Paris undLeipzig
(Paris 112, Bd Malesherbes):
Verlag von Albert Langen
1895
[[4]]
Bühnenmanuſcript.
[[5]]
Perſonen:
- Dr. Goll.
- Dr. Schön.
- Alwa Schön.
- Schwarz.
- Prinz Eſcerny.
- Schigolch.
- Rodrigo, Artiſt.
- Hugenberg, Gymnaſiaſt.
- Eſcherich.
- Lulu.
- Gräfin Geſchwitz.
- Ferdinand.
- Henriette.
- Ein Bedienter.
Die Rolle Hugenberg wird von einem Mädchen
geſpielt.
Erſter Aufzug.
[[8]]
Erſter Aufzug.
Seitenthür zum Schlafkabinett. In der Mitte ein Podium. Hinter
dem Podium eine ſpaniſche Wand. Vor dem Podium ein Smyrna-
teppich. Rechts vorn zwei Staffeleien. Auf der hinteren das Bruſt-
bild eines jungen Mädchens. Gegen die vordere lehnt eine umgekehrte
Leinwand. Vor den Staffeleien, etwas gegen die Mitte vorn, eine
Ottomane. Darüber ein Tigerfell. Links an der Wand zwei Seſſel.
Im Hintergrund eine Trittleiter.
Erſter Auftritt.
bild auf der hinteren Staffelei).
Wiſſen Sie, daß ich die Dame von einer ganz
neuen Seite kennen lerne?
der Ottomane).
Ich habe noch niemanden gemalt, bei dem der
Geſichtsausdruck ſo ununterbrochen wechſelte. — Es
war mir kaum möglich, einen einzigen Zug dauernd
feſtzuhalten.
Finden Sie das darin?
[10]
Ich habe das Erdenklichſte gethan, um durch
meine Unterhaltung während der Sitzungen wenigſtens
etwas Ruhe in der Stimmung hervorzurufen.
Dann verſtehe ich den Unterſchied.
die Geſichtszüge).
Glauben Sie, es wird dadurch ähnlicher?
Man kann nicht mehr thun, als es mit der
Kunſt ſo gewiſſenhaft wie möglich nehmen.
Sagen Sie mal …
Die Farbe iſt auch wieder etwas eingeſchlagen.
Haben Sie jemals in ihrem Leben jemanden
geliebt?
tritt auf der anderen Seite zurück).
Der Stoff iſt noch nicht genügend abgehoben.
Man ſieht noch nicht recht, daß ein lebender Körper
darunter iſt.
[11]
Ich zweifle nicht daran, daß die Arbeit gut iſt.
Wenn Sie hierher treten wollen.
Sie müſſen ihr wahre Schauergeſchichten erzählt
haben.
So weit wie möglich zurück.
gelehnte Leinwand um).
Pardon …
O bitte …
Was iſt das …
Kennen Sie ſie?
Nein.
als Pierrot gekleidet mit einem hohen Schäferſtab in der Hand).
Ein Koſtümbild.
Erlauben Sie …
[12]
Lieber Gott …
Die iſt Ihnen aber gelungen.
Sie kennen ſie?
Nein. Und in dem Koſtüm?
Es fehlt noch die ganze Ausführung.
Na ja.
Was wollen Sie. Während ſie mir ſteht, habe
ich das Vergnügen, ihren Mann zu unterhalten.
Sagen Sie …
Über Kunſt natürlich, um mein Glück zu ver-
vollſtändigen.
Wie kommen Sie denn zu der reizenden Be-
kanntſchaft?
[13]
Wie man dazu kommt. Ein ſteinalter, wackliger
Knirps fällt mir hier herein, ob ich ſeine Frau
malen könne. Nun natürlich, und wenn ſie runz-
lich wie Mutter Erde iſt. Andern Tags Punkt
zehn fliegen die Thüren auf und der Schmerbauch
treibt dies Engelskind vor ſich her. Ich fühle jetzt
noch, wie mir die Kniee ſchwankten. Ein ſtockſteifer,
ſaftgrüner Lakai mit einem Paket unter dem Arm.
Wo die Garderobe ſei. Denken Sie ſich meine
Lage. Ich öffne die Thür da
Nur ein Glück, daß ſchon alles in Ordnung war.
Das ſüße Geſchöpf huſcht hinein und der Alte
poſtiert ſich als Schanzkorb davor. Zwei Minuten
darauf tritt ſie in dieſem Pierrot heraus.
ſchüttelnd)
Ich habe nie ſo was geſehen.
und ſtarrt an die Schlafzimmerthür hin.)
Und der Schmerbauch ſteht Schildwache?
Der ganze Körper im Einklang mit dem un-
möglichen Koſtüm, als wäre er darin zur Welt
gekommen. Ihre Art, die Ellbogen in die Taſchen
zu vergraben, die Füßchen vom Teppich zu heben
— mir ſchießt oft das Blut zu Kopf …
[14]
Das ſieht man dem Bild an.
Unſereiner, wiſſen Sie …
Hier führt das Modell die Converſation.
Sie hat den Mund noch nicht aufgethan.
Iſt’s möglich!
Erlauben Sie, daß ich Ihnen das Koſtüm
zeige.
Eine Teufelsſchönheit.
Hier iſt
mehr Fond.
Er iſt noch jung für
ſein Alter.
Was das für Stoff ſein mag.
Atlas.
Stellen Sie ſich vor.
[15]
Sie ſind gütig.
In einem Stück.
Wie kommt man denn da hinein?
Das kann ich Ihnen nicht ſagen.
Dieſe rieſigen Hoſenpfeifen!
Die linke rafft ſie hinauf.
Bis übers Knie.
Sie macht das zum Entzücken.
Und transparente Strümpfe.
Die wollen gemalt ſein.
Das können Sie.
[16]
Dabei von einer Koketterie.
Sehen Sie hier bitte die Achſelhöhle.
Iſt das kokett?
Da zeigt ſie in dem kräftigen matten Fleiſch-
ton zwei brandſchwarze Löckchen — gefärbt
natürlich.
Woher wiſſen Sie das?
Wenn nicht mit der Schere gekräuſelt.
Wie kommen Sie auf den entſetzlichen Verdacht?
Es giebt Dinge, von denen ſich unſere Schul-
weisheit nichts träumen läßt.
Schlafzimmer.)
Wenn man ſchläft . . . .
Wenn Sie Ihre Bekanntſchaft machen wollen …
Nein.
[17]
Sie müſſen im Augenblicke hier ſein.
Wie oft wird die Dame noch ſitzen müſſen?
Ich werde die Tantalusqual ein Vierteljahr
zu erdulden haben.
Und die Andere?
Entſchuldigen Sie. Dreimal höchſtens.
Thür geleitend)
Wenn mir die Dame dann nur ihre
Taille dalaſſen will.
Mit Vergnügen. Laſſen Sie ſich bald wieder
bei mir ſehen.
In Gottes Namen.
Zweiter Auftritt.
Darf ich vorſtellen …
Was treiben denn Sie hier?
Wedekind, Der Erdgeiſt. 2
[18]
Frau Medizinalrat.
Sie wollen doch nicht ſchon gehen?
Welcher Wind führt denn Sie hierher?
Ich habe mir das Bild meiner Braut angeſehen.
Ihre Braut iſt hier?
Sie laſſen hier auch arbeiten?
Sieh da! Bezaubernd …
Sie halten ſie wol hier irgendwo verſteckt?
Das iſt das ſüße Wunderkind, das Sie zu
einem neuen Menſchen gemacht …
Sie ſitzt nachmittags.
Und davon erzählen Sie einem nichts?
[19]
Iſt ſie ſo ernſt?
Wol noch die Nachwirkung der Penſionszeit.
Man ſieht, daß Sie eine tiefgehende Wandlung
durchgemacht haben.
Nun dürfen Sie ſie aber auch nicht länger
warten laſſen.
In vierzehn Tagen denke ich unſere Verlobung
bekannt zu machen.
Laß uns keine Zeit verlieren.
Denken Sie, wir fuhren im Trab über die
neue Quaibrücke. Ich habe ſelber kutſchiert.
Nein, nein. Wir ſprechen nachher weiter. Geh,
Nellie.
Jetzt kommt’s an mich!
2*
[20]
Unſer Apelles leckt ſich ſchon die Pinſel ab.
Ich hatte mir das viel amüſanter vorgeſtellt.
Sie haben die Genugthuung, uns den ſeltenſten
Genuß zu bereiten.
Na, warten Sie nur.
Wenn Frau Obermedizinalrat ſo freundlich ſein
wollen.
Ich habe ſie in unſerem Ehekontrakt nämlich
Nellie getauft.
Ja.
Was halten Sie davon?
Warum nennen Sie ſie nicht Mignon?
Das wäre auch was. Daran habe ich nicht
gedacht.
[21]
Glauben Sie, daß das ſo viel dabei ausmacht?
Sie wiſſen, ich habe keine Kinder.
Sie ſind kaum ein paar Monate verheiratet.
Ich wünſche mir keine.
Rauchen Sie eine Cigarette?
Ich habe an dem Einen vollkommen genug.
Sagen Sie mal, was macht denn Ihre
kleine Tänzerin?
Eine Tänzerin?
Die Dame ſaß mir nur aus Gefälligkeit. Ich
kenne ſie von einem Ausflug des Cäcilienvereines her.
Ich glaube, wir kriegen anderes Wetter.
Das geht wol nicht ſo raſch mit der Toilette?
[22]
Das geht wie der Blitz. Die Frau muß Vir-
tuoſin in ihrem Fach ſein. Das muß jeder von
uns in ſeinem Fach, wenn das Leben nicht zur
Bettelei werden ſoll.
Nellie!
Frau Obermedizinalrat!
Gleich, gleich.
Ich begreife ſolche Stockfiſche nicht.
Ich beneide ſie. Sie kennen nichts Heiligeres
als ihr Hungertuch. Sie fühlen ſich reicher als
mit 30000 Mark Renten. Sie können nicht über
einen Menſchen urteilen, der von Kindesbeinen an
von der Palette in den Mund lebt. Nehmen Sie
es auf ſich, ihn flott zu machen. Es iſt ein Rechen-
exempel. Mir fehlt der moraliſche Muth. Man
verbrennt ſich leicht die Finger …
Schlafzimmer tretend).
Da bin ich.
[23]
Superb!
Nun?
Sie beſchämen die kühnſte Phantaſie.
Wie gefall’ ich Ihnen?
Ein Bild, vor dem die Kunſt verzweifeln muß.
Finden Sie nicht auch?
Sie wiſſen nicht, was Sie thun.
Ich bin mir meiner vollkommen bewußt.
Dann dürften Sie etwas beſonnener ſein.
Ich thue meine Schuldigkeit.
Sie ſind gepudert?
[24]
Was fällt Ihnen ein!
Sie hat eine weiße Haut, wie ich ſie nirgends
geſehen habe.
Trotz der weißen Seide!
Ich habe unſerem Raffael auch geſagt, er möge
ſich mit dem Fleiſch nur ſo wenig wie möglich
abgeben.
Mir iſt der Brummbär überhaupt entſetzlich.
Ich kann mich einmal für die moderne Klexerei
nicht begeiſtern.
Dem Impreſſionismus dankt es die heutige
Kunſt, wenn ſie ſich alten Meiſtern ohne Erröten
an die Seite ſtellen darf.
Für ein Stück Schlachtvieh mag ſie ja ganz
angebracht ſein.
Nur keine Aufregung!
[25]
Man ſieht dein Negligé. Du mußt es herunter
ziehen.
Ich hätte es am liebſten weggelaſſen. Es
geniert nur.
Er wäre imſtande und malte es hin.
auf das Podium ſteigend, zu Schön).
Was würden Sie jetzt ſagen, wenn Sie zwe
Stunden Parade ſtehen müßten?
Meine Seele verſchriebe ich dem Teufel, um
mit Ihnen tauſchen zu dürfen.
Kommen Sie hierher. Das iſt mein Beobach-
tungspoſten.
So?
Ja …
So?
[26]
Ja, ja …
Ich finde ſie nämlich von hier aus noch vor-
teilhafter.
Ich bin von allen Seiten gleich vorteilhaft.
Das rechte Knie weiter vor, bitte.
Der Körper zeigt vielleicht feinere Linien …
Haben Sie doch wenigſtens ein klein wenig
Mitgefühl.
Die Beleuchtung iſt heute zum mindeſten er-
träglich.
Sie müſſen Sie flott hinwerfen. Faſſen Sie
Ihren Pinſel etwas länger.
Gewiß, Herr Medizinalrat.
Behandeln Sie ſie als Stillleben.
[27]
Gewiß, Herr Doktor.
Sie verträgt keine paſtoſe Behandlung.
Sie hat nicht das Giganteske.
Sie pflegten den Kopf um eine Idee höher zu
halten.
Malen Sie mir die Lippen etwas offen.
Malen Sie Schnee auf Eis. Wenn Sie tiefer
gründen, wird Ihre Kunſt unkünſtleriſch.
Gewiß.
Die Kunſt, wiſſen Sie, muß die Natur ſo
wiedergeben, daß man wenigſtens geiſtig dabei ge-
nießen kann.
So — ſehen Sie.
[28]
Denken Sie ſich als Hintergrund eine Gaisblatt-
laube.
Sobald die Sonne kommt, wirft die Mauer
gegenüber warme Reflexe herein.
Du mußt dich in deiner Stellung verhalten,
als ob unſer Velasquez gar nicht vorhanden wäre.
Ein Maler iſt doch auch eigentlich kein Mann.
Ich glaube nicht, daß Sie von einer rühmlichen
Ausnahme auf die ganze Zunft ſchließen dürfen.
So wenig wie ein Friſeur.
Ich hätte mir vergangenen Herbſt ein anderes
Atelier mieten müſſen.
Haben Sie die kleine O’Morphi als peruaniſche
Perlenfiſcherin geſehen?
[29]
Morgen ſehe ich ſie mir zum viertenmal an.
Fürſt Poloſſow führte mich hin, die dickſte Perle,
die ſie bis jetzt gefiſcht hat. Sein Haar iſt vor
Vergnügen wieder dunkelblond geworden.
Finden Sie ſie ſo fabelhaft?
Wer will das beurteilen.
Ich glaube, es hat geklopft.
Entſchuldigen Sie mich einen Augenblick.
zur Thür und öffnet.)
Du darfſt ihn getroſt etwas ungenirter an-
lächeln.
Dem macht das nichts.
Und wenn! — Wir ſind ja da!
[30]
Dritter Auftritt.
Darf man eintreten?
Mein Sohn.
Herr Alwa!
Kommen Sie nur.
Herr Medizinalrat …
Seh ich recht? — Wenn ich Sie doch für meine
Hauptrolle engagiren könnte!
Ich würde für Ihr Stück kaum gut genug tanzen.
Sie haben einen Tanzlehrer, wie man ihn an
keiner Bühne Europas findet!
Was gäbe ich dafür, einmal auf der Bühne
tanzen zu dürfen.
[31]
Was führt dich denn hierher?
Sie laſſen hier wol auch ins geheim jemand
porträtiren?
Ich wollte dich zur Generalprobe abholen.
Laſſen Sie heute ſchon in vollem Koſtüm tanzen?
Verſteht ſich. Kommen Sie mit. In fünf
Minuten muß ich auf der Bühne ſein.
Ich
Unglücklicher!
Ich habe ganz vergeſſen — wie nennt ſich doch
Ihr Ballett?
Dalailama.
Ich glaubte, der wäre im Irrenhaus.
Sie meinen Niemeier.
[32]
Sie haben recht. Ich verwechsle die Beiden.
Ich habe dem Buddhismus auf die Beine ge-
holfen.
An den Beinen erkennt man den Bühnendichter.
Die Corticelli tanzt den jugendlichen Buddah
als hätte ſie am Ganges das Licht der Welt erblickt.
Solang die Mutter noch lebte tanzte ſie mit
den Füßen …
Solange ſie frei war, tanzte ſie mit Verſtand …
Jetzt tanzt ſie mit dem Herzen.
Wenn Sie ſie ſehen wollen?
Danke.
Kommen Sie doch mit!
[33]
Unmöglich.
Wir haben übrigens keine Zeit zu verlieren.
Kommen Sie mit, Herr Medizinalrat. Im
dritten Akt ſehen Sie Dalailama in ſeinem Kloſter,
mit ſeinen Mönchen …
Mir wäre es nur um den jugendlichen Buddah
zu thun.
Was hindert Sie denn?
Es geht nicht. Es geht nicht.
Wir gehen nachher zu Peters. Da können Sie
Ihrer Bewunderung Ausdruck geben.
Sie kommt zu Peters?
Die Corticelli?
Dringen Sie nicht weiter in mich. Ich bitte Sie.
Wedekind, Der Erdgeiſt. 3
[34]
Sie ſehen die zahmen Affen, die beiden Bra-
manen, die kleinen Mädchen …
Bleiben Sie mir mit den kleinen Mädchen vom
Halſe!
Reſerviren Sie uns eine Proſceniumsloge auf
Montag.
Wie konnten gnädige Frau daran zweifeln.
Wenn ich zurückkomme, hat mir der Höllen-
Breugel das Bild verpatzt.
Das wäre kein Unglück. Das läßt ſich über-
malen.
Ich halte Ihre Befürchtungen für unbegründet.
Wenn man dem Caravacci nicht jeden Pinſel-
ſtrich explizirt …
Es wäre ein Kunſtſtück, ihn auf ſeiner Sternen-
bahn zu beirren.
[35]
Das nächſte Mal, meine Herren.
Die Bramanen werden ungeduldig. Die Töchter
Nirvanas ſchlottern in ihren Tricots.
Verdammte Klexerei!
Man wird uns auszanken, daß wir Sie nicht
mitbringen.
In fünf Minuten bin ich zurück.
vorn hinter Schwarz und vergleicht das Bild mit Lulu.)
Mich ruft die Pflicht, gnädige Frau.
Sie müſſen hier ein wenig mehr modelliren.
Das Haar iſt ſchlecht. Sie ſind nicht genug bei
der Sache …
Kommen Sie.
Nun nur ſchnell. Zu Peters bringen mich
keine zehn Pferde.
Wir nehmen meinen Wagen, der unten ſteht.
3*
[36]
Dierter Auftritt.
Pack! — Wäre doch das Leben zu Ende! —
Der Brotkorb! — Brotkorb und Maulkorb! —
Jetzt bäumt ſich mein Künſtlerſtolz.
auf Lulu.)
Dieſe Geſellſchaft! —
links hinten, betrachtet Lulu von allen Seiten, ſetzt ſich wieder an
die Staffelei.)
Die Wahl würde einem ſchwer. — —
Wenn ich Frau Obermedizinalrat erſuchen darf, die
rechte Hand etwas höher.
Wer hätte das für möglich gehalten!
Ich bin wol recht lächerlich?
Er kommt gleich zurück.
Ich kann nicht mehr thun als malen.
Da iſt er.
Nun?
[37]
Hören Sie nicht?
Es kommt jemand …
Ich wußte es ja.
Es iſt der Hausmeiſter. Er putzt die Treppe.
Gott ſei Dank.
Sie begleiten Herrn Obermedizinalrat auf ſeine
Praxis?
Das fehlte noch.
Weil Sie es nicht gewohnt ſind, allein zu ſein.
Wir haben eine Haushälterin.
Die Ihnen Geſellſchaft leiſtet?
Sie hat viel Geſchmack.
[38]
Wofür?
Sie zieht mich an.
Sie gehen viel auf Bälle?
Nie.
Wozu dann die Toiletten?
Zum Tanzen.
Sie tanzen wirklich?
Cſardas — Samaqueca — Skirtdance …
Widert Sie denn das nicht an?
Sie finden mich häßlich?
Sie verſtehen mich nicht. — Wer giebt Ihnen
denn den Unterricht?
[39]
Er.
Wer?
Er.
Er?
Er ſpielt Violine. — — —
Man lernt jeden Tag ein neues Stück Welt
kennen.
Ich habe in Paris gelernt.
Erzählen Sie mir ein wenig von Paris.
Dieſen Winter gehen wir wieder hin.
Ihr Bild wird beſſer, wenn Sie erzählen.
Jeden Abend ſah ich eine andere Tänzerin,
weiß der Himmel auf welchem Theater, und hätte
es dann immer auch gleich können ſollen.
Man muß auch viel Elend in Paris ſehen.
[40]
Wir fuhren nur nachts aus.
Den Tag haben Sie verſchlafen?
Tags über war er in der Ecole de Médecine.
Ich ſaß am Feuer und rauchte.
Dann haben Sie ſozuſagen nichts von dem
eigentlichen Paris kennen gelernt.
Ich nahm Stunden bei Eugenie Fougère. Sie
hat mich auch Koſtüme kopieren laſſen.
Wie ſind denn die?
Grünes Spitzenröckchen bis zum Knie, ganz in
Volants, dekolletirt natürlich, ſehr dekolletirt und
fürchterlich geſchnürt. Hellgrüner Unterrock, dann
immer heller. Schneeweiße Deſſous mit handbreiten
Spitzen …
Ich kann nicht mehr …
[41]
Malen Sie.
Ein Seelenabwürgen!
Ich bitte Sie drum.
Die Beleuchtung hat ſich geändert.
Die können Sie regulieren.
Ich muß alles wegkratzen, was ich jetzt male.
Was macht denn das.
Ich verderbe das Bild.
Was macht denn das.
Was das macht?
Er ſieht nach, wie weit Sie ſind.
[42]
Iſt Ihnen denn nicht kalt?
Nein.
Das wäre für mich eine Erſparnis von hundert
Mark monatlich.
Iſt Ihnen ſo kalt?
Heute nicht.
Man kann atmen.
Wieſo …
Laſſen Sie das bitte! —
und Palette weg, geht auf und nieder.)
Der Stiefelputzer
hat es wenigſtens nur mit den Füßen zu thun.
Die Farbe frißt ihm auch nicht ins Geld. Wenn
mir morgen das Abendbrot fehlt, fragt mich kein
Weltdämchen, ob ich mich auf Auſtern verſtehe.
Der Unhold!
[43]
Was jagt den Kerl auch in dieſe Probe!
Mir wäre es auch lieber, er wäre dageblieben.
Wir ſind die Märtyrer unſeres Berufes.
Ich wollte Ihnen nicht weh thun.
Ich ſehe Irrlichter …
Um Gottes Barmherzigkeit willen, malen Sie!
Wenn mir die Farben vor den Augen tanzen …
Dann thun ſie wenigſtens ſo.
Wenn Sie links — das Beinkleid — ein wenig
höher …
Hier?
Erlauben Sie …
Was wollen Sie?
[44]
Ich zeige es Ihnen.
Es geht nicht.
Sie ſind nervös …
Laſſen Sie mich in Ruhe!
Sie ſind ungebärdig.
Sie bekommen mich noch lange nicht.
Sie verſtehen keinen Scherz.
Doch ich verſtehe alles. Laſſen Sie mich nur
frei. Mit Gewalt erreichen Sie gar nichts bei mir.
Ich bitte Sie um Verzeihung.
Gehen Sie an Ihre Arbeit.
So war es nicht gemeint.
Sie haben kein Recht, mich zu beläſtigen.
[45]
Ich muß Ihnen Ihre Stellung zeigen.
Setzen Sie ſich erſt hinter Ihre Staffelei.
Sobald ich Sie beſtraft habe.
Dazu müſſen Sie mich erſt haben.
Dann lernen Sie mich aber kennen.
Wiſſen Sie das?
Gus-gus …
Sie ſollen was erleben!
Da-da-da-da!
Warten Sie!
Gehen Sie an Ihre Arbeit. Sie erwiſchen
mich doch nicht.
Seien Sie auf der Hut.
[46]
In langen Kleidern wäre ich Ihnen längſt
verfallen …
Sie Kindskopf!
Aber in dem Pierrot!
Habe ich dich!
Gute Nacht!
Trittleiter.)
Ich ſehe über alle Städte der Erde weg …
Dieſer Balg!
Ich greife in den Himmel und ſtecke mir die
Sterne ins Haar.
Ich ſchüttle, bis Sie herunterfallen.
Wenn Sie nicht aufhören, werfe ich die Leiter um.
Kapitulieren Sie!
Ich trete Ihnen das Gehirn ein.
[47]
Treten Sie nur.
Werden Sie meine Beine loslaſſen.
Flehen Sie um Gnade.
Gott ſchütze Polen!
auf das Podium und wirft Schwarz, wie er ſich vom Boden aufrafft,
die ſpaniſche Wand an den Kopf. Nach vorn eilend)
Die Himmels-
kinder jagen über das Schlachtfeld.
Bleiben Sie nur um Gottes willen von den
Bildern weg.
Ich habe Ihnen ja geſagt, daß Sie mich nicht
bekommen.
Laſſen Sie uns Frieden ſchließen.
Bleiben Sie mir vom Leib, oder …
ihm die Staffelei mit dem Bruſtbild entgegen, daß beides krachend
zu Boden ſtürzt.)
Unſelige!
Das Loch haben Sie ſelber hineingeſchlagen.
[48]
Zehn Wochen Arbeit, meine Reiſe, meine Aus-
ſtellung. — Jetzt iſt nichts mehr zu verlieren.
kommt über das Podium nach vorn).
Ein Graben! — Fallen Sie nicht hinein!
Sie hat einen neuen Menſchen
aus ihm gemacht!
Aus mir wird ein neuer Menſch!
— Sie haben mir drei Rippen gebrochen.
Ich kenne kein Erbarmen mehr.
Laſſen Sie mich jetzt in Ruhe. — Mir wird
ſchlecht. — — O Gott, o gott …
und ſinkt auf die Ottomane.)
Ich ſoll mir als Hintergrund eine Gaisblatt-
laube denken.
deckt ſie mit Küſſen, hält inne; man ſieht ihm an, daß er einen
inneren Kampf kämpft.)
Er kann zurückkommen.
[49]
Wie iſt dir?
Sturm.
Nellie …
Als wäre ich ins Waſſer gefallen …
Ich liebe dich.
Ich liebte einmal einen Studenten.
Nellie …
Mit vierundzwanzig Schmiſſen …
Ich liebe dich.
Ich ging zur Konfirmation.
Nellie!
Ich heiße nicht Nellie.
Ich heiße Lulu.
Wedekind, Der Erdgeiſt. 4
[50]
Ich würde dich Eva nennen.
Wiſſen Sie, wieviel Uhr es iſt?
Halb elf.
Du liebſt mich nicht.
Doch …
Es iſt fünf Minuten nach halb elf.
Unſere Franzöſiſchlehrerin liebte einen ver-
heirateten Paſtor.
Eva …
Wir ſchrieben ihr die glühendſten Briefe in ſeinem
Namen.
Gieb mir einen Kuß!
und fängt ſie auf).
Sie riechen nach Tabak.
[51]
Warum ſagſt du nicht Du?
Es würde unbehaglich.
Du verſtellſt dich!
Das hatte ich niemals nötig.
Du willſt mich nicht verſtehen.
Hm?
Dein Pierrot …
Er mißfällt Ihnen?
Er iſt eiferſüchtig …
Er verhätſchelt mich.
Wer?
Er!
Er ſieht dich tanzen.
4*
[52]
Hm …?
die Stirn fahrend)
Allmächtiger! Ich kenne die Welt nicht …
Bringen Sie mich nicht um!
Du haſt noch nie geliebt …!
Sie haben noch nie geliebt …!
Machen Sie auf!
Verſtecken Sie mich! O Gott, verſtecken Sie
mich!
Machen Sie auf!
Er ſchlägt mich tot.
Machen Sie auf!
[53]
Er ſchlägt mich tot. Er ſchlägt mich tot.
Stehen Sie auf …
Atelier.)
Fünfter Auftritt.
Schwarz und Lulu los).
Ihr Hunde! — Ihr …
Diele.)
Herr — Herr Medi — Herr Medizi — Herr
Medizinal — Herr Medizinalrat.
Bringen Sie erſt das Atelier in Ordnung.
Herr Obermedizinalrat.
Doch kein — Unglück?
[54]
Nein.
Herr …
Er blutet.
Er hat ſich die Stirne geritzt.
Helfen Sie mir, ihn auf die Ottomane legen.
Nein, nein.
Herr Medizinalrat. Herr Obermedizinalrat.
Er hört nicht.
Es iſt ein Schlaganfall. Helfen Sie mir doch
nur.
Wir heben ihn zu zweit ebenſowenig.
Man muß zum Arzt ſchicken.
Er iſt furchtbar ſchwer.
Seien Sie bitte ſo freundlich und richten Sie
die Stellagen ein wenig zurecht.
[55]
Sechſter Auftritt.
Auf einmal ſpringt er auf. —
Buſſi!
Schnuggel! — — Er läßt ſich nichts merken. —
Er hat mich überall im
Auge. —
Buſſi! —
Es iſt ihm ernſt. — — Der Tanz
iſt aus. — — Er läßt mich ſitzen. — — Was
fang’ ich an. — —
Ein wildfremdes Geſicht! —
Nie-
mand, der ihm den letzten Dienſt erweiſt. — Iſt
das troſtlos …
Siebenter Auftritt.
Noch nicht wieder zur Beſinnung gekommen?
Was fang’ ich an …
Herr Medizinalrat.
Ich glaube, es iſt ſchlimm.
[56]
Reden Sie doch anſtändig!
Er würde mir das nicht ſagen.
Ottomane deutend)
Geben Sie mir das Kiſſen dort.
Ich muß tanzen, wenn er ſich nicht wohl fühlt.
Der Arzt muß im Augenblick da ſein.
Arznei hilft ihm nicht.
Man thut, was man kann.
Er glaubt nicht daran.
Wollen Sie ſich denn nicht wenigſtens um-
ziehen?
Ja. —
Worauf warten Sie denn?
[57]
Ich bitte Sie …
Was …
Schließen Sie ihm die Augen.
Sie ſind entſetzlich.
Lange nicht ſo wie Sie!
Ich?
Sie ſind eine Verbrechernatur.
Rührt Sie denn dieſer Moment gar nicht?
Mich trifft es auch mal.
Ich bitte Sie, jetzt ſchweigen Sie endlich mal!
Sie trifft es auch mal.
Das brauchen Sie mir nicht erſt zu ſagen.
[58]
Ich bitte Sie …
Es wäre an Ihnen.
Er ſieht mich an.
Mich auch …
Sie ſind ein Feigling!
Es iſt das erſte Mal in meinem Leben.
Haben Sie es Ihrer Mutter nicht gethan?
Nein.
Sie waren auswärts?
Nein.
Sie fürchteten ſich?
Nein.
Ich wollte Sie nicht beleidigen.
[59]
Sie lebt noch.
Dann haben Sie doch noch jemand.
Sie iſt bettelarm.
Das kenne ich.
Spotten Sie nicht!
Jetzt bin ich reich …
Es iſt grauenerregend.
Was kann
ſie dafür!
Was fang’ ich an.
Vollkommen verwildert!
Sieh mir ins Auge.
Was wollen Sie …
[60]
nehmen).
Sieh mir in die Augen!
Ich ſehe mich als Pierrot darin.
Verwünſchte Tanzerei!
Ich muß mich umziehen …
Eine Frage …
Ich darf ja nicht antworten.
Kannſt du die Wahrheit ſagen?
Ich weiß es nicht.
Glaubſt du an einen Schöpfer?
Ich weiß es nicht.
Kannſt du bei etwas ſchwören?
[61]
Ich weiß es nicht. Laſſen Sie mich. Sie ſind
verrückt.
Woran glaubſt du denn?
Ich weiß es nicht.
Haſt du denn keine Seele?
Ich weiß es nicht.
Haſt du ſchon mal geliebt —?
Ich weiß es nicht.
Sie weiß es nicht!
Ich weiß es nicht.
Er weiß es …
Was wollen Sie wiſſen?
Geh, zieh dich an!
[62]
Achter Auftritt.
Ich möchte tauſchen mit dir. Ich gebe ſie dir
zurück. Ich gebe dir meine Jugend dazu. Mir
fehlt der Mut und der Glaube. Ich habe mich
zu lange gedulden müſſen. Es iſt zu ſpät für mich.
Ich bin dem Glück nicht gewachſen. Ich habe eine
hölliſche Angſt davor. Wach auf. Ich habe ſie
nicht angerührt. Er öffnet den Mund. Mund auf
und Augen zu, wie die Kinder. Bei mir iſt es
umgekehrt. Wach auf! Wach auf!
bindet ihm ſein Taſchentuch um den Kopf.)
Hier flehe ich zum
Himmel, er möge mich befähigen glücklich zu ſein.
Er möge mir die Kraft geben und die Herrlichkeit,
nur ein klein wenig glücklich zu ſein. Um ihret-
willen, einzig um ihretwillen.
Neunter Auftritt.
auf, die rechte Hand unter der linken Achſel; zu Schwarz, den linken
Arm hebend)
Würden Sie mich hier zuhaken. Meine Hand
zittert.
[[63]]
Zweiter Aufzug.
[[64]]
Zweiter Aufzug.
und links Portieren. Zu der rechts, führen einige Stufen hinan.
An der Hinterwand über dem Kamin in prachtvollen Brokatrahmen
Lulus Bild als Pierrot. Rechts ein hoher Spiegel. Davor eine
Chaiſelongue. Links ein Schreibtiſch in Ebenholz. In der Mitte
einige Seſſel um ein chineſiſches Tiſchchen.
Erſter Auftritt.
runzelt die Stirn, fährt mit der Hand darüber, befühlt ihre Wangen,
trennt ſich vom Spiegel mit einem mißmutigen, halb zornigen Blick,
geht nach links, ſich mehrmals umwendend, öffnet auf dem Schreib-
tiſch eine Schatulle, zündet ſich eine Cigarette an, ſucht unter den
Büchern, die auf dem Tiſch liegen, nimmt eines zur Hand, legt ſich
auf die Chaiſelongue, dem Spiegel gegenüber, läßt, nachdem ſie einen
Moment geleſen, das Buch ſinken, nickt ſich ernſthaft zu, nimmt die
Lektüre wieder auf.
beugt ſich über Lulu, küßt ſie auf die Stirn, geht nach rechts die
Stufen hinan, wendet ſich in der Portiere um).
Eva!
Befehlen?
Wedekind, Der Erdgeiſt. 5
[66]
Ich finde, du ſiehſt heute außerordentlich reizend
aus.
Es kommt auf die Anſprüche an.
Dein Haar atmet eine Morgenfriſche …
Ich komme aus dem Waſſer.
Ich habe heute furchtbar zu thun.
Das redeſt du dir ein.
auf den Rand der Chaiſelongue).
Was lieſt du denn da?
Plötzlich hörte ſie einen Rettungsanker die
Treppe heraufwinken.
Wer in aller Welt ſchreibt denn ſo ergreifend?
Es war der Geldbriefträger.
[67]
Tablette mit Briefen auf den Tiſch).
Die Poſt. — Ich gehe, der Putzmacherin den
Hut bringen. Haben gnädige Frau noch etwas zu
befehlen?
Nichts.
Was haſt du vergangene Nacht denn alles ge-
träumt?
Das haſt du mich doch ſchon gefragt heute.
Ich zittere vor Neuigkeiten. Ich fürchte jeden
Tag, die Welt könnte untergehen.
rückgekehrt, Lulu einen Brief gebend.)
An dich.
Die Corticelli.
Meine Samaquecatänzerin verkauft — für
50000 Mark!
Wer ſchreibt denn das?
5*
[68]
Gundermann in Paris. Das iſt das dritte Bild
ſeit unſerer Verheiratung. Ich weiß mich vor
meinem Glück kaum zu retten.
Da kommt noch mehr.
Sieh da!
Herr Regierungsrat Heinrich Ritter von Zar-
nickow beehrt ſich, Ihnen von der Verlobung ſeiner
Tochter Charlotte Marie Adelaide mit Herrn Dr.
Ludwig Schön ergebenſte Mitteilung zu machen.
Endlich! Es iſt ja eine Ewigkeit, daß er darauf
losſteuert, ſich vor der Welt zu verloben. Ich be-
greife nicht, ein Mann von ſeinem Einfluß. Was
ſteht denn der Heirat im Wege.
Was iſt das?
Eine Einladung, mich an der Ausſtellung in
Petersburg zu beteiligen. — Ich weiß nicht, was
ich malen ſoll.
[69]
Ein hübſches Mädchen natürlich.
Wenn du Modell ſtehen willſt?
Es giebt doch weiß Gott hübſche Mädchen genug.
Für zehn Mark den Vormittag.
Du weißt nicht was du ſagſt. Wenn man eben
ein Bild für Fünfzigtauſend verkauft hat.
Zu dem du geſtanden. Ich gelange einem andern
Modell gegenüber, und wenn es pikant wie die
Hölle iſt, nicht zu dieſer vollen Ausbeutung meines
Könnens.
Ich muß ja wohl. — Ginge es denn nicht
liegend?
Am liebſten möchte ich das wirklich deinem Ge-
ſchmack, ganz und gar dir überlaſſen.
ſammenfaltend.)
Daß wir nicht vergeſſen, Schön jeden-
falls heute noch zu gratuliren.
ſchließt die Briefe in den Schreibtiſch.)
[70]
Das haben wir doch längſt gethan.
Seiner Braut wegen.
Du kannſt es ihm ja noch einmal ſchreiben.
Und jetzt zur Arbeit.
küßt Lulu, geht rechts die Stufen hinan, wendet ſich in der Portiere
um.)
Eva!
Befehlen?
Mir iſt täglich als ſähe ich dich zum aller-
erſtenmal.
Du biſt ſchrecklich.
Du trägſt die Schuld.
Du vergeudeſt mich.
Du biſt ja mein.
Ich erzähle dir was.
[71]
O Gott, nur keine Überraſchung!
Eva!
Eva, Eva! Das Einzige, was unſerem Himmel
noch fehlte!
Es iſt dein Werk.
Danke, tauſend Dank! Jetzt weiß ich doch, wo-
für ich arbeite, wofür ich auf der Welt bin.
Du biſt herzlos.
Schäm dich doch. Wofür iſt mein Name in
ganz Europa bekannt!
Und ich?
Aber dir danke ich es. Meine Schaffensfreude,
mein Selbſtvertrauen danke ich dir. Und mehr braucht
es nicht, das habe ich erfahren, um es in der Welt
zu etwas zu bringen.
[72]
Ich möchte ein wenig auf die Veranda.
Ich bin Künſtler. Das muß mich bei dir ent-
ſchuldigen.
Weswegen?
Und du biſt auch nie beſtrickender, als wenn du
um Gottes willen einmal ein paar Stunden recht
häßlich ſein ſollteſt!
Ich werde mir eine Flaſche Kupfervitriol übers
Geſicht gießen.
Ich ſperre dir das Köpfchen in eine eiſerne
Maske, zu der ich den Schlüſſel führe. Da kann
ich dann aufſchließen, wann ich will.
Und wenn ich dich dann mit eiſernen Lippen küſſe?
Dann iſt es aus mit mir. — Wo ſoll das hin.
— Ich habe nichts mehr, ſeit ich dich habe. — Ich
bin mir vollſtändig abhanden gekommen …
Nicht ſo aufgeregt!
[73]
Verwünſcht.
Niemand zu Hauſe!
Vielleicht iſt es der Kunſthändler …
Und wenn es der Kaiſer von China iſt.
Einen Moment.
— Du? — du? —
Ein Bettler, der den Feldzug mitgemacht haben
will. Ich habe kein klein Geld bei mir.
Palette aufnehmend.)
Es iſt die höchſte Zeit, daß ich
endlich an die Arbeit gehe.
zurück und geht hinaus).
[74]
Zweiter Auftritt.
Ich hatte ihn mir etwas chevaleresker gedacht;
ein wenig mehr Nymbus. Er iſt etwas verlegen.
Er brach ein wenig in die Knie, als er mich vor
ſich ſah.
Wie kannſt du ihn auch anbetteln.
Deswegen habe ich meine ſiebenundſiebzig Lenze
nämlich hergeſchleppt. Du ſagteſt mir, er halte
ſich morgens an ſeine Malerei.
Er hatte noch nicht ausgeſchlafen. Wieviel
brauchſt du?
Zweihundert, wenn du ſo viel flüſſig haſt;
meinetwegen dreihundert. Es ſind mir einige
Klienten verduftet.
Bin ich müde!
Das hat mich nämlich auch bewogen. Ich hätte
lange gerne geſehen, wie es jetzt ſo bei dir zu Hauſe
ausſieht.
[75]
Nun?
Es überläuft Einen.
Wie bei mir
vor fünfzig Jahren. Statt der chineſiſchen Bumme-
lagen hatte man damals noch alte verroſtete Säbel.
Den Teufel noch mal, du haſt es weitgebracht.
Die Teppiche …
Ich gehe am liebſten barfuß darauf.
Das biſt du?
Fein?
Wenn das alles Gutes iſt.
Einen Süßen?
Was denn?
Elixir de Spaa.
Hilft nichts! — Trinkt er?
und Gläſer).
Noch nicht.
Das Labſal wirkt
ſo verſchieden!
[76]
Er ſchlägt aus?
Er ſchläft ein.
Wenn er betrunken iſt, kannſt du ihm auf’s
Eingeweide ſehen.
Lieber nicht.
Erzähl’
mir.
Die Straßen werden immer länger, und die
Beine immer kürzer.
Und deine Harmonika?
Hat falſche Luft, wie ich mit meinem Aſthma.
Ich denke nur immer, das Ausbeſſern iſt nicht mehr
der Mühe wert.
Ich glaubte ſchon, du wäreſt am Ende …
Das glaubte ich auch ſchon. Aber wenn ſo
erſt die Sonne hinunter iſt, dann läßt es Einen
doch noch nicht ruhen. Ich hoffe auf den Winter.
Da wird
mein — mein — mein Aſthma
wol eine Fahrgelegenheit ausfindig zu machen wiſſen.
[77]
Du meinſt, man könnte dich vergeſſen haben.
Wär’ ſchon möglich, weil es ja nicht der Reihe
nach geht.
Nun erzähl’ du mal
— lange nicht geſehen — meine kleine Lulu.
Das Leben iſt doch unfaßlich!
Du biſt noch ſo jung.
Daß du mich Lulu nennſt.
Lulu, nicht? Habe ich dich jemals anders ge-
nannt?
Ich heiße ſeit Menſchengedenken nicht mehr ſo.
Eine andere Benennungsweiſe?
Lulu klingt mir ganz vorſündflutlich.
Kinder! Kinder!
Ich heiße jetzt …
[78]
Als bliebe das Princip nicht das gleiche!
Du meinſt?
Wie heißt es jetzt?
Eva.
Gehupft wie geſprungen!
Ich höre darauf.
So habe ich es für dich geträumt. Du biſt
darauf angelegt. Was ſoll denn das?
Heliotrop.
Riecht das beſſer als du?
Saure Trauben!
Wer hätte den königlichen Luxus vorausgeſehen.
Wenn ich denke …
[79]
Wie geht’s dir denn? Treibſt du immer noch
Franzöſiſch?
Ich liege und ſchlafe.
Das iſt vornehm. Das ſieht immer nach ſo was
aus. Und weiter?
Und ſtrecke mich — bis es knackt.
Und wenn es geknackt hat?
Was intereſſiert dich das!
Was mich das intereſſiert? Was mich das
intereſſiert? Ich wollte lieber bis zur jüngſten
Poſaune leben und auf alle himmliſchen Freuden
Verzicht leiſten, als meine Lulu hinieden in Kon-
flikten laſſen. Was mich das intereſſiert? Es iſt
mein Mitgefühl. Ich bin ja mit meinem beſſeren
Ich ſchon verklärt. Aber ich habe noch das Ver-
ſtändnis für dieſe Welt.
Ich nicht.
[80]
Dir iſt zu wohl.
Blödſinnig …
Wohler als bei dem alten Tanzbär?
Ich tanze nicht mehr …
Für den war es auch Zeit.
Jetzt bin ich …
Sprich, wie es dir ums Herz iſt, mein Kind!
Ich hatte Vertrauen in dich, als noch nichts an dir
zu ſehen war als deine zwei großen Augen.
Ein Tier …
Daß dich der! — Und was für ein Tier! —
Ein feines Tier! — Ein elegantes Tier! — Ein
Prachtstier! — — — Dann will ich mich man bei-
ſetzen laſſen. — Mit den Vorurteilen ſind wir fertig.
Auch mit dem gegen die — die …
[81]
Die Wäſcherin? — Du haſt nicht zu fürchten,
daß du noch mal gewaſchen wirſt!
Man wird doch wieder ſchmutzig.
Es würde dich noch mal ins Leben zurückrufen.
Wir ſind Moder.
Bitte recht ſchön! Ich reibe mich mit Kamm-
fett ein und dann Puder darauf.
Auch wol der Mühe wert, der Zierbengel wegen.
Das macht die Haut wie Satin.
Als wäre es deswegen nicht auch nur — hm.
Ich will zum Anbeißen ſein.
Sind wir auch. Geben nächſtens ein großes
Diner. Halten offene Tafel.
Wedekind, Der Erdgeiſt. 6
[82]
Deine Gäſte werden ſich kaum übereſſen.
Geduld Mädchen! Dich ſetzen deine Verehrer
auch nicht in Weingeiſt. Das heißt ſchöne Melu-
ſine, ſolang es ſeine Schwungkraft behält. Nachher?
Man nimmt’s im zoologiſchen Garten nicht.
erhebend)
Die holden Beſtien bekämen Aufſtoßen.
Haſt du auch genug?
Es bleibt noch was, um mir eine Terebinthe
aufs Grab zu pflanzen. — Ich finde ſelber hinaus.
Dritter Auftritt.
Was thut denn Ihr Vater hier?
Was haben Sie?
[83]
Wenn ich Ihr Mann wäre, käme mir der Zopf
nicht über die Schwelle.
Warum ſagen Sie denn Sie zu mir?
Weil es — weil ſich das doch wol von ſelbſt
verſteht.
Ich verſtehe nicht.
Das weiß ich.
Darüber
möchte ich nämlich gerne mit Ihnen ſprechen.
Warum haben Sie mir denn das nicht geſtern
geſagt?
Bitte jetzt nichts von geſtern. Ich habe es Ihnen
vor zwei Jahren ſchon geſagt.
Ach ſo. Hm.
Ich bitte dich, deine Beſuche bei mir einzu-
ſtellen.
Darf ich Ihnen ein Elixir …
Danke. Kein Elixir. Haben Sie mich verſtanden?
6*
[84]
Gut. Sie haben die Wahl. — Sie zwingen
mich zu den äußerſten Mitteln — entweder ſich
Ihrer Stellung angemeſſen zu benehmen …
Oder?
Oder — Sie zwingen mich — ich müßte mich
an diejenige Perſönlichkeit wenden, die für Ihre
Aufführung verantwortlich iſt.
Wie ſtellen Sie ſich das vor?
Ich erſuche Ihren Mann, Ihre Wege ſelber zu
überwachen.
Wo wollen Sie denn hin?
Walter!
Biſt du verrückt?!
Aha.
[85]
Ich mache die übermenſchlichſten Anſtrengungen,
um dich in der Geſellſchaft zu erhöhen. Auf deinen
Namen kannſt du zehnmal ſtolzer ſein, als auf
meine Vertraulichkeit …
um den Hals).
Was fürchten Sie jetzt noch, wo Sie am Ziel
Ihrer Wünſche ſind?
Keine Komödie! Am Ziel meiner Wünſche?
Ich habe mich verlobt, endlich. Ich habe jetzt den
Wunſch, meine Braut unter ein reines Dach zu
führen.
Sie iſt zum Entzücken aufgeblüht in den zwei
Jahren.
Sie ſieht Einem nicht mehr ſo ernſthaft durch
den Kopf.
Sie iſt jetzt erſt ganz Weib. Wir können ein-
ander treffen, wo es Ihnen angemeſſen ſcheint.
Wir werden einander nirgends treffen, es ſei
denn in Geſellſchaft Ihres Mannes!
[86]
Sie glauben ſelber nicht an das, was Sie ſagen.
Dann muß doch Er daran glauben. Ruf’ ihn
nur. Durch ſeine Verheiratung mit dir, durch das,
was ich für ihn gethan, iſt er mein Freund ge-
worden.
Meiner auch.
Dann werde ich mir das Schwert über dem
Kopf herunterſchneiden.
Sie haben mich ja an die Kette gelegt. Ihnen
verdanke ich doch mein Glück. Sie bekommen
Freunde die Menge, wenn Sie erſt wieder ver-
heiratet ſind.
Du beurteilſt die Frauen nach dir. Er iſt ein
Kindergemüt. Er wäre deinen Kabriolen ſonſt
längſt auf die Spur gekommen.
Ich wünſche gar nicht mehr! Er würde ſeine
Kinderſchuhe endlich ausziehen. Er pocht darauf,
daß er den Heiratskontrakt in der Taſche hat. Die
Mühe iſt überſtanden. Jetzt kann man ſich geben
[87] und ſich gehen laſſen, wie zu Hauſe. Er iſt kein
Kindergemüt. Er iſt banal. Er hat keine Er-
ziehung. Er ſieht nichts. Er ſieht mich nicht und
ſich nicht. Er iſt blind, blind, blind …
Wenn dem die Augen aufgehen!
Öffnen Sie ihm die Augen. Ich verkomme.
Ich vernachläſſige mich. Er kennt mich gar nicht.
Was bin ich ihm. Er nennt mich Schätzchen und
kleines Teufelchen. Er würde jeder Klavierlehrerin
das gleiche ſagen. Er erhebt keine Pretenſionen.
Alles iſt ihm recht. Das kommt, weil er nie in
ſeinem Leben das Bedürfnis gefühlt hat, mit
Frauen zu verkehren.
Ob das wahr iſt!
Er ſagt es ja ganz offen.
Jemand, der ſeit ſeinem vierzehnten Jahr alles
Erdenkliche porträtirt.
Er hat Angſt vor Frauen. Er bebt für ſein
Heil. Mich fürchtet er nicht!
[88]
Wie manches Mädchen, würde ſich in deinem
Fall Gott weiß wie ſelig preiſen.
Verführen Sie ihn. Sie verſtehen ſich darauf.
Bringen Sie ihn in luſtige Geſellſchaft. Sie haben
die Bekanntſchaften. Ich bin ihm nichts als Weib
und wieder Weib. Ich fühle mich ſo blamirt. Er
wird ſtolzer auf mich ſein. Er erlegt ſich etwas
mehr Beherrſchung auf. Er kennt keinen Unter-
ſchied. Ich denke mir das Hirn aus, Tag und
Nacht, ihn aufzurütteln. In meiner Verzweiflung
tanze ich Cancan. Er gähnt und mault etwas von
Obscönität.
Unſinn. Er iſt doch Künſtler.
Er glaubt es wenigſtens zu ſein.
Das iſt ſchon die Hauptſache!
Wenn ich mich als Modell hinſtelle. Er glaubt
auch, er ſei ein berühmter Mann.
Dazu haben wir ihn auch gemacht.
[89]
Er glaubt alles. Er iſt mißtrauiſch, wie ein
Dieb und läßt ſich anlügen, daß man jeden Reſpekt
verliert. Als wir uns kennen lernten, machte ich
ihm weis, ich hätte noch nie geliebt …
Er hätte mich ja ſonſt für ein verworfenes
Geſchöpf gehalten!
— Du ſtellſt weiß Gott was für exorbitante
Anforderungen an legitime Verhältniſſe.
Ich ſtelle keine exorbitanten Anforderungen. —
Oſt träumt mir noch von Goll.
Der war nicht banal.
Er iſt da, als wär’ er nie fortgeweſen. Nur
geht er wie auf Socken. Er iſt mir nicht böſe
Er iſt furchtbar traurig. Und dann iſt er furcht-
ſam, als wäre er ohne polizeiliche Erlaubnis da.
Sonſt fühlt er ſich behaglich mit uns. Nur kommt
er nicht darüber hinweg, daß ich ſeither ſo viel Geld
zum Fenſter hinausgeworfen habe …
[90]
Du ſehnſt dich nach der Peitſche zurück!
Ich tanze nicht mehr.
Erzieh’ ihn dir.
Verlorne Müh’!
Unter hundert Frauen ſind neunzig, die ſich
ihre Männer erziehen.
Er liebt mich.
Das iſt fatal.
Er liebt mich …
Das iſt eine unüberbrückbare Kluft.
Er kennt mich nicht, aber er liebt mich! Hätte
er nur eine vage Vorſtellung von mir, er würde
mir einen Stein an den Hals binden und mich
im Meer verſenken, wo es am tiefſten iſt.
Kommen wir zu Ende.
[91]
Wie Ihnen beliebt.
Ich habe dich verheiratet. Ich habe dich zwei-
mal verheiratet. Du lebſt im Luxus. Ich habe
deinem Mann eine Poſition geſchaffen. Wenn dir
das nicht genügt und er ſich dazu ins Fäuſtchen
lacht, ich trage mich nicht mit idealen Forderungen.
Aber laß mich dabei aus dem Spiel!
Wenn ich einem Menſchen auf dieſer Welt an-
gehöre, gehöre ich Ihnen. Ohne Sie wäre ich —
ich will nicht ſagen wo. Sie haben mich bei der
Hand genommen, mir zu eſſen gegeben, mich kleiden
laſſen, als ich Ihnen die Uhr ſtehlen wollte. Glauben
Sie, das vergißt ſich? Jeder andere hätte den
Schutzmann gerufen. Sie haben mich zur Schule
geſchickt und mich Lebensart lernen laſſen. Was
ſind mir die Kinderſeelen! Ich laſſe mich auf ihre
Albernheiten ein, weil das meine Pflicht iſt. Wer
außer Ihnen auf der weiten Welt hat je etwas
für mich übrig gehabt? Ich habe getanzt und
Modell geſtanden und war ſelber froh, mich für
meinen Lebensunterhalt quittiren zu können. Aber
auf Kommando lieben, das kann ich nicht.
[92]
Laß mich aus dem Spiel! Thu’ was du willſt
Ich komme nicht, um Skandal zu machen. Ich
komme, um mir den Skandal vom Halſe zu ſchaffen.
Meine Verbindung koſtet mich Opfer genug! Ich
hatte vorausgeſetzt, mit einem geſunden jungen
Mann, wie ihn ſich eine Frau in deinem Alter
nicht beſſer wünſchen kann, würdeſt du dich endlich
zufrieden geben. Wenn du mir verpflichtet biſt,
dann wirf dich mir nicht zum drittenmal in den
Weg. Soll ich denn noch länger warten, bis ich
mein Teil in Sicherheit bringe? Soll ich riskiren
daß mir der ganze Erfolg meiner Konzeſſionen nach
zwei Jahren wieder ins Waſſer fällt? Was hilft
mir dein Verheiratetſein, wenn man dich zu jeder
Stunde des Tages bei mir ein- und ausgehen ſieht?
Warum in aller Welt iſt Dr. Goll nicht auch wenig-
ſtens ein Jahr noch am Leben geblieben! Bei dem
warſt du in Verwahrung. Dann hätte ich meine
Frau längſt unter Dach!
Was hätten Sie dann! Das Kind fällt Ihnen
auf die Nerven. Das Kind iſt zu achtungswert
für Sie. Das Kind iſt viel zu ſorgfältig erzogen.
Was kann ich mit Ihrer Verheiratung zu thun
haben. Aber Sie täuſchen ſich über ſich ſelber,
[93] wenn Sie glauben, mir Ihres glücklichen Erfolges
wegen Ihre Verachtung zum Ausdruck geben zu
können!
Verachtung? Ich werde dem Kind ſchon die
richtige Façon geben! Wenn etwas verachtenswert
iſt, ſo ſind es deine Intriguen!
Bin ich auf das Kind eiferſüchtig? Das kann
mir doch nicht einfallen …
Das Kind! Das Kind iſt auf den Tag ein
Jahr jünger als du. Laß mir meine Freiheit, zu
leben, was ich noch zu leben habe! Sei das Kind
erzogen, wie es will, das Kind hat ſeine fünf
Sinne …
Vierter Auftritt.
Was iſt denn los?
Nun?
[94]
Was habt ihr denn?
Nichts was dich betrifft …
Ruhig!
Man hat mich ſatt.
Es mußte zur Sprache kommen. — — Ich
muß reine Bahn ſchaffen.
Iſt denn das eine Art zu ſcherzen?
Bitte.
Was iſt denn?
Bitte.
Nun?
Du haſt eine halbe Million geheiratet.
Iſt ſie weg?
Nicht ein Pfennig.
[95]
Erklär’ mir den eigentümlichen Auftritt.
Du haſt eine halbe Million geheiratet …
Daraus kann man mir kein Verbrechen machen.
Du haſt dir einen Namen geſchaffen. Du
kannſt unbehelligt arbeiten. Du brauchſt dir keinen
Wunſch zu verſagen.
Was habt ihr gegen mich?
Seit ſechs Monaten ſchwegſt du in allen Himmeln.
Du haſt eine Frau, um deren Vorzüge die Welt
dich beneidet und die einen Mann verdient, den
ſie achten kann.
Achtet ſie mich nicht?
Nein.
— Ich komme aus den düſtren Tiefen der
Geſellſchaft. Sie iſt von oben her. Ich hege keinen
heißeren Wunſch, als ihr ebenbürtig zu werden.
Ich danke dir.
[96]
Bitte, bitte.
Sprich.
Nimm ſie etwas mehr unter Aufſicht.
Ich — ſie?
Wir ſind keine Kinder. Wir tändeln nicht.
Wir leben. Sie fordert ernſt genommen zu werden.
Ihr Wert giebt ihr das volle Recht dazu.
Was thut ſie denn?
Du haſt eine halbe Million geheiratet.
Sie …
Nein, das iſt der Weg nicht.
ſetzen.)
Wir haben hier ſehr ernſt mit einander zu
ſprechen.
Was thut ſie?!
Rechne dir erſt genau an den Fingern nach,
was du ihr zu verdanken haſt, und dann …
[97]
Was thut ſie — Menſch!!
Und dann mach dich für deinen Fehler ver-
antwortlich und nicht ſonſt jemand.
Mit wem?
Wenn wir uns ſchießen ſollen …
Seit wann?
— Ich komme nicht hierher, um Skandal zu
machen. Ich komme, um dich vor dem Skandal
zu retten.
— Du haſt ſie mißverſtanden.
Damit iſt mir nicht gedient. Ich kann dich ſo
nicht weiterleben ſehen. Das Mädchen verdient
eine anſtändige Frau zu ſein. Sie hat ſich, ſeit
ich ſie kenne, zu ihrem Beſſeren entwickelt.
Seit du ſie kennſt? — Seit wann kennſt du
ſie denn?
Wedekind, Der Erdgeiſt. 7
[98]
Seit ihrem zwölften Jahr.
Davon hat ſie mir nichts geſagt.
Sie verkaufte Blumen vor dem Alhambra-Café.
Sie drückte ſich barfuß zwiſchen den Gäſten durch,
jeden Abend zwiſchen zwölf und zwei.
Davon hat ſie mir nichts geſagt.
Daran hat ſie recht gethan. Ich ſage es, damit
du ſiehſt, daß du es nicht mit moraliſcher Ver-
kommenheit zu thun haſt. Das Mädchen iſt außer-
gewöhnlich gut veranlagt.
Sie ſagte, ſie ſei bei einer Tante aufgewachſen.
Das war die Frau, der ich ſie übergab. Sie
war die beſte Schülerin. Die Mütter ſtellten ſie
ihren Kindern als Vorbild hin. Sie beſitzt Pflicht-
gefühl. Es iſt einzig und allein dein Verſehen,
wenn du bis jetzt verſäumt haſt, ſie bei ihren
beſten Seiten zu nehmen.
[99]
O Gott …!
Kein o Gott. An dem Glück, das du gekoſtet,
kann nichts etwas ändern. Geſchehen iſt geſchehen.
Du überſchätzeſt dich gegen beſſeres Wiſſen, wenn
du dir einredeſt, zu verlieren. Es gilt zu ge-
winnen. Mit dem „O Gott“ iſt nichts gewonnen.
Einen größeren Freundſchaftsdienſt habe ich dir
noch nicht erwieſen. Ich ſpreche offen und biete
dir Rat und Hilfe. Zeig’ dich deſſen nicht unwürdig.
Als ich ſie kennen lernte, ſagte ſie mir, ſie
habe noch nie geliebt.
Wenn eine Witwe das ſagt! Ihr gereicht es
zur Ehre, daß ſie dich zum Manne gewählt. Stelle
die nämliche Anforderung an dich, und dein Glück
iſt makellos.
Er habe ſie kurze Kleider tragen laſſen.
Er hat ſie doch geheiratet! — Das war ihr
Meiſterſtreich. Wie ſie den Mann dazu gebracht,
iſt mir unfaßlich. Du mußt es jetzt wiſſen. Du
genießt die Früchte ihrer Diplomatie.
7*
[100]
Woher kannte Dr. Goll ſie denn?
Durch mich. Es war nach dem Tode meiner
Frau, als ich die erſten Beziehungen zu meiner
gegenwärtigen Verlobten anknüpfte. Sie ſtellte ſich
dazwiſchen. Sie hatte ſich in den Kopf geſetzt,
meine Frau zu werden.
Und als ihr Mann dann ſtarb?
— Du haſt eine halbe Million geheiratet.
Wär’ ich geblieben, wo ich war! Wär’ ich
Hunger geſtorben!
Glaubſt du denn, ich mache keine Zugeſtänd-
niſſe? Wer macht keine Zugeſtändniſſe? Du haſt
eine halbe Million geheiratet. Du biſt heute einer
der erſten Künſtler. Dazu kommt man nicht ohne
Geld. Du biſt nicht derjenige, um über ſie zu
Gericht zu ſitzen. Bei einer Herkunft, wie ſie
Mignon hat, kannſt du unmöglich mit den Begriffen
der bürgerlichen Geſellſchaft rechnen.
[101]
Von wem ſprichſt du denn?
Ich ſpreche von ihrem Vater. Du biſt Künſtler,
ſag’ ich. Du haſt eine halbe Million geheiratet.
Deine Ideale liegen auf einem anderen Gebiete,
als die eines Lohnarbeiters.
Ich verſtehe von alledem kein Wort.
Ich ſpreche von den menſchenunwürdigen Ver-
hältniſſen, aus denen ſich das Mädchen dank
ihrer Führung zu dem entwickelt hat, was ſie iſt.
Wer denn?
Deine Frau.
Eva.
Ich nannte ſie Mignon.
Ich meinte, ſie hieße Nellie.
So nannte ſie Dr. Goll.
[102]
Ich nannte ſie Eva …
Wie ſie eigentlich hieß, weiß ich nicht.
Sie weiß es vielleicht.
Bei einem Vater, wie ſie ihn hat, iſt ſie ja
bei allen Fehlern, das helle Wunder. Ich verſtehe
dich nicht …
Er iſt im Irrenhauſe geſtorben.
Er war ja eben hier!
Wer?
Ihr Vater.
Hier — bei mir?
Er drückte ſich, als ich kam. Da ſtehen noch
die Gläſer.
Sie ſagt, er ſei im Irrenhauſe geſtorben.
[103]
Laß ſie Autorität fühlen. Sie verlangt nicht
mehr, als unbedingt Gehorſam leiſten zn dürfen.
Bei Dr. Goll war ſie wie im Himmel und mit
dem war nicht ſcherzen.
Sie ſagte, ſie habe noch nie geliebt.
Aber mach’ mit dir ſelber den Anfang. Raff’
dich zuſammen.
Geſchworen hat ſie.
Du kannſt kein Pflichtgefühl fordern, bevor du
nicht deine eigene Aufgabe kennſt.
Bei dem Grabe ihrer Mutter.
Sie hat ihre Mutter nie gekannt. Geſchweige
das Grab. — Ihre Mutter hat gar kein Grab.
Ich paſſe nicht hinein in die Geſellſchaft.
Was haſt du?
[104]
Einen grauenhaften Schmerz.
Wahr’ ſie dir, weil ſie dein iſt. — Der Moment
iſt entſcheidend. Sie kann morgen für dich ver-
loren ſein.
Hier, hier.
Du haſt … Sie iſt dir verloren, wenn du
den Augenblick verſäumſt.
Wenn ich weinen könnte! — Oh, wenn ich
ſchreien könnte!
Dir iſt elend …
Du haſt recht, ganz recht.
Wo willſt du hin?
Mit ihr ſprechen.
Recht ſo.
[105]
Fünfter Auftritt.
Das war ein Stück Arbeit.
rechts ſehend.)
Er hat ſie ins Atelier gebracht …
Mach’ auf! Mach’ auf!
Was iſt …
Mach’ auf!
Das iſt grauenvoll.
Haſt du kein Beil in der Küche?
Er wird ſchon aufmachen …
Ich mag ſie nicht eintreten.
Wenn er ſich ausgeweint hat.
[106]
Mach’ auf!
Hol’ mir ein Beil.
Zum Arzt ſchicken …
Du biſt nicht bei Troſt.
Das geſchieht Ihnen recht.
Schön und Lulu ſtarren einander an.)
Ich darf mich hier jetzt nicht ſehen laſſen.
Vielleicht der Kunſthändler.
Wenn wir nicht antworten …
Bleib. Man iſt ſonſt auch nicht immer gleich
bei der Hand.
[107]
Sechſter Auftritt.
Sei bitte ruhig.
In Paris iſt Revolution ausgebrochen.
Sei ruhig.
Sie ſind totenbleich.
Walter! — Walter!
Gott erbarm dich …
Haſt du kein Beil geholt?
Wenn eines da iſt …
Er myſtifizirt uns.
In Paris iſt Revolution ausgebrochen?
[108]
Auf der Redaktion rennen ſie ſich den Kopf
gegen die Wand. Keiner weiß, was er ſchreiben
ſoll.
Walter!
Soll ich ſie einrennen?
Das kann ich auch. Wer da noch kommen
mag.
Das freut ſich des Lebens
und läßt es Andere verantworten.
Henriette iſt nach Hauſe gekommen.
Schließ’ die Thür hinter dir.
Geben Sie her.
Pfoſten und Thürſchloß.)
Du mußt es länger faſſen.
Es kracht ſchon.
läßt das Beil fallen und taumelt zurück.) — — (Pauſe.)
[109]
Nach Ihnen.
Ihnen wird — ſchwindlig …?
Gräßlich!
ſchreit jäh auf).
Oh! — Oh!
Er hat ihm den Kopf
zurückgebogen.
Grauenhaft!
Kommen Sie.
Wohin?
Ich kann nicht allein ſein.
die Hand zeigt Blut; zieht die Thür hinter ſich zu, geht zum Schreib-
tiſch, ſchließt auf und ſchreibt zwei Billets).
Sie zieht ſich um.
Sie iſt fort?
[110]
Auf ihr Zimmer. Sie zieht ſich um.
Sie wiſſen, wo der Doktor Bernſtein wohnt.
Gewiß, Herr Doktor. Gleich nebenan.
Bringen Sie das hinüber.
Im Fall, daß der Herr Doktor nicht zu Hauſe
ſind.
Er iſt zu Hauſe.
Und
das bringen Sie auf die Polizeidirektion. Nehmen
Sie eine Droſchke.
Ich bin gerichtet.
Mir ſtockt das Blut.
Der Narr!
[111]
Er hat Licht bekommen?
Er hat zuviel mit ſich ſelbſt verkehrt!
Wo wollen Sie hin?
Hinaus. Ich ſehe es an allen Wänden.
Wo hat er ſeine Papiere?
Im Schreibtiſch.
Wo?
Rechts unten.
Hier.
Es iſt nichts zu fürchten. Er hat alles deklarirt.
Er hat den letzten Pfennig verſteuert.
Jetzt kann ich mich von der Welt zurückziehen.
Schreiben Sie ein Feuilleton. Nennen Sie
ihn Michel Angelo.
[112]
Was hilft das!
Ich kann mich kaum auf den Füßen halten.
Da liegt meine Verlobung.
Das iſt der Fluch deines Spiels!
Schrei es durch die Straßen.
Hätteſt du, als meine Mutter ſtarb, an dem
Mädchen gehandelt, wie es recht und billig ge-
weſen wäre.
Da verblutet meine Verlobung!
Es riecht nach Blut. Ich bleibe nicht.
In einer Stunde verkauft man die Extrablätter.
Ich darf mich nicht über die Straße wagen.
Was können Sie dafür.
Deshalb! Man ſteinigt mich.
[113]
Du mußt verreiſen.
Um dem Skandal freies Feld zu laſſen.
Vor zehn Minuten noch lag er hier.
Das iſt der Dank für das, was ich für ihn
gethan!
Sie haben ihn ſoweit gebracht.
Wirft mir in einer Sekunde mein Leben in
Trümmer!
Mäßige dich.
Wir ſind unter uns.
Und wie!
Was willſt du der Polizei ſagen?
Nichts.
Er wollte nichts ſchuldig bleiben.
Wedekind, Der Erdgeiſt. 8
[114]
Ich ſehe ſchon die Leitartikel von morgen früh.
Er hatte immer gleich Mordgedanken.
Er hatte, was ſich ein Menſch nur erträumen
kann!
Er hat es teuer bezahlt.
Er hatte, was wir nicht haben!
Ich kenne deine Gründe. Ich habe nicht Ur-
ſache, Rückſicht auf dich zu nehmen! Wenn du
alles in Bewegung ſetzſt, um keine Geſchwiſter neben
dir zu haben, ſo iſt das für mich ein Grund, mir
andere Kinder zu erziehen.
Du biſt ein ſchlechter Menſchenkenner.
Geben Sie ſelber ein Extrablatt aus.
Er hatte kein moraliſches Gewiſſen. — Paris
revolutionirt —?
[115]
Unſere Leute ſind wie vom Schlag getroffen.
Alles ſtockt.
Das muß mir darüber hinweghelfen! — —
Wenn nun nur die Polizei käme. Die Minuten
ſind nicht mit Gold zu bezahlen.
Da ſind ſie …
Warten Sie, Sie haben Blut.
Wo …?
Warten Sie, ich wiſche es weg.
Taſchentuch mit Heliotrop und wiſcht Schön das Blut von der Hand.)
Es iſt deines Gatten Blut.
Es läßt keine Flecken.
Ungeheuer!
Sie heiraten mich ja doch.
8*
[116]
Nur Geduld.
Siebenter Auftritt.
Erlauben Sie, daß ich — daß ich mich Ihnen
— Ihnen vorſtelle …
Sie ſind gelaufen?
Von der Polizeidirektion her. Ein Selbſtmord,
hör’ ich.
Fritz Eſcherich, Korreſpondent der Kleinen Neuig-
keiten. — Kommen Sie.
Einen Moment.
ſieht ſich im Salon um, ſchreibt einige Worte, verbeugt ſich gegen
Lulu, ſchreibt, wendet ſich zu der erbrochenen Thür, ſchreibt.)
Ein
Küchenbeil …
[117]
Bitte.
Thür aufgebrochen mit Küchenbeil.
Schloß.)
Sehen Sie ſich vor.
Wenn Sie jetzt die Liebenswürdigkeit haben
wollen.
O du barmherziger Himmel noch mal …!
Sehen Sie ſich alles genau an.
Ich kann nicht hinſehen.
Wozu ſind Sie denn hergekommen.
Sich mit dem — Ra — Raſiermeſſer — den
Ha — Hals abſchneiden …
Haben Sie alles geſehen?
[118]
Das muß ein Gefühl ſein!
Setzen Sie ſich. Hier iſt Papier und Feder.
Schreiben Sie.
Ich kann nicht ſchreiben …
Schreiben Sie — Verfolgungswahn.
Verfolgungswahn.
[[119]]
Dritter Aufzug.
[[120]]
Dritter Aufzug.
hinten die Thür. Links hinten eine ſpaniſche Wand. In der Mitte,
mit der Schmalſeite gegen den Zuſchauer, ein langer Tiſch, auf dem
Tanzkoſtüme liegen. Rechts und links vom Tiſch je ein Seſſel. Rechts
vorn Tiſchchen mit Seſſel. Links vorn ein hoher Spiegel, daneben
ein hoher, ſehr breiter, altmodiſcher Armſeſſel. Vor dem Spiegel
ein Puff, Schminkſchatulle ꝛc. ꝛc.
Erſter Auftritt.
und Rotwein).
Seit ich für die Bühne arbeite, habe ich kein
Publikum ſo außer Rand und Band geſehen.
Geben Sie mir nicht zu viel Rotwein. —
Sieht er mich heute?
Mein Vater?
Ja.
[122]
Ich weiß nicht, ob er im Theater iſt.
Er will mich nicht ſehen.
Er hat ſo wenig Zeit.
Seine Braut nimmt ihn in Anſpruch.
Spekulationen. Er gönnt ſich keine Ruhe. —
Du? Eben ſprechen wir von dir.
Iſt er da?
Du ziehſt dich um?
Sie ſchreiben in allen Zeitungen, ich ſei die
geiſtvollſte Tänzerin, die je die Bühne betreten, ich
ſei eine zweite Taglioni und was weiß ich, und
finden mich nicht mal geiſtvoll genug, um ſich davon
zu überzeugen!
Du ſiehſt, daß ich recht hatte. Ich habe ſoviel
zu ſchreiben. Es waren kaum mehr Plätze zu haben.
— Du mußt dich etwas mehr im Proſcenium halten.
[123]
Ich muß mich erſt an das Licht gewöhnen.
Sie hat ſich ſtrikte an ihre Rolle gehalten.
Du mußt deine Darſteller beſſer ausnützen. Du
verſtehſt dich noch nicht genug auf die Technik.
Als was kommſt du jetzt?
Als Blumenmädchen …
In Tricots?
Nein.
Wollen Sie nicht trinken?
Ich kann jetzt nicht.
Verlier’ deine Zeit nicht.
Wär’ ich nur wieder draußen.
der ſpaniſchen Wand.)
In fußfreiem Kleid.
[124]
Du hätteſt dich nicht mit dem Symbolismus
einlaſſen ſollen.
Ich ſehe der Tänzerin auf die Füße.
Es kommt darauf an, worauf das Publikum
ſieht. Eine Erſcheinung wie ſie läuft nicht Gefahr
zu langweilen.
Das Publikum ſieht nicht aus, als ob es ſich
langweilte!
Weil ich ſeit ſechs Monaten auf ihren Erfolg
hingearbeitet habe. — War der Prinz hier?
Es war niemand hier.
Wer wird eine erſte Tänzerin zwei Akte
hindurch in Schleppgewändern hinausſchicken!
Wer iſt denn der Prinz?
— Wie ſehen uns noch?
Biſt du allein?
[125]
Mit Bekannten. — Bei Peters?
Um Zwölf?
Um Zwölf.
Ich hatte ſchon daran verzweifelt, daß er je
kommen werde!
Laſſen Sie ſich nur ja nicht beirren.
ärmelloſen weißen Kleid mit rotem Saum, einen bunten Kranz im
Haar, einen Korb voll Blumen in den Händen).
Wenn ich mir heute die Seele nicht aus dem
Leibe tanze …
Daß Sie ſich nicht vor der letzten Nummer
ausgeben!
Er hat es nicht gemerkt, wie Sie Ihre Darſteller
ausnützen!
Ich werde doch im erſten Akt nicht Sonne,
Mond und Sterne verpaffen.
Sie enthüllen mich gradatim.
[126]
Ich wußte, daß Sie ſich darauf verſtehen, das
Koſtüm zu wechſeln.
Hätte ich meine Blumen ſo vor dem Alhambra-
café verkaufen wollen, die Polizei hätte mich ſchon
in der erſten Nacht hinter Schloß und Riegel
geſetzt.
Sie waren ein Kind!
Wiſſen Sie noch, wie ich zum erſtenmal in
Ihr Zimmer trat?
Sie trugen ein dunkelblaues Kleid mit ſchwarzem
Sammet.
Man mußte mich verſtecken und wußte nicht wo.
Meine Mutter lag ſchon ſeit zwei Jahren auf
dem Krankenbett …
Sie ſpielten Theater und fragten mich, ob ich
mitſpielen wolle.
Wir ſpielten Theater!
[127]
Ich ſehe Sie noch, wie Sie die Figuren hin
und herſchoben.
Es war mir noch lange die grauenvollſte Er-
innerung, wie ich mit einem Mal klar in die Ver-
hältniſſe ſah.
Da wurden Sie eiſig gemeſſen gegen mich.
Ach Gott — ich ſchämte mich meiner kindlichen
Harmloſigkeit. Ich ſah etwas ſo unendlich hoch
über mir Stehendes in Ihnen. Ich hegte vielleicht
eine höhere Verehrung für Sie, als für meine
Mutter. Denken Sie, wie meine Mutter ſtarb, —
ich war ſiebzehn Jahre alt — da trat ich vor
meinen Vater und forderte ihn auf, daß er Sie
augenblicklich zu ſeiner Frau mache, ſonſt müßten
wir uns duelliren.
Das hat er mir damals erzählt.
Seit ich älter bin, kann ich ihn nur noch be-
mitleiden. Er wird mich nie verſtehen. Da
phantaſirt er ſich eine kleinliche Diplomatie zu-
ſammen, die mich dazu beſtimmen ſoll, ſeiner Ver-
heiratung mit der Comteſſe entgegenzuarbeiten.
[128]
— Iſt ſie noch immer ſo niedlich?
Sie liebt ihn; das iſt meine Überzeugung.
Ihre Familie hat alles in Bewegung geſetzt, um
ſie zum Rücktritt zu veranlaſſen. Ich glaube nicht,
daß ihr ein Opfer auf dieſer Welt zu groß wäre,
um ſeinetwillen.
Noch etwas, bitte.
Sie trinken zu viel.
Er ſoll an meinen Erfolg glauben lernen! Er
glaubt an keine Kunſt. Er glaubt nur an
Zeitungen.
Er glaubt an nichts.
Er hat mich ans Theater gebracht, damit ſich
eventuell jemand findet, der reich genug iſt, um
mich zu heiraten.
Was braucht uns das zu kümmern.
[129]
Um ſo beſſer für mich — wenn ich mich in das
Herz eines Millionärs hineintanzen kann.
Gott verhüte, daß man Sie uns entführt!
Sie haben die Muſik dazu komponirt.
Sie wiſſen, daß es immer mein Wunſch war,
ein Stück für Sie zu ſchreiben.
Ich bin nicht für die Bühne geſchaffen.
Sie ſind als Tänzerin auf die Welt gekommen.
Es iſt zu kindiſch, was ſich das Publikum weis-
machen läßt.
Gott ſei Dank, daß es noch nicht ſo abge-
brüht iſt.
Warum ſchreiben Sie Ihre Stücke denn nicht
wenigſtens ſo intereſſant, wie das Leben iſt?
Weil uns das kein Menſch glauben würde.
Wedekind, Der Erdgeiſt. 9
[130]
Wenn ich mich nicht beſſer aufs Theaterſpielen
verſtände, als man auf der Bühne ſpielt, was hätte
aus mir werden wollen!
Ich habe Ihre Rolle doch mit allen erdenklichen
Unmöglichkeiten ausgeſtattet.
Mit ſolchem Hokuspokus lockt man in der Wirk-
lichkeit noch keinen Hund vom Ofen.
Genug, daß ſich das Publikum in die wahn-
ſinnigſte Aufregung verſetzt ſieht.
Ich will mich ſelbſt in die wahnſinnigſte Auf-
regung verſetzt ſehen!
Dazu ſcheint Ihnen doch auch nicht viel zu
fehlen.
Weil mein Auftreten einen höheren Zweck hat.
Sie können Einen verrückt machen.
[131]
Es gehen ſchon Einige ernſtlich mit ſich zu
Rate. — Ich fühle das, ohne daß ich hinſehe.
Wie fühlen Sie denn das?
Keiner ahnt was vom Anderen. Jeder meint,
er ſei allein der Unglückliche.
Wie können Sie denn das fühlen?
Es läuft Einem ſo ein eiſiger Schauer am
Körper herauf.
Sie ſind …
Mein Tuch … Ich werde mich im Proſcenium
halten!
Hier iſt Ihr Tuch.
Er ſoll nichts mehr ſeiner ſchamloſen Reklame
wegen fürchten.
Wahren Sie Ihre Selbſtbeherrſchung!
9*
[132]
Wolle Gott, daß ich Einem den letzten Funken
Verſtand zum Kopf hinaus tanze.
Zweiter Auftritt.
Über die ließe ſich freilich ein intereſſanteres
Stück ſchreiben. — Man macht kein Geld damit.
Das Publikum ſieht es ſich einmal an, dann flüchtet
es hierher zurück, um ſich an Irrlichtern und
Walzergedudel zu recreiren. — Irrlicht! — Das
wäre ein Titel.
und notirt. Aufblickend.)
Erſter Akt: Dr. Goll. Da
wird das ganze Theater ſchon rappelköpfig. Ich
kann den Dr. Goll aus dem Fegefeuer citiren, oder
wo er ſeine Orgien büßt, man wird mich für ſeine
Sünden verantwortlich machen. —
ſtarkgedämpftes Klatſchen und Bravorufen wird von außen hörbar.)
— Das tobt, wie in der Menagerie, wenn die
Atzung vor dem Gitter erſcheint. — Zweiter Akt:
Walter Schwarz. Wenn wir noch ein Damen-
publikum hätten, das anſpruchsvoll genug wäre,
um ſich am Spiel um Leib und Leben zu erfreuen:
„Wie viel haſt du heute umgebracht, mein Herzens-
Heinrich? — Gebt meinem Rappen zu ſaufen,
[133] antwortet er, und eine halbe Stunde ſpäter: So,
Stücker vierzehn. Bagatell! Bagatell!“ — Die
Todesſcene! Wie die Seelen die letzte Hülle ab-
ſtreifen im Licht ſolcher Blitzſchläge — wie jetzt
ihr Körper vor dem Lampenlicht! — Wenn ich an
meinen Vater denke, wie er in ſeinen Grundveſten
erſchüttert war. Er hat ſich nicht aus dem Sattel
werfen laſſen. — — Und der dritte Akt? —
Geht es ſo fort? —
läßt Eſcerny eintreten.)
Dritter Auftritt.
Es kann im dritten Akt nicht ſo fortgehen!
Bis zur Mitte des dritten Aktes ſchien es heute
nicht ſo gut zu gehen, wie ſonſt.
Ich war nicht auf der Bühne.
Jetzt iſt ſie wieder in vollem Zug.
[134]
— Sie zieht die Nummer in die Länge.
Ich hatte bei Herrn Dr. Schön einmal das
Vergnügen, der Künſtlerin zu begegnen.
Mein Vater hat ſie durch einige Beſprechungen
beim Publikum eingeführt.
Ich konferirte mit Herrn Dr. Schön der Heraus-
gabe meiner Forſchungen am Tanganjika-See
wegen.
Seine Äußerungen laſſen keinen Zweifel über
das lebhafte Intereſſe, das er an dem Werk nimmt.
Ich erinnere mich nicht, in der Welt einem
Mann von ſo umfaſſenden Intereſſen begegnet
zu ſein.
Der Journaliſt kann von Glück ſagen, wenn
er aus der Zerſplitterung noch einen Teil der
eigenen Perſönlichkeit rettet.
— Ich habe mich gefragt, wie in Ihnen die
Idee zu dem Stück entſtanden ſein mag.
[135]
Ich habe ſie aus der Kabbala.
Wohlthuend berührt es an der Künſtlerin, daß
das Publikum für ſie nicht vorhanden iſt.
Ich konnte damit rechnen, daß ſie ſich an einem
Abend zwanzigmal umzukleiden hat. Sie hat das
als Kind gelernt. Aber ich war überraſcht, eine
ſo bedeutende Tänzerin in ihr entdeckt zu haben.
Wie ſie eben als Blumenmädchen vor dem gött-
lichen Querilinth tanzt, richtet ſie ihre Verführungs-
künſte ſo ausſchließlich nur an ihren Partner, daß
im Publikum ſchwerlich jemand dadurch verführt
werden könnte.
Wenn ſie ſie nur nicht in Stücke reißen.
Wenn ſie ihr Solo tanzt, berauſcht ſie ſich
ſelber an ihrer Schönheit — in die ſie zum Sterben
verliebt iſt!
Da iſt ſie.
[136]
Vierter Auftritt.
Sie werden herausgerufen. Ich war dreimal
vor dem Vorhang.
Herr
Dr. Schön iſt nicht in Ihrer Loge?
In meiner Loge nicht.
Haben Sie ihn nicht geſehen?
Er wird wieder fort ſein.
Er hat die letzte Parquetloge links.
Er ſchämt ſich meiner!
Er hat keinen guten Platz mehr bekommen.
Fragen Sie ihn doch, ob ich jetzt beſſer war.
Ich werde ihn heraufſchicken.
[137]
Er hat applaudirt.
Hat er?
Gönnen Sie ſich etwas Ruhe.
Fünfter Auftritt.
Ich muß mich ja wieder umziehen.
Wo iſt Ihre Garderobiere?
Ich kann das raſcher allein.
Sie haben ſie wol mißhandelt?
Wo ſagten Sie, daß Dr. Schön ſitzt?
Ich ſah ihn in der hinterſten Parquetloge links.
[138]
Jetzt habe ich noch fünf Koſtüme vor mir:
Dancinggirl, Ballerina, Königin der Nacht, Ariel
und Lascaris …
Würden Sie es für möglich halten, daß ich bei
unſerem erſten Rencontre nicht anders gewärtig
war, als mit einer jungen Dame aus der litera-
riſchen Welt bekannt zu werden? — — —
ſich rechts neben den Mitteltiſch, wo er bis zum Schluß der Scene
ſitzen bleibt.)
Sollte ich mich in der Beurteilung Ihrer
Natur irren, oder habe ich das Lächeln, das die
dröhnenden Beifallsſtürme auf Ihren Lippen hervor-
rufen, richtig gedeutet? — —: daß Sie unter der
Notwendigkeit, Ihre Kunſt vor Leuten von zweifel-
haften Intereſſen entwürdigen zu müſſen, leiden?
— — —
Daß Sie den
Schimmer der Öffentlichkeit jeden Augenblick gegen
ein ruhiges, ſonniges Glück in vornehmer Abge-
ſchloſſenheit eintauſchen würden? — — —
nicht antwortet:)
Daß Sie Hoheit und Würde genug
in ſich fühlen, einen Mann zu Ihren Füßen zu
feſſeln — um ſich an ſeiner vollkommenen Hilf-
loſigkeit zu freuen? — — —
Daß Sie ſich an einem würdigeren Platz als hier
in einer mit reichlichem Komfort ausgeſtatteten Villa
[139] fühlen würden — bei unbegrenzten Mitteln —
um durchaus als Ihre eigene Herrin zu leben?
ſchwarze Schuhe und Strümpfe, Schellenſporen unter den Abſätzen,
tritt hinter der ſpaniſchen Wand vor, mit dem Schnüren ihres Korſets
beſchäftigt).
Wenn ich nur einen Abend mal nicht auftrete, dann
träume ich die ganze Nacht hindurch, daß ich tanze,
und fühle mich am folgenden Tag wie gerädert …
Wenn Sie am Abend wirklich tanzen, dann
ſpüren Sie am folgenden Tag keine Ermüdung?
Nein. — Das heißt, ich ſchleppe mich vom
Sofa zum Diwan, vom Diwan zur Chaiſelongue
und fühle mich wie im Himmel — — bis es
mich am Abend wieder überkommt …
Aber was könnte es Ihnen dabei ausmachen,
ſtatt dieſes Pöbels nur einen Zuſchauer vor ſich
zu ſehen?
Das könnte mir gleichgültig ſein. Ich ſehe ja
doch niemanden.
Es wird Ihnen ſchwer, ſich hineinzudenken? —
Ein erleuchteter Gartenſaal — das Plätſchern vom
See herauf …
[140]
Sie ſpielen Violine …
— — Ich bin auf meinen Forſchungsreiſen
zur Ausübung eines unmenſchlichen Despotismus
gezwungen …
Eine gute Schule!
Wenn ich mich jetzt darnach ſehne, mich ohne
irgendwelchen Vorbehalt der Gewalt einer Frau zu
überliefern, ſo iſt das ein natürliches Bedürfnis
nach Abſpannung …
Ich möchte gar keinen Herrn, der nicht wie
mit ſeiner Sklavin mit mir verfährt.
Dieſen Herrn findet eine Frau wie Sie nie!
Warum nicht?
— Aber in welcher Sphäre!
In meiner.
Sie ſind herzlos.
[141]
In dieſen Schuhen tanzt es ſich ſo ſchwer —
ich fühle nachher, als Ballerina, keinen Teppich mehr
unter den Füßen.
Können Sie ſich ein höheres Lebensglück für
eine Frau denken, als einen Mann vollkommen in
ihrer Gewalt zu haben?
Ja!
Ich habe den Skirtdance von keinem Londoner
Dancinggirl lebendiger geſehen, als von Ihnen.
Das ſagen die Andern auch.
Unter gebildeten Menſchen finden Sie nicht
Einen, der Ihnen gegenüber nicht den Kopf verliert.
Ihre Wünſche erfüllt Ihnen niemand, ohne Sie
dabei zu hintergehen.
Von einem Mädchen wie Sie hintergangen zu
werden, muß noch zehnmal beglückender ſein, als
von jemand anders aufrichtig geliebt zu werden.
[142]
Sie ſind noch von keinem Mädchen aufrichtig
geliebt worden!
Das lag auch nie in meiner Abſicht.
Ihr Ehrgeiz hat edlere Ziele?
— Ich habe Sie beleidigt …
Würden Sie mir den Knoten auflöſen.
Warten Sie …
Um Gottes willen!
Ich habe mich zu feſt geſchnürt.
Es geht nicht …
Sie können es nicht?
Es iſt verwickelt …
[143]
Ich bin immer ſo aufgeregt beim Ankleiden.
Darf ich das eine Band denn nicht wenigſtens
durchſchneiden?
Sie ſind ein Barbar! Dann iſt alles aus.
Dann kann ich Sie nicht aufſchnüren …
Dann laſſen Sie. Vielleicht kann ich es.
Ich geſtehe ein, daß es mir an Geſchicklichkeit
gebricht.
Es fehlt Ihnen nur an der nötigen Geduld.
Ich war vielleicht im Verkehr mit Frauen nicht
gelehrig genug.
Dazu haben Sie in Afrika wol auch nicht viel
Gelegenheit?
In Afrika tragen die Frauen kein Korſet.
Das glaube ich.
[144]
— Geht es?
Es geht.
Laſſen Sie mich Ihnen offen geſtehen, daß mir
meine Vereinſamung in der Welt manche Stunde
verbittert.
Sie ſollten nicht in die Wüſte reiſen, wenn
Sie Geſellſchaft ſuchen.
Ich reiſe in die Wüſte, um meine Verein-
ſamung zu vergeſſen.
Sie können einen Umgang, der Ihnen genügen
ſoll, nur in Ihrer Sphäre finden.
Bitte, nicht weiter!
Gleich iſt der Knoten auf …
— Ich träumte mich ſechs Monate in dem
unfaßbaren Glück, verſtanden zu werden. — Es
kann mir nicht leicht mehr einfallen, einer Frau
etwas mehr gelten zu wollen, als das, was ich dem
blinden Zufall verdanke …
[145]
Was mich zu Ihnen hinzieht, iſt nicht Ihr
Tanz. Es iſt Ihre Nobleſſe, wie ſie ſich in jeder
Ihrer Bewegungen offenbart. Durch jedes Kunſt-
werk hindurch, läßt ſich der Künſtler als Menſch
erkennen. Wer ſich ſo ſehr wie ich für Kunſtwerke
intereſſirt, kann ſich darin nicht täuſchen. Ich
habe während zehn Abenden Ihr Seelenleben aus
Ihrem Tanze ſtudirt, bis ich heute, als Sie als
Blumenmädchen auftraten, vollkommen mit mir ins
Klare kam. Sie ſind eine großangelegte Natur —
uneigennützig. Sie können niemanden leiden ſehen.
Sie ſind das verkörperte Lebensglück. Als Gattin
werden Sie einen Mann über alles glücklich
machen …
Atem, mit den Abſätzen klirrend).
Jetzt kann ich wieder atmen.
Ihr ganzes Weſen iſt Offenherzigkeit. — Sie
wären eine ſchlechte Schauſpielerin …
Der Vorhang geht auf.
Wedekind, Der Erdgeiſt. 10
[146] ein Skirtdancekoſtüm — Pliſſé, hellgelbe Seide, ohne Taille, am
Hals geſchloſſen, bis zu den Knöcheln reichend, weite Blouſenärmel,
— und wirft es ſich über.)
Ich muß tanzen.
Erlauben Sie mir, noch ein wenig hierzubleiben.
Bitte, bleiben Sie.
Ich bedarf etwas der Einſamkeit.
Sechſter Auftritt.
Was iſt Nobleſſe? — Iſt es Verſchrobenheit,
wie bei mir? — Oder iſt es leibliche und geiſtige
Vervollkommnung, wie bei dieſem Mädchen? —
— Eine Tänzerin!
— Ich habe mich um die beſten Jahre damit be-
trogen, einem Grame zu leben, über den ein Mann
in vier Wochen hätte hinwegkommen müſſen. Wer
mir den Glauben an die Menſchen zurückgiebt,
giebt mir mein Leben zurück. — — Eine Tänzerin!
— Mein dunkles Blut läßt ſich nicht aus meiner
Welt regeneriren. Will ich meinen Stamm nicht
erlöſchen laſſen — was vielleicht das beſte für ihn
[147] wäre — dann ſchulde ich meinen Kindern friſchen
Lebensſaft, ſtrotzende Geſundheit, Herrlichkeit …
Eine Tänzerin!! — Sollten Kinder dieſer Frau
nicht fürſtlicher ſein an Leib und Seele, als Kinder,
deren Mutter nicht mehr Lebensfähigkeit in ſich hat,
als ich bis heute in mir fühlte? — Der Tanz hat
ihren Körper geadelt …
—
Wenn ich mir ein Leibpferd auswähle — dem
ich mein Leben anvertraue …
Siebenter Auftritt.
Man iſt keinen Moment ſicher, daß nicht ein
armſeliger Zufall der Vorſtellung den Garaus macht!
Hatten Sie etwas zu befürchten?
Der Vorhang funktionirte nicht.
Sie haben Herrn Dr. Schön nicht heraufge-
ſchickt?
10*
[148]
Ich wurde auf der Bühne zurückgehalten.
So dankbar hat ſich das Publikum nie gezeigt.
Sie hat den Skirtdance beendet.
— Ich höre ſie kommen …
Sie kommt nicht. — Sie hat keine Zeit. —
Sie wechſelt das Koſtüm hinter der Couliſſe.
Wie kann ſie ſich hinter der Couliſſe aus dem
Dancinggirl zur Ballerina transformiren?
Sie iſt unglaublich flink. Überdies ſind die
Koſtüme darauf eingerichtet.
Aber die Tricots?
Die trägt ſie während der ganzen Vorſtellung.
[149]
Sie hat zwei Ballerinakoſtüme?
Ich finde, daß ihr das weiße beſſer ſteht, als
das in Roſa.
Finden Sie?
Sie nicht?
Ich finde, ſie ſieht in dem weißen Tüll zu
körperlos aus.
Ich finde, ſie ſieht in dem Roſatüll zu anima-
liſch aus.
Ich nicht.
Der weiße Tüll bringt mehr das Kindliche
ihrer Natur zum Ausdruck.
Der Roſatüll bringt mehr das Weibliche ihrer
Natur zum Ausdruck.
Geſchmackſache …
Eigentümlich, wie die rhythmiſche Bewegung
des Körpers auf die Lebensgeiſter wirkt. Ich habe
[150] das ſchon in Afrika geſehen. Die Neger, bevor ſie
zum Kampf ausziehen, laſſen ſich von ihren
Tänzerinnen vortanzen, bis ſie ſich vor Lebensglut
nicht mehr zu halten wiſſen. Es kommt nicht
ſelten vor, daß ſie dann ſchon während des Marſches
übereinander herfallen, oder gar, bevor die Vor-
ſtellung noch zu Ende iſt, Selbſtmord begehen …
Um Gottes willen, was iſt da los!
Sie iſt ja nicht hier!
Da iſt was paſſiert …
Wie können Sie ſo erſchrecken.
Das muß eine hölliſche Verwirrung ſein.
[151]
Achter Auftritt.
ſich zu. Sie trägt ein Roſa-Ballettkoſtüm mit Blumenguirlanden,
geht quer über die Bühne und nimmt in dem Armſeſſel neben dem
Spiegel Platz. — Pauſe).
Neunter Auftritt.
Sie hatten einen Ohnmachtsanfall?
Ich bitte Sie, ſchließen Sie zu.
Kommen Sie wenigſtens auf die Bühne.
Haben Sie ihn geſehen?
Wen geſehen?
Mit ſeiner Braut.
Mit ſeiner …
Den Scherz
hätteſt du dir ſparen können.
[152]
Was iſt mit ihr?
Wie kannſt du die
Scene gegen mich ausſpielen!!
Ich fühle mich wie geprügelt.
Du wirſt tanzen — ſo wahr ich mir die Ver-
antwortung für dich aufgeladen!
Vor Ihrer Braut?
Haſt du ein Recht, dich darum zu kümmern,
vor wem? — Du biſt hier engagirt. Du haſt
deine Bezahlung …
Iſt das Ihre Sache?
Du tanzt vor Jedem, der ſein Billet löſt. Mit
wem ich in meiner Loge ſitze, hat keine Beziehung
zu deiner Thätigkeit.
Wärſt du in deiner Loge ſitzen geblieben!
Sagen Sie mir bitte, was ich thun ſoll.
Da iſt der Direktor.
[153]
Gleich, gleich. Einen Augenblick.
Sie
werden uns nicht zwingen wollen, die Vorſtellung
abzubrechen!
Auf die Bühne mit dir!
Laſſen Sie mir nur einen Augenblick. Ich
kann jetzt nicht. Mir iſt ſterbenselend.
Hol’ der Henker den ganzen Theaterkram!
Schalten Sie die nächſte Nummer ein. Das
merkt kein Menſch, ob ich jetzt tanze, oder in fünf
Minuten. Ich habe keine Kraft in den Füßen.
Aber dann tanzen Sie?
So gut ich kann …
So ſchlecht Sie wollen.
Ich komme.
[154]
Zehnter Auftritt.
Sie haben recht, daß Sie mir zeigen, wo ich
hingehöre. Das konnten Sie nicht beſſer, als wenn
Sie mich vor Ihrer Braut den Skirtdance tanzen
laſſen …
Ich verbiete dir, noch mit einer Silbe von ihr
zu ſprechen!
Sie thun mir den größten Gefallen, wenn Sie
mich darauf hinweiſen, was meine Stellung iſt.
Ich ſage kein Wort von der Dame.
Haſt du verſtanden?!
Es fuhr mir wie ein Schlag durch den Körper.
— Ich werde mich raſch daran gewöhnen.
Als ob du dich an etwas zu gewöhnen brauchteſt!
Deshalb danke ich Ihnen aufrichtig, daß Sie
mit ihr ins Theater gekommen ſind.
[155]
Bei deiner Herkunft iſt es ein Glück ſonder-
gleichen für dich, daß du noch Gelegenheit haſt, vor
anſtändigen Leuten aufzutreten.
Auch wenn ſie über meiner Schamloſigkeit
nicht wiſſen, wohinſehen.
Albernes Geſchwätz! — Schamloſigkeit? —
Mach’ aus der Tugend keine Not! — Deine
Schamloſigkeit iſt das, was man dir für jeden
Schritt mit Gold aufwiegt. — Gebärde dich ſo
ſchamlos, daß die Wände rot werden, aber kümmere
dich nicht darum, wofür man dich hält! — Der
Eine ſchreit Bravo, der Andere ſchreit Pfui — das
heißt für dich das Gleiche! — Kannſt du dir einen
glänzenderen Triumph wünſchen, als wenn ſich ein
anſtändiges Mädchen kaum in der Loge zurückhalten
läßt?!
Dann will ich alles daranſetzen, ſo verab-
ſcheuenswürdig wie möglich zu ſein!
Hat dein Leben denn ein anderes Ziel?! —
So lang du noch einen Funken Achtung vor dir
[156] ſelber haſt, biſt du keine perfekte Tänzerin! — Die
Seele macht die Tänzerin! — Die Schamloſig-
keit! — Nicht das Exterieur! — Die Gymnaſtik
haben Andere auch in den Beinen. — — Je
fürchterlicher es den Menſchen vor dir graut, um ſo
größer ſtehſt du in deinem Beruf da!!
Es iſt mir ja auch vollkommen gleichgültig, was
man von mir denkt!
Das iſt deine wahre Natur! Das nenne ich
aufrichtig.
Ich möchte um alles nicht beſſer ſein, als ich
bin. Mir iſt wol dabei.
Eine Korruption!!
Ich wüßte nicht, daß ich je einen Funken Ach-
tung vor mir gehabt hätte.
Keine Harlequinaden …
O Gott — ich weiß ſehr wol, zu was ich ge-
worden wäre, wenn Sie mich nicht davor bewahrt
hätten.
[157]
Biſt du denn etwas anderes??
Nein.
Das iſt echt!
Wirſt du jetzt tanzen?
Wie und vor wem es iſt.
Auf die Bühne!!
Nur eine Minute noch. Ich bitte Sie. Ich
kann mich noch nicht aufrecht halten. — Man wird
klingeln.
Du biſt es geworden, trotz allem, was ich für
deine Erziehung und dein Wohl geopfert habe.
Sie hatten Ihren veredelnden Einfluß über-
ſchätzt.
Verſchone mich mit deinen Witzen.
[158]
— Der Prinz war hier.
So?
Er nimmt mich mit nach Afrika.
Nach Afrika?
Sie haben mich ja zur Diva gemacht, damit
Einer kommt und mich mitnimmt.
Aber doch nicht nach Afrika!
Warum haben Sie mich nicht ruhig in Ohn-
macht fallen laſſen, und im ſtillen dem Himmel
gedankt?
Weil ich leider keinen Grund hatte, an deine
Ohnmacht zu glauben.
Sie hielten es unten nicht aus …?
Weil ich dir zum Bewußtſein bringen muß,
was du biſt und zu wem du nicht aufzublicken haſt!
[159]
Sie fürchteten, ich könnte doch vielleicht ernſtlich
Schaden genommen haben?
Ich weiß zu gut, daß du unverwüſtlich biſt. —
Sieh mich nicht ſo an!
Es hält Sie niemand hier.
Sobald es klingelt.
Sobald Sie die Energie haben. — Wo iſt
Ihre Energie? — Sie ſind ſeit drei Jahren ver-
lobt. Warum heiraten Sie nicht? — Sie kennen
keine Hinderniſſe. Warum wollen Sie mir die
Schuld geben? — Sie haben mir befohlen, Dr. Goll
zu heiraten. Ich habe Dr. Goll dazu gezwungen.
Sie haben mir befohlen, den Maler zu heiraten.
Ich habe gute Miene zum böſen Spiel gemacht. —
Sie creiren Künſtler, Sie protegiren Prinzen.
Warum heiraten Sie nicht?
Glaubſt du vielleicht, daß du mir im Weg
ſtehſt?!
[160]
Wüßten Sie, wie Ihre Wut mich glücklich
macht! Wie ſtolz ich darauf bin, daß Sie mich
mit allen Mitteln demütigen! Sie erniedrigen
mich ſo tief — ſo tief, wie man ein Weib er-
niedrigen kann, weil Sie hoffen, Sie könnten ſich
dann eher über mich hinwegſetzen. Sie haben ſich
unſäglich weh gethan durch alles, was Sie mir
ſagten. Ich ſehe es Ihnen an. Sie ſind ſchon
beinahe am Ende Ihrer Faſſung. Gehen Sie!
Um Ihrer Braut willen, laſſen Sie mich allein!
Eine Minute noch, dann ſchlägt Ihre Stimmung
um, und Sie machen mir eine andere Scene, die
Sie jetzt nicht verantworten können.
Ich fürchte dich nicht mehr.
Mich? — Fürchten Sie ſich ſelber. — Ich
bedarf Ihrer nicht. — Ich bitte Sie, gehen Sie.
Geben Sie nicht mir die Schuld. Sie wiſſen, daß
ich nicht ohnmächtig zu werden brauchte, um Ihre
Zukunft zu zerſtören. Sie haben ein unbegrenztes
Vertrauen in meine Ehrenhaftigkeit! Gehen Sie,
Sie verlieren die Kraft. Sie glauben nicht nur,
daß ich ein ſchönes Menſchenkind bin; Sie glauben
[161] auch, daß ich das beſte Mädchen auf dieſer Welt
bin. Ich bin weder das eine, noch das andere.
Das Schlimme iſt nur, daß Sie ſo von mir denken.
Laß meine Gedanken gehn! Du haſt zwei
Männer unter der Erde. Nimm den Prinzen,
tanz’ ihn in Grund und Boden! Ich habe dich
ausſtudirt. Ich weiß, wo der Engel bei dir zu
Ende iſt, und der Teufel beginnt. Wenn ich die
Welt nehme, wie ſie geſchaffen iſt, ſo trägt der
Schöpfer die Verantwortung, nicht ich! Mir iſt
das Leben keine Beluſtigung.
Weil Sie Anſprüche an das Leben ſtellen, wie
ſie höher niemand auf der Welt ſtellen kann …
Wenn ich, ſeit ich dich kenne, eine ruhige
Stunde gehabt habe, will ich auf alles, was ich
beſitze, verzichten!
Sagen Sie mir, wer iſt anſpruchsvoller, Sie
oder ich?!
Schweig! — Wenn du das beſte Mädchen auf
dieſer Welt biſt, dann ſchweig mir davon! Wenn
Wedekind, Der Erdgeiſt. 11
[162] du ein ſchönes Menſchenkind biſt, dann trag’ dich
wie Andere! Ich weiß nicht, wie und was ich
denke. Wenn ich dich höre, denke ich nicht mehr.
In acht Tagen bin ich verheiratet. Ich beſchwöre
dich — bei dem Engel, der in dir iſt — bei
deiner Schönheit — beſchwöre ich dich, komm mir
derweil nicht mehr zu Geſicht!
Ich will meine Thüre verſchließen.
Die Tigerin hat ſich feſtgebiſſen — ſie läßt ſich
rütteln und ſchütteln und läßt nicht luck mit den
Zähnen!
Gehen Sie — gehen Sie!
Prahl’ noch mit dir! — Ich habe, Gott iſt
mein Zeuge, ſeit ich mit dem Leben ringe, noch
Niemandem ſo geflucht!
So ſind Sie auch keiner anderen Frau gegen-
über!
Ich habe den Widerhaken im Fleiſch.
[163]
Meine niedere Herkunft.
Deine Verworfenheit!
Mit tauſend Freuden nehme ich die Schuld auf
mich. Sie müſſen ſich rein fühlen. Sie brauchen
moraliſches Selbſtbewußtſein. Sie müſſen ſich für
den Mann von eiſernen Grundſätzen halten — ſonſt
können Sie das Mädchen nicht heiraten …
Willſt du, daß ich mich an dir vergreife!
Was muß ich ſagen, damit Sie es thun?
Schweig’, wenn Menſchlichkeit in dir iſt!
Um kein Königreich möchte ich jetzt mit ihr
tauſchen!
Mach’ mich nicht raſend!
Sie liebt Sie, wie kein Weib Sie geliebt hat!!
11*
[164]
Schweig’, Beſtie!
Heiraten Sie ſie — dann tanzt ſie mir vor!
Verzeih’ mir Gott …
Schlagen Sie mich! Bitte, ſchlagen Sie mich!
Wo haben Sie Ihre Reitpeitſche. Ich werde wie
wahnſinnig tanzen! Schlagen Sie mich an die
Beine …
Fort, fort …!
Kann ich ſo vor das Kind treten? — Nach Hauſe!
— Wenn ich zur Welt hinaus könnte!
Seien Sie ein Mann. — Blicken Sie ſich ins
Geſicht. — Sie haben keine Spur von Gewiſſen.
— Sie ſchrecken vor keiner Schandthat zurück. —
Sie wollen das Mädchen, das Sie liebt, unglücklich
machen. — Sie erobern die halbe Welt. — Sie
machen mit den Menſchen, was Sie wollen — und
Sie wiſſen ſo gut wie ich — daß …
zuſammengeſunken).
Schweig!
[165]
Daß Sie zu ſchwach ſind — ſich von mir los-
zureißen …
Oh! Oh! Du thuſt mir weh!
Mir thut es wohl — ich kann nicht ſagen wie.
Mein Alter! Meine Welt!
— Er weint wie ein Kind — der allgewaltige
Weltmann! — Jetzt gehen Sie ſo zu Ihrer Braut.
Sagen Sie ihr, ich ſei eine Seele von einem
Mädchen — keine Spur eiferſüchtig.
Ich habe die Kraft nicht!
Wie kann der eingefleiſchte Teufel ſo weich
werden.
Das Kind! Das ſchuldloſe Kind!
Jetzt gehen Sie aber, bitte. — Jetzt ſind Sie
nichts mehr für mich.
[166]
Ich kann nicht zu ihr.
Hinaus!
Sag’ mir — ſag’ mir, was ich thun ſoll.
Seien Sie ein Mann!
Ganz wie du willſt.
Mitteltiſch die Koſtüme beiſeite ſchiebend).
Hier iſt Briefpapier …
Ich kann nicht ſchreiben.
Schreiben Sie. — Sehr geehrtes Fräulein …
Ich nenne ſie Adelheid.
Sehr geehrtes Fräulein …
Mein Todesurteil!
[167]
Nehmen Sie Ihr Wort zurück. Ich kann es
nicht mit meinem Gewiſſen — ſchreiben Sie Ge-
wiſſen — vereinbaren, Sie an mein unſeliges Los
zu feſſeln …
Du haſt recht.
Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihrer
Liebe — ſchreiben Sie Liebe — unwürdig bin.
Dieſe Zeilen ſind der Beweis. Seit drei Jahren
verſuche ich mich loszureißen; ich habe die Kraft
nicht. Ich ſchreibe Ihnen an der Seite der Frau,
die mich beherrſcht. — Vergeſſen Sie mich. —
Doktor Ludwig Schön.
O Gott!
Ja kein o Gott! — Doktor Ludwig Schön. —
— Poſtſkriptum: Verſuchen Sie nicht, mich zu
retten.
Das iſt der Anfang vom Ende.
[[168]][[169]]
Vierter Aufzug.
[[170]]
Dierter Aufzug.
in geſchnitztem Eichenholz. Die Wände bis zur halben Höhe in
dunklen Holzſkulpturen. Darüber an beiden Seiten verblaßte Gobelins.
Nach hinten oben iſt der Saal durch eine verhängte Galerie abge-
ſchloſſen, von der rechts eine monumentale Treppe bis zur halben
Tiefe der Bühne herabführt. In der Mitte unter der Galerie die
Eingangsthür mit gewundenen Säulen und Fronteſpice. An der
linken Seitenwand ein geräumiger hoher Kamin. Weiter vorn ein
Balkonfenſter mit geſchloſſenen ſchweren Gardinen. An der rechten
Seitenwand vor dem Treppenfuße eine geſchloſſene Portiere in
genueſer Sammet.
Vor dem Kamin ſteht als Schirm eine chineſiſche Klappwand.
Vor dem Fußpfeiler des freien Treppengeländers auf einer dekora-
tiven Staffelei Lulus Bild als Pierrot in antiquiſirtem Goldrahmen.
Rechts vorn eine breite Ottomane, links davor ein Fauteuil. In der
Mitte des Saales ein vierkantiger Tiſch mit ſchwerer Decke, um den
drei hochlehnige Polſterſeſſel ſtehen. Auf dem Tiſch ſteht ein weißes
Bouquet.
Erſter Auftritt.
Stehkragen, rieſige Manſchettenknöpfe, Schleier vor dem Geſicht, die
Hände krampfhaft im Muff; zu Lulu).
Sie glauben nicht, wie ich mich darauf freue,
Sie auf unſerem Künſtlerinnenball zu ſehen.
[172]
Sollte denn für Unſereinen keine Möglichkeit
beſtehen, ſich einzuſchmuggeln?
Es wäre Hochverrat, wenn jemand von uns
einer ſolchen Intrigue Vorſchub leiſtete.
Die prachtvollen Blumen.
in ſchlichtem Knoten, in goldener Spange).
Die hat mir Fräulein von Geſchwitz gebracht.
Bitte. — Sie werden ſich als Herr koſtümiren?
Glauben Sie, daß mir das ſteht?
Hier ſind Sie wie ein Märchen.
Mein Mann mag es nicht.
Iſt es von einem Hieſigen?
Sie werden ihn kaum gekannt haben.
[173]
Er lebt nicht mehr?
Er hatte genug.
Du biſt verſtimmt.
Ich muß gehen, Frau Doktor. Ich kann nicht
länger bleiben. Wir haben heute abend Aktzeichnen,
und ich habe noch ſo viel auf den Ball vorzu-
bereiten. — Herr Doktor.
Mitte ab.)
Zweiter Auftritt.
Der reine Augiasſtall. Das mein Lebensabend.
Man ſoll mir einen Winkel zeigen, der noch rein
iſt. Mir graut, mich hier auf einen Stuhl zu
ſetzen. Die Peſt im Haus. Der ärmſte Taglöhner
hat ſein ſauberes Neſt. Soll ich fort, alles ſtehen
laſſen, wie es ſteht, nach Amerika, nach Indien?
Dreißig Jahr Arbeit, Emporringen, und das der
Abend — mein Familienkreis, der Kreis der
[174] Meinen. Schmutz, daß es von den Wänden ſtarrt,
von den …
Gott weiß, wer mich
hier …
Man
iſt ja kaum ſeines Lebens ſicher. Ich bin der
Fremdeſte in meinem Haus.
ſchloſſene Fenſtergardine hinſprechend.)
Das mein Familien-
kreis! Der Kerl hat noch Mut. Soll ich mich
denn nicht lieber ſelber vor den Kopf ſchießen?
Gegen Todfeinde kämpft man, aber der …
Der Schmutz — der
Schmutz …
Ich bin überge-
ſchnappt, oder Ausnahmen beſtätigen die Regel.
Drilter Auftritt.
Könnteſt du dich für heute nicht frei machen?
Was wollte dieſe Gräfin eigentlich?
Ich weiß nicht. Sie will mich malen.
[175]
Das Unglück in Menſchengeſtalt, das ſeine
Viſite macht.
Könnteſt du dich nicht frei machen? Ich würde
ſo gerne durch die Anlagen fahren.
Gerade der Tag, an dem ich auf der Börſe
ſein muß. Du weißt, daß ich heute nicht frei bin.
Meine ganze Habe treibt auf den Wellen.
Lieber wollte ich beerdigt ſein, als mir mein
Leben durch meine Habe verbittern laſſen.
Wem das Leben leicht wird, dem fällt das
Sterben nicht ſchwer.
Als Kind hatte ich entſetzliche Angſt davor.
Deswegen habe ich dich ja geheiratet.
Du biſt ſchlecht gelaunt. Du machſt dir zu viel
Sorgen. Ich habe nichts von dir.
[176]
Du ſollteſt mich erleichtern.
Du haſt mich ja nicht geheiratet.
Wen habe ich denn geheiratet?
Ich habe dich geheiratet.
Was ändert das.
Ich fürchtete ſehr, es werde etwas ändern.
Es hat viel unter die Füße geſtampft.
Nur eines nicht.
Ich wäre begierig.
Deine Liebe.
Beide nach rechts vorn ab).
[177]
Dierter Auftritt.
vorn und lauſcht; ſchrickt zuſammen, da Stimmen auf der Galerie
laut werden).
O Gott …
Fünfter Auftritt.
Hat ſein Herz wol im Café „Ludwig“ ver-
geſſen?!
Er iſt noch zu klein und kann noch nicht ſo
weit zu Fuß gehen.
Gott ſei Dank, daß wir wieder zu Hauſe ſind.
Welcher Stinkpeter die Treppe gewichſt hat! Wenn
ich mir meine Knochen vor der Heimrufung noch
mal in Gips gießen laſſen muß, dann kann ſie
mich zwiſchen den Palmen hier ihren Relationen
als mediceiſche Venus vorſtellen. Nichts als
Klippen. Nichts als Fallſtricke.
Wedekind, Der Erdgeiſt. 12
[178]
herunter).
Das hat einen königlichen Polizeidirektor zum
Vater und nicht ſo viel Courage im Leib, wie der
abgeriſſenſte Landſtreicher.
Wenn es auf nichts als auf Tod und Leben
ginge …
Das Brüderchen wiegt ſamt ſeinem Liebes-
kummer hundertundfünfundzwanzig Pfund. Darauf
will ich mich jede Minute hängen laſſen.
Wirf ihn an die Decke und fang ihn mit den
Füßen auf. Das bringt ihm das Blut in Umlauf.
Ich werde von der Schule gejagt …
Biſt noch auf keiner geweſen.
Die erſten Sporen! Nur keine Schüchternheit!
Jetzt werde ich euch einen Tropfen vorſetzen, wie
er für Geld nicht zu haben iſt.
unter der Treppe.)
[179]
Wenn ſie nicht kommt, dann prügle ich euch
beide durch, daß ihr euch noch im Jenſeits den
Buckel kratzt.
Laß dir von Mutterchen erſt lange Hoſen an-
ziehen.
Borg mir lieber deinen Schnurrbart.
Damit ſie dich zur Thür hinauswirft.
Wüßte ich nur, was ich ſagen ſoll.
Das weiß ſie ſchon.
Die eine habe ich geſtern angebrochen.
Gläſer.)
Nicht zu viel.
Rauchen die Herren?
Da ſind Havanna.
12*
[180]
Von Papa Polizeidirektor?
Ich habe alles im Hauſe. Braucht nur zu be-
fehlen.
— Ich habe ihr ein Gedicht gemacht.
Was haſt du ihr gemacht?
Was hat er ihr gemacht?
Ein Gedicht.
Ein Gedicht.
Einen Thaler hat er mir verſprochen, wenn ich
ausſpionire, wo ſie wohnt.
Mich fragt er, was er ihr ſagen ſoll!
Wer wohnt denn hier?
Wir!
[181]
Jour fix — jeden Börſentag.
— Soll ich es ihr vorleſen?
Was meint er?
Sein Gedicht. Schraub ihm der Docht ein
wenig hinauf.
Die Augen!!
Die haben es ihr eingetränkt.
Kannſt dich einpökeln laſſen.
Zum Wohl, Gevatter Tod.
Ich will mich nicht umdrehen im Grabe. Zum
Wohl Springfritze. Wenn es beſſer kommt — zum
Wohl! — ich bin keine Schlafmütze, aber …
[182]
Sechſter Auftritt.
mit Blumen vor der Bruſt und im Haar).
Aber Kinder, Kinder, ich erwarte Beſuch!
Aber ſie müſſen es ſich was koſten laſſen!
Sie ſind in eine nette Geſellſchaft geraten. Ich
erwarte Beſuch, Kinder.
Da muß ich mir wol auch was vorſtecken.
Sehe ich gut aus?
Was ſind das?
Orchideen.
Riechen Sie.
Iſt es der Prinz Eſcerny?
[183]
Den könnten Sie doch in Ihren Gemächern
empfangen.
Der Prinz iſt verreiſt.
Sein Königreich auf Auktion bringen?
Er kundſchaftet eine friſche Völkerſchaft in der
Gegend von Afrika aus.
und tritt in die Galerie ein.)
— Er habe ſie urſprünglich heiraten wollen.
Ich habe ſie urſprünglich auch heiraten wollen.
Du haſt ſie urſprünglich heiraten wollen?
Haſt du ſie nicht auch urſprünglich heiraten
wollen?
Ich habe ſie urſpünglich heiraten wollen.
[184]
Wer hat ſie nicht urſprünglich heiraten wollen
— So gut hätte ich’s nie gekriegt!
Hätteſt es noch beſſer gekriegt!
Ich hätte ſie gehandhabt!
Sie hat es Keinen bereuen laſſen.
— Sie iſt alſo nicht dein Kind?
Fällt ihr nicht ein.
Wie heißt denn ihr Vater?
Es wäre auch zu wunderlich.
Sie hat mit mir renommirt!
Wie heißt denn ihr Vater?
[185]
Was meint er?
Wie ihr Vater heißt.
Sie hat nie einen gehabt.
Hugenberg auf die Armlehne).
Was habe ich nie gehabt?
Einen Vater.
Ich bin ein Wunderkind.
Wie
ſind Sie mit Ihrem Vater zufrieden?
Er raucht wenigſtens eine anſtändige Cigarre.
Haſt oben zugeſchloſſen?
Da iſt der Schlüſſel.
Hätteſt ihn lieber ſtecken laſſen.
Warum?
[186]
Damit man von außen nicht aufſchließen kann.
Iſt er denn nicht auf der Börſe?
Er leidet an Verfolgungswahn.
Ich nehme ihn auf die Füße und jupp — daß
er oben kleben bleibt.
Sie jagt er mit einem Viertelsſeitenblick durch
ein Mausloch.
Sehen Sie ſich bitte den Biceps an.
Zeigen Sie.
Granit. — Schmiedeeiſen.
Wenn Sie nur nicht ſo lange Ohren hätten. . . .
Herr Doktor Schön.
[187]
Der Lumpenkerl.
zurück.)
Gott behüte Einen!
den Gardinen.)
Gieb den Schlüſſel.
ſchleppt ſich die Treppe zur Galerie hinauf.)
Ich laſſe bitten.
Er bleibt hoffentlich nicht — dann ſind wir
allein …
St!
Siebenter Auftritt.
Die Matinee wird, wie ich mir denke, bei
brennenden Lampen ſtattfinden. Ich habe . .
Was iſt denn das?
[188]
Ein alter Freund deines Vaters.
Mir unbekannt.
Sie haben den Feldzug zuſammen mitgemacht.
Es geht ihm ſchrecklich …
Iſt mein Vater hier?
Er hat ein Glas mit ihm getrunken. Er mußte
auf die Börſe. — Wir dejeuniren vorher?
Wann geht es denn an?
Nach zwei.
Wie findeſt du mich …?
Warum ſollte ich dir das nicht verſchweigen
dürfen.
Ich meine die Toilette.
[189]
Deine Schneiderin kennt dich beſſer als ich —
dir erlauben würde, dich zu kennen.
Als ich mich im Spiegel ſah, hätte ich ein
Mann ſein wollen …
mein
Mann! — Ich hätte ein Ragout aus mir gemacht.
Was ſolche Himmelspracht an hölliſchen Ab-
gründen aufthut! — Es graut Einem.
Alwa links. Er betrachtet ſie mit ſcheuem Wohlgefallen.)
zwei Couverts auf; Flaſche Pommery, Hors d’Oeuvres).
Haben Sie Zahnſchmerzen?
Nicht.
Herr Doktor …?
Er ſcheint ſo weinerlich.
Man iſt auch nur ein Menſch. — —
[190]
Es hat dir immer ein wenig vor mir gegraut?
Wie vor etwas Überirdiſchem. — Wenn mir je
eines Menſchenkindes Glück heilig war …
Du ſtehſt ſo himmelhoch über uns, du kennſt
Jeden von Grund der Seele aus und denkſt ſo
groß — du kannſt eben nur Glück um dich haben …
Du kennſt mich von meiner beſten Seite. Das
iſt dein Verdienſt.
— Was ich am höchſten an dir ſchätzen gelernt,
iſt deine Charakterfeſtigkeit. Du biſt deiner ſo ſicher.
Wenn du fürchten mußteſt, dich mit deinem Vater
zu überwerfen, du biſt wie ein Bruder für mich
eingeſtanden …
Laſſen wir das. Es iſt einmal mein Los …
Das war ich.
Nicht möglich. Es iſt einmal mein Los, bei
den ſchwärzeſten Gedanken immer das Beſte zu erzielen.
[191]
Du bildeſt dir etwas ein, wenn du dich ſchlecht
machſt.
Es lebt kein ſo ſchlechter Menſch wie ich — der
ſo viel Gutes zuwege gebracht hätte.
Du biſt der Einzige auf dieſer Welt, der mich
beſchützt hat, ohne mich vor mir ſelbſt zu er-
niedrigen!
Hältſt du das für ſo leicht …?
Achter Auftritt.
Säulen, indem er vorſichtig den Vorhang teilt. Über die Bühne
wegſprechend).
Mein eigener Sohn!
… Mit deinen Gottesgaben macht man ſeine
Umgebung zu desperaten Verbrechern, ohne ſich’s
träumen zu laſſen. — Ich bin auch Fleiſch und Blut.
Wenn wir nicht wie Geſchwiſter nebeneinander auf-
gewachſen wären …
[192]
Deshalb gebe ich mich dir auch ohne Rückhalt.
— Ich habe nichts zu fürchten.
Du kennſt die Menſchen nicht! — Ich verſichere
dich, es giebt Augenblicke, wo man gewärtig iſt,
ſein ganzes Innere einſtürzen zu ſehen. — Je mehr
ſich ein Mann aufbürdet, um ſo leichter bricht er
zuſammen. Darüber hilft nichts hinweg, als …
Was ſuchſt du?
Laß mich mein Glaubensbekenntnis für mich
behalten! Du warſt mir mehr, als du irgend
Jemandem ſein konnteſt. — Dafür werde ich dir
ewig dankbar bleiben.
Du biſt doch ganz anders als dein Vater.
Brathähnchen mit Salat).
Sind Sie krank?
Laß ihn!
Er zittert.
[193]
Ich bin das Serviren noch nicht ſo gewohnt.
Sie müſſen ſich was verſchreiben laſſen.
Ich kutſchiere gewöhnlich. — —
Der alſo auch.
nach Erfordernis mit dem Vorhang deckend.)
Was ſind das für Augenblicke, von denen du
ſprechen wollteſt?
Ich habe es vergeſſen.
Wo man gewärtig iſt, ſein Inneres zuſammen-
ſtürzen zu ſehen?
Ich wollte nicht davon ſprechen.
Du ſagteſt, es lebe kein ſo ſchlechter Menſch
wie du …
Sagt’ ich das?
Wedekind, Der Erdgeiſt. 13
[194]
Was haſt du dir aufgebürdet?
Dein Glück heilig zu halten!
War das ſo ſchwer?
Du erleichterſt es Einem nicht.
Wenn wir nicht wie Geſchwiſter neben einander
aufgewachſen wären …
Nimmt das deinen Augen die Glut? — Deinen
Lippen die —?
Was haſt du?
— Ich möchte nicht gern über einem Glas Cham-
pagner verſcherzen, was mir während zehn Jahren
mein höchſtes Lebensglück geweſen.
Ich habe dir weh gethan —
Du könnteſt etwas weniger unbeſonnen plaudern!
Ich will nicht wieder davon anfangen.
[195]
Verſprichſt du mir?
Meine Hand darauf.
Tiſch.)
und innig an ſeine Lippen).
Was thuſt du …
Und da iſt noch Einer!
Eine Seele — die ſich im Jenſeits den Schlaf
aus den Augen reibt …
Bitte …
Der Arm …
Was findeſt du daran …
Einen Körper … Junge, Junge — wenn du
über den Halys gehſt, wirſt du ein großes Reich
zerſtören!
13*
[196]
Laß …
Ich habe ſie bis heute nur im Handſchuh ge-
ſehen. — Ich habe dich bis heute nur …
Sieh mich nicht ſo an — um Gottes willen!
Ich habe dich in meinem Leben nicht angeſehen!!
Laß uns lieber gehen, ehe es zu ſpät iſt.
Mignon! — Mignon …
Du biſt ein verworfener Menſch!
Und du? — die du mich …?
Hab Erbarmen! — Hab Erbarmen! — Du
machſt uns unglücklich.
Ich ſagte dir ja, ich bin der niederträchtigſte
Schurke …
Das ſehe ich!!
[197]
Ich habe kein Ehrgefühl — keinen Stolz …
Du hältſt mich für Deinesgleichen!
Du? — du ſtehſt ſo himmelhoch über mir wie —
wie die Sonne über dem tiefſten Abgrund …
Richte mich zu Grunde! — Ich bitte dich, mach’
ein Ende mit mir! — Mach’ ein Ende mit mir!
Liebſt du mich denn?
Ich bezahle dich mit Allem, was mein war!
Liebſt du mich?!
Liebſt du mich — Mignon …?
Ich? — Keine Seele.
Ich liebe dich.
— Ich habe deine Mutter vergiftet …
[198]
der Galerie ſitzen und macht ihn durch Zeichen auf Lulu und Alwa
aufmerkſam).
erhebt ſich).
Sein Vater!
bei der Schulter).
Alwa!
In Paris iſt Revolution ausgebrochen.
Das kann mir darüber hinweghelfen …
Auf der Redaktion rennen ſie ſich den Kopf
gegen die Wand …
Alwa durch die Mitte hinaus.)
[199]
Sie können hier nicht hinaus.
Laſſen Sie mich durch!
Sie rennen ihm in die Arme.
Er jagt mir ſein Piſtol durch den Kopf.
Er kommt.
Himmel, Tod und Wolkenbruch!
Kein Platz.
Verdammt und zugenäht.
ſich rechts hinter der Portiere.)
in der Hand, auf das Fenſter links vorn zu, ſchlägt die Gardine in
die Höhe).
— Wo iſt denn der hin?
Hinaus.
Über den Balkon??
[200]
Er iſt Kunſtturner.
Das war nicht vorauszuſehen. — Du Creatur,
die mich durch den Straßenkot zum Martertode
ſchleift!
Warum haſt du mich nicht beſſer erzogen?
Du Würgengel! Du Fluch, der über mein
Lebenswerk kam! Du unabwendbares Verhängnis!
Du Advocatus diaboli, der mich mit Peitſchenhieben
zum Abgrund treibt: Mörder werden oder im
Schmutz ertrinken; mich einſchiffen wie ein ent-
laſſener Sträfling, oder mich über dem Moraſt auf-
hängen. Du Freude meines Alters! Du Dankes-
frucht meiner Sorgfalt, meiner Liebe, meiner Menſch-
lichkeit, meiner Opfer! Du Hohn auf alles, was
Menſchenſeele heißt! Du Henkerſtrick des Uner-
forſchlichen!
Töte mich. Spar deine Worte.
Ich habe dich nackt aus dem Straßenkot ge-
zogen. Ich habe dich gepflegt, wie nie ein Vater
ein leiblich Kind gepflegt hat. Ich habe auf dich
[201] gehäuſt, was mir an Glück auszuteilen vergönnt
war. Ich habe mich dir überantwortet. Ich habe
meine grauen Haare deinem Takt anvertraut. Ich
habe dir Hab und Gut verſchrieben und nichts ge-
fordert, als die Achtung, die meinem Haus jeder
Dienſtbote zollt. Dein Kredit iſt erſchöpft.
Ich kann noch auf Jahre für meine Rechnung
einſtehen.
Nicht eine Stunde mehr. Die Rechnung iſt
aus. Dein Konto iſt geſchloſſen.
Wie gefällt dir mein Kleid?
Weg mit dir, ſonſt ſchlägt’s mir morgen über
den Kopf, und mein Sohn ſchwimmt in ſeinem Blute.
Weg mit mir.
Du biſt eine reißende Beſtie unter uns groß-
geworden. Du packſt Seele um Seele bei ihrem
Höchſten, um ſie Satanas in den Rachen zu jagen.
Du hafteſt mir als unheilbare Seuche an, an der
[202] ich bis in mein Grab meine Lebenszüge verächzen
ſoll. Ich will mich heilen. Begreifſt du mich?
Das iſt dein Specificum.
— Brich nicht in die Knie! — Du ſollſt es dir
ſelbſt appliziren. Du ſollſt es in dich hinein-
würgen. Du oder ich, wir meſſen uns. Du
biſt wie ein freilaufender toller Hund, den die
öffentliche Sicherheit niederzuſchlagen befiehlt.
niedergelaſſen).
Das geht ja nicht los.
Weißt du noch, wie ich dich der Korrektions-
polizei aus den Klauen riß? Hat ſich ein Funke
in dir belebt zur Entſchuldigung meines Verbrechens!
Haſt du dir die Glücksgüter der guten Geſellſchaft
in den Schoß regnen laſſen, um auch nur ein Haar
breit deines angeſtammten Sumpfes zu opfern?
Du haſt viel Zutrauen …
Weil ich eine Dirne nicht fürchte? Soll ich
dir die Hand führen? Haſt du ſelbſt kein Er-
barmen mit dir?
Keinen blinden Lärm!
[203]
Galerie ab).
Was war das …?
Nichts.
Was kam da herausgeflattert?
Du leideſt an Verfolgungswahn.
— Hältſt du noch mehr Männer hier verſteckt?
Iſt noch ſonſt ein Mann
zu Beſuch?
Ich will deine Männer
regaliren!
Kaminſchirm zurück, packt die Geſchwitz am Kragen und ſchleppt ſie
nach vorn.)
— Kommen Sie durch den Rauchfang
herunter?
Retten Sie mich vor ihm.
Oder ſind Sie auch Kunſtturner?
Sie thun mir weh.
[204]
Jetzt müſſen Sie notwendig noch zum Diner
bleiben.
verſchließt die Thür hinter ihr.)
Wir wollen keine Aus-
rufer.
Es
iſt noch genug drin. — Schämſt du dich der In-
timitäten nicht, die du feil bieteſt? Sieh mich
an! Ich kann in meinem Haus meinem Kutſcher
nicht helfen, mir die Stirn zu verzieren. Sieh mich
an! Glaubſt du, ich will meinem Kutſcher ſein
Glück ſtreitig machen? Sieh mich an! Ich be-
zahle meinen Kutſcher. Sieh mich an! Iſt mein
Kutſcher zufrieden? Sieh mich an! Sieh mich an!
Vergönne ich meinem Kutſcher was, wenn ich den
infamen Stallgeruch nicht verſchnupfen kann?
Laß anſpannen. Bitte. Wir fahren in die Oper.
Wir fahren zum Teufel! Jetzt kutſchiere ich.
Wir ſind hölliſch aufgedonnert. Glaubſt du, man
leidet Todesqualen in meinen Jahren und ſagt:
Geh und ſündige nicht wieder?
Hand von ſich ab und auf Lulus Bruſt wendend.)
Nicht, nicht.
Faß dir ein Herz. Ich habe noch Zeit. Glaubſt
du, man läßt ſich mißhandeln, wie du mich miß-
[205] handelſt, und beſinnt ſich zwiſchen einer Galeeren-
ſchande von Lebensabend und dem Verdienſt, die
Welt von dir zu befreien? Sieh mich an, ſag ich!
Du warteſt, bis man dich totſchlägt.
Ich bin gleich zurück …
Nicht mehr der Mühe wert! Du weißt, wo
du hin mußt. Ich müßte von dir nicht zu Stein
verhärtet worden ſein, um dich mir noch einmal
entwiſchen zu laſſen. Mach’s kurz. Ich müßte dir
nicht gleich geworden ſein an Menſchlichkeit. Komm
zu Ende. Es ſoll mir die glücklichſte Erinnerung
meines Lebens ſein.
Hör’ auf.
Drück’ los.
— Du kannſt dich ſcheiden laſſen.
Das war noch übrig. Damit morgen ein
Nächſter ſeinen Zeitvertreib findet, wo ich von Ab-
grund zu Abgrund geſchaudert, den Selbſtmord im
Nacken und dich vor mir. Das wagt ſich dir über
die Lippen? Siehſt du den roten Kopf mit dem
[206] weißen Haar? Siehſt du die verdrehten Augen,
die blutige Stirn? Siehſt du die dicke gelbe Hand
nach dir vorgeſtreckt, nach deinem Pierrot? Das
iſt dein Geſchiedener, Mörderin. Dem gehörſt du
mit Leib und Liebe. Geh ihm nach. Hol ihn ein.
Du haſt keine Zeit zu verlieren. Er hat dich ge-
liebt. In ſeine Arme! In ſeine Arme!
Erbarm dich mein.
Du ſollſt ihm Tararabumdiä vortanzen. Drück’
los! Ich mich ſcheiden laſſen? Was ich von
meinem Leben in dich hineingelebt, ſoll ich wilden
Tieren vorgeworfen ſehen? Ich mach’ es wie du.
Siehſt du die Decken triefen? Siehſt du den Blut-
altar, dein Ehebett, mit dem Schlachtopfer darauf?
Siehſt du den Hals offen ſtehen? Der Junge hat
Heimweh nach dir — ſeine ſchönen blauen Augen,
ſeine patente Figur, ſeine Küſſe, ſeine Umarmung
— er war noch nicht fertig. Du hatteſt dir den
Ekel an ihm geküßt. Haſt du dich ſcheiden laſſen?
Du haſt ihn in den Tod gepeitſcht, ihn unter die
Füße getreten, ihm die Seele zerfleiſcht, ihm das
Gehirn ausgeſchlagen, ihm den Hals abgeſchnitten,
ſein Blut in Goldſtücken aufgefangen. Das iſt die
[207] Art, ſich ſcheiden zu laſſen. Ich mich ſcheiden
laſſen! Läßt man ſich ſcheiden, wenn die Menſchen
ineinander hineingewachſen und der halbe Menſch
mitgeht?
Gieb her.
Erbarm dich mein.
Ich will dir die Mühe abnehmen.
— Wenn ſich die Menſchen um meinetwillen
umgebracht haben, ſo ſetzt das meinen Wert nicht
herab. — Du haſt ſo gut gewußt, weswegen du
mich zur Frau nimmſt, wie ich gewußt habe, wes-
wegen ich dich zum Mann nehme. — Du hatteſt
deine beſten Freunde mit mir betrogen, du konnteſt
nicht gut auch noch dich ſelber betrügen. — Wenn
du mir deinen Lebensabend zum Opfer bringſt, ſo
haſt du meine ganze Jugend dafür gehabt. Du
verſtehſt dich zehnmal beſſer als ich darauf, was
höher im Wert ſteht. — Ich habe nie in der Welt
etwas anderes ſcheinen wollen, als wofür man mich
genommen hat, und man hat mich nie in der Welt
für etwas anderes genommen, als was ich bin. —
Du willſt mich dazu zwingen, mir eine Kugel ins
Herz zu jagen. Das iſt eine eigentümliche Zu-
[208] mutung. Ich bin keine ſechzehn Jahr mehr; das
braucht man mir nicht zu ſagen. Aber um mir
eine Kugel ins Herz zu jagen, dafür bin ich mir
doch noch zu ſchön.
Nieder, Mörderin! Nieder mit dir! In die
Knie, Mörderin!
erhebend.)
Nieder — und wage nicht wieder auf-
zuſtehn!
Bete zu Gott, Mörderin! Falte die Hände!
Bete zu Gott, daß er dir Kraft giebt! Flehe den
Himmel um Kraft an, Mörderin — daß der Himmel
dir die Kraft dazu verleiht!
Geduld — Geduld —
Blick nicht auf, Mörderin! Blick nicht auf!
Bitte den Himmel um Kraft! Blick nicht auf!
ſeite ſtoßend).
Hülfe!
Revolver abzudrücken).
[209]
den Seſſel niederläßt).
Und — da — iſt — noch — Einer …
Allbarmherziger …
Aus meinen Augen! — — — Alwa!
Der Einzige, den ich geliebt!
Dirne! Mörderin! — Alwa! Alwa! — Waſſer!
Waſſer; er verdurſtet.
und ſetzt es Schön an die Lippen.)
verbunden, hält Lulu ein Glas hin).
Mir auch, bitte. Mir wird ſchwarz.
Alwa! Alwa! Alwa! Mörderpack!
Mein Vater! Um Gottes willen, mein Vater!
Ich habe ihn erſchoſſen.
Wedekind, Der Erdgeiſt. 14
[210]
Sie iſt unſchuldig!
Zum Arzt! Zum Arzt!
Du biſt es. Es iſt mißglückt.
Fort,
Mörderin.
Du mußt zu Bett. Komm.
Faß mich nicht ſo an. — Ich verdorre …
Du bleibſt dir gleich.
Laß ſie nicht entkommen. — Du biſt der Nächſte …
Helfen Sie mir, ihn aufs Bett bringen.
Nein, nein, bitte, nein. — Ein Advokat. Sekt,
Mörderin …
Mörderin. — Sie ſoll mit, Alwa.
[211]
Faſſen Sie mit an.
Ins Schlaf-
zimmer.
Lulu bleibt neben dem Tiſch, das Glas in der Hand.)
O Gott, o Gott, o Gott …
Der Teufel! —
küßt ihn).
Du haſt zu gut von den Menſchen gedacht! —
Sieh mich an: Ich mich umbringen!
Zurück!
nieder).
Er hat es überſtanden. —
Treppe hinan.)
Nicht von der Stelle! —
mit dem Blick.)
Ich glaubte, du wäreſt es.
14*
[212]
Laß mich fort.
Wir bleiben zuſammen.
Du kannſt mich nicht dem Gericht ausliefern.
Es iſt mein Kopf, den man mir abſchlägt. Ich
habe ihn erſchoſſen, weil er mir den Revolver gab.
Er hat mich gehetzt und gemartert, bis ich von
Sinnen war. Ich habe keinen Menſchen auf der
Welt geliebt, als ihn. Alwa, Alwa, verlang, was
du willſt.
Hier bin ich. Nimm
mich mit dir fort. Aber laß mich hinaus. Ich
beſchwöre dich. Laß mich nicht der Gerechtigkeit in
die Hände fallen. Man bringt mich um. Es iſt
ſchade um mich! Nimm du mich, Alwa. Ich bin
noch jung. Nimm du mich. Verlang, was du
willſt. Ich bitte dich. Höre mich, Alwa. Laß
dich erweichen. Was ſoll ich thun. Ich will dir
treu ſein mein Leben lang. Ich will nur dir ge-
hören, dir allein. Sieh mich an, Alwa. — Menſch,
ſieh mich an! Sieh mich an!
Die Polizei.
Ich werde von der Schule gejagt.
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Appendix A
Druck von Heſſe \& Becker in Leipzig
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- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Der Erdgeist. Der Erdgeist. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq0w.0