Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.
[[II]]
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Kunſtlehre.
Verlagsexpedition der
Verlagsbuchhandlung von Carl Mäcken
in Reutlingen.
1857.
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Künſte.
Fünftes Heft:
Die Dichtkunſt.
(Schluß des ganzen Werkes.)
Verlagsexpedition der
Verlagsbuchhandlung von Carl Mäcken
in Reutlingen.
1857.
Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.
[[V]]
Vorwort
zu der letzten Abtheilung.
Indem ich, faſt eilf Jahre nach dem Erſcheinen des erſten Bandes,
meine Aeſthetik vollendet der Oeffentlichkeit übergebe, fühle ich mich vor
Allem verpflichtet, einen Uebelſtand der techniſchen Form dieſes Werks
bereitwillig zuzugeſtehen. Es iſt die Paragraphen-Einrichtung. Ein
einfacher, freilich grober Rechnungsfehler hat mich um einen guten Theil
des Erfolgs meiner Arbeit gebracht. Das Werk ſollte zum Gebrauch
akademiſcher Vorleſungen, zunächſt meiner eigenen dienen, die Zuſam-
mendrängung des Inhalts in Paragraphen das Dictiren erſparen, dieſe
ſollten vorgeleſen, die Anmerkungen der Erläuterung in freier Rede zu
Grunde gelegt werden. Zu ſpät erkannte ich, daß das Buch den Um-
fang, der dabei vorausgeſetzt war, weit überſchreiten mußte; die einmal
angenommene Form durfte nicht mehr verlaſſen werden. Sie ſchreckt
nun wie ein eiſernes Stachelgitter von den Früchten meiner Arbeit ab;
die Paragraphen mußten durch die nothwendige Kürze hart, ſpröd im
Style werden und die ſchwere Mühe, die ſie koſtete, dankt mir natürlich
Niemand. Doch bleibt Ein Zweck, dem dieſe Einrichtung dient: die
vielen Rückbeziehungen, Anführungen früherer Stellen in einem Werke,
worin Alles in ſtreng organiſcher Verbindung ſteht, ſind dadurch
weſentlich erleichtert, daß überall auf die ſcharf hervortretenden,
bündigen Zuſammenfaſſungen mit der Deutlichkeit der Zahl verwieſen
werden kann.
Es mag jedoch von der Härte, welche in den Paragraphen unver-
meidlich war, auf die Ausführung in den Anmerkungen etwas über-
gegangen ſein und der Styl mehr Schwere angenommen haben, als
[VI] ſelbſt der ſtreng wiſſenſchaftliche Charakter rechtfertigt. Der erſte Theil
mag zudem von der damaligen Stimmung des Verfaſſers nicht unbe-
rührt geblieben ſein: der Vorwurf frivoler Leichtigkeit in der Behandlung
der Wiſſenſchaft kann immerhin dazu verleiten, daß man denkt, man
wolle einmal zeigen, ob man es nicht auch ſchwer machen könne. —
Im Ganzen und Großen bedenke man aber wohl, daß ich durchaus
kein populäres Werk ſchreiben wollte. Es gibt eine Gemeinfaßlichkeit
edler Art, deren Werth, deren große Wichtigkeit für eine Zeit, zu deren
höchſten Aufgaben es gehört, dem Geiſte Schloß und Riegel zu öffnen
und ihn in die Maſſen zu verbreiten, ich natürlich nicht beſtreiten will;
aber daneben bleibt eine ſtreng eſoteriſche Form der Wiſſenſchaft in
ihrem Recht, in ihrer Nothwendigkeit für alle Zukunft ſtehen. Es iſt
ein anderes, zweites Geſchäft, die ſtrenge Form zu ſprengen und den
Inhalt an möglichſt Viele auszugeben, ein Geſchäft mit anderer Technik,
anderen Werkzeugen, und diejenigen, die dem Arbeiter jener innerſten
Werkſtätte vorwerfen, daß er in Formeln ſich bewege, die nicht gemein-
verſtändlich ſind, kommen mir immer vor, wie Leute, die etwa dem
Goldſchmiede vorrückten, daß er nicht der einfachen Hämmer, Zangen,
Meiſel u. ſ. w. ſich bediene, wie man ſie in jedem Hauſe braucht und
kennt. Das Ausmünzen, Verarbeiten für die Maſſe iſt denn ein ganz
ehrenwerthes, verdienſtliches Geſchäft, nur ſoll es auch redlich ſein und
geſtehen, woher der Inhalt geholt iſt. Ich könnte hierüber allerhand
erzählen, begnüge mich aber mit der Bemerkung, daß ich nicht ſo geizig
bin, es für Diebſtahl zu achten, wenn Einer nicht bei jedem Worte,
das er meinem Buch entnommen, die Anführungszeichen ſetzt, daß aber
wenigſtens diejenigen Züchtigung verdienen, die einen Schriftſteller aus-
ſchreiben und ihm zum Danke dafür bei jeder Gelegenheit einen Stich
verſetzen. Freilich mögen ſich dieſe Unredlichen einer ziemlichen Sicherheit
erfreuen, da ſie wohl wiſſen, daß man ſich ſchwer entſchließt, die
peinliche Mühe einer genauen Conſtatirung des Betrugs durch acten-
mäßigen Nachweis zu übernehmen, und daß ſie, ſo lange man dieß
nicht thut, gegen jede Nennung proteſtiren können. Wenn ich aber
einmal recht viel Zeit übrig habe, gedenke ich doch ein Exempel zu
ſtatuiren. — Ich meines Theils habe mir zur Pflicht gemacht, kein
Wort eines Andern ohne Citat, und zwar, wo ich ſie immer finden
[VII] konnte, mit ausdrücklicher Angabe der Stelle aufzunehmen. Mein Werk
ſollte zugleich eine Fundgrube für die geſammte Literatur der Aeſthetik,
ja für Alles ſein, was da und dort von einzelnen bedeutenden Ge-
danken über den Inhalt dieſer Wiſſenſchaft zerſtreut iſt. Die Trockenheit
ſeines Charakters iſt allerdings auch dadurch, nur dieß nicht zufällig,
ſondern mit Wiſſen, verſtärkt worden. Im Uebrigen bedenke man auch
billig, welch maſſenhafter, aufquellender Stoff zuſammenzupreſſen war;
man wird, wenn man genauer zuſieht, wohl finden, wie oft ich ge-
waltſam anhielt, wo der Zug der Darſtellung in’s Weite gehen und
ſich der Ergießung in die gefällige Form hingeben wollte, ſo daß Ge-
fahr eintrat, mehr ſchön, als über das Schöne zu ſchreiben.
Niemand wird meinen, ich ſei ſo wenig fortgeſchritten, daß ich mit
einer Arbeit, deren Anfang ſo weit hinter mir liegt, ganz zufrieden
wäre. Was ich von der Kritik im Einzelnen gelernt, worin ich ſie
ungerecht, ja feindſelig, hämiſch, ſelbſt lügneriſch gefunden, dieß aus-
einanderzuſetzen gehört nicht in das Vorwort eines Werkes, das auf
Objectivität Anſpruch macht. Nur das kann ich nicht ganz unterdrücken,
daß ich mich verwundert habe, die Schwächen und Mängel, die mir
ſelbſt am klarſten ſich aufgedeckt haben, ſo wenig von Andern aufgezeigt
zu ſehen, während ſie mir ſo häufig weſentliche Lücken und Fehler vor-
rückten, wo das Vermißte, Ergänzende, Zurechtſtellende nur an andern
Stellen ausgeführt iſt, als an welchen ſie es ſuchten. Uebrigens wird
man nicht verlangen, daß ich über die Gebrechen, die mir zum Be-
wußtſein gekommen ſind, hier ein Bekenntniß ablege, man wird dieſe
Unterlaſſung mir mindeſtens dafür verzeihen, daß ich auch nicht ver-
kündige, was nach meiner Ueberzeugung in dem Buche neu und gut iſt.
Nur über eine Hauptfrage halte ich für Pflicht mich hier auszuſprechen.
Die meiſten und ſtärkſten Angriffe hat der Aufbau meines Syſtems
auf der Grundlage einer Metaphyſik des Schönen erfahren, welche den
Satz, daß das Schöne in der Auffaſſung und Thätigkeit des Geiſtes
liegt, noch unentwickelt läßt; man hat mir vorgeworfen, daß ich in der
Weiſe des Platoniſchen Idealiſmus den Begriff hypoſtaſire, wie ein
Weſen für ſich in die Luft hinſtelle. Was ich ſchon in der Vorrede
zum erſten Theile, was ich an hundert Orten im Zuſammenhange des
Syſtems zu meiner Rechtfertigung hierüber vorgebracht habe, wurde nicht
[VIII] berückſichtigt. Dieſer Punct mag denn hier aus der Tendenz des ganzen
Werks noch einmal kurz beleuchtet werden. Daſſelbe arbeitet in ſeinem
ganzen Geiſt und Bau gegen eine hohle, gegenſtandsloſe, blos ſubjective
Kunſt, gegen den falſchen äſthetiſchen Idealiſmus; für ein wahres Kunſt-
werk wird nur dasjenige erklärt, welches in naturvollem Contacte des
Künſtlergeiſtes mit einem gegebenen, vorgefundenen Object auf dem Wege
der Zufälligkeit entſtanden iſt; der Genius ſchaut in dieſer Berührung
durch die empiriſch getrübte Geſtalt der Dinge hindurch in die reinen
Urtypen, auf welche das Leben angelegt iſt, und dieß Schauen iſt in
ſeinem Ausgangspunct von dem Scheine begleitet, als begegnen ihm
dieſe reinen Formen vermöge einer beſonderen Gunſt des Zufalls, die
einem Naturſchönen mangelloſe Entwicklung gegönnt, mitten in der
empiriſchen Welt. Wird nun das Syſtem der Aeſthetik aus der Phan-
taſie conſtruirt, ſo wird dieſer freudige Schein, von dem der Künſtler
ausgehen ſoll, von vorneherein in entwickelter Weiſe vernichtet und ſtellt
ſich der Gang der Wiſſenſchaft an, auf ein gegenſtandloſes Dichten
hinzuarbeiten, das mit Willkür Gebilde aus dem Innern erzeugt. Daher
habe ich in dieſem erſten Theile wohl angelegt, aber noch nicht entwickelt,
daß die reinen Typen nur ſcheinbar im naturſchönen Gegenſtand empiriſch
vorgefunden worden, ich habe den Begriff des Schönen metaphyſiſch behandelt,
d. h. von dem Standpuncte, daß der Geiſt Schönes findet und ſchafft
vermöge ſeiner Herkunft aus dem allgemeinen Lebensſchooße, in welchem
auch die reinen Urgeſtalten ſchweben, die allen Gebilden der Außenwelt zu
Grunde liegen. In dieſem allgemeinen Subſtrate, in dieſem Urgrunde verweilt
der erſte Theil, darum heißt er metaphyſiſch, daher trennt er noch nicht,
unterſcheidet noch nicht ausdrücklich, wie viel Antheil an der Erzeugung
des Schönen der thätige Geiſt, wie viel das empiriſche Object hat, daher
geſteht er noch nicht förmlich, daß das eigentlich Schaffende jener, dieß
blos das Weckende und der Stoff iſt. — Ein weiterer Grund für dieſe
Anlage des Syſtems liegt in den gegenſätzlichen Formen des Schönen,
dem Erhabenen und Komiſchen. Die Auffaſſung im Sinne der einen
oder andern dieſer Formen geht bald nur vom Künſtler und ſeiner
Stimmung aus, bald aber zwingt ihn der Gegenſtand; es gibt Erſchei-
nungen, die ebenſogut anmuthig, als erhaben oder komiſch, es gibt aber
auch ſolche, die nur entweder anmuthig, oder erhaben, oder komiſch gefaßt
[IX] werden können: daraus folgt, daß dieſe großen Unterſchiede in einem
allgemeinen, abſtracten Gebiet außerhalb und vor denjenigen Gebieten
behandelt werden müſſen, wo das Schöne ausdrücklich zuerſt im Objecte,
dann im Subjecte gefunden wird, d. h. daß ſie in einer Metaphyſik des
Schönen ihren Platz fordern. So liegt die Sache; mag man dieſe
Gründe widerlegen, bis jetzt hat man ſie meines Wiſſens noch nicht
einmal bedacht.
Eine ſchwere Beichte aber muß ich hier ablegen: die Lehre von der
Muſik iſt nur im erſten, allgemeinen Theile (§. 746 — 766) und
in dem Anhange von der Tanzkunſt (§. 833) von mir ausgeführt.
Ein Freund, der philoſophiſche Bildung mit tieferer Kenntniß der Muſik
vereinigt, Dr.Carl Köſtlin, Profeſſor in Tübingen, auf theologiſchem
Gebiete durch hiſtoriſch kritiſche Arbeiten ehrenvoll bekannt, neuerdings
durch philoſophiſche Vorträge auf der genannten Univerſität mit Beifall
und Erfolg thätig, hat die übrigen Theile übernommen und im Anfange
ſeiner Arbeit einiges freundlich überlaſſene Material von einem in die
phyſikaliſchen Grundlagen und das techniſche Syſtem der Muſik noch
ſpezieller Eingeweihten, der nicht genannt ſein will, benützt. Der Ent-
ſchluß wurde von beiden Seiten nicht früher gefaßt, als bis ſich bei unſern
Beſprechungen ergeben hatte, daß Prof. Köſtlin mit meinen Grundgedanken,
insbeſondere mit meiner leitenden Idee eines Gegenſatzes von zwei Styl-
prinzipien, der alle Künſte und ihre Geſchichte beherrſcht, ſich in völliger
Uebereinſtimmung fand. Er hat ſich, wie ich, zur Aufgabe gemacht, den
Begriff ganz in das Concrete hineinzuarbeiten, durch die Elemente, Formen,
Zweige der Muſik vollſtändig und ſyſtematiſch durchzuführen, und er muß
bei ſolcher Natur ſeiner Arbeit ebenſo lebhaft, als ich bei der meinigen,
wünſchen, daß man das Ganze liest, ehe man es beurtheilt. Ich hoffe,
daß der Unterſchied der zweierlei Hände nicht allzufühlbar ſein, ſich nicht
als ſtörende Kluft darſtellen werde; ich kann freilich nicht die Verant-
wortung für jedes Einzelne übernehmen, aber ich freue mich, durch eine
Kraft von ſolcher Tiefe, Fülle, Schärfe und Feinheit des Eindringens
unterſtützt worden zu ſein. Ganz ruhig iſt mein Gewiſſen allerdings nicht
dabei, daß ich dieſer Unterſtützung bedurfte; ich bekenne hier eine tiefe und
traurige Lücke in meiner Bildung. Ich habe in dem Alter, wo man es
ſoll, weil man es kann, keine Muſik gelernt; es war ein Verſäumniß in
[X] meiner Erziehung. Allerdings hätte ich wohl in den ſpäteren Jugend-
jahren mehr Willen und Beharrlichkeit gehabt, das Verſäumte nachzu-
holen, wenn nicht Alles an einem tödtlichen Grauen vor Noten geſcheitert
wäre. Man verſichert mich, daß ich ganz richtig höre, ich freue mich an
der Muſik, ich glaube Manches, weit mehr, als in jenem von mir aus-
geführten Theil, über ſie ſagen können, und ich darf anführen, daß ein
Kenner mir ſeine Verwunderung darüber ausgedrückt hat, wie erträglich
die Ausführung der ganzen Lehre von dieſer Kunſt mir in den akademiſchen
Vorleſungen gelungen ſei. Ich bin aber allerdings mehr auf das Auge,
als auf das Ohr angelegt und noch beſtimmter muß ich bekennen, zu
den unmathematiſchen Naturen zu gehören. So lernte ich denn kein
Inſtrument und ein letzter, ganz ſpäter Verſuch, mir theoretiſch das
Verſtändniß der Zeichenſchrift der Muſik anzueignen, war vergeblich.
Wer aber keine Noten, kein Inſtrument verſteht, hat ein für allemal
kein Recht, über Muſik zu ſchreiben; was er immer über ſie gedacht haben
mag, er würde bei jedem Schritt auf das Concrete ſtoßen, das er nicht
berühren darf; ich wollte und konnte einen ſolchen Eiertanz nicht auf
mich nehmen. Ich hatte nun die Wahl, entweder den Abſchnitt über die
Muſik auf das Wenige zu beſchränken, was ich gegeben, und ſo die
Symmetrie meines Werkes zu opfern, oder dieſelbe um den Preis zu
retten, daß ich eine fremde Hand zu Hülfe rief. Der deutſche Sinn für
Vollſtändigkeit und Ebenmäßigkeit zog das Erſtere vor. Sagt man mir
nun, wem es in einem ſo weſentlichen Stück fehle, der ſei nicht berechtigt,
eine Aeſthetik zu ſchreiben, ſo muß ich es mir gefallen laſſen und kann
nur bedauern, daß es dennoch geſchehen iſt. — Auf dem Titel der
Abtheilung von der Muſik iſt der Name meines Mitarbeiters nur darum
nicht genannt, weil ſich keine Bezeichnung darbot, welche in der Form
und Kürze, wie es für dieſen Zweck gefordert iſt, ſeinen Antheil von
dem meinigen unterſchied.
Zürich im Januar 1857.
Fr. Viſcher.
[[XI]]
Inhaltsverzeichniß.
- Dritter Theil.
Die ſubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen
oder
die Kunſt.
Zweiter Abſchnitt.
Die Künſte. - Dritte Gattung.
Die ſubjectiv-objective Kunſtform oder die Dichtkunſt. - §§. Seite.
- a.Das Weſen der Dichtkunſt.
α. Ueberhaupt 834—845 1159—1195 - β. Die einzelnen Momente.
- Das Stylgeſetz.
- Verhältniß zu der Muſik 846 1196—1199
- — zu der bildenden Kunſt 847 1199—1204
- — zu der Proſa 848 1205—1211
- Die zwei Stylprinzipien: directer und indirecter Ide-
aliſmus 849 1211—1215 - Der ſprachliche Ausdruck 850 ff. 1215 ff.
- Die Mittel der Veranſchaulichung (Tropen) 851—852 1219—1232
- Die Mittel der Stimmung (Figuren) 853 1232—1234
- Gegenſatz der Style 854 1234—1238
- Die Rhythmik.
- Grundbeſtimmungen 855—858 1238—1246
- Die Rhythmik des direct idealen, claſſiſchen Styls 859 1246—1250
- — — des indirect idealen, charakteriſtiſchen
Styls 860 1250—1258 - Die Compoſition 861 1258
- b.Die Zweige der Dichtkunſt.
- Eintheilungsgründe 862—864 1259—1264
- α. Die epiſche Dichtung.
- 1. Ihr Weſen.
- Grundbeſtimmung 865 1265—1266
- Die epiſche Weltauffaſſung 866—868 1266—1275
- Der epiſche Dichter. Das Stylgeſetz 869 1275—1278
[XII]
- §§. Seite.
- Die Compoſition 870 1278—1283
- Werth und logiſche Stellung 871 1283—1285
- 2. Die Arten der epiſchen Poeſie.
- Die zwei Hauptformen 872 1285
- Das Epos des idealen Styls oder das (orientaliſche und)
griechiſche 873 1285—1289 - Styl-Unterſchied innerhalb deſſelben. Idyll 874 1289—1291
- Das römiſche Kunſt-Epos 875 1291—1292
- Das perſiſche und das deutſche Heldengedicht des
Mittelalters 876 1292—1295 - Das romantiſche Epos. — Legende. —
Mährchen 877 1296—1300 - Das religiöſe und weltliche Epos der Ita-
liener 878 1300—1303 - Die epiſche Dichtung des modernen, charakteriſtiſchen
Styls oder der Roman 879—880 1303—1310 - Eintheilung nach Stoffgebieten: der ariſtokratiſche,
der Volksroman, der bürgerliche, hiſto-
riſche, ſoziale 881 1310—1315 - Eintheilung nach Stimmungs-Unterſchieden: der
ernſte und komiſche, der ſentimentale Roman 882 1315—1317 - Die Novelle. Die moderne Idylle 883 1317—1321
- β. Die lyriſche Dichtung.
- 1. Ihr Weſen.
- Grundcharakter 884—886 1322—1333
- Styl, Compoſition 887 1333—1338
- Rhythmiſche Form 888 1338—1341
- 2. Die Arten der lyriſchen Dichtung.
- Eintheilungsgrund 889 1342—1345
- Die Lyrik des Aufſchwungs: das Hymniſche,
Dithyramb, Ode 890 1345—1351 - Die reine lyriſche Mitte: das Liederartige 891 1351—1354
- Styl-Unterſchied. Volkspoeſie und Kunſtpoeſie 892 1354—1358
- Objective Formen. — Ballade und Romanze 893 1358—1367
- Die Lyrik der Betrachtung: Elegie, orienta-
liſche Lyrik, romaniſche Formen (Sonett),
Epigramm u. ſ. w. 894 1367—1374 - γ. Die dramatiſche Dichtung.
- 1. Das Weſen derſelben.
- Grundbeſtimmung 895—896 1375—1381
- Die dramatiſche Weltauffaſſung 897—900 1381—1389
- Der dramatiſche Styl 901 1389—1394
- Die dramatiſche Compoſition 902 1394—1403
- Werth des Drama’s im Verhältniß zum Epos 903 1403—1405
- 2. Die Arten der dramatiſchen Poeſie.
- Der Stylgegenſatz 904 1406—1408
- Die claſſiſche Tragödie und Komödie 905—906 1408—1412
- Das moderne Drama 907 1413—1416
- Wechſelwirkung und bleibender Unterſchied der Style 908 1417—1419
[XIII]
- §§. Seite.
- Haupt-Eintheilung: tragiſch und komiſch 909 1419—1420
- Tragödie. Eintheilung derſelben nach dem Stoff:
ſagenhaft heroiſch, bürgerlich, privat 910 1421—1423 - Nach der Seite der Auffaſſung: Prinzi-
pien- und Charakter-Tragödie 911 1423—1426 - Verhältniß dieſer Unterſchiede zu einander 912 1426—1428
- Verhältniß derſelben zum Stylgegenſatze 913 1428
- Unterſchied des negativ und poſitiv Tragiſchen 914 1429—1430
- Komödie. Eintheilung derſelben nach dem Stoffe:
politiſch, bürgerlich, privat. Die my-
thiſche Form 915 1431—1433 - Nach der Seite der Auffaſſung: Charak-
ter- und Intriguen-Luſtſpiel 916 1433—1436 - Verhältniß zum Stylgegenſatze 917 1436—1439
- Annäherung an die Tragödie mit glücklichem Ausgang 918 1439—1441
- Verhältniß zu den Hauptformen des Komiſchen.
- Volks-Luſtſpiel und Luſtſpiel der Kunſtpoeſie;
Poſſe 919 1441—1443 - Werth der Komödie im Verhältniß zur Tragödie 920 1443—1446
- Anhang zu der Lehre von der dramat. Dicht-
kunſt: die Schauſpielkunſt. - Die Mimik 921 1447—1453
- Die Bühne 922 1453—1455
- Anhang zu der Lehre von der Dichtkunſt
überhaupt. Satyriſche, didaktiſche Poeſie,
Rhetorik. - Charakter des Grenzgebiets im Allgemeinen 923 1456—1457
- Die Satyre; negative, indirecte und poſitive, directe Form 924 1458—1462
- Die didaktiſche Poeſie. Epiſche Formen: Beiſpiel,
Parabel, Fabel und beſchreibendes Gedicht.
Thier-Epos. Lyriſche und dem Dramatiſchen ver-
wandte Formen. Das eigentliche Lehrgedicht 925 1462—1472 - Die Tendenzpoeſie und Rhetorik 926 1472—1474
[[XIV]][[XV]]
Druckfehler.
Theil I.
- Seite Zeile
- 5 10 v. u. ſtatt: cognitatio lies: cognitio
- 35. 9 v. o. ſt. Geiſtet l. Geiſte,
- 35. 10 v. o. ſt. ausgebilde l. ausgebildet
- 54. 10 v. o. ſtreiche das Komma nach: das
- 54. 11 v. o. ſetze ein Komma nach: erſchiene
- 88. 9 v. u. ſt. die l. dieß
- 89. 19 v. o. ſt. gibt l. gilt
- 105. 6 v. o. ſt. Dürr l. Dürer
- 105. 6 v. o. ſt. Lamozzo l. Lomazzo
- 110. 6 v. o. ſt. Lamozzo l. Lomazzo
- 110. 6 v. o. ſt. Nic, l. Nic.
- 126. 15 v. u. ſtreiche: nämlich
- 126. 11 v. u. ſt. ſubjectiv l. objectiv
- 142. 15 v. o. ſt. ſie l. es
- 149. 12 v. o. ſt. befreiten l. befreien
- 149. 14 v. o. ſt. befreiten l. geläuterten
- Seite Zeile
- 173. 13 v. u. ſtatt: auf lies: auch
- 199. 11 v. o. ſtreiche „nicht“ nach
„läßt ſich“ und ſetze es nach
„aber“ - 203. 11 v. u. ſt. Ring l. Reiz
- 210. 6 v. o. nach „Idee“ ſetze: der Einheit
- 224. 1 v. o. nach „ſtärkere“ ſetze ein Komma.
- 260. 4 v. o. ſt. Weislinger l. Weislingen
- 275. 19 v. o. ſt. Vermögens l. Vergnügens
- 277. 9 v. o. ſt. In l. Je
- 321. 18 v. u. ſt. Kampfwuth l. Kampfmuth
- 341. 16 v. o. ſt. Todel l. Tadel
- 419. 10 v. o. ſt. welche l. welchen
- 467. 5 v. o. ſt. Dichtens l. Denkens
- 469. 15 v. o. ſt. mag l. muß
Theil II.
- Seite Zeile
- 78. 2 v. o. ſtatt: Klängen lies: Klänge
- 116. 20 v. o. ſt. nun l. nur
- 297. 19 v. o. ſt. arbeitet l. darbietet
- 317. 19 v. o. ſt. Freude l. Schmerz
- 321. 3 v. o. ſt. Anderew l. Anderem
- 347. 19 v. o. ſt. dieſelke l. dieſelbe
- 348. 16 v. u. ſt. meinen l. meiſten
- 358. 2 v. u. ſt. ρωγράφος l. ζωγράφος
- 359. 12 v. u. ſt. ἐριννύαϛ l. ἐριννύας
- Seite Zeile
- 363. 13 v. o. ſtatt: natur lies: natur-
- 386. 19 v. u. ſt. Aber l. Oder
- 442. 3 v. u. ſt. Politheiſmus
l. Polytheiſmus - 459. 7 v. o. ſt. 4 l. 2
- 489. 9 v. o. ſt. Gleiche l. gleiche
- 509. 15 v. o. ſt. innere l. moderne
- 513. 15 v. o. ſt. ziehen l. zu ziehen
- 513. 1 v. u. ſt komm l. kommt
Theil III.
- Seite Zeile
- 28. 21 v. o. ſtatt: dieſer nicht,
lies: dieſer, nicht - 47. 21 v. o. ſt. faſſet l. faſelt
- 83. 4 v. o. ſt. nach l. auch
- Seite Zeile
- 134. 8 v. u. ſtatt: prachliebenden
lies: prachtliebenden - 175. 12 v. o. ſt. ungeſchaffene
l. umgeſchaffene
[[XVI]]
- Seite Zeile
- 189. 18 v. u. ſtatt: §. 555 lies: §. 550
- 197. 16 v. u. ſt. hingeſteckten
l. hingeſtreckten - 200. 14 v. o. ſt. kleiner l. kleinen
- 203. 1 v. o. ſt. 303 l. 203
- 240. 9 v. o. ſt. und l. der
- 244. 18 v. o. ſt. Kapitel l. Kapitell
- 365. 10 v. u. ſt. ſubjectiver l. ſubjective
- 371. 3 v. o. ſt. reell l. real
- 439. 17 v. u. ſt. nathropologiſcher
l. anthropologiſcher - 490. 7. v. o. ſt. Piſa l. Florenz
- 662. 10 v. u. ſt. unbenanten
l. unbenannten - 723. 4 v. u. ſt. Schutzwetzr l. Schutzwehr
- 777. 9 v. u. ſt. nun l. nur
- 786. 3 v. u. ſt. Mutter l. Mitte
- 799. 12 v. u. ſt. dann l. denn
- 800. 16 v. o. ſt. uns l. was
- 803. 2 v. u. nach: „liegen“ ſetze ein Komma.
- 807. 5 v. o. ſt. binden l. Binden
- 808. 12 v. o. ſt. Strömungs
l. Stimmungs- - 808. 18 v. u. ſt. Reſonnanz l. Reſonanz
- 818. 16 v. o. ſtreiche das Wort: Ton
- 819. 1 v. u. nach: „unbefriedigende“ ſetze
ein Komma. - 821. 1 v. u. ſt. unendlichen l. unendlicher
- 823. 18 v. o. ſt. die l. der
- Seite Zeile
- 823. 8 v. u. ſtatt: einem lies: ſeinem
- 827. 2 v. u. ſt. und an dem l. nur an dem
- 828. 11 v. o. nach „Sinnlichen“ ſtreiche
das Komma. - 836. 8 v. u. nach „Melodie“ ſtreiche das
Komma. - 838. 13 v. o. nach „weil“ ſetze: er
- 838. 18 v. o. ſtreiche: „auch“
- 838. 19 v. u. ſt. das l. der
- 839. 19 v. o. nach „Ausgebreiteten“ ſetze
ein Komma. - 907. 6 v. u. ſt. Vorſchieben l. Verſchieben
- 1153. 14 v. u. ſt. dann l. denn
- 1154. 13 v. u. nach „Zeit“ ſtreiche das Komma
- 1157. 14 v. o. nach „Grazie“ ſetze ein Komma.
- 1180. 9 v. u. ſt. flüchtigen l. flüſſigen
- 1204. 4 v. o. ſt. Zuge l. Gange
- 1209. 15 v. u. ſt. nur l. aus
- 1212. 8 v. u. nach: 506) ſetze ein Komma.
- 1222. 9 v. u. ſt. harmoniſch l. homeriſch
- 1236. 4 v. u. ſt. Btick l. Blick
- 1248. 20 v. o. ſt. anatamiſchen
l. anatomiſchen - 1317. 9 v. o. ſt. exotiſchen l. erotiſchen
- 1328. 21 v. o. ſt. anſchließt l. anſchießt
- 1333. 12 v. u. ſt. Atmöſphäre l. Atmoſphäre
- 1345. 1 v. u. ſt. eigenthümliche
l. eigentliche - 1370. 8 v. u. ſt. Sinnen l. Sinne
[[1159]]
Dritte Gattung.
Die ſubjectiv-objective Kunſtform oder die Dichtkunſt.
a.
Das Weſen der Dichtkunſt.
α. Ueberhaupt.
§. 834.
Die Kunſt hat nunmehr alle Seiten der Erſcheinung und der Art ihrer
Auffaſſung iſolirt, welche überhaupt iſolirt werden können. Jede dieſer Be-
ſchränkungen hat mit ihrem Werth auch ihre Mängel und Nachtheile geoffenbart
(vergl. §. 533); die letzte derſelben, die Muſik, hat mit der Form der Be-
wegung von der ſubjectiven Welt Beſitz genommen, aber die ganze objective
geopfert; die Nothwendigkeit des Schritts (vergl. §. 746), wodurch dieſe wieder
gewonnen und mit dem ganzen Reichthum der erſteren vereinigt werden ſoll,
hat ſich nachdrücklich hervorgeſtellt.
Das Geſetz, das uns im wiſſenſchaftlichen Gange vorwärts treibt, iſt
in dem angeführten §. 533 aufgeſtellt und erläutert. Es hat nun die bil-
dende Kunſt das Object, d. h. die Welt als körperliche, ſichtbare Realität,
im Raume nachgebildet und dem Auge vorgeführt; ihre Darſtellung war
zuerſt räumlich im engſten Sinne des Worts, indem ſie die Bewegung,
welche den Raum in der Zeit überwindet, überhaupt nicht zum Gegenſtand
ihrer Nachahmung machte, ſondern nur die bewegungsloſe Maſſe zu reinen
Verhältniſſen ordnete: als Baukunſt; ſie hat organiſch ſich Bewegendes
nachgebildet, aber ohne die Bewegung wirklich in ihr Werk aufzunehmen,
und ſie hat zugleich von den Momenten, die das Sehen in ſich begreift,
dasjenige, das ſich auf die Form im engeren Sinne des Worts bezieht,
das taſtende Verhalten des Auges iſolirt: als Bildnerkunſt; ſie hat die
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band 75
[1160]dargeſtellte, aber nicht eigentlich nachgeahmte Bewegung beibehalten und
das bewegte Leben in ungleich reicherem Umfang, mit unendlich vertieftem
und erweitertem Ausdruck dem Auge in der Totalität ſeines Wahrnehmens
geboten, wie es mit der Form die Verhältniſſe des Lichts und der Farbe
erfaßt: als Malerei. Hiemit iſt Alles erſchöpft, was im Raum ohne
wirkliche Bewegung dargeſtellt werden kann; eine Verbindung der letzteren
aber mit der räumlichen Darſtellung iſt, wie wir ſahen, nur möglich durch
Verwendung lebendigen Naturſtoffs in der blos anhängenden Kunſtform
der Gymnaſtik (ebenſo der Orcheſtik). Jede der einzelnen Beſchränkungen
in dieſer Folge der Künſte erreichte durch ihr Verzichten ein relativ Voll-
kommenes und deckte doch zugleich ihren tiefen Mangel auf. Dieß trieb
mit Nothwendigkeit zur Muſik. Wir haben geſehen, was dieſe gewinnt
und verliert, indem ſie die Welt der Innerlichkeit, das ſubjective Leben, in
der Form der reinen Bewegung, d. h. ſo ausſpricht, daß das geiſtige Zeit-
leben im Zeitleben des Darſtellungsmittels ſeinen Ausdruck findet, aber keine
ſich bewegende Geſtalt, kein räumliches Subject einer Bewegung zu ſehen
iſt. Erſt jetzt vermochte die Kunſt das innerſte Geheimniß der Dinge, wie
es vom Menſchen durch lebensvolle Sympathie mit der Welt in ſeinen
Buſen hereingenommen wird, jenes Geheimniß, das ſtill über den Geſtalten
der bildenden Kunſt ſchwebt, ihnen und dem Zuſchauer auf der Zunge liegt
und ſich nicht löſen kann, zu entbinden und zu verrathen, und doch wußte
ſie es nur auszuhauchen, nicht zu nennen, denn mit dem Sichtbaren hatte
ſie die Fähigkeit geopfert, überhaupt einen Gegenſtand anzugeben; ſie war
ganz Gefühl und ſtand ſtill an der Schwelle des Bewußtſeins. Das Ge-
fühl haben wir aber als jene lebendige Mitte des Geiſteslebens erkannt,
welche ſtetig in das bewußte Verhalten übergeht; es war nicht nur die
volle Empfindung des Mangels da, ſondern poſitiv war es uns, als müſſe
er jeden Augenblick ſich tilgen, das Object ſchwebte ſtets in die nächſte
Nähe heran, ja die ganze Kunſtform verband ſich mit der Sprache des
Bewußtſeins, mit dem Worte, um ihrem tief gefühlten Mangel abzuhelfen,
freilich wieder mit einem Opfer, denn eben die Iſolirung der Erſcheinungs-
ſeiten in der Kunſt begründet ja auf der einen Seite die Vollkommenheit
ihrer Sphären und die ſelbſtändige Muſik mußte daher für reiner erklärt
werden, als die begleitende. Der Fortgang nun, wodurch die Lücke gefüllt
werden ſoll, welche auch dieſe neue, ſo reiche und tiefe Kunſtform zurückge-
laſſen hat, muß ſich von den bisherigen Schritten, die von der einen zu
der andern Kunſt überführten, weſentlich unterſcheiden. Dort beſtand das
Neue nicht darin, daß je die neue Kunſtform, um dem Mangel der in der
logiſchen Folge vorhergehenden abzuhelfen, auf eine noch hinter dieſer liegende
Hauptform zurückgriff, ſondern ſie behielt zwar etwas von der vorhergehenden
(wie die Plaſtik von der Baukunſt das ſchwere Material, die maſſiv räum-
[1161] liche Darſtellung und die Strenge der Verhältniſſe, die Malerei von jener
das Gewicht der Form in Zeichnung und Modellirung, die Muſik von
allen dreien die in ihren Darſtellungen ſchlummernde Stimmung), aber ſie
erfaßte zugleich eine neue Seite des Erſcheinungslebens, wodurch denn das
Behaltene zugleich weſentlich verändert wurde. Die Poeſie aber greift, um
das, was ſie von der Muſik behält, zu ergänzen, — wodurch ſie es na-
türlich ebenfalls weſentlich verändert, — zurück nach dem Sichtbaren,
dem Gebiete der bildenden Kunſt. Freilich auch dieſe wieder ergriffene
Seite der Welt wird ſie, verglichen mit der Behandlung, die ihr in der
bildenden Kunſt widerfährt, auf’s Tiefſte verändern, eben weil ſie, was die
Muſik gewonnen hat, hinzubringt; ja in gewiſſem Sinne iſt es ganz und
ſchlechthin Neues, in keiner von dieſen zwei Hauptgattungen der Kunſt
Dageweſenes, was mit ihr in die äſthetiſche Welt eintritt, allein es iſt
nur Neues aus Erſcheinungsgebieten, welche vorher in engeren Schranken
der Kunſt ſich eröffnet haben, kein neues Erſcheinungsgebiet, keine neue
Kategorie des Daſeins wird erobert. Einfach, weil es nichts mehr zu
erobern gibt, weil kein Erſcheinungsgebiet mehr übrig iſt. Wir ſind daher
an der letzten Gattung der Kunſt angekommen. Der Fortgang iſt ein
Rückgang, die Linie läuft als Kreis in ſich zurück. Es iſt aber dieß Rück-
greifen nicht nur ein Nichtanders-Können, es iſt eine poſitive, innere Noth-
wendigkeit, denn alles Sein der Idee iſt zunächſt Sein im Raume, räum-
liche Exiſtenz iſt die vorausgeſetzte Grundlage innerlicher, geiſtiger Exiſtenz,
eine Grundlage, welche die Muſik ſich unter dem Fuße weggeſchoben hat;
vergl. §. 746, wo überhaupt der Schritt zu der Muſik gar nicht vollzogen
werden konnte, ohne ſogleich auf die Poeſie vorwärts hinüberzuweiſen.
§. 835.
Durch dieſe Aufgabe iſt gefordert, daß die Phantaſie diejenige Art ihrer
Thätigkeit in Wirkung ſetze, worin ſie ſich nicht auf das eine oder andere ihrer
Momente, ſondern auf die ganze ideal geſetzte Sinnlichkeit und auf das Innerſte
und Reinſte ihres Weſens, auf die tiefſte Vergeiſtigung aller ihr zugeführten
Bilder ſtellt: die dichtende Phantaſie (vergl. §. 404. 535).
Der Dichter ſoll die Wirkung auf das Auge mit der Wirkung auf
das Gehör (das Letztere keineswegs blos dadurch, daß er ſich durch ſein
Kunſtmittel an daſſelbe wendet,) vereinigen, er ſoll zu allen Sinnen ſprechen.
Vor Allem muß er daher ſelbſt mit allen Sinnen ſchauen. Dieß thut aber
jeder Künſtler; es muß alſo ſeinen Grund in der Organiſation der Phan-
taſie haben, wenn der eine dieſe, der andere jene Seite der Erſcheinung,
die er doch ſinnlich mitauffaßt, in demſelben Act ausſcheidet, um ſich auf
75*
[1162]eine beſtimmte zu iſoliren, wenn dagegen die Auffaſſung des Dichters ſich
in das Ganze der Erſcheinung legt. Dieſer Satz iſt hier aus der Lehre
von der Phantaſie ausdrücklich wieder aufzunehmen, welche in §. 404 auf
Grundlage der Darſtellung des Weſens derſelben jene innern Unterſchiede
aufgeführt hat, die darauf beruhen, daß die Phantaſie als Ganzes ſich
entweder auf den Standpunct des einen oder andern ihrer Momente ſtellt
oder in den Inbegriff dieſer Momente legt; und darauf eben beruht ja die
Theilung der Kunſt in Künſte (§. 535). Es ſind aber in §. 404 zwei
Linien der Eintheilung aufgeſtellt, welche entſprechend nebeneinander laufen:
die eine, ebengenannte, iſt genommen aus den Weiſen des Verhaltens zum
äußern Object, welche der innerlich frei geſtaltenden Thätigkeit vorausgeſetzt
ſind, die andere aus dieſer ſelbſt; ſo gründet ſich die bildende Phantaſie
auf den Standpunct der Anſchauung in der erſten, auf den der Einbildungs-
kraft in der zweiten Linie, die empfindende auf die Seite der innigen, mit
dem Gehörsſinn auffaſſenden Aneignung des angeſchauten Gegenſtands in
der erſten, auf die Stimmungsſeite der Begeiſterung in der zweiten; was
nun die dichtende betrifft, ſo iſt jetzt genauer zu beſtimmen, wie es hier mit
den zwei Begründungslinien ſich verhalte. Der geborene Dichter ſchaut
denn allerdings zum Voraus anders an, als der bildende Künſtler und der
Muſiker; Geſtalt und Ton, jede Bewegung, jede Aeußerung des Lebens
umfaßt er, wie ſchon geſagt, mit gleich aufmerkſamen Sinnen. Allein
ſchon in §. 404 iſt zu der Beſtimmung: „die ganze ideal geſetzte Sinn-
lichkeit“ gefügt „und die reichſte geiſtige Bewegung aller ihrer Mittel.“
Der Künſtler, der ſich nicht auf einen beſtimmten Sinn iſolirt, ſieht es
ſchon in ſeiner Auffaſſung auf eine Kunſt ab, welche, weil dem äußern
Sinne niemals alle Erſcheinungsſeiten zugleich dargeſtellt werden können,
nur für den innern darſtellt und die Totalität der Erſcheinung weſentlich
in geiſtige Einheit zuſammenfaßt, das Ganze des Lebens, ergriffen im geiſtigen
Centrum, nachbildet. Von dieſem Centrum laufen die Strahlen in gleicher
Kraft nach allen Seiten der Erſcheinung; jede Weiſe, ſie wahrzunehmen,
kann bedeutend werden, iſt bedeutend, jeder Punct der Peripherie führt in
das Innere, jeder Nerv betheiligt ſich in der Aufnahme. Alſo nur darum
iſt hier die ganze Sinnlichkeit berechtigt und berufen, weil ſie ſchon als
Sinnlichkeit Alles geiſtig betont, weil jeder ihrer Töne unmittelbare Reſo-
nanz im Geiſte hat, weil in jedem Ergreifen des Gegenſtands die Tiefe
dieſer Beziehung vorbehalten iſt, ja miterfolgt. Dieß iſt eben dadurch bereits
ausgeſprochen, daß der Dichter die ſubjective Innerlichkeit der Muſik mit
der objectiven Geſtaltung der bildenden Kunſt vereinigen ſoll. Sehen wir
nun genauer auf jene zwei Linien zurück, ſo iſt die ganze Sinnlichkeit,
womit der Dichter anſchaut, darum bereits auch die verinnerlichte, ideal
geſetzte, alſo die Einbildungskraft, weil die Totalität der Anſchauung ſogleich
[1163] in der Bedeutung vor ſich geht, daß ſie ohne jede äußere Gegenwart des
Objects das Bild bewahren und im Zuhörer hervorrufen muß. Das innere
Bild ſoll aber in emphatiſchem Sinne vergeiſtigt, alſo von der eigentlich
Ideal-bildenden Phantaſie verarbeitet werden. So ruht die dichtende Art
der Phantaſie gleichmäßig auf dieſen beiden Linien: auf der ganzen Sinnlich-
keit, die als Einbildungskraft zur innerlichen wird, und auf dem intenſiv
reinſten Thun der Phantaſie. Trat in der Begründung der bildenden
Phantaſie die Einbildungskraft in zweiter Linie ebenfalls auf, ſo lag hier
das Gewicht auf der Objectivität des innerlich vorſchwebenden Bildes
im Gegenſatze gegen das bildloſe Empfinden; tritt ſie jetzt in erſter Linie,
ſofern nämlich die Totalität der Sinnenwahrnehmung unmittelbar in ſie
überleitet, wieder auf, ſo liegt der Nachdruck eben auf der Vollſtändigkeit,
womit alle äußeren Sinne in ihr auf innerliche Weiſe, in Abweſenheit des
Gegenſtands, der Seele das Bild vorführen, das durch ihre Thätigkeit er-
faßt wird, denn die Einbildungskraft ſieht nicht nur, ſondern hört auch,
taſtet, ſchmeckt, riecht innerlich. Nun aber iſt allerdings das Thun der
Einbildungskraft noch kein Läutern der Erſcheinungen zum Ausdruck der
reinen Idee, daher ergänzt ſich die Begründung dahin, daß die dichtende
Phantaſie auf die Phantaſie ſelbſt im engſten Sinne des Worts, auf die
reine, Ideal-bildende Formthätigkeit geſtellt iſt. Alle Arten der Phantaſie
müſſen zwar zu dieſer Höhe des Thuns ſich erheben, wenn ſie ächte Kunſt-
werke hervorbringen wollen, ſie müſſen ein reines, ideales Bild geiſtig im
Innern erzeugen, aber während die andern dieß Bild im äußeren Stoff
niederlegen, bleibt es bei dem Dichter im Mittheilen nach außen geiſtig,
innerlich: daher iſt ſein Element wie das keines andern Künſtlers die innere
Idealbildung; daher haben wir die dichtende Phantaſie die Phantaſie der
Phantaſie genannt.
§. 836.
Soll nun die dichtende Phantaſie ihr inneres Bild in Kunſtform darſtellen
und hiemit den vollen Schein der Dinge vorführen, ſo muß ſie nothwendig
auf alles Material, auch auf diejenige Beziehung zu einem ſolchen, die in
der Muſik noch beſteht (vergl. §. 759. 767, 3.), verzichten (vergl. §. 533. 534)
und ſich ſtatt deſſen eines bloßen Vehikels bedienen. Dieß kann nur der
articulirte Ton, die Sprache ſein, als das Mittel, wodurch der Dichter das
Bild, das er in ſich ſelbſt erzeugt hat, im Innern desjenigen hervorruft, an
den er ſich wendet, alſo mit Phantaſie in Phantaſie thätig iſt. In engerem
Sinne, als bei der Muſik, iſt daher die Phantaſie, in welche der Dichter
das Gebilde der ſeinigen überträgt, das eigentliche Material, in welchem er
arbeitet.
[1164]
In §. 533. 534 iſt gezeigt, daß die Kunſt in ſtufenförmigem Gange
je das Material, worin das Leben umfaſſender und tiefer zur Darſtellung
gebracht werden kann, an die Stelle des beengenderen ſetzt, bis endlich alles
Material, weil ſein Charakter weſentlich die ſinnliche Ausſchließlichkeit iſt,
abgeworfen wird, und es iſt nachgewieſen, daß daraus zunächſt eine Zwei-
theilung der geſammten Künſte entſteht, indem der Gruppe derſelben, welche
ſich ſinnlichen Materials bedient, eine Kunſt gegenübertritt, welche dieſes
Band zerſchneidet. Darauf iſt dann in §. 535 die Dreitheilung eingeführt
durch diejenige Kunſtform, welche den Moment des Uebergangs zu dieſer
völligen Löſung darſtellt, indem ſie ein ſinnliches Material noch verwendet,
aber nur als Vorausſetzung, d. h. nur, um ihm das rein Bewegte, ſchon
der Zeitform Angehörende, den Ton, zu entlocken. Daß nun die Abwerfung
alles eigentlichen Materials mit der Poeſie eintreten muß, folgt eben daraus,
daß ſie für alle Sinne und daß ſie ſowohl das innere, als das äußere
Leben darſtellt. Es iſt ſchon bei der Verbindung von Künſten untereinander
(§. 544) berührt, daß es Unnatur iſt, Poeſie, Muſik und Malerei vereinigen
zu wollen, der Unſinn der Verbindung voller Farbenwirkung und Form-
wirkung iſt bei den bildenden Künſten nachgewieſen. Der bloße Verſuch,
ſich ein Werk der Kunſt vorzuſtellen, worin die Erfaſſung des Gegenſtands
nach ſämmtlichen Seiten der Erſcheinung ſich an ein Material bände, hebt
ſich von ſelbſt auf: nachgeahmte Figuren, welche völlige Farbe haben, ſich
bewegen, ſingen, ſprechen, dazu wirklich bewegte Lüfte, Waſſer, Pflanzen,
und auch dieſe in allen Verhältniſſen des Lichts und der Farbe, ſind un-
denkbar. Die Kunſt, die auf der ganzen innerlich geſetzten Sinnlichkeit
ruht, kann ſich auch nur an dieſe wenden, der volle Schein kann nur
in der Einbildungskraft des Zuhörers oder Leſers hervorgerufen werden.
Auch die bedingte Beziehung der Muſik zu einem Körper als Material
fällt daher weg: das Schöne kann mit dem, wodurch es vermittelt wird,
nicht ebenſo unmittelbar Eines ſein, wie in der Muſik mit dem Tone, den
ſie durch Anſchlagen eines Körpers hervorbringt. Will ich nun, daß im
Innern derjenigen, an die ich mich als Künſtler wende, das Bild entſtehe,
das ich in meinem Innern trage, ſo bleibt als Mittel, als tragendes, über-
führendes, von meinem Innern zu dem des Andern überleitendes Medium,
d. h. als Behikel, nur die Sprache übrig. Die Sprache iſt ein Syſtem
articulirter Töne; die Zuſammenſchließung der Vocale durch Conſonanten
entnimmt den Ton dem bloßen Weben der Empfindung, bildet ihn im Worte
zum Ausdruck des Bewußtſeins, des Begriffs. Bewußtſein, Begriff: dieß
bedeutet uns hier zunächſt nur: Angabe beſtimmter Objecte; wir unterſuchen
noch nicht die ſchwierige Frage, in welchem Sinne der Dichter allerdings
auch an das Bewußtſein als eigentliches Denken des Allgemeinen ſich wende.
Die Sprache iſt nun zwar ſchlechthin ein Verallgemeinern und das Wort
[1165] als ſolches gibt nie ein eigentliches Dieſes, ein empiriſch Einzelnes an,
denn das Erzeugen von Lautzeichen, wodurch jedes Object ohne ſinnliche
Aufweiſung kennbar gemacht wird, ſetzt ja eben voraus, daß durch Zuſam-
menfaſſung der Vielheit empiriſcher Individuen der Begriff, das Allgemeine
gebildet ſei, und der urſprüngliche ſymboliſch bildliche Charakter der Laute
und Schriftzeichen iſt in der entwickelten Sprache nothwendig und mit Recht
vergeſſen, dem reinen Mechanismus gewohnter Verknüpfung des Inhalts
mit dem Worte gewichen. Allein die Abſtraction des Denkens, wie es ſich
in der Sprache darſtellt, iſt keine abſolute: die Einbildungskraft begleitet
ſie und erzeugt ſich einen Auszug aus der unbeſtimmten Vielheit des Ein-
zelnen, ein Bild der Gattung, das nun den Begriff derſelben, wie er im
Wort als mechaniſirtem Zeichen gegeben iſt, umſchwebt: was man in der
Pſychologie Denkbild genannt hat. Die Selbſtbeobachtung ſagt Jedem,
daß mit dem Worte, wie es vernommen oder geleſen wird, eine ſinnliche
Vorſtellung vor ſeinem Innern ſteht, bei dem Wort Mann ein Mann,
Baum ein Baum u. ſ. w. Der Dichter kann alſo mit dem Vehikel der
Sprache überhaupt auf das innere Schauen wirken, es hervorrufen, ſie iſt
ſein elektriſcher Telegraph, durch den er ſein Bild zu dem hinüberſtrömen
läßt, für den er dichtet. Dieß bedarf allerdings einer eingreifenden näheren
Beſtimmung. Jenes Denkbild, das mit dem vernommenen Worte wie
durch einen Zauberſchlag innerlich entſteht, hat an ſich weder die Kraft der
Idealität, noch der Individualität mit dem äſthetiſchen Bilde gemein, es iſt
blaß, verſchwommen und zur äußerſten Unbeſtimmtheit zerfließt es bei den
Wörtern, welche abſtracte Begriffe im engeren Sinne bezeichnen, obwohl
auch ſie urſprünglich andere, concrete Bedeutung hatten. Die Aufgabe des
Dichters fällt in den Mittelpunct dieſes Verhältniſſes zwiſchen Sprache und
innerem Bild hinein: er hat die Sprache ſo zu verarbeiten, daß er das
Denkbild zum Idealbild erhebt, dem ganz Abſtracten ſeine Beziehung zum
Sinnlichen zurückgibt, ebenſoſehr aber, daß er in dieſer Rückbildung zum
Sinnlichen und durch dieſelbe die Energie des Allgemeinen vielmehr gerade ver-
doppelt. Wie er dieß bewerkſtelligt, welche Behandlung der Sprache dadurch
gefordert iſt, dieß iſt hier noch nicht weiter auszuführen, ſondern zuerſt nur
das Gewicht der Aufgabe an ſich feſtzuhalten. Und es liegt darauf der
ganze Nachdruck eines Grundbegriffes: der Dichter hat Bilder, d. h. natürlich
nicht blos einzelne Gleichniſſe, Metaphern u. ſ. w., ſondern innere An-
ſchauungen, richtiger: eine ganze Anſchauung zu geben. — Es erhellt nun,
daß, wenn man in der Poeſie noch von einem Materiale ſprechen kann,
dieß die Phantaſie des Zuhörers iſt. In §. 767, 2. iſt dieß auch von der
Muſik geſagt, aber durch 3. beſchränkt: zwiſchen dem Künſtler und dem Zu-
hörer ſteht hier zwar kein Material mehr als fixer Körper, ſondern ſchwebt
nur ein Bewegtes, der Ton, aber er iſt mehr, als bloßes Vehikel, er iſt
[1166] doch das lebendige phyſikaliſche Daſein des Kunſtwerks. Auch dieſe Be-
ſchränkung alſo fällt in der Poeſie weg. Genauer geſagt iſt es eigentlich
die Einbildungskraft des Vernehmenden, die der Dichter zur Phantaſie um-
zubilden hat, am richtigſten: die blos allgemeine Phantaſie (§. 379—383),
die er, ſo lange ſein Gedicht wirkt, zur beſondern, ſchöpferiſchen emporheben
ſoll. Der Dichter arbeitet alſo mit Phantaſie in Phantaſie, er baut, er
modellirt und meiſelt, zeichnet, malt, ſtimmt wie der Muſiker in der innerlich
geſetzten ganzen Sinnlichkeit ſeines Hörers oder Leſers. In gewiſſem Sinne
gilt ſelbſt von dieſem Materiale der Satz, daß alles Kunſtmaterial roher
und todter Stoff ſein muß (vergl. §. 490): roh und todt iſt die empfangende
Phantaſie in dieſem Verhältniß, d. h. ſie hat nach der Seite, in
Beziehung auf den Gegenſtand, den jetzt der Dichter bearbeitet, nicht ſelbſt
vorher etwas wirklich Schönes bilden können; auch ihre Thätigkeit in
Mythus und Sage iſt verglichen mit dem Kunſtwerke noch formlos, roher,
todter Stoff. Obwohl Geiſt iſt alſo der Geiſt des Empfangenden doch in
dieſer Beziehung widerſtandsloſes Wachs, das erſt zu kneten iſt.
§. 837.
Die Kunſt iſt nun im eigentlichen Sinne ſprechend und damit erſt
eigentlich klar geworden; denn durch die Sprache wird aller Inhalt an das
Bewußtſein geknüpft. Mit dem vollen Scheine iſt nun erſt der reine
Schein gewonnen; hiedurch vollendet ſich der ſchon in der Auffaſſungsweiſe
begründete Charakter der Geiſtigkeit (§. 835), wodurch die Poeſie von allen
andern Künſten ſich unterſcheidet; ſie verzehrt tiefer und inniger, als die andern,
alles Stoffartige, ſteht im vollſten Sinne des Worts auf dem Boden der Idee
und trägt den Charakter der Unendlichkeit und der Totalität, vermöge der ſie
in jedem Bilde ein Weltbild gibt.
Es iſt ſchon in §. 835 enthalten, daß die Poeſie die geiſtigſte Kunſt-
form iſt; der Satz blieb aber noch unentwickelt, das Prädicat der beſondern
Geiſtigkeit wurde zunächſt in der Auffaſſungsweiſe gefunden, es erhält ſeinen
vollen Sinn erſt, wenn dieſe auch in die Darſtellungsweiſe verfolgt wird. —
Von jeder Kunſtform galt es, daß ſie gewiſſermaaßen ſprechend ſei, der Muſik
iſt die Zunge gelöst, aber ihr fehlt der abſchließende, Wort und Begriff
bildende Conſonant, die Dichtkunſt erſt iſt eigentlich ſprechend, erſt dem
Dichter „hat ein Gott gegeben, zu ſagen, was er leidet.“ In dieſer
allereinfachſten Beſtimmung liegt eine Welt. Wir faſſen dieſelbe zunächſt
nur an ihren Hauptpuncten. Im vorh. §. ſind wir von der Beſtimmung,
daß die Sprache dem Bewußtſein einen beſtimmten Gegenſtand, dem
Denken einen Begriff gibt, alsbald fortgeeilt zu der andern, daß es ſich
[1167] um die Ueberleitung eines Bildes in die empfangende Phantaſie handle.
Wir nehmen jetzt die erſte zunächſt für ſich wieder auf und laſſen dabei
allerdings den Begriff im engeren Sinne des Wortes, das abſtracte Denken
des Allgemeinen, vorerſt aus; die Frage, wie weit er neben dem in ein
Denkbild überlaufenden Begriffe, der Concretes in ſeiner Allgemeinheit zu-
ſammenfaßt, eine Rolle in der Poeſie ſpielen könne, werden wir ſpäter auf-
nehmen. Weſentlich iſt alſo, daß in der Poeſie Alles vom Bewußtſein
getragen und begleitet wird, das denn in Begriffen ſich deutlich ſagt, was
es in ſich aufnimmt. Gegenüber dem bloßen Empfinden in der Muſik, die
ſich an den dunkeln Sinn des bloße Töne vernehmenden Gehörs wendet,
haben wir allerdings ſchon der bildenden Kunſt, die dem Auge das klare
Object vorführt, den Boden des Bewußtſeins zuerkannt. Das Bewußtſein
iſt der Act, wodurch ſich das Subject ein Object klar gegenüberſtellt; in
dieſem Acte, ohne daß er darum ſchon in den idealiſtiſchen des Selbſt-
bewußtſeins (vergl. §. 748) übergeht, kann das eine Glied der Syntheſe,
das Subject, ſich mit größerer oder geringerer Schärfe in ſeiner Selbſt-
thätigkeit, daher auch mehr oder minder activ, eindringend, aneignend das
Object erfaſſen. Dieſer Unterſchied hängt davon ab, ob zur Vorführung
des Gegenſtands die Sprache nicht im Kunſtwerk ſelbſt, ſondern nur daneben,
oder ob ſie innerhalb deſſelben und als urſprüngliche Trägerinn verwendet wird.
Bei Bauwerken, Statuen, Gemälden wird uns der Zweck und Gegenſtand
meiſt genannt oder wir nennen ihn uns ſelbſt und auch das Aeſthetiſche
der Darſtellung geben wir uns in Worten an, aber der Künſtler ſelbſt als
Künſtler ſpricht nicht. Der Dichter dagegen ſpricht eben als Künſtler und
das Nennen iſt weſentlich. Daraus folgt zunächſt ganz einfach, daß dem
Geſetze: jedes Kunſtwerk ſoll ſich ſelbſt erklären, keine Kunſt ſo
ganz und eigentlich genügt, wie die Poeſie. Dieß iſt von der tiefſten Be-
deutung für das Innerſte der künſtleriſchen Thätigkeit: der bildende Künſtler
iſt durch die Stummheit ſeiner Kunſt gehalten, bekannte und geläufige, im
Weſentlichen ſchon erfundene Gegenſtände vorzuziehen, und freilich muß er
ſie wieder zum Stoff herabſetzen, daß ſeine Umbildung den Werth einer
neuen Schöpfung habe; der Dichter dagegen heißt zwar auch geläufige, von
der Volksphantaſie ſchon bearbeitete Stoffe willkommen, aber er kann doch
weit unbeſchränkter Stoffe ergreifen, die noch nie behandelt ſind, denn da
er ſie mit Worten exponirt, ſo braucht er keine Bekanntſchaft vorauszuſetzen;
er iſt daher weit mehr eigentlich erfindend; vgl. Leſſing’s Laokoon Abſchn. 11.
Es entſpringt aber hieraus überhaupt eine Eigenſchaft, ein Grundzug in
der Phyſiognomie der Dichtung, der als ein abſolutes, klares Faſſen, ein
Treffen mit der Spitze des Bewußtſeins zu bezeichnen iſt; das Auge des
Dichters und durch ihn das unſrige verhält ſich zu dem des bildenden
Künſtlers wie ein durchbohrendes zu einem hell und deutlich, aber mehr
[1168] paſſiv ſpiegelnden. Alles hat hier dieſen bewußten Blitz, der Lichtpunct im
Auge iſt packender, hat den Ausdruck der nicht fehlenden Sicherheit. Die Poeſie
iſt die eigentlich wiſſende Kunſt. Sie verhält ſich zu allen bildenden Künſten
und zu der Muſik wie die Malerei zu der Plaſtik, welche dem todten Auge
erſt den faſſenden Lichtpunct gibt; es iſt ein geiſtiges Durchleuchtetſein aller
Dinge in ihr, wie dieß keine andere Kunſt erringen kann, denn dieſer Aus-
druck kann alle Formen erſt da beherrſchen, wo ſie wirklich reiner Schein
ſind. An der Forderung, daß im Schönen aller Stoff in reinen Schein
ſich verwandle, daß nicht der Durchmeſſer, nur der Aufriß, nicht das Innere
des Gebildes, ſondern davon abgelöst die bloße Oberfläche wirke (vgl. §. 54),
haben wir vorzüglich die Bildnerkunſt und die Malerei gemeſſen (§. 600 u. 650).
Aber Stein oder Erz und Farbſtoff auf körperlicher Fläche, obgleich dieſe
Stoffe als ſolche mit dem dargeſtellten Stoffe von Fleiſch, Knochen,
Blut u. ſ. w. nichts zu ſchaffen haben, gemahnen doch mit der Gewalt
ſinnlicher Gegenwart an die ſtoffartigen, phyſiologiſchen, phyſikaliſchen Be-
dingungen des Lebens, an den Durchmeſſer, und was die Muſik betrifft,
ſo ſetzt die Luftwelle den wirklichen Nerv ſo unmittelbar in’s Zittern, daß
eine höchſt pathologiſche Wirkung nahe liegt. Kurz: in allen andern Künſten
iſt die Materie noch nicht vollſtändig conſumirt und ſie verhalten ſich zur
Dichtkunſt wie eine Malerei, welche noch die Farben in ungebrochener
Stoffartigkeit verwendet, zu derjenigen, welche dieſelben wahrhaft concret
ineinander verarbeitet und ſo das Colorit zur Reife ſättigt. Das iſt die
Frucht davon, daß die Poeſie nur für das innere Auge und Ohr darſtellt,
den Geiſt zu dieſer camera obscura macht. Mit Geiſt in Geiſt malend
verwandelt ſie alle Schwere des Körperlebens in reine Geſtalt, alles Sein
in bloßes Ausſehen, bloßes Erſcheinen. Hier iſt daher Alles verkocht,
geiſtig durcharbeitet, durchbeizt. Sie iſt gefrorner Wein ohne das Eis, das
die andern Künſte mitgeben. Mit dieſer Geiſtigkeit ſteht nun die andere
Beſtimmung des vorh. §., daß die Poeſie das Vehikel der Sprache zu einem
Leiter lebendiger innerer Bilder zu geſtalten hat, ebenſowenig im Wider-
ſpruch, als der Grundbegriff des Schönen überhaupt einen ſolchen enthält;
das Element der Innerlichkeit hebt die Sinnlichkeit ſo wenig auf, daß viel-
mehr gerade die Poeſie außerordentlich ſtoffartiger, pathologiſcher Wirkung
fähig und leicht in Verſuchung iſt, zu ſolcher überzugehen. Wir haben ein
Aehnliches bei der Malerei geſehen, welche ſo viel geiſtig ſublimirter, ver-
mittelter iſt, als die naive Sculptur, und doch die Sinnlichkeit ſo viel tiefer
und heißer zu entzünden vermag, namentlich im Nackten. Es hat dieß
ſeinen Grund nicht nur in der Farbe, ſondern eben in der vertieften Inner-
lichkeit dieſer Kunſt überhaupt. Alle Leidenſchaft hat ihre wahre Stärke
gerade im innern Bilde, das glühend vor dem Geiſte ſchwebt, und die
Kunſt, die dieß ganz in der Gewalt hat, muß die heftigſten Erregungen,
[1169] die concentrirteſten Affecte hervorrufen können. Es folgt einfach aus dem
Weſen des Schönen, daß dieſe Hebel nur objectiv verwendet werden ſollen,
d. h. daß das Wilde und Ueppige nur entfeſſelt werden darf in einem Zu-
ſammenhang, der ihm durch einen großen und geſunden Inhalt ſeine ſtoff-
artige Spitze bricht und aus der Vollendung der Form hervorleuchtend dem
Heißeſten ſelbſt eine ideale Kühle gibt; ſonſt fällt die Poeſie unter ihren
ſchönſten Beruf herab, worin ſich alles hier Geſagte zuſammenfaßt: ent-
ſchiedener, als jede andere Kunſt, die Idee durch die begrenzte Erſcheinung
hindurchſcheinen zu laſſen. Alle Kunſt ſtellt für die Phantaſie dar, „die
Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, iſt das Geheimniß
des Künſtlers“ (W. v. Humboldt. Aeſth. Verſuche. W. B. 4, S. 19), aber
die bildenden Künſte ſtellen einen Körper in die Mitte zwiſchen die Phantaſie
des Künſtlers und Zuſchauers, der Muſiker bedarf noch eines ſolchen, um
die Tonwelle zu erzeugen, welche er zur Erſcheinung des Bildes ſeiner
empfindenden Phantaſie geſtaltet; der Dichter aber weckt unmittelbar Phan-
taſie mit Phantaſie und macht ſein Bild nur ſo äußerlich, daß es in
der Veräußerung innerlich bleibt. Daher geht ihm nichts ver-
loren von der Unendlichkeit, deren wunderbarer Hauch das Object der
Anſchauung umſchwebt, ſobald es durch die Einbildungskraft innerlich geſetzt
iſt (vergl. §. 388), und die natürlich nicht verſchwindet, ſondern wächst,
wenn ſich dieſer Act zur Phantaſie ſteigert. Es iſt zu §. 388 geſagt, die
Vergeiſtigung bemächtige ſich in dem Momente, wo das Angeſchaute zum
innern Bilde wird, obwohl es qualitativ noch nicht zum ſchönen umgeſchaffen
ſei, ſozuſagen erſt der Umriſſe und mache ſie erzittern, in unendlichen Wieder-
hall des ſubjectiven Gefühls verſchweben, es iſt an die grenzenloſe Geiſter-
gewalt des Furchtbaren erinnert, das wir genöthigt werden uns vorzuſtellen,
während wir es nicht ſehen. Wir kommen an ſeinem Orte darauf zurück,
wie der Dichtkunſt die beſondern Wirkungen, die in dieſen Zuſammenhang
gehören, erſt wahrhaft zu Gebot ſtehen. Die Geiſtigkeit des einzelnen Zuges
im poetiſchen Bilde iſt aber zugleich ein Theil der geiſtigen Durchſichtigkeit,
der in dieſer Kunſt wie in keiner andern das Ganze durchdringt. Sie betont
mit jedem Strich ihres Gemäldes nachdrücklicher, als die übrigen Künſte,
die ideale Einheit, welcher alle Theile deſſelben dienen. Der Ausdruck herrſcht
hier ähnlich wie in der Malerei, aber auf höherer Stufe, daher intenſiver
über die Form. Iſolirt ſich ein Theil des Kunſtwerks und dient nicht der
Idee, ſo iſt das Weſen dieſer Kunſt noch ſchuldhafter verletzt, als wenn
ebendieß in der bildenden geſchieht, denn ihre Geſtalten ſind geiſtig ſchwebend
und flüſſig, das Beziehungsvolle iſt ihr Element. Nun offenbart das Schöne
in der beſtimmten Idee die abſolute Idee (§. 15); indem es ein Individuum
zeigt, das ganz Individuum iſt und doch ganz ſeiner Gattung entſpricht,
alle Gattungen und deren Individuen aber Glieder des Einen Weltganzen
[1170] ſind, ſo öffnet es den Blick in eine Welt, welche überall vollkommen iſt,
und faßt in ſeinen Ring, ſei er klein oder groß, das All. Die Unendlichkeit
des ächten Kunſtwerks iſt daher zugleich Totalität; hat aber keine Kunſt ſo
intenſiven Charakter der Unendlichkeit wie die Poeſie, ſo entfaltet auch keine
im engen Raum des Einzelnen ſo vernehmbar das Ganze der Welt, der
Menſchheit und ihres Schickſals, der Natur in ihrer unendlichen Sympathie
mit der Menſchenwelt, keine vermag uns ſo entſchieden „in einen Mittel-
punct zu ſtellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen in’s Unend-
liche ausgehen“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30). Es iſt das Herrliche
an einem Kinde, daß es noch ganz als bloße Möglichkeit, daher als un-
endliche Möglichkeit erſcheint; die männlichſte, activſte Kunſtform verleiht
ihren Gebilden bei aller Kraft der Begrenzung dieſe Grenzenloſigkeit der
Perſpective und erhebt den einfachſten Fall zum Weltbilde. Hemſterhuis
beſtimmt das Schöne als das, was die größte Ideenzahl in der kleinſten
Zeit gewährt; damit iſt nicht ſein Weſen, aber ein nothwendiges Merkmal
ſeines Weſens ausgeſprochen und der Poeſie kommt im höchſten Grade dieſes
Merkmal zu. Ueber Homer’s, Shakespeare’s, Göthe’s Geſtaltungen meint
man ein wunderbares Zittern myſtiſcher Luftwellen wahrzunehmen, Zauber-
fäden, die von dem klar Begrenzten in das Unendliche hinauslaufen, es iſt
eine Ausſicht, wie von einem feſten Puncte auf das Meer; es ſcheint alles
Große, ewig Wahre herzuſchweben, um ſich in den geſchloſſenen Kreis des
Gedichts zu fangen und wieder hinauszurinnen in alle Weite. Es iſt nur
dieſer Menſch, dieſe Gruppe von Menſchen, dieſe Natur umher, und man
ruft doch aus: ſo iſt der Menſch! das ſind des Menſchen Kräfte, das die
Wechſelwirkung mit der Natur! Oder es iſt ſogar nur ein Baum, Fluß,
Berg, ein Thier und doch knüpft ſich Ahnung des ganzen Daſeins und der
Geſchicke der Seele und der wechſelnden Menſchengeſchlechter daran. Das
ächte Dichtwerk iſt auch daher nie zu Ende zu erklären; ein ſolcher Baum
mag geſchüttelt werden, ſo oft man will, er ſpendet immer neue Früchte.
Ein Vorhang ſchließt den Hintergrund der Scene ab, aber er bewegt ſich
geiſterhaft und man meint ein Flüſtern hinter ihm zu vernehmen von wun-
derbaren Stimmen. Der Maler wird einen Fluß ſo behandeln, daß man
ſeine Kühle zu fühlen, ſein Rauſchen zu vernehmen glaubt, daß man im
Wechſelſpiel ſeines Spiegels mit Luft und Himmel ein Bild der menſchlichen
Seele ahnt, aber Göthe im „Fiſcher“ und E. Mörike in „Mein Fluß“
ſagen es, leihen der Ahnung das Wort.
Die Perſönlichkeit des Dichters wird von dieſem Charakter der Poeſie
das Gepräge tragen. Den Naturen, die für die bildenden Künſte organiſirt
ſind, theilt ſich etwas von der Ausſchließlichkeit ihres Materials mit und
der Beruf, den Inhalt wortlos in daſſelbe zu verſenken, iſt von einer ge-
wiſſen relativen Unbewußtheit begleitet; der Muſiker löst dem Inhalt die
[1171] Zunge, aber ſo ganz in der Weiſe der Innerlichkeit der Empfindung, daß
er gerade noch unbewußter erſcheint, als namentlich die Maler-Natur, die
hellblickendſte und am meiſten geſchüttelte in der Gruppe der bildenden
Künſtler. Der Dichter aber wird ſich zu andern Künſtlern verhalten wie
(in allem tiefen Unterſchiede) der Philoſoph zu den Männern der Fachwiſſen-
ſchaften, vor ihm liegt das Leben enthüllt, er hat das Räthſel gefunden.
Die geiſtige Gelöstheit, durch die er ſich auszeichnet, hat ihre negative
Grundlage in der ungleich leichtern Beherrſchung des Vehikels, das an die
Stelle des Materials getreten iſt: der Dichter iſt weniger, als jeder andere
Künſtler, Handwerker, der Geiſt hat daher wirklich auch weit mehr ſeine
Zeit frei für ſinnendes Umſchauen und Durchdringen der Dinge. Der
poſitive Grund aber liegt in dem Weſen ſeiner Kunſt, wie es aufgezeigt iſt.
§. 838.
Die Poeſie iſt aber als die ſubjectiv-objective Kunſtform auch die Tota-
lität der andern Künſte. Auf der einen Seite hat ſie (vgl. §. 834 u. 835)
das Reich der bildenden Künſte im Beſitze: ſie bildet nicht nur ihr Ver-
fahren nach, ſondern umfaßt überhaupt ihre Gegenſtände, und zwar, wie keine
von ihnen, in unbeſchränkter Ausdehnung, ſo daß ſie die ganze ſichtbare Welt
vor dem innern Auge ausbreitet. Dazu kommt noch, daß der Dichter auch
Taſtſinn, Geruch und Geſchmack (vergl. §. 71) bedingter Weiſe in Wirkung
ſetzen kann.
Es iſt jetzt näher zu beſtimmen, wie die Poeſie den Gegenſatz der
Künſte, der objectiven, bildenden, und der ſubjectiven, ſtimmenden Haupt-
form ſo aufhebt, daß ſie in ſich vereinigt, was jede derſelben vor der andern
voraus hat, und ſo als die Kunſt der Künſte ſich darſtellt. Dabei iſt von
der Wiederaufnahme des Prinzipes der bildenden Kunſt auszugehen, denn
es iſt eine ebenſo weſentliche, als vielfach, namentlich in der modernen Zeit,
verkannte Grundbeſtimmung, daß der Dichter das Innere, das er darſtellen
will, in Geſtalten niederlegen, dieſe als Träger deſſelben vorführen muß.
Wer dem innern Auge nichts gibt, wer ihm nicht zeichnen kann, iſt kein
Dichter. Das iſt die μιμησις der Alten: objective Darſtellung; dadurch
iſt der Künſtler ποιητὴς. „Jeden, der im Stande iſt, ſeinen Empfindungs-
zuſtand in ein Object zu legen, ſo daß dieſes Object mich nöthigt,
in jenen Empfindungszuſtand überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt,
heiße ich einen Poeten, einen Macher,“ dieſes Wort Schiller’s (Brief-
wechſel mit Göthe Th. 6. S. 35), das wir zu §. 392, 1. in weiterer
Bedeutung ſchon angeführt haben, gilt hier natürlich in ſeiner engſten.
Mancher hält ſich für einen Dichter, weil er ein paar Gefühle in Verſe
[1172] gebracht hat, während er unfähig wäre, das einfachſte Object, einen Trupp
Bauernburſche, Muſikanten, Zigeuner u. dergl. lebenswahr zu zeichnen.
Man berufe ſich gegen unſere Grundforderung nicht auf die lyriſche Dicht-
kunſt. Es wird ſeines Orts gezeigt werden, daß ihr ſubjectiver Charakter
keinen Einwand gegen dieſelbe begründet; vorläufig darf als unbezweifelt
vorausgeſetzt werden, daß die zwei Gattungen, die ein umfaſſendes Weltbild
in handelnden und leidenden Charakteren objectiv niederlegen, das Weſen
der Poeſie vollkommener ausſprechen, daß aber auch die lyriſche Dichtung
eine gewiſſe Objectivität, eine Situation, hervortretendes Bild einer Perſön-
lichkeit fordert. Wir ziehen nur das Reſultat aus §. 834 und 835, wenn
wir nun aufſtellen, daß der Standpunct der bildenden Kunſt in der Poeſie
wiederkehrt. Im Allgemeinen hat das Wort des Simonides, die Dichtkunſt
ſei eine redende Malerei, ſeine Wahrheit. Die dunkle Halle, worin ſich die
Kunſt als Muſik von der Zerſtreuung des Sichtbaren tief in ſich ſammelte,
thut ſich wieder auf, die Welt liegt im hellen Sonnenſchein ausgebreitet
wieder vor dem Auge, aber nur vor dem der innern Vorſtellung. Zunächſt
hat dieſe Erneuerung der bildenden Kunſt den Sinn, daß der Dichter das
Verfahren der bildenden Künſte eigentlich nachahmen, ein Bild ihres ſpezi-
fiſchen Werkes geben kann: Paläſte vor uns aufbauen, Bildwerke, Gemälde,
ſchöne Gärten, gymnaſtiſches Spiel uns vorführen. Es darf nur an die
herrlichen Beiſpiele im Homer erinnert werden. Ungleich weſentlicher jedoch,
als dieſes Nachbilden, iſt das verwandte freie Bilden an demſelben Stoffe.
Dem Dichter ſteht der Wechſel der verſchiedenen Auffaſſungen der
bildenden Künſte zu Gebot und er wird bald dieſe, bald jene in Anwendung
bringen: er nöthigt uns, bald mit meſſendem, bald mit taſtendem, bald mit
maleriſchem Auge zu ſehen. So kann er z. B. Erd- und Bergformen vor
unſerem innern Auge entweder mehr ſo aufbauen, daß unſer Gefühl für
Maſſenverhältniſſe befriedigt wird, oder er kann ihre ſanften Wölbungen,
Sättel, Falten, überhaupt das Bewegtere ihrer Formen dem in das Auge
übergetragenen Taſten vergegenwärtigen, oder endlich dieſe Auffaſſungsweiſen
ganz in eine Licht- und Farbenwirkung ſtimmungsvoll auflöſen. Es gibt
menſchliche Geſtalten, welche nur dem Bildhauer, andere, welche nur dem
Maler günſtigen Stoff bieten; der Dichter, der beides zugleich iſt, hat die
Mittel, ſowohl die einen, als die andern, der entſprechenden Art der An-
ſchauung lebendig entgegenzubringen. Die ächte Poeſie iſt im Vergegen-
wärtigen ſo ſtark, daß wir meinen, ihre Geſtalten greifen zu können;
Homer’s Gebilde leuchten in vollkommen plaſtiſcher Beſtimmtheit der Formen
und Umriſſe, Shakespeare’s Charaktere wandeln in maleriſcher Beleuchtung
ſo nahe zu uns her, daß wir jeden Zug ſehen können. Zu genau darf es
mit dieſem Eindruck allerdings nicht genommen werden, wie ſich anderswo
zeigen wird, die Energie ſeines Scheins iſt aber eine vollſtändige.
[1173]
Wir faſſen hier bereits auch den Umfang des Darſtellbaren in’s
Auge, ohne jedoch diejenige Seite der Erweiterung noch zu berückſichtigen,
welche ſich aus der Vereinigung mit der Grundform der Muſik ergibt,
obwohl darauf bereits hier Rückſicht zu nehmen iſt, daß die Gebilde des
Dichters Bewegung haben, die des bildenden Künſtlers nicht. Der Dichter
umfaßt denn nicht nur dieſelben Stoffe wie dieſer, ſondern auch in unbe-
ſchränkter Ausdehnung. Das ganze Gebiet des Sichtbaren iſt ihm auf-
geſchloſſen, auch die Grenzen, welche der Malerei noch geſteckt ſind (vergl.
§. 678 ff., abgeſehen von der Beziehung auf das Häßliche, welche hier
noch nicht aufzunehmen iſt). Was naturſchön iſt, aber nicht nachgeahmt
werden kann, weil es zu momentan, zu unmittelbar, zu außergewöhnlich,
zu unerreichbar blendend erſcheint: er kann es uns vorzaubern und er darf
es, denn er wetteifert ja nicht in wirklicher Farbe mit der Intenſität der
Naturfarben, er gibt dem Momentanen und ganz Unmittelbaren (wie
Baumblüthen und erſtes Frühlingsgrün), dem Außergewöhnlichen, Einzigen
eine ausgeſprochene Beziehung auf inneres Leben, die ihm ewige Bedeutung
ſichert, er „läßt den Sturm zu Leidenſchaften wüthen, das Abendroth in
ernſtem Sinne glüh’n.“ Auch das Kleinſte iſt ihm nicht undarſtellbar, er
mag Inſektenſchwärme durch die Luft ſpielen laſſen, mit denen ſich der
Pinſel des Malers nicht befaſſen kann, u. dgl. Es iſt namentlich nicht zu
überſehen, daß er ſelbſt Solches, was an ſich dem äußern Auge ſichtbar,
aber verdeckt iſt, dem innern vorführen, daß er uns z. B. den dunkeln
Meeresgrund mit ſeinen Ungeheuern ſchildern kann. In der Poeſie iſt auch
das Dichte zugleich durchſichtig. Dieß iſt von den umfaſſendſten Folgen
für die Weite und Fülle des Feldes, das der Dichter vor uns ausbreitet:
ſeine Bilder decken ſich nicht (Leſſing Laok. Abſchn. 5). Er hat kein
beengendes Gedräng im Raume zu ſcheuen, er mag ihn füllen, wie es ihm
aus inneren Gründen gut dünkt. Es liegt aber in dieſer Richtung noch
ein weiterer ungemeiner Vortheil. Durch ihre Beziehung zum Volksglauben
fließt der Kunſt eine Gattung von Geſichts-Erſcheinungen zu, welche
ſichtbar unſichtbar genannt werden können und von der gewaltigſten Wirkung
ſind: Götter- und Geiſter-Erſcheinungen. Dieſe Weſen ſollen bald nur von
denjenigen innerlich geſehen werden, an die ſich der Künſtler wendet, bald
äußerlich von einigen der Perſonen, die er im Kunſtwerke vorführt, von andern
nicht (wie Banquo’s Geiſt im Makbeth und des Königs im Hamlet), bald
von allen, immer aber nur ſo, daß es ein unbeſtimmtes Sehen, Sehen einer
Geſtalt von verſchwebenden Umriſſen iſt. Ueberall iſt hier der Maler in
einer übeln Lage: im erſten und zweiten Falle geräth er in den Wider-
ſpruch, eine Erſcheinung ſchlechthin ſichtbar zu machen und doch anzeigen zu
ſollen, daß ſie von Niemand oder nicht von Allen geſehen wird. Leſſing
zeigt (Laokoon Abſchn. 12), wie derſelbe aus den Grenzen ſeiner Kunſt
[1174] herausgeht, wenn er ſich hier mit der Wolke hilft, die bei Homer nur die
Unſichtbarkeit bedeuten ſoll. Er zeigt aber auch, wie der Maler mit den
ungemeinen Größe-Verhältniſſen der Göttergeſtalt in’s Gedränge kommt,
indem er ihr die übergroßen Dimenſionen nicht geben kann, und er über-
ſieht nur, daß er das an ſich zwar könnte, da ja in der Malerei aller Maaß-
ſtab relativ iſt (§. 649, 2.), daß aber doch dieſe Freiheit nicht ſchrankenlos
benützt werden kann, weil im vorliegenden Falle durch die räumliche Fixirung
ſo ungleicher Größenverhältniſſe die Helden zu klein erſchienen. Hier
zeigt ſich alſo, daß doch erſt die Poeſie auch in der Darſtellung jeder Größe
ganz frei ſich bewegt. Aber noch mehr: die Größe des Götter- und Geiſter-
leibes wächst für die Phantaſie zu einer unendlichen an, dem äußern
Auge iſt ſie begrenzt, richtiger: dem deutlich ſehenden äußern Auge. Solches
unbeſtimmtes Sehen kann nun der Maler ſchwer ausdrücken, denn ſo dämmernd
und in Helldunkel verſchwimmend er ſein Object geben will, es hat doch zu
viel Beſtimmtheit, um den Abgrund von Staunen zu öffnen, den nur die
Phantaſie ohne die äußern Sinne kennt. Endlich genießt der Dichter noch
einen beſondern Vortheil, der in der Anm. zu §. 837 ſchon berührt wurde,
wo von dem Charakter der Unendlichkeit die Rede war, der dem innern
Bild eigen iſt: er kann Handlungen ſo ſchildern, daß wir wiſſen, ſie ge-
ſchehen jetzt, daß ſie uns aber zugleich verhüllt ſind, im Dunkel vor ſich
gehen, oder ſo, daß Perſonen im Gedichte ſelbſt darum wiſſen, ſie aus
andeutenden Zeichen errathen, ſie ſich vorſtellen, aber ohne ſie zu ſehen.
Hier ergeben ſich denn dieſelben ungeheuern Wirkungen, wie durch das
halbdeutlich geſehene Wunderbare. Welche Hölle gräßlicher Entſcheidung
liegt in den Worten der Lady Makbeth: jetzt iſt er d’ran! Der Maler
mag wohl einen Lord Leiceſter darſtellen, wie er verdammt iſt, Moment
für Moment den Hinrichtungs-Act der Maria Stuart ſich zu vergegen-
wärtigen, man mag ihm den furchtbaren Vorgang in ſeinem Innern anſehen,
aber wie ganz anders wirkt die Scene, wenn der Dichter durch ſeine Mittel
uns zwingt, mit Leiceſter aus den dumpfen Lauten, die er vernimmt, uns
das Bild des Gräßlichen zu erzeugen, das ungeſehen von unſerem phyſiſchen,
wohl geſehen von unſerem geiſtigen Auge vor ſich geht! — Das ſind denn
lauter Vortheile, die Leſſing wohl berechtigten, (Laok. Abſchn. 14) zu ſagen:
müßte, ſo lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre deſſelben auch die
Sphäre meines innern Auges ſein, ſo würde ich, um von dieſer Einſchränkung
frei zu werden, einen großen Werth auf den Verluſt des erſtern legen.
Schließlich iſt nicht zu überſehen, daß der Dichter auch jene ſtoff-
artigeren Sinne, die auf unmittelbarer Berührung, chemiſcher Auflöſung der
Körper beruhen, in Wirkung ſetzen kann und darf, da er ja an die ganze
innerlich geſetzte Sinnlichkeit ſich wendet. Dieſe Sinne liegen allerdings
ſchon dem Charakter des Gehöres näher, zu dem wir erſt übergehen; ihre
[1175] Eindrücke gleichen den toniſchen darin, daß die Sprache eigentlich keine Worte
für ſie hat, allein der Dichter kann das Object nennen und darauf geſtützt
genügen die unzulänglichen Sprachmittel, uns die dunkeln, aber ſtark er-
greifenden Wahrnehmungen dieſer Art zu vergegenwärtigen. Allerdings
darf er ſie nur ungleich untergeordneter, als die Vergegenwärtigung von
Tönen, ungleich mehr nur als Beigabe des Sichtbaren in uns hervorrufen,
es bleibt daher bei dem Satze §. 834 Anm., daß die Poeſie eigentlich kein
neues Erſcheinungsgebiet erobert, daß er ſie aber nicht zu ſcheuen hat, daß
ſie im Gegentheil bedeutende äſthetiſche Hebel für ihn werden können, iſt
ſchon in der Anm. zu §. 71 berührt; er wird ſie wie eine tiefe Symbolik
mit menſchlichen Stimmungen in geheimnißvolle Verbindung ſetzen, Auf-
regungen der bedeutendſten Art aus ihnen entſpringen laſſen.
§. 839.
Auf der andern Seite hat die Dichtkunſt mit der Muſik durch ihr1.
Vehikel, die Sprache, überhaupt die Form der reinen Bewegung, des Geiſtes-
lebens, die Zeitform gemein. Sie wendet ſich nun mit dieſer Form zunächſt,2.
wie jene, an das Gefühl, indem ſie nicht nur muſikaliſche Kunſtwerke für
das innerlich geſetzte Gehör irgendwie nachzubilden vermag, ſondern, was
ungleich wichtiger iſt, indem ſie mit der Tonkunſt den Inhalt theilt und mit
ihrem eigenen Mittel, in gewiſſer Beziehung ſogar umfangreicher, Stimmungen
darſtellt. Sie hat aber überhaupt das Gebiet der bildenden Kunſt, das Sichtbare,
mit dem der Muſik, der innern Welt, ſo zu vereinigen und die unmittelbare
Herkunft von der letztern ſo zu bethätigen, daß alle ihre Gebilde durchaus
empfunden ſind, daß ſie dadurch lebendiges Gefühl der Zuſtände mittheilt.
Endlich gibt ſie gemäß dieſer nahen Verwandtſchaft und um nicht alle äußere3.
Sinnenwirkung zu opfern, ihrem Vehikel, der Sprache, eine der Tonkunſt
verwandte, urſprünglich für muſikaliſchen Vortrag wirklich beſtimmte, rhyth-
miſche Form.
1. Zunächſt iſt vom Unterſchiede zwiſchen dem muſikaliſchen und dem
zum Wort articulirten Ton abzuſehen und beſtimmt hervorzuheben, daß die
Poeſie mit der Muſik die Form des Nacheinander, die Zeitform, alſo die
des pſychiſchen Lebens theilt. Der Boden des Geiſtes iſt erreicht und wird
nicht wieder verlaſſen, ſondern in die Tiefe bearbeitet. Es iſt aber hier, wo
es eben auf die Vereinigung der Wirkungen des Nacheinander mit denen
des Nebeneinander ankommt, dieſe Beſtimmung genauer anzuſehen. Der
Geiſt iſt keineswegs blos eine Bewegung im Nacheinander, ſondern er iſt
zugleich die innerlich gewordene Raumwelt, innerliches Anſchauen des Neben-
einander, alſo des Gleichzeitigen. Es iſt falſch, wenn man ſagt, der Geiſt
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 76
[1176]könne nicht mehrere Vorſtellungen gleichzeitig vollziehen. Als Phantaſie
breitet er ein Bild vor ſich aus, das viele Bilder in ſich ſchließt, ſeine
Gefühle ſind concrete Einheiten, als Denken faßt er einen Umkreis von
Gedanken in Einem zuſammen. Aber Alles, was er innerlich ſchaut, fühlt
und denkt, bewegt ſich im ſtetigen Fluſſe der Zeit. Der Geiſt iſt zeitloſe
Idealität, in Zeitform ſich äußernd, dieſe iſt der Pulsſchlag, der Perpendikel
ſeiner Ewigkeit. So kann er denn das, was er gleichzeitig in ſich zuſam-
menfaßt, nicht anders, als in der Form des Nacheinander darſtellen, wenn
er nicht ſeine Grundform freiwillig aufgeben und ſein Inneres in feſtem
Körper nachgebildet in den Raum ſtellen will. Die Muſik führt gleichzeitige
Unterſchiede des Gefühls im Nacheinander der Zeit vor, indem ſie ſich zur
Harmonie ausbildet. Die Poeſie kann mit dem Vehikel der Sprache nicht
ebenſo verfahren, denn es können nicht Mehrere zugleich gehört oder geleſen
werden, ſie gibt aber in Einem Momente der Phantaſie eine räumliche und
geiſtige Vielheit, freilich nicht, ohne in Schwierigkeiten und Incongruenzen
zu gerathen, indem ſie dieſe Vielheit ſucceſſiv fortführt. Davon wird ſeines
Orts die Rede ſein; jetzt iſt zunächſt die Verwandtſchaft zwiſchen Muſik und
Poeſie weiter zu verfolgen.
2. Wie das Bewußtſein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt
und von ihm begleitet wird, ſo muß die Kunſtform, die den Uebergang
vom Einen zum Andern vollzieht, das Element, aus dem ſie (logiſch, doch
in gewiſſem Sinn auch hiſtoriſch) herkommt, feſthalten und kundgeben.
Es ſind aber die Momente, worin dieß innige Band, dieſe Rückweiſung
auf den mütterlichen Schooß ſich ausſpricht, wohl zu unterſcheiden. Für’s
Erſte findet, ähnlich wie bei der geiſtigen Erneuerung der Wirkungen der
bildenden Kunſt, ein eigentliches Nachahmen der Leiſtungen Statt: die
Dichtkunſt kann bis auf einen gewiſſen Grad dem innerlichen Gehöre durch
Worte Charakter und Gang von Tonwerken vergegenwärtigen; ſie kann es,
ſofern dem Gefühle das Bewußtſein (§. 748), die Vorſtellung beſtimmter
Objecte (§. 749), das Denken und die Willenserregung (§. 756) immer
unmittelbar nahe liegt, ſie kann es aber doch nur in ganz entfernter und
ſchwankender Andeutung, indem das Innerſte des ſpezifiſch für ſich auf-
tretenden Gefühls niemals in Worte zu faſſen iſt. Nur das Allgemeinſte
einer Stimmung, wie ſie in einer Melodie liegt, kann ausgeſprochen werden,
wie tief und ahnungsvoll aber, dafür gibt Shakespeare ein Beiſpiel in den
Worten des Herzogs in „Was ihr wollt“:
[1177]
Zu größerer Beſtimmtheit bringt es natürlich die Poeſie, wenn ſie
dieß ungenügende Andeuten durch das Bild der Wirkung einer beſtimmten
Muſik ergänzt, wie Homer, wo er von Demodokos erzählt, der Dichter der
Gudrun, wenn er ſchildert, wie bei Horands Geſang die Vögel ſchweigen,
die Fiſche im Waſſer ſtille halten. Dieß ganze Moment bleibt aber ein
ſehr untergeordnetes; ungleich weſentlicher iſt das andere, daß die Poeſie
einfach durch ſich ſelbſt die Welt der Stimmungen darſtellt. Der §. ſagt:
„nach einer Seite ſogar umfangreicher, als die Muſik“; dieß erklärt ſich
aus dem, was über das Verhältniß von Vocal- und Inſtrumentalmuſik
(§. 764) mit Rückbeziehung auf das Verhältniß zwiſchen Gefühl und Be-
wußtſein (§. 748) geſagt iſt: das Reich der Gefühlszuſtände wird viel
umfaſſender geöffnet, wenn das Wort die Objecte nennt, auf welche das
Gefühl bezogen iſt. Es iſt aber an der erſtern Stelle auch gezeigt, wie
durch dieſe hülfreiche Anlehnung für die Muſik doch eine Incongruenz ent-
ſteht, wie ſie ſich des Textes ebenſoſehr erwehrt, als an ihn anſchmiegt;
verhält ſich dieß ſo in jenem Gebiete, wo der Dichter ganz nach den Zwecken
des Muſikers ſich richtet und die Poeſie in ſeinem Text als ſolche nur
geringen Anſpruch macht, ſo wird ſich im eigenen Felde der Dichtkunſt die
Sache anders wenden: in allen ſpeziellen Schilderungen des Stimmungs-
lebens wird, indem das Wort dem Gefühle durchaus Beziehung auf Objecte
gibt, dieſes in einem gewiſſen Sinne vielſeitiger erſchöpft, aber auch aus
ſeinem Elemente gehoben und zum bloßen Begleiter anderer Kräfte, zur
bloßen Atmoſphäre, worin beſtimmter Inhalt, Sichtbares, Vergegen-
wärtigung wirklich genannter Affecte, Entſchlüſſe, Handlungen ſich geſtaltet.
Nur darf dieß Element, dieſe Atmoſphäre darum keineswegs zu einer bloßen
Nebenſache werden, und dieß führt auf das dritte Moment, das Weſentliche,
den Mittelpunct. Nicht nur nämlich, wo es ſich ſpeziell von Schilderung
einzelner Gefühlszuſtände handelt, ſondern überhaupt und immer ſoll Alles
in der Poeſie ſtimmungsvoll ſein. Wir haben ja geſehen, daß das
Gefühl die lebendige Mitte des Geiſteslebens iſt, woraus alles Beſtimmte
hervorgeht, worein es wieder einſinkt, worin es erſt zum innerſten Eigen-
thum des Subjects wird, woraus es wieder auftaucht, wie aber das Gefühl
nicht verſchwindet, wenn das Beſtimmte, Bewußte aus ihm ſich ausgeſchieden
hat, ſondern es als innige Erinnerung ſeines Urſprungs begleitet. Dieß
gilt nun ganz von der Poeſie als der Kunſt der Darſtellung des bewußten
Lebens in Phantaſieform. Was nicht empfunden iſt, hat kein Leben, keine
Wahrheit. Alles ächt Poetiſche iſt durchaus in Empfindung getaucht; es
ſind wahrnehmbare Wellen, warme Strömungen, welche das ganze Gebild
umweben, es iſt ein beſtimmter Duft, der Niemand entgeht, welcher Sinn
hat. Wie viele Poeſie iſt freilich geruchlos! Ein großer Theil der poetiſchen
Literatur, namentlich der neueren, fällt ſchon durch dieſen einfachen Maaß-
76*
[1178]ſtab in das Nichts. Man kann ſagen, daß in der zum vorh. §. ange-
führten Schiller’ſchen Definition des Dichters nach ihrem erſten Theile:
„Empfindungszuſtand“ die Poeſie nicht genug von der Muſik unterſchieden
ſei; man könnte ebendaſſelbe dem Worte Göthe’s vorwerfen: „lebendiges
Gefühl der Zuſtände und die Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Dichter“;
man könnte darauf erwiedern, daß hier unter „Zuſtände“ wohl das Ganze
der Situationen, das Gefühl ſammt den Dingen und Gedanken verſtanden
ſei; allein daran liegt hier wenig, ſondern mit gutem Grund haben die
beiden großen Dichter unſerer Nation einmal recht und ganz betonen wollen,
daß alles Aufzeigen der Dinge in der Poeſie null ſei, wenn es nicht jedem
Gemüthe die Innigkeit urſprünglicher Empfindung mittheile zum Zeugniß,
daß es daraus hervorgegangen. Daher iſt in ſeiner Einfachheit doch ſo
bedeutend, was Göthe von Shakespeare geſagt hat: bei ihm erfahre man,
wie den Menſchen zu Muthe ſei. — Wir können nun das Weſen der
Dichtkunſt, wie ſich in ihr die bildende Kunſt und Muſik wiederholt und
vereinigt, dahin beſtimmen: die Dichtkunſt iſt empfundene und empfindende
Geſtalt. Der Mangel dieſer Beſtimmung wird ſich zeigen und heben. —
Nahe liegt es übrigens, ſchon hier den Schluß zu ziehen, daß die jetzt
hervorgeſtellte Seite der Dichtkunſt ihr beſonderes Recht in einem eigenen
Zweige zur Geltung bringen werde. Zum vorh. §. wurde dieſer Zweig
vorläufig erwähnt, um einem Einwande gegen die Forderung objectiver
Bildlichkeit zu begegnen; der gegenwärtige Zuſammenhang weist poſitiv auf
ihn hin, doch iſt dieß erſt aufzunehmen, wenn wir zur Eintheilung der
Poeſie in ihre Gebiete übergehen.
3. Vom Rhythmiſchen, — worunter alle Formen der gebundenen Rede
begriffen werden, — nehmen wir hier vorerſt nur die allgemeinſte Bedeutung,
die innere Begründung im Zuſammenhange zwiſchen Poeſie und Muſik auf.
Wenn alles Dichten vom Gefühl ausgeht und, wie es immer zum Objec-
tiven fortgehen mag, im Gefühle bleibt, ſo folgt von ſelbſt, daß die poetiſche
Stimmung zugleich eine Nervenſtimmung iſt, welche den Keim und Grund
zu gewiſſen formalen Ordnungen, die ſich im Darſtellungsmittel niederlegen,
auf ähnliche Weiſe mit ſich führen wird, wie die muſikaliſche. Es leuchtet
freilich auch ſogleich ein, daß eine andere Formenwelt in dem articulirten
Tone ſich entwickeln muß, der nur Vehikel iſt, als in dem nicht articulirten
Tone, der das Material einer Kunſt bildet, aber dieß hebt die urſprüngliche
Verwandtſchaft nicht auf. Es iſt bekannt und oft angeführt, daß gehobene
Stimmung ſelbſt Naturen, die ſonſt kein Talent zur Dichtkunſt haben, zu
rhythmiſcher Sprache fortreißt; wir dürfen hier ſtatt alles Weiteren auf den
erſten Theil der Lehre von der Muſik, auf die Blicke verweiſen, die wir
in jenen geheimnißvollen Zuſammenhang zwiſchen Seelenſtimmung und
Schwingungsleben der Nerven geworfen haben. Derſelbe wird ſich im
[1179] Dichter natürlich noch ganz anders, beſtimmter und gemeſſener geltend
machen, als im gewöhnlichen Menſchen, der nur einzelne poetiſche Momente
hat. Wie er das Bild ſeines Kunſtwerks im Geiſt empfängt, wird auch das
entſprechende Versmaaß im innern Gehöre mit anklingen und ſeine Formen
ſind ihm keine Feſſel, ſondern wachſen organiſch mit dem Körper der Dichtung.
In Wahrheit iſt dieſer Uebergang des Gefühlsſchwungs in die poetiſche
Sprache eigentlich eine Reminiſcenz davon, daß das Element der Sprache,
der Ton, in einer unmittelbar benachbarten Kunſt überhaupt nicht bloßes
Mittel, ſondern Material des Schönen war. Der Dichtkunſt würde, wenn
es anders wäre, das letzte Band verloren gehen, das ſie an die eigentliche,
äußere, nicht blos innerlich geſetzte Sinnlichkeit knüpft, oder richtiger: das
Band, das ſie allerdings unter allen Umſtänden noch an dieſe knüpft (da
doch gehört oder geleſen werden muß), verlöre allen Zuſammenhang mit dem
Schönen, deſſen Vermittler und Leiter es iſt. Daher iſt urſprünglich alle
Poeſie unmittelbar muſikaliſch, das Lied entſteht mit der Melodie und wird
anders gar nicht vorgetragen, als in Form des Geſangs mit Begleitung
eines Inſtruments. Dieſer innige Zuſammenhang kann allerdings, je mehr
die Poeſie ihr eigenes Weſen in den größeren, objectiven Formen ausbildet,
nicht fortbeſtehen; der volle Sinnen-Eindruck des muſikaliſchen Vortrags
drückt auf die Entwicklung des rein Poetiſchen, ſtört das nöthige Verweilen
bei der Beſtimmtheit der innern Anſchauung; daher iſt es natürlich, daß
ſolche unmittelbare Einheit beider Künſte ſich in jenen Zweig zurückzieht,
deſſen nothwendiges Erwachſen aus dem Verhältniſſe der Poeſie zum Ge-
fühle ſich uns bereits angekündigt hat, in den lyriſchen. Doch iſt ſogleich
hinzuzuſetzen, daß auch dieß beſonders enge Verhältniß kein abſolutes iſt
und, nachdem das urſprüngliche Band gemeinſchaftlichen Werdens des Textes
und der Melodie ſich gelöst hat, das ſtimmungsvollſte Lied für ſich beſtehen
kann, ſo daß durch die muſikaliſche Compoſition und den Vortrag etwas
zwar innig Verwandtes, aber doch Neues und Anderes hinzukommt. Kurz,
die rhythmiſche Form iſt, ohne nothwendigen Zuſammenhang mit eigent-
licher Muſik, ein der Poeſie weſentliches Analogon von Muſik im Bau und
Gang der gebundenen Sprache. Die Sache hat übrigens noch eine andere
Seite, als die, von welcher wir hier ausgegangen ſind und wonach die
poetiſche Stimmung den rhythmiſchen Gang und Klang der Sprache von
ſelbſt mit ſich führt; neben dieſem Wege von innen nach außen beſteht eine
Rückwirkung von außen nach innen: die rhythmiſch gehobene Rede trägt
und hält den Dichter auf der Höhe der idealen Stimmung, warnt ihn,
wo dieſelbe in’s Platte fallen will, und leitet ſie in die äußerſten Spitzen,
den einzelnen Ausdruck hinaus. Nur die Oppoſitionsſtellung im Kampfe
gegen eine Dichtung, die in der Form aufzugehen drohte, konnte ein rela-
tives Recht haben, im ernſten Drama grundſätzlich die proſaiſche Rede als
[1180] Regel einzuführen, und die Vorkämpfer ſelbſt giengen unter Vorgang Leſſing’s
im Nathan auf die gebundene Form zurück. Eine Vergleichung der erſten
und zweiten Bearbeitung von Göthe’s Iphigenie gibt die intereſſanteſten
Belege für unſern Satz (vgl. Göthe’s Iph. auf T. in ihrer erſten Geſtalt
herausgeg. v. Ad. Stahr). Im bürgerlichen Luſtſpiel oder nach Shakes-
peare’s Vorgang in komiſchen Scenen, die ſich in das ernſte Drama miſchen,
behauptet dagegen die Proſa ihr Recht, eben weil ſie anzeigt, daß hier das
Gewöhnliche jene Geltung hat, welche ihm an ſich im Komiſchen gebührt.
Die Auflöſung des Epos in den Roman war zugleich ein Uebertritt dieſer
Gattung auf den Boden der Realität mit ihren proſaiſchen Bedingungen
und ebendaher auch eine Auflöſung der rhythmiſchen Sprache in die Proſa;
die Frage über Bedeutung und Berechtigung dieſer Form kann hier noch
nicht aufgenommen werden. Ueberall jedoch muß die proſaiſche Rede in der
Poeſie wenigſtens durch einen Anklang des Rhythmiſchen, den Numerus,
ausdrücken, daß hier geweihter Boden iſt, und ihren Eintritt rechtfertigen. —
Es wirkt aber ferner die rhythmiſche Sprachform auf die Thätigkeit des
Dichters auch in dem poſitiven Sinne zurück, daß ſie im Einzelnen poetiſche
Gedanken in ihm weckt, welche in der Intention des Ganzen noch nicht
angelegt waren. Auch hier hat die Muſik-ähnlich gehobene Sprache etwas
von der Natur eines Materials: es iſt mehrmals, namentlich in §. 518, 1.
geſagt, daß der Kampf mit dem Materiale auf die Erfindung ſo zurück-
wirkt, daß er Motive weckt. Wie manche ſchöne Dichterſtelle verdankt ihren
Urſprung dem Zwang und Drang eines metriſchen Verhältniſſes, eines
Reims!
Was die Perſönlichkeit des Dichters betrifft, ſo iſt ihm durch den
weſentlichen Unterſchied zwiſchen dem bloßen Analogon von Muſik in der
rhythmiſchen Behandlung der Sprache und der wirklichen Tonkunſt die
Strenge und Länge der Schule erſpart, welche der Muſiker, wie der bildende
Künſtler bedarf. Dieß iſt ſchon §. 520, Anm. 2. berührt. Der Dichter
braucht überhaupt, da er mit einem wenig widerſtrebenden Vehikel in dem
flüchtigen Elemente der Phantaſie arbeitet, ſeiner Kunſt nicht das Ganze
ſeiner Lebensbeſtimmung zu widmen, wenn ihm nur Geſchäft, Amt u. ſ. w.,
dem er daneben ſich widmen mag und das gegen die Verſuchung zu über-
hitztem Phantaſieleben den heilſamen Widerhalt einer geſunden Trockenheit
gibt, die unentbehrliche Muße läßt. Freilich liegt in dieſer größeren Freiheit
vom Handwerk auch die ſtärkere Verlockung zum Dilettantismus.
§. 840.
Da aber die Wirkungen der andern Künſte in der Dichtkunſt ſich ſo wieder-
holen, daß ſie in ein ſchlechthin neues Element verſetzt werden, wodurch allein
[1181] ihre Vereinigung möglich wird, ſo muß ihre Aufnahme auch mit einem
großen Verluſte verbunden ſein: das Leben des Gefühls kann entfernt nicht
mit der Innigkeit erſchöpft werden, wie in der Muſik, das Sichtbare verliert
die Schärfe, Deutlichkeit, geſchloſſene Objectivität, welche ihm die bildende Kunſt
gibt, und der Verſuch, dieſen Mangel durch verweilende Ausführung zu heben,
geräth, ſowie die Darſtellung des Gleichzeitigen, durch den Widerſpruch mit der
Grundform der zeitlichen Fortbewegung in tiefe Schwierigkeiten.
Wenn ſich mit der Innigkeit des Gefühls die Deutlichkeit der Vor-
ſtellung des Sichtbaren verbindet, wenn es nicht mehr in ſeiner Reinheit
durch Töne, ſondern vermittelſt genannter Objecte ausgeſprochen wird,
wenn dieß Tageslicht in ſein Helldunkel fällt, ſo entweicht nothwendig ein
gutes Theil ſeines eigenthümlichen Weſens; es bleibt nur warme Dunſt-
hülle, die einen lichten Kern umgibt, welcher von anderer Natur iſt. Daß
es nach anderer Seite umfangreicher zur Darſtellung kommt, haben wir im
vorh. §. gezeigt, bereits aber auch ausgeſprochen, daß damit ein Verluſt
in der Qualität verbunden ſein muß. Und doch behält die Poeſie von
der Muſik gerade ſo viel bei, um dadurch auch nach anderer Seite einen
ſtarken Verluſt zu begründen. Muſikaliſch können wir nämlich ihre Inner-
lichkeit überhaupt nennen, ihr Weſen, ſofern ſie ſich blos an die innerlich
geſetzte Sinnlichkeit wendet: und dadurch wird nun auch die Vorführung
des Sichtbaren, wodurch ſie die bildende Kunſt in ſich erneuert, mit einem
tiefen Mangel unvermeidlich behaftet. Die innerlich geſetzte Sinnlichkeit,
ſofern in ihr der Proceß der Umbildung des Aufgenommenen beginnt,
heißt Einbildungskraft. Mit dieſer Hereinziehung in das Innere verliert
die Anſchauung nothwendig an Schärfe und Beſtimmtheit, vergl. §. 388, 1.
Dieſer Mangel wird auch durch die Phantaſie als die zur Ideal-bildenden
Thätigkeit erhobene Einbildung nicht ganz getilgt. Wenn dem reinen Bilde,
das ſie im Innern erzeugt, volle Objectivität (§. 391), ſogar ganze ſinnliche
Lebendigkeit (§. 398) zuerkannt worden iſt, ſo kann dieß nur relativen Sinn
haben; der Objectivität als blos innerem Gegenüberſtellen kommt nicht die
Kraft der Unterſcheidung zu, wie dem Gegenſchlage zwiſchen Subject und
wirklichem, äußerem Object, dem lebendig ſinnlichen Bilde, das nur innerer
Schein iſt, nicht die Deutlichkeit, wie der eigentlichen, realen Erſcheinung.
Ebendadurch war ja der Uebergang der Phantaſie in die Kunſt gefordert,
welche dem innern Bilde wieder die Objectivität und Deutlichkeit des Natur-
ſchönen verleiht (§. 492, vergl. dazu beſonders §. 510). Die Kunſt ſelbſt
aber, nachdem ſie die Hauptformen der Darſtellung in ſinnlichem Materiale
durchlaufen hat, kehrt nun auf höherer Stufe zu dem Standpuncte der
Phantaſie vor der Kunſt zurück. „Auf höherer Stufe,“ denn der Unter-
ſchied iſt klar: die Phantaſie als Dichtkunſt iſt ja von der Phantaſie,
[1182] die noch nicht Kunſt iſt, weſentlich dadurch verſchieden, daß ſie ſich nach
außen erſchließt, ſich in einem techniſch durchgeführten Gebilde mittheilt,
wogegen das Gebilde der noch nicht künſtleriſch thätigen Phantaſie we-
ſentlich noch ein unreifes iſt; ihr Erzeugniß hat alſo nicht nur Objecti-
vität in dem Sinne, wie das innere Idealbild überhaupt, ſondern die ganz
entwickelte Objectivität der Kunſtgeſtaltung; allein es bleibt in dieſer Er-
ſchließung nach außen doch innerlich und muß daher die Unbeſtimmtheit
und Undeutlichkeit des Phantaſiebildes, das ſich noch gar nicht erſchloſſen
hat, doch in irgend einem Sinne theilen; es hat Körper gewonnen, deſſen
Glieder in feſtem Kunſtverhältniß ſtehen, aber dieß iſt ein Körper, aus
welchem der Blitz des Gedankens mit einer Beſtimmtheit leuchtet, in welcher
diejenige Beſtimmtheit, Compactheit und Schärfe der Umriſſe ſich verzehrt,
die dem Werke der bildenden Kunſt eigen iſt. Das vollſtändige, wirkliche
Ausbreiten vor dem Auge bleibt der unendliche Vortheil des bildenden
Künſtlers vor dem Dichter. Es müſſen nun auch die Incongruenzen ſtärker
betont werden, welche ſchon zu §. 839, Anm. 1. berührt ſind. Der Dichter
wird der Undeutlichkeit, an welcher ſeine Bilder in Vergleichung mit denen
des Malers leiden, durch ein Verweilen bei den einzelnen Zügen abzuhelfen
ſtreben. Allein es iſt dieß in Wahrheit kein Verweilen, denn in Zeitform
darſtellend rückt er ja fort. Dieſer wichtige Satz iſt hier vorerſt einfach
hinzuſtellen, in der Lehre vom Styl aber genauer auseinanderzuſetzen und
in ſeine Conſequenzen zu verfolgen. Es handelt ſich jedoch nicht nur von
der Deutlichkeit, ſondern auch von der Gleichzeitigkeit. Wenn nämlich
Mehreres, was auf weiten Räumen zu gleicher Zeit geſchieht, dargeſtellt
werden ſoll, ſo iſt nicht die Vielheit an ſich dem Dichter ein Hinderniß,
denn die Phantaſie ſchaut gleichzeitig Vieles und er mag ſein Geſichtsfeld
ſtrecken, ſo weit er will, aber die Theile des Vielen bewegen ſich in der
Zeitform, ein Geſchehen iſt darzuſtellen und der Dichter kann nur Eine
dieſer gleichzeitig laufenden Linien nach der andern verfolgen. Dieß iſt die
andere Seite der Beengung, um welche er die freie Weite ſeiner Kunſt
erkauft; beide Seiten faſſen ſich zuſammen in dem Widerſpruche des Suc-
ceſſiven mit dem Simultanen.
§. 841.
Dieſer Verluſt wird reichlich erſetzt durch das ſchlechthin Neue, was
gewonnen iſt. Zunächſt liegt dieß in der Vereinigung des Räumlichen und Zeit-
lichen: die Dichtkunſt feſſelt nicht einen Moment der Bewegung an das Neben-
einander des Raumes, ſondern ihre Geſtalten bewegen ſich vor dem innern Auge
wirklich und ſie führt daher eine Reihe von Momenten vorüber, deren Ab-
ſchluß nur der künſtleriſche Zweck beſtimmt. Dieſer weſentliche Fortſchritt vereinigt
ſich mit den in §. 838 hervorgehobenen Vortheilen.
[1183]
Ein Theil des großen Vorſprungs der Poeſie, nicht in Eroberung
neuer, aber unendlich neuer Erſchöpfung der Erſcheinungsgebiete, worin die
andern Künſte ſich bewegen, iſt allerdings ſchon in §. 838 aufgeführt; der
Zuwachs an Ausdehnung über alle Art von Inhalt, wurde ſchon dort her-
vorgehoben, um dann zunächſt die Verluſte auf demſelben Boden nachzu-
weiſen, hierauf aber nunmehr zu dem abſoluten Gewinn aufzuſteigen, der
für dieſe Verluſte entſchädigt. Der quantitative Umfang des Darſtellbaren,
von welchem dort die Rede war, iſt denn eine an ſich zwar höchſt bedeutende,
verglichen jedoch mit dem unendlichen Gewinne, von dem jetzt die Rede iſt,
noch untergeordnete Eroberung. Die Poeſie hat gewonnen eine Einheit
des Nebeneinander im Raume und des Nacheinander in der Zeit. Das
Werk der bildenden Kunſt feſſelt einen Zeitmoment im Raume, der Zuſchauer
löst wohl durch ſeine Phantaſie dieſe Feſſel wieder, indem er ſich aus dem
fruchtbaren Momente, den der Künſtler gewählt hat, die vorhergehenden
und folgenden entwickelt; er thut dieß aber, obwohl auf Anlaß, doch nicht
unter Anleitung des Künſtlers, es iſt alſo zufällig, ob er dieß Vorher und
Nachher ſich richtig oder falſch, ſchön oder unſchön vergegenwärtigt und wie
weit er es fortführt, ja was das Letztere betrifft, ſo iſt überhaupt gar nicht
zu beſtimmen, an welchem Puncte dieſer Reihe ſeine Phantaſie umbiegen
und zu der unentwickelten Sammlung von Momenten in Einem entwickelten,
die ihm das Kunſtwerk vor Augen ſtellt, zurückkehren ſoll. Man erkennt,
daß dieß trotz allem Charakter klarer Abgeſchloſſenheit ein Grundzug von
Unreife, Unvollendung iſt, welcher der bildenden Kunſt anhängt. Der Dichter
dagegen gibt die Reihe wirklich, er überläßt ſie nicht der ungewiſſen Fähig-
keit der allgemeinen Phantaſie, er führt ſie künſtleriſch gebildet an unſerem
innern Anſchauen vorüber, beginnt und ſchließt ſie, wo der innere Einheits-
und Lebenspunct ſeines Kunſtwerks es verlangt; wir ſehen den Apollo von
Belvedere nicht nur, wie er abgeſchoſſen hat und dem Schuſſe triumphirend
nachblickt, den Laokoon nicht nur, wie er von den Schlangen umſchnürt in
Todesſchmerz aufſtöhnt, ſondern jenen, wie er den Feind erſieht, wie er
ſchießt und nachher in ſeiner Götterruhe zurückkehrt, dieſen, wie er die dä-
moniſchen Thiere mit Grauen erblickt, ſich mit ſeinen Söhnen auf den
Altar flüchtet, erfaßt wird und wie er nach den letzten tödtlichen Biſſen
mit ihnen, eine tragiſche Leichengruppe, hingeſtreckt liegt. Nun erſt nehme
man wieder den rein quantitativen Gewinn hinzu, welcher ſchon in §. 838
hervorgehoben iſt: ebenſo bewegt, wie die Figur oder Gruppe, die je zunächſt
den Mittelpunct ſeiner Darſtellung bildet, gibt uns der Dichter Alles mit,
was rings dieſe Gruppe umgibt, ſoweit es ihm äſthetiſch beliebt, ſeinen
Kreis zu ziehen, und dieß gefüllte Ganze führt er dann zu den weiteren Mo-
menten fort; eine ganze breite Maſſe der verſchiedenſten Gegenſtände in den
verſchiedenſten Zuſtänden und Stimmungen kann er vor uns hinführen,
[1184] einen ganzen, mächtigen Strom, der das unendliche Leben ſpiegelt, wälzt
er gewaltig vor unſerem Innern vorüber. Die Schwierigkeiten, denen er
nach dem vorh. §. unterliegt, ſind darin keine abſoluten Hinderniſſe, ſie
bedingen nur gewiſſe Geſetze des Verfahrens und ein gewiſſes Maaß.
§. 842.
Das Ganze des unendlichen Gewinns erhellt aber in der Verbindung des
Inhalts von §. 837 mit §. 841: die alſo bewegte Geſtaltenwelt erſcheint nicht
nur allen Sinnen, ſondern dem innern Gehör weſentlich in der Form der
Sprache, welche Alles in das volle Bewußtſein erhebt. Mit der geſammten
ſichtbaren Welt kommt alſo die geſammte innere zur Darſtellung und zwar
ſo, daß jene ſich in dieſe, dieſe aber ſchließlich zur Handlung als dem wahren
Ziele der dichteriſchen Weltauffaſſung concentrirt, welche demnach das Schöne
2.wahrhaft in der Form der Perſönlichkeit (§. 19) verwirklicht. Die Handlung
begreift auch abſtracte Gedanken in ſich und ſolche ſind, wofern ſie nur durch
Empfindung und Leidenſchaft mit Veränderungen der Außenwelt in innerem
Zuſammenhang ſtehen, von der Dichtkunſt keineswegs ausgeſchloſſen.
1. Der Dichter zeigt Geſtalten, bewegte Geſtalten und bewegt in einer
Reihe von Momenten, wir ſehen ſie, wir hören ſie innerlich. Wir hören
ſie aber nicht nur tönen, ſeufzen, lachen, weinen, ſondern auch ſprechen.
Der Dichter ſpricht ſelbſt, er erzählt, was ſeine Perſonen ſprechen, er kann
ſie auch in der oratio recta ſprechen laſſen. Er ſagt uns, wie ſeine Per-
ſonen das Geheimniß der Welt, alle Berührungen zwiſchen Welt und Menſch
auffaſſen, er ſagt uns, wie er ſelbſt es auffaßt, er deutet Alles. Darin
erſt vollendet ſich der Begriff der Einheit des Subjectiven und Objectiven
in der Dichtkunſt: Alles geht in’s Innere, wird zum Innern, wird hier
durch die Sprache zu einem Bewußten, und umgekehrt: aller Ausfluß des
menſchlichen Innern in der Welt, der zur Darſtellung kommt, wird mit der
Ausdrücklichkeit des Worts auf dieſe ſeine Quelle zurückgeführt. Zunächſt
iſt alſo klar, daß hiemit erſt die Lichtfackel in das Innere getragen iſt; alle
Kunſt ſtellt das Innere dar, entfaltet die Welt, wie ſie der Geiſt beleuchtet,
aber wo das Wort fehlt, treten doch nur dämmernd und höchſt unvollſtändig
die weiten Gewölbe der unendlichen Innenwelt in’s Licht. Was ein Menſchen-
herz in ſich bewegen, was es thun und leiden kann, in welchen unermeß-
lichen Weiſen die Welt es anregt, welche Abgründe und Höhen in ihm
ſich aufthun, welche unendlichen Kämpfe ſich in ihm entſpinnen, in welchen
verwickelten Prozeſſen die Leidenſchaften, die Entſchlüſſe, die Charaktere reifen,
welche Empfindungen ganze Maſſen, welche Kräfte die mächtige Wucht des
Gemeinlebens beherrſchen, welche Ideen die Geſchichte regieren: Alles wird
[1185] nun erſt offenbar, weil es ausgeſprochen wird. Dieß Ausſprechen iſt aber
immer zugleich das Zuſammenfaſſen der innern und äußern Welt: jene
wird eben darum deutlich, weil durch das Wort alle Beziehungen auf dieſe,
auf die Objecte, auf die Natur, auf die feſten Formen der Geſellſchaft, des
Staats ausgedrückt, alle Seiten der Erſcheinung verwendet werden können,
um Seelenbewegungen zum Verſtändniſſe zu bringen. Göthe bezeichnet das
Weſen des Dichters, wenn er von Shakespeare rühmt, wie er das Ge-
heimniß des Weltgeiſtes ausplaudert und verräth, wie es heraus muß und
ſollten es die Steine verkündigen, wie ſeine Charaktere ihr Herz in der
Hand tragen, wie ſie Uhren gleichen, deren durchſichtiges Zifferblatt das
ganze innere Triebwerk ſehen ließe. Der Dichter zeigt die Welt, wie ſie ſich
ſtetig im Subjecte zum Lichte des Bewußtſeins zuſammenfaßt, die Welt im
idealen Einheitspuncte der Perſönlichkeit; er verwirklicht alſo mehr, als jeder
andere Künſtler, was der angeführte §. der Metaphyſik des Schönen auf-
geſtellt hat: daß alles Schöne perſönlich iſt. Er macht die Welt durch-
ſichtig, man ſieht durch alle Erſcheinung auf den Brennpunct, dem alles
Aeußere nur Anreiz, Organ und Stoff ſeiner freien Beſtimmung iſt. Wir
haben von der Poeſie bereits geſagt, der Ausdruck herrſche in ihr über die
Form, wir haben ebendaſſelbe von der Malerei geſagt, aber auch in dieſer
Beziehung wiederholt ſich der Charakter der Malerei in der Poeſie auf höherer
Stufe in unendlich intenſiverem Sinne. — Die Auffaſſung der Welt unter
dem Standpuncte der ausgeſprochenen Perſönlichkeit führt nun ſchließlich
zum Standpuncte der Handlung. Die Perſönlichkeit, mit dem Inhalte der
Welt in unendlichen Wechſelwirkungen erfüllt, beſtimmt die Welt durch
Denken und Handeln. Das Denken kann als ſolches nicht den herrſchenden
Inhalt eines Kunſtwerks bilden, die Erſchließung, die Verwirklichung der
Perſönlichkeit muß alſo die Handlung ſein. Die Welt iſt in der Anſchauung
der Poeſie weſentlich Wille. In §. 684, 2. iſt der Malerei ein vorzüglich
dramatiſcher Charakter zuerkannt. Dieß im Gegenſatze zu der Sculptur;
vergleicht man aber jene Kunſt mit der Poeſie, ſo leuchtet ein, daß dieſe
noch eine ganz andere Meiſterinn iſt in der Durchführung der ſtraffen
Spannungen, der entſcheidenden Momente, zuckenden Blitze der That. Das
iſt die Spitze, in welche ſie das weite und tiefe Bild des innern Lebens
zuſammendrängt, das ſie vor uns entfaltet; auf dieſe Spitze ſtellt ſie die
Welt; ſie iſt radical, aus der Tiefe der Freiheit läßt ſie die durchgreifenden
Acte heranſchwellen, welche den Faden des Gegebenen, die Macht des blos
Zuſtändlichen durchſchneiden. Dieſe Stellung der Welt unter den Stand-
punct des Willens darf natürlich nicht in nackter Einfachheit verſtanden
werden; ſie ſchließt z. B. den Zufall nicht aus, nur daß er nicht gilt, als
ſofern er vom Willen zum Motiv erhoben wird; es darf ferner nicht blos
an einzelne Willens-Acte gedacht werden, ſondern ebenſoſehr an fortdauernde
[1186] Folgen von ſolchen, an beſtehende Zuſtände als Product des Gemeinwillens
in weit verwickelter Wechſelwirkung mit den Bedingungen der umgebenden
Natur u. ſ. w. Ueberhaupt wird die Poeſie verſchiedene Formen treiben,
deren eine mittelbarer, die andere unmittelbarer die innere Einheit der Welt-
anſchauung dieſer Kunſt bis zu ſolcher Straffheit entwickelt, und es iſt das
hier erſt Angedeutete in der Lehre von den Zweigen wieder aufzunehmen. —
Auch die Perſönlichkeit des Dichters iſt hier noch einmal in’s Auge zu
faſſen: was zu §. 385, §. 389 Anm. 2. §. 393, 2. als Bedingung der
Phantaſiethätigkeit überhaupt aufgeſtellt iſt: ein reiches Erfahrungsleben,
das gilt ebenfalls mit beſonderem Nachdruck dem Dichter. Da in ſeiner
Künſtlerhand alles Leben zum Seelenleben werden, da er die ganze Außen-
welt in’s Innere führen und wenden ſoll, ſo muß er mit dem ſcharfen
Auge der objectiven Anſchauung den lebendigſten Nerv der Theilnahme ver-
einigen und dieß kann er nicht, ohne in den Strudel des Lebens, das Meer
der Leidenſchaften und tiefſten Kämpfe ſelbſt hineingeriſſen zu werden. Weſſen
Bruſt das Leben nicht durchwühlt, wer nicht der Menſchheit ganzes Wohl
und Wehe erlebt hat, iſt kein Dichter. Es iſt nicht vorausgeſetzt, daß buch-
ſtäblich alles Schwerſte, Aufregendſte erlebt ſei, dem Dichter-Gemüthe kann zum
Himmel und zur Hölle werden, was Andere nur leicht anſtreift, aber genug
muß erlebt ſein, um ſich in jedes Glied der Kette menſchlicher Erfahrungen
lebendig verſetzen zu können. Um ſo ſtärker iſt aber auch die andere For-
derung feſtzuhalten: wer aus dem wühlenden Kampfe nicht geſammelt und
geläutert hervorgegangen iſt, der iſt auch kein Dichter, denn wir brauchen
nicht auf’s Neue zu beweiſen, daß das eigene Innere nicht mehr ſtoffartig
mit einer Leidenſchaft verwachſen ſein darf, wenn ſie zum künſtleriſchen Stoffe
werden ſoll. Shakespeare’s Sonette geben einen höchſt merkwürdigen Blick
in ein Gemüth, das von furchtbaren Kämpfen durchwühlt iſt, aber ſich mit
der ſtrengſten ethiſchen Kraft der Selbſtbeſtimmung daraus emporarbeitet
und Verjüngung aus dem trinkt, was Vernichtung drohte; Tieck hat dieß
im Dichterleben tiefſinnig verwendet und []durch Zuſammenſtellung mit
R. Green und Marlowe dem Erhebungsprozeß Shakespeare’s die künſtleriſche
Folie gegeben. Ein durchaus normales Bild für den Satz, von dem es
ſich hier handelt, iſt auch Göthe’s Leben, namentlich die Entſtehung von
Werther’s Leiden, worauf ſchon in Anm. 2. zu §. 393 hingewieſen iſt.
2. Es iſt ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunſt fähig und be-
rechtigt iſt, auch Abſtractes auszuſprechen. Es ſteht dieß nicht in Wider-
ſpruch mit §. 16, welcher ſtrenge die Verwechslung der Idee mit dem
abſtracten Begriff ausſchließt, denn dort iſt die Rede vom Mittelpunct eines
äſthetiſchen Ganzen, hier von Solchem, was nur als Moment im Verlaufe
dieſes Ganzen auftritt. Natürlich muß ein ſolches, an ſich proſaiſches,
Moment in ſichtbarem Zuſammenhang von Grund oder Folge mit dem
[1187] Mittelpuncte, der lebendigen Idee des Dichtwerks ſtehen; ſo können ganz
proſaiſche Verhältniſſe, z. B. Rechtsfragen, die furchtbarſten Leidenſchaften,
Probleme des Wiſſens die ſchwerſten Gemüthskämpfe hervorrufen, umge-
kehrt ſittliche Kräfte ſich darin äußern, daß ſie Thaten ausführen, Lebens-
formen begründen, welche weſentlich proſaiſche Beſtandtheile mit ſich führen,
die vom Dichter auseinandergeſetzt werden müſſen, ſie können ihre Fülle
und Tiefe im Ausſprechen von allgemeinen Wahrheiten, Sätzen der Weis-
heit offenbaren, wie der ſchlimme Charakter ſeine Verkehrtheit durch Lüge
und Widerſpruch. Ja alles dieß iſt vielmehr nothwendig, wo die Kunſt
mit dem Mittel der Sprache das Leben in der Geſammtheit ſeiner Erſchei-
nungsſeiten darſtellt, und es iſt abermals zu erinnern, was die bildende
Kunſt entbehrt, indem ſie alle dieſe Vermittlungen nicht nennen kann. Um-
faſſende Kunſtwerke der Poeſie werden, indem ihnen ſo der Dichter unbe-
ſchadet der Objectivität und Concretion ihres äſthetiſchen Lebensſitzes Gedanken
in reiner Gedankenform einflechten darf, zu einem Schatze tiefer Wahrheiten;
Shakespeare’s und Göthe’s Werke ſind ganz durchſättigt mit dem Salze der
Lebensweisheit. — Wir haben dieſen Punct ſchon berührt in der Lehre
vom Erhabenen des Subjects, §. 103; hier, im Gebiete der Poeſie, tritt
er erſt in volles und richtiges Licht.
§. 843.
Vor dieſen Mitteln und dieſem Geiſte der Poeſie fallen die Schranken,
welche der Einführung des Häßlichen auch im Gebiete der Malerei noch
geſetzt ſind, und es bleibt nur die allgemeine äſthetiſche Bedingung übrig, daß
ſich daſſelbe in ein Erhabenes oder Komiſches auflöſe. Sie erſchöpft nicht
nur dieſe widerſtreitenden Formen, ſondern auch das einfach Schöne in einer
Weite und Tiefe wie keine andere Kunſt.
Die Mittel, wodurch die Malerei befähigt iſt, Häßliches äſthetiſch auf-
zulöſen, erkannten wir in der Vielheit von Erſcheinungen, die ſie in Einem
Bilde zu vereinigen vermag und durch die es ihr möglich wird, den an
ſich abſtoßenden Eindruck einer Form im Fortgang zu andern, ſchöneren,
aufzuheben, ferner in dem fortleitenden, dämpfenden Charakter der Farbe
und endlich überhaupt in der Herrſchaft des Ausdrucks über die Form. Die
Poeſie beſitzt nicht nur dieſe Mittel, ſondern ungleich mehr. Sie ſchwächt
überhaupt und vor Allem die Graßheit der unmittelbaren Erſcheinung des
Häßlichen ſchon dadurch, daß ſie es nur der innern Anſchauung vorführt.
Mit dem Satze in §. 837 Anm., daß das nur vorgeſtellte Furchtbare un-
endlich ſtärker wirke, als das wirklich geſchaute („Schrecken der Einbildung
ſind furchtbarer, als wirkliche“ ſagt Makbeth), ſteht dieſe Wahrheit in keinem
[1188] Widerſpruch, denn was durch die Verhüllung vor dem äußern Sinne ge-
ſchwächt wird, iſt eben nicht das Furchtbare, ſondern das Häßliche, das zu
ſehr als ſolches ſich zu fühlen gibt, um ſich in das Furchtbare poetiſch auf-
zulöſen, wenn dieſe Schwächung nicht Statt findet. Unter Anderem wird
es hiedurch möglich, ſelbſt einen Sinnen-Eindruck zu vergegenwärtigen, in
welchem das Häßliche recht eigentlich als ein Eckelhaftes auftritt: den Ge-
ſtank; der Dichter kann dieſe apprehenſive Wirkung als Hebel des Furcht-
baren (z. B. mephitiſche Dünſte der Flüſſe der Unterwelt, verweſender Leich-
name) ſo verwenden, daß der Eckel nur ein Mittel iſt, Grauen zu wecken.
Er kann aber auch, was den einen Sinn beleidigt, zugleich einem andern
zu vernehmen geben, das Uebergewicht des Intereſſes im Sinne des Furcht-
baren dieſem zuſchieben und ſo das Häßliche, was jenen verletzt, zu einem
bloßen Moment herabſetzen: „wenn Virgil’s Laokoon ſchreit, wenn fällt es
dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nöthig iſt und daß dieſes große
Maul häßlich läßt? Genug daß: clamores horrendos ad sidera tollit ein
erhabener Zug für das Gehör iſt, mag er doch für das Geſicht ſein, was
er will“ (Leſſing Laok. Cap. 4). Hier dient alſo dem Dichter die gleich-
zeitige Verbindung eines Zugs mit andern Zügen; das wichtigſte Auflö-
ſungsmittel aber iſt ihm natürlich das ſucceſſive Fortrücken im Gegenſatze
gegen das Fixiren des Moments in der bildenden Kunſt: das Bild, das
ſchwebend am innern Sinne vorüberzieht, läßt ſich unendlich leichter in die
poſitive anderweitige Wirkung überleiten, die es, an ſich häßlich, hervorrufen
ſoll; der Laokoon ſchiene im Marmor unabläßig zu ſchreien, bei dem Dichter
ſchreit er nur einen Augenblick (Leſſing a. a. O. Cap. 3); wie aber ein
ſolcher weitgeöffneter Mund auf die Leinwand gefeſſelt ſich ausnimmt, kann
man an dem gekreuzigten Petrus von Rubens in Köln ſehen. Es iſt ſchon
in der Lehre von der Bildnerkunſt gezeigt worden, daß Leſſing Unrecht hat,
wenn er der bildenden Kunſt (obwohl er im Allgemeinen natürlich zugibt,
daß ſie die Bewegung errathen laſſen, daß ſie Handlungen andeutungs-
weiſe durch Körper ausdrücken kann), doch das entſchieden Tranſitoriſche
verſchließt, vergl. §. 613 und 623; zu dem letztern §. iſt der Satz aufge-
ſtellt: verboten iſt nicht das Augenblickliche an ſich, ſondern das, deſſen
Anblick nur einen Augenblick erträglich iſt. Auch Frauenſtädt (Aeſth.
Fragen XIV) weist nach, daß Leſſing hier die Form des dargeſtellten Ge-
genſtandes und die Natur des Materials, worin dargeſtellt wird, miteinander
verwechſelt, indem die Fixirung im dauernden Materiale keineswegs die ab-
gebildete Bewegung in räumliche Dauer verwandelt, alſo z. B. der fliegende
Vogel darum, weil ſein Bild auf der Leinwand feſthaftet, keineswegs zu
einem ruhenden wird. Nur fehlt er dann ſelbſt gegen die Logik, wenn er
ſagt, in der Poeſie werden gewiſſe Darſtellungen, welche nicht wegen ihrer
Bewegtheit an ſich, ſondern wegen der grellen Art derſelben aus der Sculptur
[1189] und Malerei auszuſchließen ſeien, darum möglich, weil dieſe durch das hör-
bare, minder lebhaft und anſchaulich wirkende Wort ſchildere; hier ver-
wechſelt er ſelbſt Inhalt und Darſtellungsweiſe; es ſollte heißen: weil die
Poeſie vermittelſt des Worts nur auf die Phantaſie, nicht auf die äußere
Anſchauung wirke. Darin liegt dann als beſonderes Moment, daß durch
jenes Vehikel, deſſen Laut mit dem Dargeſtellten an ſich gar nichts zu
ſchaffen hat, auch Gehörs-Eindrücke vergegenwärtigt werden können, und
dieß eben iſt der Fall in dem Beiſpiele von Laokoon. Der geöffnete Mund
wäre im Marmor oder auf der Leinwand nicht darum häßlich, weil ſchreien
momentan, ſondern weil es, für das Auge allein dargeſtellt, ein Momen-
tanes häßlicher Art iſt; der Dichter aber gibt uns nur eine ſchwache Vor-
ſtellung vom offenen Mund und lenkt uns überdieß auf den furchtbaren
Laut ab. Uebrigens, nachdem man einer wiſſenſchaftlichen Verwechslung
von Inhalt und Darſtellungsmittel gehörig vorgebeugt, hat man dann
dennoch nicht zu überſehen, daß der Zuſchauer bis zu einem gewiſſen
Grade allerdings dieſes auf jenen in ſeinem Gefühl unwillkürlich überträgt,
und dieß iſt eben der Fall bei Solchem, was, wenn es mehr, als momentan,
iſt, widerlich wird; da meint man denn, es wolle ſich, von der bildenden
Kunſt techniſch feſtgehalten, auch wirklich für permanent erklären. Daher
bleibt trotz der urſprünglichen Verwechslung Leſſing’s Satz richtig, daß der
Laokoon im Marmor immer zu ſchreien ſchiene, während der des Dichters
nur einen Augenblick ſchreit. — Ein weiteres Mittel, wodurch die Poeſie das
Häßliche in erweitertem Umfang einzuführen und aufzulöſen ſich befähigt,
iſt die Farbe. Sie theilt es mit der Malerei, es hat aber für ſie, wie für
die letztere, nicht nur die Bedeutung eines mildernden Uebermittelns an
einen andern Sinn, ſondern einer Eintiefung der ganzen Erſcheinungswelt
und einer Dämpfung ihrer Härten durch die Herrſchaft des Ausdrucks
über die Form. Der Dichter hat aber durch das Wort noch einen Reich-
thum von andern Vortheilen, denn er bringt vermittelſt deſſelben eine
Summe von Zügen herbei, die ſämmtlich verhindern, daß das Häßliche
ſich als ſolches verhärte, und es ſchließlich als Moment in den Fluß der
Handlung überführen. Leſſing zeigt a. a. O., wie Laokoons Schreien
das Störende auch dadurch verliert, daß uns der Dichter ſo viele andere
Züge des unglücklichen Prieſters kennen lehrt. Angeſichts ſolcher Freiheit
erhellt noch entſchiedener, als bei andern Künſten, daß der Begriff einer
bloßen Zulaſſung des Häßlichen unzulänglich iſt: die Poeſie kann nicht
nur, ſondern ſie will und ſoll das Häßliche erſt in ſeinem ganzen und
wahren Weſen in die Kunſt einführen, denn das Häßl[i]che iſt ſchließlich
(vgl. §. 108, Anm. 1) das Böſe in ſeiner Erſcheinung und erſt dieſe Kunſt
öffnet ja wahrhaft die innere, die ſittliche Welt, welche ohne die Contraſt-
wirkungen und das Ferment des Böſen gar nicht denkbar iſt. Durch die
[1190] reichen Mittel des Dichters wird es nun in den tiefen geiſtigen Zuſammen-
hang geſetzt, der es gleichzeitig verſtärkt und mildert. Es erhält einen
eigenthümlichen dämoniſchen Reiz, indem es mit dem Großen und Edeln
geheimnißvoll ſich verwickelt und in ſeiner äußerſten Verirrung noch einen
verführeriſchen Erinnerungsſchimmer des Schönen auf der Stirne trägt.
Mit der vollen Enthüllung der innern Welt öffnen ſich aber auch erſt
alle jene Widerſprüche, durch welche dem Häßlichen ſein Stachel genommen,
vielmehr in einen Reiz zum Lachen verwandelt wird, und ein gemalter Fal-
ſtaff iſt nicht halb ſo komiſch, als der wandelnde, ſprechende, handelnde,
dem wir in das Spiel hineinſehen, das ſeine Genußſucht, ſein Witz und
ſein Gewiſſen miteinander treiben wie drei Eimer, die immer ihren Stoff
ineinander herüber- und hinübergießen. Die Metaphyſik des Schönen hat
gezeigt, daß keine ſeiner Grundformen nach der Seite ſeines Inhaltes ſo
entſchieden ein Hergang, ein Verlauf und nach der ſubjectiven Seite ſo
prägnant ein Act des Bewußtſeins iſt, wie das Komiſche. Daraus folgt,
daß nur diejenige Kunſt, welche wirkliche Bewegung darſtellt und durch die
Sprache eine Kunſt des Bewußtſeins iſt, dieſe Welt erſchöpfen kann. Wir
haben geſehen, wie die Malerei trotz ihren erweiterten Grenzen im Grunde
ſehr zurückhaltend, mäßig im Komiſchen iſt und ſein muß. Der Dichter
alſo erſt entfeſſelt alle Geiſter des Humors, er erſt zeigt uns, wie Weisheit
und Thorheit, Kraft und Schwäche in den Tiefen des Gemüths miteinander
ihr Spiel treiben, und führt dieß Spiel an das Tageslicht der bewegten,
ſpringenden Handlung heraus.
Die Grenze des Verzerrten und Tollen liegt daher für den Dichter
einzig in dem allgemeinen äſthetiſchen Geſetze, daß es ſich nicht als ſolches
verſelbſtändige ſondern in eine jener contraſtirenden Formen des Schönen
überlaufe; es ſteht zwiſchen ihm und dieſem Reichsgeſetze keine Zwiſchen-
Inſtanz, er iſt reichs-unmittelbar. Allein auch das einfach Schöne erſcheint
in unendlich vertiefter Anmuth, wenn es durch die Kunſt des Bewußtſeins
und der Sprache weſentlich als Seelenſchönheit auftritt. Ein Wort kann
einen innern Himmel der Liebe, Reinheit, Unſchuld enthüllen, in deſſen
Herrlichkeit der bildende Künſtler mit allen ſeinen Mitteln uns ſo nicht
blicken laſſen kann; die Seelen-Anmuth einer Margarethe im Fauſt, einer
Cordelia, Ophelia, Desdemona iſt dem Griffel und Pinſel unerreichbar.
§. 844.
Hiemit ergibt ſich, daß die Poeſie noch mehr, als die Malerei (vergl. §. 657),
auf das Prinzip der indirecten Idealiſirung gewieſen iſt. Dennoch wird
dadurch das entgegengeſetzte der directen Idealiſirung weniger, als in jener
Kunſt, auf die Seite gedrängt.
[1191]
Das Häßliche iſt, wie wir geſehen haben, da, wo alle Kunſtmittel
vorhanden ſind, es aufzulöſen, nicht blos zugelaſſen, ſondern es wird her-
beigerufen, die Kunſt muß es wollen. Das Häßliche iſt nur die Spitze
einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom
rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. ſ. w. genannt
wird. Es geht nun in der Poeſie der Zug der Auffaſſungsweiſe nothwen-
dig dahin, daß nicht die einzelne Geſtalt im Sinne des Normaltypus ſchön
ſei, ſondern das Schöne aus einer Geſammtwirkung entſpringe, worin mehr
oder minder unregelmäßige, vom Maaßſtab ihrer Gattung mit mehr oder
minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Erſcheinungen
zuſammentreten. Der Grund davon iſt zunächſt ebenderſelbe wie in der
Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptgeſtalten Umgebenden, die über-
leitende, dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Geſtalten,
das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht ſo zu ſagen
an der einzelnen Geſtalt, lockert die Selbſtändigkeit der äſthetiſchen Geltung,
auf, die ihr in der Götterbildenden Plaſtik zukommt, und verändert den
feſten Körper des Schönen in ein ergoſſenes Fluidum, ſeinen Buchſtaben
in einen Geiſt, der zwiſchen den Zeilen zu leſen iſt. Erwägt man nun,
daß in der Poeſie alle jene Momente ſich nicht nur unendlich erwei-
tern, ſondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzu-
kommt, ſo kann kein Zweifel ſein, daß eine ſo geiſtig bewegte Kunſt die
Würze des Umwegs durch das Indirecte dem geraden Wege des Schönen
vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung auf-
blitzen, in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert iſt, der Gott
wird ſeine Marmorſchönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte ſeine
Geſtalt zerfurchen, ſo wird das klar geſprochene Wort dieſe Furchen deuten.
Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur
und Geſchichte umfaſſendem Horizonte werden, der Stempel des tief und
allſeitig Durcharbeiteten wird ſich daher ſeiner Erſcheinung aufdrücken, wie
ſie vor unſerem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der
directen Idealiſirung von dem der indirecten in der Poeſie nicht nur nicht
ſchlechthin unterdrückt ſein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall
iſt (vergl. §. 657), ſondern es wird unter der Herrſchaft deſſelben noch ein
ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in dieſer Kunſt. Zum Beweiſe
ziehen wir aus der Geſchichte beider Künſte die einfache Thatſache herbei,
daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter iſt, während der Malerei der Alten
ſpezifiſche Eigenſchaften fehlen, welche zum vollen Begriffe dieſer Kunſt
gehören. Das Stylprinzip in beiden iſt hier das direct ideale, die Malerei
aber leidet darunter, die Poeſie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die
Dimenſion der Tiefe, die figurenreichere Compoſition und die Vielſeitigkeit
des Ausdrucks entwickelt, wie das innere Weſen der Malerei dahin drängt,
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 77
[1192]ſo hätte ſie charakteriſtiſch, individualiſirend werden müſſen, die Poeſie da-
gegen entfaltete ihre ſämmtlichen Mittel und konnte doch plaſtiſch ſchön
bleiben, ſo daß ein Therſites einſam im Saale der Homeriſchen Statuen
wandelt. Es ſcheint auffallend, daß eine Kunſt, in welcher das Salz
der Negativität im Verhältniſſe zwiſchen Ausdruck und Form noch um
ſo viel ſtärker iſt, als in der Malerei, daß die Poeſie doch in den
Grenzen einer prinzipiellen Auffaſſung, welcher dieſe Negativität fremd iſt,
auf dem Boden einer einfach ruhigen Harmonie zwiſchen Ausdruck und
Form eine ſo viel unzweifelhaftere, den ſpezifiſchen Bedingungen des beſtimm-
ten Kunſtgebiets entſprechende ebenbürtige Welt der Schönheit ſchaffen kann.
Es erklärt ſich aber dieſe Erſcheinung einmal daraus, daß in der Poeſie
die Farbe kein ſo weſentliches Moment iſt, wie in der Malerei, daß jene
vielmehr leichter, als dieſe, dem Formgefühle wieder ein gewiſſes Ueberge-
wicht über das Farbgefühl geben kann. Die Farbe in ihrer Ausbildung
zu einer geſättigten Welt unendlicher Uebergänge, Durchkreuzungen von
Licht und Dunkel iſt es vorzüglich, was den Accent auf eine Art des Aus-
drucks wirft, die einen gewiſſen Bruch zwiſchen dem Innern und Aeußern
vorausſetzt, was die Kräfte, Eigenſchaften, Beziehungen jedes Weſens zur
Außenwelt ſo reich ſpezialiſirt, daß die einfachere Grundlinie der Schönheit,
welche auf naturvolle Harmonie des Gemüthslebens weist, in dieſer Kunſt
zu matt, zu unintereſſant erſcheint. Die Gebilde, welche die Dichtung vor
unſere Phantaſie führt, haben nun allerdings auch Farbe, über Homer’s
Welt wölbt ſich der tiefblaue Himmel des Südens und glänzt alles Leben
im glühenden Sonnenlichte. Allein wenn alle Züge der Erſcheinung, wie
ſie nur der innerlichen Sinnlichkeit vorſchwebt, unbeſtimmter werden, ſo gilt
dieß doch mehr von der Farbe, als vom Umriß; dieſer zeichnet ſich deutlicher
und ſchärfer vor das Auge der Einbildungskraft, weil er Linie iſt. Es
iſt doch ungleich mehr Umriß- als Farben-Freude, was wir bei Homer’s
Gebilden als Objecten des inneren Sehens genießen. Die Poeſie bleibt
daher weniger, als die Malerei, hinter den Bedingungen ihrer ſpezifiſchen
Kunſtform zurück, wenn ſie die Zeichnung über die Farbe herrſchen läßt;
die Zeichnung führt aber als das plaſtiſche Element mehr dem Prinzip der
directen Idealiſirung zu. Dieß iſt aber noch nicht die ganze Begründung;
zunächſt iſt das Element Bewegung noch in Betracht zu ziehen. Dieſelbe
geht in der Dichtkunſt, wiewohl nur innerlich geſchaut, doch wirklich vor
ſich, wie in keiner bildenden Kunſt. Sie hat ihr eigenes Reich der Schön-
heit in der Welle der Anmuth; ihm ſteht eine andere Welt von Bewegungen
gegenüber, welche wir gebrochene nennen können und welche auf ein inneres
Leben hinweiſen, das aus der Einfalt urſprünglicher Harmonie des Seelen-
lebens herausgetreten iſt. Der Dichter, der ſich des Vortheils erfreut, daß
ihm wirklich bewegte Geſtalten zu Gebote ſtehen, wird nun mit demſelben
[1193] Fuge die eine oder andere Welt des Charakters der Bewegung zu der ſei-
nigen machen können. Hiemit haben wir aber die Frage bereits in ihren
wahren Mittelpunct, in das Innere, in die Form des Seelenlebens geführt,
indem wir die Anmuth der Bewegung ſogleich mit ihrem innern Grunde,
der Schönheit der Gemüths-Einfalt, zuſammennehmen mußten. Nun iſt
nach allem Obigen keine Frage, daß die Poeſie unendlich erweiterte Mittel
beſitzt, jede verwickeltſte Brechung des einfach ſchönen Seelenlebens, das ſich
mit der Sinnlichkeit in gediegener Harmonie ergeht, in alle ihre Ecken und
Härten zu verfolgen, und der Beſitz dieſer Mittel iſt natürlich zugleich der
Wille, ſie anzuwenden; allein man überſehe nicht, daß jene Welt des Ge-
müthslebens nur auf dem vergleichenden Standpunct einfach, ungebrochen,
harmoniſch iſt, daß ſie an ſich ein bewegtes Leben voll von Kämpfen bis
zu den äußerſten tragiſchen Conflicten umfaſſen kann, Alles mit nur weniger
vertiefter Reſonanz und daher in gewiſſen Grenzen der Form, welche die
unzartere Ausbiegung, den ſchrofferen Sprung von einer Stimmung in die
andere, den tieferen Griff in die Härte der Lebensbedingungen ausſchließen.
Die Poeſie muß nun gerade einen beſondern Beruf in ſich tragen, die
Bewegtheit, welche auch dieſer Lebensform zukommt, mit dem Umfang ihrer
Mittel zu entfalten, wie es die Malerei, ohne ihre Mittel von ihrem wahren
Ziele zurückzuhalten, nicht vermag, einen Beruf, zu zeigen, daß eine Welt, die
für den Maler zu leiſe, zu ungeſalzen iſt, unter ihrer Hand auflebt, ſich vertieft
und erweitert, die volle Würze ſtark wirkender Gegenſätze empfängt. Kurz
das Verhältniß iſt dieſes: der plaſtiſche Standpunct hindert die Malerei,
wenn er auf ſie übergetragen wird, an der vollen Ausbildung ihres Weſens
als ſpezifiſche Kunſtform, aber nicht ebenſo die Dichtkunſt: ſie kann eine
Welt von Statuen, worin wie in der Sculptur das Geſetz gilt, daß die
einzelne Geſtalt ſchön ſei, beſeelen und nach allen Seiten beleben, weil ſie
die Sprache und die wirkliche Bewegung in der Macht hat. Dieſe Auf-
faſſung wird ſich dann über alle Seiten der Behandlung des Stoffs er-
ſtrecken: wie die einzelne geſchilderte Perſönlichkeit, ſo die Welt, die Cultur-
formen, die Natur umher, ſo in der künſtleriſchen Form an ſich die Sprache,
die ganze Compoſition; Alles wird Ausdruck der „folgerechten, Ueberein-
ſtimmung liebenden Denkart“ ſein, welcher Mercutio und die Amme in
Romeo und Julie als „poſſenhafte Intermezziſten unerträglich ſind“ (Göthe’s
W. B. 45, S. 54). — Der hier aufgeſtellte Satz wird ſeine nähere An-
wendung in dem Abſchnitt über den poetiſchen Styl finden und hier die
ganze Bedeutung ſeiner Conſequenzen zu Tage treten.
§. 845.
Vermöge dieſer Eigenſchaften kommt der Poeſie der Charakter der All-
gemeinheit zu; ſie ſtellt gegenüber den andern Künſten den Begriff der
77*
[1194]Kunſt an ſich dar; die beziehungsweiſe Leichtigkeit ihrer Uebung iſt nur ein
Ausdruck ihrer geiſtigen Natur. Daher verhält ſie ſich anders zur zeitlichen
Entwicklung, als jene: ſie eilt ihnen, in naiver Form mit der Muſik ver-
einigt, aber auch in höherer Ausbildung voran, ſie iſt keiner Nation fremd,
ſie iſt daher die älteſte Kunſt; aber zu voller Entwicklung ihres Weſens iſt
moderne Cultur vorausgeſetzt, daher iſt ſie ebenſoſehr die neueſte Kunſt.
Der Hauptſatz dieſes §. iſt ſchon durch den Inhalt des vorh. einge-
leitet, denn wenn die Poeſie auf einer Baſis der Auffaſſung, wobei die
höchſte der bildenden Künſte, die Malerei, nicht zu voller Entwicklung ge-
langen kann, doch in einer Form aufzutreten vermag, welcher kein Merk-
mal der Kunſt mangelt, ſo ſieht man in ein Verhältniß, worin die Coor-
dination mit den andern Künſten aufhört und die Dichtung von ihnen
gelöst wie ein feiner Aether über feſten Körpern erſcheint, ja die Stellung
des Begriffs zu den realen Individuen einnimmt. Sie verhält ſich zum
Syſtem der Künſte wie das bedeutendſte Nervencentrum, das Gehirn, zu
den untergeordneten Nerven-Centren und zu den Gliedern, nur daß man
dieß Bild ja nicht ſo verſtehen darf, wie Rich. Wagner es braucht, als
bezeichne es das Denken im Gegenſatze von Empfinden und Anſchauen,
denn die Poeſie iſt ja vielmehr die ganze Kunſt, vereinigt Empfinden und
Anſchauen, die Muſik und die bildenden Künſte, eben wie im Gehirn jede
Thätigkeit des ganzen Organismus concentrirt iſt, vorgebildet wird. Der
Begriff der Allgemeinheit trägt ſich nun auf das Hiſtoriſche ſo über, daß
ſie von jedem Volk in jedem Bildungszuſtande geübt wird, nach Göthe’s
Wort „eine Welt- und Völkergabe“ iſt und daß ſie in der einzelnen Epoche
den ſchweren Gang der andern Künſte nicht abwartet, ſondern ihnen vor-
auseilt. Natürlich erklärt ſich dieß vor Allem aus der Geſchmeidigkeit ihres
Vehikels, der Sprache: denn obwohl dieſelbe künſtleriſch, techniſch gebildet
werden muß, iſt doch dieſe Arbeit dadurch unendlich erleichtert, daß hier dem
Subjecte kein fremder Stoff mit der Sprödigkeit des Objects gegenüber-
ſteht, wie im eigentlichen Materiale bei den andern Künſten, ſondern eine
Aeußerungsform, die an ſich zum Leben des Subjects gehört, nur edler,
ſchwungvoller, gemeſſener zu geſtalten iſt. Dieſe techniſche Leichtigkeit iſt
daher nur die andere Seite der relativen Körperloſigkeit, der Geiſtigkeit der
Poeſie. Es erhellt aus dem Weſen einer ſolchen Kunſt, warum auch das
ſpeziellere Talent für ſie ungleich verbreiteter iſt, als die Begabung für
andere Künſte, denn ſie liegt ja in dem reinen, menſchlichen Weſen unmit-
telbarer, inniger begründet, als dieſe. Ihre eng verwandte Nachbarinn, die
Muſik, ſcheint als die ſubjective Kunſtform auf dieſe Bedeutung mehr An-
ſpruch machen zu können und demnach ſollte man meinen, das Talent für
ſie ſei verbreiteter. Allein das wahrhaft allgemein Menſchliche iſt nicht
[1195] das Gefühl, ſondern der Geiſt, der ſeiner Natur nach nicht lange im bloßen
Gefühle verweilt. Im Gefühle verharren iſt individuell und ſoll es für
ſich fixirt werden, ſo bedarf es einer Begabung, die eine beſondere Organi-
ſation des Gehörs vorausſetzt, wie ſie in ſolcher Beſtimmtheit für die Auf-
faſſung und Behandlung des Rhythmiſchen in der poetiſchen Sprache nicht
gefordert iſt, denn gar Mancher hat feinen Sinn für Versbau und dabei
doch kein muſikaliſches Gehör. Dennoch macht ſich die innige Nachbar-
ſchaft beider Künſte auch im zeitlichen Verhältniſſe geltend; denn man kann
von jeder ſagen, ſie ſei die älteſte Kunſt, und der ſcheinbare Widerſpruch
löst ſich in dem Satz auf, daß beide vereinigt die älteſte Kunſt ſind. Es
iſt ein altes und wahres Wort, daß die Poeſie älter ſei, als die Proſa.
Wo der Menſch zum Erſtenmale die Welt mit erwachtem Geiſt im Lichte
des Allgemeinen betrachtet, da ſpricht er dieß nicht auf dem Wege aus, der
durch eine Reihe verſtändiger Vermittlungen bei der Idee anlangt, ſondern
unmittelbar in der idealen Stimmung und Anſchauung. So entſteht eine
urſprüngliche und unmittelbare Dichtkunſt, welche, verglichen mit der ganzen
Aufgabe der Poeſie, relativ kunſtlos, Product der Volksphantaſie, Kunſt
vor der Kunſt, naive Kunſt (vergl. §. 519) iſt, und dieſe Form des un-
mittelbaren Hervorbrechens theilt die Poeſie nicht nur mit der Muſik, ſon-
dern beide Künſte treten in derſelben durchaus verbunden auf als Volks-
lied. In §. 766, der darauf ſchon hingewieſen, iſt auch gezeigt, daß die
Muſik, wie im naiven Zuſtand eine durchaus frühe, ebenſoſehr, in ausge-
bildeter Form, eine weſentlich ſpäte, moderne Kunſt ſei. Dieß gilt auch von
der Dichtkunſt, doch mit Unterſchied. Um in dem rein ſubjectiven Gebiete
eine Fülle und Reife des Schönen zu erreichen, iſt eine Summe von
Erfahrung und Durcharbeitung des menſchlichen Geiſtes und Herzens
vorausgeſetzt, welche in dem engſten Sinne modern heißt, wonach wir die
Kunſtepoche der Jahrhunderte ſeit der Auflöſung des mittelalterlichen Ideals
darunter verſtehen, denn früher hat es doch eine wahre Muſik in der ganzen
Bedeutung des Wortes nicht gegeben. Eine ganze und wahre, eine aus-
gebildete Poeſie, eine Kunſtpoeſie haben dagegen alle Culturvölker in den
verſchiedenen Haupt-Perioden ihrer Geſchichte gehabt; nur gewiſſe Zweige
derſelben, — der lyriſche und dramatiſche, wie wir ſehen werden — ſetzen
den modernen Zuſtand einer vielſeitigen und tiefen Entwicklung des ſubjec-
tiven Lebens, einer Fülle von Erfahrung voraus, doch nicht in dem aus-
ſchließlichen Sinne des Worts, wie dieß bei der Muſik der Fall iſt, ſondern
in dem relativen, wie derſelbe auch in einer Völkerbildung eintrat, die
unſerer Gegenwart als eine kindliche erſcheint, für die Völker ſelbſt aber
eine ſpäte Stufe ihres Culturgangs war. Doch ſtellt ſich die Sache bei
dem Drama etwas anders, als bei der Lyrik: es konnte ſich zu dem Inbe-
griff deſſen, was es ſpezifiſch ſein ſoll, erſt in der eigentlich modernen Zeit,
in dem Kunſtideal unſerer Jahrhunderte entwickeln.
[1196]
β. Die einzelnen Momente.
§. 846.
In der Poeſie kommt zuerſt das Stylgeſetz in Betracht, weil unabhängig
von einem eigentlichen Materiale die ganze Thätigkeit von der innern Auf-
faſſung ausgeht und nur an die Geſetze gebunden iſt, die ſich aus dem Weſen
2.der Phantaſie und ihrem Verhältniß zum Vehikel ergeben. Die erſte Beſtimmung
dieſes Geſetzes iſt negativ, gegen die Verirrung auf den Boden der andern
Künſte gerichtet, welche der Poeſie dadurch nahe liegt, daß in gewiſſem Sinne
dieſe in ihr vereinigt ſind. Die Poeſie vergeht ſich in die Muſik, wenn ſie
geſtaltlos im unbeſtimmten Weben der ſubjectiven Empfindung ſich bewegt oder
wenn ſie die Technik der künſtleriſchen Sprachform zu ihrem hauptſächlichen
Augenmerk und ihrem Ausgangspuncte macht.
1. Wollte man in der ſpeziellen Erörterung des Weſens der Poeſie
vom äußeren Verfahren, hier von der Verskunſt ausgehen, ſo geriethe man
in die Schwierigkeit, daß man den tiefen und weſentlichen Gegenſatz in
der muſikaliſchen Behandlung der Sprache, der in der claſſiſchen und roman-
tiſchen Form gegeben iſt, darſtellen müßte, ehe man ſeinen innern Grund,
den Unterſchied der ganzen Gefühls- und Auffaſſungsweiſe, in’s Licht geſetzt
hätte. Die Betrachtung dieſes hiſtoriſchen Unterſchieds gehört aber allerdings
in den gegenwärtigen Abſchnitt, er kann nebſt allem Hiſtoriſchen nicht in
einen beſondern geſchichtlichen Theil verwieſen werden, denn die Trennung
des Geſchichtlichen vom Syſtematiſchen iſt überhaupt in der Lehre von der
Dichtkunſt nicht mehr, wie in der Lehre von den andern Künſten, möglich.
Es leuchtet dieß zum voraus ein, wenn man namentlich bedenkt, was hier
aus der Darſtellung der Zweige würde, wenn man die großen Unterſchiede,
welche durch die Geſchichte der Poeſie in ihnen ausgebildet worden ſind, einem
beſondern Abſchnitte vorbehielte oder, da dieß eben nicht möglich iſt, welche
ſchleppende Wiederholung entſtünde. Ebenſo erhellt von ſelbſt, daß die Art
der poetiſchen Darſtellung, wie ſie in ihrem Unterſchiede von der proſaiſchen
demnächſt zur Sprache kommen muß, die prinzipielle Erörterung des Styl-
geſetzes ſchon vorausſetzt, denn eine weſentliche Verſchiedenheit des Weges,
den das dichteriſche Verfahren in dieſer Beziehung einſchlägt, hat ihren
Grund ebenfalls in jenem Gegenſatze der ganzen Auffaſſungsweiſe, der an
ſich im Stylprinzip eingeſchloſſen iſt. Dieß iſt der negative Beweis für
die gewählte Ordnung, der Beweis aus den Uebelſtänden, die ſich im andern
Fall ergäben; der poſitive liegt darin, daß die Poeſie kein eigentliches Ma-
terial mehr hat. Das Verfahren dieſer Kunſt iſt nicht, wie bei den andern
[1197] Künſten, aus den Bedingungen eines beſtimmten äußeren Stoffes abzuleiten,
den ſich die Phantaſie zwar frei erwählt, durch den ſie ſich aber auch feſte
Schranken ſetzt; an die Stelle des Materials tritt ja hier die Phantaſie
des Zuhörers, und in welchem Charakter der Formgebung ſie bearbeitet
werden ſoll, dieß hängt nur von der innern Auffaſſungsweiſe des Dichters
ab. Er iſt hierin allerdings nicht ſchlechthin frei, ſondern, wie der Bildner
und Maler an Schwere, Ausdehnung, Licht, Farbe u. ſ. w., an beſtimmte
Geſetze gebunden, aber doch nur an ſolche, die aus ſeinem geiſtigen Elemente,
nämlich aus dem Weſen der Phantaſie fließen. Hier liegt dasjenige, was den
körperlichen und toniſchen Stoffbedingungen in den andern Künſten entſpricht.
Die Poeſie iſt auch in dieſem Sinne reichsunmittelbar. Die Behandlung
des äußern Vehikels, der Sprache, iſt dann zunächſt reines Ergebniß der
innern Art und Weiſe, wie der Dichter auffaßt und auf ſeinen Hörer wirkt;
allerdings ergeben ſich aus dem Verhältniſſe dieſes Vehikels zum Inhalte,
zum Leben der Phantaſie, auch gewiſſe Schwierigkeiten, die wir angedeutet
haben und jetzt deutlicher auseinanderſetzen werden; aber die hieraus fließen-
den Beſchränkungen der Freiheit des Dichters gleichen entfernt nicht der
Strenge der Geſetze, die für andere Künſte aus ihrem Material entſpringt.
2. Die Uebergriffe auf den Boden einer andern Art der Phantaſie
und ihres ſpezifiſchen Verfahrens, zu denen die Poeſie wie alle andern
Künſte verſucht iſt, ſind für ſie, die das Syſtem der Künſte abſchließt, lauter
Rückgriffe: ſie meint zu gewinnen, was ſie gegen jene eingebüßt hat, und
ſie verliert, was ſie durch dieſe Einbuße erreicht hat. Der erſte dieſer Rück-
griffe, die ihrem Stylgeſetze widerſprechen, iſt nach dem Elemente gewendet,
aus welchem ſie zunächſt herkommt. Die Poeſie kann auf zweierlei Art
muſiciren, ſtatt zu dichten. Die erſte beſteht darin, daß ſie es überhaupt
dem ganzen Inhalte nach nicht eigentlich zur Anſchauung bringt, ſondern
den Hörer oder Leſer im Nebel des geſtaltloſen Empfindens feſthält. Es
iſt dieß eigentlich bloße Stimmung zum Dichten ſtatt wirklichen Dichtens,
eine falſche und einſeitige Wendung der Wahrheit, daß jede ächte Poeſie
vor Allem den Eindruck des tief Empfundenen machen muß; denn wir
haben geſehen, daß die Dichtkunſt das Gefühl weſentlich an das Bewußt-
ſein knüpft, in Geſtalten als ſeine Träger verlegt und eine objectiv klar
gebildete Welt mit ſeinem warmen Element umhüllt. Man wird nicht ſagen
können, daß eine ſolche Geſtaltloſigkeit vorzüglich den unreifen Anfängen
der Poeſie eigen ſei; wohl kann es in der urſprünglichen, naiven Dichtung
an Liedern nicht fehlen, die faſt nichts ſind, als etwas entwickeltere Interjec-
tionen, im Ganzen und Weſentlichen aber werden wir ſehen, daß dieſelbe,
unbeſchadet ihrer unmittelbaren Verbindung mit dem muſikaliſchen Vortrage,
dem Inhalte nach objectiv, anſchauend iſt. Geſchichtlich betrachtet wird eine
Poeſie der geſtaltloſen Empfindung vielmehr in verhältnißmäßig ſpäter Zeit
[1198] durch den Kampf gegen die geiſtloſe Regel eines conventionell gewordenen
Styls ſich erzeugen. So brach in der neueren deutſchen Poeſie der erwachte
Genius im Sturme gegen Gotſched und die Franzoſen zuerſt als hoch
angeſchwelltes, überſchwengliches Gefühl hervor; dieſe Stimmung brütet
wie eine heiße, zitternde Luft, in die ſich alle Beſtimmtheit der Umriſſe
auflöst, über den erſten Poeſieen der jugendlich drängenden Geiſter. Klop-
ſtock’s Meſſias wurde, wie es Gervinus treffend bezeichnet hat, mehr ein
Oratorium, als ein Epos, Herder’s und Göthe’s Styl war ein Sprudeln
des übervollen Herzens, das ſich athemlos in Ausrufungen und Gedanken-
ſtrichen bewegt und die Herrlichkeit der neu aufgegangenen inneren Welt
zu verletzen fürchtet, wenn es zur Ruhe objectiver Geſtaltung übergienge.
Das hatte freilich ſeinen tieferen und allgemeineren Grund in dem Charakter
einer geiſtigen Revolution, welche, ergänzend, was die Reformation begonnen,
dem Subjecte zuerſt das Bewußtſein ſeiner freien Unendlichkeit gab, ohne
ihm noch den Weg zu zeigen, wie ſich dieſelbe mit der Erfahrung, mit der
Schranke des Endlichen zu vermitteln habe; wie daher die politiſche Revo-
lution nicht zu bauen vermochte, ſo die geiſtige nicht, ein klares Weltbild
zu geben. Vergl. hiezu §. 477. Ohne die Kraft und Friſche, die ſie in
jener erſten Zeit der ächten Sentimentalität hatte, blieb die Subjectivität
ein Grundzug der modernen Zeit, der ſich auf Koſten der Geſtaltung in
die Poeſie legte. Es äußert ſich dieß nicht nur darin, daß das Lyriſche im
Epiſchen und Dramatiſchen überwuchert, die feſten Grenzen der Zweige
löst und Zwitterformen hervorbringt, ſondern auch im Lyriſchen ſelbſt, denn
wie ſehr dieſer Zweig der Muſik verwandt ſein mag, ſo verlangt er doch
ſeine Beſtimmtheit, Deutlichkeit, ſeine Art von Objectivität. Ein Beiſpiel
des muſikaliſch Nebelhaften ſind namentlich die lyriſchen Dichtungen Tieck’s:
ſie wirken, als hätte man zu ſtarken Thee getrunken und befände ſich in
einer Ueberſpannung aller Nerven, die der Seele eine unendliche Hebung
ihrer Kräfte vorſpiegelt, ein inneres Sauſen, Summen und Weben, wobei
ſchlechterdings nichts zu denken iſt und das etwa einem verworrenen Phan-
taſiren auf dem Clavier gleicht. — Muſikaliſch ſubjectiv iſt auch die unend-
liche Maſſe von lyriſchen Erzeugniſſen jenes Dilettantismus zu nennen,
dem die Leichtigkeit, in einer längſt zugerichteten Dichterſprache Verſe zu
machen, den Mangel des Talents, der Originalität verhüllt: allgemeine
Empfindungen, wie ſie in jedem menſchlichen Leben wiederkehren, ausge-
drückt in verbrauchtem Apparate, gelten für Poeſie, weil ſie eben Empfin-
dungen ſind.
Die andere Art des Uebergriffs in die Muſik liegt auf der formellen
Seite: das Vehikel, der Rhythmus, die Sprachform, wird zum Zwecke.
Die Verſuchung hiezu entſpringt daraus, daß das Vehikel allerdings, obwohl
es nicht Material iſt (vergl. §. 839, 3.), von der Idealität der Stimmung
[1199] ergriffen und umgebildet werden ſoll. Aus der zuerſt noch geſtaltloſen Fülle
der wahren poetiſchen Stimmung keimt aber vor Allem die innere Geſtalt, der
Körper einer gehaltvollen Anſchauung, das rhythmiſche Gewand wächst mit
ihm und umſchließt ihn in würdigen Falten; es iſt nicht der ächte Prozeß,
wenn die Wärme unmittelbar in die Technik der Sprachform ausweicht;
die Draperie, auf welche die erſte Aufmerkſamkeit gerichtet wurde, wird eine
verſchwommene Bildung umkleiden. Dieſer Weg läßt vielmehr auf Mangel
an wahrer Wärme, das entſchiedene Uebergewicht der formellen Virtuoſität
auf innere Kälte ſchließen. Es ſcheint hier das gerade Gegentheil jenes
andern Uebergriffs vorzuliegen, der im Ueberſchwang der Empfindung ſeinen
Grund hat; es verhält ſich auch zunächſt ſo, allein das überhitzte Gefühl,
das ſich ſträubt, in die feſte Geſtaltung überzugehen, kann auch Manier
werden, erkaltet zur Routine und ſchlägt ſich in den Eisblumen der Vers-
kunſt nieder. Die romantiſche Schule iſt auch für dieſe „kalte Gluth und
lichten Rauch“ ein belehrendes Beiſpiel. Es iſt aber noch eine andere,
ſchwieriger zu faſſende Erſcheinung zu nennen, die der §. durch den Zuſatz:
Ausgangspunct bezeichnet; es gibt Dichter, welche im Ganzen mehr Vir-
tuoſen der formellen Technik, als wahre Schöpfer eines poetiſchen Inhalts
ſind, denen aber in manchen Momenten am Klange der formellen Schön-
heit das gehaltvollere Gefühl, das innig geſchaute Bild anſchießt; ſie
arbeiten von außen nach innen, ſtatt von innen nach außen, aber in glück-
lichen Stunden führt ſie ihr umgekehrter Gang auch zum Ziele. Solche
Naturen werden ihren, zwar fragmentariſchen, höheren Beruf allerdings
ſchon in der techniſchen Form, auch wo die Pygmalions-Statue nicht erwarmt,
durch eine beſondere Feinheit, ein plaſtiſches Gefühl an den Tag legen, ſo
daß man verſucht iſt, die Genugthuung, die der Rhythmus des Verſes an
ſich allein gewährt, für ganze äſthetiſche Freude zu nehmen. Platen iſt eine
ſolche Natur, zum Theil auch Rückert. — Man ſieht, in wie mannigfachen
Verſchiebungen die Wirklichkeit auseinanderlegt, was in der Idee der wahren
Dichtung ein Volles, Ganzes, Eines iſt.
§. 847.
Noch näher liegt der Poeſie die entgegengeſetzte Verirrung auf den Boden
der bildenden Kunſt. Sie beſteht darin, daß das Sichtbare durch Außählen
der einzelnen Züge ſo geſchildert wird, als verweilte der Zuhörer mit dem
äußern Auge vor einem in das wirkliche Uebeneinander des Raums geſtellten
Bilde. Dadurch geräth die Langſamkeit, womit die Rede vorrückt, und der
Zwang, den ſie ausübt, mit der Schnelligkeit und Freiheit der von ihr an-
geregten Phantaſie, die mit Einem Blick ein Ganzes ſchaut, in Widerſpruch.
Der Dichter hat vielmehr das Sichtbare mit wenigen Zügen ſo zu vergegen-
[1200] wärtigen, daß es in den Bewegungszug der Phantaſie aufgenommen wird.
Tiefer betrachtet entſpringt das wahre Stylgeſetz aus der Zuſammenfaſſung der
Aufgabe der Poeſie, Geſtalten zu geben (§. 838), mit ihrer höchſten, die innere
Welt und ſchließlich Handlung darzuſtellen (§. 842), und beſtimmt ſich dahin,
daß dieſe Kunſt körper andeutungsweiſe durch Handlungen nach-
zuahmen hat (Leſſing).
Die Poeſie ſchwebt zwiſchen den beiden Verirrungen, von deren zweiter
dieſer §. handelt, wie zwiſchen Scylla und Charybdis: um der geſtaltloſen
Empfindung zu entgehen, verfällt der Dichter leicht in das Verfahren des
Malers und da die Flucht vor dem Unbeſtimmten und Farbloſen jedem
klaren Geiſte das Natürlichere iſt, ſo droht von dieſer Klippe die größere
Gefahr. Die deutſche Literatur darf ſtolz darauf ſein, durch Leſſing das
große Grundgeſetz der Dichtkunſt, welches dieſer §. ausſpricht, ein für alle-
mal hingeſtellt zu haben. Seit wir ſeinen Laokoon beſitzen, gehört der Satz,
daß der Dichter nicht malen ſoll, zum A B C der Poeſie. Wer dagegen
am meiſten fehlt, ſind noch heute, wie damals, als ſie die beſchreibende
Poeſie einführten, die in Deutſchland in den Brockes, Haller, Kleiſt ihre
Nachahmer fand und gegen welche Leſſing’s Schrift gerichtet war, die Eng-
länder; Walter Scott hat ſeine bedeutenden Schöpfungen unter dem Druck
eines eingefleiſchten Sündigens gegen dieſen Urcodex faſt erſtickt. Es iſt das
ſcharfe, faſt mikroſkopiſche Sehen, was ihn und Andere dazu verführt: das
umſtändliche Aufzählen der Züge ſoll den Leſer in den Stand ſetzen, die
Geſtalt bis zur Illuſion des phyſiſchen Schauens und Greifens überzeugend
vor ſich zu bekommen; der Dichter will den Beweis führen, daß er ſelbſt
ſo haarſcharf geſchaut habe, und der Leſer ſoll ihm folgen, aber die Wirkung
iſt die entgegengeſetzte. — In der Nachweiſung des Geſetzes, von dem es
ſich hier handelt und auf das wir zu §. 839 und 840 vorläufig hingedeutet
haben, weichen wir jedoch von Leſſing’s Begründung (ſ. Laokoon Cap.
16 und 21) auf den erſten Schritten ab, um erſt zum Schluſſe die poſitive
Formel von ihm zu entlehnen. Der Satz, von welchem er ausgeht, daß
die Kategorie der Zeit, welcher die Poeſie durch ihr Darſtellungsmittel an-
gehört, das Simultane des räumlichen Nebeneinander als Inhalt des
Dargeſtellten ausſchließe, iſt nicht richtig. Die Kategorie, in welche das
Vehikel fällt, iſt allerdings zugleich diejenige, in welcher das Leben des
Geiſtes an ſich, alſo das Organ, von welchem und für welches gedichtet
wird, ſich bewegt. Das Zeitleben des Geiſtes iſt aber, wie wir gezeigt
haben, in jedem Moment eine intenſive Einheit von Verſchiedenem, ſo denn
auch als Phantaſie eine intenſive Anſchauung einer Vielheit, welche im
Raum ausgebreitet iſt: Ein innerlicher Blick, der ein Ganzes von coexi-
ſtirenden Theilen überſchaut. Der Gegenſtand dieſer innern Anſchauung
[1201] kann an ſich ganz wohl ein ruhender ſein und die Mittheilungsform der
Rede iſt dadurch, daß ſie ſucceſſiv ſchildert, an ſich nicht unfähig, den Geiſt
in der Weiſe zu beſtimmen, daß er ſich das Bild eines ſolchen räumlich feſt
ausgebreiteten Ganzen erzeuge. Leſſing bemerkt richtig, daß bei Beſchreibungen
für proſaiſche Zwecke das allmälige Aufreihen von Zügen kein Hinderniß für
den Leſer iſt, ſich aus ihnen ein Bild zuſammenzufügen (a. a. O. Cap. 17).
Natürlich ermangelt ein alſo zuſammengeſetztes Bild der Wärme, der Idealität.
Und hier ſitzt denn das Weſentliche: im Gebiete der Kunſt will auch die
empfangende Phantaſie zeugend, nachſchaffend ſich verhalten; ſie iſt in dieſe
Stimmung, dieſe Selbſtthätigkeit von Anfang an durch den Dichter verſetzt.
Einmal ſelbſtthätig erzeugt ſie ſich nun auf Eine richtige Berührung des
poetiſchen Zauberſtabs in Einem Augenblick das von dem Dichter beabſichtigte
Bild mit ſeiner Vielheit von Zügen, richtiger: nur das ſeiner Abſicht irgend-
wie entſprechende, denn hier tritt ein weſentlicher weiterer Unterſcheidungszug
der Dichtkunſt auf: der bildende Künſtler ſchreibt dem Zuſchauer das Bild
genau vor, indem er es ihm ſichtbar ausgeführt vor das äußere Auge ſtellt;
der Zuſchauer iſt hierin unfrei; worin er frei iſt, das iſt die innere Er-
zeugung eines Bildes der Reihe von Bewegungen, die dem dargeſtellten
Momente vorangehen und folgen; der Dichter dagegen ſchreibt dem Zu-
hörer das Succeſſive, das Weſentliche der Bewegung, den Gang des Ganzen
vor, da iſt der Erſtere hierin unfrei; dagegen gibt er ihm zur Erzeugung
des innern Bildes in ſeiner qualitativen Geſtaltung nur den Anſtoß: darin
iſt der Zuhörer alſo hier ungleich freier, als in der bildenden Kunſt. Es
verſchlägt auch nichts, wenn dieſer ſich die Geſtalt etwas anders, als jener,
vorſtellt, wenn nur die Grundzüge im Bewegungscharakter der Abſicht des
Dichters entſprechen. Wenn die Amme in Romeo und Julie in eitlem Putz
angeſtiegen kommt, den Auftrag Juliens an Romeo zu beſtellen, und an-
fängt: „Peter, meinen Fächer!“ ſo mag ſie ſich der Eine größer, der Andere
kleiner, jener in dieſe, dieſer in jene Farbe gekleidet vorſtellen: nur ein ganz
ſtumpfer Leſer wird nicht augenblicklich ein in den weſentlichen Zügen richtiges
Bild der närriſchen, treuen und gemeinen, geſchwätzigen und verſchwiegenen,
kuppleriſchen, in Runzeln noch eiteln, aufgeputzten Alten vor ſich haben,
wie ſie mit koketten Schwenkungen der Hüfte und ſteilem Kopfe die vor-
nehme Dame affectirt. Die Phantaſie will alſo in der Dichtkunſt ſchlechter-
dings nicht aufgehalten und gezwungen ſein. Verkennt dieß der Dichter,
ſo kommt nicht eigentlich „das Coexiſtirende des Körperlichen mit dem
Conſecutiven der Rede in Colliſion,“ ſondern die windſchnelle, eine Vielheit
von Zügen auf Einen Schlag vor ſich ausbreitende Bewegung und die
Freiheit der Phantaſie mit der Langſamkeit, womit die Rede fortrückt, und
mit dem Zwange, den ihr Ausmalen auflegt. Der Dichter verfährt dann,
als ſtünde ſein Zuhörer vor einem aufgehängten Bilde, faßte nach dem
[1202] erſten Ueberblick unter ſeiner Anleitung Theil für Theil in’s Auge, ohne
Furcht, daß ihm die Zuſammenfaſſung entgehe, denn das Ganze bleibt
ja im Raum feſt vor ihm, und endlich gienge er dann zu dieſer über, die
nun ein gefüllterer, durch Einzelbeobachtung vollkommenerer Act wäre, als
der erſte Ueberblick. Er vergißt, daß er es mit einer bewegten Kraft zu
thun hat, welche nichts Feſtes vor ſich hat, welche daher dieſem Zuzählen
unter den Händen entſchwebt, entweicht, indem ſie, auf den erſten Schlag
ſchon mit ihrem Bilde fertig, bei dem Aufreihen der folgenden ſchon über
Berg und Thal iſt, daß ſie, während vornen zuwächst, hinten verliert,
daher ſchließlich nichts übrig hat, was ſie zuſammenfaſſen könnte, ſo daß
es iſt, „als ſähe man Steine auf einen Berg wälzen, aus welchen auf der
Spitze deſſelben ein prächtiges Gebäude aufgeführt werden ſoll, die aber
alle auf der andern Seite von ſelbſt wieder herabrollen;“ eine treffliche
Vergleichung Leſſing’s, nur daß die vernommenen Theile nicht nur, wie er
ſagt, dem Ohre, ſondern vielmehr der vorausgeeilten Phantaſie, welche
durch das Ohr in Thätigkeit gerufen iſt, verloren gehen. In der That kann
Jeder an ſich die Erfahrung machen, daß Walter Scott’s und ſeiner Nach-
ahmer breite, Zoll für Zoll, vom Wirbel zur Zehe fortrückende Schilderungen
gerade das Gegentheil ihrer Abſicht bewirken, daß man nämlich nichts hat,
nichts ſieht. Ja auch bei Beſchreibungen für proſaiſche Zwecke iſt unſer
obiges Zugeſtändniß zu beſchränken; bekanntlich iſt es ohne Zeichnung ſehr
ſchwer und peinlich, ſich z. B. einen Schlachtbericht klar zu vergegenwärtigen.
Der Dichter hat alſo nicht eigentlich und ſchlechthin das Coexiſtirende in
ein Succeſſives zu verwandeln, er kann uns Coexiſtirendes vorführen, obwohl
ſein Vehikel nicht coexiſtirende Form hat, aber er muß es ſo thun, daß
er den bewegten Charakter der Phantaſie berückſichtigt, er muß daher mit
wenigen Mitteln dem Leſer oder Zuhörer nur den nöthigen Anſtoß geben
und er muß das Räumliche, das er ſo ſchildert, an geſchilderte Bewegung
knüpfen, denn die Phantaſie, weil ſie ſelbſt bewegt iſt, will Solches ſehen,
was ſich bewegt. Von jenen Mitteln, namentlich den Epitheten, iſt weiterhin
in beſonderem Zuſammenhang zu ſprechen, der gegenwärtige betont zunächſt
nur, daß ſie einfach ſein müſſen, nicht verſuchen dürfen, ein ausführliches
Bild zu geben. Allzu ängſtlich darf dieß allerdings nicht genommen werden
und es iſt mehr einzuräumen, als das karge Maaß von den Bezeichnungen,
welche Leſſing (a. a. O. Cap. 18) zuläßt; wenn nur die Grundbedingung,
das Hereinziehen in den Bewegungsſtrom der Phantaſie, erfüllt iſt. Zunächſt
geſchieht dieß dadurch, daß die Gegenſtände als bewegte im eigentlichen Sinne
des Worts zur Darſtellung gebracht werden; Leſſing zeigt, wie Homer die
Kleider und Waffen Agamemnons ſchildert, indem er ſie ihn anlegen, den
Wagen der Juno, das Scepter des Agamemnon und Achilles, den Bogen
des Pandarus, den Schild des Achilles, indem er ſie vor unſern Augen
[1203] entſtehen läßt. Er hätte noch andere Beiſpiele wählen können, welche mit
dieſen Homeriſchen überhaupt unter den allgemeineren Begriff der Thätigkeit
fallen. Thätigkeit hat aber einen innern Grund und dieß führt uns tiefer,
zu der Beziehung auf das Innere. Auf dieſem Uebergang iſt eine beſondere
Sphäre von Stoffen der Darſtellung wichtig: Leſſing hat überſehen, daß
es ſich auch von unbeweglichen Gegenſtänden, namentlich von der Landſchaft
handelt. Zunächſt wird auch hier gelten, daß ihr Bild an dem Faden einer
Thätigkeit (Wandern, Jagen u. dergl.) uns vorübergeführt werden ſoll.
Es gibt eine tiefere Form: der Dichter kann, der gute wird immer auch
das unorganiſche Leben vor uns werden laſſen, indem er uns eine Ahnung
der planetariſchen Thätigkeit gibt, welche dieſe Maſſen aufgerichtet, dieſe
Waſſer ergoſſen, dieſe Pflanzen gebildet hat. Allein auch dieſe Wendung
iſt es noch nicht, welche Weſen und Streben der Dichtung am klarſten und
vollſtändigſten bezeichnet: der Dichter wird die umgebende Natur in die Seele
des Menſchen tragen, er wird uns zeigen, wie durch die Sinne ſein Gemüth
dieſelbe auffaßt, er wird bewirken, daß der Leſer die Landſchaft mit den
Augen der epiſchen Spieler ſieht, — „ihr Auge vor das ſeinige als Augen-
glas nimmt“ (J. Paul Vorſch. d. Aeſth. §. 80). Dieſes Schildern durch
Schilderung des Reflexes auf Zuſchauer im Gedichte kommt nun aber ebenſo
bei Gegenſtänden jeder Art in Anwendung; Leſſing führt es nur als Mittel
auf, um menſchliche Schönheit zu vergegenwärtigen (a. a. O. Cap. 21.
Helena vor den Greiſen auf der Mauer von Troia erſcheinend). Jetzt iſt
dieſe directe Beziehung auf das Innere mit der Bewegung überhaupt wieder
zuſammenzufaſſen. Bringt der Dichter die Gegenſtände, die er ſchildert, auch
nur in Zuſammenhang mit phyſiſcher Bewegung, ſo führt doch der zunächſt
nur äußere Zweck derſelben directer oder indirecter auf einen innern. Mit
einem ſolchen werden auch Empfindungen über landſchaftliche, menſchliche
und jede andere Schönheit immer in unmittelbarer Verflechtung ſtehen.
Agamemnons Ankleiden, die Scepter, die Waffen, der Achillesſchild: Alles
führt an längeren oder kürzeren Fäden in den Mittelpunct der großen
Handlung in der Ilias, die Gefühle der Greiſe bei dem Anblick der Helena
ebenſo, und gefühlvolle Betrachtung von Landſchaft im Roman hängt mit
Affecten, dieſe mit Thaten und Leiden zuſammen, die vom Centrum der
Haupthandlung ausgehen und zu ihm zurückleiten. Leſſing ſelbſt hat daher
die Sache im Mittelpunct erfaßt, indem er den Satz aufſtellt, den der §.
wörtlich von ihm aufnimmt. — Unter dieſen Mitteln iſt aber gerade das
Gewöhnlichſte, Einfachſte noch nicht genannt, auch von Leſſing nicht er-
wähnt, nämlich die Form der unmittelbaren Begleitung. Der Dichter
ſchildert Körper dadurch, daß er einfach zeigt, wie ſie der innern Bewegung,
dem Zweck, dem Willen, der Handlung folgen und das Innere ausdrücken.
Gerade an dieſer Form läßt ſich auch am beſten nachweiſen, wie ein kurzer Zug
[1204] hinreicht, um die Phantaſie zur Erzeugung eines innern Bildes zu beſtimmen.
Der Dichter ſage uns alſo von dem Aeußern einer Perſon, die er einführt,
zuerſt gar nichts, oder nur ein Wort: ſchön, ſchlank, einfach oder reich
gekleidet, bewaffnet u. ſ. w. Nun ſetze er ſie in Handlung und im Zuge
der Handlung nehme er, wie in raſchem Vorübergleiten pflückend, einen
Zug auf, z. B.: jetzt blitzte das dunkle, das blaue Auge, ſchüttelte er die
braunen, die blonden Locken, ſchlug er die Toga auseinander, hob er das
lange Schwert u. ſ. w. Später mag dann, um den Zuhörer genauer zu
beſtimmen, bei ähnlichem Anlaß ein zweiter, dritter, vierter Zug folgen;
eine Berichtigung, Ergänzung des auf den erſten Zug raſch geſchaffenen
Bildes ſtört ihn nicht, ſondern nur eine Zumuthung, langſam und in’s
Kleinſte hinein gezwungen vorzuſtellen. — J. Paul gibt (a. a. O. §. 79)
noch zwei Winke: er räth dem Dichter, zu wirken durch Aufhebung, d. h.
indem er eine Geſtalt zuerſt verhüllt, als eine durch äußere Hinderniſſe
verdeckte einführt, was die Phantaſie doppelt ſtark reizt, ſie ſich vorzuſtellen,
und ſie dann erſt aufdeckt; ferner durch Contraſt der Farben oder Verhältniſſe:
wenn z. B. die Alten eine Venus zornig darſtellen, ſo heben die Contraſte
ſtärker ihre Anmuth hervor, als die Verwandtſchaftsfarben. Dieſe Kunſt-
mittel ſubſumiren ſich ebenfalls unter den Begriff der Bewegung im all-
gemeinſten Sinn und haben ſich überdieß mit dem Verfahren zu verbinden,
die den Gegenſtand in die Bewegung im engern Sinne des Seelenlebens
und der Handlung hineinzieht.
Hiemit iſt nun aber nicht nur eine poetiſche Stylregel aufgeſtellt,
ſondern ein tieferer Blick in das Weſen der Dichtkunſt gewonnen. In
§. 842 iſt die höchſte Kraft und Beſtimmung derſelben ausgeſprochen:
Offenbarung der innern Welt, die ſich in der Handlung zuſammenfaßt;
es iſt geſagt, daß hier alles Aeußere in das Innere mündet und aus ihm
hervorſtrömt. Dadurch tritt der Inhalt des §. 842 mit dem des §. 838
in eine innere Einheit: die Wiederholung des Standpuncts der bildenden
Kunſt auf dem geiſtigen Boden der Dichtkunſt iſt nun in erfüllten Zuſam-
menhang geſetzt mit ihrer eigenſten Aufgabe, die innere Welt zu erſchließen.
— Sieht man auf die Perſon des Dichters und den innern Prozeß ſeiner
Thätigkeit zurück, ſo begreift man, wie ihm ſein eigenes Vorfühlen der
innern Zuſtände, die er ſchildert, mit dem Schauen der Geſtalten, welche
deren Träger ſein ſollen, zu einer lebendigen Einheit ſo zuſammenwachſen
wird, daß er ſie wohl unwillkürlich ſogar mimiſch ſich vorſpielt; daher ſagt
Ariſtoteles (Poetik 17), der Dichter müſſe bei der Verſetzung in die Leiden-
ſchaften ſeiner inneren Bewegung ſelbſt mit der Gebärde folgen.
[1205]
§. 848.
Durch ihre Stellung an der Grenze der Künſte iſt die Dichtkunſt die
unmittelbare Nachbarinn des Gebiets, worin ſcheinlos das Wahre und Gute
vorgetragen wird und welches ihr gegenüber Proſa heißt. Sie tritt daher
leichter, als jede andere Kunſt, auf dieſen Boden über, indem ſie die wahre
äſthetiſche Einheit von Idee und Bild entmiſcht, allgemeine oder thatſächliche
Wahrheit mit ſchönen Formen nur äußerlich bekleidet und durch ſolchen Inhalt
näher oder entfernter auf den Willen zu wirken ſucht. Hiedurch wird immer
zugleich die äſthetiſche Illuſion aufgehoben, indem die Perſon des Dichters zu
ſichtbar hervortritt.
Die Stellung der Poeſie iſt eine andere, als die der übrigen Künſte:
ſie hat zur einen Seite das Land der Kunſt, zur andern das Meer der
ſcheinloſen, reinen Geiſtesthätigkeiten, welche weiterhin wieder in den Willen
und das praktiſche Leben führen, während ihre Schweſtern, von Kunſtge-
biet umgeben, mitten im Lande wohnen und daher einen größern Sprung
nöthig haben, um den feſten Boden des ungemiſcht Schönen zu verlaſſen.
Während daher in der Erörterung des Stylgeſetzes bei dieſen nur die
Ausweichung auf den Boden anderer Künſte zur Sprache kam, muß hier
ſchon im gegenwärtigen Zuſammenhang auch die Ausſchreitung in das
Gebiet des mit äſthetiſchen Mitteln nur äußerlich ſich ſchmückenden Wahren
und Guten zur Sprache kommen. Die Enge der Nachbarſchaft iſt ausge-
ſprochen in der gangbaren und weſentlichen Entgegenſetzung der Begriffe
Poeſie und Proſa: beide werden in dieſe ausdrückliche Beziehung des
Gegenſatzes geſtellt, eben weil ſie trotz der Schärfe der Grenze hart anein-
ander liegen. Was Proſa ſei, wäre nach den Erörterungen in der Meta-
phyſik des Schönen eigentlich nicht mehr zu unterſuchen; doch müſſen wir
darauf zurückkommen, weil dieſe Spannung des Verhältniſſes eine ſpezielle
Beleuchtung verlangt. Wir gehen dabei von der Berichtigung der betreffen-
den Sätze Wilhelms v. Humboldt aus. Er ſagt (Aeſth. Verſ. S. 20),
der Unterſchied des Reiches der Phantaſie von dem Reiche der Wirklichkeit
beſtehe darin, daß in dieſem jede Erſcheinung einzeln und für ſich daſtehe,
keine als Grund oder Folge von der andern abhänge; eine ſolche Abhängig-
keit könne niemals wirklich angeſchaut, immer nur durch Schlüſſe einge-
ſehen werden; der Begriff des Wirklichen mache auch das Aufſuchen der-
ſelben überflüſſig; denn hier ſei die Erſcheinung einfach da, brauche ſich
nicht erſt durch ihre Urſache oder ihre Wirkung zu rechtfertigen; ſobald man
hingegen in das Gebiet des Möglichen übergehe, ſo beſtehe Jedes nur
durch ſeine Abhängigkeit von etwas Anderem, und Alles, was nicht anders
als unter der Bedingung eines durchgängigen innern Zuſammenhangs ge-
[1206] dacht werden könne, ſei idealiſch. Es verhält ſich aber ſo gewiß umgekehrt,
daß nur zu fragen iſt, wie Humboldt zur der ſchiefen Aufſtellung gekommen
ſei. Nicht die Wirklichkeit ſchlechthin ſtellt ihre Individuen wie ſelbſtändige
Erſcheinungen auf, ſondern ſo werden ſie aufgefaßt von der Anſchauung,
und es iſt gerade die idealiſirende Kunſt, welche an der letztern unmittel-
bar fortbildet; dagegen die Beobachtung, der Verſtand geht hinter die An-
ſchauung zurück, welche die Dinge aus der Kette ihrer Vermittlungen her-
ausgreift, ſtellt ſie durch Schlüſſe nach den Kategorieen der Cauſalität,
des Mittels und Zweckes u. ſ. w. in den Zuſammenhang allſeitiger Be-
dingtheit, und dieß iſt die Proſa, welche in Wahrheit eben das gemein
wirkliche Verhältniß begreift. Die Proſa kennt nicht den Schein, als ob
ein Individuum abſolut ſei, das Einzelne iſt ihr nie eine Totalität,
ſie ſteigt als Philoſophie zu der Idee einer Totalität auf, welche im ganzen
Weltall, in den unendlichen Zeiten und Räumen, in der allſeitigen Ver-
mittlung und Wechſel-Ergänzung alles Einzelnen real iſt; dieſe Totalität
nennt man im ſpeculativen Sinne concret, das Individuum iſt in ihr als
lebendiges Glied des Ganzen geſetzt, aber ſie iſt nicht concret in dem Sinne,
daß das Individuum in ihr mangellos ſeine Gattung und durch ſie das
Weltall in ſich darſtellte. Dieſer Betrachtung gegenüber iſt das Einzelne
auf dem Standpuncte der Proſa immer todt, und zwar ohne Unterſchied
der niedrigeren und höheren Gebiete; alle Proſa liest das Allgemeine aus
ſeinen Individuen zuſammen, die Poeſie hat es im Individuum. Jene
Fäden der Cauſalität, welche vom Individuum fortleiten in den unendlichen
Progreß des Einzelnen, ſchneidet die Poeſie gerade durch, während die Proſa
ſie verfolgt. Man ſieht aber, wie W. Humboldt bei ſeiner übrigens ſo
richtigen Idee vom Schönen auf den falſchen Begriff gekommen iſt. Er
bezeichnet (a. a. O. S. 21) die Phantaſie als einen Theil der Vernunft-
thätigkeit, deren Aufgabe es iſt, Alles im Zuſammenhang zu faſſen, zu
Einheiten und endlich zur höchſten Einheit zu verbinden. Die Phantaſie
iſt nun wohl eine der Formen des abſoluten Geiſtes, in ihrem Verfahren
aber von den übrigen Formen dieſer höchſten Sphäre gerade dadurch ver-
ſchieden, daß ſie die Sinnlichkeit in ſie heraufnimmt und die höchſte Einheit
in das ſinnlich Eine legt, und eben dieſer Unterſchied war hier zu betonen.
Ferner erkennt Humboldt als weſentlichen Grundzug des Schönen die
Tilgung des gemein Zufälligen und meint nun, dieſe müſſe dadurch
bewerkſtelligt werden, daß die Dinge in ihrem allſeitigen Zuſammenhang
nach Grund und Folge aufgefaßt werden. Allein auf dieſe Weiſe tilgt
eben nur die Proſa den rohen Begriff des Zufalls, indem ſie zeigt, daß
das, was eine jeweilig gegebene Linie anſcheinend irrationell durchkreuzt,
vielmehr nur eine Folge davon iſt, daß das Ganze des Lebens ein Syſtem
von Linien bildet, die ſich nach allen Seiten unberechenbar ſchneiden; nicht
[1207] in ihren einzelnen, beſchränkten Gebieten leiſtet ſie dieß, denn jedes derſelben
überläßt die Verfolgung gewiſſer Durchkreuzungen in ihre Cauſalität einem
andern, die Philoſophie nur überblickt das Ganze und verſöhnt mit jeder
Störung jedes Zuſammenhangs auf jedem Punct. Im Reiche des Schönen
dagegen wird das Zufällige auf anderem Wege getilgt: es wird in ſeiner,
die jeweilige Linie ſtörenden Form entweder gar nicht zugelaſſen, als nicht
ſeiend behandelt, oder in ein Furchtbares, ein Komiſches aufgehoben, nimmer-
mehr aber durch denkenden Ueberblick des unendlichen Zuſammenhangs in
Natur und Geſchichte auf ſeine entfernten Nothwendigkeiten zurückgeführt.
Hier ſind weſentlich die §§. 52 und 53 zu vergleichen. Wie konnte nun
W. von Humboldt den falſchen Begriff mit ſeiner richtigen Idee, daß das
Schöne eine Totalität, ein geſchloſſenes, nur von ſich ſelbſt abhängiges
Ganzes iſt, vereinigen? Er verwechſelt die organiſche Motivirung im
Kunſtwerk und jenen Charakter der Unendlichkeit, wodurch die Idealgeſtalt
alle Möglichkeiten, die Keime zu allem Großen in ſich trägt, mit dem
allſeitigen Netze der Begründungen und Beziehungen, worin die Dinge
außerhalb des Kunſtwerks ſtehen und wodurch auf dem Standpuncte
der Proſa Alles auf Alles hinweist, aber auf andere Weiſe, nämlich auf
Koſten der freien Selbſtändigkeit.
Wir werfen noch einen Blick auf ein beſonderes Gebiet der Proſa,
die Geſchichte. Das Weſentliche iſt allerdings in anderem Zuſammen-
hange (§. 400) ſchon vorgebracht und es bleibt nur wenig zu ſagen übrig.
Die Grundlage des hiſtoriſchen Standpuncts bleibt unbeſchadet ſeines
höheren Zieles weſentlich die, daß man erfahre und wiſſe, was geſchehen
iſt, wogegen der Dichter zur Anſchauung bringt, was nie und immer ge-
ſchieht, jedoch in ſolcher individueller Beſtimmtheit, daß der Zuhörer über-
zeugt iſt, es könne in einer beſtimmten Zeit, an beſtimmtem Ort ſo und
nicht anders geſchehen ſein, oder richtiger: es müßte, wenn es geſchähe,
ſo und nicht anders geſchehen. Ariſtoteles ſagt in der ſchon zu §. 400
angeführten Stelle der Poetik (C. 9), die Dichtkunſt ſtelle mehr das All-
gemeine, die Geſchichte das Einzelne dar, und das Allgemeine beſtimmt er
näher dahin, daß die Reden oder Handlungen, die einem beſtimmten
Manne beigelegt werden, Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit haben. Statt
des Letztern würden wir ſagen: innere Wahrheit; eine logiſche Verwirrung
aber liegt darin, daß durch die Worte: „einem beſtimmten Manne“ der
Begriff des Einzelnen, der vorher die Geſchichte von der Poeſie unter-
ſcheiden ſollte, gerade auch in dieſe aufgenommen iſt. Ariſtoteles ſtellt hie-
mit die Forderung auf, daß die allgemeine, innere Wahrheit vereinigt
ſei mit dem überzeugenden Ausdruck der Individualität; daß das Ewige
ſich darſtelle als ein Solches, was auch die Energie hat, unter den Be-
dingungen der Wirklichkeit zu ſein. Das Richtige iſt, daß ſowohl die
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 78
[1208]Geſchichte, als auch die Poeſie, jede das Allgemeine und jede das Einzelne
hat, aber jede das letztere in anderem Sinn und daher auch das erſtere
in anderem Verhältniß dazu. Die Geſchichte nämlich, da es ihr um den Stoff
als ſolchen zu thun iſt, nimmt alle die Trübungen des Einzelnen, alſo des
Bandes zwiſchen dem Allgemeinen und Einzelnen auf, welche im Naturſchönen
der ſtörende Zufall mit ſich bringt, ſie verſöhnt mit ihnen durch den weiten
Blick über die Zeiten und Ereigniſſe, die Poeſie aber vollbringt die Ver-
ſöhnung hier, auf dieſem Puncte, indem ſie dieſelben ausſcheidet. Ebenſo
verſchieden ſind ſie im Umfang der Aufnahme des Einzelnen. Der Ge-
ſchichtſchreiber nimmt nur gelegentlich ſolche Züge auf, welche den Gegen-
ſtand der innern Anſchauung greiflich vergegenwärtigen, der Dichter grund-
ſätzlich und überall; auf der andern Seite führt jener eine Maſſe cauſaler
Vermittlungen ein, welche den Individuen den ſchönen Schein der freien
Bewegung entziehen und ſie insbeſondere in der Zeit mechaniſirter Staats-
formen in die Schnüre des Vorgeſchriebenen, Canzlei- und Ordonnanzmäßigen
einſpannen, der Dichter ſtößt ſie aus und ſein Augenmerk iſt, dem Menſchen
ſeine freie Lebendigkeit zu erhalten. (Vergl. hierüber auch Hegel, Aeſthetik.
Th. 3, S. 256 ff.) Dieß führt auf den Unterſchied im Stoffe: die Ge-
ſchichte umfaßt Alles, die Dichtkunſt meidet mechaniſirte Zuſtände. Im
Uebrigen iſt bei dieſer Vergleichung von Poeſie und Geſchichte vorausgeſetzt,
daß ſich beide in denſelben Stoff theilen. Warum es unbedingt vorzuziehen
iſt, wenn der Dichter in den betreffenden Zweigen ſeiner Kunſt den Stoff
nicht frei erfindet, ſondern aus der Geſchichte nimmt, brauchen wir, da
unſer ganzes Syſtem nach Bau und Inhalt vor Allem gegen ſtoffloſen
Idealiſmus der Phantaſie gekehrt iſt, nicht weiter zu zeigen. Wenn Ariſto-
teles denſelben Satz darauf gründet, daß das Mögliche glaubwürdiger ſei,
wenn es geſchehen iſt, ſo muß man wohl bemerken, daß er vorher über-
ſehen hat, in dem Begriffe des Möglichen ausdrücklich den des überzeugend
Individuellen hervorzuheben. Der Dichter thut darum gut, ſich an die
Geſchichte zu halten, weil ſonſt ſeinem Werke der Schein der Naturwahrheit,
Ton, Wurf und Haltung des individuell Wirklichen abgeht; ſein Werk
intereſſirt uns nicht, weil das, was es darſtellt, wirklich geſchehen iſt, ſon-
dern weil es zur Kraft des Allgemeinen die unendliche Eigenheit alles In-
dividuellen aus dem Boden des empiriſch Wirklichen heraufzieht. Daß aber
die Umſchmelzung ſchwer und daß daher der Dichter im Vortheil iſt, wenn
ſich ihm geſchichtliche Stoffe darbieten, welche die allgemeine Phantaſie, die
dichtende Sage ſchon umgeſtaltet, ſchon bis auf einen gewiſſen Grad poetiſch
zugerichtet hat, iſt ſchon öfters bemerkt und muß bei dem Drama noch ein-
mal aufgenommen werden. Eine Aehnlichkeit zwiſchen Geſchichtſchreibung
und Dichtung liegt endlich im Großen und Ganzen der Anordnung, worin
doch auch die erſtere nach einem Geſetze der Ausſcheidung, Auswahl zu
[1209] verfahren hat, die der poetiſchen Compoſition verwandt iſt. In dieſer
Beziehung vorzüglich ſpricht man von hiſtoriſchem Kunſtwerk. Allein das
leitende Prinzip bleibt auch hierin für den Geſchichtſchreiber, daß die ſäch-
liche Wahrheit in volles und reines Licht trete. Würde z. B. eine That-
ſache oder eine Reihe von Thatſachen noch ſo dunkle Schatten auf die
Idee einer ewigen Gerechtigkeit werfen, die ſich nur anderswo, in andern
Geſchichtswerken über den weitern Verlauf der Begebenheiten wieder aus-
gliechen, der Hiſtoriker dürfte ſie der künſtleriſchen Anordnung zu liebe
natürlich nicht unterdrücken.
Nach dieſer Auseinanderſetzung wären nun die verſchiedenen Arten des
Uebertritts aus der ächten Poeſie in die Proſa zu beleuchten. Wir be-
ſchränken uns aber hier auf wenige Bemerkungen, weil die Sache an
andern Orten zur Sprache kommen muß, nämlich theils in der Darſtellung
der Zweige der Poeſie, theils im Anhang (vergl. §. 547). Ohne Vorgriff
in die Zweige ſind allerdings auch dieſe Bemerkungen nicht möglich. —
Das Vortragen allgemeiner (wiſſenſchaftlicher, ethiſcher, politiſcher) oder
hiſtoriſcher Wahrheit, das ſchließlich irgendwie immer auf den Willen be-
rechnet iſt, alſo die Welt unäſthetiſch aus dem Standpuncte des Sollens
auffaßt, und das ſich von der äſthetiſchen Einheit entbindet, in welcher es
nur als ein vom lebendig anſchaulichen Ganzen getragenes Moment Be-
rechtigung hat, iſt immer zugleich ein falſches Hervortreten der Perſon des
Dichters, eine Aufhebung der Objectivität, die, in verſchiedenem Sinne zwar,
allen Zweigen zukommt, alſo eine Störung der Illuſion. Im Epiſchen
erzählt der Dichter; er verkennt aber das richtige Verhältniß, wonach er
blos Organ iſt, wenn er über ſeinen Stoff redet, ſtatt ihn durch ſeine
Rede nur aufzuzeigen, und das Letztere geſchieht, indem er ſeine Perſonen
handeln läßt. Hier müſſen wir nur §. 513 das Wort des Ariſtoteles
wieder aufnehmen: der Dichter ſelbſt dürfe am wenigſten ſprechen, denn ſo
ſei es nicht gemeint mit ſeiner Aufgabe, nachzuahmen; die Andern drängen
durchaus die eigene Perſon vor, ahmen Weniges oder ſelten nach, Homer
aber führe nach einer kurzen Einleitung geradezu einen Mann oder eine
Frau oder ſonſt etwas ein und nichts ohne, ſondern mit Charakter. Wie
wenig iſt dieß einfache Grundgeſetz namentlich in unſerer Romanliteratur
erkannt und befolgt! Da werden Verhältniſſe, Charaktere, Stimmungen
analyſirt, ſtatt daß uns durch Handlung gezeigt würde, wie ſie ſind, da
hört man überall den Dichter als Pſychologen, Philoſophen, Moraliſten,
Politiker, der ſich nur dürftig und fadenſcheinig in eine Handlung verkleidet
hat. Bei J. Paul, der dieſe unter Excerpten, Excurſen, Reden, Abhandlun-
gen, Hundspoſttagen u. ſ. w. faſt verſchüttet, hängt dieß anders zuſammen,
denn er weiß eigentlich, daß er ſündigt, und thut es aus humoriſtiſchem
Eigenſinn doch. Eine beſonders gewöhnliche Form iſt die, daß weit zu
78*
[1210]viel Geſpräch eingeflochten wird; es ſprechen zwar die Perſonen im Roman,
aber aus ihnen ſichtbar der Poet, der ſeine Reflexionen an den Mann
bringen will und es dadurch ſicher wenigſtens dahin bringt, daß man ihm
gar nicht mehr glaubt, es ſei ihm Ernſt mit dem Erzählen. — Eine andere,
gröbere Form der proſaiſchen Entmiſchung iſt nun das Ausweichen auf
den hiſtoriſchen Standpunct. Es verbindet ſich, wo es auftritt, mit jenem
Ueberſchuſſe der Reflexion; der ſcheinbare Dichter will ſich in beiden Formen
mit dem proſaiſchen Bewußtſein des Leſers in Vermittlung ſetzen, durch
die letztere aber ſpeziell gegen Vorwürfe, die aus dieſem Bewußtſein kommen,
verwahren und decken: er kann nichts dafür, wenn dieß und das verletzt,
es iſt geſchehen. Ausdrückliche Verſicherungen der hiſtoriſchen Wahrheit,
Vorworte, Randbemerkungen mit ſtatiſtiſchen Notizen und Argumenten,
Nachbemerkungen, überflüſſig ſpezielle Data, zu genaue Localiſirungen,
Aufnahme einzelner Züge, die ohne poetiſche Bedeutung ſind, aber die
geſchichtliche Wahrheit verbürgen ſollen: das Alles wirkt zuſammen, dafür
zu ſorgen, daß ein recht fühlbarer Erdgeſchmack, ein recht ſchwerer Boden-
ſatz des Stoffartigen zurückbleibe, den kein Schütteln mit dem darüber
ſchwebenden Spiritus zu amalgamiren vermag. Da bleibt das Ganze ton-
los, da treten die Maſſen nicht in Fluß, da erklingt nicht der Strom in
jenem Rhythmus, der uns ſagt, daß aller Stoff in freien Schein verwandelt
iſt, daß wir eine zweite, ideale Welt vor uns haben. Man leſe z. B.
jede beliebige Parthie in dem gewiß nicht talentloſen Bulwer, halte ſie
neben irgend eine Parthie des Wilh. Meiſter und höre hin, ob der Unter-
ſchied nicht iſt wie zwiſchen dem Klang von Kupfer und Silber. — Auf
die lyriſche Dichtung wollen wir noch nicht näher eingehen; der betreffende
Abſchnitt wird zeigen, wie der Lyriker, obwohl er im eigenen Namen
ſpricht, doch ſich in gewiſſem Sinne zu objectiviren hat, wie nahe es aber
allerdings ihm beſonders liegt, ſich nackt an das proſaiſche Bewußtſein zu
wenden. Die Reflexionspoeſie iſt in dieſem Gebiete am meiſten zu Hauſe;
in das Feld der hiſtoriſchen Proſa geräth leicht das erzählende Gedicht in
Volkslied und Kunſtpoeſie. — Im Drama iſt kein directes Hervortreten
der Perſon des Dichters möglich, um ſo näher liegt das ſubjective Hervor-
ſprechen aus den nur ſcheinbar objectiven Charakteren. Schiller hatte ſchon
große Stufen der Schülerjahre hinter ſich, als er im Don Carlos noch
recht in die oberflächlich maskirte Rhetorik des ſubjectiven Pathos verfiel.
Seine Nachahmer brachten zu demſelben Fehler nicht ſeine große, weltum-
faſſende Seele mit. Schiller erkannte ſeine Blöße, nahm ſeinen Geiſt in
die Zucht der ſtrengen Realität des geſchichtlichen Stoffs und gründete mit
ſeinem Wallenſtein das neuere hiſtoriſch politiſche Drama. Aber ſeine
Nachfolger wußten die Umſchmelzung nicht zu dem Puncte zu führen, auf
dem ſie trotz ſo vielen Reſten von Dualiſmus bei Schiller ſchon angelangt
[1211] iſt. Vielmehr im Drama gerade geht das tendenziös rhetoriſche Pathos und
neben ihm die ſtoffartige Schwere des Hiſtoriſchen recht im Schwange. Dabei
bemerkt man doch auch, abgeſehen von dem pathetiſchen Peroriren hinter der
Maske, ein im engeren Sinne merkliches Selbſtſprechen des Dichters, und
dieß in allen Gattungen, auch im Luſtſpiel: es werden Entwicklungen von
Sachlagen, namentlich Expoſitionen im Anfang, Auseinanderſetzungen der
Stimmungen, Leidenſchaften gegeben, denen man augenblicklich anſieht,
daß die dramatiſche Perſon eigentlich nicht mit den andern auf der Bühne,
noch mit ſich ſelbſt, ſondern mit den Zuhörern ſpricht, alſo eigentlich der
Dichter. Das iſt zugleich ein Rückfall in die Kindheit des Drama, wo
Einer herauskam und dem Publikum direct erzählte, er ſei bös, zornig,
dieß und das verhalte ſich ſo und ſo. Auch die zu umſtändlichen Anwei-
ſungen für das Spiel beweiſen, daß dem Dichter das proſaiſche Wiſſen
um die Execution und das Publikum über die Schulter ſieht.
§. 849.
Aus dem Verhältniſſe der Prinzipien der directen und indirecten Ideali-
ſirung (§. 844) geht auch in der Poeſie ein Gegenſatz zweier Stylrichtungen
hervor. Die eine behandelt im Geiſte der Plaſtik die innere und äußere Welt
allgemeiner, einfacher, ungebrochener und regelmäßiger, die andere, dem ächt
maleriſchen Verfahren entſprechend, verfolgt eine buntere Welt in die tieferen
Brüche des Bewußtſeins und der Erſcheinung, in die härteren Bedingungen des
Daſeins und in die ſchärfſte Eigenheit der Individualität und ſchreitet bis zu
den kühnſten Verbindungen des Ernſten und Komiſchen fort. Jene wird, ver-
möge gegründeter Uebertragung des Geſchichtlichen auf einen bleibenden Unter-
ſchied, vorzüglich in der Poeſie die claſſiſche genannt (vergl. §. 438). In keiner
andern Kunſt iſt Kampf und Wechſelwirkung beider Style ſo durchgreifend und
befruchtend, wie in dieſer.
Es muß hier nachdrücklich auf §. 676 verwieſen werden, wo das
Weſen und die ganze Bedeutung der zwei entgegengeſetzten Style für die
Malerei auseinandergeſetzt iſt. Zwiſchen dieſer und der Poeſie beſteht, wie
ſich aus allem Bisherigen ergibt, die tiefſte Verwandtſchaft auch hierin, in
der letzteren behauptet jedoch (vergl. §. 844) das Prinzip der directen Ide-
aliſirung neben dem entgegengeſetzten, das entſchieden zur Herrſchaft gelangt
iſt, ſein Recht in ſtärkerem Maaße fort, daher es in der Geſchichte dieſer
Kunſt, in der Periode, deren Geiſt der plaſtiſche war, eine vollkommen
reife, den Bedingungen dieſes Kunſtgebiets rein entſprechende Poeſie ge-
geben hat, eine Poeſie, die auf dem Standpunct ihres Ideals ſo ganz
und aus Einem muſterhaften Guſſe war, daß von ihr der Name des
[1212] Claſſiſchen entnommen iſt, wie er nicht nur dem Beſten und Vollkommen-
ſten, ſondern in engerer Bedeutung dem Style gegeben wird, der auf
jenem Prinzip der directen Idealiſirung ruht, nach welchem die einzelne
Geſtalt ſchön ſein ſoll. Auch in der Malerei nennt man die entſprechende
Richtung die claſſiſche, die claſſicirende; man bemerke aber dabei wohl, daß
dieſer Styl hier ſeine Muſter nicht eigentlich in den Werken der Alten auf
demſelben Kunſtgebiete, vielmehr auf dem einer andern Kunſt, der Sculptur,
hat, wogegen die claſſiſch fühlende, zeichnende, componirende Richtung in
der Poeſie ihre Vorbilder eben in den alten Meiſtern derſelben Kunſt findet
und der verwandte Charakter der Bildnerkunſt nur zur näheren Belehrung
über ihr Weſen beizuziehen iſt. Die Bezeichnung trifft daher noch weit
enger zu, wenn man (unter den nöthigen Einſchränkungen) die Dichtung
der romaniſchen Völker, unter den Deutſchen Göthe’s und Schiller’s im
Gegenſatze vorzüglich gegen Shakespeare, die claſſicirende nennt, als wenn
man den älteren und jüngeren Akademikern der Malerei in Frankreich, den
Carſtens und Wächter in Deutſchland dieſen Namen gibt. Die durchſchlagende
Bezeichnung claſſiſch und romantiſch, wie ſie nicht nur einen geſchichtlich da-
geweſenen, ſondern bleibenden Unterſchied der Auffaſſung im Auge hat, iſt
im Gebiete der Poeſie aufgekommen, der große Gegenſatz der Style hier
früher, ausdrücklicher, tiefer erkannt worden, als auf allen andern Kunſt-
gebieten: natürlich, weil der geiſtigſten Kunſt ein ausgeſprochneres Bewußt-
ſein ihrer Geſetze, eine ausgebildetere Kritik zur Seite geht. Seit dem
Kampfe gegen Gotſched dreht ſich Alles um dieſe Angel, Shakespeare iſt
der Name, in welchem man Alles zuſammenfaßt, was man unter dem
naturaliſtiſchen und individualiſirenden Style begreift. Um was es ſich
eigentlich handelt, kann man ſich auf empiriſchem Weg am beſten veran-
ſchaulichen, wenn man deutlich das Schwanken zwiſchen zwei Stylen in
Göthe’s Egmont beobachtet, wenn man in Schiller’s Wallenſtein genau
unterſcheidet, wo unter dem Einfluſſe des großen Britten die geſättigte
Farbe der vollen Lebenswahrheit und wo dagegen die generaliſirende Allge-
meinheit des Idealiſmus durchdringt, wenn man die Aeußerung von Ger-
vinus über Schiller’s Charaktere: ſie halten ſich in einer Mitte zwiſchen
der typiſchen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare (Neuere
Geſch. d. poet. Nat.-Lit. d. Deutſch. Th. 2. S. 506) wohl überlegt. Letztere
iſt zwar nicht ganz richtig; dieſe Mitte ſuchen wir erſt, ſie iſt das Ziel unſerer
Poeſie, aber das Wort gibt viel zu denken. — Der §. faßt in Kürze die
ſchon in früheren Abſchnitten mehrfach beſprochenen Grundzüge beider Style
noch einmal zuſammen und hebt als neuen Zug nur die kühnere Miſchung
des Ernſten und Komiſchen hervor; jede weitere Auseinanderſetzung an der
gegenwärtigen Stelle wäre zweckwidrig, weil in der Folge der große Unter-
ſchied, von dem es ſich handelt, auf allen Hauptpuncten hervortritt und
[1213] zur Sprache kommt. Nur gewiſſe Beſtimmungen, Definitionen deſſelben
ſind hier noch zu berückſichtigen, um Einwürfen vorzubeugen. In der
Grundlage ſeiner Weltanſchauung haben wir den claſſiſchen Styl weſent-
lich als einen objectiven beſtimmt („das Ideal der objectiven Phantaſie“
§. 425). Widerſpricht dieß nicht dem Begriffe des Idealiſtiſchen? Wie kann
man von dem klar ſchauenden, gegenſtändlichen Göthe und von dem ſub-
jectiven Schiller gemeinſchaftlich das Claſſiciren ausſagen? Allein man
muß richtig unterſcheiden. Im claſſiſchen Style wird verlangt, daß die
einzelne Geſtalt ſchön ſei, daher greift er nicht tief in die ſpezielleren Züge
der Exiſtenz hinein, gibt mehr Typen, als Individuen, berührt nur die
reinen, lichten Gipfel der Dinge. Göthe und Schiller in ihrer durch die
Alten geläuterten Periode haben dieß gemein; von dem Unterſchiede, der
übrigens zwiſchen ihnen ſtattfindet, iſt hier zunächſt ganz abzuſehen und
ebenſo von den Einſchränkungen, die im Gemeinſchaftlichen ſelbſt daraus
entſpringen, daß Schiller vermöge ſeiner draſtiſchen Energie durch Shakes-
peares Einfluß vielfach zur geſättigteren, keckeren Farbengebung geführt wird.
Durch jene Keuſchheit nun, die ſich ſcheut, in die Einzelzüge der Dinge bis
zu einer gewiſſen Spezialität einzugehen, iſt der Geiſt des claſſiſchen Styls
idealiſtiſch, nimmt die großen Schritte des Kothurns; dem unbeſchadet iſt
aber ſeine Auffaſſung an ſich ſtreng ſächlich, ihr verwandelt ſich alles Innere
ganz in ein Bild, das ſo feſt und in ſo klaren Umriſſen daſteht, wie eine
Statue; ſie ſetzt keinen Reſt von Subjectivität. Von dieſer Seite be-
trachtet, ſteht Schiller der claſſiſchen Auffaſſung ganz ferne und fällt ſogar
in die rhetoriſche Entmiſchung der äſthetiſchen Elemente (§. 848). Wir
haben den Charakter des claſſiſchen Ideals früher auch einen realiſtiſchen
genannt (§. 439, 3.); darauf kommen wir nachher zurück, um namentlich
in dieſer Bezeichnung verwirrendem Mißverſtändniſſe zu ſteuern. Vorerſt iſt
noch zu verhüten, daß nicht ein Begriff zur Unzeit herbeigebracht werde,
welcher den richtigen Gegenſatz ebenfalls umzuſtoßen droht: in gewiſſem
Sinn iſt nämlich Göthe ſubjectiver, als Schiller, indem jener in Gemüths-
kämpfen, dieſer in Thaten und Geſchichte als dem eigentlichen Elemente
ſeines Dichterberufes ſich bewegt; dieß geht aber die Grundſtimmung der
ganzen Perſönlichkeit und den durch ſie beſtimmten Inhalt, nicht den
Styl der Poeſie an; es hat freilich auch weſentlichen Einfluß auf den-
ſelben, allein dieſe Urſache des verſchiedenen Colorits gehört nicht hierher.
Wir gehen jetzt hinüber zu dem entgegengeſetzten Style, um hier ebenſo
die Begriffe zu ordnen. Schiller nennt ihn ſentimental; dieſe Begriffsbe-
ſtimmung iſt im Ganzen und Großen beurtheilt in Anm. 1 zu §. 458.
Es bleibt das Wahre, daß im romantiſchen und modernen Ideale die innere
Welt über die äußere wiegt und daher ein ſubjectiver Stimmungshauch
ſich über alle Gebilde der Poeſie legt, in welchem die Umriſſe zu verzittern
[1214] ſcheinen; allein der Charakter der ganzen Auffaſſung iſt damit nicht erſchöpft;
und ebenſowenig durch W. v. Humboldt’s entſprechende Unterſcheidung der
zwei Style als des bildenden und ſtimmenden (Aeſthet. Verf. Ab-
ſchnitt XIV). Es handelt ſich nämlich darum, wie das Uebergewicht der
ſubjectiven Welt in der Art der dichteriſchen Zeichnung der Gegenſtände
ſich äußere; und hier tritt ein Merkmal auf, das mit dem Sentimentalen,
blos Stimmenden gerade in Widerſpruch zu ſtehen ſcheint. Eine Vergleichung
zwiſchen Homer und Arioſt, wie ſie W. v. Humboldt (a. a. O. Abſchn. XXI)
anſtellt, dient nicht dazu, daſſelbe zu finden, das halb ironiſche, halb ſenti-
mentale Spiel der Einbildungskraft iſt eine vereinzelte Erſcheinung ohne
Anſpruch auf Allgemeinheit. Das Wahre iſt vielmehr, daß der Geiſt, der
die Dinge im Lichte der innern Unendlichkeit auffaßt, gerade eine ſchärfere
Zeichnung der Einzelzüge begründet, als jener Idealiſmus, weil im Lichte
des eröffneten Zuſammenhangs mit der unermeßlich vertieften inneren Welt
ſelbſt das Kleine, Enge, höchſt Eigenthümliche berechtigt, bedeutend wird.
Der Styl, welcher vermöge des vorherrſchenden Stimmungstons nach der
einen Seite einen gewiſſen muſikaliſchen Nebel über die Dinge legt, iſt
daher ebenderſelbe, welcher dieſen Nebel plötzlich zerreißt und in alle Falten
und Winkel der Welt, ſelbſt in die häßlichen, Strahlen von einer Schärfe
ſchießt, vor welchen der claſſiſche zurückſcheut. Die Schönheit aber reſultirt
dann eben als ſtimmungsvoller Geiſt aus dem Ganzen. Es mag in ge-
wiſſen Zweigen der Dichtkunſt, die ſich in dieſem Elemente bewegt, Er-
ſcheinungen geben, welche ſich ganz in jenem empfindungsvollen Dufte
halten, zu keinerlei Härte und Schärfe fortgehen und doch gut ſind, aber
im Ganzen und Großen wird, wo die bewegte Subjectivität der Auffaſſung
herrſcht, das Verfolgen des Objects in die engere Naturwahrheit weſentlich
mitgeſetzt ſein. Dieß nun hat man im Auge, wenn man dieſen Styl den
realiſtiſchen nennt; der claſſiſche heißt ſo, wenn man die Objectivität der
Vergegenwärtigung überhaupt, der naturaliſirende und individualiſirende,
wenn man Grad und Umfang des Hereinziehens der Einzelzüge des Da-
ſeins betont; Realiſmus im letzteren Sinn iſt die gründliche Verſetzung
künſtleriſchen Bildes in die volleren, härteren Bedingungen der Exiſtenz,
der ausführlichere Schein des Lebens. Man ſieht, wie ſich dieſe Beſtim-
mungen herumwerfen: beide Style ſind in gewiſſem Sinne idealiſtiſch und
beide in gewiſſem Sinne realiſtiſch; der erſtere iſt idealiſtiſch im Sinne der
ſtrengeren Ausſcheidung der particularen Züge, der zweite iſt in dieſem
Sinne realiſtiſch, der erſte iſt realiſtiſch, weil er keine verborgene Innerlich-
keit kennt, der zweite iſt in dem Sinn idealiſtiſch, daß er ſeinen Ausgang
von dieſer Tiefe nimmt. Idealiſmus als Bezeichnung des erſteren kann
weniger mißverſtanden werden, aber den Namen realiſtiſch, der ſonſt für
den zweiten gebraucht wird, haben wir vermieden, um der Verwirrung zu
[1215] entgehen, und die freilich unbequemen Benennungen: naturaliſtiſch und
individualiſirend vorgezogen; wir werden jedoch von nun an beide Begriffe
auch in dem Ausdrucke charakteriſtiſch zuſammenfaſſen. In §. 39 iſt
gezeigt, daß der Begriff des Charakteriſtiſchen in der Lehre vom Schönen
an ſich zu einer müßigen Streitfrage führt, aber auch vorgeſorgt, ihm in
der concreten Kunſtwelt ohne Mißverſtändniß ſeine Anwendung zu ſichern.
Uebrigens vermeiden wir es, dieſen Styl romantiſch zu nennen, ihm alſo
einen geſchichtlichen Namen beizulegen, wie dem andern. Er ruht ja keines-
wegs ebenſo auf einem muſterhaften Vorbilde, das im Mittelalter gegeben
wäre, wie dieſer auf dem ewigen Vorbilde des Alterthums; ſeine Grund-
lagen ſind dem Mittelalter und der neuen Zeit gemeinſchaftlich, den Unter-
ſchied in der Entwicklung derſelben verfolgen wir hier noch nicht. Der Be-
griff des Romantiſchen hat überdieß durch eine krankhafte Art, das Mittel-
alter zu erneuern, einen ſchiefen Nebenton bekommen. — Das Schwere in
den Unterſcheidungen liegt aber auch darin, daß in der Poeſie noch mehr,
als in der Malerei, die beiden Stylrichtungen ſich mannigfach durchkreuzen
und brechen, daß in beiden Lagern verwickelte Miſchungen aus dem Ent-
gegengeſetzten ſich darſtellen. Daraus erhellt jedoch nur um ſo mehr die
beſondere chemiſche Kraft, welche in der Poeſie dieſem Gegenſatze zukommt.
§. 850.
Der poetiſche Styl, wie er im ſprachlichen Ausdruck erſcheint, hat1.
die proſaiſch gewordene Sprache ſo zu behandeln, daß mit der Bezeichnung
auch das Bild des Bezeichneten in ſelbſtändiger Kraft vor der Phantaſie erſteht
und ſich lebendig bewegt. Die Dichtkunſt wirkt dadurch ſchöpferiſch und Sprach-
bildend ſtets von Neuem auch auf die Proſa zurück. Da aber das Ganze2.
ihrer Thätigkeit auf lebendige Veranſchaulichung gerichtet iſt und da ſie die
Nachahmung der Malerei zu vermeiden hat (§. 847), ſo iſt ſie in den ein-
zelnen Mitteln einfach und ſpart den reicheren Glanz den Momenten der
entſprechenden Stimmung auf. Syſtematiſche Außählung dieſer Mittel ſetzt die
Proſa voraus und gehört der Rhetorik an; die Poetik hat nur die weſentlichen
Formen derſelben zu unterſcheiden.
1. Wir haben (§. 836 Anm.) geſehen, wie zwar auch im gewöhnlichen
Gebrauche der Sprache das Sprachzeichen immer ein Bild des Bezeichneten
vor die innere Vorſtellung ruft, aber dieß Bild nothwendig matt und un-
beſtimmt bleibt, wie mit dem Fortſchritte des Bildungszwecks der Sprache
das Band zwiſchen Bedeutung und Wort mehr und mehr dem Mechanismus
bloßer Gedächtniß-Verknüpfung weicht. Die Sprache, wie ſie dadurch ge-
worden, dient dem proſaiſchen Bewußtſein, das keine Abſicht haben kann,
[1216] die Einzelvorſtellungen, die es in ſeinen verſtändigen Zuſammenhang reiht,
für die innere Anſchauung zu beleben. Es iſt nun nicht nur vergeſſen,
warum ein Gegenſtand ſo und nicht anders genannt wird, das Denkbild
wird nicht nur immer blaſſer, ſondern es verliert auch eine immer größere
Anzahl von Wörtern ihre urſprünglich ſinnliche Bedeutung und wird in
der metaphoriſchen gebraucht, als wäre dieß die eigentliche (z. B. Herz,
wirken, entwickeln). Jenes Wort, daß die Poeſie älter ſei, als die Proſa,
gilt daher nicht nur von der früheren Ausbildung der erſteren als An-
ſchauungsweiſe überhaupt und im Liede, das lebendig von Mund zu Munde
gieng, ehe es eine Kunſt der proſaiſchen Darſtellung geben konnte, ſondern
im weiteren, unbeſtimmteren Sinne von der ſinnlichen Friſche der urſprüng-
lichen Sprache der Naturvölker und der damit verbundenen Vorſtellung.
Eigentliche und wahre Poeſie ſetzt jedoch die Proſa voraus, entſpringt aus
einer Macht des Geiſtes, die mit dieſer ringt und das ideale Weltbild aus
ihr herausarbeitet. Je weiter die Proſa, als Bildungsform und Auf-
faſſungsweiſe überhaupt, vorgeſchritten, deſto ſchwerer freilich iſt dieſer Kampf,
deſto ſchwerer erklingt die ſpröde Verſtändigkeit der Sprache im Munde des
Dichters. Seine Aufgabe nun iſt, dafür zu ſorgen, daß das Wort dem
Hörer nicht mechaniſches, todtes Zeichen bleibe, er muß ihn zwingen, zu
ſehen und Belebtes, ſelbſtändig Lebendiges zu ſehen. Der §. unter-
ſcheidet dieſe beiden Seiten, denn es handelt ſich von dem doppelten Berufe
der Poeſie, nach der einen Seite das Weſen der bildenden Kunſt, nach
der andern die Natur der Muſik geiſtig auf ihrem Boden wiederherzuſtellen
(§. 838 und 839); daß er Geſtalten vor uns hervorruft, darin gleicht
der Dichter dem bildenden Künſtler, daß dieſe Geſtalten ſich bewegen, von
innerem Leben erklingen, darin iſt er dem Muſiker verwandt. Dieſer Unter-
ſchied wird ſeine Anwendung finden, wenn wir die Arten der Mittel, wo-
durch die Phantaſie vom Dichter zum lebendigen Bilden aufgerufen wird,
näher auseinanderſetzen. Zunächſt muß hier noch die Rückwirkung auf
die Proſa, die Sprache überhaupt hervorgehoben werden. Nach Wortbildung
Wörterverbindung, Wortſtellung, Periodenbau, Kraft, Lebendigkeit und
Reichthum anſchaulicher directer und bildlicher Bezeichnungen verdankt die
gewöhnliche Sprache dem ſtetigen Einfluſſe der Dichtkunſt, noch mehr den
plötzlichen und reichen Strömen, die in den großen Momenten ihrer
Wiedergeburt hervorbrechen, unendliche Befruchtung. Man muß z. B.
wiſſen, wie viele Ausdrücke, die wir jetzt als höchſt natürliche und ſchlichte
gebrauchen, Gotſched noch als ganz entſetzlich verwarf (wir nennen: das
Jauchzen, das ewige Schaffen, das Lächeln, das Jugendliche). Mit
Klopſtock brach damals die ſchöpferiſche Sprachkraft herein und Göthe’s
jugendliche Poeſie wimmelt von Sprachbildungen, in welchen die kühne und
doch ſo warme, milde, weiche Geſtaltungskraft ſprudelt. Hat ſich aber die
[1217] Proſa dieſe Schöpfungen angeeignet, ſo werden ſie allmälig auch verbraucht
und fallen hinüber zu dem gemeinen Vorrathe der durch Gewohnheit abge-
ſchliffenen Sprachmünze, die man verwendet, ohne dabei innerlich etwas
zu ſchauen. Dieſe Abnützung iſt von furchtbarer Stärke. Man bedenke
nur, daß ja die Sprache urſprünglich keine unſinnliche Bezeichnung hatte,
daß ein Wort um das andere ſeine ſinnliche Bedeutung in eine geiſtige
verwandeln mußte, gegen deren ſchöne metaphoriſche Bedeutung man mit
der Zeit ſtumpf wurde. Wie dieß im Ganzen und Großen geſchah, ſo
wiederholt es ſich immer im Einzelnen. Der abreibende Verbruch wird
vermehrt durch eine höchſt tadelnswerthe Verſchwendung, welche ohne Noth
Bezeichnungen voll organiſch anſchaulicher Kraft für das Gewöhnlichſte
ausgibt. Wie ſchön iſt das Wort Entwicklung und wie Viele brauchen
es, wo Werden, Wachſen, ſich Bilden und dergl. vollkommen hinreichend
wäre! Wie treffend iſt Hegel’s: „von Haus aus“ und wie hat man es
für alles und jedes Anfängliche verſchwendet! Im ausdrücklich Bildlichen
kommt dazu, daß ſo manche ſchlagende Vergleichung im ernſten Sinn un-
brauchbar wird, weil ſie zu häufig komiſch verwendet worden und die blöde,
frivole, ſtumpfe Meſſe nicht fähig iſt, den Vergleichungspunct feſt im Auge
zu behalten und nach dem Uebrigen nicht umzuſehen. Wir könnten keinen
Helden mehr mit einem Eber, Eſel vergleichen wie Homer, das Nibelungen-
lied, das A. Teſt., das Kameel haben uns die Studenten weggenommen.
Shakespeare durfte ein ſehr helles Auge mit dem der Kröte vergleichen und
kein Lachen gebildeter Weinreiſender befürchten, die wohl meinen, er habe
nicht gewußt, daß die Kröte im Uebrigen häßlich iſt. Die Stärke und
Raſchheit der Abnützung fordert allerdings ſtets auf’s Neue die Zeugungs-
kraft der Poeſie heraus, führt aber zugleich die Verſuchung mit ſich, daß
der ſprachliche Ausdruck ſich überhitze, überſteigere, um ja der ſtark und
weit angewachſenen Proſa zu trotzen. Dieß führt zu dem wichtigen Satze,
den der zweite Theil des §. aufſtellt.
2. Das Ganze der poetiſchen Schöpfung und die einzelnen Mittel der-
ſelben im ſprachlichen Ausdrucke ſind ſtreng zu unterſcheiden. Jenes muß
urſprünglich ſo empfangen ſein, daß die Idee nicht anders, denn als lebendige
Geſtalt vor dem Innern des Dichters ſteht, und daraus ergeben ſich ihm
die Mittel, wodurch er ſein Bild in den Zuhörer überträgt, mit innerer
Nothwendigkeit; dieſe Nothwendigkeit mag ihm ſelbſt verborgen ſein, er mag
im Einzelnen zweifeln, wählen, verändern, ſie leitet ihn dennoch als Geſetz
und die Bemühung um das Einzelne iſt daher nicht, wie es ſcheint, ein
beſonderer, zweiter Act ſeines Thuns. Ausdrücklicher Accent, den er auf
die einzelnen Schönheiten legt, als beſtünden ſie für ſich, erregt daher bei
Allen, die um das wahre Weſen der Dichtkunſt wiſſen, den Verdacht, daß
es gelte, Blößen des Ganzen zu verhüllen. Man wird bei den großen
[1218] Dichtern eine Grundlage tüchtiger Nüchternheit, geſunder Trockenheit finden;
ohne dieſe herbe Wurzel ſchwebt die Phantaſie taumelnd in der Luft. Iſt
nur das Ganze poetiſch empfangen und empfunden, ſo mag es im Uebrigen
gut ſchlicht und natürlich hergehen. Man ſehe z. B. wie außerordentlich
einfach die Begebenheit in der Braut von Corinth erzählt iſt; eine Menge
von Wendungen kommen vor, die unſere Bilderüberwürzten, in jedem
Wort aufgeſtelzten modernen Lyriker als platt und proſaiſch verachten würden,
aber welcher Stimmungshauch zittert über den einfachen Worten, wie düſter
ſpannend, bebend ſchreitet die Handlung fort, wie iſt Alles geſchaut! Wenn
im Drama ein Charakter wie leibhaftig geſchaffen iſt, hat er dann nöthig,
in jeder einzelnen Rede den Mund voll zu nehmen? Der epiſche Dichter,
wenn er zu viele ausdrückliche Anſtalten trifft, ſein inneres Bild vor unſere
Anſchauung zu bringen, fällt in jenes Malen, das wir als Vergehen gegen
den poetiſchen Styl in §. 847 aufgezeigt haben. Einfachheit darf freilich
nie mit Dürftigkeit verwechſelt werden; das deutſche Epos mit ſeinen trockenen
Farben, ſeiner unentwickelten Intention der Anſchauung gibt ein Beiſpiel.
Selbſt den Durchbruch reicherer Fülle, prachtvoller Bilder-Häufungen ſchließt
das Geſetz der Sparſamkeit nicht aus; wo immer Sache und Stimmung
den Begriff des Vollen und Ergiebigen mit ſich führen, muß auch die
Sprache ſprudeln. Man vergegenwärtige ſich z. B. Shakespeare’s Pracht-
ſtelle voll Ueberſchwall der Bilder in Heinrich IV, Abtheil. 1, Aufzug 4,
Sc. 1: „Ganz rüſtig, ganz in Waffen“ u. ſ. w.; hier mußte, um ein in
ſtrotzendem Kraftgefühl und jugendlicher Kriegesluſt heranwimmelndes Heer
zu ſchildern, auch der Ausdruck ſtrotzen und wimmeln. Die Komik ohne-
dieß fordert ſtellenweis ihre verſchwenderiſchen Witzſpiele. Geht aber der
Dichter zu ausdrücklich auf die einzelnen Schönheiten, ſo wird er ſie auch
in der Quantität ohne wahres Motiv ſteigern. Es iſt vorzüglich die Ueber-
fülle derſelben, was Argwohn gegen die innere Poeſie des Ganzen erregt.
Die ganze orientaliſche Dichtung häuft die Pracht des Einzelnen in dem Grade,
in welchem das innere Verhältniß zwiſchen Idee und Bild nicht das organiſch
äſthetiſche iſt; ſie ſchlägt dem ſymboliſchen, äſthetiſch dürftigeren Kern einen
um ſo reicheren, mit Bilderbrillanten beſäten Mantel um. Schiller’s zu
glänzender Jambenſtrom verräth einen innern Mangel ſeiner poetiſchen Be-
gabung, wo er nicht durch feurige Energie im ſpeziellen Zuſammenhange
motivirt iſt. In ſeiner Jugendpoeſie geht die Ueberſättigung des Styls
vielfach bis zur Abſurdität der euphuiſtiſchen Phraſen und concetti, aber
er hat ſich geläutert und wie tief er theoretiſch das Richtige erkannte, zeigt
Nro. 377 im Briefwechſel mit Göthe, wo er den folgereichen Satz von
einem gewiſſen Antagoniſmus zwiſchen Inhalt und Darſtellung ausſpricht:
ſei der Inhalt bedeutend, ſo könne eine magere Darſtellung ihm recht wohl
anſtehen, wogegen ein unpoetiſcher, gemeiner Inhalt, wie er in einem größeren
[1219] Ganzen oft nöthig werde, durch den belebten und reichen Ausdruck poetiſche
Dignität erhalte. Dazu hätte er ſetzen können, daß auch höchſt bewegte
Leidenſchaft üppige Fülle des letzteren motivire. Dieſer Begriff eines An-
tagoniſmus leitet aber ſchließlich auf die Bemerkung, daß der Dichter, der
ohne Motiv ſeine einzelnen Mittel ſteigert, die Bedeutung des bloßen Vehikels
vergißt, welche der Sprache als der Darſtellungsform der Poeſie zukommt.
Sie ſoll dem reinen, durchſichtigen Waſſer gleichen, durch das wir die Ge-
bilde auf dem Grunde ſehen. J. Paul’s Styl geht von dem ſchweren
Irrthum aus, daß die Sprache für ſich ein dicker, ſalzüberfüllter Säuerling
ſein müſſe, und quält uns mit der Entzifferung der läſtig pikanten Form,
wo wir den Inhalt ſuchen.
Es iſt keine Frage, daß eine genaue Analyſe und logiſche Aufreihung
der einzelnen Mittel, wodurch ſich die poetiſche Sprache von der proſaiſchen
unterſcheidet, auch für die Poetik von tiefem Intereſſe wäre, denn die Wiſſen-
ſchaft hat Alles zu würdigen und in die kleinſte Falte des Einzelnen ein-
zudringen. Ausgegangen aber iſt das Intereſſe für dieſes Gebiet, das man
unter dem Namen der Tropen und Figuren begriff, von der Rhetorik,
alſo der Wiſſenſchaft einer praktiſchen Thätigkeit, welche auf der Proſa ruht,
die ſcheinlos aufgefaßte Wirklichkeit durch Beſtimmung des Willens zu ver-
ändern den Zweck hat und hiezu als Mittel Phantaſie und Empfindung
aufbietet. Die Vorausſetzung, daß das Ganze proſaiſch ſei, lag zu Grunde
in der Art, wie man nun die einzelnen Mittel unterſuchte; man dachte an
keine tiefere Ableitung, man erkannte nicht, wie in einem Gebiete, das ganz
und weſentlich der Phantaſie gehört, jede einzelne Form der Veranſchau-
lichung und Belebung nur Ausfluß davon iſt, daß das Ganze anſchaulich
lebt, kurz, wie der Dichter auch im Einzelnen darum individualiſirt, weil
das Ganze Individualiſirung iſt. Ueberdieß hat von jeher die trübſte logi-
ſche Verwirrung, die dürftigſte äußere Aufreihung in dieſen Erörterungen
geherrſcht. Es wäre aber eine gründlichere Unterſuchung und Berichtigung
nicht ſowohl Aufgabe der Aeſthetik, als vielmehr einer getrennten Poetik.
Jene hat keinen Raum dazu übrig; wir werden nur einige Hauptpuncte
aus dieſer Lehre von den Tropen und Figuren berühren.
§. 851.
Es ſind, unter Vorbehalt, daß der Gegenſatz kein abſtracter iſt, nach §. 8501.
die Mittel der Veranſchaulichung und der Belebung, des Bildes und
der Stimmung, alſo objective und ſubjective, mehr maleriſche und mehr
muſikaliſche Formen zu unterſcheiden. Beiden ſteht die allgemeine, negative
Beſtimmung voran, daß die Dichtkunſt alle blos beſchränkenden Ausdrücke ſcheut.
Die Veranſchaulichung in ihrer einfacheren, directen Form legt ſich im Satze vor-2.
[1220] züglich auf das Epitheton. Im indirecten Verfahren, noch abgeſehen von
der Herbeiziehung eines Subjects aus anderer Sphäre, vertauſcht ſie die Be-
griffsmomente in verſchiedener Weiſe, ſelbſt in derjenigen, daß ſie das Abſtracte
für das Concrete ſetzt, jedoch ſo, daß ſie hier zur Verwandlung des Begriffs
in eine Perſon übergeht; alle Mittel der Veranſchaulichung drängen als beſeelend
weſentlich zur Perſonification hin.
1. Der vorh. §. hat zu der hier aufgeſtellten Unterſcheidung bereits den
Grund gelegt. Es verſteht ſich jedoch, daß ſie nur relativ iſt: die bildlichen
Mittel ſtellen der Phantaſie ein Objectives gegenüber, ſie fließen aber natürlich
auch aus erhöhter Stimmung und erregen ſolche, und umgekehrt, die bele-
bende Stimmung fördert natürlich auch die Kraft der innern Anſchauung.
Tropen und Figuren als Formen der Anſchaulichkeit und der Lebhaftigkeit,
der Einbildungskraft und des Gefühls, als maleriſch und muſikaliſch zu
unterſcheiden iſt alſo unter dieſem Vorbehalte richtig. Uebrigens bringt die
gewöhnliche Aufzählung unter den Figuren Solches, was, auch den Vor-
behalt angenommen, doch entſchieden vielmehr unter die Formen der An-
ſchaulichkeit gehört; hat man doch ſogar die Perſonification und Comparation
unter jene geſtellt. Eher konnte man die Sermocination (die eine Perſon
oder Perſonification außerhalb des Drama’s redend einführt) als Ausdruck
der wärmſten Belebung einer übrigens der Veranſchaulichung angehörigen
Form, und ähnlich die Hyperbel als eine weſentlich auf der Stimmung
ruhende Steigerung der Metapher zu den Figuren herüberziehen. Uebrigens
fällt die Unterſcheidung von Mitteln der Anſchaulichkeit und der Lebhaftigkeit
dem Umfange nach mit den Tropen und Figuren nicht zuſammen; Tropus
bedeutet Vertauſchung des Subjects, indirecte Bezeichnung in verſchiedenen
Weiſen und []Graden; die Theorie der poetiſchen Ausdrucksformen hat
keinen allgemeinen Namen für den anſchaulichen Ausdruck, der unbildlich
iſt, d. h. keine zweite Anſchauung zur Beleuchtung eines gegebenen Inhalts
herbeibringt, und dieß iſt der ſtärkſte Beweis dafür, daß ſie bisher ihre
Aufgabe für die Poetik gar nicht begriffen, nicht geahnt hat, wie es ſich
hier von einem Grundgeſetze der Dichtkunſt, dem der Individualiſirung über-
haupt, handelt, wovon das tropiſche Verfahren nur ein Theil iſt.
Der §. ſtellt nun zuerſt eine allgemeine negative Beſtimmung über das
ganze vorliegende Gebiet voran, die nämlich, daß die Poeſie im Ausdrucke nichts
Halbes, blos Limitirendes, Vorbehaltendes, Theilendes duldet. Weil in
ihr Alles leben ſoll, ſoll auch Alles ganz ſein, lieber kühn bis in’s Un-
glaubliche, als beſchnitten. Ausdrücke wie „ziemlich, einigermaaßen, theil-
weiſe, inſofern, ſo zu ſagen“ erkälten augenblicklich, legen ſich wie Mehlthau
auf den poetiſchen Zuſammenhang. Vom bildlichen Verfahren kann hier
anticipirt werden, daß aus dieſem Grunde die Metapher poetiſcher iſt, als
[1221] die Vergleichung. Das „Wie“ oder „Gleichſam“ iſt eine Verwahrung vor
der vorausgeſetzten Proſa, daß man Bild und Inhalt nicht verwechsle, und
ſtürzt ebendaher in dieſe. Das Komiſche freilich nimmt die Proſa abſichtlich
auf und liebt darum die beſchränkenden Redeformen (z. B. „Gottwalt be-
gann mäßig zu erſtarren“), und ſo werden ſie poetiſch verwendbar wie
kümmerliche Körperformen maleriſch, aber dieß beſtätigt nur ihren negativen
Charakter.
2. Es ſind nun zuerſt die einfachſten Mittel der Veranſchaulichung zu
betrachten. Die Poeſie ſoll das Wort nicht als einen für die Phantaſie
todten Begriff liegen laſſen. Da das Hauptwort als Subject des Satzes
aus der allgemeinen Sprache vertrocknet, wie es in ihr geworden, über-
nommen wird, ſo liegt das nächſte Mittel, ſeinen Begriff für die Phantaſie
zu beleben, in der Eigenſchaftsbeſtimmung. Sie tritt hier weſentlich als
Zuſatz, nicht als das durch die Copula zu vermittelnde Prädicat auf; es
handelt ſich zunächſt nicht um die Ausſage, die durch den Satz erſt erwachſen
ſoll, ſondern, noch abgeſehen von dieſer, um eine Entwicklung des Subjects
an ſich für das innere Schauen. Die Bezeichnung epitheton ornans will
dieß ſagen, iſt aber wohlweis nüchtern, weil man dabei nicht bedenkt, daß,
was vom proſaiſchen Standpuncte blos anhängender Schmuck, vom poetiſchen
weſentliche Aufthauung des im Wort erſtarrten Bildes iſt. Dieſe Aus-
wicklung iſt der Poeſie ſo unentbehrlich, daß ſie ihre Epitheta, natürlich vor
Allem im epiſchen Gebiete, gern als ſtehende fixirt, und zwar keineswegs blos
als geläufiges Mittel der Versfüllung; Homer’s geflügeltes Wort, haupt-
umlockte Achaier, langhinſtreckender Tod laſſen uns nie ſtumpf, ſo oft ſie
auch wiederkehren. Was ſchon mehrfach über das Geſetz der Einfachheit
der Anſchauungsmittel geſagt iſt, das gilt nun ſogleich auch vom Epitheton.
In der neueren Poeſie gibt namentlich Göthe’s Hermann und Dorothea
lehrreiche Beiſpiele. W. v. Humboldt (Aeſth. Verſ. Abſchn. XXX) entwickelt
treffend, wie die einfachen, wenigen Prädicate: tüchtig, groß, ſtark, gewaltig,
bei der erſten Schilderung von Dorothea, wo wir ſie die Stiere des Wagens
lenken ſehen, getragen vom großen poetiſchen Zuſammenhang, ein ideales
Bild vor uns aufbauen. Ebenſo ſteht durch die Wirkung des Zuſammen-
hangs im Anfang der Melpomene mit den wenigen Worten: — „des
hohen wankenden Kornes, das die Durchſchreitenden faſt, die hohen Ge-
ſtalten, erreichte,“ eine heroiſch große Anſchauung vor uns. Unſere Proſa
hat ſich ſo verwöhnt, mit ſtarken bildlichen Ausdrücken umzuwerfen, daß
wir gegen die Kraft des einfachen Prädicats, wenn es treffend iſt, gegen
die Feinheit der Wahl des ſchlicht Bezeichnenden, kurz, gegen die Wahrheit
faſt abgeſtumpft ſind; uns heißt Alles nur ſogleich herrlich, ſchauerlich,
glühend, ſtrahlend, lachend u. ſ. w., wir fühlen kaum die Schönheit und
Wirkſamkeit der Adjective dunkel, ſanft, blau, ſtill, hoch im Anfang des
[1222] Liedes: „Kennſt du das Land,“ wir vernehmen kaum mehr das Rauſchen
des Haines, deſſen Wipfel Iphigenie nicht etwa gewaltig, erhaben u. dgl.,
ſondern reg nennt, oder die geiſterhaft herbſtliche Stimmung in den Worten
des Mephiſtopheles: wie traurig ſteigt die unvollkommene Scheibe des
rothen Monds mit ſpäter Gluth heran, wir unterſcheiden kaum, wie viel
poetiſcher Wallenſtein von hohlen, als von leeren Lägern ſpricht. Gerade
unſere ſinnlich ſtarken Bezeichnungen ſind durch die Verſchwendung, indem
man nicht mehr nach dem paſſenden Orte fragt, allgemein, abſtract geworden.
Wie matt muß dem, der an lauter ſpaniſchen Pfeffer gewöhnt iſt, es
erſcheinen, wenn Göthe ſeinen Hermann nur wohlgebildet, den Vater den
menſchlichen Hauswirth, die Mutter die zuverläßige Gattin nennt! Die
letzteren zwei Prädicate ſind nicht verſinnlichend, ſondern moraliſch; der
Dichter hat ja überhaupt ebenſoſehr zu vergeiſtigen und zu verallgemeinern,
als zu individualiſiren; dieß Verfahren verfolgen wir hier im Allgemeinen
nicht, eine beſondere Wendung deſſelben aber wird zur Sprache kommen. —
Es gilt nun aber auch natürlich vom Epitheton, daß durch die allgemeine
Vorſchrift der Sparſamkeit das Häufen der Mittel im Moment ergiebig
hervorquellender Stimmung keineswegs ausgeſchloſſen iſt; unſere Phantaſie
kann recht wohl die ſucceſſiven Prädicate in ein ſimultanes Ganzes zuſam-
menfaſſen; Iphigenie geht gleich im zweiten Vers in die warm beſchleunigte
Prädicat-Häufung: des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines über und
Beiſpiele noch viel reicherer Fülle ſind in der ächten Poeſie unendlich. —
Die Verſinnlichung legt ſich nun aber natürlich auch in die Bezeichnung
des Zuſtands oder Thuns durch das Zeitwort. Hier iſt immer die
nähere, ſchärfere, ſinnlichere Beziehung der allgemeineren vorzuziehen. Es
iſt poetiſcher, zu ſagen: der Schmerz wühlt, gräbt, nagt, bohrt im Innern,
als: er bewegt, erfüllt es u. ſ. w. Es tritt hiemit, wie in dieſem Beiſpiel,
meiſt ſchon metaphoriſche Bezeichnung ein [und] führt dieß daher zu der Be-
trachtung des bildlichen Verfahrens im engeren Sinne des Worts; davon
ſoll erſt nachher ſpezieller die Rede ſein, aber es iſt unumgänglich, ſchon bei
dem Epitheton es zu erwähnen, ebenſo das metonymiſche Verfahren, wo der
Dichter ſtatt der ganzen Thätigkeit eine nähere Erſcheinungsſeite derſelben heraus-
ſtellt; wir führen hiezu nicht im Scherz als ächt harmoniſch gefühlt an, wenn
Hebel, wo er den Wohlſtand eines Landgeiſtlichen ſchildert und unter An-
derem ſeine Schweinezucht erwähnt, nicht etwa ſagt: in den Wäldern mäſtet
ſich, ſondern: knarvelt d’Su. Das Verbum kann allerdings auch umge-
kehrt die Enge des Sinnlichen vergeiſtigend erweitern, dieß führt jedoch
ebenfalls zur Metapher. — Bei genauerer Analyſe wäre nun zu zeigen,
wie die veranſchaulichende Kraft den Satz entwickelt, mit Zwiſchenſätzen
gliedert (z. B. in Hermann und Dorothea, wo der Pfarrer dem Vater den
Ring vom Finger zieht und in Parentheſe ſteht: nicht ſo leicht, denn er
[1223] war vom rundlichen Gliede gehalten) und dem einzelnen Sprachmittel ſeine
Wirkung durch den Zuſammenhang, durch Hintergrund, Folie, Contraſt
ſichert; wir müſſen uns aber mit dieſen Andeutungen begnügen, um nun vom
Einfacheren zum Kühneren, von dem Verfahren, das den Gegenſtand beläßt
und nur dem Auge auffriſcht, zu dem fortzuſchreiten, das ihn löst und lockert,
jedoch nur, um die zerſprengte gemeine Ordnung der Dinge mit neuem,
freiem Leben zu durchſchießen und in das Licht einer höheren Einheit zu
rücken. Hier beginnen denn die ſogenannten Tropen oder Vertauſchungen
und es handelt ſich zuerſt von derjenigen Art derſelben, welche nicht eine Er-
ſcheinung aus einer andern Sphäre vergleichend oder verwechſelnd herbeizieht,
ſondern bei dem Gegenſtand und ſeiner Sphäre ſtehen bleibt: es iſt die ſoge-
nannte Metonymie (eine geiſtloſe Bezeichnung, als gälte es blos Namens-
verwechslung) und Synekdoche. Jene bewegt ſich in geſchloßnerem Kreis,
indem ſie die concreten Verhältniſſe und Erſcheinungsſeiten des Gegenſtandes
vertauſcht: Stoff, Werkzeug, Zeichen, Wirkung, eine der Wirkungen, einen
Theil für das, was aus dem Stoffe beſteht, für den Träger des Werkzeugs,
Zeichens, für die Urſache, für das Geſammte der Wirkungen, für das
Ganze ſetzt u. ſ. w. Es iſt z. B. ſelbſt in der Proſa poetiſch, wenn es
heißt: tauſend Säbel, Bajonette, Segel für Reiter, Fußgänger, Schiffe.
Die Synekdoche iſt ein gewaltſamerer Act, indem ſie das logiſche Verhältniß
des Gegenſtands in ſeiner ganzen Sphäre auflöst, Abſtractes mit dem
Concreten, Art und Individuum mit der Gattung vertauſcht und umgekehrt.
Es iſt nicht paſſend, die Verwechslung des Ganzen und der Theile ihr
zuzuzählen, weil dieſe im geſchloßnen Umkreiſe des concreten Subjects ſtehen
bleibt; wir haben ſie daher zur Metonymie gezogen. Die meiſten Formen
der Vertauſchung, die man unter dieſer aufführt, fallen ebenſo gut, als
unter den Begriff von Wirkung, Werkzeug u. ſ. w., auch unter den des
Theils für das Ganze: ſo das angeführte Segel für Schiff, ſo wenn der
Dichter ſagt: ſein Brod mit Thränen eſſen ſtatt: betrübt ſein; jenes iſt eine
Wirkung der Betrübniß oder ein Theil ihrer Wirkungen. Daran knüpft
ſich denn von ſelbſt, daß die Metonymie auch im eigentlichen Sinn Theil
und Ganzes vertauſcht, z. B. Schwelle für Haus ſetzt. Man kann die
Claſſificationsverhältniſſe, welche die Synekdoche verwechſelt, nothdürftig auch
als Ganzes und Theile auffaſſen, aber dieß führt nur zur Verwirrung.
Wichtig iſt nun bei dieſer Form, daß ſie nicht nur dem Geſetze der Indi-
vidualiſirung folgend das Einzelne und die Art ſtatt des Allgemeinen und
der Gattung ſetzt (z. B. Cicero ſtatt Redner, Hund ſtatt Thier), ſondern,
was dieſem Grundſtreben zu widerſprechen ſcheint, auch das Allgemeine,
Abſtracte für das Beſondere, Einzelne, Concrete, das Jahrhundert für: die
in ihm lebenden Generationen, die Menſchheit, ſtatt: die Menſchen, die
Hoffnung ſtatt der Hoffenden, Friede, Krieg ſtatt der darin Begriffenen,
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 79
[1224]Buhlſchaft ſtatt der Kleider, womit ſie ſich putzt, der Mord ſtatt: der Mörder.
Es iſt nun dieß zunächſt gar nichts Anderes, als eine logiſche Abbreviatur,
welche alle Sprache, auch die ganz gewöhnliche Proſa übt; dennoch bedarf
es nur eines Schritts, um von dieſer ſcheinbar weiteſten Entfernung zu
dem lebendigſten Mittelpuncte der Poeſie umzulenken. Dieß geſchieht nicht
etwa blos dadurch, daß der Dichter das Abſtractum ſetzt, wo es die Proſa
nicht geſetzt hätte; wenn z. B. Makbeth vor der Ermordung Duncan’s ſagt:
jetzt geht der Mord an ſein Geſchäft, ſo hätte hier auch die gewöhnliche
Rede Mord, ſtatt: Mörder ſetzen können. Der Dichter erhebt vielmehr,
was annähernd oder wirklich in jedem Momente wärmeren Antheils der
Phantaſie auch die Proſa vollzieht, dann abgenützt in unzähligen Wendungen
ſtehend wiederholt (die trauernde Menſchheit, die lächelnde Hoffnung, das
ſchnellſchreitende Jahrhundert u. dergl.), zum vollen Acte: er beſeelt, er per-
ſonificirt das Abſtractum. Dieß geſchieht durch originale Belebungskraft
im Epitheton und im Verbum mit ihren weitern Entwicklungen und Zu-
ſätzen: der dürre Mord, geweckt von ſeiner Schildwacht, dem Wolf, der
das Signal ihm heult, fährt auf und ſchreitet hin nach ſeinem Ziel ge-
ſpenſtiſch; die ſeidne Buhlſchaft liegt im Kleiderſchrank (wie ein lebendiges
Weſen, das zur todten Puppe geworden); der Krieg ſträubt den zornigen
Kamm und fletſcht dem Frieden in die milden Augen; dieſer ſchlummert in
der Wiege des Landes, tritt „mädchenblaß“ unter die Menſchen, jener als
gluthaugige, ſchnaubende Jungfrau. Es erhellt, daß dieß Perſonificiren
derſelbe Act iſt wie der, durch welchen die Götter entſtanden ſind, mit dem
Unterſchiede, daß er freier äſthetiſcher Schein bleibt, während in der Mytho-
logie die bedeutendſten ſeiner Schöpfungen ſich im Glauben als wirkliche
Weſen feſtſetzten. Doch hat das mythiſche Bewußtſein neben dieſen ſeinen
feſtgeglaubten Perſonificationen natürlich auch in frei poetiſcher Weiſe den-
ſelben Act, nur gerade noch erleichtert durch die Gewohnheit des Götter-
bildens, fortwährend in der reichſten Fülle ausgeübt; die Alten zeigen in
der Beſeelung allgemeiner Begriffe eine Kühnheit, Bewegtheit der Phantaſie,
die man von ihrer plaſtiſchen Ruhe kaum erwartet. Bei Sophokles heißt
die Hülfe heiterblickend, Reden bei Euripides und Ariſtophanes unfreundlich
blickend, bei Pindar hat das im Werden begriffene Lied ein fernleuchtendes
Antlitz, ſelbſt der Seele werden Augen zugeſchrieben, die Verläumdung hat
brennenden Blick, wie bei Shakespeare die Eiferſucht ein grünaugiges Un-
geheuer iſt, (vergl. Ueber perſonific. Adjectiva und Epitheta bei griechiſchen
Dichtern. V. C. C. Henſe). Noch Horaz hat phantaſievolle Anſchauungen
dieſer Art, wie z. B. die Sorge, die ſich hinter den Reiter auf’s Pferd ſetzt.
Shakespeare’s beſonderes Feuer und Alles belebender Reichthum im Per-
ſonificiren genoß, wie bekannt, eine Unterſtützung, welche faſt als Surrogat
jener mythiſchen Gewöhnung der Phantaſie betrachtet werden kann: nämlich
[1225] in den ſog. Moralitäten, welche mit der größten Keckheit jeden moraliſchen
Begriff als dramatiſche Perſon einzuführen pflegten. Es war dieß freilich,
da es ohne mythiſchen Glauben geſchah, zunächſt Allegorie; allein die
dramatiſche Aufführung gab dem perſönlichen Bild etwas Ueberzeugendes,
die Geläufigkeit etwas Haltbares und es durfte nur die Zauberkraft des
Genius dazu kommen, ſo ſprang ſtatt der Allegorie ein Weſen hervor, das
wenigſtens im Augenblicke der poetiſchen Anſchauung wahres Leben hat,
kein Gott, aber etwas wie eine Geiſter-Erſcheinung. So zur Kühnheit
gewöhnt und durch die entſprechende Gewohnheit ſeines Publikums gehalten
konnte Shakespeare es wagen, ſogar die Luft einen ungebundenen Wüſtling,
den Wind einen Buhler, das Gelächter einen Geck zu nennen, das Mitleid
als nacktes Kind auf Wolken einherfahren zu laſſen, den Ariel anzureden:
mein ſchöner kleiner Fleiß (als ob der Fleiß ein perſönlicher Geiſt und dieſer
Ariel wäre) und — wunderbar ſchön — von der Zeit zu ſagen: der alte
Glöckner, der kahle Küſter. Es ſind dieß nicht eigentlich Metaphern, der
Dichter vergleicht nicht, er beſeelt den Begriff in ſich und aus ſich zur
Perſon. Doch werden wir ſehen, daß in der Metapher, die das Vergleichen
verſchweigt, mehr oder weniger von ſolcher Innigkeit des immanenten Be-
ſeelens liegt.
Zu dieſem Gipfel der belebenden Veranſchaulichung, der Perſonification,
dringen nun die Formen des poetiſchen Ausdrucks, und zwar eben auch die
bisher betrachteten einfacheren, überhaupt mit aller Gewalt hin. Es handelt
ſich jetzt nicht mehr blos von abſtracten Begriffen, auch das Sinnliche, jede
Erſcheinung, die kein oder für ſich kein beſonderes Leben hat, wird ſo be-
handelt, daß ein eigener Geiſt in ſie zu fahren ſcheint. Da Brutus Dolch
den Cäſar durchbohrt, folgt ihm das Blut, als ſtürzt’ es vor die Thür’,
um zu erfahren, ob wirklich Brutus ſo unfreundlich klopfte; dieß iſt wie
eine Vergleichung ausgedrückt, wir dürfen aber das kühne Bild von der
Erörterung des Gleichniſſes und der Metapher getrennt betrachten, weil es
ſo ſchlagartig wirkt, daß das Blut eine fühlende Seele für ſich zu haben
ſcheint. Wenn bei Homer die Lanze haſtig ſtürmt, wenn der Pfeil mit
Begierde fliegt, im Fleiſche zu ſchwelgen, ſo iſt dieß ebenfalls ſolche un-
mittelbare Beſeelung. Die Alten ſind auch hierin nicht weniger kühn, als
ein Shakespeare; Erz, Helm, Feuer, Fackel, Licht, Tag, Wolke, Pflanze,
ſelbſt der glänzende Tiſch haben Augen, die Felskluft iſt hohläugig, ja
ſogar das nur Hörbare, der Ruf der Stimme heißt bei Sophokles fern-
ſehend oder ferngeſehen (vergl. Henſe a. a. O.) Das iſt durchaus nicht
ein mühſames Herbeiziehen, ſondern ein ſehr phantaſiereiches Schauen,
wie die friſche Einbildungskraft des Kindes in Allem Geſichter ſieht, und
daraus erwächst eine allgemeine Belebung der Natur.
79*
[1226]
§. 852.
Die andere, mehr äußerliche, aber farbenreichere Hauptform des indirecten
Verfahrens, der Tropus, zieht vergleichend eine Erſcheinung aus einer
andern Sphäre herbei; verſchweigt ſie dieſen Act und ſcheint das Verglichene
identiſch zu ſetzen, ſo iſt ſie eigentliche Uebertragung, Metapher; entlehnt
dieſe ihr Bild aus dem beſeelten Leben, ſo fällt ſie in ihrer höchſten Lebendigkeit
mit der Perſonification zuſammen. Schlagende Kraft des Vergleichungspunctes
iſt im ernſten Gebiete (über den Unterſchied des komiſchen vergl. §. 199) der
Charakter des ächten Bildes.
In den bisher aufgeführten Formen wird nicht ein Fremdes, das einen
eigenen Körper hat, mit dem vorliegenden Subjecte, dem ebenfalls eigene
Erſcheinungsform zukommt, zuſammengebracht, ſo daß wir dieſe zwei ver-
mittelſt einer Eigenſchaft, die beiden gemein iſt, in Einheit zuſammenfaſſen
ſollen; jenes Verfahren iſt, auch wo es die Momente eines Ganzen, eines
Ordnungsverhältniſſes vertauſcht, einfacher, bleibt in der Sache, erwärmt
und beſeelt ſie von innen heraus; dieſes iſt zwiefältig, unruhiger, macht
einen Sprung, iſt äußerlicher und daher gewaltſamer. Die eigentlichen
Tropen, von denen es hier ſich handelt, ſind ebendarum weniger poetiſch.
Was zu §. 850 von Bedeckung poetiſcher Blößen durch Glanz des Aus-
drucks geſagt iſt, gilt namentlich dieſem bildlichen Verfahren im engeren
Sinne des Worts. Es verſteht ſich, daß darum die ächte Poeſie auf das
Bild nicht kann verzichten wollen. Es iſt vermöge ſeiner ſpringenden Natur
colorirter, als jene andern Formen, und viele Stellen fordern die buntere
Farbe; der Geiſt in wärmerer Bewegung, ſei ſie eine ſanftere und beſchauliche
oder feurige und wilde, fühlt den natürlichen Drang, ſeinen Gegenſtand,
damit er in ſeinem Werth nachdrücklicher erſcheine, nicht nur in einfacher,
ſondern in doppelter Beleuchtung, ſozuſagen im Sonnen- und Kerzenlichte
zugleich zu zeigen; der Vergleichungspunct, der das innerſte Weſen des
Gegenſtands mit verdoppeltem Accente betont, iſt das farbigere Kerzenlicht.
In dieſem Drange liegt aber noch ein Tieferes: einerſeits weidet ſich in
ſolchem Umherſchauen nach vergleichbarem Stoff aus andern Sphären die
Phantaſie an ihrer eigenen Schönheit, jedoch in der ächten Dichtung niemals
ſelbſtſüchtig, ſondern in dem guten Sinne, daß durch die Freiheit, durch das ideale
Ueberſchweben, worin ſie ſich genießt, die innige Vertiefung in das beſtimmte
Object, dem die Vergleichung gilt, nicht geſtört wird; es iſt eine Befreiung
von ſtoffartigem Feſtkleben, eine Löſung in der Beſchränkung, deren Natur
beſonders da einleuchtet, wo ſie der Dichter einer poetiſchen Perſon als ihren
eigenen Act beilegt, ſo daß wir Zeugen eines objectiven Schauſpiels ſind,
worin der Menſch von ſeiner Leidenſchaft ſich befreit, indem er alle Bilder-
[1227] kraft der wühlenden Phantaſie aufbietet, ſie darzuſtellen. Vergl. über dieſen
Sinn des vergleichenden Verfahrens Hegel Aeſth. Th. 1. S. 521 ff., wo
namentlich die letztere Seite an Richard II treffend auseinandergeſetzt iſt.
Schließlich aber erkennen wir darin, wenn nicht der einzelne Vergleichungs-
Act, ſondern dieſe Form überhaupt und ihre nimmer ruhende Thätigkeit
in’s Auge gefaßt wird, die allgemeine, metaphyſiſche Wahrheit, daß alle
Weſen der Welt Glieder Einer Kette ſind und in unendliche Anziehungen
der Verwandtſchaft treten können, daß das All im Fluſſe der innern Einheit
ſich bewegt.
Wir eilen nun, ohne auf die ſogen. Allegorie im engeren Sinne des
Worts (eine durch mehrere Momente durchgeführte Metapher, welche in
der Art verdeckt iſt, daß ſie den verglichenen Gegenſtand verſchweigt und
räthſelartig errathen läßt) einzugehen, zu dem Unterſchiede des Gleichniſſes
und der Metapher. Die Metapher iſt die kühnere, feurigere Form, indem
ſie das Wie und So wegläßt und die zwei verglichenen Erſcheinungen wie
identiſch zu ſchauen nöthigt. Mit ſolcher Energie verfährt Shakespeare,
wenn ſein Othello nicht ſagt: mein Herz iſt wie verſteinert, ſondern: mein
Herz iſt zu Stein geworden, ich ſchlage daran und die Hand ſchmerzt mich.
Die Satz-Entwicklung kommt hier noch dazu, die verglichenen Zwei wie
identiſch zuſammenzuzwingen, ebenſo wenn Othello einen Beweis verlangt,
an dem kein Häkchen ſei, den kleinſten Zweifel d’ran zu hängen. Kürzer tritt die
Metapher durch den bloßen Genitiv oder eine Präpoſition auf, die das zur
Vergleichung Beigezogene zur Eigenſchaft, Attribut, Theil eines zunächſt un-
bildlich geſetzten Ganzen zu machen ſcheinen, welches aber mittelbar dadurch
in ſeiner Totalität bildlich wird (z. B. „die Thore, eurer Stadt geſchloßne
Augen“, oder: „hier, nur hier, auf dieſer Sandbank in der Zeit“; dort
wird die Stadt zu einer Perſon, hier die Zeit zu einem Meer); es iſt dieß
eine Form, die enger bindet, als das bloße Epitheton (wie: Wunden, dieſe
Fenſter, die ſich aufgethan, dein Leben zu entlaſſen), doch geht letzteres wieder
in eine ſtärkere Form über, wenn das Verglichene nicht genannt, ſondern
nur darauf hingezeigt wird (wie ſtatt: Lippen: dieſe ſchwellenden Himmel).
Eine ganz gewöhnliche Wendung, die doch in der Lehre vom h. Abendmahl
auf ſo wilde Verhärtung ſtieß, iſt die Bindung durch die Copula; lebendiger
iſt das Band, wenn das Bild als bewegte Form im thätigen oder leidenden
Zeitworte liegt oder von dieſem kühn ſubſumirt wird, wie wenn Hamlet
„Dolche zu ſeiner Mutter ſpricht.“ — Die ruhigere Form des bildlichen
Verfahrens, das Gleichniß, gewinnt dagegen, was ſie zu erzwingen ver-
zichtet, indem ſie Bild und Gegenſtand auseinanderhält, durch ſtetigen Fort-
ſchritt in ihrer Entwicklung, wie Northumberlands ſchönes Bild: Ganz
ſolch ein Mann, ſo matt, ſo athemlos u. ſ. w. (Heinrich IV, Abth. 2.
Act 1, Sc. 1.); natürlich verſtärkt ſich die überzeugende Kraft, wenn an die
[1228] Stelle der Vergleichungsformel die mimiſche Darſtellung tritt, wie in der
Vergleichung der Krone mit zwei Eimern in Richard II, in ſo vielen
claſſiſchen und namentlich orientaliſchen Erzählungen.
Was nun das Verhältniß der Sphären des Verglichenen und zur
Vergleichung Hergeholten betrifft, ſo gibt es, genau genommen, nur Einen
weſentlichen Unterſchied: es wird Engeres mit Weiterem verglichen, vom Ein-
zelnen zum Allgemeinen, vom Sinnlichen zum beſeelteren Sinnlichen und zum
Geiſt aufgeſtiegen oder umgekehrt vom Allgemeinen, Geiſtigen zum ſinnlich
Geſchloßneren übergegangen. Wenn Sinnliches mit Sinnlichem verglichen
wird, ſo wird man immer finden, daß entweder der verglichene Gegenſtand
unorganiſch, unbewegt, oder unbeſeelt organiſch, das Bild bewegt, organiſch,
beſeelt iſt (wie wenn z. B. treibende Wolken mit gejagten Roſſen verglichen
werden), oder umgekehrt (wie wenn ich ein feurig bewegtes Roß mit Wellen,
ſeine Mähne mit deren ſchäumendem Kamm vergleiche); und ähnlich wird,
wenn Geiſtiges in Geiſtigem ſein Gegenbild findet, der Weg der Vergleichung
vom Individuelleren, von dem, was im Geiſtigen relativ ſinnlich iſt, in
das geiſtig Allgemeinere, das reiner Geiſtige gehen oder umgekehrt, es wird
namentlich auf der einen Seite Geiſtiges mit ſeiner ſinnlichen Aeußerung
zuſammengenommen, auf der andern dieſe abgezogen bleiben (wie wenn
eine reine Empfindung mit einem Gebete, eine raſche Handlung mit der
Schnelle eines Gedankens verglichen wird). Der natürliche und gewöhn-
lichere Weg iſt nun, wie ſich aus dem Geſetze der Individualiſirung von
ſelbſt ergibt, der vom Allgemeinen zum Beſondern, vom Geiſte zum Körper,
vom Menſchlichen zu der ungeiſtigen Natur. Allein man hüte ſich, dieſe
Begriffe ungenau zu nehmen; ſie werden nach Umſtänden ſchwierig, was
zunächſt abſteigende Vergleichung ſcheint, iſt, genauer betrachtet, aufſteigende,
die aufſteigende aber hat im Bilde etwas relativ Abſteigendes. Das Natür-
liche, das Körperliche, kann von unbeſtimmter Weite, ungeſchloſſener Ge-
ſtaltung ſein, dann ſucht der Dichter das anſchaulich Beſtimmte, individuell
Geſchloſſene gern im perſönlichen Leben, weil dieß individuelle Geſtalt hat;
geht er aber nicht von einem Sinnlichen unbeſtimmter Art zu perſönlich
Lebendigem als Ganzem, ſondern von einem Beſondern, ſelbſt Perſönlichen
nur zu einer allgemeinen geiſtigen Beſtimmtheit, einem Zuſtand, einer
Thätigkeitsform über, ſo iſt der Prozeß verwickelter. Hier wird man näm-
lich immer finden, daß vorher das Allgemeine dunkel perſonificirt wird und
erſt auf dieſen Vorgang die aufſteigende Vergleichung ſich gründet. Wenn
Leontes von Hermione ſagt: ſie war mild wie Kindheit und wie Gnade,
ſo ſchweben dieſe dem Dichter dunkel wie Perſonen, wie Götter mit ent-
ſprechenden Zügen vor und mit dieſen abſoluten Weſen, worin jene Eigen-
ſchaften in unbedingter Reinheit angeſchaut ſind, wird dann Hermione
verglichen. Wenn Lenau die düſtre Wolke einen am Himmelsantlitz wan-
[1229] delnden bangen, ſchweren Gedanken nennt, ſo iſt der Gedanke eben in ſeiner
ſinnlichen Erſcheinung genommen, wie er über das Angeſicht hinzieht, und
dahinter liegt überdieß noch die Perſonification, daß der Gedanke wandelt.
Man wird überhaupt finden, daß man alle wirklich aufſteigenden Ver-
gleichungen erſt umkehrt und dann erſt wieder in die gegebene Stellung
bringt. Man könnte z. B. ſagen: dieſes Fackellicht gleicht Shakespeare’s
Styl; dann wird der Zuhörer ſich beſinnen, warum man das poetiſche
Colorit dieſes Dichters mit dem flackernden, in’s Dunkel unruhig glühenden
Feuer der Fackeln vergleichen kann, und hierauf wird er mit der Vergleichung
im umgekehrten Weg einverſtanden ſein. Der Geiſt läßt ſich mit dem licht-
voll Durchſichtigen vergleichen; ich kann nun umgekehrt von einem ſtrahlenden,
durchleuchteten Waſſerſpiegel ſagen: das iſt, wie Geiſt. Man ſteigt von
der Materie auf, um den Geiſt in ſie hereinzuſehen. Es iſt eine Art von
Genugthuung, die das Sinnliche dafür erhält, daß es ſonſt immer nur
als Gegenbild dient; der tiefere Grund und Trieb iſt immer der, daß die
Phantaſie von allen Puncten ausgeht, um Geiſt und Materie wechſelnd zu
durchdringen, den Gegenſatz von allen Seiten anfaßt, dieſe zu beſeelen und
jenen zu verkörpern. Doch iſt das aufſteigende Vergleichen zu ſparen und
behutſam zu verwenden; es wird leicht geſchraubt, gemacht, ſublimirt. Lenau
z. B. hat das Maaß weit überſchritten, er erſcheint auch darin unnatürlich
überhitzt und vernichtet oft eine ſchöne Anſchauung durch das geiſtige Gegen-
bild. So wird im Gedichte: die nächtliche Fahrt, das düſter ſchöne Bild
der durch das nächtliche Schneegefilde im Schlitten geführten Leiche durch
die Vergleichung mit dem Schickſale Polens plötzlich zur Allegorie, zur
bloßen Hülſe herabgeſetzt. Die aufſteigende Vergleichung wird leicht wider
Willen komiſch, wenn der Sprung zu ſtark, namentlich wenn er morali-
ſirend iſt. Kant bewunderte noch den Vers: „die Sonne quoll hervor, wie
Ruh’ aus Tugend quillt“, worüber wir jetzt lächeln. Die ganze Gattung
eignet ſich aber vortrefflich für die abſichtliche Komik (er ſah aus wie eine
Predigt, ſie iſt ein Lehrgedicht und dergl.).
Es iſt klar, daß die Metapher und trotz dem auseinanderhaltenden
„Wie“ ſelbſt die Vergleichung in ihrer höchſten Innigkeit und Energie das
Bild, wenn es ein beſeeltes iſt, nicht neben dem Verglichenen ſtehen laſſen,
ſondern in dieſes herüberziehen, als wäre es ſeine Seele. Wir ſind zu der
Perſonification von der Synekdoche übergegangen und haben bei den Be-
merkungen über allgemeine Beſeelung ſchon Solches beigebracht, was zunächſt
metaphoriſch, tiefer genommen Beſeelung, beſeelende Perſonbildung iſt. Die
Synekdoche ſetzt das Allgemeine der eigenen Sphäre des Gegenſtands für
dieſen; Gleichniß und Metapher bringen ihr Bild aus fremder Sphäre und
doch vollbringen auch ſie einen freien augenblicklichen Schein, als wäre das
Eine im Andern gegenwärtig. Wenn Exeter in Heinrich V ſagt: meine
[1230] Mutter kam mir in’s Auge und übergab mich den Thränen, ſo wird ſich
eine lebendige Phantaſie dieß nicht in die trockene Aeußerlichkeit der Ver-
gleichung auflöſen: eine weibliche Rührung kam über mich, als würde der
Theil meiner Natur, den ich von meiner Mutter geerbt, über den männ-
lichen Herr, ſondern ein Bild wird vor uns auftauchen, als ſchwebte der
Geiſt der Mutter herein in den Sohn wie ein Thauwind und ſchmölze
ſeine männliche Härte. Vergleichungen der äußern Natur mit Geiſtigem
werden froſtig, allegoriſch, wenn das Bild zu beſtimmt heraus und neben
die Sache hingeſtellt iſt. Es mögen wohl z. B. in gewiſſer Stimmung
die letzten Wellenſchläge nach einem Sturm im Gefühl anklingen wie das
Nachzucken einer Leidenſchaft, die ſich eben erſt gelegt hat, aber wenn Lenau,
nachdem die Naturerſcheinung geſchildert iſt, mit „alſo zuckt nach ſtarkem
Weinen“ u. ſ. w. fortfährt, ſo tritt das moraliſche Phänomen äußerlich
neben das natürliche und vernichtet eigentlich dieſes, ſtatt innig hinein-
gefühlt zu ſein.
In aller Vergleichung ſoll natürlich der Vergleichungspunct treffend,
ſchlagend ſein. Othello’s Bild für das ſchauerliche Nachwirken von Jago’s
Einflüſterungen über Desdemona’s Tuch: „o, es ſchwebt um mich ſo wie
der Rab’ um ein verpeſtet Haus“ iſt ein ſchönes Beiſpiel tiefer Zweck-
mäßigkeit im Gleichniß. Ruhige Kraft des Ueberzeugens ziemt vorzüglich
der epiſchen Poeſie; Göthe’s Geiſt erweist ſich in der einfachen Nothwen-
digkeit und plaſtiſchen Sicherheit ſeiner Bilder als vorzüglich epiſch, ſelbſt
im Drama. Wir greifen aus der unendlichen Fülle nur als nächſtes, beſtes
Beiſpiel das tief ſchlagende Bild des Oreſtes in der Iphigenie von den
Furien heraus, die ihn nur ſo lange verſchonen, als er im Heiligthum
Dianen’s weilt: „Wölfe harren ſo um den Baum, auf den ein Reiſender
ſich rettete“. Auch in der Proſa iſt er außerordentlich reich an ſolchen ruhig
treffenden Bildern (z. B. an Frau v. Stein auf der Harzreiſe: „die Menſchen
ſtreichen ſich bei meinem Incognito recht auf mir auf wie auf einem Probir-
ſteine“; — „behalten Sie mich lieb auch durch die Eiskruſte, vielleicht wird’s
mit mir wie mit gefrornem Wein“; — aus der Schweiz: „Himmelsluft,
weich, warm, feuchtlich, man wird auch wie die Trauben reif und ſüß in
der Seele“). Es muß aber auch ächt poetiſche Bilder, und zwar im ernſten
Gebiete, geben, die nicht unmittelbar einleuchten und doch tief treffend ſind.
Dieß führt auf den Unterſchied der Style und muß bei der Betrachtung
deſſelben zur Sprache kommen.
Die Vorſchrift, im Bilde zu bleiben, kann den ächten Dichter
nicht unbedingt binden. Wirkliche Verſtöße, die man als ſog. Katachreſen
zu den Sünden gegen den Geſchmack zählen muß, finden nur da Statt, wo
durch einen eigentlichen lapsus der Aufmerkſamkeit aus einer Vergleichungs-
Region in eine andere übergeſchritten wird, die keine naturgemäße Ver-
[1231] bindung mit der erſten zuläßt, oder wenn mit fühlbarer Abſichtlichkeit ein
Bild ausgeſponnen und doch nur ſcheinbar feſtgehalten wird, wobei ge-
wöhnlich Verwechslungen der verglichenen Seite des Subjects mit andern
Seiten deſſelben ſich einſchleichen (vergl. J. Paul Vorſch. d. Aeſth. §. 51
das Beiſpiel aus Leſſing), oder endlich, wenn eine üppige Phantaſie keine
Grenze mehr achtet und mit Kühnheiten, die bei richtigerem Maaß erlaubt
wären, gar zu freigebig iſt, wie die romantiſche mit ihren ewigen klingen-
den Farben, duftenden Tönen, ſingenden Blumen u. ſ. w. An und für
ſich iſt es nichts weniger, als unnatürlich, wenn die Verwandtſchaft, worin
die bereits als Bild dienende Erſcheinung mit andern ſteht, die Phantaſie
anzieht, von jener zu dieſen weiter zu gehen, um den verglichenen Punct
immer voller, kräftiger zu beleuchten und allerdings auch, um neue Puncte
oder Seiten des Gegenſtands, ſofern es nur mit heller poetiſcher Einſicht
geſchieht, in die Vergleichung einzuführen. So iſt z. B. ein Feuerregen ein
gewöhnlicher Ausdruck; wenn nun ein Affect wegen ſeiner verzehrenden Gewalt
mit Feuer verglichen wird, ſo bezeichnet der Regen die Fülle, die gehäuften
Schläge ſeiner Aeußerung und ein Feuerregen zorniger Worte iſt ein durch-
aus natürliches Bild. Der Dichter kann auch im Bilde bleiben, eine andere
Seite deſſelben hervorheben und auf eine andere Seite des Verglichenen
anwenden wie in den ſchönen Worten des Oreſtes: die Erinnyen blaſen
mir ſchadenfroh die Aſche von der Seele und leiden nicht, daß ſich die letzten
Kohlen von unſers Hauſes Schreckensbrande ſtill in mir verglimmen. Mit
dem Worte „letzten“ wird hier das Leiden in Oreſtes Seele in den Begriff
des allgemeinen Unglücks ſeines Hauſes, das mit ihm endigen ſollte, um-
gewendet. Die Grenzlinie, hinter welcher für die Uebergänge aus einem
Bild in das andere, aber freilich auch für das einfache Fortführen eines
Bildes das Abgeſchmackte beginnt, iſt freilich zart und läßt ſich darüber im
Allgemeinen nichts beſtimmen, als daß der Act des Vergleichens in ſeinem
Weſen immer ein einfacher Wurf der Phantaſie bleiben muß, nie in ein
Feſtrennen und Zerren übergehen darf, denn dieß fordert den Verſtand heraus,
der den Schein höhniſch aufhebt. Shakespeare hat bekanntlich in ſeiner
jugendlichen Periode jenem abgeſchmackten Mode-Tone ſeiner Zeit, den man
Euphuismus nannte, nicht geringen Zoll gezahlt; doch iſt nicht zu über-
ſehen, daß manche beſonders ſeltſame Bilder, die in dieß Gebiet gehören,
mit dem offenbaren Bewußtſein überkühner Hyperbeln gebraucht ſind, die
einen beſonders tiefen und ſtarken Affect bezeichnen ſollen. So haben die-
ſelben in ihrer Abſurdität doch einen eigenthümlich ſtarken Hauch von
Stimmung, wie wenn Richard II ſagt: macht zu Papier den Staub und
auf den Buſen der Erde ſchreib’ ein regnicht Auge Jammer. Wie dieſer
unglückliche Fürſt ſo in ſeinem Schmerze wühlt, brütet er (— der Bilder-
wechſel in dieſen Worten ſei auch erlaubt —) ein andermal die Hyperbel
[1232] aus: ſelbſt die fühlloſen Brände des Kamins, bei dem die Königin ſeinen
beklagenswerthen Fall erzähle, werden mitleidsvoll das Feuer ausweinen und
theils in Aſche, theils kohlſchwarz um die Entſetzung eines ächten Königs
trauern. Shakespeare fühlte hier gewiß das Kindiſche und wollte es, ohne
daß er darum ganz entſchuldigt wäre. Noch weniger iſt die Uebertragung
eines an ſich ſchon hyperboliſchen Bilds in ein weiteres, das dann ganz
abſurd wieder einen eigentlichen Zug vom Verglichenen aufnimmt, durch
die Situation entſchuldigt in der Stelle von Romeo und Julie, wo dieſer
ſchwört, wenn er Roſalinden verlaſſe, ſo ſollen ſeine Thränen Feuer werden
und nachdem ſie ſo oft (in ihrer eigenen Fluth) ertränkt waren und doch
nicht ſterben konnten, nun für ihre Lüge als durchſichtige (!) Ketzer ver-
brannt werden. Wir werden jedoch am Folgenden zeigen, daß manche
Bilder Shakespeare’s, welche die Phantaſieloſigkeit noch heute für geſchmack-
los erklärt, nicht nur keiner Entſchuldigung bedürfen, ſondern vielmehr die
höchſte Bewunderung verdienen.
§. 853.
Die, der muſikaliſchen Wirkung verwandteren, Formen der ſubjectiven
Belebung (vergl. §. 851) ſind die ſogenannten Redeſiguren: Bewegungs-
linien der Stimmung, wie ſich ſolche in der Sprache niederſchlagen. Ein
Theil derſelben liegt näher an der Grenze der objectiven Veranſchaulichung
theils durch bildlichen Charakter, theils durch Aufnahme der Redeformen der
Handlung; ein anderer enthält die Unterſchiede der Fülle und Enge, des
Anſchwellens und Abſchwellens im Fluſſe der Empfindung, ein anderer die
2.Intenſitäts-Unterſchiede des einzelnen Moments. Dem eigentlich Muſikaliſchen
nähert ſich die dichteriſche Sprache durch Klangnachahmung.
1. Man begreift unter dem Figürlichen öfters auch das Tropiſche, in
genauerer Unterſcheidung bezieht ſich aber der Begriff des anſchaulichen
Bildes, der hier in figura liegt, nicht auf ein feſtes Object, das dem innern
Auge gegenübertritt, ſondern auf die Linien der Sprachbewegung als Aus-
druck der Stimmung: die Wiſſenſchaft verſucht mit dieſer Beſtimmung ein
Aehnliches, wie die Zeichnung, wenn ſie die Bewegungen eines Tanzes
durch die Figur auf der horizontalen Fläche darſtellt, nur daß die Abſtraction
vom Dichter, der Verſuch, die Formen ſeiner Rede ohne den wirklichen Inhalt
des einzelnen Zuſammenhanges zu fixiren und aufzuzählen, ein ungleich
härterer, mühſamerer und durch das Unbeſtimmbare der freien Bewegung
mangelhafterer Act iſt, als dort die Abſtraction vom Tänzer. Der §. ſucht
einige Ordnung in die bisher durchaus verworren aufgehäufte Maſſe zu
bringen durch die aufgeſtellte Eintheilung. Demnach unterſcheidet ſich zuerſt
[1233] eine Gruppe von Figuren, welche dem Gebiete der objectiven Veranſchau-
lichung näher liegt, und in dieſem wieder zwei Arten: die eine iſt wirklich
maleriſch und würde daher entſchieden zu jenem Gebiete gehören, wenn
nicht der Accent hier mehr auf die Stimmung, als auf die bildliche Natur
des Mittels fiele. Unter dieſem Standpuncte kann die Hyperbel (vergl.
§. 851, Anm. 1.) hieher gezählt werden; lächerlich iſt es, die Beſchreibung
(Diatypoſe und Hypotypoſe) unter den Figuren aufzuzählen, außer etwa,
ſofern man im Auge hat, daß ſie durch erwärmte Stimmung eintritt, wo
ſie nicht erwartet wurde; die Umſchreibung iſt, wenn ſie den eigentlichen
Ausdruck wählt, nichts, als eine Auflöſung des Subjects, das von der
Sprache in die Einfachheit des Begriffs zuſammengezogen iſt, in ſeine
Eigenſchaften, wenn den uneigentlichen, gehört ſie unter die Metaphern, und
nur entfernt, ſofern man auch hier die beſondere Wärme der Stimmung
als Grund der Vermeidung des logiſchen und eigentlichen Ausdrucks betont,
unter die Figuren. Die ſog. Diſtribution, eine maleriſch entwickelnde Aus-
einanderlegung ſtatt des directen Ausdrucks, verdient nur zweifelhaft unter
derſelben Bedingung dieſe Stelle, entſchiedener die Häufung, Cumulation,
denn es iſt Affect, was hier in wiederholten Schlägen wirkt, deren Qualität
an ſich zwar maleriſch ſein mag. Eine andere Reihe von Figuren ſtellt
ſich durch ihren dramatiſchen Charakter in die Nähe des Bildlichen, ſie iſt
objectiv durch Fiction von Perſonen und Hervorbrechen der eigenen: Anrede,
Frage und Antwort, Einführung Redender, Ausruf. Dieſe Formen, die
ſich im wirklichen Drama, zum Theil auch in der lyriſchen Poeſie, von
ſelbſt verſtehen, ſind in der epiſchen Darſtellung ein Ausdruck der erhöhten
Stimmung, die einen Inhalt in Geſpräch und Handlung umſetzt; ſie wären
bei der Perſonification aufzuführen, wenn es ſich nicht hier um die ſubjec-
tive Bewegtheit als Urſache des Verfahrens handelte. In Leſſing’s Styl
wird Alles lebendiger Dialog; Göthe erkannte ſelbſt ein Kennzeichen ſeines
Dichterberufes darin, daß jeder Gegenſtand des Nachdenkens ſich in ſeinem
Innern zu einem bewegten Geſpräche zwiſchen Perſonen verwandle, welche
die verſchiedenen Standpuncte, Gründe u. ſ. w. vertreten. — Zu der zweiten
Ordnung von Figuren, die der §. aufführt, gehört der Klimax und Anti-
klimax, der Pleonasmus, die Wiederholung mit ihren verſchiedenen Arten
(Anaphora u. ſ. w.), die Abbrechung und Auslaſſung (Apoſiopeſe und
Ellipſe), das Aſyndeton und Polyſyndeton. Man ſieht leicht, daß ein Theil
dieſer Formen, welche ſämmtlich Steigen und Fallen, Fülle und Enge,
Vorſturz, Fluß und Stocken des Redeſtroms charakteriſiren, directer die
innere Qualität der Stimmung, ein anderer ihren Niederſchlag in der
Sprachform anzeigt. Man hat daher Wortfiguren und Sinnfiguren oder
Sachfiguren unterſchieden, allein der Unterſchied iſt flüſſig und nicht zu ver-
wundern, daß in der Anwendung deſſelben keine Uebereinſtimmung herrſcht.
[1234] Aſyndeton und Polyſyndeton z. B. drücken deutlich verſchiedenen Stimmungs-
rhythmus aus und umgekehrt kann von Klimax und Antiklimax in der Lehre
von der Poeſie nur inſofern ausdrücklich die Rede ſein, als ſich Steigerung
und Senkung in der Sprachform niederlegt. Reine Wort- oder Form-
figuren ſind nur beſtimmte grammatikaliſche Unregelmäßigkeiten, wie Syn-
kope, Apokope, Zeugma u. ſ. w., über die weiter nichts zu ſagen iſt, als
daß ſie in der Poeſie häufiger vorkommen werden, als in der Proſa, weil die-
ſelbe auch an dem rein techniſchen Sprachgeſetz ihre Freiheit geltend zu machen
liebt. — Zu dieſer zweiten Ordnung mag, wenn man ſie außer ihrem Zu-
ſammenhang im komiſchen Prozeſſe betrachtet (vergl. §. 201 ff.), auch die
Ironie (mit der Litotes) als Figur gezählt werden, denn man kann ſie als
eine Rückhaltung des Sprachfluſſes auffaſſen, der ſich wie hinter einer
Schleuſe ſpannt, um errathen zu laſſen, daß das Verborgene das Gegen-
theil des Sichtbaren iſt. — Bei der dritten Ordnung handelt es ſich von
den punctuellen Accenten, welche ſich auf den einzelnen Moment der Rede
werfen; hieher gehört die Betonung durch Contraſt, wie ſie in der Sprach-
form als Inverſion, Anaklaſe, Epanodos, Antitheſe erſcheint. Die letztere
bedeutet hier einen Widerſpruch zwiſchen Subject und Epitheton (z. B. der
arme Reiche), eine ſehr wirkſame, aber auch leicht zu mißbrauchende Form,
wie ſie denn in der Mariniſchen Jagd nach concetti einſt beſonders beliebt war.
2. Die Onomatopoeſie verhält ſich zu dem allgemeinen, ſtetigen Ein-
klang zwiſchen Tonfall und Inhalt, der in aller ächten Dichtung mit innerer
Nothwendigkeit herrſcht, wie ein vereinzeltes, beſonderes Spiel, den nach-
ahmenden Tonſpielereien der Muſik ähnlich und wie dieſe nur ſparſam
anzuwenden. Der ſauſende Diſkus des Odyſſeus und der rückwärts zu Thal
polternde Stein des Siſyphus ſind berühmte Beiſpiele aus Homer; nicht
leicht ein ſchöneres, ungeſuchteres bietet die moderne Literatur, als die
herrliche Stelle in Göthe’s Fauſt, wo die Folge der Conſonanten und
Vocale genau zu beobachten iſt:
§. 854.
Der große Gegenſatz der Style macht im ſprachlichen Ausdruck ſeine ganze
Stärke geltend. Der naturaliſtiſche und individualiſirende Styl zeichnet durchaus
enger in’s Einzelne, greift daher kühner in das Niedrige und Platte, zugleich
aber bricht das tiefere Geiſtesleben, das ihn hiezu berechtigt, unruhiger, auf-
geregter, traumartiger in Bildern und Figuren hervor.
[1235]
Hier namentlich iſt das Beiſpiel der Malerei belehrend, der Gegenſatz
iſt genau derſelbe, wie zwiſchen den großen italieniſchen Meiſtern, Raphael
an der Spitze, und Rubens, Rembrandt nebſt den holländiſchen Kleinmalern
im Sittenbilde. Wir greifen ſogleich in’s Concrete und führen namentlich
einige Beiſpiele auf, welche zeigen, wie anders der claſſiſche gehobene
Schiller fühlt, als Shakespeare, der maleriſche Individualiſt in der Poeſie.
Bei dieſem zählt Makbeth dem Mörder, dem er erwiedert, er ſei nur dem
Geſchlechte nach Mann, wie die furchtſamen kleinern Hunde im Verzeichniß
des Hundegeſchlechts freilich auch mitlaufen, neun Raçen auf, Schiller in
ſeiner Ueberſetzung hält bei der zweiten inne: der claſſiſche Styl, der auf
dem Kothurne geht, fürchtet durch engeres Spezialiſiren platt zu werden,
der charakteriſtiſche ſcheut es nicht, er geht durchaus in’s Detail und ſorgt
für die Haltung der poetiſchen Würde durch Ton und Stimmung im Ganzen.
Sicher hätte Schiller den verbannten Romeo nicht die Fliege und die Maus
um Juliens Nähe beneiden laſſen und doch gehört dieß nicht unter Shakes-
peare’s Geſchmacksverletzungen, ſondern iſt nur genau wahr gefühlt; und
wenn Shylock ſein böſes Wollen mit der Thatſache gewiſſer Idioſynkraſieen
belegt, die er ſo ſpeziell aufführt („es gibt der Leute, die kein grunzend
Ferkel ausſtehen können“ u. ſ. w. Act 4, Sc. 1), ſo geſchieht dieß zwar in
einer Komödie, doch im ängſtlich ſpannenden Theile derſelben, und kein
Dichter der claſſicirenden Richtung hätte einen finſtern Charakter, der doch
etwas Tragiſches hat, in ſeiner Rede ſo detaillirt. Solche Züge ſind aber
nur vereinzelte Merkmale der Zeichnung des Charakters, der Leidenſchaft,
der Handlung und aller Dinge, wie ſie im charakteriſtiſchen Styl vorne-
herein darauf angelegt wird, die Eigenheit der Züge bis in’s Kleine mit-
aufzunehmen, mag dieß auch im ernſten Zuſammenhang ſo oder ſo in das
Komiſche auslaufen. Daſſelbe ſpricht ſich denn auch im Bildlichen aus.
Wenn Hamlet in einer hochtragiſchen Scene, in der äußerſten Spannung
des Gemüths und aller Nerven dem Geiſte ſeines Vaters zuruft: brav
gearbeitet, wackerer Maulwurf! ſo iſt dieſer Abſprung in das Platte allen
denen, welche im Sinne des directen Idealiſmus auffaſſen, rein ungenießbar;
ſie verſtehen nicht, wie recht wohl Shakespeare weiß, daß das platt iſt, und
wie er es gerade darum ſeinem tragiſchen Humoriſten in den Mund legt;
man kann recht wohl die verborgen arbeitende Macht, die endlich eine
Unthat an das Licht bringt, mit dem ſtillen Wühlen eines Maulwurfs
vergleichen, ja Hegel wendet die Stelle treffend auf den Geiſt in der Welt-
geſchichte an, wie er lange in unſichtbarer Tiefe thätig iſt, aber in den
großen Momenten der Kriſe ſich an das Licht herausarbeitet; freilich liegt
trotz der Wahrheit des Vergleichungspunctes wegen der übrigen Kleinheit
des Bildes eine komiſche Incongruenz darin, dieſe aber iſt gerade beab-
ſichtigt, um durch die Ironie des weiten Abſtands die Hoheit des Ver-
[1236] glichenen um ſo mehr zu betonen. Dazu kommt die Stimmung im gegebenen
Momente: Hamlet iſt freudig gehoben durch die Entdeckung eines längſt
geahnten Verbrechens und er liebt es, eine große Genugthuung im Tone
gemeiner Luſtigkeit auszudrücken, nicht um jene, ſondern um dieſe zu ironi-
ſiren; man vergleiche ſein Benehmen nach der Wirkung des aufgeführten
Schauſpiels auf den König. Solche Sprünge ſind denn im claſſiſchen und
claſſiſch auffaſſenden modernen Style gar nicht denkbar. Zwar darf man
den Unterſchied zwiſchen dieſen beiden letzteren auch nicht überſehen: Homer
und die griechiſchen Tragiker hatten noch nicht das Lachen des modernen
Stumpfſinns zu fürchten, der, wie zu §. 850 erwähnt iſt, bei übriger Un-
gleichheit ſo ſchwer den Vergleichungspunct feſtzuhalten vermag, ſie wimmeln
von Bildern, welche die niedrige Sphäre nicht ſcheuen, wenn ſie nur ſchlagende
Wahrheit darbietet; Homer vergleicht ſeine Helden nicht nur mit Eſeln,
Stieren, Widdern, — dieſe Thiere waren überhaupt noch nicht für die Komik
abgenützt, — er verſchmäht es auch nicht, den Eigenſinn der Fliege, den
am Lande zappelnden Fiſch herbeizuziehen, um dem hartnäckigen Muthe, der
ſtets auf dieſelbe Stelle im Getümmel ſich wirft, dem ſchnappenden Röcheln
des tödtlich Verwundeten ein haarſcharfes Licht der Vergleichung zuzuführen.
Solche Bilder kommen uns naiv vor, ſind aber nur rein poetiſch und beiden
entgegengeſetzten Stylen gemeinſam; es iſt daher nicht durch die übrigens
allerdings zarteren Grenzen des claſſiſch gebildeten Gefühls gerechtfertigt,
ſondern nur ſehr bezeichnend für ſeine rhetoriſche Art, wenn Schiller ſich
ſcheut, in dem treffenden Bilde von dem Geier und den Küchlein zu bleiben,
wo Makduff ausruft: „All’ die lieben Kleinen? Ihr ſagtet: alle? —
Höllengeier! — Alle? — Wie, meine ſüßen Küchlein mit der Mutter auf
einen gier’gen Stoß?“ und überſetzt: „Alle! Was? Meine zarten kleinen
Engel alle? O hölliſcher Geier! Alle! Mutter, Kinder mit einem einz’gen
Tigergriff!“ Wahrhaft platt ſind dieſe vermeintlich erhabeneren „Engel“
und der „Tiger“, zugleich hat die Scheue vor dem einfach Wahren hier zu
einer wirklich ganz unſtatthaften Katachreſe geführt (vgl. über dieſes belehrende
Beiſpiel: Timm, das Nibelungenlied u. ſ. w. S. 25). Wenn aber im Uebrigen
der charakteriſtiſche Styl auch in dieſem Gebiete ſich ſcharf genug von dem
plaſtiſch idealen unterſcheidet, wenn er gerade darum ungleich mehr wagt,
weil die Tiefen des Geiſtes, die er aufdeckt, die freie Entlaſſung der Par-
ticularität nicht nur ertragen, ſondern ſogar fordern, damit die Macht des
Bandes ſich zeige, welches die Extreme zuſammenhält, ſo bricht jene ver-
tiefte Haltung und Stimmung auf der andern Seite in Bildern aus, welche
überpathetiſch, viſionär, verzückt erſcheinen, welche, auf den erſten Btick ſeltſam
und wildfremd, demjenigen, der ſich in den Zuſtand zu verſetzen vermag,
bei näherem und längerem Anſchauen klar werden, wie Rembrandt’s traum-
haft in’s Dunkel leuchtendes Helldunkel oder das wilde Licht des Blitzes
[1237] auf dem Sanherib von Rubens. Der Dramatiker wird ſolche traumhafte
Bilder den Momenten der tiefſten Erregung vorbehalten. Ein ſolches Bild
gebraucht der entzückte Romeo in der Gartenſcene: „herrlich über meinem
Haupt erſcheinſt du mir in dieſer Nacht wie ein beſchwingter Bote des
Himmels den erſtaunten Menſchenſöhnen, die rücklings mit weit aufgeriſſ’nen
Augen ſich niederwerfen, um ihm nachzuſchaun.“ Man hat ſelbſt neuer-
dings, nachdem wir längſt die ſtumpf phantaſieloſe Kritik des guten Ge-
ſchmacks hinter uns haben, Makbeth’s ungeheures Geſicht von den Folgen
der Ermordung des Königs für abgeſchmackt erklärt: „Duncan’s Tugenden
werden wie Engel poſaunenzüngig Rache ſchrei’n dem tiefen Höllengreuel
dieſes Mords und Mitleid wie ein nacktes, neugebornes Kind, auf Sturm-
wind reitend, oder Himmels-Cherubim zu Roß auf unſichtbaren, luft’gen
Rennern werden die Schreckensthat in jedes Auge blaſen, bis Thränenfluth
den Wind ertränkt.“ Der Vergleichungspunct iſt die furchtbare Schnelligkeit
und Gewalt, mit welcher die Folgen des Mords, die Kunde, die tiefe
Empörung der Gemüther, Abſcheu, Rachtrieb, Mitleid eintreten. Daß auf
den Sturmwolken Duncan’s Tugenden als Engel hinſauſen, iſt eine nur
natürliche Perſonification und Zungen, deren Ruf ſo ſtark iſt wie Poſaunen-
ton immer noch keine übertriebene Hyperbel, dann folgt eine ganz ungewöhn-
liche Vertauſchung von Subject und Object, indem der Gegenſtand
des innigſten Mitleids, ein nacktes, neugeborenes Kind, für das Gefühl
des Mitleids geſetzt iſt, aber wer Phantaſie hat, kann ſich doch wohl in die
Anſchauung verſetzen: es wird den Menſchen zu Muthe ſein, als ſehen
ſie ein hülfloſes Kind in den Wolken hinſchweben, dem ſie zueilen müſſen,
wie um es zu retten; die Cherubim, die nachfolgen, ſcheinen dieſes Kind
wie eine Geiſter-Erſcheinung ſich vorausgeſandt zu haben, wie einen Genius
des Mitleids, der die Geſtalt eines Objects des innigſten Mitleids an-
nimmt, um dieſes zu erwecken; ſie ſelbſt, auf unſichtbaren luft’gen Rennern,
ſind windſchnelle Diener der göttlichen Gerechtigkeit; mit dieſer Häufung
ſammelt ſich Alles an wie zu einem Bilde der wilden Jagd und das wollte
Shakespeare; daß der Gehörs-Eindruck ſich dann in ein Anwehen der Augen
verwandelt, indem der Weg, den die Kunde vom Ohr zum Gefühle, von
da in’s Auge nimmt, überſprungen wird, dieß iſt ein Uebergang, dem man
in ſo tiefer Aufwühlung der Einbildungskraft ſollte folgen können, und daß
„die Thränenfluth den Wind erſtickt“, iſt nur lebendiger Ausdruck dafür, daß,
wie Sturmwind ſich in Regen auflöst, die Gefühle bei der erſten Kunde
dieſes Mords ſich alle in einen grenzenloſen Schmerz auflöſen werden, der
dann ſeine Wirkung ſo ſicher haben wird, wie angeſchwollene Fluthen.
Alle Folgen von Makbeth’s Mord ſind in dieſer furchtbaren Viſion zu-
ſammengefaßt, das Drama entwickelt in klarer Handlung, was in ihr
ſeltſam helldunkel enthalten iſt; nicht in jeder Stimmung, nicht aus dem
[1238] Munde jeder ſeiner Perſonen dürfte der Dichter ſo wilde, raſch überſpringende,
phantasmagoriſche Bilder vorbringen, wohl aber dem Helden, dem er ein
ſo nervöſes Weſen, eine ſo gefährliche Romantik der Phantaſie geliehen hat,
durfte er ſie in der höchſten Spannung, da er mit Eins eine entſetzliche
Zukunft überblickt, auf die Lippen legen. — Etwas eigenthümlich Bewegtes
aber haben alle Bilder Shakespeare’s; ſie gemahnen uns, wie wenn man
mit unruhigem, blutrothem Fackellicht in eine Stalaktiten-Höhle leuchtete,
wogegen die Vergleichungen der Griechen und Göthe’s wie eine Sonne
ruhig aufgehen und Zug für Zug den Gegenſtand in ſcharfer Deutlichkeit
des Umriſſes aufzeigen. Dieß iſt epiſch; die griechiſchen Dramatiker haben
allerdings etwas von Shakespeare’s bewegter, geiſterhafter Gluth, doch
gekühlt im plaſtiſchen Formgefühle.
Der charakteriſtiſche Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem
der ſog. Figuren, im Allgemeinen der kühnere ſein. Subjectiver bewegt,
wie er iſt, erlaubt er ſich eine naturaliſtiſche Freiheit auch in Behandlung
der Sprachregeln und wirft ſich in trotziger Nachläſſigkeit gegen die claſſiſche
Correctheit auf. Auch hierin iſt der erſte große Dichter dieſes Styls, Shakes-
peare, ein Beiſpiel, beſonders belehrend aber der Muthwille der Schreibart
in der Sturm- und Drang-Periode, denn dieſer gieng von der geſteigerten,
überſchwenglichen Empfindungsfülle aus (vergl. §. 846, 2.), die ſich aber
aus ihrer inneren Herrlichkeit zugleich das Recht des derbſten und freieſten
Umſpringens mit der Sprache nahm; die Natur wurde in dem doppelten
Sinne des Gefühls der Unendlichkeit und gleichzeitig als die ſogen. liebe
Natur, als Cynismus entfeſſelt und beides ſchlug ſich insbeſondere in den
Formen nieder, die man Figuren nennt; da wimmelt es denn namentlich
in Göthe’s Jugendſtyl von Apoſiopeſen, Abbrechungen, unendlichen Aus-
rufungen u. ſ. w. bis hinaus auf die eigentlichen Formfiguren, die Weg-
laſſungen des Artikels, des perſönlichen Fürworts, des Hülfszeitworts, die
Stutzung der Endſylben, die Provinzialismen. Als aber Göthe ſich claſſiſch
geläutert hatte, nahm er nach und nach jenen vornehm gereinigten, bequem
ſäuberlichen Styl an, der von der Kraft des Naturalismus nur zu weit
abliegt und ein neuer Beleg iſt, daß die Stylrichtungen ſich nicht zu weit
von einander entfernen ſollen.
§. 855.
Der poetiſche Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt ſich als
Rhythmus in der Sprache nieder (vergl. §. 839, 3.). Derſelbe beſteht in regel-
mäßiger Wiederkehr einer beſtimmten Anzahl von Zeitmomenten, welche von
einem Accente beherrſcht werden, alſo ſich nach dem Merkmale der Stärke und
Schwäche unterſcheiden. Vermöge einer natürlichen inneren Verwandtſchaft der
[1239] Stärke und der Zeitdauer des Tons erſcheinen bei organiſcher Entwicklung
dieſe Unterſchiede zugleich als ein beſtimmter Wechſel von Kürzen und Längen.
Dieſes Syſtem iſt ein reines, ſelbſtändiges Kunſt-Erzeugniß, das ſich über die
Sprache als ihr Material überbreitet.
Wir verſuchen, zuerſt das Weſentliche der poetiſchen Rhythmik allgemein
aufzuſtellen, wiewohl dieſe Abſtraction ſchwer und die Hinweiſung auf den
durchgreifenden Unterſchied der concreten Style ſchon hier nicht zu vermeiden
iſt. Die rhythmiſche Form iſt in ihrem urſprünglichen Weſen ein reines
Taktleben: es folgen ſich in geordneter Wiederkehr beſtimmte Abſchnitte, die
ſich in Zeit-Einheiten, Momente, Moren von beſtimmter Anzahl theilen
und von einem unter ihnen, der die ſtärkere Intention, den Ictus, die Arſis
(was in der Muſik Theſis heißt), den Accent hat, beherrſcht, getragen werden.
Mit innerer Nothwendigkeit fällt dieſer ſtärkere Druck auf die erſte der von
ihm beherrſchten Moren, denn ein Fortgang in der Zeit, der ſich in
Momente theilt, gleicht immer einer Bewegung und dieſe bedarf eines
Anſatzes, Abſtoßes, von welchem folgende Bewegungen abhängen und welcher
regelmäßig wieder eintritt. Dieſes Syſtem erweitert ſich zur rhythmiſchen
Reihe, indem der einzelne Taktabſchnitt im Größern ſich ſo wiederholt, daß
ein verſtärkter Accent, wie vorher der einfache Einen Abſchnitt, ſo drei
Abſchnitte beherrſcht. Dieſe Reihen ſind nicht mit dem Verſe zu verwechſeln;
der Vers kann aus mehreren Reihen beſtehen, oder (durch den Reim) Eine
Reihe zerſchneiden. — Der Zeit nach ſind die Momente des Takt-Abſchnittes
urſprünglich gleich; der Unterſchied der Länge und Kürze iſt nicht, wie ſo
häufig geſchieht, mit dem des Accents zu verwechſeln. Es ſteht, wie ſich
zeigen wird, dem Style, der dieſe beiden Kräfte in Verbindung ſetzt, ein
anderer gegenüber, der in ſeiner urſprünglichen, rein nationalen, ſelbſtändigen
Ausbildung nur Takt-Verhältniſſe, keine Längen und Kürzen kennt und erſt
ſpäter auch dieſe Seite in gewiſſem Sinne ſich aneignet. Dazu wird der-
ſelbe allerdings durch die innere Natur der Sache ſelbſt getrieben, denn
zwiſchen Accent und Länge beſteht eine innere Wahlverwandtſchaft und der
Styl, welcher urſprünglich das im engeren Sinn Rhythmiſche mit dem
Zeitbegriff in Verbindung ſetzt, iſt der organiſchere, normalere. Intention
und Zeitaufwand ziehen nämlich einander darum mit Nothwendigkeit an,
weil naturgemäß auf dem ſtärkeren Theil auch länger verweilt wird. Die
Intention, die zugleich Länge iſt, wird nun aber zwei der vorher gleichen
Momente umfaſſen und ſo tritt eine Länge an die Stelle von zwei Kürzen.
Nur iſt dieß kein völliges Zuſammenfallen und es darf nicht ſchlechthin als
eine Unregelmäßigkeit, ſondern nur als ein ſeltener Rückgang auf die noch
nicht vollzogene Verbindung von Accent und Länge angeſehen werden, wenn
im Verſe ſich eine Länge mit Arſis in zwei Kürzen, deren erſte die Arſis
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 80
[1240]hat, aufgelöst darſtellt; der Rhythmus geſtattet die Wahl zwiſchen zwei
Kürzen und einer Länge auch in dem nicht betonten Theile des Fußes,
wie z. B. im daktyliſchen Rhythmus zwiſchen Daktylus und Spondäus:
ein Beweis, daß die Sprache mit ihren gegebenen Längen und Kürzen zu
dem reinen rhythmiſchen Geſetze als ein Anderes hinzukommt und ihm in
ſeiner Anwendung den Ausdruck der Mannigfaltigkeit gibt. Das rhythmiſche
Geſetz iſt nicht der Sprache entnommen, nicht aus Verwendung der in der
Sprache gegebenen Accente, Längen und Kürzen entſtanden; es konnte ſich
natürlich nur an ihr ausbilden, allein es wurde in jener urſprünglichen
Poeſie, welche dem Bewußtſein der Regel vorhergieng, nur aus ihr heraus-
gehört, was urſprünglich als ein Reines, Selbſtändiges in der Seele und
dem Nerve liegt, ein Ideales, das, wie es nun ſein Leben zur erkannten
Regel geſtaltet hat, ſich frei als künſtleriſches Prinzip über das Sprach-
material herbaut, es in ſeinen Rahmen faßt. Das Rhythmiſche in dieſer
ſeiner Reinheit kann daher zwar nur im Ton ausgedrückt werden, iſt aber
an ſich eine reine Bewegung und ebenſogut in ſichtbarer, als in hörbarer
Form, als Hebung, Senkung der Hand, beſchleunigte oder verweilende
Gebärde zu verſinnlichen.
§. 856.
Der Unterſchied von der Muſik beſteht alſo weſentlich darin, daß der
poetiſche Rhythmus aus dem Leben des Tones nur den Unterſchied der Stärke
(in Verbindung mit dem der Länge und Kürze), jene dagegen im Rahmen des
Taktes als ihr Haupt-Ausdrucksmittel den Unterſchied der Höhe entnimmt
und verwendet. Das rein quantitative Weſen der Rhythmik gewinnt dagegen
eine qualitative Füllung, indem es in der Sprache als ein Syſtem articulirter
und ausdrucksvoller Laute verwirklicht wird; hier treten zugleich Momente
hinzu, welche der Melodie, der Klangfarbe, ſelbſt der Harmonie analog ſind,
und dieß wird um ſo mehr gefordert und der Fall ſein, je weniger ſtreng und
organiſch das reine rhythmiſche Geſetz zur Herrſchaft gelangt.
Die poetiſche Rhythmik und die Muſik beziehen ſich verſchieden auf
ein Gemeinſchaftliches, das Ganze des Tons. Jene kann ſich nur in dem
durch Verbindung von Vocal und Conſonant zur Sprache articulirten Tone
verwirklichen; ſo bleibt ihr nur der Unterſchied der Stärke und Schwäche
nebſt dem der Länge und Kürze als ihr Element übrig. Die Kunſt der
reinen Empfindung aber, die Muſik, bewegt ſich im Tone weſentlich, ſofern
er nicht zur Sprache erhoben iſt, ſie hat es daher mit dem Unterſchiede der
Höhe und Tiefe als dem Elemente zu thun, worin die Qualität des Ge-
fühls ihren Ausdruck findet, ſie kann in dieſem Sinn Entwicklung des
Vocals genannt werden. Die Rhythmik dagegen hat mit dieſem Unter-
[1241] ſchiede nichts zu ſchaffen. Das Band zwiſchen ihr und der Sprache
kann ein engeres oder freieres ſein; die deutſche Rhythmik entnimmt den
Unterſchied der Stärke und Schwäche aus dieſer, die antike that es
nicht; allein der Satz, daß die Rhythmik nur in der Sprache realiſirt
werden kann, bedarf der Verſtärkung durch die erſtere Thatſache nicht, er
ſteht feſt auch bei dem antiken Verhältniß, wogegen in der Muſik, wenn
ſie ſich mit der Sprache verbindet, dieſe durchaus nicht die Bedeutung eines
Vehikels hat, deſſen die beſtimmende Kunſtgattung bedarf, um zu exiſtiren.
Die Füllung, die der Rhythmus durch ſeine Realiſirung in der Sprache
erhält, bringt nun aber dennoch Elemente hinzu, welche näher oder ent-
fernter dem Muſikaliſchen entſprechen. Den Sprachlauten iſt nicht alle
Reminiſcenz, daß ſie urſprünglich das Gefühl des Gegenſtands, des Tiefen,
Dunkeln, Dumpfen, Hohen, Hellen, Offenen, Herben, Sanften, Ge-
ſchloſſenen, Freudigen, Schmerzlichen u. ſ. w. ausdrückten, verloren gegangen,
man mag dieß zunächſt mit der Klangfarbe vergleichen; die Vocale ſprechen
ſich zudem an ſich in beſtimmten Unterſchieden der Höhe und Tiefe aus und
eine neue Welt von Muſik-ähnlichen Modificationen bringt (vom eigentlich
muſikaliſchen Vortrag hier natürlich abgeſehen) die Declamation hinzu:
Belebungen, die theils der Scala, theils jenem Unterſchiede der Stärkung
oder Schwächung des einzelnen Tones angehören, der vom Takt-Accente
wohl zu unterſcheiden iſt, theils der Beſchleunigung oder Hemmung im
Tempo entſprechen; die Wiederkehr des Verſes endlich und beſonders die
des ſymmetriſchen Wechſels in der Strophe wird zwar nur ſucceſſiv ver-
nommen, aber das innere Gehör faßt das Nacheinander doch wie in ein
gleichzeitiges Tönen zuſammen und dadurch nähert ſich der Eindruck entfernt
dem Gefühle der muſikaliſchen Harmonie. Dieſe Anklänge an die Muſik
verſtärken ſich, wo die Rhythmik ſich mit dem Reime verbindet; doch hängt
damit Verluſt auf der andern Seite zuſammen, wie ſich zeigen wird.
§. 857.
Die Poeſie iſt gemäß dieſem Verhältniſſe nicht reine Kunſt der Stimmung
wie die Muſik, ſondern des zur bewußten Vorſtellung entwickelten Inhalts der
Stimmung, worin aber das Stimmungs-Element über dieſe Scheidung fort-
dauert und ſeinen Ausdruck in der rhythmiſchen Form findet. Dieſe Seite iſt
aber ebendaher darauf eingeſchränkt, daß nicht das Ganze der Stimmung,
daher auch nicht ihr individueller Wechſel, ſondern nur ihre allgemeine Gang-
Art in der gemeſſenen äußern Kunſtform ſich Geſtalt geben kann. Denn ob-
wohl die gleichförmige Wiederkehr von dem einfachen Fortgang im Verſe zum
geregelten Wechſel von zwei ungleichen Verſen und weiter zu der ſymmetriſchen
Zuſammenſtellung mehrerer verſchiedener Verſe in der Strophe, ja zur
80*
[1242]Gruppirung verſchiedener Strophen fortſchreitet, ſo iſt es doch nur das
inhaltvolle Wort ſelbſt, worin das Leben der Stimmung in ſeiner innerſten
Qualität und ſeinem Verlaufe ſich den vollſtändigen Ausdruck gibt.
Hiedurch iſt genauer beſtimmt, was in §. 839 erſt allgemein über das
Verhältniß der Poeſie zu der Muſik geſagt wurde. Die letztere füllt Ton-
leben mit Tonleben, auch ihr eigentlich Qualitatives iſt Ton als Ausdruck
der bloßen Stimmung; die erſtere füllt ein blos quantitatives Tonleben
mit dem Inhalte, der ſich aus der bloßen Stimmung herausgewickelt hat
und im articulirten Wort als bewußte innere Anſchauung ausſpricht. In
dem Quantitativen, worein er gefaßt wird, dem Rhythmus, iſt allerdings
die Stimmung als einhüllendes und begleitendes Element über jene Ab-
löſung hinüber erhalten; das Stimmungs-Element, worin das Gedicht
empfangen iſt, überlebt den Proceß, durch welchen der lichte Tag des Be-
wußtſeins aus dem Nebel hervorgetreten iſt; aber wenn ſo die Stimmung
bleibt, während doch das Kunſterzeugniß mehr, als bloße Stimmung, iſt,
ſo folgt, daß auch in der Seite, welche ihrem Ausdrucke dient, eben der
rhythmiſchen Form nämlich, doch nicht das Ganze der Stimmung ſich offen-
baren kann, denn ihr Innerſtes iſt übergegangen in die deutliche Sprache
des Wortes, in ihm iſt das Gefühl Bewußtſein, der qualitative Kern deſſelben
iſt alſo ein Anderes geworden. Es fragt ſich genauer, was übrig bleibt, wenn
nicht mehr das ganze Leben der Stimmung als ſolches zum Ausdruck kommt.
Der §. gebraucht für dieſes ſchwer zu bezeichnende Moment das Wort
Gang-Art. Wie ſich der Takt als quantitativer Ausdruck der Stimmung
von dem eigentlich Qualitativen derſelben unterſcheidet, geht daraus hervor,
daß eine Tanz- und eine Trauer-Melodie in demſelben Takte componirt
ſein können. Und dennoch wird ſich die freudige Stimmung und die traurige
auch wieder qualitativ anders gefärbt zeigen nach Unterſchied des Taktes.
Dieß iſt das Schwierige. Die Gang-Art zeigt vom Quantitativen auf
das Qualitative, iſt eine verſchiedene Temperatur in demſelben, ohne mit
ihm zuſammenzufallen. Es verhält ſich wie mit der wirklichen Bewegung
eines Menſchen: aus der Art, wie er ſich vom Boden abſtößt, aus dem
Unterſchied im Auftreten, Gehen oder Laufen, Innehalten, Zögern, wieder
Aufſpringen u. ſ. w. ſchließen wir auf ſeine Stimmung mit dem Vorbehalte,
daß es doch verſchiedene Stimmungen ſein können, die in denſelben Weiſen
der Bewegung ſich ausdrücken, und umgekehrt, daß dieſelbe Stimmung in
verſchiedenen Bewegungsweiſen ſich ausdrücken kann, allein ſo, daß dadurch
innerhalb der gleichen Qualität Modificationen zu Tage treten, für die ſich
in der Sprache kaum das Wort findet. Daher iſt es auch ſo ſchwer, die
Stimmung der verſchiedenen Metren zu bezeichnen, und gehen die Ver-
ſuche, dieß zu thun, ſo weit aus einander. Zorn und Freude kann ſich
[1243] raſch bewegen, Angſt und ſtille Beſchauung kann ſäumen, ſchweben, gleiten
u. ſ. w. Wenn nun die beſtimmte Qualität der Stimmung in der Muſik
erſt durch die Melodie, d. h. die Bewegung in den Verhältniſſen der Tiefe
und Höhe, in der Poeſie dieſelbe Qualität, aber als klar vorgeſtellter Inhalt,
durch die Sprache hinzukommt, ſo ergibt ſich weiter, daß zwar in beiden
Gebieten die Takt-Art gleichförmig durch das ganze Kunſtwerk geht, in der
Poeſie aber, was dem Gebiete des unarticulirten Tons angehört, ganz an
das Geſetz der gleichförmigen Wiederkehr gefeſſelt bleibt, während die Muſik
im Tonleben ſelbſt den individuellen Wechſel innerhalb einer Stimmung,
ein Hauptmoment ihrer Qualität, zum Ausdruck bringt. Es treten zwar
Wechſel im poetiſchen Rhythmus ein, Verſe von ungleicher Länge und Meſſung
folgen ſich in fortlaufender Reihe, oder ein reicherer Unterſchied, buntere
Verſchlingung gruppirt ſich zur Strophe, gleiche und ungleiche Strophen
abwechſelnd ſtellen eine erweiterte Gruppe dar, aber auch in dieſen kunſt-
vollen Gebäuden iſt überall ſymmetriſche Wiederkehr das Geſetz, während
die Stimmung, in der Sprache ausgedrückt, wechſelt. Gerade in der Ver-
bindung mit der eigentlichen Muſik fällt dieß doppelt auf: in den Strophen
wiederholt ſich mit demſelben Rhythmus dieſelbe Melodie, während der
Inhalt mit ſeiner Stimmung ſich ändert. Das iſt im Lyriſchen; die Kunſt-
werke der objectiven, ein umfaſſenderes Weltbild darſtellenden Zweige aber
verzichten, das Epos überall, das Drama wenigſtens in der neueren Zeit,
auch auf jenen Grad des Wechſels und bewegen ſich bei den tiefſten Unter-
ſchieden des Inhalts in der Form gleichförmiger Wiederkehr einfacher Verſe.
Der qualificirte Ausdruck der Sprache liegt nun zwar, wie wir ſogleich
ſehen werden, nicht wie ein gleichgültiger Stoff im Rahmen des Rhythmus,
allein der innerſte Gehalt ſchwebt doch, obgleich mit ihm empfangen und
lebendig vereint, zugleich frei und hoch über dieſem Elemente.
§. 858.
Allerdings gewinnt jedoch der formelle Ausdruck der Stimmung einen
weitern Zuwachs durch ein Verhältniß lebendigen Widerſtreits zwiſchen Rhyth-
mus und Sprache im Versbau, worin beide ihre Selbſtändigkeit, aber eben-
dadurch um ſo inniger ihre Vereinigung betonen. Der Vortrag gleicht theilweiſe
dieſen Kampf aus, belebt aber auch von ſeiner Seite den Unterſchied und bringt
einen weiteren Anklang des eigentlich muſikaliſchen Elements hinzu.
Das rhythmiſche Maaß und die Sprache verbinden ſich und fliehen
ſich in ihrer Verbindung, bekämpfen ſich, um deſto ausdrücklicher verbunden
zu erſcheinen. Es ſind zwei Liebende, die ſich entzweien und verſöhnen und
in dieſem Spiele die Natur eines Bundes offenbaren, der ein freies Opfer
[1244] der Freiheit iſt. Hieher gehört zuerſt die Regel, daß die Wort-Enden nicht
mit den Enden der Versfüße zuſammenfallen. Der Vers ſtellt demzufolge
im metriſchen Schema eine andere Figur dar, als in ſeinen Wörtern;
nimmt man dieſe für ſich und ſieht jedes Wortes Proſodie als ein metriſches
Ganzes für ſich an, ſo ſcheinen andere Versfüße zu entſtehen, während doch
das Schema das Geltende iſt: ein Nebeneinanderſpielen von zwei Bildern,
worin ein weſentlicher Lebensreiz der poetiſchen Form beſteht. Man erkennt
ſeine volle Bedeutung durch die unleidliche Klang- und Schwungloſigkeit
der Verſe, worin jedes Wortganze einem Versfluß entſpricht. Dieſer Wider-
ſtreit heißt im Allgemeinen Cäſur, iſt aber auf beſtimmten Puncten des
Verſes als Cäſur im engeren Sinne des Worts ausdrücklich gefordert; hier
wird ein Versfuß durch ein Wort-Ende zerſchnitten, um einen zweiten
Haupt-Accent (verſtärkten Ictus vergl. §. 855. Anm.) anzuzeigen, wie im
Hexameter, wo aber die Cäſur, um die Monotonie der Theilung in zwei
gleiche Hälften zu meiden, in den Fuß vor dem zweiten Hauptaccent zurück-
verlegt iſt. Dadurch nimmt nun der Reiz jenes Widerſtreits beſtimmtere
Geſtalt an: es ſcheint ſich der Vers in Hälften von ungleichem Metrum
zu theilen, z. B. der jambiſche Trimeter nach einer Cäſur in der Mitte des
dritten Fußes trochäiſch fortzulaufen. — Eine weitere Belebung der rhyth-
miſchen Verhältniſſe beſteht in ausdrücklicher Zulaſſung von Seiten des
Schema’s: es iſt der Spielraum der freien Wahl zwiſchen Längen und
Kürzen, die an gewiſſen Stellen, z. B. des Hexameters und Pentameters,
offen gelaſſen iſt. Da wir hier die allgemeinen Züge aufſtellen, die von
beiden geſchichtlichen Hauptformen der Rhythmik gelten, ſo muß die deutſche
nicht blos in dem Sinne miteingeſchloſſen werden, daß ſtillſchweigend ihre
moderne Aneignung der antiken Metrik vorausgeſetzt iſt, ſondern auch in
Rückſicht auf ihre urſprüngliche Geſtalt: was hier jenem Spielraum unge-
fähr entſpricht, iſt die Freigebung der Senkungen zwiſchen der geregelten
Zahl der Hebungen. Es iſt bekannt, wie lebendig die Nibelungenſtrophe
in ihrer urſprünglichen Form verglichen mit der modernen Nachbildung
erſcheint, welche einen regelmäßigen Wechſel von Senkungen und Hebungen
beobachtet. Wendet man auf jene das (ihr an ſich fremde) metriſche Schema
an, ſo erſcheint ſie als ein freier, nach dem Stimmungs-Inhalte ſich bewe-
gender Wechſel von Jamben, Trochäen, Daktylen, Anapäſten u. ſ. w. —
Eine fernere Quelle reicherer Bewegung iſt der Kampf zwiſchen Vers- und
Wort-Accent. Die antike Metrik hat dieſen jenem geopfert; aber wir müſſen
hier ſogleich eine Seite deſſen heraufnehmen, was am Schluſſe des §. vom
Vortrage geſagt iſt: derſelbe ließ neben der Herrſchaft des Vers-Accents
den Wort-Accent durchhören und erzeugte ſo auch hier einen reizvollen
Widerſtreit. Die neuere deutſche Rhythmik liebt es, nachdem ſie ſich das
Syſtem der Länge und Kürze ſo angeeignet hat, daß ſie es im Weſentlichen
[1245] ihrem urſprünglichen Geſetze der Hebung und Senkung unterſchiebt, an
manchen Versſtellen, namentlich des Jambus, einen nachdrucksvollen Kampf
des Verſes mit dem Schema einzuführen, indem ſie z. B. Spondäen, Trochäen,
Anapäſte, Daktyle ſtatt der Jamben-Füße anwendet. Man erkennt hier am
unmittelbaren Eindrucke klar die Bedeutung einer ſolchen Divergenz: man
ſtutzt, wird aufmerkſam und fühlt mit doppelter Stärke auf der einen Seite
das rhythmiſche Geſetz, auf der andern den emancipirten Nachdruck des
Worts. — Auch das Uebergreifen des Sinns von dem einen Vers in den
andern (enjambement) iſt ein weſentlicher Zug in dem freien Spiele der
Anziehung und Abſtoßung zwiſchen dem rhythmiſchen Schema und der
Sprache; man trägt, was durch den Inhalt zuſammengebunden iſt, auf
das gleichförmig fortlaufende Versmaaß unwillkürlich ſo über, daß man
ſich an Strophen, an Strophengruppen erinnert fühlt, und die Pauſe des
Sinnes ſcheint zur Pauſe des Vers- und Strophenſchluſſes zu werden,
während dieſe fortbeſtehen und ſo ein Ineinanderſchimmern von zwei Ein-
drücken entſteht. — Endlich der Vortrag. Es iſt hier allerdings mehr die
Declamation, als der Geſang, in’s Auge zu faſſen, jedoch nicht allein, denn
der Geſang enthält jene in ſich und hat das muſikaliſche Schema ebenſo
mit der Sinn-Betonung durchſchlingend zu beleben, wie die bloße Decla-
mation das blos rhythmiſche. Aus dieſem Zuſammenhange haben wir ſchon
oben die Seite heraufgenommen, wonach der Vortrag den Wort-Accent
gegen den Vers-Accent hält und ſtützt; ebenſo gibt er nun auch dem Sinn-
Accent ſein von dieſem geſchwächtes Recht, er legt jedem Worte erſt die
feineren Unterſchiede des Nachdrucks und, zugleich im relativen Widerſtreite
mit Länge und Kürze, des Verweilens bei, die ſein Empfindungsgehalt mit
ſich bringt; er faßt die Verſe, worin der Sinn übergreift, in lebendigem
Zuge zuſammen, ohne den Versſchluß ganz verſchwinden zu laſſen, umge-
kehrt pauſirt er dem Sinne gemäß, wo der Vers fortläuft; er bringt aber
vor Allem die Modulation der Scala hinzu, welche die Gefühlsſchwingungen
ausdrückt, wie ſie durch den Inhalt gegeben ſind, und dieß iſt die wichtigſte
Seite ſeines Geſchäfts. Sie erweitert jene verſchiedenen Momente, wodurch
im poetiſchen Rhythmus etwas vom ſpezifiſch Muſikaliſchen anklingt, um
eine weſentlich neue: das muſikaliſche Rudiment, das im Sprechen liegt
(§. 760), wächst im gehobenen Sprechen der Declamation. Die Linie,
welche die richtige Mitte zwiſchen zu hörbarem Scandiren oder einer zur
Manier gewordenen wiederkehrenden Scala und dem Erdrücken des Rhyth-
mus unter dem Ton-Ausdrucke des Inhalts beobachtet, iſt allerdings fein
und ſchwer zu treffen. Die romaniſchen Völker haben als Erbe aus dem
antiken Vortrage der dramatiſchen Verſe ein dem Recitativ oder dem litur-
giſchen Halbgeſange verwandtes ſingendes Sprechen überkommen. Der Krieg
gegen die von ihnen ausgegangene conventionelle Poeſie im vorigen Jahr-
[1246] hundert war zugleich Kampf gegen dieſen Sprachgeſang und die Proſa der
Rede, in die man ſich warf, um die Naturwahrheit zu retten, diente dem
Mimen als Anhalt, die Modulation der wahren Töne der Empfindung
zu ihrem Rechte zu bringen. Nun aber riß der Naturaliſmus ein, und
als man in zurückgekehrter Erkenntniß der Würde der Poeſie den Jamben
einführte, zeigte ſich, daß die Schauſpieler nicht mehr rhythmiſch hören
und ſprechen konnten, ſo daß Göthe eine bedeutende Schauſpielerinn in der
Probe am Arme nahm und auf- und abgehend das Jamben-Maaß mit ihr
ſtampfte. — Was von der Declamation gilt, gilt auch vom Leſen als
einem inneren Sprechen, nur natürlich in ſchwächerem Maaße. Das Band,
das die Poeſie an die unmittelbare Sinnlichkeit knüpft, iſt immer dünner,
blaſſer geworden, ſie hat die Muſik, den Tanz verloren, endlich iſt ſie nicht
nur vom Singen auf das Sagen, ſondern ſogar in das Leſezimmer zurück-
gedrängt worden. Dieſe Entſinnlichung hat nach der einen Seite ihren
Grund in dem Geſammten unſerer Bildung und es hieße gegen eine Welt
von Erquickung im ſtillen Kämmerlein predigen, wenn man dagegen eiferte.
Dennoch lebt ein Gedicht nur halb und verſtümmelt, wenn es blos geleſen,
nicht wenigſtens vorgeleſen wird. Entſchieden hat die Berechnung auf das
bloße Leſen der dramatiſchen Literatur geſchadet. Das Aufkommen der Leſe-
Dramen hat den Sinn für das, was Handlung iſt, was lebt, wirkt, fort-
ſchreitet und packt, faſt ertödtet.
§. 859.
Der allgemeine Gegenſatz der Style, der alles Kunſtleben beherrſcht,
iſt mit beſonderer Beſtimmtheit in der Rhythmik zur Erſcheinung gekommen.
Die orientaliſche Dichtung iſt auf dieſem Gebiete ganz in den Grenzen einer
unreifen Vorſtufe ſtehen geblieben; dagegen tritt der direct idealiſirende
plaſtiſche Styl des claſſiſchen Ideals in vollendeter Geſtalt bei den Griechen
auf. Zu Grunde liegt ein Syſtem von Takt-Arten, das in ſeiner Anwendung
auf die rein quantitirende Sprache ſich mit dem Prinzip der Länge und
Kürze, den Wortaccent opfernd, in reiner Geſetzmäßigkeit verbindet, indem es
vermittelſt des Vorſchlags (Anakruſe) die verſchiedenen Metra mit ihrem ver-
ſchiedenen Charakter als eine feſte Kunſtordnung ſchafft, worein ſich der Sprach-
körper mit dem Naturgeſetze ſeiner Proſodie einfügt. Es entſteht ſo eine
ſelbſtändige Welt organiſcher formaler Schönheit, welche zugleich mit der Muſik
lebendig vereinigt bleibt und die kunſtreicher verſchlungenen Strophen durch den
Tanz auch dem Auge als räumliche Figur vorzeichnet.
Die alt-orientaliſche Poeſie zeigt nur unentwickelte Keime der Rhythmik.
In der alt-perſiſchen und indiſchen Dichtkunſt werden die Sylben nur ge
[1247] zählt und in gleichen Zahlenreihen zuſammengeſtellt; der epiſche (und gno-
miſche) Vers des Sanskrit, der Slokas, zeigt allerdings von dieſer erſten
kindlichen Stufe (auf welche die deutſche Poeſie nach der Auflöſung des
rhythmiſchen Geſetzes, das in der Poeſie des Mittelalters herrſchte, einige
Zeit lang zurückſank) einen Fortſchritt: er beſteht aus ſechszehn Moren mit
einer Cäſur in der Mitte; in jeder der beiden Hälften, in welche er hie-
durch zerfällt, ſind die vier erſten Sylben in der Quantität völlig frei,
alſo rein gezählt, die vier folgenden aber metriſch gebunden, indem die
erſte Hälfte mit einem Antiſpaſt, die zweite mit einem Doppeljambus
ſchließt, nur daß dort die Schlußſylbe auch lang, hier auch kurz ſein kann.
Je zwei ſolche ſechszehnſylbige Verſe reihen ſich als eine Art von Diſtichon
aneinander. Es hat ſich bei den Indiern im Verlauf eine große Zahl
anderweitiger Maaße, aber keines mit durchgeführter metriſcher Bindung,
entwickelt. — Eigenthümlich iſt die Bindung von Wortreihen durch die
bloße Einheit des Gedankens in der hebräiſchen Poeſie. Es beſteht zwar
eine unbeſtimmte Grundlage von Sylbenmeſſung: die offene Sylbe hat in
der Regel den langen, die geſchloſſene an ſich den kurzen Vocal, aber der
Wortton alterirt dieß Verhältniß, ohne doch einem rhythmiſchen Schema
zu folgen. Da überdieß auch die bloße Sylbenzählung fehlt, ſo bleibt nur
der Rhythmus der Gedanken-Einheit, der ſogenannte parallelismus mem-
brorum, der zwei Sätze im antithetiſchen, ſynonymen oder gar identiſchen
Sinne zuſammenbindet. Allerdings bewirkt dieß jedoch einen gewiſſen An-
klang von Rhythmus auch in der Form: die Sätze klingen wie Hemiſtichen,
der Sylbenzahl ſind mit der Wiederkehr des Inhalts ungefähre Grenzen
geſetzt und als Ausdruck einer Neigung zu muſikaliſchem Erſatz tritt gerne
die Aſſonanz ein. Zu der Ausbildung dieſer Seite zeigte der Orient eine
aus der Stimmung ſeiner Phantaſie begreifliche Neigung; der Reim war
in der arabiſchen Poeſie vor der muhamedaniſchen Zeit und die neuperſiſche
hat ihn (neben einer der deutſchen Rhythmik verwandten Herrſchaft des
Worttons) aufgenommen.
Wir verweilen bei dieſen unentſchiedenen Formen nicht weiter, denn
uns beſchäftigt vor Allem die Frage, wie der große Gegenſatz zweier aus-
gebildeter Stylrichtungen, der als rother Faden uns durch die ganze Kunſt-
lehre begleitet, auf dem rhythmiſchen Gebiete zu Tage tritt, und wirklich
erſcheint er auf demſelben in beſonders entſchiedener Geſtalt: hier die ruhige,
wohlgemeſſene, rein gegoſſene Form der unmittelbaren, plaſtiſchen Schönheit
der griechiſchen Muſe, dort die unruhige, den gebrochneren Körper geiſtig
durchleuchtende, durch den Ausdruck des Ganzen mittelbar wirkende, maleriſche,
charakteriſtiſche Schönheit der germaniſchen. Die griechiſche Rhythmik kann
als das Vollkommnere in dieſem Gegenſatz, als das Claſſiſche im Sinne
des Muſterhaften angeſehen werden, die deutſche iſt genöthigt, in der Aus-
[1248] bildung der modernen Form ſich ein weſentliches Moment von ihr anzu-
eignen, doch bleibt nach einer andern Seite die Frage über den größeren
Werth, wie bei allen ächten Gegenſätzen, amphiboliſch liegen. Jenes
Moment iſt das eigentlich Metriſche, das wir in der ſchwierigen Abſtraction
der allgemeinen Erörterung bisher unbeſtimmt bald neben dem Rhythmiſchen
nannten, bald in daſſelbe einſchloſſen: die Verhältniſſe der Länge und Kürze
im Unterſchiede von denen des Tongewichts, d. h. vom Rhythmiſchen im
engeren Sinne des Worts. Die griechiſche Poeſie hat dieſe beiden Seiten
klar und feſt ausgebildet und in Harmonie geſetzt. Sie gieng davon aus,
daß ſie dreierlei rhythmiſche Ordnungen feſtſtellte: von drei, vier und fünf
Momenten, entſprechend dem ⅜, \frac{4}{8} und ⅝ Takte. Wir verfolgen nur
die beiden erſteren Formen mit Uebergehung der dritten, im päoniſchen
Verſe dargeſtellten, weil dieſe verwickelte Geſtaltung wie aus der Muſik,
ſo auch aus der Poeſie verſchwunden iſt, und haben alſo eine Form des
ungeraden und eine des geraden Taktverhältniſſes vor uns. Daß nun
Tongewicht und Länge in einem Verhältniß der nothwendigen Anziehung
ſtehen, iſt in §. 855 ausgeſprochen und dieſe Anziehung vollendet ſich, in-
dem das Taktleben des Rhythmus ſeine Verwirklichung findet in einer
Sprache, die ein feſtes, organiſch mitgewachſenes, dem Körper der Sylben
wie die anatamiſchen Proportionen dem organiſchen unverrückbar einver-
leibtes Syſtem von Längen und Kürzen darſtellt, zu welchem das Geſetz
der Verlängerung durch Poſition hinzutritt, deſſen Urſprung noch heute aus
der Ausſprache von Sylben, die ſich mit doppeltem Conſonanten ſchließen,
bei den romaniſchen Völkern leicht zu erkennen iſt. Die zwei erſten Takt-
Momente ziehen ſich nun zu einer Länge zuſammen, welcher natürlich der
Ictus bleibt, den vorher das erſte der drei und vier urſprünglich gleichen
Momente hatte. Die nicht zuſammengezogenen Einheiten ſind nun Kürzen.
Hiemit wird die rhythmiſche Form zugleich zur metriſchen, d. h. das Taktver-
hältniß ſtellt ſich zugleich als ein beſtimmtes Verhältniß von Längen und
Kürzen dar und der einzelne Takt-Abſchnitt heißt nun Fuß. So ſind die
fallenden Metra, das trochäiſche und daktyliſche, entſtanden; das letztere erzeugt
durch Zuſammenziehung auch des dritten und vierten Moments zu einer
Länge den Spondäus. Es iſt nun aber natürlich, daß der Rhythmus ſich
weiter eine Form aneignet, die wir in allen Gebieten der Bewegung,
namentlich aber in Gang und Sprung als eine in der Natur der Sache
begründete finden: es iſt dieß ein den eigentlichen Abſprung, das Abſchnellen
vom Boden unterſtützender, vorbereitender Anſatz, Vorſchlag, Anſprung:
die Anakruſe. Durch den Vorantritt eines ſolchen Moments oder zweier
entſteht eine Verſchiebung, Durchkreuzung der urſprünglichen Ordnungen
und bildet ſich das jambiſche Metrum, worin je die Kürze, die im Trochäus
auf die Länge folgte, zum nächſten Abſchnitte gezogen wird und ſo der
[1249] Länge vorangeht, und das anapäſtiſche, worin es ſich ebenſo mit den zwei
Kürzen verhält, die im Daktylus auf die Länge folgen. In dieſem neuen
Verhältniß hat ſich auch der Accent verſchoben, er fällt nicht mehr auf das
erſte, ſondern auf das letzte Moment. Dieß ſind die einfachen Grundlagen,
woraus ſich der ganze rhythmiſch-metriſche Reichthum der griechiſchen Poeſie
entwickelt, und dieſe Entwicklung erfolgt weſentlich durch das ſchon in
unſere allgemeine Erörterung (§. 855. Anm.) aufgenommene Geſetz der
Erweiterung des einzelnen Takt-Abſchnitts zur rhythmiſchen Reihe, worin
nun der verſtärkte Accent des erſten Abſchnitts ebenſoviele Abſchnitte be-
herrſcht, als der einfache im einzelnen Abſchnitt Momente. Es ſind ein-
fache, verbundene, ſymmetriſch zuſammengeſtellte verſchiedene Reihen, woraus
die in ihren verſchiedenen Graden kunſtreicher Bildung rhythmiſch-metriſchen
Schemata entſtehen. Die griechiſche Poeſie hat ferner alle andern weſentlichen
Momente, die wir in der allgemeinen Betrachtung aufgeſtellt haben, normal
ausgebildet. Wir führen als ein einzelnes Moment noch die Pauſe an,
wodurch die weitere Ausbildung des rhythmiſchen Syſtems mit dem Unterſchiede
des katalektiſchen und akatalektiſchen Verſes bedingt iſt. — Die griechiſche
Poeſie beſitzt nun in dieſem klar und feſt organiſirten Materiale zugleich
die einfach beſtimmten Elemente des Stimmungs-Ausdrucks, wie ihn die
Rhythmik zu übernehmen hat. Mit Vorbehalt der unendlichen Modifica-
tionen, welche die Versmaaße durch die Verbindung verſchiedener Füße und
die ganze reiche Welt der Strophen erhalten, kann in Kürze hier ſo viel
geſagt werden: der Stimmungscharakter der Haupt-Metra zeigt an ſich
einen einfachen Gegenſatz, der aber von einem andern durchkreuzt wird:
der eine ruht auf dem Unterſchiede des Geraden und Ungeraden, der andere
auf dem Eintritt der Anakruſe. Das ungerade Taktverhältniß iſt an ſich
das bewegtere, das aufgeregte, allein im Jambus bringt die Anakruſe
etwas dem ungeraden Verhältniß Verwandtes herein: die Bewegung muß
durch ein ſichtbares Anſtreben erſt in’s Werk geſetzt werden, zeigt die Abſicht
des Fortſchreitens, markirt ſich ausdrücklich, wogegen der Trochäus gleich
mit dem erſten Schritte feſt und ohne die Unruhe des Anſatzes auftritt,
daher er im Charakter des Laufes doch zugleich den der ruhigeren Stärke
hat; da er aber im zweiten Momente nachläßt, ſo hat er nicht das draſtiſch
Fortſtrebende, Dramatiſche des Jambus, ſondern einen Zug von der Weich-
heit, ſchmelzendem Nachlaſſen, melancholiſcher, lyriſcher Stimmung geſellt
ſich ſeiner Kraft-Entwicklung. Das gerade Taktverhältniß hat an ſich den
Charakter der ernſten Ruhe, die ihre Bewegungsmomente gleichmäßig ab-
mißt. Allein die in zwei raſchen Schlägen vorhergehende Anakruſe
erinnert an den Anſatz zum Höheſprung, gibt daher dem Anapäſte den
Charakter des haſtig Aufſpringenden, des leidenſchaftlich bewegten Lyriſchen,
wogegen der Daktylus auf der breiten Baſis des vorangeſchickten Haupt-
[1250] ſchritts ſicher und feſt vordringt und nach dieſem entſchiedenen Anfang dem
Leichten und Beweglichen, doch in ruhiger Gleichmeſſung, ſich zu entfalten
gönnt: der Vers des würdigen, gehaltenen Fortſchritts im Epos, der aber
auch mit dem Spondäus wechſeln kann, welcher mit ſeinen zwei ernſten
Längen keine leichtere, hellere Empfindung zuläßt, ſondern die Stimmung
tief, dunkel und ſchwer im Grunde des ſubſtantiell Gebundenen, des Er-
habenen zurückhält.
Dieſes rhythmiſche Syſtem iſt natürlich nur durch ſeine Anwendung
auf den Sprachkörper mit ſeinen Längen und Kürzen zugleich ein metriſches.
Aber, obwohl in dieſer Anwendung entſtanden, iſt es doch ein Syſtem für
ſich, ein idealer Bau, von dem wie von keinem andern rhythmiſchen Style
gilt, was in §. 855 geſagt iſt: ein künſtliches Syſtem wölbe ſich über das
Sprachmaterial her. Dieß findet ſeinen entſchiedenſten Ausdruck darin, daß,
wie öfter bemerkt, hier dem Vers-Accente und dem Metrum der Wort-
Accent rein geopfert wird: eine Vollkommenheit und ebenſoſehr eine große
Unvollkommenheit, genau wie in der Sculptur die Vollkommenheit der
reinen Nachbildung der Form mit der tiefen Unvollkommenheit Eines iſt,
daß die Accente der Farbe, des ſeelenvollen Schimmers im Auge, der
ganzen Welt kleinerer, aber charaktervoller Bewegungen wegfallen. Hier
iſt denn die rhythmiſche Geſtalt eine Schönheit für ſich, erfreut und be-
friedigt auch bei geringerem Werthe des Sprach-Inhalts und ſetzt hiefür
jenes unendlich feine Gehör voraus, das dem claſſiſchen Alterthum eigen
war und ſelbſt in Rom dem Redner wegen eines ſchlechten Tonfalls in
ſeiner Proſa ein Ziſchen, wegen eines ſchönen einen Sturm des Beifalls
bereitete. In dieſer Selbſtändigkeit des rhythmiſch Schönen hatte es auch
ſeinen Grund, daß das Band mit dem eigentlich muſikaliſchen Vortrage
nicht aufgelöst war und daß ſich hiezu bei den kunſtreicheren Formen der
gehobenſten, feierlichſten Lyrik das zweite, der Tanz, geſellte. Es iſt in
dem Anhang über die Tanzkunſt von der uns völlig verlorenen Form die
Rede geweſen, welche die rhythmiſche Schönheit durch Maſſenbewegung
räumlich objectivirte, als Figur projicirte, ſ. §. 833.
§. 860.
Dagegen iſt der, in ſeiner reinen Ausbildung nur der germaniſchen
Dichtung eigene, charakteriſtiſche Styl urſprünglich ein Syſtem von Accen-
ten, das mit der Quantität nichts zu thun hat; der Vers-Accent fällt mit dem
Wort-Accente zuſammen und heißt Hebung, das Verhältniß der unbetonten
Sylben, d. h. der Senkungen hat kein Geſetz. In dieſer Rhythmik, worin
alſo nicht gemeſſen, nur gewogen wird, herrſcht hiemit der Begriff, der Aus-
2.druck. Im Verlaufe hat ſich die deutſche Dichtkunſt das Claſſiſche in der
[1251] Weiſe angeeignet, daß die Hebungen für Längen, die Senkungen für Kürzen
gelten und beide gezählt werden. Indem ſich aber daneben die natürlichen
Längen, verſchiedene Stufen der Betonung, die Verſchiebung des Accents durch
Zuſammenſetzung von Wörtern geltend machen und überdieß der Sinn-Accent
den Wort-Accent kreuzt, entſteht ein Gebilde, deſſen Körper von dem Geiſte,
der ſich in ihm bewegt, gelöst und gebrochen iſt. Dieſe Brechung der plaſti-3.
ſchen Schönheit fordert einen Erſatz; derſelbe iſt gegeben in dem maleriſchen
und der eigentlichen Muſik näher verwandten Mittel des Reims.
1. Wir nennen dieſen Styl (deſſen Spuren ſich übrigens auch in dem
Saturniſchen Verſe der älteſten römiſchen Poeſie und, wie zu §. 859 be-
rührt iſt, im Hebräiſchen und Neuperſiſchen finden) vorerſt germaniſch, weil
er dem Deutſchen und Skandinaviſchen gemein iſt, nachher in ſeiner ver-
änderten Geſtalt deutſch, weil nur in unſerer Dichtung dieſe entſtanden und
wahrhaft durchgeführt iſt. Von der romaniſchen (und engliſchen) Poeſie
nachher in Kürze das Nöthige. — Jener urſprünglich germaniſche Styl
bindet nun die Verſe allein durch die gleiche Anzahl von Accenten; dieſes
rhythmiſche Geſetz ſteht aber ſchon urſprünglich in untrennbarem Zuſammen-
hang mit der Sprache, es vollſtreckt ſich alſo ſchlechthin nur im Einklange
mit dem Wort-Accent und ſo heißen die Accente Hebungen. Hebungen
ſind Sylben, die in der Sprache an ſich accentuirt ſind und der Rhythmik
die geforderten Accente herſtellen. Nicht betonte Sylben d. h. Senkungen
können zwiſchen die Hebungen in verſchiedener Anzahl treten oder ganz
fehlen; das Geſetz gibt ſie frei und es wird dadurch jene nach dem Unter-
ſchiede des Sprach-Inhalts belebte Mannigfaltigkeit möglich, von welcher
zu §. 858 die Rede war. Es wird alſo nicht gemeſſen, ſondern gewogen,
die Sprache hat daneben auch Längen und Kürzen, ſie kommen aber als
ſolche ſchlechthin nicht in Betracht; die Hebung iſt in allen Sylben, die
lang ſind, wohl zugleich Länge, aber dieſe Seite geht die Rhythmik nichts
an, die Stufen, Modificationen, verſchiedenen Stellungen der Länge zu
der accentuirten Sylbe können demnach die Schwierigkeiten noch nicht er-
zeugen, von welchen nachher die Rede ſein wird, weil Metrum im eigent-
lichen Sinne des Worts gar nicht beſteht; ob z. B. Jahrhundert als
Amphibrachy’s gebraucht werden darf, kann gar nicht gefragt werden. Da-
gegen bereiten die verſchiedenen Stufen der Betonung, da der ſtarke wie
der ſchwache Ton ſich noch in Grade theilt, gewiſſe Schwierigkeiten, in die
wir uns aber hier nicht einlaſſen können. Die Hebung gehört nun im
Weſentlichen der Wurzelſylbe an, gewiſſe Bildungsſylben und ſtärkere Flexions-
ſylben treten daneben allerdings noch mit demſelben Anſpruch auf, doch iſt
jenes das Entſcheidende und hiemit, da die Wurzel den Begriff enthält, die
Herrſchaft des Sinns als des Tongebenden Prinzips, das Ueberwiegen des
[1252] Ausdrucks über die Form, alſo der charakteriſtiſche Styl ausgeſprochen.
Hier ſteht keine plaſtiſch gemeſſene Normalgeſtalt vor uns, ſondern eine
unregelmäßigere Bildung, welche durch den bedeutungsvollen Blick, der auf
innere Tiefen weist, für den Mangel der reinen Formſchönheit entſchädigt.
Es hat ſich aber aus den einfach fortlaufenden Verspaaren, welche nur
dieſes Geſetz band und als Vorläufer des Reims die Alliteration ſchmückte,
ein reicher Strophenbau im Mittelalter entwickelt, worin ſich ein künſtleri-
ſcher Sinn offenbarte, der in ſeinem Gebiete nicht weniger fein war, als
der claſſiſche. Dennoch genügte bei dem Mangel an Quantität auch dieſe
Kunſtbildung nicht: die Alliteration wurde (vermittelſt der Uebergangsform
der Aſſonanz) zum Reime, um ſich in ihm den maleriſchen Erſatz zu ſuchen.
Wir faſſen jedoch den letzteren in dieſer Bedeutung erſt nachher näher in’s
Auge, da er der urſprünglichen und der modernen Form des charakteriſtiſchen
Styls gemeinſchaftlich iſt.
2. Die moderne deutſche Dichtkunſt hat nun auch in der äußeren Sprach-
geſtaltung die Aufgabe des modernen Ideals erfüllt, den romantiſchen Ge-
halt mit der claſſiſchen Form, die ſubjectiv geſtimmte Phantaſie mit der
objectiven zu vereinigen (vergl. §. 466 ff.): ſie hat ſich auf die im §. aus-
geſprochene Weiſe das quantitative Prinzip von der Poeſie der Alten ange-
eignet. Dadurch iſt nun aber eine vielfache Verſchlingung und Durch-
kreuzung von rhythmiſch-metriſchen Bedingungen eingetreten. Die niedrigere
Abſtufung des Tons wird zum Theil als mittelzeitig behandelt, doch hat
ſie ſelbſt wieder einen Unterſchied von Graden, welche, an ſich zweifelhaft,
nur durch den Zuſammenhang ihrer Stellung beſtimmbar ſind. Volle Länge
gehört nur Wurzelſylben an, und dieſe haben auch den Accent, allein wie,
wenn der Accent durch Zuſammenſetzung von Wörtern ſo verſchoben wird,
daß, was ſonſt Länge war und den ganzen Ton hatte, zwar Länge bleibt,
aber nun ſchwächeren Ton hat (wie in: Hofjäger, Jahrhundert, Hinzieh’n
die Sylben jäg, Jahr, zieh’n)? Entſcheidet man hier trotz der Verſchiebung
des Accents leichter für den Gebrauch der geſchwächten Sylben als Längen, ſo
wird dagegen die Frage zweifelhafter, wo eine kurze, aber betonte Sylbe einen
Theil ihres Tons verliert, wie z. B. in Weinberg, Feldſchlacht die zweite.
Man mag beſtimmen, daß in dieſen Fällen Doppelconſonant für Länge
entſcheidet, aber man wird finden, daß die freie Bewegung im Verſe da-
durch ſehr beläſtigt wird. Das jedoch ſteht feſt, daß nimmermehr der Vers-
Accent auf eine Sylbe fallen darf, deren ſtarker Ton durch Verbindung
mit einem andern Worte geſchwächt worden iſt, was denn zur Folge hat,
daß ein zweites, ſelbſtändiges Wort als das nicht accentuirte Moment des
Fußes nachhinkt (wie der Hexameter-Schluß von Voß: „der Herrſcher im
Donnergewölk Zeus“). Erhellt nun aber doch genugſam, daß hier an die
Stelle des organiſch feſten Geſetzes der antiken Rhythmik, die zugleich ge-
[1253] ordnete Metrik war, eine vielſeitige Bedingtheit und Beſtimmbarkeit getreten
iſt, ſo wird dieſer Charakter vollendet durch das Gewicht des Sinn-Accents,
der den Wort-Accent und ebenhiemit auch deſſen Verwendung als Länge
durchkreuzt. „Ich bin’s“ iſt Jambus; „bin ich’s?“ iſt auch Jambus,
aber „bin ich’s?“ iſt Trochäus (oder, wegen des Doppelconſonanten am
Schluß, Spondäus). Dieß Moment iſt es nun aber zugleich, was von
Neuem die Frage über das Verhältniß der natürlichen Längen erſchwert,
die durch Verbindungen, Satzſtellung doch den Hauptton verlieren. „War“
iſt lang und hat ſtarken Ton, aber wenn es in der Frage: „War ich’s?“
als lang behandelt wird, ſo entſteht Unklarheit des Sinns, denn es iſt
nicht zu erkennen, ob nicht vielmehr gefragt wird: „war ich’s?“ — Es
iſt nicht unſere Aufgabe, hier die Schwierigkeiten zu verfolgen, zu ent-
ſcheiden und Regeln aufzuſtellen, ſondern nur, auszuſprechen, welcher Geiſt
und Charakter aus ſolcher Beſchaffenheit der Verhältniſſe hervorgeht. Der
Körper dieſer Formwelt erſcheint nun gegenüber dem feſten Fleiſche und den
normalen Proportionen der claſſiſchen zunächſt, da er ſich davon angeeignet
hat, was möglich iſt, zwar regelmäßiger, als die ältere deutſche Form,
welche die Senkungen nicht zählte, aber durch die Verwicklung des hinzu-
gekommenen neuen Prinzips mit dem urſprünglichen auf der andern Seite
nur deſto gemiſchter, vermittelter, gebrochener, durcharbeiteter, mürber von
allen Seiten; aber die Lichter des Geiſtes, die auf ihm hin und wieder-
ſpielen, frei ihre Stelle wechſeln, ihren Druck jetzt auf dieſen, jetzt auf jenen
Punct werfen, auf ihm wie auf Taſten hin und her laufen, geben ihm für
den Verluſt der Jugendblüthe ein zweites, höheres, ein wiedergebornes
Leben, das ſeine Falten verſchönert. Es iſt dieß noch derſelbe Geiſt, der
den Charakter der urſprünglichen, nicht quantitirenden, deutſchen Rhythmik
beſtimmt hat: es iſt der Inhalt, die Sache ſelbſt, es gibt keine Rhythmik
als Kunſtſyſtem an und für ſich, ohne die innere Bedeutung der Dinge;
aber dieſer Geiſt beherrſcht jetzt eine reichere, gemiſchtere Welt.
Durch die Aneignung der Quantität iſt es der deutſchen Sprache
möglich geworden, die antiken Versmaaße nachzuahmen. Aber ſie hat dabei
doch nicht nur mit den genannten Schwierigkeiten zu kämpfen, ſondern der
Mangel eines feſten, organiſchen Wechſels von Längen und Kürzen, zu
welchem wir noch erwähnen müſſen, daß uns im Laufe der Zeit zu viele
urſprüngliche Längen verloren gegangen ſind, hängt auch mit der wachſenden
Verſtümmlung der Flexionen und Bildungen zuſammen, die unſere Sprache
erfahren hat, und dieſe entzieht dem Verſe, der doch plaſtiſche Schönheit
verlangt, ſeine natürliche Fülle. Unſere Poeſie, Literatur, Sprache hat
unendlich dadurch gewonnen, daß wir die antiken Maaße nachbilden können
und oft nachbilden; aber es bleibt doch eine Maske, ein fremdes Kleid. Es
verhält ſich wie mit der Aufnahme der alten Götterwelt und ihrer direct
[1254] idealen Formen in der Plaſtik und namentlich in der Malerei: eine Ver-
ſetzung der Phantaſie in eine fremde Welt, die unter Anderem gut und
ſchön iſt, aber nie das Bleibende, das Beſtimmende ſein kann. Die Nach-
ahmung der alten Metra als einzig wahres Geſetz anſprechen, wie Klopſtock
that, heißt im formalen Gebiet in den falſchen Claſſicismus zurückſtürzen,
von dem er ſelber im materialen, in der innern Welt der Poeſie uns befreite.
Wir ſollen durch das claſſiſche Ideal Sinn und Gefühl läutern, aber nur
den Honig aus ihm ziehen, nicht ſeine Zellen nachahmen. Unſer Erſatz
für den Verluſt an unmittelbarer Schönheit, den wir auf dieſem Wege
nicht ſuchen können, liegt auf einer Seite, die ſchon vor der Aneignung
des Claſſiſchen ihre Ausbildung fand und die wir nun genauer in’s Auge
faſſen müſſen.
Zuvor nur noch Weniges über die romaniſche und engliſche Rhythmik.
Die romaniſchen Völker zeigen in dem ganz unorganiſchen Verhältniſſe,
worein ſie das Sprach-Material zu der Versform ſetzen, daß mit der Ver-
ſtümmlung, Miſchung und Auflöſung des Lateiniſchen, woraus jenes hervor-
gegangen, auch die Innigkeit des rhythmiſchen Gefühls verloren gegangen
iſt. Sie zählen nur die Sylben und ſpannen, unbekümmert um den Wort-
Accent, großentheils ſelbſt um die Quantität, den Vers darüber. Wenn
die antike Rhythmik ſich ebenfalls um den Wort-Accent nicht kümmerte, ſo
war dieß etwas Anderes: ſie hatte dafür die ſtrenge Proſodie, worin das
Wort ſeinen ganzen Naturgehalt organiſch geltend machte, und ihr Vers-
Accent war ein reines, künſtliches Syſtem, nicht urſprünglich auf den Wort-
Accent gebaut, während die romaniſchen Völker die letztere, germaniſche
Form annehmen und doch ganz willkürlich anwenden. Am meiſten gilt dieſe
Willkür von den Franzoſen, an deren Versbildung man recht auffallend
erkennt, daß ihnen die lateiniſche Sprache zudem aufgeimpft iſt, daß ſie
daher kein lebendiges Naturgefühl für den Körper des Wortes haben. Die
Willkür der Anwendung des Vers-Accents (der nach dem modern germani-
ſchen Prinzip als Länge gilt, wie die Theſis, Senkung als Kürze,) wird
hier noch unterſtützt durch das ſogenannte Sprechen ohne Accent, d. h. die
Betonung der Endſylben neben der Wurzel (nicht ſchlechtweg Betonung der
Endſylben wie Manche harthörig meinen). Der Armuth, welche die Ab-
ſtutzung der urſprünglichen lateiniſchen Endungen mit ſich gebracht, wird
theilweiſe dadurch abgeholfen, daß die ſtummen e im Verſe geſprochen werden
und gelten, allein nur um ſo fühlbarer wird der unorganiſche Zuſtand, wenn
ſelbſt dieſe Sylben Accent und Länge tragen müſſen. Bei einem ſolchen
Grade der Willkür würden die Versformen geradezu unkenntlich, wenn nicht
das Geſetz eingeführt wäre, daß am Ende des Verſes Wort- und Vers-
Accent immer zuſammenfallen müſſen. Es kann bei dieſen Verhältniſſen
von einer Ausbildung reicher gegliederter Versfüße nicht die Rede ſein, weil
[1255] nur das Einfachſte erkennbar iſt; es gibt nur Jamben und Trochäen,
Nachahmung der reicher gegliederten antiken Maaße iſt unmöglich. Die
monoton wiederkehrende Zerhackung der rhythmiſchen Reihe im Alexandriner
entſpricht dem Geiſte der witzigen antithetiſchen Zuſpitzung, welcher der
Nation eigen iſt. — Das Italieniſche trägt ungleich mehr Fähigkeit
einer organiſchen Rhythmik in ſich; es läßt im Weſentlichen der Stamm-
ſylbe die entſchiedene Betonung und hat nicht alle Flexionen, Endungen
verſtümmelt. Die vielen Endungen mit zwei kurzen Sylben liefern neben
dem herrſchenden jambiſchen Tonfalle reichen anapäſtiſchen und daktyliſchen
Stoff, ſtören aber die Anwendung des Spondäus, welcher ohnedieß der
Verluſt ſehr vieler lateiniſcher Längen große Schwierigkeit bereitet. Dieſe
Sprache iſt aber durch die volle Klangſchönheit, welche ſie vor allen neueren
auszeichnet, ſo entſchieden nach der reichſten Ausbildung der muſikaliſchen
Seite in kunſtreich verſchlungenen Reimſyſtemen hingelenkt, daß auch ſie das
rhythmiſch-metriſche Verhältniß in jenem Zuſtande der Willkür, obwohl die-
ſelbe nicht ſo tief greift, wie die franzöſiſche, belaſſen hat. Aehnlich verhält
es ſich im Spaniſchen; unter den Versarten entſpricht ſeinem gravitätiſchen
Geiſte vorzüglich der feierlich empfindungsreiche Trochäus, den ſie, in kurzen
Reihen Gewicht an Gewicht hängend, ſich zu eigen gemacht hat. — Die
engliſche Sprache trägt als original deutſche, mit romaniſchem Zuſatz nur
mäßig gemiſchte, das Geſetz der Zuſammenſtimmung von Vers- und Wort-
Accent durch urſprüngliche Natur und Neigung in ſich. Anders aber verhält
es ſich mit der Fähigkeit, dieſes Geſetz ſo zu verwenden, daß es zugleich
metriſche Geltung hat, d. h. Hebung und Senkung für Länge und Kürze
gilt und ſo die antiken Versfüße nachgeahmt werden können. Das Eng-
liſche iſt noch weit mehr, als das Deutſche, wo es rein blieb, der Neigung
gefolgt, die Fülle der aus Abwandlung und Ableitung entſpringenden End-
ſylben abzuſtoßen, in ſtumme e zu verſenken; ſo iſt es überreich an einſyl-
bigen Wörtern und ſeine mehrſylbigen entbehren mit den volleren Endungen
der proſodiſchen Mannigfaltigkeit. Hiemit mußte das metriſche Gefühl ſich
abſtumpfen, was ſich namentlich auch darin zeigt, daß die Willkür im
Gebrauche der Mittelzeiten ungleich größer iſt, als im Deutſchen. Ferner
hat das gehobene Sprechen, die Declamation im Engliſchen eine ſtoßweiſe
Bewegung, wodurch der Charakter einer Accentſprache ſich noch verſtärkt
und gegen geſetzmäßige Verwendung der Accentverhältniſſe als quantitiren-
der ſich ungleich mehr verhärtet, als das Deutſche. Noch durchgreifender
wird der Accent durch die Stellung des Worts bedingt, der Wort-Accent
durch den Sinn-Accent gekreuzt und auch dadurch eine wirkliche Durch-
führung geordneter Längen und Kürzen geſtört. Nun iſt zwar das Metriſche
ſo weit eingedrungen, daß die Senkungen als Kürzen neben den Hebungen
als Längen durch Zahl geregelt ſind, aber die Versmaaße werden doch mehr
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 81
[1256]accent-, als quantitäts-mäßig gefühlt; es gibt Daktylen und Anapäſte,
aber ſie können aus dieſem Grunde nicht wohl zur Nachbildung der antiken
Metren, denen ſie angehören, gebraucht werden, ſie ſind beliebt im ſpringen-
den Balladen-Versmaaß, aber zwiſchen Jamben oder Trochäen eingefaßt,
und dieſe einfachen Formen ſind die herrſchenden. Die ſchon erwähnte
Menge einſylbiger Wörter bereitet nun ſpezieller dadurch große Schwierig-
keiten gegen conſequente Uebertragung des Quantitativen, daß dieſelben doch
dem Gehalte nach großentheils bedeutend ſind, daß dieſer in umgekehrtem
Verhältniß zu ihrem Körper ſteht, daß ſie ſich daher gegen die Einfügung
in die antiken Verſe, namentlich die längeren, ſträuben: „ein mit ihnen
gefüllter längerer Vers müßte überfüllt erſcheinen“ (Grundriß der Metrik
antiker und moderner Spr. v. Krüger S. 96).
3. Den Reim haben wir mehrfach einen Erſatz für den Verluſt der
ſtrengen Geſetzmäßigkeit des metriſch Rhythmiſchen genannt. Er tritt am
Schluſſe des Verſes ein, und dieß eben iſt recht ein Ausdruck davon, daß
hier im Verskörper ſelbſt noch etwas fehlt, vermißt, geſucht wird, das denn
als Extremität, als Einfaſſung ſeinen Gliedern erſt den fehlenden organiſchen
Halt gibt. Er kann auch die rhythmiſchen Reihen durchſchneiden und ſo in
mehrere Zeilen zerfällen; dadurch iſt er eine Quelle der reichſten Mannig-
faltigkeit in Strophen geworden. Durch den Reim tritt nun eine Wiederkehr
neuer Art in die poetiſche Formbildung ein. Vergleicht man dieſelbe mit
den anderen Künſten, ſo erinnert ſie in der Architektur an den gothiſchen
Styl: dieſer liebt das geometriſche Spiel der Stellungen, Umſtellungen,
des ſymmetriſchen Gegenüber kryſtalliniſch gebundener, aber ohne ſtrengen
Zuſammenhang mit dem Structiven in buntem Ornamente ſchwelgender
Formen, während der claſſiſche ſeine keuſch geſparten Ausſchmückungen mit
ſtreng organiſchem Gefühl aus den fungirenden Kräften entwickelt; der
Unterſchied zwiſchen normal rhythmiſcher Schönheit und zwiſchen Reimſchmuck
bei zerworfenen Verhältniſſen der letzteren entſpricht auf’s Einleuchtendſte
dieſem architektoniſchen. Noch näher liegt die Vergleichung mit der Malerei:
es iſt tief in der Natur der Sache begründet, daß man bei Farben an
Klänge und bei dieſen an jene denkt; die lebendig warme, den Charakter
individualiſirende Farbe bringt ganz ebenſo das Element einer neuen Quali-
fication zu der feſten Form, die ſich in der Sculptur iſolirt, wie der Reim
zu dem bloßen Proportionsleben in Takt und Quantität. Am nächſten
aber liegt der Blick in das eng benachbarte muſikaliſche Gebiet: der Klang
des Worts, wie er im Reime techniſch verwendet wird, daher als ſolcher
ausdrücklich in’s Gehör fällt, iſt tief verwandt mit der Klangfarbe der ver-
ſchiedenen Inſtrumente. Gleichzeitig ertönend bringen dieſe die Harmonie
hervor; der ſucceſſive Eindruck der Reime tönt noch ungleich beſtimmter,
als die wiederkehrenden Zeilen in reimloſen Strophen, wie eine gleichzeitige
[1257] Wirkung im Gefühle nach und ſo bringt er entſchieden ein der muſikaliſchen
Harmonie Verwandtes in die dichteriſche Form. In ihr vereinigt ſich ver-
ſchiedene Melodie in Einem Gange: der Reim hat aber auch dieß in der
Kreuzung, Verſchränkung verſchiedener ſich entſprechender Folgen, in der
Anreihung ſolcher Folgen zur Strophe, in der Wiederkehr gleicher Strophen
mit verſchiedenen Reimen. Die Harmonie in der Muſik haben wir (vergl.
§. 757) als Ausdruck vervielfachter Reſonanz Einer Empfindung in dem-
ſelben Gemüthe oder in dem Gemüthe Mehrerer gefaßt: daſſelbe vertiefte,
erweiterte Gefühlsleben drückt das Echo des Reimes aus, ein liebendes
Herüber und Hinüber, Neigen und Beugen, das bezeugt, daß die Welt der
Gegenſtände mit anderer Innigkeit und Vielſeitigkeit, als durch das blos
gewogene und gemeſſene Wort, in’s Herz zurückgeſchlungen und hier ver-
arbeitet wird. Nun aber iſt zunächſt wohl zu beachten, daß an ſich die
Reimwörter einander nichts angehen. Wenige Wörter ſind ſo ſinnverwandt
wie Mark und Stark, Leben und Streben. Indem der Reim uns dennoch
zwingt, das Fremde, Entlegene wie ein lebendig Einiges zuſammenzufaſſen,
gleicht er dem Witze (vergl. §. 193); ſein tertium comparationis iſt die
Gleichheit des Klangs und dieſe freilich noch ein ungleich ſchwächeres,
äußerlicheres Band, als die Aehnlichkeit der Eigenſchaften zwiſchen den
Dingen, die der Witz zu ſeinem Spiele verwendet, ausgenommen das Wort-
ſpiel und ſpeziell das Klang-Wortſpiel, das wegen ſeiner nahen Verwandt-
ſchaft oft genug in Reim-Reihen übergeht. Wenn aber der Reim nach
dieſer Seite willkürlicher, äußerlicher ſcheint, als der, doch ſo kalte, Witz,
ſo vergeſſe man nicht, was zwiſchen und in den Reimwörtern liegt: wirk-
licher, empfundener Inhalt. Der Witz ſpringt momentan, unvermittelt von
Entlegenem zu Entlegenem, das er ſcheinbar identiſch ſetzt; die reimende
Poeſie vermittelt Reihen tief gefühlter Vorſtellungen und wenn der Gleich-
klang des Reims ſie an ihren Enden zuſammenfaßt, als wären ſie eben
durch ihn wirklich verwandt, wie ſie es durch ihn allein vielmehr noch nicht
ſind, ſo wird nun der wirkliche Zuſammenhang des Inhalts, den die Reime
binden, unwillkürlich und unbewußt vom Gefühl auf den Gleichklang ſo
übergetragen, als ergänze er, was dieſem an wahrer, innerer Bindung der
Vorſtellungen an ſich mangelt. Dieß iſt der tiefe, der ſeelenvolle Reiz in
der Willkür des Reimſpieles: man fühlt immer wieder, daß der Gleichklang
nicht wahre Einheit des Inhalts iſt, und läßt ſich immer wieder täuſchen,
indem man ihm wirklichen inneren Zuſammenhang zuſetzt und zurechnet.
Allerdings ſollen eben darum nicht bedeutungsloſe Wörter zu Reimen ver-
wendet werden, außer in komiſcher Abſicht, wo dann das Reimſpiel zum
wirklichen Witzſpiele wird. Hierüber namentlich vergl. Poggel Grundzüge
einer Theorie des Reims und der Gleichklänge u. ſ. w., ein Werk voll tiefen
und feinen Sinns für das Geheimniß dieſer Form der poetiſchen Technik. —
81*
[1258]Fragt man endlich, ob der Reim auch der Melodie an ſich verwandt ſei,
ſo iſt dieß natürlich inſofern zu verneinen, als auch er mit den Unterſchieden
der Tiefe und Höhe, deren charakteriſtiſche Folge ja das Weſen der Melodie
bildet, nichts zu ſchaffen hat. Allein im Gange der Melodie entwickeln ſich
immer entſprechende Folgen, Verhältniſſe wie Frage und Antwort tauchen
auf, ein Steigen und Sinken zieht ſich hindurch; indem nun der Reim ein
Syſtem von lauter ſolchen Correſpondenzen iſt, ſo gemahnt er entfernt auch
an den Wechſel von Höhe und Tiefe, in welchem die Muſik als Melodie
dieſelben entwickelt.
§. 861.
Die Geſetze der Compoſition können in der Lehre von der Poeſie nur
zugleich mit den Zweigen unterſucht werden; die Darſtellung der letzteren muß
ferner auch die Hauptmomente der Geſchichte dieſer Kunſt in ſich ſchließen.
Es iſt klar, daß die Compoſitionsweiſe zu verſchieden iſt in Epos,
Lyrik und Drama, um von der Erörterung dieſer Hauptformen, in die
unſere Kunſt ſich verzweigt, getrennt und für ſich behandelt zu werden.
Sogleich die Frage, wie ſich die Compoſition im Rhythmiſchen äußere, die
hier unmittelbar im Zuſammenhange zu liegen ſcheint, führt darauf: denn
ganz ungleich iſt in den Zweigen der Poeſie der Umfang, in welchem der
innere Rhythmus des poetiſchen Kunſtwerks ſich beſtimmend nach dieſer Seite
hin ausſpricht; insbeſondere leuchtet von ſelbſt ein, daß es die Lyrik ſein
wird, in welcher die Compoſition mit beſonderer Entſchiedenheit als rhyth-
miſcher Bau an den Tag treten muß; da wären wir alſo unmittelbar zu
der letzteren geführt und dieß verbietet doch ein höheres Geſetz der Ein-
theilung. — Die Lehre von den Zweigen verſchluckt aber nach der andern
Seite auch einen ganzen Abſchnitt, der bisher überall als dritter in unſerer
Anordnung aufgetreten iſt. Die Kreuzung der logiſchen Eintheilung mit
dem Geſchichtlichen, wovon in §. 541 die Rede geweſen, iſt nämlich in
keiner Kunſt ſo ſtark und bedeutungsvoll, wie in der Poeſie, und fordert
hier wirklich, daß die hiſtoriſche Entwicklung in die Lehre von den Zweigen
ſich auflöſe. Schon in §. 846, Anm. 1. mußte ausgeſprochen werden, daß
jene ſich nicht, wie bisher, vom Syſtematiſchen trennen laſſe. Den eigent-
lichen Beweis hiefür wird die Ausführung ſelbſt liefern.
[1259]
b.
Die Zweige der Dichtkunſt.
§. 862.
Als die geiſtigſte unter den Künſten erweist ſich die Poeſie auch dadurch,
daß in ihr erſt mit voller Beſtimmtheit der Auffaſſungs-Unterſchied der
Phantaſie (§. 404), alſo das Verhältniß des Künſtlers zum Gegenſtande den
Eintheilungsgrund für die Hauptformen bildet. Hiedurch wird die Stoff-
Beziehung der Phantaſie (§. 403) auf die Seite gedrängt, der Gegenſtand iſt
in jeder Hauptform die Welt und vor Allem der Menſch; der Dichter betrachtet
ihn nur jedesmal von einer andern Seite, wobei allerdings der Ausſchnitt des
Stoffgebiets ſich verändert, und in einer andern Beziehung der Zeit.
Auffaſſungs-Unterſchiede nennen wir jene Arten der Phantaſie, worauf
die Theilung der Kunſt in die Künſte beruht: die bildende, die
empfindende, die dichtende Phantaſie. Die letzte wiederholt die
andern in ſich: ſie ſtellt ſich auf den Boden der erſten und erzeugt ſo die
epiſche, auf den Boden der zweiten und erzeugt die lyriſche, ganz und
voll auf den eigenen Boden und erzeugt die dramatiſche Form. Wir
haben dieß vermöge eines unvermeidlichen Vorgriffs ſchon öfters ausge-
ſprochen, denn in den andern Künſten tauchen dieſe Unterſchiede bereits auf,
aber noch ohne entſchiedene Kraft. In der bildenden Kunſt war, ihrem
körperlichen Charakter gemäß, immer noch die Stoffbeziehung beſtimmend
für die Eintheilung, der Unterſchied des Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen
trat daneben zu Tage am fühlbarſten in der Malerei (vergl. §. 697. 698.
699. 700, 3. 702. 705, 2. 709, 1. 710. 711. 712), aber daß er ſich auch
hier noch nicht entſcheidend in den Vordergrund ſtellt, machte ſich ſchon in
der Schwierigkeit der Bezeichnung bemerkbar: wir waren genöthigt, wenn
wir nicht jedesmal den beſchwerlichen Ausdruck: Stellung der bildenden
Phantaſie auf den Boden der empfindenden u. ſ. w. gebrauchen wollten, die
Benennungen aus der Poeſie vorauszunehmen. In der Muſik machte ſich
dieſes Unterſcheidungsprinzip natürlich ſelbſtändiger, energiſcher geltend,
doch immer noch halbverhüllt; denn von weſentlichen Unterſchieden der
Auffaſſung kann nur die Rede ſein, wo das Subject einem Objecte klar
gegenüberſteht; die Muſik iſt ſubjectiv, der Stoff nicht mehr entſcheidend,
aber ſie iſt zu ſubjectiv, um nicht ebenfalls in dieſer Beziehung von der
Poeſie Licht zu erwarten. Nun aber ſteht klar vor uns, was ſich bis dahin
nur undeutlich an die Oberfläche drängte: wir haben eine Eintheilung, wie
[1260] ſie ſo ſcharf und entſchieden in keiner andern Kunſt auftritt. Sie iſt daher
auch längſt ſtehend und die Aeſthetik hat hier nicht mehr das ſchwierige
Geſchäft der Entwirrung von Unterſcheidungen, die im gewöhnlichen Be-
wußtſein dunkel nebeneinander herlaufen. Die Stoffbeziehung der Phantaſie
tritt nun alſo nothwendig zurück. Von einer beſondern Richtung auf das
Landſchaftliche, Thieriſche kann ohnedieß nicht die Rede ſein: wir haben
geſehen, daß es mit dem Satze, der Inhalt des Schönen ſei im höchſten
Sinne die Perſönlichkeit, in der Poeſie voller Ernſt wird (§. 842). Der
Menſch iſt die wahre Aufgabe aller Kunſt, und er iſt es in der Poeſie
ausdrücklich; er wird in jeder ihrer Hauptformen nur von einem andern
Standpunct aufgefaßt und ſo verändert ſich freilich, da die veränderte Auf-
faſſungsſeite eine veränderte Beziehung zum Stoffgebiete mit ſich bringt,
jedesmal auch der Ausſchnitt aus dem letzteren, wie denn z. B. das Epos
landſchaftliches und thieriſches Leben in ganz anderem Umfang aufnimmt,
als das Drama. Es wird ſich zeigen, daß dieſer Unterſchied der Umfaſſung
des Stoffes namentlich davon abhängt, ob die reinmenſchliche oder die
geſchichtliche Richtung herrſcht, und dieſe Arten der Richtung der Phantaſie
haben wir zwar in §. 403 zu denjenigen geſtellt, welche ſich auf den Stoff
beziehen, ſie fallen aber, wo die Auffaſſung als ſolche entſcheidend herrſcht,
natürlich an dieſe herüber. Dieß wird ſich im Verlaufe näher erklären.
Uebrigens mag die Dichtkunſt den Weltſtoff in kleinem oder großem Umfang
aufnehmen, bezogen iſt der Menſch immer auf die Natur und Alles rings
um ihn, daher iſt der Inhalt der Poeſie immer die ganze Welt; ſie ſieht
vom Menſchen aus die Welt. — Der veränderte Standpunct der Beleuch-
tung bringt nun aber allerdings zugleich jedesmal eine andere Erſtreckungs-
ſeite der Zeit mit ſich: wir werden ſehen, daß das Epos den Gegenſtand
unter dem Standpuncte der Vergangenheit betrachtet, in der lyriſchen
Dichtung Alles zur Gegenwart im Gefühle wird, im Drama die Gegen-
wart, indem ſie ſich als Handlung entwickelt, ſich gegen die Zukunft ſpannt.
Es hat dieß zwar ſeine logiſchen Schwierigkeiten und darf nimmermehr zum
Eintheilungsgrund erhoben werden wie von Juſt. Fr. Richter (Vorſch. d.
Aeſth. §. 75), aber es ſteht im tiefſten Zuſammenhange mit der Weiſe, wie
das Ich des Dichters mit ſeinem Gegenſtande ſich durchdringt, und dieſes
Moment iſt jetzt vor Allem beſtimmter hervorzuheben.
§. 863.
Der Unterſchied der Arten der Phantaſie, der ſich auf die Weiſe der Auf-
faſſung gründet, hat ſeinen tieferen Grund in dem Geſetze der Diremtion des
Objectiven und Subjectiven und ihrer Zuſammenfaſſung im Subjectiv-
Objectiven (vergl. §. 537) und dieſes tritt jetzt in ſeiner ganzen Beſtimmtheit
[1261] hervor als ein Unterſchied des Durchdringungsproceſſes zwiſchen dem Ich des
Dichters und ſeinem Gegenſtande. So wiederholt ſich in der Dichtkunſt nicht nur
das Syſtem der Künſte, als deren Totalität ſie ſich nun beſtimmter (vergl.
§. 838) erweist, ſondern zugleich das ganze Syſtem der Aeſthetik. Mit2.
dieſem innerſten Eintheilungsprinzip iſt zugleich ein Unterſchied im Grade
des Umfangs und in der Art der Technik gegeben, aber die Geiſtigkeit
der ganzen Kunſt und ihres Mediums iſt Urſache, daß die verſchiedenen Haupt-
formen ſich nicht als Künſte ausſcheiden, ſondern nur als Zweige einer Kunſt
auftreten (vergl. §. 538).
1. Wie die Dichtkunſt den Charakter der bildenden und den der Muſik
in ſich vereinigt, iſt aufgezeigt worden. Es wiederholt ſich hiedurch das
Syſtem der Aeſthetik in ihr, indem in der bildenden Kunſt auf veränderter
Stufe die Objectivität des Naturſchönen, in der Muſik die Subjectivität
der Phantaſie wiederkehrt, und iſt ſo in ihrer concreten Totalität dieſer
Grundgegenſatz ſchließlich zuſammengefaßt. Allein nicht genug: der Kreis
kehrt in der Poeſie noch einmal in ſich zurück, denn in ihren Zweigen
wiederholt ſich die Stellung, die in den verſchiedenen Künſten der Künſtler
zum Object einnimmt, und zwar in einem Proceſſe von ſolcher Entſchieden-
heit und Klarheit, daß die Wiederholung zugleich eine Vertiefung, eine
vollere Verwirklichung iſt und rückwärts das Entſprechende, was den Künſten
im Großen zu Grunde liegt, in helleres Licht ſtellt. Auseinandergeſetzt
kann dieſer Proceß in ſeinen Unterſchieden noch nicht werden, ohne daß
zu ſtark vorgegriffen wird, doch ſagen wir in Kürze ſo viel: es wird ſich
zeigen, wie dem epiſchen Dichter die Welt eine gegebene, feſte, objective
Macht iſt und bleibt, obwohl ſein Ich neben dem Inhalt ſichtbar her-
vortritt und der Stimmung nach ruhig betrachtend über den Dingen ſchwebt,
wie der lyriſche die Welt ganz in ſubjectives Empfindungsleben umſetzt,
wie der dramatiſche ſie als eine nun ſubjectiv ganz durchdrungene oder in
das Subject ganz eingegangene in der Form der Handlung wieder entläßt
und entfaltet, ſo daß man ſein Ich gar nicht wahrnimmt, weil es ganz
darin, daß er ganz abweſend, weil ganz gegenwärtig iſt. In dieſen Wen-
dungen des Verhältniſſes ſcheidet ſich denn zu beſtimmten Hauptformen das,
worin der Dichter dem bildenden Künſtler, worin er dem Muſiker verwandt
und worin er ganz er ſelbſt iſt, und mit dieſer Wiederkehr der Künſte
wiederholen ſich in der Poeſie abermals die entſprechenden Haupttheile des
ganzen Syſtems: die Objectivität des Naturſchönen, die Subjectivität der
Phantaſie und die erfüllte Einheit beider in der Kunſt. Ohne Zwang
läßt ſich hinzuſetzen: die Poeſie kehre, indem ſie ſo das Ganze des wirklichen
Schönen in ſich vertieft wiederholt, als die idealſte Kunſt in den erſten
Theil des Syſtems, die reine, allgemeine Idee des Schönen, zurück. —
[1262] Hier iſt nur noch das Nöthige zur Rechtfertigung der Stelle zu ſagen, die
dem Lyriſchen gegeben iſt. Es ſcheint der Zeit und dem Begriffe nach,
oder, wenn man will: der Zeit nach, weil dem Begriffe nach vielmehr
das Erſte zu ſein, denn die Poeſie iſt die enge Nachbarinn der Muſik,
kommt aus ihr und ſchickt ſich an, aus der Innerlichkeit der Empfindung
die Welt der Objecte wieder zu erſchließen und auszubreiten, ihr Weſen iſt
die Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyriſche Er-
gießungen der unmittelbaren Empfindung nothwendig überall die erſten
Aeußerungen der dichteriſchen Phantaſie. Ein Intereſſe der bloßen logiſchen
Conſequenz, die Kategorie der Objectivität um jeden Preis voranzuſtellen,
wäre nur eine Verirrung der Abſtraction und das Syſtem könnte ganz
ebenſogut hier dem Subjectiven die erſte Stelle anweiſen, dann das Objec-
tive aus ihm hervortreten laſſen, endlich beide vereinigen, als in der Gruppe
der bildenden Künſte umgekehrt die ſubjectivſte unter ihnen, die Malerei,
als dritte, nicht als zweite geſetzt worden iſt. Allein genauer betrachtet
verhält ſich die Sache anders: die älteſten Lieder waren überall objectiven
Inhalts, prieſen Thaten der Götter und Menſchen; freilich in lyriſchem
Tone, und man kann inſofern ſagen, es liege hier eine noch unentwickelte
Einheit des Lyriſchen und Epiſchen vor, allein es war keine Einheit, die
ein Gleichgewicht enthielt, vielmehr das objective, epiſche Element herrſchte
und geſtaltete ſich zuerſt weiter zu beſtimmten Formen, zu Heldenliedern,
die dann zu Epen zuſammenwuchſen, während das ſubjective, lyriſche noch
lange Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entſchiedene Form in das
Licht der Geſchichte der Poeſie herauszutreten, vielmehr die ſpäte Reife der
Bildung abwarten mußte, die dem erfahrungsvolleren, durcharbeiteten Ge-
müthe des Menſchen erſt die tiefere und reichere Reſonanz gibt, ihm die
Menge von Saiten aufzieht, welche erklingen muß, wenn von einer lyriſchen
Dichtung als ſtehendem Zweige ſoll die Rede ſein können. Hiſtoriſch und
pſychologiſch hat den Beweis für den Vorgang des Epiſchen Wackernagel
geführt (Schweiz. Muſ. f. hiſtor. Wiſſenſch. „Die epiſche Poeſie“ B. 1 u. 2).
Wir haben den innern Grund mit der letzten Bemerkung bereits angedeutet:
der ideale Weltgehalt erſcheint dem Individuum, das noch nicht durch die
Arbeit der Bildung in ſich zurückgetreten iſt, als objectives Sein, Macht,
Geſchichte. Kindliche Bewunderung all’ des Vielen und Herrlichen, was
es gibt, iſt der erſte Standpunct. Dennoch behält jener Begriff einer
urſprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyriſchen und Epiſchen in den
älteſten erzählenden Liedern ſeine relative Richtigkeit; jenes war im Keime
vorhanden, mußte dann dieſem den Vortritt laſſen, nahm aber, als es ſelbſt
an die Reihe der Entwicklung kam, die Form wieder auf, in der es einſt
neben dem Epiſchen geſchlummert hatte, und gab ihr wirklich lyriſche Ge-
ſtalt; dieß wird an ſeinem Orte näher erklärt werden.
[1263]
2. In §. 540 iſt „Moment und Grad des Umfangs“ als weiterer
Theilungsgrund für die Zweige der Künſte aufgeführt. Der „Moment“
fällt in der Poeſie weg, da ſie überhaupt in der Zeitform ſich bewegt, daher
immer eine Reihe von Momenten vorüberführt und alſo kein Unterſchied
entſtehen kann, der darauf begründet wäre, daß der Gegenſtand in einem
ſo oder anders beſchaffenen Moment aufgefaßt würde; der Unterſchied im
Grade des Umfangs aber macht ſich nachdrücklich geltend: Epos und Drama
geben ein Weltbild, jenes extenſiver, dieſes intenſiver, das lyriſche Gedicht
dagegen iſt ein kleines Ganzes, das wohl auch die Welt unter einer
beſtimmten Beleuchtung im Gemüthe ſpiegelt, welches ja an ſich ein Mikro-
mus iſt, allein die Kleinheit des Umfangs iſt nicht gleichgültig, im einzelnen
Reflexe iſt nur ſehr mittelbar das Ganze der Welt und des Gemüths der
Perſönlichkeit enthalten. — Mit der Auffaſſung wird auch die Technik eine
andere. Unter dieſer verſtehen wir jetzt die äußere Form, die Rhythmik;
denn nicht wird, wie im Fortgang vom einen Gebiete der bildenden Kunſt
zum andern, oder, was dem Verhältniß eigentlich entſpricht, wie im Ueber-
gange von dieſer zur Muſik und von der Muſik zur Poeſie das ganze
Material gewechſelt, da ja alles eigentliche Material abgeworfen iſt und
mit einem geiſtigen Medium in Geiſt gearbeitet wird. Dieß muß aus-
drücklich noch geſagt werden, um daran die Wiederaufnahme des Satzes in
§. 538 zu knüpfen, der nunmehr ſeine völlige Begründung gefunden hat:
die Hauptformen der Poeſie ſind als die Wiederholung der großen Kunſt-
gebiete und der Haupttheile des Syſtems ſo bedeutend, daß ſie eigentlich
nicht dem entſprechen, was wir in den andern Künſten Zweige nennen,
aber die Geiſtigkeit des Elements läßt nicht die Iſolirung und Verſelbſtän-
digung dieſer Formen zu, welche in den andern Gebieten Künſte begründet,
und ſo erſcheinen dieſelben dennoch als Zweige einer Kunſt.
§. 864.
In der weiteren Eintheilung der Zweige tritt theils der Unterſchied der
Style, und zwar in tiefem Zuſammenhang mit dem des Mythiſchen und nicht
Mythiſchen, als entſcheidendes Moment auf, theils macht ſich ein Unterſchied
des Objectiven und Subjectiven in neuer, eigenthümlicher Bedeutung
geltend, theils greift mit einer Beſtimmtheit wie in keinem andern Gebiete der Un-
terſchied der Grundgegenſätze des Schönen (§. 402) durch. Daneben machen
ſich in verſchiedenen Verhältniſſen die andern Eintheilungsgründe (§. 540) geltend.
Der §. deutet an, welche Momente der Reihe nach innerhalb der Zweige
der Poeſie als Eintheilungsgründe für ihre einzelnen Formen an die Spitze
treten. Wir belaſſen es zunächſt bei dieſer Andeutung und bemerken nur
über das an zweiter Stelle genannte Moment ſo viel im Voraus: es
[1264] handelt ſich hier vom Lyriſchen und es wird ſich zeigen, daß in dieſem Ge-
biet an die Stelle deſſen, was wir Auffaſſungs-Unterſchied der Phantaſie
(bildend, empfindend, dichtend) nennen, ein anderer Unterſchied treten muß,
der mit ihm verwandt, aber nicht identiſch iſt: es wird ſich hier von ver-
ſchiedenen Graden handeln, in welchen der Stoff in das Gefühl eingeht,
ſich in inneres Gemüthsleben verwandelt oder von demſelben ſich wieder
ablöst. Dieß wird ſich ſeines Orts näher erklären und ebendamit der ab-
weichende Sinn, worin hier die Kategorie des Objectiven und Subjectiven
auftritt. Auch die entſcheidende Bedeutung, welche nun das dritte unter
den angeführten Momenten, der Gegenſatz des Ernſten und Komiſchen,
gewinnt, verfolgen wir jetzt noch nicht weiter, ſondern bemerken, was die
im §. zunächſt genannten Eintheilungsmomente betrifft, nur noch im All-
gemeinen, daß, wo eines derſelben an die Spitze tritt, die andern dadurch
nicht ihre Geltung verlieren, ſondern für weitere Unter-Eintheilungen auf
verſchiedene Weiſe beſtimmend werden, ſo namentlich auch jener Auffaſſungs-
Unterſchied, der nur im lyriſchen Gebiete ſich in einen andern verwandelt.
— Dazu kommen nun die Eintheilungsgründe, die außerdem in §. 540
allgemein aufgeſtellt worden ſind: es iſt die Stoffbeziehung der Phantaſie
(nach §. 403), welche untergeordnete Geltung gewinnt: man denke nur an
die heroiſch-mythiſche Welt des Epos, die reale des Romans und wieder
an den hiſtoriſchen, den ſocialen Roman u. ſ. w., an das politiſche und
an das bürgerliche Drama, wobei denn auch der Unterſchied des Styls im
höchſten Grade wichtig wird; ferner tritt der Unterſchied im Grade des
Umfangs noch einmal auf (Roman und Novelle, Drama und Farce) und
es wird ſich zeigen, ob in der engeren Eintheilung auch der des erfaßten
Moments entſcheidend eingreift; endlich macht ſich der Unterſchied der Technik,
worunter wir jetzt neben der Sprachform auch die Compoſitionsweiſe ver-
ſtehen, innerhalb der einzelnen Zweige geltend. Auch hierüber enthalten
wir uns noch aller Erläuterung, um nicht zu ſehr vorzugreifen.
[1265]
α. Die epiſche Dichtung.
1. Ihr Weſen.
§. 865.
Im Charakter der Objectivität, der vollen und ſcharfen Abſonderung
vom Subjecte, wie ſie dem Werke der bildenden Kunſt eigen iſt, kann der
Dichter ſeinen Gegenſtand nur dadurch hinſtellen und halten, daß er ihn als
eine vergangene Begebenheit erzählt. Als Erzähler bleibt er aber
neben dem Inhalt in naiver Syntheſe gegenwärtig und in ſeiner Thätigkeit
ſichtbar; nur dem Geiſte der Behandlung nach tritt er hinter ihn zurück und
weiß oder behauptet ſein Product nicht als ſolches, ſondern als ſelbſtändiges
Leben des Gegenſtands.
Es iſt zuerſt der Unterſchied des epiſchen Dichters vom bildenden Künſtler
in der Aehnlichkeit genauer in’s Licht zu ſetzen. Dieſer nimmt einen Stoff
in ſeine Phantaſie auf, greift dann zu körperlichem Materiale, formt, meiſelt,
malt daran und damit, bis ſein Phantaſiebild in voller, ſcharf abgeſchnit-
tener, räumlicher Gegenüberſtellung vor den Zuſchauer tritt. Jetzt iſt der
Künſtler verſchwunden, er hat ſein Werk ſtehen laſſen, wir finden es im
Raume vor wie ein ſchönes Natur-Object. Der Dichter aber bleibt bei
ſeinem Werke; er iſt thatſächlich auch weggegangen, nachdem er es vollendet
hat, aber während wir es genießen, mag es ein Anderer vortragen oder
mögen wir es leſen, iſt er dabei und darin, denn ſtatt des Materials hat
er ja nur das Wort, er ſpricht es, er ſpricht mit uns, bis wir zu Ende
ſind. Und dieß wird eben gerade ausdrücklich fühlbar, wo er uns Ver-
gangenes vorträgt: da leuchtet recht ein, wie wir im lebendigen Worte den
Dichter zugleich gegenwärtig haben, während der ihm ſo verwandte bildende
Künſtler ſchweigend ſein Werk im uneigentlichen Sinne erzählen läßt. Daher
heißt dieſe Gattung Epos: Wort. Wir nennen das Verhältniß zwiſchen
dem Dichter und dem Inhalt im Epos das einer naiven Syntheſe, weil
bei dieſem einfachen Vortreten des erzählenden Dichters noch gar nicht ge-
fragt wird, inwieweit er denn der Umbildner, Schöpfer des Inhalts ſei;
genug, ſein Subject iſt da. Soll ſein Werk in emphatiſchem Sinn objectiv
heißen wie das des bildenden Künſtlers, ſo muß dieſe Eigenſchaft anderswo
liegen, als in dem eigentlichen Verfahren. Zunächſt iſt es die Vergangen-
heit des Stoffs als einer Begebenheit, was die Objectivität mit ſich bringt.
Das Vergangene iſt fertig, abgeſondert vom Subjecte, tritt in beſchloſſenem
Gegenſchlag ihm gegenüber. Hiemit ſteht aber im innigſten Zuſammen-
[1266] hange der Geiſt des Verfahrens, der von der allgemeinen Kunſtform des
Verfahrens wohl zu unterſcheiden iſt. Gerade weil er ein vergangener iſt,
kann der Stoff ſo behandelt werden, als habe er ſich ſelbſt gemacht und
der Dichter thue nichts dazu, ſondern ſtehe blos mit dem Stabe daneben
und zeige die Bilder wie Sculpturwerke oder Gemälde, wo wir von Theil
zu Theil, von Bild zu Bild fortrücken; darin alſo liegt die tiefe Ver-
wandtſchaft mit dem bildenden Künſtler. Man hat dieß nicht immer unter-
ſchieden, wie man es ſollte; Hegel z. B. ſagt einfach, der epiſche Dichter
verſchwinde in ſeinem Gegenſtande, nur das Product, nicht aber er erſcheine
(Aeſth. Th. 3, S. 337), Göthe: der Rhapſode ſollte als ein höheres Weſen
in ſeinem Gedichte nicht ſelbſt erſcheinen u. ſ. w. (Briefwechſel zwiſchen Göthe
und Schiller B. 3, S. 378). Schon der antike Anruf an die Muſe ſpricht
aber aus, daß der begeiſterte Dichter gegenwärtig iſt, er kann auch ſonſt mit
lyriſchen Wendungen, mit Betrachtungen hervortreten, ohne daß darunter
die Objectivität im Geiſte des Verfahrens litte. Der §. ſagt: der Dichter
„weiß oder behauptet ſein Product nicht als ſolches,“ um dem Unterſchiede
des ächten, urſprünglichen Epos und der ſpäteren Formen, die näher am
Romane liegen, namentlich aber des Romans ſelbſt ſeinen Spielraum zu
laſſen, denn wir ſind noch im Allgemeinen. Der Dichter kann nämlich
noch immer vom epiſchen Geiſte der Gegenſtändlichkeit durchdrungen ſein,
obwohl er mit ſeiner Zeit ſchon weit entfernt iſt vom naiven Glauben an
die geſchichtliche Wahrheit ſeines Stoffs, von jenem Verhältniſſe, worin er
nur „Mund der Sage“ iſt und worin auch ein ſchöpferiſches Umbilden des
Gegenſtands von keinem vollen Bewußtſein der eigenen freien Thätigkeit
begleitet iſt; da wird er aber mit einer gemeſſenen, milden Ironie dieſes
Bewußtſein verbergen und ſich durchaus benehmen, als gebiete ihm der
Stoff, und dieß wird inſofern keine Unwahrheit ſein, als der Auffaſſung
nach allerdings die Nothwendigkeit des Weltlaufs ihm imponirt: das äſthe-
tiſche Spiel beſteht nur darin, daß er vermöge einer Vertauſchung der
Subjecte vorgibt, als gelte der Reſpect, den er der inneren Wahrheit zollt, der
äußeren, thatſächlichen. Allerdings gedeiht aber jener Geiſt der Gegen-
ſtändlichkeit beſſer, wo es dieſer Uebertragung nicht bedarf, ſondern der
Dichter mit ungetheilter Naivetät in der Sache iſt.
§. 866.
Hiedurch iſt die ganze Weltauffaſſung des Dichters bedingt. Er hat
allerdings in einer Handlung das Leben des Willens und ſeine Conflicte
darzuſtellen, aber als vergangen iſt dieſelbe der Nothwendigkeit anheim-
gefallen und ſtellt ſich mit allen übrigen Bedingungen des Geſchehens unter den
Standpunct des Seins, der Subſtantialität. Die Hauptperſon, der Held,
[1267] erſcheint daher trotz der Selbſtändigkeit der That, die jedoch überhaupt nicht
von ſchneidend radicalem Charakter ſein darf, als getragen vom allgemeinen
Strome des Weltlebens, auf den er als voller Menſch vielſeitig bezogen iſt,
und der innere Proceß des Willens, wie gründlich er auch aufgedeckt werden
mag, wird ebenſoſehr als ein äußeres Beſtimmtſein, die That als ſinnliche Be-
wegung der Außenwelt in der Breite ihrer Erſcheinung dargeſtellt.
Wir unterſcheiden das Weltbild des epiſchen Dichters von ſeiner Per-
ſönlichkeit und Stimmung und handeln zuerſt von jenem. Hier ſind nun,
wie Göthe nnd Schiller in ihren trefflichen Erörterungen über Epos und
Drama klar erkannten (vergl. a. a. O. B. 3, S. 374), alle weſentlichen
Züge vom Merkmale des Vergangenen abzuleiten, und dazu hat der
vorh. §. den Grund gelegt.
Der weſentliche Inhalt des Epos iſt Handlung; die Grundaufgabe
der Poeſie, Perſönlichkeit, Handlung, mithin inneres Leben (vergl. §. 842)
darzuſtellen, gilt natürlich auch dieſem Zweige und kann durch die folgenden
ſcheinbar widerſprechenden Bedingungen nicht aufgehoben werden. Schon
Ariſtoteles (Poetik C. 23) fordert für das Epos wie für die Tragödie
dramatiſchen Inhalt, d. h., daß Eine vollſtändige und vollendete Handlung
den Mittelpunct bilde. Sie bewirkt dieß dadurch, daß ſie die Vielheit des
Geſchehenden durch das Streben nach einem aus freier Willensbeſtimmung
geſetzten Ziele zur Einheit bindet. Dieß eben iſt der Unterſchied von der
bloßen Begebenheit, wie wir in §. 865 den Inhalt noch bezeichnet haben,
und hiemit, wie Ariſtoteles hervorhebt, von der Geſchichtſchreibung, deren
Verhältniß zur Poeſie in §. 848, Anm. beſprochen iſt. Allein die
Handlung im Epos iſt vergangen. Im Augenblick ihres Eintritts ſcheint
jede Handlung wie eine aus grundloſer Tiefe ſteigende, nur von ſich aus-
gehende, im tiefſten Sinne des Wortes radicale Macht den Complex des
Wirklichen zu durchbohren; iſt ſie aber vollendet und vorüber, ſo zählt man
ſie ſelbſt zu dieſem Complexe. Zunächſt einfach, weil nichts mehr an ihr
zu ändern iſt, ſie iſt nothwendig geworden; aber man blickt auch zurück,
man überſchaut ſie im Zuſammenhang, man urtheilt pragmatiſch, man
ſucht und findet die vielerlei Motive, die von außen und von innen wirkten
und auf weitere Motive und Urſachen zurückweiſen; ſie erſcheint ſo als
Wirkung, als ein Gegebenes; man blickt vorwärts und erkennt ſie als
Urſache einer Vielheit von Wirkungen, die mit dem Beabſichtigten, alſo
dem Willen, nur ſehr mittelbar zuſammenhängen. So reiht ſich trotz dem
innern Unterſchiede die Handlung in die Linie aller andern Urſachen und
Wirkungen ein, die als Ganzes nur die Bewegung des nothwendigen, ein-
fachen Seins iſt, und es ſtellt ſich auf einem Umwege der Begriff der Be-
gebenheit wieder her. Wenn Schiller (a. a. O. Th. 3, S. 86) ſagt, der
[1268] dramatiſche Dichter ſtehe unter der Kategorie der Cauſalität, der epiſche
unter der Subſtantialität, ſo iſt unter dem erſteren Begriffe die rein von
vorn anfangende innere Cauſalität zu verſtehen, nicht die Reihe der Cau-
ſalitäten, der äußeren und inneren miteinander, wie ſie eben als die Expanſion
der Subſtanz erſcheint. Das aber iſt richtig, daß Handlungen, die ſehr
nachdrücklich zunächſt den Charakter tragen, daß ſie den Faden des Gege-
benen revolutionär durchſchneiden, kein epiſcher Stoff ſind. Die Epochen
der Geſchichte, die dem Epos und die dem Drama den Stoff liefern, die
großen Männer, die mit dem Ganzen gehen, und jene, die ſich von den
Maſſen losreißen, iſoliren, um eine neue Ordnung der Dinge zu ſchaffen,
hat treffend Gervinus unterſchieden (Geſch. der poet. Nat.-Lit. der Deutſchen,
1. Ausg. B. 5, S. 491 ff.). Dieß führt uns auf die Organe der Hand-
lung und das Hauptorgan, den Helden im Mittelpunct. Er muß als ein
Subject der lebendigſten Selbſtthätigkeit hervorragen. Allein wie frei und friſch-
weg von innen heraus er handeln mag, ſo folgt doch eben aus dem einreihen-
den, an die Summe der Bedingungen anknüpfenden Charakter der Auffaſſung
und Stoffwahl, daß auch dieſe Selbſtthätigkeit wieder nur als Glied des
Complexes erſcheint, der als Ganzes nothwendig iſt; der epiſche Held
ſchwimmt mit ſtarkem Arme, aber nicht gegen, ſondern mit der Woge, und
die Waſſermaſſe, die er theilt, hält doch ihn ſelbſt. „Im Epos trägt die
Welt den Helden, im Drama trägt ein Atlas die Welt“ (J. P. Fr. Richter,
Vorſch. der Aeſth. §. 63). Dieſe Selbſtändigkeit ohne Iſolirung nimmt in
den Arten der epiſchen Poeſie allerdings verſchiedene Formen an und wird
faſt zum bloßen Verarbeiten von Eindrücken, Leidenſchaften, Bildungsmo-
menten in demjenigen Gebiete, wo es ſich nicht um Thaten, ſondern um
Bildung handelt (Roman; W. Meiſter z. B. iſt übrigens allzu unſelbſtändig),
aber der Grundbegriff bleibt der gleiche. — Mag nun die Thätigkeit des
Helden die lautere oder ſtillere ſein, die Entſchlüſſe keimen und gähren im
tiefen Grunde der Seele und es fragt ſich, ob oder wieweit die epiſche
Poeſie mit dieſem innern Proceſſe ſich zu beſchäftigen habe. Natürlich nicht
ſchlechthin darf man dieß verneinen, es bleibt vielmehr auch für dieſe Gattung
der Satz in Kraft, daß die Poeſie mehr, als jede andere Kunſt, den Grund
des Lebens in das Innere verlege und die Welt des Bewußtſeins ſchildere
(§. 842), allein nach zwei Seiten macht ſich die ſubſtantielle, ſächliche Auf-
faſſung des Epiſchen geltend. Der innere Proceß ſelbſt erſcheint mehr als
ein Beſtimmtſein, denn als ein Wollen, das Geiſteswerk ſelbſt als ein
Naturwerk, Wachſen, Reifen oder plötzliches Entſtehen; es kommt über den
Helden wie eine fremde Macht, den Achilles warnt eine innere Stimme,
ſeinen Zorn gegen Agamemnon mitten im Ausbruche zurückzuhalten: es
iſt Athene, die ihn an der blonden Locke faßt; ſo werden die innern Motive
ſelbſt zu Begebniſſen (Hegel a. a. O. S. 356. 357), und ſind es nicht
[1269] Götter, in denen das Subjective ſelbſt objectiv erſcheint, ſo ſind es Um-
ſtände, allgemeine Lebensmächte, moraliſche Nothwendigkeiten, die wie Na-
turnothwendigkeiten auf das Innere wirken, Inſtincte. Zu dieſer Seite
gehört noch weſentlich, daß im epiſchen Helden nicht die Straffheit ſeines
Zweckes die übrige Mannigfaltigkeit einer reichen Menſchennatur beſchränken
und ſtreng zuſammenſpannen darf: er muß ein voller, in reichen Beziehungen
gegen die Welt geöffneter, allſeitig empfänglicher, in mancherlei Verhältniſſen
ſich bewegender Menſch ſein (vergl. Hegel’s ſchöne Darſtellung Aeſth. B. 1,
S. 304. 305; B. 3, S. 361 ff.) Es folgt dieß aus dem Charakter der
Sächlichkeit, der Subſtantialität, der realen Bedingtheit; wo das Weltweſen
waltet, muß die Vielheit ſeiner Fäden vor Allem gerade in der Beziehung
auf das Centrum der Perſönlichkeit ſich behaupten, nach demſelben hin und
von ihm wieder auslaufen. Die andere Seite liegt auf dem Puncte, wo
das Innerliche ſich erſchließt. Es gilt trotz dem Obigen, daß das Epos
mehr den außer ſich wirkenden, als den nach innen geführten Menſchen
behandelt (Briefwechſel zwiſchen Göthe und Schiller a. a. O. S. 375. 376).
Der innere Proceß muß ſelbſt ſchon darauf angelegt ſein, daß er auf ein
breites, Maſſenbewegendes Wirken geht; geſchieht dieß nicht in dem Sinne,
daß die Handlung vor Allem die ſinnlichen Organe des Menſchen ſelbſt
gewaltig, heldenmäßig und dadurch erſt große äußere Maſſen (tantae
molis erat, Romanam condere gentem iſt ächt epiſch) in Bewegung ſetzt,
ſo muß doch in anderer Form, in Reiſen, Unternehmungen und Thätigkeiten
jeder Art, die in’s Weite gehen und ſich beziehungsreich in die Weltver-
kettung einflechten, das im Innern Gewordene dieſen in’s Aeußere ſtetig
auslaufenden Charakter offenbaren.
§. 867.
Weiter folgt aus der Grundbeſtimmung, daß der Held nicht iſolirt auf-1.
tritt, ſondern in inſtinctartiger Geſellung Viele zuſammenwirken. Mit der
maſſenhaften Fülle der Perſonen theilt ſich die Handlung in eine Mannigfaltig-
keit untergeordneter Handlungen. Neben den Menſchen und ihn bewegend tritt2.
auf gleiche Höhe des Intereſſes das ganze übrige Daſein in ſeiner Breite: die
ſämmtlichen Culturformen und vor Allem die Natur in der geſchloſſenen Ge-
ſetzmäßigkeit ihres Lebens und Bildens. Daher wird auch das Geſchichtliche
mehr im Elemente des allgemein Menſchlichen aufgefaßt und iſt das Epos dem
Sittenbilde verwandt.
Die epiſche Poeſie ſetzt Maſſen, ja ganze Völker in Bewegung, denn
ſind die innern Motive einmal ſächlich, ſubſtantiell gefaßt, ſo wollen ſie
auch große Bahnen, worauf Viele mitgehen. Sie wirken inſtinctiv, man
[1270] folgt dem Zuge des Zwecks als einer Macht, von der man gebunden iſt,
ohne zu fragen: warum? So halten die Griechen und die Nibelungen zu-
ſammen, ohne ſich von einer allgemeineren Idee als Grund ihres Handelns
Rechenſchaft zu geben, jene, um einen Frauenraub zu rächen, wobei ſie die
höhere Bedeutung des Kampfes von Occident gegen Orient kaum ahnen,
dieſe durch das Band der Vaſallentreue vereinigt. Auch der ſtillere Bruder
des Epos, der Roman und was ihm verwandt iſt, ſpielt immer unter
Maſſen, die etwas zuſammenbindet, was als unvordenkliches Geſammtproduct
unbeſtimmt vieler Individuen ſtärker iſt, als das einzelne Individuum, und
über der Willkür deſſelben ſteht. Daher fühlt ſich überhaupt auch in ein-
zelnen Anſchauungen alles maſſenhaft Bewegte epiſch an, z. B. das Gewoge
einer Menge, worin Alles blind mit dem Strome geht: ſo der Zug der
Ausgewanderten in Göthe’s Hermann und Dorothea, mit den Wagen-
ladungen, denen man die wahlloſe Haſt des Aufbruchs anſieht, der Wirr-
warr, der aus dem Gedräng ihrer Menge, ein andermal aus der Ungeduld
entſteht, womit man ſich auf eine Quelle ſtürzt. Ziehen, Wandern in
Menge iſt immer namentlich epiſch; der epiſche Menſch hat etwas vom
inſtinctmäßigen ſich Schaaren und Reiſen der Zugvögel, der Geſellung der
Thiere überhaupt, man iſt geneigt, Jäger-Ausdrücke wie Rudel u. dergl.
von ihm zu gebrauchen. Epiſch iſt das Heer des Xerxes mit ſeinen fremd-
artigen Völkern, Waffen, Trachten, wie es ſich gegen Griechenland heran-
wälzt, in der Schilderung des Herodot, epiſch iſt die Völkerwanderung.
Es folgt aus dieſer Maſſe der Mitwirkenden als eine Grundeigenſchaft des
Epos die Polymythie, die Erweiterung der Einen Handlung in viele
(Ariſtoteles a. a. O. C. 18), denn wo Maſſen ſich betheiligen, treten noth-
wendig beſondere Zwecke als Motive von Neben-Handlungen hervor. Dieß
führt auf die Epiſoden, wovon nachher bei Erörterung der Compoſition.
2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrſcht auch die Freude
an dem, was iſt, einfach an dem vielen Merkwürdigen, Großen und Schönen,
was es gibt. Dieſe Naivetät darf ſelbſt dem modernen, epiſchen Dichter
nicht fehlen. Daher vor Allem die Wichtigkeit der Culturformen. Darunter
iſt der Menſch in ſeiner äußeren Erſcheinung zu verſtehen, wie ſie die Ge-
fühls- und Auffaſſungsweiſe, den geiſtigen Bildungszuſtand einer Zeit, eines
Volks charakteriſirt; die geſammten, geiſtigen, ſittlichen Sphären, Wiſſen-
ſchaft, Kenntniſſe, Religion, moraliſche Begriffe, Vorurtheile und conventio-
nelle Maaßſtäbe, Verhältniſſe, Sitten: Alles dieß, ſofern es in beſtimmten
Formen erſcheint, durch die Hand der Technik auf einer beſtimmten Stufe
ſich in ſtehender Weiſe ausprägt, heißt Culturform. Von außen treten die
klimatiſchen, telluriſchen Bedingungen hinzu, aber nur, ſofern ſie mit der
geiſtigen Beſtimmtheit zuſammenwirken, begründen ſie Culturformen. Die
Kunſtſtyle ſelbſt heißen Culturformen, ſofern ſich die geiſtigen Grundzüge
[1271] einer Zeit überhaupt in ihnen ausdrücken; z. B. kirchliche Baukunſt und
Malerei wird dann nicht rein äſthetiſch, ſondern ſo zu ſagen ſymptomatiſch
als Theil des Gottesdienſtes, ſomit des innern Culturzuſtands überhaupt,
betrachtet. Waffen, Kleidung, Geräthe drücken die Art der Kriegsführung,
die Begriffe vom Angenehmen, Anſtändigen, Nützlichen aus; die Fertig-
keiten, durch die ſie hervorgebracht und womit ſie gebraucht werden, weiſen
dadurch mittelbar auch auf den tieferen Charakter einer Nation, Epoche,
auf die Höhe ihres Wiſſens und Fühlens, und ſo heißen ſie Culturformen.
Es handelt ſich alſo weſentlich immer darum, wie das Innere in ſeiner Erſchei-
nung ſich ausnimmt, das Aeußere hat allerdings weſentlich die Bedeutung des
Symptoms, aber dieß hebt das ſpezifiſche Intereſſe für die ſinnliche Erſchei-
nungsweiſe als ſolche nicht auf. Dieſe ganze Formenwelt rückt denn alſo
im epiſchen Gebiete mit der Handlung und dem innern Leben des Menſchen
in die Beleuchtung Eines ungetrennten poetiſchen Nachdrucks; man will
überall ſehen, wie der Menſch ſich gebahrt, im Umgange ſich bewegt, Gott
verehrt, baut, bildet, malt, fährt und reitet, kämpft, welche Geräthe er
gebraucht, wie er gekleidet iſt, ißt und trinkt. Dieß Alles erfreut gleichzeitig
und gleich innig das innere Anſchauungsbedürfniß wie den ſittlich geiſtigen
Drang, von dem eigentlichen Denken, Fühlen und Wollen einer Zeit ein
klares Bild zu bekommen. Da nun der tiefere Grund ſolcher Auffaſſungsweiſe
überhaupt darin liegt, daß ſie auf der Kategorie des Seins ruht, ſo erhellt
ferner von ſelbſt, daß vorzüglich das Gebiet, welchem dieſe Kategorie
urſprünglich und eigentlich angehört und von welchem ſie auf das menſch-
liche Leben übergetragen iſt, die Natur, mit kindlicher Freude angeſchaut und
beleuchtet wird: Luft, Licht, Land und Waſſer, Sturm und Stille, die
Pflanze und namentlich das Thier, das zum Menſchen, wo er im Sinne
des höheren Inſtinctlebens aufgefaßt wird, wie ein einfaches, unentwickeltes,
aber auch unverwickeltes Prototyp ſich verhält und als ſein Genoſſe und
Diener ihn fortſetzt nach der Naturſeite. Die Gediegenheit des Daſeins,
wie ſie ſich in compacten, klar umriſſenen, feſt gemeſſenen Geſtaltungen und
ebenſo mächtigen, Alles tragenden, nährenden, umhüllenden, elementariſchen
Potenzen offenbart, erfreut den offenen Sinn für Realität, Kraft und
Form.
Es leuchtet ein, daß das Epos eine tiefe Verwandtſchaft mit dem
Sittenbilde hat, denn dieſes „faßt den Menſchen unter dem Standpuncte
des Seins, der Zuſtändlichkeit auf“ (vergl. §. 696 Anm., wozu in §. 697
bereits der Begriff des Epiſchen vorausgenommen und auf dieſes Gebiet
angewandt werden mußte). Und dieß führt zurück auf den Standpunct des
allgemein Menſchlichen (§. 702). Die Parallele gilt nicht nur einer beſon-
dern Form, die dem Sittenbilde ſpezieller verwandt iſt und die wir unter-
ſcheiden werden, ſondern auch dem großartigen heroiſchen Epos. Es ruht
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 82
[1272]auf Geſchichte, aber die Sage, die dem Dichter vorarbeitet, und die Auf-
faſſung, die er hinzubringt, arbeitet aus jener Spannung der Kräfte auf
den Moment, der ſich geſchichtlich verewigt, die rein menſchlichen Züge und
die Zuſtände heraus, die ſich unter den Jahrzahlen der Geſchichte im ruhigen
Kreislaufe des Lebens gleich bleiben, und die Thaten behalten ihre Größe,
werden aber dennoch in die Beleuchtung des Zuſtändlichen gerückt. Man
könnte näher auf das geſchichtliche Sittenbild hinweiſen, namentlich bei dem
hiſtoriſchen Romane.
§. 868.
Durch dieſe Fülle des Inhalts gibt die epiſche Poeſie ein ganzes Welt-
bild: ein Nationalleben, ein Zeitalter in der Geſammtheit ſeiner Zuſtände,
und darin ausdrücklicher, als es andere Kunſtformen vermögen, einen Spiegel
des Menſchenlebens überhaupt, alſo eine Totalität. Dieſes Gemälde der
breiten Verkettung des Weltverlaufs iſt durchdrungen von Schickſalsgefühl, aber
das Schickſal waltet im Sinne des Verhängniſſes, d. h. als das Ergebniß
dunkler Zuſammenwirkung unendlicher äußerer Urſachen mit dem menſchlichen
Willen; der Zufall ſpielt darin eine Rolle, die ſich rechtfertigt, das Tragiſche
in ſeiner erſten Form, als Geſetz des Univerſums, entſpricht weſentlich dem
ganzen Standpuncte, der Ausgang aber iſt zwar nicht nothwendig, doch vor-
herrſchend ein glücklicher.
Totalität im intenſiven Sinne iſt Grundbeſtimmung alles Schönen
als eines Mikrokoſmus; in keinem Zweige der Kunſt gilt ſie ſo ſehr auch
im extenſiven Sinne, wie im Epos. Es gibt durch ſeine Breite ein relativ
Ganzes von ungleich größerem Umfang, als irgend ein anderes Werk der
Kunſt: ganze Nationen werden nach allen Seiten ihres Lebens, Bildungs-
zuſtands, Strebens, dazu im Conflicte mit andern geſchildert. Der Roman,
wiewohl er die großen Lebensäußerungen weitgreifender That nicht oder
nur als Hintergrund in ſich aufnimmt, gibt doch in ſeiner wahren Geſtalt
ebenfalls ein umfaſſendes Bild der Geſellſchaft, Nation, Zeit. Die kleineren
Formen, Idylle und Novelle, können keinen Einwand gegen dieſe Natur
der epiſchen Poeſie begründen, denn auch ſie dehnen doch ihre Darſtellung
ſo vielſeitig auf die Lebenszuſtände aus, daß von dem zwar engeren Saum
überall die ſichtbaren Fäden hängen, an die wir leicht die Vorſtellung der
Zuſtände des größeren Kreiſes knüpfen. Nun iſt natürlich zwiſchen dem
ſehr Vielen, dem relativ Ganzen, welches ſich in der epiſchen Dichtung vor
uns ausbreitet, und dem wirklichen Ganzen der Menſchheit, Geſchichte und
Natur die Kluft an ſich nicht weniger unendlich, als wenn jenes relativ
Ganze ein kleineres wäre, allein eine Dichtung, die ausdrücklich ſehr viel
[1273] umfaßt, weist uns doch mit breiterer Hand hinaus auf die unendliche
Perſpective des unausmeßbaren Ganzen. Es handelt ſich freilich in allem
Idealen nicht um das Extenſive, ſondern das Intenſive, nicht um Quan-
tität, ſondern Qualität, und jeder Künſtler und Dichter hat „ſeinen Leſer
in einen Mittelpunct zu ſtellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen
in’s Unendliche laufen“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30), allein die
innere Unendlichkeit entwickelt ihre Lebensfülle in der äußern, die Intenſion
in der Extenſion, die Qualität in der Quantität und je mehr mich der
Dichter wirklich zu ſehen anleitet, um ſo mehr und voller leitet er mich an,
den ganzen Reichthum auch des nicht Geſehenen als Ausdehnung der Sub-
ſtanz zu ahnen. Daher iſt das ächt Epiſche von einem Gefühle begleitet,
als höre man einen breiten, unausſprechlich mächtigen Strom brauſen, als
rauſche die ganze Geſchichte in gewaltigen Wogen an uns vorüber. Darin
liegt zugleich das volle Gefühl des Erhabenen der Zeit (vergl. §. 93. 94);
man ſieht die Geſchlechter kommen und gehen, wachſen und welken. Ein
tief und ächt epiſches Gefühl knüpft ſich an den uralten Birnbaum in
Göthe’s Hermann und Dorothea, der, wie heute, die Schnitter, die Hirten
und Heerden ſchon ſo viele Generationen hindurch in ſeinem Schatten hat
ruhen geſehen und noch ſehen wird. Der Dichter hat aber zu zeigen, wie
im Mittelpuncte dieſes weit ausgebreiteten Daſeins die ſittliche Welt ſteht,
in der ein ewiges Geſetz der Gerechtigkeit ſich vollzieht, und ſo iſt jenes
Gefühl eines unendlichen Fluſſes in ſeinem tieferen Gehalte Schickſalsgefühl.
Es ſcheint weit mehr vom Drama, als vom Epos zu gelten, daß es durch
und durch von Schickſalsgefühl getränkt ſei. Allein dann wird dieſer Be-
griff in dem ſtrafferen Sinn eines engen Zuſammenhangs zwiſchen der
freien That und ihren Folgen genommen; im Epos dagegen herrſcht das
Schickſal als der Factor des unendlichen Complexes des Weltverlaufs, worin
die Acte des Menſchenwillens nur einzelne Wellen ſind, worin der ſittliche
Zuſtand, der ſich als Summe der Zuſammenwirkung unbeſtimmt vieler In-
dividuen ergibt, ſich ununterſchieden mit allem dem verflicht, was natürliche
Urſachen, äußere Bedingungen jeder Art hinzubringen, und worin der Begriff
des Zuſammenhangs zwiſchen Schuld und Leiden ſich mehr in das Weite
und Loſe verlaufen muß. Es iſt allerdings angemeſſener, dieß Verhäng-
niß zu nennen: „im Epos wohnt das Verhängniß, — da der Charakter
hier nur dem Ganzen dient und da kein Lebens- ſondern ein Weltverlauf
erſcheint, ſo verliert ſich ſein Schickſal in das Allgemeine“ (J. P. Fr. Richter
a. a. O. S. 63). Dieß führt auf den breiten Spielraum des Zufälligen
im Epos. Der Begriff eines Complexes, einer Cauſalitäts-Verkettung, den
wir vom Epos aufgeſtellt haben, widerſpricht demſelben nicht; das Zufällige
iſt immer motivirt, nur der gegenwärtige Zuſammenhang zeigt nicht ſeine
Motivirung. Dem Epos genügt dieß; der zuſtändliche Menſch, der Sohn
82*
[1274]der Natur, darf ſich über die Irrationalität in der Durchkreuzung der Na-
turgeſetze nicht beklagen; es iſt nur in der Ordnung, wenn ihn ohne ethiſchen
Zuſammenhang das Geſetz der Schwere, des Falles, des Erkrankens in Folge
gewiſſer Urſachen trifft, und über den glücklichen Zufall, der ihm Stärke,
Reichthum u. ſ. w. ertheilt, darf er ſich freuen, ohne ihn ängſtlich vom
Verdienſte zu unterſcheiden (Schiller’s Gedicht: das Glück iſt epiſch gefühlt);
das Gut wird nicht minder geſchätzt, als das Gute, und es genügt, daß
der Eingriff des Zufalls in den ſittlichen Zuſammenhang, der ihm in ſeinem
Anfangspuncte fehlt, im Fortgang, an ſeinem Endpunct aufgenommen werde.
Odyſſeus iſt ein wahrer Spielball des Zufalls, der als Götterlaune doch
nicht ethiſch motivirt iſt, und er bethätigt ſich als Heldenſeele, indem er
ſich hindurchringt. Es iſt im Ganzen dieſer Verhältniſſe begründet, daß
jene Form des Tragiſchen, die der §. aus dem erſten Theil (§. 130. 131)
anführt und die wir auch das Naturtragiſche nennen können, vorzüglich
dieſer Weltanſchauung entſpricht. Früher Tod eines jugendlich ſtrahlenden
Helden iſt Hauptinhalt der großen ächten Heldengedichte des Alterthums;
aber auch abgeſehen von beſtimmten Theilen der Fabel liegt ein Flor der
Wehmuth über jeder wahren epiſchen Dichtung, der nur vollſtändiger zu
erklären iſt, als Hegel gethan hat, indem er blos die Einzelſchickſale berück-
ſichtigt (a. a. O. S. 366. 367). Es bringt ſchon der Klang der Ver-
gangenheit, jenes Zeitgefühl im Epiſchen den Ton der Trauer mit ſich:
wir ſehen die Geſchlechter kommen und gehen und werden einſt auch hinab-
ſinken. Im ächten, urſprünglichen Heldengedicht hat aber dieſer elegiſche
Hauch den beſonderen, tieferen Grund: der Untergang der Helden, namentlich
des jugendlichen Heros, iſt ein Bild des unabänderlichen Entſchwindens
des Jugendalters, des Jünglings-Lebens der Völker, das noch keine Proſa
kennt; natürlich kein abſichtliches Bild, ſondern unbewußter Ausdruck eines
tiefen Gefühls. Es folgt aber aus dieſem Stimmungs-Elemente keines-
wegs die Nothwendigkeit tragiſchen Endes für das Ganze des Epos. Hier
wird ſich vielmehr das Gefühl geltend machen, daß eine Kraft in den
Nationen iſt, welche den Untergang ihrer Jugend-Epoche überlebt: dieß iſt
der eine Grund für das Vorherrſchen glücklichen Schluſſes in dieſer Dich-
tungsart, der andere liegt im Weltbild überhaupt, ſofern es keine revo-
lutionär durchbrechende Thaten zum Mittelpunct hat, in der Harmonie
des Willens mit den Naturmächten, der „Eingeſtimmtheit der Helden mit
dem Schickſal“ (Gervinus a. a. O. S. 490). Glücklicher Schluß entſpricht
insbeſondere jener vorläufig ſchon berührten Form des Epos, die dem Sit-
tenbild in engerem Sinne verwandt iſt, denn wo es ſich weniger um
große Thaten, als um perſönliche Schickſale, häusliches, geſelliges Leben
handelt, da tritt der Begriff der Schuld und der großen Kluft des Lebens
zurück und mögen wir das freundliche Glück walten ſehen. Dabei wird
[1275] aber jene Stimme der Wehmuth immer ein weſentliches Moment des Epos
bleiben, der glückliche Schluß überall die dunkle Folie eines tragiſchen Hin-
tergrundes haben, wie der Sieg des Achilles den Tod Hektors, den Fall
Troja’s, den bevorſtehenden eigenen frühen Untergang, der Sieg des Odyſ-
ſeus eine lange Leidenszeit des Helden ſelbſt und die furchtbaren Schickſale
der anderen Kämpfer vor Troja und ihrer Häuſer. Es iſt jedoch auch
tragiſcher Schluß durch den Charakter des epiſchen Weltbildes nicht ausge-
ſchloſſen: das Tragiſche des Conflicts gehört nicht dem Drama allein an,
es kann auch in Zuſtänden ſeine Rolle ſpielen, die übrigens naive Cultur-
form haben und in denen keine bewußten Kämpfe um Prinzipien geführt
werden. Wir kommen darauf bei dem Nibelungenliede zurück.
§. 869.
Der Dichter ſchwebt über dieſem großen Stoffe mit dem Gleichmuthe1.
der parteiloſen Betrachtung, den der Standpunct der Allgemeinheit mit ſich
bringt, und mit der milden Ironie, welche die Begeiſterung nicht ausſchließt.
Indem dieſe Grundſtimmung mit der Aufgabe, das Geſchäft der bildenden Kunſt
in der Form der Poeſie zu übernehmen, ſich vereinigt, beſtimmt ſich das Styl-
geſetz des epiſchen Dichters dahin, daß er mit der Ruhe der Gegenſtändlichkeit
die Dinge als gediegene Geſtaltungen des Seins mehr in ihrer Erſcheinung,
als in ihrem innern Geheimniß und ihrer Wirkung auf das Innere ſchildern,
daß er nicht ſtoßweiſe, ſondern ſtetig, Eines aus dem Andern entwickelnd fort-
ſchreiten ſoll. Er hat durch die Ausführlichkeit ſeines Verweilens zu zeigen,
daß hier der Zweck in jedem Puncte der Bewegung ſelbſt liegt. Der gemeſſenen,2.
breiten, ruhig großartigen Fortbewegung hat die äußere Sprachform den gemäßen
rhythmiſchen Ausdruck zu geben.
1. Wir ſind zu dem Dichter übergegangen und begründen jene Grund-
ſtimmung der contemplativen Ruhe mit Schiller (a. a. O. S. 388) einfach
darauf, daß ſich derſelbe um die Begebenheit als eine vollendete bewegt,
daß ſie ihm nicht entlaufen kann, daß er ſchon im Anfang und in der
Mitte das Ende weiß. Daher keine Aufregung, daher die ruhige Freiheit
des Gemüths, das wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte ſcheint
und ſein Licht mit parteiloſer Gleichheit vertheilt. Ob naiv oder bewußt,
Volks- oder Kunſtdichter, er wird eben, weil er Alles mit gleicher Liebe
umfaßt, ſelbſt dem Böſen und Schlechten nicht zürnt, da es doch ein
Ferment der geſchichtlichen Bewegung iſt, am Guten, Tüchtigen, Geſunden,
Großen ſeine Herzensfreude hat, ohne doch ſeine Schwächen zu überſehen,
im milden Sinne des Worts immer ironiſch ſein, man wird ein Gefühl
haben, als ob ein feines Lächeln, weit entfernt von jeder hohlen Eitelkeit
[1276] ſubjectiver Ueberbildung, ſeine Lippen umſpiele. Dieß widerſpricht im Ge-
ringſten nicht dem hohen Schwunge, mit welchem ihn die Majeſtät ſeines
Weltbildes erfüllt. Hiezu haben wir nun §. 865 wieder aufzunehmen und
danach die Aufgabe des epiſchen Dichters als ſpezifiſche Art des Verfahrens
näher zu beſtimmen. Es iſt ihm aus der Totalität der Künſte, wie ſie in
der Poeſie geiſtig enthalten iſt, durchaus vorherrſchend das Moment zu-
gefallen, wodurch in dieſer die bildende Kunſt ſich wiederholt: er hat
darzuſtellen, zu ſchildern, zu bauen, zu meiſeln, zu zeichnen, zu malen, nur
daß er das unterſcheidende Grundgeſetz ſeiner Kunſt nicht verkennen darf,
das in §. 847 aufgeſtellt iſt. Klar, in ſcharfen Umriſſen, nicht mehr ver-
wachſen und verklebt mit ſeinem Innern, ſoll er die Geſtalt der Dinge vor
uns hinſtellen. Er muß vorzüglich auf das Auge organiſirt ſein; wem es
gleichgültig iſt, wie die Dinge ausſehen, wer ſich nicht um Körperformen,
Kleider, Geräthe, Arten der ſinnlichen Bewegung in allem Thun bekümmert,
der iſt zum epiſchen Dichter verloren. Auf die Vereinigung dieſes Ver-
fahrens der auf das Auge organiſirten Phantaſie mit jener Ruhe der
Objectivität, gründet ſich nun das Stylgeſetz dieſer Form der Dichtkunſt.
Göthe’s Natur iſt wahrhaft typiſch für dieſelbe. Er ließ immer „die Dinge
rein auf ſich wirken“ und gab ſie rein wieder, es lag ſo viel vom bilden-
den Künſtler in ihm, als eben recht iſt, um für das innere Auge zu leiſten,
was jener dem äußeren hinſtellt; ſein Gemüth ſcheute ſich vor ſchroffen
Thaten der Freiheit in der Geſchichte und ſtrebte mild und verſöhnt zum
allgemein Menſchlichen, die „ſtrenge, gerade Linie, nach welcher der tragiſche
Poet fortſchreitet, ſagte ſeiner freien Gemüthlichkeit nicht zu“, er „erſchrack
vor dem bloßen Unternehmen, eine Tragödie zu ſchreiben“; der feſte Zeichner
und der hoch in der Vogelperſpective der reinen Allgemeinheit der Idee
ſchwebende Betrachter verbinden ſich in ſeinen Werken ſo, daß ſie „ruhig
und tief, klar und doch unbegreiflich ſind wie die Natur“, daß die „ſchöne
Klarheit, Gleichheit des Gemüths, woraus Alles gefloſſen iſt“, bewundert
werden muß (vergl. a. a. O. B. 3, S. 361. 356. B. 2, S. 79). Es
verſteht ſich, daß durch die Aufgabe des Zeichnens und die Grundbedingung
eines ruhig geſtimmten Gemüths das Stimmungsvolle, wodurch in der
Poeſie auch die Muſik ſich wiederholt (§. 839, 2.), nicht ausgeſchloſſen ſein
kann, aber das geiſtig bewegte Weſen ſeiner Kunſt verführt den Dichter
leicht, zu viel zu ſtimmen, zu wenig zu bilden (vergl. W. v. Humboldt
a. a. O. S. 49); Göthe iſt auch hierin Muſter: der bewegteſte Stimmungs-
hauch zittert um ſeine Geſtalten, ohne je ihre Umriſſe zu lockern. Es gibt
wohl innerhalb des epiſchen Gebiets einen Unterſchied des Plaſtiſchen und
Muſikaliſchen, Bildenden und Stimmenden, aber die Grenze, worüber die
letztere Behandlungsweiſe nicht gehen darf, iſt deutlich genug; ein Klopſtock
z. B., dem es ganz an Auge und Sinn für Handlung gebricht, iſt ganz
[1277] und gar unepiſch und nur im lyriſchen Gebiete wahrer Dichter. — Das
Stylgeſetz muß ſich nun auch in der Art der Fortbewegung äußern.
Die heutige Neigung, im Roman auf Ueberraſchungen und ſtarke Stöße zu
arbeiten, in rapidem Scenenwechſel Neues auf Neues zu pfropfen, die Haupt-
fabel in unaufhörlichem Abbrechen bis zur äußerſten Spannung der Unge-
duld hinzuhalten, zeigt durch das Gegentheil des Richtigen recht das Richtige.
Die ſtarken ſtoßweiſen Wirkungen ſind, wie ſich zeigen wird, dramatiſch
und ein ſolches Haſchen nach denſelben (das jedoch überhaupt unkünſtleriſch
iſt und auch im Drama jedes Maaß überſchritte) zeugt zugleich von unſerer
Ueberſättigung, die nicht ruht, bis ſie jede Gattung aus den Fugen bringt
und in die andere hinüberſteigert. Schon die Fülle des anhängenden
Sinnlichen bringt einen Tenor der epiſchen Darſtellung mit ſich: daß man
zwiſchen dem Größten und Furchtbarſten ißt, trinkt, ſchläft, ſich kleidet,
ſchon das vermittelt die Gegenſätze, füllt die ſchroffen Sprünge aus. Doch
iſt gewaltſam Einbrechendes, ergreifend Plötzliches dadurch natürlich nicht
unterſagt. Der höhere Grund der mildernden Ueberleitung liegt in der
Ruhe des Dichters und in jener Anſchauung, für welche Alles ebenſowohl
begründet und begründend, als eine reine und ſelbſtändige Erſcheinung des
allſeitig begründeten Weltganzen iſt. Daher wird er auch das Erſchütternde
reichlich vorbereiten und in die Breite verhallen laſſen, ohne darum die
Gewalt ſeines Ausbruchs zu ſchwächen, denn wir erſchrecken z. B. über ſehr
furchtbarem Geräuſch auch wenn wir es erwartet haben. Daher werden
ſeine Gemälde „gegliederten Ketten gleichen, in welchen Bewegung aus
Bewegung, Figur aus Figur entſpringt, das Ganze wird in ſeinen einzelnen
Gruppen durch nirgends unterbrochene Umriſſe eine einzige Figur bilden, —
die Empfindungen folgen durch leiſe Uebergänge aufeinander, abſtechende
Töne werden durch Zwiſchentöne gemildert, erſchütternde allmälig vorbereitet
und ruhig verhallen gelaſſen, — die Handlung geht ununterbrochen fort,
jeder Umſtand fließt als nothwendige Folge aus dem Vorigen her und
herrſcht ſo das Geſetz durchgängiger Stetigkeit“ (W. v. Humboldt a. a. O.
S. 57. 58. 161. 164. 218. 219). Was das Spannen betrifft, ſo darf
man dieſe Wirkung allerdings vom Epos nicht ganz ausweiſen; Hektor’s
Schickſal z. B. zu erfahren mußte jeder Hörer begierig ſein und dieſe Be-
gierde wurde nicht aufgehoben dadurch, daß er es wie das Ende des ganzen
Kriegs durch die Sage zum Voraus wußte, denn der Dichter gab dem
Ganzen und jedem Theile den friſchen Glanz der Neuheit, wohl aber war
dadurch die pathologiſche Gewalt der Neugierde gebrochen und ſo die ideale
Intereſſeloſigkeit im Intereſſe geſichert. Wir werden dieſen Punct bei dem
Roman wieder aufnehmen und ſagen hier nur ſo viel, daß, wer ein Werk
dieſer Gattung künſtleriſch genießen will, immerhin das Ende vorweg leſen
mag, um den ſcharfen Pechfaden der Neugierde, mit dem der Roman-
[1278] dichter uns anſchnürt, durchzuſchneiden. Die Weiber freilich thun daſſelbe
aus anderem Grund und mit anderem Erfolg; haben ſie die Endpuncte vor-
weggenommen, ſo verlieren ſie den Genuß der Linie zwiſchen beiden. —
Der wahre epiſche Dichter „ſchildert uns das ruhige Daſein der Dinge
nach ihren Naturen; ſein Zweck liegt ſchon in jedem Puncte
ſeiner Bewegung, darum eilen wir nicht ungeduldig zum Ziele, ſondern
verweilen mit Liebe bei jedem Schritte“ (Schiller a. a. O. Th. 3, S. 73).
2. Was der §. ganz allgemein über das Versmaaß ſagt, iſt hier
noch nicht näher auseinanderzuſetzen, um für die tiefen Unterſchiede bis zum
metriſch nicht gebundenen Wohlklange der Proſa im Roman Raum zu laſſen.
Es genügt der allgemeine Satz, daß die epiſch rhythmiſche Form vor Allem
die Hoheit der Empfindung auszudrücken hat, welche das mächtige Welt-
bild des Inhalts mit ſich bringt, daß derſelbe ſich als Ruhe im Fortſchritt,
als feierlich gemeſſener Gang äußern muß, dem aber ein belebender Wechſel
von Beſchleunigungsverhältniſſen nicht fehlen darf. Der Gang des Hexa-
meters bleibt freilich für dieſen Zweck ſo normal, daß er ſchon hier wie
ein Dogma genannt werden darf.
§. 870.
Für die epiſche Compoſition entſpringt hieraus das Geſetz der ſtetig
fortſchreitenden, die Contraſte dämpfenden Motivirung, aber zugleich das Geſetz
der ſtarken Herrſchaft rückſchreitender und hemmender Motive, der relativen
Selbſtändigkeit der Theile, und eines bedeutenden Spielraums für die Epiſode
2.(vergl. §. 496). Die Maſſe, die ſich auf dem weiten Sehfelde wie auf einer
unendlichen Fläche ausbreitet, iſt durch beſtimmte Auseinanderhaltung eines
Hintergrundes und eines die Hauptgruppe enthaltenden Vordergrundes näher
zu gliedern und in der Vielheit einzelner Handlungen durch die Alles bindende
Haupthandlung mit Anfang, Mitte und Schluß die Einheit zu ſichern.
1. Was über die Art der Fortbewegung geſagt iſt, greift bereits in
das Compoſitionsgeſetz ein. Wir haben die Motivirung als ein weſentliches
Band des Zuſammenhalts der Einheit und Vielheit in der geiſtigen Orga-
niſation des Kunſtwerks erkannt (§. 499). Es erhellt nun aus Allem,
was als epiſche Stylbedingung ſich ergeben hat, daß dieſes Moment in
ganz beſonderem Sinne zu den Aufgaben der epiſchen Compoſition gehört,
und daſſelbe umfaßt das ganze Gebiet der vermittelnden, lückenlos fortführenden
Wirkungen, das Reichliche, Gefüllte, die völlige Auswicklung, die Milderung
der Contraſte. Dieſe mögen in vollem Kampf aufeinanderſtoßen, aber die-
ſelbe liebende Hand hat die Griechen und Trojaner, Achilles und Hektor,
Odyſſeus und die Freier, ſelbſt Polyphem mit dem Fluſſe der plaſtiſchen Linie
[1279] bedacht und zu harmoniſchen Gruppen ohne wilden Riß vereinigt. Das Geſetz
der Motivirung ſteht natürlich nicht außer Zuſammenhang mit dem Inhalt,
es fordert Ableitung des Einzelnen aus genügenden Urſachen und Trieb-
federn, allein das Verhältniß der rein künſtleriſchen Bindung zur Bindung des
Inhalts iſt ein freieres, als wir es im Drama finden werden; der Faden
mag ſchwach ſein, wenn ihn nur der Dichter ſchön knüpft, die Cauſalität
im Einzelnen eine loſe, wenn nur der Eindruck einer allgemeinen Welt-
Cauſalität durch die Behandlung des Ganzen geſichert iſt. Wir haben dem
Zufalle großen Spielraum gelaſſen (§. 868); der Dichter wird ihn ſo ein-
führen, daß er, obwohl an ſich zunächſt unmotivirt, ſich doch ruhig und
elaſtiſch in den Zuſammenhang einfügt. Hier iſt alſo kein Widerſpruch; eher
ſcheint ein ſolcher zu entſtehen durch die andern Momente des Compoſitions-
geſetzes, die der §. zunächſt folgen läßt, denn ſie führen in gewiſſem Sinne
zu einer Zerſchneidung des Bandes zwiſchen den Theilen. Der epiſche
Dichter hat mit einem ſucceſſiven Mittel das Zeitliche nach mehreren Dimen-
ſionen darzuſtellen, er muß daher den Faden oft abbrechen, um nachzuholen,
was gleichzeitig mit dem eben Erzählten oder vor der Zeit, in welcher wir
uns befinden, geſchehen iſt („rückwärtsſchreitende Motive“ Göthe im Briefw.
mit Sch. Th. 3, S. 376); er bewegt ſich in einem ungemein breiten Raume und
muß uns daher oft in einem Sprunge von dem einen Ort in den andern
verſetzen, von den Freiern zu dem reiſenden Telemach, von dieſem zu
Odyſſeus bei den Phäaken u. ſ. w. Der innere Gang der Handlung ferner
iſt nach allem ſchon Ausgeführten ein zögernder, der in eine Maſſe von
Mithandelnden, von Bedingungen der Natur und Cultur hineingeſtellte
Menſch begegnet vielen Hemmniſſen („die retardirenden Motive“, von Göthe
a. a. O. ungenau der dramatiſchen und epiſchen Dichtung in gleichem Maaße
zugeſchrieben). Die Odyſſee und Gudrun ſind ihrer ganzen Compoſition
nach vorzüglich auf Hemmungen gebaut (vgl. Zimmermann über d. Begr.
d. Epos S. 120). Es liegt aber tiefer und allgemeiner im ganzen Stand-
puncte, daß der Dichter oft ſtehen bleibt, oft Seitenwege einſchlägt, denn
wir haben geſehen, daß im Grunde alles tüchtige Daſein ihm gleich in-
tereſſant iſt; der dramatiſche Dichter geht ſtraff gerade aus und wirft raſch
nieder, was ihm im Weg iſt, der epiſche gleicht dem Luſtwandler, der ſich
überall aufhält; „Selbſtändigkeit der Theile macht einen Hauptcharakter
des epiſchen Gedichtes aus (Schiller a. a. O. S. 73). Es entſpringen
daraus Beſtandtheile, welche von der Handlung nicht ſtreng gefordert ſind,
und ſo ergibt ſich die große Rolle, welche im Epos die Epiſode ſpielt.
Wir müſſen zu ihr auch die Ausführlichkeit der Vergleichungen zählen.
Wir haben in §. 854 Anm. die epiſche Vergleichung charakteriſirt. In ihrer
ruhigen Objectivität liebt ſie es, ſich in einem Grade zu entwickeln, der
weit über den Vergleichungszweck hinausgeht. Allein dieß Alles hebt in
[1280] der ächten epiſchen Poeſie die Stetigkeit des Fortſchritts, den ruhigen Ueber-
gang der Linien, das Herauswachſen der Theile auseinander nicht auf,
denn dieſe Bedingungen fordern nicht eine ſtraffe Anknüpfung der Theile
aneinander, ja gerade die Liberalität, womit die Einheit herrſcht, iſt ihnen
günſtig und begründet das Runde, Fließende der Verbindungen. Der ächte
epiſche Dichter ſetzt den Leſer durchaus in die Stimmung, daß er, auch
wenn innegehalten oder der Weg verlaſſen wird, ſich ruhig bewußt bleibt,
es werde weiter gehen und auf die Bahn wieder eingelenkt werden. Bricht
er den Faden ab, ſo zeigt er doch zugleich, daß er das Ende noch in der
Hand hält, ihn wieder anzuknüpfen. So wenn er den Zeitpunct verläßt
und uns zu Früherem wegführt. Im Anfang der Odyſſee fliegen wir mit
dem Blicke der Götter leicht von Odyſſeus und der Inſel der Kalypſo zu
Telemach nach Ithaka, von Argos wieder zu den Freiern; wir ahnen, daß
der Vater und Sohn im Kampfe gegen dieſe zu Einer lebendigen Gruppe
ſich vereinigen werden. Bei den Phäaken erzählt Odyſſeus ſeine Irrfahrten
ſeit der Zerſtörung von Troja, da müſſen wir in der Zeit bedeutend zurück,
aber Alles iſt ebenſoſehr gegenwärtig, denn mit dem Inhalte des erzählten
Vergangenen ſteht der Held, der es erlebt hat, als der Erzähler vor uns,
und wir ſehen voraus, daß ſeine Leiden die Prüfungen ſind, durch die er
zum künftigen Siege geht. Die eigentlichen Hemmungen der Handlung
können keine Störungen ſein, denn ſie zeigen doch nur das gemeſſene Vor-
ſchreiten der thätigen Kraft; mag ſie ſich auch, wie der grollende Achilles,
eine lange Zeit in ſich zurückziehen, ſie wird nur um ſo furchtbarer wieder
hervorbrechen. Für die Epiſode haben wir dreierlei verlangt: eine äußere
Anknüpfung im Sinne der Cauſalität, — dieſe darf loſe ſein, wie z. B.
das Bedürfniß einer ausgezeichneten Wehr, wodurch wir das ausführliche
Gemälde des Schildes des Achilles erhalten, — die Wirkung eines Ruhe-
punctes und die wirkliche Erweiterung des Lebensbildes: beides trifft auf
die ſchönſte Weiſe eben in dieſem Beiſpiele zu. Die Bekenntniſſe einer
ſchönen Seele in W. Meiſter’s Lehrjahren fallen namentlich unter den Be-
griff des Ruhepunctes: im Getümmel und der Zerſtreuung der Welt ein
Bild der Sammlung, der tiefen, ſtillen Einkehr in ſich. Die ſtärkere Be-
ziehung iſt aber natürlich die zweite: Erweiterung des Lebensbildes zu einer
Totalität iſt ſo ſehr der beſtimmende Standpunct des epiſchen Dichters, daß
dagegen der Anſpruch auf ſtreng organiſche Nothwendigkeit für die Handlung
gerne zurücktritt. Im ächten alten Epos hat dieß Motiv der Epiſode die
beſtimmtere Bedeutung, daß das Gedicht die ganze Heldenſage von einem
beſtimmten Punct aus zu umfaſſen ſtrebt, daher da und dort einen Anlaß
benützt, um dieſen und jenen Zweig derſelben einzufügen (vgl. Wackernagel
d. ep. Poeſie. Schweiz. Muſ. f. hiſtor. W. B. 2. S. 82). Auch für die
reich entwickelten Gleichniſſe Homer’s gilt jener Begriff, der Blick wird über
[1281] alles Umgebende, vorzüglich über die Natur ausgedehnt, und dieß hat die
tiefere Bedeutung, daß ja die Menſchenwelt ſelbſt und die Handlung unter
den Standpunct des Seins, alſo der Natur gerückt iſt, daher durch die
Hinausführung in dieſe nur urſprünglich Verwandtes inniger aufeinander
bezogen wird. Im Ganzen und Großen iſt über die Selbſtändigkeit der
Theile nur zu wiederholen, was ſchon zum vorh. §. geſagt iſt: dem Dichter
gilt Alles ebenſoſehr als ein Glied in der allgemeinen Cauſalität, wie als
freie Erſcheinung des Ganzen, worin die Cauſalität erſchöpft iſt; das Ein-
zelne iſt eine Welt für ſich, ein Himmelskörper, frei ſchwebend, doch aber
mit dem Andern durch den tiefen Zug der Einheit verbunden; „wie iſt es
Ihnen gelungen, den großen, ſo weit auseinandergeworfenen Kreis und
Schauplatz von Perſonen und Begebenheiten wieder ſo eng zuſammenzu-
rücken! Es ſteht da wie ein Planetenſyſtem“ (Schiller an Göthe a. a. O.
Th. 2, S. 80).
2. Es bedarf aber nun allerdings eines beſtimmteren Bandes zwiſchen
der Einheit (der Handlung) und der Vielheit, wie z. B. Leonardo da Vinci
ſich nicht begnügte, die dreizehn Perſonen ſeines Abendmahls durch die
Einheit in der Mannigfaltigkeit des Eindrucks der Worte Chriſti zuſammen-
zuhalten, ſondern außerdem die Jünger zu drei und drei in ungeſuchten
Stellungen gruppirte. Dieß iſt bei einer ſo umfangreichen Compoſition
wie die epiſche doppelt nothwendig; man hat dieſelbe mit der Ausdehnung
auf einer unabſehlichen Fläche im Gegenſatze gegen den Punct oder die Linie
verglichen, worauf das Drama ſich concentrirt (W. v. Humboldt a. a. O.
S. 170); wir müſſen uns erinnern, wie der Dichter die Grenzen der
bildenden Kunſt hinter ſich läßt, alles Sichtbare und Unſichtbare und jenes
nach allen Erſcheinungsſeiten darſtellt; keiner macht daraus ſo ſehr Ernſt,
als der epiſche, und ſo erhält er ein unendliches Sehfeld. Dennoch muß
er in Theilung und Beſchränkung dieſer von Geſtalten wimmelnden Fläche
dem Maler gleichen, der durch einen wirklichen Ausſchnitt des Raumes den
unendlichen Raum mit unendlichen Geſtalten nur durch die in’s Unbeſtimmte
verſchwimmende Behandlung des Hintergrunds ahnen läßt, von dieſem aber
einen (Mittel- und) Vordergrund mit der Kraft der Nähe und Deutlichkeit
unterſcheidet. Das treffendſte Beiſpiel iſt die flüchtige Gemeinde in Hermann
und Dorothea, die mit ihrem Gewimmel und Gedränge auf die franzöſiſche
Revolution, auf Völker- und Menſchenſchickſal mit ihren großen politiſchen
Fragen wie auf eine dunkle, ahnungsvolle Ferne hinausweist, während
Hermann mit ſeinen Eltern und Freunden den Vordergrund bildet (W. v.
Humboldt a. a. O. S. 208). So dehnt ſich in der Odyſſee neben dem
Schickſale Troja’s und Griechenlands die weite Welt mit ihren Wundern,
ſo weit der Horizont der Griechen reichte, das Geſammte des häuslichen
Lebens und der Sitte als Hintergrund aus. Da aber die Poeſie zeitlich
[1282] fortſchreitet, ſo werden ſich Hinter- und Vordergrund im Verlaufe zuſammen-
bewegen: Dorothea tritt aus jenem auf dieſen herüber, wird mit Hermann
vereinigt und deutſche Geſinnung ſtellt ſich als feſter Damm gegen das
Chaos, aus dem ſie kommt. Die Erſcheinungen, welche, in einem mittleren
Maaße von bloßer Andeutung und voller Ausführung gehalten, die Haupt-
gruppe umgeben, wie die Bewohner des Städtchens in unſerer Idylle,
kann man den Mittelgrund nennen. Der Dichter wird hier wieder Einige
herausgreifen, um ſie mit der Hauptgruppe auf den Vordergrund einzu-
führen; ſo ſtellt Göthe den Pfarrer und Apotheker in helleres Mittellicht,
ſo nimmt die Ilias aus dem dunkeln Gewimmel der Streiter Einzelne her-
aus und bringt ſie im Kampfe mit den Haupthelden auf das Proſcenium.
Durch ſolche Mittel läuft denn ſchließlich unbeſchadet der deutlichen Scheidung
Nahes und Fernes mit ſtärkeren und dünneren, längeren und kürzeren Fäden
in die Eine Hauptgruppe, wie die Welt der Ilias in die Entzweiung des
Achilles mit Agamemnon, ſein Grollen, ſein Hervorbrechen nach dem Tode
des Patroklus und die Beſiegung Hektor’s zuſammen; die Phantaſie genießt
ſich in der freien Bewegung, von da wieder hinaus in den Hintergrund,
das Schickſal Troja’s und die Ahnung der großen griechiſchen Zukunft, und
wieder zurück zu dem bindenden Mittelpuncte des Vordergrunds zu laufen.
Dieſer iſt denn alſo enthalten in der eigentlichen, unmittelbar vor Augen
liegenden Handlung. Sie muß als organiſches Band der Einheit durch-
greifen: dieſe alte Lehre des Ariſtoteles, der hierin im Weſentlichen Epos
und Tragödie, ohne den Unterſchied der liberaleren Form, worin das Geſetz
im Epos herrſcht, zu verkennen, unter dieſelbe Forderung befaßt, haben
wir ſchon oben, wo vom Inhalte des Epos als ſolchem die Rede war,
angeführt. Einfach und ſchlagend ſetzt Ariſtoteles hinzu, um dieſe Einheit
durchführen zu können, habe Homer nicht den ganzen trojaniſchen Krieg be-
handelt, weil er zu groß und nicht leicht zu überſehen war, ſondern einen
Theil, der ſich durch ſeine Epiſoden zum Bilde des Ganzen erweitert.
Die Auseinanderhaltung eines Vordergrunds und Hintergrunds, die wir
zunächſt als mittleres Moment der Bindung des Einen und Vielen gefordert
haben, gehört mehr der räumlichen, extenſiven Seite an, ſofern auch in der
Poeſie, da ſie für die innere Anſchauung darſtellt, allerdings von einer
ſolchen die Rede ſein kann; die Handlung aber verlangt eine ſpeziellere
Bindung in zeitlicher Form und wir haben hier beſonders deutlich jene in
§. 500, 2. für alle Compoſition als weſentlich ausgeſprochene Erſcheinung
eines Dreiſchlags in der einfachen Unterſcheidung des Ariſtoteles:
Anfang, Mitte, Ende; d. h. Darſtellung der Sachlage mit den Keimen
der Verwicklung, die Verwicklung mit ihren Kämpfen, deren Gipfel die
Kataſtrophe iſt, welche ebenſoſehr als das Ende der Mitte, wie als der
Anfang des Endes erſcheint, und das Ende d. h. die ſchließliche Löſung,
[1283] der Ablauf der Kataſtrophe bis zum eigentlichen äußeren Schluß. In der
Ilias bildet den Anfang Zorn und Grollen des Achilles mit der ganzen
Lage der Griechen und Trojaner im Hintergrund, die Mitte ſein Vorbrechen
zur Theilnahme am Streit in Folge des Tods des Patroklus bis zum Kampfe
mit Hektor; der Tod des letzteren, mit Troja’s ſicherem Untergang im
Hintergrund, iſt die Kataſtrophe, die ebenſoſehr die Mitte abſchließt, als
den Ablauf eröffnet, deſſen eigentlicher Inhalt in der Zurückgabe des Leich-
nams und dem Begräbniß des Patroklus liegt. So beſteht in der Odyſſee
aus den Schickſalen des Helden unmittelbar vor ſeiner Rückkehr nach Ithaka
mit Einſchluß deſſen, was er vor Beginn des Epos erlitten hat und was
in den Aufenthalt bei den Phäaken als Erzählung eingeſchoben iſt, der An-
fang; die Scenen nach der Rückkehr, die ſämmtlich in den Vorbereitungen
zum Kampfe mit den Freiern zuſammenlaufen, bilden die Mitte oder Ver-
wicklung; mit dem Kampfe ſelbſt iſt das Gedicht auf ſeiner Höhe, unmittelbar
an der Kataſtrophe, die Entſcheidung deſſelben iſt Anfang der Löſung, des
Ablaufs, und was noch folgt, die Reinigung des Saals und Hauſes,
Beſtrafung der Treuloſen, die Scene mit Penelope, dann die wahrſcheinlich
ſpäteren Zuthaten: der Auftritt in der Unterwelt, die Begrüßung des Laertes
und Dämpfung des Aufruhrs, der eigentliche Ablauf, das Ende. Im
Nibelungen-Liede ſtellt der ganze Theil bis zu Chriemhildens zweiter Ver-
mählung ebenſoſehr die Expoſition für das Folgende, als ein eigenes Epos
mit Anfang (bis zu dem Streite der Weiber), Mitte (von da bis zur Er-
mordung Sigfried’s), Ende (Klage, Trauer, neue Kränkung der Chriemhilde
durch den Raub des Schatzes) dar; im Folgenden waltet Sigfried’s Geiſt
als Nemeſis im Rachedurſt der Chriemhilde: Anfang bis zu der Einladung
der Nibelungen, Mitte von den erſten Ausbrüchen des feindſeligen Geiſtes,
nachdem ſie in Etzelenland angekommen, bis zu der Ermordung Gunther’s
und Hagen’s im Gefängniß, Ende das Gericht, das Dieterich von Bern an
Chriemhilde vollſtreckt, und, wenn ſie mit dem Epos noch verbunden wäre,
die Klage. Die Ilias erſcheint als ſchlußlos nur dann, wenn man ver-
kennt, daß der Dichter aus dem großen Cyklus eine Parthie herausnehmen
mußte, in der ſich als in einem engen Ring ein Bild des Ganzen geben
ließ, ſie erſcheint als über ihren natürlichen Schluß fortlaufend nur dann,
wenn man verkennt, daß ein Epos voller ausathmen muß, als ein Drama.
Die Annahme einer gewiſſen Schlußloſigkeit des Epos hat nur ſo viel
Wahres, daß dieſe Gattung mehr, als andere Kunſtwerke, vielleicht am
meiſten noch dem Gemälde ähnlich, das unbeſtimmte Bewußtſein erregt,
daß die Kette der Dinge und Begebenheiten, obwohl hier eine ideale Ein-
heit aus der empiriſchen Unendlichkeit einen Ausſchnitt gibt, über dieſen
Ausſchnitt fortläuft. Im Romane namentlich mag es zweifelhaft ſein, ob
wir über das Ende der Nebenperſonen etwas mehr oder weniger erfahren
ſollten. Vergl. hierüber die Anm. zu §. 501.
[1284]
§. 871.
Dieſe Eigenſchaften begründen einen gewiſſen generiſchen Charakter der
epiſchen Dichtung und es ſcheint daher zunächſt, daß ſie aus der logiſchen Reihe
der Formen der Poeſie heraustrete.
In der epiſchen Poeſie ſind der Dichter und ſein Object vereinigt und
doch unterſchieden; obwohl dem Geiſte der Behandlung nach jener zurück-
tritt, bleibt er doch dem einfachen Sachverhalte nach ſichtbar gegenwärtig
neben ſeinem Stoffe. Dieß Verhältniß wurde als eine naive Syntheſe be-
zeichnet (§. 865). Nach dieſer Seite haben wir ein einfaches Beiſammenſein
der zwei Factoren, die in den andern Formen der Poeſie ſich gegenſeitig
abſorbiren, denn in der lyriſchen geht die Welt im Dichter, in der drama-
tiſchen der Dichter in ſeiner Welt auf. Das Epiſche erſcheint ſchon dadurch
als eine elementariſche Form, die zu den beiden andern nicht im Verhält-
niſſe der Coordination ſteht wie Einzelnes zu Einzelnem, ſondern in dem
des Allgemeinen zum Einzelnen, der urſprünglichen Einheit zu den Formen
des Gegenſatzes. Nimmt man nun den Geiſt der Behandlung dazu, ſo
ſcheint auch nach dieſer Seite der epiſche Dichter durch ſeine objective Ruhe und
ideale Univerſalität, ſowie durch ſeine Aufgabe, ſelbſt Alles klar zu zeichnen
und dem innern Auge zur Erſcheinung zu bringen, weit mehr der Dichter über-
haupt, ja der Künſtler überhaupt zu ſein, als es der lyriſche und dramatiſche iſt.
Der Künſtler überhaupt: denn Objectivität iſt Grundbegriff aller Kunſt gegen-
über dem blos ſubjectiven Phantaſiegebilde und man kann mit W. v. Hum-
boldt (a. a. O. S. 46 u. 49) es ſo wenden: er gleiche am meiſten dem bilden-
den Künſtler, die bildende Kunſt ſtelle aber das Weſen der Kunſt an ſich am
reinſten dar; man kann ihn, den Schöpfer der „Sculpturbilder der
Vorſtellung“ (Hegel a. a. O. S. 322), näher dem Bildhauer vergleichen
und nun daran erinnern, wie die Plaſtik mit einem gewiſſen Anſpruch auf
den Werth einer abſoluten Kunſt inmitten der bildenden Künſte ruhig thront.
Dieß Alles weist nun wieder ganz auf Göthe’s normale Dichternatur und
in jenen Stellen des Göthe-Schiller’ſchen Briefwechſels, worin überhaupt
das Drama gegen das Epos zurückgeſetzt wird, ſagt denn dieſer das in-
tereſſante Wort über jenen: „ich glaube, daß blos die ſtrenge gerade Linie,
nach welcher der tragiſche Dichter fortſchreiten muß, Ihrer Natur nicht zu-
ſagt, die ſich überall mit freier Gemüthlichkeit äußern will; alsdann glaube
ich auch, eine gewiſſe Berechnung auf den Zuſchauer, von der ſich der
tragiſche Poet nicht diſpenſiren kann, der Hinblick auf einen Zweck genire
Sie, und vielleicht ſind Sie gerade nur deßwegen weniger zum Tragödien-
dichter geeignet, weil Sie ganz zum Dichter in ſeiner generi-
ſchen Bedeutung erſchaffen ſind“ (a. a. O. Th. 3, S. 361). Die
[1285] freie Ruhe des epiſchen Dichters gründet ſich, wie wir geſehen, namentlich
auf die Vergangenheit ſeines Objects und wenn die Ferne eine idealiſirende
Kraft hat, ſo kommt ſie vor Allem ihm zu ſtatten: ein weiterer Ausdruck
für den Satz, daß dieſe Form durch reine Idealität außer und über den
andern ſtehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyriſche und
Dramatiſche; die objective und ſinnliche Haltung ſchließt Momente des
hervorbrechenden ſubjectiven Gefühls, ſei es das des Dichters oder ſeiner
Perſonen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe
Rede dialogiſche Form an, ſo daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns
aufzutreten ſcheinen. — Hier laſſen wir dieſen Satz von dem Vorzuge,
richtiger vor der generiſchen Natur der epiſchen Poeſie ſtehen. Der Aus-
druck des §.: „es ſcheint zunächſt“ wird im Fortgang zu den weiteren Formen
ſeine Erledigung finden.
2. Die Arten der epiſchen Poeſie.
§. 872.
In der geſammten Ausbildung der epiſchen Poeſie treten nur zwei Formen
auf, welche in dem Sinne rein und ächt ſind, daß jede von ihnen als wirk-
licher Typus eines der Style erſcheint, deren großer Gegenſatz die Geſchichte
aller Kunſt beherrſcht: das griechiſche Heldengedicht und der moderne
Roman. Alles Andere ſtellt ſich unter den Maaßſtab des erſteren und fällt,
trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter daſſelbe; der
Roman dagegen iſt zwar eine ſehr mangelhafte Form, aber beſtimmter und
ſelbſtändiger Ausdruck eines Styls.
Der Inhalt dieſes §., der wohl nur auf den erſten, flüchtigen Blick
paradox erſcheint, iſt durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.
§. 873.
Während das einzige urſprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der1.
Orient hinterlaſſen hat, das indiſche, Anſätze von ächt epiſcher Schönheit in
das Formloſe auflöst, ſteht das griechiſche Epos ſo in einziger Vollendung2.
da, daß es als hiſtoriſche Erſcheinung doch ganz mit dem Be-
griffe der Sache zuſammenfällt; denn in einer Dichtungsart, welche
ihrem Weſen nach ein plaſtiſches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkom-
menſte da geleiſtet, wo nicht nur die Phantaſie des Volksgeiſtes an ſich plaſtiſch
iſt, ſondern auch das dichtende Bewußtſein ſich zur Kunſtpoeſie erhoben hat,
[1286] ohne den Boden der Naivetät zu verlaſſen. Den Stoff entnimmt dieſe Dichtung
aus der Heldenſage und dem mit ihm vereinigten Göttermythus und entfaltet
in ihm ein vollſtändiges, organiſches Bild des nationalen Lebens in welthiſtori-
ſchem Zuſammenſtoße. Die rhythmiſche Form entſpricht rein der bewegungs-
vollen Würde des Inhalts.
1. Wir können uns bei dem indiſchen Epos nur kurz aufhalten und
müſſen auf das verweiſen, was in §. 343 ff. über den Charakter des
Orients überhaupt, in §. 346, 1. über Indien insbeſondere, dann in
§. 426 ff. über die orientaliſche, und §. 431, 1. ſpeziell über die indiſche
Phantaſie geſagt iſt. Mahabharata und Ramayana enthalten Anſätze, die
ſich ganz homeriſch fühlen, namentlich die eine der großen Epiſoden des
letzteren, in ſeinen Hauptbeſtandtheilen urſprünglicheren Epos, Nalas und
Damajanti. Allein wie die früher einfache Religion Indiens, ſo ſind dieſe
— man weiß nicht, ſoll man ſagen: Keime oder Trümmer eines geſunden
heroiſchen, plaſtiſch gezeichneten Bildes ächter männlicher Thatkraft, gedie-
gener Sitte, gehaltener weiblicher Lieblichkeit und rührender Treue über-
wuchert worden von der zwiſchen Mythologie und bloßer Symbolik wild
ſchwankenden, alle Umriſſe auflöſenden Einbildungskraft, von der Doctrin,
die unter Anderm eine ganze Theologie in einem Geſpräch vor der Schlacht
ausſpinnt (in der Epiſode Bhagavadgita), von abſurder Vergötterung des
Thieriſchen (Affe Hanuman in Ramayana). Es iſt eine epiſche Poeſie,
welche in Religionsphiloſophie, namentlich Theogonie (Herabkunft der Ganga
in Ramayana) zurückſinkt oder übergeht. Das Theogoniſche werden wir
aber überhaupt gar nicht zur reinen Poeſie ziehen, ſondern in den Anhang
vom Didaktiſchen verweiſen, denn es iſt nicht reine Verſenkung einer allge-
meinen Wahrheit in ein Bild des Lebens. Die theologiſche Verſchwemmung
des rein Menſchlichen hat denn auch an die Stelle des heroiſchen Handelns
das wahnſinnige Büßerweſen geſetzt, das mit ſeinen mehr als tauſend-
jährigen Peinigungen ſelbſt den Götterhimmel zu ſprengen droht. Daß die
gelenkloſe Gaukelei der Phantaſie im Umfang des Epos maaßlos iſt wie
in allen Formen und Zahlen des Inhalts, in der Compoſition kein Ver-
hältniß zwiſchen Hauptkörper und Epiſode kennt, unorganiſch die Theile in-
einanderſchachtelt, folgt nur von ſelbſt aus ihrem innern Charakter.
2. Der vorh. §. hat das griechiſche Heldengedicht und den Roman
noch nebeneinandergeſtellt, doch bereits den letzteren eine mangelhafte Form
des Styls genannt, dem er angehört; wir fügen zunächſt ſo viel hinzu:
der Roman wird zwar nicht durch den Maaßſtab des urſprünglichen Epos
gerichtet, denn er ſtellt ſich nicht unter denſelben, wohl aber durch den Maaßſtab
einer Aufgabe, die offenbar von einer andern Dichtungs-Art vollkommener
zu löſen iſt, der ihn alſo zu einer zweifelhaften Geſtalt herunterſetzt. Hiedurch
[1287] wird nun das homeriſche Heldengedicht als einzig und abſolut hingeſtellt. Es
verhält ſich hier wie in der Sculptur: eine hiſtoriſche Erſcheinung fällt mit
dem Begriffe der Sache zuſammen, iſt normal. Wenn man das Weſen
der Sculptur ſchildern will, ſchildert man die griechiſche, und umgekehrt;
ebendieß gilt von dem Weſen des Epos an ſich und von dem homeriſchen
Epos. Es hat aber nicht nur die Bedeutung eines Beiſpiels, wenn hier
an jene Kunſt erinnert wird, vielmehr erhellt, daß daſſelbe Volk, das durch
die Reinheit der Objectivität ſeines Kunſtgeiſtes in der bildenden Kunſt das
normale Höchſte im Gebiete der Sculptur leiſtete, ebendarum auch in der
Poeſie das ſchlechthin Muſterhafte im Gebiete des Epos hervorbringen
mußte; denn es bedarf keines Beweiſes mehr, daß die epiſche Darſtellung
in der Art, wie ſie die klare und ruhige Vergegenwärtigung der Dinge,
die volle Gegenüberſtellung ſcharf abgeſonderter Bilder zur weſentlichen
Aufgabe hat, auf’s Innigſte der Sculptur entſpricht. Hieran knüpft ſich
unmittelbar das Moment des Naiven. Mit dieſem Einen Worte bezeichnen
wir den Weltzuſtand, wie er in der epiſchen Dichtung aufgefaßt wird, die
unmittelbare Harmonie, worein hier die Welt der innern Motive mit der
Welt der ſinnlichen Bedürfniſſe, Thätigkeiten, Culturformen zuſammengeht.
Nun kann aber kein günſtigeres Verhältniß eintreten, als wenn der Dichter
im edelſten Sinne des Worts naiv iſt, wie ſein Gegenſtand. Es führt
dieß auf den Unterſchied der naiven und der bewußten Kunſt, der ſeine
höchſt wichtige Geltung erſt im Gebiete der Poeſie erlangt und hier als
Gegenſatz der Volkspoeſie und Kunſtpoeſie auftritt (vergl. §. 519).
Nun iſt aber die Volkspoeſie in ihrer Innigkeit und Friſche und mit ihrem
Minimum von techniſcher Kunſtbildung doch zu arm, den großen Stoff der
epiſchen Poeſie anders, als in getrennten einzelnen Liedern, zu geſtalten.
Solche Lieder (Rhapſodien) ſind bekanntlich die Elemente, aus denen überall
das urſprüngliche, allein ächte Epos erwachſen iſt. Sollen ſie nun zu einem
künſtleriſchen Ganzen umgebildet werden und doch der epiſche Charakter
nicht verloren gehen, ſo bedarf es einer Kunſtbildung mit Einſicht in die
Aufgabe, die doch unerſchütterlich naiv bleibt. Keinem andern Volke iſt
aber das Glück geworden, wie den Griechen, ihr National-Epos zu vollen-
den in dem Momente, da eben die naive Poeſie die Vortheile der Kunſt in
ſich aufnimmt und die Kunſtpoeſie den ganzen Vortheil der Naivetät ge-
nießt. In der getrennten Volkspoeſie fragt man nach der Perſon des
Dichters gar nicht, in dieſer künſtleriſch erhöhten Volkspoeſie dagegen iſt
allerdings die künſtleriſche Vollendung eines epiſchen Ganzen offenbar einem,
auf ungezählten Stufen von Vorarbeitern aufgeſtiegenen hochbegabten Ein-
zelnen zuzuſchreiben, der aber doch Volksdichter und daher namenlos bleibt.
Doch könnten wir uns mit einem andern Ergebniß immerhin auch ver-
ſöhnen: denn wo die Dichtkunſt noch eine inſtinctive Macht iſt, läßt ſich
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 83
[1288]eine Mehrheit von Dichtern, die wie Bienen ein Ganzes bauen, auch ohne
tief verſchiedene Thätigkeit des Letzten, der die Hand anlegt, nicht allzuſchwer
vorſtellig machen. Dieſem hohen Glücke der Kunſt geſellt ſich nun das
andere des Stoffs. Es erhellt nämlich aus unſerer allgemeinen Erörterung
auch dieß, daß für die epiſche Auffaſſung der abſolut entſprechendſte Stoff
das heroiſche Jugendalter eines Volkes iſt, wie wir es in §. 328
in Kurzem charakteriſirt und dabei auf Hegel’s ausgezeichnete Darſtellung
verwieſen haben. Dieſer Zuſtand konnte aber bei keinem Volke ſo poetiſch
ſein wie bei dem der Griechen, deſſen Charakter auch in der hiſtoriſchen
Zeit die ſchönen in §. 348 ff. geſchilderten Grundzüge bewahrt. Die
Heldenſage, reich und rein bildend wie keine andere (§. 436), hat einen
Moment aus dieſem vorgeſchichtlichen Zeitalter, einen Rachezug gegen eine
aſiatiſche Stadt ergriffen und zu einem Bilde geſteigert, das eben in und
mit den Liedern ſelbſt fortwuchs bis zu der Idealität, die es in der letzten
Hand gewann. Wir haben vor uns das Jugendleben eines unendlich
zukunftreichen Volks, das ſeine Nationalität im Kriege bekräftigt. Die
Tapferkeit iſt die Cardinaltugend und ſo durch den beſtimmenden Mittel-
punct dafür geſorgt, daß wir es rein epiſch mit dem „nach außen wirken-
den Menſchen“, „der Naturſeite des Charakters“ zu thun haben. Die
ganze Nation iſt, wie im näheren Sinn der Einzelne, nach außen gewendet
und zwar in einem welthiſtoriſchen Zuſammenſtoße, worin ſie ſich ihrer
Eigenthümlichkeit, ihres Werths, ihres großen künftigen Berufs bewußt
wird und alles Einheimiſche den Accent der gegenſätzlichen Spannung er-
hält. Dieſer Gegenſatz iſt aber weſentlich der des rein Menſchlichen gegen
das Barbarenthum. Neben der Wildheit, die des Feindes entriſſene Schaam
den wilden Hunden und Geiern zur Beute hinwirft, iſt die zarte Knoſpe
rührender Humanität erſchloſſen, der Sinn für die tieferen und feineren
Kräfte der Intelligenz aufgegangen. Eine Gruppe plaſtiſch feſter Charakter-
typen repräſentirt die Grundzüge des Nationalgeiſtes auf der gegebenen
Stufe ſeiner ſittlichen Entwicklung. Das ganze Leben der nationalen Sitte,
in naiver Verwunderung über die fremde, breitet ſich aus. Das einfachſte
Thun erſcheint als ein urſprüngliches, ehrwürdiges und eine Wäſche am
Fluß, beſorgt von einer Königstochter, wird zum anmuthigſten, rührendſten
Bilde; auch dabei gedenkt man gern Göthe’s, wie er ſchon in Werther’s
Leiden ſeinen Beruf zum epiſchen Dichter gezeigt hat durch die ſchöne Stelle
über das „Waſſerholen am Brunnen, das harmloſeſte Geſchäft und das
Nöthigſte, das ehemals die Töchter der Könige ſelbſt verrichteten.“ Die
Kunſt hat ſich in dieſen Zuſtänden ſchon kräftig genug entwickelt, um durch
Schmuck jeder Art das Bedürfniß zu veredeln, aber ſie begegnet noch einem
kindlichen Staunen, Alles iſt noch friſch. Keine Lebensform iſt in dem
reichen Ganzen vergeſſen, kein weſentliches Gefühl, keine Gewohnheit, kein
[1289] Hauptzug der herrlichen umgebenden Natur; die Nation beſitzt in dieſem
Geſammtbilde, dieſer „Bibel des Volks“ (Hegel Aeſth. Th. 3, S. 332),
einen Schatz, der für alle Seiten des Lebens den unerſchöpflichen Grund-
text enthält. Dieß Alles iſt nun durch reine Künſtlerhand ſonnenhell be-
leuchtet, ſteht aufgeſchlagen in unendlicher Klarheit vor uns, iſt durchaus
rein geſchaut. Die Weihe der Idealität gewinnt aber der große Stoff
ſchließlich dadurch, daß ſich Alles an die Götter knüpft, daß Heldenſage
und Mythus überall ineinandergehen. Die lenkenden Mächte des Lebens,
Natur-Urſachen, Geſetze heiliger Sitte, Forderungen des Vaterlandes,
innere Motive des Beſinnens und Wollens ſind als Götter neben die
Menſchen geſetzt und handeln mit ihnen durcheinander auf Einem Boden.
Dieſe poetiſche Tautologie iſt das unendliche Erhöhungsmittel für die Grund-
empfindung, in dieſem Lichte wird Alles abſolut und es verhält ſich auch
hier wie in der Sculptur, welche weſentlich eine Götterbildende Kunſt iſt.
Es iſt natürlich nicht blos Poeſie, ſondern weſentlich Glauben; eine nicht
geglaubte Welt tranſcendenter Weſen kann nur in ſeltenen, einzelnen Mo-
menten durch beſondere Kraft der Zurückverſetzung der Phantaſie belebt
werden. Aber das ſchlicht Geglaubte iſt zur reinſten Geſtalt der Schönheit
erhoben und auch hier Alles hell, ſonnenklar, während die indiſchen Götter
im Nebel des wirren Geſtaltenwechſels taumeln.
Es ſind nun unſerer allgemeinen Beſtimmung des Weſens der epiſchen
Poeſie mehrere neue Momente zugewachſen, die nur vom urſprünglichen
Epos, dem volksthümlichen, doch dem plaſtiſchen Idealſtyle angehörigen
Heldengedichte gelten: Entſtehung aus naiver Poeſie der Form nach, natio-
naler Krieg, weltgeſchichtliche Colliſion, Verbindung der Heldenſage und
des Göttermythus dem Inhalte nach. Ob und wieweit alle dieſe ſpezielleren
Bedingungen als Maaßſtab gelten, nach welchem zunächſt die Erſcheinungen
zu beurtheilen ſind, die bei allem Unterſchiede doch mit dem homeriſchen
Epos ſich unter das Prinzip des idealen Styles ſtellen, dieß muß ſich nun
zeigen; doch iſt vorher eine wichtige Unterſcheidung innerhalb dieſes Styls
aufzuſtellen. — Was die Form im engſten Sinne des Wortes, das Me-
trum, betrifft, ſo müſſen andere Zeiten deren andere finden können, aber
daß der Hexameter durch ſeine Beweglichkeit in der Haltung, ſeine Freiheit
und ſein Spiel in der Majeſtät als heroiſches Maaß nicht übertroffen
werden kann, durften wir ſchon bei der allgemeinen Charakteriſtik der epiſchen
Poeſie ausſprechen (§. 869, Anm. 2.).
§. 874.
Wie jedoch alles geſchichtliche Leben der Kunſt darauf beruht, daß die1.
Styl-Gegenſätze ineinander übertreten, ſo ſtellt ſich auch im claſſiſchen Idealſtyle
83*
[1290]der epiſchen Dichtung neben das erhabene, pathetiſche Heldengedicht ein Epos,
das ſeinem Hauptinhalte nach rührendes, das Innerliche mehr betonendes, die
2.Einzelzüge individueller zeichnendes Sittengemälde iſt, und in dieſer Richtung
entſteht zuletzt das kleine Bild des Volkslebens mit entferntem Anklang ſen-
timentaler Vertiefung in die Stille des Engen und der Natur: das Idyll.
1. Ariſtoteles unterſcheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein ver-
wickeltes, ein pathetiſches und ein ethiſches Epos; einfach und pathetiſch,
ſagt er, iſt die Ilias, verwickelt und ethiſch die Odyſſee. Ethiſch heißt hier,
was wir ſittenbildlich nennen, mit dem Unterſchiede, daß das eigentliche
Sittenbild in der Malerei keine Fabel hat und haben kann, ſondern nur
Gebaren, Gewöhnung, Zuſtände in ihrem bleibenden, wiederkehrenden Weſen
ſchildert. Das Merkmal der verſchlungenen Compoſition haben wir als
untergeordnet nicht in den §. aufgenommen; natürlich aber iſt es allerdings,
daß, wo nicht die großen Leidenſchaften den Inhalt bilden, welche auf dem
Schauplatze der Heroenthat walten, dafür ein Reiz des Suchens und Fin-
dens eintreten wird, der in der Compoſition, doch auch in der Fabel an
ſich begründet ſein muß: Anziehungen, Spannungen, die hingehalten, nach
manchem Wechſel befriedigt werden und ſowohl nach Stoff, als Behandlung
ein wärmeres, concentrirteres ſubjectives Element in das Epos bringen.
Hiemit kündigt ſich ein Motiv an, das erſt im romantiſchen und modernen
Ideal ſeine volle Ausbildung zu finden beſtimmt iſt: die Liebe. Im antiken
Epos iſt es eheliche Liebe mit Heimath und Hausweſen, was den Mittel-
punct dieſer Form, der Odyſſee bildet. Ariſtoteles ſagt: die Odyſſee iſt
verſchlungen, denn ſie iſt durchaus Erkennung (und ſittenbildlich); d. h.
die Spannung auf das Wiederſehen iſt der poetiſche Reiz, ſie wird durch
viele, von der Compoſition ineinandergeſchlungene Hemmungen hingehalten
bis zum Ende. Da nun das Subject der Erkennung natürlich liebende
Menſchen ſind, ſo erhellt, wie in der ἀναγνώρισις des Ariſtoteles der
Keim oder das antike Vorbild des Romans als höchſt intereſſante An-
deutung oder Ahnung verborgen liegt. Und wirklich: die Odyſſee iſt „der
antike Ur-Roman (J. P. Fr. Richter Vorſch. d. Aeſth. §. 66). Es folgt von
ſelbſt, daß das Innerliche auch überhaupt mehr in den Vordergrund tritt,
wenn Sehnſucht und Wiederſehen den Haupt-Inhalt bildet; Odyſſeus am
Ufer der Inſel der Kalypſo in das Meer hinausweinend, die trauernde Pene-
lope in der einſamen Kammer und der ſuchende Sohn ſind Bilder eines inni-
geren Seelenlebens. Nur daß natürlich das epiſche Grundgeſetz, wonach
alles Innerliche in ſinnlicher Ausführlichkeit der Erſcheinung ſich geben
muß, unangetaſtet bleibt. Auch die Natur wird jetzt mit ſubjectiverem
Intereſſe beſchaut, das Meer, die landſchaftlichen Reize, die Grotten,
Quellen, Bäume u. ſ. w. So erſcheint die Odyſſee wirklich als „der
[1291] Mond“ neben der Ilias „der Sonne“. — Im Style dieſer Form des
Epos erkennen wir ein erſtes Auftauchen der charakteriſtiſchen, die indivi-
duelleren Züge aufnehmenden Richtung innerhalb der direct idealen, wiewohl
natürlich noch feſt am Bande des plaſtiſchen Schwunges gehalten: die
Einzelheiten des häuslichen Lebens, der idylliſchen Wirthſchaft mit Sauhirt
und Rinderhirt, bis hinaus auf den armen, treuen Hofhund, des Gebarens
und der Gewöhnungen der Menſchen nach allen Seiten, treten in ſchärferes
Licht, als ſonſt die Antike es anſteckt. Kann man im weiteren Sinn alle
epiſche Poeſie ſittenbildlich nennen (vergl. §. 867, 2.), ſo iſt es alſo dieſer
Prototyp des Romans in dem engeren Sinne des Worts, auf den wir
eben da ſchon hingewieſen haben.
2. Das ſpäte Alterthum trägt nun die Leuchte noch weiter weg vom
heroiſchen Schauplatz in das Enge des Menſchenlebens, die Zuſtände der
Sitte im nahen und innigen Umgang mit der Natur. Theokrit’s Idyllen
ſind bekanntlich etwas Anderes, als die moderne Gattung dieſes Namens:
das Intereſſe für das Anſpruchloſe und ſtill Glückliche des Landlebens, für
die Reize der Natur iſt noch durch keine Culturmüdigkeit, keine Kämpfe
des ſubjectiven Bewußtſeins geſchärft, die Figuren ſind auch nicht blos
Hirten, Fiſcher u. ſ. w., ſondern zum Theil Handwerker, Bürgerfrauen u. dergl.,
das Neue liegt mehr im Anwachſen der charakteriſtiſchen Stylrichtung, im
Belauſchen und Aufnehmen des ungenirt Derben, die Ausführung beſteht
in kleinen Bildchen ohne Fabel oder nur mit unentwickeltem Keim einer
ſolchen; daher εἰδύλλιον: (Sitten-) Bildchen. Dennoch macht ſich ein
entfernter Anklang von ſentimentalem Intereſſe fühlbar: ohne Ueberdruß
an einem zerfallenen öffentlichen Leben hätte ſich der Sinn nicht dieſen
Heimlichkeiten des Kleinlebens, der Zufriedenheit und der milden Parodie
göttlicher Selbſtgenügſamkeit in der Stille zugewendet und in dem Blicke,
womit dieſe Dichtung auf den Heimlichkeiten und Schönheiten der Natur
ausruht, liegt doch ein Ausdruck tieferer Erwärmung, die im ſtreng Claſſi-
ſchen nur ganz vereinzelt auftaucht. Zarte Anſätze zu dem Allem finden
ſich aber allerdings ſchon in der Odyſſee; man denke, was das Letzte betrifft,
nur an die Schilderung der Umgebungen der Kalypſo-Grotte (V Geſang).
§. 875.
Die römiſche Poeſie erzeugt ein Kunſt-Epos, welches ſich, obwohl
ihm ein Geiſt pompöſer Großheit eigen iſt, durch künſtliche Nachbildung
ſämmtlicher Merkmale des Homeriſchen unter den Maaßſtab des letzteren, das
doch aus der naiven Poeſie entſprungen iſt, ebendadurch aber als ein Werk der
Reflexion, zum Theil auch der zu ſehr geſteigerten ſubjectiven Empfindung,
außerhalb des Aechten ſtellt. Das Kunſt-Epos iſt kein reines Epos.
[1292]
Es kann hier nicht die Aufgabe ſein, Virgil’s Aeneis nach allen ihren
Zügen zu ſchildern, ſondern nur, den großen Zuſammenhang in’s Auge zu
faſſen, worin dieſes Werk der bewußten, correcten, eleganten Kunſt an der
Spitze einer ganzen Gattung und Generation ſteht, die mit ihm gerade
durch den von ihr ſelbſt thatſächlich anerkannten Maaßſtab jenſeits der
richtigen Linie, in das Zweifelhafte verwieſen wird. Denn ein Product
der bewußten Kunſt, das in allen weſentlichen Zügen der (zwar auf dem
Uebergange zur Kunſtpoeſie begriffenen, doch in ihrem Weſen noch reinen)
naiven Volkspoeſie nachgebildet iſt, richtet ſich eben durch ſich ſelbſt und
bekennt ſich als unächt. So erwächst der Satz, der uns im Folgenden
führen wird: daß das Kunſt-Epos kein reines Epos iſt. Die vollendete
Bildung iſt dem Weltzuſtande nach proſaiſch geworden in Staat, Geſell-
ſchaft u. ſ. w.; dieſer Zuſtand macht natürlich die Poeſie an ſich nicht
unmöglich, aber er verweist ſie an diejenigen Formen, welche nicht ein
Bild der unmittelbaren ſchönen Einheit des innern und äußern Lebens im
Großen (im Kleinen iſt es etwas Anderes) fordern; denn dieſem Zuſtande
muß man nahe ſtehen, wenn man ihn künſtleriſch wiedergeben will. Ver-
ſucht es der Künſtler dennoch, ſo iſt er zur Nachahmung genöthigt und
das Urſprüngliche nachahmen iſt ein innerer Widerſpruch. Beſonders deut-
lich zeigt ſich dieß am Einwirken der Götter: ſie ſind nicht mehr lebendig
geglaubt, daher iſt es bereits Maſchinerie. Allein dieß iſt nur ein Aus-
druck davon, wie der Standpunct im Ganzen verloren iſt: kein Zug, der
ein flüſſig einfaches Naturſein des Menſchen darſtellen ſoll, hat hier die
Wahrheit, die nur in einer Welt möglich iſt, von deren Naivetät auch ihr
inniger Götterglaube Zeugniß gibt. Der Menſch, der das Naturband ge-
lockert hat, lebt tiefer nach innen: das Sentimentale (namentlich in der
Liebe der Dido) wird daher ſtärker, weit zu ſtark für das Heldengedicht.
Der römiſche Geiſt der That, das mannhaft Gewaltige, Herrſchende, Maſ-
ſen-Bewegende, in der Form feierlich Große (vergl. §. 352 ff., 442 ff.) bleibt
dieſem Epos ein unbenommener Ruhm, hat auch epiſchen Charakter, aber
nicht hinreichenden, das ganze Weltbild epiſch zu beſtimmen. — Wenn nunmehr
die Poeſie ſich zu den Hirten begibt, ſo iſt es ſchon Flucht aus einer
falſchen, naturloſen Cultur, der Sehnſucht wohl erſcheint ein Bild des
naturvollen Lebens, aber ein beſchränkteres, vom großen Schauplatz heimlich
abgelegenes; Virgil’s Eklogon und Georgica werden die Stammväter der
modernen Idylle.
§. 876.
Im Mittelalter treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem
Kerne nach dem griechiſchen an ächt epiſchem Charakter ſich zur Seite ſtellen,
denen aber nicht das Glück einer ununterbrochenen Fortbildung und Abſchließ-
[1293] ung durch höhere Kunſt innerhalb der Volkspoeſie zu Theil wurde, ſo daß ſie
als ein Ganzes aus verſchiedenartigen Schichten überliefert ſind: das perſiſche
und das deutſche. Das letztere unterſcheidet ſich dem Inhalte nach von dem
griechiſchen namentlich durch einen intenſiv tragiſchen Geiſt des Schickſals, mit
dem der Heldencharakter zu einer finſtern Größe zuſammenwächst, ſteht ihm
aber in ſeinen Grundbeſtandtheilen, ſowie durch Scheidung in die zwei Formen
(§. 874), ebenbürtiger gegenüber, als das Epos irgend eines andern Volkes.
In dem Zuſammenhange, wie wir hier die logiſche Eintheilung und
die geſchichtliche Entwicklung ineinanderarbeiten, ſtellen ſich die beiden Hel-
dengedichte, von denen die Rede iſt, an den Schluß der Lehre vom Epos
im urſprünglichen Sinne des Wortes und an den Anfang der Poeſie des
Mittelalters, richtiger: zwiſchen heidniſches Alterthum und muhamedaniſches,
chriſtliches Mittelalter ſo hinein, daß jenes den Kern, dieſes (in Perſien
im zehnten, in Deutſchland zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts)
den formellen Abſchluß gibt. Der große Unterſchied iſt nun freilich der,
daß im Oriente Firduſſi den ächt epiſchen Beſtandtheil ſeines Schahname,
die uralte Heldenſage vom Kampfe zwiſchen Iran und Turan mit der
herrlichen Heldengeſtalt Ruſthems, ganz im Sinne eines Kunſtepos voll
Glanz und Reichthum der Phantaſie, aber auch mit der grübelnden Künſt-
lichkeit der reifen muhamedaniſchen Bildung abſchließt oder vielmehr zu
dem kleineren Theile eines Ganzen von maſſenhaftem, den weitſchichtigen
Geſchichtsſtoff in ſich faſſenden Umfang herabſetzt, während dagegen die
deutſche Heldenſage im Volksliede fortlebt und ihren Abſchluß Händen oder
einer Hand verdankt, die ſich nur ein kleines Maaß von Kunſtbildung
angeeignet. Der Prozeß der Entſtehung des deutſchen Epos wäre ſoweit
immerhin demjenigen, wodurch die Homeriſchen Epen entſtanden ſind, ähn-
lich genug. Auch der Stoff iſt bei allem Unterſchiede von tief verwandter,
wahrhaft epiſcher Natur. So ſchlechthin kann Homer nicht Maaßſtab ſein,
daß nicht eine Charakterwelt, die mit ungleich gröberer Form tiefer und
härter in ſich gedrängt iſt, noch als ganz epiſch gelten könnte; eine Helden-
ſtatue aus dunklem Granit iſt nicht ſo erfreulich, wie eine aus Marmor,
kann aber immer noch monumental genug ſein; die geringere Flüſſigkeit,
der Stempel einer kargeren, winterlicheren Natur, die derbe, pralle Haltung
erſcheint doch ſo ganz und ächt naiv, ſächlich, fern von jener Subjectivität,
die das Band der Unmittelbarkeit zerſchneidet, der Geiſt ſo gediegen in-
ſtinctiv, in Maſſen handelnd, Maſſen bewegend, mit Roß und Schwert im
geſund realen Verkehr, kindlich all der Dinge, die ſchön und gewaltig ſind,
ſich erfreuend, in alter Väterſitte einfach wurzelnd, daß man ſich durchaus
in der rechten epiſchen Luft befindet. Die Leidenſchaft, hier die Rache,
geht ihren breiten und langen Weg ächt heidniſch reflexionslos wie eine
[1294] Naturgewalt, ein Strom ohne Wehre, und das Gewiſſen kommt als ob-
jective Macht in perſönlicher Form, als die That eines Größeren und
Stärkeren über ſie. Die Helden ſind ächte Typen nationaler Grundzüge,
die Heldinnen nicht minder. Daß faſt keine tranſcendenten Mächte ein-
wirken, daß Odin und der Fluch, den Andwari auf das Gold gelegt, in
der deutſchen Sage ausgewaſchen iſt und einzig noch Alberich und die
Meerweiber als mythiſches Motiv bleiben, iſt ſchon ein ſchwierigerer Punct.
Allein wir können uns auch gefallen laſſen, daß der Mythus nicht aus-
drücklich im Epos hervortritt, nur noch durchſchimmert; es mag genügen,
daß das Element des Ganzen noch daſſelbe ſei, das urſprünglich auch den
Götterglauben nothwendig in ſich befaßt, daß nur an deſſen Stelle die
Motive noch nicht in der Weiſe ſubjectiver Reflectirtheit in das Innere
geworfen ſeien, daß mit Einem Worte nur die Form des Bewußtſeins
überhaupt noch objectiv, „grundheidniſch“ ſei. Gewonnen aber wird im
deutſchen Epos durch ſolche Haltung jene eiſerne Großheit des Charakters,
der ganz mit dem Schickſale zuſammenwächst, ächt erhaben es zu ſich
herüberzieht und ſo mit ihm identiſch wird, indem er ſeine That ganz auf
ſich nimmt, für alle Folgen einſteht und dem ſicheren Untergang ohne
Wanken entgegengeht. Es iſt dieß noch nicht zu dramatiſch, deßwegen
nicht, weil aller bewußte Conflict von Prinzipien noch ausgeſchloſſen und
weil der Schickſalsgang durch die epiſch nöthigen, vielen und breiten Retar-
dationen gehemmt iſt. Die bange und ſchwüle Atmoſphäre, der Drang
zum tragiſchen Ende, dieſer düſtere Balladengeiſt bleibt aus denſelben Grün-
den noch in den Grenzen des Epiſchen und erſetzt gewiſſermaaßen das Ein-
wirken feindſeliger Götter. Glücklichen Schluß haben wir in §. 868 nicht
als nothwendig erkannt. Man kann ſagen, es äußere ſich im drängenden,
geſpannten tragiſchen Geiſte des Nibelungenlieds ein dramatiſcher Beruf
des germaniſchen Dichtergeiſtes, aber er zerſtört in dieſer Erſcheinung noch
nicht das Weſen des Epos. — Das Unternehmen, wovon es ſich handelt,
iſt zwar kein nationales, doch fühlt ſich im Heldenkampfe gegen die Hunnen
noch die weltgeſchichtliche Colliſion des deutſchen Volkes, ſein großer Be-
ruf, den es in den Rieſenſchlachten der Völkerwanderung bewährt hat,
vernehmlich durch. Sitte und Culturform iſt nach manchen Seiten ächt
epiſch, ausgiebig, reichlich und doch gediegen, namentlich wenn man die
Gudrun zu den Nibelungen hinzunimmt, die ſo ſchön der Odyſſee, wie
dieſe der Ilias, entſpricht. — Nun aber drängen ſich auf der andern Seite
die großen Uebelſtände auf, die ſich alle darin zuſammenfaſſen, daß das
deutſche Volk nicht das Glück gehabt hat, in ununterbrochen ſtetigem
Gange ſeine Heldenſage bis zum Abſchluſſe fortzubilden: das Vergeſſen
urſprünglicher Motive der Handlung, die doch noch durchſchimmern und
in ihrer richtigen Geſtalt zum Verſtändniſſe nöthig ſind (ſo namentlich
[1295] Sigfried’s frühere Verlobung mit Brunhilden), das Eintragen geſchichtli-
cher Perſonen und Verhältniſſe, die weſentlich umgebildet ſind und doch
nicht genug, um uns den Anreiz kritiſcher Vergleichung der Geſchichte zu
erſparen, der uns peinlich den poetiſchen Genuß ſtört, endlich und nament-
lich die Einflechtung heterogener, chriſtlich ritterlicher Culturformen, die den
breitſchultrigen Recken wie ein enger, zierlicher Rock viel zu knapp ſitzen.
Dieß von der Seite des Inhalts. Vergl. hiezu §. 355, 3. zu dem ganzen
Bilde §. 459. Was die Form betrifft, ſo erkennen wir eine Volkspoeſie,
die nicht auf dem Puncte des Uebergangs zu einer ſo ſchönen Kunſtpoeſie
ſteht, wie die Homeriſche. Sie hat eine alte Schönheit (Hildebrandslied)
verloren und eine neue, künſtleriſch freiere nicht gewonnen. Man ſieht,
der Dichter trägt eine Anſchauung in ſich, aber er kann ſie nicht heraus-
geben, nicht entfalten. In ſeiner Hand wird der zierliche Rock ſelbſt wieder
zur rohen Sackleinwand; es treten Stellen gediegener Einheit gefühlten
Inhalts mit körnigem Wort und Bild hervor, einigemale wird er ſelbſt
beredt, aber weit häufiger iſt er Wort-, Reim- und Bilder-arm bis zur
äußerſten Dürftigkeit, breit und langweilig bis zur Maaßloſigkeit. Er iſt
naiv im engen, beſchränkten Sinne des Worts. Die Nibelungenſtrophe
war es nicht, die einer entbundneren Kunſt die Feſſel angelegt hätte;
ſie hat heroiſche Bewegung, läßt durch das Freigeben der Senkungen dem
Wechſel des Gefühlsganges Raum und gibt im Reim einer geſteigerten
ſubjectiven Empfindung ihren Klang, der noch keineswegs zu lyriſch iſt.
Dem deutſchen Geiſt hätte müſſen ein Styl möglich ſein, der von der
Baſis des Idealen, Monumentalen, die den großen Intentionen durchaus
nicht abzuſprechen iſt, hinübergeſtreift hätte in das Gebiet der charakteriſti-
ſchen, der individualiſirenden Behandlung, wie ſie jenen mehr nach innen
gedrängten Naturen mit ihrer härteren Eigenheit entſpräche; ein ſolcher
ſpringt auch in einzelnen ſcharfen, gelegentlich derb humoriſtiſchen Zügen
an, aber er bleibt unentwickelt; die Dichtung der Nation gieng vorerſt
andere Wege.
Wir erwähnen hier noch die Romanzen vom Cid. Sie liegen bereits
außerhalb der Linie des heroiſchen Epos, der Recke iſt Ritter geworden,
der Kampf geht gegen die Feinde des Chriſtenthums, die Sarazenen.
Dabei bewahren ſie wahrhaft große und rührende Züge uralter Tüchtigkeit,
Einfachheit, ſchlichter Häuslichkeit, welche allerdings dem ächt epiſchen Ele-
ment angehören; wir haben ſie aber im §. nicht genannt, weil ſie nur
einen loſen Kranz aus ungleichzeitigen Blumen bilden, zu keinem geſchloſ-
ſenen Ganzen zuſammengewachſen ſind.
[1296]
§. 877.
Dem ritterlich-höfiſchen Epos der ausgebildeten Romantik fehlen
im Inhalt weſentliche Züge, die das Geſetz der Dicht-Art fordert, wogegen
andere eintreten, die ein Vorwalten des Subjectiven, Lyriſchen offenbaren, na-
mentlich im Pathos der Liebe, deſſen Einführung als Hauptmotiv in ein
epiſches Ganzes auf den Roman hinzeigt; die Form iſt nicht mehr naiv im
2.hohen Sinne des Worts und doch nicht wahrhaft kunſtmäßig. Neben dem
größern Epos, worin der weltliche und religiöſe Sagenkreis vereinigt iſt, tritt
die geſonderte Behandlung des religiöſen als biographiſcher Mythus, als myſti-
3.ſche Erzählung in der Legende auf. Dem Mittelalter vorzüglich eignet das
phantaſtiſche Spiel des Mährchens, das in der Weiſe der traumhaften Ein-
bildungskraft dichtend dem Menſchen das Gefühl der Löſung ſeiner Natur-
ſchranken bereitet.
1. Wir dürfen über den Inhalt der ritterlich höfiſchen Epopöe auf die
umfaſſende Darſtellung der wirklichen (§. 355 ff.) und der idealen Welt
des Mittelalters (§. 447 ff.) verweiſen. Es ſind im letzteren Abſchnitt
auch bereits die Sagenkreiſe unterſchieden und es iſt ausgeſprochen, daß
dieſe bunt gebrochene Welt unendlich abliegt von der Gediegenheit der ob-
jectiven Lebensform, welche der Geiſt des wahren Epos erfordert (§. 462
Anm.). Gewiſſe Züge des Epiſchen ſind allerdings erhalten: der Weltzu-
ſtand iſt noch nicht proſaiſch geordnet, der Ritter, wohl zu unterſcheiden
vom Helden oder Recken, hat doch den letzteren noch nicht ganz abgelegt,
die Sitte iſt in allem Glanze, ſelbſt in der Manirirtheit der Ausländerei,
noch naiv, die Culturformen ergiebig, reich und gediegen genug für das
Bedürfniß epiſcher Entfaltung. Der Charakter des national Geſchloſſenen
dagegen, der ein Grundmerkmal des ächt Epiſchen bildet, iſt nach zwei
Extremen auseinandergegangen: das höchſte Ziel iſt, obwohl in myſtiſcher
Faſſung, ein univerſelles, weltbürgerliches, die Idee der chriſtlichen Religion,
das nähere Intereſſe aber iſt individuell, es gilt der Perſon des Ritters in
ſeinen Abentheuern, ſeinen Kämpfen mit wirklichen und imaginativen Feinden.
Tritt nun ſo der Einzelne, Iſolirte in den Vordergrund, ſo iſt es zugleich
der Innerliche mit ſeinem ſubjectiven Leben, dem ſich das Intereſſe zuwendet.
Eine unendliche, myſtiſche Gefühlswelt ſchließt ſich auf, ihr Mittelpunct
iſt, unbeſchadet des myſtiſchen Zieles, die Liebe. Dieß iſt nun offenbar
ein Eintritt lyriſcher Motive in das Epos; damit iſt nicht (vergl. §. 874
Anm. 1.) geſagt, daß ſolcher Inhalt dem Epiſchen überhaupt widerſpreche,
wohl aber, daß er bei ſpezifiſcher Ausbildung auflöſend und zerſprengend
wirke in derjenigen Form, die nach der andern Seite in ihren Grund-
lagen, in der Naivetät der dargeſtellten Culturformen ſich noch unter den
[1297] Maaßſtab des urſprünglichen, gediegenen, idealen Epos ſtellt; denn dieſes
fordert eine Welt, die in ſolcher Weiſe noch nicht innerlich, nicht ſentimental
iſt, kennt kein vorwiegend pſychologiſches Intereſſe. Soll ein ſolches leitend
werden in der epiſchen Poeſie, ſo iſt eine andere Welt vorausgeſetzt, die
Welt der Bildung, der Erfahrung, die moderne Welt; die Liebe wird nun
zum Bande, woran die Metamorphoſen der perſönlichen Charakter-Entwick-
lung ſich verlaufen. Dazu nimmt das ritterlich-höfiſche Epos wohl einen
Anlauf, aber ohne Conſequenz, denn ihm fehlen ja die modernen Bildungs-
bedingungen, es iſt phantaſtiſch. So ſchwebt es unſicher zwiſchen ächtem
Epos und Roman, iſt nicht ganz mehr jenes und noch nicht ganz dieſer.
Aehnlich amphiboliſch verhält es ſich mit der Form. Die adelichen Dichter
verachten die einheimiſche Heldenſage und den Volksgeſang, wiſſen ſich
viel mit ihrer Kenntniß der ausländiſchen Stoffe und Muſter, mit ihrer
Kunſt und ſetzen ihren Namen mit voller Bewußtheit an die Spitze ihrer
Werke. Daher nennt man dieſe Gedichte Kunſt-Epen im Vergleiche mit jenen
Heldengedichten der rein nationalen Volksdichtung. Allein nur ganz relativ
im Gegenſatze gegen jene unzweifelhafte Volkspoeſie können ſie ſo genannt
werden, von reifer Kunſtpoeſie iſt nicht die Rede, dieſer Gegenſatz ſelbſt iſt
eigentlich mehr im Bewußtſein, als im Können und Ausführen; Tugenden
und Mängel der Volkspoeſie hängen dieſer ritterlichen Dichtung noch an,
während ſie doch auf den Boden, dem ſie entwachſen zu ſein meint, vor-
nehm herabſieht. Der Dichter glaubt naiv an ſeinen Stoff und wundert
ſich kindlich über die weite Welt mit all’ ihren ſchönen Dingen, aber
während von der andern Seite allerdings der Künſtler in ihm ſich nach
Kräften regt und namentlich die deutſchen Meiſter, der tiefſinnige Wolfram
von Eſchenbach und der heitere, freie, leichtfertige, ſeelenkundige Gottfried
von Straßburg die ſchweren Maſſen der nordfranzöſiſchen Gedichte zu durch-
ſichtigerer Einheit verarbeiten, wird doch das Stoffartige keineswegs durch-
greifend überwunden, ſondern lagern ſich zwiſchen das grüne Land breite
Wüſten, bald öde, bald durch Ueberfruchtung mit blinden Abentheuern und
wirrem Schlachtengedräng ein Zerrbild ächter epiſcher Fülle, in beiden
Fällen ermüdend, und nach der rhythmiſchen Seite findet das platt eintönige
Fortlaufen in den monotonen Reimpaaren ſeinen Ausdruck. Es iſt nicht
zu läugnen, daß die Langweiligkeit ein Grundzug dieſer Producte iſt, daß
man an dieſem fortplätſchernden Brunnenrohr ſich ſchwer des Einnickens
erwehrt. So ſind dieſe Dichter neben den Anſätzen zu bewußter Kunſt
und Reſten ächter Naivetät noch naiv auch im übeln, dürftigen, kindiſchen
Sinne des Worts, formlos, barbariſch. Der Form-Mangel hängt immer
wieder mit dem des Inhalts zuſammen und hier iſt weſentlich noch zu
ſagen, daß der Aufgang des Subjectiven zu träumeriſche Geſtalt hat, um
an die Stelle der ſubſtantiellen Einfalt eine lichte, ſittliche Ordnung zu
[1298] ſetzen. Die ethiſche Welt iſt anbrüchig, im Nebel des Phantaſtiſchen, im
Chaos der Abentheuer verwirren ſich die ewigen, rein menſchlichen Grund-
gefühle, namentlich iſt der Begriff der Treue ſchwankend geworden. Ger-
vinus hat das Verdienſt, unſer Urtheil hierin zur Klarheit geführt, das
Geſunde des nationalen Heldengedichts von dem Ungeſunden des ritterlichen
Epos feſt geſchieden zu haben.
2. Die Legende ſetzt eigentlich das religiöſe Epos voraus, indem
ſie meiſt die Lebenswendung einer Perſon erzählt, die mit der Welt bricht
und in den neuen Olymp der Heiligkeit aufſteigt. Sie iſt ein Fragment
dieſes Kreiſes, ein Griff der tranſcendenten Welt in die profane, der einen
Menſchen aus dieſer in ſie herüberzieht, ein Gegenbild des ritterlichen
Lebensgangs, aber ein kürzeres, weil hier die weltliche Fülle abgewieſen
iſt, und kein reines, weil auch des Ritters höchſtes Ziel ein jenſeitiges,
ein Tempeldienſt des heil. Graals u. ſ. w. iſt. Sie kann ſich auch auf
momentanere Wunder beſchränken, iſt aber immer zu bezeichnen als Dar-
ſtellung eines einzelnen Actes aus der großen Geſchichte der Auflöſung der
Welt in das Jenſeits. Der §. nennt ſie auch myſtiſche Erzählung; wir könn-
ten ſagen: kirchliche Novelle, wenn wir die letztere Bezeichnung ſchon einge-
führt hätten. Wirklich hat aber das reine Mittelalter wohl gewußt, warum
es das große Ganze der religiöſen Sage nicht zu einem beſondern Epos
verarbeitete, den Weg des Heliand und der Evangelienharmonie von Ot-
fried nicht verfolgte, genügenden epiſchen Inhalt vielmehr nur in der Ver-
bindung der myſtiſchen Sage mit der weltlichen ſuchte. Wir werden dieß
im Folgenden begründen. So konnte wirklich nur das Fragment eines
vorausgeſetzten, rein religiöſen Dichtungskreiſes aufkommen. Es iſt aber
die Legende keine Form von bleibendem poetiſchem Werthe; ihr aſcetiſcher
Geiſt macht ſie zu einer Spezialität des Mittelalters. Die religiöſe Welt-
anſchauung enthält allerdings in der Ironie, welche die weltliche Betrach-
tung der Dinge umkehrt, eine Möglichkeit humoriſtiſcher Behandlung, die
auch den modernen Dichter auf dieß Gebiet führen mag, wo denn Er-
freuliches zu Tage kommt, wenn ſtatt des kirchlich obligaten Motivs ein
geſund ethiſches in Wirkung geſetzt wird, wie in Göthe’s trefflicher Legende
von Petrus und dem Hufeiſen.
3. Das Mährchen führen wir, wiewohl es der claſſiſchen Welt an
dieſer Form auch nicht fehlte, hier auf, weil es inniger zur Romantik ge-
hört, die ja mitten im Epos ſchon halb Mährchen war, da hier neben dem
eigentlichen Mythus des Mittelalters, den göttlichen Perſonen, ihren Wun-
dern, ihrer myſtiſchen Gegenwart an beſonderem Orte (h. Graal) die Feen,
Elfen, Zwerge u. ſ. w. ihre bekannte ſtarke Rolle ſpielen und ſo das My-
thiſche als Phantaſtiſches auftritt. Wenn wir das Orientaliſche ausführlicher
zu behandeln den Raum gehabt hätten, ſo hätte es ebenſogut ſchon dort
[1299] aufgeführt werden können, denn der traumhaften Thätigkeit dieſer Phantaſie
mußte es allerdings ganz beſonders zuſagen (Indien, Perſien, Arabien;
Tauſend und Eine Nacht); auch hat das Mittelalter, das ja vielfach unter
orientalem Einfluſſe ſein Ideal ausbildete, keinen kleinen Theil ſeines
Mährchenſtoffs durch verſchlungene Vermittlungen aus dieſer Quelle ge-
ſchöpft. Das Weſen dieſer phantaſtiſchen kleinen Nebenform des Epos
beſteht darin, daß die unreife Vorgängerinn der Phantaſie, die Einbildungs-
kraft (vergl. §. 388 ff.) in Bewegung und Geltung geſetzt wird, um ein
Weltbild zu ſchaffen, in welchem das Naturgeſetz zu Gunſten des Begriffs
des Gutes ſich lüftet. Das Gut im Unterſchiede vom Guten iſt Grund-
Inhalt des Mährchens. Die Natur wird flüſſig und kommt dem Wunſch
entgegen, der Menſch bewegt ſich frei von „den Bedingungen, zwiſchen
welche er eingeklemmt iſt“ (Göthe). Wir haben in der Anm. 1. zu §. 389
dieſe Bedeutung der Einbildungskraft, die nun von der dichtenden Phantaſie
approbirt und aufgenommen wird, bereits hervorgehoben. Allerdings zieht
ſich nun in den Begriff des Gutes auch der des Guten herein. Das
Wunder, das hier das Natürliche geworden iſt, beſtraft den Böſen, belohnt
den Guten, die leidende Unſchuld; auch ahnt das Mährchen, daß die Vor-
ſtellung, es möchte in unſerer Macht ſtehen, die Naturgeſetze zu brechen,
um unmittelbar unſere Einfälle und Wünſche zu verwirklichen, eigentlich
der Willkür angehört, die zum Böſen führt, daher feindliche Zauberer und
Zauberkräfte eine finſtere Rolle in ihm ſpielen, allein ohne Conſequenz,
denn dieſe böſe Magie wird ſelbſt durch Magie beſiegt und beſtraft. Das
Wunder kommt nun wohl gerne dem verfolgten Guten zu Hülfe, doch
nicht ſowohl der thätigen, männlichen Tugend, als vielmehr der kindlichen
Unſchuld, Gutmüthigkeit, dem holden Leichtſinn und der luſtigen Schalkheit,
beſonders gern aber der rührenden, ſchönen, poetiſchen Dummheit, in welcher
ein Göttliches, eine große Anlage dunkel ſchlummert; es handelt ſich alſo
immer mehr von Glück, als von Verdienſt, es ſoll dem Menſchen einmal
wohl ſein, er ſoll wie im glücklichen Traume vergeſſen, daß das Leben
ein ſchweißvoller Kampf mit unerbittlichen Geſetzen iſt. Der ahnungsvolle,
geiſterhafte Hauch vereinigt ſich daher gerne mit dem Humor. Die wunder-
thätigen Mächte ſind vielfach als Trümmer des Mythus, depotenzirte
Götter zu erkennen, doch darf dieß nicht als allgemein und durchgängig
behauptet werden, wie z. B. von Wackernagel (Schweiz. Muſ. f. hiſtor.
Wiſſ. B. 1, S. 352 ff.). — Das Mährchen iſt keine Spezialität wie die
Legende, ſondern allgemein menſchlich, daher jedem Zeitalter angehörig.
Es gedeiht aber nicht in der Kunſtpoeſie, ſeine wahre Heimath iſt die
Phantaſie des Volkes, es iſt weſentlich naiv und gehört ſo als ſpielende
Arabeske ſtreng an den Stamm des ächten Epos. In der modernen Dichtung,
die am entſchiedenſten Kunſtpoeſie iſt, kann es daher nur vereinzelt den
[1300] Momenten glücklicher Zurückverſetzung in das Helldunkel der Volksphantaſie
gelingen.
§. 878.
In Nachahmung der römiſchen Kunſtpoeſie bringt die romaniſche Literatur
ein religiöſes Epos hervor, das allerdings ein Totalbild eines ganzen Zeit-
alters darſtellt, auch Beſtandtheile von gediegener epiſcher Objectivität hat, als
Ganzes aber, auch abgeſehen von der ſcholaſtiſchen Anordnung und Speculation,
der Herrſchaft der Allegorie, den Beweis liefert, daß dieſe Form den Geſetzen
2.der Dichtart nicht angemeſſen iſt. Die Gedichte weltlich romantiſchen Inhalts,
welche der reifen Kunſtbildung ebenda entſpringen und jenen mit geiſtreicher
Ironie zum Mährchen verflüchtigen oder mit ernſtem Sinn an eine weltge-
ſchichtliche That phantaſtiſch religiöſer Begeiſterung knüpfen, ſind ebenſo wenig
ächte Gebilde des epiſchen Geiſtes.
1. Wir haben in §. 875 das Virgiliſche Epos aufgeführt, um den
Satz feſtzuſtellen, daß im Gebiete des ächten, urſprünglichen Epos die Nach-
ahmung durch Kunſtpoeſie ein Widerſpruch iſt, der nur zweifelhafte Producte
hervorbringen kann. Dieſer Satz findet nun ſeine Anwendung auf die
ganze Gruppe von Erſcheinungen, die aus Virgil’s Einfluß entſtanden ſind,
und zwar in doppelter Stärke, da dieſe den Nachahmer nachahmen. Dieß
lag freilich den ſtamm- und bildungsverwandten Italienern näher, als einem
andern Volke. Was nun Dante betrifft, ſo ſchafft ſein gewaltiger Geiſt
allerdings, wie es ſcheint, in der Gattung eine neue Form, die religiöſe.
Wir behaupten aber, daß dieſe Form im Widerſpruche mit dem Weſen der
Dicht-Art liegt. Eine weſentliche Geſtalt der Poeſie, deren innerſter Geiſt ge-
diegene Objectivität iſt, verlangt, daß die reale Welt mit einfach menſchlichen
Motiven der eigentliche Hauptkörper der Dichtung ſei, neben welchem das
Mythiſche als eine naive Doppeltſetzung, ideale Spiegelung dieſer Motive
ſich unbefangen in das Bild einer alſo ungebrochenen Welt einflechte; das
Reale nimmt den feſten Grund und Boden ein, das Mythiſche lagert leicht
darüber und ſteigt beliebig darauf herab. Bei Dante dagegen herrſcht ein
Aufſteigen vom Realen zum Mythiſchen: die ganze Welt wird unter dem
Standpunct einer Hinaufläuterung zur durchſichtigen, körperlos körperlichen,
myſtiſchen Einheit mit dem Göttlichen als des höchſten Zieles angeſchaut,
alles Sinnliche iſt nur ſymboliſcher Spiegel des Jenſeits und dadurch die
Kraft des Daſeins negativ behandelt; das Jenſeits iſt die Wahrheit. Dieß
iſt nun ein für allemal unepiſch, eine Spezialität des Mittelalters, während
Homer auch dem Chriſten ewig wahr bleibt. Dante’s Genius war groß
genug, um eine Totalität zu ſchaffen, wie wir ſie für das Epos verlangen,
er umfaßt ſein Weltalter, ja die ganze Welt und Geſchichte, aber vom
[1301] Standpuncte ſeines Weltalters, und dieſer Standpunct iſt kein geſunder,
allgemein wahrer. Der urkräftige Geiſt konnte von ſolcher blos ſpezifiſchen
Anſchauung nicht unterdrückt werden und dieſe Urkraft, wo ſie durchbricht,
erſcheint allerdings als eine ächt epiſche. Dieß iſt in den real-geſchichtlichen
Beſtandtheilen, in dem Bilde der wirklichen Welt, wie ſie als die gerichtete
in das Jenſeits verſetzt iſt. Die Kämpfe der Parteien Italiens, die Thaten
und Leiden der Männer ſtehen hier in Charakterfiguren ächt hiſtoriſchen,
markigen Styls vor uns, wirklich ſtylvoll im beſten Sinne des Worts.
Und der Zuſtand des Gerichtetſeins bringt allerdings, wie es Hegel treffend
auffaßt (Aeſth. Th. 3, S. 409), noch einen beſondern plaſtiſchen Zug hinzu,
ein Feſtgehalten- und Hingebanntſein durch das Geſetz der Ewigkeit, einen
ehernen Charakter des Monumentalen. Dieß iſt der wahre, bleibende In-
halt, der Kern des Ganzen, nach Dante’s Meinung nicht das Eigentliche,
denn er ſtrebt dem myſtiſchen Ziele zu, aber eben da iſt er ganz epiſcher
Dichter, wo er ſich deſſen nicht bewußt iſt. Es verhält ſich wie mit den
hiſtoriſchen Charakterfiguren in der florentiniſchen Malerei des fünfzehnten
Jahrhunderts, die um irgend ein Mirakel gruppirt ſind, das den bezweckten
Inhalt bildet, und doch mehr Werth haben, als dieſer, doch den Keim der
geſchichtlichen Malerei darſtellen, die ihr Bett noch nicht finden kann (vergl.
§. 722). Im Uebrigen ſteht die Dichtung trotz dem claſſiſchen Muſter
auch in der Compoſition noch ganz unter dem ſcholaſtiſchen Formgefühle
des Mittelalters: ſie iſt mit dem Cirkel gothiſch architektoniſch, bis in das
Kleinſte hinein arithmetiſch, ſtatt poetiſch componirt und die herrſchende
Dreigliederung ſchließlich auch myſtiſch ſymboliſch gemeint, ſie lagert in
breiten ſcholaſtiſchen, mönchiſch ariſtoteliſchen Unterſuchungen, Unterſchei-
dungen ermüdende Maſſen doctrinellen Inhalts an, und da ihr die chriſt-
liche Mythologie nicht genügen kann, hilft ſie ſich mit der Allegorie, für
welche ſie zum Theil auch den Apparat des claſſiſchen Mythus ausbeutet. Ueber
dieſe vergl. §. 444; Dante’s Allegorien bekommen ein gewiſſes Leben durch
einen traumhaft myſtiſchen Hauch, der ſie umweht, aber ſie leiden nichts-
deſtoweniger an allen Schattenſeiten dieſer Zwittergeburt, die ebenſo dem
barbariſchen, unreifen, als dem überreifen, verſchnörkelten Geſchmack ange-
hört und dem Epos fremder iſt, als jeder andern Kunſtform, weil in ihm
recht beſonders Alles einfach das ſein ſoll, was es iſt. Die vielen Com-
mentare ſind eben ein Beweis der tiefen Unzulänglichkeit, denn die Poeſie
ſoll ſich ſelbſt erklären.
2. Wir können über Arioſto und Taſſo kürzer weggehen. Hier
iſt völlig freie, entbundene Kunſtpoeſie, wie ſie den Schluß des Mittel-
alters, den Anfang der modernen Zeit bezeichnet, und zwar nachahmende,
vornehme, gelehrte Kunſtpoeſie angewandt auf Stoffe der romantiſchen
Sage und Geſchichte, die einem phantaſtiſchen, unkritiſchen, naiven Be-
[1302] wußtſein angehören und volksthümlicher Natur ſind. Dante iſt ungleich
gebundener in ſeinem Bewußtſein, wäre es nur an eine reale Weltanſchauung,
ſo ſtünde Alles gut, und daß ächte Freiheit, epiſche Gleichheit des Gemüths
mit dieſer Bindung vereinbar ſei, haben wir geſehen. Arioſt aber bewegt
ſich ſchwebend in einer Freiheit des Spieles, in welcher die wahrhaft epiſche
Einheit von Ernſt und milder Ironie völlig aufgelöst iſt. Mit dieſer
Stimmung ergreift er den mährchenhaften Theil der Carls-Sage ohne jede
Pietät für den Stoff und läßt ihn zu einem melodiſchen Bilder-Labyrinth
aufquellen, das denſelben Genuß gewährt, wie das ſinnlich heitere Wiegen
und Schaukeln italieniſcher Muſik. Die feſte Zeichnung, welche das Epos
fordert, zerfließt in nie ruhendem Rinnen der Geſtalten, die fruchtbarſte
Erfindung und die lebendigſte ſinnliche Vergegenwärtigung, ächt epiſche
Kräfte, wirken nicht epiſch, weil kein Bild verweilt, und das Geſetz der
retardirenden Unterbrechungen wird ironiſch zu ſolcher Neckerei der immer
ſich verlierenden, immer wieder hervortauchenden Linie geſteigert, daß man
ſich lächelnd trotz allem ſüdlichen Sinnenreize des Stoffs und Gewichte der
vereinzelten ernſten Stellen im reinen Zuſtande ſtoffloſer Bewegungsluſt
befindet: ein künſtleriſch entfaltetes, ausgedehntes Mährchen, wozu auch
Ovid ein gutes Theil des Vorbilds gegeben, gewiß kein Epos. Daß das
Exotiſche Haupt-Inhalt iſt, liegt in der Natur eines ſolchen Spiels. —
Der ernſte Taſſo knüpft die romantiſchen Sagen an die große, welthiſto-
riſche That der Kreuzzüge. Er folgt in dieſem Theile der Geſchichte; das
ächte Epos aber ruht auf Sage, die den geſchichtlichen Stoff typiſch um-
gebildet, idealiſirt hat. Die Begeiſterung für den Inhalt iſt da, aber, da
derſelbe ſich in Wahrheit ausgelebt hat, doch fühlbar angeſpannt und nach
der andern Seite im Pathos für die glatte Formſchönheit verhauchend, ſo
daß man mitten in ihrer Anerkennung von Kälte angeweht wird. Arioſt’s
behagliche Leichtigkeit iſt naturvoller, als dieſe claſſiſche Anſpannung. Er
iſt immer bequem, ganz Italiener und in dieſem Sinne ganz naiv. Man
fühlt nicht eine Abſicht, den Virgil zu erreichen, und ſein Gedicht kann
weit eher als eine wahre Spezies angeſehen werden, wenn man ſie nur
nicht als Epos, ſondern, wie wir ſie genannt, als epiſch entwickeltes
Mährchen faßt. Taſſo iſt Nachahmer bis zur Copie einzelner Stellen Vir-
gil’s und anderer Claſſiker. Ueberhaupt jedoch entweicht bei dieſen Ita-
lienern durchgängig ein gutes Theil der innern Wärme in die rhythmiſche
Form. Die Stanze iſt zu ſehr für ſich künſtlich ſchön, um nicht die Hälfte
des Intereſſes zu Gunſten der formellen Seite zu abſorbiren, und ſpeziell
für das Epos im Reimſyſtem ihrer Strophe zu lyriſch muſikaliſch. Die
Terzine Dante’s iſt epiſcher durch die Bindung, welche je die Mitte der
vorhergehenden Strophe für die zwei äußern Zeilen der folgenden verwendet,
aber offenbar auch zu künſtlich, zu ſchwer und dadurch eine weitere Urſache
[1303] des Dunkels. — Nur flüchtig erwähnen wir Camoens; der hiſtoriſche
Inhalt der Luiſiaden hat energiſches Leben, Schwung des Nationalſtolzes,
aber an die Stelle der organiſch idealiſirenden Sage und des ächten Mythus
tritt die Ausbeutung des Olymps und ſeine Verbindung mit dem chriſt-
lichen, eine Caricatur des ächten epiſchen Weltbildes.
§. 879.
Die moderne Zeit hat an die Stelle des Epos, nachdem allerdings die1.
Umwälzung der Poeſie mit neuen Verſuchen deſſelben, und zwar der religiöſen
Gattung, eröffnet worden war, den Roman geſetzt. Dieſe Form beruht auf2.
dem Geiſte der Erfahrung (vergl. §. 365 ff. 466 ff.) und ihr Schauplatz iſt
die proſaiſche Weltordnung, in welcher ſie aber die Stellen aufſucht, die der
idealen Bewegung noch freieren Spielraum geben. Der Dichter iſt ſelbſtbewußter3.
Erfinder und fingirt frei den Hauptinhalt, was jedoch die epiſche Naivetät nicht
in jedem Sinn ausſchließt.
1. Es kann nicht unſre Aufgabe ſein, ausführlich zu zeigen, wie durch
die Epopöen Milton’s und Klopſtock’s nur unſere Behauptung beſtätigt
wird, daß das eigentliche Epos der modernen Kunſtpoeſie zuwiderläuft und
daß einem religiöſen überhaupt das Weſentliche der Dichtart abgeht; wir
fügen zu dem früher Geſagten nur noch einige Bemerkungen. Was der
Proteſtantismus von Mythen hat ſtehen laſſen, iſt zu arm und unſinnlich;
ausgeſponnen, mit eigenen Erfindungen (namentlich aus dem Gebiete der
Angelologie) vermehrt, wird es zur todtgebornen Maſchine. Der Begriff
der Maſchinerie, durch die Franzoſen aufgebracht und namentlich von
Voltaire in der Henriade froſtig allegoriſch zur Anwendung gebracht, zeigt
ſchon im Namen die Verkehrtheit an, poetiſche Motive, die einſt lebendig
waren, nach ihrem Tode erneuern zu wollen, denn der Name geſteht, daß
ſie mechaniſch werden. Die innere Unwahrheit wird zur poetiſchen Leere
und Kälte. Der reife Geiſt der Selbſtbeſtimmung in der modernen Zeit
ſetzt den Schein jenſeitiger, tranſcendenter Verhandlungen über das Loos
des Menſchen zu einer hohlen Illuſion herab. Wir haben bei Dante geſagt,
das religiöſe Epos ſei aufſteigend ſtatt niederſteigend; Klopſtock beſingt zwar
den Menſchgewordenen Gottesſohn, aber nur um ihn und in ihm die Menſch-
heit durch ſeinen Leidensweg und Tod zum Himmel zurückzuführen. Tran-
ſcendent iſt der Gang, tranſcendent die Hauptperſon: ein Gottesſohn kann
nicht Held eines Epos ſein, weil er nicht fehlen, nicht für Fehl menſchlich
leiden kann. Daß Klopſtock überdieß eine ganz anſchauungsloſe, weſentlich
auf die Empfindung geſtellte, muſikaliſch und lyriſch geſtimmte Natur war,
verfolgen wir hier nicht weiter; hätte er auch die Partieen ſeines Stoffs,
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 84
[1304]welche Handlung, Fülle, Bild darboten, beſſer benützt und ausgebildet, ſo
wäre nur ein ſich widerſprechendes Ganzes entſtanden. Milton’s und Klop-
ſtock’s Epen ſind und bleiben im hiſtoriſchen Zuſammenhange der Literatur
höchſt merkwürdig, indem der Drang, das neu aufgegangene unendliche
Empfindungsleben in erhabener Geſtalt auszuſprechen, und der neue Sinn
der Objectivität, der Zeichnung (dieſer freilich bei Milton kräftiger, als bei
Klopſtock), der in der beſchreibenden Poeſie vorher auf falſchem Wege be-
griffen war, in der Nachbildung Homer’s ſich Luft machte, aber wir halten
uns bei dieſer Seite nicht auf, denn wir ſchreiben hier keine Geſchichte der Poeſie.
Ebendaher befaſſen wir uns auch nicht mit den neueren Verſuchen, Helden-
gedichte auf geſchichtlichen Stoff zu gründen, nicht mit Klopſtock’s und
Schiller’s Entwürfen, die aus begreiflichen Gründen nicht zur Ausführung
kamen, nicht mit dem Späteren, Pyrker u. ſ. w., nicht mit den neueſten
kürzeren Dichtungen, die abermals dieſe Form wiederzubeleben verſuchten.
Günſtiger ſteht es mit Wieland’s Oberon; er will kein Epos ſein, ſondern
ein entwickeltes Mährchen im Geiſt Arioſto’s, und ſchließt doch einen ſchönen
ſittlichen Kern in die bunte Schaale; da aber das Mährchenhafte doch
für ſolchen größern Zuſammenhang keinen hinreichenden Boden mehr hat,
konnte er der Nation kein bleibendes Intereſſe abgewinnen.
2. Der §. weist dem Romane ſeine eigentliche Zeit ganz in der mo-
dernen Literatur an; dabei iſt natürlich nur allgemein der Eintritt dieſer
Kunſtform in ihre wahre Geltung in’s Auge gefaßt; wenn wir hiſtoriſch
verführen, müßten wir das Verhältniß derſelben zu den Rittergedichten
nachweiſen: den poſitiven Urſprung aus denſelben in der proſaiſchen Auf-
löſung ihrer Form zu Volksbüchern, den negativen in der ironiſchen Auf-
löſung ihres Inhalts durch Cervantes. Dieß iſt nicht unſere Aufgabe, wir
berühren aber jenen Urſprung nachher im innern Zuſammenhang, beſprechen
die letztere Erſcheinung da, wo der Unterſchied des Ernſten und Komiſchen
einzuführen iſt, und beſchränken uns hier auf das Allgemeine und Prin-
zipielle. Durch die Darſtellung der Weltalter der Phantaſie iſt aber bereits
Alles ſo vorbereitet, daß es nur kurzer Zurückverweiſung bedarf. Die Grund-
lage des modernen Epos, des Romans, iſt die erfahrungsmäßig erkannte
Wirklichkeit, alſo die ſchlechthin nicht mehr mythiſche, die wunderloſe Welt.
Gleichzeitig mit dem Wachsthum dieſer Anſchauung hat die Menſchheit auch
die proſaiſche Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Löſung
der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Individualität, die Amts-
normen, denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit
zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang phyſiſcher
Uebungen aus der lebendigen Vereinigung mit ſittlichen Tugenden, die im
Heroen lebte, ſich ſcheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen
Zug zur Mechaniſirung der techniſchen Producte, des Schmucks u. ſ. w., die Raf-
[1305] finirung der Genüſſe. Hegel bezeichnet nun mit einfach richtiger Beſtimmung
das Weſen des Romans, wenn er (Aeſth. Th. 3, S. 395) ſagt, er erringe der
Poeſie auf dieſem Boden der Proſa ihr verlorenes Recht wieder. Es kann
dieß auf verſchiedenen Wegen geſchehen. Der erſte iſt der, daß die Handlung
in Zeiten zurückverlegt wird, wo die Proſa noch nicht oder nur wenig
Meiſterinn der Zuſtände war; allein dieß iſt nur ſcheinbar die einfachſte
Auskunft, denn das Wiſſen um die unerbittliche Natur der Realität iſt
jedenfalls im Dichter und theilt ſich dem Gedichte mit; wo nun eine ganze
Dicht-Art einmal auf dieß Wiſſen geſtellt iſt, ſucht ſie ihrem Weſen gemäß
der Poetiſche gerade in einem Kampfe der innern Lebendigkeit des Menſchen
mit der Härte der Bedingungen des Daſeins, und Zuſtände, die noch ſo
flüſſig ſind, daß ſie einer ſchönen Regung des Lebens keine Hinderniſſe
entgegenbringen, entbehren daher für den Roman ebenſo des Salzes, wie
die plaſtiſche Schönheit der antiken Culturformen für den Maler. Ein
zweites Mittel iſt die Aufſuchung der grünen Stellen mitten in der einge-
tretenen Proſa, ſei es der Zeit nach (Revolutionszuſtände u. ſ. w.), ſei es
dem Unterſchiede der Stände, Lebensſtellungen nach (Adel, herumziehende
Künſtler, Zigeuner, Räuber u. dergl.). Dieß iſt eine ſehr natürliche Rich-
tung des Romans und wir kommen darauf zurück. Ein dritter, mit den
beiden genannten begreiflich im innigſten Zuſammenhang ſtehender Weg iſt
die Reſervirung gewiſſer offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Unge-
wöhnliches durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegenge-
wicht hält. Der bedeutendere Geiſt wird dieſe Blitze der Idealität aus
tiefen Abgründen des Seelenlebens aufſteigen laſſen, wie Göthe in den
Partieen von Mignon, die wie ein Vulkan aus den Flächen ſeines W. Meiſter
hervorſprühen; ſolche pſychiſch myſtiſche Motive ſind eine Art von Surrogat
für den verlorenen Mythus, und wahrlich ein beſſeres, als jene abſurde
Oberleitung der geheimnißvollen Männer des Thurmes im W. Meiſter.
Es verſteht ſich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Ro-
mantik rechtfertigen wollen. Der gewöhnliche Weg aber beſteht einfach in
der Erfindung auffallender, überraſchender Begebenheiten. Hier iſt es nun
allerdings ganz in der Ordnung, daß im Roman der Zufall als Rächer
des lebendigen Menſchen an der Proſa der Zuſtände eine beſonders ſtarke
Rolle ſpielt, allein von dieſer Seite liegt eine Schwäche nahe, die mit den
Anfängen des Romans zuſammenhängt. Er iſt, wie oben berührt, aus
den Ritterbüchern entſtanden, die aus dem romantiſchen Epos hervorgegangen
waren, aus einem phantaſtiſchen Weltbilde, wo dem Ritter verfolgte Jung-
frauen, Rieſen, Zwerge, Feeen auf Weg und Steg begegneten und wo ihm
Errettungen, Siege, Thaten überſchwenglicher Tapferkeit ein Kinderſpiel
waren. Das eigentliche Wunder, das abſolut Unmögliche des romantiſchen
Glaubens, verſchwand mit der Zeit, die unwahre Leichtigkeit und Häufigkeit
84*
[1306]des an ſich Möglichen, aber Seltenen und Unwahrſcheinlichen blieb, und
der Roman, ſofern er ſich auf dieſe Richtung wirft, hat daher den Begriff
des Romanhaften begründet, d. h. eines Weltbildes, wo in jedem
Momente der Zufall Unterbrechungen des gewöhnlichen Gangs der Dinge
bereit hält, die der Eitelkeit des Herzens, den Wünſchen der Phantaſie ent-
gegenkommen, wie die Vorſtellung, als dürfe man nur in den nächſten
beſten Poſtwagen ſitzen, um eine verkappte Prinzeſſin darin zu finden, die
man dann von einem Schock Räuber befreit, u. dergl. Dieß Abentheuerliche
lag allerdings ſchon in den griechiſchen Anfängen des Romans, auf die
wir, als auf verlorene Vorpoſten, nicht weiter eingehen können. Gewöhnt
ſich der Leſer, die Welt ſo aufzufaſſen, ſo wird ihm alsgemach das Hirn ver-
brannt und da er ſich in die Rolle der Helden denkt, in die ſich Alles ver-
liebt, wie ſie nur die Schnalle einer Thüre aufdrücken, ſo verliert er die Ein-
fachheit des Unbewußten und ſieht ſich ſtets im Spiegel. Wir haben hier
ſchon eine Seite, die dem Roman etwas Bedenkliches gibt und ihn aus
dem Gebiete der Aeſthetik unter das Tribunal der Pädagogik zu ziehen
droht; wir reden wohl zunächſt von dem ſchlechten Roman, allein auch der
gute ſtreift unwillkürlich an dieſe Nährung eines abentheuerlichen, ſelbſt-
bewußt eiteln Weltbildes. Endlich iſt derjenige Weg der Herausarbeitung
des Idealen aus der Proſa zu nennen, der eigentlich mit allen andern ſich
vereinigt, aber ebenſoſehr, wie wir ſehen werden, auch eine beſondere Rich-
tung begründet: der Roman ſucht die poetiſche Lebendigkeit da, wohin ſie
ſich bei wachſender Vertrocknung des öffentlichen geflüchtet hat: im engeren
Kreiſe, der Familie, dem Privatleben, in der Individualität, im Innern
(vergl. §. 375). Es folgt aus dem Obigen, daß hier, im Conflicte dieſer
innern Lebendigkeit mit der Härte der äußern Welt, das eigentliche Thema
des Romans liegt. Wir werden dieß im Folgenden wieder auffaſſen.
3. Der Romandichter mag einen gegebenen Stoff aus der Wirklichkeit
behandeln, dieß wird hier wie überall das Beſſere, das Naturgemäße ſein.
Allein er kann Nebenhandlungen, ja die Haupthandlung frei erfinden, gänzlich
umbilden, wogegen der epiſche Dichter an die Umbildung, welche ein Stoff
durch die feſtſtehende Sage erfahren hat, gebunden und nur in der Durch-
führung, Entwicklung, Vergegenwärtigung frei iſt. Der Romandichter iſt
alſo weit mehr freier Erfinder und ſchon in dieſer Beziehung reiner Kunſt-
poet. Es iſt nun aber auf den in §. 865 aufgeſtellten Satz zurückzuver-
weiſen: „der Dichter weiß oder behauptet ſein Product nicht als ſolches.“
Die epiſche Objectivität fordert, daß auch der frei ſchaltende Romandichter
ſich ſtelle, als thue er nichts dazu, als mache ſich die Fabel von ſelbſt
oder zwinge ihn, weil ſie einmal thatſächlich ſei, ſo und nicht anders zu
erzählen. Es iſt dieß eine ſtillſchweigende Convention zwiſchen ihm und dem
Leſer. Dadurch tritt ein neuer, beſonderer Zug von Ironie zu derjenigen,
[1307] die im weiteren Sinne des Worts dem epiſchen Dichter überhaupt eigen
iſt (vergl. §. 869). Mit dieſem ſelbſtbewußten Verhalten iſt nun zwar die
volle Naivetät allerdings nicht verträglich, die das Element des ächten Epos
bildet; allein von der Fabel iſt das Bild der Dinge zu unterſcheiden, die
Darſtellung des ganzen Weltzuſtands, der Sitte, der Verhältniſſe, die Ver-
gegenwärtigung der Hauptfiguren im Gange der Handlung: hierin iſt der
Romandichter im guten Sinne des Wortes gebunden wie der Dichter des
Epos und muß denſelben objectiven, kindlichen Sinn bewahren und zeigen.
Die geſchärftere Ironie im Verhalten des Romandichters erſcheint in dieſem
Zuſammenhang wieder milder und nicht zu weit abliegend von der epiſchen
Objectivität; wir haben in §. 865, Anm. bereits jene Uebertragung be-
leuchtet, vermöge welcher hinter der Fiction des Glaubens an die thatſäch-
liche Nöthigung des Fabel-Inhalts die Wahrheit der Unterwerfung des
Geiſtes unter die allgemeinen Geſetze und Bedingungen des Weltlaufs ſich
verbirgt.
§. 880.
Die epiſche Forderung der Totalität bleibt ſtehen, doch nur in Beziehung1.
auf die Culturzuſtände, der Roman trägt in weit engerem Sinne den Charakter
des Sittenbildlichen, als das Epos; der Held iſt nicht handelnd, er macht auf
dem Schauplatze der Erfahrung ſeinen Bildungsgang, worin die Liebe ein Haupt-
motiv iſt und Conflicte der Seele und des Geiſtes an die Stelle der That
treten. Die Auffaſſung iſt daher ungleich mehr, als dort, auf das Innere ge-
richtet, der Styl aber geht noch weit enger in das Einzelne und iſt weſentlich
der ausgebildet charakteriſtiſche, individualiſirende. So bildet der2.
Roman einen vollen Stylgegenſatz gegen das Epos; er iſt aber ein mangel-
haftes Gefäß für den Geiſt der modernen Dichtung, er ſteht, wie ſchon ſeine
proſaiſche Sprachform zu erkennen gibt, bedenklich an der Grenze des ſinnlich
oder geiſtig Stoffartigen und dieſe innere Unſicherheit gibt ſich namentlich durch
die Art der Spannung und die Schwierigkeit des Schluſſes zu erkennen.
1. Der Roman hat nicht eine große National-Unternehmung zum
Inhalt, welche ein Weltbild im hohen geſchichtlichen Sinne gäbe; umfaſſend
ſoll er nur ſein in Beziehung auf das Zuſtändliche, rein Menſchliche, indem
er von ſeinem Punct aus Sitten, Geſellſchaft, Culturformen einer ganzen
Zeit und darin das Allgemeine des menſchlichen Lebens darſtellt. Der
hiſtoriſche Roman begründet keinen Einwand gegen dieſe Beſchränkung der
vorliegenden Kunſtform auf die vom Schauplatze der großen Thaten ablie-
gende Seite der Wirklichkeit; es wird ſich zeigen, daß in ihm das Gebiet
der politiſchen Handlung nur den Hintergrund bildet. In dieſen Grenzen
[1308] ſoll der Roman ein deſto reicheres Gemälde entwerfen, denn dem Geiſte
der Erfahrung ſteht Alles im Zuſammenhang, ſein Weltbild iſt ein gefülltes,
kennt keine Lücken. Er iſt naturgemäß polymythiſch und wie Ariſtoteles
von der zweiten, „ethiſchen“ Gattung des Epos ſagt, in der Compoſition
verwickelt. Wir haben in dieſer das entfernte Vorbild des Romans erkannt
(§. 874), ſie als ſittenbildlich im engeren Sinne bezeichnet und vom Ro-
mane gilt dieß natürlich noch mehr. Der Romanheld nun heißt wirklich
nur in ironiſchem Sinne ſo, da er nicht eigentlich handelt, ſondern weſentlich
der mehr unſelbſtändige, nur verarbeitende Mittelpunct iſt, in welchem die
Bedingungen des Weltlebens, die leitenden Mächte der Culturſumme einer
Zeit, die Maximen der Geſellſchaft, die Wirkungen der Verhältniſſe zuſam-
menlaufen. Er macht durch dieſen Lebens-Complex ſeinen Bildungsgang,
er durchläuft die Schule der Erfahrung. Hier tritt nun die große Bedeu-
tung der Liebe ein. Die ganze moderne Welt erkennt in ihr ein Haupt-
moment in der Ergänzung und Reifung der Perſönlichkeit. Das Ziel des
Romanhelden iſt ſchließlich immer die Humanität, irgendwie gilt von jedem,
was Schiller vom Wilh. Meiſter ſagt: er trete von einem leeren und un-
beſtimmten Ideal in ein beſtimmtes, thätiges Leben, aber ohne die ideali-
ſirende Kraft dabei einzubüßen; er wird vom Leben realiſtiſch erzogen, er
ſoll reif werden, zu wirken (— im Unterſchiede vom Handeln —), aber
zu wirken als ein ganzer, voller, ausgerundeter Menſch, als eine Perſön-
lichkeit. In dieſer Erziehung iſt denn die Liebe, da wir das rein Menſch-
liche, Ideale im Weibe ſymboliſch anſchauen, ein weſentliches Moment und
zugleich Surrogat für die verlorene Poeſie der heroiſch-epiſchen Weltan-
ſchauung; die tiefſten Metamorphoſen der Perſönlichkeit, ſo haben wir ſchon
zu §. 877, 1. geſagt, knüpfen ſich an eine Leidenſchaft, die auf ſinnlicher
Grundlage den ganzen Menſchen ergreift, alle ſeine geiſtigen Kräfte in
Bewegung ſetzt, an ihre Wechſel, Freuden, Leiden; ſie wird ſo zu dem Bande,
an welchem der innere Bildungsgang des Menſchen, obgleich er ſeinem
höheren Inhalte nach weit darüber hinausliegt, ſeinen Verlauf nimmt.
Dieß führt zurück zu dem Wege der Gewinnung des Poetiſchen inmitten
der Proſa, den wir im vorh. §. zuletzt aufgeführt haben: die Geheimniſſe
des Seelenlebens ſind die Stelle, wohin das Ideale ſich geflüchtet hat,
nachdem das Reale proſaiſch geworden iſt. Die Kämpfe des Geiſtes, des
Gewiſſens, die tiefen Kriſen der Ueberzeugung, der Weltanſchauung, die
das bedeutende Individuum durchläuft, vereinigt mit den Kämpfen des
Gefühlslebens: dieß find die Conflicte, dieß die Schlachten des Romans.
Doch natürlich ſind dieß nicht blos innere Conflicte, ſie erwachſen aus der
Erfahrung und der Grundconflict iſt immer der des erfahrungsloſen Herzens,
das mit ſeinen Idealen in die Welt tritt, des Jünglings, der die uner-
bittliche Natur der Wirklichkeit als einer Geſammtſumme von Bedingungen,
[1309] die, von unendlich vielen Individuen in Wechſel-Ergänzung erarbeitet, über
jedem einzelnen Individuum ſtehen, gründlich durchkoſten muß, um Mann
zu werden. Das Hauptgewicht fällt aber natürlich ſtets auf das innere
Leben und wenn demnach der Roman im Unterſchiede vom Epos immer
vor Allem Seelengemälde iſt, ſo wird dadurch das epiſche Geſetz, daß der
Dichter uns überall nach außen, in die Erſcheinung führen ſoll, in ſeiner
Geltung zwar beſchränkt, aber keineswegs aufgehoben; ja das Licht des
tieferen Reflexes im Seelenleben macht die Außendinge nur um ſo bedeut-
ſamer, beleuchtet die ganze Erſcheinungswelt, namentlich auch die äußere
Natur, um ſo gründlicher, dringt heimlicher in die feinſten Falten. Hier
ſtehen wir nun am Hauptpuncte. Eine Welt von Zügen, die das plaſtiſch
ideale Geſetz des Epos ausſcheidet, nimmt das maleriſch ſpezialiſirende des
Romans wie mit mikroſkopiſchem Blick auf, weil jene Idealität der Zuſtände,
welche dieß nicht ertragen könnte, vorneherein gar nicht vorhanden iſt, weil
hier die Idealität vielmehr aus der Proſa der harten Naturwahrheit eben
durch die Rückführung auf ein vertieftes inneres Leben hergeſtellt wird.
2. Man hat den Roman ein verwildertes Epos, eine Zwittergattung
genannt. Wir halten zunächſt unſern in §. 872 an die Spitze geſtellten
Satz feſt, daß er eine wahrere Erſcheinung iſt, als alle Heldengedichte nach
Homer, die der Kunſtpoeſie entſproſſen ſind; denn er will gar kein Epos
ſein, ſondern ſtellt ſich dieſem als Product einer ganz andern Stylrichtung
auf klar getrenntem Gipfel gegenüber. Aber dieſer Gipfel iſt viel niedriger,
als der, worauf das Epos ſeine Stelle hat. Warum? Weil der Styl, der
das Recht des tieferen Griffes in die härteren Bedingungen und Züge der
Wirklichkeit aus der vertieften Innerlichkeit der Weltauffaſſung ſchöpft, ſeine
wahre Heimath in einer andern Dicht-Art haben muß, in derjenigen nämlich,
welche die Welt als eine von innen, aus dem Willen beſtimmte darſtellt,
alſo der dramatiſchen. Er iſt kein Epos mehr und doch kein Drama, er mag
in dieſem Sinn eine Zwittergattung heißen; ein verwildertes Epos aber
kann man ihn nicht nennen, denn er hat die Trümmer des Epos, aus
denen er allerdings entſtanden iſt, in etwas ſpezifiſch Anderes verwandelt.
Dagegen drängen ſich ſchwere Bedenken auf, wenn man ſeine Stellung
ganz allgemein vom Standpuncte der reinen, ſelbſtändigen Kunſtſchönheit
betrachtet: hier bricht über eine kaum merkliche Schwelle der Charakter des
Zwitterhaften in anderer, weiterer Bedeutung herein: der Roman hat zu
viel Proſa des Lebens zugeſtanden, um einen ſichern Halt für ihre Ideali-
ſirung zu haben; daher ſchwankt er ſo leicht nach zwei Extremen hin aus
dem Gebiete des rein Aeſthetiſchen weg: er wirkt ſinnlich ſtoffartig, ſei es
in der gemeinen Bedeutung des Worts oder überhaupt im Sinne patholo-
giſcher Aufregung, und ſinkt zur breiten, leichten oder wilden Unterhaltungs-
literatur herunter; oder er wirkt didaktiſch, tendenziös, nimmt jeden Streit
[1310] der moraliſchen, ſocialen, politiſchen, religiöſen Theorieen und Ideen unter
dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals,
daß das wahrhaft Schöne zwecklos iſt. Die Literatur hat Romane erlebt,
deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen. Das Intereſſe am Indi-
viduum und ſeinen Schickſalen, namentlich in der Liebe, bringt ferner eine
zu ſtoffartige Spannung der Neugierde mit ſich, wie wir dieß ſchon früher
berührt haben. — Die innern Mängel kommen aber vorzüglich am Schluſſe
zum Vorſchein, denn dieſer iſt unvermeidlich hinkend. Die Frage iſt nämlich
einfach: was ſoll der Held am Ende werden? Zum politiſchen Heroen erzieht
ihn der Roman nicht, unſere Aemter ſind eine zu proſaiſche Form, um das
Schiff, das unterwegs mit ſo vielen Bildungsſchätzen ausgeſtattet worden
iſt, in dieſem Hafen landen zu laſſen. Es bleiben Thätigkeiten ohne
beſtimmte Form übrig, die aber ſämmtlich etwas Precäres haben. Wilh.
Meiſter wird Landwirth und iſt dabei zugleich als wirkend in mancherlei
Formen des Humanen und Schönen vorzuſtellen, allein der Dichter ſetzt
doch einen gar zu fühlbaren Reſt, wenn er, nachdem ſo viele Anſtalten
gehäuft waren, einen Menſchen zu erziehen, uns ein ſo unbeſtimmtes Bild
der Thätigkeit des reifen Mannes auf der untergeordneten, wenn auch
ehrenwerthen Grundlage der bloßen Nützlichkeit gibt. Künſtlerleben iſt zu
ideal, die Kunſt thut nicht gut, die Kunſt zum Objecte zu nehmen; geſchieht
es aber doch, ſo erſcheint das Continuirliche einer beſtimmten Thätigkeit,
deren ideale Innenſeite das Dichterwort doch nicht ſchildern kann, eben auch
proſaiſch. Dem Romane fehlt der Schluß durch die That, ebendaher hat
er keinen rechten Schluß. Er hat die Stetigkeit des Proſaiſchen vorneherein
anerkannt, muß wieder in ſie münden und verläuft ſich daher ohne feſten
Endpunct. Ein Hauptmoment des Roman-Schluſſes iſt die Beruhigung der
Liebe in der Ehe. Hier verhält es ſich nicht anders. Die Ehe iſt eigentlich
mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzuſtellen, in ihrer
Erſcheinung proſaiſch und ſo läuft auch dieſe Seite der gewonnenen Idea-
lität in zugeſtandene Proſa aus. Dieſen Charakter, die Proſa nicht gründlich
brechen zu können, geſteht nun der Roman auch dadurch zu, daß er in
gebundener Sprache ganz undenkbar iſt und mit bloßem entferntem Anklang
des Rhythmiſchen ſich begnügen muß. Allein die Sprachform wird auch
zum rückwirkenden Motive, dießmal im ſchädlichen Sinne, und ſteigert die
Verſuchung, die an ſich ſchon in der Dicht-Art liegt, ſtoffartige Maſſen
von Hiſtoriſchem, Gelehrtem aller Art, unverarbeiteter Weisheit, Tendenziöſem,
Erbaulichem u. ſ. w. in das geduldige Gefäß zu ſchütten.
§. 881.
Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrſchend das
Privatleben zu ſeinem Schauplatz und ſucht hier das Poetiſche entweder in
[1311] der ariſtokratiſchen Geſellſchaft, ſei es im engeren, ſei es, um die Er-
werbung ſchöner Humanität in den bevorzugten Kreiſen darzuſtellen, im weiteren
Sinne des Worts, oder, und zwar in ſtets erneuter Oppoſition gegen dieſe
Form, im Volke; oder im gebildeten Bürgerſtande, vorzüglich in ſeinem
Familienleben, und dieſe Gattung nimmt die breiteſte Stelle ein. Ueber dieſe2.
Sphären erhebt ſich unvollkommen der hiſtoriſche Roman in das politiſche
Gebiet und der ſociale zu den großen Fragen über das Wohl der Geſellſchaft.
1. Es folgt aus allem Geſagten, daß der Roman „vorherrſchend“ d. h.
nicht nur meiſt, ſondern wie ſich zeigen wird, auch wo er das Oeffentliche
ergreift, wenigſtens mit ſeinem ganzen Vordergrunde ſtets im Privatleben
ſpielt. Natürlich aber ergriff er zuerſt deſſen glänzendſte, am Oeffentlichen
unmittelbar liegende, durch ſeine Glorie beſchienene Seite, das Hofleben.
Der ältere ariſtokratiſche Roman, im ſiebenzehnten Jahrhundert, hauptſächlich
nach Calprenede und Mad. de Scüdery, ausgebildet, war nur ſcheinbar
ein hiſtoriſcher, ein „Heldenroman.“ Es war in den Herkules, Herkuliskus,
Aramena, Octavia, Arminius von Buchholz, Herzog Anton Ulrich von
Braunſchweig, Lohenſtein bis zu Ziegler’s aſiatiſcher Baniſe um einen „Hof-
ſpiegel“ und nur im Sinne aufgeklebter Gelehrſamkeit um einen „Welt-
ſpiegel“ zu thun; hinter den hiſtoriſchen Helden ſtacken Hofleute der Zeit.
Dieß war der nächſte Ableger der an die Rittergedichte ſich anſchließenden
Amadis-Romane; das Ariſtokratiſche war zunächſt hiſtoriſch motivirt als
Reminiſcenz, Nachwirkung der Romantik, die Dichter ſelbſt waren Adeliche.
Dabei lag als inneres Motiv der Inſtinct zu Grunde, etwas der erhabenen
Thätigkeit der Heroen im urſprünglichen Epos Aehnliches als Stoff zu
ergreifen, und man ſuchte dieß Aequivalent in der feinſten Bildung und
freieſten Lebensbewegung, wie ſie den bevorzugteſten Ständen ſich öffnet.
Der ariſtokratiſche Roman iſt ein verſpäteter Verſuch dieſer Dicht-Art, auf
der Linie des Epos zu bleiben; das Heroiſche ſoll als Vornehmes conſer-
virt erſcheinen. Die geiſtigere, moderne Wendung iſt nun die, daß das
Vornehme nicht in die feinſte, ſondern in die reinſte Bildung, in die Blüthe
der Humanität geſetzt wird, aber doch ſo, daß die Erwerbung derſelben an
bevorzugten, der Enge und Sorge des Lebens enthobenen Stand als an
ihre Bedingung geknüpft bleibt. Göthe hat dieſe Verſchmelzung des Bil-
dungsbegriffs mit dem Adelsbegriffe im Wilh. Meiſter zwar durch das
Aufſteigen eines Bürgerlichen in die vornehmen Kreiſe, durch Geltendmachung
der Kunſt als eines geiſtigen Adels, die jedoch im Schauſpielerſtand auch
ihre ganze Sterblichkeit enthüllt, durch die Mißheirathen am Schluß ironiſirt,
aber darum keineswegs aufgehoben, ſondern doch in Ton und Inhalt recht
ſanctionirt. Dieſes Kunſtwerk kann im engeren Sinne des Worts ein
Humanitäts-Roman genannt werden. Die ganze Dicht-Art hat, wie wir
[1312] geſehen, die Idee des Heranreifens zur reinen Menſchlichkeit zum Inhalt,
das eigentliche Handeln iſt nicht ihre Sphäre. Damit iſt aber natürlich
nicht geſagt, daß nicht der Kern der menſchlichen Vollendung der Perſön-
lichkeit in das Ethiſche, die Charakterbildung, und zwar allerdings auch in
Beziehung auf das nationale, politiſche Leben zu legen ſei, nur daß es bei
der Beziehung bleibt und nicht die That ſelbſt, höchſtens eine Ausſicht auf
ſtetiges Wirken in die Fabel eintritt. Göthe’s Roman faßt aber im Sinne
ſeiner Zeit das Humanitätsleben als ein Syſtem idealen Selbſtgenuſſes,
worin das eigentlich Active und das Intereſſe für die großen Gegenſtände
deſſelben fehlt; die Schlußwendung zu der Idee nützlicher Thätigkeit und
der Begriff der Reſignation vermag dieſe Grundlage nicht zu verändern,
fällt vielmehr ſelbſt wieder unter die von ihr ausgehende Beleuchtung. Es
iſt dieß ein Mangel an männlichem Marke, der aber in unſerem Zuſam-
menhang als natürlicher Mangel der Spezies zur Sprache kommt. Es
verhält ſich ebenſo mit dem Künſtler-Romane, zu welchem der W. Meiſter
neigt, und den wir zum ariſtokratiſchen zählen dürfen. Der allgemeine
Grund, der gegen die Wahl ſolcher Stoffe aus dem Gebiet idealer Be-
ſchäftigung entſcheidet, iſt mehrfach und noch ſo eben von uns ausgeſprochen;
in dieſer Rückbiegung der Kunſt auf ſich ſelbſt verräth ſich ganz die bedenk-
liche Scheue der neueren Zeit vor dem herben Roh-Stoffe des realen Lebens.
Wir wollen jedoch damit nicht ſchroff abſprechen; Künſtler, mehr noch Dichter,
Schauſpieler können erſchütternde Schickſale erleben, die hinreichenden Stoff
für den Mittelpunct einer Roman-Fabel liefern, ſo daß man das Mißliche
einer Beſchäftigung, welche dem Epiker zu wenig Realität darbietet, weniger
fühlen mag; je ernſter aber ein ſolcher Lebensgang erſcheint, je ergreifender
die Kämpfe einer künſtleriſch idealen Natur mit der Welt, deſto beſtimmter
tritt ein ſolcher Roman aus der ariſtokratiſchen, fein epicureiſchen Sphäre
heraus und in die Gattung des bürgerlichen Romans hinüber. Innerhalb
der Sphäre, in der wir ſtehen, ja der Behandlung nach in aller Roman-
Literatur iſt Göthe’s Roman ein Werk faſt unvergleichlicher Vollkommenheit.
Die breiten und vollen Maſſen des Inhalts, getränkt mit Lebensweisheit,
erklingen unter der Hand des Künſtlers wie in höheren Rhythmen, das
Stoffartige iſt rein getilgt und mit ächter Milde, feinem epiſchem Lächeln
ſchwebt objectiv der ruhige Geiſt über der harmoniſch geordneten weiten
Welt. — Es war zunächſt die innere Unwahrheit des ariſtokratiſchen Ro-
mans in ſeiner urſprünglichen Geſtalt, was den Gegenſatz herausforderte.
Dieſe Unwahrheit lag in der kindiſchen Häufung des Unwahrſcheinlichen,
den unglaublichen Thaten der galanten Tapferkeit, den unendlichen aben-
theuerlichen Zufällen, die derſelbe aus der Ritter-Romantik mit herüber-
brachte, ebenſo aber in dem falſchen Welt- und Sittenbild überhaupt, der
Unnatur des Umgangtons, dem Hohn auf alle Wahrheit der Erfahrung,
[1313] auf welche doch die ganze Dicht-Art, realiſtiſch in ihrem innerſten Weſen,
gegründet iſt. Der Volksroman, der Ableger des Sancho Panſa, be-
gleitet wirklich den ariſtokratiſchen Roman, wie dieſer den Don Quixote,
von den ſpaniſchen Schelmen- und Räuber-Romanen bis heute, wo er ſich
in den Dorfgeſchichten eine neue Geſtalt gegeben. Räuber, Abentheurer
aller Art, wandernde Muſikanten, Studenten, Handwerksburſche, Bediente,
arme Findlinge, die ſchließlich emporkommen, endlich Bauern: wir dürfen
dieß ganze Perſonal im Volksromane zuſammenfaſſen, der uns die Welt
kennen lehrt, wie ſie iſt, wie ſie mit rauhem Stoße den jungen Lehrling
enttäuſcht und ihm das Schulgeld grob und hart abfordert. Der Styl
geht um ſo viel naturaliſtiſcher in dieſe Gröbe des Lebens, als der Geiſt
der Wirklichkeit die ganze Grundlage bildet. Er iſt in den früheſten Er-
ſcheinungen noch ein Stück ächten Volkstons, namentlich in dem trefflichen
Simpliciſſimus, auch in den „wahrhaftigen Geſichten Philander’s von Sit-
tewald,“ die zwar didaktiſch ſind, aber ſo viel ächt Epiſches enthalten:
Werken, durch welche der Geiſt der Enttäuſchung und Erfahrung, der Er-
kenntniß der Argheit und „Hypokriſie“ der Welt, der über das ſechszehnte
und ſiebenzehnte Jahrhundert kam, mit ſo ſcharfer Schneide geht. Wir können
auch die Robinſonaden nach der einen Seite in unſern Zuſammenhang ziehen,
als Ausdruck einer Stimmung, welche die überſatte und üppige Cultur
erfriſchen wollte, indem ſie ihr zeigte, wie ſchwer und intereſſant ihre An-
fänge ſind: ſie ſollte wieder Natur-Reiz erhalten durch das Bild eines
Schiffbrüchigen, der von allen ihren Vortheilen getrennt iſt und von vorn
beginnen muß. Dieſe Claſſe ſteht aber zugleich in einem größern, bedeu-
tenderen Zuſammenhang und weist merkwürdig auf die Ideen-Strömung hin,
die mit Rouſſeau ihren ſtärkeren Lauf anhob; ſie verkündigt einfache, natur-
gemäße, freie Staats- und Geſellſchafts-Bildung. — Die Dorfgeſchichten
der neueren Zeit gehören ihrem beſchränkten Umfange nach eigentlich in die
Geſchichte der Idylle und ſind bei der modernen Form derſelben noch ein-
mal aufzunehmen; doch iſt nicht zu überſehen, daß dieſe ſelbſt an dem hier
vorliegenden Gegenſatze Theil hat, indem das falſche Bild des Idylliſchen
in der bekannten Form des Schäferweſens von der höfiſch ariſtokratiſchen
Dichtung ausgeht, das denn auch im eigentlichen Romane dieſes Geſchmacks
einen ſtarken Einſchlag bildet. Die Dorfgeſchichte gibt dagegen wahre Land-
leute, enthüllt die Härten, die Uebel des Bauernlebens, hält es nicht ſchlecht-
hin abgeſchloſſen von der verderblichen Berührung mit der raffinirten Cultur,
und doch rettet ſie zugleich die Einfalt, die Schönheit des Heimlichen und
Beſchränkten. So gehört ſie in den Zug der Oppoſition gegen die ariſto-
kratiſche Romanliteratur. — Der bürgerliche Roman dagegen iſt die
eigentlich normale Spezies. Er vereinigt das Wahre des ariſtokratiſchen
und des Volksromans, denn er führt uns in die mittlere Schichte der Ge-
[1314] ſellſchaft, welche mit dem Schatze der tüchtigen Volksnatur die Güter der
Humanität, mit der Wahrheit des Lebens den ſchönen Schein, das ver-
tiefte und bereicherte Seelenleben der Bildung zuſammenfaßt. Der Heerd
der Familie iſt der wahre Mittelpunct des Weltbildes im Roman und er
gewinnt ſeine Bedeutung erſt, wo Gemüther ſich um ihn vereinigen, welche
die harte Wahrheit des Lebens mit zarteren Saiten einer erweiterten geiſtigen
Welt wiedertönen. In dieſen Kreiſen erſt wird wahrhaft erlebt und ent-
faltet ſich das wahre, von den Extremen ferne Bild der Sitte. Die Eng-
länder, die der neueren Literatur überall die bedeutendſten Anſtöße gegeben,
ſind auch in dieſer Gattung vorangegangen. Der Urheber derſelben, Richard-
ſon, iſt Pedant im Ausmalen, peinlicher Anatom in der pſychologiſchen
Zergliederung, abſtracter Moraliſt, und doch begründet er den ſcharf zeich-
nenden realiſtiſchen Styl, wie ihn die Kunſtform fordert, weist auf das
wahre Ziel hin, in dieſem Styl ein Seelengemälde zu entfalten und ihr
zum Mittelpuncte den gediegenen ethiſchen Gehalt unſerer gebildeten bür-
gerlichen Stände zu geben.
2. Wir könnten den hiſtoriſchen Roman auch in anderem Zuſam-
menhang aufführen, nämlich da, wo von dem Hinübergreifen des claſſiſchen,
monumentalen Styls in den charakteriſtiſchen zu handeln iſt. Doch iſt es
nur die Größe des Stoffs, wodurch ſich dieſe Form zu einem Seitenbilde
des Epos und ſeiner Erhabenheit zu ſteigern ſucht; im Style hat gerade
ſie von ihrem Begründer, W. Scott, die Richtung auf das Individuali-
ſiren bis zu jenem Exceſſe des breiten, verweilenden Ausmalens erhalten,
den wir mit Leſſing als Verletzung eines poetiſchen Grundgeſetzes verwerfen
mußten (vergl. §. 847), und eine Neigung dazu wird bleiben, weil der
epiſche Poet, wo er mit dem Hiſtoriker den Stoff theilt, den Unterſchied
der Behandlung immer in recht haarſcharfer Vergegenwärtigung wird zeigen
wollen. Es iſt nun hier allerdings die monumentale Großheit des ge-
ſchichtlich politiſchen Stoffs gewonnen, allein der innere Mangel der ganzen
Dicht-Art tritt in dem Verhältniß der Theile und namentlich im Schluſſe
nur um ſo fühlbarer zu Tage: das große Schickſal der Völker und das
Bild der politiſchen Charaktere muß Hintergrund und Mittelgrund bleiben,
der Romanheld im Vordergrund darf nicht hiſtoriſch bedeutend ſein, weil
der Roman einmal das Allgemeine, genreartig Namenloſe des Privatlebens,
das rein Menſchliche der Perſönlichkeit zum Inhalt hat; nun ſpricht eben-
daher dieſer Vordergrund das höhere Intereſſe an, das doch ſeinem be-
deutenderen Gewichte nach der Hintergrund, Mittelgrund verlangt, und
das iſt ein innerer Widerſpruch; dort ſpannt uns die höhere Bedeutung
der Geſchichte, das Schickſal von Nationen, hier die Frage, ob Hans die
Grete bekommt, Beides gleichzeitig und ſo, daß die letztere Frage uns
wärmer, zudringlicher beſchäftigt. — Der ſoziale Roman ſchlummert als
[1315] mehr oder weniger beſtimmter Keim ſchon im Volksroman und im bürger-
lichen. Es liegt beiden, namentlich dem erſteren, nahe, die brennende
Frage über die Einrichtung der Geſellſchaft, Unterſchied und Kampf der
Stände, Verhältniß zwiſchen Arbeit und Erwerb, Vergehungen und Strafen
u. ſ. w. fühlbarer aus ihrem Erzählungsſtoff hervorſpringen zu laſſen, aus-
drücklich zu behandeln und näher oder ferner an die Grenze des Tenden-
ziöſen zu treiben; es kann aber einen Roman geben, der ſolche Fragen
entſchieden und doch nicht in unpoetiſcher Abſichtlichkeit, ſondern mit der
Friſche unmittelbarer Kraft und Erfindung zu ſeinem Mittelpuncte macht;
ſeine Sphäre iſt entweder bürgerlich oder volksthümlich, das Gewicht aber,
das auf dieſem Mittelpuncte liegt, begründet ſeinen Namen, weist ihm
ſeine eigene Stelle an. Immermann’s Epigonen ſind trotz ihren ſchwachen
und nachgeahmten Partieen ein achtungswerthes Beiſpiel. Es wird freilich
nur Wenigen und in wenigen Momenten gelingen, einen Inhalt, der ſeiner
Natur nach in ſehr bewußter Weiſe gedacht ſein will, ſo in ſich aufzunehmen,
daß er ganz als Geſtalt und Handlung vor dem Innern ſteht, und demnach
ſo zu behandeln, daß alſo nicht der unorganiſche Weg der Tendenz einge-
ſchlagen wird. Die geniale George Sand ſteht hoch in den endloſen Fluthen,
welche der tendenziös ſoziale Roman in der neueſten Zeit aufgeworfen hat,
nicht weil man ſagen kann, ſie habe jene Schwierigkeit gelöst, vielmehr ſie
iſt ganz tendenziös, aber dem außer-äſthetiſchen Zwecke ſteht ein Auge, eine
Kraft der Zeichnung, eine Seele, ein Stylgefühl Raphael’s zu Gebot,
welche Bewunderung und Liebe fordern.
§. 882.
Was die Stimmungsunterſchiede der Phantaſie betrifft, ſo zieht der
Roman in vollem Umfang das Komiſche in ſeinen Kreis und bildet es zu
einer beſondern Form aus. Die ironiſche Auflöſung des (romantiſchen) Epos
war für ſeine Entſtehung überhaupt und für die Begründung dieſer Form ein
weſentliches Moment, wogegen innerhalb des Epos das Komiſche nur ſpar-
ſamen Raum findet und nicht eine eigene Form, ſondern nur eine Parodie der
Dichtart hervorbringen kann. Der Roman bewegt ſich durch alle Stufen des
Komiſchen bis zum Humor, der ſich naturgemäß mit der ſentimentalen
Richtung verbindet. Der Stoffſphäre nach vereinigt ſich das Komiſche mit der
volksthümlichen oder bürgerlichen Oppoſition gegen den ariſtokratiſchen Roman.
Der ernſte Roman liebt glücklichen Ausgang, kann aber auch tragiſch endigen.
Wir haben die Frage über das Verhältniß der epiſchen Poeſie zum
Komiſchen bis hieher verſchoben, weil erſt beide gegenſätzliche Stylformen
vorliegen müſſen, um ſie zu beantworten. Das ächte Epos iſt durch die
[1316] Idealität des claſſiſchen Styls gehalten, das Komiſche in enge Grenzen
zu weiſen, nicht zwar in ebenſo enge, wie die Sculptur, welcher kein
Therſites erlaubt iſt, aber begreiflich in viel engere, als die Gattung, die
vorneherein auf einer erfahrungsgemäßen, realiſtiſchen Weltanſchauung ruht
und ſich im maleriſchen, individualiſirenden Style bewegt. Es gibt kein
komiſches Epos. Was man ſo nannte, von der Betrachomyomachie bis
zu Boileau’s lutrin, Pope’s Lockenraub, Zachariä’s Renommiſten und
Murner in der Hölle, iſt nicht eine Spezies, ſondern nur Parodie einer
Spezies, worin dieſe dadurch lächerlich gemacht wird, daß ihre großen
Motive und großer Styl auf die Folie kleiner Stoffe gelegt werden. Dieſe
Formen gehören in den Anhang von der Satyre. Ebenda werden wir
auch, obwohl wir den tiefen Unterſchied nicht verkennen, das deutſche Thier-
Epos aufführen. — Eine poſitive neue Spezies entſteht aus der Ironie
eines Weltbilds, das ſich ausgelebt hat und welchem unter dem Spotte
zugleich ein neues Weltbild entgegengeſtellt wird. Das Ausgelebte wird
als eine Illuſion dem Lächerlichen übergeben. Mit Illuſionen tritt aber
der Romanheld immer ſeinen Erfahrungsweg durch das Leben an, daher
hat es tiefen innern Zuſammenhang, daß die wahre Entſtehung des Romans
und die Schöpfung des komiſchen Romans im Grunde zuſammenfallen.
Der tolle Humor des Rabelais und Fiſchart konnte erſt eine formlos wilde
Caricatur der romantiſchen Ritterwelt, keine neue Form hervorbringen; mit
einem Werke der künſtleriſchen Ironie dieſer Welt den komiſchen Roman,
ſchließlich den wirklichen Roman überhaupt geſchaffen zu haben, dieß iſt
die unſterbliche Leiſtung des Cervantes. Der edle Narr Don Quixote,
deſſen Hirn von der Lectüre der Ritterbücher verbrannt iſt, zieht Aben-
theuer ſuchend durch die Welt, deren proſaiſche Wirklichkeit ihm auf allen
Tritten den komiſchen Anprall bereitet und deren grobe Wahrheit von den
Lippen ſeines komiſchen Schattens, ſeines bäuriſchen Chors, des Sancho
Panſa gepredigt wird. So iſt dieſe Ironie des Ritterthums zugleich Volks-
roman, nimmt im Volke den Anſatz zum Spotte gegen das ausgelebte
Ideal der Ariſtokratie. Um dieſen Roman gruppiren ſich jene Schelmen-
und Abentheurer-Romane in Spanien, die in Frankreich ihre Nachahmung
im Gil Blas von Leſage finden, und in Deutſchland treten die Volksromane,
die oben erwähnt ſind, der abſurden Fortſetzung des Ritterlichen im ariſto-
kratiſchen Kunſtroman entgegen. Eine andere Linie tritt in England her-
vor. Hier bildet ſich der bürgerlich komiſche Roman in Oppoſition gegen
die Prüderie, die abſtracten Tugend- und Bosheits-Muſter, die pedantiſche
Selbſtzergliederung in Richardſon’s Romanen, wiewohl dieſe ſelbſt die bürger-
liche Form begründet und in der Feinheit, Schärfe und Sicherheit der
Zeichnung ſo großes Verdienſt haben. Naturaliſtiſch derb und poſſenhaft
tritt die Gegenwirkung in Fielding, wüſt und aus tieferen Abgründen des
[1317] Häßlichen keine reine Komik entbindend in Smollet auf. — Inzwiſchen
hatte ſich das Sentimentale entwickelt. Es verbindet ſich in der eng-
liſchen Literatur alsbald mit dem Komiſchen ſo, daß die tiefere Geſtalt
deſſelben, der Humor, auflebt: Goldſmith und Sterne ſchaffen den humori-
ſtiſchen Roman. Es iſt hier nicht unſere Aufgabe, dieſe Geſtalt zu ſchildern,
da ihr inneres Weſen im erſten Theil im Abſchnitt vom Humor aufgezeigt
iſt (vergl. namentlich §. 220). In Deutſchland bildete ſich unter ſtarkem
engliſchem Einfluß die empfindſame Stimmung zu einer Gewalt aus, welche
ſich im Romane, der durch ſeine exotiſchen Motive ihr unmittelbar das
natürlichſte Gefäß darbietet, eine beſondere Form ſchafft, die geiſtvollſte
in Werther’s Leiden, worin ſie mit ihrer verführeriſchen Schönheit ihr wahres
Weſen zugleich als Selbſtverrichtung enthüllt und, indem ſie ſich ganz dar-
ſtellt, ſich negativ heilt. Aber daneben zieht ſich, ebenfalls von der eng-
liſchen Literatur angeregt, die komiſche Linie hin und bereitet eine andere
Weiſe der Auflöſung des Sentimentalen vor, den eigenthümlichen Umſchlag
in den Humor, der ſich nicht wirklich von dieſem Geiſte der überſchweng-
lichen Sehnſucht befreit, ſondern immer ſein Bild neu erzeugt, um es neu
in das „Lächeln zwiſchen Thränen“ aufzulöſen: J. P. Fr. Richter (vergl.
§. 205 ff. und §. 480). Der komiſche Roman iſt ſeither in mancherlei
Form aufgetreten, hat aber den Reichthum und die Gewalt dieſes zwar
formloſen Humoriſten und ſeiner engliſchen Vorgänger nicht wieder erreicht.
Die neuere romantiſche Schule hat die phantaſtiſchen Motive der urſprüng-
lichen Romantik wieder ausgebeutet, dämoniſche Geſtalten des Unheimlichen
beſchworen und dieſe Welt in die kranke Form des gebrochenen, zerriſſenen
Humors unvollkommen aufgelöst.
Wir haben geſehen, daß das Epos tief tragiſch endigen kann, ſeiner
Natur nach aber mehr zum glücklichen Ausgang treibt. Dieß iſt noch
mehr der Fall bei dem Romane, da er ſich mit den milderen Motiven des
Seelenlebens befaßt und den Gang ſeines Helden durch die Conflicte des
Lebens mit der Entwicklung ſeiner Perſönlichkeit zur wahren Humanität
zu ſchließen ſeine innerſte Aufgabe iſt. Allein dieſe Conflicte begründen
nicht nur im Einzelnen um ſo ſchneidendere tragiſche Momente, als die
Subjectivität hier in ihrer ganzen Feinfühligkeit auf die Härten des Lebens
ſtößt, ſondern es muß dem Roman auch unbenommen ſein, ſich ganz im
tragiſchen Elemente zu bewegen und es in einen finſtern Schluß, in das
Bild einer an der Unerbittlichkeit der Weltbedingungen ſcheiternden Perſön-
lichkeit zuſammenzudrängen.
§. 883.
Dem Romane ſtellt ſich als das kleinere Bild einer Situation aus dem1.
größern Ganzen des Weltzuſtands und der perſönlichen Entwicklung die Ro-
[1318]2.velle zur Seite. Das Volksthümliche hat ſich vorzüglich in dieſe Form gelegt
und als realiſtiſche Idylle die Dorfgeſchichte eingeführt. Einzig in ihrer Art
ſteht aber eine andere Geſtalt der modernen Idylle: der ideale Styl tritt
in den charakteriſtiſchen über und ſteigert das beſcheidene Bild
des Landlebens zur monumentalen Höhe des Epos.
1. Die Novelle verhält ſich zum Romane wie ein Strahl zu einer
Lichtmaſſe. Sie gibt nicht das umfaſſende Bild der Weltzuſtände, aber
einen Ausſchnitt daraus, der mit intenſiver, momentaner Stärke auf das
größere Ganze als Perſpective hinausweist, nicht die vollſtändige Entwick-
lung einer Perſönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menſchenleben, das
eine Spannung, eine Kriſe hat und uns durch eine Gemüths- und Schick-
ſalswendung mit ſcharfem Accente zeigt, was Menſchenleben überhaupt iſt.
Man hat ſie einfach und richtig als eine Situation im Unterſchied von
der Entwicklung durch eine Reihe von Situationen im Romane bezeichnet.
Die Novelle hat dem Romane den Boden bereitet, das Erfahrungsbild
der Welt erobert; das Mittelalter kannte Menſch und Welt nicht, träumte
überall von Exemtionen, Bocaccio plauderte das Geheimniß aus, daß
Menſchen Menſchen, „ſterbliche Menſchen“ ſind. Dieſelbe Bedeutung hat
die große Beliebtheit des Schwankes, wie er im ſechszehnten Jahrhundert
in Deutſchland herrſcht. Dieſe kleinen Formen ſind zum Theil bloße Anek-
doten. Die Anekdote iſt mit kurzer Spannung und Löſung zufrieden ohne
das Reſultat eines fruchtbaren, inhaltvollen Blickes in die Wahrheit des
Menſchenlebens, daher meiſt komiſch; die Novelle dagegen bewegt ſich auch
im tragiſchen Gebiet, und zwar mehr, als der Roman. Es liegt dieß in
ihrer ſtrafferen Natur; wer Intereſſantes kurz erzählen will, muß das
Retardirende ſchneller niederwerfen und auf die Kataſtrophe zueilen, wo
ſich aber dieſe acuter hervordrängt, da iſt auch die ſchärfere Schneide des
Schickſals, wie die Pritſche des lächerlichen Zufalls, im Zuge des Aus-
holens. Es lag der modernen Zeit ſehr nahe, den Inhalt der Novelle
als Thema zu behandeln, d. h. unſere Converſation und Debatte ſo in ſie
zu verlegen, daß eine Lebensfrage, ein Kampf geiſtiger Richtungen, dunkle
Erſcheinungen des Seelenlebens und dergl. vorherrſchend geſprächsweiſe er-
örtert werden, während in den perſönlichen Schickſalen zugleich die factiſche
Antwort erfolgt. Die Form iſt bedenklich, denn es liegt nur zu nahe, die
zweite Seite, welche natürlich den weſentlichen Körper des Ganzen bilden
müßte, zur Nebenſache zu machen und ſo die Idee didaktiſch, ſtatt poetiſch
und zwar mit dem beſondern Geruche des Salons, der Theegeſellſchaft
herauszuſtellen, wie wir in den meiſten Novellen Tieck’s ſehen. Ein Anderes
iſt es, wenn eine harmloſe Geſellſchaft ſich Novellen erzählt, wie bei
Bocaccio, wo denn ſchließlich allerdings auch die Erzählenden ſelbſt eine
[1319] Novelle ſpielen mögen; ohne Bocaccio’s Naivetät iſt auch dieß von Tieck
(im Phantaſus), Göthe und And. nachgeahmt. — Eine gegen den Roman
hin erweiterte Novelle ſind Göthe’s Wahlverwandtſchaften, ſie bleiben aber
in ihrer Grundlage feſt auf dem Boden der Dichtart, denn ſie ſchildern
nicht einen ganzen Entwicklungsgang einer Perſönlichkeit, die Hauptperſonen
ſind beziehungsweiſe reif; eine einzelne, verfängliche Lebensfrage, die Frage
über das Verhältniß zwiſchen Freiheit, Pflicht, Selbſtbeherrſchung und
dunkeln phyſiologiſch-pſychiſchen Gewalten, die Individuum an Individuum
bannen, bildet den weſentlichen, ächt novellenhaft ſpannenden Inhalt und
nur die breite Fülle der Darſtellung bringt den Romancharakter hinzu. —
Wir hätten nun hier mancherlei ſchwer zu beſtimmende Nebenformen zu
beſprechen, ſagen aber nur ein Wort von der ſog. poetiſchen Erzählung.
Sie hätte ſchon neben dem claſſiſchen Epos erwähnt werden können, ſie
läuft aber ebenſo neben dem Roman und auch der Novelle her. Dort er-
ſcheint ſie, wie z. B. die Erzählungen einzelner Thaten des Herkules bei
Theokrit, als eine epiſche Studie, ein Eidyllion, aber im hohen Style, nur
ohne die Weihe, welche die Einreihung in den Zuſammenhang des großen
Weltbildes gibt. Soll zwiſchen der poetiſchen Erzählung der neueren Zeit
und der Novelle ein feſter Unterſchied angegeben werden, ſo kann er nur
darin liegen, daß jene entweder im Sinne des Hinneigens zum Hiſtoriſchen,
oder zum Didaktiſchen mehr ſtoffartig iſt, wiewohl ſie im Uebrigen ihre
Materie mit mehr oder weniger Selbſtthätigkeit der Kunſt umbilden mag.
Hoch ſtehen in der erſteren Gattung trotz der Bitterkeit, die ſie verdüſtert,
an Kunſttalent die Erzählungen Heinrich’s von Kleiſt. Die zweite Gattung
war in der Periode, die der Revolution in der neueren Poeſie vorangieng,
ſehr beliebt; man trug in anekdotenhaftem Gewande gern ſchalkhafte oder
rührende Pointen, Sätze der Lebenserfahrung, Menſchenkenntniß vor, wie
Gellert, Lichtwehr, Pfeffel. Dieſe Sachen waren, um ihnen etwas mehr
Schein zu geben, verſificirt; ſie blühten gleichzeitig mit der Fabel und ſind
ihr verwandt.
2. Die Novelle führt uns zum Idyll (oder, um bei dem Sprach-
gebrauche zu bleiben, der die moderne Form mit einem grammatiſchen
Genusfehler zu bezeichnen einmal gewohnt iſt,) zur Idylle zurück. Das
claſſiſche Sittenbildchen wird in der modernen Zeit vor Allem der Com-
poſition nach erweitert: der bloße Keim einer Handlung, der in ihm lag,
entwickelt ſich, es bekommt eine Fabel, wird Erzählung, daher auch größer
an Umfang. Es erhellt ſchon daraus, daß dieſer Zweig höhere Wichtigkeit
erhalten hat, und der innere Grund liegt darin, daß eine Stimmung, die
wir nur erſt als ganz ſchwachen Anhauch im claſſiſchen Idyll gefunden
haben, nunmehr völlig ausgebildet den Charakter der Gattung beſtimmt:
das Gefühl der Unnatur in der gebildeten Geſellſchaft, der Härte und Kälte
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 85
[1320]des öffentlichen, politiſchen Lebens. Es iſt dieſelbe Spannung der Senti-
mentalität, die erſt der Gegenſatz erzeugt, wie in der Landſchaftmalerei. Der
gebildete Menſch erſcheint unwahr und getheilt, man ſucht den ungetheilten,
wahren und glücklichen da, wo man dagegen auf die größeren Intereſſen
verzichten muß; daher zieht ſich denn dieſe Dicht-Art dem Stoffe nach immer
mehr zu den Ständen zurück, die ſo wenig als möglich vom Raffinement
der Bildung berührt werden, zu Landleuten, Hirten. Wir können, was
ihre frühere Geſchichte betrifft, nur andeuten, wie jene Spielerei und Affec-
tation des Schäferweſens, worunter Höflinge verſteckt waren, in Italien auf-
kommt, von da nach Spanien, Frankreich, Deutſchland wandert, hier durch die
Nürnberger ſich ganz zum Kindiſchen verſchnörkelt, wie ſpäter Geßner ſie zu
vereinfachen und zu veredeln meint, indem er die Sentimentalität, nicht in
jenem allgemeinen, ächten, ſondern im ſpezifiſch weichlichen, weinerlichen
Sinn ihr eingießt und aus Naturmenſchen ihr empfindſames Gegentheil
macht. Sieht man dieſe Dichtungs-Form genauer an und fragt ſich, was
der richtige Styl ihrer Behandlung in der modernen Zeit ſei, ſo drängt ſich
eine doppelte Beziehung auf: nach der einen Seite hat für uns die Idylle
einen claſſiſchen Charakter, denn ſie zeigt ein ungebrochenes, naives Leben,
wie es im Ganzen und Großen dem Alterthum eigen war; nach der andern
Seite ſoll dieſe Beziehung zu keiner Unwahrheit, keiner falſchen Idealiſirung
führen und man ſoll ſich wohl erinnern, daß gerade bei den Alten ſelbſt die
Idylle es war, worin der realiſtiſche, charakteriſtiſche Styl ein Gefäß ſeiner
relativen Ausbildung fand. Es ergeben ſich naturgemäß aus dieſer doppelten
Beziehung zwei Stylrichtungen, die ſich aber vor extremem Gegenſatz hüten
müſſen. Fr. Müller, der Maler, gab unter dem Einfluſſe des erwachten
Intereſſes für das Volkslied der Idylle zuerſt realiſtiſche Wahrheit, ſpäter
floß dieſer Auffaſſung der ganze Gewinn an innigem Einblick in die wahren
Heimlichkeiten des Landlebens zu, den die Dialekts-Poeſie, namentlich die
Hebel’ſche, brachte, man fieng überhaupt an, geſunder, objectiver zu ſchauen,
und daraus haben ſich denn, nachdem Immermann mit dem trefflichen Dorf-
ſchulzen in ſeinem Münchhauſen vorangegangen, die Idyllen in Novellen-
form, die Dorfgeſchichten gebildet. Wir haben in anderem Zuſammenhange
(§. 881, Anm. 1.) bereits das Weſentliche dieſes Zweigs kurz bezeichnet.
Das Landleben erſcheint hier nicht wie eine Oaſe, worin nur die Milch der
frommen Denkungsart fließt; hier gibt es Kabalen, Neid, Engherzigkeit,
Unſauberes aller Art, wie in der großen Welt, der Landmann wird auch
nicht mehr vom Städter unwahr abgeſchieden, kommt vielmehr in Verkehr
und Conflicte mit ihm, es erfolgen Rücktritte, Uebertritte zwiſchen beiden
Ständen, kurz die Uebel der Geſellſchaft und das Glück der ländlichen
Naivetät greifen ineinander über. Und dennoch muß der Kern der geſchloſſenen
Schönheit des kindlich Engen, der gemüthlichen Heimlichkeit im geſunden
[1321] Erd- und Heu-Geruch erhalten bleiben. Dieß iſt das Schwere der Aufgabe,
die B. Auerbach, obwohl er von falſchen Tönen und fühlbaren Spuren des
allzu modern Bewußten keineswegs frei iſt, Epoche machend gelöst hat.
Die Dorfgeſchichten haben ihren unbedingten Werth, aber die ganze Form
darf nicht überſchätzt werden und hat ſich ſehr davor zu hüten, daß ſie ſich
über den Beifall des lorgnettirenden Auges der modernen Geſellſchaft täuſche.
— Wir haben hiemit der entgegengeſetzten Richtung der Zeit nach vorgegriffen;
dieſer Realiſmus iſt im engſten Sinne modern. Die claſſiſche Richtung der
großen Zeit der neueren deutſchen Poeſie ſchlug jenen andern Weg ein. Voß
gieng voran, Göthe überholte ihn weit und ſchenkte der Poeſie ſein Meiſter-
werk, das bis jetzt einzig daſteht und als unicum reiner Typus einer
Gattung iſt: einer Idylle, die durch den Geiſt der Behandlung ſich zur Würde
des Epos erhebt. Wir haben hier einen der reinſten Fälle der Kreuzung
der Style, die uns durch unſere ganze Kunſtlehre begleitet, tief entſprechend
jener claſſiſchen Idealität, welche in der Malerei Leop. Robert in das Sitten-
bild, Rottman in die Landſchaft eingeführt hat. Die Hauptperſonen ſind
nicht Hirten, Bauern, aber auch nicht, wie bei Voß, Menſchen, welche der
Sphäre der Bildung angehören, die vom Volke trennt, und nur durch das
Amt auf das Land verſetzt ſind (wiewohl wir dieſem Stoffe, dem deutſchen
Pfarrhauſe, ſeine Poeſie nicht abſprechen), es ſind Bewohner eines Städtchens,
deren Geiſt Gewerb und Verkehr gelichtet hat, ohne den nothwendigen und
vertrauten Umgang mit der Natur zu lockern. Ein höherer Ton iſt ſchon
dadurch gewonnen; das große Weltgeſchick aber, wie es als Hintergrund
aufſteigt, mit der einfachen Liebesgeſchichte im Vordergrunde ſich verflicht
und ernſte, würdige, ſittliche Erwägungen, nationale Geſinnungen erweckt,
gibt der ganzen Stimmung und Compoſition die epiſche Höhe, welcher in
der Behandlung und Durchführung das reinſte claſſiſche Formgefühl ent-
gegenkommt, das durch die einfachſten Mittel die ſchlichten Geſtalten in das
Licht patriarchaliſcher Volksführer, homeriſcher Männer und Frauen rückt.
Deutſches Herz, deutſcher Sinn für die kleinen Züge des engeren Lebens,
Naturtreue und Charakteriſtik, maleriſcher Wurf und Hauch hat ſich hier in
einer Verſchmelzung, die ſo nicht wiederkehren wird, mit griechiſcher Groß-
heit, Reinheit und Plaſtik vereinigt und das Eine Werk war es werth,
daß Wilh. v. Humboldt in ſeiner claſſiſchen Analyſe die Geſetze der epiſchen
Dichtkunſt an ihm entwickelte.
85*
[1322]
β.Die lyriſche Dichtung.
1. Ihr Weſen.
§. 884.
Die einfache Syntheſe des Subjects mit dem Objecte, worin jenes dieſem
ſich unterordnet (vergl. §. 865), kann dem Geiſte der Kunſt nicht genügen;
er fordert eine weitere Stufe, auf welcher dem Weſen nach die Welt in das
Subject eingeht und von ihm durchdrungen wird, ſo daß alles Objective als
deſſen inneres Leben erſcheint, und dem Verfahren nach die Umſtändlichkeit
ſchwindet, durch welche das Epos der bildenden Kunſt verwandt iſt. Der Act
der Freiheit, der dieſem Verhalten zu Grunde liegt, wird jedoch in der ver-
hüllten Form des Beſtimmtſeins, des Zuſtands, der Geiſt als Seele auftreten:
die dichtende Phantaſie ſtellt ſich auf den Standpunct der empfindenden.
Dieſer Fortgang entſpricht alſo demjenigen, der von der bildenden Kunſt zu
der Muſik führt (vergl. §. 746). Die lyriſche Dichtung, die er begründet,
kann ſich der Geſchichte, wie dem Begriffe nach zu der epiſchen nur als die
nachfolgende verhalten.
Die allgemeine Begründung des Uebergangs von der epiſchen zur
lyriſchen Poeſie iſt auf anderer Stufe dieſelbe, wie die des Uebergangs von
der bildenden Kunſt zu der Muſik. In der epiſchen Poeſie iſt zwar die
Welt der Gegenſtände geiſtig durcharbeitet, bewegt, wie ſie es in der Malerei
noch nicht ſein kann, aber die dichtende Phantaſie hat ſich doch wieder auf
den Boden der bildenden geſtellt, ſich das Object geben, ſich durch es
beſtimmen laſſen; ſie hat den Geiſt wie ein Naturſein angeſchaut. Dagegen
tritt nun in der Kunſt dieſelbe Forderung des Geiſtes auf, wie jene in der
Philoſophie, die vom Realiſmus zum ſubjectiven Idealiſmus fortdrängt und
aus dem Satz Ernſt macht, daß der Menſch das Maaß aller Dinge iſt,
indem er begreift, daß für ihn Alles nur ſo viel iſt, als es für ſein Be-
wußtſein iſt. Es kann bei der Naivetät nicht bleiben, welcher die Gegen-
ſtändlichkeit imponirt; die Welt ſoll vom Geiſte ganz durchdrungen, durch-
kocht erſcheinen und dieß kann, — auf dem Standpuncte, dem hier der
objective zunächſt Platz macht, — nur dadurch geſchehen, daß ſie überhaupt
nicht für ſich erſcheint, ſondern nur ſo, wie ſie im Geiſte geſetzt, zu ſeinem
innern Bild und Leben geworden, ganz in ihn ein und aufgegangen iſt.
Speziell macht ſich die innere Nothwendigkeit des Fortgangs zu der ſubjec-
tiven Form in der Weiſe des epiſchen Verfahrens fühlbar. Wohl gewinnen
wir dadurch jenes ſonnenklare Bild der Dinge, aber es geht zu langſam.
[1323] Der Geiſt, der den Meiſel und Pinſel weggeworfen hat, um durch das
geflügelte Wort zu ſprechen, kann nicht dabei ſtehen bleiben, daß er die
langen Wege, auf denen jene die Erſcheinung der Dinge nachahmen, ob-
wohl unter veränderten Beſchleunigungsverhältniſſen zu den ſeinigen macht,
daß er, als Wortführer für die Dinge und Menſchen, doch immer noch
daneben ſtehen muß und ſagen: ſo war Dieß und Jenes, jetzt hat Der,
jetzt Jener dieß und das geſprochen u. ſ. w. Die Phantaſie muß ſich ihres
von innen heraus bewegten und bewegenden Weſens bewußt werden, die
Geduld für dieſe Form verlieren und eine andere ſuchen, welche, ob zwar
mit Opfer, doch daſſelbe auf einem unendlich kürzeren Weg erreicht, eine
Form, worin der dargeſtellte Menſch im eigenen Namen redet und ſo,
daß er ſeine Erſcheinung ungeſagt, doch merkbar mitbringt und das Bild
der Außendinge, wie ſie in ihm ſich ſpiegeln, durch das Ausſprechen der
Spieglung ausſpricht. Wenn dieß die reine, allgemeine Bedeutung des
vorliegenden Schrittes iſt, ſo darf er darum dennoch nicht als ein plötzlicher
Aufgang der reinen Geiſtigkeit, als ein Act des Ich, das ſich in ſeiner
reinen Freiheit erfaßt, verſtanden werden. Daß jene Vergleichung mit dem
ſubjectiven Idealiſmus nur eine Parallele iſt, bedarf ohnedieß keines Be-
weiſes, denn wir ſind im äſthetiſchen Gebiete, wo ein naturloſer Geiſt über-
haupt keine Stelle hat. Aber auch zu der Form des Verhaltens, welche
äſthetiſch naturvoll iſt und doch den freien Geiſt als weltbeſtimmenden auf-
faßt und darſtellt, kann die Kunſt in dieſem erſten Schritte von der epiſchen
Ausbreitung und Objectivität zur Concentrirung und ſubjectiven Intenſität
noch nicht vordringen. Vielmehr wir befinden uns in der Mitte, wo Welt
und Natur ſich in das Subject zuſammenzieht, in dieſem ſelbſt aber als die
Naturform der empfindenden Seele ſich erhält oder wiederkehrt. Das lyriſche
Subject iſt factiſch Welt-Einheit, Brennpunct der Welt, aber die Welt iſt
in ihm nur Herz, Gemüth geworden; es vollſtreckt thatſächlich an den
Dingen die Wahrheit, daß ſie nichts an ſich ſind, aber nur in einem tiefen,
helldunkeln Träumen, worin ſich ihm die wahre Bedeutung ſeines Thuns
ſo verbirgt, daß es unter die zufälligen Eindrücke von außen wie unfrei
geſtellt iſt, daß es meint, ſein Zuſtand ſei ihm angethan, komme wie eine
Naturnothwendigkeit über es, während es doch in Wahrheit ganz bei ſich
iſt und Alles, was an es kommt, in dieß Ich auflöst. Es iſt dieß alſo
eine Wiederkehr des Standpuncts der Muſik auf neuem Boden, die dichtende
Phantaſie wird zur dichtend-empfindenden. Sie iſt als ſolche ganz
naiv, aber freilich nicht mehr ſo, wie die dichtend-bildende, die epiſche.
Zwar iſt dieſe, von der einen Seite betrachtet, klarer und freier: ſie ſchwebt
ruhig über den Dingen und ſchaut ſie deutlich und hell, ſie ſcheint geiſtiger,
bewußter. Sie iſt es auch, aber ſie iſt es nur, weil ſie noch nicht zu dem
tiefen Prozeſſe fortgeht, dem Subjecte die Welt im Innerſten anzueignen,
[1324] und dieſer Prozeß muß auf dem Durchgangspuncte, der ſich als lyriſche
Poeſie darſtellt, nothwendig mit Verluſt an jener Art von Klarheit und
Freiheit verbunden ſein; die neue, höhere, zu welcher er führt, liegt noch
unentwickelt und dunkel in ihm. Aber die Naivetät dieſes Dunkels iſt den-
noch weit über die Naivetät des Epos hinaus: ſie iſt das Unbewußte des
tiefen Verarbeitens, nicht mehr das Unbewußte des Anſtaunens. Sie ſetzt
daher auch geſchichtlich eine größere Reife voraus. Der Schluß des §. faßt
nur in einen Satz zuſammen, was zur Rechtfertigung der allgemeinen Ein-
theilung ſchon in §. 863, Anm. 1. ausgeführt iſt. Wir haben dort auch
auf W. Wackernagel’s pſychologiſche und hiſtoriſche Begründung verwieſen
und fügen zur letzteren Seite nur noch eine allgemeine Bemerkung hinzu.
In Griechenland giengen ſchwere Erſchütterungen voraus, Ringen der
Parteien, des Adels und Volks, beider mit Alleinherrſchern, ehe der
Einzelne ſich zu der Concentration und Vielſeitigkeit der inneren Erregung
zuſammenfaßte, woraus die lyriſche Poeſie ſich entwickelte; im Mittel-
alter mußte erſt durch lange und wilde Kämpfe das Prinzip der chriſtlichen
Religion mit dem Bruchſtücke heidniſcher Objectivität, das den Charakter
dieſer Weltperiode weſentlich mitbeſtimmt, zuſammengegohren, deutſche, roma-
niſche und orientaliſche Elemente mußten in den Kreuzzügen durcheinander-
gerüttelt ſein, ehe die Knoſpe ſich erſchloß und die erfüllte Innerlichkeit ihren
Duft im Liede verbreitete. Doch hat erſt die moderne Poeſie eine wahre
und volle Lyrik ſchaffen können, denn es iſt nur der gebildete Geiſt, der die
reichen Negationen durchlaufen und überwunden hat, welche Alles hervor-
locken, was im Grunde eines Menſchenherzens ſchlummert. Aber ſelbſt ein
ſichtbares Aufblühen der Volkspoeſie ſetzt eine Periode voraus, wo das Volk
einer früheren Bindung und Dunkelheit der Zuſtände ſich entwachſen fühlt,
wie im ſechszehnten Jahrhundert. — Anders verhält es ſich mit dem ein-
zelnen Dichter: die Muſe, welche ganz ein Kind der Stimmung iſt, wird
der Jugend mehr, als dem reiferen Mannesalter hold ſein; wenige Lyriker
haben lange fortgeſungen, und auch dieſe mit den Jahren etweder ſeltener,
oder, wenn reichlich, doch weniger rein poetiſch, ſondern contemplativ,
didaktiſch.
§. 885.
Da es aber die dichtende Phantaſie iſt, welche ſich auf den Standpunct
der empfindenden ſtellt, ſo liegt darin zugleich der Unterſchied von der Muſik:
das Gefühl kann in der Dichtkunſt nur durch Anknüpfung an das Bewußtſein
als Organ und Inhalt einer Kunſtform auftreten; das Subject ſpricht zwar
nur ſich, ſeine Stimmung aus, vermag dieß aber blos dadurch, daß es theils
Elemente der epiſchen Anſchauung, directe und indirecte Bilder, theils eigentliche
Gedanken (gnomiſche Elemente) und Willensbewegungen in die Stimmungs-
[1325] Atmoſphäre überträgt. Durch dieſe ſämmtlichen Mittel bewegt ſich die lyriſche2.
Poeſie in den verſchiedenen Richtungen der Zeit, weſentlich aber iſt ſie im
Gegenſatze gegen die epiſche Vergangenheit auf die Gegenwart geſtellt.
1. Wir haben die Muſik als die ſchlechthin ſubjective Kunſt des Ge-
fühls kennen gelernt, die als ſolche kein Object geben kann. Darum iſt ihre
Form das reine, verglichen mit aller andern Kunſt geſtaltloſe Bewegungs-
leben des Tons. Die Poeſie hat ſich über dieſe Sphäre erhoben und ſpricht
mit dem Vehikel des articulirten Tons, des Worts, die innere Welt im
Lichte des Bewußtſeins aus. Wenn daher in ihr der Standpunct wieder-
kehrt, auf dem das ganze Syſtem der Künſte in der Muſik ſteht, ſo muß,
da dieß eine Verſetzung auf denſelben von einem andern Standpunct iſt,
zugleich mit der Analogie auch der tiefe Unterſchied ſich geltend machen;
daher ſchon in §. 846, Anm. 2. geſagt iſt, daß gegen das Stylgeſetz, welches
Verirrung der Dichtkunſt in das Gebiet der Tonkunſt abwehrt, auch die
lyriſche Form keine Einwendung begründe. Man kann nun das Verhältniß
ſo beſtimmen: das Gefühl iſt die reine Mitte des Geiſteslebens, woraus
die bewußten Thätigkeiten ſtets auftauchen und worein ſie ſtets zurückſinken;
dieſe ſtehen daher beſtändig an ſeiner Schwelle (vergl. §. 748. 749); die
Muſik, als Kunſt des reinen Gefühls, öffnet ihnen dieſen Eintritt nicht;
die lyriſche Poeſie öffnet ihn, umhüllt aber alle beſtimmte Geſtaltung, die
hiemit eingelaſſen iſt, mit dem Schleier des Empfindungs-Elements: ein
ſtets ſich vollziehender, ſtets ſich zurücknehmender Uebertritt auf andern
Boden, ein Schweben zwiſchen dem reinen, unbewußten Sichſelbſtvernehmen
und dem bewußten Vernehmen der Dinge, ein Nebel mit lichten Durchblicken.
Das Gemüth geht nur aus ſich heraus, um in ſich zu bleiben; es kann
ſeinen Zuſtand nur ausſprechen an Anderem, durch Hereinziehen von Solchem,
was nicht mehr bloße Empfindung iſt, aber es wird dieſen Stoff auch blos
hereinziehen, um ihm ſeine Farbe zu geben. Der lyriſche Dichter ſagt, was
ſich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er ſagt es daher ſo,
daß er im Sagen verſtummt und durch ſein Verſtummen auf einen uner-
ſchöpften unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unausſprechliches
zwiſchen ſeinen Zeilen: das reine, wortloſe Schwingungsleben des Gefühls.
Er nennt und zeichnet uns Dinge, Gedanken, aber in ihnen immer nur
ſich, ſein Herz, wie ſie auf es wirken, aus ihm hervorſteigen und wie kein
Ausdruck ihm genügt. — Wir haben geſehen, wie in der Poeſie die bildende
Kunſt ſich wiederholt (§. 838); dieß wird in der epiſchen Dichtart im engeren
Sinne zur Wahrheit, aber der Satz iſt ganz allgemein ausgeſprochen und
muß auch in der Sphäre wahr bleiben, von welcher mit beſonderem Nachdruck
das Andere gilt, daß in der Poeſie die Muſik wiederkehrt. So ſind es
denn zunächſt epiſche Elemente, d. h. Bilder der Anſchauung, wodurch der
[1326] Lyriker ſeine ſubjective Stimmung objectivirt. Sehen wir nun an einigen
Beiſpielen, worin dieſe Anſchauungsbilder, zunächſt die directen im Unter-
ſchiede von den indirecten, metaphoriſchen, beſtehen und wie ſie ſich mit dem
eigentlichen, unmittelbaren Gefühls-Ausdruck miſchen. In „Schäfers Klage-
lied“ hören wir unmittelbar kein Wort von dem, was der Inhalt iſt, dem
in Liebesweh gebrochenen Herzen; er zeigt uns, wie er tauſendmal an den
Stab gebogen auf dem Berge ſteht, in das Thal hinabſchaut, wie er in
dunkler Bewußtloſigkeit hinabſteigt, die wenigen Worte „und weiß doch
ſelber nicht wie“ laſſen uns aber nicht zweifeln, daß hier das Anſchauungs-
bild nur dient, um einen Zuſtand der tiefſten Verſenkung des Gemüthslebens
zu enthüllen; es folgt der Zug des unbewußten Blumenbrechens, des Harrens
in Sturm und Wetter unter dem Baume, wir erfahren dann den Grund
des innern Leidens mit den Worten: ſie aber iſt weggezogen u. ſ. w., und
nun, wo man meinen könnte, daß die Schilderung des innern Zuſtandes
anfangen werde, bringt das Gedicht zunächſt noch einen äußern Zug:
„vorüber, ihr Schafe, vorüber“ und hat zum Schluſſe nur Ein directes
Wort für das, was Inhalt des Ganzen iſt: „dem Schäfer iſt gar ſo weh!“
Mignon haucht ihre Sehnſucht nach dem ſchönen Heimathlande in An-
ſchauungen Italiens aus, nur im Refrain bricht ſie ausdrücklich durch, aber
auch nicht rein direct, ſondern als ein Wunſch, dahin zu ziehen, der eigentlich
wieder ein Bild enthält. Gretchen im Fauſt ſagt uns in den Strophen, die
ſie am Spinnrade ſingt, wie ſie nur nach dem Geliebten aus dem Fenſter
ſchaut, aus dem Hauſe geht, ſchildert dann ſeine herrliche Erſcheinung und
ſchließt mit einem Bilde der heißen Umarmung, wie ſich Herz und Phantaſie
danach drängt, ſie ſpricht ſo die unendliche Sehnſucht in lauter Anſchauungs-
bildern aus; in jenem Liede des tiefſten Weh’s, das ſich als Gebet an die
Maria wendet, zeichnet ſie in wenigen Zügen zuerſt das Bild der vom
Schwerte durchbohrten, zum Himmel aufblickenden Mutter Gottes, vor dem
ſie kniet, ſie erzählt nachher (wir ſehen von den andern Strophen noch ab),
wie ſie die Blumenſcherben mit Thränen bethaute, als ſie Morgens die
Blumen brach, die ſie vor dem Bilde niederlegt, ſie ſchildert, wie ſie vor
Aufgang der Sonne in ihrem Jammer ſchon aufgerichtet im Bette ſaß.
Werther, ächt lyriſch, kann uns nur ſagen, wie ihm die Augen der Ge-
liebten vor der Stirne brennen: „hier, wenn ich die Augen ſchließe, hier in
meiner Stirne, wo die innere Sehkraft ſich vereinigt, ſtehen ihre ſchwarzen
Augen. Hier! ich kann es dir nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen
zu, ſo ſind ſie da; wie ein Abgrund ruhen ſie vor mir, in mir, füllen die
Sinne meiner Stirn.“ Es unterſcheiden ſich aus dieſen Beiſpielen bereits
zweierlei Formen der objectiven Anſchauung: das lyriſche Subject führt uns
erzählend, ſchildernd äußere Objecte vor, aber auch ſein eigenes Bild, in-
dem es ſich vor ſeine und unſere Phantaſie in einem beſtimmten Zuſtand
[1327] hinſtellt. Die letztere Form iſt zwar ſubjectiv, aber im Subjectiven noch zu
den objectiven Elementen zu zählen. Nun muß aber das in Empfindung
verſenkte Selbſt auch unmittelbar von ſich ausgehend ohne dieſe Gegenüber-
ſtellung ſeinen Stimmungszuſtand auszuſprechen ſuchen. Da derſelbe jedoch
ſchließlich unſagbar iſt, ſo wird es auch für dieſe rein ſubjective Einkehr in
ſich abermals nach objectiven Elementen greifen; es wird nämlich der leib-
liche Reflex des Seelenzuſtands dienen müſſen, um ein andeutendes Bild
von dieſem zu geben. Man betrachte Mignon’s Lied: „Nur wer die Sehn-
ſucht kennt“: das kranke Herz ſucht zu ſagen, was es leidet; da beruft es
ſich zuerſt auf Andere, die daſſelbe leiden, die werden es wiſſen, ſagen läßt
es ſich nicht; jetzt folgt ein Anſchauungsbild der zweiten Gattung der erſt
von uns aufgeführten Formen: „allein und abgetrennt von aller Freude ſeh’
ich an’s Firmament nach jener Seite“; mit wenigen Worten wird hierauf
ſächlich die Urſache des Leidens angegeben: „ach, der mich liebt und kennt,
iſt in der Weite“; nun aber ſoll endlich der innere Zuſtand direct ausge-
ſprochen werden, da hat das unſagbare Gefühl nur Ein Mittel, es holt
ein Bild aus der tiefen Durchwühlung, welche die Sehnſucht im phyſiſchen
Leben hervorbringt: „es ſchwindelt mir, es brennt mein Eingeweide“ und
hier, wo derjenige, der das Lyriſche nicht verſteht, meinen wird, das Eigent-
liche, die wirkliche Entwicklung des Seelenzuſtands werde nun folgen, —
verhaucht das Lied, es kann nur zum erſten Satze der Berufung auf Andere
zurückkehren und ſchließen. So findet auch jenes erſte Lied Gretchen’s kein
directes Wort für ihren Zuſtand, als: „mein Herz iſt ſchwer, mein armer
Kopf iſt mir verrückt, mein armer Sinn iſt mir zerſtückt“; und das zweite
greift ebenfalls in die verſtörten Tiefen des leiblichen Lebens, doch nur,
um ſogleich hinzuzuſetzen, daß auch dieß eigentlich unausſprechlich ſei: „wer
fühlet, wie wühlet der Schmerz mir im Gebein? Was mein armes Herz
hier banget, was es zittert, was verlanget, weißt nur Du, nur Du allein“,
dann findet die innere Qual nur das einfache Wort: Wehe, fühlt aber,
daß es nicht genügt, und wiederholt es daher dreimal, auf den Buſen
deutend: „wie weh, wie weh, wie wehe wird mir im Buſen hier“; ſie
greift wieder zum Objectiven: „ich wein, ich wein’, ich weine“, und noch
einmal zum phyſiologiſchen Bilde: „das Herz zerbricht in mir“, dann aber,
da dieß Alles unzureichend bleibt, zu jenen epiſchen Elementen der Ver-
gegenwärtigung ihrer Leidensgeſtalt. Clärchen’s Sehnſucht langet und banget
in ſchwebender Pein, jauchzt himmelhoch zum Tode betrübt und kann nicht
weiter. Das Objective, in jenem engeren und dieſem allgemeineren Sinne,
genügt alſo nicht und eben das iſt die rechte Lyrik, die dieß nicht Genügen,
dieß Wortloſe im Worte ausſpricht, aber es iſt doch der einzige Körper,
an welchem der elektriſche Funke des Gefühls hinläuft und aufſprüht. So
gewiß iſt im Lyriſchen ein epiſches Element, daß es ſogar Formen gibt,
[1328] welche ſcheinbar ganz darin aufgehen, eine Anſchauung zu geben, ſei es ein
ruhendes Naturbild, Sittenbild oder eine Erzählung. Es iſt aber noch nicht
die Rede von dieſen beſondern Formen, ſie ſind dem Abſchnitte von den
Zweigen vorbehalten, hier nur vorbereitet. Betrachtet man nun das letzte
der aufgeführten Mittel des lyriſchen Gefühls näher, ſo iſt es eine Art
dunkler Symbolik, wodurch der leibliche Zuſtand den Seelenzuſtand reflectirt.
Behutſam angewendet gilt ebendieſer Begriff dunkler Symbolik von den
objectiveren Anſchauungs-Elementen, die vorher aufgeführt ſind. Es handelt
ſich hier noch gar nicht von der eigentlichen Vergleichung, aber das An-
geſchaute wird ähnlich wie in dem dunkeln Zuſammenfühlen von Inhalt
und Bild im altreligiöſen Symbole zu einem Spiegel, verliert ſeine Selb-
ſtändigkeit, das Gefühl, hülflos in ſeiner Unausſprechlichkeit, hängt ſich
daran, heftet ſich daran, ſenkt ſich hinein, um ſich an ihm wie an einem
Sinnbilde zum Ausdruck zu verhelfen. So in Desdemonen’s Liede der
Refrain von der grünen Weide; das verlaſſene Mädchen ſagt uns nicht,
wie ſie unter der Weide ſitzt und ihr die grauen, hingegoſſenen Blätter und
Zweige zum Bilde ihres Zuſtands werden, der ſich ganz in Thränen hin-
gießen möchte, ſie vergleicht nicht, es ſchwebt ihr nur ſo vor, aber ſie muß
immer darauf zurückkommen. Ein andermal ſind es Blumen, ein murmeln-
der Bach, eine neblige Haide, woran das Gefühl des eigenen Zuſtandes
anſchließt. In Göthe’s Strophe: „Ueber allen Wipfeln iſt Ruh’“ haben
wir dieß innig ſymboliſche Hineinfühlen in die Natur oder das Heraus-
fühlen aus ihr in unvergleichlich reiner Form. In Ed. Mörike’s Jägerlied
erinnert die zierliche Spur des Vogels im Schnee den Waidmann an die
zierlicheren Züge in den Briefchen der geliebten Hand aus weiter Ferne;
nun ſieht er einen Reiher hoch in den Lüften und voll von dem Gedanken
der Macht der Liebe über Zeit und Raum ruft er aus: tauſendmal ſo hoch
und ſo geſchwind die Gedanken treuer Liebe ſind. — Ein Anderes iſt nun
die eigentliche Vergleichung. Es bedarf keines Beweiſes, daß das Gefühl
aus demſelben Grunde, wie nach jenen zunächſt directen Bildern, nach ihr
greift, nämlich eben, weil es nicht unmittelbar ſich ſelbſt ausſprechen kann.
Daher ſpielt die Vergleichung in der Lyrik eine ſo weſentliche Rolle wie im
epiſchen Gebiete, ja ſie wird noch ungleich häufiger auftreten, aber in einem
ganz verſchiedenen Charakter: ein Unterſchied, den wir nachher an anderem
Orte verfolgen werden; hier weiſen wir auf die Stärke der Geltung dieſes
Mittels zunächſt nur hin, indem wir eine tief bezeichnende Erſcheinung
hervorheben: das Bedürfniß, die dunkle Stimmung in einem Andern,
Helleren zu ſpiegeln, dem in’s Unendliche ſich verlierenden Hintergrunde das
Gegengewicht eines deutlichen Vordergrunds zu geben, iſt ſo ſtark, daß es
die Lyrik liebt, geradezu eine ganze Empfindung, einen ganzen Gedanken
nur an einem Tropus fortlaufend und ihn durchführend zu entwickeln:
[1329] Erzeugniſſe, die man wohl in beſonderer Anwendung des Worts allegoriſche
Gedichte genannt hat. So fühlt Göthe im Schwager Kronos mit den
Wechſeln einer Wagenfahrt die Wechſel eines Menſchenlebens warm und
innig zuſammen; er läßt in dem nachgedichteten Volkslied Haidenröslein
einen ſchalkhaften Gedanken durch das Bild vom gebrochnen Blümchen
durchſpielen; er ſpricht einen ernſten und tiefen Gedanken direct als Sinn
des Bildes aus im „Geſang der Geiſter über den Waſſern“, ſo Uhland in
der „Ulme zu Hirſchau“.
Der §. ſagt, daß das Gefühl auch zu dem Ausdruck von beſtimmten
Gedanken und Willensbewegungen fortgehe, um ſich eine Sprache zu geben.
Wir haben einen Fall des Erſteren in den ſo eben angeführten Beiſpielen
gefunden, er enthält aber natürlich nicht die einzige Art, ſondern in jeder
Weiſe wird der lyriſche Dichter ausdrücklich Gedachtes ſeinem Erzeugniß
einflechten. Es iſt die Vollendung des Unterſchieds von der Muſik, daß
hier das Gefühl zum wirklichen Betrachten, zum Denken des Allgemeinen
ſich erſchließt, ohne doch ſeinen Charakter zu verlieren, denn die Gedanken
dürfen nur auf ſeinem Strome ſchwimmen, müſſen in das grundbeſtimmende
Element ſeines Erzitterns und Schwebens hineingezogen ſein, oder richtiger,
nur aus ihm aufſteigen, um wieder in ihm unterzutauchen. Allerdings
liegt die Abirrung in das Sentenziöſe und überhaupt das Philoſophiſche,
Lehrhafte nahe, die Probe aber, ob dieß Außeräſthetiſche der Ausgangspunct
und das Herrſchende, oder nur ein Strahl ſei, an dem das Helldunkel der
reinen Stimmung Licht ſucht, wird nicht ſchwer ſein. Wir kommen auf
dieſen Punct und die allerdings feinen Grenzbeſtimmungen anderswo zurück.
Dieß gedankenhafte Element bezeichnet der §. kurz als das gnomiſche, natür-
lich nicht zu verwechſeln mit der beſondern Form der gnomiſchen Poeſie. —
Auch mit Willensbewegungen verhält es ſich ſo, daß die lyriſche Dichtung,
während die Muſik ſie nur anzukündigen ſcheint, ohne ſie ausſprechen zu
können, ſich ihrem wirklichen Ausdruck öffnet; ja es muß eine Lyrik des
Willenspathos, des kriegeriſchen, politiſchen, ethiſchen geben, die darum noch
nicht Tendenz-Poeſie iſt, ſondern der Bedingung genügt, daß die Empfindung
das beſtimmende Element bleibe, in welches die Idee, deren Widerſpruch
mit der Wirklichkeit den Willens-Eifer begründet, erſt ganz ſich umgeſetzt
hat. — Eine andere, negative Bedingung, die gerade hier beſonders zu
betonen iſt, nämlich die, daß das Pathologiſche überwunden ſei, wird
nachher zur Sprache kommen. Uebrigens verſteht ſich, daß, was wir epiſche
oder Anſchauungs-Elemente genannt haben, in der Wirklichkeit von dieſen
Eintritten in die Welt des denkenden und wollenden Geiſtes nicht zu trennen
iſt, daß ſie vielmehr insgeſammt an und miteinander verlaufen.
2. Die Unterſcheidung dieſer Elemente, welche überall nach Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft hinweiſen, führt auf die Zeitbeſtimmung.
[1330] Es iſt ſchon in §. 862 geſagt, daß die lyriſche Poeſie auf die Gegenwart,
wie die epiſche auf die Vergangenheit geſtellt iſt. Es iſt dieß nur ein
anderer Ausdruck für den Satz, daß das Beſtimmende dieſer Dicht-Art die
lebendige, alles Object in ſich verarbeitende Subjectivität iſt. Das Lyriſche
iſt ganz auf dieſen Moment concentrirt: jetzt, eben jetzt empfindet ein leben-
diger Menſch die Welt ſo und nicht anders. Allein der Moment flieht im
Werden und weicht dem folgenden. So iſt die Gegenwart nur der ſtets
relative Punct, von welchem aus der Lyriker die Vergangenheit und Zukunft
durchmißt. Von ganz beſonderer Stärke iſt die Richtung der Vergangenheit.
Wo das Gefühl ſelbſtändig waltet, iſt die Wehmuth des Rückblicks beſtim-
mender Grundzug, ein Flor, der über Allem, auch dem Heitern liegt; denn
als ein dunkles Schwingungsleben iſt das Gefühl weſentlich ein Vernehmen
der Zeit, eigentlich die Zeit ſelbſt als ſubjectives Vernehmen des ewigen
Wechſels; dieſer Ton, den wir ſchon im Epiſchen fanden, dieſer Zuſtand, als
ſäße man am Strome der allgemeinen Vergänglichkeit und hörte ihn rauſchen,
wird im Lyriſchen herrſchend und weſentlicher Grundzug. Die Gegenwart weist
aber durch Hoffnung oder Furcht nothwendig auch auf die Zukunft und die
Empfindung ſchwillt in zarterer oder gewaltſamerer Weiſe nach ihr hin, das
Selbſt ſtellt ſich in ſie hinaus und ſchaut dort ſein Bild. Den Zug der Weh-
muth hebt auch dieß nicht auf, es zieht ſich vielmehr etwas hindurch, ein Klang,
der zu ſagen ſcheint, daß auch dieß Zukünftige einſt vergangen ſein wird.
Wie dieſen verſchiedenen Beziehungen nun die Elemente der Anſchauung, der
Betrachtung und der Willensbewegung als Ausdrucksformen dienen, bedarf
keiner Auseinanderſetzung.
§. 886.
Wie die lyriſche Dichtung der Zeit nach weſentlich auf den Moment
gewieſen iſt, ſo dem Umfange nach, in welchem ſie das Objective ergreift, auf
die Vereinzelung: es iſt weſentlich dieſes Subject, das in dieſer
Situation von einem Punct aus der Totalität der Welt berührt wird; daher
iſt empiriſches Erleben in der Form der Zufälligkeit vorausgeſetzt, daher liegt
auch das Pathologiſche (vergl. §. 393, 2.) beſonders nahe und muß an dieſer
Stelle ausdrücklich wieder abgewieſen werden. Das freie und univerſale Gemüth,
das in Kampf und Schmerz ſich mit der Welt verſöhnt hat, legt nun zwar
in jedes Einzelne ſein ganzes Inneres und das Gefühl des Univerſums, aber
unentwickelt, und nur die Geſammtheit der lyriſchen Aeußerungen gibt das
Bild einer Perſönlichkeit, eines Volks, der Völker, der Welt. Die beſtimmte
Art des Zuſammenfühlens der Individualität und der Welt verleiht dem Ge-
dichte ſeinen Duft.
Die lyriſche Poeſie hat über der Innigkeit, die ihr gewonnen iſt, das
Object zwar nicht ſo ganz verloren, wie die Muſik; wir haben ihre epiſchen,
[1331] bildlichen, gnomiſchen, überhaupt einen Gegenſtand nennenden Elemente
kennen gelernt; aber ſie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten.
Iſt ihr zeitliches Element die Gegenwart, alſo der Augenblick, ſo iſt in
Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenſtänden ihr Charakter die
Punctualität; ſie iſt ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte:
in dieſem Moment erfaßt die Erfahrung dieſes Subject auf dieſe Weiſe.
Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantaſiethätigkeit gefordert, daß ſie von
der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturſchönes ausgehe, allein in
den andern Gebieten wird an dem ſo gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er
ein größeres Weltbild darſtellt, das eine zweite, ideale Natur iſt und
worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Muſik fällt hier weg,
da ſie gar kein Mittel hat, den Anſtoß, wovon die erfindende Stimmung
ausgegangen, erkennbar durchblicken zu laſſen; der lyriſche Dichter aber ſagt
es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im
Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum erſten oder letzten Mal geſehen,
wo er am Todtenbette des Freunds geſtanden u. ſ. w., den Grundgehalt des
Lebens ſo oder ſo gefühlt hat; wir ſehen ihn im Nachen auf dem Strom,
über den er vor Jahren ſchon einmal gefahren, von den Manen derer, die
damals mit ihm waren, begleitet; wir ſehen ihn dem Schnee, dem Regen
entgegenſtürzen, um die Bruſt zu kühlen, mit ſchlagendem Herzen geſchwind
zu Pferde ſteigen, das Rebengeländer an ſeinem Fenſter mit Thränen be-
feuchten; das Mägdlein ſteht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn
die Hähne kräh’n, und wie ſie in’s Feuer blickt, fällt ihr ein, daß ſie die
Nacht vom treuloſen Knaben geträumt hat, die Verlaſſene ſchleicht durch’s
Wieſenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation
und eben weil er ſie als ſolche accentuirt, mit einem raſchen Lichte beleuchtet,
geht er nicht zu der Ausführung fort, worin ſie ihre Bedeutung verlöre.
Daher gilt von der lyriſchen Dichtart wie von keiner andern das Göthe’ſche
Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne
des Wortes ſei, daher konnte aber auch in keinem Kunſtgebiete das Wahre
dieſes Wortes ſich ſo ſehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen
Anlaß verſtand, von dem nicht freie Gunſt der Muſe, ſondern die Abſicht
des Machens, etwa gar auf Beſtellung, ausgeht. Die Gelegenheit iſt
der Zufall des Anlaſſes, der die Phantaſie abſichtslos in Bewegung ſetzt.
Alles äſthetiſche Erfinden iſt zufällig, aber in keinem Gebiete betont ſich der
Begriff der Zufälligkeit ſo, wie im lyriſchen, eben weil der außer aller Be-
rechnung liegende Ausgangspunct als ſolcher in der Situation premirt und
erhalten wird. Die Situation iſt der Moment, wo Subject und Object
ſich erfaſſen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und ſein Weltgefühl
in einem Einzelgefühl ausſpricht. Treffende und feine Bemerkungen über
dieſen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in ſeiner meiſterhaften
[1332] Schilderung des deutſchen Volksgeſangs (Geſch. d. Nat.-Lit. d. Deutſch.
Th. 2, VII, 1). — Vermöge dieſes Charakters liegt nun das Pathologiſche
im lyriſchen Gebiete näher, als in andern; wir haben es längſt beſprochen
und abgewieſen und brauchen daher hier nur zu ſagen, daß es wegen der
ſtärkeren Verſuchung beſonders ausdrücklich zu verwehren ſei. Die jambiſche
Poeſie der Griechen, ſo manches von Zorn und Rache glühende Lied der
Araber, der franzöſiſchen Dichter des Mittelalters, vor Allem aber die neuere
Zeit mit ihrer ſo ungleich vertieften Spannung der Gegenſätze im Subjecte
liefert unzählige Proben; was der unmittelbare Natur-Ausbruch der Leiden-
ſchaft ſei, zeigt namentlich Bürger in Stellen, wie: „denn wie ſoll, wie
kann ich’s zähmen, dieſes hochempörte Herz? wie den letzten Troſt ihm
nehmen, auszuſchreien ſeinen Schmerz? Schreien, aus muß ich ihn ſchreien“
u. ſ. w. Die Gefahr, daß „die Hand, die vom Fieber zittert, das Fieber
zu ſchildern unternehme“, hat noch einen beſtimmteren Grund, als den, daß
die Forderung des in gegebener Situation lebensfriſch Gefühlten ſo leicht
mißverſtanden wird: er liegt in der falſchen Deutung der Wahrheit, daß
das Land des Gefühls ein Land der Schmerzen iſt. Erleben, erfahren heißt
durch Leiden gehen; die Welt in ſich verarbeiten, heißt durch das Meer
der Qualen ſchwimmen. Das Object tritt nicht kampflos in das Subject
ein, um aus ihm verklärt im Glanz und Dufte der Empfindung hervor-
zuſteigen; die naive epiſche Freude an den Dingen muß erſt bitter vergällt,
das Ideal, womit der jugendlich geſchwellte Geiſt an die Welt geht, mit
der rauhen Unerbittlichkeit hart zuſammengeſtoßen ſein, ehe die Blume der
tieferen, gefüllteren Lyrik aus den Tiefen des Gemüthes ſproßt. Die Lyrik
hat dieſen Lebensprozeß in ſeiner innerſten Spannung auszuſprechen und ſo
unzählige Lieder der unbefangenen Heiterkeit ſie geſchaffen hat und ſchafft,
ſo geben doch dieſe nur zuſammengefaßt mit der weit größeren Summe der
ſchmerzvollen das ganze und wahre Bild dieſer Dicht-Art. Aber eben: der
Kranke kann die Krankheit nicht darſtellen; nur das Gemüth, das ſich zur
Seligkeit der idealen Freiheit durchgekämpft hat oder doch die tiefe Anlage
dazu, die Kraft der Geſundheit in ſich trägt, um die gefährlichſten Krank-
heiten in glücklichen Kriſen zu überſtehen, wird die einzelne Erſchütterung,
wie ſie ſo eben noch in ihm nachzittert, verklärt, zur Allgemeinheit der Idee
gereinigt wiedergeben. Göthe’s unverwüſtliche Elaſtizität ſteht auch in dieſem
Zuſammenhang als reines Muſter da. In ſeiner Hand wird Alles leicht
und frei, verliert die Erdenſchwere, ſchwebt im Aether der reinen Stimmung
und Form. An dem Morgen, da er Wetzlar verläßt, die Flamme einer
verzehrenden Leidenſchaft, in welche die Zeitſtimmung der Sentimentalität
noch ihr Oel gegoſſen, noch heiß im Herzen, dichtet er „Pilgers Morgen-
lied“; der Nord des Lebens „ziſcht ihm tauſendſchlangenzüngig um’s Herz“,
aber die Liebe des einzelnen Mannes zum einzelnen Weibe wird ihm zur
[1333] „allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gegoſſen in’s früh-
welkende Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth.“
Das einzelne Werk der lyriſchen Muſe wird durch dieſe Unendlichkeit,
den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Univerſalen lebenden Ge-
müths zum Mikrokoſmus. Allein die Kunſt im Ganzen und Großen ſtrebt
dahin, den Mikrokoſmus in einem entfalteten, größeren Ausſchnitte des
Makrokoſmus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der
Welt an und läßt ihm keine Selbſtändigkeit, entwickelt ihn nicht, ſondern
eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird da-
durch wohl zu einer Welt, aber doch nicht ſo unbedingt, wie es Angeſichts
des größeren Kunſtwerks keine Welt mehr gibt, ſondern die ganze Welt
jetzt hier, in dieſem Bild enthalten iſt, wir fühlen vielmehr den Vor-
behalt durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge
geben kann, die erſt das Weltbild vollenden. Man muß daher die Er-
zeugniſſe der lyriſchen Dichtung ſummiren, das Bild der ganzen einzelnen
Perſönlichkeit und ihrer Weltauffaſſung entſpringt nur aus der Reihe ihrer
Lieder; dieſe Reihe neigt an ſich zu Gruppen, die einen Lebenszuſtand erſt
entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und ſchließen ſich zum
Geſammtbilde ab. Solche Gruppen ſind aber im Großen die lyriſchen
Poeſieen ganzer Völker, wie ſie ſich unterſcheidend ergänzen, und nur die
lyriſchen Dichtungen aller kunſtſinnigen Nationen zeigen die Welt auf ihren
verſchiedenſten Puncten von der Subjectivität nach ihren verſchiedenſten
Seiten erfaßt, durcharbeitet, poetiſch durchwühlt und ſo die Welt im
Subject oder umgekehrt. — Wir können dieß Alles ſo zuſammenfaſſen: die
lyriſche Poeſie hat nicht ſowohl beſtimmten Körper, als beſtimmten Duft.
Man vernimmt in ihr die Perſönlichkeit und ihre Art, die Gefühlsweiſe
ganzer Nationen, vereinigt mit der beſtimmten Natur der Gegenſtände, an
die das Gefühl im einzelnen Fall und in herrſchender Richtung anſchießt,
wie eine ſpezifiſche Atmöſphäre, die man gern mit einem feinen, aber ent-
ſchiedenen Eindruck auf den Geruchſinn vergleicht. Es iſt, wie wenn man
vom Weine ſagt, er habe Blume, eine beſtimmte Blume, womit man aus-
drücken will, daß man das Erdreich, worin er gewachſen, die Zone, die
ihn gereift, in den feinſten Nerven durchfühle. Es iſt vielleicht das höchſte,
abſolute Lob, wenn man von einem lyriſchen Gedichte ſagen kann, es habe
Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, dieſen Duft zu finden
und zu unterſcheiden.
§. 887.
Der lyriſche Styl iſt im Unterſchiede vom epiſchen (vergl. §. 869) darauf
gewieſen, mehr errathen zu laſſen, als auszuſprechen, vom Aeußeren auf das
Innere zu deuten und daher nicht in gemeſſener Ruhe zu entwickeln, ſondern
[1334] raſch, abgebrochen fortzuſchreiten. Die Compoſition verknüpft die Vor-
ſtellungen nicht nach ihrer objectiven Ordnung, ſondern liebt Abſprünge, die
ihren Zuſammenhang in der ſubjectiven Einheit des Gefühls haben und nur
entfernt der relativen Selbſtändigkeit der Epiſode ſich nähern können. Die
wirkliche Einheit liegt darin, daß ſie ein organiſches Bild des Verlaufs einer
Stimmung gibt, worin eine Bewegung durch drei Hauptmomente (vergl. §. 500, 2.)
ſich vernehmlich durchziehen wird. Dieſem Gange ſagt die unterbrechende und
abſchließende Rückkehr zum Grundtone durch den Refrain zu. Die Natur
des Gefühls fordert Kürze des Ganzen.
Es wird ſich zeigen, daß der Unterſchied der Style in der lyriſchen
Poeſie nicht in der durchgreifenden Bedeutung auftreten kann, wie in der
epiſchen; wir erwähnen ihn vorläufig ſchon hier, um zuzugeben, daß die
direct ideale, plaſtiſche Richtung allerdings den ſtammelnden, ſprungweiſen,
andeutenden Charakter nicht in dem Maaße tragen wird, wie die natura-
liſtiſche und individualiſirende; allein es wird dieß nur ein ſehr relativer
Maaß-Unterſchied ſein, denn die ſpezifiſche Natur des Gefühls iſt ſich überall
gleich: ſie kann ſich eigentlich nicht in Worten ausdrücken und wenn ſie
es doch verſucht, muß ſie es ſo thun, daß man den Worten anſieht, es ſei
immer noch mehr zurück, als ausgeſprochen iſt. Je mehr ich mein Gefühl
zur klaren Geſtalt beredt und in flüſſigem Zuſammenhang herausbilden
kann, deſto mehr hört es ſchon auf, Gefühl zu ſein. Wir haben geſehen,
daß epiſche Anſchauungs-Elemente, Gedanken und Willensbewegungen her-
beigezogen werden, um einen Anhalt zu geben, an dem das Unergründliche
zur Aeußerung gelange; es muß aber eben zugleich die Unzulänglichkeit
dieſes Anhalts zu Tage treten, es ſind Lichter, die das Dunkel nicht ganz
erleuchten, ſondern wieder zerrinnen und ſo ein Helldunkel erzeugen. Na-
mentlich muß ſich dieß an dem indirect bildlichen Elemente, den Tropen,
bewähren: die lyriſche Poeſie wird die kühn verwechſelnde Metapher dem
begründenden, entwickelnden Gleichniſſe vorziehen, das gerne dem Bilde die
Ausführlichkeit einer über den Vergleichungszweck hinausgehenden ſelbſtän-
digen Schönheit zuwendet. Es bleibt alſo dabei, daß das ahnungsvoll
nach innen Deutende, Springende, Unentwickelte recht im vollen Gegenſatze
gegen das Epiſche den allgemeinen lyriſchen Stylcharakter bildet. Man
ſehe darauf jenes Lied und lied-artige Gebet Gretchen’s in Göthe’s Fauſt
an und beobachte, wie hier das ächt lyriſche Gefühl von jedem Verſuche
der Entfaltung, der Ausbreitung wieder in ſeine unerſchöpfliche Tiefe zu-
rückſinkt. Dieß Stylgeſetz wird ſich am meiſten da bewähren, wo es am
meiſten in Gefahr ſein wird, nämlich in den Formen, die innerhalb der
lyriſchen Poeſie epiſch zu nennen ſind, alſo die Aufgabe haben, im Zuſam-
menhang erzählend darzuſtellen; hier wird der lyriſche Charakter der ſcheinbar
[1335] ablenkenden Aufgabe zum Trotz, alſo gerade mit doppeltem Nachdrucke
ſich geltend machen. — Der allgemeine Satz führt ſogleich zu der Frage
nach der Compoſition und hier bewährt ſich, was von der Schwäche
des Unterſchieds der Style geſagt iſt, daran, daß gerade der direct ideale,
claſſiſche Styl auf ſeiner Höhe am vollſtändigſten ausgebildet hat, was man
die lyriſche Unordnung nennt. Sie hat ſich vorzüglich in der Ode feſtge-
ſetzt; Pindar componirt wahrhaft labyrinthiſch, knüpft Fäden an, läßt ſie
wieder fallen und flicht ſie erſt am Ende ſo zuſammen, daß die Bedeutung
klar wird (vergl. u. A. Otfr. Müller Geſch. d. griech. Lit. B. 1, S. 409 ff.).
Dieſe vielbeſprochene Art der Anlage, das Abſpringen zu weit von einander
entlegenen Gegenſtänden, das ſcheinbar geſetzloſe, der bloßen Einbildungs-
kraft angehörige Spiel der Verknüpfung der Vorſtellungen erklärt ſich leicht
daraus, daß die wirkliche Ordnung eine ſubjective iſt und die objectiven
Elemente aus dem Einen Geſichtspuncte der Stimmung verbindet. Dieſe
ſchwebt über der Welt, wie ein Magnet, an den auf Koſten des ſächlichen
Zuſammenhangs Jedwedes anſchießt, was eine weſentliche Seite der Be-
ziehung zu ihm hat, oder ſie kann mit dem ſchwebenden Vogel im Anfange
von Göthe’s Harzreiſe im Winter verglichen werden: „Dem Geier gleich,
der auf ſchweren Morgenwolken mit ſanftem Fittig ruhend nach Beute
ſchaut, ſchwebe mein Lied!“ Man wird ſich hierüber klare Rechenſchaft geben,
wenn man an ſich ſelbſt beobachtet, wie im Zuſtande entſchiedener Gefühls-
ſtimmung die Phantaſie umherſchweift, als handle ſie, vom Denken nicht
überwacht, ganz willkürlich für ſich; man wird ſich zuerſt wundern, wenn
man ſich darauf beſinnt, bei wie fremdartigen Gegenſtänden ſie herumgeirrt
iſt, hernach aber ſich überzeugen, daß ſie im Dienſte des Einen Grundge-
fühls gehandelt hat. Der Wahnſinn als fixe Idee iſt ein krankhafter Ver-
luſt des ganzen Geiſtes in dieſen Zuſtand, dem die Kunſt als einem Zu-
ſtand unter andern freie äſthetiſche Form gibt: er ſieht alle Dinge außerhalb
der richtigen Ordnung nur im Zuſammenhang mit Einer habituell gewor-
denen Vorſtellung, Empfindung; Blitz, Donner, Sturm und Regen, Edgar’s
Erſcheinung, Gloſter’s feinen Hut und alles Andere bezieht Lear nur auf
den Undank ſeiner Töchter. Die Phantaſie kann auf dieſer ſcheinbaren
Irrfahrt bei dieſem oder jenem Bild auch länger verweilen, als der ſprung-
weis bewegte Charakter der Dichtung es zuzugeben ſcheint, und man kann
dieß Epiſode nennen. Dahin gehören z. B. die mythiſchen Erzählungen
Pindar’s, wie die des Argonautenzugs im Pythiſchen Gedicht auf den Ky-
renäiſchen König Arkeſilas, allein das herrſchende Gefühl ruft die Phantaſie
von dieſem Verweilen doch ungleich raſcher zurück, als die epiſche Anſchauung;
ſo im gegebenen Beiſpiele, wo jenes Bild nur dient, die Größe des Kyre-
näiſchen Königsgeſchlechts durch den Ruhm der Argonauten, von denen es
abſtammt, zu verherrlichen. In der modernen Lyrik werden ſolche Epiſoden-
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 86
[1336]ähnliche Stücke weit kürzer ſein, weil der ſubjective Charakter hier überhaupt
das Anſchauungs-Element weit mehr in die Enge zuſammenzieht, man
kann ſagen, weil ſie ächter lyriſch iſt. Die Einheit des lyriſchen Gedichts
iſt denn weſentlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Ma-
lerei, welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, ſondern überhaupt den
Werth der Gegenſtände gegen den Stimmungston zurückſtellt. Wir ſind
aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß alſo
in Ton-Unterſchiede ſucceſſiv auseinandergehen und kann als Einheit von
dieſen ebenſoſehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein beſtimmtes Gefühl ſoll
im Liede den Weg gehen, den ihm ſeine Natur vorſchreibt, und nicht ruhen,
bis es erſchöpft iſt. Es bedarf keines Beweiſes, daß auch hier der Drei-
ſchlag von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Compoſition als
organiſch gegeben aufgeſtellt haben, das Grundgeſetz der Gliederung bilden
wird: Anſchwellen, Ausbrechen, ſich Beruhigen iſt der natürliche Verlauf
jeder beſonderen Stimmung. Doch können dieſe Elemente verſchiedene
Stellungen zu einander eingehen und zu der Verſchiedenheit dieſer Stellung
kommt noch die Verſchiedenheit der Miſchung des Gefühlsklangs mit den
Anſchauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomiſchen) und dem
Hindringen gegen den Willens-Entſchluß. Das letzte der drei Momente,
die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltigſten Formen annehmen, iſt
nicht nothwendig eigentliche Beſänftigung, beſteht aber weſentlich immer
darin, daß das Gefühl eben in der Selbſtdarſtellung ſich läutert, idealiſirt.
Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in
anderem Zuſammenhang angeführt, enthält den Dreiſchlag der Momente
in der einfachen Weiſe, daß im erſten Satze der Anblick von Lila’s Woh-
nung, obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder ſeliger Erinnerung im
Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuerſt epiſch der erſten Begegnung
gedenkend, dann raſch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungs-
ſchmerzes übergehend und dieſem Schmerze kühn den männlichen Willen
entgegenſtellend, im letzten Satze aber beruhigt ſich dieſer Sturm nicht im
Erlöſchen der ſchmerzvollen Stimmung, ſondern im Verklären derſelben zur
allgegenwärtigen Liebe. Dieß iſt allerdings die einfachſte, allgemeinſte Form
des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, ſtürmiſchen
Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Umſtellung, daß das
zweite der drei Momente, wie ſie oben aufgeführt ſind, an den Schluß
tritt; ſo ſchließt Gretchen’s Lied „Meine Ruh’ iſt hin“ mit dem ſtürmiſchen
Wunſche, an den Küſſen des Geliebten, zu dem die wühlende Sehnſucht
ſie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, erſtickt ſtürzt hier
das Grundgefühl gewaltſam wie durch eine Schleuſe hervor, die ſich dadurch
geöffnet hat, daß die arme Verlaſſene das Bild des Geliebten im vollen
Glanze, wie die Liebe ſchaut, ſich vergegenwärtigt hat. Dieß iſt nun
[1337] freilich keine Beruhigung im gewöhnlichen Sinn, aber als höchſter Ausdruck
der Sehnſucht doch ein idealer Abſchluß. In Mignon’s Lied „Kennſt du
das Land“ ſteigert ſich die Sehnſucht in ununterbrochener Folge; in drei
Strophen ſtellt ſich einfach die Dreigliederung dar; die erſte malt die Natur
Italiens, die zweite ſeine Kunſt, und hier hängt ſich an das vorſchwebende
Bild die dunkle Erinnerung der dort verlebten Kindheit; dadurch befeuert
ſich in der letzten Strophe die Sehnſucht, die Phantaſie ſucht den Weg zu
dem Ziele derſelben und findet ihn in einem der Alpenpäſſe, deſſen wilde
Gebirgswelt recht der zum Gipfel angelangten Heftigkeit des Wunſches
entſpricht, und mit dieſem beſchleunigten Pulſe ſchließt das Lied. Dagegen
ſtellt ſich in Göthe’s Gedicht „Raſtloſe Liebe“ der ſtürmiſche Ausbruch an
den Anfang, bildet den erſten Satz: der Dichter möchte dem Gefühl einer
neuen Liebes-Anziehung ſich entreißen, ſtürzt dem Schnee, dem Regen, dem
Wind entgegen; im zweiten Satze gibt er ſich davon Rechenſchaft, aber
wir ahnen ſchon, daß die Schmerzen, denen er entfliehen will, nicht ſo
unwillkommen ſind: „alle das Neigen von Herzen zu Herzen, ach! wie ſo
eigen machet das Schmerzen!“, und im dritten Satze hat er ſich in das
Glück ohne Ruh’ ergeben und erkennt der Liebe, aus der es kommt, die
Krone des Lebens zu: erſt jetzt, mit dieſem Geſtändniß iſt ausgeſprochen, was
dem Anfange noch verſchwiegen zu Grunde liegt. — Dieſe Winke mögen
hinreichen, zum weiteren Nachdenken über die lyriſche Compoſition und die
mancherlei Umſtellungen ihrer Glieder anzuregen; ſie wären leicht zu ver-
mehren, namentlich wenn wir auf die Form eingehen wollten, die eine
Handlung erzählt und hiemit an das Ariſtoteliſche „Anfang, Mitte und
Schluß“ in ähnlicher Beſtimmtheit gewieſen iſt wie Epos und Drama.
Weſentlich iſt aber hier noch das Moment einer wiederkehrenden Unter-
brechung des lyriſchen Verlaufs, die denn auch am Abſchluſſe noch ihr Recht
behauptet, hervorzuheben: es iſt der Refrain, wie ihn beſonders das ger-
maniſche Volkslied und die durch es verjüngte Kunſtpoeſie liebt. Er iſt
zunächſt überhaupt Ausdruck davon, daß das Gefühl ſich in Worten eigentlich
nicht auszubreiten, darzuſtellen vermag; ſo wird in Gretchen’s ſchon be-
ſprochenem Liede: „Meine Ruh’ iſt hin“ der erſte Vers, der das Thema
hingeſtellt hat, zum wiederkehrenden Strophen-Abſchluß, zum Refrain: es
iſt ein mattes Zurückſinken von dem Verſuche einer ausführenden Schilde-
rung des Zuſtandes einer liebenden Seele, die ihr Centrum verloren hat,
aber am Schluſſe kann er hier nicht wiederkehren, da, entflammt am Bilde
des Geliebten, das Gefühl ſich Luft gemacht hat und in’s Weite ergießt.
Dagegen in Gretchen’s Gebet faßt er als Anfang und Schluß das Ganze
ein; hier iſt er der Ausdruck davon, daß die Verzweiflung nur bei der
göttlichen, mitfühlenden Liebe Hülfe ſuchen kann, er iſt aber am Schluß
etwas verändert, ein heftigeres Flehen. Der Refrain trägt durch ſeine
86*
[1338]Einſchnitte zu der ſogenannten lyriſchen Unordnung bei, denn unvermittelt
durchbricht er die Verſuche des Gefühls, zur objectiven Anſchauung über-
zugehen; aber in Wahrheit ſtellt er wie eine wiederkehrende Melodie die
Einheit des Grundtones aus den Wechſeln und Unterſchieden her; zugleich
iſt er ein Ruhepunct: das Gemüth hält ſich an ihm feſt in dem boden-
loſen Wogen der Empfindung. Allerdings kann er auch aus bloßen Na-
turlauten, Interjectionen beſtehen; die Bedeutung eines durchgehenden Bandes
zum Feſthalten der Grund-Empfindung bleibt ihm dann in dunklerer, der
Muſik enger verwandter Weiſe. Das Kinderlied und Handwerkslied ſpielt
gerne mit dieſer Form, um eine Körperbewegung auszudrücken, die der
Geſang begleitet; die Kunſtpoeſie wird in Nachbildungen leicht kindiſch. —
Daß die lyriſche Dichtung auf Kürze angewieſen iſt, geht aus der Natur
des Gefühles hervor, wie wir auf ſie dieſelbe Forderung ſchon in der Lehre
von der Muſik §. 764 begründet haben.
§. 888.
Die lyriſche Poeſie iſt durch ihre Bedeutung als Wiederkehr des Stand-
puncts der empfindenden Phantaſie in der dichtenden beſonders eng auf die
rhythmiſche Form gewieſen; ſie führt ihrer Natur nach zum Strophenbau,
bildet ihn kunſtreich zu einer Vielfältigkeit verſchlungener Gliederungen fort,
verbindet Strophen zur Strophengruppe, deren Compoſition naturgemäß zu
einer Gliederung von drei Sätzen neigt, endlich Strophengruppen zu größeren
Ganzen. Die Grundforderung aber iſt, daß Ton und Gang der Stimmung
ſich in der äußern Form treu ausſpreche, und dieſes Verhältniß ſoll nicht unter
allzu viel Kunſt leiden. Weſentlich entſpricht dem Charakter der lyriſchen Dich-
tung der Reim. Die Verwandtſchaft mit der Tonkunſt wird in ihr zur wirk-
lichen Verbindung durch muſikaliſchen Vortrag.
Die lyriſche Dichtung iſt enger an den Gehörsſinn gewieſen, weil ſie
an das Bewußtſein zwar anknüpft, aber ihren Gefühls-Inhalt ihm nicht
völlig zu erſchließen vermag, der Ton und ſeine Kunſtbildung aber eben
die Sprache des Gefühls iſt. Doch führt dieß nicht unmittelbar auf den
eigentlich muſikaliſchen Vortrag; die rhythmiſche Form in ihrem Unterſchiede
von der Muſik und ihrer tiefen Verwandtſchaft mit derſelben iſt eben der
Punct, worin der Antheil des Bewußtſeins, durch den jene Kunſt dem
Gefühle Wort-Ausdruck gibt, mit dem reinen Bewegungsleben des Gefühls
geeinigt erſcheint. Die verſchlungenen, mit Bild und Gedanke durchſchoſſenen
Wege und Gänge des Gefühls führen nun naturgemäßer zu kunſtreichen
rhythmiſchen Gebilden; es tritt an die Stelle der fortlaufenden epiſchen
Versreihe eine Verbindung von Reihen zu ſelbſtändigen kleineren Ganzen,
[1339] zu Strophen, und eine Aufeinanderfolge von Strophen wie dort von ein-
fachen Reihen. Von jeher haben die Strophen dazu geneigt, den Weg des
Gefühls dadurch beſtimmter darzuſtellen, daß ſie durch eine nach Länge oder
Kürze überhaupt oder auch metriſch ungleiche Zeile ihre zuſammengeſtellten
Reihen abſchloſſen und damit das Ausathmen des Gefühls ſchlechthin
oder das Ausathmen mit einem kurzen neuen Aufſchwunge darſtellten. Es
war zuerſt der Pentameter, der im elegiſchen Versmaaße zum Hexameter
trat als „melodiſches Herabfallen der flüſſigen Säule, die im Hexameter
geſtiegen iſt,“ es war dann der Epodos in verſchiedenen Formen. Allein
der Doppelſchlag von Steigen und Sinken iſt nur die allgemeinere Seite
des Gefühlslebens; die Stimmung hat ihren innern Verlauf und wir haben
in §. 887 auch von ihm geſagt, daß ſich derſelbe naturgemäß durch drei Mo-
mente bewegen wird. Als ſich die Lyrik in der doriſchen Chorpoeſie immer
kunſtreicher ausbildete, ſtellte ſich denn auch die Dreigliederung in den drei
Sätzen: Strophe, Antiſtrophe und Epode dar. Die Minnepoeſie des Mit-
telalters hat dieſelbe Kunſtform in den zwei Stollen, die der Aufgeſang
hießen, und dem Abgeſang ausgebildet; unter den neueren Bildungen ſind
es namentlich mehrere italieniſche, die in der Verſchlingung ihrer melodiſchen
Bänder den Abſchluß durch einen zwei vorangehenden Sätzen ungleichen
Satz lieben, ſo die achtzeilige Stanze und das Sonett. Die antike Lyrik
iſt nun zu äußerſt kunſtreichen Bildungen in der einzelnen Strophe fortge-
gangen und hat Gruppen von Strophen mit andern zu Einer großen
verbunden: eine Höhe, die jedoch bedenklich die Grenze des richtigen Maaßes
berührt. Es iſt nämlich der Conſequenz, zu welcher der erſte Theil unſeres
§. führt, ihre Schranke zu ſetzen; denn bis auf einen gewiſſen Grad ge-
trieben iſt das Kunſtreiche der rhythmiſch-metriſchen Form nicht mehr Aus-
druck, ſondern Abzug, Ableitungskanal der Innigkeit der Empfindung: die
Form wächst nicht mehr mit dem Inhalt, ſondern fordert Intereſſe für ſich
und ſtiehlt ihm ſeine Wärme. Die Alten, bei denen überhaupt die äußere
Kunſtform mehr als eine ſelbſtändige Welt der Schönheit beſtand (vergl.
§. 859), konnten hierin ungleich weiter gehen, als die Neueren, ihr Form-
gefühl war als ſolches ſo warm, daß ſie, wenn ſie auch die Form mit
Verluſt an Intereſſe für den Inhalt fühlten, doch innig fühlten. Wir
werden zudem ſehen, mit welchen andern Seiten des unterſcheidenden Cha-
rakters ihrer lyriſchen Poeſie dieß zuſammenhängt. Dagegen ſchlug die
ähnlich kunſtreiche Ausbildung der lyriſchen Formen im Minnegeſang auf
der Höhe, zu der ſie ſich ſteigerte, in unzweifelhafte Erkältung des Gefühls,
in conventionelles Spiel und ſtabilen Cultus beſtimmter Empfindungen um
und es bedurfte der ganzen Schlichtheit des ſpäter aufblühenden Volksliedes,
um zur Wahrheit zurückzukehren. Die Künſtlichkeit der romaniſchen und
muhamedaniſch orientaliſchen Formen wird uns nöthigen, dieſer Lyrik ihre
[1340] Stelle jenſeits der Mitte wahrer Innigkeit anzuweiſen. Was namentlich
die größeren Strophenſyſteme betrifft, ſo tritt an ihre Stelle in der neueren
Poeſie natürlicher das Cycliſche, der Kranz von Gedichten, den der gemein-
ſchaftliche Inhalt einer umfaſſenden Gefühls-Situation oder Lebensepoche
an geiſtigem Bande zuſammenhält. — Das einfach Weſentliche bleibt immer,
daß der Stimmungston im Rhythmus reinen Ausdruck finde. Wir zeigen
die rechten Wege durch einen Blick auf Göthe’ſche Balladen. „Der Fiſcher“
iſt durchaus anthitetiſch gebaut; jede Strophe beſteht aus zwei kleineren
vierzeiligen. Das Maaß iſt jambiſch, alſo anwachſend, andringend, aber
je auf eine längere Zeile folgt eine kürzere: ein Zweiſchlag, der auf die
Anſchwellung ein Gefühl des Zurückſinkens folgen läßt; die meiſten der
Langzeilen aber zerfallen durch eine Diäreſe in zwei Dipodien, z. B: „das
Waſſer rauſcht, das Waſſer ſchwoll;“ „halb zog ſie ihn, halb ſank er hin.“
So geht durch das Ganze das Gefühl des anſchlagenden und zurückſinkenden
Wellenſpiels, recht das Gefühl des Waſſers und des ſüß, ſchwindlicht Ver-
lockenden, was es hat. „Der Gott und die Bajadere“ beſteht aus Strophen,
die je wieder aus zwei vierzeiligen gebunden ſind, aber auf jede ganze Strophe
folgt eine dreizeilige, die ſich zu jener wie der Abgeſang zum Aufgeſang
mit ſeinen Stollen verhält, übrigens durch den Schlußreim, welcher mit
dem der größeren Strophen gebunden iſt, ſich an dieſe anflicht. Jene ſind
trochäiſch und drücken durch dieſes Maaß bald das Hohe der Herabkunft
des Gottes, bald das ſicher Continuirliche des Fortſchrittes von den erſten
Anlockungen und Erweiſungen der Liebe bis zum tragiſchen Ende aus.
Die kürzeren Abſchlußſtrophen dagegen beſtehen aus längeren daktyliſchen
Zeilen mit Vorſchlag und trochäiſchem Schluß; ſie ſchießen hervor, als habe
das Gefühl in den Hauptſtrophen nicht genug Raum gehabt, ſich zu dehnen;
in der erſten bezeichnet dieſer Rhythmus nur das ſchnell Wechſelnde in
Mahadöh’s Erdreiſen, in der zweiten ſchlägt er zum lieblichen Tanz und
Zymbel-Klang als beſchleunigter Puls, in der dritten drückt er die dienſt-
willige Geſchäftigkeit des Mädchens und die Freude des Gottes aus, in
der vierten klingt er ängſtlich anwachſend im Gefühle der ſteigenden Schärfe
der Prüfungen, in der fünften athmet er befriedigte Luſt, in der ſechsten
bricht er ſtoßweiſe durch wie die Verzweiflung, womit die Bajadere unter
die Begleiter des Leichenzugs ſtürzt, in der ſiebenten ſcheint er unter dem
tragiſchen Inhalte des Prieſtergeſangs in dunkler Bangigkeit zu zittern, in
der achten iſt er ganz Klage und in der neunten ſchwebt er mit dem ver-
klärten Paare beſchwingt zum Himmel empor. Dagegen betrachte man die
Braut von Korinth; ihre Atmoſphäre iſt ſchwüle Bangigkeit, es liegt wie
ein bleierner Druck auf ihr; zwei kürzere Zeilen vor dem Schluſſe der
Strophen ſcheinen unter dieſem Drucke nicht weiter zu können, den wieder-
holten Anſatz zu hemmen, den Athem einzuhalten, der dann, wie wenn der
[1341] Eintritt eines erwarteten Schrecklichen ihn befreite, in einer abſchließenden
längeren Zeile, doch, wie die andern, in ſchweren trochäiſchen Wellen, aus-
haucht, und erſt in der letzten Strophe wird die Recitation dieſem rhyth-
miſchen Ende einen leichteren, ſchließlich entlaſtenden Ton geben. Aehnlich
verfolge man, wie die kurzen Zwiſchenſtrophen im „Zauberlehrling“ bald
die unwillkommene Stetigkeit des Fortwirkens der Zauberkräfte, bald die
drollig angſtvolle Haſt des Lehrlings, bald den ordnenden Befehl und
die Lehre des Meiſters ausdrücken. — Wir haben hier überall Strophen-
bildungen, die das Einfache verlaſſen, ohne zu verwickelt zu werden und
namentlich iſt es der Reim, der die überſichtliche Haltung ſichert. Es
erhellt aus Allem, was über den Charakter des Lyriſchen geſagt iſt, daß
er in dieſer Dichtart die Bedeutung, die ihm in §. 860, 3. zuerkannt iſt,
im engſten Sinne behauptet. Er iſt weſentlich ſtimmungsvoll und man
kann ſagen, daß die lyriſche Form ihren Beruf, ganz Kunſt der poetiſchen
Stimmung zu ſein, erſt mit ihm erreicht habe. Das Verhältniß der ly-
riſchen Dichtung zur Muſik iſt ſchon in §. 839, 3. berührt. Das Epos
iſt zum recitirenden Vortrag, das Lied zum Geſange beſtimmt. Die innige
Analogie zwiſchen dieſen iſt in aller Volkspoeſie wirklicher, untrennbarer
Bund. Die griechiſche Lyrik hob ihn auch als Kunſtpoeſie nicht auf, ſondern
wuchs und vervollkommnete ſich durchaus zugleich mit der muſikaliſchen
Kunſt, mit den Inſtrumenten, und in der choriſchen Form trat der Tanz
hinzu, der die ſchwierig verſchlungenen Maaße auch in die räumliche Figur
überſetzte und dem Auge vortrug. Man muß ſich dieß veranſchaulichen,
um ſich klar zu machen, welche Fülle ſtimmungsvollen Genuſſes dem Grie-
chen ſchon in der Form lag. Namentlich hatten Strophe, Antiſtrophe
und Epodos die Tanzfigur der Evolution, ihrer Abwicklung und des Still-
ſtands zur Grundlage. Nachdem nun die moderne Bildung das Band ge-
löst hat, iſt die Lyrik der Kunſtpoeſie zunächſt zum Leſen beſtimmt, doch iſt
hier die Trennung vom Sinnlichen ungleich härter, als im Epiſchen, wie
es vom öffentlichen Platze, wo einſt der Rhapſode horchenden Volksmaſſen
mit heller Stimme vortrug, in die Stube zurückgetreten iſt. Mindeſtens
gut declamirt wollen wir das lyriſche Gedicht hören; allein je ſtimmungs-
voller, je ächter lyriſch, deſto weniger freilich kann dieß genügen, ja deſto
weniger paßt es. Es gibt eine lyriſche Poeſie und wir werden ihr ihre
Stelle anweiſen, die declamatoriſchen Charakter hat, aber wer keine Er-
zeugniſſe aufzuweiſen hat, die wie Geſang klingen, zum Geſang auffordern,
dem Componiſten entgegenkommen, der hat ſich nicht wahrhaft als lyri-
ſcher Dichter bewährt; ſeine Werke wurzeln nicht im reinen Elemente der
Stimmung.
[1342]
2. Die Arten der lyriſchen Dichtung.
§. 889.
Der Eintheilungsgrund für die Arten der lyriſchen Poeſie liegt in den
verſchiedenen Schritten des Prozeſſes, durch welchen das Gemüth den Welt-
inhalt in ſein inneres Leben verwandelt; der Unterſchied des Objectiven und
Subjectiven tritt alſo hier in eigenthümlicher Bedeutung auf und begründet
drei Formen: eine Lyrik des Aufſchwungs zum Gegenſtande, eine andere
des reinen Aufgehens des letzteren im Subjecte und eine dritte der beginnen-
den und wachſenden Ablöſung aus ihm oder der Betrachtung. Die andern
Eintheilungsmomente (vergl. §. 864), namentlich das auf den Unterſchied der
Style begründete, berühren ſich vielfach mit dieſem entſcheidenden, ohne mit ihm
zuſammenzufallen, ſie treten vielmehr weſentlich auch neben ihm in Geltung.
Der innere Grund der bekannten Schwierigkeit der Eintheilung des
lyriſchen Gebiets iſt natürlich der Mangel des eigentlich Objectiven: wo
ein gegenſtändliches Weltbild gegeben wird, treten eingreifende Unterſchiede
des Standpuncts mit dem Erfolg auf, daß die Welt in verſchiedenem Aus-
ſchnitt, Umfang, daher in erkennbar feſtem Unterſchiede der Compoſition,
der Behandlung, der ganzen Form zur Darſtellung kommt; wo dagegen
das Subject nur die Welt in ſich, als in Empfindung verwandelte aus-
ſpricht, da geräth Alles in’s Fließende und iſt die nothwendige Folge eine
unüberſehliche Vielheit der Formen, deren jede Stimmung in jedem Moment
eine neue erfinden kann. Die Stimmungen ſelbſt aber ſind unendlich nach
Individuen und Momenten und jede einzelne wieder unendlich gemiſcht; nur
Ein großer Haupt-Unterſchied läßt ſich aufweiſen, nämlich eben derjenige, den
der §. aufſtellt und den wir ſogleich erläutern, aber mit dem Vorbehalte,
daß die genauere Benennung der Formen nicht eine beſtimmte Geſtalt,
ſondern nur einen Ton, einen Charakter bezeichnen kann: das Hymnen-,
das Lieder-artige u. ſ. w. Wir haben die epiſche Poeſie nach dem
Unterſchiede der Style eingetheilt und dadurch gewonnen, daß die logiſche
Folge im Allgemeinen zugleich als die geſchichtliche erſchien. In einer
Kunſtform ohne eigentliche Objectivität kann der Styl-Gegenſatz eine ſo
durchgreifende Bedeutung nicht haben. Es wird ein ſolcher natürlich auf-
treten: der plaſtiſch-ideale Styl wird objectiver in ſeiner ganzen Haltung
ſein und ebendarum mehr entwickelnd, weniger unruhig verfahren, mehr
[1343] Gedanken-Elemente beimiſchen, er wird vermöge dieſer Eigenſchaften ſeinen
Standpunct weniger in jener Mitte einnehmen, wo der Inhalt rein in
lauter Stimmung aufgeht, ſondern mehr in der erſten und dritten unter
den Formen des Prozeſſes, die der §. unterſcheidet, wogegen der charak-
teriſtiſche Styl recht entſchieden der rein lyriſchen Mitte angehören wird;
dieſer Unterſchied wird ſich alſo mit unſerer auf das Allgemeine des innern
Prozeſſes gegründeten Eintheilung berühren, aber nur theilweiſe in einer
Art, worin die logiſche Ordnung zugleich die hiſtoriſche iſt, er wird nicht
mit ihr zuſammenfallen, vielmehr es wird ſich zeigen, daß, obwohl die eine
Stylrichtung mehr auf dieſer, die andere auf jener Stufe des Prozeſſes
ihre Stellung hat, doch auf jeder Stufe jede von beiden auftritt und
Unterſchiede innerhalb derſelben begründet. — Es könnte ſich fragen, ob
nicht der Unterſchied der Auffaſſungs-Arten der Phantaſie (bildend, empfin-
dend, dichtend), welcher die Eintheilung der Zweige überhaupt bedingt, hier,
im Lyriſchen, auch als Grund für die Unter-Eintheilung einzuführen ſei.
Allein die Subjectivität bildet zu ſehr den Charakter des ganzen Zweiges,
als daß dieſer Unterſchied hier von durchgreifender Kraft ſein könnte. Es
wird ſich allerdings finden, daß die erſte der Formen, wie ſie ſich nach
unſerer Eintheilung unterſcheiden, mehr epiſche Elemente hat, von der
zweiten erhellt bereits, daß ſie im engſten Sinne lyriſch zu nennen iſt,
die dritte durcharbeitet das Gefühl mit der überwachſenden geiſtigen Be-
ſinnung und könnte ſo in gewiſſem Sinn als dichtend bezeichnet werden;
allein im Ganzen und Weſentlichen iſt dieſer Unterſchied demjenigen, den
wir aus dem Prozeſſe der Empfindung entnehmen, nur verwandt und
ähnlich, keineswegs gleich. Dieß ergibt ſich, wenn wir den letzteren nun-
mehr genauer, wiewohl nur in vorläufiger Kürze, anſehen. Vorbereitet iſt
die Sache ſchon in §. 864, wo geſagt iſt, daß in der Unter-Eintheilung
auf einem Puncte der Unterſchied des Objectiven und Subjectiven in neuer,
eigenthümlicher Bedeutung ſich geltend mache. Wenn im engſten Sinne
lyriſch diejenige Form iſt, in welcher der gegenſtändliche Inhalt des Lebens
ganz in Empfindung verwandelt aus dem Subjecte ſpricht, ſo wird dieſe
reine Mitte naturgemäß zwei Extreme neben ſich haben: auf dem einen
wird die Verwandlung noch nicht ganz vollzogen ſein, auf dem andern nicht
mehr in ihrer vollen Reinheit beſtehen; was aber zunächſt als Zeitbezeich-
nung erſcheint, wird ſich, wie überall in den weſentlichen Sphären des
Geiſtes, zugleich als bleibende, nothwendige Form fixiren. Die eine dieſer
Formen, welche vor die Mitte fällt, iſt objectiv in dem Sinne, daß das
Subject nicht wagt, nicht vermag ſein Object ganz in ſich hereinzuziehen,
daß es nur zu ihm ſich erhebt, an es hinſingt, zu ihm aufſingt. Man
ſieht, daß hier Objectivität etwas Anderes bedeutet, als gegenſtändliche
Darſtellung im Sinne der bildenden Phantaſie; es iſt darunter allgemein
[1344] zu verſtehen, daß bei aller Begeiſterung der Gegenſtand außer und über
dem Subjecte bleibt; allerdings aber wird in der Behandlung die Objecti-
vität in dieſem Sinn Objectivität in jenem Sinne mit ſich bringen.
In der mittleren Form dagegen ſingt der Inhalt, ganz Gefühl, Stimmung
geworden, ſo unmittelbar, als wäre kein Prozeß der Durchdringung vor-
hergegangen, aus dem Subjecte heraus. Dieſe Form iſt alſo die ſchlecht-
hin ſubjective. Es wird ſich zwar zeigen, daß ſie das Objective im Sinne
der bildenden Phantaſie, des Epiſchen, nicht ausſchließt, daß vielmehr gewiſſe
Gebilde der lyriſchen Dicht-Art, worin dieß Element recht beſtimmte Geſtalt
annimmt, gerade ihr angehören; aber eben hier, wo der Stoff objectiv
geſetzt iſt, wird die Behandlung um ſo entſchiedener den rein ſubjectiven
Empfindungscharakter tragen. Da ſowohl demnach jene erſte, als auch
dieſe zweite, mittlere Form epiſche Anſchauungs-Elemente zur Ausbildung
bringt, freilich jede auf ganz andere Weiſe, ſo leuchtet ein, daß die Ein-
theilung der Hauptformen nicht auf dieſes Moment gegründet werden kann,
vielmehr objectiv und ſubjectiv hier etwas Anderes bedeutet, als bildend
und empfindend. Im andern Extreme, in der dritten Form, klingt das
Gefühl aus, kühlt ſich leiſe zur Betrachtung ab, allein ſolche Auflockerung
gegen den Gedanken hin iſt doch etwas ſpezifiſch Anderes, als was wir
dichtende Phantaſie nennen; dieſe ſtellt die Welt als eine im engſten Sinn
geiſtig bewegte dar, aber das intenſiv Geiſtige dieſer Auffaſſungs-Art iſt
an ſich durchaus nicht mit dem Verhalten zu verwechſeln, worin die Be-
trachtung die Oberhand gewinnt. — Es erräth ſich nun leicht, daß dieſe
Formen in enger Beziehung auch zum Unterſchied der Stoffe ſtehen,
doch kann auch der Zweifel nicht eintreten, ob nicht auf dieſes Moment
die Eintheilung zu gründen ſei; denn wiewohl die eine Form mehr zu dieſer,
die andere mehr zu jener Sphäre von Stoffen neigt, ſo greift dieß doch
keineswegs durch, vielmehr umgekehrt, die Formen greifen durch den Unter-
ſchied der Stoffe wieder durch und wenn z. B. die Lyrik des Aufſchwungs
nicht wohl anmuthigen, leichten, zierlichen Inhalt behandeln kann, ſo eignet
ſich doch die Lyrik der reinen Empfindung ſehr wohl erhabenen an und die
der vortretenden Betrachtung dehnt ſich ohnedieß offenbar über jederlei
Gegenſtand aus. Hiemit haben wir auch bereits den Unterſchied der Grund-
gegenſätze im Schönen (Stimmungs-Unterſchiede der Phantaſie im allge-
meineren Sinne: einfach ſchön, erhaben, komiſch) berührt; da aber trotz der
ſichtbaren Beziehung der erſten Form auf das Erhabene, der zweiten auf
das Anmuthige ſchlechthin einleuchtet, daß die zweite auch erhaben ſein
kann und daß doch zugleich ſie vorzüglich das Komiſche ergreifen wird, und
daß die dritte ſich über die Stimmungen wie über die Stoffe frei verbreitet, ſo
gibt es auch keine etwaige Meinung zu widerlegen, welche das Lyriſche nach
dieſem Prinzip eintheilen wollte. — Was endlich die geſchichtliche Ordnung
[1345] betrifft, ſo bringt es der Charakter des Lyriſchen mit ſich, daß ſie in der
logiſchen Eintheilung zerworfen wird. Am meiſten wird dieß mit dem
Orientaliſchen der Fall ſein, das in der Lyrik eine ganz andere Stelle ein-
nimmt, als in den Hauptgebieten der Kunſt im Großen, wogegen die ſucceſſive
Folge des Claſſiſchen und Neueren mit der logiſchen mehr, aber keineswegs
conſequent, zuſammenlaufen wird. — Wir bemerken nur noch, daß Hegel’s
Eintheilung einen Anſatz der unſrigen enthält, ihn aber nicht vollzieht, da
in ihr die dritte Form, die betrachtende Lyrik, als Unterabtheilung deſſen
auftritt, was wir als mittlere Form ſetzen, nämlich des Liederartigen, da-
gegen die Ode, die wir ganz anders ſtellen werden, den mittleren Platz
einnimmt (ſ. Aeſth. Th. 3, S. 458. 465).
§. 890.
In der Lyrik des Aufſchwungs erſcheint der Inhalt dem Subjecte1.
weſentlich als ein erhabener, ſo daß es ihn nicht in ſich hereinzuziehen und ganz
in Gefühlsleben umzuſetzen vermag; er bleibt außer ihm, alſo objectiv, und es
ſingt, in ſeinen Tiefen mächtig bewegt, zu ihm hinauf: das Hymniſche.
Dieſe Form entſpricht vorzüglich der claſſiſchen Poeſie; ihr direct idealer, plaſti-2.
ſcher Styl bildet hier das epiſche Element nebſt dem gnomiſchen in der breiteſten
Entwicklung aus, welche das Lyriſche zuläßt. Dieß verändert ſich auch in den
ſpezielleren Formen des Dithyrambs und der Ode nicht, in welchen der
ſubjective Prozeß zu der Trunkenheit der erſten Aneignung des übergewaltigen
Inhalts und dann zu der kunſtvollen Bemeiſterung dieſes Zuſtands fortgeht.
Die orientaliſche Hymnik iſt ungleich ſubjectiver und ebenſo, obwohl in anderem3.
Tone, die romantiſche und die moderne.
1. Der Inhalt „erſcheint als ein erhabener“, d. h.: das Hymniſche
gehört dem Bewußtſein an, das die Kräfte, welche die Welt bewegen,
ihrer Ausbreitung und Zerſtreuung im einzelnen Wirklichen entnimmt und
als abſolute Mächte, als Weſen für ſich, als Hypoſtaſen ſich gegenüberſtellt.
Es erhellt ſogleich, daß die Form der lyriſchen Poeſie, welche ſich darauf
gründet, vorzüglich dem Götter-glaubigen, dem mythiſchen Bewußtſein an-
gehört, aber keineswegs allein; vielmehr kann auch der Geiſt, der durch
die Aufklärung die Welt entgöttert hat, jenen großen, zuſammenfaſſenden,
eine Idee von ihrer Verwirklichung im Einzelnen getrennt für ſich hinſtellen-
den Act vornehmen; ein ſolches modernes Gedicht wird uns eigentlich fac-
tiſch zeigen, wie der Götterglaube entſtanden iſt, mag es nun zur eigent-
lichen Perſonification fortgehen oder nicht. Sei es die Freundſchaft, die
Freude, jede große ſittliche Empfindung, ſei es eine Naturkraft, die als
eine ſelbſtändige Macht angeſchaut wird, ohne daß eine eigenthümliche
[1346] Perſonbildung einträte: die Vollziehung dieſes Schrittes ſcheint immer in
nächſter Nähe zu ſchweben, wie in Hölderlin’s herrlicher Hymne an den
Aether ohne ausdrückliche Perſonification die Alles umſpannende, nährende,
labende Naturpotenz zu einem Gott wird. Dieß verändert ſich nicht, wenn
Fürſten, Helden, Landſchaften, Städte, Handlungen, furchtbare Ereigniſſe,
einzelne gewaltige Natur-Erſcheinungen beſungen werden: ſie wachſen in
der ganzen Auffaſſung und Behandlung, ſowie durch die ſpeziellern An-
knüpfungen an abſolute Mächte, an Götter, ſelbſt zu Göttern an, der Weg
iſt nach dieſer Seite hin nur ſo zu ſagen analytiſch, bei der unmittelbaren
Wendung an das Göttliche ſynthetiſch. Keineswegs wird nun durch die
Objectivität in dieſem Sinn einer erhabenen Form das Lyriſche aufgehoben;
vielmehr gerade weil vor der Uebermacht des Gegenſtands das Subject zu
verſchwinden droht, weil ſie auf ſein Empfindungsleben drückt, ſo ringt
dieß, in ſeinen Tiefen erſchüttert und aufgeboten, um ſo gewaltiger und
ſchwellt ſich an, dem Gegenſtande näher zu kommen und ihn ſo zu bewäl-
tigen, daß ſeine unendliche Größe als ganz vom Dichter empfunden erſcheint,
es bewegt ſich um ihn, häuft Prädicat auf Prädicat, muß aber doch am
Ende geſtehen, daß es ihn nicht erſchöpft hat, wie Haller am Schluſſe
ſeiner Hymne auf die Ewigkeit von dieſer ſagt: er ziehe die Millionen
Zahlen ab und ſie ſtehe ganz vor ihm; ſo löst ſich der Verſuch der Be-
wältigung ſchließlich in die reine Ausrufung auf und das Verſtummen in
dieſer iſt eben ächt lyriſch. Es bleibt bei einem Hinan- und Hinaufſingen
an den Gegenſtand. Dieß iſt ein Tadel, wenn man vom Lyriſchen über-
haupt ſpricht, nicht, wenn es in beſonderem Sinne von einer ſeiner For-
men ausſagt. Nur wo dieſe Form einſeitig in einer ganzen Epoche, wie in
der Zeit nach Klopſtock herrſcht, erſcheint ſie als Mangel. Sie hat das
ganze Recht des Erhabenen.
2. Es folgt zunächſt aus dem mythiſchen Charakter des Hymniſchen,
daß daſſelbe vorzüglich der claſſiſchen Lyrik als naturgemäßes Element
entſpricht. Der Begriff des Objectiven, wie er dieſer Gattung des Lyri-
ſchen zu Grunde liegt, iſt zwar, wie wir zum vorh. §. gezeigt haben, von
der allgemeinen äſthetiſchen Bedeutung, wie wir ihn ſonſt anwenden, ver-
ſchieden, allein unbeſchadet dieſes Unterſchieds tritt hier nothwendig ein
inniger Zuſammenhang ein: eine Lyrik, die dem Verhalten des Bewußtſeins
nach ihren Inhalt objectiv außer und über ſich behält, wird vorzüglich von
demjenigen Kunſtſtyle ausgebildet werden, der überall im Sinne der bilden-
den Kunſt, und zwar der Sculptur, und im Sinne der bildend dichtenden
Phantaſie, alſo der epiſchen Form, auf klare Geſtaltung und Schönheit der
einzelnen Geſtalt dringt. Es kann ſich fragen, ob eine ſolche Art der Phan-
taſie überhaupt Beruf zur lyriſchen Dichtung habe, die Antwort wird aber
ſein, es werde ſich ähnlich verhalten, wie mit der Malerei, welche dieſem
[1347] Ideale nicht verſchloſſen war, aber im plaſtiſchen Geiſte behandelt wurde;
nur iſt nicht zu vergeſſen, daß die Poeſie als die geiſtigſte Kunſt in allen
ihren Sphären den verſchiedenen hiſtoriſchen Standpuncten der Auffaſſung
offener ſein muß, als andere Kunſtformen, daß alſo auch die Griechen in
der Innerlichkeit, die ſich im Wort ausdrückt, tiefer mußten gehen können,
als in der, welche ſich durch die Farbe ausdrückt. Doch nicht ſo tief, als
die Gattung in der ganzen Intenſität ihres Begriffes es fordert, und ſo
blieben ſie denn in der Lyrik epiſch und ſagte ihnen ebendaher diejenige
Form beſonders zu, worin der Durchdringungsprozeß des lyriſchen Verhal-
tens ſich auf ſeiner erſten Stufe befindet. Die erſte, im engſten Sinn epiſch
lyriſche Geſtalt tritt in den ſog. Homeriſchen Hymnen auf; die Form des
Anrufs iſt kurz, der Hauptkörper beſteht in der Erzählung der Thaten des
Gottes. Es waren urſprünglich Proömien rhapſodiſcher Geſänge, die ſich
dann ablösten und als ſelbſtändige Form ausgebildet wurden; ſo haben
wir hier einen Reſt jenes Keimes, in welchem anfangs das Epiſche und
Lyriſche noch ungeſondert lagen. Von da ſchritt die Lyrik der Griechen
durch die elegiſche und jambiſche Dichtung der Jonier zur meliſchen und zur
choriſchen der Dorier fort. Es iſt die letztere, welche hieher gehört; die
elegiſche werden wir zur dritten Stufe ziehen, die meliſche entſpricht dem
Lieder-artigen und ihr Charakter wird ſich inſofern als ächter lyriſch erwei-
ſen; allein auch dieſe beiden hatten doch ungleich mehr epiſche Färbung, als
dasjenige, was ihnen in der neueren Lyrik entſpricht, und, was das Wich-
tigſte iſt, die Krone des Fortſchritts war eben jene choriſche Form der
doriſchen Dichtung, welche bei aller innerlichen Erregung doch die epiſchen
Elemente gerade am ſtärkſten ausbildete. Dieſer Geſang, der ſeinen Gipfel
in Pindar erreichte, war ſeinem ganzen Geiſte nach objectiv, monumental.
Er ſprach dieß ſchon in ſeiner Form aus, denn er wurde unter Beglei-
tung von Muſik und Tanz bei öffentlichen Veranlaſſungen, Gottes-
dienſt, Empfang und Begleitung der Sieger in den öffentlichen Spielen
ſtets von ganzen Chören vorgetragen. Der Inhalt konnte wohl auch der
Sphäre des ſchönen Lebensgenuſſes angehören, aber die höhere, wahre und
herrſchende Beſtimmung dieſer feierlichen Formen waren doch die Götter,
die Helden, das Vaterland: es iſt hymniſche Dichtung. Der reiche und
kunſtvolle Bau der Strophe, ihre Gliederung in Strophe, Antiſtrophe und
Epode war das Prachtgewand für dieſen gewaltigen Inhalt, für die breiten
und tiefen Wellen der Erſchütterung, womit er das Gemüth bewegte. Nun
iſt allerdings gerade in dieſer Gattung die ſogenannte lyriſche Unordnung,
die als ein Hauptmerkmal der Ode angeſehen wird, heimiſch geworden,
aber wir ſehen zunächſt von dieſer „labyrinthiſchen Compoſition“ ab, wie
ſie ja in der That auch erſt durch Pindar ihre Ausbildung erhielt; ſie hob
ohnedieß, ſo ſehr ſie damit in Widerſpruch zu ſtehen ſcheint, den Grundzug
[1348] keineswegs auf, welchen dieſe höchſt reife Lyrik mit jenen homeriſchen Hymnen
immer noch gemein hatte. Dieß war denn eben die epiſche Haltung. Es
wird eine Reihe hoher Sculpturbilder aufgeſtellt, der Gott, der Held, die
Stadt, die Landſchaft durch Darſtellung der Thaten, Schickſale in reiner
Formenpracht aufgezeigt. Der Dichter trägt aus allen Sphären, die in
Verbindung mit ſeinem großen Gegenſtande ſtehen, epiſche Glanzpartieen
herbei, wirft auf ihn ihre vereinigten Strahlen. Die einzelnen epiſchen
Theile ſind ſelten lang, aber ſie laufen doch an dem gegebenen Bilde epiſch
fort: ſie entwickeln, und wenn wir vom lyriſchen Style geſagt haben,
daß er weſentlich nicht entwickle, ſo müſſen wir nun hinzuſetzen, daß der
lyriſche Styl der Griechen eben hiedurch im Lyriſchen das Epiſche behält.
Zu dieſem Entwickeln gehört aber auch das Fortgehen von einem epiſchen
Bilde zum andern; mag es immerhin zunächſt noch ſo ſehr als ein Sprung
erſcheinen: es iſt doch ein Entwickeln im Sinne des Anſammelns vieler
Bilder, um den Gegenſtand mehr für das innere Auge, als für das Gefühl,
in volles Licht zu ſetzen. Hiezu kommt nun ein anderer Zug: die ſtarke
Herrſchaft des Gedanken-Elements, des Gnomiſchen. Sie iſt ſo bedeutend,
daß die Frage entſtehen könnte, ob wir nicht die geſammten Formen der
ausgebildeten Lyrik des claſſiſchen Alterthums in jene Sphäre verweiſen
ſollen, welche wir Lyrik der Betrachtung nennen. Was nicht einen beſtimmten
Gehalt ausgeſprochener ernſter Lebensweisheit enthielt, hätte dem Griechen
nie als ein Gedicht höherer Gattung gegolten. Daran knüpft ſich von ſelbſt
das Ausmünden nach der Seite der Willensbeſtimmung: Rath, Warnung,
Aufforderung. Dennoch ſchwimmen dieſe Einträge in einem hinreichend
ſtarken Elemente gewaltiger Erregung, um den Wärme-Grad des lyriſchen
Charakters zu retten. — Ein ganz organiſcher Gang der Fortbildung ſtellt
ſich nun dar, wenn wir dieſe hymniſche Dichtung von den homeriſchen
Hymnen, dann von den noch nicht ſo labyrinthiſch, wie von Pindar, com-
ponirten Kunſtwerken der choriſchen Poeſie zu den Dithyramben und
von da zu jener Fixirung der kühn abſpringenden Compoſitionsweiſe begleiten,
wie ſie ſich als Hauptmerkmal der Ode im ſpäteren Sprachgebrauche feſt-
geſetzt hat. Wir dürfen nämlich den Dithyramb als diejenige Form des
lyriſchen Prozeſſes betrachten, wo der Inhalt in das Subject herübertritt,
aber das ihm nicht gewachſene Gefäß in’s Wanken bringt und überfluthet.
Er wird Stimmung des Subjects, aber dieſes iſt von dem zu ſtarken Trunke
berauſcht, mit der innern Betäubung kommt die techniſche Form in’s Schwan-
ken und ſchweift ungebunden in den verſchiedenſten Rhythmen hin und her.
In Griechenland hatte dieß die beſtimmte Bedeutung, daß der Dithyramb
dem Dionyſos galt, der Gottheit, die, wie keine andere, eine tief myſtiſche
Einwohnung des All-Lebens in das innerſte Seelen- und Nervenleben des
Menſchen darſtellte. Das epiſche Element blieb allerdings auch hier, indem
[1349] ein Vorſänger die Thaten und Leiden des Gottes vortrug: nach der andern
Seite ein Keim des Dramatiſchen, woraus bekanntlich die Tragödie entſtand.
Was aber den Griechen Dionyſos war, das iſt uns jeder Moment der
leidenſchaftlich dunkeln Erregung, worin das Höchſte und Bedeutendſte uns
erfüllt, ohne unſer eigenſter Beſitz zu werden, ohne zum ſtillen, freien und
klaren Leben des Gefühls, worin wir ganz uns ſelbſt haben, ſich abzuklären.
— Ode heißt in dem intenſiven Sinne, wie der Sprachgebrauch ſich feſt-
geſetzt hat, ein hoch erregter Geſang weſentlich erhabenen Inhalts in kunſt-
reichen Strophen und kühn abſpringender Compoſition. Man darf dann
ſtreng genommen die leichteren Formen und kürzeren Strophen mit menſch-
lich vertrauterem, erotiſchem und verwandtem Inhalt, wie ſie der meliſchen
Poeſie, der Aeoliſchen und Anakreontiſchen, angehörten, nicht Oden nennen;
will man auch das eine jener Merkmale, die kunſtvoll reiche Strophenbil-
dung (und den Tanz) fallen laſſen, ſo bleibt doch das andere ſtehen und
man wird demnach unter den Horaziſchen Gedichten und den neueren Nach-
ahmungen nach dieſer genaueren Bezeichnung nur das Ode nennen, was
erhabenen Inhalt, angeſpannt hohen Ton und die ſogenannte lyriſche Un-
ordnung in der Compoſition hat. Es gibt keine ſcherzende, leichte Ode,
man müßte denn ſchließlich an dem Merkmale des Anrufs, des antiken
Tons und Rhythmus, wie er eine ſelbſtändige Klang-Schönheit darſtellt,
überhaupt ſich genügen laſſen, um den Begriff der Ode zu beſtimmen und
jene weſentlichen Bedingungen ganz aufgeben. Was nun die Abſprünge
in der Compoſitionsweiſe betrifft, ſo haben wir allerdings dieſen Zug ſchon
in der Darſtellung des lyriſchen Charakters überhaupt aufgenommen, um
an ihm den Gegenſatz der objectiven und der lyriſchen Ordnung zu zeigen.
Allein dieſe kann ihre Eigenthümlichkeit, ihren ſchweifenden Charakter in
einem ungleich beſcheideneren Maaße des Abſpringens genugſam offenbaren;
es iſt Zeit, ſich zu geſtehen, daß die Pindariſche Methode etwas höchſt
unabſichtlich Entſtandenes mit einem Uebermaaße der Abſicht fixirt. Die
gar zu weiten Sprünge ſind eine Nachahmung jenes Irrens der Phantaſie,
das der bacchiſchen Trunkenheit, dem Dithyramben, angehört, und halten
mit Bewußtſein das recht eigentlich Unbewußte feſt, machen es zur Manier.
Die Ode im ſtrengeren Sinne des Worts, wonach eben die lyriſche Unord-
nung ein weſentliches Merkmal des Begriffs bildet, zeigt daher einen inneren
Widerſpruch, durch den ſie genau an die Grenze des Hymniſchen fällt und
eigentlich zur Lyrik der Betrachtung fortleitet, die wir aber aus höheren
Eintheilungs-Gründen noch nicht unmittelbar folgen laſſen. Hegel ſagt
demnach (a. a. O. S. 458) richtig, ſie enthalte zwei entgegengeſetzte Seiten:
die hinreißende Macht des Inhalts und die ſubjective poetiſche Freiheit,
welche im Kampfe mit dem Gegenſtande, der ſie bewältigen will, hervor-
bricht; Gluth und unläugbarer Froſt ſind in ihr verbunden.
[1350]
3. Der erhabene Inhalt kann tiefer in das Gemüth ſteigen, jener Ton
des Schütterns und Dröhnens im Innerſten, der dem Hymniſchen eigen
iſt, kann wärmer, inniger erklingen, ohne daß darum das Verhalten zu
einem außer und über dem Subjecte ſchwebenden Gegenſtande ſich verändert.
Das epiſche und gnomiſche Element tritt zurück, der Styl entwickelt ungleich
weniger in Erzählungsform, ſondern häuft kürzere Bilder in raſcher Folge
wie Brillanten auf das angeſtaunte Object. In der alt-orientaliſchen Welt
waren es die Semiten, welche ein tieferes ſubjectives Empfindungsleben
führten, als die andern Völker (vgl. §. 433, 3.). Die Unruhe der lyriſchen
Bewegtheit bildet den Charakter ihrer Poeſie. Da nun aber die Grund-
ſtimmung auch hier die erhabene iſt, ſo ergibt ſich von ſelbſt eine bedeutende
Entwicklung des Hymniſchen im Lyriſchen. Es tritt nirgends ſo ſtark und
ſchön hervor, als in den Pſalmen der Hebräer. Hegel hat (a. a. O.
S. 456) das Aufjauchzen und Aufſchreien der Seele zu Gott aus ihren
Tiefen, das prachtvolle unruhige Bilderhäufen in kräftiger Kürze charakteriſirt.
— Das Mittelalter beginnt mit ſeinen lateiniſchen Hymnen wieder in
objectiverem Style, der doch ſo viel gefühlter iſt, als der antike (Stabat
mater u. And.); die Hymnen auf die Maria, auf die Dreieinigkeit in der
mittelhochdeutſchen Poeſie dagegen ſind epiſch nur im Sinn eines unerſätt-
lichen Drangs, an dem unerſchöpflichen Gegenſtande der myſtiſchen Ver-
zückung jede mit irgend einer Pracht des Bildes darſtellbare Seite zu
erſchöpfen, der gefühltere Styl wird ganz zum heißen Tone der Inbrunſt
(man ſehe z. B. Gottfried’s von Straßburg Hymnen auf die Maria). —
Die moderne Zeit hat hohe Wahrheiten, ſittliche Geſetze, Natur-Anſchauungen
zunächſt ohne Perſonification zum natürlichen Gegenſtand hymniſcher Be-
geiſterung. Obwohl hier die Objectivität im Sinne gegenübergeſtellter
Perſönlichkeit wegfällt, bleibt ſie doch, wie oben bemerkt, ſtehen im Sinne
ſtets vorſchwebender Nähe einer Götter-artigen Anſchauung, aber die Ratio-
nalität der Auffaſſung führt dieſe hohe Lyrik unſerer Zeit doch ſachte, enger
oder ferner an die Grenze der betrachtenden Poeſie. So Göthe’s edle
Hymnen: Geſang Mahomet’s, Geſang der Geiſter über den Waſſern, das
Göttliche, Grenzen der Menſchheit, Meine Göttinn, Hölderlin’s ſchon erwähn-
tes: An den Aether, ferner: das Schickſal, an den Genius der Kühnheit.
Ein Theil dieſer Gedichte nennt ſchon Götter oder ſetzt vernehmlicher an,
die Idee, die den Haupt-Inhalt bildet, zu vergöttlichen, vollzogen iſt der
Schritt in den herrlichen zwei Gebeten der Göthiſchen Iphigenie: „Du haſt
Wolken, gnädige Retterinn“ und „Es fürchte die Götter das Menſchenge-
ſchlecht“, in Hölderlin’s hoch claſſiſch und ewig wahr gefühltem „Schick-
ſalslied Hyperions“. In Göthe’s „Prometheus“ dreht ſich das Hymniſche
merkwürdig ſo, daß die Hoheit der Götter eigentlich in den ſie antrotzen-
den Helden herübertritt. Daß das Dithyrambiſche eine bleibende Seelen-
[1351] ſtimmung iſt, zeigt die neuere Poeſie in „Wanderers Sturmlied“ und „Harz-
reiſe im Winter“ von Göthe. Hier ſieht man die Sprünge des Dithyramben,
wie ſie die Ode künſtlich methodiſirt hat, in wahrhafter Trunkenheit der
Stimmung. Der moderne Dichter wird hier in der rhythmiſchen Form ſich
feſſelloſer bewegen, als der antike, der im wilden Wechſel doch die einzelne
rhythmiſche Gruppe ſtrenger maß. Die Ode nun iſt vielfach und ſchön
von den Deutſchen nachgebildet, freilich mehr ſo, daß in der Form die
kürzern alcäiſchen und ſapphiſchen Maaße gebraucht ſind, die wir nur der
Ode im ungenauen Sinne des Worts zuerkennen, während dagegen der
Inhalt meiſt hoch geht, wie es die Ode im engeren Sinne will. Klopſtock,
Hölderlin, Platen haben hierin das Schönſte geleiſtet. Wir haben ſolche
Erzeugniſſe zu beurtheilen wie moderne Sculpturwerke, welche im claſſiſchen
Idealſtyle Götter nachbilden, oder richtiger, wie moderne Gemälde, die den
claſſiſchen Mythus mit ſeinen reinen Formen, aber einem Anhauch moderner
Seele behandeln: ſie werden den feiner Gebildeten und ihrem Klanggefühle
immer eine Quelle reinen Genuſſes ſein, aber niemals ſich wahrhaft ein-
bürgern, niemals der Nation geläufig werden.
§. 891.
Die wahre lyriſche Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, ſo
daß dieſes ihn ausſpricht, indem es frei und einfach ſich und ſeinen augenblick-
lichen Stimmungszuſtand ausſpricht, begreift die große Maſſe des Liederar-
ligen. Alle Grundzüge des Lyriſchen (§. 884—886) gelten vorzüglich von
dieſer Form. Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit, Sangbarkeit iſt ſeine
Natur. Demnach ſagt ihm menſchlich vertrauter, anmuthender Inhalt zu, doch
keineswegs iſt es darauf beſchränkt, es kann die höchſten Gegenſtände behandeln,
die tiefſten Kämpfe des Herzens, die tragiſchen Leiden des Einzelnen und des
Geſammtlebens ſo gut, als jede Freude und inniges Naturgefühl, wenn ſie
nur ganz in ſubjective Empfindung eingegangen ſind. Aber auch das Ko-
miſche gehört in vollerer Ausdehnung nur dieſem lyriſchen Gebiete. Vom
Individuellen neigt das Lied nothwendig zum Geſelligen.
Hier namentlich iſt die Schwierigkeit fühlbar, daß es keine beſtimmten
Formen gibt, von denen man ſagen kann: dieß ſind Lieder. Es iſt der
Ton, aus dem die Gattung erkannt werden muß, und hiezu gibt den
nächſten und einfachſten Anhalt die Vergleichung mit dem Hymniſchen.
Will man den Unterſchied von dieſem recht deutlich wahrnehmen, ſo halte man
Schiller’s Hymne an die Freude und Göthe’s Tiſchlied: „Mich ergreift, ich
weiß nicht wie“ zuſammen: jener ſingt die Freude an, bewegt ſich um ſie
und zählt ihre Wirkungen auf (ob gut oder nicht gut, geht uns hier nicht
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 87
[1352]an), aus dieſem ſingt, ganz Stimmung, ganz Gegenwart und Augenblick,
die Freude heraus. Es bedarf keines Beweiſes mehr, daß in dieſem Ge-
biete die lyriſche Poeſie allein ganz ſie ſelbſt iſt und daß auf ihm der Dichter
ſeinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied
und im Lyriſchen kann wirklich nicht die Frage ſein, wer ſpezifiſch mehr
Dichter ſei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen
wollen, daß es friſchweg, leicht, im Entſtehen ſchon wie geſungen, einfach,
naiv hervorfließe, kann man an Göthe’s Liedern wie an einer reinen Norm
erſehen. Vom Liede wird denn namentlich auch gelten, was in §. 886
über die Situationsfarbe des Lyriſchen geſagt wurde: man muß durchſehen,
wie in einer beſtimmten Lage dieſer Stimmungszuſtand entſtanden iſt, in
beſtimmtem Augenblicke die Welt ſo und nicht anders im Dichtergemüthe
gezündet hat, das innig und ewig Wahre muß doch ganz den Charakter
der Zufälligkeit tragen und das ganz Freie den Charakter des nicht anders
Könnens, denn der Dichter iſt hier erzeugender Geiſt und reines Naturkind,
Stimmungskind, ganz in Einem. — Sehen wir nun nach dem Stoff-
Unterſchiede, ſo verhält ſich hier das Lied nicht ausſchließend wie das Hym-
niſche. Es wird natürlich mit dem breiteren Theile ſeiner Baſis ſich auf
dem Boden des heiteren Lebensgenuſſes feſtſetzen, Liebe, Wein, Tanz, geſellige
Luſt, Naturgenuß wird ſein liebſtes Thema ſein, denn das menſchlich Ver-
traute, Kampfloſe ſchlüpft natürlich leichter ganz in das Herz, wird ganz
Stimmung, als das Hohe, Monumentale; der holde Leichtſinn in Göthe’s
Vanitas Vanitatum Vanitas ſtellt eigentlich dieſe reine, freie, widerſtandsloſe
Bewegung in normaler Reinheit dar. Allein auch das Erhabene entzieht
ſich dem Liede nicht, denn es kann volle Immanenz im Gemüthe des Sub-
jectes werden. Dieß gilt denn zuerſt von dem abſolut Erhabenen: es tritt
als Andacht in die Seele und wird zum Liede. Andacht iſt nun freilich
auch die Stimmung der Hymne, allein wir müſſen hier das Wort in
dem engeren Sinne nehmen, der diejenige Religion vorausſetzt, welche die Idee
der Immanenz im Begriffe der göttlichen Liebe beſitzt und die Bewegung
der Andacht zu Gott zu einer Bewegung der Liebe im reinen und hohen
Sinne des Wortes erhebt; die Diremtion zwiſchen dem abſoluten Gegen-
ſtand als einem außerweltlich perſönlichen und dem Subjecte bleibt der
Vorſtellung nach ſtehen, wird aber der That nach durch die Innigkeit der
Andacht wie durch einen milden Strom wieder ausgeglichen; in dieſem
harmoniſchen Fluſſe iſt jene Erſchütterung des Hymniſchen und Dithyram-
biſchen, wobei immer eine herbere Entgegenſetzung zu Grunde liegt, ver-
ſchwunden und kann ſo der ſchlichte Erguß des innigen Liedertons eintreten.
Das Lied ſchließt denn natürlich auch menſchlich erhabenen Inhalt nicht
aus, es feiert Kämpfe des Staats, Freiheit, Vaterland, große Helden und
Thaten, wenn nur immer der Stoff ganz Fleiſch und Blut des ſubjectiven
[1353] Gefühls geworden iſt. Noch weniger natürlich ſind dem Liede die tiefen
inneren Brüche des individuellen Lebens fremd, die Tragödie des Herzens
in der ganzen Tonleiter vom wildeſten Sturme der Leidenſchaft bis zum
hinſchmelzenden Seufzer der Wehmuth. Jene dunkeln Abgründe der Seele
in den Liedern Mignon’s und des Harfners ſind doch in die reine Farbe des
Liedes getaucht. Der Kampf im Innern iſt ein Dornenweg durch die
ſchwerſten Brechungen, Vermittlungen, allein auf ſeinen Stadien ſchwillt
die dunkle Summe derſelben zur einfachen Unmittelbarkeit und elementari-
ſchen Gewalt des Gefühles an, wie es im Liede durchbricht. Noch iſt her-
vorzuheben, daß von den Stoffgebieten nun auch das landſchaftliche be-
ſtimmter wieder auftritt. Es iſt dieß die einfache Umkehrung des Satzes,
daß das Landſchaftgemälde weſentlich lyriſch iſt (vergl. §. 698, 1.), und
nach dem dort Ausgeführten bedarf es keines weiteren Beweiſes, daß das
Gefühl auch ohne Vermittlung der bildenden Phantaſie an die Betrachtung
der Natur anſchießt, wie ſie uns das Gegenbild unſerer Stimmungen dar-
bietet. Ja daſſelbe kann — darauf werden wir zurückkommen — ganz,
ohne von ſich zu reden, in einem Landſchaftbild aufgehen. Mit der Aus-
dehnung über alle Stoffſphären iſt nun aber auch die andere über die großen
Grundgegenſätze des Schönen ſo gegeben, daß neben dem Anmuthigen und
Erhabenen die Welt des Komiſchen in freier Fülle ſich öffnet. Iſt ja doch
das Komiſche die im engſten Sinn ſubjective unter den Formen des äſthe-
tiſchen Widerſtreits, ganz Wohlſein des Subjects, alſo ganz Stimmung.
Es fragt ſich nur, ob das Lyriſche nicht überhaupt zu wenig Objectivität
habe, um dem Lachen erſt den Anhalt des komiſchen Vorgangs zu geben;
allein es beſitzt ja das Wort und iſt daher in dieſem Gebiete natürlich
nicht ſo beſchränkt wie die Muſik. Der Vorgang muß nicht ein Ereigniß
in der Außenwelt ſein, er kann auf innern Widerſprüchen beruhen, die der
Witz aufdeckt, und dieſer, wenn nur getragen vom warmen Fluſſe der
Stimmung, hebt keineswegs den Charakter des Liedes auf. Wir werden
aber bald ſehen, daß das Lied ſogar im Sinne der Erzählung objectiv ver-
fahren, alſo auch einen äußern Vorgang komiſcher Art darſtellen kann;
vorläufig weiſen wir nur auf Göthe’s ächt komiſche Schlagwirkung in
„Schncider-Courage“. — Das Gefühl iſt ſympathetiſch; am meiſten das
ſchlichte und naive; ertönt der Hymnus in vollſter Kraft als choriſcher
Geſang, ſo muß noch gewiſſer das Lied zur vollen Strömung vereinigter
Empfindungsflüſſe, zum Ausdrucke des Gemeingefühls neigen. Dieſe Seite
tritt hier mit ſolcher Stärke hervor, daß ſie ſogar eine Unter-Eintheilung
in individuelle und geſellige Lieder nahe legt, und die letzteren ſprechen
entweder die momentane Geſammtſtimmung Solcher aus, die zu Andacht,
Trauer, Genuß, oder die eingewurzelte Solcher, die bleibend in einem Stande
vereinigt ſind, beides natürlich in Anknüpfung an eine beſtimmte Situation.
87*
[1354]Welche Stände am meiſten im Liede vertreten ſein werden, ergibt ſich aus
§. 327, 3. und §. 330. Das Lied gewinnt durch dieſe anſchmiegende,
umfaſſende, vorzüglich ſympathetiſche Natur unabſehliche Bedeutung für das
Leben, ſchließlich für die Geſchichte einer Nation; es ſpricht Grundgefühle
aus, die in jeder Bruſt leben, verſtärkt ſie rückwirkend, führt in Schlachten,
tröſtet in Niederlagen, weckt vom politiſchen Schlummer auf, knüpft ſich an
Alles, begleitet jede Thätigkeit, jeden Genuß.
§. 892.
Es folgt aus der Stellung des Liedes in der reinen Mitte des Lyriſchen,
daß ſein Styl vorzugsweiſe der in §. 887 angegebene iſt. Doch kehrt innerhalb
dieſes Charakters der Unterſchied eines verhältnißmäßig mehr objectiven dar-
ſtellenden, offenen und hellen und eines mehr innerlichen, abgebrochenen, dunkeln
und verſchleierten Styls zurück. Jener gehört der claſſiſchen, beziehungsweiſe
2.der romaniſchen, dieſer der germaniſchen Poeſie an. Derſelbe Styl-Unterſchied
macht ſich aber noch in anderer, bleibender Weiſe geltend, nämlich in dem
Verhältniſſe zwiſchen der Volkspoeſie, deren eigentliche Lebensform das
Lied iſt, und der Kunſtpoeſie.
1. Es iſt ſchon im vorh. §. geſagt, daß die Grundmerkmale des Lyri-
ſchen keiner andern Form in ſo vollem Sinn eignen können, als dem Liede;
die Anwendung dieſes Satzes auf den Styl wurde ihrer Wichtigkeit wegen
hieher verſchoben. Es iſt aber der Lieder-Styl eben als ächt lyriſcher mit
dieſem ſchon geſchildert und ſetzt ſich jetzt nur dadurch näher in’s Licht, daß
die Unterſchiede beleuchtet werden, die innerhalb dieſes Charakters wieder
eintreten. Dem Liederartigen entſpricht bei den Griechen das, was im
engeren Sinne Melos hieß: d. h. der Form nach, was, in gleichen kurzen
Verszeilen oder leichteren, kürzeren Strophen gedichtet, von einem Einzelnen
mit der Begleitung der Lyra vorgetragen wurde, dem Inhalte nach, was
wohl auch politiſch, kriegeriſch und überhaupt ernſt ſein konnte, vorzüglich
aber der individuellen Erregung durch Wein, Liebe oder irgend einer andern
Leidenſchaft galt, und dem Tone nach, was ganz und weſentlich Stimmung
war. Dieſe Form iſt von der Aeoliſchen Lyrik ausgebildet; zu Alcäus und
Sappho iſt, obwohl Jonier, Anakreon zu ſtellen. Die Innigkeit, die den
Styl des Liedes bedingt, kann bei den Griechen freilich nicht in jene Tiefe
gehen, wie bei den neueren Völkern, denen die innere Unendlichkeit ſich
erſchloſſen hat; das Innerlichſte erſcheint wie eine nach innen geworfene
Sinnlichkeit, das Seelenvollſte glüht und wallt in einem heißen Elemente
der Leidenſchaftlichkeit, die ſich ganz und unreflectirt in den Moment verſenkt.
Bei Anakreon allerdings wird die tiefe Bebung der Leidenſchaft zum leich-
[1355] teren, lebensfrohen Spiele, zum freieren Schweben. Dieſer ächt lyriſche
Ton des claſſiſchen Styls iſt nun aber ſchon darum mehr mit epiſch objec-
tiven Elementen getränkt, weil jede Lebensmacht in Göttern angeſchaut wird,
im Gott aber die innere Erregung immer wieder als herausgenommen aus
dem Innern des Menſchen, als gegenſtändliche Erſcheinung ſich hinſtellt.
Freilich fallen die ausdrücklich epiſchen Theile der hymniſchen Poeſie, die ent-
wickelten Schilderungen weg, aber das Gefühl ſelbſt entfaltet ſich an dem Bande
der klaren Göttervorſtellung in beſtimmtem, hellem Bilde, deutet nicht, zurück-
ſinkend von dem Verſuche, ſich auszuſprechen, dunkel träumend auf noch
unausgeſprochene, unerſchöpfliche Tiefen, es verläuft plan, bis es in ſeiner
Darſtellung geſättigt iſt. Ebendarum iſt das Gedanken-Element auch hier
durchaus ſtärker, als in dem neueren Liede, es ſpricht ſich über Zeitläufe,
Göttermacht, Lebensgrundſätze direct in Sätzen aus, die wie feſte Pfeiler
im lyriſchen Wellenſpiele ſtehen. Der ſympathetiſche Trieb des Liedes ſprach
ſich unter And. in der beſondern Form der Lieder beim geſelligen Mahle,
den Skolien, aus. — Der lyriſchen Poeſie der romaniſchen Völker werden
wir ihren bedeutendſten Platz an einer andern Stelle anweiſen; doch fehlt
ihnen nicht das rein gefühlte, friſchweg geſungene Lied, obwohl es in der
Kunſtpoeſie, wenigſtens Spaniens und Italiens, durch Ausbildung jener
verſchlungenen Formen, die einen andern Ton, als den des Liedes, mit ſich
bringen, frühe faſt ganz verſchwindet. Was man nun hier ächt liederartig
nennen kann, hat allerdings auch das ſchöne Helldunkel, das träumeriſch
Andeutende, was die Empfindungsſprache der neueren Völker von jener der
alten unterſcheidet; wir erinnern ſtatt unzähliger anderer Züge nur an das
italieniſche Lied, das Göthe im „Nachtgeſange“ nachgebildet hat, und ſeinen
ſo ächt lyriſch in’s dunkel Gefühlte verſchwebenden Refrain: dormi, che
vuoi di piu? Doch verbirgt ſich auch in dieſem Gebiete die Verwandtſchaft
der romaniſchen Völker mit der claſſiſchen Anſchauung nicht; es iſt im
Ganzen und Großen Alles mehr heraus am hellen Sonnenlichte, ſchon die
Sprache bringt den offenern Klang, das vom Innern gelöstere Bild, und
der Vers neigt doch überall ſchon zu den Verſchlingungen, die ein Wohl-
gefallen an der Form für ſich ausdrücken. Die Franzoſen bewegen ſich
auch in der Kunſtpoeſie anmuthig im leichten Liede, im chanson, aber die
Leichtigkeit hat hier auch die Bedeutung des ſpielenden Leichtſinnes, der
nichts tief nimmt. Der liebenswürdige Béranger, lebensheiter wie Anakreon
und doch warm für jedes Große, vor Allem für die Freiheit, aber bei alle-
dem ohne eine gewiſſe letzte Reſonanz, die nur das Gemüth der germani-
ſchen Völker kennt, iſt das reinſte Bild der franzöſiſchen Gefühlsweiſe. Die
ganze Gewalt der dunkel verzitternden Tiefe gehört dem deutſchen und
engliſchen Liede und zwar dem Kunſtliede wie dem Volksliede. Solche
hingehauchte Strophen, ſolches tiefe Ahnen wie in Göthe’s „Wonne der
[1356] Thränen“, in den beiden: „Wanderers Nachtlied“ und „ein Gleiches (Ueber
allen Gipfeln iſt Ruh’ u. ſ. w.)“, wie in jenen Liedern, die wir als Grund-
typen lyriſchen Charakters in §. 885 und 886 näher betrachtet haben, ſolches
dämmernde Beſchleichen wie in Jägers Abendlied oder „An den Mond“ haben
ähnlich nur die Engländer und Schotten aufzuweiſen in dem eigenthümlich
beflorten, wie in Nebeln verzitternden Tone, der aus ihrem Volkslied in die
neuere Kunſtpoeſie Byron’s, Moore’s, Shelley’s, Burn’s, Campbell’s und
der Dichter der ſog. Seeſchule übergegangen iſt. Man kann namentlich hier
die ergreifende Wirkung des Refrains erkennen, denn er iſt der brittiſchen
und ſchottiſchen Poeſie beſonders eigen. — Wir haben uns hier nicht aus-
drücklich über das Mittelalter ausgeſprochen: nicht als hätten wir vergeſſen,
daß ſeine Phantaſie vorherrſchend die empfindende war; aber die ganze
Bildungsform war doch noch ſo weit epiſch, daß dieſer Zweig überwog
und das Lyriſche, freilich zum Schaden des Gattungscharakters, ſich in ihn
warf. Zugleich war es allerdings die wirkliche Lyrik, worin die Knospe
des neu aufgegangenen Gemüthslebens ſich erſchloß; die Minnepoeſie, aus
dem älteren Volkslied hervorgegangen, iſt eine Erſcheinung voll Lieblichkeit,
allein ſie wird bald monoton durch die Wiederkehr deſſelben Inhalts, con-
ventionell in dem methodiſirten Cultus der Frauen und des Frühlings und
die kunſtreiche Form leitet, wie ſchon früher bemerkt wurde, alsgemach die
Innigkeit der Stimmung nach der Seite des Gefäßes ab. Hier erkennt
man, daß das Bewußtſein des Mittelalters zu weltlos arm, noch zu wenig
von vielſeitigen Beziehungen des Lebens geſchüttelt war, und ein Walter
von der Vogelweide ſteht an Reichthum der Perſönlichkeit und ihrer Intereſſen
für die reale Welt faſt einzig da; das Volk, trotzdem, daß ſein inneres
Leben noch einfacher ſein mußte, als das des ritterlichen Standes, war doch
in unbefangnerem Verkehr mit der Wirklichkeit, als dieſer, den der Geiſt der
Kaſte abſchloß, und was ſeinem Seelenleben an Reichthum der Saiten fehlte,
erſetzte die Friſche und Fülle der Reize, die von jener ausgiengen. Wie daher
die Minnepoeſie aus der Volkspoeſie herkommt, ſo muß ſie, nachdem ſie
ſich in Künſtlichkeit ausgelebt, der letzteren wieder weichen, denn der Geiſt
des Volkes iſt inzwiſchen, gegen das Ende des Mittelalters, ungleich
erfahrungsreicher und aufgeweckter geworden und am Ende des fünfzehnten,
Anfang des ſechszehnten Jahrhunderts tritt die herrliche Blüthe des Volks-
lieds ein, auf deſſen beſtimmtere Auffaſſung wir längſt hingeleitet ſind.
2. Der Unterſchied der Volks- und Kunſtpoeſie iſt ſchon in §. 519
aufgeſtellt. Hier, im lyriſchen Gebiete, hat er ſeine eigentliche Stelle; denn
das Epiſche im urſprünglichen Volksgeſange verewigt ſich, wie wir ſchon
ausgeführt, nur, indem es aus dem Schooße des Lyriſchen heraus und in
die Hände einer höheren, auf der Schwelle der Kunſtpoeſie ſtehenden Bildung
übertritt, und es bleibt dem Volke das, was einſt ein Theil des Ganzen
[1357] war, das Lyriſche, zur ſtillen Pflege, die, in ihrem Thun weſentlich um
keine Belauſchung wiſſend, endlich doch belauſcht wird und ihr ſchönes,
heimliches Werk in den Garten der Oeffentlichkeit hinübergetragen ſieht.
Was heißt Volk, wenn man vom Volksliede ſpricht? Es iſt urſprünglich,
ehe diejenige Bildung eintrat, welche die Stände nicht nur nach Beſitz,
Macht, Recht, Geſchäft, Würde, ſondern nach der ganzen Form des Bewußt-
ſeins trennt, die geſammte Nation. Da iſt kein Unterſchied des poetiſchen
Urtheils; daſſelbe Lied entzückt Bauern, Handwerker, Adel, Geiſtliche, Fürſten.
Nachdem nun dieſe Trennung eingetreten iſt, heißt der Theil der Nation,
der von den geiſtigen Mitteln ausgeſchloſſen iſt, durch welche die Bildung
als die bewußtere und vermitteltere Erfaſſung ſeiner ſelbſt und der Welt
erarbeitet wird, das Volk. Allein dieſer Theil iſt das, was einſt Alle waren,
die Subſtanz und der mütterliche Boden, worüber die gebildeten Stände
hinausgewachſen ſind, aus dem ſie aber kommen. Von denjenigen, die in
unbeſtimmter Mitte ſtehen, nicht mehr naiv und doch nicht gründlich ge-
bildet oder durch Noth abgeſtumpft und verwildert ſind oder das Raffinirte
der Bildung ohne ihr Gegengift ſich angeeignet haben, iſt nicht die Rede,
ſondern von der Maſſe, die in der alten, einfachen Sitte wurzelt, die ihre
Bildung auch hat, aber eine ſolche, welche der die Kluft bedingenden Bil-
dung gegenüber Natur iſt. Dieſe ganze Schichte lebt ein vergleichungsweiſe
unbewußtes Leben und weil die lyriſche Poeſie weſentlich ein Erzeugniß
nicht des hellwachen, ſondern des als Seele in Natur verſenkten, ahnenden
Geiſtes iſt, ſo liegt gerade hier ein beſonderer Beruf zu dieſer Dichtart,
deſſen reichere Erfüllung nur wartet, bis die dämmernde Volksſeele vom
ſchärferen Geiſte der Erfahrung angeweht wird, ohne doch ganz zum Tages-
lichte der Reflexion aufgerüttelt zu werden. In dieſem Boden erwächst nun
jene Kunſt ohne Kunſt, deren Grundzug die Schönheit der Unſchuld iſt, die
„nicht ſich ſelbſt und ihren heil’gen Werth erkennt“. Sie iſt nur möglich
in unmittelbarer Verbindung mit der Muſik, das Volkslied wird ſingend
improviſirt, pflanzt ſich nur mit ſeiner Melodie fort, denn hier wird nicht
geſchrieben und gedruckt. Der Dichter tritt nicht hervor, wird nicht genannt,
Niemand fragt nach ihm, er hat im Namen Aller geſungen, das Subject
iſolirt ſich ja auf der ganzen Bildungsſtufe nicht, es gibt nur Ein Geſammt-
ſubject, dieß iſt das Volk, und das Volk iſt eigentlich der Dichter, es gibt
keinerlei literariſches Intereſſe, Intereſſantſein und Intereſſantſeinwollen, kein
kritiſches Urtheil; was ſchön iſt, erfreut, weil man es an der Rührung
fühlt. Dieß iſt das Waldesdunkel, wodurch in §. 519 die wahre Geburts-
ſtätte des Volkslieds bezeichnet iſt. Lieder aus der Sphäre der bewußten
Bildung, welche populär werden und, weil ſie dem Volkstone gut nach-
gefühlt ſind, ſelbſt in Volksmund übergehen, ſind darum nimmermehr Volks-
lieder zu nennen. Daher nun die in dem genannten §. aufgeſtellten Züge
[1358] des Volkslieds, ſeine Mängel und ſeine Schönheiten, zu denen in §. 886
noch der weitere der überall lebendig fühlbaren Situation, der Lebenswahr-
heit gefügt worden iſt. Man kann die Mängel in dem Bilde zuſammen-
faſſen, daß das Volkslied durchaus einen Erd- und Wurzel-Geruch mit ſich
führt, daß man die Blume nie ohne dieſen Beigeſchmack bekommt, dafür
hat ſie ſelbſt um ſo friſcheren Duft. Die Kunſtdichtung, die nicht periodiſch
aus dem friſchen Boden dieſer Waldblume ſich verjüngt, bildet nur ſeidene
Blumen. Sie wird vor Allem ſich zu ſehr dem entwickelnden, hell beleuch-
tenden Styl hingeben, ausmalen, beweiſen, rationell aufzeigen; dort lernt
ſie den ächten, helldunkeln, ſpringenden Styl, wie er freilich bis zum
unkünſtleriſch Verworrenen, Unverſtandenen, Zuſammenhangsloſen fortgeht,
an ſpezifiſchen Taktloſigkeiten leidet, der Volkstracht ähnlich, die in ſo vielen
Gegenden nicht weiß, wo die Taille hingehört, die aber auch nie gemacht,
immer wahre Natur iſt. Das Volkslied iſt Gemeingut aller culturfähigen
Völker; außer den ſchon genannten iſt namentlich die ſlaviſche Nation reich,
die weichen und wehmüthigen Klänge ihrer verſchiedenen Stämme haben
aber nicht das Mark der germaniſchen. Die Verjüngung der Kunſtpoeſie
durch die Volkspoeſie geſchieht namentlich auch durch Wechſelwirkung der
Literaturen, durch die Erkenntniß, daß die Dichtkunſt „eine Welt- und
Völkergabe“ iſt. Kein Moment der Einwirkung des Volkslieds auf die
Kunſtdichtung war ſo bedeutend, als der, da Percy’s Sammlung in Eng-
land, ſtärker und früher noch entſcheidend in Deutſchland zündete, die
Göttingerſchule zu den erſten friſcheren Lauten geweckt wurde, Bürger die
erſte wahre Ballade dichtete, Herder die Stimmen der Völker ſammelte und
Göthe’s Genius ſich zu dieſem friſchen Borne beugte, um zu trinken.
§. 893.
Es widerſpricht dieſer Natur des Liedes nicht, daß es beſtimmte objective
Formen hervorbringt, vielmehr ſie zeigt ſich gerade dadurch, daß ſie das Gegen-
2.theil des Subjectiven ſetzt und doch ganz in ihren Stimmungston taucht. Die
eine Art der Objectivität beſteht darin, daß der Dichter einen Gemüthszuſtand
nicht als den ſeinigen, ſondern den einer andern Perſon ausſpricht, oder daß
er in eigener Perſon vortragend ein Sittenbild oder ein Naturbild gibt; die
3.andere iſt epiſch in dem beſtimmten Sinne des Worts, daß eine ergreifende
Handlung als vergangen erzählt wird, wobei der Gegenſatz der Style an
die ſchwankende Unterſcheidung von Ballade und Romanze ſich unbeſtimmt
anlehnt und das Lyriſche als Dialog durchbrechend auch dem Dramatiſchen ſich
4.nähert. Die meiſten dieſer Formen, namentlich die letzte, gehören ſowohl der
Volkspoeſie, als der Kunſtpoeſie an.
[1359]
1. Es kann auffallen, daß wir dieſe Gruppen von objectiven Formen
zum Liede rechnen, das im engſten Sinne ſubjectiv iſt. Man unterſcheide
aber die Objectivität, von der es hier ſich handelt, wohl von derjenigen,
welche dem Hymniſchen zu Grunde liegt: in dieſem Gebiete blieb das
Subject außerhalb des Gegenſtands und wandte ſich nur, obwohl tief
bewegt, an ihn, im gegenwärtigen ſetzt das Subject den Gegenſtand als
einen ſolchen, der erſt durch ſein Inneres gegangen iſt; nicht als handle
es ſich um einen Act reiner Fiction, vielmehr der Dichter hat ſich ganz
und ohne eigenes Bewußtſein über jene tiefſte Bedeutung des Lyriſchen,
wonach ſich in ihm die Subjectivität als Centrum der Welt erweist, an
das Object hingegeben, von ihm durchziehen laſſen, ebendadurch aber, in-
dem er ganz paſſiv ſcheint, es mit ſeinem Innern ganz durchdrungen, ganz
in Stimmung umgewandelt, und indem er es wiedergibt, kommt es nun
zu Tage ganz getaucht in lauter Bebung des Gefühls. Man ſieht den
Prozeß nicht mehr, der Erfolg tritt ganz als unmittelbare Thatſache auf.
So erſcheint der ächt lyriſche Charakter des Liedes gerade da in ſeiner
vollen Kraft, wo er ſich an ſeinem Gegentheile geltend macht, indem er
im Objectiven und Vermittelten eben recht ſubjectiv und unmittelbar iſt.
2. Die Objectivität tritt in zweierlei Form auf, immer als Gegenſtand,
welcher der Anſchauung geboten wird, aber in der einen Gruppe gegen-
wärtig, wiewohl dabei eine Succeſſion von Momenten ſich abwickeln kann,
in der andern vergangen. Die erſtere, die wir zunächſt in’s Auge faſſen,
ſcheint viel unzweifelhafter lyriſch, denn die Vergangenheit begründet ein
ſtärkeres Zurücktreten des Subjects vom Object. Dieß gilt jedenfalls von
der erſten Form dieſer Gruppe: es iſt die einfache Form der Verkleidung,
wo der Dichter aus der Maske einer zweiten Perſon oder, wie in ſo vielen
geſelligen und Standes-Liedern, aus einer Vielheit von ſolchen ſpricht; er
hat ſich völlig in den Zuſtand der andern Perſönlichkeit hineinempfunden,
ſo ſtellt er doch ganz ſeinen eigenen Stimmungszuſtand dar und liegt daher
das Lied, das auf dieſem Acte beruht, dem objectlos reinen Lied am nächſten.
Man braucht gar kein beſonderes Gewicht darauf zu legen, daß die Stim-
mung oft in dem engeren Sinn die eigene des Dichters iſt, wie im Mignon-
Liede: „Kennſt du das Land“, wo Göthe mit der fremden ſeine eigene
Sehnſucht nach Italien ausſpricht, oder in ſo unzähligen Liedern, wo der
Dichter Empfindungen ſo allgemeiner Art, daß er ſie ſicher auch perſönlich
erlebt, wie unglückliche Liebe, Weinluſt, in einer beſtimmten Maske, als
Hirt, Jäger, Muſikant u. ſ. w. und mit einer beſtimmten Situation aus-
ſpricht: er kann ſich in ſpezifiſchere Lebensformen, Zuſtände, Situationen
verſetzen, welche nie ſeine eigenen ſein konnten, und ſie doch ſo tiefge-
fühlt wie eigene und ſelbſterlebte wiedergeben. Wir erinnern ſtatt vieler
Beiſpiele nur an jenes Gebet Gretchen’s im Fauſt, an die Lieder des
[1360] Harfners im W. Meiſter, an Heine’s „Hirtenknaben“. Rein menſchlicher
Gehalt iſt natürlich auch im Spezifiſchen vorausgeſetzt. Vielleicht die ganze
Hälfte des lyriſchen Parnaſſes gehört dieſer einfachen Uebertragungsform
an. Auch in die Natur kann der Dichter ſein Inneres legen und aus ihr
ſprechen laſſen, wie Göthe in: „der Junggeſell und der Mühlbach“ oder
wie Anakreon durch ſeine Taube ſagen läßt, wie es ſich bei ihm lebt. —
Die zwei andern Formen dieſer Gruppe ſind viel weniger unmittelbar:
der Dichter gibt ein kurzes Sittenbild, kleines Landſchaftgemälde; er tritt
nicht im eigenen, auch nicht im Namen eines Andern auf, er zeigt ein
Object, aber ein gegenwärtiges, auf und läßt daſſelbe ſo ohne alles
weitere Zuthun für ſich ſprechen. Es ſcheint nichts einfacher, als ganz auf
den eigenen Vortrag des Gefühls zu verzichten, es ganz in den Gegenſtand
zu verſenken, aber dieß Verzichten geſchieht mit mehr Bewußtheit, als es
ſcheint, und zugleich hängt die Richtung mit denſelben Urſachen zuſammen,
aus welchen in der neueren Zeit das Sittenbild und die Landſchaft in der
Malerei eine ſo bedeutende Rolle ſpielt: dem Intereſſe für die Aufdeckung
immer neuer Länder, Zonen, den ethnographiſchen, naturwiſſenſchaftlichen
Neigungen, und allerdings zugleich der Sehnſucht nach Friſchem, von der
Sündfluth der Reiſenden nicht Abgelecktem, alſo in Culturmüde, in idylliſchem
Bedürfniſſe. So ſind denn dieſe Formen ſehr modern. Bei Heine hatten ſie
entſchieden noch ſubjectiveren Ton, wie ſein unheimliches Bild des Jäger-
hauſes „Die Nacht iſt feucht und ſtürmiſch“ (Heimkehr N. V), des Pfarr-
hauſes (N. XXVIII) „Der bleiche, herbſtliche Halbmond“, das Völkerbild:
„Wir ſaßen im Fiſcherhauſe“ (N. VII), das rührende kleine Gemälde:
„Das iſt ein ſchlechtes Wetter“ (N. XXIX), die liebliche Berg-Idylle aus
dem Harze, dieſe nur leider mit dem blaſirten cremor tartari ſtark vermiſcht;
ebenſo die vielen tief bewegten Landſchaftbilder; die berühmten Strophen
von der Fichte und Palme gehören nicht der vorliegenden, ſondern jener
erſten Form an, weil ſie, obwohl in ſchlagend einfacher Objectivität, doch
durch eine poetiſche Fiction einem Naturgegenſtande ganz menſchliches Em-
pfinden leihen. Lenau’s Bilder magyariſcher Zuſtände und Haiden entwickeln
bereits mehr das Object an ſich und Freiligrath wird ganz zum glühenden,
aber auch ſeinen Pinſel ſehr bewußt führenden Maler menſchlichen, thieriſchen,
landſchaftlichen Lebens aus der Wildniß, wohin der Fuß der Cultur nicht
getreten. Das ſanfte und ſchöne Gemüth C. Mayer’s liebt es beſonders,
mit völliger Verzichtung auf ein Wort im eigenen Namen kleine Bilder
friedlich heimlicher Landſchaft aneinanderzureihen. Recht und Fug ſolcher
lyriſchen Objectivität kann nach dem Obigen nicht beſtritten werden, nur
wechsle ſie öfter mit directem Ausſprechen der Stimmung, denn ſchließlich iſt
ſie doch ein Zurückhalten, das im Fortgang ermüdet, weil man der Natur
der Gattung nach darauf wartet, die Menſchenſtimme ſelbſt zu vernehmen.
[1361]
3. Die Ballade und Romanze ſind Abkömmlinge der alten Helden-
lieder, die zuerſt einzeln geſungen, dann zum Epos fortgebildet und zu-
ſammengefügt wurden; ſie leiten alſo zu jener mehrfach erwähnten elementa-
riſchen Form zurück, wo das Lyriſche und Epiſche noch im Keime vereinigt
lagen. Allein nachdem das Letztere ſich zu einer eigenen Gattung ausge-
ſondert hat, iſt der Theil des gemeinſchaftlichen Keimes, der dieſem Zuge
nicht folgte, ein anderer geworden: er hat, obwohl dem Stoffe nach epiſch,
lyriſchen Charakter angenommen. Epiſch iſt vor Allem das Moment der
Vergangenheit, wodurch dieſe Form von der vorhergehenden Gruppe
ſich unterſcheidet; aber es bewirkt jetzt nicht mehr die frei über dem Gegen-
ſtand ſchwebende, ausführlich zeichnende Haltung des Dichters, ſondern
dieſer legt ſich mit ſeiner Empfindung ganz in den Gegenſtand, als ob der-
ſelbe, zwar als ein vergangener erzählt, zeitlich wie räumlich gegenwärtig
wäre; die Zeichnung wird dem Tone untergeordnet, der ganze Hauch und
Wurf wird ſubjectiv, bewegt, der Gang überſteigt raſch die retardirenden
Elemente und eilt zum Schluſſe, der Rhythmus baut ſich muſikaliſch in
lyriſchen Strophen, das epiſche Lied entſteht mit der Melodie oder nach
einer vorhandenen Melodie, lebt im Volksgeſange oder muß doch, wenn es
ächter Kunſtpoeſie angehört, den Charakter des Sangbaren tragen. Dem
alten Heldenliede ſieht man ferner die Neigung an, ſich als Glied in ein
größeres Ganzes zu fügen, es ſetzt die Kenntniß einer umfaſſenden Sage
voraus; Ballade und Romanze dagegen ſtellt einen Stoff für ſich, ähnlich
wie die Novelle im Unterſchied von dem Roman eine Situation, abgeſchloſſen
hin, behandelt daher auch nicht leicht mehr Theile der Heldenſage, ſondern
vereinzelte Ereigniſſe und Handlungen, Mordgeſchichten, Schickſale der Liebe,
Kriegsauftritte u. ſ. w., die aber allerdings den ächten Inhalt vorzüglich
dann liefern, wenn ſie vorher von der Sage poetiſch zubereitet ſind, wohl
auch Elemente des Mährchenhaften, Geiſterhaften aufgenommen haben,
worin tiefer und rein menſchlicher Sinn eingehüllt iſt. Die nähere Ge-
ſchichte iſt noch zu ſtoffartig und proſaiſch verſetzt und führt mehr zur
poetiſchen Erzählung. Alle dieſe Merkmale weiſen der epiſchen Lyrik im
Unterſchiede vom Epos den ahnungsvoll charakteriſtiſchen, nicht entwickeln-
den Styl zu; dennoch iſt es natürlich, daß auch innerhalb dieſes Bodens
der Gegenſatz eines relativ helleren, ſubjectiv klaren, mehr gegenſtändlich
ausführenden und in dieſem Sinne plaſtiſch idealen Styls gegen einen im
engeren Sinne maleriſch helldunkeln ſich von Neuem erzeugt. Die claſſiſche
Dichtung bietet nichts für dieſe Stelle, im Alterthum blieb nach der Aus-
ſcheidung des Epos keine epiſche Form von lyriſchem Charakter zurück.
Dagegen tritt der Unterſchied der Stylprinzipien in der neueren Poeſie zu-
nächſt als ein nationaler auf und lehnt ſich ſo an die Namen Romanze
und Ballade. Ballade iſt zwar ein italieniſches Wort und bezeichnet ein
[1362] Tanzlied, das urſprünglich die beſtimmte rhythmiſche Form von drei ver-
ſchlungenen Strophen mit Refrain hatte, allein wie es in England ſtehend
wurde als Name für das epiſche Lied, wie es dort und in Schottland ſich
ausbildete, ſo verband ſich damit der Sinn eines beſtimmten Charakters der
Behandlung, in dem wir ein reines Bild jener zweiten Stylrichtung haben,
und die rhythmiſche Form bewegte ſich frei in heimiſchen Maaßen. Es iſt
die nordiſche Stimmung mit ihrem bewegteren, ahnungsvolleren, mehr
andeutenden, als zeichnenden Ton, ihrem ſtoßweiſen, Mittelglieder über-
ſpringenden Gange, es iſt, was Göthe die myſteriöſe Behandlung nennt,
welche der Ballade zukomme. Der Name Romanze hat ſich in Spanien
für das epiſche Lied feſtgeſetzt und das äußere, rhythmiſche Merkmal iſt der
Trochäus, gewöhnlich in Tetrametern, welche fortlaufend aſſoniren. Es iſt
aber nur natürlich, daß wir mit dem Namen auch den Begriff einer be-
ſtimmten Behandlung verbinden und zwar derjenigen, wie ſie dem romani-
ſchen Völkergeiſt entſpricht und eben in den ſpaniſchen Romanzen vorzüglich
ſich zeigt: nämlich jener helleren, durchſichtigeren, ruhigeren, mehr epiſch
entwickelnden, mehr plaſtiſchen. Beſteht nun dieſer Gegenſatz zunächſt als
ein nationaler, ſo hindert nichts, denſelben, wie er innerhalb der Literatur
einer Nation, namentlich der deutſchen, jederzeit wieder auftreten und
beſtehen wird, mit jenen Namen zu bezeichnen, nur geſchehe es mit
dem Vorbehalte, daß man damit nicht ängſtlich ausmeſſen und abſtract
Alles eintheilen will; ſonſt thäte man beſſer, mit W. Wackernagel, der
(Schweiz. Archiv f. hiſtor. Wiſſ. B. 2, S. 250) die Unterſcheidung rein
auf das Metriſche zu beſchränken. Der Ballade kommt vermöge des oben
bezeichneten Charakters ihrer Bewegungsweiſe genauer das Merkmal des
dramatiſchen Ganges zu und dieß widerſpricht keineswegs dem rein Lyriſchen,
Beſchleierten, Beflorten ihres Tons, das ſich wie Moll zu dem Dur der
Romanze verhält. Das Drama beſchleunigt, wie wir ſehen werden, ſeinen
Gang, wirft die Hemmungen raſcher nieder, als das Epos, motivirt tiefer
aus dem Innern, weniger umſtändlich und nur bedingt aus dem Aeußern;
dieß thut es, weil es die Welt als eine von innen heraus beſtimmte dar-
ſtellt; die lyriſche Poeſie aber iſt, wie ſie nach der einen Seite vom Epos
herkommt, nach der andern eben hierin der Durchgang, aus dem das
Drama hervorgeht; hier wird die Welt in’s Innere gezogen, zur Bewegung
von innen heraus bearbeitet, zubereitet, durch Lichter aus dem Innern be-
leuchtet. Wirft ſich nun das Lyriſche epiſch auf Erzählungsſtoff, ſo wird
es alſo gerade je intenſiver lyriſch, deſto mehr dieſen Stoff in einer Weiſe
innerlich durchwärmen, daß ſeine wallende Bewegung auf die Nähe des
Dramatiſchen hinweist. Es iſt keineswegs ein blos äußerlicher Zug, daß
dieſer Styl ungleich mehr, als der Romanzenſtyl, die dialogiſche Form liebt.
Hier werden die Sprechenden nicht weiter genannt, der Dichter hat ſich, wie
[1363] der dramatiſche, in ſie verwandelt; Momente der Handlung ſind zwiſchen
den Reden verſchwiegen, es iſt vorausgeſetzt, daß man ſie ſich vorſtelle, die
Anſchauung derſelben aus dem Geſprochenen ſich erzeuge, wie im Drama,
ſofern die Schauſpielkunſt es nicht ergänzt. In der bekannten ſchottiſchen
Ballade Eduard iſt z. B. nicht erzählt, daß der Mörder mit blutigem
Schwerte vor ſeine Mutter tritt, es geht ſogleich aus der Anrede hervor:
„warum iſt dein Schwert von Blut ſo roth?“ In dieſem Ueberſpringen,
Ahnenlaſſen liegt etwas Banges und ſo iſt mit ſolchem Style auch die
Neigung zu tragiſchen Stoffen gegeben; man kann ſagen, daß das Nibe-
lungenlied in ſeiner Stimmung als tragiſches Epos eben zugleich mehr
balladenartig ſei, als das Homeriſche Heldengedicht, und es iſt merkwürdig,
daß in England zu der Zeit von Shakespeare’s Auftreten beliebte Volks-
balladen den Stoff zu manchen Dramen gaben. Doch wurden auch heitere
Balladen zu Komödien verwendet, und unſer Satz will nicht ſagen, daß die
Ballade nothwendig tragiſch ſei, ſo wenig, als der Romanze blos heiterer
Inhalt zugeſchrieben werden ſoll. Ja der Ballade ſagt ausdrücklich auch das
Komiſche zu, denn die ſubjectivere Durchſchüttlung des Objectiven erzeugt
mit ihren raſchen Beleuchtungen den komiſchen Contraſt, wie den erhabenen.
Die vordrängenden Jamben und Anapäſte, welche namentlich die ſchottiſche,
engliſche Ballade liebt, entſprechen dieſer ſpringenden nordiſchen Unruhe, wie
die fallenden Trochäen der romaniſchen Ebenmäßigkeit und ſtetigeren Be-
leuchtung der Dinge, aber der relative Fortbeſtand des innern Gegenſatzes
innerhalb einer National-Literatur kann nicht weiter nur an dieſe Formen
gebunden ſein. Auch die Neigung zum Geiſterhaften, die jenem helldunkeln
Tone näher liegt, als dieſem klaren, hängt mit unheimlich düſterem Inhalt
zwar gerne, doch nicht ſchlechtweg zuſammen, die wunderbaren Mächte
können auch neckiſch, hülfreich wirken. Selbſt die reinſte, anmuthvolle
Heiterkeit des Inhalts hebt den Balladencharakter nicht auf: der Junggeſell
und der Mühlbach, der Edelknabe und die Müllerinn von Göthe weiſen ſich
durch die völlige Verſenkung des Gefühls in den Stoff, die ihn dialogiſch
ſelbſt ſprechen läßt und alle Mittelglieder überſpringt, noch genugſam als
Balladen aus. — Es iſt aber noch eine andere Seite des Unterſchieds
hervorzuheben, die dem Bisherigen auf den erſten Blick zu widerſprechen
ſcheint. Viele ſpaniſche Romanzen ſind von der Art, daß ſie den Schritt
zum Epiſchen, d. h. jetzt zunächſt einfach zum Erzählen, nur halb vollziehen:
der Dichter redet ſeine Perſonen an, ſpricht ſein Gefühl über ſie, über ihr
Schickſal direct aus, erzählt im Präſens und gibt oft ſtatt einer ganzen
Begebenheit nur eine Situation. Man leſe nun von Uhland: der Traum,
Sängers Vorüberzieh’n, der nächtliche Ritter, der kaſtiliſche Ritter, S. Georgs
Ritter, Romanze vom kleinen Däumling, Ritter Paris, der Räuber und
was in der Sammlung folgt bis zu Bertran de Born, ſo wird man das
[1364] eine oder andere dieſer Merkmale oder die ſämmtlichen zutreffen ſehen.
Noch beſtimmter wird man dieß Verweilen im Subjectiven, das nur einen
Anſatz zum Erzählen nimmt und den Stoff wieder in lyriſchen Klang zurück-
zieht, in den Gedichten Heine’s finden, die er Romanzen nennt; Balladen,
wie die „Grenadiere“, „Belſatzar“, durcherzählende Romanzen, wie „Don
Raniro“, mehreres Lieder- und Sonett-artige iſt leicht auszuſcheiden; wir
bezeichnen als Beiſpiele für den Charakter, von dem hier die Rede iſt,
I, II, III, IV, V, VII, VIII, XI, XII, XIII, XIV, XV. Wir haben die
Ballade reiner lyriſch genannt, als die Romanze; ziehen wir nun zu dieſer
die in Rede ſtehende Form, welche zum Erzählen nicht ernſtlich fortgeht,
ſo ſcheinen wir in Widerſpruch zu gerathen, denn dieß iſt ja vielmehr ein
Stehenbleiben im Lyriſchen. Allein beide Male iſt Lyriſch in anderem Sinne
genommen: im Balladenſtyle bedeutet es den Act der ſubjectiven Empfindung,
der ſich an ſeinem geraden Gegentheile, der vollen Objectivität, ſo ſtark er-
weist, daß er ſie ganz in lauter Ton, Stimmung umſetzt, das anderemal
die Subjectivität, die den allgemeinen Begriffscharakter des Lyriſchen ſo
einhält, daß ſie bis zu voller Objectivität gar nicht fortſchreitet, nur halbe
Anſtalten zum Erzählen macht.
Hiemit haben wir Linien zu einer Grenzbeſtimmung zwiſchen Ballade
und Romanze zu geben verſucht. Daß dieſelben in der Anwendung durchaus
Lücken haben müſſen, folgt nothwendig aus der innern Natur des Lyriſchen;
wo es ſich um ſo zarte Potenzen handelt, für die wir nur den Namen
Behandlungston haben, kann am allerwenigſten bei Schuh und Zoll aus-
gemeſſen werden. Der Sprachgebrauch iſt daher locker und ſchwankend.
Göthe nennt alle ſeine erzählenden Lieder Balladen und mit Recht. Ange-
ſichts der Vollſtändigkeit der Verſenkung, der Umtauſchung des eigenen Ich
gegen die Perſonen und das Ereigniß, des bewegungsreichen Ganges, der
ganzen wallenden Natur dieſer Lieder kann man zu dem Schluſſe kommen,
Göthe ſei mehr Dramatiker, als Schiller; allein ſeine Dramen leiden bei
aller übrigen Vollendung an einem Mangel gegenüber dem Spezifiſchen der
Dichtart, ſie ſind zu ſeeliſch und haben zu wenig Handlung; er iſt dagegen
im Epiſchen ſo Homeriſch klar und ſo ganz, wie es die Dichtart will, rein
zeichnend und entwickelnd, daß man den Meiſter des lyriſchen Helldunkels
der Empfindung nicht in ihm erwarten ſollte. Wir überlaſſen dieſen Knoten
dem Leſer zur Auflöſung; ſie wird ſich daran knüpfen müſſen, daß Göthe
doch auch als Epiker keinen ſtraff männlichen, ſondern lauter rein menſch-
liche, weiblich ſeeliſche Stoffe behandelt hat. Schiller nennt nur ſeinen
Kampf mit dem Drachen Romanze, alles Andere Balladen; ſonderbar:
thut er es wegen der lichten Deutlichkeit und beredten Entwicklung im
Style, ſo hätte er alle ſeine epiſch lyriſchen Gedichte Romanzen nennen
können außer dem Taucher, denn dieſer hat trotz den beredten Schilderungen
[1365] doch viel von dem tief dunkel bewegten, ſpringenden, dramatiſchen Style
der ächten Ballade, und etwa noch außer dem Handſchuh, wo ähnliche
Bewegung waltet. Wählt er den Namen wegen des glücklichen Ausgangs
im Gegenſatze mit der tragiſchen Schickſals-Idee in den andern, ſo wären
der Gang nach dem Eiſenhammer, der Graf von Habsburg, die Bürgſchaft
auch Romanzen zu nennen. Das Richtige wird ſein, von Schiller’s ſämmt-
lichen epiſch lyriſchen Gedichten zu ſagen: ſie haben von der Ballade den
ſtark bewegten dramatiſchen Gang, aber nicht das Helldunkel des reinen
Empfindungstons, der immer eine Verwandtſchaft mit dem Volksliede auch
in der Kunſtpoeſie bewahrt, vielmehr neigen ſie durch ihre lichte Bewußtheit
und Sentenzioſität noch über die Helle der Romanze hinüber in die be-
trachtende Lyrik; zugleich aber ſeien ſie durch die Fülle und Pracht ihrer
Schilderungen epiſch über das Maaß dieſer Eigenſchaft hinaus, wie wir ſie
ebenfalls der Romanze zuerkannten, ja auch über das Maaß des Epos,
nämlich mit zu fühlbarer rhetoriſcher, declamatoriſcher Haltung; ein Ver-
hältniß der Kräfte, mit dem man ſich, ſo oft der Mangel des Naiven,
ächt Liederartigen ſich bis zum Ueberdruß aufzudrängen droht, doch immer
wieder verſöhnt durch die Entſchiedenheit des Einen Grundzugs, der drama-
tiſchen Energie, die ganz den wirklich dramatiſchen Dichter ankündigt.
Wir haben bis hieher abgeſehen von den Begriffsbeſtimmungen, welche
Echtermeyer in der Abh.: „Unſere Balladen- und Romanzenpoeſie“ (Hall.
Jahrb. 1839, N. 96 ff.) gegeben hat, um weder unſere Entwicklung, noch
die Beurtheilung zu verwirren. Er geht vom Inhalt aus und erklärt die
Ballade für die Form, worin der noch natürlich beſtimmte Volksgeiſt, der
Geiſt in ſeiner Naturbedingtheit ſich ausſpreche, wie er entweder den Ge-
walten der äußeren Natur unterliegt, oder ſeinen eigenen dunkeln Trieben
anheimfällt und von ihnen verſchlungen wird, — die Nachtſeite des Geiſtes,
die denn eine düſtere Stimmung und eine tragiſche Wendung begründe;
die Romanze dagegen ſoll, nicht mehr an einen beſtimmten Volksgeiſt ge-
bunden, der rein menſchlichen Bildung angehörig, das ideale Selbſtbewußt-
ſein, die freie ſittliche Macht des Geiſtes verherrlichen. Daraus leitet er
dann den Styl-Unterſchied ab und faßt ihn ähnlich unſerer Beſtimmung.
Es ſcheint dieß eine klare und einleuchtende Entſcheidung der ſchwierigen
Frage; ſieht man aber näher zu, ſo wird man finden, daß dieſer Schein
täuſcht. Für’s Erſte wird nicht Alles eingetheilt, was einzutheilen iſt:
wohin ſoll die ganze große Welt des Gemüthslebens fallen, die weder der
düſtern Nachtſeite des unfreien, noch dem vollen Tage des ſittlich ſelbſt-
bewußten und wollenden Geiſtes angehört? Vor Allem die Welt der Liebe,
ſofern ſie nicht in ideales Denken erhoben und doch in ſich frei, ſchön und
heiter iſt? Der nordiſche Styl wird ſie dunkel, ahnungsvoll, der ſüdliche
wird ſie licht und klar behandeln, dort wird eine Ballade, hier eine Romanze
[1366] entſtehen. Der Styl-Unterſchied, wie er hiſtoriſch auf Nationalitäten zurück-
führt, iſt es alſo, was entſcheidet, nicht der Inhalt. Für’s Zweite: es iſt
umgekehrt in dem Style, welcher mit herkömmlicher nationaler Beziehung
den Namen der Romanze führt, viel finſter blutiger, nächtlicher Stoff
behandelt und man kann nur ſagen, der dunkle, liederartig bewegte Styl
verbinde ſich lieber und naturgemäßer dem düſtern Inhalte, der lichte dem
klaren und freien, wie denn dieß auch der Stimmungs-Unterſchied der
Völker iſt, von denen beide Style ausgiengen, es ſei dieß aber nicht noth-
wendig. Auch ganz ſittlich lichter Inhalt kann in Balladenſtyl behandelt
werden; der Ton in Göthe’s Gott und Bajadere hat ſo ganz den tief er-
zitternden Charakter, daß wir dieſes Gedicht nimmermehr Romanze nennen
könnten, und der Inhalt gehört doch unzweifelhaft der ſittlichen Lichtwelt an.
Echtermayer hat, dieß iſt die dritte und wichtigſte Einwendung, bei dem,
was er als Inhalt der Romanze beſtimmt, durchaus Schiller’s philoſophiſch
gebildetes Bewußtſein im Auge gehabt und ſtoffartig auf den ethiſchen
Werth der Idee der Freiheit geſehen. Das Wahre iſt, daß, je durchſichtiger
ſolches ſittliches Bewußtſein, deſto ſchwerer es wird, ſowohl eine ächte
Romanze, als eine ächte Ballade zu dichten. Das Gefühl iſt in der
Romanze heller, als in der Ballade, aber nicht ſo gedankenhaft durch-
arbeitet. Für den äſthetiſchen Maaßſtab iſt diejenige Bildung des modernen
Dichters die höchſte, die von dem zu hellen Lichte ihres Selbſtbewußtſeins
ſich in die dämmernden Stimmungen umſetzen kann, aus welchen die ächte
Romanze, noch mehr die ächte Ballade hervorgeht. Die bedeutendſten
Producte der neueren erzählenden Poeſie ſind Balladen, vor Allem die
Göthe’ſchen. — Echtermayer hat eine dritte, mittlere Form aufgeſtellt, die
er Mähre oder Rhapſodie nennt und welcher er als Inhalt die Heldenwelt
zuweist, wie ſich durch ſie die Völker in energiſcher That von ihrer erſten
dunkeln Unmittelbarkeit befreien: eine urſprüngliche Kraft, die ſchon in die
Licht- und Tagesſeite des Geiſtes, in die Geſchichte, hereinragt. Uhland’s
vaterländiſche Balladen namentlich würden in dieſe Gattung fallen und es
erſcheint zweckmäßig, ſie aufzuſtellen.
4. Es verſteht ſich, daß die hier aufgeführten Formen, das rein ob-
jective Sitten- und Naturbild ausgenommen, ihren urſprünglichen Boden
recht in der Volkspoeſie haben, vor Allem aber Ballade und Romanze.
Hier vorzüglich iſt die Stelle, wo die Kunſtpoeſie neues, ächt lyriſches Leben
aus ihr getrunken hat. Nachdem aber dieſe Verjüngung vor ſich gegangen
war, mußte eine epiſch lyriſche Kunſtpoeſie möglich werden, die den ächt
lyriſchen Ton einhält und doch in der ganzen Behandlung zeigt, daß eben-
ſoſehr die claſſiſche Bildung auf uns eingewirkt hat, die aber darum nicht
zu der allzu lichten und glänzenden Beredtſamkeit fortgeht, welche einmal
unlyriſch iſt; dieſe Art epiſch lyriſcher Gedichte entzieht ſich am meiſten der
[1367] Eintheilung Ballade und Romanze und warnt uns, Alles eintheilen zu
wollen. Man hat unſern in dieſen Formen ſo reichen Uhland als den
Claſſiker der Romantik bezeichnet; am Marke des Volkslieds genährt, eine
gediegene, einfach körnige Natur, die ſich doch mit offener Seele den ver-
ſchiedenen Stimmungen der nord- und ſüdfranzöſiſchen, ſpaniſchen Romantik,
des claſſiſchen Alterthums, wie der dunkleren, härteren, biderben altdeutſchen
Welt öffnet, führt er überall einen ſcharfen Meiſel, der jedem Geſteine klar
beſtimmte, reine Geſtalt gibt. In der Deutlichkeit des Umriſſes, welche
auch ein ahnungsvoll dunkler Inhalt hiedurch erhält, wird denn die Grenze
zwiſchen Ballade und Romanze, jetzt abgeſehen von jener ſubjectiveren
Nebenform der letzteren, der wir einen Theil dieſer Gedichte bereits zuge-
wieſen haben, nothwendig ungewiß werden. Da, wo mehr Volksliedston
iſt, kann kein Zweifel ſein; aber wohin ſollen wir z. B. Ver sacrum zählen
und mit ihm die ganze Welt epiſch lyriſcher Gedichte, die im Inhalte bald
finſter, bald heiter, im Ton und Gang bald dramatiſch bewegter, bald milder
und heller fließend, doch in der ganzen Form zu claſſiſch durchgebildet ſind,
zu ſichtbar auf claſſiſchem Kothurne gehen, um unter Begriffe eingereiht zu
werden, die doch immer an die Naivetät der Volkspoeſie erinnern? Es
bleibt alſo dabei, daß hier keine zu erſchöpfender Eintheilung ausreichende
Terminologie beſteht.
§. 894.
Die Lyrik der Betrachtung ſteht auf dem Punct einer beginnenden1.
Auflöſung des reinen Gefühlszuſtands, worin derſelbe in eine beſchauende und
beſchaute Seite auseinandergeht, die in ein Wechſelſpiel treten, in welchem die
Empfindung mit verhüllter oder ausgeſprochener Wehmuth ihrer eben noch warmen
und eben verkühlenden Schönheit nachblickt und näher oder entfernter bereits
den denkenden Geiſt durchſcheinen läßt. Unter den claſſiſchen Formen gehört
hieher die Elegie, aus dem Oriente in verſchiedener Beziehung die indiſche und
die kunſtreichen Bildungen der muhamedaniſchen Lyrik, aus der romaniſchen
Literatur die verſchlungenen Strophen des Sonetts u. a. An der Grenze der2.
Proſa liegt als beſondere Form das Epigramm und mit ihm eine große,
unbeſtimmte Maſſe, die ſich unter dem Namen der ſchönen Gedankenpoeſie zu-
ſammenfaſſen läßt und namentlich der modernen Zeit und der deutſchen Poeſie
angehört.
1. Wir könnten das Weſen dieſer Form auch als eine bis an die
Grenze der äſthetiſchen Einheit fortſchreitende Entbindung des Gnomiſchen
bezeichnen, wenn wir nicht eben hier der gnomiſchen Poeſie im engeren
Sinn uns näherten, die wir doch als beſondere Form in den Anhang vom
Didaktiſchen verweiſen und mit welcher wir das vorliegende Gebiet nicht
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 88
[1368]verwechſelt ſehen möchten. Um was es ſich handelt, zeigt ſogleich die Elegie.
Es iſt bekannt, daß man unter ihr nach der antiken Bedeutung des Worts
durchaus nicht blos ein Lied der Wehmuth und Klage zu verſtehen hat,
daß dieſe erſte Form, in welcher ſich bei den Joniern die lyriſche aus der
epiſchen Poeſie herausbildete, anfänglich politiſchen und kriegeriſchen Inhalts
war, daß ſie denſelben, auch nachdem ſie ſich anderem zugewandt, nicht ſo
bald aufgab. Allerdings darf man behaupten, daß es Zeichen eines un-
reifen Zuſtandes war, wenn Kallinos und Tyrtäos ſo ſtarken Inhalt in
ſolchem Gefäße niederlegten, daß dieß nur geſchah, weil es überhaupt die erſte
lyriſche Form war, die man gefunden und in die nun zuerſt der noch ganz
von heroiſch mannhaften Gefühlen geſchwellte, noch wenig lyriſch erweichte
Sinn ſich warf; denn indem das clegiſche Versmaaß dem gewaltig und
feierlich vorſtrebenden Hexameter den zurückweichenden, verathmenden, Grenze
ſetzenden, abſchließenden Pentameter hinzufügte, war auch für den Inhalt
ein ſanftes Nachlaſſen gefordert, der verhauchende Vers ſollte das Ver-
hauchen der Seelenbewegung darſtellen. Es liegt in dieſer Bewegungs-
weiſe ein Abſchiednehmen von der Empfindung, ſie iſt eben noch warm
und kühlt ſich eben ab. Dieß iſt das eigentliche Weſen der Elegie; Weh-
muth und Trauer in beſtimmtem Sinn iſt damit zunächſt noch gar nicht
ausgeſagt, denn dieß wäre ein Abſchiednehmen vom Inhalte der Empfin-
dung, vom ſchönen Gegenſtande. Dagegen iſt allerdings zunächſt eine
ſtärkere Entbindung des gedankenhaften Elements hiemit gegeben, denn
Auskühlung des Gefühls und Uebergang deſſelben in das denkende Be-
trachten, Beruhigung durch allgemeine Wahrheiten fallen nothwendig zu-
ſammen. So diente denn das elegiſche Maaß, das Diſtichon, früher namentlich
bei Solon, überhaupt aber jederzeit auch dem eigentlich Gnomiſchen, dem
Ausſprechen allgemein gültiger Lebensweisheit. Aber auch dieß directe
Lehren entſpricht ſeinem wahren Charakter nicht und ſoll durch die Behaup-
tung, daß das Austönen des Gefühls ein Aufſteigen des Gedankenmäßigen
ſei, vielmehr nur ein erſtes Durchſcheinen des Letzteren gerechtfertigt werden.
Die Elegie begriff ihre Bedeutung erſt, als ſie ſich ſeit Archilochos in die
ſchönen Empfindungen des von Seele durchdrungenen Lebensgenuſſes, auf
Wein und Liebe und jede andere Stimmung warf, in welcher die Gegen-
wart, der Augenblick im Schimmer des Idealen aufglänzt, und ſie konnte
noch einmal zu voller Blüthe erwachſen, als im Verfall des öffentlichen
Lebens die römiſche Welt das kurze Glück im leidenſchaftlichen, ſubjectiv
entzündeteren Genuſſe des ſchönen Momentes ſuchte (vergl. §. 445, 1.).
So heiß nun aber das Gefühl in dieſen Stimmungen erglühen mag, ſo
bringt doch eben jener Charakter des Rhythmus, das regelmäßige Abſinken
nach dem ſteigenden Hexameter, einen Ton des Verglühens nothwendig mit
ſich; das Gemüth iſt noch ganz in ſeinen Zuſtand verſenkt und beginnt
[1369] doch ſchon, ihm zuzuſehen, frei über ihm zu ſchweben; der Liederdichter fühlt,
der elegiſche beſpricht, was er fühlt; das Gefühl mag noch ſo heiß ſein,
es verdunſtet in der Elegie eben im Aufſprühen. Dieß führt uns denn
auf den Ausgangspunct und zu dem Begriffe der Wehmuth und Trauer
zurück. Nur im unbeſtimmteren Sinne des Worts liegt ein Zug derſelben
zunächſt in jenem Abſchiednehmen von der Empfindung; es erhellt aber,
wie nahe der Schritt gelegt iſt, in den beſtimmteren Ton der Klage über-
zugehen, der nun ein Abſchiednehmen vom ſchönen Gegenſtand ausſpricht.
Ich blicke auf meine Empfindung wie auf eine flüchtige, entſchwindende:
ſo wird mir ja die Empfindung ſelbſt zum ſchönen Gegenſtande, an dem
ich erfahre, daß die Momente der höchſten Lebenserregung kurz und ver-
gänglich ſind, und es iſt nur natürlich, wenn ich nun von der Empfindung
den Gegenſtand und Inhalt derſelben unterſcheide und die Flüchtigkeit des
Glückes auch objectiv mit entſchiedener Stimmung der Trauer betone. Dann
wird die Elegie zu dem, was man ſich in der neueren Zeit gewöhnlich
unter ihr vorſtellt, zum Gedichte der Klage um verlorenes ſchönes Gut des
Lebens, ſie iſt es gerne, und ſie iſt es ja auch ſchon im griechiſchen Alter-
thum geweſen, aber jener Klang der Wehmuth durchzieht ſie wie ein Ton
der Aeolsharfe, auch wenn ſie ganz nur von Freude und glücklicher Gegen-
wart ſingt. Es ergibt ſich nun, daß dieſer Form aus dem tieferen Grunde
die Stelle an der nahen Grenze der ungemiſchten Poeſie anzuweiſen iſt,
weil ſie eigentlich weiß, daß das Ideal nur momentan in das Leben ein-
tritt. Der ſchöne Moment, auf den ſie ſelbſt mitten in ſeiner Feier ſchon
wie auf einen fliehenden zurückblickt, iſt in Wahrheit nichts Anderes, als
die ideale Verklärung des Lebens, welche in der empiriſchen Wirklichkeit
ohne den Zauber der Kunſt nur ſcheinbar und raſch entſchwindend eintritt,
denn dieß iſt ja der Charakter alles Naturſchönen, welche aber von der
Kunſt bleibend vollzogen wird; die Elegie ſteht alſo nicht rein inmitten
der idealen Phantaſie, ſondern ſehnt ſich von dem Standpuncte der Wirk-
lichkeit nach dem Ideale, welches dem ungetheilten äſthetiſch idealen Be-
wußtſein ein ſtetiges Dieſſeits iſt, als nach einem Jenſeits, das nur vorüber-
gehendes Dieſſeits wird, und trauert dem flüchtigen Eintritte deſſelben nach.
Sie trauert eigentlich um die ideale Phantaſie ſelbſt; eine Poeſie, die ſo
eben nicht mehr ganze Poeſie iſt, trauert um die ganze. Schiller ſtellt in
der Abhandlung über naive und ſentimentale Dichtkunſt die Elegie als eine
Form der letzteren auf; was er aber ſentimentale Dichtkunſt nennt, iſt die-
jenige, welche das Wirkliche und die Idee nur aufeinander bezieht, und
ſo geſteht er damit, daß die Elegie den einen Fuß ſchon auf der Grenze
der [Poeſie] hat. Er ſelbſt hat in den Gedichten: die Ideale und: das Ideal
und das Leben dieß geradezu beſtätigt und die Elegie im Grunde verrathen:
im erſteren, indem er ſich zum Schluſſe rein proſaiſch mit der Befriedigung
88*
[1370]tröſtet, die in der Beſchäftigung liegt, im zweiten, indem er die wahre Er-
hebung aus den Enttäuſchungen des Lebens im Himmel der Phantaſie
ſucht, den uns die volle Poeſie, ohne ihr Geheimniß zu geſtehen, durch die
That auf die Erde ſenken ſoll. Die ächte Elegie ſchwatzt aber doch nicht
ſo ihr Geheimniß aus, weiß es ſelbſt kaum und ihre Betrachtungen decken
in aller Trauer über die Flüchtigkeit des Schönen nicht ſo ausdrücklich die
Kluft auf, welche die ganze und volle Kunſt ſchweigend ausfüllt; das heißt
von der Phantaſie ſprechen, ſtatt in Phantaſie thätig ſein. Doch wir ver-
danken Schiller auch wahre Elegieen. Pompeji und Herculanum, der Spa-
ziergang gehören zu den ſchönſten Erſcheinungen dieſes Gebiets und führen
verglichen mit Göthe’s herrlichen römiſchen Elegien, auf einen Unterſchied,
den wir noch zu berühren haben. Dort breitet ſich das Ideale in dem
Bilde der verſchütteten Städte, das wunderbar wieder an den Tag der Ge-
genwart getreten, in den Landſchaftbildern, an denen der Spaziergänger ſich
fortbewegt, als objectivere Anſchauung vor dem betrachtend fühlenden Geiſt
aus; hier blickt der Dichter auf perſönliches Glück zurück, das ſich wohl
wie eine Roſe an die Trümmer der großen Vergangenheit der alten Welt-
ſtadt ſchlingt, wo einſt Amor, der dem Liebenden die Lampe ſchürt, ſeinen
Triumvirn denſelben Dienſt gethan hat, wie jetzt dem nordiſchen Gaſte,
das aber weſentlich ſein Genuß, ſein ſubjectiv Erlebtes iſt. Es treten
alſo eine mehr objectiv epiſche und eine mehr ſubjectiv lyriſche Form einander
gegenüber. — Das antike Versmaaß der Elegie iſt hier beibehalten; im
Allgemeinen folgt übrigens eine Nöthigung hiezu aus dem nicht, was über
deſſen Charakter geſagt iſt; die modernen Strophenbildungen haben der
abſinkenden und austönenden Formen genug, um dem elegiſchen Stimmungs-
charakter ſeinen Ausdruck zu geben. — Nicht immer iſt es leicht, das Ele-
giſche vom Liedartigen zu unterſcheiden; weſentlich iſt, daß man immer den
betrachtenden Charakter in’s Auge faſſe, wehmüthiger Ton allein, ſelbſt
ausgedrückter Gedanke wehmüthigen Inhalts macht noch keine Elegie, wenn
er nur kurz hervorbricht, keine Entwicklung hat. Uhland’s „Kapelle“ z. B.
iſt ein Lied, keine Elegie.
Es kann Widerſpruch erregen, daß wir hier die lyriſche Poeſie Indiens
aufnehmen. Sie verſenkt ſich mit berauſchter Wonne in eine Natur, deren
Ueppigkeit alle Sinnen umſtrickt, in das Entzücken der Liebe, eine ſeelen-
volle Sinnlichkeit, fern von der tieferen Sammlung, welche dem betrach-
tenden Momente, das wir doch in dieſer Dicht-Art für ſo weſentlich halten,
eine Entfaltung zuließe; ſie hat in ihrer trunkenen Verſenkung einen pri-
mitiven Charakter, wie alles Orientaliſche, und ſcheint daher mindeſtens
vor die claſſiſche Elegie geſtellt werden zu müſſen. Allein in dieſer Trunken-
heit wohnt doch eine ſelige Müde, ein Hinſchwinden in die Naturtiefen,
ein ſüßes Krankſein vor lauter Luſt, die in ihrer Schönheit ſich badet und
[1371] wohl fühlt, daß ſie zu ſchön iſt, um zu bleiben. Der elegiſche Ton liegt
daher im Ganzen, auch wo er ſich nicht direct ausſpricht, er tritt aber
doch auch wirklich und ſogar herrſchend hervor und kann als das Bezeich-
nende der indiſchen Lyrik angeſehen werden. Ihre ſchönſten Erzeugniſſe
ſind eigentlich elegiſch; das herrliche Gedicht: die Jahreszeiten iſt mit Mah-
nungen an die Flüchtigkeit des ſchönen Augenblicks durchzogen; ſehnſucht-
volle Liebesklage iſt der beliebteſte Ton, der ſich mit dem wunderbar träu-
meriſchen Naturgefühle vereinigt und ſeinen ergreifendſten, reichſten Ausdruck
in dem Wolkenboten von Kalidaſas gefunden hat. Mit dem Elegiſchen
tief verwandt iſt das Idylliſche, wie ſich aus der Erörterung deſſelben
(§. 874. 883) ergibt; man kann es die epiſche Elegie nennen, denn indem
der idylliſche Dichter das ſchöne Bild naturvollen Menſchenlebens in der
ländlichen Stille aufſuchen muß, geſteht er deſſen Flüchtigkeit; das Ideal
iſt noch da, aber nur eben noch da, wird eben noch ferner vom großen
Menſchengetümmel aufgefunden und erhaſcht. Mit richtigem Sinne ſtellt
daher Schiller (a. a. O.) Elegie und Idylle nebeneinander. So knüpft
ſich denn das Elegiſche an ein idylliſches Motiv in dem anmuthvollen
indiſchen Gedichte Gitagowinda, das die Liebe des Kriſhna zu der Hirtinn
Radha beſingt. Es fehlt jedoch in dieſer Poeſie auch an Sprüchen der
Erfahrung und Lebensweisheit nicht, die dem Elemente der Betrachtung,
freilich ohne die ethiſche Sammlung des claſſiſchen Occidents, noch mehr
ohne die concentrirte Innerlichkeit der neueren germaniſchen Zeit, im elegi-
ſchen Elemente ſein Recht ſichern. Voranſtellen aber mußten wir hier die
Form, die am deutlichſten den Begriff darſtellt. — Trotz dem großen Sprunge
iſt es nur natürlich, an die Seite der indiſchen die muhamedaniſche
Lyrik zu ziehen, wie ſie im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ihre
höchſte Blüthe in Perſien getrieben hat. Der Pantheiſmus, der in der
indiſchen Poeſie noch trunkenes Naturgefühl war, iſt hier durch reiche Ver-
mittlungswege ſo durchgebildet, daß er ſich mit vollem und ausgeſprochenem
myſtiſchem Bewußtſein in den Genuß des Einzelnen verſenken kann; Dſchel-
aleddin Rumi ſtellt die reine Myſtik, Saadi den Uebergang zur Einlebung
derſelben in das Gefühl des ſinnlichen Augenblicks, Hafis die reine und
ungetheilte Verſenkung dar. Hier hat ſich das Gemüth von jeder Feſſel
der Scheinwelt losgemacht, in das ewig Eine hingegeben und iſt völlig
frei von jeder beſonderen Beſtimmtheit, heiter in der Bedürfnißloſigkeit des
Derwiſch, gepäcklos wie Diogenes. Das ewig Eine iſt aber auch in jedem
Wirklichen gegenwärtig; dem freien Gemüthe ſteht es ganz frei, ſich in eine
Form ſeiner Realität, wie in ſeine geſtaltloſe Unendlichkeit, aufzulöſen, und
es wird diejenige Form wählen, welche durch Hingabe des Ich an ein
zweites oder an die Tiefen des Naturgeiſtes ein ſinnliches Symbol deſſelben
Wegs iſt, wie er in Aſceſe und Speculation vollzogen wird. In ſeeligem
[1372] Liebesrauſche gibt ſich nun der Dichter unter Wohlgerüchen von Veilchen,
Jasmin, Roſen und Moſchus der Geliebten, in deren Wangengrübchen der
Weltengeiſt gefallen iſt, dem Weine hin, in deſſen Feuer das ewige Ge-
heimniß glüht; er iſt aber in dieſer Hingebung ganz frei, denn das Welt-
trunkene Gemüth iſt daſſelbe, das ſich auch rein geiſtig mit dem Unendlichen
verſöhnt und in der Reinheit dieſer Verſöhnung nur von jedem Dogma
und Sektenvorurtheil befreit hat; er taucht ſich ganz in den Genuß und
ſchwebt doch frei und heiter über ihm und er ſpricht mit hellem Bewußt-
ſein die Einheit der beiden Wege des Aufgehens in der Unendlichkeit überall
und in immer neuen Wendungen aus. Dieſe Form iſt daher in aller un-
geheuchelten Fülle der Sinnlichkeit doch zugleich betrachtend, das Gefühl
ſelbſt löst ſich hier beſonders ſichtbar in die zwei Seiten des Seins in der
Sache und der heiteren Beſchauung dieſes Seins auf; es iſt dieß durchaus
elegiſch und man wird auch an die Flüchtigkeit des ſchönen Augenblicks
oft genug ſo ausdrücklich gemahnt, als es die Elegie im engeren Sinne
des Worts nur thun kann. Dieſem Spiele mit der ſtetigen Wiederkehr
zum myſtiſchen Centrum entſpricht das reiche Formenſpiel und namentlich
das Ghaſel mit ſeinem durchgehenden Reimbande. In den einzelnen
Mitteln iſt dieſe Dichtung die vorherrſchend bilderreiche; ſie bedarf es aber
auch, denn ſie dreht ſich ſchließlich doch immer um Eines. Göthe’s heiteres
Greiſenalter hat in der entſprechenden Stimmung des freien Schwebens
und Betrachtens in dieſen Formen gedichtet und ſie noch einmal zur Wahr-
heit gemacht.
Auch der weitere Sprung zu der ſubjectiven Lyrik der romaniſchen
Völker läßt ſich unſchwer rechtfertigen. Hier iſt eine Welt der Innigkeit
aufgegangen, wie ſie der Orient und das Alterthum nicht kannte, der pla-
toniſche Idealiſmus und die Myſtik fließt als Element in den ethiſch ge-
ſammelten occidentaliſchen Geiſt ein und vereinigt ſich mit einem Volks-
naturell, das doch flüſſiger, weltlich freier, ſinnlich biegſamer iſt, als der
noch tiefere, aber weltloſere, härter in ſich gedrängte germaniſche Charakter.
Allein dieſer Genius theilt auch mit dem antiken die Eigenſchaft, daß ein
großer Theil der innern Wärme nach der Seite der Form hindrängt, um
ſich hier als eine Schönheit für ſich niederzuſchlagen; dieß iſt nun natürlich
in der urſprünglichen Art der Stimmung geſetzt und wirkt ebenſoſehr in der
Ausführung wieder auf ſie zurück: die reich verſchlungenen Formen des
Sonetts, der Canzone, Terzine, Seſtine, der achtzeiligen Stanze, des Trio-
letts, Rondeau’s, Madrigal’s u. ſ. w. ſtellen ein Spiel der Verſchiebungen
dar wie mauriſche Arabesken; das Gefühl des Dichters kann in der Künſt-
lichkeit dieſes Spiels die Unmittelbarkeit nicht bewahren, ſondern wird noth-
wendig zu einem Witze der Empfindung, wiewohl im guten und ernſten
Sinne des Worts; er ſchaukelt ſich wie ein geſchickter Ruderer mit kunſt-
[1373] fertigen Wendungen auf ihren Wellen und ſieht mit reiner Betrachtung
ihrem plätſchernden Wellenſpiele zu. Es ſind vorzüglich die Italiener, die
uns dieſe Formen gebracht haben, und es verhält ſich wie mit der Herr-
ſchaft der melodiſchen Schönheit bei relativ verminderter Ausdruckstiefe in
ihrer Muſik. Das deutſche Gemüth wird ſich aber nie ganz frei und heimiſch
in ihnen bewegen.
2. Wir können in der unbeſtimmten Maſſe, die wir enger an die Grenze
der Proſa ſchieben, nur Eine benannte Form aufführen: das Epigramm.
Wenn alles Lyriſche aus einer Situation entſpringen ſoll, ſo gilt dieß vom
Epigramm in dem ganz ſpeziellen Sinne, daß es auf ein einzelnes äußeres
Object gerichtet iſt, dem der Dichter gegenübertritt, das er aber nicht in
das rein innere Leben des Gemüths umſetzt, ſondern nur ſo weit auf das
Subjective bezieht, daß er einen ſchönen Gedanken darüber ausſpricht,
und zwar ohne weitere Entwicklung, in ſchlagender Kürze. So iſt die
Lyrik an ihrer Grenze noch einmal ganz punctuell, aber jetzt nicht mehr
rein empfindend und nicht mehr in den Ring der beſonderen Stimmung
die Welt faſſend, ſondern Einzelnes durch einzelne Gedankenlichter beleuch-
tend; es ſind die zerſtreuten erkaltenden Funken der Flamme, welche die
volle Lyrik in gedrängter Wärme zuſammenhält; der Prozeß der Verklärung
der Welt im Subjecte hält eine Nach-ärndte, geht weit und breit in der
Welt um und wirft auf die einzelnen Dinge, ohne ihre Objectivität auf-
zuheben, ſeine geiſtigen Blitze. Wir haben den Ausdruck gebraucht: ſchöner
Gedanke. Dieß heißt nicht nur ein Gedanke von reinem, edlem Gehalte,
ſondern ein ſolcher, der im idealen Gefühls-Element empfangen und ge-
eignet iſt, von ihm umfangen zu bleiben. Wir ſchließen damit das Epi-
gramm, das eine ſatyriſche Spitze hat, vom gegenwärtigen Zuſammenhang
aus; es gehört mit allem Satyriſchen in den Anhang. Das Gefühls-
Element hat ſeinen Anhalt darin, daß das Epigramm ein gegebenes Object
zum unmittelbaren Ausgangspunct hat, das geeignet ſein muß, unmittelbar
in einen Stimmungszuſtand zu verſetzen, aus dem ſich eine bedeutende Be-
trachtung entwickelt. Es iſt urſprünglich beſtimmt, dem Gegenſtand als Auf-
ſchrift zu dienen, der alſo ein ſinnlich gegebener iſt, dieſes Band löst ſich,
es genügt, daß der Gegenſtand der Vorſtellung gegeben ſei, wenn er nur
den Charakter eines vorgefundenen, Erlebten hat, woran ſich tiefe Lebensbe-
ziehungen knüpfen. Daraus ergibt ſich die Art der Compoſition im Epi-
gramm: es erregt zuerſt durch Nennung des Objects, Anlaſſes eine kurze
Erwartung, dann läßt es in raſcher Wendung den Aufſchluß, die Pointe
hervorſpringen. Der Uebergang in die ſatyriſch witzige Form liegt daher
nahe genug, man kann aber von einem Witze des ſchönen Gedankens reden
und dabei die Satyre noch völlig ausſchließen. Wir verweiſen auf die
unendlichen ſchönen Epigramme der Alten, unter den Neueren nur auf einen
[1374] großen Theil von Göthe’s und Schiller’s Xenien, auf Uhland’s Sinnge-
dichte, zu denen er zwei Strophen nicht rechnet, die doch zu den ſchönſten
Epigrammen aller Zeit gehören: „Verſpätetes Hochzeitlied“ mit dem Schluſſe:
des ſchönſten Glückes Schimmer erglänzt euch eben dann, wenn man euch
jetzt und immer ein Brautlied ſingen kann. — Das Epigramm nun iſt
der kleine benannte Punct in einer ganzen weiten Welt von Dichtungen,
die keinen Namen haben und die wir als Poeſie des ſchönen Gedankens
bezeichnen; ſie verhalten ſich zum Epigramme wie das Ausgeführte zum
Zuſammengezogenen. Es iſt die ſchwer zu beſtimmende Form, die auch
Hegel (a. a. O. S. 465) zuletzt, aber gewiß unrichtig als eine Art des
Liedes aufführt. Er weist auf Schiller hin, deſſen Gedichte im Ganzen
und Großen eine eigentlich normale [Erſcheinung] deſſen ſind, was wir ſchöne
Gedankenpoeſie nennen; die neuere, namentlich deutſche Literatur, hat aber
überhaupt in weiter Ausdehnung dieß Feld angebaut, und Namen wie
G. Pfitzer, Geibel ſind faſt ausſchließlich nur hier zu treffen. Der moderne
Geiſt hat ſeinen unendlich reichen, vielſeitigen und verwickelten Inhalt in
das philoſophiſche Bewußtſein erhoben, das ſich auf unzähligen Wegen der
allgemeinen Bildung mitgetheilt hat; ſo iſt dieſes längſt eine untrennbare
Form ſeines Weſens und wird durch ſeine Gegenſätze und Kämpfe ſelbſt
wieder zu einem Theile ſeines realen Lebens, ſeiner Erfahrungsmaſſe. Un-
möglich kann eine ſolche von Gedanken durchſäuerte Welt nach ihrem Umfang
und ihrer Tiefe in die liederartige Form der Unmittelbarkeit umgeſetzt werden;
viel eher noch in den hymniſchen Ton, von dem ſchon oben geſagt iſt, daß
er ſich mit der Poeſie der Betrachtung berühre. Der Trotz des freien
Menſchengeiſtes iſt in Göthe’s Prometheus, der Werth der Phantaſie in:
„Meine Göttinn,“ die Kleinheit des Menſchen gegen das Unendliche in
„Grenzen der Menſchheit,“ Edelmuth und Wohlwollen als höchſte Zierde
des Menſchen in „das Göttliche“ wirklich ſo ganz in hoch gehender reiner
Stimmung ausgeſprochen, daß der ächt lyriſche Hymnenton erklingt. Es
iſt aber ſolche Umſetzung gedankenmäßigen Gehaltes nur dem höchſten Ta-
lente, ſeltenen Augenblicken und einem kleinen Theile der unabſehlichen Ge-
dankenwelt gegönnt. Es muß eine Poeſie geben, welche den Gedanken
merklicher in Gedankenform ausſpricht, aber doch noch auf ſo ſtarker Grund-
lage pathetiſcher Stimmung, daß wir ſie noch nicht zum Didaktiſchen zählen
dürfen. Sie wird aller hohen Anerkennung werth ſein, wenn ſie ihre
Stellung an der Grenze der Poeſie, wenn ſie ihren Glanz, ihren rhetoriſch
declamatoriſchen Styl als einen Schmuck zugeſteht, deſſen ſie um ihres innern
Mangels willen bedarf. Die Grenze zwiſchen dem, was dem ächt Poetiſchen
näher und was ihm ferner liegt, wird hier ſchwebend und iſt nicht weiter
zu verfolgen. Schiller bleibt, wie geſagt, Vorbild und reinſtes Muſter.
[1375]
γ. Die dramatiſche Dichtung.
1. Das Weſen derſelben.
§. 895.
Wie die Dichtkunſt überhaupt die gegenſtändliche Welt, nachdem dieſelbe
ganz in das ſubjective Empfindungsleben der Muſik eingegangen, wieder ent-
faltet, ſo hat ſie in ihren Zweigen die Subjectivität der Lyrik, welche dem
Standpuncte der Muſik entſpricht, wieder zur Objectivität des Epos zu er-
ſchließen und hiedurch dieſe Gegenſätze in einer dritten Form zuſammenzufaſſen,
worin, wie in dem Ganzen der Poeſie das geſammte Syſtem der übrigen Künſte,
ſo ſie ſelbſt innerhalb ihrer ſich wiederholt und concentrirt.
Der Fortgang begründet ſich wie jener von der Muſik zu der Poeſie,
aber er ergibt ſich einfacher, leichter: denn dort gilt es den langen Schritt
zu einer neuen Kunſt, der ſeinen Anſatz im ganzen Syſtem der Künſte, in
der Nothwendigkeit, daß die Objectivität der bildenden Kunſt aus der ſubjec-
tiven Innerlichkeit der Muſik ſich wiederherſtelle, ohne ſie zu verlieren, endlich
in dem Grundgeſetze nehmen mußte, daß der Lebensgehalt als ſichtbarer
Körper dem Auge (jetzt dem inneren) erſcheine; hier dagegen gilt es nur
die Wiederherſtellung dieſer objectiven Welt innerhalb einer Kunſt, welche
urſprünglich dieſen Boden gewonnen, welche ihn verlaſſen hat, um noch
einmal wie die Muſik, aber auf neuer Stufe, die Welt der Gegenſtände in
die Welt der Subjectivität zurücknehmen, ſie ganz mit dieſer zu durcharbeiten
und zu durchdringen, welche ihn aber mit ganz einleuchtender Nothwendigkeit
wieder einnehmen muß. Und die dringendere Nähe dieſer Nothwendigkeit
hat ſich ja in der Lyrik ſelbſt dadurch überall angekündigt, daß die Welt
der ſichtbaren Dinge und ihrer bewußten Auffaſſung nicht blos geahnt, wie
in der Muſik, an ihrer Schwelle ſchwebte, ſondern die Empfindung immer
nach ihr greifen mußte, um an ſie gelehnt ſich auszuſprechen; ja bis zur
Darſtellung einer Handlung ſchritt ſie fort und wir fanden die Keime des
Drama in der erzählenden Form der Lyrik. Wenn nun, was in der Lyrik
gewonnen iſt, dieſe ſubjective Durchdringung der Welt, ſich vereinigt mit
dem, was das Epos durch ſeine Objectivität voraus hat, wenn die von
dem Welt-Inhalt erfüllte Bruſt dieſen wieder entläßt, daß er ſich als ge-
genſtändliches, aber aus dem Innerſten des Geiſtes gebornes Bild ausbreite,
[1376] ſo kehrt der Kreis der Poeſie ganz gefüllt in ſich zurück, wie in der Poeſie
überhaupt der Kreis der Kunſt und mit ihm der ganze Kreis des Syſtems
der Aeſthetik: ein Kreis im Kreiſe, eine Verarbeitung der Welt in die Form,
die alle Weiſen und Seiten erſchöpft, ihre Linie immer weiter gezogen und,
was ſie umfaßt, immer tiefer und tiefer gegründet und verarbeitet hat und
nun beruhigt nicht weiter kann und will, ſondern in ſich ſelbſt zurückläuft.
Die Poeſie iſt die Kunſt der Künſte; im Epos wiederholt ſich die bildende
Kunſt und analog das Naturſchöne, in der Lyrik die Muſik und analog
die Phantaſie, im Drama die Poeſie ſelbſt und analog die Kunſt: das
Drama iſt die Poeſie der Poeſie.
§. 896.
Das Lyriſche und Epiſche, Subjective und Objective kann ſich nur ſo ver-
einigen, daß es ſich zugleich weſentlich verändert. Der Dichter ſpricht durch
Perſonen, in die er ſich verwandelt und die er gegenwärtig vor uns auftreten
läßt, ſein Inneres aus: dieß iſt lyriſch. Der Perſonen ſind mehrere, ſie ver-
harren nicht auf einem Puncte ihres inneren Lebens, ſondern bewegen ſich in
der Folge der Zeit, wirken nach außen und bringen durch Wirkung und Ge-
genwirkung eine Handlung hervor, in welcher ſich mit ihrem Complex von
äußern Bedingungen ein breiteres Weltbild, ſichtbar für die innere Vorſtellung
entfaltet: dieß iſt epiſch. Allein an die Stelle der lyriſchen Gemüths-Erregung
und der epiſchen Zuſtändlichkeit muß in dieſer Verbindung als Inhalt der freie
Geiſt treten, der mit hellem Bewußtſein ſeinen Willen zur That beſtimmt; die
lyriſche Gegenwart ſpannt ſich energiſch nach der Zukunft, die Form iſt aus-
ſchließlich dialogiſch und das Weltbild als ein ſichtbares erzeugt ſich ohne
ausdrückliche Schilderung aus dem Bilde des innern Lebens der Charaktere.
Das Innere des Dichters muß im Subjectiven objectiv, zur Welt und Menſch-
heit erweitert ſein. Er iſt in ſeinem Werk ebenſo ganz gegenwärtig, als ganz
abweſend; dieſes beſteht daher ganz ſelbſtändig, losgelöst vom Dichter, denn er
iſt ganz darin aufgegangen: die vollkommenſte Erfüllung des Begriffes der Kunſt
(§. 489 und 524), die reifſte und daher ſpäteſte Frucht ihres Wachsthums.
Das directe Ausſprechen des Innern iſt das Lyriſche im Drama.
Der Dichter ſpricht zwar nicht in eigener Perſon, ſondern aus dem Munde
Anderer, in deren Zuſtände er ſich verſetzt hat, allein dieß hebt zunächſt den
lyriſchen Charakter nicht auf, denn wir haben auch dieſe Umwandlung als
eine Form des Lyriſchen kennen gelernt, die noch ganz in den Grenzen
dieſes Zweiges bleibt, wiewohl ſie allerdings zugleich den Fortgang zum
[1377] Dramatiſchen im Keim enthält. Das Drama gehört daher wie die Lyrik
zunächſt der Zeitbeſtimmung der Gegenwart an. Von der ſinnlich ſicht-
baren Vergegenwärtigung durch Theater und Schauſpielkunſt abſtrahiren
wir aber noch ganz; es iſt hier, wie durchaus im Folgenden, immer nur
von der Vergegenwärtigung für das innere Schauen die Rede, das allerdings
weiterhin das Bedürfniß des äußern mit ſich führt; aber erſt der Anhang
von der Mimik wird dieſe Seite aufnehmen. — In der Aufzeigung des
epiſchen Elements der Objectivität, wie es im Drama erhalten iſt, durfte
ſogleich die Vielheit der Perſonen, durch die der Dichter ſpricht, nicht über-
gangen werden; die erzählende Form der lyriſchen Dichtung kann, wenn
ſie ſich durch dialogiſche Behandlung dem Drama nähert, kaum über zwei
Perſonen ſprechen laſſen; der Kreis, in den ſich der gedrungne Kern der
Empfindung umſetzen und verkleiden kann, iſt eng gezogen. Das weitere
epiſche Moment iſt das Fortrücken in der Succeſſion der Zeit; die lyriſche
Stimmung hat auch ihren Verlauf, bleibt aber doch punctuell, bewegt ſich
nur in ſich, nicht ernſtlich hinaus in die Dinge, an denen wir die Zeit
meſſen; wirklicher, erfüllter Zeitverlauf iſt nur im Elemente des äußeren
Geſchehens und Handelns. Das Innere, indem es ſich ausſpricht und
fortrückt, erſchließt ſich alſo zugleich zur Veränderung der Außenwelt, die
Wirkung ruft die Gegenwirkung hervor und es entſteht eine Handlung;
ſo mußten wir auch den Inhalt des Epos nennen, ſo lange wir das Wort
nicht in ſeinem ſtrengſten Sinne nahmen. Die handelnden-Perſonen in
ihrer Vielheit und der nothwendig mitgeſetzte Complex umgebender phyſiſcher
Welt und realer Verhältniſſe der moraliſchen bedingen nun den größeren
Umfang, das umfaſſendere Bild des Lebens, wodurch das Drama wie das
Epos von dem Mikrokoſmus des Lyriſchen ſich unterſcheidet. Daß dieſes
Weltbild der innern Anſchauung ſich darbiete, wie im Epos, dafür muß
der Dichter irgendwie ſorgen; von der Art, wodurch er dieß bewerkſtelligt,
iſt jedoch abzuſehen, ſo lange man den Unterſchied vom Epiſchen, der frei-
lich gerade hier tief und durchſchneidend iſt, nicht in Betrachtung zieht. —
Es unterliegen aber beide Elemente, das lyriſche und epiſche, indem ſie ſich
zu einem Dritten verſchmelzen, nothwendig einer weſentlichen Veränderung
und wir müſſen dieſelbe zuerſt in ihrem prinzipiellen Mittelpunct erfaſſen.
Wenn der Dichter ſich in Perſonen verwandelt, welche ſo ſprechen, daß
daraus eine Veränderung der Außenwelt, eine Handlung ſich ergibt, ſo
kann das Innere dieſer Perſonen nicht mehr das in Gefühl verſenkte des
Lyrikers ſein: es muß die Objecte und ſich ſelbſt mit hellem Bewußtſein
ergreifen und ſich frei als Wille aus ſich entſcheiden. Der dramatiſche
Menſch iſt aber auch nicht mehr der zuſtändliche im Sinne des epiſchen
Charakters, der zwar handelt, jedoch geführt und getrieben von ſeinem Naturell,
von der Sitte, von dem, was als treibende Kraft in den Maſſen waltet.
[1378] Der Dichter zwar verhält ſich im Epos nicht zuſtändlich wie ſeine Helden,
er ſchwebt frei und klar über der alſo bedingten Welt, allein wo der Menſch
als Object des Dichters noch blos zuſtändlich iſt, da kann doch die Klar-
heit und Freiheit, womit der letztere über dem Stoffe ſteht, noch nicht jene
ganze und intenſive ſein, welche im Reiche der möglichen Verhaltungsweiſen
liegt und dem dramatiſchen Dichter zukommen muß, der den Menſchen
in jenem determinirten Sinn auffaßt. Der Geiſt wird darum im Drama
allerdings ebenſowenig in ſchlechthin abſtracter Selbſtbeſtimmung auftreten,
als in irgend einer Form des Schönen, aber, obwohl in poſitiver Einheit
mit ſeinem Naturell, doch den Entſchluß mit klarer Rechenſchaft über die
Gründe frei aus ſich ſchöpfen und wenn Gefühl und Affect ihn blind und
inſtinctiv fortreißt, ſo wird dieß in einem Zuſammenhange geſchehen, wo-
durch es als das erſcheint, was nicht ſein ſoll. So iſt es das Drama,
was allein unter den Formen des Schönen den wahren, wirklichen Geiſt
zur Erſcheinung bringt. Aus ſeinen Tiefen läßt es vor unſern Augen eine
Handlung hervorſteigen, wir ſehen ſie ſtetig aus dem energiſch wirkenden
Innern werden. Hienach beſtimmt ſich nun auch das Verhältniß zum
Zeitbegriffe. Zunächſt alſo theilt das Drama mit der Lyrik die Form der
Gegenwart. Das lyriſche Gedicht entwickelt den Verlauf einer Stimmung,
bereitet uns durch den gegenwärtigen Moment auf den künftigen vor und ent-
hält demnach natürlich auch die Erſtreckung der Zukunft, allein es fällt
kein Gewicht auf dieſe Seite, weil im weichen Elemente des Gefühls keine
Erwartung ſchlagartiger Folgen entſteht. Dagegen wo der wache Geiſt
im Kampfe wirkt, da müſſen Entſcheidungen erfolgen, denen wir mit
Spannung entgegenſehen, und ſo fällt ein fühlbarer Nachdruck auf das
Moment der Zukunft. Die Gegenwart aber bleibt natürlich die beſtimmende
Kategorie und dieß führt uns nun vom Mittelpuncte nach der formellen
Seite. — Die dramatiſche Handlung kann ſich nur in der Form des Dialogs
bewegen. Die lyriſche Poeſie geht zu dieſer Form fort, aber ſie iſt ihr
nicht weſentlich und ebenſo verhält es ſich im epiſchen Gedichte; wo aber
die Handlung gegenwärtig vor uns aus dem Innern ſich erzeugt, da iſt
der Dialog die einzig mögliche Darſtellungsweiſe. Man kann ſagen und
hat geſagt, das Drama ruhe formell weſentlich im Fortgange des lyriſchen
Monologs zum Dialog; nur nennen wir natürlich das Alleinſprechen des
lyriſchen Dichters nicht Monolog, weil dieſer Name eine Handlung voraus-
ſetzt, worin im Uebrigen die Zwieſprache oder das Sprechen Mehrerer herrſcht.
— Nun iſt aber auch jenes epiſche Moment wieder aufzufaſſen, wodurch
das Drama die Handlung, die es entwickelt, als ſichtbares Bild, nur zu-
nächſt als blos innerlich ſichtbares, uns vorführt, und es erhellt, wie grund-
verſchieden der Weg ſein muß, durch den der dramatiſche Dichter dieß
bewerkſtelligt. Er ſchiebt kurze Anmerkungen ein, um uns das Local, wohl
[1379] auch die Geſtalt der Perſonen und ihre Gebärden zu veranſchaulichen, dieß
geht aber faſt nur die Bühnendarſtellung an und kommt neben dem Weſent-
lichen, was er als Dichter zu thun hat, gar nicht in Anſchlag. Er läßt
die äußere Umgebung und die Erſcheinung ſeiner Charaktere durch dieſe
ſelbſt mit einzelnen Zügen zeichnen: dieß iſt bereits ein integrirender, aber
gegenüber demſelben Verfahren in der epiſchen Poeſie ganz klein zuſammen-
gehender Theil ſeines Verfahrens. Das Weſentliche iſt vielmehr: die
Charaktere müſſen von ihm ſo lebendig geſchaut ſein, daß ſie das Bild
ihrer äußern Erſcheinung und Bewegung für unſere Phantaſie ohne weiteres
Zuthun nöthigend mitbringen. Einen wahrhaft organiſch aus ſeinem Centrum
herauswirkenden dramatiſchen Charakter ſehen wir im bloßen Leſen ſo deutlich
vor Augen, daß wir meinen, ihn greifen zu können. Die Häufung jener
Anmerkungen in der neueren dramatiſchen Literatur beweist mit dem Miß-
trauen zu unſerer und des Schauſpielers Phantaſie nur den Unglauben an
die eigene. Die Energie der vollen Gegenwart, womit die Perſönlichkeit
im Drama vor uns tritt, gibt ihr bei allem Unterſchied der Künſte eine
Verwandtſchaft mit der Sculpturgeſtalt. Die epiſche Schilderung gleicht
mehr dem Gemälde, dem Auftrag auf der Fläche. Die Sculpturgeſtalt
erſcheint wie aus einem geiſtigen unerforſchlichen Grunde in den Raum
hereingewachſen, ſo baut ſich aus ſeinem geiſtigen Kerne heraus vor unſerem
inneren Auge der dramatiſche Charakter und ſtellt ſich feſt, klar abgeſchnitten
in den idealen Raum der inneren Vorſtellung.
Blicken wir nun auf das Innere des Dichters zurück, deſſen Einſtrö-
men in ſeine Perſonen wir zunächſt zu dem Lyriſchen im Drama geſtellt
haben, ſo erhellt aus dieſer veränderten Stellung, daß es ſelbſt eine Welt
ſein muß, wenn es, mit dem ſo umgebildeten Epiſchen ſo verbunden, ein
Weltbild ſoll geben können. Was das heißt, zeigt Keiner, wie Shakespeare,
dieſer centrale Menſch, der den Menſchen und den Dingen unbegreiflich in’s
Herz ſieht, dieſes Individuum, das alle Formen der Menſchheit durchwan-
delt zu haben, Kind und Greis, Mann und Weib, Knecht und Fürſt,
Krieger und Staatsmann ſelbſt geweſen zu ſein, ihre Schickſale ſelbſt erlebt
zu haben und ſich ſo zur Gattung zu erweitern ſcheint. Keine Kunſtform
verſetzt uns ſo in die Zuſtände wie das Drama, das ſie uns gegenwärtig
vorſtellt. Der Lyriker führt uns nur in ſein Gemüth und nur in ſein
Gemüth, nicht in ſeine ganze Perſönlichkeit, weil er nicht handelt.
Göthe’s Wort: bei Shakespeare könne man ſehen wie den Menſchen zu
Muthe iſt, ſcheint wenig zu ſagen und ſagt unendlich viel. Dagegen kann
man an Schiller, — deſſen übrige Größe darum doch unbeſtritten bleibt —
negativ erkennen, was der Prozeß der völligen Entäußerung des dichteri-
ſchen Subjects beſagen will. Er gießt rhetoriſch ſeine ideale Anſchauung,
ſein ſchönes Gemüth in ſeine Perſonen, man vernimmt ihn ſelbſt, wie er
[1380] hinter ihnen als dünnen Masken ſteht und hervorſpricht, er zeichnet das
Böſe und Niedrige mit ſeinem Haſſe, ſtatt ihm den kurzen Schein behag-
licher Berechtigung zu gönnen. Wo er dieſe Subjectivität, welche wohl
in Allgemeinheit des Gedankens und reiner Liebe die Welt umfaßt, aber
nicht im Sinne der poetiſchen Selbſtverwandlung eine Welt iſt, am meiſten
überwunden hat, im Wallenſtein, ſpart er ſich doch die Parthie von Max
und Thekla als directes Gefäß für ſein Gemüth aus, und eben dieſe
Parthie hat daher am wenigſten Haltung und Farbe von Stoff und Schau-
platz. Das Drama fordert einen Geiſt, der im Subjectiven ſelbſt ganz
objectiv iſt, der daher, wenn er ſich ausſpricht, den Gegenſtand und zwar im
großen Sinne des Wortes, die Welt, ausſpricht; es iſt eine totale Selbſtum-
ſetzung, die reinſte Reproduction des Traumes (vergl. §. 390) im hellen Wachen.
In dem Werke dieſer concentrirteſten und expandirteſten Form der Phantaſie
iſt daher verſchwunden jene epiſche Syntheſe von Subject und Object und
jenes lyriſche Alleinſein des Subjects, welches die Welt in ſich reſorbirt.
Man ſieht keinen Dichter, ſein Subject iſt verſchwunden, aber es iſt ver-
ſchwunden, weil es im Werke ganz da iſt, nichts blos Subjectives zurückbe-
halten hat. Es iſt von zwei Seiten die reine Einheit des Subjectiven
und Objectiven: blickt man auf die ſubjective Seite, ſo ſieht man den
Dichter, der, wenn er ganz ſich gibt, die Welt gibt; blickt man auf die
objective, ſo ſieht man die Welt, die eine ganze und reine Entäußerung des
dichteriſchen Subjects, daher ganz von ſubjectivem Leben durchdrungen, durch-
arbeitet iſt. Von keinem Werke der Kunſt gilt daher ſo ganz und abſolut,
was für alle Kunſt in den angeführten §§. als Forderung aufgeſtellt iſt; keines
ſteht ſo ganz auf eigenen Füßen, rein abgelöst vom Künſtler wie ein Natur-
werk, eine ſelbſtändige Welt, ein Planet, der ſich um ſich ſelber dreht, und
iſt zugleich der Object gewordene Geiſt des Künſtlerſubjects. — Es erhellt,
daß eine ſolche Kunſtform in der zeitlichen Entwicklung nicht nur die epiſche
Naivetät, ſondern auch die ſubjective Bewegtheit der Lyrik hinter ſich haben
muß und eine noch ungleich mehr geſchüttelte, erfahrungsreiche, energiſche
und befreite Welt vorausſetzt, als die letztere. In Griechenland ſtand das
Drama auf, als jene Kämpfe mit Tyrannis und Ariſtokratie, deren Unruhe
das lyriſche Bewegungsleben des Gemüths gelüftet hatte, zur Entſcheidung
gelangt, die Freiheit in der Demokratie eine Thatſache geworden und durch
den Sieg über die Perſer die Geiſter zum vollſten Selbſtbewußtſein gekommen
waren. Das Mittelalter konnte kein wahres Drama haben, die Myſterien
ſind noch eine halb-epiſche Form mit eingeſetzten lyriſchen Geſängen. Man
kann dieſe [Erſcheinung] in beſchränktem Sinne Volksdrama nennen; in
welcher Begrenzung von einer fortdauernden Thätigkeit der Volkspoeſie
im dramatiſchen Gebiete die Rede ſein könne, werden wir im Zuſammen-
hang der Komödie zur Sprache bringen. Das wirkliche und wahre Drama
[1381] der modernen Zeit iſt aber ein Kind der Reformation und des Humanismus,
der erneuten Wiſſenſchaft, alſo des Bruchs mit der mittelalterlichen Bindung
der Geiſter und des gedankenklaren Blicks geprüfter und enttäuſchter Men-
ſchen in die Wirklichkeit. Shakespeare, der Proteſtant, der Sohn jenes
unendlich lebendigen Jahrhunderts, dem die breite Binde von den Augen
gefallen war, iſt der „Homer des Drama“ (Gervinus, Shakespeare B. 4,
S. 341). Die Blüthe dieſer Kunſtform im ſtrengkatholiſchen und deſpo-
tiſchen Spanien war nicht möglich, wenn nicht der Welt ringsumher die
neue, freie Bildung wäre aufgegangen geweſen, der Kern der Weltauffaſſung
im ſpaniſchen Drama iſt aber gerade ſo weit nicht wahrhaft dramatiſch, als
dieſelbe ihn nicht durchdringen konnte: er begründet den typiſch gegebenen
Rahmen von Motiven, die nicht aus der wahren und allgemeinen Men-
ſchen-Natur erwachſen. Wir haben dieſe Verhältniſſe ſchon in der Geſchichte
der Phantaſie berührt, vergl. §. 472. 475. Die Franzoſen haben in der
Beweglichkeit und kritiſchen Schärfe ihres Geiſtes immer ein Analogon des
Proteſtantismus gehabt. Was aber ihrem Drama fehlt, hängt doch mit
der ſchematiſch unlebendigen Auffaſſung des innern Menſchen zuſammen,
die ihren Grund im romaniſch Katholiſchen hat. Den ganzen und vollen
Beruf zu dieſer Gattung hat die eigentlich moderne Zeit und der germa-
niſche Geiſt. Die großen claſſiſchen Dichter unſerer deutſchen Nation ſind
in dieſen Beruf eingetreten, freilich ohne Shakespeare’s unbedingtes drama-
tiſches Genie und ohne den Styl zu erreichen, den wir als nächſtes Ziel
der bisherigen Geſchichte des Drama erkennen werden, und ohne in der
Komödie es den neuern Franzoſen und Engländern gleichzuthun.
§. 897.
Die Welt, wie ſie in dieſer Auffaſſung erſcheint, iſt weſentlich ganz von
innen heraus beſtimmt, Alles fließt aus dem Innern und führt in es zurück;
es wird alſo vollkommener, als in den andern Zweigen, erfüllt, was nach §. 842, 1.
im Weſen der Dichtkunſt liegt. Die Beſtimmtheit dieſes Innern als bewußter
Wille bringt ein entſchiedenes Hervortreten des Gedankenhaften, des gnomiſchen
Elements, mit ſich (vergl. §. 842, 2.). Der Wille ſetzt ſich ſeinen Zweck und
vollführt ihn. Die Breite des Aeußerlichen zieht ſich durch die Rückführung
auf den alle Maſſe allein bewegenden Zweck in einen engen, nur andeutenden
Auszug zuſammen; beſtimmend wirkt es auf den Willen nur, ſofern es zum
Motiv erhoben wird. In dieſem durchaus ſtraffen Weltbilde gibt es daher
keinen Zufall.
Wir verweiſen auf den angeführten §.; was dort von der Dichtkunſt
überhaupt geſagt iſt, das wird in derjenigen ihrer Formen zur vollen Wahr-
[1382] heit, für welche nichts exiſtirt, was nicht mittelbar oder unmittelbar vom
Geiſt als dem Zweckſetzenden, in ein Netz von Zwecken Alles, was ihm
gegenüber blos Natur, blos Maſſe iſt, einſpannenden ausgeht oder von
ihm als Grund einer Willensbeſtimmung approbirt iſt. Der frei wollende
Geiſt denkt ſeinen Zweck; auch der zweite Theil von §. 842, welcher der
Poeſie das Ausſprechen allgemeiner Gedanken vindicirt, findet daher hier
ſeine vollſte Anwendung: der Zweck wird im Drama, wie vor dem eigenen
Bewußtſein, ſo vor dem Freunde, vor dem Gegner gerechtfertigt, es wird
mit Gründen gekämpft, bleibende Wahrheiten, Sentenzen, breitere Ausfüh-
rungen gehen herüber und hinüber und ſtellen den Kampf der Kräfte in
ein Tageslicht, das ihn nach allen Seiten beleuchtet und ihm den Stempel
eines Kampfes von Ideen aufprägt. Dieß Element iſt es, was Ariſtoteles
(Poet. C. 6) die διανοια nennt, die Rechtfertigung des Strebens durch
Gedanken-Ausdruck, und was wir als das Gnomiſche bezeichnen. Die
Durchklärung des Stoffs mit dieſem Lichte des Bewußtſeins hat natürlich
verſchiedene Stufen, mehr inſtinctives Dunkel bleibt in gewiſſen Formen
des Drama zurück, aber wir ziehen den Grundbegriff billig aus der durch-
ſichtigſten. Es gibt auch eine Stufe, wo ſie zu weit geht und eine drama-
tiſche Poeſie der Betrachtung hervorbringt, eine Grenze, an welcher Göthe
und Schiller ſich hinbewegen. — Wenn nun ſo die Welt unter den Stand-
punct des ſich durchführenden ethiſchen Zweckes rückt, ſo wird durch dieſe
Adſtriction die Breite, wodurch ſich das dramatiſche Bild zwar weſentlich von
der lyriſchen Punctualität unterſcheidet, in ihrem Umfange doch nothwendig
wieder verengt. Aehnlich wie in der Plaſtik muß hier das möglichſt Wenige
dienen, um die äußere Sphäre und das phyſiſche Geſchehen anzudeuten, und
dieſe Sparſamkeit, ganz abgeſehen von der Rückſicht auf die ſceniſchen Schwie-
rigkeiten, drückt aus, daß der dramatiſche Dichter nicht wie der epiſche am
Naturdaſein in ſeiner Gediegenheit einfach ſeine Freude hat, ſondern daß
es ihm werthlos iſt, ſofern es nicht in ſichtbaren ethiſchen Zuſammenhang
tritt. Im Drama kommt z. B. ein Ankleiden, ein Eſſen vor, wenn es
für die Handlung und ihre große Kette von Verdienſt und Schuld weſentlich
iſt, daß dieß oder jenes gerade in einer ſolchen Situation eintrat; wogegen
das Epos bei dieſen Dingen aus reiner Luſt weit hinaus über den bedingen-
den Zuſammenhang der Handlung verweilt. — Dieß führt auf die ſtrenge
Ausſcheidung des Zufalls. Dieſer Punct iſt in der Lehre vom Tragiſchen
§. 117. 130. 133. 135 vollſtändig erörtet.
§. 898.
Der perſönliche Wille iſt in concreter Geſtalt weſentlich Charakter,
dem ſein Zweck zum Pathos geworden. Keine Form der Kunſt iſt ſo ganz zur
[1383] Charakterdarſtellung berufen und ſo ſtreng zur conſequenten Durchführung
deſſelben verpflichtet, wie das Drama. Daher faßt es den Charakter in dem
intenſiven Sinne, daß er ſich vom Gegebenen losreißt und radical in die Ver-
hältniſſe eingreift. Die Zuſammendrängung ſeiner Kräfte auf ſeinen Zweck
beſchränkt die Vielſeitigkeit ſeiner Erſcheinung. Er vollzieht entweder in der
Darſtellung ſelbſt eine entſcheidende Wendung in ſich bis zur völligen Verän-
derung ſeines Centrums, oder er verharrt in ſeiner ſchon reifen Beſtimmtheit.
Der Zweck enthält eine Mehrheit von Momenten und ſetzt den entgegengeſetzten
Zweck voraus: in der Gruppe von Charakteren, welche dieß erfordert, deren
Perſonenzahl aber durch das Weſen der Dicht-Art beſchränkt iſt, herrſcht Ein
Charakter als Hauptperſon.
Der Begriff des Charakters iſt in §. 333, der des Pathos in §. 110 ff.
entwickelt. In §. 842, 1. iſt aufgeſtellt, daß die Poeſie das Schöne voll-
kommener, als irgend eine andere Kunſt, in der Form der Perſönlichkeit
verwirklicht. Im höchſten Sinne wird dieß vom Drama geleiſtet, indem
es die Perſönlichkeit in der ganz geſättigten und entſchiedenen Geſtalt des
Charakters zu ſeinem Mittelpunct hat. Stetige Einheit mit ſich iſt ſein
Hauptmerkmal; Ariſtoteles fordert (Poet. C. 15) namentlich das ὁμαλὸν,
die Conſequenz, und wäre es auch nur Conſequenz in der Inconſequenz.
Die neuere Romantik hat grundſätzlich kernlos ſchwankende, ſelbſt in der
Inconſequenz inconſequente Charaktere geliebt und war ebendarum vor
Allem durch und durch undramatiſch. Wenn der Charakter kein Centrum
hat, wie ſoll ein klares Verhältniß im Gegenſatze der Wechſelwirkungen
Statt finden, zu welchem das Drama die Charaktere vereinigt? Tritt nun
der Charakter in ſeiner ganzen Entſchiedenheit auf, ſo muß er ſich auch in
die Spitze zuſammenfaſſen, daß er die Kette des Gegebenen, frei aus ſich
beginnend, durchſchneidet. Im vollſtändigen Sinne gilt dieß vom geſchicht-
lichen, politiſchen Helden, aber auch von der Hauptperſon im bürgerlichen
Drama wird immer verlangt, daß ſie in irgend einer Form radical handle,
d. h. das Beſtehende auf irgend einem Puncte durchbreche, um es im Sinne
des Idealen zu erneuern. Der Begriff des Idealen darf dann allerdings
nicht zu eng gefaßt werden, das Motiv kann eine ſubjective Leidenſchaft
ſein, aber ſie muß ſich an eine Idee knüpfen und im Glauben handeln, ſie
ſo ausführen zu dürfen, daß ſie ſich ein neues, eigenes Geſetz ſchafft, wie
z. B. Othello, indem er als Richter handeln zu dürfen meint, die Idee der
Gerechtigkeit in unerhörter Form auszuüben wagt. — Der dramatiſche
Charakter iſt vermöge dieſer Straffheit ſeines Handelns nothwendig gedrängter,
als der epiſche; er muß reich ſein, damit man die Macht der Idee, die
ihn erfüllt, an der Mannigfaltigkeit der Kräfte und Eigenſchaften erkenne,
die ſie durchdringt, in Bewegung ſetzt und in ihren Dienſt zieht; aber dieſe
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 89
[1384]beſonderen Seiten können und ſollen nicht zu der wirklichen Entfaltung
kommen, wie im Epos, ſondern durch ihre Verſchlingung abgekürzt auf das
Eine Ziel losdrängen. Dieſe Ineinanderarbeitung des beſtimmenden Pathos
und der reichen Perſönlichkeit tritt in’s ſtärkſte Licht, wenn jenes einen
Charakter ergreift, der ihm urſprünglich widerſtrebt, wenn ſeine Natur und die
Leidenſchaft einander nur ſchwer und langſam annehmen, wie Othello’s arg-
loſes, großes Herz und das Gift des Argwohns. Wenn dann endlich das
Amalgam vollendet iſt, erſcheint der ganze Charakter in um ſo tieferem und
gewaltſamerem Aufruhr. Es iſt dieß der Fall, wo derſelbe im Drama eine
ſolche Wendung nimmt, daß ſeine Kräfte um ein neues Centrum ſich vereini-
gen; von dieſer ſtärkſten Form des Umſchlags eines Charakters iſt wohl zu
unterſcheiden eine andere, wo er innerhalb ſeines urſprünglichen Centrums und
natürlichen Pathos durch Schickſalserfahrungen zu einer Kriſe geſteigert wird,
die ſeine ganze Stimmung, ſeinen Zuſtand verändert, wie z. B. König Lear.
Ein mittlerer Fall iſt der, wenn der Keim zu einem Umſchlag, welcher
das anfängliche Bild des Charakters aus den Fugen treibt, in dieſem ſchon
vorher tiefer angelegt war, als es ſchien, wie im Makbeth, dem ungleichen
tragiſchen Bruder Richard’s III, der als reifer, hart geſchmiedeter Böſewicht
von Anfang an auftritt. Hamlet, der in dem fortgehenden Kampfe mit
einem Pathos, das den Anſpruch macht, ſich ſeiner ganz zu bemächtigen,
ſich doch weſentlich gleich bleibt, ſteht faſt einzig in der Geſchichte der Tra-
gödie. Die einfachſte Form der Steigerung im urſprünglichen Centrum iſt
das Anwachſen zum höchſten Pathos der Liebe; es ſetzt jugendliche Naturen
voraus, die nicht vorher ſchon zu markirter Reife gelangt ſind, wie Romeo.
Ein anderer Theil der dramatiſchen Charaktere bringt dagegen völlig reife
Geſtalt nicht nur ſogleich mit, ſondern verharrt auch darin, ſo daß ſeine
Handlungen einfach aus der gegebenen feſten Beſtimmtheit hervorgehen.
Soll dieß aber von der Hauptperſon gelten, ſo muß doch die That, die
zur Kataſtrophe führt, mit einer Aufregung, Aufwühlung verbunden ſein,
die annähernd als eine Veränderung des Charakters bezeichnet werden kann,
wie bei Wallenſtein, da ihn der Ehrgeiz zum Verrathe führt. — Der Zweck,
welcher der Hebel der dramatiſchen Handlung iſt, ſetzt den Gegenzweck voraus,
beide legen ſich in ihre Momente auseinander und dieß natürlich eben in
der lebendigen Form von Charakteren. Man vergleiche z. B. Schiller’s
Wilhelm Tell. Die Idee der nationalen Freiheit tritt in die Momente der
entſcheidenden Thatkraft, der jugendlichen Leidenſchaft, der berathenden männ-
lichen Klugheit auseinander: das erſte in Tell, das zweite in Melchthal,
das dritte in Stauffacher, W. Fürſt und einer Anzahl weniger beſtimmt
hervortretender Perſonen; Jäger, Hirten, Fiſcher, Landleute, ihre Klagen
und Leiden ſind nothwendig, den Geſammtzuſtand zur Darſtellung zu bringen.
Weiblicher Heroismus, in mildem Contraſte dem ſtilleren Familienſinne
[1385] gegenübergeſtellt, ſchließt ſich an jene Momente an und ſelbſt Kinder mit
einigen Strichen von Charakterzeichnung ſind nothwendig. Der That der
Vertheidigung der Familie und des Vaterlands ſtellt der Dichter in ſtarkem
Contraſte den Mord aus Rache entgegen in Joh. Parricida. Auf der
andern Seite die Tyrannei in Geßler; ſie erfordert Werkzeuge, Begleiter,
Soldaten. In der Mitte ſteht der Adel des Landes, theils national geſinnt,
aber die Erhebung des Volkes als ſolchen, das Aufſteigen der Demokratie
erſt im Tode erkennend, theils der fremden Gewaltherrſchaft anhängend, im
Verlauf aber zur nationalen Sache übergehend: Attinghauſen und Rudenz.
Die Maſſen aber, welche die Befreiung im Großen vollbringen, ſind nur
angedeutet. Die Frage, ob der Stoff des W. Tell nicht mehr epiſch, als
dramatiſch iſt, brauchen wir hier nicht zu unterſuchen, denn wir hätten
genug andere unzweifelhaft dramatiſche Stoffe als Beiſpiel anführen können,
welche für eine große nationale Handlung Maſſen in Bewegung ſetzen
müſſen. Auch auf dieſer Seite tritt nun aber im Drama doch eine Zu-
ſammenziehung der epiſchen Breite ein: verhältnißmäßig Wenige gelten als
Repräſentanten für ſehr Viele, und aus den Figuren, welche die Maſſe
vertreten, ſind nur einige ſkizzirt, ſo daß man erkennt, es handle ſich hier
blos um ein Material, das nicht den Vollwerth der freien Perſönlichkeit
hat und daher nur den Saum der Darſtellung bildet. Aber, was wichtiger
iſt, auch der Häupter der Handlung ſind gegen die Fülle von Helden im
Epos Wenige, denn das Drama iſt eingedenk, daß der durchgreifende Geiſt
der Geſchichte ſich in wenige Zähler neben unendlich vielen Nieten zuſam-
menfaßt. Man ſieht auch hier die Aehnlichkeit mit der Plaſtik, welche,
wie ſie die Natur-Umgebungen durch Weniges ſymboliſch andeutet, ſo in
der Hauptſache, in den Figuren, auf den Begriff der Vertretung Vieler
durch Wenige (vergl. §. 606) und keineswegs blos auf die Beachtung
der techniſchen Schwierigkeiten ihre Sparſamkeit in der Figurenzahl gründet.
— Es verſteht ſich nun, daß ein Werth-Unterſchied unter den Perſonen
der Handlung iſt, und davon muß ſchon hier, in der Erörterung des allge-
meinen Weſens der dramatiſchen Kunſtform, die Rede ſein, während die
ſpezielle künſtleriſche Seite dem Abſchnitte von der dramatiſchen Compoſition
angehört. Wo ſich das Leben und die Geſchichte zu einer entſcheidenden
Spitze treibt, da muß es Eine Perſon ſein, in welcher dieſe Bewegung
ſich zuſammenfaßt; das Drama hat daher nothwendig in viel engerem Sinn
eine Hauptperſon, einen Helden, als das Epos, in welchem wohl auch
eine Geſtalt alle andern überragt und das höchſte Intereſſe auf ſich zieht,
denn dort ſchneidet der herrſchende Charakter das Beſtehende durch, hier iſt
er nur die höchſte Fülle, das reinſte Bild der Kräfte, die ſich rings um
ihn her ausbreiten, er ſchwimmt oben auf dem Strome dieſes Ganzen,
gegen den der dramatiſche Held ankämpft. Es kann nur äußerſt ſeltene
89*
[1386]Fälle geben, wo die Hauptperſon ſchwer zu bezeichnen iſt und doch die
Einheit nicht leidet; ein ſolcher iſt Shakespeare’s Jul. Cäſar, wo der Held,
der dem Stücke den Namen gegeben, früh untergeht und Brutus zum Helden
des Stücks wird, während doch ſein und ſeiner Verbündeten Leiden und
die Niederlage der republikaniſchen Idee als ein Fortwirken des Gemordeten,
eine Handlung ſeiner Manen erſcheint. Wo das Pathos der Liebe den
Inhalt bildet, treten zwei Perſonen, die in der Unendlichkeit ihrer idealen
Leidenſchaft zu Einer werden, ſo vereinigt in den Vordergrund, daß man
zweifeln kann, ob der wagende Jüngling oder das zur Heldinn gewordene
Weib die Hauptperſon iſt, wie in Romeo und Julie. Der Charakter, welcher
an der Spitze der Gegenſeite ſteht, gegen welche der dramatiſche Held kämpft,
wird häufig ſchärfer gezeichnet erſcheinen, als dieſer, denn er vertritt die
verhärtete Geſtalt des Beſtehenden, die herbe Welt des Verſtandes oder das
Böſe, die Intrigue, während jener durch das phantaſievoll Geniale ſeines
Wollens jugendlicher erſcheint, ohne darum das Prädicat der ſchwungvolleren
Energie zu verlieren; ſo iſt ſelbſt das Weib Antigone in der Handlung der
Tragödie doch unzweifelhaft der Hauptcharakter gegenüber dem ſtarren,
harten Männercharakter Kreon’s. Man erkennt daraus, wie hier Alles auf
die Stellung ankommt, die ein Charakter in der gegenwärtigen Handlung
einnimmt, denn Hauptperſon iſt, wer die vollſte Kraft in die Durchführung
des Zweckes ſetzt, um den jene ſich dreht. Dieß führt auf den wahren
Einheitspunct im Drama.
§. 899.
Was durch dieſe Zweckthätigkeit des Willens geſchieht, iſt im intenſiven
Sinne des Wortes Handlung, eine Reihe von Thaten mit einer entſcheidenden
That im Mittelpuncte. Durch ſie bereiten ſich die Perſonen ihr Schickſal.
Dieſes geht aus dem Kampfe der Wirkungen und Gegenwirkungen als das
dem Ganzen dieſer Bewegung vorher verborgen inwohnende Geſetz hervor, ſtellt
ſich als das wahrhaft Herrſchende, als das wahre Subject der Handlung heraus
und zieht alſo das Haupt-Intereſſe, welchem ſich nun das für die Charaktere
unterordnet, auf ſich. Keine Form der Kunſt iſt ſo ganz, wie das Drama,
zur Darſtellung des Tragiſchen berufen.
Ariſtoteles ſagt (Poet. C. 6): die Hauptſache in der Tragödie ſei der
Mythus, die Zuſammenſtellung der Begebenheiten, denn dieſe Dichtungsart
ſei eine Nachahmung nicht von Perſonen, ſondern von Handlungen, Lebens-
verhältniſſen, Glück und Unglück, ihr Ziel ſei eine Handlung, nicht eine
Beſchaffenheit; die Handlung ſei nicht da zum Zwecke der Sittendarſtellung,
ſondern ihretwegen werde dieſe mitumfaßt, und eher ſei eine Tragödie ohne
[1387] dieſe, als ohne jene möglich. Dieß iſt in ſeiner ſinnvoll empiriſchen Weiſe
naiv, aber durchaus treffend geſagt; naiv, weil der innere Zuſammenhang
zwiſchen Charakter und Handlung nicht philoſophiſch entwickelt iſt. Es
fehlt das Band, das vom Einen zum Andern führt; es müßte aufgezeigt
ſein, wie das Erhabene des Subjects, das zuerſt den Vordergrund einnimmt,
dem abſolut Erhabenen des Schickſals Platz macht, jedoch nicht ſo, als ob
beide nur ein Nebeneinander wären und das Erſte vom Zweiten äußerlich
verdrängt würde, ſondern ſo, daß das Erhabene des Subjects als Bruch-
theil eines Ganzen erſcheint, das in ihm ſelbſt, aber nicht in ihm allein,
ſondern in der Vielheit von Individuen, zunächſt in der ganzen Gruppe
der in dieſer Darſtellung Vereinigten, in verſchiedenen Verhältniſſen der
Wechſel-Ergänzung von Recht und Unrecht gegenwärtig iſt und von dem
es verſchlungen wird, weil es nur Bruchtheil und zwar auf Trennung des
Ganzen ausgehender Bruchtheil war. Dieß iſt der tragiſche Prozeß, wie
er in §. 117 ff. auseinandergeſetzt iſt, und wir dürfen jetzt auf dieſen Abſchnitt
mit der einfachen Bemerkung zurückverweiſen, daß keine Geſtalt der Kunſt
dieſen Prozeß ſo rein und ſcharf zur Erſcheinung bringt, als das Drama.
Bei Ariſtoteles fehlt dieſe Begriffs-Entwicklung, weil ihm die tiefere Idee
des Schickſals fehlt, ſtatt welcher er einfach empiriſch: Handlung, Um-
ſchwung, Glück und Unglück ſetzt, und ebenſo, weil ihm der tiefere Begriff
des Charakters fehlt, wie er als eine Form deſſelben allgemeinen Geiſtes,
der als Schickſal über ihn kommt, ſich ſelbſt dieſes Schickſal ſchmiedet, weil
er in den Zuſammenhang des Ganzen trennend eingreift. Sein Satz iſt
dennoch höchſt wichtig und fruchtbar, denn die Geſchichte des Drama, na-
mentlich des neueren, zeigt, wie häufig man der falſchen Anſicht folgte, als
ob Charakterzeichnung bei vernachläßigter Handlung ſchon ein Drama ſei.
Dieß heißt für uns: bei dem Erhabenen des Subjects verweilen, ſtatt von
da zum abſolut Erhabenen der Weltordnung fortzugehen. Die dramatiſche
Conception geht nicht von den Charakteren, ſondern von der Situation
aus und man kann beobachten, daß dem ächten Dichter häufig das Cha-
rakterbild aus den Bedingungen des Schickſals erwächst. So fordert z. B.
die Handlung im Othello ein Weib, das ſo wehrlos, ſo unfähig iſt, die
Zunge zu brauchen, daß ihre Unſchuld trotz allen Mißhandlungen zu ſpät
an den Tag kommt. Aus dieſer Bedingung iſt wie aus einem zarten
Keime dem Dichter ein himmliſches Bild verſchleierter, ſtiller, ſüßer Seelen-
ſchönheit, reiner Sanftmuth hervorgewachſen. So entwickelt das ächte Genie
den Charakter vorneherein aus dem Schickſal und vereinigt organiſch die
Kräfte, welche für dieſe beiden Seiten erforderlich ſind, in richtigem Ver-
hältniß. Dieſe Vereinigung iſt ſelten, die Talente und Richtungen ſind ſo
vertheilt, daß Mancher einen Charakter zeichnen, aber keine Handlung, die
vorwärts geht und zu einer großen Entſcheidung drängt, componiren kann.
[1388] Wir dürfen ſchon hier, obwohl wir dieſen Punct an ſeinem Orte noch
ausdrücklich in’s Auge faſſen müſſen, unſern Satz durch die Erſcheinung
im Gebiete der Komödie beleuchten, daß man ſo häufig humoriſtiſche Cha-
rakterſchöpfung ohne lebendigen Gang und Wirkung der Fabel oder wohl
angelegte Intrigue bei dürftiger Charakterzeichnung findet. Das Talent
der Charakterſchöpfung iſt an ſich bedeutender, als das der Fabelſchöpfung,
aber Angeſichts der ſpezifiſchen Forderung der Dichtungsart iſt das letztere
das ſtrenger geforderte und ſo allerdings das vorzüglichere. Doch wir haben
hier zunächſt das ernſte, das tragiſche Schickſal im Auge, und bemerken noch
zum Schlußſatze des §.: im Drama muß das Tragiſche darum am vollſten
und reinſten zur Darſtellung kommen, weil ſeine ganze Majeſtät aus dem
Gange einer gegenwärtigen Handlung ſich entwickelt. Das Schickſalsgefühl
iſt ein Gefühl des unendlich Drohenden, dann plötzlich Eintretenden, es
wird in ſeiner ganzen Stärke nur da erweckt, wo vor unſern Augen, jetzt,
in dieſem Augenblick das Ungeheure geſchieht.
§. 900.
In derſelben Form des gegenwärtigen Entſtehens einer Handlung aus
den Charakteren durch das geiſtige Mittel der Sprache, wodurch die dramatiſche
Dicht-Art den tragiſchen Prozeß in ſeiner ganzen Tiefe und Straffheit zur Er-
ſcheinung bringt, iſt es begründet, daß ſie auch ſein komiſches Gegenbild
in einer Vollkommenheit und Selbſtändigkeit ohne Gleichen zu erzeugen vermag.
Das einfach Schöne in ſeiner ganzen Anmuth kann ſie in dieſe Bewegungen
ſtürmiſcher verwickeln oder unverſehrter in ſie einflechten. Sie iſt daher der
vollendetſte Ausdruck der allgemeinen Grundformen des Schönen und auch in
dieſem Sinne kehrt durch ſie das Syſtem in ſich ſelbſt zurück.
Der §. nimmt ſeinen erſten Satz aus dem Schluſſe der Anm. zum
vorh. §. deßwegen auf, weil für das Komiſche die Form der Gegenwart
ſeine ganz beſondere Wichtigkeit hat, und ebenſo verhält es ſich mit dem
Mittel der Sprache, das darum hier ausdrücklich noch einmal betont werden
mußte. Das Komiſche iſt diejenige unter den Grundformen des Schönen,
in welcher am ſichtbarſten der Accent nicht auf dem Factiſchen liegt, ſondern
auf dem Bewußtſein, ſeinen Widerſprüchen, ihrer Auflöſung. Sein volles,
wahres Bild muß alſo erſt da möglich ſein, wo es als komiſcher Charakter
vor uns tritt, in Redeform ſein Inneres ſelbſt bekennt, ſo daß wir in die
Widerſprüche ſeines Bewußtſeins hineinſehen, daß er in ſeiner unendlichen
Naivetät gegenwärtig von uns belauſcht wird. Er hat wohl die Lauſcher
im Stücke um ſich, als ſubjectiv humoriſtiſcher Charakter belauſcht er ſogar
ſich ſelbſt, aber der Bruch löst ſich darin nicht ganz, der völlig durchſichtige
[1389] komiſche Act iſt nur im Dichter, wir folgen ihm und ſtehen als die Lauſcher
über den Belauſchten und Lauſchern im Stücke: die komiſche Scala, welche
in §. 182 aufgewieſen iſt. Die ganze Lehre vom Komiſchen, namentlich
von der Poſſe und vom Humor, wies überall ſchon auf das Drama hin,
klang fühlbar dramatiſch, da in jedem Sinn ein Wechſel-Act zwiſchen Spieler
und Zuſchauer geſetzt war. Wir haben im Epos komiſche Beſtandtheile,
wir haben einen komiſchen Roman, komiſche Lyrik gefunden; die letztere iſt
doch kein häufiger, kein reicher Klang, dieß widerſpräche der Poeſie der
Empfindung; die epiſche Breite iſt ein Hinderniß, daß ein Moment, das
auch hier noch, wie im Tragiſchen, beſonders hervorgehoben werden muß,
nämlich die abſolute Plötzlichkeit des Komiſchen recht zum Durchbruch komme.
Der komiſche Blitz iſt der Form der Gegenwart vorbehalten, die ſich nach
der Zukunft ſpannt. Wie das Schickſal in den Reibungen des komiſchen
Charakters mit der Außenwelt zum Zufalle wird und an die Stelle der
Nemeſis die bloße Verlegenheit tritt, iſt in der Lehre vom Komiſchen aus-
einandergeſetzt und kann danach ein Schein des Widerſpruchs mit dem Satze,
daß das Drama den Zufall aufhebe, wie keine andere Kunſtform, nicht
entſtehen. — Die Schönheit der harmloſen Anmuth wird im tragiſchen
und komiſchen Prozeß ihre weſentliche Stelle finden; ſie wird wie eine Blume
am ſchäumenden Waſſerſturze ſtehen und gerettet oder mit in ſeine Wirbel
hineingeriſſen werden. Dieſes Schickſal wird ein mehr äußeres oder mehr
inneres ſein, Clärchen folgt dem Geliebten durch freien Entſchluß in den
Tod, Gretchen im Fauſt wird erſt innerlich zerriſſen, um dann in erhabener
Faſſung zu ſterben; im Komiſchen theilt die naive Luſtigkeit der Anmuth
harmlos das komiſche Spiel, durch Schmerzen geht der tiefere und freiere
Humor einer Roſalinde und Porzia. — So treten denn jene Grundformen,
die in der Metaphyſik des Schönen entwickelt ſind und den Unterbau des
ganzen Syſtems bilden, aus ihrer Tiefe herauf und bilden in ſcharfer Glie-
derung ebenſoſehr die Spitze der Pyramide. Das Syſtem kehrt alſo durch
die Poeſie und im höchſten Sinne durch die dramatiſche nicht nur über-
haupt in ſeinen erſten Theil als die reine, geiſtige Geſtalt des Schönen
(vergl. §. 863, Anm. 1.), ſondern auch ſpeziell in deſſen unterſchiedene
Formen mit gefüllter Intenſität zurück.
§. 901.
Der dramatiſche Styl entnimmt ſein Grundgeſetz aus dem Momente des1.
Fortgangs vom Charakter zur Handlung, er iſt weſentlich vorwärts drängend,
ſpannend und durchſchlagend. Danach beſtimmen ſich die einzelnen Elemente der2.
Darſtellung: das in engerem Sinn epiſche der Erzählung nimmt höhere Be-
wegtheit an, das lyriſche im Monologe darf ſich nicht in die Innerlichkeit
[1390] der bloßen Empfindung oder des Denkens vertiefen, ſondern muß durch Affect
auf die Handlung lebendig überleiten, der Dialog darf nicht ein bloßer Aus-
tauſch von Gründen oder Gefühlen, ſondern muß wechſelſeitig wirkſam ſein,
3.etwas in der Sachlage verändern. Das Feuer der Bewegung ergreift auch die
einzelnen poetiſchen Mittel, namentlich die Tropen. Die entſprechende rhyth-
miſche Form iſt der ſteigende, ſtrebende Jambus.
1. Der epiſche Styl hat ſein Grundgeſetz im Standpuncte des Seins,
der Subſtantialität, der Bewegung auf ruhiger Grundlage, der dramatiſche
im Standpuncte des Werdens, nämlich des Werdens der That und des
Schickſals aus dem Innern. Er iſt daher ganz bewegte Linie, die vorwärts
geht, ganz Bahn; ſpannt ſich die Handlung dem Weſen nach von der Ge-
genwart nach der Zukunft, ſo muß ſich dieß natürlich auch im Styl aus-
drücken: er muß vor Allem ſpannend ſein. Es gibt freilich einen Mißbrauch,
einen athemlos vorwärts hetzenden, jagenden Styl: die Eile muß ihre Weile,
das Bild der Charaktere und ihrer Lagen muß Zeit haben, ſich zu ent-
wickeln; die Franzoſen beſonders neigen zum Uebermaaß der ſpannenden
Bewegung, aber was am meiſten und in Deutſchland vor Allem Noth thut,
iſt die Warnung vor beſchaulichem Weilen und Kleben, und nicht ſtark
genug kann man unſern Dichtern zurufen: was nicht vorwärts drängt und
daher nicht ſpannt, iſt nicht dramatiſch. Die Spannung löst ſich von
Stadium zu Stadium in Entſcheidungen auf, bis der Schluß die letzte
bringt; auf der Spitze des Meſſers ſchwebt die Handlung, ein Schlag,
und der Würfel fällt. Hier wird die Spannung zur Ueberraſchung; der
ſubjective Ausdruck des Ariſtoteles, daß die Tragödie Furcht und Mitleid
erwecke, iſt durch den Begriff des Schreckens, doch in einzelnen Momenten
der Tragödie und in Schauſpiel und Komödie auch den der Freude und
der komiſchen Erſchütterung zu ergänzen. Daß ſie in der Spannung vor-
bereitet iſt, ſchwächt die Ueberraſchung nicht. Der Gang iſt alſo in vollem
Gegenſatze gegen den epiſchen ein ſtoßweiſer, das Merkmal des Plötzli-
chen, was in allem Erhabenen und Komiſchen liegt, wird zum Styl-Merk-
male, und ebenſo ſtark iſt hier unſern Dichtern zuzurufen: was nicht blitzt,
durchſchlägt, zündet, iſt nicht dramatiſch. Der Mißbrauch liegt freilich auch
auf dieſem Puncte nahe genug, aber von den zwei Uebeln: zu wenig oder
zu viel Schlag und Erſchütterung iſt das letztere das, was nur am Maaße
ſündigt, das erſtere am Weſen der Dicht-Art. Göthe hat in allen
ſeinen Dramen keinen Moment, der ſo rein und ächt dramatiſch wäre, wie
der, wo Alba den Egmont in den Palaſt reiten, vom Pferde ſteigen ſieht,
und den folgenden, wo er ihn verhaftet. Iphigenie und Taſſo ſind un-
ſterbliche Seelengemälde ohne wahrhaft dramatiſche Spannung und Ueber-
raſchung. Schiller dagegen iſt überall reich an ſolchen Momenten, wo alle
[1391] Herzen klopfen, jeder Nerv ſich ſpannt und dann der Blitz der Entſcheidung
zuckt. Wie wirkungsvoll hat er, um nur dieß Eine zu erwähnen, die Scene
der Ermordung Geßler’s behandelt, wo wir Tell lauernd wiſſen, wo —
ein äußerſt glückliches Motiv — die flehende Armgart eintritt, Geßler ihr
gegenüber den Uebermuth auf den Gipfel ſteigert und mitten in der harten,
ſtolzen Rede vom Pfeil durchbohrt ſein: „Ich will“ — ſtöhnend mit dem
Ausruf abbricht: „Gott ſei mir gnädig!“ und vom Pferde ſinkt. Der
Großmeiſter aber in ächt dramatiſcher Spannung und Ueberraſchung iſt
Shakespeare; wir weiſen nur auf die Scene der Ermordung Duncan’s im
Makbeth hin. Lady Makbeth in grauenhafter Angſt befindet ſich auf der
Bühne; ihre Worte: „er iſt daran“ ſind ein Abgrund ſpannender Bangig-
keit, dann bemerke man das tiefe künſtleriſche Motiv, daß Makbeth, ehe die
That geſchehen iſt, noch einmal oben erſcheint und fragt, was es gebe;
dieß iſt ein Verweilen, das uns zeigt, wie beide Gatten von den gleichen
Schrecken der Gewiſſensangſt durchbohrt ſind; endlich tritt jener ſtarr,
ſtier mit den Worten auf: „ich hab’ die That gethan“ und es folgt die
Schilderung ihrer Ausführung und ſeiner innern Zuſtände, die eine Unend-
lichkeit von Entſetzen in ſich ſchließt.
2. Das Epiſche im allgemeineren Sinne des Worts, wie es ſich im
Dramatiſchen erhält, iſt das Geſchehen überhaupt, das freilich hier zu einem
intenſiven Handeln wird. Es bedarf aber dieſe Dicht-Art eines epiſchen
Elements in engerer Bedeutung: dieß iſt die Erzählung. Sie iſt nöthig,
um Solches, was der Länge der Zeit und der Maſſe des Stoffs wegen
nicht in gegenwärtiger Handlung dargeſtellt werden kann, doch vorzubringen,
ferner um Gräßliches, was, unmittelbar vor das wirkliche Auge gebracht,
unerträglich wäre, nur im Spiegel des Bewußtſeins eines Zweiten zu zeigen,
ein Mittel, das jedoch dem Schauder nur den graſſen ſtoffartigen Cha-
rakter nehmen, nicht ihn erſparen ſoll, ja denſelben im geiſtigen Reflexe
vielmehr unendlich ſteigert (vergl. §. 388, 1.). Dieß epiſche Element,
in’s dramatiſche verſetzt, muß nun natürlich, von dem Charakter des letzteren
ergriffen, einen beflügelten, ſchlagenden, kürzeren Styl annehmen. Bei den
Alten waren die Berichte von Boten, Wächtern u. ſ. w. als ſtehende Form
neben den lyriſchen Geſängen in der Tragödie unterſchieden und geläufig,
ſie haben noch mehr ſpezifiſch epiſchen Ton und lieben größere Länge, als
die modernen Erzählungen, wo das dramatiſche Gefühl in dieſen Theil
ſtärker eingedrungen iſt. Man vergleiche mit antiken Erzählungen die zwei
in Göthe’s Iphigenie, wo dieſe das Schickſal ihres Hauſes, Oreſtes die
Ermordung ſeiner Mutter berichtet, man bemerke namentlich, wie gern die
raſche Rede in’s Präſens übergeht, und man wird den Unterſchied erkennen.
Es gibt innerhalb dieſes Charakters der dramatiſchen Erzählung wieder einen
Unterſchied des mehr Epiſchen, mehr Lyriſchen und mehr ſpezifiſch Drama-
[1392] tiſchen; mehr epiſch werden wegen des Gezogenen und Maſſenhaften im
Stoffe z. B. Berichte von Reiſen, Schlachten, Zurüſtungen zu einer Unter-
nehmung ſein, mehr lyriſch Erzählungen von tief ſtimmungsvollen Mo-
menten wie im Hamlet die herrliche Erzählung von Ophelia’s Tod: „es
neigt ein Weidenbaum ſich über’n Bach;“ mehr rein dramatiſch alle Schil-
derungen kritiſcher Schickſalsmomente, wie Wallenſtein’s Erzählung von
dem Abend vor der Lützner Schlacht, oder furchtbarer Thaten, Verübung
eines Mords u. ſ. w. — Der Monolog iſt lyriſch als ein mehr oder
minder empfindungsvolles Inſichgehen des Subjects. Er bildet ſubjective
Ruhepuncte im Gedränge, in der ſtürmiſchen Reibung der Kräfte, im vor-
wärts drückenden Gange der Handlung. Er iſt aber, da hier Alles in der
helleren Sphäre des Bewußtſeins geſchieht, zugleich weſentlich Moment der
Selbſtbeſinnung, denkend, gnomiſch in der weiteren Bedeutung des Worts.
Daher iſt er beſonders motivirt und kehrt in faſt regelmäßigen Pauſen
wieder, wo der Held lange zweifelt, oder wo er in der Einſamkeit des Böſen
einer Welt gegenüber ſeine Plane überlegen muß, oder wo den Verbrecher
von Stadium zu Stadium ſein Gewiſſen überfällt; ſo im Hamlet, Wallen-
ſtein, Makbeth, Richard III, Othello. Allein der Dichter muß ſich hüten, daß
er darüber nicht das Grundgeſetz, die Beziehung auf die Handlung vergeſſe;
der Monolog, mag er mehr oder weniger Beſinnung enthalten, ſoll vom
Affecte getragen ſein, aus ihm fließen, in ihn auslaufen, am Bande des
leidenſchaftlichen Wollens bleiben, die Handlung negativ durch Hemmung
oder poſitiv durch Eingreifen fördern. Wie draſtiſch ſind Hamlet’s reflexions-
kranke, ſelbſt Fauſt’s von Wiſſensdurſt glühende Monologen! Die moderne,
namentlich deutſche Poeſie iſt ſeit langer Zeit auf dem beſten Wege, im
Monologe lyriſch zu ſchwelgen und philoſophiſch zu grübeln, ja er iſt ihr
recht die Zufluchtſtätte für ihre Scheue vor Handlung. Man darf unter
Verwahrung vor ſolchem Abweg allerdings einen mehr lyriſchen, mehr be-
trachtenden, mehr dramatiſchen Monolog unterſcheiden. Juliens Monolog
vor der Brautnacht, Egmont’s Monolog im Gefängniß z. B. iſt lyriſch,
Makbeth’s: „Wär’s abgethan, wie es gethan iſt“, Hamlet’s: „Sein oder
Nichtſein“, Wallenſteins: „Wär’s möglich“ betrachtend, dagegen: „Du haſt’s
erreicht, Octavio“, Buttler’s: „Er iſt herein,“ Makbeth’s vor dem Morde
Duncan’s „Iſt das ein Dolch?“ ächt dramatiſch. — Der Dialog iſt, wie
wir geſehen, die eigentliche Form, durch welche die Subjectivität der Lyrik
in Wechſelwirkung und Kampf von Subjecten, dadurch in die Objectivität
der Handlung übergeht. Da aber die Handelnden wiſſen müſſen, was und
warum ſie wollen, und es gegeneinander vertheidigen, ſo iſt das Geſpräch
zu großem Theil ein Austauſch von Gründen; namentlich ergibt ſich ganz
von ſelbſt jene geflügelte Wechſelrede, die in kurzen Sätzen Behauptung
und Einwendung herüber und hinüberwirft: die Stichomythie. Allein gerade
[1393] hier zeigt ſich der Unterſchied vom logiſchen Geſpräche an der Eile und
Leidenſchaftlichkeit dieſes Zuwerfens. Der Dialog ſoll ja in die Handlung
münden, er iſt ja im Drama der Ausdruck davon, daß der bewegte Geiſt
ſich zur That erſchließt, Arm und Hand, Schwert und jeden körperlichen
Stoff von innen heraus in Bewegung ſetzt, der Dialog muß eben der Hebel
dieſes Uebergangs ſein. Das Feuer, das ihn darum beherrſchen ſoll, darf
auch nicht bloß lyriſche Innigkeit ſein, die ſich in Wechſelgeſängen des Ge-
fühls ergeht. Es beſteht allerdings auch im Dialog ein Unterſchied zwiſchen
dem mehr Lyriſchen, wie namentlich in Liebes-Dramen (Romeo’s und Juliens
Geſpräch nach der Brautnacht z. B. erinnert unmittelbar an die Tage- und
Wächter-Lieder des Minnegeſangs), in Parthieen des Jubels über Glück, der
Wehklage über Unglück (ſo die geſang-artigen Wechſelklagen der Frauen in
Richard III), zwiſchen dem mehr Logiſchen oder Gnomiſchen, wo es auf Recht-
fertigung und Widerlegung ankommt, und dem eigentlich Dramatiſchen, wo der
Affect entweder dunkler zu Grunde liegt, wie in den Geſprächen, durch welche
Oedipus ſein eigenes Unheil erforſcht, der Ton der tiefen, furchtbaren Bangig-
keit, in die der Unwille und die Ungeduld übergeht, oder wo er ganz
ausbricht, der Entſchluß da iſt und die Vollziehung folgt; da aber ſchließlich
Alles auf das letzte Moment führen ſoll, ſo muß dieß auch den erſteren
Formen Ton und Farbe geben. Recht ganz dramatiſch ſind die vollen,
gewaltigen Ergießungen affectvoller Beredtſamkeit, wo die kürzere Wechſel-
rede wie in prachtvollen Strom ſich ſammelt und hervorſtürzt; ein ſolcher
Feuerſtrom iſt z. B. Apollon’s Zornrede, womit er die Eumeniden aus
ſeinem Tempel jagt (Eumeniden des Aeſchylus). Der dramatiſche Dialog
hat ſo ſeinen Rhythmus im Wechſel des Gedrängten und Entwickelten, des
kühler Betrachtenden, wärmer Gefühlten, heiß Gewollten, des Stockens,
Laufens, Stürzens und es iſt eine feine Sache darum, ihn in dieſem Sinne
mit poetiſch muſikaliſchem Ohre zu belauſchen.
3. Daß jene Mittel, wodurch die Sprache aus einem todten Organe
der Proſa zum idealen Leben, aus der Farbloſigkeit zur Farbe gerufen wird
und die wir in §. 850—854 beſprochen haben, im Drama zur vollſten
Kraft gelangen, bedarf keines Beweiſes. Namentlich wird die Rede be-
ſonders lebhaft in den ſogen. Figuren ſich bewegen. Der Tropus wird
wie in der Lyrik die kühnere Metapher dem auseinanderhaltenden und be-
gründenden Gleichniſſe vorziehen. Wir verweiſen ſpeziell auf das, was in
§. 854 über den Unterſchied der Style in dieſer Sphäre geſagt iſt; jetzt
handelt es ſich zwar von einem Unterſchiede der Zweige und der große
Gegenſatz der Style beſteht neben dieſem ſo, daß jede Stylrichtung in Epos,
Lyrik, Drama ihren allgemeinen Charakter bewahrt; doch nicht, ohne ihn
zu modificiren, und zwar ſo, daß auch der plaſtiſch ideale Styl im Drama
die überraſchenderen, phantaſtiſcheren Bilder liebt, die übrigens dem charak-
[1394] teriſtiſchen Styl eigen ſind. Wir haben ſchon zu jenem §. bemerkt, daß die
griechiſchen Tragiker reich ſind an ſolchen wie aus traumhaft dunklem Grunde
ſeltſam aufglühenden Bildern, die an Shakespeare erinnern. Die feurig
bewegte Stimmung des Drama wühlt die Phantaſie leidenſchaftlicher auf, der
ſpannende Gang läßt keine Zeit, das Bild zu begründen, zu rechtfertigen, es
muß ſchlagartig wirken, zuerſt befremden, dann wie in Blitz beleuchten, über-
zeugen. — Es iſt der geniale Takt der Griechen, der ſie führte, den Jambus
als dramatiſchen Vers auszubilden. Wie ganz ſein Charakter der drama-
tiſchen Bewegung entſpricht und wie der Trochäus der Spanier eine aus
Feierlichkeit und lyriſchem Verhauchen gemiſchte, undramatiſche Stimmung mit
ſich führt, iſt ſchon im Abſchnitte von der Rhythmik geſagt. Die längere, breit-
ſpurigere Bahn des Trimeter im Unterſchiede von der kürzeren des fünffüßigen
Jambus im neueren Drama bezeichnet aber auch nach dieſer Seite den
Gegenſatz der Style. Färbung und Belebung durch Zwiſchenklang anderer
Metren (Anapäſte und Spondäen), durch einen Kampf von Wort- und
Vers-Accent, durch die Wechſel des Verhältniſſes zwiſchen Wortfuß und
Versfuß fehlt natürlich auch dem Jambus nicht; daß er im claſſiſchen
Drama von lyriſchen Strophen unterbrochen wird, gehört nur ſoweit hieher,
als die Einflechtung von Reimen im modernen Drama als Ausdruck durch-
brechender lyriſcher Stimmung, der freilich ſparſam ſein ſoll, dieſem Form-
wechſel ungefähr entſpricht. Durchherrſchender Reim, wie z. B. in Göthe’s
Fauſt, kann nur für die Spezialität eines Drama gerechtfertigt werden,
das ſich in innerliche Tiefen verſenkt, die von der Dicht-Art im Ganzen
mit Recht vermieden werden, daneben aber das Phantaſtiſche und Natura-
liſtiſche walten läßt. Der Gebrauch der Proſa hängt mit dem Styl-Unter-
ſchiede zuſammen, den wir erſt im Folgenden aufnehmen. Im hohen Drama
wird er da begründet ſein, wo eine graſſe Wirklichkeit durchbricht, wie im
Makbeth, wo die Lady als Nachtwandlerinn auftritt, im Fauſt nach den
Blocksbergſcenen, wo der Held das Schickſal Margaretens erfahren hat und,
nachdem ihm die Augen ſo fürchterlich aufgegangen, dem Mephiſtopheles
die wilden Vorwürfe macht. Komiſche Einſchiebungen werden ebenfalls
paſſend in proſaiſcher Sprache reden, dieß entſpricht der Natur des Komi-
ſchen, obwohl es nicht nothwendig durch ſie gefordert iſt.
§. 902.
In keinem Kunſtwerke hat die Compoſition ſo hohe Bedeutung wie
im dramatiſchen. Die Zeit und den Raum, in die ſie ihre Handlung ſetzt,
idealiſirt ſie im Sinne der Zuſammenziehung und des gemäßigt freien Wechſels.
Die Handlung ſelbſt beherrſcht durch ſtrenge Einheit die ihr untergeordnete,
ſparſame Vielheit von einzelnen Handlungen, worin die Epiſode nur die
[1395] beſchränkteſte Geltung hat, und theilt wie das Epos ihre Gruppen vor Allem
in Hintergrund und Vordergrund. Sie bewegt ſich weſentlich in wirkſamen
Contraſten, ſchreitet in ſtraff bindender Motivirung fort, wirft die
retardirenden Momente im Wachſen und Anſchwellen des herrſchenden Pathos
und hinter ihm der Schickſalsmacht mit beſchleunigtem Gang und kurzen Nuhe-
puncten nieder und gliedert ihren Uhythmus in Schürzung, Verwicklung,
Löſung des Knotens oder Kataſtrophe: eine Dreiheit, die ſie mit der
epiſchen Compoſition theilt, die ſich aber hier in beſtimmte Einſchnitte, Acte
genannt, zerlegt, welche ſich naturgemäß zur Fünfzahl erweitern und wieder in
einzelne Auftritte zerfallen.
Der oberſte Satz des §. iſt genauer ſo auszudrücken: kein Werk der
Kunſt iſt ſo ganz Compoſition wie das Drama, denn in keinem wird aller
Stoff ſo durcharbeitet und alles Einzelne ſo ganz und ſtraff in einen Zu-
ſammenhang gerückt, worin es ſeine ganze Bedeutung durch die Beziehung
zum Andern hat. Das iſt die weitere, ſpezifiſch künſtleriſche Bedeutung
jenes Ariſtoteliſchen Satzes, den wir in §. 899 zunächſt nur für den In-
halt an ſich, das Weltbild des Drama und das Verhältniß ſeiner Seiten,
geltend gemacht haben, des Satzes, daß in der Tragödie nicht die Menſchen,
ſondern die Zuſammenſtellung der Begebenheiten, die Behandlung des Mythus
(der Fabel) die Hauptſache ſei; Ariſtoteles fügt eine feine Vergleichung mit
der Malerei hinzu: ein monochromes, gut componirtes Bild erfreue weit
mehr, als ein anderes mit planlos aufgetragenen ſchönen Farben. Die
Farbe entſpricht der Charakterzeichnung, überhaupt aber aller Einzelſchönheit,
allem einzelnen Effecte, wodurch im Zuſchauer ein Intereſſe erweckt wird,
das ſtoffartig iſt, wenn es ſich nicht in das reine Intereſſe für das Ganze
und ſeinen Gang aufhebt, in welchem Alles ſich gegenſeitig bedingt, hält
und trägt. — Was nun zuerſt die allgemeinen Exiſtenzformen, Raum und
Zeit, betrifft, in denen das Drama ſich bewegt, ſo gehen wir über die
Frage von den ſogenannten Einheiten derſelben in Kürze weg, um eine
längſt abgethane und veraltete Debatte nicht müßig aufzuwärmen. Es
iſt ſchon dadurch, daß der §. den Begriff der Einheit erſt bei der Handlung
einführt, dem Anſinnen ausgewichen, uns noch einmal mit den Franzoſen
und ihrem mißverſtandenen Ariſtoteles zu beſchäftigen. Oft genug iſt es
geſagt, daß die Poeſie und am entſchiedenſten das Drama die Zeit idealiſirt,
indem die Strecken derſelben, worin nichts an ſich Bedeutendes, nichts für
die gegenwärtige Handlung Bedeutendes geſchieht, für ſie gar nicht vor-
handen ſind. Allerdings darf man aber ebendarum nicht an den Unterſchied
der gemeinen Zeit von der empiriſchen ausdrücklich erinnern, wie in jenen
neueren, namentlich franzöſiſchen Effectſtücken geſchieht, welche buchſtäblich
ankündigen, daß zwiſchen den Acten zehn, zwanzig und mehr Jahre ver-
[1396] ſchwunden zu denken ſind, und Perſonen, die im erſten Act als Jünglinge
auftreten, im letzten als graue Greiſe vorführen. Die Idealiſirung der Zeit
iſt, wie alles Schöne, eine Zuſammenziehung und derſelbe Begriff gilt zu-
nächſt auch von der Behandlung des Raums: das weite Sehfeld des Epos
zieht ſich in einen verhältnißmäßig engen Raum mit nur angedeuteter Ferne
zuſammen, die empiriſche Weltbreite hat für uns in dem Augenblicke, wo
der höchſte Lebens-Inhalt ſich auf den gegenwärtigen ſchmalen Punct ver-
dichtet, gar keine Exiſtenz. Allein die Phantaſie, von innen heraus arbeitend,
dem Kerne, der Handlung die umgebende Sphäre von innen heraus ſetzend,
kann mit ihren geiſtigen Schwingen dieſen Inhalt in jedem Moment auf
einen andern Punct des Raums hinübertragen; iſt nur der innere Zuſam-
menhang gerechtfertigt, ſo mag das Wo durch die mitwirkenden äußern
Motive beſtimmt werden. So wird hier die Idealiſirung zum freien Wechſel,
allein der Begriff der Zuſammenziehung erhält ſich, tritt noch einmal auf.
Willkür im Gebrauche dieſer Freiheit iſt nämlich ihr ſelbſt im Wege, indem
ſie gerade an die empiriſche Wirklichkeit erinnert, wo ſie in idealem Schwung
über ſie hinfliegen wollte. Zu häufiger Wechſel des Orts beunruhigt, erinnert
durch dieſe Unruhe an die proſaiſche Arbeit der gemeinen Raumüberwindung,
weist hinaus auf die unendliche Breite des Raums, die wir in der Con-
centration der Handlung auf einen Punct deſſelben vergeſſen ſollten, und
wirkt wie eine bunte, naturaliſtiſch behandelte Baſis als Piedeſtal eines
plaſtiſchen Monuments. Bekanntlich iſt bei Shakespeare der raſche Wechſel
durch die Armuth der damaligen Theater-Einrichtung entſchuldigt und tritt
die unpoetiſch ablenkende Wirkung erſt ein, wo dieß mit dem Reichthum
unſerer ſceniſchen Mittel nachgeahmt wird.
Dagegen ſteht als unverbrüchliches Geſetz die ſtraffe Einheit der Hand-
lung feſt. Die Handlung zerlegt ſich in untergeordnete Handlungen, es
geſchieht natürlich Mehreres in der Art, daß zunächſt die verſchiedenen Er-
eigniſſe nebeneinander getrennt herzulaufen ſcheinen. Im Wilh. Tell z. B.
wird auf verſchiedenen Puncten das Volk mißhandelt, dann tritt neben dem
Helden die berathende Thätigkeit anderer Volkshäupter hervor u. ſ. w. Die
Einheit muß zeitig dieſe Fäden zuſammenfaſſen und ihnen ihr bindendes
Centrum geben. Von Beiſpielen, wie ein Faden ſich trennt, das Intereſſe
von der Haupthandlung abzieht und ſtörend nach einer andern wendet,
ſtehe hier ſtatt vieler die Ausweichung vom heroiſchen Inhalt zu einer
Liebesgeſchichte und Colliſion der Leidenſchaft im Götz von Berlichingen;
von tiefer Verbindung einer doppelten Fabel hat dagegen §. 500, Anm. 1
ein Beiſpiel aufgeſtellt im König Lear. Shakespeare liebt dieſe Compoſitions-
weiſe namentlich in der Komödie; hier verkittet er durch Ineinandergreifen
der einzelnen Handlungen und durch Contraſte feſt und täuſchend die zwei
Beſtandtheile, aber doch nur pragmatiſch, nicht wahrhaft innerlich; die
[1397] Bemühungen, im Kaufmann von Venedig, im Sommernachtstraum, in der
gezähmten Keiferinn eine organiſch herrſchende Einheit aufzuzeigen, werden
gegen das Zugeſtändniß vertauſcht werden müſſen, daß der Dichter es im
Luſtſpiele leichter nahm, als in der Tragödie. Der Kitt gleicht jenem Kalke
alten Mauerwerks, der ſo feſt iſt, daß eher die Steine brechen, als die
Fugen ſich löſen laſſen, iſt aber doch nur Kitt. Es iſt überhaupt eine
gewagte Sache, zwei ſymmetriſche Fabeln ohne Störung des Verhältniſſes
zwiſchen Ueberordnung und Unterordnung nebeneinander herzuführen und
die Aufgabe wird nicht leicht wieder ſo gelöst werden wie im König Lear.
Die einfache, natürliche Compoſition wird in klarer Unterordnung eine
Mehrheit von Zweig-Handlungen um die Haupt-Handlung ſo gruppiren,
daß dieſelben als Veräſtung ihres Stammes ſich leicht zu erkennen geben.
Sie dürfen ſich nur nicht, auch in der reicheren Fabel des charakteriſtiſchen
Styles nicht, zur epiſchen Fülle ausbreiten. Daß in dieſer Ausbreitung
vollends das Epiſodiſche auf den denkbar engſten Spielraum eingegrenzt
wird, ergibt ſich aus dem Grundgeſetze ſtraff angezogener Einheit. Es kann
ſich hier nur darum handeln, daß eine Scene etwas weiter ausgeführt wird,
als der Zweck, die Handlung zu fördern, es erheiſcht, niemals darum, ob
eine Scene ſich einſchieben dürfe, die dieſem Zwecke nicht dient, ſie wäre
denn klein und anſpruchlos. Die breitere Ausführung mag z. B. die Abſicht
haben, den Typus eines Standes, die Form gewiſſer Culturzuſtände zu
einer relativen Selbſtändigkeit des Bildes zu entwickeln, aber ſie ſei nach
Anfang und Ende feſt eingefugt in den Bau des Ganzen. Einige Beiſpiele
gibt §. 496, Anm. — Zwiſchen dem Momente der Einheit und Vielheit
liegt als Mittelglied eine Zweiheit, nämlich jener Unterſchied von Hinter-
grund und Vordergrund, den wir ſchon im epiſchen Gebiet (§. 870, 2.)
aufgeführt haben und der in ſeiner Anwendung auf das Drama nicht ver-
wechſelt werden darf mit dem verwandten Begriffe, wie er in §. 122 ff.
aufgeſtellt iſt, um das Weſen der tragiſchen Bewegung zu beſtimmen. Jetzt
hat er ſpezifiſch künſtleriſche Bedeutung. Hintergrund iſt z. B. in Romeo und
Julie der Zwiſt der Familien (weſentlich bedeutend als Schooß, woraus
das tragiſche Geſchick hervorgeht, doch im Colorit mit Recht nur wenig
ausgeführt), im Othello der Krieg Venedigs, im Wallenſtein ſind es eben-
falls die Kriegsverhältniſſe, in Wilh. Tell das ſich verſchwörende, dann
handelnde Volk. Der Hintergrund iſt der Boden, worauf die Handlung
vor ſich geht, deutet auf das Maſſenhafte, das breite Weltweſen hinaus;
dieß verhält ſich ähnlich im Epos, aber hier wird der Hintergrund breit
ausgeführt, im Drama ſoll er nur eben ſo viel Entwicklung genießen, daß
er dem Vordergrunde, der Haupthandlung, ihre Vorausſetzung, begleitende
Erklärung, Atmoſphäre, Stimmung gibt, wie dem Wallenſtein ſeinen
„Pulvergeruch“.
[1398]
Die Herrſchaft ſtarker Contraſt wirkungen neben den milden ergibt
ſich aus dem durchſchlagenden, ſtoßweiſen Gange des Drama. Sie liegen
theils in den Charakteren, theils in den Handlungen. So ſteigert Shakes-
peare die Schwärze von Makbeth’s That durch Duncan’s reine Güte, wobei
er den Tadel der Schwäche unterdrückt, welchen ſeine Quelle, die Chronik,
enthielt, ſo die Furchtbarkeit des Mords durch den friedlichen Eindruck der
Schwalbenneſter, der balſamiſchen Luft, unter welchem Duncan in Makbeth’s
Schloß tritt. Strenge Motivirung folgt als unverbrüchliche Forderung
daraus, daß der dramatiſche Dichter ſeinen Stoff in das ſtraffſte Netz der
ethiſchen Cauſalität ſchnüren muß. Dieß ſcheint mit der Forderung des
ſtoßweiſen Fortſchritts, der entſcheidenden Ausbrüche, kurz mit dem hier ſo
ſtark waltenden Momente der Plötzlichkeit in Widerſpruch zu ſtehen. Allein
wir haben bereits geſagt, daß gründliche Vorbereitung nicht die Ueber-
raſchung aufhebt. Der Durchbruch einer Summe von Kräften zu einer
ſtarken Wirkung iſt immer etwas wirklich Neues, obwohl nur ein reif
gewordenes Maaß deſſen, was vorher ſchon da war. Die Motivirung
muß vor Allem eine innerliche ſein, d. h. Pathos und That muß aus dem
Charakter, indem er beſtimmte äußere Umſtände vermöge ſeiner ganzen
Organiſation zu Triebfedern erhebt, mit innerer Nothwendigkeit fließen.
Schwieriger iſt die Frage, wie weit die Motivirung beſtimmter Momente
einer Handlung an das Aeußere anknüpfen ſoll. Göthe erzählt z. B.
(Eckerm. Th. 1, S. 196 ff.), Schiller habe ſeinen Geßler ohne äußern
Anlaß auf den grauſamen Gedanken kommen laſſen wollen, daß Tell dem
Kind einen Apfel vom Kopfe ſchieße, mühſam habe er ihn dahin gebracht,
dieſen Gedanken dadurch zu motiviren, daß der Knabe vorher die Geſchick-
lichkeit des Vaters rühme, einen Apfel vom Baume zu ſchießen. — Ihre
beſondere Wichtigkeit hat die Motivirung auf dem Puncte, wo die Ent-
ſcheidung eintritt. Der Deus ex machina war bei den Alten etwas Anderes,
als bei den Neueren. Eingriff einer Gottheit erſchien ihnen nicht als etwas
blos Aeußerliches, weil die Gottheit zum Voraus die Perſongewordene
ſittliche Macht war, welche die neuere Kunſt nur in die Menſchen ſelbſt
legen und aus ihren Handlungen hervorſpringen laſſen darf. An die Stelle
der Götter ſind in der modernen Poeſie Fürſten, fürſtliche Handbillets,
Zufälle, Gelegenheiten zu Lebenserrettungen u. dergl. getreten, und ſolche
Aeußerlichkeit der Motive iſt nicht durch einen ethiſchen Zuſammenhang
entſchuldigt wie der Eingriff jener Tranſcendenz. Wie der rechte Dichter
Alles bindet, zeigt nichts beſſer, als eine Vergleichung bedeutender Dramen
mit der epiſchen Quelle, wo ſie aus ſolcher gefloſſen. Man ſehe z. B. den
Schluß der Novelle nach, die dem Othello zu Grunde liegt: hier wird
Othello Jahre lang nach der Ermordung der Desdemona von Verwandten
derſelben getödtet.
[1399]
Das Drama iſt eigentlich eine Kette von Retardationen, denn ſeine
Handlung iſt weſentlich ein Kampf und dieſer ſetzt Hinderniſſe voraus.
Der intenſiven Stetigkeit nach hat es alſo mehr Hemmung, als das Epos.
Dagegen fällt in der Darſtellungsform weg, was Göthe die rückwärts
ſchreitenden Motive nennt: das Nachholen früherer Begebenheiten, und dem
Inhalte nach nimmt das Epos eine ganze Welt breiter ſinnlicher Retar-
dationen auf, wie Seefahrten, Reiſen u. ſ. w., welche im Drama dieſe Rolle
nicht ſpielen können; ſeine Hemmungen liegen im Gebiete des Willens.
Das Weſentliche iſt nun aber, daß der Druck gegen die Hemmungen im
Drama unendlich ſtärker iſt, als im Epos; der Wille des Helden arbeitet
unaufhaltſam vorwärts bis zum Umſchwung. Wie treibt es Schlag auf
Schlag dem Abgrunde zu im Makbeth, welche abſolute Gravitation bis zum
Schwindel iſt in dieſer Bewegung! Hier blicken wir zunächſt wieder auf
den Charakter zurück: die Hauptaufgabe iſt das Wachſen und Anſchwellen
der Leidenſchaft und vielleicht das ſchlagendſte Beiſpiel die Vergiftung von
Othello’s Gemüth von dem Momente an, da Jago mit den Worten:
„ha! das gefällt mir nicht“ ihm den erſten, feinen Gifttropfen einſpritzt,
bis zu dem wahnſinnigen Aufruhr aller Kräfte und der unſeligen That, die
aus ihm fließt. Allein es ſchwillt gegen das Streben, das den poſitiven
Mittelpunct der Handlung bildet, gleichzeitig die feindliche Welt an, was
freilich in ſolchen Dramen, die auf politiſchem Boden ſpielen, ſichtbarer vor-
liegt, als in dieſem Bilde der Leidenſchaft, wo der ſchließliche Gegner die
drohende und endlich eintretende Entdeckung der Wahrheit iſt; ſo im Jul.
Cäſar, Coriolan, Makbeth, Hamlet, Wallenſtein; der Held wirft zuerſt
die aufſteigenden Hinderniſſe nieder, dann aber zeigt ſich, daß dieſe in
ſtetem Druck, wie eine zuſammenpreſſende Maſchine, ſiegreich vorrücken,
wiewohl ihre Organe im Sieg auch ſich ſelbſt Leiden bereiten. Es iſt alſo
eine ironiſche Doppelbewegung. Im Hamlet hat es der Dichter gewagt,
den Helden ſelbſt als fortwährend retardirenden, unter den furchtbarſten
Vorwürfen gegen ſich ſelbſt zaudernden Charakter zu halten, und die ſchwere
Aufgabe bewundernswerth ſo gelöst, daß der anwachſende, durch ſeine Halb-
mittel genährte Schub der feindlichen Welt ihn in dem Augenblicke zum
ganzen Handeln bringt, wo er ſchon verloren iſt. Eine ſo unerbittlich fort-
ſchreitende Bewegung fordert ihre Ruhepuncte, nur folgt von ſelbſt,
daß dieſe nach der andern Seite die Wirkung derſelben erhöhen; es verhält
ſich genau wie mit den Pauſen im Erhabenen der Kraft (vergl. §. 99):
die vorhergegangenen Stöße zittern in ihnen nach und geſpannte Erwartung
ſieht vorwärts auf das, was ſie vorbereiten; ihre Ruhe verſtärkt den Ein-
druck der vorhergehenden und folgenden Unruhe, ſie gehören alſo ebenſoſehr
zu den Contraſten. Ein ſolcher Ruhepunct iſt im Makbeth die in anderem
Zuſammenhang ſchon erwähnte Scene, da Duncan in das Schloß ſeines
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 90
[1400]Mörders eintritt, dann die Pförtnerſcene nach der Vollziehung und vor der
Entdeckung des Mords (wobei wir von der Frage abſehen, ob es paſſend
ſei, daß ſie komiſch behandelt iſt); Lear’s Schlaf iſt ein rührendes Ausruhen
von den vorhergegangenen Stürmen auch für den Zuſchauer, aber ebenſo-
ſehr ein Moment, wo wir uns für das Letzte, Traurigſte vorbereiten müſſen.
Im Wallenſtein iſt das Liebes-Verhältniß zwiſchen Max und Thekla, auch
das Aſtrologiſche ein wiederkehrender, zu ſehr ausgedehnter Ruhepunct, ein
äußerſt wohlerfundener und ſchön ausgeführter die Scene, wo Wallenſtein
zum letzten Mal, in der Stimmung milder Wehmuth, auftritt. Daß die
Monologe im Allgemeinen ebenfalls unter dieſen Standpunct fallen, iſt
ſchon zu §. 901, 2. berührt; ſie beruhigen durch die Einkehr in ſich, es er-
ſtreckt ſich aber die vorhergehende Wirkung in ſie herein und die kommende
erzeugt ſich in ihnen.
Was nun den Rhythmus dieſer ganzen Bewegung und ſeine Tempi
betrifft, ſo findet hier die deutlichſte und vollſte Anwendung, was §. 500, 2.
aufgeſtellt und erläutert iſt. Dort haben wir bereits einen Blick auf das
Drama geworfen und gezeigt, wie ſich die Dreiheit der Hauptmomente,
welche Ariſtoteles unterſcheidet, Anfang, Mitte und Ende, zu der Zweiheit
der Schürzung und Löſung verhält, in welche er das Ganze der Tragödie
ſetzt: die Schürzung zerfällt in Vorbereitung und ſteigende, ihren Gipfel
erreichende Verwicklung, alſo in zwei Momente, und dann folgt als drittes
die Löſung, die Abwicklung, in ihrer entſcheidenden Kriſis Kataſtrophe,
als Bild des Schickſal-Umſchlags von Glück in Unglück die Peripetie
genannt. Der Anfang oder die Vorbereitung heißt Expoſition, im Unter-
ſchiede von der engeren Bedeutung des Wortes, welche ſich auf eine Er-
zählung beſchränkt, die zum Eingang von der Lage der Dinge Bericht
erſtattet: die Expoſition (der Prologos in der Eintheilung der Griechen)
im weiteren Sinne gibt das, woraus die Handlung als ihrem Keime ſich
entwickelt, die Situation. Die Diagnoſe der ächt dramatiſchen Situation
iſt weſentliche Eigenſchaft des ächten dramatiſchen Dichters und ſein beſter
Glücksſtern, wenn er Stoffe findet, die ſie ihm darbieten. Die Lage eines
Oedipus, einer Antigone, eines Oreſtes, Hamlet, das ſind dramatiſche
Situationen. Natürlich iſt aber die Expoſition nicht ruhiges Bild, ſondern
es geſchieht ſchon weſentlich etwas, wodurch die Handlung in Gang kommt,
die Dinge ſich verwickeln müſſen, wie z. B. im Tell der Zuſtand des ſchönen
Hirtenlandes unter dem Drucke der Vögte nicht etwa blos durch Schilderung
und Gefühl ſich darſtellt, ſondern ſogleich neue Gewaltthaten der Tyrannei,
Acte der Selbſthülfe, Entſchlüſſe zu Thaten auf der Seite der Schweizer
erfolgen. Der mittlere Theil, die Verwicklung oder Schürzung, iſt die
Strecke, worin recht die dramatiſche Spannung ihren Sitz hat, naturgemäß
der ausgedehnteſte, der in die reichſte Reihe von Momenten ſich zerlegt.
[1401] So geht im Makbeth die Stufenfolge vom erſten Morde zum zweiten,
dann zu der Hexenſcene, welche den Helden durch den innern Widerſpruch
der Prophezeihungen in fieberhafte Wuth ſtürzt, dann zu der Ermordung
der Familie Makduff’s weiter, und in gleichem Schritte mit dieſer Reihe
von Thaten läuft das Wachsthum der innern Zerſtörung und der Macht,
welche die äußere Zerſtörung bereitet; mit der letzten Stufe, der That der
wilden Grauſamkeit gegen Makduff’s Familie, iſt der Held auf dem Gipfel
angekommen, ja er hat den Fuß ſchon darüber hinausgeſetzt, das Aufſteigen
iſt bereits entſchieden ein Herabſteigen. Ueberhaupt wird ſich der Moment
des beginnenden Falles, die Vorbereitung der Peripetie, vermöge des innern,
ironiſchen Widerſpruchs der Bewegung immer ſchon auf dieſer Strecke der
Verwicklung einſtellen und ein Punct, wo er eintritt, eigentlich nicht nach-
weiſen laſſen, wohl aber wird ſich ein ſichtbarer Gipfel des Glücks auf-
zeigen laſſen, wo der Held, der die Vorboten ſeines Falls nicht ſieht oder
ſich darüber wegſetzt, ſeinen Zweck erreicht zu haben glaubt, und von dieſem
Höhepunct an geht es dann augenſcheinlich bergab. Die Kataſtrophe ſelbſt
verläuft natürlich auch wieder in einer Gruppe von Momenten, zumal da es
ſich nicht blos um das Schickſal der Hauptperſon, ſondern auch der Neben-
perſonen und die Folgen handelt, die in die Weite, in den Hintergrund
ſich erſtrecken. Ueberſieht man dieſe Theile, ſo ergibt ſich wie von ſelbſt die
Erweiterung der drei Hauptmomente in fünf, die ſich mit Rückſicht auf die
Bühne, das Fallen des Vorhangs und die Pauſen als Acte darſtellen:
Einſchnitte, die bei den Alten bekanntlich durch die Chorgeſänge gebildet
wurden und erſt, als mit der neueren Komödie der Chor wegfiel, eigent-
lichen Stillſtänden der Handlung Platz machten. Die Verwicklung, die
Mitte, wird nämlich mehr Ausdehnung in Anſpruch nehmen, als Anfang
und Ende, und mit ihren verſchiedenen Stufen drei Acte fordern. Doch
können auch Fälle vorkommen, wo die Kataſtrophe zwei Acte verlangt,
indem die Nachwirkungen der eigentlichen Entſcheidung, z. B. für eine ganze
Nation wie im Wilh. Tell, noch ausdrücklich entwickelt ſein wollen. Die
Alten hatten drei Hauptabſchnitte; Prolog: der Theil, der die Expoſition
enthielt und vor den Eintritt des Chors fiel; Epeisodion: die Scene zwiſchen
dem Einzuge des Chors und den Standliedern deſſelben; Exodos: nach dem
letzten Standliede. Der mittlere dieſer Theile, die Verwicklung enthaltend,
zerfiel nach der Natur des Stücks in mehr oder weniger von Standliedern
getheilte Momente. Die Fixirung des Ganzen auf eine beſtimmte Zahl von
Acten, wie ſie zuerſt Horaz aufſtellt, kann zwar keine bindende Regel ſein,
aber es iſt gut und recht, daß ſich ein Brauch feſtgeſetzt hat. Die Acte
theilen ſich wieder in Scenen, dieſe in ihre einzelnen Gruppen und Situa-
tionen und das Drama erſcheint ſo gegenüber dem ſtetigen Fluſſe des Epos,
der mit geringerem Grad innerer Nothwendigkeit in Geſänge zerfällt, als
90*
[1402]ein durch und durch gegliederter Körper. Wichtig iſt die Frage über die
letzten Scenen, ſofern dabei das Compoſitionsgeſetz der ſchließlichen feſten
Begrenzung (vergl. §. 501) im tiefſten Zuſammenhang mit dem Inhalte
zur Anwendung kommt. Es handelt ſich im Tragiſchen darum, wie weit
der Dichter uns eine Ausſicht eröffnen will, die uns mit der Härte des
Schickſals verſöhnt. Dieſe Ausſicht darf nicht zu entwickelt ſein, wenn ſie
nicht zu einem gemeinen und trivialen Begriffe von Gerechtigkeit führen
und überdieß in die Breite des Empiriſchen, das neben dem idealen Aus-
ſchnitte des Drama’s eigentlich nicht exiſtirt, ablenken ſoll; ſie darf nicht
fehlen, wie am Schluſſe vom Don Carlos und in großen Schickſals- und
Effect-Stücken, die mit einem reinen Mißklang endigen. Shakespeare hat
das Maaß am richtigſten getroffen. Erörterungen wie die, ob man gut
thue, den letzten Auftritt der Maria Stuart bei der Aufführung gewöhnlich
wegzulaſſen, ſind für dieſes Moment der Compoſition ſehr belehrend. Unter-
laſſung oder zu lange Fortführung eines letzten Strichs kann in einem ſo
höchſt conciſen Kunſtwerke wie das Drama viel verderben.
Der §. enthält nichts von cycliſchen Compoſitionen, weil über eine
zweifelhafte und wirklich unweſentliche Seite in Kürze nichts Poſitives auf-
zuſtellen iſt. Die Trilogieen der Alten konnten bei der Kürze ihrer Stücke
an Einem Abend miteinander aufgeführt werden; dennoch ſind die Glieder
derſelben, die ſich wie Expoſition, Verwicklung, Kataſtrophe im einzelnen
Drama verhalten, ebenſoſehr ſelbſtändige, in ſich abgeſchloſſene Dramen.
Den innern Zuſammenhang hielt auch die Jedem geläufige Sage dem
Bewußtſein gegenwärtig. Die neuere Dichtung iſt ſchon durch die, auf
anderweitigen Gründen beruhende, Länge der Stücke gewieſen, Trilogieen
zu vermeiden; denn die Aufführung müſſen wir, obwohl wir ſie jetzt noch
nicht ausdrücklich hinzunehmen, doch immer im Auge behalten und bedenken,
daß die Zerfällung in mehrere Theater-Abende den Zuſammenhang im
Bewußtſein der Zuſchauer zerſchneidet. Das einzelne Stück müßte um ſo
ſelbſtändiger abgeſchloſſen ſein, in demſelben Grade lockert ſich aber der
organiſche Zuſammenhang mit den andern. In Schiller’s, — wenn man
ſie ſo nennen kann, — Trilogie des Wallenſtein iſt das Lager ein genre-
artiges Vorſpiel, die beiden Piccolomini haben viel zu wenig Abſchluß. —
Ein großartiges Beiſpiel eines umfaſſenderen, auf gewichtigen hiſtoriſchen
Stoff und tiefen Schickſals-Zuſammenhang gegründeten Cyclus geben
Shakespeare’s engliſche Dramen. Dieſes Jugendwerk Shakespeare’s (das
z. Th. aus bloßer Ueberarbeitung fremder Stücke beſteht) leidet unläugbar
an chronikaliſch-epiſcher Behandlung, man wird aber darum noch nicht be-
haupten können, es wäre dem reifen Shakespeare unmöglich geweſen, mit
ſtrengerer Ausſcheidung des Stoffartigen eine Reihe cycliſcher Dramen aus
dieſer Epoche der engliſchen Geſchichte zu bilden. In der That kann es
[1403] Stadien der Geſchichte geben, die dem Blick eine große Bahn eröffnen, auf
welcher eine Reihe von Stoffen zu Dramen liegt, die ſich wie Ausſaat und
Aerndte zu einander verhalten, und der Auflöſungsgang des engliſchen
Feudalſtaats iſt offenbar ein ſolches Stadium. Aber es gehört große Kunſt
dazu, eine ſolche Bahn zu durchmeſſen, ohne in das Maſſenhafte, Epiſche
zu verfallen. Es war nicht unmöglich, Heinrich IV und V in Ein ſelb-
ſtändiges Schauſpiel zuſammenzudrängen und die Abtheilungen Heinrich’s VI
in Eine Tragödie. Dieſe Mitte blieb allerdings auch bei der kunſtvollſten
Behandlung dramatiſch loſer, als die feſten Anfangs- und Schluß-Puncte
Richard II und Richard III. — Das aber verſteht ſich, daß es verkehrt iſt,
von der Anſicht ausgehend, ein Cyclus ſei eine höhere Compoſition, nach
der man ſtreben müſſe, nach Stoffen dafür umherzuſuchen und die Geſchichte
abzwingen zu wollen. Bietet ſich ein Stadium zu ſolcher Behandlung dar,
— wie dieß in der Hohenſtaufengeſchichte offenbar nicht der Fall iſt, —
ſo mag es der Dichter verſuchen, ob er einen Cyclus ohne Schaden der
Geſchloſſenheit des einzelnen Dramas, deſſen feſte Compoſition immer das
Höhere bleibt, durchzuführen vermag. Wir möchten nur die Möglichkeit
nicht läugnen.
§. 903.
Vergleicht man nach dieſen Grundzügen das Drama mit dem Epos, ſo
erhellt, daß es an Intenſität und Einheit gewinnt, was es in Vergleichung mit
dieſem an Breite und Fülle verliert. Die milde Gemüthsfreiheit (vergl. §. 869)
iſt, gegen die leicht zu pathologiſcher Wirkung verleitende Unruhe der Spannung
und des ſtoßweiſen, aber geraden Ganges zum dramatiſchen Ziele gehalten, zu-
nächſt ein unbedingter Vorzug des epiſchen Dichters. Aber der dichteriſche Geiſt
bewährt eine um ſo höhere Macht, wenn er trotz und in der Aufregung ſeine
Freiheit behauptet und das Bild des Kampfes zum harmoniſchen Schluſſe führt.
Die reine Einheit des Subjectiven und Objectiven in dem Acte der dramatiſchen
Phantaſie iſt unzweifelhaft höher, als die naive Syntheſe in der epiſchen Dichtung.
Es iſt längſt (vergl. §. 533, 2.) vorgeſorgt, daß wir nicht in falſche
Werthvergleichungen gerathen. Es beſteht ein Stufen-Unterſchied, aber jeder
Gewinn iſt auch Verluſt. Das Intereſſe, welches die Frage über das
Werthverhältniß zwiſchen Epos und Drama ſeit der Debatte über Göthe
und Schiller und der intereſſanten Erörterung zwiſchen den beiden großen
Dichtern ſelbſt (im Briefwechſel Th. 3) gewonnen hat, beſtimmt uns, ein
ausdrückliches Wort hierüber, wie am Schluſſe der allgemeinen Betrachtung
der epiſchen Poeſie (§. 871), folgen zu laſſen. Vom Drama ſagt Schiller
(a. a. O. S. 387): „die Handlung bewegt ſich vor mir, während ich mich
um die epiſche ſelbſt bewege und ſie gleichſam ſtille zu ſtehen ſcheint; da-
[1404] durch bin ich ſtreng an die Gegenwart gefeſſelt, meine Phantaſie verliert
alle Freiheit, es entſteht und erhält ſich eine fortwährende Unruhe in mir,
ich muß immer bei’m Objecte bleiben, alles Nachdenken iſt mir verſagt,
weil ich einer fremden Gewalt folge“, und (S. 72): „der tragiſche Dichter
raubt uns unſere Gemüthsfreiheit, und indem er unſere Thätigkeit nach
einer einzigen Seite richtet und concentrirt, ſo vereinfacht er ſich ſein Ge-
ſchäft um Vieles und ſetzt ſich in Vortheil, indem er uns in Nachtheil ſetzt“.
Er nennt (S. 361) den dramatiſchen Weg den der ſtrengen geraden Linie,
er ſagt, Göthe werde genirt durch den Hinblick auf den Zweck des äußern
Eindrucks, der bei dieſer Dichtungsart nicht ganz verlaſſen werde. Entgegen-
geſetzt urtheilt Ariſtoteles; er geht in ſeiner Werthvergleichung (Poet. C. 27)
ebenfalls vom Zugeſtändniß einer ſtoffartigen Wirkung des Drama aus,
ſchreibt jedoch dieſe nur der Leidenſchaftlichkeit einer übertriebenen Mimik zu
und zieht dann das Drama vor, weil es Alles habe, was das Epos, und
in Muſik und Scenerie noch mehr, ſodann, weil es durch Erkennungen und
Handlungen lebendiger, ferner weil es kürzer, gedrängter ſei „mit weniger
Zeit gemiſcht“ (wobei das Bild gewäſſerten Weins zu Grunde liegt), und
endlich weil es mehr Einheit habe. In dieſen treffenden Sätzen iſt nur
unrichtig, daß die pathologiſche Wirkung blos auf Schuld der Schauſpieler
geſchrieben, nicht als eine dem Dichter ſelbſt nahe liegende Gefahr einge-
räumt, und daß behauptet iſt, das Drama habe ja noch mehr, als was das
Epos hat, ſeine Kürze und Gedrängtheit ſei ein Gewinn ohne Einbuße.
Die pathologiſche Aufregung iſt eine Klippe, die dem Drama vermöge ſeines
inneren Weſens nahe liegt, Muſik und Scenerie erſetzt nicht, was das Epos
an klarer, entwickelter Zeichnung voraus hat, und das breitere, ausführlichere
Weltbild iſt gegen das gedrängtere nicht ohne Weiteres zurückzuſetzen, ſondern
behält ſeinen Werth; Schiller hätte die letztere Seite ausdrücklich hervor-
heben dürfen. Dennoch, wenn wir die Sache im Mittelpuncte faſſen, kann
kein Zweifel ſein, daß das gedrängtere, zu ſtraffer Einheit angezogene Welt-
bild trotz dem Verluſt an anderer Schönheit höher iſt, als das gedehnte und
entwickelte ohne energiſch durchgreifende Einheit. Das Epos läßt unent-
ſchieden, was ſchließlich die Welt beſtimme, das Drama entſcheidet: es iſt
der active und weſentlich imputable Geiſt. Wir haben von der Poeſie
(§. 837, Anm.) geſagt, ſie ſei der gefrorne Wein des Lebens, das Bild
gilt im engſten Sinne vom Drama. Was nun das Pathologiſche der
Wirkung betrifft, ſo führt es auf den Dichter ſelbſt und auf den Punct der
Gemüthsfreiheit, von welchem Schiller ausgeht. Der Dichter bewahrt ſie
im Epos wie der Hörer oder Leſer; im Drama ſcheint ſie durch die Un-
mittelbarkeit der gegenwärtigen Wirkung und des Drängens nach dem Ziele
verloren zu gehen, ja in gewiſſem Sinne geht ſie wirklich verloren, weicht
der Unruhe und Haſt. Allein es gibt eine Ruhe in der Unruhe und der
[1405] wahre Dichter beſitzt ſie. Es iſt ſchwerer, im Sturme frei, feſt und klar zu
bleiben, als auf der ruhigen See, aber es iſt auch eine höhere Bewährung
der Energie des Geiſtes. Göthe war ſehr geneigt, in der Geſchichte nur
Willkür zu ſehen, und vermochte die Idee der Naturnothwendigkeit nicht
dahin umzubilden, daß ſie ſich ihm zu einem Begriffe ſteigerte, der auch
die geſchichtlichen Kämpfe des Menſchen und jene Acte der Freiheit, die
ein Gegebenes revolutionär durchbrechen, unter ſich befaßte; es war ein
Mangel ſeines Dichtergeiſtes, daß er die epiſche Ruhe wohl hatte, aber
nicht die dramatiſche Ruhe in der Unruhe. Wie auf der Seite des
Dichters, ſo verhält es ſich auf der Seite des Zuſchauers. Das Drama
wühlt die ganze Seele gründlicher auf, als das Epos, es iſt um ſo ſchwerer,
nicht pathologiſch fortgeriſſen zu werden, wer aber den Geiſt frei behält,
ſchaut auch um ſo tiefer in den Grund des Lebens. Jede Kunſtform hat
ihre ſpezifiſchen Verirrungen, ihre eigenthümliche Maſſe des Schlechten und
Mittelmäßigen. Es fehlt nicht an Effect- und Rührſtücken ohne Kern,
ohne Erhebung zur Ruhe des Geſetzes. Es gibt Talente, die ſehr leicht
erfinden, eine Fabel wirkſam durchführen und doch aller Tiefe ermangeln;
die dramatiſche Compoſition ſcheint leichter, als die epiſche. Sie iſt es auch
für den, der auf dem geraden Wege zum Ziele wenig zu tragen hat, aber
der ächte Dichter trägt ein ganzes Bild der Welt, iſt ſich bewußt, eine
concrete Anſchauung erzeugen zu müſſen ohne die Mittel der epiſchen Poeſie;
was ſo leicht und kurz ſcheint, iſt geſättigt von Bildungskraft und die An-
ordnung des gedrängten Ganzen fordert tiefere Weisheit, als die des breiten
Epos, dem ein holdes Irren geſtattet iſt. Schiller iſt nicht deßwegen weniger
voller, ſpezifiſcher Dichter, als Göthe, weil er zum Drama berufen iſt,
ſondern weil er nicht gleichmäßig und ſtetig ſeine Subjectivität in der
Handlung zu objectiviren vermag. Shakespeare iſt ganz dramatiſcher Dichter
und größer, als beide. Wir brauchen hier nicht weiter zu gehen, ſondern
nur auf das Weſen des poetiſchen Prozeſſes im dramatiſchen Verfahren
(§. 896) zurückzuweiſen. Jene Verwandlung des Dichterſubjects in das
Object bis zur völligen activen Gegenwart iſt der größte Act, den der Geiſt
der Kunſt vollziehen kann. Das freie Schweben des epiſchen Dichters über
dem Stoffe iſt ſchön und behält neben dem dramatiſchen Verhalten ſeinen
eigenen Werth, aber es iſt erkauft um den Preis der noch nicht vollzogenen
reinen Wechſeldurchdringung, deren Erſchütterungen Göthe nicht aushielt.
Es iſt natürlich, Epos und Drama als die zwei Formen zu vergleichen,
die das größere, objective Weltbild geben, aber man darf nicht vergeſſen,
daß in der Mitte zwiſchen beiden die lyriſche Dichtung liegt, die den dra-
matiſchen Geiſtesprozeß vorbereitet, indem ſie das freie Nebeneinander des
epiſchen Subjects und Objects in ſubjective Einheit aufhebt, die Welt der
Gegenſtände mit geiſtigem Feuer durchglüht und ſchmelzt, um ſie neugeboren
und geiſtig ganz durcharbeitet im Drama wieder an das Tageslicht zu bringen.
[1406]
2. Die Arten der dramatiſchen Poeſie.
§. 904.
Der Stylgegenſatz, der alles Kunſtleben beherrſcht, tritt nirgends ſo
durchgreifend zu Tage, als in der dramatiſchen Poeſie. Er theilt dieſelbe
zunächſt geſchichtlich in zwei große Welten, deren Werthverhältnß jedoch ein
anderes iſt, als in der epiſchen Dichtung, indem das Drama des modernen,
charakteriſtiſchen Styls dem Weſen der Dichtungsart vollkommener entſpricht,
als das Drama des antiken, idealen Styls. Doch behält dieſes für alle Zeit
ſeinen regulativen Werth.
Der erſte Satz bedarf kaum eines Beweiſes, denn nur bei oberfläch-
licher Betrachtung könnte es ſcheinen, daß in einer Kunſtform, welche das
Aeußere auf den ſchmalſten Punct zuſammendrängt, kein tiefer Unterſchied
eintreten könne in der Behandlung der Züge, die der Pflug des Lebens
den Erſcheinungen eingräbt und durch die ſich Individuum von Individuum
unterſcheidet. Alles Aeußere gewinnt ſeine wahre Bedeutung erſt auf dem
Puncte, wo es vom Charakter verarbeitet wird und zugleich ihm ſeine ſpezi-
fiſche Farbe verleiht; die unendliche Eigenheit des Individuums hat ihren
letzten Grund im Innern, wo geheimnißvoll die reine geiſtige Kraft des
Willens ſich mit dem Angeborenen, mit der ganzen Naturbeſtimmtheit zur
Einheit bindet. Im Kampfe des Lebens wird dieſer Einheitspunct thätige
Kraft, nun kommt es auf uns an, welche beſtimmtere, markirende Züge
ſich dem Bild unſerer Erſcheinung aufprägen; der Charakter iſt ſelbſt der
Zeichner ſeiner Geſtalt. Eben aus dieſer Wahrheit macht das Drama
Ernſt, indem es nicht, wie das Epos, der Phantaſie die Erſcheinungen
vorzeichnet, ſondern den Charakter vor uns ſo handeln und leiden läßt,
daß wir, noch ohne Hülfe der Schauſpielkunſt, uns ſein äußeres Bild von
innen heraus, aus ſeinen Willensbewegungen aufbauen. Diejenige Kunſt-
form, die aus dem Charakter das Schickſal entwickelt, führt alſo gerade
recht an die Quelle, in den Mittelpunct, wo das individuelle Gepräge der
Lebenszüge ſeinen Sitz und Ausgang hat, in deſſen verſchiedener Behandlung
der große Stylgegenſatz beruht. Stellt man Sophokles und Shakespeare oder
Göthe und Shakespeare nebeneinander, ſo zeigt man klarer, was unter dieſem
Gegenſatze verſtanden ſei, als wenn man Homer mit einem epiſchen Dichter
der romantiſchen Zeit oder einem modernen Romandichter zuſammenſtellt, ja
klarer ſelbſt, als wenn man Raphael und Rembrandt nebeneinander hält.
Da wir die Geſchichte der Poeſie nicht getrennt behandeln, ſondern
in die Lehre von den Zweigen verarbeiten, ſo iſt der Stylgegenſatz, wie er
[1407] ſich hiſtoriſch im Großen ausſpricht, an den Anfang der hier aufzuführen-
den Unterſcheidungen zu ſtellen. Es liegt aber darin keine logiſche Störung,
weil das Geſchichtliche alsbald die Bedeutung gewinnt, in den Charakter
der Dichtungsart, wie er an ſich und abgeſehen von der zeitlichen Entwick-
lung beſteht, ſo einzugreifen, daß bleibende Gegenſätze ſich bilden. — Dem
Orientaliſchen können wir dießmal nur noch die kurze Bemerkung widmen,
daß die einzige dramatiſche Erſcheinung in einer begreiflichermaßen undra-
matiſchen Form des Phantaſielebens, das indiſche Drama, ſeinen höchſten
Werth in dem hat, was eigentlich lyriſcher Natur iſt, in der Schönheit
und Anmuth der Liebe, und daß es an dramatiſch wirkſamen Momenten in
der Handlung zwar nicht fehlt, daß aber das Spezifiſche der Kunſtgattung
durch die immer wieder einbrechenden phantaſtiſchen, allgemein menſchlicher
Wahrheit entbehrenden Motive und Entrückungen auf tranſcendenten Boden
durchbrochen wird. — Behalten wir nun das Griechiſche und ihm gegen-
über das Moderne im Auge, ſo ſehen wir ſogleich ein ganz anderes Ver-
hältniß, als im epiſchen Gebiete. Dort hatte alles Nach-Homeriſche einen
zweifelhaften Charakter; einen reinen Gegenſatz gegen das ächte Epos bildete
nur der Roman und es wurde doch von ihm behauptet, er ſei das Werk
eines berechtigten, entgegengeſetzten Styls, der aber ſeine wahre Beſtimmung
in einem andern Gebiet haben müſſe. Dieß Gebiet iſt eben das dramatiſche.
Hier iſt ſo entſchieden der wahre Boden des modernen, charakteriſtiſchen,
als im Epos der des direct idealen Styls, und es iſt Zeit, daß man ſich
die großen, tiefen Mängel geſtehe, an denen das griechiſche Drama leidet,
wenn es ſtreng an den Maaßſtab des Spezifiſchen der Dichtungsart gehalten
wird. Keineswegs aber dreht ſich nun das Verhältniß ſo um, daß von
dem griechiſchen Drama ebenſo beſtimmte Zweifelhaftigkeit des Werthes
ausgeſagt werden müßte, als von den epiſchen Erſcheinungen nach Homer.
Die Griechen haben die große Genialität gehabt, im tiefen Widerſpruch
mit den Grundlagen ihrer Weltanſchauung, die weſentlich epiſch waren,
doch das Drama in der Poeſie zu ſchaffen, wie ſie im Staatsleben zur
Freiheit fortſchritten. Umringt und gebunden von einer Götterwelt, die
bei den Völkern des Orients, woher ſie gewandert, Ausdruck und Ausfluß
eines verhüllten und willenloſen Lebens war, erwachten ſie doch zum Be-
wußtſein, zu der That, zu der Entſcheidung, liehen ihren Göttern die
erwachte Seele, machten ſie zu Vertretern des freien Menſchen und konnten
ſo mit und unter ihnen frei ſein. Ein Volk von Bildhauern, belebten ſie
doch die ſtille Statue, warfen die Trennung in die ſtille Harmonie des Geiſtes
und der Sinne, den Blitz des wollenden Blickes in ihr lichtloſes Auge und
verſetzten ſie wandelnd, handelnd auf die Bühne. Der homeriſche Held
entwuchs dem Gängelbande der Gottheit, des Inſtinctes, des Affectes, der
wahllos über ihn kam, und lernte eine ſtraffe Entſcheidung aus ſich ſelbſt
[1408] nehmen. Mitten im zerreißenden Conflicte bewahrten dieſe Geſtalten dennoch
den griechiſchen Geiſt der maaßvoll ſchönen Naturkraft; aber wie viel davon
ſie bewahrten, ebenſo viel ungelösten Dunkels und undramatiſcher Einfach-
heit bleibt in dem Bilde ſtehen. Nicht ſo viel, um ihm die Bedeutung
eines Vorbilds zu nehmen, an dem für alle Zeiten das rohere, wildere
Gefühl der neueren Völker ſich zu läutern hat, nur ſo viel, um ſtreng zu
verbieten, daß ſie ſich je in der ganzen Auffaſſung unfrei daran binden.
Das claſſiſche Drama iſt ſo eine große und herrliche Vorlage, die als
höchſte Ausbildung des direct idealen Styls auf einem Boden, wo er kein
volles Recht hat, allem Modernen vor- und gegenüberliegt, ähnlich wie
die claſſiſche Malerei (vergl. §. 717), doch ungleich höher, denn es hat
zwar keineswegs alles Spezifiſche, doch ungleich mehr des Spezifiſchen der
beſtimmten Kunſtform ausgebildet, als jene.
§. 905.
Die claſſiſche Tragödie ſpielt auf mythiſch-heroiſchem Boden, die Fabel
und die Motivirung iſt einfach, die Compoſition liebt es, die Handlung, wodurch
die Kataſtrophe bedingt iſt, als geſchehen vorauszuſetzen, der Perſonen ſind
wenige, die Charaktere mehr Typen, als Individuen, die Schickſals-Idee leidet
an einem unverſöhnten Widerſpruche (vergl. §. 435. 440). Der Chor, der
ſtehengebliebene Boden des religiöſen Urſprungs, iſt epiſch als Repräſentant des
Volksganzen, lyriſch in der Form und in ſeiner Bedeutung als idealer Zuſchauer,
der dem empiriſchen vorempfindet; er hält das Band der Poeſie mit der Muſik
und Orcheſtik feſt.
Auf den ungemeinen Vortheil, der dem griechiſchen Tragiker aus jenen
großen Stoffen der Heldenſage erwuchs, haben wir ſchon öfters hingezeigt;
eine von der Volksphantaſie ſchon umgebildete Wirklichkeit kam ihm entgegen,
das Bild einer Zeit, worin ungeheure Kräfte ungebunden von aller Mecha-
niſirung des Staatslebens ihren Schickſalsweg gehen, und er hatte nur
„Poeſie auf Poeſie zu impfen“ (W. Schlegel Vorleſ. über dram. Kunſt und
Lit. Th. 1, S. 80); doch darf man nicht überſehen, daß das Verweilen
auf dem mythiſch ſagenhaften Boden, der Ausſchluß des klaren Tages der
Geſchichte (wo er betreten wird, geſchieht es nur in Anknüpfung an Mythi-
ſches oder in der Weiſe mythiſcher Stellvertretung für das Hiſtoriſche)
zugleich mit der Großheit auch die aus der Tranſcendenz des Standpunctes
fließenden Mängel dieſer Tragödie bedingt. Die Großheit ruht vor Allem
auf der Einfachheit einer Menſchenwelt von unentwickelter, aber auch unge-
brochener, objectiv beſtimmter, monumentaler Subjectivität. Damit hängt
ſogleich auch die Einfachheit der Fabel zuſammen, denn es iſt nicht das
[1409] Intereſſe ausgebildet, zu zeigen und zu ſehen, wie eine beſtimmte Erſchütterung
des Lebens ſich in einer Gruppe einzelner Situationen und Handlungen, in
welche die Haupthandlung ſich veräſtet, vielſeitig reflectirt, mannigfaltig
färbt, in einem Reichthum von Folgen modificirt. Ebenſowenig iſt ein
Intereſſe da, die Handlung auf einem längeren Wege des Wachſens und
Anſchwellens im Zuſammenwirken mehrerer und aufeinanderfolgender Motive
werden zu laſſen. Der objective Menſch zaudert im Conflict nicht lange,
allgemeine Lebensmächte ſtreiten ſich um ſein Inneres, er entſcheidet im
Namen der Einen ſiegreichen raſch wie mit Rothwendigkeit, das Gewicht
der Behandlung kann noch nicht auf die Seelengeſchichte, den pſychologi-
ſchen Prozeß fallen. Dieſer Prozeß bedingt mehrere kritiſche Momente, die
ſelbſt ſchon relative Kataſtrophen ſind; ſo enthält Shakespeare’s Makbeth
eine Reihe von Kriſen, Stadien mit entſcheidenden Wendungen des Bewußt-
ſeins und Thaten; die alte Tragödie hatte nur Eine Kriſe: raſche That
und Kataſtrophe war ihr Looſungswort, ja ſie liebte eine Form, worin
eigentlich Alles nur Kataſtrophe iſt; es iſt dieß jener Gang der Compo-
ſition, den wir mit Immermann (Ueber d. raſenden Ajax des Sophokles
S. 65) analytiſch nennen können, indem das entſcheidende Einzelne, die
That, woraus die Kataſtrophe fließt, mit dem Anfang des Drama ſchon
geſchehen iſt (Ajax und Oedipus), und in den Folgen, die ſich nun ent-
wickeln, durch Induction zugleich den Weg, wie die That entſtand, und
die Wolke des Schickſals erkannt wird, welche von Anfang an über dem
Helden hing. Der uncolorirte Charakter dieſer Tragödie zeigt ſich nun
vor Allem in den Charakteren. Wenn man eine Antigone, einen Oedipus
aufmerkſam liest, ſo fühlt man einen ſchwachen Anſatz zu beſtimmterer
Färbung, etwas von individueller Complexion, Temperament, ſpezielleren
Zügen; es iſt höchſt intereſſant, ſich vorzuſtellen, was Shakespeare aus
ſolchen Keimen gemacht, wie er ſie zum Bilde reicher, mit vielen Saiten
beſetzter, vieltöniger und eigenartiger Charaktere entwickelt hätte; bei den
Alten bleibt es ein Anflug, ein Farbenton, den die objective Beſtimmtheit
der plaſtiſchen Umriſſe und das Monumentale der nur von den allgemeinen
Mächten durchzogenen Seele nicht zur Entwicklung kommen läßt. Nennt
man ſie mehr Typen, als Individuen, ſo iſt dieß näher dahin zu beſtim-
men, daß im claſſiſchen Style des modernen Drama das, was wir
Typen nennen können, die Charaktere, die mehr das Allgemeine eines Tem-
peraments, eines Standes, einer ſittlichen Angewöhnung vertreten, als das
unendlich Eigene von Individuen darſtellen, doch ſubjectiv ausgearbeiteter,
naturaliſtiſcher gehalten iſt, als jene einfach großen Naturen. Und doch ſind
jene nicht leblos, ja weit lebendiger, als die ſchematiſchen Charaktere des
verwandten Styls der neueren Poeſie, denn ſie ſind Anſchauungen einer
Zeit, eines Volkes, wo dieſe objective Einfachheit eine Wahrheit und das
[1410] Gepräge des weſentlichen, großen Pathos zugleich das der Lebenswärme
war. Die geringe Anzahl der Perſonen folgt aus der Einfachheit der
Handlung, findet aber ihre Ergänzung im Chore.
Der innerſte Mangel dieſes Drama liegt nun aber in dem antiken
Schickſalsbegriffe. Was in den angeführten §§. über dieſen geſagt iſt,
faſſen wir nur mit Wenigem noch einmal auf. Es unterſcheiden ſich leicht
zwei Formen des tragiſchen Prozeſſes im griechiſchen Drama, in deren einer
die Schuld klarer und beſtimmter iſt unbeſchadet des Zwielichtes, das ſie
von der einen Seite mildert, indem man ſich den ganzen Heldencharakter
und die ganze Situation anders denken müßte, wenn es ohne Schuld
abgehen ſollte, während in der andern das Schickſal weit mehr noch die
tückiſch auflauernde, neidiſche Macht des älteren Volksglaubens iſt, die den
Helden gerade durch die Mittel, die er ergreift, ihm zu entgehen, in’s Elend
ſtürzt. Dieſe zweite Form tritt nirgends ſo beſtimmt auf, wie im Oedipus.
Ganz ohne Schuld geht es allerdings auch in ihr nicht ab; im Oedipus
ziehen wir aus dem herriſchen, jähzornigen Weſen des Helden einen dunkeln
Schluß auf eine ὕβρις, welche nicht ganz ungerecht gedemüthigt wird. Allein
in beiden Formen wird der Schuldbegriff getrübt und gekreuzt dadurch, daß
das Schickſal durch Träume, Seher, Orakel prophezeit, alſo zum Voraus
geſetzt iſt: Ausfluß eines finſtern Geiſtes der Nemeſis, der durch ganze
Häuſer geht und das Verbrechen des Ahnherrn im Enkel ſtraft. Die Schuld
des Enkels fällt nun in ſchwankender Verwirrung halb mit unter den Be-
griff der über das Geſchlecht verhängten Strafe. Wo das Schickſal vor-
herbeſtimmt iſt, kann es ſich nie und nimmer rein aus dem Gange der
Handlung als Reſultat erzeugen. In richtiger Betrachtung iſt das, was
als Reſultat hervorſpringt, freilich immer ſchon im Anfang der Handlung
angelegt, aber nur implicite, nicht, wie bei den Griechen, explicite. Der
Begriff der Vorherbeſtimmung iſt überhaupt ein falſcher, tödtet allen wahren
Begriff von Schuld, Handlung, Menſchenleben. Die Allwiſſenheit hat nur
Sinn, wenn man erſt die Kategorie des Vorher und Nachher in der Zeit
aufgehoben hat. Die Griechen haben jene Antinomie von abſolutem Schickſal
und Schuld ungelöst ſtehen laſſen und es wird dabei bleiben, daß dieß der
kranke, immer beunruhigende Punct in ihrer Tragödie iſt.
Der Chor iſt bekanntlich die ſtehengebliebene Wurzel, woraus die Tra-
gödie hervorgegangen iſt; er bewahrt den Urſprung aus den Geſängen des
Dionyſiſchen Cultus als weſentlichen Theil und ſtehenden Zug ihres reli-
giöſen Charakters. Epiſch iſt er ſeiner realen Bedeutung nach als Zuziehung
des Volkes zu der Handlung, die auf den Höhen des Lebens, unter den
Heroen vor ſich geht, als Ausdruck der Oeffentlichkeit, alſo des Maſſenhaften,
Ausgedehnten. Das real Allgemeine, dieſer Grund und Boden, aus dem
ſich die Helden erheben, wird aber im Inhalte der Chorgeſänge zum ideal
[1411] Allgemeinen der Betrachtung. Die betrachtende Haltung des Chors hat
zunächſt den tieferen Sinn, den Hegel (Aeſth. Th. 3, S. 547 ff.) ausge-
ſprochen hat: er ſtellt die unentzweite Subſtanz des ſittlichen Bewußtſeins
dar, die ſich gegenüber den tiefen individuellen Colliſionen, die aus ihr wie
aus dem Schooße des Erdreichs hervorſchießen, in ihrer Allgemeinheit erhält.
Dieſe Allgemeinheit ſpricht der Chor durch ſtetige Anknüpfung der ange-
ſchauten Handlung an ewige Wahrheiten, an das Göttliche aus, gibt ſo
dem religiöſen Urſprung des Drama’s, der in ihm bewahrt iſt, ausdrückliche
Form und erſcheint in ſeiner Spruchweisheit zugleich als gnomiſcher Beſtand-
theil. Aber nicht, als ob das Erſchütternde der Handlung ihn nicht ſub-
jectiv bewegte, er iſt weſentlich fühlend, Empfindungs-Echo des tragiſchen
Vorgangs. Das Allgemeine, was ſich in ihm darſtellt, gemahnt nach dieſer
Seite unwillkürlich an die Landſchaft, an das allgemein Umgebende, Luft
und Erde, was mitzutönen, verhallend weiter zu tragen ſcheint. Hiemit
iſt denn auch die lyriſche Bedeutung des Chors ausgeſprochen. Er empfindet
als Zuſchauer im Stück, als künſtleriſcher Auszug aus der empiriſchen
Menge der Zuſchauer dieſen vor; die pathologiſche Gewalt, womit die
letzteren ergriffen werden, iſt ſchon dadurch gebrochen, daß ihr Gefühl hier
überhaupt geläuterten Kunſt-Ausdruck findet. Allein indem der Chor im
Sturme des Gefühls jene Ruhe und Allgemeinheit der Betrachtung rettet,
reinigt er auch poſitiv Furcht und Mitleiden, die er dem empiriſchen Zu-
ſchauer vorempfindet. W. Schlegel’s Wort, er ſei der idealiſirte Zuſchauer
(a. a. O. Th. 1, S. 77), bleibt daher ebenſo treffend, als geiſtreich. Die
griechiſche Poeſie entwickelt, um dieſer vielſeitigen und großartigen Bedeu-
tung zu genügen, auf dieſem Puncte den höchſten Glanz der Lyrik. Das
Band zwiſchen dem Drama und dieſer Form ſchlingt ſich aber auch in die
Handlung ſelbſt hinüber, da die Perſonen derſelben von der Rede in Wech-
ſelgeſang mit dem Chor übergehen; der Geſang wird von der Muſik begleitet
und der Chor ſtellt ihre Rhythmen zugleich in orcheſtiſcher Bewegung räumlich
dar. Wir ſehen alſo eine Verbindung der Zweige der Poeſie mit Muſik
und Tanzkunſt, die ebenſo impoſant und lebensvoll, als unſerem auf Theilung
der Gattungen gerichteten Sinne fremd iſt. Wir müſſen trotz aller Groß-
artigkeit dieſer Lebensfülle eine ſolche Verwachſung für einen unreifen
Zuſtand erklären; das Drama kann in dieſem Prachtgewande nicht zur
klaren Ausbildung ſeiner tiefſten Bedingungen, eines hellen Bewußtſeins
von Charakter, Motiv und Schickſal gelangen, während es in der neueren
Zeit ſeine Reife freilich um den theuren Preis jener unmittelbaren Leben-
digkeit der Verſchlingung mit andern Zweigen und Künſten erkauft. Es
verhält ſich ähnlich wie mit der Polychromie in Architektur und Sculptur.
[1412]
§. 906.
Streng geſchieden von der Tragödie bewegt ſich die claſſiſche Komödie
zwar auf dem Boden der realen Gegenwart und ihr Humor ruht auf der Grund-
lage der politiſchen Satyre, ihrem Style nach aber iſt ſie mythiſch phantaſtiſch,
das reine Gegenbild der erſteren. Dagegen tritt hier innerhalb des claſſiſchen
Ideals ein Stylgegenſatz, der im tragiſchen Gebiete ſchwächer angedeutet iſt,
mit relativer Entſchiedenheit in der neueren Komödie hervor.
Im ernſten Drama des claſſiſchen Ideals war durch den plaſtiſchen
Geiſt und ſein Stylgeſetz des directen Idealiſmus, welches Schönheit der
einzelnen Geſtalt forderte, durch die hierin begründete Einfachheit der Charak-
tere, durch die dunkle, drohende Wolke des Schickſals, die es nicht geſtattete,
daß der Menſch ſich ſeiner unendlichen ſubjectiven Freiheit erinnerte, der
Uebergang in das Komiſche ſtreng ausgeſchloſſen. Kaum ein ferner Ton
iſt z. B. dem Wächter in der Antigone angehaucht und auch hier iſt die
Vorſtellung anziehend, was wohl Shakespeare daraus entwickelt hätte. In
der antiken Komödie nun, die wegen der Stylfrage hier einzuführen iſt,
obwohl die betreffende ſtehende Eintheilung erſt nachher aufgeführt wird,
herrſcht ebenſo unbedingt das Komiſche in der Handlung. In der Stimmung
allerdings kann ihr ein ernſter Grundzug nicht abgehen, vielmehr iſt ihr Humor
von den Klängen der erhabenſten Geſinnungen und Schmerzen durchzogen.
Was Stoff und Inhalt betrifft, ſo bringt es das Weſen des Komiſchen
ſelbſt mit ſich, daß im vollen Gegenſatze gegen die Tragödie hier die un-
mittelbare empiriſche Wirklichkeit ergriffen wurde; die ältere, Ariſtophaniſche
Komödie hat das große Thema der Auflöſungszuſtände des griechiſchen
Staats, ſie iſt in ihrer Grundlage politiſche Satyre. Die Großheit dieſes
Stoffes gibt ihr den monumentalen Charakter und ſichert ſo zunächſt nach
dieſer Seite im Realiſtiſchen den hohen Styl; allein dieſes Bild der Auf-
löſung der plaſtiſchen Schönheit des griechiſchen Lebens iſt noch in einem
andern Sinne ſelbſt plaſtiſch: es objectivirt den Geiſt der Komik in einer
Parodie der mythiſchen Welt, worauf die Tragödie ruht, nimmt ſo die
Geſtalt des greiflich wunderbar Komiſchen, des Grotesken an, treibt zugleich
die porträtirten Perſönlichkeiten zur phantaſtiſchen Caricatur auf und erhebt
ſich von der Grundlage der Satyre in den ausgelaſſenſten Humor. Dagegen
bildet nun die neuere Komödie der Griechen einen vollen Gegenſatz; der
monumentale politiſche Boden und mit ihm das Reich der koloſſalen komi-
ſchen Wunder wird verlaſſen, ſie ſteigt in das Privatleben herab, wird
ſittenbildlich, naturaliſtiſch, es tritt in den claſſiſchen Styl der charakteriſtiſche
ein. Vergleicht man ſie jedoch mit dem Ganzen des letzteren Styls in
ſeiner wirklichen und vollſtändigen Ausbildung, ſo iſt der Gegenſatz gegen
[1413] die alte Komödie doch ein blos beziehungsweiſer: die neuere Komödie der
Alten generaliſirt mehr, als ſie individualiſirt, ihre Sklaven, Schmarotzer,
geprellten Väter, leichtſinnigen Söhne, Dirnen, ſoldatiſchen Aufſchneider,
Trunkenbolde u. ſ. w. ſind mehr Masken, als wirkliche Einzelweſen, und
es wird dieß folgenreich für den Uebertritt des claſſiſchen Styls in den
weſentlich charakteriſtiſchen modernen durch den Einfluß des Abbilds der
neueren Komödie der Griechen, der römiſchen, auf die romaniſche Literatur.
Obwohl nach dieſer Seite nur ein relativer Gegenſatz, konnte eine ſolche
Form doch im Alterthum nicht gleichzeitig mit der rein claſſiſchen auftreten,
dort iſt der Unterſchied vielmehr ein ſucceſſiver und es verhält ſich damit wie
mit dem Uebergange der antiken Plaſtik und Malerei in das Realiſtiſche,
Sittenbildliche; die Erſcheinung iſt aber als geſchichtliches Vorbild eines
bleibenden, der weitern, logiſchen Eintheilung angehörigen Gegenſatzes
durchaus wichtig und weſentlich. Ein ähnlicher Gegenſatz tritt nun, eben-
falls geſchichtlich, auch in der antiken Tragödie ein, denn Euripides faßt
die Menſchen ſchon empiriſch, ſubjectiv, pſychologiſch, vielſeitig, reicher colo-
rirt, ſkeptiſch; aber dieſe Behandlung ſteht im Widerſpruche mit dem großen
heroiſch mythiſchen Stoffe, der doch beibehalten iſt, und ſo gelangt auf
dieſem Boden die Stylwendung nicht zu derſelben Beſtimmtheit, wie auf
dem komiſchen. In ſchwacher Andeutung iſt allerdings ein Styl-Gegenſatz
auch als ein gleichzeitiger wahrzunehmen, und zwar in der Eintheilung der
Arten der Tragödie bei Ariſtoteles (Poetik C. 18.); denn die ethiſche Art,
die er unter den andern aufzählt, iſt ſittenbildlich, charakteriſtiſch und der
Peleus, den er neben den Phthiotiden als Beiſpiel anführt, war nicht
nur von Euripides, ſondern auch von Sophokles behandelt. Allein dieſe
Form war wenig ausgebildet und das pſychologiſche, rein menſchliche Ge-
mälde, auf das ſie ſchließen läßt, konnte entfernt nicht bis zu einer
Ausbildung des Charakteriſtiſchen gehen, die einen ſo entſchiedenen Ge-
genſatz der Stylrichtung innerhalb des Antiken darſtellte, wie die neuere
Komödie.
§. 907.
Der charakteriſtiſche Styl des modernen Drama’s ſtellt ſich, ohne auf
die ſagenhaften Stoffe zu verzichten, auf den Boden der naturgemäßen Wirk-
lichkeit des politiſchen, bürgerlichen, oder Privatlebens und entwickelt aus der
tieferen, auf prinzipielle Umgeſtaltung des Beſtehenden ſchneidender gerichteten
Subjectivität vielſeitiger, eine ſcheinbar widerſpruchsvolle Einheit darſtellender
und in härtere Einzelzüge auslaufender Charaktere in organiſchem Anwachſen
eine reichere, verzweigtere, größere Perſonenzahl fordernde Handlung. Das
Schickſal ergibt ſich als immanentes Geſetz aus den Wirkungen und Gegen-
wirkungen der Freiheit. Der Chor, die Verbindung des Drama mit Lyrik,
[1414] Muſik und Tanz, fällt weg. Innigere Miſchung des Ernſten und Komiſchen,
Eintritt des Letzteren in die Tragödie und ernſtes Intereſſe der Label in der
Komödie folgt aus den innerſten Bedingungen dieſes Styls.
Die Grundzüge dieſes Unterſchieds ſind zum Theil ſchon in der Dar-
ſtellung des claſſiſch idealen Styls ausgeſprochen, da derſelbe nur an ſeinem
Gegenſatze geſchildert werden konnte, zum Theil müſſen ſie noch bei der
folgenden Ziehung der bleibenden Theilungslinien zur Sprache kommen.
Wir heben daher hier nur Weniges über einzelne Puncte hervor. Auf die
dunkeln, großen Stoffe aus vorgeſchichtlicher, ſagenhafter Zeit mit ihren
mythiſchen Motiven kann auch das Drama des naturwahren Styls nicht
verzichten: die bedeutendſten Tragödien des Vaters des modernen Drama’s,
Shakespeare’s, ſpielen auf ſolchem Boden. Die Begründung des charak-
teriſtiſchen Styls iſt ſein Werk, er ſprang in voller Rüſtung, wie Minerva,
aus ſeinem Haupte. Seine ſagenhaften Stoffe gehören der nordiſchen
Welt; eignet ſich der charakteriſtiſche Styl in dem Sinne, welcher zur Sprache
kommen wird, den claſſiſchen an, ſo iſt dadurch auch die Aufnahme antiker
Sagenſtoffe gegeben. Nur wird der Unterſchied von den Alten nothwendig
der ſein, daß alle übernatürlichen Motive, welche dieſe Stoffe mit ſich bringen,
im Verlaufe der Handlung in’s Innere verfolgt, zurückverlegt werden müſſen.
Das Schwere iſt, dieß ſo zu behandeln, daß das Wunderbare zum Aus-
druck einer inneren Wahrheit wird, ohne doch zur todten Allegorie ſich
auszuhöhlen; Shakespeare iſt darin unübertroffen; er verbeſſert im Fort-
gang den mythiſchen Ausgang, ſeine Geiſter und Hexen werden zu That-
ſachen des Bewußtſeins und bewahren doch die ganze Schauer-Atmoſphäre
geglaubter Erſcheinungen aus einem Reiche des Uebernatürlichen. Aehnlich
verhält es ſich mit den Furien in Göthe’s Iphigenie; der Dichter verlegt
ſie von Anfang an nur in das Innere des Oreſtes und ſie behalten doch
die Lebens-Wahrheit uralter, geläufiger Tradition. Die wahre Heimath
des modernen Drama iſt aber allerdings die wunderloſe Wirklichkeit der
Geſchichte. Es tritt mitten in die Bedingungen der Realität bis hinein in
die engere Sphäre des Privat- und Familienlebens, das erſt dem Ideale
der neueren Welt ſeine Wärme und innere Lebendigkeit erſchloſſen hat. Wie
der Roman, ſo muß nun das Drama die Stellen aufſuchen, wo die pro-
ſaiſch verſtandene oder wirklich proſaiſche Ordnung der Geſchichte durchbrochen
wird, ſich lüftet und ein Bild freierer Bewegung darbietet. Wir werden bei
dem Unterſchiede der Stoffe noch ein Wort über die Momente ſagen, die
der dramatiſche Dichter aufzuſuchen hat; die Hinweiſung liegt aber ſchon
in dem, was der §. über die Charakterbehandlung und den Schickſalsbegriff
des naturaliſtiſchen und individualiſirenden Styls enthält. Die Tranſcendenz
des Schickſals iſt überwunden, dieß ergibt ſich bereits aus der Forderung,
[1415] daß mythiſche Motive im Fortgange ſich in naturgemäße Wahrheit aufheben;
der Menſch iſt alſo auf ſich, auf die eigenen Füße geſtellt, ſeine Looſe fallen
in ſeinem eignen Innern, das Schickſal erzeugt ſich aus der Freiheit. „Das
Schickſal oder, welches einerlei iſt, die entſchiedene Natur des Menſchen,
die ihn blind da oder dorthin führt“, ſagt Göthe (Briefw. mit Schiller
Th. 3, S. 84). Es fehlt in dieſer Bezeichnung der immanenten modernen
Schickſals-Idee eine Reihe vermittelnder Begriffe, die nach unſerer Lehre
vom Tragiſchen keiner weiteren Auseinanderſetzung bedürfen, ſie iſt aber
dennoch ſchlagend und treffend. Der Charakter nun erkauft ſich in dieſer
Auffaſſung das Recht, mit dem weiteren Umfang ſeiner Eigenheiten und
Härten, mit ſeiner unregelmäßigeren, zerfurchteren Geſtalt in die Poeſie
einzutreten, durch das Uebergewicht des Ausdrucks, und dieſer Ausdruck iſt im
Drama der Ausdruck der Freiheit, des entſcheidenden Wollens. Nun erſt legt
ſich das ganze Gewicht ſo auf dieſen Punct, daß der Wille in jener Form
der ſchärfſten Intenſität auftritt, die wir in §. 898 als die weſentlich drama-
tiſche aufgeſtellt haben: das moderne Drama fordert revolutionäre, im tiefſten
Sinne des Worts radicale Charaktere. Mit der durchſchneidenden Entſchie-
denheit entwickelt ſich jetzt auch die Fülle und Tiefe der inneren Welt, der
charakteriſtiſche Styl iſt zugleich der ſubjective, pſychologiſche. Dieß hat aber
ebenſo ganz objective Bedeutung: das Streben des Helden ſoll ja allgemein
menſchlichen, ewig wahren Inhalt haben, ſoll Pathos im gewichtigen Sinne
des Wortes ſein und gerade die objective Gewalt und Wahrheit des Pathos
will der moderne Geiſt daran erkennen, daß es den Menſchen mit aller
Vielſeitigkeit, Beſonderheit und Eigenheit ſeiner Kräfte in Beſitz nimmt.
Der complicirtere, oder, wie man ſonſt ſagte, gemiſchtere Charakter iſt dem-
nach objectiv wie ſubjectiv gefordert, ein Charakter, der ſich in gebrochener
Linie, in ſcheinbaren Widerſprüchen bewegt. Dieß iſt zugleich der Grund
der reicheren Fabel, der mannigfaltig ſich veräſtenden Handlung, der Poly-
mythie im neueren Drama. Es verhält ſich wie mit der Ausbildung der
Harmonie in der neueren Muſik: die größere Zahl der Perſonen entſpricht
genau der reichen Inſtrumentirung des modernen Muſikwerks; wir wollen
den einen Grundton in mannigfaltigerer Reſonanz vernehmen, dieſelbe Bewe-
gung des Innern vielfacher gewendet, wie ſie ſich in verſchiedenen Gemüthern,
Fällen, Folgen ſpiegelt, oder, um die Beziehung der Style zum Unterſchiede
der Plaſtik und Malerei nicht zu vergeſſen, wir wollen den tieferen Hinter-
grund, die reichere Compoſition der letzteren ſtatt der unbenützten Fläche,
welche die ſparſameren Gruppen des Relief umgibt. Iſt die Handlung
mannigfaltiger, ſo iſt ſie nothwendig auch verwickelter und ihr verſchlun-
gener Knoten entſpricht der verſchlungneren Form des Charakters. — Dieſe
innern Bedingungen ſind denn auch der tiefere Grund der Entfernung
des Chors. Eine Handlung, die vom Prinzip der Immanenz ſo ſtreng
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 91
[1416]zuſammengehalten iſt, kann nicht einen idealen Zuſchauer neben ſich haben:
ſie nimmt ihn in ſich herein, hat ihr ſubjectives Echo in der Vielzahl der
betheiligten Perſonen und ihres vertiefteren, vielſaitigeren Gemüthslebens,
ſie ſelbſt empfinden dem empiriſchen Zuſchauer vor. Daß unſere Zuſtände
nicht öffentlich ſind, daß das Wichtigſte in geſchloſſenen Räumen vor ſich
geht, darin liegt der untergeordnete, reale Grund dieſer Weglaſſung. Hiezu
kommt nun aber das moderne Prinzip der reinen Theilung und Auseinan-
derhaltung der Künſte und ihrer Zweige. Muſik und Tanz iſt an die Oper
und das Ballet gefallen, wie die Plaſtik die Farbe ganz an die Malerei
abgegeben hat.
Die Einflechtung des Komiſchen in das Tragiſche und die Erhebung
des Ernſten zum leitenden Motive in der komiſchen Handlung iſt an meh-
reren Stellen ſchon ſo hinreichend beſprochen und begründet, daß wir das
Wenige, was noch darüber zu ſagen iſt, der näheren Beleuchtung der Arten
überlaſſen und hier nur noch darauf aufmerkſam machen, wie der Uebergang
des Tragiſchen in’s Komiſche ſchon durch die Behandlung des Charakters
gegeben iſt: je complicirter derſelbe erſcheint, deſto weniger können Contraſte
ausbleiben, die an’s Komiſche ſtreifen oder beſtimmt in daſſelbe übergehen,
und iſt hievon ſelbſt der erhabene Charakter nicht ausgenommen, ſo iſt
ſchon dadurch gegeben, daß neben ihm auch wirklich und ganz komiſche
Charaktere auftreten können. Die moderne, nordiſche Weltanſchauung hat
die Kraft, dieſe Widerſprüche zu ertragen und zuſammenzuhalten, und wenn
Göthe die Wärterinn und Mercutio in Romeo und Julie im Namen unſerer
„folgerechten, Uebereinſtimmung liebenden Denkart“ als poſſenhafte Inter-
mezziſten verwirft, ſo ſpricht er vom Standpuncte des claſſiſchen Styls,
dem er ſich hierin bis zu einem Grad anſchließt, der zum Unrechte gegen
diejenige Aufgabe der neueren Poeſie wird, von welcher ſofort die Rede
ſein muß.
§. 908.
Ungleich weſentlicher, als die Anſätze des charakteriſtiſchen Styls im rein
idealen des claſſiſchen Alterthums, iſt die Nachwirkung des letzteren auf jenen,
woraus ein Gegenſatz und Kampf der Prinzipien erwachſen iſt, der auf keinem
Boden ſo ſichtbar, bewußt und belebend auftritt, wie auf dem dramatiſchen.
Derſelbe fällt theils mit dem Unterſchiede der romaniſchen und germaniſchen
Nationalität zuſammen, theils wiederholt er ſich innerhalb der Poeſie jeder von
beiden, doch ungleich kräftiger in der germaniſchen, welche wie keine andere
berufen iſt, die Aufgabe der Verſöhnung beider Style mit Uebergewicht des
charakteriſtiſchen zu löſen.
[1417]
Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und
von da aus die vorangehenden Sätze in’s Licht ſtellen. Unſere Aufgabe
iſt, wenn nicht die ganze leitende Idee unſerer Lehre von dem Leben der
Kunſt unrichtig ſein ſoll, offenbar in das Wort zu faſſen: Shakespeare’s
Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken.
Um dieſen Punct oſcillirt die neuere dramatiſche Poeſie der Deutſchen wie
die neuere Malerei um eine höhere Vereinigung des deutſchen, niederlän-
diſchen Styls mit dem Raphaeliſchen oder überhaupt italieniſchen. Göthe
nimmt die Wendung zum claſſicirenden Styl in ſeinem Egmont; der
naturaliſtiſche, charakteriſtiſche, in den ſeine Jugendpoeſie ſich geworfen, und
der hohe, ideale ſind in dieſem Drama als zwei nicht wirklich verſchmolzene
Elemente merklich zu unterſcheiden, wie oft eine Strecke weit die Waſſer
zweier vereinigter Flüſſe. Von da an vertieft Göthe ſeine antik gefühlten
Geſtalten durch moderne Humanität und deutſches Herz, aber er ſetzt ſie
nicht in die concrete Farbe der wirklichen Individualität und Naturwahrheit,
ſchon darum nicht, weil es mehr Seelenbilder, als männliche Charakterge-
ſtalten ſind. Eine ähnliche Schwankung wie im Egmont iſt in Schiller’s
Wallenſtein; im Lager, in manchen Scenen und Zügen der beiden Picco-
lomini und des Schlußſtücks der Trilogie, die ſelbſt bis zum behaglichen
Humor charakteriſtiſch ſind, in dem tiefen Gefühle, womit Phyſiognomie
und Stimmung der Zeit erfaßt iſt, erkennt man Shakespeare’s Geiſt, aber
im Kothurn des rhetoriſchen Pathos, in der Idealität, die in Charakterzeich-
nung und einzelner Darſtellung doch wieder eine Welt von Zügen der
ſtrengeren geſchichtlich naturwahren Haltung fern hält, vor Allem in der
Schickſals-Idee tritt doch mit Uebergewicht die claſſiſche Styliſirung hervor.
Von da an halten ſich Schiller’s Charaktere „in einer Mitte zwiſchen der
typiſchen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare“, ſo ſagt
Gervinus (Neuere Geſch. d. poet. Nationallit. d. Deutſch. Th. 2, S. 506
Ausg. 1842), geht aber offenbar zu weit; denn man wird dieß Wort,
das eine ſo bedeutende Gedankenreihe eröffnet, nur auf einige derſelben,
nicht auf alle anwenden dürfen. Die Schiller’ſche Charakterwelt iſt weit
mehr antik ſententiös, rhetoriſch und hochpathetiſch, als Shakespeariſch
naturwahr und in die Einzelzüge der Eigenheit hinausgeführt, es ſind weit
mehr Typen, als Individuen, er generaliſirt weit mehr, als er detaillirt.
Seine Schickſals-Idee behielt immer einen Reſt ungelöster Härte, der an
die neidiſche Macht des altgriechiſchen Fatums erinnert. In der Braut
von Meſſina nahm er förmlich dieſen Begriff auf und gab dadurch den
Anſtoß zu den ſog. Schickſalstragödien, in welchen das Fatum nicht nur
in antiker Weiſe ein Vorausgeſetztes, ſondern in graſſer Trivialität ſogar
an ein beſtimmtes Datum, an ein beſtimmtes ſinnlich Einzelnes geknüpft
iſt. Von dieſer Caricatur fern wollte Schiller ihm ſeine finſtere Majeſtät
91*
[1418]ſichern, jeden Schein abſchneiden, als gelte es im Tragiſchen blos der Er-
habenheit des menſchlichen Subjects; er erkannte nicht, daß die abſolute
Erhabenheit des Schickſals ſich nur vertieft, wenn es als immanentes
Geſetz aus den Charakteren und der Handlung entwickelt wird, aber nach
jener Seite iſt doch Wahrheit und wirkliche Größe in ſeiner Schickſals-Idee;
bei einem Müllner und Grillparzer ſchlug dieſe in’s Lächerliche um. —
Wir erwarten noch den claſſiſch gereinigten deutſchen Shakespeare. Eine
abſolute Vereinigung der Stylgegenſätze gibt es freilich nicht, ſoll es nicht
geben, die Geſchichte der Kunſt iſt ja gerade die Geſchichte ihres Kampfes
und wir haben hier ihre Beleuchtung vorangeſchickt, um darauf einen blei-
benden Unterſchied zu gründen, der ſich durch die folgenden ſtehenden Ein-
theilungen hindurchzieht; aber ein relativ Höchſtes der Vereinigung mit
reicher Umgebung von Modificationen und Miſchungsverhältniſſen muß der
Begriff ſein, nach welchem wir ſteuern. Keiner Nationalität kann dieſe
Aufgabe ſo geſetzt ſein, wie der germaniſchen; ihr angelſächſiſcher Stamm,
in England mit dem feurigeren normanniſchen gemiſcht, hat das wunderbare,
aber noch mit nordiſcher Formloſigkeit behaftete Muſter in Shakespeare
dem deutſchen hingeſtellt, das er mit dem andern ewigen Muſter, dem claſſi-
ſchen, zuſammenfaſſen ſoll. — Das Drama der romaniſchen Völker nun
ſtellt ein überleitendes Band zwiſchen dem letzteren und der ganzen Aufgabe
dar. Sie hängen durch Abſtammung und Cultur alle noch in der claſſi-
ſchen Tradition, ſo verſchieden ſie dieſelbe durch ihre Beſonderheit und
moderne Bildung auch gefärbt haben, und das entſcheidende Zeichen davon
iſt, daß ſie Shakespeare mit ſeinen Contraſten im tief individuell geſättigten
Style niemals ganz verſtanden haben, verſtehen können. Das ſpaniſche
Drama ſtellt ſeine Menſchen, die durchaus mehr Stände, Temperamente,
Leidenſchaften, als Individuen ſind, unter die Wunder eines Himmels, zu
dem ſie ſich durch das Aufgeben deſſen, was eben den wirklichen Inhalt
des Charakters und Drama’s ausmacht, in myſtiſcher Auflöſung erheben
ſollen, oder ſpannt ſie, in der weltlichen Sphäre, in einen Codex conven-
tioneller Begriffe der Ehre, Liebe, Ergebung des Unterthanen ein, der die
leidenſchaftlichſten Conflicte zur Folge hat, aber der concreten menſchlichen
Wahrheit entbehrt. Dieſes Drama iſt in all ſeiner Pracht eine Spezialität,
der antiken Anſchauung aber verwandt durch den Charakter des Gegebenen
und Vorausgeſetzten, den, wie dort das Schickſal, hier die Welt hat, in
die der dramatiſche Menſch geſtellt wird, und durch die, obwohl farbigere,
doch typiſche Behandlung ſeiner Perſönlichkeit. Das franzöſiſche Drama
nannte ſich in der Blüthezeit ſelbſt das claſſiſche. Seinem innern Geiſte
nach, dem Geiſte der Hof-Etikette, der kalten rhetoriſchen Antitheſen war
es dem Claſſiſchen ſo fremd, als möglich, und doch durch ſeine negativen
Eigenſchaften dem formloſen Geiſte des Nordens eine Schule der Zucht
[1419] (vergl. §. 476), ein Muſter, worin das wahre Muſter zwar froſtig entſtellt
war, aber ein nothwendiges Mittleres, deſſen unfreie Nachahmung der
freien Aneignung des ächten Claſſiſchen, das man noch nicht verſtand, vor-
angehen ſollte. Es iſt ein ähnlicher Gang wie die verſchiedenen Stufen
des Claſſicismus in der neueren Geſchichte der Malerei §. 737 ff. —
Im Luſtſpiel hat das ſpaniſche Drama, abgeſehen von den eigentlichen,
ſtehenden Masken, die Charaktere immer maskenhaft behandelt, immer mehr
komiſche Typen, als Individuen gehabt und das Gewicht auf die Komik
der Fabel, auf die Intrigue gelegt. Es verhält ſich mit dem franzöſiſchen,
ſo bedeutend und fruchtbar ſeit Moliere der Geiſt der Nation in dieſem
Gebiete ſich erwieſen hat, nicht anders: der feinſte Witz in der Handlung
und keine humoriſtiſche Tiefe und Individualität in den Charakteren, ſo
ergötzlich ſie auch als generelle Figuren ſein mögen. Es iſt im Weſent-
lichen immer die in’s Moderne überſetzte römiſche Komödie. — Das italieniſche
Drama iſt dem franzöſiſchen gefolgt. Was in dieſen Literaturen durch Ein-
flüſſe des bürgerlichen, ſozialen Drama’s, das von England ausgieng, durch
Diderot die erſte Nachahmung fand, in Deutſchland aufkam und dann nach
Frankreich zurückwirkte, was ferner durch Einflüſſe der deutſchen romantiſchen
Schule entſtanden iſt, verfolgen wir hier nicht weiter: es ſind Schritte zum
charakteriſtiſchen, naturwahren Style mit ſtarker Neigung zum falſchen Effect
und zum Graſſen; die höchſte Aufgabe dieſes Styls, die Tiefe der Indivi-
dualiſirung, blieb, wie geſagt, den Deutſchen als Aufgabe vorbehalten.
§. 909.
Der Styl-Unterſchied bildet eines der Momente für die allgemeine
Eintheilung des Drama’s. Der oberſte, durchgreifende Gegenſatz aber
iſt der des Tragiſchen und Komiſchen. Glückliche Löſung tragiſcher
Conflicte begründet keine eigene Form, ſondern das Drama ſolchen Inhalts
fällt je nach Stoff und Behandlung in das eine oder andere dieſer zwei Gebiete.
Die verſchiedenen Formen des Tragiſchen und Komiſchen treten als eines der
Motive für die Unter-Eintheilung auf.
Wir haben der feſten, ſtehenden Eintheilung der Formen des Drama
eine hiſtoriſche Beleuchtung der Stylprinzipien vorangeſchickt, die jedoch mit
der Aufzeigung eines bleibenden Gegenſatzes ſchloß und dieſer wird denn
weiterhin als einer der Eintheilungsgründe auftreten. Es bedarf aber keiner
Nachweiſung mehr, daß im Gebiete des Drama das Tragiſche und Komiſche
den entſcheidenden, höchſten Eintheilungsgrund abgibt, wir verweiſen auf
§. 540, 1. §. 864. 899. 900; es kann ſich nur fragen, ob nicht eine dritte
Gattung aufgeſtellt werden müſſe, worin dieſer Gegenſatz aufgelöst ſei.
[1420] Als eine ſolche hat man das Drama mit glücklichem Ausgang aufgeführt,
wofür wir den Namen Schauſpiel kaum brauchen können, weil er ſich
einmal factiſch für eine beſtimmte geſchichtliche Form, und zwar eine zwei-
felhafte, nämlich das bürgerliche Rührſtück, fixirt hat. Man erkennt nun
aber ſogleich, daß dieſer Begriff ſich nicht dem der Tragödie und Komödie
logiſch coordiniren kann, ſo daß man etwa an ein Mittleres zwiſchen Ernſt
und Komik zu denken hätte, was in der frohen Stimmung des heiteren
Ausgangs enthalten wäre. Die Stimmung des Glücklichen und die komiſche
ſind keine Begriffe, die unter Eine Kategorie fallen. Jene kann in dieſe
übergehen, dann begründet ſie, wenn es ſich nicht blos von einer mäßigen,
vereinzelten Einmiſchung des Komiſchen in das Tragiſche, wie ſie überhaupt
dem charakteriſtiſchen Style natürlich iſt, ſondern von einer ſtarken, zur
Herrſchaft gelangenden handelt, eine Komödie, ſie muß aber dieſen Ueber-
gang nicht nehmen, und ein Drama, das vorherrſchend ein Bild von ernſtem
Kampf, Schuld und Leiden, darſtellt, gehört, mag auch dieß Leiden vorüber-
gehend und der Schluß glücklich ſein, zur Tragödie: es iſt nichts Anderes,
als das poſitiv Tragiſche, deſſen Sinn und Werth in §. 128 erörtert iſt,
in der Form des Drama realiſirt. Es handelt ſich einfach um die zwei
Glieder jenes Dualismus, der durch alles Erhabene geht und im Tragiſchen
ſeine höchſte Bedeutung hat. Wir wiederholen den Satz aus jenem §.,
daß die negative Form die reinere und bedeutendere, die poſitive aber, d. h.
die Darſtellung ſchwerer und ernſter Conflicte mit glücklichem Ausgang, die
ſchwächere iſt, weil ſie immer noch einen Schein übrig läßt, als gelte es
die Verherrlichung des ſubjectiv Erhabenen. Dieſen Schein zu vermeiden,
muß der ganze Accent darauf gelegt werden, daß nicht menſchliches Ver-
dienſt ſeine Genugthuung erhalte, ſondern, daß ihm nach tiefem Leiden,
das mit irgend einer Schuld zuſammenhängt, womit edles Streben ſich
getrübt hat, von der abſoluten Macht der Weltordnung vergönnt ſei, ſeinen
Zweck ſiegreich durchzuführen. Je ſchwächer nun das erſte Moment in
dieſer Bewegung iſt, d. h. je weniger tief und furchtbar der Conflict und
die Schwere der Prüfung, deſto näher liegt es allerdings, daß der glückliche
Schluß in der Grundſtimmung anticipirt wird und dieſe aus der nur freien
und freudigen in die komiſche ſich umſetzt. Das Mittelglied iſt, daß die
Frohheit auch die ſubjective Willkür, das abſolute Leichtnehmen alles Inhalts
entbindet. Dann entſteht eine Form, die, wie geſagt, zwar nicht als dritte
neben Tragödie und Komödie ſteht, aber eine Art der letzteren bildet, welche
etwas von der erſteren hat: die Komödie mit ernſtem Mittelpunct. Die
Sache iſt damit allerdings noch nicht erſchöpft, das Weitere gehört in die
Unter-Eintheilung der zwei Hauptgattungen, wo die verſchiedenen Formen
des Tragiſchen und Komiſchen als Motive einer engeren Unterſcheidung
hervortreten.
[1421]
§. 910.
Für die Tragödie bildet den nächſten Eintheilungsgrund der Unterſchied
des Stoffes. Derſelbe iſt entweder ſagenhaft heroiſch oder hiſtoriſch
politiſch, wo denn prinzipielle Umwälzungen des Beſtehenden durch gewaltige
Charaktere den der Dichtungsart entſprechendſten Inhalt darbieten, oder er
gehört dem bürgerlichen und Privat-Leben an. Hiſtoriſch politiſcher
Hintergrund hebt die letztere Sphäre in die Nähe der erſteren.
Es verſteht ſich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erſchöpfend
iſt; die Eintheilungsgründe ſind nacheinander aufzuſtellen und dann ihre
Convergenzen und Divergenzen aufzuzeigen. — Wir haben ſchon in §. 907
geſagt und in der Anm. weiter ausgeführt, daß das moderne Drama
die ſagenhaft heroiſchen Stoffe mit dem oft von uns hervorgehobenen großen
Vortheile, den ſie bringen, nicht aufzugeben hat. Es bedarf alſo keines
weiteren Wortes, um zu rechtfertigen, daß wir dieſe Sphäre als Glied
einer bleibenden Eintheilung aufführen. Der eigentliche, heimiſche Boden
des modernen Drama’s ſind aber natürlich die hellen Epochen der Geſchichte;
die Arbeit iſt unendlich ſchwerer, der Fehlgriff der Stoffwahl, die Ueberwäl-
tigung durch den maſſenhaften, von der Sage nicht vereinfachten Gegenſtand,
daher die Verirrung in die Breite des Epiſchen liegt nahe genug, allein
alle moderne Kunſt hat die Aufgabe, zur urſprünglichen Stoffwelt ſich
zurückzuwenden und den ſchweren Kampf ohne die hülfreiche Vorarbeit der
allgemeinen Phantaſie auf ſich zu nehmen. Von der einen Seite betrachtet
ſind Stoffe aus der alten Geſchichte günſtiger. Die Welt iſt eine
einfachere, klarere, ſchon durch die größere Ferne der Zeit mehr idealiſirte.
Der alte Orient enthält noch manchen ungehobenen Schatz, namentlich iſt
Herodot noch zu wenig benützt. Ganz modernes Bewußtſein, tiefe und
raffinirte Conflicte des Herzens und Weltſchmerz in altteſtamentliche Stoffe
zwängen iſt eine der Verkehrtheiten unſerer Zeit. Einen größeren Reich-
thum ächt dramatiſcher Stoffe bringt natürlich die claſſiſche, die grie-
chiſche und römiſche Geſchichte dem Dichter entgegen. Er findet hier neben
ſolchen Zuſtänden, Begebenheiten, Charakteren, die unzweifelhaft mehr epiſcher
Stoff ſind, die prinzipiellen Kämpfe, die das Drama verlangt, die radi-
calen Charaktere, welche mit hellem Bewußtſein eine beſtehende Ord-
nung ſtürzen und tragiſch untergehen. Wie glücklich hat Shakespeare im
Coriolan, im Cäſar gegriffen! Dagegen haben die antiken Stoffe den Nach-
theil, daß die Charaktere und Culturformen für das Drama zu typiſch
einfach ſind. Im Mittelalter iſt es umgekehrt; dieſe ſind colorirt, aber die
ſittlichen Kräfte handeln zu dunkel und unbewußt. Dieß iſt beſonders der
Fall in dem wilden und blutigen Auflöſungskampfe des Feudalſtaats, wie er
[1422] namentlich in England ſo belehrend über das innerſte Weſen und der noth-
wendige Gang dieſer Zuſtände ſich entwickelt hat: ein ebenſo gewaltiger,
als durch ſeine Maſſenhaftigkeit und Rohheit ſchwieriger Stoff, dem Sha-
kespeare trotz allen zugegebenen Mängeln jenes Cyclus doch die tragiſche
Idealität abgewonnen hat, daß die rauhen Kräfte als die verſtockten Werk-
zeuge eines ungeheuern Schickſals erſcheinen und ſo ihren Gipfel in der
dämoniſchen Geſtalt Richard’s III finden, in welchem ihre ganze Wildheit
ſich zum gründlich Böſen anſammelt, hiemit aber auch ſich zerſtört und der
neuen Staatsordnung Platz ſchafft. Einen klaren Prinzipienkampf ſtellt
der Kampf des Pabſtthums und Kaiſerthums dar, es fehlt ihm aber im
Einzelnen und Ganzen doch zu ſehr an wirkſamen Schlußpuncten. Der
günſtigſte Stoff der Tragödie liegt offenbar in den großen Gährungsmo-
menten der neueren Zeit; die radical einſchneidenden Naturen ſind häufiger
und handeln nicht nur mit hellem Bewußtſein, ſondern haben auch das
tiefer in ſich concentrirte, der Einfachheit typiſcher Objectivität entwachſene
Leben, deſſen das Drama bedarf. Als Göthe und Schiller nach Egmont,
Fiesko, Don Carlos, Wallenſtein, Maria Stuart griffen, zeigten ſie dem
neueren Drama den richtigen Weg (vergl. Gervinus a. a. O. S. 492. 493).
Allerdings werden, je näher die moderne Zeit rückt, die Culturformen um
ſo ungünſtiger, doch lockert ſich in den Tagen der Auflöſung und Prinzi-
pienkämpfe auch die proſaiſche Ordnung der Dinge.
In der dritten Sphäre ſoll durch den Ausdruck: bürgerliches und
Privatleben derjenige Stoff, der ſoziale Fragen, Conflicte, die ſich um die
Einrichtung der Geſellſchaft drehen, als dramatiſchen Inhalt mit ſich bringt,
von dem reinmenſchlichen unterſchieden werden, deſſen Intereſſe in den großen
Empfindungsmotiven der Liebe, der Pietät, der Freundſchaft liegt. Wir
kommen auf dieſen Punct bei der Unterſcheidung von Prinzipien- und
Charaktertragödie zurück. Im ungenaueren, gewöhnlichen Sprachgebrauche
nennt man das ganze Gebiet das bürgerliche Drama. Beiderlei Stoffe haben
nicht die monumentale Großheit wie jene erſteren; ſie nähern ſich aber der-
ſelben, wenn das Geſchichtliche, Oeffentliche ſo den Hintergrund bildet, wie
in Romeo und Julie, im Othello. Es iſt die ähnliche Erhöhung, wie ſie
W. Scott dem Romane, Göthe in Hermann und Dorothea der Idylle
gegeben hat. Der Dichter wird hier meiſt aus zufälliger Kunde oder aus
poetiſcher Ueberlieferung, namentlich Novellen ſchöpfen. — Der Begriff des
Hiſtoriſchen ſteht zu dem des Bürgerlichen und Privaten zunächſt nicht im
Verhältniß einer logiſchen Unterſcheidung; doch erhellt, daß es ſich dort um
die großen Gegenſtände handelt, welche die Geſchichte mit Rothwendigkeit
aufzeichnet, hier aber um Solches, was ſie je nach Umſtänden aufzeichnet
oder nicht. Gegen völlig freie Erfindung brauchen wir uns nach dem,
was die Lehre von der Phantaſie aufgeſtellt hat, nicht mehr auszuſprechen;
[1423] dagegen kann die Erfindung ganz wohl von einem kleinen Puncte aus-
gehen, der in der vollſtändig entworfenen Handlung nur einen unterge-
ordneten Theil bildet, vergl. §. 393, Anm. 1.
§. 911.
Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterſchiede der Seite,
von welcher der Stoff aufgefaßt wird. Der Dichter legt das größere Ge-
wicht entweder auf den Conflict der ethiſchen Grundmotive an ſich oder auf
das Bild des Charakters und der Sitte. Der Gegenſatz von Prinzipien-
Tragödie und Charakter-(Sitten-)Tragödie, der hiedurch entſteht,
kommt zurück auf die Unterſcheidung im Tragiſchen §. 131 ff. 135 ff. Der-
ſelbe kann jedoch nur ein relativer ſein. Die zweite Art theilt ſich wieder nach
§. 105 ff. in ein Drama der Leidenſchaft, namentlich der Liebe, des böſen
und des guten Willens.
Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, iſt nach
unſerer Unterſcheidung in der Lehre vom Tragiſchen die Tragödie des ſitt-
lichen Conflicts, und was er Charaktertragödie nennt, Tragödie der ein-
fachen Schuld; es iſt aber zweckmäßig, im concreten Gebiete jene einfacher
bezeichnenden Namen zu brauchen. Es handelt ſich hier von einer wichtigen
Unterſcheidung, die aber durchaus nur relativ ſein kann; würde ſie abſolut
genommen, ſo wäre entweder der Satz umgeſtoßen, daß im Drama nicht
der Charakter, ſondern die Handlung das Weſentliche iſt, oder umgekehrt:
es würden ſich Conflicte bekämpfen, die wie Platoniſche Ideen als Weſen
für ſich in der Luft ſchwebten. Die Prinzipientragödie ruht auf Conflicten,
die nach der Trennung, die in den menſchlichen Dingen das ewig Zuſam-
mengehörige erfährt, wirklich unverſöhnlich ſind, aber die Einſeitigkeit der
Trennung muß in ſchroffen und heftigen Charakteren ihre lebendige Realität
haben, ſo daß der Eindruck bleibt, bei größerer Nachgiebigkeit würde aller-
dings der Conflict ſich ſchmerzloſer löſen, nur fiele dann eben die Kraft der
Einſeitigkeit in den Charakteren und die Löſung wäre eine matte, ſchlaffe.
Die claſſiſche Muſtertragödie des Conflicts, die Antigone des Sophokles,
kann daher allerdings auch ſo gefaßt werden, daß die Starrheit und Hef-
tigkeit der beiden Hauptperſonen die Angel der Handlung ſei und daß wir
aus dem Schluſſe die große Lehre von der Mäßigung zu ziehen haben,
aber es iſt dieß nicht die ganze Erklärung, ſondern nur Hervorhebung
ihres einen, hier des untergeordneten Moments. So ſind in Shakes-
peare’s Jul. Cäſar die Charaktere typiſch einfacher, als in irgend einem
andern Drama Shakespeare’s, ſchlicht erhabene Träger der ſich bekämpfenden
Ideen der Republik und Monarchie, das Gewicht fällt auf dieſe, aber der
[1424] Ideenkampf iſt doch weſentlich lebendiger Perſonenkampf. Der Charakter-
tragödie darf umgekehrt, obwohl das Gewicht auf die andere Seite gelegt
iſt, ein Pathos von allgemeiner, objectiver Wahrheit nicht fehlen. Nach
der Auffaſſung von Gervinus, der das tragiſche Ende durchaus nur aus
dem Ueberſturz heftiger Leidenſchaft ableitet (Shakespeare B. 4, S. 380 ff.),
gäbe es nicht blos nur eine Charaktertragödie, ſondern auch nur eine ſolche,
die keine Allgemeinheit enthält, als die Lehre von der Pflicht der Mäßigung,
die als ein abſtracter Satz der Moral nie einen großen poetiſchen Inhalt
begründen kann. So predigt Gervinus dem Romeo Mäßigung, wohl mit
Recht, Lorenzo thut es auch; wäre er aber beſonnen, ſo wäre er kein lie-
bender Jüngling und wäre im Drama nicht die Liebe in ihrem ganzen
Feuer, ihrer ganzen Unendlichkeit dargeſtellt; ein andermal mag man be-
denken, daß es noch andere Dinge auf der Welt gibt, Rückſichten, Pflichten;
hier aber, dießmal gilt es der Göttlichkeit der Liebe, dießmal muß ſie ab-
ſolut daſtehen, eine ideale Leidenſchaft; die Welt außer ihr beſteht auch jetzt
und es wäre Pflicht des Liebenden, ſie nüchterner zu berückſichtigen; es iſt
Schuld und nicht Schuld, daß Romeo es in raſcher Uebereilung unterläßt; in
dieſes Zwielicht mitten hinein ſtellt ſich die Tragödie. Alles aus der bloßen
Individualität und der Natur des menſchlichen Herzens entwickeln heißt
der Tragödie ſowohl das wahrhaft Allgemeine, als das wahrhaft Concrete
nehmen. Selbſt wilde und rohe Charaktere dienen, das muß uns der
Dichter zeigen, einem geſchichtlichen Geſetze, ſelbſt ein Richard III iſt Werk-
zeug eines ſolchen, Makbeth’s mörderiſcher Ehrgeiz iſt Verkehrung des mo-
raliſchen Anrechts heroiſcher Größe und hohen Geiſtes an die Krone und
Wallenſtein führt den Anſpruch des genialen Feldherrn auf unbegrenzte
Vollmacht in Kampf gegen das Recht der kaiſerlichen Macht, das aber durch
kleinliche Ueberwachung zum halben Unrechte geworden iſt. Kurz, das
Pathos muß immer objective Allgemeingültigkeit haben, das Gewicht der
Behandlung kann aber mehr auf dieſe oder mehr auf das ſubjective Leben
des Pathos im Charakter fallen. Im letzteren Falle wird allerdings immer
die Spannung gegenüberſtehender Rechte weniger nothwendig und unver-
meidlich erſcheinen, und dieß iſt es, was in §. 131 ff. das Tragiſche der
einfachen Schuld heißt. — Die Charaktertragödie nun wird mehr oder
weniger von der ſtrafferen Zuſammenfaſſung eines Pathos in der energie-
vollen Hauptgeſtalt hinausweiſen auf die ſittlichen Geſammtzuſtände geſell-
ſchaftlicher Kreiſe; je mehr dieß der Fall iſt, deſto mehr wird das Charak-
terdrama zum Sittenbilde. Dieß geſchieht im edelſten und höchſten Sinne,
wenn das Gewicht auf das Beſtehen und Wachſen der reinſten Humanität
gelegt wird wie in Göthe’s idealen Sittengemälden Iphigenie und Taſſo;
das tragiſche Schickſal geiſtiger Naturen, wie Philoſophen, Künſtler, Dichter,
gehört in dieſes rein menſchliche Gebiet, doch nehmen wir unſer Bedenken
[1425] gegen ſolche Stoffe nicht zurück. Ein trivialeres Sittenbild, dem hollän-
diſchen Genregemälde ähnlich, eine ſchwungloſe Darſtellung des Familien-
und Stände-Lebens war das bürgerliche Drama der Leſſingiſch-Ifflandiſchen
Zeit. Man könnte dieſe ſittenbildliche Wendung der Charaktertragödie nach
Ariſtoteles (Poetik C. 18) die ethiſche nennen, wiewohl er nicht ganz den-
ſelben Begriff mit dem Worte verbindet, ſondern mehr ein Gemälde paſſiver
Seelenzuſtände im Auge hat gegenüber der ſtarken, heroiſchen Leidenſchaft,
die den Inhalt der Art der Tragödie bildet, welche er die pathetiſche nennt.
Was wir unter Charakter im ſtricten Sinne des Wortes verſtehen, iſt aller-
dings auch in der letzteren Art nicht befaßt, denn es iſt ein moderner Be-
griff. — Zur weiteren Eintheilung der Charaktertragödie ziehen wir aus
dem erſten Theile die dort unterſchiedenen Formen des ſubjectiv Erhabenen
herauf. Demnach wäre die erſte Form die Tragödie der Leidenſchaft.
Sie unterſcheidet ſich von den andern dadurch, daß die Leidenſchaft mit reifem
und geſchloſſenem Charakter zwar zuſammentreffen kann, aber nicht muß.
Das Pathos der Liebe, ein Hauptmotiv im modernen Drama, wie dieß
im Weſen des modernen Ideals begründet liegt, fordert jugendliche Naturen,
die noch nicht zum Charakter geſchmiedet ſein können, das Pathos der ver-
letzten Familienpietät findet im König Lear einen Greis, der hohe Eigen-
ſchaften, aber nicht Charakter im engeren Sinne des Wortes hat; dagegen
vergiftet die Eiferſucht im Othello einen Charakter, der wirklich zur vollen
Reife gelangt iſt. Die Tragödie der Leidenſchaft wird häufig zugleich Sit-
tenbild im kräftigſten Sinne des Worts; ſo ſehen wir im König Lear eine
ganze Generation entartet. Die Tragödie des Böſen hat Shakespeare
geſchaffen; was auch immer nach ihm in dieſer Richtung noch entſtan-
den iſt oder entſtehen mag: Richard III und Makbeth (der aber noch
andere Seiten hat, die in andern Zuſammenhang gehören,) ſind einzelne
Werke, die den abſoluten Werth von Gattungen haben. Daß und wie die
Tragödie des Böſen und der Leidenſchaft ſich naturgemäß verbindet, zeigt
Othello und Lear. Die Tragödie des guten Willens iſt natürlich nicht
ein Bild der fleckenloſen Tugend, ſondern des edlen Strebens und Wirkens
mit Schuld, wenigſtens nicht ohne innern Kampf, wie ihn Göthe’s Iphi-
genie gegen die Verſuchung zur Lüge und zum Undank beſteht. Dieſe
Gattung iſt jedoch in der ächten Poeſie ſchwach vertreten, weil es ſehr
ſchwer iſt, reine Charaktere zu behandeln, ohne ihnen den Schatten zu ent-
ziehen, den das Tragiſche fordert, und ſehr leicht, in ein Gemälde der platten
Rechtſchaffenheit und das falſche Bild des Tragiſchen zu verfallen, wie dieß
im bürgerlich rührenden Schauſpiele der Fall war.
Es entſteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzuſtellen
ſei, nämlich eine Tragödie des Bewußtſeins. Im Makbeth fällt ſchließlich
das ſtärkſte Gewicht auf das Gewiſſen, ſeine Phänomene, Bewegungen,
[1426] Geſchichte; im Hamlet liegt es von Anfang bis Ende auf der Reflexion,
die den Willen nicht zum Handeln kommen läßt. Es iſt aber bedenklich,
eine eigene Claſſe ſolchen Inhalts einzuführen; man kann nur ſagen: es
gibt Dramen, in welchen der Haupt-Accent ſo eben aus der Handlung
und dem Thatſächlichen ſich herauszieht und auf die innerlichen Kämpfe
legt; wo aber dieſe zum ganzen Inhalt werden, da ſind ſie theoretiſch und
ſolche Werke, wie Göthe’s Fauſt, behalten ihren unendlichen Werth, ſind
aber ſchwebende Formen, die zu wenig Handlung und feſten Körper haben,
um eigentliche Dramen genannt zu werden.
Wir haben die neuere Schickſalstragödie als eine Verirrung er-
wähnt. Iſt es aber nicht logiſch gefordert, daß auch eine Form unter-
ſchieden werde, die dieſen Namen ohne Tadel trägt? Wenn nach der Seite
der Auffaſſung eingetheilt und danach eine Prinzipien- und Charakter-
tragödie unterſchieden wird, ſo ſcheint ein dritter Fall überſehen, wo das
Hauptgewicht auf den tragiſchen Gang der Handlung fällt. Die Alten
hatten eine ſolche Gattung; Ariſtoteles (a. a. O.) nennt ſie die verwickelte
und erklärt dieß dahin, daß hier das Ganze in Erkennung und Umſchwung
beſtehe. Der König Oedipus iſt das reinſte Bild derſelben. Allein dieſelbe
kann nur in der Poeſie des claſſiſchen Alterthums auftreten, und zwar deßwegen,
weil nur dieſe ein vorausgeſetztes, neidiſch auflauerndes, nicht aus den Hand-
lungen der Menſchen ſich entwickelndes Schickſal kennt. Was den Griechen
normal war, iſt uns abnorm, daher iſt eine moderne Schickſals-Tragödie eine
ſchlechte Tragödie. Anders verhält es ſich, wie wir ſehen werden, in der
Komödie; hier kann der Gang, die Verwicklung, die Bewegung zum Schluſſe
ſo das Uebergewicht über das komiſche Pathos und die Charaktere haben,
daß darauf eine durchgreifende Eintheilung zu gründen iſt.
§. 912.
Der Unterſchied der Auffaſſung verhält ſich zu dem des Stoffes ſo, daß
am beſtimmteſten der hiſtoriſch politiſche Schauplatz die Bedingung zu der Prin-
zipien-Tragödie enthält, wogegen der ſagenhaft heroiſche und der bürgerliche,
das Privatleben mehr auf das Charakter- und Sitten-Drama führt; jedoch
beides keineswegs ausſchließlich, denn im bürgerlichen Gebiete treten Conflicte
tiefer und allgemeiner Art auf, welche die ſoziale Prinzipientragödie begründen,
im hiſtoriſch politiſchen kann ſich der Nachdruck doch dem Charakter zuwenden
und das ſagenhaft heroiſche lädt zu einem gewiſſen Gleichgewichte von Prinzi-
pien- und Charakter- (oder Sitten-) Tragödie ein.
Daß der hiſtoriſch politiſche Stoff am entſchiedenſten zur Prinzipien-
Tragödie führt, bedarf keines Beweiſes; dagegen arbeitet die umbildende
[1427] Sage aus den Ereigniſſen und Thaten eines noch unbefeſtigten öffentlichen
Lebens das allgemein Menſchliche heraus; es iſt in den claſſiſchen Tragö-
dien, im Lear, Makbeth, Hamlet nicht gleichgültig, daß es ſich um Heroen,
Fürſten, Völker, Staaten handelt, das menſchliche Pathos gewinnt andere
Bedeutung auf dieſer monumentalen Höhe, aber den Mittelpunct bildet
doch nicht ein Kampf zwiſchen einer beſtehenden politiſchen Ordnung und
einer Idee, die ſie zu ſtürzen, organiſch umzugeſtalten ſtrebt, ſondern Cha-
rakter, Grundempfindungen des menſchlichen Lebens, innere Zuſtände des
Gemüths, Sitten. Die Stoffe der bürgerlichen Geſellſchaft haben wir
in §. 910, Anm. von denen des Privatlebens dadurch unterſchieden,
daß ſie ſoziale Fragen enthalten. Doch führt dieß noch nicht unmittelbar
zu der Prinzipientragödie; auch ſo kann der Nachdruck auf Leidenſchaft und
Charakter liegen, und daß ebendieß der Sphäre des engeren Privatlebens
natürlich iſt, erhellt von ſelbſt. Allein dieſe Sätze gelten keineswegs unbe-
dingt. Daß der hiſtoriſch politiſche Schauplatz je nach ſeiner Beſchaffenheit
auch zur Charakter-Tragödie führt, beweist Shakespeare’s Coriolan, Anto-
nius und Cleopatra, Heinrich V. Weichen und paſſiven Naturen, leidenden
Frauen, wenn ſie Hauptperſonen ſind, iſt tragiſche Würde nur dadurch zu
geben, daß ihnen um ſo mehr menſchliche Theilnahme geſichert wird; ſo neigen
ſich Shakespeare’s Richard II und Schiller’s Maria Stuart von prinzipiell
politiſchen zu Charakter- und Sittentragödien. Die ſchneidenden Conflicte
der bürgerlichen Geſellſchaft führen nicht nothwendig, aber doch entſchieden
drängend zu einer Behandlung, welche das Intereſſe an den prinzipiellen
Conflicten des Rechts, des Herzens, der Ehre, des Anſpruchs auf Glück
und Beſitz mit feſtgewurzelten Vorurtheilen der Geſellſchaft, Einrichtungen,
Vorrechten, Stände-Unterſchieden ſtärker betont, als das Intereſſe an den
Charakteren und Leidenſchaften: eine Form, die in der modernen Zeit zu
großer Bedeutung berufen iſt. Schiller erhob das bürgerliche Charakterſtück
durch Kabale und Liebe in dieſe Sphäre. Daß wir die Abſichtlichkeit der
eigentlichen Tendenz auch hier, wo ſie am nächſten liegt, aus der wahren
Poeſie wegweiſen, folgt aus allen Vorderſätzen des Syſtems. Hettner
(a. a. O. S. 86 ff.) nennt dieſe Gattung das Drama der Verhältniſſe und
will ſtrenge zwiſchen Conflicten mit vorübergehenden Vorurtheilen, Ein-
richtungen der Geſellſchaft und mit bleibenden unterſcheiden. Allein die
Grenze iſt kaum zu ziehen; der menſchliche Geiſt ſchafft ſich in der Geſell-
ſchaft immer neue Formen und verhärtet ſich dann in ihnen, ſo daß ſie zur
Grauſamkeit werden, bis er ſie endlich ſtürzt; mag je für die Gegenwart
auch eine ſolche Form ganz veraltet ſein, ſo erkennen wir doch darin ein
Bild derſelben Verhärtung, die in anderen Formen auch heute da iſt und
ſtets wiederkehrt, und das allgemeine, bleibend menſchliche Intereſſe wird
daher nicht fehlen, wenn nur nicht ganz zufällige und unſerem Bewußtſein,
[1428] unſerer Cultur allzufern liegende Colliſionen ſtatt tiefwurzelnder behandelt
werden. — Die Tragödie des engeren Privatlebens endlich kann ſich doch auch
zur Hervorſtellung des Prinzipiellen hinneigen, wenn z. B. in Colliſionen wie
zwiſchen Liebe und Ehre, Liebe und Kindespflicht das Gewicht von der be-
ſondern Färbung der Charaktere mehr auf das allgemein Sittliche verlegt iſt.
§. 913.
Die claſſiſch ideale Stylrichtung ſteht in natürlichem Anziehungsver-
hältniß zu den ſagenhaft heroiſchen und hiſtoriſch politiſchen Stoffen, die natu-
raliſtiſche und individualiſirende zu denen des bürgerlichen und Privat-Lebens.
Allein auch dieß Verhältniß iſt kein ausſchließliches; insbeſondere iſt im letzteren
Styl eine dem idealen Schwunge des erſteren bei allem Gegenſatze tief ver-
wandte oder durch Aneignung deſſelben erhöhte Form von einer im engeren
Sinne naturaliſtiſchen zu unterſcheiden, die ſich zu den Stoffgebieten ſo ver-
halten, daß jene auch den großen Gegenſtänden der zwei erſten, dieſe nur den
weniger erhabenen der andern Sphären angemeſſen iſt.
Die Stylfrage, deren geſchichtliche Beleuchtung wir vorangeſchickt haben,
tritt alſo jetzt als ein Moment in der Eintheilung der Formen ein. Der
erſte Satz des §. bedarf keiner Erörterung und wir wenden uns ſogleich
zu dem tiefen Unterſchiede innerhalb des charakteriſtiſchen Styls, den der
Schlußſatz zugleich mit ſeiner Beziehung zu den Stoffgebieten hervorhebt.
Es iſt klar, daß unter der Geſtalt dieſes Styls, die als eine bei allem Ge-
genſatze doch dem claſſiſch idealen tief verwandte bezeichnet wird, der Sha-
kespeare’ſche verſtanden iſt. Er ſteht auf ſchroff gegenüberliegendem Gipfel
und trägt doch einen Kothurn, der ihn den Griechen ganz ebenbürtig macht.
Er kann und ſoll ſich aber, wie wir geſehen haben, mit dem Formgefühle
des claſſiſchen verbinden, noch inniger, als bei Schiller und Göthe. Dieſer
geläuterte germaniſch charakteriſtiſche Styl gehört nun ganz den hiſtoriſch-
politiſchen Stoffen; er kann ſich aber auch den Stoffen des bürgerlichen
und Privatlebens zuwenden, wie wir an dem reinen Sittenbilde, Göthe’s
Taſſo, ſehen, worin der Umſtand, daß der Schauplatz ein Hof iſt, an dem
Begriffe der Sphäre nichts verändert, denn mit der politiſchen Seite des
fürſtlichen Standes hat dieß Drama nichts zu ſchaffen, nur mit der menſch-
lich ſozialen. Im Großen und Ganzen aber, namentlich wenn es nicht
durch ſolchen Hintergrund der edelſten Blüthe der Humanität auf den Höhen
der Geſellſchaft gehoben iſt, führt dieß Gebiet allerdings ſo viel Nöthigung
mit ſich, in die realen, harten, ſelbſt proſaiſchen Lebensbedingungen tief ein-
zugehen, daß hiedurch der charakteriſtiſche Styl im engeren Sinne der Na-
turwahrheit bedingt iſt und hiemit auch die proſaiſche Sprache.
[1429]
§. 914.
Sämmtliche Stoffgebiete, Auffaſſungen und Stylrichtungen können ſich im
negativ oder poſitiv Tragiſchen bewegen und es läßt ſich nur bedingt
ausſprechen, daß der Schauplatz des bürgerlichen und Privatlebens im All-
gemeinen mehr die zweite Form zu begründen geeignet ſei. Wichtig iſt neben
der größeren oder minderen objectiven Härte des Conflicts der Unterſchied der
Charaktere, indem der freiere, ſittlich harmoniſche das Mittel iſt, auch den
ſchwereren Conflict glücklich zu löſen. Je fühlbarer dieſer Schluß von Anfang
an geſichert erſcheint, deſto ſtärkere Einmiſchung des Komiſchen iſt gerechtfertigt;
womit aber auch der Uebergang in die Komödie eintritt.
Es iſt wiederholt geſagt worden, daß ein Drama tragiſch zu nennen
iſt, mag der Ausgang auch ein glücklicher ſein, wofern nur der endliche
Sieg einer guten Sache als Werk einer Weltordnung ſich darſtellt, die den
Helden durch Leiden führt, in denen er als ein nicht ſchuldloſes, vielmehr
der Prüfung und Läuterung bedürftiges Werkzeug derſelben erſcheint. Es
bleibt aber dennoch dabei, daß das negativ Tragiſche die wahrere, tiefere,
bedeutendere Form iſt. Die Geſchichte hat Momente, wo ſie einer ver-
ſöhnten Weltanſchauung, dem Glauben an den Sieg des freien und guten
Geiſtes ſchon durch den Stoff entgegenkommt; ein ſolcher Stoff iſt der des
W. Tell. Allein die Dichtkunſt faßt die Geſchichte als bewegtes Ganzes auf,
behält im Auge, daß es kein ruhendes Vollkommenes gibt, und premirt auf
dieſem Standpuncte das negative Moment der Bewegung, den Kampf,
worin jede einzelne Kraft im Leiden bekennen muß, daß ſie nicht rein, daß
ſie nicht das Ganze iſt, und darum zieht ſie es vor, den ewig neuen Sieg
im ewigen Kampfe nur in der Perſpective zu zeigen. Die dramatiſche
Literatur hat daher nur wenige bedeutende Dramen mit glücklichem Ausgang
aufzuweiſen. Daß die Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft und des Privat-
lebens zu einem ſolchen eher neige, läßt ſich nicht objectiv, ſondern nur
ſubjectiv behaupten; d. h. ſofern die weniger heroiſch gehobene Stimmung
dieſer Stoffe es mit ſich bringen mag, daß der Dichter den ſchneidenden
Conflicten aus dem Wege geht, an denen es natürlich in beiden Gebieten
nicht fehlt. Das im engeren Sinne ſogenannte Schauſpiel, das bürgerliche
Rührſtück, bedurfte den glücklichen Schluß, nachdem es ſeinen Standpunct
in einer trivialen Anſicht von der göttlichen Gerechtigkeit genommen hatte,
als wäre ſie juriſtiſche Belohnung und Beſtrafung (vergl. §. 128, Anm. 2.).
Sie kannte keine wirkliche, nothwendige Conflicte, dieß und die in’s Kleine
malende Art des charakteriſtiſchen Styls war eigentlich komödiſch und es iſt
nur Schade, daß ſo viel Gutes, wie es ſich in jener Literatur findet, nicht
im Zuſammenhange von Komödien ſteht. In ſeinem Nathan vergißt Leſſing,
welchen ſchweren Conflict zwiſchen dem Fanatismus des Chriſtenthums und
[1430] der reinen Humanität er angelegt hat, und ſchließt die Handlung ſchlecht
im Sinne des bürgerlichen Familienſtücks. Der Patriarch mußte zum
Aeußerſten ſchreiten, der Templer in einem ſpannenden Momente furchtbarer
Gefahr als Retter Nathan’s auftreten und dadurch ſeine Erhebung aus
dem Dunkel des Vorurtheils vollenden; dann möchte dieſes Drama immer
glücklich ſchließen, nur nicht mit einer Erkennung, worin Liebende zu Ge-
ſchwiſtern werden müſſen. Es iſt hier vor Allem der freie, klare, harmo-
niſche Charakter des Nathan, der ein poſitives Ende fordert; ſo in Göthe’s
Iphigenie der Charakter der Heldinn, von deſſen himmliſcher Reinheit
heilende, ſittliche Wirkungen nach allen Seiten ausgehen, ſo Heinrich V in
Shakespeare’s Drama, ein Held, der von Anfang an gegen H. Percy die lichte,
elaſtiſche, freie, zum Sieg über ſich und dunkle, blinde, wilde Kräfte berufene
Kraft darſtellt. Die Charakter-Auffaſſung iſt die eine der ſpezielleren Grund-
bedingungen glücklichen Ausgangs; ſie kann mit der andern, der minder
ſchneidenden Härte des Conflicts, Hand in Hand gehen oder, was jedoch
natürlich das Seltnere iſt, in ſiegreichen Widerſpruch mit ſchroffem Conflicte
treten. Zu den leichteren Conflicten gehört eine Situation wie die in Heinr.
v. Kleiſt’s Prinzen Friederich von Homburg, es iſt der Widerſtreit zwiſchen Sub-
ordination im Krieg und jugendlichem Heldenmuth; er wird gelöst durch die
ſchlichte Weisheit und Größe des Kurfürſten; dagegen in Göthe’s Iphigenie
ſehen wir eine Colliſion von furchtbarer innerer Schwere, den Kampf zwiſchen
Bruderliebe und zwiſchen der Pflicht der Dankbarkeit und Wahrhaftigkeit
nur durch tiefes, inneres Ringen eines idealen weiblichen und humanen
männlichen Charakters (des Thoas) ſich löſen. — Wir kommen nun auf
das zurück, was zu §. 909 über den Eintritt des Komiſchen bei Anlegung
auf glücklichen Schluß bemerkt iſt. Shakespeare gibt der Gewißheit eines
glücklichen Ausgangs, wo ſie ſich ſchon in der Anlage der Handlung an-
kündigt, immer die Folge, daß er das komiſche Element weit über den Grad
verſtärkt, den der charakteriſtiſche Styl auch im negativ Tragiſchen zuläßt, und
zwar bis dahin, daß ſelbſt Heinrich V eine Komödie hieße, wenn er ſeine
Stelle nicht in einem Zuſammenhang hätte, der den Namen hiſtoriſches
Drama begründet. Es wäre gut, wenn ihm mehr gefolgt würde, aber es
verdient allerdings nicht durchaus Nachahmung, denn es muß ernſten Zu-
ſammenhang geben, der glücklichen Ausgang bedingt und doch gebietet, das
Komiſche, mag es ſich auch hervorthun, zu mäßigen, ihm namentlich in der
Rähe der ſchweren Entſcheidungsmomente Schweigen zu gebieten; es muß
namentlich dem direct idealen Style der modernen Dichtung unbenommen
bleiben, eine lichte Weltanſchauung in Dramen mit poſitiv tragiſchem Aus-
gang ſo niederzulegen, daß er dabei ſeine „folgerechte, Uebereinſtimmung
liebende Denkart“ (wenn ſie nur übrigens nicht ungerecht urtheilt, wie Göthe
über die komiſchen Figuren in Romeo und Julie) behauptet.
[1431]
§. 915.
Die Komödie unterſcheidet ſich dem Stoffe nach wie die Tragödie in
eine politiſche und eine ſolche, die im bürgerlichen und Privatleben
ſpielt; die Natur des Komiſchen bringt es mit ſich, daß die letzteren Sphären
die dauernder und fruchtbarer angebauten ſind und daß die Leidenſchaft der Liebe
den Mittelpunct des Inhalts bildet. Das Mythiſche kann ſich mit beiden
Hauptgebieten verbinden, iſt aber in der Komödie weit mehr Sache der freien
Erfindung, als in der auf ſagenhaft heroiſchem Grunde ruhenden Tragödie.
Die ausführliche Darſtellung des Komiſchen nach allen ſeinen Momenten
und Hauptformen, die im erſten Theile gegeben iſt, enthebt uns der Ob-
liegenheit, Allgemeines über das Weſen der Komödie vorauszuſchicken. Auch
dieß iſt ſchon nachgewieſen, daß das Weſen des Komiſchen in keiner Kunſt-
form zu ſo voller und erſchöpfender Geſtalt gelangt, wie im Drama; das
Weitere über ſpezifiſche Bedingungen der dramatiſchen Geſtaltung des Komi-
ſchen bringt die Darſtellung der verſchiedenen Arten von ſelbſt hinzu. —
Das Komiſche führt ſeinem innerſten Weſen nach in die Stoffwelt des
ſozialen und Privat-Lebens mit ſeiner ausgebildeten und in der Spezialität
der Motive vom Auge der Bildung belauſchten Subjectivität. Die coloſſale
politiſche Caricatur der Ariſtophaniſchen Komödie iſt eine durchaus groß-
artige Erſcheinung, ſteht aber auch in dem Sinn einzig da, daß dieſe ganze
Form bis jetzt nicht wiedergekehrt und daß es zweifelhaft iſt, ob ſie wieder-
kehren kann. Die Schwierigkeit der Frage liegt darin, daß ſie nicht nur
ein wahrhaft politiſches Leben und volle demokratiſche Freiheit vorausſetzt,
ſondern wirklich auch nur da möglich zu ſein ſcheint, wo der Sinn für das
Subjective, das Privatleben überhaupt noch nicht erſchloſſen iſt: ſo wie
dieſer aufgeht, wirft ſich als Luſtſpiel auf die belauſchte Kleinwelt und nach
dieſer Seite war der Uebergang zur neueren Komödie in Griechenland ein
Fortſchritt. Es kann nicht die Meinung ſein, daß das Wichtige und Große,
Geſetz, Staat, Religion, bedeutender Moment der geſchichtlichen Politik nicht
der Komik unterworfen werden dürfe oder könne, aber wie die neuere Zeit
dieſe Stoffe anfaßt, ſo hören ſie im Grund auf, eigentlicher Gegenſtand
des dargeſtellten komiſchen Vorgangs zu ſein: die kleinen Leidenſchaften und
Zufälle, die Geſpinnſte der Liſt, aus denen die große Politik in Stücken,
wie jene zierlichen franzöſiſchen Luſtſpiele, das Glas Waſſer von Scribe und
and., abgeleitet wird, treten in den Mittelpunct, werden der poſitive Inhalt,
wogegen bei Ariſtophanes freilich auch der Egoismus mit allen ſeinen
Niedrigkeiten es iſt, worin das Große, Oeffentliche, Monumentale ſich
ironiſirt, aber nicht ſo, daß das Kleinliche neben den politiſchen Zwecken
ſeine Rolle ſpielt und dieſe zu blos ſcheinbaren herabſetzt, ſondern, daß es
doch mit dieſen Ernſt iſt, die Verkehrtheit ſich wirklich in ſie ſelbſt legt und
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 92
[1432]ſo als große politiſche Narrheit auftritt. Darf man hoffen, daß eine ſolche
Form wieder aufſtehe, ſo iſt es nur möglich in einem großen politiſchen
Moment, etwa einer ſiegreichen Revolution, wo Alles politiſch geſtimmt iſt,
wo das Treiben der Beſiegten als ein großartiger, tragikomiſcher Wahnſinn
erſcheint und wo der Sieger zugleich großmüthig und klar genug iſt, ſich
ſelbſt, ſeine Sünden und Schwächen mit in den Taumel des Humors zu
werfen. So talentvolle Verſuche wie die politiſche Wochenſtube von Prutz
ſind ein Beweis, daß wenigſtens den Deutſchen die Ader nicht fehlt. Der
größere Theil des Inhalts in dieſem Verſuch iſt allerdings literariſche Satyre.
Wir haben die Literatur nicht als Stoffquelle im §. aufgeführt; denn
die unbedingte Popularität und Oeffentlichkeit, die Verwachſung mit dem
politiſchen Leben, deren ſie ſich in Griechenland erfreute, kann nicht wieder-
kehren (vergl. Hettner D. moderne Drama 162); Komödien wie Tieck’s
geſtiefelter Kater können daher in der neueren Zeit ſchon aus dieſem Grunde
nur Leſedramen für wohlbewanderte Kreiſe ſein. — Die Sphäre der ſozialen
Komödie unterſcheiden wir wie in der Eintheilung der Tragödie als die
bürgerliche von der des eigentlichen Privatlebens: es handelt ſich von Ver-
kehrtheiten, welche durch beſtimmte Einrichtungen, Gewohnheiten, Verhält-
niſſe der Geſellſchaft bleibend gegeben ſind und aus welchen Typen entſtehen,
wie der Adelſtolze, der bürgerliche Emporkömmling, der Heuchler (Tartuffe),
der Charlatan, der Büreaukrat, der Philiſter, der geplagte Ehemann u. ſ. w.
Das Gebiet liegt innerhalb des nicht politiſchen Stoffkreiſes zunächſt an
der Grenze des letzteren und nimmt hiſtoriſch-politiſche Zuſtände gern zum
Hintergrund. Man kann allgemeiner ſagen, die Komödie lege es oft mehr
auf ein Bild der gegebenen Zuſtände, der Sitte, als der beſondern Fabel
an, und die unbeſtimmte Maſſe, die unter dieſen Standpunct fällt, zur
ſozialen Komödie rechnen. Spielt ein ſolches Stück in der feineren Geſell-
ſchaft, ſo iſt es ſehr natürlich, daß ſich die Handlung an dem Faden der
geiſtreichen, witzigen, beweglichen Converſation verläuft und das Haupt-
abſehen ſich auf dieſe richtet: das Converſationsluſtſpiel, worin be-
greiflich die Franzoſen ihre Hauptſtärke haben. — Das Luſtſpiel des gemeinen
Privatlebens lehnt ſich wohl an Verhältniſſe und Sitten, nimmt
aber ſein Motiv nicht aus den chroniſchen Verhärtungen, welche hier eine
Welt des Unbequemen und Verkehrten hervorbringen, ſondern aus der
menſchlichen Natur wie ſie an ſich und jederzeit beſchaffen, zu beſtimmten
Leidenſchaften, Verirrungen geneigt iſt und in unendliche Colliſionen mit
der Wirklichkeit geräth. Daß die Liebe in beiden Sphären die Hauptrolle
ſpielt, bedarf nach den Andeutungen des §. 322 keiner weiteren Erklärung;
knüpfen ſich im modernen Ideale die Metamorphoſen der ſich entwickelnden
Perſönlichkeit im ernſten Sinn an dieſe innigſte Genugthuung der Sub-
jectivität, ſo wird die Parodie des Ernſtes, die weſentlich das Subjective
[1433] aufſucht und dem Menſchen in ſein Geheimſtes nachſchleicht, daſſelbe Motiv
mit der größten Vorliebe ausbeuten und die Noth der Liebenden luſtig mit
einer Heirath oder mehreren ſchließen. — In der Tragödie haben wir eine
Form unterſchieden, die auf ſagenhaft heroiſchem Grunde ruht; in der
Komödie kann von ſolch’ großem Inhalte nicht die Rede ſein; zwar hat
das Satyrſpiel, zum Theil auch die griechiſche Komödie den komiſchen Keim,
der in den Göttern und Heroen lag, kühn ausgebeutet, im Ganzen und
Großen aber kann es nur die Verwendung mythiſcher Motive zu einer frei
erſonnenen phantaſtiſchen Fabel ſein, was der ſagenhaft heroiſchen Tragödie
logiſch an die Seite zu ſtellen iſt; dem griechiſchen Komiker diente die
mythiſche Anſchauungsform überhaupt, Alles zu perſonificiren und ſich eine
tolle Wunderwelt jenſeits des Naturgeſetzes zu ſchaffen; den neueren ſteht
die Poeſie des romantiſchen Aberglaubens zu Gebote, wie Shakespeare die
Elfen, den Zauber in heiterer Weiſe verwendet; er hat aber freie Hand,
auch in den claſſiſchen Mythus zu greifen, ja dieſen und den mittelalter-
lichen in humoriſtiſcher Willkür zu vermengen. Man erkennt jedoch, daß
wir hier aus der Eintheilung, wie ſie ſich zunächſt rein auf den Stoff
gründet, heraustreten: das Komiſche bringt es mit ſich, daß das Gewicht
ſogleich auf die freie Willkür in Ausſpinnung der durch Glauben und Sage
gegebenen Motive fällt; da entſteht die Frage, wie weit eine hierauf gebaute
Fabel noch zeitgemäß ſei, und wenn, mit welchen Stoffen ſie ſich am natur-
gemäßeſten verbinde u. ſ. w.: dieſe Frage gehört aber in andern Zuſammenhang.
§. 916.
Der Seite der Auffaſſung nach kann es im komiſchen Gebiete nicht
einen ebenſo beſtimmten Unterſchied von Prinzipien- und Charakterdrama geben,
wie in der Tragödie, dagegen tritt mit entſcheidender Kraft ein anderer auf,
der darin beſteht, daß das Komiſche entweder aus den Charakteren oder dem
Schickſale, d. h. hier, dem Spiele der Liſt und des Zufalls, entwickelt wird:
Charakter- und Intriguen-Luſtſpiel. Jene Form iſt die tiefere, dieſe
mehr Sache des formellen, doch ſpezifiſcher dramatiſchen Talents; der Gegenſatz ſoll
nicht einſeitig, ſondern bloßes Uebergewicht der einen oder andern Auffaſſung ſein.
Es bedarf hier keiner beſondern Beſtimmung darüber, wie ſich die
vorliegende Eintheilung zu der erſten verhält, denn es leuchtet ein, daß der
eine oder andere Stoff nach Beſchaffenheit oder Auffaſſung im Sinne der
Charakter- oder Intriguen-Komödie behandelt werden kann. Dieſe Unter-
ſcheidung iſt es, welche im komiſchen Gebiete an die Stelle des Gegenſatzes
von Prinzipien- und Charakterdrama tritt. Die politiſche Komödie des
Ariſtophanes und die moderne ſoziale kann zwar in entfernter Bedeutung
Prinzipienkomödie heißen, da ſie ein Bild der Endlichkeit und Verkehrung
92*
[1434]objectiver Lebensmächte gibt, allein das Gewicht fällt doch in allem Komi-
ſchen ſo ſtark auf das Subjective, auf die Willkür, Narrheit, Schwäche
und Eitelkeit als den Grund jener Verkehrung, daß der Unterſchied dieſer
Form von der ganzen übrigen Maſſe viel zu relativ iſt, um einen ſtehen-
den Gegenſatz zu begründen. Dagegen konnte im ernſten Gebiete der Unter-
ſchied von Charakter- und Schickſals-Drama keine eingreifende Bedeutung
gewinnen: nur entfernt kann man eine Tragödie der grauſamen Gewalt
der Verhältniſſe Schickſalstragödie nennen und was in der modernen Poeſie
gewöhnlich ſo heißt, hatten wir nur als eine Verirrung aufzuführen. In
der Komödie verhält ſich dieß anders, hier kann der Nachdruck der Behand-
lung ganz entſchieden auf die Seite des Ganges der Handlung, auf die
dramatiſche Bewegung fallen. Zunächſt bildet hier ein Hauptmoment die
Liſt und dieſe fließt allerdings aus dem Charakter, doch nicht aus der Tiefe
der Individualität, ſondern einfach aus der untergeordneten Sphäre der
Intelligenz, welche im Luſtſpiel eine natürliche Herrſchaft behauptet. Es
iſt aber nicht die Liſt an ſich, ſondern ihre Kreuzung mit den frappanten
Schlägen des Zufalls, was die Form des Intriguenluſtſpiels begründet.
Die Zufälligkeit iſt im Komiſchen berechtigt, ihrem ganzen Umfange nach
losgelaſſen (vergl. §. 150); ſie tritt an die Stelle des Schickſals. Im
Tragiſchen iſt ein Schickſal, das ſich nicht aus den Handlungen entwickelt,
das wie aus einem Hinterhalte dem Menſchen auflauert, ein Fehler; das
Komiſche dagegen als durchgeführte Handlung, als Drama, iſt gerade
ſeinem Weſen nach ein Spiel zwiſchen der Freiheit und einer Macht, die unver-
muthet, unberechenbar von außen eingreift, überraſcht, neckt, völlig irrational
und doch wieder wie ein kluger, neckender Dämon erſcheint, ganz ähnlich
dem Verhältniſſe von Zufall und Berechnung im Kartenſpiel (vergl. St.
Schütze, Verſ. einer Theorie d. Kom. S. 76). Negativ rechtfertigt ſich
dieſe Macht des Zufalls dadurch, daß ſie kein ernſtliches Uebel bewirkt,
poſitiv aber dadurch, daß im Komiſchen der Menſch ſelbſt als relativ un-
bewußt, hiemit als bloße Natur geſetzt iſt, daher er dem Naturzufall nicht
zürnen kann. Nun bietet er allerdings ſeinen Verſtand auf, alle Mittel der
Liſt, je feiner, deſto beſſer; zunächſt kämpft Liſt mit Unverſtand, größere
mit geringerer auf der menſchlichen Seite, aber alle Kämpfenden miteinander
ſchwanken zwiſchen Vernunftweſen und bloßen Naturweſen, weil die Liſt,
ſo fein ſie ſein mag, eine mehr thieriſche Kraft bleibt; dieſer Kampf zwiſchen
Menſch und Menſch nun wiederholt ſich im Verhältniß der Menſchen zum
Zufall, dem unwillkürlich ebenfalls Liſt untergeſchoben wird. Die Unter-
ſchiebung iſt im komiſchen Drama noch ſpezieller begründet, als im Komiſchen
überhaupt, weil hier Alles Handlung und Berechnung iſt, daher ganz
natürlich dieſe Auffaſſung auf den Zufall übergetragen wird, als wäre er
ein Mitſpieler, der Gegner im Schachſpiele; ſie hat aber auch eine Wahr-
[1435] heit: was der Menſch durch den Zufall erlebt, bleibt imputabel, weil er
ſich mit ſeinen Wünſchen, Gelüſten, Wollen und Berechnen ganz in das
Element einläßt, worin der Zufall waltet; die eigene Zurechnung aber legt
dem Zufall naturgemäß einen Zurechner unter. Alle ächten, glücklichen
Luſtſpielmotive drehen ſich um einen ſchlagenden Moment des neckenden
Spiels zwiſchen Berechnung und Zufall. Allein dieß Verhältniß kann auch
ſo behandelt werden, daß es das Motiv bildet, um die Aufmerkſamkeit auf
das Spiel des Hellen und Dunkeln, des Bewußten und Unbewußten im
Innern des Menſchen hinzuleiten, und darauf gründet ſich das Charakter-
luſtſpiel im Unterſchiede vom Intriguenluſtſpiel. Es iſt kein Zweifel, daß
daſſelbe die tiefere Seite der Komik ergreift; das Zwielicht im Geiſte, die
wunderbaren Verſchiebungen und Reflexe des Vernünftigen und der Grille,
des feſten, klaren Wollens und der Schwäche, des dunkeln Triebs, der
Selbſterkenntniß und der Blindheit, des Sinns im Wahnſinne, des Wahn-
ſinns im Sinne, alle die irrationalen Brüche im originellen Menſchen und
die Widerſprüche des Humors: da liegt ohne Frage eine tiefere Komik, als
in dem mathematiſchen Witze der Kreuzungen von Liſt und Zufall. Wir
haben ſchon in der allgemeinen Erörterung der Stylgegenſätze den romani-
ſchen Völkern, namentlich Spaniern und Franzoſen, vorherrſchend das Talent
für dieſe zweite Seite zugeſprochen (vergl. §. 908). Die ſpaniſchen Mantel-
und Degenſtücke, ſo weit ſie zur Komödie gehören, ſind weſentlich Intriguen-
ſtücke; Moliere iſt als Charakterzeichner berühmt, aber ſeine Charaktere ſind
nicht Individuen, ſondern Typen, und der komiſche Accent fällt daher nicht
auf verſchlungene Tiefen der Subjectivität, ſondern auf die Situation, worin
der Charakter ſeine ſtehenden maskenhaften Züge entwickelt; die ganze neuere
Luſtſpiel-Literatur der Franzoſen aber zeigt, daß es das Spiel der Intrigue
iſt, was ihrer zierlichen Hand, ihrem diſponirenden, mathematiſch witzigen
romaniſchen Geiſte beſonders anſteht. Niemals haben wir ſie in ihrer leichten,
ſchwebenden Bewegtheit, ihrem heiteren Witze der komiſchen Schläge im Gange
der Handlung erreicht. Witz iſt allerdings weniger, als Humor. Der germa-
niſche Geiſt iſt ſtets der concreteren Komik des Charakterluſtſpiels nachge-
gangen; von Shakespeare’s Komödien ſind eigentlich nur die Irrungen ein
Intriguenſtück zu nennen; aber Shakespeare hatte zum Humor, der eine
komiſche Charakterwelt erfand, den leichten Witz der Compoſition einer
Handlung, welche mehr oder minder Intrigue iſt, und hier fehlt es den
Deutſchen. Der Grund, warum wir ſo arm ſind an Komödien, liegt zum
Theil allerdings in dem Mangel einer Geſellſchaft, einer großen Ton-
angebenden Hauptſtadt mit der gleich fließenden Stoffquelle komiſcher Typen,
komiſcher Verhältniſſe, zum Theil auch im Mangel politiſcher Freiheit, weit
mehr aber in einer Einſeitigkeit des Talents, die wir zu §. 899 ſchon er-
wähnt haben: der deutſche Genius beſitzt alle Tiefe für die inhaltsvollere
[1436] Seite, die humoriſtiſche Charakterſchöpfung, und entbehrt die Leichtigkeit
für die formellere Seite, für die Compoſition der Handlung, die ja eben
irgendwie immer Intrigue ſein muß. So kommt es, daß der tiefer begabte
Geiſt nichts machen kann, weil ohne Handlung kein Drama denkbar iſt,
und vom leichteren überholt wird, der friſchweg eine Handlung erfindet
und oft mit nichtigen, Schablonenhaften, ſelbſt frivolen, nicht komiſchen
Charakteren wie mit Rechenpfennigen witzig ſpielt, und daß wir in unſerer
Armuth noch an einem Kotzebue dankbar zehren müſſen. Wir haben ähnliche
Trennungen des an ſich Zuſammengehörigen in aller Kunſt, namentlich
auch in der bildenden beobachtet. Es gilt auch hier, was von allem Drama-
tiſchen gilt, daß das Talent für die Compoſition der Handlung, wenn auch
das weniger tiefe, doch das von der Gattung ſpezifiſcher geforderte iſt.
Freilich dürfen wir uns mit unſerem Sinne für Charakter-Tiefe auch nicht
zu ſehr brüſten, er verläuft ſich in eine fatale Neigung, das Seltſame,
Grillenhafte, was auch nicht komiſche Wahrheit hat, für Tiefe der Individualität
zu geben. — Der Unterſchied des Charakter- und Intriguenſtücks wird und
ſoll bleiben, aber das letztere mit leeren, blos ſchematiſchen oder blos ſkizzirten
Charakteren iſt hohl und das erſtere mit ſchwacher Fabel bewegt ſich nicht, klebt,
wird bloßes Leſedrama.
§. 917.
Der Unterſchied der Style iſt in der Komödie von ungleich geringerer
Kraft, als in der Tragödie, da die ganze Gattung vermöge der Natur des
Komiſchen zum charakteriſtiſchen Style drängt. Der claſſiſch ideale äußert ſich
theils durch mehr generaliſirende, typiſche Behandlung der Charaktere, theils
durch phantaſtiſche Perſonificationen und Handlung, daher das Mythiſche (§. 915)
eigentlich hier ſeine Stelle findet; dieſe Art der komiſchen Idealität fordert zu-
gleich rhythmiſche Sprachform, während dem entgegengeſetzten Style die Proſa
angemeſſen iſt; urſprünglich hat ſie ſich mit dem politiſchen Stoffe verbunden.
Der Styl-Unterſchied iſt ſchon in §. 906 in Beziehung auf den Ueber-
gang von der alten zur neuen Komödie in der griechiſchen Poeſie berührt
und geſagt, daß derſelbe nach der einen Seite ein Fortſchritt ſei, weil das
Weſen des Komiſchen auf die ausgebildete Kleinwelt des Privatlebens führe.
Es folgt dieß einfach aus der Begriffs-Entwicklung dieſer Grundform des
Schönen im erſten Theile des Syſtems; der Komiker ſpezialiſirt, detaillirt,
weil er das unendlich Kleine gegen das Erhabene in den Kampf führt; was
durch die Würde der tragiſchen Idee auch im charakteriſtiſchen Style nothwendig
gebunden und gedämpft wird, die Naturwahrheit, die Einzelzüge menſchlicher
Eigenheit, die Härten der Exiſtenz und jedes geſelligen Verhältniſſes, das
eben entbindet er und ſein Blick iſt ein mikroſkopiſcher. Der Gegenſatz eines
[1437] charakteriſtiſchen und eines claſſiſch idealen Styles iſt daher für die Komödie
ein im engſten Sinne nur relativer und Ariſtophanes ſelbſt im Vergleiche
mit Sophokles ſo naturaliſtiſch und individualiſirend, als Rembrandt und
Teniers im Vergleiche mit Raphael. Trotz dieſer Relativität iſt der Styl-
Unterſchied vorhanden. Der §. ſetzt ihn zunächſt in die Behandlung des
Charakters. Die Komödie der romaniſchen Völker hat denſelben, wie in
anderem Zuſammenhang ſchon öfters geſagt worden iſt, von jeher typiſch
behandelt: es ſind die Masken-artig ſcharfgeſchnittenen Figuren des zärt-
lichen Vaters, gutmüthigen Polterers, ſchelmiſchen und dummen Bedienten,
Geizhalſes, Charlatans, Hypochondriſten, Heuchlers, Intriguanten, Renom-
miſten, Biedermanns u. ſ. w., die in der Schauſpielkunſt Rollen-Fächer
heißen. Die Typen ſind durch ihre Einfachheit ſchlagend, entſchieden aus-
geprägt wie das Bild menſchlicher Eigenſchaften in den Charakteren der
Thierwelt, aber es ſind keine wahren Individuen mit der verwickelten, un-
ausmeßbaren Vielheit von Eigenſchaften, die das wirkliche Einzelweſen, ſo
beſtimmt auch Eine Eigenſchaft in ihm herrſchen mag, charakteriſiren. Dieſe
Richtung des Geiſtes der romaniſchen Komödie ſtammt durch verwandte
Anſchauungsweiſe und wirkliche Nachahmung von der neueren Komödie der
Alten; ihre Charaktere ſind die reinen Abkömmlinge der letzteren, und dieſe,
obwohl ſie in anderer Beziehung den Aufgang des charakteriſtiſchen Styls
darſtellt, iſt doch in der Charakterbehandlung auf ihre Art einfach und un-
colorirt wie die Statuen-artigen Geſtalten der antiken Tragödie; es ſind
ungleich mehr empiriſche Züge aufgenommen, aber weit nicht ſo viele, als
der porträt-artige Blick der germaniſchen Auffaſſungsweiſe ergreift und auf-
nimmt. Dieß läuft denn ſchließlich auf den Standpunct des mythiſchen
Bewußtſeins zurück, dem doch auch die neuere Komödie des antiken Thea-
ters noch angehört: die Gewohnheit, die allgemeinen Grundzüge des Lebens,
herausgehoben aus der Verwicklung des Empiriſchen, in abſoluten Perſonen
zu objectiviren, wirkt vereinfachend, nur die weſentlichen Züge entwickelnd
auf die Charakterzeichnung in der Kunſt. Sie äußert ſich aber auch in
der beſondern Form: in der Perſon des Narren, des Hanswurſts, der in
der neueren Komödie der Griechen und beſtimmter in der römiſchen ſchon
auftaucht, im Mittelalter fortlebt und in den Anfängen der modernen
Komödie, wie noch heute im Volksluſtſpiel, ſeine große Rolle behauptet. An
dieſer Figur kann man recht den Unterſchied der Style erkennen, denn im
charakteriſtiſchen iſt Alles gegenſeitig bedingt, die Komik liegt im dialektiſchen
Zuſammenhange des Ganzen und iſt an die Einzelnen nach Maaßgabe
ihres motivirten Verhältniſſes zu der Handlung vertheilt, der Narr dagegen
hat in der Handlung nur eine ſcheinbare Rolle und iſt eigentlich die Per-
ſongewordene, für ſich herausgeſtellte Komik des Ganzen, ein komiſcher Gott.
Neben ihm treten in der italieniſchen Volkskomödie, wo er wirklich auch
[1438] noch die Maske trägt, die Masken-artigen ſtehenden Figuren des Stotterers
u. ſ. w. auf. Shakespeare hat den Narren noch; er iſt aber im Luſtſpiele wirklich
nicht ebenſo der Urheber des charakteriſtiſchen Styls wie im ernſten Drama;
wenigſtens nur ſofern das Charakteriſtiſche in der humoriſtiſchen Tiefe der
Perſonen liegt: ſeine Fabel führt nicht ſo eng in die Wirklichkeit des Lebens,
als der moderne Realismus es mit ſich bringt, er liebt phantaſtiſche Si-
tuation und Handlung. — Dieß führt uns auf einen weiteren Grundzug des
komiſchen Idealſtyls, wie er in ſeiner reinſten Geſtalt allerdings nur in der
alten, der Ariſtophaniſchen Komödie gegeben iſt: jenes Gegenbild des My-
thiſchen in der Handlung, die weſentlich wunderbar komiſch (vergl. §. 915),
alſo grottesk iſt (vergl. §. 440, 3.). Der neueren Zeit ſteht hiefür ſtatt des
claſſiſchen Mythus der romantiſche Glauben, die Elfen-, Feen-, Zauber-Welt
des Occidents und Orients, Himmel und Hölle, Engel und Teufel zu Ge-
bote: freilich ein anderes Element, das mit einem vertieften Gemüthsleben
zuſammenhängt; dennoch wird auch hier, wo es eingeführt wird und eine
phantaſtiſche Fabel begründet, niemals der Grad von Detaillirung der
menſchlichen Verhältniſſe eintreten können, welche der charakteriſtiſche Styl
mit ſich bringt, denn alles Herausſtellen der Motive in der Form wunder-
barer Perſonification führt irgendwie auf die einfachere Idealität des claſ-
ſiſchen, plaſtiſchen Styls. Wie die typiſche Charakterbehandlung und die
phantaſtiſchen Motive in der Fabel ſich naturgemäß anziehen, zeigt Gozzi
in der Vereinigung der italieniſchen Masken mit dem dramatiſirten Feen-
Mährchen; es war der Verſuch einer Verjüngung der Volkskomödie, die
in Gefahr ſtand, von dem charakteriſtiſchen Style der Kunſtdichtung (Gol-
doni) verdrängt zu werden, ähnlich den ſpäteren Beſtrebungen Raimund’s
in Wien. Es iſt wahr, daß die moderne Zeit dieſe phantaſtiſche Komödie
der Volksbühne und der Verbindung von Poeſie und Muſik, der höheren
komiſchen Oper und der volksmäßigen, muſikaliſchen Zauberpoſſe überlaſſen
hat, daß jene Verſuche der romantiſchen Schule, auf den Spuren von
Shakespeare’s Sommernachtstraum und Gozzi’s Stücken, keine gedeihliche
Folge haben konnten (vergl. Hettner a. a. O. S. 165. 166); doch haben
wir bereits die Meinung ausgeſprochen, daß die phantaſtiſch mythiſche Ko-
mik ſich unter günſtigen Verhältniſſen wieder erheben und mit großem po-
litiſchem Stoffe verbinden könnte (auch Hettner läßt dieſe Ausſicht unbe-
nommen, S. 176 ff.); dieß geſchah in den Bemerkungen zu §. 915 und
es beſtätigt ſich nun, was dort geſagt iſt, daß die Frage über das My-
thiſche in der Lehre von der Komödie nicht zu den Unterſchieden des Stoffs,
ſondern des Styls gehört. — Endlich erhellt von ſelbſt, daß der claſſiſch
ideale Styl, ſo weit er in der Komödie ſich entwickeln kann, rhythmiſche
Sprachform mit ſich bringt; als komiſches Gegenbild der Götterwelt, das
die Wirklichkeit aus den Bedingungen des proſaiſchen Zuſammenhangs
[1439] heraushebt, wird er auch nach dieſer Seite der Stimmung jenen Ausdruck
geben, daß wir in einer andern, als der gemeinen Welt, uns befinden. Ein
Wechſel kühner Versformen wird ſich einer modernen hohen Komödie ebenſo
natürlich darbieten, wie der Ariſtophaniſchen. Der charakteriſtiſche Styl
ſpricht dagegen zwar nicht nothwendig, aber mit Fug und Recht, je enger
er in die Zuſtände der wirklichen Geſellſchaft hereintritt, in Proſa. Er iſt
und bleibt der höher berechtigte und herrſchende, genau, wie in der Malerei,
ja noch um ſo viel mehr, als die Poeſie das Komiſche tiefer erſchöpfen, in
ſeine engſten Falten verfolgen kann und muß.
§. 918.
Die moderne Komödie liebt, namentlich um der Bedeutung willen, die ſie
der Leidenſchaft der Liebe beilegt, einen im ernſten Sinne ſpannenden und rüh-
renden Mittelpunct und je nach der Intenſität und Ausdehnung dieſer Seite
entſteht daher ein fließender Unterſchied zwiſchen Werken, die der Tragödie mit
glücklicher Löſung verwandt ſind, und ſolchen, die ſich in ungetheilterer Komik
bewegen (vergl. §. 914).
Es iſt hier nicht die Rede von jenem Ernſte, der den Einen Pol im
Weſen des Komiſchen überhaupt und mit beſonderer Tiefe im Humor bildet,
ſondern von einem beſtimmten Inhalte der Fabel, der eine Spannung für
ſich in Anſpruch nimmt, die ſich Furcht- und Mitleid-erregend anläßt. Das
Eindringen ſolcher Motive in das moderne Luſtſpiel iſt zunächſt aus dem-
ſelben Grunde zu erklären wie die Polymythie der modernen Tragödie: wir
wollen eine colorirtere, vielfacher gebrochene, eine contraſtreichere Welt, und
ſo denn auch hier eine Wirkung der Folie, eine Schärfung des Scherzes
durch ernſte Unterlage. Dieß hat namentlich in der Compoſition den Dua-
lismus von zwei Handlungen oder Gruppen zur Folge gehabt, wovon die
eine die Ironie der andern iſt; eine Anlage, wie ſie die Spanier und Sha-
kespeare nicht nur in derjenigen Gattung lieben, die wir nicht hieher zählen,
nämlich im Tragiſchen mit glücklichem Ausgang, im Schauſpiele, ſondern
auch im Luſtſpiele, wo denn die parodirte Seite entweder im ſtrengeren
Sinn ernſtes Intereſſe in Anſpruch nimmt oder von der parodirenden we-
nigſtens durch erhöhende Sitte und Bildung abſticht. Der ſpeziellere Grund
der Einführung rührenden Ernſtes liegt in dem unendlich vertieften Intereſſe,
das die Perſönlichkeit und ihr ſubjectiver Lebensgang für den modernen
Geiſt gewonnen hat; namentlich iſt es die Liebe, die für uns mit der Ent-
wicklung des ganzen Menſchen in ſo ernſtem Zuſammenhange ſteht, daß
wir uns einen ſpannenden, ſentimentalen Grundton im Luſtſpiele nicht gern
nehmen laſſen. Damit iſt natürlich nicht die breite Phantaſieloſigkeit ge-
[1440] rechtfertigt, die keinen ganzen Humor verſteht und nichts zu greifen meint,
wenn ihre plumpen Finger nicht ein ſolides Stück nackter Wahrheit faſſen
und eine Moral ad saccum ſchieben können; der verbreitetere Grund des
in Rede ſtehenden Bedürfniſſes iſt leider dieſer proſaiſche Sinn, der die
Wahrheit, daß unſere Komödie in proſaiſchen Verhältniſſen ſpielt, aber eben
aus ihnen ihre komiſchen Contraſte zieht, in die Unwahrheit der Forderung
eines proſaiſchen, ſtoffartig berechneten Inhalts verkehrt. Da kann freilich
die Shakespeare’ſche Komödie nicht mehr verſtanden werden, die nicht nur
eine Welt phantaſiereicher, flüſſiger, jeder luſtigen Grille Luft laſſender Sitte
zum Schauplatz hat und daher die Tiefen der Komik aus dem ungehemmt
waltenden Charakter ſchöpft, ſondern ſelbſt den ſchweren Ernſt, wo ſie ihn
einführt, mit dem ganzen übrigen Inhalt in leichten, perlenden Cham-
pagnerſchaum, in ſtoffloſen Aether des Humors auflöst. — Dieß führt uns
in entgegengeſetzter Richtung zu dem Puncte zurück, zu dem uns die Tra-
gödie mit glücklichem Ausgang in §. 914 führte. Es iſt ein ſchwankender
Unterſchied verſchiedener Annäherungsgrade an dieſe Form des Tragiſchen,
der ſich aus jener Miſchung erzeugt und der ſich am beſten an Shakes-
peare’s Stücken aufweiſen läßt, auf die wir zurückkommen, nachdem wir
ebendort bereits geſagt, daß wir ihm nicht ſchlechthin Recht geben, wenn
er eine Tragödie mit glücklichem Ausgang anders, als mit ſo ſtarker Ein-
miſchung des Komiſchen, daß eine Komödie entſteht, gar nicht kennt. Wir
unterſuchen hier nicht, ob er im einen oder andern der folgenden Dramen
nicht beſſer das Komiſche mehr geſpart und ſo das daraus gemacht hätte,
was wir gewohnt ſind ein Schauſpiel zu nennen, ſondern ſagen nur, daß
die verſchiedenen Stufen der Annäherung an dieſes, wie ſie hier ſich dar-
ſtellen, überhaupt möglich ſind und bleiben. Die eine ſteht durch beſondere
Stärke und Ausdehnung des Ernſtes in der nächſten Nachbarſchaft des
Schauſpiels; ſo der Kaufmann von Venedig, Ende gut Alles gut, Viel
Lärmen um Nichts, Sturm, Cymbeline, Maaß für Maaß, das Winter-
mährchen. Shakespeare hat eine eigene Kraft, das Peinliche, Furchtbare,
Schauerliche in ganze und anhaltende Wirkung zu ſetzen und ihm doch
einen leichten, ſchwebenden Charakter zu geben, ſo daß man es von Anfang
an nur wie einen böſen Traum fühlt; ein Reich des Lichtes, Gewißheit
des über Dämonen ſiegenden Geiſtes, gießt ſeine Strahlen darüber aus,
geſammelt in Charakteren wie Porzia. Nach dieſer Form folgt eine zweite,
worin das Komiſche entſchiedener überwächst, aber ein rührender, ſentimen-
taler Hauptfaden hindurchgeht; hieher gehören H. Dreykönigsabend, So
wie es euch gefällt, hieher auch die ganze Hauptmaſſe des neueren Luſt-
ſpiels, nur daß kaum irgendwo das Sentimentale in jenen tiefen, fließenden,
immanenten Zuſammenhang eines humoriſtiſchen Charakters geſtellt iſt wie
namentlich in dem letzteren Stücke Shakespeare’s und deſſen Hauptfigur,
[1441] der herrlichen Roſalinde. Endlich öffnet ſich ein Feld, worin auch das
Rührende vorneherein ſo leicht genommen, in ſo heitere Bedingungen hinein-
geſtellt iſt, daß wir uns von Anfang bis Ende in der Sphäre des reinen
Spiels befinden; Shakespeare’s Der Liebe Müh’ umſonſt, Gezähmte Böſe,
Sommernachtstraum gehören hieher. Wir enthalten uns, aus der Maſſe
des Modernen weitere Beiſpiele einzureihen, aber wir wiederholen die Klage,
daß uns die unendliche Poeſie der Heiterkeit abgeht, die den ſtoffartigen
Ernſt des ſpannenden Theils unſerer Fabel in die leichten Lüfte der humo-
riſtiſchen Idealität erhöbe. Wir haben ſehr luſtige Intriguenſtücke, aber keine
tief humoriſtiſche Charakterluſtſpiele, die zugleich in der Fabel ſich leicht und
geiſtreich bewegten. Es iſt freilich ſchwer, die Proſa der Lebensverhältniſſe
zu bezwingen, nachdem der moderne, ausgebildet charakteriſtiſche Styl ſich
doch in ſie einlaſſen muß; ähnlich ſchwer wie im Roman. Shakespeare
war, wie wir vorhin angedeutet, durch die gelüftete, phantaſiereiche, das Leben
mit unendlichen Maskenſcherzen ſchmückende, jeder Originalität und Narrheit
freien Raum gönnende Sitte ſeiner Zeit unterſtützt; das hochgeſtimmte, in
allen Nerven bewegte ſechszehnte Jahrhundert hat ihm den Weg in die
Seligkeit des komiſchen Olympus geöffnet, wo er mit Ariſtophanes weilt.
§. 919.
Der Unterſchied der Hauptformen des Komiſchen fordert, was die
unmittelbarſte und einfachſte derſelben betrifft, eine beſondere Neben-Eintheilung,
welche ſich darauf gründet, daß im Gebiete der Komödie die naive Poeſie eine
dauernde Rolle ſpielt: das Volksluſtſpiel bewegt ſich rein auf dem Boden
des Burlesken, die Kunſtpoeſie iſt ihm fremder, am meiſten hält ſie ihn
2.in einer Gattung kleineren Umfangs, der Poſſe, feſt. Im Uebrigen zieht ſich
dieſe Form des Komiſchen wie die des Witzes und des Humors in unbe-
ſtimmbaren Verhältniſſen durch die verſchiedenen Arten der Komödie, wie die-
ſelben nach den andern Eintheilungsgründen ſich unterſcheiden, und es läßt ſich
nur ſo viel aufſtellen, daß das Intriguen-Luſtſpiel mehr Sache des Witzes,
das Charakter-Luſtſpiel mehr Sache des Humors iſt und daß, was den Styl-
gegenſatz betrifft, der letztere ſeine entſchieden angewieſene Stelle in der phan-
taſtiſchen Fabel der idealkomiſchen Richtung hat und eben hier zugleich in der
Form des Burlesken ſich ausſpricht (vergl. §. 214).
1. Hier, wo es ſich von der Anwendung der großen Unterſchiede des
Komiſchen auf die Eintheilung der Komödie handelt, müſſen wir noch ein-
mal auf die Volkspoeſie zurückkommen. Wir haben ſie im Epos, in der
lyriſchen Dichtung thätig und am entſchiedenſten in der letzteren ihr Feld
behaupten geſehen; aber auch das Drama iſt ihr nicht verſchloſſen, der na-
[1442] türliche Spieltrieb als ſubjectiver Nachahmungstrieb (§. 515, 2.) kommt ihr
hier zu entſchieden zu Hülfe, als daß ſie nicht der kunſtmäßigen Poeſie ihre
naiven Erzeugniſſe voranſchicken ſollte. Die Myſterien waren die Vorläufer
der modernen Tragödie, die Faſtnachtsſpiele der Komödie. Allein auf jenem
Felde konnte ſich die naive Dichtung neben der entwickelten Kunſtpoeſie nicht
fortbehaupten; im ernſten Gebiete kennt das Volk keine andere Idealität,
als die mythiſche, und bringt es nie vom halb Epiſchen zum ächt Drama-
tiſchen; die Hoffnungen, die man an die Feſtſpiele im bairiſchen Gebirge
knüpfte, waren irrig. Dagegen hat gerade das Volk den rechten Sinn der
Realität für das Komiſche und der Vorgang ſeiner naiven Erzeugniſſe in
dieſem Gebiete war ungleich wichtiger und fruchtbarer, als der im ernſten;
daher hat ſich neben der Komödie der Kunſtpoeſie und ihrem Theater das
Volksluſtſpiel mit der Volksbühne mitten in den Städten erhalten längſt
nachdem die erſtere recht in Oppoſition gegen ſie und ihren Cynismus die
feinere Komik ausgebildet hatte. Es bewegt ſich naturgemäß im greiflich
Komiſchen, wie wir es in §. 188 ff. dargeſtellt haben, und an dieſe Form
knüpft ſich daher die hier erwachſende Neben-Eintheilung der Komödie. Wir
haben dem derben Geiſte des Poſſenhaften ſein gutes Recht zuerkannt und
die Komödie der Bildung dürfte ſich an dieſer Quelle recht wohl erfriſchen,
Geiſt des geſunden und ungetrübt heiteren Lachens ſchöpfen, wie die lyriſche
Poeſie ächtes Gefühl aus dem Brunnen des Volkslieds. Die Objectivität
des Naiven geht hier ſo weit, daß die Rede entbehrlich wird und die Pan-
tomime hinreicht; die alten italieniſchen Scherze des Pierro, Arlechino,
Pantalone, der Colombine u. ſ. w. haben ſich gerade darum auch wirklich
am reinſten in ihrem Element erhalten, denn mit der Rede ſind viele zer-
ſetzende Stoffe in das Volksluſtſpiel eingedrungen, wie S. Carlino in Neapel,
die Volkstheater in Wien allerdings leidig beweiſen. Raimund führte Ro-
mantik, directe Moral, Politik, Sentimentalität hinein, blieb aber in den
Grundlagen noch ächt volksthümlich komiſch, mit Neſtroy und And. aber
beginnt die Gemeinheit und die Corruption. — Wir haben im erſten Theile
das naiv Komiſche durch den Namen Poſſe bezeichnet; der §. ſetzt dafür
nur darum den Namen Burleske, weil im gegenwärtigen Zuſammenhang
der erſtere eine beſondere Form bezeichnet, und zwar diejenige, welche im
Gebiete der Kunſtpoeſie am verwandteſten dem Volksluſtſpiele gegenüberſteht.
Es iſt eine kleine Form, die gewöhnlich einer Tragödie oder einer Komödie
mit rührendem Mittelpunct an Einem Theater-Abende nachfolgt, die Farce
der Franzoſen und von dieſen mit beſonderer Zierlichkeit angebaut. Sie
verhält ſich wie die Novelle zum Romane, ſie entwickelt mit ſchlagender
Kürze eine komiſche Situation. Sie mag dieſelbe aus den raffinirten Zu-
ſtänden der modernen Geſellſchaft nehmen: auch dieſe laden ſich in unend-
lichen Verlegenheiten, Contraſten aus, die ſich derb in der Körperwelt nieder-
[1443] ſchlagen, und davon handelt es ſich, denn die Poſſe ſpielt eben wegen ihrer
Kürze nothwendig in dem Elemente der greiflichen Komik, des Burlesken,
und liebt denn bei aller Kunſtform der Behandlung auch vorneherein in
der Fabel den Boden der ſinnlichen Contraſte. Ihr entſpricht das Satyr-
Drama der Alten. Es war vom Volke gefordert, das ſich die Luſt des
Dionyſos-Feſtes nicht ganz durch die Tragödie nehmen laſſen wollte, ſondern
eine Erholung von ihrem ſtrengen Ernſte bedurfte, und dieſe Bedeutung
hat auch die moderne Poſſe. Das Komiſche iſt unendlich mehr, als bloße
Erholung, aber es iſt doch weſentlich auch Erholung, und wenn der deutſche
Ernſt es verſchmäht, jener wehmüthigen Beruhigung, welche im Schluſſe der
ächten Tragödie liegt, noch das derbe Gelächter folgen zu laſſen, ſo mag er
doch dem leichteren franzöſiſchen Blute darum, weil es ſolche Abſpannung
liebt, ſo wenig zürnen, als dem griechiſchen.
2. Im Uebrigen kann der Unterſchied der Hauptformen des Komiſchen
keine Eintheilung begründen; die verſchiedenen Arten der Komödie, wie ſie
ſich uns nach andern Eintheilungsgründen ergeben haben, ſtellen ſich ſämmt-
lich bald mehr auf dieſen, bald mehr auf jenen Boden, und Beſtimmteres
läßt ſich nur ſo viel ſagen, was übrigens ſchon in unſern frühern Erör-
terungen mehrfach von ſelbſt hervorgetreten iſt: das Intriguenſpiel mit ſeinen
Schachzügen gehört mehr dem Witze, das Charakterſpiel, nur nicht jenes,
das den Charakter typiſch behandelt wie Moliere, dem Humor an. Daß
der hochkomiſche Styl, wie er ſich bei Ariſtophanes mit dem politiſchen
Stoffe verbunden hat, im großartigen mythiſchen Wahnſinn ſeiner Fabel
humoriſtiſch iſt, haben wir ebenfalls ſchon früher ausgeſprochen; daß aber
der Humor gern in die Poſſe heruntergreift, die Keckheit ſeiner Weltverkeh-
rung in ihre Form gießt und ſie ſo zur Grotteske auftreibt, iſt in §. 214
gezeigt.
§. 920.
Dem Werthverhältniſſe nach ſteht die Komödie inſofern über der Tragödie,
als ſie freiere, in Gemüthsgleichheit über dem Gegenſtand ſich erhaltende Sub-
jectivität fordert und das Erhabene, das den Inhalt der Tragödie bildet, als
das eine ihrer Momente mitumfaßt. Allein in dieſer Stellung wird das Er-
habene nur von einer Seite, der verſtändigen, beleuchtet und kommt nicht zur
Entwicklung, die Gemüthsfreiheit aber ohne die Aufgabe, in der Gewalt der
ſubſtantiellen Aufregung Stand zu halten, wird leicht zur Inhaltsloſigkeit oder
zum grillenhaften Spiele der willkürlichen Subjectivität.
Man muß ſich natürlich auch hier hüten, ein abſtractes Verhältniß
von Geringer und Beſſer anzunehmen, auch hier wohl bedenken, daß der
Gewinn im Fortſchritte zu einer reicheren Stufe immer zugleich Verluſt iſt.
[1444] Schiller (Ueber naive und ſentimentale Dichtkunſt S. 256 ff.) ſpricht den
Vorzug der Komödie in folgenden Sätzen aus: „die Tragödie fordert das
wichtigere Object, die Komödie das wichtigere Subject; dort geſchieht ſchon
durch den Gegenſtand viel, hier nichts durch ihn und Alles durch den
Dichter. Den tragiſchen Dichter trägt ſein Object, der komiſche muß durch
ſein Subject das ſeinige in der äſthetiſchen Höhe erhalten. Jener darf
einen Schwung nehmen, wozu ſo viel eben nicht gehört, der andere muß
ſich gleich bleiben, er muß alſo ſchon dort ſein und dort zu Hauſe ſein,
wohin der Erſtere nicht ohne einen Anlauf gelangt. Es iſt der Unterſchied
des ſchönen und des erhabenen Charakters: dieſer iſt nur ruckweiſe und nur
mit Anſtrengung frei, jener iſt es mit Leichtigkeit und immer. — Die Tra-
gödie iſt beſtimmt, die Gemüthsfreiheit, wenn ſie durch einen Affect ge-
waltſam aufgehoben worden, auf äſthetiſchem Wege wieder herſtellen zu
helfen; in ihr muß daher die Gemüthsfreiheit künſtlicher Weiſe und als
Experiment aufgehoben werden; in der Komödie dagegen muß verhütet
werden, daß es niemals zu jener Aufhebung der Gemüthsfreiheit komme.
Daher behandelt der Tragödiendichter ſeinen Stoff immer praktiſch, der Ko-
mödieendichter den ſeinigen immer theoretiſch, jener muß ſich vor dem ruhigen
Räſonnement in Acht nehmen, dieſer muß ſich vor dem Pathos hüten und
immer den Verſtand unterhalten; jener zeigt alſo durch beſtändige Erregung,
dieſer durch beſtändige Abwehrung der Leidenſchaft ſeine Kunſt. Das Ziel
der Komödie iſt einerlei mit dem Höchſten, wonach der Menſch zu ringen
hat, frei von Leidenſchaft zu ſein, immer ruhig um ſich und in ſich zu
ſchauen, überall mehr Zufall, als Schickſal, zu finden und mehr über Un-
gereimtheit zu lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“ —
Schiller hat nicht bemerkt, daß dieſe Sätze in Einem Zuge mit der Behauptung
auch deren Einſchränkung enthalten. — Daß zunächſt die Komödie in gewiſſem
Sinn höher ſteht, folgt für uns prinzipiell aus dem innerſten Weſen des
Komiſchen, wie es in der Metaphyſik des Schönen entwickelt iſt. Das
Komiſche hat ſich erwieſen als Act der reinen Freiheit des Selbſtbewußt-
ſeins, das den Widerſpruch, womit alles Erhabene behaftet iſt, ſich in
unendlichem Spiel erzeugt und auflöst. Es enthält alſo das ſchlechthin
Große, welches eben das Tragiſche iſt, als das eine Moment ſeines Pro-
zeſſes in ſich, hat ſomit mehr, iſt darüber hinaus. Man kann ſo zunächſt
immerhin ſagen, das Tragiſche ſei ſtoffartiger, in dem allgemeinen Sinne
nämlich, daß der Dichter von der Wucht eines Geſetzes hingenommen ſei,
das, aus einer Welt aufgewühlter Leidenſchaft aufſteigend, furchtbar, obwohl
gerecht, durch die Welt geht und keinen Vollgenuß des Lebens, keine ſubjective
Genüge geſtattet. Die Leichtigkeit und Freiheit des von dieſer Schwere
entbundenen Geiſtes, der in der Komödie waltet, gleicht jener, die wir bei
dem epiſchen Dichter gefunden haben; es iſt das verwandte freie Schweben
[1445] über den Dingen, deren Gegenſätze, von ſolcher Höhe, mit ſo gelöstem
Sinne betrachtet, gleich werden. Allein in der Verwandtſchaft ſteht die
geiſtige Freiheit des Komödien-Dichters um ſo viel höher über der des epi-
ſchen, als ſie mitten in der ergreifenden Gegenwärtigkeit der dramatiſchen
Handlung ſich zeigt, im Elemente der Erſchütterung ſich behauptet. Die
ſchwere, ſubſtantielle Aufwühlung der Tragödie hat ſie hinter ſich, die Form
der Spannung hat ſie behalten und bewahrt in ihr den ungetrübten Gleich-
muth. Die Komödie gehört daher auch dem ſpäteren Alter männlicher Reife,
das aus Stürmen zur Ruhe und Heiterkeit gediehen iſt, von keiner Gewalt
der Erfahrung aus dem Gleichgewichte gebracht wird und mit klarem, hei-
terem Blicke Großes und Kleines als die ungetrennten Seiten Eines Welt-
weſens erfaßt. Allein der Fortſchritt iſt auch Verluſt, die Leichtigkeit und
Freiheit wird bei näherem Anblick ſelbſt wieder einſeitig. Sieht man auf
die Tragödie zurück, ſo darf der Dichter doch natürlich nicht im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes ſich ſtoffartig verhalten. Schiller ſtellt zwei Sätze,
die einer Vermittlung bedürfen, ohne ſolche nebeneinander: nach dem einen
ſcheint die Tragödie Pathos und Affect unmittelbar aus ihrem Inhalte zu
empfangen, nach dem andern iſt es nur des Dichters freier Kunſtzweck,
Experiment, daß er die Gemüthsfreiheit aufhebt, um ſie wieder herzuſtellen.
Das Wahre wird ſein, daß gleichzeitig ein aus dem Stoff aufſteigender
pathetiſcher Schwung und eine freie Beherrſchung deſſelben und Leitung
zum Kunſtziele zuſammentreffen müſſen. Dem unreifen Jüngling ſcheint
jener Schwung leicht das Ganze der poetiſchen Begeiſterung, aber die ächte
Ironie iſt ihre andere, wichtigere Seite. Wenn wir nun vom epiſchen
Dichter ſagten, er habe ſeine Ruhe noch nicht auf dem ſtürmiſchen Meere
bewährt, ſo gilt vom komiſchen Dramatiker, daß er ſie nicht mehr auf
dieſem Schauplatz bewähre; oft, weil er es nicht will, oft auch, und, ſo
lang er es (durch Tragödieen) nicht gezeigt hat, immer vielleicht, weil er
es nicht kann. Die Komödie enthält das Erhabene, das Tragiſche in ſich,
aber nur um es, noch ehe es ſich entwickelt, an ſeiner Einſeitigkeit zu faſſen
und in ſein Gegentheil mit plötzlichem Umſchlag überzuführen. Sie muß
verhüten, daß wir uns in ſeinen Ernſt vertiefen, ſie darf daher alles Er-
habene nur von der Seite des Verſtandes auffaſſen, wie in §. 179 gezeigt
iſt und auch Schiller weiß. Der Humor gründet tiefer, als der Witz, er
hat eine Wärme, ein Pathos zur Vorausſetzung, aber auch er eilt von
dieſer Vertiefung fort zu der blos theoretiſchen Auffaſſung, wie Schiller es
nennt, er muß es, um die Verkehrung alles Erhabenen als bloße Unge-
reimtheit, Narrheit belächeln zu können. Die Leichtigkeit iſt alſo um den
Preis erkauft, daß das, was den großen Inhalt des ernſten Drama bildet,
wirklich auch zu leicht genommen wird; jetzt, dießmal, auf dieſem Stand-
puncte mit Recht, aber nicht mit Recht, wenn man das ganze Schöne im
[1446] Auge hat, das auch den andern Standpunct fordert, welcher in die reine
Form den ethiſchen Ernſt einſchließt. Es iſt im Erhabenen, ſagt §. 229,
dem ganzen Schönen ein Unrecht geſchehen, indem das Moment der Sinn-
lichkeit, Einzelheit, Gegenwärtigkeit negirt wurde; das Komiſche iſt auch
ein Unrecht, indem es die Idee negirt. Die humoriſtiſche Subjectivität
weiß ſich als Hort und Bürge der Idee, nur darum wagt ſie, in jeder
Geſtalt ſie zu verflüchtigen und aufzulöſen, aber ſie behält ſich ebendarum
die wahre Wiederherſtellung derſelben ſtets nur vor, iſt mit keiner Wirklich-
keit derſelben zufrieden, gönnt keiner, ſich auszubreiten. Und das iſt der
gute, der höchſte Fall. Verbirgt ſich unter dem ſubſtantiöſen Pathos der
Tragödie leicht die überſchauende Weisheit und den Stoff beherrſchende Ironie,
lockt daher dieſe Dichtart Geiſter an, die es nie über das Pathologiſche
bringen, ſo iſt die leichte Luft der Komödie auch das Element für die win-
digen Geiſter, für die leere Subjectivität im ſublimeren und im niedrigeren
Sinne: jene kennt nicht den Ausgangspunct vom Ernſt im komiſchen
Prozeſſe, verflüchtigt geiſtreich Alles im Schaum des inhaltsloſen Spiels,
wie unſere Romantiker es als Prinzip aufgeſtellt und geübt haben; was
ſie noch Stoffartiges bewahrt, iſt die reine Grille, die Caprice, die ſo wenig
komiſch, als ernſt motivirt iſt; dieſe zerrt an den Lachmuskeln um jeden
Preis und meint, das Komiſche dürfe gemein ſein, weil es ſich mit dem
Gemeinen befaſſen muß. Da verlangt die poſitive Idealität des Ernſtes
wieder ihr volles Recht und man ſehnt ſich, daß ſie mit dem ſtrengen Antlitz
unter die Narren trete. Shakespeare hat in ſeiner letzten Periode nur Ko-
mödieen mit beſonders ſtarker Grundlage des Ernſtes geſchrieben: Cymbe-
line, Wintermährchen, Sturm, Maaß für Maaß (die gallige Satyre Timon
von Athen nicht zu rechnen); aber, was wichtiger iſt, er hat den Hamlet
vollendet, Julius Cäſar, Antonius und Cleopatra, Coriolan, Makbeth,
Othello gedichtet, gedankentief, ſtahlhart, gedrängt und geſättigt von finſterer
Kraft und furchtbarem Schickſalsgefühle, doch aber ohne die Freiheit des
Gemüths in die Gewalt des Affects zu verlieren und ohne ſtoffartige Bitter-
keit in der Schlußempfindung.
[[1447]]
Anhang zur Lehre von der dramatiſchen Dichtkunſt.
Die Schauſpielkunſt.
§. 921.
Die Dichtkunſt hat die ſichtbare und hörbare Welt nur der innern Vor-1.
ſtellung wieder eröffnet. Bis zur vollen Gegenwärtigkeit, aber zunächſt in der-
ſelben Grenze, iſt dieß im Drama geſchehen; hier aber wird dieſe Grenze noth-
wendig durchbrochen, die innere Gegenwart geht in die äußere, ſinnliche über,
indem die lebendige Perſönlichkeit mit den Mitteln der Darſtellung für das
Auge und Ohr, Action und Declamation, als Material herbeigezogen wird,
um das Werk der Poeſie zur Anſchauung zu bringen. Die Schauſpielkunſt,
welche dieß leiſtet, iſt zwar blos anhängend, aber, weil die Reproduction des
Dichtwerks productiv künſtleriſchen Geiſt fordert, die höchſte unter den anhän-
genden Künſten. Ihre Geſchichte zeigt in entſchiedener Geſtalt den Gegenſatz2.
des direct idealen und des charakteriſtiſchen Styls.
1. Daß nicht bloß die ſichtbare, ſondern auch die hörbare Welt
von der Dichtkunſt für die innere Vorſtellung wieder aufgethan iſt, muß
hier ausdrücklich noch aufgenommen werden. Dieſe Kunſt ſpricht, aber ſie
ſpricht nicht nur ſelbſt, ſondern führt uns durch ihr Sprechen das Sprechen
der dargeſtellten Perſonen vor und bringt uns überhaupt die Tonwelt vor
den inneren Sinn. Nur in der lyriſchen Form fällt das Sprechen als Vehikel
der Kunſt und als Inhalt, den dieſes Vehikel uns mittheilt, einfach zu-
ſammen, denn der Dichter ſpricht hier im eigenen Namen; das Epos
meldet uns vom Sprechen und von Tönen, und kann allerdings, doch iſt
dieß nicht weſentlich und nothwendig, die Perſonen auch in directer Rede
ſprechend einführen; in der dramatiſchen Dichtkunſt dagegen ſpricht der
Dichter als objectiv gewordenes, in ſeine Perſonen auseinandergelegtes
Subject ſo, daß man vielmehr nur dieſe vernimmt und daß ſie gegenwärtig
ſprechend die Handlung erwirken. Dieß Alles alſo zunächſt nur für die
innere Vorſtellung. Die Poeſie hat auf alle Sinnenwirkung, bis auf das
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 93
[1448]dünne Band des (zunächſt nicht mimiſchen, nicht künſtleriſchen) Vortrags ver-
zichtet. Was dadurch gewonnen iſt, haben wir geſehen; aber der unendliche
Gewinn iſt auch ein weſentlicher Verluſt. Das Schöne will auf die wirkliche,
eigentliche Sinnlichkeit, nicht blos auf die innere wirken, es will ſein, die
Kunſt iſt nicht umſonſt höhere Einheit des Naturſchönen und der Phantaſie.
Die Poeſie kann nicht aus ſich ſelbſt das Band mit der wirklichen Sinn-
lichkeit wieder aufnehmen, ſie bewegt ſich rein in der innerlich gewordenen,
ideal geſetzten; ſie muß ſich, wenn ſie den Schritt thun will, anhängend,
aber doch innig mit andern Formen verbinden. Gegeben aber iſt der Schritt
auf der Spitze der Dichtkunſt, im Drama. Die innerlich vorgeſtellte Gegen-
wärtigkeit iſt hier ſo ſtark, ſo voll bis an die Schleuſe gedrängt, daß ſie mit
Macht durchbrechen, ſich auch als äußere erſchließen muß. Geſchichtlich ver-
hält ſich dieß ſogar ſo, daß das Drama als Dichtwerk aus der ſinnlichen Dar-
ſtellung, der Mimik, zunächſt als Spiel des ſubjectiven Nachahmungstriebs,
auf den wir (§. 919 Anm. 1.) ſchon zurückgewieſen haben, erwachſen iſt;
nur hindert dieß nicht, die wirkliche dramatiſche Poeſie als das logiſch
Voraufgehende hinzuſtellen, das als beſtimmendes Subject eines Ganzen
das Element, aus dem es naturaliſtiſch erwachſen iſt, ſich künſtleriſch nach-
bildet und zu ſich heraufnimmt. Wir haben in der Lehre vom Weſen der
dramatiſchen Poeſie durchaus die gegenwärtige Lebendigkeit der Handelnden
als Grundbegriff aufgeſtellt und doch die wirkliche Aufführung noch aus-
geſchloſſen. Dieß war wiſſenſchaftlich nöthig, um die Begriffe in ihrem Un-
terſchiede rein zu halten, und die Forderungen der Gattung laſſen ſich feſt
begründen, wenn auch nur an die Schaubühne in der Phantaſie der Leſer
gedacht wird. Nun aber iſt es Zeit, es auszuſprechen, daß hiemit die
Gegenwärtigkeit auf dem Puncte der äußerſten Reife und Sättigung an-
gekommen iſt, wo ſie zur äußern werden muß. Die blos innere Schau-
bühne leidet wieder an den Mängeln der bloßen Phantaſie vor der Kunſt,
für den Leſer wie für den Dichter. Wir haben geſagt, es ſtelle ſich der
dramatiſche Charakter mit greiflicher Deutlichkeit vor unſer inneres Auge;
aber dabei war von dem Maaßſtabe der Deutlichkeit abgeſehen, den die
wirklich ſinnliche Erſcheinung abgibt. Erſt durch dieſe, erſt in der Auf-
führung erkennt Dichter und Zuſchauer die Lücken und Mängel des erſt
noch innerlichen Phantaſiebildes. Die Execution iſt deſſen Probſtein, ja,
wie alles Material durch ſeine feſten Bedingungen (vergl. §. 518, 1.), ein
auf die Erfindung rückwirkender, durch die an ihm gemachten Erfahrungen
Motive hervorrufender Hebel. Es iſt bekannt, wie manche große Charakter-
Rollen in Berechnung für beſtimmte Schauſpieler geſchaffen ſind; nament-
lich erkennt der Dichter ſelbſt an der wirklichen Aufführung erſt, was ächt
dramatiſch, d. h. ſchlagend, packend iſt. Die dramatiſche Poeſie kann nur
an einem Orte gedeihen, wo Theater iſt. Die Entfremdung von der
[1449] Bühne, die Einſchließung in die Studirſtube und an den Theetiſch hat uns,
und zwar vor Allem uns innerliche Deutſche, mit der Fluth der bloßen
Leſedramen beſchenkt. So nennen wir das Drama, das entweder See-
lenleben mit zu wenig Handlung darſtellt oder Handlung in raſcher, ab-
gebrochener, die äußern Bedingungen der Bühne überſpringender Folge, oder
beides miſcht, wie Göthe’s Fauſt. Es wird immer ſolche Dramen geben und
darf ſie geben; die Poeſie hat Manches dramatiſch zu ſagen, was ſich den
Schranken und der Flüſſigkeit der Bühnendarſtellung nicht fügt, aber das
Ueberhandnehmen dieſer Gattung weist bedenklich auf den Ueberſchuß an
Reflexion in unſerer Zeit. Das reale Leben des Drama’s ſchwankt aber um
den Pol, auf welchem geiſtige Tiefe und Bühnenhaftigkeit zuſammenfallen, ſo,
daß nicht weniger maſſenhaft auf dem andern Extrem eine Literatur ſich aus-
breitet, die auf Koſten der geiſtigen Tiefe bühnenhaft wirkt, und hier beſonders
iſt der ſchwache Punct dieſer Dicht-Art, wie die epiſche den ihrigen in der
platten Unterhaltungsliteratur und in der ermüdenden didaktiſchen Breite hat.
Die Kräfte ſind ſo vertheilt, daß tiefere Geiſter oft nicht verſtehen, was wirkt,
und die Andern, die es verſtehen, keine Tiefe, keinen Gehalt haben. Doch
auch hier muß man billig ſein; auch Bühnendramen ohne bleibenden Anſpruch
an Gediegenheit des Textes muß und darf es immer geben, die Fürſten
müſſen ihr Gefolge haben, die Bühne will leben und kann nicht lauter
Claſſiſches auf ihr Repertoire ſetzen.
Die Schauſpielkunſt iſt blos anhängend, weil ſie lebendigen Stoff als
Material verwendet (§. 490). Es iſt derſelbe Stoff wie in der darſtellen-
den Gymnaſtik und der Orcheſtik, nämlich die eigene Perſon des Darſtel-
lenden, zwar in ungleich größerem Umfang und ungleich vielfältigerer,
geiſtigerer Anwendung ihrer Ausdrucksmittel, als in dieſen Künſten, aber
nur um ſo fühlbarer den Störungen, Zufällen, Unangemeſſenheiten des
Naturſchönen ausgeſetzt: dieſelbe Geſtalt, Stimme, Phyſiognomie ſoll ab-
wechſelnd für die verſchiedenſten Charaktere als Material dienen, die Perſon
iſt dabei abhängig von ihren Stimmungen, Körperzuſtänden u. ſ. w. Ja die
ungleich tiefere und ausgedehntere Bedeutung, worin hier die eigene Perſon
als Darſtellungsmittel verwendet wird, iſt gerade der Grund, warum der
Schauſpielerſtand ſo lange gegen die öffentliche Mißachtung zu ringen
hatte: denn um jederlei Ausdruck an ſeiner Geſtalt zu zeigen, muß ſich
der Mimiker in jederlei Charakter und Stimmung künſtlich verſetzen, muß
den Zuſtand, in den er ſich ſo verſetzt hat, durch den vollen Schein
äußerer Zeichen darſtellen, die ſonſt durchaus unwillkürlich und unbewußt
den wirklichen, nicht nachgeahmten Zuſtand begleiten, und ſo liegt es nahe,
den äſthetiſchen Standpunct mit dem moraliſchen zu verwechſeln, den Künſtler
als handwerksmäßigen Lügner anzuſehen, der die Gewohnheit, Stimmungen
auszudrücken, in die er ſich nur mit Abſicht hineinverſetzt, auch auf ſein
93*
[1450]Leben außer der Kunſt übertrage; man denkt, er habe zu oft geweint, gelacht
u. ſ. w. auf der Bühne, als daß man ſein Weinen und Lachen außer derſelben
für Wahrheit nehmen könnte. Es iſt zunächſt richtig, daß die Verſetzung des
Schauſpielers in die Stimmungen ganz anderer Natur iſt, als die des Dichters
(wie des Bildhauers, Malers, Muſikers); bitterer, ſtoffartiger Ernſt iſt
es natürlich auch dieſem mit dem Zuſtande nicht, den er uns darſtellt,
er iſt darin und er ſchwebt doch frei darüber; die dramatiſche Dichtung
ſetzt mit doppelter Stärke dieß Schweben voraus, weil ſich da der Poet in
verſchiedene Charaktere direct und abwechſelnd verwandelt, allein derſelbe
fingirt nicht mit der vollen Stärke ſinnlicher Gegenwart, als ſei der dar-
geſtellte Zuſtand der ſeinige, er tritt nicht vor uns hin und gibt die ganze
Wärme der Unmittelbarkeit des Zuſtandes vor, als durchdränge derſelbe
ſein Weſen bis auf jeden Nerv; der Schauſpieler thut es und darum fällt
auf die künſtleriſche Abſicht und Verſetzung, womit er es thut, ein geſchärfter
Accent des bloßen Scheins. — Im Verhältniſſe zum Dichter liegt nun die
andere Seite der Abhängigkeit, wodurch die Schauſpielkunſt zur blos an-
hängenden wird: der Inhalt der Darſtellung iſt von jenem vorgezeichnet,
der Schauſpieler kann als ſolcher nicht zugleich der Erfinder ſein, denn er
kann ja in einer Handlung nur Einen Charakter, ein Glied derſelben dar-
ſtellen, nicht ſein Subject, wie der Dichter im Acte ſeiner Phantaſie, in
viele zerlegen und verwandeln (daß ein Schauſpieler oft mehrere Rollen
in einem Stück übernimmt, wäre lächerlich hier geltend machen zu wollen).
Es iſt bekannt, wohin das Schauſpiel durch Improviſiren verſinkt. Eben
hier liegt nun aber auch der Punct, von dem die Ehrenrettung der Schau-
ſpielkunſt ausgeht. Um die Schöpfung des Dichters in den vollen Schein
der Wirklichkeit zu überſetzen, muß ihm der Mime, wie Eckhof ſagt, „in
das Meer der menſchlichen Geſinnungen und Leidenſchaften nachtauchen,
bis er ihn findet“. Hier iſt eine Reproduction gefordert, wie in keiner
blos nachbildenden, vervielfältigenden, exequirenden Kunſtübung, eine Re-
production, die zur Production wird. Hat der Schauſpieler dem Dichter
in ſeinen Geiſt, ſo hat er ihm auch in ſeinen Gehalt, ſeinen Ernſt, ſeine
Idealität nachzutauchen und es gilt nichts Geringeres, als den hohen Zweck,
Menſchen, Menſchenleben, Menſchenſchickſal darzuſtellen. Er bildet auch
nicht blos nach, er entwickelt, ergänzt, füllt aus; neben dieſer Erfüllung,
dieſer Herausführung in die volle Farbe erſcheint das Werk des Dichters
wieder als bloßer Entwurf, iſt, wie wir geſehen, blos innerliches Phantaſie-
bild, dem es an Fülle und Schärfe fehlt. Der ächte dramatiſche Dichter
rechnet auf dieſe Ergänzung, führt nicht bis in’s Kleinſte aus, läßt Ein-
zelnes relativ ſkizzenhaft, ſchneidet dem Schauſpieler die Selbſtthätigkeit nicht
ab. Der Act der Verſetzung in das Werk des Dichters fordert alſo in
erſter Linie verwandtes Genie, Intuition; dazu aber den Ernſt und Fleiß
[1451] des Denkens, des Einarbeitens, und derſelbe hat ſich nicht nur auf die ein-
zelne Rolle, ſondern auf das Ganze zu erſtrecken, denn ſie iſt Glied des
Ganzen, und auf dieſes muß alſo auch die geniale Intuition ſich aus-
breiten: der Schauſpieler muß die Idee ſeiner Rolle ebenſoſehr aus der
Idee des ganzen Drama, als aus dieſer ſelbſt ſich erzeugen. Hier liegt
denn zugleich ein weſentliches Moment der Kunſtmoral für dieſen Stand:
die Pflicht der Einreihung in das Ganze, der Unterordnung unter daſſelbe,
die Bezwingung der Eitelkeit im Dienſte des Ensemble. Zwiſchen dem
geiſtigen Eindringen in die Rolle und der Ausführung liegt nun die Noth-
wendigkeit eines umfaſſenden Studiums des hiehergehörigen großen Gebie-
tes des Naturſchönen: des phyſiognomiſchen, pathognomiſchen Ausdruckes
(vergl. §. 338 ff.), des Menſchenlebens überhaupt im weiteſten Sinne.
Der Schauſpieler, welcher der Reflexion mehr, als dem Talente, verdankt,
ſetzt Einzelzüge aus den Erwerbungen dieſes Studiums muſiviſch zuſammen,
dem genialen ſchießen dieſelben von ſelbſt organiſch an das mit Einem in-
neren Wurfe der Phantaſie dem Dichter nachgeſchaffene Charakterbild an,
und die Mühe des Denkens und Uebens iſt getragen von dem magiſchen
Zuge dieſes Schauens. — In der wirklichen Ausführung iſt das nächſte
Moment die Herſtellung der ſog. Maske; es iſt von Wichtigkeit, weil es
hier gilt, der Schauſpielkunſt im Mittelpunct ihrer Schwäche, der Incongruenz
der lebendigen Perſönlichkeit zu dem geiſtigen, concret gedachten Bilde des
Dichters, mit allen Mitteln der Kleidung, Behandlung der Haare u. ſ. w.
nachzuhelfen. Was aber von Unangemeſſenheit zurückbleiben mag, wird
durch ächte Kunſt im wirklichen Spiele momentan verwiſcht; denn der fort-
geriſſene Zuſchauer erzeugt ſich das Bild der Erſcheinung aus dem geiſti-
geren Theile der Darſtellungsmittel und die Phantaſie hat die wunderbare
Fähigkeit, darüber wirklich die Geſtalt anders, namentlich heroiſch größer
zu ſehen, als ſie iſt. Dieſe geiſtigeren Mittel beſtehen denn in der Activi-
tät der Geſtalt für Auge und Ohr, Action und Declamation: jene
umfaßt Geſichts-Ausdruck, Geſticulation der Hände, Bewegung der Füße
und des ganzen Körpers, wobei das Verweilen in einer Geſte, das Ver-
halten in der Ruhe ſo weſentlich iſt, als die Reihe der wirklich bewegten
Momente, das ſtumme Spiel ſo wichtig, als das mit der Rede verbundene;
dieſe erhebt die unendliche Tonwelt der Sprache nach Höhe und Tiefe,
Stärke und Schwäche, Beſchleunigung und Langſamkeit zum künſtleriſchen
Ausdruck des Charakters und jeder ſeiner innern Bewegungen. Die letztere
Unterſcheidung iſt namentlich für den Schauſpieler wichtig: der Charakter
bleibt ſich im Wechſel der Stimmungen und Affecte gleich, ſein ſtehendes
Gepräge ſoll aber ebenſowenig den letztern ihre momentane Gewalt und
Wärme entziehen, als von denſelben überwachſen und aus den Fugen ſeiner
Grundzüge getrieben werden. Die Deutſchen ſind beſſere Darſteller des
[1452] (ächt individuellen) Charakters, Italiener und Franzoſen der Leidenſchaft.
Wir müſſen uns verſagen, den ganzen Reichthum wichtiger Begriffe und
Bobeachtungen zu entwickeln, der in den hier angedeuteten Hauptſeiten der
Darſtellungskunſt eingeſchloſſen liegt, verweiſen ſtatt deſſen auf Rötſcher:
„Die Kunſt der dramatiſchen Darſtellung in ihrem organiſchen Zuſammenhang
wiſſenſchaftlich entwickelt“ und bemerken nur noch, daß vermöge der Aufgabe
des Ensemble der einzelne Mime auch das Einzelne ſeiner Mittel auf die Zu-
ſammenwirkung mit den andern zu berechnen hat: die Lehre von der Schau-
ſpielkunſt hat es weſentlich auch mit dem Einklange des Zuſammenwirkens
zu thun, nicht nur im tieferen Sinne, ſondern im Heraustreten für das
Gehör und namentlich für das Auge in der Gruppirung des Perſonals
und ihrem Wechſel. — Iſt es nun allerdings wahr, daß die Gewohnheit
der Verſetzung in Charaktere und Stimmungen und der künſtlichen Annahme
des vollen, unmittelbaren Scheins dieſer Verſetzung eine Gefahr mit ſich
bringt, den Menſchen auszuhöhlen, auf den eiteln Schein zu ſtellen, ſo
hat der ächte Mime in dem hohen und würdigen Begriffe der Bedeutung
ſeiner Kunſt, eine Interpretinn der Dichtkunſt und durch ſie der ewigen
Wahrheit des Menſchenlebens zu ſein, in dem Ernſt und Fleiß, den dieſer
Begriff fordert und mit ſich bringt, das ſichere Gegenmittel und iſt der
Stand großen Verſuchungen ausgeſetzt, ſo iſt er nur um ſo achtungs-
werther, wo er ihnen widerſteht. — Eine weitere Schwäche dieſer Kunſt,
welche unmittelbar damit gegeben iſt, daß ſie in lebendigem Stoffe darſtellt,
beſteht in der Flüchtigkeit ihrer Wirkung; ſie „ſchreibt in’s Waſſer“. Ein
Streben nach um ſo ſtärkerem momentanen Erfolg, Empfindlichkeit über
Tadel, gereizte, nervöſe Stimmung wird dadurch erklärbar, ſelbſt entſchuldbar,
den höheren Künſtler ſtärkt dagegen das Bewußtſein der Intenſität und
des ſtillen Nachwirkens der Wirkung.
2. Der Gegenſatz der Style in der Poeſie ſpricht ſich ſo ſchlagend in
der Schauſpielkunſt aus, daß er durch ſie in volles Licht tritt, an ihr auf’s
Belehrendſte nachgewieſen werden kann. Dem plaſtiſchen Charakter des
antiken Drama’s entſprach die Maske, der Kothurn, die feierlich typiſche
Kleidung, das einfach große Syſtem der Bewegungen, wodurch der Schau-
ſpieler als wandelnde Statue erſchien, der recitativartige, ſtellenweiſe in
Geſang übergehende Vortrag. Hier galt es nur die ſubſtanziellen, gewal-
tigen Grundzüge; die Durchführung in das Spezielle und Individuelle, die
feinere Schattirung war ausgeſchloſſen. Es hieng dieß Alles mit der
Scenerie, zu der wir erſt im folg. §. übergehen, namentlich dem Spiel im
hellen Tageslichte zuſammen. In Allem iſt das moderne Spiel das gerade
Gegentheil, das volle Bild des maleriſchen Styls im Gegenſatze des plaſti-
ſchen; hier wird durchaus ſpezialiſirt, detaillirt, während dort generaliſirt
wird, hier iſt Alles porträtartig, phyſiognomiſch. Allein der Gegenſatz
[1453] erneuert ſich innerhalb dieſes Styls; theils iſt er ein nationaler ebenſo wie
in der Poeſie: Italiener und Franzoſen haben in der hohen Tragödie immer
noch etwas Geſang-artiges, Recitativ-ähnliches im Vortrag, ſtrenge, gemeſſene
Regel, einfach große Bewegung, plaſtiſches Verweilen im Spiel, in der
Komödie bringt wenigſtens die generelle Behandlung der Charaktere eine
geringere Individualiſirung mit ſich. Die franzöſiſche Art war mit der
poetiſchen Dramaturgie und geſammten conventionellen Diſciplin in Deutſch-
land eingedrungen und ward von Eckhof geſtürzt, der die wahre und indi-
viduelle Sprache und Tonleiter der Natur zum Geſetz erhob. Nun aber
riß mit dem bürgerlichen Drama und ſeiner proſaiſchen Redeform, dann
mit dem wilden Schrei der Sturm- und Drang-Periode ein Grad des
Naturalismus ein, der eine neue Reaction des plaſtiſchen, claſſiſch idealen
Styls hervorrufen mußte: er knüpfte ſich an Göthe’s und Schiller’s claſſiſche
Werke, man führte ſogar wieder franzöſiſche Tragödieen in den Kampf.
Dieß führte abermals in gleichtöniges Pathos, jambiſche Modulation ohne
Naturwahrheit des Tonfalls, kaltes Anſtands-Syſtem; die entgegenſtehende
Richtung mußte abermals ihr Recht zurückfordern. Seither ſuchen wir einen
charakteriſtiſchen Styl, der naturwahr individualiſirt und doch ideal iſt, wie
in der Poeſie und in allen Künſten, aber dem richtigen Begriffe des Zieles
bringt die Zeit nicht die hinreichende Kraft und Friſche entgegen, den falſchen
Ueberſchuß der Reflexion fühlt man nirgends mehr, als auf dieſem Gebiete. —
Statt alles Weiteren beſchränken wir uns hier, auf das treffliche Werk von
Ed. Devrient: „Die Geſch. d. deutſchen Schauſpielkunſt“ zu verweiſen.
§. 922.
Die Schauſpielkunſt ſetzt die Bühne voraus: die Baukunſt, die Malerei
und als Stimmungsmittel die Muſik verbinden ſich mit ihr und es entſteht
eine Vereinigung aller Künſte, in welcher die Poeſie der beſtimmende Mittel-
punct iſt (vergl. §. 544 3.). So kehrt denn dieſe zu der bildenden Kunſt im
eigentlichen Sinn, hiemit die geſammte Kunſt auf ihrer Spitze zur Unmittel-
barkeit zurück und erreicht hiedurch eine äſthetiſche Wirkung auf die Gemüther,
welche auch zu einer ſittlich politiſchen Macht wird.
Der ganze Inhalt unſerer Kunſtlehre erſpart uns eine Widerlegung der
R. Wagner’ſchen Theorie von einer Verbindung ſämmtlicher Künſte im
Theater, von einem Kunſtwerke, das Drama, Oper, Tanz und hiemit
lebendige Plaſtik, Gemälde und architektoniſche Schönheit gleichzeitig in der
Art ſein ſoll, daß wenigſtens die erſteren dieſer Künſte zu gleichen Theilen
in der Verbindung wiegen. Jede Kunſt hat das ganze Schöne auf ihre
Weiſe und es gibt daher keine andere richtige Verbindung von Künſten,
[1454] als eine ſolche, worin entſchieden Eine Kunſt herrſcht, die andere, oder die
andern nur mitwirken; die Verſchüttung dieſer feſten Geſetze iſt moderner
Ueberreiz und führt praktiſch zum überladenen, phantaſtiſchen Opernpompe. —
Auf die untergeordneten Formen, worin Poeſie mit Geſang und Muſik
wechſelt, die Miſchgattungen zwiſchen Oper und Drama: Melodrama, Sing-
ſpiel, Vaudeville konnten wir uns bei dem Umfang der großen Aufgabe
nicht einlaſſen. — Die Muſik wirkt denn in dieſer Verbindung der Künſte
nur als Stimmungsmittel vor und zwiſchen den Acten, vorbereitend, auf-
löſend mit. Was die Bühnen-Einrichtung betrifft, ſo können wir nur im
Ganzen und Großen hervorheben, wie ſich der Gegenſatz der Style auch
hier ausſpricht. Das Tageslicht gehört weſentlich zu dem plaſtiſchen
Style der antiken Mimik; das Lampenlicht iſt maleriſch, wird auf die
Bühne concentrirt und beleuchtet mit berechneter Sammlung der Strahlen
das detaillirende Spiel. Maleriſch iſt auch die größere Tiefe der modernen
Bühne und ihre vollere Scenerie; die antike kannte nur offene Räume,
dieſe ſtellt ebenſoſehr, ja häufiger innere Wohnräume dar und weist dadurch
Hand in Hand mit der Poeſie auf die Ausbildung des Innerlichen im
Privatleben. Von den Extremen der Dürftigkeit und des falſchen Pomps
auf unſern Theatern iſt in Kritik und Aeſthetik oft und hinreichend ge-
ſprochen. Uns beſchäftigt hier die weſentliche innere Bedeutung einer An-
ſtalt, welche alle ſinnlichen Mittel zuſammenfaßt, um den geiſtigen Gehalt
der Poeſie mit der Macht des Augenblicks und den Wirkungen für Auge
und Ohr in tauſende von Gemüthern zu werfen. Wir haben ſchon die
dramatiſche Poeſie an ſich als die Spitze aufgefaßt, mit welcher das Syſtem
der Künſte in ſich zurückläuft und ſeine Gegenſätze in erfüllte Einheit zu-
ſammenſchließt (§. 895); in ihrer Verbindung mit Schauſpielkunſt und
Bühne geſtaltet ſich dieſer Zuſammenſchluß noch ſpezieller, indem das ſub-
jective geiſtige Weltbild nicht nur für die innere Vorſtellung, ſondern auch
für die äußeren Sinne objectiv wird, und auch dieß nicht in unbewegter
Ruhe, ſondern mit wirklicher Bewegung und wirklich tönender Sprache.
Da dieſe nun weſentlich iſt, da nicht mehr, wie in der Poeſie an ſich, die
Schrift genügen kann, ſo iſt das Element der Muſik, der Ton, wiewohl
in der veränderten Potenz der Sprache, im eigentlichen Sinne des Worts
mit der Dichtkunſt vereinigt, und ebenſo, was wichtiger iſt, in Architektur
und Scenerie die bildende Kunſt mit ihrer eigentlichen Wirkung auf das
äußere Auge. Durch die theatraliſche Execution des Drama’s biegt ſich
alſo die Kunſt auf ihrem geiſtigſten Gipfel auch in dieſer unmittelbaren
Bedeutung zu ihrem Anfang, zu ihrer erſten Hauptform um. So entlädt
ſich nun hier der höchſte Kunſt-Inhalt als Blitz der augenblicklichen, vollen,
ganz geiſtigen und ganz ſinnlichen Wirkung und hiemit öffnet ſich wie in
keiner andern Form die Kunſt in das Leben. Sie kann nicht weiter inner-
[1455] halb des eigenen, rein äſthetiſchen Cirkels, ſie hat Alles durchlaufen, erfüllt,
zuſammengefaßt, ſie durchbricht den Kreis und ergießt ſich in die Wirklich-
keit des Menſchenlebens. Es kann auch hier nicht ihre Abſicht ſein, direct
ſittlich, politiſch zu wirken, wenn ſie ächte Kunſt bleiben will, aber die rein
äſthetiſche Wirkung des Drama’s auf der Bühne läßt ungeſucht und mit
innerer Nothwendigkeit unendliche Wirkungen im Menſchen und Bürger
zurück, wie kein anderes Kunſtwerk, Wirkungen, welche ſich durch die Ge-
walt der gemeinſchaftlichen Erſchütterung, die in Einem Momente ganze
Maſſen durchzittert, in jedem einzelnen Zuſchauer ſo verſtärken, als erwei-
terte und vervielfachte ſich ſein Herz um ſo viele Herzen, als hier gemein-
ſchaftlich ſchlagen und pochen. Wenn man von Schiller’s Abhandlung:
„Die Schaubühne als moraliſche Anſtalt betrachtet“ die unrichtigen Begriffe
von direct ſittlichem Berufe der Kunſt abzieht, ſo bleibt immer noch dieſe
große Wahrheit zurück. Hier, vor dieſem majeſtätiſchen Thore, das ſich
nach dem wirklichen Leben öffnet, iſt das Syſtem der Aeſthetik zu Ende;
das andere Grenzgebiet, das wir noch zu betreten haben, liegt ſchon ent-
ſchieden außerhalb.
[[1456]]
Anhang zur Lehre von der Dichtkunſt überhaupt.
Satyriſche, didaktiſche Poeſie, Rhetorik.
§. 923.
Außer dem Schritte, wodurch die Poeſie ſchließlich innerhalb der reinen
Kunſtſphäre ſich mit andern Künſten verbindet, iſt nur noch der eine möglich,
wodurch ſie ſich nach dem fremden geiſtigen Gebiet öffnet, woran ſie am nächſten
grenzt: der Proſa (vergl. §. 848). Es entſteht eine Miſchung des Schönen
mit dem Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein äſthetiſch, doch von
großer allgemein menſchlicher, geſchichtlicher Bedeutung iſt. In keiner andern
Kunſt iſt dieß Grenzgebiet ſo ausgedehnt und mannigfaltig.
Die Kunſt kann innerhalb ihrer ſelbſt nicht weiter, ſie tritt über ihre
Grenze hinaus und geht verſchiedene Miſchungsverhältniſſe mit der ſcheinloſen,
von der äſthetiſchen Einheit mit dem Bilde gelösten Idee, mit der reinen
Darſtellung des Wahren und Guten ein. Von anderem Standpuncte, vom
Boden der Proſa geſehen, iſt es umgekehrt ein Uebergreifen dieſes Gebiets in
das äſthetiſche, eine Vermählung der nackten Wahrheit mit dem Schönen, eine
Erhebung, wenn man will; „die Fußgängerinn Proſa entlehnt das Fuhr-
werk der Dichtkunſt“ (Plutarch V. d. Lect. d. Dichter C. 2). Dieſe zwei
Auffaſſungen widerſprechen ſich nicht, ſondern heben ſich in den Begriff
eines Entgegenkommens beider Sphären auf; praktiſch findet in unbeſtimmten
Uebergängen bald der eine, bald der andere Standpunct ſeine Anwendung,
denn bei dem einen Poeten iſt es mehr Nachlaſſen der Dichterkraft, bei
dem andern Aufſtreben vom Abſtracten zum Anſchauungsvollen, was dem
Prozeſſe zu Grund liegt, durch welchen lehrhafte oder ſatyriſche Erzeugniſſe
entſtehen. Das Weſentliche iſt immer, daß von der Idee, vom Allgemeinen
aus das Bild geſucht und äußerlich hinzugezogen wird, es gibt aber unend-
liche feine Unterſchiede der Innigkeit oder Aeußerlichkeit im Anklingen und
Mitklingen des äſthetiſchen Elements und die Grenze, wo das reine orga-
niſche Band der Beſtandtheile bricht oder die Kraft nicht reicht, es zu
[1457] knüpfen, iſt ſo zart, daß ſie nur im Einzelnen am concreten Kunſtwerk auf-
gedeckt werden kann. Daß wir den Werth der Formen, welche hier noch
zu betrachten ſind, darum nicht überhaupt herunterſetzen wollen, weil wir
ſie, wenn der rein äſthetiſche Maaßſtab angelegt wird, als blos anhängende
beſtimmen, dieß iſt bereits in §. 742, Anm. 1. ausgeſprochen, wo von den
verwandten Seitenzweigen der Malerei die Rede war, der einzigen Kunſt,
welche mit der Poeſie den Uebergang in ein gemiſchtes Grenzgebiet von ſo
großer Ausdehnung und Fülle theilt. Das äſthetiſche Urtheil zieht ſeine
Strenge zurück, ſobald nur zugeſtanden wird, daß das Gemiſchte eben nur
gemiſcht iſt; das Leben iſt reich an Formen und gerne leiht die eine der
andern ihre Mittel. Satyre und Didaktik nebſt Rhetorik gehören zu den
gewaltigſten Hebeln des ethiſchen, politiſchen Lebens und die Bewegung der
Geſchichte wäre ohne ſie nicht zu denken. Ihr Weſen und ihre reichen,
gerade durch ihre gemiſchte Natur ſchwierigen Formen ſind daher der gründ-
lichſten Unterſuchung werth, aber in geſonderter Behandlung oder als An-
hang einer Poetik; die Aeſthetik iſt durch den großen Umfang ihres Ganzen
zur Kürze genöthigt. Daß aber dieſes Gebiet nur einen Anhang der Lehre
von der Poeſie, nicht einen Theil derſelben bilden kann, bedarf längſt keines
Beweiſes mehr; eher wäre es der Mühe werth, zu erklären, wie es kam,
daß man ſo lange die grobe logiſche Sünde der Eintheilungen überſehen
konnte, die das Didaktiſche und Verwandte dem Epiſchen, Lyriſchen, Dra-
matiſchen coordinirten. Schon der erſte Blick zeigt, daß eine Erſcheinung,
welche, außer andern, unbeſtimmteren Formen, wechſelnd die Geſtalt des
einen oder andern dieſer drei Zweige annimmt, nicht einen Zweig neben
denſelben bilden kann. Der innerſte Grund lag in der Verkennung des
reinen Weſens der Poeſie; dieſe geiſtigſte aller Künſte, die als ſolche am
nächſten an dem Gebiete der Proſa liegt, verbarg dem noch ungeübten Auge
den unendlichen Unterſchied des Wahren, das ganz in reinen Schein ver-
wandelt iſt, von dem Wahren, das ſich nur nebenher mit dem Scheine
bekleidet. Man ſah, wie die Dichtkunſt nach allen Seiten vielfacher und
maſſenhafter, als es irgend einer andern Kunſt möglich iſt, in dieß gemiſchte
Gebiet übergeht, und man überſah die feine, aber ſcharfe Linie, welche auf
allen Puncten dieſes Austretens überſchritten wird. — Uebrigens ergibt ſich
nun (vergl. §. 546. 547) eine merkwürdige Parallele mit derjenigen Kunſt,
welche, die entfernteſte von der Poeſie, am Eingange des Syſtems der
Künſte liegt, mit der Architektur. Wie jene mit dem ethiſchen Gebiete, ſo
iſt dieſe mit dem des Zweckmäßigen durch die engſten Bande verflochten.
So mündet die Kunſt an ihrem Anfangs- und Endpuncte in das außer-
äſthetiſche Gebiet: dort erhebt ſich ihre Baſis auf dem breiten Boden des
praktiſchen Bedürfniſſes, hier ſtreckt ſich ihr Gipfel in die Luft der ſchmuck-
loſen Wahrheit.
[1458]
§. 924.
Am nächſten der reinen Poeſie ſteht die Satyre. Sie unterſcheidet ſich
innerhalb ihres allgemein negativen Charakters in eine negative, indirecte und
eine poſitive, directe. Beide wenden komiſche Mittel an, die erſtere aber erhebt
ſich je nach Geiſt und Stimmung in das Gebiet der rein äſthetiſchen Komik
(vergl. §. 547). Sie folgt in ihren beſtimmteren Bildungen den Gebieten der
reinen Poeſie, liebt, wie die verwandte Richtung der Malerei (vergl. §. 742),
die Caricatur und erzeugt auf dieſem Wege komiſche Gegenbilder der großen
Hauptzweige (bei ſpeziellerer Richtung auf die Form Parodie und Traveſtie).
Die zweite Art der Satyre iſt proſaiſcher und verſinkt in das Dürftige und
Gemeine, wenn ſie nicht, obwohl zunächſt immer auf Einzelnes gerichtet, in das
Allgemeine und Große geht und aus dem Pathos der Idee fließt.
Wir ſtellen die Satyre vor das Didaktiſche, da der Gang, der ſich
ſchrittweiſe vom rein Aeſthetiſchen entfernt, hier der natürlichere iſt. Es
kann nicht auffallen, wenn der Grund ihres engeren Verhältniſſes zur
ächten Poeſie in die Negativität ihres Verhaltens geſetzt wird; denn negativ
iſt ſeinem Weſen nach das ganze Gebiet der komiſchen Dichtung, an welches
ſich die Satyre lehnt, ſofern alles Komiſche das Bewußtſein des wahren Ver-
hältniſſes von Idee und Bild aus dem ſchlagenden Widerſpruche ſeiner Verkeh-
rung, alſo durch eine Negation erzeugt. Der Unterſchied, wie er ſchon bei
Betrachtung der Caricatur in der Malerei (§. 742, Anm. 1.) hervorgehoben iſt,
beruht darin, daß die Phantaſie in Erzeugung des rein Komiſchen dennoch
naiv, harmlos zu Werke geht, alſo das Verfahren poſitiv iſt, während die
Satyre, geführt von ſtoffartigem Unwillen gegen die verkehrte Wirklichkeit, an
die ſie mit Bewußtſein den Maaßſtab der Idee hält, auch in der Grund-
ſtimmung ihres Verfahrens negativ iſt. Hier aber macht ſich ein Unter-
ſchied geltend: eine im engeren Sinne negative Form ſtellt ſich mit ent-
ſchiedenem Anſpruch auf höheren poetiſchen Werth neben eine ſolche, die,
unbeſchadet der negativen Natur des ganzen Gebietes, alſo nur beziehungs-
weiſe poſitiv verfährt und proſaiſcher iſt. Man bezeichnet den Unterſchied
gewöhnlich als den der lachenden, harmloſen und der ſtrafenden, ſcharfen
Satyre. Der Sprachgebrauch iſt nicht paſſend; die negative oder indirecte
Satyre iſt immer gewaltſamer, als es ſcheint, und geht zu ſichtbar gewalt-
ſamer Form über, und die directe, poſitive Satyre kann auch mild predigen.
Es fragt ſich nun, wie und warum die erſtere der reinen Komik näher
ſteht. Zunächſt, wenn man nicht die Grenze zwiſchen dieſer und der
Satyre verwiſchen will, muß man als das Spezifiſche der letzteren jene
Grundlage des Unwillens, der Bitterkeit gegen die Welt, die dem Maaß-
ſtabe der Idee widerſpricht, die unpoetiſche Grundſtimmung feſthalten. So
[1459] iſt ein Schelten und Schimpfen auf das griechiſche Leben, wie es gewor-
den, der Grundzug der Ariſtophaniſchen Komödie, ſo beginnt J. P. Fr.
Richter mit Ergießung Swift’ſcher Galle. Dieß Ausſprechen der Bitter-
keit iſt eigentlich poſitive, directe Satyre, allein bei ruhigerem, objectivem
Ueberblick und reicher Begabung entwickelt ſich von ſolchem Ausgangspunct
eine andere Form des Verhaltens. Die Idee, der Maaßſtab der Dinge,
wie ſie ſein ſollen, wird nicht mehr ausdrücklich fixirt und für ſich hinge-
ſtellt, ſondern als eine verhüllte Macht, als verſchwiegen wirkende Folie
den Dingen untergeſchoben; nun wird nicht mehr direct geſagt: ſo ſollte
die Welt ſein und ſo iſt ſie doch nicht, ſondern die geſchilderten Gegenſtände
ſelbſt müſſen dieß durch ihre Widerſprüche, ihre Mißgeſtalt bekennen. Hier
verändert ſich denn Grundſtimmung und Verfahren. Jene iſt nicht mehr
die ausſchließlich bittere, denn dem Unterſchieben liegt ein Gefühl der
Wahrheit zu Grunde, daß doch wirklich die Macht der Idee ſelbſt in der
argen Welt nicht zu Grunde gehen kann; wie tief der Zorn und Aerger
ſein mag, er wendet ſich doch unwillkürlich zum freieren, unbefangeneren
Lachen; er iſt geneigt, das Böſe für Thorheit zu nehmen, wie die ächte Komik;
das Verfahren, die Darſtellung wird anmuthig, leicht, ſpielend, liebens-
würdig, nachläßig, geht in das objective Verfahren über, gibt ein Weltbild,
und dieß wirkt wieder zurück auf die Stimmung, denn der Dichter muß Liebe
für ſeine Narren gewinnen, wenn er in längerer Beſchäftigung, wie ſie
ein ausführlicheres Gemälde, z. B. die beſtimmte Form des Romans mit
ſich bringt, mit ihnen umgeht. Nur darf man immer nicht ohne Weiteres
von Harmloſigkeit reden, denn mag auch das ganze Bild mit Liebe ge-
pflegt ſein, die Bitterkeit und das Schelten bricht doch im Einzelnen herb
genug durch. Die Satyren des Horaz gehören der ſogenannten lachenden
Form an, aber von durchgehender freier Komik iſt doch auch hier nicht die
Rede. Ein Hauptmerkmal des Unterſchieds von der freien Komik iſt
nun immer die Neigung zum Uebertreiben, zur Caricatur. Der Prozeß,
welcher dem Wirklichen die Idee als Folie unterlegt, hat im rein Komiſchen
nicht ebenſo nothwendig dieſe Wirkung, weil es nicht von derſelben bewuß-
ten Schärfe der Entgegenſetzung ausgeht. Auch die lachende Satyre faßt
die Wirklichkeit hart und gewaltſam mit dem Maaßſtabe der Idee an und
zwingt ſie, ihre Verkehrtheit durch Ueberladung des Häßlichen zu bekennen;
auch die Sittengemälde eines Horaz ſind Caricaturen. Wie die Malerei
(vergl. §. 742, 2.) ſteigert nun auch die Poeſie dieſe Form bis zum phantaſtiſch
Ungeheuren. Die wild gährende Phantaſie eines Rabelais und Fiſchart
gibt eine Anſchauung davon. Ariſtophanes iſt trotz ſeinem phantaſtiſchen
Bilden nicht ebenſo frazzenhaft, ordnet ſeine grottesken Schöpfungen zu
gerechten Kunſtwerken und erhebt ſich daher von der Grundlage der ſatyri-
ſchen Caricatur unzweifelhafter zur reinen Komik. Ein anderer Zug der
[1460] Satyre im Unterſchiede von der ächten Poeſie iſt ihre Neigung, einzelne
gegebene Formen und Erzeugniſſe der Poeſie in’s Komiſche zu ziehen, ſei
es durch Unterſchiebung eines kleinen Subjects unter die Prädicate des
großen und heroiſchen im parodirten, ſei es durch Belaſſung des Sub-
jects und Vertauſchung der großen Prädicate mit kleinen und ungereimt
modernen im traveſtirten Originale. Der ächte Komiker beſchenkt ſtatt
deſſen die Literatur mit einer neuen Form: Cervantes parodirte oder
traveſtirte, wie wir ſchon zu §. 882 hervorgehoben, nicht die Ritter-
Romane, ſondern ſchuf in ſeinem ironiſchen Bilde des Zuſammenſtoßes der
ritterlichen Romantik mit der wirklichen Welt den modernen, realiſtiſchen
Roman. Gerade die Geſchichte des Romans zeigt übrigens belehrend die
mancherlei Uebergänge zwiſchen Satyre und Komik. So erſchien in Deutſch-
land manches Satyriſche in Romanform gegen den puritaniſchen Geiſt
der Romane nach Richardſon, gegen den Idealiſmus Klopſtock’s, gegen
Phyſiognomik, gegen Genieweſen, Orthodoxie, Excentricität aller Art, bis
dieſe unreifen Bildungen unter wachſendem Einfluß der engliſchen Humori-
ſten, welche ſelbſt von der Ironie gegen Richardſon’s abſolute Tugend-
muſter ausgegangen waren, in J. P. Fr. Richter einen relativen, an
unzweifelhaft ächter Komik jedenfalls reichen Abſchluß fanden. — Hiemit
ſehen wir bereits, wie die Satyre den Zweigen der reinen Poeſie folgt,
zunächſt dem epiſchen. Das komiſche Epos, das nichts als eine Parodie
oder Traveſtie der Gattung iſt, haben wir bereits hieher verwieſen. Das
Lyriſche muß einem Verhalten, das am liebſten mit wiederholten einzelnen
Stichen ſich gegen die Welt wendet, natürlich eine beſonders angemeſſene
Form ſein. Daß die Lyrik der Betrachtung und in dieſer vorzüglich das
Epigramm ihr natürlicher Boden iſt, ergibt ſich von ſelbſt, aber darum
iſt ihr doch das leichte Lied nicht verſchloſſen; je mehr ſie ſich allerdings in
deſſen Ton verſetzt, um ſo mehr erhebt ſie ſich auch in den Humor. Ein
ſchönes Beiſpiel hievon ſind Göthe’s „Muſen und Grazien in der Mark“;
man ſieht hier recht, welche freie Leichtigkeit in dieſer Hand Alles, ſelbſt
die harte Waffe des Spottes, gewinnt. Das politiſche Spottlied muß
freilich ſchwerer wiegen, doch gibt es auch hier einen reichen Unterſchied
von Formen bis zu der Heiterkeit der ächten Komik. Zum Dramatiſchen
kann die der Satyre beliebte Geſprächsform gezogen werden. Lucian hat
das Muſter gegeben, wie man das Ausgelebte und Verkehrte in eigener Per-
ſon auftreten und in der Dialektik der Wechſelrede ſeine inneren Widerſprüche
naiv bekennen laſſen muß; Horaz geht vielfach in dieſe belebte Form über.
Das ſechszehnte Jahrhundert hat ſie rüſtig aufgenommen; wir erinnern
nur an U. v. Hutten’s Geſpräch: die Anſchauenden. Auch die Briefform
nähert ſich, wenn ſie verſchiedene Perſonen auftreten läßt, dem Dramatiſchen;
Meiſterwerk für alle Zeit bleiben die Epistolae obscurorum virorum. Je
[1461] mehr ſich aber die Satyre zum eigentlichen Drama entwickelt, deſto mehr
iſt ihr der Aufſchwung zum ächt Komiſchen geſichert, ja mehr noch, als im
Epiſchen, weil die Selbſtverwandlung des Dichters in ſeine Perſonen ihn
entſchiedener aus dem Standpuncte der Entgegenſetzung gegen die Welt, der
ſeine Grundlage bildet, in die Trunkenheit des wirklichen Humors hinein-
reißt. Auf Ariſtophanes haben wir in dieſer Beziehung ſchon öfters hin-
gewieſen. —
Die directe oder poſitive Satyre hält das Ideal ausgeſprochener Maaßen
an den Gegenſtand, zeigt deſſen Schlechtigkeit in offenem Angriff auf und
gehört alſo entſchiedener dem Boden der proſaiſchen Trennung zwiſchen der
Idee und der Welt an. Sie verfährt daher auch meiſt monologiſch, tritt in
Briefen, Abhandlungsform u. dergl. in der eigenen Perſon auf. Es iſt
damit zugleich geſagt, daß, wie in der Stimmung die freie Heiterkeit, welche
ihre Narren liebt und geneigt iſt, das eigene Ich unter den komiſchen
Widerſpruch zu ſubſumiren, ſo im poetiſchen Acte die Objectivirung nicht
eintritt; daher in Vergleichung mit den Zweigen der Poeſie nur eine Ver-
wandtſchaft mit dem Lyriſchen übrig bleibt. Die directe Satyre wäre daher
überhaupt nicht äſthetiſch, ſondern ethiſch, wenn ſie nicht im Einzelnen
komiſcher Mittel, natürlich im Weſentlichen des Witzes, ſich bediente, und
da die objectivſte Form des Witzes die Ironie iſt (vergl. §. 201—204), ſo
folgt, daß ihr Verfahren, wenn ſie zu dieſer greift, am nächſten an die
höhere und freiere Natur der indirecten Satyre grenzt. Das Lob der Narr-
heit von Erasmus und die ironiſchen Abhandlungen von Liscow mögen
als Beiſpiele genannt werden. Allein hier ſchwächt ſich auch die praktiſche
Gewalt einer Aeußerung des Geiſtes ab, die als beißendes Salz der trägen
Maſſe des geſchichtlichen Lebens unentbehrlich iſt. Verdorbene Zuſtände
wollen nicht mit der verſteckt lachenden Ironie, ſondern mit der äzenden
Schärfe einer gründlichen Erbitterung bearbeitet, durchbohrt ſein, der äſthetiſche
Standpunct weicht dem ethiſchen, dem das Verhüllte zu matt, zu ſchwäch-
lich iſt. Fortgeſetzte Ironie iſt daher etwas Veraltetes, iſt Rokoko, wir
ertragen das ſchleppende Hinterhalten nicht mehr. Es verſteht ſich, daß, je
mehr bei dieſem poſitiv ſatyriſchen Verhalten der äſthetiſche Standpunct hinter
den ethiſchen zurücktritt, deſto ausdrücklicher ein reiner Haß gefordert werden
muß, der aus der Idee fließt: „die Abneigung könnte auch eine blos ſinn-
liche Quelle haben und lediglich in Bedürfniß gegründet ſein, mit welchem
die Wirklichkeit ſtreitet, und häufig genug glauben wir einen moraliſchen
Unwillen über die Welt zu empfinden, wenn uns blos der Widerſtreit der-
ſelben mit unſerer Neigung erbittert; — die pathetiſche Satyre muß jederzeit
aus einem Gemüthe fließen, welches vom Ideale lebhaft durchdrungen iſt“
(Schiller Ueber naive und ſentim. Dichtung. Werke B. 18, S. 252. 254).
Die Satyre hat von einem durchaus perſönlichen, wilden Schimpfen und
[1462] Schelten in der jambiſchen Poeſie der Griechen (Archilochos) ihren Ausgang
genommen; als eine Art von Vorübung für die Komödie hat das ſeine
natürlichen Wege, aber fixirt, wie in den ſpäteren Satyren der Italiener
und in den Gemeinheiten eines Murner, wird es abſcheulich. Nicht die
Einzelheit, Perſönlichkeit des Objects iſt das Verwerfliche; was packen will,
muß einen greiflichen Gegenſtand haben, und ſoll der Gegenſtand gründlich
durchbeizt und durchpfeffert werden, ſo kann der Satyriker nicht genug ſpe-
zialiſiren, auch die Farben mögen grell ſein, wenn nur das Häßliche nicht die
furchtbare Erdenſchwere behält, wie in einem Juvenal. Das Weſentliche
aber iſt, daß das nächſte Object immer nur der Punct ſein ſoll, an welchem
ein allgemeines Uebel angefaßt wird, und wir werden den Satyriker um
ſo mehr achten, wenn dieſes Uebel zugleich mit Macht bekleidet iſt, wenn
es Muth fordert, es zu bekämpfen. — Die Satyre fällt im Ganzen und
Großen naturgemäß in Zeiten der Auflöſung; die ſpäte Zeit Roms und
das ſechszehnte Jahrhundert, dieſes freilich ſo viel friſcher und von Morgen-
luft bewegt, waren ihre Blüthe-Perioden.
§. 925.
Der eigentlich didaktiſchen Poeſie gehen mit dem Charakter ungeſchie-
dener Urſprünglichkeit in Epos und Drama Erzeugniſſe voran, welche den
2.Lehrgehalt als religiöſe Thatſache ausſprechen. In ausgebildeter Geſtalt ſchließt
ſie ſich an die epiſche Dichtung als Beiſpiel, Parabel, Fabel und be-
ſchreibendes Gedicht. Die naivſte unter dieſen Formen, verwandt mit
3.dem Thier-Epos, iſt die Fabel. Zu der lyriſchen Dichtung geſellt ſich die
lehrende Ballade und Romanze, das Spruchgedicht oder die Gnome,
Sprichwort, Näthſel, zu der dramatiſchen der lehrhafte Dialog und alle
4.die Formen, welche den Charakter pathetiſcher Monologe tragen. Daneben
breitet ſich ein unbeſtimmtes Gebiet aus, das bereits der proſaiſchen Abhand-
lung verwandt iſt und ſeinen Zuſammenhang mit der Poeſie nur durch Schil-
derungen des Naturſchönen rettet, durch die es mehr oder minder dem beſchrei-
benden Gedichte ſich nähert: das eigentliche Lehrgedicht.
1. Wir haben die Theogonie und das urſprüngliche religiöſe
Epos, das vor der Ausbildung der Kunſtpoeſie liegt, nicht in der Lehre
von der epiſchen Dichtung, die gottesdienſtlichen Acte, aus
denen das griechiſche Drama hervorgieng, die Myſterien des
Mittelalters und die religiöſen Dramen der Spanier, die zwar der Kunſt-
poeſie angehören, aber doch von jenen naiven Anfängen ſich ableiten, nicht
in der Lehre von der dramatiſchen Dichtung als bleibende Arten aufgeführt.
Darſtellungen des abſoluten Religions-Inhalts in Form von Ereigniß,
[1463] Handlung, Leiden, kurz reiner Mythus, nicht blos eingewoben in menſchliche
Handlung und Leiden, ſondern als eigentlicher und weſentlicher Stoff, iſt
niemals ungemiſchte Poeſie, ſondern Lehrpoeſie. Es verhält ſich anders in
der bildenden Kunſt, hier iſt das Vorführen der göttlichen Perſonen ein
lebendiges Motiv, um rein und allgemein Menſchliches darzuſtellen, weil
es mit der ſinnlichen Erſcheinung Ernſt wird; in der Poeſie dagegen, wo
das Anthropomorphiſche nur durchſichtige Vorſtellung bleibt und doch die
Geſtalt in durchgeführte Handlung geſetzt wird, fällt hier die überzeu-
gende Kraft der Lebenswahrheit weg; dieſe kann einem Ganzen von
faſt lauter tranſcendenten Geſtalten und Begebenheiten nicht zukommen,
menſchliche Sympathie iſt nicht möglich, wo es keine Schuld, kein eigent-
liches Glück und Unglück gibt, und wo dieſe nicht möglich iſt, bleibt nur
das Verhältniß des Bewußtſeins zu reinen Ideen, die ihm unter poetiſcher
Hülle eingeprägt werden. Freilich aber iſt bei dieſen primitiven Erſcheinungen
des religiöſen Epos der Unterſchied von eigentlicher Lehrdichtung nicht minder
einleuchtend: ehrwürdiger, feſter Glaube hält die großen Wahrheiten noch
unbefangen in ſinnlicher Form feſt und iſt wirklich überzeugt, Thatſachen,
Geſchichte und Handlung vorzutragen, zu vernehmen. Es iſt dieß der
Antheil der Phantaſie an der Religion, durch welchen dieſe die zweite Stoff-
welt ſchafft (§. 416 ff.), und darin eben ruht die innigere Verwandtſchaft
dieſer altehrwürdigen Lehrpoeſie mit der ächten Dichtkunſt; der Unterſchied
aber liegt, wie geſagt, darin, daß dieſe niemals die zweite Stoffwelt ohne
die urſprüngliche gibt und immer irgend einen Grad von äſthetiſcher Locke-
rung des unfreien Scheins vorausſetzt (vergl. §. 417. 418).
Die eigentliche Lehrpoeſie dagegen hat entweder bei übrigens phanta-
ſieloſer Bildung den unfreien Schein in religiöſen Dingen behalten, aber
auf Verſtandsgründe geſtützt und das iſt ebenſo gut, wie wenn ſie ohne
dieſen proſaiſch geretteten Phantaſie-Antheil bildloſe Wahrheit vortrüge,
oder ſie hat ihn aufgehoben und dann tritt eben der letztere Fall ein, die
Zuthat der Phantaſie aber legt ſich nachträglich an den ſo getrennten und
für ſich bewußten Gehalt. Eine genauere Erörterung der Heſiodiſchen
Theogonie und des Verwandten in der griechiſchen Literatur gehört nicht
hieher; dieſelbe hätte übrigens Alles, was die orientaliſchen Religions-Ur-
kunden von ausdrücklich und zuſammenhängend vorgetragener Götterlehre,
Göttergeſchichte enthalten, ebenfalls zu berückſichtigen. Aus der nordiſchen
Welt reihen ſich daran die Edda-Lieder mythiſchen Inhalts und aus der
althochdeutſchen die Evangelien-Harmonien Otfried’s und die altſächſiſche,
der Heliand. Dante, Milton, Klopſtock dagegen gehören der Kunſtpoeſie an
und ſind in der Darſtellung der Formen des Epos beleuchtet worden, es
weiſen aber die Bemerkungen in jenem Zuſammenhang herüber in den Be-
griff des Gebietes, in welchem wir uns nun befinden. So hat denn auch
Biſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 94
[1464]das Drama urſprünglich vermeintliche Geſchichte, abſolute Geſchichte, Glau-
bensgehalt als Thatſache dargeſtellt und das moderne Schauſpiel iſt aus den
Myſterien, wie das antike aus den Dionyſiſchen Feſt-Aufführungen, hervor-
gegangen; die geiſtlichen Dramen der entwickelten Kunſtpoeſie aber, wie ſie
eigentlich nur in Spanien (vidas de Santos und autos sacramentales) geblüht
haben, weben zwar den chriſtlichen Mythus in menſchliches Leben, Schuld
und Schickſal ein, entziehen aber dieſem die rein menſchliche Wahrheit und
Sympathie und ſind wirklich Nachkommen der Myſterien bei einem bigotten
Volke, die keine Stelle in der Lehre von der Poeſie als ächte, des Bleibens
werthe Formen finden können. Wir haben ſie bereits als Spezialitäten bezeich-
net. — Eigentlich könnten wir nun zu der elementariſchen, großartig unbe-
fangenen Lehrpoeſie auch das aus den dunkeln Zeiten vor der Kunſtdichtung
überlieferte Gnomiſche, alle poetiſch vorgetragene, noch immer an den religiöſen
Glauben geknüpfte ethiſche Wahrheit ziehen: einen Theil der ſogenannten
Orphiſchen Poeſie, die Sprüche der ſieben Weiſen, das entſprechende Orien-
taliſche, wie es in poetiſcher Spruchform ſich durch die Religionsbücher der
Inder und Perſer zieht, älteſte deutſche Spruchweisheit; allein wo immer
Lebenswahrheit, nicht oder nur als Hintergrund der Anlehnung vermeintliche
Thatſache vorgetragen wird, iſt die wirkliche Scheidung von Idee und Bild
vorhanden und ſpricht ſich denn auch in der Zerſtücklung des Vorgetragenen,
der Einzelheit der Sätze aus.
2. Wir haben ſchon bei der Satyre geſagt, daß es mancherlei Stufen
und Miſchungsformen zwiſchen den beiden Enden: der organiſch bildenden
Phantaſie und dem die äſthetiſchen Elemente nur äußerlich verknüpfenden
Verfahren gibt. Die didaktiſche Poeſie geht immer vom geiſtigen Inhalt
aus und von da erſt zum Bilde fort; ſie unterſcheidet ſich von der ſatyri-
ſchen dadurch, daß ſie zwar vorausſetzt, das Leben entſpreche noch nicht dem,
was es ſein ſoll, der Idee, aber es bei der bloßen Vorausſetzung beläßt,
nicht die Anſchauung des Verkehrten und Erbitterung darüber zu Grunde legt.
Es fehlt ihr daher die Leidenſchaft, welche die Phantaſie zu jenem negativen,
komiſchen Acte aufbietet, den wir kennen gelernt haben; aber von der einen
Seite belebt ſich ihre größere Nüchternheit durch die Wärme der Ueber-
zeugung und Geſinnung, von der andern kann leicht und unbefangen ein
Anſchauungsbild an die Idee, welche den Lehrgehalt bildet, anſchießen und
innig damit zuſammenwachſen, ſo daß die Lehre als das posterius erſcheint,
das nur ſo von ſelbſt aus der Anſchauung hervorſpringt. Dieß liegt denn
am reinſten vor in den Formen, die ſich an die epiſche Dichtung anſchlie-
ßen. Das Beiſpiel (nicht im mittelhochdeutſchen Sinne, wo es Fabel und
jede didaktiſche Erzählung bedeutet, ſondern im gewöhnlichen modernen Sprach-
gebrauche verſtanden,) bringt zum Beleg einer Wahrheit einen Fall, eine
Erſcheinung aus dem Leben ohne Fiction herbei, worin dieſe Wahrheit real
[1465] geworden iſt oder immer auf’s Neue wird; es gehört eigentlich ganz in
die Proſa und wird hier nur erwähnt als belehrende Stufe der Leiter, die
von da zur Parabel und Fabel führt. Idee und Bild fallen in dieſer ein-
fachen Form gar nicht und ebenſoſehr ganz auseinander: gar nicht, weil
die angeführte Erſcheinung eigentliche Wirklichkeit der vorgetragenen Wahr-
heit iſt, ganz, weil dieſe Wahrheit in unbeſtimmt vielen andern Erſcheinun-
gen ebenfalls wirklich iſt, woraus ſogleich folgt, daß doch die Wahrheit,
der allgemeine Begriff und das zu ſeinem Belege beigebrachte Einzelne ſich
nicht decken, denn ſind deren viele, worin jener realiſirt iſt, ſo ſind es auch
vielerlei (verſchieden nicht wie Individuen einer Gattung, ſondern Indivi-
duen aus verſchiedenen Gattungen), ſo ſind in ihnen auch noch andere
Wahrheiten wirklich; die Güte eines Beiſpiels beſteht nur darin, daß die
vorgetragene Wahrheit den weſentlichſten unter den Zügen des angeführten
Wirklichen bildet. Die Parabel dagegen fingirt einen Hergang für
ihren Zweck, hebt als Band zwiſchen ihm und der Wahrheit, die ſie vortra-
gen will, das tertium comparationis heraus und knüpft an dieſes die letztere.
Hat ſie ſich ihren Fall erfunden, ſo iſt er eben ganz auf dieß tertium ange-
legt, und daß in ſolchem Hergang auch noch andere Geſetze, Wahrheiten
liegen können, geht ſie gar nichts an. Der Zuſammenhang zwiſchen Idee
und Bild iſt daher loſer, als im Beiſpiel, aber loſer im Sinne des Freien, was
ſich das zweckmäßigſte Anſchauungs-Bild ſelber mit Phantaſie ſchafft, und
ebendadurch ſtraffer. Die Parabel iſt demnach eigentlich ein Gleichniß, aber ein
entwickeltes, zur Erzählung ausgebildetes, epiſch gewordenes Gleichniß und
dieſe Entwicklung hat ihren Grund darin, daß die vorzutragende Lehre nicht
einfach, ſondern vielſeitig iſt, eine Reihe von belegenden Momenten, eine
Reihe von Vergleichungspuncten fordert (vergl. Babrios Fabeln überſetzt,
nebſt einer Abhandlung über die Fabel u. ſ. w. v. W. Hertzberg S. 93 ff.).
Es iſt in der Sache begründet, daß der Parabeldichter am liebſten einen
Vorgang aus der Menſchenwelt erdichtet, weil er hier die reichſten Ver-
gleichungspuncte für ſeinen vielſeitigeren Lehrgehalt findet. Dieſer bewegt
ſich weniger im untergeordneten Gebiete der Lebensklugheit, als in dem
hohen und ernſten der Ethik; die Parabel iſt eine Bilderſchrift, welche kind-
lichen Menſchen erhabene und ehrwürdige, auf die Religion gegründete
Wahrheiten des ſittlichen Lebens einprägt und ihren friſchen Geiſt durch
die einleuchtende Zweckmäßigkeit erfreut und erfaßt. Der Lehrgehalt wird
direct ausgeſprochen: „das Himmelreich iſt gleich“ u. ſ. w.; der Parabel-
Erzähler geſteht offen, daß das Bild blos Mittel iſt; Nathan in der Parabel
von den drei Ringen thut es zwar nicht ausdrücklich, aber es liegt im
Anlaſſe, daß der Lehrzweck ſeiner Erzählung kein Geheimniß iſt. — In der
Fabel nun ſcheint auf den erſten Blick das Verhältniß zwiſchen dem Bild
und dem Gehalte viel lockerer zu ſein, als in der Parabel. Das Gleichniß
94*
[1466]wird auch in ihr zur Erzählung, dieſe aber iſt Fiction in viel engerem
Sinne, denn ſie leiht der unbeſeelten Natur, Pflanzen, Bergen, Gewäſſern,
einzelnen Organen des Körpers, vor Allem aber der Thierwelt Bewußtſein,
Vernunft, Sprache und verlegt ſo Handlung in ein Gebiet, wo es nach
Naturgeſetzen keine gibt, freilich eine Handlung, die dem beobachteten Charakter
der Naturweſen entſpricht. Producte der menſchlichen Kunſt treten ebenfalls
auf und werden wie beſeelte Naturweſen aufgefaßt. Lehrhafte Fiction auf
Grundlage der Naturbeobachtung iſt alſo das Weſen der Fabel, nicht blos
der Aeſopiſchen, ſondern der Fabel überhaupt. Daß auch geiſterhafte Ge-
ſtalten, Rieſen und Zwerge, Götter, allegoriſche Perſonen auftreten, ändert
nichts an dieſem Charakter, denn ſie werden in dieſem Zuſammenhange
ganz ähnlich wie typiſch einfache Thiercharaktere verwendet; daß ſich die
Fabel in Sammlungen jederzeit mit Parabeln gemiſcht hat, welche mit
ihr unter Einem Namen befaßt werden, kommt nur von der nahen Ver-
wandtſchaft beider Formen und der Ungenauigkeit gewöhnlichen Sprachge-
brauchs. Die Fabel vereinigt alſo Wunderbarkeit und Natürlichkeit. Die
erſtere Eigenſchaft ſcheint denn eine Abſichtlichkeit des Bildes, eine Aeußerlichkeit
ſeiner Beziehung zu ſeiner Idee, einen Verluſt an Einfachheit und ſchlichter
Angemeſſenheit in Vergleich mit der Parabel zu begründen. Allein umge-
kehrt: der Vergleichungspunct iſt durch die geläufige Einfachheit und Ent-
ſchiedenheit der Züge, die von dem Naturweſen entlehnt werden, namentlich
die ſchlechthin einleuchtende Analogie der allbekannten Thiercharaktere zu
menſchlichen Eigenſchaften, Geſinnungen, ſo ganz ſchlagend, daß er mit
voller Ungeſuchtheit hervorſpringt. Es iſt nur ein unmerkbarer Ruck, der
das Menſchenähnliche zum Scheine des wirklich Menſchlichen erhebt, ein
augenblickliches ſcheinbares Ernſtmachen aus einer Unterſchiebung, die jedes
lebendigen Menſchen Phantaſie leicht und gern mit den Naturgebilden vor-
nimmt, am meiſten die kindliche, und der Fabel gehört urſprünglich ein
Auditorium, das wie die Kinder gewohnt iſt, Bäume, Steine, Flüſſe, Tiſche,
Meſſer und Gabel, Fuchs und Wolf ſprechen zu laſſen. Es iſt nichts zu
verwundern, es verſteht ſich von ſelbſt. Die Beziehung der vertrauten und
einleuchtenden Eigenſchaften der Naturweſen auf das tief verwandte Menſch-
liche liegt nun eben ſchon in dieſem Rucke zum ſcheinbar wirklich Menſch-
lichen; der Dichter braucht daher die Moral gar nicht herauszuſtellen, ſie
wird, wenn er richtig und lebendig erzählt, in der Handlung ſelbſt von den
Acteuren ausgeſprochen. Ja die Lieblichkeit und der Humor der Erzählung
gewinnt unter der Hand ein Intereſſe für ſich, einen ſelbſtändigen Werth,
und die Fabel, indem ſie mit dem Lehrzwecke ſpielt, hebt ſich dadurch näher
an die ſelbſtändige Poeſie. Es hängt aber die Entbehrlichkeit des Epimy-
thions noch anders zuſammen: die Fabel ſtand urſprünglich nicht für ſich,
ſondern gehörte dem Leben an, wurde bei Anlaß einer Situation, einer
[1467] Thatſache vorgetragen (Fabel des Menenius Agrippa) oder war Theil eines
größeren Gedichts und dieſer Zuſammenhang gab von ſelbſt die Beziehung,
den Sinn (vergl. Hertzberg a. a. O. S. 128, deſſen ſcharfſinniger Unter-
ſuchung wir überhaupt in dieſen Erörterungen folgen). Erſt die hiſtoriſche
Aufbewahrung, die Nachahmung in der Kunſtpoeſie hat ſie vereinzelt, ihr
dieſe Beziehung genommen und dafür das ausdrückliche fabula docet auf-
gedrängt. Dadurch iſt ſie zugleich um ihren Grundzug, die Naivetät ge-
kommen und ſelbſt Leſſing konnte epigrammatiſche Kürze mit kindlicher Ein-
fachheit verwechſeln. Es mag eine witzige, pointirte, ſatyriſche Fabel berechtigt
ſein, aber ſie iſt ein ſpäter, moderner Ableger der wahren. Dieſe iſt Eigen-
thum des friſchen Auges, das die Natur liebevoll und unbefangen belauſcht,
das Thierleben nicht in der Studirſtube, ſondern in Wald und Feld, Stall
und Hof beobachtet hat. Die Fabel iſt im beſten Sinne ein Stück rechter
Bauern-Poeſie. Daher iſt ſie auch nicht eigentlich ethiſch; die Bauernklug-
heit entnimmt praktiſche Sätze, Regeln des Lebensverſtands aus dem ver-
wandten Naturleben, namentlich aus dem Egoismus, der Sinnlichkeit, der
Liſt des Thieres. — Parabel und Fabel ſind demgemäß von ſo urſprüng-
lichem Charakter, daß wir ſie zu jenen unbefangenen, altehrwürdigen Urfor-
men der Lehr-Poeſie hätten ſtellen müſſen, wenn ſie nicht doch durch die
Iſolirung einer einzelnen Lebenswahrheit ſich von einem Gebiete ſonderten,
das noch im großen, monumentalen Zuſammenhange des mythiſchen Glau-
bens und ſeiner Phantaſiewelt liegt. — Auf einen größeren Zuſammenhang
anderer Art weist allerdings die Fabel hin. Dieß iſt die Thierſage.
Sie belauſcht die Thiere und hebt wie die Fabel das Menſchenähnliche ihres
Thuns in die Form des wirklichen Bewußtſeins, der Sprache, allein ſie hat
nicht daneben den Menſchen im Auge, um, was ſie an den Thieren be-
obachtet, nun mit Lehr-Abſicht auf ihn zu beziehen, das Intereſſe bleibt ihnen
ungetheilt und ſie werden zu freien, ſelbſtändigen Weſen, Perſonen für ſich,
wie in der Heldenſage die Helden, daher auch mit Eigennamen, die urſprüng-
lich Charakterbezeichnungen ſind, wie dieſe ausgeſtattet. Es iſt daher natür-
lich, daß die Hauptperſonen freie Waldthiere ſind, Raubthiere von feſt aus-
geſprochenem typiſchen Charakter, und die Thierſage weist auf die älteſten
Zeiten des deutſchen Volkes, dem ſie ausſchließlich eigen iſt, auf friſches
Wald- und Jägerleben zurück, das „die Heimlichkeit der Thierwelt“ belauſchte,
ſie athmet „Waldgeruch“ (J. Grimm. Reinhart Fuchs Einl.). Nun kann
aber der Menſch, der ein ſo nahe Verwandtes in der Natur liebend
beobachtet und dichtend umbildet, nicht völlig ſich ſelbſt neben dem Gegen-
ſtande vergeſſen; er kann nicht dauernd in das Thier den Menſchen ganz
hineinſehen; der Menſch iſt außerdem noch da und die Hinüberziehung
muß eintreten, es muß einleuchten, daß ja dieß Alles ein ſprechendes Bild
des Menſchenlebens iſt; das Bewußtſein der Beziehung wächst mit dem
[1468] Verfolgen, dem Ausſpinnen der einzelnen Abenteuer und endlich ſpringt —
nicht Lehrabſicht wie in der Fabel, aber Satyre als Bedeutung des Ganzen
hervor, Satyre von jener negativen Art, die nur im Sinne der untergelegten
Folie verfährt. Die Thierſage ſteht urſprünglich nur an ihrer Schwelle, ſie
bewegt ſich aber nach und nach nothwendig über dieſelbe; das Ausſpinnen
äußert ſich zugleich als der Trieb, ein zuſammenhängendes ſatyriſches Welt-
bild zu ſchaffen, daher ein Zug zur Verbindung der einzelnen Erzählungen,
der ganz wie in der Heldenſage endlich zu einem Epos führt. Dieß Epos
iſt denn die vollendete Ironie des Heldengedichts, ein Bild der Welt, wie
ſie iſt, wenn man das Gewiſſen daraus wegläßt, ein Streit der allgemeinen
Selbſtſucht, worin die liſtigſte jede andere überholt. Seine Vollendung fällt
natürlich in eine ungleich ſpätere Zeit, ſie fällt zuſammen mit der Epoche,
da die Nation jenes bittere Ding, das wir Erfahrung nennen, um eine
Welt von Illuſionen erkauft und da ſie begriffen hat, was eigentlich Politik
und was Pfaffenthum iſt, da „Reineke Fuchs wirklich zum Kanzler des
Reichs geworden iſt“ (Roſenkranz Geſch. d. deutſch. Poeſie im Mittelalter
S. 611). Es iſt eine etwas ſchwierige Frage, wohin man das Thier-Epos
ſtellen ſoll: in die Lehre vom Epos, von der Satyre, oder neben die Fabel.
Nur die innige Verwandtſchaft des bildlichen Stoffes entſcheidet uns für
die letztere Anordnung. Vermöge derſelben iſt es nur natürlich, daß ſich
Fabeln unter den Thierſagen finden, ja es fragt ſich, ob die Fabel nicht
eine degenerirte, didaktiſch gewordene, zerſtückelte Thierſage ſei, wie J. Grimm
annimmt; ſie iſt aber wohl vielmehr urſprünglich eine ſelbſtändige Schweſter
derſelben. —
Aus dieſen uralten, urſprünglichen Gebieten führt uns nun ein freilich
raſcher Sprung, wie ihn die Mannigfaltigkeit der Formen in dieſem ge-
miſchten Gebiete mit ſich bringt, zu dem beſchreibenden Gedichte. Es
blühte im achtzehnten Jahrhundert, als die Poeſie mit allen Kräften nach
der Natur, nach der Anſchauung drängte, aber das Grundgeſetz, daß ſie
nicht malen darf, als hätte ſie ein räumlich Feſtes vor ſich (vergl. §. 847),
noch nicht begriffen hatte. Nun gab man Naturſchilderungen ohne Hand-
lung; hiemit war der ideale Gehalt in das unorganiſche Verhältniß geſtellt,
daß er nicht als immanente Bewegung in den Darſtellungsſtoff ſelbſt eindrang,
daher als Lehre neben denſelben treten mußte, und ſo kann keine Frage
ſein, daß Werke wie Thomſon’s Jahreszeiten, Brocke’s irdiſches Vergnügen
in Gott, Haller’s Alpen, Kleiſt’s Frühling in das didaktiſche Gebiet ge-
hören, und zwar des objectiven Charakters der Schilderung wegen in deſſen
epiſche Sphäre. — Noch iſt kurz ein Ausläufer der Poeſie nach einer andern
Art der Proſa, nämlich der hiſtoriſchen Wahrheit zu erwähnen: die
Reimchronik, ein Werk der Kindheit der Geſchichtſchreibung im Mittel-
alter; die Geſchichte iſt mit der Sage vermiſcht und ladet ſo zur Bearbeitung
[1469] in Versform ein. Von dem Verhältniſſe der reifen Kunſt der Geſchicht-
ſchreibung zur Poeſie iſt in §. 848, Anm. die Rede geweſen.
3. Andere Formen der didaktiſchen Dichtung ſchließen ſich dem Lyriſchen
an und am nächſten der ächten Poeſie ſtehen offenbar die erzählenden lyriſchen
Formen, die bei unverhülltem Lehrzweck doch den indirecten Weg einſchlagen,
die Lehre in den Körper des Stoffes, etwa als Ausſpruch in den Mund
einer handelnden Perſon zu legen. Welcher Anmuth die didaktiſche Dichtung
fähig iſt, wie verkehrt es wäre, ihren Werth zu verkennen, wenn er nur an
ſeinen Ort geſtellt iſt, zeigen ſo treffliche lehrende Balladen oder Romanzen,
wie Göthe’s Schatzgräber, Schiller’s Theilung der Erde, Pegaſus im Joche.
Der Zauberlehrling neigt entfernt zum Didaktiſchen; es gibt unendliche
Uebergänge. Dagegen dehnt ſich nun das weite Gebiet des direct Didak-
tiſchen, das dem Lyriſchen parallel läuft, in dem einfachen, unmittelbaren
Ausſprechen und Hinſtellen ethiſcher, überhaupt praktiſcher Wahrheit, wobei
das äſthetiſche Element nur als Gleichniß, Metapher u. ſ. w. ſeine dienende
Rolle ſpielt: es iſt das Gnomiſche, herausgenommen aus ſeinem Verhältniß
als bloßes Moment im Lyriſchen (vergl. §. 885, 1.): Spruch, Xenie, oder
unter welchen Namen es auftreten mag, der Ausläufer der Lyrik der Be-
trachtung (vergl. §. 894), in kürzerer Faſſung, einfachem Hinſtellen einer
Wahrheit dem Epigramm, in vollerer, aber an eine Situation geknüpfter
Entwicklung der Elegie nachbarlich verwandt, ja mit ihr zuſammenfließend.
Es iſt der reiche Schatz ſeiner Lebensweisheit, den ein Volk in der Form
ſchöner Gedankenpoeſie an den Grenzlinien ſeiner höheren, rein äſthetiſchen
Dichtung aufhäuft; alle ächten National-Literaturen, vor Allem die hebräiſche,
griechiſche, deutſche bieten eine Fülle der gediegenen Nahrung für Geiſt und
Charakter, die in dieſem einfachen, geſunden Brode liegt. Wir dürfen jene
Dichter-Naturen nicht gering anſchlagen, die, nachdenklich, wie Walther von
der Vogelweide, zwiſchen der reinen lyriſchen Stimmung und der ſtrengen
Betrachtung ſich bewegen und alle Verhältniſſe ihrer Zeit mit dem Salze
des ernſten Gedankens durchdringen, noch dürfen wir dem vollen Genius
unſere Liebe entziehen, wenn im Alter ſeine Phantaſie nachläßt, ſich zerſetzt
und den Gehalt einer langen Erfahrung und Geiſtes-Arbeit nach allen
Lebens-Beziehungen in ſinnvollen Sprüchen widerlegt, wie Göthe in ſeinen
zahmen Xenien. Aber auch in ſeiner beſten Zeit hat er und Schiller zwiſchen
dem ſcharfen Hagel der ſatyriſchen Xenien die reinſten Goldkörner, ja volle,
aus Gold getriebene Kränze gnomiſcher Poeſie ausgeſtreut. — An dieſen
Zweig der lehrhaften Kunſtpoeſie reiht ſich als Ausdruck der praktiſchen
Volksweisheit das Sprichwort. Es liegt weiter ab von der Dichtung,
es iſt gangbare Münze mitten im wirklichen Leben, daher es zwar gern,
aber nicht weſentlich und nothwendig rhythmiſche Kunſtform und Reim an-
nimmt. Doch iſt es meiſt (nicht immer, denn es kann auch nackt und
[1470] direct eine Regel, Rath, Lehre in kurzem Satz ausſprechen) poetiſch durch
ſein eigenthümliches bildliches Verfahren. Es liebt nämlich, eine allgemeine
Erfahrung aus dem Natur- oder Menſchen-Leben als einen Satz hinzu-
ſtellen, der eigentlich die figürliche Seite bildet, aus welcher durch den
Vergleichungspunct die beabſichtigte Lehre erſt zu ziehen wäre, die wirkliche
Ziehung derſelben aber dem Leben ſelbſt, dem jeweiligen Falle zu überlaſſen
(z. B. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, eine Hand wäſcht die
andere u. ſ. w.) Gerade daß es die Anwendung nicht ſelbſt übernimmt,
darin liegt ſein Charakter, für den Hausbrauch des wirklichen Lebens be-
ſtimmt zu ſein. Wird das Bild aus den menſchlichen Zuſtänden und
Thätigkeiten genommen, ſo iſt es natürlich eine greifliche Sphäre derſelben,
organiſches Leben, Handwerk u. ſ. w. Es kann übrigens auch humoriſtiſch
die tranſcendente Welt verwendet werden, als wäre ſie ſo vertraut und nahe
wie die menſchliche (z. B. wenn der Teufel hungrig iſt, frißt er Fliegen). —
Endlich verläuft ſich die fragmentariſche Form der didaktiſchen Dichtung in
das Gebiet des Spiels durch die verſchiedenen Arten des Räthſels. Es
wird aufgegeben, ein Wort zu errathen und das Finden (in der gewöhn-
lichen, allgemeinſten Form) dadurch erſchwert, daß ſolche Eigenſchaften des
Gegenſtands angegeben werden, die er mit andern gemein hat, und daß
ſie der Räthſeldichter gerade mit der Abſicht, nach andern Gegenſtänden irre
zu führen, bezeichnet und zuſammenſtellt, während er doch zugleich dunkle
Winke einflicht, die auf den rechten Weg leiten. Das Räthſel iſt enge mit
der Allegorie verwandt, aber es iſt ehrlicher, als dieſe: es geſteht, daß es
blos Spiel iſt und hilft dem verlegenen Rather durch ſchließliche Nennung
des Worts oder Zugeſtändniß des richtigen Funds aus der Noth. So ver-
hält es ſich z. B. mit den Allegorieen im zweiten Theile von Göthe’s Fauſt
nicht; wir ſollen rathen und werden nie wiſſen, ob wir richtig gerathen
haben.
An die dramatiſche Form findet begreiflich in der didaktiſchen Poeſie
weniger Annäherung ſtatt; das forttönende Ausſprechen des directen Pathos
(wie in Tiedge’s Urania) gemahnt nur ganz entfernt an den Monolog und
der Dialog bringt, da er nicht zur Handlung fortſchreiten kann, ungleich
weniger äſthetiſches Leben herzu, als das ſchildernde Element in den Formen,
die ſich an die epiſche Poeſie anlehnen. Die ſtrenge Wiſſenſchaft hat, an-
gelockt von dem Scheine natürlicher Zweckmäßigkeit, welchen der Dialog
nach der ſubjectiven Seite für das Verhältniß zwiſchen dem Lehrer und
Schüler, nach der objectiven für das Verhältniß von Satz und Gegenſatz,
Grund und Gegengrund, überhaupt für das Dialektiſche entgegenbrachte,
dieſe Form geliebt, aber die Erfahrung gemacht, daß die Zuthat der Poeſie,
die Zerfällung in Perſonen, die nothwendigen Anknüpfungen an Zufällig-
keiten der Situation u. dergl. ihr nicht förderlich, ſondern nur hinderlich,
[1471] ſtörend ſind. Wo die Wiſſenſchaft auf ihrem eigenen, ſtrengen Boden
ſteht, ſoll ihr die Poeſie nicht folgen wollen; ſie lenkt vom Wahren als
blos Wahrem ab und die Miſchung verwirrt durch die Theilung unſeres
Intereſſes an den Selbſtzweck des Schönen und an den Selbſtzweck des
Wahren.
4. Endlich gelangen wir zu dem äußerſten breiten Rande dieſes Ge-
bietes, dem Lehrgedicht im engeren Sinne des Worts. Es
nimmt eine beſtimmte Materie vor und handelt ſie nach ihrer innern,
gegenſtändlichen Ordnung ab; der ausgeſprochene Lehrzweck, die logiſche
Ordnung und die ausgedehnte Durchführung ſind ſeine Merkmale. Hier iſt
die Grenze, wo die Poeſie in die Abhandlung übergeht und das Aeſthetiſche
am entſchiedenſten nur äußerlich anhängt. Es iſt klar, daß dieſes ſich in
dem Grade verſtärkt, in welchem der Gegenſtand naturvoll iſt, innige Be-
ziehung des Menſchen zur Natur enthält: dann nähert ſich das Lehrgedicht
in ſeinen epiſchen und lyriſchen Elementen der Idylle; ſo vor Allem in den
Gedichten vom Landbau. In Heſiod’s Werken und Tagen beſitzt auch dieſe
Gattung ein Gedicht jenes urſprünglichen, ehrwürdigen Charakters, der
allerdings die idylliſche Wirkung nur für uns hat, denn hier iſt das Bild
eines Zuſtands, der weit hinter der Trennung der Kräfte und Zerſpaltung
des Lebens liegt, die den müden Menſchen treibt, in der ländlichen Natur
die verlorene Einfalt zu ſuchen, hier iſt urſprüngliche Einfalt, die einfache
Thätigkeit in Feld und Haus mit ihren Regeln und Geſetzen bildet Einen
ungetrennten Kreis mit den höchſten ethiſchen Pflichten und mit der Religion;
wogegen Virgil’s Georgica ihre Anleitungen mit einer Naturſchilderung
ſchmücken, die ſchon den elegiſchen Charakter einer Welt tragen, wo das
Gemüth die verlorene Natur wieder aufſucht, um ſich in ihr zu erholen. —
Ein Reichthum poetiſcher Motive liegt in den Heilkräften, die aus dem
Schooße der Natur ſprudeln; Neubeck hat in ſeinen „Geſundbrunnen“ einen
glücklichen Stoff glücklich behandelt. — In anderem Sinn erwärmt ſich das
Didaktiſche, wenn eine Seite des menſchlichen Lebens ergriffen wird, die
dem Affect angehört und an ſich keine Methode kennt, wie in Ovid’s Kunſt
zu lieben; hier entſteht durch das Lehrhafte, das Abhandelnde eigentlich eine
freie und heitere Ironie des Lehrgedichts. Das ethiſche Lehrgedicht, ſei es
ermahnend oder tröſtend (Opitz: von der Ruhe des Gemüths, vom wahren
Glück, Troſtgedicht in den Widerwärtigkeiten des Kriegs), hat neben der
Poeſie der Schilderungen ſeine äſthetiſche Stütze auf die Energie des Pathos
zu ſtellen. Die farbloſeſten Bildungen entſtehen natürlich, wenn rein wiſſen-
ſchaftliche oder techniſche Materien behandelt werden. Noch einmal iſt aller-
dings naiv alterthümliche und moderne Form des Bewußtſeins zu unter-
ſcheiden: der poetiſche Vortrag der Philoſophie im Mund eines Parmenides
und Empedokles iſt etwas Anderes, als die Gedichte eines Lucretius und
94**
[1472]gar der Neueren von der Natur der Dinge. Die Stubenpoeſie hat ſich
denn über alle möglichen Zweige der Wiſſenſchaft verbreitet bis zu den
anmuthigen Sphären der Medizin (Bilderdyk über die Krankheiten der Ge-
lehrten); ſie hat höhere, künſtleriſche (ars poetica des Horaz u. ſ. w.) und
niedrige Technik, bis zur Seidenſpinnerei, in ihr Bereich gezogen: aus dem
äſthetiſchen Inhalt der erſteren iſt ihr geringer Gewinn an poetiſchem Werth
erwachſen, denn die Wohlweisheit des Recepts, ſo viel Verſtändiges daſſelbe
enthalten mag, ſinkt an dem freien Geiſte des Ideals, über den ſie ſich
ergießt, als mattes, laues Waſſer hinunter.
§. 926.
Die Tendenzpoeſie verhüllt die unorganiſche Verbindung der äſthetiſchen
Elemente, welche in der didaktiſchen zu Tage liegt, unter der Energie des
pathetiſchen Hindringens auf den Zweck und nähert ſich dadurch einem andern
Grenzgebiete der Poeſie, der Rhetorik. Dieſe greift vom praktiſch ethiſchen
Boden in die Dichtkunſt herüber, indem ſie zum Zweck einer beſtimmten Wirkung
auf den Willen Gefühl und Phantaſie aufbietet und dieſe Mittel mit denen der
Ueberzeugung zu einem künſtleriſchen Ganzen verarbeitet.
Die Lehrpoeſie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf
den theoretiſchen Geiſt wirken, ſondern auf das ſittliche, politiſche Leben
(vergl. §. 547), aber doch nur mittelbar und unbeſtimmt eben durch jenen.
Die Tendenzpoeſie (vergl. §. 547. 484) hat den bewußten Zweck, ſich direct
in das Leben hineinzuarbeiten, die Gemüther zu beſtimmen, daß ſie durch
den Willen die Idee, für welche der Dichter begeiſtert iſt, realiſiren, und
indirect verfährt ſie dabei nur ſofern, als ſie dieſen Zweck unter den poetiſchen
Mitteln verhüllt. Sie iſt in §. 848 als Fehler beſprochen; hier, im Anhang,
wo es ſich von berechtigten Nebenformen handelt, muß ſie noch einmal, und
auch nach ihrer begründeten Seite zur Sprache kommen. Sie ſteht über
und unter der didaktiſchen: über ihr, ſofern das Pathos für ein beſtimmtes
reales Sollen gedrängter, acuter, feuriger iſt, als die ſtille Wärme, die eine
Betrachtung begleitet, unter ihr, ſofern die Betrachtung, welche die Welt
nicht unter dem Standpuncte des Sollens anſieht und nicht das patholo-
giſche Intereſſe hat, auf ſie direct einzuwirken, idealer iſt und wenn ſie die
höchſten Sphären zum Inhalte nimmt, dem Gebiete des abſoluten Geiſtes
angehört; man kann hinzuſetzen, daß die geſtändige Lehr-Abſicht weniger
unbehaglich ſtimmt, als die verſteckte des Wirkens, die man wittert und der
man auf die Spur kommt. Je nach Standpunct und Situation wird man
die eine der andern vorziehen und am leichteſten ſich mit dem Tendenziöſen
verſöhnen, wenn man ſieht, daß es nur die ſchwächere Seite eines Dichter-
[1473] geiſtes iſt, der in ſeinen Weiheſtunden das Feuer ſeiner Begeiſterung in
den wahrhaft äſthetiſchen Prozeß der Phantaſie zu erheben vermag. Das
Tendenziöſe iſt beſonders in der dramatiſchen Poeſie zu Hauſe, weil dieſe
ſich am entſchiedenſten gegen das wirkliche, ſittlich politiſche Leben öffnet,
und die Form, worin es ſich äußert, wird am richtigſten hier rhetoriſch
genannt. Dieſer Zug hat ſich bei uns vorzüglich in Nachahmung Schiller’s
feſtgeſetzt, von welchem nach dieſer Seite in §. 896, Anm. die Rede war. —
Im Uebrigen iſt es auch hier in der Ordnung, daß man ſich nicht immer
auf die Höhe des ſtrengſten äſthetiſchen Maaßſtabs ſtellt, ſondern zu rechter
Zeit auf den praktiſch ethiſchen herüberneigt und zufrieden iſt, wenn ein
Tendenz-Roman, lyriſches Tendenzgedicht, namentlich aber Tendenzdrama
einmal die trägen Gemüther mit ſtarken Hebeln faßt, erſchüttert, für große
Ideen der Humanität, der Nationalität, der Freiheit und Gerechtigkeit
begeiſtert. —
Wir ſind aber hier wirklich zu der letzten Grenzmarke gelangt, mit
welcher ſich die Aeſthetik zu beſchäftigen hat, zu der Rhetorik. Ihr Grund
und Boden iſt der praktiſch ethiſche: der Redner hat direct den Willen einer
Verſammlung zu einem Entſchluſſe zu beſtimmen; nur die religiöſe Rede
und noch mehr die ſogenannte Schaurede unterſcheidet ſich dadurch, daß ſie
nicht einen einzelnen Entſchluß, ſondern eine bleibende Stimmung hervor-
zurufen ſucht, aber auch dieſe ſoll in den Willen übergehen und ſo iſt eben
Willensbeſtimmung der ſpezifiſche, allgemeine Zweck des Redners. Für dieſen
Zweck werden nun neben dem theoretiſchen Mittel der Ueberzeugung noth-
wendig ſolche in Bewegung geſetzt, welche der Poeſie angehören, denn die
Ueberzeugung ſoll durch Entzündung des Gefühls, Affects und der Phan-
taſie zum Willens-Acte, zum Beſchluſſe werden. Das Epiſche tritt in der
Schilderung, das Lyriſche in der directen Gefühls-Erregung, ſofern ſie noch
vom Affecte, d. h. der Spannung gegen den Willen hin zu unterſcheiden
iſt, das Dramatiſche in den ſtarken ſchlagartigen Wirkungen auf dieſe Kräfte
hervor. Wirklich liegt nun aber in dieſer Verbindung poetiſcher Elemente
mit der Proſa entſchieden nicht mehr eine Auflöſungsform der Poeſie vor,
ſondern ein Herübergreifen eines andern Gebiets in dieſe, mag auch in der
Perſönlichkeit des gebornen Redners gemäß den unendlichen Miſchungen,
welche die Natur hervorbringt, die Verbindung der Elemente eine ganz
flüſſige, lebendige ſein. Wir haben alſo den Boden der Aeſthetik unzweifel-
haft verlaſſen und blicken bereits von einem andern nach ihr herüber. Zwar
iſt auch die Anordnung der Rede keine Aufgabe des proſaiſchen Denkens,
nicht rein logiſch, ſondern die beſtimmte Energie ſeines Zwecks gebietet dem
Redner, die Ueberzeugungsgründe, die poſitiven und die negativen (wider-
legenden), mit den poetiſchen Mitteln im Ganzen und im Einzelnen ſo zu
diſponiren, daß dieſe ſämmtlichen Kräfte ſteigend zu einem Strom anwachſen,
[1474] der endlich reif iſt, durch die Schleuſen zu brechen, d. h. als Entſchluß der
Verſammelten, als That in die Welt hinauszufluthen. Die eigenthümliche
Miſchung der Elemente bringt es mit ſich, daß der Accent einſeitig auf den
Kunſtbegriff gelegt werden und dieſe formale Auffaſſung ſich mit praktiſcher
Liſt und Partei-Intereſſe zu der Ausbildung einer perfiden und doch höchſt
wirkſamen Schein-Rhetorik verbinden kann. Dieß hat aber eben nicht die
Aeſthetik, ſondern die Ethik zu rügen, ſoweit ſie nicht als Politik Urſache hat,
den Unterſchied der politiſchen Moral von der Privat-Moral entſchuldigend
anzuwenden. Die wahre Beredtſamkeit aber theilt mit der Poeſie die Lauterkeit
der Idee.
- License
-
CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Vischer, Friedrich Theodor. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bq24.0