber geschichtlich.


§. 20.
Abweichungen der beiden kanonischen [Evangelien] in Bezug
auf das Formelle der Verkündigung.


Gehen wir nach diesen allgemeinen Umrissen näher auf
[134]Erster Abschnitt.
die Art und Weise ein, in welcher unsern Berichten zu-
folge die erste Kunde von dem zu gebärenden Jesus an
Maria und Joseph gelangte: so können wir von dem In-
halt dieser Verkündigung, daſs nämlich Jesus durch eine
ausserordentliche Wirksamkeit des heiligen Geistes erzeugt
werden solle, zunächst absehen, und nur das Formelle der-
selben berücksichtigen, wem, wann und auf welche Weise
jene Verkündigung gegeben wurde.


Daſs es nach unsern beiden Hauptberichten bei Mat-
thäus und Lukas, welchen auch die apokryphischen Evan-
gelien beistimmen, ein Engel ist, der, wie die Empfäng-
niſs des Täufers, so nun auch die Jesu selbst verkündigt,
wird uns nicht mehr besonders beschäftigen, indem schon
bei jener früheren Erscheinung die Standpunkte angege-
ben und beurtheilt worden sind, von welchen solche Er-
zählungen angesehen werden können. Während aber dort
nur das Eine Evangelium des Lukas jene Erscheinung auf
Eine Weise beschrieb: so haben wir hier zwei parallele,
aber nicht ganz gleichlautende Berichte, deren Vergleichung
uns beschäftigen wird. Abgesehen, wie gesagt, von dem
Inhalt, finden sich zwischen beiden Berichten folgende
Differenzen: Erstlich, das erscheinende Subjekt heiſst bei
Matthäus nur unbestimmt ἄγγελος Κυρίου: bei Lukas ist es
namentlich als ὁ ἃγγελος Γαβριὴλ bezeichnet; 2) das Sub-
jekt, welchem der Engel erscheint, ist nach Matthäus Jo-
seph, nach Lukas Maria; 3) der Zustand, in welchem sie
die Engelerscheinung haben, ist bei Matthäus der Traum,
bei Lukas das Wachen; 4) findet auch in Bezug auf das
Zeitverhältniſs der Erscheinung eine Abweichang statt;
dem Matthäus zufolge nämlich wird erst nach der bei Ma-
ria eingetretenen Schwangerschaft dem Joseph eine himm-
lische Kunde zu Theil: nach Lukas der Maria schon vor
ihrem Schwangerwerden; worauf endlich 5) auch Zweck
und Wirkung der Erscheinung verschieden sind, nämlich
nach Matthäus, den durch die Schwangerschaft seiner Braut
[135]Drittes Kapitel. §. 20.
unruhig gewordenen Joseph nachträglich zu beruhigen:
nach Lukas, durch die Vorherverkündigung jedem mögli-
chen Anstoſs zuvorzukommen.


Fragt es sich nun: erzählen die beiden Evangelisten
eigentlich Ein und Dasselbe, nur sehr abweichend, oder
erzählen sie Verschiedenes, so daſs ihre Erzählungen in
einander eingeschoben und durch einander ergänzt werden
können? so sind die Abweichungen beider Berichte so
groſs und wesentlich, daſs das Erstere nicht wohl ange-
nommen werden kann, ohne der historischen Geltung der-
selben zu nahe zu treten, weſswegen die Mehrzahl der
Theologen, alle nämlich, die hier eine wirkliche, sei es
wunderhafte oder natürliche, Geschichte sehen, sich für
das Letztere entschieden haben. Indem sie demgemäſs be-
haupten, das Stillschweigen eines Evangelisten über eine
Begebenheit, welche der andre erzähle, sei kein Leugnen
derselben 1), fügen sie die beiden Berichte folgendermaſsen
in einander ein: 1) zuerst verkündigt der Engel der Ma-
ria ihre bevorstehende Schwangerschaft (Lukas); 2) dann
reist sie zu Elisabet (ebenders.); 3) nach ihrer Rückkehr
nimmt Joseph an der entdeckten Schwangerschaft Anstoſs
(Matthäus); worauf 4) auch ihm eine Engelerscheinung
zu Theil wird (ders.) 2).


Allein diese Stellung der Begebenheiten hat, wie auch
schon von Schleiermacher bemerkt worden ist 3), viel Be-
denkliches, und es scheint, was der eine Evangelist er-
zählt, das vom andern Berichtete nicht nur nicht voraus-
zusetzen, sondern sogar auszuschlieſsen. Denn fürs Erste
ist das Benehmen des dem Joseph erscheinenden Engels
schwer erklärlich, wenn er oder ein anderer schon frü-
[136]Erster Abschnitt.
her der Maria erschienen war. Jener nämlich (bei Mat-
thäus) spricht ganz so, wie wenn sein Erscheinen das er-
ste in dieser Sache wäre: er beruft sich nicht auf eine der
Maria früher zu Theil gewordene himmlische Botschaft;
er macht dem Joseph keinen Vorwurf, daſs er dieser nicht
geglaubt habe; besonders aber, daſs er den Namen des
zu erwartenden Kindes, mit ausführlicher Begründung die-
ser Benennung, dem Joseph an die Hand giebt (Matth. 1,
21.), wäre ganz überflüssig gewesen, hätte (nach Luc. 1,
31.) der Engel bereits der Maria diesen Namen angezeigt
gehabt. Doch noch unbegreiflicher wird bei dieser Stel-
lung der Sache das Benehmen der beiden Verlobten. Hatte
Maria eine Engelerscheinung, welche ihr eine bevorstehen-
de Schwangerschaft ohne Zuthun des Joseph ankündigte:
was hatte eine zartfühlende Braut Eiligeres zu thun, als die
erhaltene himmlische Botschaft dem Bräutigam mitzutheilen,
um einer beschämenden Entdeckung ihres Zustandes durch
Andere, und einem schlimmen Verdacht des Bräutigams zu-
vorzukommen? Aber gerade auf jene Entdeckung durch
Andre läſst es Maria ankommen, und führt dadurch diesen
Verdacht herbei; denn daſs das εὑρἐϑη ἐν γαςρὶ ἔχ[ου]σα
(Matth. 1, 18.) eine Entdeckung ganz ohne Zuthun der
Maria bedeutet 4), ist klar, und ebenso, daſs auch Joseph
nur auf diese Weise ihren Zustand in Erfahrung bringt,
da ja sein Benehmen als Folge jenes εὑρίσκεσϑαι darge-
stellt wird. Das Räthsel eines solchen Benehmens von Sei-
ten der Maria hat schon das apokryphische Protevangelium
Jacobi
gefühlt, und auf die für den supranaturalistischen
Standpunkt vielleicht consequenteste Weise zu lösen ver-
sucht. Erinnerte sich Maria noch — auf diesem Schlusse
beruht die sinnreiche Darstellung des Apokryphums — an
den Inhalt der himmlischen Botschaft: so muſste sie den-
selben auch dem Joseph mittheilen; da sie dieſs, nach
[137]Drittes Kapitel. §. 20.
Josephs Benehmen zu schlieſsen, nicht gethan zu haben
scheint: so bleibt nur die Annahme übrig, daſs jene, in
erhöhtem Gemüthszustande ihr zu Theil gewordene geheim-
niſsvolle Eröffnung nachher wieder aus ihrem Gedächtnisse
verschwand, und sie selbst die wahre Ursache ihrer Schwan-
gerschaft nicht kannte 5); wobei sich freilich sogleich die
Fragen aufdrängen, wozu dann die Erscheinung dienen
sollte, und woher dem Evangelisten die Kunde von dersel-
ben kam? Fragen, welche übrigens auf supranaturalisti-
schem Boden auch nicht unbeantwortlich sind. In der That
bleibt auf diesem Standpunkt für den gegenwärtigen Fall
kaum etwas Andres übrig, als sich in das Wunderbare
und Unbegreifliche zu flüchten; denn die Versuche, welche
neuere Theologen desselben Standpunktes gemacht haben,
das Schweigen der Maria gegen Joseph zu erklären, und
sogar noch einen vortrefflichen Charakterzug darin zu fin-
den, sind ebenso kecke als miſsrathene Bemühungen, aus
der Noth eine Tugend zu machen. Nach Hess6) muſs es
die Maria nicht wenig Selbstverleugnung gekostet haben,
dem Joseph die Mittheilung des Engels zu verschweigen,
und man muſs diese Zurückhaltung für ein Zeichen ihres
starken Vertrauens auf Gott in dieser nur ihr und ihm be-
kannten Angelegenheit halten. Nicht umsonst nämlich,
dachte sie ohne Zweifel, ist diese Erscheinung nur mir al-
lein zu Theil geworden; sollte auch Joseph schon jetzt da-
von erfahren, so würde der Engel auch ihm erschienen
sein (wollte Jeder, dem eine höhere Offenbarung zu Theil
wird, so denken, wie vieler besonderen Offenbarungen be-
[138]Erster Abschnitt.
dürfte es dann?); ferner: es ist die Sache Gottes, ihm
habe ich es also zu überlassen, auch den Joseph zu über-
zeugen (Grundsatz der Trägheit). Dem stimmt auch Ols-
hausen
bei und setzt nur noch seine allgemeine Lieblings-
bemerkung hinzu, daſs bei so ausserordentlichen Ereignis-
sen der Maſsstab der gemeinen Weltverhältnisse nicht an-
wendbar sei 7). Allein wenn Maria diese sogenannten Ge-
setze des Alltagslebens, unter welche Kategorie aber hier
wesentliche Rücksichten der Zartheit und Schicklichkeit
geworfen werden, verachtete: so dachte sie nicht im Geiste
ihres Sohnes, welcher als γενόμενος ὑπὸ νόμον (Gal. 4, 4.)
solche Rücksichten nie verletzt hat, und ebensowenig ist
es in seinem Geiste, der Maria deſswegen Lob zu erthei-
len. — Mehr vom Standpunkt der natürlichen Erklärung
aus sucht das Evangelium de nativitate Mariae (c. 8—10.),
und nach ihm unter den Neueren z. B. der Verfasser der
natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret
das Stillschweigen der Maria durch die Voraussetzung ei-
ner Entfernung des Joseph von dem Wohnorte seiner Braut
zur Zeit der himmlischen Botschaft zu erklären. Ihnen zu-
folge ist nämlich Maria von Nazaret, Joseph aber von Beth-
lehem, wohin er nach eingegangenem Verlöbniſs sich noch
einmal begab, und erst nach drei Monaten zurückkam, wo
er dann die in der Zwischenzeit eingetretene Schwanger-
schaft der Maria entdeckte. Allein die angenommene Ver-
schiedenheit des Wohnorts von Maria und Joseph ist, wie
wir unten sehen werden, ohne allen Grund in den kano-
nischen Evangelien, und damit wird diese ganze Auskunft
zu nichte. — Ohne eine solche Voraussetzung könnte man
von demselben Standpunkt natürlicher Erklärung aus das
Stillschweigen der Maria gegen Joseph vielleicht dadurch
begreiflich machen wollen, daſs man sie durch Verschämt-
heit abgehalten dächte, einen so leicht dem Verdacht aus-
[139]Drittes Kapitel. §. 20.
gesetzten Zustand einzugestehen. Allein wer von dem Gött-
lichen in der Sache so fest überzeugt war und sich in die
geheimniſsvolle Bestimmung bereits so verständig gefunden
hatte, wie Maria (Luc. 1, 38.), dem konnte durch klein-
lichte Rücksichten falscher Scham die Zunge unmöglich ge-
bunden sein.


Daher haben sich die natürlichen Erklärer, um den
Charakter der Maria zu retten, ohne jedoch dem des Jo-
seph zu nahe zu treten, bewogen gefunden, eine von Ma-
ria dem Joseph gemachte Mittheilung, wiewohl verspätet,
um seinen Unglauben erklärlich zu finden, vorauszusetzen.
Ähnlich wie das zuletzt genannte Apokryphum zogen sie
eine Reise, aber nicht des Joseph, sondern die von Lukas
gemeldete der Maria zu Elisabet, herein, um die Verzöge-
rung der Mittheilung zu erklären. Vor dieser Reise, meint
Paulus, entdeckte sich Maria dem Joseph nicht; wahr-
scheinlich wollte sie sich erst mit der älteren Freundin be-
sprechen, wie sie sich demselben eröffnen solle, und ob
sie, als Mutter des Messias, sich überhaupt verheurathen
dürfe? Erst als sie zurückkommt, läſst sie, vermuthlich
durch Andere, dem Joseph bedeuten, wie es um sie stehe,
und was sie für Verheiſsungen empfangen habe. Den Jo-
seph aber fand dieser erste Eindruck nicht gehörig gestimmt
und vorbereitet; er gieng mit allerlei Gedanken um, schwank-
te zwischen Verdacht und Hoffnung, bis endlich ein Traum
entscheidend wurde 8). — Allein ein so verspätetes Ge-
ständniſs kann die Maria nicht rechtfertigen. Welches Be-
tragen einer Verlobten, nach einer den Bräutigam so nahe
angehenden höheren Mittheilung in einer so delicaten Sa-
che — viele Meilen weit zu verreisen, drei Monate aus-
zubleiben, und hierauf erst durch dritte Personen dem
Bräutigam das nicht mehr zu Verheimlichende zustecken
zu lassen!


[140]Erster Abschnitt.

Wer daher die Maria nicht auf eine Weise handeln
lassen will, wie unsre Evangelisten gewiſs nicht voraus-
setzen, daſs sie gehandelt habe, der muſs geradezu anneh-
men, sie habe die Engelsbotschaft sogleich nach Erhalt
derselben ihrem Bräutigam mitgetheilt, dieser aber habe
ihr keinen vollen Glauben geschenkt. — Allein nun sehe
man zu, wie man mit dem Charakter des Joseph zurecht-
kommen möge! Auch Hess ist der Meinung, so wie Jo-
seph die Maria kennen muſste, hätte er keine Ursache ge-
habt, einen Zweifel in ihre Aussage zu setzen, wenn sie
ihm die gehabte Erscheinung mittheilte 9). That er es
doch, so scheint dieſs ein Miſstrauen gegen seine Verlobte
vorauszusetzen, das mit seinem Charakter als ἀνὴρ δίκαιος
(Matth. 1, 19.), und einen Unglauben an das Wunderbare,
der mit seiner sonstigen Geneigtheit, auf Engelerscheinun-
gen einzugehen, schwer vereinbar ist, und ihm auf keinen
Fall bei der später ihm selbst zu Theil gewordnen Erschei-
nung so ganz ungeahndet hingegangen wäre.


Da somit unvermeidlich etwas dem Sinne unsrer Evan-
gelisten, sofern sie offenbar den Joseph wie die Maria als
reine Charaktere halten wollen, Unangemessenes sich er-
giebt, wenn man ihre Erzählungen einander gegenseitig
voraussetzen und ergänzen läſst: so darf eben dieſs
nicht angenommen werden, sondern ihre Berichte schlies-
sen einander aus. Nicht ist sowohl der Maria zuerst,
als auch dem Joseph hernach der Engel erschienen, son-
dern nur entweder dem einen oder dem andern Theil
kann er erschienen sein, hiemit aber auch nur die eine
oder die andre Relation für historisch angesehen werden.
Hier könnte man sich nun nach verschiedenen Rücksichten
für die eine oder andere Erzählung entscheiden: man
könnte von rationalistischem Standpunkte aus die Erzäh-
lung des Matthäus wahrscheinlicher finden, weil sich die
[141]Drittes Kapitel. §. 20.
Engelerscheinung im Traum, wie er sie giebt, leichter na-
türlich erklären lasse; vom supranaturalistischen aber die
des Lukas, weil die Art, wie hier dem Verdachte gegen
die heilige Jungfrau zuvorgekommen wird, gotteswürdiger
sei: allein ein solches Abwägen eines Berichts gegen den
andern in Bezug auf historische Glaubwürdigkeit hat auf
dem Standpunkt, welchen man mit dem Aufgeben ihrer
Vereinbarkeit betritt, eigentlich keine Stelle mehr. Denn
nach äusserer wie innerer Beschaffenheit sehen sich die bei-
den Erzählungen so ähnlich, daſs ohne höchste Inconsequenz
nicht die eine als historisch aufgegeben, die andre fest-
gehalten werden kann, sondern, was der einen Recht ist,
muſs der andern billig sein. Beide stehen in kanonischen
Evangelien ohne gegründeten Verdacht der Unächtheit;
beide haben den Zweck, Jesum als übernatürlich Erzeug-
ten darzustellen; beide thun dieſs durch die Erscheinung
und Botschaft eines Engels: wo wäre hier das unterschei-
dende Kriterium, die eine zu verwerfen, die andre aber
festzuhalten? Nein, wenn nicht beide historisch richtig
sein können: so ist es weder die eine noch die andre,
und wir sehen uns auch hier mit Nothwendigkeit auf den
mythischen Standpunkt versezt.


Auf diesem fallen dann auch von selbst die verschie-
denen Deutungen weg, welche man, namentlich von Sei-
ten natürlicher Erklärer, von den beiden Engelerscheinun-
gen zu geben versucht hat. Wenn Paulus die Erscheinung
bei Matthäus für einen natürlichen Traum erklärt, bewirkt
durch die vorangegangne Mittheilung der Maria über die
ihr zu Theil gewordene Verkündigung, von welcher Joseph
gewuſst haben müsse, weil sich nur daraus erkläre, wie
er sich im Traume ganz ähnliche Worte könne sagen las-
sen, als früher der Engel der Maria gesagt hatte 10): so
beweist vielmehr gerade diese Ähnlichkeit der Worte des
[142]Erster Abschnitt.
voraussezlich zweiten Engels mit denen des ersten, ohne
daſs doch in jenen auf diese Rücksicht genommen würde,
daſs diese früheren dabei nicht vorausgesezt werden, und
überhaupt fällt die natürliche Erklärung dadurch weg, daſs
die Berichte sich als mythische gezeigt haben. Eben dieſs
Leztere gilt auch von der Art, wie Paulus versteckt, der
Verf. der natürlichen Geschichte aber offen, den zu Maria
eingetretenen Engel (bei Lukas) für einen Menschen er-
klären, wovon im folgenden §. noch wird die Rede sein
müssen.


Nach allem Bisherigen können wir über den Ursprung
der beiden Erzählungen von erschienenen Engeln nur fol-
gendermaſsen urtheilen. Daſs Jesus durch göttliche Thätig-
keit in Maria erzeugt sei, dieſs durfte nicht blos durch
schwankende Vermuthung gefunden, es muſste klar und
zuverläſsig ausgesprochen werden, und dazu bedurfte man
eines himmlischen Boten, welchen ohnehin, wie für die
Geburt eines Simson und Johannes, so noch mehr für die
Geburt des Messias das theokratische Decorum zu erfor-
dern schien. Daſs den Engel die eine Erzählung schon
vorläufig der Maria, die andre erst nachträglich dem Jo-
seph erscheinen läſst, ist als Variation der Sage oder der
Bearbeitung in der Art zu betrachten, daſs die Erzählung
des Matthäus 11) einfacher und in noch roherem Styl ge-
[143]Drittes Kapitel. §. 21.
arbeitet ist, indem sie es nicht vermeidet, wenn auch nur
in einem vorübergehenden Verdacht des Joseph, einen Schat-
ten auf die Maria zu werfen, der erst hintennach wieder
entfernt wird: wogegen die Darstellung bei Lukas, schon
feiner und kunstreicher, gleich von vorn herein die Maria
in dem reinen Lichte einer Braut des Himmels zeigt.


§. 21.
Inhalt der Engelsbotschaft. Erfüllung der Weissagung des Jesaias.


Der Engel, welcher nach Lukas der Maria erscheint,
spricht zunächst nur davon, daſs Maria, noch unbestimmt,
auf welche Weise, schwanger werden, und einen Sohn ge-
bären solle, welcher groſs sein, und ὑιὸς ὑψίςου genannt
werden werde; ihm werde Gott den Thron seines Ahnherrn
David geben, und er das Haus Jakob ohne Ende beherr-
schen. Hier ist ganz in den gewöhnlichen jüdischen For-
meln vom Messias die Rede, und selbst das ὑιὸς ὑψίςου
würde, wenn nichts Weiteres nachkäme, nur in demsel-
ben Sinne zu nehmen sein, wie nach 2. Sam. 7, 14. Ps.
2, 7. ein gewöhnlicher israelitischer König, also noch mehr
der höchste dieser Könige, der Messias, auch als bloſser
Mensch betrachtet, so genannt werden konnte. Dieses jü-
dische Reden wirft nachträglich noch ein weiteres Licht auf
den historischen Werth dieser Engelerscheinung zurück,
indem man mit Schleiermacher sagen muſs, daſs schwer-
lich der wirkliche Engel Gabriel in so strengjüdischen For-
meln die Ankunft des Messias verkündigt haben wür-
11)
[144]Erster Abschnitt.
de 1); ebendeſswegen wird man geneigt sein, mit diesem
Theologen auch das gegenwärtige Erzählungsstück wie das
vorige, den Täufer betreffende, einem und demselben ju-
denchristlichen Verfasser zuzuschreiben. — Erst als gegen
diese Verheiſsung eines Sohnes Maria von ihrer Jungfrau-
schaft aus Einwendungen macht, bestimmt der Engel die
Art der Empfängniſs näher dahin, daſs sie durch den hei-
ligen Geist, durch die Kraft der Gottheit bewirkt werden
werde, wonach nun auch die Benennung υἱὸς ϑεοῦ einen
bestimmteren metaphysischen Sinn erhält. Zum bestätigen-
den Zeichen, daſs etwas der Art Gott keineswegs unmög-
lich sei, wird Maria auf den Vorgang mit ihrer Verwand-
tin Elisabet verwiesen, worauf sie sich glaubig in den
göttlichen Rathschluſs mit ihr ergiebt.


Bei Matthäus, wo die Beschwichtigung der Bedenk-
lichkeiten Josephs die Hauptsache ist, beginnt der Engel
sogleich mit der Eröffnung, daſs, wie der Evangelist schon
V. 18. für sich referirt hatte, das in Maria erzeugte Kind
vom πνεῡμα ἃγιον sei, und hierauf erst wird Jesu messia-
nische Bestimmung durch den Ausdruck bezeichnet, daſs
er sein Volk von dessen Sünden erlösen werde. Klingt
dieſs auch anscheinend weniger jüdisch, als das, wodurch
bei Lukas die messianische Funktion des zu gebärenden
Kindes ausgedrückt war: so sind doch in den άμαρτίαις
auch die Strafen derselben, namentlich die Unterjochung
des Volks durch Fremde, mitbegriffen, so daſs auch hier
das jüdische Element nicht fehlt; so wie andrerseits in dem
βασιλεύειν bei Lukas das Herrschen über ein folgsames,
gebessertes Volk enthalten, also hier das Höhere nicht ganz
zu vermissen ist. Hierauf fügt, sei es der Engel oder wahr-
scheinlicher der Referent, durch die besonders bei ihm so
oft wiederkehrende Formel: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν, ἵνα πλη-
ρωϑῇ τὸ ῥηϑὲν κ. τ. λ.
(V. 22.) ein A. T.liches Orakel bei,
[145]Drittes Kapitel. §. 21.
welches durch diese Art der Empfängniſs Jesu sich erfülle,
daſs nämlich nach Jes. 7, 14. eine Jungfrau schwan-
ger werden und einen Sohn gebären solle, welchen man
Gottmituns nennen werde.


Der ursprüngliche Sinn der jesaianischen Stelle ist den
neueren Forschungen zufolge 2) dieser. Den König Ahas,
welcher aus Furcht vor den Königen Syriens und Israëls
sich zu einem Bunde mit Assyrien neigte, will der Pro-
phet von dem bald bevorstehenden Untergang jener jezt so
gefürchteten Feinde lebhaft versichern, und sagt daher:
setze, daſs eine jezt noch Unverheurathete, die sich nun
erst in ein geschlechtliches Verhältniſs einlieſse 3), ein
Kind empfienge; oder kategorisch: eine bestimmte junge
Frau (vielleicht die eigne des Propheten) ist schon oder
wird schwanger werden: jedenfalls werden bis zu der Ge-
burt ihres Kindes die politischen Umstände sich so weit
gebessert haben, daſs man demselben einen Namen von
guter Vorbedeutung wird geben können, und ehe dann das
Kind in die Unterscheidungsjahre getreten sein wird, wer-
den die feindlichen Mächte ganz vernichtet sein. D. h. ab-
strakt ausgedrückt: ehe 9 Monate vergehen, wird es sich
Das Leben Jesu I. Band. 10
[146]Erster Abschnitt.
mit der Lage des Reichs schon besser anlassen, und bin-
nen dreier Jahre etwa wird die Gefahr verschwunden sein.
So viel ist in jedem Falle durch die neuere Auslegung zur
Evidenz gebracht, daſs nur ein Zeichen aus der Gegen-
wart und nächsten Zukunft in den Verhältnissen, wie sie
die Einleitung zu dem Orakel des Jesaias angiebt, einen
Sinn haben konnte. Wie unpassend ist die prophetische
Rede nach der Deutung Hengstenberg's 4): so gewiſs der-
einst noch der Messias unter dem Bundesvolke von einer
Jungfrau geboren werden wird, so unmöglich ist es, daſs
das Volk, unter welchem er geboren werden und die Fa-
milie, von welcher er abstammen soll, zu Grunde gehe.
Wie übel berechnet von dem Propheten, die Unwahrschein-
lichkeit der nahen Rettung durch eine gröſsere Unwahr-
scheinlichkeit aus der fernen Zukunft wahrscheinlich ma-
chen zu wollen! Und dann vollends der gegebene [T[er]m[i]n]
von wenigen Jahren! Der Sturz der beiden Königreiche,
deutet hier Hengstenberg, soll erfolgen, — nicht in der
Zeit bis nun demnächst der bezeichnete Knabe wirklich in
die Unterscheidungsjahre treten wird, sondern — in so
viel Zeit von jezt an, als in fernster Zukunft einst zwi-
schen der Geburt des Messias und seiner ersten Entwicke-
lung vergehen wird, also ungefähr in drei Jahren. Wel-
che abenteuerliche Vermengung der Zeiten! Ein Kind soll
geboren werden in ferner Zukunft, und was nun gesche-
hen soll, ehe dieses Kind in die Unterscheidungsjahre
treten wird, das soll in die nächste Gegenwart fallen.


So entschieden aber Paulus und seine Partei gegen
Hengstenberg und die Seinigen darin Recht hat, daſs sei-
nem ursprünglichen Lokalsinn nach das Orakel des Jesaias
auf gegebene Zeitverhältnisse, und nicht auf den künftigen
Messias oder gar auf Jesus sich beziehe: ebenso entschie-
den hat Hengstenberg gegen Paulus Recht, wenn er dar-
[147]Drittes Kapitel. §. 21.
auf beharrt, daſs hier bei Matthäus die jesaianische Stelle
als Weissagung auf Jesu jungfräuliche Geburt genommen
werde. Während nämlich die orthodoxen Ausleger in der
häufigen Formel ἵνα πληρωϑῇ und ähnlichen von jeher den
Sinn fanden: dieſs geschah nach göttlicher Veranstaltung,
damit die A. T.liche Weissagung einträfe, mit welcher es
schon ursprünglich auf das N. T.liche Ereigniſs abgesehen
war, — so finden die rationalistischen Erklärer 5) nur so
viel darin: dieſs geschah auf eine Weise, war so beschaf-
fen, daſs die A. T.lichen Worte, die sich ursprünglich
zwar auf etwas Andres bezogen, sich doch darauf anwen-
den lassen, und dadurch erst gleichsam ihre volle Wahr-
heit bekommen. Bei der ersteren Deutung ist das Verhält-
niſs zwischen der A. T.lichen Stelle und dem N. T.lichen Ereig-
niſs ein objektives, von Gott selbst veranstaltetes 6): nach der
lezteren nur ein subjektives, von dem späteren Schriftsteller ge-
fundenes; nach jener ein genaues, wesentliches, nach dieser ein
ungefähres, zufälliges. Allein gegen diese letztere Auffassung
der N. T.lichen Stellen, welche eine A. T.liche Weissa-
gung als erfüllt nachweisen, ist ebensowohl die Sprache
als der Geist der N. T.lichen Schriftsteller. Die Sprache;
denn wie u. A. Fritzsche nachweist 7), kann weder πλη-
ροῦσϑαι
in solcher Verbindung etwas Andres heiſsen, als
ratum fieri, eventu comprobari, noch ἵνα, ὅπως etwas An-
dres als eo consilio ut, indem die verbreitete Annahme
eines ἵνα ἐκβατικὸν nur aus dogmatischer Verlegenheit
entstanden ist. Ganz besonders aber ist eine solche Aus-
legung dem jüdischen Geiste der evangelischen Schriftstel-
10*
[148]Erster Abschnitt.
ler zuwider. Wenn nämlich Paulus behauptet, der Orien-
tale denke nicht im Ernst, das Ältere sei in der Absicht
gesagt, oder von Gott deſswegen zur Wirklichkeit gebracht,
damit das Neuere dadurch präfigurirt würde, und umge-
kehrt 8): so ist dieſs ein Hinübertragen unsrer occidentali-
schen Nüchternheit in das Phantasieleben des Orientalen;
wenn er aber hinzusetzt, vielmehr habe das Zusammen-
treffen eines Späteren mit einem Früheren im Gemüthe des
Morgenländers nur die Gestalt einer Beabsichtigung an-
genommen: so ist hiedurch der erste Satz wieder aufge-
hoben, denn es kann damit nichts Anderes gesagt sein, als:
das, was nach unsrer Einsicht bloſses Zusammentreffen ist,
erschien dem Orientalen als Beabsichtigtes, und diesen Sinn
müssen wir in einer orientalischen Darstellung finden, wenn
wir sie nach ihrem ursprünglichen Verstande auslegen wol-
len. Namentlich von den späteren Juden ist es bekannt,
daſs sie allenthalben im A. T. Weissagungen für Gegen-
wart und Zukunft fanden, daſs sie namentlich vom künf-
tigen Messias aus zum Theil falsch gedeuteten A. T.lichen
Stellen sich ein genaues Bild zusammengesetzt hatten 9),
und mit solchen, wenn auch noch so verkehrten Schriftan-
wendungen meinte es der Jude wirklich so, daſs er eine
eigentliche Erfüllung des Schriftwortes da zu finden glaub-
te, wo er es anwendete, weſswegen es, mit Olshausen zu
reden 10), bloſse dogmatische Befangenheit ist, den N. T.li-
chen Schriftstellern einen ganz andern, als den unter ih-
ren Landsleuten gewöhnlichen Sinn jener Formel unterzu-
schieben, nur damit ihnen keine falsche Schriftauslegung
zur Last fallen solle.


Unbefangen genug in Rücksicht auf das A. T., um ge-
[149]Drittes Kapitel. §. 21.
gen die altorthodoxe Auslegung die ursprüngliche Bezie-
hung mancher Weissagungen auf Naheliegendes zu erken-
nen; auch nicht gewaltthätig genug gegen das N. T., um
mit rationalistischen Exegeten die entschieden messianische
Deutung jener Orakel in den Evangelien abzuleugnen, —
sind doch jetzt manche Theologen nicht vorurtheilsfrei ge-
nug, um eine hin und wieder unrichtige Auslegung des
A. T.s im neuen zuzugeben; weſswegen sie dann, wie na-
mentlich Olshausen, den Ausweg ergreifen, bei jenen Weis-
sagungen eine zwiefache Beziehung, auf ein gegenwärtiges
Niederes und ein zukünftiges Höheres zu unterscheiden,
um so einerseits gegen den klaren pragmatisch-historischen
Sinn der A. T.lichen Stellen nicht zu verstossen, und an-
drerseits doch auch die N. T.lichen Deutungen dieser Stellen
weder zu verdrehen noch Lügen zu strafen. So soll bei
dem vorliegenden Orakel des Jesaias der Geist der Weis-
sagung die doppelte Absicht gehabt haben, einmal das nä-
herliegende Gebären der Verlobten des Propheten, dann
aber auch die hievon verschiedene, in ferner Zukunft lie-
gende Geburt Jesu von einer Jungfrau vorauszuverkündi-
gen 11). Aber ein solches Monstrum von Doppelsinn ist
ja gleichfalls nur in dogmatischer Verlegenheit gezeugt, um,
wie Olshausen selbst sagt, den Anstoſs wegzuräumen, wel-
cher in der Annahme liegen könnte, daſs die N. T.lichen
Schriftsteller und Jesus selbst das A. T. nicht richtig, oder
näher nicht kunstgerecht nach unsern jetzigen hermeneuti-
schen Grundsätzen, sondern in der Weise ihrer Zeit, wel-
che nicht die richtigste war, ausgelegt haben sollen. In-
dem nun aber für den Vorurtheilsfreien dieser Anstoſs so
wenig existirt, daſs es ihm vielmehr ein Anstoſs sein wür-
de, wenn es sich umgekehrt verhielte, und allen Gesetzen
geschichtlich nationaler Entwickelung zuwider die neute-
stamentlichen Männer sich aus der Interpretationsweise ih-
[150]Erster Abschnitt.
rer Zeit- und Volksgenossen ganz herausgehoben hätten:
so werden wir in Bezug auf die im N. T. citirten Weis-
sagungen nach Umständen ohne Weiteres zugeben können,
daſs sie hier nicht selten ganz anders ausgelegt und ange-
wendet werden, als sie ursprünglich gemeint waren.


Wir haben hier in der That eine vollständige Tafel
aller 4 über diesen Punkt möglichen Ansichten, worunter
2 Extreme und 2 Vermittlungsweisen, eine falsche und ei-
ne, hoffentlich, richtige.


1. Orthodoxe Ansicht (Hengstenberg u. A.): Der-
gleichen A. T.liche Stellen hatten schon ursprünglich nur
die prophetische Beziehung auf Christus; denn die N. T.-
lichen Schriftsteller deuten sie so, und diese müssen Recht
haben, wenn auch der Menschenverstand dabei zu Grun-
de geht.


2. Rationalistische Ansicht (von Paulus u. A.):
Auch die N. T.lichen Schriftsteller geben den A. T.lichen
Orakeln jene [streng-messianische] Deutung nicht; denn diese
Beziehung ist den Orakeln, verständig angesehen, ursprüng-
lich fremd; mit dem Verstande aber müssen die N. T.li-
chen Schriftsteller zusammenstimmen, was auch die Alt-
gläubigen dagegen sagen mögen.


3. Mystisch vermittelnde Ansicht (von Ols-
hausen
u. A.): In den A. T.lichen Stellen liegt ursprüng-
lich sowohl der von den N. T.lichen Schriftstellern ange-
gebene tiefere, als auch der durch verständige Ansicht der-
selben uns aufgenöthigte nähere Sinn: so kann sich ge-
sunder Menschenverstand und Altgläubigkeit vertragen.


4. Entscheidung der Kritik: Die A. T.lichen
Weissagungen hatten ursprünglich meistens nur jene nähere
Beziehung auf Zeitverhältnisse: wurden aber von den N.
T.lichen Männern als wirkliche Prophezeihungen auf Je-
sus als den Messias angesehen, weil der Verstand in je-
nen Männern durch die Denkart ihres Volks modificirt war,
[151]Drittes Kapitel. §. 22.
was sowohl der Rationalismus als die Altgläubigkeit ver-
kennt 12).


Demgemäſs werden wir auch in Bezug auf das in Re-
de stehende Orakel keinen Augenblick anstehen, einzuräu-
men, daſs die Beziehung auf Jesus ihm vom Evangelisten
aufgedrungen ist; ob so, daſs die wirkliche Geburt Jesu
von einer Jungfrau zu dieser Anwendung des Orakels, oder
daſs das schon vorher auf den Messias gedeutete Orakel zu
der Annahme einer jungfräulichen Geburt Jesu Veranlas-
sung gab, kann erst aus dem Folgenden entschieden werden.


§. 22.
Jesus durch den heiligen Geist erzeugt. Kritik der ortho-
doxen Ansicht.


Was die beiden Evangelisten, Matthäus und Lukas,
über die Art der Erzeugung Jesu melden, ist von den
kirchlichen Auslegern jederzeit dahin gedeutet worden, daſs
Jesus durch eine, an die Stelle der männlichen Mitwirkung
getretene göttliche Thätigkeit in Maria erzeugt worden sei.
[152]Erster Abschnitt.
Und wirklich hat diese Auslegung den ersten Augenschein
der Stellen für sich, indem durch das πρὶν ἢ συνελϑεῖν αὐ-
τοὺς
(Matth. 1, 18.) und das ἐπεὶ ἄνδρα οὐ γινώσκω (Luc. 1,
34.) der Antheil des Joseph und jedes Mannes überhaupt
an der Erzeugung des in Frage stehenden Kindes ausge-
schlossen; durch das πνεῦμα ἅγιον aber und die δύναμις
ὑψίςο
υ zwar nicht der heilige Geist im kirchlichen Sinne,
als dritte Person in der Gottheit, wohl aber nach A. T.li-
chem Sprachgebrauch des רוּחַ אֱלהִֹים, Gott, sofern er auf
die Welt einwirkt, bezeichnet; endlich durch die Ausdrücke
ἐν γαςρὶ ἔχουσα ἐκ πνεύματος ἁγίου bei Matthäus, und ἐπέρ-
χεσϑαι, ἐπισκιάζειν
, bei Lukas die göttliche Wirksamkeit
deutlich genug an die Stelle der zeugenden männlichen ge-
setzt wird.


Erscheint dieſs als die Vorstellung, welche die bezeich-
neten evangelischen Abschnitte über den Ursprung des Le-
bens Jesu geben wollen: so läſst sich dieselbe doch nicht
ohne bedeutende Schwierigkeiten vollziehen. Wir können
die, so zu sagen, physico-theologischen von den exegetisch-
historischen Schwierigkeiten unterscheiden.


Die physiologischen Schwierigkeiten laufen darin
zusammen, daſs eine solche Erzeugung die auffallendste
Abweichung von allem Naturgesetze wäre. Es wird ge-
wiſs bei dem Plutarchischen Dictum: παιδίον οὐδεμία ποτὲ
γυνὴ λέγεται ποιῆσαι δίχα κοινωνίας ἀνδρὸς
1) und bei dem
Cerinthischen impossibile2) sein Bewenden haben, indem
es physiologisch gewiſs ist, daſs das Zusammenwirken zweier
geschlechtlich verschiedenen Menschenkörper nothwendig
ist, wenn die Keime zu Organen eines neuen Menschenle-
bens sich aussondern und befruchten sollen 3). Nur bei den
[153]Drittes Kapitel. §. 22.
niedrigsten Thiergattungen ist eine Fortpflanzung ohne Ge-
schlechtsvermischung bekannt, auf deren Analogie man sich
für Jesu Erzeugung nie hätte berufen sollen 4). In der
That, die Sache blos physiologisch betrachtet, wäre es mit
einem ohne Geschlechtsvermischung entstandenen Menschen
an dem, was Origenes, freilich im Sinne des höchsten Su-
pranaturalismus, sagt, daſs die Worte Ps. 22, 7: ich bin
ein Wurm und kein Mensch, — eine Weissagung auf Je-
sum insofern seien, als auch er, wie dieſs bei Würmern
sich finde (ohne jene Vermischung) entstanden sei 5). Doch
zu der blos physiologischen Betrachtungsweise bringt schon
der Engel bei Lukas die theologische hinzu, indem er
sich (1, 37.) auf die göttliche Allmacht beruft, welcher kein
Ding unmöglich sei. Allein da die göttliche Allmacht ver-
möge ihrer Einheit mit der göttlichen Weisheit nie ohne
zureichende Gründe wirkt: so müſste sich auch hier ein
solcher nachweisen lassen. Ein genügender Grund aber zur
Suspension eines selbstgegebenen Naturgesetzes könnte für
Gott nur darin liegen, daſs zur Erreichung gotteswürdiger
Zwecke jene Abweichung vom Naturgesetz nothwendig
wäre. Nun sagt man hier: der Zweck der Erlösung for-
derte Jesu Unsündlichkeit; um aber unsündlich sein zu
können, muſste Jesus durch Entfernung des Antheils ei-
nes sündhaften Vaters und einen göttlichen Einfluſs auf sei-
ne Erzeugung aus dem Zusammenhang der Erbsünde her-
ausgenommen sein 6). Allein, wie auch sonst schon be-
merkt 7), neuestens aber von Schleiermacher auf eine, die
Sache von dieser Seite abschlieſsende Weise gezeigt wor-
den ist 8), so war hiezu die Ausschlieſsung blos des vä-
[154]Erster Abschnitt.
terlichen Antheils nicht hinreichend, wenn nicht auch der,
gleichfalls Sünde fortpflanzende, mütterliche, etwa durch die
Valentinische Behauptung eines bloſsen Durchgangs Christi
durch Maria, entfernt wird. Bleibt nun aber der mütterli-
che Antheil nach den evangelischen Berichten offenbar ste-
hen: so müssen wir, um doch die voraussezlich nothwen-
dige Unsündlichkeit herauszubekommen, eine göttliche Thä-
tigkeit annehmen, welche den Antheil der sündhaften mensch-
lichen Mutter bei der Erzeugung Jesu heiligte. Nahm aber
Gott mit dem stehenbleibenden mütterlichen Antheil eine
solche Reinigung vor, so lag es näher, dasselbe auch mit
dem männlichen zu thun, als durch gänzliche Ausschlieſsung
desselben eine so enorme Abweichung vom Gesetze der
Natur zu statuiren, und es läſst sich somit die vaterlose
Erzeugung Jesu nicht als nothwendiges Mittel zum Zwecke
seiner Unsündlichkeit behaupten.


Doch wer auch über die bisher vorgetragenen Schwie-
rigkeiten sich hinüberhelfen zu können glaubt, indem er
sich in einen für Vernunftgründe und Naturgesetze unzu-
gänglichen Supranaturalismus hüllt, dem müssen doch die
auf seinem eigenen N. T.lichen Boden gelegenen, exege-
tisch-historischen
Schwierigkeiten bedenklich sein, wel-
che gleichfalls die Ansicht von einer übernatürlichen Er-
zeugung Jesu drücken. In keiner andern Stelle des N. T.s
nämlich, ausser den beiden Kindheitsevangelien bei Mat-
thäus und Lukas, wird von einem solchen Ursprung Jesu
gesprochen, oder auch nur deutlich auf denselben hinge-
wiesen 9). Nicht allein Markus läſst die Erzeugungsge-
[155]Drittes Kapitel. §. 22.
schichte weg, sondern auch der voraussezliche Verf. des
vierten Evangeliums, Johannes, der, als angeblicher Haus-
genosse der Mutter Jesu nach dessen Tode, am genauesten
über diese Verhältnisse unterrichtet sein muſste. Man sagt:
er wollte mehr die himmlische als die irdische Herkunft
Jesu berichten; aber es fragt sich eben, ob mit seiner im
Prologe ausgesprochenen Ansicht von einer, wirklich in
Jesu fleischgewordenen und ihm immanent gebliebenen
göttlichen Hypostase die in unsern Stellen liegende von
einer bloſsen, seine Erzeugung bedingenden, göttlichen
Einwirkung verträglich sei, ob er also die Erzeugungs-
geschichte des Matthäus und Lukas habe voraussetzen kön-
nen? Da jedoch dieser Einwand seine entscheidende Kraft
verliert, wenn sich uns der apostolische Ursprung des vier-
ten Evangeliums im Verfolg unsrer Untersuchung nicht be-
währt: so kommt hauptsächlich dieſs in Betracht, daſs
auch im weiteren Verlaufe nicht blos des Markus- und
Johannes-Evangeliums, sondern auch des Matthäus und
Lukas selbst keine rückweisende Andeutung dieser Art der
Erzeugung Jesu vorkommt. Nicht nur bezeichnet Maria
den Joseph ohne Weiteres als den Vater Jesu (Luc. 2,
48.), und spricht der Evangelist von Maria und Joseph
geradezu als von seinen γονεῖς (Luc. 2, 41.): sondern alle
seine Zeitgenossen überhaupt hielten ihn nach unsern Evan-
gelien für einen Sohn des Joseph, und nicht selten wurde
es verächtlich und vorwurfsweise in seiner Gegenwart ge-
äussert (Matth. 13, 55. Luc. 4, 22. Joh. 6, 42.), ihm
also entschiedene Veranlassung gegeben, sich auf seine
wunderbare Erzeugung zu berufen, was er jedoch mit kei-
nem Worte thut. Könnte man hier sagen, daſs er auf
diese äusserliche Weise nicht von der Göttlichkeit seiner
Person überzeugen wollte, auch bei innerlich Abgeneigten
keine Wirkung davon sich versprechen konnte: so ist hin-
zuzunehmen, daſs nach der Angabe des vierten Evange-
liums auch seine eigenen Jünger neben seiner Gottessohn-
[156]Erster Abschnitt.
schaft ihn doch für den wirklichen Sohn Josephs hielten;
denn Philippus stellt ihn dem Nathanaël als Ἰησοῦν τὸν ὑιὸν
Ἰωσὴφ
vor (Joh. 1, 46.), offenbar in demselben Sinne ei-
gentlicher Vaterschaft, wie ihn sonst die Juden ebenso be-
zeichnen, ohne daſs dieſs irgendwo als eine irrige oder
unvollkommne Ansicht dargestellt würde, welche diese
Apostel nachher hätten ablegen müssen, vielmehr hat die
Erzählung unverkennbar den Sinn, daſs hier der rechte
Glaube in denselben zum Dasein gekommen sei. — Eben-
sowenig als in den Evangelien findet sich in den übrigen
N. T.lichen Schriften etwas zur Bestätigung der Ansicht
von einer übernatürlichen Erzeugung Jesu. Denn wenn
der Apostel Paulus Jesum γενόμενον ἐκ γυναικὸς nennt
(Gal. 4, 4.): so wird man in diesem Ausdruck doch nicht
eine Ausschlieſsung des männlichen Antheils finden wollen,
da ja der Zusaz: γενόμενον ὑπὸ νόμον deutlich zeigt, daſs
er, wie so häufig im A. T. (z. B. Hiob 14, 1.), nur die
Schwäche und Niedrigkeit der menschlichen Erscheinung
Jesu bezeichnet. Wenn Paulus ferner (Röm. 1, 3. vergl.
9, 5.) Christum κατὰ σάρκα von David und den Erzvätern
abstammen, κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης aber als Gottes Sohn
sich bewähren läſst: so wird man doch hier den Gegensaz
von σὰρξ und πνεῦμα nicht mit dem von menschlichem
mütterlichen, und durch göttliche Thätigkeit erseztem vä-
terlichen Antheil an seiner Erzeugung identificiren wollen.
Endlich, wenn im Hebräerbrief (7, 3.) Melchisedek als
ἀπάτωρ mit dem ὑιὸς τοῦ ϑεοῦ verglichen wird: so verbietet
sich eine Beziehung des wörtlich gefaſsten ἀπάτωρ auf die
menschliche Erscheinung Jesu schon durch das daneben-
stehende ἀμήτωρ, welches bei ihm so wenig als das weiter
beigesezte ἀγενεαλόγητος zutreffen würde.


§. 23.
Rückblick auf die Genealogieen.


Doch die entscheidendste exegetische Instanz gegen die
Wirklichkeit einer übernatürlichen Erzeugung Jesu liegt
[157]Drittes Kapitel. §. 23.
uns näher als alle bisher aufgeführten Stellen, nämlich in
den beiden Genealogieen, die wir nur so eben erst
betrachtet haben. Schon der Manichäer Faustus machte
geltend, wer, wie unsre zwei Genealogisten, Jesum durch
Joseph von David abstammen lasse, der könne ohne Wi-
derspruch nicht voraussetzen, daſs Joseph gar nicht Jesu
Vater gewesen sei 1), und Augustinus wuſste ihm nichts
Triftiges zu erwiedern, wenn er bemerkte, daſs wegen des
Vorrangs des männlichen Geschlechts die Genealogie Jesu
durch Joseph habe geführt werden müssen, welcher, wenn
auch nicht durch leibliche, doch durch geistige Verbindung
Maria's Gatte (und Jesu Vater) gewesen sei 2). Auch in
neuerer Zeit haben daher manche Theologen die Behaup-
tung aufgestellt, aus der Beschaffenheit unserer Geschlechts-
register bei Matthäus und Lukas erhelle, daſs die Verfas-
ser derselben Jesum als wirklichen Sohn Josephs sich ge-
dacht haben 3). Sie sollen nämlich beweisen, daſs Jesus
durch Joseph von Davids Geschlecht abstamme; was be-
weisen sie aber, wenn Joseph Jesu Vater gar nicht war?
Die als Tendenz der ganzen Genealogie (bei Matthäus 1, 1.)
vorausgeschickte Behauptung, daſs Jesus ὑιὸς Δαυὶδ ge-
wesen, wird durch die darauf folgende Leugnung seiner
Erzeugung durch den Davididen Joseph geradezu wieder
aufgehoben. Unmöglich kann man es deſswegen wahr-
scheinlich finden, daſs die Genealogie und die Geburtsge-
schichte von demselben Verfasser herrühre 4), sondern man
wird mit den zuvor angeführten Theologen annehmen müs-
sen, daſs die Genealogieen anderswoher genommen seien.
[158]Erster Abschnitt.
Schwerlich möchte man hiegegen mit der Bemerkung aus-
reichen, da Joseph ohne Zweifel Jesum adoptirt habe, so
habe seine Genealogie auch für diesen volle Gültigkeit be-
kommen. Denn die Adoption mochte wohl hinreichen, um
dem angenommenen Sohne die Anwartschaft auf gewisse
äussere, Erbschafts- und andere Rechte aus der Familie
des Adoptirenden zu verschaffen; keineswegs aber konnte
ein solches Verhältniſs Anspruch auf die messianische Wür-
de verleihen, welche an wirkliches Davidisches Blut und
Geschlecht gebunden war. Schwerlich würde daher, wer
den Joseph blos für den Adoptiv-Vater Jesu gehalten hät-
te, sich die Mühe genommen haben, der Davidischen Ab-
stammung des Joseph nachzuspüren, sondern, wenn an-
ders neben der einmal gewonnenen Ansicht von Jesu als
Gottessohn noch ein Interesse, ihn als Davidssohn darzu-
stellen, fortdauerte, so würde man zu diesem Behuf die
Genealogie der Maria gegeben haben, indem, wenn auch
gegen die Gewohnheit, der Stammbaum der Mutter zu
Hülfe genommen werden muſste, wo kein menschlicher Va-
ter vorhanden war. Am wenigsten würden mit der Com-
position eines durch Joseph vermittelten Stammbaums Je-
su Mehrere sich befaſst haben, so daſs uns noch 2 ver-
schiedene Genealogieen dieser Art übrig bleiben konnten,
wenn man nicht zur Zeit ihrer Abfassung noch ein nähe-
res Verhältniſs Jesu zu Joseph angenommen hätte.


Kaum wird man daher dem Urtheil obengenannter Ge-
lehrten abstehen können, es seien diese Genealogieen von
der Ansicht aus verfertigt, daſs Jesus der wirkliche Sohn
Josephs und der Maria gewesen sei; die Verfasser oder
Sammler unserer Evangelien aber, obwohl ihrerseits von
dem höheren Ursprung Jesu überzeugt, haben dieselben
doch in ihre Sammlungen aufgenommen, nur daſs Mat-
thäus (1, 16.) das ursprüngliche ἐξ οὗ des Genealogisten nach
seiner abweichenden Ansicht in ἐξ ἦς verwandelt, Lukas
aber (3, 23.) zwischen das ὢν υἱὸς Ἰωσὴφ ein ὡς ἐνομίζετο
[159]Drittes Kapitel. §. 23.
eingeklemmt habe. Man wende hiegegen nicht ein, wenn
nach unsrer Bemerkung von der Ansicht aus, daſs Joseph
nicht Vater Jesu gewesen, unsre Genealogieen nicht ver-
fertigt werden konnten, so könne auch nicht einmal dafür
ein Interesse vorhanden gewesen sein, sie den Evangelien
einzuverleiben. Denn das ursprüngliche Verfertigen einer
Genealogie Jesu, und wenn es in unserem Falle auch nur
darin bestanden hätte, daſs schon zuvor existirende Stamm-
bäume in Beziehung auf Jesum gesetzt wurden, erforderte
ein starkes und ganzes Interesse, welches in der Voraus-
setzung einer leiblichen Abkunft Jesu von Joseph durch
jene Operation eine Hauptstütze für den messianischen
Glauben an ihn zu gewinnen hoffte; wogegen zur Auf-
nahme der schon vorhandenen auch das schwache Interesse
anregen konnte, daſs sie auch ohne ein zwischen Jesu und
Joseph statt gehabtes natürliches Verhältniſs dennoch zur
Anknüpfung Jesu an David nicht undienlich scheinen mochten.
Ebenso wird ja in den beiden Geburtsgeschichten bei Mat-
thäus und Lukas, welche den Joseph entschieden von der
Erzeugung Jesu ausschlieſsen, doch noch immer auf die
Davidische Abstammung Josephs Gewicht gelegt (Matth.
1, 20. Luk. 1, 27. 2, 4.), indem man das zwar nur bei der
früheren Ansicht recht Bedeutsame doch auch nach geän-
dertem Standpunkt beibehielt.


Indem wir auf diese Weise den Ursprung unsrer Ge-
nealogieen in eine Zeit und einen Kreis der ältesten Kirche
verlegen, in welchen Jesus noch für einen natürlich er-
zeugten Menschen galt: so sind wir hiemit auf die Ebioni-
ten geführt, da uns eben von diesen (sofern sie von den
Nazarenern noch unterschieden werden) aus jener ersten
Zeit gemeldet wird, daſs sie die bezeichnete Ansicht von
der Person Christi hatten 5), — und unsre Behauptung ist
[160]Erster Abschnitt.
gleich der, daſs die Genealogieen bei Matthäus und Lukas
von ebionitisch denkenden Urchristen abgefaſst sein müs-
sen. Sollten wir hienach erwarten, in den alten ebioniti-
schen Evangelien, von welchen wir noch Kunde haben,
vor Allem diese Geschlechtsregister noch anzutreffen: so
müssen wir uns nicht wenig überrascht finden, wenn wir
erfahren, daſs gerade jene judenchristlichen Evangelien oh-
ne die Genealogieen waren 6). Zwar, da nach Epiphanius
das Evangelium der Ebioniten erst mit dem Auftritt des
Täufers anfieng, so könnte man unter den γενεαλογίαις,
welche sie weggeschnitten haben sollen, die Geburts- und
Kindheitsgeschichte der beiden ersten Kapitel unsres Mat-
thäus verstehen, welche sie, weil sie die von ihnen verwor-
fene vaterlose Zeugung Jesu enthalten, wenigstens nicht in
ihrer jetzigen Form annehmen konnten, und könnte nun
vermuthen, daſs in ihrem Evangelium vielleicht nur diese
ihrem System zuwiderlaufenden Abschnitte gefehlt haben,
die ihrer Ansicht zusagenden Geschlechtsregister aber den-
noch irgendwo eingefügt gewesen seien. Aber diese Aus-
sicht verschwindet alsbald, wenn wir sehen; wie Epipha-
nius in Bezug auf die Nazarener die Genealogieen, von wel-
chen er nicht weiſs, ob sie auch ihnen gefehlt oder nicht,
als τὰς ἀπὸ τοῦ Ἀβραὰμ ἕως Χριςοῦ bestimmt 7), wo-
nach er unter den Genealogieen, welche einigen Häretikern
fehlten, offenbar zunächst die Geschlechtstafeln versteht,
wenn er auch in Beziehung auf die Ebioniten zugleich die
Geburtsgeschichte unter jenem Ausdruck mitbegreift.


Wie sollen wir uns nun diese befremdende Erschei-
nung erklären, daſs gerade bei derjenigen Christenpartei,
bei welcher wir den Ursprung der Genealogieen suchen zu
müssen glaubten, dieselben gar nicht zu finden sind? Ein
neuerer Forscher stellt die Vermuthung auf, die Juden-
[161]Drittes Kapitel. §. 23.
christen haben die Geschlechtsregister aus Klugheit wegge-
lassen, um nicht durch dieselben die unter Domitian und
vielleicht auch schon früher über die Davidische Familie ver-
hängten Verfolgungen zu erleichtern und zu vermehren 8).
Allein zu solchen äusserlichen Erklärungen aus zufälligen
Umständen, die selbst noch dem Zweifel der historischen
Kritik unterliegen, sollte man nur dann seine Zuflucht neh-
men, wenn jede Erklärung der fraglichen Erscheinung aus
der Sache selbst, also hier aus dem Innern des ebioniti-
schen Systems, unmöglich ist. Das ist sie aber in unsrem
Falle nicht, und am wenigsten sollte sie es für den be-
zeichneten Gelehrten sein, welcher in seinen schäzbaren
Untersuchungen über die Ebioniten an einem andern Orte 9)
bereits alle Prämissen zusammengetragen hat, aus welchen
eine befriedigende Erklärung des vorliegenden Umstandes
zu gewinnen ist. Epiphanius, dem wir die Notiz von dem
Fehlen der Genealogieen im Ebioniten-Evangelium verdan-
ken, schildert nicht die ursprünglichen und reinen, son-
dern die späteren, durch die Ansichten eines gewissen
Elxai, d. h. wie es Credner deutet 10), durch essenisch-
gnostische Lehren, inficirten Ebioniten. Davon, daſs von
den mit den ursprünglichen Ebioniten verwandten Nazare-
nern Epiphanius nicht zu entscheiden wagt, ob ihnen die
Genealogieen gefehlt oder nicht, abgesehen, weil ja die
Nazarener dafür ausgegeben werden, die übernatürliche
Das Leben Jesu I. Band. 11
[162]Erster Abschnitt.
Erzeugung Jesu angenommen zu haben: so erzählt uns
derselbe Epiphanius von den uralten gnostisirenden Ebio-
niten Cerinth und Karpokrates, daſs sie im Übrigen zwar
desselben Evangeliums, wie diese, sich bedient, aber die Ge-
nealogieen, welche sie demnach in demselben lasen, zum
Beweis der menschlichen Erzeugung Jesu durch Joseph
gebraucht haben 11). Auch die aus judenchristlichem Ge-
[163]Drittes Kapitel. §. 23.
biete stammenden ἀπομνημονεύματα Justins scheinen ei-
ne ähnliche Genealogie wie unser Matthäus gehabt zu ha-
ben, da Justin wie Matthäus in Bezug auf Jesum von ei-
nem γένος τοῦ Δαβὶδ καὶ Ἀβραὰμ, von einem σπέρμα ἐξ
Ἰακὼβ, διὰ Ἰούδα, καὶ Φαρὲς καὶ Ἰεσσαἰ καὶ Δαβὶδ κατερ-
χόμενον
— spricht 12), nur daſs zur Zeit und in dem Kreise
Justins bereits die Ansicht von einer übernatürlichen Er-
zeugung Jesu Veranlassung gegeben hatte, die Genealogie
statt auf Joseph, vielmehr auf Maria zu beziehen.


Daſs nun die späteren und durch fremdartige Elemente
inficirten Ebioniten des Epiphanius das Geschlechtsregister
nicht hatten, wird uns um so weniger irre machen kön-
nen, wenn wir die in ihrem späteren, veränderten System
liegenden Gründe zu entdecken im Stande sind, durch wel-
che sie der Genealogie des Matthäus abgeneigt wurden.
Ein Sohn Josephs und der Maria war ihnen Jesus, sowohl
nach der Angabe des Epiphanius 13), als nach der Andeu-
tung der Klementinischen Homilien 14), welche Credner
in der angeführten Abhandlung richtig als ein Werk die-
ser späteren Ebioniten nachgewiesen hat; ihre Ansicht
also von dem Verhältniſs Jesu zu Joseph, von welchem
die Genealogie ausgeht, würde der Annahme derselben
nicht im Wege gestanden haben: wohl aber ihre Ansicht
von demjenigen, auf welchen sie zurückgeht, nämlich von
David. Die Ebioniten des Epiphanius und der Klementi-
nen unterscheiden bekanntlich im A. T. eine doppelte Pro-
phetie, eine männliche und eine weibliche, reine und un-
reine, von welchen jene nur Himmlisches und Wahres,
diese Irdisches und Trügliches verheiſse; jene von Adam
11*
[164]Erster Abschnitt.
und Abel, diese von Eva und Kain ausgehend, und beide
durch die ganze Geschichte der Offenbarung herunterlau-
fend 15). Als wahre Propheten werden im A. T. nur die
frommen Männer von Adam bis Josua anerkannt: die spä-
teren Propheten und Gottesmänner, unter welchen auch
David und Salomo namhaft gemacht sind, werden nicht
nur nicht anerkannt, sondern verabscheut 16). Wir fin-
den aber sogar bestimmte Spuren, daſs den David ihre
Abneigung ganz besonders getroffen hat. Mehrere Punkte
waren es, welche sie von David (und auch von Salomo)
abstieſsen. David war ein blutiger Krieger: Blutvergieſsen
aber nach der Lehre dieser Ebioniten eine der vornehm-
sten Sünden; von David ist ein Ehebruch (von Salomo seine
Wollust) bekannt: den Ehebruch aber verabscheute die
genannte Partei noch mehr als selbst den Mord; David
war ein Saitenspieler: das Saitenspiel aber galt jener Sekte,
als Erfindung der Kainiten (1. Mos. 4, 21.) für ein Zei-
chen der falschen Prophetie; endlich giengen sowohl die
von David ausgegangenen als die an ihn (und Salomo) ge-
knüpften Weissagungen auf ein irdisches Reich, von wel-
chem die späteren Ebioniten nichts wissen wollten 17).
Daſs es diese Züge gewesen seien, welche der genannten
Christenpartei an David miſsfielen, wird wenigstens in Ei-
ner Stelle der Klementinischen Homilien auch ohne Nen-
nung des Namens klar genug 18). Diese Verwerfung Da-
[165]Drittes Kapitel. §. 23.
vids und der späteren A. T.lichen Gottesmänner aber ge-
hört mit der ganzen kritischen und eklektischen Stellung
gegen das A. T. nicht dem alten, vom ordinären Juden-
thum ausgegangenen, sondern nur jenem neueren, esse-
nisch oder wie sonst inficirten Ebionitismus an. Daher
kam es auch, daſs, während die früheren, reinen Ebio-
niten die Benennung Jesu als Sohns Gottes ablehn-
ten 19) und ohne Zweifel ihn nur Sohn Davids genannt
wissen wollten: die Ebioniten der Klementinen und des
Epiphanius gerade umgekehrt ihn Sohn Gottes nannten
(welche Benennung sie mit ihrer Ansicht von der natür-
lichen Erzeugung Jesu wohl zu vereinigen wuſsten) 20),
die Benennung, Sohn Davids, aber als der gemeinen jü-
dischen Ansicht zugehörig, verwarfen 21). So hätten dem-
nach mit den ältesten Judenchristen auch die Ebioniten
des Epiphanius unsre Genealogieen annehmen können, so-
fern diese für eine rein-menschliche Erzeugung Jesu durch
Joseph sprachen: aber sie muſsten sie verwerfen, sofern
sie eine Abstammung von David und Salomo lehrten, wel-
che ihrem System zufolge zu den falschen Propheten ge-
hörten.


Auf diese Weise wird die aus der Sache selbst sich
ergebende Vermuthung, daſs die Genealogieen Jesu bei
18)
[166]Erster Abschnitt.
Matthäus und Lukas auf dem Boden des ältesten Judenchristen-
thums entstanden seien, durch die Erscheinung keineswegs
umgestoſsen, daſs sie sich gerade bei den Ebioniten des Epi-
phanius nicht finden; denn dieſs sind die ursprünglichen,
reinen Ebioniten nicht mehr; die alten Ebioniten haben
nach mehreren Spuren die Genealogieen gehabt: die nach-
maligen waren durch Gründe, welche in der späteren Um-
gestaltung ihres Systemes lagen, genöthigt, sie zu ver-
werfen.


§. 24.
Die natürliche Erklärung der Empfängnissgeschichte.


Hat nach dem zuletzt Ausgeführten die supranaturali-
stische Erklärung der Empfängniſsgeschichte so bedeuten-
de, sowohl philosophische als exegetische Schwierigkeiten:
so verlohnt es sich wohl, die evangelische Erzählung noch
einmal darauf anzusehen, ob nicht vielleicht eine andere
Auslegung derselben möglich sei, durch welche die ange-
zeigten Schwierigkeiten vermieden würden. Eine solche
hat man wirklich von verschiedenen Seiten in der Art ver-
sucht, daſs man bald nur mit dem einen oder andern,
bald aber auch mit allen beiden Berichten auf dem Wege
natürlicher Erklärung fertig werden zu können glaubte.
Zunächst schien sich die Erzählung des Matthäus einer
solchen Deutung darzubieten. In Bezug auf sie wurde
durch zahlreiche rabbinische Stellen nachgewiesen, daſs
nach jüdischer Ansicht ein Sohn frommer Eltern un-
ter Mitwirkung des heiligen Geistes erzeugt sei und ein
Sohn desselben genannt werde, ohne daſs hiebei an Aus-
schlieſsung des männlichen Antheils an seiner Erzeugung
gedacht würde. Der betreffende Abschnitt des Matthäus
nun, meinte man, enthalte weiter nichts, als diese Vor-
stellung: der Engel wolle hier dem Joseph nicht sagen,
daſs Maria ohne Zuthun eines Mannes schwanger gewor-
den, sondern nur, daſs sie dessenungeachtet als rein, nicht
[167]Drittes Kapitel. §. 24.
als eine Gefallene anzusehen sei. Erst bei Lukas sei, ver-
möge einer Steigerung der ursprünglichen Vorstellung,
durch das ἄνδρα οὐ γινώσκω jede väterliche Mitwirkung aus-
geschlossen 1). Wurde von der andern Seite hiegegen
richtig bemerkt, daſs ja bei Matthäus der einzige, hier in
Frage kommende Mann, nämlich Joseph, durch das πρὶν
ἢ συνελϑεῖν ἀυτοὺς
(1, 18.) zu entschieden ausgeschlossen
sei: so glaubte man nun diese Ausschlieſsung im Lukas-
evangelium weniger entschieden zu finden, freilich nur,
indem man entweder unexegetisch den klaren Wortsinn auf
den Kopf stellte, oder unkritisch einen Theil der so wohl
zusammenhängenden Erzählung verdächtigte. Bei dem er-
steren Verfahren sollte die Frage der Maria: πῶς ἔςαι
τοῦτο, ἐπεὶ ἄνδρα οὺ γινώσκω
(1, 34.); so viel heiſsen: wie
kann ich, die schon Verlobte und Vermählte, den Messias
gebären, als dessen Mutter ich keinen Mann haben
müſste
? worauf der Engel erwiedere, daſs auch aus ih-
rem mit Joseph erzeugten Kinde Gott durch seine Kraft
etwas Besondres machen könne 2). Noch willkührlicher
ist das andre Verfahren, die angeführte Zwischenfrage der
Maria für eine unnatürliche Unterbrechung der Rede des
Engels zu erklären, jene abgerechnet aber in der Stelle
keine bestimmte Hindeutung auf die aussernatürliche Em-
pfängniſs zu finden 3).


Ist somit die Schwierigkeit der natürlichen Erklärung
für beide Berichte gleich groſs: so muſste entweder auf
[168]Erster Abschnitt.
beiden Seiten auf eine solche verzichtet, oder sie beidemale
gewagt werden, und der consequente Rationalismus, z. B.
eines Paulus, konnte sich nur für das Letztere entschei-
den 4). Den Antheil Josephs zwar hält der genannte Aus-
leger durch Matth. 1, 18. für ausgeschlossen, keineswegs
aber jede andre männliche Wirksamkeit; so wenig als er
in πνεῦμα ἅγιον und δύναμις ὑψίςου (Luc. 1, 35.) eine wun-
dervolle göttliche Thätigkeit finden kann. Das πνεῦμα ἅγιον
ist ihm nichts Objektives, von aussen auf Maria Einwir-
kendes, sondern ihre eigene fromme Gesinnung; die δύνα-
μις ὑψίςου
aber ist ihm nicht unmittelbar die göttliche All-
macht, sondern jede gottgefällig angewandte Naturkraft
kann nach ihm so genannt werden. Demzufolge ist nach
Paulus der Sinn der Verkündigung des Engels nur dieser,
vor der Verehlichung mit Joseph werde Maria mit reiner
Begeisterung für das Heilige ihrerseits, und durch gottge-
fällige Wirksamkeit (versteht sich, eines Mannes) auf der
andern Seite, Mutter eines Kindes werden, das, wegen die-
ses heiligen Ursprungs, ein Gottessohn zu nennen sein
werde 5).


Sehen wir aber noch näher nach, wie sich der ge-
nannte Repräsentant rationalistischer Auslegung die Um-
[169]Drittes Kapitel. §. 24.
stände der Erzeugung Jesu vorstellt. Von Elisabet, der
patriotischen, klugen Aaronstochter, wie er sie nennt, geht
er aus. Hatte diese die Hoffnung gefaſst, einen Gottespro-
pheten zu gebären: so muſste sie wünschen, daſs er der
höchste Prophet, der Vorläufer des Messias sein, daſs also
auch dieser bald geboren werden möchte. Und eine zur
Mutter des Messias ganz taugliche Person hatte sie in ih-
rer Verwandtschaft: die jungfräuliche Davidische Descen-
dentin Maria; es kam nur darauf an, sie zu besonderen
Hoffnungen zu veranlassen 6). Während man nach diesen
Andeutungen bereits einen schlauen Plan der Elisabet mit
ihrer jungen Verwandtin ahnt, und in denselben einge-
weiht zu werden hofft: läſst Paulus hier auf einmal den
Vorhang fallen, und bemerkt, die Art, wie Maria zu der
Überzeugung gekommen, Mutter des Messias zu werden,
müsse man historisch unentschieden lassen; nur so viel sei
gewiſs, daſs Maria dabei rein geblieben sei, indem sie un-
möglich, wie später geschah, mit gutem Gewissen unter
das Kreuz ihres Sohnes hätte treten können, wenn sie sich
eines Vorwurfs über den Ursprung ihrer Hoffnungen von
ihm bewuſst gewesen wäre 7). Nur folgende Winke über
die eigentliche Ansicht von Paulus kommen weiterhin noch
vor: daſs der verkündigende Engel vielleicht Abends, oder
gar bei Nacht zu Maria gekommen, ja der richtigeren Les-
art zufolge, welche Luc. 1, 28. nur: καὶ εἰσελϑὼν πρὸς
ἀυτὴν εἶπε, ohne ὁ ἄγγελος
, habe, sei hier nur von einem
Hereingekommenen überhaupt die Rede (als ob das εἰσελ-
ϑὼν
in diesem Falle nicht nothwendig τὶς bei sich haben,
oder ohne dieses auf das Subjekt: ὁ ἄγγελος ϒαβριὴλ, V. 26,
bezogen werden müſste!); daſs es der Engel Gabriel ge-
wesen, habe sich Maria erst nachher, als sie von der Vi-
sion des Zacharias hörte, ergänzt.


[170]Erster Abschnitt.

Was in dieser Erklärung des Vorgangs stecke, hat
schon Gabler in einer Recension des Paulus'schen Com-
mentars 8) mit angemessener Derbheit an's Licht gezogen,
indem er geradezu sagt, bei der Ansicht von Paulus blei-
be nichts Andres zu denken übrig, als daſs sich Jemand
für den Engel Gabriel ausgegeben, und als angeblicher Got-
tesbote selbst die Maria beschlafen habe, um den Messias
mit ihr zu erzeugen. Und das, fragt Gabler, wenn Ma-
ria zu einer Zeit, da sie schon verlobt ist, von einem An-
dern schwanger wird, soll eine unsündliche gottgefällige
Weise, eine vorwurflose heilige Wirksamkeit heiſsen? Ma-
ria erschiene hier als eine fromme Schwärmerin, und der
angebliche Gottesbote entweder als ein Betrüger, oder auch
als ein grober Schwärmer. Mit Recht findet der genannte
Theologe vom christlichem Standpunkt aus eine solche Be-
hauptung empörend, und auf dem rein-kritischen muſs man
sie der Absicht der Berichte ganz widersprechend finden,
welche die fleckenlose Reinheit dieses ganzen Verhältnis-
ses voraussetzen.


Als der würdigste Dolmetscher von Paulus aber ist
hier der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen
Propheten von Nazaret zu betrachten, welcher, wenn er
auch bei Abfassung dieses Theils von seinem Werke den
Paulus'schen Commentar noch nicht benutzen konnte, doch
ganz in dessen Geiste, was dieser noch behutsam mit einem
Schleier verhüllt, ohne Scheue aufdeckt. Er vergleicht ei-
ne Erzählung bei Josephus 9), nach welcher eben im Zeit-
alter Jesu ein römischer Ritter die keusche Gattin eines
edeln Römers dadurch für seine Wünsche gewann, daſs er
sie durch einen Isispriester in den Tempel dieser Göttin
unter dem Vorwand laden lieſs, der Gott Anubis begehre
[171]Drittes Kapitel. §. 24.
sie zu umarmen, worein die Frau unschuldsvoll und glau-
big sich ergab, und später vielleicht auch ein Götterkind
zu gebären geglaubt haben würde, wenn nicht der Buhle
bald darauf mit bitterm Hohn ihr den wahren Stand der
Sache entdeckt hätte. Auf ähnliche Weise glaubt nun der
Verfasser, sei Maria als Verlobte des ältlichen Joseph
durch einen verliebten und schwärmerischen Jüngling (er
läſst ihn in der folgenden Geschichte als Joseph von Ari-
mathäa auftreten!) getäuscht worden, und habe sofort, in
aller Unschuld, wieder Andere getäuscht 10). Nachdem
Paulus diese Venturini'sche Vergleichung ebenfalls ange-
führt, und ihr mit sichtbarer Liebe nachgeholfen 11), muſs
man sich wundern, wie er hinzusetzen kann, wer einen
höheren Standpunkt erreicht habe, der werde alle derglei-
chen Muthmaſsungen mit dem Wunsch anhören, daſs doch
nie an den Körper Jesu mehr als an seinen Geist gedacht
werden möchte. Wo ist denn dem Verfasser der natürli-
chen Geschichte gegenüber der höhere Standpunkt, den
Paulus in seiner Darstellung erreicht hätte? Besteht er in
etwas Andrem, als in dem Verschweigen der Folgesätze,
welche, wenn einmal die Prämissen so wie bei Paulus ge-
geben sind, doch jeder im Stillen unwillkührlich ziehen
muſs? Besser in jedem Falle, sie werden ausgesprochen,
dann täuscht die Ansicht weniger und richtet eher sich sel-
ber. Denn von der Darstellung des Verfassers der natür-
lichen Geschichte aus fällt es nun von selbst in die Augen,
daſs diese Erklärungsart nicht verschieden ist von jener
uralten jüdischen Blasphemie, welche wir bei Origenes und
im Talmud finden, daſs Jesus seine Geburt von einer rei-
nen Jungfrau fälschlich vorgegeben, in der That aber von
Maria im Ehebruch mit einem gewissen Pantheras erzeugt
worden sei 12).


[172]Erster Abschnitt.

Treffender kann man über diese ganze, in der Läste-
rung der Juden culminirende Ansicht nicht urtheilen, als
schon Origenes gethan hat, indem er sagt: wenn sie der
Geschichte von Jesu übernatürlicher Erzeugung etwas An-
dres hätten unterschieben wollen, so hätten sie dieſs we-
nigstens auf wahrscheinlichere Weise thun sollen; sie hät-
ten nicht, gleichsam wider Willen, zugeben dürfen, daſs
Maria von Joseph unberührt gewesen sei, sondern schon
diesen Zug hätten sie leugnen, und Jesum aus einer ge-
wöhnlichen menschlichen Ehe jener beiden entstehen lassen
müssen; wogegen nun das Gezwungene und Abenteuerliche
ihrer Hypothese jedem Kenner die Lüge verrathe 13). Was
heiſst dieſs anders, als: wenn einmal an einigen Zügen ei-
ner wunderhaften Erzählung gezweifelt wird, so ist es in-
consequent, andre unbezweifelt stehen zu lassen, vielmehr
muſs dann ein solcher Bericht in allen seinen Theilen von
einem andern als historischen Standpunkt aus betrachtet
werden. Diese letztere Ansicht in Bezug auf die vorlie-
gende Erzählung lag, wenigstens indirekt, in Origenes.
Denn wenn er das einemal mit der übernatürlichen Em-
pfängniſs Jesu die Erzählung von Plato's Erzeugung durch
Apollo als gleichartig zusammenstellt (aber hier freilich der
Meinung ist, nur Böswillige können dergleichen bezwei-
feln) 14); das andremal aber von der Erzählung über Pla-
to sagt, sie gehöre zu den Mythen, durch welche man die
ausgezeichnete Weisheit und Kraft groſser Männer habe
erklären wollen (aber hier die Erzählung von Jesu Erzeu-
gung aus dem Spiele läſst) 15): so hatte er ja die beiden
12)
[173]Drittes Kapitel. §. 25.
Prämissen (Gleichartigkeit der beiden Erzählungen und my-
thischen Charakter der einen), aus welchen sich als Schluſs-
satz der blos mythische Werth der Erzählung von der Em-
pfängniſs Jesu ergab, ein Schluſs, den er aber freilich auch
nicht einmal vor seinem eignen Bewuſstsein gezogen zu
haben scheint.


§. 25.
Die Geschichte der Erzeugung Jesu als Mythus.


Wenn man dem übernatürlichen Ursprunge Jesu aus-
weichen will, sagt Gabler in seiner Recension von Pau-
lus
Commentar 1), um nicht in unsern Tagen zum Ge-
spötte zu werden, wenn aber andrerseits die natürlichen
Erklärungen desselben auf sonderbare nicht nur, sondern
selbst empörende Behauptungen führen: so wähle man doch
lieber die Annahme eines Mythus, durch welche alle Schwie-
rigkeiten jener Erklärungen vermieden werden. Viele groſse
Männer hatten in der alten mythischen Welt eine ausser-
ordentliche Geburt und waren Göttersöhne. Jesus selbst
sprach von seinem himmlischen Ursprung, nannte Gott sei-
nen Vater, und hieſs ohnehin als Messias Gottes Sohn.
Aus Matth. 1, 22. f. sieht man ferner, daſs die Stelle Jesai.
[174]Erster Abschnitt.
7, 14. in der ersten christlichen Kirche auf Jesum bezogen
wurde. Jesus, dachte man, muſs als Messias, dieser
Stelle zufolge, von einer Jungfrau durch Gotteskraft ge-
boren sein; was sein muſste, schloſs man, ist auch wirk-
lich geschehen, und so entstand ein philosophischer (dog-
matischer) Mythus über die Geburt Jesu. Seiner wirkli-
chen Geschichte nach ist dann Jesus, dieser Erklärungsart
zufolge, aus einer ordentlichen Ehe Josephs und der Maria
entsprossen, womit, wie mit Recht bemerkt wird, eben-
sowohl die Würde Jesu als die schuldige Achtung gegen
seine Mutter besteht.


Man hat also, um sich die Entstehung eines solchen
Mythus zu erklären, an die Neigung der alten Welt ge-
dacht, groſse Männer und Wohlthäter ihres Geschlechts
als Göttersöhne darzustellen. Die Beispiele sind von den
Theologen reichlich beigebracht. Namentlich aus der grie-
chisch-römischen Mythologie und Geschichte hat man an
Herkules und die Dioskuren erinnert, an Romulus und
Alexander, vor Allen aber an Pythagoras 2) und Plato 3),
von deren Lezterem Hieronymus, ganz auch auf Jesum
anwendbar, sagt: sapientiae principem non aliter arbi-
trantur, nisi de partu virginis editum
4). Wenn man
aus diesen Beispielen schlieſsen möchte, daſs wohl auch
die Erzählung von der übernatürlichen Erzeugung Jesu,
ohne historischen Grund, aus einer ähnlichen Neigung her-
vorgegangen sein dürfte: so vereinigen sich Orthodoxe
und Rationalisten, jene Analogie nicht gelten zu lassen,
wiewohl aus sehr verschiedenen Gründen. Wenn bei Ori-
genes nicht viel fehlt, daſs er um der Gleichartigkeit der
beiderseitigen Erzählungen willen auch die heidnischen Sa-
gen von Göttersöhnen für wahre Wundergeschichten hiel-
[175]Drittes Kapitel. §. 25.
te: so ist Paulus auf seinem Standpunkt mit mehr Ent-
schiedenheit so consequent, beiderlei Erzählungen als na-
türliche aber historisch zu fassende Geschichten zu erklä-
ren. Wie weit er diese Erklärungsweise auf die eigentli-
che Mythologie anwendet, erhellt bei dieser Gelegenheit
nicht; von der den Plato betreffenden Erzählung aber sagt
er, man könne nicht behaupten, daſs sie der Hauptsache
nach erst später entstanden sei; vielmehr habe Periktione
leicht glauben können, von einem ihrer Götter schwanger
zu sein: daſs ihr Sohn hierauf wirklich ein Plato wurde,
könne zur Bestätigung ihres Glaubens gedient haben, ohne
doch dessen Ursache gewesen zu sein 5). Auf andre Weise
will Olshausen die Analogie der mythischen Göttersöhne
unschädlich machen, indem er darauf aufmerksam macht,
wie diese Erzählungen, wenn gleich unhistorisch, doch für
die allgemeine Ahnung und Sehnsucht nach einem solchen
Faktum, und damit für die Wirklichkeit desselben wenig-
stens in Einer historischen Erscheinung bürgen 6). Aller-
dings nun muſs einer allgemeinen Ahnung und Vorstellung
Wahrheit zum Grunde liegen, nur daſs diese nicht in ei-
ner einzelnen, jener Vorstellung genau entsprechenden That-
sache bestehen wird, sondern in einer Idee, welche sich in
einer Reihe, jener Vorstellung oft sehr unähnlicher, That-
sachen verwirklicht, — und wie die verbreitete Vorstellung
eines goldenen Zeitalters nicht beweist, daſs wirklich ein-
mal eine solche Zeit gewesen: so hat auch die Vorstellung
von göttlichen Erzeugungen in etwas ganz Andrem ihre
Wahrheit, als darin, daſs irgendeinmal ein Individuum auf
diesem Wege zum Dasein gekommen ist.


Eine wesentlichere Einwendung gegen die dargelegte
Analogie wäre, daſs die Vorstellungen der Heidenwelt
nichts für die abgeschlossenen Juden beweisen, und daſs
[176]Erster Abschnitt.
namentlich die dem Polytheismus angehörige Idee von Göt-
tersöhnen auf ihre strengmonotheistischen Messiasbegriffe
nicht wohl einen Einfluſs habe ausüben können. Aller-
dings darf man hier nicht zu schnell aus dem Ausdruck:
Sohn Gottes, der sich auch bei ihnen findet, argumenti-
ren, welcher, wo er im A. T. von Obrigkeiten (Ps. 82, 6.)
oder theokratischen Königen (2. Sam. 7, 14. Ps. 2, 7.)
gebraucht wird, eben nur dieses theokratische, kein phy-
sisches oder metaphysisches Verhältniſs anzeigt; noch we-
niger darf man darauf Gewicht legen, daſs bei Josephus
ein Römer schöne jüdische Fürstenkinder schmeichelnd
Götterkinder nennt 7). Doch aber hatten, wie oben be-
merkt 8), die Juden die Vorstellung, daſs bei Erzeugung
der Frommen der heilige Geist mitwirke, ferner, daſs die
auserwähltesten Rüstzeuge Gottes durch göttlichen Beistand
von solchen Eltern erzeugt werden, welche nach dem na-
türlichen Lauf der Dinge kein Kind mehr bekommen ha-
ben würden, — und wenn bei diesen schon die göttliche
Wirksamkeit das Meiste that: so war der Schritt leicht,
daſs sie bei Erzeugung des höchsten jener Rüstzeuge, des
Messias, Alles thun werde; dieses verhält sich zu jenem
nur wie ein höherer Grad des Wunderbaren 9). Daſs es
zu dieser Steigerung vollends kommen muſste, dazu lag
die Veranlassung zum Theil in dem, einmal für den Mes-
sias solenn gewordenen Titel: ὑιὸς ϑεοῦ 10). Denn es ist
die Natur solcher zunächst bildlichen Ausdrücke, daſs sie
mit der Zeit immer mehr eigentlich und im strengen Sinne
[177]Drittes Kapitel. §. 25.
genommen werden, und besonders unter den späteren Ju-
den war eine sinnliche Auffassung des früher geistig und
bildlich Gemeinten gewöhnlich geworden. Dieser natürli-
chen Neigung, das υἱὸς ϑεοῦ vom Messias in immer wörtli-
cherem Verstande zu nehmen, kam dann einerseits der Zu-
satz entgegen, welchen Ps. 2, 7. das messianisch gedeutete
בְנִי אַתָּה in dem הַיּוֺם יְלִדְתִּךָ hat, welches fast unausbleib-
lich verleiten muſste, hier an ein physisches Verhältniſs
zu denken; andererseits das jesaianische Orakel von der
gebärenden Jungfrau, welches man, wie so viele, deren
nächste Beziehung sich verdunkelt hatte, auf den Messias
bezogen zu haben scheint: worauf dann die Begriffe von
Gottessohn und Sohn der Jungfrau so combinirt wurden,
daſs man die göttliche Wirksamkeit an die Stelle der mensch-
lich-väterlichen setzte. Fr[ei]lich versichert Wetstein, daſs
nie ein Jude die jesaianische Stelle auf den Messias bezo-
gen habe 11), und auch Schöttgen weiſs Spuren der An-
sicht vom Messias als Jungfrauensohn aus den Rabbinen
nur äusserst mühselig zusammenzulesen 12): allein bei der
Mangelhaftigkeit der Nachrichten über die messianischen
Ideen jener Zeit beweist dieſs nichts gegen die Vorauss[e]-
zung einer Zeitvorstellung, von welcher die vollständigen
Prämissen im A. T., und eine kaum verkennbare Folge
im neuen sich findet.


Aber auch abgesehen von der Gültigkeit oder Ungül-
tigkeit jener Analogie, stimmen die bezeichneten zwei Par-
teien von Auslegern darin überein, daſs bei der mythischen
Auffassung der Empfängniſsgeschichte unerklärbar bleibe,
wie Jesus das habe werden können, was er werden sollte
und wirklich wurde. Wenn dieſs Olshausen so versteht,
daſs der Erlöser nicht von einem Manne aus sündigem Sa-
Das Leben Jesu I. Band. 12
[178]Erster Abschnitt.
men habe erzeugt werden können 13): so ist hievon oben
hinlänglich die Rede gewesen. Paulus wendet den Ein-
wurf so, daſs ohne einen wunderähnlichen Anfang des Le-
bens Jesu nicht erklärbar wäre, was er im zwölften Jahre
und später war 14). Unter dem wunderartigen Anfang des
Lebens Jesu versteht er natürlich nicht eine wirklich gött-
liche Erzeugung desselben, sondern nur die von der Mut-
ter gehegte und auch dem Sohne eingeprägte Meinung, daſs
eine solche stattgefunden. Wir finden, äussert Paulus, in
Jesu schon im zwölften Jahr eine religiöse Eigenthümlich-
keit, und im dreissigsten ist er nahe der Überzeugung,
daſs er der Messias sei: wie läſst sich dieſs, da ihn doch
weder Habsucht noch Ehrgeiz inspirirten, erklären, wenn
nicht wirklich seine Mutter, durch ausserordentliche, wie-
wohl natürliche Begebenheiten schon vor seiner Geburt an-
regt, ihm gesagt hatte, daſs er zum Messias bestimmt sei?
Hier ist die Instanz aus dem zwölften Jahre in keinem
Falle gültig, weil sie, was erst zu beweisen ist, schon vor-
aussetzt, die historische Glaubwürdigkeit der Kindheitsge-
schichte Jesu; der andre Termin aber, bis zum dreissigsten
Jahr, ist lang genug, daſs bis zu demselben Jesus, ver-
möge innerer Anlage und äusserer Veranlassung, auch oh-
ne jene Ereignisse vor seiner Geburt, seiner messianischen
Bestimmung gewiſs werden konnte. Paulus freilich spricht
hier so, wie wenn nur entweder Ehrgeiz und Habsucht,
oder ausserordentliche Spiele des Zufalls zu groſsen Ent-
schlüssen veranlassen könnten: bei ihm muſs der Zufall
alle Wunder thun, weil er den Geist verkennt, welcher
allein der wahre Wunderthäter ist. — Daſs sich die ge-
nannten beiden Theologen ferner auf die Kürze der Zeit
berufen, welche zwischen den Ereignissen von Jesu Ge-
burt und der Aufzeichnung unsrer Nachrichten liege, ein
[179]Drittes Kapitel. §. 25.
Zeitraum, in welchem sich nicht wohl schon legendenar-
tige Nachrichten über jene Begebenheiten haben bilden kön-
nen, darüber ist, nach dem in der Einleitung und aus Ver-
anlassung der Empfängniſsgeschichte des Täufers Gesag-
ten, nichts mehr zu bemerken übrig.


Eine Einwendung aber ist Olshausen eigenthümlich,
und ihr Ruhm soll nicht von ihm genommen werden. Näm-
lich, die mythische Auffassung der vorliegenden Erzählung
sei besonders deſswegen gefährlich, weil sie nur zu geeig-
net sei, profanen und gotteslästerlichen Vorstellungen über
den Ursprung Jesu, wenn auch nur dunkel, Eingang zu
verschaffen. Denn sie könne nur die, den Begriff eines
Erlösers vernichtende, Ansicht begünstigen, daſs Jesus auf
unheilige Weise in's Leben getreten sei, da ja Maria un-
vermählt gewesen sei, als sie ihn unter dem Herzen ge-
tragen habe 15). Wenn Olshausen in der ersten Auflage
hinzusetzte, er wolle übrigens gerne zugestehen, daſs sol-
che Erklärer nicht wissen, was sie thun, so ist es billig,
das gleiche Zugeständniſs auch ihm zu Gute kommen zu
lassen, da er hier gar nicht zu wissen scheint, was my-
thische Erklärung ist. Denn wie könnte er sonst sagen,
daſs diese Erklärungsweise nur jene blasphemische An-
sicht begünstigen könne, daſs also Alle, welche die vor-
liegende Erzählung mythisch fassen, das Unsinnige zu be-
gehen geneigt seien, was schon Origenes den jüdischen
Lästerern zum Vorwurf machte, daſs sie von einer Erzäh-
lung, welche sie im Übrigen für unhistorisch erkennen,
doch den Zug von der noch nicht erfolgten Verheurathung
der Maria festhalten? So verblendet und inconsequent ist
kein einziger der Erklärer, welche hier einen Mythus im
vollen Sinne finden, gewesen, sondern alle haben eine le-
gitime Ehe zwischen Joseph und Maria vorausgesetzt, und
nur Olshausen malt die mythische Auffassungsweise in das
12*
[180]Erster Abschnitt.
Fratzenhafte, um desto eher mit derselben fertig zu wer-
den, weil sie, wie er eingesteht, in diesem Abschnitt be-
sonders viel Blendendes hat.


§. 26.
Verhältniss Josephs zu Maria. Brüder Jesu.


Ganz im Geiste der alten Sage finden es unsre Evan-
gelien anständig, die Mutter Jesu, so lange sie diese himm-
lische Frucht unter dem Herzen trug, von keinem irdi-
schen Manne berührt und verunreinigt werden zu lassen.
Daher läſst Lukas vor Jesu Geburt den Joseph mit der
Maria nur im Verhältniſs der Verlobung stehen (2, 5.), und
wie es von Plato's Vater heiſst, nachdem seine Gattin von
Apollo empfangen hatte: ὅϑεν καϑαρὰν γάμου φυλαξαι ἔως
τῆς ἀποκυήσεως
1), so wird bei Matthäus von Joseph be-
merkt (1, 25.):

καὶ οὐκ ἐγίνωσκεν ἀυτὴν (τὴν γυναῖκα ἁυτοῦ)
ἕως οὖ ἔτεκε τὸν υἱὸν αὑτῆς τὸν πρωτότοκον

. Offenbar muſs
in beiden verwandten Stellen das ἔως auf gleiche Weise
genommen werden; nun aber bezeichnet es in der erste-
ren unstreitig nur dieſs, daſs zwar bis zu Plato's Geburt
sein Vater sich der Gemeinschaft mit der Gattin enthalten
habe, nachher aber in seine ehelichen Rechte eingetreten
sei, zumal wir ja von Brüdern Plato's wissen. Nicht an-
ders wird daher das ἔως in Bezug auf die Eltern Jesu zu
nehmen sein, daſs es nur bis zu der angegebenen Grenze
hin die eheliche Gemeinschaft negirt, nach derselben aber
sie stillschweigend voraussetzt. Ebenso scheint das πρω-
τότοκος
, wie Jesus in beiden Evangelien bezeichnet wird
(Matth. 1, 25. Luc. 2, 7.), eine Folge andrer Kinder der
Maria vorauszusetzen, nach dem Lucianischen: εἰ μὲν πρῶ-
τος, οὐ μόνος· εἰ δὲ μόνος, οὐ πρῶκος
2), zumal in denselben
Evangelien (Matth. 13, 55. Luc. S, 19.) von ἀδελφοῖς Ἰησοῦ
[181]Drittes Kapitel. §. 26.
die Rede ist. Wenn also nach Fritzsche's Worten luben-
tissime post Jesu natales Mariam concessit Matthaeus

(ebenso auch Lukas) uxorem Josepho, in hoc uno occu-
patus, ne quis ante Jesu primordia mutua Venere usos
suspicaretur
3): so genügte dieſs doch den Orthodoxen um
so weniger in die Länge, je höher bald die Verehrung der
Maria stieg, deren Leib, einmal durch göttliche Thätig-
keit befruchtet, nicht mehr durch gemeinmenschlichen Ge-
schlechtsverkehr entheiligt werden sollte 4). Frühzeitig trat
daher die Ansicht, daſs Maria nach der Geburt Jesu mit
Joseph ehelichen Umgang gehabt, in die Kreise der Ketzer
zurück 5), und die rechtgläubigen Väter suchten auf jede
Weise derselben auszuweichen und sie zu bekämpfen. Exe-
getisch erdachte man sich für das ἔως οὖ die Auslegung,
daſs es bisweilen nicht blos bis zu der angegebenen Zeit-
gränze hin, sondern auch über dieselbe hinaus, für immer,
etwas behaupte oder läugne, so daſs hier das οὐκ ἐγίνωσκεν
αὐτὴν ἕως οὖ ἔτεκε κ. τ. λ.
die eheliche Gemeinschaft zwi-
schen Joseph und Maria für alle Zeiten ausschlieſse 6).
Ebenso machte man in Bezug auf das πρωτότοκος geltend,
es schlieſse nicht nothwendig in sich, daſs nachher noch
andere Kinder geboren seien, sondern nur, daſs andere
vorher, schlieſse es aus 7). Um aber nicht blos gramma-
[182]Erster Abschnitt.
tisch, sondern auch physiologisch den Gedanken an ein ehe-
liches Verhältniſs zwischen Maria und Joseph zu entfer-
nen, machte man den Letzteren zum abgelebten Greisen,
welchem Maria mehr nur zur Aufsicht und Beschützung
übergeben worden sei 8), und sah demnach die im N. T.
vorkommenden ἀδελφοὺς Ἰησοῦ für Kinder Josephs aus ei-
ner früheren Ehe an 9). Bald aber sollte Maria nicht al-
lein von Joseph niemals berührt, sondern auch durch die
Geburt Jesu ihrer Jungfrauschaft nicht verlustig geworden
sein 10). Ja selbst die unverletzte Jungfräulichkeit der Ma-
ria genügte in die Länge nicht, auch von Joseph wurde
beständige Virginität verlangt; man war nicht zufrieden,
daſs er mit Maria keinen ehelichen Umgang gehabt, er
sollte überhaupt niemals in ehelichen Verhältnissen gestan-
den haben. Daher wurde, was selbst Epiphanius zugiebt,
von Hieronymus als gottlose apokryphische Träumerei ver-
worfen, daſs nämlich Joseph von einer früheren Gattin Söh-
ne gehabt habe, und es wurden von jetzt an die ἀδελφοὶ
Ἰησοῦ
zu bloſsen Vettern desselben degradirt 11).


Auch neuere orthodoxe Theologen halten mit den Kir-
chenvätern daran fest, daſs niemals ein ehelicher Umgang
zwischen Joseph und Maria eingetreten sei, und glauben
demgemäſs auch die evangelischen Ausdrücke, welche für
das Gegentheil zu sprechen scheinen, erklären zu können.
Wenn in Beziehung auf πρωτότοκος Olshausen behauptet,
daſs es ebensowohl den einzigen Sohn, als den ersten ne-
ben andern bedeuten könne 12): so wird ihm hierin auch
[183]Drittes Kapitel. §. 26.
von Paulus Recht gegeben 13), und Clemen14) und Fritz-
sche
15) suchen vergebens die Unmöglichkeit dieser Ausle-
gung darzuthun; denn wenn es 2. Mos. 13, 2. heiſst:
פֶּטֶר כׇּל־רֶתֶם (πρωτότοκον πρωτογενὲς LXX.) קַדֶּשׁ־לִי כָל־בְּכוֺר
so war doch keineswegs allein ein solches Erstgeborene,
auf welches noch andere, später Geborene folgten, Jehova
heilig, sondern jede Leibesfrucht, vor welcher keine andre
von derselben Mutter geboren war, was also der Ausdruck:
πρωτότοκος nothwendig auch muſs bezeichnen können. Frei-
lich muſs man andererseits mit Winer16) sagen, daſs, wenn
der Erzähler, vor welchem die Geschichte abgeschlossen
daliegt, jenen Ausdruck gebraucht, man denselben in sei-
nem ursprünglichen Sinne zu nehmen versucht ist, da der
Schriftsteller, wenn er weitere Kinder ausschlieſsen wollte,
wohl eher den Ausdruck μονογενὴς gebraucht, oder mit
πρωτότοκος verbunden haben würde. Doch, wenn auch die-
ses nichts entscheiden mag, so ist um so schlagender die
Ausführung Fritzsche's in Bezug auf das ἕως οὖ κ. τ. λ.,
in welcher er die angeblichen Belegstellen der kirchenvä-
terlichen Auslegung jener Formel widerlegt und zeigt, daſs
sie, ihrem nächsten Sinne nach nur bis zu einer angege-
benen Grenze hin etwas aussagend, und von dieser an das
Eintreten des logischen Gegentheils voraussetzend, nur in
dem Falle dieses Letztere nicht thue, wenn aus dem Zu-
sammenhang das Eintreten dieses Gegentheils als unmöglich
von selbst erhelle 17). Dann z. B., wenn es hieſse: οὺκ
ἐγινωσκεν ἀυτὴν, ἕως οὖ ἀπέϑανεν
, verstände es sich von
selbst, daſs das von der Zeit bis zum Tode Geleugnete auch
[184]Erster Abschnitt.
nachher nicht eingetreten sei: heiſst es aber, wie bei Mat-
thäus, οὐκ ἐ. ἀ. ἕως οὖ ἔτεκεν, so liegt in dem Ausgebären der
göttlichen Frucht keine Unmöglichkeit, sondern umgekehrt
die Wiederherstellung der Möglichkeit, d. h. Schicklich-
keit, das eheliche Verhältniſs in Wirklichkeit treten zu
lassen 18).


Auch Olshausen übrigens widerspricht hier der kla-
ren Grammatik und Logik nur, weil ihn ähnliche dogma-
tische Gründe, wie die Kirchenväter, dazu treiben; ohne
nämlich die Heiligkeit der Ehe beeinträchtigen zu wollen,
meint er, Joseph habe nach solchen Erfahrungen (?) wohl
denken müssen, seine Ehe mit Maria habe einen andern
Zweck, als den, Kinder zu erzeugen; auch scheine es na-
tur(?)gemäſs zu sein 19), daſs die letzte Davididin des
Zweiges, aus welchem der Messias geboren ward, mit die-
sem letzten, ewigen Spröſsling ihr Geschlecht beschlossen
habe 20). Es läſst sich hienach eine hübsche Leiter des Glau-
bens und respective Aberglaubens in Bezug auf das Ver-
hältniſs zwischen Maria und Joseph entwerfen:


1. Zeitgenossen Jesu und Verfasser der Genealogieen:
Joseph und Maria Eheleute, und aus ihrer Ehe Jesus erzeugt.


2. Zeitalter und Verfasser unsrer Geburtsgeschichten:
Maria und Joseph nur verlobt, Joseph ohne Antheil an
dem Kinde, und vor dessen Geburt in keiner ehelichen Be-
rührung mit Maria.


[185]Drittes Kapitel. §. 26.

3. Olshausen u. A.: Auch nach der Geburt Jesu, wie-
wohl nun Maria's Gatte, wollte doch Joseph keinen Ge-
brauch von seinem ehelichen Rechte machen.


4. Epiphanius, Protevangelium Jacobi u. A.: Als ab-
gelebter Greis konnte er dieſs auch nicht wohl mehr, sei-
ne angeblichen Kinder sind aus einer früheren Ehe, und
überhaupt bekommt Joseph die Maria nicht sowohl zur
Braut und Frau, als vielmehr blos in Obhut.


5. Protev., Chrysostomus u. A.: Nicht nur nicht durch
spätere von Joseph erzeugte Kinder, sondern auch nicht
durch die Geburt Jesu wurde die Jungfrauschaft der Ma-
ria im Mindesten verletzt.


6. Hieronymus: Nicht allein Maria, sondern auch Jo-
seph beobachtete beständige Virginität, und die angeblichen
Brüder Jesu sind nicht seine Söhne, sondern Jesu Vettern.


Auch gegen die Ansicht, daſs die im N. T. vorkom-
menden ἀδελφοὶ und ἀδελφαὶ Ἰησοῦ bloſse Stiefgeschwister
oder gar bloſse Geschwisterkinder Jesu gewesen, muſs aus
der vorgelegten Genesis dieser Meinung das schlimmste
Präjudiz entstehen, indem sie hienach, sammt der Mei-
nung, daſs zwischen Joseph und Maria nie ein ehlicher
Verkehr stattgefunden, als eine bloſse Erdichtung des Aber-
glaubens erscheint. In der That aber verhält es sich hie-
mit nicht so, sondern es sind rein exegetische Gründe vor-
handen, vermöge welcher auch vorurtheilsfreie Theologen
geglaubt haben, die Ansicht, daſs Jesus wirkliche Brüder
gehabt, aufgeben zu müssen 21). — Zwar, wenn wir blos
die Stellen Matth. 13, 55. Marc. 6, 3. hätten, wo die Na-
[186]Erster Abschnitt.
zaretaner, sich über die Weisheit ihres Landsmannes ver-
wundernd, um seine ihnen wohlbekannte Herkunft zu be-
zeichnen, unmittelbar hinter dem τέκτων als seinem Vater
und seiner Mutter Maria seine ἀδελφοὺς, Namens Jako-
bus, Joses, Simon und Judas, nebst seinen ungenann-
ten Schwestern 22) aufführen; ferner Matth. 12, 46. Luc.
8, 19., wo die Brüder mit der Mutter Jesu ihn besuchen;
Joh. 2, 12., wo Jesus mit ihnen und seiner Mutter nach
Kapernaum reist; A.G. 1, 14., wo sie gleichfalls mit Ma-
ria zusammen genannt werden: so würden wir keinen Au-
genblick anstehen, an leibliche Geschwister Jesu wenig-
stens von mütterlicher Seite, an Kinder Josephs und der
Maria zu denken, nicht nur wegen der nächsten Wortbe-
deutung von ἀδελφὸς, sondern namentlich auch wegen der
stehenden Verbindung, in welcher sie mit Joseph und Ma-
ria erscheinen. Auch Stellen, wie Joh. 7, 5., wo bemerkt
wird, auch seine ἀδελφοὶ haben nicht an Jesum geglaubt,
und Marc. 3, 21. vergl. mit 31., wo der wahrscheinlich-
sten Erklärung zufolge die Brüder Jesu mit seiner Mutter
ausgehen, um seiner, als eines von Sinnen Gekommenen
sich zu bemächtigen, enthalten keinen hinreichenden Grund,
die unmittelbarste Wortbedeutung von ἀδελφὸς zu verlas-
sen. Denn daſs wirkliche Söhne der Maria auch sogleich
an Jesum geglaubt haben müſsten, weſswegen manche Theo-
logen auch schon mit Rücksicht auf die zulezt angeführten
Stellen die ἀδελφοὺς Ιησοῦ für seine Stiefbrüder und Söhne
des Joseph aus einer früheren Ehe erklärt haben, läſst
sich nur aus Vorurtheilen beweisen. Schwieriger scheint
sich die Sache zu stellen, wenn man Joh. 19, 26. f. liest,
daſs Jesus am Kreuze seine Mutter dem Johannes, Soh-
nesstelle an ihr zu vertreten, empfohlen habe, was man
nicht schicklich finden zu können glaubt, wenn Maria noch
[187]Drittes Kapitel. §. 26.
mehrere leibliche Kinder hatte, sondern nur wenn die über-
lebenden Geschwister ältere, ihm abgeneigte, Stiefbrüder
waren. Allein immerhin konnten theils in äusseren, theils
in inneren gemüthlichen Verhältnissen Gründe liegen, war-
um Jesus seine Mutter lieber dem Johannes übergeben
mochte, als den Brüdern, von welchen dadurch, daſs sie
nach der Himmelfahrt (A.G. 1, 14.) in der Gesellschaft
der Apostel erscheinen, noch keineswegs bewiesen ist, daſs
sie auch bei Jesu Tod schon geglaubt haben müssen.


Das eigentlich Miſsliche in dieser Sache fängt erst da-
mit an, daſs ausser dem Jakobus und Joses, welche als
Brüder Jesu aufgeführt werden, noch zwei Männer gleiches
Namens als Söhne einer andern Maria vorkommen (Marc.
15, 40,47. 16, 1. Matth. 27, 56.), ohne Zweifel derselben,
welche Joh. 19, 25. als Schwester der Mutter Jesu und
Gattin eines Klopas bezeichnet ist, so daſs wir sowohl un-
ter den Söhnen der Maria, Mutter Jesu, als auch unter
ihrer Schwester Kindern beidemale einen Jakobus und Jo-
ses hätten. Diese Gleichnamigkeit in dem nächsten Kreise
Jesu vermehrt sich, wenn wir erwägen, daſs wir in den
Apostelverzeichnissen (Matth. 10, 2 ff. Luc. 6, 14 ff.) noch zwei
Jakobus, also mit dem Bruder und Vetter Jesu 4; ferner
2 Judas, also mit dem Bruder Jesu 3; ebenso 2 Simon,
also mit Jesu Bruder gleichfalls 3 haben, wobei sich der
Gedanke aufdringt, ob nicht mitunter identische Personen
hier als verschiedene genommen seien? Dieser Verdacht
scheint zunächst bei dem Namen Jakobus entstehen zu
müssen. Nämlich, wie der Jakobus Alphäi Sohn im Apo-
stelkatalog als der zweite, vielleicht jüngere, nach dem
Zebedaiden aufgeführt ist, so heiſst auch der Jakobus,
Jesu Vetter Marc. 15, 40. ὁ μικρὸς, und wenn dieser Lez-
tere bei Vergleichung von Joh. 19, 25. als Sohn eines Klo-
pas erscheint, so könnten die Namen Κλωπᾶς, wie der
Mann von Maria's Schwester, und [Ἀ]λφαῖος, wie der Va-
ter des Apostels genannt wird, gar leicht nur verschiedene
[188]Erster Abschnitt.
Formen für das hebräische חלפי sein. So wäre also der
Apostel Jakobus der zweite mit dem Vetter Jesu gleiches
Namens identisch, und es blieben ausser ihm nur noch der
Zebedaide und der Bruder Jesu. Nun tritt in der Apo-
stelgeschichte (15, 13.) ein Jakobus mit entscheidender
Stimme bei dem sogen. Apostelconcil auf, und da nach
A.G. 12, 2. der Zebedaide schon getödtet, sonst aber in
der A.G. bis dahin von keinem weiteren Jakobus, als dem
Sohne des Alphäus (1, 13.) die Rede gewesen war: so
kann unter jenem nicht näher bezeichneten Jakobus A.G.
15, 13. nicht wohl ein anderer als dieser verstanden sein.
Paulus nun aber (Gal. 1, 19.) spricht von einem Jakobus,
ἀδελφος τοῦ Κυρίου, welchen er zu Jerusalem gesehen, und
da er ohne Zweifel denselben Gal. 2, 9. mit Petrus und
Johannes zu den ςύλοι der Gemeinde rechnet, — ganz wie
jener (Apostel) Jakobus bei dem apostolischen Concil er-
scheint —: so wäre also dieser mit dem Bruder des Herrn
identisch, um so mehr, da in dem Ausdruck:

ἕτερον δὲ
τῶν ἀποςόλων οὐκ εἶδον, εἰ μὴ Ἰάκωβον τὸν ἀδελφὸν τοῦ Κυρίου


(Gal. 1, 19.) der Bruder des Herrn zu den Aposteln ge-
rechnet zu sein scheint, womit auch die alte Nachricht
stimmt, welche Jakobus den Gerechten, einen Bruder Je-
su, zum ersten Vorsteher der jerusalemischen Gemeinde
macht 23). Der Jakobus in der A.G. aber ist, seine Iden-
tität mit dem bezeichneten Apostel vorausgesezt, ein Sohn
des Alphäus, nicht des Joseph, folglich könnte, wenn
er zugleich ἀδελφὸς τοῦ Κυρίου sein sollte, ἀδελφὸς nicht ei-
nen Bruder bedeuten. Nimmt man nun den Alphäus gleich
dem Klopas, Gemahl der Mutterschwester Jesu: so läge
es nahe, ἀδελφὸς, von dem Verhältniſs seines Sohnes zu
Jesu gebraucht, in der Bedeutung von Geschwisterkind,
Vetter, zu nehmen. Ist auf diese Weise einmal der Apo-
stel Jakobus Alphäi mit dem Vetter, und dieser mit dem
[189]Drittes Kapitel. §. 26.
Bruder Jesu gleiches Namens identificirt: so liegt es dann
nahe, das Ἰούδας Ἰακώβου in den Apostelkatalogen des Lu-
kas (Luc. 6, 16. A.G. 1, 13.) durch Bruder des Jakobus
(Alphäi) zu übersetzen, und diesen Apostel Judas nun mit
dem Judas ἀδελφὸς Ἰησοῦ als Vetter des Herrn und Sohn
der Maria Klopa (unerachtet er bei dem Namen dieser
Frau nirgends genannt ist) für identisch zu halten, wo-
mit, wenn der Brief des Judas in unsrem Kanon ächt
ist, das ganz zusammenstimmen würde, daſs der
Verfasser desselben sich V. 1. als ἀδελφὸς Ἰακώβου be-
zeichnet. Weiter könnte dann nach Einigen der Apostel
Simon ὁ ζηλωτὴς oder Κανανίτης mit dem unter den ἀδελφοῖς
Ἰησοῦ
aufgeführten Simon zusammengeworfen werden, wel-
cher der kirchlichen Sage zufolge nach Jakobus Vorsteher
der jerusalemischen Gemeinde geworden sein soll 24), so
daſs nur Joses allein leer ausgienge.


Sollen demnach die ἀδελφοὶ Ἰησοῦ bloſse Vettern von
ihm, und drei derselben Apostel gewesen sein: so muſs es
doch befremden, wie sowohl A.G. 1, 14. nach Aufzählung
aller Apostel die Brüder Jesu noch besonders erwähnt wer-
den, als auch 1. Kor. 9, 5. von den Aposteln als eine ei-
gene Klasse unterschieden zu sein scheinen; wie denn auch
Gal. 1, 19. vielleicht so gedeutet werden muſs, daſs Jako-
bus der Bruder des Herrn als Nichtapostel bezeichnet ist 25).
Scheinen auf diese Weise die ἀδελφοὶ Ἰησοῦ aus der Zahl
der Apostel herausgerissen zu werden: so widerstreben sie
noch entschiedener dem, für bloſse Geschwisterkinder Jesu
sich ansehen zu lassen, da sie in so vielen Stellen in un-
mittelbarer Verbindung mit der Mutter Jesu, und nur in
zwei bis drei Stellen zwei ihnen Gleichnamige in Verbin-
dung mit derjenigen Maria vorkommen, welche hienach
ihre wirkliche Mutter wäre. Auch das Wort ἀδελφὸς, ob
[190]Erster Abschnitt.
es gleich in ungenauer Redeweise, wie das hebräische חאָ,
auch einen entfernteren Verwandten bedeuten kann, möchte
doch, da es für das Verhältniſs der bezeichneten Personen
zu Jesus so oft sich wiederholt, ohne jemals mit ἀνεψιὸς
vertauscht zu sein, welches, wo ein Vetter bezeichnet wer-
den soll, dem N. T.lichen Sprachschatze keineswegs fehlt
(Kol. 4, 10.), nicht wohl anders, als in seiner eigentlichen
Bedeutung genommen werden dürfen. Daſs ferner die Iden-
tität der Namen Alphäus und Klopas, auf welcher die des
Jakobus, Vetters von Jesus und des Apostels Jakobus mi-
nor
beruht, ebenso die Übersetzung von Ἰούδας Ἰακώβου
durch Bruder des Jakobus, und nicht minder die ange-
nommene Identität des Verfassers des letzten katholischen
Briefs mit dem Apostel Judas höchst unsicher ist, braucht
nur angedeutet zu werden. — Weicht so das Gewe-
be dieser Identificationen auf allen Punkten auseinan-
der, und werden wir hiemit auf den Anfang unsrer Unter-
suchung zurückgeworfen, so daſs wir wieder eigentliche
Brüder Jesu, ferner 2 von diesen verschiedene Vettern mit
gleichen Namen mit zweien von jenen, ausserdem einige
mit beiden gleichnamige Apostel hätten: so ist zwar die
gleiche Benennung zweier Paare von Söhnen in einer Fa-
milie nichts so Ungewöhnliches, daſs man sich daran stos-
sen dürfte; wohl aber ist es bedenklich, daſs derselbe Ja-
kobus, welcher im Galaterbrief als ἀδελφὸς Κυρίου bezeich-
net wird, nach der A. G. ohne Zweifel als Sohn des Al-
phäus zu denken ist, was er, wenn doch jenes einen Bru-
der bedeutet, nicht gewesen sein kann.


So bleibt auf alle Fälle eine ziemliche Verwirrung,
und sie scheint nur dadurch, wiewohl blos negativ und
ohne ein geschichtliches Resultat, gelöst werden zu können,
daſs man bei den N. T.lichen Schriftstellern und in der
urchristlichen Sage selbst einige Unklarheit und Irrung über
diesen Punkt annimmt, welche bei etwas verwickelten Ver-
wandtschafts- und Namens-Verhältnissen oher eintreten
[191]Drittes Kapitel. §. 27.
kann als ausbleiben. Wir haben also keinen Grund,
zu leugnen, daſs Jesu Mutter ihrem Gatten ausser
Jesu noch mehrere Kinder geboren habe, jüngere und
vielleicht auch ältere; Letzteres, weil die Angabe, daſs
Jesus der erstgeborene Sohn gewesen sei, so gut zur My-
the als N. T.licher gehört, wie, daſs er der einzige gewe-
sen, zu ihr als patristischer.


§. 27.
Besuch Maria's bei Elisabet.


Der Engel, welcher der Maria ihre bevorstehende
Schwangerschaft verkündete, hatte ihr zugleich von der
ihrer Verwandten, Elisabet, Kunde gegeben (Luc. 1, 36.),
welche damals bereits im sechsten Monath stand. Unmittel-
bar darauf unternimmt Maria eine Reise zu ihr, wobei
sich das Ausserordentliche ereignet, daſs auf den Gruſs
der Maria das Kind im Leibe der Elisabet sich freudig be-
wegt, und auch diese selbst in Begeisterung Maria als
künftige Mutter des Messias anredet, worauf die Leztere
hymnisch erwiedert (Luc. 1, 39—56.).


Mit dieser Erzählung des Lukasevangeliums glaubt die
rationalistische Exegese leicht durch eine ganz natürliche
Erklärung fertig zu werden. Der Unbekannte, meint Pau-
lus
1), welcher die Maria zu so eigenthümlichen Hoffnun-
gen veranlaſste, hatte sie zugleich mit demjenigen bekannt
gemacht, was der Elisabet Ähnliches begegnet war. Um
so mehr treibt es jezt die Maria, sich mit ihrer älteren
Verwandten über ihre Angelegenheiten zu besprechen. Bei
derselben angekommen, erzählte sie vorerst, was ihr be-
gegnet war, was aber unser Referent verschweigt, weil
er es, als schon berichtet, nicht wiederholen wollte. Nicht
allein vor dem Anfang der Rede der Elisabet, sondern
auch zwischen diese hinein glaubt daher Paulus Worte der
Bogen 12 ist p. 191 u. 192 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.
[192]Erster Abschnitt.
Maria suppliren zu dürfen, welche stückweise, und so,
daſs dazwischen hinein Elisabet zum Worte kam, dieser
ihre Geschichte vorgetragen habe. Die Gemüthsbewegung
der Mutter theilte sich, — so wird weiter erklärt, —
nach natürlichen Gesetzen dem Kinde mit, welches, wie
Fötus von 6 Monaten schon zu thun pflegen, eine Bewe-
gung machte, was die Mutter erst nach den weiteren Mit-
theilungen der Maria bedeutsam fand, und auf den Gruſs
der Messiasmutter bezog. Ebenso natürlich findet man
es dann, daſs Maria ihre durch Elisabet bestätigten messia-
nischen Erwartungen in einem psalmartigen Recitativ aus-
spricht, das aus allerlei A. T.lichen Reminiscenzen zusam-
mengesetzt ist.


Aber in dieser Erklärungsart ist Manches dem Texte
durchaus zuwider. Dahin gehört schon das, daſs Elisabet
durch Maria selbst die dieser zu Theil gewordne Himmels-
botschaft erfahren haben soll, da doch nirgends eine Spur
vorangegangener Mittheilung ist 2), noch weniger eine Un-
terbrechung der Rede Elisabet's durch weitere Aufschl[ü]sse
der Maria; vielmehr, wie es eine übernatürliche Offenba-
rung ist, durch welche Maria von der Schwangerschaft ih-
rer Base in Kenntniſs gesetzt wird: so ist auch das einer
Offenbarung zuzuschreiben, daſs Elisabet die Maria als-
bald für die zur Messiasgebärerin Erkorene erkennt. Eben-
sowenig verträgt der andere Zug der Erzählung, daſs sich
der eintretenden Messiasmutter der Vorläufer in Mutter-
leibe entgegenbewegt, eine natürliche Auslegung, obwohl
selbst orthodoxe Ausleger neuerer Zeit sich zu derselben
neigen, wenn sie, wie Hess3) und Olshausen4), der Sa-
che die Wendung geben, daſs Elisabet zuerst eine Offenba-
rung bekommen, und erst an der dadurch erregten Ent-
[193]Drittes Kapitel. §. 27.
zückung der Mutter das Kind, physiologisch erklärbar,
gleichsam Antheil genommen habe. So aber stellt der Re-
ferent die Sache nicht dar, als ob die Gemüthsbewegung
der Mutter die vorausgehende Ursache der Bewegung des
Kindes gewesen wäre: sondern die Begeisterung der Mut-
ter wird erst nach der Bewegung des Kindes erwähnt,
und auch nach V. 44. muss man die Sache so fassen, daſs
die höhere Anregung umgekehrt vom Kinde aus sich der
Mutter mitgetheilt habe, was in jedem Falle etwas Über-
natürliches voraussetzt. Aber eben hierin liegt Einiges,
was selbst auf supranaturalistischem Boden zum Anstoſs
gereichen kann; woher es eben kommt, daſs auch jene or-
thodoxen Ausleger bemüht waren, einer unmittelbar über-
natürlichen Anregung der Bewegung des Kindes auszuwei-
chen. Wenn wir uns nämlich zwar wohl denken können,
wie der göttliche Geist auf den ihm verwandten menschli-
chen in unmittelbarer Weise anregend wirke: so läſst sich
doch die Vorstellung, wie er an ein Unbegeistetes, was ein
Embryo noch ist, unmittelbar sich mittheilen möge, nur
schwer vollziehen. Und fragt man nach dem Zweck eines
so abenteuerlichen Wunders: so will sich auch kein rech-
ter zeigen. Denn sollte es sich auf den Täufer beziehen,
also diesem möglichst frühe ein Eindruck von Demjenigen
gegeben werden, für welchen zu wirken er bestimmt war:
so weiſs man gar nicht, wie ein solcher Eindruck auf ei-
nen Embryo müsste beschaffen gewesen sein; sollte aber der
Zweck in den übrigen Personen, in Maria oder Elisabet,
liegen: so war ja diesen das erforderliche Maaſs von Ein-
sicht und Glauben bereits in Folge höherer Offenbarungen
zu Theil geworden. Nicht geringere Schwierigkeiten setzt
zunächst der natürlichen, dann aber ebenso auch der su-
pranaturalistischen Deutung der Hymnus der Maria entge-
gen. Denn daſs gerade vor den Worten Maria's die For-
mel: ἐπλήσϑη πνεύματος ἁγίου nicht steht, welche sowohl
den Hymnus des Zacharias (V. 67.), als auch die Anrede
Das Leben Jesu I. Band. 13
[194]Erster Abschnitt.
der Elisabet (V. 41.) einleitet, kann bei der Gleichartigkeit
der drei Reden nicht als Beweis dafür angeführt werden,
daſs der Verfasser nicht auch diese Rede, wie die beiden
andern, als Wirkung des πνεῦμα betrachtet wissen wolle.
Aber auch abgesehen von der Meinung des Verfassers, kann
es überhaupt auf rein natürlichem Wege nicht so zugehen,
daſs sich besuchende Freundinnen auch bei noch so ausser-
ordentlichen Ereignissen in solche Hymnen ausbrechen,
und ihre Unterhaltung die Farbe eines Dialogs so ganz
verliert, wie er unter dergleichen Umständen natürlich ist.
Nur durch höheren Einfluſs konnte die Stimmung der bei-
den Freundinnen auf eine, dem gewöhnlichen Leben so
durchaus fremde Weise erhöht werden. Ist nun aber der
Hymnus der Maria als Wirkung des πνεῦμα ἅγιον zu fas-
sen: so muſs es auffallend gefunden werden, daſs eine, un-
mittelbar aus der göttlichen Quelle der Begeisterung ge-
flossene Rede nicht origineller ausgefallen ist, sondern so
stark mit Reminiscenzen aus dem A. T., namentlich aus
dem, unter verwandten Umständen gesprochenen Lobgesang
der Mutter Samuels (1. Sam. 2.) besetzt sich zeigt 5). Hie-
nach müssen wir freilich eine auf natürlichem Wege vor
sich gegangene Zusammensetzung dieser Rede aus A. T.li-
chen Erinnerungen annehmen, nur, wenn dieselbe wirklich
natürlich vor sich gegangen sein soll, dürfen wir sie nicht
der einfachen Maria zuschreiben, sondern demjenigen, wel-
cher die über die vorliegende Scene umlaufende Sage poë-
tisch bearbeitete.


Da somit alle Hauptvorfälle dieses Besuchs weder bei
der wunderhaften Auslegung denkbar sind, noch eine na-
türliche vertragen: so sind wir auch für dieses Stück, wie
für die bisherigen, auf eine mythische Auffassung hinge-
wiesen. Dieser Weg ist auch schon von Andern einge-
[195]Drittes Kapitel. §. 27.
schlagen. Der ungenannte E. F. in Henke's Magazin 6) sprach
auch über diese Erzählung die Einsicht aus, sie berichte
nicht genau Alles, wie es vorgefallen sei, sondern wie es
wohl vorgefallen sein möchte. Demnach sei namentlich in
die Reden der beiden Frauen Manches von dem zurückge-
tragen, was über die Bestimmung ihrer Söhne erst der
spätere Erfolg lehrte, und auch sonst sei mancher Zug aus
der Sage hinzugekommen. Dennoch liege ein wahres Fak-
tum zum Grunde, nämlich ein wirklicher Besuch der Ma-
ria bei Elisabet, ihre vergnügte Unterhaltung und ihr Dank
gegen Gott, was Alles habe stattfinden können, auch ohne daſs
die beiden Frauen von der ausserordentlichen Bestimmung
ihrer Kinder damals schon etwas wuſsten, lediglich vermö-
ge des hohen Werthes, welchen die Orientalinnen auf Mut-
terfreuden legten. Von dieser vergnügten Zusammenkunft
und den Äusserungen ihres Dankes gegen Gott mochte nun
nach diesem Verfasser Maria oft erzählt haben, wenn sie
über das folgende, merkwürdige Leben ihres Sohnes nach-
dachte, und so kam diese Erzählung in Umlauf. — Auch
Horst, der sonst einen richtigen Blick in die dichterische
Natur dieser Abschnitte hat und die natürliche Erklärungs-
weise derselben gut widerlegt, gleitet hier unversehens zur
Hälfte in diese zurück, indem er gar nichts Unwahrschein-
liches darin findet, daſs Maria ihre ältere und an Erfah-
rung reichere Verwandte während ihrer, in manchem Be-
tracht leidensvollen Schwangerschaft besucht, und daſs Eli-
sabet bei diesem Besuche das erste Leben an ihrem Kinde
gespürt habe, ein Zug, welcher, weil er später für ominös
gehalten wurde, sich durch die mündliche Sage wohl habe
erhalten können 7).


Auch hier wieder dasselbe unkritische Verfahren, wel-
ches das Mythische und Poëtische einer Erzählung ausge-
13*
[196]Erster Abschnitt.
schieden zu haben glaubt, wenn es etliche Zweige und Blü-
then dieses Triebes abpflückt, die eigentliche mythische
Wurzel aber unangetastet beim Reinhistorischen liegen läſst.
Dieser mythische Grundzug, auf welchen die übrigen nur
aufgetragen sind, ist in unsrer Erzählung gerade der, wel-
chen die angeführten vorgeblich mythologischen Erklärer
als historisch durchlassen, nämlich der Besuch Maria's bei
der schwangeren Elisabet. Denn da wir als Haupttendenz
des ersten Kapitels im Lukas bereits die kennen, Jesum
dadurch zu verherrlichen, daſs dem Täufer schon so frühe
wie möglich eine Beziehung auf Jesum, aber im Verhält-
niſs der Unterordnung, gegeben wird: so konnte dieser Zweck
nicht besser erreicht werden, als wenn nicht erst die Söh-
ne, sondern schon die Mütter, doch bereits mit Beziehung
auf die Söhne, also während ihrer Schwangerschaft, zu-
sammengeführt wurden, und sich hiebei etwas ereignete,
was das einstige Verhältniſs der beiden Männer bedeutungs-
voll vorzubilden geeignet war. Je mehr somit als die Ba-
sis dieses Besuches das dogmatische Interesse der Tradition
hervortritt, desto unwahrscheinlicher wird es, daſs er eine
geschichtliche Grundlage gehabt habe. An diesen Grund-
zug reihen sich sofort die übrigen Züge folgendermaſsen an.
Der Besuch der beiden Frauen muſste überhaupt als mög-
lich und wahrscheinlich dargestellt werden durch den Zug,
daſs Elisabet eine συγγενὴς der Maria gewesen (V. 36.);
ferner, daſs der Besuch gerade in diesem Zeitpunkte ge-
macht wurde, muſste eine besondere Veranlassung haben:
daher wird Maria durch den Engel auf ihre Verwandte
verwiesen; bei dem Besuche selbst sollte sich das dienende
Verhältniſs des Täufers zu Jesu vorbedeutend aussprechen:
— dieſs konnte durch die Mutter desselben geschehen, wie
es in ihrer Anrede an Maria wirklich geschieht, — doch
sollte wo möglich auch der künftige Täufer selbst schon
ein Zeichen geben, wie das Verhältniſs von Jakob und Esau
zu einander sich gleichfalls schon durch ihre Bewegung und
[197]Drittes Kapitel. §. 27.
Stellung im Mutterleibe vorgebildet hatte (1. Mos. 25, 22 ff.);
eine ominöse Bewegung aber konnte dem Kind im Leibe
der Elisabet, wenn nicht zu sehr gegen die Gesetze der
Wahrscheinlichkeit verstossen werden sollte, nicht eher
zugeschrieben werden, als bis die Schwangerschaft seiner
Mutter bis zu einem Zeitpunkt vorgeschritten war, wo die
Leibesfrucht sich zu bewegen anfängt: daher der Zug, daſs
Elisabet schon 6 Monate schwanger ist, als Maria durch
den Engel sie zu besuchen veranlaſst wird (V. 36.). So
hängt, wie Schleiermacher bemerkt hat 8), diese ganze
Zeitbestimmung von dem Umstande ab, den der Verf. ger-
ne anbringen wollte, daſs das Kind unter dem Herzen der
Elisabet sich der eintretenden Maria freudig entgegenbe-
wegt habe; denn nur deſswegen muſs diese ihren Besuch
aufschieben bis nach dem fünften Monat, und kommt auch
der Engel nicht bälder zu ihr.


Nicht nur also der Besuch Maria's bei Elisabet und
was dabei vorgefallen sein soll, fällt als unhistorisch hin,
sondern auch, daſs Johannes nur ein halbes Jahr älter ge-
wesen, als Jesus, daſs beider Mütter sich verwandt und
ihre Familien befreundet gewesen, können wir auf den
bloſsen Bericht des Lukas hin nicht mit historischer Si-
cherheit behaupten, wenn es nicht noch von andern Seiten
her bestätigt wird, wovon wir aber im weiteren Verfolge
unserer Kritik vielmehr das Gegentheil finden werden.


[198]Erster Abschnitt.

Viertes Kapitel.
Geburt und erste Schicksale Jesu.


§. 28.
Die Schatzung.


In Bezug auf die Geburt Jesu stimmen die Relationen
von Matthäus und Lukas darin überein, daſs sie beide die-
selbe in Bethlehem erfolgen lassen; während aber der
Leztere die näheren Umstände derselben ausführlich
erzählt, gedenkt der Erstere des Faktums nur ge-
legentlich, einmal anhangsweise auf dasselbe als etwas
Nachfolgendes verweisend (1, 25.), das andremal voraus-
setzungsweise darauf zurückdeutend (2, 1.). Daher wür-
den wir nach Matthäus glauben, die Geburt Jesu sei ohne
alle auffallenden Ereignisse vor sich gegangen, deren doch
Lukas mehr als Eines zu erzählen weiſs, und namentlich
scheinen bei jenem die Eltern Jesu als vorher schon in
Bethlehem wohnhaft vorausgesezt zu sein, da sie doch
nach diesem erst durch ganz besondre Umstände dahin ge-
führt werden. Sehen wir übrigens von dem lezteren Dif-
ferenzpunkt für jezt noch ab, da er erst später, wenn wir
noch mehrere Data beisammen haben, seine Erledigung
finden kann, so hat dieſsmal die übrige Abweichung der
beiden Darstellungen, da sie auf Seiten des Matthäus ei-
gentlich in bloſsem Stillschweigen besteht, kein so bedeu-
tendes Moment, als ein Verstoſs, welcher dem Lukas,
wenn man ihn mit sich selbst und mit sonst bekannten Da-
ten vergleicht, begegnet zu sein scheint. Dieſs ist die An-
gabe, daſs Jesu Eltern, welche sich sonst zu Nazaret auf-
gehalten, durch einen von Augustus um die Zeit, als Qui-
[199]Viertes Kapitel. §. 28.
rinus Statthalter von Syrien war, angeordneten Census zu
der Reise nach Bethlehem, wo Jesus geboren wurde, ver-
anlaſst worden seien (Luk. 2, 1. ff.).


Hier ist schon das schwierig, daſs die von Augustus
befohlene [ἀπογραφὴ] (d. h. Einschreibung der Namen und
Vermögensanschlag zum Behuf der Besteurung,) auf πᾶ-
σαν τὴν οἰκουμένην
bezogen wird (V. 1.). Dieser Ausdruck in
seinem damals gewöhnlichen Sinn würde den orbis Roma-
nus
bezeichnen. Nun aber meldet kein Schriftsteller et-
was von einem solchen von August ausgeschriebenen Ge-
neralcensus, sondern nur von einzelnen, zu verschiedenen
Zeiten angeordneten Provincialschatzungen ist die Rede.
Hier lautet der alte Schluſs der orthodoxen Exegese, wel-
chen auch noch Olshausen unbedenklich nachmacht 1):
weil — uns — bekannt ist, daſs eine allgemeine Einschä-
zung des orbis Romanus unter August nicht stattgefun-
den: so kann — Lukas — durch das οἰκουμένη nicht nach
seinem gewöhnlichem Sinn die römische Welt, sondern
nur das jüdische Land haben bezeichnen wollen. Für die
Möglichkeit hievon werden sofort Beispiele angeführt 2),
welche aber sämmtlich nichts beweisen; denn in allen die-
sen Stellen aus den LXX, dem Josephus und dem N. T.
bezieht sich οἰκουμένη, in dem übertreibenden Sinne der
Schriftsteller, auf die ganze bekannte Erde. Man muſs
also hier schon einen Verstoſs erkennen, indem unser Evan-
gelist oder sein Gewährsmann ein, für seinen auf die Eine
Provinz beschränkten Gesichtskreis wichtiges Ereigniſs so-
gleich als ein alle Welt betreffendes nahm, und deſswe-
gen überdieſs die Schatzung, welche nur für Judäa die
erste war, als die πρώτη für die ganze römische Welt be-
zeichnete. — Dieser Anstoſs findet sich bei Justin vermie-
[200]Erster Abschnitt.
den, indem er die Schatzung blos auf Judäa bezieht 3),
was aber, wie bald erhellen wird, keineswegs mit Cred-
ner
4) als eine auf historischer Nachricht, sondern nur
auf einem Schlusse Justins oder seines Gewährsmanns ru-
hende Angabe zu betrachten ist.


Doch auch nur in Judäa allein konnte um die Zeit,
in welche Lukas und Matthäus die Geburt Jesu setzen,
ein römischer Census nicht wohl gehalten werden. Nicht
allein nach Matthäus nämlich ist Jesus noch einige Zeit
vor dem Tode Herodes des Groſsen geboren, da nach
Matth. 2, 19. erst während des Aufenthalts Jesu in Ägyp-
ten Herodes starb: sondern auch Lukas sagt zwar nicht
ausdrücklich, daſs Jesus noch unter Herodes I. geboren
sei, doch geht er, wo von der Ankündigung der Geburt
des Täufers die Rede ist (1, 5.), von den ἡμέραις Ἡρώδου
τοῦ βασιλέως
aus, und sechs Monate später läſst er die Ge-
burt Jesu verkündigt werden, so daſs nach ihm Jesus, wie
Johannes, wenn nicht gleichfalls noch vor, so doch kurz
nach dem Tode Herodes I. geboren ist. Nach dessen Tode
aber fiel (Matth. 2, 22.) die Provinz Judäa seinem Sohn
Archelaus zu, welcher nach zehnjähriger Regierung von
Augustus abgesezt und verbannt wurde 5), worauf erst
Judäa zur römischen Provinz gemacht, von römischen
Beamten verwaltet zu werden anfieng 6). Nun müſste also
der Census, von welchem hier die Rede ist, entweder noch
unter Herodes d. Gr. selbst, oder in der ersten Zeit des
Archelaus, und zwar durch einen römischen Beamten gehalten
[201]Viertes Kapitel. §. 28.
worden sein. Dieſs ist äusserst unwahrscheinlich; denn in
solchen Ländern, welche noch nicht in formam provinciae
redigirt waren, sondern von regibus sociis verwaltet wur-
den, erhoben diese Fürsten die Steuern selbst, und be-
zahlten den Römern einen Abtrag 7), so auch in Judäa
vor der Absetzung des Archelaus. Man hat zwar Mehre-
res aufgesucht, um wahrscheinlich zu machen, daſs Augu-
stus ausnahmsweise schon unter Herodes einen Census in Pa-
lästina angeordnet habe. Paulus macht darauf aufmerksam,
daſs in dem breviarium imperii Romani, welches Augustus
hinterlieſs, auch die finanziellen Verhältnisse des ganzen
Reichs enthalten waren, und um diese für Palästina genau
zu ermitteln, habe er vielleicht durch Herodes eine Auf-
zeichnung veranstalten lassen 8). Mit mehr Schein beruft
man sich auf die Nachricht des Josephus, daſs aus Anlaſs
einer in dem Verhältnisse des Herodes zu Augustus einmal
eingetretenen Störung dieser dem Ersteren gedroht habe,
ihn von jezt an den Untergebenen fühlen zu lassen 9),
wozu es sehr gut passe, daſs er alsbald durch Verfügung
eines Census sein Land wie eine Provinz behandelt habe.
Auch auf den Huldigungseid hat man sich berufen, wel-
chen nach Josephus noch zu Lebzeiten des Herodes die
Juden dem Augustus leisten muſsten 10), und darauf, daſs
Augustus, weil er im Sinne hatte, nach Herodes Tode sei-
nen Söhnen die Gewalt zu beschränken, gar wohl in des-
sen lezten Jahren eine Schatzung könne angeordnet haben.


Einer ausführlichern Prüfung dieser, mehr oder we-
niger unhistorischen und willkührlichen Combinationen über-
hebt uns unser Evangelist durch den Zusaz, welchen er
[202]Erster Abschnitt.
zu seiner ἀπογραφὴ macht, daſs sie nämlich vorgenommen
worden sei ἡγεμονεύοντος τῆς̛ Συρίας Κυρηνίου; denn von der
Quirinischen Schatzung ist es nun notorisch, daſs sie nicht
schon unter Herodes oder in der ersten Zeit des Archelaus
stattfand, wohin nach Lukas selbst die Geburt Jesu fällt.
Quirinus nämlich war damals noch nicht Proconsul von
Syrien, sondern diese Stelle bekleideten in den lezten
Jahren des Herodes Sentius Saturninus und nach ihm
Quintilius Varus; erst längere Zeit nach des Herodes
Tode trat Quirinus das syrische Proconsulat an. Daſs die-
ser einen Census in Judäa vorgenommen, ist aus Josephus
gewiſs 11), welcher aber zugleich bemerkt, er sei zu des-
sen Vornahme geschickt worden τῆς Ἀρχελάου χώρας ὑπο-
τελοῦς προςνεμηϑείσης τῇ Σύρων
12), also beiläufig zehn
Jahre nach der Zeit, in welcher nach Lukas und Mat-
thäus Jesus geboren sein müſste. Daſs aber Lukas diesen
Census hier meint, erhellt aus der Vergleichung von A.G.
5, 37., wo er sagt, zur Zeit der ἀπογραφὴ, — ohne Zwei-
fel derselben, von welcher im Evangelium die Rede gewe-
sen — sei Judas der Galiläer aufgestanden: dieser aber
empörte sich nach Josephus eben wegen jener Schatzung
des Quirinus 13). — Doch auch diesen so unleugbar schei-
nenden Widerspruch des Lukas gegen die Geschichte ha-
ben die Erklärer auf verschiedene Weise lösen zu können
geglaubt. Die Beherztesten dadurch, daſs sie den ganzen
zweiten Vers für eine schon frühzeitig in den Text gekom-
mene Glosse erklärten 14). Andere durch Änderung der
[203]Viertes Kapitel. §. 28.
Lesart, und zwar die Einen am nomen proprium, indem
sie entweder nach Tertullians Vorgang, welcher den Cen-
sus geradezu dem Saturninus zuschreibt 15), den Namen
von diesem, oder von Quintilius in den Text setzen 16).
Die Andern nehmen bei den übrigen Worten Änderungen
und Zusätze vor, — am leichtesten noch Paulus, welcher
statt [...]τη [αὐτὴ] liest, und annimmt, schon unter Herodes I.
habe Augustus aus den oben angegebenen Gründen die An-
ordnungen zu einem Census getroffen, und diese seien be-
reits so weit gediehen gewesen, um Jesu Eltern zu der
Reise nach Bethlehem zu veranlassen; doch sei Augustus
wieder begütigt worden, und so die Sache damals noch
nicht durchgeführt, vielmehr [αὐτὴ] ἡ ἀπογραφὴ erst gerau-
me Zeit später, unter Quirinus, gehalten worden 17).


Solchen willkührlichen Textveränderungen gegenüber
sind immerhin diejenigen Versuche höher zu stellen, wel-
che ohne dergleichen, auf dem reinen Wege der Ausle-
gung, zurechtzukommen unternehmen. Freilich mit Storr
und Süskind πρώτη in diesem Zusammenhang für προτέρα
zu nehmen, und es von einer Schatzung vor der Quirini-
schen zu verstehen 18), ist grammatisch nicht weniger ge-
waltsam, als nach πρώτη — πρὸ τῆς einzuschieben 19), es
kritisch ist. Ebensowenig läſst sich mit Wetstein (z. d. St.)
annehmen, daſs ein schon unter Herodes gegebenes Vor-
spiel des spätern Quirinischen Census, etwa der schon er-
wähnte Huldigungseid, nachmals mit jenem unter Einem
Namen zusammengefaſst worden sei. Endlich, das ἡγεμο-
νεύοντος
in weiterem Sinne von der Funktion eines ausser-
[204]Erster Abschnitt.
ordentlichen Steuercommissärs zu verstehen, in welchem
Auftrag Quirinus vielleicht schon unter Herodes nach Ju-
däa gesandt worden sei 20), wird durch den Zusaz: Συρίας
unmöglich gemacht, mit welchem verbunden jener Ausdruck
nur das Proconsulat bezeichnen kann. Neuestens 21) hat
man geglaubt, den Lukas aus Justin berichtigen zu kön-
nen, nach welchem Quirinus den Census nicht als ἡγεμὼν
von Syrien, sondern als ἐν Ἰουδαίᾳ πρῶτος γενόμενος
ἐπίτροπος
vornimmt 22), was man nun so versteht, Au-
gustus habe vielleicht schon unter Herodes den Quirinus,
der damals noch bloſser Procurator gewesen, zu einer
Zählung in Judäa beauftragt. Da zu Herodes und Arche-
laus Zeit noch kein römischer Procurator in Judäa war:
so müſste Quirinus damals nur etwa in einem andern Lan-
de dieses Amt verwaltet haben, und von da zu jenem vor-
übergehenden Geschäfte nach Judäa geschickt worden sein;
aber die angeführten Worte Justins bezeichnen ihn so deut-
lich als Procurator gerade dieses Landes, daſs hier offen-
bar ein bloſser Miſsverstand Justins stattfindet, der weit ent-
fernt ist, zur Berichtigung unsres Lukas dienen zu können.


Also zu der Zeit, in welcher Jesus nach Matth. 2, 1.
und Luc. 1, 5. 26. geboren ist, kann unmöglich der Cen-
sus stattgefunden haben, von welchem Lukas 2, 1. f. spricht,
und wenn jene Angaben richtig sind, so muſs diese noth-
wendig falsch sein. Aber könnte es sich nicht umgekehrt
verhalten, und Jesus erst nach des Archelaus Verbannung,
zur Zeit des Quirinischen Census geboren sein? Abgesehen
auch von den Schwierigkeiten, in welche uns diese An-
nahme rücksichtlich der Chronologie des späteren Lebens
Jesu verwickeln würde: so konnte ein römischer Census nach
des Archelaus Verbannung unmöglich Jesu Eltern von dem
[205]Viertes Kapitel. §. 28.
galiläischen Nazaret in das judäische Bethlehem rufen. Denn
nur Judäa und was sonst zum Antheil des Archelaus ge-
hört hatte, wurde römische Provinz und dem Census un-
terworfen; in Galiläa blieb Herodes Antipas als verbünde-
ter Fürst, und diesem konnte kein in Nazaret Angesesse-
ner zur Schatzung nach Bethlehem gezogen werden. Da
hienach unser Schriftsteller, um eine Schatzung zu bekom-
men, die Verhältnisse sich so denkt, wie sie nach Arche-
laus Absetzung waren, zugleich aber, um den Census auch
für Galiläa gültig zu machen, das ungetheilte Reich, wie
es unter Herodes d. Gr. war, voraussezt: so sezt er offen-
bar Widersprechendes voraus, oder vielmehr er hat über-
haupt nur eine äusserst trübe Vorstellung von den Zeitver-
hältnissen, indem er ja, wie wir uns erinnern müssen, die
Schatzung nicht blos auf ganz Palästina, sondern selbst
auf die ganze römische Welt sich erstrecken läſst.


Indeſs, mit diesen chronologischen Anstöſsen sind die
Schwierigkeiten der Angabe des Lukas noch nicht erschöpft,
sondern es liegen dergleichen auch noch in der Art, wie
nach ihm die Schatzung vorgenommen worden sein soll.
Es heiſst nämlich erstens, der Schatzung wegen sei Jeder
gereist εἰς τὴν ἰδίαν πόλιν, d. h. nach dem Zusammenhang
an den Ort, wo sein Geschlecht ursprünglich herstammte.
Dieſs nun, daſs Jeder in seinem Stammorte sich einschrei-
ben lassen muſste, fand allerdings statt bei jüdischen Auf-
zeichnungen, weil bei den Juden die Familien- und Stamm-
Verfassung die Grundlage des Staates bildete; die Römer
hingegen zogen bei den ihnen unterworfenen Völkerschaf-
ten dergleichen Particularitäten nicht in Betracht, sondern
nahmen den Census in den Wohnorten und Bezirkshaupt-
städten vor 23). Daſs aber die Römer, um weniger Anstoſs
bei den Juden zu erregen, die Form der jüdischen Ein-
schreibungen beibehalten hätten, läſst sich nicht denken,
[206]Erster Abschnitt.
weil dem Zwecke der Vermögensschätzung und Besteurung
die Entfernung der Einzelnen von ihren Wohnorten und
Bezirkshauptstädten gar zu sehr entgegen gewesen wäre 24).
Eher lieſse sich daher mit Schleiermacher annehmen, die
wahre Veranlassung, welche die Eltern Jesu nach Bethle-
hem führte, sei eine priesterliche Aufzeichnung gewesen,
welche aber der Referent mit der ihm vorzugsweise be-
kannten römischen unter Quirinus verwechselt habe 25).
Allein, selbst dieſs zugegeben, weicht der Widerspruch von
dieser miſslichen Angabe des Lukas nicht. Er läſst mit
Joseph auch die Maria eingeschrieben werden (V. 5.), da
doch die Aufzeichnung nach jüdischer Sitte nur auf die
Männer sich bezog 26). Es bliebe also wenigstens dieſs
unrichtig, daſs Lukas auch der Maria zum Reisezweck
giebt, sich am Stammort ihres Verlobten einschreiben zu
lassen; oder wenn man dieſs mit Paulus durch eine ge-
zwungene Construction entfernt, so sieht man nicht, was
Maria bewegen konnte, in ihren damaligen Umständen ei-
ne solche Reise zu unternehmen, da sie, sofern man nicht
mit Olshausen27) u. A. die Hypothese, daſs sie eine in
Bethlehem begüterte Erbtochter gewesen, aus der Luft grei-
fen will, dort lediglich nichts zu schaffen hatte.


Unser Verf. freilich wuſste gar wohl, was sie dort zu
thun hatte, nämlich der Weissagung Micha 5, 1. gemäſs
in der Davidsstadt den Messias zu gebären. Da er nun
von der Voraussetzung ausgieng, daſs Jesu Eltern eigent-
lich zu Nazaret ihre Wohnung gehabt haben, so suchte er
nach einem Hebel, um sie für die Zeit der Geburt Jesu
nach Bethlehem in Bewegung zu setzen. Da bot sich weit
und breit nichts als die berühmte Schatzung dar; nach
[207]Viertes Kapitel. §. 28.
dieser griff er um so unbedenklicher, je mehr ihm bei sei-
ner dunkeln Vorstellung von den Verhältnissen jener Zeit
die vielen Schwierigkeiten verborgen waren, welche in die-
ser Combination liegen. Steht es so mit seiner Notiz: so
wird man K. Ch. L. Schmidt Recht geben müssen, wenn
er sagt, durch die Versuche, die Angabe des Lukas von der
ἀπογραφὴ mit der Chronologie in Einklang zu bringen, wer-
de dem Referenten viel zu viel Ehre angethan; er habe
die Maria nach Bethlehem hinübersetzen wollen, und da
habe sich die liebe Zeit nach seinem Willen fügen müs-
sen 28). Um so auffallender ist es, daſs selbst noch die
neueste Kritik des Matthäus-Evangeliums die historische
Richtigkeit der in Frage stehenden Notiz des Lukas so ent-
schieden voraussetzt, daſs sie es dem Matthäus zum Vor-
wurf macht, von den besondern Umständen nichts zu wis-
sen, durch welche die Eltern Jesu von Nazaret nach Beth-
lehem geführt worden seien 29). Gewiſs hat in diesem Punk-
te Matthäus durch sein Schweigen sich weniger verredet,
als Lukas durch seine, gelehrt scheinende, chronologische
Notiz. Also weder einen festen Anhaltspunkt für die Chro-
nologie der Geburt Jesu bekommen wir hier, noch auch
einen Aufschluſs über die Veranlassung, welche seine Ge-
burt gerade in Bethlehem herbeiführte. Läſst sich, — kön-
nen wir hier schon sagen, — kein anderer Grund beibrin-
gen, warum Jesus in Bethlehem soll geboren worden sein,
als der von Lukas angegebene: so haben wir gar keine
Bürgschaft, daſs Bethlehem sein Geburtsort sei 30).


[208]Erster Abschnitt.

§. 29.
Nähere Umstände der Geburt Jesu sammt der Beschneidung.


Auf die einmal gewählte Grundlage, daſs Maria und
Joseph als fremde Reisende der Schatzung wegen nach
Bethlehem gekommen seien, trägt die Erzählung des Lukas
die weiteren Züge folgerecht auf. Wegen des durch die
Schatzung verursachten Zusammenflusses vieler Fremden in
Bethlehem haben jene beiden im Hause des Gastfreundes
keinen Raum, und müssen sich bequemen, in einem Stalle
sich einzurichten, wo Maria sofort ihres Erstgeborenen
entbunden wird. Aber das auf Erden unter so unschein-
baren Umständen in's Dasein getretene Kind ist im Him-
mel hoch angesehen: ein Bote von da verkündet Hir-
ten, welche nächtlich auf dem Feld ihre Heerden bewa-
chen, die Geburt des Messias, und weist sie auf das Kind
in der Krippe hin, welches sie, nachdem noch ein Chor
himmlischer Heerschaaren mit einem Lobgesang eingefal-
len, aufsuchen und finden (2, 6—20.).


Noch weiter haben die apokryphischen Evangelien und
die Tradition bei den Kirchenvätern die Geburt Jesu aus-
geschmückt. Als nach dem Protevangelium Jacobi1) Jo-
seph die Maria auf einem Esel nach Bethlehem zur Schat-
zung führt, beginnt sie in der Nähe der Stadt bald trau-
rig bald freudig sich zu gebärden, und giebt, hierüber be-
fragt, die Auskunft, daſs sie (wie einst in Rebekkas Leibe
sich zwei feindliche Nationen stieſsen, 1. Mos. 25, 23.) zwei
Völker, das eine weinend, das andere lachend vor sich se-
he, d. h. nach der einen Erklärung 2) die zwei Theile von
Israël, davon einem die Erscheinung Jesu (nach Luc. 2, 34.)
εἰς πτῶσιν, dem andern εἰς ανάςασιν gereichen sollte; nach
der andern aber das Volk der Juden, welche Jesum her-
[209]Viertes Kapitel. §. 29.
nach verwarfen, und das der Heiden, welche ihn annah-
men 3). Als bald darauf Maria, wie es nach dem Zusam-
menhang und mehreren Lesarten scheint, noch ausserhalb
Bethlehem, von Geburtswehen befallen wird, bringt sie Jo-
seph in eine am Wege liegende Höhle, wo sie, während
die ganze Natur feiernd stillesteht, von einer Lichtwolke
verborgen, das Kind zur Welt bringt, und von herbeige-
rufenen Frauen auch nach der Entbindung noch als Jung-
frau befunden wird. — Die Sage von der Geburt Jesu in
einer Höhle kennen schon Justin 4) und Origenes 5) und
bringen sie mit der Nachricht des Lukas, daſs Jesus in ei-
ner φατνη niedergelegt worden sei, so in Einklang, daſs
sie in der Höhle eine Krippe sich befinden lassen, worin
ihnen auch manche Neuere beistimmen 6), während Andre
lieber die Höhle selbst als φάτνη, in der Bedeutung von
Futterstall, betrachten 7). Für die Geburt Jesu in der
Höhle beruft sich Justin auf die Weissagung Jes. 33, 16.:

οὖτος (der Gerechte) οἰκήσει ἐν ὑψηλῷ σπηλαίῳ πέτρας
ἰσχυρᾶς

8), wie die Historia de nativitate Mariae etc.
für die Angabe, daſs das am dritten Tage aus der Höhle
in den Stall gebrachte Jesuskind vom Ochsen und Esel an-
gebetet worden sei, auf Jes. 1, 3.: cognovit bos posses-
sorem suum, et asinus praesepe domini sui
9). In meh-
reren namhaften Apokryphen fallen zwischen den geburts-
helfenden Frauen und den Magiern die Hirten aus; doch
finden sie sich z. B. in dem Evangelium infantiae ara-
Das Leben Jesu I. Band. 14
[210]Erster Abschnitt.
bicum, wo ihnen, als sie zur Höhle gekommen, Freuden-
feuer anzündeten, das himmlische Heer erscheint 10).


Nehmen wir nun die von Lukas erzählten Umstände
der Geburt Jesu in supranaturalem Sinne, so ergeben sich
mehrere Schwierigkeiten. Zuerst läſst sich billig fragen,
welchem Zweck die Engelerscheinung dienen sollte? 11) Die
nächste Antwort ist: die Geburt Jesu bekannt zu machen.
Aber sie wird ja durch dieselbe so wenig bekannt, daſs
in das so nahe gelegene Jerusalem erst später die Magier
die erste Kunde von dem neugeborenen Judenkönig brin-
gen, und überhaupt in der weiteren Geschichte keine Spur
eines solchen Vorfalls bei der Geburt Jesu sich findet.
Kann demnach der Zweck jener ausserordentlichen Er-
scheinung nicht ihr Bekanntwerden in weiteren Kreisen
gewesen sein, weil sonst Gott seinen Zweck verfehlt ha-
ben würde: so müſste man mit Schleiermacher annehmen,
sie habe nur in der unmittelbaren Wirkung auf die Hir-
ten selber ihr Ziel gehabt 12). Dabei müſste man dann
aber mit Schleiermacher und Olshausen13) voraussetzen,
diese Hirten seien, wie jener Simeon, von messianischen
Erwartungen besonders erfüllt gewesen, und diesen ihren
frommen Glauben habe Gott durch jene Erscheinung be-
lohnen und befestigen wollen. Aber weder von einer sol-
chen Beschaffenheit der Hirten berichtet die Erzählung ir-
gend etwas, noch wird eine bleibende Wirkung auf die-
selben bemerklich gemacht; überhaupt erscheint der gan-
zen Darstellung zufolge nichts die Hirten Betreffendes als
Zweck der Erscheinung, sondern lediglich die Verherrli-
chung und Bekanntmachung der Geburt Jesu als des Mes-
sias. Da aber das Letztere, wie schon bemerkt, nicht er-
[211]Viertes Kapitel. §. 29.
reicht wurde, das Erstere aber rein für sich, wie jedes
leere Gepränge, kein gotteswürdiger Zweck ist: so stellt
dieser Umstand, auch abgesehen von dem, was gegen En-
gelerscheinungen überhaupt oben erinnert ist, einer supra-
naturalistischen Auffassung dieser Geschichte ein nicht un-
bedeutendes Hinderniſs entgegen. — Eine weitere Schwie-
rigkeit liegt noch in der Art, wie die Hirten zu dem Kin-
de gewiesen werden. Sie werden ein Kind finden, sagt ih-
nen der Engel, in Windeln gewickelt und in einer Krippe
liegend. Aber wo? sollten sie vorher alle Stallungen des
Orts durchsuchen? oder sollte sie durch ein zweites Wun-
der ein geheimer Zug des Geistes in der Dunkelheit der
Nacht zu dem Kinde leiten? 14) Denn mit Olshausen noch
dazu anzunehmen, die Hirten seien vielleicht eben die Ei-
genthümer der Höhle gewesen, und haben deſswegen bei
ihrer Rückkehr zu derselben das Kind antreffen müssen,
heiſst mit unnöthiger Inconsequenz den einen Fuſs auf den
Boden der natürlichen Erklärung setzen.


Diese ist denn freilich in ihren ersten Versuchen grob
genug ausgefallen. So nahm Eck den ἄγγελος für einen
Boten aus Bethlehem, welcher Licht bei sich hatte, das den
Hirten in die Augen fiel, und den Lobgesang der Heer-
schaaren als ein Freudengeschrei mehrerer Begleiter dieses
Boten 15). Feiner und pragmatischer hat Paulus die Sa-
che ausgesponnen. Maria, welche in einer Hirtenfamilie
zu Bethlehem gastfreundliche Aufnahme gefunden hatte, er-
zählte, voll Hoffnung, wie sie war, den Messias zu gebä-
14*
[212]Erster Abschnitt.
ren, auch den Gliedern dieser Familie davon, welche als
Bewohner der Davidsstadt nicht unempfänglich dafür sein
konnten. Als daher in der Nacht diese Hirten auf dem
Felde sind und eine feurige Lufterscheinung erblicken, wie
sie nach Berichten von Reisenden in jener Gegend nicht
ungewöhnlich sind, so deuten sie dieſs als eine Gottesbot-
schaft, daſs die fremde Frau in ihrem Futterstalle wirklich
von dem Messias entbunden worden sei, und als die Licht-
erscheinung sich ausbreitet und hinundherbewegt, so sehen
sie hierin lospreisende Engelschaaren. Heimgekehrt, finden
sie ihre Erwartung durch den Erfolg bestätigt, und stellen
nun das, was nur sie selbst als Sinn und Bedeutung jener
Erscheinung vorausgesetzt hatten, morgenländisch als wirk-
liche Worte derselben dar 16).


Bei dieser Erklärung hängt Alles an der Voraussetzung,
daſs die Hirten schon vorher etwas von den Erwartungen
der Maria, den Messias zu gebären, gewuſst haben; eben
dieses aber ist der vollkommenste Widerspruch gegen den
evangelischen Bericht. Denn erstlich, daſs ihnen der Stall
zugehört habe, setzt dieser offenbar nicht voraus, wenn
er, nachdem er die Entbindung der Maria in dem Stalle
erzählt hat, zu den Hirten als zu etwas ganz Neuem und
Fremdem, das mit jenem Stalle gar nicht zusammenhängt,
in den Worten übergeht: καὶ ποιμένες ἦσαν ἐν τῇ χώρᾳ τῇ
αὐτῇ
, statt deren bei jener Erklärung doch wenigstens οἱ
δὲ ποιμένες κ. τ. λ.
stehen müſste, so wie dann auch das
nicht unerwähnt hätte bleiben dürfen, daſs die Hirten den
Tag über in dem Stalle ab- und zugegangen und erst mit
Anbruch der Nacht zum Hüten ausgezogen seien. Doch,
auch diese Umstände vorausgesetzt, ist es von Paulus in-
consequent, die Maria früher so schweigsam über ihre
[213]Viertes Kapitel. §. 29.
messianische Schwangerschaft vorzustellen, daſs sie An-
fangs selbst dem Joseph dieselbe nicht entdecken will: nun
aber mit Einem Male so geschwätzig, daſs sie, kaum an-
gekommen, vor fremden Leuten die ganze Geschichte ihrer
Erwartungen auskramt. Übrigens widerspricht die Annah-
me, daſs die Hirten durch Maria selbst schon vor ihrer
Niederkunft von der Sache unterrichtet gewesen, auch dem
weiteren Verfolg der Erzählung. Denn wie diese lautet,
so bekommen die Hirten durch den erscheinenden Engel
die erste Kunde von der Geburt des σωτὴρ, und zum Zei-
chen der Wahrheit dieser Kunde soll ihnen das neugebor-
ne Kind in der Krippe dienen; hätten sie bereits durch Ma-
ria etwas von dem nächstens zu gebärenden Messias ge-
wuſst: so wäre ihnen schon die Lichterscheinung ein ση-
μεῖον für jene Aussage der Maria, und nicht erst das Fin-
den des Kindes ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der
Erscheinung gewesen. Auch das bleibt ein auffallendes Zu-
sammentreffen, daſs gerade in der Geburtsnacht Jesu eine
so ausserordentliche Erscheinung sich zeigt 17); oder wenn
nach Paulus dergleichen Phänomene in jenen Gegenden
nicht selten sein sollen: so hat schon Schleiermacher dar-
auf aufmerksam gemacht, daſs, je gewöhnlicher sie daselbst
waren, desto nothwendiger Hirten, gewohnt, einen groſsen
Theil des Jahrs im Freien zu übernachten, so weit mit
denselben vertraut sein muſsten, um sie nicht für himmli-
sche Zeichen besonderer Begebenheiten zu halten 18).


Dieser nach allen Seiten so schwierigen natürlichen
Erklärung gegenüber kündigte Bauer eine mythische Auf-
fassung an 19), kam aber in der That keinen Schritt über
die natürliche Deutung hinaus, sondern wiederholte Zug
für Zug die Paulus'sche Auslegung. Mit Recht setzte Gab-
[214]Erster Abschnitt.
ler an dieser gemischt-mythischen Erklärung aus, daſs sie,
wie die natürliche, zu viel Unwahrscheinliches häufe; ein-
facher erscheine Alles bei Annahme eines reinen, dogmati-
schen Mythus, wodurch auch mehr Harmonie in diese christ-
liche Urgeschichte komme, deren bisherige Stücke ja eben-
falls als reine Mythen haben ausgelegt werden müssen 20).
Demgemäſs erklärt nun Gabler die Erzählung aus der Zeit-
vorstellung, bei der Geburt des Messias müssen wohl En-
gel geschäftig sein. Nun habe man gewuſst, daſs Maria
in einer Hirtenwohnung entbunden worden war; diesen
guten Hirten, habe man also geschlossen, müssen die En-
gel sogleich die Botschaft gebracht haben, daſs der Mes-
sias in ihrem Stalle geboren sei, und die Engel, die ja
immer Gott preisen, müssen auch hier einen Lobgesang an-
gestimmt haben. Anders, meint Gabler, konnte sich ein
Judenchrist die Geburt Jesu, wenn er einige Data von der-
selben wuſste, unmöglich denken, als sie hier gemalt ist 21).


Auf merkwürdige Weise zeigt diese Gabler'sche Er-
klärung, wie schwer es hält, sich von der natürlichen Er-
klärungsweise völlig loszuwinden, und ganz zu der mythi-
schen zu erheben; denn während der genannte Theologe
ganz schon auf mythischen Boden getreten zu sein meint,
steht er doch mit einem Fuſse noch auf dem der natürli-
chen Auslegung. Einen Zug nämlich aus dem Berichte des
Lukas nimmt er als historisch, welchen sein Zusammen-
hang mit unhistorischen Elementen und seine Angemessen-
heit an den Geist der urchristlichen Sage zu deutlich als
blos mythischen bezeichnet, nämlich, daſs Jesus wirklich
in einer Hirtenwohnung geboren sei, und eine Vorausse-
zung nimmt er aus der natürlichen Erklärungsweise auf,
welche die mythische gar nicht dem Texte aufzudringen
[215]Viertes Kapitel. §. 29.
braucht, daſs die Hirten, welchen angeblich die Engel er-
schienen, Eigenthümer des Stalles, in welchem Maria ge-
bar, gewesen sein sollen. Was das Erste betrifft, mit wel-
chem das Andere von selbst hinfällt, so beruht es auf der-
selben Maschinerie, durch welche Lukas mittelst der Schat-
zung die Eltern Jesu von Nazaret nach Bethlehem in Be-
wegung setzt. Nun wissen wir aber, wie es mit dieser
Schatzung steht: sie fällt ohne Rettung vor der Kritik da-
hin, und mit ihr das auf sie gebaute Datum, daſs Jesus
in einem Hirtenstalle geboren worden. Denn waren Jesu
Eltern zu Bethlehem nicht fremd, und kamen sie nicht ge-
rade bei einem groſsen Zusammenfluſs von Fremden, wie
er aus Gelegenheit eines Census stattfinden konnte, dahin: so
ist kein Anlaſs dazu mehr vorhanden, daſs Maria einen
Stall zum Lokal ihrer Entbindung nehmen muſste. Aber
ebenso stimmt andrerseits der Zug, daſs Jesus in einem
Stalle geboren und zuerst von Hirten begrüſst worden sein
soll, mit dem Geist der alten Sage so ganz überein, daſs
es klar ist, wie sie veranlaſst sein konnte, ihn rein zu er-
dichten. Schon Theophylakt deutet dieſs richtig an, wenn
er sagt, nicht zu Jerusalem den Pharisäern und Schriftge-
lehrten, welche aller Bosheit voll waren, sei der Engel er-
schienen, sondern auf dem Felde den Hirten, wegen ihres
einfachen, arglosen Wesens, und weil sie durch ihre Le-
bensweise Nachfolger der alten Patriarchen gewesen seien 22).
Auf dem Felde bei den Heerden hatte auch Moses die himm-
lische Erscheinung (2. Mos. 3, 1 ff.), und den Ahnherrn
des Messias, David, hatte Gott, nach Ps. 78, 70 f. (vergl.
1. Sam. 16, 11.), aus den Hürden (bei Bethlehem) genom-
men, um sein Volk zu waiden. Überhaupt läſst die My-
thologie der alten Welt Landleuten 23) und Hirten 24) am
[216]Erster Abschnitt.
liebsten Gotteserscheinungen zu Theil werden; die Götter-
söhne und groſsen Männer werden häufig unter Hirten er-
zogen 25). In demselben Geiste der alten Sage ist auch die
apokryphische Nachricht gedichtet, daſs Jesus in einer
Höhle geboren sei, wodurch man an die Geburtshöhle des
Zeus und anderer Götter erinnert wird 26), wenn auch
gleich die miſsverstandne Stelle Jes. 33, 16. die nächste
Veranlassung dieses Zuges gewesen sein mag 27). Die
Nacht ferner, in welche die Scene verlegt wird, — wenn
man nicht an rabbinische Vorstellungen denken will, nach
welchen, wie die Erlösung aus Ägypten, so auch die durch
den Messias bei Nacht vor sich gehen sollte 28), — bildet
den dunkeln Hintergrund, auf welchem sich die erscheinen-
de δόξα Κυρίου um so glänzender ausnimmt, welche, wie
sie die Geburt des Moses verherrlicht haben sollte 29), so
auch bei der seines höhern Nachbildes, des Messias, nicht
fehlen konnte.


Einen Gegner hat die mythische Auffassung dieses Ab-
schnitts namentlich an Schleiermacher gefunden 30). Zwar,
wenn er es unwahrscheinlich findet, daſs dieser Anfang
von Luc. 2. eine Fortsetzung des Vorigen, und von dem-
selben Verfasser mit diesem sei, weil die mehrfache Ver-
anlassung, sich in lyrischen Ergüssen auszubreiten, wie
z. B. bei der lobpreisenden Umkehr der Hirten V. 20.,
hier gar nicht so wie im ersten Kapitel benüzt werde: so
kann man ihm hierin wohl etwa beistimmen; wenn er aber
daraus weiter folgert, daſs dieser Erzählung auch nicht
ein vorwiegend dichterisches Gepräge zugeschrieben wer-
[217]Viertes Kapitel. §. 29.
den dürfe, indem dieses nothwendig mehr Lyrisches her-
beigeführt haben würde: so beweist dieſs nur, daſs Schleier-
macher
den Begriff derjenigen Poësie, welche hauptsäch-
lich hieher gehört, nämlich der Poësie der Sage, nicht ge-
hörig erfaſst hat. Die Sagenpoësie ist mit Einem Worte
eine objektive Poësie, welche das Dichterische ganz in die
erzählte Materie hineinlegt, und daher in ganz schlichter
Form, ohne allen Aufwand lyrischer Ergieſsungen erschei-
nen kann, welche lezteren vielmehr nur die spätere Zu-
that einer subjektiven, mehr bewuſst und künstlerisch aus-
geübten Poësie sind. Allerdings also haben wir, wie es
scheint, diese jezt folgenden Abschnitte mehr in der ur-
sprünglichen Form der Sage, während die Erzählungen
des ersten Kapitels bei Lukas mehr das Gepräge der Um-
arbeitung durch ein dichtendes Individuum tragen; aber
von historischer Wahrheit ist deſswegen dennoch hier eben-
sowenig als dort etwas zu suchen. Daher kann es auch
nur als Spiel eines luxurirenden Scharfsinns angesehen
werden, wenn Schleiermacher weiterhin sogar die Quelle
auszumitteln sich anheischig macht, aus welcher diese Er-
zählung in das Lukasevangelium gekommen sein möge.
Daſs er als diese Quelle nicht die Maria annehmen will,
obgleich in der Bemerkung V. 19., sie habe alle diese Re-
den im Herzen bewahrt, eine Berufung auf sie gefunden
werden könnte, daran hat er zwar um so mehr Recht,
als jene Bemerkung (worauf Schleiermacher keine Rück-
sicht nimmt), nur eine aus der Geschichte Jakobs und Jo-
sephs herübergenommene Phrase ist. Wie nämlich die Er-
zählung der Genesis von Jakob als Vater jenes Wunder-
kindes berichtet, daſs er, wenn Joseph von seinen vorbe-
deutenden Träumen erzählte und die Brüder ihn deſswegen
beneideten, dessen Reden nachdenklich im Herzen bewahrt
habe: so giebt nun die Erzählung bei Lukas der Maria zu
dem Ausserordentlichen, was sich mit ihrem Kinde zu-
trug, hier und unten 2, 51. die schickliche Stellung, daſs
[218]Erster Abschnitt.
sie, während die Übrigen in laute Bewunderung ausbra-
chen, was sie sah und hörte nachdenklich in sich aufge-
nommen und bei sich überdacht habe 31). Wenn nun aber
der genannte Theologe statt der Maria die Hirten als Quelle
unsrer Erzählung bezeichnet, weil Alles aus dem Stand-
punkt nicht von jener, sondern von diesen erzählt sei: so
ist es vielmehr aus dem Standpunkt der Sage erzählt, wel-
che gleicherweise über beiden steht. Wenn Schleierma-
cher
es unmöglich findet, daſs diese Erzählung eine aus
Nichts zusammengeballte Luftblase sei 32): so muſs er un-
ter dem Nichts die jüdischen und urchristlichen Ideen von
Bethlehem als dem nothwendigen Geburtsorte des Messias,
von dem Hirtenstande als dem des Verkehrs mit dem Him-
mel besonders gewürdigten, und von den Engeln, als den
Vermittlern dieses Verkehrs, verstehen, Vorstellungen,
welche wir unsrerseits unmöglich so gering anschlagen,
sondern uns wohl denken können, wie sich aus denselben
etwas, wie unsre Erzählung hier, gestalten konnte. End-
lich, wenn er eine zufällige oder absichtliche Dichtung sich
hier deſswegen nicht denken zu können versichert, weil
die Christen jener Gegend so leicht die Maria oder die
Jünger über die Sache haben befragen können: so ist dieſs
doch zu sehr im Style der alten Apologetik geredet, und
[219]Viertes Kapitel. §. 29.
sezt die in der Einleitung besprochene Ubiquität jener Per-
sonen voraus, welche doch unmöglich an allen den Orten
berichtigend zugegen sein konnten, wo eine Neigung zu
christlicher Sagenbildung sich regte.


Die Notiz von der Beschneidung Jesu Luc. 2, 21. rührt
offenbar von einem solchen her, welcher, ohne von dieser
Scene wirkliche Nachricht zu haben, nur in Gemäſsheit
der jüdischen Sitte für gewiſs annahm, daſs dieselbe am
achten Tage nach der Geburt in gewöhnlicher Weise statt-
gefunden. Dabei ist der Contrast auffallend zwischen der
ausführlichen Benützung und Ausmalung desselben Punk-
tes im Leben des Johannes (1, 59. ff.) und der Trocken-
heit und Kürze, mit welcher derselbe hier in Bezug auf
Jesum behandelt ist, worin man mit Schleiermacher33)
ein Zeichen finden kann, daſs wenigstens hier der Verfas-
ser von Kap. 1. nicht mehr der Concipient ist. Bei diesem
Stand der Sache erfahren auch wir für unsern Zweck aus
dieser Angabe nichts, als was wir schon wissen konnten,
nur noch nicht ausdrücklich zu bemerken Gelegenheit hat-
ten, daſs nämlich die angebliche Bestimmung des Namens
Jesu schon vor seiner Geburt auch nur zu der mythischen
Einkleidung der Erzählung gehöre. Wenn nämlich in un-
serem Verse darauf Gewicht gelegt wird, der Name Jesus sei
κληϑὲν ὑπὸ τοῦ ἀγγέλου πρὸ τοῦ συλληφϑῆναι ἀυτὸν ἐν τῇ κοιλίᾳ:
so erinnert dieses Bestreben, die Präexistenz des Namens des
Messias wenigstens vor seiner irdischen Erscheinung zu be-
haupten, an die jüdische Meinung, nach welcher dieser
Name sogar vor der Welt schon präexistirt hat 34); wie-
wohl selbst ohne Beziehung darauf es z. B. auch bei dem
[220]Erster Abschnitt.
Täufer bedeutsam schien, seinen Namen nicht aus Zufall
und menschlicher Willkühr, sondern aus göttlicher Vor-
herbestimmung abzuleiten (Luc. 1, 13.). Der Sohn der
Maria führte also in Folge einer, wir können nicht mehr
wissen, durch welche, aber gewiſs durch rein natürliche
Gründe bestimmten Wahl seiner Eltern den bei den Juden
sehr gewöhnlichen Namen יֵשׁוּעַ (abgekürzt aus יְהיֹשֻׁעַ d. h.
ὁ Κύριος σωτηρία); weil aber dieser Name mit seinem
später gewählten Berufe als Messias und σωτὴρ auf be-
deutsame Weise zusammentraf, und überdieſs der Name
des Messias als göttlich vorherbestimmter galt: so wurde
die Festsetzung jenes Namens dem die Empfängniſs Jesu
vorherverkündigenden Engel übertragen.


§. 30.
Die Magier und ihr Stern, die Flucht nach Ägypten und der
bethlehemitische Kindermord. Kritik der supranaturalistischen
Ansicht.


Mit der bisher betrachteten Erzählung des Lukas über die
Einführung des neugeborenen Messias in die Welt läuft bei
Matthäus eine ziemlich verschiedene doch parallel (2, 1. f.).
Auch sie nämlich hat zum Zweck, die feierliche Introduk-
tion des messianischen Kindes, die erste, vom Himmel
selbst übernommene Bekanntmachung seiner Geburt, und
seine erste Aufnahme bei den Menschen zu beschreiben 1).
Nach beiden Erzählungen macht eine himmlische Erschei-
nung auf den neugeborenen Messias aufmerksam, welche
nach Lukas ein Engel im Lichtglanz, nach Matthäus ein
Stern ist. Gemäſs der Verschiedenheit des Zeichens sind
auch die Subjekte, welchen es erscheint, verschieden: dort
einfache Hirten, zu welchen der Engel spricht; hier orien-
talische Magier, welche das stumme Zeichen sich selbst zu
[221]Viertes Kapitel. §. 30.
deuten wissen. Beide Theile werden nach Bethlehem ge-
wiesen: die Hirten durch die Worte des Engels selbst; die
Magier nach eingezogener Erkundigung in Jerusalem, und
beide huldigen dem Kinde: die Hirten durch Lobgesänge,
die sie anstimmen, die Magier durch kostbare Geschenke
aus ihrer orientalischen Heimath. Aber von hier an begin-
nen die beiden Erzählungen bedeutender zu divergiren.
Bei Lukas geht Alles heiter aus: die Hirten kehren freu-
dig wieder um, und dem Kinde geschieht kein Leid, son-
dern es kann zur gehörigen Zeit im Tempel dargestellt
werden, und wächst sofort im Frieden auf; bei Matthäus
hingegen nimmt die Sache eine tragische Wendung: da
veranlaſst die Nachfrage der Magier in Jerusalem nach
dem neugeborenen Judenkönig einen Mordbefehl des He-
rodes gegen die Kinder zu Bethlehem, welchem das Je-
suskind nur durch schleunige Flucht in das benachbarte
Ägypten entzogen wird, von wo es mit den Eltern erst
nach des Herodes Tode wieder in das heilige Land zu-
rückkehrt.


Wir haben also hier eine doppelte Introduktion des
messianischen Kindes, welche wir so stellen könnten, daſs
die eine, durch den Engel, bei Lukas, die Geburt des
Messias der nächsten Nähe, die andre, durch den Stern,
bei Matthäus, der weiten Ferne habe ankündigen sollen.
Allein, da nach Matthäus die Geburt Jesu erst durch den
Stern auch in der nächsten Nähe, in Jerusalem, bekannt
wird: so kann, wenn diese Erzählung historisch ist, jene
andre bei Lukas, nach welcher die Hirten, was ihnen als
Sache des ganzen Volks verkündigt war (V. 10.), mit
Preiſs gegen Gott weiter erzählten (V. 17. 20.), unmög-
lich richtig sein; so wie umgekehrt, wenn wirklich nach
Lukas die Geburt Jesu durch einen Engel mittelst der Hir-
ten der Gegend von Bethlehem bekannt gemacht worden
war, es irrig sein muſs, daſs Matthäus erst später durch
die Magier die erste Kunde davon in das nur 2—3 Stun-
[222]Erster Abschnitt.
den von Bethlehem entfernte Jerusalem 2) gelangen läſst.
Da wir nun aber die Erzählung des Lukas von der den
Hirten geschehenen Verkündigung aus mehreren Gründen
als unhistorisch erkannt haben: so bliebe insofern für die
des Matthäus unverkümmerter Raum, und es ist sonach
ihre historische Glaubwürdigkeit aus inneren Gründen zu
untersuchen.


Unsere Erzählung beginnt ganz so, wie wenn es sich
von selbst verstände, daſs Astrologen einen die Geburt des
Messias ankündigenden Stern als solchen zu erkennen ver-
mögen. Könnten wir hiebei zunächst uns darüber wun-
dern, wie heidnische Magier aus dem Orient etwas von
einem jüdischen König wissen konnten, dem sie eine reli-
giöse Verehrung darzubringen hätten: so wollen wir uns
hierüber einstweilen mit der Notiz bei Tacitus 3) und Sue-
ton 4), daſs 70 Jahre später im Orient die Erwartung ei-
nes Weltherrschers aus dem jüdischen Volke verbreitet ge-
wesen sei, beruhigen, um auf das Bedenklichere zu kom-
men, daſs es ja nach dieser Erzählung scheint, als hätte
die Astrologie Recht mit der Behauptung, daſs die Geburt
groſser Männer und bedeutende Veränderungen der mensch-
lichen Verhältnisse durch siderische Erscheinungen ange-
zeigt werden, eine Meinung, welche längst in das Gebiet
des Aberglaubens verwiesen ist. Man müſste also zu er-
klären suchen, wie jene trügerische Kunst in diesem ein-
zelnen Falle Recht haben konnte, ohne daſs jedoch auf an-
dre Fälle daraus geschlossen werden dürfte. Das nächste
für den orthodoxen Standpunkt wäre, daſs man sich auf
eine ausserordentliche Veranstaltung Gottes beriefe, wel-
cher sich dieſsmal, um die fernen Magier zu Jesu herbei-
zuziehen, ihren astrologischen Vorstellungen accommodirt,
[223]Viertes Kapitel. §. 30.
und den von ihnen erwarteten Stern habe erscheinen las-
sen. Aber mit dieser Auskunft verwickelt man sich in ei-
nen bedenklichen Handel. Denn ein solches Zusammen-
treffen des merkwürdigsten Erfolgs mit der astrologischen
Prognose muſste nicht nur jene Magier selbst und ihre
Landsleute, sondern auch die Juden und Christen, welche
von der Sache erfuhren, in dem Vertrauen zu jener trü-
gerischen Wissenschaft bestärken, und dadurch unbere-
chenbaren Irrthum und Schaden stiften. Und dieses Är-
gerniſs, wie leicht konnte es vermieden werden, wenn Gott,
wie er ja nach der orthodoxen Ansicht auch sonst thut,
durch Gesichte und Träume, auf welche nach V. 12. jene
orientalischen Weisen gleichfalls bauten 5), sie zu der Rei-
se nach Judäa veranlaſste. Ist es also nicht gerathen, eine
ausserordentliche Veranstaltung Gottes hier einzumischen,
und will man doch auch nicht annehmen, daſs nach dem
ordentlichen Naturlauf mit bedeutenden irdischen Ereignis-
sen astronomische Veränderungen zusammenzutreffen pfle-
gen: so müſste man nur auf ein zufälliges Zusammentref-
fen in diesem einzelnen Falle sich berufen, womit aber,
wie immer durch Berufung auf den Zufall, theils nichts
gesagt, theils der supranaturalistische Standpunkt verlas-
sen ist.


Doch nicht allein die falsche Kunst der Astrologen wird
bei der orthodoxen Auffassung dieses Berichtes bestätigt,
sondern auch eine falsche Auslegung einer Prophetenstelle.
Denn wie die Magier, ihrem Sterne folgend, richtig ge-
hen: so geben die Hohenpriester und Schriftgelehrten in
Jerusalem, welche Herodes auf die Nachricht von der An-
kunft und Absicht der Magier zu sich beruft, und nach
dem Geburtsort des Judenkönigs fragt, der Stelle Micha
5, 1. die Deutung, der Messias müsse in Bethlehem gebo-
ren werden (V. 5 f.), und dieser Deutung entspricht der
[224]Erster Abschnitt.
Erfolg. Das war aber doch nur eine Auslegung in der
bekannten rabbinischen Weise, die Worte zu pressen. Denn
abgesehen davon, ob unter dem לשֵׁוֹמ in der angeführten
Stelle der Messias verstanden werden darf oder nicht, so
bezeichnet doch nach dem ganzen Zusammenhang das Aus-
gehen des erwarteten Herrschers aus Bethlehem nicht ein
Geborenwerden an diesem Orte, sondern nur die Abstam-
mung von dem Davidischen Geschlecht, dessen alter Stamm-
ort Bethlehem war 6). Sind also die Magier durch die
rabbinische Exegese des Orakels richtig geführt worden:
so hat eine falsche Auslegung dieſsmal das Wahre getrof-
fen, entweder durch anbequemende Veranstaltung Gottes,
oder durch Zufall; worüber wie oben zu urtheilen ist.


Nach dem angegebenen Responsum des Synedriums be-
ruft nun Herodes die Magier, und seine erste Frage ist
nach der Zeit, wann ihnen der Stern erschienen sei (V. 7.)?
Wozu brauchte er dieſs zu erfahren? Der 16te Vers sagt es
uns, nämlich um das Alter des messianischen Kindes dar-
nach zu ermessen und also zu wissen, wie weit herauf im
Alter er die Kinder in Bethlehem umbringen lassen müsse,
um unter ihnen auch das durch den Stern angezeigte zu
treffen. Allein diesen Plan, durch Ermordung aller Kin-
der bis zu einem gewissen Alter das ihm fatale mitzutref-
fen, faſste ja Herodes erst, nachdem die Magier nicht,
wie er gehofft hatte, zu ihm nach Jerusalem zurückgekom-
men waren, eine Täuschung, welche, wie aus seinem ge-
waltigen Zorn über dieselbe (V. 16.) erhellt, Herodes kei-
neswegs vorherberechnet hatte. Vorher war nach V. 8.
seine Absicht, sich durch die wiederkehrenden Magier das
Kind, dessen Wohnung und übrige Verhältnisse so genau
beschreiben zu lassen, daſs er es nachher nicht verfehlen,
und ohne andre mitzumorden, aus dem Wege räumen las-
[225]Viertes Kapitel. §. 30.
sen könnte. Erst als die Magier ausblieben, war er zu je-
ner andern Maſsregel veranlaſst, zu deren Behuf er die
Zeit, wann der Stern erschienen war, wissen muſste 7).
Wie glücklich daher für ihn, daſs er, auch ohne noch je-
nen Plan zu haben, doch gleich Anfangs nach dieser Zeit
sich erkundigte; aber auch wie unbegreiflich, daſs er die-
ses, was ihm bei seinem ersten Plane Nebensache war,
gleich zu seiner ersten Frage (καλέσας-ἠκρίβωσε κ. τ. λ.
V. 7.) und zur Hauptangelegenheit machte. War die Er-
kundigung nach der Zeit der ersten Erscheinung des Sterns
Mittel zu dem Zwecke, die seit dieser Zeit in Bethlehem
geborenen Kinder in Masse zu morden; hatte aber Herodes
selbst diesen Zweck noch nicht, als er jenes Mittel wählte:
so müſste ein höheres Bewuſstsein ihm dasselbe an die Hand
gegeben haben, welches Bewuſstsein auf orthodoxem Stand-
punkt nur entweder Gott sein könnte, von welchem man
dann sagen müſste, er habe dem Tyrannen jene Frage ein-
gegeben, damit er nicht in der Ungewiſsheit über das Al-
ter des gesuchten Kindes geradezu alle Kinder zu Bethle-
hem 8), auch die älteren, erwürgen möchte; oder der Teu-
fel, — wenn nicht das Hineintragen übernatürlicher Ma-
schinerie in den biblischen Text ebenso unerlaubt wäre als
das von natürlicher. Ist es aber unerlaubt, und doch bei
der orthodoxen Auffassung der Erzählung unvermeidlich:
so ist diese Auffassung selbst unmöglich.


Das Zweite, was Herodes mit den Magiern verhandelt,
ist, daſs er ihnen aufträgt, alles das königliche Kind Be-
treffende genau zu erkunden und ihm bei ihrer Rückkehr
zu melden, damit auch er hingehen und dem Kinde seine
Verehrung bezeigen, d. h. nach dem wahren Sinn, es sicher
Das Leben Jesu I. Band. 15
[226]Erster Abschnitt.
ermorden lassen könnte (V. 8.). Daſs eine solche Einlei-
tung der Sache von dem schlauen Herodes schwer zu be-
greifen sei, ist längst bemerkt worden 9). Von den Ma-
giern konnte er nicht mit Sicherheit voraussetzen, daſs sie
ihm, zumal er seinen bösen Willen so schlecht verborgen
hatte, trauen würden, und jedenfalls muſste er fürchten,
sie möchten, von Andern auf seine wahrscheinlich übeln
Absichten mit dem Kinde aufmerksam gemacht, ihm keine
Nachricht zurückbringen. Von den Eltern des Kindes
konnte er vermuthen, daſs sie, wenn sie von seinem ge-
fährlichen Interesse an demselben hörten, es durch Flucht
in Sicherheit bringen würden; so wie endlich von denjeni-
gen, welche in Bethlehem und der Umgegend messianische
Erwartungen hegten, daſs sie durch die Ankunft der Ma-
gier nicht wenig in denselben bestärkt werden müſsten.
Aus allen diesen Gründen muſste Herodes entweder die Ma-
gier in Jerusalem aufhalten und indessen durch geheime
Abgesandte das in dem kleinen Bethlehem leicht zu erfra-
gende Kind, an welches sich so besondre Hoffnungen knüpf-
ten, aus dem Wege räumen lassen, oder er muſste den
Magiern Begleiter mitgeben, welche das Kind, sobald es
von jenen aufgefunden wäre, auf die sicherste Weise um
das Leben brächten. Auch Olshausen findet diese Bemer-
kungen nicht ganz grundlos, und weiſs sich gegen diesel-
ben in letzter Instanz nur darauf zu berufen, daſs in der
Geschichte aller Zeiten unbegreifliche Vergeſslichkeiten vor-
kommen, welche eben nur zeigen, daſs eine höhere Hand
die Geschichte lenke 10). Auf diese höhere Hand muſs sich
allerdings der Supranaturalist hier in der Art berufen, daſs
er annimmt, Gott selber habe den sonst so klugen Herodes
über die sicherste Maſsregel zu seinem Zwecke verblendet,
[227]Viertes Kapitel. §. 30.
um das messianische Kind vom frühzeitigen Untergange zu
retten. Aber die andre Seite dieser göttlichen Veranstal-
tung ist, daſs nun statt des Einen viele andere Kinder ster-
ben muſsten. Hiegegen wäre für den Fall nichts einzu-
wenden, wenn es erweislich auf andere Art nicht möglich
gewesen wäre, Jesum einem, mit dem Erlösungszweck un-
vereinbaren, Schicksal zu entziehen. Aber wenn Gott ein-
mal so übernatürlich eingriff, daſs er das Gemüth des He-
rodes verblendete und den Magiern später eingab, nicht
mehr nach Jerusalem zurückzukehren: warum gab er die-
sen nicht gleich Anfangs ein, mit Umgehung Jerusalems
geradezu nach Bethlehem zu reisen, wo dann die Auf-
merksamkeit des Herodes nicht so unmittelbar erregt, und
so vielleicht das ganze Unheil vermieden worden wäre? 11)
Hiegegen bleibt auf diesem Standpunkt nichts übrig, als
im ganz alten Styl zu sagen, den Kindern sei es gut ge-
wesen, so frühe umzukommen, weil sie so durch ein kur-
zes Leiden vielem Elende und namentlich der Gefahr ent-
zogen wurden, sich mit den ungläubigen Juden an Jesu
zu versündigen, weil sie nun die Ehre hatten, um Christi wil-
len ihr Leben zu lassen und Märtyrer zu werden, u. s. w. 12).


Die Magier ziehen jetzt von Jerusalem ab, bei Nacht,
wie es scheint, in welcher die Orientalen gerne reisen;
der Stern, den sie seit der Abreise aus ihrer Heimath nicht
mehr gesehen zu haben scheinen, zeigt sich wieder, und
zieht ihnen auf der Strasse nach Bethlehem voran, bis er
endlich über dem Wohnhause des Kindes und seiner Eltern
stehen bleibt. Von Jerusalem nach Bethlehem geht der
Weg südlich; nun ist aber die wahre Bahn der bewegli-
chen Sterne entweder von West nach Ost, wie die der
Planeten und eines Theils der Kometen, oder von Ost
15*
[228]Erster Abschnitt.
nach West, wie bei einem andern Theile der Kometen 13),
und wenn auch von manchen Kometen die wahre Bahn
nahezu von Norden nach Süden geht 14), so wird doch
bei allen diesen Sternen ihre eigene wahre Bewegung von
der durch die tägliche Drehung der Erde hervorgebrachten
scheinbaren, welche von Osten nach Westen geht, so weit
überwogen, daſs in der kurzen Zeit der zwei- bis drei-
stündigen Reise nach Bethlehem nicht jene, sondern höch-
stens diese bemerkbar werden konnte. Doch auch diese
Ortsveränderung der Sterne ist bei einer kurzen Wande-
rung nicht so in die Augen fallend, als die optische, wel-
che durch die Ortsveränderung des Beobachters entsteht,
vermöge welcher ein vor uns stehender Stern, wenn wir
uns vorwärts bewegen, in's Endlose voranzugehen scheint,
also namentlich nicht über einem bestimmten Hause stille
halten kann, und zumal sternkundigen Männern, wie die
Magier, dieſs zu thun nicht scheinen konnte 15). Nach al-
lem diesem kann der in Frage stehende kein gewöhnlicher,
natürlicher Stern gewesen sein, denn ein solcher bewegt
sich nicht wirklich so schnell von Nord nach Süd, daſs
es in Zeit einiger Stunden bemerkbar wäre; bewegt er
sich aber blos optisch so, durch d[as] Weitergehen des Beob-
achters, so kann er nicht durch sein Stillestehen einen
Wanderer veranlassen, Halt zu machen, sondern umge-
kehrt, erst wenn der Wanderer Halt macht, wird auch der
Stern zum Stehen kommen. Es müſste also, was auf die-
sem Standpunkte keinen Anstand hat, ein von Gott beson-
ders zu diesem Behufe geschaffener Stern gewesen sein,
wie auch einige Kirchenväter angenommen haben 16), wel-
cher von dem Schöpfer nach eigener Regel bewegt und zum
[229]Viertes Kapitel. §. 30.
Stillstand gebracht wurde. Allein ein wirklicher Stern in
der eigentlichen Höhe und Sphäre der Sterne könnte er
auch so nicht gewesen sein, da ein solcher, er mag be-
wegt und festgehalten werden wie er will, doch nach op-
tischen Gesetzen niemals scheinen kann über einem ein-
zelnen Hause unverrückbar stille zu stehen. Es müſste da-
her etwas niedriger über der Erde sich Hinbewegendes ge-
wesen sein, und da haben etliche Kirchenväter und Apo-
kryphen 17) einen Engel angenommen, der nun freilich den
Magiern auf ihrem Wege in Gestalt eines Sternes voraus-
fliegen und zu Bethlehem in mäſsiger Höhe über dem Hau-
se der Maria Halt machen konnte; Neuere haben ein Me-
teor vermuthet 18); Beides gegen den Text des Matthäus:
Ersteres, weil es nicht die Art unserer Evangelien ist, et-
was rein Übernatürliches, wie eine Engelerscheinung, durch
einen natürlichklingenden Ausdruck, wie ἀςὴρ, zu bezeich-
nen; Lezteres, weil ein bloſses Meteor für eine so lange
Zeit, wie von dem Aufbruch der Magier aus ihrer fernen
Heimath bis zu ihrer Ankunft in Bethlehem vergieng, nicht
zureicht, wenn man nicht annehmen will, Gott habe für
die Reise der Magier von Jerusalem nach Bethlehem ein
ganz neues und anderes Meteor geschaffen, als er ihnen
in ihrer Heimath gezeigt hatte.


Von diesen Schwierigkeiten in Beziehung auf den
Stern haben sich selbst manche orthodoxe Erklärer der-
maſsen gedrückt gefunden, daſs sie seinem Voranlaufen nach
Bethlehem und seinem Stillstehen über einem Hause um
jeden Preis zu entgehen versuchten. So hat namentlich
die Süskind'sche Erklärung vielen Beifall gefunden, nach
welcher das προῆγεν V. 9. nicht als Imperfectum ein
sichtbares Vorangehen, sondern, gleich dem Plusquam-
[230]Erster Abschnitt.
perfectum, ein unsichtbares Vorangegangensein bedeutet,
so daſs der Evangelist sagen wolle: der Stern, den die
Magier im Morgenlande erblickt und seitdem nicht mehr
gesehen hatten, kam plözlich in Bethlehem über dem Hau-
se des Kindes wieder zum Vorschein, er war ihnen also
dahin vorangegangen 19). Allein das heiſst rationalistische
Kunstgriffe auf das Gebiet der orthodoxen Exegese verpflan-
zen; denn daſs hier nicht blos das προῆγεν, sondern auch
das ἔως ἐλϑὼν κ. τ. λ[.] das Vorangehen des Sterns als eine
nicht schon vorher abgeschlossene, sondern erst noch vor
den Augen der Magier sich verlaufende Begebenheit be-
zeichnet, das kann nur eine exegetische Willkühr verken-
nen, welche dann consequenterweise auch noch weiter ge-
hen, und die ganze Erzählung auf das Gebiet des Natürli-
chen herüberziehen muſs. Ebenso, wenn Olshausen zwar
einräumt, daſs ein Stern durch seinen Stand unmöglich ein
einzelnes Haus bezeichnen könne, daſs daher die Magier
das Haus des Kindes wohl haben erfragen müssen, und
nur in kindlich naiver Weise auch den Ausgang wie den
Anfang ihrer Reise auf den [himmlischen] Führer bezogen
haben 20): so ist er damit auf den rationalistischen Stand-
punkt herübergetreten und liest natürliche Erklärungsgründe
zwischen die Linien des biblischen Textes hinein, was er
selbst an andern Stellen einem Paulus u. A. mit Recht
übel nimmt.


Die Magier treten nun in das Haus, bezeigen dem
Kinde ihre Verehrung und überreichen ihm Produkte ih-
rer Heimath als Geschenke (V. 11.). Man kann sich hie-
bei wundern, daſs der Überraschung nicht gedacht ist,
welche es für diese Männer sein muſste, statt des erwar-
teten Prinzen ein Kind in ganz gewöhnlichen, vielleicht
dürftigen Umständen zu finden 21). So weit freilich darf
[231]Viertes Kapitel. §. 30.
man den Contrast nicht treiben, daſs man, wie gewöhn-
lich geschieht, die Magier das Kind im Stall und in der
Krippe finden läſst; denn von diesen dem Lukas eigen-
thümlichen Angaben weiſs Matthäus nichts, sondern spricht
schlechtweg von einer οἰκία, in welcher das Kind sich be-
funden habe. — Sofort erfolgt die Warnung der Magier
im Traum (V. 12.), von welcher wir, wie gesagt, nur
wünschen möchten, daſs sie früher gekommen wäre, um
durch Ablenkung der Magier von Jerusalem vielleicht das
ganze folgende Blutbad zu ersparen.


Während nun Herodes noch auf die Rückkehr der
Astrologen wartet, wird Joseph im Traume durch eine
Engelerscheinung angewiesen, das messianische Kind sammt
dessen Mutter nach dem benachbarten Ägypten in Sicher-
heit zu bringen (V. 13—15.). Dieſs hat auf dem ange-
nommenen Standpunkt keine Schwierigkeit, wohl aber die
Weissagung, welche dadurch in Erfüllung gegangen sein
soll, Hosea 11, 1.: מִמִּצְרַיִם קָרָאתִי לִבְנִי. Denn wenn hier
der Prophet Jehova sagen läſst: da Israël ein Knabe war,
hatte ich ihn lieb, und aus Ägypten rief ich (ihn,) mei-
nen Sohn: so darf auch dem orthodoxesten Erklärer noch
so viel gesunder Blick zugemuthet werden, um einzusehen,
daſs hier im zweiten Hemistich nicht von einem andern
Subjekte die Rede sein könne, als von dem des ersten He-
mistichs, nämlich dem Volk Israël, welches hier, wie auch
sonst (z. B. 2. Mos. 4, 22.; Sirach 36, 14.), Sohn Gottes
genannt, und dessen langvergangene Ausführung aus Ägyp-
ten unter Moses gemeint ist; daſs also keineswegs an den Mes-
sias und dessen künftigen Aufenthalt in Ägypten vom Prophe-
ten gedacht worden sei. Und doch, indem unser Evangelist
V. 15. sagt, die Flucht Jesu nach Ägypten sei deſswegen ver-
anstaltet worden, damit jene Worte des Hosea erfüllt wür-
den: so hat er diese als Weissagung auf Christus verstan-
den, mithin miſsverstanden. Die Olshausen'sche Doppel-
[232]Erster Abschnitt.
sinnigkeit, daſs die Prophetenstelle zunächst zwar auf das
Volk Israël gehe, nichtsdestoweniger aber zugleich als
Weissagung auf Christum gefaſst werden könne, weil die
Schicksale des leiblichen Israël Vorbilder der Schicksale
Jesu seien 22), ist hier um so weniger anwendbar, als
diese Vorbildlichkeit in unsrem Falle eine völlig äusserliche
und geistlose wäre, indem nur das Formelle eines Aufent-
halts in Ägypten auf beiden Seiten gleich, die näheren
Verhältnisse aber, unter welchen das israëlitische Volk und
das Kind Jesus sich daselbst aufhielten, ganz verschiedene
gewesen sind.


Wie die Rückkehr der Magier sich so lange ver-
zieht, daſs Herodes merken kann, sie haben nicht im Sinn,
ihm Wort zu halten: erläſst er einen Mordbefehl gegen
alle männlichen Kinder in und um Bethlehem, welche in-
nerhalb der Altersklasse standen, in welche, nach den
Angaben der Magier über die Zeit der Erscheinung des
Sterns, auch der messianische Knabe gehören muſste (V.
16—18.). Wollen wir hier auch nicht viel Gewicht auf
die Bemerkung legen, daſs der bei aller Grausamkeit doch
kluge Herodes schwerlich so in's Blinde hinein gewüthet
haben würde, da er ja leicht erfahren konnte, daſs der
Knabe, welchem so kostbare Geschenke gebracht worden
waren, gar nicht mehr in Bethlehem zu finden war 23):
so sollte man doch jedenfalls erwarten, daſs von einer so
ganz besonders empörenden Blutthat auch andre Schrift-
steller uns etwas berichten würden 24). Allein weder Jo-
sephus, welcher sehr ausführlich über Herodes ist, noch
die Rabbinen, die ihm sonst alles Üble nachsagen, erwäh-
nen dieses Faktums mit einem Worte. Diese setzen die
Reise Jesu nach Ägypten zwar gleichfalls mit einer Mord-
[233]Viertes Kapitel. §. 30.
scene in Verbindung, welche aber nicht von Herodes, son-
dern von dem König Jannäus veranstaltet worden sein und
nicht Kinder, sondern Rabbinen betroffen haben soll 25).
Dabei liegt aber eine Verwechselung des ihnen aus der
christlichen Tradition bekannten Datums mit einer frühe-
ren Begebenheit zu Grunde, da jener Jannäus schon 40
Jahre vor Christi Geburt starb 26). Den herodischen Kin-
dermord berührt nur der einzige Macrobius aus dem vier-
ten Jahrhundert, doch in einem Zusammenhang, welcher
deutlich zeigt, daſs ihm die von Herodes befohlne Ermor-
dung seines Sohnes Antipater, der kein Kind mehr war 27),
mit dem bethlehemitischen Kindermord, der ihm von christ-
licher Seite bekannt geworden sein mochte, zusammen-
floſs 28). Mag man nun auch durch die Erinnerung an die
geringe Zahl von Knaben des bezeichneten Alters, welche
in dem kleinen Bethlehem sich vorfinden mochten, das Auf-
fallende jenes Stillschweigens zu vermindern suchen, und
ferner bemerken, daſs unter den vielen Greuelthaten des
Herodes diese That wie ein Tropfen im Meere verschwun-
den sei 29): so ist hiebei das specifisch Abscheuliche des
Hinwürgens wenn auch nur weniger unschuldigen Kinder
übersehen, um dessen willen diese That, wenn sie wirk-
lich vorgefallen war, schwerlich so ganz würde vergessen
worden sein 30). — Auch hiezu wird wieder eine Pro-
phetenstelle (Jerem. 31, 15.), als eine, durch diesen
Kindermord erfüllte Weissagung angeführt (V. 17. 18.),
[234]Erster Abschnitt.
welche sich ursprünglich auf etwas ganz Andres, nämlich
die Wegführung der Judäer nach Babylon, bezog, und in
welcher an etwas in ferner Zukunft Liegendes auf keine
Weise gedacht war.


Während sich nun das Jesuskind mit seinen Eltern in
Ägypten aufhält, stirbt Herodes I., und Joseph wird durch
einen, ihm im Traum erscheinenden Engel zur Rückkehr
in die Heimath eingeladen, welche Rückkehr jedoch, weil
auch Archelaus, des Herodes Nachfolger in Judäa, zu
fürchten war, durch ein zweites Traumorakel näher dahin
bestimmt wird, daſs Joseph nach Nazaret in Galiläa, in
das Gebiet des milderen Herodes Antipas ziehen solle (V.
19—23.). Wir hätten somit in diesem Passus 5 ausseror-
dentliche göttliche Veranstaltungen: nämlich einen ungewöhn-
lichen Stern und 4 Traumgesichte. Schon der Stern und
das erste Traumgesicht hätten, wie oben bemerkt, nicht
nur ohne Schaden, sondern selbst mit Nutzen in Eins zu-
sammengethan werden können, so daſs entweder der Stern
oder die Traumerscheinung gleich Anfangs die Magier von
Jerusalem ab nach Bethlehem gewiesen hätte, wodurch
das von Herodes verhängte Blutbad vielleicht wäre zu ver-
hüten gewesen. Ein ganz entschiedener Überfluſs ist es
nun aber, daſs die beiden lezten Weisungen im Traum
nicht in Eine verwandelt sind; denn was dem Joseph bei
der lezten gesagt wurde, daſs er wegen des Archelaus
nicht nach Bethlehem, sondern nach Nazaret ziehen solle,
das konnte doch wohl einfacher schon bei der vorangegan-
genen hinzugesezt werden. Eine solche, bis zur Ver-
schwendung gehende Nichtachtung der lex parsimoniae
in Bezug auf das Wunderbare muſs man versucht sein,
eher der menschlichen Meinung, als der göttlichen Vorse-
hung zuzuschreiben.


Den falschen Auslegungen A. T.licher Stellen in die-
sem Abschnitt sezt sofort die Bemerkung im lezten Verse
die Krone auf, durch die Ansiedlung der Eltern Jesu in
[235]Viertes Kapitel. §. 30.
Nazaret sei die Weissagung der Propheten erfüllt worden:
ὅτι Ναζωραῖος κληϑήσεται Denn will man sich nicht
muthlos in das Dunkel flüchten durch die Annahme, daſs
dieses Orakel, welches sich mit denselben Worten im A. T.
nicht findet, aus einem verloren gegangenen kanonischen 31)
oder apokryphischen 32) Buche sei: so muſs man entwe-
der den Evangelisten einer höchst willkührlichen Bezeich-
nung zeihen, wenn er nach den Einen die A. T.lichen
Vorhersagungen, daſs der Messias verachtet sein werde,
so ausgedrückt haben soll, er werde ein Nazaretaner, d. h.
Bürger eines verachteten Städtchens heiſsen 33); oder muſs
man ihn der gröbsten Entstellung des Sinnes und der ge-
waltsamsten Umformung der Worte beschuldigen, wenn er
das Wort נָזִיר gemeint haben soll, durch welches, wenn
es anders im A. T. von Messias vorkäme, dieser nur ent-
weder als Nasiräer 34), was übrigens Jesus nie war, oder
als Gekrönter 35), wie Joseph 1. Mos. 49, 26., keines-
wegs aber als ein in dem Städtchen Nazaret Aufwachsen-
der bezeichnet wäre. Endlich auch bei der wahrschein-
lichsten Deutung dieser Stelle, welche die Auctorität der
von Hieronymus befragten Judenchristen für sich hat, daſs
nämlich der Evangelist hier auf Jes. 11, 1. anspiele, wo
der Messias נֵצֶר יִשַׁי (surculus Jesse) wie sonst צֶמַח,
heiſse 36), — bleibt immer die gleiche Gewaltsamkeit, wel-
che dem vom Messias gebrauchten appellativum eine ihm
ganz fremde Beziehung auf das nomen proprium der Stadt
Nazaret giebt.


[236]Erster Abschnitt.

§. 31.
Versuche natürlicher Erklärungen für die Geschichte von den
Magiern. Übergang zur mythischen Auffassung.


Die vielen Anstöſse zu vermeiden, welche der supra-
naturalistischen Erklärungsweise dieses Abschnitts bei je-
dem Schritte hemmend in den Weg treten, verlohnte es
sich wohl, eine andere Auslegung zu versuchen, welche,
ohne Einmischung von etwas Übernatürlichem, Alles nach
physischen und psychologischen Gesetzen zu erklären ver-
möchte, wie sie am besten Paulus gegeben hat 1).


Gleich der erste Anstoſs, wie heidnische Magier aus
dem fernen Orient etwas von einem zu gebärenden jüdi-
schen König haben wissen können, wird dadurch wegge-
räumt, daſs man jene Männer zu auswärtigen Juden macht.
Allein, wie es scheint, ganz gegen den Sinn des Evange-
listen. Denn indem dieser den Magiern die Frage in den
Mund legt: ποῦ ἐςιν ὁ τεχϑεὶς βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων (V. 2.);
so läſst er sie von den Juden sich unterscheiden, und was
die Tendenz der ganzen Erzählung betrifft, so scheint die
kirchliche Ansicht nicht so ganz Unrecht zu haben, wie
Paulus meint, wenn sie diesen Besuch der Magier als das
erste Bekanntwerden Christi unter den Heiden betrachtet. —
Ferner ist nun nach dieser natürlichen Erklärung der ei-
gentliche Reisezweck jener Männer nicht, den neugebore-
nen König zu sehen, und die Veranlassung ihres Zuges
nicht der von ihnen beobachtete Stern: sondern sie reisen
vielleicht in merkantilischer Absicht nach Jerusalem, und
nur weil sie da und dort im Lande von einem neugebore-
nen König sprechen hören, fällt ihnen eine, kürzlich be-
merkte, himmlische Erscheinung ein, und sie wünschen,
gelegentlich das besprochene Kind selbst zu sehen. Da-
durch wird freilich das Anstöſsige der Bedeutsamkeit, wel-
che bei der gewöhnlichen Deutung der Erzählung die Astro-
[237]Viertes Kapitel. §. 31.
logie bekommt, gemindert, doch nur auf Kosten der
ungezwungnen Auslegung. Denn, wenn es auch angienge,
aus μάγοις ohne Weiteres Kaufleute zu machen, so kann
doch bei dieser Reise ihr Zweck kein merkantilischer ge-
wesen sein, da bei ihrer Ankunft in Jerusalem ihre erste
Frage nach dem neugeborenen Judenkönig ist, und sie so-
fort als Grund dieser Frage den im Morgenland gesehenen
Stern, als veranlaſst durch diesen ihre jetzige Reise, und
als Zweck derselben die dem Neugeborenen darzubringende
Huldigung angeben (V. 2.: ποῦ εςιν — εἴδομεν γἀρ — καὶ
ἤλϑομεν προσκυνῆσαι —
).


Der ἀςὴρ wird von dieser Erklärungsweise entweder
zum natürlichen Meteor gemacht 2), oder zum Kometen 3),
oder zu einer Constellation, d. h. einer Conjunktion meh-
rerer Planeten, welcher, von Kepler aufgestellten Ansicht
neuerlich mehrere Astronomen und Theologen beigetreten
sind 4). Die Hauptfrage ist hiebei, ob das im Text angege-
bene Voranlaufen des ἀςὴρ, nebst seinem Stillestehen über
einem Hause, bei dieser Ansicht von demselben leichter er-
klärlich werde? Von den beiden ersteren Auffassungswei-
sen ist schon oben in dieser Beziehung die Rede gewesen.
Bei der Fassung des ἀςὴρ als Constellation wird das προ-
άγειν
(V. 9.) entweder von dem Auseinandertreten der bis
dahin beisammen gestandenen Planeten gedeutet 5): allein
im Texte ist von keinem Auseinandergehen der Theile der
Erscheinung, sondern von einem Vorwärtsgehen der gan-
zen Erscheinung die Rede; oder man nimmt das Süskind'-
sche Plusquamperfectum zu Hülfe, und stellt sich vor, die
Constellation, welche die Magier in dem Thal zwischen
[238]Erster Abschnitt.
Jerusalem und Bethlehem nicht haben sehen können, habe
sich ihnen bei der Annäherung zu Bethlehem mit Einem-
male wieder gezeigt, und zwar über dem Wohnort des
Kindes hin stehend 6). Denn das ἐπάνω οὖ ἦν τὸ παιδίον
(V. 9.) soll nur überhaupt den Wohnort, nicht das Wohn-
haus des Kindes und seiner Eltern bedeuten. Wir geben
dieſs zu; aber indem der Evangelist gleich folgen läſst:
καὶ εἰσελϑόντες εἰς τὴν οἰκίαν, so wird eben hiedurch der
Wohnort näher als das Wohnhaus bestimmt, so daſs diese
Erklärung nur aus dem vergeblichen Bestreben entstanden
sich zeigt, das Wunderbare aus der evangelischen Erzäh-
lung zu entfernen. — Das Merkwürdigste bei der Deutung
des ἀςὴρ auf eine Constellation ist nun aber, daſs man
durch dieselbe einen festen Punkt in der beglaubigten Ge-
schichte gefunden zu haben meint, an welchen man die
Erzählung des Matthäus anknüpfen könne. Nach Kepler's,
von Ideler7) berichtigter Berechnung nämlich fand drei
Jahre vor Herodes Tod eine Conjunktion des Jupiter und
Saturn im Zeichen der Fische statt, und diese, wie sie in
jenem von den Astrologen auf die Juden bezogenen Zei-
chen auf dieselbe Weise beiläufig alle 800 Jahre wieder-
kehrt, hatte nach des Juden Abarbanel Berechnung auch
drei Jahre vor der Geburt des Moses stattgefunden: so
daſs sich gar wohl an diese Constellation zu Herodes Zeit
Erwartungen des zweiten groſsen Retters der Nation an-
knüpfen, und babylonische Juden zur Nachfrage veranlas-
sen konnten 8). Daſs nun aber der von Matthäus erwähnte
Stern eben jene Planetenconjunktion gewesen sei, wird
theils durch die Unsicherheit des Geburtsjahrs Jesu precär,
theils passen Züge der evangelischen Erzählung nicht da-
zu, wie das προῆγεν und ἐςη, so wie, daſs die Magier
[239]Viertes Kapitel. §. 31.
als Nichtjuden bezeichnet sind; so daſs, sobald wir auf
irgend ein anderes Datum stoſsen, welches unsrer Erzäh-
lung bei Matthäus ähnlicher sieht, als diese Constellation,
wir jenes und nicht diese als die Grundlage derselben vor-
auszusetzen berechtigt sind.


Die Anstöſse wegen der falsch gedeuteten A. T.lichen
Stellen werden auf diesem Standpunkte dadurch entfernt,
daſs eine falsche Auslegung von Seiten der N. T.lichen
Schriftsteller geradezu in Abrede gezogen wird. Die Weis-
sagung des Micha soll eben nur das Synedrium auf den
Messias und sein Geborenwerden in Bethlehem gedeutet,
Matthäus aber diese Deutung mit keinem Worte gebilligt
haben 9). Allein, da Matthäus weiter erzählt, wie der
Erfolg der Auslegung des Synedriums entsprochen habe:
so ist darin eine faktische Billigung dieser Auslegung ent-
halten. Eigen geht Paulus mit der Stelle aus Hosea zu
Werke. Nur abwehren wolle Matthäus durch Anführung
derselben den Anstoſs, welchen palästinische Juden daran
nehmen konnten, daſs der Messias das heilige Land einst
verlassen habe, indem er darauf aufmerksam mache, daſs
auch jener Erstgeborene Gottes in andrem Sinne (das jü-
dische Volk) aus Ägypten geholt worden sei, weſswegen
sich Niemand daran stoſsen dürfe, daſs auch bei diesem
Sohne Gottes (dem Messias) eine solche Reise in das un-
heilige Ausland stattgefunden. Allein von einem solchen
blos negativen, abwehrenden Zwecke der angeführten A.
T.lichen Weissagungen ist in der ganzen Stelle keine
Spur 10), vielmehr haben diese Anführungen durchaus die
positive Absicht, die Messianität Jesu dadurch zu begrün-
den, daſs messianische Weissagungen als an ihm in Erfül-
[240]Erster Abschnitt.
lung gegangen nachgewiesen werden. — Daſs ebenso ver-
geblich in Bezug auf die beiden andern in unsrem Ab-
schnitt citirten Weissagungen das πληρωϑῆναι zur bloſsen
Analogie und Anwendbarkeit zu verflüchtigen gesucht wer-
de, bedarf keiner weiteren Ausführung.


Die mehrfachen Weisungen endlich, welche die Per-
sonen unserer Erzählung durch Traumerscheinungen be-
kommen, werden auf dem gegenwärtigen Standpunkte
sämmtlich psychologisch aus vorangegangenen Erkundigun-
gen und Gedanken der Wachenden erklärt. Dieſs scheint
zwar bei der letzten Erscheinung dieser Art, V. 22, durch
den Text selbst an die Hand gegeben, indem es hier heiſst,
Joseph habe gehört, daſs Archelaus Herr von Judäa ge-
worden sei, und habe sich daher gefürchtet, dorthin zu
gehen; hierauf erst sei ihm eine höhere Weisung im Trau-
me zugekommen. Dennoch ist auch hier, wenn man ge-
nauer zusieht, das im Traume Mitgetheilte etwas Neues
und nicht aus dem Wachen herübergenommen; nämlich
nur das Negative, daſs wegen des Archelaus eine Nieder-
lassung in Bethlehem nicht wohl rathsam sei, war dem
Joseph im Wachen gegeben: das Positive, daſs er nach
Nazaret ziehen solle, wird erst im Traum hinzugefügt.
Bei den übrigen Traumerscheinungen unseres Abschnitts
aber ist es geradezu Interpolation des Textes, wenn man
sie auf die bezeichnete Weise erklären will. Denn sowohl
daſs Herodes dem Kinde nach dem Leben trachte, als,
daſs er nun gestorben sei, läſst der Text dem Joseph erst
durch den Traum bekannt werden; so wie auch die Ma-
gier kein Miſstrauen gegen Herodes haben, bis der Traum
sie vor ihm warnt.


Wenn hienach die Auffassung der Matth. 2. erzählten
Vorgänge als natürlicher dem Sinne des Berichts entschie-
den zuwider ist, in ihrem ursprünglichen Sinne genommen
aber die evangelische Erzählung bis zum Abenteuerlichen
Übernatürliches, und Unwahrscheinliches bis zum Unmög-
[241]Viertes Kapitel. §. 31.
lichen enthält: so muſs man zum Zweifel an dem histori-
schen Charakter der Erzählung, und zu der Vermuthung
geführt werden, daſs wir hier etwas Sagenhaftes vor uns
haben. Von dieser mythischen Auffassungsweise sind aber
auch hier die ersten Versuche so ungeschickt ausgefallen,
daſs sie über die Sphäre der natürlichen Erklärung, wel-
che sie überfliegen wollten, in der That nicht hinausge-
kommen sind. Der Verfasser einer schon öfters angeführ-
ten Abhandlung über die beiden ersten Kapitel des Mat-
thäus und Lukas 11) glaubt das ursprünglich Geschichtli-
che und die sagenhaften Zuthaten der Erzählung auf
folgende Weise scheiden zu können. Historisch, meint er,
möge sein, daſs, bei der allgemeinen Erwartung des Mes-
sias in jener Zeit, einigen arabischen Juden, die sich mit
Astronomie beschäftigten, ein Komet aufgefallen war, des-
sen von ihnen angenommene Beziehung auf den Messias
sie zu einer Reise nach Jerusalem, wo sie Herodes zu sich
kommen lieſs, und von da nach Bethlehem veranlasste;
wobei nun aber das Vorangehen und Stehenbleiben des
Sterns mythische Zuthat sei. In Bethlehem, wo vielleicht
gerade kein andres neugebornes Kind war, fanden sie das
der Maria, welches sie jedoch seines armseligen Zustandes
wegen nicht für das messianische erkannten, sondern, nach-
dem sie ihm aus Mitleid Einiges von ihren Schätzen ge-
schenkt, auf einem andern Wege zurückreisten, indem sie
es nicht für der Mühe werth hielten, dem Herodes von
ihrem vergeblichen Gange Rapport zu erstatten. Weil nun
aber der Sohn der Maria sich später als Messias auswies,
so drehte sich die Erzählung: der Stern muſste ihnen
den Weg zu ihm gezeigt haben, sie selbst huldigend vor
dem Kinde niedergefallen sein, und ein Engel sie gewarnt
Das Leben Jesu I. Band. 16
[242]Erster Abschnitt.
haben, nicht mehr zu Herodes zurückzukehren. Daſs He-
rodes sofort Kinder in Bethlehem morden lieſs, und Jo-
seph, davon unterrichtet, nach Ägypten floh, ist wieder
historisch; nur die darauf angewendeten A. T.lichen Stel-
len und die Engelerscheinungen sind späterer Zusaz. —
Schon etwas mehr glaubte Krug12) auf Rechnung der Sa-
ge schreiben zu müssen. Arabische Kaufleute, meint er,
welche zufällig nach Bethlehem kamen, lernten Jesu Eltern
als bedürftige Fremde kennen (nach Matthäus sind Jesu
Eltern in Bethlehem nicht fremd), beschenkten sie, wünsch-
ten ihnen viel Gutes für ihr Kind, und reisten weiter.
Wie Jesus später als Messias sich geltend machte, erin-
nerte man sich jener Begebenheit, und schmückte sie mit
Stern, Traumerscheinung und glaubiger Huldigung aus. Auch
die Erzählungen von der Flucht nach Ägypten und dem
Bethlehemitischen Kindermord schloſsen sich an, weil man
eine Wirkung jenes Vorfalls auf den Herodes voraussezt[e],
der vielleicht um jene Zeit aus andern Ursachen in Bethle-
hem einige Familien umbringen lieſs, wie auch Jesus viel-
leicht später zu andern Zwecken in Ägypten war.


Bei dieser, wie bei der reinnatürlichen Erklärungsart,
bleiben also die Fakta der Ankunft einiger Orientalen, der
Flucht nach Ägypten und der Blutscene in Bethlehem ste-
hen, entkleidet jedoch von allem wunderhaften Schmucke,
welcher sie in der evangelischen Erzählung umgiebt. So
sollen nun diese Fakta begreiflich sein, und gar wohl sich
haben zutragen können. In der That aber werden sie da-
durch unbegreiflicher, als selbst bei der orthodoxen Erklä-
rungsart. Denn mit dem übernatürlichen Schmucke ist je-
nen Thatsachen zugleich alles Motivirende genommen, und
sie schweben völlig in der Luft. Wie die Orientalen in
ein Verhältniſs zu Jesu Eltern und dem Kinde kommen,
[243]Viertes Kapitel. §. 32.
ist in der Erzählung des Matthäus vollständig motivirt:
bei der zulezt ausgeführten Erklärungsweise aber bleibt
es ein wunderlicher Zufall. Das Blutbad zu Bethlehem
hat in der evangelischen Geschichte seine bestimmte Ver-
anlassung: hier aber begreift man nicht, wie Herodes da-
zu gekommen sein soll, es zu veranstalten, und ebenso steht
die Reise Jesu nach Ägypten, so dringend begründet bei
Matthäus, bei dieser Ansicht ganz unerklärlich da. Man
kann zwar sagen: diese Begebenheiten werden in der Wirk-
lichkeit ihre hinreichenden Veranlassungen gehabt haben,
nur daſs Matthäus diesen natürlichen Zusammenhang ver-
schwiegen und einen andern wunderhaften an die Stelle ge-
sezt hat. Allein der Schriftsteller oder die Sage, wenn
sie Begebenheiten mit ganz falschen Motiven und Neben-
umständen zu umgeben im Stande sind: so vermögen sie
auch die Begebenheiten selbst zu erdichten, und dieſs wird
um so wahrscheinlicher, je klarer sich nachweisen läſst,
wie die Sage, auch ohne daſs irgend etwas dergleichen
wirklich vorgefallen war, ein Interesse haben konnte, es
als so vorgefallen darzustellen. Dieſs läſst sich aber kaum
bei einem evangelischen Abschnitt einleuchtender machen,
als eben bei dem unsrigen.


§. 32.
Die Erzählung von den Magiern und was damit zusammenhängt,
rein mythisch.


In naiver Weise haben mehrere Kirchenväter auf
den wahren Schlüssel der Erzählung von den Magiern und
ihrem Sterne hingewiesen, indem sie, um zu erklären, wo-
her jene heidnischen Astrologen von einem Stern des Mes-
sias haben wissen können, die Vermuthung aufstellten, sie
mögen wohl aus den Weissagungen des heidnischen Pro-
pheten Bileam, dessen Orakel von dem aus Jakob aufge-
henden Sterne auch bei Moses sich finde, geschöpft ha-
16*
[244]Erster Abschnitt.
ben 1). Mit richtiger Einsicht hat daher K. Ch. L. Schmidt
an der Paulus'schen Auslegung dieses Abschnitts beson-
ders dieſs getadelt, daſs sie keine Rücksicht auf den Stern
nehme, welcher sich, nach jüdischer Erwartung, bei der
Erscheinung des Messias zeigen sollte. Und doch, sezt er
hinzu, ist in keinem Andern Heil, ist auch kein andrer
Name da, wodurch dieser Erzählung könnte geholfen wer-
den 2). Nämlich die Weissagung Bileams 4. Mos. 24, 17.
von einem Stern aus Jakob war allerdings die Veranlas-
sung, — freilich nicht, wie die Kirchenväter glaubten, daſs
wirklich damals Magier einen erschienenen Stern für den
des Messias erkannten und deſshalb nach Jerusalem reisten,
wohl aber, daſs die Sage bei Jesu Geburt einen Stern er-
scheinen und von Astrologen als den des Messias erkannt
werden lieſs. Die dem Bileam in den Mund gelegte Weis-
sagung bezog sich ursprünglich auf irgend einen glückli-
chen und siegreichen israëlitischen Regenten; sie scheint
aber frühzeitig eine messianische Deutung erhalten zu ha-
ben. Sollte auch die Übersetzung des Targum Onkelos:
surget rex ex Jacobo, et Messias (unctus) ungetur ex
Israële
nichts beweisen, da hier das unctus als Parallele
des rex vielleicht auch einen gewöhnlichen König bedeuten
könnte: so haben doch nach Aben Esra's Zeugniſs 3) und
den von Wetstein und Schöttgen angeführten Stellen 4)
manche Rabbinen die Weissagung auf den Messias bezo-
gen. Auch der Name Bar Cochba, welchen der bekann-
te Pseudomessias unter Hadrian führte, war mit Rück-
sicht auf die messianisch gedeutete Weissagung des Bi-
leam gewählt.


[245]Viertes Kapitel. §. 32.

Ihrem ursprünglichen Sinn nach spricht zwar die be-
zeichnete Stelle von keinem wirklichen Sterne, sondern
vergleicht nur den zu erwartenden Fürsten Israëls mit ei-
nem solchen, und so wird sie auch noch von dem ange-
führten Targum ausgelegt; bald aber machte der steigen-
de Glaube an Astrologie, vermöge dessen man jede merk-
würdige Begebenheit durch siderische Veränderungen an-
gezeigt sich dachte, daſs man den Spruch des Bileam nicht
mehr bildlich, sondern eigentlich von einem Stern verstand,
der zur Zeit des Messias am Himmel erscheinen sollte.
Was die Verbreitung des astrologischen Glaubens um die
Zeit Jesu betrifft, so glaubte man z. B. die künftige Grös-
se des Mithridates durch einen, in den Jahren seiner Ge-
burt und seines Regierungsantritts erschienenen Kometen
vorbedeutet, 5) und ein bald nach J. Cäsars Tod beobach-
teter Komet wurde in genaue Beziehung zu diesem Ereig-
niſs gesezt 6). Daſs diese Vorstellungsweise auch auf die
Juden von Einfluſs war, erhellt daraus, daſs wenigstens
spätere jüdische Schriften zur Zeit von Abrahams Geburt
einen ausgezeichneten Stern erscheinen lassen 7). Von hier
aus lag es denn nahe, auch die Geburt des Messias durch
einen Stern verkündigt sich zu denken, zumal ein solcher
in dem messianisch gedeuteten Bileamsorakel bereit lag.
Wirklich machten die Juden diese Combination; denn rab-
binische Vorstellung ist es wenigstens, daſs zur Zeit der
Geburt des Messias ein Stern im Osten erscheinen und
[246]Erster Abschnitt.
längere Zeit sichtbar sein werde 8). Wie mit dieser ein-
facheren jüdischen Vorstellung, daſs zur Zeit des Me-
sias überhaupt ein Stern erscheinen werde, unsre Erzäh-
lung im Matthäus verwandt ist: so mit jenen übertreiben-
den Schilderungen des zu Abrahams Zeit erschienenen Ge-
stirns die apokryphischen Beschreibungen des Sterns, der
Jesu Geburt verkündigt haben sollte 9). Offenbar also ver-
hält es sich mit dem bei Jesu Geburt nach Matthäus er-
schienenen Stern so, wie schon K. Ch. L. Schmidt10), mit
welchem neuestens auch Fritzsche übereinstimmt, es darge-
stellt hat. Wie Sterne überhaupt immer die Vorläufer
groſser Begebenheiten sind: so, dachten die Juden zur Zeit
Jesu, müsse nach 4. Mos. 24, 17. auch des Messias Geburt
durch einen Stern voraus verkündigt werden. Die neuen
Christen aus den Juden aber konnten ihren Glauben an Je-
sum als den Messias vor sich und Andern nur dadurch
rechtfertigen und begründen, daſs sie alle Attribute, welche
die jüdische Zeitvorstellung dem Messias lieh, an ihrem
Jesus als verwirklicht nachzuweisen sich bemühten, was
[247]Viertes Kapitel. §. 32.
um so argloser und unwidersprochener geschehen konnte,
je weiter man sich von dem Zeitalter Jesu entfernte, und
je mehr namentlich die Geschichte seiner Kindheit im
Dunkel lag. Daher zweifelte man bald genug nicht mehr,
daſs nicht auch die erwartete Erscheinung eines Sterns bei
Jesu Geburt wirklich zugetroffen sei 11). Daſs aber diese
Erscheinung von orientalischen Magiern gesehen worden,
dieser Zug ergab sich, den Stern einmal vorausgesezt, von
selbst; denn die Bedeutung desselben konnte Niemand bes-
ser verstehen als Astrologen, und als das Vaterland dieser
Kenntnisse galt der Orient.


Indessen hängt dieſs, so wie ohnehin das, daſs die
Magier eine Reise nach Judäa unternehmen und dem mes-
sianischen Kinde köstliche Geschenke bringen, noch mit
andern A. T.lichen Stellen zusammen. In der Schilde-
rung der besseren Zukunft, welche Jesaias Kap. 60. giebt,
wird namentlich auch dieſs hervorgehoben, daſs in jener
Zeit die entferntesten Völker und Könige zur Verehrung
Jehova's nach Jerusalem kommen und Gold und Weihrauch
und allerlei angenehme Gaben darbringen werden 12). Wenn
in dieser jesaianischen Stelle nur von der messianischen
Zeit die Rede ist, ein messianisches Subjekt aber fehlt:
so wird Ps. 72. von einem Könige, von dem es heiſst, man
werde ihn fürchten so lange Mond und Sonne währen, zu
seiner Zeit werde Gerechtigkeit blühen und alle Völker ihn
preisen, also von einem leicht messianisch zu fassenden
[248]Erster Abschnitt.
Subjekte, gerade wie Jes. 60. gesagt, daſs ihm fremde Kö-
nige Gold und andere Geschenke bringen werden (V. 10.
15.). Dazu kommt, daſs in jener Prophetenstelle das Wall-
fahrten fremder Völker nach Jerusalem mit einem über die-
ser Stadt aufgegangenen Lichte in Verbindung gesetzt ist 13),
welches an den Stern des Bileam erinnern muſste. Was
war daher natürlicher, da man auf der einen Seite einen
messianischen Stern aus Jakob, zu dessen Beobachtung
Sternkundige am geeignetsten waren, auf der andern ein
über Jerusalem aufgegangenes Licht hatte, zu welchem
ferne Völker, Geschenke bringend, wandeln sollten, — als
Beides zu combiniren und zu sagen: des über Jerusalem
aufgegangenen Sterns wegen kamen fernher Astrologen mit
Geschenken für den durch den Stern angedeuteten Mes-
sias? — Hatte man aber einmal einen Stern und um sei-
netwillen fernher ziehende Reisende: so lieſs man lieber
auch vollends diesen Stern den unmittelbaren Führer ihrer
Reise sein, ihnen auf ihrem Zuge voranleuchten. Diese
Vorstellung war im Alterthum sehr gewöhnlich: dem Äneas
bezeichnete nach Virgil eine stella facem ducens vorbe-
deutend den Weg von Troja in das Abendland 14); den
Thrasybul und Timoleon führten himmlische Feuer 15) und
auch dem Abraham sollte ein Stern den Weg zum Moria
gezeigt haben 16). Zudem schien in der Prophetenstelle
selbst das Himmelslicht mit der Wanderung der Geschen-
kebringenden als Leiter ihres Zugs in Verbindung gesetzt
zu sein; wenigstens konnte der zunächst bildliche Aus-
druck, Völker und Könige werden in dem, über Jerusalem
[249]Viertes Kapitel. §. 32.
aufgegangenen Lichte wandeln, später leicht in rabbinischem
Geiste eigentlich verstanden werden. Daſs der Stern die
Magier nicht geradezu nach Bethlehem führt, wo Jesus
sich befand, sondern sie erst nach Jerusalem sich wenden,
könnte einestheils in der Prophetenstelle seinen Grund ha-
ben, welche das aufgehende Licht und die Geschenkebrin-
genden auf Jerusalem bezieht; der Hauptgrund ist jedoch,
daſs zu Jerusalem Herodes zu finden war. Was eignete
sich nämlich mehr zur Veranlassung des herodischen Mord-
befehls, als die Aufsehen erregende Nachricht der Magier,
den Stern des groſsen Judenkönigs gesehen zu haben?


Einen Mordbefehl des Herodes gegen Jesum ergehen
zu lassen, lag aber im Interesse der urchristlichen Sage.
Durch Mordanschläge und Aussetzungen hat von jeher die
Sage die Kindheit groſser Männer verherrlicht: je gröſser
die Gefahr, welche über ihnen schwebte, desto höher
scheint ihr Werth zu steigen; je unerwarteter ihre Ret-
tung erfolgt, desto deutlicher zeigt sich, wie viel dem Him-
mel an ihnen gelegen war. Daher finden wir in den Kind-
heitsgeschichten des Cyrus bei Herodot 17), des Romulus
bei Livius 18), selbst noch später in der des Augustus bei
Sueton 19), diesen Zug, und auch die hebräische Sage hat
ihn bei Moses nicht vergessen. Die Erzählung 2. Mos. 1. 2.
ist der unsrigen besonders darin genau verwandt, daſs der
Mordbefehl beidemale nicht blos speciell auf Moses oder
Jesus, sondern allgemein auf eine gewisse Klasse von Kin-
dern, dort alle männlichen, neugeborenen, hier auf alle
[250]Erster Abschnitt.
von und unter zwei Jahren, sich bezieht. Freilich nach
der Erzählung des Exodus ist der Mordbefehl ganz ohne
Rücksicht auf den Moses gegeben, von dessen Geburt Pha-
rao nichts ahnt, und der also nur zufällig durch jenen Be-
fehl mitgefährdet wird: aber diese Darstellung war der
Tradition im hebräischen Volke nicht absichtsvoll genug, und
sie hat daher schon bei Josephus eine Wendung erhalten,
durch welche sie den Sagen von Cyrus und Augustus, aber
auch der Erzählung des Matthäus bedeutend ähnlicher
wurde, die nämlich, daſs eine Eröffnung seiner Schriftdeu-
ter (wie bei Herodot der Traumdeuter und bei Matthäus
der Sterndeuter), es werde ein Kind geboren werden, das
den Israëliten aufhelfen, die Ägypter aber demüthigen wür-
de, den Pharao zu jenem Mordbefehl veranlaſst habe 20).
Wie den Gesetzgeber, so lieſs die Sage bald auch den
Stammvater der Nation, kaum geboren, durch den Mord-
anschlag eines argwöhnischen Tyrannen in Lebensgefahr
gerathen. Wie dem Moses Pharao als Feind und Unter-
drücker entgegenstand, so wurde dem Abraham Nimrod
in der gleichen Rolle gegenübergestellt. Diesem sagten sei-
ne Weisen, durch einen ausgezeichneten Stern aufmerksam
gemacht, daſs dem Tharah ein Sohn geboren sei, von wel-
chem ein gewaltiges Volk abstammen werde, worauf er
ebenfalls einen Mordbefehl ergehen läſst, welchem jedoch
Abraham glücklich entgeht 21). Was Wunder, daſs man
[251]Viertes Kapitel. §. 32.
nun, wie dem Stammvater und dem Gesetzgeber, so auch
dem Wiederhersteller der Nation, dem Messias, einen an-
dern Nimrod und Pharao in der Person des Herodes ent-
gegenstellte, diesem durch Weise seine Geburt verkündi-
gen, ihn dem Neugeborenen nach dem Leben trachten,
diesen aber seinen Nachstellungen glücklich entkommen
lieſs? Hat ja doch die apokryphische Legende sich bewo-
gen gefunden, auch in der Geschichte des Vorläufers die-
sen Zug nachzubilden: auch er soll durch den herodischen
Mordbefehl in Gefahr gekommen, aus dieser durch das
Wunder eines für ihn und seine Mutter sich öffnenden
Berges gerettet, sein Vater aber, weil er den Aufenthalts-
ort des Knaben nicht anzeigen wollte, ermordet worden
sein 22).


Die Art, wie Jesus den Nachstellungen des Herodes
entgeht, ist eine andere, als wie nach der mosaischen Ge-
schichte Moses und nach der jüdischen Sage Abraham 23)
den gegen sie ergangenen Mordbefehlen; nämlich durch
eine Flucht aus dem Lande, nach Ägypten. Eine Flucht
ausser Landes kommt zwar auch im Leben des Moses vor,
aber nicht in der Geschichte seiner Kindheit, sondern nach-
dem er als Mann den Ägypter erschlagen, als Pharao ihm
deſshalb nach dem Leben trachtet, flüchtet er sich nach
Midian (2. Mos. 2, 15.). Daſs auf diese Flucht des ersten
Goël bei der des zweiten Rücksicht genommen ist, zeigt
unser Text selbst ausdrücklich an, indem er dem Engel,
welcher den Joseph zur Rückkehr aus Ägypten nach Palä-
stina ermuntert, dieselben Worte in den Mund legt, mit
welchen dort die Rückkehr des Moses aus Midian nach
21)
[252]Erster Abschnitt.
Ägypten motivirt ist 24). Daſs nun aber Jesus gerade nach
Ägypten geflüchtet wird, dafür läſst sich freilich die eben
dahin gehende Flucht Jerobeanus, dieses Abtrünnigen von
dem Davidisch-messianischen Geschlechte (1. Kön. 11, 40.
12, 2.) nicht anführen; sondern wir müssen uns hiefür an
die Prophetenstelle halten, welche unser Evangelist aus
Hosea 11, 1. citirt: ἐξ Αἰγύπτου ἐκάλεσα τὸν υἱόν μου. Daſs
diese Stelle von den Juden auf den Messias bezogen wor-
den wäre, dafür sind zwar die unmittelbaren Belege sehr
unsicher 25), doch war es bei Vergleichung von Stellen
wie Ps. 2, 7, wo das בְנֵי אַתָּה auf den Messias bezogen wur-
de, natürlich, daſs man auch dem לִבְנִי bei Hosea eine mes-
sianische Beziehung gab; was zur Erklärung dieses Zuges
in der Kindheitsgeschichte Jesu hinreicht, wenn auch al-
lerdings die jüdische Meinung, daſs der Messias bald nach
seiner Geburt werde verborgen werden 26), zu heterogen,
die andre aber, daſs er unter Heiden erzogen werden wer-
de 27), erst nach der lezten Zerstreuung des Volks ent-
standen sein mag.


Da sich den Schwierigkeiten der supranaturalistischen
wie der natürlichen Erklärung gegenüber, wie wir nun-
mehr sehen, die mythische so ganz von selbst ergiebt: so
kann nicht lange die Frage sein, welche den Vorzug ver-
diene, und wir müssen uns daher bescheiden, auch durch
die bisher betrachtete Erzählung kein einzelnes Faktum
aus dem Leben Jesu zu erfahren, sondern nur eine neue
Probe davon zu bekommen, wie bestimmt der messianische
[253]Viertes Kapitel. §. 32.
Eindruck war, den Jesus hinterlieſs, da selbst der Ge-
schichte seiner Kindheit ein messianischer Zuschnitt gege-
ben wurde 28).


Blicken wir von hier noch einmal auf die Erzählung
des Lukas, Kap. 2., zurück, so weit sie der unsrigen par-
allel läuft: so haben wir schon gesehen, daſs die unsrige
das von Lukas Erzählte nicht als früher Vorgefallenes vor-
aussezt; noch weniger kann das Umgekehrte stattfinden,
daſs die Magier vor den Hirten gekommen wären: es fragt
sich also, ob nicht vielleicht beide Berichte dasselbe dar-
stellen wollen, nur daſs sie dieſs auf verschiedene Weise
thun? Auf dem älteren orthodoxen Standpunkte, welcher
den Stern bei Matthäus als einen Engel zu fassen geneigt
war, lag es nahe, denselben mit dem Engel bei Lukas in
der Art zu identificiren, daſs der in der Geburtsnacht Jesu
den bethlehemitischen Hirten erschienene Engel von den
Magiern in der Ferne für einen über Judäa stehenden
Stern gehalten worden sein sollte 29), so daſs beide Be-
richte im Wesentlichen richtig wären. Neuerlich hat man
nur Einen, und zwar den des Lukas, als den richtigen
vorausgesezt, den des Matthäus aber als ausgeschmückte
Umbildung von jenem dargestellt. Aus dem Engel im himm-
lischen Glanze bei Lukas soll in der umbildenden Erzäh-
lung der Matthäustradition ein Stern geworden sein, wie
die Begriffe von Engeln und Sternen in der höheren jü-
dischen Theologie zusammenfloſsen; die Hirten aber sollen
zu königlichen Weisen umgebildet worden sein, wie ja die
[254]Erster Abschnitt.
Könige im Alterthum Hirten der Völker heiſsen 30). Diese
Ableitung wäre selbst dann durch ihre Künstlichkeit un-
wahrscheinlich, wenn es richtig wäre, was dabei voraus-
gesezt wird, daſs die hiehergehörigen Erzählungen des
Lukas den Stempel der historischen Wahrheit tragen. Da
wir aber hievon das Gegentheil nachgewiesen zu haben
hoffen, mithin zwei gleich unhistorische Erzählungen vor
uns liegen: so fehlt jeder Grund, die gequälte Herausdeu-
tung des Matthäischen Berichts aus dem des Lukas der so
einfachen Ableitung desselben aus A. T.lichen Stellen und
jüdischen Meinungen vorzuziehen. Es sind also diese bei-
den Beschreibungen der ersten Introduktion Jesu zwar
Variationen über dasselbe Thema, aber ohne direkten Ein-
fluſs der einen auf die andere.


§. 33.
Chronologisches Verhältniss des Besuchs der Magier sammt
der Flucht nach Ägypten bei Matthäus zu der Darstellung
im Tempel bei Lukas.


Es ist oben bemerkt worden, daſs die im Anfang ziem-
lich parallel laufenden Erzählungen des Matthäus und Lu-
kas in der Folge ganz auseinandergehen, indem, statt der
tragischen Katastrophe mit Kindermord und Flucht uns
Lukas die friedliche Scene der Darstellung des Jesuskindes
im Tempel aufbehalten hat. Setzen wir für jezt das Re-
sultat unsrer lezten Untersuchung, den blos mythischen
Charakter der Erzählung bei Matthäus, bei Seite und fra-
gen: in welchem Zeitverhältniſs soll diese Darstellung im
Tempel zu dem Magierbesuch und der Flucht nach Aegyp-
ten stehen?


Eine ausdrückliche chronologische Bestimmung hat von
beiden Begebenheiten nur die Darstellung im Tempel, von
welcher es heiſst, daſs sie nach der gesetzlichen Zeit der
[255]Viertes Kapitel. §. 33.
Reinigung einer Mutter, d. h. also, nach 3. Mos. 12, 2—4.,
40 Tage nach der Geburt des Kindes, vorgegangen sei (Luc.
2, 22.). Die Zeit der andern Begebenheit ist nicht so be-
stimmt festgesezt: es heiſst nur, die Magier seien angekom-
men τοῦ Ἰησοῦ γεννηϑέντος ἐν Βηϑλεὲμ (Matth. 2, 1.), un-
bestimmt wie lange hernach. Da aber durch dieses Par-
ticip der Besuch der Magier unmittelbar, wenigstens wie
wenn nichts Bedeutendes dazwischen vorgefallen wäre, an
die Geburt des Kindes angeknüpft zu werden scheint: so
hat dieſs einige Ausleger auf die Ansicht geführt, daſs je-
ner Besuch vor die Darstellung im Tempel zu setzen sei 1).
Dabei bleibt noch die doppelte Möglichkeit offen, entwe-
der auch noch die Flucht nach Ägypten der Darstellung im
Tempel vorzusetzen, oder den Besuch der Magier zwar
dieser voranzustellen, die F[l]ucht aber erst auf die Darstel-
lung folgen zu lassen. Nimmt man das Leztere an, und
klemmt die Darstellung im Tempel zwischen den Magier-
besuch und die Flucht ein: so verwickelt man sich in einen
schlimmen Zwiespalt sowohl mit den Worten des Matthäus
als mit dem Zusammenhang der Sachen. Da nämlich mit
derselben Participialconstruktion der Evangelist hier an die
Umkehr der Magier die Aufforderung zur Flucht knüpft
(ἀναχωρησάντων αὐτῶν ἰδοὺ ἄγγελος κ. τ. λ. V. 13.), mit
welcher er V. 1. die Ankunft der Morgenländer an die Ge-
burt Jesu angeschlossen hatte: so muſs doch gewiſs derje-
nige, welchen diese Construktion oben bewogen hatte, die
durch sie verbundenen Begebenheiten ohne Dazwischen-
kunft eines andern bedeutenden Vorfalls aufeinander fol-
gen zu lassen, auch hier sich durch dieselbe abgehalten
finden, zwischen die durch sie verknüpften Ereignisse des
Besuchs und der Flucht ein drittes einzuschieben. Was
aber die Sache betrifft, so wird man doch nicht wahrschein-
[256]Erster Abschnitt.
lich finden wollen, daſs in einem Zeitpunkt, in welchem
Gott dem Joseph anzeigen läſst, er sei zu Bethlehem nicht
mehr vor Herodes sicher, demselben eine Reise nach Je-
rusalem, also eigentlich in die Hände des Herodes hinein,
zugelassen worden wäre. Jedenfalls hätte allen Betheilig-
ten die strengste Vorsicht eingeschärft werden müssen, das
Ruchtbarwerden der Anwesenheit des messianischen Kindes
in Jerusalem zu verhüten. Solches ängstliche Incognito
ist aber in der Erzählung des Lukas nirgends zu spüren,
vielmehr macht nicht nur Simeon im Tempel auf Jesum
aufmerksam, ohne vom Geist oder von den Eltern daran
verhindert zu werden, sondern auch Hanna glaubt der gu-
ten Sache einen Dienst zu thun, wenn sie die Kunde von
dem neugeborenen Messias so sehr wie möglich verbreite
(Luc. 2, 28. ff. 38.). Daſs sie dieſs nur unter Gleichge-
sinnten that (ἐλάλει περὶ ἀυτοῦ πᾶσι τοῖς προςδεχομένοις
λύτρωσιν
ἐν Ἱερουσαλὴμ
), konnte nicht verhindern, daſs
es nicht auch der herodischen Partei bekannt wurde, da
eben, je gröſser die Aufregung jener προςδεχόμενοι durch
solche Kunde wurde, desto mehr auch die Aufmerksamkeit
der Regierung erregt werden, und so Jesus in die Hände
des lauernden Herodes fallen muſste.


In jedem Falle müſste sich also, wer die Darstellung
im Tempel nach dem Besuch der Magier sezt, auch dazu
vollends entschlieſsen, sie selbst bis nach der Rückkehr
aus Ägypten zu verschieben. Allein auch dabei geht es
nicht ohne Verstoſs gegen die Berichte ab. Es müſste sich
nämlich dieser Annahme zufolge zwischen der Geburt Jesu
und seiner Darstellung im Tempel ereignet haben: die An-
kunft der Magier; die Flucht nach Aegypten; der bethle-
hemitische Kindermord; der Tod des Herodes; die Rück-
kehr der Eltern Jesu aus Aegypten. Das ist aber für 40
Tage offenbar zu viel; man müſste daher annehmen, die
Darstellung des Kindes und der erste Tempelbesuch der
Wöchnerin sei über die gesetzliche Zeit hinaus verschoben
[257]Viertes Kapitel. §. 33.
worden. Dieſs läuft aber der Erzählung des Lukas zuwi-
der, welcher durch sein ἅτε ἐπλήσϑησαν αἱ ἡμέραι τοῦ κα-
ϑαρισμοῦ αὐτῶν κατὰ τὸν νόμον Μωσέως
(V. 22.) ausdrück-
lich sagt, daſs der Tempelbesuch zur gesetzlichen Zeit
stattgefunden. Doch gleichviel, ob früher oder später: die
Eltern Jesu konnten dem Matthäus zufolge nach ihrer
Rückkehr aus Aegypten so wenig als unmittelbar vor ih-
rem Abgang dahin an eine Reise nach Jerusalem denken.
Denn da bei der Rückkehr von der Flucht Joseph wegen
des Archelaus vor Judäa gewarnt wird, das unter sei-
ner Herrschaft stand, so konnte er es am wenigsten wa-
gen, in dessen Residenz, Jerusalem, selbst sich zu begeben.


Da also auf keine dieser beiden Weisen die Darstel-
lung im Tempel es ertragen will, dem Magierbesuche nach-
gesezt zu werden, so bleibt nur das Andre übrig, jene
von Lukas erzählte Begebenheit den beiden von Matthäus
berichteten voranzustellen, wofür sich auch immer die
Mehrheit der Ausleger entschieden hat 2). Hienach wären
also die Eltern Jesu zuerst von Bethlehem, wo das Kind
geboren war, nach Jerusalem gereist, um die gesetzlichen
Gaben darzubringen; sodann wären sie wieder nach Beth-
lehem zurückgekehrt, wo (nach Matth. 2, 1. und 5.) die
Magier sie fanden; hierauf wäre die Flucht nach Aegyp-
ten, und nach der Rückkehr von derselben die Ansiede-
lung in Nazaret vor sich gegangen. Die hiebei vor Allem
sich aufdringende Frage: was hatten denn die Eltern Je-
su nach der Darstellung im Tempel noch einmal in Beth-
lehem zu thun, das ja gar nicht ihre Heimath war, und
wo sie binnen der 40 Tage ihre Geschäfte wegen der Schat-
zung gewiſs hatten abmachen können? muſs zwar auf spä-
ter verwiesen werden; indessen wird dieser in der Sache
Das Leben Jesu I. Band. 17
[258]Erster Abschnitt.
liegende Entscheidungsgrund vollständig ersetzt durch einen,
der in den Worten liegt. Lukas nämlich sagt (V. 39.) gar
zu bestimmt, nach Vollendung der gesetzlichen Opfer u. s. f.,
seien Jesu Eltern wieder nach Nazaret zurückgekehrt, als
in ihre eigentliche Heimath, und nicht nach dem blos vor-
übergehenden Aufenthaltsort Bethlehem. Kamen also die
Magier nach der Darstellung im Tempel: so muſsten sie
die Eltern Jesu schon wieder in Nazaret treffen und nicht
in Bethlehem, wie Matthäus sagt 3). Dazu kommt noch,
daſs, wenn wirklich der Ankunft der Magier die Darstel-
lung im Tempel mit dem Aufsehen, welches die Reden Si-
meon's und der Hanna machen muſsten, schon vorangegan-
gen war: unmöglich dann bei der Ankunft der Magier die
Geburt des messianischen Kindes zu Jerusalem noch so un-
bekannt sein konnte, daſs, wie Matthäus meldet, die An-
kündigung derselben durch die Magier allgemeine Bestür-
zung erregte (2, 3.) 4).


[259]Viertes Kapitel. §. 34.

Wenn somit die Darstellung Jesu im Tempel weder
früher noch auch später stattgefunden haben kann, als der
Besuch der Magier und die Flucht nach Aegypten, und
ebenso wenig diese letztere Begebenheit früher oder spä-
ter als jene erste: so ist es also unmöglich, daſs die eine
sowohl als die andere sollte vorgefallen sein, sondern höch-
stens kann die eine oder die andere sich ereignet haben 5).
Hätten wir sonach zu wählen, so dürften wir uns, so weit
wir jetzt in der Untersuchung sind, in keinem Fall für die
Erzählung des Matthäus und gegen die des Lukas entschei-
den, sondern, da wir jene als mythisch erkannt haben, so
bliebe uns nur übrig, mit neuern Kritikern 6) an der Er-
zählung des Lukas festzuhalten und die des Matthäus preiſs-
zugeben. Indeſs, ob nicht auch jene von gleicher Quali-
tät mit dieser sei, mithin statt des Entweder, Oder, viel-
mehr weder die eine noch die andre als historisch festge-
halten werden dürfe, wird die nächstfolgende Untersuchung
lehren.


§. 34.
Die Darstellung Jesu im Tempel.


Die Erzählung von der Darstellung Jesu im Tempel
(Luc. 2, 22—38.) scheint auf den ersten Anblick ein ganz
4)
17*
[260]Erster Abschnitt.
geschichtliches Gepräge zu tragen. Ein doppeltes Gesetz,
das eine der Mutter ein Reinigungsopfer vorschreibend,
das andre die Loskaufung des erstgeborenen Sohnes hei-
schend, führt die Eltern Jesu mit dem Kinde nach Jeru-
salem in den Tempel. Hier treffen sie einen frommen,
messianischen Erwartungen hingegebenen Mann, mit Na-
men Simeon, an. Manche Erklärer halten diesen Simeon
für denselben mit dem Rabban Simeon (Hillels Sohn und
Nachfolger als Präsident des Synedriums, und Vater Ga-
maliels), welchen selbst wieder manche mit dem Sameas des
Josephus 1) identificiren, und auf seine angeblich Davidi-
sche Abkunft deſswegen Gewicht legen, weil diese ihn zum
Verwandten Jesu mache, und die folgende Scene natürlich
erklären helfe 2). Doch auch ohne diese Annahme, welche
schon durch die, für einen so bekannten Mann zu kahle
Bezeichnung: ἄνϑρωπός τις bei Lukas unwahrscheinlich
wird 3), scheint sich immerhin die Scene, welche sich so-
fort zwischen den Eltern Jesu und diesem Simeon zutrug,
wie auch die Rolle, welche die Prophetin Hanna dabei
spielte, auf sehr natürliche Weise erklären zu lassen. Nicht
einmal das braucht man mit dem Verf. der natürlichen Ge-
schichte 4) vorauszusetzen, daſs Simeon schon vorher um die
Hoffnung der Maria, den Messias zu gebären, gewuſst habe:
man denke sich nur mit Paulus u. A. 5) die Sache so. Be-
seelt, wie Manche in jener Zeit, von der Erwartung der
nahe bevorstehenden Ankunft des Messias, bekommt Simeon,
[261]Viertes Kapitel. §. 34.
wahrscheinlich im Traum, die Gewiſsheit, ihn vor seinem
Ende noch sehen zu dürfen. Als er daher eines Tags dem
Drange nicht widerstehen kann, den Tempel zu besuchen,
und nun eben an diesem Tage Maria ihr Kind dahin brach-
te, dessen Schönheit ihn schon anzog: so wurde, als sie ihm
vollends die Davidische Abkunft des Kindes eröffnete, die
Aufmerksamkeit und Theilnahme des Mannes in einem Grade
rege, welcher die Maria bewog, ihm die Hoffnungen, wel-
che auf diesem Spröſsling des al[te]n Königshauses ruhten,
und die ausserordentlichen Ereign[is]se, welche dieselben ver-
anlaſst hatten, zu entdecken. Diese Hoffnungen ergreift Si-
meon mit Zuversicht, und spricht nun seine messianischen
Erwartungen und Befürchtungen, in der Überzeugung, daſs
sie an diesem Kinde in Erfüllung gehen werden, in begei-
sterter Rede aus. Noch weniger braucht man für die Han-
na die Annahme des Verfs. der natürlichen Geschichte,
daſs sie, als eine jener bei der Entbindung Marias anwe-
senden Frauen, mit den auf dem Kinde ruhenden Hoffnun-
gen schon vorher bekannt gewesen: sie hatte ja Simeons
Reden gehört, und gleichgestimmt, wie sie war, gab sie
denselben ihren Beifall.


So einfach diese natürliche Erklärung scheint: so ist
sie doch auch hier nicht minder gewaltsam, als wir sie
sonst gefunden haben. Denn daſs dem Simeon, ehe er in
seine begeisterte Rede sich ergoſs, die Eltern Jesu etwas
von ihren ausserordentlichen Erwartungen mitgetheilt hät-
ten, sagt unser Referent nicht nur nirgends, sondern die
Pointe seiner ganzen Erzählung besteht gerade darin, daſs
der fromme Greis in Kraft des ihn erfüllenden Geistes Je-
sum sogleich als das messianische Kind erkannt habe, und
ebendeſswegen wird auch sein Verhältniſs zum πνεῦμα ἅγιον
so hervorgehoben, um erklärbar zu machen, wie er auch
ohne vorangegangene Mittheilung doch Jesum als den ihm
Verheiſsenen zu erkennen und zugleich den Gang seines
messianischen Schicksals vorherzusagen vermochte. Wie
[262]Erster Abschnitt.
unser kanonisches Evangelium dasjenige, was Jesum dem
Simeon kenntlich machte, in den Simeon selbst, aber als
übernatürliches Princip, versezt: so legt es das Evange-
lium infantiae arabicum
als etwas Objektives in die Er-
scheinung Jesu 6) — immer noch mehr im Geiste der ur-
sprünglichen Erzählung, als die natürliche Erklärungswei-
se, weil es doch das Wunderbare an der Sache festhält.
Haben wir also in jenem dem Simeon verliehenen Seherblic-
ke unserem Text zufolge ein Wunder zu erkennen: so wis-
sen wir von diesem Wunder doch gar nicht, daſs es Früch-
te getragen hätte, indem nirgends eine Spur ist, daſs die-
ser Vorfall aus Jesu Kindheit mit ein Hebel geworden wä-
re, um den Glauben an Jesum als den Messias begründen
zu helfen; wir müſsten also diesen Zweck, wie es auch
der Evangelist wendet (V. 26. 29.), nur in Simeon und
Hanna suchen, deren treuem Hoffen dieser individuelle Lohn
zu Theil geworden wäre, daſs ihnen zur Erkenntniſs des
messianischen Kindes der Blick geöffnet wurde. Allein
daſs um solcher particulärer Zwecke willen die Vorsehung
Wunder geschehen lasse, diese Annahme stimmt schwer-
lich mit richtigen Begriffen von derselben überein.


Man wird sich daher auch hier zu einem Zweifel
an dem historischen Charakter der Erzählung veranlaſst
finden, um so mehr, als sie sich nach dem Bisherigen an
lauter mythische Erzählungen anschlieſst. Nur muſs man
dann nicht dabei stehen bleiben, zu sagen, die wahren Aus-
drücke Simeons mögen wohl gewesen sein: möchte ich
doch so, wie ich dieſs Kind hier trage, auch den neuge-
borenen Messias noch erblicken! was dann ex eventu in
der Sage dahin umgedeutet worden sei, wie wir es jetzt
[263]Viertes Kapitel. §. 34.
bei Lukas lesen 7); sondern man muſs in der Oekonomie
dieses Theils der evangelischen Geschichte und in dem In-
teresse der urchristlichen Sage die Veranlassung nachwei-
sen, warum dergleichen von Jesu in Umlauf kam. Was
nun das Erstere betrifft, so wird man die Parallele nicht
verkennen, welche zwischen dieser Scene bei der Darstel-
lung Jesu im Tempel, und der bei der Beschneidung des
Täufers nach der Erzählung desselben Evangelisten statt-
findet, indem beidemale, dort durch den Vater, hier durch
einen andern frommen Mann, auf Antrieb des heiligen Gei-
stes Gott für die Geburt dieser Retter gedankt, und ihr
künftiger Beruf prophetisch vorausverkündigt wird. Daſs
diese Scene das einemal an die Beschneidung, das andre-
mal an die Darstellung im Tempel sich geknüpft hat, scheint
zufällig; hatte aber einmal in Bezug auf Jesum die Sage
seine Darstellung im Tempel so verherrlicht: so muſste die
Beschneidung, wie wir es oben gefunden haben, leer aus-
gehen. — Daſs aber eine solche Erzählung im Interesse
der Sage lag, ist ebenfalls leicht einzusehen. Wer sich
als Mann so augenscheinlich als den Messias zu erkennen
gab, der muſs, dachte man, auch schon als Kind für ein
durch den göttlichen Geist geschärftes Auge als solcher zu
erkennen gewesen sein; derjenige, welcher in späterer Zeit
durch mächtige Reden und Thaten sich als den Sohn Got-
tes erwies, gewiſs, er hat auch schon ehe er sprechen und
sich frei bewegen konnte, den göttlichen Stempel getragen.
Ferner, wenn Menschen, vom Geiste Gottes getrieben, Je-
sum so frühe schon liebend und ehrfurchtsvoll in die Ar-
me schlossen: dann war auch der Geist, der ihn beseelte,
nicht, wie man ihm vorwarf, ein ungöttlicher, und wenn
[264]Erster Abschnitt.
ein frommer Seher ihm im Gefolge seiner hohen Bestim-
mung zugleich die Kämpfe, welche er zu bestehen haben,
und seiner Mutter den Schmerz, den ihr sein Schicksal
machen würde 8), vorausgesagt hatte: dann war es gewiſs
kein Ungefähr, sondern ein göttlicher Plan, der ihn auf
dem Wege zu seiner Erhöhung in diese Tiefe der Ernie-
drigung führte.


Gegen eine solche, positiv aus der Sache selbst und
negativ aus den Schwierigkeiten andrer Auffassungsweisen
sich ergebende Ansicht von der vorliegenden Erzählung kön-
nen Bemerkungen nichts ausrichten wie die: zu natürlich
um gedichtet zu sein, sei das, wie Simeon, als ihm das
erbetene Zeichen von der Messianität dieses Kindes zu Theil
geworden war, zuerst noch für sich selbst und ohne von
den Eltern Notiz zu nehmen, in eine begeisterte Rede aus-
breche, und erst, als er ihre Verwunderung bemerkt, sich
an sie wende 9). Denn wenn dieser Ausspruch nicht bloſse
Phrase sein soll, so käme er ja darauf hinaus, daſs das
Gedichtete immer ein minder Natürliches sein müſste, wo-
gegen doch, namentlich in Bezug auf die Sagenpoësie, an-
erkannt ist, daſs sie natürlicher ist, nicht als die Wirk-
lichkeit selbst, wohl aber als die prosaische Nacherzählung
derselben, bei welcher, wenn nicht ein poëtischer Trieb
sich einmischt, im zweiten und dritten Munde solche in-
dividuelle, natürliche Züge gerade verloren gehen. Mehr
Gewicht hat die andere Bemerkung Schleiermacher's, wer
diese Erzählung fingirt hätte, der würde schwerlich neben
dem Simeon auch noch die Hanna erdichtet haben, die gar
nicht einmal dichterisch benutzt werde, und noch dazu mit
[265]Viertes Kapitel. §. 35.
dieser Genauigkeit in ihren Personalien, wogegen die Haupt-
person weit nachlässiger bezeichnet sei. Allein aus zweier
Zeugen Mund die Würde des Kindes Jesu kund werden
zu lassen, und namentlich neben den Propheten auch noch
eine Prophetin zu stellen, das ist doch gewiſs ganz die
symmetrische Gruppirung, wie sie die Sage liebt. Daſs
dann der Frau nichts mehr übrig bleibt, als das von dem
Manne Gesagte zu bestätigen, ist natürlich, wenn ihr die-
ser alles Wesentliche vorweggenommen hatte, und daſs
nun der der Sage nacherzählende Verfasser, was er an
der Rede bei dieser Person abbrechen muſste, an der
detaillirten Personalbezeichnung hereinbrachte, ist eben-
falls ganz in der Ordnung. Daraus ergiebt sich zu-
gleich, was von der Schleiermacher'schen Vermuthung
zu halten ist, daſs unser Referent diese Erzählung unmit-
telbar oder mittelbar aus dem Munde der so genau beschrie-
benen Hanna haben möge: sie ist eine Spielerei des Scharf-
sinns, wie so manche die sonst verdienstvolle Schrift von
Schleiermacher über den Lukas entstellen.


Auch hier, wo die Erzählung des Lukas Jesum auf
eine Reihe von Jahren verläſst, wird, wie an dem ent-
sprechenden Punkt im Leben des Täufers, eine Schluſs-
formel über das gesegnete Aufwachsen des Kindes beige-
fügt (V. 40.), welche, wie die den Täufer betreffende, an
die ähnliche Formel in der Geschichte Simsons (Richt. 13,
24 f.) erinnert.


§. 35.
Rückblick. Differenz zwischen Matthäus und Lukas in Bezug
auf den ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu.


Es ist bis hieher die geschichtliche Glaubwürdigkeit
der evangelischen Erzählungen über die Abkunft, Geburt
und Kindheit Jesu aus dem doppelten Gesichtspunkte in
Anspruch genommen worden, weil theils die einzelnen Be-
richte in sich selber Elemente haben, welche der geschicht-
[266]Erster Abschnitt.
lichen Auffassung widerstreben, theils die parallelen Er-
zählungen des Matthäus und Lukas sich gegenseitig aus-
schlieſsen, so daſs unmöglich beide Recht haben können,
sondern nothwendig müsse Einer (dieſs aber könne der
eine so gut als der andere, also vielleicht auch beide sein,)
Unrecht haben. Einer von diesen Widersprüchen der bei-
den Berichte gegen einander ist es besonders, welcher sich
vom Anfang unsrer Kindheitsgeschichte bis zu dem hier er-
reichten Abschnitt hindurchzieht, auf den wir daher auch
schon früher gestoſsen sind, ohne daſs wir uns jedoch bis
jezt länger bei demselben hätten verweilen können, weil
wir erst jezt, wo er seine Rolle ausgespielt hat, Materia-
lien genug zu gründlicher Würdigung desselben in der
Hand haben. Es ist dieſs eine Differenz, welche zwischen
Matthäus und Lukas in Bezug auf den ursprünglichen
Wohnort der Eltern Jesu stattfindet.


Lukas nämlich giebt gleich von Anfang Nazaret als
den Wohnort der Eltern Jesu an: hier sucht der Engel die
Maria auf (1, 26.); hier ist Maria's οἶκος (1, 56.) zu den-
ken; von da reisen Jesu Eltern nach Bethlehem zur Scha-
zung (2, 4.); kehren aber, sobald es die Umstände erlau-
ben, wieder nach Nazaret, als die πόλις αὑτῶν, zurück
(V. 39.). Bei Lukas ist also augenscheinlich Nazaret der
eigentliche Wohnort der Eltern Jesu und nach Bethlehem
kommen sie nur durch zufällige Veranlassung auf kurze Zeit.


Bei Matthäus wird von []vorne herein nicht gesagt,
wo Joseph und Maria sich aufgehalten haben. Nach 2, 1.
ist Jesus in Bethlehem geboren, und indem von ausseror-
dentlichen Umständen, welche (nach Lukas) seine Eltern
dahin geführt haben sollen, nichts erwähnt ist, so scheint
es, Matthäus setze dieselben als ursprünglich schon zu
Bethlehem wohnhaft voraus. Hier läſst er sofort die El-
tern mit dem Kinde den Besuch der Magier erhalten, hier-
auf sich nach Aegypten flüchten, und von der Flucht zu-
rückkehrend wollen sie wieder nach Judäa sich wen-
[267]Viertes Kapitel. §. 35.
den, wenn nicht eine ausserordentliche Warnung sie in
das galiläische Nazaret wiese (2, 22.). Durch diesen Zug
wird der vorhin entstandene Schein zur Gewiſsheit, daſs
Matthäus nicht wie Lukas Nazaret, sondern Bethlehem
als ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu voraussetze,
und den Zug nach Nazaret nur durch unvorhergesehene
Umstände herbeigeführt sich denke.


Daſs man über diesen Widerspruch gewöhnlich so arg-
los hinübergleitet, davon liegt der Grund in dem Charak-
ter der Erzählung des Matthäus, auf welchen ein neuerer
Erklärer sogar die Behauptung gebaut hat, dieser Evan-
gelist sage über den ursprünglichen Aufenthaltsort der El-
tern Jesu nicht etwas von der Aussage des Lukas Ver-
schiedenes, sondern gar nichts aus, indem es ihm um to-
pologische wie chronologische Genauigkeit gar nicht zu
thun sei. Den späteren Aufenthaltsort der Eltern Jesu
und seinen Geburtsort mache er nur deſswegen namhaft,
weil sich daran A. T.liche Weissagungen knüpfen lieſsen;
da der Wohnort der Eltern Jesu vor seiner Geburt zu
keinem ähnlichen Citate Anlaſs gegeben, so habe ihn Mat-
thäus ganz verschwiegen, was aber, bei seiner Darstel-
lungsart, keineswegs beweise, daſs er von diesem Aufent-
halt nichts gewuſst, oder gar Bethlehem als ursprüngli-
chen Wohnort der Eltern Jesu vorausgesezt habe 1). Al-
lein, auch zugegeben, daſs das Stillschweigen des Mat-
thäus über den früheren Aufenthalt von Jesu Eltern in
Nazaret und über die besondern Umstände, durch welche
die Geburt Jesu zu Bethlehem veranlaſst war, noch nichts
beweise: so müſste dann doch das spätere Vertauschen
Bethlehem's mit Nazaret so dargestellt sein, daſs ein Wink
gegeben wäre, oder nur wenigstens die Möglichkeit übrig
bliebe, den ersteren Ort als blos vorübergehenden Aufent-
halt, die Reise in den lezteren aber als Rückreise in die
[268]Erster Abschnitt.
eigentliche Heimath zu fassen. Ein solcher Wink wäre
gegeben, wenn Matthäus nach der ägyptischen Reise die
Ansiedelung Josephs in Nazaret dadurch motivirte, daſs
er ihm durch die Traumerscheinung sagen lieſse: kehret
jezt in das Land Israël zurück, und zwar in euren ur-
sprünglichen Wohnort, Nazaret; denn in Bethlehem habt
ihr nichts mehr zu schaffen, da ja die Weissagung, daſs
euer messianisches Kind an diesem Orte geboren werden
sollte, bereits erfüllt ist. Doch weil es ja dem Matthäus
überhaupt um Lokalitäten nicht zu thun sein soll, so wol-
len wir billig sein, und keinen positiven Wink, sondern
nur das Negative von ihm verlangen, daſs er uns die Vor-
stellung, Nazaret sei der ursprüngliche Aufenthalt der El-
tern Jesu gewesen, nicht geradezu unmöglich mache. Diese
Forderung wäre dann erfüllt, wenn die Reise der Eltern
Jesu aus Aegypten nach Nazaret geradezu gar nicht moti-
virt, sondern nur gesagt wäre, sie seien auf höhere Wei-
sung in das Land Israël zurückgekehrt und haben sich
nach Nazaret begeben. Freilich wäre es dann auffallend
genug, ohne alle Bevorwortung statt des bisherigen Beth-
lehem auf einmal Nazaret genannt zu finden, was auch
unser Erzähler gefühlt, und ebendeſswegen die Veranlas-
sung der Reise nach dem leztgenannten Orte ausführlich
angegeben hat (2, 22. f.). Statt nun aber dieſs so zu
thun, wie er es nach dem Obigen thun muſste, wenn er
mit Lukas Nazaret als den ursprünglichen Wohnort von
Jesu Eltern kannte, thut er es gerade auf die entgegen-
gesezte Art, welche unwidersprechlich zeigt, daſs seine
Voraussetzung die umgekehrte von der des Lukas war.
Denn wenn er den aus Aegypten zurückkehrenden Joseph
nur aus Furcht vor Archelaus nicht nach Judäa gehen
läſst: so schreibt er ihm ja eine Geneigtheit zu, sich wie-
der dahin zu begeben, eine Geneigtheit, welche unbegreif-
lich bleibt, wenn ihn nach Bethlehem nur der Schatzungs-
befehl geführt hatte, und einzig unter der Voraussetzung
[269]Viertes Kapitel. §. 35.
sich erklärt, daſs er schon vorher dort wohnhaft gewesen.
Andrerseits, indem Matthäus für die Ansiedelung in Na-
zaret nur jene Gefahr, nebst dem Zweck der Erfüllung
einer Weissagung angiebt: so kann er ein ursprüngliches
Zuhausesein in Nazaret nicht voraussetzen, da dieses ja
ein für sich entscheidender Grund gewesen wäre, neben
welchem es jener andern nicht bedurft hätte.


Da hienach die Schwierigkeit einer Vereinigung des
Matthäus mit Lukas in diesem Stücke darauf beruht, daſs
es sich nicht will denken lassen, wie Jesu Eltern, aus
Aegypten zurückkommend, im Sinne haben konnten, sich
noch einmal nach Bethlehem zu begeben, wenn dieses nicht
ihre ursprüngliche Heimath war: so haben sich die Bemü-
hungen der Erklärer hauptsächlich auf den Punkt concen-
triren müssen, noch anderweitige Gründe ausfindig zu ma-
chen, durch welche in Joseph und Maria jene Neigung
veranlaſst sein konnte. Solche Versuche finden sich schon
sehr frühe. An Lukas anknüpfend, welcher, so bestimmt
er Nazaret als den Wohnort der Eltern Jesu voraussezt,
doch auch Bethlehem dem Joseph nicht ganz fremd sein,
sondern als Stammort mit ihm in Beziehung stehen läſst,
scheint, seinen apostolischen Denkwürdigkeiten folgend,
Justin Nazaret zwar als Wohnort, Bethlehem aber als
Geburtsort Josephs vorauszusetzen 2), und Credner glaubt
in dieser Justinischen Nachricht die Quelle und die Aus-
gleichung der abweichenden Berichte unsrer beiden Evan-
gelisten zu finden 3). Allein, fürs Erste, ausgeglichen sind
[270]Erster Abschnitt.
sie hiedurch keineswegs. Denn wenn doch als der Ort,
wo sich Joseph häuslich niedergelassen hatte, auch hier
Nazaret stehen bleibt, so hatte er immer keinen Grund,
nach seiner Rückkehr von der ägyptischen Flucht auf Ein-
mal seinen bisherigen Wohnort mit seinem Geburtsort zu
vertauschen, zumal er auch zu der früheren Reise dahin
nach Justin selbst nicht etwa durch einen Plan, sich dort
anzusiedeln, sondern lediglich durch die Schatzung veran-
laſst worden war, ein Anlaſs, welcher nach der Flucht
jedenfalls fehlte. So steht die Darstellung Justin's mehr
auf der Seite des Lukas, und reicht nicht hin, um den
Matthäus mit ihm zu vereinigen. Daſs aber die Justinische
Nachricht auch die Quelle der beiden unsrigen sein sollte,
ist noch weniger zu glauben. Denn wie aus der Angabe
bei Justin, welche doch schon Nazaret als Wohnort, und
die Schatzung als Veranlassung der Reise nach Bethlehem
hat, die Erzählung des Matthäus habe entstehen können,
welche von beidem nichts weiſs, begreift man nicht, und
überhaupt, wo sich einestheils zwei divergirende Berichte,
anderntheils eine ungenügende Vereinigung derselben fin-
det, da ist gewiſs nicht diese das ursprüngliche und jene
abgeleitet, sondern umgekehrt, und eben in dieser Rolle,
Ausgleichungen zu versuchen, haben wir den Justin oder
seine Quellen schon oben, bei Gelegenheit der Genealo-
gieen kennen gelernt.


Ein nachhaltigerer Ausgleichungsversuch ist in dem
apokryphischen Evangelium de nativitate Mariae gemacht
worden, und hat auch bei neueren Theologen vielen Bei-
fall gefunden. Nach diesem Apokryphum ist das elterliche
Haus der Maria in Nazaret, und obwohl im Tempel zu
Jerusalem erzogen, und dort mit Joseph verlobt, kehrt
sie doch, nachdem dieſs geschehen, zu ihren Eltern nach
Galiläa zurück. Joseph hingegen war nicht blos gebürtig
von Bethlehem, wie Justin sagen zu wollen scheint, son-
dern er hatte auch sein Haus daselbst, und holte die Ma-
[271]Viertes Kapitel. §. 35.
ria dahin heim 4). Allein diese Ausgleichung ist nun zu
sehr zu Gunsten des Matthäus, gegen den Lukas. Denn
die Schatzung nebst Zubehör ist weggelassen und muſste
weggelassen werden, weil, wenn Joseph in Bethlehem zu
Hause, und nur um seine Braut heimzuholen nach Naza-
ret gereist war, nicht erst der Census ihn wieder dorthin
gerufen haben würde, sondern er wäre nach wenigen Ta-
gen Abwesenheit von selbst zurückgekehrt; hauptsächlich
aber, wenn er in Bethlehem sein Heimwesen (eine domus
zu disponiren, c. 8.) hatte: so brauchte er bei seiner Da-
hinkunft nicht ein κατάλυμα aufzusuchen, um auch in die-
sem keinen Raum zu finden, sondern er würde die Maria
unter sein eigenes Dach geführt haben. Daher nehmen
neuere Ausleger, welche, wie Paulus5) die Auskunft des
Apokryphums sich zu Nutze machen, aber auch die Scha-
zung des Lukas nicht fallen lassen wollen, an, Joseph
habe zwar früher in Bethlehem gewohnt und gearbeitet,
doch keine eigene Wohnung daselbst besessen, und auch
als ihn die Schatzung, ehe er's dachte, dahin zurückrief,
noch nicht für eine solche gesorgt gehabt. Allein nicht nur
nicht als Ansäſsige, sondern nicht einmal als Fremde, die
sich ansiedeln wollen, vielmehr nur als solche, die nach
möglichst kurzem Aufenthalt wieder abzureisen gedenken,
erscheinen nach Lukas Jesu Eltern in Bethlehem. Sezt
diese Paulus'sche Annahme die Eltern Jesu als sehr arm
voraus: so will Olshausen zum Behuf der Ausgleichung
der vorliegenden Differenz sie lieber bereichern, indem er
annimmt, sie haben sowohl in Bethlehem als in Nazaret
Besitzungen gehabt, hätten also an dem einen oder an-
dern Orte sich niederlassen können: aber unbekannte Um-
stände haben nach der Rückkehr aus Aegypten sie geneigt
gemacht, für Bethlehem sich zu entscheiden, bis die
[272]Erster Abschnitt.
himmlische Warnung dazwischen getreten sei 6). Jenen
von Olshausen unbestimmt gelassenen Grund, der den El-
tern Jesu eine Niederlassung in Bethlehem wünschenswerth
machte, geben andere Ausleger, wie Heydenreich7), da-
hin an, es habe ihnen am schicklichsten scheinen müssen,
daſs der ihnen geschenkte Davidssohn in der Davidsstadt
erzogen werde. Welche Geschäftigkeit, in den Text hin-
einzutragen, was nicht darin liegt, weil man von dem,
was darin liegt, einem Widerspruch, nichts wissen will;
welches einhellige Zusammenwirken der Rationalisten und
Orthodoxen, wo es gilt, den gemeinschaftlichen Feind,
die mythische Auffassung, zu bekämpfen, welche freilich
den Vorurtheilen von diesen wie den Kunststücken von je-
nen auf Einmal den Garaus macht. Alle jene Bemühun-
gen aber können die Thatsache nicht wegräumen, welche
von den tüchtigsten Kritikern anerkannt ist 8), daſs die bei-
den Evangelisten Verschiedenes, ja Entgegengeseztes voraus-
setzen, daſs also im besten Falle nur Einer von ihnen
Recht haben kann; es fragt sich nur welcher?


Hier nun hängt die Art, wie Matthäus seine Darstel-
lung, der Aufenthalt der Eltern Jesu in Nazaret sei erst
Folge eines späteren Zuges gewesen, begründet hat, mit
den unhistorischen Daten des bethlehemitischen Kinder-
mords und der Flucht nach Ägypten so zusammen, daſs
ohne diese jede Veranlassung einer späteren Verlegung des
Wohnsitzes hinwegfällt, und wir werden daher in diesem
Stücke auf die Seite des Lukas treten, welcher die Eltern
Jesu nach wie vor dessen Geburt an demselben Orte woh-
nen läſst. Dafür hängt dann aber bei Lukas die Angabe,
Jesus sei an einem andern Orte geboren als wo seine El-
[273]Viertes Kapitel. §. 35.
tern wohnhaft waren, mit einem eben so wenig historischen
Datum, nämlich der Schatzung, zusammen, und mit dieser
fällt jeder Anlaſs für die Eltern Jesu weg, bei herannahen-
der Entbindung der Maria eine so weite Reise zu unter-
nehmen, so daſs wir in diesem Stücke dem Matthäus Recht
geben müssen, wenn er Jesum nicht auswärts, sondern an
dem Wohnorte seiner Eltern geboren werden läſst. Doch
nur dieſs Formelle haben wir bis jezt, daſs Jesu Eltern nir-
gends anders früher gewohnt haben als später, und daſs
Jesus nirgends anders geboren ist, als wo seine Eltern
wohnten: über das Materielle, welches denn dieser Ort
gewesen, ist die Untersuchung erst anzustellen.


In dieser Hinsicht werden wir nun in entgegengesez-
ter Richtung auseinandergezogen, indem wir als Geburtsort
Jesu, wo nach unsrem eben gewonnenen Resultat seine
Eltern auch wohnhaft gewesen sein müſsten, in beiden
Evangelien Bethlehem angegeben finden, als späteren Wohn-
ort dagegen, welcher nach dem Obigen auch als der ur-
sprüngliche und somit als Geburtsort Jesu zu denken wä-
re, gleichfalls in beiden Nazaret. Dieser Widerspruch ist
unauflöslich, wenn beide Richtungen wirklich gleich stark
anziehen; er löst sich aber, sobald auf der einen Seite
das Band reiſst, und uns der andern Richtung ungehindert
folgen läſst. Prüfen wir zuerst das Band, welches uns
an die Annahme des galiläischen Nazaret als des späteren
Wohnsitzes der Eltern Jesu knüpft, so besteht es nicht
allein in der trockenen Angabe der vorliegenden Stellen
im zweiten Kapitel des Matthäus und Lukas, daſs die El-
tern Jesu nach dessen Geburt sich in Nazaret aufgehalten:
sondern in einer fortlaufenden Reihe von Daten aus der
evangelischen und der ältesten Kirchengeschichte. Der Ga-
liläer, der Nazarener, war der stehende Beiname Jesu: als
Jesus von Nazaret stellte ihn Philippus dem Nathanaël vor,
welcher ihm die Frage zurückgab: was kann aus Nazaret
Gutes kommen? (Joh. 1, 46. f.) Nazaret wird nicht blos
Das Leben Jesu I. Band. 18
[274]Erster Abschnitt.
als der Ort, οὖ ἦν τεϑραμμένος (Luc. 4, 16.), sondern gera-
dezu auch als seine πατρὶς bezeichnet (Matth. 13, 54. Marc.
6, 1.); als Jesus der Nazaretaner wird er von den Leuten
kenntlich gemacht (Luc. 18, 37.) und von den Dämonen
angerufen (Marc. 1, 24.); der galiläische Dialekt verräth
den Petrus als seinen Anhänger (Marc. 14, 70.); noch am
Kreuze bezeichnet ihn die Überschrift als Nazarener (Joh.
19, 19.), und nach seiner Auferstehung verkündigen die
Apostel allenthalben Jesum von Nazaret (A. G. 2, 22.) und
thun in seinem Namen als des Nazareners Wunder (A. G.
3, 6.). Auch seine Anhänger wurden noch längere Zeit
Nazarener genannt, und erst in späteren Zeiten gieng die-
ser Name auf eine ketzerische Sekte über 9). Diese Be-
nennung sezt, wenn auch nicht dieſs, daſs Jesus von Naza-
ret gebürtig ist, so doch einen längeren Aufenthalt dessel-
ben an dem gedachten Orte voraus, ein Aufenthalt, welcher,
da sich Jesus, glaubwürdigen Nachrichten zufolge (Luc. 4,
16 ff. und die Parall.), während seines öffentlichen Lebens
nur vorübergehend daselbst verweilt hat, einzig in seine
frühere Lebensperiode fallen kann, welche er im Schoose
seiner Familie verlebte. Diese also und namentlich seine
Eltern müssen während der Kindheit Jesu in Nazaret ge-
wohnt haben, und wenn einmal, dann ohne Zweifel von
jeher, da wir keinen geschichtlichen Grund haben, eine
Wohnortsveränderung anzunehmen: so daſs dieser eine der
beiden widersprechenden Sätze unerschütterlich feststeht.


Auch der andere Saz, daſs Jesus in Bethlehem gebo-
ren sei, ruht keineswegs nur auf der Angabe unsrer er-
sten Kapitel, sondern zugleich auf der durch eine Propheten-
stelle veranlaſsten Erwartung, daſs der Messias in Bethle-
hem werde geboren werden (vergl. mit Matth. 2, 5 f.
Joh. 7, 42.). Aber eben dieſs ist eine gefährliche Stütze,
und derjenige sollte sie gerne missen, welcher Jesu Geburt
[275]Viertes Kapitel. §. 35.
in Bethlehem als historisch festhalten will. Denn wo der
Nachricht von einem Erfolge eine lange Erwartung dessel-
ben vorangeht, da muſs schon ein starker Verdacht entste-
hen, ob nicht die Erzählung, daſs das Erwartete erfolgt
sei, nur der Voraussetzung, daſs es habe erfolgen müssen,
ihre Entstehung verdanken möge. Zumal wenn jene Er-
wartung ungegründet war, wie hier der Erfolg eine fal-
sche Auslegung eines [prophetischen] Orakels bestätigt haben
müſste. Also diese prophetische Grundlage der Geburt Je-
su in Bethlehem benimmt der historischen, welche in der
Erzählung von Matth. und Luc. 2. liegt, alle Kraft, indem
die letztere nur auf die erstere gebaut erscheint, und also
mit ihr hinfällt. Ausser diesen aber sucht man einen an-
derweitigen Beleg für jene Annahme vergeblich. Nirgends
sonst im N. T. wird Jesu bethlehemitischer Geburt erwähnt;
nirgends tritt er mit diesem seinem angeblichen Geburts-
ort in irgend eine Beziehung, oder erweist ihm die Ehre
eines Besuchs, die er doch dem unwürdigen Nazaret nicht
versagt 10); nirgends beruft er sich auf jenes Datum als
einen Mitbeweis seiner Messianität, unerachtet er dazu die
bestimmteste Veranlassung hatte, da sich Manche an seiner
galiläischen Abkunft stieſsen und sich darauf beriefen, daſs
der Messias aus der Davidsstadt Bethlehem kommen müs-
se (Joh. 7, 42.) 11). Zwar sagt hier Johannes nicht,
daſs diese Bedenklichkeiten in Gegenwart Jesu geäussert
worden seien 12); aber wie er unmittelbar vorher (V. 39.) ei-
ne Rede Jesu mit der Bemerkung begleitet hat, es habe
damals noch kein πνεῦμα ἅγιον gegeben: so würde auch
hier die Bemerkung an der Stelle gewesen sein, das Volk
18*
[276]Erster Abschnitt.
habe nämlich noch nicht gewuſst, daſs Jesus von Bethle-
hem gebürtig gewesen. Man wird eine solche Notiz für
einen Johannes zu äusserlich und unbedeutend finden; al-
lein soviel ist gewiſs, wenn er mehrmals von der Mei-
nung der Leute, daſs Jesus ein geborner Nazarener sei,
und ihrem Anstoſs daran zu erzählen hatte, so muſste er,
wenn er es anders wuſste, eine berichtigende Bemerkung
hinzufügen, oder er erregte den falschen Schein, als stim-
me auch er jener Meinung bei. Nun aber findet sich nicht
blos an jener Stelle, sondern auch Joh. 1, 46 ff. ein sol-
cher Anstoſs, welchen hier, wie schon oben erwähnt, Na-
thanaël an der nazaretanischen Abkunft Jesu nimmt, ohne
daſs diese Meinung unmittelbar oder mittelbar berichtigt
würde; denn nirgends erfährt er nachher, daſs dieser Gu-
te wirklich nicht aus Nazaret gewesen, sondern er muſs
lernen, daſs auch aus Nazaret etwas Gutes kommen könne.
Überhaupt, wäre Jesus, wenn auch noch so zufällig, in
Bethlehem geboren gewesen: so wäre es, bei der Bedeu-
tung, welche dieſs für den Glauben an seine Messianität
gehabt hätte, nicht zu begreifen, wie ihn auch die Seini-
gen immer nur den Nazarener nennen konnten, ohne die-
sem, von den Gegnern mit polemischem Accent ausgespro-
chenen Beinamen den apologetischen Ehrennamen des Beth-
lehemiten entgegenzustellen. — Ist die Angabe von Jesu
Geburt in Bethlehem auf diese Weise von allen gültigen
historischen Zeugnissen verlassen, ja hat sie bestimmte ge-
schichtliche Thatsachen gegen sich, und lässt sie sich na-
mentlich mit dem, was uns nun feststeht, daſs die Eltern
Jesu später, und, wie wir nicht anders wissen, auch von
jeher, in Nazaret gewohnt haben, und daſs Jesus, sofern
uns keine glaubwürdige Nachricht vom Gegentheil versi-
chert, an keinem, von dem Wohnsitze seiner Eltern ver-
schiedenen Orte geboren sei, nicht vereinigen: so kann es
uns keine Überwindung mehr kosten, uns dahin zu ent-
scheiden, daſs Jesus nicht in Bethlehem, sondern, da
[277]Viertes Kapitel. §. 35.
wir keine andere sichere Spur haben, in Nazaret gebo-
ren sei.


Demnach würde sich in diesem Punkte das Verhält-
niſs der beiden Evangelisten folgendermaſsen stellen. Was
das Formelle betrifft, hätte jeder zur Hälfte Recht und
zur Hälfte Unrecht: Lukas Recht in der Behauptung der
Identität des früheren Wohnorts der Eltern Jesu mit dem
späteren, und hierin hätte Matthäus Unrecht; Matthäus Recht
in der Festhaltung der Identität des Geburtsortes Jesu mit
dem Wohnort seiner Eltern, und hierin wäre der Irrthum
auf Seiten des Lukas. In Hinsicht auf das Materielle aber
hat Lukas darin das völlig Richtige, daſs er vor wie nach
der Geburt Jesu dessen Eltern in Nazaret wohnen läſst, wo
Matthäus nur die halbe Wahrheit hat, daſs sie nämlich
nach Jesu Geburt daselbst ansässig gewesen; in der Anga-
be aber, daſs Jesus in Bethlehem geboren worden, haben
beide entschieden Unrecht. Woher nun alles Falsche bei
beiden kommt, das ist die jüdische Meinung, der sie
nachgaben, der Messias müsse zu Bethlehem geboren sein;
woher aber alles Richtige, das ist das Faktum, welches sie
vorfanden, daſs Jesus immer als Nazaretaner gegolten hat;
woher endlich das verschiedene Verhältniſs des Wahren
und Falschen in beiden, und das Übergewicht des lezteren
Elementes bei Matthäus, das ist die verschiedene Weise,
wie sich beide zu jenen Prämissen verhielten. Galt es
nämlich eine Vereinigung der beiden Punkte: des histori-
schen Datums, daſs Jesus als Nazarener bekannt war, und
des prophetischen Postulats, daſs er, als Messias, zu Beth-
lehem geboren sein müsse: so vollzog Matthäus, oder die
Sage welcher er folgte, nach der vorwiegenden Richtung die-
ses Evangeliums auf prophetischen Pragmatismus die Ver-
einigung so, daſs das Übergewicht auf das vom Propheten
an die Hand gegebene Bethlehem gelegt, dieses schon als
die ursprüngliche Heimath der Eltern Jesu angenommen,
und Nazaret als der, nur durch eine spätere Wendung der
[278]Erster Abschnitt.
Dinge herbeigeführte Zufluchtsort dargestellt wurde; wo-
gegen der mehr historisch-pragmatische Lukas diejenige
Gestaltung der Sage aufnahm oder selbst bildete, nach wel-
cher auf das von der Geschichte an die Hand gegebene
Nazaret der Hauptnachdruck gelegt, es als der ursprüngli-
che Wohnort der Eltern Jesu gefaſst, und der Aufenthalt
in Bethlehem nur als ein in Folge eines zufälligen Ereig-
nisses zwischeneingetretener betrachtet wurde 13).


[279]Fünftes Kapitel. §. 36.

Fünftes Kapitel.
Der erste Tempelbesuch und die Bil-
dung Jesu.


§. 36.
Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Schwierigkeiten der ge-
schichtlichen Auffassung.


Über die ganze Periode von der Rückkehr der Eltern
Jesu mit ihrem Kinde aus Ägypten bis zu der Taufe Jesu
durch Johannes geht das Matthäus-Evangelium stillschwei-
gend hinweg, und auch Lukas weiſs uns aus der langen
Zeit von der ersten Kindheit Jesu bis zu seinem Mannes-
alter nur Einen Vorfall noch zu berichten, die Art und
Weise nämlich, wie er im zwölften Lebensjahre im Tem-
pel zu Jerusalem auftrat (2, 41—52.). Diese Erzählung
aus der beginnenden Jugend Jesu unterscheidet sich von den
bisher betrachteten aus seiner Kindheit nach der richtigen
Beobachtung von Hess1) dadurch, daſs sich in derselben
Jesus nicht mehr, wie in jenen, blos leidend verhält, son-
dern eine thätige Probe von seiner hohen Bestimmung ab-
legt, und zwar hat man dieselbe von jeher als eine sol-
che besonders geschäzt, die uns den Moment zeige, in wel-
chem das höhere Bewuſstsein in Jesu hervorgetreten sei 2).


Im zwölften Jahre, wo nach jüdischer Sitte der Kna-
be zum selbstständigen Antheil an den heiligen Gebräuchen
gelangte, nahmen dieser Erzählung zufolge die Eltern, wie
es scheint zum erstenmale, Jesum zum Paschafeste nach
Jerusalem mit. Nach Ablauf der Festzeit traten die Eltern
den Rückweg an; daſs der Sohn ihnen fehlte, bekümmerte
[280]Erster Abschnitt.
sie zunächst nicht, weil sie ihn irgendwo bei der Reisege-
sellschaft vermutheten. Erst nachdem sie eine Tagreise
ohne ihn zurückgelegt, und ihn bei Verwandten und Be-
kannten vergeblich gesucht, kehren sie nach Jerusalem zu-
rück, um dort nach ihm zu sehen. — Dieſs Benehmen der
Eltern Jesu muſs befremden. Man kann es mit der Sorg-
falt, die man von denselben voraussetzen zu dürfen glaubt,
nicht reimen, daſs sie das ihnen anvertraute Himmelskind
so lange aus den Augen gelassen haben, und man hat ih-
nen daher von manchen Seiten in Bezug auf diesen Fall
geradezu Nachlässigkeit und Pflichtversäumniſs vorgewor-
fen 3). Wenn man hiegegen zur Rechtfertigung der El-
tern Jesu sich im Allgemeinen darauf beruft, daſs bei ei-
ner liberalen Erziehung eine solche dem Knaben gestatte-
te grössere Freiheit leicht denkbar sei 4): so wäre selbst
nach unsern modernen Begriffen ein solches Ausserachtlas-
sen eines zwölfjährigen Knaben von Seiten der Eltern mehr
als nur liberal, und wie vollends nach den strengeren An-
sichten, welche das Alterthum, auch das jüdische, von Kin-
derzucht hatte? Wird aber bemerkt, daſs insbesondere,
wie die Eltern Jesu ihren Sohn kannten, sie seinem Ver-
stand und Charakter wohl so weit haben trauen können,
um von einem solchen freieren Gehenlassen keine Gefahr
für ihn befürchten zu müssen 5): so kann man aus ihrer
nachherigen Angst ersehen, daſs sie hierin ihrer Sache
doch nicht so ganz gewiſs waren. Unerwartet bleibt also
immer ihr Benehmen, ohne daſs es jedoch damit un-
glaublich, oder schon durch diesen Zug die ganze Erzäh-
lung unwahrscheinlich würde; denn die Eltern Jesu sind
uns ja keine Heiligen, welchen kein Fehler zugetraut wer-
den dürfte.


[281]Fünftes Kapitel. §. 36.

Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage
den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren
Hallen, unter einem consessus von Lehrern, in einer Un-
terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge-
meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach
einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge-
genüber ein höheres Verhältniſs gegeben, als es einem
zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das κα-
ϑεζόμενον
(V. 46.) hat Anstoſs erregt, da nach jüdischen
Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab-
ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, daſs die Rabbi-
nenschüler saſsen, während sie bis dahin in der Schule
hatten stehen müssen 6); allein diese jüdische Tradition ist
zweifelhaft 7). Auch das hat man anstöſsig gefunden, daſs
Jesus sich nicht blos receptiv als ἀκούων, sondern auch
aktiv als ἐπερωτῶν zu den Lehrern verhalte, und so gleich-
sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es
freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je-
sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch
seine Fragen verlegen macht 8) und seinem Informator im
Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschlieſst 9);
bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über
den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth.
22, 41. ff.) auf die Bahn bringt 10), und sofort gleichsam
in allen Fakultäten Unterricht ertheilt 11). Wäre freilich
das ἐρωτᾷν und ἀποκρίνεσϑαι von einem solchen belehren-
den Verhältniſs zu verstehen: so müſsten wir eines so un-
[282]Erster Abschnitt.
natürlichen Zuges wegen 12) die evangelische Erzählung
verdächtig finden. Allein zu einer solchen Auffassung der
Worte nöthigt uns nichts, da nach jüdischer Sitte der rab-
binische Unterricht von der Art war, daſs nicht blos die
Lehrer den Schülern, sondern auch diese den Lehrern
Fragen vorlegten, wenn sie über etwas Aufschluſs wünsch-
ten 13). So dürfen wir daher auch hier an solche, einem
Knaben geziemende Fragen um so wahrscheinlicher den-
ken, als unser Text nicht ohne Absicht, wie es scheint,
die Verwunderung der Lehrer nicht an die Fragen, son-
dern an die ἀποκρίσεις Jesu knüpft, also an dasjenige,
worin sich Jesus am meisten als verständigen Schüler zei-
gen konnte. — Bedenklicher könnte der Ausdruck schei-
nen, daſs der Knabe Jesus ἐν μέσῳ τῶν διδασκάλων geses-
sen habe. Denn was einem Schüler ziemte, das sagt uns
Paulus A.G. 22, 3., nämlich sich zu bilden παρὰ τοὺς πόδας
der Rabbinen, indem diese auf Kathedern, die Schüler
aber auf dem Boden saſsen 14), nicht aber mitten unter
den Lehrern Plaz zu nehmen. Freilich glaubt man das
ἐν μέσῳ bald so erklären zu können, daſs es nur ein
Sitzen zwischen den Lehrern bedeute, indem mehrere
Lehrer auf ihren Suggesten, und zwischen diesen Jesus
mit andern Schülern auf der Erde sitzend vorgestellt wer-
de 15); bald soll es überhaupt nur in Gesellschaft von Leh-
rern, d. h. in der Synagoge, bedeuten 16): allein dem
Wortsinn nach scheint doch καϑέζεσϑαι ἐν μέσῳ τινῶν,
wenn auch nicht, wie Schöttgenin majorem Jesu glo-
riam
glaubt 17), einen Ehrenplaz, so doch ein Sitzen in
[283]Fünftes Kapitel. §. 36.
gleichem Verhältniſs mit Anderen zu bezeichnen. Man
darf sich auch nur die Frage vorlegen, ob es mit dem
Geiste unsrer Erzählung harmoniren würde, statt des κα-
ϑεζόμενον ἐν μέσῳ τῶν διδασκάλων
die Formel καϑ. παοὰ
τούς πόδας τ. δ.
zu setzen? so wird man sich dieſs gewiſs
verneinen müssen, aber ebendamit anerkennen, daſs unsre
Erzählung Jesum zu den Lehrern in ein anderes Verhält-
niſs als in das eines Lernenden sezt, welches leztere doch
für einen, auch noch so begabten, Knaben von 12 Jahren
das allein naturgemäſse ist. Denn daſs in Jesum nichts
von aussen, von fremder Weisheit sich hineingebildet habe,
weil dieſs der Bestimmung des Messias, als des absolut
Bestimmenden, zuwider gewesen wäre, — diese Behaup-
tung Olshausen's 18) widerspricht dem von ihm selbst vor-
angestellten kirchlichen Grundsatze, daſs Jesus in seiner
menschlichen Erscheinung dem allgemein menschlichen Ent-
wicklungsgang gefolgt sei. Denn dieser besteht nicht blos
darin, daſs es mit dem Menschen nur stufenweise aufwärts
geht, sondern das Wesentlichere ist dieſs, daſs die Ent-
wickelung des Menschen, geistige wie leibliche, durch
das Wechselspiel von Aufnehmen und Einwirken bedingt
ist. Dieſs in Bezug auf Jesu leibliches Leben zu leugnen,
und z. B. zu sagen, die Speise, welche er zu sich genom-
men, habe nicht durch wirkliche Assimilation zur Nah-
rung und zum Wachsthum seines Leibes gedient, sondern
ihm nur Veranlassung gegeben, sich von innen heraus zu
reproduciren, dieſs würde Jedem als Doketismus in die
Augen fallen: und dieselbe Behauptung in Bezug auf seine
geistige Entwickelung, daſs er nämlich nichts von aussen
in sich hineingebildet, sondern, was er von Andern hörte,
nur als Anlaſs gebraucht habe, aus sich selbst eine Wahr-
heit um die andere hervorzuholen, das sollte etwas An-
dres, als ein feinerer Doketismus sein? Wirklich auch,
[284]Erster Abschnitt.
wenn man nach dieser Ansicht sich von der Unterhaltung
Jesu mit den Lehrern im Tempel eine Vorstellung zu bil-
den versucht, so kommt sie wenig natürlich heraus. Er
soll nicht gelehrt haben, aber auch nicht eigentlich belehrt
worden sein, sondern die Reden der Lehrer sollen nur die
Veranlassung abgegeben haben, daſs er sich selbst belehr-
te, daſs ihm namentlich über seine eigene Bestimmung ein
immer helleres Licht aufgieng. Aber dieſs wird er dann
gewiſs auch ausgesprochen haben, so daſs doch wieder
eine lehrende Stellung des Knaben herauskäme, welche
Olshausen selbst als monströs bezeichnet. Wenigstens ein
solches indirektes Lehren käme heraus, wie es Hess an-
nimmt, wenn er vermuthet, Jesus habe wohl damals schon
die ersten Versuche gemacht, die Vorurtheile, welche in
den Synagogen herrschten, zu bestreiten, indem er durch
ein gutmüthiges Fragen und Erklärungfordern, wie man
es der kindlichen Unschuld gern erlaube, den Lehrern An-
laſs gegeben habe, die Schwäche von manchen ihrer Lehr-
sätze einzusehen 19). Aber auch ein solches Auftreten des
12jährigen Knaben ist der wahrhaft menschlichen Entwik-
kelung, welche auch der Gottmensch durchgemacht haben
soll, nicht angemessen. Dergleichen Reden eines Knaben
hätten freilich ein allgemeines Erstaunen der Versammelten
erregen müssen: aber eben auch dieser Ausdruck: ἐξίςαντο
παντες οἱ ακούοντες αὐτοῦ
, sieht einer panegyrischen For-
mel gar zu ähnlich.


Es läſst hierauf die Erzählung die vorwurfsvolle Frage
der Mutter Jesu an den wiedergefundenen Sohn folgen,
warum er den Eltern das Herzeleid dieses kummervollen
Suchens nicht erspart habe? worauf er die Antwort giebt,
welche eigentlich die Spitze der ganzen Erzählung bildet,
ob sie nicht hätten wissen können, daſs er nirgends anders,
als im Hause seines Vaters, im Tempel, zu suchen sei? (V.
[285]Fünftes Kapitel. §. 36.
48. f.) Diese Bezeichnung Gottes als τοῦ πατρὸς könnte
man unbestimmt davon nehmen wollen, daſs er dadurch
Gott als den Vater aller Menschen, und nur so auch als
den seinigen darstellen wolle. Allein, es so zu verste-
hen, verbietet nicht allein das hinzugesezte μου, da bei je-
nem Sinne (wie Matth. 6, 9.) ἡμῶν stehen müſste, son-
dern hauptsächlich, daſs Jesu Eltern diese Rede nicht ver-
stehen, (V. 50.), was bestimmt darauf hindeutet, daſs
der Ausdruck etwas Besonderes bedeuten muſs, was hier
nur das Geheimniſs der Messianität Jesu, der, als solcher,
υἱὸς ϑεοῦ im besondern Sinne war, sein kann. Daſs nun
aber in dem 12jährigen Jesus schon das Bewuſstsein seiner
Messianität aufgegangen gewesen, ob dieſs auf orthodoxem
Standpunkte consequent angenommen werden könne, und
ob es nicht gegen die auch von diesem Standpunkt behaup-
tete menschliche Form der Entwickelung Jesu verstoſse,
soll hier nicht untersucht werden. Ebenso kann die na-
türliche Erklärung, welche das Bisherige als Geschichte,
wenn auch wunderlose, festhalten zu müssen glaubt, wel-
che also die Eltern Jesu durch eigenthümliche Fügung der
Umstände schon vor seiner Geburt zu der Überzeugung
von der Messianität ihres Kindes kommen, und diese ih-
rem Sohne von der ersten Kindheit an einflöſsen läſst, —
auch diese kann sich zwar erklären, wie Jesus schon da-
mals über sein messianisches Verhältniſs zu Gott so im
Klaren sein konnte; aber sie kann es nur durch das Po-
stulat eines unerhörten Zusammentreffens der ausserordent-
lichsten Zufälle. Wir hingegen, denen sich die bisher er-
zählten Begebenheiten weder im übernatürlichen, noch im
natürlichen Sinne als geschichtliche bewährt haben, kön-
nen uns nicht dazu verstehen, das Bewuſstsein seiner mes-
sianischen Bestimmung schon so frühe in Jesu entwickelt
zu setzen. Denn wenn zwar das Bewuſstsein einer mehr
subjektiven Bestimmung, wie zum Dichter, Künstler u. dgl.,
wobei Alles auf die, schon frühzeitig empfindbare, innere
[286]Erster Abschnitt.
Begabung des Individuums ankommt, möglicherweise sehr
frühe aufgehen kann: so ist doch eine objektive Bestim-
mung, in welcher die Verhältnisse der gegenständlichen
Wirklichkeit einen Hauptfaktor ausmachen, wie die Be-
stimmung zum Staatsmann, zum Feldherrn, zum Refor-
mator einer Religion, schwerlich auch dem begabtesten In-
dividuum jemals so frühe klar geworden, weil dazu eine
Kenntniſs der gegebenen Verhältnisse erforderlich ist, wel-
che nur eine längere Beobachtung und reifere Erfahrung
gewähren kann. Eben zu der lezteren Art aber gehört
auch die Bestimmung zum Messias, und wenn diese in den
Worten liegt, mit welchen Jesus im zwölften Jahre seinen
Aufenthalt im Tempel gerechtfertigt haben soll: so kann
er diese Worte damals gar nicht gesprochen haben.


Merkwürdig auch in anderer Beziehung ist es, daſs
(V. 50.) von Jesu Eltern gesagt wird, sie haben das Wort
nicht verstanden, welches Jesus zu ihnen gesprochen hatte.
Er hatte aber Gott seinen Vater genannt, in dessen Hause
er sein müsse. Daſs nun ihr Sohn in specifischem Sinne
ein υίὸς ϑεοῦ genannt werden würde, dieſs war der Maria
schon durch den verkündigenden Engel zu wissen gethan
(Luc. 1, 32. 35.), und daſs er eine besondere Beziehung
zum Tempel haben würde, dieſs konnten sie theils eben
hieraus, theils aus dem glänzenden Empfange abnehmen,
welchen er noch als Kind bei seiner ersten Darstellung im
Tempel erfahren hatte. Die Eltern Jesu, oder wenigstens
Maria, von welcher wiederholt gerühmt wird, daſs sie die
ausserordentlichen Eröffnungen über ihren Sohn sorgfältig
im Herzen bewahrt habe, sollten also über seine damalige
Rede keinen Augenblick im Dunkeln geblieben sein. Aber
auch schon bei jener Darstellung im Tempel hieſs es, daſs
sich die Eltern Jesu über die Reden Simeons gewundert
(V. 33.), sie also wohl nicht recht verstanden haben. Und
zwar war dieſs nicht von jenem Ausspruch Simeons be-
merkt, daſs ihr Knabe nicht allein εἰς ἀνάςασιν, sondern
[287]Fünftes Kapitel. §. 36.
auch εἰς πτῶσιν gereichen, und das Herz seiner Mutter
eine ῥομφαία durchdringen werde, von welcher Seite sei-
nes Berufs und Schicksals allerdings den Eltern Jesu noch
nichts mitgetheilt worden war, worüber sie sich also wohl
hätten verwundern können; sondern diese Eröffnungen
macht Simeon erst nach der Verwunderung der Eltern,
welche ihrerseits nur durch die Äusserungen der Freude
Simeons über den Anblick des Retters, der zur Herrlich-
keit Israëls und zur Leuchte auch für die ἔϑνη dienen wer-
de, verursacht ist. Und hier nun wiederum ist keine An-
deutung, daſs die Verwunderung etwa der von Simeon
ausgesprochenen Beziehung Jesu auch zu den Heiden ge-
golten hätte, was sie überdieſs auch nicht wohl konnte,
da diese weitere Bestimmung des Messias schon im A. T.
gegeben war. Es bleibt mithin als Grund jener Verwun-
derung nur die von Simeon ausgesprochene Messianität des
Kindes, welche ihnen aber schon längst durch Engel an-
gekündigt, und von Maria in ihrem Lobgesang erkannt
worden war. Ebenso unbegreiflich nun wie dort die Ver-
wunderung, ist in unsrer Stelle das Nichtverstehen, und
wir müssen sagen: haben die Eltern Jesu diesen Ausspruch
des Zwölfjährigen nicht verstanden: so können jene frü-
heren Mittheilungen nicht geschehen sein; oder, ist dieses
Frühere wirklich vorgefallen, so kann ihnen jene spätere
Rede nicht unverständlich geblieben sein. Sofern nun wir
jene früheren Ereignisse als historische aufgehoben haben,
könnten wir dieses später sich zeigende Nichtverstehen uns
gefallen lassen, wenn wir nicht bei einem Berichte, dessen
folgende Stücke mit den vorhergehenden so wenig zusam-
menstimmen, billig gegen alle miſstrauisch würden. Denn
das ist ganz der Charakter — nicht einer geschichtlichen
Nachricht, sondern einer Wundersage, ihre Figuren so
permanent in der Stimmung des Verwunderns verbleiben
zu lassen, daſs sie nicht allein bei dem ersten Hervortre-
ten des Ausserordentlichen, sondern auch bei der zweiten,
[288]Erster Abschnitt.
dritten, zehnten Wiederholung desselben, wo sie sich längst
darein gefunden haben sollten, immer noch staunen und
nichtverstehen, — natürlich, um durch diese fortdauernde
Unfaſslichkeit das sich mittheilende Göttliche desto erhabe-
ner darzustellen. So wird, um aus der späteren Geschich-
te Jesu ein Beispiel hieherzuholen, der göttliche Rath-
schluſs des Leidens und Sterbens Jesu in den evangelischen
Erzählungen dadurch in seiner ganzen Erhabenheit geltend
gemacht, daſs auch die wiederholten deutlichen Eröffnun-
gen über denselben von Seiten Jesu den Jüngern durchaus
unverständlich bleiben: wie hier das Mysterium von Jesu
Messianität überhaupt dadurch noch gehoben wird, daſs
seine Eltern, so oft und klar es ihnen auch verkündigt
worden war, doch bei jeder neuen, dasselbe betreffenden
Rede auf's Neue erstaunen und nicht begreifen.


Auch die doppelte Schluſsformel, daſs Jesu Mutter alle
diese Worte in ihrem Herzen bewahrt (V. 51.), und daſs
der Knabe forthin an Alter und Weisheit u. s. f. zugenom-
men (V. 52.), haben wir schon oben als beliebte Schluſs-
und Übergangsformeln der hebräischen Heldensage kennen
gelernt; besonders die das Heranwachsen betreffende Schluſs-
formel, wie sie oben zweimal schon aus der Geschichte
Simsons genommen schien, so ist sie dieſsmal beinahe gleich-
lautend mit der in Bezug auf Samuel gebrauchten 20).


§. 37.
Auch dieses Stück noch mythisch.


Müssen wir nach dem Bisherigen auch hier den Ein-
fluſs der Sage anerkennen, so könnten wir, da der Grund-
[289]Fünftes Kapitel. §. 37.
stock der Begebenheit ein durchaus natürlicher ist, hier
den vermittelnden Weg vorziehen, und nach Hinweg-
schaffung des Mythischen noch einen Rest von Geschichte
zu retten suchen. Wir könnten also etwa annehmen, Jesu
Eltern haben wirklich ihren Sohn in früher Jugend ein-
mal nach Jerusalem zum Fest genommen, und da er ihnen
hier, doch noch vor ihrer Abreise, aus den Augen gekom-
men, haben sie ihn im Tempel wieder gefunden, wo er
lernbegierig zu den Füſsen der Rabbinen gesessen habe.
Zur Rede gestellt, habe er erklärt, daſs im Hause Gottes
sein liebster Aufenthalt sei 1), welche Rede die Eltern er-
freut und bei den Umstehenden Beifall gefunden habe.
Das Weitere hätte, nachdem Jesus als Messias erkannt
gewesen, die vergröſsernde Sage hinzugethan. — Hier
würde also alles Anstöſsige in unsrer Erzählung, das Weg-
reisen der Eltern ohne den Sohn, dessen Sitzen inmitten
der Lehrer, und seine Rede von Gott als seinem Vater in
besondrem Sinne, weggeworfen; aber die Reise des 12jäh-
rigen Jesus, seine bewiesene Lernbegierde und Vorliebe
zum Tempel stehen gelassen. Diesen Zügen ist nun frei-
lich auf negativem Wege nichts anzuhaben, indem sie nichts
Unwahrscheinliches in sich schlieſsen; ihre historische
Wahrheit wird aber auch in dem Falle zweifelhaft, wenn
sich positiv ein starkes Interesse der Sage zeigt, aus wel-
chem die ganze Erzählung und namentlich auch diese für
sich nicht unwahrscheinlichen Züge derselben hervorgegan-
gen sein könnten.


Daſs nun von groſsen Männern, welche sich im reifen
Alter durch geistige Überlegenheit ausgezeichnet haben,
gerne auch schon die ersten, vorbedeutenden Regungen ih-
res Geistes aufgefaſst, und wenn sie nicht historisch zu er-
mitteln sind, nach der Wahrscheinlichkeit erdichtet wer-
den, ist bekannt. Namentlich aber auch in der hebräischen
Das Leben Jesu I. Band. 19
[290]Erster Abschnitt.
Geschichte und Sage finden wir diese Neigung mehrfach
bethätigt. So wird von Samuel im A. T. selbst berichtet,
daſs er schon als Knabe eine göttliche Offenbarung und die
Gabe der Weissagung erhalten habe (1. Sam. 3.), und von
Moses, über dessen Knabenjahre die A. T.liche Erzählung
schweigt, wuſste die spätere Tradition, welcher Josephus
und Philo folgen, auffallende Proben seiner frühen Ent-
wickelung zu erzählen. Wie in dem vorliegenden Bericht
Jesus sich über sein Alter verständig zeigt: so soll das-
selbe auch bei Moses der Fall gewesen sein 2); wie Jesus
von dem eiteln Geräusche der festlich bewegten Stadt sich
abwendend, im Tempel bei den Lehrern seine liebste Un-
terhaltung findet: so zog auch den Knaben Moses nicht
kindisches Spiel, sondern nur ernste Beschäftigung an, und
frühzeitig muſsten ihm Lehrer bestellt werden, welchen er
jedoch, wie der zwölfjährige Jesus, sich bald überlegen
zeigte 3).


Namentlich aber bildete nach jüdischer Sitte und Denk-
weise das zwölfte Jahr einen solchen Entwicklungspunkt,
an welchen man gerne besondere Proben des erwachenden
Genius knüpfte, da von dem genannten Jahr an, wie etwa
bei uns vom 14ten, der Knabe als den kindischen Verhält-
nissen entwachsen angesehen wurde 4). Demzufolge wur-
[291]Fünftes Kapitel. §. 37.
de von Moses angenommen, daſs er im zwölften Jahre aus
dem Hause seines Vaters getreten sei, um unabhängiges
Organ der göttlichen Offenbarungen zu werden 5); Sa-
muel, von welchem im A. T. unbestimmt gelassen war,
wie frühe ihm die Gabe der Prophetie mitgetheilt worden
sei, sollte nach der späteren Tradition vom 12ten Jahr an
geweissagt haben 6), und ebenso sollte von Salomo der
weise Urtheilsspruch (1. Kön. 3, 23. ff.) schon im 12ten
Jahre gefällt worden sein 7). War bei diesen A. T.lichen
Heroën der gemeinen Vorstellung zufolge der Geist, wel-
cher sie trieb, im 12ten Lebensjahr zuerst in selbstthäti-
gen Äusserungen hervorgetreten: so kann er, dachte man,
bei Jesu auch nicht länger verborgen gewesen sein, und
wenn Samuel sich in jenem Alter schon in seiner späteren
Eigenschaft als gottbegeisterten Propheten, Salomo in der
eines weisen Regenten gezeigt hatte: so muſste sich Jesus
ebenso schon damals in der Rolle gezeigt haben, welche
ihm später eigenthümlich war, als Sohn Gottes und Leh-
rer der Menschheit. Und wenn es bis daher das sichtbare
Streben unsrer Relation bei Lukas war, keinen Knoten-
punkt in der ersten Lebenszeit Jesu zu übergehen, ohne
ihn mit göttlichem Glanze, mit bedeutsamen Vorzeichen
des Künftigen zu umkleiden, wie er seine Geburt in die-
sem Style behandelt, die Beschneidung wenigstens auf be-
deutungsvolle Weise genannt, ganz besonders aber die Dar-
stellung im Tempel in diesem Sinne benüzt hatte: so blieb
ihm der jüdischen Sitte zufolge noch Ein Zeitpunkt, das
zwölfte Jahr mit der ersten Festreise; wie konnte er an-
19*
[292]Erster Abschnitt.
ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno-
ten so verzieren, wie wir es in seiner Erzählung finden,
und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine
sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im
Leben Jesu halten 8), durch welche wir von dessen wirk-
licher Entwicklung wieder nichts 9), sondern nur von
der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten
Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte.


Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My-
then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe-
greiflich. Trage sie doch, meint Heydenreich10), einen
rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei-
sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede
Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte
gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter
eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle;
sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, daſs die Ge-
spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien
(es genügte der Sage der anschauliche Zug καϑεζομένον ἐν
μέσῳ τῶν διδα κάλων
, als Diktum war nur das V. 49.
wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird),
ja daſs selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech-
selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben
seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich-
ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und
ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un-
ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer-
[293]Fünftes Kapitel. §. 37.
den konnte. In dieser lezteren Bemerkung stimmt Hey-
denreich
mit Schleiermacher zusammen, welcher ebenfalls
in dem leicht miſsdeutbaren Benehmen Jesu gegen seine
Mutter eine sichere Bürgschaft findet, daſs nicht etwa die
ganze Geschichte erdichtet sei, um auch etwas Merkwür-
diges von Jesu zu haben aus diesem Zeitpunkt, wo ihm
zuerst die Heiligthümer des Tempels und Gesetzes aufge-
schlossen wurden 11). — Hier brauchen wir uns gegen die
Behauptung, daſs ein fingirender Erzähler Jesu einen sol-
chen Zug scheinbarer Härte gegen seine Mutter schwerlich
angedichtet haben würde, nicht auf das apokryphische
Evangelium Thomae zu berufen, welches den Knaben
Jesus zu seinem Pflegevater Joseph sagen läſst: insipien-
tissime fecisti
12), da selbst in der kanonischen Evangelien-
Sage oder Geschichte entsprechende Züge sich vorfinden.
In der Erzählung von der Hochzeit zu Kana findet sich
die harte Anrede Jesu an seine Mutter: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ
γ[ύ]ν[αι] (Joh. 2, 4.); in der Geschichte von dem Besuch
seiner Mutter und Brüder bei Jesu das Auffallende, daſs
er von diesen Blutsverwandten gar keine Notiz nehmen zu
wollen scheint (Matth. 12, 46. ff.). Sind dieſs wirkliche
Begebenheiten: so war ja durch sie die Sage historisch
veranlaſst, einen ähnlichen Zug auch schon in die erste
Jugend Jesu zurückzutragen; sind es aber selbst nur Sa-
gen: so sind sie ja der lebendigste Beweis, daſs es zur
Erdichtung solcher Züge an Veranlassung nicht gefehlt hat.
Worin diese Veranlassung lag, ist leicht zu sehen. Aus
dem obscuren Hintergrunde seiner beschränkten Familien-
verhältnisse hob sich die Gestalt Jesu um so glänzender
hervor, wenn es sich recht oft zeigte, wie wenig selbst sei-
ne Eltern im Stande waren, seinen hohen Geist zu fassen,
[294]Erster Abschnitt.
und wenn auch er selber bisweilen sie diese Erhabenheit
fühlen lieſs, soweit es unbeschadet des kindlichen Gehor-
sams geschehen konnte, der ja auch in unsrer Erzählung
(V. 51.) ausdrücklich vorbehalten wird.


§. 38.
Über die äussere Existenz Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftritt.


In welchen äusseren Verhältnissen Jesus von der zu-
lezt besprochenen Scene an bis zu der Zeit seines öffent-
lichen Auftritts gelebt habe, darüber findet sich in unsern
kanonischen Evangelien kaum eine Andeutung. Zuerst von
seinem Aufenthaltsorte erfahren wir ausdrücklich nur dieſs,
daſs er sowohl am Anfang, als am Ende dieser dunkeln
Periode in Nazaret gewesen sei. Nämlich nach Luc. 2, 51.
kehrte der zwölfjährige Jesus mit seinen Eltern dahin zu-
rück, und nach Matth. 3, 13. Marc. 1, 9. kam der dreis-
sigjährige von da zur Taufe des Johannes. Es scheinen
also unsere Evangelisten vorauszusetzen, Jesus habe auch
in der Zwischenzeit in Galiläa und näher in Nazaret sich
aufgehalten. Daſs uns diese unbestimmte Andeutung nicht
bindet, versteht sich; doch ohne positive Spuren können
wir auch nicht das Gegentheil hehaupten.


Die Art der Beschäftigung Jesu in seinen Knaben-
und Jünglingsjahren scheint sich, einer Andeutung unsrer
Evangelien zufolge, nach dem Gewerbe seines Vaters be-
stimmt zu haben, welchen sie als τέκτων bezeichnen (Matth.
13, 55.) Dieser von dem Gewerbe des Joseph gebrauchte
Ausdruck wird gewöhnlich in der Bedeutung von faber
lignarius
gefaſst 1), nur Einzelne haben aus mystischen
Gründen einen faber ferrarius, aurarius, oder einen cae-
mentarius
darin gefunden 2). Die Holzarbeiten, welche
[295]Fünftes Kapitel. §. 38.
er verfertigt, finden sich bald als gröſsere bald als kleinere
bestimmt: nach Justin und dem Evangelium Thomae3)
waren es ἄροτρα καὶ ζυγὰ, also was wir als Wagnerarbeit
bezeichnen würden; nach dem Evangelium infantiae ara-
bicum
4) Thüren, Melkgefäſse, Siebe und Kästen; einmal
macht er auch dem König einen Thronsessel, also theils
Tischler- theils Bötticherarbeit; das Protevangelium Ja-
cobi
dagegen läſst ihn an οἰκοδομαῖς arbeiten 5), ohne
Zweifel als Zimmermann. — An dieser Beschäftigung des
Vaters scheint nun Jesus nach einer Andeutung des Mar-
kus Theil genommen zu haben, welcher die Nazaretaner
von Jesu nicht blos, wie Matthäus in der Parallelstelle, fra-
gen läſst: οὐχ οὖτός ἐςιν ὁ τοῦ τέκτονος υἱὸς; sondern geradezu
ουχ ουτος ἐςιν ὁ τέκτων (6, 3.). Zwar auf den Spott des Cel-
sus, daſs der Lehrer der Christen τέκτων ἦν τὴν τέχνην, er-
widerte Origenes, er müsse übersehen haben, ὅτι οὐδαμοῦ τῶν
ἐν ταῖς ἐκκλησίαις φερομένων εὐαγγελίων τέκτων αὐτὸς ὁ Ἰη-
σοῦς ἀναγέγραπται
6); Wirklich hat nun jene Stelle des
Markus die Variante, ὁ τοῦ τέκτονος υἱὸς, wie auch Orige-
nes, wenn er die Stelle nicht ganz übersehen haben soll,
gelesen haben muſs, und auch neuere Kritiker haben diese
Lesart vorgezogen 7). Allein mit Recht hat schon Beza
hiezu bemerkt: fortasse mutavit aliquis, existimans,
hanc artem Christi majestati parum convenire
8): wo-
gegen schwerlich Jemand ein Interesse haben konnte, die
[296]Erster Abschnitt.
umgekehrte Änderung vorzunehmen 9). Auch Kirchenvä-
ter und Apokryphen lassen nach dieser Andeutung des Mar-
kus Jesum seinem Vater in dessen Geschäft an die Hand
gehen. Justin legt besondern Werth darauf, daſs Jesus
Pflüge und Joche, als Sinnbilder des thätigen Lebens und
der Gerechtigkeit, verfertigt habe 10); nach dem arabischen
Kindheitsevangelium geht Jesus mit Joseph an den Orten,
wo dieser Arbeit hatte, umher, um ihm in der Art zu hel-
fen, daſs er, wenn Joseph etwas zu lang oder zu kurz ge-
macht hatte, durch Berührung oder bloſses Ausstrecken der
Hand der Sache die rechte Gröſse gab; eine Nachhülfe,
welche dem Pflegevater Jesu zu Statten kam, weil er, wie
das Apokryphum, als wäre auch für ihn jenes Handwerk
zu gemein gewesen, naiv bemerkt: nec admodum peritus
erat artis fabrilis
11). — Abgesehen von diesen apokry-
phischen Ausmalungen hat jene Nachricht über die Jugend-
Beschäftigung Jesu Vieles für sich. Einmal die Zusammen-
stimmung mit der jüdischen Sitte, nach welcher auch der
zu einer gelehrten oder überhaupt geistigen Laufbahn Be-
stimmte nebenher ein Gewerbe zu lernen pflegte, wie der
Rabbinenzögling Paulus zugleich ein σκηνοποιὸς τὴν τέχνην
war (A. G. 18, 3.). Da wir überdieſs nach unsern bisheri-
gen Resultaten von ausserordentlichen Erwartungen und
Planen, welche die Eltern Jesu in Bezug auf ihren Sohn
gehabt hätten, nichts historisch wissen: so ist nichts na-
türlicher, als die Annahme, daſs Jesus frühzeitig zu dem
Geschäfte des Vaters angehalten worden sei. Ferner konn-
ten die Christen eher ein Interesse haben, sich gegen die-
se Ansicht von der früheren Beschäftigung ihres Messias
[297]Fünftes Kapitel. §. 38.
zu wehren, als sie zu erdichten, da sie ihnen nicht selten
den Spott ihrer Gegner zuzog. So konnte sich, wie be-
merkt, Celsus einer Anmerkung darüber nicht enthalten,
weſswegen Origenes von einer Bezeichnung Jesu als τέκτων
im N. T. gar nichts wissen will, und bekannt ist die spöt-
tische Frage des Libanius nach dem Zimmermannssohn,
welche nur ex eventu mit einer so schlagenden Antwort
versehen scheint 12). Freilich lieſse sich dagegen sagen,
daſs nicht nur die ganze Ansicht von den τεκτονικοῖς ἔργοις
Jesu auf einem bloſsen Schlusse von dem Handwerk seines
Vaters auf das Treiben des Sohns beruhe, welcher doch
ebenso gut auch eine andre Kunstfertigkeit sich habe an-
eignen können; sondern auch, daſs die ganze Sage vom
Zimmermannshandwerk Jesu und Josephs jener von Ju-
stin herausgehobenen symbolischen Bedeutsamkeit desselben
ihre Entstehung verdanke. Da indessen die Angabe unse-
rer Evangelien von Joseph als τέκτων ganz trocken ist, und
nirgends im N. T. allegorisch benuzt wird: so möchte ich
diesem das genannte Handwerk nicht streitig machen, von
Jesus aber unausgemacht lassen, ob er daran Theil ge-
nommen oder nicht.


In welchen Vermögensumständen Jesus und seine El-
tern gewesen, ist Gegenstand mancher Verhandlungen ge-
worden. Daſs die Behauptung einer drückenden Armuth
Jesu von Seiten orthodoxer Theologen auf dogmatisch-äs-
thetischen Gründen beruhte, indem man theils den status
exinanitionis
auch in diesem Stücke durchführen, theils
den Contrast zwischen der μορφὴ ϑεοῦ und μορφὴ δούλου recht
grell ausmalen wollte, erhellt von selbst. Daſs ferner der
angeführte paulinische Gegensatz (Phil. 2, 6 ff.), so wie
desselben Apostels Ausdruck, daſs Christus ἐπτώχευσε (2.
Kor. 8, 9.), nur das glanzlose, mühevolle Leben bezeich-
ne, welchem er sich nach seiner himmlischen Präexistenz
[298]Erste Abschnitt.
und statt der in der jüdischen Vorstellung gegebenen mes-
sianischen Königsrolle unterzog, ist gleicherweise als an-
erkannt zu betrachten 13). In dem eignen Ausspruch Jesu,
er habe nicht ποῦ τὴν κεφαλὴν κλίνῃ (Matth. 8. 20.), kann
möglicherweise auch nur die freiwillige Resignation auf
ruhigen Gütergenuſs zum Behuf seines messianischen Wan-
derlebens liegen, so daſs nur noch die Eine Nachricht
(Luc. 2, 24.) übrig bleibt, daſs Maria als Reinigungsopfer
Tauben, also nach 3. Mos. 12, 8. das Opfer der Armen, darge-
bracht habe, welche allerdings beweist, daſs der Verfasser
jenes Abschnitts sich die Eltern Jesu in keineswegs glän-
zenden Verhältnissen vorstellte 14); allein wer bürgt uns,
daſs nicht auch ihn schon unhistorische Gründe zu dieser
Darstellung bewogen haben? Indessen haben wir ebenso-
wenig von dem Umgekehrten, daſs Jesus Vermögen beses-
sen habe, haltbare Spuren; wenigstens auf den ungenäh-
ten Leibrock Joh. 19, 23. wollen wir uns nicht beru-
fen 15), ehe wir unten genauer untersucht haben werden,
was es mit demselben für eine Bewandtniſs hat.


§. 39.
Jesu geistige Ausbildung.


Waren über die äussere Existenz Jesu während sei-
ner Jugend die Nachrichten äusserst dürftig: so fehlen sie
über seine geistige Entwicklung beinahe ganz. Denn auf
die in der Kindheitsgeschichte bei Lukas sich wiederholen-
de Phrase von seinem geistigen Erstarken und Zunehmen
an Weisheit wird man doch kein Gewicht legen wollen;
auf die Erwartungen aber, welche seine Eltern schon vor
seiner Geburt von ihm gehabt, und auf die Gesinnungen,
[299]Fünftes Kapitel. §. 39.
welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt
haben soll, ist ebenso wenig ein Schluſs zu gründen, da
eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un-
historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41.
gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre
nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver-
muthen könnte, daſs auch Jesus vom zwölften Jahr an ge-
wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be-
nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluſs von Ju-
den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen
Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei-
nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen
Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über
die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern 1). Doch
ist auch das ein bloſser Schluſs aus einer flüchtigen Anga-
be des Lukas, welcher überdieſs vielleicht ein zu enges reli-
giöses Band zwischen der Γαλιλαία τῶν ἐϑνῶν und Jeru-
salem voraussezt.


Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines
Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni-
schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7,
29., daſs Jesus gelehrt habe ούχ ὡς οἱ γραμματεῖς, ist nur zu
schlieſsen, daſs er die Methode der Schriftgelehrten nicht
zu der seinigen gemacht, nicht aber, daſs er die Bildung
eines γραμματεὺς nicht genossen habe. Freilich scheint an-
drerseits aus dem Datum, daſs Jesus nicht blos von seinen
Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45.
Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und
von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) ῥαββὶ und
ῥαββουνὶ genannt wurde, sondern daſs ihm auch der phari-
säische αρχων Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine
Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso-
wenig zu folgen, daſs er die schulmäſsige Bildung eines
[300]Erster Abschnitt.
Rabbinen erhalten hatte 2), da die Begrüſsung als Rabbi,
wie auch das Recht des Vortrags in der Synagoge (Luc.
4, 16 ff.), worauf man sich ebenfalls beruft, gewiſs nicht
blos graduirten Rabbinen, sondern jedem faktisch erprob-
ten Lehrer zukam 3). Gegen die bestimmte und von Jesu
nicht wiedersprochene Aussage seiner Feinde, daſs er ein
γράμματα μὴ μεμαϑηκὼς sei (Joh. 7, 15.), und gegen die
Verwunderung der Nazaretaner, solche Weisheit bei ihm
zu finden (Matth. 13, 54 ff.), von welchem ihnen also kein
gelehrtes Studium bekannt gewesen sein muſs, kann man
wohl schwerlich das anführen, daſs Jesus sich selbst ein-
mal als Muster eines für das Gottesreich ausgebildeten γραμ-
ματεὺς
darstelle (Matth. 13, 52.) 4), da dieses Wort hier
einen Schriftlehrer überhaupt, nicht gerade nur einen schul-
mäſsig gebildeten bedeutet. Endlich auch die genaue Kennt-
niſs der rabbinischen Traditionen und Miſsbräuche, wie
er sie besonders in der Bergrede, Matth. 5 ff., und in der
antipharisäischen, Matth. 23., an den Tag legt 5), konnte
er durch die zahlreichen Vorträge der Pharisäer an das
Volk, ohne einen gelehrten Cursus bei ihnen zu machen,
sich erwerben. Wenn so die evangelischen Data zusam-
mengenommen das Resultat geben, daſs Jesus nicht förm-
lich durch eine rabbinische Schule gegangen sei: so könnte
dagegen andrerseits die Erwägung, daſs es im Interesse
der christlichen Sage liegen muſste, Jesum als reinen Theo-
didakten darzustellen, zu einem Zweifel an jenen N. T.li-
chen Angaben, und zu der Vermuthung veranlassen, daſs
Jesu die gelehrte Bildung seines Volkes nicht fremd gewe-
sen sein möge. Doch kann aus Mangel an urkundlichen
Nachrichten hierüber nicht entschieden werden.


[301]Fünftes Kapitel. §. 39.

Indessen hat man mehr oder minder unabhängig von
den Angaben des N. Ts. in alter wie in neuer Zeit ver-
schiedene Hypothesen über die geistige Entwickelung Jesu
aufgestellt, welche der Gegensaz der natürlichen und über-
natürlichen Ansicht in zwei Hauptklassen zerfallen macht.
Indem es nämlich der übernatürlichen Ansicht von Jesu
Person darum zu thun sein muſs, ihn als völlig einzig in
seiner Art, als unabhängig von allen äusseren, menschli-
chen Einflüssen, als Auto- und näher Theodidakten hinzu-
stellen: so muſs sie nicht allein jede Vermuthung, als hätte
er etwas von Andern entlehnt und gelernt, entschieden zu-
rückweisen, und daher die Schwierigkeiten, welche der
natürlichen Ausbildung Jesu sich in den Weg stellten, in
möglichst grellem Lichte malen 6): sondern, um desto si-
cherer jedes Empfangen auszuschliessen, muſste man auf
diesem Standpunkte geneigt sein, Jesu eigne Spontaneität
in der Art, wie wir sie bei gereiftem Alter in ihm finden,
so frühe wie möglich hervortreten zu lassen. Diese Selbst-
thätigkeit ist eine doppelte, eine theoretische und eine prak-
tische. Was jene Seite, die Einsicht und Erkenntniſs be-
trifft, so findet sich das Bestreben, diese so frühe wie mög-
lich auf selbstständige Weise in Jesu hervortreten zu las-
sen, schon in der zulezt betrachteten Erzählung des Lu-
kas von dem Tempelbesuch des 12jährigen Knaben; noch
mehr in den dort angeführten Schilderungen der Apokry-
phen von der Art, wie Jesus schon lange vor dem zwölf-
ten Jahr seine Lehrer übersehen habe, da er ja nach ei-
nem derselben bereits in der Wiege gesprochen und sich
für den Sohn Gottes erklärt haben soll 7). Aber auch die
praktische Seite der höheren Selbstthätigkeit, welche Jesu
in späteren Jahren eigen gewesen sein soll, nämlich das
Wunderthun, versetzen zwar nicht die kanonischen, wohl
[302]Erster Abschnitt.
aber die apokryphischen Evangelien schon in seine erste
Kindheit und Jugend. Mit dem fünften Jahre Jesu eröff-
net das Evangelium Thomae seine Erzählungen von des-
sen Wunderthaten 8), und das arabische Evangelium in-
fantiae
füllt schon die ägyptische Reise mit einer Masse
von Mirakeln, welche die Mutter Jesu mittelst der Win-
deln oder des Waschwassers ihres Kindes verrichtet 9). Die
Wunder, welche nach diesen Apokryphen das Kind und
der Knabe Jesus thut, sind theils den N. T.lichen analog,
Heilungen und Todtenerweckungen; theils, ganz abwei-
chend von dem in den kanonischen Evangelien herrschenden
Typus, höchst widrige Strafwunder, vermöge deren Jeder,
der dem Knaben Jesus in irgend etwas entgegen ist, er-
lahmen oder gar sterben muſs 10); oder völlig abenteuer-
liche Stücke, wie die Belebung aus Koth geformter Sper-
linge 11).


Das entgegengesezte Interesse der natürlichen Ansicht
von Jesu, seine Erscheinung dem Causalitätsgesetze gemäſs
aus verwandten früheren und gleichzeitigen zu erklären,
und daher seine Abhängigkeit und Receptivität hervorzu-
heben, hat sich gleichfalls schon frühe, bei jüdischen und
heidnischen Gegnern des Christenthums hervorgethan. Frei-
lich, indem in den ersten Jahrhunderten der christlichen
Zeit der ganze geistige Boden bei Heiden wie bei Juden
noch ein supranaturalistischer war: so konnte damals der
Vorwurf, daſs Jesus seine Einsichten und wunderähnli-
chen Geschicklichkeiten nicht sich selbst oder Gott, son-
dern einer Mittheilung von aussen verdanke, noch nicht
die Gestalt annehmen, er habe auf dem gewöhnlichen Wege
des Unterrichts natürliche Kunstfertigkeiten und Einsichten
[303]Fünftes Kapitel. §. 39.
von Andern empfangen: sondern es wurde dem Göttlichen
und Übernatürlichen statt des Natürlichen und Menschli-
chen ein Unnatürliches und Dämonisches entgegengestellt,
und Jesu vorgeworfen, daſs er zum Behuf seiner Wunder
in seiner Jugend die Zauberei erlernt habe. Diese Be-
schuldigung lieſs sich am ehesten an die Reise seiner El-
tern mit ihm nach Ägypten, in dieses uralte Land der Ma-
gie und geheimen Weisheit, knüpfen, und so gewendet
finden wir sie wirklich sowohl bei Celsus als im Talmud.
Jener läſst einen Juden unter Andrem auch das gegen Je-
sum vorbringen, er habe sich nach Ägypten um Lohn ver-
dungen, dort habe er sich einige Zauberkünste anzueignen
gewuſst, und nach seiner Rückkehr um derselben willen
sich prahlerisch für einen Gott ausgegeben 12). Der Tal-
mud giebt ihm einen jüdischen Synedristen zum Lehrer,
läſst ihn mit diesem nach Ägypten reisen und von da Zau-
berformeln nach Palästina zurückbringen 13).


Der rein natürliche Gesichtspunkt für die geistige Ent-
wickelung Jesu konnte erst auf dem Boden der neuern
Bildung gefaſst werden, und hier bildet den Hauptunter-
schied der Ansichten dieſs, ob aus den in jener Zeit gege-
benen Bildungsmomenten einseitig nur Eines herausgegrif-
fen, oder mit umfassenderem Sinne von ihrer Gesammt-
[304]Erster Abschnitt.
heit ausgegangen wird; ob ferner dieser äusseren Einwir-
kung gegenüber die innere Begabung und freie Selbstbe-
stimmung Jesu gehörig berücksichtigt wird oder nicht. —
Unter den damals gegebenen Bildungsmomenten lagen die
drei jüdischen Sekten am nächsten, unter welchen aber
freilich die von Jesu später so sehr bestrittenen Pharisäer
nur als negatives Bildungsmittel für ihn in Betracht kom-
men können. Eher könnte man an die Gegner der Phari-
säer, an die sadducäische Sekte, denken, und es hat wirk-
lich nicht an Solchen gefehlt, welche in dem, die phari-
säische Tradition und Heuchelei verwerfenden Sadducäis-
mus eine Schule für Jesum gefunden haben 14). Noch
mehr leuchtete aber Andern die Sekte der Essener mit ih-
rer strengen Sittenzucht, ihrer Verwerfung des Eides und
ihrer Gütergemeinschaft als vergleichbar ein, und beson-
ders war es ihr, dem pythagoräischen ähnlich organisirter
Bund, welcher in der Zeit der Freimaurerei und gehei-
men Orden unter uns die Einbildungskraft vieler Schrift-
steller so weit bestach, daſs sie auch Jesum, wie ohnehin
seinen Vorläufer Johannes, als Mitglieder und geheime
Emissäre dieses Bundes betrachteten 15). Was Theologen
wie Stäudlin zu dieser Combination bewog, war nicht
blos die Verwandtschaft der Lehre und des Plans Jesu
mit den Grundsätzen der Essener, sondern vorzüglich auch
der Umstand, daſs das plötzliche Verschwinden Jesu vom
Schauplatze, nachdem er durch die Schicksale seiner Kind-
heit und so eben noch durch seinen Auftritt im Tempel so
groſses Aufsehen erregt hatte, durch ein Zurücktreten in einen
geheimen Orden am besten erklärt zu werden schien. Für
dieses Zurücktreten nun brauchen wir nach unsrer Auf-
fassung der Kindheitsgeschichte keine Erklärung mehr, und
[305]Fünftes Kapitel. §. 39.
jene Ähnlichkeit beweist ohnehin für sich noch keineswegs
einen engeren Zusammenhang Jesu mit dem genannten Or-
den, wovon uns jede wirkliche Anzeige fehlt. Während
übrigens Stäudlin noch Differenzen zwischen den Grund-
sätzen Jesu und den essenischen zugiebt, und ohne zu
entscheiden, ob Johannes und Jesus wirklich bestellte
Emissäre der Essenergesellschaft gewesen seien, nur den
Plan Jesu zu den Geheimnissen des obersten Grades in je-
nem Orden rechnet: so haben Andere, wie der Verfasser
der natürlichen Geschichte des Propheten von Nazaret,
diese Grenzen der Vorsicht weit überschritten. Schon bei
der Reise nach Ägypten läſst dieser Verf. den Joseph mit
Essenern bekannt werden; später wird Jesus sammt dem
jungen Johannes in den essenischen Orden aufgenommen, wo
er Verwerfung der Opfer, unverbrüchlichen Gehorsam gegen
die Obrigkeit, Wohlwollen auch gegen Heiden, lernt, und na-
mentlich auch viele, damals noch geheime, Kenntnisse in Na-
tur- und Heilkunde sich erwirbt. Nach Ablauf der Pro-
bezeit entscheidet sich hierauf Johannes für das einsame,
Jesus für das gesellige Leben im Dienste des Ordens, beide
auf die Gelegenheit wartend, für die Zwecke desselben
und seiner geheimen Unterstützung gewiſs in Verbindung
miteinander öffentlich aufzutreten 16). — Weniger auf ein
einzelnes der damals gegebenen Bildungsmomente hat sich
Bahrdt beschränkt, dafür aber alles Mögliche und Un-
mögliche bunt durcheinander gemischt. Von durchreisen-
den Persern bekommt schon der Knabe Jesus gewisse
Medikamente und Recepte; von alexandrinischen Juden und
aufgeklärten Priestern, die er bei seinen auch schon vor
dem 12ten Jahr unternommenen Festreisen kennen lernt,
wird ihm ein freierer Blick in religiösen Dingen eröffnet,
und von einem der Ersteren sogar ein sokratischer Dialog
eingehändigt; ägyptische Priester endlich machen ihn mit
Das Leben Jesu I. Band. 20
[306]Erster Abschnitt.
den Einrichtungen ihrer geheimen Bünde bekannt 17). —
Nachdem dieses Bundschmecken wenigstens bei unsern
Schriftstellern in Abgang gekommen, hat man auch das
Phantastische und Willkührliche solcher Hypothesen ein-
gesehen, und sich dahin entschieden, zur Erklärung dessen,
was Jesus geworden, sich auf diejenigen Bildungsmittel zu
beschränken, welche einem Israëliten zu Jesu Zeit im A. T.
und dessen Auslegungen, in dem Verkehr mit seinen Volks-
genossen und den Mitgliedern der verschiedenen Sekten,
und in dem Zusammenfluss von Fremden von allen mögli-
chen Bildungsformen und Ansichten bei den Festen zu Je-
rusalem gegeben war; wobei aber, wie man jetzt anerkennt,
das Meiste die eigene hohe Begabung und welthistorische
Bestimmung Jesu thun muſsten 18).


Doch da unser Absehen nur auf kritische Prüfung der
N. T.lichen Nachrichten über das Leben Jesu, nicht aber
auf pragmatische Ergänzung derselben geht: so haben wir
uns auf diese muthmaſslichen Hebel der Bildung Jesu, über
welche unsre Quellen keine Aussage enthalten, nicht weiter
einzulassen, sondern uns auf diejenigen Punkte zu beschrän-
ken, welche das N. T. selbst als solche Hebel namhaft macht.
Sehen wir nun von der schon beurtheilten Kindheitsgeschichte
ab, so lassen unsre Evangelien nur Eine Erscheinung in die
Entwicklung der Thätigkeit Jesu eingreifen, nämlich die des
Täufers Johannes. Da aber der Wirksamkeit dieses Man-
nes erst in Verbindung mit der Taufe und dem öffentlichen
Auftreten Jesu von den Evangelien gedacht wird: so wol-
len wir das ihn und sein Verhältniss zu Jesu Betreffende
nicht mehr hier abhandeln, sondern mit der Untersuchung
darüber den zweiten Abschnitt eröffnen.


[[307]]

Zweiter Abschnitt.
Geschichte des öffentlichen
Lebens Jesu
.


[[308]][[309]]

Erstes Kapitel.
Das Verhältniss Jesu zum Täufer
Johannes.


§. 40.
Chronologisches Verhältniss zwischen Johannes und Jesus.


Von dem Auftritt des Täufers Johannes, dessen sämmt-
liche Evangelien gedenken, geben uns das zweite und vierte
keine Zeitbestimmung; das erste eine ungenaue; das dritte
eine, wie es scheint, sehr präcise.


Nach Matth. 3, 1. tritt Johannes als Buſsprediger auf
ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείυαις, das hieſse, wenn man auf das zu-
letzt Erzählte (2, 23.) zurückblickt, um die Zeit, als Jesu
Eltern sich in Nazaret ansiedelten 1), wo Jesus noch ein
Kind war. Wenn nun im Folgenden berichtet wird, wie
Jesus, um sich taufen zu lassen, zu Johannes gekommen
sei: so müſste man zwischen dem ersten Auftritt des Täu-
fers, der in die Kindheit Jesu fiele, und dem Zeitpunkt,
in welchem er Jesum taufte, eine Reihe von Jahren ein-
schieben, während welcher Jesus so weit herangereift sein
müſste, um an der johanneischen Taufe Theil nehmen zu
können. Aber die Schilderung der Person und Wirksam-
keit des Täufers bei Matthäus ist so kurz, es wird ihm so
wenig eine selbstständige, so ganz nur eine auf Jesum hin-
zielende Wirksamkeit zugeschrieben, daſs es gewiſs nicht
[310]Zweiter Abschnitt.
im Sinne des Evangelisten ist, denselben eine lange Reihe
von Jahren für sich wirken zu lassen, sondern seine Mei-
nung geht unstreitig dahin, die kurze Wirksamkeit des
Täufers habe frühzeitig ihr Ziel darin gefunden, daſs Je-
sus sich von ihm taufen lieſs. Haben wir auf diese Weise
nicht zwischen den Auftritt des Täufers und die Taufe
Jesu, also zwischen V. 12. und 13. des dritten Kap. bei
Matthäus, die lange Zwischenzeit hineinzudenken, welche
wir hier in jedem Falle nöthig haben: so bleibt nichts übrig,
als sie zwischen dem Schluſs des zweiten und dem Anfang
des dritten Kapitels, d. h. zwischen der Ansiedelung der
Eltern Jesu in Nazaret und dem Auftritt des Täufers ein-
zuschalten, — wenn nur nicht das ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις
entgegenstände, welches ja diese beiden Vorgänge in die-
selbe Zeit zu verlegen scheint. Indessen, daſs diese For-
mel nur die schlaffe Zeitbestimmung eines Solchen ist, wel-
cher eine präcisere entweder nicht geben will oder nicht
geben kann, ist bekannt 2); oder noch besser vielleicht
nimmt man mit Paulus an, Matthäus rücke hier ein Stück
aus einer Diegese über den Täufer ein, in welcher von
dessen, seinem öffentlichen Auftritt unmittelbar vorangehen-
dem Leben Manches berichtet, und dann mit vollem Recht
durch ἐν τ. ἡμ. ἐκ. fortgefahren war, welche Verbindungs-
formel nun Matthäus, ob er gleich das, worauf sie sich be-
zog, weggelassen, dennoch beibehalten habe 3). So erfah-
ren wir also aus Matthäus über die Zeit des Auftritts von
Johannes nichts, als daſs derselbe in der Periode zwischen
der Kindheit und dem Mannesalter Jesu geschehen sei.


Lukas giebt eine vielfache Zeitbestimmung für den Auf-
tritt des Täufers, indem er denselben in die Verwaltungs-
zeit des Pilatus in Judäa; in die Regierung des Herodes
[311]Erstes Kapitel. §. 40.
(Antipas), des Philippus und Lysanias in den übrigen Thei-
len Palästina's; in die Hohepriesterschaft des Hannas und
Kaiphas; bestimmt aber in das 15te Regierungsjahr des
Tiberius (welches, vom Tode des Augustus an gerechnet,
dem Jahr 28—29 unsrer aera entspricht) 4) verlegt 3, 1. 2.).
Mit dieser letzteren, genauesten Zeitbestimmung harmoni-
ren alle die vorhergenannten minder genauen (auch die,
daſs neben Kaiphas noch Hannas als Hohenpriester genannt
wird, sobald man die eigenthümliche Auktorität erwägt,
welche nach A. G. 4, 6., Joh. 18, 13. jener gewesene Ho-
hepriester auch nach dem Amtsantritt seines Schwieger-
sohns Kaiphas beibehielt, mit Ausnahme der Angabe über
den Lysanias. Zwar spricht auch Josephus von einer
Ἀβίλα ἡ Λυσανίου καλουμένη 5) und führt einen Lysanias als
Herrscher von Chalcis am Libanon, in dessen Nähe auch
das Gebiet von Abila zu suchen ist 6), auf 7), der also ohne
Zweifel auch der Beherrscher von diesem war: aber die-
ser Lysanias war bereits 34 Jahre vor Christi Geburt auf
Anstiften der Kleopatra ermordet worden 8), und eines an-
dern Lysanias erwähnt weder Josephus, noch sonst ein
Schriftsteller über jene Zeit. Die Herrschaft jenes Lysa-
nias fiele also nicht nur mehr als 60 Jahre früher als das
15te Jahr des Tiberius, sondern auch über die andern von
Lukas mit diesem zusammengestellten weiteren Perioden
um Vieles hinaus. Man hat daher angenommen, Lukas
spreche hier von einem jüngeren Lysanias, einem Nach-
kommen jenes früheren, welcher unter Tiberius jene Land-
schaft besessen habe, von Josephus aber, seiner minderen
[312]Zweiter Abschnitt.
Berühmtheit wegen, nicht erwähnt werde 9). Nun läſst
sich zwar freilich nicht beweisen, was Süskind zur Wi-
derlegung dieser Deutung verlangt, daſs Josephus des jün-
geren Lysanias nothwendig hätte erwähnen müssen, wenn
ein solcher existirt hätte; aber doch, daſs er mehr als Eine
Veranlassung dazu hatte, hat Paulus genügend aufgezeigt 10).
Namentlich da er noch in Bezug auf die Zeiten des ersten
und zweiten Agrippa Abila als ἡ τοῦ Λυσανίου bezeichnet,
so muſste er doch hiedurch daran erinnert werden, daſs
er des zweiten Lysanias, von welchem, als dem späteren
Regenten, das Land um jene Zeit zunächst diesen Beina-
men gehabt haben müſste, gar nicht erwähnt, sondern nur
von dem ersten erzählt hatte. Ist demnach der zweite Ly-
sanias nichts anderes als eine historische Fiktion: so ist
freilich das, was man statt desselben in Vorschlag bringt 11),
auch nicht weiter als eine philologische. Denn wenn vor-
hergegangen war: Φιλίππου — τετραρχοῦντος τῆς Ἰτουραίας κ.
τ. λ.
, und es folgt nun: καὶ Λυσαν ου τῆς Ἀβιληνῆς τετραρ-
χοῦντος
: so kann dieſs unmöglich so verstanden werden, als
hätte eben jener Philippus auch über das Abilene des Ly-
sanias geherrscht. Denn in diesem Falle durfte das τετραρ-
χοῦντος
nicht wiederholt 12), und muſste τῆς vor Λυσανίου
gestellt werden, wenn der Verfasser nicht miſsverstanden
sein wollte. Es bleibt daher nichts übrig, als die Annah-
me, der Verfasser selbst habe sich geirrt, und aus dem
Umstand, daſs auch in späteren Zeiten noch Abilene von
dem lezten Herrscher der früheren Dynastie ἡ Λυσανίου
[313]Erstes Kapitel. §. 40.
zubenannt war, den Schluſs gezogen, daſs es auch damals
noch einen Herrscher dieses Namens gehabt habe, während
es doch entweder unter Philippus, oder noch wahrschein-
licher unter den Römern stand. Es ist also hier, wie oben
bei der Angabe von der Schatzung, dem Lukas, gerade wo
er recht genau in der Zeitbestimmung sein wollte, ein star-
ker chronologischer Miſsgriff begegnet. Indeſs, unerachtet
er der Zeitdifferenz nach gerechnet beiläufig sechsmal grös-
ser ist, als jener: so möchte ich ihn doch für weniger be-
deutend halten, da es leichter und verzeihlicher war, über
einen kleinen Fürsten am Libanon um 60 Jahre zu feh-
len, als in Bezug auf den berühmten Census um zehn.


Die chronologische Angabe unsrer Stelle betrifft zu-
nächst nur den Täufer Johannes; wo Lukas später (V. 21 ff.)
auf Jesum zu reden kommt, vermiſst man eine ähnliche.
Von ihm wird blos das ungefähre Alter (ὡσεὶ ἐτῶν τριά-
κοντα
) bei seinem Auftritt (ἀρχόμενος) angegeben, der Zeit-
punkt aber verschwiegen; so wie umgekehrt für Johannes
die Altersangabe fehlt. Ist also gleich Johannes im funf-
zehnten Jahr des Tiberius aufgetreten, so können wir,
scheint es, daraus doch nichts für die Zeit des Auftritts
Jesu abnehmen, da ja nirgends gesagt ist, wie kurz oder
lange nachdem Johannes zu taufen angefangen, Jesus zu
ihm an den Jordan gekommen sei; ebenso, wenn wir gleich
wissen, daſs Jesus bei seiner Taufe ungefähr 30 Jahre
zählte, so erfahren wir dadurch nicht, wie alt Johannes
war, da er seine Wirksamkeit als Täufer begann. Frei-
lich, wenn wir uns an Luc. 1, 26. erinnern, wonach Jo-
hannes gerade ein halbes Jahr älter als Jesus war, und
wenn wir das Datum zu Hülfe nehmen, daſs vor dem dreis-
sigsten Jahre die jüdische Sitte ein öffentliches Auftreten
nicht wohl erlaubt habe: so könnte der Täufer nur ein
halbes Jahr vor Jesu Ankunft am Jordan aufgetreten sein,
da er nur so lange vor ihm das hiezu nothwendige Alter
erreicht hätte. Allein vor dem angegebenen Lebensjahre
[314]Zweiter Abschnitt.
öffentlich aufzutreten, verbot wenigstens kein ausdrückli-
ches Gesetz, und ob von den Priestern und Leviten, wel-
chen jenes Jahr als Anfang des ordentlichen Dienstes be-
stimmt war (4. Mos. 4, 3. 47., vergl. übrigens 2. Chron. 31,
17., wo das zwanzigste genannt ist), ein Schluſs auf die
freiere Wirksamkeit eines Propheten gelte, hat man mit
Recht in Frage gestellt 13). Dieſs also würde nicht hin-
dern, auch das angegebene Altersverhältniſs vorausgesezt,
doch den Auftritt des Täufers dem von Jesu um ein Ziem-
liches vorangehen zu lassen. Indeſs schwerlich im Sinne
des Evangelisten. Denn daſs dieser den Auftritt des Vor-
läufers zwar so übersorgfältig bestimmt haben sollte, den
des Messias selbst aber unbestimmt gelassen, das wäre doch
gar zu ungeschickt 14), und wir können kaum anders, als
ihm die Absicht unterlegen, durch seine Angaben für den
Auftritt des Täufers auch die Zeit des Auftritts Jesu mit-
zubestimmen. Dieſs trifft aber nur dann zu, wenn er an-
nahm, daſs sehr bald nach dem Auftritt des Johannes Jesus
zu ihm an den Jordan gekommen sei und sofort selbst auch
zu lehren angefangen habe 15). Denn daſs jene Zeitbestim-
mung ursprünglich nur den Anfang eines von Lukas einge-
rückten Aufsatzes über den Täufer ausgemacht haben sollte,
ist deſswegen wenig wahrscheinlich, weil solche chronolo-
gische Akribie eher dem παρηκολουϑηκότι ἄνωϑεν πᾶσιν
ακριβῶς
und demjenigen ähnlich sieht, der auch die Zeit
von Jesu Geburt auf entsprechende Weise zu bestimmen
gesucht hatte.


Daſs nun aber dieser Darstellung zufolge Johannes nur
so ganz kurze Zeit vor Jesu sollte aufgetreten sein, ist nicht
so leicht sich vorzustellen. Nicht ohne Grund hat man eine
[315]Erstes Kapitel. §. 40.
so kurze Dauer der Wirksamkeit des Täufers unwahr-
scheinlich gefunden, da er doch eine beträchtliche Anzahl
Jünger (Joh. 4, 1.), und zwar nicht blos solche, die sich nur
von ihm taufen lieſsen, sondern von ihm besonders gebil-
dete Schüler (Luc. 11, 1.) hatte, und eine eigene Partei von
Anhängern hinterlassen hat (A. G. 18, 25. 19, 3.), was
schwerlich das Werk von wenigen Monaten sein konnte.
Es muſste doch, wurde bemerkt, erst einige Zeit hingehen,
bis der Täufer so bekannt wurde, daſs Leute die Reise zu
ihm in die Wüste unternahmen; es bedurfte Zeit, seine
Lehre zu fassen, und Zeit, daſs sich dieselbe, zumal sie ge-
gen die gangbaren jüdischen Begriffe verstieſs, erst Ein-
gang verschaffen und sich festsetzen konnte; überhaupt,
das hohe und dauernde Ansehen, in welches sich Johannes
nach Josephus 16), wie nach den Evangelien (Matth. 14, 2.
21, 26.), bei seiner Nation gesezt hatte, lieſs sich nicht in
so kurzer Zeit erwerben 17).


Doch, indem durch das Bisherige nur überhaupt eine
längere Wirksamkeit des Täufers gefordert ist: so ist da-
mit noch nicht bewiesen, daſs unsre Evangelien Unrecht
haben, wenn sie die Zeit seines Wirkens vor Jesu so kurz
darstellen, da sie ja vielleicht, was vorne fehlt, hinten
ansetzen und den Täufer nach dem Auftritt Jesu desto
länger noch fortwirken lassen. Allein auch eine Verlän-
gerung der Wirksamkeit des Täufers nach dieser Seite ist
wenigstens in den zwei ersten Evangelien nicht zu finden.
Denn nicht nur berichten diese nach Jesu Taufe über Jo-
hannes nichts mehr, ausser jener Sendung zweier Jünger
(Matth. 11.), die schon aus dem Gefängnisse erfolgt, son-
dern es lautet Matth. 4, 12. Marc. 1, 14. ganz so, als ob
während oder kurz nach dem vierzigtägigen Aufenthalt
[316]Zweiter Abschnitt.
Jesu in der Wüste der Täufer gefangen genommen wor-
den, und in Folge dessen Jesus nach Galiläa gegangen
wäre, um daselbst öffentlich aufzutreten. Lukas freilich
(4, 14.) erwähnt der Gefangennehmung des Täufers nicht
als der Veranlassung von Jesu Auftreten in Galiläa, und
von der Sendung der zwei Johannisjünger scheint er sich
vorzustellen, sie sei noch während der freien Wirksam-
keit des Täufers erfolgt (7, 18. ff.); noch bestimmter spricht
sich das vierte Evangelium gegen die Vorstellung aus, als
wäre Johannes so bald nach Jesu Taufe gefangen gesezt
worden, indem es 3, 24. ausdrücklich bemerkt, daſs noch
nach dem ersten von Jesu während seines öffentlichen Lebens
besuchten Pascha Johannes in freier Wirksamkeit gestanden
habe. Allein theils kann dieſs Fortwirken des Täufers
nach Jesu Auftritt doch nicht sehr lange mehr gedauert
haben, da er geraume Zeit vor Jesu hingerichtet worden
zu sein scheint (Luc. 9, 9. Matth. 14, 1. ff. Marc. 14, 16.);
theils ersezt das, was man nach Jesu Auftritt der Wirk-
samkeit des Johannes zusetzen mag, dasjenige nicht, was
ihr vor diesem Zeitpunkt abgeht. Denn, abgesehen da-
von, daſs dem vierten Evangelium (1, 35.) zufolge der
Täufer bei'm Auftritt Jesu schon einen bestimmten Kreis
vertrauterer Schüler gesammelt hatte, so wäre überhaupt
der feste Boden, welchen seine Schule gewann, schwer
zu erklären, wenn er nur etliche Monate allein gewirkt
hätte, und dann so frühe von Jesu überflügelt worden wäre.


Ein Ausweg ist allein noch übrig, nämlich der, zwi-
schen der Taufe Jesu und seinem öffentlichen Auftritt zu
unterscheiden und zu sagen: er ist zwar schon nach dem
ersten Halbjahr der Wirksamkeit des Johannes von dessen
Rufe so angezogen worden, daſs er sich seiner Taufe un-
terwarf; aber von da an hat er sich noch längere Zeit
entweder im Gefolge und der Schule desselben, oder wie-
der zu Hause in der Zurückgezogenheit aufgehalten, und
ist erst geraume Zeit später selbstständig hervorgetreten.
[317]Erstes Kapitel. §. 40.
So würden wir einerseits den gröſseren Zeitraum, wel-
chen Johannes vor dem Auftritt Jesu und unverdunkelt
von diesem gewirkt haben muſs, gewinnen, und doch hät-
ten unsre Evangelien Recht, wenn sie die Taufe Jesu
scheinbar so bald nach dem Auftritt des Täufers erfolgen
lassen. Allein die Annahme einer solchen längeren Zwi-
schenzeit zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentlichen
Auftritt ist den N. T.lichen Schriftstellern am allermeisten
fremd. Denn die Taufe Jesu betrachten sie, wie aus dem
Herabkommen des Geistes und der Himmelsstimme erhellt,
als Einweihung Jesu zu seinem messianischen Berufe; die
einzige Pause, welche sie nach derselben noch eintreten
lassen, ist das sechswöchige Fasten in der Wüste; nach
diesem aber tritt Jesus, dem Lukas zufolge unmittelbar
(4, 14.), dem Matthäus und Markus zufolge, nachdem der
Täufer, wahrscheinlich übrigens in der Zwischenzeit, in
das Gefängniſs gesezt war, in Galiläa auf. Besonders aber
indem Lukas 3, 23. die Taufe Jesu (der wahrscheinlichsten
Auslegung zufolge) als sein ἄρχεσϑαι, seinen Amtsantritt,
bezeichnet, und A.G. 1, 22. Jesum von dem βάπτισμα
Ἰωάννου
an mit seinen Jüngern verkehren läſst, so hat er
augenscheinlich Jesu Taufe durch Johannes und seinen öf-
fentlichen Auftritt als Eines und dasselbe und durch keine
Zwischenzeit (ausser jenen 6 Wochen) getrennt sich vor-
gestellt.


Wenn somit den beiden Annahmen, zu welchen wir,
um für die bedeutende Wirksamkeit des Täufers Raum zu
gewinnen, geneigt sein müssen, daſs Jesus entweder spä-
ter zu seiner Taufe sich begeben, oder daſs er noch län-
gere Zeit, nachdem er getauft war, seinen öffentlichen
Auftritt verzögert habe, die evangelische Darstellung ent-
schieden in den Weg tritt: so sind sie uns hiedurch doch
nur so lange verboten, bis wir nachzuweisen im Stande
sind, was, auch ohne historische Gründe, die N. T.lichen
Schriftsteller zu einer solchen Darstellung veranlassen
[318]Zweiter Abschnitt.
konnte. Dieses Moment aber liegt nahe genug, und ist
schon im Vorhergehenden angedeutet. War einmal, wie
es in der ersten Christengemeinde geschah (A.G. 19, 4.),
der Täufer nicht mehr als eine Erscheinung für sich, son-
dern als eine, nur zur Vorbereitung auf Christum dienende
gefaſst: so verweilte die Vorstellung nicht mehr bei der
Wirksamkeit des bloſsen Vorläufers, sondern eilte zu der-
jenigen Erscheinung fort, welche er vorbereiten sollte.
Noch offenbarer ist das Interesse, welches auch ohne ge-
schichtlichen Grund die urchristliche Tradition dafür ha-
ben muſste, zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentli-
chen Auftritt jede Zwischenzeit auszuschlieſsen. Denn daſs
durch die Taufe Jesus sich an Johannes als Schüler ange-
schlossen und sofort noch längere Zeit in diesem Verhält-
nisse gelebt hätte, dieſs anzunehmen, widersprach dem re-
ligiösen Interesse der neuen Gemeinde, welches einen, nicht
von Menschen, sondern von Gott belehrten Stifter dersel-
ben verlangte; weſswegen, auch wenn es sich wirklich
auf jene Weise verhalten hätte, dennoch gewiſs frühzeitig
der Sache diese andre Wendung gegeben worden wäre,
welcher zufolge die Taufe Jesu durch Johannes nicht
seinen Eintritt in die johanneische Schule, sondern nur
seine Einweihung zum selbstständigen Auftritt bezeich-
nete. So finden wir uns also durch die abweichende Dar-
stellung unsrer Quellen unbehindert, dasjenige anzuneh-
men, wozu die Sache selbst uns drängt, daſs nämlich der
Täufer schon längere Zeit vor dem Auftritt Jesu gewirkt
habe.


Dieses angenommen, so müſste, wenn wir nach Luc.
1, 26. und 3, 23. voraussetzen, daſs Jesus, nur ein halbes
Jahr jünger als Johannes, bei seinem Auftritt ungefähr im
dreissigsten Jahre gestanden habe, Johannes noch in den
Zwanzigen öffentlich aufgetreten sein. Gegen ein so früh-
zeitiges Auftreten eines Propheten ist nun zwar nach dem
Obigen kein ausdrückliches jüdisches Gesez; auch möchte
[319]Erstes Kapitel. §. 41.
ich nicht so bestimmt, wie Cludius18), es unwahrschein-
lich finden, daſs ein so junger Buſsprediger hätte Eindruck
machen und namentlich für einen Propheten aus der alten
Zeit, für einen Elias, gehalten werden können: sondern
nur auf das Allgemeine will ich mich berufen, daſs es
nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge natürlich ist, den
um ein Ziemliches früher zu öffentlicher Wirksamkeit Her-
vorgetretenen auch als den um so viel Älteren zu präsu-
miren, zumal, wenn Inhalt und Geist seiner Wirksam-
keit so ganz einem reiferen Alter entsprechen, wie die
Buſspredigt des Johannes. Von dieser Regel giebt es zwar
nicht wenige Ausnahmen: aber zur Annahme einer solchen
im gegenwärtigen Falle uns zu bewegen, ist die Angabe
Luc. 1, 26., daſs Johannes nur um 6 Monate älter gewe-
sen als Jesus, zu schwach, da sie ganz nur im Interesse
der Sagenpoësie gemacht ist, und daher gegen die mindeste
Unwahrscheinlichkeit aufgegeben werden muſs.


Das Resultat unsrer Kritik der chronologischen Angabe
Luc. 3, 1. 2. vergl. 23. und 1, 26. ist also: Wenn Jesus, wie
dieſs die Meinung des Lukas zu sein scheint, im funfzehnten
Jahre des Tiberius aufgetreten ist: so fällt der Auftritt
des Johannes nicht ebenfalls erst in dieses Jahr, sondern
früher, und wenn Jesus in seinem dreiſsigsten Jahre auf-
getreten ist: so ist der längere Zeit vor ihm aufgetretene
Täufer nicht blos um sechs Monate älter zu denken.


§. 41.
Persönliches und reales Verhältniss des Täufers zu Jesu.


Johannes, wie unsre Quellen andeuten, ein Nasiräer
(Luc. 1, 15.) und Ascet (Matth. 3, 4. 9, 14. 11, 18.),
wie manche Theologen vermuthet haben 1), auch mit Es-
[320]Zweiter Abschnitt.
senern im Zusammenhang, wurde nach der Angabe des
Lukas (3, 2.) durch ein an ihn in der Wüste ergehendes
ῥῆμα ϑεοῦ aufgefordert, öffentlich hervorzutreten. Da wir
hier in keinem Falle mehr die eigne Erklärung des Täu-
fers vor uns haben, so ist das Dilemma, wie es Paulus
stellt, man könne nicht wissen, ob sich Johannes selbst
ein äusseres oder inneres Faktum als Aufforderung Gottes
gedeutet, oder ob ein Anderer ihn so aufgerufen habe 2),
nicht vollständig, und es muſs als dritte Möglichkeit hin-
zugesezt werden, daſs vielleicht seine Anhänger die Beru-
fung ihres Lehrers durch jenen an die alten Propheten er-
innernden Ausdruck verherrlicht haben.


Während es nach der Darstellung des Lukas scheint,
als wäre nur der göttliche Ruf an den Täufer ἐν τῇ ἐρήμῳ
ergangen, zum Behuf des Lehrens und Taufens aber habe
er sich von da in die περίχωρος τοῦ Ἰορδάνου begeben (V. 3.):
so macht Matthäus (3, 1. ff.) die jüdische Wüste selbst
zum Schauplaz der Predigt und Taufe des Johannes, wie
wenn der Jordan, in welchem er taufte, durch jene Wüste
geflossen wäre. Nun floſs dieser zwar nach Josephus vor
seinem Einfall in das todte Meer allerdings durch πολλὴν
ἐρημίαν 3), was aber nicht die eigentliche Wüste Juda
war, welche weiter südlich lag. Deſswegen hat man hier
einen Fehler des ersten Evangelisten finden wollen, wel-
cher, verführt durch die Beziehung der Weissagung: φωνὴ
βοῶντος ἐν τῇ ἐρήμῳ
auf den, aus der ἔρημος τῆς Ἰουδαίας
stammenden Johannes auch seine Thätigkeit als Buſspredi-
ger und Täufer dorthin verlegt habe, deren Schauplaz doch
das blühende Jordanthal gewesen sei 5). Sieht man indeſs
4)
[321]Erstes Kapitel. §. 41.
im Lukasevangelium weiter vorwärts: so verschwindet der
Schein, als lieſse dasselbe den Johannes nach erhaltenem
Ruf die Wüste verlassen, da unten, bei der Gesandtschaft
des Täufers, auch Lukas Jesum in Bezug auf denselben
fragen läſst: τί ἐξεληλύϑατε εἰς τὴν ἔρημον ϑεάσασϑαι (7, 24.);
Da nun die Jordanaue in der Nähe des todten Meeres, wo-
hin die Wirksamkeit des Täufers zu setzen ist, den schma-
len Uferrand ausgenommen, wirklich eine dürre Ebene
war 6): so bliebe nur das etwa ein dem Matthäus eigen-
thümlicher Irrthum, daſs er diese Wüste als die ἔρημος
τῆς Ἰουδαίας
bezeichnet; wenn man nicht anders entweder
annehmen will, Johannes habe sich, als er von der Buſs-
predigt zur Taufe schritt, aus der jüdischen Wüste an das
Jordanufer hinaufgezogen 7), oder, der öde Strich am
Jordan sei als Fortsetzung der judäischen Wüste gleich-
falls noch mit diesem Namen bezeichnet worden 8).


Die Taufe des Johannes, schwerlich aus der, ohne
Zweifel erst nachchristlichen, Proselytentaufe 9), eher in
Analogie mit den religiösen Lustrationen, wie sie auch
unter den Juden, vorzüglich bei den Essenern, eingeführt
waren, entstanden, gründete sich, wie es scheint, haupt-
sächlich auf die bildlichen Äusserungen mehrerer Prophe-
ten, die in der Folge eigentlich verstanden wurden, nach
welchen Gott von dem israëlitischen Volke, wenn es wie-
der zu Gnaden angenommen werden wolle, ein Baden und
Abwaschen seiner Unreinigkeit verlangt und es selbst mit
Wasser zu reinigen verspricht (Jes. 1, 16. Ezech. 36, 25.
vergl. Jerem. 2, 22.). Nimmt man dazu die jüdische Vor-
stellung, daſs der Messias mit seinem Reiche nicht eher
Das Leben Jesu I. Band. 21
[322]Zweiter Abschnitt.
erscheinen werde, als wenn die Israëliten Buſse thun 10),
so sieht man, wie leicht die Combination gemacht werden
konnte, daſs also eine, die Besserung und Sündenverge-
bung symbolisch darstellende Abwaschung der Ankunft des
Messias vorangehen müsse. — Ueber die Bedeutung der
Taufe des Johannes stimmen die Berichte nicht ganz zu-
sammen. Alle zwar kommen darin überein, daſs die με-
τάνοια ein wesentliches Erforderniſs bei derselben gewesen
sei, denn auch was Josephus vom Täufer sagt, er habe die
Juden ermahnt, ἀρετὴν ἐπασκοῦντας, καὶ τῇ πρὸς ἀλλήλους
δικαιοσύνῃ καὶ πρὸς τὸν ϑεὸν εὐσεβείᾳ χρωμένους βαπτισμῷ
συνιέναι
11) ist doch, nur gräcisirt, das Nämliche. Nun
aber verbinden Markus und Lukas mit der Bezeichnung
der Johannistaufe als βάπτισμα μετανοίας den Zusaz: εἰς
ἄφεσιν ἁμαρτιῶν
(1, 4. 3, 3.); diesen hat Matthäus hier
nicht, doch bezeichnet auch er, wie Markus, diejenigen, wel-
che sich taufen lieſsen, zugleich als ἐξομολογούμενοι τὰς
ἁμαρτίας αὑτῶν
(3, 6.); Josephus dagegen scheint gera-
dezu zu widersprechen, wenn er als die Meinung des Täu-
fers die angiebt: ο[ὕ]τω γὰρ καὶ τὴν βάπτισιν ἀποδεκτὴν αὐτᾳ
(τῷ ϑεῷ) φανεῖσϑαι, μὴ ἐπί τινων ἁμαρτάδων παραιτήσει
χρωμένων, ἀλλ' ἐφ̔ ἁγνείᾳ τοῦ σώματος, ἄτε δὴ καὶ τῆς
ψυχῆς δικαιοσύνῃ προεκκεκαϑαρμένης
12). Und hier könnte
man nun das auffassen, daſs das εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν nach
A. G. 2, 38. u. a. St. eine gewöhnliche Bezeichnung der
christlichen Taufe war, und daher vielleicht auch auf die
johanneische unhistorisch übertragen sein könnte; indessen,
da doch schon in der angeführten Stelle aus Ezechiel die
Abwaschung nicht blos Besserung, sondern auch Sünden-
vergebung versinnlichte, so wird doch die Angabe der Evan-
[323]Erstes Kapitel. §. 41.
gelisten gegen Josephus festzuhalten sein, dessen Worte
sich überdieſs mit der N. T.lichen Angabe vereinigen las-
sen, wenn man sie so faſst, daſs durch die Johannistaufe
nicht die Reinigung von einzelnen, zudem noch blos leviti-
schen Unreinigkeiten, sondern des ganzen Menschen, und
diese Reinigung nicht unmittelbar und mysteriös durch das
Wasser, sondern durch Vermittlung des sittlichen Aktes
der Besserung habe bewirkt werden sollen 13).


Eine weitere Differenz findet in Bezug auf das Verhält-
niſs statt, in welches die verschiedenen Nachrichten über
Johannes seine Taufe zu der βασιλεία τῶν οὐρανῶν stellen.
Nach Matthäus war der kurze Inhalt der Aufforderung,
welche er mit der Taufe verband, der: μετανοεῖτε· ἤγγικε
γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν
(3, 2.); nach Lukas spricht der
Täufer anfänglich nur von μετάνοια und ἄφεσις ἁμαρτιῶν,
aber von keinem Himmelreich, und erst die Vermuthung
des Volkes, er möchte vielleicht selbst der Messias sein,
veranlaſst ihn, auf diesen, als nach ihm kommenden hinzu-
weisen (3, 15 ff.); bei Josephus aber findet sich von einer
Beziehung der Thätigkeit des Täufers auf die messianische
Idee gar nichts. Auch hier jedoch darf man aus der Ab-
weichung der Berichte nicht schlieſsen, der Täufer selbst
habe sich in kein Verhältniſs zum messianischen Reiche
gestellt, und erst die christliche Sage habe ihm dieſs zu-
geschrieben. Denn schon seine Taufe ist, sofern man die
Ableitung aus der Proselytentaufe von der Hand weist,
nicht recht erklärlich, wenn man nicht an die oben erwähn-
te sühnende Lustration des Volkes denken darf, welche
man in der messianischen Zeit erwartete; dann aber wird
auch die Erscheinung Jesu begreiflicher, wenn schon Jo-
hannes die Idee des nahen Messiasreichs auf die Bahn ge-
bracht hatte. Daſs Josephus die messianische Beziehung
der Sache zurückstellt, stimmt ganz mit seiner sonstigen
21*
[324]Zweiter Abschnitt.
Praxis überein, welche sich namentlich aus der Rücksicht
auf das Verhältniſs seines Volks zu den Römern erklärt;
überdieſs liegt in dem Ausdruck: βαπτισμῷ συνιέναι, wel-
chen er gebraucht, in dem συςρέφεσϑαι der Leute, und der
Furcht des Antipas vor einer durch Johannes zu bewir-
kenden ἀπόςασις, wovon er weiterhin spricht, ganz die
Andeutung einer solchen religiöspolitischen Vereinigung,
wie sie durch messianische Hoffnungen gebildet werden
konnte. Wie der Täufer so bestimmt erklären konnte,
daſs wirklich das Messiasreich nun vor der Thüre sei,
darüber könnte man sich verwundern, und, nicht beruhigt
durch die Verweisung des Lukas auf eine göttliche Auf-
forderung und Offenbarung, der Vermuthung nachgeben,
daſs vielleicht der christliche Referent aus dem späteren
Erfolg heraus, da ja nach Johannes wirklich derjenige auf-
trat, welchen er für den Messias hielt, der Rede des Täu-
fers eine Bestimmtheit gegeben habe, welche ursprünglich
nicht in derselben lag, indem dieser nämlich, ganz adäquat
der oben angeführten jüdischen Vorstellung, nur gesagt ha-
ben könnte: μετανοεῖτε, ἴνα ἔλϑῃ ἡ βασ. τ. οὐρ., und erst
die spätere Darstellung hätte statt des ἴνα γὰρ gesetzt.
Doch dieser Annahme bedarf es nicht; leicht konnte ja
Johannes in den damaligen bewegten Zeiten Merkmale zu
entdecken glauben, welche ihm die Nähe des messianischen
Reichs zu verbürgen schienen, — und wie nahe es sei,
das lieſs er ja immer unbestimmt.


Den Eintritt der βασιλεία τῶν οὐρανῶν knüpfte Johan-
nes unsern Evangelien zufolge an ein messianisches Indivi-
duum, welchem er, zum Unterschied von seiner Wasser-
taufe, ein βαπτίζειν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρὶ zuschrieb (Matth.
3, 11. parallel.), da ja die Ausgiessung des heiligen Geistes
für einen Hauptzug der messianischen Zeiten galt (Joël 3,
1—5. A. G. 2, 16 ff.); von welchem er ferner eine, mit
dem Worfeln des Getraides vergleichbare Sichtung des
Volks erwartete, was auch die Propheten, wenn gleich un-
[325]Erstes Kapitel. §. 41.
ter andern Bildern, für die messianische Zeit vorhergesagt
hatten (Malach. 3, 2. 3. Zachar. 13, 9.). Hier stellen nun
die Synoptiker die Sache so, als ob der Täufer unter die-
sem messianischen Individuum bestimmt schon Jesum von
Nazaret verstanden hätte. Nach Lukas waren ja die Müt-
ter der beiden Männer verwandt und von dem künftigen
Verhältniſs ihrer Söhne unterrichtet; schon in Mutterleibe
hatte sich der Täufer Jesu entgegenbewegt, und es ist da-
her, wie hier die Sache eingeleitet ist, vorauszusetzen,
daſs beide schon frühzeitig sich in ihrem durch himmlische
Mittheilung vorherbestimmten Verhältniſs kennen gelernt
und anerkannt haben. Matthäus zwar berichtet über sol-
che Familienverhältnisse zwischen Johannes und Jesus nichts;
doch legt er, wie sich Jesus taufen lassen will, dem Jo-
hannes Ausdrücke in den Mund, welche eine frühere Be-
kanntschaft beider vorauszusetzen schei[nen]. Denn sein Be-
fremden äussern, daſs Jesus zu ihm komme, da doch er
vielmehr nöthig hätte, von ihm getauft zu werden, dieſs
konnte Johannes nicht, wenn ihm Jesus nicht entweder
früher schon bekannt gewesen, oder im Augenblick durch
eine Offenbarung bekannt gemacht worden war; wovon
das Letztere durch nichts angedeutet ist; das sichtbare
Zeichen der Messianität Jesu wenigstens erfolgt erst nach-
her. Stimmen so das erste und dritte Evangelium (das
zweite behandelt die Sache zu epitomirend, als daſs seine
Ansicht in dieser Beziehung klar werden könnte) darin
überein, daſs Johannes und Jesus einander schon vor der
Taufe nicht fremd gewesen: so behauptet im vierten der
Täufer ausdrücklich, Jesum vor der himmlischen Erschei-
nung, welche den Synoptikern zufolge bei seiner Taufe
sich ereignete, nicht gekannt zu haben (1, 31. 33.). Ein-
fach die Sache angesehen, erscheint dieſs als ein Wider-
spruch, und weil die frühere Bekanntschaft beider Män-
ner bei Lukas als der objektive Thatbestand, und bei Mat-
thäus als unwillkührliches Eingeständniſs des überraschten
[326]Zweiter Abschnitt.
Johannes; das frühere Nichtgekannthaben dagegen im vier-
ten Evangelium als subjektive, und zwar wohlbedachte,
Versicherung des Täufers erscheint: so lag es nahe, mit dem
Wolfenbüttler Fragmentisten den Widerspruch auf Rech-
nung des Johannes und Jesu in der Art zu schreiben,
daſs sie in der That zwar sich längst gekannt und verab-
redet gehabt, vor den Leuten aber sich das Ansehen gege-
ben haben, als wären sie einander bisher fremd gewesen,
und legten nun ganz unbefangen der eine von des andern
Trefflichkeit Zeugniſs ab, um einander in die Hände zu
arbeiten 14).


Da man diesen Widerspruch nicht als absichtliche
Verstellung auf Johannes und mittelbar auch auf Jesus lie-
gen lassen wollte, versuchte man auf exegetischem Wege
das Vorhandensein desselben zu leugnen. Das κἀγὼ οὐκ
ᾔδειν αὐτὸν
soll nicht heissen: die Person, sondern die Mes-
sianität Jesu war mir unbekannt 15). Allerdings, sofern
dasjenige, was dem Johannes sofort durch das himmlische
Zeichen bekannt gemacht wird, die Messianität Jesu ist
(Joh. 1, 33 f.): so kann er unter dem, was ihm bis dahin
unbekannt gewesen, nichts Andres als eben diese verstan-
den haben, wodurch eine vorangegangene persönliche Be-
kanntschaft nicht nothwendig ausgeschlossen würde. Es
fragt sich jedoch, ob bei der Art, wie, den Bericht des Mat-
thäus und Lukas vorausgesezt, Johannes Jesum gekannt
haben müſste, die Bekanntschaft mit seiner Messianität von
der mit seiner Person auf solche Weise getrennt werden
kann? Soll nämlich Johannes Jesum persönlich gekannt ha-
[327]Erstes Kapitel. §. 41.
ben auf die Weise, wie uns Lukas die Familienverhältnis-
se zwischen beiden angiebt: so ist unmöglich, daſs er nicht
auch frühe genug davon Kunde bekommen haben sollte,
wie feierlich Jesus schon vor und bei seiner Geburt als Mes-
sias angekündigt worden war; er hätte also später nicht
sagen können, er habe davon nichts gewuſst, bis er ein himm-
lisches Zeichen bekommen habe, sondern er hätte sich so
ausdrücken müssen, er habe der Erzählung von den frühe-
ren Zeichen, deren eines ja an ihm selbst vorgegangen war,
nicht geglaubt. Kann man daher nicht umhin, anzuerken-
nen, daſs durch den besprochenen Ausdruck im vierten
Evangelium dem Täufer nicht allein die frühere Kenntniſs
von Jesu Messianität, sondern auch die persönliche Bekannt-
schaft mit ihm abgesprochen werde: so sucht man hiemit
doch das erste Kapitel des Lukas durch Berufung auf die
weite Entfernung der Wohnorte beider Familien zu verei-
nigen, welche dieselben verhindert habe, in weitere Be-
rührung zu kommen 16). Allein, war der Maria als Ver-
lobten der Weg von Nazaret in das jüdische Gebirge nicht
zu weit gewesen: wie sollte er es den beiden Söhnen, als
sie zu Jünglingen heranreiften, gewesen sein? Welche
sträfliche Gleichgültigkeit der beiden Familien gegen die
empfangenen höheren Mittheilungen wird hiebei vorausge-
setzt, und endlich welchen Zweck sollen die letzteren ge-
habt haben, wenn ihnen in Bezug auf das Verhältniſs der
beiden Söhne gar nicht nachgelebt wurde?


Wollte man indeſs auch zugeben, daſs das vierte Evan-
gelium nichts weiter, als die Bekanntschaft des Täufers
mit Jesu Messianität ausschlieſse, das dritte aber nichts
weiter, als die Bekanntschaft desselben mit seiner Person
voraussetze: so ist damit der Widerspruch der Evangelien
doch nicht gelöst. Denn bei Matthäus spricht Johannes,
als er Jesum taufen soll, so, als ob er Jesum nicht blos
[328]Zweiter Abschnitt.
persönlich, sondern als den Messias bereits kennen würde.
Wenn er ihn nämlich nicht taufen will, indem er sagt:
ἐγὼ χρείαν ἔχω ὑπὸ σοῦ βαπτισϑῆναι, καὶ σὺ ἕρχῃ πρός με
(3, 14.); so hat man dieſs zwar im Sinne der Harmonistik
so zu erklären gesucht, daſs Johannes hiedurch nur die
höhere Vortrefflichkeit Jesu, nicht aber seine Messianität
habe aussprechen wollen 17). Allein das Recht, die zum
messianischen Reiche vorbereitende Lustration vorzuneh-
men, konnte nicht durch hohe Vortrefflichkeit überhaupt
ertheilt werden, sondern es gehörte ein besonderer Beruf
dazu, wie ihn auch Johannes erhalten hatte, und wie er
nach jüdischer Vorstellung nur an einen Propheten, oder
den Messias und dessen Vorläufer ergehen konnte (Joh. 1,
19 ff.). Schrieb also Johannes Jesu die Befugniſs zu tau-
fen zu, so muſs er ihn nicht blos für vortrefflich über-
haupt, sondern bestimmt für einen Propheten gehalten ha-
ben, und zwar, da er ihn für würdig hielt, ihn selber zu
taufen, für einen höheren als sich selbst, was, da er sich
als den Vorläufer des Messias gefaſst hatte, nur der Mes-
sias selbst sein konnte. Dazu kommt, daſs Matthäus so
eben (3, 11.) eine Rede des Täufers mitgetheilt hatte, in
welcher dieser dem nach ihm kommenden Messias eine
Taufe zuschreibt, welche kräftiger als die seinige sein wer-
de: wie könnten wir also seine darauf folgende Äusserung
gegen Jesum anders verstehen, als so: was soll dir meine
Wassertaufe, o Messias? weit eher wäre mir deine Feuer-
taufe noth! 18)


Läſst sich somit der Widerspruch nicht wegräumen,
so muſs man ihn, wenn er nicht den betheiligten Personen
als absichtliche Täuschung zur Last fallen soll, auf die
Referenten überwälzen, was um so ungehinderter gesche-
hen kann, je anschaulicher sich machen läſst, wie einer
[329]Erstes Kapitel. §. 41.
von ihnen oder beide zu einer unrichtigen Darstellung ge-
kommen sind. Nun steht bei Matthäus seiner Übereinstim-
mung mit Johannes in dem bezeichneten Punkte nur die
Stellung der Rede des Täufers entgegen, durch welche er
Jesum von seiner Taufe zurückhalten will: nur weil je-
ner, ehe irgend etwas Ausserordentliches erfolgt ist, so
spricht, scheint eine vorangegangene Kenntniſs Jesu in sei-
ner Messianität vorausgesetzt zu werden. Wirklich stellt
nun das Hebräerevangelium bei Epiphanius die Bitte des
Johannes, daſs Jesus vielmehr ihn taufen möchte, als Folge
der himmlischen Erscheinung dar 19), und diese Darstel-
lung hat man neuerlich für die ursprüngliche angesehen,
welche der Verfasser unsres ersten Evangeliums abgekürzt
habe, indem er zugleich, um die Sache effektvoller zu
machen, schon bei dem ersten Nahen Jesu den Täufer
sich weigern und jenen Ausspruch thun lasse 20). Allein,
daſs wir an der Relation des Hebräerevangeliums nicht die
ursprüngliche Form dieser Erzählung besitzen, konnte schon
die äusserst schleppende Wiederholung der Himmelsstimme
sammt dem Auseinandergezogenen der ganzen Darstellung
zeigen. Vielmehr ist sie ein sehr abgeleiteter Bericht, und
die Stellung der Weigerung des Johannes nach der Er-
scheinung und Stimme zwar keineswegs zu dem Ende vor-
genommen, um den Widerspruch gegen das vierte Evan-
gelium zu vermeiden, welches in dem Kreise jener ebioni-
[330]Zweiter Abschnitt.
tischen Christen nicht als anerkannt vorausgesetzt werden
darf, sondern in eben der Absicht, welche man irrig, bei
der angeblich umgekehrten Änderung, dem Matthäus zu-
schreibt, nämlich, die Scene effektvoller zu machen. Eine
simple Weigerung von Seiten des Täufers schien zu matt;
es muſste wenigstens ein Fuſsfall (παραπεσὼν) vor dem
Messias stattgefunden haben: dieser konnte aber nicht bes-
ser motivirt werden, als durch die himmlische Erschei-
nung, welche somit vorangestellt werden muſste. Auf diese
Weise erklärt sich also nicht, wie Matthäus zu seinem
Widerspruch gegen Johannes gekommen ist, so wie ohnehin
für die Darstellung des Lukas diese Ableitung nicht aus-
reicht.


Alles erklärt sich ungezwungen, wenn man nur be-
denkt, daſs das wichtige Verhältniſs zwischen Johannes
und Jesus als ein von jeher bestandenes erscheinen
muſste vermöge der Eigenthümlichkeit populärer Vorstel-
lungsweise, das Wesentliche sich als von jeher Gewesenes
zu denken. Wie demgemäſs die Seele, sobald sie als we-
senhaft anerkannt ist, auch klarer oder dunkler als prä-
existirende gedacht wird: so hat auch jedes folgenreiche
Verhältniſs in populärer Denkweise eine solche Präexistenz.
So muſs nun der Täufer, welcher später in eine so bedeu-
tungsvolle Beziehung zu Jesus trat, diesen von jeher ge-
kannt haben, wie es in solcher Unbestimmtheit bei Mat-
thäus dargestellt ist; oder wie es Lukas genauer zeichnet,
schon ihre Mütter kannten sich und noch in Mutterleibe
wurden beide zusammengeführt. Dieſs Alles fehlt bei Jo-
hannes, welcher den Täufer vielmehr die entgegengesezte
Versicherung geben läſst, aber nur, weil bei ihm ein an-
deres Interesse das so eben bezeichnete überwog. Je we-
niger nämlich der Täufer Jesum schon vorher gekannt
hatte, den er nachher so hoch erhob, desto mehr fiel alles
Gewicht auf die wunderbare Scene, welche ihn auf Jesum
hinwies, desto mehr erschien sein ganzes Verhältniſs zu
[331]Erstes Kapitel. §. 42.
ihm nicht als ein natürlich entstandenes, sondern als ein
unmittelbar von Gott gewirktes.


§. 42.
War Jesus von Johannes als Messias anerkannt? Widerspre-
chende Angaben hierüber.


Mit der bisher besprochenen Differenz über die Frage,
ob Johannes Jesum vor der Taufe schon gekannt habe,
hängt die andere zusammen, was überhaupt der Täufer
von Jesu und seiner Messianität gehalten habe? — Nach
sämmtlichen evangelischen Berichten erklärt Johannes vor
Jesu Ankunft bei ihm aufs Bestimmteste, daſs demnächst
einer kommen werde, zu welchem er nur in untergeord-
netem Verhältniſs stehe; durch die Scene bei der Taufe
Jesu war ihm Jesus unverkennbar als derjenige bezeich-
net worden, als dessen Vorläufer er gekommen war; daſs
er diesem Zeichen Glauben geschenkt habe, müssen wir
nach Markus und Lukas voraussetzen, nach dem vierten
Evangelium bezeugt er es ausdrücklich (1, 34.) und thut
überdieſs Aussprüche, welche die tiefste Einsicht in Jesu
höhere Natur und Bestimmung beurkunden (1, 29. ff. 36.)
nach dem ersten war er bereits vor der Taufe Jesu davon
überzeugt. Dagegen berichten nun aber Matthäus (11, 2. ff.),
und Lukas (7, 18.), daſs späterhin der Täufer auf die
Kunde von der Wirksamkeit Jesu einige seiner Schüler
an ihn abgeordnet habe, mit der Anfrage, ob er der ver-
heissene Messias sei, oder ob man eines andern zu war-
ten habe?


Dem ersten Eindruck nach scheint diese Frage eine
Ungewiſsheit des Täufers auszudrücken, ob Jesus wirk-
lich der Messias sei, und so ist sie schon frühzeitig ver-
standen worden 1). Aber ein solcher Zweifel steht mit al-
len übrigen Umständen im vollkommensten Widerspruch.
[332]Zweiter Abschnitt.
Mit Recht findet man es psychologisch undenkbar, daſs
derjenige, welcher, durch das Zeichen bei Jesu Taufe,
das er für eine göttliche Erklärung hielt, überzeugt, seit-
dem so bestimmt über die messianische Bestimmung und
höhere Natur Jesu sich ausgesprochen hatte, auf einmal
sollte in seiner Überzeugung wankend geworden sein, er
müſste denn einem vom Wind hin- und hergewehten Rohre
geglichen haben, was Jesus gerade rühmend von dem Täu-
fer leugnete (Matth. 11, 7. ff.); man sucht vergeblich nach
einem Anlaſs in dem Benehmen oder dem damaligen Schick-
sal Jesu, denn eben auf die Nachricht von den ἔργα τοῦ
Χριςοῦ
, welche nach Lukas Wunderthaten waren, die doch
am wenigsten Zweifel in ihm erregen konnten, sandte er
jene Botschaft ab; endlich muſs man sich wundern, wie
Jesus später (Joh. 5, 33. ff.) so zuversichtlich auf des
Täufers Zeugniſs von ihm sich berufen konnte, wenn es
doch bekannt war, daſs Johannes am Ende selbst an sei-
ner Messianität irre geworden sei 2).


Man hat deſswegen den Versuch gemacht, der Sache
die Wendung zu geben, daſs Johannes nicht für sich
selbst, um seine eigene schwankende Überzeugung zu be-
festigen, sollte haben fragen lassen, sondern für seine
Jünger, um deren Zweifel niederzuschlagen, von welchen
er selber unberührt gewesen sei 3). Damit erledigen sich
allerdings die erwähnten Schwierigkeiten, namentlich scheint
klar zu werden, wie der Täufer gerade auf die Nachricht
von Jesu Wundern hin jene Sendung habe veranstalten
können, indem er nämlich hoffte, seine Jünger, welche
seinen Worten über Jesum nicht glaubten, werden durch
die Anschauung von dessen ausserordentlichen Thaten sich
[333]Erstes Kapitel. §. 42.
überzeugen, daſs er Recht habe, sie auf ihn als Messias
hinzuweisen. Allein wie konnte Johannes hoffen, daſs
seine Abgesandten Jesum zufällig im Wunderthun begrif-
fen antreffen würden? Auch trafen sie ihn nicht so, nach
Matthäus, sondern Jesus berief sich nach V. 4. f. nur auf
das, was sie von ihm oft sehen und wovon sie überall in
seiner Nähe hören könnten, und nur die augenscheinlich
secundäre Erzählung des Lukas miſsversteht die Worte
Jesu dahin, als hätte er sie nicht gebrauchen können, wenn
die Johannesjünger ihn nicht mitten im Wunderthun ange-
troffen hätten 4). Und dann, wenn es die Absicht des
Täufers war, seine Jünger durch den Anblick der Thaten
Jesu zu überführen, durfte er ihnen keine Frage an Je-
sum aufgeben, mit welcher es nur auf Worte, auf eine
authentische Erklärung Jesu abgesehen schien. Denn durch
eine Erklärung desjenigen, an dessen Messianität sie eben
zweifelten, konnte er seine Schüler nicht zu überzeugen
hoffen, welche durch seine eignen Erklärungen, die ihnen
sonst Alles galten, nicht überzeugt worden waren 5). Über-
haupt wäre es ein wunderliches Benehmen vom Täufer ge-
wesen, fremden Zweifeln seine eigenen Worte zu leihen
und dadurch, wie Schleiermacher mit Recht bemerkt 6),
sein früheres wiederholtes Zeugniſs für Jesum zu compro-
mittiren. Wie denn auch Jesus die von den Boten ihm
vorgetragene Frage als von Johannes selber ausgegangen
faſst (ἀπαγγείλατε Ἰωάννῃ, Matth. 11, 4.) und sich über
dessen Ungewiſsheit indirekt durch Seligpreisung derer,
die keinen Anstoſs an ihm nehmen, beschwert (V. 6.) 7).


Bleibt es somit dabei, daſs Johannes nicht blos für
seine Schüler, sondern für sich selbst hat fragen lassen,
[334]Zweiter Abschnitt.
und kann man ihm doch auch nicht nach der früheren Ent-
schiedenheit jezt auf Einmal Zweifel an der Messianität
Jesu zuschreiben: so bleibt nichts übrig, als, statt dieser
negativen die positive Seite an seiner Frage hervorzukeh-
ren, und das Skeptische an ihr als bloſse Einkleidung des
Protreptischen aufzufassen 8). Dem Täufer wurde, nach
dieser Erklärung, in seinem Gefängniſs die Zeit zu lang,
welche Jesus vergehen lieſs, ohne öffentlich als Messias
aufzutreten, daher läſst er ihn fragen, wie lange er noch
auf sich warten lassen, wie lange noch zaudern wolle,
durch die Erklärung, daſs er der Messias sei, das Volk
für sich zu gewinnen, und dann einen Hauptschlag gegen
die Feinde seiner Sache zu führen, der auch ihn, den Jo-
hannes, aus seiner Haft befreien könnte? Allein, schon
formell, wenn Johannes an der Messianität Jesu nicht
zweifelte, so konnte er auch daran nicht zweifeln, daſs
Jesus am besten die rechte Zeit und Art des messianischen
Auftritts wissen werde; der bloſse Vorläufer, der sich frü-
her zum Diener des Messias zu gering gehalten hatte,
konnte ohne Änderung seiner Gesinnung sich jetzt nicht
zum Rathgeber desselben aufwerfen wollen. Dann aber
auch materiell konnte der Täufer an dem, was man das
Zaudern Jesu mit dem Auftritt als Messias nennt, keinen
Anstoſs nehmen, oder ihn zu rascherem Handeln auffor-
dern wollen, wenn er noch seine frühere Ansicht von Jesu
Bestimmung hatte. Denn wenn er ihn noch wie ehmals
(Joh. 1, 29.) als ὑ ἀμνὸς τοῦ ϑεοῦ, ὁ αϊρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ
κόσμου
, mithin als leidenden Messias auffaſste, so konnte ihm
kein Gedanke an einen von Jesu gegen seine Feinde zu füh-
renden Schlag, überhaupt an ein gewaltsames, auf äussern
[335]Erstes Kapitel. §. 42.
Sieg berechnetes Verfahren kommen, sondern der stille
Weg, den Jesus gieng, muſste ihm eben als der rechte,
seiner Lammsbestimmung angemessene erscheinen. Auch
so daher, wenn die Frage des Johannes eine bloſse Auf-
forderung enthielte, hätte der Täufer durch dieselbe sei-
nen früheren Ansichten widersprochen. — Aber die Frage
kann diesen Sinn gar nicht haben. Den Worten nach ent-
hält sie lauter Zweifel, und die Aufforderung muſs man
immer erst hineintragen. Wie sehr man dabei den Wor-
ten Gewalt anthun muſs, erhellt am besten aus der Um-
deutung, welche Schleiermacher im Sinn dieser Erklärung
mit denselben vornimmt. Die unentschiedene Frage: σὺ εἶ
ὁ ἐρχόμενος
; verwandelt er in die entschiedene Vorausse-
zung: du bist doch der da kommen soll, — und die an-
dere noch bedenklichere: ἢ ἔτερον προςδοκῶμεν; macht er
vollends ganz unkenntlich, indem er sie so wendet: wor-
auf sollen wir (da du ohnehin so groſse Dinge thust) noch
warten, und soll nicht gleich Johannes mit seiner ganzen
Auktorität Allen, die sich von ihm haben taufen lassen,
durch uns befehlen, dir als Messias zu gehorchen und dei-
ner Winke gewärtig zu sein 9)?


Ist es also mit allen diesen Ausflüchten nichts, so kehrt
uns die ursprüngliche Auslegung zurück, die Frage als den
Ausdruck einer in dem Täufer selbst entstandenen Unge-
wiſsheit über Jesu messianische Würde aufzufassen, wie
auch Olshausen richtig anerkannt hat 10). Wenn er nun
aber den vorübergehenden Abfall des Täufers von seinen
früheren glaubensstarken Zeugnissen daraus zu erklären
sucht, daſs in seinem dunkeln Kerker den Mann Gottes ei-
ne finstre Stunde des Zweifels überfallen habe: so wollen
wir hier nicht die oben aufgeführten Gründe wiederholen,
aus welchen nach der früheren Gewiſsheit des Johannes
[336]Zweiter Abschnitt.
solche Zweifel als undenkbar erscheinen müssen, sondern
wir erklären jezt geradezu, daſs diesen Zweifeln gar kei-
ne Gewiſsheit vorangegangen sein kann. Es ist bereits
der Schwierigkeit erwähnt, welche die Angabe des Mat-
thäus verursacht, Johannes habe die zwei Jünger abgesandt
ἀκούσας τὰ ἔργα τοῦ Χριςοῦ, oder nach Lukas, weil seine Schü-
ler ihm ἀπήγγειλαν περὶ πάντων τούτων — es war aber im
unmittelbar Vorhergehenden eine Todtenerweckung und
eine Krankenheilung erzählt. Früher also zwar, ehe noch
Jesus etwas Messianisches gethan hatte, soll Johannes von
seiner Messianität überzeugt gewesen sein, nun aber Jesus
anfieng, durch Wunder, wie man sie vom Messias erwar-
tete, sich als solchen zu legitimiren, sollen ihn Zweifel an-
gewandelt haben? Dieſs ist so gegen alle psychologische
Möglichkeit, daſs mich wundert, wie nicht Dr. Paulus oder
ein andrer Erklärer, welcher in der Psychologie stark ist,
und in der Wortkritik nicht unbeherzt, schon auf die Ver-
muthung gekommen ist, es sei vielleicht bei Matthäus V. 2.
eine Negation ausgefallen, und sollte eigentlich heiſsen:
δὲ Ἰωάννης ούκ ἀκούσας ἐν τῷ δεσμωτηρίῳ τὰ ἔργα τοῦ Χριςοῦ
κ. τ. λ.
Dann wäre auf Einmal Alles eher zu begreifen:
Johannes war zwar früher von der Messianität Jesu über-
zeugt gewesen, nun aber in seinem Gefängniſs kam ihm
von Jesu Thaten nichts mehr zu Ohren, und indem er
ihn unthätig glaubte, stiegen ihm Zweifel auf. Gewiſs,
hatte Johannes vorher Jesum für den Messias gehalten, so
konnte nur etwa die Unkunde von dessen Wunderwerken ihm
zu Zweifeln Veranlassung geben: da es aber gerade die
Kunde von diesen Thaten war, welche ihn ungewiſs mach-
te, so kann er nicht vorher schon von Jesu Messianität
überzeugt gewesen sein.


Wie konnte er aber über Jesu Messianität jetzt unge-
wiſs werden, wenn er sie nicht früher angenommen hatte?
Freilich nicht so, daſs er zu argwöhnen anfieng, Jesus
möchte wohl der Messias nicht sein; wohl aber so, daſs er
[337]Erstes Kapitel. §. 42.
zu vermuthen begann, der Mann von solchen Thaten möchte
vielleicht der Messias sein. Nicht also von einer ver-
schwindenden Gewiſsheit ist hier die Rede, sondern von ei-
ner werdenden, nicht von einer untergehenden Sonne des
Glaubens, sondern von einer solchen, die im Aufgang be-
griffen ist. So nur wird Alles klar und hell in den be-
sprochenen Stellen. Johannes wuſste früher von Jesu nichts,
als daſs er seine Taufe angenommen hatte, wie viele An-
dere, und vielleicht einige Zeit im Kreise seiner Schüler ge-
wandelt; erst nach des Täufers Gefangennehmung that
sich Jesus als Lehrer und Wunderthäter hervor. Das
hörte Johannes und nun entstand in ihm, wie er ja die
Nähe des Messiasreichs verkündigt hatte, die hoffnungsvolle
Vermuthung, ob nicht vielleicht dieser Jesus es sein möch-
te, durch welchen sich die Idee des Himmelreichs verwirk-
lichen solle. So aufgefaſst, schlieſst diese Sendung des Täu-
fers seine früheren Zeugnisse für Jesum geradezu aus:
hat er früher so gesprochen, so kann er später nicht so
haben fragen lassen, und wenn dieses, dann jenes nicht.
Daher für uns die Aufgabe, die beiden widersprechenden
Angaben zu vergleichen, um zu sehen, welche mehr als
die andre die Spuren der Wahrheit oder Unwahrheit an
sich trägt.


Die bestimmtesten Ausdrücke der früheren Überzeugung
des Täufers von Jesu Messianität finden sich im vierten
Evangelium, und wir müssen hiebei zwei Fragen unter-
scheiden, einmal, ob es denkbar sei, daſs Johannes über-
haupt einen solchen Begriff vom Messias gehabt, und zwei-
tens, ob es wahrscheinlich sei, daſs er denselben in der
Person Jesu verwirklicht geglaubt habe.


Was das Erstere betrifft, so hat der Messiasbegriff
des Täufers nach dem vierten Evangelium die Merkmale
des sühnenden Leidens und einer vorweltlichen, himmli-
schen Existenz. Zwar hat man versucht, die Ausdrücke,
mit welchen er 1, 29 und 36. seine Schüler auf Jesum hin-
Das Leben Jesu I. Band. 22
[338]Zweiter Abschnitt.
weist, so zu deuten, daſs der Begriff eines versühnenden
Leidens wegfiele, Jesus mit einem Lamme nur seiner Sanft-
muth und Duldsamkeit wegen verglichen, das αϊρειν τὴν
ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου
entweder von einem geduldigen Ertra-
gen der Bosheit der Welt, oder von einem Versuche, die
Sünde der Welt bessernd hinwegzuräumen, verstanden,
und in dem Ausspruch des Täufers der Sinn gefunden
würde, wie rührend es sei, daſs dieser sanfte und weiche
Jesus sich einem so harten und schweren Geschäfte unter-
zogen habe 11). Allein die besten Exegeten haben gezeigt,
daſs, wenn zwar αϊρειν für sich in der bezeichneten Weise
gefaſst werden könnte, doch das ἀμνὸς, nicht blos mit dem
Artikel, sondern überdieſs noch mit dem Beisaz: τοῦ ϑεοῦ
nicht ein Lamm überhaupt, sondern ein bestimmtes heili-
ges Lamm bezeichnen muſs, wobei dann, wenn es der
wahrscheinlichsten Erklärung zufolge auf das Lamm Jes.
53, 7. sich bezieht, auch das αϊρειν τὴν ἁμαρτίαν nur aus
demjenigen erklärt werden kann, was dort von dem mit ei-
nem Lamm verglichenen Knecht Gottes gesagt ist, daſs er
τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν φέρει, καὶ περὶ ἡμῶν ὀδυνᾶται (V. 4,
LXX.), wonach es also ein stellvertretendes Leiden bezeich-
nen müſste 12). Daſs nun der Täufer diese Prophetenstelle
auf den Messias bezogen, diesen mithin als einen leiden-
den sich gedacht habe, dieſs eben hat man neuerlich mehr
als zweifelhaft gefunden 13). Denn der gangbaren Mei-
nung wenigstens war eine solche Ansicht vom Messias so
fremd, daſs die Jünger Jesu während der ganzen Zeit ih-
[339]Erstes Kapitel. §. 42.
res Umgangs mit ihm sich in dieselbe nicht finden konnten,
und nach seinem wirklich erfolgten Tode völlig an ihm,
als Messias, irre wurden (Luc. 24, 20 ff.). Wie sollte nun
der Täufer, welcher der durch die evangelischen Nachrich-
ten über sein unfreies Ascetenleben bestätigten Erklärung
Jesu (Matth. 11, 11.) zufolge tief unter den Bürgern des
Himmelreiches stand, zu welchen doch auch damals schon
die Jünger gehörten, — wie sollte dieser entfernter Stehen-
de lange vor dem Leiden Jesu zu einer Einsicht in dessen
Nothwendigkeit für den Messias gekommen sein, zu wel-
cher den zunächst Stehenden nur der Erfolg verholfen hat?
oder wie sollte, wenn Johannes wirklich diese Einsicht
hatte und gegen seine Jünger aussprach, dieselbe nicht durch
diejenigen, welche aus seiner Schule in die Gesellschaft
Jesu übergiengen, auch in der letzteren Eingang gefunden,
und überhaupt durch das Ansehen, welches der Täufer
genoſs, auch im grösseren Publikum den Anstoſs, welchen
man am Tode Jesu nahm, gemildert haben 14)? Zudem, se-
hen wir die ausserjohanneischen Nachrichten vom Täufer
alle durch: nirgends finden wir, daſs er mit dergleichen
Speculationen über das Schicksal des Messias sich abgege-
ben hätte, sondern, um von Josephus nichts zu sagen,
sprach er den Synoptikern zufolge zwar von einem nach
ihm kommenden Messias, als dessen Geschäft er jedoch le-
diglich die Geistestaufe und Sichtung des Volkes heraus-
hob. Doch die Möglichkeit bleibt immer offen, daſs auch
schon vor dem Tode Jesu ein tiefer blickender Geist, wie
der Täufer, aus A. T.lichen Stellen und Vorbildern einen
leidenden Messias herausgelesen, ohne daſs doch seine
Schüler und Zeitgenossen seine dunkeln Andeutungen hier-
über verstanden hätten.


Dieſs also möge noch nichts entscheiden, und wir wen-
den uns daher zu den Äusserungen über die vorweltliche
22*
[340]Zweiter Abschnitt.
Existenz und himmlische Abkunft des Messias, mit der
Frage, ob der Täufer wohl solche Ansichten gehabt haben
könne? Daſs aus den Worten Joh. 1, 15. 27. 30: ὁ ὀπίσω
μου ἐρχόμενος ἔμπροσϑέν μου γέγονεν, ὅτι πρῶτός μου ἦν
nur
dogmatische Willkühr den Präexistenzbegriff verbannen
könne, zeigt der bloſse Anblick von Erklärungen, wie die
Paulus'sche: der in der Zeitfolge nach mir Gekommene
ist doch vor meinen Augen (ἔμπροσϑέν μου) so geworden,
daſs er (ὅτι = ὥςε, Grund = Folge!) dem Range und der
Sache nach der erste zu heiſsen verdient 15). Mit über-
wiegenden Gründen haben sich vorurtheilsfreiere Ausleger
dahin erklärt, es werde hier dafür, daſs der in der Zeit-
folge nach Johannes erschienene Jesus doch der Würde
nach ihm voranstehe (ἔμπροσϑεν), seine Präexistenz vor dem
Täufer (πρῶτός μου ἦν) als Grund angegeben 16). Offenbar
also haben wir hier das johanneische Dogma von der ewi-
gen Präexistenz des λόγος, wie es freilich dem Verfasser
des Evangeliums präsent war, zumal er eben von seinem
Prologe herkam: ob aber auch dem Täufer? das ist eine
andre Frage. So viel giebt der neueste Ausleger des vier-
ten Evangeliums zu, daſs der Sinn, in welchem der Evan-
gelist das πρῶτός μου nimmt, dem Täufer auf seinem Stand-
punkt ziemlich fern und fremd gewesen sein möge. Doch
nur insofern, meint er, als der Täufer nicht wie der Evan-
gelist den Begriff des λόγος mit jenen Worten verbunden,
sondern mehr auf populär jüdische Weise an die Präexi-
stenz des Messias, als Subjekts der A. T.lichen Theopha-
nieen u. s. w. gedacht habe 17). Von dieser jüdischen An-
sicht finden sich allerdings auch ausser den Schriften des
vierten Evangelisten noch Spuren bei Paulus (z. B. 1. Kor.
[341]Erstes Kapitel. §. 42.
10, 4. Kol. 1, 15 f.) und den Rabbinen 18), und wenn sie
auch ursprünglich alexandrinisch gewesen wäre, was Bret-
schneider
gegen unsre Stelle geltend macht 19): so fragt
sich, ob nicht auch schon vor Christi Zeit die alexandri-
nisch-jüdische Theologie auf die Ansichten des Mutterlands
von Einfluss war? 20) Also auch diese Aussprüche ent-
scheiden für sich noch nichts, ob es gleich bedenklich zu
werden anfängt, dem Täufer, der sonst nur dafür bekannt
ist, die praktische Seite an der Idee des Messiasreichs her-
vorgekehrt zu haben, von dem einzigen vierten Evangeli-
sten zwei Begriffe, welche in jener Zeit ohne Zweifel nur der
tiefsten messianischen Speculation angehörten, zugeschrie-
ben zu sehen, und zwar in solcher Weise, daſs jedenfalls
die Form, in welcher er sie ausdrückt, zu johanneisch ist,
um nicht auf Rechnung dieses Evangelisten geschrieben
werden zu müssen.


Von dieser letzten Seite vollendet sich nun das Resul-
tat, wenn wir noch die Stelle Joh. 3, 27—36. in Betracht
ziehen, wo der Täufer auf die Klage einiger Jünger über
den Abbruch, den Jesu Taufe der ihrigen thue, auf
eine Weise antwortet, welche alle Ausleger in Verle-
genheit setzt. Nachdem er sich nämlich darüber erklärt
hatte, wie es in ihrer beiderseitigen Bestimmung, über
welche er nicht hinauszuschreiten verlange, begründet sei,
daſs er abnehmen, Jesus aber zunehmen müsse, fährt
er von V. 31. an in Formeln fort, welche ganz dieselben
sind mit denjenigen, in welchen sonst der vierte Evange-
list Jesum selbst von sich reden läſst, oder seine eigenen
Gedanken über Jesum ausdrückt; namentlich, wie auch
[342]Zweiter Abschnitt.
der neueste Ausleger zugesteht 21), erscheint diese Rede
des Johannes als Nachhall der vorausgegangenen Unterre-
dung Jesu mit Nikodemus 22). Die Ausdrücke dieser dem
Täufer geliehenen Rede sind specifisch johanneisch, wie
σφραγίζω, μαρτυρία, der Gegensatz von ἄνωϑεν und ἐκ τῆς
γῆς
, die Phrasis: ἔχειν ζωὴν αἰώνιον, und es fragt sich:
ist es wahrscheinlicher, daſs sowohl der Evangelist als
auch Jesus, dem er sie so oft in den Mund legt, sie von
dem Täufer geborgt haben, oder umgekehrt, daſs sie der
Evangelist, ich will für jezt nur sagen dem Täufer, gelie-
hen habe? Dieſs muſs sich durch das Andere entscheiden,
daſs nämlich auch die Ideen, welche hier der Täufer aus-
spricht, ganz dem Boden des Christenthums, und zwar
wieder speciell des johanneischen angehören. Eben jener
Gegensatz von ἄνω und ἐκ τῆς γῆς, die Bezeichnung Jesu
als des ἄνωϑεν ἐρχόμενος, als dessen, ὅν ἀπέςειλεν ο ϑεὸς,
welcher daher τὰ ῥήματα τοῦ ϑεοῦ λαλεῖ, das Verhältniſs
Jesu zu Gott als des υἱὸς, welchen ὁ πατὴρ ἀγαπᾷ, — was
soll denn noch eigenthümlich christlich und johanneisch
[343]Erstes Kapitel. §. 42.
sein, wenn es diese Ideen nicht sind? und diese sollte der
Täufer Johannes schon gehabt haben? welcher Christia-
nismus ante Christum
! Und dann, nach Olshausen's 23)
richtiger Bemerkung, wie schickt es sich für den Täufer,
der doch, auch nach dem vierten Evangelium, von Jesus
geschieden blieb, von dem Segen eines gläubigen Anschlies-
sens an Jesum zu reden (V. 33. und 36.)? — Soviel dem-
nach ist gewiſs und auch von der Mehrzahl neuerer Aus-
leger anerkannt: die Worte V. 31—36. kann der Täufer
nicht gesprochen haben. Folglich, schloſsen nun aber die
Theologen, kann auch der Evangelist sie ihm nicht in den
Mund gelegt haben, sondern von dem bezeichneten Verse
an nimmt dieser selbst das Wort 24). Dieſs klingt an-
nehmlich, wenn man uns nur die Fuge nachweist, durch
welche der Evangelist seinen eignen Zusatz von der Rede
des Täufers gesondert hat. Allein eine solche sucht man
vergeblich. Zwar spricht der von V. 31. an Redende, wo
er den Täufer bezeichnen will, nicht mehr, wie noch
V. 30., in der ersten Person, sondern in der dritten; al-
lein der Täufer wird hier nicht mehr geradezu und indi-
viduell, sondern nur mit einer ganzen Klasse zusammen
bezeichnet, wo er also, auch wenn er selbst der Redende
war, die dritte Person wählen muſste. Nirgends also findet
sich eine Grenzscheide, und ganz unmerklich gleitet die Rede
aus denjenigen Passagen, welche der Täufer etwa noch
gesprochen haben kann, in diejenigen hinüber, welche ihm
schlechthin unangemessen sind, namentlich wird auch
nach V. 30. von Jesu im Präsens zu reden fortgefahren,
wie der Evangelist nur den Täufer zu Jesu Lebzeiten spre-
chen lassen konnte, nicht aber selbst in eigner Person
nach Jesu Tode so schreiben; wie er denn, wo er eigne
Reflexionen über Jesum vorbringt, sich des Präteritums zu
[344]Zweiter Abschnitt.
bedienen pflegt 25). Grammatisch betrachtet also spricht
von V. 31. an der Täufer fort, und doch kann er, histo-
risch erwogen, das Folgende nicht gesprochen haben; ein
Widerspruch, welcher dadurch unauflöslich wird, daſs
man hinzusezt: dogmatisch beurtheilt aber kann der Evan-
gelist dem Täufer nichts in den Mund gelegt haben, was
dieser nicht wirklich gesprochen hat. Wollen wir nun
nicht den klaren Regeln der Grammatik und den festste-
henden Daten der Historie um des eingebildeten Dogma's
von der Inspiration willen widersprechen: so werden wir
aus den gegebenen Prämissen vielmehr mit dem Verfasser
der Probabilien den Schluſs ziehen, daſs folglich der Evan-
gelist dem Täufer jene Reden mit Unrecht zuschreibe, und
ihm seine eigene Christologie in den Mund lege, von wel-
cher jener noch nichts wissen konnte. Nur nicht ebenso
unumwunden sagt dasselbe das Geständniſs von Lücke26),
daſs sich hier mit der Rede des Täufers auf eine nicht mehr
genau zu unterscheidende Weise, aber überwiegend, die
Reflexion des Evangelisten mische. Denn näher verhält es
sich hiemit so, daſs die Reflexion des Evangelisten zwar
leicht zu erkennen und mit Händen zu greifen ist; aber
von zum Grunde liegenden Gedanken des Täufers ist nichts
zu spüren, wenn man nicht mit besonders gutem Willen
sucht, welchen wir in diesem Stücke nicht haben mögen,
weil er die Befangenheit selbst ist. — Haben wir nun aber
an der zulezt betrachteten Stelle einen Beweis, daſs es
dem vierten Evangelisten nicht darauf ankam, dem Täufer
Johannes messianische und andere Begriffe zu leihen, wel-
che dieser nicht hatte: so werden wir auch im Rückblick
auf die früher betrachteten Stellen uns dafür entscheiden,
[345]Erstes Kapitel. §. 42.
was wir, so wahrscheinlich es war, doch bisher noch da-
hingestellt sein lieſsen, daſs auch die in diesen ausgespro-
chenen Ideen von einem leidenden und präexistenten Messias
nicht dem Täufer, sondern nur dem Evangelisten angehören.


Durch die bisherige Beantwortung der ersten wäre
nun eigentlich die andere Frage, welche uns noch übrig
ist, bereits mitbeantwortet; denn wenn der Täufer der-
gleichen Messiasbegriffe gar nicht hatte, so kann er sie
auch nicht auf die Person Jesu übergetragen haben. Doch
um die Evidenz des bereits gewonnenen Resultats zu ver-
stärken, nehmen wir auch diese Untersuchung noch beson-
ders auf. Nach dem vierten Evangelium schreibt der Täu-
fer alle zuletzt erörterte messianische Attribute Jesu zu.
That er dieſs so begeistert, so öffentlich und so wiederholt,
wie wir es bei Johannes lesen: so konnte er unmöglich
von Jesu (Matth. 11, 11.) aus der βασιλεία τῶν οὐρανῶν
ausgeschlossen und der Kleinste in derselben ihm vorgezo-
gen werden. Denn solche Bekenntnisse, wie dieser Täu-
fer, wenn er Jesum den υἱὸς τοῦ ϑεοῦ, welcher vor ihm ge-
wesen sei, nennt, solche geläuterte Einsichten in die mes-
sianische Ökonomie, wie wenn er Jesum als ὁ ἀμνὸς τοῦ
ϑεοῦ, ὁ αϊρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου
bezeichnet, hatte
selbst Petrus nicht aufzuweisen, welchen Jesus doch für
sein Bekenntniſs Matth. 16, 16. nicht nur in das Gottes-
reich aufnimmt, sondern selbst zum Felsen macht, auf
welchen es gegründet werden sollte. Indeſs, das Unbe-
greifliche liegt noch weiter zurück. Als Zweck seiner
Taufe giebt Johannes im vierten Evangelium an, ϊνα φανε-
ρωϑῇ
(Jesus als Messias) τῷ Ἰσραὴλ (1, 31.) und erkennt
es als göttliche Ordnung, daſs dem zunehmenden Jesus ge-
genüber er abnehmen müsse (3, 30.): dennoch, während
bereits Jesus durch seine Jünger taufen läſst, sezt auch er
seine Taufe fort (3, 23.). Warum nun aber, wenn er
doch mit der Introduktion Jesu die Bestimmung seiner
Taufe erfüllt wuſste, und nun seine Anhänger auf Jesum
[346]Zweiter Abschnitt.
als den Messias verwies (1, 36. f.), fuhr er noch selbst
zu taufen fort 27)? Dieſs war zwecklos; denn was Lücke
sagt, daſs an solchen Orten wenigstens, wo Jesus nicht
selbst erschien, die Taufe des Johannes noch am Platze
gewesen, widerlegt er selbst durch die Bemerkung, daſs
wenigstens in der Zeit, von welcher Joh. 3, 22. ff. gehandelt
wird, Jesus und Johannes unfern von einander getauft ha-
ben müssen, da ja die Schüler des Johannes über den Zu-
lauf zu Jesus eifersüchtig wurden 28). Aber selbst zweck-
widrig erscheint die Fortsetzung der Taufe von Seiten des
Johannes, wenn blos Hinweisung auf Jesus als den Mes-
sias sein Zweck war. Er hielt dadurch noch immer einen
Kreis von Menschen in den Vorhallen des Messiasreiches
hin, und verzögerte oder hinderte selbst ganz ihren Über-
tritt zu Jesu, wie wir denn die Partei der Johannisjünger
noch zu des Apostels Paulus Zeit (A.G. 18, 24. f. 19, 1. ff.),
und wenn es wahr ist, was die sogenannten Zabier von
sich behaupten 29), bis auf die neuesten Zeiten fortdauren
sehen. Gewiſs, jene Überzeugung des Täufers in Bezug
auf Jesum vorausgesezt, wäre es für ihn das Natürliche
gewesen, sich an diesen anzuschlieſsen; nun dieſs aber
nicht geschah, folgern wir, so kann er auch jene Über-
zeugung nicht gehabt haben 30).


Hauptsächlich aber macht der Charakter und das ganze
Wesen des Täufers die Annahme unmöglich, daſs er sich
zu Jesu auf den Fuſs gestellt habe, welchen das vierte
Evangelium angiebt. Er, der Mann aus der Wüste, der
[347]Erstes Kapitel. §. 42.
strenge Ascet, der sich von Heuschrecken und Waldhonig
nährte und auch seinen Schülern harte Fasten vorschrieb,
der finstere, drohende, vom Geist des Elias beseelte Buſs-
prediger, — wie hätte er sich mit Jesu befreunden kön-
nen, der in Allem das Widerspiel von ihm war? Gewiſs
muſste er sich, so gut wie seine Schüler (Matth. 9, 14.),
an der liberalen Weise Jesu stoſsen, und dadurch gehin-
dert werden, in ihm den Messias anzuerkennen. Starrer
ist nichts als ascetische Vorurtheile: wer, wie der Täufer,
es zur Frömmigkeit rechnet, zu fasten und den Leib zu
kasteien, der wird denjenigen nie als einen in göttlichen
Dingen höher Stehenden anerkennen, welcher sich über
jene Ascese hinwegsezt. Ein solcher beschränkterer Stand-
punkt, wie ihn Johannes einnahm, wird den höheren, wie
Jesus auf einem stand, niemals begreifen, während der
höhere wohl den niedrigeren sich zurechtzulegen weiſs;
daher konnte zwar Jesus den Täufer in seiner Stelle schä-
zen und anerkennen, niemals aber dieser jenen so über
sich stellen, wie er namentlich nach dem vierten Evange-
lium gethan haben soll. Besonders häufig hört man die
Stellung, welche sich der johanneische Täufer 3, 30. durch
die Erklärung giebt, daſs er abnehmen, Jesus aber zuneh-
men müsse, als ein Beispiel der edelsten und erhabensten
Resignation preisen 31). Wir geben zu, diese Darstellung
mag schön sein: aber wahr ist sie nicht. Es wäre das
einzige Beispiel in der Geschichte, daſs ein welthistorischer
Mann dem, welcher nach ihm kommt, um ihn zu verdun-
keln und überflüssig zu machen, die Zügel des Theils der
Geschichte, den er bis dahin regiert hatte, so gutwillig
abgetreten hätte. Es geht bei Individuen dieser Schritt
nicht minder hart als bei Völkern, und dieſs nicht blos in
Folge eines Fehlers, wie Egoismus und Ehrgeiz, so daſs
man (aber auch dann nur aus Vorurtheil) bei einem Man-
[348]Zweiter Abschnitt.
ne wie der Täufer eine Ausnahme statuiren zu müssen
glauben könnte: sondern es hängt mit der unverschuldeten
Beschränktheit zusammen, welche, wie schon bemerkt,
jedem niedrigeren Standpunkt im Verhältniſs zum höheren
eigen ist und um so hartnäckiger festgehalten wird, je mehr
das auf demselben stehende Individuum, wie der Täufer,
von derber und schroffer Natur ist. Wenn daher neue-
stens gewichtige Stimmen anerkennen, daſs in Bezug auf
die Zeichnung des Täufers zwischen den Synoptikern und
Johannes eine auf Rechnung des Lezteren kommende Dif-
ferenz obwalte 32): so bestimmt und verstärkt sich dieses
Urtheil durch das Bisherige dahin, daſs uns der vierte
Evangelist den Täufer zu einem ganz andern gemacht hat,
als er bei den Synoptikern und Josephus erscheint: aus ei-
nem praktischen Buſsprediger zu einem speculirenden Chri-
stologen, aus einer harten und unbeugsamen Natur zu ei-
nem weichen, resignirenden Charakter.


Auch die Ausmalung der Scenen zwischen Johannes
und Jesus, Joh. 1, 29. ff. 35. ff. zeigt sich theils aus freier
Composition der Phantasie, theils aus verherrlichender Um-
bildung der synoptischen Erzählung entstanden. Was das
Erstere betrifft, so wandelt nach V. 35. Jesus in der Nähe
des Johannes, nach V. 29. kommt er sogar auf ihn zu:
dennoch ist beidemale von einem Zusammentreffen beider
nicht die Rede. Sollte Jesus wirklich dem Zusammenkom-
men mit dem Täufer ausgewichen sein, etwa um, nach
Lampe's Vermuthung, den Schein eines abgeredeten Han-
dels zu vermeiden? Allein dieſs ist aus ziemlich modernen
Reflexionen heraus gesprochen, welche der Zeit und den
Verhältnissen Jesu fremd waren. Oder hat nur der Er-
zähler das zwischen Jesus und Johannes nach ihrem Zu-
sammentreffen Vorgefallene zufällig oder absichtlich weg-
[349]Erstes Kapitel. §. 42.
gelassen? Allein gerade hievon muſste er besonders Inter-
essantes zu erzählen haben; so daſs, wie auch Lücke zu-
gesteht 33), sein Stillschweigen räthselhaft erscheint. Auf
unsrem Standpunkte löst sich das Räthsel. Der Täufer
hatte, nach der Ansicht des Evangelisten, auf Jesum als den
Messias hingewiesen. Dieſs sinnlich, als ein Hinzeigen
aufgefaſst, so muſste, um es möglich zu machen, Jesus
vorübergehen, oder auf Johannes zukommen; dieser Zug
wurde daher in die Erzählung gesezt, der weitere aber,
daſs nun beide auch vollends zusammengetroffen, wurde,
weil man ihn nicht brauchte, freilich auf sehr steife Wei-
se, weggelassen. Daſs nun aber in Folge dieses Hinzei-
gens des Täufers auf Jesum einige Schüler von jenem zu
diesem übergehen (1, 37. ff.), dieſs kann als eine Umbil-
dung der synoptischen Erzählung von der Sendung der
Johannisjünger aus dem Gefängniſs betrachtet werden.
Wie nämlich nach Matth. 11, 2. und Luc. 7, 18. Johannes
zwei Jünger an Jesum abordnet, mit der zweifelnden Fra-
ge, ob er der ἐρχόμενος sei? so weist er nach dem vierten
Evangelium gleichfalls zwei Jünger, aber mit der bestimm-
ten Behauptung, Jesus sei der ἀμνὸς ϑεοῦ, zu diesem hin;
wie jenen, nachdem sie ihres Auftrags sich entledigt, Je-
sus die Weisung giebt: gehet und saget dem Johannes ἃ
εἴδετε καὶ ἠκούσατε: so giebt er diesen, als sie ihn um sei-
nen Aufenthaltsort gefragt, die Antwort: ἔρχεσϑε καὶ ἴδετε, —
während aber nach den Synoptikern die zwei ausgesende-
ten Jünger zu Johannes zurückkehren, schlieſsen sie sich
im vierten Evangelium bleibend an Jesum an.


So undenkbar es nach dem Bisherigen ist, daſs der
Täufer jemals Jesum persönlich für den Messias gehalten
und erklärt haben sollte: so leicht ist hingegen nachzu-
weisen, wie aus des Täufers allgemeiner Verweisung auf
einen nach ihm kommenden Messias jene Vorstellung sich
[350]Zweiter Abschnitt.
bilden konnte. Nach A.G. 19, 4. erklärt der Apostel Pau-
lus, was in der Geschichte hinlänglich begründet scheint,
daſs Johannes εἰς τὸν ἐρχόμενον getauft habe, und dieser
kommende Messias, auf welchen er hingewiesen, sezt Pau-
lus hinzu, sei eben Jesus gewesen (τουτέςιν εἰς χριςὸν Ἰησοῦν).
Dieſs war eine Deutung der Worte des Täufers aus dem
Erfolg, da als den durch Johannes vorausverkündigten
Messias sich bei einer groſsen Zahl seiner Volksgenossen
Jesus bewährt hatte. Wie nahe aber lag von hier aus die
Meinung, als ob der Täufer selbst schon unter dem ἐρχό-
μενος
die Person Jesu verstanden, selbst schon jenes του-
τέςιν κ. τ. λ.
gedacht hätte; eine Ansicht, welche, so un-
historisch sie ist, doch für die ältesten Christen um so ein-
ladender sein muſste, je erwünschter es war, durch die
in der damaligen jüdischen Welt vielgeltende Auktorität
des Täufers das Ansehen Jesu zu stützen. — Auch dar-
über, warum gerade der vierte Evangelist so besonders
geschäftig ist, den Täufer zu Jesu in ein günstigeres Ver-
hältniſs zu setzen, als geschichtlich denkbar ist, bietet uns
die angeführte Stelle aus der Apostelgeschichte vielleicht
einigen Aufschluſs. Derselben zufolge (V. 1. ff.) fanden
sich nämlich in Ephesus Leute, die nur von der johannei-
schen Taufe wuſsten, und daher vom Apostel Paulus noch
einmal, auf Jesum, getauft wurden. Nun ist aber
einer alten Überlieferung zufolge das vierte Evangelium
in Ephesus geschrieben 34). Nehmen wir diese an, wie
sie denn in dem Allgemeinen, daſs sie eine griechische Lo-
kalität für die Abfassung dieses Evangeliums angiebt, in
jedem Falle Recht hat, und setzen wir jener Andeutung
der Apostelgeschichte zufolge Ephesus als den Siz einer
Anzahl von Anhängern des Täufers, welche dann Pau-
lus schwerlich alle bekehrt haben wird, voraus: so würde
sich aus dem Bestreben, diese zu Jesu herüberzuziehen,
[351]Erstes Kapitel. §. 42.
das auffallende Gewicht erklären, welches das vierte Evan-
gelium auf die μαρτυρία Ἰωάννου legt 35).


Welche von beiden unverträglichen Angaben über das
Verhältniſs des Täufers zu Jesu als die unhistorische auf-
zugeben sei, diese Frage hätten wir zwar mit ziemlicher
Sicherheit durch den allgemeinen Kanon entscheiden kön-
nen, daſs, wo in Erzählungen, welche die Tendenz haben,
eine Person oder Sache zu verherrlichen, zwei widerstrei-
tende Nachrichten sich finden, jedesmal diejenige, welche
diesem Zwecke am meisten entspricht, die am wenigsten
historische ist, weil, wenn ihr zufolge der ursprüngliche
Thatbestand so herrlich gewesen wäre, die Entstehung je-
ner andern minder glänzenden Darstellung sich nicht be-
greifen lieſse; wie hier, wenn in der That Johannes Je-
sum so frühe schon anerkannte, unerklärlich ist, wie man
dazu kommen konnte, eine Erzählung auszubilden, welcher
zufolge er noch sehr spät über Jesum im Ungewissen ge-
wesen wäre. Nun wir aber durch Prüfung der johannei-
schen Nachrichten in ihren einzelnen Zügen zu der Ein-
sicht gelangt sind, daſs sie sich selbst widersprechen und
sich in sich selber auflösen: so wird dieses unabhängig von
jenem Kanon gefundene Resultat demselben zur Bestäti-
gung dienen.


Indessen, was sich uns bis jetzt ergeben hat, ist nur
das Negative, daſs Alles, was auf jene frühzeitige Aner-
kennung der Messianität Jesu von Seiten des Täufers Be-
ziehung hat, keinen Anspruch darauf machen kann, als
historisch festgehalten zu werden: über das Positive wis-
sen wir damit noch nichts, ob nun statt dessen die späte
Botschaft aus dem Gefängniſs als das zum Grund liegende
[352]Zweiter Abschnitt.
Wahre anzusehen sei, und wir müssen daher auch diese
Seite für sich einer Prüfung unterwerfen. Hier nun soll,
was oben gegen die Wahrscheinlichkeit einer so frühen
und bestimmten Überzeugung des Täufers geltend gemacht
worden ist, nicht auch auf eine solche, später in ihm auf-
gestiegene, bloſse Vermuthung, ob nicht vielleicht Jesus der
Messias sein möchte, ausgedehnt werden, und es bleibe so-
mit der eigentliche Inhalt der Erzählung unangefochten.
Dagegen ist die Form der Sache, daſs der Täufer ἐν τῳ
δεσμωτηρίῳ
Nachricht von dem Treiben Jesu erhält, aus
demselben Lokale seine Jünger an Jesum abordnet, und
diese ihm, wie vorauszusetzen ist, in das Gefängniſs Ant-
wort bringen, nicht ohne einige Bedenklichkeit. Nach Jo-
sephus 36) war Furcht vor Unruhen die Ursache, warum
Herodes den Täufer verhaften lieſs; sollte dieſs aber auch
blos Mitursache gewesen sein neben dem, was die Evan-
gelien angeben: so ist doch schwer zu glauben, daſs zu ei-
nem Manne, der mit deſswegen gefangen gesetzt war,
um durch Entfernung desselben von seinem Anhang Unru-
hen unter diesem zu verhüten, seine Schüler freien Zutritt
behalten haben 37). War also Johannes unter solchen Um-
ständen im Gefängniſs, so konnte er nicht wohl so schik-
ken: hat er aber wirklich so geschickt, so muſs er damals
noch auf freiem Fuſs gewesen sein. Nun findet sich die
Angabe, daſs die Sendung aus dem δεσμωτήριον erfolgt sei,
nur bei Matthäus: Lukas, der sie auch erzählt, erwähnt
von einem Gefängniſs nichts. Man könnte daher mit Schlei-
ermacher
die Darstellung des Lukas in diesem Stück für
die wahre, und das δεσμωτήριον bei Matthäus für einen
unhistorischen Zusaz halten. Allein der genannte Kritiker
selbst hat an den müssigen und zum Theil selbst Miſsver-
stand verrathenden Zusätzen, welche die Erzählung des
[353]Erstes Kapitel. §. 42.
Lukas (7, 20. 21. 29. 30.) giebt, sehr überzeugend nach-
gewiesen, daſs Matthäus diese Erzählung in der ursprüng-
lichen, Lukas in einer überarbeiteten Form gebe 38). Hie-
bei wäre es sonderbar, wenn sich in jenem Einem Punkte
das Verhältniſs umgekehrt und Matthäus das ursprünglich
fehlende δεσμωτήριον von dem Seinigen hinzugesezt hätte[;]
weit natürlicher ist es, anzunehmen, daſs Lukas, der im
ganzen Abschnitt als Überarbeiter erscheint, die ursprüng-
lich angemerkte Kerkerlokalität verwischt habe.


Die Frage, was den Lukas hiezu veranlassen konnte,
führt auf die verschiedenen Zeitpunkte, in welche die ver-
schiedenen Evangelien die Verhaftung des Täufers fallen
lassen. Matthäus, dem sich Markus anschlieſst, setzt sie
vor den öffentlichen Auftritt Jesu in Galiläa, indem er
durch dieselbe Jesu Rückkehr in diese Provinz motivirt
(Matth. 4, 12. Marc. 1, 14.); Lukas weist der Gefangen-
nehmung des Täufers keine bestimmte chronologische Stelle
an (s. 3, 19 f.), doch scheint sie nach ihm, da er ja bei
der Sendung der beiden Jünger nichts vom Gefängniſs be-
merkt, erst später eingetreten zu sein; Johannes aber er-
klärt noch nach Jesu erstem Messiaspascha ausdrücklich:
ου῎πω γὰρ ἦν βεβλημένος εἰς τὴν φυλακὴν ὁ Ἰωάννης (3, 24).
Fragt es sich: wer hat hier Recht? so leidet die Darstel-
lung des ersten Evangelisten an einer Ungeschicklichkeit,
welche manche Erklärer geneigt gemacht hat, sie ohne
Weiteres gegen die der beiden lezten aufzugeben. Daſs
nämlich Jesus auf die Kunde von des Täufers Gefangen-
nehmung durch Herodes Antipas nach Galiläa, also gerade
in das Gebiet dieses Fürsten sich zurückgezogen haben
sollte (ἀνεχώρησεν), ist, wie Schneckenburger mit Recht
behauptet 39), undenkbar, da er ja gerade hier am wenig-
Das Leben Jesu I. Band. 23
[354]Zweiter Abschnitt.
sten vor einem ähnlichen Schicksale sicher war. Hier al-
so ist die Form der Darstellung, daſs Jesus seiner Sicher-
heit wegen nach Galiläa gegangen sei, jedenfalls preiſszu-
geben: es fragt sich nur, ob nicht der wesentliche Inhalt
der Nachricht sich doch noch retten lasse? Matthäus und
Markus knüpfen an diese nach des Täufers Verhaftung erfolgte
Reise Jesu nach Galiläa die Anfänge seiner öffentlichen Wirk-
samkeit, und daſs diese erst nach des Täufers Wegnahme
begonnen habe, dieſs Wesentliche möchte ich ihnen gerne
glauben. Denn wenn es an und für sich schon das Natür-
lichste ist, daſs der Abgang des Täufers, dessen Schüler er
bis dahin gewesen zu sein scheint (daſs die Evangelisten
Jesum gleich nach der Taufe sich wieder von Johannes trennen,
und die Gefangennehmung desselben nur aus der Ferne ver-
nehmen lassen, können wir, wie im folgenden Kapitel noch
klarer werden wird, nicht als historisch anerkennen), Jesum
bewog, an seiner Statt die Predigt des μετανοεῖτε· ἤγγικε
γαρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν
fortzusetzen: so spricht auch
unser oben aufgestellter Kanon ganz für den Matthäus.
Denn fragt man: was konnte eher die verherrlichende Sa-
ge ohne historischen Grund erdichten, daſs Johannes schon
vor Jesu Auftritt abgetreten sei, oder daſs er noch einige
Zeit lang mit ihm zusammengewirkt habe? so wird man
nicht anders sagen können, als: das Letztere. Tritt näm-
lich derjenige, welchem der Held einer Erzählung über-
legen ist, schon vor dessen Auftritt vom Schauplaz ab:
so geht die beste Gelegenheit verloren, den Helden
seine Übermacht beweisen zu lassen, welche nur dann in
ihrem vollen Glanze sich zeigen kann, wenn die Erzählung
der aufgehenden Sonne gegenüber den schwindenden Mond
noch über dem Horizonte stehen, und allmählig immer mehr
erbleichen läſst. Gerade das Letztere nun findet bei Jo-
hannes und auch schon bei Lukas statt: das Erstere aber
bei Matthäus und Markus, indem diese beiden den Täufer
schon vor dem Eintritt Jesu in die Schranken vom Schau-
[355]Erstes Kapitel. §. 43.
plaz wegräumen, jene aber denselben gleichsam in of-
fenem Felde noch sich an Jesum ergeben lassen, wo-
von, als das minder Verherrlichende, das Erstere die hi-
storische Wahrscheinlichkeit für sich hat.


Also um die Zeit, in welche die Sendung der zwei
Jünger gefallen sein müſste, war der Täufer bereits ver-
haftet, und für diesen Fall war schon oben gesagt, daſs er
schwerlich auf diese Weise Botschaft aussenden und er-
halten konnte. Wohl aber konnte die Sage sich veranlaſst
finden, eine solche Botschaft zu erdichten, um den Täufer
nicht ohne eine wenigstens werdende Anerkennung der Mes-
sianität Jesu scheiden zu lassen; so daſs mithin von den
beiden unverträglichen Darstellungen weder die eine noch
die andere als historisch sich bewährt.


§. 43.
Urtheil der Evangelisten und Jesu über den Täufer, nebst des-
sen angeblicher Selbstbeurtheilung. Resultat über das
Verhältniss beider Männer.


Auf den Johannes, als Vorbereiter des durch Jesum ge-
stifteten Messiasreichs, wenden die Evangelien mehrere
A. T.liche Stellen an. Der Aufenthalt des Bu[ß]predigers in
der Wüste, seine wegbereitende Thätigkeit für den Messias,
muſste an die jesaianische Stelle erinnern (40, 3 ff. LXX):
φωνὴ βοῶντος ἐν ἐρήμῳ· ἑτοιμάσατε τὴν ὁδὸν Κυρίῳ κ. τ. λ.
In den drei ersten Evangelien ist es der Referent, welcher
diese Stelle auf den Täufer anwendet (Matth. 3, 3. Marc.
1, 3. Luc. 3, 4 ff.), und es lieſse sich ganz wohl denken,
daſs dieſs erst spätere, christliche Applikation wäre: doch
steht auch dem nicht zu viel entgegen, daſs dem vierten
Evangelium zufolge der Täufer selbst seine Bestimmung
durch jene prophetischen Worte bezeichnet hätte (1, 23.).
Ausser der dem Markus (1, 2.) eigenthümlichen Anwendung
der Stelle aus Malachia (3, 1.) von dem von Jehova voraus-
gesendeten Engel, wird in Gemäſsheit einer andern Stelle
23*
[356]Zweiter Abschnitt.
desselben Propheten 1) dem Täufer namentlich eine Bezie-
hung zu Elias gegeben. Daſs Johannes, ἐν πνεύματι καὶ
δυναμει Ἠλίου
auf Besserung des Volks hinwirkend, dem in
der messianischen Zeit sein Volk heimsuchenden Κύριος
vorangehen werde, war nach Luc. 1, 17. schon vor seiner
Geburt vorhergesagt. Bei Johannes (1, 21.) lehnt der Täu-
fer auf die Frage der Abgesandten des Synedriums, ob er
Elias sei? diese Würde ab, nach der gewöhnlichen Erklä-
rung freilich nur in dem Sinn, daſs er nicht der rohen
Volksvorstellung gemäſs der leibhaftig wiedergekommene
alte Seher sei, wogegen er das, was die Synoptiker von
ihm sagen, ein Mann im Geiste des Elias zu sein, dieser
Deutung zufolge selbst auch eingeräumt haben würde; in-
dessen scheint es doch, wenn der vierte Evangelist mit der
Vorstellung vom Täufer als andrem Elias vertraut gewesen
wäre, so würde er ihm nicht auf die angegebene Frage
ein so unumwundenes Nein in den Mund gelegt haben.


Diese dem vierten Evangelium eigenthümliche Scene,
daſs Johannes den Eliastitel nebst mehreren andern ausge-
schlagen haben soll, verlangt noch eine genauere Betrach-
tung, und zwar muſs sie mit einer Erzählung des Lukas
(3, 15. ff.) verglichen werden, mit welcher sie auffallende
Ähnlichkeit hat. Wie bei Lukas das um den Täufer ver-
sammelte Volk auf den Gedanken kommt, μήποτε αὐτὸς
εἴη ὁ Χριςός;
so fragen ihn bei Johannes Deputirte des
Synedriums 2): σὺ τις εἶ; was, nach der Antwort des
Täufers zu schlieſsen, den Sinn haben muſs: bist du, wie
man von dir glaubt, der Messias 3)? Nach Lukas antwor-
[357]Erstes Kapitel. §. 43.
tet Jesus: ἐγὼ μὲν ὕδατι βαπτίζω ὑμᾶς· ἔρχεται δὲ ὁ ίσχυ-
ρότερός μου, οὖ οὐκ εἰμὶ ἱκανὸς λῦσαι τὸν ίμάντα τῶν ὑποδη-
μάτων αὐτοῦ
, — nach Johannes erwiedert er gleichfalls: ἐγὼ
βαπτίζω ἐν ὔδατι· μέσος δὲ ὑμῶν ἔςηκεν, ὃν ὑμεῖς οὐκ οἴδατε
— οὖ ἐγὼ οὐκ εἰμὶ ἄξιος ἴνα λύσω αὐτοῦ τὸν ἱμάντα τοῦ ὑποδή-
ματος
, worauf dann bei Johannes noch die ihm eigenthüm-
lichen Aussprüche über Jesu Präexistenz folgen, statt de-
ren Lukas eine Erwähnung der messianischen Geistestaufe
hat, welche Johannes erst bei einer späteren Gelegenheit
(V. 33.) nachholt. Wie aber Lukas diese ganze Scene
in der Absicht und mit der Bedeutung einrückt, die Mes-
sianität Jesu auch dadurch zu begründen, daſs der Täu-
fer sie von sich abgelehnt und auf einen nach ihm Kom-
menden übergetragen habe: so hat sie, nur mit noch stärke-
rem Gewicht, dieselbe Bedeutung auch bei Johannes. Liegt
nun den beiden so verwandten Erzählungen schwerlich
mehr als Ein Vorfall zum Grunde 4), so fragt sich, wel-
che ihn getreuer wiedergiebt? Hier ist in der Darstellung
des Lukas keine innere Unwahrscheinlichkeit, vielmehr
läſst sich leicht denken, wie das um den Täufer geschaarte
Volk den Mann, der die Annäherung des Messiasreichs
verkündigte und mit Beziehung auf dasselbe taufte, in be-
geisterten Augenblicken für den Messias selber halten
mochte. Daſs dagegen die Synedristen aus Jerusalem zu
6ohannes an den Jordan geschickt haben sollten, um ihn
so wie der vierte Evangelist erzählt, fragen zu lassen, ob
er der Messias sei, kann schon nicht ebenso natürlich er-
scheinen. Der Zweck ihrer Frage könnte nur der gewe-
[358]Zweiter Abschnitt.
sen sein, so, wie sie später auch bei Jesus thaten (Matth.
21, 23. ff.), des Johannes Befugniſs zur Taufe zu unter-
suchen, wie auch aus V. 25. hervorgeht. Und zwar konn-
ten sie hiebei nach der feindseligen Stellung, welche sich
der Täufer zu den Sekten der Pharisäer und Sadducäer,
denen die Synedristen angehörten, gegeben hatte (Matth.
3, 7.), keine andre als die Voraussetzung haben, daſs er
nicht der Messias und kein Prophet sei, also auch keine Be-
fugniſs habe, ein βάπτισμα vorzunehmen. Dann aber konn-
ten sie unmöglich so fragen, wie das vierte Evangelium sie
fragen läſst. In der angeführten Stelle des ersten Evangeli-
ums fragen sie Jesum in der gleichen Voraussetzung, daſs
er keine prophetische Befugniſs habe, ganz angemessen:
ἐν ποίᾳ ἐξουσίᾳ ταῦτα ποιεῖς; bei Johannes aber fragen sie
den Täufer gerade, wie wenn sie voraussetzten, er sei der
Messias, und als er, zu ihrem Befremden, wie es scheint,
dieses verneint hat, präsentiren sie ihm nacheinander noch
die Würden des Elias und eines andern prophetischen Vor-
läufers, wie wenn sie angelegentlich wünschten, er möchte
sich doch einen dieser Titel gefallen lassen. So werden
nicht ausforschende Gegner einem Manne, dem sie übel-
wollen, die höchsten Würden aufdringen, sondern nur ein
Erzähler kann dieſs so darstellen, welcher die Bescheiden-
heit jenes Mannes und seine Unterordnung unter Jesum da-
durch hervorheben will, daſs er ihn alle jene glänzenden
Titel ausschlagen läſst: natürlich, soll er sie ausschlagen
können, so müssen sie ihm aufgedrungen worden sein; in
der Wirklichkeit aber kann so etwas blos von Wohlwollen-
den geschehen, wie Lukas richtig dem Volke, das dem Täu-
fer anhieng, die Vermuthung seiner Messianität leiht.


Warum schrieb nun der vierte Evangelist nicht gleich-
falls dem Volke jene Fragen zu, in dessen Mund sie mit
leichter Abänderung so gut gepaſst hätten? Joh. 5, 33. be-
ruft sich Jesus den ungläubigen Ἰουδαίοις in Jerusalem ge-
genüber auf ihre Sendung zu dem Täufer und auf das wahr-
[359]Erstes Kapitel. §. 43.
haftige Zeugniſs, welches dieser damals abgelegt habe.
Hatte Johannes nur vor dem gemeinen Volke jene Aussprü-
che über sein Verhältniſs zu Jesu gethan, so war eine solche
Berufung nicht möglich, sondern, sollte Jesus seinen Fein-
den gegenüber auf das Zeugniſs des Johannes sich berufen
können, so muſste dieses vor den Feinden abgelegt worden
sein; sollte die Aussage des Täufers gleichsam diplomati-
sche Gültigkeit haben, so muſste sie auf die officielle An-
frage einer obrigkeitlichen Deputation erfolgt sein. Dieser
Umwandlung scheint die oben erwähnte Erzählung aus der
synoptischen Tradition zu Hülfe gekommen zu sein, wel-
cher zufolge die Hohenpriester und Schriftgelehrten Jesum
fragen, mit welcher Befugniſs er dergleichen (wie die Ver-
treibung der Käufer und Verkäufer) thue? Hier beruft
sich Jesus auch auf Johannes, indem er ihr Urtheil über
dessen Befugniſs zu erfahren begehrt, freilich nur in der
negativen Absicht, um ihnen für weiteres Inquiriren nach
seiner Befugniſs den Mund zu stopfen (Matth. 21, 23. ff.
parall.); wie leicht aber konnte dieser Berufung die posi-
tive Wendung gegeben, und statt des Arguments: wisset
ihr nicht, was Johannes für eine Vollmacht hatte, so
brauchet ihr auch nicht zu wissen, woher die meinige sich
schreibt, — das andre gesezt werden: da ihr wisset, was
Johannes über mich ausgesagt hat, so müsset ihr auch wis-
sen, welche Vollmacht und Würde mir zukommt; wobei
dann, was ursprünglich eine Anfrage an Jesum war, sich
in eine Botschaft an den Täufer verwandelte 5).


Was Jesus seinerseits über den Johannes urtheilte,
findet sich bei den Synoptikern an zwei Orte vertheilt, in-
dem hier Jesus theils nach dem Abgang der Boten des Jo-
[360]Zweiter Abschnitt.
hannes sich zu einer Erklärung über diesen veranlaſst sieht
(Matth. 11, 7. ff. parall.), theils nach der Erscheinung des
Elias bei der Verklärung durch eine Frage der Jünger auf
ihn zu sprechen kommt (Matth. 17, 12. f. par.); im vierten
Evangelium spricht Jesus den Ἰουδαίοις gegenüber, nach-
dem er sich, wie bemerkt, auf ihre Sendung zu Johannes
berufen, ein ehrendes Urtheil über diesen aus (5, 35.). In
der johanneischen Stelle nennt er den Täufer ein hellschei-
nendes Licht, in dessen Strahle sich das wankelmüthige Volk
eine Zeit lang habe ergötzen mögen; in der mittleren ver-
sichert er, daſs Johannes der als [messianischer] Vorläu-
fer verheiſsene Elias sei; in der ersten Stelle sind drei
Punkte zu unterscheiden. Erstlich das Wesen und die
Wirksamkeit des Johannes betreffend, wird sein strenger
und fester Sinn und die Erhabenheit, welche er als mes-
sianischer Vorläufer, der mit gewaltiger Hand das Him-
melreich eröffnet habe, selbst über die Propheten behaupte,
gerühmt (V. 7—14.); zweitens im Verhältniſs zu Jesus und
den Bürgern der βασιλεία τῶν οὐρανῶν wird der Täufer zu-
rückgestellt als derjenige, welcher, obwohl über alle Mit-
glieder der A. T.lichen Ökonomie erhaben, doch jedem, dem
durch Jesum das neue Licht aufgegangen, nachstehe (V. 11.).
Wie Jesus dieſs verstanden habe, sehen wir aus dem, was
V. 18. folgt, wenn wir es mit Matth. 9, 16 f. vergleichen.
In der ersteren Stelle bezeichnet Jesus den Johannes als
μήτε ἐοϑίων μήτε πίνων, und eben diese von Johannes in
seiner Schule eingeführte Ascese gehört ihm nach der zwei-
ten Stelle zu den ίματίοις und ασκοῖς παλαιοῖς, zu welchen
das Neue, was er gebracht, nicht passe. Was Andres
kann es demnach sein, worin der Täufer unter den Kin-
dern des Reiches Jesu stehen soll, als — im Zusammen-
hang versteht sich damit, daſs er Jesum gar nicht oder
nicht zweifellos als den Messias anerkannte, — der Äus-
serlichkeitsgeist, welcher noch an Fasten und andern der-
gleichen Werken hieng, sammt der damit verbundenen dü-
[361]Erstes Kapitel. §. 43.
stern Ascese? und wirklich verbürgt ja nur das Hinaus-
sein über diese den Übertritt von der unfreien zu freier,
geistiger Religiosität 6). Was drittens das Verhältniſs der
Wirksamkeit sowohl des Johannes als Jesu zu den Zeit-
genossen betrifft, so wird V. 16 ff. über die gleiche Unem-
pfänglichkeit für beide geklagt, wiewohl V. 12. bemerkt
war, daſs der gewaltige Eifer einiger βιαςαὶ nach Anlei-
tung des Johannes sich den Zugang zum Messiasreich er-
zwungen habe 7).


Zum Schlusse ist noch eine Übersicht des Stufengangs
zu geben, in welchem an die einfachen historischen Grund-
züge des Verhältnisses zwischen Johannes und Jesus all-
mählig immer mehr Traditionelles sich angesezt hat. Hi-
storisch scheint dieses zu sein, daſs Jesus durch den Ruf
der Taufe des Johannes angezogen, sich derselben unter-
warf, und nachdem er einige Zeit vielleicht im Gefolge des
Täufers gewesen und durch ihn mit der Idee des nahen-
den Messiasreiches vertraut geworden war, nach der Ver-
haftung des Johannes dessen Wirksamkeit in modificirter
Weise fortsezte, doch, auch nachdem er über ihn hinaus-
geschritten, niemals aufhörte, ihm aufrichtige Hochachtung
zu zollen.


Das Erste nun, was sich in der christlichen Sage
hieran schloſs, war dieſs, daſs Johannes von Jesu noch
beifällige Notiz genommen haben sollte. Während seiner
öffentlichen Wirksamkeit hatte er, das wuſste man, nur
unbestimmt auf einen nach ihm Kommenden hingewiesen;
nun sollte er aber auch noch persönlich Jesum, wenigstens
[362]Zweiter Abschnitt.
vermuthungsweise, als diesen bezeichnet haben. Dazu mag,
so dachte man, der Ruf von Jesu Thaten ihn bewogen ha-
ben, welcher, so stark wie er erscholl, wohl durch die
Mauern seines Kerkers dringen konnte. So bildete sich
die Erzählung des Matthäus von der Botschaft aus dem
Gefängniſs; der erste, gleichsam noch schüchterne Versuch,
den Täufer für Jesum zeugen zu lassen, welchen man,
weil ein kategorisches Zeugniſs desselben für Jesum gar
zu unerhört war, nur erst in eine Frage einkleidete.


Doch dieses späte und halbe Zeugniſs genügte nicht.
Es war ein spätes; denn vor demselben blieb ja immer
noch die Taufe, welche Jesus von Johannes angenommen
und dadurch gewissermaſsen sich ihm untergeordnet hatte.
Daher muſste der Taufe selbst die entgegengesezte Wen-
dung gegeben werden (wovon unten); daher ferner jene
Scenen bei Lukas, durch welche der Täufer vor seiner
Geburt schon in ein dienendes Verhältniſs zu Jesu gesezt
wurde.


Aber nicht allein ein spätes Zeugniſs war jenes in der
Botschaft der Jünger abgelegte, sondern auch ein blos hal-
bes, weil es in der Frage noch eine Ungewiſsheit und in
dem ὁ ἐρχόμενος eine Unbestimmtheit enthielt. Daher im
vierten Evangelium keine Frage nach der Messianität Jesu
mehr, sondern die heiligste Versicherung derselben; daher
die bestimmtesten Aussprüche über Jesu ewige, göttliche
Natur und seinen Charakter als des leidenden Messias.


Mit diesen so bestimmten Aussprüchen konnte nun frei-
lich in einer nach Einheit strebenden Darstellung, wie die
des vierten Evangeliums ist, jene zweifelnde Sendung nicht
wohl zusammen bestehen, weſswegen sie in diesem Evan-
gelium nur in total umgewandelter Gestalt eine Stelle ge-
funden hat; übrigens auch mit dem, was die Synoptiker
bei der Taufe Jesu und schon früher zwischen Johannes
und Jesus vorfallen lassen, reimt sie sich nicht, aber in
ihre loseren Compositionen nahmen diese Evangelisten ne-
[363]Erstes Kapitel. §. 43.
ben der späteren auch noch die frühere Gestaltung der Sa-
ge auf, indem sie weniger auf die Frage des Johannes,
als auf die damit in Verbindung gebrachte Rede Jesu über
denselben Gewicht legen mochten 8).


[364]Zweiter Abschnitt.

§. 44.
Die Hinrichtung des Täufers Johannes.


Anhangsweise nehmen wir hier gleich dasjenige vor,
was uns über das tragische Ende des Täufers Johannes ge-
meldet wird. Nach den übereinstimmenden Berichten der
Synoptiker und des Josephus 1) wurde er, nachdem er ei-
nige Zeit lang gefangen gesessen, auf Befehl des Herodes
Antipas, Tetrarchen von Galiläa, hingerichtet, und zwar
nach den N. T.lichen Nachrichten enthauptet (Matth. 14,
3 ff. Marc. 6, 17 ff. Luc. 9, 9.).


8)


[365]Erstes Kapitel. §. 44.

Über die Ursache seiner Gefangennehmung und Hin-
richtung aber findet zwischen Josephus und den Evange-
listen eine Abweichung statt. Während nämlich nach den
lezteren der Tadel, welchen Johannes über die Verheura-
thung des Herodes mit der Frau seines (Halb-) Bruders 2)
ausgesprochen hatte, die Veranlassung seiner Gefangenneh-
mung war, und die rachsüchtige List der Herodias während
eines Hoffestes die Hinrichtung herbeiführte: giebt Jose-
phus die Furcht vor Unruhen, welche Herodes von dem
bedeutenden Anhang des Täufers besorgt habe, als Grund
der Verhaftung und des Mordes an 3). Hält man diese
beiden Relationen, wie sie sich zunächst geben, für ver-
schiedene und unvereinbare, so könnte man zu zweifeln
veranlaſst sein, welche von beiden den Vorzug verdienen
möge? Hier ist es nämlich keineswegs so, wie z. B. bei
dem Bericht vom Tode des Herodes Agrippa, A. G. 12, 23.,
daſs die N. T.liche Erzählung durch Einmischung einer über-
natürlichen Ursache, wo Josephus nur eine natürliche hat,
sich zum Voraus als die unhistorische zeigte; sondern man
könnte hier umgekehrt der evangelischen Erzählung, we-
gen der ausgezeichneten Individualität ihrer Züge, vor der
des Josephus den Vorzug geben 4). Doch muſs man auf
der andern Seite auch erwägen, daſs eben solche Indivi-
dualisirung und namentlich die Verwandlung eines politi-
schen Grundes in einen persönlichen, einer Staatsaktion in
eine Familienscene, ganz im Geiste der Sage ist, wie sie
sich unter dem im häuslichen mehr als im politischen Krei-
se einheimischen Volke zu bilden pflegt. Indessen ist es
[366]Zweiter Abschnitt.
hier gar wohl möglich, beide Erzählungen zu vereinigen.
Dieſs hat man so versucht, daſs man vermuthete, die Furcht
vor Aufruhr sei der eigentliche Kabinetsgrund zur Verhaf-
tung des Täufers gewesen, das unehrerbietige Urtheil über
die Herrscher aber als ostensibler Grund vorgeschoben wor-
den 5). Allein ich zweifle sehr, ob Herodes den von Jo-
hannes gerügten skandalösen Punkt absichtlich wird her-
vorgekehrt haben, sondern, wenn man hier zwischen ge-
heimer und ostensibler Ursache unterscheiden will, so möchte
eher der Tadel jener Heurath die geheime gewesen, und die
Sache so zu denken sein, daſs die Furcht vor Aufruhr ab-
sichtlich, um den Mord zu entschuldigen, ausgestreut wor-
den sei 6). Übrigens braucht man jene Unterscheidung
nicht, da ja Antipas befürchtet haben kann, eben auch
durch den starken Tadel jener gesezwidrigen Heurath und
seiner Lebensweise überhaupt möchte Johannes das Volk
gegen ihn in Aufruhr bringen.


Aber auch zwischen den evangelischen Erzählungen
selbst findet sich eine Differenz, nicht nur darin, daſs Mar-
kus in anschaulichster Ausführlichkeit die Scene bei dem
Festmahl erzählt, Lukas dagegen sich mit einer kurzen
Angabe begnügt (3, 18—20. 9, 9.), während Matthäus in
der Mitte steht: sondern es wird auch das Verhältniſs des
Herodes zum Täufer von Markus wesentlich anders als von
Matthäus dargestellt. Während nämlich nach dem letzte-
ren Herodes den Täufer zu tödten wünschte, aber nicht
dazu kommen konnte, weil er das Volk scheuen muſste,
das ihn für einen Propheten hielt (V. 5.): so ist es nach
Markus nur Herodias, welche ihm nach dem Leben trach-
tet, aber ihren Zweck nicht erreichen kann, weil ihr Ge-
[367]Erstes Kapitel. §. 44.
mahl den Johannes als einen heiligen Mann scheute, ihn
bei Gelegenheit selbst gerne hörte, und seinem Rath nicht
selten Folge leistete (V. 19 f.) 7). Hier hat nun ebenfalls
wieder das individuell Charakteristische der Erzählung des
Markus die Erklärer bewogen, seiner Darstellung den Vor-
zug vor der des Matthäus zu geben 8). Allein auch hier
kann man gerade in diesen Ausmalungen und Änderungen
bei Markus die Spur des Traditionellen zu erkennen glau-
ben, zumal auch Josephus nur vom Volke sagt: ᾔρϑησαν
τῇ ακροάσει τῶν λόγων
, den Herodes aber als denjenigen
aufführt, welcher δείσας κρεῖττον ἡγεῖται (τὸν Ἰωάννην)
ἀναιρεῖν
. Wie nahe lag es nämlich, zu weiterer Erhebung
des Täufers den Contrast herbeizuführen, daſs selbst der
Fürst, gegen welchen er gesprochen und der ihn deſswe-
gen verhaftet hatte, im Gewissen gehalten gewesen sei, ihn
zu achten, und nur sein rachsüchtiges Weib [zu] seinem
Bedauern ihm den Mordbefehl abgelistet habe. Mit dem
Charakter des Antipas, wie wir ihn sonsther kennen, ist
die Darstellung des Matthäus ohnehin nicht unverträglich 9).


Eine Spur des Sagenhaften wenigstens wird man aus
unsern evangelischen Berichten über des Täufers Ende
nicht wohl wegerklären können. Jeder nämlich, der sie
liest, wird den Eindruck bekommen, als wäre der abge-
schlagene Kopf des Johannes noch über Tisch präsentirt
worden, also das Gefängniſs desselben ganz in der Nähe
gewesen. Nun aber erfahren wir aus der angeführten Stelle
des Josephus, daſs der Täufer in Machärus, einem festen
Platz an der Südgränze von Peräa, gefangen gesessen ha-
be, wogegen die Residenz des Herodes in dem eine Täg-
[368]Zweiter Abschnitt.
reise davon entfernten Tiberias war 10). Deſswegen hat
Grotius angenommen, die γενέσια des Herodes seien auf
Machärus gefeiert worden; aber schwerlich hat dieser Fürst
ein solches Fest, zu welchem er nach Markus alle seine
μεγιςάνας und χιλιάρχους sammt den πρώτοις τῆς Γαλιλαίας
geladen hatte, an einem andern Orte als in seiner Residenz,
am wenigsten in einer abgelegenen Gränzfestung, gegeben.
Von Machärus aber nach Tiberias konnte das Haupt des Jo-
hannes erst nach zwei Tagen, also nicht mehr über Tafel,
herbeigebracht werden. Hierin findet zwar selbst Fritzsche
keinen Widerspruch gegen die evangelischen Erzählungen,
da in diesen mit keinem Worte gesagt sei, das Haupt des Jo-
hannes sei noch während des Mahles gebracht worden. Al-
lein ausdrücklich gesagt ist es nur deſswegen nicht, weil es
aus der ganzen Darstellung von selbst erhellt. Nicht nur ist
in unmittelbarem Zusammenhang mit den Vorfällen bei der
Mahlzeit die Absendung des speculator und seine Rückkehr
mit dem Kopf des Enthaupteten erzählt: sondern nur so hat
auch die ganze, dramatisch gehaltene Scene ihren gehörigen
Schluſs; nur so tritt der Contrast recht hervor, welchen der
Blutbefehl mit dem Freudenfeste bildet; endlich auch der
πίναξ, auf welchem der abgeschlagene Kopf herbeigebracht
wird, bezeichnet denselben als das köstlichste Gericht, wel-
ches die unnatürliche Rachsucht eines Weibes sich über Ta-
fel bringen lassen mochte. — Ist also hier das augenblickli-
che Herbeibringen des Hauptes auf einem Teller in jedem
Falle sagenhaft: so fragt sich, ob nicht mehr oder weniger
auch die ganze Ausmalung der Scene?


[369]Zweites Kapitel. §. 45.

Zweites Kapitel.
Taufe und Versuchung Jesu.


§. 45.
Warum hat Jesus sich von Johannes taufen lassen?


In Gemäſsheit der von den Evangelisten an den Tag ge-
legten Ansicht von der Sache beantwortet man die voran-
gestellte Frage von orthodoxer Seite gewöhnlich dahin, Je-
sus habe sich durch die johanneische Taufe zu seinem mes-
sianischen Berufe einweihen lassen wollen, wofür man sich
auch auf eine Stelle bei Justin berufen kann, nach welcher
es jüdische Vorstellung war, der Messias werde als solcher
sich selbst und Andern unbekannt sein, bis Elias als sein
Vorläufer ihn salben und dadurch Allen kennbar machen
werde 1). Der Täufer selbst indess, wie ihn der erste
Evangelist darstellt, muſs diese Ansicht nicht getheilt ha-
ben; denn hätte er seine Taufe für eine Weihung ange-
sehen, welche der Messias nothwendig bekommen müsse:
so würde er sich nicht gesträubt haben, sie an Jesu zu
vollziehen (3, 14.).


Dem Obigen zufolge bezog sich die Taufe des Johan-
nes einerseits εἰς τὸν ἐρχόμενον, indem man durch dieselbe
auf den erwarteten Messias glaubig sich vorbereiten zu wol-
len versprach: wie konnte Jesus, wenn er der ἐρχόμενος
selbst zu sein sich bewuſst war, dieser Taufe sich unter-
werfen? Die gewöhnliche Antwort auf orthodoxem Stand-
punkt ist: Jesus, obwohl sich seiner Messianität bewuſst,
redete und handelte doch, so lange er nicht durch Gott
Das Leben Jesu I. Band. 24
[370]Zweiter Abschnitt.
selbst dafür erklärt war, nicht als Messias, sondern blos
als Israëlite, der sich zur Pflicht macht, jeder seine Na-
tion betreffenden göttlichen Verordnung nachzukommen 2).
Allein man muſs hier wohl unterscheiden: negativ, nichts
Messianisches zu thun, kein Vorrecht des Messias auszu-
üben, ehe er feierlich dafür erklärt wäre, das ziemte Je-
su; auch positiv allen den Ordnungen sich zu unterwer-
fen, welche jeder Israëlit zu befolgen hatte: aber einen
neuaufgekommenen Ritus mitmachen, welcher die Erwar-
tung eines andern künftigen Messias aussprach, das konn-
te der, welcher sich bewuſst war, selbst der gegenwärtige
Messias zu sein, ohne Simulation nicht. Mit Recht haben
daher neuere Theologen zugegeben, daſs Jesus, als er zu
Johannes kam, um sich taufen zu lassen, sich noch nicht
entschieden als den Messias gedacht haben könne 3). Frei-
lich fassen sie diese Ungewiſsheit nur als das Sträuben
der Bescheidenheit auf, indem namentlich Paulus erin-
nert, daſs Jesus, unerachtet er von seinen Eltern sei-
ne messianische Bestimmung vernommen, und an diesen
ersten Anstoſs sich in den äusseren Ereignissen wie in sei-
ner innern Entwicklung Manches günstig angereiht hatte,
doch sich nicht habe übereilen wollen, das ihm gleichsam auf-
gedrungene Prädikat sich beizulegen. Allein, sieht man
in den bisherigen Erzählungen von Jesu eine Geschichte,
und zwar, wie man dann nicht anders kann, eine überna-
türliche: so muſste der von Engeln Angekündigte, übernatür-
lich Gezeugte, durch Huldigungen von Magiern und Propheten
in der Welt Aufgenommene, der schon im zwölften Jahre den
Tempel als seines Vaters Haus kannte, längst über alle Skrupel
einer falschen Bescheidenheit hinaus von seiner Messianität
überzeugt sein; glaubt man dagegen die Kindheitsgeschichte
kritisch auflösen zu können: so sind damit alle Veranlas-
[371]Zweites Kapitel. §. 45.
sungen verschwunden, welche Jesum so frühe auf den Ge-
danken, er möchte der Messias sein, bringen muſsten, und
es wird die Stellung, welche er durch die Annahme der
johanneischen Taufe sich zur messianischen Idee gab,
aus einem gezierten Nichtwissenwollen, daſs er der Mes-
sias sei, zum wirklichen Nichtwissen dieser Bestimmung. —
Zu bescheiden, meinen jene Erklärer weiter, um sich ei-
genmächtig für den Messias zu erklären, habe Jesus Alles,
was die strengste Selbstbeurtheilung erforderte, erfüllen
(πληρῶσαι πᾶσαν δικαιοσύνην) und den entscheidenden Ver-
such machen wollen, ob es die Gottheit dulden würde,
daſs auch er wie jeder Andere auf den kommenden Mes-
sias sich einweihen lasse, oder ob sie einen Wink geben
würde, daſs er selbst der ἐρχόμενος sei? Allein auf diese
Weise etwas thun, was man selbst als unangemessen er-
kennt, nur um zu versuchen, ob nicht Gött das Un-
passende corrigiren werde, ein solches Herausfordern
eines göttlichen Zeichens ist doch nichts Andres, als ein
ἐκπειράζειν τὸν Κύριον, was Jesus bald nach der Taufe so
entschieden von sich gewiesen haben soll (Matth. 4, 7.). Das
also wird man anerkennen müssen: sofern die Taufe des
Johannes eine Taufe εἰς τὸν ἐρχόμενον war, kann Jesus,
wenn er sich derselben ohne Heuchelei und Vermessenheit
unterworfen haben soll, noch nicht sich selbst für diesen
ἐρχόμενος gehalten haben, und wenn er das ου῞τω πρέπον ἐςὶ
κ. τ. λ.
wirklich gesprochen hätte, wozu aber ohne die
mit dessen früherer Überzeugung von seiner Messianität
wegfallende Weigerung des Täufers keine Veranlassung
war, so konnte er es, wenn es auch der Referent vom
Standpunkt des späteren Erfolgs aus anders versteht, nur
so gemeint haben, es zieme ihm, wie jedem frommen Is-
raëliten, durch die Taufe sich dem zu erwartenden Mes-
sias im Voraus anzuschlieſsen.


Doch die bisher besprochene Beziehung ist nur die
eine Seite der johanneischen Taufe; die andere, historisch
24*
[372]Zweiter Abschnitt.
noch sicherer verbürgte ist, daſs sie ein βάπτισμα μετανοίας
war. Die Israëliten, heiſst es Matth. 3, 6, haben sich von
Johannes taufen lassen ἐξομολογούμενοι τὰς ἁμαρτίας αὑτῶν:
soll nun Jesus gleichfalls ein solches Bekenntniſs abgelegt
haben? es ergieng an sie der Ruf: μετανοε[ί]τε (Matth. 3, 2.):
soll auch Jesus sich dieſs haben gesagt sein lassen? Schon
in der alten Kirche war dieſs Bedenken; im Hebräer-Evan-
gelium der Nazarener richtete Jesus an seine Mutter und
Brüder, welche ihn aufforderten, sich von Johannes tau-
fen zu lassen, die Frage, was er denn gesündigt habe,
daſs er diese Taufe nöthig hätte 4)? und ein ketzerisches
Apokryphum soll Jesum bei seiner Taufe geradezu ein Be-
kenntniſs eigener Sünde haben ablegen lassen 5).


Faſst man zusammen, was neuere Theologen, um
diesem Anstoſs auszuweichen, angedeutet haben 6), so ist
[373]Zweites Kapitel. §. 45.
es dieſs, daſs sie, die Unterscheidung zwischen dem, was
der Mensch als einzelner und was er als Glied der Gesammt-
heit ist, auf Jesum anwendend, behaupten, für sich selbst
zwar habe er keine μετάνοια nöthig gehabt, wohl aber
das Bewuſstsein, daſs sie bei allen andern Menschen,
auch seine Volksgenossen, die Nachkommen Abrahams, nicht
ausgenommen, nothwendig sei, und um für ein diese Wahr-
heit bethätigendes Institut seine Billigung auszusprechen,
habe sich Jesus demselben gleichfalls unterworfen. Allein
man stelle sich nur die Sache genauer vor. Nach Matth. 3, 6.
scheint Johannes vor der Taufe ein Sündenbekenntniſs ver-
langt zu haben: ablegen konnte Jesus, als sündlos vor-
ausgesezt, ein solches ohne Unwahrheit nicht; verweigerte
er es, so taufte ihn Johannes schwerlich, denn für den
Messias hielt er ihn vorher nicht und bei jedem andern Israë-
liten muſste er ein Sündenbekenntniſs für nöthig halten.
Wollte also Jesus keines ablegen, so müſste sich wohl hier-
über der Streit entsponnen haben, welchem Matthäus eine
ganz andre Beziehung giebt; aber freilich, wenn das διε-
κώλυεν
des Johannes durch eine solche Weigerung Jesu
veranlaſst gewesen wäre, so würde sich die Sache schwer-
lich durch ein bloſses ο[ὕ]τω πρέπον ἐςὶν haben abmachen las-
sen, sondern eben das πληρῶοαι πᾶσαν δικαιοσυνην würde
der Täufer vermiſst haben, wenn kein Sündenbekenntniſs
abgelegt war. Indessen, wenn auch vielleicht nicht jeder
einzelne Täufling ein solches Bekenntniſs ablegen muſste:
so hat doch wohl Johannes bei Vollziehung der Taufhand-
lung nicht ganz geschwiegen, sondern den Täufling mit Wor-
ten angeredet, welche sich auf die μετάνοια bezogen. Konn-
te Jesus solche Worte über sich sprechen lassen, wenn
er sich bewuſst war, keine Sinnesänderung nöthig zu
haben? und machte er dadurch, daſs er von sich als ei-
nem Sünder reden lieſs, nicht die Gemüther irre, welche
nachher an ihn als den Sündlosen glauben sollten? Las-
sen wir aber selbst auch die Behauptung fallen, daſs Jo-
[374]Zweiter Abschnitt.
hannes die Täuflinge in angegebener Weise angeredet ha-
be: so muſsten doch die Gebärden derjenigen, welche in
die reinigende Fluth hinabstiegen und wieder auftauchten,
die von Büſsenden sein, und wenn Jesus diese auch nur
stillschweigend mitmachte, ohne sie doch auf sich zu bezie-
hen: so könnte er von Simulation nicht freigesprochen werden.


Hier ist also kein anderer Ausweg, als daſs Jesus,
wie er bei seiner Taufe noch nicht daran gedacht haben
kann, selbst der Messias zu sein, so auch, was die μετάνοια
betrifft, sich zwar unter die Trefflichsten in Israël mit Recht
mag haben zählen können, ohne sich jedoch von dem, was
Hiob 4, 18. 15, 15. gesagt ist, auszuschlieſsen. Von histo-
rischer Seite wird hiegegen wenig einzuwenden sein; denn
das τίς ἐξ ὑμῶν ἐλέγχει με περὶ ἁμαρτίας; (Joh. S, 46.) konn-
te sich doch theils nur auf offenkundige Fehltritte, theils
nur auf die spätere Zeit der gereiften Entwicklung Jesu
beziehen; die Scene aus seinem zwölften Jahre aber wür-
de für sich eine sündlose Entwicklung selbst dann nicht
beweisen, wenn sie historisch wäre.


§. 46.
Die Vorfälle bei der Taufe Jesu als übernatürliche und als
natürliche aufgefasst.


Eben als Johannes seine Taufe an Jesus vollendet hat-
te, ereignete es sich nach den synoptischen Evangelien,
daſs der Himmel sich öffnete, der heilige Geist in Gestalt
einer Taube auf Jesum herabkam und eine Himmelsstimme
sich hören lieſs, die ihn als den Sohn Gottes, auf welchem
des Vaters Wohlgefallen ruhe, bezeichnete (Matth. 13, 16. f.
Marc. 1, 10. f. Luc. 3, 21. f.). Das vierte Evangelium
läſst (1, 32. ff.) durch den Täufer erzählen, wie er den
heiligen Geist einer Taube gleich auf Jesum habe herab-
kommen und über ihm bleiben sehen; von einer Stimme
wird hier nichts gesagt, auch nicht, daſs die Scene gerade
bei der Taufe Jesu vorgefallen sei: doch da im unmittel-
bar Vorhergehenden Johannes von seiner Taufe gesagt hat-
[375]Zweites Kapitel. §. 46.
te, sie sei zur Offenbarung des Messias bestimmt gewesen,
überdieſs die johanneische Beschreibung des herabkommenden
Geistes fast wörtlich der synoptischen entspricht: so ist wohl
nicht zu zweifeln, daſs hier derselbe Vorfall berichtet werden
solle. Die alten verlorenen Evangelien Justins und der Ebioni-
ten verbanden hiemit noch ein himmlisches Licht oder ein im
Jordan aufflammendes Feuer 1); auch mit der Taube und
Himmelsstimme nahmen sie Veränderungen vor, von wel-
chen unten zu sprechen sein wird. Wem denn eigentlich
die Erscheinung gegolten habe, darüber kann man bei Ver-
gleichung der verschiedenen Berichte zweifelhaft bleiben.
Nach Johannes, wo der Täufer sie seinen Anhängern er-
zählt, scheinen diese nicht Augenzeugen gewesen zu sein,
sondern, indem er davon spricht, wie ihm von demjeni-
gen, der ihn zu taufen gesandt habe, das Herabkommen
und Bleiben des Geistes über Einem als Kennzeichen des
Messias verheiſsen worden sei, sieht es aus, als wäre die
Erscheinung vorzugsweise nur für den Täufer bestimmt ge-
wesen. Bei Matthäus und Markus erregt das ἀνεῴχϑησαν
αὐτῷ (τῷ Ἰησοῦ
) und εἶδε (ὁ Ἰ.) den Schein, als hätte zu-
nächst Jesus die Erscheinung gehabt; da indeſs bei Mat-
thäus die Himmelsstimme in der dritten Person von Jesu
redet: so wird ausser ihm jedenfalls noch Ein weiteres In-
dividuum, das die Stimme mitanhörte, vorausgesezt, wel-
ches dann, den Johannes verglichen, der Täufer sein müſste.
Aber Lukas scheint dem Vorfall ein noch viel gröſseres
Publikum zu geben, indem er ἐν τῷ βαπτισϑῆναι ἄπαντα
τὸν λαὸν
auch Jesum die Taufe empfangen und hierauf,
wie man kaum anders glauben kann, vor allem Volk die
beschriebene Scene sich ereignen läſst 2).


[376]Zweiter Abschnitt.

Sämmtliche Erzählungen veranlassen zunächst zu kei-
ner andern Auffassung, als daſs alles Angegebene äusser-
lich sichtbar und hörbar vor sich gegangen, und so sind
sie deſswegen von jeher von der Mehrheit der Ausleger
verstanden worden. Will man sich aber die Sache als
wirklich so geschehen vorstellen: so stöſst die gebildete
Reflexion auf nicht unbedeutende Schwierigkeiten. Erst-
lich, daſs bei der Erscheinung eines göttlichen Wesens auf
der Erde sich erst der Himmel aufthun müsse, um dem-
selben das Heruntersteigen aus seinem gewöhnlichen Sitze
möglich zu machen, dieſs kann doch wohl nichts Objekti-
ves, sondern nur subjektive Vorstellung einer Zeit sein,
welche den Wohnplatz Gottes über dem festen Himmelsge-
wölbe sich dachte. Ferner, wie ist es mit richtigen Be-
griffen von dem heiligen Geiste, als der göttlichen, Alles
erfüllenden Kraft, zu vereinigen, daſs sich derselbe, wie
ein endliches Wesen, von einem Orte zum andern bewe-
gen, und vollends gar in einer Taube sich verkörpern solle?
Endlich aber, daſs Gott menschlich articulirte Töne in ei-
ner bestimmten Landessprache von sich gegeben habe, hat
man mit Recht selbst abenteuerlich gefunden 3).


Schon in der alten Kirche waren daher gebildetere
Väter namentlich in Bezug auf die in der biblischen Ge-
schichte sich findenden Gottesstimmen auf die Ansicht ge-
kommen, daſs sie nicht eigentlich äussere, durch Bewe-
gung der Luft entstandene Töne, sondern innerliche Ein-
drücke gewesen seien, welche Gott im Gemüthe derjeni-
gen, denen er sich mittheilen wollte, hervorgebracht ha-
be 4), und so behaupteten auch von der Erscheinung bei
2)
[377]Zweites Kapitel. §. 46.
Jesu Taufe Origenes und Theodor von Mopsvestia gerade-
zu, daſs sie ὀπτασία, οὐ φύσις gewesen sei 5). Den Einfäl-
tigen freilich, sagt Origenes treffend, ist es in ihrer Ein-
falt ein Geringes, die ganze Welt in Bewegung zu setzen
und eine so fest verbundene Masse wie den Himmel zu
spalten; wer aber tiefer über dergleichen Dinge forsche,
meint er, der werde an jene höhere Eröffnung des Sinnes
denken, vermöge welcher, wie öfters im Traume, so auch
im Wachen erwählte Personen mit ihren leiblichen Sinnen
etwas zu vernehmen glauben, während doch nur ihr Ge-
müth in Bewegung gesezt ist: so daſs folglich auch hier
die ganze Erscheinung nicht als äusserer Vorgang, son-
dern als innere, von Gott gewirkte Vision zu fassen wä-
re, — eine Auffassung, welche auch unter neueren Theo-
logen vielen Beifall gefunden hat.


Sie wäre nicht unzulässig, wenn wir entweder blos
die Relation des Johannes, oder blos die des Markus be-
säſsen. Denn nach dem ersteren könnte man denken, nur
der Täufer, nach dem lezteren, nur Jesus habe die Er-
scheinung gehabt, — und was nur Einer allein, wenn
auch äusserlich, wahrzunehmen glaubt, das kann wenig-
stens möglicherweise eine blos innere Anschauung sein.
Daher hat namentlich schon Theodor darauf gedrungen,
daſs das Niedersteigen des heiligen Geistes οὐ πᾶσιν ὤφϑη
τοῖς παροῦσιν, ἀλλα κατά τινα πνευματικὴν ϑεωρίαν ὤφϑη
μόνῳ τῷ Ἰωάννῃ
, wie das vierte Evangelium es darzustel-
len scheint. Nehmen wir aber den Johannes und den Mar-
kus zusammen: so hätten wenigstens Jesus und der Täu-
fer miteinander dieselbe Erscheinung gehabt, was nicht die
Art der Visionen ist 6); dasselbe sezt die Darstellung des
Matthäus voraus, und von Lukas gesteht auch Lücke zu,
[378]Zweiter Abschnitt.
er stelle die Erscheinung bei der Taufe Jesu als etwas
ganz Objektives dar und gebe durch den Zusatz: σωματικῷ
εἴδει
dem ὡσεὶ περιςερὰν ein so starkes leibliches Gewicht,
daſs man nicht zweifeln könne, er habe dabei bestimmt
an eine äussere Erscheinung der Taube als Symbols des
Geistes gedacht 7). Um also die Auffassung des Phänomens
bei der Taufe Jesu als einer Vision möglich zu machen,
muſs, scheint es, gegen die Auktorität Eines Evangelisten
die Glaubwürdigkeit aller übrigen in dieser Erzählung auf-
geopfert werden, wie dieſs der zulezt angeführte Ausleger
wirklich thut, indem er, unerachtet die synoptischen Be-
richte, wie er sich ausdrückt, doch auch Glauben ver-
dienen, dieselben dennoch, je nach dem Grade ihrer Abwei-
chung von Johannes, für weniger sicher erklärt. Allein
ein solches Verwerfen eines Theils der Berichte ist auf or-
thodoxem, wie auf dem Standpunkt der natürlichen Erklä-
rung inconsequent, weil, sobald man einmal eines unsrer
kanonischen Evangelien kritisch verdächtigt, dann, vermöge
der Gleichheit der äusseren Begründung ihrer Glaubwür-
digkeit, und ihrer inneren Verwandtschaft ein gleiches
Verfahren auch gegen die übrigen möglich wird, wodurch
sodann dem Erklärer alles supranaturalistische wie natura-
listische Deuten erspart, und er auf die mythische Auffas-
sung angewiesen ist. Dieſs hat Olshausen richtig gefühlt,
wenn er der Relation der Synoptiker und namentlich des
Lukas insoweit nachgiebt, daſs er eine Volksmenge bei dem
Vorgange zugegen sein und dieselbe auch etwas sehen
und hören läſst, doch nur etwas Unbestimmtes und Un-
verstandenes 8). Hiemit wird die Sache einerseits aus dem
Gebiete subjektiver Vision wieder auf das des objektiven
Geschehens hinübergespielt; indem aber andrerseits die er-
schienene Taube nicht dem physischen, sondern nur dem
[379]Zweites Kapitel. §. 46.
eröffneten geistigen Auge sichtbar, und ebenso die Worte
nicht leiblichen Ohren hörbar, sondern nur dem Geiste ver-
nehmlich gewesen sein sollen: so geht über solcher über-
sinnlichen Sinnlichkeit Olshausen'scher Pneumatologie uns
Übrigen das Verständniſs aus, und wir eilen aus dieser
dumpfen Atmosphäre gerne zu der Klarheit derjenigen fort,
welche uns einfach sagen, die Sache sei ein äusserer Vor-
gang, aber ein rein natürlicher gewesen.


Von dieser Seite beruft man sich auf die Weise des
Alterthums, natürliche Vorgänge als göttliche Zeichen an-
zusehen und in bedeutungsvollen Momenten, wo es auf ei-
nen kühnen Entschlnſs ankam, sich durch dieselben leiten
zu lassen. So habe auch für Jesum, als er, innerlich zum
Messias herangereift, nur noch auf eine äussere göttliche
Bestätigung wartete, und ebenso für den Täufer, der sei-
nen Jugendfreund bereits über sich selber stellte, in der
feierlichen Stimmung bei der Taufe des Ersteren durch
den Lezteren jedes zufällig eintretende Naturphänomen be-
deutungsvoll sein, und ihnen als Zeichen des göttlichen
Willens erscheinen müssen 9). Was nun dieses natürliche
Phänomen gewesen sei, darüber sind die Erklärer getheil-
ter Meinung 10). Die einen nehmen mit den Synoptikern
sowohl etwas Hörbares als etwas Sichtbares an, die an-
dern mit Johannes nur etwas Sichtbares. Was das Sicht-
bare betrifft, so deuten sie das Sichöffnen des Himmels
entweder von plötzlicher Zertheilung der Wolken 11), oder
von einem Blitzstrahl 12); die Taube aber nehmen sie ent-
weder als einen wirklichen Vogel dieser Gattung, welcher
zufällig über das Haupt Jesu langsam hinschwebte 13),
[380]Zweiter Abschnitt.
oder sezt man voraus, daſs eben jener die Wolken zer-
theilende Bliz 14), oder ein sonstiges Meteor 15) der Art
seines Herabkommens wegen mit einer Taube verglichen
werde. Nimmt man neben diesem Sichtbaren auch noch
etwas Hörbares bei der Scene an, so versteht man auf die-
sem Standpunkt einen Donnerschlag darunter, welchem
die [Anwesenden] als einer Bath-kol die Auslegung ge-
geben haben, die wir bei den ersten Evangelisten lesen 16);
wogegen Andere Alles, was von hörbaren Worten gesagt
ist, nur als Ausdeutung des sichtbaren Zeichens fassen, in
welchem man eine Deklaration Jesu zum υἱὸς ϑεοῦ gefun-
den habe 17). Diese leztere Ansicht sezt die Synoptiker,
welche unverkennbar von einer wirklichen Stimme reden,
gegen Johannes zurück, enthält also einen kritischen Zwei-
fel an dem historischen Charakter der Berichte, welcher,
consequent verfolgt, auf einen ganz andern Standpunkt,
als den der natürlichen Erklärung, führt. Ebenso wenn
das Hörbare ein bloſser Donner gewesen, die Worte aber
nur eine subjektive Auslegung desselben sein sollen: so
müſste, da in der synoptischen Darstellung die Worte au-
genscheinlich zum objektiven Vorgang gerechnet sind, eine
traditionelle Zuthat in diesen Berichten angenommen wer-
den. Was das Sichtbare betrifft, so ist zwar nicht zu
leugnen, daſs schnell sich theilende Wolken oder ein Bliz-
strahl als Sichöffnen des Himmels bezeichnet werden konn-
ten; keineswegs aber konnte einem Bliz oder Meteor eine
Taubengestalt zugeschrieben werden. Die Gestalt aber ist
nicht nur bei Lukas entschieden der Vergleichungspunkt,
sondern ohne Zweifel auch bei den übrigen Referenten,
obgleich selbst Fritzsche das ὡσεὶ περιςερὰν bei Matthäus
[381]Zweites Kapitel. §. 47.
nur auf die schnelle Bewegung bezogen wissen will. In
ihrer Bewegung hat die Taube keine so bestimmte Eigen-
thümlichkeit, daſs nicht, wenn blos diese der Verglei-
chungspunkt wäre, in einer der vier Parallelstellen eine
Variation und Substitution eines andern Vogels, oder über-
haupt einer andern Bezeichnung sich finden müſste; da
statt dessen durch unsre 4 Berichte die περιςερὰ als ste-
hende Bezeichnung hindurchgeht: so muſs sich die Ver-
gleichung auf etwas der Taube ausschlieſsend Eigenthüm-
liches beziehen, und dieſs scheint nur die Gestalt sein zu
können. Daher thun diejenigen zwar dem Text die we-
nigste Gewalt an, welche an eine wirkliche Taube denken;
aber da hat nun Paulus ein schweres Geschäft, durch eine
Masse naturhistorischer und andrer Bemerkungen die Tau-
be so weit kirre zu machen, daſs ein solches Herbeifliegen
derselben zu einem Menschen, wie es hier angenommen
werden müſste, glaublich würde 18); wie aber eine Taube
gar so lange über Jemand schwebend verweilen könne, daſs
sich sagen lieſse: ἔμεινεν ἐπ' αὐτὸν, das hat er doch nicht
denkbar gemacht, und damit gegen die Erzählung des Jo-
hannes, welchem er sich in Bezug auf das Fehlen der
Stimme anschloſs, selbst verstoſsen.


§. 47.
Versuche einer Kritik der Berichte. Mythische Auffassung
derselben.


Kann man somit den Vorgang bei Jesu Taufe einer
verständigen Vorstellung nicht näher bringen, ohne den
evangelischen Berichten Gewalt anzuthun und eine unge-
naue Darstellung bei einem Theile derselben vorauszuse-
zen: so wird man hiedurch mit Nothwendigkeit zu einer
kritischen Behandlung dieser Berichte hingetrieben, wie
[382]Zweiter Abschnitt.
eine solche namentlich de Wette1), Schleiermacher2)
und diesem folgend Usteri3) unternommen haben. Ihr
Bestreben geht dahin, aus der johanneischen Erzählung,
als der reinen Quelle, die übrigen, als getrübte Abflüsse,
herzuleiten. Bei Johannes sei von keinem sich öffnenden
Himmel, von keiner göttlichen Stimme die Rede; nur das
Herabsteigen des Geistes werde dem Täufer nach einer
ihm gewordenen Verheiſsung zum göttlichen Zeugniſs, daſs
Jesus der Messias sei; auf welche Weise aber der Täufer
wahrgenommen, daſs der Geist auf üesu ruhe, sage er uns
nicht, und gar wohl können ihm auch blos Reden Jesu
das Zeichen davon gewesen sein.


Man muſs sich über die Behauptung Schleiermacher's
wundern, daſs im vierten Evangelium nicht angegeben wer-
de, in welcher Weise der Täufer das niedersteigende
πνεῦμα wahrgenommen, da doch das auch hier sich fin-
dende ὡσεὶ περιςερὰν es deutlich genug sagt, und eben
durch diesen Zug jenes Herabkommen als sichtbares, nicht
blos aus Reden erschlossenes unverkennbar dargestellt ist.
Usteri freilich meint, die Taube habe der Täufer nur als
Bild gebraucht, um den sanften und milden Geist zu be-
zeichnen, den er an Jesu bemerkte. Allein, wenn er nur
dieſs wollte, so würde er eher Jesum selbst, wie sonst
mit einem ἀμνὸς, so hier mit einer περιςερὰ verglichen,
nicht aber durch das malerische τεϑέαμαι τὸ πνεῦμα κατα-
βαῖνον ὡσεὶ περιςερὰν ἐξ οὐρανοῦ
, den Gedanken an eine sinn-
liche Anschauung erregt haben. Es ist also in Bezug auf
das von der Taube Gesagte nicht wahr, daſs erst in der
entfernteren Tradition, wie sie die Synoptiker geben sol-
len, das ursprünglich blos bildlich Gemeinte eigentlich ge-
[383]Zweites Kapitel. §. 47.
deutet worden sei, sondern schon Johannes versteht es ei-
gentlich, und da dieser die richtige Darstellung haben soll:
so müſste der Täufer selbst schon von einer sichtbaren,
taubenähnlichen Erscheinung gesprochen haben, womit alle
Schwierigkeiten der Erklärung dieses Punktes wiederkehren.


Wie also in Bezug auf die Taube der angebliche Un-
terschied zwischen den drei ersten und dem vierten Evan-
gelium sich gar nicht findet: so ist hinsichtlich der Stimme
dieser Unterschied so groſs, daſs man nicht begreift, wie
aus der einen Darstellung die andre geworden sein kann.
Denn hier soll nach Usteri die Erklärung, welche Johan-
nes in Folge jener Erscheinung über Jesum abgab: ὅτι
οὖτός ἐςιν ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ
(Joh. 1, 34.) in der fortgehenden
Überlieferung zu einer unmittelbaren himmlischen Erklä-
rung geworden sein, wie wir sie bei Matthäus in der Form:
ου῟τός ἐςιν ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητὸς ἐν ᾧ εὐδόκησα, lesen. Da
zu einer solchen Umwandlung, wenn sie annehmlich sein
soll, auch irgend eine Veranlassung nachgewiesen werden
muſs: so bietet sich Jes. 42, 1. dar, wo Jehova von sei-
nem עֶבֶד aussagt: הֵן עַבְדִּי אֶתְמָךְ־בּוֺ בְחִירִיּ רָֽצְתָה נַפְשִׁי
wovon die ausser Klammer befindlichen Worte durch die
Worte der Himmelsstimme bei Matthäus fast wörtlich über-
setzt sind. Wurde nun diese Stelle, wie wir aus Matth.
12, 17 ff. sehen, auch sonst auf Jesus als den Messias an-
gewendet: so lag in ihr, indem doch hier wie bei der Tau-
fe Gott selbst der Redende ist, nähere Veranlassung, eine
Himmelsstimme zu fingiren, als in dem bezeichneten Aus-
spruch des Johannes. Indem wir also, um die Entstehung
der Sage von einer Gottesstimme zu erklären, den Miſsver-
stand der Rede des Täufers nicht brauchen; zur Ableitung
der Sage von der Taube aber jene Rede nicht brauchen
können: so müssen wir die Quelle unsrer Erzählung nicht
in einem der evangelischen Berichte, sondern ausserhalb
des N. T.s im Gebiete der auf das A. T. gegründeten Zeit-
[384]Zweiter Abschnitt.
vorstellungen suchen, welche namentlich Schleiermacher zum
groſsen Schaden des objektiven Werthes seiner neutesta-
mentlichen Kritik, aber freilich zur groſsen Erleichterung
des selbstgefälligen Spiels eines subjektiven Scharfsinns,
durchaus vernachlässigt hat.


Aussprüche über den Messias, welche Dichter dem Je-
hova in den Mund gelegt hatten, als wirklich vernehmbar
gewordene himmlische Stimmen zu betrachten, war ganz
im Geiste des späteren Judenthums, welches selbst ausge-
zeichneten Rabbinen nicht selten himmlische Stimmen zu
Theil werden lieſs 4), und dessen Voraussetzungen vom Mes-
sias die erste Christengemeinde sowohl selbst theilte, als
auch denselben den Juden gegenüber zu genügen suchen
muſste. Nun hatte man in der angeführten jesaianischen
Stelle einen göttlichen Ausspruch, in welchem wie mit dem
Finger auf den gegenwärtigen Messias hingewiesen war,
der sich also ganz besonders eignete, als himmlischer Ruf
über denselben aufgefaſst zu werden: wie konnte die christ-
liche Sage in die Länge säumen, ein Scene auszubilden, in
welcher diese Worte hörbar vom Himmel herab über ihren
Messias ausgesprochen worden waren? — Doch eine noch
dringendere Veranlassung, die Sache auf diese Weise zu
gestalten, entdecken wir, wenn wir vergleichen, wie den
Kirchenvätern zufolge in einigen der alten verlorenen Evan-
gelien die Himmelsstimme gelautet hat. Justin giebt sie
nach seinen ἀπομνημονεύματα τῶν ἀποςόλων so wieder:
υἱός μου εἶ σύ· ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε5); im Hebräer-
evangelium des Epiphanius stand dieser Ausspruch neben
[385]Zweites Kapitel. §. 47.
dem, welchen unsere Evangelien haben 6), und Klemens von
Alexandrien 7) und Augustin 8) scheinen selbst in Exempla-
ren von diesen jene Worte gelesen zu haben, welche bei
Lukas wenigstens auch noch einige unsrer Codices an die
Hand geben 9). Hier waren also in der Himmelsstimme
nicht Worte aus der angeführten jesaianischen Stelle, son-
dern aus Ps. 2, 7., einer Stelle, welche von den jüdischen
Erklärern auf den Messias gedeutet 10), auch Hebr. 1, 5.
auf Christum angewendet wird, und durch die Form einer
unmittelbaren Anrede eine noch stärkere Veranlassung ent-
hielt, sie als eine wirkliche, vom Himmel herab an den Mes-
sias gerichtete Stimme aufzufassen. Waren nun ursprüng-
lich vielleicht die Worte des Psalms der Himmelsstimme
in den Mund gelegt, oder war auch nur, wie jedenfalls aus
der zweiten Person: συ εἶ, bei Markus und Lukas sich er-
giebt, welche nur durch die Psalmstelle, nicht aber durch
die jesaianische an die Hand gegeben war, neben dieser
auch noch auf jene Rücksicht genommen: was bedürfen wir
weiter Zeugniſs, um in diesen, längst messianisch gedeu-
teten und bald auch als himmlische Anrede an den auf Er-
den gegenwärtigen Messias gefaſsten Stellen die Quelle un-
serer Erzählung von der himmlischen Stimme bei Jesu Tau-
fe zu finden? Denn daſs sie gerade mit der Taufe verbun-
den wurde, ergab sich von selbst, sobald diese einmal als
Einweihung Jesu zu seinem Amte aufgefaſst war.


Was nun das Herabkommen des πνεῦμα in Gestalt ei-
ner περιςερα betrifft, so müssen wir das Herabsteigen des
Geistes und die Gestalt der Taube trennen und jedes be-
sonders betrachten. Daſs der göttliche Geist in besonde-
Das Leben Jesu I. Band. 25
[386]Zweiter Abschnitt.
rem Maaſse auf dem Messias ruhen werde, diese Erwar-
tung ergab sich von selbst, sobald einmal die messianische
Zeit als die der Ausgiessung des Geistes über alles Fleisch
gefaſst war (Joël 3, 1 ff.) 11), und Jes. 11, 1 f. war ja von
dem Sproſs Isai's ausdrücklich gesagt, daſs auf ihm der
Geist Gottes in aller seiner Fülle, als Geist der Weisheit
und Klugheit, der Stärke und Gottesfurcht ruhen werde.
Und zwar ist in dem Ausdruck: נוּחַ עַל־, welcher hier von
dem Ruhen des Geistes auf dem bezeichneten Subjekte ge-
braucht ist, bereits ein Moment sinnlicher Anschauung ent-
halten, indem jenes Verbum ein Sichniederlassen von Hee-
ren, oder, wie das entsprechende arabische Wort, auch
von Thieren bedeutet; diesem נוּחַ aber entspricht deutlich
genug das johanneische μένειν, obgleich die LXX es noch
genauer durch ἀναπαύεσϑαι wiedergeben. War einmal
durch einen solchen Ausdruck die Einbildungskraft ange-
regt: so muſste sie sich zur Vollendung des Bildes um so
mehr getrieben finden, als das Herabkommen des Geistes
auf den Messias ausgezeichnet werden muſste, jüdischer-
seits vor der Art, wie auch über Propheten (z. B. Jes.
61, 1.), christlicherseits vor der, wie auch über die ge-
tauften Christen (z. B. A. G. 19, 1 ff.) der göttliche Geist
zu kommen pflegte 12); war einmal gegeben, daſs der
Geist sich auf den Messias niederlassen werde: so lag die
Frage nahe: wie wird er sich niederlassen? Dieſs muſste
sich nach der Volksvorstellung bestimmen, je nachdem näm-
lich bei den Juden der göttliche Geist unter diesem oder
jenem Bilde vorgestellt zu werden pflegte. Im A. T. und
auch im neuen (A. G. 2, 3.) finden wir vorzugsweise das
Feuer als Symbol des heiligen Geistes 13), woraus aber
[387]Zweites Kapitel. §. 47.
nicht folgt, daſs nicht auch noch andere sinnliche Gegen-
stände als solche Symbole haben gebraucht werden können.
Nun war aber in einer A. T.lichen Hauptstelle über die
רוּחַ אֱלהִֹים (1. Mos. 1, 2.) diese als schwebend (מְרַתֶפֶ[ת]) dar-
gestellt; suchte man hiefür ein sinnliches Substrat, so konnte
man nicht sowohl an Feuer, als an die Bewegung eines
Vogels denken, wie denn das רָחַפ 5. Mos. 32, 11. von dem
Schweben eines solchen über seinen Jungen gebraucht ist.
Konnte aber bei dem unbestimmten Bilde eines Vogels über-
haupt für jenes Schweben des Gottesgeistes die Vorstellung
wieder nicht stehen bleiben: so muſste alles auf die Wahl
gerade der Taube hinführen.


Im Orient, namentlich in Syrien und Palästina, ist
die Taube ein heiliger Vogel 14), und zwar gerade aus ei-
nem Grunde, welcher beinahe nöthigen muſste, sie mit dem
auf den Urgewässern schwebenden Geiste, 1. Mos. 1, 2., in
Beziehung zu setzen. Die Taube nämlich, als brütende,
war ein Symbol der belebenden Naturwärme 15), sie stellte
also ganz jene Funktion dar, welche in der mosaischen
Schöpfungsgeschichte dem göttlichen Geiste zugeschrieben
wird, durch seine belebende Kraft aus dem chaotischen
Zustande der ersten Schöpfung die Welt des Lebens her-
vorzurufen. Überdieſs, als die Erde zum zweitenmal vom
Wasser bedeckt worden war, ist es eine von Noa ausge-
sendete Taube, welche über den Wassern schwebt, und
durch das Oelblatt, das sie bringt und zuletzt durch ihr
Aussenbleiben die wiedergekehrte Möglichkeit des Lebens
auf der Erde verkündigt. Wen kann es hienach noch Wun-
der nehmen, wenn in jüdischen Schriften der über dem Ur-
25*
[388]Zweiter Abschnitt.
gewässer schwebende Geist ausdrücklich mit einer Taube
verglichen sich findet 16) und auch abgesehen von dieser
Erzählung die Taube als Symbol des heiligen Geistes ge-
faſst wird? 17) Wie nahe es von hier aus lag, der schwe-
benden Taube eine Beziehung auf den Messias zu geben,
auf welchen der mit einer Taube verglichene Gottesgeist
herabkommen sollte, erhellt von selbst, und ohne daſs man
sich auf jüdische Schriften zu berufen brauchte, welche
den über dem Wasser schwebenden Geist, 1. Mos. 1, 2, als
den Geist des Messias bezeichnen 18), und die Noachische
Taube, dieses Nachbild des taubenartig über dem Urwas-
ser brütenden Gottesgeistes, mit dem Messias in Verbin-
dung bringen 19).


[389]Zweites Kapitel. §. 47.

Waren auf diese Weise die himmlische Stimme und der
als Taube herabschwebende göttliche Geist aus jüdischen
Zeitvorstellungen Bestandtheile der christlichen Sage von
den Umständen bei Jesu Taufe geworden: so ergab sich als
ergänzender Zug das Sichaufthun des Himmels von selbst,
weil nämlich das einmal sinnlich vorgestellte πνεῦμα doch
auch eine Gasse haben muſste, um durch das Himmelsge-
wölbe auf Jesum herunterkommen zu können 20).


Was wir bis jetzt gefunden haben, den blos mythischen
Werth der angeblich wunderbaren Umstände bei der Taufe
Jesu, hätten wir weit kürzer auf dem Wege eines Schlus-
ses aus dem Resultat des vorigen Kapitels finden können;
denn wenn diesem z folge Johannes Jesum nicht als den
Messias anerkannt hat: so können auch bei Jesu Taufe
keine Erscheinungen vorgefallen sein, welche den Johan-
nes von seiner Messianität hätten überzeugen müssen. Nun
wir aber auf den mythischen Charakter der Taufbegeben-
heiten gekommen sind, ohne das Resultat des vorigen Ka-
pitels irgend vorauszusetzen: so können die beiden unab-
hängig von einander gefundenen Ergebnisse sich gegensei-
tig zur Bestätigung dienen.


Sind nach dem Bisherigen alle näheren Umstände der
Taufe Jesu unhistorisch: so fragt es sich, ob auch das
Datum selbst, daſs Jesus von Johannes die Taufe empfan-
gen, zum blos Mythischen zu schlagen ist? Fritzsche scheint
hiezu nicht ganz ungeneigt, wenn er es dahingestellt sein
läſst, ob die ältesten Christen historisch gewuſst, oder nur
in Gemäſsheit ihrer messianischen Erwartungen gemeint
haben, Jesus sei durch Johannes als seinen Vorläufer in
das messianische Amt eingeweiht worden 21). Ich möchte
19)
[390]Zweiter Abschnitt.
das Faktum der Taufe Jesu durch Johannes nicht bezwei-
feln, 1) weil die urchristliche Sage es so entschieden wie
wenige Punkte des Lebens Jesu voraussezt (A.G. 1, 22.);
2) weil, es zu erdichten, wenig Versuchung vorlag, da es
Jesum unter den Täufer zu stellen scheinen konnte; haupt-
sächlich aber 3) weil es den natürlichsten Anknüpfungs-
punkt für eine Erklärung des messianischen Auftretens
Jesu giebt. Wenn wir aus Einer und derselben Zeit zwei
Männer haben, von welchen der eine die Nähe des Mes-
siasreichs verkündigt, der andre später die Rolle des Mes-
sias selbst übernimmt: so müſste auch ohne positive Nach-
richten die Vermuthung entstehen, daſs beide in einer Be-
ziehung zu einander gestanden haben, durch den Ersteren
die Idee in dem Lezteren geweckt worden sei. War aber
Jesus durch Johannes zu messianischen Ideen angeregt,
doch, wie natürlich, für den Anfang nur so, daſs auch
er der Ankunft des messianischen Individuums, als wel-
ches er nicht am ersten Tage gleich sich selber wird er-
kannt haben, erwartungsvoll entgegensah: so wird er sich
auch der johanneischen Taufe unterzogen haben. Diese
gieng sofort ohne alles Auffallende vor sich, und Jesus,
keineswegs schon bei dieser Gelegenheit als der über dem
Täufer Stehende angekündigt, mag, wie schon oben be-
merkt, noch längere Zeit als Schüler desselben sich benom-
men haben.


Sehen wir von hier vergleichend auf unsre vier evan-
gelischen Berichte zurück: so verschwindet der Vorzug
vollends ganz, welchen man neuerlich dem Berichte des
vierten Evangeliums vor dem der übrigen einräumen wollte.
Denn das allein Historische, die Taufe Jesu durch Johan-
nes, erwähnt der bezeichnete Evangelist, einzig um das
mythische Beiwerk bemüht, gar nicht, diese Nebenum-
stände aber berichtet er in der That nur darin einfacher
als die Synoptiker, daſs er von dem Sichöffnen des Him-
mels nichts erwähnt; denn die göttliche Anrede fehlt, wenn
[391]Zweites Kapitel. §. 48.
wir nur recht zusehen, auch bei ihm nicht. Wenn es näm-
lich 1, 33. heiſst:ὁ πέμψας με βαπτίζειν — ἐκεῖνός μοι εἶπεν·
ἐφ' ὃν ἂν ϊδῃς τὸ πνεῦμα καταβαῖνον — ου῟τός ἐςιν ὁ βαπτί-
ζων ἐν πνεύματι ἁγίῳ
: so haben wir hier nicht allein den-
selben wesentlichen Inhalt mit der synoptischen Himmels-
stimme, sondern auch ebenso einen göttlichen Ausspruch,
nur daſs dieser hier ausschlieſsend dem Johannes und schon
vor der Taufe Jesu zu Theil wird. Dieſs hieng aber genau
mit dem Gewichte zusammen, welches der vierte Evange-
list auf das Verhältniſs des Täufers zu Jesu legte, und
welchem zufolge demselben bei seiner Berufung schon
mit der Nähe des Messiasreiches auch die Kriterien des
messianischen Individuums geoffenbart sein muſsten.


§. 48.
Verhältniss des Übernatürlichen bei der Taufe Jesu zu dem
Übernatürlichen bei seiner Erzeugung.


Wie im Eingang dieses Kapitels nach der subjektiven
Absicht gefragt worden ist, welche Jesus bei Annahme der
johanneischen Taufe haben konnte: so kann hier zum
Schlusse dieser Materie nach dem objektiven Zwecke ge-
fragt werden, welchem das Wunderbare bei Jesu Taufe
dienen sollte? Die gewöhnliche Antwort ist: Jesus sollte
dadurch in sein öffentliches Amt eingeführt und für den
Messias erklärt werden 1), d. h. es sollte durch dasselbe
ihm nicht noch etwas gegeben, sondern nur das, was er
schon war, den Übrigen kund get[h]an werden. Es fragt
sich aber, ob diese Abstraktion im Sinn unsrer Berichte
ist? Eine unter göttlicher Mitwirkung vollzogene Einwei-
hung in ein Amt betrachtete das Alterthum immer zugleich
als eine Verleihung göttlicher Kräfte zu Führung dessel-
ben; daher erfüllt im A. T. die Könige, sobald sie gesalbt
sind, Gottes Geist (1. Sam. 10, 6. 10. 16, 13.), und auch
[392]Zweiter Abschnitt.
im N. T. werden die Apostel vor dem Antritt ihres Be-
rufs mit höheren Kräften ausgerüstet (A.G. 2.). Hienach
läſst sich zum Voraus vermuthen, daſs der ursprünglichen
Tendenz der Evangelien zufolge mit der Weihe Jesu bei
der Taufe zugleich eine Ausrüstung desselben mit höheren
Kräften werde verbunden zu denken sein, und der An-
blick unsrer Erzählungen bestätigt dieſs. Denn die synop-
tischen bemerken alle, daſs nach der Taufe das πνεῦμα
Jesum in die Wüste geführt habe, offenbar, um diesen
Gang als die erste Wirkung des bei der Taufe empfange-
nen höheren Princips zu bezeichnen; bei Johannes aber
scheint das dem auf Jesum herabkommenden Geiste zuge-
schriebene μένειν ἐπ' αὐτ[ὸ]ν (1, 33.) anzudeuten, daſs von
der Taufe an ein früher nicht stattgefundenes Verhältniſs
des πνεῦμα ἅγιον zu Jesu eingetreten sei.


Diese Bedeutung des Wunderbaren bei Jesu Taufe
scheint mit den Erzählungen von seiner Erzeugung im Wi-
derspruch zu stehen. War Jesus nach Matthäus und Lu-
kas durch den heiligen Geist erzeugt, oder war in ihm
gar nach Johannes gleich von Anfang an der göttliche λόγος
Fleisch geworden 2): wozu bedurfte er dann noch bei sei-
ner Taufe einer besondern Ausrüstung mit dem πνεῦμα
ἄγιον
? Mehrere neuere Erklärer haben diese Schwierigkeit
gefühlt und zu lösen gesucht. Was Olshausen darüber
vorbringt 3), läuft auf den Unterschied des Potentiellen
und Aktuellen hinaus, womit es aber sich selbst widerlegt.
Ist nämlich der Charakter des Χ[ϱ]ιςὸς, welcher in Jesu
mit erreichtem Mannesalter bei der Taufe actu hervortrat,
schon in dem Kinde und Jüngling potentia vorhanden ge-
wesen: so war damit auch ein Entwicklungstrieb gesezt,
vermöge dessen jene Anlage sich von innen heraus allmäh-
[393]Zweites Kapitel. §. 48.
lig entfaltet haben und nicht erst durch das von aussen
kommende πνεῦμα mit Einem Male geweckt worden sein
wird. Hiedurch ist jedoch nicht ausgeschlossen, daſs das
in Jesu als übernatürlich Erzeugtem von seiner Geburt an
gesezte Göttliche nicht doch zugleich, vermöge der mensch-
lichen Form seiner Entwicklung, der Anregung von aussen
bedurft hätte, und von diesem Gegensatz innerer Entwick-
lung und äusserer Anregung ist Lücke richtiger ausgegan-
gen 4). Der von Geburt an in Jesu vorhandene λόγος,
meint er, habe bei allem Triebe von innen doch auch der
Anregung und Belebung von aussen nöthig gehabt, um zur
vollen Wirksamkeit und Manifestation in der Welt zu ge-
langen; dasjenige aber, was die göttlichen Lebenskeime
in der Welt anregt und leitet, sei nach apostolischer Vor-
stellungsweise eben das πνεῦμα ἅγιον. Dieſs zugegeben, so
stehen doch innere Anlage und erforderliche Stärke der
äusseren Anregung in umgekehrtem Verhältniſs, so daſs,
je stärkere Anregung erfordert wird, desto geringer die
Anlage ist, bei absolut groſser Anlage aber, wie sie in
dem durch das πνεῦμα erzeugten oder vom λόγος beseelten
Jesus vorausgesezt werden muſs, die Anregung ein mini-
mum
sein darf, d. h. jeder gegebene Umstand, auch der
gewöhnlichste, zur Anregung für den mächtigen Trieb wird.
Sehen wir nun aber bei Jesu Taufe ein maximum äusse-
ren Anstoſses in dem sichtbaren Herabkommen des göttli-
chen Geistes gegeben: so kommt zwar das Einzige der mes-
sianischen Aufgabe allerdings in Betracht, zu deren Lö-
sung er befähigt werden sollte, doch aber kann nicht zu-
gleich jenes maximum der inneren Anlage zum υἱὸς ϑεοῦ
als ein schon von seiner Geburt an in ihm vorhandenes
vorausgesezt werden, — eine Consequenz, welcher auch
Lücke nur dadurch entgeht, daſs er die Scene bei Jesu
Taufe hinterher doch wieder zur bloſsen Inauguration
[394]Zweiter Abschnitt.
herabsezt, womit er nach dem Obigen den evangelischen
Berichten widerspricht.


Wir müssen also, wie oben bei den Geschlechtsregi-
stern, so auch hier sagen: in demjenigen Kreise der ur-
christlichen Gemeinde, in welchem die Erzählung von der
Herabkunft des πνεῦμα auf Jesum bei seiner Taufe sich
gebildet hat, kann die Vorstellung von einer Erzeugung
Jesu durch dasselbe πνεῦμα nicht herrschend gewesen sein,
sondern während man sich jezt das Göttliche Jesu schon
in seiner Erzeugung mitgetheilt denkt, müssen jene Chri-
sten erst die Taufe als den Zeitpunkt dieser Mittheilung
angesehen haben. Wirklich sind nun diejenigen uralten
Christen, welche wir oben als solche gefunden haben, die
von einer übernatürlichen Erzeugung Jesu nichts wuſsten,
oder nichts wissen wollten, zugleich auch diejenigen, wel-
che die Mittheilung göttlicher Kräfte an Jesum erst an des-
sen Taufe im Jordan gebunden dachten. Um keiner andern
Lehre willen haben ja die orthodoxen Kirchenväter die al-
ten Ebioniten 5) sammt ihrem gnostisirenden Glaubensge-
nossen Cerinth 6) grimmiger verfolgt, als weil sie behaup-
teten, mit dem Menschen Jesus habe sich erst bei der
Taufe der heilige Geist oder der himmlische Christus ver-
einigt, wie denn im Evangelium der Ebioniten zu lesen
war, daſs das πνεῦμα in Gestalt der Taube nicht blos auf
Jesum herabgekommen, sondern in denselben hineingegan-
gen sei 7), und auch die gemeine jüdische Erwartung dem
Justin zufolge die war, daſs erst bei der Salbung durch
den Vorläufer Elias dem Messias höhere Kräfte werden
mitgetheilt werden 8).


[395]Zweites Kapitel. §. 48.

Es scheint der Entwicklungsgang dieser Vorstellungen
folgender gewesen zu sein. Als man unter den Juden zu-
erst anfieng, die messianische Würde Jesu anzuerkennen,
glaubte man seine Ausrüstung mit den erforderlichen Ga-
ben am schicklichsten an den Zeitpunkt zu knüpfen, von
welchem an Jesus erst einigermaſsen bekannt geworden
war, und welcher sich zugleich durch die in denselben fal-
lende Ceremonie am besten zu einer solchen Salbung mit
dem heiligen Geiste eignete, wie sie die Juden bei dem
Messias erwarteten, und auf diesem Standpunkte bildete
sich unsre Sage von den Vorgängen bei Jesu Taufe aus.
Wie aber die Verehrung gegen Jesum stieg, und zugleich
Männer in die christliche Gemeinde traten, welche mit hö-
heren Messiasideen bekannt waren, genügte diese spät ent-
standene Messianität Jesu nicht mehr, es wurde sein Ver-
hältniſs zum πνεῦμα ἅγιον schon auf seine Empfängniſs zu-
rückdatirt, und von diesem Standpunkt aus wurde die Sage
von der übernatürlichen Erzeugung Jesu gebildet. Hier
dürfte es auch gewesen sein, wo die Himmelsstimme, wel-
che ursprünglich nach Ps. 2, 7. gelautet haben mag, nach
Jes. 42, 1. umgestaltet wurde. Denn die Worte: σήμερον
γεγ[έν]νηκά σε
hatten zwar ihren angemessenen Sinn bei der
Ansicht, daſs Jesus eben erst bei der Taufe zum υἱὸς ϑεοῦ
gemacht, und mit den entsprechenden Kräften ausgestattet
worden sei; aber sie paſsten nicht mehr zur Taufe Jesu,
nachdem die Ansicht entstanden war, daſs schon sein er-
ster Lebensanfang auf göttlicher Zeugung beruht habe.
Durch diese spätere Vorstellung jedoch wurde die frühere
keineswegs verdrängt, sondern, wie die Sage und der mit
ihr auf gleichem Standpunkt stehende Schriftsteller weit-
herzig ist, giengen beide Erzählungen, die von den Wun-
dern bei Jesu Taufe und die von seiner wundervollen Er-
zeugung oder der Einwohnung des λόγος in ihm von Le-
bensanfang an, wiewohl sie sich eigentlich ausschlieſsen,
friedlich neben einander her, und wurden so auch von un-
[396]Zweiter Abschnitt.
sern Evangelisten, dieſsmal selbst den vierten nicht ausge-
nommen, beide aufgezeichnet. Ganz wie oben bei den Ge-
nealogieen: entstehen konnte die Erzählung von der bei der
Taufe geschehenen Geistesmittheilung nicht mehr, sobald
die Vorstellung von der Erzeugung Jesu durch das πνεῦμα
ausgebildet war; aber nachgeführt werden neben dieser
konnte sie noch immer, weil die Sage nicht gerne etwas
von den einmal gewonnenen Schätzen verlieren mag.


§. 49.
Ort und Zeit der Versuchung Jesu. Abweichungen der Evan-
gelisten in Darstellung derselben.


Der Übergang von der Taufe zur Versuchung Jesu,
wie ihn die Synoptiker machen (Matth. 4, 1. Marc. 1, 12.
Luc. 4, 1.), hat in Bezug sowohl auf die Ortsbezeichnung
als die Zeitbestimmung Schwierigkeit.


Was die erstere betrifft, so fällt es auf, daſs sämmtli-
chen Synoptikern zufolge Jesus nach seiner Taufe zum Be-
huf der Versuchung εἰς τὴν ἔρημον soll geführt worden sein,
als ob er nicht schon zuvor in der ἔρημος gewesen wäre,
da doch nach Matth. 3, 1. Johannes, von welchem er sich
taufen lieſs, daselbst sich aufhielt. Diesen anscheinenden
Widerspruch hat die neueste Kritik des Matthäusevange-
liums hervorgehoben, um die Angabe desselben, daſs der
Täufer in der Wüste gewirkt habe, als eine irrige darzu-
stellen 1). Wer jedoch aus früher dargelegten Gründen die-
se Angabe zu verwerfen sich nicht entschlieſsen mag, der
kann sich auch hier entweder durch die Annahme helfer,
daſs Johannes seine ersten Vorträge zwar in der judäischen
Wüste gehalten, sofort aber zum Behuf des Taufens aus
derselben hinweg an den Jordan sich begeben habe; oder
wenn man auch das Jordanufer noch zu jener Wüste ge-
[397]Zweites Kapitel. §. 49.
rechnet sich denkt, durch die Voraussetzung, die Evange-
listen hätten zwar eigentlich nur sagen müssen, von der
Taufe weg habe Jesum der Geist tiefer in die Wüste hin-
eingeführt, diese nähere Bestimmung haben sie jedoch weg-
gelassen, weil der Gedanke, daſs die Wüste schon das Lo-
kal der Predigt und Taufe des Johannes gewesen, durch
die Schilderung der Scene bei Jesu Taufe in ihrer Vor-
stellung zurückgetreten war.


Aber noch störender kommt hier eine chronologische
Schwierigkeit in den Weg. Während nämlich nach den
Synoptikern Jesus in frischer Fülle des ihm am Jordan mit-
getheilten πνεῦμα, mithin unmittelbar von der Taufe weg,
sich auf 40 Tage in die Wüste begiebt, wo die Versuchung
erfolgt, und hierauf erst nach Galiläa zurückkehrt: so
scheint dagegen Johannes, der von der Versuchung schweigt,
zwischen der Taufe und der galiläischen Reise Jesu nur
eine Zwischenzeit von wenigen Tagen zu statuiren, in wel-
cher jener vierzigtägige Aufenthalt in der Wüste keinen
Plaz finden kann. Das vierte Evangelium beginnt nämlich
seine Erzählung mit dem Zeugniſs, welches der Täufer vor
den Gesandten des Synedriums ablegt (1, 19 ff.); den Tag
darauf (τῇ ἐπαύριον) läſst es denselben beim Anblick Jesu
die nach den Synoptikern bei dessen Taufe erfolgte Scene
erzählen (V. 29 ff.); wieder τῇ ἐπαύριον veranlaſst der Täu-
fer zwei seiner Schüler, Jesu nachzufolgen (V. 35 ff.);
abermals τῇ ἐπαύριον (V. 44.), wie Jesus nach Galiläa zu
reisen im Begriff steht, kommen Philippus und Nathanaël
zu ihm, und endlich τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ (2, 1.) ist Jesus
auf der Hochzeit zu Kana in Galiläa. Zunächst liegt hier
die Annahme, daſs eben vor der Erzählung, welche Jo-
hannes von dem bei der Taufe Jesu Vorgefallenen macht,
diese selbst stattgefunden, und da den Synoptikern zufolge
unmittelbar mit der Taufe die Versuchung zusammenhing,
auch diese sammt der Taufe zwischen V. 28 und 29. zu
setzen sei, wie dieſs schon Euthymius angenommen hat.
[398]Zweiter Abschnitt.
Da nun aber zwischen dem bis V. 28. Erzählten und dem
von V. 29. an Folgenden nur die Zwischenzeit eines ἐπαύριον
gesetzt ist, die Versuchung aber einen Zeitraum von 40 Ta-
gen erfordert: so glaubten die Ausleger dem ἐπαύριον den
weiteren Sinn von ὕςερον geben zu müssen, was jedoch
schon deſswegen unzulässig ist, weil im Zusammenhang
mit jenem Worte hier τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ vorkommt, im Un-
terschied von welchem ἐπαύριον nur den zweiten, unmittel-
bar folgenden Tag bedeuten kann 2). Daher könnte man
mit Kuinöl3) sich versucht finden, Taufe und Versuchung
zu trennen, und jene zwar nach V. 28. zu setzen, das
Tags darauf erfolgte Zusammentreffen Jesu mit Johannes
aber (V. 29.) als einen dem Letzteren vom Ersteren gemach-
ten Abschiedsbesuch anzusehen, und nach diesem erst den
Gang in die Wüste und die Versuchung einzufügen. Allein,
auch abgesehen davon, daſs die drei ersten Evangelisten
zwischen der Taufe Jesu und seinem Abgang in die Wü-
ste auch eine solche Zwischenzeit von nur Einem Tage nicht
zuzulassen scheinen, so weiſs man auch später ebensowe-
nig, wo man jene 40 Tage unterbringen soll. Denn zwi-
schen diesen seinsollenden Abschiedsbesuch und die Hin-
weisung zweier Jünger zu Jesus, d. h. zwischen V. 34 und
35., wie Kuinöl will, kann jener Aufenthalt ebensowenig
gesetzt werden, wie zwischen V. 28 und 29, da jene Verse
so gut wie diese durch τῇ ἐπαύριον verbunden sind. Man
müſste daher noch weiter herabsteigen und es zwischen
V. 43 und 44. versuchen; aber auch hier ist nur die Zwi-
schenzeit eines ἐπαύριον, und selbst 2, 1. nur eine ἡμέρα
τρίτη
: so daſs man, auf diesem Wege fortgehend, die Ver-
suchung am Ende in den galiläischen Aufenthalt Jesu hin-
einbrächte, ganz gegen die Darstellung der Synoptiker, ne-
ben dem, daſs man sie, in einem weiteren Widerspruch
[399]Zweites Kapitel. §. 49.
gegen dieselben, immer mehr von der Taufe entfernen wür-
de. Wenn also auf diese Weise weder bei noch unterhalb
des V. 29. sich die Spalte findet, in welche sich der vier-
zigtägige Aufenthalt Jesu in der Wüste mit der Versuchung
einschieben lieſse: so muſs man es mit Lücke4) u. A. ober-
halb jener Stelle versuchen, und dieſs wäre nur vor V. 19.
möglich, wo sich insofern einschieben läſst, so viel man
will, als hier erst das vierte Evangelium seine Geschichts-
erzählung anfängt. Zwar ist nun auch das von da an bis
V. 28. Folgende nicht von der Art, daſs es die Taufe und
Versuchung Jesu als schon früher geschehen, geradezu aus-
schlösse: doch bleibt immer unwahrscheinlich, daſs der
vierte Evangelist die den übrigen so wichtige Versuchungs-
geschichte blos zufällig übergangen haben sollte. Sondern
entweder war sie ihm dogmatisch anstössig, so daſs er sie
absichtlich weggelassen hat; oder sie war in dem Überlie-
ferungskreise, aus welchem er schöpfte, gar nicht vor-
handen.


Stehend ist bei allen drei Synoptikern die Zeitbestim-
mung von 40 Tagen für Jesu Aufenthalt in der Wüste:
aber hieran knüpft sich sogleich die nicht unerhebliche Ab-
weichung, daſs dem Matthäus zufolge die Versuchung des
Teufels erst nach Ablauf der 40 Tage eingetreten, den übri-
gen zufolge auch schon während dieses Zeitraums vor sich
gegangen zu sein scheint; denn des Markus ἦν-ἐν τῇ ἐρήμῳ
ἡμέρας τεσσαράκοντα πειραζόμενος ὑπὸ τοῦ σατανᾶ
(1, 13.) und
die ähnliche Wendung bei Lukas (4, 1. 2.) kann nichts anders
als dieſs aussagen. Wozu noch zwischen den beiden zulezt ge-
nannten Evangelisten die Differenz kommt, daſs bei Markus
das Versuchtwerden rein nur in die Dauer der 40 Tage
verlegt ist, ohne daſs die einzelnen Versuchungsakte, wel-
che dem Matthäus zufolge nach jenen 40 Tagen fielen,
namhaft gemacht wären; bei Lukas dagegen Beides, so-
[400]Zweiter Abschnitt.
wohl das durch die 40 Tage hindurchgehende πειράζεσϑαι
im Allgemeinen erwähnt, als auch die nachher erfolgten
drei einzelnen πειρασμοὶ herausgehoben sind 5). Dieſs hat
man durch die Annahme ausgleichen zu können geglaubt,
daſs der Teufel Jesum sowohl während der 40 Tage, wie
Markus sagt, als auch insbesondre noch nach Abfluſs der-
selben, so wie Matthäus berichtet, versucht habe, was
beides von Lukas zusammengefaſst sei 6), und diese bei-
derlei Versuchungen hat man wohl auch so unterschieden,
daſs die nicht näher bezeichneten, während der 40 Tage
vorgefallenen, unsichtbare und solche gewesen seien, wie
sie der Teufel auch sonst gegen die Menschen unternehme,
wogegen er, als ihm diese fehlgeschlagen, am Ende der
40 Tage persönlich und sichtbar hervorgetreten sei 7). Al-
lein, wenn die leztere Unterscheidung offenbar aus der
Luft gegriffen ist, so begreift man nicht, warum Lukas
von den vielen Versuchungen der 40 Tage keine einzige,
sondern nur die drei nach denselben vorgefallenen, über-
einstimmend mit Matthäus namhaft macht. Man könnte
daher auf die Vermuthung gerathen, die drei von Lukas
erzählten Versuchungen seien nicht erst nach den 6 Wo-
chen eingetreten, sondern von den vielen in diesen Zeit-
raum selbst gehörigen führe er nur beispielsweise drei an,
was dann Matthäus dahin miſsverstanden habe, als wären
sie nach jenen 6 Wochen erst eingetreten 8). Allein die
Aufforderung, Steine in Brot zu verwandeln, muſs doch
jedenfalls an das Ende dieses Zeitraums gestellt werden,
da sie ja durch den aus dem 40tägigen Fasten entstandenen
Hunger Jesu, (ein Moment, welches nur bei Markus fehlt,)
motivirt ist. Nun aber ist dieſs auch bei Lukas die erste
[401]Zweites Kapitel. §. 49.
Versuchung, und wenn diese schon an das Ende der 40 Tage
fällt, so können die folgenden nicht früher fallen; denn das
geht doch nicht an, zu sagen, weil die einzelnen Versu-
chungen bei Lukas nicht wie bei Matthäus durch τότε und
παλι[ν], sondern nur durch καὶ aneinandergereiht seien, so
habe man sich an ihre Ordnung nicht zu binden, sondern
gar wohl könne im Sinne des dritten Evangelisten die zweite
und dritte vor der zuerst erwähnten sich zugetragen ha-
ben. Bleibt demnach bei Lukas das Ungeschickte, daſs er
Jesum 40 Tage vom Teufel versucht werden läſst, aus die-
ser langen Zeit aber keine Versuchung namhaft zu machen
weiſs, sondern nur etliche nachmals eingetretene: so wird
man hienach wenig geneigt sein, mit der neuesten Kritik
des Matthäusevangeliums bei Lukas die ursprüngliche, bei
Matthäus dagegen die abgeleitete und getrübte Erzählung
zu finden 9). Sondern indem die Versuchungsgeschichte
bald unbestimmt erzählt und dann das πειράζεσϑαι über-
haupt in die 40 Tage verlegt wurde, wie Markus die Sa-
che wiedergiebt, bald aber mit Anführung der bestimmten
Fälle, wobei dann der zum Motiv des ersten gewählte
Hunger die Stellung nach dem 40tägigen Fasten erheisch-
te, wie wir es bei Matthäus finden: so hat nun Lukas die
offenbar secundäre Darstellung, beides auf eine kaum er-
trägliche Weise zusammenzufassen, und nach dem unbe-
stimmten 40tägigen Versuchtwerden zum Überfluſs auch
noch das bestimmte, spätere zu stellen. Damit soll keines-
wegs gesagt werden, daſs Lukas erst nach Markus und in
Abhängigkeit von ihm geschrieben habe, sondern wenn
auch umgekehrt Markus hier aus Lukas schöpfte, so nahm
er sich nur den ersten Theil von dessen Darstellung, das
Unbestimmte, heraus, indem er statt der weiteren Angabe
einzelner Versuchungen einen eigenthümlichen Zug in Be-
reitschaft hatte, daſs nämlich Jesus während seines Auf-
enthalts in der Wüste μετα τῶν ϑηρίων gewesen sei.


Das Leben Jesu I. Band. 26
[402]Zweiter Abschnitt.

Was Markus mit den Thieren will, ist schwer zu sa-
gen. Die meisten Erklärer meinen, er wolle das schau-
derhafte Bild der Wüste dadurch vollenden 10); doch ist
nicht ohne Grund hiegegen erinnert worden, daſs dann
der Zusatz enger mit dem ἦν ἐν τῇ ἐρήμῳ verbunden und
nicht erst nach dem πειραζόμ[ε]νος gestellt sein müſste 11).
Usteri hat die Vermuthung geäussert, ob nicht vielleicht
durch diesen Zug Christus als Antitypus von Adam darge-
stellt werden solle, welcher auch im Paradies in einem
eigenthümlichen Verhältniſs zu den Thieren gestanden ha-
be 12), und Olshausen hat diesen mystischen Zug begierig
aufgegriffen 13); doch auch diese Deutung findet zu wenig
Hülfe in dem Zusammenhang. Wenn Schleiermacher die-
sen Zug als einen abenteuerlichen bezeichnet 14), so meint
er dieſs doch ohne Zweifel so, daſs durch denselben Mar-
kus, wie auch sonst öfters durch übertreibende Züge,
an die Weise der apokryphischen Evangelien streife, von
deren willkührlichen Dichtungen wir nicht selten keinen
Anlaſs und Zweck mehr angeben können, und so müssen
wir uns wohl auch hier vor der Hand bescheiden, in den
Sinn dieser Angabe des Markus eindringen zu wollen.


In Bezug auf die Differenz zwischen Matthäus und Lu-
kas in der Anordnung der einzelnen Versuchungen wird
es wohl gleichfalls bei demjenigen sein Bewenden haben,
was Schleiermacher zur Erklärung und Beurtheilung die-
ser Abweichung gesagt hat 15), daſs nämlich die Ordnung
des Matthäus als die ursprüngliche erscheine, weil sie nach
[403]Zweites Kapitel. §. 50.
der Hauptrücksicht auf das Gewicht der Versuchungen ge-
macht sei, in welcher Beziehung die Aufforderung zur An-
betung, mit welcher Matthäus schlieſst, als die stärkste
Versuchung sich verhalte; wogegen die Anordnung des Lu-
kas einer späteren, nicht sehr glücklichen Umstellung ähn-
lich sehe, welche von der dem ursprünglichen Sinn der
Erzählung fremden Rücksicht ausgehe, daſs Jesus mit dem
Teufel wohl eher aus der Wüste auf den nahe gelegenen
Berg und von da nach Jerusalem werde gegangen sein,
als aus der Wüste in die Stadt, und von da wieder in
das Gebirge zurück 16).


Während die beiden ersten Evangelisten damit schlies-
sen, daſs sie zur Bedienung Jesu Engel erscheinen lassen,
ist dem Lukas der Schluſs eigen, der Teufel sei von Jesu
abgestanden άχρι καιροῦ (V. 13.), wodurch, wie es scheint,
namentlich das Leiden Jesu als eine weitere Anfechtung
des Teufels voraus bezeichnet werden soll, eine Bezeich-
nung, welche übrigens unten bei Lukas nicht wieder auf-
genommen, wohl aber bei Johannes, 14, 30, angedeutet ist.


§. 50.
Die Versuchungsgeschichte im Sinne der Evangelisten aufgefasst.


Nicht leicht ist einer evangelischen Perikope eine fleis-
sigere Bearbeitung zu Theil geworden, als der gegenwär-
tigen, und nicht leicht hat eine so vollständig den Kreis
aller möglichen Auffassungen durchlaufen. Denn die per-
sönliche Teufelserscheinung, welche sie zu enthalten scheint,
war ein Stachel, welcher die Erklärer bei der sich zuerst
bietenden Deutung nicht ruhen lieſs, sondern sie rastlos
immer weiter zu andern und wieder andern Versuchen fort-
trieb. Die hiemit sich bildende Reihe verschiedener Erklä-
rungsversuche lud zu beurtheilenden Zusammenstellungen
26*
[404]Zweiter Abschnitt.
ein, unter welchen in den von K. Ch. L. Schmidt1), von
Fritzsche2) und Usteri3) gegebenen die Untersuchung
wirklich als zu ihrem Ziele geführt erscheint.


Die erste Auffassung, welche sich der unbefangenen
Betrachtung des Textes bietet, ist die, daſs Jesus von dem
bei der Taufe empfangenen göttlichen Geist in die Wüste
geführt worden sei, um eine Versuchung des Teufels zu
bestehen, welcher ihm sofort persönlich und sichtbarlich
erschienen sei, und auf verschiedene Weise, an verschie-
denen Orten, zu welchen er ihn hinführte, seine Versu-
chungen mit ihm vorgenommen habe, nach deren siegrei-
cher Abwehr von Seiten Jesu der Teufel ihn verlassen und
Engel erschienen seien, ihm zu dienen. Indeſs, so einfach
sich dieſs exegetisch als Sinn der Erzählung ergiebt, so
thun sich doch, sobald sie nun als Geschichte angesehen
werden soll, in allen Theilen derselben Schwierigkeiten
hervor.


Wenn, um gleich vorne anzufangen, der göttliche Geist
Jesum in der Absicht in die Wüste führte, um ihn daselbst
versuchen zu lassen, wie dieſs Matthäus in den Worten:
ἀνήχϑη εἰς τὴν ἔρημον ὑπὸ τοῦ πνεύματος, πειρασϑῆναι (4, 1.)
ausdrücklich sagt: wozu sollte diese Versuchung dienen? Ei-
nen stellvertretenden, erlösenden Werth derselben wird
man doch wohl nicht behaupten wollen, so wenig als daſs
Gott erst nöthig gehabt hätte, Jesum auf eine Probe zu
stellen; sollte aber durch dieselbe Jesus uns gleich und
nach Hebr. 4, 15. in allen Dingen versucht werden wie
wir: so wurde ihm ja der Prüfungen vollestes Maaſs in
seinem folgenden Leben zu Theil, und durch eine Versu-
chung des persönlich erscheinenden Teufels wäre er uns
[405]Zweites Kapitel. §. 50.
Übrigen vielmehr ungleich geworden, die wir von derglei-
chen Erscheinungen verschont bleiben.


Auch mit dem 40tätigen Fasten ist es etwas Eigenes.
Man begreift nicht, wie Jesus nach 6wöchiger Enthaltung
von aller Nahrung noch hungern konnte und nicht schon
längst verhungert war, da für gewöhnlich die menschliche
Natur nicht Eine Woche völlige Nahrungslosigkeit ertra-
gen kann. Freilich trösten sich die Ausleger damit, die
ημέραι τεσσαράκοντα seien eine runde Zahl, das νηςευσας
bei Matthäus aber und selbst das οὺκ ἔ[φ]αγεν οὐδὲν bei Lukas
sei nicht so streng zu nehmen und bezeichne nicht Enthal-
tung von allen, sondern nur von den gewöhnlichen Spei-
sen, so daſs der Genuſs von Wurzeln und Kräutern da-
durch nicht ausgeschlossen werde 4). Aber von den 40
Tagen kann man in keinem Falle so viel abziehen, als nö-
thig wäre, um ein so langes Fasten denkbar zu finden,
und was dieses selbst betrifft, so hat Fritzsche evident ge-
zeigt 5), und auch Olshausen giebt es zu 6), daſs nament-
lich wegen der Parallele mit dem ebenso langen Fasten
des Moses (2. Mos. 34, 28. 5. Mos. 9, 9. 18.) und des
Elias (1. Kön. 19, 8.), von deren Ersterem es heiſst: er
aſs kein Brot und trank kein Wasser, vom Lezteren aber,
er sei durch die Kraft einer vor der Abreise genossenen
Speise 40 Tage lang gegangen, auch hier an nichts Gerin-
geres, als an gänzliche Enthaltung von aller Nahrung zu
denken ist. Eine solche aber ist nicht allein rücksichtlich
der Möglichkeit, sondern auch der Zweckmäſsigkeit schwie-
rig. Dem Zusammenhang nach muſs das Fasten von Jesu
auf Antrieb desselben πνεῦμα übernommen gewesen sein,
welches ihn zu dem Gang in die Wüste veranlaſst hatte,
[406]Zweiter Abschnitt.
und nunmehr zu einer heiligen Übung aufmunterte, durch
welche auch die Gottesmänner des alten Bundes sich ge-
läutert und göttlicher Anschauungen würdig gemacht hat-
ten. Jenem πνεῦμα aber konnte nicht verborgen sein, daſs
gerade an diesem Fasten der Satan Jesum ergreifen und
den dadurch hervorgerufenen Hunger zum Fürsprecher sei-
ner Versuchung werde nehmen wollen. Und war nun in
diesem Falle das Fasten nicht eine Art von Herausforde-
rung des Satans, eine Vermessenheit, wie sie auch dem
seiner selbst Gewissesten übel ansteht 7)?


Nun aber der persönlich erscheinende Teufel mit sei-
nen Versuchungen ist der eigentliche Stein des Anstoſses
in der vorliegenden Erzählung. Wenn es auch einen per-
sönlichen Teufel geben sollte, sagt man, so kann er doch
nicht sichtbar erscheinen, und wenn auch dieſs, so wird
er sich schwerlich so benehmen, wie er sich nach unsrer
Erzählung benommen haben müſste. Indeſs, schon mit der
Existenz des Teufels verhält es sich wie mit der der En-
gel, daſs selbst der Offenbarungsglaubige an derselben aus
dem Grunde irre werden kann, weil diese Vorstellung nicht
rein auf dem Boden des Offenbarungsvolks gewachsen, son-
dern im Exil aus profanen Gebieten herüberverpflanzt wor-
den ist 8). Ohnehin aber für diejenigen unter den Zeitge-
nossen, welche sich der Bildung des Jahrhunderts nicht
verschlossen haben, ist die Existenz eines Teufels im höch-
sten Grade zweifelhaft geworden. Auch in Bezug auf diese
wie auf die Engelvorstellung kann als Interpret der neue-
ren Bildung Schleiermacher gelten, wenn er auf der einen
[407]Zweites Kapitel. §. 50.
Seite zeigt, daſs die Vorstellung eines Wesens, wie der Teu-
fel eines sein müſste, aus Widersprüchen zusammengesezt
ist, auf der andern bemerklich macht, daſs, wie die En-
gelvorstellung aus beschränkter Naturbeobachtung, so sie
aus beschränkter Selbstbeobachtung entstanden, mit den
Fortschritten von dieser immer mehr in den Hintergrund
treten und die Berufung auf den Teufel hinfort als Aus-
flucht der Unwissenheit oder Trägheit gelten muſs 9). Aber
auch die Existenz des Teufels zugegeben, so hat doch ein
persönliches und sichtbares Erscheinen desselben, wie es
hier vorausgesezt wird, noch seine besonderen Schwierig-
keiten. Selbst Olshausen erinnert, daſs ein solches sonst
weder im alten noch im neuen Testament vorkomme 10).
Ferner, wenn doch der Teufel, um hoffen zu können, Je-
sum zu täuschen, nicht in seiner eigenthümlichen Gestalt,
sondern nur entweder als Mensch, oder als guter Engel
erscheinen durfte: so fragt man mit Recht, ob denn die
Stelle 2. Kor. 11, 14, nach welcher ὁ σατανᾶς μετασχημα-
τὶζεται εἰς ἂγγελον φωτὸς
, buchstäblich zu verstehen sei,
und wenn dieſs, ob diese abenteuerliche Vorstellung in-
nere Wahrheit haben könne? 11)


Was nun die Versuchungen betrifft, so hat im Allge-
meinen schon Julian gefragt, wie denn der Teufel habe
hoffen können, Jesum zu verführen, da er doch seine hö-
here Natur gekannt haben müsse 12)? und Theodors von
Mopsvestia Antwort darauf, daſs dem Teufel Jesu Gött-
lichkeit damals noch unbekannt gewesen sei, widerlegt sich
leicht durch die Bemerkung, wenn er nicht damals schon
in Jesu ein höheres Wesen gesehen hätte, würde er sich
schwerlich die Mühe gegeben haben, ihm ausnahmsweise
[408]Zweiter Abschnitt.
persönlich zu erscheinen. — In Bezug auf die einzelnen
Versuchungen wird man dem Kanon seinen Beifall nicht
versagen können, daſs, um glaubwürdig zu erscheinen, die
Erzählung dem Teufel nichts seiner vorauszusetzenden Klug-
heit widersprechendes zuschreiben dürfte 13). Nun ist al-
lerdings die erste Versuchung durch den Hunger nicht so
übel motivirt; schlug diese bei Jesu nicht an, so muſste
der Teufel als kluger Taktiker eine noch lockendere Ver-
suchung bereit haben: statt dessen aber finden wir nun
(bei Matthäus) den Vorschlag zu dem halsbrechenden Un-
ternehmen, sich von der Tempelzinne herabzustürzen, wor-
nach es den, welcher die Steinverwandlung ausgeschlagen,
noch weniger gelüsten konnte, und als auch dieser Vor-
schlag keinen Anklang gefunden, folgt zum Schlusse (bei
Lukas ist dieſs die zweite, die zuvorgenannte die dritte
Versuchung) eine Zumuthung, welche jeder fromme Israë-
lit ungesäumt mit Abscheu zurückweisen muſste, den Teu-
fel fuſsfällig zu verehren. Eine so ungeschickte Auswahl
und Anordnung der Versuchungen hat die meisten neue-
ren Erklärer bedenklich gemacht 14).


Da die drei Versuchungen an drei verschiedenen,
selbst entlegenen Orten vorfallen, so fragt es sich, wie Je-
sus mit dem Teufel von einem zum andern gekommen sei?
Diese Ortsveränderung haben selbst Orthodoxe ganz natür-
lich zugehen lassen, indem sie annahmen, Jesus sei ohne-
hin auf der Reise gewesen und der Teufel ihm nachge-
folgt 15). Allein die Ausdrücke: παραλαμβάνει αὐτὸν ὁ
διάβολος
bei Matthäus, ἀναγαγὼν und ἤγαγε bei Lukas,
deuten unverkennbar auf eine vom Teufel eigens veranlaſste
Ortsveränderung, und da ohnehin der Zug bei Lukas (V, 5.),
der Teufel habe Jesu alle Reiche der Welt ἐν ςιγμῇ χρόνου
[409]Zweites Kapitel. §. 50.
gezeigt, auf etwas Zauberhaftes in der Sache hinweist: so
ist ohne Zweifel an magische Versetzungen zu denken,
wie A.G. 8, 39. dem πνεῡμα Κυρ[ί]ου ein solches ἁρπάζειν zu-
geschrieben ist. Hier fand man es nun aber schon früh-
zeitig mit der Würde Jesu unvereinbar, daſs der Teufel
auf diese Weise eine magische Gewalt über ihn geübt
und ihn in der Luft mit sich herumgeführt haben solle 16),
und nur derjenige wird diesen Zug natürlich finden, dem
auch das persönliche Erscheinen des Teufels nicht zu aben-
teuerlich ist. Das Unglaubliche häuft sich, wenn man be-
denkt, welches Aufsehen es gemacht haben müſste, Jesum
(sein Begleiter mag sich hier etwa unsichtbar gemacht ha-
ben) auf dem Tempeldach erscheinen zu sehen, falls es
sich auch nicht beweisen läſst, daſs auf dasselbe sich zu
stellen, wegen der vergoldeten Spieſse, mit welchen es be-
sezt war, unmöglich 17), oder doch dem Laien unerlaubt
gewesen sei 18), wovon übrigens das Leztere nicht unwahr-
scheinlich ist. Die lezte Versuchung betreffend, ist die
Frage allbekannt, wo denn der Berg sei, von welchem man
alle Reiche der Welt übersehen könne? und wenn die
Auskunft, daſs unter κόσμος hier nur Palästina und unter
den βασιλείαις dessen einzelne Gebiete und Tetrarchien
verstanden seien 19), kaum minder lächerlich ist, als die,
der Teufel habe Jesu die Welt auf einer Karte gezeigt 20):
so bleibt keine Antwort übrig, als, ein solcher Berg exi-
stire nur in der alterthümlichen Vorstellung von der Erde
als einer Fläche einerseits und andrerseits in der volks-
thümlichen Phantasie, welche leicht einen Berg bis in den
[410]Zweiter Abschnitt.
Himmel hinein erhöhen und ein Auge in's Unendliche schär-
fen kann.


Endlich auch der lezte Zug der Erzählung, daſs, nach-
dem der Teufel mit der Versuchung zu Ende war, Engel
zu Jesu gekommen seien und ihn bedient haben, ist, auch
abgesehen von dem oben besprochenen Zweifel an der Exi-
stenz solcher Wesen, von Anstoſs nicht frei. Denn das
διηκόνουν kann doch keine andere Art von Bedienung bedeu-
ten, als die Darreichung von Nahrungsmitteln, wie nicht
allein der Zusammenhang, welchen zufolge Jesus nach langem
Hungern eben eine solche Bedienung nöthig hatte, sondern
auch die Vergleichung mit 1. Kön. 19, 5. zeigt, wo dem
Elias ein Engel Speise bringt. Dann aber ist beides gleich
unwahrscheinlich, was man möglicherweise annehmen könn-
te, daſs entweder ätherische Wesen, wie Engel, irdische,
materielle Speisen dahergetragen haben, oder daſs Jesu
menschlicher Leib mit himmlischen Substanzen, wenn es
solche giebt, gestärkt worden sei.


§. 51.
Die Versuchung als innerer, oder als äusserer natürlicher Vor-
gang; dieselbe als Parabel.


Das Undenkbare jener plözlichen Entrückungen Je-
su auf den Tempel und Berg hat schon einige der alten
Erklärer auf die Ansicht gebracht, daſs wenigstens die Lo-
kale der zweiten und dritten Versuchung nicht leiblich
und äusserlich, sondern blos im Gesichte Jesu gegenwärtig
gewesen seien 1); wogegen die Neueren, welchen überhaupt
[411]Zweites Kapitel. §. 51.
die äusserlich sichtbare Teufelserscheinung anstöſsig war,
die ganze Verhandlung mit demselben gleich von Anfang
in das Innere der Seele Jesu hineinverlegten. Dabei fas-
sen sie entweder auch das 40tägige Fasten als bloſs innere
Vorstellung auf 2), was aber wegen der ganz historisch
lautenden Angabe: νηςεύσας ἡμέρας τεσσαράκοντα ὕςερον
ἐπείνασε
die unerlaubteste Willkühr ist, oder man nimmt
es als wirkliche Thatsache, wobei dann für diesen Zug die
im vorigen §. erwähnten nicht geringen Schwierigkeiten
stehen bleiben. Jenes innere Anschauen und Vorstellen der
Versuchungen verlegen die Einen in einen Zustand eksta-
tischer Vision, für welche man den übernatürlichen Ur-
sprung beibehalten und sie entweder von Gott 3), oder von
der Einwirkung des Reichs der Finsterniſs 4) ableiten kann;
Andre fassen die Vision mehr als traumartig und suchen
demgemäſs einen natürlichen Grund für dieselbe in den Ge-
danken, mit welchen Jesus wachend umgegangen war 5).
In der erhöhten Stimmung, so wird hier die Sache vorge-
stellt, in welcher sich Jesus noch von der Scene bei sei-
ner Taufe her befand, durchdenkt er in der Einsamkeit
noch einmal seinen messianischen Plan und hält sich neben
den wahren Mitteln zu dessen Ausführung auch die mög-
lichen Gegensätze vor: Übertreibung des Wunderglaubens
und Herrschsucht, durch welche der Mensch nach jüdischer
Denkart aus einem Rüstzeug Gottes ein Vollstrecker der
Plane des Teufels wurde. Indem er sich solchen Gedan-
ken überläſst, unterliegt sein feinorganisirter Körper der
Anspannung, und versinkt auf einige Zeit in tiefe Er-
mattung und hierauf in einen traumartigen Zustand, in
[412]Zweiter Abschnitt.
welchem sein Geist die vorigen Gedanken unwissend in
redende und handelnde Gestalten umschafft.


Für diese Verlegung des ganzen Vorgangs in das In-
nere Jesu glauben die Erklärer einige Züge der evangeli-
schen Erzählung selbst anführen zu können. Das ἀνήχϑη
εἰς τὴν ἔρημον ὑπὸ τοῦ πνεύματος
bei Matthäus, noch mehr
das ἤγετο ἐν τῷ πνεύματι bei Lukas sei doch ganz entspre-
chend den Formeln: ἐγενόμην ἐν πνεύματι, Offenb. 1, 10.,
ἀπήνεγκέ με εἰς ἔρημον ἐν πνεύματι, ebend. 17,3., und ähnli-
chen bei Ezechiel; da nun in diesen Stellen nur von in-
nerer Anschauung die Rede sei, so könne auch in der uns-
rigen kein äusserer Vorgang gemeint sein 6). Allein mit
Grund hat man dagegen bemerkt 7), daſs jene Formeln für
sich beides bedeuten können: vom göttlichen Geist äusser-
lich und wirklich wohin versezt werden, wie A. G. 8, 39.
2. K. 2, 16; oder nur innerlich und visionär, wie in den
angeführten Stellen der Apokalypse, und daſs zwischen bei-
den möglichen Deutungen der Zusammenhang entscheiden
müsse. Dieser entscheide nun allerdings in einem durch
und durch visionären Buche, wie die Apokalypse und Eze-
chiel, für einen blos inneren Vorgang; in einem geschicht-
lichen Werke aber, wie unsere Evangelien, für einen äus-
seren. Träume ohnehin, aber auch Visionen werden in
den historischen Büchern des N. T.s immer durch ausdrück-
liche Bemerkungen als solche angekündigt, und so müſste
es auch an unsrer Stelle entweder εἶδεν ἐν ὁράματι, ἐν
ἐκςάσει
heiſsen, wie A. G. 9, 12. 10, 10. oder ἐφάνη αὐτῷ
κατ' ὄναρ
, wie Matth. 1, 20. 2, 13. Namentlich aber, wenn
ein Traum erzählt werden sollte, müſste der Übergang aus
demselben zu dem weitern Verlauf der wirklichen Geschich-
te, wie Matth. 1, 24. 2, 14. 21., durch ein διεγερϑεὶς ge-
[413]Zweites Kapitel. §. 51.
macht sein, wodurch, wie Paulus sehr wahr bemerkt, die
Verfasser den Exegeten groſse Mühe erspart haben wür-
den. Überdieſs ist gegen die Auffassung des Vorgangs als
Ekstase mit Recht eingewendet worden, daſs dergleichen
Zustände sonst nicht im Leben Jesu vorkommen 8), gegen
die Annahme eines Traums aber dieſs, daſs Jesus sonst
nirgends einen Traum und zwar mit solchem Gewichte wie-
dererzählt habe 9). Ferner, was das Bewirkende dieser
Zustände betrifft, so begreift man nicht, wozu Gott in Je-
su diese Vision erregt hätte, und ebensowenig, daſs der
Teufel eine solche, zumal in Christo, hervorzubringen
Macht und Befugniſs gehabt haben sollte; bei der Annah-
me eines durch die eigenen Gedanken Jesu bewirkten Trau-
mes aber darf man nicht vergessen, daſs man dabei eine
groſse Gewalt jener falschen Messiasideen im Gemüthe Je-
su voraussezt 10).


Kann so nach dem Ergebniſs der lezten Betrachtung
die Versuchungsgeschichte nicht als innerer Vorgang ge-
nommen werden, und nach dem früher Ausgeführten nicht
als übernatürlicher: so scheint nichts übrig zu sein, als
dieselbe als äussere zwar, aber durchaus natürliche Bege-
gebenheit anzusehen, d. h. also den Versucher zu einem blo-
sen Menschen zu machen. Nachdem Johannes auf Jesum
als den Messias aufmerksam gemacht hatte, meint der Verf.
der natürlichen Geschichte des Propheten von Nazaret 11),
habe die herrschende Partei zu Jerusalem einen listigen
Pharisäer ausgesandt, der Jesum auf die Probe stellen soll-
te, ob er wirklich messianische Wunderkräfte besäſse, und
ob er nicht in das Interesse der Priesterschaft zu ziehen
[414]Zweiter Abschnitt.
und zu einer Unternehmung gegen die Römer zu gebrau-
chen wäre? Eine Fassung des διάβολος, mit welcher es
auf würdige Weise zusammenstimmt, die nach dessen Ab-
gang zur Erquickung Jesu erscheinenden ἄγγελοι von einer
sich nähernden Karawane mit Lebensmitteln 12), oder von
sanften, erfrischenden Winden 13) zu verstehen. Indeſs
hat diese Ansicht, nach Usteri's Ausdruck, ihren Kreislauf
in der theologischen Welt so sehr schon vollendet, daſs
es überflüssig ist, zu ihrer Widerlegung ein Wort zu
verlieren.


Wenn sich nach dem Bisherigen die Versuchungsge-
schichte, wie sie die Synoptiker uns erzählen, weder als
äusserer noch als innerer, weder als übernatürlicher, noch
als natürlicher Vorgang denken läſst: so folgt nothwendig
der Schluſs: dieselbe kann überhaupt nicht so vorgegangen
sein, wie die Synoptiker berichten.


Der gelindeste Ausweg ist hiebei die Annahme, daſs
zwar wirklich ein Vorfall aus dem Leben Jesu zum Grun-
de liege, welchen Jesus den Jüngern erzählt habe, aber
so, daſs seine Erzählung kein ganz genauer Abdruck des
Faktums gewesen sei. Versuchende Gedanken, welche
ihm entweder wirklich während seines Aufenthalts in der
Wüste nach der Taufe, oder zu verschiedenen Zeiten und
bei verschiedenen Gelegenheiten vor die Seele getreten, aber
durch die reine Kraft seines Willens alsbald niedergeschla-
gen worden seien, habe er nach orientalischer Denk- und
Ausdrucksweise als teuflische Versuchungen erzählt, und
diese bildliche Erzählung sei eigentlich verstanden worden 14).
Die Haupteinwendung zwar, welche gegen diese Ansicht
[415]Zweites Kapitel. §. 51.
gekehrt worden ist, daſs sie die Unsündlichkeit Jesu gefähr-
de 15), ist, da sie auf einem dogmatischen Begriff beruht,
für unsern kritischen Standpunkt nicht vorhanden; wohl
aber können wir aus dem Verlauf der evangelischen Ge-
schichte so viel vorwegnehmen, daſs in derselben der Ver-
stand Jesu durchaus klar und richtig erscheint; dieser aber
müſste schadhaft gewesen sein, wenn Jesus zu etwas der
Art, wie die zweite Versuchung bei Matthäus ist, jemals
Lust empfinden, und fast ebenso, wenn er auch nur darauf
verfallen konnte, eine Versuchung verständigerer Art unter
dieser Form darzustellen. Zudem hätte Jesus in einer sol-
chen Erzählung ein von einem redlichen Lehrer, wie er
sonst erscheint, nicht zu erwartendes, trübes Gemisch von
Dichtung und Wahrheit aus seinem Leben gegeben, nament-
lich wenn man nicht annimmt, die versuchenden Gedan-
ken seien ihm wirklich nach dem 40tägigen Aufenthalt
in der Wüste in Einem Zuge aufgestiegen, sondern dieſs noch
zur Einkleidung rechnet; nimmt man dagegen jene Zeitbe-
stimmung geschichtlich, so bleibt auch das vierzigtägige Fa-
sten stehen, und mit ihm einer der bedeutendsten Anstöſse in
der Erzählung. Jedenfalls, wenn Jesus den innern Vor-
gang einfach erzählen wollte, nur aber in der Art, wie der
Hebräer jeden bösen Gedanken durch einen Schluſs von
der Wirkung auf die Ursache dem Teufel zuschrieb: so
war er hiedurch nur zu der Wendung veranlaſst, der Sa-
tan habe ihm dieſs und das in das Herz geben wollen,
keineswegs aber dazu, von einem persönlichen Auftreten
des Satans und einem Herumreisen mit demselben zu reden,
wenn nicht neben oder statt der Absicht des Erzählens
noch eine andere, poëtisch-didaktische stattgefunden ha-
ben soll.


Eine solche Absicht hatte nun allerdings Jesus denje-
[416]Zweiter Abschnitt.
nigen zufolge, nach welchen die Versuchungsgeschichte von
ihm als Parabel erzählt, von den Jüngern dagegen geschicht-
lich verstanden worden ist. Dabei wird meistens das Be-
denkliche, daſs ein wirkliches inneres Erlebniſs Jesu zum
Grunde gelegen, fallen gelassen: nicht Jesus selbst soll sol-
che Versuchungen durchlebt, sondern nur seine Jünger vor
denselben zu verwahren beabsichtigt haben, indem er ih-
nen, gleichsam als ein Compendium messianischer und apo-
stolischer Weisheit, die drei Maximen einprägen wollte:
1) kein Wunder zu thun zu eigenem Vortheil, selbst un-
ter den dringendsten Umständen; 2) nie in Hoffnung auf
ausserordentlichen göttlichen Beistand etwas Abenteuerli-
ches zu unternehmen; 3) nie, auch wenn der gröſste Vor-
theil dadurch zu erreichen wäre, sich in Gemeinschaft mit
dem Bösen einzulassen 16). — Längst hat man gegen diese
Auffassung bemerkt, daſs die Erzählung nicht leicht als Pa-
rabel zu erkennen, und die Belehrung schwer herauszufin-
den gewesen wäre 17). Gewiſs wäre, was das Leztere be-
trifft, namentlich die zweite Versuchung ein wenig passend
gewähltes Bild 18); doch die erstere Bemerkung bleibt die
Hauptsache. Warum diese Erzählung so gar nicht das Ge-
präge einer Parabel trage, das ist neuerlich dahin bestimmt
worden, eine Parabel könne bei der ihr wesentlichen ge-
schichtlichen Form nur dadurch sich von wirklicher Ge-
schichte unterscheiden, daſs die in derselben handelnden
Personen sich sogleich als fingirte ergeben 19). Dieſs ist aber
[417]Zweites Kapitel. §. 52.
dann der Fall, wenn die Personen entweder unbestimmt
bezeichnet sind, wie in den Gleichniſsreden Jesu als ὁ σπεί-
ρων, βασιλεὺς
u. dgl., oder wenn ihnen zwar eine indivi-
duelle Bestimmung gegeben ist, aber eine solche, welche
sie als unhistorische Personen, als Träger von Dichtungen
kenntlich macht, was, in Verbindung mit den übrigen Zü-
gen jener Parabel, selbst von dem mit Namen genannten
Λάζαρος im Gleichniſs vom reichen Manne gilt. In beiden
Rücksichten kann ein sinnlich Gegenwärtiger nicht als
Subjekt einer Parabel gebraucht werden, denn ein solcher
ist immer eine bestimmte und augenscheinlich historische
Person. Also weder den Petrus, oder sonst einen seiner
Jünger, noch auch sich selbst konnte Jesus zum Subjekt
einer Gleichniſsrede machen, da die eigene Person dessen,
der eine solche vorträgt, am unmittelbarsten zu den da-
bei gegenwärtigen gehört, und ebendeſswegen kann er
die Versuchungsgeschichte, in welcher er das Subjekt ist,
nicht als Parabel vorgetragen haben. Anzunehmen aber,
daſs die Parabel ursprünglich ein anderes Subjekt gehabt
habe, an dessen Stelle dann in der mündlichen Überliefe-
rung Jesus gesezt worden sei, geht nicht an, weil die
Erzählung auch als Parabel nur dann eine rechte Bedeu-
tung hat, wenn der Messias das Subjekt derselben ist 20).


Da auf diese Weise weder ein wirklicher Gemüthszu-
stand Jesu, noch eine von ihm vorgetragene Parabel der
Versuchungsgeschichte zum Grunde liegen kann: so kann
sie überhaupt nicht von Jesu, sondern nur über ihn gebil-
det worden sein, d. h. sie ist urchristliche Sage.


§. 52.
Die Versuchungsgeschichte als Mythus.


Der Übertritt auf dieses vernünftige Gebiet kommt frei-
lich den alten theologischen Adam so sauer an, daſs dieje-
Das Leben Jesu I. Band. 27
[418]Zweiter Abschnitt.
nigen, welche sich zuerst zur mythischen Auffassung der
vorliegenden Erzählung hinneigten, doch wo möglich noch
an einem Strohhalm von Historie sich zu halten suchten.
Da die Geneigtheit zur mythischen Auffassung der Versu-
chungsgeschichte oft nur einseitig durch die Scheue vor dem
Teufelsglauben veranlaſst war, so war man zufrieden, die
Vorgänge mit dem Teufel für mythisch zu erklären, und
lieſs den 40tägigen Aufenthalt in der Wüste um so lieber
in geschichtlichem Werth, als man dadurch eine Veranlas-
sung für die Entstehung des Mythus zu bekommen glaubte,
welche man in Gedanken und Ideen zu finden noch nicht
im Stande war. So sollte denn also Jesus nach seiner Tau-
fe wirklich 40 Tage unter Nüchternheit und Gebet allein
in der Wüste zugebracht haben, und um einen Grund und
Zweck dieses Aufenthalts zu finden, soll man auf die Sa-
ge von einer in dieser Zeit vorgefallenen Versuchung des
Teufels gerathen sein, den man sich ohnehin in der Wüste
dachte 1). Als ob ein solcher Aufenthalt nicht auch schon
durch den Zweck einer heiligen Ascese hinlänglich erklärt
gewesen wäre 2), und was die Hauptsache ist, als ob nicht
gerade ein 40tägiges Fasten in der Wüste, auch ohne ge-
schichtlichen Grund, zu erdichten, wegen der vor Augen
liegenden Parallele mit gleichen Vorgängen aus dem Leben
des Moses und Elias, ganz besonders im Interesse der Sa-
ge gelegen hätte.


So aller geschichtlichen Grundlage beraubt, sind wir
zur Ableitung der vorliegenden Erzählung rein nur auf Ge-
danken, auf jüdische und urchristliche Vorstellungen ver-
wiesen, und hier sind wir so glücklich, sagen zu können,
daſs sich kein Zug in der Erzählung findet, der nicht aus
[419]Zweites Kapitel. §. 52.
A. T.lichen Vorbildern oder aus den damaligen Begriffen
vom Messias und vom Satan zu erklären wäre 3).


Der aus der persischen Religion als böses und men-
schenfeindliches Wesen herübergenommene Satan wurde von
den Juden, deren Partikularismus alles Gute und wahrhaft
Menschliche auf das israëlitische Volk beschränkte, zum
besonderen Widersacher ihrer Nation, und damit zum Herrn
der ihnen feindlichen Heidenvölker gemacht 4). Wurden
nun die Interessen des jüdischen Volks in der Person des
Messias concentrirt, so war es natürlich, daſs der Satan
namentlich als Gegner des Messias aufgefaſst wurde, wie
denn auch im N. T. mit der Vorstellung, daſs Jesus der
Messias sei, sich überall die vom Satan als dem Gegner
seiner Person und Sache verbindet. Wie Christus deſswe-
gen erschienen ist, um die Werke des Teufels zu zerstö-
ren (1. Joh. 3, 8.): so ergreift nun dieser jede Gelegen-
heit, um unter den guten Samen, welchen des Menschen
Sohn ausstreut, Unkraut zu säen (Matth. 13, 39.), und tritt
sowohl Jesum selbst an, ob er nicht Meister über ihn wer-
den könne (Joh. 14, 30.), als er auch seinen Glaubigen be-
27*
[420]Zweiter Abschnitt.
ständig zusezt (Ephes. 6, 11. 1. Petr. 5, 8.). Indem die An-
griffe des Teufels auf die Frommen nichts Anders als Ver-
suche sind, ob er nicht den einen oder andern in seine
Gewalt bekommen, d. h. zum Sündigen bewegen könne
(Luc. 22, 31.), diese Probe aber nicht anders gemacht wer-
den kann, als durch mittelbares Veranlassen oder unmittel-
bares Eingeben böser, verführerischer Gedanken: so war
damit der Satan als Versucher, als ὁ πειράζων aufgefaſst.
Mittelbar, durch Verhängung von Plagen und Unglück, sucht
er im Prolog des Hiob den Frommen von Gott abzuziehen;
als unmittelbare diabolische Einflüsterung aber wurde früh-
zeitig der verführerische Rathschlag aufgefaſst, welchen
nach 1. Mos. 3. die Schlange den ersten Menschen gab
(Weish. 2, 24. Joh. 8, 44. Offenb. 12, 9.).


Der Begriff des Versuchens (נִסָּה LXX: πειράζειν)
war dem älteren Hebraismus in Bezug auf Gott selbst ge-
läufig, welcher seine Lieblinge, wie Abraham (1. Mos. 22, 1.)
und das Volk Israël (2. Mos. 16, 4. u. sonst) auf die Probe
stellte, oder auch im gerechten Zorne die Menschen zu un-
heilbringenden Handlungen reizte (2. Sam. 24, 1.). Nach-
dem sich aber die Vorstellung des Satans ausgebildet hatte,
wurde dieselbe benüzt, um das Versuchen, welches, wie
man nachgerade zu bemerken anfieng, mit Gottes absoluter
Güte sich nicht vertrug ([s]. Jac. 1, 13.), Gott abzunehmen
und auf den Satan zu überwälzen. Daher ist es nun die-
ser, welcher bei Gott die Erlaubniſs auswirkt, den Hiob
durch Leiden auf die gefährlichste Probe zu stellen; daher
ist der strafbare Gedanke Davids, das Volk zu zählen,
welcher im zweiten Buch Samuels noch vom Zorne Gottes
hergeleitet war, in der späteren Chronik (1 Chr. 22, 1.)
geradezu auf Rechnung des Teufels geschrieben, und selbst
die gutgemeinte Versuchung, welche der Genesis zufolge
Gott mit Abraham vornahm, als er die Opferung des Sol-
nes von ihm forderte, war nach späterer jüdischer Ansicht
[421]Zweites Kapitel. §. 52.
auf Anstiften des Satans von Gott vorgenommen 5). Ja auch
dieſs genügte nicht, sondern es wurden Scenen erdacht,
wie der Teufel dem Abraham bei seinem Hinausgang zur
Opferung persönlich mit einer Versuchung in den Weg ge-
treten sein, und wie er das Volk Israël in Abwesenheit des
Moses versucht haben sollte 6).


Waren so die vornehmsten Frommen des hebräischen
Alterthums, war das Volk Israël selbst nach der früheren
Ansicht von Gott, nach der späteren vom Teufel versucht
worden: was lag näher, als die Vorstellung, daſs vor Al-
len an den Messias, das Haupt aller Gerechten und den
Repräsentanten und Vorkämpfer des Volks Gottes, der Sa-
tan sich wagen werde, um ihn zu fällen, wie wir dieſs
wirklich als rabbinische Meinung angedeutet finden 7), und
zwar nach der sinnlichen Vorstellungsweise des späteren
Judenthums in einer leibhaften Erscheinung und einem per-
sönlichen Zwiegespräch. Fragte es sich um die Zeit, in
[422]Zweiter Abschnitt.
welcher der Satan muthmaſslich eine solche Versuchung mit
dem Messias vornehmen werde, so lag es am nächsten, die-
sen, als einen andern Herkules am Scheidewege, beim Ein-
tritt in das reife Alter und in das messianische Amt eine
solche Probe bestehen zu lassen; handelte es sich um den
Ort, so bot sich von mehr als Einer Seite die Wüste dar.
Nicht nur ist sie von Asasel (3 Mos. 16, 8. 10.) und As-
modi (Tob. 8, 3.) bis zu den von Jesu ausgetriebenen Dä-
monen herunter (Matth. 12, 43.) der schauderhafte Wohn-
plaz der höllischen Mächte: sondern die Wüste war auch
das Lokal, in welchem das Volk Israël, dieser filius Dei
collectivus
, versucht worden war 8). Was aber sollte der
Messias in der Wüste thun? Daſs auch der zweite Retter,
wie Moses, der erste, als er in der Wüste auf dem Berg
Sinai war (2. Mos. 34, 28. 5. Mos. 9, 9.), die heilige Ascese
des Fastens über sich genommen haben werde, lag um so
näher, als dieſs die angemessenste Einleitung zu der ersten,
sich an den Hunger knüpfenden Versuchung geben konnte.
Durch das Vorbild des Moses, zu welchem hier noch das
des Elias (1. Kön. 19, 8.) kam, war auch die Zeitdauer
dieses Fastens in der Wüste bestimmt, denn auch sie hat-
ten 40 Tage gefastet, wie denn die Vierzig auch sonst im
7)
[423]Zweites Kapitel. §. 52.
hebräischen Alterthum als heilige Zahl eine Rolle spielt 9).
Namentlich scheinen die 40 Tage der Versuchung Jesu im
verkleinerten Maaſsstabe dasselbe zu sein, was die 40 Prü-
fungsjahre des israëlitischen Volks in der Wüste 10). Denn
daſs bei der Versuchung Jesu auf die Versuchungen, wel-
che das Volk in der Wüste zu bestehen hatte, ganz beson-
dere Rücksicht genommen ist, zeigt schon der Umstand, daſs
alle, vom Satan gegenüber von Jesu angezogenen Schrift-
stellen aus der rekapitulirenden Schilderung des Zugs der
Israëliten, 5. Mos. 6 und 8, genommen sind. Auch der Apo-
stel Paulus zählt 1. Kor. 10, 6 ff. eine Reihe von Zügen aus
dem Benehmen der Israëliten in der Wüste, sammt den
von Gott dafür verhängten Strafgerichten auf, und warnt
die Christen vor einem ähnlichen Betragen, indem, wie er
V. 6 und 11 sagt, jene Strafgerichte über die Alten als
τύποι für die zu seiner Zeit, die er als τέλη τῶν αἰώνων
bezeichnet, Lebenden, verhängt worden seien, weſswegen,
wer stehe, zusehen möge, daſs er nicht falle. Schwerlich
war dieſs blos zufällige Privatmeinung des Apostels, son-
dern, wie überhaupt das Mosaische, so scheinen besonders
diese harten Prüfungen des von Moses geführten Volkes als
Vorbilder derjenigen angesehen worden zu sein, welche in
der durch den Messias herbeizuführenden Katastrophe sei-
nen Anhängern, vor Allen aber ihrem Anführer, dem Mes-
sias selbst, bevorständen, der hier in sofern als Antitypus
des Volks erscheint, als er alle die Versuchungen, wel-
chen dieses erlegen war, siegreich bestehen sollte.


So war also die erste Versuchung des Messias dadurch
zum Voraus bestimmt, daſs das Volk Israël in der Wüste
hauptsächlich durch Hunger versucht worden war 11); wie
[424]Zweiter Abschnitt.
denn unter den verschiedenen Versuchungen, welche die
Rabbinen von Abraham zu erzählen wissen, meistens auch
der Hunger mitaufgezählt wird 12). Daſs der Satan die
Aufforderung an Jesum, die Befriedigung seines Bedürf-
nisses, statt sie vertrauensvoll von Gott zu erwarten, auf
eigenmächtige Weise herbeizuführen, gerade so aus-
drückt, wie wir es bei den Evangelisten lesen, kann nicht
Wunder nehmen, wenn man, neben dem steinigten Lokal
der Wüste, bedenkt, wie gewöhnlich für den Ersatz eines
gänzlich mangelnden Gegenstandes die Formel war, ihn
aus Steinen hervorzubringen (Matth. 3, 9. vergl. Luc. 19, 40.),
und wie namentlich Stein und Brot einen auch sonst ge-
läufigen Gegensatz bilden (Matth. 7, 9.). Was Jesus auf
diese Zumuthung erwiedert, ist aus demselben Zusammen-
hang, welchem der ganze erste Versuchungsakt nachgebil-
det scheint. Denn eben das giebt hier Jesus dem Satan zur
Antwort, was nach 5. Mos. 8, 3. das Volk Israël durch
die Versuchung des Hungers (die es aber zunächst nicht
bestanden, sondern sich zum Murren hatte verleiten las-
sen), doch nachträglich hatte lernen müssen, nämlich, ὄτι
οὐκ ἐπ' ἄρτῳ μόνῳ ζήσεται ὁ ἄνϑρωπος κ. τ. λ.


Doch an Einer Versuchung war es nicht genug. Von
Abraham zählten die Rabbinen deren zehn; für eine dra-
matische Darstellung aber, wie wir sie in den Evangelien
haben, war dieſs zu viel, und unter den niedrigeren Zah-
len lag keine näher, als die heilige Drei. Dreimal riſs
sich im Seelenkampf in Gethsemane Jesus von seinen Jün-
gern los (Matth. 26.); dreimal verleugnete Petrus den
Herrn, (ebendas.), und dreimal stellte nachher Jesus des-
sen Liebe zu ihm in Frage (Joh. 21.); auch in jener rab-
binischen Stelle, welche den Abraham durch den Teufel
persönlich versucht werden läſst, sind es drei Gänge, wel-
che er mit ihm macht, — eine Darstellung, welche auch
[425]Zweites Kapitel. §. 52.
durch die Art, wie ihr zufolge zwischen beiden Theilen
mit A. T.lichen Stellen hin- und hergefochten wird, der
evangelischen verwandt ist 13). Die zweite Versuchung
war nicht ebenso durch den Zusammenhang mit dem Vor-
hergegangenen bestimmt, wie die erste, sie tritt daher ab-
gebrochen auf und die Auswahl derselben kann zufällig
und willkührlich erscheinen. In Bezug auf die Form der-
selben mag dieſs der Fall sein; aber ihr Inhalt steht dadurch
mit dem der vorhergehenden in genauem Zusammenhang, daſs
auch er aus dem Benehmen des jüdischen Volks in der
Wüste genommen ist. Diesem war 5. Mos. 6, 16. die Er-
[426]Zweiter Abschnitt.
mahnung gegeben, Gott nicht mehr zu versuchen, wie sie ihn
bei Massa versucht hätten, eine Ermahnung, welche 1. Kor.
10, 9. auch den Mitgliedern des neuen Bundes, doch mehr
mit Anspielung auf 4. Mos. 21, 4. ff. und mit Bezug auf Chri-
stum, gegeben wird. Auch zu dieser besonders schweren
Sünde also, welcher das alte Volk Gottes erlegen war,
muſste der Messias gereizt werden, um durch seinen Sieg
über diesen Reiz die Übertretung des Volks gleichsam gut
zu machen. Nun war aber bei dem Volke das als ἐκπει-
ράζειν Κύριον
bezeichnete Benehmen durch einen Wasser-
mangel veranlaſst, und das Gott Versuchen war ihr Mur-
ren. Dieſs schien der späteren Sage jenem Ausdruck nicht
völlig zu entsprechen, man sah sich nach etwas Adäqua-
terem um, und kaum konnte von diesem Gesichtspunkt aus
passender gewählt werden, als wie wir es in unsrer Ver-
suchungsgeschichte finden; denn nichts kann in eigent-
licherem Sinne Gott versucht heiſsen, als wenn auf so toll-
kühne Weise, wie der Satan in seiner zweiten Aufforde-
rung Jesu anmuthet, sein ausserordentlicher Beistand in
Anspruch genommen wird. Was die Veranlassung war,
als Beispiel solcher Vermessenheit gerade das Herabstürzen
vom Tempel namhaft zu machen, das ist dem Satan selbst
in den Mund gelegt. Es fiel nämlich dem Urheber dieses
Zugs der Sage als mögliche Verführung zu einer tollküh-
nen Handlung die Stelle Ps. 91, 11. f. ein, wo dem unter
Jehova's Schutze Stehenden, als welchen er vorzugsweise
den Messias dachte, verheiſsen ist, die Engel werden ihn
auf den Händen tragen, damit er seinen Fuſs an keinen
Stein stoſse. Da das αἴρειν ἐπὶ χειρῶν um das προσκόπτειν
zu vermeiden auf ein Herabstürzen aus der Höhe zu deu-
ten schien, so konnte dieſs auf die Vorstellung führen, daſs
der von Gott beschüzte Messias sich unversehrt von einer
Höhe herabstürzen könne. Von welcher Höhe? darüber
konnte bei dem Messias nicht wohl ein Zweifel sein. Dem
Frommen, und somit auch ihm, dem Haupt aller From-
[427]Zweites Kapitel. §. 52.
men, ist es ja nach Ps. 15, 1 f. 24, 3 f. eigenthümlich,
auf Jehova's heiligen Berg gehen und an seiner geweihten
Stätte stehen zu dürfen: die Höhe des Tempels konnte da-
her nach jener vermessenen Schluſsweise als diejenige an-
gesehen werden, von welcher der Messias unverlezt sich
hinablassen könne.


Die dritte Versuchung, welche Jesus besteht, ist wie-
derum eine der gefährlichsten von denen, welchen das
Volk Israël unterlegen war, die zur Abgötterei, oder, was
nach der späteren jüdischen Vorstellung dasselbe war (Ba-
ruch 4, 7. 1. Kor. 10, 20.), zur Teufelsanbetung. Diese
Versuchung führt auch der Apostel Paulus 1. Kor. 10, 7.
unter den Vorbildern für die Christen auf, und in einer
oben (Not. 6) angeführten rabbinischen Stelle wird sie
dem Teufel als unmittelbarem Urheber zugeschrieben. Wie
sollte nun der Messias zur Anbetung des Teufels versucht
werden? Hier reichten sich die Vorstellungen vom Messias
als demjenigen, welcher als König des jüdischen Volks zu-
gleich zum Herrn der übrigen bestimmt war, und vom Sa-
tan, als dem durch den Messias zu besiegenden Beherr-
scher der Heidenwelt 14) die Hände. Die Weltherrschaft,
welche der Messias nach der christianisirten Vorstellung
der Zeit durch lange, zum Theil leidenvolle Mühe zu er-
ringen hatte, bot ihm der Satan leichten Kaufes an, wenn
er ihm den Zoll der Anbetung bringen wollte. Dieser Ver-
suchung begegnet Jesus so, daſs er die Maxime, Gott al-
lein zu dienen, welche den Israëliten 5. Mos. 6, 13. mit
Bezug auf ihren Fehltritt eingeschärft worden war, dem
Satan entgegenhält, und ihm damit zugleich den Abschied
giebt.


Was hierauf Matthäus und Markus als Schluſs der Ver-
suchungsgeschichte haben, daſs Engel zu Jesu getreten
[428]Zweiter Abschnitt.
seien und ihn nach dem langen Fasten und der Arbeit der
Versuchungen mit Nahrungsmitteln erquickt haben, ist theils
durch den Engel vorgebildet, welcher nach 1. Kön. 19, 5. 6.
dem Elias vor, wie nun dem Messias nach dem 40tägigen
Fasten Speise gebracht hatte, theils wurde ja auch das
Manna, welches den Hunger des Volks in der Wüste still-
te, ἂρτος ἀγγέλων genannt (Ps. 78, 25. LXX. vergl. Weis-
heit 16, 20.) 15).


[429]Drittes Kapitel. §. 53.

Drittes Kapitel.
Lokal und Chronologie des öffentlichen
Lebens Jesu.


§. 53.
Differenz zwischen den Synoptikern und Johannes über den
gewöhnlichen Schauplaz der Thätigkeit Jesu.


Den Synoptikern zufolge hatte der zwar in dem judäi-
schen Bethlehem geborene, aber in dem galiläischen Na-
zaret aufgewachsene Jesus Galiläa nur auf die kurze Zeit
von seiner Taufe bis zur Gefangennehmung des Täufers
verlassen, begab sich aber nach dem lezteren Ereigniſs als-
bald dahin zurück und begann lehrend, heilend, Jünger
berufend, seine Wirksamkeit in der Art, daſs er ganz Ga-
liläa durchreiste, zum Behuf eines Mittelpunkts seiner Thä-
tigkeit aber seinen bisherigen Wohnort Nazaret mit Kaper-
naum, am nordwestlichen Ufer des galiläischen Sees, ver-
tauschte (Matth. 4, 12—25. parall.). Von hier an haben
zwar Markus und Lukas im Unterschiede von Matthäus
manches Eigenthümliche und das mit ihm Gemeinsame zum
Theil in andrer Ordnung; da sie jedoch in Bezug auf den
geographischen Kreis, welchen sie Jesum beschreiben las-
sen, von Matthäus nicht abweichen, so kann die Darstel-
lung dieses Lezteren hier unbedenklich zum Grunde gelegt
werden. Ihm zufolge gehen nun galiläische und zum Theil
bestimmt in Kapernaum vorgefallene Begebenheiten fort,
bis 8, 18., wo Jesus über den galiläischen See sezt, aber,
kaum am östlichen Ufer gelandet, wieder nach Kapernaum
zurückkehrt (9, 1.). Nun eine Reihe durch kurze Über-
gänge, wie παράγων ἐκεῖϑεν (9, 9. 27.) τότε (V. 14.) ταῦτα
[430]Zweiter Abschnitt.
αὐτοῦ λαλοῦντος (V. 18.) u. dergl. verknüpfter Scenen, bei
welchen an keine wesentliche Ortsveränderung, d. h. an
keinen Wechsel der Provinz, dergleichen der Verfasser
sonst weit sorgfältiger anzuzeigen pflegt, gedacht werden
kann, wie denn auch das περιῆγεν ὁ Ἰησοῦς τὰς πόλεις πάσας
— διδάσκων ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν
9, 35. offenbar nur
eine Wiederholung ist von dem καὶ περιῆγεν ὅλην τὴν Γαλι-
λαίαν ὁ Ἰησοῦς δίδάσκων ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν
4, 23.,
also nur von einem Umherwandern in Galiläa zu verstehen.
Die Botschaft des Täufers (K. 11.) empfängt Jesus nach dem
Sinne des Referenten wahrscheinlich gleichfalls in Galiläa, da
er ja im Zusammenhang mit derselben die Klage über die gali-
läischen Städte ausspricht; bei dem Vortrag der Parabeln
(K. 13.) ist er am Meer, ohne Zweifel am galiläischen,
und weil von seiner οἰκία die Rede ist (V. 1.), wahrschein-
lich in der Nähe von Kapernaum. Nachdem er hierauf
seine Vaterstadt Nazaret besucht hat (13, 53. ff.), fährt er
(14, 13.) über den See, dem Lukas zufolge (9, 10.) nach
der Gegend von Bethsaida (Julias), von wo er aber, nach-
dem er die Speisung vorgenommen, alsbald wieder an das
westliche Ufer sich zurückbegiebt (14, 34.). Hierauf zieht
sich Jesus in das nördlichste Ende des jüdischen Landes,
an die phönicische Grenze hinauf (15, 21.), bald aber an
den galiläischen See zurückgekehrt (V. 29.), begiebt er
sich zu Schiffe an das östliche Uf[e]r, in die Gegend von
Magdala (V. 39.), zieht sich aber v[o]n hier wiederum nörd-
lich, in die Gegend von Cäsarea Philippi (16, 13.), in die
Nähe des Libanon, unter dessen Vorbergen wohl auch der
Verklärungsberg (17, 1.) zu suchen ist. Nachdem er sich
sofort mit seinen Jüngern noch einige Zeit in Galiläa um-
getrieben (17, 22.), auch Kapernaum noch einmal besucht
hatte (V. 24.), verläſst er Galiläa (19, 1.), um (der wahr-
scheinlichsten Erklärung zufolge) 1) durch Peräa nach Ju-
[431]Drittes Kapitel. §. 53.
däa zu reisen, (eine Reise, welche er nach Luc. 9, 52. durch
Samarien gemacht zu haben scheint); 20, 17. ist er auf der
Reise nach Jerusalem; V. 29. kommt er durch Jericho;
21, 1. befindet er sich in der Nähe von Jerusalem, wo er
V. 10. einzieht.


Den Synoptikern zufolge kommt also Jesus von seiner
Rückkehr nach der Johannistaufe bis zu seiner lezten Reise
nach Jerusalem über die Grenzen von Nordpalästina nicht
hinaus, sondern zieht in den Landschaften westlich und öst-
lich vom galiläischen See und vom oberen Jordan, in den
Gebieten des Herodes Antipas und Philippus, umher, ohne
jemals südlich Samaria, noch weniger Judäa, überhaupt
nicht das unter unmittelbarer römischer Administration
stehende Gebiet zu berühren. Und innerhalb dieser Gren-
zen ist es näher wiederum das Land westlich vom Jordan
und vom See Tiberias, also Galiläa, die Provinz des Anti-
pas, in welche vorzugsweise die Wirksamkeit Jesu fällt,
indem nur von drei kurzen Abstechern auf das östliche
Ufer des Sees, und zwei, schwerlich längere, an die nörd-
lichen Grenzen des Landes, berichtet wird.


Ganz anders wird der Schauplaz der Wirksamkeit Je-
su im vierten Evangelium angegeben. Auch hier zwar geht
er, als er von Johannes getauft ist, nach Galiläa zu der
Hochzeit in Kana (2, 1.) und von dort nach Kapernaum
(V. 12.); doch schon nach wenigen Tagen ruft ihn das
nahe Paschafest nach Jerusalem (V. 13.). Von Jerusalem
begiebt er sich in die Landschaft Judäa (3, 22.), von wo
er nach längerer Wirksamkeit (4, 1.) durch Samarien nach
Galiläa zurückkehrt (V. 43.). Nachdem von hier nur eine
Wunderheilung berichtet ist, folgt sogleich wieder eine
neue Festreise nach Jerusalem (5, 1.) und aus dem dor-
tigen Aufenthalt werden eine Heilung, Verfolgungen und
längere Reden Jesu gemeldet, bis er (6, 1.) sich auf das
östliche Uferland des Sees Tiberias, und von hier nach
Kapernaum (V. 17. 59.) begiebt, worauf er einige Zeit in
[432]Zweiter Abschnitt.
Galiläa umherzog (7, 1.). Aber schon wieder reist er von
da zum Laubhüttenfest nach Jerusalem (V. 2. 10.), und
aus seinem dieſsmaligen Aufenthalt daselbst werden uns
besonders viele Reden von ihm und Schwankungen seiner
Stellung mitgetheilt (7, 10—10, 21.), auch an denselben, oh-
ne einer Wegreise aus Jerusalem und Judäa zu erwähnen,
unmittelbar sein Auftreten bei dem Fest der Tempelweihe
angeknüpft (10, 22.). Nach diesem zog sich Jesus wieder
in die Gegend von Peräa, wo er zuerst mit Johannes ge-
wesen war, zurück (10, 40.) und hielt sich einige Zeit da-
selbst auf, bis ihn der Tod des Lazarus nach Bethanien
bei Jerusalem rief (11, 1 ff.), von wo er sich nach Ephraim,
in der Nähe der jüdischen Wüste, zurückzog (V. 54.), bis
das Paschafest sich nahte, welches Jesus sofort, als sein
leztes, besuchte (12, 1 ff.).


Nach Johannes war also Jesus vor seiner lezten Fest-
reise schon bei vier Festen in Jerusalem und ausserdem
Einmal in Bethanien gewesen, hatte ferner längere Zeit in
der Landschaft Judäa und auf der Durchreise auch in Sa-
maria gewirkt.


Warum haben nun, muſs man fragen, die Synoptiker
diese öftere Anwesenheit Jesu in Jerusalem und Judäa ver-
schwiegen? warum die Sache so dargestellt, als wäre Je-
sus vor seiner lezten, verhängniſsvollen Reise nach Jerusa-
lem nicht über Galiläa und Peräa hinausgekommen? Lan-
ge Zeit freilich hat man in der Kirche diese Abweichung
der synoptischen Darstellung übersehen, und neuerlich die-
selbe sogar leugnen zu dürfen geglaubt. Allerdings, hat
man gesagt, verlege Matthäus gleich Anfangs die Scene
nach Galiläa und Kapernaum, und erzähle fort, ohne, bis
auf die lezte, einer Reise nach Judäa zu gedenken: allein
daraus dürfe man nicht schlieſsen, Matthäus wisse nichts
von einer früheren judäischen Thätigkeit Jesu; denn da bei
diesem Evangelisten das lokale Interesse hinter dem Stre-
ben nach einer Sachordnung gänzlich zurücktrete, so könne
[433]Drittes Kapitel. §. 53.
man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü-
heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel-
leicht ihm selber wohl bewuſst, nur von ihm nicht erwähnt,
bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor-
gefallen sei 2). Allein dieses angebliche Zurücktreten des
lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens
gründlich nachgewiesen hat 3), nichts weiter als eine har-
monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4.
den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi-
schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muſs doch wohl das
dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil
bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden;
da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf
kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei-
nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch
nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum
Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über-
gangen haben, wenn er etwas von denselben wuſste oder
wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, daſs die spe-
ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und
Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht
selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der
Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini-
schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je-
sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein
Anderer.


Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem
Stücke eine Differenz zwischen den Synoptikern und Jo-
hannes einzuräumen 4), wobei dann, wer die Evangelien
harmonisiren zu müssen glaubt, zu verhüten suchen muſs,
Das Leben Jesu I. Band. 28
[434]Zweiter Abschnitt.
daſs die Differenz nicht zum Widerspruch werde, was nur
dadurch geschehen kann, daſs man versucht, jene Abwei-
chung nicht aus einer verschiedenen Ansicht der Evangeli-
sten von dem Aufenthalt Jesu, sondern, bei gleicher An-
sicht aus verschiedener Absicht zu erklären. Da nehmen
nun die Einen an, dem Matthäus als Galiläer sei das Ga-
liläische das Nächste gewesen, und deſswegen habe er,
obwohl auch der jerusalemischen Wirksamkeit Jesu kun-
dig, doch nur auf die Darstellung von jenem sich beschränkt 5).
Allein welcher Biograph, der, unerachtet er seinen Helden
selbst in verschiedene Provinzen begleitet und ihn in den-
selben hatte wirken gesehen, doch nur das von ihm er-
zählte, was er gerade in seiner, des Biographen, Heimath
verrichtet hatte! Schwerlich ist eine solche provineielle
Bornirtheit jemals vorgekommen. Daher haben Andere die
Annahme vorgezogen, daſs Matthäus, zu Jerusalem schrei-
bend, aus der ihm vollständig bekannten Masse der Reden
und Thaten Jesu vornehmlich nur die galiläischen heraus-
gehoben habe, weil das in dem entfernteren Galiläa Ge-
schehene zu Jerusalem weniger bekannt war und also eher
erzählt zu werden brauchte, als das, was, in und bei Je-
rusalem vorgegangen, allen daselbst Wohnenden noch in
frischer Erinnerung stand 6). Doch hiegegen ist bereits von
Andern 7) bemerkt worden, wie unerwiesen die specielle
Bestimmung des Matthäusevangeliums für judäische und je-
rusalemische Christen sei, daſs aber, diese selbst vorausge-
sezt, doch auch eine genaue Hinweisung auf das in der
Heimath der Leser Geschehene keineswegs überflüssig hätte
erscheinen können, und daſs endlich (was auch gegen den
vorlezten Erklärungsversuch gilt) die gleiche Beschränkung
Jesu auf Galiläa bei Markus und Lukas sich hieraus nicht
[435]Drittes Kapitel. §. 53.
erklären lasse, da ja diese augenscheinlich nicht blos für
Judäa schrieben (noch auch, nach jener Erklärung, Gali-
läer waren) und zu Matthäus nicht in solchem Abhängig-
keits-Verhältniſs standen, daſs sie über die von diesem
gezogene Grenze nicht durch eigenthümliche Nachrichten
hinauszugehen im Stande gewesen wären. Das Schönste
aber ist, daſs diese zwei Arten, den Widerspruch zwischen
Johannes und den Synoptikern zu lösen, sich selbst ge-
genseitig durch Widerspruch auflösen. Denn wenn nach
der einen Annahme Matthäus wegen der Nähe, nach der
andern wegen der Entfernung von dem judäischen Schau-
plaz das auf diesem Vorgefallene soll verschwiegen haben:
so zeigt die Erscheinung, daſs man zur Erklärung eines und
desselben Umstands gleich gut zwei entgegengesezte Hypothe-
sen machen kann, daſs beide sich gleich schlecht dazu eignen.


Wenn hienach derjenige Versuch, die bezeichnete Dif-
ferenz zu lösen, welcher blos auf die örtlichen Verhält-
nisse der Verfasser Rücksicht nimmt, nicht ausreicht: so
muſs höher hinaufgestiegen und auch Geist und Tendenz
der evangelischen Schriften in Rechnung genommen werden.
Von diesem Standpunkt aus hat man den Satz aufgestellt,
dasselbe, was den Unterschied im Gehalte zwischen dem jo-
hanneischen Evangelium und den synoptischen begründe,
liege auch ihrer Abweichung in Hinsicht auf den Umfang
zum Grunde, d. h. weil die jerusalemischen Reden Jesu,
welche uns Johannes berichtet, um verstanden zu werden,
eine höhere Entwickelung des Christenthums, als sie in
der ersten apostolischen Zeit gegeben war, erfordert ha-
ben, so sei das frühere Jerusalemische aus der ursprüngli-
chen Evangelientradition, als deren Organe die Synoptiker
schrieben, ausgeschlossen geblieben, und erst von dem spä-
ter schreibenden Johannes zu einer Zeit, in welcher jene
Entwicklung schon zum Theil vor sich gegangen war, nach-
geholt worden 8). Allein unerachtet dieser Lösungsversuch
28*
[436]Zweiter Abschnitt.
tiefer geht, als die zuvorgenannten, so kann doch auch er
nicht ausreichend befunden werden. Denn wie sollte doch
das Populäre und das Esoterische in den Vorträgen Jesu
so wunderlich sich vertheilt haben, daſs jenes durchaus
nur nach Galiläa, dieses, mit alleiniger Ausnahme der har-
ten Rede in der Synagoge zu Kapernaum, ausschlieſslich
nach Jerusalem gefallen wäre? Man könnte sagen: in Je-
rusalem hatte er ein gebildeteres Publikum vor sich als in
Galiläa, das ihn eher fassen konnte. Allein übler konnten
ihn unmöglich die Galiläer miſsverstehen, als ihn nach Jo-
hannes Bericht die Judäer durchaus miſsverstanden, und
da in Galiläa Jesus am ungestörtesten mit seinen Jüngern
zusammen war, sollte man eben hier den Siz seines tiefe-
ren Unterrichts vermuthen. Überdieſs, da aus dem lezten
jerusalemischen Aufenthalt Jesu die Synoptiker eine reiche
Lese allgemein verständlicher Reden desselben zu geben
wissen, so können die früheren nicht ganz leer von der-
gleichen gewesen sein, es müſsten denn die Unterhaltungen
Jesu bei den früheren Festaufenthalten sich durchaus hö-
her gehalten haben, als die während des lezten, wovon
sich schlechterdings kein Grund denken läſst. Doch, auch
angenommen, daſs alle früheren judäischen und jerusale-
mischen Reden Jesu für die Zwecke der ersten apostoli-
schen Überlieferung zu hoch gewesen wären, so gab es ja
auch Thaten von dort zu erzählen, wie die Heilung des
38jährigen Kranken, des Blindgeborenen, die Auferweckung
des Lazarus, welche durch die Wichtigkeit, die sie von
jeher für die Verkündigung des Christenthums hatten, fast
nöthigen muſsten, der früheren judäischen Aufenthalte Je-
su, in welche sie fielen, Erwähnung zu thun.


Auf keine Weise also läſst es sich erklären, wie die
Synoptiker, wenn sie von früheren Reisen Jesu nach Je-
8)
[437]Drittes Kapitel. §. 53.
rusalem wuſsten, dieselben nicht erwähnt haben sollten,
und man muſs sagen: hat Johannes Recht, so wissen die
drei ersten Evangelisten von einem wesentlichen Theil der
früheren Wirksamkeit Jesu nichts; haben aber diese Recht,
so hat der Verfasser des vierten Evangeliums, oder, wenn
er einer Sage folgte, diese, einen groſsen Theil des von
ihm erzählten Wirkens Jesu erdichtet, wenigstens in eine
falsche Lokalität verlegt.


Näher angesehen indeſs verhalten sich Johannes und
die Synoptiker nicht blos so, daſs diese etwas nicht wüſs-
ten, was jener berichtet, sondern ihr Verhältniſs ist der
Art, daſs sie von positiv entgegengesezten Annahmen aus-
gehen. Wie nämlich die Synoptiker und besonders Mat-
thäus, so oft Jesus, seit er sich einmal nach des Täufers
Verhaftung dort ansässig gemacht hatte, Galiläa verläſst,
selten versäumen, einen besondern Grund davon anzuge-
ben, sei es, daſs er dem Volksandrang durch eine Über-
fahrt über den See habe entgehen wollen (Matth. 8, 18.),
oder vor den Nachstellungen des Herodes in die peräische
Wüste sich zurückgezogen habe (14, 13.), oder daſs er we-
gen des Anstosses, welchen die Schriftgelehrten an seinen
Reden genommen, in die Gegend von Tyrus und Sidon
entwichen sei (15, 21.): so finden wir umgekehrt bei Jo-
hannes gewöhnlich einen besondern Grund dafür angegeben,
daſs Jesus Judäa verläſst und sich nach Galiläa zurückzieht.
Will man auch nicht behaupten, daſs gleich seine erste
Reise dahin nach der Taufe nur durch die Einladung nach
Kana motivirt erscheine, so ist doch davon, daſs Jesus nach
dem ersten Pascha, das er seit seinem öffentlichen Auftritt
in Jerusalem zugebracht, wieder nach Galiläa geht, als
Grund ausdrücklich die gefährliche Aufmerksamkeit angege-
ben, welche die wachsende Zahl seiner Anhänger bei den
Pharisäern erregt hatte (4, 1 ff.); auch daſs er sich nach
dem zweiten von ihm besuchten Feste in die Gegend öst-
lich vom See Tiberias zurückzieht (6, 1.), muſs wohl ebenso
[438]Zweiter Abschnitt.
zu dem ἐζήτουν αὐτὸν οἱ Ἰουδαῖοι ἀποκτεῖναι (5, 18.) in Bezug
gesezt werden, als gleich darauf für Jesu Wandel in Ga-
liläa der Grund angegeben wird, daſs ihm der Aufenthalt
in Judäa wegen der Nachstellungen seiner Feinde lebensge-
fährlich gewesen (7, 1.). Zwischen dem folgenden Laub-
hütten- und dem Enkänienfest (10, 22.) scheint es, wie
wenn Jesus, weil dieſsmal keine ungünstigen Umstände ihn
zur Entfernung nöthigten, die dazwischenliegenden Monate
in der Hauptstadt geblieben wäre 9); ohnehin stellen sich die
Züge nach Peräa (10, 40.) und Ephraim (11, 54.) als sol-
che dar, zu welchen Jesum nur die Rücksicht auf die Ver-
folgungen seiner Feinde genöthigt habe.


Ganz dasselbe Verhältniſs also, welches in Bezug auf
den ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu zwischen
Matthäus und Lukas stattfand, haben wir hier in Betreff
des eigentlichen Schauplatzes der Wirksamkeit Jesu zwi-
schen den drei ersten Evangelisten und dem vierten. Wie
nämlich dort Matthäus Bethlehem als den ursprünglichen
Wohnsiz voraussetzte, Nazaret aber nur als den durch
zufällige Umstände herbeigeführten, Lukas umgekehrt: so
ruht hier die ganze Darstellung der Synoptiker auf der
Ansicht, daſs Galiläa das eigenthümliche Gebiet der Thätig-
keit Jesu vor seiner lezten Reise gewesen sei, welches er
nur aus besondern Ursachen bisweilen auf kurze Zeit ver-
lassen habe, — die des Johannes aber umgekehrt auf der
Voraussetzung, eigentlich hätte Jesus immer in Judäa und
Jerusalem wirken mögen, wenn ihm nicht die Vorsicht
bisweilen gerathen hätte, sich in die entlegeneren Provin-
zen zurückzuziehen 10).


Kann von diesen entgegengesezten Voraussetzungen nur
Eine die richtige sein: so hat man in der Wahl zwischen
beiden neuestens immer nur zu Gunsten des vierten Evan-
[439]Drittes Kapitel. §. 53.
gelisten entschieden, und selbst der Verfasser der Probabi-
lien hat diese Differenz nicht zum Nachtheil desselben gel-
tend gemacht. De Wette hat es geradezu unter den Be-
denklichkeiten gegen die Ächtheit des Matthäusevange-
liums aufgezählt, daſs es die Wirksamkeit Jesu fälschlich
auf Galiläa einschränke 11), und Schneckenburger weiſs
unter den Zweifelsgründen gegen den apostolischen Ursprung
des ersten kanonischen Evangeliums keinen bedeutsamer
hervorzuheben, als die Unbekanntschaft seines Verfassers
mit dem aussergaliläischen Wirken Jesu 12). Soll diese
Entscheidung gegründet sein, so muſs sie auf sorgfältiger
Erwägung der Frage ruhen, welche von beiden unverein-
baren Erzählungen durch äussere Gründe mehr gestüzt
und nach inneren Gründen die wahrscheinlichere sei?
Hier steht es nun mit den äusseren Gründen, welche in
den Zeugnissen für die Ächtheit der beiderseitigen Evan-
gelien, und zwar auf Seiten der Synoptiker namentlich
des Matthäusevangeliums, bestehen, der Einleitung zufolge
ziemlich gleich, d. h. sie entscheiden beiderseits nicht, son-
dern überlassen den inneren Gründen die Entscheidung.
In Bezug auf diese aber kommen zwei Fragen in Betracht,
zunächst die: ist es wahrscheinlicher, daſs, unerachtet Je-
sus wirklich schon vor seiner lezten Reise öfters in Jeru-
salem und Judäa gewesen war, doch in der Zeit und Ge-
gend, wo die synoptischen Evangelien entstanden, jede
Kunde davon sich verloren, oder daſs umgekehrt, ohne
daſs Jesus vor seiner lezten Reise jemals in öffentlicher
Wirksamkeit nach Judäa gekommen war, doch an dem
Ort und bis zu der Zeit der Abfassung des vierten Evan-
geliums die Sage von mehreren solchen Reisen sich gebil-
det hatte?


Daſs der erste Fall leicht möglich gewesen, dieſs su-
[440]Zweiter Abschnitt.
chen die genannten Kritiker auf folgende Weise darzuthun.
Das erste Evangelium, sagen sie 13), und mehr oder we-
niger auch die zwei mittleren, enthalten die Tradition über
das Leben Jesu, wie sie sich in Galiläa gebildet hatte;
hier aber hatte sich vorwiegend nur die Kunde von dem,
was von Jesu eben in dieser Provinz gethan und geredet
worden war, erhalten, von dem Aussergaliläischen aber
war nur das Wichtigste, die Geburt, Einweihung und na-
mentlich die lezte Reise Jesu, auf welcher sein Tod er-
folgte, bekannt geworden, das Übrige aber, so namentlich
die früheren Festreisen, entweder unbekannt geblieben oder
frühzeitig wieder in Vergessenheit gerathen, so daſs, was et-
wa auch von einzelnen Notizen aus einem oder dem andern
früheren Festaufenthalt Jesu verlautete, weil man nur von Ei-
nem solchen, dem lezten, wuſste, in diesen verlegt wurde.
Allein ebenderselbe Johannes, auf welchen diese Theolo-
gen sonst Alles bauen, meldet ausdrücklich von den Gali-
läern (4, 45.), daſs auch sie auf dem ersten Paschafeste,
welches Jesus nach seiner Taufe besuchte (und also wohl
auch auf den übrigen), gewesen seien, und zwar in Masse
wie es scheint, da ja in Folge dessen, daſs die Galiläer in
Jerusalem seine Thaten gesehen hatten, Jesus eine gün-
stige Aufnahme in Galiläa fand. Nimmt man noch dazu,
daſs die meisten Jünger Jesu, die ihn auch auf den frü-
heren Festreisen begleiteten (s. z. B. Joh. 4, 22. 9, 2.),
Galiläer waren, so ist es undenkbar, daſs nicht von An-
fang an Nachrichten über die frühere Wirksamkeit Jesu
in Jerusalem nach Galiläa gekommen sein sollten. Einmal
dahin gekommen aber konnten sie vielleicht mit der Zeit
wieder erlöschen? Allerdings hat die Tradition eine ver-
schwemmende, assimilirende Kraft: da die lezte Reise Jesu
nach Jerusalem besonders merkwürdig war, so konnten
die früheren allmählich mit dieser zusammenflieſsen. Aber
[441]Drittes Kapitel. §. 53.
einen anderen Trieb hat die Sage auch und der ist ihr
stärkster, nämlich zu verherrlichen. Nun könnte man frei-
lich sagen: zur Verherrlichung der Provinz, in welcher
die synoptische Tradition entstand, diente es, die frühere
Wirksamkeit Jesu ganz in die Grenzen Galiläa's einzu-
schlieſsen. Allein, nicht Galiläa wollte die synoptische Sage
verherrlichen, über welches sich vielmehr sehr harte Ur-
theile in derselben finden, sondern Jesum verherrlicht sie,
und dieser steht um so gröſser da, je weniger er sich von
jeher in dem galiläischen angulus terrae verkrochen, je
öfter er sich auf dem glänzenden Schauplatz der Haupt-
stadt, besonders wenn diese von Zuschauern und Zuhö-
rern aus allen Regionen so zahlreich wie um die Festzei-
ten besucht war, producirt hatte. Wenn daher auch ge-
schichtlich nur Eine jerusalemische Reise Jesu stattgefun-
den hätte, so konnte doch die Sage versucht sein, nach
und nach deren mehrere zu machen, indem sie für sich
von dem Schlusse ausgieng: wie wird ein so groſses Licht
als Jesus war, so lange unter dem Scheffel gestanden und
nicht frühzeitig und oft sich auf den erhabenen Leuchter
gestellt haben (Matth. 5, 15.), welchen ihm Jerusalem
darbot? in Bezug auf die Gegner aber glaubte man Ein-
würfen, wie schon die ungläubigen ἀδελφοὶ Ἰησοῦ Joh. 7,
3. 4. sie machten, daſs, wer etwas Rechtes leisten zu kön-
nen sich bewuſst sei, sich nicht verstecke, sondern die
Öffentlichkeit suche, um sich Anerkennung zu verschaffen,
nicht besser begegnen zu können, als durch die Wendung,
daſs Jesus allerdings auch früher schon jene Öffentlichkeit
gesucht und sich Anerkennung in weiteren Kreisen erwor-
ben habe, woraus sich dann leicht allmählig die Vorstel-
lung bilden konnte, wie sie jetzt im vierten Evangelium
zum Grunde liegt, daſs nicht Galiläa, sondern Judäa der
eigentliche Aufenthalt Jesu gewesen sei.


Wenn sich auf diese Weise, die Sache vom Stand-
punkt möglicher Sagenbildung aus betrachtet, die Wage
[442]Zweiter Abschnitt.
auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob das
Resultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und
Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts-
punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher
sei, daſs Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr-
mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen
sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, daſs mit den
mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung
Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn
theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An-
nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die
innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden
muſs, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der
seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar-
bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen,
nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei-
nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so daſs er
früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen
gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst
das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent-
lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken
mögen, statt auf den durch höhere Bildung und gröſsere
Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems
sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem
von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän-
gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen
Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha-
ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam-
keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem
zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen
und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand
rechnen muſste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man
die Darstellung der Synoptiker im Verhältniſs zum mosai-
schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. Bei der
strengen Vorschrift des Gesetzes, daſs jeder Israëlit jähr-
[443]Drittes Kapitel. §. 53.
lich an den drei Hauptfesten vor Jehova erscheinen solle
(2. Mos. 23, 14 ff.) und bei Jesu Ehrfurcht vor den mosai-
schen Institutionen (Matth. 5, 17 ff.), läſst es sich nicht
ohne Schwierigkeit denken, daſs Jesus während der gan-
zen Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit nur Eine Festreise
sollte unternommen haben 14). Indeſs, das Matthäusevan-
gelium, welches diese Darstellung giebt, wir mögen von
Zeit und Ort seiner Abfassung urtheilen, wie wir wollen,
ist jedenfalls in einem judenchristlichen Gebiet entstanden,
wo man, was das Gesez von einem frommen Israëliten for-
derte, gar wohl wuſste, also auch ein Bewuſstsein davon
haben muſste, in welchen Widerspruch gegen das Gesez
man Jesum verwickelte, wenn man aus seiner mehrjähri-
gen öffentlichen Wirksamkeit nur Einen Festbesuch mel-
dete, oder (falls die Synoptiker nur ein einjähriges Wir-
ken Jesu voraussetzen sollten, wovon unten) wenn man
ihn ausser dem Pascha die beiden andern Jahresfeste ver-
säumen lieſs. Fand also ein der jüdischen Sitte noch so
nahe stehender Kreis an der Annahme nur Eines Festbe-
suchs Jesu nichts Anstöſsiges: so weiſs ich nicht, ob diese
Auktorität nicht auch uns das Bedenken in dieser Sache
benehmen sollte? Wirklich auch, wenn man die histori-
schen und geographischen Verhältnisse näher erwägt, könnte
die Frage entstehen, ob zwischen dem entlegenen, zum
Theil von Heiden bewohnten Galiläa und Jerusalem das
kirchliche Band damals ein so enges gewesen sei, daſs ein
Mitmachen sämmtlicher Festreisen von einem Galiläer er-
wartet werden konnte? wie denn auch nach der johannei-
schen Darstellung Jesus ein in die Periode seines öffentli-
chen Lebens gefallenes Pascha nicht besucht hat (Joh. 6, 4.).
Der für die Synoptiker ungünstigste Punkt aber ist nun,
daſs es unerklärlich scheint, wie Jesus bei seinem lezten
Aufenthalt in Jerusalem während der kurzen Dauer der
[444]Zweiter Abschnitt.
Festtage sich mit der regierenden Partei der Hauptstadt so
entschieden habe verfeinden können, daſs sie seine Gefan-
gennehmung und Hinrichtung veranstaltete, wenn man nicht
nach Johannes annimmt, daſs sich diese Feindschaft schon
bei früherer öfteren Anwesenheit Jesu in Jerusalem ange-
sponnen und allmählig ausgebildet hatte 15). Beruft man
sich hier darauf, daſs sich theils auch in galiläischen Syn-
agogen ansäſsige Schriftgelehrte und Pharisäer fanden
(Matth. 9, 3. 12, 14.), theils solche, die in der Haupt-
stadt wohnten, die Provinzen zu durchreisen pflegten (Matth.
15, 1.), daſs also ein hierarchischer Nexus vorhanden war,
vermöge dessen man Jesu in Jerusalem längst den Tod ge-
schworen haben konnte, ehe er einmal öffentlich wirkend
dahingekommen war: so scheint eben hieraus eine kirchli-
che Verbindung zwischen Galiläa und Jerusalem sich zu
ergeben, welche die Unterlassung einer Reihe von Festbe-
suchen von Seiten Jesu unwahrscheinlich macht. Eine den
Synoptikern sehr gefährliche Einzelheit ist noch folgende.
Die Worte: Ἱερουσαλὴμ, Ἱερουσαλὴμ, — ποσάκις ήϑέλησα
ἐπισυνάξαι τὰ τέκνα σου — καὶ οὐκ ἠϑελήσατε
, haben bei Lu-
kas, der sie Jesu in den Mund legt, ehe er während sei-
ner öffentlichen Wirksamkeit Jerusalem auch nur gesehen
(13, 34.), gar keinen Sinn, und auch nach der besseren
Anordnung des Matthäus (23, 37.) ist nicht abzusehen,
wie Jesus nach einem einzigen Aufenthalt von wenigen Ta-
gen auf häufige Versuche, die Bewohner Jerusalems zu ge-
winnen, sich berufen konnte. Sollen also diese Worte
nicht dafür angesehen werden, Jesu später untergelegt wor-
den zu sein, was bei einer so originellen Gnome immer
schwer hält: so müſste, um sie passend zu finden, aller-
dings eine Reihe früherer jerusalemischer Aufenthalte Jesu,
wie sie das vierte Evangelium bietet, angenommen werden.


Aus dem Bisherigen wird erhellen, ob, wo so Vieles
[445]Drittes Kapitel. §. 54.
pro und contra sich disputiren läſst, die unbedenkliche
Entscheidung der Kritiker für die Darstellung des vierten
Evangeliums eine berechtigte sei; wir unsrerseits sind weit
entfernt, uns ebenso übereilt für die Synoptiker auszuspre-
chen, und begnügen uns, den oft übersehenen wahren
Stand der synoptisch-johanneischen Streitsache zu weite-
rer Prüfung vorgelegt zu haben.


§. 54.
Der Wohnsitz Jesu in Kapernaum.


Wie Jesu für die Zeit, die er in Judäa zubrachte,
vorzugsweise die Hauptstadt und deren Umgegend zum Schau-
plaz seiner Wirksamkeit angewiesen war: so könnte es
scheinen, als wäre ihm für den galiläischen Aufenthalt et-
wa seine Vaterstadt Nazaret nahe gelegt gewesen. Statt
dessen finden wir ihn aber, wenn er nicht auf Reisen ist,
wie schon erwähnt, in Kapernaum heimisch: die Synopti-
ker bezeichnen diesen Ort als die ἰδία πόλις Jesu (Matth.
9, 1. vrgl. Mare. 2, 1.); hier war nach ihnen der οἶκος,
wo sich Jesus aufzuhalten pflegte (Marc. 2, 1. 3, 20. Matth.
13, 1. 36.), welches vielleicht das Haus des Petrus war
(Marc. 1, 29. Matth. 8. 14. 17, 25. Luc. 4, 38.). Im vier-
ten Evangelium, welches Jesum überhaupt nur sehr vor-
übergehend in Galiläa zeigt, tritt auch Kapernaum nicht
als Wohnort Jesu hervor, und scheint eher Kana als der
Ort vorausgesezt zu werden, mit welchem Jesus am meisten
Verbindung hatte. Nach seiner Taufe kommt er hier zu-
erst nach Kana (2, 1.), zwar dieſsmal aus einer besondern
Veranlassung; hierauf hält er sich nur kurze Zeit in
Kapernaum auf (V. 12.); dann aber nach der Rückkehr von
der ersten Festreise ist es wieder Kana, wohin sich Jesus
begiebt, und selbst eine Heilung, welche er nach den Synop-
tikern zu Kapernaum vornimmt, läſst ihn das vierte Evan-
gelium von Kana aus verrichten (4, 46 ff.), worauf wir ihn
nur noch Einmal in der Synagoge von Kapernaum finden
[446]Zweiter Abschnitt.
(6, 59.). Auch die vornehmsten Jünger läſst das johan-
neische Evangelium nicht, wie die Synoptiker, aus Kaper-
naum, sondern theils aus Kana (21, 2.), theils aus Bethsai-
da sein (1, 45.). Der leztere Ort übrigens wird neben
Chorazin auch von den Synoptikern als ein solcher erwähnt,
an welchem Jesus vorzugsweise wirksam gewesen (Matth.
11, 21. Luc. 10, 13.).


Wie es gekommen sei, daſs Jesus gerade Kapernaum
zum Mittelpunkt seines galiläischen Aufenthalts machte,
davon giebt Markus gar keine Rechenschaft, sondern läſst
ihn nach seiner Rückkehr nach Galiläa und der Berufung
der Fischerpaare ohne Weiteres dahin kommen (1, 21.).
Matthäus (4, 13 ff.) giebt einen Grund an, aber einen
wunderlichen, daſs nämlich eine A. T.liche Weissa-
gung (Jes. 8, 23. 9, 1.) dadurch habe erfüllt werden müs-
sen; eine Begründung, welche nur zeigt, daſs der Evange-
list keine bessere zu geben wuſste. Lukas glaubt den Grund
in etwas Andrem gefunden zu haben, das sich weit eher
hören läſst. Nach ihm nämlich nimmt Jesus nicht sogleich
nach seiner Rückkehr von der Taufe in Kapernaum seinen
Aufenthalt, sondern macht zuerst in Nazaret einen Versuch,
nach dessen Fehlschlagen er sich erst nach Kapernaum
wendet. Mit gröſster Anschaulichkeit wird uns berichtet,
wie Jesus am Sabbat in der Synagoge zu Nazaret aufge-
treten sei, und eine Prophetenstelle auf eine Weise ausge-
legt habe, welche allgemeine Bewunderung seines Vortrags,
aber ebensobald auch hämische Rückblicke auf seine be-
schränkten Familienverhältnisse hervorrief. Jesus hierauf
habe die Unzufriedenheit der Nazaretaner darüber, daſs er
nicht auch bei ihnen wie in Kapernaum Wunder thue,
auf die Geringschätzung, die jeder Prophet eben in seiner
Heimath am meisten zu erfahren habe, zurückgeführt,
und ihnen in A. T.lichen Beispielen gedroht, daſs die gött-
lichen Wohlthaten ihnen entzogen und Auswärtigen wer-
den zugewendet werden. Hierüber ergrimmt, haben sie
[447]Drittes Kapitel. §. 54.
ihn an den Abhang des Bergs hinausgeführt, um ihn hin-
abzustürzen: er aber sei unverlezt durch ihre Reihen hin-
durchgegangen 4, 16—30.).


Von einem Besuch Jesu in Nazaret wissen auch die
beiden anderen Synoptiker, aber sie versetzen ihn in eine
viel spätere Zeit, als Jesus schon längst in Galiläa gewirkt,
und namentlich schon lange sich in Kapernaum ansässig
gemacht hatte (Matth. 13, 54 ff. Marc. 6, 1 ff.). Beide Vor-
gänge pflegte man sonst 1) in das Verhältniſs zu stellen,
daſs Jesus, unerachtet er das erste Mal so übel aufgenom-
men worden war, wie Lukas erzählt, doch später noch
einmal habe einen Versuch machen wollen, ob nicht seine
längere Abwesenheit und seither erworbener Ruhm das
kleinstädtische Urtheil der Nazaretaner gebessert habe, was
aber nicht der Fall gewesen sei. Allein die beiden Scenen
sehen sich doch gar zu ähnlich, um sich leicht auseinan-
derhalten zu lassen. Beidemale macht das Lehren Jesu in
der Synagoge, welches Lukas nur näher beschreibt, den-
selben Eindruck, daſs die Nazaretaner eine solche Weis-
heit an dem Sohne des Zimmermanns Joseph nicht begrei-
fen können; beidemale läſst es Jesus an Wundern fehlen,
wovon bei den zwei ersten Evangelisten mehr die Ursache,
nämlich der Unglaube der Nazaretaner, bei dem dritten
mehr die ungünstige Wirkung auf dieselben hervorgehoben
wird; beidemale endlich spricht Jesus die Erfahrung aus
von dem in der eigenen Heimath am wenigsten angesehe-
nen Propheten, woran er bei Lukas noch weitere Reden
knüpft, welche die Nazaretaner zum Versuch eines Gewalt-
streichs reizen, wovon die beiden andern Referenten nichts
wissen. Entscheidender aber ist das Andere, daſs keine
von beiden Erzählungen die andre vor sich dulden will,
sondern jede den Anspruch macht, den ersten Vorfall die-
[448]Zweiter Abschnitt.
ser Art zu betreffen 2), indem sich in beiden die erste Be-
fremdung der Landsleute Jesu über seine plözlich zu Tage
gekommenen Geistesgaben ausspricht, die sie mit seinen
sonstigen Verhältnissen nicht sogleich zu reimen wuſsten 3).
Wäre nämlich nach der zunächst sich bietenden Annahme
dem von Matthäus und Markus erzählten Auftritt der bei
Lukas beschriebene vorangegangen gewesen: so hätten die
Nazaretaner nicht zum zweitenmal sich wundern können,
πόϑεν τούτῳ ἡ σοφία αὕτη; da sie ja von dieser schon das
erstemal Proben bekommen hatten; sollte aber umgekehrt
die von Lukas erzählte Begebenheit die zweite sein: so
konnten sie sich dann theils nicht wieder über die λόγους
τῆς χάριτος
an dem υἱὸς Ἰωσηφ verwundern aus demsel-
ben Grunde, theils konnte Jesus nicht schlechtweg sagen:
σήμερον πεπλήρωται ἡ γραφὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσ[ι]ν ύμῶν,
ohne einen strafenden Rückblick auf die frühere Gelegen-
heit zu werfen, bei welcher sie sich bereits hatte erfüllen
wollen, aber durch ihre Unempfänglichkeit daran verhin-
dert worden war.


Durch diese Erwägungen sind jezt die Ausleger gros-
sentheils zu der Einsicht gelangt, daſs hier dieselbe Ge-
schichte nur verschieden gestellt und geschildert sei 4),
und es fragt sich blos noch, welche Relation den Vorzug
verdiene? Was die Stellung betrifft, so scheint auf den
ersten Anblick die des Lukas Alles für sich zu haben. Für
die Verlegung des Wohnsitzes giebt sie den erwünschten
Grund; auch die Verwunderung der Nazaretaner scheint
sich am besten begreifen zu lassen, wenn Jesus nur so
eben erst öffentlich aufgetreten war, und so hat man noch
[449]Drittes Kapitel. §. 54.
neuestens dem Matthäus seine von Lukas abweichende fal-
sche Einordnung dieser Erzählung zum bedeutenden Vor-
wurf gemacht 5). Allein Ein Zug findet sich in allen drei
Erzählungen, der es erschwert, den Vorfall in so ganz
frühe Zeit zu setzen. Trat nämlich Jesus in dieser Weise
zu Nazaret auf, ehe er Kapernaum zum Hauptschauplaz
seiner Wirksamkeit gemacht hatte: so konnten die Naza-
retaner nicht sagen, wie Jesus bei Lukas sie sagen läſst:
ὅσα ἠκούσαμεν γενόμενα ἐν τῇ Καπερναοὺμ, ποίηοον καὶ ὧδε
ἐν τῇ πατρίδι σου
, noch auch konnten sie sich nach Mat-
thäus und Markus über die δυνάμεις Jesu wundern, wel-
che, unerachtet der verwirrenden Verbindung mit der in
Nazaret erprobten σοφία, doch, weil ja Jesus in Nazaret
damals kein oder nur wenige Wunder that, nothwendig
als anderswo verrichtet gedacht werden müssen. Wunder-
ten sich also die Nazaretaner und sahen scheel über die
Thaten Jesu in Kapernaum: so muſste Jesus schon vorher
sich daselbst aufgehalten haben, und kann nicht erst in
Folge des damaligen Auftritts in Nazaret dorthin gezogen
sein. Hieraus wird deutlich, daſs diese Erzählung ur-
sprünglich für eine spätere Stellung gemacht und von Lu-
kas nur durch Conjektur früher gestellt worden ist, wel-
cher hiebei redlich wenn wir wollen, oder nachläſsig ge-
nug war, die nur bei der späteren Stellung denkbare Er-
wähnung kapernaitischer Thaten Jesu stehen zu lassen 6).
Neigt sich so in Betreff der Stellung der Begebenheit der
Vortheil auf die Seite des Matthäus und Markus: so blei-
ben wir über den Grund, welcher Jesum bewog, seinen
Sitz von Nazaret nach Kapernaum zu verlegen, im Dun-
keln, wenn nicht theils der Umstand, daſs einige seiner
vertrautesten Jünger dort zu Hause waren, theils der grös-
sere Verkehr des Ortes etwas dazu beigetragen hat.


Das Leben Jesu I. Band. 29
[450]Zweiter Abschnitt.

Was die beiderseitige Schilderung der Scene betrifft,
so hat die Ausführlichkeit der von Lukas gelieferten gegen-
über dem Summarischen der von den beiden andern Evan-
gelisten gegebenen gewöhnlich das Urtheil zur Folge, daſs
jene die genauere und richtigere sei 7). Treten wir näher,
so zeigt sich die gröſsere Ausführlichkeit der Erzählung
des Lukas zuerst darin, daſs er sich nicht begnügt, nur
im Allgemeinen eines von Jesu in der Synagoge gehaltenen
Vortrags zu gedenken, sondern auch die A. T.liche Stelle
angiebt, über welche er gesprochen, und den Anfang der
Anwendung, die er von derselben gemacht habe. Die Stelle
ist aus Jes. 61, 1. 2., wo der Prophet die Rückkehr aus
dem Exil ankündigt; nur die Worte: ἀποςεῖλαι τεϑραυσ-
μ[έ]νους ἐν ἀφεσει sind aus Jes. 58, 6. eingeschoben. Dieser
Stelle giebt nun Jesus eine messianische Deutung, indem
er sie durch seinen Auftritt für erfüllt erklärt. Wie er
gerade auf diesen Text gekommen, darüber hat man Ver-
schiedenes vermuthet. Da man weiſs, daſs bei den späte-
ren Juden für die einzelnen Sabbate und Feste bestimmte
Abschnitte aus der Thorah und den Propheten zum Vor-
lesen in den Synagogen bestimmt waren: so vermuthete
man, für den damaligen Sabbat oder Festtag sei eben jener
Abschnitt aus Jesaias festgesezt gewesen. Und zwar, da
die Perikope, aus welcher die Worte ἀποςεῖλαι κ. τ. λ.
genommen sind, am groſsen Versöhnungsfest gelesen zu
werden pflegte: so hat Bengel zu einem Grundpfeiler seiner
evangelischen Chronologie die Voraussetzung gemacht, daſs
die vorliegende Begebenheit am Versöhnungstage vor sich
gegangen 8). Allein wenn Jesus an diesem Feste die or-
dentliche Vorlesung hielt, so durfte er aus der für das-
selbe bestimmten Perikope nicht blos ein paar verlorene
Worte einflieſsen lassen, und den gröſseren Theil der Lek-
[451]Drittes Kapitel. §. 54.
tion aus einer ganz andern Stelle nehmen; überhaupt aber
ist nicht erweislich, daſs schon zu Jesu Zeit bestimmte
Lesestücke auch aus den Propheten vorgeschrieben gewe-
sen seien 9). War also Jesus nicht durch diese äussere
Veranlassung auf die bezeichnete Stelle hingewiesen, so
fragt sich: schlug er sie absichtlich oder unabsichtlich auf?
Manche freilich lassen ihn so lange blättern, bis er die
Stelle, welche er im Sinne hatte, findet 10): allein Ols-
hausen
hat wohl recht, wenn er sagt, das ἀναπτύξας τὸ
βιβλίον εὗρε τὸν
τόπον deute nicht auf ein reflektirend ab-
sichtliches, sondern auf ein vom Geist geleitetes Finden je-
ner Stelle hin 11). Daſs aber auf diese Weise Jesus hier
zufällig gerade diejenige Stelle aufgeschlagen haben soll,
welche zur Bezeichnung seines ersten messianischen Auf-
tretens so ausgesucht paſste, das Auffallende hievon wird
durch die Berufung auf den Geist als deus ex machina
nur schlecht versteckt. Wohl konnte Jesus diese Stelle
mit Bezug auf sich selber im Munde führen, und ebenso
konnte sie dem Evangelisten als in Jesu erfüllt vorschwe-
ben; Matthäus hätte sie vielleicht in seiner eignen Person
durch ἵνα πληρωϑῇ eingeführt und gesagt, Jesus habe nun-
mehr sein messianisches κήρ[υ]γμα begonnen, auf daſs die
Weissagung Jes. 61. 1 f. erfüllet würde; statt dessen legt
sie Lukas, der diese Formel weniger liebt, oder die Tra-
dition, aus welcher er schöpfte, Jesu selbst bei seinem
ersten messianischen Auftritt in den Mund, — sehr ge-
schickt offenbar, aber wegen des dabei vorauszusetzenden
Zufalls minder wahrscheinlich, so daſs ich mir lieber an
der unbestimmten Angabe des Matthäus und Markus genü-
gen lassen will.


Das Andere, worin der Vorzug der Schilderung des
29*
[452]Zweiter Abschnitt.
Lukas in Hinsicht der Ausführlichkeit bestehen soll, das
anschauliche Gemälde der tumultuarischen Schluſsscene, ha-
ben selbst diejenigen, welche im Ganzen seiner Erzählung
den Vorzug geben, doch nicht ganz zurechtzulegen gewuſst.
Denn einmal konnte man sich nicht verbergen, daſs die
Gründe einer so äusserst gewaltsamen Vertreibung aus der
Darstellung des Lukas nicht erhellen 12), und doch läſst
sich, daſs es dabei auf das Leben Jesu abgesehen gewesen
sei, nicht (mit Schleiermacher13)) leugnen, ohne das εἰς
τὸ κατακρημνίσαι αυτὸν
(V. 29.) geradezu für einen falschen
Zusaz des Referenten zu erklären, wodurch seine Glaub-
würdigkeit für den ganzen Abschnitt einen bedeutenden
Stoſs bekäme. Besonders aber das διελϑὼν διὰ μέσου αὐτῶν
ἐπορεύετο
(V. 30.) ist ein Zug, der sich, wenigstens nach
des Erzählers Absicht, nicht durch den bloſsen Herrscher-
blick Jesu (mit Hase) erklären läſst, sondern auch hier
behält Olshausen Recht, wenn er sagt, der Tendenz des
Schriftstellers nach solle ausgesprochen sein, Jesus sei deſs-
wegen ungekränkt mitten durch seine wüthenden Feinde
hindurchgegangen, weil seine göttliche Kraft Sinn und Glie-
der derselben gebunden hielt, weil seine Stunde noch nicht
gekommen war (Joh. S, 20.), und weil Niemand sein Le-
ben von ihm nehmen konnte, bis er selbst es hingab (Joh.
10, 18.) 14). Nur um so weniger aber wird man auch in
diesem Zuge das verherrlichende Bestreben der Sage ver-
kennen, vermöge dessen sie Jesum als einen solchen dar-
zustellen liebte, von welchem, wie von einem Lot (1 Mos.
19, 11.) und Elisa (2 Kön. 6, 18.) eine höhere Hand, oder
besser seine eigene Macht als höheren Wesens, die Feinde
abwehrte, wenn man auch nicht gerade, was schon Ter-
[453]Drittes Kapitel. §. 55.
tullian verwehrt 15), ein illudere per caliginem, wie in jenen
beiden Fällen, annehmen will. Also auch in diesem Stük-
ke ist der einfachere Schluſs bei den beiden ersten Evan-
gelisten vorzuziehen, daſs Jesus, durch den Unglauben der
Nazaretaner an weiterer Wirksamkeit verhindert, seine
undankbare Vaterstadt verlassen habe.


§. 55.
Abweichungen der Evangelisten in Bezug auf die Chronologie des
Lebens Jesu. Dauer seiner öffentlichen Wirksamkeit.


Was die Zeitrechnung des öffentlichen Lebens Jesu
betrifft, so muſs die Frage nach der Dauer desselben im
Ganzen von der andern nach der Vertheilung der einzel-
nen Begebenheiten innerhalb dieses Zeitraums unterschie-
den werden.


Wie lange die öffentliche Wirksamkeit Jesu gewährt
habe, wird von keinem unsrer Evangelisten ausdrücklich
gesagt; doch während uns die Synoptiker auch zu einem
Schluſs auf jene Dauer nichts an die Hand geben, finden
wir bei Johannes einige Data, welche uns zu einem sol-
chen Schlusse zu berechtigen scheinen. Bei den Synoptikern
ist keine Andeutung, wie lange nach Jesu Taufe seine Ge-
fangennehmung und Hinrichtung vorgefallen; nirgends sind
Monate und Jahre unterschieden, und wenn es ein und
das andremal heiſst: μεϑ' ἡμέρας ἒξ oder δύο (Matth. 17, 1.
26, 2.), so können diese einzelnen festen Punkte in der
allgemeinen Unbestimmtheit, in welcher sie schwimmen,
durchaus keinen sichern Halt gewähren. Das vierte Evan-
gelium dagegen giebt uns eben durch jene Festreisen Jesu,
durch deren Mehrzahl es sich von den übrigen unterschei-
det, zugleich chronologische Anhaltspunkte an die Hand,
indem, so oft Jesus auf einem dieser jährigen Feste und
namentlich auf dem Paschafest erschienen ist, so viele volle
[454]Zweiter Abschnitt.
Jahre seiner Wirksamkeit, nach Abzug des ersten Festes,
gerechnet werden dürfen. Wir haben im vierten Evange-
lium nach der Taufe Jesu zuerst ein von ihm besuchtes
Paschafest (2, 13.), zwischen welchem und der Taufe nur
kurze Zeit zu liegen scheint (vergl. 1, 29. 35. 44. 2, 1. 12.).
Nun aber das nächste von Jesu besuchte Fest (5, 1.) wel-
ches nur unbestimmt als ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων bezeichnet ist,
war von jeher die crux der N. T.lichen Chronologen. Be-
deutend ist es für die Bestimmung der Dauer des öffentli-
chen Lebens Jesu nur, wenn es ein Pascha ist, denn in
diesem Falle wäre hier das erste Jahr seiner Wirksamkeit
zu Ende. Daſs nun durch ἡ ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων vorzugs-
weise das Paschafest bezeichnet werden könne 1), glauben
wir gerne; allein die besten Codices haben in unsrer Stelle
keinen Artikel, und ohne diesen kann jener Ausdruck nur
unbestimmt irgend ein jüdisches Fest bedeuten, das der Ver-
fasser nicht näher namhaft machen will 2). An sich könnte
es also gleich gut Pfingsten 3), Purim 4), Pascha 5) oder ein
anderes sein 6); doch im Sinne des Referenten ist wohl
nicht an ein Paschafest zu denken, theils weil er dieses
gröſste Fest schwerlich so unbezeichnet gelassen hätte, theils
weil 6, 4. schon wieder ein Paschafest kommt, und so zwi-
schen 5, 47. und 6, 1. ein ganzes Jahr mit Stillschweigen
übergangen sein müſste. Denn daſs das ἦν δὲ ἐγγὺς τὸ
πάσχα
(6, 4.) sich rückwärts auf das eben verflossene
Fest beziehe, ist doch eine zu gewaltsame Auskunft von
[455]Drittes Kapitel. §. 55.
Paulus, da, wie er selbst gesteht 7), dieselbe Phrase bei Jo-
hannes sonst immer das nahe bevorstehende Fest bedeutet
(2, 13. 7, 2. 11, 55.), und auch ihrer Natur nach bedeuten
muſs, wofern nicht aus dem Zusammenhang das Gegentheil
sich ergiebt. Erst also Joh. 6, 4. haben wir das zweite
Paschafest, von welchem übrigens nicht gemeldet wird, daſs
Jesus es besucht hätte 8). Nachdem nun noch des Festes
der Laubhütten und der Tempelweihe gedacht ist, wird
11, 55. 12, 1. das lezte Pascha aufgeführt, welches Jesus
besuchte. So hätten also wir, nach unserer Ansicht von
Joh. 5, 1. und 6, 4., für die öffentliche Wirksamkeit Jesu
zwei Jahre, nebst demjenigen Zeitabschnitt, welcher zwi-
schen seiner Taufe und dem ersten von ihm besuchten Pa-
scha liegt. Auf dieselbe Rechnung kommen diejenigen,
welche, wie Paulus, 5, 1. ein Pascha, aber 6, 4. nur eine
Rückweisung auf dieses sehen, wogegen die alte, kirchen-
väterliche Ansicht, welche in den angeführten beiden Stel-
len zwei verschiedene Paschafeste fand, drei volle Jahre
herausbrachte. Indeſs durch jene Rechnung bekommen wir
nur das minimum der Dauer des öffentlichen. Wirkens Je-
su nach Johannes, da weder der Referent irgendwo an-
deutet, daſs er gerade alle Feste, welche in jenen Zeitraum
fielen, und namentlich auch die von Jesu nicht besuchten,
namhaft machen wolle, noch wir, sofern wir nicht den
Apostel Johannes als den Verfasser des vierten Evangeliums
schon voraussetzen, eine Bürgschaft haben, daſs er von al-
len gewuſst habe.


Wenn man nun nicht selten sagt, dieser johanneischen
Rechnung gegenüber geben die Synoptiker Veranlassung,
die öffentliche Wirksamkeit Jesu auf Ein Jahr zu beschrän-
ken 9): so beruht dieſs nur auf der aus Johannes herüber-
[456]Zweiter Abschnitt.
genommenen Voraussetzung, daſs der Galiläer Jesus alle
Paschafeste habe besuchen müssen, eine Annahme, welche
übrigens durch das Datum desselben Johannes, daſs Jesus
das Paschafest 6, 4. unbesucht gelassen, widerlegt wird.
Denn hier ist nicht etwa eine von Jesus wirklich gemachte
Reise vom Referenten verschwiegen, sondern von 6, 1. an,
wo Jesus auf der Ostseite des Sees Tiberias ist, durch
6, 17 und 59, wo er nach Kapernaum geht, und 7, 1, wo
er, um Judäa zu vermeiden, in Galiläa wandelt, bis 7, 2
und 10, wo er zur Skenopegie nach Jerusalem reist, hängt
die Darstellung des Evangelisten so genau zusammen, daſs
nirgends eine Paschareise eingeschoben werden kann. Aus
den Synoptikern für sich wissen wir gar nicht, wie lange
Jesus öffentlich gewirkt hat, und er könnte nach ihnen
ebensogut mehrere Jahre als blos Eines thätig gewesen,
nur aber im lezten erst zum Paschafest gereist sein. Frei-
lich sprachen schon einige der ältesten Häretiker 10) und
Kirchenväter 11) von einer blos einjährigen Wirksamkeit
Jesu: allein, daſs nicht das Fehlen der früheren Fest-
reisen Jesu bei den Synoptikern, sondern etwas ganz
Zufälliges die Quelle dieser Ansicht war, geben jene
Väter selbst zu verstehen, indem sie sich für dieselbe auf
die auch von Jesus Luc. 4. auf sich bezogene Propheten-
stelle Jes. 61, 1 f. berufen, wo von einem ἐνιαυτὸς Κυρίου
δεκτ[ό]ς
die Rede ist, welchen der Prophet, oder nach der
evangelischen Deutung der Messias, zu verkündigen gesen-
det sei. Indem sie diesen Ausdruck im strengen, chrono-
logischen Sinne verstanden, kamen sie auf ihre Annahme
nur Eines Messiasjahrs, welche sie denn freilich mit den
Synoptikern leichter vereinigen konnten, als mit Johannes,
[457]Drittes Kapitel. §. 55.
nach dessen Darstellung jene Rechnung bald genug in der
Kirche berichtigt wurde.


In auffallendem Contraste mit diesem niedrigsten An-
schlag der Zeit von Jesu öffentlichem Leben steht die eben-
falls sehr alte Tradition, daſs Jesus zwar im dreissigsten
Jahr getauft worden, aber bei seiner Kreuzigung nicht
mehr weit von den Funfzigen entfernt gewesen sei 12), ei-
ne Angabe, welche ihr Gewährsmann Irenäus auf das
Zeugniſs aller derjenigen zurückführt, welche in Kleinasien
mit Johannes zusammengelebt und dieſs von ihm gehört ha-
ben. Auch diese Annahme jedoch, wie die zuvor angeführte,
scheint nur auf einer miſsverstandenen N. T.lichen Stelle
zu beruhen, auf welche sich auch Irenäus beruft, auf Joh.
8, 57. nämlich, wo die Juden Jesu entgegenhalten: πεν-
τήκοντα ἔτη ου῎πω ἔχεις, καὶ Ἀβραὰμ ἑώρακας;
woraus man
schlieſsen zu dürfen glaubte, Jesus müsse damals schon
in das funfzigste Jahr gegangen sein. Allein gar wohl
konnten die Juden auch zu einem etlich und Dreissigjähri-
gen sagen, er sei viel zu jung, um Abraham gesehen zu
haben, da er ja noch nicht einmal das funfzigste Jahr er-
reicht, d. h. nach jüdischer Vorstellung, das Mannesalter
vollendet habe 13).


So wissen wir also aus unsern Evangelien nicht genau,
wie lange Jesu öffentliches Wirken gedauert habe, sondern
können nur so viel sagen, daſs es, wenn wir dem vierten
Evangelium folgen, nicht unter zwei Jahren und etwas
darüber anzuschlagen wäre. Allein die mehreren Festrei-
sen, auf welche diese Zeitbestimmung sich gründet, sind
ja selbst nicht über allen Zweifel erhaben.


Diesem minimum gegenüber erhalten wir ein maximum
für die Dauer des öffentlichen Lebens Jesu, wenn wir die
Angabe des Lukas 3, 1 ff. und 23. so verstehen, daſs die
[458]Zweiter Abschnitt.
Taufe Jesu in das funfzehnte Jahr des Tiberius gefallen
sei, und wenn wir, darauf fuſsend, das andere Datum
dazu nehmen, daſs Jesus noch unter der Procuratur des
Pontius Pilatus hingerichtet worden ist. Da nämlich Pila-
tus im Todesjahr des Tiberius von seinem Posten abberu-
fen wurde 14), Tiberius aber nach jenem funfzehnten Jahr
noch etwas über sieben Jahre regierte 15): so wären sie-
ben Jahre das maximum für die Wirksamkeit Jesu nach
seiner Taufe. Allein so sicher das eine Datum ist, daſs
Jesus unter Pilatus gestorben ist, so sehr ist das andere
durch Verwebung mit einem chronologischen Verstoſse ver-
dächtig gemacht: so daſs hier in der That nicht blos keine
genaue Bestimmung, sondern auch keine ungefähre zu er-
zielen scheint.


§. 56.
Die Versuche einer chronologischen Anordnung der einzelnen Be-
gebenheiten des öffentlichen Lebens Jesu.


Um die in den Zeitraum des öffentlichen Lebens Jesu
fallenden einzelnen Begebenheiten chronologisch gegenein-
ander zu stellen, ist vermöge des eigenthümlichen Verhält-
nisses der Synoptiker zum Johannes eine Betrachtung theils
jedes dieser Theile für sich, theils beider in Beziehung auf
einander erforderlich.


Was das Leztere betrifft, so müſsten, wenn eine Aus-
gleichung möglich sein sollte, die johanneischen Festreisen
die Fächer abgeben, in welche der von den Synoptikern
gelieferte Stoff in der Art einzutragen wäre, daſs jedesmal
zwischen zwei jener Reisen und die jerusalemischen Er-
eignisse, welche sich an sie anschlieſsen, eine Parthie der
galiläischen Begebenheiten fiele. Sollte diese Einordnung
mit einiger Sicherheit zu Stande gebracht werden können,
[459]Drittes Kapitel. §. 56.
so müſste zweierlei stattfinden: einmal von Seiten der drei
ersten Evangelisten, daſs sie, so oft bei dem vierten von
einem Festaufenthalt die Rede ist, eine Abreise Jesu aus
Galiläa anzeigten; dann von Seiten des Johannes, daſs er
dieselben galiläischen Begebenheiten, welche die Synopti-
ker in Einem Zuge berichten, zwischen die verschiedenen
Feste hinein vertheilt erzählte oder andeutete. Allein jene
Anzeigen von Seiten der Synoptiker finden sich nach dem
Obigen gar nicht; Johannes aber trifft bekanntlich zwischen
der Taufe Jesu und den lezten Ereignissen seines Lebens
nur in zwei bis drei Erzählungen mit den übrigen Evan-
gelisten zusammen. Das ου῎πω ἦν βεβλημένος εἰς τὴν φυλα-
κὴν ὁ Ἰωάννης
(Joh. 3, 24.), woraus man zu schlieſsen
pflegt, Matthäus, welcher Jesum erst nach des Täufers Ver-
haftung nach Galiläa zurückkehren läſst, melde nicht die
Rückkehr von der Taufe, sondern vom ersten Paschafest 1),
ist, weit entfernt einen chronologischen Vereinigungspunkt
der synoptischen Berichte mit dem johanneischen an die
Hand zu geben, vielmehr ein Beweis ihrer völligen Unverein-
barkeit. Das nächste, aber von den meisten bezweifelte Zu-
sammentreffen findet bei der Heilung des Sohns eines βα-
σιλικὸς
nach Joh. 4, 46 ff, oder des Knechts eines ἑκατόν-
ταρχος
Matth. 8, 5 ff. Luc. 7, 1 ff. statt, welche Johannes
unmittelbar (V. 47.) nach der Zurückkunft Jesu von seinem
längeren Au[f]enthalt in Judäa und Samarien bei und nach
dem ersten Paschafeste sezt. Nun müſste also unmittelbar
vor der entsprechenden Erzählung bei den Synoptikern ei-
ne Andeutung der ersten Festreise Jesu sich finden. Aber
nicht einmal eine Spalte für die mögliche Einfügung dieser
Reise findet man, da den Synoptikern zufolge jene Heilung
vor sich geht, nachdem Jesus eben die Bergrede gehalten,
welche, namentlich nach Matthäus, mit dem übrigens auch
[460]Zweiter Abschnitt.
Lukas zusammenstimmt, der Höhepunkt einer so viel man
sehen kann ununterbrochenen galiläischen Wirksamkeit Jesu
ist. So läſst sich also an diesem Punkte der Chronologie
der drei ersten Evangelisten durch die des vierten nicht
aufhelfen, indem sich nirgends eine Fuge zeigt, an wel-
cher die Darstellung des Lezteren in die der Ersteren ein-
greifen könnte. — Ein anderes entschiedeneres Zusammen-
treffen des Johannes mit den Synoptikern findet sich in
den aneinanderhängenden Erzählungen von der Speisung
und dem Wandeln auf dem Meer Joh. 6, 1—21. Matth. 14,
14—36. parallel., welche Johannes (6, 4.) in die Zeit un-
mittelbar vor dem zweiten, von Jesus nicht besuchten,
Pascha verlegt. Aber hier sind vollends die Anfangs- und
Endpunkte der Erzählung auf beiden Seiten so verschie-
den, daſs man sagen muſs: der eine oder der andere Theil
hat sie in falsche Verbindung gestellt. Denn während Je-
sus nach Matthäus von Nazaret, in jedem Fall von Galiläa
aus auf das jenseitige Ufer sich zurückzieht, wo sofort die
Speisung erfolgt: kommt er nach Johannes von Jerusalem
und Judäa her, — und während er bei den beiden ersten
Evangelisten nach der Speisung in eine Gegend, wo er
minder bekannt war (es wird ja Matth. V. 34. ausdrück-
lich herausgehoben, daſs die Leute ihn erkannt haben),
sich begiebt, geht er nach Johannes gerade in die ihm
vertrauteste Stadt, nach Kapernaum. Wenn wir so nicht
wissen, ob nicht das genannte Ereigniſs bei den Synopti-
kern oder bei Johannes zu früh oder zu spät gesezt ist:
so können wir auch nicht absehen, wie viele von den syn-
optischen Erzählungen vor und wie viele nach dem mit
jener Speisung zusammentreffenden zweiten Pascha zu se-
zen sind. Damit sind nun aber die Berührungspunkte aus
der Zeit vor der lezten Reise Jesu zu Ende, und wenn
schon diese so wenig sicher sind, daſs sie eine Verthei-
lung des synoptischen Stoffs durch die beiden Paschafeste
vergebens versprechen: wie kann man hoffen, durch die
[461]Drittes Kapitel. §. 56.
Reisen Jesu auf die ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων, auf die Skenope-
gie, und wenn dieſs eine besondere Reise ist, auf die En-
känien den ununterbrochenen Fluſs der galiläischen Erzäh-
lungen in den drei ersten Evangelien chronologisch abthei-
len zu können? wie dieſs bis auf die neueste Zeit eine Rei-
he von Forschern mit einem Aufwand von Scharfsinn und
Gelehrsamkeit versucht hat, der eines fruchtbareren Stof-
fes würdig gewesen wäre 2). Mit Recht haben daher un-
befangene Richter sich dahin entschieden, da die Erzäh-
lung der drei ersten Evangelien zu wenig darbiete, was
bei einer solchen Einordnung einigermaſsen sicher leiten
könnte: so habe keine der bisherigen Evangelienharmonieen
einen Anspruch, für mehr als ein Gewebe historischer Con-
jekturen gehalten zu werden 3).


Was nun die chronologische Würdigung der Synopti-
ker abgesehen von Johannes betrifft, so weichen sie in der
Anordnung der Begebenheiten so oft von einander ab und
so wenig behält Einer die Wahrscheinlichkeit durchaus
auf seiner Seite, daſs auf jeden von ihnen eine Zahl chro-
nologischer Verstöſse kommt, welche seine Verläſslichkeit
in diesem Stücke untergraben muſs. Überdieſs, wenn man
ihre ganze Darstellungsweise ansieht, so ist an der Be-
hauptung, sie haben bei Abfassung ihrer Bücher an keine
bestimmte Zeitordnung gedacht 4), wenigstens so viel wahr,
daſs ihre Erzählungen über den Zeitraum von der Taufe
Jesu bis zur Leidensgeschichte allerdings einem Aggregat
von Anekdoten ähnlich sehen, welches [m]eistens nur nach
[462]Zweiter Abschnitt.
Rücksichten der Analogie und Ideenassociation gemacht ist;
wobei man jedoch wohl unterscheiden muſs, daſs zwar
wir dem Inhalt des Erzählten zufolge dieſs einsehen und
aus den unbestimmten und eintönigen Verbindungsformeln,
welche sie gebrauchen, schlieſsen können, daſs ihnen die
Einsicht in das genauere chronologische Verhältniſs des
von ihnen Erzählten abgegangen sei: dennoch aber aus
dem, wenn auch noch so unbestimmten, chronologischen
Character der meisten jener Übergangsformeln (wie κατα-
βάντι ἀπὸ τοῦ ὅρους, παράγων ἐκεῖϑεν, ταῦτα αὐτοῦ λαλοῦντος,
ἐν αὐτῇ τῇ ἡμέρᾳ, τότε, καὶ ἰδοὺ
u. s. f.) abnehmen müs-
sen, daſs die Verfasser sich geschmeichelt haben, eine
chronologische Erzählung zu geben 5).


Johannes freilich unterliegt in Bezug auf die Chrono-
logie seiner gröſstentheils eigenthümlichen Erzählungen we-
der einer solchen Controle anderer Berichte, wie die Syn-
optiker untereinander, noch auch fehlt es an Zusammen-
hang und Fortschritt in seiner Darstellung; wir können da-
her seine Anordnung nur so beurtheilen, daſs wir fragen:
ist der Entwicklungsgang und Fortschritt der Sache und
des Planes Jesu, wie ihn das vierte Evangelium giebt, ein
in sich und bei Vergleichung brauchbarer Data aus den
übrigen Evangelien glaubwürdiger? worauf die Antwort
erst in der folgenden Untersuchung sich ergeben kann.


[463]Viertes Kapitel. §. 57.

Viertes Kapitel.
Jesus als Messias.
*)


§. 57.
Jesus ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου.


Indem wir von dem Verhältniſs handeln, in welches
sich Jesus zur messianischen Idee gesezt hat, können wir
dasjenige, was er in dieser Beziehung von seiner Person
aussagte, von demjenigen unterscheiden, was er über das
von ihm unternommene Werk geäussert hat.


Der gewöhnlichste Ausdruck, durch welchen Jesus den
Evangelien zufolge seine eigene Person bezeichnet, ist der
Ausdruck ὁ υἱος τοῦ ἀνϑρώπου. Das zunächst entsprechende
hebräische בֶּן־אָדָם ist im A. T. eine ganz allgemeine Be-
zeichnung des Menschen überhaupt, und so könnte man es
auch im Munde Jesu verstehen wollen. Dieſs gienge in
einigen Stellen an, wie, wenn Jesus Matth. 12, 8. sagt:
κύριος γαρ ἐςι τοῦ σαββάτου ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, dieſs an
und für sich schicklich mit Grotius ganz allgemein so ge-
fasst werden könnte, daſs der Mensch Herr über den Sab-
bat sei, besonders wenn man den Markus vergleicht, bei
welchem (2, 27.) der Saz vorhergieng: τὸ σάββατον διὰ
τὸν ὰνϑρωπον ἐγένετο, οὐχ ὁ ἄνϑρωπος διὰ τὸ σάββατον
.
Allein die meisten übrigen Stellen lauten auf einen bestimmten
Menschen. So, wenn Jesus Matth. 8, 20. den zu seiner Nach-
folge sich anbietenden γραμματεὺς, um ihm die mit der-
selben verknüpften Beschwerlichkeiten zu bedenken zu ge-
[464]Zweiter Abschnitt.
ben, darauf aufmerksam macht, daſs ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου
οὐκ ἔχει, ποῦ τὴν κεφαλὴν κλίνῃ
: so muſs er hier einen be-
stimmten Menschen gemeint haben, und zwar denjenigen,
zu dessen Begleitung der Schriftgelehrte sich erbot, d. h.
sich selber. Wie dieſs in dem Ausdruck liegen könne,
hat man so erklärt, daſs Jesus, nach der morgenländischen
Art, das Ich zu vermeiden, sich in der dritten Person, als
diesen Menschen hier, bezeichne 1). Allein sich selbst in
der dritten Person bezeichnen kann man doch, sofern man
verstanden sein will, nur so, daſs entweder die Bezeich-
nung eine bestimmte ist, und auf keinen der Anwesenden
ausser dem Redenden passt, wie wenn der Vater, der
König, von sich in dieser Weise spricht; oder, wenn die
Bezeichnung an sich unbestimmt ist, so muſs ihr durch
ein demonstratives Pronomen nachgeholfen werden; wie
namentlich, wenn einer unter der allerallgemeinsten Per-
sonalbezeichnung: Mensch, von sich selber reden will, ein
solches unerlässlich ist. So viel etwa mag noch zugegeben
werden, daſs ein und das andere Mal statt eines hinwei-
senden Wortes auch eine hinzeigende Gebärde genügen
kann: daſs aber Jesus so unendlich oft, als er jenes Aus-
drucks sich bediente, es jedesmal auf das Deuten sollte ha-
ben ankommen lassen, und daſs namentlich die Referenten,
in deren Berichten die Anschauung des Deutens wegfiel,
der Unbestimmtheit des Ausdrucks nicht durch einen de-
monstrativen Beisaz abgeholfen haben sollten, ist undenk-
bar. Fanden dieſs beide Theile überflüssig, so muſs die
nähere Bestimmung in dem Ausdruck selbst schon gelegen
haben. Hier sind nun Einige der Meinung, Jesus wolle
sich durch denselben als den Menschen im edelsten Sinne
des Worts, als den idealen Menschen bezeichnen 2); allein
[465]Viertes Kapitel. §. 57.
dieſs ist nur aus modernen Vorstellungen heraus ohne ge-
schichtlichen Grund gesprochen, da von einer solchen Be-
deutung des Ausdrucks zur Zeit Jesu jede Spur fehlt 3),
und weit eher die umgekehrte eines niedrigen, verachteten
Menschen darin nachzuweisen ist, welche daher Manche
auch für die Mehrzahl der Stellen, in welchen Jesus sich
so nennt, vorausgesezt haben 4). Abgesehen davon, daſs
auch hier ein hinzugeseztes Demonstrativum vermisst wird,
würde diese Bedeutung zwar für manche Stellen, wie
Matth. 8, 20. Joh. 1, 52. sich eignen: in Stellen dagegen,
wie Matth. 17, 22, u. a., wo Jesus seinen gewaltsamen
Tod voraussagend, sich als ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου bezeichnet,
wird durchaus der Contrast einer hohen Würde mit dem
schmählichen Schicksale erfordert; so wie Matth. 10, 23.
die den ausgesendeten Jüngern gegebene Versicherung, ehe
sie in sämmtlichen israëlitischen Städten herumgereist sein
würden, werde des Menschen Sohn kommen, nur dann
Gewicht hatte, wenn durch diesen Ausdruck eine bedeu-
tende Person bezeichnet war. Welche Würde und Bedeu-
tung aber jene Worte anzeigten, darüber giebt die Verglei-
chung von Matth. 16, 28. Aufschluss, wo gleichfalls von
einem ἔρχεσϑαι des Menschensohns, aber mit dem Beisaz:
ἐν τῇ βασιλείᾳ αὐτοῦ die Rede ist, ein Beisaz, der nur das
messianische Reich, also der υἱὸς τοῦ ἀνϑρώποῦ nur den Mes-
sias, bedeuten kann.


Inwiefern nun aber dieser so unbestimmt klingende
Ausdruck gerade den Messias bezeichnen könne, ist aus
Matth. 26, 64. parall. zu ersehen. Hier ist von einem
Kommen des Menschensohns ἐπὶ τῶν νεφελῶν τοῦ οὐρανοῦ die
Rede, mit unverkennbarer Beziehung auf Dan. 7, 13. f.,
wo es, nachdem von dem Untergang der vier Thiere ge-
handelt war, heiſst: ich sah in nächtlichen Gesichten, und
Das Leben Jesu I. Band. 30
[466]Zweiter Abschnitt.
siehe, mit den Wolken des Himmels kam wie eines Men-
schen Sohn (כְּבַר אֱנָשׁ, ὡς υἱὸς ἀνϑρώπου, LXX), und man
brachte ihn vor den Alten der Tage, und ihm ward Herr-
lichkeit und Königreich gegeben, dass alle Völker ihm die-
nen, und seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft. Indem
die vier Thiere V. 17 ff. auf die vier groſsen Reiche gedeu-
tet werden, deren leztes das macedonische mit seinem
Zweige, dem syrischen, ist, und indem nun nach deren
Untergang das Reich auf ewige Zeiten dem Volke Gottes
gegeben werden soll: so kann unter dem in den Wolken
Kommenden nur entweder eine Personification des heiligen
Volkes selbst 5) oder ein vom Himmel stammender Führer
desselben, als ein messianisches Wesen verstanden werden,
und diese leztere Deutung war die bei den Juden gewöhn-
liche 6). In dieser Würde freilich ist das beschriebene Sub-
jekt hier nicht durch den Zug, daſs es einem Menschen
geglichen, vielmehr durch den andern, daſs es in den Wol-
ken des Himmels daher gekommen sei, bezeichnet, woge-
gen das כְּבַר אֱנָשׁ nur entweder dieſs, daſs der vom Him-
mel Kommende darum nicht in einer übermenschlichen Ge-
stalt, etwa eines Engels, sondern in menschlicher erschei-
nen werde, oder den Gegensaz der Humanität des zu er-
wartenden Reichs der Heiligen gegen die durch Thierge-
stalten symbolisirte Inhumanität der früheren Reiche aus-
drücken zu können scheint 7). Daher haben zwar die
späteren Juden der Stelle einen wesentlicheren Zug zur
Bezeichnung des Messias entnommen, wenn sie ihm von
seinem Kommen עִם־עֲנָנֵי שְׁמַיָא den Namen Anani beileg-
ten 8): indessen ist auch das ganz im jüdischen Geschmacke,
[467]Viertes Kapitel. §. 57.
einen bloſsen Nebenzug, wie hier. die Vergleichung mit ei-
nem Menschensohn, zur stehenden Bezeichnung einer Per-
son oder Sache zu machen 9). Muſste so der Ausdruck
ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου nothwendig an die auf den Messias be-
zogene Stelle des Daniel erinnern: so konnte Jesus den-
selben unmöglich so oft, und zwar in Verbindungen, wel-
che auf den Messias deuteten, gebrauchen, ohne diesen
dadurch bezeichnen zu wollen.


Weit eher, als die Annahme, er habe mit dem be-
sprochenen Ausdruck sich selbst ohne Bezug auf die mes-
sianische Würde gemeint, lieſse sich vielleicht die umge-
kehrte Vermuthung begründen, er möchte wohl öfters,
wenn er vom υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου sprach, den Messias, aber
ohne Bezug auf seine Person, gemeint haben. Wenn er
Matth. 10, 23. bei der ersten Aussendung der Zwölfe zur
Verkündigung des Gottesreichs diese über die ihnen bevor-
stehenden Verfolgungen durch die schon angeführte Ver-
sicherung beruhigt, sie werden nicht in allen israëlitischen
Städten herumgekommen sein, ἔως ἄν [ἔλ]ϑ[ῃ] ὁ υἱὸς τοῦ ἀν-
ϑρώπου
: so würde man, diesen Ausspruch für sich genom-
men, um so eher an eine dritte Person denken, deren bal-
dige messianische Ankunft Jesus verspreche, als er selber,
der Redende, ja bereits gekommen war, und man vorläu-
fig nicht sieht, wie er sein Kommen als ein erst bevorste-
hendes darstellen könne. Ebenso, wenn Jesus Matth. 13,
37 ff. den σπε[ί]ρων der Parabel als den υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου
deutet, welcher am Ende der Tage Ernte und Gericht hal-
ten werde: so könnte er an und für sich auch hier auf
30*
[468]Zweiter Abschnitt.
den Messias als eine dritte, von ihm verschiedene Person
hinweisen. Nicht minder, wenn er 16, 27 f., um den Saz
zu begründen, daſs ein Schaden an der ψυχὴ durch den
Gewinn des κόσμος ὅλος nicht zu ersetzen sei, auf die bal-
dige Zukunft des Menschensohns zur Vergeltung verweist:
so konnte gar wohl auch ein messianischer Vorläufer auf
diese Art den nach ihm Kommenden ankündigen. Vollends
aber die zusammenhängenden Reden Matth. 24. 25. parall.
würden sich, wie erst tiefer unten erhellen kann, selbst
leichter begreifen lassen, wenn man annehmen dürfte, daſs
der Redende hier unter dem υἱὸς τοῦ ἀνϑρώποῦ, dessen παρ-
ουσία
er beschreibt, einen Andern als sich selbst verstan-
den habe.


Doch bei Weitem nicht auf alle Fälle, in welchen Je-
sus den Ausdruck gebraucht, ist diese Erklärung anwend-
bar. Wenn er den Menschensohn nicht als einen erst zu
erwartenden, sondern als einen bereits gekommenen und
gegenwärtigen darstellt, wie Matth. 18, 11., wo er sagt:
ἠλϑε γὰρ ὁ υἱὸς τοῦ ανϑρώπου ζητῆσαι καὶ σῶσαι τὸ ἀπολω-
λός·
wenn er von ihm selbst verrichtete Handlungen durch
die dem Menschensohn zustehende Vollmacht rechtfertigt,
wie Matth. 9, 6.; wenn er Marc. 8, 31 ff. vgl. Matth. 16,
22. von dem des Menschen Sohne bevorstehenden Leiden
und Tode mit dem Erfolge spricht, daſs Petrus ausruft:
[ἐ] μη ἔςαι σοι τοῦτο: so kann er in diesen und ähnlichen
Fällen unter dem υἱὸς τ. ἀ. nur sich selbst verstanden ha-
ben. Und sogar jene Stellen, welche wir, isolirt genom-
men, der Deutung auf eine von Jesu verschiedene messia-
nische Person fähig gefunden haben, verlieren, wenn wirk-
lich alles dasjenige, was jezt im Zusammenhang mit den-
selben steht, in dieser Verbindung gesprochen worden ist,
diese Fähigkeit. Möglicherweise indessen könnten ja hier
von den Referenten entweder Aussprüche in Verbindung
gesezt sein, die es ursprünglich nicht waren, oder von der
späteren Überzeugung von Jesus als dem υίὸς τοῦ ὰνϑρώπου
[469]Viertes Kapitel. §. 58.
aus das ursprünglich nur von dem lezteren Gesagte in un-
mittelbare Beziehung zu dem ersteren gebracht.


Neben der Thatsache also, daſs in vielen Fällen Je-
sus sich selbst als den Menschensohn bezeichnet hat, blie-
be uns die Möglichkeit, daſs er in manchen andern auch
eine von ihm verschiedene Person damit gemeint haben könn-
te, welche lezteren Fälle dann der Zeit nach natürlich vor
die ersteren zu stellen wären. Ob daher jene Möglichkeit
zur Wirklichkeit erhoben werden muſs, wird davon abhän-
gen, ob sich in der Zeit, aus welcher wir Aussprüche von
Jesu haben, ein Abschnitt findet, in welchem er sich noch
nicht als den Messias gefaſst hatte?


§. 58.
Wie bald Jesus sich als Messias gefasst, und bei Andern als sol-
cher Annerkennung gefunden habe.


Daſs Jesus die Überzeugung, der Messias zu sein, ge-
habt und ausgesprochen habe, steht als unbestreitbare That-
sache fest. Nicht allein hat er den evangelischen Berich-
ten zufolge, ausser den so eben erwogenen Aussprüchen,
die Anerkennung der Jünger, daſs er der Χριςὸς sei (Matth.
16, 16 f.) und die Begrüssung des Volks: ὡσαννὰ τῷ υἱῷ
Δαυὶδ
(21, 15 f.) mit Wohlgefallen aufgenommen, nicht nur
sich selbst wiederholt wie vor Privatpersonen (Joh. 4, 26.
9, 37. 10, 25.), so auch vor Gericht (Matth. 26, 64. vgl.
Joh. 18, 37.) für den Messias erklärt: sondern, was die
Hauptsache ist, daſs den Gestorbenen seine Jünger als den
Messias festhielten und verkündigten, läſst sich nicht be-
greifen, wenn nicht der Lebende schon durch bestimmte
Erklärungen diese Überzeugung in ihnen gepflanzt hatte.


Auch die nähere Frage, wie bald Jesus angefangen
habe, sich selbst für den Messias zu erklären, und von
Andern für denselben gehalten zu werden, beantworten
sämmtliche Evangelisten zunächst einstimmig dahin, daſs er
von seiner Taufe an jene Rolle übernommen habe. Alle
[470]Zweiter Abschnitt.
lassen bei der Taufe Jesu Dinge sich ereignen, welche ihn
selbst, sofern er es nicht schon vorher war, und alle, wel-
che den Erzählungen darüber Glauben schenkten, von se[i]-
ner Messianität überzeugen muſsten, und wie hierauf nach
Johannes die ersten Jünger ihn gleich beim ersten Zusam-
mentreffen in dieser Würde anerkennen (1, 42 ff.): so hat
er nach Matthäus (7, 21 ff.) gleich zu Anfang seiner Lehr-
thätigkeit in der Bergrede sich als Weltrichter, mithin als
Messias dargestellt.


Bei näherer Betrachtung jedoch thut sich in dieser
Hinsicht zwischen der synoptischen und johanneischen Dar-
stellung eine merkliche Abweichung hervor. Während näm-
lich bei Johannes Jesus seinem Bekenntniſs, die Jünger
und seine Anhänger unter dem Volk ihrer Überzeugung,
daſs er der Messias sei, durchweg getreu bleiben: so sind
bei den Synoptikern gleichsam Rückfälle zu bemerken, in-
dem bei den Jüngern und dem Volke die in früheren Fäl-
len ausgesprochene Überzeugung von Jesu Messianität im
Verlauf der Erzählung zuweilen wieder verschwindet, um
einer weit niedrigeren Ansicht von ihm Platz zu machen,
und auch Jesus selbst mit der früher unumwunden gege-
benen Erklärung in späteren Fällen mehr zurückhält. Dieſs
ist zwar besonders auffallend, wenn man die synoptische
Darstellung gegen die johanneische hält; aber auch jene
für sich betrachtet, ist das Ergebniſs ein ähnliches. In
ersterer Beziehung soll nach Johannes (6, 15.) das Volk in
Folge der wunderbaren Speisung Lust bekommen haben,
Jesum als (messianischen) König auszurufen: wogegen den
ersten Evangelisten zufolge entweder um dieselbe Zeit (Luc.
9, 18 f.) oder noch etwas später (Matth. 16, 13 f. Marc. 8,
27 f.) die Jünger ihm als die Ansicht des Volks über ihn
nur dieſs zu berichten wissen, daſs die Einen ihn für den
(wiedererstandenen) Täufer, die Anderen für Elias, die
Dritten für Jeremias oder sonst einen Propheten halten.
Indeſs mit Grund kann in Bezug auf jene johanneische
[471]Viertes Kapitel. §. 58.
Stelle, so wie auch in Bezug auf die synoptische Matth.
14, 33., laut welcher um ein Ziemliches vor jener von Je-
su über die Volksmeinung eingezogenen Erkundigung die
mit ihm im Schiff befindlichen Leute 1), als er den Sturm
durch ein Wort gestillt hatte, ihm als υἱὸς ϑεοῦ zu Füſsen
fielen, geltend gemacht werden, daſs gar wohl in Folge be-
sonderer Eindrücke Einzelne in begeisterten Augenblicken
auf den Gedanken, er möchte der Messias sein, kommen
konnten, während die allgemeine und ruhige Volksstimme
ihn noch immer blos als Propheten beurtheilte. — Schwie-
riger ist die Abweichung, welche die Jünger betrifft. Wäh-
rend bei Johannes Andreas schon nach seiner ersten Zu-
sammenkunft mit Jesu seinem Bruder sagt: εὑρήκαμεν τὸν
Μεσσίαν
(1, 42.), ebenso Philippus ihn dem Nathanaël als
den von Moses und den Propheten Geweissagten bezeich-
net (V. 46.), endlich auch Nathanaël selbst ihn als den
υἱὶς τοῦ ϑεοῦ und βασιλεὺς τοῦ Ἰσραὴλ begrüſst (V. 50.): geht
bei den ersten Evangelisten erst nach langem Zusammen-
sein mit ihm und kurz vor seinem Leiden dem den Übri-
gen voraneilenden Petrus die Einsicht auf, daſs Jesus der
Χριὁὸς, ὁ υἱὸς τοῦ ϑεου τοῦ ζῶντος sei (Matth. 16, 16. parall.).
Unmöglich konnte durch dieses Bekenntniſs Jesus so über-
rascht werden, daſs er nach Matthäus (V. 17.) den Petrus
um desselben willen selig prieſs und seine Einsicht als gött-
liche Offenbarung darstellte, oder nach Markus und Lukas
(8, 30. 9, 21.) den Jüngern wie erschrocken die weitere
Ausbreitung der von Petrus ausgesprochenen Überzeugung
verbot, wenn diese eine im Kreise seiner Jünger längst
gehegte Ansicht, und nicht vielmehr ein neues dem Petrus
jezt eben aufgegangenes und dadurch erst den übrigen zum
Bewuſstsein gebra[c]htes Licht war. — Ebenso schwierig ist
[472]Zweiter Abschnitt.
die dritte Abweichung, welche die eignen Erklärungen Jesu
über seine Messianität betrifft. Nach Johannes bestätigt er
nicht blos gleich Anfangs die Huldigung, welche ihm Na-
thanaël als dem Sohn Gottes und König Israëls darbringt,
als den richtigen Glauben (πιςεύεις) und bezeichnet sich so-
fort durch den messianischen Titel, Menschensohn (1, 51 f.),
sondern auch den Samaritern giebt er sich nach seinem er-
sten Festbesuch (4, 26. 39 ff.) und den Juden auf dem zwei-
ten (5, 46.) als den von Moses geweissagten Messias zu er-
kennen. Nach den Synoptikern hingegen verbietet er nicht
allein in dem angeführten und vielen andern Fällen die
Ausbreitung der Überzeugung von seiner Messianität in
weiteren Kreisen, sondern wenn er bei der bezeichneten
Gelegenheit seine Jünger fragt: ὑμεῖς δὲ τίνα με λέγετε εἶναι
(Matth. 16, 15.); so scheint er gewünscht zu haben, daſs
sie selbst aus seinen messiaswürdigen Reden und Thaten
auf die Einsicht von seiner Messianität kommen möchten 2),
und wenn er die von Petrus geäusserte Überzeugung einer
Offenbarung des himmlischen Vaters zuschreibt, so kann
[473]Viertes Kapitel. §. 58.
nicht er selbst schon früher den Jüngern diese Eröffnung
gemacht haben, weder in der Art, wie Johannes berich-
tet, noch auch nur so, wie er bei Matthäus in der Berg-
rede und sonst sich unumwunden die messianische Stel-
lung giebt.


Indem so die synoptische Darstellung in diesem Punkte
nicht allein der johanneischen, sondern auch sich selbst
widerspricht: so scheint sie gegen die leztere, in sich ein-
stimmige, unbedingt aufgegeben werden zu müssen, und
mit Recht hat ihr die Kritik den Vorwurf einer Verwirrung
der messianischen Oeconomie im Leben Jesu gemacht 3).
Doch wir dürfen auch hier unseres sonst bewährten
Kanons nicht vergessen, daſs bei verherrlichenden Relatio-
nen, wie unsre Evangelien sind, in streitigen Fällen immer
diejenige Angabe die minder glaubwürdige ist, welche je-
nem Zweck der Verherrlichung am meisten entspricht.
Dieſs aber ist hier mit der johanneischen Darstellung der
Fall, nach welcher Jesus von Anfang bis zu Ende seiner
öffentlichen Wirksamkeit im unveränderten messianischen
Glanze strahlt, während er bei den Synoptikern in dieser
Hinsicht gleichsam einem Wechsel des Lichtes unterwor-
fen ist. Hat auf diese Weise die Darstellung der drei er-
sten Evangelisten ein Kriterium grösserer Wahrscheinlich-
keit für sich, so kann sie doch in der Ordnung, in wel-
cher sie auf unumwundene Erklärungen und Anerkennt-
nisse der Messianität Jesu wieder ein Nichtwissen und
Verbergen derselben folgen lässt, unmöglich richtig sein,
sondern wir müssen annehmen, die Synoptiker haben zwei
verschiedene Abschnitte des öffentlichen Lebens Jesu unter-
2)
[474]Zweiter Abschnitt.
einandergebracht, in deren zweitem er erst mit der Erklä-
rung, der Messias zu sein, hervorgetreten sei. Wirklich
finden wir ja die Losung, mit welcher Jesus zuerst öffent-
lich auftrat, von der des Johannes, der doch nur Vorläu-
fer sein wollte, in keinem Worte verschieden: es ist das-
selbe μετανοεῖτε· ἤγγικε γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν (Matth.
4, 17), wie es zuvor der Täufer ausgesprochen hatte (3, 2),
ein Ruf, mit welchem Einer wie der Andere noch nicht
die Rolle des Messias, der das Himmelreich als gegenwär-
tiges eröffnet, sondern nur die eines Lehrers, der auf das-
selbe als künftiges hinweist, übernahm 4). Mit Recht hat
daher die neueste Kritik des ersten Evangeliums alle die-
jenigen von demselben berichteten Reden und Thaten, durch
welche sich Jesus unumwunden für den Messias gab, oder
in deren Folge er die laute Anerkennung, daſs er der
Messias sei, frei gewähren lieſs, wenn sie vor der eigenen
Erklärung Jesu (Joh. 5.) oder vor dem apostolischen Be-
kenntniſs (Matth. 16.) erzählt werden, für eine Sünde des
Verfassers entweder gegen die Chronologie, oder gegen die
buchstäbliche Treue erklärt 5). Das aber begreift man
hiebei nicht, wie dieser Vorwurf nur das erste, oder über-
haupt blos die synoptischen, und nicht in noch weit stär-
kerem Grade das vierte Evangelium treffen soll. Denn ver-
zeihlicher ist es doch immer, wenn uns die ersten Evan-
gelisten die Denkmale aus dem vormessianischen Abschnitt des
öffentlichen Lebens Jesu in unrichtiger Stellung geben, als
wenn das vierte sie gar nicht giebt; erträglicher, wenn
jene die beiden Abschnitte vermischen, als wenn dieses
den früheren ganz verwischt.


Hat aber auf diese Weise Jesus sich nicht gleich von
Anfang für den Messias ausgegeben, so fragt sich: unter-
[475]Viertes Kapitel. §. 58.
[D]eſs er dieſs, weil er auch für sich selbst erst später zu
der Überzeugung von seiner Messianität gelangte, oder
hatte er diese für sich zwar schon von seinem öffentlichen
Auftritt an, verbarg sie aber aus gewissen Rücksichten?
Auf die leztere Vermuthung kann man geführt werden,
wenn man in den ersten Evangelien bei den Wunderhei-
lungen Jesu es fast als stehende Formel findet, daſs er
durch ein ὄρα μηδενὶ εἴπῃς oder etwas Ähnliches dem Ge-
retteten die Ausbreitung der Sache untersagt, wie dem
Aussätzigen Matth. 8, 4. parall.; den Blinden Matth. 9, 30;
einer Anzahl von Geheilten Matth. 12, 16; den Eltern des
wiederbelebten Mädchens Marc. 5, 43; namentlich aber
legte er den Dämonischen Schweigen auf, Marc. 1, 34. 3, 12.
Ebenso verbot er den Dreien, welche mit ihm auf dem
Verklärungsberge gewesen waren, die Bekanntmachung
dieser Scene (Matth. 17, 9.), nach dem Bekenntniſs Pe-
tri den Jüngern die Verbreitung der in demselben enthal-
tenen Ansicht von ihm (Luc. 9, 21.) und Joh. 5, 13. heiſst
es nach der Heilung des Kranken am Teiche: ὁ Ἰησοῦς
ἐξένευσεν, ὅχλου ὅντος ἐν τῷ τόπῳ
. Was Jesus mit jenem
Verbot beabsichtigte, war schwerlich, wie die Erklärer
meistens annehmen 6) ein nach Umständen Verschiedenes,
so daſs es bald auf den Gemüthszustand des Geheilten,
bald auf die Stimmung des Volks, bald auf die Lage Jesu
sich bezogen hätte, sondern bei der wesentlichen Gleich-
heit der Umstände, unter welchen er es den Leuten auf-
legt, wird wohl, wenn irgend einmal ein glaubhafter Grund
davon in den Evangelien angedeutet ist, dieser auch auf
die übrigen Fälle, in welchen jenes Verbot gegeben ist,
anzuwenden sein. Dieser Grund ist zunächst kein ande-
rer. als der Wunsch, die Ansicht, daſs er der Messias
sei, sich nicht zu sehr verbreiten zu lassen. Wenn es
nämlich Marc. 1, 34. heiſst, Jesus habe die Dämonen,
[476]Zweiter Abschnitt.
welche er austrieb, nicht reden lassen, ὅτι ᾔδεισαν αὐτὸν,
und wenn er nach Marc. 3, 12. den Dämonen und nach
Matth. 12, 16. den geheilten Kranken einschärft, ἴνα μὴ
φανερον αὐτὸν ποιήσωσιν
: so sollten offenbar jene ihn nicht
als denjenigen bekannt machen, als welchen sie ihn ver-
möge ihres tieferen dämonischen Blickes, diese nicht als
denjenigen, als welchen sie ihn aus der ihnen zu Theil
gewordenen wundervollen Heilung kannten, nämlich als
den Messias. Warum er dieſs nicht wollte, davon hat
man den Grund gewöhnlich unter Beiziehung von Joh. 6,
15. darin gesucht, daſs er eine Aufregung der politischen
Messiasidee der Menge und daraus entspringende Unruhen
habe verhüten wollen 7). Dieſs wäre ein triftiger Grund;
doch stellen die Synoptiker die Sache eher so, als wäre
es theils Werk der Demuth gewesen 8), wie denn Matthäus
(12, 19.) im Zusammenhang eines solchen Verbots das je-
saianische Orakel vom geräuschlos wirkenden Knecht Got-
tes (Jes. 42, 1 f.) auf Jesum anwendet; theils, und zwar
überwiegend, hat es das Ansehen, als hätte sich Jesus bei
seiner Messianität fürchten müssen, als wäre der Messias,
wenigstens ein solcher, wie Jesus war, schon zum Voraus
durch die jüdische Hierarchie in die Acht erklärt gewesen.


Wenn es nach allem diesem scheinen könnte, als
hätte Jesus nur äusserer Rücksichten wegen mit einer of-
fenen Erklärung noch zurückgehalten, während er für
sich von seiner Messianität von Anfang an überzeugt ge-
wesen sei: so kann doch das Leztere schon nach demjeni-
gen nicht wohl angenommen werden, was wir oben ge-
sehen haben, daſs Jesus im Anfang ganz nur mit dersel-
ben Verkündigung wie der Täufer, welche bei ihm schwer-
[477]Viertes Kapitel. §. 58.
lich einen andern Sinn hatte, als bei jenem, nämlich auf
den kommenden Messias hinzuweisen, aufgetreten ist, —
und hier zu sagen, Jesus habe sich blos aus äusserer Rück-
sicht einstweilen nur für einen Herold des kommenden
Messias ausgegeben, im Stillen aber sich schon selbst für
den Messias gehalten, hieſse ihn einer starken Simulation
zeihen, wogegen weit ungezwungener die Voraussetzung
sich ergiebt, daſs Jesus, der zuerst ein Schüler des Täu-
fers war, nach dessen Verhaftung aber als Verkündiger
der μετάνοια und der nahenden βασιλεία τῶν οὐρανῶν in
seine Fuſsstapfen trat, Anfangs, ob zwar in liberalerem
und groſsartigerem Geist, doch nur dieselbe Stellung zum
Messiasreich wie der Täufer sich gegeben, und erst all-
mählig zu dem Gedanken, selbst der Messias zu sein, sich
erhoben habe. Bei dieser Annahme erst erklären sich
auch die zulezt erwogenen Verbote, namentlich dasjenige,
welches Jesus an das Bekenntniſs des Petrus anschloſs,
auf genügende Weise, indem hienach Jesus, so oft der
Gedanke, er möchte der Messias sein, durch irgend etwas
bei Andern erregt und ihm von aussen entgegengebracht
wurde, gleichsam erschrak, das laut und bestimmt ausge-
sprochen zu hören, was er bei sich selber kaum zu ver-
muthen wagte, oder worüber er doch erst seit Kurzem
mit sich in's Reine gekommen war. Da indessen die Evan-
gelisten Jesu solche Verbote bisweilen ganz am unrechten
Orte in den Mund legen, wie z. B. Matth. 8, 4. nach ei-
ner im Gedränge des Volks vollbrachten Heilung es nichts
nützen konnte, dem Geheilten die Ausbreitung der Sache
zu verbieten 9): so mag es sein, daſs in der evangelischen
Tradition, welche durch das Geheimniſsvolle, das in jenem
von Jesu gespielten Incognito lag, sich angezogen fand 10),
die derartigen Fälle unhistorisch vervielfältigt worden sind.


[478]Zweiter Abschnitt.

§. 59.
Jesus als ὁ υἱος τοῦ ϑεοῦ.


Den Ausdruck: ὁ υἱος τοῦ ϑεοῦ haben wir Luc. 1, 35.
in der engsten, eigentlich physischen Bedeutung gefunden,
indem dort Jesus vermöge seiner unmittelbaren Erzeugung
durch den göttlichen Geist so genannt worden war. Um-
gekehrt im allerweitesten moralischen und metaphorischen
Sinne findet sich der Ausdruck Matth. 5, 45, wenn die Gott
in der Feindesliebe Nachahmenden als Söhne des himmli-
schen Vaters bezeichnet werden. In einem mittleren Sinn,
welchen wir den metaphysischen nennen können, weil er
mehr als eine bloſse Ähnlichkeit der Willensrichtung, und
doch nicht das Verhältniſs wirklicher Vaterschaft, sondern
eine innere Gemeinschaft des Wesens enthält, kommt der
Ausdruck besonders häufig im vierten Evangelium vor, wenn
Jesus von sich sagt, er rede und thue nichts von ihm sel-
ber, sondern nur was er als Sohn vom Vater gelernt habe
(5, 19. 12, 49. und sonst), welcher übrigens in ihm (17, 21.),
und unerachtet seiner Erhabenheit über ihn (14, 28.) doch
auch wieder Eins mit ihm sei (10, 30.). Der Ausdruck
kommt aber auch noch in einem andern Sinne vor. Wenn
(Matth. 4, 3.) der Teufel Jesum unter der Voraussetzung:
εἱ υἱὸς εἶ τοῦ ϑεοῦ, zum Verwandeln der Steine auffordert;
wenn Nathanaël zu Jesu sagt: σὺ εἶ ὁ υἱος τοῦ ϑεοῦ, ὁ βα-
σιλεὐς τοῦ Ἰσραὴλ
(Joh. 1, 50.); wenn Petrus bekennt: σὺ
εἶ ὁ Χριςὸς, ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ τοὐ ζῶντος
(Matth. 16, 16. vgl.
Joh. 6, 69.); wenn Martha ihren Glauben an Jesum so aus-
spricht: ἐγὼ πεπίςευκα, ὅτι σὺ εἶ ὁ Χριςὸς, ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ
(Joh. 11, 47.); wenn der Hohepriester Jesum beschwört,
ihm zu sagen, ob er sei ὁ Χριςὸς, ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ; (Matth.
26, 63.): so will weder der Teufel etwas Anderes sagen,
als: wenn du der Messias bist, noch läſst in den übrigen
Stellen die Verbindung des υἱὸς τοῦ ϑεοῦ mit Χριςὸς und βα-
σιλεὺς verkennen, daſs es nur Epexegese des Messiasbe-
griffs ist.


[479]Viertes Kapitel. §. 59.

Wiefern dieſs 1), das kann schon aus dem erhellen,
was bereits gelegentlich bemerkt werden muſste, daſs Hos.
11, 1. 2 Mos. 4, 22. das Volk Israël, und ebenso 2 Sam. 7,
14. Ps. 2, 7. (vgl. 89, 28.) der König dieses Volkes als Sohn
und Erstgeborener Gottes bezeichnet werde. Sohn Gottes
wurde der König (wie das Volk) der Israëliten nach der
Stelle aus 2. Sam. in Beziehung auf das besondre und un-
mittelbare Erziehungs- und Liebesverhältniſs genannt, in
welches Jehova zu demselben treten wollte; wozu nach der
Stelle aus dem zweiten Psalm noch der weitere Grund
kommt, daſs, wie menschliche Könige einen Sohn zum Mit-
oder Unterregenten anzunehmen pflegen, so der israëliti-
sche König von Jehova dem höchsten Herrscher mit der
Verwaltung seiner Lieblingsprovinz beauftragt ist. Daſs
diese, ursprünglich auf jeden im Sinne der Theokratie re-
gierenden israëlitischen König anwendbare Bezeichnung
mit der Entfaltung des Begriffs eines Messias vorzugsweise
auf diesen, als den geliebtesten Sohn und gewaltigsten
Statthalter Gottes auf Erden bezogen werden muſste, er-
hellt von selbst.


Ist also dieſs die ursprüngliche, historische Bedeutung
des Ausdrucks ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ, so fragt sich: kann ihn auch
Jesus nur in dieser, oder auch in einer der drei zuerst an-
geführten Bedeutungen von sich gebraucht haben? Zuerst
in dem engsten physischen Sinn wird er Jesu gar nicht
in den Mund gelegt, sondern dem verkündigenden Engel
Luc. 1, 35., was der Evangelist zu verantworten hat. In
dem mittleren, metaphysischen Sinne, in welchem er We-
senseinheit und Lebensgemeinschaft mit Gott bedeutet, könn-
te Jesus selbst den Ausdruck gar wohl genommen haben,
indem er den seinen Volksgenossen geläufigen theokrati-
schen Sinn desselben für sich umbildete: doch muſs es in
[480]Zweiter Abschnitt.
Bezug auf das vierte Evangelium Wunder nehmen, daſs
hier Jesus den theokratischen Sinn des Ausdrucks ganz
ignorirt, und den metaphysischen, in welchem er denselben
in diesem Evangelium gebraucht, nur aus jenem vagen me-
taphorischen heraus zu rechtfertigen weiſs. Wenn er näm-
lich Joh. 10, 34 ff. für die Befugniſs, sich υἱὸς τοῦ ϑεοῦ zu
nennen, auf die Benennung ϑεοὶ, welche im A. T. (Ps. 82, 6.)
auch andern Menschen, wie Fürsten und Obrigkeiten, ge-
geben werde, sich beruft: so fällt es auf, wie Jesus zu
diesem so ferne liegenden und prekären Argumente greifen
konnte, während ihm das schlagende so nahe lag: da im
A. T. die theokratischen Könige, oder, nach der damals
üblichen Deutung der betreffenden Stellen, der Messias,
als Sohn Jehova's bezeichnet sei: so habe somit er, der
sich ja V. 25. für den Messias erklärt hatte, vollkomme-
nes Recht, diese Benennung sich zu vindiciren.


Was die Ansichten Anderer über Jesus als Gottessohn
betrifft, so kommt in den Anreden wohlgesinnter Personen
an ihn zwar auch im vierten Evangelium das υἱὸς τοῦ ϑε[οῦ],
wie schon bemerkt, einigemale in Verbindungen vor, welche
es als bloſse Epexegese des Χριςὸς erscheinen lassen: aber die
mit Jesu streitenden Ἰουδαῖοι dieses Evangeliums ignoriren
in ihren Angriffen diese Bedeutung des Ausdrucks ebenso,
wie dort Jesus in seiner Vertheidigung, und scheinen blos
von der metaphysischen Notiz zu nehmen. Zwar auch bei
den Synoptikern ruft der Hohepriester, als Jesus seine
Frage, ob er Christus, der Sohn Gottes sei, bejaht und auf
sein Kommen in den Wolken hingewiesen hatte (Matth.
26, 65. parall.) ein ἐβλασφήμησε aus; aber dieſs bezieht sich
nur auf die nach seiner Ansicht unbefugte Anmaſsung der
theokratischen Würde des Messias. Dagegen im vierten
Evangelium wollen die Juden Jesum, wie er sich als Sohn
Gottes darstellt (Joh. 5, 17 f. 10, 30 ff.), tödten, aus dem
ausdrücklich angegebenen Grunde, weil er sich dadurch
ἴσον τῷ ϑεῷ, ja sogar ἑαυτὸν ϑεὸν mache. Während den
[481]Viertes Kapitel. §. 59.
Synoptikern zufolge der jüdische Hohepriester den Begriff:
Sohn Gottes, so sehr als zum Messiasbegriff mitgehörig be-
trachtet, daſs er in seiner an Jesum gerichteten Frage bei-
de Ausdrücke zusammenstellt: so fassen die Juden bei Jo-
hannes den erstern Begriff als soweit über den leztern hin-
ausgehend auf, daſs sie zwar die Aussage Jesu, er sei der
Messias (10, 25.), geduldig anhören, sobald er sich aber als
Sohn Gottes darzustellen anfängt, Steine aufheben. Was
in den synoptischen Evangelien als der Vorwurf erscheint,
daſs Jesus, ein gemeiner Mensch, sich für den Messias
ausgebe, das lautet bei Johannes so, daſs er als ein bloſser
Mensch sich nicht für ein göttliches Wesen ausgeben
sollte. Mit Recht wird daher von Olshausen u. A. darauf
gedrungen, daſs in jenen Stellen des vierten Evangeliums
das υ[ἱ]ὸς τοῦ ϑεοῦ kein mit Messias gleichbedeutender, son-
dern ein über den gewöhnlichen Messiasbegriff weit hinaus-
gehender Name sei 2); daraus aber zu schlieſsen, daſs auch
in den drei ersten Evangelien der in Redestehende Ausdruck
mehr als nur den Messias bezeichne 3), dazu haben jene
Ausleger kein Recht. Denn der Frage des Hohenpriesters
Matth. 26, 63. ist jede Erklärung nur aufgedrungen, wel-
che das ό υἱὸς τ[οῦ] ϑεοῦ nicht als Epexegese des ὁ Χρινος
fasst, und wenn in der Parallelstelle bei Lukas die Richter
Jesum zuerst fragen, ob er der Χριςος sei (22, 67.)? und
als er eine direkte Antwort abgelehnt, doch auf das Sitzen
des Menschensohns zur Rechten Gottes hingewiesen hatte,
hastig einfallen: ου οὖν εἶ ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ (V. 70.), hierauf
aber, nachdem sie eine bejahende Antwort zu vernehmen
geglaubt, ihn bei Pilatus als einen, der sich für Χριςόν
βασιλέα ausgebe, anklagen (23, 2.): so ist wohl nichts deut-
licher, als daſs sie Menschensohn, Gottessohn und Messias
als Wechselbegriffe angesehen haben müssen. Es ist also
Das Leben Jesu I. Band. 31
[482]Zweiter Abschnitt.
hier eine Differenz zwischen den Synoptikern und Johan-
nes zuzugestehen, und vielleicht auch eine Schwankung
des lezteren für sich, indem er in mehreren Anreden an
Jesum die übliche Formel, welche das υ[ἱ]ὸς τοῦ ϑεοῦ mit
Χριςὸς oder βαριλευς τοῦ Ἰσραὴλ verband, beibehielt, ohne
sich, wie man bei Formeln dieſs oft unterläſst, den Unter-
schied zwischen der Bedeutung, welche das υἱὸς τ. ϑ. in
dieser Verbindung haben muſste, und dem Sinn, in wel-
chem er es sonst nahm, zum deutlichen Bewuſstsein zu
bringen; denn ebensowenig als in der Frage des Hohen-
priesters will sich in der Anrede Nathanaëls jener Aus-
druck zu einer höheren Bedeutung hinaufschrauben lassen4).


Daſs nun aber im vierten Evangelium Jesus und seine
Gegner die theokratische Bedeutung des Ausdrucks: υἱὸς
τοῦ ϑεοῦ
so ganz ignoriren, hat der Verfasser der Probabi-
lien mit Recht bedenklich gefunden 5); denn sowohl Jesu
als den Juden, mit welchen er es zu thun hatte, muſste
diese Bedeutung am nächsten liegen, wofern unter densel-
ben kein alexandrinisch gebildeter war, welchem freilich,
wie auch dem vierten Evangelisten als Verfasser des Pro-
logs, das metaphysische Verhältniſs des λόγος μονογενὴς zu
Gott noch näher lag.


§. 60.
Jesu Sendung und Vollmacht; seine Präexistenz.


In Bezug auf die Erklärungen Jesu über seine göt-
liche Sendung und Vollmacht stimmen die vier Evangelien
überein. Wie jeder Prophet, so ist auch er von Gott ge-
sendet (Matth. 10, 40. Joh. 5, 23 f. 36 f. u. sonst, handelt
und redet im Auftrag und unter unmittelbarer Leitung Got-
tes (Joh. 5, 19 ff.), er ist im ausschlieſslichen Besiz der adae-
quaten Gotteserkenntniſs, die er allein den Menschen mit-
theilen kann (Matth. 11, 27. Joh. 3, 13.). Als dem Mes-
[483]Viertes Kapitel. §. 60.
sias ist ihm von Gott alle Gewalt übergeben (Matth. 11,
27.), zunächst über das von ihm zu stiftende und zu re-
gierende Reich und dessen Mitglieder (Joh. 10, 29. 17, 6.),
dann aber auch über alle Menschen überhaupt (Joh. 17, 2.)
und selbst über die äussere Natur und somit über die ganze
Welt (Matth. 28, 18.) sofern ohne eine durchgreifende Re-
volution in dieser das messianische Reich nicht begründet
werden kann. Bei einstiger Eröffnung dieses Reiches hat
Jesus als Messias die Vollmacht, die Todten zu erwecken
(Joh. 5, 28.) und das Gericht, die Scheidung derer, wel-
che der Theilnahme am Gottesreich würdig sind, von den
Unwürdigen, vorzunehmen (Matth. 25, 31 ff. Joh. 5, 22. 29.),
— lauter Befugnisse, welche die jüdische Zeitvorstellung
dem Messias zuschrieb 1), welche also auch Jesus, hatte
er sich einmal als Messias gefaſst, auf sich scheint haben
übertragen zu müssen.


Nicht ebenso einstimmig sind die Evangelisten in ei-
nem andern Punkte. Während nämlich nach den Synop-
tikern Jesus zwar für Gegenwart und Zukunft die höch-
ste menschliche Würde und das erhabenste Verhältniſs zur
Gottheit sich zuschreibt, über den Anfang seines mensch-
lichen Daseins aber nicht zurückgeht: so finden sich im
vierten Evangelium mehrere Reden Jesu, welche die Be-
hauptung einer Präexistenz desselben vor seiner menschli-
chen Erscheinung in sich schlieſsen. Zwar wenn in diesem
Evangelium Jesus sich als den vom Himmel auf die Erde
Herabgekommenen bezeichnet (Joh. 3, 13. 16, 28.), so läſst
sich dieſs für sich genommen leicht als blos bildliche Be-
zeichnung seines höheren, göttlichen Ursprungs fassen.
Schon schwerer, doch möglicherweise vielleicht, könnte die
Behauptung Jesu: πρὶν Ἀβραὰμ γενέσϑαι, ἐγώ εἰμι (Joh.
8, 58.) mit dem Socinianer Crell von einem blos idea-
len Sein in der Vorherbestimmung Gottes, die Bitte an
den Vater aber Joh. 17, 5., ihm die δόξα zu gewähren,
31*
[484]Zweiter Abschnitt.
welche er πρὸ τοῦ τὸν κόσμον εἶναι bei ihm gehabt habe,
von Verleihung einer Jesu von jeher zugedachten Herr-
lichkeit verstanden werden. Hören wir nun aber noch Joh.
6, 62. Jesum von einem ἀναβαίνειν des Menschensohns, [ὅ]ποῦ
ἠν τὸ πρότερον
sprechen: so ist dieſs theils für sich, theils
in Verbindung mit den übrigen Stellen eine zu bestimmte
Bezeichnung eines früheren Seins, als daſs wir dieses für
ein blos ideales halten könnten.


Man hat nun schon vermuthet, diese Jesu in den
Mund gelegten Aussprüche, oder wenigstens ihre Deutung
auf eine reale Präexistenz, rühren blos von dem Verfasser
des vierten Evangeliums her 2), mit dessen im Prologe dar-
gelegten Ansichten sie allerdings ganz zusammenstimmen;
denn war der λόγος ἐν ἀρχῇ πρὸς τον ϑεὸν: so konnte
Jesus, in welchem er σὰρξ ἐγένετο, im realsten Sinne sich
eine Präexistenz vor Abraham, eine Herrlichkeit bei'm
Vater vor Grundlegung der Welt zuschreiben. Zu jener
Ansicht sind wir aber nur in dem Falle berechtigt, wenn
sich weder zeigen läſst, daſs die Idee von einer Präexi-
stenz des Messias zu Jesu Zeit unter den palästinischen
Juden vorhanden war, noch auch wahrscheinlich machen,
daſs Jesus unabhängig von Zeit- und Volksvorstellungen
auf eine solche Ansicht von sich selbst gekommen sei.


Daſs nun das Leztere stattgefunden, und Jesus aus
eigener vermeintlicher Erinnerung von seinem vormensch-
lichen und vorweltlichen Zustand gesprochen, diese An-
nahme hieſse das gesunde menschliche Bewuſstsein Jesu
zerstören 3) und ihn der Schwärmerei zeihen, von wel-
cher er sonst sich frei zeigt. Eine Basis zu dergleichen
Zeitvorstellungen aber könnte man, was das A. T. be-
trifft, etwa in der angeführten Danielischen Beschreibung
von dem in den Wolken des Himmels kommenden Men-
[485]Viertes Kapitel. §. 60.
schensohn finden, indem vielleicht schon der Verfasser,
und jedenfalls mancher Leser sich denselben als ein über-
menschliches Wesen, das zuvor gleich den Engeln bei Gott
gewesen, vorgestellt hat. Daſs aber jeder, der diese Stelle
auf den Messias bezog, und namentlich Jesus, sofern er
sich nach derselben den Menschensohn nannte, auch an
eine Präexistenz gedacht habe, läſst sich nicht beweisen;
denn sein Kommen in des Himmels Wolken dachte er sich
doch, wenn wir von Johannes absehen, nicht so, als wäre
er, wie ein von jeher im Himmel zu Hause gewesener
aus den Wolken auf die Erde herniedergekommen, son-
dern nach Matth. 26, 65. (vrgl. Matth. 24, 25) so, daſs er,
der Erdgeborene, nach Vollendung seiner irdischen Lauf-
bahn in den Himmel aufgenommen werden und von da
zur Eröffnung seines Reiches wiederkehren werde, wo-
durch also die Vorstellung des Kommens in den Wolken
eine Wendung bekam, bei welcher sie nicht nothwendig
eine Präexistenz in sich schloſs. Sonst findet sich in den
Proverbien, dem Sirach und dem Buch der Weisheit die
Idee einer personifieirten und endlich selbst hypostasirten
Weisheit Gottes, ebenso in den Psalmen und Propheten
starke Personificationen des göttlichen Wortes 4); beson-
ders wichtig aber ist, daſs in Folge der Scheue des späte-
ren Judenthums vor Anthropomorphismus in der Vorstel-
lung vom göttlichen Wesen es gewöhnlich wurde, sein
Sprechen, Erscheinen und unmittelbares Einwirken dem
Wort (ימראמ) oder der Wohnung (שכינתא) Jehova's zuzu-
schreiben, wie sich dieſs schon in dem uralten 5) Targum
des Onkelos findet 6). Diese Vorstellungen, Anfangs bloſse
[486]Zweiter Abschnitt.
Umschreibungen des Namens Gottes, bekamen bald den
schwankenden Werth einer eigenen Hypostase, eines von
ihm verschiedenen und doch mit ihm einigen Wesens. Da
die meisten Offenbarungen und Einwirkungen Gottes, als
deren Organ dieses personificirte Gotteswort angesehen
wurde, zu Gunsten des israëlitischen Volkes geschehen
waren: so war es natürlich, diejenige von Gott noch zu
veranstaltende Erscheinung, von welcher das meiste Heil
für Israël erwartet wurde, die Erscheinung des Messias,
in besondre Beziehung mit dem Wort oder der Schechina
zu setzen, woraus sich einerseits die Vorstellung, daſs mit
dem Messias die Schechina erscheinen werde 7), andrer-
seits das sich ergab, daſs, was der Schechina zuzuschrei-
ben war, auch vom Messias ausgesagt wurde, eine Dar-
stellungsweise, welche nicht blos bei den Rabbinen, sondern
auch bei dem Apostel Paulus sich findet. Hienach war der
Messias schon in der Wüste der unsichtbare Begleiter und
Wohlthäter des Volks Gottes (1 Kor. 10, 4. 9.) 8); er war
bereits bei den ersten Eltern im Paradiese 9); schon bei der
Weltschöpfung war er als Organ derselben thätig (Kol.
1, 16.); selbst vor derselben existirte er 10), und war vor
seiner Menschwerdung in Jesus in herrlichem Zustande
bei Gott (Phil. 2, 6).


Da auf diese Weise in der höheren jüdischen Theologie
[487]Viertes Kapitel. §. 61.
unmittelbar nach Jesu Zeit die Idee von einer Präexistenz
des Messias gegeben war: so liegt die Vermuthung nahe,
daſs dieselbe auch schon in der Zeit, in welcher Jesus sich
bildete, vorhanden gewesen, und daſs er somit, wenn er
sich einmal als Messias faſste, auch diesen Zug der Messias-
vorstellung auf sich habe übertragen können. Ob jedoch
Jesus so weit wie etwa ein Paulus in die Schulweisheit
seiner Zeit eingeweiht gewesen ist, so daſs er aus ihr jene
Vorstellung schöpfen konnte, ist noch die Frage, und da
nur der mit alexandrinischer Logologie vertraute Verfasser
des vierten Evangeliums ihm die Behauptung einer Präexi-
stenz in den Mund legt, so muſs es sehr zweifelhaft blei-
ben, ob sie der eigenen Ansicht Jesu von sich, oder nur
der Reflexion des vierten Evangelisten über ihn angehört.


§. 61.
Der messianische Plan Jesu. Politische Seite.


Jesus verkündigte, wie wir gesehen haben, früher
vielleicht unbestimmt irgend einen, später bestimmt sich
selbst als denjenigen, welcher die βασ[ι]λεία τῶν οὐρανῶν zu
stiften gekommen sei. Die Idee des messianischen Reiches
gehörte dem israëlitischen Volke an; es fragt sich: hat
Jesus sie nur so, wie er sie unter diesem vorfand, aufge-
nommen, oder auch selbstständig Modificationen an dersel-
ben angebracht?


Da die Idee eines Messias unter den Juden aus politisch-
religiösem Boden erwachsen, ihre weitere Ausbildung vorzüg-
lich durch das politische Unglück der Zeiten befördert wor-
den war, und auch zu Jesu Zeit, nach dem eigenen Zeug-
niſs der Evangelien, erwartet wurde, daſs er den Herr-
scherstuhl seines Ahnherrn David besteigen, das jüdische
Volk vom Drucke der Römer befreien und ein Reich ohne
Ende stiften werde (Luc. 1, 32 f. 68 ff. A. G. 1, 6): so muſs
unsre erste Frage diese sein, ob Jesus auch dieses politische
[488]Zweiter Abschnitt.
Grundelement in seinen messianischen Plan aufgenommen
habe?


Daſs Jesus zum weltlichen Herrscher sich habe auf-
werfen wollen, ist von jeher von Gegnern des Christen-
thums behauptet, von keinem aber so scharf an der Hand
der Exegese durchgeführt worden, als von dem Wolfen-
büttler Fragmentisten 1), welcher ihm übrigens hiebei das
Streben nach sittlicher Besserung seiner Nation keineswegs
absprach. Das Erste, was dem Fragmentisten zufolge für
einen politischen Plan Jesu zu sprechen scheint, ist, daſs
er immer nur schlechtweg das sich nahende Messiasreich
ankündigte und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe
vorlegte, ohne sich näher darüber zu erklären, was es sei
und worin es bestehe 2), mithin den Begriff desselben als
einen allbekannten voraussetzte. Nun war aber der da-
mals herrschende Begriff von demselben überwiegend poli-
tisch gefärbt: folglich konnten die Juden, wenn Jesus ohne
nähere Erklärung vom Messiasreiche sprach, nur an eine
weltliche Herrschaft denken, und da Jesus keine andre
Auffassung seiner Worte voraussetzen konnte, so muſs er
eben so haben verstanden sein wollen. Dasselbe scheint
sich daraus zu ergeben, daſs er die Apostel, deren Vor-
stellungsweise ihm nicht verborgen sein konnte, zur Ver-
kündigung des Messiasreichs im Lande umherschickte
(Matth. 10). Nun aber hatten diese, welche sich um die
oberste Stelle in dem von Jesu zu errichtenden Reiche
zankten (Matth. 18, 1. Luc. 22, 24.), von welchen zwei
sich bestimmt die Sitze zur Rechten und Linken des messia-
nischen Königs ausbaten (Marc. 10, 35 ff.), welche selbst
nach dem Tod und der Auferstehung Jesu noch ein ἀπο-
καϑιςάνειν τὴν βασιλείαν τῷ Ἰσραὴλ
erwarteten (A. G. 1, 6),
diese hatten doch offenbar von Anfang bis zum Ende ihres
[489]Viertes Kapitel. §. 61.
Umgangs mit Jesu ganz die gewöhnlichen Vorstellungen
vom Messias: wenn also Jesus sie als Herolde seines Rei-
ches aussandte, so muſs es in seiner Absicht gelegen ha-
ben, daſs sie aller Orten ihre politischen Messiasbegriffe
verbreiten sollten.


Unter den eigenen Reden Jesu läſst sich besonders
Eine hervorheben. Matth. 19, 28. (vrgl. Luc. 22, 30.) ver-
heiſst er auf die Anfrage des Petrus, was ihnen, die um
seinetwillen Alles verlassen haben, dafür werden würde?
seinen Jüngern, daſs sie in der παλιγγενεσία, wenn des
Menschen Sohn seinen herrlichen Thron bestiegen haben
werde, selbst auch auf 12 Stühlen sitzen und die 12 Stäm-
me Israëls richten sollen. Daſs der nächste Wortsinn die-
ser Verheiſsung dem Zusammenhang der weltlichen Messias-
hoffnungen der damaligen Juden angehöre, darf als einge-
standen vorausgesetzt werden. Aber Jesus soll sie nicht
wörtlich, sondern uneigentlich gemeint, und durch ge-
wohnte jüdische Bilder nur dieſs haben ausdrücken wollen,
daſs die Apostel für ihre hier gemachten Aufopferungen in
jenem Leben durch die Theilnahme an seiner Herrlichkeit
reichlich entschädigt werden würden 3). Allein die Jün-
ger müssen diese Rede eigentlich verstanden haben, wenn
doch selbst nach Jesu Auferstehung noch ähnliche Gedan-
ken in ihnen wohnten, und da Jesus ihre Geneigtheit zu
irdischen Messiashoffnungen aus mehreren Proben kannte,
so würde er sich schwerlich jenes Versprechen erlaubt
haben, wenn er nicht beabsichtigte, diese Erwartungen in
ihnen zu nähren. Daſs er dieſs, ohne sie selbst zu thei-
len, aus bloser Accommodation an die Jünger, um ihren
Muth zu befeuern, gethan habe, diese Voraussetzung läſst
ihn unredlich handeln, und dieſs im gegebenen Fall
[490]Zweiter Abschnitt.
noch besonders unnöthig, da, wie Olshausen mit Recht be-
merkt, auf die Frage des Petrus jede andre lobende Aner-
kennung des Strebens der Jünger genügt haben würde.
Scheint so Jesus die jüdischen Erwartungen, welche er
hier vorträgt, selbst auch getheilt haben zu müssen: so
versuchen die Ausleger die verzweifeltsten Sprünge, um
diesem unwillkommenen Ergebniſs sich zu entziehen. Die
einen durch willkührliche Änderung der Lesart 4); die
anderen, indem sie aus Jesu Worten eine Ironie über die
hohen Ansprüche der Jünger bei noch so geringen Leistun-
gen herausdeuten 5), andere noch anders, aber alle so un-
natürlich, daſs man lieber eingesteht, Jesus habe hier im
Zusammenhang mit jüdischen Vorstellungen den Aposteln
einen Antheil an dem von ihm äusserlich abzuhaltenden
messianischen Gerichte zuerkannt, was allerdings auf ein
politisches Element in seinen Begriffen vom Messiasreich
hinzudeuten scheint 6), zumal er der Apostelgeschichte zu-
folge (1, 7.) auch nach der Auferstehung noch auf die
schon erwähnte Frage der Jünger nicht dieſs verneint,
daſs er das Reich Israël wiederherstellen werde, sondern
nur die Frage nach den χρόνοις und καιροῖς dieser Wieder-
herstellung als ungehörig zurückweist.


Unter den Handlungen Jesu beruft man sich für die
Behauptung eines politischen Plans besonders auf seinen
lezten Einzug in Jerusalem (Matth. 21, 1 ff). Hier deutet
nach dem Fragmentisten Alles auf eine politische Absicht
hin. Der Zeitpunkt, den er wählt: nach hinreichend lan-
ger Vorbereitung des Volks in den Provinzen das von die-
sem zahlreich besuchte Osterfest; das Thier, das er be-
steigt, durch welches er sich mit Bezug auf Zacharias als
den für Jerusalem bestimmten König ankündigen wollte;
[491]Viertes Kapitel. §. 62.
die Billigung, die er ausspricht, als das Volk ihn mit kö-
niglichem Gruſs empfängt; das gewaltsame Verfahren,
welches er sich sofort im Tempel erlaubt; die scharfe Rede
endlich gegen den hohen Rath (Matth. 23.), an deren
Schluſs er sich die Anerkennung als messianischer König
durch die Drohung, sich dem Volk sonst gar nicht mehr
zu zeigen, erzwingen will.


§. 62.
Data für einen rein geistigen Messiasplan Jesu.
Ausgleichung.


Nirgends findet sich jedoch in unsern evangelischen
Darstellungen eine Spur, daſs Jesus politisch Partei zu
machen gesucht hätte. Vielmehr hat er sich der Aufre-
gung des Volks, das ihn zum König machen wollte, entzo-
gen (Joh. 6, 15.), hat erklärt, daſs das Messiasreich nicht
μετὰ παρατηρήσεως komme, sondern im Innern der Men-
schen zu suchen sei (Luc. 17, 20 f.); Vereinigung des Ge-
horsams gegen Gott und gegen die, wenn auch heidnische,
Obrigkeit ist sein Grundsatz (Matth. 22, 21.), und was er
vor seinem Richter behauptet, daſs sein Reich οὐκ ἐντεῦϑεν,
οὐκ ἐκ τοῦ κόσμου τούτου
sei (Joh. 18, 36.), darüber haben wir
nicht Ursache, weder ihn noch den Evangelisten Lügen zu
strafen.


Wie nun unter diesen sich entgegenstehenden Indicien
die Gegner des kirchlichen Christenthums ausschlieſslich
die ersteren festhielten, welche für einen politischen und
näher revolutionären Plan Jesu zu sprechen scheinen: so
die orthodoxen Theologen nur die lezteren, welche für sich
auf einen rein geistigen Plan Jesu führen würden 1), und
jede Partei hat sich bemüht, die ihr entgegenstehenden
[492]Zweiter Abschnitt.
Stellen durch hermeneutische Künste zu entkräften. Daſs
Beides gleich einseitig sei, hat man neuerlich anerkannt,
und die Nothwendigkeit einer Ausgleichung eingesehen.


Diese hat man vornehmlich so versucht, daſs man eine
frühere und eine spätere Gestaltung des Planes Jesu unter-
schied 2). Obgleich, hat man gesagt, sittliche Besserung
und religiöse Erhebung seines Volkes von jeher sein Haupt-
zweck gewesen sei, so habe er doch zu Anfang seines öf-
fentlichen Wirkens die Hoffnung gehegt, vermittelst dieser
innern Wiedergeburt auch die äussere Herrlichkeit der
Theokratie zu erneuern, wenn er von seiner Nation als
Messias anerkannt nnd dadurch zugleich als die höchste
Staatsgewalt constituirt würde; erst als diese Hoffnung fehl-
geschlagen, habe er hierin die göttliche Verwerfung jeder
politischen Beziehung seines Planes erkannt, und dadurch
diesen zur reinen Geistigkeit verklärt. Eine solche Verän-
derung im Plane Jesu soll namentlich daraus hervorgehen,
daſs über sein erstes Auftreten ebensoviel Heiterkeit, als
über die spätere Zeit seines Wirkens Wehmuth ausgegos-
sen sei, daſs an die Stelle des angenehmen Jahrs des Herrn,
das er Anfangs verkündete, hernach das Wehe habe tre-
ten müssen, und daſs er selbst über Jerusalem gesagt ha-
be, er habe es zu retten gedacht, nun aber werde es,
auch politisch, untergehen. Da jedoch die Evangelisten
diese beiden angeblichen Perioden nicht auseinanderhalten,
sondern g[e]rade die zwei für das Politische im Plane Jesu
gewichtigsten Data, die Verheiſsung des Sitzens auf Thro-
nen und den Einzug, in die lezte Zeit des Lebens Jesu
stellen: so könnte zwar, wie oben in Bezug auf das Ver-
hältniſs Jesu zur messianischen Idee überhaupt, so auch
[493]Viertes Kapitel. §. 62.
hier eine Vermengung der Zeiten in ihren Berichten vor-
ausgesezt werden: doch nur wenn kein andrer Ausweg
möglich, d. h. wenn es auf keine Weise denkbar ist, wie
Jesus zu gleicher Zeit jene politisch klingenden und diese
alles Politische scheinbar ausschliessenden Aussprüche ge-
than haben kann.


Dieſs scheint jedoch keineswegs undenkbar, sondern
ein καϑ ζεσϑαι ἐπὶ ϑρόνους für sich und seine Jünger konnte
Jesus verheiſsen, ohne durch eine politische Revolution
sich dieser Würde bemächtigen zu wollen, wenn er auf
eine von Gott zu bewirkende Revolution wartete, welche
den erforderlichen Umschwung der Dinge herbeiführen soll-
te. Dieſs liegt schon darin, daſs Jesus jenes richterliche
Auftreten seiner Jünger in die παλιγγενεσία versezt; denn
diese ist ebensowenig eine politische Umwälzung als eine
sittliche Wiedergeburt, sondern es ist die Auferstehung
der Todten, welche Gott durch den Messias bewirken und
damit die messianische Zeit eröffnen wird 3). Allerdings
also erwartete Jesus, den Thron Davids wiederherzustel-
len und mit seinen Jüngern ein befreites Volk zu beherr-
schen: aber keineswegs sezte er dabei auf das Schwert
menschlicher Anhänger seine Hoffnung (Luc. 22, 38. Matth.
26, 52.), sondern auf die Engellegionen, welche sein himm-
lischer Vater ihm senden könne (Matth. 26, 53.). Wo im-
mer er von dem Antritt seiner messianischen Herrlichkeit
spricht, sind es Engel und himmlische Mächte, mit welchen
er sich umgiebt (Matth. 16, 27. 24, 39 f. 25, 31. Joh. 1, 52.);
vor der Majestät des in den Wolken des Himmels kom-
menden Menschensohns werden sich die Völker ohne Schwert-
streich beugen, und auf den Ruf der Engelposaune sich
sammt den auferstehenden Todten ihm und seinen Zwölfen
zum Gerichte stellen. Dieſs Alles wollte Jesus nicht eigen-
willig herbeiführen, sondern überlieſs es dem himmlischen
[494]Zweiter Abschnitt.
Vater, der allein die rechte Zeit für diese Katastrophe wis-
se (Marc. 13. 32.), ihm gleichsam das Signal zu geben,
und wurde auch dadurch nicht irre gemacht, daſs ihn das
Ende ereilte, ehe ein solches erfolgt war. Wer diese An-
sicht von dem Hintergrunde des messianischen Planes Jesu
blos deſswegen scheut, weil er durch dieselbe Jesum zum
Schwärmer zu machen glaubt 4), der bedenke, wie genau
diese Hoffnungen den langgehegten Messiasbegriffen der
Juden entsprachen 5), und wie leicht auf dem supranatu-
ralistischen Boden jener Zeit und in dem abgeschlossenen
Kreise der jüdischen Nation eine für sich abenteuerliche
Vorstellung, wenn sie nur Nationalvorstellung war und
sonst wahre und groſsartige Seiten bot, auch einen beson-
nenen Mann in sich hineinziehen konnte.


Was sofort nach dem Gericht die Frommen erwartet,
die ζωὴ αἰωνιος in der βασιλεία τοῦ πατρὸς, diese vergleicht
Jesus zwar in Einstimmung mit jüdischen Vorstellungen 6)
gerne mit einem Gastmahl (Matth. 8, 11. 22, 2 ff. u. s.), in
welchem er selbst noch zu trinken (Matth. 26, 29.) und das
Pascha zu feiern hofft (Luc. 22, 16.): doch scheint seine
anderweitige bestimmte Erklärung, daſs in dem αἰὼν μέλ-
λων
die organischen Verhältnisse der Geschlechter aufhö-
ren und die Menschen ἰσάγγελοι sein werden (Luc. 20, 35 f.),
jene Reden mehr oder weniger zur Geltung von Bildern
herabzusetzen.


§. 63.
Verhältniss Jesu zum mosaischen Gesetz.


Weil in der von Jesu gestifteten Kirche die mosaische
Religionsverfassung faktisch ihren Untergang gefunden hat,
so liegt es nahe, zu vermuthen, daſs auch in der Absicht
[495]Viertes Kapitel. §. 63.
des Stifters die Abschaffung des Mosaismus gelegen habe,
und je höher durch eine solche Erhebung über den engen
Gesichtskreis des jüdischen Ceremonialdienstes Jesus zu
stehen kommt, desto mehr haben sich von jeher die Apo-
logeten angelegen sein lassen, den Beweiſs dafür zu füh-
ren 1). Auch fehlt es keineswegs an Aussprüchen und
Handlungen Jesu, welche unverkennkar dahin zu deuten
scheinen. Wo immer er die Bedingungen der Theilnahme
an der βασιλε[ί]α τῶν οὐρανῶν auseinandersetzt, wie in der
Bergrede, da hebt er nicht die Beobachtung der mosai-
schen Ritualvorschriften, sondern den innern Geist der
Religiosität und Sittlichkeit hervor; dem Fasten, Beten,
Almosengeben, schreibt er blos in Verbindung mit entspre-
chender Richtung des Gemüths einen Werth zu (Matth.
6, 1—18); die beiden Hauptbestandtheile des mosaischen
Cultus, den Opferdienst und die Fest- und Sabbatsfeier
empfiehlt er nicht nur nirgends ausdrücklich, sondern
stellt sogar den erstern merklich zurück, indem er einen
γραμματεὺς, der von herzlicher Gottes- und Nächstenliebe
erklärt hatte, sie sei πλεῖον πάντων τῶν ὁλοκαυτωμάτων καὶ
ϑυσιῶν
, lobend für einen solchen erklärte, welcher οὐ μα-
κρὰν ἀπὸ τῆς βασιλείας τοῦ ϑεοῦ
sei (Marc. 12, 33 f.) 2);
gegen die damals übliche Sabbatsfeier aber hat Jesus mehr
als einmal sowohl faktisch verstoſsen, als ausdrücklich sich
erklärt (Matth. 12, 1—13. Marc. 2, 23—28. 3, 1—5. Luc.
6, 1—10. 13, 10 ff. 14, 1 ff. Joh. 5, 5 ff. 7, 22 f. 9, 1 ff.),
und sich als dem υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου die Macht über den
Sabbat zugeschrieben; wie denn die Juden vom Messias
eine Revision des mosaischen Gesetzes erwartet zu haben
scheinen 3). Überhaupt kann man sagen: wer einmal wie
[496]Zweiter Abschnitt.
Jesus den alleinigen Werth des Innern gegenüber vom
Äussern, der Gesammtheit der Gesinnung im Vergleich mit
der von derselben losgerissenen einzelnen Handlung in der
Art erkannt hat, daſs er die Gottes- und Nächstenliebe
für das Wesentliche des Gesetzes erklärt (Matth. 22, 36 ff.),
dem kann nicht verborgen bleiben, daſs ebendamit dasjenige
im Gesez, was auf diese beiden Punkte sich nicht bezieht,
als Unwesentliches bestimmt ist. Ganz entschieden aber
scheint die Aussicht Jesu auf Abschaffung des mosaischen
Cultus in den Aussprüchen enthalten zu sein, daſs der
Mittelpunkt desselben, der Tempel in Jerusalem, zerstört,
(Matth. 24, 2 parall.) und die Gottesverehrung künftig an
keinen Ort mehr gebunden, eine rein geistige sein werde
(Joh. 4, 21 ff.)


Indeſs alles dieſs ist doch nur die eine Seite der Stel-
lung, welche Jesus sich zum mosaischen Gesetze gab, in-
dem sich ebenso Data finden, welche zu beweisen schei-
nen, daſs er an einen Umsturz der alten Religionsver-
fassung seines Volkes nicht gedacht habe; eine Seite, wel-
che früher, aus leicht denkbaren Gründen, vorzugsweise
von Gegnern des Christenthums in seiner kirchlichen Form
ausgeführt 4), und erst neuerlich, bei erweitertem theolo-
gischen Gesichtskreis, auch von unbefangenen kirchlichen
Auslegern anerkannt worden ist 5). Im Leben vorerst
bleibt Jesus dem väterlichen Gesetze treu: er besucht am
Sabbat die Synagoge, reist zur Festzeit nach Jerusalem
und iſst an Ostern mit seinen Jüngern das Paschalamm.
Wenn er am Sabbat heilt oder seine Schüler Ähren aus-
raufen läſst (Matth. 12, 1 ff.), wenn er in seiner Gesell-
schaft keine Fasten und keine Waschungen vor Tische ein-
führt (Matth. 9, 14. 15, 2): so war dieſs nicht gegen das
mosaische Gesez, welches nur Enthaltung von gemeiner
[497]Viertes Kapitel. §. 63.
Arbeit, הכׇאלׇמְ verlangte (2 Mos. 20, 8 ff. 31, 12 ff. 5 Mos.
5, 12 ff.), worunter namentlich Pflügen und Ernten (2 Mos.
34, 21.), Holzsammeln (4 Mos. 15, 32 ff.) u. dergl. subsu-
mirt war, Heilen aber und Abpflücken einiger Ähren nur
von dem späteren Kleinigkeitsgeist subsumirt wurde 6);
ebenso war das Waschen der Hände vor dem Essen nur
eine höchst gezwungene rabbinische Folgerung aus 3 Mos.
15, 11. 7); so wie, was das Fasten betrifft, im Gesetze nur
Ein jährliches allgemeines (3 Mos. 16, 29 ff. 23, 27 ff.), von
Privatfasten aber nichts geboten war 8). — Von Aussprü-
chen Jesu findet sich in derselben Bergpredigt, in welcher
er die geistige Religiosität so weit über alles Rituale sezt,
neben der deutlichen Voraussetzung des Fortbestehens der
Opfer (Matth. 5, 23 f.), die Erklärung, daſs er nicht ge-
kommen sei, das Gesez und die Propheten aufzulösen, son-
dern zu erfüllen (Matth. 5, 17.), wo, wenn auch wahr-
scheinlich πλ[η]ρῶσαι hauptsächlich von Verwirklichung der
messianischen Weissagungen des A. T.s zu verstehen ist, doch
das οὐκ ἠλϑονκαταλῦσαι zugleich von Beibehaltung des mosai-
schen Gesetzes verstanden werden muſs, wenn sogleich im
Folgenden dem kleinsten Buchstaben des Gesetzes ewige
Dauer verheiſsen, und demjenigen, der auch nur das ge-
ringste Gebot desselben als unverbindlich darstelle, mit Zu-
rücksetzung im Himmelreich gedroht wird 9). Demgemäſs
hielten sich die Apostel selbst nach dem ersten Pfingstfest
noch streng an das jüdische Gesez, sie giengen um die
Gebetsstunde in den Tempel (A. G. 3, 1.), hielten sich zu
den Synagogen, hiengen an den mosaischen Speiseverboten
(10, 14., und wuſsten die Klagen der judaisirenden Par-
tei über das Verfahren des Barnabas und Paulus, welche
Das Leben Jesu I. Band. 32
[498]Zweiter Abschnitt.
Heiden tauften, ohne ihnen die Last des mosaischen Ge-
setzes aufzulegen, wenigstens durch keine Berufung auf
ausdrückliche Erklärungen Jesu zurückzuweisen (A. G. 15.).


Diesen scheinbaren Widerspruch in dem Benehmen
und den Äusserungen Jesu hat man von apologetischem In-
teresse aus in der Art lösen zu können geglaubt, daſs man
nicht blos die eigene Gesetzbeobachtung Jesu, sondern auch
seine Erklärungen zu Gunsten des Gesetzes als nothwen-
dige Accommodation an seine Volksgenossen faſste, welche
ihm ihr Vertrauen sogleich entzogen haben würden, wenn
er sich als Zerstörer des heilig geachteten Gesetzes ange-
kündigt hätte 10). Hieraus lieſse sich wirklich das, daſs
Jesus für seine Person das Gesez beobachtete, so gut er-
klären, als das gesezliche Leben des Apostels Paulus un-
ter Juden nach seiner eigenen Erklärung bloſse Anbeque-
mung war (1. Kor. 9, 20. vgl. A. G. 16, 3.). Aber die
starken Versicherungen über die Unvergänglichkeit des Ge-
setzes und die Schuld dessen, der auch nur das kleinste
Gebot desselben aufzulösen sich erkühne, lassen sich aus
bloſser Accommodation unmöglich ableiten; denn für un-
entbehrlich erklären, was man doch für überflüssig hält,
und selbst nach und nach in Abgang zu bringen wünscht,
würde neben der Unredlichkeit zugleich allzu unklug ge-
handelt sein.


Daher haben Andre den Unterschied des Moralischen
und Ritualen geltend gemacht, und die Erklärung Jesu,
das Gesez nicht aufheben zu wollen, nur auf das erstere
bezogen, welches er durch reinere Herausarbeitung aus dem
blos Ceremoniellen zu vervollkommnen (πληρῶσαι) gestrebt
habe 11). Allein eine solche Unterscheidung liegt in der
betreffenden Stelle der Bergrede keineswegs; vielmehr ist
[499]Viertes Kapitel. §. 63.
theils durch νόμος und προφῆται die ganze A. T.liche Re-
ligionsverfassung im weitesten Umfang bezeichnet 12), theils
sind unter den unbedeutendsten Geboten und kleinsten Buch-
staben des Gesetzes, welche gleichwohl nicht abrogirt wer-
den sollen, nicht wohl andre, als eben Ceremonialgebote
zu verstehen 13).


Glücklicher ist die Unterscheidung zwischen wirklich
mosaischen Vorschriften und den traditionellen Zusätzen zu
denselben 14). Wirklich liefen ja die Sabbatheilungen Je-
su, seine Geringschätzung des pedantischen Waschens vor
dem Essen u. dgl. nicht gegen Moses, sondern nur gegen
spätere rabbinische Satzungen, und auch mehrere Reden
Jesu führen auf diesen Unterschied. Matth. 15, 3 ff. stellt
Jesus die παράδοσις τῶν πρε[σ]βυτέρ[ων] der ἐντολὴ τοῦ ϑεοῦ
gegenüber, und Matth. 23, 23. erklärt er, wo sich beide
miteinander vertragen, möge man τα[ῦ]τ[α] ποιῆσαι, κἀκε[ῖ]να
μὴ ἀφιέναι
, weſswegen er auch V. 3. das Volk ermahnt,
alles was ihm die Schriftgelehrten und Pharisäer vorschrei-
ben, zu thun; könne oder wolle man dagegen nur Eines
oder das Andere thun, bemerkt er Matth. 15, 3 ff., so sei
es gerathener, um dem göttlichen (durch Moses gegebenen)
Gebot folgen zu können, παραβαίνειν τὴν παράδοσιν, als
umgekehrt παραβα[ί]νειν τὴν ἐντολὴν τοῦ ϑεοῦ διὰ τὴν παρά-
δοσιν
. Überhaupt findet er in der Masse traditioneller Ge-
bote ein φορτίον δυσβάςακτον (23, 4.), welches er dem hart-
gedrückten Volke abzunehmen und ihm dafür sein φορτ[ί]ον
ἐλαφρον
, seinen ζυγὸς χρηςος aufzulegen gedenkt (11, 29 f.),
weſswegen bei aller Schonung, die er gegen das Bestehen-
de, sofern es nur nicht positiv verderblich wirkte, auszu-
üben geneigt war, doch seine Meinung dahin gieng, daſs
32*
[500]Zweiter Abschnitt.
alle diese ἐντάλματα ἀνϑρώπων, als eine φυτε[ί]α, ἣν οὐκ ἐφ[ύ]-
τευσεν ὁ πατὴρ ὁ οὐράνιος
, zu Grunde gehen werden (15,
9. 13.). Insofern dieses pharisäische Satzungswesen gros-
sentheils auf Äusserlichkeiten gerichtet war, unter welchen
der edle sittliche Kern des mosaischen Gesetzes sich verlor,
wie wenn man durch Geschenke an den Tempel sich von
der schuldigen Unterstützung bedürftiger Eltern dispensi-
ren lieſs (15, 5.), oder über dem Verzehnten des Tills und
Kümmels die Nächstenliebe vergaſs (23, 23.): so fällt frei-
lich diese Unterscheidung mit der vorigen gewissermaſsen
zusammen, indem es in den rabbinischen Satzungen eben
die blos ceremonielle Richtung war, was Jesus perhorres-
cirte, im mosaischen Gesetze aber der moralisch-religiöse
Kern, um dessen willen er es hauptsächlich schäzte. Nur
daſs man dann immer nicht sagen darf, er habe das mo-
saische Gesez nur diesem lezteren Theile nach wollen be-
stehen lassen, da die angeführten Stellen namentlich aus
der Bergrede klar beweisen, daſs er auch das blos Rituelle
nicht aufzuheben beabsichtigte.


Consequenterweise hätte allerdings Jesus, wenn er ein-
mal das auf Sittlichkeit und geistige Gottesverehrung sich
Beziehende als das allein Wesentliche in der Religion er-
kannt hatte, alles blos Rituelle, sofern es sich religiöse Be-
deutung anmaſste, dergleichen sich schon eine groſse Mas-
se im mosaischen Gesetze selber fand, verwerfen müssen:
allein man weiſs, wie langsam solche Consequenzen, wenn
ihnen ein geheiligtes Herkommen entgegensteht, gezogen
werden. Daſs Gehorsam besser denn Opfer sei, hat an-
geblich schon Samuel erkannt (1. Sam. 15, 22.), und As-
saph, daſs ein Opfer gefühlten Danks Gott besser gefalle,
als von geschlachteten Thieren (Ps. 50.: und doch, wie
lange wurden noch Opfer neben und statt des wahren Ge-
horsams beibehalten? Lebendiger noch als jene Alten war
Jesus von dieser Überzeugung durchdrungen; die wahre
ἐντολὴ του ϑεοῦam mosaischen Gesez war ihm eigentlich nur
[501]Viertes Kapitel. §. 63.
das τίμα τὸν πατέρα, das οὐ φονεύσεις u. s. w., vor Allem
aber das ἀγαπησεις Κύριον τὸν ϑεὸν καὶ τὸν πλησίον: aber
der tiefgewurzelte Respect vor dem heiligen Gesezbuch
machte, daſs er um dieses wesentlichen Inhalts willen auch
den unwesentlichen ehrte, was er um so eher konnte, da
im Verhältniſs zu dem in's Unsinnige übertriebenen Pedan-
tismus der traditionellen Zusätze das Rituelle im Penta-
teuch als höchst einfach erscheinen muſste. Diesen lezte-
ren Theil des Gesetzes zwar als göttlich entsprungenen
fortan zu achten, ihn aber doch für abrogirt zu erklären
mittelst der Idee einer göttlichen Erziehung des Menschen-
geschlechts, vermöge welcher Gott für eine frühere Periode
eine Anordnung nöthig finden konnte, welche später über-
flüssig wird, dieser Gedanke des νόμος παιδαγωγὸς (Gal.
3, 24.) scheint in seiner Ausbildung erst dem Apostel Pau-
lus anzugehören; wiewohl in der Äusserung Jesu, daſs
Gott dem alten Hebräervolk πρὸς τὴν σκληροκαρδίαν αὐτῶν
Manches zugelassen habe, was jezt, bei fortgeschrittener
Bildung, nicht mehr angehe (Matth. 19, 8 f.), derselbe Ge-
danke im Keime liegt.


Eine ähnliche Beschränkung der Dauer des Gesetzes
von Seiten Jesu würde darin liegen, wenn er wirklich (was
erst später untersucht werden kann) dem Tempel zu Je-
rusalem den bei seiner baldigen Wiederkunft bevorstehen-
den Untergang (Matth. 24.), und die Lösung der Gottes-
verehrung von jeder lokalen Gebundenheit (Joh. 4.) voraus-
verkündigt hat, da hiemit die ganze mosaische Form des
Cultus fallen muſste. Daſs er Matth. 5, 18. das Gesez fort-
dauern läſst, so lange Himmel und Erde stehen, widerspricht
dem nicht, sobald man sich aus Matth. 24. erinnert, daſs
sich der Hebräer den Untergang seines Staats und Heilig-
thums und das Ende der (alten) Welt im engsten Zusam-
menhang dachte, so daſs es dasselbe war zu sagen: so lan-
ge der Tempel steht, wird das Gesez dauren, oder so lan-
[502]Zweiter Abschnitt.
ge die Welt steht 15). Zwar scheint Luc. 16, 16, wenn
es heiſst: ὁ νόμος καὶ οἱ π οφῆται ἕως Ἰωάννου· die Gültig-
keit des Gesetzes schon mit dem Auftritt des Täufers auf-
gehoben; indeſs verliert diese Stelle durch die Parallele
Matth. 11, 13. ebenso ihren ungünstigen Sinn, als freilich
der Ausspruch Matth. 5, 18. in Luc. 16, 17. seinen günsti-
gen. Hienach wären dann die Ansicht Jesu und die des Pau-
lus nur so verschieden, daſs, was jener erst auf der bei
seiner Wiederkunft zu erneuernden Erde sich als wegfal-
lend dachte, dieser schon in Folge der ersten Ankunft des
Messias, noch auf der alten Erde, abschaffen zu dürfen
glaubte 16).


§. 64.
Umfang des messianischen Plans Jesu. Verhältniss zu den Heiden.


Unerachtet faktisch das von Jesu gestiftete Reich sich
frühzeitig über die Grenzen des jüdischen Volkes hinaus
verbreitet hat: so möchte man doch nach einigen Indicien
urtheilen, daſs eine solche Ausdehnung gar nicht in sei-
ner Absicht gelegen habe 1). Denn als er die Zwölfe auf
die erste Missionsreise aussendet, weiſs er ihnen nichts
angelegentlicher einzuschärfen, als: εἰς ὁδὸν ἐϑνῶν μὴ ἀπέλ-
ϑητε — πορεύεσϑε δὲ μᾶλλον πρὸς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα
οἴκου Ἰσραήλ
(Matth. 10, 5 f.). Daſs diesen Ausspruch nur
Matthäus hat, die beiden andern Synoptiker aber nicht, dieſs
ist schwerlich so zu erklären, daſs der judaisirende Verfas-
ser des ersten Evangeliums diese Worte mit Unrecht hinzuge-
sezt, sondern umgekehrt so, daſs die hellenisirenden Ver-
fasser der beiden andern sie weggelassen haben. Denn da
unser Matthäus doch nicht so sehr judaisirt, daſs er Jesu
die Absicht unterlegte, das messianische Reich auf Juden
[503]Viertes Kapitel. §. 64.
zu beschränken, da er vielmehr 8, 11 f., 21, 33 ff., 22, 1 ff.
28, 19 f. Jesum deutlich von der Berufung der Heiden spre-
chen läſst: so hatte er keinen Anlaſs, einen so partikulari-
stischen Zusatz zu machen; wohl aber die andern, das Dik-
tum, zur Vermeidung des Anstoſses bei den nunmehr auf-
genommenen Heiden, wegzulassen. Da es aber bei Mat-
thäus stehen geblieben ist, so sucht die Auslegung den An-
stoſs dadurch zu entfernen, daſs sie die Vorschrift Jesu
als bloſse Klugheitsmaſsregel darstellt 2), und es ist nicht
in Abrede zu stellen, daſs Jesus, wenn auch seine Plane
auf Heiden wie auf Juden giengen, doch, um es mit sei-
nen Volksgenossen nicht für immer zu verderben, für den
Anfang jene Einschränkung sich und den Jüngern zur
Regel machen muſste. Hieraus lieſse sich, wie es scheint,
auch Jesu eigenes Verfahren bei einer andern Gelegenheit
erklären, wo er der Bitte des kananäischen Weibes um
Heilung ihrer kranken Tochter deſswegen nicht entspre-
chen will, weil er nur zu den verlorenen Schafen des
Hauses Israël gesandt sei (Matth. 15, 24). Indessen han-
delte es sich hier nicht um Einladung zum messianischen
Reich, sondern nur um eine einzelne, zeitliche Wohlthat,
wie dergleichen schon Elias und Elisa auch Nichtisraëli-
ten erwiesen hatten (1 Kön. 17, 9 ff; 2 Kön. 5, 1 ff.), wor-
auf sich Jesus sonst beruft (Luc. 4, 25 ff). Deſswegen fan-
den auch die Jünger es natürlich und unanstöſsig, der Frau
ihre Bitte zu gewähren, und jene bloſse Klugheitsrücksicht
kann es nicht gewesen sein, welche Jesum davon eine
Weile zurückhielt. Damit nun nicht eine Abneigung ge-
gen Heiden als dieser Grund sich zeige, hat man vermu-
thet, um das Incognito nicht zu brechen, das er nach
Markus (7, 25.) in jener Gegend suchte, habe Jesus kein
messianisches Werk thun mögen 3). Dann aber muſste er
[504]Zweiter Abschnitt.
den Jüngern diesen Grund angeben, und nicht durch den
andern, welchen er vorschiebt, ihren ohnehin schon star-
ken Partikularismus bekräftigen. Eher lieſse sich daher das
Andre hören, Jesus habe den Glauben der Frau durch die
anfängliche Weigerung nur prüfen und zur Äusserung sei-
ner ganzen Stärke veranlassen wollen 4): wenn nur im
Text eine Spur von bloſser Verstellung, und nicht viel-
mehr die Kennzeichen einer wirklichen Umstimmung 5) lägen,
wie auch Markus die Geschichte verstanden haben muſs;
denn hätte er an bloſse Prüfung gedacht, so würde er
wohl durch einen Zusaz wie τοῦτο δὲ ἔλεγε πειράζων αὐτὴν
(vrgl. Joh. 6, 6.) den Anstoſs gemildert haben, statt daſs
er jezt nichts Anderes zu machen weiſs, als den anstöſsi-
gen Ausspruch geradehin wegzulassen. Es scheint also hier
Jesus die Abneigung seiner Volksgenossen gegen Heiden
zu theilen; ja diese erscheint dieſsmal in ihm selbst stär-
ker ausgeprägt, als in seinen Jüngern, wenn nicht anders
deren Fürsprache für die Frau nur ein Zug der Contraste
und Gruppen suchenden Sage ist.


Freilich wird diese Geschichte beinahe unbrauchbar
gemacht durch eine andere, wo Jesus ganz auf die ent-
gegengesetzte Weise verfährt. Der Hauptmann von Ka-
pernaum nämlich, gleichfalls ein Heide (wie aus dem οὐδὲ
ἐν τῷ Ἰσραὴλ τοσαύτην πίςιν εὗρον
erhellt), hat Jesu kaum
eine ähnliche Noth wie jenes Weib geklagt, als er sich
schon von selbst erbietet, zur Heilung seines Knechts in
sein Haus zu kommen (Matth. 8, 5. ff). Findet hier Jesus
so gar kein Bedenken darin, seine Heilkraft zu Gunsten
eines Heiden zu verwenden: wie kommt es, muſs man
fragen, daſs er in einem ganz analogen Falle sich so lange
weigert, dasselbe zu thun? und zwar, wenn die Stellung
der beiden Geschichten in den Evangelien irgend etwas
[505]Viertes Kapitel. §. 64.
bedeuten soll, müſste er später um soviel härter und be-
schränkter geworden sein. Indeſs diese einzelne Wohlthat,
welche Jesus einem Heiden erzeigte, wenn sie gleich mit
der obigen Erzählung, laut welcher er eine eben solche
verweigert, in einem ungelösten Widerspruche steht,
so beweist sie doch immer noch nicht, daſs er Heiden auch
in sein messianisches Reich zuzulassen gedachte; so wie,
daſs er bei dieser und andern Gelegenheiten dem israëliti-
schen Volke drohte, es werde wegen seiner Unempfäng-
lichkeit von jenem Reiche ausgeschlossen und andere Völ-
ker statt seiner zugelassen werden, auch so verstanden
werden kann, wie auch die Propheten ihre Verheissungen
von der Ausdehnung des Messiasreichs auf alle Völker im-
mer nur gemeint hatten, daſs die Heiden einst sich zum
Jehovadienst kehren, die mosaische Religion in ihrem gan-
zen Umfang annehmen, und in Folge dessen auch in das
Messiasreich zugelassen werden werden; womit es sich
sehr gut verträgt, daſs, ehe diese Umwendung von Seiten
der Heiden geschehen wäre, Jesus seinen Jüngern die
Hinwendung zu ihnen verbot.


Doch die Synoptiker berichten, nach seiner Auferste-
hung habe Jesus den Jüngern die Anweisung gegeben:
πορευϑέντες μαϑητεύσατε πάντα τὰ ἔϑνη, βαπτ[ί]ζοντες
αὐτοὺς κ. τ. λ.
, d. h. doch wohl, sie sollen ihnen, auch
ohne daſs sie zuvor Juden geworden wären, mit der An-
erbietung des messianischen Reichs entgegenkommen (Matth.
28, 19. Marc. 16, 15. Luc. 24, 47). Allein nicht nur bege-
ben sich die Jünger nach dem ersten Pfingstfest keines-
wegs sofort an die Ausführung dieses Befehls, sondern
als ein Fall sich aufdringt, in welchem sie demselben nach-
kommen sollten, benehmen sie sich ganz, als ob sie von
einer solchen Anweisung Jesu gar nichts wüssten (A. G.
10 und 11). Der heidnische Hauptmann Cornelius, durch
seinen gottseligen Wandel der Aufnahme in die messiani-
sche Gemeinde würdig, wird von Gott durch einen Engel
[506]Zweiter Abschnitt.
an den Apostel Petrus gewiesen. Weil es aber Gott nicht
verborgen war, müssen wir im Geist der Erzählung er-
gänzen, wie schwer der Apostel dazu zu bewegen sein
würde, einen Heiden ohne Weiteres in das Messiasreich
aufzunehmen, fand er es für nöthig, denselben in einem
symbolischen Gesichte zu einem solchen Schritte vorzube-
reiten. Auf diese Weisung geht Petrus zwar zu Corne-
lius; ihn aber mit seiner Familie zu taufen, dazu wird er
erst durch ein weiteres Zeichen bewogen, indem er näm-
lich das πνεῦμα ἅγιον über sie kommen sieht. Wie ihn
nachher die Judenchristen in Jerusalem über die Aufnahme
von Heiden zur Rede stellen, beruft sich Petrus zu sei-
ner Rechtfertigung nur auf die gehabte Vision und das
bei der Familie des Hauptmanns bemerkte πνεῦμα ἅγιον.
Man mag von dieser Geschichte denken, wie man will: in
jedem Fall ist sie ein Denkmal der vielen Überlegungen
und Kämpfe, welche es nach Jesu Abgang die Apostel
kostete, sich von der Aufnahmsfähigkeit der Heiden als
solcher in das Reich ihres Christus zu überzeugen, und
der Gründe, durch welche sie zur Aufnahme derselben
endlich bewogen worden sind. War ihnen nun aber
hiezu in dem sogenannten Taufbefehl eine so klare An-
weisung Jesu gegeben: wozu bedurfte es noch einer
Vision, um den Petrus zur Befolgung derselben zu er-
muntern? oder, wenn man die Vision als sagenhafte Ein-
kleidung natürlicher Überlegungen der Jünger faſst, was
brauchte es den Umweg der Reflexion, daſs alle Menschen
getauft werden dürfen, weil vor Gott alle Menschen wie
alle Thiere als seine Geschöpfe rein seien, wenn man doch
auf einen ausdrücklichen Befehl Jesu sich berufen konn-
te? Es stellt sich somit die Alternative: hat Jesus selbst
schon jenen Befehl gegeben, so können die Jünger nicht
erst so, wie A. G. 10. 11. erzählt ist, auf die Zulässig-
keit der Heiden gekommen sein; ist aber diese Geschichte
richtig, so kann jener angebliche Befehl Jesu nicht histo-
[507]Viertes Kapitel. §. 65.
risch sein. Unser Kanon entscheidet für das Leztere. Denn
daſs, was später Praxis wurde, und bald als Hauptvor-
zug des Christenthums galt, seine Zugänglichkeit für alle
Völker und seine Gleichgültigkeit gegen περιτομὴ und ἀκρο-
β[ύστι]α, schon im Sinne Jesu gelegen hätte, das wäre das
Höhere und Herrlichere: wogegen, daſs erst nach Jesu
Tod durch die allmähliche Entwicklung der Verhältnisse
das vom Stifter den Heiden nur sofern sie zuvor Juden
würden, zugedachte Reich diese Schranke durchbrochen
hat, der einfach natürliche und ebendarum wahrscheinli-
chere Gang der Sache ist 6).


§. 65.
Verhältniss des messianischen Plans Jesu zu den Samaritanern.
Sein Zusammentreffen mit der samaritanischen Frau.


Ähnlich verhält es sich mit der Stellung, welche Je-
sus sich und seinen Jüngern zu den Bewohnern Samariens
gegeben hat. Während er nämlich in der Instruktions-
rede Matth. 10, 5. seinen Jüngern das Besuchen einer
πόλις Σαμαρειτῶν eben so sehr wie das Betreten der ὁδὸς
ἐϑνῶν
untersagt: lesen wir bei Johannes (K. 4.), daſs Je-
sus selbst auf der Durchreise durch Samarien mit vielem
Erfolge als Messias gewirkt, und zu dem Ende sich zwei
Tage in einer samarischen Stadt aufgehalten, und in der
Apostelgeschichte, (1, 8.), daſs er vor seiner Himmelfahrt
den Jüngern aufgetragen habe, seine Zeugen nicht blos
ἐν Ἱερουσαλημ καὶ ἐν πάσῃ τῇ Ἰουδαίᾳ, sondern auch ἰν τῇ
Σαμαρείᾳ
zu sein. Daſs Jesus nicht, wie es nach jenem
Verbote scheinen könnte, Samarien gänzlich gemieden habe,
sieht man aus Luc. 9, 52. (vrgl. 17, 11.), wo seine Jünger
in einer [κ]ώ[μ]η Σαμαρειτῶν für ihn Quartier bestellen wol-
len, wie denn auch nach Josephus der gewöhnliche Weg
der zu den Festen reisenden Galiläer durch Samarien
[508]Zweiter Abschnitt.
gieng 1); daſs er den Samaritanern nicht abhold war, viel-
mehr in mancher Hinsicht ihre Vorzüge vor den Juden
anerkannte, erhellt aus seiner Parabel vom barmherzigen
Samariter (Luc. 10, 30 ff.); auch war ihm ja nach Luc.
17, 16. ein Fall vorgekommen, wo unter zehn Geheilten
nur Einer, und zwar ein Samariter, sich dankbar bewies,
und selbst von der messianischen Idee waren, sofern wir
dieſs aus Joh. 4, 25. und neueren Nachrichten 2) schlies-
sen dürfen, die Bewohner Samariens nicht unberührt.


So natürlich es hienach zu sein scheint, daſs Jesus
diese empfängliche Seite des samarischen Volks durch ge-
legentliche Verkündigung des Messiasreichs bei demselben
auch wirklich in Anspruch genommen habe: so muſs doch
das eigenthümliche Verhältniſs Bedenken erregen, in wel-
chem man in dieser Hinsicht die vier Evangelisten zu ein-
ander erblickt. Während nämlich Matthäus weder eine
Berührung Jesu mit den Samaritanern, noch einen Aus-
spruch über sie ausser jenem Verbote hat: giebt Markus
zwar gleichfalls weder eine Berührung noch eine günstige
Äusserung, aber doch auch ebensowenig eine nachtheilige
wie Matthäus; Lukas hat zwei Berührungen Jesu mit ih-
nen, von welchen die eine zwar ungünstig, die andre aber,
sammt seinen Äusserungen über die Samariter, um so
günstiger ausfällt; Johannes endlich weiſs von einem ganz
genauen und höchst günstigen Verhältniſs Jesu zu dem
samarischen Volke zu erzählen. Sollen alle diese so ver-
schiedenen Nachrichten gegründet sein: wie konnte Jesus
das einemal verbieten, die Samaritaner in den messiani-
schen Plan hereinzuziehen, das andremal aber dies selber
ohne Anstand thun? und zwar müſste, wenn die Anord-
nung der Evangelisten etwas gelten soll, die eigene Wirk-
[509]Viertes Kapitel. §. 65.
samkeit Jesu in Samarien früher fallen, als das den Jün-
gern auf ihre Missionsreise mitgegebene Verbot. Denn die
in Galiläa vor sich gegangene Aussendung der Zwölfe hat
in der kurzen Zeit, welche dem vierten Evangelium zufolge
Jesus vor dem ersten Pascha in Galiläa war (2, 1—13),
keinen Raum, sie müſste also nach diesem Pascha, und,
weil der Besuch in Samarien auf die Rückreise von dem-
selben fällt, auch nach jenem Besuche erst vor sich gegan-
gen sein; wie aber konnte Jesus, wenn er selbst bereits
und zwar mit dem schönsten Erfolg in Samarien messia-
nisch gewirkt hatte, seinen Jüngern ein Ähnliches verbie-
ten? Sezt man dagegen die von Johannes erzählte Scene
nach dem von Matthäus aufbehaltenen Verbote: so sollten
die Jünger nicht so sehr darüber, daſs Jesus überhaupt
mit einem Weibe (Joh. 4, 27.), als daſs er gerade mit ei-
ner Samariterin sich so angelegentlich unterhielt, sich ge-
wundert haben 3).


Da somit keine der beiden extremen Erzählungen (bei
Matthäus und Johannes) die andre voraussezt: so stellt
sich uns das Dilemma, oder, da wir, alle vier Evangelien
zusammengenommen, einen Klimax haben, müssen wir fra-
gen: ist es wahrscheinlicher, daſs er in aufsteigender Li-
nie entstanden ist, oder in absteigender? d. h. hatte sich
in der Wirklichkeit zwar Jesus in ein so enges Verhält-
niſs zu den Samaritanern gesezt, und sich so günstig über
dieselben ausgesprochen, wie jenes Johannes, dieses Lukas
meldet, hat aber Beides Markus übergangen, und Matthäus
gar aus jüdischem Partikularismus eine sehr ungünstige
Äusserung dazugesezt? oder hat Jesus in der That nur
diese harte Äusserung gethan und auch nur etwa eine un-
günstige Berührung mit dem Volke Samariens gehabt, hat man
aber in der Folge, als der Gesichtskreis der ersten Gemein-
[510]Zweiter Abschnitt.
de sich erweiterte, und namentlich auch in Samarien sich
dem Evangelium eine groſse Thüre aufgethan hatte, jene
Äusserung als unglaublich cassirt, und nachgerade günsti-
ge Aussprüche, am Ende selbst das engste Verhältniſs zu
den Samaritanern an die Stelle treten lassen?


In diesem Streite der Evangelien haben wir auch hier
den Vortheil, die Apostelgeschichte als Schiedsrichterin auf-
rufen zu können. Noch ehe auf höheren Antrieb Petrus
den ersten Heiden in das neue Reich des Messias aufgenom-
men hatte, war aus Veranlassung der ϑλίψις γενομένη ἐπὶ Στε-
φάνῳ
der Diakonus Philippus εἰς πόλιν Σαμαρείας gereist,
wo er den Christus verkündigte und durch Wunder aller
Art viele Samaritaner zum Glauben und zur Annahme der
Taufe bewog (A. G. 8, 5. ff.). Diese Erzählung bildet mit
der früher betrachteten von der Aufnahme der ersten Hei-
den einen völligen Gegensaz; während es dort die ausseror-
dentlichsten Vorbereitungen durch ein Gesicht und einen
besondern Antrieb des πνεῦμα bedurfte, um den Petrus den
Heiden zu nähern: so fängt hier Philippus, und zwar oh-
ne noch jenen Vorgang zu haben, ohne Weiteres in Sama-
rien zu taufen an. Damit man aber nicht etwa sage, der
Diakonus sei vielleicht liberaler als der Apostel gesinnt
gewesen, so kommt sofort Petrus selbst mit Johannes nach
Samarien, und auch dieſs ist ein Zug weiter in dem Ge-
gensaz der beiden Erzählungen, daſs, während dort die
Aufnahme der ersten Heiden bei der Muttergemeinde in Je-
rusalem einen höchst ungünstigen Eindruck machte, hier
die Kunde, ὅτι δέδεκται ἡ Σαμαρεία τὸν λόγον τοῦ ϑεοῦ,
beifällig aufgenommen und das vornehmste Apostelpaar ab-
geschickt wird, um das Werk des Philippus zu bestätigen
und zu vollenden. Hier wäre es gar nicht unwahrschein-
lich, daſs man wirklich einen Vorgang Jesu selbst gehabt
hätte, nur daſs sich fragt, ob er in bloſsen Äusserungen Je-
su zu Gunsten der Samaritaner, oder in einem wirklichen
Anfang, den er bei ihnen gemacht, bestanden habe?


[511]Viertes Kapitel. §. 65.

Diese Frage ist nur dadurch einer Entscheidung ent-
gegenzuführen, daſs die Erzählung des vierten Evangeliums
(K. 4) von dem Zusammentreffen Jesu mit der samaritanischen
Frau und was sich daran schlieſst, darauf angesehen wird,
ob sie ein historisches Gepräge trägt oder nicht? Hier kön-
nen wir zwar die Anstöſse nicht finden, welche der Ver-
fasser der Probabilien schon in der Bezeichnung der Lo-
kalität und dem Anfang des Gesprächs Jesu mit der Frau
nachweisen zu können glaubt 4): aber von V. 16. an thun
sich auch nach dem Geständniſs unparteiischer Ausleger 5)
manche Schwierigkeiten hervor. Die Frau hatte zulezt Je-
sum gebeten, ihr auch von dem Wasser zu geben, welches
für immer den Durst lösche, und darauf sagt nun Jesus
unmittelbar: ὕπαγε, φώνησον τὸν ἄνδρα σου. Wozu dieſs?
Die Ansicht, Jesus habe durch diese Frage, wohlwissend,
daſs sie keinen rechtmäſsigen Mann habe, die Frau nur be-
schämen und zur Buſse leiten wollen 6), weist Lücke ab, weil
ihm solche Verstellung an Jesu nicht gefällt, und vermu-
thet, wegen des Unverstands der Frau habe Jesus durch
Berufung ihres vielleicht empfänglicheren Mannes sich Ge-
legenheit zu einer gedeihlicheren Unterhaltung verschaffen
wollen. Aber wenn doch Jesus, wie sich sogleich zeigt,
wuſste, daſs das Weib im gegenwärtigen Zeitpunkt keinen
eigentlichen Ehemann hatte, so konnte er nicht im Ernst
die Herbeirufung desselben verlangen, und namentlich, wenn
er, auch nach Lücke's Zugeständniſs, diese Kunde auf über-
natürliche Weise hatte, so konnte ihm, der auch sonst wuſste,
was im Menschen war, auch dieſs nicht verborgen sein,
daſs die Frau wenig geneigt sein werde, seiner Aufforde-
rung zu entsprechen. Hat er aber vorausgewuſst, daſs
das Verlangte nicht geschehen werde, ja selbst nicht ge-
[512]Zweiter Abschnitt.
schehen könne: so war auch die Aufforderung nur eine
verstellte, und hatte nicht die Herbeischaffung des Mannes,
sondern etwas ganz Anderes zum Zwecke. Daſs aber dieſs
die Buſse der Frau gewesen wäre, davon liegt in der Er-
zählung nichts; denn als endliche Wirkung auf die Frau
tritt keineswegs Beschämung und Reue, sondern Glaube an
den prophetischen Blick Jesu hervor (V. 19.), und dieſs
wird auch die Absicht Jesu gewesen sein, denn die Erzäh-
lung ist so gehalten, wie wenn ihm sein Vorhaben mit der
Frau gelungen, also der Erfolg mit der Absicht zusammen-
getroffen wäre. Hiebei ist indessen nicht sowohl das anstös-
sig, was Lücke Verstellung nennt, da diese ganz unter die
Kategorie des auch sonst vorkommenden unverfänglichen
πειράζειν fällt, als vielmehr die Gewaltsamkeit, mit welcher
Jesus die Gelegenheit, sich in seiner prophetischen Gabe zu
zeigen, selber macht.


Mit derselben Gewaltsamkeit muſs hernach die Frau
das Gespräch auf einen Punkt hintreiben, an welchem auch
vollends die Messianität Jesu offenbar werden kann. So-
bald sie nämlich Jesum als einen Propheten erkannt hat,
eilt sie sogleich, ihn über die zwischen Juden und Samari-
tern obschwebende Streitfrage rücksichtlich des Ortes der
wahren Gottesverehrung zu consultiren (V. 20). Daſs ein so
starkes Interesse an dieser religiös-nationalen Frage zu dem
sonstigen beschränkten Wesen der Frau nicht passe, des-
sen sind die meisten jetzigen Erklärer durch die Annahme
geständig, sie habe, weil sie sich durch die Äusserung Je-
su über ihre ehlichen Verhältnisse getroffen fühlte, durch
jene Wendung nur das Gespräch von dem ihr empfindlichen
Punkte ablenken wollen 7). War hienach die Frage nach
dem rechten Ort des Gottesdienstes dem Weibe nicht ernst,
sondern lag derselben nur falsche Scham, welche sich dem
Bekenntniſs und der Buſse entziehen will, zum Grunde:
[513]Viertes Kapitel. §. 65.
so sollten jene Ausleger sich doch an das erinnern, was sie
sonst bis zum Überdruſs wiederholen 8), daſs Jesus bei Jo-
hannes) in seinen Antworten durchaus nicht sowohl auf
den ausdrücklichen Sinn der Fragen, als auf die dabei zum
Grunde liegende Gesinnung Rücksicht nehme. Dieser Me-
thode zufolge durfte er die nicht ernstlich gemeinte Frage
der Frau nicht im höchsten Ernst beantworten, sondern
muſste mit Umgehung derselben auf den zuvor schon getrof-
fenen empfindlichen Fleck im Bewuſstsein der Frau, den
sie jezt zu verdecken suchte, losarbeiten, um sie womög-
lich zum vollen Gefühl und offenen Bekenntniſs ihrer Schuld
zu bringen. Aber dem Referenten ist es einmal darum zu
thun, Jesum hier nicht blos als Propheten, sondern be-
stimmt als Messias anerkannt werden zu lassen, und dieſs
glaubte er am besten durch die Lenkung des Gesprächs
auf die Frage nach dem wahren Orte der Gottesverehrung,
deren Lösung man vom Messias erwartete (V. 25.) 9), her-
beiführen zu können.


Die Kenntniſs, welche V. 17 f. Jesus von den Verhält-
nissen des Weibes zeigt, hat man natürlich zu erklären ge-
sucht durch die Voraussetzung, daſs, während Jesus am
Brunnen saſs und die Frau aus dem Städtchen daherge-
gangen kam, ihm ein Vorübergehender einen Wink gegeben
habe, sich mit ihr, als einer solchen, die jezt nach dem
sechsten Manne trachte, nicht einzulassen 10). Allein neben
dem Unwahrscheinlichen, daſs ein Vorübergehender nichts
Angelegeneres mit Jesu zu sprechen gehabt haben sollte,
als ihn von den Verhältnissen eines unbedeutenden Weibes
zu unterrichten, stimmen jezt Freunde wie Gegner des
vierten Evangeliums darin überein, daſs jede natürliche Er-
klärung jener Kunde Jesu der Absicht des Referenten ge-
Das Leben Jesu I. Band. 33
[514]Zweiter Abschnitt.
radezu widerstrebe 11). Denn wenn dieser um der Eröff-
nungen über ihre Verhältnisse willen nicht allein die Frau
selbst (V. 19.), sondern auch viele Bewohner der Stadt
(V. 39.) an Jesum glaubig werden läſst: so meint er dieſs
gewiſs nicht so, daſs diese Leute, wenn auch nicht im Re-
sultat (daſs Jesus ein Prophet sei), so doch im Kriterium
(daſs er es vermöge jener Kenntniſs sein müsse) sich ge-
täuscht und übereilt, sondern daſs sie ganz recht gehabt
haben. War somit jenes Wissen Jesu nach des Referenten
Ansicht ein Ausfluſs seiner höheren Natur, so läſst es sich
doch nicht mit modernen Supranaturalisten auf das Ver-
mögen Jesu zurückführen, welches Johannes auch 2, 24 f.
an ihm rühmt, daſs er nämlich ohne fremdes Zeugniſs ge-
wuſst habe, was im Menschen war 12). Denn hier weiſs
Jesus nicht bloſs was in dem Weibe ist, ihre jetzige zwei-
deutige Gemüthslage zu demjenigen, der nicht eigentlich
ihr Mann war, sondern auch die rein äusserliche Notiz
hat er, daſs sie vorher schon fünf Männer gehabt habe, von
welchen man sich doch nicht vorstellen kann, daſs jeder ei-
ne besondre Spur in ihrem Gemüthe zurückgelassen hätte.
Daſs nun Jesus vermöge des durchdringenden Scharfblicks,
mit welchem er die Herzen derer, mit denen er zu thun
hatte, durchdrang, auch seine eigenen messianischen Schick-
sale und die groſsen Entwicklungsknoten seines Reiches
prophetisch vorausgesehen habe, dieſs kann man bei einer
gewissen Ansicht von seiner Person wahrscheinlich und in
jedem Falle nur höchst würdig finden: daſs er aber die
äussern Verhältnisse anderer unbedeutenden Personen im
kleinsten Detail gekannt habe, dieſs ist, je höher man sei-
ne prophetische Würde faſst, eine desto unwürdigere Vor-
stellung, und jedenfalls zerstört eine solche empirische,
nicht Allwissenheit sondern Alleswisserei, das menschliche
[515]Viertes Kapitel. §. 65.
Bewuſstsein, das wir in Jesu zu setzen haben 13). So
wenig aber dem wahren, so genau entspricht ein solches
Wissen den jüdischen Begriffen von einem Propheten und
insbesondere vom Messias: im A. T. weiſs Daniel um einen
Traum Nebukadnezars, der diesem selbst entfallen ist
(Dan. 2.); in den klementinischen Homilien ist der wahre
Prophet ὁ πάντοτε πάντα εἰδώς· τὰ μεν γεγ[ο]νότα ὡς ἐγένετο,
τὰ δὲ γινόμενα ὡς γίνεται, τὰ δὲ ἐσόμεια ὡς ἔςαι
14); die
Rabbinen zählen eine solche Allwissenheit unter den Kenn-
zeichen des Messias auf, schreiben sie auch dem Moses und
Salomo zu, und bemerken, daſs Bar Cochba an dem Man-
gel derselben als Pseudomessias erkannt worden sei 15).


Weiter spricht nun Jesus (V. 23 ff.) gegen das Weib,
um mit Hase zu reden, den höchsten Grundsatz seiner
Religion aus, geistige Verehrung Gottes durch ein frommes
Leben, mit Aufhebung jedes Ceremonialdienstes, und be-
kennt sich offen als den Gründer einer solchen Gottesver-
ehrung, als den Messias. Schon an einem andern Orte
hat es sich als unwahrscheinlich gezeigt, daſs Jesus, der
seinen eigenen Jüngern erst verhältniſsn äſsig spät sich als
den Messias zu erkennen gab, schon früher einem samari-
schen Weibe eine bestimmte Eröffnung hierüber sollte ge[-]
macht haben. Hier aber muſs man noch insbesondere fra[-]
gen: in welcher Hinsicht war denn dieses Weib einer s[o]
hohen Mittheilung würdig, wie sie nicht einmal den Jün-
gern mit so klaren Worten zu Theil geworden ist? was
konnte Jesum bewegen, den Blick einer Person in die weite
Ferne der Religionsgeschichte ausschweifen zu machen, der
es am besten gethan hätte, in ihr eigenes Innere geführt,
bei der Verdorbenheit ihres Herzens festgehalten zu wer-
den? Nur das, wenn er um jeden Preis von der Frau,
ohne Rücksicht auf ihre Besserung, ausser dem Anerkennt-
33*
[516]Zweiter Abschnitt.
niſs seiner prophetischen Gabe auch noch das seiner Mes-
sianität sich erzwingen wollte, wozu jene Wendung des
Gesprächs nothwendig schien. So einseitig aber kann die
eigne Absicht Jesu nicht gewesen sein, von welchem wir
sonst eine angemessenere Behandlung der Menschen ken-
nen, sondern nur die Absicht der verherrlichenden Sage
oder eines idealisirenden Biographen. Aber auch an sich
schon ist die Verkündigung V. 21. 23 f. so einzig in ihrer
Art, sie geht so weit über Alles hinaus, was wir sonst im
Munde Jesu von universalistischen Aussprüchen finden,
daſs man gegen sie Verdacht schöpfen müſste, wenn sie
auch in angemessenerem Zusammenhang stände.


Indessen, fährt die Erzählung V. 27. fort, kamen die
Jünger Jesu mit Lebensmitteln aus der Stadt zurück, und
wunderten sich, daſs er gegen den rabbinischen Grund-
satz 16) mit einem Weibe sich unterhalte. Während die
Frau, durch die lezte Eröffnung Jesu aufgeregt, in die
Stadt zurückläuft, um ihre Mitbürger zur Besichtigung
des messiasartigen Fremden einzuladen, fordern ihn die
Jünger auf, von der mitgebrachten Speise etwas zu sich
zu nehmen, worauf er erwiedert: ἐγὼ βρῶσιν ἔχω φαγεῖν,
ἣν ὑμεῖς οὐκ οἴδατε
(V. 32.), was seine Jünger dahin miſs-
verstehen, es habe ihm vielleicht in ihrer Abwesenheit
jemand zu essen gebracht; eine jener fleischlichen Auffas-
sungen geistig gemeinter Aussprüche Jesu, wie sie im
vierten Evangelium stehend sind, und eben dadurch ver-
dächtig werden. Weiter folgt eine Rede über Säen und
Ernten (V. 35 ff.), welche, wenn man V. 37 f. vergleicht,
nur den Sinn haben kann, daſs, was Jesus gesäet habe,
die Jünger ernten sollten 17). Kann dieſs gleich ganz all-
gemein darauf bezogen werden, daſs Jesus die Keime der
βασιλεία τοῦ ϑεοῦ, welche unter der Pflege seiner Jünger
[517]Viertes Kapitel. §. 65.
Blüthen und Früchte trugen, zuerst in die Menschheit ge-
legt habe: so läſst sich doch zugleich eine speciellere Be-
ziehung unmöglich abweisen. Jesus sieht voraus, daſs
ihm die zur Stadt geeilte Frau Gelegenheit verschaffen
werde, in Samarien die Saat des Evangeliums auszustreuen,
und verheiſst den Jüngern, daſs sie die Früchte dieser
seiner Bemühungen einst zu genieſsen haben werden. Wer
denkt hier nicht an die schon erwähnte Ausbreitung des
Christenthums in Samarien durch Philippus und einige
Apostel, wie sie A. G. 8. uns berichtet ist? 18) Daſs Jesus
diesen Fortgang seiner Sache in Samarien nach seiner
Kenntniſs der Bewohner schon damals habe vorhersehen
können, läſst sich zwar auch bei einer natürlichen An-
sicht von der Person Jesu nicht geradezu in Abrede stel-
len; doch da dieser Zug zu einem in historischer Bezie-
hung mehr als unwahrscheinlichen Ganzen gehört: so ist
er ebensobald aufzugeben, als sich erklären läſst, wie er
auch ohne faktischen Grund entstehen konnte. Diese Er-
klärung ist nun aber nicht weit zu suchen. Nach der ge-
wöhnlichen Tradition der ersten Gemeinde, wie sie in den
drei ersten Evangelien niedergelegt ist, hatte Jesus nur
in Galiläa, Peräa und Judäa persönlich gewirkt, nicht
ebenso in Samarien, welches jedoch nach der A. G. auch
frühzeitig das Evangelium annahm. Wie natürlich nun,
daſs die Tendenz entstand, die Thätigkeit Jesu durch die
Annahme zu vervollständigen, daſs er auch in Samarien,
und somit in allen Theilen Palästina's, den himmlischen
Samen ausgestreut habe, den Ruhm der Apostel und andern
Lehrer aber in Hinsicht jener Provinz auf den des bloſsen
Erntens zu beschränken.


Nachdem die Prüfung der einzelnen Züge der johan-
neischen Erzählung das Resultat geliefert hat, daſs wir
hier schwerlich eine wirkliche Geschichte vor uns haben,
[518]Zweiter Abschnitt.
muſs es erlaubt sein, auch den Totaleindruck des Ganzen
zu Gunsten dieses Resultates geltend zu machen. Seit
Herakleon und Origenes 19) haben sich die älteren Erklä-
rer selten enthalten, die Geschichte mit der Samariterin
allegorisch zu deuten, wovon der Grund wohl mit darin
liegt, daſs die ganze Scene eine sagenhafte, poëtische Farbe
hat. Das Lokal am Brunnen ist das idyllische Lokal der
althebräischen Sage, auf welchem sie gerne verhängniſs-
volle Begegnungen vor sich gehen läſst; daſs der Brunnen
die Jakobsquelle und das Grundstück dasjenige ist, wel-
ches nach der (aus 1 Mos. 33, 19. 48, 22. Jos. 24, 32. ge-
bildeten Sage Jakob dem Joseph geschenkt hatte, giebt
dem idyllischen Boden noch die bestimmtere Weihe des
Nationalen und Patriarchalischen, damit er um so eher
würdig sei, vom Messias betreten zu werden. An dem
[Brunnen] trifft Jesus mit einem Weibe zusammen, wel-
ches herauskommt, um Wasser zu schöpfen: ganz dieselbe
Scene, wie 1 Mos. 24, 15., wo dem am Brunnen warten-
den Elieser Rebekka mit dem Kruge begegnet, wie 1. Mos.
29, 9., wo Jakob die künftige Stammmutter Israëls, Rahel,
oder wie 2 Mos. 2, 16., wo Moses ebenso seine künftige
Gattin am Brunnen findet. Jesus begehrt von dem Weibe
zu trinken, wie Elieser von Rebekka; nachdem er sich
ihr als Messias zu erkennen gegeben, läuft sie in die Stadt
zurück und holt ihre Mitbürger heraus, wie Rebekka, nach-
dem Elieser sich als Abrahams Verwalter kund gegeben,
und Rahel, nachdem sie Jakob als Verwandter begrüſst
hatte, eilend hineinliefen und die Ihrigen holten, um den
werthen Gast zu bewillkommen. Freilich nicht eine ta-
dellose, wie die beiden nachmaligen Stammmütter des hei-
ligen Volks oder die künftige Gattin seines Gesezgebers, ist
es, welche hier Jesu begegnet; kam ja dieses Weib heraus
[519]Viertes Kapitel. §. 65.
als Repräsentantin eines unreinen Volkes, das die Ehe mit
Jehova gebrochen hatte und jezt in falschem Gottesdienste
lebte, daher es von ihr nicht wie von Rebekka heiſsen
konnte: παρϑένος ἦν, ἀνὴρ οὐκ ἔγνω αὐ[τ]ὴν (LXX), sondern
Jesus muſste ihr sagen: πέντε ἄνδρας ἔσχεs, καὶ νῦν ὃν
ἔχεις, οὐκ ἔςι σου ἀνὴρ
, und auch der gute Wille des Wei-
bes, verbunden mit schwacher Kraft und Einsicht, bezeich-
net ganz den damaligen Zustand des Volks von Samaria.
So ist das Zusammentreffen Jesu mit dem samarischen Weibe
nur die poëtische Darstellung seiner gleich darauf erzähl-
ten Wirksamkeit unter den Samaritanern, wie diese selbst
nur das sagenhafte Vorspiel jener nach Jesu Tode erfolg-
ten Ausbreitung des Christenthums in Samarien ist.


Da sich somit die Erzählung von einem Verhältniſs,
welches Jesus als Messias mit den Samaritanern angeknüpft
hätte, als unhistorisch ausgewiesen hat: so bliebe nur noch
seine denselben günstige Beobachtung Luc. 17, 16. neben
der ungünstigen Luc. 9, 53, und neben dem Verbote Matth.
10, 5. die lobende Parabel Luc. 10, 30 ff. und die Anwei-
sung, in Samarien das Evangelium zu verkündigen A. G. 1, 8.
Da nun diese ausdrückliche Anweisung als eine erst nach
der Auferstehung Jesu geschehene bis zur Untersuchung
dieses Faktums uns problematisch bleiben muſs: so fragt
sich, ob auch ohne sie und unerachtet jenes Verbots das
unbedenkliche Verfahren der Apostel A.G. 8, sich erklären
läſst, oder ob, sei es von Seiten der Apostelgeschichte ein
Übergehen stattgehabter Bedenklichkeiten, oder lieber von
Seiten des Matthäus eine zu partikularistische Zeichnung
Jesu angenommen werden soll? was hier nicht weiter zu
untersuchen ist.


[520]Zweiter Abschnitt.

Fünftes Kapitel.
Die Jünger Jesu.


§. 66.
Die Berufung der ersten Begleiter. Differenz zwischen den beiden
ersten Evangelien und dem vierten.


Nach der übereinstimmenden Erzählung der zwei er-
sten Evangelien (Matth. 4, 18—22. Marc. 1, 16—20.) hat
Jesus, am galiläischen See wandelnd, zuerst die beiden
Brüder Petrus und Andreas, unmittelbar darauf den Jako-
bus und Johannes, von den Fischernetzen weg zu seiner
Nachfolge berufen. Auch das vierte Evangelium erzählt
gleich zu Anfang (1, 35—52.), wie sich die ersten Schüler
an Jesum anschloſsen, unter welchen auch hier Petrus und
Andreas, und wahrscheinlich auch Johannes, sich befinden,
indem der ungenannte Begleiter des Andreas gewöhnlich
auf jenen gedeutet wird. Jakobus fehlt in dieser Erzählung;
statt seiner wird noch die Berufung des Philippus und Na-
thanaël berichtet. Doch auch von den identischen Perso-
nen sind alle näheren Umstände ihres Zusammentreffens
mit Jesu verschieden erzählt. Während nach den beiden
Synoptikern der Schauplaz desselben das Ufer des galiläi-
schen Sees ist, kommen im vierten Evangelium Andreas,
Petrus und der Ungenannte in Peräa in der Nähe des Jor-
dan, Philippus und Nathanaël auf dem Weg von da nach
Galiläa zu Jesu. Während ferner dort je ein Brüderpaar
zusammen berufen wird, treffen hier zuerst Andreas und
der Ungenannte, dann Petrus, hierauf Philippus und Natha-
naël mit Jesu zusammen. Hauptsächlich aber, während bei
Matthäus und Markus die Brüderpaare von ihrem Fischer-
geschäft hinweg unmittelbar von Jesu berufen werden,
[521]Fünftes Kapitel. §. 66.
giebt Johannes als Situation der Berufenen nur überhaupt
ein ἕργεσϑαι und εὑρίσκεσϑαι an, und läſst von Jesu un-
mittelbar nur den Philippus berufen werden; den Andreas
und den Ungenannten weist der Täufer, den Petrus bringt
Andreas, den Nathanaël Philippus zu ihm hin.


Scheinen so die beiden Erzählungen verschiedene Er-
eignisse zu betreffen, und fragt es sich, welche das frühe-
re und welche das spätere? so scheint Johannes die Ge-
schichte noch etwas früher einzureihen, weil er sie schon
vor Jesu Rückkehr von seiner Taufe nach Galiläa erfolgen
läſst die Synoptiker erst nach derselben, zumal wenn, nach
einer gewöhnlichen Berechnung, die Rückreise, von welcher
die Synoptiker ausgehen, nicht die von der Taufe, sondern
von dem ersten Paschafest sein soll. Auch der inneren
Beschaffenheit des Vorgangs nach scheint das vom vierten
Evangelium Erzählte nicht das Spätere sein zu können.
Denn waren nach den Synoptikern Andreas und Johannes
bereits Jesu nachgefolgt, so konnten sie nicht wieder, wie
im vierten Evangelium, zum Gefolge des Täufers sich ge-
sellen, noch brauchte dieser erst sie auf Jesum hinzuwei-
sen; ebenso wenn Petrus schon unmittelbar von Jesu zum
Menschenfischer berufen war, brauchte ihn nicht erst sein
Bruder Andreas zu ihm zu führen. Dagegen stimmen die
Ausleger darin überein, daſs sowohl die synoptische Erzäh-
lung sich eigne, die johanneische vor sich, als diese, jene
nach sich zu haben. Das vierte Evangelium, sagt man 1),
erzähle nur das erste Bekanntwerden Jesu mit jenen Män-
nern, auf welches hin sie noch nicht sogleich seine bestän-
digen Begleiter geworden seien; erst bei der von den Syn-
optikern aufbehaltenen Gelegenheit habe sie Jesus zum
beständigen Geleite, zur eigentliehen Jüngerschaft berufen.


[522]Zweiter Abschnitt.

Allein wenn man in der synoptischen Relation die Auf
forderung Jesu: δεῦτε ὀπίσω μου und die Bezeichnung des
Erfolgs durch ἠκολούϑησαν αὐτῷ von beständiger Begleitung
versteht: so fällt es auf, wie man in der johanneischen
Erzählung das gleiche ἀκολούϑει μοι in andrer Bedeutung
nehmen kann, und man muſs die Consequenz von Paulus
loben, wenn er nicht nur in der lezteren, sondern auch in
der ersteren Erzählung eine Aufforderung zu einer bloſs
vorübergehenden Begleitung auf dem nächsten Gange fin-
det 2). Allein diese Deutung der synoptischen Erzählung
ist unmöglich. Wie hätte doch Petrus später im Namen
seiner Mitjünger Jesum so nachdrücklich erinnern können:
ἰδοὺ ἡμεῖς άφήκαμεν πάντα καὶ ἠκολουϑήσαμέν σοι, und dazu
fragen: τί ἄρα ἔςαι ἡμῖν; und wie hätte Jesus den ἀκολε-
ϑήσαντες αὐτῷ
und jedem, der um seinetwillen ἀφῆκεν
οἰκίας κ. τ. λ.
hundertfältigen Ersaz verheiſsen können,
(Matth. 19, 27 ff.) wenn dieses Verlassen und Nachfolgen
und also auch das ganz ebenso bezeichnete in unserer Er-
zählung nur ein so vorübergehendes und unterbrochenes
gewesen wäre? Wird schon hieraus wahrscheinlich, daſs
auch das ἀκολούϑει μοι bei Johannes die Anknüpfung eines
bleibenden Verhältnisses bezeichnen werde: so sind über-
dieſs in dem Zusammenhang der johanneischen Erzählung
die deutlichsten Spuren hievon zu finden. Ganz nämlich,
wie bei den Synoptikern vor dieser Berufungsscene Jesus al-
lein erscheint, nachher aber bei jeder schicklichen Gelegenheit
die Begleitung seiner μαϑηταὶ erwähnt wird: so tritt auch
im vierten Evangelium der vorher unbegleitete Jesus von je-
nem Vorfall an in Gesellschaft von Jüngern auf (2, 2. 12.
17. 3, 22. 4, 8. 27 u. s.), und die Annahme, daſs diese
in Peräa gewonnenen Jünger nach Jesu Rückkehr nach
Galiläa sich wieder zerstreut haben 3), ist den Evangelien nur
[523]Fünftes Kapitel. §. 66.
vom harmonistischen Bestreben aufgedrungen. Indeſs, auch
dieſs vorausgesezt, konnten sie ihm doch in der kurzen Zeit,
welche jene Entfernung immer nur gedauert haben kann,
unmöglich so entfremdet werden, daſs er so, wie in der
synoptischen Berufungsgeschichte der Fall ist, die Bekannt-
schaft mit ihnen ganz wieder wie von vorne anzufangen
sich veranlaſst finden konnte. Namentlich wenn er den
Simon schon bei jener angeblich ersten Zusammenkunft
durch den Beinamen Κηφᾶς auf das individuellste ausge-
zeichnet hatte, konnte er nicht wohl den Antiklimax ma-
chen, ihm bei einer späteren Gelegenheit mit der Berufung
zum ἁλιεὺς ἀνϑρώπων entgegenzukommen, was eine ihm
mit allen übrigen Jüngern gemeinsame Bestimmung aus-
drückte.


Als einen besondern Vortheil dieser Stellung der bei-
den Erzählungen heben die rationalistischen Erklärer dieſs
hervor, daſs so allein begreiflich werde, worüber man
sonst im höchsten Grade staunen müſste, wie sowohl Je-
sus nur so im Vorbeigehen auf den ersten Blick vier Fi-
scher zu Jüngern habe wählen und darunter gleich die
zwei ausgezeichnetsten Apostel treffen können, als auch
wie die vier geschäftigen Männer auf den räthselhaften
Ruf eines ihnen nicht näher bekannten Mannes hin so-
gleich ihr Gewerbe verlassen und sich zu seiner Beglei-
tung haben hergeben mögen; bei Vergleichung des vierten
Evangeliums sehe man nämlich, daſs Jesus diese Männer
längst vorher kennen gelernt und sich gleicherweise ihnen
in seiner Vortrefflichkeit gezeigt hatte, woraus sich nun
sowohl das Glückliche seiner Wahl, als auch ihre Bereit-
willigkeit ihm zu folgen, erkläre. Allein gerade dieser
scheinbare Vortheil ist es, der über die bezeichnete Stel-
lung der beiden Erzählungen vollends den Stab bricht.
Denn entschiedener kann nichts gegen die Absicht der
beiden ersten Evangelisten sein, als die Voraussetzung ei-
nes schon vorher zwischen Jesu und den berufenen Brü-
[524]Zweiter Abschnitt.
derpaaren bestandenen Verhältnisses. Legt nämlich die
Erzählung bei beiden darauf so groſses Gewicht, daſs sie
εὐϑέως ihre Netze verlassen und sich zur Nachfolge Jesu
entschlossen haben: so muſs dieſs im Sinne der Referenten
etwas Ausserordentliches gewesen sein, was es nicht war,
wenn die Männer schon früher im Gefolge Jesu gewesen
waren. Und ebenso in Bezug auf Jesum liegt die Pointe
der Erzählung darin, daſs er mit prophetischem Geiste
gleich auf den ersten Blick die rechten herausgefunden,
daſs er nach Joh. 2, 25. οὐ χρείαν εἶχεν, ἵνα τις μαρτυρήσῃ
περὶ τοῦ ἀνϑρώπου
, weil er αὐτὸς ἐγίνωσκε, τί ἦν ἐν τῷ ἀν-
ϑρώπῳ
, wodurch er einer Forderung genügte, welche die
Juden an den Messias stellten.


Macht so jede der zwei verschiedenen Erzählungen
darauf Anspruch, das erste Bekanntwerden Jesu mit sei-
nen vornehmsten Jüngern zu beschreiben: so kann nur
Eine richtig, die andere muſs irrig sein 4), und es ist
nun nach innern Gründen zu untersuchen, welche? Hier
muſs man in Bezug auf die Darstellung der Synoptiker
Paulus Recht geben, daſs man sich nicht genug wundern
könnte, wenn gleich das erste Zusammentreffen Jesu mit
jenen Männern sich so gemacht hätte, wie sie erzählen.
Ein Durchschauen des Menschen auf den ersten Blick,
wie es Jesus hier erprobt hätte, gienge weit über Alles
hinaus, was der glücklichsten und geübtesten Menschen-
kenntniſs natürlicherweise möglich ist. Das Innere des
Menschen ist nur aus einer Reihe von Reden und Handlun-
gen sicher zu erkennen: eine Gabe, ohne diese Vermittlung
in das Gemüth der Andern einzudringen, streift schon an
das Visionäre und damit in ein Gebiet hinein, für welches
der von den Rabbinen für diese Gabe des Messias gebrauch-
te Ausdruck: odorando judicare5) keineswegs zu mon-
[525]Fünftes Kapitel. §. 66.
strös ist. Ebenso ist von Seiten der Jünger die ungesäum-
te Nachfolge mehr als sich natürlicherweise erwarten läſst,
da Jesus damals in Galiläa noch nicht den Ruhm wie spä-
ter hatte, und man müſste aus dieser Bereitwilligkeit fast
auf eine unmittelbar in die Gemüther eindringende, von
Vorbereitung und Gründen unabhängige Kraft der Stimme
und des Willens Jesu schlieſsen 6), was zu dem oben be-
zeichneten visionären noch ein magischer Zug wäre, um
das Unglaubliche der Erzählung zu vollenden.


Sind auf diese Weise die negativen Gründe gegen den
historischen Charakter der Erzählung stark genug, so muſs
man sich für eine mythische Auffassung derselben entschei-
den, sobald sich noch positiv zeigen läſst, wie sie auch
ohne historische Grundlage auf traditionelle Weise sich
bilden konnte. Hiezu lag nun aber hinreichender Anlaſs
nicht allein in der schon angeführten jüdischen Vorstel-
lung vom Messias als Herzenskündiger, sondern auch ein
ganz specielles Vorbild dieser Apostelberufung war in der
Erzählung (1 Kön. 19, 19—21.) von der Art und Weise
gegeben, wie der Prophet Elia den Elisa zu seiner Nach-
folge bestimmt haben sollte. Wie hier Jesus die Brüder-
paare von den Netzen und dem Fischfang: so ruft dort
der Prophet seinen künftigen Schüler von den Rindern
und dem Pfluge weg; beidemale von einer einfachen ma-
teriellen Arbeit zum höchsten geistigen Berufe, ein Con-
trast, welchen, wie aus der römischen Geschichte bekannt,
die Sage besonders gerne entweder aufbewahrt oder macht.
Ferner, wie die Fischer auf den Ruf Jesu ihre Netze ver-
lassen und ihm nachfolgen: so Elisa, als Elia seinen Man-
tel auf ihn warf, κατέλιπε τὰς βόας καὶ κατέδραμεν ὀπίσω
Ηλιου
(V. 20. LXX). Nun aber folgt eine bemerkenswerthe
Differenz. Der berufene Prophetenschüler bat, ehe er sich
ganz an Elia anschlöſse, sich noch von Vater und Mutter
[526]Zweiter Abschnitt.
verabschieden zu dürfen, und der Prophet nimmt keinen
Anstand, ihm dieſs zu gestatten, wenn nur Elisa sofort
wieder zu ihm zurückkehren würde. Ähnliche Bitten wer-
den auch Jesu (Luc. 9, 59 ff. Matth. 8, 21 f.) von Einigen
gestellt, die er zur Nachfolge berufen, oder die sich frei-
willig dazu erboten hatten; aber Jesus gewährt diese Ge-
suche nicht, sondern weist den Einen, welcher zuvor sei-
nen Vater zu begraben wünschte, zu augenblicklichem An-
tritt seiner Jüngerschaft an, den Andern aber, der sich
ausgebeten hatte, sich erst noch von seiner Familie ver-
abschieden zu dürfen, weist er zurück; wogegen von den
beiden Fischerpaaren hier gesagt wird, daſs sie, ohne um
Frist zu bitten, Alles, die Zebedaiden selbst ihren Vater,
im Stiche gelassen haben. Könnte es sich klarer, als
durch diesen Zug, verrathen, wie die ganze Erzählung
bei Matthäus und Markus nur eine überbietende Nachbil-
dung der A. T.lichen ist, um, wie Paulus richtig sieht 7),
zu zeigen, daſs Jesus als Messias noch entschlossenere
und mit grösserer Aufopferung verbundene Nachfolge ge-
fordert habe, als Elias der Prophet verlangte und verlan-
gen durfte? Die historische Grundlage der Erzählung mag
sein, daſs mehrere der vorzüglichsten Jünger Jesu, wie
namentlich Petrus, als Anwohner des galiläischen Sees,
Fischer gewesen waren, weſswegen Jesus sie in ihrer
späteren apostolischen Wirksamkeit bisweilen als ἁλιεῖς
ἀνϑρώπων
bezeichnet haben mag. Ihr Verhältniſs zu Jesu
aber machte sich ohne Zweifel so allmählich, wie sonst
menschliche Verhältnisse pflegen, nur daſs uns von diesem
natürlichen Gang der Sache keine Kunde aufbehalten ist.


Wäre somit durch Wegräumung des synoptischen Be-
richtes für den johanneischen Raum gemacht: so kann
doch, ob er diesen als historischer einnehmen darf, erst
aus einer Prüfung seiner innern Beschaffenheit sich erge-
[527]Fünftes Kapitel. §. 66.
ben. Hier erregt es gleich kein gutes Präjudiz, daſs Jo-
hannes der Täufer es ist, welcher Jesu die zwei ersten
Schüler zugewiesen haben soll; denn, ist in der früher
gegebenen Darstellung des Verhältnisses zwischen Jesu
und dem Täufer nur irgend etwas Wahres: so konnten
zwar wohl Johannisjünger aus eignem Antrieb sich an
Jesus, ihren früheren Mitschüler, anschlieſsen, aber dem
Täufer fiel nichts weniger ein, als Jemanden von sich weg
an Jesum zu verweisen, und es scheint dieser Zug sein
Dasein nur dem apologetischen Interesse des vierten Evan-
geliums zu verdanken, durch das Zeugniſs des Täufers die
Sache Jesu zu stützen. Darüber ferner, daſs Andreas, nach-
dem er einen Abend mit Jesu zusammengewesen, ihn seinem
Bruder sogleich mit den Worten: εύρήκαμεν τὸν Μεσσίαν an-
gekündigt haben soll (1, 42) und auf ähnliche Weise Phi-
lippus gleich nach seiner Berufung sich gegen Nathanaël
über ihn ausspricht (V. 46.), weiſs ich mich nicht stark
genug auszudrücken, wie unmöglich es ist. Aus der, nach
dem oben Ausgeführten, glaubwürdigen Darstellung der
Synoptiker wissen wir besser, wie lange Zeit es brauchte,
bis die Jünger Jesum als den Messias anerkannten, und
dieſs durch ihren Sprecher Petrus laut werden lieſsen, des-
sen späte Einsicht Jesus mit Unrecht als Offenbarung ge-
priesen haben würde, wenn sie ihm gleich Anfangs durch
seinen Bruder Andreas entgegengebracht worden wäre.
Ebenso anstöſsig ist die Art, wie sofort Jesus den Simon
empfangen haben soll. Schon das, daſs er, nachdem er
ihn in das Auge gefasst, ihm sagt: σὺ εἶ Σίμων, ὑ υἱὸς
Ἰωνᾶ
klingt nach Bengel's richtiger Beobachtung 8) so, als
sollte hier Jesu eine übernatürliche Kenntniſs des Namens
und der Abkunft eines ihm sonst unbekannten Mannes zu-
geschrieben werden, in demselben Sinne, wie er von den
Männern der Samariterin und in unserer Stelle von dem
[528]Zweiter Abschnitt.
Aufenthalt des Nathanaël unter dem Feigenbaume weiſs.
Jedenfalls aber, wenn er ihm nun den bedeutsamen Bei-
namen Κηφᾶς oder Πέτρος zulegt, so ist dieſs, sofern man
dieses Diktum nicht mit Paulus durch Beziehung auf die
Körpergestalt des Mannes bis zum Scurrilen herunterzie-
hen will 9), so gemeint, daſs Jesus auf den ersten Anblick
mit dem Auge des καρδιογνώςης sein Inneres durchschaut,
und nicht blos seine allgemeine Befähigung zum Apostolat,
sondern auch die individuellen Eigenschaften erkannt habe,
welche den Mann mit einem Felsen vergleichbar machten.
Diesen Beinamen, sammt einer Erklärung seiner Bedeu-
tung, läſst Matthäus dem Simon erst nach längerem Um-
gang mit Jesu und nachdem er schon manche Proben sei-
nes eigenthümlichen Wesens abgelegt, gegeben werden
(16, 18): weit natürlicher offenbar (obgleich gar wohl die
christliche Sage von einem Namen, welchen Simon viel-
leicht von jeher geführt hatte, weil er bedeutsam schien,
Jesum als den Urheber dargestellt haben könnte), als der
vierte Evangelist, wenn er Jesum gleich auf den ersten
Blick die eigenthümliche Bedeutung weghaben läſst, welche
Simon für seine Sache dereinst gewinnen sollte; ein odo-
rando judicare
, welches über das von den Synoptikern
behauptete in dem Grade hinausgeht, in welchem das σὺ
κληϑήσῃ Κηφᾶς
eine genauere Kenntniſs des Mannes vor-
aussezt, als das ποιήσω ὑμᾶς ἁλιεῖς ἀνϑρώπων. Auch nach
einer längeren Unterredung mit Petrus, wie Lücke eine
voraussezt 10), konnte sich Jesus keinen so bestimmten
Ausspruch über seinen Charakter erlauben, ohne entweder
Herzenskündiger zu sein, oder eines vorschnellen Urtheils
beschuldigt werden zu müssen.


Vollends aber die Verhandlung mit Nathanaël ist ein
Gewebe von Unwahrscheinlichkeiten. Wie Philippus ihm
[529]Fünftes Kapitel. §. 66.
von einem Messias aus Nazaret sagt, macht er die berühm-
te Frage: ἐκ Ναζαρὲτ δύναταί τι ἀγαϑὸν εἶναι (V. 47.);
Daſs nun schon, als Jesus auftrat, Nazaret in besonderer
Verachtung gestanden, läſst sich, wie auch Lücke bemerkt 11),
durch kein einziges historisches Datum belegen, und es hat
alle Wahrscheinlichkeit, daſs erst von den Gegnern des
Christenthums dieser Vaterstadt des von ihnen verworfenen
Messias ein Schandfleck angehängt worden ist. Zu Jesu
Zeit stand Nazaret nur in der Eigenschaft einer galiläischen
Stadt überhaupt bei den Judäern in Verachtung; aber in
diesem Sinne konnte Nathanaël nicht auf dasselbe herab-
sehen, da er selbst ein Galiläer war (21, 2.). Leicht könnte
also hier eine spottende Frage, welche zur Zeit der Ab-
fassung des vierten Evangeliums die Christen oft von ihren
Gegnern hören muſsten, schon einem Zeitgenossen Jesu in
den Mund gelegt sein, um durch die Art, wie diesem sein
Zweifel benommen wird, auch Andern ein ἔρχου καὶ ἴδε zu-
zurufen. — Wie nun Nathanaël auf Jesum zukommt, soll
dieser über ihn das Urtheil gefällt haben: ἴδε ἀληϑῶς Ἰσ-
ραηλίτης, ἐν ᾦ δόλος οὐκ ἔςι
(V. 48.). Paulus meint, von
Nathanaël aus Kana, wohin er eben zur Hochzeit von Ver-
wandten gieng, könne Jesus wohl schon vorher gewuſst
haben 12). Allein, war Nathanaëls Charakter Jesu auf na-
türlichem Wege bekannt geworden, so muſste er auf des-
sen Frage: πόϑεν με γινώσκεις; entweder ihn an die Ge-
legenheit erinnern, bei welcher sie schon früher Bekannt-
schaft gemacht, oder sich auf Andre berufen, die ihm von
Nathanaël schon Gutes gesagt hatten; wenn er statt des-
sen von einem Wissen um den Aufenthalt Nathanaëls un-
ter einem Feigenbaum spricht, welches den Schein des Wun-
derbaren hat: so wäre ein solches Benehmen, wenn irgend
eines, Charlatanerie gewesen. Da aber der Referent Jesu
Das Leben Jesu I. Band. 34
[530]Zweiter Abschnitt.
so etwas nicht zuschreiben will: so geht seine Intention
unverkennbar dahin, Jesu ein übernatürliches Wissen um
den Charakter Nathanaëls zuzuschreiben. Ebensowenig ist
das ὄντα ὑπὸ τὴν συκῆν εἶδόν σε durch den Paulus'schen
Ausspruch: wie oft sieht und beobachtet man einen, der
es selbst nicht bemerkt! erklärt. Zwar denken auch Lücke
und Tholuck hier an ein natürliches Beobachten, nur daſs
sie Jesum den Nathanaël in einer Situation beobachten las-
sen, welche, wie etwa Gebet und Studium des Gesetzes,
ihm einen Schluſs auf den Charakter des Mannes möglich
gemacht habe. Allein, wollte Jesus sagen: wie sollte ich
von deiner Redlichkeit nicht überzeugt sein, da ich ja dein
eifriges Bibelstudium und brünstiges Gebet unter der συκῆ
beobachtet habe? so müſste doch wohl ein προσευχόμενον
oder ἀναγινώσκοντα dabeistehen; ohne diesen Beisaz kann
als Sinn des Ausspruchs nur dieser erscheinen: mein Ver-
mögen, in dein Inneres zu blicken, kannst du daraus er-
kennen, daſs ich dich in einer Lage, in welcher du auf
natürliche Weise keinen Beobachter hattest, gesehen habe,
— wobei es also auf eine bestimmte Situation des Gesehe-
nen nicht ankommt, sondern einzig auf das Sehen Jesu,
welches, sofern aller Nachdruck auf demselben liegt, kein
natürliches gewesen sein kann. Ein solches Fernsehen bei
Jesu anzunehmen ist freilich sehr abenteuerlich, aber de-
sto angemessener dem damaligen Begriffe von einem Pro-
pheten und dem Messias. Ein ganz ähnliches Fernsehen
und Fernhören wird schon im A. T. dem Elisa zugeschrie-
ben. Als (nach 2 Kön. 6, 8 ff.) der König von Syrien ge-
gen Israël Krieg führte, zeigte Elisa jedesmal dem israëli-
tischen König an, wo die Feinde sich gelagert hatten, und
als der König von Syrien Verrath durch Überläufer vermu-
thete, wurde er belehrt, daſs der israëlitische Prophet Al-
les wisse, was der König in seinem innersten Gemach rede.
Wie konnte man hinter diesem Seherblick des Propheten
den Messias zurückbleiben lassen? Insbesondere aber unse-
[531]Fünftes Kapitel. §. 66.
rem Evangelisten diente dieser Zug, einen Klimax hervor-
zubringen, und Jesum von dem Durchschauen eines unmit-
telbar Gegenwärtigen (V. 43.) zum Durchblicken eines nur
erst sich Nähernden (V. 48.), und nun vollends zum Wahr-
nehmen eines Entfernten aufsteigen zu lassen. Daſs Jesus
hier noch einen Schritt weiter in der Steigerung geht, und
sagt, diese Probe seiner messianischen Fernsicht sei noch
eine Kleinigkeit gegen das, was Nathanaël noch zu sehen
bekommen werde, daſs über ihm als dem Messias aus ge-
öffnetem Himmel göttliche Kräfte gleichsam auf- und nie-
dersteigen werden (V. 51 f.), beweist keineswegs, wie Pau-
lus
meint, daſs in jener ersteren Probe nichts Wunderba-
res gewesen, da es auch im Wunder eine Steigerung giebt.


Sind wir so in dieser johanneischen Erzählung bei
jedem Schritte auf Schwierigkeiten, und zum Theil auf
gröſsere als in der synoptischen, gestoſsen: so erfahren wir
über die Art, wie die ersten Jünger zu Jesu kamen, durch
die eine so wenig als durch die andere. Die Abweichung
der johanneischen von der synoptischen möchte ich nicht
mit dem Verfasser der Probabilien 13) daraus herleiten,
daſs der vierte Evangelist die Erwähnung des dem Spotte
ausgesezten Fischerhandwerks der vornehmsten Apostel ha-
be umgehen wollen, da er ja im 21. Kap., welches auch
Bretschneider dem Verfasser des übrigen Evangeliums zu-
schreibt, desselben unbedenklich Erwähnung thut; sondern,
daſs sie gerade vom Fischen weg berufen worden seien,
scheint in der Region, wo das vierte Evangelium entstand,
nicht verlautet, und so daselbst die Scene sich theils viel-
leicht nach der nicht unwahrscheinlichen historischen Nach-
richt, daſs einige Jünger Jesu früher in der Schule des
Täufers gewesen seien, theils aus dem Interesse für den
Täufer und für das übernatürliche Wissen Jesu gebildet
zu haben.


34*
[532]Zweiter Abschnitt.

§. 67.
Der Fischzug des Petrus.


Anders wird die Berufung des Petrus und seiner Ge-
nossen zu Menschenfischern von Lukas (5, 1—11.) erzählt.
Abgesehen von den Kleinigkeiten, auf welche z. B. Storr
Gewicht legt, um seine Erzählung von der der beiden ersten
Evangelisten zu trennen 1), liegt ein wesentlicher Unterschied
darin, daſs bei Lukas das Anschliessen der Fischer an Jesus
nicht auf eine bloſse Einladung hin, sondern in Folge eines rei-
chen Fischzugs geschieht, zu welchem Jesus dem Petrus ver-
holfen hatte. Giebt sich so die Relation des Lukas für die
Erzählung einer andern Begebenheit, als welche seine Vor-
männer berichten, so ist nun zunächst ihre Glaubwürdig-
keit für sich zu untersuchen, und dann ihr Verhältniſs zu
der des Matthäus und Markus zu bestimmen.


Jesus, am galiläischen See vom Volke gedrängt, be-
steigt ein Schiff, um in [e]iniger Entfernung vom Ufer un-
gehinderter zum Volke sprechen zu können; nach geendig-
ten Reden fordert er den Simon, den Eigenthümer des Kah-
nes, auf, tiefer in den See hineinzufahren, und da die Ne-
ze zum Fang auszuwerfen. Simon, obwohl wenig ermuthigt
durch den schlechten Erfolg der Fischerarbeit in der ver-
gangnen Nacht, erklärte sich doch bereit, und der Erfolg
war ein so ausserordentlich reicher Fang, daſs Petrus und
seine Genossen Jakobus und Johannes (Andreas wird hier
nicht erwähnt) in das äusserste Erstaunen, der Erstere
selbst in eine Art von Furcht vor Jesu als einem höheren
Wesen gerieth, und auf die Anrede Jesu an Petrus: μὴ
φοβοῦ· ἀπὸ τοῦ νῦν ἀνϑρώπους ἔσῃ ζωγρῶν
, alle drei Alles
verlieſsen und ihm nachfolgten.


Daſs, was hier erzählt wird, auf natürliche Weise
möglich gewesen, suchen die rationalistischen Ausleger ange-
legentlich darzuthun. Nach ihnen war der auffallende Erfolg
theils Werk einer richtigen Beobachtung Jesu, theils glück-
[533]Fünftes Kapitel. §. 67.
licher Zufall. Tiefer in den See hineinfahren wollte Jesus
nach Paulus2) zuerst nur, um das Volk zu entlassen, und
erst als er im Hinfahren einen fischreichen Platz zu be-
merken glaubte, forderte er den Petrus auf, hier das Netz
auszuwerfen. Ein doppelter Widerspruch gegen die evan-
gelische Erzählung. Wenn doch Jesus in unmittelbarer
Verbindung sagt: ἐπανάγαγε εἰς τὸ βάϑος, καὶ χαλάσατε
τὰ δίκτυα κ. τ. λ.
so hatte er offenbar schon bei der Ab-
fahrt die Absicht, einen Fischzug zu veranlassen, und
sprach er diese schon am Ufer aus, so konnte seine Hoff-
nung auf einen glücklichen Fang nicht Resultat der Beobach-
tung einer fischreichen Stelle auf der Höhe des Sees sein,
die sie noch gar nicht erreicht hatten. Man müſste also
mit dem Verfasser der natürlichen Geschichte sagen, Jesus
habe überhaupt vermuthet, daſs unter den gegebenen Um-
ständen (vielleicht bei herannahendem Sturme) der Fang
auf der Mitte des Sees jezt besser als in der Nacht gelin-
gen werde 3). Allein, vom natürlichen Gesichtspunkt aus-
gegangen, wie sollte Jesus dieſs besser zu beurtheilen ge-
wuſst haben, als die Männer, welche ihr halbes Leben als
Fischer auf dem See zugebracht hatten? Gewiſs, bemerk-
ten die Fischer nichts, was ihnen zu einem guten Fange
Hoffnung machen konnte: so kann auch Jesus etwas der
Art natürlicherweise nicht bemerkt haben, und das Zusam-
mentreffen des Erfolgs mit seinem Worte muſs, den natür-
lichen Standpunkt festgehalten, rein auf Rechnung des Zu-
falls geschrieben werden. Doch welche unbesonnene Ver-
messenheit, so auf Gerathewohl etwas zu versprechen, was
nach dem Vorgang der verflossenen Nacht eher fehlschla-
gen als gelingen konnte! Aber, sagt man, Jesus fordert
ja den Petrus auch nur auf, noch einen Versuch zu machen,
ohne ihm etwas Bestimmtes zu versprechen 4). Allein in
[534]Zweiter Abschnitt.
[s]einer bestimmten Aufforderung, welche sich auch durch
die Bemerkung des Petrus, wie ungünstig die Umstände
dem Fange seien, nicht irren läſst, liegt doch zugleich ein
Versprechen, und schwerlich hat das χαλάσατε κ. τ. λ. in
unsrer Stelle einen andern Sinn, als bei der ähnlichen Sce-
ne Joh. 21. das βάλετε εἰς τὰ δεξιὰ μέρη τοῦ πλοίου τὸ δίκ-
τυον, καὶ εὑρήσετε
(V. 6.). Wenn ferner Petrus selbst
seine Bedenklichkeit in den Worten zurücknimmt: ἐπὶ δὲ
τῷ ῥήματί σου χαλάσω τὸ δίκτυον
, so mag zwar ῥῆμα nicht
geradezu durch Zusage, sondern durch Befehl zu überse-
zen sein, in jedem Falle aber liegt die Hoffnung darin,
daſs, was Jesus gebiete, nicht erfolglos sein werde. Diese
Hoffnung, wenn sie Jesus nicht hatte erregen wollen, muſs-
te er alsbald wieder niederschlagen, um sich nicht der Be-
schämung durch einen etwaigen ungünstigen Erfolg auszu-
setzen, und in keinem Falle durfte er nach gelungenem Fang
den Fuſsfall des Petrus annehmen, wenn er ihn nicht bes-
ser, als durch einen auf gut Glück gegebenen Rath ver-
dient hatte.


Es bleibt also der ganzen Tendenz der Erzählung zu-
folge nichts übrig, als hier ein Wunder anzuerkennen; was
nun entweder mehr als Wunder der Wirksamkeit oder des
Wissens gefaſst werden kann. Zunächst ergäbe sich die
erste Auffassungsweise, daſs Jesus durch seine Wunder-
macht die Fische im See dahin zusammengetrieben hätte,
wo er den Petrus das Netz auswerfen hieſs. Nun daſs Je-
sus auf Menschen, an deren Geist seine Geisteskraft ei-
nen Anknüpfungspunkt hatte, unmittelbar durch seinen
Willen einzuwirken vermochte, dieſs kann man sich viel-
leicht noch denken, ohne von den Gesetzen psychologischer
Wirksamkeit allzuweit abzukommen; aber wie er auf ver-
nunftlose Wesen, und zwar nicht auf einzelne und ihm
unmittelbar gegenwärtige, sondern auf Schaaren von Fischen
in der Tiefe eines Sees auf diese Weise habe wirken kön-
nen, das läſst sich nicht vorstellig machen, ohne in das
[535]Fünftes Kapitel. §. 67.
Zauberhafte hineinzugerathen. Die Olshausen'sche Verglei-
chung wenigstens, Jesus habe hier dasselbe gethan, was
die göttliche Allmacht alljährlich mit den wandernden Fi-
schen und Zugvögeln thue 5), hinkt nicht bloſs, son-
dern weicht ganz auseinander; denn der Unterschied, daſs
das Leztere eine göttliche Thätigkeit ist, welche mit der
ganzen übrigen Naturwirksamkeit Gottes, mit dem Wech-
sel der Jahreszeiten u. s. f. in engster Verbindung steht,
das Erstere aber, auch Jesum als wirklichen Gott voraus-
gesezt, eine aus allem Naturzsammenhang herausgerissene
vereinzelte That wäre, hebt alle Vergleichbarkeit beider Er-
scheinungen auf. — Doch auch die Möglichkeit eines sol-
chen Wunders vorausgesezt, wie denn auf supranaturali-
stischen Standpunkt nichts an sich unmöglich ist: läſst sich
denn auch nur ein scheinbarer Zweck denken, welcher Je-
sum bewegen konnte, von seiner Wunderkraft einen so aben-
teuerlichen Gebrauch zu machen? War es denn so viel werth,
daſs Petrus durch den Vorfall eine abergläubische und gar
nicht neutestamentliche Furcht vor Jesu bekam? und lieſs
sich nur auf diese der wahre Glaube pfropfen? oder glaub-
te Jesus nur durch solche Zeichen sich Jünger werben zu
können? wie wenig hätte er da auf die Macht des Geistes
und der Wahrheit vertraut, wie viel zu gering den Petrus
angeschlagen, der wenigstens später (Joh. 6, 68.) nicht
durch die Mirakel, die er von Jesus sah, sondern durch die
ῥήματα ζωῆς αἰωνίου, die er von ihm hörte, in seiner Gesell-
schaft festgehalten war.


Von diesen Schwierigkeiten gedrängt, kann man sich
auf die andre Seite flüchten und als das Gelindere anneh-
men, Jesus habe nur vermöge seines übermenschlichen Wis-
sens die Kenntniſs gehabt, daſs an jenem Platze gerade ei-
ne Menge von Fischen sich befinde, und dieſs dem Petrus
mitgetheilt. Meint man dieſs so, Jesus habe mit einer
[536]Zweiter Abschnitt.
Allwissenheit, wie man sie bei Gott sich vorzustellen pflegt,
jederzeit um alle Fische in allen Seen, Flüssen und Mee-
ren gewuſst: so ist es mit seinem menschlichen Bewuſst-
sein aus; soll er aber nur etwa wenn er gerade über ein
Wasser fuhr, von dem Treiben der Fische in demselben
Kenntniſs bekommen haben, so ist auch dieſs schon genug,
um in seinem Gemüthe den Platz für wichtigere Gedan-
ken zu versperren; endlich, soll er so etwas nicht immer
und wesentlich gewuſst haben, sondern es nur, so oft er
wollte, haben wissen können: so begreift man nicht, wie
in Jesu ein Antrieb entstehen konnte, dergleichen etwas
zu erfahren, wie derjenige, dessen Beruf auf die Tiefen
der menschlichen Herzen sich bezog, mit den fischreichen
Tiefen der Gewässer sich zu befassen versucht sein mochte.


Doch ehe wir über diese Erzählung des Lukas ent-
scheiden, müssen wir sie zuvor noch im Verhältniſs zu
der Berufungsgeschichte bei den zwei ersten Synoptikern
betrachten, wobei die erste Frage das chronologische Ver-
hältniſs beider Begebenheiten betrifft. Daſs nun der wun-
derbare Fischzug bei Lukas vorangegangen, die Berufung
bei den beiden andern aber erst nachgefolgt sei, diese
Voraussetzung ist dadurch abgeschnitten, daſs nach der
starken Anhänglichkeit, welche durch jenes Wunder in
den Jüngern angeregt war, keine neue Berufung nöthig
sein konnte; oder, wenn die mit einem Wunder verknüpf-
te Einladung nicht hingereicht hatte, die Männer bei Jesu
festzuhalten, konnte er von dem Antiklimax einer später
erlassenen kahlen und wunderlosen Aufforderung sich noch
weniger Erfolg versprechen. Bei der umgekehrten Stellung
könnte sich ein passender Klimax der beiden Einladungen
zu ergeben scheinen: doch wozu überhaupt eine zweite,
da die erste schon gewirkt hatte? Denn anzunehmen, daſs
die Brüder, welche ihm auf die erste hin nachgefolgt
waren, ihn bis zur zweiten wieder verlassen gehabt,
ist doch nur eine willkührliche Nothhülfe. Namentlich
[537]Fünftes Kapitel. §. 67.
aber, wenn man auch das vierte Evangelium hinzunimmt,
was wäre das für ein Verhältniſs, wenn Jesus diese Jün-
ger zuerst so wie Johannes erzählt, in seine Gesellschaft
gezogen haben soll; hierauf aber, nachdem sie sich aus
einer unbekannten Ursache wieder von ihm getrennt, hätte
er sie noch einmal, wie wenn nichts vorangegangen wäre,
am galiläischen See berufen, und als auch diese Einladung
noch keine bleibende Verbindung hervorbrachte, hätte er
zum drittenmal mit Hülfe eines Wunders sie zu seiner
Nachfolge aufgefordert? Ihrer ganzen Anlage nach ist
vielmehr die Erzählung bei Lukas so beschaffen, daſs auch
sie ein früheres engeres Verhältniſs zwischen Jesu und
seinen nachmaligen Jüngern ausschlieſst. Denn wenn sie
ganz unbestimmt damit anhebt, Jesus habe zwei Schiffe
am Ufer gesehen, deren Inhaber aus denselben gestiegen
waren, um ihre Netze zu waschen, — und erst hierauf
als der Eigenthümer des einen dieser Fahrzeuge Simon
namhaft gemacht wird: so klingt doch dieſs, wie Schleier-
macher
bündig gezeigt hat 6), völlig fremd, und nur wie
auf ein jezt anzuknüpfendes Verhältniſs vorbereitend, nicht
ein schon bestandenes voraussetzend, so daſs auch die von
Lukas vorher erzählte Heilung der Schwiegermutter des
Petrus entweder, wie so manche Heilungen Jesu, noch
ohne Anknüpfung eines engeren Verhältnisses vorüberge-
gangen, oder von Lukas (Matthäus hat sie später) zu früh
gestellt sein muſs.


Es geht uns also auch mit dieser Erzählung des Lu-
kas in ihrem Verhältniſs zu der des Matthäus und Markus,
wie es uns mit der johanneischen Erzählung im Verhältniſs
zu der leztern gieng, daſs nämlich keine von beiden weder
vor noch nach der andern sich will einreihen lassen, daſs
sie somit einander ausschlieſsen. Fragt sich hiebei, wer
die richtige Erzählung gebe? so hat schon Schleiermacher
[538]Zweiter Abschnitt.
die des von ihm behandelten Evangelisten als die genauere
vorgezogen, und neuestens hat Sieffert sehr emphatisch
versichert, gewiſs habe noch Niemand daran gezweifelt,
daſs die Erzählung des Lukas ein viel treueres Bild des
ganzen Vorfalls gebe, indem sie sich durch eine Fülle
specieller, anschaulicher und innerlich wahrer Züge höchst
vortheilhaft von der Erzählung des ersten (und zweiten)
Evangeliums unterscheide, welche ihrerseits durch Aus-
lassung des eigentlich ergreifenden Hauptmoments (des
Fischzugs) sich als von einem Nichtaugenzeugen herrüh-
rend charakterisire 7). Ich habe mich diesem Kritiker
schon an einem andern Orte 8) als denjenigen gestellt, der
einen solchen Zweifel wagen wolle, und ich kann auch
hier nur die Frage wiederholen: was ist — wenn doch die
eine der beiden Erzählungen durch mündliche Überliefe-
rung entstellt sein soll — dem Wesen der Tradition ange-
messener, das wirklich geschehene Faktum des Fischzugs
zum bloſsen Diktum von Menschenfischern verflüchtigt,
oder diese ursprünglich allein vorhandene bildliche Rede
zu jener Geschichte vergröbert zu haben? Die Antwort
auf diese Frage kann nicht zweifelhaft sein. Denn seit
wann wäre es doch in der Art der Sage, zu vergeistigen,
Reales, wie eine Wundergeschichte ist, in Ideales, wie
bloſse Reden, zu verwandeln? da doch nach der ganzen
Natur der Bildungsstufe und der Geistesvermögen, wel-
chen sie vorzugsweise angehört, die Sage darauf ausgehen
muſs, dem flüchtigen Gedanken einen soliden Leib zu
bauen, das leicht miſsverstehbare und schnell verhallende
Wort als allgemein verständliche und unvergeſsliche Be-
gebenheit zu fixiren.


Und wie leicht läſst sich erklären, wie aus der von
den zwei ersten Evangelisten aufbewahrten Gnome die
[539]Fünftes Kapitel. §. 67.
Wundererzählung des dritten sich bilden konnte. Hatte
Jesus seine Apostel, sofern einige derselben früher das
Fischergewerbe getrieben hatten, als Menschenfischer be-
zeichnet; hatte er das Himmelreich mit einer σαγήνῃ βλη-
ϑείσῃ εἰς τὴν ϑάλασσαν
verglichen, in welcher Fische al-
ler Art gefangen werden (Matth. 13, 47 ff.): so ergaben
sich von selbst die Apostel als diejenigen, welche auf Jesu
Wort dieses Netz auswarfen und in demselben den wun-
derbar reichen Fischzug thaten. Nimmt man noch dazu,
daſs die alte Sage ihre Wundermänner gerne mit Fisch-
zügen zu schaffen haben lieſs, wie denn Porphyr und
Jamblich etwas Ähnliches von Pythagoras erzählen 9): so
ist nicht abzusehen, was der Ansicht noch entgegenste-
hen könnte, daſs der Fischzug des Petrus nur die zur
Wundergeschichte gewordene Gnome von den Menschen-
fischern sei, wodurch zugleich alle Schwierigkeiten, wel-
che die natürliche wie die supranaturale Auffassung der
Erzählung drücken, mit Einem Schlage weggeräumt sind.


Einen ähnlichen wunderbaren Fischzug weiſs das
vierte Evangelium aus den Tagen der Auferstehung Jesu
zu berichten (K. 21). Gleichfalls auf dem galiläischen See
fischt Petrus, wie dort in Begleitung der beiden Zebedai-
den und einiger andern Jünger, die ganze Nacht hindurch,
ohne etwas zu fangen 10). Mit dem ersten Morgen kommt
Jesus an das Ufer und fragt, von ihnen unerkannt, ob
sie kein προσφάγιον haben? und als sie dieſs verneinen,
[540]Zweiter Abschnitt.
heiſst er sie rechts vom Schiffe das Netz auswerfen, wor-
auf sie wirklich einen überaus reichen Fang thun, und
daran Jesum erkennen. Daſs dieſs eine von der bei Lukas
erzählten Begebenheit verschiedene sei, ist wegen der gros-
sen Ähnlichkeit kaum denkbar, und ohne allen Zweifel
ist dieselbe Geschichte durch die Tradition in verschiedene
Theile des Lebens Jesu verlegt worden.


Vergleichen wir nun diese drei Fischzugsgeschichten,
die beiden von Jesus erzählten und die von Pythagoras,
so wird uns ihr mythischer Charakter vollends anschaulich.
Was bei Lukas ohne Zweifel ein Wunder der Macht sein
soll, ist in der jamblichischen Erzählung ein Wunder des
Wissens, indem Pythagoras von den bereits auf natürli-
chem Wege gefangenen Fischen nur die Zahl auf wunder-
bare Weise anzugeben weiſs; zwischen beiden aber steht
die johanneische Darstellung insofern in der Mitte, als
auch in ihr, wenn gleich nicht als Vorherbestimmung des
Wunderthäters, sondern nur als Angabe des Referenten
die Zahl der Fische (153) eine Rolle spielt. Ein sagenhaf-
ter Zug ist ferner die offenbare Übertreibung, mit wel-
cher die Menge und Schwere der Fische geschildert wird,
besonders wenn man auf die Variationen merkt, welche
sich in dieser Hinsicht in den verschiedenen Erzählungen
finden. Nach Lukas ist die Menge der Fische so groſs,
daſs die Netze zerreissen, daſs Ein Schiff sie nicht faſst,
und auch nach der Vertheilung in zwei Fahrzeuge beide
zu sinken drohen. Daſs in Gegenwart des Wunderthäters
die durch seine Wundermacht gefüllten Netze zerrissen
sein sollten, will der Tradition im vierten Evangelium nicht
recht einleuchten; da sie aber doch durch Hervorhebung
der Menge und Schwere der gefangenen Fische das Wun-
der heben will, so zählt sie dieselben, bestimmt sie als
μεγάλους, und fügt hinzu, daſs die Männer das Netz οὐκ
ἔτι ἑλκῦσαι ἴσχυσαν ἀπὸ τοῦ πλήϑους τῶν ἰχϑύων
: statt nun
aber durch ein Zerreissen der Netze aus dem mirakulösen
[541]Fünftes Kapitel. §. 68.
Zusammenhang zu fallen, weiſs sie geschickt ein zweites
Wunder daraus zu machen, daſs τοσούτων ὄντων, ούκ ἐσχ[ί]σ-
ϑη τὸ δίκτυον
. Ein weiteres Wunder bietet Jamblich dar,
welches übrigens bei ihm neben dem Wissen des Pytha-
goras um die Zahl der Fische das einzige ist, daſs näm-
lich während des Abzählens der Fische, wozu es doch
bei ihrer groſsen Menge geraume Zeit brauchte, keiner
derselben gestorben sei. — Wem in diesen Vergleichungen
nicht das Schalten und Walten der Sage, und damit auch
der sagenhafte Charakter der evangelischen Erzählungen
zur Anschauung kommt, sondern die Anhänglichkeit an
die geschichtliche, sei es natürliche oder übernatürliche
Fassung derselben bleibt: nun der muſs doch ebensowenig
einen Begriff von Sage wie von Geschichte, von Natürli-
chem wie von Übernatürlichem haben.


§. 68.
Berufung des Matthäus. Gemeinschaft Jesu mit den Zöllnern.


Das erste Evangelium erzählt (9, 9 ff.) von einem
ἄνϑρωπος Ματϑαῖος λεγόμενος, statt dessen das zweite
und dritte (2, 14 ff. 5, 27 ff.) einen Λευῒν (τὸν τοῦ Ἀλφαίου
bei Markus) haben, welchem, wie er an seiner Zollstätte
saſs, Jesus das ἀκολούϑει μοι zurief, worauf er (nach Lu-
kas Alles verlieſs) ihm nachfolgte und ein Mahl veranstal-
tete, an welchem viele Zöllner und Sünder zum Anstoſs
der Pharisäer Theil nahmen.


Wegen des verschiedenen Namens hat man schon ge-
meint, es müssen hier zwei verschiedene Begebenheiten
zum Grunde liegen 1); doch jene Namensverschiedenheit
wird weit überwogen von der Ähnlichkeit, welche darin
liegt, daſs Matthäus wie die beiden andern diese Berufungs-
geschichte zwischen die gleichen Begebenheiten hineinstellt,
daſs beiderseits das Subjekt der Erzählung in die gleiche
[542]Zweiter Abschnitt.
Situation versezt, Jesu Anrede mit denselben Worten ge-
geben, und ihr der gleiche Erfolg zugeschrieben wird 2).
Ist man daher jezt ziemlich allgemein einverstanden, daſs
die drei Synoptiker blos Eine Begebenheit erzählen: so
fragt sich nur, ob man darin nicht zu weit geht, daſs
man zugleich annimmt, sie haben unter den verschiedenen
Namen doch nur Eine Person, und zwar den Apostel Mat-
thäus verstanden. Dieſs sucht man gewöhnlich durch die
Voraussetzung denkbar zu machen, daſs Levi der eigent-
liche, Matthäus nur der Beiname des Mannes gewesen
sei 3), oder daſs er nach seinem Übertritt zu Jesus jenen
mit diesem vertauscht habe 4). Um zu einer solchen An-
nahme berechtigt zu sein, müſsten wir eine Spur haben,
daſs die Evangelisten, welche den hier berufenen Zöllner
Levi nennen, darunter keinen andern verstehen, als den-
jenigen, welchen sie im Apostelkataloge als Matthäus auf-
führen. Allein nicht nur erwähnen sie hier (Marc. 3, 18.
Luc. 6, 15. A. G. 1, 13.), wo mehrere Beinamen und Doppel-
namen vorkommen, des Namens Levi als früherer oder
eigentlicher Benennung des Matthäus nicht, sondern sie
lassen bei ihrem Matthäus auch das [ὁ] τελώνης weg, wel-
ches der erste Evangelist in seinem Kataloge (10, 3.) bei-
sezt, zum deutlichen Beweiſs, daſs sie den Matthäus nicht
mit dem vom Zolle weg berufenen Levi identisch denken 5).


Erzählen so die Evangelisten die Berufung von zwei
verschiedenen Männern, aber auf ganz gleiche Weise: so
ist, daſs beide Theile Recht haben sollten, deſswegen un-
wahrscheinlich, weil schwerlich so ganz dieselbe Begeben-
heit sich wiederholte, und muſs somit der eine Theil Un-
recht haben, so hat man in dem Bericht des ersten Evan-
[543]Fünftes Kapitel. §. 68.
geliums den Übelstand finden wollen, daſs hier Matthäus
erst ziemlich nach der Bergrede berufen werde, da doch
nach Lukas (6, 13 ff.) vor der Bergrede schon sämmtliche
Zwölfe ausgewählt gewesen seien 6). Allein dieſs würde
höchstens nur beweisen, daſs das erste Evangelium jene
Berufungsgeschichte unrichtig stelle, nicht aber, daſs es
dieselbe auch falsch erzähle. Da es somit irrig ist, der
Erzählung des ersten Evangelisten eigenthümliche Schwie-
rigkeiten aufbürden zu wollen, ebensowenig aber in der
der beiden andern sich dergleichen zeigen: so fragt es sich
nur noch, ob sie von keinen gemeinsamen gedrückt wer-
den, welche dann beide Berichte als unhistorisch erschei-
nen lassen würden?


In dieser Hinsicht kann die genaue Analogie dieser
Berufungsgeschichte mit der der beiden Brüderpaare be-
denklich machen. Wie diese von den Netzen, so wird
hier der Jünger von der Zollbank abgerufen; wie dort,
so braucht es hier nichts weiter als das einfache: ἀκολούϑει
μοι
, und dieser Ruf des Messias hat über das Gemüth der
Berufenen eine so unwiderstehliche Gewalt, daſs hier der
Zöllner, wie dort die Fischer, καταλιπὼν ἄπαντα άναςὰς
ἠκολούϑησεν αὐτῷ
. Allerdings ist nicht zu leugnen, womit
Fritzsche die Anklagen eines Julian und Porphyrius,
Matthäus zeige sich hier leichtsinnig, zurückschlägt, daſs
Matthäus Jesum, der damals schon längere Zeit in jenen
Gegenden gewirkt hatte, längst gekannt haben müsse; aber
eben je länger auch Jesus ihn schon beobachtet hatte,
desto leichter konnte er eine Gelegenheit finden, den Mann
allmählich und ruhig in seine Nachfolge zu ziehen, statt
ihn so tumultuarisch mitten aus seinem Beruf herauszu-
reissen. Freilich meint Paulus, es sei hier von keiner
Berufung zur Jüngerschaft, von keinem plözlichen Ver-
lassen des bisherigen Gewerbes die Rede, sondern Jesus
[544]Zweiter Abschnitt.
habe dem Freunde, der ihm für diesen Tag ein Mahl be-
reitet hatte, nach geendigtem Lehrgeschäft nur bemerk-
lich machen wollen, daſs er jezt bereit sei, mit ihm nach
Hause und zur Tafel zu gehen 7). Allein die Mahlzeit
erscheint, namentlich bei Lukas, nicht als Grund, sondern
als Folge jener Abberufung; zur Mahlzeit ferner wird ein
bescheidener Gast dem Wirth der ihn geladen nur durch
ein ἀκολουϑήσω σοι, nicht durch ein ἀκολούϑει μοι sich an-
sagen; endlich wird ja bei dieser Auffassung die ganze
Anekdote so bedeutungslos, daſs sie besser weggeblieben
wäre 8). Somit bleibt das Jähe und Gewaltsame dieser
Scene, und wir müssen sagen: dieſs ist nicht der Gang
des wirklichen Lebens, noch das Verfahren eines Mannes,
der, wie Jesus, die Gesetze und Formen der Wirklichkeit
achtet, sondern das Verfahren der Sage und Poësie ist es,
welche Contraste und ergreifende Scenen liebt, welche
den Austritt eines Mannes aus einem früheren Lebens-
kreise und den Eintritt in einen neuen durch die Wendung
zu veranschaulichen sucht, derselbe habe das Werkzeug
seines bisherigen Treibens weggeworfen, seine Werkstätte
verlassen, um ein neues Leben zu beginnen. Die ge-
schichtliche Grundlage mag also sein, daſs Jesus wirklich
unter seinen Jüngern Zöllner hatte, und daſs namentlich
Matthäus vielleicht einer war. Diese Männer hatten dann
allerdings die Zollbank verlassen, um Jesu nachzufolgen,
doch nur im tropischen Sinne dieser Redensart, und nicht,
wie die Sage es malte, im eigentlichen.


Auch das ist nun erstaunlich rasch und promt, daſs
der Zöllner alsbald ein groſses Mahl für Jesum in Bereit-
schaft hat. Denn daſs dieses Mahl erst an einem der fol-
genden Tage veranstaltet worden sei 9), ist ganz gegen
[545]Fünftes Kapitel. §. 68.
die Erzählungen, namentlich die beiden ersten. Dagegen
ist es völlig im Ton der Sage, des Zöllners Freude und Jesu
Herablassung gegen ihn dadurch auszudrücken, und zu-
gleich die folgenden Vorwürfe wegen der Sünderfreund-
schaft dadurch anzuknüpfen, daſs sie unmittelbar auf die Be-
rufung ein groſses Zöllnermahl bei dem Berufenen fol-
gen lieſs.


Besondere Aufmerksamkeit verdient bei dieser Erzäh-
lung noch der Umstand, daſs, nach der gewöhnlichen Vor-
aussetzung über den Verfasser des ersten Evangeliums, in
diesem Matthäus selbst die Geschichte seiner Berufung er-
zählen würde. Daſs nun positive Spuren hievon in der
Erzählung sich keine finden, ist als eingestanden anzuneh-
men, und es fragt sich daher nur, ob keine negativen vor-
handen sind, die jene Annahme unmöglich machen? Daſs
der Evangelist hier nicht in der ersten Person von sieh re-
det, und nicht sofort diejenigen Begebenheiten, welche er
selbst miterlebte, in der ersten Person des Plural, wie
der Verfasser der A.G., vorträgt, dieſs freilich kann noch
nichts beweisen, da auch ein Cäsar und andre Historiker
von sich in der dritten Person schreiben, und das Wir
des Pseudomatthäus im Ebionitenevangelium gerade höchst
verdächtig klingt. Aber daſs er sich selbst durch den al-
lerfremdesten Ausdruck: ἂνϑρωπον, Ματϑαῖον λεγόμενον
bezeichnet, dieſs geht doch darüber hinaus, aus treuer Hin-
gabe an den Gegenstand und naiver Reflexionslosigkeit er-
klärt werden zu können 10), und man wird es mit Schulz11)
als ein Zeichen ansehen müssen, daſs der Verfasser des
ersten Evangeliums nicht eben dieser Matthäus war. Auch
das Übrige erzählt das erste Evangelium weit weniger an-
schaulich, als namentlich das dritte; man weiſs dort nicht,
wie auf einmal von einem ἀνακεῖσϑαι ἐν τῇ οἰκίᾳ die Re-
Das Leben Jesu I. Band. 35
[546]Zweiter Abschnitt.
de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst
der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru-
fung gewiſs auch in der Erzählung noch dadurch hätte
hervortreten lassen, daſs er, wie Lukas, ausdrücklich be-
merkt hätte, wie er alsbald eine δοχὴν μεγάλην in seinem Hau-
se veranstaltet habe. Sagt man, er habe dieſs aus Beschei-
denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man
einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch-
lichsten modernen Bewuſstseins herunter.


An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs-
genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli-
sten Vorwürfe, welche die φαρισαῖοι und γραμματεῖς gegen
Jesu Jünger geäussert haben, daſs ihr Lehrer μετὰ τελωνῶν
καὶ ὰμαρτωλων
esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören
können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des
Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu-
rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Daſs Vorwürfe über
zu groſse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der
Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern
gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem
Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas,
historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be-
antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi-
schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung
in der Überlieferung eignete. Daſs jener Anstoſs nament-
lich auch dadurch erregt worden sei, daſs Jesus mit Zöll-
nern speiste und unter ihr Dach g [...]ng, hat gleichfalls kei-
ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber daſs nun die
Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl
angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung
den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.)
heiſst: καὶ οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ φαρισαῖοι ἰδόντες αὐτον
ἐσϑίοντα — ἔλεγον τοῖς μαϑηταῖς
, dieſs will sich schon
nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an
welcher auch die Jünger Theil nahmen, ἐν τῇ ο[ἰ]κίᾳ war,
[547]Fünftes Kapitel. §. 68.
wie konnten die Pharisäer diesen noch während des Es-
sens solche Vorwürfe machen, ohne durch εἰσελϑεῖν παρὰ
άμαρτωλῷ
sich ebenso zu verunreinigen, wie sie es Jesu
Luc. 19, 7.) vorwarfen? und draussen gewartet, bis das
Mahl zu Ende wäre, werden die Pharisäer doch auch nicht
haben. Daſs aber die evangelische Erzählung nur einen
causalen, keinen Zeitzusammenhang zwischen dem Zöllner-
mahl und dem pharisäischen Tadel statuire, kann schwer-
lich auch nur von der Darstellung bei Lukas mit Schleier-
macher
12) behauptet werden. Kann nun diese unmittel-
bare Verknüpfung nicht historisch sein, so ist sie doch ganz
trefflich sagenhaft, und man wüſste kaum, wie das abstrak-
te Datum, daſs an dem freundlichen Verkehr Jesu mit den
Zöllnern die Pharisäer Anstoſs genommen, und dieſs bei
verschiedenen Gelegenheiten ausgesprochen haben, sich in
der Alles in's Concrete umbildenden Sage anders hätte dar-
stellen können, als so: Jesus speiste einmal in eines Zöll-
ners Hause mit vielen Zöllnern; das sahen die Pharisäer,
traten zu den Jüngern und machten ihnen Vorwürfe, wel-
che auch Jesus hörte und alsbald lakonisch genug beant-
wortete.


Ganz dasselbe Verhältniſs behandelt auch eine andre
Erzählung, welche dem Lukas eigenthümlich ist (19, 1—10. .
Wie Jesus auf seiner lezten Festreise durch Jericho kommt,
war ein αρχιτελώνης Zacchäus, um ihn in dem Volksge-
dränge bei seiner kleinen Statur doch sehen zu können,
auf einen Baum gestiegen, wo ihn Jesus bemerkte, und
ihn sogleich würdig fand, das Nachtquartier bei ihm zu neh-
men. Auch hier erregt dieſs Anschlieſsen an einen Zöllner
die Unzufriedenheit der strengerdenkenden Zuschauer, wor-
auf, nachdem noch Zacchäus wohlthätige Gelübde für die
Zukunft gethan, Jesus durch eine ähnliche Gnome wie oben
antwortet. Bei dieser Erzählung kann zwar die verführe-
35*
[548]Zweiter Abschnitt.
rische Anschaulichkeit der Scene für ihren historischen
Charakter zu sprechen scheinen: doch enthält auch sie Ei-
niges, was bedenklich machen muſs. Nämlich die Erzäh-
lung lautet gar nicht so, als ob Jesus von dem Manne
schon vorher gewuſst, und jezt ihm Jemand denselben mit
Nennung des Namens gezeigt hätte 13), sondern Olshausen
hat Recht, wenn er die Kenntniſs, die hier Jesus plözlich
von Zacchäus zeigt, auf sein Vermögen zurückführt, ohne
Zeugniſs Andrer zu wissen, was im Menschen war 14).
Aber eben hiedurch fällt wenigstens dieser Zug dem Sa-
genhaften anheim, und die Erzählung könnte als eine Va-
riation über das auch in der Berufungsgeschichte des Mat-
thäus mitbehandelte Thema, das freundliche Verhältniſs Je-
su zu den Zöllnern, erscheinen.


§. 69.
Die zwölf Apostel.


Die Männer, deren Berufung bisher betrachtet wor-
den ist, die Jonaiden, die Zebedaiden, sammt Philippus
und Matthäus, den einzigen Nathanaël ausgeschlossen, bil-
den die Hälfte desjenigen engeren Kreises von Schülern
Jesu, welcher unter dem Namen οἱ δώδεκα, οἱ δώδεκα μα-
ϑηταὶ
oder ἀπόςολοι, durch das ganze N. T. hindurchgeht.
Die zum Grunde liegende Vorstellung von diesen Zwölfen
ist, daſs Jesus selbst sie ausgewählt habe (Marc. 3, 13 f.
Luc. 6, 13. Joh. 6, 70. 15, 16.). Matthäus zwar erzählt
uns die Geschichte der Auswahl sämmtlicher Zwölfe nicht,
sondern sezt sie stillschweigend voraus, indem er 10, 1. diesel-
ben schon als feststehendes Collegium einführt. Lukas hin-
gegen erzählt (6, 12 ff.), wie nach einer auf dem Berge im
Gebete durchwachten Nacht Jesus aus dem weiteren Kreise
seiner Anhänger Zwölfe ausgewählt habe, und hierauf mit
ihnen von der Höhe herabgestiegen sei, um die sogenannte
[549]Fünftes Kapitel. §. 69.
Bergrede zu halten. Auch Markus (a. a. O.) berichtet in dem-
selben Zusammenhang, daſs Jesus auf einem Berge aus der
gröſseren Anzahl seiner Schüler nach beliebiger Auswahl
zwölf Männer berufen habe.


Daſs nun Jesus nach der Darstellung des Lukas ge-
rade vor der Bergrede und mit Beziehung auf dieselbe die
Zwölfe ausgewählt habe, davon läſst sich kein Grund ent-
decken, indem diese Rede weder besonders auf sie berech-
net ist 1), noch sie bei Abhaltung derselben eine Funktion
haben konnten; die Darstellung bei Markus aber sieht so
ganz darnach aus, nach dem ganz unbestimmten Datum,
daſs Jesus die Zwölfe ausgewählt habe, aus eigner Phan-
tasie gemacht zu sein, daſs aus ihr über die eigentliche
Veranlassung und Art dieser Auswahl keine Belehrung zu
entnehmen ist 2), und Matthäus noch am besten zu thun
scheint, wenn er die eigentliche Berufungsscene, ohne sie
zu schildern, blos voraussezt, wie auch Johannes, ohne
vorher einer Auswahl gedacht zu haben, auf einmal (6, 67.)
von den δώδεκα zu sprechen anfängt.


Wird so, daſs Jesus selbst die Zwölfzahl der Apostel
festgestellt habe, in den Evangelien eigentlich immer nur
vorausgesezt: so fragt sich, ob die Voraussetzung richtig ist?
Zwar, daſs zu Jesu Lebzeiten schon jene Zahl sich fixirt
hatte, scheint dadurch unumstöſslich zu werden, daſs nicht
nur nach der Darstellung der Apostelgeschichte die Zwölfe
gleich nach Jesu Himmelfahrt als ein so geschlossenes Corps
auftreten, daſs sie die durch den Abgang des Judas ent-
standene Lücke alsbald durch eine neue Wahl ausfüllen zu
müssen glauben (1, 15 ff.), sondern auch Paulus (1 Cor. 15,
5.) von einer τοῖς δώδεκα zu Theil gewordenen Erscheinung
des Auferstandenen spricht. Das aber hat namentlich Schlei-
ermacher
gefragt, ob Jesus selbst die Zwölfe ausgewählt,
[550]Zweiter Abschnitt.
und nicht vielmehr das besondre Verhältniſs von Zwölfen
aus dem Kreise seiner Anhänger zu ihm sich allmählich
von selbst gemacht habe 3)? Daſs nun die Wahl der Zwölfe
in Einem besondern feierlichen Akte vor sich gegangen
wäre, dafür haben wir nach dem Bisherigen nicht nur kei-
ne Bürgschaft, sondern die Evangelien selbst lassen ja Sech-
se von ihnen einzeln und paarweise bei verschiedenen An-
lässen berufen werden; eine andre Frage aber ist, ob nicht
doch die Zwölfzahl eine von Jesu selbst bestimmte gewe-
sen sei, er also mit Vergrösserung seines nächsten Gefol-
ges bei dieser Zahl absichtlich inne gehalten habe? Zufäl-
lig kann dieselbe um so weniger sein, je bedeutsamer sie
ist, und je leichter sich nachweisen läſst, was Jesum be-
wogen haben mag, sie zu wählen. Er selbst, wenn er Matth.
19, 28. den Jüngern verheiſst: καϑίσεσϑε ἐπὶ δώδεκα ϑρό-
νους, κρίνοντες τὰς δώδεκα φυλὰς τοῦ Ἰσραὴλ
, giebt der Zahl
derselben eine Beziehung auf die Zahl der Stämme seines
Volks, und das höchste christliche Alterthum war der An-
sicht, daſs er sie in dieser Beziehung gewählt habe 4). War
er und seine Jünger zunächst gesandt εἰς τὰ πρόβατα τὰ
ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραὴλ
(Matth. 10, 6. 15, 24.): so konnte
es angemessen scheinen, die Zahl der auszusendenden Hir-
ten nach der Zahl der hirtenlosen (Matth. 9, 36.) Stämme fest-
zusetzen.


Die Bestimmung dieser Zwölfe wird Joh. 15, 16. nur
ganz allgemein, Marc. 3, 14 f. dagegen genauer und ohne
Zweifel richtig angegeben. Ἐποίησε δώδεκα, heiſst es hier,
1) ἵνα ὦσι μετ' αὐτοῦ, d. h. um einerseits auf seinen Reisen
nicht ohne Gesellschaft, Hülfe und Bedienung zu sein, wie
sie ihm denn vielfältig zu Bestellung von Quartier (Luc.
9, 52. Matth. 26, 17 f.), zu Herbeischaffung von Lebens-
[551]Fünftes Kapitel. §. 69.
mitteln (Joh. 4, 8.) und andern Reisebedürfnissen (Matth.
21, 1 ff.) behülflich waren; andrerseits sollten sie in sei-
ner Gesellschaft herangebildet werden zu γραμματεῖς μαϑη-
τευϑέντες εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν
(Matth. 13, 52.),
zu welchem Behufe ihnen Gelegenheit gegeben war, theils
Jesu meisten Lehrvorträgen anzuwohnen, und selbst noch
besondre Aufschlüsse über dieselben sich von ihm zu er-
bitten (Matth. 13, 10 ff. 36 ff.), theils durch seine ebenso
freundliche als strenge Zucht ihre Gesinnung zu läutern
(Matth. 8, 26. 16, 23. 18, 1 ff. 21 ff. Luc. 9, 50. 55 f.
Joh. 13, 12 ff. u. s.), theils endlich durch den Anblick sei-
nes Vorbildes sich zu heben (Joh. 14, 9). Daran schlieſst
sich sofort das Zweite an, was dort als Zweck der Erwäh-
lung der Zwölfe namhaft gemacht wird, ἵνα ἀποςέλλῃ αὐτοὺς
κηρύσσειν
, nämlich τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν (womit in
der Stelle bei Markus noch die ἐξουσία ϑεραπεύειν τὰς νόσους
καὶ ἐκβάλλειν τὰ δαιμόνια
verbunden ist, ein Punkt, von
welchem erst später die Rede werden kann).


Eben von dieser Bestimmung hatten sie auch den aus-
zeichnenden Namen ἀπόςολοι (Matth. 10, 2. Marc. 6, 30.
Luc. 6, 13 u. s.). Man hat gezweifelt, ob wirklich nach
Luc. 6, 13. dieser Name den Zwölfen von Jesus selbst
schon beigelegt gewesen, und nicht vielleicht erst später
ex eventu aufgekommen sei 5)? Allein, daſs Jesus sie
seine Abgesandten genannt habe, kann nichts Unwahr-
scheinliches haben, wenn er sie wirklich schon (Matth.
10, 5 ff. parall.) auf eine Reise zur Verkündigung des na-
henden Messiasreiches ausgesendet hat. Freilich könnte
man eben auch diese Sendung dafür ansehen, aus der Zeit
nach Jesu Tod in seine Lebzeiten zurückgetragen zu sein,
um von der nachherigen Mission der Apostel ein Vorspiel
noch unter Jesu Augen vorgehen zu lassen: indeſs da es
gar nichts Unwahrscheinliches hat, daſs Jesus, vielleicht
[552]Zweiter Abschnitt.
sogar schon ehe er sich selbst als den Messias gefasst
hatte, Boten des nahenden Messiasreichs ausgesendet habe,
so sind wir zu einem solchen Zweifel schwerlich berechtigt.


Wie Johannes nichts von dieser Missionsreise der
Synoptiker: so wissen diese nichts davon, was Johannes
sagt, daſs schon zu Lebzeiten Jesu seine Jünger getauft
haben (4, 2.), sondern erst nach der Auferstehung, wie es
scheint, giebt er ihnen hier zum Taufen die Vollmacht
(Matth. 28, 19 parall.). Da jedoch der Taufritus schon
von Johannes eingeführt war, so ist es, je mehr Jesus
von Anfang an nur in dessen Fuſsstapfen zu treten beab-
sichtigte, um so wahrscheinlicher, daſs auch er mit seinen
Jüngern sich der Taufe bedient habe, und nicht dieses
positive Datum des vierten Evangeliums möchte zu be-
zweifeln sein, vielmehr das negative, daſs Ἰησοῦς αὐτὸς
οὐκ ἐβάπτιζεν
(4, 2.), eine Notiz, die überdieſs sehr nach-
träglich auf ein wiederholtes ἐβάπτιζεν und βαπτίζει ὁ Ἰη-
σοῦς
(3, 22. 4, 1.) als Einschränkung folgt, könnte man aus
der Tendenz des vierten Evangeliums, Jesum auf das Ent-
schiedenste über den Täufer zu stellen, also aus einer
Scheue, den Messias selbst die Funktion des bloſsen Vor-
läufers ausüben zu lassen, erklären, unerachtet freilich
bald hernach gerade dieſs der Kirche viele Skrupel machte,
daſs Jesus nicht wenigstens die Apostel getauft haben
sollte.


Ausser jener Missionsreise gedenken die Evangelien
keiner längeren Entfernung der Zwölfe von Jesu. Nur
der Eifer harmonisirender Theologen, welche nach der
ersten Berufung noch für eine zweite und dritte Raum
gewinnen wollten, auf der einen, und die Bemühung prag-
matischer Ausleger auf der andern Seite, das Auskommen
so vieler unbemittelten Männer dadurch begreiflicher zu
machen, daſs man sie dazwischen hinein wieder durch
Arbeit etwas verdienen lieſs, konnte aus den Evangelien
solche Unterbrechungen des Zusammenseins Jesu mit den
[553]Fünftes Kapitel. §. 70.
Zwölfen herauslesen. Was nun das Auskommen Jesu und
seiner Gesellschaft betrifft, so liegen in der Gastfreundlich-
keit des Orients, welche bei den Juden besonders dem
Rabbinen zu Gute kam; in der Begleitung begüterter Frauen,
αἴτιυες διηκόνουν αὐτῷ ἀπὸ τῶν ὑπαρχόντων αὐταῖς (Luc.
8, 2 f.); endlich in dem nur vom vierten Evangelisten er-
wähnten γλωσσόκομον (12, 6. 13, 29.), aus welchem neben
den Bedürfnissen der Gesellschaft auch noch den Armen
Unterstützung gereicht werden konnte, und in welches,
wie wir denken müssen, bemittelte Freunde Jesu Beiträge
gaben, wie es scheint, Subsistenzmittel genug. Wer diese
jedoch entweder ohne eigenen Erwerb der Jünger nicht
für zureichend hält, oder überhaupt eine gänzliche Los-
sagung der Zwölfe von ihren bürgerlichen Geschäften
nicht wahrscheinlich findet, der muſs nur seine Ansicht
nicht auch den Evangelien aufzwingen wollen, welche
vielmehr durch das groſse Gewicht, welches sie auf das
ἀφήκαμεν πάντα von Seiten der Apostel legen (Matth. 19,
27 ff.) deutlich die entgegengesezte zu erkennen geben.


So weit uns über den Stand der zwölf Jünger Jesu
etwas aufbehalten ist, gehörten sie sämmtlich der niederen
Klasse an: vier Fischer und ein Zolleinnehmer, und auch
für die übrigen macht die Bildungsstufe, welche sie zei-
gen, so wie Jesu überall sich äussernde Vorliebe für die
πτωχοὺς und νηπίους (Matth. 5, 3. 11, 5. 25.) wahrschein-
lich, daſs sie aus ähnlichem Stande gewesen seien.


§. 70.
Die Zwölfe einzeln betrachtet. Die drei oder vier vertrautesten
Jünger Jesu.


Wir haben im N. T. vier Apostelkataloge, je bei den
drei Synoptikern einen und einen in der Apostelgeschichte
(Matth. 10, 2—4. Marc. 3, 16—19. Luc. 6, 14—16. A. G.
1, 13). Jedes der vier Verzeichnisse läſst sich in drei Te-
traden theilen, deren Flügelmänner, und bei der lezten
[554]Zweiter Abschnitt.
auch der abschlieſsende (A. G. 1, 13. wo er fehlt, abge-
rechnet,) durchweg dieselben, die übrigen, doch innerhalb
derselben Tetraden, verschieden geordnet sind, in der
lezten aber selbst eine Namens- oder Personendifferenz
sich findet.


Voran der ersten Tetrade und dem ganzen Kataloge
steht in allen Verzeichnissen, und zwar im ersten mit dem
Beisaz: πρῶτος, Simon Petrus, Sohn von Jonas (Matth.
16, 17.), nach dem vierten Evangelium von Bethsaida (1, 45.),
nach den synoptischen in Kapernaum ansäſsig, (Matth. 8,
14 parall.) 1). Hier klingt bei protestantischen Auslegern
noch die alte Polemik nach, wenn sie diese Stellung ent-
weder für bloſsen Zufall ausgeben 2), wogegen die Über-
einstimmung aller vier, sonst in der Anordnung variirenden
Verzeichnisse in der Stellung des Petrus ist; oder sie
daraus erklären, daſs Petrus zuerst berufen worden sei 3),
was nach dem vierten Evangelium nicht einmal richtig
wäre. Daſs dieses durchgängige Voranstellen einen gewis-
sen Vorrang des Petrus unter den Zwölfen bedeute, wird
auch aus seiner sonstigen Erscheinung in der evangeli-
schen Geschichte offenbar. Mit dem Feuer seines Wesens
ist er überall den andern voran, sowohl wo es zu spre-
chen (Matth. 16, 20. Joh. 6, 68 u. s.), als wo es zu han-
deln gilt (Matth. 14, 28. Joh. 18, 10.), und wenn dieſs
zwar nicht selten ein verfehltes Reden und Thun ist, und
der eben gezeigte Muth ihm oft schnell wieder verfliegt,
wie seine Verläugnung zeigt, so ist doch nach der synop-
tischen Darstellung er auch der Erste, welcher die Mes-
sianität Jesu ausspricht (Matth. 16, 16 parall.). Von den
bei dieser Gelegenheit ihm ertheilten Lobsprüchen und
[555]Fünftes Kapitel. §. 70.
Vorzügen bleibt übrigens nur der zunächst an seinen Bei-
namen geknüpfte ihm eigenthümlich; die Befugniſs des
δέειν und λύειν, d. h. des Verbietens und Erlaubens 4) im
neuerrichteten Messiasreich, wird bald nachher (18, 18.)
auf alle Apostel ausgedehnt.


Auf den Petrus läſst der Katalog des ersten und drit-
ten Evangeliums seinen Bruder Andreas folgen, der des
zweiten Evangeliums und der Apostelgeschichte den Ja-
kobus und nach ihm den Johannes. Die ersteren offenbar
von der Rücksicht geleitet, die Brüderpaare zusammenzu-
stellen: die beiden andern von dem Gesichtspunkt aus, die
zwei an Auszeichnung dem Petrus zunächst Stehenden dem
minder hervortretenden Andreas vorzusetzen, welchen sie
deſshalb zum lezten der ersten Tetrade machen. Wie diese
Viere in der christlichen Sage durch eine besondre Be-
rufungsgeschichte ausgezeichnet worden sind, ist bereits
erwogen worden. Sonst stehen sie bei Markus noch einige-
male beisammen: zuerst 1, 29, wo Jesus in Begleitung der
beiden Zebedaiden in das Haus des Petrus und Andreas tritt,
was aber, da die andern Referenten hier nur des Petrus
gedenken, vielleicht nur ein Zusatz des Markus aus eignen
Mitteln ist, indem er schloſs, die vier kurz zuvor berufenen
Fischer werden Jesum auch dorthin begleitet, und an des
Petrus Hause werde auch sein Bruder Andreas Antheil
gehabt haben 5). Noch einmal stehen die Viere Marc. 13, 3.
beisammen, wo Jesus das Orakel über die Zerstörung des
Tempels und seine Parusie eben ihnen κατ' ἰδίαν mittheilt.
Allein die Parallelen haben hievon nichts, und wenn wir
bei Matthäus (24, 3.) lesen: προσῆλϑον αὐτῷ οἱ μαϑηταὶ
κατ' ἰδίαν
: so sehen wir schon, daſs Markus nur durch
einen Irrthum zu jener Angabe gekommen ist. Das κατ'
ἰδίαν
nämlich, welches er in dem von ihm benüzten Be-
[556]Zweiter Abschnitt.
richte zur Unterscheidung der Zwölfe von dem Volke vor-
fand, klang ihm als Einleitungsformel, wie es sonst vor-
zukommen pflegt (Matth. 17, 1. Marc. 9, 2.) zu einer Pri-
vatconferenz Jesu mit Petrus, Jakobus und Johannes, zu
welchen er dann, der Brüderschaft wegen, wie es scheint,
noch den Andreas sezte, wie umgekehrt Lukas (5, 10.)
bei der Erzählung vom Fischfang und der Berufung den
Andreas, welchen die beiden andern haben, wegläſst, weil
er sonst in dem engeren Ausschuſs aus den Zwölfen nicht
erscheint, sondern nur noch Joh. 6, 9. 12, 22. ohne be-
sondre Bedeutung vorkommt.


Neben Petrus treten sonst nur die beiden Zebedaiden
noch mit Auszeichnung hervor. Sie zeigen einen ähnli-
chen feurigen, aber der Mäſsigung bedürftigen Eifer wie
Petrus (Luc. 9, 54.; einmal auch Johannes allein, Marc.
9, 38. Luc. 9, 49.), welchem sie den ihnen von Jesu bei-
gelegten Namen בני רגש, υἱοὶ βροντῆς (Marc. 3, 17.) ver-
dankten, und standen unter den Zwölfen so hoch, daſs
sie für sich (Marc. 10, 35 ff.) oder ihre Mutter für sie
(Matth. 20, 20 ff.) auf die ersten Plätze im Reiche Jesu
Anspruch machen zu können glaubten. Bemerkenswerth
ist, daſs nicht nur in allen vier Katalogen, sondern auch
wo die beiden Brüder sonst zusammen genannt werden,
wie Matth. 4, 21. 17, 1. Marc. 1, 19. 29. 5, 37. 9, 2. 10, 35.
13, 3. 14, 33. Luc. 5, 10. 9, 54., mit Ausnahme von Luc.
8, 51. 9, 28. immer Jakobus zuerst genannt und Johannes
gerne als ὁ ἀδελφὸς αὐτοῦ an ihn angelehnt erscheint. Man
wundert sich hierüber, weil, während man von Jakobus
nichts Besonderes weiſs, Johannes als der Lieblingsjünger
Jesu bekannt ist. Da demnach, wie man glaubt, dieses
Voranstellen unmöglich einen Vorzug des Jakobus vor Jo-
hannes bezeichnen kann, so sucht man es daraus zu erklä-
ren, daſs Jakobus vielleicht der Ältere gewesen sei 6).
[557]Fünftes Kapitel. §. 70.
Indessen fragt es sich sehr, ob ein so durchgängiges Vor-
anstellen nicht auch auf einen Vorzug des Jakobus deute,
oder ob, wenn bei den Synoptikern Johannes ebenso wie
im vierten Evangelium als der Lieblingsjünger vorgestellt
wäre, er nicht, wenn gleich der jüngere, seinem Bruder
Jakobus vorgesezt sein würde? Dieſs führt uns auf eine
Differenz zwischen den drei ersten Evangelien und dem
vierten, welche noch näher erwogen werden muſs.


Bei den Synoptikern bildet, wie gesagt, Petrus mit
Jakobus und Johannes den engeren Ausschuſs aus den
Zwölfen, welchen Jesus zu einigen Scenen beizieht, deren
richtiger Auffassung die übrigen nicht gewachsen schienen,
wie die Verklärung auf dem Berge, der Kampf in Gethse-
mane, und nach Markus (5, 37.) die Auferweckung der
Tochter des Jairus 7). Auch nach Jesu Tod erscheinen
ein Jakobus, Petrus und Johannes als ςύλοι der Gemeinde
(Gal. 2, 9.); aber dieser Jakobus ist nicht der schon frühe
(A. G. 12, 2.) hingerichtete Zebedaide, sondern der auch
bei'm ersten Apostelconcil mit vorwiegender Auktorität auf-
getretene Bruder des Herrn (Gal. 1, 19.), welchen Manche
für den zweiten Jakobus der Apostelverzeichnisse halten 8),
und auch schon im Anfang der Apostelgeschichte tritt der
Zebedaide hinter Petrus und Johannes zurück. Da sich auf
diese Weise der ältere Jakobus in der ersten Gemeinde
nicht auszeichnete, und auch nicht bekannt ist, daſs er
wegen seines frühen Märtyrertods besonders hoch geprie-
sen worden wäre, also die Sage keine Veranlassung hatte,
[558]Zweiter Abschnitt.
aus späterem Erfolg auf das Verhältniſs des Mannes zu
Jesu einen unhistorischen Glanz zurückzutragen: so ist
kein Grund vorhanden, die Nachricht von der ausgezeich-
neten Stellung, welche Jakobus sammt Petrus und Johan-
nes zu Jesu gehabt haben soll, in Zweifel zu ziehen.


Um so mehr muſs man sich wundern, im vierten
Evangelium das Triumvirat dieser Männer beinahe zur
Monarchie umgewandelt zu sehen, indem Jakobus, gleich-
sam als ein Lepidus, geradezu entlassen ist, zwischen
Petrus aber und Johannes, wie zwischen Antonius und
Octavian, die Sache so steht, daſs der leztere nahe daran
ist, den ersteren aus allen Ansprüchen an höheren oder
auch nur gleichen Rang mit ihm verdrängt zu haben. Von
Jakobus wird selbst der Name im vierten Evangelium
nicht genannt, nur im Anhang (21, 2.) kommen einmal
οἱ τοῦ Ζεβεδαίοῦ zusammen vor; während mehrere Berufungs-
geschichten, wahrscheinlich auch die des Johannes, mit-
getheilt werden, ist von der des Jakobus nicht die Rede;
auch tritt er nirgends, wie manche einzelne Apostel in
diesem Evangelium, redend auf. Ein anderes ist das Verfahren
des vierten Evangelisten mit Petrus. Er läſst ihn gleichfalls
unter den ersten in die Gesellschaft Jesu kommen, auch
nicht seltener als die Synoptiker bedeutend hervortreten;
er verbirgt es nicht, daſs Jesus ihm einen ehrenden Bei-
namen ertheilt habe (1, 43); er legt ihm (6. 68 f.) ein Be-
kenntniſs in den Mund, welches nur als Variation des
berühmten, Matth. 16, 16, erscheint; auch nach ihm wirft
sich Petrus einmal, um schneller zu Jesu zu kommen, in
das Meer (21, 7.); bei dem lezten Mahle und im Garten
Gethsemane läſst er den Petrus selbst noch thätiger sein,
als die Synoptiker (13, 6 ff. 18, 10 f.); er nimmt ihm die
Ehre nicht, Jesu in den hohenpriesterlichen Palast ge-
folgt (18, 15.) und nach der Auferstehung unter den er-
sten zum Grabe Jesu gegangen zu sein (20, 3 ff.); ja selbst
noch eine besondre Unterredung des Auferstandenen mit
[559]Fünftes Kapitel. §. 70.
Petrus weiſs er zu erzählen (21, 15 ff). Doch auf eigen-
thümliche Weise werden im vierten Evangelium diese Vor-
züge des Petrus verkümmert und zu Gunsten des Johan-
nes in Schatten gestellt. Lassen die Synoptiker den Petrus
und Johannes auf gleiche Weise und jenen noch etwas
früher als diesen von Jesus berufen werden: so gesellt
der vierte Evangelist zu dem Ungenannten, welcher den
Johannes vorstellen soll, lieber den Andreas, und läſst den
Petrus nur durch Vermittlung dieses Bruders zu Jesu
kommen 9); zwar, daſs von dem Beinamen: Petrus die eh-
rende Auslegung und bei dem Bekenntniſs Petri die Belo-
bung weggelassen ist, hat das vierte Evangelium mit den
beiden mittlern gemein; dagegen gehört, was nach dem
johanneischen Evangelium Petrus bei'm lezten Mahle und
im Garten Besonderes thut, nur unter die Kategorie der
Miſsgriffe. Je näher man der Katastrophe rückt, desto
mehr findet man jenes eigenthümliche Subordinationsver-
hältniſs des Petrus zu Johannes hervorgehoben. Schon
bei'm lezten Mahle zeigt sich zwar Petrus um Entdeckung
des Verräthers besonders bemüht: aber er kann sich nicht
unmittelbar an Jesum wenden, sondern muſs die Vermitt-
lung des Johannes, der έν τῷ κόλπῳ τοῦ Ἰησοῦ liegt, anru-
fen (13, 23 ff.); gieng den ersten Evangelien zufolge der
einzige Petrus Jesu in den hohenpriesterlichen Palast nach:
so geht nach dem vierten auch Johannes mit, und zwar
so, daſs ohne ihn auch Petrus nicht hineingekonnt hätte,
indem Johannes als γνωςὸς τῷ ἀρχιερεῖ ihn einführen muſs
(18, 15 f.); unter das Kreuz, wohin die Synoptiker keinen
Jünger sich wagen lassen, stellt das vierte Evangelium
den Johannes, und läſst ihn daselbst in ein Verhältniſs zu
der Mutter Jesu treten, von welchem jene nichts wissen
(19, 26 f.); bei der Erscheinung des Auferstandenen am
[560]Zweiter Abschnitt.
galiläischen See wirft sich Petrus als der ϑερμότερος nur
dann erst in das Meer, nachdem Johannes, als der διορα-
τικώτερος (Euthym.) in dem am Ufer Stehenden den Herrn
erkannt hatte (21, 7.); bei der darauf folgenden Unterre-
dung wird zwar allerdings Petrus durch den Auftrag:
βόσκε τὰ ἀρνία μου geehrt, doch ist diese Ehre durch die
zweifelnde Frage: φιλεῖς με getrübt; auch ist, während
Petrus auf einen Märtyrertod hingewiesen wird, dem Jo-
hannes die Auszeichnung des μένειν ἕως ἕρχομαι verheis-
sen, und Petrus wird von Neid über diesen Vorzug ab-
gemahnt. Endlich aber, was das Augenfälligste ist, wäh-
rend nach Luc. 24, 12. Petrus zuerst unter den Aposteln
allein zum leeren Grabe des Auferstandenen kommt, giebt
ihm das vierte Evangelium (20, 3 ff.) den Johannes zum
Begleiter, und zwar so, daſs dieser dem Petrus voranläuft
(προέδραμε τάχιον τοῦ Πέτρου) und zuerst an das Grab ge-
langt; hierauf geht Petrus, ἀκολουϑῶν αὐτῷ, zwar vor Jo-
hannes in das Grab hinein, aber erst von diesem heiſst
es: καὶ εἶδε καὶ ἐπίςευοεν, fast im Gegensaz zu der Angabe
des Lukas, daſs Petrus heimgekehrt sei ϑαυμάζων το γε-
γονός
. Diese Stelle giebt dem Eindruck, welchen die
Stellung des Johannes zu Petrus im vierten Evangelium
macht, den angemessenen Ausdruck: dieses προδραμεῖν τοῦ
Πέτρου
, das Bestreben, durch Johannes dem Petrus den
Rang ablaufen zu lassen, ist der Totaleindruck, welchen
der aufmerksame Leser von dieser Seite der Darstellung
dieses Verhältnisses im vierten Evangelium bekommen
muſs 10).


[561]Fünftes Kapitel. §. 70.

Besonders aber wird Johannes in dem von ihm be-
nannten Evangelium durch die stehende Benennung ὁ μα-
ϑητὴς ὃν ἠγάπα
oder ἐφίλει ὁ Ἰησοῦς vor allen andern aus-
gezeichnet (13, 23. 19, 26. 20, 2. 21, 7. 20.). Zwar läſst
sich, daſs durch diese Formel und durch die unbestimmte-
re ὁ ἄλλος oder auch nur ἄλλος μαϑητὴς (18, 15 f. 20, 3.
4. 8.), welche, wie aus 20, 2 f. erhellt, dieselbe Person mit
jener andeutet, der Apostel Johannes bezeichnet sei, aus
dem vierten Evangelium für sich oder mit den übrigen ver-
glichen nicht beweisen. Denn weder wird diese Bezeich-
nung irgendwo mit dem Namen dieses Apostels vertauscht,
noch wird im vierten Evangelium etwas von dem Lieblings-
jünger erzählt, was in den drei ersten dem Johannes zuge-
schrieben wäre. Daraus aber, daſs 21, 2. unter den An-
wesenden οἱ τοῦ Ζεβεδαίου aufgeführt sind, folgt nicht, daſs
der nachher, V. 7., erwähnte μαϑητὴς ὃν ἠγάπα ὁ Ἰησοῦς
gerade Johannes sein müsse; ebensogut könnte Jakobus
oder einer der V. 2. aufgezählten ἄλλοι ἐκ τῶν μαϑητῶν
δύο
gemeint sein. Dennoch scheint die kirchliche Tradi-
tion mit gutem Grund unter dem auf jene Weise Bezeich-
neten von jeher den Johannes verstanden zu haben, da in
dem griechischen Entstehungsgebiet des vierten Evange-
liums kaum ein andrer von den in demselben nicht genann-
ten Aposteln so bekannt war, um auf jene Bezeichnung
hin erkannt zu werden, als eben nur Johannes, dessen
Aufenthalt in Ephesus schwerlich als leere Sage von der
Hand zu weisen ist.


Zweifelhafter kann scheinen, ob durch die genannten For-
meln der Verfasser zugleich sich selbst, und also sich als den
10)
Das Leben Jesu I. Band. 36
[562]Zweiter Abschnitt.
Apostel Johannes bezeichnen wolle? Der Schluſs des 21ten
Kapitels freilich, V. 24., macht den Lieblingsjünger zum
μαρτυρῶν περὶ τούτων καὶ γράψας ταῦτα: doch daſs dieſs
ein Zusatz von fremder Hand sei, kann als anerkannt vor-
ausgesezt werden 11). Wenn aber in dem ächten Context
des Evangeliums, 19, 35., der Verfasser von dem Erfolg des
Jesu am Kreuze beigebrachten Lanzenstichs sagt: ὁ ἑωρακὼς
μεμαρτύρηκε
: so kann damit zwar nur der Lieblingsjünger
gemeint sein, weil nur er unter den Jüngern, die doch
allein hier als Zeugen aufzuführen schicklich war, als bei
dem Kreuze gegenwärtig vorausgesezt ist; auch würde,
daſs der Verfasser dadurch zugleich sich selbst gemeint
habe, durch die dritte Person, deren er sich bedient,
keineswegs unwahrscheinlich: wohl aber könnte das Prä-
teritum zweifelhaft machen, ob nicht doch der Verfasser sich
hier auf das Zeugniſs des Johannes, als einer von ihm ver-
schiedenen Person berufe 12)? Doch läſst sich diese Aus-
drucksweise auch im andern Fall erklären 13), und in dem
ἐϑεασάμεϑα und [ἐ]λάβομεν 1, 14. 16. scheint sich der Verf.
als Augenzeugen der von ihm erzählten Geschichte zu geben.


Ob nun aber der Verfasser des vierten Evangeliums,
welcher sich wahrscheinlich als den Apostel Johannes zu
errathen geben will, dieser auch wirklich gewesen sei, ist
eine andre Frage, über welche wir übrigens hier nur nach
Maſsgabe des uns bis jezt Vorliegenden uns aussprechen
können. Ob der Apostel Johannes eine so unhistorische
Zeichnung des Täufers hätte geben können, wie wir im
vierten Evangelium eine gefunden haben, sei nur kurz in
Erinnerung gebracht. Hier aber fragt es sich, ob es irgend
[563]Fünftes Kapitel. §. 71.
wahrscheinlich sei, daſs der wirkliche Johannes die wohlbe-
gründeten Ansprüche seines Bruders Jakobus an eine be-
sondere Auszeichnung so unbillig vernachlässigt hätte? und
ob dieſs nicht vielmehr auf einen entfernt lebenden helle-
nistischen Verfasser deute, zu welchem von dem frühe ge-
mordeten Bruder des Johannes kaum eine Kunde gedrun-
gen war? Ebenso ist hier über die Bezeichnung: ὁ μο-
ϑητὴς ὃν ἠγάπα ὁ Ἰησοῦς
, welche 21, 20. gar durch den
Zusaz: ὃς καὶ ἀνέπεσεν ἐν τῷ δείπνῳ ἐπἰ τὸ ςῆϑος αὐτοῦ καὶ
εἶπε· Κύριε τίς ἐςιν ὁ παραδιδούς σου;
in das Schleppende ver-
längert wird, zu urtheilen, nicht zwar, daſs sie ein Verstoſs
gegen die Bescheidenheit 14), wohl aber, daſs sie zu ge-
sucht und geziert sei für einen, der ohne Nebenabsicht ge-
radezu nur sich selbst bezeichnen will, da ein solcher doch
bisweilen sich durch einfache Nennung seines Namens be-
merklich gemacht haben würde, wogegen ein Verehrer des
Johannes, vielleicht aus einer johanneischen Schule hervor-
gegangen, ganz natürlich dazu kommen konnte, den von
ihm verehrten Apostel, unter dessen Namen er schreiben
wollte, auf diese theils ehrenvolle, theils geheimniſsvolle
Weise zu bezeichnen 15).


§. 71.
Die übrigen von den Zwölfen und die siebenzig Jünger.


Die zweite Tetrade eröffnet in allen vier Katalogen
Philippus. Die drei ersten Evangelien wissen ausser sei-
nem Namen nichts von ihm. Das vierte allein giebt seinen
Geburtsort Bethsaida an und berichtet seine Berufung (1,
44 f.); in demselben tritt er auch öfters redend und ange-
redet auf, mit miſsverstehenden Äusserungen (6, 7. 14, 8.),
bedeutender vielleicht dadurch, daſs sich (12, 21.) die ἕλ-
ληνες, welche Jesum zu sehen wünschen, gerade an ihn
wenden.


36*
[564]Zweiter Abschnitt.

Der nächste in den drei evangelischen Verzeichnissen
ist Bartholomäus, ein Name, der ausser den Katalogen sonst
nirgends genannt wird. Wie die synoptischen Verzeich-
nisse den Bartholomäus, so verbindet in der oben betrach-
teten Berufungsgeschichte das vierte Evangelium (1, 46.) mit
Philippus den Nathanaël, welchen es auch 21, 2. in der
Gesellschaft von Aposteln aufführt. Unter diesen aber fin-
det Nathanaël keinen Raum, wenn er nicht mit irgend ei-
nem, den die Synoptiker anders nennen, identisch ist. Da-
zu scheint sich am leichtesten Bartholomäus eben dadurch
zu eignen, daſs ihn die drei ersten Evangelien ebenso ne-
ben Philippus aufführen, wie das vierte, das von einem
Bartholomäus nichts weiſs, den Nathanaël, wozu noch kommt,
daſs בר תלמי nur die Bezeichnung des Sohns vom Vater
her ist, neben welcher also noch ein eigentlicher Name,
wie Nathanaël, Plaz hatte 1). Allein weder jene gleiche
Zusammenstellung des Bartholomäus und Nathanaël mit
Philippus, welche sich dadurch als zufällige zeigt, daſs so-
wohl A.G. 1, 13. Bartholomäus, als Joh. 21, 2. Nathanaël
in andrer Verbindung erscheinen, ist für diese Identification
ein hinreichender Grund, noch das Fehlen des Bartholo-
mäus bei Johannes, der auch andere von den Zwölfen ver-
schweigt, noch endlich die Beschaffenheit dieses Namens,
da auch neben nicht blos patronymischen Namen, wie Si-
mon, Lebbäus, zweite Namen geführt wurden; so daſs
jeder andre von Johannes nicht genannte Apostel gleich
gut mit seinem Nathanaël identificirt werden könnte, wo-
durch das ganze zwischen den genannten beiden Namen
angenommene Verhältniſs als eine harmonistische Hypothese
sich zu erkennen giebt.


Im Katalog der Apostelgeschichte folgt auf Philip-
pus statt des Bartholomäus Thomas, welchen das Verzeich-
[565]Fünftes Kapitel. §. 71.
niſs im ersten Evangelium nach Bartholomäus, die der bei-
den andern auch noch nach Matthäus haben. Thomas, grie-
chisch Δίδυμος, kommt nur im vierten Evangelium einmal
in der Rolle schwermuthsvoller Treue 11, 16.), ein ander-
mal in der bekannteren des Schwerzuüberzeugenden vor
(20, 24 ff.). Der nun folgende Matthäus findet sich sonst
nur noch in seiner Berufungsgeschichte.


Die dritte Tetras wird übereinstimmend durch den
Jakobus Alphäi eröffnet, von welchem schon oben die Re-
de war. Auf ihn folgt in den beiden Verzeichnissen des
Lukas Simon, welcher bei ihm ὁ ζηλωτὴς, bei Matthäus und
Markus, die ihn um eine Stelle später haben, ὁ κανανίτης
heiſst, ein Beiname, der ihn als einen früher der jüdischen
Sekte der Religionseiferer 2) Angehörigen zu bezeichnen
scheint. Während nun die lezte Stelle in allen Verzeich-
nissen, die ihn noch haben, mit Judas Ischariot besezt ist, von
welchem erst in der Leidensgeschichte die Rede werden
kann, so differiren in der Besetzung der in der dritten Te-
trade noch offenen Stelle die Kataloge des Lukas von den
beiden andern, indem jene einen Ἰούδας Ἰακώβου, diese ei-
nen Θαδδαῖος oder nach Matthäus Λεββαῖος, ἐπικληϑεὶς Θαδ-
δαῖος
hier haben. Mit Recht tadelt Schleiermacher die
zum Theil höchst unnatürlichen Versuche, auch hier nur
zwei verschiedene Namen Einer Person nachzuweisen
wenn er aber jene Differenz daraus zu erklären sucht,
daſs vielleicht noch zu Lebzeiten Jesu einer von beiden
Männern gestorben oder aus dem Kreise der Apostel getre-
ten sei und der andre seine Stelle eingenommen habe, so
daſs nun die einen Verzeichnisse den früheren, die andern
den späteren Personalbestand wiedergeben 3): so ist ge-
wiſs keiner unsrer Apostelkataloge aus den Lebzeiten Je-
su her; nachher aber wird wohl Niemand ein früh abge-
[566]Zweiter Abschnitt.
gangenes Mitglied des Apostelcollegiums, sondern nur die
zulezt um Jesum gewesenen aufgezählt haben. So daſs
auch hier nichts übrig bleibt, als eine Abweichung der Ver-
zeichnisse anzuerkennen, welche leicht daraus entstehen
konnte, daſs man zwar die Zwölfzahl der Apostel hatte und
die ausgezeichneteren unter denselben kannte, die übrig blei-
benden Stellen aber, wo bestimmte Data fehlten, nach ver-
schiedenen Traditionen verschieden besezte.


Mit einem eigenthümlichen Kreise von Jüngern Jesu,
welcher zwischen dem engeren der Zwölfe und dem wei-
testen seiner Anhänger überhaupt in der Mitte steht, macht
uns Lukas bekannt, indem er 10, 1 ff. sagt, daſs Jesus aus-
ser den Zwölfen noch ἑτέρους ἑβδομήκοντα ausgewählt, und
sie paarweise in die Ortschaften, durch welche er auf sei-
ner lezten Reise zu kommen gedachte, vorangeschickt ha-
be, um die Nähe der βασιλεία τῶν οὐρανῶν zu verkündigen.
Da die übrigen Evangelisten von diesem Umstand schwei-
gen, so hat die neueste Kritik nicht ermangelt, namentlich
dem ersten, als seinsollendem Apostel, dieses Stillschwei-
gen zum Vorwurf zu machen 4). Allein die hieraus gegen
Matthäus erwachsene Ungunst muſs sich mildern, wenn
man erwägt, daſs nicht nur, wie bemerkt, in keinem der
übrigen Evangelien, sondern auch weder in der Apostelge-
schichte noch einem apostolischen Briefe von den 70 Jün-
gern eine Spur sich findet, welche schwerlich so ganz feh-
len könnte, wenn ihre Sendung so erfolgreich gewesen wä-
re, als man gewöhnlich anzunehmen pflegt. Doch weniger
durch ihren Erfolg als durch ihre Bedeutsamkeit soll jene
Auswahl wichtig gewesen sein; wie nämlich die 12 Apo-
stel durch ihre Beziehung auf die 12 Stämme Israëls die
Bestimmung Jesu für das jüdische Volk andeuteten: so wa-
ren, sagt man, die 70, oder, wie einige Auktoritäten ha-
[567]Fünftes Kapitel. §. 71.
ben, 72 Jünger Repräsentanten der 70 oder 72 Völker, wel-
che, mit eben so vielen Sprachen, nach jüdischer und alt-
christlicher Ansicht auf der Erde sich finden sollten 5), und
wiesen somit auf die universelle Bestimmung Jesu und sei-
nes Reiches hin 6). Doch auch für die jüdische Nation für
sich hatte jene Zahl als heilige Zahl Bedeutung: 70 Älte-
ste wählte sich Moses als Gehülfen (4 Mos. 11, 16. 25.);
70 Mitglieder hatte das Synedrium 7); ebenso viele grie-
chische Dolmetscher das A. T.


Hier fragt sich nun: hatte der in das Gedränge der
Umstände hineingestellte Jesus nichts Angelegeneres zu
thun, als alle möglichen bedeutsamen Zahlen zusammenzu-
suchen und sich nach Maſsgabe derselben mit verschiedenen
Jüngerkreisen zu umgeben? oder ist ein solches durchge-
führtes Halten an heiligen Zahlen, ein solches Fortspinnen
des einmal durch die Zahl der Apostel dazu gegebenen
Anfangs nicht vielmehr ganz im Geist der urchristlichen
Sage, welche, sofern wir sie jüdisch gefärbt uns denken,
den Schluſs machte, wenn Jesus die 12 Stämme in der Zahl
seiner Apostel abgebildet habe, so werde er auch die 70
Ältesten durch eine entsprechende Anzahl von Jüngern
nachgebildet haben, oder sofern wir sie mehr paulinisch-uni-
versalistisch vorstellen, nicht umhin konnte, vorauszusetzen,
daſs Jesus neben der durch die Zahl der Apostel angedeu-
teten Beziehung seiner Sache auf das israëlitische Volk zu-
gleich durch die Auswahl von 70 Jüngern ihre weitere
Bestimmung für alle Völker der Erde vorgebildet habe?
Und so angenehm auch von jeher der Kirche die Klasse
der 70 Jünger gewesen ist, gleichsam als Versorgungsan-
stalt, um Männer unterzubringen, welche nicht zu den Zwöl-
[568]Zweiter Abschnitt.
fen gehörten, an denen ihr aber doch etwas gelegen war,
wie einen Markus, Lukas, Matthias: so werden wir doch
diese leztere Frage bejahen, die Entscheidung der neue-
sten Kritik für Übereilung erklären, und gestehen müssen,
daſs durch die Aufnahme einer solchen, von aller histori-
schen Bestätigung verlassenen, nur auf dogmatisches Inter-
esse als Quelle hinweisenden Nachricht das Lukasevange-
lium gegen das des Matthäus im Nachtheil ist. So viel
freilich scheint namentlich aus A.G. 1, 21 f. zu erhellen,
daſs Jesus auch ausser den Zwölfen noch andre beständi-
ge Begleiter hatte: daſs aber diese gerade ein Corps von
Siebzigen gebildet, oder aus ihnen so viele ausgelesen wor-
den seien, scheint nicht gehörig verbürgt zu sein.


[569]Sechstes Kapitel. §. 72.

Sechstes Kapitel.
Reden Jesu in den drei ersten
Evangelien.
*)


§. 72.
Die Bergrede.


In dem weiteren Verlauf des öffentlichen Lebens Jesu
lassen sich von den Begebenheiten diejenigen Reden ab-
sondern, welche nicht bloſs Accidenzen von Begebenhei-
ten, sondern selbstständige Ganze bilden; wiewohl dieser
Unterschied immerhin ein flieſsender ist, und von man-
chem Redestück, wegen des veranlassenden Ereignisses,
behauptet werden kann, es sollte unter die Begebenheiten,
so wie von mancher Begebenheit, wegen der daran sich
knüpfenden Erörterungen, sie sollte zu den Reden gestellt
werden. Da ferner zwischen den drei ersten Evangelisten
und dem vierten namentlich auch in Hinsicht auf die Reden
eine solche Differenz stattfindet, daſs dieser mit jenen nur
wenige einzelne Aussprüche gemein hat: so sind die Re-
den Jesu bei den Synoptikern und die bei Johannes einer
abgesonderten Betrachtung zu unterwerfen. Unter sich
verhalten sich in diesem Stück die drei ersten Evangeli-
sten so, daſs Matthäus gerne gröſsere Massen von Reden
Jesu zusammenstellt, welche sich bei Lukas an verschie-
dene Orte und Anlässe vertheilt finden, wobei jedoch jeder
von beiden auch wieder eigenthümliche Redestücke für sich
hat; bei Markus tritt das Element der Reden sehr zurück.
Es wird demnach das Zweckmäſsigste sein, wenn wir zu-
[570]Zweiter Abschnitt.
nächst von den Redemassen des Matthäus ausgehen, das
ihnen Entsprechende bei den andern Evangelisten aufsu-
chen, hierauf fragen, wer wohl diese Reden besser ge-
stellt und dargestellt habe, und endlich darüber, wiefern
sie wirklich als aus Jesu Munde gekommen zu betrachten
seien, uns ein Urtheil zu bilden streben.


Die erste gröſsere Redemasse bei Matthäus ist die so-
genannte Bergrede, K. 5 — 7. Nachdem nämlich dieser
Evangelist die Rückkehr Jesu von der Taufe nach Galiläa
und die Berufung der beiden Fischerpaare erzählt hat,
berichtet er, wie Jesus lehrend und heilend ganz Galiläa
durchreist habe, und viel Volks aus allen Theilen Palä-
stina's ihm nachgezogen sei; als er die Volksmenge gese-
hen, sei er auf einen Berg gestiegen, und habe die be-
zeichnete Rede gehalten (4, 23 ff.). Während man eine
Parallele zu dieser Rede bei Markus vergeblich sucht,
giebt dagegen Lukas, 6, 20 — 49, einen Vortrag, der nicht
nur denselben Anfang und Schluſs, sondern auch in dem
dazwischen liegenden Inhalt und Gedankengang die auf-
fallendste Verwandtschaft mit jenem hat, wozu noch kommt,
daſs auch bei ihm wie bei Matthäus nach Beendigung des
Vortrags Jesus nach Kapernaum geht, und den Knecht
des Hauptmanns heilt. Freilich reiht er die Rede etwas
später ein, indem er vor derselben manche Wanderungen
und Heilungen Jesu erzählt, welche Matthäus nach der
seinigen stellt; er läſst ferner, fast im Gegensaz gegen
Matthäus, Jesum die Rede nicht ἀναβάντα εἰς τὸ ὄρος,
sondern καταβάντα, ἐπὶ τόπου πεδινοῦ, und nicht, wie bei
Matthäus, καϑίσαντα, sondern stehend halten; wozu end-
lich noch dieſs kommt, daſs die Rede bei Lukas dem Um-
fang nach nur etwa ein Viertheil von der bei Matthäus
beträgt, somit ein bedeutender Theil von dieser in jener
fehlt, während übrigens doch auch die Rede bei Lukas
einige eigenthümliche Elemente hat, welche in der des
Matthäus vermiſst werden.


[571]Sechstes Kapitel. §. 72.

Um daher nicht zugeben zu müssen, daſs von zwei
inspirirten Evangelisten einer Unrecht habe, wenn doch
der eine Jesum auf dem Berge, der andre auf der Ebene,
der eine sitzend, der andere stehend, der eine früher, der
andre später dasselbe reden lieſse, zudem entweder der
eine wesentliche Auslassungen, oder der andere ebensol-
che Zusätze sich erlaubt hätte: hat die alte Harmonistik
beide Reden für verschieden erklärt 1), mit Berufung
darauf, daſs Jesus wichtige Stücke seiner Lehre öfters
behandelt haben müsse, und dabei auch gewisse besonders
schlagende Aussprüche wörtlich wiederholt haben könne.
So unbedenklich dieſs von einzelnen Sentenzen zuzugeben
ist, so entschieden ist es von längeren Ausführungen zu
leugnen; ja selbst jene kurzen Gnomen wird der begabte
und erfindungsreiche Lehrer jedesmal in andrer Stellung
und Verbindung vorzubringen wissen, und unmöglich kann
ein anderer als ein ganz dürftiger Kopf einen so bestimmt
ausgeführten Anfang und Schluſs, wie ihn die in Frage
stehenden Reden an den Makarismen und dem Bilde des
auf Felsen oder auf Sand gebauten Hauses haben, zu
wiederholten Malen gebrauchen.


Muſste man sich daher für die Identität beider Reden
entscheiden, so galt es zuerst, die Differenzen zwischen
beiden Relationen auszugleichen, oder auf eine Weise zu
erklären, bei welcher ihre Glaubwürdigkeit unangetastet
blieb. In Bezug auf die verschiedene Bezeichnung des Lokals
hat Paulus das ἐπὶ bei Lukas premirt und von einem Ste-
hen über der Ebene, also auf einem Hügel erklärt 2);
besser Tholuck den τόπος πεδινὸς von der eigentlichen
Ebene unterschieden und als eine weniger gähe Stelle sei-
[572]Zweiter Abschnitt.
nes Abhangs zu dem Berge geschlagen 3); indeſs, da der
eine Evangelist den Vortrag Jesu unmittelbar an ein Hin-
aufsteigen, der andre an ein Herabsteigen knüpft: so wird
man doch mit Olshausen sagen müssen, wenn Jesus nach
Lukas auf der Ebene oder an einer niedrigeren Stelle des
Berges gesprochen, so habe Matthäus das auf das Hinauf-
steigen gefolgte Heruntersteigen übergangen; oder wenn
nach Matthäus Jesus auf der Höhe des Berges geredet,
so habe Lukas vergessen zu melden, daſs er, nachdem er
schon herabgestiegen war, sich doch des Gedränges we-
gen vor der Rede wieder etwas in die Höhe gezogen ha-
be 4). Und zwar hat jeder von beiden, was er nicht mel-
det, davon ohne Zweifel auch nichts gewuſst, und indem
in der Überlieferung diese Rede mit einem Aufenthalt
Jesu auf einem Berge in Verbindung stand, so dachte
wohl Matthäus sich eben den Berg als eine bequeme Er-
höhung für eine Volksrede, während Lukas ein Herabstei-
gen zu der Menge für nöthig erachtete; womit auch die
weitere Differenz zusammenhängt, daſs der vom Berg aus
Redende sitzen zu können schien, weil er durch den
Berg schon genug über die am Abhang herunter aufge-
stellten Zuhörer hervorragte: der auf der Ebene Spre-
chende aber musste natürlich stehen. — Ebenso wie diese
das Lokal betreffende, wird man auch die chronologische
Differenz einräumen und sich falscher Ausgleichungsver-
suche enthalten müssen.


Die Abweichungen im Umfang und Inhalt der Rede
lassen an sich die dreifache Erklärung offen, daſs entwe-
der der kürzere Bericht des Lukas nur ein Auszug aus
der ganzen Rede, wie sie vollständig Matthäus wiedergebe,
oder daſs in der Aufzeichnung des Matthäus manches bei
andern Gelegenheiten Gesprochene hinzugefügt, oder end-
[573]Sechstes Kapitel. §. 72.
lich daſs beides zugleich der Fall sei. Wer wie Tholuck
die fides divina, oder wie Paulus die fides humana der
Evangelisten unverlezt halten will, dem empfiehlt sich die
erstere Ansicht, weil Weglassen von Vorgekommenem ein
unverfänglicherer Fehler ist, als Hinzusetzen von Nicht-
vorgekommenem, und man beruft sich hiebei auf den
engen Zusammenhang, welchen man in der Bergrede des
Matthäus nachweisen zu können glaubt, und der darauf
hinweisen soll, daſs die Rede in Einem Zuge von Jesus
selbst so gesprochen worden sei. Allein theils kann ja
wohl auch ein nur nicht ganz ungeschickter Referent ur-
sprünglich nicht zusammengehörige Aussprüche in erträgli-
chen Zusammenhang bringen, theils geht dieser, wie jene
Erklärer selbst gestehen müssen 5), nur etwas über die
Hälfte der Bergrede hinüber, so daſs von 6, 19. an mehr
oder minder isolirte Sentenzen folgen, und sogar an sol-
chen Aussprüchen fehlt es nicht ganz, welche an dieser
Stelle gar nicht gethan sein können. Daher hat sich die
neueste Kritik umgekehrt dahin entschieden, daſs die kür-
zere Relation bei Lukas ganz oder doch nahezu die ur-
sprüngliche Gestalt der Rede Jesu wiedergebe, Matthäus
dagegen sich erlaubt habe, an dasjenige, was Jesus bei
dem beschriebenen Anlaſs vorgetragen, manches bei andern
Gelegenheiten von ihm Gesprochene in der Art anzurei-
hen, daſs der gemeinschaftliche Grundriſs, nämlich An-
fang, Schluſs und zwischen beiden das Wesentliche des
Gedankenfortschritts blieb, in dieses Fachwerk aber mehr
oder minder Verwandtes von anderwärts her eingeschoben
wurde 6); eine Ansicht, welche hauptsächlich dadurch
unterstüzt wird, daſs viele von den Aussprüchen, welche
Matthäus in der Bergrede zusammenstellt, bei Lukas und
[574]Zweiter Abschnitt.
zum Theil auch bei Markus an verschiedene Orte zerstreut
vorkommen. Dieſs zuzugeben genöthigt, und doch be-
strebt, einen Irrthum, der seine Augenzeugenschaft mehr
als zweifelhaft machen würde, von dem Evangelisten ab-
zuwälzen, behaupten nun andre Theologen, nicht in der
Meinung, sie sei in Einem Zuge gesprochen worden, son-
dern mit klarem Bewuſstsein, daſs dieſs nicht der Fall ge-
wesen sei, und in der Voraussetzung, daſs dieſs auch sei-
nen Lesern klar sein werde, habe Matthäus diese Rede
zusammengesezt 7). Allein mit Recht ist hiegegen bemerkt
worden, wenn doch Matthäus Jesum, ehe er die Rede be-
ginnt, auf den Berg hinauf, und nachdem er sie geendigt, von
demselben wieder herabsteigen lasse, so stelle er dadurch
das zwischen beiden Momenten Gesprochene augenschein-
lich als in Einem Zuge gesprochen dar, und wenn er von
den ὄχλοις, deren er vor dem Beginn der Rede gedacht
hatte, nach deren Beendigung bemerke, welchen Ein-
druck die Rede auf sie gemacht: so müsse er doch wohl
einen zusammenhängenden Vortrag schildern wollen 8).
Indessen auch bei Lukas hat man theils in seiner Bergrede
Stellen gefunden, wo der unterbrochene Zusammenhang
auf Lücken schlieſsen läſst, und Zusätze, welche schwer-
lich ursprünglich sind 9); theils ist die richtigere Stellung
derjenigen Aussprüche, welche er an andern Orten hat,
sehr problematisch gefunden worden 10), weſswegen, wie
wir bald näher sehen werden, in diesem Stücke Lukas
nichts vor Matthäus voraus hat.


[575]Sechstes Kapitel. §. 72.

Das Publikum, für welches die Bergrede bestimmt
war, könnte von Lukas als ein engerer Kreis bezeichnet
zu sein scheinen, wenn er die Apostelwahl unmittelbar
vorhergehen, und bei'm Beginn des Vortrags Jesum die
Augen εἰς τοὺς μαϑητὰς αὑτοῦ erheben läſst, als von Mat-
thäus, der der Rede eine Beziehung auf die ὄχλους giebt.
Da indessen andererseits sowohl Matthäus vor der Berg-
rede die μαϑητὰς zu Jesu treten und diese sofort von
ihm belehrt werden, als auch Lukas ihn die Rede εἰς τὰς
ἀκοὰς τοῦ λαοῦ
halten läſst: so zeigt sich, daſs Jesus zum
versammelten Volk überhaupt, doch mit besonderer Be-
ziehung auf seine Schüler geredet hat 11); denn daſs hier
ein bestimmter feierlicher Redeakt zum Grunde liege, ha-
ben wir nicht Ursache zu bezweifeln.


Schreiten wir jezt zur Betrachtung des Einzelnen: so
ist in beiden Redaktionen die Bergrede durch eine Anzahl
von Makarismen eröffnet, von welchen übrigens bei Lukas
nicht nur mehrere fehlen, sondern auch, wie Storr12)
besser eingesehen hat, als jezt Olshausen, die meisten in
einem andern Sinn genommen sind, als bei Matthäus.
Indem nämlich weder die πτωχοὶ, wie bei Matthäus, durch
den Zusaz τῷ πνεύματι näher bestimmt, also nicht die Ein-
fältigen und Demüthigen, sondern die eigentlich Armen
sind, noch der Hunger der πεινῶντες auf τὴν δικαιοσύνην
bezogen, also kein geistiger, sondern ein leiblicher ist,
dagegen sowohl die πεινῶντες als die κλαίοντες durch die
Zeitbestimmung νῦν näher bezeichnet werden: so ist der
Gegensaz bei Lukas nicht wie bei Matthäus der concrete
von jezt unbefriedigten und leidenden Frommen und de-
ren künftiger Glückseligkeit, sondern der abstrakte von
jetzigem Leiden und künftigem Wohlergehen überhaupt.
Diese Art der Entgegensetzung des αἰὼν ούτος und μέλλων
[576]Zweiter Abschnitt.
kommt bei Lukas auch sonst, namentlich in der Paral el
vom reichen Manne, vor, und ohne hier schon zu unter-
suchen, welche von beiden Darstellungen wohl die ur-
sprüngliche sein möge, bemerke ich nur, daſs eben die
des Lukas ganz in dem ebionitischen Geiste gemacht ist,
welchen man neuestens im Matthäusevangelium hat finden
wollen. Bei den Ebioniten nämlich, wie sie namentlich
in den klementinischen Homilien sich darstellen, ist dieſs
ein Hauptsaz, daſs, wer sich in dieser Zeit sein Theil
nehme, in der künftigen leer ausgehe, wer aber auf irdi-
schen Besiz verzichte, sich dadurch himmlische Schätze
sammle 13). Der lezte μακαρισμὸς bezieht sich auf dieje-
nigen, welche um Jesu willen verfolgt werden. Lukas in
der Parallelstelle hat ἔνεκεν τοῦ υἱοῦ τοῦ ἀνϑρώπου, und so
kann auch das ἕνεκεν ἐμοῦ bei Matthäus Jesum nur in der
Eigenschaft des Messias bezeichnen. Ist nun wirklich die
Bergrede so in die erste Zeit von Jesu Wirksamkeit zu
setzen, wie sie die Evangelisten stellen: so kann er da-
mals, wo er nach dem Obigen sich selbst noch gar nicht
für den Messias erklärt hatte, unmöglich schon so gespro-
chen haben, sondern, wenn er wirklich ἔνεκεν ἐμοῦ gesagt
hat, so ist der ganze Ausspruch aus späterer Zeit, oder
wenn er vom Menschensohn in der dritten Person gespro-
chen hat, so wollte er diesen damals noch nicht als iden-
tisch mit ihm selbst bezeichnen 14).


Auf die Makarismen folgen bei Lukas ebensoviele οὐαὶ,
welche bei Matthäus fehlen. In ihnen tritt die ebionitische
Entgegensetzung des עולם הוא und הבא noch schroffer
hervor, wenn ohne Weiteres den πλουσίοις, ἐμπεπλησμένοις
und γελῶσι wehe zugerufen, und in der kommenden, mes-
sianischen Weltordnung mit entsprechenden Übeln gedroht
[577]Sechstes Kapitel. §. 72.
wird, eine Darstellung, welche an Jac. 5, 1 ff. erinnert.
Da jedenfalls das lezte οὐαὶ etwas steif dem lezten μακάριοι
nachgebildet ist, indem gewiſs nur dem Gegensaz mit den
vielverlästerten wahren Propheten zulieb und nicht weil
ein historisches Datum vorhanden gewesen wäre, behaup-
tet wird, bei den ψευδοπροφήταις sei es der Fall gewesen,
daſs Jedermann Gutes von ihnen gesagt habe: so könnte
man wohl mit Schleiermacher15) vermuthen, der Refe-
rent im dritten Evangelium habe die den Seligpreisungen
correspondirenden Wehe von seinem Eigenen hinzugethan.
Weniger übrigens weil er, wie Schleiermacher meint,
eine Lücke fühlte, die er nicht mehr ergänzen konnte,
als weil es dem Messias angemessen scheinen mochte, wie
einst Moses, neben dem Segen auch den Fluch ausgespro-
chen zu haben. Wenn man nämlich in der Bergrede sonst
zwar mit Recht ein Seitenstück zur sinaitischen Gesezge-
bung findet: so ist doch dieser Eingang wenigstens mehr
mit dem Abschnitt im Deuteronomium (27, 11 ff.) zu ver-
gleichen, wo Moses gebietet, daſs bei'm Einzug des Volks
in Kanaan die eine Hälfte auf den Berg Garizim, die an-
dere auf den Ebal sich stellen, und jene einen vielfachen
Segen für die dem Gesetze Gehorsamen, diese einen eben-
so vielfachen Fluch gegen die Übertreter desselben aus-
sprechen solle, was nach Jos. 8, 33 ff. wirklich vollzo-
gen worden ist 16).


Das Leben Jesu I. Band. 37
[578]Zweiter Abschnitt.

Passend reiht sich an die Makarismen bei Matthäus
die Darstellung der Jünger Jesu als τὸ αλας τῆς γῆς und
τὸ φῶς τοῦ κόσμου an (5, 13 ff.). Bei Lukas findet sich die
Rede vom Salz mit etwas verschiednem Anfang an einer
andern Stelle (14, 34 f.), wo Jesus seine Zuhörer ermahnt,
in reiflicher Erwägung der in seiner Nachfolge zu brin-
genden Opfer sich lieber gar nicht an ihn anzuschlieſsen,
als nachher mit Schande zu bestehen, und hierauf füglich
solche schwachwerdende Schüler mit abstehendem Salze
vergleichen kann. Paſst so das Diktum an beide Stellen,
so ist es zugleich in seiner gnomischen Kürze von der Art,
daſs es öfters wiederholt werden konnte, also in beiden
Verbindungen gesprochen sein kann. Dagegen kann es
nicht gesprochen sein in dem Zusammenhang, welchen
ihm Markus (9, 50) anweist; denn das auf die Hölle sich
beziehende αλίζειν kann mit dem αλας, durch welches der
Vorzug des wahren Anhängers Jesu dargestellt wird, in
keinem inneren Zusammenhang stehen, vielmehr ist die
Verbindung nur äusserlich durch das gleiche Wort ver-
mittelt, eine Art von Zusammenhang, welche treffend
als lexikalischer bezeichnet worden ist 17). Der veränderte
Schluſs, welchen Markus der Gnome giebt, kann zwar
möglicherweise in Verbindung mit derselben, ebensogut
aber in ganz andrem Zusammenhang vorgetragen worden
sein. — Auch die Gnome vom Licht, das, wie das Salz
nicht kraftlos, so nicht verborgen werden dürfe, fehlt in
der Bergrede des Lukas, welcher mit Weglassung der be-
stimmten Beziehung auf die Jünger den Ausspruch an
zwei verschiedenen Orten hat. Zuerst 8, 16, unmittelbar
nach der Auslegung der Parabel vom Säemann, wohin
auch Markus (4, 21) das Diktum stellt, lieſse sich zwar
das Leuchten des Lichts mit dem καρποφορεῖν des Samens
in Verbindung setzen: doch ist nach der Auslegung einer
[579]Sechstes Kapitel. §. 72.
Gleichniſsrede ein Ruhepunkt, über welchen ein verstän-
diger Redner nicht so leicht zu neuen Bildern hinwegei-
len wird; jedenfalls aber findet zwischen diesem Leuch-
ten des inneren Lichts und dem von Lukas darangehäng-
ten Ausspruch, daſs alles Verborgene an den Tag komme,
kein innerer Zusammenhang statt, sondern wir haben hier
eine Erscheinung, welche bei Lukas besonders häufig sich
wiederholt, daſs nämlich in den Zwischenraum zwischen
zwei selbstständigen Reden oder Erzählungen mehrere ver-
einzelte Gnomen zusammengeworfen sind. So ist hier zwi-
schen der Parabel vom Säemann und der Erzählung von
dem Besuch der Mutter und Brüder Jesu zuerst die Gnome
vom nicht zu bergenden Lichte wegen einiger inneren Ver-
wandtschaft mit der Parabel eingefügt; dann, weil in die-
ser Gnome der Gegensaz von Verbergen und offen Hin-
stellen vorkam, fiel dem Referenten die sonst heterogene
Rede vom Offenbarwerden alles Verborgenen ein; worauf
ohne Zusammenhang mit dieser, aber wieder in einiger
Beziehung auf die Parabel, der Ausspruch: wer hat, dem
wird gegeben, hinzugesezt ist. Vollends aber an der zwei-
ten Stelle, 11, 33, ist zwischen der Rede Jesu, daſs seine
Zeitgenossen einst durch die Nineviten werden verur-
theilt werden und dem οὐδεὶς δὲ λύχ[ν]ον αψας kein Zusam-
menhang nachzuweisen, wenn man ihn nicht hineinlegt 18),
sondern wir haben auch hier wieder, zwischen den Reden
gegen die Zeichenforderung und denen bei'm Pharisäer-
mahl, eine solche Fuge, welche mit abgerissenen Redestük-
ken ausgefüllt ist.


Es folgt nun 5, 17 ff. der Übergang zum eigentlichen
Thema der Rede, nämlich die Versicherung Jesu, nicht
zur Auflösung, sondern zur Erfüllung des Gesetzes und
der Propheten gekommen zu sein u. s. f.; was, da sich
hiemit Jesus offenbar als den Messias voraussezt, welchem
37*
[580]Zweiter Abschnitt.
man die Befugniſs zur Abrogirung eines Theils des Ge-
setzes zuschrieb, wieder ein Ausspruch ist, der nicht zu
einer Zeit gethan sein kann, in welcher sich Jesus noch
gar nicht als Messias erklärt hatte 19). Lukas (16, 17.)
stellt diesen Ausspruch zwar nach dieser Erklärung, zu-
gleich aber neben den scheinbar ganz entgegengesezten,
daſs das Gesez und die Propheten nur bis auf Johannes
gehen, zwei Aussprüche, die unmöglich in demselben Zu-
sammenhang gethan sein können, sondern auch hier ist
der Zusammenhang nur ein lexikalischer, indem ad vocem
νόμος, womit der erste Saz anfieng, dem Verfasser ein
anderer, gleichfalls den νόμος betreffender Ausspruch Jesu
beifallen mochte 20). Überhaupt ist hier, zwischen den
Parabeln vom Haushalter und vom reichen Mann, wieder
eine jener Spalten, in welchen sich bei Lukas gerne ab-
gerissene Redestücke zusammenfinden.


So wenig, wird V. 20. fortgefahren, sei Jesus geson-
nen, Nichtachtung des mosaischen Gesetzes zu lehren,
daſs er vielmehr eine noch strengere Achtung desselben
als die Schriftgelehrten und Pharisäer verlange, und diese
sich gegenüber als diejenigen erscheinen lasse, welche das
Gesez untergraben; woraus sofort an einer Reihe von mo-
saischen Geboten gezeigt wird, wie Jesus, statt sich an
den Buchstaben zu halten, in den Geist der Gesetze ein-
dringe, und namentlich die rabbinische Auslegung dersel-
ben in ihrer Verwerflichkeit durchschaue (— V. 48.). Daſs
dieser Abschnitt in der Ordnung und Vollständigkeit, wie
wir ihn bei Matthäus lesen, in der Bergrede des Lukas
fehlt, ist ein entschiedenes Zeichen, daſs diese leztere
Lücken hat. Denn in dieser Passage ist der Grundge-
danke nicht nur der Rede, wie sie Matthäus hat, angege-
[581]Sechstes Kapitel. §. 72.
ben, sondern auch die zerstreuten Äusserungen über Fein-
desliebe, Versöhnlichkeit, Wohlthätigkeit, welche Lukas
giebt, finden nur in dem Gegensaz der geistigen Schrift-
auslegung Jesu und der fleischlichen der damaligen Leh-
rer ihren bestimmten Sinn und Einheitspunkt. Auch ist
mit Recht darauf aufmerksam gemacht worden, daſs die
Worte, mit welchen Lukas (V. 27.) Jesum nach dem lez-
ten Wehe fortfahren läſst: ἀλλὰ ὑμῖν λέγω21) und ebenso
V. 39. das εἶπε δὲ παραβολὴν αὐτοῖς22) Lücken ver-
rathen. Was einzelne Parallelen betrifft, so ist die Er-
mahnung zu schneller Ausgleichung mit dem ἀντίδικος
(5, 25 f.) bei Lukas (12, 58 f.) nach dem Urtheil erfahre-
ner Exegeten wenigstens nicht so leicht mit dem Vorange-
gangenen in Zusammenhang zu bringen, als bei Mat-
thäus 23): noch schlimmer jedoch steht es mit der Paral-
lele zu 5, 32, von der Ehescheidung, wo, was bei Mat-
thäus in engster Verbindung steht, bei Lukas (16, 18.) in
einer der schon bezeichneten Spalten zwischen die Ver-
sicherung der Unvergänglichkeit des Gesetzes und die Pa-
rabel vom reichen Manne eingeklemmt ist. Denn zum
Behuf einer Verbindung dieses Satzes mit dem vorherge-
henden das μοιχεύειν mit Olshausen24) ohne Weiteres
allegorisch von Untreue gegen das göttliche Gesez zu deu-
ten, oder Behufs des Zusammenhangs mit der folgenden
Parabel diese mit Schleiermacher25) auf den ehebrecheri-
schen Herodes zu beziehen, das heiſst doch gleicherweise
Gespenster sehen. Vielmehr scheint in dem Verfasser die
Überlieferung nachgeklungen zu haben, daſs Jesus nach
vorangeschickter Versicherung von der Unverbrüchlichkeit
des mosaischen Gesetzes unter Anderem auch diesen stren-
[582]Zweiter Abschnitt.
gen Grundsaz in Bezug auf die Scheidung ausgesprochen
habe, und diesen, der ihm von jener Ausführung allein
präsent war, stellte er hieher. Derselbe Ausspruch kommt
Matth. 19, 9. in einem Zusammenhang wieder, der eine
Wiederholung glaublich macht. Während sofort bei Mat-
thäus die Gebote der Duldung und Nachgiebigkeit (5, 38—42)
unter der geistigen Auslegung des ὀφϑαλμὸν ἀντὶ ὀφϑαλμοῦ
im begriffsmäſsigsten Zusammenhang stehen, sind sie in
der Bergrede des Lukas (6, 29.) weit unbestimmter durch
das Gebot der Feindesliebe (V. 27 f.) eingeleitet, welches
selbst bei Matthäus, wiederum entschieden besser, als Be-
richtigung des ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου καὶ μισήσεις τὸν
ἐχϑρόν σου
(V. 43 ff.) gegeben ist. Namentlich die Bemer-
kung, daſs nur die Freunde zu lieben, nichts sei, was
nicht auch schlechte Menschen thun könnten, welche bei
Matthäus (V. 46 f.) als Polemik gegen die zum mosaischen
Gebot der Freundesliebe in der Tradition hinzugekommene
Erlaubniſs, den Feind zu hassen, so genau sich anschlieſst,
steht bei Lukas (V. 32.) nach dem: was ihr wollt u. s. f.,
welches Matthäus erst weiter unten (7, 12.) hat, ohne
Zusammenhang. Überhaupt, vergleicht man den Abschnitt
Luc. 6, 27—36, mit dem entsprechenden bei Matthäus: so
wird man hier geordneten Fortschritt der Gedanken, dort
eine ziemliche Verwirrung finden.


Bleiben hierauf die Warnungen vor pharisäischer Heu-
chelei (6, 1—6.) ohne Parallele, so folgt in Bezug auf das
Mustergebet eine, auf welche die neuere Kritik nicht we-
nig zum Nachtheil des Matthäus baut. Die ältere Harmo-
nistik zwar machte sich kein Bedenken, dieses Gebet von
Jesu zweimal, sowohl unter den Umständen, welche Mat-
thäus, als welche Lukas (11, 1 ff.) erzählt, vorgetragen sein
zu lassen 26): allein schwerlich werden, wenn Jesus in der
Bergrede schon ein Mustergebet gegeben hatte, seine Jün-
[583]Sechstes Kapitel. §. 72.
ger ihn später, wie wenn nichts dergleichen vorhergegan-
gen wäre, um ein solches angesprochen haben; in keinem
Falle hätte wohl Jesus ohne alle Erinnerung, daſs er ein
solches ja längst gegeben, das früher mitgetheilte Muster
wiederholt. Deſswegen hat sich die neueste Kritik dahin
entschieden, daſs nur Lukas den natürlichen und wahren
Anlaſs der Mittheilung dieses Gebetes aufbewahrt habe, woge-
gen es in der Bergrede des Matthäus nur, wie so manche andre
Redestücke, vom Referenten eingeschoben sei 27). Allein
die Natürlichkeit, welche man an der Darstellung dieser
Sache bei Lukas rühmt, kann ich nicht entdecken. Abgese-
hen davon, was die bezeichneten Kritiker selbst unwahr-
scheinlich finden, daſs die Jünger Jesu bis zur lezten Reise,
in welche Lukas die Scene versezt, ohne Anweisung zu beten
gewesen sein sollten, fällt überhaupt schon das, daſs Jesus
mit einer solchen gewartet haben soll, bis die Jünger ihn
darum ersuchten, und daſs er dann auf ihr Begehren sich
sogleich in ein Gebet geworfen haben soll, schwer zu glau-
ben; sondern gewiſs hat er von Anfang an oft in ihrem
Kreise gebetet, dann aber war ihre Bitte überflüssig, und
er muſste sie, wenn sie doch baten, wie Joh. 14, 9. auf
das verweisen, was sie in seinem Umgang längst haben se-
hen und hören können. Die Darstellung bei Lukas scheint
nach bloſser Vermuthung gemacht, indem man zwar wuſste,
daſs jenes Gebet von Jesu herrührte, auf die weitere Fra-
ge aber, was ihn zur Mittheilung desselben bewogen ha-
be, sich selbst die Antwort ertheilte, ohne Zweifel werden
sie ihn um ein Mustergebet ersucht haben. Ohne daher
behaupten zu wollen, daſs Matthäus uns die Verbindung
aufbewahrt habe, in welcher dieses Gebet ursprünglich
von Jesu gesprochen ist, zweifeln wir doch ebensosehr,
ob wir diese bei Lukas zu lesen bekommen. Was das
[584]Zweiter Abschnitt.
Einzelne dieses Gebets betrifft, so ist es zwar unleugbar,
was Wetstein sagt: tota haec oratio ex formulis Hebrae-
orum concinnata est
28): aber eben so richtig bleibt, was
Fritzsche erinnert, daſs so allgemeine Wünsche gar wohl
von Verschiedenen auf unabhängige Weise im Gebete, und
zwar selbst mit ähnlichen Worten, ausgesprochen werden
konnten 29), was am besten die von Wetstein auch aus
nichtjüdischen Schriften aufgehäuften Parallelen beweisen.
Das nach dem Schluſs des Gebetes angehängte Corollarium
zur drittlezten Bitte steht hier nach der Unterbrechung
durch die folgenden Bitten um so weniger gut, als es auch
am Folgenden keinen Halt hat, wo V. 16—18. dem frühe-
ren Gedankengange gemäſs gegen das Heuchlerische des
pharisäischen Fastens gesprochen wird; doch hat Markus
11, 25. diesen Ausspruch, sammt der Anweisung, beim Ge-
bet seinen Feinden zu vergeben, an die vorangegangenen
Reden von der Kraft des glaubensvollen Gebetes noch üb-
ler angehängt.


Von 6, 19. an sollten alle Ausleger mit Paulus beken-
nen, daſs ihnen der Faden des engeren Zusammenhangs ent-
falle, nur daſs man dann nicht mit ebendemselben behaup-
ten kann, unerachtet des mangelnden Zusammenhangs ha-
be doch Jesus selbst auch die folgenden Gnomen noch zu-
sammen gesprochen, sondern hier hat die neuere Kritik
Alles für sich, wenn sie eine Zusammenstellung verschie-
denzeitiger Aussprüche vermuthet. Voran steht die Gno-
me von irdischen und himmlischen ϑησαυροῖς (V. 19—21.),
welche Lukas 12, 33 f. in einer seine Anhänger von irdi-
schen Sorgen abmahnenden Rede Jesu wahrscheinlich im rich-
tigeren Zusammenhang hat. Hierauf (V. 22 f.) die Sentenz
vom Auge als des Leibes Licht, welche bei Lukas 11, 34 f.
der schon erwähnten Gnome von dem auf den Leuchter
[585]Sechstes Kapitel. §. 72.
zu stellenden Lichte angehängt ist. Da aber der λύχνος
auf dem Leuchter etwas ganz Anderes bezeichnet, als die
Vergleichung des Augs mit einem λύχνος besagen will: so
bleibt für die Verbindung der Sätze bei Lukas nur das lee-
re Wort λύχνος übrig, ein lexikalischer Zusammenhang,
welcher schlimmer als gar keiner ist. Folgt sodann (V. 24.)
wieder ohne nachweisbaren Zusammenhang die Gnome von
den zwei Herren, bei Lukas 16, 13. in der schon erwähn-
ten Fuge zwischen den Parabeln vom Haushalter und vom
reichen Mann, an das Vorhergehende wahrscheinlich blos
ad vocemμαμωνᾶς angeschlossen. Nun kommt bei Mat-
thäus V. 25—34. eine Abmahnung von irdischen Sorgen
durch Hinweisung auf das harmlose Gedeihen von Natur-
gegenständen, von Lukas 12, 22 ff. passend an eine ihm
eigenthümliche Parabel von dem Manne angehängt, welchen
mitten unter dem Anhäufen irdischer Schätze der Tod ab-
fordert. Das folgende Verbot des Richtens (7, 1—5.) hat
auch Lukas wieder in seiner Bergrede (V. 37 f. 41 f.), und
es schlieſst sich hier zwar zufällig besser an die vorange-
gangene Ermahnung zur Barmherzigkeit an, ist aber V. 39.
40. und zum Theil auch 38. durch fremdartige Dinge auf
das Gewaltsamste unterbrochen. Ganz unpassend hat die
darin vorkommende Phrasis vom Messen Markus 4, 24. ein-
gefügt, in einer Stelle, welche ganz den mehrbesproche-
nen Fugen bei Lukas gleicht. Ist sofort V. 6. bei Matthäus
gleichsehr ohne Zusammenhang wie ohne Parallele, so fin-
det sich die folgende Ausführung über den Nutzen des
Gebets (V. 7—11.) bei Lukas 11, 9. sehr passend an eine
ihm gleichfalls eigenthümliche Gleichniſsrede von dem aus
dem Schlaf gepochten Freunde angeschlossen; wogegen das
bei Matthäus zusammenhanglose: was ihr wollt, daſs euch
die Leute thun sollen u. s. f. in der Bergrede des Lukas
6, 31. auch nur einen ungefähren Zusammenhang hat. Was
sofort (V. 13 f.) von der ςενὴ πύλη u. s. w. gesagt wird,
leitet Lukas (13, 23.) durch die an Jesum gestellte Frage:
[586]Zweiter Abschnitt.
εἰ ὀλίγοι οἱ σωζόμενοι; ein, welche leicht, wie jene Bitte
um eine Gebetsformel, von einem Solchen gemacht schei-
nen könnte, der zwar wohl wuſste, daſs Jesus jenen Aus-
spruch gethan hatte, aber um eine Veranlassung desselben
verlegen war; auch ist das Bild bei Lukas weit mangel-
hafter als bei Matthäus ausgeführt, und mit parabolischen
Elementen verschmolzen. Die Rede von dem Erkennen
des Baum es an seinen Früchten (V. 16.—20.), welche bei
Lukas (6, 43 ff.) und auch bei Matthäus selbst weiter un-
ten (12, 33 ff.) in allgemeiner Beziehung, in der Bergrede
des Matthäus aber in speciellem Bezug auf Pseudoprophe-
ten vorkommt, steht bei Lukas am allerwenigsten in schick-
lichem Zusammenhang. Die folgende Erklärung Jesu ge-
gen diejenigen, welche blos Κύριε Κύριε zu ihm sagen,
und am Tage des Gerichts von ihm werden abgewiesen wer-
den (V. 21—23.), kann, weil sie Jesum bestimmt als Mes-
sias voraussezt, so frühe nicht gegeben sein, und steht in
sofern bei Lukas (13, 25 ff.) schicklicher. Der Schluſs der
Rede, wie schon erwähnt, ist beiden Evangelisten gemein-
schaftlich.


Aus der bisher angestellten Vergleichung sehen wir
bereits, daſs die körnigen Reden Jesu durch die Fluth der
mündlichen Überlieferung zwar nicht aufgelöst werden konn-
ten, wohl aber nicht selten aus ihrem natürlichen Zusam-
menhang losgerissen, von ihrem ursprünglichen Lager weg-
geschwemmt, und als Gerölle an Orten abgesezt worden
sind, wohin sie eigentlich nicht gehörten. Und dabei fin-
den wir zwischen den drei ersten Evangelisten den Unter-
schied, daſs Matthäus, einem geschickten Sammler ähnlich,
den Stücken zwar bei Weitem nicht immer den ursprüng-
lichen Zusammenhang wiederzugeben vermocht, doch aber
meistens das Verwandte sinnig zusammenzureihen gewuſst
hat, während bei den beiden andern manche kleine Stücke
da, wo gerade der Zufall sie abgesezt hatte, namentlich in
Spalten zwischen grösseren Redemassen, liegen geblieben
[587]Sechstes Kapitel. §. 73.
sind, wobei dann insbesondere Lukas in einigen Fällen sich
bemüht hat, sie künstlich zu fassen, was aber den natür-
lichen Zusammenhang nicht ersetzen konnte.


§. 73.
Instruktion der Zwölfe. Klage über die galiläischen Städte. Freude
über die Berufung der Einfältigen.


Bei Gelegenheit der Aussendung der Zwölfe stellt das
erste Evangelium (K. 10.) wieder eine gröſsere Rede zu-
sammen, welche, soweit sie ihm nicht eigenthümlich ist,
die beiden andern Synoptiker nur zum kleineren Theile bei
eben diesem Anlaſs gesprochen sein lassen; die meisten
Bestandtheile derselben rückt Lukas theils bei Gelegenheit
der Aussendung der Siebenzig (10, 2 ff.), theils bei einem
späteren Gespräch mit den Jüngern (12, 2 ff.) ein; Etli-
ches findet sich auch sowohl bei Matthäus als bei dem übri-
gen in den Reden Jesu über seine Parusie wieder.


Wie auch hier die ältere Harmonistik unbedenklich
eine Wiederholung derselben Reden annahm 1): so will
die neuere Kritik nur bei Lukas die ursprünglichen An-
lässe und Verbindungen, bei Matthäus eine bloſse Zusam-
menstellung des Referenten finden 2), und auch die Diffe-
renz kehrt wieder, daſs die apologetisch gesinnten Ausleger
dem Matthäus das Bewuſstsein zuschreiben, hier zu ver-
schiedenen Zeiten Gesprochenes zusammenzustellen 3), wo-
gegen andre mit Recht auf die Art hinweisen, wie die Re-
de V. 5, durch die Worte: τούτους τοὺς δώδεκα ἀπέςειλεν ὁ Ἰ.
παραγγείλας αὐτοῖς eingeführt, und 11, 1. durch καὶ ἐγένετο
[ὅ]τε ἐτέλεσεν ὁ Ἰ. διατάσσων το[ῖ]ς δώδεκα κ. τ. λ.
abge-
schlossen ist, woraus zur Genüge die Meinung des Evan-
[588]Zweiter Abschnitt.
gelisten, hier einen zusammenhängenden Vortrag zu geben,
erhelle 4).


Eigenthümlich ist in dieser Rede dem Matthäus ne-
ben Anderem, was mehr nur als Erweiterung von Gedan-
ken erscheint, die auch in den entsprechenden Stellen der
beiden andern Synoptiker angelegt sind, der Eingang der
Instruktion, der die Ausgesendeten auf Juden beschränkt
(V. 5. 6.) und ihnen den Auftrag ertheilt, neben Verkün-
digung des Messiasreichs und Heilung der Kranken, wo-
von ebenso Lukas (9, 2.) spricht, auch Todte zu erwecken:
ein befremdender Auftrag, da von den Aposteln vor Jesu
Hingang keine Todtenerweckung bekannt ist, und solche,
ohne daſs sie uns erzählt werden, dennoch mit Olshausen
vorauszusetzen, Wenige Lust haben werden. Erst die Apostel-
geschichte weiſs von den Todtenerweckungen eines Petrus
und Paulus: was die Jünger nach ihrem Ausgang in alle
Welt thaten, dazu lieſs sie die Sage schon bei ihrer ersten
Aussendung durch Jesum bevollmächtigt werden.


Gemeinschaftlich sind den Synoptikern bei der Aus-
sendung der Zwölfe eigentlich nur die Regeln für das äus-
sere Verhalten der Ausgesendeten, auf welche Weise sie
reisen, und wie sie sich in verschiedenen Fällen beneh-
men sollten (Matth. V. 9—11. 14. Marc. 6, 8—11. Luc.
9, 3—5.), wobei die Differenz, daſs Jesus nach Matthäus
und Lukas den Jüngern ausser Geld, Ranzen u. dgl. auch
ὑποδήματα und ῥάβδον mitzunehmen verbietet, nach Mar-
kus dagegen ihnen nur untersagt, etwas Weiteres mit
sich zu führen, εἰ μὴ ῥάβδον μόνον und σανδάλια, am ein-
fachsten durch das Geständniſs zu lösen ist, daſs, wo die
Sage nur dieſs festhielt, daſs Jesus, mit ausdrücklicher
Nennung des Stabs und der Schuhe die Einfachheit der
apostolischen Ausrüstung bezeichnet hatte, dieſs leicht der
Eine so verstehen konnte, als hätte Jesus alles Reisege-
[589]Sechstes Kapitel. §. 73.
räthe bis auf jene Stücke, der Andre, als hätte er auch
diese untersagt. Und zwar konnte gerade der veranschau-
lichende Markus, wenn zu seiner Anschauung eines wan-
dernden Apostels ein Stab vielleicht mitgehörte, geneigt
sein, der ersteren Auffassung den Vorzug zu geben.


Bei Aussendung der Siebenzig ist es, daſs Lukas (10, 2.)
Jesum die Worte gebrauchen läſst, welche Matthäus schon
9, 37 f. als das Motiv Jesu zur Aussendung der Zwölfe
enthaltend, wiedergiebt, die Gnome: ὁ μὲν ϑερισμὸς πολὺς
κ. τ. λ.
; ferner das Diktum, daſs der Arbeiter seines Loh-
nes werth sei (V. 7. vrgl. Matth. 10, 10); ebenso die Rede
vom apostolischen Gruſs und dessen Wirkung (Matth.
V. 12 f. Luc. V. 5 f.); die Drohung gegen die Unempfäng-
lichen (Matth. V. 15. Luc. V. 12.); endlich das ἀποςέλλω
ὑμᾱς ὡς πρόβατα κ. τ. λ.
(Matth. V. 16. Luc. V. 3.). Der
Zusammenhang dieser Sätze ist beidemale ziemlich gleich
natürlich, die Vollständigkeit bald auf der einen, bald
auf der andern Seite gröſser, doch so, daſs bei Matthäus
Wesentlicheres, wie V. 16, bei Lukas mehr Äusserliches
hinzugefügt ist, wie V. 7. u. 8, und V. 4, dessen sonder-
bares Verbot, Jemand auf dem Wege zu grüſsen, als un-
historische Nachbildung von 2 Kön. 4, 29. erscheinen
könnte, wo der Prophet Elisa seinem Diener, aber mit
mehr Grund, weil er zur Ausrichtung eines einzelnen
dringlichen Geschäfts eilen sollte, die gleiche Weisung
giebt. Wenn von diesen Vorschriften, welche Jesus nach
Matthäus den Zwölfen, nach Lukas den Siebzigen giebt,
Sieffert bemerkt, daſs sie an sich ebensogut bei dem ei-
nen als bei dem andern Anlaſs ertheilt sein können 5), so
möchte ich schon dieſs aus dem Grunde bezweifeln, weil
es mir unwahrscheinlich vorkommt, daſs Jesus nach Lu-
kas die vertrauteren Jünger nur mit dürftigen Regeln für
ihr äusserliches Verhalten entlassen, den Siebzigen aber
[590]Zweiter Abschnitt.
mehreres weit Wesentlichere und Herzlichere zugerufen
haben sollte. Wenn sich aber jener Kritiker zulezt für
die Stellung des Lukas entscheidet, weil seine Erzählung
vermöge der Unterscheidung der Siebenzig von den Zwöl-
fen die bestimmtere sei: so ist dieser Punkt oben
zum Vortheil vielmehr des Matthäus erledigt worden. —
Auch der am Schluſs der Instruktionsrede bei Matthäus
über denjenigen ausgesprochene Segen, der einem seiner
Anhänger nur ein π[ο]τήριον ψυχροῦ reiche, (V. 42.) ist hier
wenigstens schicklicher eingefügt, als in der endlosen
Wirrniſs des lezten Stücks von Marc. 9. (V. 41.), wo das
verknüpfende Band am Ende nur noch das ἐὰν und ὃς ἂν
zu bilden scheint, womit die zusammenhanglosen Sätze
beginnen.


Anders stellt sich die Sache, wenn wir diejenigen
Theile der Instruktionsrede betrachten, welche bei Lukas
K. 12. und später stehen, und auch bei Matthäus als zwei-
ter Theil derselben sich aussondern. Ausspräche näm
lich, wie Matth. 10, 19 f. Luc. 12, 11, wo den Jün-
gern gesagt ist, was sie thun sollen, wenn sie vor Gericht
gezogen werden; wie Matth. V. 28, Luc. V. 4 f. daſs sie
diejenigen nicht fürchten sollen, die nur den Leib tödten
können; wie Matth. V. 32 f. Luc. V. 8 f. die Warnung
vor Verleugnung Jesu; auch die Rede von der durch ihn
zu stiftenden allgemeinen Entzweiung (Matth. V. 34 ff.
Luc. 51 ff., woran Matthäus, wie es scheint aus Veran-
lassung der hiebei aufgezählten Familienglieder, den Aus-
spruch Jesu knüpft, daſs man an diesen nicht stärker als
an ihm hängen dürfe, sein Kreuz auf sich nehmen müsse
u. s. f., was er zum Theil unten, 16, 24 f. in schickliche-
rem Zusammenhang wiederholt); ferner Aussprüche, wel-
che sich in den Reden von der Parusie wiederholen, wie
von allgemeiner Verfolgung der Jünger Jesu (V. 17 f.
22. vrgl. 24, 9. 13); das bei Lukas in der Bergrede (6, 40)
eingeklemmte, und auch bei Johannes (15, 20) vorkommen-
[591]Sechstes Kapitel. §. 73.
de Diktum, daſs der Jünger kein besseres Loos als der
Meister anzusprechen habe (V. 24 f.); endlich die der Re-
de bei Matthäus eigenthümliche Anweisung, von einer
Stadt in die andre zu fliehen, sammt dem dazugefügten
Troste (V. 23): dergleichen Aussprüche, haben die Kriti-
ker wohl mit Recht erklärt 6), passen nicht gut zu dieser
ersten Aussendung der Zwölfe, welche, wie die angebli-
che der Siebenzig, nur erfreuliche Resultate lieferte (Luc.
9, 10. 10, 17), sie setzen vielmehr die getrübteren Verhält-
nisse voraus, wie sie nach Jesu Tode und vielleicht auch
schon in der lezten Zeit seines Lebens sich gestalteten.
Demnach hätte Lukas das Richtigere, indem er diese Re-
den in die lezte Reise Jesu versezt 7): wenn nicht gar
dergleichen Schilderungen des späteren Schicksals der
Apostel und übrigen Anhänger Jesu erst nach dessen Tode
ex eventu gemacht, und ihm als Weissagungen in den
Mund gelegt worden sind.


Die nächste längere Rede Jesu bei Matthäus ist die,
so weit sie sich auf den Täufer bezog, bereits betrachtete,
K. 11. Von der V. 20—24 folgenden Klage und Drohung
gegen die galiläischen Städte, εν αἷς έγένοντο αἱ πλεῖςαι
δυνάμεις αὐτ[οὐ]
, und welche doch οὐ μετενόησαν, möchten die
neuesten Kritiker vielleicht mit Recht behaupten, daſs sie
mitten in die galiläische Wirksamkeit hinein, wohin Mat-
thäus sie stellt, weniger passe, als in die Zeit, in welche
sie Lukas (10, 13 ff.) versezt, als Jesus Galiläa verlassen
und sich zum lezten Versuche nach Judäa und Jerusalem
[592]Zweiter Abschnitt.
auf den Weg gemacht hatte 8). Anders dagegen verhält
es sich mit dem näheren Zusammenhang dieser Aussprü-
che. Während nämlich bei Matthäus zu der vorangegan-
genen Zusammenstellung der gleich schlechten Aufnahme,
welche Jesus wie Johannes gefunden, diese Klage über
die Hauptschauplätze der Wirksamkeit des Ersteren treff-
lich paſst: ist schwer zu begreifen, wie Jesus nach Lukas
den auszusendenden Siebzigen gegenüber, welche ganz der
Zukunft zugekehrt sein mussten, von seiner eigenen trü-
ben Vergangenheit reden mochte, ohne doch das den gali-
läischen Städten angedrohte Strafgericht mit demjenigen in
Verbindung zu bringen, welches er eben vorher über die
Stadt ausgesprochen hatte, die seine Abgesandten nicht
aufnehmen würde. Vielmehr nur den Referenten erinnert
diese von Jesu überlieferte Vergleichung einer gegen seine
Jünger widerspenstigen Stadt mit Sodom an die ähnliche
der gegen ihn selbst unfolgsamen Orte mit Tyrus und
Sidon, ohne daſs ihm die Unzusammengehörigkeit beider
zum Bewuſstsein käme.


Die V. 25—27 folgende ἀγαλλίασις über die den νη-
πίοις verliehene Einsicht knüpft Matthäus nur unbestimmt
an die vorhergegangene Verwünschung an; da sie jedoch
einen durch erfreuliche Anlässe geänderten Gemüthszustand
Jesu voraussezt: so würde es alle Wahrscheinlichkeit
haben, daſs Lukas (10, 17. 21 ff.) die Rückkehr der Sie-
benzig mit erfreulichen Nachrichten als Anlaſs jener Rede
heraushebt; wenn nur die Auswahl und also auch die
Rückkehr der 70 Jünger nicht so problematisch wäre,
statt deren übrigens die der Zwölfe hiehergezogen werden
könnte. Die an dieses Frohlocken bei Matthäus sich
schlieſsende Einladung an die κοπιῶντες καὶ πεφορτισμένοι
(V. 28—30) fehlt bei Lukas, welcher statt dessen Jesum
[593]Sechstes Kapitel. §. 74.
κατ' ἰδίαν zu den Jüngern sich wenden, und sie glücklich
preisen läſst, daſs sie sehen und hören dürfen, wonach
viele Propheten und Könige vergeblich sich gesehnt hät-
ten (V. 23 f.), was zu dem Vorangegangenen wenigstens
nicht so specifisch, wie das bei Matthäus damit Verbun-
dene, paſst, auch bei diesem 13, 16 f. in einer Verbin-
dung steht, welche mit der bei Lukas sich jedenfalls
messen kann.


§. 74.
Die Parabeln.


Wenn Matthäus K. 13. Jesum sieben Parabeln, sämmt-
lich die βασιλεία τῶν οὐρανῶν betreffend, vortragen läſst:
so ist die neuere Kritik bedenklich geworden, ob wirklich
Jesus so viele Gleichnisse in Einem Zuge gesprochen haben
möge 1)? Die Parabel, hat man erinnert, sei eine Aufga-
be, welche durch eigenes Nachdenken gelöst zu werden
verlange, deſswegen nach jeder ein Ruhepunkt nöthig,
wenn man durch dieselben wahrhaft belehren, und nicht
vielmehr durch den Wechsel unverstandener Bilder zer-
streuen wolle 2). Gewiſs würde daher, hat man geschlos-
sen, Jesus das Lob der Lehrweisheit nicht verdienen, wenn
er jene Gleichniſsreden alle, so wie Matthäus es darstellt,
in einem Zuge gesprochen hätte 3). Sah man hienach auch
an dieser Stelle eine Zusammenstellung gleichartiger, aber
zu verschiedenen Zeiten gesprochener Reden: so erhob
sich sofort auch hier die Debatte, ob sie Matthäus mit Be-
wuſstsein von diesem lezteren Umstand, oder in der Mei-
nung, zusammenhängend Vorgetragenes zu geben, veran-
staltet habe? wovon das Leztere aus der Anfangsformel
(V. 3.): καὶ ἐλάλησεν αὐτοῖς πολλὰ ἐν παραβολαῖς, und
dem Schlusse (V. 53.): ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰ. τὰς παραβολὰς
Das Leben Jesu I. Band. 38
[594]Zweiter Abschnitt.
ταύτας, unwidersprechlich zu erhellen scheint. Darauf wenig-
stens, daſs die Jünger Jesum nicht wohl vor allem Volke,
sondern, wie auch Markus (4, 10.) berichte, als sie wieder
καταμόνας waren, um eine Erklärung der ersten Parabel
werden angegangen haben, kann man sich für ein Abbre-
chen des Vortrags gleich nach dieser nicht berufen 4), weil
daraus, daſs nach der ersten Parabel Matthäus nicht wie
Markus Jesum nach Hause gehen, sondern auf dem Platze
von seinen Jüngern um Erläuterung ersucht werden läſst,
deutlich erhellt, daſs er sich hier kein Abbrechen des Vor-
trags gedacht hat. Mit mehr Grund kann man sich auf die
Schluſsformel berufen, welche Matthäus schon nach der vier-
ten Parabel V. 34 f. einfügt, indem er die bisherigen Gleich-
nisse durch die Bemerkung: ταῦτα πάντα ἐλάλησεν ὁ Ἰ. ἐν
παραβολαῖς κ. τ. λ.
zusammenfaſst, und sogar durch An-
wendung einer A. T.lichen Weissagung den Ruhepunkt voll-
kommen macht; sowie auf die Veränderung des Lokals,
die hier bei ihm eintritt, indem V. 36. Jesus das Volk ent-
läſst, und vom Ufer des galiläischen Sees, wo er bisher
gesprochen, εἰς τὴν οἰκίαν kommt, wo ihn die Jünger um Er-
klärung der zweiten Parabel angehen, an welche er sofort
noch drei weitere Gleichnisse knüpft 5). Allein, daſs auf diese
Weise der Vortrag der drei lezten Parabeln von dem der übri-
gen durch einen Ortswechsel und somit auch durch einige Zwi-
schenzeit getrennt ist, verändert den Stand der Sache wenig.
Denn daſs Jesus vor dem so leicht zu überladenden Vol-
ke auch nur 4 Parabeln, worunter 2 der bedeutendsten, in
Einem Zuge vorgetragen, und daſs er hierauf die Jünger,
deren Fassungskraft er bei dem ersten und zweiten Gleich-
niſs hatte zu Hülfe kommen müssen, statt sie zu prüfen,
ob sie nun das dritte und vierte sich selbst auszulegen im
Stande wären, mit drei neuen Gleichnissen überschüttet
[595]Sechstes Kapitel. §. 74.
haben sollte, bleibt immer noch unwahrscheinlich genug.
Übrigens dürfen wir die Erzählung des Matthäus nur ge-
nauer ansehen, um zu bemerken, wie er zu der Unterbre-
chung V. 34 ff. nur unwillkührlich gekommen ist. Hatte
er im Sinn, eine Masse von Parabeln, und für die zwei
wichtigsten und daher voranzustellenden zwei privatim den
Jüngern gegebene Erklärungen mitzutheilen: so konnte
er hiebei auf dreifache Weise zu Werke gehen. Entwe-
der lieſs er unmittelbar nachdem eine Parabel vorgetragen
war, noch im Angesicht des Volkes Jesum den Jüngern
die Erklärung geben, wie er nach der ersten Gleichniſsre-
de (V. 10—23.) wirklich thut. Allein diese Darstellung
hat das Unbequeme, daſs man nicht begreift, wie Jesus
dem in gespannter Erwartung um ihn versammelten Volke
gegenüber zu einer Privatunterhaltung der Art Muſse be-
kommen konnte 6). Diesen Übelstand hat Markus gefühlt,
und deſshalb die zweite mögliche Auskunft ergriffen, daſs
er nämlich nach der ersten Parabel Jesum mit den Jün-
gern nach Hause gehen, und ihnen hier die Lösung der-
selben geben läſst. Indeſs, diese Wendung war für denje-
nigen gar zu hinderlich, der mehrere Gleichniſsreden nach
einander zu geben gedachte; denn war schon nach der er-
sten Jesus zu Hause gebracht: so war der Schauplaz ver-
lassen, auf welchem mit Fug die weiteren vorgetragen wer-
den konnten. Deſswegen mag der Referent im ersten Evan-
gelium nach der zweiten Parabel in Bezug auf die Erklä-
rung weder seine erste Auskunft wiederholen, noch die
andere in Anwendung bringen, sondern, indem er ohne
Unterbrechung zu zwei weiteren Gleichnissen fortgeht,
scheint er sich eine dritte Maſsregel vorzubehalten, näm-
lich, die ihm im Sinne liegenden Parabeln vorher alle dem
Volke vortragen, und dann erst, wenn er nach Abschluſs der-
selben Jesum nach Hause gebracht hätte, ihn die rückstän-
38*
[596]Zweiter Abschnitt.
dige Auslegung der zweiten geben zu lassen. Hiedurch ent-
stand ein Conflikt in dem Referenten zwischen den Para-
beln, die ihm noch im Sinne lagen, und der Auslegung,
deren Rückstand ihn drängte: sobald in seiner Erinnerung
an jene die mindeste Stockung entstand, muſste er mit die-
[s]er und also mit Schluſsformel und Heimkehr bei der Hand
sein, und fielen ihm hierauf noch einige weitere Gleich-
nisse ein, so muſste er sie eben nachher noch beisetzen.
So ist es dem Matthäus mit den 3 lezten Parabeln begeg-
net, die er nun fast wider Willen den Jüngern allein muſs
vorgetragen werden lassen, für welche doch nicht besondere
Parabeln, sondern nur Auslegungen derselben gehörten; wie
denn auch Markus (V. 33 f.) offenbar voraussezt, die wei-
teren Gleichnisse, die er auf die Auslegung des ersten fol-
gen läſst, seien wieder dem Volke vorgetragen worden 7).


Markus, welcher 4, 1. dieselbe Scene am See malt,
wie Matthäus, stellt nur drei Parabeln zusammen, von wel-
chen die erste der ersten, die dritte (vom Senfkorn) der
dritten bei Matthäus entspricht, die mittlere aber gewöhn-
lich für eine dem Markus ganz eigenthümliche Gleichniſs-
rede gehalten wird 8). Matthäus hat hier die Parabel, in
welcher das Himmelreich einem Manne verglichen wird,
der guten Samen in seinen Acker säet; während aber die
Leute schlafen, kommt der Feind, und säet Unkraut darun-
ter, welches sofort mit dem Waizen aufgeht, ohne daſs die
Knechte wissen, woher es komme? Sie wollen es ausrau-
fen: aber der Herr giebt ihnen die Weisung, beides mit
einander bis zur Ernte wachsen zu lassen, wo es Zeit ge-
nug sein werde, es zu sondern. Bei Markus vergleicht Je-
sus das Himmelreich einem Manne, der Samen in die Erde
säet, und während er schläft und wieder aufsteht, wächst die
[597]Sechstes Kapitel. §. 74.
Saat heran, er weiſs nicht wie, von einer Entwicklungsstu-
fe zur andern. Endlich wenn sie reif ist, schickt er die
Sichel, weil die Zeit zur Ernte da ist. In dieser Parabel
fehlt, was bei Matthäus das Hauptmoment ausmacht, das
vom Feind ausgesäte Unkraut; da jedoch die übrigen Mo-
mente: Säen, Schlafen, Aufwachsen man weiſs nicht wie,
Ernte, ganz dieselben sind, so fragt es sich, ob nicht Mar-
kus hier bloſs eine ihm sonst woher bekannte andere Recension
derselben Gleichniſsrede giebt, welche er der des Matthäus
vielleicht mit deſswegen vorzog, weil sie in jener Gestalt
mehr vermittelnd zwischen die erste vom Säemann und die
dritte vom Senfkorn eintrat.


Auch Lukas hat von den 7 Parabeln Matth. 13. bloſs
drei, die vom Säemann, vom Senfkorn und vom Sauerteig,
so daſs also dem Matthäus die Gleichnisse vom vergrabe-
nen Schatz, von der Perle und vom Netze, wie auch die
vom Unkraut im Acker (in dieser Form) eigenthümlich blei-
ben. Das Gleichniſs vom Säemann stellt Lukas etwas früher
(8, 4 ff.) und auch nicht in dieselbe Umgebung wie Mat-
thäus, hauptsächlich aber getrennt von den zwei weiteren
Parabeln, die er noch mit der Sammlung des Matthäus
gemein hat. Diese bringt er später, 13, 18—21, nach, ei-
ne Stellung, welche die neueren Kritiker einstimmig als
die richtige anerkennen 9). Allein dieses Urtheil gehört
zu dem Wunderlichsten, wozu sich die jetzige Kritik durch
ihre Parteilichkeit für den Lukas hat verleiten lassen.
Denn sehen wir den so sehr gerühmten Zusammenhang
an, so hat hier Jesus in einer Synagoge ein zusammenge-
bücktes Weib geheilt, hierauf den schwierigen Synagogen-
vorsteher durch das Argument vom Ochsen und Esel zum
Schweigen gebracht, und nun heiſst es V. 17: καὶ ταῦτα
λέγοντος αυτοῦοῦ κατῃσχύνοντο πάντες οἱ ἀντικείμενοι αὐτῷ
,
[598]Zweiter Abschnitt.
καὶ πᾶς ὁ ὄχλος ἔχαιρεν ἐπὶ πᾶσι τοῖς ἐνδόξοις τοῖς γινομού-
νοις ὑπ' αὐτοῦ
. Gewiſs eine Schluſsformel, so ausführlich
und entschieden, wie irgend eine, nach welcher unmög-
lich noch die Begebenheit auf derselben Scene weiterge-
führt sein kann, sondern, wenn hierauf durch ein ἔλεγε δὲ
und πάλιν εἷπε die beiden Parabeln angehängt werden: so
sieht man, der Verfasser wuſste die Gelegenheit nicht mehr,
bei welcher sie Jesus vorgetragen hatte, daher fügte er sie
auf Gerathewohl irgendwo in dieser unbestimmten Weise
ein, und zwar weit weniger geschickt offenbar als Mat-
thäus, der sie doch zu Gleichartigem zu gesellen wuſste.


Wenn wir hierauf von den übrigen evangelischen Pa-
rabeln zuerst diejenigen, welche Einem Evangelisten eigen-
thümlich sind, betrachten: so stoſsen wir zuvörderst bei
Matthäus 18, 23 ff. auf das Gleichniſs von dem Knechte,
welcher, unerachtet ihm sein Herr eine Schuld von 10,000
Talenten geschenkt hatte, doch seinem Mitknecht nicht ein-
mal eine von 100 Denaren erlassen wollte 10); passend
eingeleitet durch die Frage des Petrus, wie oft man dem
fehlenden Bruder vergeben solle? Gleichfalls eigenthüm-
lich ist dem Matthäus das Gleichniſs von den Arbeitern
im Weinberg (20, 1 ff.) 11), von welchem man zweifeln
kann, ob es nach der Verheiſsung des Sitzens auf zwölf
Stühlen an der rechten Stelle steht; jedenfalls passt von
den Sentenzen, welche Matthäus (V. 16.) an die Parabel
hängt, nur die erste: ἔσονται οἱ ἔσχατοι πρῶτοι κ. τ. λ.12),
die er ihr auch schon vorausgeschickt hatte (19, 30.), zu
derselben, die andere: πολλοί εἰσι κλητοὶ κ. τ. λ. aber giebt
vielmehr die Moral der Parabel vom königlichen Gastmahl
[599]Sechstes Kapitel. §. 74.
und vom hochzeitlichen Gewande an, wo sie auch wirklich
Matthäus wiederholt (22, 14.). Sie eignete sich aber ganz
dazu, auch abgerissen als isolirte Gnome zu cursiren, und
da es passend schien, an das Ende einer Gleichniſsrede ei-
ne oder mehrere dergleichen kurze Sentenzen zu stellen:
so mag diese hier wegen einiger äusserlichen Ähnlichkeit
mit der andern ihr vom Referenten beigesellt worden sein.
Weiter ist dem Matthäus die Parabel von den zwei in den
Weinberg geschickten Söhnen (21, 28 ff.) eigenthümlich, wel-
che sich an eine Verhandlung mit den Hohenpriestern und
Ältesten nicht übel lehnt, und deren antipharisäische Be-
deutung durch die Zusätze V. 31 f. auf erwünschte Wei-
se in's Licht gestellt ist.


Unter den dem Lukas eigenthümlichen Parabeln ha-
ben die von den zwei Schuldnern (7, 41 ff.) die vom barm-
herzigen Samariter (10, 30 ff.), die von dem Manne, den
im Sammeln irdischer Schätze der Tod unterbricht (12,
16 ff. vrgl. Sir. 11, 17 ff.), so wie die beiden, welche die
Wirksamkeit des anhaltenden Gebets versinnlichen (11, 5 ff.
18, 2 ff.) 13) ihren unverkennbaren Sinn, und bis auf die
lezte, welche abgebrochen eintritt, auch leidlichen Zusam-
menhang; zugleich kann man an den beiden lezten lernen,
wie in den Parabeln Jesu oft von einem Zug ganz abstra-
hirt werden muſs, indem in der einen derselben Gott mit
einem trägen Freunde, in der andern mit einem ungerech-
ten Richter in Parallele gestellt ist. An die zulezt ge-
nannte Parabel schlieſst sich die vom Pharisäer und Zöll-
ner 14) an (V. 9—14), von welcher nur Schleiermacher,
einem selbstgemachten Zusammenhang mit dem Vorherge-
henden zulieb, die antipharisäische Tendenz leugnen
kann 15). Eine ähnliche Tendenz haben die Gleichnisse
[600]Zweiter Abschnitt.
vom verlornen Schaf, Groschen 16) und Sohn, (Luc. 15,
3—32), von welchen Matthäus (18, 12 ff.) nur das erste,
aber in einem andern Zusammenhang, hat, der auch den Sinn
etwas anders, und zwar ohne Zweifel unrichtig, bestimmt.
Daſs diese drei Parabeln unmittelbar hinter einander ge-
sprochen sein können, ist deſswegen denkbar, weil die
zweite nur eine untergeordnete Variation der ersten, die
dritte aber weitere Ausführung und Erläuterung von bei-
den ist. Ob ebenso, nach der Behauptung der neuesten
Kritik, auch noch die zwei folgenden Gleichnisse mit den
vorhergehenden in Einen zusammenhängenden Vortrag ge-
hören 17), muſs die nähere Betrachtung ihres auch an sich
bemerkenswerthen Inhalts zeigen.


Die nächstfolgende, als crux interpretum bekannte
Parabel vom ungerechten Haushalter (16, 1 ff.) 18) ist doch
in sich selber ohne alle Schwierigkeit. Liest man blos
bis zum Ende des Gleichnisses, die zunächst darangehäng-
te Moral V. 9. miteingeschlossen: so bringt man den ein-
fachen Sinn heraus, daſs der Mensch, der, auch ohne ge-
rade bestimmt auf unrechtmäſsige Weise zu Geld und Gut
gelangt zu sein, doch Gott gegenüber immer ein δοῦλος
ἀχρεῖος
(Luc. 17, 10) und in Anwendung der ihm von
Gott anvertrauten Gaben ein οἰκονόμος τῆς ἀδικίας ist,
diese immer mitunterlaufende Untreue am besten durch
Nachsicht und Wohlthätigkeit gegen seine Mitmenschen
gut machen, und sich durch deren Vermittlung ein Pläz-
chen im Himmel verschaffen könne 19). Daſs diese Wohl-
thätigkeit in der fingirten Geschichte ein Betrug ist, da-
von muſs man, wie in den vorhin angeführten Parabeln
[601]Sechstes Kapitel. §. 74.
davon, daſs der Freund träg und der Richter ungerecht
ist, abstrahiren, was überdieſs in der Erzählung selbst
dadurch angedeutet ist, daſs V. 8. gesagt wird, was der
οἰκονόμος im Sinne dieser Welt gethan habe, sei in der
Anwendung im höheren Sinne der υἱοὶ τοῦ φωτὸς zu ver-
stehen. Freilich, wenn man nun auch noch das ὁ πιςὸς
ἐν ἐλαχίςῳ κ. τ. λ.
V. 10—12. in demselben Zusammen-
hang gesprochen sich denkt: gewinnt es den Schein, als
müſste der in der Parabel als Muster aufgestellte οἰκονόμος
in irgend einem Sinne treu genannt werden können, und
wenn V. 13. von zweien Herren, Gott und dem Mammon,
die Rede wird, denen nicht zugleich gedient werden könne:
so scheint der Haushalter es mit dem rechten gehalten ha-
ben zu müssen. Daher Erklärungen, wie die Schleier-
macher
'sche, welche unter dem Herrn die Römer, unter
den Schuldnern das jüdische Volk, unter dem Haushalter
die auf Kosten von jenen gegen dieses wohlthätigen Zöll-
ner versteht, zu diesem Behuf aber auf die willkührlichste
Weise den Herrn zum gewaltthätigen Manne machen, den
Haushalter aber rechtfertigen muſs 20), eine Verkehrung,
welche in Olshausen bis zum Extrem fortgegangen ist, in-
dem nun dieser den Herrn, der durch sein richterliches
Auftreten sich deutlich als Repräsentanten Gottes ankün-
digt, zum ἄρχων τοῦ κόσμου τούτου verschlimmert, den Haus-
halter aber zum Bilde eines Menschen erhebt, der die
Güter dieser Welt zu geistigen Zwecken verwendet 21).
Allein den bezeichneten Versen auf die Deutung der Para-
bel Einfluſs zu gestatten, wäre man, da diese in der
Moral V. 9. den befriedigendsten Abschluſs hat, und un-
richtige Zusammenstellungen bei Lukas nicht ohne Bei-
spiel sind, nur dann veranlaſst, wenn eine genaue Ver-
wandtschaft des Inhalts zu Tage läge: wovon aber nur
[602]Zweiter Abschnitt.
das Gegentheil, die störendste Heterogeneität, vorhanden
ist. Überdieſs fällt es nicht schwer, nachzuweisen, was
den Lukas hier zu einer falschen Zusammenstellung ver-
führt haben mag. Es war in der Parabel vom μαμωνᾶς
τῆς ἀδικίας
die Rede: dieſs weckte in ihm die Erinnerung
an ein ähnlich lautendes Diktum Jesu, daſs, wer an dem
ἀδίκῳ μαμωνᾷ, als dem Geringeren, sich treu beweise,
dem auch das Höhere anvertraut werden könne. War
aber einmal vom Mammon die Rede, wie konnte der Verf.
umhin, sich des bekannten Ausspruchs Jesu von Gott und
dem Mammon, als zwei unvereinbaren Herren, zu erin-
nern, und zum Überfluſs auch diesen noch beizusetzen? 22)
Daſs durch diese Zusätze die vorhergemeldete Gleichniſs-
rede in ein völlig falsches Licht gestellt wurde, kümmerte
den Referenten wenig, der vielleicht ihren Sinn selbst
nicht klar gefaſst hatte, oder in dem Bestreben, sein
evangelisches Gedächtniſs vollständig zu entleeren, auf den
Zusammenhang keinen Bedacht nahm. Man sollte überhaupt
mehr Bewuſstsein davon haben, daſs bei denjenigen unsrer
Evangelisten, welche nach der jezt herrschenden Annahme
eine mündliche Überlieferung aufzeichneten, in Abfassung
ihrer Schriften das Gedächtniſs in einer Weise angespro-
chen war, welche die Thätigkeit der Reflexion zurück-
drängen muſste, weſswegen in ihren Berichten das herr-
schende Band die Ideenassociation mit ihren zum Theil
sehr äusserlichen Gesetzen ist, und wir uns nicht wun-
[603]Sechstes Kapitel. §. 74.
dern dürfen, namentlich manche Reden Jesu nach dem
bloſsen Gleichklang gewisser Schlagworte zusammengereiht
zu finden.


Sehen wir von hier auf die Behauptung zurück, daſs
das Gleichniſs vom ungerechten Verwalter im Zusammen-
hang mit dem vorhergehenden vom verlorenen Sohn ge-
sprochen sein müsse: so sehen wir dieselbe nur auf fal-
scher Deutung beruhen. Soll nämlich nach Schleiermacher
die Vertheidigung der Zöllner gegen die Pharisäer das
Band ausmachen: so finden wir von Zöllnern und Phari-
säern in der Parabel keine Spur; soll aber nach Olshau-
sen
der zuvor dargestellten barmherzigen Liebe Gottes
gegenüber nun die barmherzige Liebe der Menschen her-
vorgehoben werden: so ist hier überall nur von simpler
Wohlthätigkeit die Rede, und eine Parallele zwischen die-
ser und der Art, wie Gott dem Verlorenen verzeihend ent-
gegenkommt, nicht von ferne angedeutet. Auch die Be-
merkung V. 14, daſs alles dieſs die Pharisäer gehört, und
als φιλάργυροι Jesum verspottet haben, muſs sich theils
nicht nothwendig auf dieselben Individuen beziehen, von
welchen 15, 2. die Rede gewesen war, so daſs diese die
ganze Rede als zusammenhängende angehört haben müſs-
ten, theils bewiese sie doch zunächst nur die Ansicht des
Referenten von der Zusammengehörigkeit dieser Parabeln,
welche nach dem Bisherigen uns unmöglich binden kann.


Nach einer bereits besprochenen, mit zusammenhang-
losen Redestücken ausgefüllten Spalte, V. 15—18 wird
an das lezte dieser Stücke, vom μοιχεύειν, das Gleichniſs
vom reichen Manne auf eine Weise angefügt, welche man
vergeblich nach dem früher Bemerkten als Zusammenhang
darzustellen sich bemüht. Darin jedoch wird man Schleier-
macher
'n Recht geben müssen, daſs, wenn man das Gleich-
niſs vom Vorhergehenden trennt, die alsdann gewöhnliche
Beziehung desselben auf die göttliche Strafgerechtigkeit
[604]Zweiter Abschnitt.
gleichfalls ihre groſsen Schwierigkeiten habe 23). Denn
gar nichts ist doch in der ganzen Parabel herausgehoben,
was der Reiche und Lazarus gethan haben müſsten, um
nach unsern Begriffen mit Recht der eine in Abrahams
Schooſs, der andre in die Qual versezt zu werden, son-
dern das Verbrechen des einen scheint nur im Reichthum,
wie des andern Verdienst nur in der Armuth bestanden
zu haben. Man nimmt zwar gewöhnlich von dem Reichen
an, theils daſs er im Genusse ausgeschweift, theils daſs
er den Lazarus lieblos behandelt habe 24). Allein das
Leztere ist nirgends angedeutet; denn daſs der Arme hart
πρὸς τὸν πυλῶνα des Reichen liegt, soll nicht den Vor-
wurf für diesen enthalten, daſs er ihm leicht hätte helfen
können, und es doch unterlassen habe, sondern nur den
Contrast sowohl zwischen ihrem beiderseitigen irdischen
Loose, als zwischen ihrer Nähe in diesem, und ihrer
Entfernung im andern Leben ins Licht stellen, und ebenso
will der Zug, daſs der Arme begierig gewesen sei, von
den Brosamen sich zu sättigen, die von des Reichen Tische
fielen, nicht sagen, daſs der Reiche ihm auch diese ver-
weigert, oder daſs er ihm mehr als bloſs die Brosamen
hätte zukommen lassen sollen, sondern nur die tiefe Un-
terordnung des irdischen Looses von Lazarus unter das
des reichen Mannes soll es anzeigen im Gegensaz gegen
das umgekehrte Verhältniſs, welches nach dem Tode ein-
trat, wo der Reiche sich nach einem Tropfen Wassers
von der Hand des Lazarus sehnte. Auf dieses Gesuch
könnte, sofern der Reiche als unbarmherzig gegen den
Lazarus gezeichnet werden sollte, der Abraham der Para-
bel nicht anders als in der Art antworten: du hast einst
einen weit näheren Weg zu diesem Lazarus gehabt und
ihn doch nicht erquickt, wie sollte nun er einen so wei-
[605]Sechstes Kapitel. §. 74.
ten Weg zu dir hinüber machen, um dir Linderung zu
bringen? Ebenso ist das herrliche Leben des Reichen nur
im Contraste gegen das Elend des Armen so ausgemalt;
wäre er als ausschweifend im Genusse vorausgesezt, so
müsste ihn Abraham erinnern, wie er im Leben sich des
Guten zu viel genommen, nicht bloſs, wie er sein Gutes
empfangen habe. Nicht minder grundlos ist es andrerseits,
bei Lazarus hohe sittliche Vorzüge vorauszusetzen, da
solche weder in der Beschreibung seiner Persönlichkeit
angedeutet, noch in der Rede Abrahams ihm angerechnet
sind; sein einziges Verdienst ist, in diesem Leben Übles
empfangen zu haben. Es ist also in dieser Parabel als
Maſsstab bei der künftigen Vergeltung nicht das in diesem
Leben gethane Gute und verübte Böse, sondern das hier
erlittene Übel und genossene Gute vorausgesezt und das
sprechendste Motto zu derselben haben wir in der Berg-
rede nach der Redaktion des Lukas gehabt, in dem: μα-
κάριοι οἱ πτωχοί· ότι ὺμετέρα ἐςὶν ἡ βασιλεία τοῦ ϑεοῦ—πλὴν
οὐαὶ ὑμῖν τοῖς πλουσίοις· ὅτι ἀπέχετε τὴν παράκλησιν ὑμῶν
,
wo auch erinnert worden ist, wie genau diese Aussprü-
che mit der Weltansicht der Ebioniten zusammenstimmen.
Eine ähnliche Werthschätzung der äusseren Armuth schrei-
ben übrigens auch die andern Synoptiker in der Erzäh-
lung von dem reichen Jüngling und der Gnome vom Kameel
und Nadelöhr (Matth. 19, 16 ff. Marc. 10, 17 ff. vrgl. Luc.
18, 18 ff.) Jesu zu, was, sei es in ihm selbst, oder nur
in der synoptischen Tradition über ihn, durch essenische
Ansichten hervorgerufen scheinen könnte 25). — Das bisher
Betrachtete ist der Inhalt der Parabel vom reichen Mann
bis V. 27, von wo an der weitere Gedanke von den A. T.li-
chen Schriften, als zureichenden und einzigen Gnaden-
mitteln eintritt.


[606]Zweiter Abschnitt.

Zum Schlusse wenden wir uns noch zu einer Gruppe
von Parabeln, aus welcher zwar einige wegen ihrer Beziehung
auf Tod und Wiederkunft Christi aufzusparen wären, doch
aber wegen ihres Zusammenhangs mit den übrigen, wie-
wohl nur in soweit, hier mitgenommen werden müssen.
Es sind die drei Gleichnisse von den rebellischen Wein-
gärtnern (Matth. 21, 33 ff. parall.), von den Talenten oder
Minen (Matth. 25, 14 ff. Luc. 19, 12 ff.), und dem Gast-
mahl (Matth. 22, 2 ff. Luc. 14, 16 ff.). Unter diesen sind
die Parabel von den Weingärtnern nach allen Relationen,
die von den Talenten bei Matthäus 26) und die vom Gast-
mahl bei Lukas 27) einfache Parabeln, die keine weitere
Schwierigkeit machen: anders verhält es sich mit dem
Gleichniſs von den Minen bei Lukas und dem vom Gast-
mahl bei Matthäus. Daſs das erstere mit dem von den Ta-
lenten bei Matthäus im Grunde dasselbe sei, ist unerach-
tet der mancherlei Abweichungen unleugbar. In beiden fin-
det sich die Abreise eines Herrn; das Zusammenrufen der
Knechte, um ihnen ein Kapital zum Umtrieb anzuvertrauen;
nach der Rückkehr des Herrn eine Rechenschaft, bei wel-
cher drei Knechte hervorgehoben werden, von denen zwei
thätig, der dritte aber unthätig gewesen ist, und daher
dieser bestraft, jene belohnt werden, wobei besonders die
Entschuldigung des Knechts und die Antwort des Herrn
in beiden Darstellungen fast gleichlautend sind. Die Haupt-
verschiedenheit dagegen ist, daſs bei Lukas ausser dem
Verhältniſs des abreisenden Herrn zu seinen Knechten noch
ein zweites Verhältniſs desselben zu rebellischen Bürgern
eingeschoben ist, weſswegen der nach Matthäus nur als
ἄνϑρωπος bezeichnete Herr bei Lukas ἄνϑρωπος εὐγενὴς
[607]Sechstes Kapitel. §. 74.
heiſst, und ihm ein βασιλεύειν zugeschrieben ist, der Zweck
seiner Reise aber, den Matthäus nicht angiebt, dahin be-
stimmt wird, er sei gezogen εἰς χώραν μακρὰν, λαβεῖν ἑαυτῷ
βασιλείαν
. Die Unterthanen dieses Herrn nun, heiſst es
weiter, haben ihn gehaſst, und nach seiner Abreise ihm
den Gehorsam anfkündigen lassen. Daher werden nach
der Rückkehr des Herrn neben dem faulen Knecht auch
noch die rebellischen Bürger, und zwar durch Niederme-
zelung, bestraft, und die treuen Diener nicht bloſs unbe-
stimmt durch Eingehen in die χαρὰ ihres Herrn, sondern
königlich durch die Schenkung einer Anzahl von Städten
belohnt. Weniger wesentlich sind die Differenzen, daſs
die Zahl der Knechte bei Matthäus unbestimmt, bei Lukas
auf zehn festgesezt ist; daſs sie nach Matthäus Talente,
nach Lukas Minen, bei jenem ungleiche Summen (ἑκάςῳ
κατὰ τὴν ἰδίαν δύναμιν
) bei Lukas gleiche bekommen, und
sofort nach jenem aus ungleichem Kapital durch gleichen
Kraftaufwand Ungleiches gewinnen, und daher gleich be-
lohnt werden, nach diesem dagegen schaffen sie mit glei-
chem Kapital durch ungleiche Kraftanstrengung Ungleiches,
und werden daher auch ungleich belohnt.


Sollte diese Parabel zu zwei verschiedenen Malen in
veränderter Gestalt aus dem Munde Jesu gekommen sein,
so müſste er sie, wenn Matthäus und Lukas sie richtig
stellen, zuerst in der zusammengesezteren Form, wie sie
Lukas, dann erst in der einfacheren, wie Matthäus sie giebt,
vorgetragen haben 28), da jener sie vor, dieser nach dem
Einzug in Jerusalem sezt. Allein dieſs wäre gegen alle
Analogie. Die erste Ausführung eines Gedankens ist ihrer
Natur nach die einfachere: bei der zweiten können neue
Beziehungen hinzukommen, die Sache von mehreren Sei-
ten betrachtet und in manchfaltigere Verbindungen gesezt
werden. So müſste jedenfalls mit Schleiermacher angenom-
[608]Zweiter Abschnitt.
men werden, daſs, gegen die Stellung in den Evangelien
die Parabel von Jesu zuerst in der einfacheren Gestalt vor-
getragen, dann bei einer späteren Gelegenheit bereichert
worden sei 29). Indessen für unsern besonderen Fall ist
dieſs nicht weniger undenkbar als jenes. Der eigne Urhe-
ber einer solchen Darstellung nämlich, besonders wenn sie
nur erst in seinem Geist und Munde lebt, und noch nicht
schriftlich fixirt ist, bleibt auch bei einer späteren Über-
arbeitung seines Stoffes Herr, die Gestaltung, die er ihm
früher gegeben, widersteht ihm nicht als spröde, sondern
verhält sich als flüssige Masse, so daſs er zu den neu hin-
zukommenden Gedanken und Bildern die von früherher
vorhandenen in das richtigste Verhältniſs setzen, und Ein-
heit in seine Darstellung bringen kann. So muſste derje-
nige, welcher der vorliegenden Parabel die Gestalt gab,
die sie bei Lukas hat, falls er auch ihr erster Urheber ge-
wesen wäre, hatte er einmal den Herrn zu einem König
gemacht und den Zug von den rebellischen Bürgern hin-
zugefügt, nothwendig den Knechten statt Kapitalien lieber
Waffen anvertrauen, sie ihre Treue statt durch Gelderwerb
vielmehr durch Bekämpfung der Rebellen beweisen, über-
haupt die beiden Klassen von Personen in der Parabel,
die Knechte und die Bürger, in irgend eine Beziehung tre-
ten lassen: statt dessen nun beide durch die ganze Erzäh-
lung hindurch beziehungslos auseinanderfallen, und die
Parabel in zwei übel zusammengeleimte Theile gespalten sich
zeigt 30). Dieſs beweist sehr bestimmt, daſs die Bereiche-
rung der Parabel mit den bezeichneten Zügen nicht von
demselben Urheber herrührt, wie ihre erste Schöpfung,
sondern durch einen andern muſs sie in der Überlieferung
[609]Sechstes Kapitel. §. 74.
auf diese Weise erweitert worden sein. Dieſs kann nicht
in der Art vor sich gegangen sein, daſs durch allmählige
weitere Ausmalung, wie dieſs in der Art der Sage ist, je-
ne Züge sich ihr angebildet hätten; denn aus den Knech-
ten und Talenten wellen sich auf keine Weise rebellische
Bürger herausspinnen lassen, sondern diese sind von aus-
sen zu dem Übrigen hinzugefügt, müssen also neben die-
sem als Theil eines besondern Ganzen vorhanden gewesen
sein. Das heiſst nun nichts Anderes, als, wir haben hier
die Erscheinung, daſs zwei ursprünglich getrennte Para-
beln, die eine von Knechten und Talenten, die andre von
rebellischen Bürgern handelnd, des gemeinsamen Zugs von
der Abreise und Wiederkunft eines Herrn wegen zusam-
mengeflossen sind. Die Probe unsrer Behauptung ist, wenn
sich die beiden Parabeln leicht wieder auseinander neh-
men lassen, und dieſs gelingt aufs Willkommenste, indem
man durch Herausnahme der Verse 12. 14. 15. und 27. mit
geringer Modifikation die Parabel von den rebellischen
Bürgern, freilich in etwas verkürzter Gestalt, doch rein
herausbekommt, von welcher man alsdann sieht, daſs sie
mit der von den rebellischen Weingärtnern einerlei Ten-
denz hatte 31).


Ein ähnliches Verhältniſs findet zwischen der Form
statt, in welcher das Gleichniſs vom Gastmahl bei Lukas
und bei Matthäus erscheint, nur daſs hier Lukas, wie dort
Matthäus, das Verdienst hat, die einfache und ursprüngli-
che Form aufbehalten zu haben. Während nämlich auf
Das Leben Jesu I. Band. 39
[610]Zweiter Abschnitt.
beiden Seiten die Züge: Gastmahl, Einladung, Zurückwei-
sung derselben, und daher Berufung Anderer die Einerlei-
heit beider Parabeln verbürgen: ist dann andrerseits der
Gastgeber, bei Lukas ἄνϑρωπός τις, von Matthäus zum βα-
σιλεὺς
gemacht, welchen die Hochzeit seines Sohns veran-
laſst, ein Festmahl zu geben; die Geladenen, welche sich
bei Lukas gegen die nur Einmal gesendeten Boten durch
verschiedene Gründe entschuldigen, wollen nach Matthäus
auf die erste Ladung nicht kommen, bei der zweiten, drin-
genderen, gehen die einen zu ihren Geschäften, die andern
miſshandeln und tödten die Knechte des Königs, welcher so-
fort Heere ausschickt, um jene Mörder zu verderben und
ihre Stadt einzuäschern. Hievon ist bei Lukas nichts zu
finden; nach ihm läſst der Herr einfach nur statt der zu-
erst Geladenen die Nächsten Besten von der Straſse zum
Mahle ziehen, ein Zug, den auch Matthäus auf den zuvor
erwähnten folgen läſst. Während hierauf Lukas durch
die Versicherung des Herrn, daſs keiner der zuerst Ge-
ladenen an seinem Mahle Antheil bekommen solle, die
Parabel abschlieſst: hat Matthäus noch den weiteren Zug,
nachdem das Haus voll geworden war, habe der König
die Gäste gemustert und einen ohne hochzeitliches Kleid
gefunden, welchen er sofort εἰς τὸ σκότος τὸ ἐξώτερον
habe abführen lassen.


Hier will gleich Anfangs der Zug bei Matthäus, daſs
die Geladenen die Boten des Königs miſshandelt und ge-
tödtet haben, nicht recht passen, und wie ein Herausfal-
len aus dem gewählten Bilde erscheinen. Miſsachtung ei-
ner Einladung nämlich wird hinlänglich durch Ausschla-
gen derselben unter nichtigen Vorwänden, wie sie Lukas
namhaft macht, an den Tag gelegt; Miſshandlung oder
gar Tödtung der Ladenden ist ein übertreibender Zug,
von welchem sich nicht einsehen läſst, wie Jesus, wohl
aber, wie der Referent im ersten Evangelium zu demsel-
ben kommen mochte. Dieser hatte nämlich unmittelbar
[611]Sechstes Kapitel. §. 74.
zuvor die Parabel von den rebellischen Weingärtnern mit-
getheilt, und von daher schwebte ihm noch die Art vor,
wie diese den von ihrem Herrn ihnen zugeschickten Bo-
ten begegnet waren, indem sie λαβόντες τους δούλους αὐτοῦ
ὃν μὲν ἔδειραν, ὃν δὲ ἀπέκτειναν, ὃν δὲ ἐλιϑοβόλησαν
, und
dieſs trug er auch in die gegenwärtige Parabel über in
den Worten: κρατήσαντες τοὺς δούλους αὐτοῦ ύβριοαν καὶ
ἀπέκτειναν
, übersah aber, daſs, was dort, als Verfahren
gegen Diener, die mit Forderungen und auf Execution
kamen, wohl motivirt war, hier völlig unmotivirt erschien.
Daſs hierauf der König, nicht zufrieden, sie von seinem
Mahle auszuschlieſsen, die Mörder durch seine Heere töd-
ten und ihre Stadt anzünden läſst, folgt zwar aus dem
vorangegangenen Zug nothwendig, scheint aber, wie die-
ser, aus einer Parabel genommen zu sein, welche das
Verhältniſs zwischen dem Herrn und den Andern nicht in
der milderen Form einer ausgeschlagenen Einladung, son-
dern in der härteren einer Empörung faſste, wie das
Gleichniſs von den Weingärtnern und das von den rebel-
lischen Bürgern, welches wir oben aus dem von den Mi-
nen ausgeschieden haben. Noch bestimmter aber weigert
sich der lezte Zug unsrer Parabel bei Matthäus, der mit
dem hochzeitlichen Kleide, im Zusammenhang mit dem
Übrigen ursprünglich gesprochen worden zu sein. Hatte
nämlich der König so eben alle nur immer Aufzutreiben-
de, πονηρούς τε καὶ ἀγαϑοὺς, zum Mahle führen lassen:
so konnte er sich nicht verwundern, daſs nicht Alle hoch-
zeitlich aufgeschmückt waren. Denn daſs die von der
Straſse weg Geholten vorher hätten nach Hause gehen
sollen, um sich zu waschen und besser anzuziehen 32), ist
ebenso in den Text hineingetragen, als daſs nach der Sitte
morgenländischer Herrscher der König den Geladenen je-
dem einen Kaftan habe austheilen lassen, dessen Nichtge-
39*
[612]Zweiter Abschnitt.
brauch somit auch dem Ärmsten zum Vorwurf gemacht
werden konnte 33); eine Sitte, welche theils für jene Zeit
unerwiesen ist 34), theils nicht blos stillschweigend vor-
ausgesezt werden durfte, weil ohne diesen Zug der Un-
wille des Königs unbegründet erscheint. Doch nicht allein
dem Bild, sondern auch der Idee dieser Parabel ist der
fragliche Zusaz entgegen. Denn bis dahin bewegte sich
dieselbe in dem nationalen Gegensaz der widerspenstigen
Juden und der heilsbegierigen Heiden: nun müſste sie auf
Einmal zu dem moralischen von Würdigen und Unwür-
digen überhaupt übergehen. Daſs, nachdem die Juden die
Ladung zum Gottesreiche verschmäht hatten, die Heiden
in dasselbe berufen werden sollten, ist eine Idee für sich,
mit welcher sich daher die Parabel bei Lukas, wie billig,
schlieſst; daſs, wer sich der Berufung nicht durch ent-
sprechende Gesinnung würdig zeige, aus dem Reiche wie-
der ausgeschlossen werde, ist eine andere Idee, welche
eine abgesonderte Behandlung in einer andern Parabel ver-
langte. Alles leitet uns daher auch hier wieder auf die
schon sonst ausgesprochene 35) Vermuthung hin, daſs der
Schluſs dieser Gleichniſsrede bei Matthäus Fragment ei-
ner andern Parabel sei, welche, weil beide von einem
Gastmahl handelten, leicht in der Sage oder in der Erin-
nerung eines Einzelnen mit dem Gleichniſs, welches in
seiner Reinheit durch Lukas aufbewahrt worden ist, zu-
sammenflieſsen konnte. Diese andre Parabel müſste ein-
fach dahin gelautet haben, daſs ein König verschiedene
Gäste zu einem Hochzeitmahle geladen habe unter der
[613]Sechstes Kapitel. §. 75.
stillschweigenden Voraussetzung eines würdigen Anzugs,
und daſs er sofort ein Individuum, bei welchem er diesen
nicht fand, seiner verdienten Strafe übergeben habe 36).
So hätten wir hier die Erscheinung einer noch com-
plicirteren Parabel als oben, einer Parabel, bei welcher
1) das Gleichniſs von den undankbaren Geladenen (Luc.
14.) die Grundlage bildet, doch so, daſs 2) ein Faden
aus dem Gleichniſs von den rebellischen Weingärtnern
oder Bürgern darein verwoben, der Schluſs aber 3) aus
einem sonst nicht bekannten Gleichniſs vom unhochzeitli-
chen Gewande darangenäht ist; eine Erscheinung, welche
uns einen folgenreichen Blick in die Art und Weise ge-
stattet, wie die evangelische Tradition mit ihrem Stoff
zu verfahren pflegte.


§. 75.
Vermischte Lehr- und Streitreden Jesu.


Da die Reden Matth. 15, 1—20. schon oben erwogen
sind, so ist zu 18, 1 ff. Marc. 9, 33 ff. Luc. 9, 46 ff. über-
zugehen, wo sich an die durch einen Rangstreit der Jün-
ger veranlaſste Aufstellung eines Kindes verschiedene Re-
den knüpfen. Vollkommen angemessen schlieſst sich bei
Matthäus an die Aufstellung des Kindes zunächst die Er-
mahnung, wieder Kinder zu werden und sich wie dieſs
Kind zu erniedrigen (V. 3. 4.); wogegen, wie hiemit der
folgende Ausspruch Jesu, wer ein solches Kind in seinem
Namen aufnehme, der nehme ihn selbst auf, zusammen-
hänge, schon nicht ebenso klar ist. Denn aufgestellt war das
Kind, um den Jüngern anschaulich zu machen, was sie
ihm nachthun, nicht, was sie ihm thun sollten, und wie
[614]Zweiter Abschnitt.
Jesus diese Absicht auf Einmal aus den Augen verlieren
konnte, begreift man nicht. Noch greller als bei Mat-
thäus tritt das Unzusammenhängende dieses Ausspruchs
bei Markus und Lukas darin hervor, daſs sie nach der
Aufstellung des Kindes unmittelbar das ὃς ἐὰν δέξηται κ. τ. λ.
folgen lassen, so daſs also Jesus schon während des Auf-
stellens vergessen haben müſste, weſswegen er das Kind
aufstellte, nämlich, um es als nachahmungswürdig, nicht
aber um es als aufnahmsbedürftig darzustellen. Von sei-
nen Schülern, den μικροῖς τούτοις, pflegte Jesus zu sagen,
wer sie aufnehme, nehme ihn selbst, und in ihm denjeni-
gen auf, der ihn gesandt habe (Matth. 10, 40 ff. Luc. 10, 16.
Joh. 13, 20): von den Kindern sagte er sonst nur, wer
das Himmelreich nicht als ein Kind aufnehme, der werde
nicht hineinkommen (Marc. 10, 15. Luc. 18, 17). Dieser
Ausspruch würde auch hieher trefflich sich eignen, und
man möchte fast die Vermuthung wagen, daſs hier das
ursprünglich hiehergehörige ὃς ἐὰν μὴ δέξηται τὴν βασιλείαν
τῶν οὐρανων ὡς παιδίον
mit dem ähnlich lautenden ὃς ἐὰν
δέξηται παιδίον τοιοῦτον ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου
verwechselt wor-
den sein möge.


Wie in unmittelbarster Beziehung auf das zulezt an-
geführte Wort Jesu fügen hierauf Markus (V. 38 f.) und
Lukas (V. 49 f.) durch ein ἀποκριϑεὶς die Nachricht ein,
welche Johannes Jesu gegeben haben soll, daſs sie einem
Menschen, der in Jesu Namen Dämonen austrieb, ohne
sich doch an sie anzuschlieſsen, dieſs niedergelegt haben.
Schleiermacher faſst den Zusammenhang so: weil Jesus
eben die Aufnahme der Kinder ἐπὶ τῷ ὀτόματί μου (τ. Ἰ.) em-
pfohlen hatte, so habe ihm Johannes das Geständniſs ge-
than, sie hätten bisher das, daſs einer etwas gerade ἐπὶ
τῷ ὀνόματί σου (τ. Ἰ.)
thue, so wenig für die Hauptsache
gehalten, daſs sie einem, der sich nicht an sie angeschlos-
sen, das Handeln auf seinen Namen gewehrt haben 1).
[615]Sechstes Kapitel. §. 75.
Allein daſs Johannes aus dem in der Rede Jesu dem Sinne
nach nicht hervortretenden, und durch die Anschauung
des in die Mitte gestellten Kindes noch besonders in den
Hintergrund gedrängten Beisaz: ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου im Au-
genblick den allgemeinen Gedanken sollte herausgezogen
haben: also ist das im Namen Jesu bei allem Thun die
Hauptsache, und ebenso schnell auf den ganz entfernt
liegenden Fall reflektirt: mit dieser Regel steht unser Ver-
fahren gegen jenen Exorcisten im Widerspruch, das sezt
Schleiermacher'sche Denkfertigkeit voraus, nicht eine
Schwäche, wie sie den Jüngern damals noch eigen war.
Dennoch hat Schleiermacher unfehlbar das Rechte getrof-
fen, wenn er in dem Ausdruck ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου das Band
zwischen der vorhergehenden Rede Jesu und dieser ἀπό-
κρισις
des Johannes erkannt hat, nur daſs dieses Band
kein inneres und ursprüngliches ist, sondern ein äusseres
und secundäres. Denn wenn es zwar für die zuhörenden
Jünger viel zu ferne lag, bei jenem Worte Jesu sich
durch innere Gedankenvermittlung sogleich jenes Falls aus
ihrer Praxis zu erinnern: so lag dem nach Reminiscenzen
aus der evangelischen Tradition schreibenden Referenten
im dritten Evangelium, aus welchem der im zweiten hier
geschöpft zu haben scheint, nach unsern bisherigen Beob-
achtungen nichts näher, als durch das Schlagwort ἐπὶ τῷ
ὀνόματί μου
in der ebengemeldeten Rede Jesu an eine Anek-
dote mit demselben Schlagworte erinnert zu werden, und sie
auf diese äusserliche Ähnlichkeit hin frischweg anzuknüpfen.


Nachdem hierauf Matthäus (V. 6 f.) an die Empfeh-
lung der Aufnahme solcher Kinder die Warnung vor dem
σκανδαλίζειν τῶν μικρῶν τούτων, was aber nach dem jüdi-
schen und N. T.lichen Sprachgebrauch die Jünger und
Anhänger Jesu sind 2), angeschlossen hat, und auch Mar-
kus, unerachtet der beschriebenen Unterbrechung, doch
[616]Zweiter Abschnitt.
(V. 42.) auf dieselbe Weise fortgefahren ist, ohne Zwei-
fel weil er von Lukas, der hier abbricht und die Reden
von den σκανδάλοις weiter unten (17, 1 ff.) ohne Zusam-
menhang einfügt, zu Matthäus übersprang 3): folgt bei
Matthäus (V. 8 f.) und Markus (V. 43 f.) eine Stelle, wel-
che allein schon den Auslegern über die Art der Synop-
tiker, die Aussprüche Jesu zusammenzureihen, die Augen
öffnen sollte. An die Warnung Jesu vor dem σκανδαλίζειν
der Kleinen nämlich und den Weheruf über den, durch
welchen τὸ σκάνδαλον ἔρχεται knüpfen sie die Gnomen von
dem σκανδαλίζειν der Hand, des Auges u. s. w. So konnte
Jesus nicht fortfahren, da die Sätze: verführet die Klei-
nen nicht! und: lasset euch durch eure Sinnlichkeit nicht
verführen! ausser dem Worte: Verführen nichts Gemein-
sames haben. So fällt es uns von selbst in die Hand,
was es auch mit dieser Verbindung für eine Bewandtniſs
hat. Das Schlagwort σκανδαλίζειν rief dem Referenten
im ersten Evangelium Alles, was er an hievon handeln-
den Reden Jesu wuſste, in das Gedächtniſs zurück, und
unerachtet er die Aussprüche von der Verführung durch
die eignen Glieder schon in der Bergrede in besserem Zu-
sammenhang wiedergegeben hatte, kann er doch der Ver-
suchung nicht widerstehen, sie auch hier, blos ad vocem
σκανδαλίζειν, mitzutheilen, worauf er jedoch V. 10. den
Zusammenhang mit V. 6 und 7. wieder aufnimmt, und
noch ein weiteres die μικροὺς betreffendes Diktum beifügt.
Den Werth der μικροὶ läſst hierauf Matthäus Jesum durch
den Saz, daſs des Menschen Sohn gekommen sei, das
Verlorene zu suchen, und durch das Gleichniſs vom ver-
lorenen Schaf begründen (V. 11—14). Da jedoch nicht
abzusehen ist, wie Jesus die μικροὺς geradezu zu dem
ἀπολωλὸς soll haben rechnen können: so scheint jene
Gnome Luc. 19, 10. bei der Berufung des Zacchäus, diese
[617]Sechstes Kapitel. §. 75.
Parabel aber Luc. 15, 3 ff. als Erwiederung auf den An-
stoſs der Pharisäer an seiner Zöllnerfreundschaft besser
zu stehen, und von Matthäus nur deſswegen hiehergestellt
zu sein, weil ihm bei den Reden Jesu von den μικροῖς
leicht auch die von den ἀπολωλόσι, beides Beweise seiner
ταπεινότης und φιλανϑρωπία, einfallen konnten.


Zwischen der Moral der bezeichneten Parabel (V. 14.)
und den folgenden Regeln für das Verhalten der Christen
bei Beleidigungen durch Andere (V. 15 ff.) liegt wiederum
nur ein Verbalzusammenhang durch die Worte ἀπόληται
und ἐκέρδησας zu Tage, indem der Ausspruch, Gott wolle
nicht, daſs dieser Geringsten einer verloren gehe, an den
andern erinnern konnte, daſs man also die Brüder durch
Versöhnlichkeit zu gewinnen suchen müsse. Wegen der
Anweisung (V. 17.), den Beleidiger in gewissen Fällen
vor die ἐκκλησία zu bringen, wird diese Stelle gewöhnlich
unter den Beweisen, daſs Jesus eine Kirche habe stiften
wollen, aufgeführt. Allein Jesus spricht hier von einer
bereits bestehenden Institution, also von der jüdischen Syn-
agoge, wofür auch die auffallende Analogie dieser An-
weisungen mit jüdischen Vorschriften spricht 4). Der Re-
ferent freilich scheint an die zu gründende neue Gemeinde
gedacht zu haben, wenn er Jesum sofort die schon frü-
her dem Petrus gegebene Vollmacht zu binden und zu
lösen, also eine neue messianische Religionsverfassung zu
begründen, sämmtlichen Jüngern ertheilen läſst, womit
sodann die Aussprüche von der Erhörung des einmüthigen
Gebets und von der Gegenwart Jesu bei zwei oder drei in
seinem Namen Versammelten zusammenhängen, welche
gleichfalls nicht ohne Analogie in jüdischen Schriften sind 5).


Die nächste Rede, die uns begegnet, Matth. 19, 3—12.
Marc. 10, 2—12. ist, obzwar nach den Evangelisten auf
[618]Zweiter Abschnitt.
der lezten Festreise Jesu vorgefallen, doch eine jener Dispu-
tationen, welche sie sonst gröſstentheils in den lezten Auf-
enthalt Jesu in Jerusalem stellen. Pharisäer legen ihm
die in den jüdischen Schulen damaliger Zeit vielbespro-
chene 6) Frage vor, ob man das Eheweib um jeder belie-
bigen Ursache willen entlassen könne? Wenn man hiebei,
um Jesum nicht in Widerspruch mit der modernen Pra-
xis kommen zu lassen, darauf dringt, daſs er nur diejeni-
ge Art der Ehetrennung, von welcher man damals allein
wuſste, nämlich das willkührliche Wegschicken der Frau,
nicht aber die gerichtliche Scheidung, wie sie jezt einge-
führt ist, miſsbilligt habe 7): so ist damit doch zugestanden,
daſs Jesus, soweit er von Ehetrennungen wuſste, sie allge-
mein verworfen hat, wobei also noch sehr die Frage ist,
ob ihn die neuere Art, die Ehe aufzulösen, wenn er davon
Kunde hätte bekommen können, bewogen haben würde, je-
ne allgemeine Verwerfung einzuschränken? Auch bei dem
folgenden, durch eine Frage der Jünger veranlaſsten Aus-
spruch, von welchem Jesus selber sagt, nicht Alle begrei-
fen ihn, sondern nur ο[ἷ]ς δέδοται, daſs nämlich die Ehelosig-
keit auch um des Reichs Gottes willen übernommen wer-
den könne (V. 11 f.), hat man, um Jesum nichts den jetzi-
gen Vorstellungen Zuwiderlaufendes sagen zu lassen, sich
beeilt, den Gedanken einzuschwärzen, nur mit Rücksicht
auf die bevorstehenden Zeitumstände, oder damit sie in ih-
rer apostolischen Thätigkeit nicht gehindert würden, habe
Jesus den Jüngern, sofern sie es vermöchten, die Ehelosig-
keit angerühmt 8); allein im Zusammenhang liegt davon
noch weniger eine Andeutung, als in der verwandten Stel-
le 1 Kor. 7, 25 ff. 9), sondern es ist auch hier wieder ei-
[619]Sechstes Kapitel. §. 75.
ner der Orte, wo ascetische Grundsätze, wie sie damals
zuverlässig unter den Essenern 10), wahrscheinlich aber
noch weiter unter den Juden verbreitet waren, auch bei
Jesu durchscheinen.


Die Streitreden, welche nach dem Einzug Jesu in Je-
rusalem Matthäus fast durchaus in Übereinstimmung mit
den beiden andern Synoptikern folgen läſst (21, 23—27. 22,
15—46.) 11), sind gewiſs vorzüglich ächte Stücke, weil
sie so ganz im Geist und Ton damaliger rabbinischer Dia-
lektik gehalten sind. Unter ihnen sind die dritte und fünf-
te dadurch besonders merkwürdig, daſs sie Jesum als
Schrifterklärer zeigen. In Bezug auf den ersteren Fall,
wo Jesus den Sadducäern aus der mosaischen Benennung
Gottes als ϑεὸς Ἀβραὰμ καὶ Ἰσαὰκ καὶ Ἰακὼβ, da doch
Gott nicht ϑεὸς νεκρῶν, sondern ζώντων sei, zu beweisen
sucht, ὅτι ἐγείρονται νεκροὶ (V. 31—33. parall.), giebt Pau-
lus
zwar zu, daſs Jesus hier subtil argumentire, doch lie-
ge in seiner Prämisse wirklich das, was er daraus ablei-
te 12). Allein in dem zur Formel gewordenen אֱלהֵֹי־אַבְרָהָם
u. s. w. ist nichts enthalten, als daſs Jehova, wie er der
Schutzgott dieser Männer gewesen sei, so fort und fort auch
für ihre Nachkommen es sein werde: an ein auch nach
ihrem Tode fortdaurendes individuelles Verhältniſs Jehova's
zu jenen Männern wird sonst im Pentateuch nicht ge-
dacht, und in unsre Worte konnte es nur durch rabbini-
sche Hermeneutik zu einer Zeit hineingelegt werden, in
9)
[620]Zweiter Abschnitt.
welcher man die indeſs aufgegangene Idee der Unsterblich-
keit um jeden Preiſs auch schon in dem Gesetze finden
wollte, wo sie doch nicht anzutreffen ist; wie denn die
Beziehung Gottes auf Abraham, Isaak und Jakob auch sonst
in rabbinischen Argumentationen, die schwerlich alle die-
ser Beweisführung Jesu nachgebildet sind, zum Beleg der
Unsterblichkeit gebraucht sich findet 13). Sieht man sich
auch noch in den neuesten Commentaren um, so findet man
nirgends ein unumwundenes Geständniſs, wie es mit die-
ser Argumentation Jesu steht. Olshausen weiſs Wunder
von der tiefen Wahrheit dieser Beweisführung zu sagen,
aus welcher er nebenher noch 1) die Authentie, 2) die Gött-
lichkeit des Pentateuchs auf dem kürzesten Wege ableiten
zu können glaubt; Paulus liest den Nerv des Beweises
zwischen den Linien des Textes; Fritzsche schweigt. Wozu
diese Winkelzüge? warum den Ruhm, in dieser Sache
klar gesehen und offen geredet zu haben, dem Wolfenbütt-
ler Fragmentisten überlassen 14)? Zu welchen Gespenstern
und Doppelgängern macht man einen Moses, einen Jesus,
wenn sie unter ihren Zeitgenossen herumgewandelt haben
sollen, ohne auf lebendige Weise mit deren Einsichten und
Schwächen, wie mit ihren Freuden und Leiden zusammen-
zuhängen, sondern losgetrennt von ihrer Zeit und ihrem
Volk sollen sie nur äusserlich und aus Anbequemung sich
diesen gleichgestellt, innerlich aber und ihrem Wesen nach
in den vordersten Reihen der neuesten Zeit und ihrer Er-
kenntnisse gestanden haben. Würdiger gewiſs, ja allein
fähig der Theilnahme und Verehrung sind diese Männer
dann, wenn sie auf ächtmenschliche Weise kämpfend mit
den Schranken und Vorurtheilen ihrer Zeit diesen in hun-
dert Nebendingen unterlegen sind, nur nicht in Bezug
[621]Sechstes Kapitel. §. 75.
auf den Einen Punkt, in welchem jeder von ihnen die Welt-
geschichte vorwärts zu bringen berufen war.


Daſs nun aber vollends von der Streitfrage über den
Messias als Davids Sohn und zugleich Herrn, welche Jesus
den Pharisäern vorlegt (V. 41—46.), Paulus behaupten kann,
sie sei ein Muster textgemäſser Schriftauslegung 15), erregt
kein gutes Vorurtheil für die Textgemäſsheit seiner eige-
nen. Nach ihm will Jesus, wenn er fragt, wie doch Da-
vid im 110ten Psalm den Messias, welcher laut der allge-
meinen Vorstellung vielmehr sein Sohn war, seinen Herrn
nennen könne? die Pharisäer darauf aufmerksam machen,
daſs eben in diesem Psalm weder David noch vom Mes-
sias rede, sondern ein anderer Dichter rede von David als
seinem Herrn, so daſs dieser kriegerisch lautende Psalm
gar kein messianischer sei. Warum sollte, fragt Paulus,
Jesus diesen Sinn des Psalms nicht gefunden haben, da er
an sich wahr ist? Allein das ist eben das πρῶτον ψεῦδος
dieser ganzen Art von Exegese, zu meinen, was an sich,
oder näher für uns, wahr ist, das müsse bis auf das Ein-
zelste hinaus auch schon für Jesum und die Apostel das
Wahre gewesen sein. Wie kann, da die älteren jüdischen
Erklärer den Psalm groſsentheils vom Messias verstanden 16),
da die Apostel ihn als Weissagung auf Christum gebrau-
chen (A. G. 2, 34 f. 1 Kor. 15, 25.), da Jesus selbst nach
Matthäus und Markus durch den Zusaz ἐν πνεύματι zu Δα-
υὶδ καλεῖ αὐτὸν Κύριον
offenbar seine Beistimmung zu der
Meinung, daſs hier David, und zwar vom Messias spreche,
ausdrückt: wie kann man da annehmlich finden, daſs Jesus
der entgegengesezten Meinung gewesen sei? Bleibt es viel-
mehr dabei, was auch Olshausen gut ausführt, daſs
Jesus den Psalm als messianischen voraussezte, aber eben-
[622]Zweiter Abschnitt.
so sehr, worin dann Paulus Recht behält, daſs er ursprüng-
lich nicht auf den Messias, sondern auf einen jüdischen
Regenten, sei dieser nun David oder ein anderer, gieng: so
sehen wir hier im Munde Jesu ein Muster nicht textge-
mäſser, wohl aber zeitgemäſser Schriftauslegung, was wir
uns denn nach dem oben Bemerkten nur gar nicht wollen
wundern lassen. Den Schlüssel zu dem Räthsel, welches
er den Pharisäern aufgab, hat Jesus nach des Referenten
Ansicht ohne Zweifel in der Lehre von der höheren Natur des
Messias besessen; da die Pharisäer nach unsrer Erzählung
diese Auskunft nicht fanden, so scheint ihnen jene Lehre
nicht geläufig gewesen zu sein. Die Absicht Jesu bei Vor-
legung dieser Frage war, den Pharisäern zu zeigen, daſs
auch er, was sie früher gegen ihn versucht hatten, im Stan-
de sei, sie durch verfängliche Fragen in die Enge zu trei-
ben, und zwar mit besserem Erfolg als sie. Deſswegen
stellen die Evangelisten dieses Stück an den Schluſs der
von ihnen mitgetheilten Disputationen, und Matthäus sezt
die Schluſsformel: οὐδὲ ἐτόλμησέ τις ἀπ' [έ]κείνης τῆς ἡμέρας
ἐπερωτῆσαι αὐτὸν οὐκέτι
gewiſs passender hieher als Lukas
nach der Zurechtweisung der Sadducäer (20, 40.), oder
Markus nach der Verhandlung über das gröſste Gebot
(12, 34.).


Zunächst vor dieser von Jesu den Pharisäern gestellten
Aufgabe nämlich erzählen die beiden ersten Evangelisten
eine Verhandlung Jesu mit einem νομικὸς oder γραμματεὺς
über das vornehmste Gebot (Matth. 22, 34 ff. Marc. 12, 28 ff.),
welche Matthäus an die Disputation mit den Sadducäern
so anknüpft, als hätten die Pharisäer durch ihre Frage
nach dem höchsten Gebot die Niederlage der Sadducäer
rächen wollen. So befreundet aber waren diese beiden
Sekten bekanntlich nicht, sondern umgekehrt war nach
A. G. 23, 7. die eine geneigt, sich auf die Seite eines sonst
Angefeindeten zu schlagen, wenn sich dieser als Gegner
der andern zu stellen wuſste. Sondern hier muſs Schnek-
[623]Sechstes Kapitel. §. 75.
kenburger's 17) Beobachtung gelten, daſs Matthäus nicht
selten (3, 7. 16, 1.) die Pharisäer und Sadducäer in
einer Weise nebeneinanderstelle, wie sie keineswegs in
der sie feindlich trennenden Wirklichkeit, sondern nur
in der traditionellen Erinnerung, in welcher der eine
Gegensatz den andern hervorrief, gestanden haben kön-
nen. Leidlicher weiſs in dieser Hinsicht Markus dieses
Gespräch an das vorige anzuschlieſsen; indeſs scheint eben
das ein Irrthum der Synoptiker zu sein, daſs sie meinen,
diese, der Ähnlichkeit wegen in der Überlieferung zusam-
mengruppirten Verhandlungen müssen auch der Zeit nach
auf einander so gefolgt sein, daſs eine Rede die andre
gab. Dem Lukas fehlt die Frage nach dem höchsten Ge-
bot im Zusammenhang dieser Streitreden; eine ähnliche
Erzählung aber hat er schon früher in dem Reisebericht,
10, 25 ff. gehabt. Hier ist nun die gewöhnliche Ansicht,
daſs die beiden ersten Evangelisten Eine und dieselbe
Begebenheit berichten, der Dritte aber eine verschie-
dene 18). Wirklich unterscheidet sich die Erzählung des
Lukas von der der beiden andern in mehreren nicht un-
wesentlichen Punkten. Zuerst in Betreff der Zeitordnung
auf die bereits erwähnte Weise, und dieſs hat wohl am
meisten für die Auseinanderhaltung gewirkt; hienächst in
der Frage, welche bei Lukas nach einer Lebensregel
zum Behuf der Ererbung der ζωὴ αἰώνιος, bei den
andern nach dem höchsten Gebote lautet; dann in dem
Subjekt, welches die höchsten Gebote ausspricht, was bei
den zwei ersten Synoptikern Jesus, bei dem dritten der
Schriftgelehrte ist; endlich auch in dem Ausgang der
Sache, indem bei Lukas der νομικὸς eine zweite, recht-
haberische Frage thut, an welche sich das Gleichniſs
[624]Zweiter Abschnitt.
vom barmherzigen Samariter schlieſst, während er bei
den beiden andern ohne weitere Frage befriedigt oder
abgefertigt sich giebt. Indeſs auch zwischen der Erzäh-
lung des Matthäus und der des Markus zeigen sich er-
hebliche Verschiedenheiten. Die hauptsächlichste betrifft
den Charakter des Fragenden, der bei Matthäus als πειρά-
ζων
, bei Markus in gutmüthiger Absicht kommt, weil er
wuſste, daſs Jesus den Sadducäern καλῶς ἀπεκρίϑη. Pau-
lus
zwar, unerachtet er anderswo (Luc. 10, 25.) den ἐκπει-
ράζων
selbst als einen eigensüchtigen Probemacher nimmt,
erklärt doch, hier bei Matthäus könne πειράζων nur
im guten Sinne gemeint sein 20). Allein ein Grund hiezu
liegt im Matthäus nicht, sondern nur im Markus und in
der unberechtigten Voraussetzung, daſs beide Referenten
in Bezug auf den Charakter und die Absicht des fragen-
den Gesezlehrers nicht verschiedener Meinung gewesen
sein können. Mit Recht hat hiegegen Fritzsche darauf
aufmerksam gemacht, wie hier einer Vereinigung des
Matthäus mit dem Markus theils die Bedeutung des πειρά-
ζων
, theils der Zusammenhang entgegenstehe, welcher
nicht gestatte, eine Reihe böswilliger Fragen der Gegner
Jesu ohne besondre Anzeige durch eine gutgemeinte un-
terbrochen zu denken 21). Mit dieser Hauptdifferenz
hängt die andre zusammen, daſs, während bei Matthäus
der Schriftgelehrte, nachdem ihm Jesus die beiden Gebote
genannt hat, wahrscheinlich beschämt, schweigt, was
auch kein Zeichen einer freundlichen Stellung zu Jesu ist,
er bei Markus nicht nur durch ein: καλῶς, διδάσκαλε,
ἐπ' ἀληϑείας εἶπας
Jesu Beifall giebt, sondern auch das
von diesem gesagte weiter ausführt, wofür er von Jesu,
ὅτι νουνεχῶς ἀπεκρίϑη, als einer bezeichnet wird, der nicht
ferne vom Reich Gottes sei. Auch das kann noch ange-
[625]Sechstes Kapitel. §. 75.
führt werden, daſs, während bei Matthäus Jesus nur von
dem Gebot der Liebe spricht, er bei Markus von dem
ἄκουε Ἰσραὴλ, Κύριος ὁ ϑεὸς ἡμῶν Κύριος εἶς ἐςι ausholt.
Wenn man also um der Differenzen zwischen der Er-
zählung des Lukas und der der beiden andern willen diese
unterscheiden zu müssen glaubt: so muſs man nicht gerin-
gerer Unterschiede wegen auch den Markus von Matthäus
trennen, und so dreierlei Begebenheiten als zum Grunde
liegend denken. Aber drei im Wesentlichen so ähnliche
Vorfälle anzunehmen, fällt so schwer, daſs man sich im-
mer wieder zu Reduktionsversuchen veranlaſst finden wird.
Und hier scheinen sich nun zwar vor Allem die beiden
Erzählungen des Matthäus und Markus zur Identificirung
darzubieten: indessen fehlt es auch weder zwischen Mat-
thäus und Lukas an Berührungspunkten, da in beiden der
νομικὸς als πειράζων auftritt, und durch Jesu Antwort
nicht zu dessen Gunsten gestimmt wird, noch auch zwi-
schen Lukas und Markus, indem beide der Nennung der
höchsten Gebote noch eine weitere erläuternde Verhand-
lung folgen, und in das Gespräch Jesu mit dem Schrift-
gelehrten Beifallsformeln wie ὀρϑῶς ἀπεκρίϑης, καλῶς ἐπ'
ἀληϑείας εἶπας
einflieſsen lassen. So sehen wir, daſs, nur
zwei von diesen Erzählungen zusammenzunehmen, eine
halbe Maſsregel ist, und entweder alle drei auseinander-
gehalten werden müssen, oder, da dieſs nicht angeht,
alle drei zusammengefaſst, woraus wir abermals sehen,
in wie freien Variationen die urchristliche Sage das glei-
che Thema — hier das, daſs Jesus aus dem mosaischen
Gesetze die beiden Gebote der Gottes- und Nächstenliebe
als die vornehmsten herausgehoben habe, — zu behandeln
pflegte.


Wir kommen nun an die groſse antipharisäische Rede,
welche Matthäus K. 23. als Haupttreffen auf die Vorspiele
der Disputationen folgen läſst. Auch Markus (12, 38 ff.)
und Lukas (20, 45 ff.) haben hier eine Rede Jesu gegen
Das Leben Jesu I. Band. 40
[626]Zweiter Abschnitt.
die γραμματεῖς, doch nur von wenigen Versen. Wohl
mochte aber Jesus, wie auch die neueste Kritik zuge-
steht 22), unter den damaligen Umständen veranlaſst sein,
sich ausführlicher gegen jene Menschen auszulassen, und
es müssen auch wohl solche scharfe Erörterungen der
Katastrophe vorausgegangen sein: so daſs man also die
Darstellung des Matthäus hier wenigstens nicht nach dem
was die beiden andern Synoptiker geben, abmessen darf,
zumal die von jenem mitgetheilte Rede in sich selber wohl
zusammenhängt. Freilich hat auch hier wieder Lukas Man-
ches von dem, was Matthäus zusammenstellt, an verschie-
dene Orte und Anlässe vertheilt, und hieraus würde fol-
gen, daſs auch dieſsmal Matthäus den ursprünglichen Lehr-
stoff mit verwandten Elementen aus andrer Zeit verschmol-
zen habe 23), wenn es ausgemacht wäre, daſs die Stel-
lung jener Redestücke bei Lukas die richtige sei, was so-
fort zu untersuchen ist. Lukas hat, was er ausser den
paar Versen, die er an gleicher Stelle wie Matthaus von
der antipharisäischen Rede Jesu beibringt, mit dieser gemein
hat, bei zwei pharisäischen Gastmahlen untergebracht, zu
welchen er — eine nur bei ihm sich findende Artigkeit —
Jesum geladen werden läſst (11, 37 ff. 14, 1 ff.), und
hier ist unter den jetzigen Auslegern fast nur Eine Stimme
darüber, wie natürlich und treu uns Lukas die ursprüng-
lichen Veranlassungen dieser Reden aufbewahrt habe 24).
Nun nimmt sich wirklich bei dem zweiten der angeführ-
ten Pharisäermahle das natürlich genug aus, wie Jesus
von dem dabei bemerkbaren Trachten der Geladenen nach
den obersten Plätzen Veranlassung nimmt, vor dem Oben-
ansitzen bei Gastmahlen schon aus Klugheitsrücksichten
[627]Sechstes Kapitel. §. 75.
zu warnen, was bei Matthäus und Markus, aber auch bei
Lukas selbst wieder, in jener lezten antipharisäischen Rede,
ohne besondern Anlaſs und kürzer, sich findet. Anders
dagegen verhält es sich mit den Reden, welche Lukas bei
dem früheren Pharisäermahl geführt werden läſst. Hier
spricht Jesus nicht nur gleich von vorne herein von ἁρπαγὴ
und πονηρία, womit die Pharisäer ihre Schüsseln füllen,
und beehrt sie mit dem Titel ἄφρονες, sondern er bricht
sofort in ein οὐαὶ um das andere über sie und die Schrift-
gelehrten aus, und droht ihnen mit einem Strafgericht für
alles Blut, das sie und die ihnen Gleichgesinnten von jeher
vergossen haben. Ist nun gleich von einem jüdischen Leh-
rer keine attische Urbanität zu verlangen, so muſsten doch
gerade auch nach morgenländischem Maſsstab gemessen
solche Reden, über Tisch gegen den Wirth und die Mit-
gäste geführt, als die gröbste Verletzung des Gastrechts
erscheinen. Dieſs hat Schleiermacher fein genug gefühlt,
weſswegen er denn das Gastmahl selber friedlich vorüber-
gehen, und erst nach demselben, als Jesus sich schon
wieder draussen befand, sowohl den Gastgeber mit seiner
Verwunderung über die von Jesus und seinen Jüngern
unterlassene Waschung herausrücken, als auch Jesum
hierauf so gewaltig antworten läſst 25). Allein daſs auf
diese Weise der Referent das Gastmahl selbst und was
dabei vorgegangen gar nicht beschrieben, sondern nur des
Zusammenhangs wegen erwähnt haben soll, ist eine ge-
waltsame Annahme, und wenn man liest: εἰσελϑὼν δὲ ἀνέ-
πεσεν· ὁ δὲ φαρισαῖος ἰδὼν ἐϑαύμασεν, ὅτι ου᾽ πρῶτον ἐβαπ-
τίσϑη — · εἶπε δὲ ὁ Κύριος πρὸς αὐτὸν
, so ist es rein un-
möglich, irgendwo zwischen diese Sätze den Verlauf der
Mahlzeit einzuschieben, sondern es muſs sich nach der
Ansicht des Erzählers sowohl das ἐϑαύμασεν an das ἀνέ-
πεσεν, als das εἶπεν an das ἐϑαύμασεν unmittelbar ange-
40*
[628]Zweiter Abschnitt.
schlossen haben. Kann aber dieſs, wenn Jesus nicht auf
das Gröbste gegen alle Sitte verstoſsen haben soll, nicht
wirklich so der Fall gewesen sein: so hat es mit dem
Rühmen der Stellung dieser Rede bei Lukas ein Ende,
und wir müssen nur noch sehen, wie er zu einer so fal-
schen Stellung gekommen sein kann. Dieſs finden wir,
wenn wir die Art vergleichen, wie die beiden andern
Synoptiker des Anstoſses Erwähnung thun, welchen die
Pharisäer an der Unterlassung der Waschung vor Tische
von Seiten Jesu und seiner Schule nahmen, woran sie
übrigens andre Reden als Lukas knüpfen, welche schon
oben betrachtet worden sind. Bei Matthäus (15, 1 ff.)
kommen die γραμματεῖς und φαρισαῖοι von Jerusalem und
fragen Jesum, warum seine Jünger die Sitte des Wa-
schens vor Tische nicht beobachten, was sie also, wie
man voraussetzen kann, durch das Gerücht erfahren haben
mögen; bei Markus (7, 1 ff.) sehen sie unmittelbar zu
(ἰδόντες), wie einige von Jesu Jüngern mit ungewaschenen
Händen essen, und stellen sie darüber zur Rede; bei Lu-
kas endlich speist, wie wir gesehen haben, Jesus selbst
bei einem Pharisäer, und bei dieser Gelegenheit zeigt es
sich, daſs er die Waschung unterläſst. Dieſs ist ein of-
fenbarer Klimax: Hörensagen — Zusehen — Mitspeisen,
und es fragt sich nur, in welcher Richtung er entstanden
sein mag, ob in der absteigenden von Lukas zu Matthäus,
oder in der aufsteigenden von Matthäus zu Lukas? Von
dem Standpunkt der neuesten Kritik des ersten Evange-
liums wird man nicht ermangeln, das Erstere zu behaup-
ten, daſs nämlich die Kunde von der ursprünglichen Scene,
dem Mahle, sich in der Überlieferung verloren habe und
deſswegen im ersten Evangelium fehle. Allein abgesehen
von dem Undenkbare, daſs jene Reden bei einem Mahle
sollten geführt worden sein, so ist es keineswegs die Weise
der Sage, einen so anschaulichen Zug, wie eine Mahl-
zeit ist, wenn sie ihn einmal hat, wieder fallen zu lassen,
[629]Sechstes Kapitel. §. 75.
sondern eher, wenn sie ihn nicht hat, ihn zu erdichten.
Wie überhaupt das Abstrakte in der Sage zum Concreten
umgebildet wird: so macht sie das Mittelbare zum Unmit-
telbaren, das fando audire zum Sehen, den Zuschauer
zum Theilnehmer, und da sich der Anstoſs, welchen die
Pharisäer an Jesu nahmen, unter Andrem auch auf Tisch-
gebräuche bezog: so war es der Sage nahe gelegt, jenen
Anstoſs an Ort und Stelle entstehen, und zu diesem Be-
hufe pharisäische Einladungen an Jesum ergehen zu las-
sen, von welchen nun auch bedenklich wird, daſs sie
Lukas allein hat, und die beiden andern Synoptiker nichts
von dergleichen wissen. Hiedurch wird dann auch das
andre der erwähnten Pharisäermahle verdächtig, und wir
sehen hier wieder den Lukas in seiner beliebten Geschäf-
tigkeit, zu überlieferten Reden Jesu passend scheinende
Rahmen zu verfertigen oder aufzunehmen, — ein Verfah-
ren, welches von der historischen Wahrheit um ein gutes
Stück weiter abliegt, als das Bestreben des Matthäus,
Reden aus verschiedenen Zeiten, doch ohne eigne Zuthat,
zusammenzustellen. Der bezeichnete Klimax übrigens ist
dem sonstigen Verhältniſs der Synoptiker gemäſs nur so
zu denken, daſs Markus, welcher in dieser Erzählung
augenscheinlich den Matthäus vor sich hatte, in dessen
Darstellung das anschauliche ἰδόντες hineintrug, während
Lukas, von beiden unabhängig, sogar ein δεῖπνον sei es
von der weiter fortgeschrittenen Sage überkam, oder mit
regerer Phantasie dazudichtete.


Sonst ist aus dieser Rede besonders V. 35. viel besprochen
worden, wo Jesus seinen Zeitgenossen droht, daſs alles un-
schuldig vergossene Blut von Abel bis zu dem im Heiligthum
ermordeten Zacharias, Barachias Sohn, über sie kommen wer-
de. Da nämlich derjenige Zacharias, von welchem 2 Chron.
24, 20 ff. ein solches Ende erzählt wird, ein Sohn nicht
von Barachias, sondern von Jojada war, dagegen im jüdi-
schen Krieg ein Zacharias Baruchs Sohn ein gleiches Ende
[630]Zweiter Abschnitt.
nahm 26): so glaubte man eine Verwechselung jenes früheren
Faktums mit diesem späteren hier zu finden, was man sofort als
Mitbeweis einer späteren Abfassung des ersten Evangeliums
gebrauchte 27). Ebensogut indeſs kann der nach der Chro-
nik ermordete Zacharias Jojada's Sohn mit dem gleichna-
migen Propheten, der ein Sohn von Barachias war (Zach.
1, 1. LXX; Baruch bei Josephus ist nicht einmal derselbe
Name), verwechselt worden sein 28), zumal auch ein Tar-
gum, offenbar in Folge der gleichen Verwechslung mit dem
Propheten, der ein Enkel Iddo's war, den ermordeten Za-
charias einen Sohn von Iddo nennt 29).


Nachdem wir nun von den Reden Jesu bei Matthäus alle
diejenigen betrachtet und mit ihren Parallelen verglichen
haben, welche uns nicht entweder schon früher vorgekom-
men sind, oder später, theils in der Betrachtung einzelner
Begebenheiten aus der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, theils
in der Leidensgeschichte noch vorkommen werden: so könn-
te es zur Vollständigkeit zu gehören scheinen, daſs wir
ebenso auch noch die Zusammenstellungen, in welchen die
beiden andern Synoptiker die Reden Jesu geben, für sich
betrachteten, und von da aus auf die Parallelen im Mat-
thäus hinübersähen. Indeſs auf die merkwürdigsten Rede-
massen bei Markus und Lukas haben wir bereits einen ver-
gleichenden Blick geworfen, die Parabeln, welche beiden
eigenthümlich sind, durchgegangen, das Übrige aber, was
sie an Reden voraushaben, wird uns theils gleichfalls spä-
ter noch vorkommen, theils ergiebt sich der Standpunkt für
die Betrachtung desselben aus dem Bisherigen: weſswegen
es hiebei sein Bewenden haben mag.


[631]Siebentes Kapitel. §. 76.

Siebentes Kapitel.
Reden Jesu im vierten Evangelium.


§. 76.
Die Unterredung Jesu mit Nikodemus.


Das erste gröſsere Redestück, welches uns das johan-
neische Evangelium mittheilt, ist die Unterhaltung Jesu mit
Nikodemus (3, 1—21.). Vorher (2, 23—25.) war berich-
tet worden, wie während des ersten von Jesu seit seinem
öffentlichen Auftritt besuchten Paschafestes durch die ση-
μεῖα
, welche er verrichtete, Viele zum Glauben an ihn ge-
bracht worden seien, wie aber er sich ihnen nicht anver-
traut habe, weil er sie — ohne Zweifel in Hinsicht der
Unsicherheit und Unreinheit ihres Glaubens — durchschau-
te. Nun wird, als Beispiel sowohl von dem Anhang, wel-
chen Jesus schon damals fand, als auch von der Behut-
samkeit, mit welcher er bei Prüfung und Aufnahme seiner
Anhänger zu Werke gieng, die Art näher beschrieben, wie
sich Nikodemus, ein zur Pharisäersekte gehöriger jüdi-
scher ἄρχων, an ihn gewendet, und wie ihn Jesus be-
handelt habe.


Von diesem Nikodemus erfahren wir einzig durch das
johanneische Evangelium, welches ihn auch 7, 50 f. als
Fürsprecher für Jesum insofern auftreten läſst, als er
diesen nicht ungehört verdammt wissen will, und 19, 39.
ihn die Sorge für die Bestattung Jesu mit Joseph von Ari-
mathäa theilen läſst. Mit Recht hat die neuere Kritik es
befremdend gefunden, daſs Matthäus (mit den übrigen Syn-
optikern) auch nicht einmal den Namen jenes merkwür-
digen Anhängers Jesu irgendwo nenne, so daſs wir Alles,
[632]Zweiter Abschnitt.
was uns von demselben bekannt ist, aus dem vierten Evan-
gelium erfahren müssen, da doch das eigenthümliche Ver-
hältniſs, in welchem Nikodemus zu Jesu gestanden, und
daſs auch er an seiner Bestattung Theil genommen, dem
Matthäus ebensogut als dem Johannes habe bekannt sein
müssen. Dieſs wird sofort in den Kreis jener Gründe ge-
zogen, welche beweisen sollen, daſs das erste Evangelium
nicht vom Apostel Matthäus verfaſst, sondern aus ziemlich
später Tradition entstanden sei 1). Allein auch an der ge-
meinen urchristlichen Sage, aus welcher die Synoptiker
schöpften, muſs es auffallen, daſs sie von diesem Nikode-
mus nichts weiſs. Hat sie doch die Namen aller übri-
gen, welche dem gemordeten Meister die lezte Ehre er-
weisen halfen, eines Joseph von Arimathäa und der beiden
Marien, mit rührender Pietät in ihre Gedenkbücher einge-
zeichnet (Matth. 27, 57—61. parall.): warum sollte ihr in
sämmtlichen uns aufbehaltenen Denkmalen gerade dieser
Nikodemus entgangen sein, welcher unter den Theilneh-
mern an der Bestattung Jesu durch jenen nächtlichen Be-
such bei ihm und die Fürsprache für ihn besonders ausge-
zeichnet war? Daſs, wenn der Mann sich in der That so
hervorgethan, sein Name dennoch aus der vulgären evan-
gelischen Überlieferung habe verschwinden können, dieſs
ist so schwer sich begreiflich zu machen, daſs man sich ge-
nöthigt findet, zu versuchen, ob nicht das Umgekehrte er-
klärlicher ist, wie nämlich, ohne daſs er wirklich in einem
solchen Verhältniſs zu Jesu stand, die Sage davon sich den-
noch bilden, und vom Verfasser des vierten Evangeliums
aufgenommen werden konnte.


Joh. 12, 42. wird ausdrücklich hervorgehoben, daſs
auch [κ] τῶν ἀρχόντων πολλοὶ an Jesum geglaubt haben, nur
haben sie aus Furcht vor dem pharisäischen Bann es nicht
wollen laut werden lassen, indem sie fälschlich die δόξα
[633]Siebentes Kapitel. §. 76.
τῶν ἀνϑρώπων der δόξα τοῦ ϑεοῦ vorgezogen haben 2). Daſs
nun gegen das Ende der Laufbahn Jesu wirklich viele
Vornehme, wenn auch nur insgeheim, an ihn geglaubt ha-
ben sollten, ist deſswegen nicht sehr wahrscheinlich, weil
sich in der Apostelgeschichte so gar keine Spur davon fin-
det; denn daſs der Rath des Gamaliel (A.G. 5, 34 ff.) nicht
aus einer, der Sache Jesu positiv günstigen Gesinnung her-
vorgegangen war, scheint sein Schüler Saulus zu beweisen.
Auch lassen die synoptischen Evangelien Jesum unumwun-
den aussprechen, daſs das Geheimniſs seiner Messianität
nur den νηπίοις klar geworden, den σοφοῖς und συνετοῖς
aber verborgen geblieben sei (Matth. 11, 25. Luc. 10, 21.),
und erwähnen als Anhänger Jesu aus der herrschenden
Klasse nur jenen Joseph von Arimathäa. Wie konnte
denn aber, wenn Jesus ohne Anhang von Vornehmen ge-
blieben war, die Sache dennoch später auf die bezeich-
nete Weise dargestellt werden? Joh. 7, 48 f. lesen wir,
wie die Pharisäer Jesum durch die Bemerkung herabzu-
setzen gesucht haben, daſs keiner ἐκ τῶν ἀρχόντων ἢ ἐκ
τῶν φαρισαίων
, sondern nur der unwissende ὄχλος an ihn
glaube, und auch spätere Gegner des Christenthums, wie
Celsus, legten besonderes Gewicht darauf, daſs Jesus
ἐπιῤῥήτους ἀνϑρώπους, τελώνας καὶ ναύ[τ]ας τοὺς πονηροτάτους,
zu Schülern gehabt habe 3). Dieser Vorwurf war ein
Stachel im Bewuſstsein der ersten Gemeinde, und wenn
[634]Zweiter Abschnitt.
sie auch, so lange sie wirklich nur aus Leuten aus dem
Volke bestand, sich durch die Reflexion auf Aussprüche
Jesu beruhigte, in welchen er die πτωχοὺς und νηπίους se-
lieg gepriesen hatte: so konnten doch, sobald Männer von
Stand und Bildung zu derselben übergetreten waren, die-
se nicht anders denken, als daſs ihresgleichen auch schon
zu Jesu Lebzeiten ihm angehangen haben müssen. Aber
es war doch von solchen sonst nichts bekannt, muſste
man sich einwenden. Natürlich, antwortete man, da die
Furcht vor ihren Standesgenossen sie bewogen haben wird,
ihr Verhältniſs zu Jesu geheim zu halten; womit dann
für beliebig viele Vornehme, welche geheime Anhänger
Jesu gewesen sein sollten (Joh. 12, 42 f.), Thür und Thor
geöffnet war. Doch, muſste man weiter fragen, wie konn-
ten sie denn unbemerkt mit Jesu zusammenkommen? Un-
ter dem Schleier der Nacht, antwortete man, und hiemit
war die Scene für die Zusammenkünfte solcher Männer
mit Jesu gegeben, sie waren ἐλϑόντες πρὸς τὸν Ἰησοῦν νυκ-
τός
(19, 39). Nun muſste aber doch auch ein Repräsen-
tant dieser Klasse von Anhängern Jesu auf dem nächtli-
chen Schauplaz wirklich auftreten; es konnte Joseph von
Arimathäa gewählt werden, der in der synoptischen Tra-
dition lebte: allein theils war sein Bild bereits abgeschlos-
sen, theils lag es ja im Interesse der Sage, mehr als Ei-
nen vornehmen Freund Jesu namhaft zu machen, und es
bildete sich daher eine neue Figur, deren griechischer
Name Νικόδημος schon den Repräsentanten der volkbeherr-
schenden Klasse anzudeuten scheint 4). Warum nun die-
se Fortbildung der Sage nur im vierten Evangelium sich
zeigt, dieſs erklärt sich theils aus der, auch nach der ge-
wöhnlichen Annahme, späteren Zeit seines Ursprungs,
theils daraus, daſs in dem augenscheinlich gebildeteren
Kreise, in welchem es entstand, die Beschränkung des
[635]Siebentes Kapitel. §. 76.
ersten Anhangs Jesu auf das gemeine Volk mehr Anstoſs
erregen muſste, als in den Kreisen, in welchen die synop-
tische Tradition sich bildete. Hiemit hat sich der Vor-
wurf, welchen die neueste Kritik dem ersten Evangelium
über sein Schweigen von Nikodemus machte, gegen das
vierte und seine Erzählungen von diesem Manne umge-
wendet.


Daraus soll jedoch gegen das folgende Gespräch, wel-
ches der eigentliche Gegenstand unsrer Betrachtung ist,
noch kein Präjudiz hergenommen werden. Es könnte
gleichwohl in der Hauptsache ächt sein: Jesus könnte es
mit einem seiner Anhänger aus dem Volke geführt, und
unser Evangelist nur die Veränderung mit demselben vor-
genommen haben, daſs er die Rolle des Mitsprechenden
einem Vornehmen übertrug. Und so wollen wir auch
weder mit dem Verfasser der Probabilien gleich an der
Anrede des Nikodemus Anstoſs nehmen, noch mit demsel-
ben zwischen dieser Anrede und der Antwort Jesu den
Zusammenhang vermissen 5). Daſs Jesus sofort als Be-
dingung des Eintritts in das Himmelreich das γεννηϑῆναι
ἄνωϑεν
verlangt, ist von dem aus den Synoptikern be-
kannten μετανοεῖτε· ἤγγικε γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν nicht
wesentlich verschieden. Das Bild der neuen Geburt, der
[636]Zweiter Abschnitt.
neuen Schöpfung, war den Juden sehr geläufig, nament-
lich um die Umwandlung eines Menschen aus einem Göz-
zendiener in einen Verehrer Jehova's zu bezeichnen. Von
Abraham pflegte man zu sagen, daſs er bei seinem von
den Juden vorausgesezten Übertritt aus dem Götzendienst
zur Verehrung des wahren Gottes ein neues Geschöpf
(בריה חדשה) geworden sei 6), und ebenso wurde der Pros-
elyt wegen seines Austritts aus allen bisherigen Verhält-
nissen mit einem neugeborenen Kinde verglichen 7). Daſs
diese Redeweise schon in jener Zeit unter den Juden üb-
lich war, beweist die Sicherheit, mit welcher Paulus
2 Kor. 5, 17. Gal. 6, 15. den entsprechenden Ausdruck
καινὴ κτίσις wie einen keiner weiteren Erklärung bedürf-
tigen auf die wahrhaft zu Christo Übergetretenen anwen-
det. Verlangte nun Jesus das γεννηϑῆναι ἄνωϑεν, wel-
ches die Juden den zu ihnen übertretenden Heiden zu-
schrieben, auch von den Juden, sofern sie in das Mes-
siasreich zugelassen werden wollten: so konnte sich Ni-
kodemus allerdings über diese Forderung wundern, da
der Israëlite schon als solcher ein unbedingtes Anrecht
auf dasselbe zu haben glaubte, und diesen Sinn hat man
daher wirklich in seiner Frage V. 4. finden wollen 8).
Allein Nikodemus fragt nicht: πῶς σὺ λέγεις δεῖν ἄνϑρωπον
ἀναγεννηϑῆναι Ἰουδαῖον oder υἱὸν Ἀβραὰμ ὄντα
; sondern
darüber wundert er sich, daſs Jesus vorauszusetzen
scheine, es könne ein Mensch, und zwar γέρων ὢν, aufs
Neue εἰς τὴν κοιλίαν τῆς μητρὸς εἰσελϑεῖν καὶ γεννηϑῆναι:
es befremdet ihn also nicht, wie einem Juden die geistige
Wiedergeburt, sondern wie einem Menschen überhaupt
ein leibliches Neugeborenwerden zugemuthet werden könne.
[637]Siebentes Kapitel. §. 76.
Wie nun ein Orientale, dem die bildliche Sprache über-
haupt, näher ein Jude, dem insbesondere das Bild von
der neuen Geburt geläufig sein muſste, und noch dazu
ein διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ, bei welchem man nicht, wie
bei den Aposteln, das Miſsverstehen bildlicher Reden (wie
Matth. 15, 15 f. 16, 7.) auf Rechnung des Mangels an
Bildung schreiben kann, jenen Ausdruck eigentlich verste-
hen konnte, darüber haben sich, wie Jesus V. 10, die Er-
klärer der verschiedensten Parteien immer höchlich ver-
wundert. Daher setzen die einen voraus, der Pharisäer
habe Jesum wohl verstanden, und durch seine Frage ihn
nur prüfen wollen, ob er das bildlich Ausgesprochene
auch in klare Begriffe umzusetzen wisse 9): allein Jesus
wenigstens behandelt ihn nicht, wie er in diesem Falle
muſste, als ὑποκριτὴν, sondern als einen wirklich οὐ γινώσ-
κοντα
(V. 10); andre drehen die Frage so: im leiblichen
Verstande kann es nicht gemeint sein, weil dieſs unmög-
lich wäre, wie also sonst? 10) aber die Frage lautet viel-
mehr dahin: das kann ich nur von leiblichem Wiederge-
borenwerden verstehen, wie aber ist dieſs möglich? Es
bleibt also die Verwunderung über solche Unwissenheit
des jüdischen Lehrers, und diese muſs noch steigen, wenn
selbst nach der ausführlichen Erörterung Jesu (V. 5—8.)
darüber, daſs die von ihm verlangte neue Geburt ein γεν-
νηϑῆναι ἐκ τοῦ πνεύματος
sei, Nikodemus noch auf dersel-
ben Stelle, wie vorher, steht, und, wie wenn er Jesu,
Erklärung überhört hätte, mit verschlossenem Verständ-
niſs fragt (V. 9): πῶς δύναται ταῦτα γενέσϑαι; Von die-
sem lezteren Übelstand findet sich auch Lücke so gedrückt,
daſs, wie andre Exegeten schon das anfängliche, so er,
wider seinen sonstigen exegetischen Takt, wenigstens das
fortdauernde Nichtverstehen des Nikodemus auf die von
[638]Zweiter Abschnitt.
Jesu behauptete Nothwendigkeit der Wiedergeburt auch
für Israëliten bezieht, in welchem Falle aber Nikodemus
eben nach der Nothwendigkeit, nicht nach der Möglich-
keit fragen, und statt πῶς δύναται κ. τ. λ. πῶς δεῖ κ. τ. λ.
setzen muſste. Bleibt somit der unbegreifliche Miſsver-
stand eines jüdischen Lehrers: so muſs unsre Befremdung
über denselben zum bestimmtesten Verdachte werden, so-
bald sich ein Interesse der Sage oder des Evangelisten
zeigt, den Mann, der sich hier mit Jesu unterhält, ein-
fältiger zu schildern, als er wirklich war. Hier muſs uns
zuerst das allgemeine Interesse einfallen, welches jede
Darstellung für Contraste hat, wodurch sie leicht dazu
kommt, wenn in einer darzustellenden Unterredung Ei-
ner der Belehrende, der Andre der Belehrte ist, diesen
im Gegensaz zu der Weisheit von jenem in's Einfältige zu
malen; ferner müssen wir uns erinnern, welche Befriedi-
gung es für ein christliches Gemüth jener Zeit sein muſste,
einen διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ im Verhältniſs zu dem Leh-
rer der Christen als einen Thoren bestehen zu lassen;
endlich gehört es, wie wir bald näher sehen werden, zur
stehenden Manier des vierten Evangeliums, in den Unter-
redungen Jesu die Verwickelung und den Fortschritt da-
durch herbeizuführen, daſs die von Jesu geistig gemein-
ten Bilderreden von den Mitsprechenden fleischlich ver-
standen werden.


Wenn in Erwiederung auf die zweite Frage des Ni-
kodemus Jesus fast ganz die Sprache des johanneischen
Prologs redet (V. 11—13) 11), und hieraus die Frage
[639]Siebentes Kapitel. §. 76.
entsteht, ob wohl eher der Evangelist diese Redeweise
von Jesu entlehnt, oder die seinige Jesu geliehen haben
möge? so ist aus der Ähnlichkeit philonischer Darstellun-
gen noch nicht sofort zu schlieſsen, daſs der Verfasser
Jesu hier seine alexandrinische Logoslehre in den Mund
lege 12), weil sich doch zu dem ὃ οἴδαμεν λαλοῦμεν κ. τ. λ.
und οὐδεὶς ἀναβέβηκεν κ. τ. λ. in dem οὐδεὶς ἐπιγνώσει τὸν
πατέρα κ. τ. λ.
Matth. 11, 27. eine Analogie findet, von
der hier vorausgesezten himmlischen Präexistenz des Mes-
sias aber nach dem früher Bemerkten auch der Apostel
Paulus weiſs. Nur Eines kann hier Verdacht erwecken,
nämlich die Bezeichnung des υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου als ὁ ὢν ἐν
τῷ οὐρανῷ
. Dieses, 1, 18. in einer analogen Wendung vor-
kommende ὁ ὤν mit Erasmus in ὃς ἦν aufzulösen, möchte
doch zu bequem sein, und in unsrer Stelle einen gar zu
müſsigen Beisaz geben. Gewiſs ist es mit der ältesten
und wiederum neuesten Exegese 13) in seiner präsentiel-
len Bedeutung zu fassen; aber schwerlich mit der lezteren
zu dem metaphorischen Sinn einer fortwährenden innig-
sten Gemeinschaft mit dem Himmel herunterzustimmen,
sondern mit der ersteren in der eigentlichen Bedeutung
eines realen Seins im Himmel festzuhalten. Aber wie
konnte der vor Nikodemus Stehende oder Sitzende sich
als im Himmel befindlichen bezeichnen? An die Ubiquität
seiner göttlichen Natur, wie die alten Ausleger, werden
wir nicht denken wollen, und so bleibt nichts übrig, als
zu bekennen, daſs wir nicht verstehen, wie in unsrer
Stelle Jesus so sprechen, wohl aber, wie 1, 18. der Evan-
gelist sich dieser Ausdrücke bedienen konnte. Ihm näm-
lich, auf seinem Standpunkt, nach der Auferstehung und
Himmelfahrt Jesu, war dieser bereits wieder ein im Schooſs
des Vaters befindlicher, so daſs er im vollen präsentiellen
[640]Zweiter Abschnitt.
Sinne das ὁ ὢν κ. τ. λ. von ihm gebrauchen konnte. Auch in
unsrer Stelle 3, 13. also scheint es, können wir nur den
Evangelisten als den Redenden denken; indem er aber
Jesum reden lassen will, so sehen wir auf's Neue, wie
wenig genau er es genommen hat, zu den Reden Jesu
von dem Seinigen hinzuzuthun. Und von hier aus könnte
selbst auf das οὐδεὶς ἀναβέβηκεν εἰς τὸν οὐρανὸν in demsel-
ben Verse ein zweideutiger Schimmer des Verdachts zu-
rückfallen, ob es nicht vielleicht eine Anspielung auf das
ἀναβαίνειν nach der Auferstehung (Joh. 20, 17. vgl. 6, 62.)
enthalte. Denn das Präteritum würde uns hieran keines-
wegs, wie Lücke äussert, hindern, da es nicht unpassen-
der ist in Jesu Munde, als das eben besprochene Präsens,
und ihm ebenso leicht wie dieses vom Evangelisten unter-
schoben werden konnte, von dessen Standpunkt aus Jesu
Aufsteigen in den Himmel ein vergangnes war, wie sein
Sein in demselben ein gegenwärtiges.


V. 14 und 15 steigt Jesus von den leichteren ἐπιγείοις,
den Eröffnungen über die Wiedergeburt, zu den schwieri-
geren ἐπουρανίοις, der Kunde von der Bestimmung des Messias
zu einem versöhnenden Tode, auf. Des Menschen Sohn,
sagt er, müsse erhöht werden (ὑψωϑῆναι, im johanneischen
Sprachgebrauch den Kreuzestod, mit Anspielung auf die
Erhebung zur Herrlichkeit bezeichnend) 14) auf dieselbe
Weise und mit demselben rettenden Erfolge, wie die eherne
Schlange 4 Mos. 21, 8. 9. Hier drängen sich mehrere Fragen
auf. Ist es glaublich, daſs Jesus schon damals, zu Anfang
seiner öffentlichen Wirksamkeit, seinen Tod, und zwar in
der bestimmten Form als Kreuzestod, vorhergewuſst, und
daſs er, lange ehe er seine Jünger über diesen Punkt be-
lehrte, einem Pharisäer eine darauf bezügliche Eröffnung
gemacht habe? Kann man es der Lehrweisheit Jesu an-
gemessen finden, daſs er gerade dem Nikodemus eine sol-
[641]Siebentes Kapitel. §. 76.
che Mittheilung machte? Auch Lücke15) macht sich den
Einwurf, warum Jesus, wenn doch Nikodemus das Leich-
tere nicht verstand, ihn mit dem Schwereren gequält
habe, und warum gerade mit dem Geheimniſs vom Tode
des Messias, der damals noch so ferne lag? Er antwor-
tet, es sei der Lehrweisheit Jesu vollkommen angemessen
gewesen, das ihm von Gott verordnete Leiden so bald als
möglich zu offenbaren, weil nichts geeigneter gewesen
sei, falsche sinnliche Hoffnungen niederzuschlagen. Allein
je ferner ihrer sinnlichen Erwartungen wegen seinen Zeit-
genossen der Gedanke an den Tod des Messias lag, desto
deutlicher und unumwundener muſste Jesus, wenn er ihn
verbreiten wollte, diesen Gedanken aussprechen, und nicht
in einem räthselhaften Bilde, von welchem er nicht sicher
war, ob es Nikodemus nur verstehen würde. Aber Ni-
kodemus, sagt Lücke, war ein empfänglicher Mann, dem
wohl etwas mehr zugemuthet werden durfte. Allein ge-
rade in diesem Gespräch hatte er sich durch das Nichtver-
stehen der ἐπίγεια als noch weniger für die ἐπουράνια em-
pfänglich bewiesen, und Jesus selbst verzweifelte nach
V. 12. daran, daſs er diese verstehen werde. Aber eben
dadurch, bemerkt nun Lücke leztlich, daſs er zu dem nicht
verstandenen Leichteren das noch weniger verständliche
Schwerere fügte, habe Jesus auch sonst die Geister spor-
nen wollen, um durch Spannung ihrer Aufmerksamkeit
ihr Nachdenken um so mehr in Anspruch zu nehmen.
Indeſs die Beispiele eines solchen Verfahrens Jesu, wel-
che Lücke beibringt, sind sämmtlich aus dem vierten Evan-
gelium selbst, von welchem es sich eben fragt, ob es das
Lehrverfahren Jesu in diesem Stücke richtig wiedergebe,
beweisen also im Cirkel. Ein ähnliches Verfahren Jesu
haben wir in der Erzählung von seinem Gespräch mit der
Samariterin gehabt, aber schon dort erklären müssen, daſs
Das Leben Jesu I. Band. 41
[642]Zweiter Abschnitt.
wir ein solches Überladen schwacher Fassungskräfte mit
Räthseln über Räthsel dem weisen pädagogischen Grund-
satze nicht angemessen finden, welchen dasselbe Evange-
lium, 16, 12. Jesu in den Mund legt. Das kann nicht
spornen, sondern nur verwirren heiſsen, wenn einem sol-
chen, der den bekannten Tropus von der Wiedergeburt
beharrlich nicht versteht, zugemuthet wird, die unerhörte
Vergleichung des Messias mit der ehernen Schlange auf
dessen Tod zu beziehen, und diese Vorstellung sofort mit
seinen jüdischen Begriffen zu vereinigen 16). Ganz anders
verfährt Jesus in den drei ersten Evangelien: wenn sich
hier von Seiten der Jünger ein Nichtverstehen zeigt, so
bleibt er, wo er nicht überhaupt abbricht, oder die Re-
ferenten offenbar unhistorisch bildliche Reden zusammen-
häufen, mit ächtpädagogischer Assiduität eben an jenem
Punkte stehen, bis er ihn völlig aufgeklärt hat, und geht
erst dann, immer Schritt für Schritt, zu weiteren Beleh-
rungen fort (so Matth. 13, 10 ff. 36 ff. 15, 16. 16, 8 ff.).
Dieſs ist das Verfahren eines weisen Lehrers: die desul-
torische, überladende und überspannende Manier dagegen,
in welcher der vierte Evangelist ihn reden läſst, kann nur
aus dem Interesse eines Darstellers erklärt werden, wel-
cher den schon Anfangs angelegten Contrast zwischen der
Weisheit des Lehrers und dem Unverstand des Schülers
dadurch auf die effektvollste Weise steigern zu können
glaubt, daſs er vor demjenigen, welcher schon bei dem
Leichtesten unverständige Fragen that, nun auch das
Schwerste aufhäufen, und ihm diesem gegenüber vollends
alle Gedanken vergehen läſst.


Von V. 16. an geht jezt selbst denjenigen Auslegern,
die sich sonst in diesem Fache etwas zuzumuthen pflegen,
der Glaube, daſs auch das Folgende noch von Jesu so ge-
sprochen sein könne, aus, was hier nicht blos Paulus, son-
[643]Siebentes Kapitel. §. 76.
dern auch Olshausen mit bündiger Angabe der Gründe,
erklärt 17). Es verschwindet nämlich von hier an jede
nähere Beziehung der Rede auf Nikodemus, und beginnt
eine völlig allgemeine Ausführung über die Bestimmung des
Menschensohns zur Beseligung der Welt, und über die Art,
wie der Unglaube sich dieses Segens verlustig mache, —
diese Gedanken zum Theil in einer Form ausgedrückt, wel-
che theils als Reminiscenz aus dem Prolog des Evangeli-
sten erscheint, theils mit Stellen aus dem ersten johannei-
schen Briefe auffallende Ähnlichkeit hat 18). Namentlich
der Ausdruck ὁ μονογενὴς υἱὸς, welcher Jesu wiederholt
(V. 16. und 18.) zur Bezeichnung seiner eigenen Person
geliehen ist, kommt sonst selbst im vierten Evangelium im
Munde Jesu nirgends vor: um so entschiedener aber ist
er ein Lieblingsterminus des Evangelisten (1, 14. 18.) und
des Briefstellers (1 Joh. 4, 9.). Ferner ist im Folgenden
Manches als vergangen dargestellt, was zur Zeit jenes Ge-
sprächs erst bevorstand; denn wenn auch das ἔδωκεν (V. 16.)
nicht die Hingabe in den Tod, sondern die Sendung in die
Welt bedeutet: so lautet doch, was auch Lücke bemerkt,
das ἠγάπησαν οἱ ἄνϑρωποι τὸ σκότος und ἦν πονηρὰ αὐτῶν
τὰ ἔργα
(V. 19.) so, wie man erst sprechen konnte, als sich
in der Verwerfung und Hinrichtung Jesu die Übermacht
der Finsterniſs erprobt hatte, also vom Standpunkt des spä-
41*
[644]Zweiter Abschnitt.
ter schreibenden Evangelisten, nicht aber des im ersten An-
fang seiner Thätigkeit stehenden Jesus. Überhaupt lautet
diese ganze angebliche Rede Jesu mit ihrer fortwährend
zu seiner Bezeichnung gebrauchten dritten Person, mit den
dogmatischen terminis von μονογενὴς, φῶς, u. dgl., unter
welchen sie Jesum betrachtet, mit ihrem Überblick über
die durch Jesu Erscheinung herbeigeführte Krisis und de-
ren Resultate, viel zu objektiv und gegenständlich, als daſs
wir glauben könnten, eigene Worte Jesu in derselben zu
vernehmen: so konnte nicht Jesus, aus sich heraus, sondern
nur ein Dritter über Jesum sprechen. Demnach soll nun,
wie in einem früher betrachteten Falle der Täufer, so hier
Jesus nur bis zu V. 16. reden, von da an aber der Evan-
gelist seine eigenen dogmatischen Reflexionen anknüpfen 19).
Aber hier so wenig wie dort findet sich im Text hievon
eine Andeutung, vielmehr scheint das anknüpfende γὰρ V.
16. eine Fortsetzung derselben Rede zu bezeichnen. So
streut kein Schriftsteller, und namentlich nicht der Ver-
fasser des vierten Evangeliums (vgl. 7, 39. 11, 51 f. 12, 16.
33. 37 ff.), eigene Bemerkungen ein, er müſste denn absicht-
lich Miſsverständnisse veranlassen wollen. Bleibt es sonach
gleicherweise dabei, daſs der Evangelist auch von hier an
noch Worte Jesu geben will, und daſs Jesus so nicht ge-
sprochen haben kann: so werden wir uns auch hier nicht
mit der halben Maſsregel Lücke's beruhigen können, wenn
er von der bezeichneten Stelle an zwar Jesum fortsprechen,
doch aber zugleich die erläuternde und erweiternde Hand
des Evangelisten stärker als bis dahin dazwischentreten
läſst 20). Denn mit diesem Zugeständniſs verliert man alle
Sicherheit, wie weit die Rede Jesu oder dem Referenten
angehöre, und da sie überdieſs durch die genaueste Gleich-
förmigkeit der Gedanken und des Tones sich auszeichnet,
[645]Siebentes Kapitel. §. 77.
so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem
Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere
entscheiden muſs, da das Erstere nach dem so eben Aus-
geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü-
her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli-
sten ist.


Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16—21. müs-
sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten
Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V.
13. stieſs uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des
Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich
dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al-
les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan-
gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit
dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits
gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm
mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia-
logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des
Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und
fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber
verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel-
chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver-
schmelzt, und jenen von sich selber reden läſst, wie nur
er über Jesum reden konnte.


§. 77.
Die Reden Jesu Joh. 5—12.


Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft
sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine
längere Rede (V. 19—47.). Schon die Weise, wie Jesus
V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un-
terschied von der Art, wie er dieſs in den ersten Evange-
lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu-
mente: das von David, der die Schaubrote aſs, woran sich das
auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der
[646]Zweiter Abschnitt.
Priester im Tempel schlieſst (Matth. 12, 3 ff. parall.); fer-
ner das vom Ochsen und Esel, der in den Brunnen fällt,
(Matth. 12, 11. parall.), oder zur Tränke geführt wird
(Luc. 13, 15,): ganz in dem praktischen Geiste der popu-
lären Lehrweise Jesu. Das vierte Evangelium hingegen
läſst ihn hier aus der nie unterbrochenen Thätigkeit Got-
tes argumentiren, und erinnert durch sein: ὁ πατὴρ ἕως
ἄρτι ἐργάζεται
an das alexandrinische ποιῶν ὁ ϑεὸς οὐδέποτε
παύεται
1), ein metaphysischer Saz, welcher dem Verfasser
des vierten Evangeliums, wie wir ihn bis hieher kennen
gelernt haben, wenigstens näher liegen mochte, als Jesu
selbst. Und statt daſs bei den Synoptikern an solche Sab-
batheilungen weitere Aussprüche über Wesen und Bestim-
mung des Sabbats, als höchstnöthige Belehrung des Volks,
sich anzuknüpfen pflegen, wendet sich hier die Rede als-
bald auf das Grundthema des Evangeliums, auf die Person
Christi und sein Verhältniſs zum Vater, eine Wendung, auf
deren öfteres Vorkommen die Gegner des vierten Evan-
geliums nicht ohne Schein den Vorwurf einer einseitig theo-
retischen und auf die Verherrlichung Jesu gerichteten Ten-
denz gegründet haben. In dem Inhalt der folgenden Rede
findet sich sofort nichts Anstössiges, und was nicht Jesus
selber so könnte gesprochen haben, da im besten Zusam-
menhang Dinge vorgetragen werden, welche, wie nament-
lich die Todtenerweckung und das Gericht, theils die Ju-
den vom Messias erwarteten, theils Jesus auch nach den
Synoptikern sich zugeschrieben hat. Desto bedenklicher
dagegen ist die Form und Ausdrucksweise, in welcher Je-
sus das Alles ausgesprochen haben soll. Ganz voll näm-
lich ist diese Rede, besonders in ihrer zweiten Hälfte (von
V. 31. an), der genauesten Analogieen theils mit dem er-
sten johanneischen Briefe, theils mit solchen Stellen des
Evangeliums, in welchen entweder der Verfasser, oder der
[647]Siebentes Kapitel. §. 77.
Täufer Johannes redet 2). Um die erstere Ähnlichkeit zu
erklären, müſste angenommen werden, daſs der Evangelist
seine ganze Ausdrucksweise auf das Genaueste der von Je-
su nachgebildet hätte. Daſs dieſs möglich sei, ist nicht zu
bestreiten, aber ebensowenig, daſs es nur bei ganz unselbst-
ständigen Geistern vorzukommen pflegt, als deren einen
[648]Zweiter Abschnitt.
sich der vierte Evangelist sonst keineswegs zeigt. Ferner,
da bei den übrigen Evangelisten Jesus in ganz anderem
Styl und Tone spricht, so müſste, wenn er so, wie bei
Johannes, gesprochen haben sollte, die Art, wie jene ihn
reden lassen, eine gemachte sein. Daſs sie nun aber we-
nigstens von den Evangelisten selbst nicht gemacht ist, zeigt
der Umstand, daſs sie ihres Redestoffs so wenig Meister sind;
aber auch von der Sage können jene Reden ihrem grösse-
ren Theile nach nicht fingirt sein, wegen ihres nicht bloſs
höchst originellen, sondern auch völlig zeit- und ortsge-
mäſsen Gepräges. Wogegen der vierte Evangelist sowohl
durch die Leichtigkeit, mit welcher er den Redestoff be-
herrscht, den Verdacht erregt, nur selbsterzeugten vor sich
zu haben, als auch durch Lieblingsbegriffe und Redensar-
ten, wie in dem gegenwärtigen Abschnitt ausser den schon
angeführten noch der Ausdruck, daſs der Vater πάντα
δείκνυσι τῷ υἱῷ, ἃ αὐτὸς ποιεῖ
3), eher auf hellenistische als
palästinische Quellen hinweist. Doch das Hauptmoment in
dieser Sache ist, daſs, wie wir früher schon gesehen ha-
ben, auch der Täufer Johannes in diesem Evangelium ganz
in denselben Formeln und in dem gleichen Tone spricht,
wie der Verfasser des Evangeliums und dessen Jesus. Da
es sich hier nicht denken läſst, daſs neben dem Evangeli-
sten auch der schon vor Jesu als scharf markirter Charak-
ter hervorgetretene Täufer seine Ausdrucksweise wörtlich
genau nach der von Jesu bestimmt haben sollte: so bleiben
nur die zwei Fälle möglich, daſs entweder der Täufer die
Sprechweise sowohl Jesu als des vierten Evangelisten, der
ja auch sein Schüler gewesen sein soll, oder daſs der
Evangelist die Redeweise sowohl des Täufers als Jesu nach
der seinigen determinirt habe. Das Erstere werden die Or-
thodoxen mit Rücksicht auf die höhere Natur in Christo
[649]Siebentes Kapitel. §. 77.
sich verbitten, und wir wenigstens deſswegen, weil Jesus,
wenn auch vom Täufer angeregt, doch sonst wesentlich von
ihm verschieden und als Original erscheint, hauptsächlich
aber, weil dieser johanneische Styl für den rauhen Täufer
viel zu weich, für den praktischen Kopf viel zu mystisch
ist. So bleibt also nur das Andere, daſs der Evangelist
sowohl Jesum als den Täufer in seinem Tone reden läſst,
eine Annahme, welche, an sich schon weit natürlicher als
die vorige, durch eine Menge von Beispielen aller mögli-
chen Geschichtschreiber gedeckt ist. Ist hienach die Form
dieser Rede Jesu auf Rechnung des Evangelisten zu schrei-
ben, so könnte der Inhalt zwar möglicherweise Jesu ange-
hören: doch können wir theils nicht berechnen, wie weit,
theils haben wir schon sonst Beispiele gehabt, daſs der vier-
te Evangelist auf die freieste Weise an bequeme Veranlas-
sungen seine eigenen Reflexionen in Form von Reden
Jesu knüpft.


Aus der Rede Kap. 6. ist zwar das, daſs Jesus sich
oder vielmehr seinen Vater V. 27 ff. als den Geber des
geistigen Manna darstellt, in Analogie mit der oben ange-
führten jüdischen Erwartung, daſs der zweite Goël wie
der erste Manna gewähren werde 4), und mit der Einla-
dung der Weisheit in den Proverbien 9, 5: ἔλϑετε, φάγετε
τῶν ἐμῶν ἀρτων
: daſs er aber sofort sich selbst den ἄρτος
ὁ ζῶν ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβὰς
nennt (V. 35 ff.), scheint doch
nur in der philonischen Darstellung des λόγος ϑεῖος als des
τρέφον τὴν ψυχὴν5) seine vollkommene Analogie zu finden.
Schwieriger ist, daſs Jesus von V. 51. an als das Him-
melsbrot sein Fleisch darstellt, welches er zum Heil der
[650]Zweiter Abschnitt.
Welt geben werde, und das φαγεῖν τὴν σάρκα τοῦ υἱοῦ τοῦ
ἀνϑρώπου
und πιεῖν τὸ αἶμα αὐτοῦ für das einzige Mittel,
zur ζωὴ αἰώνιος zu gelangen, ausgiebt. Durch die Ähnlich-
keit dieser Ausdrücke mit den Worten, welche die Synop-
tiker und Paul[u]s Jesum bei der Einsetzung des Abend-
mahls sprechen lassen, bewogen, haben die älteren Ausleger
diese Stelle meistens als Hindeutung auf das zu stiftende
Abendmahl gefaſst 6). Die Haupteinwendung gegen diese
Auslegung ist, daſs damals, vor der Stiftung des Abend-
mahls, eine solche Andeutung völlig unverständlich gewe-
sen wäre 7). Allein unverständlich blieb ja die Rede, sie
mochte einen Sinn haben, welchen sie wollte, nach der eige-
nen Angabe der Relation, den Zuhörern doch, auch kommt
Jesu im vierten Evangelium auf die Unmöglichkeit, verstan-
den zu werden, nicht so viel an, daſs hiedurch jene Er-
klärung unwahrscheinlich würde, welche an der Verwandt-
schaft mit den Einsetzungsworten einen Halt besizt, der
einem der neuesten Kritiker das Bekenntniſs abgedrungen
hat, wenn auch nicht Jesus, indem er so sprach, so mö-
ge doch Johannes, indem er gerade diese Reden Jesu aus-
wählte und überlieferte, an das Abendmahl gedacht, und
in denselben eine Vorandeutung davon gefunden haben 8).
Indeſs schwerlich hat er dann die Reden Jesu unmodificirt
gelassen, sondern, da sich die Wahl der Ausdrücke: σάρκα
φαγεῖν
u. s. w. nur aus der Beziehung auf das Abend-
mahl genügend erklären läſst, so haben wir diese ohne
Zweifel nur dem Evangelisten zu verdanken. Hatte dieser
einmal, wie es scheint nach alexandrinischen Ideen, Jesum
sich als ὁ ἄρτος τῆς ζωῆς bezeichnen lassen: wie hätte ihm
nicht der ἄρτος einfallen sollen, welcher in der christlichen
[651]Siebentes Kapitel. §. 77.
Gemeinde als Leib Christi, sammt einem Getränk als sei-
nem Blute, genossen zu werden pflegte? und er ergriff um
so lieber diese Gelegenheit, Jesum das Abendmahl so gleich-
sam prophetisch einsetzen zu lassen da er von dessen hi-
storischer Einsetzung durch Jesum, wie wir später sehen
werden, nichts Bestimmtes wuſste 9).


Auch die eben betrachtete Rede trägt die dialogische
Form, und zwar ist ihr der eigenthümliche Typus des
johanneischen Dialogs, daſs geistig gemeinte Reden fleisch-
lich verstanden werden, ganz besonders aufgeprägt. Zu-
erst, V. 34., meinen die Juden, ganz wie früher (4, 15)
die samarische Frau in Bezug auf das Wasser, Jesus ver-
stehe unter dem ἄρτος ἐκ τοῦ οὐρανοῦ eine leibliche Speise,
und bitten ihn, sie nur immer mit solcher zu versorgen.
So möglich an sich dieses Miſsverständniſs war, so scheint
es doch, die Juden würden, ehe sie sich hierauf weiter
einlieſsen, vor Allem gegen die Behauptung Jesu (V. 32.),
Moses habe kein Himmelsbrot gegeben, mit Entrüstung
sich erklärt haben. Wie sofort Jesus sich selber den ἄρ-
τος ἐκ τοῦ οὐρανοῦ
nennt, murren die Juden in der Synagoge
zu Kapernaum darüber, daſs er, der Sohn Josephs, dessen
Vater und Mutter sie kennen, sich eine Herabkunft vom
Himmel zuschreibe (V. 41 f.), eine Reflexion, welche die
Synoptiker mit gröſserer Wahrscheinlichkeit in Jesu Vater-
stadt Nazaret verlegen und mit einem natürlicheren An-
laſs verbinden. Daſs V. 53. die Juden nicht verstehen,
wie ihnen Jesus sein Fleisch zu essen geben könne, ist
sehr begreiflich: desto weniger, wie gesagt, wie Jesus
jenes Unverständliche sagen konnte; ebenso wird man
V. 60. 66. das Hintersichgehen vieler Jünger auf solchen
σκληρὸς λόγος hin sehr erklärlich finden, um so weniger
aber einsehen, wie Jesus dieſs einerseits selbst herbeifüh-
ren, und doch, als es eintrat, so verstimmt sein konnte,
wie die Fragen V. 61 und 67 es aussprechen. Man sagt
[652]Zweiter Abschnitt.
zwar: Jesus wollte seine Jünger sichten, die nur ober-
flächlich Gläubigen, irdisch Gesinnten, denen er sich nicht
anvertrauen konnte, aus seiner Gesellschaft entfernen;
aber, wie er es hier angriff, war es eine Probe, die auch
die Besseren und Verständigeren von ihm abwendig ma-
chen konnte. Denn gewiſs hatten auch die Zwölfe, wel-
che ein andermal nicht wuſsten, was er mit dem Sauer-
teig der Pharisäer (Matth. 16, 7) und mit dem Gegensaz
des zum Munde Ein- und Ausgehenden sagen wollte
(Matth. 15, 15.), die gegenwärtige Rede nicht verstanden,
und die ῥήματα ζωῆς αἰωνίου, um welcher willen sie bei
ihm blieben (V. 68.), waren gewiſs nicht die Worte die-
ses 6ten Kapitels 10).


Je weiter man sich in die Reden des vierten Evange-
liums hineinliest, desto mehr fallen die endlosen Wieder-
holungen derselben Gedanken und Ausdrücke auf. So
sind die Reden Jesu aus der Zeit des Laubhüttenfestes,
K. 7 und 8., wie auch Lücke beobachtet hat, nur eine
wiederholte und erweiterte Abhandlung der bereits (na-
mentlich Kap. 5.) dagewesenen Gegensätze des Gekommen-
seins, Redens und Handelns von sich selber und von Gott
(7, 17. 28 f. 8, 28 f. 38. 40. 42. vgl. mit 5, 30. 43. 6, 38.),
des εἶναι ἐκ τῶν ἄνω und ἐκ τῶν κάτω (8, 23. vgl. 3, 31.),
des von sich selbst Zeugens und von Gott Zeugniſsnehmens
(8, 13—19. vgl. 5, 31—37), von wahrem und falschem Rich-
ten (8, 15 f. vgl. 5, 30), von Licht und Finsterniſs (8, 12.
vgl. 3, 19 ff. auch 12, 35 f.). Was von neuen Gedanken
in diesen Kapiteln ist, wird alsbald wiederholt, wie die
Erwähnung des Hingangs Jesu, wohin ihm die Juden
[653]Siebentes Kapitel. §. 77.
nicht folgen können (7, 33 f. 8, 21, noch mehr später, 13,
33. 14, 2 ff. 16, 16 ff.), ein Ausspruch, an welchen sich
überdieſs die beiden ersten Male ziemlich unwahrschein-
liche Miſsverständnisse oder Verdrehungen der Juden knü-
pfen, indem sie das einemal, unerachtet Jesus gesagt
hatte: ὑπάγω πρὸς τὸν πέμψαντά με, an eine Reise zu der
διασπορὰ τῶν Ἑλλήνων, das andremal gar an Selbstmord
gedacht haben sollen. Wie oft sind ferner auch in diesen
Kapiteln die Versicherungen Jesu wiederholt, daſs er
nicht seine eigne Ehre, sondern die des Vaters suche
(7, 17 f. 8, 50. 54.), daſs die Juden seine Herkunft, sei-
nen Vater, nicht kennen (7, 28. 8, 14. 19. 54.), daſs, wer
an ihn glaube, ewig leben, den Tod nicht sehen werde,
wer aber nicht glaube, ohne Antheil an der ζωὴ in seinen
Sünden sterben müsse (8, 21. 24. 51. vgl. 3, 36. 6, 40). —
Das 9te Kapitel, dem gröſsten Theil nach eine Verhand-
lung des Synedriums mit dem von Jesu geheilten Blind-
gebornen, ist durchaus dialogisch gehalten, doch tritt,
weil Jesus mehr aus dem Spiele bleibt, jenes gemachte
Contrastsuchen nicht so wie sonst hervor, und der Dialog
gestaltet sich natürlicher.


Das zehnte Kapitel beginnt mit der bekannten Rede
vom guten Hirten, eine Rede, welche man mit Unrecht
eine Parabel zu nennen pflegt 11). Auch die kleinsten
der sonst von Jesu vorgetragenen Gleichnisse, wie die
vom Sauerteig, vom Senfkorn, enthalten die Grundzüge
einer sich fortbewegenden Geschichte, welche Anfang,
Fortgang und Schluſs hat. Hier dagegen ist schlechter-
dings kein historischer Verlauf: auch die geschichtartigen
Züge sind allgemein gehalten (was zu geschehen pflege,
[654]Zweiter Abschnitt.
nicht was einmal geschehen sei, wird gesagt), und da-
durch zum Stehen gebracht; ja das ursprüngliche Haupt-
bild vom ποιμὴν durch das andre von der ϑύρα unterbro-
chen, so daſs wir hier keine Parabel haben, sondern
eine Allegorie. Es bildet also diese Stelle wenigstens
(und wir werden auch keine andre finden, denn mit dem
sogenannten Gleichniſs vom Weinstock K. 15. hat es, wie
auch Lücke sieht, die gleiche Bewandtniſs wie mit die-
sem) keine Instanz gegen die Art, wie neuere Kritiker
ihren Verdacht gegen das vierte Evangelium auch dadurch
zu begründen gesucht haben, daſs es von der paraboli-
schen Lehrweise, welche Jesus den übrigen Evangelisten
zufolge so sehr liebte, nichts zu wissen scheine. Unbe-
kannt übrigens scheint es dem Verfasser desselben nicht
gewesen zu sein, daſs Jesus gerne in Parabeln lehrte, da
er hier und K. 15. Proben davon zu geben strebt, von
welchen er die erstere ausdrücklich eine παροιμία nennt
(V. 6.): aber man sieht, wie seinem anders gebildeten Ge-
schmacke diese Form widerstand, wie er namentlich
nicht genug Objektivität hatte, um sich der Einmischung
von Reflexionen zu enthalten, weſswegen sich ihm unter
der Hand die Parabel in Allegorie verwandelte.


Bis 10, 18 gehen die Reden Jesu auf dem Laubhüt-
tenfeste: von V. 25. an meldet der Evangelist Äusserun-
gen, welche Jesus drei Monate später, auf dem Feste
der Tempelweihe gethan haben soll. Hier erwiedert Jesus
den Juden, welche eine bestimmte Erklärung, ob er der
Messias sei, von ihm verlangten, zunächst, daſs er ihnen
dieſs bereits zur Genüge gesagt habe, und wiederholt die
Berufung auf das Zeugniſs des Vaters für ihn durch die
ἕργα (aus 5, 36). Hierauf aber (von V. 26 an) fällt er
durch die Wendung, daſs die ungläubigen Frager nicht
zu seinen Schafen gehören, in die eben verlassene Alle-
gorie vom Hirten mit zum Theil wörtlicher Wiederholung
[655]Siebentes Kapitel. §. 77.
zurück 12). Eben verlassen aber hatte diese Allegorie
nicht Jesus, denn seit dieser sie vorgetragen, waren drei
Monate verflossen, und gewiſs Vieles von ihm gespro-
chen, gethan und erlebt worden, was ihm diese Bilder-
rede in den Hintergrund des Gedächtnisses rücken muſste,
so daſs er schwerlich zu derselben zurückgekehrt, in kei-
nem Falle aber sie so wörtlich zu wiederholen im Stande
gewesen wäre. Wer unmittelbar von jener Allegorie her-
kommt, ist vielmehr nur der Evangelist, welchem freilich
vom Niederschreiben der ersten Hälfte dieses Kapitels bis
zur zweiten nicht Monate vergangen waren, sondern er
schrieb das nach seiner Zeitangabe ziemlich Entfernte in
Einem Zuge fort, und so mochte wohl in seinem Gedächt-
niſs, nicht aber ebenso in Jesu die Allegorie vom Hirten
auf solche Weise nachklingen. Wer sich hier dadurch
noch helfen zu können glaubt, daſs er nur die wörtliche
Ähnlichkeit der späteren Rede mit der früheren auf Rech-
nung des Evangelisten schreibt, dem kann man dieſs nicht
verwehren: für mich ist dieser Punkt in Verbindung mit
den übrigen dafür entscheidend, daſs die Reden Jesu bei
Johannes ziemlich freie Compositionen sind.


Dasselbe erhellt auch aus derjenigen Rede, mit wel-
cher der vierte Evangelist Jesum seine öffentliche Thätig-
keit beschlieſsen läſst (12, 44—50). Diese Rede nämlich
[656]Zweiter Abschnitt.
ist so durch und durch nur von Reminiscenzen aus den
bisherigen Reden Jesu zusammengesezt 13), so ganz nur,
wie Dr. Paulus sich ausdrückt 14), ein Widerschall man-
cher sonst ausgesprochenen Hauptworte Jesu, daſs man
sich schwer entschlieſsen kann, mit einer so wenig origi-
nellen Rede das öffentliche Wirken Jesu endigen zu las-
sen, und daher die neueren Ausleger gröſstentheils der
Meinung sind, nur der Evangelist sei es, der hier die
Summe von Jesu Lehre noch einmal zusammenfassen wol-
le 15). Auch nach unserer Ansicht redet hier wieder der
Evangelist, aber sein Vorgeben ist, einen Vortrag Jesu zu
geben, wenn er doch die Rede durch ein Ἰησοῦς δὲ ἔκραξε
καὶ εἶπεν
einleitet. Dieſs freilich wollen die Ausleger nicht
zugeben, und sie können sich nicht ohne Schein darauf
berufen, daſs ja der Evangelist schon V. 36. gesagt hatte,
Jesus habe sich nunmehr zurückgezogen (ἐκρύβη), und daſs
er durch die folgende Betrachtung über den durch so viele
von Jesu verrichtete σημεῖα nicht gebrochenen Unglauben
der Juden nicht undeutlich Jesu öffentliches Wirken für
geschlossen erklärt hatte, weſswegen es also gegen seinen
eigenen Plan wäre, Jesum hier noch einmal mit einer
öffentlichen Rede auftreten zu lassen. Und hiegegen mag
ich mich zwar nicht mit älteren Exegeten darauf berufen,
daſs Jesus, nachdem er schon den Rückzug angetreten,
sich noch einmal umgewendet und den Juden jene Worte
zugerufen habe; aber daran halte ich fest, daſs der Evan-
gelist durch den bezeichneten Eingang V. 44. nur einen
bestimmten Redeakt kann anzeignen wollen. Zwar soll
der Aorist in ἔκραξε und εἶπε die Bedeutung des Plusquam-
perfektums haben, und hier die früheren Reden Jesu re-
[657]Siebentes Kapitel. §. 78.
kapitulirt werden, deren ungeachtet die Juden ihm keinen
Glauben geschenkt haben: allein diese nachholende Stel-
lung des Satzes müſste durch eine Partikel wie καίτοι an-
gezeigt sein, und da statt einer solchen das fortfahrende
δὲ steht, so wird man sich die Sache so zu denken haben, daſs
Johannes zwar mit V. 36. den Bericht von der öffentlichen
Thätigkeit Jesu hatte schlieſsen wollen: aber durch die
ausführliche Schluſsbetrachtung V. 37 ff., und durch die
Kategorieen der πίςις und ἀπιςία, welche in derselben vor-
kamen, wurde er an früher von ihm vorgetragene Reden
Jesu erinnert, welche diesen und ähnliche Gegensätze be-
handelten, und welche er nicht umhin konnte, hier mit
verstärktem Nachdruck Jesum wiederholen zu lassen.


§. 78.
Einzelne, dem vierten Evangelium mit den übrigen gemeinsame
Aussprüche Jesu.


Die bisher erwogenen längeren Reden Jesu waren
dem vierten Evangelium eigenthümlich: nur einige kürzere
Aussprüche finden sich, zu welchen die Synoptiker Paral-
lelen bieten. Von diesen haben wir diejenigen, welche bei
Johannes in nicht minder passender Verbindung stehen
(wie 12, 25. vgl. mit Matth. 10, 39. 16, 25. und 13, 16.
vgl. mit Matth. 10, 24.), nicht besonders zu betrachten, und
da die Stelle 2, 19. vgl. mit Matth. 26, 61. erst im Con-
text der Leidensgeschichte zur Sprache kommen kann, so
bleiben uns hier nur drei Stellen übrig, von welchen die
erste 4, 44. ist.


Nachdem der Evangelist gemeldet hat, wie sich Je-
sus von Samaria wieder nach Galiläa gewendet habe, sezt
er hinzu: αὐτὸς γὰρ ὁ Ἰ. ἐμαρτύρησεν, ὅτι προφήτης ἐν τῇ
ἰδίᾳ πατρίδι τιμὴν οὐκ ἔχει
. Denselben Ausspruch finden wir
Matth. 13, 57. (Marc. 6, 4. Luc. 4, 24.) mit den Worten:
οὐκ ἔνι προφήτης ἄτιμος εἰ μὴ ἐν τῇ πατρίδι αὑτοῦ καὶ ἐν τῇ
οἰκίᾳ αὑτοῦ
. Allein, während er hier am ganz geeigneten
Das Leben Jesu I. Band. 42
[658]Zweiter Abschnitt.
Orte steht, veranlaſst nämlich durch die schlechte Aufnah-
me, welche Jesus in seiner Vaterstadt Nazaret fand, die
er deſswegen wieder verlieſs: so erscheint er bei Johannes
umgekehrt wie ein Motiv der Reise Jesu in seine Heimath
Galiläa, wo er übrigens sofort gut aufgenommen wurde. Da
ihn die in jenem Diktum ausgesprochene Erfahrung viel-
mehr hätte abhalten, als antreiben müssen, eine Reise nach
Galiläa zu unternehmen, so läge allerdings dem Bedürfniſs
die Erklärung am nächsten, welche noch Kuinöl aufgenom-
men hat, das γὰρ geradezu für obgleich zu nehmen, wenn
sie nur nicht die sprachwidrigste Gewalthülfe wäre. In-
dessen, da es dabei bleibt, daſs, wenn Jesus diese Stellung
des Propheten zu seiner πατρὶς kannte, er vielmehr nicht
dahin gehen muſste: so war man sofort veranlaſst, πατρὶς
nicht von der Provinz, sondern im engeren Sinne von der
Vaterstadt zu verstehen, und nach der Angabe, daſs er
nach Galiläa gegangen, zu suppliren, daſs er sich jedoch
in seine Vaterstadt Nazaret aus dem angezeigten Grunde
nicht begeben habe 1); allein eine Ellipse, wie sie bei die-
ser Erklärung angenommen wird, gehört nicht minder zu
den Unmöglichkeiten, als jene Umdeutung von γὰρ bei der
vorigen. Da man hienach eine Angabe, wie man sie
bedürfte, daſs Jesus gar nicht in seine πατρὶς gegangen,
in unsre Stelle nicht hineinbringen kann: so glaubte man
wenigstens das in ihr zu finden, daſs er nicht bald dahin
zurückgekehrt sei, wovon dann das ὅτι προφήτης κ. τ. λ.
ganz passend den Grund anzugeben schien 2). Sollte die-
[659]Siebentes Kapitel. §. 78.
se Auffassung zulässig sein, so müſste unmittelbar vorher
die ganze Dauer des auswärtigen Aufenthalts Jesu zusam-
mengefaſst sich finden: statt dessen aber ist V. 45. nur
die kurze Zeit angegeben, welche Jesus in Samarien ver-
weilt hatte, so daſs, in lächerlichem Miſsverhältniſs von
Grund und Folge, die Furcht vor der Verachtung seiner
Landsleute als der Grund bezeichnet wäre, nicht warum
er erst nach mehrmonatlichem Aufenthalt in Judäa, sondern
warum er nicht eher als nach Verfluſs zweier in Samaria
zugebrachten Tage nach Galiläa gegangen sei. Kann so-
mit, so lange man Galiläa und Nazaret als die πατρὶς Je-
su sich denkt, aus unsrer Stelle das absurdum nicht ent-
fernt werden, daſs Jesus, bewogen durch die daselbst zu
erwartende Miſsachtung, dahin gegangen sei: so war es
dem Ausleger nahe gelegt, sich aus seinem Matthäus und
Lukas zu besinnen, daſs ja Jesus vielmehr in der Davids-
stadt Bethlehem geboren, somit Judäa seine eigentliche Hei-
math sei, welche er nun, der daselbst erfahrenen Miſsach-
tung wegen, verlassen habe 3). Allein in Judäa hatte er
ja nach 4, 1. vgl. 2, 23. 3, 26 ff. einen sehr bedeutenden
Anhang gewonnen, und konnte sich also über Mangel an
τιμὴ nicht beklagen; denn die Nachstellungen der Phari-
säer, welche 4, 1. zu verstehen gegeben sind, waren
eben durch das wachsende Ansehen Jesu in Judäa veran-
laſst, und ihrerseits keineswegs auf das ὅτι προφήτης κ. τ. λ.
zurückzuführen. Ferner ist in unsrer Stelle das Gehen
nach Galiläa nicht mit einem Verlassen Judäas, sondern
Samariens in Verbindung gesezt, so daſs, da es heiſst, er
verlieſs Samarien und gieng nach Galiläa, weil er die Er-
fahrung gemacht hatte, daſs ein Prophet in seinem Vater-
land nichts gelte, vielmehr Samarien als sein Vaterland be-
42*
[660]Zweiter Abschnitt.
zeichnet zu werden scheinen könnte, wie er 8, 48. Σαμα-
ρείτης gescholten wird — aber auch in Samarien hatte er
nach 4, 39. eine günstige Aufnahme gefunden. Überdieſs
haben wir schon oben gesehen, daſs das vierte Evangelium
von einer Geburt Jesu in Bethlehem nichts weiſs, sondern
ihn allenthalben als Galiläer und Nazaretaner voraussezt 4).
Ergiebt sich aus der bisherigen Betrachtung nur das ne-
gative Resultat, daſs für das besprochene Diktum ein pas-
sender Zusammenhang nicht zu finden ist: so wird das Po-
sitive, wie es dessen unerachtet hieher verschlagen werden
konnte, sich vielleicht ergeben, wenn wir erst die beiden
andern hier noch in Frage kommenden Stellen erwogen
haben werden.


Der Ausspruch 13, 20: ὁ λαμβάνων ἐάν τινα πέμψω,
ἐμὲ λαμβάνει· ὁ δὲ ἐμὲ λαμβάνων λαμβάνει τὸν πέμψαντά
με
hat Matth. 10, 40. eine fast wörtliche Parallele. Vor-
angegangen war bei Johannes die Vorherverkündigung des
Verraths und die Erklärung Jesu gegen die Jünger, daſs er
ihnen dieſs im Voraus habe sagen wollen, damit sie, wenn sich
seine Vorhersage erfülle, an ihn als Messias glauben möch-
ten. Wie hängt nun damit jener Ausspruch zusammen? und
wie mit dem Folgenden, wo alsbald wieder vom Verräther
die Rede wird? Man sagt, Jesus wolle auf die hohe Würde
eines messianischen Lehrgesandten aufmerksam machen, wel-
che der Verräther verscherze 5): aber eben dieser negati-
ve Gedanke des Verlierens, auf welchen hier Alles an-
kommt, ist im Texte durch nichts angedeutet. Andere neh-
men an, durch die Schilderung ihres hohen Werthes habe
Jesus den durch die Erwähnung des Verräthers niederge-
schlagenen Jüngern neuen Muth machen wollen 6): aber
dann durfte er nicht unmittelbar darauf wieder vom Ver-
[661]Siebentes Kapitel. §. 78.
räther fortfahren. Noch Andere vermuthen ausgelassene
Mittelglieder 7): kaum besser, als wenn Kuinöl an ein Glos-
sem aus Matth. 10, 40. denkt, das ursprünglich zu V. 16.
gemacht, hierauf aber hieher, an den Schluſs des Abschnitts,
verwiesen worden sei. Hiebei ist übrigens die Hinweisung
auf V. 16. ein brauchbarer Fingerzeig. Auch dieser Vers
nämlich, wie der 20te, hat seine Parallele in der Instruk-
tionsrede bei Matthäus (10, 24.); waren dem Verfasser
des vierten Evangeliums aus dieser einige Stücke auf tra-
ditionellem Wege zugekommen: so konnte leicht eines das
andere in seiner Erinnerung hervorrufen. V. 16. war von
dem ἀπόςολος und dem πέμψας αὐτὸν die Rede, ebenso
hier, V. 20, von denen, welche Jesus senden werde, und
dem, der ihn gesandt habe. Freilich jenes, um Demuth zu
empfehlen, dieses um zu ermuthigen, also dem Sinne nach
nicht zusammenhängend, sondern nur den Worten nach:
so daſs wir also den Verfasser des vierten Evangeliums,
sobald er traditionelle Aussprüche Jesu aus dem Gedächt-
niſs berichtet, demselben Gesetze der Ideenassociation fol-
gen sehen, wie die Synoptiker. Das Natürlichste wäre hie-
bei zwar gewesen, den 20ten Vers unmittelbar nach dem
16ten zu stellen; indeſs der Gedanke an den Verräther
drängte sich vor, und der doch nur lexikalisch in der Er-
innerung des Evangelisten wiedererweckte V. 20. konnte ja
ebensogut auch etwas später stehen.


Die dritte hier in Betracht kommende Stelle, 14, 31,
steht zwar noch tiefer als die zulezt beleuchtete, im Be-
reich der Leidensgeschichte: kann aber, da sie sich, wie
jene, ganz abgesehen von diesem Zusammenhang untersu-
chen läſst, hier ebenso unbedenklich mitgenommen werden.
In dieser Stelle erinnern die Worte: ἐγείρεσϑε ἄγωμεν ἐν-
τεῦϑεν
an das ἐγείρεσϑε ἄγωμεν, durch welches Jesus Matth.
26, 46. Marc. 14, 42. seine Jünger auffordert, mit ihm dem
[662]Zweiter Abschnitt.
Verräther entgegenzugehen. In dem Zusammenhang bei Jo-
hannes fallen diese Worte deſswegen auf, weil der in den-
selben enthaltenen Aufforderung zum Weggehen keine Fol-
ge gegeben wird, sondern Jesus, wie wenn er so etwas
gar nicht gesagt hätte, unmittelbar (15, 1.) fortfährt: ἐγώ
ε[ἰ]μι ἡ ἄμπελος ἡ ἀληϑινὴ κ. τ. λ.
, und erst nach lange
noch fortgesezten Reden 18, 1. mit seinen Jüngern auf-
bricht. Mit seltener Übereinstimmung jedoch haben die
Ausleger der verschiedensten Farben jene Worte dahin er-
klärt, daſs Jesus zwar im Sinne gehabt habe, nunmehr weg-
zugehen und sich nach Gethsemane zu begeben, daſs ihn
aber die Liebe und der Drang, seinen Jüngern noch Meh-
reres mitzutheilen, festgehalten habe; so sei zwar das Ei-
ne, wozu er aufforderte, das ἐγείρεσϑε, in Vollzug gekom-
men, aber stehend im Speisesaale habe er sofort noch wei-
ter gesprochen, bis erst später (18, 1.) auch dem ἄγωμεν
[ἐ]ντεῦϑεν
Folge gegeben worden sei 8). Die Möglichkeit
eines solchen Hergangs wird zugegeben werden müssen, so
wie, daſs im Andenken eines Jüngers das Bild dieses lez-
ten Abends mit allen seinen Einzelheiten gar wohl so leb-
haft sich erhalten konnte, daſs er auch Jesu Aufstehen und
rührendes Verweilen an gehöriger Stelle miterzählte. Aber,
wer aus lebendiger Erinnerung heraus erzählte, der muſste
gerade das Anschauliche an der Sache, das Aufbrechen,
und wie doch noch verweilt wurde, herausheben, nicht aber
die bloſsen Worte, welche ohne Beifügung jener Umstän-
de durchaus unverständlich bleiben. Auch hier entsteht
also die Vermuthung, daſs dem vierten Evangelisten eine
Reminiscenz aus der evangelischen Tradition aufgestiegen,
und von ihm eben da, wo sie ihm einfiel, freilich nicht im
besten Zusammenhang, eingefügt worden sei, und sie wird
ebensobald zur Wahrscheinlichkeit, als sich nachweisen
[663]Siebentes Kapitel. §. 78.
läſst, was ihn gerade hier an jenen Ausspruch erinnern
konnte. In den synoptischen Parallelen steht die Auffor-
derung: ἐγείρεσϑε ἄγωμεν mit der Ankündigung im Zusam-
menhang: ἰδοὺ ἤγγικεν ἡ ὥρα, καὶ ὁ υἱὸς τ. ἀ. παραδίδοται
εἰς χεῖρας ἁμαρτωλῶν — ἰδοὺ ἤγγικεν ὁ παραδιδούς με
, also
mit der Verkündigung des Nahens der feindlichen Macht,
vor welcher sich jedoch Jesus nicht fürchtet, sondern mit
jener entschlossenen Aufforderung der Gefahr entgegengeht.
Von dem Herannahen einer feindlichen Macht hatte Jesus
auch im Zusammenhang der johanneischen Stelle gespro-
chen, wenn er sagte: ἔρχεται ὁ τοῦ κόσμου ἄρχων, καὶ ἐν
ἐμοὶ οὐκ ἔχει οὐδέν
. Hiebei kann es keinen Unterschied be-
gründen, daſs hier die in dem Verräther und den von ihm
Geführten wirksame Macht, dort aber der von derselben
getriebene Verräther als das sich Nähernde namhaft gemacht
ist: sondern, wuſste der Verfasser aus der Überlieferung,
daſs Jesus mit der Hinweisung auf die nahende Gefahr
ein entschlossenes ἐγείρεσϑε ἄγωμεν verbunden hatte, so
muſste ihm dieſs bei der Erwähnung des feindlich nahen-
den ἄρχων τοῦ κόσμου einfallen, und er fügte, weil er Jesum
und seine Jünger noch in der Stadt und im Hause hatte,
sie also bis zum Zusammentreffen mit der feindseligen Macht
noch eine bedeutende Ortsveränderung vornehmen lassen
muſste, dem ἄγωμεν noch das ἐντεῦϑεν hinzu. Wie ihm
aber dieses traditionelle Diktum nur unwillkührlich in den
Gang derjenigen Gedanken, welche er Jesu als Abschieds-
reden in den Mund zu legen gedachte, zwischeneingeschlüpft
war, so wurde es auch alsbald wieder ignorirt, und dem
noch nicht erschöpften Strome der Abschiedsreden nach-
wie vorher freier Lauf gelassen.


Sehen wir von hier aus auf die oben noch ausgesezte
Stelle 4, 44. zurück, so zeigt sich nunmehr leicht, wie
der Evangelist veranlaſst sein konnte, das Zeugniſs von
der Miſsachtung des Propheten im Vaterland an so wenig
passender Stelle einzurücken. Es war ihm aus der Über-
[664]Zweiter Abschnitt.
lieferung bekannt, und er scheint es, weil er von einer
ungünstigen Berührung Jesu gerade mit Nazaret nichts
wuſste, auf Galiläa überhaupt bezogen zu haben. Da ihm
ferner eine besondre Scene, durch welche es veranlaſst
sein konnte, nicht bekannt war, so brachte er es unter,
wo es ihm einmal bei Erwähnung von Galiläa einfiel, auf
eine Weise freilich, bei der er sich kaum etwas Bestimm-
tes gedacht haben dürfte.


Wir haben also das Resultat: So gut dem Verfasser
des vierten Evangeliums in den Reden Jesu der Zusam-
menhang geräth, wo er es mit eigenen Gedanken zu thun
hat: so übel geht es ihm damit nicht selten, wenn es dar-
auf ankommt, wirkliche, traditionelle Aussprüche Jesu
gehörigen Ortes einzuschalten. Hier, wo er dieselbe Auf-
gabe mit den Synoptikern zu lösen hat, geht es ihm auch
ebenso wie diesen, ja noch schlimmer, wenn man will,
je sparsamer seine ganz anderartige Darstellung für ächt-
überlieferte Redetheile Berührungspunkte bot, und je we-
niger er, sonst aus Einem Gusse zu bilden gewohnt, in
solcher musivischen Arbeit bewandert war.


§. 79.
Die neueren Verhandlungen über die Glaubwürdigkeit der
johanneischen Reden. Resultat.


Durch die bisherige Untersuchung der Reden Jesu
im vierten Evangelium werden wir nun hinreichend aus-
gerüstet sein, um uns in dem Streite, welcher neuerlich
über dieselben geführt worden ist, ein Urtheil zu bilden.
Die neuere Kritik nämlich hat diese Reden theils nach ih-
rer inneren Beschaffenheit, mit Beziehung auf gewisse
allgemein anerkannte Maſsstäbe der Glaubwürdigkeit, theils
nach ihrem äusseren Verhältniſs zu andern Reden und
Darstellungen, verdächtig gefunden: wogegen es aber nicht
an zahlreichen Vertheidigern derselben gefehlt hat.


In Bezug auf die innere Beschaffenheit entsteht die
[665]Siebentes Kapitel. §. 79.
doppelte Frage: entsprechen jene Reden, so wie sie vor
uns liegen, den Gesetzen 1) der Wahrscheinlichkeit, und
2) der Behaltbarkeit? In ersterer Hinsicht wird von den
Freunden des vierten Evangeliums bemerkt, seine Reden
zeichnen sich durch ein besonderes Gepräge der Wahrheit
und Zuverläſsigkeit aus, die Gespräche, die es Jesum mit
Menschen der verschiedensten Gattungen führen lasse,
seien durchaus treue Charakterschilderungen, welche den
strengsten Anforderungen der psychologischen Kritik Ge-
nüge thun 1). Dem ist von der andern Seite entgegenge-
sezt worden, wie es vielmehr höchst unwahrscheinlich
sei, daſs einerseits Jesus zu Personen von den verschie-
densten Bildungsstufen so ganz auf dieselbe Weise, zu
den Galiläern in der Synogoge zu Kapernaum nicht ver-
ständlicher, als zu dem διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ in Jerusa-
lem gesprochen, daſs den Inhalt seiner Reden fast durch-
weg nur die Eine Lehre von seiner Person und deren Er-
habenheit gebildet haben, die Form derselben aber wie
absichtlich darauf berechnet gewesen sein sollte, die Leute
irre zu machen und von ihm zurückzustoſsen. Ebenso
andrerseits bei den Zuhörern und Mitunterrednern hat
man die Angemessenheit ihrer Zwischenreden nicht selten
vermiſst. Hier ist, wie wir gesehen haben, kein Unter-
schied zwischen einem samarischen Weibe und dem ge-
bildetsten Pharisäer: dieser so gut wie jene muſs die gei-
stig gemeinten Reden Jesu fleischlich miſsverstehen, und
diese Miſsverständnisse sind nicht selten so grell, daſs
sie allen Glauben übersteigen, jedenfalls aber so einförmig,
daſs sie einer stehenden Manier ähnlich sehen, in welcher
der Verfasser des vierten Evangeliums willkührlich des
Contrastes wegen die mit Jesu sich Unterhaltenden gezeich-
net zu haben scheint 2). Und hienach weiſs ich wirklich
[666]Zweiter Abschnitt.
nicht, was sich diejenigen unter Wahrscheinlichkeit den-
ken, welchen die Reden Jesu bei Johannes das Gepräge
derselben zu tragen scheinen.


Was fürs Andere die Gesetze der Behaltbarkeit be-
trifft, so ist man so ziemlich darin einverstanden, daſs
diejenige Art von Reden, wie sie das johanneische Evan-
gelium, im Unterschied von den einzeln stehenden oder
zusammengereihten Sinnsprüchen und Parabeln der übri-
gen, berichtet, nämlich zusammenhängende Demonstratio-
nen oder fortlaufende Dialogen, zu demjenigen gehöre,
was sich am schwersten behalten und treu wiedergeben
läſst 3). Wenn solche Reden nicht protokollarisch nach-
geschrieben werden, so ist für ein treues Wiedergeben
nicht zu stehen. Wirklich hat daher Dr. Paulus einmal
den Einfall gehabt, es mögen vielleicht bei den Tempel-
oder Synagogengerichten zu Jerusalem eine Art von Ge-
schwindschreibern als Protokollisten angestellt gewesen
sein, aus deren Akten dann nach Jesu Tode die Christen
Abschriften gesammelt hätten 4), und auf ähnliche Weise
meinte Bertholdt, unser Evangelist habe noch bei Leb-
zeiten Jesu die meisten seiner Reden aramäisch aufge-
zeichnet und diese Aufzeichnungen bei der weit späteren
Abfassung seines Evangeliums zum Grunde gelegt 5). So
leicht das Unhistorische dieser modernen Hypothesen in
2)
[667]Siebentes Kapitel. §. 79.
die Augen fällt 6), so wuſsten ihre Freunde doch meh-
rere Gründe für dieselben aufzuführen. Die prophetischen
Aussprüche Jesu, sagte Bertholdt, welche seinen Tod
und seine Auferstehung betreffen, finden sich bei Johan-
nes noch unbestimmter gehalten, zum sicheren Zeichen,
daſs sie noch vor dem Erfolge niedergeschrieben seien,
da sie sonst so gut wie bei den Synoptikern ex eventu
näher bestimmt worden sein würden. Wozu wir das ver-
wandte Argument setzen können, durch welches Henke
wenigstens die vorzügliche Ächtheit der johanneischen
Reden beweisen zu können glaubte, daſs nämlich der
vierte Evangelist nicht selten dunkle Aussprüche Jesu
durch eigene Beisätze, und zwar öfters falsch, erkläre,
was die gröſste Gewissenhaftigkeit im Wiedergeben der
Reden Jesu beweise, da er sonst seine Deutungen in die
Reden selber würde haben einflieſsen lassen 7). Mit
Recht aber ist hiegegen bemerkt worden, die Dunkelheit
jener Vorhersagungen im vierten Evangelium sei dem my-
stischen Geiste des ganzen Werkes völlig angemessen 8),
und da überdieſs, neben der Vorliebe für das Dunkle
und Räthselhafte, der Verfasser unsres Evangeliums un-
leugbar Geschmack besaſs: so muſste er auch fühlen, daſs
eine Prophezeihung nur um so pikanter und glaubwürdi-
ger werde, je dunkler sie vorgetragen ist, weſswegen er,
wenn er auch lange erst nach dem Erfolg Voraussagun-
gen desselben Jesu in den Mund legte, doch geneigt sein
konnte, sie so unbestimmt zu fassen. Eben daraus er-
klärt sich auch, warum der Evangelist seine eigenen Er-
läuterungen mancher dunkeln Aussprüche Jesu gerne in
der Form anfügt, daſs die Jünger Jesu erst nach seiner
Auferstehung oder nach der Ausgieſsung des Geistes der-
[668]Zweiter Abschnitt.
gleichen Reden verstanden haben (2, 22. 7, 39), weil näm-
lich der Gegensaz des Dunkels, in welchem damals die
Jünger noch tappten, mit dem nachmals ihnen aufgegan-
genen Lichte mit zu den Contrasten gehörte, welche die-
ses Evangelium durchweg so eifrig verfolgt. Ein Anderes,
was Bertholdt für seine Voraussetzung anführt, und wor-
in ihm auch Tholuck beistimmt, ist, daſs sich in den jo-
hanneischen Reden bisweilen Sätze finden, die weder an
sich bedeutend, noch mit dem übrigen Vortrag im Zusam-
menhang, nur äusserlich durch die Situation veranlaſst
gewesen sein können, deren Aufbewahrung mithin nur
durch die Annahme der frischesten und unmittelbarsten
Aufzeichnung sich erklären lasse, wofür sich jene Kriti-
ker namentlich auf das ἐγείρεσϑε ἄγωμεν ἐντεῦϑεν (14, 31)
berufen. Allein die Entstehung solcher unzusammenhän-
genden Zwischensätze ist oben von uns auf eine Weise
erklärt worden, welche die Hypothese von augenblickli-
cher Aufzeichnung überflüssig macht.


Muſste man daher auf andre Mittel denken, um sich
der Treue der im vierten Evangelium mitgetheilten Reden
Jesu zu versichern, und bleibt die oft vorgebrachte all-
gemeine Berufung darauf, was ein gutes Gedächtniſs,
namentlich unter einfach lebenden, der Schrift ungewohn-
ten Menschen leisten könne, im Gebiete der abstrakten
Möglichkeit stehen, auf welchem, wie auch Lücke be-
merkt 9), sich immer fast gleichviel für und wider spre-
chen läſst: so hatte man sich näher an das dem Johan-
nes Eigenthümliche zu halten, und berief sich in dieser
Hinsicht auf sein ganz besonders enges Verhältniſs zu
Jesu als Lieblingsjüngers, auf seine Begeisterung für den-
selben, welche gewiſs auch sein Gedächtniſs habe stärken
und Alles, was aus dem Munde des göttlichen Freundes
gekommen war, ihm im lebhaftesten Andenken erhalten
[669]Siebentes Kapitel. §. 79.
müssen 10). Unerachtet dieses ganz einzige Verhältniſs
des Johannes zu Jesu eben nur aus dem johanneischen
Evangelium erhellt, so lieſse sich doch daraus in dem Fall
ohne Cirkel auf die Glaubwürdigkeit der von ihm mitge-
theilten Reden schlieſsen, wenn dieses Evangelium nur
auf solche Fehler angeklagt wäre, welche aus dem unver-
meidlichen Erbleichen der Erinnerung flieſsen, weil die
positiven Notizen über jenes Verhältniſs unmöglich aus
dieser bloſs negativen Ursache hervorgehen konnten. Da
aber der gegen das vierte Evangelium erhobene Verdacht
weit über jene Grenze hinaus auf freie Erdichtung geht:
so ist in dieser Hinsicht jene nur johanneische Notiz
zur Stütze für die johanneischen Reden unbrauchbar.
Doch auch jenes Lieblingsverhältniſs zugegeben, so
reicht es ebensowenig als die Bemerkung, daſs Johannes
wahrscheinlich in früher Jugend, wo die Eindrücke sich
am tiefsten einprägen, zu Jesu gekommen sei, und daſs
er auch vom Tode Jesu an immer im Kreise der Erinne-
rung an denselben gelebt habe 11), hin, um wahrschein-
lich zu machen, daſs Johannes so lange Gedankenreihen
und so verwickelte Dialogen bis auf die Zeit hin habe be-
halten können, in welche die Abfassung seines Evange-
liums zu setzen ist. Denn darin sind die Kritiker ein-
verstanden, daſs die Beschaffenheit des vierten Evange-
liums, sein Bestreben, den gemeinen Glauben der Chri-
sten zur Gnosis zu vergeistigen, und dabei manchen indeſs
hervorgetretenen Verirrungen vorzubeugen, entschieden
für eine spätere Abfassung in einer schon reiferen Ent-
wicklungsperiode der Kirche, und somit auch im höheren
Alter des Apostels, spreche 12).


[670]Zweiter Abschnitt.

Deſswegen müssen sich die Vertheidiger der in Frage
stehenden Reden in lezter Instanz immer auf den über-
natürlichen Beistand des den Jüngern verheissenen παρά-
κλητος berufen, welcher dieselben an Alles, was ihnen
Jesus gesagt hatte, erinnern sollte. Dieſs thut Tholuck
mit groſser Zuversicht 13), Lücke mit einiger Schüchtern-
heit 14), und wenn ihn der Tholuck'sche Anzeiger hierüber
hart angelassen hat, so müssen wir ihn darum vielmehr
loben, weil in dieser Scheue das richtige Gefühl liegt
theils von dem Cirkel, welchen es auch hier immerhin
bildet, die Glaubwürdigkeit der johanneischen Reden aus
einer eben nur in diesen Reden so vorkommenden Ver-
heissung Jesu zu beweisen (der Matth. 10, 19 f. den Jün-
gern zugesagte Beistand vor Gericht ist noch lange kein
υπομιμνήσκειν an die Reden Jesu Joh. 14, 26.), theils von
dem Unangemessenen, in einer wissenschaftlichen Unter-
suchung sich auf populäre Vorstellungen, wie Beistand
des heiligen Geistes, zu berufen. Das Gefühl der Unzu-
länglichkeit einer solchen Berufung zeigt sich auch bei
Tholuck indirekt darin, daſs er neben dem Paraklet sich
doch noch auf frühzeitige Aufzeichnungen beruft, und bei
Lücke ohnehin darin, daſs er dennoch die wörtliche Au-
thentie der Reden Jesu bei Johannes aufgiebt, und nur
auf ihrer Glaubwürdigkeit im Wesentlichen beharrt, aus
Gründen, welche übrigens mehr in dem Verhältniſs die-
ser Reden zu andern Darstellungen liegen.


Dieses äussere Verhältniſs der Reden Jesu bei Johan-
nes ist selbst wieder ein gedoppeltes, indem sich zur Ver-
gleichung mit denselben theils diejenigen Reden darbieten,
welche die Synoptiker Jesu in den Mund legen, theils die
Art und Weise, wie der Verfasser des vierten Evange-
liums, wo er in eigner Person auftritt, zu reden pflegt.


[671]Siebentes Kapitel. §. 79.

In ersterer Beziehung hat man die bedeutende Diffe-
renz hervorgehoben, welche zwischen den beiderseitigen
Reden sowohl dem Inhalt als der Form nach stattfindet.
Während Jesus in den drei ersten Evangelien sich aufs
Engste an die Bedürfnisse seines hirtenlosen Volks an-
schlieſse, und demgemäſs bald den verderblichen Satzun-
gen der Pharisäer gegenüber den sittlichen und religiö-
sen Gehalt des mosaischen Gesetzes, bald im Gegensaz
gegen die sinnlichen Messiashoffnungen der Zeit das rein-
geistige Wesen seines Reichs und die Bedingungen des
Eintritts in dasselbe auseinandersetze: drehe er sich im
vierten Evangelium immer nur, und oft auf unfruchtbar
speculative Weise, um die Lehre von seiner Person und
höhern Natur, so daſs dem manchfaltigen, bald theoreti-
schen, bald praktischen Inhalt der synoptischen Reden
Jesu in den johanneischen ein einseitiger Dogmatismus
entgegenstehe 15). Daſs dieſs kein totaler Gegensaz sei,
sondern sowohl in den synoptischen Reden johanneisch-
artige Bestandtheile, als umgekehrt, sich finden, wird
man besonnenen Kritikern zugeben müssen 16): aber auch
nur das bedeutende Vorwiegen des dogmatischen Elements
auf der einen, des praktischen auf der andern Seite be-
darf einer gründlichen Erklärung. Gewöhnlich nimmt
man hier den Zweck zu Hülfe, welchen Johannes bei
Abfassung seines Evangeliums gehabt haben soll, die drei
ersten Evangelien zu ergänzen und die von ihnen gelas-
senen Lücken auszufüllen. Allein, wenn doch Jesus bald
auf die eine Weise, bald auf die andere sprach, warum
nahmen sich die Synoptiker fast durchaus nur die prak-
tisch populären, Johannes fast ohne Ausnahme nur die
dogmatisch speculativen Bestandtheile seiner Reden heraus?
Jenes weiſs man auf eine Weise zu erklären, die an und für
[672]Zweiter Abschnitt.
sich befriedigen könnte. In der mündlichen Überlieferung,
bemerkt man, aus welcher die drei ersten Evangelien ge-
flossen seien, habe von den Reden Jesu nur das Einfache
und Gemeinverständliche, das Kurzgefaſste und Schlagende,
als das Behaltbarste, sich fortpflanzen können, das Tiefere
aber und feiner Ausgesponnene verloren gehen müssen 17).
Daſs nun aber der Verfasser des vierten Evangeliums in
der Nachlese, welche er nach dieser Voraussetzung an-
stellte, fast alles jener praktischen Tendenz Angehörige
übergeht, da doch gewiſs nicht alle Reden Jesu von die-
ser Art bereits durch die Synoptiker aufbehalten waren,
dieſs läſst sich doch nur aus einer Vorliebe des Evange-
listen für dergleichen Reden erklären, welche nicht allein
in dem objektiven Bedürfniſs seiner Zeit und Umgebung,
sondern auch in der subjektiven Richtung seines eignen
Geistes ihren Grund gehabt haben muſs. Dieſs geben
selbst die der Ächtheit dieses Evangeliums günstigsten Kri-
tiker zu 18): nur glauben sie, jene Vorliebe habe sich
bloſs negativ durch Weglassen, nicht aber auch positiv
durch Zusetzen geäussert.


In formeller Hinsicht ist auf die Differenz zwischen
der gnomischen oder parabolischen Form der Belehrungen
Jesu bei den Synoptikern und der dialektischen bei Johan-
nes aufmerksam gemacht worden 19). Die Parabel nun
allerdings fehlt dem oben Bemerkten zufolge im vierten
Evangelium ganz, und man muſs sich wundern, da doch
Lukas neben Matthäus noch so manches schöne Gleichniſs
eigen hat, wie nicht Johannes nach beiden noch eine be-
deutende Nachlese zu machen gewuſst haben sollte? Daſs
es an einzelnen Gnomen und Sentenzen, welche den syn-
optischen ähnlich sind, im vierten Evangelium nicht durch-
[673]Siebentes Kapitel. §. 79.
aus fehle, müssen wir zwar zugeben: aber ebenso sollte
man von der andern Seite eingestehen, daſs im Ganzen für
einen palästinischen Volkslehrer jener vorwiegend gnomische
und parabolische Vortrag, den ihm die Synoptiker leihen,
besser als der dialektische bei Johannes passe 20).


Entscheidend aber ist nun das Verhältniſs der Reden
Jesu bei Johannes zu der eigenen Denk- und Schreibart
des Evangelisten. Hier nämlich haben wir eine Ähnlich-
keit zwischen beiden gefunden 21), welche sich, da auch
die Reden Dritter, namentlich des Täufers, in diesem Evan-
gelium den gleichen Ton haben, nicht durch die Vorausse-
zung erklären läſst, der Jünger habe sich ganz in die
Denk- und Redeweise des Meisters hineingebildet 22), son-
dern nur daraus, daſs der Evangelist der in seiner Schrift
redenden Hauptperson seine eigene Sprache geliehen hat.
Wenn der neueste Commentator des Johannes dieſs nicht
bloſs von der Färbung des Ausdrucks anerkennt, sondern
auch in Bezug auf den Inhalt erläuternde Erweiterungen
des Evangelisten zu finden glaubt, welcher, wie er sich
ausdrückt, in den längeren und schwierigeren Reden Jesu
seine Hand dazwischen habe 23): so fragt sich, da dersel-
be dieſs nicht ausdrücklich anzeigt, was uns versichern
kann, daſs nicht allenthalben seine Hand im Spiele, ja, daſs
nicht alle Reden, die er mittheilt, nur Gebilde seiner eigenen
Hand seien? Der Ton und Ausdruck giebt keinen Fin-
gerzeig, da dieser durchweg sich gleich und eingestand-
nermaſsen von ihm geliehen ist; der Inhalt ebensowenig,
denn der ist ebenfalls, wo der Evangelist selber redet, kein
wesentlich andrer, als wo er Jesum reden läſst: wo liegt
Das Leben Jesu I. Band. 43
[674]Zweiter Abschnitt.
also die Bürgschaft, daſs nicht, wie der Verfasser der Pro-
babilien angenommen hat, die Reden Jesu vom vierten Evan-
gelisten frei fingirt sind?


Lücke führt einige Punkte auf, welche bei dieser An-
nahme unerklärlich wären 24). Erstlich das fast wörtliche
Zusammentreffen des Johannes mit den Synoptikern in
einzelnen Aussprüchen Jesu. Allein da der vierte Evan-
gelist doch innerhalb der christlichen Gemeinde stand, so
muſs ihm auch eine Überlieferung zu Gebot gestanden ha-
ben, aus welcher er, wenn er auch im Ganzen freibil-
dend verfuhr, doch einzelne markirte Aussprüche ziemlich
unverändert schöpfen konnte. Das Andre, was Lücke
vorbringt, besagt noch weniger. Daſs nämlich Johannes,
wenn er einmal Lust und Talent hatte, Reden Jesu zu
erdichten, noch häufiger längere Reden eingemischt haben
müſste, daſs die Abwechslung kürzerer Aussprüche mit
längeren Vorträgen bei jener Voraussetzung unerklärlich
sei, dieſs folgt doch nur dann, wenn man den Verfasser
des vierten Evangeliums als einen Geschmacklosen sich
vorstellt, welchem sein Gefühl nicht sagte, daſs zu der
einen Veranlassung zwar eine längere, zu der andern aber
eine kürzere Rede sich schicke, und daſs überhaupt eine
Abwechslung von ausführlichen Vorträgen und concisen
Sentenzen den besten Eindruck hervorzubringen geeignet
sei. Gewichtiger ist, was Paulus bemerkt, wenn der
vierte Evangelist die Reden Jesu frei componirt hätte, so
würde er mehr von seinen eigenen, im Prolog geäusser-
ten Ansichten hineingebracht haben, wogegen nun die
Gewissenhaftigkeit, mit welcher er sich enthalte, seine
Logologie Jesu in den Mund zu legen, ein Beweis für
die Treue sei, mit welcher er sich in Aufzeichnung jener
Reden an das Gegebene gehalten habe 25). Allein der
[675]Siebentes Kapitel. §. 79.
wesentliche Inhalt der Lehre des Prologs ist in den fol-
genden Reden Jesu enthalten, der Form derselben aber
als Logologie war sich der Verfasser zu bestimmt als ei-
ner Jesu fremden bewuſst.


Bleibt es somit dabei, daſs wir an den johanneischen
Reden Jesu im Ganzen freie Compositionen des Evangeli-
sten haben, ist aber oben zugegeben worden, daſs er
manches Diktum Jesu aus der ächten Überlieferung ge-
schöpft habe: so möchten wir das Leztere doch nicht weit
über diejenigen Stellen hinaus ausdehnen, bei welchen
es sich durch synoptische Parallelen wahrscheinlich ma-
chen läſst. Wie nämlich im Gedächtniſs behaltene Reden
eines Andern sich in der Aufzeichnung gestalten, sehen
wir an den drei ersten Evangelien: indem sie aus ihrem ur-
sprünglichen Zusammenhang kommen, und in immer klei-
nere Stücke zersplittern, verlieren diese doch ihre Gedie-
genheit und Härte nicht, und geben, wenn sie wieder ge-
sammelt werden, den Anblick einer Mosaikarbeit, in wel-
cher der Zusammenhang der Theile ein bloſs äusserer,
und jeder eigentliche Übergang ein Sprung ist. Die Reden
Jesu im vierten Evangelium bieten gerade die umgekehrte
Erscheinung dar. Die milden, nur wegen der Tiefe des
Sinnes, in welcher sie liegen, bisweilen dunkeln Über-
gänge, wo sich ein Gedanke aus dem andern heraus-
spinnt, und der folgende Saz so häufig nur eine erläu-
ternde Umbildung des vorhergehenden ist 26), verrathen
eine weiche, widerstandlose Masse, wie niemals die über-
43*
[676]Zweiter Abschnitt.
lieferte fremde Rede, sondern nur der eigene Gedanken-
vorrath demjenigen sich darbietet, der ihn frei und selbst-
ständig in Worte faſst. Das Überlieferte an diesem Ge-
dankenvorrath können ebendeſswegen, jene auch bei den
früheren Evangelisten sich findenden Aussprüche abge-
rechnet, nicht sowohl bestimmte, in sich geschlossene
Dikta Jesu, als vielmehr nur gewisse Grundgedanken seiner
Reden, übrigens in alexandrinischem oder überhaupt hel-
lenistischem Geiste weitergebildet, gewesen sein, nament-
lich die Begriffsgruppen von πατὴρ und υἱὸς, von φῶς und
σκότος, ζωὴ und ϑανατος, ἄνω und κάτω, σὰρξ und πνεῦμα,
ferner einige symbolische Bezeichnungen, wie ἄρτος τῆς
ζωῆς, ὔδωρ ζῶν
, welche nebst andern ähnlichen die Faktoren
bilden, durch deren verschiedene Zusammensetzung von ge-
schickter Hand sämmtliche Reden Jesu bei Johannes, übri-
gens eben dieser einfachen Grundbestandtheile wegen nicht
ohne eine gewisse Einförmigkeit, sich construiren lieſsen.


[677]Achtes Kapitel. §. 80.

Achtes Kapitel.
Begebenheiten aus dem öffentlichen
Leben Jesu
(mit Ausschluſs der Wundergeschichten).


§. 80.
Vergleichung der Erzählungsweise der verschiedenen Evan-
gelisten im Allgemeinen.


Vergleichen wir, ehe wir uns zur Betrachtung des
Einzelnen wenden, zuvor den allgemeinen Charakter und
Ton der Geschichtserzählung in den verschiedenen Evan-
gelien: so treten hier Differenzen theils zwischen Mat-
thäus und den beiden andern Synoptikern, theils zwischen
sämmtlichen drei ersten Evangelisten und dem vierten
hervor.


Unter den Vorwürfen, mit welchen die neuere Kri-
tik das Matthäusevangelium überhäuft hat, nimmt eine
Hauptstelle der des Mangels an Anschaulichkeit, an in-
dividualisirender Lebendigkeit ein, ein Mangel, aus wel-
chem man, da sich sonst der Augenzeuge gerade im Wie-
dergeben des Bestimmten und Einzelnen zeige, schlieſsen
zu dürfen glaubte, der Verfasser sei kein Augenzeuge
gewesen 1). Und gewiſs, wenn man in diesem Evange-
lium die Unbestimmtheit seiner Zeit-, Orts- und Personal-
angaben, das so häufig wiederkehrende τότε, παράγων
[678]Zweiter Abschnitt.
ἐκεῖϑεν, ἄνϑρωπος u. dgl. liest, wenn man an die zahlrei-
chen Angaben in Bausch und Bogen, wie, daſs Jesus alle
Städte und Flecken durchzogen (9, 35. 11, 1. vgl. 4, 23.),
daſs man ihm alle Kranke gebracht und er sie alle geheilt
habe (4, 24 f. 14, 35 f. vgl. 15, 29 ff.), und endlich an die
trockene Kürze auch so mancher einzelnen Erzählungen
sich erinnert: so wird man die Behauptung dieser Kritik
nicht miſsbilligen können, das Alles sehe ganz so aus,
wie wenn vor geraumer Zeit geschehene Begebenheiten
durch lange mündliche Überlieferung sich mehr und mehr
ins Allgemeine und Unbestimmte umgeformt hätten.


Nun aber wird von der neueren Kritik Matthäus nicht
bloſs an diesem reinen Maſsstab des on einem Augen-
zeugen zu Erwartenden, sondern auch an dem gegebenen
der Darstellung seiner Mitevangelisten gemessen. Unter
diesen findet man nicht nur ohnehin den Johannes, theils
in den wenigen Parallelen, theils in seiner ganzen Dar-
stellungsweise, dem Matthäus an Anschaulichkeit entschie-
den überlegen 2), sondern auch die beiden andern Synop-
tiker, vorzüglich Markus, geben, wie man behauptet, in
der Regel eine weit klarere und vollständigere Darstel-
lung 3). Die Sache verhält sich wirklich so, und man
sollte sie nicht mehr leugnen. Was das vierte Evangelium
betrifft, so fehlen zwar natürlich auch ihm allgemeine Zu-
sammenfassungen, wie daſs Jesus während des Festes
viele Zeichen gethan, und daher Viele an ihn geglaubt
haben (2, 23 f.) und andere dergleichen (3, 22. 7, 1.)
nicht, auch die Personen bezeichnet er nicht selten unbe-
stimmt: doch einigemale giebt er, wo Matthäus nur von
Einem oder Einigen spricht, die Namen an (12, 3. 4. vgl.
mit Matth. 26, 7. 8. und 18, 10. vgl. mit Matth. 26, 51;
[679]Achtes Kapitel. §. 80.
auch 6, 5 ff. mit Matth. 14, 16 f.); in Bezug auf das Lo-
kal weiſs man in der Regel genau, in welcher Ortschaft
oder Gegend eine Begebenheit vorgefallen; von der fleissi-
gen Chronologie dieses Evangeliums ist schon oben die
Rede gewesen, und was die Hauptsache ist, seinen Er-
zählungen ist eine Anschaulichkeit und Lebendigkeit eigen,
welche man, wie sie sich z. B. in der Erzählung vom
Blindgebornen und von der Wiedererweckung des Lazarus
zeigt, im ersten Evangelium vergeblich sucht. Auch bei
den zwei mittlern Evangelisten fehlt es an unbestimmten
Bezeichnungen der Zeit (z. B. Marc. 8, 1. Luc. 5, 17.
8, 22.) des Ortes (Marc. 3, 13. Luc. 6, 12.) und der Per-
sonen (Marc. 10, 17. Luc. 13, 23.) nicht, ebensowenig an An-
gaben, daſs Jesus alle Städte bereist und alle Kranke geheilt
habe (Marc. 1, 32 ff. 38 f. Luc. 4, 40 f.): nicht selten jedoch
finden sich bei ihnen die von Matthäus nur allgemein an-
gegebenen Verhältnisse individualisirt, indem nicht allein
Lukas, wie wir schon gesehen haben, von Reden Jesu die
bei Matthäus verschwiegene besondere Veranlassung her-
vorhebt, sondern er und Markus auch Personen, welche
jener nur unbestimmt zu bezeichnen weiſs, bei Amt oder
Namen nennen (Matth. 9, 18. Marc. 5, 22. Luc. 8, 41.
Matth. 19, 16. Luc. 18, 18. Matth. 20, 30. Marc. 10, 46);
vor Allem aber in anschaulicher Schilderung der einzelnen
Begebenheiten ist Lukas und noch mehr Markus dem
Matthäus entschieden überlegen: man vergleiche nur von
dem bereits Vorgekommenen die Erzählungen des Mat-
thäus und des Markus von der Hinrichtung des Täufers
(Matth. 14, 3 ff. Marc. 6, 17 ff.), und von dem noch nicht
Dagewesenen vor Allem die Erzählung von dem (oder den)
Besessenen aus Gadara (Matth. 8, 28 ff. parall.).


Daraus hat nun die neueste Kritik für den Verfas-
ser des vierten Evangeliums eine Bestätigung seiner an-
geblichen Autopsie, für die der beiden mittleren Evange-
lien wenigstens so viel entnehmen zu können geglaubt,
[680]Zweiter Abschnitt.
daſs sie den Thatsachen näher als der erste Evangelist ge-
standen haben müssen. Allein daraus, daſs keiner, der
durchweg nicht anschaulich erzählt, ein Augenzeuge sein
kann, folgt nicht, daſs alle anschaulich Erzählenden Au-
genzeugen sind, sondern nur daſs einige. Wie deſswe-
gen überall, wo über denselben Gegenstand ein ausführli-
cherer und ein kürzerer Bericht vorhanden ist, die Mei-
nungen getheilt sein können, ob jener oder dieser der
ursprüngliche sei 4); so hat man insbesondre in Bezug
auf solche Berichte, bei welchen eine Einmischung der
Tradition anzunehmen ist, eine zweifache Funktion der-
selben zu unterscheiden: die eine, vermöge welcher sie das
Bestimmte der concreten Wirklichkeit in ein Unbestimmtes,
das Individuelle in ein Allgemeines verflüchtigt, und die
andre, nicht minder wesentliche, an die Stelle der ver-
lorengegangenen geschichtlichen Wirklichkeit eine will-
kührliche Ausmalung treten zu lassen 5). Schreibt man
nun die Unbestimmtheit in der Darstellung des Matthäus-
evangeliums auf Rechnung der ersteren Funktion der Sage,
so fragt es sich: darf man die Bestimmtheit und Anschau-
lichkeit in den übrigen ohne Weiteres als Zeichen zum
Grunde liegender Autopsie betrachten, und muſs man nicht
vielmehr zusehen, ob sie nicht aus jener zweiten Funk-
tion der Sage abzuleiten sei? Daſs man das Erstere so
entschieden voraussezt, ist in der That nur ein Nachge-
schmack der altorthodoxen Ansicht, daſs unsre sämmtli-
chen Evangelien unmittelbar, oder wenigstens durch eine
reine Vermittlung, von Augenzeugen herrühren. Dieser
Voraussetzung hat die neuere Kritik ihre Allgemeinheit
benommen, und die Wahrscheinlichkeit, daſs eines oder
das andere unsrer Evangelien durch mündliche Überliefe-
rung alterirt sein möge, eingeräumt. Dabei nimmt sie
[681]Achtes Kapitel. §. 80.
ganz richtig an, daſs ein Evangelium, dessen Schil-
derungen fast durchaus der Anschaulichkeit ermangeln,
nicht von einem Augenzeugen in oben bezeichneter Weise
herrühren könne, sondern in der Überlieferung gelitten
haben müsse. Daſs nun aber die übrigen, ausführlicher
und anschaulicher erzählenden Evangelien auf Augenzeu-
genschaft beruhen, folgt nur unter der Voraussetzung,
daſs unter unsern Evangelien jedenfalls etliche autoptische
seien. Denn allerdings, wenn unter mehreren Erzählun-
gen beiderlei vorausgesezt werden: so sind die anschauli-
cheren auf Augenzeugen zurückzuführen. Allein jene Vor-
aussetzung selbst hat lediglich den subjektiven Grund,
daſs von der alten Annahme lauter unmittelbar oder
mittelbar autoptischer Berichte leichter zu der beschränk-
ten Einräumung zu gelangen war, daſs vielleicht einem,
als zu der allgemeinen, daſs möglicherweise auch allen
dieser Charakter abgehen möge. Consequenterweise aber
fällt mit der orthodoxen Ansicht vom Kanon die Präsum-
tion rein autoptischer Berichte nicht bloſs für ein oder
das andre, sondern für sämmtliche Evangelien weg, es
muſs die Möglichkeit des Gegentheils bei allen vorausge-
sezt, und, wie es sich wirklich verhalte, erst aus der
Beschaffenheit der Berichte ermittelt werden. Von die-
sem Standpunkt, dem einzig kritischen, die Sache ange-
sehen, ist es nun ebensowohl möglich, daſs die drei übri-
gen Evangelisten die Anschaulichkeit, die sie vor Mat-
thäus voraushaben, einer weiteren Ausschmückung durch
die Sage, als daſs sie dieselbe einem näheren Verhältniſs
zur ursprünglichen Augenzeugenschaft verdanken.


Sehen wir in dieser Beziehung, um nichts anticipiren
zu müssen, auf die bereits gewonnenen Resultate zurück:
so ist uns die bestimmtere Bezeichnung der Veranlassun-
gen zu manchen Reden Jesu, wie wir sie bei Lukas dem
Matthäus gegenüber finden, als spätere Zuthat erschie-
nen; die Nennung bestimmter Personen bei Markus (13, 3.
[682]Zweiter Abschnitt.
vgl. 5, 37. Luc. 8, 51.) schien uns auf einem eigenen
Schluſs des Referenten zu beruhen, und bei Johannes ha-
ben wir sogar fingirte Personen zu finden geglaubt; nun-
mehr aber, am Eingang zu den einzelnen Erzählungen,
wo wir stehen, wollen wir die schon erwähnten allge-
meinen Anfangs-, Schluſs- und Übergangsformeln der ver-
schiedenen Evangelien aus dem angegebenen Gesichtspunkt
noch betrachten. Hier nämlich finden wir zwischen Mat-
thäus und den übrigen Synoptikern den Unterschied der
gröſseren und geringeren Anschaulichkeit auf eine Weise
ausgeprägt, welche uns am besten belehren kann, was es
mit dieser Anschaulichkeit auf sich hat.


Wenn Matthäus (8, 16 f.) nur allgemein angiebt, daſs
am Abend nach der Heilung der Schwiegermutter des Pe-
trus viele Dämonische zu Jesu gebracht worden seien, wel-
che er, sammt andern Kranken, alle geheilt habe: so sezt
Markus (1, 32.) höchst anschaulich, wie wenn er es selbst
gesehen hätte, hinzu, daſs die ganze Stadt sich vor der
Thüre des Hauses, in welchem Jesus war, versammelt ha-
be; ein andermal läſst er so viel Volks zusammenströmen,
daſs es das ganze Vorhaus sperrte (2, 2.); zwei weitere
Male macht er das Getümmel so groſs, daſs Jesus und sei-
ne Jünger nicht einmal zum Essen kommen können (3, 20.
6, 31.), und Lukas läſst gar einmal Myriaden Volks zu-
sammenkommen, in solchem Gedränge, ὥςε καταπατεῖν ἀλ-
λήλες
(12, 1.). Alles höchst anschauliche Züge offenbar,
aber deren Mangel dem Matthäus nur zur Ehre gereichen
kann; denn was sind sie anders, als sagenhafte Übertrei-
bungen, wie sie nach Schleiermacher's Bemerkung 6) na-
mentlich der Erzählung des Markus nicht selten ein fast
apokryphisches Ansehen geben? Wenn dann in detaillir-
ten Erzählungen, wie uns im Folgenden die Beispiele zahl-
reich genug vorkommen werden, während Matthäus einfach
[683]Achtes Kapitel. §. 80.
wiedergiebt, was Jesus bei einer gewissen Gelegenheit ge-
sprochen, die beiden andern uns auch von dem Blicke zu
sagen wissen, mit welchem er das Gesprochene begleitet
habe (Marc. 3, 5. 10, 21. Luc. 6, 10.), wenn von einem
blinden Bettler bei Jericho Markus uns den Namen und
Vaternamen anzuführen sich beeifert (10, 46.), und wenn in
allen diesen Beziehungen vornehmlich der vierte Evange-
list in dem Rufe steht, mit unnachahmlicher Anschaulichkeit
zu erzählen: so können wir bereits ahnen, was uns die
Untersuchung der einzelnen Erzählungen bestimmter zeigen
wird, daſs wir hier jene andre Funktion der Überlieferung
vor uns haben, welche wir mit Einem Wort die ausmalen-
de nennen können. Ob nun diese Ausmalung noch in der
mündlichen Sage allmählig von selbst entstanden, oder als
absichtliche Zuthat der Aufzeichner unsrer Evangelien an-
zusehen sei, darüber läſst sich streiten, und höchstens in
Bezug auf einzelne Stellen bis zu einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit kommen: jedenfalls indessen steht nicht bloſs
eine durch eigene Zuthat des Referenten ausgeschmückte
Erzählung der ursprünglichen Wahrheit ferner als eine
von solchem Zusatz freie, sondern auch die Sage selbst
scheint eher in früheren Perioden ihrer Bildung kurz und
nur auf Hervorhebung der Hauptmomente, seien diese nun
Dikta oder Fakta, gerichtet zu sein, später aber sich mehr
auf gleichmäſsige Veranschaulichung aller, auch der Neben-
züge zu legen, als umgekehrt: so daſs auch in dieser Hin-
sicht das nähere Verhältniſs zur Wahrheit auf Seiten des
ersten Evangeliums bliebe.


Wie die Differenz gröſserer oder geringerer Anschau-
lichkeit der Schluſs- und Übergangsformeln mehr zwischen
Matthäus und den übrigen Synoptikern stattfindet: so eine
andre Differenz in Bezug auf jene Formeln zwischen sämmt-
lichen Synoptikern und Johannes. Während nämlich die
meisten synoptischen Erzählungen aus dem öffentlichen Le-
ben Jesu panegyrisch auslaufen: so bei Johannes die mei-
[684]Zweiter Abschnitt.
sten, so zu sagen, polemisch. Zwar berichten auch die drei
ersten Evangelisten nicht selten schlieſslich von dem Anstoſs,
den Jesus bei Engherzigen erregt, und von den Anschlägen,
welche seine Feinde gegen ihn gemacht haben (Matth. 8, 34. 12,
14. 21, 46. 26, 3f. Luc. 4, 28f. 11, 53 f.), und umgekehrt schlieſst
auch der vierte einige Rede- und Wunderakte mit der Be-
merkung, daſs dadurch Viele an ihn glaubig geworden seien
(2, 23. 4, 39. 53. 7, 31. 40 f. 8, 30. 10, 42. 11, 45.). Doch
aber herrschen bei jenen für die Zeit vor dem jerusalemi-
schen Aufenthalt Jesu im Ganzen Formeln vor, wie, daſs
weit und breit der Ruf Jesu erschollen sei (Matth. 4, 24.
9, 26. 31. Marc. 1, 28. 45. 5, 20. 7, 36. Luc. 4, 37. 5, 15.
7, 17. 8, 39.), daſs das Volk seine Lehre bewundert (Matth.
7, 28. Marc. 1, 22. 11, 18. Luc. 19, 48. u. s.), seine Wun-
derthaten angestaunt habe (Matth. 8, 27. 9, 8. 14, 33. 15,
31. u. s.) und deſswegen ihm allenthalben nachgezogen sei
(Matth. 4, 25. 8, 1. 9, 36. 12, 15. 13, 2. 14, 13. u. s.): im
vierten Evangelium dagegen findet sich häufiger die Be-
merkung, die Juden haben Jesu nach dem Leben getrach-
tet (5, 18. 7, 1.); die Pharisäer haben ihn festnehmen wol-
len, oder Diener ausgesendet, ihn zu greifen (7, 30. 32. 44.
vgl. 8, 20. 10, 39.); es seien Steine gegen ihn aufgehoben
worden (8, 59. 10, 31.), und selbst in den meisten jener
Stellen, wo von einer günstigen Stimmung des Volks be-
richtet wird, stellt dieſs der vierte Evangelist so dar, daſs
nur ein Theil des Volks so gestimmt gewesen sei, ein an-
drer aber auf die entgegengesezte, feindselige Weise. Be-
sonders gerne aber macht er bemerklich, wie vor der lez-
ten Katastrophe alle List und Gewalt der Feinde Jesu ver-
geblich gewesen sei, weil ἡ ὥρα αὐτοῦ noch nicht gekom-
men war (7, 30. 8, 20.); daſs die mehrmals gegen ihn aus-
geschickten Schergen, überwältigt von der Macht seiner
Rede und der Erhabenheit seiner Person, jedesmal wieder
unverrichteter Sache abgezogen seien (7, 32. 44 ff.); daſs
Jesus durch die erbitterten Rotten unversehrt hindurchge-
[685]Achtes Kapitel. §. 80.
schritten sei (8, 59. 10, 39. vgl. hiezu Luc. 4, 30.). Ge-
wiſs ist, wie schon oben bemerkt, hier nicht an ein na-
türliches, sondern nur an ein solches Entkommen zu den-
ken, worin Jesu höhere Natur, seine Unverlezlichkeit, so
lange er nicht selbst sein Leben lassen wollte, sich be-
währte. Dieſs giebt aber zugleich Licht über den Zweck,
welchen der vierte Evangelist bei der besondern Hervor-
hebung dieser Züge hat: sie helfen ihm nämlich die Zahl je-
ner Contraste vermehren, mittelst welcher er in seiner gan-
zen Schrift die Person und Würde Jesu zu heben sucht.
Wie im Gegensaz gegen den rohen Unverstand der Juden
Jesu tiefe Weisheit als des göttlichen λόγος nur um so glän-
zender leuchtete: so erschien seine Güte der verstockten
Bosheit seiner Feinde gegenüber in um so rührenderem
Lichte; das Bedeutende seiner Erscheinung hob sich, je
mehr Streit unter dem Volke über ihn war, und seine Macht,
als dessen, der das Leben in ihm selber hatte, trat um so
ehrfurchtgebietender hervor, je öfter seine Feinde und de-
ren Werkzeuge ausgiengen, ihn zu greifen, aber wie durch
eine höhere Macht gebunden, keine Hand an ihn zu legen
vermochten, je unbegreiflicher er selbst durch die Reihen
der zu seinem Untergang gerüsteten Widersacher unverlezt
hindurchgieng. So sehr man also dem vierten Evangelisten
gerade auch dieſs nachrühmt, daſs die Opposition der pha-
risäischen Partei gegen Jesum nur durch ihn in ihrer Ent-
stehung und allmähligen Steigerung anschaulich werde: so
entsteht doch eben hier gar sehr die Frage, ob dieser Prag-
matismus ein natürlicher oder ein gemachter sei? Etwas
Gemachtes ist jedenfalls daran, indem das bezeichnete Evan-
gelium den Grund, warum die Feinde Jesu so lange nichts
gegen ihn ausrichteten, auf die beschriebene Weise im Über-
natürlichen sucht, wogegen die Synoptiker mit ächtem Prag-
matismus den natürlichen Grund hervorheben, daſs die jü-
dischen Hierarchen das Volk haben fürchten müssen, wel-
ches Jesu als einem Propheten angehangen habe (Matth. 21,
[686]Zweiter Abschnitt.
46. Marc. 12, 12. Luc. 20, 19.). Folgte somit der vierte
Evangelist seinem dogmatischen Interesse so weit, daſs er
dem für Jesum unschädlichen Ausgang jener früheren Nach-
stellungen und Angriffe willkührlich einen Grund unter-
schob, wie er ihm eben paſste: wer bürgt uns dann dafür,
daſs er nicht auch — so wie wir ihn bereits kennen —
jenem Interesse zulieb ganze Scenen der Art frei arrangirt
hat? Nicht als ob es unwahrscheinlich wäre, daſs der
lezten Katastrophe des Schicksals Jesu manche vergebliche
Anschläge und Angriffe seiner Feinde vorangegangen seien:
nur das können wir nicht wissen, ob diese Auftritte gera-
de diejenigen und so beschaffen waren, wie das johannei-
sche Evangelium uns berichtet.


§. 81.
Einzelne Anekdotengruppen. Beschuldigung eines Bundes mit
Beelzebul und Zeichenforderung.


Unsrer kritischen Absicht zufolge werden uns hier
nur solche Erzählungen interessiren, bei welchen der Ein-
fluſs der Sage sich nachweisen läſst, und da dieser sich
vornehmlich auch darin zeigt, daſs eine Erzählung durch
die andre alterirt, oder gar die eine in der andern bloſs
variirt ist, so werden wir, zumal uns die Chronologie ih-
re Dienste versagt hat, die in Betracht kommenden Anekdo-
ten nach ihrer Verwandtschaft zusammenstellen.


So, um bei dem Einfacheren zu beginnen, hat schon
Schulz darüber sich beschwert, daſs Matthäus von zwei
Fällen erzähle, in welchen Jesu ein Bündniſs mit Beelze-
bul vorgeworfen, und ein Zeichen von ihm verlangt wor-
den sei, was beides Markus und Lukas nur je Einmal ge-
schehen lassen 1). Was jenen Vorwurf betrifft, so hat das
erstemal (Matth. 9, 32 ff.) Jesus einen Dämonischstummen
geheilt: darüber verwundert sich das Volk, die Pharisäer
[687]Achtes Kapitel. §. 81.
aber bemerken, er treibe die Dämonen aus durch den
ἄρχων der Dämonen. Daſs Jesus etwas darauf erwiedert
hätte, davon meldet hier Matthäus nichts. Das zweitemal
(12, 22 ff.) ist es ein dämonischer Blindstummer, welchen
Jesus heilt, worüber wieder das Volk erstaunt, die Phari-
säer aber äussern, er thue dieſs durch Hülfe des Beelzebul,
des ἄρχων der Dämonen, worauf sofort Jesus das Absurde
dieser Beschuldigung aufdeckt. Daſs nun jene Beschuldi-
gung gegen Jesum bei seinen Dämonenaustreibungen zu
wiederholten Malen erhoben worden sei, ist an sich ganz
wohl glaublich. Nur dieſs macht bedenklich, daſs der Dä-
monische, welcher jene Äusserung veranlaſste, beidemale
ein κωφὸς (nur das einemal noch τυ λὸς dazu) gewesen sein
soll. Der Dämonischen waren doch so vielerlei, alle Arten
von Krankheiten wurden dem Einfluſs böser Geister zuge-
schrieben: warum soll nicht auch an die Heilung eines Be-
sessenen andrer Art, sondern zweimal an die eines dämo-
nisch Stummen besagte Beschuldigung sich geknüpft haben?
Die Schwierigkeit vergrössert sich, wenn wir die Erzählung
des Lukas (11, 14 f.) dazunehmen, welche, was die voran-
gestellte Beschreibung des Hergangs betrifft, der ersten, nicht
der zweiten bei Matthäus entspricht; denn wie dort, ist
auch bei Lukas der Dämonische nur stumm, genau mit der-
selben Formel wird seine Heilung, und ebenso entsprechend
die Verwunderung des Volks ausgedrückt, in welchen Be-
ziehungen allen die zweite Erzählung des Matthäus der
des Lukas weit ferner steht. Nun verbindet aber Lukas
mit der Heilung dieses Stummen, welche Matthäus von
Seiten Jesu still vorübergehen läſst, dieselben Reden
Jesu, wie Matthäus mit der Heilung seines Blindstum-
men, so daſs Jesus bei diesen zwei aufeinander ge-
folgten Fällen das Gleiche müſste geredet haben. Dieſs
geht über das Wahrscheinliche zu weit hinaus, und ver-
bunden mit der Unwahrscheinlichkeit einer zweimaligen
gleichen Beschuldigung gerade bei Gelegenheit eines dä-
[688]Zweiter Abschnitt.
monisch Stummen führt es von selbst auf die Frage, ob
hier nicht ein und derselbe Vorfall sich in der Sage ver-
doppelt haben möge? Wie dieſs zugegangen sein kann,
darüber giebt uns Matthäus selbst Aufschluſs, indem er
den Dämonischen das einemal nur einfach stumm, das
andremal zugleich blind sein läſst. Eine auffallende Kur
muſste es wohl sein, an welche sich theils jene Bewunde-
rung des Volks, theils dieser verzweifelte Angriff der
Feinde Jesu knüpfte: bald mag daher für das geheilte
Subjekt die bloſse Stummheit nicht genügt haben, und es
in der steigernden Sage auch noch des Gesichtes beraubt
worden sein. Gieng nun aber neben dieser neuen Forma-
tion der Sage auch noch die ältere her: was Wunder,
wenn ein mehr gewissenhafter als kritischer Sammler,
wie der Verfasser des ersten Evangeliums, beides als ver-
schiedene Geschichten neben einander aufnahm, nur daſs
er, um die Wiederholung zu vermeiden, das einemal die
Reden Jesu weglieſs? 2).


Schnitt Matthäus 9, 34. die Rede Jesu weg, so konnte
er auch die Zeichenforderung, welche eine Abfertigung
von Seiten Jesu erforderte, erst bei seiner zweiten Er-
zählung von der Beschuldigung wegen Beelzebuls damit
verbinden, und auch in diesem Stücke ist Lukas, welcher
die Zeichenforderung gleichfalls an jene Beschuldigung
[689]Achtes Kapitel. §. 81.
knüpft, mit der späteren Stelle des Matthäus parallel. 3).
Nun aber hat Matthäus nicht bloſs wie Lukas Eine Zei-
2)
Das Leben Jesu I. Band. 44
[690]Zweiter Abschnitt.
chenforderung, in Verbindung mit jenem Vorwurf, son-
dern noch eine andere (16, 1 ff.) nach der zweiten Spei-
sung, welche auch Markus (8, 11 f.) hat, der dagegen
die erstere wegläſst. Hier treten Pharisäer (bei Matthäus
in der unwahrscheinlichen Begleitung von Sadducäern) zu
ihm, und ersuchen ihn um ein σημεῖον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, wor-
auf ihnen Jesus eine Antwort giebt, deren Schluſssaz:
γενεὰ πονηρὰ καὶ μοιχαλὶς σημεῖον ἐπιζητεῖ, καὶ σημεῖον οὐ
δοϑήσεται αὐτῇ, εἰ μὴ τὸ σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προφήτου
bei
Matthäus wörtlich mit dem Anfang der früheren Abwei-
sung, 12, 39. zusammenstimmt. Ist schon dieſs, daſs Je-
sus jene Zumuthung zweimal mit derselben räthselhaften
Hinweisung auf Jonas und auch sonst mit denselben Wor-
ten abgefertigt habe, unwahrscheinlich genug: so sind die
inder zweiten Stelle des Matthäus dem zuleztangeführten
Satze vorangehenden Worte (V. 2 und 3.) vollends unbe-
greiflich. Denn wie Jesus auf die Forderung eines wun-
derbaren Zeichens am Himmel seinen Gegnern erwiedern
kann, daſs sie zwar auf die natürlichen Zeichen am Him-
mel sich gut verständen, desto schlechter aber auf die
3)
[691]Achtes Kapitel. §. 81.
geistigen Zeichen dieser messianischen Zeit, das ist so
dunkel, daſs aus der Verzweiflung an einem Zusammen-
hang die sonst unbegründete Auslassung der Verse 2 und
3 4) hervorgegangen scheint. Lukas, der diesen Vorwurf
Jesu, daſs seine Zeitgenossen besser die Zeichen der Wit-
terung als der Zeit verstehen, nur zum Theil mit andern
Worten, gleichfalls hat (12, 54 f.), stellt denselben in
andern Zusammenhang, und ohne Zweifel in bessern, in-
dem nach den Reden von dem Feuer, das er anzünden,
und der Entzweiung, welche er herbeiführen werde, Je-
sus nun ganz schicklich zum Volke sagen kann: von den
unverkennbaren Vorzeichen einer so groſsen Revolution,
wie sich durch mich eine vorbereitet, nehmet ihr keine
Notiz, so schlecht verstehet ihr euch auf die Zeichen der
Zeit 5). Sehen wir von hier auf Matthäus zurück, so
zeigt sich uns leicht, wie er zu seiner Darstellung kom-
men konnte. Zur Verdopplung der Zeichenforderung mag
ihn die Variation veranlaſst haben, welche er vorfand,
daſs das geforderte Zeichen bald als σημεῖον schlechtweg,
bald als σημ. ἐκ τοῦ οὐρανοῦ bestimmt zu werden pflegte.
Und wenn er nun wuſste, daſs Jesus die Juden von dem
διακρίνειν τὸ πρόσωπον τοῦ οὐρανοῦ auf die διάκρισις der
σημεῖα τῶν καιρῶν verwiesen hatte: so lag ihm die Ver-
muthung nicht allzu ferne, daſs die Juden diese Abferti-
gung vielleicht durch das Verlangen eines σημεῖον ἐκ τ[οῦ]
ουρανοῦ
veranlaſst haben mögen. So begegnet uns hier
Matthäus wie sonst öfters Lukas mit einer gemachten Ein-
leitung einer Rede Jesu, zum Beleg für den von Sieffert
aufgestellten 6), aber zu wenig berücksichtigten Saz, daſs
es in der Natur solcher traditionellen Berichte, wie wir
sie an den drei ersten Evangelien haben, liege, daſs der
44*
[692]Zweiter Abschnitt.
eine Zug in diesem, der andre im andern sich besser er-
halten zeige, somit bald dieser bald jener im Nachtheil
gegen die übrigen sei.


§. 82.
Besuch der Mutter und der Brüder Jesu, und die selig-
preisende Frau.


Sämmtliche Synoptiker wissen uns von einem Besuche
der Mutter und der Brüder Jesu zu erzählen, bei dessen
Anmeldung Jesus, auf seine Jünger deutend, den Aus-
spruch gethan habe, daſs die seinem Worte Folgsamen
seine Mutter und Brüder seien (Matth. 12, 46 ff. Marc.
3, 31 ff. Luc. 8, 19 ff.). Matthäus und Lukas sagen von
dem Zwecke dieses Besuches nichts, also auch nicht, ob
jene scheinbar abweisende Äusserung Jesu durch etwas
Besonderes veranlaſst war. Markus hat hierüber eine un-
erwartete Auskunft, indem er uns (V. 21.) zu wissen
thut, daſs, während Jesus unter einem Volkszulauf, der
ihn selbst am Essen verhinderte, zu lehren gepflegt habe,
seine Verwandten, in der Meinung, er sei verrückt, aus-
gegangen seien, um sich seiner zu bemächtigen und ihn
in Familiengewahrsam zu nehmen 1). Nachdem er hier-
auf, wie es scheint, bloſs der Ähnlichkeit wegen, welche
zwischen dem die Verwandten betreffenden ἔλεγον, ὄτι
[ἐ]ξέςη
, und dem οἱ γραμματεῖς ἔλεγον, ὄτι Βεελζεβοὺλ ἔχει
κ. τ. λ.
(vgl. Joh. 10, 20) stattfindet, diesen Vorwurf
sammt Jesu Antwort, aber ohne die Veranlassung durch
eine Dämonenaustreibung, eingeschaltet hat, läſst er die
indeſs angekommenen Verwandten Jesu, als welche jezt
näher seine Mutter und Brüder namhaft gemacht sind,
bei ihm angemeldet werden, und ihn hierauf die obige
Antwort ertheilen.


[693]Achtes Kapitel. §. 82.

Diese Notiz des Markus ist den Auslegern sehr will-
kommen, um die Härte, welche in der Entgegnung Jesu
auf die Anmeldung seiner nächsten Verwandten zu liegen
scheint, aus der verkehrten Absicht ihres Besuchs zu er-
klären und zu rechtfertigen. Allein auch abgesehen da-
von, daſs bei der gewöhnlichen historischen Auffassung
der Kindheitsgeschichte Jesu sich schwer erklärt, wie
seine Mutter nach solchen Ereignissen später so weit an
ihrem Sohne irre werden konnte, so fragt es sich doch
sehr, ob wir jene Notiz des Markus annehmen dürfen?
Bedenkt man, wie sie theils neben der augenscheinlichen
Übertreibung steht, daſs Jesus und die Seinigen des Volks-
zudrangs wegen nicht einmal zum Essen haben kommen
können, theils in ihrer Abgebrochenheit sich selbst nicht
minder wunderlich ausnimmt: so wird man kaum umhin-
können, dem Urtheil Schleiermacher's beizutreten, daſs
in diesem Zusaz kein Aufschluſs über das damalige Ver-
hältniſs Jesu zu seiner Familie zu suchen sei, derselbe
vielmehr zu jenen Übertreibungen gehöre, welche Mar-
kus sowohl in den Eingängen einzelner Begebenheiten,
als in den allgemeinen Darstellungen so gerne anbringe 2).
Er wollte die abweisende Antwort Jesu auf die Anmel-
dung seiner Verwandten begreiflich machen, glaubte deſs-
wegen ihrem Besuche eine für Jesum unerwünschte Ab-
sicht unterlegen zu müssen, und weil er nun von den
Pharisäern wuſste, daſs sie ihn unter Einfluſs des Beelze-
bul gestellt haben, so schrieb er auch jenen eine ähnli-
che Ansicht zu.


Legen wir diese Notiz des Markus bei Seite, so bie-
tet zwar die Vergleichung der sehr ähnlichlautenden drei
Berichte an sich keine Ausbeute 3), wohl aber muſs uns
[694]Zweiter Abschnitt.
die verschiedene Verbindung auffallen, in welche die
Evangelisten diese Begebenheit setzen: Matthäus und Mar-
kus nämlich nach der Vertheidigung gegen den Verdacht
eines höllischen Beistands und vor der Parabel vom Säe-
mann; wogegen Lukas den Besuch um ein Ziemliches
vor jene Beschuldigung, die Parabel aber noch vor den
Besuch stellt. Merkwürdiger Weise dagegen hat Lukas
an derselben Stelle, nach der Vertheidigung gegen den
Vorwurf eines Teufelsbundes, wo die beiden andern den
Besuch der Verwandten Jesu einfügen, einen Vorfall,
welcher auf ein ganz ähnliches Diktum, wie jene Anmel-
dung, ausläuft. Nach der Widerlegung jenes Vorwurfs
nämlich und der Belehrung über die Wiederkehr der Dä-
monen, bricht eine Frau aus der Menge bewundrungsvoll
in eine Seligpreisung der Mutter Jesu aus, worauf Jesus,
wie oben bei der Anmeldung seiner Mutter, erwiedert:
selig vielmehr diejenigen, welche das Wort Gottes hören
und beobachten! 4)Schleiermacher nun zieht auch hier
3)
[695]Achtes Kapitel. §. 82.
den Beri[c]h des Lukas vor; von der kleinen Zwischen-
handlung mit der seligpreisenden Frau namentlich glaubt
er, sie ver[r]athe eine frische und lebendige Erinnerung,
welche sie an Ort und Stelle, wo sie vorgefallen, einge-
schoben zu haben scheine, wogegen Matthäus mit der Ant-
wort Jesu auf den Ausruf der Frau die sehr ähnliche auf
die Anmeldung der Verwandten verwechselt, diese an die
Stelle von jener gesezt, und so die Scene mit der Frau
übergangen habe 5). Allein wie gerade durch die tech-
nische Erörterung über die Wiederkehr der ausgetriebe-
nen Dämonen oder auch durch die vorangegangenen Straf-
reden die Frau sich zu einer so begeisterten Ausrufung
hingerissen fühlen konnte, ist schwer begreiflich, und es
möchte eher die der Schleiermacher'schen entgegengesez-
te Vermuthung sich begründen lassen, daſs an die Stelle
der Anmeldung der Verwandten der Referent im dritten
Evangelium d[i]e ähnlich auslaufende Scene mit der selig-
preisenden Frau gesezt habe. Es hatte nämlich, wie wir
aus Matthäus und Markus sehen, die evangelische Über-
lieferung, sei es aus einem historischen oder einem zu-
fälligen Grunde, jenen Besuch und das Diktum von den
geistigen Verwandten mit den Reden Jesu gegen den Vor-
wurf eines Verhältnisses zum Beelzebul und von der Wie-
derkehr der Dämonen in Verbindung gebracht, und auch
Lukas, wo er an den Schluſs dieser Reden kam, wurde
an jene Scene und deren Pointe, die Erhebung der gei-
stigen Verwandtschaft Jesu, erinnert. Nun aber hatte er
den Besuch bereits oben gemeldet 6), er griff daher nach
[696]Zweiter Abschnitt.
der ähnlich auslaufenden Anekdote von der Frau. Dabei
glaube ich aber der groſsen Ähnlichkeit beider Anekdoten
wegen kaum, daſs zwei wirklich verschiedene Begeben-
heiten zum Grunde liegen: sondern der unvergeſsliche
Ausspruch Jesu, in welchem er seine geistigen Verwand-
ten über seine leiblichen sezte, hatte in der Sage zwei
verschiedene Fassungen oder Rahmen bekommen, indem
es dem Einen als das Natürlichste erscheinen mochte, daſs
eine solche Zurücksetzung seiner Blutsverwandten mit ei-
ner wirklichen Zurückweisung derselben verbunden, dem
Andern, daſs die Erhebung der ihm geistig nahe Stehen-
den durch eine vorangegangne Seligpreisung derjenigen,
die ihm leiblich am nächsten stand, hervorgerufen gewe-
sen sei. Von diesen zwei Formationen geben Matthäus
und Markus nur die erstere; Lukas aber, welcher diese
schon bei einer früheren Gelegenheit vorweggenommen
hatte, fand sich, als er an die Stelle kam, wo in der
gewöhnlichen evangelischen Tradition jene Anekdote ihren
Siz hatte, veranlaſst, sie nunmehr in der zweiten Form
hier einzufügen.


§. 83.
Die Erzählungen von Rangstreitigkeiten unter den Jüngern und
von Jesu Liebe zu den Kindern.


Die drei ersten Evangelien erzählen uns von mehre-
ren Rangstreitigkeiten, welche unter den Jüngern ausge-
brochen seien, und von der Art, wie Jesus dieselben bei-
gelegt habe. Allen ist ein Rangstreit gemein, welcher nach
Jesu Verklärung und erster Leidensverkündigung unter den
Jüngern zum Ausbruch gekommen sein soll (Matth. 18, 1 ff.
6)
[697]Achtes Kapitel. §. 83.
Marc. 9, 33 ff. Luc. 9, 46 ff.), wobei sich zwar Differen-
zen in den Erzählungen finden, aber die Identität dersel-
ben durch die in allen vorkommende Aufstellung eines Kin-
des verbürgt ist, da so etwas, wie auch Schleiermacher
bemerkt 1), sich nicht leicht wiederholt. Matthäus und Mar-
kus haben einen Rangstreit gemein, welcher durch die bei-
den Söhne des Zebedäus angeregt wurde, indem diese sich
(nach Markus) oder ihre Mutter ihnen (nach Matthäus)
die zwei ersten Stellen neben Jesu im messianischen Reich
ausbat (Matth. 20, 20 ff. Marc. 10, 35 ff.) 2). Von einer
solchen Bitte der Zebedaiden weiſs das dritte Evangelium
nichts, wohl aber hat es ohne diesen Anlaſs noch einen
weiteren Rangstreit, bei welchem ähnliche Reden fallen,
wie sie die beiden ersten an jene Bitte angeknüpft haben.
Bei dem lezten Mahle nämlich, das Jesus vor seinem Leiden
mit seinen Jüngern hielt, läſst Lukas unter den Jüngern
eine φιλονεικία ausbrechen, wer von ihnen der gröſste sei,
welche Jesus sofort durch dieselben Gründe, zum Theil
[698]Zweiter Abschnitt.
mit denselben Worten, niederzuschlagen sucht, wie nach
Matthäus und Markus die über die Bitte der Zebedaiden
unter den Jüngern entstandene ἀγανάκτησις, worunter ein
Ausspruch sich findet, den Lukas selbst und Markus auch
bei der Aufstellung des Kindes schon fast ebenso gehabt
haben, und welchen Matthäus, ausser bei der Bitte der Sa-
lome, auch noch in der groſsen antipharisäischen Rede hat
(vgl. Luc. 22, 26. Marc. 9, 35. Luc. 9, 48. Matth. 20, 26 f.
23, 11.). So glaublich es nun auch sein mag, daſs bei den
weltlichen Messiashoffnungen der Jünger öfters Rangstrei-
tigkeiten unter ihnen zu dämpfen waren, so ist es doch
keineswegs wahrscheinlich, daſs z. B. die Sentenz: wer
unter euch der gröſste sein will, sei Aller Diener, 1) bei
der Aufstellung des Kindes, 2) aus Anlaſs der Bitte der
Zebedaiden, 3) in der antipharisäischen Rede, und 4) bei
dem lezten Mahle gesprochen worden sei. Sondern hier
findet augenscheinlich eine traditionelle Verwirrung statt,
sei es nun, daſs, wie Sieffert in solchen Fällen gerne an-
nimmt, mehrere ursprünglich verschiedene Vorgänge in
der Sage assimilirt, d. h. hier dieselben Reden irrig bei
verschiedenen Anlässen wiederholt, oder daſs aus Einem
Falle durch die Sage mehrere gemacht, d. h. hier zu den-
selben Reden verschiedene Veranlassungen erdacht worden
sind. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten wird darnach
entschieden werden müssen, ob die verschiedenen Fakta,
an welche die analogen Demuthsreden sich knüpfen, eher
das unselbstständige Ansehen bloſser Rahmen für die Re-
den, oder das selbstständige von Vorgängen haben, welche
ihre Wahrheit und Bedeutsamkeit in sich selbst tragen.


Hier nun wird vor Allen der Bitte der Zebedaiden
nicht abgesprochen werden können, für sich schon etwas
so Bestimmtes und Merkwürdiges zu sein, daſs sie gar
nicht darnach aussieht, nur als Einfassung der folgenden
Reden sich angesezt zu haben, und ebenso wird man über
die Aufstellung des Kindes urtheilen müssen: so daſs wir
[699]Achtes Kapitel. §. 83.
also vorerst zwei für sich bestehende Fälle von Rangstrei-
tigkeit hätten. Wollen wir jedem dieser beiden Fälle die
zu ihm gehörigen Reden zutheilen, so gehören die Aus-
sprüche, welche Matthäus bei der Aufstellung des Kindes
h[a]t: wenn ihr nicht wieder werdet wie die Kinder u. s. w.
und: wer sich erniedrigt, wie dieſs Kind u. s. w., unver-
kennbar zu diesem Anlaſs, und andrerseits die vom Herr-
schen und Dienen in der Welt und im Reich Jesu schei-
nen der Bitte der beiden Jünger um die Herrscherstühle
im messianischen Reich, womit Matthäus sie verbindet, ganz
angemessen zu sein; wogegen das Diktum vom Ersten und
Lezten, Gröſsten und Kleinsten, welches Markus und Lu-
kas auch schon bei der Kinderscene haben, Matthäus mit
Recht für die Scene mit den Zebedaiden aufgespart zu ha-
ben scheint. Anders als mit den bisher besprochenen bei-
den Anlässen verhält es sich mit dem Wetteifer Luc. 22,
24 ff. Dieser knüpft sich weder an eine besondre Veran-
lassung, noch läuft er in eine markirte Scene aus (wenn
wir nicht aus Johannes, der übrigens keines Wettstreits
gedenkt, die Fuſswaschung herübernehmen wollten, wo-
von jedoch erst in der Leidensgeschichte die Rede werden
kann) sondern er wird nur eingeleitet durch ἐγένετο δὲ καὶ
φιλονεικία ἐν αυτοῖς, fast mit denselben Worten, wie Lu-
kas bereits den ersten Rangstreit (9, 46.) eingeführt hatte,
und veranlaſst Jesum zu Reden, welche, wie schon er-
wähnt, Matthäus und Markus ihn bei den früheren Rang-
streitigkeiten führen lassen, so daſs also für diese hier
nichts Eigenthümliehes übrig bleibt, als nur die Stelle beim
lezten Mahle, welche aber auch nicht die sicherste ist.
Denn daſs unmittelbar nach den für die Jünger so demü-
thigenden Reden vom Verräther ihnen der Hochmuth als-
bald wieder so stark sollte gewachsen sein, ist ebenso
schwer zu glauben, als es bei Gegeneinanderhaltung der
Verse 23. und 24. leicht zu entdecken ist, wie der Refe-
rent ohne geschichtlichen Grund verführt werden konnte,
[700]Zweiter Abschnitt.
einen Rangstreit hieherzustellen. Unverkennbar nämlich
waren es die Worte: καὶ αὐτοὶ ἤρξαντο συζητεῖν προς ἑαυ-
τοὺς, το, τὶς αρα εἴη ἐξ αὐτῶν ὁ τοῦτο μὲλλων πράσσειν wel-
che ihm das ähnliche: ἐγένετο δὲ καὶ φιλονεικία ἐν αὐτοῖς,
τὸ, τίς αυτῶν δοκ[ε]ῖ εἶναι μείζων
, d. h. es waren die Streit-
reden über den Verräther, welche ihm die Streitreden über
den Vorrang in die Erinnerung riefen. Einen solchen
Streit hatte er zwar bereits gemeldet, aber mit demselben,
Eine Sentenz abgerechnet, nur jene Reden, zu welchen
Jesum das Kind veranlaſste, in Verbindung gebracht: nun
waren ihm noch die andern übrig, welche die beiden er-
sten Evangelisten an die Bitte der Zebedaiden knüpfen,
ein Anlaſs, der dem Referenten im Lukasevangelium nicht
präsent gewesen zu sein scheint, weſswegen er die dazu
gehörigen Reden hier mit der unbestimmten Angabe eines
ausgebrochenen Rangstreits einfügt. Indeſs die chrono-
logische Stellung auch der zwei zuerst genannten Rang-
streitigkeiten, beidemale nach einer Leidensverkündigung,
welche doch, wie die Voraussagung des Verraths, solche
irdische Hochmuthsgedanken scheint haben niederschlagen
zu müssen, hat so wenig Wahrscheinlichkeit, daſs der Fin-
gerzeig willkommen sein muſs, welcher in der evangeli-
schen Darstellung selbst über die Art liegt, wie die Refe-
renten auf unhistorische Weise zu einer solchen Anord-
nung gekommen sind. In Jesu Antwort auf die Bitte der
Salome nämlich war die Hinweisung auf das ihm und sei-
nen Jüngern bevorstehende Leiden das Hervorstechendste:
daher schloſs sich durch die natürlichste Ideenassociation
an die Leidensverkündigung die Erzählung von dem auf
das bevorstehende Leiden verwiesenen Ehrgeiz der beiden
Jünger an. Bei der ersten Rangstreitigkeit aber geht die
voranstehende Leidensverkündigung nach den beiden mitt-
leren Evangelisten in die Bemerkung aus, daſs die Jün-
3)
[701]Achtes Kapitel. §. 83.
ger die Rede Jesu nicht verstanden, und doch, Jesum dar-
über zu fragen, sich gefürchtet (also ohne Zweifel über
den Sinn der Rede unter sich gesprochen und gestritten)
haben, und hier schloſs sich nun sehr natürlich der gleich-
falls hinter Jesu Rücken geführte Streit über den Vorrang
an. Auf die Erzählung des Matthäus übrigens findet die-
se Erklärung ihre Anwendung nicht ebenso, da bei ihm
zwischen die Leidensverkündigung und den Wetteifer die
Anekdote von dem erangelten Stater eingeschoben ist.


Mit diesen Rangstreitigkeiten hängt durch Vermitte-
lung des bei einer derselben aufgestellten Kindes noch ei-
ne andre Anekdote zusammen, die nämlich, wie die Leu-
te Kinder zu Jesu bringen, um sie von ihm segnen zu
lassen, die Jünger es hindern wollen, Jesus aber das freund-
liche ἄφετε τὰ παιδία κ. τ. λ. spricht und bemerkt, daſs
nur Kindern und ihresgleichen das Himmelreich beschie-
den sei (Matth. 19, 13 ff. Marc. 10, 13 ff. Luc. 18, 15 ff.).
Diese Erzählung hat mit der von dem inmitten der Jünger
aufgestellten Kinder viele Ähnlichkeit. 1) Beidemale stellt
Jesus die Kinder als Muster vor und erklärt, daſs nur
Kinderähnliche in das Reich Gottes kommen können; 2) bei-
demale erscheinen die Jünger in einem Gegensaz gegen die
Kinder, und endlich 3) sagt Markus beidemale, Jesus ha-
be die Kinder in die Arme genommen (ἐναγκαλισάμενο[ς]).
Wollte man deſshalb nur Einen Vorfall als zum Grunde
liegend vermuthen, so müſste jedenfalls die leztere Erzäh-
lung als die der Wahrheit nähere festgehalten werden, weil
das Wort Jesu: ἄφετε τὰ παιδία κ. τ. λ., welches in seiner
durch alle drei Berichte hindurch sich gleich bleibenden
Originalität den Stempel der Ächtheit unverkennbar an
sich trägt, nicht wohl bei jener andern Gelegenheit gespro-
chen werden konnte, wogegen die angeblich aus Anlaſs des
Rangstreits gethanen Aussprüche von den Kindern als De-
muthsmustern gar wohl bei der unsrigen im Rückblick
auf frühere Rangstreitigkeiten vorgetragen sein könnten.
[702]Zweiter Abschnitt.
Eher möchte indeſs hier der Ort sein, eine Assimilation
ursprünglich verschiedener Fälle anzunehmen, da wenig-
stens Markus sein ἐναγκαλισάμενος offenbar nur der Ähnlich-
keit beider Scenen wegen bei beiden gleicherweise ange-
bracht hat.


§. 84.
Die Tempelreinigung.


Wenn Johannes (2, 14 ff.) Jesum bei seinem ersten,
die Synoptiker (Matth. 21, 12 ff. parall.) bei seinem lezten
Aufenthalt in Jerusalem eine Tempelreinigung vornehmen
lassen, so dachten die älteren und denken auch noch man-
che neuere Ausleger 1) an zwei verschiedene Begebenheiten,
zumal ausser der chronologischen Differenz auch in der
Darstellung des Vorgangs sich zwischen den drei ersten
Evangelisten und dem vierten einige Abweichung findet.
Während nämlich in Bezug auf das Verfahren Jesu bei je-
nen nur überhaupt von einem ἐκβάλλειν die Rede ist, heiſst
es bei diesem, er habe sich zu diesem Behufe ein φραγέλλιον
ἐκ σχοινίων
gemacht; ferner während er dort gegen alle Ver-
käufer auf gleiche Weise verfährt, scheint er hier einigen
Unterschied zu machen und die Taubenhändler etwas mil-
der zu behandeln, auch ist bei Johannes davon nicht die
Rede, daſs er mit den Verkäufern auch die Käufer ausge-
trieben hätte. Auch in der Rede Jesu bei diesem Anlaſs
findet sich die Differenz, daſs die Synoptiker sie genau in
Form eines Citats aus dem A. T., Johannes aber nur als
ungefähre Anspielung darauf giebt. Besonders aber im
Erfolg zeigt sich der Unterschied, daſs nach dem vierten
Evangelium Jesu sogleich Einsprache gethan wird, wovon
die Synoptiker nichts berichten, sondern erst Tags darauf
die jüdischen Hierarchen eine Frage an Jesum richten las-
[703]Achtes Kapitel. §. 84.
sen, welche Bezug auf die Tempelreinigung zu haben scheint
(Matth. 21, 23 ff.), auf welche Jesus auch ganz anders ant-
wortet, als nach dem vierten Evangelium auf jene Einspra-
che. Die Wiederholung einer solchen Execution sucht man
durch die Bemerkung erklärlich zu machen, daſs, da auf
die erste Austreibung hin der Unfug schwerlich unterblieb,
bei jeder Erneuerung desselben Jesus auch zu wiederhol-
tem Einschreiten veranlaſst gewesen sei; daſs aber näher
die johanneische Tempelreinigung eine frühere als die syn-
optische sei, davon glaubt man die Spur eben auch darin zu
entdecken, daſs bei jener Jesu alsbald Einsprache gethan
wurde, bei dieser hingegen seines inzwischen gestiegenen
Ansehens wegen nicht mehr.


Allein bei allen Abweichungen ist doch die Überein-
stimmung der beiden Erzählungen überwiegend. Derselbe
Unfug, dieselbe gewaltsame Art, ihm durch ἐκβάλλειν der
Leute und αναςρέφειν der Tische zu steuern, ja auch im
Wesentlichen dieselbe Rede zur Begründung dieses Ver-
fahrens, welche, wenn gleich nicht mit ebensovielen Wor-
ten, doch auch bei Johannes eine Hinweisung auf Jes. 56, 7.
Jer. 7, 11. enthält. Jedenfalls müſste man dieser bedeu-
tenden Ähnlichkeiten wegen mit Sieffert2) annehmen,
die zwei sich ursprünglich weniger ähnlichen Vorfälle
seien in der Überlieferung assimilirt, die Züge des einen
auf den andern übergetragen worden. Allein soviel scheint
klar: die Synoptiker wissen nichts von einer frühern Be-
gebenheit dieser Art, so wenig als von einem früheren
jerusalemischen Aufenthalt Jesu überhaupt, und ebenso
scheint der vierte Evangelist die Tempelreinigung nach
dem lezten Einzug Jesu in die Hauptstadt nicht deſswe-
gen übergangen zu haben, weil er sie als aus den übri-
gen bekannt voraussezte, sondern weil er den einzigen
Akt dieser Art, der ihm überhaupt bekannt war, in eine
[704]Zweiter Abschnitt.
frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt-
liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art:
so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in
der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung
der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse-
zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den
Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan-
denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat
daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des
Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt 3).


Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in
chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im
Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden
wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die
Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen
Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die
A. T.liche Stelle, sind nach Lücke ebensoviele Kennzei-
chen des Augen- und Ohrenzeugen; in Bezug auf die
Chronologie sei ohnehin anerkannt, daſs die Synoptiker
sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, weſswe-
gen es, nach Sieffert4), das Gewisse gegen das Unge-
wisse aufgeben hieſse, wenn man die johanneische Erzäh-
lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte.
Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar-
kus in seinem καὶ οὐκ ἤφιεν, ϊνα τις διενέγκῃ σκεῦος διὰ τοῦ
ἱεροῦ
(V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus,
der sich überdieſs einer Stütze in der jüdischen Sitte er-
freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch-
weg zu machen 5). Sezt man dennoch von diesem Zuge
voraus, daſs er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre,
wie sie Markus auch sonst liebt 6): was berechtigt dann,
[705]Achtes Kapitel. §. 84.
ähnliche malerische Züge, wenn man sie bei dem vierten
Evangelisten findet, als Kennzeichen seiner Autopsie zu be-
trachten? Sich dabei auf seine anerkannte Augenzeugen-
schaft zu berufen 7), ist doch eine gar zu grelle petitio prin-
cipii
, wenigstens auf dem Standpunkt einer vergleichen-
den Kritik, auf welchem es lediglich nach der inneren
Wahrscheinlichkeit entschieden werden muſs, ob nicht auch
die malerischen Züge des vierten Evangeliums bloſse Aus-
malung sind. Wenn hier die verschiedene Behandlung
der verschiedenen Menschenklassen ein für sich wahrschein-
licher, die freiere Bezugnahme auf das A. T. wenigstens
ein indifferenter Zug ist: so verhält es sich mit dem auf-
fallendsten Zug der johanneischen Erzählung ganz anders.
An dem Flechten und Anwenden der Strickpeitsche hat
schon Origenes, als an einem gar zu gewaltthätigen und
ordnungswidrigen Schritte, Anstoſs genommen 8), und die
Milderung neuerer Erklärer, daſs Jesus dieselbe nur gegen
das Vieh gebraucht habe 9), ist theils gegen den Text, wel-
cher mittelst des φραγέλλιον πάντας austreiben läſst, theils
kann auch sie nicht abhalten, das Anwenden einer Geiſsel
überhaupt für eine Person von Jesu Würde unschicklich,
und jedenfalls nur geeignet zu finden, das ohnehin Tu-
multuarische der Handlung auf unwillkommene Weise zu
vermehren 10). Solche Schwierigkeiten hat der dem Mar-
kus eigenthümliche Zug nicht gegen sich, und doch soll er
verworfen, der des Johannes aber angenommen werden.
Gewiſs nicht, wenn sich auch noch andeuten läſst, wie
der vierte Evangelist zu freier Fiktion dieses Zuges veran-
laſst sein konnte. Er faſste aber, wie das ihm eigenthüm-
Das Leben Jesu I. Band. 45
[706]Zweiter Abschnitt.
liche Citat V. 17. zeigt, den Akt Jesu vorzugsweise aus
dem Gesichtspunkt eines heiligen ζῆλος auf: Versuchung
genug, in Ausmalung der Scene Alles möglichst zelotisch
anzulegen.


In Bezug auf die chronologische Differenz dürfen wir
uns nur erinnern, wie der vierte Evangelist die Anerken-
nung Jesu als des Messias von Seiten der Jünger und
die Belegung des Simon mit dem Namen Petrus viel zu
frühe gesezt hat, um von der allgemeinen Präsumtion sei-
ner vorzüglichen chronologischen Genauigkeit, welche man
zu Gunsten seiner Stellung der Tempelreinigung geltend
macht, zurückzukommen. Für diesen besondern Fall aber
wird man nicht Einen Grund aufzubringen im Stande sein,
um dessen willen die fragliche Begebenheit besser in die
Zeit des ersten, als in die des lezten von Jesu besuchten
Pascha taugen sollte, wohl aber ist in entgegengeseztem
Sinn nicht Ungegründetes geltend gemacht worden. Zwar,
wenn man es unwahrscheinlich fand, daſs Jesus so frühe
schon, wie er nach der Deutung des Johannes durch den
Ausspruch vom abzubrechenden und wiederaufzubauenden
Tempel gethan hätte, auf seinen Tod und seine Auferstehung
hingewiesen haben sollte 11): so werden wir seinesorts se-
hen, daſs eben diese Beziehung auf den Tod nur durch
den Evangelisten in jene Worte hineingetragen ist. Das
aber ist kein unerheblicher Grund gegen die johanneische
Stellung der Begebenheit, daſs Jesus bei seinem besonne-
nen Takte schwerlich so frühe schon einen so gewaltsa-
samen Akt seiner messianischen Auktorität werde ausge-
übt haben 12). Denn nicht nur gab er sich in jener ersten Zeit
noch gar nicht als den Messias, und unter andrer als mes-
sianischer Auktorität hätte damals kaum ein solcher Schritt
gewagt werden mögen, sondern er traf auch von Anfang
[707]Achtes Kapitel. §. 84.
an noch weit mehr auf gütliche Weise mit seinen Volks-
genossen zusammen, weſswegen kaum zu glauben ist, daſs
er gleich Anfangs, ohne in Güte einen Versuch zu machen,
so kriegerisch aufgetreten sein sollte. In die lezte Woche
seines Lebens hingegen passt ein solcher Auftritt vollkom-
men. Damals, nach seinem messianischen Einzug in Jeru-
salem, legte er es absichtlich darauf an, durch Alles, was
er that und sprach, dem Widerspruch seiner Feinde zum
Troz, sich als den Messias zu geben; damals stand Alles
schon so auf der Spitze, daſs durch einen solchen Schritt
nichts mehr zu verlieren war.


Was die Begebenheit an sich betrifft, so hat schon
Origenes unglaublich gefunden, daſs dem einzelnen Manne
von noch immer sehr bestrittenem Ansehen eine solche
Menge von Menschen so ohne Widerstand sollte gewichen
sein, wobei er sich nur dadurch zu helfen wuſste, daſs er
sich auf die höhere Macht Jesu berief, vermöge deren er
den Grimm seiner Gegner plözlich zu dämpfen oder doch
unschädlich zu machen im Stande gewesen sei, weſswegen
denn Origenes diese Austreibung den gröſsten Wundern
Jesu an die Seite sezt 13). Wenn neuere Ausleger das
Wunder ablehnen 14), so hat doch nur Paulus die Bemer-
kung des Origenes gehörig erwogen, daſs einer einzelnen
Person nach dem gewöhnlichen Gang solcher Dinge die
Menge sich entgegengesezt haben würde. Man mag von
der Überraschung durch das Plözliche des Auftretens Je-
su 15) (wenn er nach Johannes vorher eine Geiſsel aus Stri-
cken sich zurecht machte, brauchte er schon einige Zeit zur
Vorbereitung), auf die Gewalt des auf seiner Seite stehen-
den Rechts 16) (aber auf der Seite derer, die er angriff,
45*
[708]Zweiter Abschnitt.
war das Herkommen), endlich auf den unwiderstehlichen
Eindruck von Jesu Persönlichkeit 17) (auf Wucherer und
Viehhändler, auf Thiermenschen, wie sie Paulus nennt?),
sagen, was man will: von einem einzelnen Manne hätte
sich diese Überzahl, welche des Schutzes der Priesterschaft
gewiſs sein konnte, nicht ohne Weiteres aus dem Tempel
werfen lassen. Daher nimmt nun Paulus an, daſs mit Je-
su eine groſse Zahl Andrer, welche gleichfalls durch den
Marktunfug sich gestört fanden, gemeinschaftliche Sache
gemacht, und ihren vereinigten Kräften die Käufer und
Verkäufer haben weichen müssen 18). Allein dadurch wird
die Sache erst vollends miſslich. Denn nun wird, was Je-
sus veranlaſst, ein offener Tumult, und man begreift we-
der, wie man dieſs mit seiner sonstigen Abneigung gegen
alles Revolutionäre vereinigen, noch auch, wie man sich
erklären soll, daſs die Feinde Jesu es nicht zur Anklage
gegen ihn benüzt haben. Denn daſs sie im Gewissen sollten
gehalten gewesen sein, ihm hierin Recht zu geben, ist um
so weniger anzunehmen, da, einer rabbinischen Nachricht
zufolge 19), die Juden an einem solchen Markt im Vorhof
der Heiden (und dieser ist doch unter dem ἱερὸν nur zu
verstehen 20)) so wenig Anstoſs genommen zu haben schei-
nen, daſs ihnen das Fehlen desselben als eine traurige Ver-
ödung des Tempels erschien. Diesemnach ist es nicht zu
verwundern, daſs Origenes den historischen Werth dieser
Erzählung durch ein ε[ἵ]γε καὶ αὐτὴ γεγένηται in Zweifel
zieht, und höchstens zugiebt, daſs der Evangelist, um ei-
nen Gedanken allegorisch darzustellen, καὶ γεγενημένῳ συν-
εχρήσατο πράγματι
21).


[709]Achtes Kapitel. §. 85.

Doch um gegen die Übereinstimmung aller vier Evange-
listen die Realität dieser Geschichte mit Entschiedenheit an-
fechten zu können, müſsten zu den bisher aufgeführten ne-
gativen Gründen noch genügende positive kommen, aus
welchen ersichtlich wäre, wie die urchristliche Sage auch
ohne geschichtlichen Grund zur Erdichtung einer solchen
Scene kommen konnte. An solchen aber scheint es denn
doch zu gebrechen. Denn was wir in dieser Beziehung
allein besitzen, ist theils die von den Synoptikern citirte
Doppelstelle aus Jesaias und Jeremias, den Tempel nicht
zur Mördergrube zu machen, theils die Stelle Malach. 3,
1—3., nach welcher man erwartete, daſs Jehova in der
messianischen Zeit plötzlich in den Tempel kommen, daſs
Niemand vor seinem Anblick bestehen, und daſs er eine
Reinigung mit dem Volk und dem Cultus vornehmen wer-
de. Allerdings ist hier Einiges von der unwiderstehlichen
reformatorischen Thätigkeit Jesu im Tempel, wie sie unsere
Evangelien darstellen; aber daſs sich diese gerade auf den
Markt im Tempelhof beziehen solle, ist in allen diesen
Stellen so wenig angedeutet, daſs doch wohl eine wirkliche
Opposition Jesu gegen diesen Miſsbrauch der Anlaſs scheint
gewesen sein zu müssen, warum die Erfüllung jener Weis-
sagungen durch Jesum gerade als Austreibung der Käufer
und Verkäufer dargestellt wurde.


§. 85.
Die Erzählungen von der Salbung Jesu durch ein Weib.


Von einer Salbung Jesu durch ein Weib während
eines Gastmahls erzählen uns sämmtliche Evangelisten
(Matth. 26, 6 ff. Marc. 14, 3 ff. Luc. 7, 36 ff. Joh. 12, 1 ff.),
mit Abweichungen freilich, welche besonders zwischen
Lukas und den übrigen bedeutend sind. Erstens nämlich,
die Chronologie betreffend, sezt Lukas den Vorgang in
die frühere Zeit des Lebens Jesu, vor seine Abreise aus
[710]Zweiter Abschnitt.
Galiläa, die übrigen dagegen in die lezte Woche seines
Lebens; zweitens, den Charakter der salbenden Frau an-
langend, ist diese nach Lukas eine γυνὴ ἁμαρτωλὸς, nach
den beiden andern Synoptikern aber eine unbescholtene
Person, welche Johannes sogar als die Bethanische Maria
näher bestimmt. Mit diesem zweiten Punkte hängt das
zusammen, daſs der Vorwurf der Anwesenden bei Lukas
der Zulassung einer so verrufenen Person, bei den übri-
gen nur der Verschwendung des Weibes gilt; mit beiden
das, daſs Jesus in seiner Vertheidigung dort die dankbare
Liebe der Frau im Gegensaz gegen die stolze Lieblosig-
keit des Pharisäers, hier seinen baldigen Tod im Gegen-
saz gegen die immer zu habenden Armen hervorhebt.
Geringere Differenzen sind noch, daſs als die Ortschaft,
in welcher das Gastmahl und die Salbung vor sich geht,
von den zwei ersten und dem vierten Evangelisten Betha-
nien (was nach Joh. 11, 1. eine κώμη war), bei Lukas
unbestimmt eine πόλις genannt wird; ferner, daſs der Vor-
wurf nach jenen dreien von Seiten der Jünger, nach Lu-
kas von dem Gastgeber kommt. Daher denn nun bei den
meisten Erklärern die Unterscheidung von zwei Salbun-
gen, deren eine Lukas, die andere die übrigen Evangeli-
sten erzählen 1).


Allein es fragt sich, wenn man den Lukas mit den
drei übrigen einstimmig zu machen verzweifelt, ob die
Übereinstimmung von diesen unter sich so entschieden ist,
und nicht vielmehr von der Unterscheidung zweier Sal-
bungen noch weiter zur Unterscheidung von dreien oder
gar vieren fortgegangen werden muſs? Zu vieren nun
freilich wird es wohl nicht reichen, da Markus von Mat-
thäus nur durch einige Züge seiner wohlbekannten Ver-
[711]Achtes Kapitel. §. 85.
anschaulichung abweicht; wohl aber finden sich zwischen
diesen beiden auf der einen und Johannes auf der andern
Seite Differenzen, welche sich denen zwischen Lukas und
den übrigen an die Seite stellen dürfen. Die erste betrifft
das Haus, in welchem das Gastmahl vor sich gegangen
sein soll; nach den zwei ersten Evangelisten nämlich im
Hause eines sonst unbekannten Σίμων ὁ λεπρός: der vierte
nennt zwar den Gastgeber nicht ausdrücklich, da er aber
Martha als die aufwartende, und ihren Bruder Lazarus
als Mitspeisenden namhaft macht, so ist nach ihm ohne
Zweifel das Haus dieses Lezteren als das Lokal des Gast-
mahls zu denken 2). Auch die Zeit des Vorgangs ist nicht
ganz dieselbe, sondern nach Matthäus und Markus geht die
Scene nach dem feierlichen Einzug in Jerusalem, höch-
stens zwei Tage vor dem Pascha vor: nach Johannes da-
gegen vor dem Einzug, schon 6 Tage vor dem Pascha 3).
Die Frau ferner, welche nach Johannes die Jesu so eng
verbundene Maria von Bethanien ist, wissen die beiden
ersten Evangelisten nur unbestimmt durch γυνὴ zu be-
zeichnen 4), auch lassen sie dieselbe nicht wie die Maria
in das Haus und zu der Familie des Wirths gehören,
sondern, man weiſs nicht woher, zu dem bei Tische lie-
genden Jesus kommen. Auch der Akt der Salbung ist
im vierten Evangelium ein anderer als in den beiden ersten.
Nach diesen nämlich gieſst die Frau ihre Nardensalbe
über Jesu Haupt aus, nach Johannes dagegen salbt sie
ihm die Füſse, und trocknet dieselben mit ihren Haaren 5),
[712]Zweiter Abschnitt.
was der ganzen Scene eine andre Farbe giebt. Endlich
wissen die beiden Synoptiker auch davon nichts, daſs
eben Judas es gewesen sei, welcher den Tadel gegen die
Frau aussprach, sondern Matthäus legt ihn den Jüngern,
Markus den Anwesenden überhaupt in den Mund 6).


So ist also zwischen der Erzählung des Johannes und
der des Matthäus und Markus ein kaum geringerer Unter-
schied, als zwischen dem Berichte dieser drei zusam-
men und dem des Lukas: wer hier zwei verschiedene Be-
gebenheiten voraussezt, ist nur dann consequent, wenn
er dieſs auch dort thut, und so mit Origenes einstweilen
drei verschiedene Salbungen statuirt. Dennoch aber, so-
bald man sich diese Consequenz näher ansieht, muſs man
über dieselbe bedenklich werden. Denn wie unwahrschein-
lich ist es doch, daſs Jesus dreimal, jedesmal bei einem
Gastessen, allemal von einer Frau, aber jedesmal wieder
von einer andern, kostbar gesalbt worden sein, und daſs
es sich hiebei jedesmal gefügt haben sollte, daſs Jesus
diese Handlung der Frau gegen Angriffe der Zuschauer
zu vertheidigen hatte? 7) Wie läſst sich namentlich das
denken, daſs, wenn Jesus bei einem, und selbst bei
zwei früheren Anlässen die ihm erwiesene Ehre der Sal-
bung so entschieden in Schutz genommen hatte, die Jün-
ger oder einer derselben sie doch immer wieder sollten
getadelt haben? 8).


Muſs man sich hiedurch getrieben finden, auf Re-
duktionen bedacht zu sein: so wird es allerdings immer
am nächsten liegen, mit den Erzählungen der beiden er-
sten Synoptiker und der des Johannes den Anfang zu
machen, denn sie haben nicht allein den Ort der Hand-
lung, Bethanien, gemein, sondern auch im Allgemeinen
[713]Achtes Kapitel. §. 85.
die Zeit, die lezte Woche des Lebens Jesu; hauptsächlich
aber ist Rede und Gegemede auf beiden Seiten nahezu
dieselbe, und bei diesen Ähnlichkeiten wird man über die
Differenzen theils durch den Drang der Unwahrscheinlich-
keit eines wiederholten Vorfalls dieser Art, theils durch
die Wahrscheinlichkeit hinweggehoben, daſs bei der tra-
ditionellen Fortpflanzung der Anekdote dergleichen Ab-
weichungen sich eingeschlichen haben mögen. Hat man
aber auf dieser Seite in Betracht der Ähnlichkeiten uner-
achtet der Differenzen im Bericht die Identität des Vor-
falls zugegeben: so können auch auf der andern Seite die
der Erzählung des Lukas eigenthümlichen Abweichungen
nicht mehr hindern, sie mit der der drei übrigen Evange-
listen für identisch zu erklären, sobald sich nur einige
erhebliche Ähnlichkeiten zwischen beiden hervorstellen.
Und diese sind wirklich vorhanden, indem Lukas bald
mit Matthäus und Markus gegen Johannes, bald mit die-
sem gegen jene auffallend zusammenstimmt. Dem Gastge-
ber giebt Lukas denselben Namen, wie die zwei ersten
Evangelisten dem Hauswirth, nämlich Simon, nur daſs
ihn jener durch φαρισαῖος, diese durch ὁ λεπρὸς, nä-
her bezeichnen. Auch darin stimmt Lukas mit den übri-
gen Synoptikern gegen Johannes überein, daſs nach ihrer
gemeinsamen Darstellung die salbende Frau eine nicht
zum Hause gehörige Ungenannte ist, ferner darin, daſs
sie dieselbe mit einem ἀλάβαςρον μύροῦ auftreten lassen,
während Johannes nur von einer λίτρα μύροῦ, ohne An-
gabe des Gefäſses, spricht. Mit Johannes hingegen stimmt
Lukas auf merkwürdige Weise in der Art der Salbung
gegen die beiden andern Evangelisten zusammen. Wäh-
rend nämlich diesen zufolge die Salbe auf das Haupt
Jesu ausgegossen wird, salbt nach Lukas die Sünderin,
wie nach Johannes die Maria, Jesu vielmehr die Füſse,
und selbst der auffallende Zug findet sich bei beiden fats
mit den gleichen Worten angegeben, daſs sie mit ihren
[714]Zweiter Abschnitt.
Haaren seine Füſse getrocknet habe 9), nur daſs bei Lu-
kas, wo die Frau als Sünderin gehalten ist, noch die Be-
netzung der Füſse durch ihre Thränen sammt dem Küssen
derselben hinzukommt. — Ohne Zweifel haben wir also
hier nur Eine Geschichte in drei ziemlich abweichenden
Formen, was schon die eigentliche Ansicht des Origenes
war, und neuerlich von Schleiermacher angenommen
worden ist.


Dabei sucht man dann aber möglichst wohlfeilen Kau-
fes abzukommen, und die Abweichungen der verschiede-
nen Evangelisten wenigstens vor dem Schein des Wider-
spruchs zu bewahren. Was zuerst die Differenzen zwi-
schen den beiden ersten Evangelisten und dem lezten be-
trifft, so hat man vor Allem die verschiedene Zeitangabe
durch die Voraussetzung auszugleichen gesucht, daſs das
Bethanische Mahl zwar wirklich, wie Johannes berichtet,
6 Tage vor Ostern gehalten worden sei, daſs aber Mat-
thäus, welchem Markus nachgeschrieben, keine dem wi-
dersprechende, sondern vielmehr gar keine Zeitbestim-
mung habe; denn daſs er jenes Mahl erst nach dem Aus-
spruch Jesu: ὅτι μετὰ δύο ἡμέρας τὸ πάσχα γίνεται ein-
rücke, beweise nicht, daſs er dasselbe der Zeit nach
später stellen wolle, vielmehr hole er hier, ehe er auf
den Verrath des Judas komme, die Begebenheit nach, bei
welcher dieser den schwarzen Entschluſs dazu faſste,
nämlich das Mahl, bei welchem ihn die Verschwendung
der Maria ärgerte, und die abweisende Antwort Jesu er-
bitterte 10). Allein treffend hat die neueste Kritik gezeigt,
wie einestheils in der milden und ganz allgemeinen Rede
Jesu nichts persönlich Erbitterndes für den Judas liegen
konnte, und wie anderntheils die zwei ersten Evangelien
[715]Achtes Kapitel. §. 85.
als Tadler der Salbung nicht den Judas, sondern die
Jünger oder die Umstehenden überhaupt nennen, da sie
doch, wenn sie die Scene bei der Salbung lediglich als
Motiv der Verrätherei des Judas hier nachholten, diesen
namentlich hervorheben muſsten 11). Folglich bleibt hier
ein chronologischer Widerspruch zwischen den beiden er-
sten Synoptikern und Johannes, welchen auch Olshausen
anerkennt 12).


Der weiteren Differenz, rücksichtlich der Person des
Gastgebers, hat man auf verschiedene Weise auszuwei-
chen gesucht. Da Matthäus und Markus nur von der
οἰκία Σίμωνος τοῦ λεπροῦ sprechen, so haben Einige den
Hauseigenthümer Simon von dem Gastgeber, welcher ohne
Zweifel Lazarus gewesen sei, unterschieden, und ange-
nommen, daſs nun beiderseits ohne Irrthum der vierte
Evangelist diesen, die zwei ersten jenen namhaft ma-
chen 13). Allein wer bezeichnet denn ein Gastmahl durch
den Namen des Hauseigenthümers, wenn dieser nicht ir-
gendwie zugleich der Gastgeber ist? Weil übrigens Johannes
den Lazarus nicht ausdrücklich als den Wirth, sondern als
einen der συνανακειμένων bezeichnet, und, daſs er zugleich
der Gastgeber gewesen, lediglich daraus geschlossen wird,
daſs seine Schwester, Martha, διηκονει: so haben Andre
den Simon als den entweder wegen Aussatzes abgeson-
derten, oder bereits verstorbenen Gatten der Martha be-
trachtet, bei welcher sich damals auch ihr Bruder Laza-
rus aufgehalten habe 14). Doch dieses Verhältniſs ist so
rein fingirt, daſs selbst der Verfasser der natürlichen Ge-
schichte es nicht hat aufnehmen mögen, sondern lieber
den Simon zum reichen Vetter des Lazarus macht, in
[716]Zweiter Abschnitt.
dessen verwandtem Hause die geschäftige Martha es sich
nicht habe nehmen lassen, für Küche und Keller zu sor-
gen 15). Hiegegen indeſs ist mit Recht bemerkt worden,
daſs in einem fremden, wenn auch verwandten Hause
Martha schwerlich aufgewartet haben würde, daſs also
durch diesen Zug Martha, und sofern von einem Gemahl
derselben nichts bekannt ist, ihr Bruder, als Geber des
Mahls bezeichnet seien, welcher leztere nur deſswegen als
ἀνακείμενος aufgeführt werde, um die Realität seiner Wie-
derbelebung durch Jesum in volles Licht zu setzen 16)
Wir haben also hier einen zweiten Widerspruch anzu-
erkennen.


Die Abweichung in Bezug auf die Art der Salbung,
welche den zwei ersten Evangelisten zufolge das Haupt,
nach dem vierten die Füſse Jesu betraf, hat man nach
der älteren trivialen Ausgleichung, daſs vielleicht beides
der Fall gewesen sei, neuestens durch die Annahme bei-
zulegen versucht, daſs Maria zwar wirklich nur die Ab-
sicht gehabt haben soll, Jesu die Füſse zu salben (Johan-
nes), daſs aber, da sie zufällig das Gefäſs zerbrach (συν-
τρίψασα
, Mark.), auch das Haupt Jesu mit Salbe über-
gossen worden sei (Matth.) 17); eine Ausgleichung, wel-
[717]Achtes Kapitel. §. 85.
che dadurch in's Komische fällt, daſs, da man nicht den-
ken kann, wie die zu einer Fuſssalbung sich anschickende
Frau das Salbengefäſs über das Haupt Jesu bringen konnte,
man sich ein Aufwärtsspritzen der Salbe, wie eines schäu-
menden Getränkes, vorstellen müſste. So daſs auch hier
der Widerspruch bleibt, und zwar nicht bloſs zwischen
Matthäus und Johannes, wo ihn auch Schneckenburger
anerkennt, sondern auch Markus ist mit Johannes nicht
zu vereinigen.


Am leichtesten glaubte man mit den beiden Abwei-
chungen rücksichtlich der Person der salbenden Frau und
ihres Tadlers fertig zu werden. Daſs, was Johannes nur
dem Einen Judas zuschreibt, Matthäus und Markus auf
sämmtliche Jünger oder Anwesende übertragen, glaubte man
einfach durch die Annahme zu erklären, während die übri-
gen ihre Miſsbilligung nur durch Gebärden zu erkennen
gaben, habe Judas den Sprecher gemacht 18). Allerdings
nun muſs das ἔλεγον, da ihm bei Markus ἀγανακτοῦντες
πρὸς ἑαυτοὺς
vorangeht, bei Matthäus γνοὺς δὲ ὁ Ἰησοῦς folgt,
nicht nothwendig ein lautes Reden sämmtlicher Jünger be-
zeichnen; da indeſs die zwei ersten Evangelisten unmit-
telbar nach diesem Mahl den Verrath des Judas berichten,
so hätten sie gewiſs den Verräther auch dort schon nam-
haft gemacht, wenn er sich ihres Wissens bei jenem hab-
süchtigen Tadel besonders hervorgethan hätte. Daſs aber
Johannes die salbende Frau, deren Namen die Synoptiker
nicht nennen, als die Maria von Bethanien bezeichnet, ist
nach der gewöhnlichen Ansicht nur ein Beispiel, wie der
17)
[718]Zweiter Abschnitt.
vierte Evangelist die früheren ergänzt 19). Allein, da je-
ne beiden auf die Handlung der Frau so groſses Gewicht
legen, daſs sie, was Johannes nicht hat, ihr Unvergeſslich-
keit ankündigen lassen, so würden sie sicher auch den Na-
men der Thäterin angegeben haben, wenn er ihnen bekannt
gewesen wäre, so daſs also in jedem Falle soviel bleibt:
sie wissen von der Frau nicht, wer, und namentlich nicht,
daſs sie die Bethanische Maria war.


Also, wenn man die Identität auch nur dessen, was die
beiden ersten und was der lezte Evangelist erzählen, aner-
kennt, muſs man eingestehen, daſs man auf der einen oder an-
dern Seite ungenaue und durch die Überlieferung entstellte Be-
richte hat. — Doch nicht allein zwischen diesen, sondern auch
zwischen Lukas und den übrigen, sucht, wer ihren Berichten
nur Eine Begebenheit unterlegt, den Schein des Wider-
spruchs möglichst zu entfernen. Schleiermacher, dessen
höchste Instanz Johannes ist, der aber doch auch seinen
Lukas nirgends fallen lassen will, kommt hier, wo sie so
stark abweichen, in eine eigene Klemme, aus der er sich
besonders geschickt ziehen zu können geglaubt haben muſs,
da er ihr nicht, wie ähnlichen sonst, durch die Annahme
zweier zum Grunde liegenden Begebenheiten ausgewichen
ist. So viel zwar sieht er sich gedrungen, zu Gunsten des
Johannes dem Lukas zu vergeben, daſs sein Gewährsmann
hier kein Augenzeuge sei, woraus sich geringere Abwei-
chungen, wie namentlich in Bezug auf die Lokalität, erklä-
ren; die scheinbar bedeutenderen Differenzen dagegen, daſs
nach Lukas die Frau eine Sünderin ist, nach Johannes
Maria von Bethanien, daſs nach jenem der Wirth, nach den
übrigen die Jünger Einwendungen machen, und daſs die
Erwiederung Jesu beiderseits eine ganz andere ist, — die-
se haben nach Schleiermacher darin ihren Grund, daſs der
Vorgang sich aus zwei Gesichtspunkten fassen lieſs. Die
[719]Achtes Kapitel. §. 85.
eine Seite des Vorgangs nämlich sei das Murren der Jün-
ger und namentlich des Judas gewesen, und diese Seite
habe Matthäus aufgefaſst; die andre Seite, die Verhand-
lung Jesu mit dem pharisäischen Wirthe, stelle Lukas dar,
und Johannes berichtige beide Darstellungen. Was hier am
entschiedensten einer Vereinigung des Lukas mit den
übrigen widerstrebt, seine Bezeichnung der Frau als ἁμαρ-
τωλος, läſst Schleiermacher als eine falsche Folgerung des
Referenten aus der Anrede Jesu an die Maria: ἀφέωνταί
σοι αἱ ἁμαρτίαι, fallen. Dieſs nämlich habe Jesus mit Be-
zug auf eine uns unbekannte Verschuldung, wie sie auch
dem Reinsten begegne, zu Maria sagen können, ohne sie
vor den Anwesenden, die sie ja hinlänglich gekannt haben,
zu compromittiren, und nur der Referent habe daraus und
aus den weiteren Reden Jesu irrig geschlossen, es habe
sich hier von einer Sünderin im gemeinen Sinne des Wor-
tes gehandelt, weſswegen er dann auch die Gedanken des
Wirthes V. 39. unrichtig ergänzt habe 20). Allein nicht
blos von ἁμαρτίαις schlechtweg, sondern von πολλαῖς ἁμαρ-
τίαις
spricht Jesus in Bezug auf die Frau, und wenn auch
dieſs ein unrichtiger Zusaz des Referenten sein soll, sofern
es auf die Bethanische Maria nicht paſst, so hat er die
ganze Rede Jesu, von V. 40—48., welche sich um den
Gegensaz von πολὺ und ὀλίγον ἀφιέναι und ἀγαπᾷν dreht,
entweder verfälscht, oder falsch gestellt, und es ist auf
dieser Seite besonders vergeblich, zwischen den abwei-
chenden Berichten Frieden stiften zu wollen.


Sind demnach die vier Erzählungen nur unter der
Voraussetzung zu vereinigen, daſs mehrere derselben be-
deutende traditionelle Umbildungen erfahren haben: so
fragt es sich jezt, welche von ihnen dem ursprünglichen
Faktum am nächsten stehe? Daſs hier die neuere Kritik
einstimmig für den Johannes entscheidet, kann uns nach
[720]Zweiter Abschnitt.
unsern bisherigen Wahrnehmungen nicht mehr befremden,
und ebensowenig die Beschaffenheit der Gründe, aus wel-
chen es geschieht: nämlich vermöge des Cirkelschlusses,
daſs die Erzählung des Augenzeugen Johannes ohne Wei-
teres als die richtige vorausgesetzt werden müsse 21),
welcher indeſs bisweilen noch durch den falschen Ober-
saz weiter begründet wird, daſs, wer nur ausführlicher
und anschaulicher erzähle, der genauere Referent, der
Augenzeuge sei 22). Von solchen Anschaulichkeiten wird
man wohl leicht geneigt sein, dem Markus sein συντρίψασα
als Ausmalung zurückzugeben: hat aber nicht auch Jo-
hannes in seiner Angabe von einem Pfunde Narden einen
an Übertreibung grenzenden Zug, so daſs die Extravaganz,
welche Olshausen in Bezug auf einen so unverhältniſsmäs-
sigen Verbrauch von Salbe der Liebe Maria's zuschreibt,
auf die Phantasie des Evangelisten zu übertragen wäre,
womit dann auch die Angabe: ἡ δὲ οἰκία ἐπληρώϑη ἐκ τῆς
ὀσμῆς τοῦ μύρου
auf gleiche Rechnung käme? Bemerkens-
werth ist auch, daſs die Zahlbestimmung des Werthes
der Salbe zu 300 Denaren nur Johannes und Markus
geben, wie auch bei der wunderbaren Speisung gleich-
falls diese beiden den Anschlag der nöthigen Lebensmittel
auf 200 Denare gemein haben. Hätte bloſs Markus diese
näheren Bestimmungen, wie schnell wären sie, wenigstens
von Schleiermacher, für Zusätze aus den eigenen Mitteln
des Erzählers erklärt: was, wie nun die Sachen stehen,
dieses Urtheil selbst als Vermuthung nicht aufkommen
läſst, ist es etwas Anderes, als das Vorurtheil für das
vierte Evangelium? Hat man doch selbst die Hauptsalbung
der beiden Synoptiker, weil Johannes statt derselben eine
Fuſssalbung hat, für ungewöhnlich und zum Mahle nicht
passend ausgegeben 23), während, wie auch der neueste
[721]Achtes Kapitel. §. 85.
Commentator des vierten Evangeliums einräumt, umgekehrt
das Salben der Füſse mit kostbarem Oel das minder Ge-
wöhnliche war 24).


Ganz besonders dankbar ist man aber dem Augenzeu-
gen Johannes dafür, daſs er den Namen sowohl der sal-
benden Frau als des tadelnden Jüngers der Vergessenheit
entrissen hat 25). Da in Bezug auf die Frau die Auskunft,
die Synoptiker haben ihren Namen wohl gewuſst, ihn
aber aus Rücksicht auf mögliche Gefahr für die Familie
des Lazarus verschwiegen, und erst der später schreibende
Johannes habe wagen können, ihn zu nennen 26), einem
aus der Mode gekommenen Pragmatismus in Bezug auf
das Leben Jesu angehört, so bleibt es dabei, daſs die er-
sten Evangelisten von dem Namen der Frau nichts gewuſst
haben, und es fragt sich, wie dieſs möglich war? Da
Jesus der That des Weibes ausdrücklich Verewigung ver-
hieſs, so muſste die Tendenz entstehen, auch ihren Na-
men aufzubewahren, und wenn dieser nun mit dem be-
kannten und vielfach genannten der Bethanischen Maria
zusammentraf, so ist nicht einzusehen, wie dieses Band
in der Überlieferung wieder gelöst, und jene salbende
Frau zur Unbekannten werden konnte. Fast noch unbe-
greiflicher aber ist, wie, wenn der habsüchtige Tadel der
Frau wirklich von dem nachmaligen Verräther ausgespro-
chen worden war, dieſs in der Überlieferung vergessen,
und derselbe den Jüngern überhaupt zugeschrieben wer-
den konnte. Wenn von einer sonst unbekannten Person
namentlich etwas erzählt wird, oder auch von einer be-
kannten etwas, das mit ihrem anderweitigen Charakter
nicht sichtbar zusammenhängt, so ist es natürlich, daſs
sich in der Überlieferung der Name verliert: wenn aber
Das Leben Jesu I. Band. 46
[722]Zweiter Abschnitt.
das erzählte Wort oder Werk einer Person so ganz mit
ihrem sonst bekannten Charakter übereinstimmt, wie hier
der habsüchtige und zugleich heuchlerische Tadel mit dem
Charakter des Verräthers, wie da die Sage diesen Namen
verlieren kann, das gestehe ich nicht einzusehen. Zumal
da die Geschichte, bei welcher jener Tadel ausgesprochen
wurde, besonders nach ihrer Stellung bei den zwei ersten
Evangelisten, so nahe mit dem Zeitpunkt des Verraths
zusammenfiel, und so eine Beziehung dieses Schritts auf
jene Äusserung fast aufgedrungen war. So sehr in der
That, daſs, wenn jene Äusserung versteckten Geizes auch
nicht wirklich von Judas gethan worden war, man sich
doch später versucht finden muſste, sie ihm als Beitrag
zu seiner Charakteristik und zur Erklärung seines nach-
maligen Verrathes zuzuschreiben. So daſs sich hier die
Sache umkehrt, und die Frage entsteht, ob wir nicht,
statt den Johannes zu loben, daſs er uns diese bestimmte
Notiz erhalten hat, vielmehr die Synoptiker rühmen müs-
sen, daſs sie sich einer so nahe liegenden, aber unhisto-
rischen Combination enthalten haben. Anders werden wir
auch über die Bezeichnung der salbenden Frau als Maria
von Bethanien nicht urtheilen können, als daſs, so unbe-
greiflich die Trennung jener That von ihrem berühmten
Namen ist, wenn sie ursprünglich ihr angehört haben
soll, ebenso leicht die sich fortbildende Sage dazu kommen
konnte, eine Handlung ergebener Liebe gegen Jesum,
wenn sie auch ursprünglich einer andern, minder bekann-
ten Person angehörte, derjenigen zuzuschreiben, deren
inniges Verhältniſs zu Jesu dem dritten und vierten Evan-
gelium zufolge frühzeitig groſsen Ruhm in der ersten Ge-
meinde erlangt hatte.


Doch auch von einer andern Seite noch sehen wir
uns veranlaſst, eher die Erzählungen des Matthäus und
Markus, welche die Frau nicht nennen, als die des Jo-
hannes, der sie als die Bethanische Maria bezeichnet, für
[723]Achtes Kapitel. §. 86.
den Grundstock der vorliegenden Anekdotengruppe anzu-
sehen. Da nämlich von unserer Annahme der Identität
aller vier Erzählungen aus sich auch das erklären lassen
muſs, wie die Darstellung der Sache bei Lukas habe ent-
stehen können: so ist, die johanneische Erzählung als die
der Wahrheit nächste vorausgesezt, nicht wenig befrem-
dend, wie in der Sage die salbende Frau in doppelter
Absteigung von der hochgefeierten Maria Lazari zur na-
menlosen Unbekannten, und von dieser gar zur berüchtig-
ten Sünderin herabgesezt werden konnte, und weit natür-
licher scheint es hier, die indifferente Darstellung der
beiden ersten Synoptiker in die Mitte zu stellen, aus de-
ren zweideutiger Ungenannten gleicherweise in aufsteigen-
der Linie eine Maria, wie in absteigender eine Sünderin
gemacht werden konnte.


Da die Möglichkeit der ersteren Umwandlung im All-
gemeinen schon anerkannt ist, so fragt sich zunächst,
worin eine Veranlassung liegen konnte, die salbende Frau
ohne historischen Grund nach und nach als Sünderin zu
fassen? Hier läſst sich in der Erzählung selbst nur der
Zug auffinden, welchen die zwei ersten Synoptiker nicht,
wohl aber Johannes mit Lukas gemein hat, daſs die Frau
die Füſse Jesu gesalbt habe. Dieser Zug, wie er dem
vierten Evangelisten zu dem empfindsamen, hingebenden
Wesen der Maria, die er auch sonst (11, 32.) Jesu zu
Füſsen fallen läſst, zu gehören schien: so mochte er von
einem andern, wie von Lukas geschieht, als Gebärde des
Büſsens genommen werden, was die Auffassung der Frau
als Sünderin begünstigen konnte. Doch auch nur begün-
stigen, nicht veranlassen: nach einer Veranlassung müs-
sen wir uns noch anderswo umsehen.


§. 86.
Die Erzählungen von der Ehebrecherin und von Maria
und Martha.


Das johanneische Evangelium erzählt uns 8, 1—11.
46*
[724]Zweiter Abschnitt.
von einer im Ehebruch ergriffenen Frau, welche die Pha-
risäer und Schriftgelehrten zu Jesu brachten, um sein
Gutachten über das gegen sie zu beobachtende Verfahren
einzuholen, worauf Jesus durch Aufregung des Gewissens
der Kläger die Frau befreite, und mit einer Ermahnung
entlieſs. Über die Ächtheit dieser Perikope waltet vieler
Streit, und man möchte ihre Unächtheit für erwiesen ach-
ten, wenn nicht selbst in den gründlichsten Untersuchun-
gen hierüber 1) immer die Absicht durchblickte, welche
Paulus offen gesteht, den bedenklichen Vermuthungen über
die Entstehung des vierten Evangeliums auszuweichen,
welche bei der Voraussetzung, daſs die Perikope ein äch-
ter Bestandtheil desselben sei, aus den vielen Unwahrschein-
lichkeiten, die sie enthält, erwachsen. Für's erste nämlich,
wenn die Schriftgelehrten zu Jesu sagen: ἐν τῷ νόμῳ Μωσῆς
ἡμῖν ἐνετείλατο, τὰς τοιαύτας λιϑοβολεῖσϑαι
: so ist weder
im Pentateuch diese Strafe auf den Ehebruch gesezt, son-
dern unbestimmt Todesstrafe (3 Mos. 20, 10. 5 Mos. 22,
22.), noch war dieſs spätere talmudische Bestimmung,
sondern nach dem Kanon: omne mortis supplicium, in
scriptura absolute positum, esse strangulationem
2),
wird im Talmud für den Ehebruch die Strafe der Erdros-
selung bestimmt 3). Ferner ist schwer einzusehen, was
das Verfängliche der Jesu vorgelegten Frage hätte sein
sollen 4); denn gaben ihm die Schriftgelehrten, wie wenn
sie ihn warnen, nicht versuchen wollten, die Verordnung
des Gesetzes an, so konnten sie nicht erwarten, daſs er
anders als dem Gesetz gemäſs entscheiden würde; wie
denn auch gegen seine Entscheidung bemerkt werden
[725]Achtes Kapitel. §. 86.
kann, daſs, wenn nur der völliger Reinheit sich Bewuſste
sollte richten und strafen können, alle bürgerliche Ord-
nung sich auflösen würde. Sagenhaft und mysteriös muſs
auch das Schreiben Jesu auf die Erde erscheinen, wel-
ches, wenn es auch die Glosse des Hieronymus: eorum
videlicet, qui accusabant, et omnium mortalium peccata
,
nicht richtig erklärt, doch etwas Geheimniſsvolleres, als
bloſse Abweisung der Ankläger zu enthalten scheint.
Kaum denkbar endlich ist es, daſs alle die gesetzeseifri-
gen und Jesu abgeneigten Menschen, welche die Frau
zu ihm geschleppt hatten, ein so zartes Gewissen gehabt
haben sollten, um auf die Schärfung desselben durch
Jesum hin sich sämmtlich unverrichteter Dinge zu ent-
fernen, und das Weib ungekränkt zurückzulassen, son-
dern dieſs scheint nur zur poëtischen Ausschmückung der
Scene in der Sage zu gehören. So unwahrscheinlich die-
sen Bemerkungen zufolge werden muſs, daſs die Begeben-
heit gerade so, wie sie hier erzählt wird, vorgefallen sei:
so wenig beweist dieſs doch, wie Bretschneider mit Recht
festhält 5), gegen die Ächtheit der Perikope, da die apo-
stolische Abfassung des vierten Evangeliums, mithin die
Unmöglichkeit, eine in sich widersprechende Erzählung
als Bestandtheil desselben zu betrachten, vor Untersuchung
eben aller seiner einzelnen Theile ohne unverantwortlichen
Cirkel nicht vorausgesezt werden darf. Indeſs ist doch
auf der andern Seite das Fehlen des Abschnitts in den
ältesten Auktoritäten so bedenklich, daſs eine Entschei-
dung in der Sache nicht wohl gewagt werden kann.


Sehr alt muſs in jedem Falle die Erzählung von dem
Zusammentreffen Jesu mit einer Sünderin sein, da sie
nach Eusebius schon im Hebräerevangelium und bei Papias
sich vorfand 6). Von jeher war es gewöhnlich, diese
[726]Zweiter Abschnitt.
Frau des Hebräerevangeliums und des Papias für die Ehe-
brecherin des Johannes zu halten. Hat man hiegegen mit
Recht erinnert, die wegen vieler Sünden bei Jesus Ver-
läumdete sei doch eine andre als die auf der Einen That
des Ehebruchs Ertappte 7): so muſs ich mich wundern,
daſs meines Wissens noch Niemand auf den Einfall ge-
kommen ist, bei der Stelle des Eusebius vielmehr an die
Sünderin des Lukas zu denken, von welcher Jesus eben
sagt, daſs ihr ἁμαρτίαι πολλαὶ vergeben seien. Freilich
paſst zu dieser das διαβληϑείσης nicht ganz, da bei Lukas
nicht von wirklichen Äusserungen des Pharisäers zum
Nachtheil der Frau, sondern nur von ungünstigen Ge-
danken, die er hatte, die Rede ist, und in dieser Hin-
sicht würde zu der Eusebischen Stelle hinwiederum die
johanneische Erzählung besser passen, welche ein aus-
drückliches Anbringen, ein διαβάλλειν, hat.


So sind wir durch einen äussern Grund, durch den
Zweifel, ob eine alte Erwähnung sich auf die eine oder
andere beziehe, auf die Verwandtschaft der beiden Erzäh-
lungen geführt 8), welche aus inneren Gründen ohnehin
von solber einleuchten muſs. Beidemale ein Weib, eine
Sünderin, vor Jesu; diese beidemale von pharisäischer
Scheinheiligkeit übel angesehen, von Jesu aber in Schutz
genommen, und mit einem friedlichen πορεύου entlassen.
Gerade diese Züge wuſsten wir in der Erzählung des Lu-
kas, sofern sie nur eine Variation von der Salbungsge-
schichte der übrigen Evangelisten sein sollte, in ihrer Ent-
stehung nicht zu begreifen. Was liegt also näher, als an-
zunehmen, daſs sie aus der Geschichte von der losgespro-
6)
[727]Achtes Kapitel. §. 86.
chenen Sünderin in die Salbungsgeschichte des Lukas ge-
kommen seien? War in der urchristlichen Sage einerseits
die Kunde von einer Frau, die Jesum gesalbt hatte, deſswegen
angegriffen, von Jesu aber vertheidigt, und andrerseits von
einem Weibe, das wegen vieler Sünden vor ihm angeklagt,
von ihm aber losgesprochen worden war: wie leicht konn-
ten, vermittelt durch die Vorstellung einer auch als Buſse
zu fassenden Fuſssalbung, beide Geschichten ineinander-
flieſsen, und die salbende zugleich zur Sünderin, die Sün-
derin zugleich zur salbenden werden? Daſs dann der
Schauplaz der Lossprechung ein Gastmahl wurde, kam
auch aus der Erzählung von der Salbung; der Gastgeber muſs-
te ein Pharisäer sein, theils weil die Anklage der Sünde-
rin von pharisäischer Seite ausgegangen sein sollte, theils
hat sich uns Lukas sonst schon als Liebhaber von Phari-
säermahlen gezeigt; die Reden Jesu endlich mögen zum
Theil aus der ursprünglichen Erzählung von der Sünderin
genommen, zum Theil von verwandten Fällen entlehnt sein.
Die rein erhaltenen Geschichten hätten wir so einerseits
bei den zwei ersten Evaugelisten, andrerseits bei dem vier-
ten oder wer der Verfasser der Perikope von der Ehe-
brecherin ist; denn ist hier gleich schon manches Sagen-
hafte mituntergelaufen, so ist doch von der Salbung noch
nichts eingemischt.


Haben wir hiemit die eine Umgestaltung der Erzäh-
lung von der salbenden Frau, nämlich ihre Herabsetzung
zur Sünderin, aus dem Einfluſs einer andern verwandten
Anekdote erklärt, welche in der ersten Christenheit im
Umlauf war: so können wir jezt versuchsweise uns umse-
hen, ob nicht auch zu der entgegengesezten, übrigens für
sich schon leicht erklärlichen, Umbildung der Unbekann-
ten in die Maria von Bethanien ein ähnlicher äusserer Ein-
fluſs mitgewirkt habe? Dieser könnte nur von der Einen
Geschichte ausgegangen sein, welche uns (ausser ihrem Auf-
treten bei der Wiederbelebung des Lazarus) von dieser Ma-
[728]Zweiter Abschnitt.
ria aufbehalten, und durch den Ausspruch Jesu: Eins ist
Noth, Maria hat das beste Theil erwählt u. s. w. bekannt
ist (Luc. 10, 38 ff.). In der That haben wir hier wie dort
die Martha mit Aufwartung beschäftigt (Joh. 12, 2: καὶ ἡ
Μάρϑα διηκό[ν]ε[ι]
. Luc. 10, 40: ἡ δὲ Μάρϑα περιεσπᾱτο περὶ
πολλὴν διακονίαν
); Maria zu den Füſsen Jesu sitzend, wie
dort seine Füſse salbend; hier von der Schwester, wie
dort von Judas, ihres unnützen Treibens wegen getadelt,
und beidemale von Jesu in Schutz genommen. Wie könn-
ten wir uns enthalten, auch hier zu sagen: war einmal
neben der Erzählung von der salbenden Frau auch die von
Maria und Martha im Umlauf, so lag es bei den mancher-
lei Berührungspunkten, welche sich beide boten, sehr nahe,
daſs sie in der Sage oder durch Combination eines Einzel-
nen verschmolzen wurden: die Jesu Füſse salbende, geta-
delte und von Jesu gerechtfertigte Unbekannte wurde in die
durch eine ähnliche Situation bekannte Maria verwandelt,
ihrer Schwester Martha auch bei dem mit der Salbung
zusammenhängenden Mahle die διακονία übertragen, und
endlich der Bruder Lazarus zum Theilnehmer der Mahl-
zeit gemacht, — so daſs sich hier die Erzählung des Lu-
kas auf der einen und die der zwei ersten Synoptiker auf
der andern Seite als reine Anekdoten zeigen, die des Jo-
hannes aber als eine gemischte.


In der Erzählung des Lukas übrigens von Jesu Be-
such bei den beiden Schwestern ist des Lazarus nicht ge-
dacht, mit welchem doch nach Joh. 11. und 12. Maria
und Martha zusammengewohnt zu haben scheinen, und Lu-
kas spricht gan[z] so, wie wenn er von der Existenz oder
Anwesenheit dieses Bruders, dessen auch sonst weder er
noch ein andrer Synoptiker gedenkt, gar nichts wüſste.
Denn wuſste er etwas von ihm, und dachte er ihn damals
anwesend, so konnte er nicht sagen: γυνὴ ὀνόματι Μάρϑα
ὑπεδ[έ]ξατο τὸν Ἰ. εἰς τὸν οἶκον αὑτῆς
, sondern er muſste
wenigstens neben ihr den Bruder nennen, zumal dieser nach
[729]Achtes Kapitel. §. 86.
Johannes ein vertrauter Freund von Jesu war. Dieſs Still-
schweigen kann man auffallend finden, wenigstens ist es
nirgends viel besser erklärt, als in der natürlichen Ge-
schichte des Propheten von Nazaret, wo der bald darauf er-
folgte Tod des Lazarus zu der Voraussetzung benüzt ist,
derselbe sei wohl um die Zeit jenes Besuchs Jesu auf ei-
ner Reise zur Stärkung seiner Gesundheit begriffen gewe-
sen 9). Nicht minder fällt ein andrer Punkt auf, der sich
auf die Lokalität dieser Scene bezieht. Nach Johannes
wohnten Maria und Martha in dem Jerusalem zunächst
gelegenen Flecken Bethania; Lukas dagegen, wo er von
dem Besuche Jesu bei diesen Schwestern spricht, nennt
nur κώμην τινὰ, was sich übrigens mit der Angabe des Jo-
hannes ebenso leicht vereinigen läſst, als daſs er jenen Be-
such in die Reise Jesu nach Jerusalem verlegt, da ja Be-
thanien dem aus Galiläa dahin reisenden auf dem Wege
lag. Doch ganz am Ende dieses Weges, so daſs Jesu Be-
such daselbst an den Schluſs seiner Reise fallen muſste:
wogegen Lukas denselben bald nach dem Aufbruch aus
Galiläa stellt, und von dem Einzug in Jerusalem durch ei-
ne Menge von Reisebegebenheiten und volle 8 Kapitel trennt.
Soviel also ist klar: der Verfasser oder Redacteur des drit-
ten Evangeliums wuſste nichts davon, daſs jener Besuch
in Bethanien gemacht worden, und Maria und Martha
hier wohnhaft gewesen seien, sondern nur derjenige Evange-
list, welcher die Maria als die salbende Frau darstellt, nennt
auch als Heimath der Maria Bethanien, wo nach den zwei
ersten Synoptikern die Salbung vorgefallen ist. Natürlich,
war einmal Maria zur salbenden Frau gemacht, die Salbung
aber bekanntermaſsen in Bethanien vorgefallen: so muſste
Maria wohl in diesem Orte wohnhaft gewesen sein, und es
hat somit wahrscheinlich der umlaufenden Erzählung von
dem Besuch Jesu bei Martha und Maria die salbende Frau
[730]Zweiter Abschnitt.
ihren Namen, der Erzählung vom Bethanischen Mahle aber
Maria eine Heimath zu danken.


So hätten wir eine Gruppe von 5 Geschichten, un-
ter welchen die Erzählung der beiden ersten Synoptiker
von der Salbung Jesu durch ein Weib den Mittelpunkt,
die des Johannes von der Ehebrecherin und die des Lu-
kas von Maria und Martha die äussersten Enden, die Sal-
bung durch die Sünderin aber bei Lukas und die durch
Maria bei Johannes die Mittelglieder bilden. Zwar könnte
man alle fünf Erzählungen nur als verschiedene Ausma-
lungen Einer geschichtlichen Grundlage ansehen wollen;
doch möchte ich dieses wegen der wesentlichen Verschie-
denheiten weniger, und es scheint mir eher, als läge den
beiden äussersten sowohl wie der mittleren jeder eine beson-
dre Begebenheit zum Grunde, die beiden Mittelglieder aber
hätten sich durch traditionelle Vermischung von jenen als
secundäre Bildungen gestaltet, wie nebenstehende Tafel ver-
anschaulichen wird.


[731]

(Diese vier Scenen gehen bei einem Mahle vor.)

[[732]]

Appendix A Druckfehler und Zusätze.


SeiteLiniestattlies
96müsstemüsse
647 v. u.meldetmelde
8318NameNamen
9619vonvor
1429im folgenden §in einem der folgenden
§§.
1742 d. Anm.III, 2, 3.III, 1, 2.
17815 und 16anregtangeregt
2037αάτηαύτη
2523JerobeanusJerobeams
30612warwaren
3574 v. u.6ohannesJohannes
3717 v. u.konntekönnte
38210üesusJesus
3843 d. Anm.persounitpersonuit
43119längerelängeren
4615 d. Anm.TehologieTheologie
53514supranaturalistischensupranaturalistischem
622lezteSondernAlso
63726hinter „Jesu“ das Comma zu streichen
6563 v. u.anzeignenanzeigen.
6906 d. Anm.hinter „Reden“ zu setzen „Jesu“.

Kleinere Verstösse, namentlich im griechischen Accent und Spiri-
tus, wie auf den ersten Bogen hin und wieder ἀυτὸς statt αὐτὸς,
S. 694 Lin. 8. der Anm. χείρα statt χεῖρα, wird der kundige Le-
ser selbst verbessern.
Zu S. 102. Anm. 9 und 10. Die LXX ist hier nach der Brei-
tingerschen Quartausgabe citirt; in andern Ausgaben sind zwar
zum Theil abweichende Lesarten aufgenommen, welche aber ebenso
gut zu vergleichen gewesen wären.
Zu S. 163. Wenn nach Schneckenburger (das Evangelium der
Ägyptier S. 7.) und Baur (christl. Gnosis S. 760 ff.) die klemen-
tinischen Ebioniten Jesum nicht für menschlich erzeugt gehalten
haben sollten, so würde gerade diess am augenscheinlichsten zu
den späteren Modificationen des ebionitischen Systems gehören.


[[733]][[734]][[735]]
Notes
1).
Vgl. de republ. 2, p. 377 f. Steph.
2).
Diog. Laërt. L. 2. c. 3. No. 7. Vgl. über dies und das Fol-
gende Baur, Symb. u. Mythol. I. S. 343 ff.
3).
Cic. de nat. Deor. I, 10. 15. Vgl. Clement. hom. 6, 1 ff.
4).
Diodor Sic. Bibl. L. 6. Fragm. Cic. de nat. Deor. I, 42.
5).
Reliq. hist. 6, 56.
1).
s. Döpke, die Hermeneutik der neutestamentlichen Schrift-
steller, S. 123 ff.
2).
s. Gfrörer, Philo und die alexandrinische Theosophie 1. Thl.
S. 84 ff. 95 ff. Über die mosaische Erzählung z. B. von der
Erschaffung des Weibes aus der Ribbe des Mannes sagt er
geradezu: τὸ ῥητὸν ἐπὶ τέτου μυϑῶδις ἐςι. Legis alleg. 1.
ed. Mang. 1, 70. bei Gfrörer a. a. O. S. 98.
3).
Eine ähnliche allegorische Auslegungsweise auch bei andern
Völkern, bei Persern, Türken, weist Döpke nach S. 126 f.;
vgl. auch Kant, Relig. innerhalb der [Grenzen] d. bl. V. Drit-
tes Stück No. VI.
1).
Homil. 5. in Levit. §. 5.
2).
De principp. L. 4. §. 20: πᾶσα μὲν (γραφὴ) ἔχει τό πνευμα-
τικὸν, οὐ πᾶσα δὲ τὸ σωματικόν
. Comm. in Joann. Tom.
10, §. 4: — σωζομένου πολλάκις τοῦ ἀληϑοῦς πνευματικοῦ ἐν
τῷ σωματικῷ, ὡς ἂν εἴποι τις, ψεύδει
.
3).
De principp. 4, 15: συνύφῃνεν ἡ γραφὴ τῇ ἱςορίᾳ τὸ μη
4).
Homil. in Exod. 2, 3: Nolite putare, ut saepe jam diximus,
veterum vobis fabulas recitari, sed doceri vos per haec, ut
agnoscatis ordinem vitae.
5).
De principp. 4, 16: καὶ τί δεῖ πλείω λέγειν; τῶν μὴ πάνυ
άμβλέων μυρία ὅσα τοιαῦτα δυναμἐνων συναγαγεῖν, γε-
γραμμένα μὲν ὡς γεγονότα, οὐ γεγενημένα δὲ κατὰ τὴν
λέξιν.
6).
Homil. 5. in Levit. §. 1: Haec omnia, nisi alio sensu acci-
piamus quam literae textus ostendit, obstaculum magis et
subversionem christianae religioni, quam hortationem aedi-
sicationemque praestabunt.
7).
contra Cels. 6, 70.
8).
De principp. 4, 16.
9).
Homil. in Genes. 6, 3: Haec (dass Abraham gelogen; sein
Weib preisgegeben) Judaei putent, et si qui cum eis sunt
literae amici non spiritus.
3).
γενόμενον, πῇ μὲν μὴ δυνατὸν γενέσϑαι, πῇ δὲ δυνατὸν
μὲν γενέσϑαι, οὐ μὴν γεγενημένον.
10).
De principp. 4, 16: οὐ μόνον δὲ περὶ τῶν πρὸ τῆς παρου-
σίας ταυτα τὸ πνεῦμα ᾠκονόμησεν, ἀλλ' , ἅτε τὸ ἀυτὸ
τυγχάνον καὶ ἀπὸ τοῦ ἐνὸς, ϑεοῦ, τὸ ὅμοιον καὶ ἐπὶ τῶν
εὐαγγελίων πεποίηκε καὶ ἐπὶ τῶν ἀποςόλων, οὐδὲ τούτων
πάντη ἄκρατον τὴν ἱςορίαν τῶν προσυφασμένων κατά
τὸ σωματικον ἐχόντων, μὴ γεγενημένων
. Vgl. Homil. 6. in
Esaiam, No. 4.
11).
Dies hat auch Mosheim bemerkt in seiner Übersetzung der
Schrift des Origenes gegen Celsus. S. 94. Anmerk.
12).
Comm. in Matth. Tom. 16, 26 ff.
13).
Comm. in Joan. Tom. 10, 17
14).
De princip. 4, 19.
15).

πολλ[ῷ] γὰρ πλείονά ἐςι τὰ κατὰ τὴν ἱςορίαν ἀληϑευό-
μενα τῶν προσυφανϑέντων γυμνῶν πνευματικῶν.

Ebend.
1).
In seinem Amyntor, v. J. 1698, s. in Leland's Abriss deisti-
scher Schriften, übersetzt von Schmidt, 1. Thl. S. 83 ff.
2).
Bei Leland 2. Thl. 1. Abth. S. 198 ff.
3).
In seiner Schrift: the moral philosopher, 1737, s. Leland
1. Thl. S. 247 ff.
4).
Posthumous Works 2 Voll. 1748, bei Leland 1, 412 f.
5).
Chubb, Posth. W. 1, 102 ff. Bei Leland 1, 481.
6).
Ebendas. 2, 269. Bei Leland 1, 425.
7).
The resurrection of Jesus considered — by a moral philo-
sepher. 1744. Leland 1, S. 330.
8).
Six discourses on the miracles of our Saviour. Einzeln her-
ausgegeben von 1727—1729. Nebst zwei Vertheidigungs-
schriften von den JJ. 1729 u. 30.
9).
Schröckh, Kirchengesch. seit der Reform. 6. Thl. S. 191.
10).
In Lessings Beiträgen zur Geschichte und Literatur, das Frag-
ment im dritten Beitrag, S. 195 ff., und im vierten Beitrag das
erste Fragment S. 265. und das zweite S. 288.
11).
In Lessings viertem Beitrag das dritte und vierte Fragment,
S. 366. u. 384., und die von Schmidt 1787 herausgegebenen
übrigen noch ungedruckten Werke des Wolfenbüttelschen
Fragmentisten.
12).
In Lessings viertem Beitrag das fünfte Fragment, über die
Auferstehungsgeschichte, und das Fragment über den Zweck
Jesu und seiner Jünger, von Lessing besonders herausgege-
ben 1778.
1).
Recension der übrigen, noch ungedruckten Werke des Wol-
fenbüttler Fragmentisten, in Eichhorns allgemeiner Bibliothek,
erster Band 1s u. 2s Stück.
2).
Eichhorns allgem. Bibliothek. 1. Bd. 1, 91 ff. 2, 757 ff. 3,
225 ff.
3).
Ebend. 6. Bd. S. 1 ff.
4).
Ebend. 3. Bd. S. 381 ff.
5).
Z. B. Eck, Versuch über die Wundergeschichten des N. T.
1795. (Venturini) die Wunder des N. T. in ihrer wahren
Gestalt für ächte Christusverehrer, 1799.
6).
1. Bd. S. 5 ff. Vgl. das als neue Auflage des Commentars
zu betrachtende exegetische Handbuch über die drei ersten
Evangelien 1830—33. 1. Bd. 1. Abthl. S. 4 ff.
7).
Heidelberg 1828. 2 Bde.
8).
Wie sich unter den Vorläufern von Paulus besonders Bahrdt
9).
Allgem. Biblioth. Bd. 1. S. 64.
8).
bemerklich machte (durch seine Briefe über die Bibel im
Volkstone, seit 1782), so fand er einen Nacharbeiter ähnli-
cher Art in Venturini, dem Verfasser der natürlichen Ge-
schichte des grossen Propheten von Nazaret (seit 1800), ein
Werk, dessen spätere Theile auch im Einzelnen nach dem
Paulusschen Commentar gearbeitet sind. Es ist schief, wenn
man diese beiden Schriften (wie Hase, Leben Jesu, §. 26.
Anm. 5.) mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten zusammen-
stellt; sie gehören wesentlich zu der Paulusschen Richtung,
denn ihre Tendenz geht gleicherweise dahin, im Leben Jesu
Alles als natürlich darzustellen, ohne doch seiner Würde
als weisen und edlen Mannes etwas zu vergeben; ihr Ro-
manhaftes aber verhält sich zu der Darstellung von Paulus
nur als eine noch grössere Willkühr in Einschiebung selbst-
erdachter Mittelursachen. Namentlich Bahrdt erklärt sich
ausdrücklich gegen den Fragmentisten, Briefe u. s. w. 1tes
Bändchen, 14ter Brief.
10).
a. a. O. S. 294. Vergl. Einleitung in das A. T. 3ter Band.
S. 23 ff. der vierten Ausg.
11).
Zuerst erschienen im vierten Theil des Repertoriums für bi-
blische und morgenländische Literatur, später mit Anmer-
kungen herausgegeben von Gabler, von 1790 an.
12).
Eichhorns Urgeschichte, herausgegeben von Gabler, 3. Thl.
S. 98 ff.
13).
Allgem. Biblioth. 1. Bd. S. 989, und Einleitung in das A. T.
3. Thl. S. 82.
1).
Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, drit-
tes Stück. No. VI: Der Kirchenglaube hat zu seinem höch-
sten Ausleger den reinen Religionsglauben.
2).
Zweites Stück erster Abschnitt, a und b.
1).
In der Einleitung zu Eichhorns Urgesch. 2, S. 481 ff. (1792)
2).
Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der älte-
sten Welt. In Paulus Memorabilien 5. Stück S. 1 ff. (1793)
3).
Comm. in Apollodor. Bibl. P. I. p. 3 und 4.
4).
Bauers hebr. Mythol. 1. Band. Einleitung.
5).
Vgl. ausser den genannten Autoren noch Ammon, Progr. quo
inquiritur in narrationum de vitae Jesu Christi primordiis fon-
tes etc. in Pott's und Ruperti's Sylloge Comm. theol. No. 5,
und Gabler, n. theol. Journal 5. Bd. S. 83 und 397.
6).
s. die Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pen-
tateuchs im 3ten Bande des Comm. über den Pent. S. 660.
7).
Kritik der mosaischen Geschichte. Einl. S. 10 ff.
8).
S. die Vorrede, im Anfang.
9).
S. 59 ff.
10).
Einleitung in das N. T. I, S. 408 ff.
11).
Antiquit. 19, 8, 2.
12).
Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der
Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803).
13).
In der Abhandlung: ist es erlaubt, in der Bibel, und so-
gar im N. T. Mythen anzunehmen (aus Gelegenheit einer
Recens. von Bauers hebr. Mythol.) im Journal für auserle-
sene theol. Literatur, 2ten Bandes 1tes Heft. S. 43 ff.
14).
Über die beiden ersten Kapitcl des Lukas, in Henke's Mu-
seum 1, 4, S. 693 ff.
15).
Die verschiedenen Rücksichten, in welchen und für welche
1).
Recens. von Paulus Commentar, im neuesten theol. Journal.
7, 4, 395 ff. (1801).
15).
der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdts krit. Jour-
nal 5. Bd. S. 235 ff.
2).
Hebräische Mythologie 1. Thl. Einl. §. 5.
3).
Ist es erlaubt, in der Bibel u. sogar im N. T. Mythen an-
zunehmen? Im Journal für auserlesene theol. Literatur 2,
1, 49 ff.
4).
Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin,
6ter Band. S. 454.
5).
Einleitung in das N. T. I, S. 422 ff. 453 ff.
6).
Besonders durch Gieseler, über die Entstehung und die
frühsten Schicksale der schriftlichen Evangelien.
7).
S. den Anhang der Schulz'schen Schrift über das Abendmahl,
und die Schriften von Sieffert und Schneckenburger über
den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums.
8).
In den Probabilien.
1).
Geschichte der hebr. Nation, Thl. I. S. 123.
2).
E. F. über die zwei ersten Kapitel des Matthäus und Lukas.
In Henke's Magazin 5ten Bdes 1tes Stück. S. 163.
3).
Kaiser's biblische Theologie, 1. Thl. S. 194 ff. (1813).
4).
Gabler's Journal für auserlesene theol. Literatur. 2, 1. 46.
5).
Gabler's neuestes theol. Journal, 7. Bd. S. 83. vgl. 397 u. 409.
6).
Über die verschiedenen Gesichtspunkte, in welchen und für
welche der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdt's krit.
Journal 5, S. 235 ff.
1).
S. das §. 8. Anm. 5. angeführte Programm.
2).
Vgl. Kuinöl, Prolegom. in Matthaeum, §. 3. in Lucam §. 6.
3).
z. B. Ammon, in der Diss.: Ascensus J. C. in coelum hi-
storia biblica, in seinen Opusc. nov.
4).
In Bertholdt's krit. Journ. 5. Bd. S. 248.
5).
Gabler's neuestes theol. Journal Bd. 7. S. 395.
6).
a. a. O. S. 243 f.
7).
Biblische Dogmatik §. 226. (2te Auflage.)
8).
a. a. O. §. 208.
9).
a. a. O. §. 222.
10).
a. a. O. §. 224.
11).
§. 226. Anm. a.
12).
In ebendems. §.
13).
Vgl. besonders die §§. 222 und 224.
14).
S. 103 f.
15).
In Gabler's neuest. theol. Journal Bd. 6. 4tes Stück. S. 350.
1).
Nach Philo hat Moses selbst den tieferen Sinn seiner Schrif-
ten beabsichtigt, s. Gfrörer I, S. 94.; auch nach Origenes
Comm. in Joann. Tom. 6, §. 2. Tom. 10, §. 4., hat der Pro-
phet und Evangelist ein gewisses Bewusstsein des tieferen
Sinns seiner Worte und Erzählungen: der mythischen An-
sicht zufolge wird sich der Berichterstatter der in seiner
Erzählung verkörperten Idee nicht rein als solcher, sondern
nur in der Form jener Erzählung bewusst.
2).
Grenzbestimmung dessen, was in der Bibel Mythus u. s. f.,
und was wirkliche Geschichte ist. In seiner Bibliothek der
heiligen Geschichte 2. Bd. S. 155 ff.
3).
s. o. §. 6.
4).
Bibl. d. h. G. 2, S. 251 f.
5).
Exegetisches Handbuch I, a, S. 1. 71.
6).
a. a. O. S. 4.
7).
Greiling in Henke's Museum 1, 4, S. 621 ff.
8).
a. a. O. S. 2 ff.
9).
s. o. §. 8. namentlich die in Anmerkung 2 und 7. angeführ-
ten Schriften. — In demselben Irrsal mit Paulus zeigt sich
auch Hess in der oben angeführten Abhandlung befangen,
wenn er daraus, dass die biblischen Schriftsteller eigentlich
verstanden sein wollen, beweisen zu können meint, dass
ihre Erzählungen keine Mythen seien.
10).
Werner, geschichtliche Auffassung der 3 ersten Kapitel des
ersten Buchs Mosis, S. 49.
11).
Heydenreich, über die Unzulässigkeit der mythischen Auf-
fassung des Historischen im N. T. 1. Abthl. S. 87.
12).
In Henke's Museum I, 4, S. 705.
13).
Heydenreich a. a. O. S. 91.
14).
Über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums S. 72.
15).
In der §. 8. Anm. 2. angeführten Abhandlung, am Schlusse.
16).
a. a. O. S. 46 ff. 61 ff.
17).
Von Gottes Sohn, der Welt Heiland, nach Johannes Evange-
lium. S. 18 ff. 116 ff.
18).
de Wette, Einleitung in das N. T. §. 109 (2te Auflage).
19).
vgl. Lücke, in ullmann's und umbreit's Studien, 1833, 2. Heft
S. 499 ff., gegen Schleiermacher, über Papias Zeugnisse von
unsern beiden ersten Evangelien, Studien, 1832, 4, S. 736 ff.
20).
Euseb. H. E. 3, 39.
21).
Bei Eusebius a. a. O.
22).
Clem. Alex. bei Eusebius H. E. 2, 15.
23).
Derselbe ebendaselbst 6, 14. Vgl. de Wette, Einleitung in
das N. T. §. 99.
24).
Dies ist zur Evidenz erhoben durch Griesbach in der Com-
mentatio, qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae
commentariis decerptum esse demonstratur. In dessen opus-
cula acad. ed. Gabler Vol. 2. No. XXII. Vgl. Saunier, über
die Quellen des Evangeliums des Markus, 1825.
25).
Vgl. Schleiermacher a. a. O.
26).
Vgl. de Wette, Einleitung in das N. T. §. 116.
27).
In Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, Jahr-
gang 1832, 4tes Heft, S. 787 f.
28).
a. a. O. 2te Abtheilung, S. 55 f.
29).
Heydenreich a. a. O. Paulus exeget. Handbuch I, a, S. 61.
30).
Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull-
mann
's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes
Heft, 781 ff.
31).
Die A. T.liche Fundamentalstelle für dieses vorbildliche
Verhältniss des Moses zum Messias ist die auch im N. T.
A. G. 3, 22. 7, 37. messianisch gedeutete Stelle 5. Mos. 18,
15., wo Moses zu dem Volke spricht: προφήτην ἐκ τῶν
ἀδελφῶν σου, ὡς ἐμὲ, ἀναςήσει σοι Κύριος ὁ ϑεός σου,
ἀυτοῦ ἀκούσεσϑε
(LXX.). Daher denn das jüdische Dogma:
31).
בְגֹאֵל רִאשׁוֺן כֵּן נּיֹאֵל אַחֲרוֺן wie es sich z. B. Midrasch Ko-
heleth f. 73, 3. (bei Schöttgen, horae hebraicae et talmudicae,
2, S. 251 f.) ausgesprochen findet: R. Berechias nomine R.
Isaaci dixit: Quemadmodum Goël primus (Moses), sic etiam
postremus (Messias) comparatus est. De Goële primo quid-
nam scriptura dicit? Exod. 4, 20: et sumsit Moses uxorem
et filios, eosque asino imposuit. Sic Goël postremus, Zachar.
9, 9.: pauper et insidens asino. Quidnam de Goële primo
nosti? Is descendere fecit Man, q. d. Exod. 16, 14.: ecce
ego pluere faciam vobis panem de coelo. Sic etiam Goël
postremus Manna descendere faciet, q. d. Ps. 72, 16.: erit
multitudo frumenti in terra. Quomodo Goël primus compa-
ratus fuit? Is ascendere fecit puteum: sic quoque Goël po-
stremus ascendere faciet aquas, q. d. Joël 4, 18: et fons e
domo Domini egredietur, et torrentem Sittim irrigabit. —
Auch auf die Propheten wird dieses vorbildliche Verhältniss
zum Messias ausgedehnt, Tanchuma f. 54, 4. (bei Schöttgen
a. a. O. S. 74.): R. Acha nomine R. Samuelis bar Nachma-
ni dixit: Quaecumque Deus S. B. facturus est לעתיד לבא
(tempore messiano) ea jam ante fecit per manus justorum
בעולם הוה (seculo ante Messiam elapso). Deus S. B. sus-
citabit mortuos, id quod jam ante fecit per Eliam, Elisam et
Ezechielem. Mare exsiccabit, prout per Mosen factum est.
Oculos caecorum aperiet, id quod per Elisam fecit. Deus
S. B. futuro tempore visitabit steriles, quemadmodum in
Abrahamo et Sara fecit.
32).
Neue Hypothese über die Evangelisten, §. 5. Anmerkung.
Lessing's Werke, Berlin bei Voss, 6ter Bd. S. 229.
*)
Ein für allemal mag hier erinnert werden, dass, wo in den
folgenden Untersuchungen kurzweg von Lukas, Matthäus u.
s. f. gesprochen wird, immer nur der Verf. des dritten, er-
sten u. s. w. Evangeliums gemeint ist, unentschieden, ob
sie die apostolischen Männer dieses Namens, oder spätere
Unbekannte waren.
1).
z. B. J. E. Ch. Schmidt, das ächte Evangelium des Lukas,
in Henke's Magazin 5, 3, S. 473 ff., K. Ch. L. Schmidt im
1).
Repertorium für die Literatur der Bibel 1, S. 58 ff., Horst,
in Henke's Museum, 1, 3, S. 462 ff. Vgl. Eichhorns Einlei-
tung, 1. Bd. S. 630 f. — Dagegen: Süskind, symbolarum ad
illustranda quacdam evangeliorum loca, P. 2. in seinen ver-
mischten Aufsätzen, S. 23 ff.
2).
Paulus, exeget. Handbuch 1, a, S. 78 f. 96. Baukr, hebr. My-
thol. 2. Bd. S. 218 f.
3).
Hier Michaël als אַהַד הַשָּׂרִים הָרִאשֹׁנִים bezeichnet 10, 13.
Gabriel 8, 16. 9, 21.
4).
Hier Raphaël als είς ἐκ των ἑπτὰ ἁγίων ἀγγέλων, οἳ — εἰς-
πορεύονται ἐνώπιον τῆς δόξης τοῦ ἁγίου
(12, 15), fast wie
Gabriel bei Lukas, die Zahlbestimmung ausgenommen. Diese
ist der Zahl der persischen Amschaspands nachgebildet, vgl.
de Wette, biblische Dogmatik §. 171 b).
5).
Hieros. rosch haschanah f. 56, 4. (bei Lightfoot, horae hebr. et
talmud. in IV Evangg., p. 723.):

R. Simeon ben Lachisch di-
cit: nomina angelorum ascenderunt in manu Israëlis ex Baby-
lone. Nam antea dictum est: advolavit ad me unus τῶν
Seraphim, Seraphim steterunt ante cum, Jes. 6; at post: vir
Gabriel, Dan. 9, 21, Michaël princeps vester, Dan. 10, 21.

6).
Biblischer Commentar, 1. Thl. S. 99. (2te Auflage).
7).
a. a. O. S. 98 f.
8).
a. a. O. S. 77.
9).
Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu, sammt dessen
Jugendgeschichte. Tübingen 1779. 1. Bd. S. 12.
10).
Bibl. Comm. I. S. 119.
11).
Hebr. Mythol. 2, S. 218.
12).
Bauer a. a. O. 1, S. 129. Paulus exeget. Handbuch I, a, 74.
13).
Paulus Commentar 1, S. 12.
14).
Bauer a. a. O.
15).
Glaubenslehre, 1. Thl. §. 42 und 43 (2te Ausgabe).
16).
Bibl. Comm. 1. Thl. S. 119.
17).
a. a. O. S. 92.
18).
Hess Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w.
1. Thl. S. 13. 35.
19).
Horst in Henke's Museum 1, 4. S. 733 f. Gabler in seinem
neuest. theol. Journal, 7, 1, S. 403.
1).
Briefe über die Bibel im Volkstone (Ausg. Frankfurt und
Leipzig 1800), 1tes Bändchen, 6ter Brief, S. 51 f.
2).
Bahrdt a. a. O. S. 52.
3).
Exeget. Handb. 1, a, S. 74 ff.
4).
Bahrdt a. a. O. 7ter Brief. S. 60. — E. F. über die beiden
ersten Kapitel des Matthäus und Lukas, in Henke's Maga-
zin 5, 1, S. 163. Bauer, hebr. Mythol. 2, S. 220.
5).
Exeget. Handb. 1, a, S. 77. 80.
6).
a. a. O. S. 73.
7).
Vgl. Schleiermacher über die Schriften des Lukas S. 25.
8).
Horae hebr. et talmud. ed. Carpzov. p. 722.
9).
a. a. O. S. 26.
10).
Wofür man sich auf Beispiele aus A. Gellius 5, 9, und Va-
lerius Maximus 1, 8. beruft.
11).
a. a. O. S. 97 f.
12).
a. a. O. S. 72 f.
13).
a. a. O. S. 69.
14).
In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 119.
15).
Paulus a. a. O.
16).
Über die Schriften des Lukas, S. 23.
17).
Paulus und Olshausen z. d. St., Heydenreich a. a. O. 1, S. 87.
18).
Vergl. Horst, in Henke's Museum, 1, 4, S. 705.
1).
E. F. über die zwei ersten Kapitel u. s. w. in Henke's Ma-
gazin 5, 1, S. 162 ff., und Bauer hebr. Mythol. 2, 220 f.
2).
a. a. O. S. 221.
3).
Warum man dies annahm, erklärt am besten eine, für diese
Materie classische Stelle im Evangelium de nativitate Mariae;
bei Fabricius codex apocryphus N. Ti 1, p. 22 f., bei Thilo
1, p. 322, welche zugleich einen Katalog der ausgezeichne-
ten Spätgebornen aus der jüdischen Geschichte enthält. Deus
— heisst es hier — cum alicujus uterum claudit, ad hoc
facit, ut mirabilius denuo aperiat, et non libidinis
esse, quod nascitur, sed divini muneris cog-
4).
neuestes theol. Journal 7, 1, S. 402 f.
5).
In Henhe's Museum, 1, 4, S. 702 ff.
3).
noscatur. Prima enim gentis vestrae Sara mater nonne
usque ad octogesimum annum infecunda fuit? et tamen in
ultima senectutis aetate genuit Isaac, cui repromissa erat
benedictio omnium gentium. Rachel quoque, tantum Domino
grata tantumque a sancto Jacob amata, diu sterilis fuit,
et tamen Joseph genuit, non solum dominum Aegypti, sed
plurimarum gentium fame periturarum liberatorem. Quis
in ducibus vel fortior Sampsone, vel sanctior Samuele? et
tamen hi ambo steriles matres habuere. — ergo — crede —
dilatos diu conceptus et steriles partus mirabiliores esse
solere.
6).
a. a. O. S. 24 f.
7).
S. die Stellen aus Josephus und den Rabbinen bei Wetstein
zu Luc. 1, 11. S. 647 f.
8).
Richt. 13, 14 (LXX.): καὶ οἶνον καὶ σίκερα μὴ πιέτω.
Luc. 1, 15: καὶ οἶνον καὶ σίκερα οὐ μὴ πίῃ.
9).
Richt. 13, 5: ὅτι ἡγιασμένον ἔςαι τῷ ϑεῷ τὸ παιδάριον
ἐκ τῆς γαςρός.
Luc. 1, 15: καὶ πνεύματος ἁγίου πλη-
σϑήσεται ἔτι ἐκ κοιλίας μητρὸς ἁυτοῦ.
10).
Richt. 13, 24 f.:

Καὶ ἠυλόγησεν ἀυτὸν Κύριος, καὶ ἠυ-
ξήϑη τὸ παιδάριον· καὶ ἤρξατο πνεῦμα Κυρίου συμπο-
ρεύεσϑαι αὐτῷ ἐν παοεμβολῇ Δὰν, ἀναμέσον Σαρὰ καὶ
ἀναμέσον Ἐσϑαόλ. Luc. 1, 80: τὸ δὲ παιδίον ἤυξανε καὶ
ἐκραταιοῦτο πνεύματι, καὶ ἦν ἐν ταῖς ἐρήμοις, ἕως ἡμέρας
ἀναδείξεως κ' υτοῦ πρὸς τὸν Ἰσραήλ.

11).
Commentar 1, S. 119.
1).
Stroth, über Interpolationen im Evang. Matth. In Eichhorn's
Repertorium 9, S. 99 f. — Hess Bibliothek der heiligen Ge-
schichte 1, 208 ff. — Eichhorn, Einleitung in das N. T. 1,
S. 422 ff. spricht die zwei ersten Kapitel zwar dem Apostel
Matthäus ab, erklärt sie aber wegen des gleichen Pragma-
tismus, der in denselben wie im übrigen ersten Evangelium
herrscht, für ein Werk desselben Verf., welchem wir unsre
gegenwärtige Überarbeitung des Matthäus-Evangeliums ver-
danken.
2).
Griesbach, epimetron ad comm. crit. in Matth. p. 57 ff. vgl.
Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 137. Fritzsche, Comment. in
Matth., Excurs. 3.
3).
Anmerkungen über den Evangelisten Matthäum. Werke, Walch.
Ausg. Bd. 14. S. 8 f.
4).
Paulus a. a. O. S. 292.
5).
Nach Hieron. in Daniel. init.
6).
S. Wetstein z. d. St.
7).
Paulus a. a. O.
8).
Z. B. Fritzsche, Comment. in Matth. p. 13.
9).
Nur nicht aus dem mystischen Grunde Olshausen's, Comm. 1,
S. 46: weil es passend sei, Jesum selbst nicht mit in die
Geschlechter einzureihen, sondern als die Blüthe des Gan-
zen allein zu stellen. Was könnte aus solchen Gründen nicht
Alles „passend“ gefunden werden!
10).
Hiedurch wird die Auskunft Kuinöl's, Comment. in Matth.
p. 3., die hier genannte Rahab von der berühmten zu un-
terscheiden, ausser dem Willkührlichen auch vollends über-
flüssig.
11).
Wegen der Ähnlichkeit der Namen יְהוֺיָקִים und יְהוֺיָכִין glaub-
ten Manche, sei der erstere nur zufällig ausgefallen (z. B.
Wetstein z. d. St.) und einige Codices und Übersetzungen
schoben ihn, wie oben bemerkt wurde, ein.
12).
Vgl. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 19. Paulus exeg. Hand-
buch S. 289. Wenn Olshausen S. 46. sagt, es könne nicht
die Absicht des Matthäus gewesen sein, die 14Zahl zu ur-
giren, da er ja mehrere Glieder auslasse: so ist dies eine
der überraschenden Keckheiten, durch welche dieser Ausle-
ger bisweilen den Leser zu überrumpeln sucht, indem er die
Einwürfe gegen die orthodoxe Ansicht von den biblischen Ge-
schichten geradezu in Gründe für dieselbe umwandelt, und
so die Sache auf den Kopf stellt. Denn hier ist doch gerade
umgekehrt zu schliessen, dem Verf. müsse besonders viol an
der 14Zahl gelegen gewesen sein, sonst würde er nicht, um
13).
Doch vgl. Fritzsche z. d. St.
14).
Fritzsche in Matth. S. 11.
12).
sie nicht zu überschreiten, wohlbekannte Glieder ausgemerzt
haben. — Ebendamit widerlegt sich auch die Ansicht, welche
vor den Lücken bei Joram und Josias (V. 8. und 11.) das
ἐγέννησε nicht im engern wörtlichen, sondern nur im wei-
teren Sinn von: e posteris ejus erat, genommen wissen will,
als hätte der Genealogist die weggelassenen Glieder nicht
ausschliessen, vielmehr hinzugedacht wissen wollen (Kuinöl
z. d. St.); unmöglich hätte er dann so zusammenzählen kön-
nen, wie er thut.
15).
Paulus S. 292.
16).
Bibl. Comment. S. 46. Anm.
17).
S. Schneckenburger, Beiträge zur Einleitung in das N. T.
S. 41 f., und die daselbst angeführte Stelle aus Joseph. B. j.
6, 4, 8. Ausserdem ist zu vergleichen die von Schöttgen
horae hebr. et talm. zu Matth. 1. angeführte Stelle aus Sy-
nopsis Sohar p. 132. n. 18: Ab Abrahamo usque ad Salo-
monem XV sunt generationes; atque tunc luna fuit in pleni-
lunio. A Salomone usque ad Zedekiam iterum sunt XV ge-
nerationes, et tunc luna defecit, et Zedekiae effossi sunt oculi.
1).
Ich kann mich zu der Annahme mehrerer Theologen (Ols-
hausen
, bibl. Comm. 1, S. 41. und Winer, bibl. Realwörter-
buch 1, S. 659. der 2ten Auflage), dass es die universalisti-
sche Tendenz des Lukas sei, welche ihn noch über Abraham
zu Adam und Gott dem Vater aller Menschen hinausgehen
lasse, desswegen nicht verstehen, weil als Verf. der Genea-
logie nicht der universalistische Lukas, sondern ein alter
palästinensischer Judenchrist, der dann eher particularistisch
gesinnt gewesen sein wird, anzusehen ist, worüber das Wei-
tere unten.
2).
Über den Lukas S. 51.
3).
Orig. homil. in Lucam 28.
4).
Luther, Werke Bd. 14. Walch. Ausg. S. 8 ff.
5).
De consensu Evangelistarum, 1. 2. c. 3. und unter den Neue-
ren z. B. E. F. in Henke's Magazin 5, 1, 180 f.
6).
Bei Eusebius, H. E. 1, 7. und neuerlich z. B. Schleierma-
cher
, über den Lukas, S. 53.
7).
a. a. O. S. 53. Vgl. Winer, bibl. Realwörterbuch 1. Band.
S. 660.
8).
Stammtafel.
[figure]
9).
Wesentlich gemindert wird diese Schwierigkeit auch nicht
durch die Bemerkung, dass nicht blos der Bruder, sondern
überhaupt der nächste Blutsverwandte dem andern in einer
Leviratsehe habe folgen müssen (Ruth 3, 12 f. 4, 4 f. Michai-
lis
Mos. Recht 2, S. 200. Winer Reallex. S. 408. der er-
sten Ausgabe). Denn da auch über zwei Vettern der Stamm-
baum weit früher zusammenlaufen muss, als er hier über
Jakob und Eli und über Jechonia und Neri zusammengeht:
so müsste man doch beidemale die Hypothese von Halbbrü-
dern zu Hülfe nehmen, nur dass dann die beiden complicir-
ten Ehen nicht in zwei unmittelbar auf einander folgende
Generationen fallen würden.
10).
So z. B. Spanheim, dubia evang. P. I. S. 13 ff. Lightfoot,
Michaelis, Paulus, Kuinöl, Olshausen
z. d. St.
11).
Schon Epiphanius, Grotius (s. bei Paulus S. 296.) stellten
diese Vermuthung auf. Olshausen nimmt sie an (S. 43.), weil
es zum Entwicklungsgange des Davidischen Geschlechts zu
passen scheine (siehe über ein ähnliches Passen §. 16. An-
merk. 9.), dass diejenige Linie desselben, aus welcher der
Messias hervorgehen sollte, sich mit einer Erbtochter be-
schloss, die den verheissenen ewigen Erben des Davidischen
Throns gebärend, dieselbe endigte. — Aus welcher Rumpel-
kammer des Mysticismus und Scholasticismus ist dieser Grund
hervorgesucht? Denn das wollen wir doch nicht glauben,
dass er von einem Theologen des 19ten Jahrhunderts neu ge-
schmiedet worden sei.
12).
Testament. XII Patriarch., Test. Simeon c. 71. In Fabric.
Codex pseudepigr. V. Ti S. 542: ἐξ ἀυτῶν (den Stämmen
Levi und Juda) ἀνατελεῖ ὑμῖν τὸ σωτήριον τοῦ ϑεοῦ. Ἀνα-
ςήσει γὰρ Κύριος ἐκ τοῦ Λευῒ ὡς ἀρχιερέα, καὶ ἐκ τοῦ
Ἰούδα ὡς βασιλέα κ. τ. λ.
13).
Vgl. jedoch Paulus a. a. O. S. 119.
14).
Vgl. Thilo, cod. apoer. N. Ti I, S. 374 ff.
15).
So z. B. der Manichäer Faustus bei Augustin contra Faust.
L. 23, 4.
16).
Protevang. Jacobi c. 1 f. u. 10. (ed. Thilo) und evang. de
nativitate Mariae c. 1. werden als die Eltern der Maria Joa-
chim und Anna, aus Davidischem Geschlechte, genannt. Fau-
stus hingegen, in der angeführten Stelle, bezeichnet eben
diesen Joachim als sacerdos.
17).
Dial. c. Tryph. 43. 100. der Mauriner Ausg. Paris 1742.
18).
Vgl. Lightfoot, horae, S. 750.
19).
So namentlich Paulus z. d. St.
20).
So z. B. Lightfoot horae p. 750.
21).
Vgl. Juchasin f. 55, 2. bei Lightfoot S. 183. und Bava bathra
f. 110, 2. bei Wetstein S. 230 f.
22).
Vergl. die Bemerkung Wetstein's zu Luc. 3, 23.
23).
Paulus a. a. O. S. 284 f.
24).
s. Winter, bibl. Realwörterbuch 1. Bd. S. 659. (2te Auflage).
1).
So Eichhorn, Einleit. in das N. T. 1. Bd. S. 425. Kaiser,
bibl. Theol. 1, S. 232. de Wette bibl. Dogm. §. 279. Hase,
Leben Jesu §. 30. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 35.
2).
s. Winer a. a. O. S. 660.
3).
a. a. O. Nach der Beobachtung übrigens, welche er Pro-
legg. in Matthaeum p. XV. ausspricht: omne studium — eo
contulit scriptor (der Verf. des ersten Evangeliums) ut nihil
Jesu ad Messiae exemplar fingi posset expressius, giebt
Fritzsche die Tendenz der Genealogie bei Matthäus in der
Überschrift des ersten Kapitels, Comm. p. 6., ganz richtig
so an: Jesus, ut de futuro Messia canunt V. Ti oracula, est
e gente Davidica per Josephum vitricum oriundus.
4).
s. de Wette, bibl. Dogm. a. a. O.
5).
Die weiteren Betrachtungen über Ursprung und Bedeutung
dieser Genealogieen, welche sich aus der Zusammenhaltung
derselben mit der Nachricht von Jesu übernatürlicher Erzeu-
gung ergeben, können erst nach der Untersuchung über die-
se letztere Angabe folgen.
1).
Bei Thilo, Codex apocryphus N. Ti Tom. I, p. 161 ff.
2).
Ebendas. p. 319 f.
3).
Evang. de nativ. Mar. c. 7:

cunctos de domo et familia Da-
vid nuptui habiles non conjugatos

.
4).
Protev. Jac. c. 8: ‘τοὺς χηρεύοντας τοῦ λαοῦ.’
5).
So im evang. de nativ. Mariae c. 7 u. 8; etwas anders im Pro-
tev. Jac. c. 9.
6).
Protev. c. 9: πρεσβύτης. Evang. de nativ. Mar. 8.: gran-
daevus. Epiphan. adv. haeres. 78, 8:

λαμβάνει τὴν Μαρίαν
χῆρος, κατάγων ἡλικίαν περί που ὀγδοήκοντα ἐτῶν καὶ
πρόσω ὁ ἀνήρ.

7).
παράλαβ[ε] ἀυτὴν εἰς τήρησιν σεαυτῷ c. 9.
8).
c. 14. s. die Varianten bei Thilo. p. 227.
9).
Vgl. Thilo a. a. O. S. 365. net.
10).
So im Protcv. Jac. c. 10—16. Weniger charakteristisch im
Evang. de nativ. Mar. c. 8—10
11).
1ter Band, S. 119 ff.
1).
Vgl. Augustin. de consens. evangelist. 2, 5.
2).
So Paulus, exeget. Handb. 1, a. S. 145 ff. Olshausen, Comm.
1, 146 ff. Fritzsche, Comm. in Matth. p. 56.
3).
Über die Schriften des Lukas, S. 42 f.
4).
Dies erkennt auch Olshausen an, S. 148.
5).
Protev. Jac. c. 12: Μαριὰμ δὲ ἐπελάϑετο τῶν μυςηρίων
ω ν εἶπε πρὸς ἀυτὴν Γαβριήλ
. Als sie daher von Joseph
zur Rede gestellt wird, versichert sie ihn mit Thränen:
οὐ γινώσκω, πόϑεν ἐςὶ τοῦτο τὸ ἐν τῇ γαςρί μου. c. 13.
6).
Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w. 1. Thl.
S. 36.
7).
Bibl. Comment. 1, S. 149.
8).
Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 121. 145.
9).
a. a. O.
10).
a. a. O. S. 146.
11).
Das nach Matthäus dem Joseph zu Hebung seiner Zweifel und
Besorgnisse zu Theil gewordene Traumgesicht hat gewisser-
massen ein Vorbild an demjenigen, welches nach jüdischer
Tradition, wie sie sich schon bei Josephus findet, dem Va-
ter des Moses in ähnlicher Lage, als er wegen der Schwan-
gerschaft seiner Frau in Sorgen war (nur war der Anlass
seiner Unruhe nicht ein Verdacht gegen seine Frau, sondern
die Gefahr des Kindes wegen des ergangenen Mordbefehls)
zu Theil geworden sein soll. Joseph. Antiq. 2, 9, 3.
Ἀμαράμης, τῶν εὖ γεγονότων παρὰ τοῖς Ἑβραίοις, δε-
διὼς ὑπὲρ τοῦ παντὸς ἕϑνους, μὴ σπάνει τῆς ἐπιτραφησο-
11).
μένης νεότητος ἐπιλείπῃ, καὶ χαλεπῶς ἐπ' ἀυτῷ φέρων,
ἐκύει γάρ ἀυτῷ τὸ γύναιον, ἐν ἀμηχάνοις ἦν. Καὶ πρὸς
ἱκετείαν τοῦ ϑεοῦ τρέπεται —. ὁ δὲ ϑεὸς ἐλεήσας ἀυτὸν, —
ἐφίςαται κατὰ τοὺς ὕπνους ἀυτῷ, καὶ μήτε ἀπογινώσκειν
ἀυτὸν περὶ τῶν μελλόντων παρεκάλει — — —. ὁ παῖς
γὰρ ουτος — τὸ μ[ὲ]ν [Ἑ]βραίων γένος τῆς παρ' Ἀιγυπτίοις
ἀνάγκης ἀπολύσει, μνήμης δὲ ἐφ' ὅσον μένει χρόνον τὰ
σύμπαντα, τεύξεται παρ' ἀνϑρώποις.
1).
Über den Lukas, S. 23.
2).
Vgl. Paulus, philol. Clavis über den Jesaia z. d. St. Den-
selben im exeg. Handb. 1, a, S. 164 ff. Gesenius, Comment.
über den Jesaias, 2. Bd. 1. Abthl. S. 296 ff. Umbreit, über
die Geburt des Immanuel durch eine Jungfrau, in Ullmann's
und seinen theol. Studien 1830, 3. Heft. S. 541 ff. Hitzig,
Comm. zum Jesaias, S. 84 ff.
3).
Bei dieser Deutung verliert der Streit über die Bedeutung
des עַלְמָה sein Moment. Er dürfte übrigens dahin entschie-
den sein, dass das Wort nicht die unbefleckte, sondern die
mannbare Jungfrau bedeute (s. Gesenius a. a. O. S. 297 f.).
Schon zu Justins Zeiten behaupteten die Juden, das עַלְמָה
sei nicht durch παρϑένος, sondern durch νεᾶνις zu über-
setzen. Dial. c. Tryph. no. 43. p. 139 E. der bezeichneten
Ausgabe.
4).
Christologie des A. T.s 1, b, S. 47.
5).
S. Paulus, a. a. O. S. 157 ff.
6).
Die Sache auf diese Formel gebracht, fällt auch Hengsten-
berg
hieher, ob er gleich die orthodoxe Ansicht (1, a, S. 338 ff.)
weit mehr mildert, als auf seinem Standpunkt consequent ge-
funden werden kann.
7).
Comm. in Matth. p. 49. 317. und Excurs. I, p. 836 ff.
8).
a. d. a. St.
9).
Vgl. von Schöttgen's Horae den zweiten Theil, de Messia.
Fritzsche a. a. O. S. 49.
10).
Bibl. Comm. S. 58.
11).
Ebend. S. 58 ff.
12).
Die ganze rationalistische Schriftauslegung beruht auf einem
ziemlich handgreiflichen Paralogismus, mit welchem sie steht
und fällt:
Die N. T.lichen Schriftsteller dürfen nicht so ausgelegt
werden, als ob sie etwas Unvernünftiges sagten (allerdings
nichts ihrer Vernunftbildung Widersprechendes).
Nun wären aber ihre Aussprüche bei einer gewissen Deu-
tung unvernünftig (nämlich gegen unsre Vernunftbildung).
Folglich können sie es nicht so gemeint haben, und müs-
sen anders ausgelegt werden.
Wer sicht hier nicht die quaternio terminorum und die
dem Rationalismus tödtliche Inconsequenz eines mit dem Su-
pranaturalismus gemeinschaftlichen Bodens, dass nämlich,
während man bei jedem Andern erst zusieht, ob er nur Rich-
tiges und Wahres rede oder schreibe, den N. T.lichen Män-
nern die Prärogative eingeräumt wird, bei ihnen dieses schon
vorauszusetzen?
1).
Conjugial. praecept. Opp. ed. Hutten, Vol. 7. S. 428.
2).
Irenäus adv. haer. 1, 26:

Cerinthus Jesum subjecit non ex
virgine natum, impossibile enim hoc ei visum est.

3).
vgl. Paulus a. a. O. S. 151.
4).
Wie diess geschieht in Henke's neuem Magazin 3, 3, S. 369.
Anmerkung.
5).
Homil. in Lucam 14.
6).
s. Olshausen a. a. O. S. 49 f.
7).
z. B. von Eichhorn, Einleitung in das N. T. 1. Bd. S. 407.
8).
Glaubenslehre, 2. Thl. §. 97. S. 73 f. der zweiten Auflage.
9).
Diese Seite findet sich besonders hervorgekehrt in der Skia-
graphie des Dogma's von Jesu übernatürlicher Geburt, in
Schmidt's Bibliothek 1, 3, S. 400 ff.; in den Bemerkungen
über den Glaubenspunkt: Christus ist empfangen vom heil.
Geist, in Henke's neuem Magazin 3, 3, 365 ff.; in Kaiser's
bibl. Theol. 1, S. 231 f.; de Wette's bibl. Dogmatik, §. 281;
Schleiermacher's Glaubenslehre 2. Thl. §. 97.
1).
Augustinus contra Faustum Manichaeum L. 23. 3. 4.
2).
a. a. O. No. 8.
3).
Skiagraphie des Dogma u. s. f. in Schmidt's Bibl. a. a. O.
S. 403 f. K. Ch. L. Schmidt, ebend. 3, 1, S. 132 f. Schleier-
macher
, Glaubenslehre 2, §. 97. S. 71.
4).
Wie diess z. B. Eichhorn, Einl. in das N. T. 1, S. 425. aus-
drücklich für wahrscheinlich erklärt.
5).
S. Justin. Mart. Dial. cum Tryphone, 48; Theodoret, Epit.
haer. fabb. 2, 4; Origenes contra Celsum L. 5, 61; Com-
ment. in Matth. Tom. 16. Opp. ed. de la Rue, Vol. 3, p. 733.
6).
Haeres. 30. §. 14.
7).
Epiphan. haeres. 29, 9.
8).
Credner, in den Beiträgen zur Einleitung in das N. T. 1,
S. 443. Anm.
9).
Über Essener und Ebioniten und einen theilweisen Zusammen-
hang beider. In Winer's Zeitschrift für wissenschaftliche
Theologie, 1. Bd. 2tes und 3tes Heft.
10).
a. a. O. S. 317. Insofern hat die Vermuthung Storr's (über
den Zweck der evang. Geschichte und der Briefe Johannis,
S. 286. 363.) ihren richtigen Grund, Epiphanius möge wohl
das Evangelium der Elcesaiten mit dem ebionitischen verwech-
selt haben.
11).
Haeres. 30, 14: ὁ μὲν γὰρ Κήρινϑος καὶ Καρποκρας τῷ
ἀυτῷ χρώμενοι παῤ αὐτοῖς (τοῖς Ἐβιωναίοις) ἐυαγγελίῳ,
ἀπὸ τῆς ἀρχῆς τοῦ κατὰ Ματϑαῖον ἐυαγγελίου διὰ τῆς
γενεαλογίας βουλονται παριςᾷν ἐκ σπέρματος Ἰωσὴφ καὶ
Μαρίας εἶναι τὸν χριςόν.
Wie Credner (Beiträge a. a. O.)
dazu kommt, hier unter γενεαλογία nicht das Geschlechts-
register, sondern die Geburtsgeschichte zu verstehen, ist
nicht einzusehen. Wie hätte denn die Matthäische Geburts-
geschichte zu einem Beweis für die reinmenschliche Abkunft
Jesu dienen können? Wenn sich Credner darauf berufen
kann, dass ja dem von Cerinth und Karpokrates gebrauchten
Ebionitenevangelium die Geschlechtsregister gefehlt haben,
also jene beiden Häretiker nicht aus diesem, ihrer Urkunde
gerade fehlenden Theile haben argumentiren können: so liesse
sich zunächst fragen, ob nicht eher umgekehrt dem ebioni-
tischen Evangelium die Geburtsgeschichte gefehlt habe, die
Stammtafel aber nicht, so dass Cerinth und Karpokrates im-
merhin aus dieser argumentiren konnten? Da jedoch Epi-
phanius mit demselben Worte die γενεαλογίας dem Evange-
lium der Ebioniten abspricht, und die beiden genannten Hä-
retiker auf die γενεαλογία sich stützen lässt: so ist ohne
Zweifel beidemale derselbe Theil des Matthäusevangeliums
gemeint, und zwar nach dem oben Erörterten die Stammta-
fel. Diese aber konnte gar wohl in dem sonst mit dem Ebio-
nitenevangelium identischen Evangelium Cerinths stehen, da
auch Epiphanius die genannten Beiden und die Ebioniten
einander in dieser Hinsicht entgegenzustellen scheint, wenn
er nach jener Äusserung über Cerinths und Karpokrates Be-
nützung der Genealogieen zu den Ebioniten durch die Wen-
dung übergeht: οὖτοι δὲ ἄλλα τινὰ διανοοῦνται. παρακό-
ψαντες γὰρ τὰς παρὰ τῷ Ματϑαίῳ γενεαλογίας κ. τ. λ.
12).
Dial. c. Tryph. 100. 120. Auch hier kann ich nicht mit
Credner übereinstimmen, welcher dem Justin die Genealo-
gie abspricht (a. a. O. S. 212. 443.).
13).
Haeres. 30, 14. vgl. 2.
14).
Homil. 3, 17. und dazu Credner in der angef. Abh. S. 253 f.
15).
Homil. 3, 23—27.
16).
Epiphan. haeres. 30, 18: μετὰ τούτους δὲ (Moses und Josua)
οὐκέτι ὁμολογοῦσί τινα τῶν προφητῶν, ἀλλὰ καὶ ἀναϑεμα-
τίζουσι καὶ χλευάζεσι, Δαβὶδ τε καὶ τὸν Σολομῶνα,
ὁμοίως δὲ τοὺς περὶ Ἡοαΐαν καὶ Ἱερεμίαν καὶ Δανιὴλ καὶ
Ἰεζεκιήλ· Ἠλία τε καὶ Ἐλισσαῖον ἀϑετοῦσιν· οὐ γὰρ συν-
τίϑενται, βλασφημοῦντες τὰς αὐτῶν προφητείας.
Vgl. 15.
17).
S. die Belegstellen bei Credner, in der angef. Abhandlung.
18).
Diese von Crkdner nicht gehörig berücksichtigte Stelle steht
Homil. 3, 25: ἔτι μὴν καὶ οἱ ἀπὸ τῆς τούτου (τοῦΚαῒν) δια-
19).
Tertullian. de praescript. haer. 33.
20).
Epiphan. haeres. 30, 18.
21).
Clement. homil. 18, 13. Sie bezogen hienach den Spruch
Matth. 11, 27: οὐδεὶς ἔγνω τὸν πατέρα, εἰ μὴ ὁ υἱὸς κ.
τ. λ. auf τοὺς πατέρα νομίζοντας χριςοῦ τὸν Δαβὶδ, καὶ
αὐτὸν δὲ τὸν χριςὸν υἱὸν ὄντα, καὶ υἱὸν ϑεοῦ μὴ ἐγνω-
κότας, und beklagten sich, dass ἀντὶ τοῦ ϑεοῦ τὸν Δαβὶδ
πάντες ἔλεγον.
18).
δοχῆς προεληλυϑότες πρῶτοι μοιχοὶ ἐγένοντο, καὶ ψαλ-
τήρια, καὶ κιϑάραι, καὶ χαλκεῖς ὄπλων πολεμικῶν ἐγέ-
νοντο. Δἰ ὃ καὶ ἡ τῶν ἐγγόνων προφητεία, μοιχῶν καὶ
ψαλτηρίων γέμουσα, λανϑανοντως δια τῶν ηδυπαϑειῶν
ὡς τοὺς πολέμους ἐγείρει.
1).
Br …, die Nachricht, dass Jesus durch den heil. Geist und
von einer Jungfrau geboren sei, aus Zeitbegriffen erläutert.
In Schmidt's Bibl. 1, 1. S. 101 ff. — Horst, in Henke's Mu-
seum 1, 4, 497 ff., über die beiden ersten Kapitel im Evang.
Lukas.
2).
Bemerkungen über den Glaubenspunkt: Christus ist empfan-
gen vom heil. Geist. In Henke's neuem Magazin 3, 3. 399.
3).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 26 f.
4).
Exeget. Handbuch 1, a. S. 99 ff. 111 ff. Vergl. (Walther)
schriftmässiger Beweis, dass Joseph der wahre Vater Jesu
sei, 1791.
5).
Diese Erklärung betrachtet Paulus als die einzige, der orien-
talischen Denk- und Sprechweise angemessene, und warnt,
sie occidentalisch umzudeuten (S. 114.). Es soll also occi-
dentalische Umdeutung sein, wenn man jene Worte so ver-
steht, das Kind werde ohne menschlichen Vater durch Got-
tes heiligen Geist und allmächtige Kraft im Leibe der Mut-
ter gebildet werden; paraphrasirt man hingegen: aus reiner
gottergebener Begeisterung wirst du dich vorwurfslos einer
gottgewollten Wirksamkeit hingeben, — so ist das, nach Dr.
Paulus, orientalisch gesprochen.
6).
a. a. O. S. 99 f.
7).
a. a. O. S. 100. 114.
8).
Im neuesten theol. Journal 7. Bd. 4. Stück. S. 407 f. Vgl.
Bauer, hebr. Mythol. 1, S. 192. e ff.
9).
Antiq. 18, 3, 4.
10).
1ter Theil, S. 140 ff.
11).
a. a. O. S. 117 f.
12).
Die Sage hat verschiedene Formationen erlebt, durch welche
13).
c. Cels. 1, 32.
14).
c. Cels. 6, 8.
15).
Ebend. 1, 37.
12).
aber immer der Name Pantheras oder Pandira hindurchgeht.
S. Origenes c. Cels. 1, 28. 32. Schöttgen, Horae 2, 693 ff.
aus Tract. Sanhedrin u. A.; Eisenmenger, entdecktes Juden-
thum, 1, S. 105 ff. aus der Schmähschrift: Toledoth Jeschu.
1).
In seinem neuesten theol. Journal, 7, 4. S. 408 f. Mit ihm
stimmen in der mythischen Auffassung dieser Erzählung zu-
sammen: Br …, in Schmidt's Bibl. 1, 1, S. 101 ff.; E. F., in
Henke's Magazin, 5, 1, 151 ff.; Horst, in Henke's Museum,
1, 4, S. 685 ff.; Eichhorn, Einleit. in das N. T. 1, S. 428 f.;
Bauer, hebr. Mythol. 1, 192 e ff.; de Wette, bibl. Dogmat.
§. 281.; Kaiser, bibl. Theologie, 1, S. 231 f.; die Abhandlung
über die verschiedenen Rücksichten u. s. f. in Bertholdt's
krit. Journ. 5. Bd. S. 237.; Fritzsche, Comment. in Matth. S. 56.
Der Letztere schon in der Ueberschrift des ersten Kapitels,
S. 6. richtig: non minus ille (Jesus) ut ferunt doctorum Ju-
daicorum de Messia sententiae, patrem habet spiritum divi-
num, matrem virginem.
2).
Jamblich. vita Pythagorae, cap. 2. ed. Kiessling.
3).
Diog. Laërt. III, 2, 3.
4).
adv. Jovin. 1, 26.
5).
Exeg. Handbuch 1, a, S. 169.
6).
Bibl. Comm. 1, S. 49.
7).
Antiq. 15, 2, 6.
8).
§. 24.
9).
Dieses Verhältniss der vaterlosen Erzeugung Jesu zu der der
Maria von bejahrten Eltern drückt das evang. de nativ. Ma-
riae c. 3. so aus: sicut ipsa (Maria) mirabiliter ex ste-
rili nascetur, ita incomparabiliter virgo generabit altis-
simi filium.
10).
Vgl. Eichhorn, Einl. in das N. T. a. a. O.
11).
N. T. 1, S. 239.
12).
Horae, 2, S. 421 ff. Jüngere Rabbinen haben sie allerdings,
s. Matthaei, Religionsgl. der Apostel 2, a. S. 555 ff.
13).
S. 49 f.
14).
S. 71 f. 169.
15).
Bibl. Comm. 1, S. 48 f.
1).
Diog. Laërt. a. a. O. Vgl. Origenes c. Cels. 1, 37.
2).
Demonax, 29.
3).
Comment. in Matth. p. 55.
4).
S. Origenes in Matthaeum, Opp. ed. de la Rue Vol. 3. S. 463.
5).
Der aufgeklärte Arianer Eunomius lehrte nach Photius, τὸν
Ἰωσὴφ μετὰ τὴν ἄφραςον κυοφορίαν συνάπτεσϑαί τῇ
παρϑένῳ
. Ebenso nach Epiphanius die von ihm sogenann-
ten Dimöriten und Antidikomarianiten, und nach Augustin
die Helvidianer. Vgl. hierüber die Sammlung von Suicer,
im Thesaurus II, s. v. Μαρία, fol. 305 f.
6).
Vgl. Theophylakt und Suidas bei Suicer I, s. v. ἔως, f
1294 f.
7).
Hieron. z. d. St.
8).
S. die Stellen oben §. 19.
9).
S. Orig. in Matth. Tom. 10, 17; Epiphan. haeres. 78, 7; Hi-
storia Josephi c. 2; Protev. Jac. 9. 18.
10).
Chrysostomus hom. 142, bei Suicer s. v. Μαρία, — be-
sonders widerlich ausgeführt im Protev. Jac. c. 19 und 20.
11).
Hieron. ad Matth. 12, und advers. Helvid. bei Suicer 1, S. 85.
12).
a. a. O. S. 61.
13).
a. a. O. S. 168.
14).
Die Brüder Jesu. In Winer's Zeitschrift für wissenschaftli-
che Theologie 1, 3, S. 364 f.
15).
Comm. in Matth. z. d. St.
16).
Biblisches Realwörterbuch, 2te Auflage, 1. Bd. S. 664, Anm.
17).
Comment. in Matth. S. 53 ff., vgl. auch S. 835.
18).
Das von Olshausen S. 62. zur Unterstützung seiner Ausle-
gung des ἕως οὖ ersonnene Beispiel ist besonders unglücklich
gewählt. Denn wenn gesagt wird: wir warteten bis Mitter-
nacht, aber es kam Niemand, so liegt darin allerdings nicht
nothwendig, dass nun nach Mitternacht Jemand gekommen
sei: wohl aber, wenn diess nicht, das Andere, dass wir nach
Mitternacht nicht mehr gewartet haben, so dass hiedurch
dem „bis“ seine exclusive Bedeutung nicht geschmälert wird.
19).
Abermals ein ähnliches „passend“, wie §§. 16 und 17.
20).
Bibl. Comm. 1, S. 62.
21).
Vgl. über diesen Gegenstand besonders Clemen, die Brüder
Jesu, in Winer's Zeitschrift für wiss. Theol. 1, 3, S. 329 ff.;
Paulus, exeg. Handbuch 1. Bd. S. 557 ff.; Fritzsche, a. a. O.
S. 480 ff; Winer, bibl. Realwörterbuch, in den A. A.: Jesus,
Jacobus, Apostel, wo auch die weitere Literatur nachgewie-
sen ist.
22).
Wie sie die Legende verschiedentlich benannt hat, s. bei
Thilo, Codex apocryphus N. Ti 1, S. 363. not.
23).
Euseb. H. E. 2, 1.
24).
Euseb. H. E. 3, 11.
25).
Fritzsche, Comm. in Matth. p. 482.
1).
Exeget. Handb. 1, a, S. 120 ff.
2).
Olshausen z. d. St.
3).
Geschichte Jesu, 1, S. 26.
4).
Bibl. Comm. 1, S. 112.
5).
Vergl. besonders Luc. 1, 46 f. mit 1. Sam. 2, 1; Luc. V. 52.
mit 1. Sam. V. 8; und Luc. V. 53. mit Sam. V. 5.
6).
5. Band, 1. Stück. S. 161 f.
7).
In Henke's Museum, 1, 4, S. 725.
8).
Über den Lukas. S. 23 f.
1).
a. a. O. S. 128.
2).
Olshausen a. d. a. St.; Paulus, S. 172.; Kuinöl, Comm. in
Luc. S. 316.
3).
Dial. c. Tryph. 78: ἀλλὰ ἀπογραφῆς ου῎σης ἐν τῇ Ἰουδαίᾳ
τότε πρώτης
. Noch enger, aber ganz unverständig, be-
schränkt die Schatzung das Protev. Jac. c. 17, nämlich auf
die Bewohner Bethlehems.
4).
Beiträge zur Einleitung in das N. T. 1, S. 229. 34.
5).
Joseph. Antiq. 17, 13, 2.
6).
Ebendas. 17, 13, 5. und 18, 1, 1.
7).
Vgl. Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 171.
8).
Ebendas.
9).
‘ὅτι, πάλαι χρώμενος ἀυτῷ φίλῳ, νῦν ὑπηκόῳ χρήσεται.’
Joseph. Antiq. 16, 9, 3.
10).
Ebendas. 17, 2, 4.
11).
Antiq. 18, 1, 1.
12).
Ebendas. 17, 13, 5.
13).
Ebend. 18, 1, 1.
14).
So z. B. Kuinöl, Comm. in Luc. p. 320. Wenn Olshausen,
Comm. 1, S. 130., vermuthet, schon Lukas selbst möge in
den Text des von ihm benützten Familienberichts diese Glos-
se hineingetragen haben: so baut er eine Erdichtung auf die
andere, um — eine halbe Massregel herauszubringen.
15).
Adv. Marcion. 4, 19, Opp. ed. Semler, Vol. 1, S. 261.
16).
S. bei Winer, Realwörterbuch u. d. A. Quirinus.
17).
a. a. O. S. 174 f.
18).
Storr, opusc. acad. 3, S. 126 f. Süskind, vermischte Auf-
sätze, S. 63.
19).
Michaelis, Anm. z. d. St. und Einl. in d. N. T. 1, 71.
20).
Birch, de censu Quirini.
21).
Credner, Beiträge zur Einl. in das N. T. 1, S. 230 ff.
22).
Apol. 1, 34.
23).
S. Paulus a. a. O. S. 178.
24).
Diess weist Credner nach a. a. O. S. 234.
25).
Über den Lukas, S. 35 f.
26).
Vgl. Paulus a. a. O. S. 179.; Kuinöl S. 321.
27).
a. a. O. S. 43. 131.
28).
In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 124.
29).
Sieffert, über den Ursprung des ersten kanonischen Evange-
liums, S. 68 ff. 158 f. S. dagegen Kern, über den Ursprung
des Evang. Matth., in der Tübinger Zeitschrift für Theolo-
gie, 1834, 2tes Heft, S. 115.
30).
Vgl. Kaiser, bibl. Theologie 1, S. 230.
1).
Cap. 17 ff. Vgl. Historia de nativ. Mariae et de infantia Ser-
vatoris c. 13.
2).
Fabricius, im Codex Apocryph. N. T. 1, S. 105. not. y.
3).
Das zuletzt angeführte Apokryphum a. a. O.
4).
Dial. c. Tryph. 78.
5).
c. Cels. 1, 51.
6).
Hess, Geschichte Jesu 1, S. 43. Olshausen, bibl. Comm. 1,
S. 132.
7).
Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 182.
8).
a. a. O. No. 70 und 78.
9).
Cap. 14.
10).
Cap. 4, bei Thilo, S. 69.
11).
S. Gabler im neuest. theol. Journal 7, 4, S. 410.
12).
Über den Lukas, S. 33.
13).
a. a. O. S. 132.
14).
Olshausen, a. a. O. S. 133.
15).
In seinem Versuch über die Wundergeschichten des N. T.s,
vgl. Gabler's neuestes theol. Journal 7, 4, S. 411. Der Verf.
der natürlichen Geschichte des Propheten von Nazaret hat
auch hier an den Wundern der N. T.lichen Erzählung nicht
genug Stoff für seine Lust zu natürlicher Erklärung, sondern
er unternimmt es, auch die Fabeln der Apokryphen auf sei-
ne Weise zurechtzulegen.
16).
a. a. O. S. 180 ff. Wie Paulus eine äussere Naturerschei-
nung, so nimmt Matthaei, Synopse der vier Evangelien, S. 3.,
eine innere Engelanschauung an.
17).
Gabler, a. a. O. S. 412.
18).
Über den Lukas, S. 34.
19).
Hebräische Mythologie, 2. Thl. S. 223 ff.
20).
Recension von Bauer's hebr. Mythologie in Gabler's Journal
für auserlesene theol. Literatur, 2, 1, S. 58 f.
21).
Neuest. theol. Journal 7, 4, S. 412 f.
22).
in Luc. 2. Bei Suicer 2, p. 789 f.
23).
Servius ad Virg. Ecl. 10, 26.
24).
Liban. progymn. p. 138, bei Wetstein S. 662.
25).
So Cyrus, nach Herod. 1, 110 ff. Romulus, nach Liv. 1, 4.
26).
S. die Stellen bei Wetstein, p. 660 f.
27).
Diess ist die Ansicht Thilo's, Codex Apocr. N. T. 1, S. 383, not.
28).
S. Schöttgen, a. a. O. 2, S. 531.
29).
Sota, 1, 48: Sapientes nostri perhibent, circa horam nativi-
tatis Mosis totam domum repletam fuisse luce (Wetst.).
30).
Über den Lukas, S. 29 f.
31).
Man vergleiche:
1. Mos. 37, 11 (LXX):

Ἐζήλωοαν δὲ αὐτὸν οἱ
ἀδελφοὶ αὐτοῦ· ὁ δὲ πατὴρ
αὐτοῦ διετήρησε τὸ
ῥῆμα

. Und dazu die Rab-
binen, bei Schöttgen, ho-
rae, 1, 262.
Luc. 2, 18 f.:

καὶ πάντες οἱ ἀκούσαντες ἐϑαύ-
μασαν, — — ἡ δὲ Μαριὰ μ
πάντα συνετήρει τὰ ῥ ή-
ματα
ταῦτα, συμβάλλουσα
ἐν τῇ καρδίᾳ αὑτῆς

. 2, 51:

καὶ ἡ μήτηρ αὐτοῦ διετ ήρει
πάντα τὰ ῥήματα ταῦτα ἐν
τῇ καρδίᾳ αὑτῆς.

32).
a. a. O. S. 33.
33).
a. a. O. S. 27 f.
34).
Bereschith rabba, sect. 1, fol. 3, 3 (bei Schöttgen, horae, 2,
S. 436.):

Sex res praevenerunt creationem mundi: quaedam
ex illis creatae sunt, nempe lex et thronus gloriae; aliae
ascenderunt in cogitationem (Dei) ut crearentur, nimirum
Patriarchae, Israël, templum, et nomen Messiae.

1).
Vergl. Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kano-
nischen Evangeliums, S. 69 ff.
2).
S. Winer, bibl. Realwörterbuch, d. A. Bethlehem.
3).
Histor. 5, 13.
4).
Vespas. 4.
5).
Vergl. Diog. Laërt., prooem.
6).
S. die gründliche Ausführung von Paulus, exeg. Handbuch,
1, a, S. 213 ff.
7).
Treffend Fritzsche z. d. St.: — comperto, quasi magos
non ad se redituros statim scivisset
, orti sideris
tempore, etc.
8).
So vergrössert findet sich die Sache bei Justin, Dial. c.
Tryph. 78.
9).
K. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1, S. 150 f. Vgl. Fritz-
sche
, Comm. in Mitth. S. 82.
10).
Bibl. Comm. 1, S. 76.
11).
Schmidt, exeg. Beiträge, 1, 155 f.
12).
Stark, Synops. bibl. exeg. in N. T. p. 62.
13).
Schubert, Lehrbuch der Sternkunde, S. 106. 173 f.
14).
S. den zuletzt angeführten Ort.
15).
S. Michaelis Anmerkungen z. d. St.
16).
z. B. Euseb. Demonstr. evang. 9. angef. bei Suicer, 1, S. 559.
17).
Chrysostomus u. A. bei Suicer a. a. O., und das evang. in-
fant. arab. c. 7.
18).
S. bei Kuinöl, Comm. in Matth. S. 23.
19).
Vermischte Aufsätze, S. 8.
20).
Bibl. Comm. 1, S. 70.
21).
Schmidt, exeg. Beiträge, 1, 152 ff.
22).
a. a. O. S. 74.
23).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 44 f.
24).
S. Schmidt, a. a. O. S. 156.
25).
Babylon. Sanhedr. f. 107, 2, bei Lightfoot, horae, S. 207.
26).
S. Schöttgen, horae, 2, S. 533.
27).
Joseph. Antiq. 17, 7.
28).
Macrob. Saturnal. 2, 4:

Quum audisset (Augustus) inter
pueros, quos in Syria Herodes rex Judaeorum intra bimatum
jussit interfici, filium quoque ejus occisum, ait: melius est,
Herodis porcum esse quam filium.

29).
S. Wetstein, Kuinöl, Olshausen z. d. St.
30).
Fritzsche, Comm. in Matth. S. 93 f.
31).
So Chrysostomus u. A.
32).
S. Gratz, Comm. zum Ev. Matth. 1, S. 115.
33).
Kuinöl, ad Matth. p. 44 f.
34).
S. Wetstein z. d. St.
35).
Schneckenburger, Beiträge zur Einleitung in das N. T. S. 42.
36).
Gieseler, in den Studien und Kritiken, 1831, 3. Heft, S. 588 f.
und Fritzsche S. 104. Vgl. Hieron ad Jesai. 11, 1.
1).
a. a. O. S. 200 ff.
2).
S. bei Kuinöl, p. 23.
3).
Ebendas.
4).
Kepler, in mehreren Abhandlungen; Münter, der Stern der
Weisen; Ideler, Handbuch der mathemat. und technischen
Chronologie, 2. Bd. S. 399 ff.
5).
S. bei Olshausen S. 69.
6).
Paulus a. a. O. S. 202. 221.
7).
a. a. O.
8).
Paulus a. a. O. S. 205 f.
9).
Ders. S. 202. 219 f.
10).
Später knüpften sich zwar an diese ägyptische Reise Jesu
jüdische Lästerungen, aber ganz anderer Art, von welchen
im folgenden Kapitel die Rede werden wird.
11).
In Henke's Magazin 5, 1, 171 ff. Auf etwas Ähnliches läuft
auch die Ansicht von Matthaei, Religionsgl. der Apostel, 2,
S. 422 ff. hinaus.
12).
Über formelle oder genetische Erklärungsart der Wunder.
In Henke's Museum, 1, 3, 399 ff.
1).
Orig. c. Cels. 1, 60. Ebenso Auctor op. imperf. in Matth.
bei Fabric. Cod. Pseudepigr. V. T. p. 807 f.
2).
Schmidt's Bibliothek, 3, 1, S. 130.
3).
In loc. Num. (bei Schöttgen, horae, 2, S. 152.): Multi in-
terpretati sunt haec de Messia.
4).
Wetstein z. d. St., Schöttgen, horae, 2, S. 151 f.
5).
Justin. Hist. 37, 2.
6).
Plin. H. N. 2, 23.
7).
Jalkut Rubeni, f. 32, 3 (bei Wetstein): qua hora natus est
Abrahamus, pater noster, super qu[e]m sit pax, stetit quod-
dam sidus in oriente et deglutivit quatuor astra, quae erant
in quatuor coeli plagis. Nach einer arabischen Schrift, Ma-
allem betitelt, wird dieser die Geburt Abrahams vorbedeu-
tende Stern von Nimrod im Traum gesehen. Fabric. Cod.
pseudepigr. V. T. 1, S. 345.
8).
Testamentum XII Patriarcharum, test. Levi, 18 (Fabric. Cod.
pseud. V. T. p. 584 f.): καὶ ἀνατελεῖ ἄςρον αὐτ[οῦ] (des mes-
sianischen ἱερεὺς καινὸς) ἐν οὐρανῷ, — φωτίζον φῶς γνώσεως
κ. τ. λ.
Pesikta Sotarta f. 48, 1 (bei Schöttgen 2, S. 531):
Et prodibit stella ab oriente, quae est stella Messiae, et in
oriente versabitur dies XV. Vgl. Sohar Genes. f. 74. bei
Schöttgen 2, 524, und einige andere Stellen, welche Ideler
nachweist im Handbuch der Chronologie, 2. Bd. S. 409. An-
merk. 1. und Bertholdt, Christologia Judaeor. §. 14.
9).
Vergl. mit den, Anm. 7. angeführten Stellen Protevang. Jac.
cap. 21: εἴδομεν ἀςέρα παμμεγέϑη, λάμψαντα ἐν τοῖς
ἄςροις τούτοις καὶ ἀμβλύνοντα αὐτοὺς τοῦ φαίνειν.

Noch mehr übertrieben in Ignat. ep. ad Ephes. 19. S. die
Sammlung hiehergehöriger Stellen bei Thilo, cod. apocr. 1,
S. 390 f.
10).
Exeget. Beiträge 1, S. 159 ff.
11).
Fritzsche in der Überschrift vom Kap. 2: Etiam stella, quam
judaica disciplina sub Messiae natales visum iri dicit, quo
Jesus nascebatur tempore exorta est.
12).
Wie es Matth. 2, 11. von den Magiern heisst: προσήνεγκαν
αυτῷ — χρυσὸν καὶ λίβανον: so Jes. 60, 6 (LXX):
ἥξουσι, φέροντες χρυσίον, καὶ λίβανον οἴσουσι.
Das dritte
Geschenk, welches bei Matth. in σμύρνα besteht, ist bei
Jes. λίϑος τίμιος.
13).
V. 1 (LXX): φωτίζου, φωτίζου, Ἱερουσαλὴμ, ἥκει γάρ σου
τὸ φῶς, καὶ ἡ δόξα Κυρίου ἐπί σε ἀνατέταλκεν
. V. 3:
καὶ πορεύσονται βασιλεῖς τῷ φωτί σου (לְאוֺרֵךְ)κ. τ. λ.
14).
Aeneid. 2, 693 ff.
15).
S. die Nachweisungen bei Wetstein z. d. St.
16).
Nach einer Stelle bei Wetstein S. 247.
17).
1, 108 ff.
18).
1, 4.
19).
August. 94:

Ante paucos quam nasceretur menses prodigium
Romae factum publice, quo denuntiabatur, regem populi Ro-
mani naturam parturire. Senatum exterritum, censuisse, ne
quis illo anno genitus educaretur. Eos, qui gravidas uxores
haberent, quo ad se quisque spem traheret, curasse, ne Se-
natusconsultum ad aerarium deferretur.

20).
Joseph. Antiq. 2, 9, 2: τῶν ἱερογραμματέων τις — — ἀγ-
γέλλει τῷ βασιλεῖ, τεχϑήσεσϑαί τινα κατ' ἐκεῖνον τὸν
καιρὸν τοῖς Ἰσραηλίταις, ὃς ταπεινώσει μὲν τὴν Αἰ-
γυπτίων ἡγεμονίαν, αὐξήσει δὲ τοὺς Ἰσραηλίτας τραφεὶς,
ἀρετῇ δὲ πάντας ὑπερβαλεῖ, καὶ δόξαν ἀ[ου]ίμνηςον κτή-
σεται. Δείσας δὲ ὁ βασιλεὺς, κατὰ γνώμην τὴν ἐκείνου
κελεύει πᾶν τὸ γεννηϑὲν ἄρσεν ὑπὸ τῶν Ἰσραηλιτῶν εἰς
τὸν ποταμὸν ῥιπτοῦντας διαφϑείρειν.
21).
Jalkut Rubeni (Fortsetzung der Anm. 7. angeführten Stelle):

dixerunt sapientes Nimrodi: natus est Tharae filius hac ipsa
hora, ex quo egressurus est populus, qui haereditabit prae-

22).
Protev. Jacobi c. 22 f.
23).
S. die Fortsetzung der Not. 21. angeführten Stellen.
21).

sens et futurum seculum; si tibi placuerit, detur patri ip-
sius domus argento auroque plena, et occidat ipsum

. Vgl.
auch die Stelle des arabischen Buchs, bei Fabric. Cod. pseud-
epigr. a. a. O.
24).
2. Mos. 4, 19 (LXX): βάδιζε, ἄπελϑε εἰς Αϊγυπτον· τεϑνή-
κασι γὰρ πάντες οἱ ζητοῦντές σου τὴν ψυχήν
.
Matth. 2, 20: ἐγερϑεὶς-πορεύου εἰς γῆν Ἰσραὴλ, τεϑνή-
κασι γὰρ οἱ ζητοῦντες τὴν ψυχὴν τοῦ παιδιου
.
25).
S. z. B. Schöttgen, horae, 2, 209.
26).
Schöttgen, 2, 532 f.
27).
Tanchuma f. 19, 3. bei Schöttgen, 2, S. 169.
28).
Auch Schleiermacher, über den Lukas, S. 47, erklärt die Er-
zählung von den Magiern u. s. w. für eine symbolische; da
er es aber verschmäht, auf die hiehergehörigen A. T.lichen
u. a. Stellen Rücksicht zu nehmen, so rächt sich diess da-
durch, dass er in der Deutung der Erzählung theils im All-
gemeinen stehen bleibt, theils in's Schiefe geräth.
29).
So Lightfoot, horae p. 202.
30).
Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kanonischen
Evangeliums, S. 69 ff.
1).
So z. B. Augustin de consensu evangelistarum 2, 5. Storr,
opusc. acad. 3, S. 96 ff.
2).
Unter den Neueren z. B. Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 51 ff.
Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 203 f. Olshausen, bibl. Com-
ment. 1, S. 147.
3).
Was Olshausen S. 147. einen mindestens haltbaren Ausweg
für denjenigen nennt, der die Syrten der Mythen zu vermei-
den den Beruf fühle, dass nämlich (S. 145.) zwischen das
bei Lukas 2, 39. unmittelbar verbundene ὡς ἐτέλεσαν απαν-
τα
und ὑπέςρεψαν εἰς Ναζαρὲτ sich gar wohl noch andere
Reisen hineindenken lassen, indem das ὑπέςρεψαν κ. τ. λ.
als Schlussformel nur den fortan bleibenden Aufenthalt Jesu
anzeige, vor welchem wohl noch einige vorübergehende (wie
Bethlehem, Ägypten) vorangegangen sein könnten, — das
sollte er vielmehr eine Ausflucht heissen, die nur derjenige
haltbar zu nennen den Beruf fühlen kann, welcher befangen
genug ist, vor Mythen im N. T. als vor Syrten zurückzu-
schrecken. — Dass aber nach Michaelis (Anmerk. zu seiner
Übersetzung S. 379.) der Weg von Jerusalem nach Nazaret
über das in entgegengesetzter Richtung gelegene
Bethlehem geführt haben solle, eine so kecke Behauptung
zeigt am deutlichsten, wie verzweifelt es um eine Sache ste-
he, welcher zulieb dergleichen gemacht werden.
4).
Dieselbe Differenz in Feststellung des chronologischen Ver-
5).
Diese Unverträglichkeit der beiden Erzählungen ist schon
frühe einigen Gegnern des Christenthums (Epiphanius, hae-
res. 51, 8. nennt neben Celsus und Porphyr noch einen Phi-
losabbatius) zum Bewusstsein gekommen. Nur überspannten
sie den Bogen dadurch, dass sie den Matthäus so deuteten,
als sollten noch in der Geburtsnacht Jesu die Magier ange-
kommen sein.
6).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 47. Schneckenburger
a. a. O.
4).
hältnisses der beiden Begebenheiten findet sich auch zwischen
zwei verschiedenen Texten des Apokryphums: historia de na-
tivitate Mariae et de inf. serv., s. bei Thilo, S. 385, not.
1).
Antiq. 14, 9. 4. 15, 1, 1 u. 10, 4.
2).
S. bei Paulus a. a. O. S. 194 f.
3).
Paulus a. a. O. Das Evang. Nicodemi freilich nennt ihn c. 16,
ὑ μέγας διδάσκαλος, und das Protev. Jacobi c. 24. macht
ihn zum Priester oder gar zum Hohenpriester, s. die Varr.
bei Thilo Cod. Apocr. N. T. 1, S. 271. vgl. 203.
4).
1. Thl. S. 205 ff.
5).
Paulus a. a. O. S. 191. Kuinöl, Comm. in Luc. p. 340.
6).
Cap. 6: viditque illum Simeon senex instar columnae lucis
refulgentem, cum Domina Maria virgo, mater ejus, ulnis
suis eum gestaret, — et circumdabant eum angeli instar cir-
culi, celebrantes illum
etc. Bei Thilo, S. 71.
7).
So E. F. in der Abhandlung über die beiden ersten Kapp.
des Matth. und Lukas. In Henke's Magazin 5. Bd. S. 169 f.
Eine ähnliche Halbheit bei Matthaei, Synopse der vier Evang.
S. 3. 5 f.
8).
Die von Simeon an Maria gerichteten Worte: καὶ σοῦ δὲ
αὐτῆς τὴν ψυχὴν διελεύσεται ῥομφαία
(V. 35.) können
an die Worte des messianischen Unglückspsalms 22, V. 21.
erinnern: ῥῦσαι ἀπὸ ῥομφαίας τὴν ψυχήν μου.
9).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 37.
1).
Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 146 f.
2).
Dial. c. Tryph. 78: ἀνεληλύϑει (Ἰωσὴφ) ἀπὸ Ναζαρὲτ,
ἔνϑα ᾤκει, εἰς Βηϑλεὲμ, ὅϑεν ἦν, ἀπογράψασ ϑαι
.
Indess könnte man das ὅϑεν ἦν möglicherweise als Bezeich-
nung des blossen Stammorts fassen, zumal wenn man den
Zusatz Justins erwägt: ἀπὸ γὰρ τῆς κατοικούσης τὴν γῆν
ἐκείνην φυλῆς Ἰούδα τὸ γένος ἦν.
3).
Beiträge zur Einleit. in das N. T. 1, S. 217.
4).
C. 1. S. 10.
5).
Exeget. Handb. 1, a, S. 178.
6).
Bibl. Comm. 1, S. 148, Anm.
7).
Über die Unzulässigkeit der mythischen Auffassung u. s. f.
1, S. 101.
8).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 45. Sieffert, über den
Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums. S. 68 f.
9).
Tertull. adv. Marcion L. 4. c. 8. Epiphan. haer. 29, 1.
10).
Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 230.
11).
s. K. Ch. L. Schmidt, in Schmidt's Bibliothek 3, 1, S. 123 f.
vgl. Kaiser a. a. O.
12).
Worauf sich z. B. Heydenreich beruft, über die Unzulässig-
keit u. s. f. 1, S. 99.
13).
Bei diesem Stand der Sache wird es wohl Niemand vorzie-
hen wollen, weder mit Schleiermacher (über den Lukas,
S. 49.) die Frage über das Verhältniss der beiden Berichte
zum Thatbestand unentschieden zu lassen, noch mit Sieffert
(über den Ursprung des ersten kanonischen Evang. S. 68 f.
und 158.) einseitig für den des Lukas sich zu entscheiden.
1).
Geschichte Jesu, 1, S. 110.
2).
Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 149.
3).
Olshausen, a. a. O. 1, 150.
4).
Hase, Leben Jesu, §. 33.
5).
Heydenreich, über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 103.
6).
Megillah f. 21, 1, bei Lightfoot z. d. St.
7).
s. bei Kuinöl, in Luc. p. 353.
8).
Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei Thilo, S. 288 ff. und evang.
infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei Thilo.
9).
Ebend.
10).
Evang. inf. arab. c. 50.
11).
Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.
12).
Dafür erkennt diese Vorstellung auch Olshausen an, S. 151.
13).
s. die Belege (z. B. Hieros. Taanith 67, 4.) bei Wetstein
und Lightfoot z. d. St.
14).
Lightfoot, horae, S. 742.
15).
Paulus, a. a. O. S. 279.
16).
Kuinöl, a. a. O. S. 353 f.
17).
Horae, 2, S. 886.
18).
a. a. O. S. 151.
19).
Geschichte Jesu, 1, S. 112.
20).
1. Sam. 2, 26 (LXX): καὶ τὸ παιδάριον Σαμουὴλ ἐπορεύετο
μεγαλυνόμενον, καὶ ἀγαϑὸν καὶ μετὰ Κυρίου καὶ μετὰ
ἀνϑρώπων
.
Luc. 2, 52: καὶ Ἰησοῦς προέκοπτε σοφίᾳ καὶ ἡλικίᾳ,
καὶ χάριτι παρὰ ϑεῷ καὶ ἀνϑρώποις.
Vergl. hiezu noch,
was Josephus Antiq. 2, 9, 6. von der χαρις παιδικὴ des
Moses zu sagen weiss.
1).
s. Gabler, im neuesten theol. Journal 3, 1, S. 39.
2).
Joseph. Antiq. 2, 9, 6: σύνεσις δὲ οὐ κατὰ τὴν ἡλικίαν
ἐφύετο αὐτῷ, κ. τ. λ.
3).
Philo, de vita Mosis, Opp. ed. Mangey, Vol. 2. S. 83 f.:
οὐχ οἷα κομιδῆ νήπιος ἥδετο τωϑασμοῖς καὶ γέλωσι καὶ
παιδιαῖς — ἀλλ' αἰδὼ καὶ σεμνότητα παραφαίνων, ἀκούσ-
μασι καὶ ϑεάμασιν, ἅ τὴν ψυχὴν ἔμελλεν ὠφελήσειν,
προσεῖχε. διδάσκαλοι δ' εὐϑὺς, ἀλλαχόϑεν ἀλλος, παρῆ-
σαν — ὧν ἐν οὐ μακρῷ χρόνῳ τὰς δυνάμεις ὑπερέβαλεν,
εὐμοιρίᾳ φύσεως φϑάνων τὰς ὑφηγήσεις.
4).
Chagiga, bei Wetstein z. d. St.: A XII anno filius censetur
maturus. Ebenso Joma f. 82, 1. Berachoth f. 24, 1; woge-
gen Bereschith Rabba 63, ebenfalls bei Wetstein, das drei-
zehnte Jahr als jenes Entscheidungsjahr bezeichnet.
5).
Schemoth R. V. f. 94, 4. bei Wetstein: Dixit R. Chama:
Moses duodenarius avulsus est a domo patris sui etc.
6).
Joseph. Antiq. 5, 10, 4: Σαμούηλος δε πεπληρωκὼς ἔτος
ἤδη δωδέκατον, προεφήτευε.
7).
Ignat. ep. interp. ad Magnes. c. 3: Σολομῶν δὲ — δωδε-
καετὴς βασιλεύσας τὴν φοβερὰν ἐκείνην καὶ δυσερμ[ή]νευ-
τον ἐπὶ ταῖς γυναιξὶ κρίσιν ἕνεκα τῶν παιδίων ἐποιήσατο.
8).
Diese Einsicht hat Kaiser, bibl. Theol. 1, 234.
9).
Also auch davon nichts, was Hase (Leben Jesu §. 33.) darin
finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe
zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei
eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht
früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene
Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei.
10).
Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92.
11).
Über den Lukas, S. 39 f.
12).
Cap. 5: Auch im griechischen Text ist die wahrscheinlichere
Lesart: καὶ μάλιςα οὐ συφῶς, s. Thilo, S. 287.
1).
Daher die Überschrift eines arabischen Apokryphums (nach
der lat. Übersetzung bei Thilo, 1, S. 3.): historia Josephi,
fabri lignarii.
2).
s. Thilo Cod. Apocr. N. T. 1, S. 368 f. not.
3).
Justin. Dial. c. Tryph. 88. Diese Stücke lässt er Jesum fer-
tigen, ohne Zweifel angeleitet von Joseph. Im Evang. Tho-
mae c. 13. ist Joseph der Verfertiger.
4).
cap. 38 f., S. 112 ff., bei Thilo.
5).
cap. 9 und 13.
6).
c. Cels. 6, 36.
7).
Fritzsche in Marc. p. 200.
8).
Bei Wetstein, N. T. S. 577. Vgl. Winer, Realwörterbuch 1,
S. 665. Anm.
9).
s. Paulus, exeg. Handb. 2, S. 199.
10).
a. a. O.: ταῦτα γὰρ τὰ τεκτονικὰ ἔργα εἰργάζετο ἐν
ἀνϑρώποις ὢν, ἄροτρα καὶ ζυγά· διὰ τούτων καὶ τὰ τῆς
δικαιοσύνης σύμβολα διδάσκων, καὶ ἐνεργῆ βίον.
11).
cap. 38.
12).
Theodoret H. E. 3, 23.
13).
s. Hase, Leben Jesu, §. 42. Winer, bibl. Realwörterbuch 1,
S. 665.
14).
Winer a. a. O.
15).
Wie diess die genannten beiden Theologen a. d. a. OO. thun.
1).
Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.
2).
Darauf beruft sich Paulus, a. a. O. 275 ff.
3).
Vergl. Hase, Leben Jesu. §. 41.
4).
Paulus, a. a. O.
5).
Darauf beruft sich Schöttgen: Christus rabbinorum summus
in s. horae, 2, S. 890 f.
6).
Wie diess z. B. Reinhard thut, in seinem Plan Jesu.
7).
Evang. infant. arab. c. 1. S. 60 f. bei Thilo.
8).
cap. 2, S. 278 Thilo.
9).
cap. 10 ff.
10).
z. B. Evang. Thomae, c. 3—5. Evang. infant. arab. c. 46 f.
11).
Evang. Thomae, c. 2. Evang. inf. arab. c. 36.
12).
Orig. c. Cels. 1, 28: καὶ (λέγει) ὅτι ου῟τος (ὁ Ἰησοῦς) διὰ
πενιαν εἰς Αἴγυπτον μισϑαρνήσας, κἀκεῖ δυνάμεών τι-
νων πειραϑεὶς, ἐφ' αἷς Αἰγύπτιοι σεμνύνονται, ἐπαν-
ῆλϑεν, ἐν ταῖς δυνάμεσι μέγα φρονῶν, καὶ δἰ αὐτὰς
ϑεὸν αὑτὸν ἀνηγόρευσε.
13).
Sanhedr. f. 107, 2:

— R. Josua f. Perachja et ישו Alexan-
driam Aegypti profecti sunt — — ישו ex illo tempore ma-
giam exercuit, et Israëlitas ad pessima quaevis perduxit.
Schabbath f. 104, 2: Traditio est, R. Elieserem dixisse ad
viros doctos: annon f. Satdae (i. e. Jesus) magiam ex Aegyp-
to adduxit per incisionem in carne sua factam?

s. Schött-
gen
, horae, 2, S. 697 ff, Eisenmenger, entdecktes Judenthum,
1, S. 149 f.
14).
z. B. des Côtes, Schutzschrift für Jesus von Nazaret, S. 128 ff.
15).
So nach englischen Deisten und Friedrich d. Gr. namentlich
Stäudlin, Geschichte der Sittenlehre Jesu 1, S. 570 ff.
16).
s. Band 1.
17).
Briefe über die Bibel, zweites Bändchen, 18ter, 20ster Brief
und ff. 4tes Bändchen, 49ster Brief.
18).
So Paulus a. a. O. 1, a, 273 ff. Planck, Geschichte des Chri-
stenthums in der Periode seiner ersten Einführung 1, S. 84.
de Wette, bibl. Dogm. §. 212. Hase L. J. §. 41. Winer,
bibl. Realw. S. 677 f.
1).
Die von Süskind (vermischte Aufsätze S. 76 ff.) behauptete Be-
ziehung des ἐν ταῖς ἡμ. ἐκ. auf die Zeit, als Jesus noch in
Nazaret wohnte, hat Schneckenburger (über den Ursprung
des ersten kan. Ev. S. 30.), mit Recht wie es scheint, als
einen Nothbehelf von der Hand gewiesen.
2).
s. Fritzsche, in Matth. S. 106.
3).
Exeget. Handb. 1, a, S. 46. Ihm stimmt auch Schnecken-
burger
bei a. a. O.
4).
s. Paulus a. a. O. S. 336.
5).
Antiq. 19, 5, 1 und 20, 7, 1. vergl. Bell. jud. 2, 11, 5.
6).
s. die erste der zuvor angeführten Stellen, und Winer, bibl.
Realwörterbuch, d. A. Abilene.
7).
B. jud. 1, 13, 1. vergl. mit Antiq. 14, 7, 4.
8).
Joseph. Antiq. 15, 4, 1.
9).
Süskind, vermischte Aufsätze, S. 15 ff.
10).
a. a. O. S. 343.
11).
Michaelis, Anmerk. zur Übersetzung d. St.; Paulus a. a. O.
S. 342 ff. Schneckenburger, in Ullmann's und Umbreit's Stu-
dien, 1833, 4. Heft, S. 1056 ff.
12).
Denn auf die Auktorität eines einzigen Codex hin mit Schnek-
kenburger
u. A. das zweite τετραρχοῦντος zu streichen, ist
doch eine zu offenbare Gewaltsamkeit.
13).
s. Paulus, S. 294.
14).
s. Schleiermacher, über den Lukas, S. 62.
15).
Dieser Ansicht war auch Bengel, Ordo temporum, S. 204 f.
ed. 2.
16).
Antiq. 18, 5, 2.
17).
So Cludius, über die Zeit und Lebensdauer Johannis und Je-
su. In Henke's Museum, 2, 3, 502 ff.
18).
a. a. O.
1).
Stäudlin, Geschichte der Sittenlehre Jesu, 1, S. 580. Paulus
exeg. Handb. 1, a, S. 136. Vergl. auch Creuzer, Symbolik,
4, S. 413 ff.
2).
a. a. O. S. 347.
3).
Bell. jud. 3, 10, 7.
5).
Schneckenburger, a. a. O. S. 38 f.
4).
s. Winer, bibl. Realwörterbuch, d. A. Wüste. Schnecken-
burger
, über den Ursprung des ersten kanonischen Evange-
liums, S. 39.
6).
s. ausser der angef. Stelle des Josephus, Winer, bibl. Real-
wörterbuch, 1, S. 708.
7).
Winer, a. a. O. S. 691.
8).
Paulus, a. a. O. S. 301.
9).
s. die Schrift von Schneckenburger, über das Alter der jüdi-
schen Proselytentaufe.
10).
Sanhedr. f. 97, 2: R. Elieser dixit: si Israëlitae poeniten-
tiam agunt, tunc per Goëlem liberantur; sin vero, non li-
berantur. Bei Schöttgen, horae, 2, S. 680 ff.
11).
Antiq. 18, 5, 2.
12).
Ebendas.
13).
So Paulus, a. a. O. S. 314 und 361. Anm.
14).
Fragment von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, heraus-
gegeben von Lessing, S. 133 ff.
15).
So Semler in der Beantwortung des angeführten Fragments
z. d. St., ebenso die meisten Neueren, Planck, Geschichte
des Christenthums in der Periode seiner Einführung, 1, K. 7.
Winer, bibl. Realwörterbuch, 1, S. 691.
16).
Lücke, Commentar zum Evang. Johannis 1, S. 362. (2te Aufl.)
17).
Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 117 f. Paulus, a. a. O. S. 366.
18).
Vergl. die Ausführung des Fragmentisten a. a. O.
19).
Haeres. 30, 13: Καὶ ὡς ἀνῆλϑεν ἀπὸ τοῦ ὕδατος, ἠνοίγη-
σαν οἱ οὐρανοὶ, καὶ εἶδε τὸ πνεῦμα τοῦ ϑεοῦ τὸ ἅγιον ἐν
εϊδει περιςερᾶς κ. τ. λ. καὶ φωνὴ ἐγένετο κ. τ. λ. καὶ
εὐϑὺς περιέλαμψε τὸν τόπον φῶς μέγα. ὅν ἰδών, φησιν,
ὁ Ἰωάννης λέγει αυ' τῷ· σὺ τίς εἶ, Κύριε; καὶ πάλιν
φωνὴ κ. τ. λ. καὶ τότε, φησὶν, ὁ Ἰωάννης παραπεσών
αυ' τῷ ἔλεγε· δέομαί σου Κύριε, σύ με βάπτισον.
20).
Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kanonischen
Evangeliums, S. 121 f. Lücke, Comm. z. Ev. Joh. 1, S. 361.
Vergl. Usteri, über den Täufer Johannes u. s. w. Studien
2, 3. S. 446.
1).
z. B. Tertull. adv. Marcion. 4, 18.
2).
s. Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 747 f. Kuinöl, Comm. in
Matth. S. 309.
3).
So z. B. Calvin, Comm. in harm. ex Matth., Marc. et Luc.
z. d. St. P, 1, S. 258, ed. Tholuck.
4).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 106 f.
5).
s. Kuinöl, Comm. in Matth. S. 308.
6).
a. a. O. S. 109.
7).
Vergl. übrigens Calvin z. d. St.
8).
So die meisten jetzigen Erklärer: Paulus und Kuinöl, z. d. St.
Hase, Leben Jesu, §. 79. Selbst Fritzsche, Comm. in Matth.
S. 397. findet diess aliquanto verosimilius und bleibt dabei
stehen.
9).
a. a. O. S. 110.
10).
Bibl. Comm. 1, S. 360 ff.
11).
Gabler, meletem. in loc. Joh. 1, 29, in s. Opusc. acad. S.
514 ff. Paulus, Leben Jesu, 2, a, die Übersetzung d. St.,
und Comm. zum Ev. Joh. z. d. St.
12).
de Wette, de morte Christi expiatoria, in s. Opusc. theol.
S. 77 ff. Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 347 ff. Winer,
bibl. Realwörterb. 1, S. 693, Anm.
13).
Gabler und Paulus a. d. a. OO. Auch de Wette a. a. O.
S. 75 ff. 80 ff.
14).
de Wette, a. a. O. S. 76.
15).
Paulus, Leben Jesu, 2, a, die Übers. S. 29. 31.
16).
Tholuck, Comm. zum Ev. Johannis, 2te Ausg. S. 49 f. Lücke
Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 311 ff.
17).
Lücke, a. a. O.
18).
s. Bertholdt, Christologia Judaeorum Jesu apostolorumque
aetate, §§. 23—25.
19).
Probabilia S. 41.
20).
s. Gfrörer, Philo und die alexandr. Theosophie, 2. Thl. von
S. 280 an.
21).
Lücke, a. a. O. S. 500.
22).
Man vergleiche besonders:
Joh. 3, 11 (Jesus zu Niko-
demus): ἀμὴν, ἀμὴν, λέ-
γω σοι, ὅτι ὅ οϊδαμεν,
λαλοῦμεν, καὶ ὁ ἑωράκα-
μεν, μαρτυροῦμεν, καὶ τὴν
μαρτυρίαν ἡμῶν οὐ λαμ-
βάνετε.
V. 18: ὁ πιςεύων εἰς αὐ-
τὸν οὐ κρίνεται· ὁ δὲ μὴ
πιςεύων, ἤδη κέκριται,
ὅτι μὴ πεπίςευκεν εἰς τὸ
ὄνομα τοῦ μονογενοῦς υἱοῦ
τοῦ ϑεοῦ.

Joh. 3, 32 (der Täufer):
καὶ ὅ ἑώρακε καὶ ἤκουσε,
τοῦτο μαρτυρεῖ, καὶ τὴν μαρ-
τυρίαν αὐτοῦ οὐδεὶς λαμ-
βάνει.
V. 36: ὁ πιςεύων εἰς τὸν
υἱὸν ἔχει ζωὴν αἰώνιον· ὁ
δὲ ἀπειϑῶν τῷ υἱῷ οὐκ ὄψε-
ται ζωὴν, ἀλλ' ἡ ὀργὴ τοῦ
ϑεοῦ μένει ἐπ' αὐτόν.

Vergl. aus der Rede des Täufers noch V. 31. mit Joh. 3, 6.
12 f. 8, 23; V. 32. mit 8, 26; V. 33. mit 6, 27; V. 34.
mit 12, 49. 50; V. 35. mit 5, 22. 27. 10, 28 f. 17, 2.
23).
Bibl. Comm. 2, S. 105. (zweite Ausg.)
24).
Paulus, Olshausen, z. d. St.
25).
z. B. während hier, V. 32, gesagt wird: τὴν μαρτυρίαν αὐ-
τοῦ οὐδεὶς λαμβάνει
, heisst es im Prolog V. 11: καὶ οἱ ἴδιοι
αὐτὸν οὐ παρέλαβον
. Vgl. Lücke, a. a. O. S. 501.
26).
a. a. O.
27).
de Wette, de morte Christi expiatoria, in s. Opusc. theol.
p. 81; Ders., biblische Dogmatik, §. 209; Winer, bibl. Re-
alwörterbuch 1, S. 692.
28).
a. a. O. S. 488.
29).
s. Gesenius, Probeheft der Ersch und Gruber'schen Encyclo-
pädie, d. A. Zabier.
30).
Bretschneider, Probab. S. 46 f.; vergl. Lücke, S. 493 f.;
de Wette, Opusc. a. a. O.
31).
s. statt Aller Greiling, Leben Jesu von Nazaret, S. 132 f.
32).
Schulz, die Lehre vom Abendmahl, S. 145 f. Winer, Real-
wörterb. 1, S. 693.
33).
a. a. O. S. 380.
34).
Irenaeus adv. haer. 3, 1.
35).
Sehr richtig hat diess schon Storr bemerkt und ausgeführt,
über den Zweck der evangelischen Geschichte und der Briefe
Johannis, S. 5 ff. 24 f. Vergl. auch Hug, Einleitung in das
N. T. 2, S. 190 f. (3te Ausg.)
36).
Antiq. 18, 5, 2.
37).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 109.
38).
Ebendas. S. 106 f.
39).
Über den Ursprung u. s. w. S. 79. Vergl. Fritzsche, Comm.
in Matth. S. 178.
1).
3, 23 f. (4, 4 f. LXX): Καὶ ἰδοὺ ἐγὼ ἀποςέλλω ὑμῖν Ἠλίαν
τὸν Θεσβίτην, πρίν ἐλϑεῖν ἡμέραν Κυρίου τὴν μεγάλην
καὶ ἐπιφανῆ. ὃς ἀποκαταςήσει καρδίαν κ. τ. λ.
2).
So wird der Ausdruck οἱ Ἰουδαῖοι in unsrer Stelle von den
erfahrensten Exegeten gedeutet. Vergl. Paulus, Lücke, Tho-
luck
z. d. St.
3).
Lücke, a. a. O. S. 327.
4).
Auch Lücke gesteht (S. 339 seines Comm.) zu, die Ansicht
von der Identität beider Relationen habe vielen Schein für
sich; dass er selbst (S. 342.) sich für die Verschiedenheit
erklärt, hat seinen Grund nur in dem eingestandenen Wun-
sche, beide evangelische Erzählungen in ihrem Werthe zu
erhalten.
5).
Ob auch der Vorgang mit den bei Johannes sich beklagen-
den Jüngern (Joh. 3, 25 ff.) eine Umbildung der entspre-
chenden Scene Matth. 9, 14 f. sei, wie Bretschneider, Pro-
bab. S. 66 ff. nachzuweisen sucht, bleibe dahingestellt.
6).
Dass Jesus, wie Manche annehmen, den Täufer auch desswe-
gen zurückstelle, weil dieser die neue Ordnung der Dinge
nicht ohne äussere Gewalt herbeizuführen gedacht habe, ist
ohne Spur in den Evangelien.
7).
Eine abweichende Erklärung s. bei Schneckenburger, Bei-
träge, S. 48 ff.
8).
Nur in Form einer Anmerkung sei hier der Halbheit gedacht,
mit welcher das Verhältniss des Täufers zu Jesu auch von
denjenigen, welchen über die Unhaltbarkeit der gewöhnlichen
Ansicht von demselben ein Licht aufgegangen, doch noch
immer gefasst wird. Unter diese ist Planck nicht einmal zu
zählen, indem er die Berichte über dieses Verhältniss durch-
aus als historisch nimmt, dann aber nicht umhin kann, ei-
nen zwischen beiden Männern abgeredeten Plan aufs Bestimm-
teste zu behaupten. s. dessen Geschichte des Christenthums
in der Per. seiner Einführung, 1, K. 7.
Die Abhandlung eines Ungenannten hingegen in Henke's
neuem Magazin 6, 3, S. 373 ff., Johannes und Jesus über-
schrieben, geht von dem richtigen Bewusstsein aus, dass
die orthodoxe Vorstellung von Johannes als blossem Vorläu-
fer Jesu, der seine Bestimmung und Absicht nicht in sich
selber, sondern einzig in dem nach ihm Gekommenen gehabt
habe, unhaltbar sei, ebensowenig aber der naturalistische
Verdacht, dass zwischen beiden Männern eine vorgängige
Abrede stattgefunden, irgend einen Grund für sich aufzu-
weisen habe. In ersterer Beziehung nun räumt der Verf.
mit vieler Unbefangenheit die Meinung hinweg, als hätte Jo-
hannes bestimmt schon auf Jesum als Messias hingewiesen,
und geht hierin selbst zu weit, indem er der schwer zu be-
gründenden Vermuthung nachhängt, vielleicht habe der Täu-
fer anfänglich sich selbst zum Messias berufen geglaubt, und
durch seine Taufe für sich Partei machen wollen. Gegen die
andre Vermuthung aber geht er lange nicht weit genug. Er
giebt nämlich nicht blos die Verwandtschaft, das ziemlich
gleiche Alter und die frühe Bekanntschaft beider zu, son-
dern ergeht sich auch in romantischen Vorstellungen von den
Weltverbesserungsplanen, welche die Jünglinge zusammen
entworfen, von dem edelmüthigen Streit, in welchem sie ge-
standen, indem jeder den andern für würdiger gehalten ha-
be, den Messias vorzustellen, bis endlich Johannes im Be-
1).
Antiq. 18, 5. 2.
8).
wusstsein seiner Unzulänglichkeit zurückgetreten, Jesus aber
durch eine Naturbegebenheit bei seiner Taufe in der Über-
zeugung, der Messias zu sein, bestärkt worden sei.
Winer, unter dem Artikel Johannes in seinem bibl. Real-
wörterbuch, 1, S. 690 ff. hat zwar die richtige Einsicht in
die unausgleichbare Differenz zwischen der synoptischen und
johanneischen Darstellung des Täufers, so wie darüber, dass
die letztere die Farbe johanneischer Gnosis trage; aber von
dem theilweise sagenhaften Charakter auch der synoptischen
Berichte hat er keine Ahnung, sondern setzt aus Lukas die
Verwandtschaft und das Altersverhältniss, aus Matthäus die
frühere Bekanntschaft Beider voraus, und glaubt auch uner-
achtet dieses Verhältnisses die späteren in der Sendung aus
dem Kerker bewiesenen Zweifel des Täufers aus seinen A.
T.lichen Messiasvorstellungen begreifen zu können.
Auch Hase, §. 46. seines Lebens Jesu, findet es noch wahr-
scheinlich, dass Johannes ein Blutsfreund von Jesus gewesen
sei und mit ihm in einer auf höchste Achtung gegründeten
Freundschaft gestanden habe, ohne übrigens vor der Taufe
dessen messianische Bestimmung zu kennen. Besonders aber
giebt diesem Theologen die Aufopferung, mit welcher der
Täufer, sobald er die messianische Bestimmung Jesu erkannt
hatte, sich unter ihn stellte, zu einem effektvollen Schlusse
seines ersten Theiles Veranlassung.
Ich begnüge mich, diese Ansichten anzuführen, da ihre
Kritik bereits in der bisherigen Ausführung gegeben ist.
2).
Diesen früheren Gemahl der Herodias nennen die Evangelien
Philippus, Josephus Herodes. Von dem Tetrarchen Philip-
pus war er verschieden. s. Paulus z. d. St. und Winer, b.
Realwörterb. d. A. Herodias.
3).
a. a. O.
4).
Hase, Leben Jesu, §. 79.
5).
Fritzsche, Comm. in Matth. z. d. St. Winer, bibl. Realwör-
terb. 1, S. 694.
6).
so Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 361; Schleiermacher, über
den Lukas, S. 109.
7).
vergl. Fritzsche, Comm. in Marc. p. 225.
8).
z. B. Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kano-
nischen Evangeliums, S. 86 f. Dass das ἐλυπήϑη des Mat-
thäus V. 9. kein Widerspruch dieses Evangelisten mit sich
selber ist, darüber vergl. Fritzsche z. d. St.
9).
s. Winer, b. Realwörterb. d. A. Herodes Antipas.
10).
Vergl. Winer, a. a. O. S. 694; Fritzsche, Comm. in Matth.
S. 491.
1).
Dial. c. Tryph. 8, S. 110. der Mauriner Ausg.
2).
Hess, Geschichte Jesu, 1. Bd. S. 118 f. Anmerk.
3).
Paulus, a. a. O. S. 362 ff. 367. Hase, Leben Jesu, §. 48.
4).
Hieron. adv. Pelagian. 3, 2:

In Evangelio juxta Hebraeos —
— narrat historia: Ecce mater Domini et fratres ejus dice-
bant ei: Joannes baptista baptizat in remissionem peccato-
rum; eamus et baptizemur ab eo. Dixit autem eis: quid
peccavi ut vadam et baptizer ab eo? nisi forte hoc ipsum
quod dixi, ignorantia est.

5).
Der Verfasser des tractatus de non iterando baptismo in Cy-
prians Werken ed. Rigalt. p. 139. sagt (die Stelle steht auch
in Fabric. Cod. apocr. N. T. 1, S. 799 f.):

Est — liber, qui
inscribitur Pauli praedicatio. In quo libro, contra omnes
scripturas et de peccato proprio confitentem invenies Chri-
stum, qui solus omnino nihil deliquit, et ad accipiendum
Joannis baptisma paene invitum a matre sua Maria esse com-
pulsum.

— Da dieses Sträuben gegen die Taufe nicht zum
Bekenntniss eigner Sünde, sondern eigentlich nur zu dem
Bewusstsein der Sündlosigkeit passt, wie es Jesus im Naza-
renerevangelium ausspricht: so mag die Darstellung der Prae-
dicatio Pauli der des genannten Evangeliums verwandt gewe-
sen, und vielleicht nur aus verketzerndem Missverstand här-
ter dargestellt worden sein.
6).
Ruinöl, Comm. in Matth. S. 70. Olshausen, bibl. Comm. 1,
S. 175.
1).
Justin. Mart. dial. c. Tryph. 88: κατελϑόντος τοῦ Ἰησοῦ
ἐπὶ τὸ ὔδωρ, καὶ πῦρ ἀνήφϑη ἐν τῷ Ἰορδάνῃ κ. τ. λ.

Epiphan. haeres. 30, 13 (nach der Himmelsstimme): καὶ εὐ-
ϑὺς περιέλαμψε τὸν τόπον φῶς μέγα.
2).
Über diese Differenzen vergl. Usteri, über den Täufer Jo-
3).
Bauer, hebr. Mythologie 2, S. 225 f. vgl. Gratz, Commentar
zum Evang. Matth. 1, S. 172 ff.
4).
So Basil. M. in Suicer's Thesaurus 2, S. 1479.
2).
hannes, die Taufe und Versuchung Christi, in Ullmann's und
Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 2ten Bandes drittes
Heft, S. 442 ff.
5).
Diess die Worte Theodors, in Münter's Fragmenta patr. graec.
Fasc. 1. S. 142. Orig. c. Cels. 1, 48.
6).
Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 368. Hase, Leben Jesu, §. 48.
7).
Commentar zum Evang. Joh. 1, S. 370.
8).
Bibl. Comm. 1, S. 177 f.
9).
Paulus, a. a. O. S. 363 ff.
10).
Unentschieden lässt es Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 236.
11).
Paulus, a. a. O. und S. 373.
12).
Bauer, hebr. Mythologie 2, 226 f. Kuinöl, Comm. in Matth.
p. 72.
13).
So Paulus, Bauer.
14).
Kuinöl.
15).
Hase.
16).
Bauer, Kuinöl.
17).
Paulus, Hase.
18).
a. a. O. S. 368 f.
1).
Biblische Dogmatik, §. 208. Anm. b.
2).
Über den Lukas, S. 58 f.
3).
In der im vorigen §. Anm. 2. angeführten Abhandlung, von
S. 446. an.
4).
Nach Bava Mezia f. 59, 1. (bei Wetstein S. 427.) berief sich
R. Elieser dafür, dass er die Tradition auf seiner Seite ha-
be, auf ein himmlisches Zeichen. Tum persounit Echo coe-
lestis: quid vobis cum R. Eliesere? nam ubivis secundum
illum obtinet traditio.
5).
Dial. c. Tryph. 88.
6).
Haeres. 30, 13.
7).
Paedagog. 1, 6.
8).
De consens. Evangg. 2. 14.
9).
s. Wetstein z. d. St. des Lukas und de Wette Einl. in das
N. T. S. 100.
10).
s. Rosenmüller's Schol. in Psalm. zu Ps. 2.
11).
Vergl. Fritzsche, Comm. in Matth. z. d. St.
12).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 57.
13).
Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 367.
14).
Tibull. Carm. L. 1. eleg. 8. V. 17 f. und dazu die Anmerkung
von Broeckhuis; Creuzer, Symbolik, 2, S. 70 f.; Paulus,
exeg. Handb. 1, a, S. 369.
15).
Creuzer, Symbolik 2, S. 80.
16).
Chagiga c. 2. (bei Wetstein S. 268.): Spiritus Dei fereba-
tur super aquas sicut columba, quae incumbit pullis suis
Vergl. Ir Gibborim ad Genes. 1, 2. bei Schöttgen horae 1,
S. 9.
17).
Targum Koheleth 2, 12. wird die vox turturis als vox spiri-
tus sancti gedeutet. Diess mit Lücke S. 367. für eine will-
kührliche Deutung zu erklären, scheint nach den obigen Da-
ten selbst der Willkühr ähnlich zu sehen.
18).
Bereschith rabba, sect. 2, f. 4, 4, ad Genes. 1, 2 (bei Schött-
gen
a. a. O.): intelligitur spiritus regis Messiae, de quo di-
citur Jes. 11, 2: et quiescet super illum spiritus Domini.
19).
Sohar Numer. f. 68. col. 271 f. (bei Schöttgen, horae, 2,
S. 537 f.). Der Inhalt dieser Stelle beruht auf dem kabbali-
stischen Schlusse: Ist David nach Ps. 52, 10. der Oelbaum:
so ist der Messias, Davids Spross, das Oelblatt; heisst es
von Noa's Taube Genes. 8, 11., sie habe ein Oelblatt im
Munde geführt: so wird der Messias durch eine Taube in
der Welt eingeführt werden. — Auch christliche Ausleger
haben die Taube bei Jesu Taufe mit der Noachischen vergli-
chen, s. Suicer, Thesaurus 2, d. A. περιςερὰ, S. 688 f. —
Was man sonst wohl hier anzuführen pflegte, dass die Sama-
ritaner auf Garizim eine Taube unter dem Namen Achima
göttlich verehrt haben, ist wohl nur aus absichtlicher Miss-
20).
s. Fritzsche, Comm. in Matth. S. 148.
21).
a. a. O. S. 153.
19).
deutung hervorgegangne jüdische Beschuldigung, s. Stäud-
lin
's und Tzschirner's Archiv 1, 3, S. 66. vgl. 55. 59. 64.;
Lücke, 1, S. 367.
1).
Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 120.
2).
Dass diess der Sinn des Johannes sei, darüber vergl. Lücke
S. 377 f.
3).
Bibl. Comm. 1, S. 175 f.
4).
Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 378 f.
5).
Epiphan. haeres. 30, 14: ἐπ[ε]ιδὴ γὰρ βούλονται τὸν μὲν Ἰη-
σοῦν ὄντως ἄνϑρωπον εἶναι, Χριςὸν δὲ ἐν αὐτῷ γεγενῆ-
σϑαι τὸν ἐν εϊδει περιςερᾶς καταβεβηκότα κ. τ. λ.
6).
Epiphan. haeres. 28, 1.
7).
Epiphan. haeres. 30, 13: — περιςερᾶς κατελϑούσης καὶ
εἰσελϑούσης εἰς αὐτόν.
8).
Dial. c. Tryph. 49.
1).
Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kanonischen
Evang. S. 39.
2).
s. Lücke, a. a. O. S. 343.
3).
Comm. in Joh. z. d. St.
4).
S. 344.
5).
Fritzsche, Comm. in Marc. S. 23.
6).
Kuinöl, Comm. in Luc. S. 379.
7).
Lightfoot, horae, p. 243.
8).
Schneckenburger, über den Ursprung des ersten kan. Evang.
S. 46.
9).
Ders. ebendas.
10).
So schon Euthymius, jetzt Kuinöl u. A. z. d. St.
11).
Fritzsche z. d. St.
12).
Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull-
mann
's und Umbreit's Studien, 1834, 4, S. 789.
13).
Bibl. Comm. 1, S. 192.
14).
Über den Lukas, S. 56.
15).
Ebendas. S. 55 f.
16).
Doch vergl. Schneckenburger, über den Ursprung u. s. w.
S. 46 f.
1).
Exegetische Beiträge, 1, S. 277 ff.
2).
Comm. in Matth. S. 172 ff.
3).
In der angef. Abhandlung, von S. 768 an.
4).
So z. B. Kuinöl, Comm. in Matth. p. 84. Vergl. Gratz, Comm.
zum Matth., 1, S. 229.
5).
Comm. in Matth. p. 157 f.
6).
Bibl. Comm. 1, S. 187 f.
7).
Usteri, über den Täufer Johannes, die Taufe und Versuchung
Christi. In Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kri-
tiken, zweiten Jahrgangs (1829) drittes Heft, S. 450.
8).
de Wette, bibl. Dogmatik, §. 171; Gramberg, Grundzüge ei-
ner Engellehre des A. T. s, §. 5. In Winer's Zeitschrift für
wissenschaftliche Theologie, 1. Bd. S. 182 ff.
9).
Glaubenslehre 1, §§. 44. 45. der zweiten Ausg.
10).
Bibl. Comm. 1, S. 183.
11).
s. Schmidt, exeg. Beiträge, 1, S. 279. Kuinöl, in Matth. S. 76.
12).
In einem Fragment Theodors von Mopsvestia, in Münter's
Fragm. Patr. graec. Fasc. 1, S. 99 f.
13).
Paulus, a. a. O. S. 376.
14).
s. besonders Schmidt a. a. O.
15).
Hess, Geschichte Jesu, 1, 124.
16).
s. den Verf. der Rede de jejunio et tentationibus Christi un-
ter den Werken Cyprians.
17).
Joseph. b. j. 5, 5, 6. 6, 5, 1.
18).
s. bei Fritzsche, in Matth. S. 164.
19).
Kuinöl, in Matth. S. 90.
20).
angeführt bei Fritzsche, p. 168.
1).
Theodor von Mopsvestia a. a. O. S. 107. behauptete gegen
Julian, φαντασίαν ὂρους τὸν διάβολον πεποιηκέναι, und
nach dem Verfasser des schon angeführten Sermo de jejunio
et tentationibus Christi gieng die erste Versuchung zwar lo-
caliter in deserto vor, auf dem Tempel und Berg aber war
Jesus nur so, wie Ezechiel vom Chaboras aus zu Jerusalem,
nämlich in spiritu.
2).
Paulus, S. 379.
3).
So H. Farmer, bei Gratz, Comm. zum Ev. Matth. 1, S. 217.
4).
Olshausen, a. a. O. 1, S. 184.
5).
Paulus, a. a. O. S. 377 ff.
6).
Paulus, a. a. O., vergl. Kuinöl, in Matth. p. 77.
7).
Fritzsche, in Matth. 155 f. Usteri, Beitrag zur Erklärung
der Versuchungsgeschichte, a. a. O. S. 774 f.
8).
Ullmann, über die Unsündlichkeit Jesu, in s. Studien 1, 1,
S. 56.
9).
Usteri, a. a. O. S. 775.
10).
Ebenders. S. 776.
11).
1. Bd. S. 542 ff., nach Hermann von der Hardt, Basedow
u. A.; noch neuestens Kuinöl S. 81.
12).
so eine Abhandlung in Henke's n. Magazin 4, 2, S. 352.
13).
Natürliche Geschichte u. s. f. 1, S. 591.
14).
So nach vielen Vorgängen, welche Schmidt, Kuinöl, u. A.
nachweisen, Ullmann, a. a. O. S. 56 ff., und Hase, Leben
Jesu, §. 49.
15).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 54. Usteri, a. a. O.
S. 777 ff.
16).
J. E. C. Schmidt, in seiner Bibliothek, 1, 1, S. 60 f.; Schlei-
ermacher
, über den Lukas, 8. 54 f.; Usteri, über den Täu-
fer Johannes, die Taufe und Versuchung Christi, in Ull-
mann
's und Umbreit's Studien, 2, 3, S. 456 ff.
17).
R. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1, S. 339.
18).
Usteri, Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte,
Studien, 1832, 4, S. 780.
19).
Hasert, Bemerkungen über die Ansichten Ullmann's und Uste-
ri
's von der Versuchungsgesch., Studien, 3, 1, S. 74 f.
20).
Hasert, a. a. O. S. 76.
1).
Diese Ansicht verband J. E. Ch. Schmidt späterhin mit der
im vorigen §. von ihm angeführten, s. seine Bibliothek, 2,
S. 223 ff. Andere s. bei Ruinöl, S. 80.
2).
Fritzsche, in Matth. S. 176.
3).
So Fritzsche, in Matth. S. 173. Treffend derselbe schon in
der Überschrift S. 154:

Quod in vulgari Judaeorum opinione
erat, fore, ut Satanas salutaribus Messiae consiliis omni mo-
do, sed sine effectu tamen, nocere studeret, id ipsum Jesu
Messiae accidit. Nam quum is ad exemplum illustrium majo-
rum quadraginta dierum in deserto loco egisset jejunium, Sa-
tanas eum convenit, protervisque atque impiis — — consiliis
ad impietatem deducere frustra conatus est.

4).
Vergl. Zachar. 3, 1, wo dem vor Jehova's Engel stehenden
Hohenpriester Satan widersteht; ferner Vajikra rabba f. 151,
1. (bei Bertholdt Christolog. Jud. S. 183.): wo nach Rabbi
Jochanan Jehova zum מלאך המות (d. h. zum Satan, vergl.
Hebr. 2, 14. und Lightfoot, horae, p. 1088) spricht: feci
quidem te κοσμοκράτορα, at vero cum populo foederis ne-
gotium nulla in re tibi est.
5).
s. die von Fabricius Cod. pseudepigr. V. T. p. 395. aus Ge-
mara Sanhedrin angeführte Stelle.
6).
Ebendas. p. 396. Als Abraham hinzog, um dem Befehle Je-
hova's gemäss seinen Sohn zu opfern, antevertit eum Sata-
nas in via, et tali colloquio cum ipso habito a proposito aver-
tere eum conatus est etc. Schemoth R. 41 (bei Wetstein z. d. St.
d. Matth.): Cum Moses in altum adscenderet, dixit Israëli:
post dies XL hora sexta redibo. Cum autem XL illi dies
elapsi essent, venit Satanas, et turbavit mundum, dixitque:
ubi est Moses, magister vester? mortuus est
. Bemerkens-
werth ist, dass auch hier die Versuchung nach Ablauf von
40 Tagen eintritt.
7).
Schöttgen, horae 2, 538, führt nach Fini flagellum Judaeorum,
3, 35. eine Stelle aus Pesikta an: Ait Satan: Domine, per-
mitte me tentare Messiam et ejus generationem. Cui inquit
Deus: non haberes ullam adversus eum potestatem. Satan
iterum ait: sine me, quia potestatem habeo. Respondit
Deus: si in hoc diutius perseverabis, Satan, potius (te) de
8).
5. Mos. 8, 2. (LXX) wird das Volk so angeredet: μνησϑή-
σῃ πᾶσαν τὴν ὁδὸν, ἣν ηγαγέ οε Κύριος ὁ ϑεός σου
τοῦτο τεσσαρακοςὸν ἒτος ἐν τῇ ἐρήμῳ, ὅπως κακώσῃ σε
καὶ πειράσῃ σε, καὶ διαγνωσϑῇ τὰ ἐν τῇ καρδίᾳ σου,
εἰ φυλάξῃ τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ, ἢ οὔ
.
7).
mundo perdam, quam aliquam animam generationis Messiae
perdi permittam
. Diese Stelle beweist wenigstens, dass eine
vom Teufel gegen den Messias zu unternehmende Versuchung
dem jüdischen Vorstellungskreise nicht fremd war. Liess der
Urheber der angeführten Stelle dem Satan, wie es scheint,
sein Gesuch abgeschlagen werden, so werden es Andere, da
die Vorstellung einmal angeregt war, gewiss haben in Erfül-
lung gehen lassen.
9).
s. Wetstein, S. 270; de Wette, in Daub's und Creuzer's
Studien, 3, S. 245.
10).
Olshausen, 1, S. 188.
11).
5. Mos. 8, 3 (Fortsetzung des not. 8. Angeführten): καὶ
ἐκάκωσέ σε καὶ ἐλιμαγχόνησέ σε κ. τ. λ.
12).
s. Fabricius, Cod. pseudepigr. V. T. p. 398 ff.
13).
Gemara Sanh. meldet das oben not. 6. Angeführte, wo dann
das colloquium zwischen Abraham und Satan ferner so lautet:
1. Satanas: Annon tentare te (Deum) in tali re aegre fe-
ras? Ecce erudiebas multos — labantem erigebant verba tua
— quum nunc advenit ad te (Deus taliter te tentans) nonne
aegre ferres (Job. 4, 2—5.)?
Cui resp. Abraham: ego in integritate mea ambulo (Ps.
26, 11.).
2. Satanas: Annon timor tuus, spes tua (Job. 4, 6.)?
Abraham: recordare quaeso, quis est insons, qui perierit
(V. 7.)?
3. Quare, quum videret Satanas, se nihil proficere, nec
Abrahamum sibi obedire, dixit ad illum: et ad me verbum
furtim ablatum est (V. 12.), audivi — pecus futurum esse pro
holocausto (Gen. 22, 7.) non autem Isaacum.
Cui respondit Abraham: Haec est poena mendacis, ut
etiam cum vera loquitur, fides ei non habeatur.

Ich bin weit entfernt, zu behaupten, dass diese rabbini-
sche Darstellung das Vorbild unsrer Versuchungsgeschichte
gewesen sei; wenn man dagegen von der andern Seite eben-
so wenig beweisen kann, dass dergleichen Darstellungen sich
nur als Nachbilder der neutestamentlichen haben gestalten kön-
nen: so weist die voraussezlich unabhängige Entstehung so
entsprechender Erzählungen bestimmt genug darauf hin, wie
leicht sie aus den gegebenen Prämissen sich von selbst bil-
den konnten.
14).
Bertholdt, Christolog. Judaeorum Jesu aetate, §. 36. not. 1.
und 2. Fritzsche, Comm. in Matth. S. 169 f.
15).
Vergl. mit der gegebenen Darstellung die im Ganzen über-
einstimmenden Ausführungen von Schmidt, Fritzsche und
Usteri an den §. 50. not. 1—3. angeführten Orten.
1).
Fritzsche, p. 591.
2).
Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 194.
3).
Schneckenburger, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u.
s. f. S. 7 f.
4).
de Wette, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106.
5).
Paulus, ex. Handb. 1, a. S. 39.
6).
Guerike, Beiträge zur Einleitung in das N. T. S. 33.
7).
Schneckenburger, über den Ursprung u. s. w. S. 9.
8).
Kern, über den Ursprung des Evang. Matthäi, in der Tübin-
8).
ger Zeitschrift, 1834, 2tes Heft, S. 108 ff. Vergl. Hug, Ein-
leit. in d. N. T. 2, S. 205 ff. (3te Ausg.)
9).
So Tholuck, Comm. zum Evang. Joh., S. 194.
10).
Vgl. Lücke, a. a. O. S. 546.
11).
Einleitung in das N. T. §. 98.
12).
Über den Ursprung u. s. f., S. 7. Beiträge u. s. f., S. 38 ff.
13).
Schneckenburger, Beiträge, S. 39 f.
14).
Hug, Einleit. in das N. T. 2. Thl., S. 210.
15).
Hug, a. a. O. S. 211 f.
1).
So noch Paulus, exeg. Handb. 1, b. S. 403.
2).
Diess hat besonders Schleiermacher in's Licht gestellt, über
den Lukas S. 63.
3).
Sieffert, über den Ursprung des ersten kanonischen Evan-
geliums, S. 89.
4).
So Olshausen, Fritzsche z. d. St. Hase, Leben Jesu §. 56.
Sieffert, a. a. O.
5).
Sieffert, a. a. O.
6).
Schleiermacher, a. a. O. S. 64.
7).
Ders. ebendas. S. 63 f.
8).
Ordo temporum S. 220 ff. ed. 2.
9).
Paulus, a. a. O. 1, b, S. 407.
10).
Paulus, a. a. O., aber auch Lightfoot, horae, S. 765.
11).
Bibl. Comm. 1, S. 470.
12).
Hase, Leben Jesu, §. 56.
13).
Über den Lukas, S. 63.
14).
a. a. O. S. 479, vgl. 2, S. 214.
15).
adv. Marcion. 4, 8.
1).
Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 788 f.
2).
s. Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 2, S. 6.
3).
Bengel, ordo temporum S. 219 f.
4).
Hug, Einl. in d. N. T. 2, S. 229 ff.
5).
Paulus, Comm. zum Ev. Joh. S. 279 f. Exeg. Handb. 1,
b. S. 784 ff.
6).
Zusammenstellungen der verschiedenen Ansichten geben Hase,
L. J. §. 47. Lücke a. a. O. S. 2 ff.
7).
exeg. Handb. 1, b. S. 785.
8).
s. Storr, über den Zweck der evang. Gesch. und der Briefe
Johannis, S. 330.
9).
z. B. Winer, b. Realw. 1, S. 666.
10).
Iren. adv. haer. 1, 1, 5. 2, 35. 38. (ed. Grabe), von den Va-
lentinianern. Clem. hom. 17, 19.
11).
Clem. Alex. Stromat. 1, p. 174, Würzb. Ausg., 340 Sylburg;
Orig. de principp. 4, 5, vrgl. homil. in Luc. 32.
12).
Iren. 2, 39.
13).
Lightfoot und Tholuck z. d. St.
14).
Joseph. Antiq. 18, 4, 2.
15).
Sueton. Tiber. c. 73. Joseph. Antiq. 18, 6, 10.
1).
vrgl. Paulus, Leben Jesu, 1, a, S. 214 f.
2).
s. besonders die Leistungen von Paulus in den chronologischen
Excursen seines Commentars und exegetischen Handbuchs;
von Hug in der Einleit. z. N. T. 2, S. 2, 233 ff., und Anderen,
welche Winer nachweist, im bibl. Realwörterb. 1, S. 667.
3).
Winer, a. a. O.; vgl. Kaiser, biblische Tehologie, 1, S. 254.
Anm.; die Abhandlung über die verschiedenen Rücksichten
u. s. w. in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 239.
4).
Olshausen, 1, S. 24 ff.
5).
Schneckenburger's Beiträge, S. 25 ff.
*)
Alles, was sich auf die Idee des Messias als leidenden, ster-
benden und wiederkommenden bezieht, bleibt hier ausge-
schlossen und der Leidensgeschichte vorbehalten.
1).
Paulus, ex. Handb. 1, b. S. 465; Fritzsche, in Matth. p. 320.
2).
So nach Herder z. B. Köster, im Immanuel, S. 265; Tho-
luck
, Comm. zum Evang. Joh., S. 65.
3).
Lücke, Comm. zum Joh. 1, S. 397 f.
4).
z. B. Grotius.
5).
So unter den Juden Abenesra, s. Hävernick, Comm. zum Da-
niel S. 244.
6).
Schöttgen, horae, 2, S. 63. 73. Hävernick, a. a. O. S. 243 f.
7).
s. die vornehmsten Ansichten bei Hävernick, a. a. O. 242 f.
8).
Schöttgen, horae 2, S. 73.
9).
Man denke nur an die Bezeichnung jener Davidischen Elegie
2 Sam. 1, 17 ff. durch קֶשֶׁת, und an die Benennung des Mes-
sias als צֶמַח. Hätte Schleiermacher diese jüdische Bezeich-
nungsweise beachten mögen, so hätte er nicht die Beziehung
des υἱὸς τοῦ ἀ. auf die Danielische Stelle einen sonderbaren
Einfall nennen können (Glaubensl. §. 99. S. 99. Anm.)
1).
Dass durch den Ausdruck οἱ ἐν τῷ πλοίῳ ausser den Jün-
gern noch andre, Jesu ferner stehende Personen bezeichnet
seien, darüber s. Fritzsche z. d. St.
2).
In dieser Hinsicht macht übrigens die Art und Weise Schwie-
rigkeit, wie Jesus nach Matthäus die Frage nach der Mei-
nung der Leute von ihm ausgedrückt haben soll, nämlich:
τίνα με λέγουσιν οἱ ἄνϑρωποι εἶναι, τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπε;
d. h. welche Ansicht haben die Leute von mir, der ich der
Messias bin? Diese vorgreifende Erklärung haben die Aus-
leger auf verschiedene Weise zu entfernen gesucht. Die Ei-
nen (z. B. Beza) fassen den Beisaz nicht als eigene Aussage
Jesu über seine Person, sondern als nähere Bestimmung der
Frage: wofür halten mich die Leute? etwa für den Mcs-
sias? Allein diess wäre eine Suggestivfrage, welche, wie
Fritzsche richtig bemerkt, ein Haschen nach dem Messiastitel
verrathen würde, wie es Jesu sonst nicht eigen war. Daher
wollen Andre (wie Paulus, Fritzsche) dem υἱὸς τ. ἀ. die
allgemeine Bedeutung: dieser Mensch hier, geben, was je-
doch nach dem früher Ausgeführten nicht angeht. So bleibt
nichts übrig, als der Ausweg, welchen das Fehlen jener Wor-
3).
Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 28 f.
2).
te in den Parallelstellen der beiden andern Synoptiker zeigt:
dieselben für einen Zusatz zu halten, welchen der Verf. des
ersten Evangeliums aus seiner Überzeugung heraus Jesu am
unrechten Orte in den Mund gelegt habe.
4).
Jene Unterscheidung zweier Abschnitte im öffentlichen Leben
Jesu machen auch Fritzsche, Comm. in Matth. S. 213. 536.
und Schneckenburger a. a. O.
5).
Schneckenburger, a. a. O. S. 29.
6).
Fritzsche, in Matth. p. 309. vrgl. 352. Olshausen, S. 265.
7).
Fritzsche, p. 352. Olshausen, a. a. O.
8).
Dem steht die Ansicht des Fragmentisten gerade entgegen,
welcher jenem Verbote durchaus die Absicht unterlegt, die
Leute nur desto begieriger zu machen. Vom Zweck Jesu
und s. Jünger, S. 141 f.
9).
S. Fritzsche, S. 309.
10).
vrgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 74.
1).
Vrgl. über das Folgende die treffliche Ausführung von Pau-
lus
, in der Einleitung zum Leben Jesu, 1, a, S. 28 ff.
2).
Bibl. Comm. 2, S. 130. 253.
3).
Olshausen, a. a. O, 1, S. 108 ff.
4).
Wie diess gleichwohl Olshausen versucht, 2, S. 70 f.
5).
S. 53 f. 85.
1).
Bertholdt, Christol. Jud. §§. 8. 35. 42.
2).
Bretschneider, Probabilia, S. 59.
3).
Vergl. Schleiermacher's Glaubenslehre, 2, S. 99.
4).
S. die Nachweisung und Auslegung der Stellen bei Lücke,
Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 211 ff.
5).
Winer, de Onkeloso, p. 10; vrgl. de Wette, Einleit. in das
A. T. §. 58.
6).
Bertholdt, Christologia Judacor. §§. 23—25. vrgl. Lücke,
a. a. O. S. 244 Anm.
7).
Schöttgen, 2, S. 6 f.
8).
Targ. Jes. 16, 1: iste (Messias) in deserto fuit rupes eccle-
siae Zionis (bei Bertholdt, a. a. O. S. 145.)
9).
Sohar chadasch f. 82, 4, bei Schöttgen 2, S. 440.
10).
Nezach Israël c. 35 f. 48, 1. (bei Schmidt, Bibl. für Kritik u.
Exegese 1, S. 38): משיח מפני תוהו. Sohar Levit. f. 14, 56,
(bei Schöttgen, 2, S. 436): Septem (lumina condita sunt,
antequam mundus conderetur), nimirum ...... et lumen
Messiae
. Die hier als real dargestellte Präexistenz des Mes-
sias findet sich mehr nur ideal gefasst in Bereschith rabba,
sect. 1. f. 3, 3, (Schöttgen, ebendas.)
1).
Von dem Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 108—157.
2).
Vgl. Fritzsche, in Matth. S. 114.
3).
Kuinöl, Comm. in Matth. S. 518 ff. Auch Olshausen, S. 744,
fasst die Rede symbolisch, ob er gleich einen andern Sinn
in derselben findet.
4).
Paulus, ex. Handb. 2, S. 613 f.
5).
Liebe, in Winer's exeget. Studien 1, 59 ff.
6).
Hase, L. J. §. 68.
1).
So Reinhard, über den Plan, welchen der Stifter der christ-
lichen Religion zum Besten der Menschheit entwarf. S. 57 ff.
(4te Aufl.)
2).
Paulus, Leben Jesu 1, b. S. 85. 94. 106 ff; Venturini, 2, S.
310 f. Hase, Leben Jesu §§. 68. 84. In der so eben erschie-
nenen zweiten Auflage, §§. 49. 50. (vrgl. die theol. Streit-
schriften, S. 61 ff.) hat Hase diese Ansicht, wiewohl ungern,
zurückgenommen.
3).
s. Fritzsche, in Matth. S. 606 f.
4).
de Wette, bibl. Dogm. §. 216.
5).
Bertholdt, Christol. Judacor. §§. 30 ff.
6).
Bertholdt, §. 39.
1).
Wie Reinhard, Plan Jesu, S. 14 ff.
2).
Eine Übertreibung des Ebionitenevangeliums s. bei Epipha-
nius, haer. 30, 16.
3).
Bertholdt, a. a. O. §. 31.
4).
Auch diess am bündigsten vom Wolfenbüttler Fragmentisten,
von dem Zweck u. s. f. S. 66 ff.
5).
Vorzüglich von Fritzsche, in Matth. S. 214.
6).
S. Winer, Realwörterb. 1te Aufl. S. 585.
7).
Paulus, exeg. Handb. 2, S. 273.
8).
Winer, Realw. 2te Aufl. 1. Bd. S. 426.
9).
Fritzsche, S. 214 ff.
10).
Reinhard, a. a. O. S. 15 ff. Planck, Geschichte des Chri-
stenthums in der Periode seiner Einführung, 1, S. 175 ff.
11).
de Wette, bibl. Dogm. §. 210.
12).
Fritzsche, S. 214.
13).
s. den Fragmentisten, vom Zwecke u. s. w. S. 69.
14).
Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 600 f. Leben Jesu, 1, a, S. 296.
312.
15).
Vgl. Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 598 f.
16).
Rabbinische Vorstellungen von Abschaffung des Gesetzes
s. bei Schöttgen 2, S. 611 ff.
1).
So der Wolfenbüttler Fragmentist, a. a. O. S. 72 ff.
2).
So Reinhard, a. a. O.; Planck, Geschichte des Christen-
thums in der Per. seiner Einführung, 1, S. 179 ff.
3).
Paulus, Leben Jesu, 1, a, S. 380 f. Hase, L. J. §. 95.
4).
Olshausen, 1, S. 507.
5).
Hase, a. a. O.
6).
S. Paulus, Comm. 4, S. 512 f.
1).
Antiq. 20, 6, 1. Nicht ganz zusammenstimmende rabbinische
Grundsätze hierüber s. bei Lightfoot, S. 991 ff.
2).
s. Bertholdt, Christol. Judaeorum, §. 7.
3).
Mit Unrecht wollten diess Einige in die Frage legen; s. bei
Lücke, 1, S. 533.
4).
Bretschneider, a. a. O. S. 47 ff. 97 f.
5).
Lücke, 1, S. 520 ff.
6).
so Tholuck z. d. St.
7).
So Lücke und Tholuck z. d. St., Hase, L. J. §. 60.
8).
s. Tholuck, S. 77. 121. 141. 155.
9).
vgl. Schöttgen, horae, 1, S. 970 f. Wetstein, S. 863.
10).
Paulus, Leben Jesu, 1, a, 187; Comment. 4, z. d. St.
11).
Vgl. Olshausen z. d. St. und Bretschneider, Probab. S. 50.
12).
Olshausen, Lücke z. d. St.
13).
Vgl. Bretschneider, a. a. O. S. 49 f.
14).
Homil. 2, 6. vgl. 3, 12.
15).
Schöttgen, horae 2, S. 371 f.
16).
bei Lightfoot, S. 1002.
17).
Lücke, 1, S. 542.
18).
Lücke, S. 540 Anm. Bretschneider, S. 52.
19).
Comm. in Joan. Tom. 13, am Anfang des zweiten Bandes der
Ausg. von Lommatzsch.
1).
Kuinöl, Comm. in Matth. S. 100. Lücke, Comm. z. Joh. 1,
S. 388. Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 197. Hase, Leben
Jesu, §. 55.
2).
Leben Jesu, 1, a, 212.
3).
Paulus, Leben Jesu, 1, a, S. 213. Sieffert, über den Ur-
sprung u. s. f. S. 72.
4).
s. Fritzsche, in Matth. p. 189.
5).
Schöttgen, horae, 2, p. 372.
6).
Paulus, a. a. O.
7).
Exeg. Handbuch, 1, b, S. 464.
8).
Gnomon, z. d. St.
9).
Leben Jesu, 1, a, S. 168.
10).
S. 385.
11).
S. 389 f.
12).
a. a. O.
13).
S. 141.
1).
Über den Zweck der ev. Gesch. und der Br. Joh. S. 350.
2).
Exeg. Handb. 1, b, S. 449.
3).
2, S. 159.
4).
Paulus, a. a. O.
5).
Bibl. Comm. 1, 283.
6).
Über den Lukas, S. 70.
7).
Über den Ursprung des ersten kan. Ev. S. 73.
8).
Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1834. Nov.
9).
Porphyr. vita Pythagorae, no. 25. ed. Kiessling; Jamblich. v.
P. no. 36. ders. Ausg. Diese Geschichte darf hier verglichen
werden, da sie als die weniger wunderbare schwerlich durch
Nachbildung der evangelischen Erzählung, sondern unabhän-
gig von derselben entstanden ist, und also auf eine gemein-
same Neigung der alten Sage zu dergleichen Geschichten
hinweist.
10).
Luc. 5, 5: δἰ ὄλης τῆς νυκτὸς κοπιάσαντες οὐδὲν ἐλάβομεν.
Joh. 21, 3: καὶ ἐν ἐκείνῃ τῇ νυκτὶ ἐπίασαν οὐδέν
.
1).
s. bei Kuinöl, in Matth. p. 255.
2).
Sieffert, a. a. O. S. 55.
3).
Kuinöl, a. a. O. Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 513. L. J.
1, a, 240.
4).
Bertholdt, Einleitung, 3, S. 1255 f. Fritzsche, S. 340.
5).
vgl. Sieffert, S. 56.
6).
Sieffert, S. 60.
7).
Exeg. Handb. 1, b, S. 510. L. J. 1, a, 240.
8).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 79.
9).
Gratz, Comm. z. Matth. 1, S. 470.
10).
Olshausen, 1, S. 315.
11).
Über das Abendmahl, S. 308.
12).
Über den Lukas, S. 77.
13).
Paulus, exeg. Handbuch 3, a, S. 48. Kuinöl, in Luc. p. 632.
14).
a. a. O. S. 764.
1).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 85.
2).
Vgl. dens. ebendas.
3).
a. a. O. S. 88.
4).
Ep. Barnab. 8, und das Evangelium der Ebioniten bei Epi-
phanius, haer. 30, 13.
5).
Schleiermacher, a. a. O. S. 87.
1).
Wenn ἡ πόλις Ἀνδρέου καὶ Πέτρου Joh. 1, 45. dasselbe be-
deutet, wie ἡ ἰδία πόλις Matth. 9, 1.: so findet hier ein
Widerspruch zwischen Johannes und den Synoptikern statt.
2).
Fritzsche, in Matth. p. 358.
3).
s. dens. ebendas.
4).
vgl. Lightfoot z. d. St.
5).
vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 55 ff.
6).
Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 556.
7).
Diess beruht indessen ohne Zweifel wieder auf einem blossen
Schlusse des Markus. Weil Jesus die unberufene Menge weg-
trieb und die Mittheilung des Vorfalls verbot, so sah der
Evangelist hier einen jener geheimen Vorgänge, zu welchen
Jesus sonst nur jene Drei mitzunehmen pflegte.
8).
Diesen Dreien, glaubte man in der ältesten Kirche, habe Je-
sus die γνῶσις zu geheimer Überlieferung mitgetheilt. S. bei
Gieseler, K. G. 1, S. 234.
9).
Auch Paulus, L. J. 1, a, S. 167 f. bemerkt, wie der vierte
Evangelist diess absichtlich hervorzuheben scheine.
10).
Dem Scharfblick von Dr. Paulus ist diess nicht entgangen.
In einer Recens. des ersten Bandes der zweiten Auflage von
Lücke's Comm. zum Johannes, im Lit. Bl. zur allg. Kirchen-
zeitung, Febr. 1834, no. 18, S. 137 f. sagt er: Von Petrus
hat das Johannesevangelium (die einzige Stelle 6, 68. ausge-
nommen) nur minder vortheilhafte Umstände [hier werden
die oben erwogenen Stellen angeführt], die ihn beson-
10).
ders gegen Johannes zurücksetzen, aufbewahrt.
Ein Petriner kann schwerlich an dem Johannesevangelium
Theil genommen haben [sondern von einem Antipetriner
scheint es herzurühren, dergleichen es, wie wir hier sehen,
nicht blos paulinische, sondern auch johanneische gab].
11).
s. Lücke, Comm. z. Joh. 2, S. 708.
12).
Hierüber am gründlichsten Paulus, in der Recens. von Bret-
schneider
's Probabilien, in den Heidelberger Jahrbüchern,
1821, no. 9, S. 138.
13).
Lücke, a. a. O. S. 664.
14).
Bretschneider, Probabilien, S. 111 f.
15).
vgl. Paulus, a. a. O. S. 137.
1).
So die meisten Erklärer, auch Fritzsche, Matth. S. 359, Wi-
ner
, Realwörterb. 1, S. 163 f.
2).
s. Joseph. bell. jud. 4, 3, 9.
3).
Über den Lukas, S. 88 f.
4).
Schulz, über das Abendmahl, S. 307. Schneckenburger, über
den Ursprung, S. 13 f.
5).
Tuf haarez f. 19, c. 3; Recognit. Clement. 2, 42; Epiphan.
haer. 1, 5.
6).
Schneckenburger, a. a. O.; Gieseler, über Entstehung der
schriftl. Evangelien, S. 127 f.
7).
s. Lightfoot, p. 786.
*)
Was auf Leiden, Tod und Wiederkunft sich bezieht, bleibt
auch hier aufgespart.
1).
Augustin. de consens. ev. 2, 19. Storr, über den Zweck
u. s. f. S. 347 ff. Die weitere Literatur s. in Tholuck's Aus-
legung der Bergpredigt, Einl. §. 1.
2).
exeg. Handb. 1, b, S. 572.
3).
a. a. O. S. 53.
4).
Bibl. Comm. 1, S. 201.
5).
Tholuck, S. 24. Paulus S. 584.
6).
So Schulz, vom Abendmahl, S. 313 f. Sieffert, S. 74 ff.
Fritzsche, S. 301.
7).
Olshausen, 1, S. 201. Kern, in der Tüb. Zeitschrift 1834,
2, S. 33.
8).
Schulz, a. a. O. S. 315. Schneckenburger, Beiträge, S. 26.
9).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 89 f.
10).
Tholuck, a. a. O. S. 11 ff., und meine Recens. der Schriften
vonSieffert u. s. f. in den Jahrbüchern f. wiss. Kritik,
November 1834.
11).
vgl. Tholuck, a. a. O. S. 25 ff.
12).
Über den Zweck u. s. w. S. 348.
13).
Homil. 15, 7 u. s. vgl. Credner in Winer's Zeitschrift f. w.
Theol. 1, S. 298 f. Schneckenburger, über das Evangelium
der Ägyptier, §. 6.
14).
Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 29.
15).
a. a. O. S. 90.
16).
Auch die Rabbinen legten auf diese mosaischen Segnungen
und Flüche Gewicht, s. Lightfoot, S. 255. Ferner, wie wir
hier acht Makarismen haben, so liessen sie den Abraham be-
nedictionibus septem (Baal Turim in Gen. 12. bei Lightfoot
S. 256.), den David, Daniel sammt drei Genossen und den
Messias benedictionibus sex gesegnet werden (Targ. Ruth. 3.
ebendas.). Auch zählten sie gegenüber von 20 beatitudinibus
in den Psalmen, ebensoviele vae im Jesaias auf (Midrasch
Tehillim in Ps. 1. ebend.).
17).
Schneckenburger, Beiträge, S. 58.
18).
wie Olshausen, 1, S. 615. Das Richtige angedeutet bei Schnek-
renburger
, Beiträge, S. 58; Tholuck, a. a. O. S. 11.
19).
Fritzsche, S. 213.
20).
Diess ist der von Schleiermacher S. 205. vermisste Anlass,
zum 16ten Vers den 17ten unhistorisch hinzuzufügen.
21).
Schleiermacher, a. a. O. S. 90.
22).
Tholuck, S. 21.
23).
Tholuck, S. 12. 187.
24).
a. a. O. S. 692 ff.
25).
a. a. O. S. 206 f.
26).
so noch Hess, Gesch. Jesu, 2, S. 48 f.
27).
Schleiermacher, a. a. O. S. 173. Olshausen, S. 235. Sief-
fert
, S. 78 ff.
28).
N. T. 1, S. 323. Man sehe die Parallelen bei ihm und Lightfoot.
29).
Comm. in Matth. p. 265.
1).
z. B. Hess, Gesch. Jesu, 1, S. 545.
2).
Schulz, a. a. O. S. 308. 314. Sieffert, S. 80 ff.
3).
Olshausen, 1, S. 333.
4).
Schulz, S. 315.
5).
S. 81 f.
6).
Schulz, S. 308; Sieffert, S. 82 ff.
7).
Den durchaus befriedigenden Zusammenhang übrigens, wel-
chen die neuere Kritik in dem 12ten Kapitel des Lukas fin-
det, kann ich ebenso wenig entdecken, als Tholuch, Ausleg.
der Bergpr. S. 13 f., welcher hier zugleich die Parteilichkeit
Schleiermacher's für den Lukas und gegen den Matthäus
treffend gezeichnet hat.
8).
Schleiermacher, über den Lukas, S. 169 f. Schneckenburger,
über den Ursprung u. s. f. S. 32 f.
1).
Schulz, über das Abendmahl, S. 314.
2).
Olshausen, b. Comm. 1, S. 437.
3).
Schneckenburger, über den Ursprung u. s. f. S. 33.
4).
Wie Olshausen thut, S. 438.
5).
Ders. ebendas.
6).
Schleiermacher, S. 120.
7).
Fritzsche, Comm. in Marc. S. 120. 128. 134.
8).
Saunier, über die Quellen des Markus, S. 74; Fritzsche,
a. zulezt a. O.
9).
Schleiermacher, a. a. O. S. 192. Olshausen, 1, S. 438.
Schneckenburger, a. a. Q. S. 33.
10).
Eine ähnliche Vergleichung giebt Tanchuma f. 30, 3. bei
Schöttgen, 1, S. 154 f.
11).
Auch zu dieser Parabel fehlt es an rabbinischen Parallelen
nicht, vgl. Wetstein, Lightfoot und Schöttgen, z. d. St.
12).
Eine analoge Sentenz aus Tanchuma f. 3, 1. giebt Schöttgen,
1, S. 165.
13).
Ähnliche rabbinische Aussprüche s. bei Schöttgen, z. d. St.
14).
Eine ähnliche Sentenz aus Pirke Aboth s. bei Schöttgen, 1,
S. 306 f.
15).
Über den Lukas, S. 220.
16).
Eine entsprechende Vergleichung aus Schir R. bei Wetstein
S. 757.
17).
Schleiermacher, a. a. O. S. 202 ff. Olshausen, S. 437. 668 ff.
18).
Einen verwandten Ausspruch aus Kimchi s. bei Lightfoot,
S. 842.
19).
Eine ähnliche rabbinische Sentenz s. bei Schöttgen, 1, S. 299.
20).
a. a. O. S. 202 ff.
21).
b. Comm. 1, S. 680 ff.
22).
Diesen lezteren Vers hat auch Schneckenburger, Beiträge,
No. V., wo er zugleich die Olshausen'sche Deutung der Pa-
rabel treffend widerlegt, als nicht hieher gehörig erkannt,
während er von den vorangegangenen Versen, mit Unrecht
schon vom 9ten an, diese Ansicht blos möglich findet. — Die
zahlreichen älteren und neueren Versuche, das Gleichniss
vom Haushalter ohne eine solche kritische Sonderung zu er-
klären, sind nur eben so viele Beweise, dass ohne dieselbe
eine befriedigende Auslegung der Parabel unmöglich ist.
23).
a. a. O. S. 208.
24).
s. Kuinöl, z. d. St.
25).
Über die Essener als καταφρονητὰς πλούτου vgl. Joseph. b.
j. 2, 8, 3; Credner, über Essener und Ebioniten, in Winer's
Zeitschrift 1, S. 217.; Gfrörer, Philo, 2, 8. 311.
26).
Ein verwandtes Gleichniss aus Sohar chadasch bei Schött-
gen
, 1, 217.
27).
Eine auffallend ähnliche Parabel aus Sohar Levit. giebt Schött-
gen
, S. 174 f.
28).
so Kuinöl, Comm. in Luc. p. 635.
29).
Über den Lukas, S. 239 f.
30).
Wie Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 76, die Parabel in der zu-
sammengesezteren Form bei Lukas als die besser nicht allein
ausgemalte, sondern auch abgerundete bezeichnen kann, ge-
hört zum rein Unbegreiflichen.
31).
V. 12. ἄνϑρωπός τις εὐγενὴς ἐπορεύϑη εἰς χώραν μακρὰν,
λαβεῖν ἑαυτῷ βασιλείαν, καὶ ὑποςρέψαι
. 14. οἱ δὲ πο-
λῖται αὐτοῦ ἐμίσουν αὐτὸν, καὶ ἀπέςειλαν πρεσβείαν ὀπίσω
αὐτοῦ, λέγοντες· οὐ ϑέλομεν τοῦτον βασιλεῦσαι ἐφ' ἡμᾶς
.
15. καὶ ἐγένετο ἐν τῷ ἐπανελϑεῖν αὐτὸν λαβόντα τὴν
βασιλείαν, καὶ εἶπε φωνηϑῆναι αὑτῷ τους δούλους — (καὶ
εἶπεν αὐτοῖς·)
27. — τοὺς ἐχϑροὺς μου ἐκείνους, τοὺς μὴ
ϑελήσαντάς με βασιλεῦσαι ἐπ' αὐτοὺς, ἀγάγετε ὧδε καὶ
κατασφάξατε ἔμπροσϑέν μου
.
32).
Fritzsche, S. 656.
33).
Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 210; Olshausen, b. Comm., 1,
S. 811.
34).
s. Fritzsche, a. a. O.
35).
Aus dem Zusazblatt zu Schneckenburger's Beiträgen ersehe
ich, dass auch ein Recensent im theol. Literaturblatt, 1831,
No. 88. hier eine Verschmelzung zweier ursprünglich ver-
schiedenen Parabeln vermuthet hat.
36).
Ähnliche Parabeln, wie die vom hochzeitlichen Gewand für
sich genommen gedacht werden müsste, finden sich in meh-
reren jüdischen Schriften, z. B. Koheleth R. 9, 8, und Mi-
drasch Mischle 16, 11. bei Wetstein, p. 471. vgl. Schabbath
f. 152, 2 bei Meuschen N. T. ex. Talm. ill. p. 117.
1).
Über den Lukas S. 153 f.
2).
Fritzsche in Matth. p. 391.
3).
s. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 111.
4).
s. Wetstein, Lightfoot, Schöttgen z. d. St.
5).
Berachoth, f. 6, 1. bei Schöttgen 1, S. 152 f.
6).
Bemidbar R. ad. Num. 5, 30. bei Wetstein p. 303.
7).
z. B. Paulus, L. J. 1, b. S. 46.
8).
Ders. ebendas. S. 50. ex. Handb. 2, S. 599.
9).
In dieser Stelle wird zwar die Ehelosigkeit zuerst nur διὰ
10).
s. Gfrörer, Philo, 2, S. 310 f.
11).
Eine bündige Erläuterung derselben giebt Hase, L. J. §. 118.
12).
ex. Handb. 3, a, S. 233.
9).
τὴν ἐνεςῶσαν ἀνάγκην empfohlen; dabei aber bleibt der Apo-
stel nicht stehen, sondern führt V. 32 ff. in dem: ὁ ἄγαμος
μεριμνᾷ τὰ τοῦ Κυρίου — ό δὲ γαμήσας τὰ τοῦ κόσμου
einen
Grund für die Ehelosigkeit an, der unter allen Umständen
gültig sein müsste, und in den ascetischen Hintergrund der
Ansichten des Paulus blicken lässt.
13).
s. Gemara Hieros. Berac. f. 5, 4. bei Lightfoot, S. 423, und
R. Manasse ben Isr. bei Schöttgen 1, S. 180.
14).
s. dessen 4tes Fragment, in Lessing's 4tem Beitrag, S. 434 ff.
15).
L. J. 1, b, S. 115 ff.
16).
s. Wetstein, z. d. St.; Hengstenberg, Christol. 1, a, S.
140 f; auch Paulus selbst, ex. Handb. 3, a, S. 283 f.
17).
Über den Ursprung u. s. f. S. 45. 47.
18).
so Paulus, ex. Handb. 2, S. 570 ff. vgl. 3, a, 261; Olshau-
sen
, 1, S. 602 vgl. 831.
20).
ex. Handb. 3, a, S. 261.
21).
Comm. in Matth. p. 667.
22).
Sieffert, über den Ursprung, S. 117 f.
23).
Schulz, über das Abendmahl S. 314. Schneckenburger, über
den Ursprung, S. 35.
24).
Schleiermacher, über den Luk. S. 182. 196 f. Olshausen, S.
617. 655; vgl. die in der vorigen Anm. genannten.
25).
a. a. O. S. 180 f.
26).
Joseph. b. j. 4, 5. 4.
27).
Eichhorn, Einleitung in das N. T. 1, S. 510 ff. Hug, Einl. in
das N. T. 2. S. 10 ff.
28).
s. die gründliche Untersuchung von Theile, über Zacharias
Barachias Sohn, in Winer's und Engelhardt's neuem krit.
Journ. 2, S. 401 ff.
29).
Targum Thren. 2, 20, bei Wetstein, S. 491.
1).
Schulz, über das Abendmahl, S. 321.
2).
Diese „geheimere Kunde“ muss freilich einem Ausleger, wie
Dr. Paulus, höchst willkommen sein, weil sie „über manche
Vorfälle des Lebens Jesu, deren Ursachen nicht öffentlich
erscheinen, einen merkwürdigen Wink giebt“ (L. J. 1, b,
S. 141), d. h. weil auch Paulus, wie Bahrdt und Venturini,
nur weniger offen, dergleichen einflussreiche geheime Ver-
bündete als deos ex machina zur Erklärung manches Wun-
derbaren im Leben Jesu (Verklärungsgeschichte, Aufenthalt
nach der Wiederbelebung u. dgl.) zu gebrauchen Lust hat.
3).
Orig. c. Ccls. 1, 62.
4).
Man denke nur an die verwandten Namen Nikolaus und Nikolaiten.
5).
Probab. S. 44. Darin aber behält Bretschneider Recht, dass
er gegen die Kuinöl'sche Weise, den Zusammenhang nament-
lich der johanneischen Reden durch Hineindenken angeblich
weggelassener Sätze und Zwischenreden zu vermitteln, sich
erklärt, wie denn auch Lücke (1, S. 446) gesteht, wenn
gleich zwischen zwei von Johannes unmittelbar verbundenen
Aussprüchen Jesu etwas fehlen sollte, so müsse doch der
Evangelist sich zwischen beiden einen unmittelbaren Zusam-
menhang gedacht haben, welcher vom Exegeten zu ermitteln
sei. Wirklich ist in den Reden des vierten Evangeliums der
Zusammenhang, wenn er auch bisweilen sehr versteckt ist,
doch niemals ganz zu vermissen.
6).
Bereschith R. sect. 39 f. 38, 2. Bammidbar R. s. 11 f. 211, 2.
Tanchuma f. 5. 2, bei Schöttgen, 1, S. 704. Etwas Ähnliches
von Moses aus Schemoth R. ebendas.
7).
Jevamoth f. 62, 1. 92, 1, bei Ligntfoot S. 984.
8).
So z. B. Knapp, Comm. in colloq. Christi cum Nicod. z. d. St.
9).
Paulus, Comm. 4, S. 183. L. J. 1, a. S. 176.
10).
Lücke, 1, S. 452. Tholuck, S. 79.
11).

3, 11: ὃ ἑωράκαμεν, μαρ-
τυροῦμεν· καὶ τὴν μαρτυ-
ρίαν ἡμῶν οὐ λαμβάνετε.
13: καὶ οὐδεὶς ἀναβέβηκεν
εἰς τὸν οὐρανὸν, εἰ μὴ ὁ
ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβὰς, ὁ
υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, ὁ ὢν
ἐν τῷ οὐρανῷ.
1, 18: ϑεὸν οὐδεὶς ἑώρακε πώ-
ποτε· ὁ μονογενὴς υἱὸς, ὁ ὢν
εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς, ἐκεῖ-
νος ἐξηγήσατο.
11: — καὶ οἱ ἴδιοι αὐτὸν οὐ
παρέλαβον.
12).
Wie diess in den Probabilien S. 46. geschicht.
13).
Winer, N. T.liche Gramm. S. 291. Lücke, 1, S. 468.
14).
Lücke, a. a. O. S. 470.
15).
a. a. O. S. 476.
16).
vgl. Bretschneider, a. a. O.
17).
Bibl. Comm. 2, S. 96.
18).

3, 19: αὕτη δέ ἐςιν ἡ κρί-
σις, ὅτι τὸ φῶς ἐλήλυϑεν
εἰς τὸν κόσμον, καὶ ἠγάπη-
σαν οἱ ἄνϑρωποι μᾶλλον τὸ
σκότος ἢ τὸ φῶς.
3, 16: ου[῎]τω γὰρ ἠγάπησεν
ὁ ϑεὸς τὸν κόσμον, ὥςε τὸν
υἱὸν αὑτοῦ τὸν μονογενῆ ἔδω-
κεν, ἵνα πᾶς ὁ πιςεύων εἰς
αὐτὸν, μὴ ἀπόληται, ἀλλ'
ἔχῃ ζωὴν αἰώνιον.

1, 9: ἦν τὸ φῶς τὸ ἀληϑι-
νὸν, τὸ φωτίζον πάντα ἄνϑρα-
πον, ἐρχόμενον εἰς τὸν κόσμον.
5: καὶ τὸ φῶς ἐν τῇ σκοτίᾳ
φαίνει, καὶ ἡ σκοτία αὐτὸ οὐ
κατέλαβεν.
1. Joh. 4, 9: ἐν τούτῳ ἐφανερώ-
ϑη ἡ ἀγάπη τοῦ ϑεοῦ ἐν ἡμῖν,
ὅτι τὸν υἱὸν αὑτοῦ τὸν μονογε-
νῆ ἀπέςειλεν ὁ ϑεὸς εἰς τὸν
κόσμον, ἵνα ζήσωμεν δἰ αὐτοῦ.
19).
So Paulus und Olshausen z. d. St.
20).
a. a. O. S. 479.
1).
Philo, Opp. ed. Mang. 1, 44, bei Gfrörer, 1, S. 122.
2).

Joh. 5, 20: ὁ γὰρ πατὴρ
φιλεῖ τὸν υἱὸν καὶ πάντα
δείκνυσιν αὐτῷ ἃ αὐτὸς
ποιεῖ
.
24: ὁ τὸν λόγον μου ἀκούων
— μεταβέβηκεν ἐκ τοῦ ϑα-
νάτου εἰς τὴν ζωήν
.
32: καὶ οἶδα, ὅτι ἀληϑής
ἐςιν ἡ μαρτυρία, ἣν μαρτυ-
ρεῖ περὶ ἐμοῦ
.
34: ἐγὼ δὲ οὐ παρὰ ἀνϑρώ-
που τὴν μαρτυρίαν λαμβάνω
.
36: ἐγὼ δὲ ἔχω μαρτυ-
ρίαν μείζω τοῦ Ἰωάννου
.
37: καὶ ὁ πέμψας με πα-
τὴρ αὐτὸς μεμαρτύρηκε περὶ
ἐμοῦ
.
Ebend.: ου῎τε τὴν φωνὴν
αὐτοῦ ἀκηκόατε πώποτε, ου῎τε
τὸ εἶδος αὐτοῦ ἑωράκατε
.
38: καὶ τὸν λόγον αὐτοῦ
οὐκ ἔχετε μένοντα ἐν ὑμῖν
.
40: καὶ οὐ ϑέλετε ἐλϑεῖν
πρός με, ἵνα ζωὴν ἔχητε
.
42: ὅτι τὴν ἀγάπην τοῦ ϑεοῦ
οὐκ ἔχετε ἐν ἑαυτοῖς
.
44: πῶς δύνασϑε ὑμεῖς
πιςεύειν, δόξαν παρὰ ἀλλή-
λων λαμβάνοντες, καὶ τὴν
δόξαν τὴν παρὰ τοῦ μόνου
ϑεοῦ οὐ ζητεῖτε;

Joh. 3, 35 (der Täufer):
ὁ γὰρ πατὴρ ἀγαπᾷ τὸν υἱὸν
καὶ πάντα δέδωκεν ἐν τῇ χειρὶ
αὐτοῦ
.
1 Joh. 3, 14: ἡμεῖς οἵδαμεν,
ὅτι μεταβεβήκαμεν ἐκ τοῦ ϑα-
νάτου εἰς τὴν ζωήν
.
Joh. 19, 35: καὶ ἀληϑινή
ἐςιν αὐτοῦ ἡ μαρτυρία, κἀκεῖ-
νος οἶδεν, ὅτι ἀληϑῆ λέγει
.
Vgl. 21, 24. 1 Joh. 3, 12.
1 Joh. 5, 9: εἰ τὴν μαρτυ-
ρίαν τῶν ἀνϑρώπων λαμβάνο-
μεν, ἡ μαρτυρία τοῦ ϑεοῦ μείζων
ἐςίν· ὅτι αςτη ἐςὶν ἡ μαρτυ-
ρία τοῦ ϑεοῦ, ἣν μεμαρτύρηκε
περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ
.
Joh. 1. 18: ϑεὸν οὐδεὶς ἑώ-
ρακε πώποτε
. Vgl. 1 Joh. 4, 12.
1 Joh. 1, 10: καὶ ὁ λόγος
αὐτοῦ οὐκ ἔςιν ἐν ὑμῖν
.
1 Joh. 5, 12: ὁ μὴ ἔχων τὸν
υἱὸν τοῦ ϑεοῦ ζωὴν οὐκ ἔχει
.
1 Joh. 2, 15: οὐκ ἔςιν ἡ ἀγά-
πη τοῦ πατρὸς ἐν αὐτῷ
.
Joh. 12, 43: ἠγάπησαν γὰρ
τὴν δόξαν τῶν ἀνϑρώπων μᾶλ-
λον, ἤπερ τὴν δόξαν τοῦ ϑεοῦ
.
3).
s. die von Gfrörer, 1, S. 194., verglichene Stelle aus Philo,
de linguarum confusione.
4).
oben, S. 73. Anmerk.
5).
de profugis, Opp. Mang. 1, S. 566. bei Gfrörer 1, S. 202.
Das hier noch weiter vom λόγος Gesagte: ἀφ' οῦ πᾶσαι παι-
δε αι καὶ σοφίαι ῥέουσιν ἀένναοι
kann mit Joh. 4, 14. 6, 35.
7, 38. verglichen werden.
6).
s. Lücke's Geschichte der Auslegung dieser Stelle, in s. Comm.
2, Anhang B, S. 727 ff.
7).
Schulz, die Lehre vom Abendmahl, S. 161; Lücke, a. a. O.
S. 113.
8).
Hase, L. J. §. 92.
9).
Vgl. Bretschneider, Probab. p. 56. 88 ff.
10).
Ich muss in Bezug auf dieses Kapitel ganz der Bemerkung
der Probabilien beistimmen (S. 56.): videretur — Jesus ipse
studuisse, ut verbis illuderet Judaeis, nec ab iis intelligere-
tur, sed reprobaretur. Ita vero nec egit, nec agere potuit,
neque si ita docuisset, tanta effecisset, quanta illum effecisse
historia testatur.
11).
z. B. Tholuck, S. 185 ff., und Lücke, welcher aber doch zu-
giebt, dass sie mehr nur eine angefangene als vollendete Pa-
rabel sei. 2, S. 345. Anm. 2.; wie denn auch Olshausen (2,
335.) bemerkt, das hier vom Hirten und das 15, 1 ff. vom
Weinstock Gesagte sei mehr nur Vergleichung als Parabel.
12).

10, 27: τὰ πρόβατα τὰ
ἐμὰ τῆς φωνῆς μου ἀκούει
κἀγὼ γινώσκω αὐτὰ

28: καὶ ἀκολουϑοῦσί μοι.
10, 3: καὶ τὰ πρόβατα τῆς
φωνῆς αὐτοῦ ἀκούει

14: καὶ γινώσκω τὰ ἐμὰ
4: καὶ τὰ πρόβατα αὐτῷ
ἀκολουϑε[ῖ]
.
Auch das folgende κἀγὼ ζωὴν αἰώνιον δίδωμι αὐτοῖς
entspricht dem obigen ἐγὼ ἦλϑον, ἵνα ζωὴν ἔχωσι, V. 10,
so wie das καὶ οὐχ ἁρπάσει τις αὐτὰ ἐκ τῆς χειρός μου
das Gegenstück davon ist, dass nach V. 12. der Miethling
die Schafe ἁρπάζειν lässt.
13).
Vgl. V. 44 mit 7, 17; V. 46 mit 8, 12; V. 47 mit 3, 17;
V. 48 mit 3, 18. 5, 45; V. 49 mit 8, 28; V. 50 mit 6, 40.
7, 17. 8, 28.
14).
L. J. 1, b. S. 142.
15).
Lücke 2, S. 462.; Tholuck S. 236; Paulus a. a. O.
1).
So Cyrill, Erasmus. Was Tholuck's (S. 100.) Auskunft, wel-
cher auch Olshausen (2, S. 122.) beitritt, das ἐμαρτύρησεν
als Plusquamperfectum und das γὰρ explanativ zu nehmen,
helfen soll, sehe ich nicht ein, da auch so durch γὰρund οὖν;
(V. 45.) ein Verhältniss der Übereinstimmung zwischen zwei
Sätzen bleibt, zwischen welchen man einen, etwa durch μὲν
und δὲ angezeigten Gegensaz erwarten sollte.
2).
Paulus, Comm. 4, S. 251. 56.
3).
Dieser Gedanke ist so ganz im Geiste der alten Harmonistik,
dass es mich wundert, wenn wirklich erst Lücke (Comm. 1,
S. 545 f.) auf denselben verfallen ist.
4).
s. oben, S. 275 f.
5).
Paulus, L. J. 1, b, S. 158.
6).
Lücke, 2, S. 478.
7).
Tholuck, S. 251.
8).
Paulus, L. J. 1, b. S. 175; Lücke, 2, S. 526 f. Tholuck, S. 273;
Olshausen, 2, S. 334. Hug, Einl. in das N. T. 2, S. 209.
1).
Wegscheider, Einleit. in das Evang. Joh. S. 271. Tholuck,
Comm. S. 20.
2).
So Eckermann, theol. Beiträge, 5, 2, S. 228; (Vogel) der
3).
de Wette, Einl. in das N. T. §. 105. Tholuck, S. 19. Lücke,
1, S. 198 f.
4).
Commentar, 4, S. 275 f.
5).
Verosimilia de origine evangelii Joannis, opusc. S. 1 ff. und
Einleit. in das N. T. S. 1302 ff. Dieser Ansicht giebt Weg-
scheider
, a. a. O. S. 270 ff. Beifall, und auch Hug, 2, 263 f.
und Tholuck, S. 21., glauben die Annahme früherer Aufzeich-
nungen nicht ganz ausschliessen zu dürfen.
2).
Evangelist Johannes und seine Ausleger vor dem jüngsten Ge-
richt, 1, S. 28 ff., bei Wegscheider, a. a. O. S. 281; Bret-
schneider
, Probabil. S. 33. 45.
6).
Lücke, 1, S. 192 f.
7).
Henke, programm. quo illustratur Joannes apostolus nonnul-
lorum Jesu apophthegmatum et ipse interpres.
8).
Bretschneider, Probab. S. 14 f.
9).
a. a. O. S. 199.
10).
Wegscheider, S. 286; Lücke, S. 195 f.
11).
Wegscheider, S. 285. Lücke, a. a. O.
12).
Lücke, a. a. O. S. 124 f. 175. Kern, über den Ursprung des
Evang. Matthäi, in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 109.
13).
S. 20 f.
14).
S. 197: „Endlich aber, was scheuen wir uns, auch dasjeni-
ge anzuführen,“ u. s. f.
15).
Bretschneider, Probab. S. 2. 3. 31 ff.
16).
de Wette, Einl. in das N. T. §. 103; Hase, L. J. §. 7.
17).
Lücke, a. a. O. S. 100. Kern, a. a. O.
18).
Tholuck, S. 21.
19).
Bretschneider, a. a. O.
20).
de Wette, a. a. O. §. 105.
21).
vgl. hiezu Schulze, der schriftst. Charakter und Werth des
Johannes. 1803.
22).
so Stronck — de doctrina et dictione Joannis apostoli, ad
Jesu magistri doctrinam dictionemque exacte composita. 1797.
23).
Lücke, Comm. z. Joh. 1, S. 200 f.
24).
a. a. O. S. 199.
25).
In der Recens. der zweiten Aufl. von Lücke's Commentar, im
Lit. Blatt der allgem. Kirchenzeitung 1834, no. 18.
26).
Treffender kann man diese Eigenthümlichkeit der johannei-
schen Reden nicht bezeichnen, als Erasmus in der seiner Pa-
raphrase vorausgeschickten epist. ad Ferdinandum: habet
Joannes suum quoddam dicendi genus, ita sermonem velut
ansulis ex sese cohaerentibus contexens, nonnunquam ex con-
trariis, nonnunquam ex similibus, nonnunquam ex iisdem
subinde repetitis, — — ut orationis quodque membrum sem-
per excipiat prius, sic ut prioris finis sit initium sequentis etc.
1).
Schulz, über das Abendmahl, S. 303 ff. Sieffert, über den
Urspr. S. 58. 73, u. s. Schneckenburger, über den Urspr.
S. 73.
2).
Hug, Einl. in das N. T. 2, S. 212 ff.
3).
s. die obengenannten drei Kritiker an mehreren Orten, auch
Olshausen a. v. St.
4).
vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 42 ff.
5).
Kern, über den Urspr. des Ev. Matth. a. a. O. S. 70 f.
6).
Über den Lukas, S. 74 u. sonst.
1).
a. a. O. S. 311.
2).
Wie Schleiermacher (S. 175.) von der Rede über die Blas-
phemie des πνεῦμα ἄγιον bei Matthäus (12, 31 f.), welche sich
an das vorangegangene ἐγὼ ἐν πνεύματι ϑεοῦ ἐκβάλλω τα
δαιμόνια
(V. 28.) trefflich anschliesst, den Zusammenhang
vermissen kann, ist doch immer noch erklärlicher, als dass
er (S. 185 f.) diesen Ausspruch bei Lukas (12, 10.) besser
eingefügt findet. Denn zwischen dem hier vorangeschickten
Satze, dass, wer des Menschen Sohn vor den Menschen ver-
leugne, von ihm vor den Engeln verleugnet werden werde,
und dem in Rede stehenden findet doch kein anderer Zusam-
menhang statt, als dass das ἀρνεῖσϑαι τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώ-
3).
Dass Lukas Beschuldigung und Zeichenforderung unmittelbar
hinter einander aussprechen und hierauf von Jesu nacheinan-
der beantworten lässt, findet die neuere Kritik ungleich
wahrscheinlicher, als wenn Matthäus zuerst die Beschuldi-
gung und deren Beantwortung, dann die Zeichenforderung
und deren Zurückweisung giebt, sofern es sich nämlich
schwer denken lasse, dass, nachdem Jesus sich gegen jenen
Vorwurf lange genug verantwortet, nun die nämlichen Leu-
te, welche denselben vorgebracht, oder doch ein Theil von
ihnen, noch ein Zeichen begehrt haben sollten (Schleier-
macher
, S. 175; Schneckenburger, über den Urspr. S. 52 f.).
Indess ebensogut lässt sich andrerseits das unwahrscheinlich
finden, dass Jesus, nachdem er längst in einer gewaltigen
Rede gegen das Bedeutendere, die Beschuldigung wegen Beel-
zebuls, gesprochen, und sogar nach einer Unterbrechung,
die ihn zu einer ganz anderartigen Äusserung veranlasste
(Luc. 11, 27 f.), noch auf die minder bedeutende Zeichen-
forderung sollte zurückgekommen sein. — Was sich hierauf
bei Matthäus (V. 43—45.) anschliesst, die Rede von den ver-
stärkt wiederkehrenden Dämonen, scheint bei Lukas (11, 24 ff.)
in Verbindung mit den Äusserungen gegen den Vorwurf ei-
ner Austreibung der Dämonen durch Beelzebul passender zu
stehen, als bei Matthäus erst nach den Reden gegen die Zei-
chenforderung. Sehen wir indessen genauer zu, so ist es
sehr unwahrscheinlich, dass Jesus an die ihm gewaltsam ab-
gedrungene Apologie seiner Dämonenaustreibungen gegen
Feinde eine so ruhige, rein theoretische Ausführung, welche,
2).
που dem Referenten das εἰπεῖν λόγον εἰς τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπου
in Erinnerung brachte. Hiefür ist die Probe, dass nun zwi-
schen diesem Ausspruch und dem folgenden, dass seinen Jün-
gern vor Gericht das Nöthige durch das πνεῦμα ἅγιον wer-
de eingegeben werden, die Verbindung ebenso äusserlich
durch den Ausdruck πνεῦμα ἅγιον vermittelt ist. Was bei
Matthäus (V. 33—37.) [na]ch folgt, ist zum Theil schon in
der Bergrede da gewesen, steht aber auch hier in besserem
Zusammenhang, als Schleiermacher anerkennen will.
3).
wo nicht für ihn interessirte, doch empfängliche Zuhörer
voraussezt, geknüpft haben sollte, und wir finden hier in
lezter Beziehung keinen andern Zusammenhang, als dass bei-
de Reden von Austreibung der Dämonen handeln. Durch
diese Ähnlichkeit liess sich der Referent im dritten Evange-
lium verführen, die Verbindung zwischen den Reden gegen
die oftgenannte Beschuldigung und gegen die Zeichenforde-
rung, welche, als die zwei stärksten Proben des böswilli-
gen Unglaubens seiner Feinde betreffend, in der Überliefe-
rung zusammengefügt gewesen zu sein scheinen, zu spren-
gen, eine Gewaltsamkeit, deren der erste Evangelist sich
enthielt, und die ihm durch jene Verdächtigung der Dämo-
nenaustreibungen Jesu in das Gedächtniss gerufene Rede von
der Wiederkehr der Dämonen zurückbehielt, bis er zuvor
auch die Zurückweisung der Zeichenforderung mitgetheilt
hatte.
4).
s. Griesbach, Comm. crit. z. d. St.
5).
Etwas anders Schleiermacher, S. 190 f.
6).
Über den Ursprung, S. 115.
1).
Den Beweis für diese Deutung der Ausdrücke: οἱ παῤ αὐτοῦ,
κρατῆσαι
und ἐξέςη führt Fritzsche, Comm. in Marc.
p. 97 ff.
2).
Über den Lukas, S. 121.
3).
Wenn Schneckenburger (über den Ursprung, S. 54.) in dem
εἶπέ τις und dem ἐκτείνας τὴν χεῖρα bei Matthäus gegen-
4).

Antwort auf die Anmel-
dung, 8, 21:
μήτηρ μου καὶ ἀδελφοί μου
οὗτοί εἰοιν οἱ τὸν λόγον
τοῦ ϑεοῦ ἀκέοντες καὶ

ποιοῦντες αὐτόν
.
Antwort auf die Seligpreisung,
11, 28:
μενοῦνγε μακάριυι (sc. οὐχ ἡ
μήτηρ μου, ἀλλ') οι ἀκοῦοι-
τες τὸν λόγον τοῦ ϑεοῦ
καὶ
φυλάσσοντες αὐτόν
.
3).
über dem εἶπον und περιβλεψάμενος κύκλῳ des Markus
eine gemachte Anschaulichkeit finden will: so ist diess eine
merkwürdige Probe der willkührlichen Scharfsichtigkeit zu
Ungunsten des Matthäus, welche in der neuesten Kritik die-
ses Evangeliums eine so grosse Rolle spielt. Denn wer sieht
nicht, wenn nun umgekehrt Matthäus das εἶπον hätte, wie
es alsbald zu den Zügen verwischter Anschaulichkeit gezählt
werden würde? an dem ἐκτείνας τὴν χείρα aber ist vol-
lends gar nichts zu entdecken, was diesem Ausdruck mehr
als dem περιβλεψάμενος das Gepräge des Gemachten geben
sollte, vielmehr könnte umgekehrt diese leztere Formel aus
der schon erwähnten Liebhaberei des Markus für Bezeich-
nung des Augenspiels abgeleitet, und somit als willkührliche
Zuthat betrachtet werden.
5).
a. a. O. S. 177 f.
6).
Was den Evangelisten veranlasste, den Besuch nach der Pa-
rabel vom Säemann einzuschalten, muss auch nicht gerade,
wie Schleiermacher meint, eine wirkliche chronologische Ver-
bindung gewesen sein, vielmehr werden wir das ganz in sei-
ner Art finden, dass ihm der Schluss der Auslegung jener
Parabel: οὗτοί εἰσιν οἵτινες — ἀκούσαντες τὸν λόγον κατ-
6).
ἐχουσι καὶ καρποφοροῦσιν ἐν ὑπομονῇ den ähnlichen Aus-
spruch Jesu bei jenem Besuche: οὖτοί εἰσιν οἱ τὸν λόγον
τοῦ ϑεοῦ ἀκούοντες καὶ ποιοῦντες αὐτόν
in die Erinnerung
rief.
1).
a. a. O. S. 152.
2).
Es ist consequent in dem Tone der neueren Kritik über den
Matthäus gesprochen, wenn Schulz (üb. d. Abendm. S. 320.)
in Bezug auf die bemerkte Differenz zwischen den beiden
ersten Evangelisten äussert, er zweifle keinen Augen-
blick
, dass jeder aufmerksame Leser sich ohne Be-
denken
der Darstellung des Markus zuwenden werde, wel-
cher, ohne Erwähnung der Mutter, die ganze Verhandlung
zwischen Jesus und den beiden Aposteln vorgehen lasse. Al-
lein, was die historische Wahrscheinlichkeit betrifft, so möch-
te ich wissen, warum eine Frau, welche zu den Begleiterin-
nen Jesu gehörte (Matth. 27, 56.), eine solche Bitte nicht
sollte haben wagen dürfen; was aber die psychologische, so
hat das Gefühl der Kirche in der Wahl der Perikope auf den
Jakobustag wohl mit Recht für die Darstellung des Matthäus
entschieden, da eine so feierliche Bittscene aus dem Steg-
reif ganz in der Art eines Weibes und näher einer für ihre
Söhne sich verwendenden Mutter ist.
3).
vgl. Schleiermacher, a. a. O. S. 283.
1).
Paulus, Comm. 4, S. 168. und exeg. Handb. 3, a, S. 155; Tho-
luck
, Comm. S. 72 f.
2).
Über den Urspr., S. 108 ff.
3).
Lücke, 1, S. 435 ff.
4).
a. a. O. S. 109; vgl. Schnechenburger, S. 26 f.
5).
Lightfoot, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2.
6).
Lücke, S. 438.
7).
Lücke, S. 437; Sieffert, S. 110.
8).
Comm. in Joh. Tom. 10, §. 17, Opp. 1, p. 322, ed. Lom-
matzsch
.
9).
Kuinöl, z. d. St.
10).
Bretschneider, Probab., p. 43.
11).
So englische Ausleger, bei Lücke, 1, S. 435 f. Anm.
12).
Englische Ausleger a. a. O.
13).
Comm. in Joh. Tom. 10, 16. p. 321 f. ed. Lommatzsch.
14).
Lücke, z. d. St.
15).
Lücke, S. 413.
16).
Ders. ebend. und Tholuck, S. 70.
17).
Olshausen, 1, S. 785.
18).
Comm. 4, S. 164.
19).
Hieros. Jom tobh f. 61, 3, bei Lightfoot, S. 411.
20).
Lüche, Comm. 1, S. 410.
21).
a. a. O. Vgl. auch Woolston, Disc. 1.
1).
So Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 766. L. J. 1, a, S. 292.
Tholuck, Lücke, Olshausen, z. den St.; Hase, L. J. §. 85.
Anm.
2).
Diese Differenz ist auch dem Origenes aufgefallen, welcher
überhaupt eine kritische Vergleichung dieser vier Erzählun-
gen gegeben hat, wie man sie in neueren Commentaren in
dieser Schärfe vergeblich sucht; s. dessen in Matth. Com-
mentarior. series, Opp. ed. de la Rue, 3, S. 892 ff.
3).
s. Origenes, a. a. O.
4).
Ders. ebend.
5).
Ders. ebend.
6).
Ders. ebend.
7).
vgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 111.
8).
Origenes und Schleiermacher a. a. O.
9).

Luc. 7, 38: τοὐς πόδας αὐ-
τοῦ — ταῖς ϑριξὶ τῆς κε-
φαλῆς αὑτῆς ἐξέμασσε.

Joh. 12, 3: ἐξέμαξε ταῖς
ϑριξὶν αὑτῆς τους πόδας αὐτοῦ.
10).
Kuinöl, Comm. in Matth. p. 687.
11).
Sieffert, über den Ursprung, S. 125 f.
12).
bibl. Comm. 2, S. 277.
13).
s. bei Kuinöl, a. a. O. S. 688, auch Tholuck, S. 219.
14).
Paulus, ex. Handb. 2, S. 582. 3, b, S. 466.
15).
3. Band, S. 547; ebenso Olshausen, a. a. O.
16).
Lücke, 2, S. 417; Tholuck, S. 220.
17).
Schneckenbuager, über den Ursprung u. s. f. S. 60. So wenig übri-
gens in der Darstellung bei Markus eine Spur ist, dass das
συντρίψασα τὸ ἀλάβαςρον ein unabsichtliches Zerbrechen be-
zeichne, so wenig kann es doch mit Paulus (ex. Handb. 3, b, S.
471.) und Fritzsche (in Marc. p. 602.) ohne die härteste Ellipse
von dem blossen Aufbrechen des Verschlusses der Mündung
verstanden werden, sondern es kann, ungezwungen erklärt,
nur ein Zerbrechen des Gefässes selbst bedeuten. Fragt man
hiegegen mit Paulus: wozu das (kostbare) Gefäss verder-
ben? oder mit Fritzsche: wozu eine Verletzung der eige-
nen Hand und vielleicht auch des Hauptes Jesu riskiren? so
18).
Kuinöl, in Matth. p. 689.
17).
ist das ganz richtig bemerkt für die Handlung der Frau, nur
nicht für die Erzählung des Markus. Denn dass diesem ein
solches Zugrunderichten auch des köstlichen Gefässes zu der
edeln Verschwendung der Frau mitzugehören schien, das ist
ganz in seiner, uns längst bekannten, übertreibenden Art.
19).
so Paulus, ex. Handb. 3, b. S. 466. und viele Andere.
20).
Über den Lukas, S. 111 ff.
21).
Sieffert, a. a. O. S. 123 f.
22).
Schulz, a. a. O. S. 320 f.
23).
Schneckenburger, a. a. O. S. 60.
24).
Lücke, 2, S. 417; vgl. Lightfoot, horae, S. 468. 1081.
25).
Schulz, a. a. O.
26).
so Gtotius, Herder.
1).
Bei Wetstein, Paulus, Lücke z. d. St.
2).
Maimonides zu Sanhedr. 7, 1.
3).
Mischna, tr. Sanhedr. c. 10.
4).
s. die Ausführung d[i]eses und der folgenden Punkte bei Pau-
lus
und Lücke z. d. St.
5).
Probab. S. 72 ff.
6).
Euseb. H. E. 3, 39: ἐκτέϑειται δὲ ([ὁ] Παπ[ί]ας) καὶ ἄλλην
7).
Lücke, 2, S. 217. Paulus, Comm. 4, S. 410.
8).
Auch sonst wurden beide verwechselt, s. Fabricii Cod. apo-
cryph. N T. 1, S. 357. not.
6).
ἱςορίαν περὶ γυναικὸς ἐπὶ πολλαῖς ἁμαρτίαις διαβληϑεί-
σης ἐπὶ τοῦ· Κυρίοῦ, ἣν τὸ καϑ' Ἑβραίους εὐαγγέλιον πε-
ριέχει.
9).
3, S. 379 f.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq3j.0