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Zur Entwicklungsgeschichte des
Alpinismus und der alpinen Technik

in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen.


Von
L. Purtscheller.


I.


Zwei Naturschönheiten ersten Ranges sind es, die unserem Erd-
theile zur besonderen Zierde gereichen: die Alpen und das
Meer. Beides Urgewalten von höchster Potenz, beide der Ausfluss
einer erhabenen, unerschöpflichen Ideenfülle, beide gleich ehrwürdig
durch ihren Ursprung, durch ihr Alter und durch ihre Geschichte.


Die Alpen bilden das Rückgrat, die Achse in dem kunstvoll
gefügten europäischen Land-Baue, von denen fast alle anderen
wichtigeren Gebirgsketten und Flüsse ausstrahlen. Ohne die
Alpen würden die Temperatur, die Regen- und Feuchtigkeits-
vertheilung, die Wasserläufe und hierdurch auch die Geschichte
Europas anders sein. Würde sich die biblische Ueberlieferung
nicht so bestimmt auf Asien beziehen, so könnte man das Paradies
an den Abhängen des Alpengebirges suchen, aus dessen krystallenen
Klüften, wie in Eden, vier herrliche Ströme nach allen vierWelt-
gegenden hervorbrechen. In den Thälern des Po, der Rhone,
des Rheins und der Donau spielte seit jeher ein grosser Theil
der europäischen Geschichte, hier liegt auch die Zukunft des Erd-
theiles verschlossen.


Viel später aber als die hochwogende, salzhauchende Meeres-
fluth traten die Alpen in den Vordergrund unserer Anschauung
und Interessen. Welch’ lückenhafte Vorstellung Cicero, Livius,
[96]L. PurtschellerAmmianus Marcellinus, Polybius, Tacitus über die Alpen
besassen, wie das Mittelalter, ja selbst die letztverflossenen Jahr-
hunderte über die Gebirge dachten, bedarf hier keiner näheren
Erörterung. Gewiss hätten auch unsere Vorfahren den Alpen
den Tribut ihrer Bewunderung gezollt, wäre es ihnen vergönnt
gewesen, mit derselben Bequemlichkeit und Sicherheit, wie dies
heute geschehen kann, in die weltentrückten Hochthäler ein-
zudringen.


Dessenungeachtet hat die ältere Epoche eine stattliche Zahl
von Männern aufzuweisen, die mit prophetischem Geiste den
Ruhm des Alpengebirges erschauten. Zu diesen Männern gehören
die zwei grossen Vertreter der Renaissance, Dante und Petrarca,
der universelle Geist Leonardo’s da Vinci und vor Allem die
berühmten Schweizer Naturforscher, Konrad Gessner und
Johann Jakob Scheuchzer. Gessner und sein Zeitgenosse
Josias Simler, beide dem XVI. Jahrhunderte angehörig, empfanden
und schrieben bereits im Sinne unserer heutigen Zeit, und
Scheuchzer unternahm es 1723, die Früchte seiner Alpenreisen in
einem vierbändigen Werke „Itinera alpina“ niederzulegen. Wie
Gessner, besass auch Scheuchzer ein lebhaftes Verständniss für
die Schönheit der Hochgebirgsnatur, er bekennt unumwunden,
„an dergleichen wilden und einsamen Orten grössere Belustigung
und mehr Eifer zur Aufmerkung zu spüren, als bei den Füssen
des grossen Aristoteles, Epikur und Cartesius.“


Noch grössere Verdienste um die Alpenwelt als Scheuchzer
erwarb sich ihr erhabenster Sänger, Albrecht von Haller. Wie
die Donnerwürfe des Föhns die Hochthäler durchstürmen und
ein gewaltiges Echo in den Bergen wachrufen, so fand auch
Haller’s Dichtung einen mächtigen Widerhall in den Herzen seiner
Zeitgenossen. Wohl Niemand hat die Bergeswelt in reinerem
dichterischen Aufschwunge, Niemand ihren Einfluss auf die Sitte
und Denkweise ihrer Bewohner mit grösserer idealer Begeisterung
geschildert, als der zwanzigjährige Doctor medicinae, dem die in
Luxus und Genuss aufwachsenden Städter als ein „verachtetes
Volk“ erschienen. Diese Dichtung, in der die Kraft, die Klarheit
und Bilderfülle des Haller’schen Talentes in bewunderungswürdiger
Weise hervortreten, war der lebendige Ausdruck jenes Natur-
gefühles, das lange Zeit in der Kunstform des Idylls, des Schäfer-
romans und des Lehrgedichtes die Gemüther beherrschte.


War schon Haller, eine kräftig angelegte, sittlich gesunde
Individualität, bei seiner Verehrung für die Natur im Gegensatze
[97]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.zur Kultur an der Grenze des Erlaubten angelangt, so wurde diese
Grenze thatsächlich überschritten von Jean Jacques Rousseau.
Während Haller und seine Gesinnungsgenossen ihre Kultur-
verachtung nur theoretisch zum Ausdrucke brachten, suchte der
grosse Genfer Philosoph mit Hintansetzung aller konventionellen
Rücksichten, ohne jede Berufsthätigkeit, nur dem Naturgenusse
und dem hierdurch gesteigerten Selbstgenusse zu leben. Dessen-
ungeachtet zehren wir heute noch von den Früchten, die Rousseau’s
Eremitage auf der Peters-Insel im Bielersee gezeitigt hatte. Er
lehrte dem verkünstelten Geschlechte in den Städten, wie man die
Natur geniessen müsse, er stellte die richtige Ferienphilosophie
auf, eine Kunst, die erlernt sein will, und gegen die sich auch
heute noch so viele Menschen vergehen. Oder haben nicht die
Worte, die Rousseau seinem Helden Saint-Preux in der „Nouvelle
Héloïse“ in den Mund legt, noch gegenwärtig ihre volle Berech-
tigung?


„Die Bewohner von Paris, die auf’s Land zu gehen glauben,
gehen in Wirklichkeit gar nicht dorthin, sie nehmen Paris mit
sich. Die Sänger, die Schöngeister, die Autoren, die Parasiten,
sie alle bilden ihr Gefolge. Ihre Tafel deckt sich wie in Paris,
sie essen zu derselben Stunde, man trägt ihnen dieselben Gerichte
in denselben Platten auf, sie treiben dieselben Dinge, ebenso gut
hätten sie zu Hause bleiben können. Denn so reich man auch
sein und soviel Sorgfalt man auch aufwenden mag, immer fühlt
man auf dem Lande eine gewisse Entbehrung, weil man doch nicht
ganz Paris mit sich nehmen kann. So kennen sie nur eine
Weise zu leben und leiden stets an Langweile.“


Das Interesse für die Alpenwelt trat in eine neue Phase, als
in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts jene Gährung in
der deutschen Literatur entstand, die man als Sturm- und Drang-
periode bezeichnet. Das Losungswort jener Tage war Natur, und
was in Haller’s Alpen noch als schmerzliche Sehnsucht erscheint,
wird nun zur stürmischen Forderung für Kunst und Leben. Auf
französischem Sprachgebiete haben insbesondere Buffon, Ber-
nardin de St. Pierre
und Chateaubriand zu Gunsten dieser Be-
wegung gewirkt, in Deutschland war ihr gewaltigster Vertreter
Wolfgang Goethe. Das erste bedeutende Werk des jungen
Olympiers, „Götz von Berlichingen“, war ein Triumph der genialen
Natur gegenüber der Schablone der französischen Classicität, und
sein „Werther“ trieb das Recht der Leidenschaft im Namen der Natur
auf die Spitze. Goethe hat die Alpen dreimal besucht, das erste
Zeitschrift, 1894. 7[98]L. PurtschellerMal 1775 als liebedürstiger, von der Sonne des Dichterruhmes
umstrahlter Jüngling, das zweite Mal 1779 auf der Höhe seines
künstlerischen Schaffens, und das dritte Mal 1797 als ein mit
grossen Erfolgen beglückter und an äusseren Ehren überhäufter
Mann, dessen Lebensanschauung durch das Studium der Antike zu
höchster Vollendung und höchster Harmonie gereift war. Auf
seiner ersten Reise sammelte Goethe eine Fülle von Eindrücken
aus der grossartigen Scenerie der Alpen, er genoss mit dem Ge-
fühle und nicht mit dem Verstande; auf seiner zweiten und dritten
Reise überwiegt bereits das naturhistorische Interesse, die kritische
Beobachtung und das Naturverständniss, ein psychologischer Vor-
gang, über den so mancher erfahrene Alpenwanderer zu berichten
weiss. Und für Alles, was sein Auge anschaute, mit was sein
empfänglicher Geist sich beschäftigte, fand er den richtigen Aus-
druck, das belebende Wort: Die beschattete Bucht, in der alle
Lüfte ruhen, der Berge Gipfelriesen, die früh des ewigen Lichts
sich freuen, Thäler aus Morgenduft gewoben und Sonnenklarheit,
des Gotthards Urfelsen, um die die Lawinen im donnernden Fall
ihr Morgenlied jubeln, der Wassersturz, der das Felsenriff durch-
braust und um den die Winde gar lieblich buhlen: wie tönt dies
Alles so harmonisch schön auf des Dichters güld’ner Harfe!


Es wäre auffallend, wenn die Begeisterung, die Goethe den
Alpen entgegenbrachte, sich nicht auch auf Schiller, seinen
Freund und Mitgenossen des Dichterruhmes, übertragen hätte.
Obwohl Schiller die Alpen nie mit eigenen Augen sah, wusste
doch seine grossartige Phantasie aus der Lektüre und den Berichten
Anderer ein getreues Bild der Alpennatur zu entwerfen. Aber
während bei Goethe das naturhistorische Interesse überwiegt und
ihm die Menschen „unter den grossen Gegenständen der Natur
minder merkwürdig“ erschienen, betrachtete Schiller die Alpen
vorzugsweise als Schauplatz geschichtlicher Thaten und in ihrer
Wirkung auf das menschliche Gemüth. Schiller führte das Hoch-
gebirge auf die Bühne und stellte die Alpenbewohner als die
Wächter des Freiheitsideales hin. Unsterblicher Sänger des Tell!
Welche Gefühle erschüttern unsere Brust, wenn wir unsern Geist
in deine grosse Dichtung versenken, wie wunderbar, wie seltsam
wird uns zu Muthe, wenn wir das „Berglied“ oder des „Alpen-
jägers“ kecke Strophen citieren. Es ist das Kennzeichen des
Genius, dass er eine Fackel entzündet, die unauslöschlich in allen
Zeiten voranleuchtet. Und diese Leuchte des Dichterheros, seine
flammenden Worte erhellten auch das Deutsche Volk, als es nach
[99]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.gewaltiger Geistesarbeit im Innern und nach einem Heldenkampfe
ohne Gleichen den stolzen Bau des Deutschen Reiches begründete.


Unter den Dichtern, die nach Goethe und Schiller die
Herrlichkeit der Bergeswelt besangen, erstrahlt ein Name in
besonderem Glanze: Lord Byron, neben Homer wohl der grösste
Landschafts-Dichter aller Zeiten. Dasselbe „Hohe Lied der Freiheit“,
das uns aus Schiller’s Tell entgegenklingt, wurde ein Jahrzehnt
später von dem grossen Britten im „Prisoner of Chillon“ ange-
stimmt. Nach einem Besuche des alten Schlosses Chillon, hinge-
rissen von dem Zauber des genius loci, schrieb Byron, sozusagen in
einer einzigen Nacht, dieses schöne und erhabene Gedicht, dessen
Hauptinhalt der in langer Kerkerhaft schmachtende Genfer Prior
Bonnivard ist, dem erst nach vielen Leiden die Stunde der
Freiheit schlägt. „Child Harold“, eine andere Dichtung Byron’s,
zeigt neben einem tiefen Weltschmerze, diesem Erbtheil bevor-
zugter Geister, auch den unverkennbaren pantheistischen Zug,
den Wunsch, ganz in der Natur aufzugehen:


„I life not in myself, but I become
Portion of that around me.“


„Sind nicht die Berge, die Wogen und der Himmel ein
Theil von mir und meiner Seele, wie ich ein Theil von ihnen“,
so fragt Byron an einer anderen Stelle. Die stolzen, himmelan-
strebenden Berge haben für ihn nichts Schreckhaftes mehr, sie
versinnbildlichen vielmehr das titanische Ringen in seiner eigenen
Brust, und er dichtet auf der Wengern Alp, im Angesichte der
Jungfrau und des Eigers seinen „Manfred“, dieses alle Tiefen des
Menschenherzens durchbebende Drama.


Eine mächtige Stütze, deren Dauer sich bis in die jüngste
Zeit erstreckt, erhielt der Alpinismus durch die Werke der grossen
Alpenmaler, durch die herrlichen Schöpfungen der völkerverbin-
denden Kunst. Schon früher, bevor noch den Alpen eine grössere
Beachtung zu Theil wurde, hatte sich die Landschaftsmalerei zu
hoher Blüthe entwickelt. Wie für die Historienmalerei das Cinque-
cento, so ist die eigentliche Kunstepoche der grossen Landschafter
das XVII. Jahrhundert. In der Zeit der Renaissance und des
Classicismus schlummerte das Gefühl für das Naturschöne und
wartete, wie Dornröschen, auf den erweckenden Kuss. Aber um
so grösser waren die Triumphe, die sich die Landschaftsmalerei
in der Folgezeit erwarb! Auf wenige Jahrzehnte finden wir zusammen-
gedrängt Claude Lorrain, den Maler des Lichtes und
der duftigen Ferne, Ruysdael’s wasserdurchrauschte Wald-
7*[100]L. Purtschellerschluchten und drohendes Gewölk, sowie die heroischen Baum-
gestalten von Gaspard und Nikolaus Poussin. Interessant ist
es, dass Pinturicchio und andere ältere italienische Maler ihre
Portrait-Bilder mit sonderbaren, spitzen Berggestalten, den Dolo-
miten Südtirols nicht unähnlich, auszuschmücken pflegten, eine kon-
ventionelle Beigabe, für die noch eine befriedigende Erklärung fehlt.


Die alpine Landschaftsmalerei im Sinne unserer modernen
heutigen Denkart ist ein Kind der neueren Zeit. Ihr Beginn fällt

Figure 1. Valentin Stanig.


in die ersten Jahrzehnte des gegenwärtigen Jahrhunderts, und es
waren zunächst ältere Schweizer Meister und auch nordische
Maler, die ihr bergiges Heimatsland oder die meerumspülten
Fjorde in ihre Bilder hereinzogen.


Schon Tizian bewies seine Liebe für die Gebirgswelt
durch manchen farbenglühenden, mit feinem Gefühl für die
bewegten Linien gemalten Hintergrund, und Salvator Rosa be-
völkerte die wilden Schluchten und Felsberge der Abruzzen mit
ebenso wilden Räubergestalten, indem er trotz seiner Bekanntschaft
mit dem Gebirge nur das Abschreckende wahrnahm.


[101]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.

Der erste Landschaftsmaler, der das Hochgebirge mit warmer
Begeisterung darstellte, war der Engländer G. M. W. Turner,
dessen Bilder, wenn auch meist frei kombiniert, ein erstaunliches Ver-
ständniss für die Gebirgswelt und zugleich die grösste Meisterschaft
in der Behandlung der Licht- und Lufteffekte aufweisen. Von Turner
beeinflusst und überdies ein echter Alpenwanderer war E. Walton,
dessen grösstentheils der Schweiz entnommene Aquarelle fast
ausschliesslich bei Mitgliedern des Alpine Club zu finden sind.

Figure 2. Peter Karl Thurwieser.


Walton’s nebelumwobene Schneespitzen sind vielleicht bis jetzt
unübertroffen, dagegen ist G. Loppé der Meister der alpinen
Winterlandschaft, der Firn- und Gletscherregion.


Von deutschen Künstlern, die sich mit Vorliebe und Erfolg der
Gebirgslandschaft zuwandten, sind vor allem A. Zimmermann sen.,
A. Obermüller, O. v. Kameke und G. Castan, ein Schüler
Calame’s zu nennen, und hierher gehören auch die Norweger
G. A. Rasmussen und A. Normann, die mit virtuoser
Plastik und warmem Kolorit die Berge und Fjorde ihrer Heimat
malten.


[102]L. Purtscheller

Unter den älteren Malern erreichte der Schweizer A. Calame
den höchsten Gipfel der Vollkommenheit. Wohl kein anderer
Meister hat vor ihm die alpine Landschaft in so grossartiger Er-
habenheit und in so wunderbarer Romantik darzustellen versucht, als
der Schüler des berühmten Landschafters Diday. Viele seiner
Bilder, wie die im Leipziger Museum befindlichen Unica: Monte
Rosa bei Sonnenaufgang, Felsensturz im Haslithale, der Waldsturm,
Campagna von Pästum, sind noch heute Meisterleistungen von
unübertroffener Schönheit. Das geistige Element, die malerische
Gruppierung der Dinge, die getreue, den Naturerscheinungen
vollends entsprechende, künstlerische Darstellung kommen in
Calame’s sämmtlichen Werken zu vollendet harmonischem Aus-
drucke.


Unter den grossen Malern der neueren realistischen Schule
ragen insbesondere hervor K. Ludwig, Direktor der Kunst-
akademie zu Stuttgart, und E. Bracht in Berlin, der sich durch
seine dramatische Auffassung der Alpenlandschaft einen grossen
Namen erworben hat. Die Darstellung der höchsten Felsen-
und Gletscherwelt pflegen ausser unserem grossen Meister
E. T. Compton, dessen Gemälde zu den ersten Glanzstücken
jeder Kunstausstellung gehören, H. G. Willink, der geniale
Illustrator von Dent’s „Mountaineering“ und Zeno Diemer in
München. J. G. Steffan sucht in seinen Alpenthälern und
Gebirgsflüssen der stilvollen Form und der Komposition von
Calame nahe zu kommen, noch mehr sehen wir die Scenerie und
die koloristischen Effekte bei Heinlein entwickelt. Kraftvolle
Alpenlandschaften haben auch G. Closs, R. Russ und die Ge-
brüder Zimmermann gemalt. Das alpine Genre ist durch
M. J. Wagenbauer und F. Gauermann in wahrhaft klassischer
Weise vertreten, insbesondere wusste Gauermann das alpine Leben
in überzeugender Naturtreue darzustellen, und hierher gehören
auch die beiden grossen Tiroler, Hans Defregger und Mathias
Schmid
, welche das Leben des Tiroler Volkes und die Geschichte
ihres Heimatslandes in ähnlicher Weise und mit kaum minderem
Erfolge zu idealisieren verstanden, als Schiller die Heldenkämpfe
der Schweizer in seinem „Tell“. Die Thiere der Alpen finden ihre
Darsteller in J. Chr. Kröner, J. A. Thiele und F. v. Pausinger,
dem klassischen Waidmann, dessen Kohlenzeichnungen zu den
Meisterwerken ersten Ranges gehören. H. Bürkel und R. Koller
gehören als Thiermaler einer früheren Generation an, ebenso auch
die Vedutenmaler K. Millner, A. Waagen und Morgenstern.


[103]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.

Wie sich aus Vorstehendem ergiebt, haben sowohl die
Litteratur, wie die Malerei, die darstellende, wie die bildende
Kunst in hervorragender Weise dazu beigetragen, den Sinn für
das Hochgebirge und für Alpenwanderungen zu beleben. Bevor
wir uns mit den eigentlichen Alpen-Pionieren beschäftigen, sei
auch derjenigen gedacht, die das Gebirge aus beruflicher Thätig-
keit besteigen: der Hirten, Jäger und Bergleute, dann der Bo-
taniker, Geologen und Kartographen, die als die „Eclaireurs“ der
späteren alpinen Völkerwanderung zu betrachten sind.


Seit unvordenklicher Zeit hat der Hirte, soweit der Alpen-
und Weideboden reicht, von den Bergen seiner Heimat Besitz
genommen. Unzweifelhaft sind im Gebirge viele, ja vielleicht die
Mehrzahl der auf den Anhöhen gelegenen Siedelungen älter, als
jene in den Thälern, deren Niederungen grösstentheils von
Sümpfen erfüllt waren. Seit jeher schon dürften die herrlichen, in
buntem Blumenschmucke leuchtenden Alpenmatten die Berg-
bewohner veranlasst haben, ihr Vieh in der Höhe zu sommern und
Bergwiesen für wirthschaftliche Zwecke dienstbar zu machen. Von
mehreren dieser Alpenweiden lässt sich eine Benützung von über
1000 Jahren nachweisen, und im Allgemeinen wird man nicht fehl
gehen, wenn man das Alter vieler Alpen auf das Zwei- und Drei-
fache dieser Zeit veranschlägt. Mit dem Alpen- und Sennerei-
betriebe ging die Ausübung der Hochgebirgsjagd Hand in Hand.
Auch sie ist viel älter, als ihre Geschichte. Wenn auch das Gems-
wild in unseren Ost-Alpen vor 300 Jahren selbst in der unteren
Berg- und Waldregion nicht selten war, worüber genügende Be-
weise vorliegen, so hatte sich doch der Jäger, ebenso wie der
Hirte, weit früher alle Hochthäler bis hinauf zur Gletscherregion
erobert. Wie aus dem im Statthalterei-Archive zu Innsbruck
erliegenden „Gejaidt Puech“ des Kaisers Maximilian I. aus dem
Jahre 1500 hervorgeht, waren um diese Zeit alle bedeutenderen
Hochthäler Nord-Tirols zum Mindesten von reitbaren Wegen
durchzogen, auch verzeichnet das Buch in Nord-Tirol 16 Gerichte
mit circa 80 Gehegen, wo der Kaiser ein „Hirschen- oder Gambsen-
Gejaid“ abhalten könne.


Eine weitere Förderung erfuhr der Alpinismus durch den
Bergbau. Er weckte Interesse und Sinn für das Hochgebirge und
schuf natürliche Stützpunkte, von denen die nähere Bereisung und
Erforschung des Gebirges ausging. Insbesondere rege gestaltete
sich das bergmännische Leben in den Hohen Tauern, die schon
im II. Jahrhundert v. Chr. wegen ihres Goldreichthums berühmt
[104]L. Purtschellerwaren. Die Menge des gewonnenen Goldes war so bedeutend,
dass dessen Werth in Italien innerhalb weniger Jahre auf den
dritten Theil herabsank. Einen neuen Aufschwung erlebte der
Goldbergbau im Lande Salzburg im XV. Jahrhundert, und selbst
in der ödesten Region, in der Nähe der Gipfel, nahe oder unter
dem Gletschereise, finden sich noch wohlerhaltene Zeugen von
dem reichen Bergsegen früherer Tage.


Unter lebhafter Anerkennung ihrer Verdienste darf die

Figure 3. Dr. Anton von Ruthner.


Touristik auch der Botaniker, Geologen und Kartographen ge-
denken, die zu einer Zeit die Alpen bereisten, wo Gebirgsfahrten
als Selbstzweck zu den grössten Seltenheiten gehörten. Männer,
wie L. v. Buch, A. v. Humboldt, C. E. v. Moll, B. Hacquet,
D. H. Hoppe, F. X. Wulfen, H. und A. v. Schlagintweit,
P. Anich, K. v. Sonklar, J. Payer, F. Keil
, haben nicht nur
an der wissenschaftlichen, sondern auch an der touristischen Er-
schliessung der Gebirgswelt Antheil genommen. Auch in der
Blüthezeit des englischen Alpinismus sehen wir wissenschaftliche
Grössen, wie L. Stephen, H. B. George und J. Tyndall an
dessen Spitze.


[105]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.

Mit diesen Namen sind wir in die Gegenwart eingetreten,
die durch den Sturmlauf auf die Gletscher und Gipfel, durch die
wissenschaftliche Erschliessung der Gebirgswelt und die allsommer-
lich wiederkehrenden „Alpenwanderungen en masse“ charakterisiert
ist. Weit offen standen die Thore, und es bedurfte nur einer
Periode des Friedens und der volkswirthschaftlichen Entwickelung,
um die Begeisterung für die Alpen und das Interesse für die
Touristik in die weitesten Kreise zu verpflanzen.

Figure 4. Hermann von Barth.

Bevor wir uns mit der Gegenwart beschäftigen, sei noch
zweier älterer Unternehmungen gedacht, durch deren glückliche
Durchführung dieser Entwickelungsprozess wesentlich beschleunigt
wurde: die Ersteigung des Mont Blanc durch Horace Benedict
de Saussure
im Jahre 1787, und die vom Fürstbischof Graf Salm
ins Werk gesetzten Glockner-Expeditionen in den Jahren 1799 und
1800. Beide Unternehmungen, obwohl von entgegengesetzten Punkten
der Alpen ausgehend, nahmen das vollste Interesse der damaligen
gebildeten Welt in Anspruch und trugen wesentlich dazu bei, den
alpinen Sinn zu wecken. Doch wäre es irrthümlich zu glauben,
dass die grossen Erfolge der Mont Blanc-Expedition Saussure’s
[106]L.Purtschellerauf wissenschaftlichem Gebiete liegen. Heute weiss jeder Berg-
steiger, dass der schwarze Himmel und die strahlenlose Sonne
der Hochregion ein Märchen, ein Dutzend abgelesener Barometer-
oder Thermometergrade völlig werthlos, die Bergkrankheit – auf
Höhen wie der Mont Blanc – nichts anderes als Mangel an
Gewöhnung oder eine Folge körperlicher Ermattung und des Al-
koholismus sind. Darin, wie auch in der Schwerfälligkeit des Ar-
rangements und in der Unzweckmässigkeit der Ausrüstung gleichen
diese historischen Ersteigungen vielfach den aussereuropäischen
Hochtouren, die meist aus demselben Grunde misslangen. Der
Werth von Saussure’s Mont Blanc-Fahrt liegt auf einem anderen
Gebiete, er liegt in der Thatsache, dass der Mensch selbst den
Kampf mit der übergewaltigen Hochgebirgsnatur nicht zu scheuen
braucht, dass sich auch die höchsten Zinnen der Alpen seinem
Willen beugen müssen, dass der Energie, Geisteskühnheit und
Ausdauer des Erdgeborenen nichts zu widerstehen vermag. Dies
ist gewiss nicht minder tröstlich, als irgend eine kurzlebige
wissenschaftliche Theorie, denn es liegt in dieser Thatsache der
erfreuliche Beweis, dass ein rüstiger Körper, starke Muskeln und
scharfe Sinne, gepaart mit Muth, Willenskraft und Ausdauer -
wenigstens auf diesem Gebiete noch – ihren Werth behaupten.


Unzweifelhaft hätten die Unternehmungen von Saussure
und von Fürstbischof Graf Salm eine recht baldige, allgemeine
Nachahmung gefunden, würden nicht die napoleonischen Kriege
und deren Nachwirkungen störend dazwischen getreten sein. Aber
um so mächtiger trat die alpine Bewegung um die Mitte des gegen-
wärtigen Jahrhunderts hervor. Unter den älteren Schweizer
Gebirgsforschern erwarben sich namentlich Placidus a Spescha,
G. Theobald, H. Christ, General Dufour, M. Ulrich,
O. Heer, G. Studer, F. und J. v. Tschudi, J. J. Weilenmann,
E. Javell
und unter den noch in Aktivität befindlichen A. Heim,
H. Dübi, A. Wäber, J. Coaz, E. v. Fellenberg, S. Simon,
E. Burckhardt, X. Imfeld
grosse Verdienste um ihre Heimats-
berge.


Eine besonders kräftige Pflege und Förderung, ja ein völlig
sportliches Gepräge erhielt der Alpinismus durch die Engländer.
Die Angelsachsen sind nicht nur die Pioniere des Westens, sie
sind auch die Pioniere des europäischen Hochgebirges.
Namen, wie J. Ball, W. M. Conway, W. A. B. Coolidge,
C. T. Dent, D. W. Freshfield, W. A. Donkin, E. S. Kennedy,
C. E. Mathews, A. F. Mummery, L. Stephens, F. F. Tuckett,
[107]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
J. Tyndall, E. Whymper
, werden genannt sein, so lange die
Alpen stehen. Italien verzeichnet als Alpinisten von Ruf
Quintino Sella, B. Gastaldi, M. Baretti, A. Grober,
S. Cainer, R. H. Budden, F. Gonella, E. Abbate, A. E.
Martelli, L. Vaccarone, D. Marinelli, C. Fiorio, C. Ratti,
G. Corrà, die Gebrüder Sella
; während in Frankreich M. H.
Dunod, Ch. Durier, P. Joanne, A. Lemercier, E. A. Martel,
II. Ferrand, P. Guillemin, E. B. Costelnau, H. Duhamel,
A. S. de Quatrefages
als gefeierte alpine Grössen gelten.


Nach diesem Rückblicke auf die Nachbarländer wollen wir
uns mit der Entwickelung des Alpinismus auf unserer heimatlichen
Erde beschäftigen. Einiger verdienstvoller Männer, die an der
Erschliessung der Deutschen und Oesterreichischen Alpen theil-
nahmen, haben wir bereits oben gedacht. Aber damit ist die
lange Reihe derselben nicht erschöpft. Wir nennen aus der älteren
Generation vor allem Beda Weber und Johann Jakob
Staffler
, die poesievollen, patriotisch begeisterten Schilderer des
Landes Tirol, dann Erzherzog Johann, dessen Herz bis zu
seinem Ende in wärmster Liebe für die Alpenländer und ihre Be-
wohner schlug, weiters Eduard Amthor, den Herausgeber des
„Alpenfreundes“ und des „Führers durch Tirol“, und endlich
das unvergleichliche Drei-Gestirn: Adolf Schaubach, Ludwig
Steub und Heinrich Noë
, Männer, um die uns alle übrige
Welt beneiden könnte! Was Amthor für Tirol gethan, das er
durch dreissig Jahre fast alljährlich auf Wochen und Monate be-
reiste, lebt noch in frischer Erinnerung von uns Allen, ihm zu-
nächst ist es zu danken, dass die alpine Sache in Mittel- und
Norddeutschland so zahlreiche, begeisterte Verehrer fand, und
Tirol erfüllt nur eine Ehrenpflicht, wenn es seinem getreuen
„Eckehart“ zu Gossensass am Südfusse des Brenners ein Denkmal
errichtet. An Amthor’s Seite, oft auch als Genosse auf seinen
Wanderungen, stand der grosse Alpenfreund Adolf Schaubach.
Nicht leicht dürfte es auf deutscher Erde eine Persönlichkeit
gegeben haben, die die Alpenwelt mit so grosser idealer Liebe,
mit so tiefer Innigkeit und warmer Begeisterung erfasst hätte,
als der bescheidene Bürgerschullehrer in Meiningen. Der hohe
Sinn und die begeisternde Idealität Schaubach’s spiegelt sich
am besten in seinem Lebenswerke „Die deutschen Alpen“. Wenn
auch der touristische und theilweise auch der wissenschaftliche
Theil des Werkes durch die Fortschritte der Zeit überholt wurde
und das Buch eine neue Bearbeitung kaum mehr zu erhoffen hat,
[108]L. Purtschellerso werden doch die „Naturbilder“ immer ihren Werth behaupten.
Mit der ganzen Kraft des ursprünglichen Talentes, in der an-
ziehendsten Schilderung entrollt uns Schaubach ein entzückendes
Gemälde der Alpennatur: über alle Gebirgsgruppen, über jedes
[Hochthal]weiss er Bescheid, und mit wärmster Begeisterung rühmt
er die hochwogige Doldenpracht der Bergwiesen, den krystallklaren
Seespiegel und den donnernden Katarakt der Ache, den Kampf
des Lichtes mit den allmählich herabsinkenden Schatten, das

Figure 5. Paul Grohmann


grünblaue Geklüfte der Gletscher und die geisterhafte Stille der
Firnen, über welche die hohen Gipfel in stolzer Herrlichkeit thronen.


Von kaum geringerer Bedeutung als die Wirksamkeit
Schaubach’s sind die literarischen Verdienste Steub’s. Wer
mit der literarischen Bewegung der früheren Jahrzehnte vertraut
ist, erinnert sich vielleicht noch, mit welcher Begeisterung seine
Schildereien aus Tirol und Oberbayern, namentlich die „Drei
Sommer“ und die „Herbsttage“ aufgenommen wurden. Ein kern-
gesundes Urtheil über Land und Leute paart sich hier mit einer
[109]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.geschmackvollen, echt künstlerischen Darstellungsgabe und mit be-
haglichem Humor. Sitten und Gebräuche der Bevölkerung und
konfessionelle Fragen werden mit grosser Pietät und feinem Takt
behandelt, auch für das bedrängte Deutschthum in Süd-Tirol tritt
Steub mit wärmster Ueberzeugungstreue in die Schranken. Der
Schwerpunkt von Steub’s Forschungen liegt auf dem Gebiete
der Namen- und Sprachkunde, aber auch mit der Landes- und
Lokalgeschichte ist Steub ausserordentlich vertraut, überall in
seinen Schriften begegnet uns ein freier, vorurtheilsloser Geist und

Figure 6. Karl Hofmann.


etwas von jener Poesie, welche die Grösse und Anmuth der Berg-
welt ausströmt.


Steub, der es verdiente, dass sein Name in die Gallerie
der tiroler Nationalheroen aufgenommen werde, hat 1888 seine
Erdenpilgerschaft mit der ewigen „Sommerfrische“ vertauscht,
aber noch lebt der zweite der grossen Dioskuren, Heinrich Noë.
Noë
ist Realist im besten Sinne des Wortes; das Alpenvorland,
die Seeen des bayerischen und österreichischen Salzkammergutes,
die grossen Kur- und Fremdenorte, die Alpenbahnen, die Unter-
[110]L. Purtschellerwelt des Karstes sind Gegenstände seiner geistvollen, tief empfun-
denen Reflexionen. Ein scharfer Blick, eine dichterische Phantasie,
originelle Denk- und Darstellungsweise vereinigen sich bei Noë
zu oft klassischer Vollendung, und wie das Alpenglühen über den
hohen, schneeblinkenden Gipfeln, so liegt auch über seinen Schil-
derungen das Farbenspiel einer wunderbaren Poesie.


Die Epoche der eigentlichen Hochtouristik wird eingeleitet
durch zwei Vertreter des geistlichen Standes, Valentin Stanig
und Peter Karl Thurwieser, deren Name noch heute in Ehren
genannt wird. Die Wiege dieser Männer – Stanig stammte von
einer Bauersfamilie aus Bodenz in der Grafschaft Görz und
Thurwieser war der Sohn eines Müllers in Kramsach bei Brixlegg
- stand in den Bergen, Beide leitete ein anderes Motiv als die
Begeisterung für die Gebirgswelt und die Vorliebe für eine ge-
sunde, männliche Kraftbethätigung, und Beide haben, obwohl
durch Jahrzehnte von einander getrennt, in Salzburg ihre erste
Anregung empfangen: Stanig besuchte zu einer Zeit, als die Berge
in der gebildeten Welt noch kaum mit ihren Namen bekannt
waren, den Grossglockner, Watzmann, Hohen Göll, Rathhauskogel,
Preber, Untersberg, Hochstaufen, Schafberg, Triglav, das
Heukareck, die Hohe Salve, und wer seine in dieser „Zeitschrift“
niedergelegten klassischen, von echt alpinem Geiste durchwehten
Schilderungen kennt, wird mit ihm bedauern, dass seine „bren-
nende Begierde, andere merkwürdige Berge zu ersteigen“ nicht
erfüllt werden konnte.


Nicht höher als Tourist, aber näher unserem Herzen und
unserer Zeit steht Thurwieser. Thurwieser und sein Schüler und
Freund, Kardinal Friedrich Fürst Schwarzenberg, trieben das
Bergsteigen als systematische Ferienerholung. Als Letzterer ein-
mal als Erzbischof von Salzburg auf einer Firmungsreise zu Lofer
im Pinzgau einen feierlichen Einzug hielt, schüttelte er vor allen
Anwesenden zuerst einem Gemsjäger, der ihm als Führer gedient
hatte, kräftig die Hand, was bei den versammelten geistlichen
und weltlichen Honoratioren keine geringe Verstimmung hervorrief.
Sehr beträchtlich ist die Zahl der vom Kardinal Fürst Schwarzen-
berg erstiegenen Hochgipfel, über 70 Jahre alt besuchte er noch
den Untersberg. Thurwieser dürfte im Ganzen über 70 Berge
erklommen haben. „Exercitatis addit vires!“, so sagt Thurwieser
in seinen hinterlassenen Papieren. „Ich bin, wenn ich am meisten
steige, am gesündesten, wozu auch der geistige Genuss, die Freude
des Herzens nicht wenig beitragen mögen; ja selbst die vielen
[111]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.Erinnerungen an meine Bergreisen und Aussichten geben mir,
nach meiner unleugbaren Erfahrung nicht wenig Aufmunterung
des Lebens, frohen Muth und manch’freudige Stunde.“


Eine weitere kräftige Anregung erhielt der Alpinismus in
den Alpenländern Oesterreichs durch die glücklich vollführte Er-
steigung des Grossvenedigers am 3. September 1841 von einer
grösseren Gesellschaft, an deren Spitze der gefeierte Alpinist
Anton von Ruthner stand.


Während die Wirksamkeit Erzherzogs Johann und Thur-
wieser’s auf kleinere Gebiete beschränkt blieb, eröffneten uns
Ruthner und die von ihm geführte neue Generation die gesammten
Ostalpen. Ruthner’s Bergfahrten erstrecken sich über alle grösseren
Gruppen der Oesterreichischen und Deutschen Alpen, überall
begegnen wir den Spuren seiner Thätigkeit, mit derselben Ge-
wandtheit, wie den Bergstock, führt er die Feder. Wie Thurwieser
hat auch ihn die Grösse und Schönheit der Alpennatur zum Berg-
steiger gemacht, was aber Ruthner nicht hinderte, auch der topo-
graphischen Forschung und der Alpengeographie seine volle Theil-
nahme zu widmen. Ruthner ist ein Zeit- und Altersgenosse der
beiden rühmlichst bekannten Hochtouristen J. A. Specht und
J. J. Weilenmann, und wie diese ein sprechender Beweis, dass
die Touristik ihre Vertreter nicht selten bis in das Greisenalter
hinauf mit einem reichen Maasse körperlicher und geistiger Frische
beschenkt.


Kaum minder gross als der Einfluss Ruthner’s war die
Wirksamkeit Hermann von Barth’s. Niemand hat wie Barth
den Kampf mit der gewaltigen Alpennatur in so kecker, selbst-
bewusster Weise und mit solcher Siegeskühnheit geführt, Niemand
die Freude an diesem Kampfe mit derselben Lebendigkeit und
Originalität geschildert, als der Erforscher der Nördlichen Kalk-
alpen, dessen Grab nun im Schatten der fernen Palmen liegt.
Ausdauer und Muth, Trotz und Zuversicht begleiteten den kühnen
Stürmer, wenn er dem plattengepanzerten Gipfelthurm, der
drohenden Felswand, dem wildzersplitterten Grat bei Kälte, Nebel
und drohendem Ungewitter, ohne Führer oder Begleiter zu
Leibe rückte. Mehr als ein anderer Bergsteiger der damaligen
oder der gegenwärtigen Zeit hat Barth Schule gemacht, er wird
als der Anwalt der „Führerlosen“ und des „Alleingehens“ an-
gesehen, wenn er auch vor den Gefahren der Berge wiederholt
und ernstlich warnt.


[112]L. Purtscheller.Während Barth in den Nördlichen Kalkalpen und Julius
Payer
, dessen Wirksamkeit an anderer Stelle gedacht wird, in
der Ortler- und in der Adamellogruppe ihre epochemachenden
Forschungen anstellten, betraten in einem anderen Berggebiete zwei
Männer den alpinen Schauplatz, die sich in raschem Fluge die Sym-
pathieen aller Alpenfreunde erwarben: Karl Hofmann und Johann
Stüdl
. Gelten die kühnen Leistungen Barth’s und Payer’s als
abnorme, dem natürlichen Entwicklungsgange der Alpinistik voraus-
eilende Erscheinungen, so haben wir in den Unternehmungen
von Hofmann und Stüdl ein getreues Abbild unserer heutigen
Hochtouristik vor uns. Von echter Forschbegierde und Thatkraft
erfüllt, vereinigten die beiden Männer alle Eigenschaften und Er-
fordernisse eines tüchtigen Alpenwanderers. Gross und nachhaltig
war der Einfluss, den sie durch ihre Forschungen in der Glockner-
gruppe und ihre alle Leser begeisternden Schilderungen ausgeübt
haben.


Was Stüdl zu Nutz und Frommen der Alpinistik und was
er zur Hebung und Förderung des Touristen-Verkehres geleistet
hat, davon wird in einem anderen Blatte dieses Buches die Rede
sein, allzu kurz aber war die Wirksamkeit Hofmann’s. Wir alle
kennen die Grösse und die Tragik seines Geschickes, seine edle
Aufopferung für die Macht und Einheit des Vaterlandes, und in
ehrfurchtsvoller Bewunderung dieses Heldenthums steht die alpine
Gemeinde, Deutschlands Jugend voran, an dem Grabe des Mannes
und reicht ihm den Kranz der Eiche und des Lorbeers.


Der Frühlingszeit des Alpinismus, die durch Barth, Hofmann,
Stüdl und Payer charakterisiert ist, gehört noch eine andere sehr
verdiente Persönlichkeit an, der Pfarrer Franz Senn. Hell
und warm, in glühender Begeisterung ertönte sein Weck- und
Wanderruf aus den Eiskammern des Oetzthales, an dessen Er-
schliessung er den werkthätigsten Antheil nahm. Er gilt mit Recht als
der Begründer des Fremdenverkehres in den Oetzthaler Alpen, und
eröffnete gleichzeitig jene bis in die Gegenwart reichende Reihe
von Gebirgspfarrern, die der alpinen Sache mit Liebe und Theil-
nahme entgegenkamen.


Mit der weiteren Entwicklung der Touristik traten noch
viele andere begeisterte Gesinnungsgenossen und Mitarbeiter auf
die alpine Arena, deren Verdienste an dieser Stelle in Kürze gedacht
sei. Wir nennen in erster Linie Paul Grohmann, den kühnen
Bezwinger der Dolomite, dann den hochgefeierten Senior der
Gebirgsforschung in Oesterreich Prof. Dr. Friedrich Simony,
[113]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.dessen Studien und Arbeiten über die Dachsteingruppe die
ungetheilte Anerkennung und Bewunderung aller Gebirgsfreunde
hervorrufen, wir nennen Dr. Theodor Petersen, den viel gereisten
Alpenkenner und Spezialisten der Oetzthaler-Gruppe, ferner
die bekannten Erforscher der Stubaier Alpen, Karl Gsaller,
Julius Ficker
undLudwig Pfaundler, und in besonderer
Hochschätzung Theodor Trautwein, dem langjährigen,
verdienstvollen Redakteur unserer Vereins-Publikationen und den
Verfasser einiger ausgezeichneten Reisehandbücher. An diese
Namen reihen sich, um noch einige der hervorragendsten alpinen
Grössen der neuesten Zeit zu nennen, Dr. Victor Hecht,
Dr. Paul Güssfeldt, Moriz von Déchy, Albert Kaindl,
Prof. Dr. Eduard Richter, Prof. Dr. Karl Schulz, Anton
Spiehler, Theodor Harpprecht
und Anton Madlener..


Unter den Alpinisten der jüngeren Generation möge hier noch
einer ihrer Hauptvertreter besonders genannt werden, Dr. Emil
Zsigmondy
. Er gehörte zu jener Klasse von Hochtouristen, die
die nöthigen Eigenschaften und Erfahrungen zu besitzen glauben,
um auch hohe und schwierige Alpengipfel ohne Beihülfe von
Führern zu ersteigen. Hatten Barth, Geyer, Gröger, Gsaller das
„führerlose“ Gehen auf einige Theile der Kalkalpen mit Glück
angewandt, so dehnten Zsigmondy und seine Gefährten dieses System
auch auf das ganze vergletscherte Hochgebirge aus. Der Verfasser
der „Gefahren der Alpen“ kannte wohl die Tücken und Schrecknisse
des Hochgebirges, aber gegen das blinde Walten des Zufalles kann
weder die Praxis, noch die Theorie hinreichenden Schutz
gewähren. Emil Zsigmondy’s Tod hat auch die weitesten Kreise mit
Trauer und Theilnahme erfüllt, die Bergeswelt verlor an ihm einen
ihrer wärmsten Verehrer, die Wissenschaft ein Leben voll reicher
Verheissungen.


An der Erschliessung der Gebirgswelt betheiligten sich nicht
nur die Reisenden, sondern auch die Führer in gleich hervorragender
Weise. Nahmen ehemals die Führer der Schweiz und
Savoyens durch ihre erprobte Fels- und Eistechnik den ersten Rang
ein, so erfreuen sich nun auch sehr viele Führer der Deutschen und
Oesterreichischen Alpen eines ebenso grossen, achtenswerthen
Rufes. Namen wie Johann Grill (Kederbacher), Peter
Dangl, Hans
und Alois Pinggera, Josef und Peter
Reinstadler
haben auch in den Westalpen einen guten Klang,
und manche unserer Führer, wie die Brüder Innerkofler,
Franz Fistill, Daniel Innthaler, Johann Punz, Michael
Zeitschrift, 1894. 8
[114]L. Purtscheller.
Bettega, Giorgio Bernard, Angelo Dimai
sind unübertroffene
Meister in der Kunst des Felskletterns. An diese
Männer schliessen sich an: Johann Niederwieser (Stabeler),
Simon Fankhauser, Johann Hörhager I, Johann Unterwurzacher,
Peter Unterberger, Stefan Kirchler, Josef

und Gabriel Spechtenhauser, Johann Windisch, Christian
Ranggetiner
, alle – soweit sie noch nicht ihre Eisaxt niedergelegt
haben oder nicht ein Opfer ihres Berufes geworden sind -
gleich tüchtig auf Fels und Eis, und jeder auch der schwierigsten
Aufgabe gewachsen. Neben dem Ramsauer Führer-Senior Johann
Grill (Kederbacher) und dem Tiroler Josef Spechtenhauser, dem
„Ideal eines Führers“, wie ihn Eduard Richter mit Recht nannte,
vereinigte wohl der 1886 an der Glocknerwand verunglückte
Ranggetiner alle Eigenschaften eines Führers in vollendetster
Weise. Ein Hüne von Gestalt, besonnen und kühn in seinen
Entschlüssen, stark und sicher in der Ausführung, war er auch
ein grosser Verehrer der Berge, der nicht bloss des schnöden
Lohnes wegen stieg.


Ausser der rastlosen Thätigkeit der Bergsteiger verdankt der
Alpinismus auch dem überraschenden Aufschwunge des
Vereinswesens seine Entwicklung. Durch die Alpenvereine waren die
nöthigen Berührungspunkte der Alpinisten unter einander, die
Bedingungen und Mittel zur Herstellung von Hütten- und Wegbauten
und eine zweckentsprechende literarische Propaganda geschaffen.
Nachdem zuerst 1857 der englische „Alpine Club“ gegründet
worden war, entstand 1862 der „Oesterreichische Alpenverein“,
der sich 1874 mit dem 1869 gegründeten „Deutschen Alpenverein“
vereinigte, um unter dem Namen „Deutscher und Oesterreichischer
Alpenverein“ seine erspriessliche Thätigkeit fortzusetzen, als dritter
Verein folgte 1863 der „Schweizer Alpen-Club“, und im gleichen
Jahre der „Club Alpino di Torino“, der sich seit 1879 „Club
Alpino Italiano“ nannte. In Oesterreich entstanden noch 1869
der „Oesterreichische Touristen-Club“, 1874 die „Società degli
Alpinisti Tridentini“ und 1878 der „Oesterreichische Alpen-Club“,
während in Frankreich 1874 der „Club Alpin Francais“ und 1874
die „Société des Touristes du Dauphiné“ ins Leben gerufen
wurden.


Einen weiteren Aufschwung nahm der Alpinismus durch die
grossartige Entwicklung der Verkehrseinrichtungen. Wie das
ganze Jahrhundert, so steht auch die Touristik unter dem
Zeichen des Verkehres, und selbst in die entlegensten Alpen-
thäler [115]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.hinein dringt der Pfiff der Lokomotive wie der Weckruf
einer neuen Zeit. 1854 fuhr der erste Eisenbahnzug über den
Semmering, 1860 wurde die Bahn Wien-Salzburg-München und
1867 die Brennerbahn eröffnet, 1871 und 1872 folgten die Puster-
thaler- und Rudolfsbahn, 1875 die Giselabahn und 1884 die
Arlbergbahn. Von grosser Bedeutung erwies sich auch die Anlage
von Kunststrassen, von denen – ausser der schon seit 1825 be-
stehenden Stilfserjochstrasse – die Iselbergstrasse, die Strasse
durch das Ennebergthal, die Eggenthalstrasse, die Mendelstrasse,
die Suldenerstrasse und die im Bau befindliche Strasse Kaprun-
Moserboden die wichtigsten sind.


Eine sehr grosse Erleichterung und Bequemlichkeit erwuchs
den Alpenreisenden, insbesondere den Hochtouristen, durch die
zahlreichen Weg- und Hüttenbauten der alpinen Vereine. Die in
das Gebiet der Ost-Alpen fallenden Arbeiten und Errichtungen
dieser Art gehören zu den besten und mustergültigsten in der
ganzen Alpenwelt.

II.


Die Freude an den Bergen, die Lust an den Herrlichkeiten,
die das Hochgebirge hinter seinen Wällen eifersüchtig verwahrt
hält, erfüllen nicht nur das Herz des Hochländers, der dort
daheim ist. An der Erschliessung der Gebirgswelt betheiligten
sich die Bewohner des Flachlandes in fast noch grösserer Zahl,
als die Gebirgsbewohner selbst. Die Berichte der ersten Alpen-
pioniere erzählten dem verweichlichten Volke der Städte von den
Wundern des hohen Eises, von der Grösse und Pracht der
Gesichtskreise, von der Vorwelt hehren Gestalten. Aus den Bildern
der Künstler ahnte der Bewohner der Ebene, dass es schön und
herrlich sein müsse, hoch oben auf den weitausblickenden Gipfeln,
in der Kühlung der Wasserstürze.


Der Weck- und Wanderruf, der immer stärker, immer ein-
dringlicher durch die deutschen Gaue erscholl, fand freudigen
Widerhall im Herzen unserer Volksgenossen. Aus den Wogen-
gefilden des Baltischen Meeres und der Nordsee, von dem tannen-
frohen Thüringen und dem sonnigen, poesieverklärten Schwaben,
von den rebenbekränzten Ufern des Rheins, von der Elbe und
Oder, vom nachbarlichen Bayerlande kamen sie in dichten Schaaren
herbei: um Geist und Körper an dem Urquell alles Schönen zu
8*[116]L. Purtscheller.laben, um mit uns Antheil zu nehmen an dem Hochgenusse des
Erhabenen, Ewigen und Grossen.


Und wie herrlich gestaltet sich nicht schon eine Fahrt nach
dem Alpenlande! Hinter uns liegt die weite, fruchtschwere Ebene,
das burgenreiche, eposverklärte Stromthal; unsere Blicke aber sind
nach Süden gerichtet, dem Lande der Verheissung. Endlich zer-
theilen sich die sanft geschwungenen Hügelwellen, durch blau-
purpurne Thäler erstrahlt das Eis der ewigen, hochgethürmten
Alpen, winkt die vorgeschobene Blockgallerie der grossen Kalk-
kolosse, des Hochlandes wunderbarer, anmuthsvoller Gruss!


Mehr als ein anderes Objekt der sinnlichen Anschauung
wirken die Gebirge durch ihre Masse, durch ihre stete Grösse auf
unsere Einbildungskraft; sie sind das älteste Denkmal der Materie,
die gewaltigsten Zeugen einer früheren Epoche der Erdbildung;
das Polarlicht, wie die scheitelrechte Sonne des Aequators hat
ihnen geleuchtet.


Die Alpen zu kennen gilt heutzutage als ein Postulat der
allgemeinen Bildung. Aber die Bergeswelt regt nicht nur die
Gedanken an, sondern auch unser Empfindungsleben. Den Berges-
riesen gegenüber, die alle Wandelungen der Zeit in souveräner
Ruhe überdauern, fühlen wir so recht die Hinfälligkeit, die Leere,
die Bedeutungslosigkeit aller menschlichen Dinge, wir ahnen die
göttliche Naturseele und die lebendigen Kräfte der Elemente;
und des Erdengeistes eherne Gewalten, sie steigen vor uns auf,
wie des Pantheons urkräftige Weltsymbole. Die grossen Probleme,
welche die Menschheit seit ihrer Kindheit beschäftigen, Ursprung,
Bau, Leben und Zukunft der Erde, wie auch unser eigenes
Geschick, treten hier unvermittelt vor unsere Sinne und unser
Gemüth, und unser Geist bewegt sich in der Ideenwelt des Pla-
tonischen Genius.


Gedanken und Empfindungen dieser Art werden Jeden über-
kommen, der den Zauber der Hochgebirgsnatur auf sich ein-
wirken lässt. Und dieser Hochlandszauber, er kann berauschen,
ganz anders berauschen, als der frisch gekelterte Most. An die
verkörperte Anmuth, die über dem eisigen Elemente schwebt,
knüpfen sich jene tapferen Thaten und stolzen Triumphe, an denen
der flammende Blick und die plastische Musik der Körperbewegung
gleich grossen Antheil haben.


Des Hochgebirges kunstvoller Bau, seine Schwierigkeiten
und Gefahren fordern zu einem Wettstreite mit ihm auf, es gilt
zu zeigen, was das Uebermaass an Civilisation, was städtische
[117]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.Verkehrtheit, Unverstand und konventionelle Sitte noch Tüchtiges
und Brauchbares an uns gelassen, was körperliche und geistige
Energie aufzubieten vermögen. Wir wissen es, Viele sind nicht
dieser Anschauung, und Manche schieben den Bergsteigern sogar
niedere Beweggründe zu, aber welch’ gute Sache hätte nicht ihre
Gegner? Wer sie nie betreten, diese rauhen Urweltsthrone des
Lichtes und der Freiheit, diese Gletscherströme, diese waldfrischen
Alpenthäler, wer sie nie gepflückt die Zauberblume des kalten
Hochgebirges, wer sich nie berauscht an dem narkotischen Genusse
dieser grossen, hingestorbenen Welt: der wird dem Alpinismus
kaum das richtige Verständniss entgegenbringen, noch weniger
aber den Enthusiasmus begreifen, der die Eingeweihten vor diesen
Heiligthümern der Natur erfüllt. Wenn der Ausspruch Jean Paul’s
wahr ist, dass „die Probe eines Genusses die Erinnerung sei“, so
hat der Bergsteiger in erster Linie das Recht, seine Sache für
gut und edel, sein Streben für gross und nachahmungswürdig, seine
Leidenschaft für männlich und lebenswerth zu halten. Die Erinnerung
an ein begeistertes Thun in der Brust, sie muthet uns wie ein
Hauch der Jugend an, wie der leise Nachhall eines Siegesgeläutes!


Die Gegner des Alpinismus – meist sind es Müssiggänger,
bei denen es alle Tage Sonntag ist, oder Schwätzer, deren Wissen
noch geringer, als ihr Gewissen – erheben den Einwand, dass
bei Bergbesteigungen die Wissenschaft gänzlich vernachlässigt
werde. Aber abgesehen davon, dass nicht Alles Wissenschaft ist,
was unter diesem Titel auf den Markt gebracht wird, sollte denn
die Ausbildung des Gemüthes, des ästhetischen Sinnes, des
Naturgefühles und des Charakters nicht auch ein Gewinn sein?
Macht uns denn die Gehirnarbeit, die blosse Kopfmästerei, schon
zu besseren, glücklicheren und zufriedeneren Menschen? Rousseau
hat bekanntlich diese Frage in seinen „Discours sur les arts et les
sciences“ unter dem Beifalle der Akademie in Dijon verneint, und
diejenigen von uns, die mit Naturvölkern in Berührung traten,
werden sich überzeugt haben, dass Glück, Lebensfreude, Frohsinn
und Zufriedenheit bei ihnen mehr zu Haus sind, als in unserem
alten, geschichtlichen und verkünstelten Europa. Der grosse Natur-
forscher Oswald Heer, eine Autorität, die auch unsere Gegner
anerkennen werden, schreibt über seine Bergfahrten:


„Was haben mir diese Reisen genützt? Was ist es, worauf
ich den höchsten Werth lege? Sind es die schönen Pflanzen,
die nun getrocknet vor mir liegen? Sind es diese Kryptogamen,
Moose, Lichenen, Schwämme, die ich mühsam von manchen
[118]L. Purtscheller.Steinen losgeschlagen habe und die mir zu manch’ interessanten
Untersuchungen Stoff gaben? Oder sind es diese Käfer, welche
ich auf beeisten Höhen sammelte? Sie gewähren mir hohe
Freude, aber den höchsten Werth lege ich nicht auf sie. Auch
nicht auf all’ diese Steine, die ich von verschiedenen Bergen
weggeschlagen, und die mir zeigen, aus was für Bestandtheilen
unsere Gebirge gebildet sind, all’ diese Schätze überblick’ ich
zwar mit Freude. Allein dies Alles, was in Schachteln sorgfältig
gesammelt vor mir steht, ist an und für sich nicht von so hohem
Werth, sondern was mein Geist genossen und in sich auf-
genommen, dies ist die Hauptsache, die Eindrücke, welche die
Natur auf mich gemacht, die durch ihre grossartigen Formen
auf einsamen Gletschern mich durchschauerte, welche auf den
Spitzen dieser Riesen der Alpenwelt mein Innerstes durch-
stürmten und meinen Geist hoch über alles Irdische emportrugen,
hinauf zu einer geistigen, höheren Welt: diese sind es vorzüglich
und ihre Wirkung auf mein ganzes gemüthliches und geistiges
Leben, was ich als den vorzüglichsten Schatz, den ich erworben,
ansehe. Hoch über den Wolken und den Wohnungen der
sterblichen Menschen, in der hehren Stille und Einsamkeit der
grossartigen Natur: erhebt sich unser Geist vorzüglich gern und
innig zum Wesen aller Wesen empor, dessen allmächtiges
Walten uns hier alles Irdische vergessen lässt.“


Auch der berühmte Physiker John Tyndall, der erste Er-
steiger des Weisshorns, äusserte sich, als er den Gipfel dieses
Berges erreicht hatte, in ähnlicher Weise:


„Ueber die Gipfel und durch die Thäler ergossen sich die
Sonnenstrahlen, nur durch die Berge selbst behindert, die ihre
Schatten als dunkle Massen durch die erleuchtete Luft warfen.
Ich hatte nie vorher einen Anblick gehabt, der mich so wie
dieser ergriff. Ich wollte in meinem Notizbuch einige
Beobachtungen niederschreiben, aber ich unterliess es bald.
Es lag etwas Unharmonisches, wenn nicht Entweihendes darin,
wenn ich den wissenschaftlichen Gedanken gestattete, sich ein-
zuschleichen, wo schweigende Huldigung die einzig verständige
Handlung schien.“


Aber wie lassen sich die vielen Unglücksfälle rechtfertigen?
Auch wir beklagen sie aufs Tiefste und wünschen, dass Unbe-
rufene die Hochregion nicht betreten sollen, auch wir warnen vor
Leichtsinn, Dummheiten und Extremen. Aber wir wollen nicht
das Kind mit dem Bade ausschütten, und nehmen lieber ein paar
Dutzend jährlicher Unglücksfälle in den Kauf, als dass wir vielen
Tausenden jungen Leuten die Gelegenheit zu einer männlichen,
Körper und Geist erfrischenden Bewegung nehmen möchten.
[119]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.Hören wir, was darüber der berühmte Alpinist Dr. Paul Güss-
feldt
sagt:


„Es wäre doch einseitig, wollte man nur von der zerstörenden
Kraft des Feuers reden, nicht von der wärmenden, nicht von
dem glänzenden Spiel, das die lodernden Flammen dem Auge
bieten. Wer das Feuer aus der Welt geschafft wissen will, der
Feuersbrünste wegen; wer den Weltverkehr verurtheilt, der
Schiffbrüche wegen; dem darf man allerdings keinen Vorwurf
machen, wenn er die grossen Unternehmungen im Hochgebirge
verurtheilt, der Unfälle wegen. Aber seine Moral ist die des
Philisters, der konsequent zu sein glaubt, wo er doch nur
engherzig ist; der helle Schein der grossen That ängstigt ihn,
weil er vor ihr seine eigene Kleinheit durch einen deutlich erkennbaren
Schatten wirft; Curven höherer Ordnung dürfen seine Kreise
nicht stören.“


Wir verfechten unsere Sache mit um so grösserer Be-
geisterung, je grösser die Vorurtheile sind, die uns entgegen-
treten, je mehr wir gezwungen sind, den Kampf gegen Ver-
weichlichung, träge Genusssucht, Schlappheit und geistige Ver-
blödung aufzunehmen. Viele Wege führen zum gedeihlichen
Ziele, am schönsten aber der, der frei und hoch liegt! So lange
wir unserer Jugend nicht eine breite Brust, helle Augen und
elastische Glieder anerziehen, so lange sie nicht hellenisches Leben
erhellt, wird sie nicht frei sein, kein Held und Herold des warm-
blütigen Lebens.


Je ernster und eindrucksvoller die Lehren sind, die wir vom
Hochgebirge empfangen, desto mehr ist es auch unsere Pflicht,
auf Mittel zu sinnen, um diesen Gefahren zu begegnen. Diese
Mittel zur Bekämpfung jener Gefahren sind mehrfacher Art: sie
erstrecken sich auf unsere körperliche und geistige Eignung, auf
Urtheil und Erfahrung, auf das Erkennen und die Abwendung
der Gefahr, auf Bekleidung und Ausrüstung, und dies in Kürze
auf Grund der bisherigen Entwicklung der Alpinistik darzuthun,
sei unsere weitere Aufgabe.


Die Bekleidung, die der Bauer und Jäger im Gebirge trägt,
ist auch für den Touristen die beste und empfehlenswertheste.
Sie wird aus Rohstoffen angefertigt, die der Gebirgsbewohner
selbst erzeugt, und ist seit Jahrhunderten dieselbe. Schon Kaiser
Maximilian I., zu seiner Zeit der „kühnste Gemsjäger Tirols“, giebt
in dem für seine fürstlichen Nachfolger verfassten „Haimlich Gejaidt
[120]L. Purtscheller.Puech“ allerlei Vorschriften über die Beschaffenheit der Bergschuhe,
über die Farbe und den Schnitt der Kleider, über die Kopf-
bedeckung, über Handschuhe und Gamaschen, die auch heute
noch sehr beachtenswerth sind. Wenn auch die Landbevölkerung
in der Nähe der Städte und in leichter zugänglichen Gegenden
die theuern, aber viel solideren einheimischen Bekleidungsstoffe
durch die billige, aber weniger haltbare Fabrikwaare ersetzt
hat, so ist doch in vielen Hochthälern noch immer der selbst
erzeugte Loden, die Zwilch- und Lederhose im Gebrauche.
Mehr aber als der schwere, heisse, wenig elastische Loden ver-
dient ein starker Schafwollstoff, insbesondere der englische Cheviot
den Vorzug. Lederbeinkleider sind nur bei Felstouren praktisch,
für blosse Schneetouren empfehlen sich Pumphosen aus Schaf-
wollstoff.


Der Aelpler trägt ein Hemd aus grober Hausleinwand
(„Rupfen“), und befindet sich wohl dabei. Hemden aus Jägerwolle
oder Flanell sind in der Regel zu heiss und der Flanell verfilzt
sich leicht; sehr empfehlenswerth für Hemden und Unterbein-
kleider ist ein in neuerer Zeit erzeugtes Gewebe aus Baum- und
Schafwolle.


Insbesondere wichtig ist ein gutes, bequem anliegendes
Schuhwerk. Unpassende Schuhe können uns nicht nur jeden
Genuss rauben, sondern auch die Tour selbst vereiteln. Insbesondere
hüte man sich vor zu kurzen Schuhen, da sich der Fuss bei an-
dauernden Wanderungen nicht unbeträchllich ausdehnt. Touristen,
die viel in den Bergen herumstiegen, also ihre Füsse naturgemäss
ausbildeten, werden die Beobachtung gemacht haben, dass sie aus
ihrem früheren Fussmaasse bedeutend herausgewachsen sind.


Ueber den menschlichen Fuss und dessen Pflege enthält die
„Zeitschrift“ 1887 von Dr. Carl Partsch eine sehr beachtens-
werthe Arbeit, und über Bekleidung und Ausrüstung geben
die Werke von C. T. Dentund W. Schultze „Hochtouren“,
C. Langheinz und G. Schwab II. „Praktische Winke für Aus-
rüstung, Verpflegung und das Wandern im Hochgebirge“ und
Claude Wilson „Mountaineering“ erschöpfende Auskunft.


Ein anderes wichtiges Kapitel, das mit der Ausbreitung und
Verallgemeinerung der Hochtouristik im innigen Zusammenhange
steht, ist die Bergsteiger-Hygiene. Jeder Bergsteiger weiss, was
ein gesundes Herz, kräftige, ausdauernde Lungen und ein richtig
funktionierender Magen bedeuten. Schon der Sache wegen wird
der Alpinist, und zwar auch ausserhalb des alpinen Operations-
[121]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.feldes, auf die richtige Funktion dieser Hauptorgane Bedacht
nehmen, und seine Lebensprinzipien den Anforderungen der
Gesundheitslehre unterordnen. Derjenige, der viel und anhaltend
steigt, hat sich insbesondere vor Herzhypertrophie und Lungen-
emphysem zu hüten. Daher richte man seine Bewegungen so ein,
dass weder ein übermässig starker Herzschlag, noch ein hörbares
Athmen eintreten können. Das beste Mittel, die Leistungsfähigkeit
dieser Organe, wie überhaupt des Körpers, zu erhöhen, sind
ausser Bergsteigen: Turnen, Rudern, Schlittschuhlaufen und ähnliche
Leibesübungen.


Den Magen erzieht man nicht, indem man ihn mit Gans-
leberpastete, zartem Hühnerfleisch und Bisquits traktiert, sondern
indem man ihn vor Allem an Einfachheit und Mässigkeit gewöhnt.
Die Ansprüche gehen in diesem Punkte je nach Gewohnheit, Er-
ziehung und Aufwand sehr weit auseinander, sie sind meist umso
grösser, je geringer es mit unserer Leistungsfähigkeit bestellt ist.
Frei ist nur, wer entbehren kann. Dies gilt für den Bergsteiger
ebenso, wie für den Afrika-Reisenden.


Sehr verschieden sind die Ansichten über die Bergkrankheit.
Viele leugnen sie ganz, andere wollen sie schon in geringeren
Höhen verspürt haben. Sicher ist es, dass bei abnormen Höhen
krankhafte Zustände, die sich insbesondere durch Athmungs-
beschwerden und Mangel an Muskelenergie äussern, eintreten
können, dass aber diese Höhe bei den verschiedenen Individuen
sehr ungleich ist. Mr. W. W. Graham fühlte bei der Ersteigung des
Kabru im Himalaya, den er wenig unter 7300 m Seehöhe schätzt,
keinerlei Unbequemlichkeit, Dr. Paul Güssfeldt empfand dagegen
die Bergkrankheit deutlich genug auf dem Aconcagua, ebenso
Mr. Edward Whymper auf dem Chimborasso.


Bei der ersten Ersteigung des Kilimandscharo (6130 m) litt
der Verfasser – vielleicht deshalb, weil das Stufenschlagen in der
Mittagshitze auf dem glasharten Eise sehr anstrengend war -
etwas an der Bergkrankheit, bei der zweiten und dritten Ersteigung
nicht mehr. Auf dem Elbruz (5638 m ) stellten bei Herrn Merz-
bacher, den Führern und dem Verfasser keinerlei Symptome
von Unwohlsein sich ein. Ein gewaltiger Unterschied liegt eben
darin, ob der Uebergang von der niederen zur höheren
Region langsam oder unvermittelt vor sich geht, und ob der
Körper kräftig und gut genährt ist. Unzweifelhaft kann der
Mensch bei allmählicher Gewöhnung in sehr bedeutenden Höhen
[122]L. Purtscheller.existieren, sicher aber ist es, dass es hier eine unüberschreitbare
Grenze giebt.


Die Frage, ob nicht schon der Gaurisankar und andere
Hochgipfel des Himalaya diese Grenze überragen, dürfte wohl erst
in den nächsten Jahrhunderten gelöst werden. Die Herren Coxwell
und Glaisher wollen mit ihrem Luftballon eine Höhe von 11 000 m
erreicht haben. Diese Schätzung ist wahrscheinlich etwas zu hoch,
doch dürfte immerhin die erreichte Höhe die des Gaurisankar
(8840 m) überschreiten. Eine Gefahr bei Ballonfahrten liegt in
dem raschen Aufsteigen in dünnere Luftschichten. Die Herren
Crocé-Spinelli, Sivel und Tissandier verweilten mit dem Ballon
durch zwei Stunden in einer Höhe von 7900 – 8500 m, sie fielen in
eine tiefe Ohnmacht, aus der nur Tissandier wieder erwachte.
Eine der wichtigsten Anforderungen, welche die Hochtouristik
an ihre Vertreter stellt, ist eine gute Orientierungsgabe. Der
Bergsteiger, der Herr wie der Führer, muss im Stande sein, sich
an der Hand einer Karte oder durch andere Mittel ein klares
Bild von der Gegend zu verschaffen. Manche Bergtour misslang
in Folge mangelnder Orientierung oder gestaltete sich zu einer
sehr gefährlichen und anstrengenden Unternehmung. Man orientiert
sich mit Hülfe des Kompasses, der Sonne und der Karte, aber
während es in der bewohnten Region meist leicht ist, über den
eigenen Standpunkt und über die Lage, Richtung und Entfernung
der sichtbaren Terraintheile Klarheit zu gewinnen, ändert sich das
im Hochgebirge bedeutend. Nicht immer ist die Karte so genau
gearbeitet, und der Maassstab von solcher Grösse, dass eine
genaue Anvisierung der Objekte möglich wäre, auch sind dieselben
nicht selten durch Vorlagen verdeckt. Der Bergsteiger wird daher
im Gebirge oft nach seiner angeborenen Orientierungsgabe zu
entscheiden haben, die aber nur durch die Praxis ausgebildet und
vervollkommnet wird.


Mit der Orientierung geht das Rekognoszieren Hand in Hand.
Lehrt uns die Orientierung die Kunst, uns in einer unbekannten
Gegend zurechtzufinden, so zeigt uns die Rekognoszierung die
Wege, die wir zu wandeln haben. Auch sie verlangt einen
geübten Blick, ein richtiges Urtheil und ein genaues Abwägen
der Kräfte. Bei vielen Bergen ist eine eigentliche Rekognoszierung
nicht nöthig, da die Routen bis ins Einzelne bekannt sind. Anders
aber liegen die Dinge in den weniger besuchten Berggebieten
oder im Hochgebirge, wo die Routen von dem Zustande der
Schnee- und Eisbedeckung abhängen. Zu einer sehr schwierigen
[123]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.Aufgabe gestaltet sich das Rekognoszieren in jenen Hochgebirgen,
deren Gipfel nahe oder über 5000 m emporragen, wie im Kaukasus
und im Himalaya. Ist es schon bei manchem unserer Hochgipfel
unmöglich, die Anstiegsroute übersehen zu können, so ist dies
bei höheren Bergen noch viel schwieriger. Man sieht zwar die
unteren Theile des Berges, nicht aber die oberen übereinander-
liegenden Stockwerke. Nie wird man auf einem der grossen
Hochgipfel des Kaukasus und des Himalaya eine vor Steinfällen
und Lawinen ganz sichere Route auffinden können, jeder Anstieg
setzt sich aus einer Reihe bedenklicher Passagen und schwieriger
Klettereien zusammen, jeder hat seine Voraussetzungen und Be-
dingungen, von denen der glückliche Enderfolg abhängt.


Bei Ersteigung eines Hochgipfels hat man insbesondere die
objektiven Gefahren, in erster Linie also Lawinen und Steinfälle
zu berücksichtigen. Dazu kommen noch die gewaltigen Dimensionen
mancher Hochgipfel, die ein auch nur beiläufiges Abschätzen der
Entfernungen sehr schwierig gestalten. Doch lässt sich ein sicheres
Urtheil über einen Berg durch Uebung ebenso erreichen, wie
technische Fertigkeit und Gewandtheit in der Ueberwindung von
Hindernissen, aber ersteres erfordert viel mehr Zeit. Unterliegt
unser Urtheil einer Sinnestäuschung, sind unsere Voraussetzungen
unrichtig, die Schlüsse falsch gezogen, so kann die Besteigung
sehr viele Mühe kosten, Gefahr bringen, oder auch ganz misslingen.
Manches Unglück in den Bergen ereignete sich deshalb, weil schon
der Plan, der strategische Entwurf, die Anlage des Unternehmens
verfehlt war.


Unsere Bergkenntniss und Beurtheilungsgabe werden aus-
gebildet, wenn wir versuchen, die uns im Gebirge entgegentretenden
Objekte, wie Felswände, Firnhänge, Rinnen, Kamine, Grate, mit
dem Auge auf ihre Ersteiglichkeit zu prüfen. Allerdings dürfen solche
Routen nicht nur einen idealen Werth haben, sondern müssen
auf ihre praktische Ausführbarkeit kontrolliert werden, was am Besten
durch Berathung mit erfahrenen Genossen oder Führern geschieht.
Führerlose Touristen haben sich vor jeder Selbstüberhebung und
vor allzu grossem Vertrauen auf ihre Kräfte, Gewandtheit und
Widerstandsfähigkeit zu hüten, denn Fehler dieser Art rächen
sich meist sehr bitter. Routen oder Kombinationen von wirklichem
oder idealem Werthe sind bald entworfen, aber die Ausführung er-
fordert viel Arbeit, Zeit, Erfahrung und Klugheit. Ein mittelmässiger
Praktiker – und sei derselbe auch ein analphabeter Ziegenhirt -
gilt im Gebirge zehnmal mehr, als ein Theoretiker, auch wenn
[124]L. Purtscheller.derselbe in seinem Kreise als eine unanfechtbare Autorität an-
gesehen wird. Die Feststellung einer Route erfordert insbesondere
dann viel Sorgfalt und Ueberlegung, wenn man ohne Führer
oder mit weniger geübten Kameraden geht. Der Alleingeher,
wenn er sehr geübt und erfahren ist, braucht sich weniger an
eine feste Route zu halten, besitzt er aber die nöthigen Eigen-
schaften nicht, so ist es unbedingt besser, das Alleingehen auf
schwierigem, gefährlichem Terrain zu unterlassen. Die Gangbarkeit
des Terrains hängt nicht nur von dem Neigungswinkel der Hänge,
sondern auch von der Beschaffenheit der Felsen, des Eises und
Schnees ab. Schon die Felsen können in geologischer Beziehung,
durch Lagerungsverhältnisse, Schichtenstellung, Verwitterung, Ver-
eisung, Schneebedeckung sehr grosse Unterschiede aufweisen.
Noch mehr gilt dies vom Schnee. Es liessen sich bei fünfzig
verschiedene Adjektiva aufführen, um die wechselnde Beschaffenheit
des gefrorenen Wassers zu bezeichnen. Ein Führer in der
Tarentaise sagte zu Dr. Blodig und dem Verfasser, der Schnee
sei mit der menschlichen Stimme zu vergleichen, bald sei er hart,
bald weich, bald rauh, bald glatt, bald trügerisch und verführerisch,
und dasselbe könnte man auch vom Gletschereise behaupten.


Bei Rekognoszierungen haben wir aber nicht nur auf die
Beschaffenheit des Terrains, sondern auch auf die Zeit und die
Entfernung Rücksicht zu nehmen. Der Bergsteiger soll im Stande
sein zu berechnen, wieviel Stunden er zur Ersteigung eines
Gipfels oder Passes, zur Ueberwindung eines Hindernisses bedarf,
da im Hochgebirge die Erreichung des Zieles insbesondere
von der richtigen Zeiteintheilung abhängt. Wer den Zeitaufwand
einer Tour richtig abschätzen will, muss auch das Terrain auf dessen
Gangbarkeit richtig beurtheilen, doch können im Gebirge Ver-
hältnisse eintreten, die selbst dem erfahrenen Bergsteiger grosse
Ueberraschungen bereiten. In winterlicher Jahreszeit, wenn auf dem
Gebirge grosse Schneemassen liegen, können durch den Föhn,
die Fröste und die ungleiche Sonnenbestrahlung oft in wenigen
Stunden Veränderungen und Gegensätze herbeigeführt werden, die
jeder Voraussetzung spotten. Daher sind Wintertouren auch ge-
fährlicher als Touren in der wärmeren Jahreszeit, weil dieselbe
allzusehr vom Zufalle und der Ausnutzung des Momentes ab-
hängen.


Bei der Orientierung kommt es darauf an, die Karte mit den
Gegenständen in der Natur zu vergleichen. Hat man das Bild
einer Landschaft, einer Gebirgskette oder einer Bergesspitze in
[125]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.ihren allgemeinen Zügen erfasst, so gilt es, ihre charakteristischen
Merkmale aufzufinden, die zur Feststellung einer Route dienen.
Je mehr Einzelheiten vorhanden sind, desto schwieriger ist diese
Aufgabe, aber auch der gänzliche Mangel an Details würde nach-
theilig sein. Man orientiert sich daher auf coupiertem Terrain,
wo Wälder, Hügel, Bergfüsse den Ausblick versperren, weniger
gut als auf einer freien Fläche, in der Felsregion schwieriger als
im Firngebiete. Bei einer Wanderung über die ausgedehnten
Hochflächen der grossen Kalkstöcke erstaunt das Auge über die
Unzahl von Nadeln, Zacken, Höcker, Rippen und Bänke, die uns ent-
gegentreten und die oft das Endziel bis zum letzten Augenblicke
verhüllen. Tritt nun Nebel ein, der grösste Feind der Bergsteiger,
so kann selbst dem Kundigen Gefahr drohen. In solchen Fällen
ist auch die Magnetnadel völlig werthlos, auf die sich der Theo-
retiker so gerne stützt. In einem Terrain, das vielleicht zu acht
Zehntel Theilen dem menschlichen Fusse unzugänglich ist, wo
Abstürze und Wände das Fortkommen hemmen, in einem Terrain,
wo es darauf ankommt, eine kleine Scharte, einen Kamin, ein
Grasband sicher zu erreichen, um in eine tiefere Region absteigen
zu können, da ist uns mit einer allgemeinen Richtung, wie sie der
Kompass giebt, nicht gedient.


Noch auf einen anderen Punkt hat der Bergsteiger bei Fest-
stellung einer Route Rücksicht zu nehmen: auf die Täuschungen
des Auges und die Veränderungen durch die Perspektive. Ein
Felshang erscheint uns viel stärker geneigt, wenn wir ihn von
vorne und nicht auch von der Seite betrachten, die oberen Partieen
eines Berges zeigen sich dem Auge kürzer als sie es in Wirk-
lichkeit sind, eine breite, horizontale Schneeinsel schrumpft in der
Ferne zu einem schmalen, weissen Bande zusammen; aber auch
näher liegende Eis- und Firnflächen werden nicht selten unter-
schätzt, indem man sie für kleiner hält als ihre wirkliche Aus-
dehnung beträgt. Hat der Bergsteiger aus der Ferne eine Route
entworfen, und sich gewisse charakteristische Merkpunkte seinem
Gedächtnisse eingeprägt, so wird er staunen, welche Veränderungen
das betreffende Objekt in der Nähe erleidet. Der schlanke
Felsthurm verwandelt sich in einen breiten Rücken, der grüne
Fleck zu einer ausgedehnten Alpwiese, und eine kaum sichtbare
dunkle Wellenlinie wird zu einem unüberschreitbaren Bergschrund.
Das sind Täuschungen, die dem Anfänger leichter begegnen, als
dem alten, erprobten Praktiker, der über die Höhe, Entfernung
und Grössenverhältnisse dieser Objekte im Vorhinein klar ist.


[126]L. Purtscheller.

Es wird nun auch die Frage zu erörtern sein, ob Hoch-
gebirgstouren nicht auch ohne Führer, in Gesellschaft mit anderen
Alpinisten oder allein zulässig sind. Auch wir theilen die An-
schauung, dass Touren im Hochgebirge grundsätzlich mit Führern
ausgeführt werden sollen, dass es aber von dieser Regel Aus-
nahmen giebt, die sich rechtfertigen lassen. Jeder Bergsteiger
anerkennt den Werth und die Beihilfe eines tüchtigen Führers.
Durch die Schaffung einer geschulten Führerschaft – ein aus-
schliessliches Verdienst des D. u. Oe. A.-V. – hat das grosse
Publikum erst das nöthige Vertrauen zu alpinen Unternehmungen
gewonnen, erhält eine Bergfahrt erst die nöthige Garantie gegen
einen unglücklichen Ausgang.


Bei aller Betonung der Nothwendigkeit einer tüchtigen
Führerschaft und bei vollster Anerkennung der meist vorzüglichen
Eigenschaften unserer Bergführer ist es doch kräftigen, berg-
erfahrenen Touristen nicht zu verargen, wenn sie der Beihilfe
eines Führers entrathen zu können glauben. Allerdings giebt es
Hochtouren, bei welchen auch der tüchtigste Alpinist einen lokal-
kundigen Führer nicht gerne vermisst, aber wie viele andere
Touren dagegen gelten als leicht, bequem und bei einiger Vor-
sicht als gefahrlos. Auch die Gebirgskunde, das Verständniss
für die alpine Technik, ist jetzt mehr ein allgemeines Besitzthum
geworden, und dies gilt sowohl von den Reisenden, als auch
von den Führern. Wie gross ist z. B. schon der Unterschied
zwischen einer Glockner- oder einer Ortlerbesteigung von heute
und vor 25 Jahren! Heute kennen wir auf allen Bergen die
besten und üblichsten Abstiege, ihre Schwierigkeiten und Ge-
fahren, allenthalben giebt es Unterkunftshütten, gebahnte Wege und
Tracen; über jede Gebirgsgruppe, über jeden bedeutenderen
Gipfel oder Hochpass liegt eine mehr oder minder ausführliche
Literatur vor, so dass wir uns die Erfahrungen Anderer zu nutze
machen können.


So naturgemäss dies auch ist, so kann doch nicht verkannt
werden, dass auf Grund dieser günstigen Verhältnisse auch Un-
berufene sich dem führerlosen Gehen zuwenden und in Ueber-
schätzung ihrer Kräfte und Fähigkeiten sich auf schwierige und ge-
wagte Unternehmungen einlassen. Meist ist auch solchen Berg-
steigern das Glück hold, denn manche Dummheit und Unvor-
sichtigkeit bleibt ungestraft; anders aber kann es kommen, wenn
einmal die Verhältnisse nicht normal sind, wenn der Nebel die
Orientierung verhindert, wenn Schnee und Eis die Felsen völlig
[127]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.unpasssierbar machen, und die Kälte den Körper bis ins Mark
erstarren lässt. Die Sprache der Gräber, in denen die Verunglückten
ruhen, ist zwar stumm, aber sie ist doch ernst und deutlich genug,
um zur äussersten Vorsicht zu mahnen. Sollte aber wegen dieser
Gefahren das führerlose Gehen ganz verpönt sein? Wir reden hier
nicht dem übertriebenen Wagemuth oder der Tollkühnheit das
Wort, aber es wäre doch eine allzu grosse Einschränkung
der persönlichen Freiheit, wenn es unseren Jünglingen und
Männern versagt sein sollte, ihre Leistungsfähigkeit und Kräfte
unabhängig von fremder Hilfe zu erproben. Der richtige Berg-
steiger will auf den Bergen nicht bloss körperlich, sondern auch
geistig angeregt sein, er will an den Erfolgen nicht nur passiven,
sondern auch aktiven Antheil nehmen, er will sich die reinen Freuden
des Hochgebirges nicht durch fremde Verdienste zueignen.


Es ist klar, dass Diejenigen, die ohne Führer Hochtouren
ausführen, auch dieselben Eigenschaften besitzen müssen, wie die
Führer. Eine allgemeine Bergkenntniss, eine gute Orientierungs-
und Beobachtungsgabe, Gewandtheit im Klettern und Stufen-
schlagen, richtiges Urtheil in Bezug auf Terrainschwierigkeiten,
Gefahren, Witterungsumstände, ein sicherer Tritt, Geistesgegen-
wart, Kaltblütigkeit und Kühnheit sind für „führerlose“ Touristen
eine nothwendige Voraussetzung. Nur wer diese Eigenschaften
in vollkommenem Maasse besitzt, der wird zur Theilnahme oder
auch zur Leitung einer führerlosen Hochtour befähigt sein. Die
Mittel zur Erlangung dieser „Führereigenschaften“ sind: mehr-
jährige Hochgebirgswanderungen mit guten Führern, fleissige
Uebung im Klettern, in der Behandlung von Schnee und Eis,
im Gebrauche von Seil und Pickel, Bergbesteigungen auch in
winterlicher Jahreszeit, Veranstaltung von Uebungs- und In-
struktionstouren, Gewöhnung an Entbehrungen, an Hitze und Kälte
und an Bivouaks. Wer diese Bedingungen erfüllt und sich diese
Eigenschaften in vollstem Maasse aneignet, wird vielleicht einem
Führer besseren Ranges gleichkommen, aber um es zur vollendeten
Meisterschaft zu bringen, werden noch viele Jahre vergehen. Erst
für den erprobten, vollendeten Gebirgsmann gilt das Wort: Wo
mein Wille ist, da ist auch mein Weg!


Doch auch der tüchtigste Bergsteiger wird sich überzeugen,
dass es im Hochgebirge nicht nur Dinge giebt, die man nicht machen
kann, sondern auch solche, die man nicht machen soll. In diesem
Falle ist das Abbrechen der Tour das einzig Richtige, die
Selbstüberwindung, der Sieg der Besonnenheit anerkennenswerther
[128]L. Purtscheller.als ein Uebermaass von Muth. Besonders die „Führerlosen“
müssen sich, wenn sie ihre Sache nicht völlig diskreditieren wollen,
vor Augen halten, dass sie die Verantwortlichkeit allein tragen,
die sonst zwischen dem Führer und dem Touristen getheilt
ist. Der Charakter, wie ihn das Gehen im Hochgebirge aus-
bilden soll, äussert sich nicht bloss im Wagen, sondern auch
im Entsagen. Einsatz und Gewinn, Wollen und Können müssen
zu einander im richtigen Verhältnisse stehen. Muth ohne Kraft
ist lächerlich, Kraft ohne Muth verächtlich. Bergsteiger, die ohne
Führer Hochtouren unternehmen wollen, haben ihre gegenseitige
Leistungsfähigkeit, ihre Kräfte und Geschicklichkeit genau ab-
zuwägen.


Eine andere Erscheinung der Touristik ist das Alleingehen.
Alle jene Bedingungen, die an eine führerlose Gesellschaft zur
stellen sind, gelten in verstärktem Maasse auch für den Allein-
geher. Beim Alleingehen hat man zu unterscheiden, ob es nur
in der Fels- oder auch in der Schneeregion ausgeübt wird. Ueber
ersteres kann man, wenn nicht allzu schwierige Unternehmungen
in Frage kommen, mit grösserer Nachsicht urtheilen, das Allein-
gehen aber auf Gletschern ist in hohem Grade bedenklich. Wer
es thut, der kennt entweder die Gefahren des Hochgebirges nicht, oder
er verfügt über ein so reiches Ausmaass von Erfahrung, Bergkenntniss,
Sicherheit und Ausdauer, dass er sich als eine glänzende Ausnahme
von der Regel betrachten kann. Wer aber die nöthigen Be-
dingungen zum Alleingehen wirklich besitzt, der wird sich dabei
sehr wohl befinden! Statt sich durch die Mitnahme von unzu-
reichenden Begleitern Unannehmlichkeiten, Vorwürfen, Gefahren,
Zeitverlusten auszusetzen, wird ein solcher Alpinist besser thun,
wenn er auf jede Gesellschaft verzichtet. Das Alleingehen hat an
Hermann v. Barth, John Tyndall und J. J. Weilenmann be-
redte Vertheidiger gefunden, wenn auch jeder von ihnen vor
dessen Gefahren nachdrücklich warnt. „Als Gewohnheit,“ sagt
Tyndall in seinem Buche „Aus den Alpen“, „muss man das
Alleingehen verurtheilen, betreibt man es aber mit Maass, so ist
es ein grosser Genuss.“ Und an einer anderen Stelle schreibt
Tyndall: „Liegt die Arbeit klar vor uns, hat lange Uebung uns
gelehrt, unserem eigenen Auge und Urtheil beim Auffinden von
Spalten zu vertrauen, hat unsere Axt und unser Arm gelernt, die
ernsten Schwierigkeiten zu überwinden, so ist es ein ganz neuer
Genuss, allein unter grossartigen Bildern zu sein. Die Felszacken
machen einen feierlicheren Eindruck, die Sonne leuchtet mit
[129]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.glühenderem Feuer, das Blau des Himmels ist tiefer und geheim-
nissvoller, und das harte Herz des Menschen wird weich wie das
eines Kindes.“


So schwierig es auch sein mag, sich jene Bergsteigereigen-
schaften anzueignen, die zu führerlosen Touren oder zum Allein-
gehen berechtigen, unerreichbar ist dieses Ziel nicht. Diejenigen,
die in oder nahe den Bergen leben, sind in dieser Beziehung
besser daran, als Jene, die weit draussen im Flachlande wohnen.


Unsere Deutschen und Oesterreichischen Alpen bieten so
grosse Mannigfaltigkeit, einen so unerschöpflichen Reichthum von
Partieen dar, dass der Geübte wie der minder Geübte, der
„Führerlose“ wie der „Alleingeher“ das ihren Kräften und ihrer
Geschicklichkeit angemessene Excursionsgebiet unschwer finden
können. Das „führerlose“ Gehen wird in den Bergen unserer
Ostalpen – schon vermöge ihrer geringeren Schwierigkeiten und
der seltener vorkommenden objektiven Gefahren – stets einen
grossen Faktor in der künftigen Entwickelung des Alpinismus ein-
nehmen, und die Aufgabe der alpinen Vereine kann nur die sein,
vor allzu gewagten Unternehmungen, vor Leichtsinn und dummen
Streichen zu warnen.

III.


Die Wahrheit der Goethe’schen Worte:

„Die frische Luft
des freien Feldes ist der eigentliche Ort, wo wir hingehören; es
ist, als ob der Geist Gottes dort den Menschen unmittelbar an-
wehte und eine göttliche Kraft ihren Einfluss ausübte“

, wird jeder
Naturfreund gerne bestätigen.


An der Pforte der schneegeschmückten Alpenkammern, auf
der hocherhabenen Naturbühne der Gebirgswelt überlässt sich
unser Geist mit besonderer Vorliebe den Eindrücken des erhabenen
Weltenbaues. Motive idealster Art, geheimnissvolle, ethische
Regungen der Seele sind es, die uns hinauflocken zu den ein-
samen, wolkenumthürmten Höhen, in das Bereich des Gletscher-
eises, der Firnen und Schneegipfel. Aus dem Getümmel des
Menschenkampfes, aus dem Dunstkreise unserer modernen Bildung
fliehen wir gerne hinaus in die heitere Schöpfungspracht der
Hochalpennatur, in den Stillfrieden der Berge. Eine unerschöpfliche
Fülle von Bildern, von Eindrücken höherer Art, von Freuden und
Genüssen treten uns hier entgegen. Wohl mag der Fremdling,


Zeitschrift, 1894. 9

[130]L. Purtscheller.

Figure 7. Uebung macht den Meister.

der sich zum ersten Male
den Alpen nähert, über
die Gewalt dieser Ur-
kraft, über die Offen-
barung einer solchen
Ideenfülle erstaunen!


Wir betrachten die
Touristik nicht als Sport,
sondern als eine Lebens-
erhellung, nicht als eine
Modesache, sondern als
eine Art Naturkultus,
als einen Ausdruck der
Gottesverehrung. Ist
einmal die Zeit des
„Sturms und Dranges“
vorüber, dann werden
die Vortheile dieses
Naturkultus, die jetzt
allzu oft durch Unglücks-
fälle und beklagens-
werthe Katastrophen ge-
trübt und verdunkelt
werden, klar und deut-

lich hervortreten. Denn nie wird der Mensch, allen Abstraktionen,
allem Geistesdrill. allen konventionellen Schranken zum Trotze,
seine innigen Beziehungen zur Aussenwelt, seine Abhängigkeit
von der Natur verleugnen können, immer wieder wird der
Körper, werden Gemüth und Herz ihre Rechte behaupten, und
daher ist die Touristik nicht eine Sache von Heute oder Morgen,
und wenn ihr in der Gegewart Viele huldigen, so gehört ihr die
Zukunft ganz und unbedingt, ist doch die Jugend auf unserer Seite.
Besonders eindrucksvoll, namentlich für den Uneingeweihten,
ist der Dekorationswechsel, der den Uebergang aus der Tiefe
zur Hochregion begleitet. Aus waldfrischen Voralpenthälern, aus
lichtdurchdrungenen Gärten, wo die Lüfte süss und sommerlich
wehen, steigen wir hinauf zu den letzten Wohnstätten der
Menschen, in die Region der Tannen, des Krummholzes und
der Alpenweiden, über die sich rauh und steil die nackten Fels-
riffe aufbauen. Weite, stille, blockerfüllte Kare begrenzen den
Blick, dann kommen jene Reihen tiefdunkler Seeen, die den
[131]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.Schnee der Höhe widerspiegeln, Seeen ohne Nachen und ohne
belebende Staffage, Gesteinsbänke, auf deren Scheiteln die Alpen-
rose blüht, während vor unseren Füssen der majestätische Gletscher
sich ausbreitet und seine erstarrten, blaugrünen Wogen zu Thale
wirft. Höher schweift der Blick über weite, blinkende Eisgefilde
und zerschründete Firnen, über Abgründe des Grauens, endlich
erscheinen auch die stolzen, lichtumflossenen Gipfel, Berge in
Wolken gebaut, von Sternen berührt, in ihrer Gesammterscheinung
ein Bild von erschütternder Grösse, von überwältigender Macht.


So ist die Welt beschaffen, in der der Bergsteiger seine an-
spruchslose Thätigkeit ausübt, eine Welt, die mehr wundervoll als
bequem, mehr schön, als nützlich ist. Kein Wunder, wenn Aber-
glaube und Furcht die Menschen lange Zeit zurückhielten, in die
Geheimnisse dieser Urnatur einzudringen. Es fehlten nicht nur der
Sinn und das Interesse für die Hochgebirgsnatur, es fehlten auch
die Mittel und Erfahrungen, über welche die Gegenwart verfügt.
Auch die Bergexpeditionen zur Zeit Ruthner’s und Specht’s litten
noch an diesem Mangel und gestalteten sich daher oft erfolglos. Man
hatte keine Karten, keine Führer, keine Wege und Unterkunfts-
hütten, auch die Ausrüstung war unvollständig. Dazu kamen noch
die Beschwerden einer mehrtägigen Post- oder Stellwagenfahrt,
von Wien nach Salzburg benöthigte man damals 6, von München
nach Innsbruck 4 Tage. Die Leute, die man als „Führer“ be-
zeichnete, waren meist Hirten, Holzknechte, Jäger, die mehr aus
Gefälligkeit, als wegen des Geldverdienstes mitgingen. Man über-
schätzte die Schwierigkeiten einer Bergbesteigung in der Regel
ebenso sehr, wie man sie heute unterschätzt. Ueber die Tempe-
ratur in der Schneeregion hatten selbst die Gebirgsbewohner sehr
unklare Begriffe; man glaubte, dass dort beständig eine furchtbare
Kälte herrsche und dass die aufgesprungene Gesichtshaut der auf
diese Höhen Vordringenden eine Wirkung dieser Kälte sei. Hier
hatte man gegen Felsen, dort gegen Schnee eine unüberwindliche
Abneigung, und die Anschauung, dass die höheren Berge im Winter
ganz unnahbar seien, ist im Gebirge noch heute sehr verbreitet.
Wer daher die Leistungen unserer Vorgänger einer Kritik unter-
zieht, muss sich auch der Schwierigkeiten bewusst sein, die damals
nicht nur einer Bergbesteigung, sondern auch jedem Versuche zu
einer solchen, entgegenstanden. Man stieg zu jener Zeit vielleicht
allzu vorsichtig, aber zur Ehre dieser Zeit sei es gesagt, dass
deren Geschichte durch keinen einzigen erwähnenswerthen Un-
glücksfall entstellt ist. Erst als der Sturmlauf auf das Hoch-
9*[132]L. Purtscheller.gebirge begann, als sich auch völlig Unberufene zur Touristik
herandrängten und der Alpinismus als „Sport“ hingestellt wurde,
änderte sich die Sachlage, Wohin aber der exklusive „Sport“
führt, dies hat ausser vielen anderen die Katastrophe an der
Glocknerwand dargethan.


Ausser an Bergkenntniss und Erfahrung mangelte es auch
an der nöthigen Technik. Pickel und Seil kamen in den Ostalpen,
einige Ausnahmen abgerechnet, erst Ende der siebziger Jahre
ziemlich allgemein in Verwendung, und wenn man ein Seil mitnahm,
so geschah es nicht, um sich zusammenzuknüpfen, sondern nur, um
einen in eine Spalte gefallenen Kameraden heraushelfen zu können.
Statt des Seiles gab der lange Bergstock einige Sicherheit, und den
Pickel musste ein kurzes Handbeil ersetzen. Dagegen standen
die Steigeisen bei Gemsjägern schon seit Jahrhunderten im Ge-
brauche. Kaiser Maximilian I. empfiehlt im „Haimlich Gejaidt
Puech“ seinen Nachfolgern, in dem „Kocher zu Insprug“ vor allem
„Erlich Fues Eyssen mit sex Zuecken“ einzustellen; er unter-
scheidet „Pirg Eyssen“ und „Waldt Eyssen“ und giebt genaue
Anweisungen über deren Beschaffenheit und Befestigung.


Die ersten Führer der Touristen waren Aelpler, Gemsjäger,
Schaf- oder Ziegenhirten, aber selten konnte man von diesen
Leuten ein richtiges, systematisches Gehen, ein zutreffendes Urtheil
über Schwierigkeiten und Gefahren voraussetzen. Sie trauten ihren
Schützlingen entweder Alles oder Nichts zu, und waren eigentlich
nur als Wegweiser brauchbar. Ueber die Art des Steigens
auf Gebirgsterrain, über die Ueberwindung von Hindernissen,
Erklimmung von Felsen und Steilhängen, über klimatische Ver-
hältnisse, über Verproviantierung, Bekleidung und Ausrüstung
mussten erst die nöthigen Erfahrungen gesammelt werden. Bald
überzeugte man sich, dass nicht jeder Fusswanderer, nicht jeder
Gebirgsreisende auch ein tüchtiger, ausdauernder Bergsteiger sei,
man lernte den Werth der Methode, das Prinzip der Schonung
und Steigerung der Kräfte, eine richtige Zeiteintheilung erfassen.
Der Städter sah sich im Gebirge unter ganz andere Verhältnisse
gestellt, er musste erst seine Leistungsfähigkeit, sowie die Vortheile
der gegenseitigen Hülfe erproben. Erst allmählich kam man zur
Ueberzeugung, dass im Hochgebirge das Terrain, das dem
menschlichen Fusse zugänglich ist, viel weniger gross ist, als das
ihm unzugängliche, dass das Bergabsteigen nicht selten schwieriger
sei, als das Bergaufsteigen, und welche Verlegenheiten ein plötzlich
einfallender Nebel, ein Schneesturm oder ein Ungewitter bereiten
[133]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.können. Es bedurfte einer Reihe schwerer Unglücksfälle, um die
Gefahren eines beschneiten, zerklüfteten Gletschers, einer Schnee-
wächte, eines Eisüberhanges, einer mit Neuschnee bedeckten Steil-
fläche, eines gefrorenen Rasenhanges kennen zu lernen. Wohl
scheuten sich einzelne Gemsjäger und Aelpler nicht, auch in der
Gletscher- und Firnregion herumzusteigen, allein es geschah aus-
nahmsweise und es waren die Leute mit der Lokalität genau ver-
traut. Da man in der Höhe eine sehr niedere Temperatur ver-
muthete, und immer auch ein Bivouak im Freien gefasst war,
so kleidete man sich in der Regel viel zu warm, was das Fort-
kommen und die Athmung sehr erschwerte. Statt des heute all-
gemein üblichen Rucksackes bediente man sich einer Umhänge-
tasche, welche der Führer zu tragen hatte. Ein eigentliches Berg-
kostüm gab es nicht, doch erkannte man bereits die Vortheile
kurzer Beinkleider. Thurwieser trug einen Rock mit Schössen,
den er „Frack“ nannte, kurze Beinkleider und Schnürschuhe;
Ruthner eine ähnliche Kleidung, statt des Rockes aber eine Joppe.
Gegen den Gletscherbrand schützte man sich durch Einreibungen
mit Schiesspulver, was den Nachtheil hatte, dass durch den herab-
rinnenden Schweiss Wäsche und Kleider verunreinigt wurden.
Auch viele diätetische und hygienische Hülfsmittel, deren wir uns
bei unseren heutigen Bergbesteigungen bedienen, wie unsere vor-
trefflichen Konserven, Brause-Limonaden, Taschenapotheken blieben
den alten Bergsteigern fremd. Und selbst wenn Alles stimmte,
wenn der Bergfahrer nach wochenlangen Wanderungen die letzte
Hochgebirgsstation erreicht hatte, wenn die Witterung und die
Schneeverhältnisse günstig waren, so handelte es sich auch noch
darum, ob ihm der „Führer“, dessen Frau und Brüder gefällig
waren, ob die Feldarbeit, häusliche oder religiöse Verrichtungen
es erlaubten, dass sich der Mann an eine gefährliche Tour wage.
Nicht selten gingen durch nutzloses Zuwarten kostbare Tage ver-
loren. Alle diese Verhältnisse hatte der Tourist, wie aus Ruthner’s
und Weilenmann’s Schilderungen ihrer Oetzthaler Fahrten hervor-
geht, in seine Kombinationen mit einzuziehen, sie bildeten einen
Haupttheil seiner Sorgen und Befürchtungen. Wie rasch, sicher,
bequem, ja sozusagen elegant lassen sich dagegen heute auch die
schwierigsten und gefährlichsten Bergbesteigungen ausführen. Der
Mangel an Führern sowohl, wie an Verkehrsmitteln, hochgelegenen
Gaststätten und Unterkunftshütten, wirkten zusammen, um die Ent-
wicklung der Hochtouristik in den Ostalpen zu hemmen. Während
man bei uns erst mit der Erschliessung der einzelnen Gebirgs-
[134]L. Purtscheller.gruppen begann, hatte man in der Schweiz einen grossen Theil
der schwierigsten Hochgipfel schon erstiegen.


Wie es mit der Ersteigung der Hochgipfel unseres viel be-
reisten Nachbarlandes (inklusive Savoyens) im Vergleiche mit
jenen der Ost-Alpen bestellt ist, ergiebt sich aus nachfolgender
Uebersicht:


Ersteigungs-Chronik über einige der bedeutendsten Hochgipfel
  • der Schweiz
    (inclusive Savoyens) und
    • Jahr
    • 1786 Mont Blanc.
    • 1811 Jungfrau.
    • 1812 Finsteraarhorn.
      1824 Tödi.
      • 1844 Haslijungfrau
      • 1845 Mittelhorn
    • 1850 Piz Bernina.
    • 1855 Monte Rosa (Dufourspitze),
    • Weissmies.
    • 1856 Allalinhorn, Laquinhorn.
    • 1857 Mönch.
    • 1858 Eiger, Dom, Nadelhorn.
    • 1859 Bietschhorn.
    • 1860 Blümlisalphorn.
    • 1861 Schreckhorn, Lyskamm,
    • Weisshorn, Grand Combin.
    • 1862 Grindelwalder Fiescherhorn,
    • Täschhorn, Dent Blanche,
      Monte della Disgrazia.
    • 1863 Dent Hérens, Piz Zupô.
    • 1864 Dammastock, Balmhorn,
    • Rimpfischhorn, Mont
      Dolent, Aiguille
      d’ Argentière.
    • 1865 Matterhorn, Gabelhorn,
    • Walliser Grünhorn,
      Nesthorn, Piz Roseg,
      Cresta-Güzza.
    der Deutschen und Oester-
    reichischen Alpen
    • Jahr
    • 1778 Triglav.
    • 1800 Grossglockner.
    • 1804 Ortler.
    • 1819 Thorstein.
    • 1822 Ankogel.
    • 1832 Dachstein.
    • 1841 Grossvenediger.
    • 1844 Johannisberg.
    • 1857 Venter Wildspitze.
    • 1858 Schwarzenstein.
    • 1861 Fluchthorn, Weisskugel.
    • 1863 Zuckerhütl, Wilder Pfaff.
    • 1864 Monte Cevedale, Ruderhof-
      spitze,Marmolata,
      Adamello, Presanella.
    • 1865 Königsspitze, Piz Buin,
      Tofana di fuori, Croda
      rossa, MonteCristallo, Cima
      Tosa, Brenta alta, Mösele.
    • 1866 Reichenspitze, Monte Zebrù,
      Schneebige Nock.
    • 1867 Olperer.
    • 1868 Hochgall.
    • 1869 Hohe Riffel, Glocknerwand.
      Hochalpenspitze, Thur-
      wieserspitze, Wilder Frei-
      ger, Sonklarspitze, Par
      seyerspitze, Langkofel.

Mit der geographischen und naturhistorischen Erforschung
des Hochgebirges hat auch die alpine Technik ausserordentliche
[135]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.Fortschritte gemacht. Der grossartige Aufschwung unserer
Leistungen im Hochgebirge erklärt sich theilweise auch daraus,
dass man in älterer Zeit Vieles gar nicht versuchte, weil man es
für unmöglich hielt. Jetzt, wo selbst die abenteuerlichsten und
schwierigsten Probleme mit verblüffender Sicherheit und Routine
gelöst werden, ist man in der Anwendung des Wortes „Unmöglich“
etwas vorsichtiger. Hochgipfel, die vor fünfzehn Jahren als sehr
schwierig und gefährlich galten, sind jetzt zu Modebergen herab-
gesunken. Wenn ältere Touristen die Schwierigkeiten und Ge-
fahren einer Bergtour übertrieben schilderten und ihre eigene Un-
zulänglichkeit als Maassstab für ähnliche Unternehmungen hin-
stellten, so verfällt man jetzt in den entgegengesetzten Fehler,
indem man über Alles geringschätzig urtheilt, Alles für leicht hält.
Besonders Touristen, die mit Führern zu gehen gewohnt sind, ver-
fallen gerne in diesen Fehler, woran meist ihre Urtheilslosigkeit
und geringe Erfahrung schuld sind. Wer sich in einer heikeligen,
schwierigen Lage befindet, der übersieht leicht, dass schon der
leiseste Zug mit dem Seile, das Reichen eines Fingers oder des
Pickelstieles vor dem Tod bringenden Sturze bewahren können;
es sind dies in der Regel Stellen, wo der Führer selbst keinen
guten Stand hat. Der Tourist mag zwar behaupten, dass er sich
nur „einmal“ oder „nur wenig“ helfen liess, aber er übersieht, dass
es ihm ohne dieses Bischen Hülfe nicht möglich gewesen wäre,
das Ziel zu erreichen.


Nicht ganz überflüssig erscheint es an dieser Stelle, einige
Regeln über das Gehen aufzustellen. So viel darüber auch ge-
schrieben wurde, giebt es doch nicht viele Touristen, welche diese
Regeln genau beobachten. Wer zu Beginn einer Tour langsam
ausschreitet, im Uebrigen aber ein gleichmässiges Marschtempo
einhält, kann den ganzen Tag ohne besondere Anstrengung gehen.
Führer Dangl meint, „man soll im Anfange so langsam gehen,
als wenn man nirgends hingehen wollte“, und das Sprichwort;
„Derjenige kommt am weitesten, der nicht weiss, wohin er geht“,
gilt auch für das Bergsteigen. Haupterforderniss beim Gehen ist,
seine Kräfte so viel als möglich zu schonen, und dies gilt von
der Lunge und dem Herzen noch mehr, als von den Beinen. Ein
lautes Athmen, ein deutlich fühlbarer Herzschlag zeigen uns an,
dass wir die Grenze bereits überschritten haben. Auch das viele
Sprechen, insbesondere beim Bergaufgehen, ist von Uebel, ab-
gesehen davon, dass das „gebildete Gespräch“ oft gar nicht recht
passt zum Genius des Ortes und zur Grossartigkeit der Stunde.
[136]L. Purtscheller.Um die Beinmuskulatur nicht allzu rasch zu ermüden, hebe man
den Fuss langsam vom Boden weg und setze ihn ebenso langsam
vorwärts. Auch die Länge und Höhe der Schritte ist von grossem
Einflusse, auch sie sollten möglichst gleichmässig sein, eine Be-
dingung, die freilich auf rauhem Terrain, auf Blockhalden, brüchigem
Schnee oder bei Nacht kaum einzuhalten ist. Der erfahrene Berg-
steiger besitzt vor dem Anfänger den grossen Vortheil, dass
er jenes Terrain zum Fortkommen wählen wird, das ihn am
raschesten und mühelosesten fördert. und dass er mit grösserer
Sicherheit die richtigen Stellen findet, wohin er den Fuss auf-
zusetzen hat. Eine sehr minderwerthige Pfadspur wird daher
immer besser sein, als keine; harter Boden ist beim Anstieg,
weiches, nachgiebiges Terrain dagegen bei Abstieg von grösserem
Vortheile. Je mechanischer, gleichmässiger und ruhiger sämmtliche
Bewegungen sind – und dies gilt auch von der Athmung – desto
weniger rasch wird sich eine Ermüdung einstellen.


Die Stabilität des Körpers und die Grösse der Reibung,
die dem Abgleiten entgegenwirkt, wird erfahrungsgemäss bedeutend
erhöht, wenn das Aufsetzen des Fusses mit der ganzen Sohle er-
folgt. Solange die Unterlage horizontal ist, wird Niemand von
dieser Regel abweichen, ist aber die Fläche ein zu erklimmender
steiler Hang, so werden wir früher oder später nur den Ballen,
die Zehen oder die Ränder der Sohle – beim Abstieg auch die
Fersen – aufsetzen. Das Steigen mit der ganzen Sohle erfordert
eine grössere Beweglichkeit des Fussgelenkes in senkrechter, wie
in seitlicher Richtung, doch ist auch die Gewohnheit von grossem
Einflusse. Anton v. Ruthner war nach seinen Mittheilungen stets
ein „Zehengänger“, und auch der Verfasser pflegt schon bei
minder steilen Hängen nur mit Zehen und Ballen aufzutreten.
Anders jedoch verhält sich die Sache auf gefährlichem Terrain,
in dem ein Ausgleiten einen Absturz herbeiführen kann. Hier
werden wir uns nach Möglichkeit bestreben, entweder den ganzen
Fuss oder wenigstens den Rand der Sohle und des Absatzes gleich-
zeitig aufzusetzen, um das Muskel- oder Gleichgewichtsgefühl
nicht zu gefährden. Ist die Unterlage allzu steil oder zu schmal,
kann der Körper die nöthige Stabilität nicht mehr finden, so
müssen wir die Hände zu Hülfe nehmen, also klettern, oder uns
einen künstlichen Auftritt herstellen. Der Eintritt dieses Zeit-
punktes hängt von unserer Gewandtheit, unserer Sicherheit und
Ruhe und wohl auch von unserer Ausrüstung ab. Da das
Klettern mehr Kraft- und Zeitaufwand beansprucht als das Gehen,
[137]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.so gilt es, das Terrain vorsichtig auszuwählen. Der Bergsteiger
hat – vorausgesetzt, dass ihm die Wahl freisteht - zu über-
legen, ob er die zu erstrebende Höhe oder Tiefe mittelst Stufen
über einen Eis- oder Schneehang, durch Erkletterung einer Fels-
wand oder über eine schnee- oder eiserfüllte Rinne gewinnen
will, auch muss derselbe vor allem seine persönliche Leistungs-
fähigkeit berücksichtigen. Dies mit möglichster Genauigkeit und
Sicherheit zu bestimmen, gehört zu den schwierigsten, aber
auch zu den schönsten Triumphen der modernen Bergtechnik,
und wer sich zu einem tüchtigen Touristen ausbilden will, muss
in dieser Sache Fertigkeit besitzen. Bergsteiger, die ausschliesslich
mit Führern gehen, kommen selten in die Lage, sich über diese
Dinge ein selbständiges Urtheil zu bilden. Wer aber in den
Bergen reichere Erfahrungen gemacht hat, wird wissen, dass
die Siege, die das Auge davonträgt, meist eine viel grössere
Selbstbefriedigung hervorrufen, als die Erfolge der blossen Kraft
und des ungestümen Darauflosstürmens. Ist es nicht ärgerlich,
wenn wir nach Ueberwindung einer schwierigen Kletterstelle ent-
decken, dass wir dieselbe bei einiger Umsicht hätten vermeiden
können, oder dass sich die steingefährliche Rinne durch eine seit-
liche Ausbiegung umgehen liesse? Ein solcher Stürmer wird
zwar in der Ueberwindung von Schwierigkeiten Ausserordent-
liches leisten, er trägt vielleicht alle Bedingungen zu einem
tüchtigen, schneidigen Hochtouristen in sich, allein er wird niemals
einen guten Führer ersetzen können.


Dasselbe, was von dem Touristen gesagt wird, gilt weit
mehr noch von dem Führer. Der Führer soll über das grösste
Maass von „Bergkenntniss“, oder wie man es auch nennt „Berg-
instinkt“ verfügen, er soll bei der Auswahl des Terrains auch die
Leistungsfähigkeit des Touristen berücksichtigen, er soll im Stande
sein, sich nicht nur auf seinen Heimathsbergen, sondern auch in
fremden Alpengebieten zurechtzufinden.


Neben dem Fusse spielt beim Bergsteigen die Hand eine
sehr wichtige Rolle. Wenn wir den Fuss als Stütz- und Tast-
organ gebrauchen, so kommt durch die Verwendung der Hände
noch ein drittes, sehr wesentliches Förderungsmittel hinzu, die
Hang- oder Zugkraft, durch welche es uns, den Gesetzen der
Schwere zum Trotze, möglich ist, selbst über senkrechte oder
überhängende Terrainhindernisse hinauf- und hinabzugelangen.
Wie die Erfahrung lehrt, hängt die Erkletterung einer Felswand,
eines Kamines oder eines Felsgrates weniger von deren Neigungs-
[138]L. Purtscheller.winkel, als von der Zahl und Güte der Griffe ab, die sich dar-
bieten. Ein guter Griff soll eine knaufförmige oder nach innen aus-
gehöhlte, in die Hand passende Grifffläche darbieten, er muss vor
allem sicher, trocken, in der Anstiegsrichtung und in ebenmässiger
Entfernung gelegen sein. Felsen, deren Schichtung nach einwärts
fällt, bieten für Fuss und Hand viel bessere Auftritte dar, als
Felsen mit auswärts fallender Schichtenlage, was bei Erklimmung
einer Felswand zu erwägen ist. Auch die Gesteinsart, die Struktur-
verhältnisse, Verwitterung, Temperatur, Eis- und Schneebedeckung
sind bei Wahl einer Anstiegsroute zu berücksichtigen. Wie der
Fuss, so hat die Hand die Aufgabe, als Tastorgan zu wirken, und
sich von der Haltbarkeit der Hang- und Stützpunkte zu über-
zeugen. Ist man sicher, dass die zu ergreifenden Vorsprünge,
Felsleisten oder Gesimse die nöthige Sicherheit bieten, so frägt
es sich nur, ob auch unsere Arm- und Fingerkraft ausreicht,
den Körper eventuell auch ohne Mithülfe der Beine emporzuziehen.
In solchen Fällen wird ein Turner über einen Nichtturner un-
bedingt im Vortheile sein, und daher soll jeder Tourist auch
auf die Kräftigung der Armmuskulatur Bedacht nehmen. Wie
viele Touristen würden als Felskletterer Hervorragendes leisten,
wenn sie sich auf die Beugekraft ihrer Finger, Hände und Arme
verlassen könnten, wie Mancher würde das nahe Ziel erreicht
haben, wenn ihn nicht schon ein niedriges Wändchen, ein kleiner
Absatz oder ein leicht zu erklimmendes Band zum Rückzug ge-
nöthigt hätte. Bravourleistungen, wie die Erklimmung der Plan-
spitze von Norden oder die Durchkletterung der Südwand des
Dachsteins, beruhen neben einer vorzüglichen Technik, Berg-
kenntniss und Kaltblütigkeit in erster Linie auf einer ausser-
ordentlichen Anspannung der Finger- und Armmuskulatur.


Wer im Stande ist, in einer Stunde eine Höhe von 350 bis
400 Metern zurückzulegen, kann mit seiner Marschleistung zufrieden
sein. Hierbei wird angenommen, dass das Terrain keinerlei
Hindernisse bereitet und die Durchschnittsneigung des Hanges
nicht weniger als 18 Grad beträgt, Trainirte Bergsteiger, wie die
Wildhüter in den Salzburger und Berchtesgadener Kalkalpen,
bringen es bei ihren täglichen Dienstgängen bis zu 500-600 Metern
in der Stunde, und können 3-4 Stunden in diesem scharfen
Gange aushalten. Führt der Anstieg über pfadlose, grasbekleidete
Hänge, über Schutthalden oder über steile Eis- oder Schneeflächen,
so empfiehlt es sich, einen Zickzackweg einzuschlagen. Beim
Abstieg allzu langsam zu gehen, ist nicht vortheilhaft, da durch


[139]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.

das langsame Gehen der Körper mehr ermüdet, als durch eine
hüpfende Bewegung. Statt des gewöhnlichen Gehens ist beim
Abstieg ein kurzer Galopp angemessener, wobei der Bergstock
rückwärts eingesetzt wird. Das Einsetzen des Bergstockes vor-
wärts, das sich insbesondere im Kalkgebirge empfiehlt, besteht
darin, dass man den Stock vor sich tiefer in den Boden stellt und
mit gleitendem Griffe knapp neben demselben herabspringt.
Geübte Felssteiger können mit Hülfe eines 2 ½-3 ½ Meter langen
Stockes einen Tiefsprung von 3 Metern ausführen, was den Vor-
theil hat, dass den Beinen ein Theil der Körperlast abgenommen
und auf die Arme übertragen wird.


Die grössten Hülfsmittel der alpinen Technik sind das Seil
und der Eispickel. Durch dieselben haben unsere Unternehmungen
im Hochgebirge erst jenen Grad von Sicherheit, Solidität und Voll-
kommenheit erreicht, die zur Ausführung auch der kühnsten
Touren befähigen. Wir knüpfen uns an das Seil, um uns auf
Eisfeldern gegen die Gefahr eines Sturzes in eine verborgene
Spalte zu sichern, wir benützen es auf Eis- und Firnhängen, um
das Abgleiten eines Kameraden zu hindern, oder als Sicherheits-
und Förderungsmittel, wenn es gilt, einen Kamin, einen Gratzacken
oder eine steile Fels- oder Eiswand zu erklettern oder uns über
dieselbe herabzulassen. Durch die Verwendung des Seiles ist es
auch dem minder Geübten, oder auch dem Nichttouristen möglich,
grosse, überraschende Leistungen auszuführen.


Ueber die Art des Anknüpfens, über Seilknoten, über die
Zahl der Personen, die sich an ein Seil binden sollen, über die
Entfernung derselben von einander, über die richtige und unrichtige
Benützung des Seiles ist in Büchern und einzelnen Artikeln so
viel geschrieben worden, dass die wichtigsten Grundsätze all-
gemein bekannt sind. Die alpine Chronik weist aber auch manche
Beispiele auf, dass unrichtiger Gebrauch des Seiles eine Katastrophe
herbeiführte. Das Unglück auf dem Matterhorn im Jahre 1865,
bei dem vier Menschen den Tod fanden, die Katastrophe auf dem
Cevedale im Jahre 1878, die gleichfalls vier Personen das Leben
kostete, und das Unglück auf der Jungfrau im Jahre 1887, das
sechs junge Männer hinwegraffte, reden eine deutliche Sprache;
sie belehren uns, dass das Gehen am Seile unter Umständen ge-
fährlicher werden kann, als das Gehen ohne Seil. Das Gehen am
Seile in einer Gesellschaft von mehr als drei Personen kann
auf brüchigem oder sehr weichem Schnee, wo ein gleichmässiges
Marschtempo unmöglich einzuhalten ist, zu einer Qual werden,
[140]L. Purtscheller.es empfiehlt sich daher in der Regel, nur zwei bis drei Personen
an ein Seil zu binden. An die Spitze der Karawane soll sich
stets der tüchtigste Gletschermann stellen, sein Scharfblick wird
am besten die Spalten und Zerklüftungen und auch unnütze
Irrgänge vermeiden. Eine Gesellschaft von nur zwei Personen
muss auf unbekannten, beschneiten, von der Sonne erweichten
Gletscher- und Firngebieten sehr vorsichtig operieren, da ein
Einzelner selten im Stande ist, seinen Gefährten aus einer Kluft
herauszuziehen. Man berücksichtige, dass das Seil sich an dem
überhängenden Kluftrande so tief einschneidet, dass ein Empor-
ziehen oder ein Emporklettern des frei am Seile Hängenden meist
unmöglich sein dürfte. Ein Rettungsmittel wäre dadurch ge-
schaffen, dass man das Seil doppelt nimmt und in Abständen von
je einem Meter Knoten macht. Bricht Einer von der Gesellschaft
durch, so kann der Gestürzte versuchen, in die Knoten einzu-
steigen und sich an denselben emporzuarbeiten, der oben Befind-
liche könnte aber, wenn dies nicht gelingt, das Seil an einem der
Knoten am tief eingerammten Pickel befestigen, den Schnee-
überhang wegschlagen oder sich um Hülfe umsehen.


Sehr grosse Achtsamkeit erfordert die Behandlung des Seiles
auf steilen Eis- oder Firnhängen, da das Ausgleiten eines Theil-
nehmers den Sturz der ganzen Gesellschaft herbeiführen kann.
Um dieser Gefahr vorzubeugen, darf das Seil zwischen den
Touristen nicht den Boden berühren, das Vorrücken soll an ge-
fährlichen Stellen nicht gleichzeitig erfolgen, so dass der Unsichere
von den Uebrigen gehalten wird. Selbstverständlich ist es, gute
Stufen herzustellen, auch Steigeisen leisten in solchen Fällen vor-
treffliche Dienste.


Eine ebenso grosse Verwendung wie auf Eis und Schnee
findet das Seil auf Felsen. Hier ist es nicht nur ein Präservativ
gegen den Sturz, sondern ein Mittel des Hinauf- und Herab-
kommens. Die Seil-Technik auf Felsen hat grosse Erfolge erzielt,
und oft bildet die dünne Manilafaser die einzige Brücke, die uns
den Rückweg zur Stätte der Menschen ermöglicht. Aber gerade
aus diesem Grunde erfordert die Benützung des Seiles auf Felsen
sehr viel Geschick, Umsicht und Ueberlegung, denn Leichtfertigkeit
und Uebereilungen können sich bitter rächen. Insbesondere gilt
dies von dem Abseilen über senkrechte oder überhängende Wände,
eines Kunstgriffes, den manchmal der zuletzt Absteigende an-
zuwenden hat. In diesem Falle ist das doppelte Seil um eine
Felszacke oder um eine eingekerbte Erhöhung zu legen, nachdem
[141]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.man sich vorher überzeugt hat, dass ein Abbrechen des Stütz-
punktes, sowie ein Herausschlüpfen des Seiles unmöglich ist.
Führer, die ihre Touristen am Seile halten, machen meist den
Fehler, dass sie dieselben einfach emporziehen, während es
richtiger wäre, ihren Herren einige Belehrungen zu ertheilen.
Touristen, die sich ausschliesslich auf das Seil des Führers ver-
lassen, werden es nie zu tüchtigen Bergsteigern bringen.


Fast mehr noch als das Seil erfordert der Gebrauch des Pickels
eine tüchtige Uebung und Routine. Zur Handhabung dieses in der
Gletscherregion unentbehrlichen Instrumentes gehört in erster Linie
Kraft und Ausdauer. Der Pickel lässt sich auf jedem Terrain
gut gebrauchen, eine Gesellschaft, die auf einer Gletschertour
keinen Pickel bei sich hat, gilt als leichtfertig. Nicht jeder Führer
ist im Stande, gute Stufen herzustellen, in dieser Hinsicht sind
die Schweizer Führer in Folge ihrer langen Praxis grosse Meister.
Die Zeitdauer der Herstellung einer Stufe hängt indessen weniger
von unserer grösseren oder geringeren Fertigkeit im Stufen-
schlagen, sondern von der Konsistenz und Härte des Eises ab.
Steile, der Sonne wenig ausgesetzte Eishänge in höheren Lagen,
das in Schluchten und Rinnen eingebettete, sowie das durch
Tropfwasser gebildete Eis besitzen oft eine Härte und Sprödigkeit,
dass Dutzende kräftiger Pickelhiebe zur Herstellung einer guten
Stufe nöthig sind. Aber auch zur Erklimmung steiler Rasenhänge,
zur Verankerung auf stark geneigten Firnhalden und als Hacken,
um sich daran emporzuziehen, lässt sich der Pickel mit Vortheil
verwenden. Nur der hart gefrorene Rasen, der bei winterlichen
Besteigungen sehr gefährlich werden kann, ist für den Pickel
unangreifbar, auf solchem Terrain bieten scharf gespitzte Steig-
eisen die einzige Sicherheit. Auch das Stufenschlagen mit einer
Hand, und mit Vorgriff bald der linken, bald der rechten Hand
ist fleissig zu üben.

IV.


Die Hochtouristik hat es mit zwei Grundformen des Terrains
zu thun: entweder mit Fels oder mit Schnee oder mit einer Ver-
einigung beider. Sowohl die Fels-, wie auch die Eis- und Schnee-
touren haben ihre Fürsprecher, Vertreter und Liebhaber. Während
sich in den Westalpen die grossartigsten Eis- und Schneetouren
darbieten, hat sich die Touristik in unserem Alpengebiete mit
[142]L. Purtscheller.besonderer Vorliebe den Kalk- und Dolomitbergen zugewandt, und
man kann ohne Uebertreibung behaupten, dass das Kalkgebirge
kaum jemals so populär war, wie heute.


Felsklettereien, namentlich im formenreichen Kalkgebirge,
bieten manche Vorzüge, die wir bei ausgedehnten Gletscher-
wanderungen vermissen. Das Terrain zeigt eine grössere Mannig-
faltigkeit in Aufbau und Gestalt, Vegetation, Eis und Schnee er-
scheinen als angenehme Zuthaten, nicht als einförmiges Element,
Licht, Schatten und Perspektive kommen zu grösserer Wirkung,
das Klettern selbst ist kurzweiliger, genussvoller und interessanter,
es nimmt nicht nur einzelne Muskelgruppen, sondern den ganzen
Körper in Anspruch. Während wir auf Gletschertouren mehr
oder weniger von Anderen abhängen, können wir auf Felsbergen
fremder Hülfe leichter entbehren, und bald einen gewissen Grad
von Uebung und Selbstständigkeit erreichen. Viele sind der An-
sicht, dass Felstouren weniger gefährlich seien, als Wanderungen
auf Gletschern, dies lässt sich aber keineswegs behaupten. Die
meisten Unglücksfälle, auch solche, die nicht in der Schuld des
Touristen liegen, ereigneten sich auf Felsen, und die Mehrzahl
derselben hatte ernstere Folgen, als das Einbrechen in eine
Gletscherspalte. Felsen, deren Gefüge stark brüchig und ver-
wittert ist, und solche, die mit einer Schnee- oder Eiskruste über-
zogen sind, können dem unerfahrenen Bergsteiger viel gefährlicher
werden, als ein Gang über ein Firn- oder Eisfeld, über dessen
Gefahren sich jedermann klar ist.


Die vorherrschenden Gesteinsarten sind: Granit, Gneiss,
Serpentin, Gabbro, Schiefer, Porphyr, Kalk und Dolomit, während
sich die Berge als Kuppen, Kegel, Hörner, Thürme, Nadeln und
Zinnen darstellen. Wie bei den Plateaugebirgen die Hochfläche,
so ist bei den Kettengebirgen der Grat eine typische Erscheinung,
daher auch von Plateau. und Gratwanderungen gesprochen werden
kann. Charakteristisch für den Dolomit sind die Thürme, Säulen,
Nadeln und Zinnen, die Granit- und Gneissberge dagegen er-
scheinen als Kuppen, Pyramiden oder Dreiecke, bei starker Ver-
witterung wohl auch, wie in der Mont Blanc-Kette, als Nadeln und
Spitzen; die Schieferberge zeigen sich als Horn, als flache Pyramide
oder Kegel.


Wenn die Neigung des Terrains ein gewisses Maass über-
steigt, so dass wir uns auch der Hände zum Fortkommen be-
dienen müssen, beginnt das Klettern, das wir in der Regel als
eine willkommene Entlastung der Beine begrüssen. Der Ueber-
[143]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.gang vom Steigen zum Klettern hängt sowohl von unserer
Geschicklichkeit im Steigen, als auch von der Terrainbeschaffenheit
ab. Sind die Felsen nicht zu glatt, ist das Terrain gut gestuft,
stark verwittert, sind die Schichtlagen nicht zu hoch, mit Gras-
bändern und Gesimsen durchsetzt, so wird es in der Regel
genügen, wenn wir den Stock oder den Pickel aufsetzen. Da-
gegen kann plattiges, abgewaschenes Gestein schon bei 20° Neigung
die Mithülfe der Hände oder ein Kriechen des Körpers zur Folge

Figure 8. Bei ernster Arbeit.


haben, und dies ins-
besondere, wenn die
Plattenstelle auf der
einen Seite in hohe
Wände abfällt. Ist
die Neigung aber be-
deutend, geht es ohne
Klettern nicht, so sind
die Griffe werthvoller
als die Tritte. Das
Auge und unser Urtheil
haben zu entscheiden,
wohin wir Hand und
Fuss setzen sollen, die
Hand hat überdies
jeden Griff sorgfältig
zu prüfen. Die Sicher-
heit wird erhöht, wenn
wir statt der Hand
den Unterarm auflegen
können. In exponier-
ten Lagen soll der
Körper stets an drei
Punkten, durch beide
Füsse und eine Hand
oder umgekehrt, ge-
stützt sein. Ist die
Wand sehr steil, so
darf kein Haltpunkt
aufgegeben werden,
bevor man sich nicht

anderer Haltpunkte versichert hat. Ein hastiges Klettern, ein
Emporklimmen auf Gerathewohl, ohne Rücksicht auf den Rückweg,
[144]L. Purtscheller.kann selbst den Geübtesten in grosse Gefahr bringen. Wichtig
ist es, dass man bei Ueberwindung einer Felsstufe, eines Einrisses,
einer Traversierstelle oder Spalte mit dem richtigen Fusse beginnt,
und dass man die Tritte rechtzeitig wechselt. Dem tüchtigen
Bergsteiger ergeben sich die richtigen Tritte und Griffe von selbst,
er braucht um dieselben nicht erst zu suchen, während der
Ungeübte nirgends einen Halt findet. Daher empfiehlt sich für
den Anfänger, mit Aufmerksamkeit und Stillschweigen die Be-
wegungen seines geübten Vordermannes zu beobachten. Niemand
hat in den Bergen ausgelernt, und selbst der älteste Gemsjäger
kann sich dessen nicht rühmen. Der Unterschied zwischen
Geübten und Minder-Geübten zeigt sich am Besten darin,
wie dieselben die Hindernisse und Schwierigkeiten über-
winden. Der Eine bewegt sich sicher, rasch, elegant, der Andere
zaghaft, langsam, kriechend, ohne Vertrauen zu sich und zu

Figure 9. Auf einem Felsbande.


Anderen. Der Ge-
übte schreitet mit
dem grössten
Gleichmuth auf-
recht über Fels-
stellen hinweg, die
der Anfänger nur
durch vieles Herum-
tasten, durch
grossen Kraft- und
Zeitaufwand be-
meistert. Das Klet-
tern mit Aufsetzen
der Kniee ist zwar
nicht schön, aber
sicher, und bei
Ueberwindung sehr
steiler Wände, Ab-
sätze und Kamine
unvermeidlich.
Für den Berg-
steiger ist keine
Uebung so wichtig,
als das Knieheben,
wer in derselben die
grösste Gelenkig-

[145]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.keit entwickelt, wird leicht und elegant steigen. Oft kommt es
bei schwierigen Felsbergen vor, dass das weitere Vordringen
durch ein unüberwindliches Hinderniss gehemmt ist. In solchen
Fällen bietet, wenn man nicht umkehren will, das Traversieren
den einzigen Ausweg. Schon wenige Meter in seitlicher Richtung,
vielleicht verdeckt durch eine Felsrippe, kann sich ein breites
Band oder ein leicht gangbares Gesimse befinden, das den Aufstieg
zur nächst höheren Stufe vermittelt. Insbesondere das Kalkgebirge
ist reich an derlei Ueberraschungen, daher der umsichtige Fels-
steiger seine Blicke auch in seitliche Richtung wirft und kleine
Umwege nicht scheut.


Zu den Gefahren, denen wir im Hochgebirge ausgesetzt
sind, gehören die Steinfälle, die theils aus natürlichen Ursachen,
theils durch Menschen und Thiere veranlasst werden. Diese
Gefahr kann nicht als selten bezeichnet werden, und die Unglücks-
chronik

Figure 10. Es donnern die Höhen.


der letzten
Jahre weist meh-
rere traurige Fälle
dieser Art auf.
Die meisten Steine
nehmen den Weg
durch Rinnen,
Kamine und
Wasserläufe, da-
her dieselben vor
dem Betreten zu
untersuchen sind.
Die Steingefahr
tritt umso mehr
hervor, je höher
der Berg und je
grösser die Ver-
witterung des Ge-
steins ist, auch die
Tages- u. Jahres-
zeit übt einen ver-
schiedenartigen
Einfluss aus. Im
Winter, bei kalter
Witterung, bei
Schneebedeckung

Zeitschrift, 1894. 10[146]L. Purtscheller.zur Nachtzeit oder in den Stunden, in denen die betreffende
Lokalität im Schatten liegt, sind Steinfälle minder häufig,
sie kommen öfters im Frühjahre, bei Thauwetter, bei starken
Regengüssen und Stürmen vor. Grossartige Stein- und Eis-
fälle erlebten die Brüder Zsigmondy und der Verfasser auf den
SO.-Abstürzen des Monte Rosa- Schon um 9 Uhr früh, als sich
die Wirkung der Sonne auf den bei 3000 m hohen Fels- und Eis-
wänden fühlbar machte, begann das furchtbare Schauspiel, das
bis zum Abend dauerte, und die Gesellschaft zu einem 15 Stunden
langen Bivouak in der Höhe von 3000 m nöthigte. Centner-
schwere Blöcke flogen in gewaltigen, 50-100 Meter hohen Bogen
auf die steilen Eishänge, oft ganz nahe an ihrem Lagerplatze
herab, um gleich elastischen Kugeln viele Meter hoch in die Luft
geschleudert zu werden. Aber nicht nur in der näheren Um-
gebung, auch in dem ganzen über 7 km weiten Circus, der den
Macugnagagletscher umgiebt, wurde es mit einem Male lebendig.
und neben den markerschütternden Schlägen einzelner Riesen-
blöcke hörte man das dumpfe, weithin verhallende Geräusch ab-
gehender Eis- und Schneelawinen, das sich in kurzen Zeitabständen
wiederholte. Nicht minder berüchtigt, als die SO.-Wand des
Monte Rosa sind die Couloirs der Aiguille Verte und der Grandes
Jorasses, auch die S.-Seite des Bietschhorns, die Eisrinne auf dem
Schreckhorn, der Mont Pourri und die Felsabstürze der Grivola
gegen den Glacier de Trajo geniessen keinen guten Ruf. Aber
auch niedere, mit Rasen bekleidete, steile Berghöhen sind von
Steinfällen nicht frei. Sehr bedenklich ist stets das Betreten enger
Eis- und Schneerinnen, die sich höher oben im Bergmassiv ver-
ästeln, da jeder Stein, der in eine Seitenrinne fällt, den Weg
durch die Hauptrinne nimmt. In der Regel erkennt man die
Steingefährlichkeit einer Rinne, eines Hanges oder einer Felswand
an den Gesteinsfragmenten, die sich an deren Fusse auf dem
Schnee ansammeln. Schneerinnen verrathen auch dadurch ihren
steingefährlichen Charakter, dass in deren Mitte ein Kanal aus-
gehöhlt ist, durch den die Steine ihren Weg nehmen. Steinfälle
können aber auch von Bergsteigern selbst veranlasst werden, und
Anfänger und Unerfahrene besitzen oft eine eigene Virtuosität,
jeden lockeren Stein auszubrechen und aus dem Gleichgewichte
zu bringen.


Eine besondere Technik erfordert die Erkletterung steiler
Rinnen und Kamine, wie deren im Kalkgebirge und in
den Dolomiten vorkommen. Sind dieselben nicht allzu eng,


[147]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.

Figure 11. Einstieg in einen Felskamin.


so erklettert man die-
selben wie eine Leiter
mit Händen und Füssen,
oder wenn die Rinne mit
Schnee oder Eis erfüllt ist,
mittelst Stufenschlagens,
im anderen Falle durch
Anstemmen der Extremi-
täten und des Rückens
an die beiderseitigen
Wände, wobei einge-
klemmte Blöcke, glatte,
grifflose Abbrüche,
Ueberhänge, Verengun-
gen und Erweiterungen
die gewöhnlichen Hinder-
nisse sind. Kaminklette-
reien erfordern in der
Regel viel Kraft, Aus-
dauer und Gewandtheit,
und da hier oft auch ex-
ponierte Stellen vor-
kommen, Sicherheit und
Kaltblütigkeit. Wenn nur
ein Mitglied der Gesell-
schaft diese Eigenschaften
besitzt, ist das Gelingen
der Tour verbürgt, denn
die Anderen können durch
das Seil unterstützt
werden. Die Seiltechnik
erfordert in solchen Lagen

grosse Vorsicht und Ueberlegung, auch vergeht stets einige Zeit, bis
alle Theilnehmer der Gesellschaft mit der Manipulation des Auf- und
Abseilens vertraut sind. In der Regel stehen dem Felskletterer
zwei oder mehrere Rinnen zur Verfügung, oder die Hauptrinne
spaltet sich in mehrere kleinere Aeste, sodass er über die Anstiegs-
route im Zweifel ist. Bei Mitnahme eines Lokalführers tritt diese
Sorge nicht so hervor; führerlose Touristen aber und Alleingeher
müssen sich die nöthigen Aufschlüsse aus der Literatur, aus ihrer
Bergerfahrung und allfälligen Pfad- und Fussspuren verschaffen.


10*

[148]L. Purtscheller.

Figure 12. Es geht ganz gut!


Im Allgemeinen
verdienen brei-
tere Rinnen den
Vorzug, da sich
dieselben am
weitesten hinauf-
ziehen u. mehr-
fach verästeln.
Schwierige, ge-
fahrvolle Klet-
terstellen, ins-
besondere auf
glattem, platti-
gem, abschüssi-
gem Felsterrain
überwindet man,
da sich genagelte
Schuhe nicht em-
pfehlen, am
besten mit Klet-
terschuhen,
deren Sohle aus
einem Hanfge-
flechte besteht.
Mit blossen
Füssen eine Fels-
wand anzugrei-
fen, darf der
Städter nicht
versuchen, und
das Klettern mit

Strumpfsocken schützt nicht vor dem Ausgleiten und ist kaum
vortheilhafter, als das Klettern mit Bergschuhen.


Einen neuen Zweig der Touristik bilden die Grattouren, die
sich einer zunehmenden Beliebtheit erfreuen. Die Schwierigkeiten
einer Grattour sind meist bedeutend, da man hier weniger in die
Lage kommt, sich das Terrain aussuchen zu können. Leichter
gestaltet sich eine Gratwanderung auf den schwach ausgeprägten
Kämmen der grossen Kalkstöcke, schwieriger dagegen in Ketten-
gebirgen, wo die einzelnen Gipfelindividualitäten durch tiefe
Scharten und Einrisse getrennt sind. Aber auch bei einfachen


[149]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.

Figure 13. Erklimmung eines Dolomitthurms.


Bergtouren sind oft
Gratklettereien uner-
lässlich, da sich viele
Berge besser an ihrer
Gratflanke ersteigen
lassen.


Die Gestaltung der
Felsgrate ist sehr ver-
schieden. Manche
sind mit kecken
Nadeln, Thürmen
und Zacken besetzt,
andere wieder zer-
klüftet und gespalten,
einige bedrohlich
geneigt und über-
hängend, mit Schnee-
lasten von phan-
tastischer Art
gekrönt, während
viele wenige oder
keinerlei Hindernisse
bieten und ein rasches
Fortkommen ermög-
lichen. Die Gefahren,
die bei Gratwande-
rungen auftreten kön-
nen, sind meist die
grosse Brüchigkeit

der verwitternden Felsen, Ueberwächtungen, Vereisung der Grat-
flanken und loses, leicht abbröckelndes Gestein. Auch hier spielt das
Seil eine grosse Rolle, und mehrere der kühnen Aiguilles, die der Mont
Blanc-Kette das Aussehen einer vielgethürmten, gothischen Kathe-
drale verleihen, sind nur dadurch erstiegen worden, dass man an den
einzelnen Gratzacken Seile zur Sicherung des Rückweges befestigte.


Mit den Gratwanderungen lassen sich auch vortheilhaft kom-
binierte Gipfeltouren verbinden, ja erstere sind oft nur eine Folge
der letzteren. Der Wunsch, auf der mühsam errungenen Höhe
zu weilen und die erhabenen Eindrücke der Hochgebirgsnatur
auf sich einwirken zu lassen, ist der Hauptgrund, warum kombinierte
Gipfelbesteigungen in neuerer Zeit mehr und mehr in Auf-
[150]L. Purtscheller.nahme kommen. Bei kombinierten Gipfeltouren, zu welchen sich die
meisten Gebirgsgruppen der Ostalpen in hervorragender Weise
eignen, können selbst kleinere Besteigungen den Charakter einer
Hochtour annehmen, während sich gleichzeitig die Gelegenheit
bietet, die Grenze unserer Ausdauer, Kraftleistung und Wider-
standsfähigkeit kennen zu lernen. Freilich setzen diese Gipfel-
touren auch ein grösseres Maass von Erfahrung, Urtheil und
technischem Können voraus, aber man lernt durch sie auch die
betreffenden Berggebiete viel gründlicher kennen.

Figure 14. Auf luftiger Grathöhe.

Der Bergsteiger, der einen hohen, schwer erkletterbaren
Gipfel erreicht hat, kann sich selten mit vollem Genusse der
herrlichen Aussicht hingeben, die Sorge des Abstieges und die
[151]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.oft vorgerückte Stunde drängen zum Abschied. Bei manchem
Hochgipfel, insbesondere bei Schneebergen, gestaltet sich der
Abstieg nicht schwierig, er ist weder besonders gefährlich, noch
nimmt er unsere Kräfte übermässig in Anspruch. Aber solche
Hochgipfel finden sich nicht in grosser Menge. Die meisten
Hochzinnen verursachen beim Abstieg dieselben oder noch
grössere Schwierigkeiten, als deren Ersteigung bereitet. Auch
wäre es irrthümlich, zu glauben, dass das Auffinden einer Weg-
route von der Höhe aus leichter sei, als von der Tiefe. Von
Ersterer übersieht man wohl das Terrain in grossen Zügen, nicht
aber in seinen einzelnen Theilen, und auf diese kommt es zunächst
an, wenn es sich um einen Weg handelt, der nur Schritt für Schritt
zurückgelegt werden kann. Bei schwierigen Hochgipfeln empfiehlt
sich die Wahl eines anderen Abstieges in der Regel nur, wenn
derselbe nicht zu viele Zeit braucht und offen vor uns liegt. Fehlt
eine dieser Bedingungen, so ist es besser, den alten Weg einzu-
schlagen, selbst die grossen Schwierigkeiten, die man beim Aufstieg
zu überwinden hatte, gestalten sich, wenn man sie ein zweites Mal
macht, minder bedenklich. Um sich auf kompliziertem Felsterrain
oder bei Nebel den Rückweg zu sichern und keine Zeit mit Weg-
suchen zu verlieren, markiert man die wichtigeren Punkte,
namentlich Felskamine und Traversierstellen, mit rothen Papier-
streifen (Seidenpapier), die man mit Steinen beschwert. Auf
Schneegipfeln kann man beim Abstieg einen Theil der Zeit
wieder einbringen, die man beim Aufstieg durch mühsames
Stufenhauen oder Schneetreten verausgabte, bei schwierigen Fels-
touren aber verhält sich die Sache meist umgekehrt.


Die Zahl der Theilnehmer soll bei Felstouren am besten
aus zwei, bei Gletschertouren aus drei Personen bestehen, voraus-
gesetzt, dass die Touristen geübte Bergsteiger sind. Der Wunsch,
einen Mann mehr bei sich zu haben, mag bei sehr schwierigen
Hochtouren berechtigt sein. Ein Anfänger wird an der Seite
eines tüchtigen, kühnen Bergsteigers Vieles lernen, umgekehrt
wird aber Letzterer einen Theil seiner guten Eigenschaften ein-
büssen, wenn er öfters mit schlechten oder mittelmässigen Gängern
geht. Auf steil aufgerichteten, plattenartig abbrechenden Felsen
ist das Herabklettern bedeutend schwieriger als das Hinaufsteigen,
da wir das Gesicht den Felsen zuwenden müssen, und daher die
Tritte nicht übersehen können. In solchen Lagen hängt der
Körper oft nur an den Fingerspitzen, und neben grösster Vor-
sicht ist auch Behendigkeit nothwendig, da sonst die Kräfte bald er-
[152]L. Purtscheller.lahmen. Eine andere Art des Absteigens besteht darin, dass man
den Felsen den Rücken zuwendet. Diese Methode, die nur bei

Figure 15. Abstieg durch einen Kamin.

weniger steilen Felsen
anwendbar ist, gestattet
meist ein rascheres, be-
quemeres und sicheres
Fortkommen, der
Körper wird hier durch
die Stützkraft der Arme
und Beine weiterge-
schoben, wobei man
letztere nach Möglichkeit
an den Seitenwänden
verspreizt. Mit beson-
derem Vortheile lässt
sich diese Art des
Kletterns in engen
Rinnen und Kaminen
anwenden, auch glatte,
durch Eis oder Wasser
abgeschliffene Platten-
lager kann man auf
solche Weise sitzend
oder hockend passieren.
Wer Lederhosen
trägt, ist bei Felsklette-
reien im Vortheile, da
sich das Leder an die
Rauhigkeiten der Felsen
fest anlegt, also wie
eine Bremse wirkt, wäh-
rend die Fasern einer

Tuchhose reissen. Um seinen Gefährten mit dem Seil zu unter-
stützen, empfiehlt es sich, insbesondere bei exponierten Lagen,
das Seil um einen Felszacken zu legen, da hierdurch die Sicherheit
des Kletternden wesentlich erhöht wird. Ist man genöthigt, sich
selbst abzuseilen, so lege man das Seil um einen geeigneten Fels-
vorsprung und lasse sich an dem doppelt genommenen Seile
hinunter. Nicht immer aber ist ein sicherer Felsvorsprung vor-
handen; ist er zu gross, so kann man das Seil unterhalb nicht
doppelt umklammern, ist er zu klein oder die Aushöhlung zu
[153]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.gering, so läuft man Gefahr, dass das Seil herausgleitet. Man
hilft sich im ersten Falle dadurch, dass der Untenstehende das
eine Seilstück fest anzieht, während man sich am anderen Theile
herablässt, im zweiten Falle befestigt man an dem Felsvorsprunge
einen aus starken Schnüren gewundenen Ring, der sich dicht an
denselben anlegt, und zieht durch diesen Ring das Seil hindurch.
Manchmal aber ist die Einkerbung zu tief oder zu schmal,
so dass ein Abwerfen oder Herausziehen des Seiles unmöglich

Figure 16. Abseilstelle


ist, hier hilft man sich
dadurch, dass man
an dem Haltpunkte
entweder einen Strick
oder eventuell ein
Stück Gletscherseil
zu einem Ringe ver-
knüpft und durch
diesen das Seil zieht.


Ein grosser Unter-
schied liegt darin, ob
man sich des Seiles
nur zur gegenseitigen
Sicherung, als Hülfs-
mittel für kleinere
Abstürze, oder zum
freien Herablassen
über senkrechte oder
überhängende
Wände bedient; die
letztere Verwendung
erfordert sehr viel
Kraft, Kaltblütigkeit
und Geschick, darf
also nur Wenigen
zugemuthet werden.
Ist das Seil zu dünn,
sind die Finger
durch die Kälte er-
starrt, oder ist die
Abseilstelle sehr
hoch, so hat der Ab-
seilende das Seil um

[154]L. Purtscheller.den Unterarm zu legen und sich allmählich langsam herab-
zulassen. Eine der furchtbarsten Abseilstellen, die dem Ver-
fasser bekannt ist. befindet sich an der Brêche Zsigmondy
im Grate zwischen Pic Central und Grand Pic de la Meije,
ihre Höhe dürfte etwa 30 m betragen. Der Gratabsturz zeigt 5 m
unter dem Felsrande eine kleine, glatte, steil abfallende Felsplatte,
dann fällt er wieder senkrecht ab. Der Fuss der Felswand, weil
überhängend, entzieht sich dem Blick. Der Verfasser half sich,
als er mit den Brüdern Zsigmondy diese Stelle überwand, da-
durch, dass er einen Mauerhaken in eine Spalte der Felsplatte
eintrieb, denselben mit Steinen fest verkeilte und an dem Mauer-
haken einen Seilring befestigte, durch den nun das Gletscherseil
gelegt wurde.


Derlei Kunstgriffe mit dem Seile sind immer etwas gewagt;
sie sind nur in jenen Fällen zu rechtfertigen, wo es andere Aus-
kunftsmittel nicht giebt. Wer Bergstock und Pickel gut zu hand-
haben versteht, wird das Seil nur im Nothfalle anwenden. Man hält
den Pickel nach Art eines Spazierstockes bei der Haue, und benützt
ihn als Stütze, als verlängerten Arm oder als drittes Bein, als
Tastorgan, letzteres auf Gletschern und im schneebedeckten
Terrain. Bei Traversierungen, beim Abstieg über nicht allzu
steile Gehänge, beim Abfahren über Schnee hält man ihn mit
beiden Händen; dies gilt auch vom Bergstock, dessen Handhabung,
obwohl viel mehr beschränkt, kaum weniger Uebung fordert. In
eisfreiem Kalkgebirge – wir nehmen die Dolomite ausdrücklich
aus – ist der Bergstock unbedingt vortheilhafter, und der geübte
Felssteiger kann es in der Handhabung desselben zu einer
Meisterschaft bringen, die den Uneingeweihten geradezu über-
rascht. Sprünge von 3 – 4 m Weite und 4 – 4 ½ m Tiefe sind keine
Seltenheit. Wer sich davon überzeugen will, wende sich an die
Jäger (Wildhüter) der Salzburger und Berchtesgadener Kalkgebirge,
denn diese Männer – mit der Doppelflinte auf dem Rücken und
dem 3 m langen Bergstock in der Hand – sind es zunächst,
welche diese Kunststücke ausüben.


Beim Abwärtsklettern ist es ein grosser Vortheil, sich
stark vorgebeugt zu halten, da die Stabilität eines Körpers umso
grösser ist, je näher sein Schwerpunkt der Basis liegt. Auch
für den Anstieg gilt diese Regel, gegen die der Anfänger leicht
verstösst. Die Hauptzustände, in denen sich der menschliche
Körper im Gleichgewichte befindet, sind das Liegen, der Stütz und
der Hang. Beim Felsklettern sind alle diese Zustände – denn
[155]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.auch das Stehen, Gehen, Kriechen und Sitzen kann als ein
Stützen aufgefasst werden – in fortwährendem Wechsel und in
der verschiedenartigsten Kombination. Compton’s meisterhafte
Skizzen mögen einigermaassen das veranschaulichen, was der
Feder versagt ist.


Den guten Felskletterer erkennt man daran, dass er alle Be-
wegungen ruhig, langsam, geräuschlos und stillschweigend voll-
zieht. Ruck- und sprungweises Vorgehen ist beim Klettern selten
am Platze, der gewiegte Felsenmann bewegt sich vorsichtig, er
tastet sich mehr über die Felsen hinauf, als dass er sie erklimmt,
er macht keinen Schritt nach vorwärts, bevor er nicht für Hand
und Fuss einen neuen sicheren Halt erspäht hat. Ein erfahrener
Tourist ist stets auf das Ausgleiten, Losbrechen eines Steines,
auf die Versorgung des Pickels und auch auf Schonung der
Kleider bedacht, er wird, wenn er in Gesellschaft klettert, seine
Nachfolger vor trügerischen Griffen warnen, das Seil von ihren
Füssen wegziehen und lockere Steine möglichst hinwegräumen.
Ein umsichtiger Bergsteiger fasst nicht nur das Nächstliegende,
sondern auch das Entferntere ins Auge, er erkennt die Gefahr und
weiss ihr zu begegnen, er trachtet, dass die Schwierigkeiten der
Tour die Kräfte der Karawane nicht übersteigen, er wird am Ende
der Tour ebenso vorsichtig über die Felsen hinabsteigen, die
Gletscherspalten überspringen und das rauhe Blokfeld durchqueren,
wie zu Beginn der Bergfahrt.


Bei Felsklettereien hat man sich insbesondere vor dem Los-
machen von Steinen zu hüten. Ein schwerer Stein, wenn er auch
nur wenige Centimeter aus seiner Lage gebracht wird, kann schon
Unheil anrichten. Gewandte Felsgänger werden selten Steine los-
lösen, es sei denn, dass sie den Weg absichtlich von ihnen
säubern wollen. Manche Touristen besitzen eine eigene Kunst-
fertigkeit, alle nicht gerade sehr fest sitzenden Steine, die sie mit
den Füssen oder Händen berühren, loszumachen.


Aufmerksamkeit und Sorgfalt sind die Mittel, um unsere
Gefährten vor schweren Verletzungen zu bewahren, denn schon
ein nussgrosser Stein kann aus einer Höhe von 5 – 6 m eine be-
deutende Hautwunde verursachen. Es giebt Bergsteiger, die ihre
Schritte stets hüpfend und springend ausführen und die das
ganze Gebirge als die Domäne ihrer groben Schuhnägel betrachten.
Beim Aufstieg hat der sicherste Gänger als Erster, beim Abstieg
als Letzter zu klettern, leichte und bequeme Tritte muss der Voran-
kletternde oft nur deshalb meiden, um keine Steine loszumachen.
[156]L. Purtscheller.Auch der Bergstock oder der Pickel und das am Boden hin-
laufende Seil können Steine in Bewegung setzen, wenn der Fels
sehr bröckelig und der Boden mit lockerem Schutte bedeckt ist.
Kann man das Losmachen der Steine nicht verhüten, so ist es
dringend geboten, dass die Gesellschaft dicht beisammen bleibt.
Trotz aller Vorsicht und Erfahrung kann auch ein geübter Tourist
einen Stein, den er für vollkommen fest hielt, losmachen, das
Klettern Mehrerer in engen Rinnen, Kaminen und auf steilen
Schutthängen hat daher immer etwas Gefährliches, und ist ein
tüchtiger Bergsteiger nicht selten sicherer daran, wenn er allein
geht. Viele Hochgipfel und Dolomitberge sind wegen ihrer ver-
witterten Felsen berüchtigt, Tragen derlei Felsen noch überdies
eine dünne Schneedecke, so ist deren Begehung sehr gefährlich.
Auf der üblichen Anstiegsroute sind heutzutage auch brüchige
Felsberge ziemlich sicher zu erklimmen, da alles lockere Material
aus dem Wege geräumt ist, aber anders sieht es auf jener Berg-
seite aus, die vielleicht noch nie ein menschlicher Fuss betrat.


Unangenehm sind die grossen Blockwüsten und Schutt-
halden, denen der Bergsteiger insbesondere im Kalkgebirge be-
gegnet. Bei Schuttkegeln lässt sich, wenn dieselben nicht be-
wachsen sind, leicht feststellen, ob sie durch einen Bergsturz oder
eine Wasserfluth entstanden sind. Sind sie das Ergebniss eines
Bergsturzes, so liegt das grobe Material am Fusse, das feinere an
der Spitze des Kegels, verdanken sie aber dem Wasser ihre Ent-
stehung, so verhält es sich gerade umgekehrt, da das Wasser die
grossen Blöcke nicht weit fortzuschaffen vermag.


Am unangenehmsten für den Anstieg sind – ausser dem
Sande, der auf Vulkanbergen in grossen Massen auftritt – die
kleinen und mittelgrossen, polygonal geformten Kalkgesteine,
günstiger die fester gelagerten grösseren Stücke, nicht unwill-
kommen dagegen die prismatisch geformten Gneiss- und Schiefer-
blöcke, über die man unschwer hinüberbalanziert. Beim Abstieg,
der, wenn springend ausgeführt, die Schuhbekleidung stark an-
greift, wähle man den feineren Schutt oder den Sand, auf dem
sich in der Regel die ersten Vegetationsspuren zeigen. Schutt-
hänge wird man oft leichter erklimmen, wenn man sich, ähnlich wie
bei Erkletterung von Eis- oder Schneerinnen, an den Rand der
Felsmauern hält.


Eine andere Schwierigkeit, die uns zumeist nur im schnee-
bedeckten Hochgebirge entgegentritt, bilden die vereisten Felsen.
Im Winter, wenn Alles im Froste starrt, im Frühjahre bei ab-
[157]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.rinnendem Schmelzwasser und starken Nachtfrösten, ja selbst im
Sommer nach schweren Regengüssen und plötzlicher Ausheiterung,
zeigen sich manchmal auch minder hohe Felsberge vereist. Beraste
Erhebungen sind im Winter oft so fest gefroren, wie ein Eishang
und in diesem Zustande noch gefährlicher, als dieser. Da auf
vereisten Felsen und auf gefrorenem Rasen der Pickel gleich
wirkungslos ist, so bleibt kein anderer Ausweg, als dieselben zu
meiden oder mit Steigeisen anzugreifen. Wenn letztere irgendwo
nothwendig sind, so sind sie es in diesem Falle. Mit Hülfe des
mit Steigeisen bewehrten Fusses können wir auch da noch sicher
auftreten, wo wir sonst zur Umkehr gezwungen wären. Auch
Jäger, Holzhauer, Heuzieher steigen im Winter nicht auf die
Berge, ohne die „Eisen“ mitzunehmen. Steile Rasenberge oder
von Rasenhängen durchbrochene Felswände, wie wir solche im
Kalk- und Schiefergebirge antreffen, können bei Ausserachtlassung
der Vorsicht auch im Sommer Gefahr bringen. Die begrasten
Felsberge sind das Terrain der Alpenblumen-Pflücker, die all-
jährlich die Zahl vulgärer Bergunfälle bedeutend vermehren. Die
Erklimmung eines steilen Rasenberges ist nicht Sache eines
Spaziergängers, und schneebedeckter Rasen gewährt selbst den
Steigeisen nicht immer Halt. Unbedingt erfordern auch die Gras-
berge eine entsprechende Ausrüstung, das Seil ist zur gegenseitigen
Versicherung nöthig, und statt des Schattenspenders wird der Eis-
pickel gute Dienste leisten.

V.


Aus der Felsregion steigen wir empor in das Bereich des
ewigen Eises und Firns. Wer zum ersten Male einen Gletscher
betritt, wird erstaunt sein über die Grösse und Pracht dieser Eis-
gebilde und über das Eigenthümliche und Fremdartige ihres
Baues. Zur entzückten Bewunderung, welche uns die blaugrünen
Eispaläste, die abenteuerlichen Nadeln, Thürme und Säulen und
das Gefunkel der Schneekrystalle einflössen, gesellt sich die ehr-
furchtsvolle Scheu, die wir vor der dunklen, weitgähnenden Kluft,
dem Donner der Lawine, vor den einstürzenden Eisthürmen, den
bedrohlich überhängenden Schneebalkonen empfinden. Die Be-
gehung eines Gletschers, dessen Klüfte offen zu Tage liegen, ist
völlig gefahrlos, nur hat man sich, solange die Oberfläche hart
ist, vor dem Ausgleiten zu hüten. Auch sonst gilt es, die Augen
[158]L. Purtscheller.aufzumachen, um nicht in einen überfrorenen Tümpel, in eine
verdeckte Wasserader oder in einen Sumpf zu gerathen. Anders
liegen die Dinge bei Ueberwindung von Eisbrüchen, welche die
einzelnen Gletscherterrassen von einander trennen, oder wenn der

Figure 17. Durch einen Gletscherabsturz.

Gletscher mit Schnee bedeckt ist. Wer mit Eis und Schnee ver-
traut ist, wird auch auf unbekannten Gletschern diejenige Route
herausfinden, welche am schnellsten und sichersten fördert. Die
rasche Ausführung einer Gletschertour hängt nicht nur von unserer
Kraft und Ausdauer, sondern auch von dem jeweiligen Zustande
[159]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.des Schnees ab. Mancher Hochgipfel im Kaukasus, im Himalaya
und in den Anden konnte deshalb nicht erreicht werden, weil der
Schnee in einer ungünstigen Beschaffenheit war. Auch bei einer
Wintertour kommt in erster Linie der Zustand des Schnees in
Betracht. Der pulverige Schnee gestattet zwar ein langsames
Fortkommen, allein er legt sich nicht an den Fuss, der tiefe,
weiche Schnee ermüdet stark und durchnässt die Fussbekleidung,
die schlimmste Beschaffenheit des Schnees ist die, wenn er eine
Kruste zeigt, welche noch nicht tragfähig ist, so dass der Fuss
einbricht. Gegen brüchigen Schnee verwendet man mit Vortheil
Schneereifen oder kurze kanadische Schneeschuhe, wenn irgend
möglich wird man aber das Schneewaten dadurch abzukürzen
oder zu vermeiden suchen, dass man sehr früh vom Nachtlager
aufbricht. Eine der anstrengendsten Schneewanderungen, welche
der Verfasser ausführte, war eine winterliche Ersteigung des Floss-
kogels, Hochseilers und Hochkönigs im Ewigen Schnee-Gebirge,
welche 18 Stunden währte. Vier Mal waren die Schuhe steinhart
gefroren und drei Mal gänzlich durchnässt, je nach der Be-
schaffenheit des Schnees und der Sonnenwirkung, schlimmer aber
als dies erwies sich der nächtliche Abstieg von Mitterberg nach
Mühlbach auf der schmalen, völlig vereisten Bergstrasse, in der
die Erzschlitten 50 cm tiefe Geleise eingeschnitten hatten, zwischen
denen sich ein gewaltiger Eishügel erhob.


Die Grenze zwischen Eis und Firn ist keine deutlich hervor-
tretende, mehr oder minder horizontal verlaufende Linie, sie ver-
schiebt sich je nach der Lage, Besonnung und Neigung der
Hänge. Manchmal stossen wir selbst in der Firnregion auf hartes,
grobkörniges Eis, dagegen ist oft mitten im Eise eine Ansammlung
von Firnschnee zu bemerken. Der Bergkundige wird stets einen
Weg einschlagen, der ihn des zeitraubenden Stufenhackens oder
Stufentretens möglichst enthebt. Den Anstieg über steile Firn-
hänge bewerkstelligt man am besten im Zickzack, nur bei sehr
tiefem Schnee oder bei Lawinengefahr ist es vortheilhafter, gerade
emporzuklimmen. Oft bestehen auch die obersten Hänge aus Eis,
auf dem eine Schneeschichte liegt. Wird es nun warm, so liegt
die Möglichkeit nahe, dass der Schnee beim Aufthauen abrutscht,
auch ist es schwierig, auf solchen Hängen sichere Stufen her-
zustellen. Gefriert die Oberfläche eines von der Sonne erweichten
Eis- oder Schneehanges und fällt auf denselben neuer Schnee,
so können sich leicht Staub- oder Windlawinen entwickeln, welche
im Winter und Frühjahre mit verheerender Gewalt auftreten.


[160]L. Purtscheller.Wie der Gletscher, so hat auch der Firn eine Reihe von
Längs- und Querspalten, deren Lage und Richtung sich schon
aus der Konfiguration des Eisfeldes ergiebt. Grosse Klüfte haben
auf manchen Gletschern viele Jahre dieselbe Lage, es bilden sich
aber auch neue Spalten, während sich die bestehenden alten
schliessen. Verdeckte Spalten erkennt man oft dadurch, dass der

Figure 18. Uebersetzung eines Bergschrundes.


aufliegende Schnee etwas eingesunken ist, dass sich das Terrain
in ihrer Umgebung etwas hebt oder senkt, und dass die Eismasse
in ihrer Nähe gestaut ist.


[161]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.Zu einer besonderen Art von Spalten gehört der Berg-
schrund, der sich gürtelförmig um das eigentliche, aus dem Firn-
felde aufstrebende Bergmassiv legt. Die Bergschründe sind für
die obere Firnregion ebenso charakteristisch, wie die Moränen
für die Gletscherzungen. In schneereichen Jahren ist der Berg-
schrund nicht selten bis zum Hochsommer ganz oder theilweise
verdeckt, bei spärlichem Winterschnee ist er das ganze Jahr offen,
und kann namentlich im Spätsommer und Herbst grosse Ver-
legenheit bereiten. Auf hohen Gipfeln, wie im Kaukasus, findet
man oft zwei und drei Reihen von Schründen übereinander, zu
ihrer Ueberwindung ist stets eine mehrstündige Arbeit erforderlich.


Die Ueberschreitung eines Bergschrundes beansprucht stets
grosse Vorsicht und die Anwendung des Seiles. Ist derselbe zu
breit, um erklettert oder übersprungen werden zu können, so muss
eine Schneebrücke oder ein den Schrund ausfüllender Lawinen-
kegel ausfindig gemacht werden, welche den Uebergang vermitteln.
Schwache Schneebrücken überschreitet man am besten kriechend,
um die Körperlast auf mehrere Punkte zu vertheilen, nachdem
man vorher die Tragfähigkeit des Schnees mit dem Pickel unter-
sucht hat. Der Pickel wird beim Hinüberkriechen wagerecht in
den Schnee aufgelegt, nach Passierung der Kluft aber senkrecht
eingestossen, um sich daran emporzuziehen. Der Erste, der die
Kluft überschritten hat, bereitet sich am jenseitigen Hange einen
guten Stand, legt das Seil um den tief eingerammten Pickel und
hilft den Anderen hinüber. Wenn ein Mitglied der Gesellschaft
einen langen Bergstock bei sich hat, so kann dieser oft gute
Dienste leisten. Misslich ist es, wenn der obere Rand der Spalte
bedeutend höher liegt, als der untere. Ist die Spalte nicht allzu
breit, so sucht man auf der anderen Seite den Pickel einzuschlagen
oder einzubohren und klettert dann mit Hülfe der Anderen empor.
Bei dem Ersteigungsversuche der höchsten Spitze des Uschba,
dem Matterhorn des Kaukasus, überwand die Gesellschaft, in der
sich der Verfasser befand, dadurch eine 2 m breite Spalte, dass
der lange Bergstock eines Führers an der jenseitigen, 2 m höheren
Wand wagerecht eingestossen wurde, der Verfasser überschritt
dann auf dem Stocke die Kluft und stiess den Pickel oberhalb fest
in den Schnee, um dann sich und seine Gefährten emporzuziehen.


Aehnlich, wie bei Bergschründen, hat man bei Ueberschreitung
aller Firn- und Eisklüfte zu verfahren. Ist deren Umgehung un-
möglich, so muss eine Schneebrücke aufgesucht werden, über
deren Beschaffenheit und Widerstandsfähigkeit oft ein Blick
Zeitschrift, 1894. 11[162]L. Purtscheller.von der Seite her genügt. Nicht immer ist die breiteste Brücke
die sicherste, deren Haltbarkeit hängt in erster Linie von
der Härte des Schnees ab. Bei Ueberschreitung einer ein-
sturzdrohenden Brücke hat der Nachfolgende darauf zu achten,
dass er die wenigen Stufen nicht vollends durchtritt, die Be-
wegung muss daher langsam und vorsichtig erfolgen.

Figure 19. Frisch gewagt, ist halb gewonnen.

Leichter und einfacher ist die Passierung von Bergschründen
und Gletscherspalten mit oben überhöhtem Rande nach abwärts.
Bietet das jenseitige Ufer einen sicheren Stand, so ist es am
besten, die Kluft zu überspringen, Schneebrücken können dagegen
[163]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.durch vorsichtiges Abfahren oder durch Herabklettern mit Hülfe
des Seiles überschritten werden. Aehnlich wie den Bergschrund,

Figure 20. In der Eisrinne


überwindet man auch die Randkluft, worunter ein durch den Ab-
schmelzungsprozess entstandener Zwischenraum zwischen Fels und
11*[164]L. Purtscheller.Schnee zu verstehen ist. Nicht selten gestattet die Randkluft,
auf ihren Boden hinabzusteigen, in diesem Falle ist deren Ueber-
schreitung nicht schwierig, anders verhält es sich, wenn die
Kluft sehr breit und tief ist. Dann kann nur eine Schneebrücke,
ein Lawinenkegel oder ein Kletterstückchen helfen, beim Abstieg
wird oft ein gut berechneter Sprung zum Ziele führen. Sehr
gefährlich kann die Randkluft dann werden, wenn ihre Ränder
stark abgeschmolzen und unterhöhlt sind, oder wenn dieselben
unangeseilt betreten werden. In Folge Einbrechens in eine 40 m
tiefe Randkluft verunglückte 1890 Christian Schöllhorn auf der
Ost-Seite des Watzmanns, nachdem ein paar Jahrzehnte vorher
ein Jäger, der ungefähr an derselben Stelle durch die Eisdecke
brach, in schwer verletztem Zustande gerettet werden konnte.
Ein wichtiges Erforderniss bei Schnee- und Eistouren ist
eine gute Praxis im Stufenschlagen, wozu der Eispickel das
geeignetste Instrument ist. Wenn die Härte des Schnees nicht
zu gross ist, so kann man auch auf steilen Hängen durch blosses
Einstossen der Füsse genügenden Halt finden. Wer Steigeisen
bei sich hat, erspart sich das Stufenhauen oft ganz oder doch
theilweise. Für den Gemsjäger sind ein Paar Steigeisen und ein
mit einem scharfen Stachel versehener Bergstock die empfehlens-
wertheste Ausrüstung. Bei sehr vielen Schneehängen genügt es,
wenn man mit der Schaufel des Pickels eine Stufe auskratzt.
Das Stufenkratzen ist weniger anstrengend als das Stufenhauen,
der Pickel wird in ersterem Falle mit seiner Breitseite durch den
Schnee gerissen, im zweiten Falle wird mit der Haue ein
wirklicher Schlag geführt. Zum Stufenschlagen gehört Kraft und
Ausdauer, aber auch grosse Geschicklichkeit, die nur durch viele
Uebung erlernt werden kann. Daher sind viele Führer nicht im
Stande, eine gute Stufe zu schlagen, da es ihnen an der nöthigen
Routine gebricht.


Eine gute Stufe soll sich der Länge und Breite des Fusses
anpassen, so dass in derselben auch der Absatz Platz findet, sie
hat nach innen leicht geneigt zu sein, und soll gegen den unteren
Hang eine scharfe Kante besitzen. Ein geübter Stufenhauer wird
zu einer Stufe kaum die Hälfte der Zeit benöthigen, wie ein un-
geübter, und sich dabei weniger anstrengen, als dieser. Beim
Schlagen soll nicht allein der Unterarm, sondern der ganze Arm
und der Rumpf mitwirken. Allzu starke Schläge gefährden das
Gleichgewicht des Stufenschlägers, fühlt er sich unsicher oder
nicht fest genug, so macht er oft einen Fehlhieb. Die Zahl
[165]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.der Hiebe, die man zur Herstellung einer Stufe benöthigt, richtet
sich nach der Beschaffenheit des Eises und der Oertlichkeit.

Figure 21. Stufenschlagen.


Dort, wo schon das Ausgleiten eines Einzelnen eine Katastrophe
herbeiführen könnte, müssen die Stufen grösser und tiefer an-
gefertigt werden. Bei minder gefährlichen Hängen, bei sicheren,
mit Steigeisen ausgerüsteten Gängern werden auch minder grosse
Stufen ausreichen. Die meisten Hiebe wird ein hartes, sprödes
Eis, wie man es auf steilen, von der Sonne dürftig beschienenen
Eishängen findet, vertragen, weniger Hiebe sind auf porösem,
halb aufthauendem Gletschereise nöthig; schwierig ist wieder die
Herstellung von Stufen auf einem mit pulverigem Neuschnee be-
[166]L. Purtscheller.deckten Eishange, weil dieselben theilweise wieder mit Schnee
ausgefüllt werden. Am leichtesten schlägt man eine Stufe auf

Figure 22. „Fallen Sie nur, wir halten!“


einen mässig ansteigenden Hang, schwieriger, wenn die Neigung
zunimmt, sodass der eine Fuss oder das Knie an den Hang an-
[167]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.gelehnt werden müssen, am schwierigsten nach abwärts, da
sich der Körper in diesem Falle in einer das Gleichgewicht
beeinträchtigenden Beugehaltung nach vorwärts befindet. Schwierig
ist das Stufenschlagen auch dort, wo die Beschaffenheit des
Terrains die freie Körperbewegung hindert, z.B. an steilen Wänden,
in engen Rinnen und Kaminen. Um allen Vorkommnissen ge-
wachsen zu sein, soll der tüchtige Eismann das Stufenschlagen
mit Vorgriff links und rechts und auch mit nur einer Hand er-
lernen. Die vielseitigsten Kombinationen ergeben sich, wenn man
den Weg durch einen grösseren Gletscherabsturz nimmt. Wer
die Séracs des Glacier du Géant überschreitet, erhält ein bei-
läufiges Bild von der Vielseitigkeit der Kunstgriffe, über welche
die moderne Eistechnik verfügt. Bei aussergewöhnlich steilen
Hängen, Ueberschreitung von Eiskanälen und Erkletterung von
Eismauern sind kleine Löcher als Haltpunkte für die Finger zu
schlagen, die mit wenigen Pickelhieben hergestellt werden können.


Handelt es sich um die Ersteigung sehr hoher Gipfel, wie
im Kaukasus oder im Himalaya, so muss die Gesellschaft, wenn
sie ihr Ziel erreichen will, eine Route wählen, welche das Stufen-
schlagen möglichst abkürzt. Herrn Merzbacher und dem Ver-
fasser misslang die Ersteigung des höchsten Dschanga-Gipfels
deshalb, weil das Stufenschlagen auf einem Eishange in 4900 m
Höhe über 1 ½ Stunden aufhielt, und die Zeit nicht mehr aus-
reichte, um den etwa 50 m höheren Westgipfel zu erklimmen.
Die grosse Stufenarbeit wird neben den heikeligen Felsklettereien
und der grossen Lawinengefahr stets eine der Hauptursachen sein,
dass die Ersteigung der höchsten Gipfel der Erde wenig Aussicht
auf Erfolg hat.


So gewaltig die Eisbedeckung in den Alpen auftritt, so
finden wir doch in den aussereuropäischen Hochgebirgen, wie im
Kaukasus, Himalaya und Hindukusch, die Schnee- und Eisszenerie
bedeutend grossartiger entwickelt. Neben einer reicheren Gliede-
rung der Firnhänge sind auch manche den Alpen völlig fremde
Erscheinungsformen, wie das überraschende Auftreten des Schnees
in nahezu senkrechten Böschungen, die oft in mehreren Etagen
übereinander liegenden vertikalen Eiswände, die 20 – 30 m weit
vorspringenden, parallel übereinanderliegenden Firnbalkons, dann
die die Grate krönenden, nach beiden Seiten weit überhängenden
Schneewächten, einige der charakteristischen Eigenthümlichkeiten
jener Berggebiete. Auf einem solchen Terrain den Weg zu
finden, Sturm und Kälte, sowie Entbehrungen aller Art zu er-
[168]L. Purtscheller.tragen und in allen Lagen mit Umsicht, Kühnheit und Geistes-
gegenwart zu handeln, dies beansprucht viel körperliche und
geistige Energie, dies erfordert einen ganzen Mann und eine
starke, gesunde Individualität.

Figure 23. Durchhauen einer Schneewächte.

Zu den gefährlichsten Gebilden, mit denen sich die hohen
Grate und Gipfel auszuschmücken belieben, gehören die Schnee-
wächten, die ihre Entstehung der Thätigkeit des Windes ver-
danken. Sie sind im vergletscherten Hochgebirge eine regel-
[169]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.mässige und häufige Erscheinung, so dass auf sie bei Betreten
von Schneegipfeln und Firnschneiden zu achten ist. Man über-
zeugt sich von dem Vorhandensein und der Ausdehnung einer
Wächte, wenn man von einer Knickstelle des Grates aus dessen
Verlauf untersucht. Eine Schneewächte soll unter keinen Umständen
betreten werden, selbst auf die Gefahr hin, dass man den Gipfel
gar nicht oder erst nach langer, mühsamer Traversierung erreicht.
Dennoch wird oft – und selbst von den tüchtigsten Führern –
gegen diese Regel verstossen, im Vertrauen auf das Glück, das
wir auf den Bergen nie ganz entbehren können. Ueber die Aus-
dehnung der Schneewächten kann sich selbst ein erfahrener
Führer täuschen. Wir glauben auf sicherem Boden zu stehen,
während der Fuss auf einem phantastischen, völlig ausgehöhlten
Gebilde ruht, das jeden Augenblick zusammenbrechen kann.
Die alpine Chronik verzeichnet eine Reihe von Unglücksfällen, die
durch das Abbrechen von Schneewächten verursacht wurden.
Der Lyskamm, das Gabelhorn, die Glocknerwand sind berüchtigt
wegen ihrer Schneeüberhänge, und mancher Hochgipfel kann
wegen der Wächte nicht völlig erklettert werden. Eine Gesellschaft,
die sich an der Ansatzstelle der Wächte auf fester Schneeunter-
lage für sicher hält, kann sich täuschen, da die Wächte nach ein-
wärts abbrechen und ein grosses Stück der nicht überhängenden
Schneemasse mitreissen kann. Selbst wenn man am Seil gehalten
wird, ist es nicht räthlich, auf eine Wächte zu treten, da der Ge-
stürzte, zwischen den sich ablösenden Schneemassen eingeklemmt,
auch Diejenigen mit fortreissen könnte, die mit ihm durch das
Seil verknüpft sind.


Einer besonderen Beliebtheit erfreuen sich in neuerer Zeit
die Grat- und kombinierten Gipfeltouren, ein Zweig der Hoch-
touristik, der an die Ausdauer, Gewandtheit und Bergerfahrung
des Bergsteigers bedeutende Anforderungen stellt. Wenn auch
bei Grat- und Gipfelwanderungen der sportliche Zweck stark
hervortritt, so bieten sie doch, ausser einer genauen, allseitigen
Kenntniss ganzer Gebirgsgruppen, eine reiche Fülle grossartiger
Eindrücke und ästhetischer Genüsse, die bei einer einzelnen
Gipfelbesteigung meist allzu kurz und flüchtig auf uns einwirken.
Grat- und kombinierte Gipfeltouren stehen untereinander in enger
Verbindung, sodass in der Regel jede Gratwanderung auch eine
Gipfeltour ist. Ihrer Natur nach sind diese Wanderungen ent-
weder reine Fels- oder Gletschertouren, oder eine Verbindung
beider; sie lassen sich umso leichter bewerkstelligen, je niedriger
[170]L. Purtscheller.der Gebirgsstock, je geringer die Einschnitte und Scharten, je
weniger zerrissen die Firste und Felsschneiden sind. Daher eignet

Figure 24. Schneegrat mit Gendarmen.


[171]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.sich eine Gebirgsgruppe von mittlerer Durchschnittshöhe mehr
zu Grat- und Gipfeltouren, als das eisbedeckte Hochgebirge, wenn
es auch keineswegs an Ausnahmen fehlt. In den grossen Bergen
der Schweiz, von Savoyen und des Dauphiné wird man im Vor-
hinein von grösseren Gratwanderungen absehen müssen, dagegen
sind hierzu die meisten Gruppen unserer Ostalpen mehr oder
minder geeignet. Bei Grat- und Gipfelwanderungen können wir
alle Arten der Fels- und Eistechnik, sowie den ganzen Apparat
bergsteigerischer Behelfe und Kunstgriffe anwenden. Jeder
grösseren Gratwanderung soll eine genaue Rekognoszierung voran-
gehen, die sich über die Einsattlungen, Scharten, Gratabstürze und
Felsthürme zu erstrecken hat. Bei Schneegraten ist auch die Be-
schaffenheit des Schnees, die Wächtenbildung, der Zustand der
Eisrinnen und die Steingefahr zu berücksichtigen, auch die
Möglichkeit eines Abbruches der Tour, also der Abstieg in
seitlicher Richtung, ist ins Auge zu fassen. Viel seltener als bei
Gipfelbesteigungen kommen wir bei Grattouren in die Lage, uns
das Terrain auszuwählen, der Gratwanderer muss daher mit der
Kunst des Kletterns, in der Behandlung von Schnee und Eis, mit
Seil und Pickel vertraut sein. Thürme, Zacken, Einrisse sucht
man nach Möglichkeit zu umgehen, da deren Ueberkletterung
einen überflüssigen Kraft- und Zeitaufwand verursachen würde.
Grattouren im eisbedeckten Hochgebirge, insbesondere in Höhen
über 3500 m, erfordern in der Regel sehr viel Zeit, wir täuschen
uns in dieser Hinsicht umso leichter, je gewaltiger die Dimensionen
der Berge selbst sind. Auch der erfahrenste Gletscher-Führer
wird, wenn er den Kaukasus oder Himalaya betritt, bei Ab-
schätzung der Entfernungen grossen Irrthümern unterliegen.


Nicht immer ist der Hochtourist in der Lage, sich die beste
Abstiegsroute zu wählen. Witterungsverhältnisse und andere Um-
stände nöthigen oft, eine Wegrichtung einzuschlagen, welche dem
Führer und dem Touristen unbekannt ist. Aber auch bekannte
Routen können durch die Veränderlichkeit des Eises und des
Firns, durch die wechselnde Beschaffenheit der Bergschründe und
Eisabbrüche mehr oder minder grosse Ueberraschungen bieten.
Der Abstieg, wenn er auch in der Regel weit geringere An-
strengungen erfordert, als der Aufstieg, beansprucht eine doppelte
Vorsicht. Ist man über die Haltbarkeit des Schnees, über die Be-
schaffenheit des Eishanges, über das Vorhandensein eines Berg-
schrundes im Unklaren, so werfe man grössere Steine hinab, um
aus deren Bewegungen bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen.


[172]L. Purtscheller.

Figure 25. Auf der Firnschneide.


Der geübte Bergsteiger
wird das blanke Eis
ebenso vermeiden, wie
den locker aufliegenden,
leicht abgleitenden
Schnee, der Bergkundige
weiss, was er von einem
lawinengefährlichen
Hange, von einer den
Steinschlägen ausgesetz-
ten Rinne, von den ein-
sturzdrohenden Séracs zu
halten hat.


Eine der grössten Ge-
fahren bilden die Lawinen,
mit denen aber der Berg-
steiger, da sie meist im
Winter und Frühjahre
auftreten, weniger zu thun
hat. Sollte der Tourist
dennoch in eine Lawine
gerathen, so muss er mit
aller Geistesgegenwart
bedacht sein, sich an
der Oberfläche der

brausenden und stäubenden Schneemassen zu erhalten, was
am besten durch eine schwimmartige Bewegung gelingt. Ist
die Lawine erst im Entstehen begriffen, so kann man sich
dadurch retten, dass man den Pickel tief in den Schnee
stösst und den Stiel mit beiden Armen umklammert. Sieht
oder hört man eine Lawine rechtzeitig, so kann man ihr
oft noch durch schnelles Laufen entrinnen. Nach grösseren
Schneefällen darf auch im Sommer kein stark geneigter Hang,
keine steile Rinne und keine schneebedeckte Felswand be-
treten werden. In der Regel gehen die Lawinen nach einem
Neuschnee – und dies gilt für Sommer und Winter – in
2-3 Tagen ab, worauf die gefährdete Stelle unbedenklich passirt
werden kann. In einer prekären Stellung, in einer Eisstufe, auf
einem schmalen Felsbande, bei Erkletterung einer Steilwand, sind
schon einige Hände voll Schnee aus grösserer Höhe herabstürzend,
hinreichend, um uns aus dem Gleichgewichte zu bringen.


[173]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.Eine weitere Gefahr für den Hochtouristen bilden die Eis-
lawinen, die den Hängegletschern, einstürzenden Schneewächten,
Eisthürmen und Firnbalkonen ihre Entstehung verdanken. Sie
kommen mehr an heissen Tagen vor, und ihre Wirkung ist umso
schrecklicher, je überraschender sie auftreten. Die Bruchstücke
dieser abstürzenden Eismassen sind oft in grosser Menge zu
glasigen, bläulichweissen Klumpen in den Firnmulden angehäuft.
Grosse Hängegletscher, wie der Glacier de Tabuchet an der
Nord-Seite der Meije, senden ihre abbrechenden Eismassen oft
Hunderte von Metern in die Felsregion herab, wo sie dem Ab-
schmelzungsprozesse unterliegen. Aehnliche Eisfindlinge fanden
Dr. Hans Meyer und der Verfasser an der Nord-Seite des Kibo
bei 5000 m Seehöhe im schwarzen Basaltgestein. Die von dem
8-12 m weit vorspringenden Eismantel des Berges sich ab-
lösenden Blöcke bildeten 400-500 m tiefer einen kleinen, regene-
rierten Gletscher, aus dem eine Quelle – vielleicht die höchste
Afrikas – hervorsprudelt.


Die beliebteste Art, über eine Schneefläche herabzukommen,
ist das Abfahren, das aber schon zu vielen Unglücksfällen Ver-
anlassung gab. Es ist ein grosser Vorzug der Schneetouren, dass
sich die während des Anstieges ausgegebene Kraft und Zeit beim
Absteigen wieder zehn- bis fünfzigfach ersetzen lässt, denn würde
das letztere ebenso langsam von Statten gehen, wie das erstere,
dann wären selbst unsere Alpen für die Mehrzahl der Bergsteiger
zu hoch. Wer sicher abfahren will, hat vorerst das Terrain und
die Beschaffenheit des Schnees zu untersuchen. Da dies aber oft
unmöglich ist, so soll das Abfahren in der Weise erfolgen, dass
man in jedem Momente anhalten kann. Auch ein scheinbar gleich-
mässig verlaufender Schneehang kann zu einer Katastrophe
führen, wenn er plötzlich in blankes Eis übergeht, oder der
Abfahrende das Gleichgewicht verliert. Gar manche Berge, wie
die Rax und der Schneeberg, wissen davon zu erzählen, aber
auch fast jeder Bergsteiger erinnert sich an das eine oder andere
Vorkommniss, das der Vorliebe des Abfahrens seine Entstehung
verdankt. Nicht minder gefährlich als Eis sind Spalten, Abbrüche,
aus dem Schnee hervortretende Felsen, an denen der Ab-
fahrende Schaden nimmt. Im Frühsommer ist auch auf ver-
borgene Bachbette und Aushöhlungen des Schnees Rücksicht zu
nehmen; grosse, breite Gletscher- oder Firnklüfte sollen selbst
im Winter bei scheinbar fester Schneedecke nicht überfahren
werden.


[174]L. Purtscheller.Am besten zum Abfahren eignet sich alter Winter- oder
Lawinenschnee, wie er sich oft an der Seite der Gletscher findet,
nicht zu empfehlen ist das Abfahren bei tiefem, lockerem oder
verkrustetem Schnee, da man sich leicht die Beine brechen kann.
Die Haltung des Körpers soll beim Abfahren senkrecht sein, dies
gilt auch bei stark geneigten Hängen, denn jedes Zurücklegen
des Körpers beschleunigt die Bewegung. Der Stachel des Eis-
pickels wird in den Schnee eingedrückt, während man die Schaufel
- vorausgesetzt, dass der Stiel die richtige Länge besitzt – an
den Unterkörper anlegt. Wer die Zehen nach unten hält, ver-
mehrt die Geschwindigkeit, wer die Fersen in den Schnee stemmt,
hemmt dieselbe. Um in seitlicher Richtung und im Zickzack ab-
zufahren, was sich bei sehr steilen Hängen empfiehlt, drückt man
die der Richtung entsprechenden Fusskanten, also beim Fahren
in Linksrichtung die linke Längskante des Fusses, in den Schnee.
Auf schwach geneigten Hängen ist das Abfahren nur bei stark
zurückgebeugtem Körper, im Sitzen oder Liegen ausführbar. Wenn
man stehend abfährt, sind die Beine gestreckt und geschlossen zu
halten, da ein Beugen der Kniee sehr ermüdet. Das Abfahren
mit quer vorgehaltenem Pickel ist ein Bravourstückchen für Zu-
schauer, für die Praxis hat es keinen Werth. Wer das Abfahren
richtig versteht, wird hierbei wenig oder nicht ermüden, während
der Ungeübte stets mit dem Gleichgewichte kämpft und seine
Kräfte verbraucht.


Figure 26. „Wir fahren zu Thal!“

Wohl jeder
Hochtourist hat
bereits das „Ver-
gnügen“ eines Bi-
vouaks, eines
Nachtlagers im
Freien, kennenge-
lernt. Ist das Bi-
vouak freiwillig
bezogen, kann
sich der Tourist
einen geeigneten
Lagerplatz aus-
suchen und ist er
mit Decken,
Brennmaterial und Pr[o] [...]
viant versehen, so

[175]Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.dürfte eine kurze Sommernacht ziemlich angenehm und rasch
verlaufen. Anders aber liegen die Verhältnisse, wenn eine Ge-
sellschaft in höheren Regionen von der Nacht überrascht wird.
Gelingt es ihr, eine Felshöhle, einen sicheren Rasenplatz, die
Krummholz- oder die Baumregion zu erreichen, dann kann sie
noch von Glück sprechen, weit schlimmer aber steht die Sache,
wenn sie hoch oben in der Fels- und Eiswildniss, in der jeder
unüberlegte Schritt zum Verderben führen kann, zum Nächtigen
genöthigt ist. Gesellen sich noch zu einer derartigen Fatalität
Kälte, Sturm, Regen oder Schneefall, ist man wegen Raum-
mangels selbst der Wohlthat einer erwärmenden Bewegung beraubt,
dann wird die Lage bedenklich. In solche kritische Situationen
kann eine Gesellschaft völlig unverschuldet gerathen, denn ein
plötzlicher Witterungsumschlag lässt sich nicht immer voraus-
sehen; meist liegt aber der Fehler an den Touristen selbst, sei es,
dass sie die Schwierigkeiten und den Zeitaufwand unrichtig ab-
schätzten, die Wege verfehlten oder dass die Gesellschaft aus
allzu ungleichen Kräften bestand. Unfreiwillige Bivouaks soll
man unter allen Umständen zu vermeiden trachten, und zu
diesem Zwecke ist selbst ein rücksichtsloses Vorgehen des
Führers oder Partieleiters zu rechtfertigen, denn bei einem
Bivouak in kalter, stürmischer Nacht steht mehr als die Freund-
schaft auf dem Spiele. Bei der Wahl eines Bivouakplatzes sehe
man in erster Linie darauf, dass derselbe vom Winde geschützt
ist. Bieten Felsen, Höhlen, Grasmulden keinen genügenden
Schutz, so empfiehlt sich die Aufführung einer Stein- oder Erd-
mauer an der Windseite. Der Aufbruch zu einem Bivouak darf
nicht zu spät erfolgen, da die Ausmittlung und Einrichtung des
Bivouakplatzes viel Zeit erfordert. Der Boden ist möglichst zu
ebnen, grössere Steinchen sind zu entfernen, die Lagerstätte,
wenn thunlich, mit Tannenzweigen, Alpenrosen- oder Erlen-
gebüsch, Moos- und Grasbüscheln auszufüttern. Hat man überdies
Decken bei sich – Zelte und Schlafsäcke kommen bei alpinen
Wanderungen kaum in Betracht – und einen kleinen Koch-
apparat, um sich einen erwärmenden Thee oder Grog zu bereiten,
so kann sich ein derartiges Bivouak zu einer sehr schönen Er-
innerung gestalten. Touristen, die ohne Führer oder Träger
gehen, haben sich auch hier grössere Beschränkungen aufzuerlegen.
Unbedingt nöthig ist es bei Bivouaks, dass man noch ein Reserve-
Flanellhemd und ein zweites Paar dicker Wollsocken besitzt.
Ueberhaupt wird man alle verfügbaren Kleidungsstücke anlegen;
[176]L. Purtscheller. Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.nur die Schuhe sind auszuziehen, die Füsse steckt man am Besten
in den Rucksack. Selbstverständlich hat man die durchfeuchtete
Leibwäsche sofort nach Ankunft auf dem Bivouakplatze zu
wechseln und zum Trocknen auszubreiten. Ueber den Kopf und
die Ohren binde man ein grosses Hals- oder Sacktuch, noch
besser dient eine gewirkte Seiden- oder Wollmütze, die be[i]
grösseren Gletschertouren unentbehrlich ist. Kleinere Gegenstände,
wie Messer, Trinkbecher, Schneebrillen, Karten, legt man am
Besten in den Hut, auch die übrigen Sachen versorge man derart,
dass man sie beim Aufstehen sofort bei der Hand hat.


Bivouaks – sei ihr Verlauf nun befriedigend oder weniger
befriedigend – gehören zu den interessantesten und denk-
würdigsten Ereignissen einer Bergfahrt. Die aussergewöhnlichen
Umstände, die ein Nachtlager im Freien herbeiführen, der Zauber
der Stunde und des Ortes, der Blick in die Tiefe, auf das er-
sterbende und neu erwachende Licht, die Einsamkeit und Stille,
welche höchstens von einem fallenden Steine oder einer Lawine
unterbrochen wird: Alles trägt dazu bei, Geist, Gemüth und
Phantasie in gleich nachhaltiger Weise anzuregen.


Immer mehr und mehr gestalten sich die Alpen zu einem
grossen Erholungs- und Pilgerfahrtsziele der modernen euro-
päischen Welt. Auf den Bergen erhebt sich der Geist zu dem
Unendlichen, Unwandelbaren, ewig Schönen und Grossen, sie
wirken auf die Jugend belehrend, auf den Mann weltversöhnend,
auf den Greis tröstend und neubelebend. Der Alpinismus kann
uns – mehr als alle Weisheit und alles Gold der Welt – Eines
geben: Gesundheit und Lebensfreude, Kraft und körperliche
Wiedergeburt, Liebe zur Natur und Menschheit, Ausdauer und
Seelenstärke im Kampfe mit Schwierigkeiten. Und so wollen wir
auch in Zukunft in warmer Begeisterung und in treuem Festhalten
an unserem Alpenverein, als dem Träger und Vermittler dieser
Ideen und Aufgaben, unseren Freunden und Volksgenossen die
Wege zeigen nach den stolzen, sonnig verklärten Höhen, damit
der Alpinismus das bleibe, was er stets im Sinne seiner Begründer
gewesen: ein Element gesunder Lebensäusserung, ästhetischen
Genusses und innerer Herzensbefriedigung.


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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Purtscheller, Ludwig. Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bq06.0