UND
GESELLSCHAFT.
DES
COMMUNISMUS UND DES SOCIALISMUS
ALS
EMPIRISCHER CULTURFORMEN.
FUES’S VERLAG (R. REISLAND).
1887.
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UND
GESELLSCHAFT.
DES
COMMUNISMUS UND DES SOCIALISMUS
ALS
EMPIRISCHER CULTURFORMEN.
FUES’S VERLAG (R. REISLAND).
1887.
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INHALT.
- Erstes Buch.
Allgemeine Bestimmung des Gegensatzes. - Seite
- Thema: Organische und mechanische Bildungen — allgemeine
Definition — Rechtfertigung der Namengebung 1— 8 - Erster Abschnitt. Theorie der Gemeinschaft9—44
- § 1. Keimformen der Gemeinschaft.
- § 2. Einheit und Vollendung derselben.
- § 3. Reciprocität des Genusses und der Arbeit.
- § 4. Uebergewicht und Compensation.
- § 5. Würde — des Alters — der Stärke — der Weisheit.
- Zärtlichkeit und Ehrfurcht.
- § 6. Gemeinschaft des Blutes — des Ortes — des Geistes.
Verwandtschaft — Nachbarschaft — Freundschaft. - § 7. Würde des Vaters — des Fürsten — des Meisters.
Richterliche — herzogliche — priesterliche Functionen. - § 8. Würde und Dienst als Ausdrücke der Gemeinschaft
überhaupt. Grenzen der Ungleichheit. - § 9. Verständniss als gemeinschaftlicher Wille — Natür-
liches Recht als Inbegriff von Pflichten und Gerecht-
samen — Sprache — Muttersprache. Eintracht oder
Familiengeist. - § 10. Gliederung und Neubildung der natürlichen Einheiten.
Volk — Stamm — Clan. Land — Gau — Dorf.
Stadt — Gilde — Gemeinde. - § 11. Gegenseitiger Besitz und Genuss — Besitz und Genuss
gemeinsamer Güter. Acker und Haus. - § 12. Allgemeine Tendenz der Gemeinschaft. Schema der
Entwicklung. Haupt und Glieder. Letzte Einheit
das Haus. - Seite
- § 13. Das häusliche Leben — Drei Schichten — Knecht-
schaft im häuslichen Leben. - § 14. Haushaltung — Herdfeuer und Tafel — Fremdheit
des Tausches. - § 15. Das isolirte Haus — Das Bauernhaus — Das städ-
tische Haus — Ergänzung von Stadt und Land —
Form des Austausches. - § 16. Analogie des Hauses — Das Dorf — Das Herrenhaus
innerhalb des Dorfes, und in der Mark — Verhältnisse
des Eigenthums. - § 17. Dorfgemeinde und Allmend. Die Gemeinde als Haus-
haltung — sich selbst genügend — Bestätigungen
Maine’s und Gierke’s — Die ökonomisch-commu-
nistische Verfassung. - § 18. Die Stadt als gemeinschaftlicher Organismus — Hand-
werk als Kunst — Kunst und Religion — Entwick-
lung der Religion — Function der Religion und der
Kunst in der Stadt — Die Stadt und der Handel —
Sätze Schmoller’s.
Zweiter Abschnitt. Theorie der Gesellschaft46—95 - § 19. Definition. Negative Grundlage. Tausch. Gemein-
sames Gut — gemeinsamer Wille. Gleichheit des
Werthes — das objective Urtheil. - § 20. Der Werth als objective Qualität, der Gesellschaft
gehörig; nur in Quantitäten der für sie nothwendigen
Arbeit ausdrückbar = Quantitäten der gleichen durch-
schnittlichen Arbeitszeit. Empirische Bedeutung. - § 21. Waare als Werth und Werth als Waare. Begriff des
Geldes — Gebrauch des Tausches — Papiergeld.
Gesellschaft und Wissenschaft. - § 22. Contract — Hingebung des blossen Willens — Ein-
willigung — Schuld und Forderung — gemeinsames
und getheiltes Eigenthum. - § 23. Credit — als Geldsurrogat — Privatgeld — Verkauf
von Geld gegen Credit — die Obligation als absolute
Waare — die Paradoxie der Gesellschaft. - § 24. Thätigkeit anstatt Gegenstandes im Tausche — im
Versprechen — Recht sie zu erzwingen — Ver-
bindung — als besonderes Subject der Rechts-Ordnung
— Natürlicher Inhalt der Rechts-Ordnung — in Bezug
auf mögliche Veränderungen — Naturrecht als Gesetz
der Convention — Unterschied der Convention vom
Herkommen. - § 25. Die bürgerliche Gesellschaft — Jedermann ein Kauf-
mann — Dasein der Gesellschaft — der latente
Krieg — allgemeine Concurrenz — Conventionelle
Geselligkeit — Gesellschaft im moralischen Sinne. - Seite
- § 26. Progress der Gesellschaft — Vereinigung der Kauf-
leute innerhalb eines Volkes — und über dasselbe
hinaus — der Welt-Markt — Abtheilungen der Kauf-
mannschaft — Kapital — Verkäufer eigener Arbeit
als Kaufleute — Unterschied — Aufhebung der Ver-
kaufs-Bestrebung durch gleiche und entgegengesetzte. - § 27. Unterschied von Kunst und Handel — Stellung des
Kaufmanns ausserhalb des Gemeinschafts-Lebens —
des Gläubigers — Motive — Creditwesen als Hülfs-
geschäft des Handels — Möglichkeit einer organischen
Auffassung des kaufmännischen Standes. - § 28. Widerspruch — die Absicht des Plus-Machens —
Grenzenlosigkeit — Inadäquatheit der gemeinschaft-
lichen Auffassung — Kaufleute oder Kapitalisten als
Herren der Gesellschaft — Sklaverei — Sklaven als
Subjecte der Gesellschaft. - § 29. Arbeitskraft — Veräusserung gegen Geld — Einkauf
und Wiederverkauf der Arbeitskraft. - § 30. Wucher und Landlordism im Vergleich mit Handel
— Möglichkeit der Ausbeutung von Arbeitskraft —
der Kaufmann und der Handwerker — Vorschuss von
Stoffen, Werkzeugen u. s. w. - § 31. Das Princip des Handels aus dem Inneren der Werk-
stätte entwickelt — wie von aussen hinantretend —
Fortschritt der Methode — Vereinigung in grossen
Etablissements — Fortschritt der Technik — Ma-
schinerie — die 3 Phasen der Industrie — Parallele
in der Landwirthschaft — welche zu einem Industrie-
zweige wird. - § 32. Die Metamorphose des Kaufmanns — und des Meisters
— Leitung — ausscheidbar — der Unternehmer —
Spielart — Risico — provisorischer Zustand — die
kapitalistische Production im Gegensatz zum Handel. - § 33. Ansicht dieses Gegensatzes. Fertige Waaren — her-
vorzubringende Waaren — Arbeiten und Arbeiten-
lassen — Vermehrung nach Willkür. - § 34. Profit des Handels und Profit der Fabrikation —
Differenz des Werthes der Arbeitskräfte und des
Werthes der Arbeit. - § 35. Werth und Preis der Arbeitskraft. Einkauf von
Waaren durch Gebrauchenwollende als Vorzug für
Verkäufer. - § 36. Einkauf durch Verkaufenwollende als ihr Nachtheil.
Wahrscheinlicher Preis der Arbeitskraft und seine
Grenze. Fragwürdigkeit ihres Werthes. - § 37. Verwirklichung der gesellschaftlich nothwendigen Ar-
beitszeit — Preiskampf zwischen Monopolisten — - Seite
- Begriffliche Bedeutung des Gesetzes — zurückführbar
auf identische Sätze. - § 38. Dienstleistungen auf dem Waarenmarkte — der Arbeits-
markt — Verhüllung der Arbeit macht das kapita-
listische Subject zum scheinbaren Urheber, während
Arbeit die wirkliche Ursache der Werke bleibt, also
Quelle der Werthe. - § 39. Der Krammarkt — gegensätzliche Bewegung — übrig-
bleibende Dienstleistung von Waarenverkäufern —
kapitalistische Hervorbringung von Dienstleistungen. - § 40. Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse — die Con-
stituenten der Gesellschaft — Bedingtheit der ge-
sammten Construction des Begriffs der Gesellschaft. - Zweites Buch.
Wesenwille und Willkür. - Erster Abschnitt. Die Formen des menschlichen
Willens97—142 - § 1. Bestimmung der Begriffe.
- § 2. Wesenwille involvirt das Denken, Willkür ist ein
Gebilde des Denkens. - § 3. Verhältniss des Wesenwillens zur Thätigkeit — Ver-
hältniss der Willkür zur Thätigkeit. - § 4. Wesenwille und organisches Leben — Entwicklung
beider. - § 5. Vegetatives und animalisches Leben — vegetativer
und animalischer Wille — mentaler Wille. - § 6. Erste Form des Wesenwillens: Gefallen — Erklärung
aus Entwicklung und Wachsthum — die Sinnesorgane. - § 7. Andere Form: Gewohnheit — Erfahrung und Uebung
— Unterschied von Entwicklung und Uebung —
Gewohnheit als das Substanzielle thierisch-mensch-
lichen Geistes — Gewohnheit und Verstand. - § 8. Die dritte Form: Gedächtniss — allgemeine Bedeu-
tung desselben — Ansicht neuerer Psychologen —
Erlernung von Zusammenhängen — die Rede —
Phantasie — Gedächtniss und Vernunft — Anmerkung
über Spinoza. - § 9. Fernere Bestimmungen A) Ableitung der bewussten
menschlichen Thätigkeiten aus dem Gefühl — Be-
dingtheit und Arten der Thätigkeit des Gehirnes.
B) Anlagen und Umstände — Anlagen und Uebung —
und Lernung. C) Die menschliche Natur — die andere
Natur — die dritte Natur — Bejahung und Verneinung
— Inhalt der individuellen Natur — Ausdrücke des- - Seite
- selben. D) Das Wesen des Menschen als Leidenschaft
— als Muth — als Genie — Wesenwille als Naturell
— seine Gesammtformen — Leidenschaft als Gesinnung
— Muth als Gemüth — Genie als Gewissen.
E) Qualitäten des Willens — der gute Wille —
Tugenden: Energie, Tapferkeit, Fleiss — Verschie-
denheit der Güte im moralischen Sinne — Güte des
Menschen — als Aufrichtigkeit, Güte, Treue — mög-
liche moralische Bedeutung der moralisch indifferenten
Tugenden. - § 10. Betrachtung der Willkür — Einheit durch Zweck —
Herrschaft des Denkens — seine Freiheit — und
Causalität. - § 11. Gestaltungen der Willkür — a) Richtung auf Wahl
— Bedacht, b) Richtung auf bestimmte einzelne Hand-
lungen — Beschluss — c) Richtung auf das Denken
selber: Begriff. - § 12. Gesammtformen der Willkür — Apparat — all-
gemeiner Ausdruck als Bestrebung — besonderer als
Berechnung — höchster oder geistigster Ausdruck als
Bewusstheit. - § 13. Der oberste Zweck als ein Fremdes — Streben nach
Glück. - § 14. Verschiedenheit des Strebens nach Glück — gemeines
und höheres Glück — Streben nach den Mitteln —
nach Macht über Macht — nach Geld — Arten der
wirklichen Bestrebungen, a) Eigennutz, aa) Eitelkeit
— Begriff der Genussucht — Motive der Geselligkeit
— b) Geldgier, bb) Gewinnsucht — Begriff der Hab-
sucht — c) Ehrgeiz, cc) Wissbegierde — Begriff der
Herrschsucht. - § 15. Leere Wünsche in Gedanken — Folgen daraus — kein
guter Wille — Anerkennung der Klugheit — Schlau-
heit — Aufgeklärtheit — Consequenz der Willkür. - § 16. Andere Beurtheilung vom Wesenwillen aus — falsche
Beurtheilung des Egoismus — Gleichgültigkeit des
Egoisten — Bosheit gegenüber eigenem Gemüth und
Gewissen. - § 17. Kopf und Herz — Gefühl und Verstand — Natur
des Denkens — Gedächtniss und Neigungen. - § 18. Association von Ideen — die eigenen Angelegen-
heiten — Pflichtgefühl — das Werk — Denken und
Wollen — Losreissung des Denkens — Zweck und
Mittel — das beste Mittel. - Seite
- Zweiter Abschnitt. Erläuterung des Gegensatzes143—166
- § 19. Vergleichung der Gestalten des Wesenwillens mit
natürlichen Organen — der Gestalten der Willkür
mit künstlichen Geräthen. - § 20. Materie des Wesenwillens als Freiheit und reale
Möglichkeit — Stoff der Willkür als Freiheit und
ideelle Möglichkeit. - § 21. Nähere Ansicht der Freiheit in Willkür — Verbrauch
von Mitteln zukünftiger Lust — Handlung als Kauf
— Wille als Negation — Gegensatz von Lust- und
Schmerz-Elementen. - § 22. Nähere Ansicht der Freiheit im Wesenwillen — Ent-
wicklung des Müssens und Geschehens aus dem
Können — Verhältniss des Werkes zur Arbeit —
Assimilirung — psychologisch-reale Organe durch
Liebeskraft — echtes Eigen. - § 23. Verhältniss des organischen Ganzen zu seinen Theilen
— Lust und Schmerz — Consensus — Gegensatz zu
Willkür. - § 24. Willkürformen und der isolirte Mensch — sein dialek-
tisches Gegenstück — ebenso Verhalten von Menschen
zu einander, gleich dem Verhältnisse der Formen des
Wesenwillens. - § 25. Abweichung der Erfahrung von diesen Schematen —
Tendenzen in Temperament, Charakter, Denkungsart
— Kampf von Wesenwille und Willkür — Natür-
liches und Gemachtes im Temperament u. s. w. - § 26. Affection unserer Gefühle durch Wesenwille und
Willkür — Gegensätze des Flüssigen und Trockenen
— des Weichen und Harten — des Warmen und
Kalten — die organisirte Materie und der todte Stoff
— das Concrete und Ursprüngliche — das Abstracte
und Gemachte in den Individuen. - § 27. Das Leben als Beruf — und das Leben als Geschäft
— Methode — Theorie — das richtige Zielen —
richtige Urtheilen — richtige Handeln. - § 28. Wichtigkeit des Wissens — das Kunststück des Wol-
lens — Bedingtheit des Denkens selber — das wissen-
schaftliche Denken und das Rechnen — die Logik. - § 29. Denken als mechanische Arbeit — als organische
und künstlerische Thätigkeit — Lehren und Lernen. - § 30. Kunst in Bildung von Geräthen — Wirkung von
Werkzeugen und Methoden — Zurückbildung der
Arbeit. - § 31. Wesenwille als künstlerischer Geist — Productivität
der Phantasie — hingegen Bildung von Willkür aus - Seite
- Willkür — Begriffe — ihre Mittheilung — Leistung
des Lehrers und Rathgebers — anders in Bezug auf
Kunst. - § 32. Formen des Wesenwillens als Motive — Normen —
Formen der Willkür als Motive und Normen — Frei-
heit des Willens durch Wesenwillen und durch Willkür. - Dritter Abschnitt. Empirische Bedeutung167—194
- § 33. Psychologischer Gegensatz der Geschlechter — wache
Aufmerksamkeit des Jägers und Räubers — Fernsicht
und Urtheil des Führers — das wissenschaftliche
Verfahren in allen praktischen Betrieben und Künsten. - § 34. Productive intellectuelle Kraft des Weibes — passive
Apperception — Unmittelbarkeit — Geschmack —
Genie im Volke — frauenhafte Naturen — künstle-
rische und künstliche Menschen — Antinomien im
Temperament, Charakter, Denkungsart. - § 35. Jugend und Alter — Unschuld der Kinder — Fort-
schritt durch Gewissen zur reinen Vernünftigkeit —
Zunahme und Abnahme von Leidenschaft — Reich-
thum als Verfügung über Erfahrung — Concentration
auf einfache Ziele. - § 36. Dritter Gegensatz besonders im mentalen Gebiete —
das Volk und die Gebildeten — Gewissen im Volke
— Vernichtung durch Denken — Bewusstheit. - § 37. Gewissen als Scham — Beziehung auf Gemeinschaft —
Ehre — Idee der Moralität — das gesellschaftliche
Leben und der Schein. - § 38. Markt und Salon — Scham als Thorheit — Gewissen
und Religion — das Thema der Welthistorie — Be-
dingtheit dieser Antithesen. - § 39. Wesenwille und Gemeinschaft — Willkür und Gesell-
schaft — die Frauen und das gemeinschaftliche Leben
— Hauswesen — Ackerbau — Kunst. - § 40. Männliche Arbeit und Handel — Handel und Lüge
— Lüge als Grundlage der Gesellschaft — das Weib
und die Fabrikarbeit — das Weib und die Wissen-
schaft. - § 41. Entsprechende Gegensätze — Kindheit und Gemein-
schaft — Kinderarbeit — Unterricht in Wissenschaften
— das gereifte Lebensalter und die Gesellschaft. - § 42. Volk und Gemeinschaft — Bildung und Handel —
Aufhören des Volkes — Proletariat und Bewusstheit
— Ende der Gesellschaft. - Seite
- Drittes Buch.
Prooemien des Naturrechts. - Erster Abschnitt. Definitionen und Thesen195—234
- § 1. Das Selbst als organische Einheit — Organismus als
Congregation von Elementarorganismen — der Zweck
— Lebensfähigkeit — Ganzes und Theile — Mensch-
heit als concrete Allgemeinheit — Gliederung —
Typen — der natürliche Congress. - § 2. Die Person als mechanische Einheit — Fiction —
Verhältniss von Vielheit und Einheit wie von Dingen
und ihrem Begriffe — Darstellung der Person durch
Einen oder Viele — der Einzelne als Beschlusses
fähig — Die Menge als Beschlusses fähig — Versamm-
lung — Gleichheit der natürlichen Personen. - § 3. Versammlung sich selber repräsentirend — künstliche
Person — Anerkennung — theoretische Personification
— Vertretung — Constitution künstlicher Personen —
Dasein zusammengelegter Mittel — der Begriff der
Person im fingirten Willkürsubject. - § 4. Gemeinschaft als Selbst — Gesellschaft als Person —
Recht und Rechtssysteme — Familienrecht und Obli-
gationenrecht — mittleres Gebiet im Eigenthumsrecht. - § 5. Sphäre des Wesenwillens — Sphäre der Willkür —
Definition des Eigenthums — organisches und mecha-
nisches — Besitz und Vermögen — Inneres und
Aeusseres — Einheit und Vielheit. - § 6. Beziehung auf Leib und Leben — auf mögliche
Handlung eines anderen Menschen — Besitz an
Thieren — an Land — an selbstgeschaffenen Sachen
— Verinnerung — Veräusserung — Waare — Geld
— Obligation. - § 7. Gruppen und Gegensätze — Status und Contract —
die Stelle Sir H. Maine’s. - § 8. Herrschaft und Eigenthum — in Gemeinschaft — in
Gesellschaft — Eigenthum an fremden Arbeitskräften
— an Menschen als Waaren — das Amt des Herr-
schers — zwieschlächtiger Charakter. - § 9. Begriff und Bezeichnung des Lohnes — Verdienst
und Folge — zeitlich doppelte und gleichzeitige Acte
— distributive und communitative Gerechtigkeit. - § 10. Uebergang von Dienst- in reines Contract-Verhältniss —
allgemeine menschliche Fähigkeiten — das Allgemeine
der Idee und das Allgemeine des Begriffs — Arbeit
wird zur abstracten und einfachen Arbeit — ihr Preis
— Lohnarbeiter und Brodherr. - Seite
- § 11. Dem Lohne gegenüber die Abgabe — Gewohnheit
und Pflicht — Bitte und Gunst — Dank — Ab-
schaffung von Abgaben — des Lohnes — Widerstand
der Mächtigen — Almosen und Trinkgeld — Geschenk
und Gesinnung — Erhaltung des Scheines — Geld-
geschenk — Steuer als gesellschaftlicher Begriff. - § 12. Parallele von Leben und Recht — Materie und Form
— Verbundenheit der Leiber — Austausch von Sachen
— einzelner und allgemeiner Contract — juristische
Personen. - § 13. Verbindung und Bündniss — Zunahme des Contracts
— Anpassung des Status — Typen gemeinschaftlicher
Verbindungen und Bündnisse — die Ehe — Ver-
hältnisse, welche zu Contracten werden können —
Contracte des Handelsverkehrs — Vertrauen — ersetzt
durch Rechnung — der Arbeits-Contract — als Hebel
möglicher neuer Construction des Zusammenlebens. - § 14. Gesellschaftliche Verbindungen — Zwecke — Mittel
im Vermögen — bestimmter Zweck und bestimmte
Mittel — Associationen des Kapitals — Gegensatz
der Einzelnen und der Verbindung als selbständiger
Person — die Actien-Gesellschaft — Arbeit als Actie. - Zweiter Abschnitt. Das Natürliche im Rechte235—246
- § 15. Das Problem der antiken Philosophie des Rechtes —
Lösung — das Natürliche in zwiefacher Bedeutung. - § 16. Process der antiken Cultur — das gemeine Recht —
Allgemeinheit und Ursprünglichkeit — Fiction und
Abstraction aus der Erfahrung. - § 17. Schluss auf allgemeine Handelns-Freiheit — dagegen
Unterscheidung von gemeinem und natürlichem Rechte
— Fortschritt vom Allgemeinen zum Besonderen —
Folgerungen. - § 18. Die Allgemeinheit der Ehe als Beispiel — zwiefacher
Sinn — Ordnung des Gewissens — heiliges Recht —
dagegen Ausdehnung des bürgerlichen Rechts zum
Weltrecht — zufällige und nothwendige Ordnung —
der abstracte Mensch. - § 19. Gesellschaftliche Ordnung — Verkehrs- oder Handels-
recht — Ausbildung solches Rechtes und Verfall des
Lebens im römischen Reich. - § 20. Die christliche Cultur und die Aufnahme des römischen
Weltrechtes — Verhältniss der Wirkungen — Auf-
lösung aller Gemeinschaften — Familie und Ehe —
Naturrecht der neueren Zeit — im öffentlichen Rechte
und der Gesetzgebung. - Seite
- Dritter Abschnitt. Formen des verbundenen Wil-
lens — Gemeinwesen und Staat247—273 - § 21. Gefallen und Verständniss — Gesinnung und Eintracht
— Gewohnheit und Brauch — Gemüth und Sitte —
Sinn und Inhalt von Bräuchen. - § 22. Sitte — Heimath — Zusammenhang mit bewohnter,
bebauter, besessener Erde — Gedächtniss der Vor-
fahren — Ehebund und Sitte. - § 23. Sitte als Gewohnheitsrecht — Bereich der Sitte —
Sitte und Eintracht — gemeinsame Richtung. - § 24. Getrennte Richtung — Eintracht als natürliches, Sitte
als positives Recht — Gemeinwesen und seine Arten. - § 25. Verhältniss von Gemeinwesen und Gemeinschaft —
Gemeinwesen als Heer — Heeresversammlung und
Häupter — fürstliche oder königliche Würde. - § 26. Heer und Eigenthum — Kriegerkaste — Adel —
Adel und Gemeine. - § 27. Tendenz der Theile eines Gemeinwesens — Erfüllung
der Idee als Stadt — die Polis — Majestät des Gemein-
wesens — doppelte Bedeutung der Volksgemeinde. - § 28. Genossenschaft und Verein — Zusammenhang von
Gemeinwesen — Kirche und Universalreich — Verein
und Zwangsmittel — die Satzung. - § 29. Der Staat und sein Zweck — das Recht über Gesell-
schaft und Staat — der Staat als Interpret und Ur-
heber von Recht — legislative Gewalt — Politik —
der Staat als die Gesellschaft selbst — kein Recht gegen
sein Recht — Verwaltung — Socialismus — Welt-
staat — Untergang des Staates. - § 30. Letzte Gestaltung des gemeinsamen Willens — Glaube
und Religion — Doctrin und öffentliche Meinung —
Zusammenhang von Religion mit Familienleben und
Sitte — mit Gemeinwesen — der Eid — Ehe und
Eid als Hauptstücke der Moral. - § 31. Oeffentliche Meinung und Wissenschaft — Urtheile
über Handlungen und Meinungen — politische Mei-
nungen — Partei und Gouvernement — das Zeitungs-
wesen — Macht der Presse — Tendenz zur Welt-
republik — allgemeine limitirende Bemerkung. - Anhangsweise.
Ergebniss und Ausblick.275—294 - § 1. Entgegengesetzte Bestimmung von Ordnung, Recht,
Moral. - § 2. Die Substanz des socialen Willens und die Freiheit
der Willkür — Volksthum und Staatsthum. - Seite
- § 3. Ordnung und Temperament — Recht und Charakter
— Moral und Denkungsart — die Verwandlungen. - § 4. Gesellschaft und Grosstadt — Land — Welt —
Handelsstadt — Hauptstadt — Weltstadt. - § 5. Familienleben — Erhaltung und Untergang — Unter-
gang der Sitte — Gegenwirkung von Gesellschaft und
Staat. - § 6. Einfluss auf die Menge — Verhältniss zu Staat und
Gesellschaft — Zerstörung der Cultur und Civili-
sation. - § 7. Beschluss — die Zeitalter — Zusammenfassung von
Willens- und Lebensformen. - § 8. Analogie des individuellen Lebensprocesses — das
vegetative und das animalische Leben — Verhältniss
des mentalen Lebens dazu. - § 9. Communismus — Individualismus — Socialismus —
antike und moderne Culturmasse — die Aufgabe.
[[XVI]][[XVII]]
Vorrede.
Der Gegensatz der historischen gegen die rationa-
listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle
Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen.
Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff
des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta-
bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch
die Wolfische Schule seine feste Darstellung gefunden hatte.
Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher
auch für den gegenwärtigen Versuch einer neuen Ana-
lyse der Grundprobleme des socialen Lebens von
nicht geringer Bedeutung.
Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un-
geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender
Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung
des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der
Kantischen Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche
auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach
ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio-
nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em-
pirisnius Hume’s; denn auch er untersucht nicht, ob es all-
gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen
und Causalität in Wirklichkeit gebe, sondern er deducirt
ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später Kant ihre Wirk-
lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können
glaubt. Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. II
[XVIII]entgegengesetzten Ergebnissen. Den Empirismus in Bezug auf
Wahrnehmung hatte Hume noch vorausgesetzt, in dem Sinne,
als ob Erkenntniss die Wirkung von objectiven Qualitäten und
Zuständen der Dinge auf eine carte blanche der menschlichen
Seele sei; nach Kant ist sie, wenn auch den Dingen ihr
Dasein und Mitwirkung gelassen wird, wesentlich Product
von Thätigkeiten des Subjects, wie das Denken selber. Die
Uebereinstimmung in Bezug auf Wahrheit — so mögen wir
in seinem Sinne erklären — wird bedingt durch die gleiche
Beschaffenheit der Erkenntnissgeräthe, welche, wo es über An-
schauungsformen und Verstandeskategorieen hinausgeht, nichts
als Complexe von Ideen sind, insbesondere die Associationen
von Wahrnehmungen und Vorstellungen mit Namen und Ur-
theilen, so lange als es um Auffassung von Thatsachen sich
handelt. Hingegen, wenn die Ursachen gegebener Effecte
aufgesucht werden, so müssen schon bestimmte Begriffe über
Beschaffenheit der Agentien (Wesen, Dinge oder Kräfte) und
über ihre Art zu wirken vorausgesetzt werden, um aus den
Möglichkeiten die Nothwendigkeiten oder Gewissheiten auszu-
lesen. Diese aber sind nach dem durchgeführten (Hume’schen)
Empirismus nicht anders erreichbar, als durch ein erworbenes
Wissen von regelmässigen zeitlichen Folgen, so dass in der
That alle Zusammenhänge von gleicher Art zuerst lose, end-
lich durch häufige Wiederholung als Gewohnheiten sich be-
festigen und als nothwendige, d. i. als causale, gedeutet werden.
Die Causalität wird hierdurch aus den Dingen herausge-
nommen und in den Menschen versetzt, nicht anders als es
durch Kant geschieht, wenn er sie als Kategorie des Verstan-
des behauptet. Kant aber verwirft die Erklärung, welche
Hume unternommen hatte, aus der blossen individuellen Er-
fahrung. Die Kantische Fassung, in welcher sie aller Er-
fahrung vorausgeht, zeigt in Wahrheit den Weg zu einer
tieferen Erklärung. Denn das psychologische Gesetz, dessen
Entdeckung bei Hume vorliegt, bedarf allerdings der Ergän-
zung und folglich sogar seiner eigenen Begründung durch die
Idee des aus seinem Keime werdenden, mithin mit bestimmten
Anlagen als Kräften und Tendenzen ausgestatteten Geistes.
Das [von] den »consécutions des bétes« das menschliche Denken
sich unterscheidet, kann (in physiologischer Bestimmung) allein
[XIX] aus der Essenz der menschlichen Grosshirnrinde verstanden
werden, vermöge deren eine bestimmte Thätigkeit der Coordi-
nation gefasster Eindrücke nothwendig ist und mit ihrem
Wachsthum sich ausbildet, und ein bestimmtes Verhältniss, in
welches der empfundene innere Gesammtzustand zu diesen
besonderen Empfindungen sich setzt. Denn jener ist das ab-
solute A priori, und er kann nur gedacht werden als die
Existenz der gesammten Natur durch allgemeine und dunkle
Beziehungen auf sich involvirend, von welchen dann einige
durch Entwickelung und Actionen des Gehirnes und der Sinnes-
organe, d. h. des verstehenden (davorstehenden) Geistes, all-
mählich klarer und deutlicher werden. Jede folgende Erfah-
rung, gleich jeder anderen Thätigkeit, geschieht durch das
ganze Wesen mit seinen bis dahin ausgebildeten Organen
dafür; aber hieraus ergibt sich ein regressus in infinitum, zu
den Anfängen des organischen Lebens hinaufführend, welche
auch, als psychische begriffen, die Incorporisirung einer ge-
wissen Erfahrung genannt werden müssen, da jede Thätigkeit
oder Leidenheit (denn Leiden ist nur die andere Art des
Thuns), mithin das Leben selber, Erfahrung ist, wie alle Er-
fahrung Thätigkeit oder Leidenheit ist. Thätigkeit ist die
Veränderung des Organismus; sie hinterlässt irgendwelche
Spuren, sei es in gleicher, in entgegengesetzter oder in in-
differenter Richtung zu der Tendenz seines Wachsthums und
anderen Entwicklung, und dies ist, was als Gedächtniss
verstanden wird, insbesondere sofern es die bleibende Arbeit
und Kraft (denn Kraft ist nur vorräthige Arbeit) sinnlicher,
d. i. schon in Gestalt von coordinirten Complexen, fertiger Em-
pfindungen ist, welche doch selber erst durch Gedächtniss ge-
leistet werden. Jede mögliche Veränderung eines Organes ist
aber allerdings wesentlich bedingt durch den Zusammenhang
und Zustand des bestehenden Organes, inwiefern es dieselbe
anzunehmen geneigt, also wahrscheinlich (likely) ist oder
nicht. In diesem Sinne lehre ich (im zweiten Buche dieser
Schrift) die Einheit und Verschiedenheit von Gefallen, Ge-
wohnheit und Gedächtniss als von elementaren Modificationen
des Willens und geistiger Kraft, in Bezug auf alle men-
tale Production, und diese Ausführung soll auch auf das
Problem des Ursprunges und der Geschichte menschlicher Er-
II*
[XX]kenntniss sich erstrecken. Dies ist mithin nur eine Aus-
legung, theils im Spinozistischen und Schopen-,
hauerischen Sinne, theils mit den Mitteln der diese Philo-
sopheme erläuternden, wie auch durch dieselben verdeutlichten
biologischen Descendenz-Theorie, eine Auslegung des Gedan-
kens, mit welchem Kant die Hume’sche Darstellung wirk-
lich überwunden hat. Weil aber dieselbe richtig ist, so ergibt
sich nicht allein die Thatsache, sondern auch die Ursache,
warum wir ein Seiendes nicht anders denn als wirkend, ein
Geschehendes nicht anders denn als bewirkt denken können;
dies sind ehemalige, ja ewige Functionen, welche in die
Structur unseres Verstandes hineingewachsen sind, und das
Nicht-anders-können ist eine Nothwendigkeit, auf welche darum
unsere Gewissheit sich bezieht, weil thätig sein und ge-
mäss seiner Natur thätig sein, einerlei ist, nach formal iden-
tischem Satze.
Wenn aber wir Menschen eine natürliche Denkgemein-
schaft bilden, insofern als die Causalität uns innewohnt
wie die Sinnesorgane und wir folglich auch nothwendiger
Weise irgendwelche Namen bilden, um Wirkendes und Be-
wirktes zu bezeichnen, so kann die Differenz in Bezug auf die-
selben Vorgänge nur aus dem Denken sich ergeben, welche
Subjecte die wirkenden, also die eigentlich wirklichen (τὰ.
ὄντως ὄντα) Dinge seien, und hierüber gehen allerdings Völker,
Gruppen, Individuen auseinander, wenn auch den Meisten ge-
meinsam bleibt, dass sie die Agentien der Natur nach Art
von Menschen und Thieren in mythologischen und poetischen
Bildern vorstellen, was in den Sprachformen fortwährend sich
ausprägt, obschon die Unterscheidung der todten (als der nur
bewegbaren) und der lebendigen (als der sich selbst bewegen-
den) Massen eine frühe Erwerbung des Denkens gewesen ist.
Ueberwiegend bleibt doch die Anschauung aller Natur als
einer lebendigen, alles Wirkens als eines freiwilligen, an wel-
chem die Götter und Dämonen neben den sichtbaren Subjecten
theilnehmen. Wenn aber so zuletzt die Welt und alle ihre
Schicksale in Haupt und Hand eines einigen Gottes gelegt
werden, welcher sie aus nichts hervorgebracht habe und nach
seinem Wohlgefallen erhalte, ihr Ordnungen und Gesetze ge-
geben habe, nach welchen ihr gesammter Verlauf als regel-
[XXI] mässiger und nothwendiger erscheint; so verschwinden dagegen
alle untergeordneten Willen und Freiheiten in der Natur, so-
gar der freie Wille des Menschen, und nur als unerklärliche
Neigungen und Kräfte werden noch diejenigen Tendenzen ver-
standen, welche nicht aus empfangener anderer Bewegung her-
geleitet werden können; und auch das »liberum arbitrium in-
differentiae« mag alsdann, nicht sowohl als Thatsache der
Erfahrung wie als nothwendige Annahme, um den Allmäch-
tigen und Allwissenden von der Urheberschaft der Verletzung
seiner eigenen Ordnungen zu entlasten, wiederhergestellt wer-
den, selber in Gestalt einer solchen unerklärlichen Kraft und
geheimnissvollen Qualität. Diese ganze Betrachtung, wie auch
die Einzigkeit des göttlichen Willens gehört aber schon einem
Denken an, welches seinen Principien nach dem religiösen
Glauben und volksthümlichen Anschauungen entgegengesetzt
ist, wie sehr es auch noch die Spuren seiner Herkunft aus
diesen Quellen tragen mag. Diese Principien entwickeln sich,
bis sie auf sich selber stehen und gänzlich von ihrem Ur-
sprunge unabhängig zu sein scheinen, mit ihres gleichen sich
begegnend, welche auf den natürlichen Gebieten dieses Den-
kens, von seinen Anfängen her, frei geschaltet haben. Es ist
wissenschaftliches Denken. Dieses hat dort, wo es zu-
erst und am leichtesten in seiner Reinheit erscheint, nicht mit
den Ursachen der Erscheinungen und am wenigsten mit
menschlichem und göttlichem Willen zu thun, sondern es geht
aus den Künsten des Vergleichens und Messens von Grössen
und Mengen, als ihre allgemeine Hülfs-Kunst, die des Rech-
nens hervor, d. i. des Trennens und Zusammensetzens, des
Theilens in gleiche Stücke, der Vervielfältigung gegebener Stücke,
welche Operationen darum so leicht im blossen Gedanken voll-
zogen werden, weil dieser ein geordnetes System von Namen
dafür bereit hat und keine Verschiedenheit der wahrgenom-
menen Objecte die gedachte Setzung gleicher Einheiten als be-
liebig combinirbarer stört. Daher nimmt, sofern doch die
Beherrschung solches Systemes eines Haltes an irgendwelchen
Objecten bedarf, der Rechnende dazu nach Möglichkeit gleiche,
leicht übersehbare, leicht hantirbare, und wenn sie nicht
zur Verfügung stehen, so wird er sie machen und mit solchen
Eigenschaften ausstatten. Denn wenn auch unzählige Körper
[XXII] in der Natur vorhanden sind, die einander nach ihren wahr-
genommenen Qualitäten ähnlich gefunden werden und sind,
in mehr oder minder hohem Grade, so dass der vollkommene
Grad endlich als Gleichheit bezeichnet wird, und wenn
auch diejenige Gleichsetzung eine natürliche ist, durch welche
sie auf einen Namen bezogen werden, so wird doch dieselbe
eine künstliche und gewaltsame in dem Maasse, als sie auf
bewusste und willkürliche Weise Namen bildet, und die ge-
gebenen Unterschiede nicht blos in dieser Beziehung ausser
Acht lässt, sondern sie mit Bedacht aus der Betrachtung aus-
scheidet oder sogar wirklich vernichtet, zu dem bestimmten
Zwecke, eine brauchbare, möglichst vollkommene Gleichheit her-
zustellen. Alles wissenschaftliche Denken, wie das Rechnen,
will aber Gleichheit zum Behufe irgendwelcher Messungen,
da Messung entweder Gleichheit oder das Allgemeine, wovon
Gleichheit ein besonderer Fall ist, nämlich ein exactes Ver-
hältniss ergeben muss, welchem wiederum Gleichheit als
Maasstab dient. So nämlich sind wissenschaftliche Gleichungen
die Maasstäbe, auf welche die wirklichen Verhältnisse zwi-
schen den wirklichen Objecten bezogen werden. Sie dienen
der Ersparung von Gedankenarbeit. Was in unzähligen
Fällen immer von Neuem ausgerechnet werden müsste, wird
an einem ideellen Falle ein für allemal ausgerechnet und be-
darf dann der blossen Anwendung; in Bezug auf den ideellen
Fall sind alle wirklichen Fälle entweder gleich oder stehen
in einem bestimmbaren Verhältnisse zu ihm und folglich zu
einander. So sind allgemeine oder wissenschaftliche Begriffe,
Sätze, Systeme Werkzeugen vergleichbar, durch welche für be-
sondere gegebene Fälle ein Wissen oder wenigstens Vermuthen
erreicht wird; das Verfahren des Gebrauches ist die Einsetzung
der besonderen Namen und aller Bedingungen des gegebenen
für diejenigen des fictiven und allgemeinen Falles: das Ver-
fahren des Syllogismus. Dieses ist in aller angewandten
Wissenschaft mit höchst mannigfacher Ausbildung enthalten
(als das Denken nach dem Satze vom Grunde), wie aller
reinen Wissenschaft die Beziehung auf ein System von Namen
(eine Terminologie), welches auf die einfachste Weise durch
das Zahlensystem dargestellt wird (als das Denken nach dem
Satze der Identität). Denn alle reine Wissenschaft bezieht
[XXIII] sich ausschliesslich auf solche Gedankendinge, dergleichen
das allgemeine Object ist oder die Grösse, wo es sich um
Rechnung schlechthin handelt, oder der ausdehnungslose Punkt,
die gerade Linie, die Ebene ohne Tiefe, die regelmässigen
Körper, wo um die Bestimmung von Verhältnissen der räum-
lichen Erscheinungen. Ebenso werden endlich imaginäre Er-
eignisse der Zeit genommen als Typen wirklicher Ereignisse,
wie der Fall eines Körpers im luftleeren Raume, dessen Ge-
schwindigkeit als in willkürlich gesetzter Zeiteinheit durch-
messene Raumeinheit, als gleiche oder veränderliche, nach ge-
wissen Voraussetzungen berechnet wird. Die Anwendung
gestaltet sich immer um so schwieriger, je mehr der blos
denkbare allgemeine von den wahrnehmbaren besonderen Fällen
verschieden ist, daher je mannigfacher und unregelmässiger
diese sein mögen. Aus der Ansicht getrennter Körper, welche
durch ihre Bewegung in einen momentanen räumlichen Zu-
sammenhang kommen, entspringt aber der wissenschaft-
liche Begriff der Ursache als einer Quantität von ge-
leisteter Arbeit (welche in der Bewegung enthalten ist), die
einer anderen — der Wirkung — gleich und damit vertausch-
bar ist, nach dem Princip der Gleichheit von Action und
Reaction: eine Vorstellung, welche erst ganz und gar sie selber
ist, nachdem aus dem Begriffe der Kraft, welcher sie zu-
nächst umfasst, alle Connotation der Realität und Produc-
tivität entfernt worden ist. Und also entsteht jenes grosse
System der reinen Mechanik, als dessen Anwendungen sodann
alle concreten Naturwissenschaften, zuvörderst Physik und
Chemie sich darstellen müssen.
Indessen neben und in dieser wissenschaftlichen An-
sicht der Causalität erhält und bildet sich aus als ihre letzte
Steigerung und Kritik zugleich, diejenige welche wir die philoso-
phische, aber auch entgegen der mechanischen die organische,
gegen die physikalische die psychologische heissen mögen:
nach welcher vielmehr nichts als productive Kraft vorhanden
ist, die wirkliche und bleibende Einheit eines conservativen
Systems allgemeiner Energie, aus welcher alle ihre Besonder-
heiten als ihre Theile zugleich und Wirkungen hergeleitet
werden sollen. Dem Lebensgesetze des Universums dienen alle
übrigen Naturgesetze, wie dem Lebensgesetze jedes lebendigen
[XXIV] Theiles (eines Individuums oder einer Gattung) die auf Me-
chanik zurückführbaren Gesetze, in welchen es sich verwirk-
licht. Je mehr Wissenschaft einerseits universell wird, an-
dererseits ihre Methoden ausdehnt auf die Organismen, desto
mehr muss sie in diesem Sinne philosophisch werden. Da-
gegen kann auch eine philosophische Naturansicht, deren
Hauptinhalt einfach und nothwendig ist, zu mannigfachen und
relativ-zufälligen Wahrheiten nur hinabführen in dem Maasse,
als sie die Principien der Wissenschaft in sich aufgenommen
hat. Sie muss das Leben und seine Arten an Typen demon-
striren, welche jedoch realen Allgemeinheiten (Ideen) wenigstens
nachgebildet werden, weil alles Leben die Entwicklung des
Allgemeinen zum Besonderen ist.
Alle Wissenschaft und mithin alle Philosophie als
Wissenschaft ist rationalistisch. Ihre Gegenstände sind
Gedankendinge, sind Constructionen. Aber alle Philo-
sophie, mithin Wissenschaft als Philosophie, ist empiris-
tisch: in dem Verstande nach welchem alles Sein als Wir-
ken, Dasein als Bewegung und die Möglichkeit, Wahrschein-
lichkeit, Nothwendigkeit der Veränderungen als eigentliche
Wirklichkeit aufgefasst werden muss, das Nicht-Seiende (τὸ
μὴ ὄν) als das wahrhaft Seiende, also durch und durch auf
dialektische Weise. Die empiristische und die dialektische
Methode fordern und ergänzen einander. Beide haben es mit
lauter Tendenzen zu thun, sich begegnenden, bekämpfenden,
verbindenden, welche doch zuletzt nur als psychologische Rea-
litäten begriffen werden können oder vielmehr bekannt sind.
Denn da wir den menschlichen Willen als unsern eignen
wissen und die Geschicke des menschlichen Lebens als ein
Ganzes aus solchen Willen, wenn auch in fortwährender und
strenger Bedingtheit durch die übrige Natur, so finden sie erst
in der menschlichen generellen und individuellen Psycho-
logie ihre Bewährung. Die Thatsachen der generellen Psy-
chologie sind die historische und actuelle Cultur, d. i. mensch-
liches Zusammenleben und seine Werke.
Geschichte für sich allein als eine Sammlung von That-
sachen ist weder Wissenschaft noch Philosophie. Aber sie
ist beides zugleich, sofern in ihr die Lebensgesetze der Mensch-
heit entdeckt werden mögen. Sie ist ein Ganzes von Ereig-
[XXV] nissen, dessen Anfang und Ende nur höchst unbestimmten
Vermuthungen offen liegt. Die Zukunft ist uns beinahe nicht
dunkler als die Vergangenheit. Was wir als Gegenwart
empfinden, müssen wir zuerst beobachten und zu verstehen
uns bemühen. Aber ein grosser Theil der ernsten und ach-
tungswerthen Arbeiten, welche in dieses Gebiet, welches so offen-
bar und so geheimnissvoll ist wie die Natur selber, sich hinein-
begeben haben, wird in seinem Werthe oft beeinträchtigt durch
die Schwierigkeiten eines unbefangenen und genauen theore-
tischen Verhaltens in solcher Beziehung. Das Subject steht
den Gegenständen seiner Betrachtung allzu nahe. Es gehört
viele Anstrengung und Uebung, vielleicht sogar eine natürliche
Kälte des Verstandes dazu, um solche Phänomene mit derselben
sachlichen Gleichgültigkeit ins Auge zu fassen, mit welcher
der Naturforscher die Processe des Lebens einer Pflanze oder
eines Thieres verfolgt. Und selbst das gelehrte und kritische
Publicum will in der Regel nicht erfahren, wie nach der An-
sicht eines Schriftstellers die Dinge sind, geworden sind und
werden, sondern lieber wie sie nach seiner Ansicht sein
sollen; denn man ist ja gewohnt, zu sehen, dass nach dieser
jene sich richtet, was bis zu einer gewissen Grenze unver-
meidlich sein mag, aber man gewahrt nicht, dass die ge-
flissentliche Vermeidung dieser Gefahr den wissenschaftlichen
Habitus bildet. Man erwartet und fordert beinahe den Stand-
punkt und die heftige Rhetorik einer Partei, anstatt der ge-
lassenen Logik und Ruhe des unparteiischen Zuschauers. So
wird denn in der heutigen und besonders in der deutschen
Social-Wissenschaft ein Kampf von Richtungen auf die
Fundamente der Theorie bezogen, welche man als entgegengesetzte
Tendenzen in den Verhandlungen über Praxis und Gesetz-
gebung sich wohl gefallen lässt, wo denn die Vertreter streiten-
der Interessen und Classen mit grösserer oder geringerer
bona fides als Vertreter entgegengesetzter Ueberzeugungen
und Doctrinen, gleichsam als technologischer Principien der
Politik sich bekennen mögen. Auch haben diese Differenzen
hier und da einen tieferen Grund in der Sphäre moralischer
Empfindungen und Neigungen des Subjectes, welche so wenig
als andere Leidenschaften den objectiven Anblick der Dinge
stören dürfen. Uebrigens aber erscheint mir die Wichtigkeit,
[XXVI] welche (um das bedeutendste Beispiel zu geben) dem Anta-
gonismus der Lehren des individualistischen und des
socialistischen Typus für die Erkenntniss und Theorie
der wirklichen Thatsachen des gegenwärtigen Productions- und
Handelswesens beigelegt wird, ähnlich als ob die Mediciner
den Widerspruch alloiopathischer und homöopathischer Heil-
methode in die Physiologie übertragen wollten. Es gilt viel-
mehr, von dem Qualme aller solcher Ueberlieferungen sich zu
befreien; es gilt, sich völlig ausserhalb der Dinge hinzustellen
und wie mit Teleskop und Mikroskop Körper und Bewegungen
zu beobachten, welche innerhalb der Cultur so weit von ein-
ander verschieden sind, auf der einen Seite nur ganz im All-
gemeinen und Grossen, auf der anderen ganz im Kleinen und
Besonderen erforschbar, wie in Natura rerum die Bahnen der
Himmelskörper und hingegen Theile und Lebensprocesse des
elementaren Organismus. Für die universale Betrachtung ist
die Geschichte selber nichts als ein Stück der Schicksale
eines Planeten und bildet einen Abschnitt in der durch zu-
nehmende Abkühlung möglich gewordenen Entwicklung des
organischen Lebens. Für die engste Betrachtung ist sie die
Umgebung und Bedingung meines täglichen Lebens, Alles, was
als der Menschen Thun und Treiben vor meinen Augen und
Ohren sich vollzieht. Diese Betrachtungen versucht die empi-
rische und dialektische Philosophie in einen einzigen Brenn-
punkt zu bringen. Die Nothwendigkeiten des Lebens, die
Leidenschaften und Thätigkeiten der menschlichen Natur, sind
in ihrem Grundbestande dort und hier dieselben. Auf ihre
Allgemeinheit beziehen sich auch, aber zunächst ohne alle
zeitliche und örtliche Bestimmung, die rationalen Disci-
plinen, welche von der natürlichen Voraussetzung durchaus ge-
trennter und je für sich auf vernünftige Weise strebender
(willkürlicher) Individuen aus theils die ideellen Verhältnisse
und Verbindungen ihrer Willen, theils die Veränderungen ge-
gebener Vermögens-Zustände durch solche Berührungen im
Verkehr, zu bestimmen unternommen haben. Jene, den for-
malen Consequenzen solcher Beziehungen zugewandt, ist die
reine Rechtswissenschaft (das Naturrecht), welche mit der Geo-
metrie, diese, ihrer materiellen Beschaffenheit sich widmend,
[XNVII[XXVII]] die politische Oekonomie, welche mit der abstracten Mechanik
verglichen werden kann. Ihre Anwendungen gehen auf die
Bedingungen der socialen Wirklichkeit ein und erweisen sich
um so fruchtbarer für Verständniss und Behandlung derselben,
je mehr ent- und verwickelt die Geschäfte und Verhältnisse
der Menschen durch Cultur geworden sind. Dennoch hat fast
alle bisherige «organische» und «historische» Ansicht sich beiden
verneinend entgegengestellt. Die gegenwärtige Theorie versucht sie
in sich aufzunehmen und von sich abhängig zu erhalten. Aber
in dieser wie in jeder anderen Hinsicht hat sie nur in Skizzen
sich anzudeuten vermocht. Die Complicationen des Gegen-
standes sind überwältigend. Gegebene schematische Gedanken-
bildungen müssen nicht so sehr darauf angesehen werden,
wie sehr sie richtig, als wie sehr sie brauchbar sind. Dies
wird aber nur zukünftige Ausführung bewähren können, wozu
ich mir Kraft und Ermuthigung wünsche. Für missverständ-
liche Auslegungen, sich klug dünkende Nutzanwendungen halte
ich mich nicht verantwortlich. Leute, die an begriffliches
Denken nicht gewöhnt sind, sollen sich des Urtheiles in solchen
Dingen enthalten. Aber diese Enthaltsamkeit darf fast noch
weniger als irgendwelche andere im gegenwärtigen Zeitalter
erwartet werden.
Ich könnte leicht ein besonderes Capitel schreiben über
die Einflüsse, denen ich die Förderung meiner Gedanken
schuldig bin. In der eigentlichen Socialwissenschaft sind die-
selben mannigfach. Einige der bedeutendsten Namen treten
in gelegentlichen Citaten auf. Erwähnen will ich aber auch,
dass die grossen sociologischen Werke A. Comte’s und Her-
bert Spencer’s mich oft auf meinen Wegen begleitet haben, von
welchen jenes mehr in den praehistorischen Grundlagen, dieses
in der historischen Ansicht seine Schwäche hat, welche aber
beide auf zu einseitige Weise die Entwicklung der Menschheit
als durch ihren intellectuellen Fortschritt unmittelbar bedingt
darstellen (wenn auch Comte in seinem späteren Werke die
tiefere Betrachtung gewonnen hat). Erwähnen will ich ferner,
dass ich die energischen Bemühungen der Herren A. Schaeffle
und A. Wagner und ihre bedeutenden Bücher mit Eifer ver-
folgt habe und ferner verfolge, welche jedoch beide, soviel ich
[XXVIII] sehe, mit den tiefen politischen Einsichten des Rodbertus sonst
übereinstimmend, weniger als dieser den (durch allen theoretischen
und gesetzgeberischen guten Willen nur modificirbaren) patholo-
gischen Gang der modernen Gesellschaft zu erkennen scheinen.
Uebrigens aber verhehle ich nicht, dass meine Betrachtung die
tiefsten Eindrücke, anregende, belehrende, bestätigende, aus den
unter sich gar sehr verschiedenen Werken dreier ausgezeich-
neter Autoren empfangen hat, nämlich: 1) Sir Henry Maine’s
(Ancient Law, Village Communities in the East and West, The
Early History of Institutions, Early Law and Custom), des
philosophischen Rechtshistorikers von weitestem Horizonte, an
dessen lichtvollen Aperçus nur zu bedauern ist, dass er den
ungemeinen Aufschlüssen, welche von Bachofen (das Mutter-
recht) bis auf Morgan (Ancient Society) und ferner, in die
Urgeschichte der Familie, des Gemeinwesens und aller In-
stitutionen eingedrungen sind, einen ungerechten Widerstand
entgegensetzt; denn die optimistische Beurtheilung der modernen
Zustände halte ich ihm zu gute; 2) O. Gierke’s (das deutsche
Genossenschaftsrecht, 3 Bände, dazu «Johannes Althusius» und
mehrere Aufsätze in Zeitschriften), dessen Gelehrsamkeit mir
immer neue Bewunderung, dessen Urtheil immer neue Achtung
einflösst, so wenig ich die für mich wichtigste (ökonomistische)
Ansicht in seinen Schriften antreffe; 3) des eben in diesem
Bezuge merkwürdigsten und tiefsten Social-Philosophen Karl
Marx (Zur Kritik der politischen Oekonomie, das Kapital),
dessen Namen ich um so lieber hervorhebe, da ihm die angeb-
liche utopistische Phantasie, in deren definitive Ueberwindung
er seinen Stolz gesetzt hat, auch von Tüchtigen nicht verziehen
wird (dass aber der Denker an den praktischen Arbeiter-
bewegungen einen Antheil genommen hat, geht doch seine Kri-
tiker nichts an; wenn sie dies für unmoralisch halten, wer
kümmert sich um ihre Immoralitäten?). Der Gedanke, wel-
chen ich für mich auf diese Weise ausdrücke: dass die natür-
liche und (für uns) vergangene, immer aber zu Grunde liegende
Constitution der Cultur communistisch ist, die actuelle und
werdende socialistisch, ist, wie ich glaube, jenen echten Histo-
rikern, wo sie sich selber am schärfsten verstehen, nicht
fremd, wenn auch nur der Entdecker der kapitalistischen
[XXIX] Productionsweise ihn auszuprägen, deutlich zu machen ver-
mocht hat. Ich sehe darin einen Zusammenhang von That-
sachen, der so natürlich ist, wie Leben und Sterben. Mag
ich des Lebens mich freuen, das Sterben beklagen: Freude
und Traurigkeit vergehen über der Anschauung göttlicher Schick-
sale. Ganz und gar allein stehe ich mit Terminologie und De-
finitionen. Man versteht aber leicht: es gibt keinen Indivi-
dualismus in Geschichte und Cultur, ausser wie er ausfliesst
aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er
Gesellschaft hervorbringt und trägt. Solches entgegengesetzte
Verhältniss des einzelnen Menschen zur Menschheit ist das
reine Problem.
Da ich dieses Gedankens als meines eigenen gewiss
bin, so brauche ich für die Hauptsache an diesem höchst un-
vollkommenen Werke keine Kritik zu fürchten. Meiner persön-
lichen Empfindung werden persönliche Mittheilungen bekannter
oder unbekannter Leser angelegener sein, welche etwa in
irgendwelchem sympathischen Sinne sich berührt oder gefördert
finden. Hieraus kann sich Vieles ergeben: für mich wenig-
stens Lohn und neue Anregung. Denn es bleibt dabei, so
sehr man um Wahrheit sich Mühe geben mag: »Alles, was
Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an,
und wir wissen nur zu sehr, dass die Ueberzeugung nicht
von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt, dass nie-
mand etwas begreift, als was ihm gemäss ist und was er
deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im Handeln ent-
scheidet das Vorurtheil Alles, und das Vorurtheil, wie sein
Name wohl bezeichnet, ist ein Urtheil vor der Untersuchung.
Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unserer
Natur entspricht oder ihr widerspricht; es ist ein freudiger
Trieb unseres lebendigen Wesens nach dem Wahren, wie nach
dem Falschen, nach Allem, was wir mit uns im Einklange
fühlen.« (Goethe Farbenlehre, polem. Theil WW. 38, S. 16.)
In Betreff des Zweiten Buches muss ich anmerken, dass
dasselbe in systematischem Gange seine richtigere Stelle vor
dem Ersten haben würde. Mit Willen habe ich diese Ord-
nung vorgezogen. Beide ergänzen und erklären einander
wechselsweise. Sodann habe ich, einem Versprechen gemäss,
[XXX] hinzuzufügen, dass ein erster Entwurf dieser Schrift (wovon
jedoch kaum eine Spur übrig geblieben ist) im Jahre 1881
der philosophischen Facultät der Kieler Universität zum Behufe
meiner Habilitation vorgelegen hat.
Husum in Schleswig-Holstein.
F. T.
Geschrieben zu Obermais bei Meran im Februar 1887.
ERSTES BUCH.
ALLGEMEINE BESTIMMUNG DES
GEGENSATZES.
pulcherrimum carmen ex quibusdam
quasi antithetis honestavit.
Augustin. civ. D. XI. 18.’
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 1
[[2]][[3]]
THEMA.
§ 1.
Die menschlichen Willen stehen in vielfachen Be-
ziehungen zu einander; jede solche Beziehung ist eine
gegenseitige Wirkung, welche insofern, als von der einen
Seite gethan oder gegeben, von der anderen erlitten oder
empfangen wird. Diese Wirkungen sind aber entweder so
beschaffen, dass sie zur Erhaltung, oder so, dass sie zur Zer-
störung des anderen Willens und Leibes tendiren: bejahende
oder verneinende. Auf die Verhältnisse gegenseitiger Be-
jahung wird diese Theorie als auf die Objecte ihrer Unter-
suchung gerichtet sein. Jedes solches Verhältniss stellt
Einheit in der Mehrheit oder Mehrheit in der Einheit dar.
Es besteht aus Förderungen, Erleichterungen, Leistungen,
welche hinüber und herüber gehen, und als Ausdrücke der
Willen und ihrer Kräfte betrachtet werden. Die durch
dieses positive Verhältniss gebildete Gruppe heisst, als ein-
heitlich nach innen und nach aussen wirkendes Wesen oder
Ding aufgefasst, eine Verbindung. Das Verhältniss selber,
und also die Verbindung wird entweder als reales und
organisches Leben begriffen — dies ist das Wesen der
Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung
— dies ist der Begriff der Gesellschaft. Durch die An-
wendung wird sich herausstellen, dass die gewählten Namen
im synonymischen Gebrauche deutscher Sprache begründet
sind. Aber die bisherige wissenschaftliche Terminologie
1*
[4] pflegt sie ohne Unterscheidung nach Belieben zu verwechseln.
So mögen doch im Voraus einige Anmerkungen den Gegen-
satz als einen gegebenen darstellen. Alles vertraute, heim-
liche, ausschliessliche Zusammenleben (so finden wir) wird
als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die
Oeffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den
Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem
Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesell-
schaft wie in die Fremde. Der Jüngling wird gewarnt vor-
schlechter Gesellschaft; aber schlechte Gemeinschaft ist dem
Sprachsinne zuwider. Von der häuslichen Gesellschaft mögen
wohl die Juristen reden, weil sie nur den gesellschaftlichen
Begriff einer Verbindung kennen; aber die häusliche Ge-
meinschaft mit ihren unendlichen Wirkungen auf die
menschliche Seele wird von Jedem empfunden, der ihrer
theilhaftig geworden ist. Ebenso wissen wohl die Getrauten,
dass sie in die Ehe als vollkommene Gemeinschaft des
Lebens (κοινωνία παντὸς τοῦ βίου, communio totius vitae)
sich begeben; eine Gesellschaft des Lebens widerspricht
sich selber. Man leistet sich Gesellschaft; Gemeinschaft
kann Niemand dem Anderen leisten. In die religiöse
Gemeinschaft wird man aufgenommen; Religions-Gesell-
schaften existiren nur, gleich anderen Vereinigungen zu
beliebigem Zwecke, für den Staat und die Theorie, welche
ausserhalb ihrer stehen. Gemeinschaft der Sprache, der
Sitte, des Glaubens; aber Gesellschaft des Erwerbes, der
Reise, der Wissenschaften. So sind insonderheit die Handels-
gesellschaften bedeutend; wenn auch unter den Subjecten
eine Vertraulichkeit und Gemeinschaft vorhanden sein mag,
so kann man doch von Handels-Gemeinschaft nicht reden.
Vollends abscheulich würde es sein, die Zusammensetzung
Actien-Gemeinschaft zu bilden. Während es doch Gemein-
schaft des Besitzes gibt: an Acker, Wald, Weide. Die
Güter-Gemeinschaft zwischen Ehegatten wird man nicht
Güter-Gesellschaft nennen. So ergeben sich manche Diver-
genzen. Im allgemeinsten Sinne wird man wohl von einer
die gesammte Menschheit umfassenden Gemeinschaft
reden, wie es die Kirche sein will. Aber die menschliche
Gesellschaft wird als ein blosses Nebeneinander von einander
[5] unabhängiger Personen verstanden. Wenn man daher neuer-
dings, in wissenschaftlichem Begriffe, von der Gesellschaft
innerhalb eines Landes, im Gegensatze zum Staate, handelt,
so wird dieser Begriff aufgenommen werden, aber erst in
dem tieferen Widerspruch gegenüber den Gemeinschaften
des Volkes seine Erläuterung finden. Gemeinschaft ist alt,
Gesellschaft neu, als Sache und Namen. Dies hat ein Autor
erkannt, der sonst nach allen Seiten die politischen Dis-
ciplinen lehrte, ohne in ihre Tiefen einzudringen. »Der
ganze Begriff der Gesellschaft im socialen und politischen
Sinne (sagt BluntschliStaatswörterb. IV) findet seine
natürliche Grundlage in den Sitten und Anschauungen des
dritten Standes. Er ist eigentlich kein Volks-Begriff,
sondern immerhin nur ein Drittenstands-Begriff .... seine
Gesellschaft ist zu einer Quelle und zugleich zum Ausdruck
gemeinsamer Urtheile und Tendenzen geworden .... wo
immer die städtische Cultur Blüthen und Früchte trägt, da
erscheint auch die Gesellschaft als ihr unentbehrliches Organ.
Das Land kennt sie nur wenig.« Dagegen hat aller Preis
des Landlebens immer darauf gewiesen, dass dort die
Gemeinschaft unter den Menschen stärker, lebendiger sei:
Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben,
Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und
dem ist es gemäss, dass Gemeinschaft selber als ein leben-
diger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat
und Artefact verstanden werden soll.
§ 2.
Alles Wirkliche ist organisch insofern, als es nur im
Zusammenhange mit der gesammten Wirklichkeit, welche
seine Beschaffenheit und seine Bewegungen bestimmt, ge-
dacht werden kann. So macht die Anziehung in ihren
mannigfachen Erscheinungen das unserer Kenntniss zugäng-
liche Universum zu einem Ganzen, dessen Action in den
Bewegungen, durch welche je zwei Körper ihre gegenseitige
Lage verändern, sich ausdrückt. Aber für die wissenschaft-
liche Wahrnehmung und darauf beruhende Ansicht muss
ein Ganzes begrenzt sein, um zu wirken, und ein jedes
[6] solches Ganzes wird gefunden als aus kleineren Ganzen
zusammengesetzt, die eine gewisse Richtung und Geschwin-
digkeit der Bewegung in Bezug auf einander haben; die
Anziehung selber bleibt entweder (als Wirkung in die Ferne)
unerklärt, oder wird als mechanische Wirkung (durch äussere
Berührung), wenn auch auf unbekannte Weise, vor sich
gehend gedacht. Nach diesem Sinne zerfallen (wie bekannt
ist) die körperlichen Massen in gleichartige, mit grösserer
oder geringerer Energie sich anziehende Molekel, deren
Aggregat-Zustände die Körper sind; die Molekel werden
in ungleichartige (chemische) Atome geschieden, deren Un-
gleichheit auf verschiedenen Lagerungen gleicher Atomtheile
zurückzuführen, fernerer Analyse vorbehalten bleibt. Die
theoretische reine Mechanik aber statuirt nur ausdehnungs-
lose Kraftcentren als Subjecte der wirklichen Actionen und
Reactionen, deren Begriff mit demjenigen metaphysischer
Atome übereinkommt. Hierdurch wird alle Perturbation
der Rechnung durch die Bewegungen oder Bewegungsten-
denzen der Theile ausgeschlossen. Für die Anwendung aber
dienen die physikalischen Molekel in Bezug auf denselben
Körper, als ihr System, da sie als von gleicher Grösse und
ohne Rücksicht auf ihre mögliche Theilung betrachtet wer-
den, in ebenso geeigneter Weise als Kraftträger, als Stoff
schlechthin. Alle wirklichen Massen aber sind als Gewichte
vergleichbar, und werden als Mengen eines bestimmten
gleichen Stoffes ausgedrückt, indem ihre Theile als im voll-
kommen festen Aggregatzustande befindlich gedacht werden.
In jedem Falle ist die Einheit, welche als Subject einer
Bewegung oder als integrirender Theil eines Ganzen (einer
höheren Einheit) vorgestellt wird, Product einer wissen-
schaftlich nothwendigen Fiction. Im strengen Sinne können
nur die letzten Einheiten, metaphysische Atome, als ihre
adäquaten Repräsentanten gelten: Etwasse, welche Nichtse,
oder Nichtse, welche Etwasse sind; wobei man doch der
blos relativen Bedeutung aller Grössen-Vorstellungen ein-
gedenk ist. In Wahrheit aber gibt es, wenn auch als Ano-
malie für die mechanische Ansicht, ausser diesen zusammen-
setzbaren und sich zusammensetzenden Partikeln eines als
tot begriffenen Stoffes, Körper, welche durch ihr gesammtes
[7] Dasein als natürliche Ganze erscheinen und welche als
Ganze Bewegung und Wirkungen haben in Bezug auf ihre
Theile: die organischen Körper. Zu diesen gehören wir
am Erkennen uns versuchende Menschen selber, von denen
jeder ausser der vermittelten Kenntniss aller möglichen
Körper eine unmittelbare seines eigenen hat. Durch un-
vermeidliche Schlüsse erfahren wir, dass mit jedem leben-
digen Körper ein psychisches Leben verbunden ist, wodurch
er auf dieselbe Weise an und für sich vorhanden ist, wie
wir uns selber wissen. Aber die objective Betrachtung lehrt
nicht minder auf deutliche Weise: dass hier jedesmal ein
Ganzes gegeben ist, welches nicht von den Theilen zusammen-
gesetzt wird, sondern sie als von sich abhängige und durch
sich bedingte hat; dass also es selber, als Ganzes, mithin
als Form, wirklich und substantiell ist. Menschliche Kunst
vermag nur unorganische Dinge aus unorganischen Stoffen
hervorzubringen, sie theilend und wiederum verbindend.
Zur Einheit gemacht werden auf diese Weise auch die Dinge
durch wissenschaftliche Operationen und sind es in Begriffen.
Naive Anschauung und künstlerische Phantasie, volklicher
Glaube und begeisterte Dichtung gestalten die Erscheinungen
zu lebendigen; das Künstlich-Thätige, nämlich Fingiren, hat
Wissenschaft damit gemein. Aber sie macht auch das Leben-
dige tot, um seine Verhältnisse und Zusammenhänge zu
erfassen; sie macht alle Zustände und Kräfte zu Bewegungen,
stellt alle Bewegungen dar als Mengen geleisteter Arbeit
und das ist ausgegebener Arbeitskraft oder Energie; um alle
Vorgänge als gleichartig zu begreifen und als auf gleiche
Weise in einander verwandelbar an einander zu messen.
Dies ist so wahr, als die angenommenen Einheiten wahr
sind, und als in der That das Feld der Möglichkeit als
des Denkbaren grenzenlos ist; der Zweck des Begreifens
wird dadurch erfüllt und andere Zwecke, welchen dieser
dienstbar wird. Aber die Tendenzen und Nothwendigkeiten
des organischen Werdens und Vergehens können nicht durch
mechanische Mittel verstanden werden. Hier ist der Begriff
selber eine Realität, lebendig, sich verändernd und sich ent-
wickelnd, als Idee des individuellen Wesens. Wenn hier
Wissenschaft hineingreift, so verwandelt sie ihre eigene
[8] Natur, wird aus discursiver und rationaler zu intuitiver
und dialektischer Ansicht; und dies ist Philosophiren. Aber
nicht um Gattungen und Arten, also nicht in Bezug auf
Menschen um Race, Volk, Stamm, als biologische Ein-
heiten soll die gegenwärtige Betrachtung sich bewegen;
sondern der sociologische Sinn, in welchem die mensch-
lichen Gruppen als lebendige oder hingegen als blosse Arte-
facte gedacht werden, hat Gegenbild und Analogie in der
Theorie des individualen Willens; und das psycholo-
gische Problem in diesem Sinne darzustellen, wird das
Zweite Buch dieser Abhandlung sich zum Vorwurfe nehmen.
[[9]]
ERSTER ABSCHNITT.
THEORIE DER GEMEINSCHAFT.
§ 1.
Die Theorie der Gemeinschaft geht solchen Be-
stimmungen gemäss von der vollkommenen Einheit mensch-
licher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zu-
stande aus, welcher trotz der empirischen Trennung und durch
dieselbe hindurch, sich erhalte, je nach der nothwendigen
und gegebenen Beschaffenheit der Verhältnisse zwischen ver-
schieden bedingten Individuen mannigfach gestaltet. Die
allgemeine Wurzel dieser Verhältnisse ist der Zusammenhang
des vegetativen Lebens durch die Geburt; die Thatsache, dass
menschliche Willen, insofern als jeder einer leiblichen Con-
stitution entspricht, durch Abstammung und Geschlecht
mit einander verbunden sind und bleiben, oder nothwendiger
Weise werden; welche Verbundenheit als unmittelbare gegen-
seitige Bejahung in der am meisten energischen Weise sich
darstellt durch drei Arten von Verhältnissen; nämlich 1)
durch das Verhältniss zwischen einer Mutter und ihrem Kinde;
2) durch das Verhältniss zwischen Mann und Weib als Gatten,
wie dieser Begriff im natürlichen oder allgemein-animalischen
Sinne zu verstehen ist; 3) zwischen den als Geschwister, d. i.
[10] zum wenigsten als Sprossen desselben mütterlichen Leibes
sich Kennenden. Wenn in jedem Verhältnisse von Stamm-
verwandten zu einander der Keim oder die in den Willen
begründete Tendenz und Kraft zu einer Gemeinschaft vor-
gestellt werden mag, so sind jene drei die stärksten oder am
meisten der Entwicklung fähigen Keime von solcher Be-
deutung. Jedes aber auf besondere Weise: A) das mütter-
liche ist am tiefsten in reinem Instincte oder Gefallen
begründet; auch ist hier der Uebergang von einer zugleich
leiblichen zu einer blos geistigen Verbundenheit gleichsam
handgreiflich; und diese weist um so mehr auf jene zurück,
je näher sie ihrem Ursprunge ist; das Verhältniss bedingt
eine lange Dauer, indem der Mutter die Ernährung, Be-
schützung, Leitung des Geborenen obliegt, bis es sich allein
zu ernähren, zu beschützen, zu leiten fähig ist; zugleich
aber verliert es in diesem Fortschreiten an Nothwendigkeit,
und macht Trennung wahrscheinlicher; diese Tendenz kann
aber wiederum durch andere aufgehoben oder doch gehemmt
werden, nämlich durch die Gewöhnung an einander und
durch Gedächtniss der Freuden, die sie einander gewährt
haben, zumal durch die Dankbarkeit des Kindes für mütter-
liche Sorgen und Mühen; zu diesen unmittelbaren gegen-
seitigen Beziehungen treten aber gemeinsame und indirect
verbindende zu Gegenständen ausser ihnen hinzu: Lust,
Gewohnheit, Erinnerung an Dinge der Umgebung, die ur-
sprünglich angenehm oder angenehm geworden sind; so
auch an bekannte, hülfreiche, liebende Menschen; als der
Vater sein mag, wenn er mit dem Weibe zusammenlebt,
oder Brüder und Schwestern, der Mutter oder des Kindes
u. s. w. B) Der Sexual-Instinct macht nicht ein irgend-
wie dauerndes Zusammenleben nothwendig; auch führt
er zunächst nicht so leicht zu einem gegenseitigen Verhält-
nisse, als zu einseitiger Unterjochung des Weibes, welches,
von Natur schwächer, zum Gegenstande des blossen Be-
sitzes oder zur Unfreiheit herabgedrückt werden kann.
Daher muss das Verhältniss zwischen Gatten, wenn es
unabhängig von der es etwa involvirenden Stammes-Ver-
wandtschaft und von allen darin beruhenden socialen Kräften
betrachtet wird, hauptsächlich durch Gewöhnung an ein-
[11] ander unterstützt werden, um als ein dauerndes und zugleich
gegenseitiger Bejahung sich zu gestalten. Hierzu kommen,
auf eine verständliche Weise, die übrigen schon erwähnten
Factoren der Befestigung; besonders das Verhältniss zu den
erzeugten Kindern als gemeinsamem Besitze. C) Zwischen
Geschwistern herrscht kein so ursprüngliches und in-
stinctives Gefallen und keine so natürliche Erkenntniss von
einander, als zwischen der Mutter und ihrem Kinde, oder
zwischen verwandten Wesen ungleichen Geschlechtes. Zwar
kann dieses letztere Verhältniss mit dem geschwisterlichen
zusammenfallen, und es gibt vielen Grund, für wahr
zu halten, dass dieses in einer frühen Epoche des Menschen-
thums bei manchen Stämmen ein häufiger Fall gewesen ist;
wobei jedoch erinnert werden muss, dass dort, und gerade
so lange, als die Abstammung nur nach der Mutter gerechnet
wird, Name und Empfindung des Geschwisterthums auf die
gleichen Grade der Vetterschaft ausgedehnt sich findet, so
allgemein, dass der beschränkte Sinn, wie in vielen anderen
Fällen, erst einer späten Conception eigen ist. Jedoch
durch eine gleichmässige Entwicklung in den bedeutendsten
Völkergruppen, schliessen Ehe und Geschwisterthum, sodann
(in der exogamischen Praxis) zwar nicht Ehe und Bluts-
verwandtschaft, aber doch Ehe und Clanverwandtschaft, ein-
ander vielmehr mit voller Bestimmtheit aus; und so darf die
schwesterlich-brüderliche Liebe als die am meisten mensch-
liche und doch in der Blutsverwandtschaft noch durchaus
beruhende Beziehung von Menschen auf einander, hingestellt
werden. Dieses thut sich — in Vergleichung zu den beiden
anderen Arten der Verhältnisse — auch darin kund, dass
hier, wo der Instinct am schwächsten, das Gedächtniss
am stärksten zur Entstehung, Erhaltung, Befestigung des
Bandes der Herzen mitzuwirken scheint. Denn wenn es
gegeben ist, dass (wenigstens) die Kinder derselben Mutter,
weil mit der Mutter, so auch mit einander zusammenleben
und bleiben, so verbindet sich — wenn von allen solche
Tendenzen hemmenden Ursachen der Feindseligkeit abge-
sehen wird — nothwendiger Weise, in der Erinnerung des
einen, mit allen angenehmen Eindrücken, Erlebnissen, die
Gestalt und das Thun des anderen; und zwar um so eher
[12] und stärker, je enger, und etwa auch, je mehr nach aussen
hin gefährdet, diese Gruppe gedacht wird, und folglich alle
Umstände auf ein Zusammenhalten und gemeinsames Kämpfen
und Wirken hindrängen. Woraus dann wiederum Gewohn-
heit solches Leben immer leichter und lieber macht. Zu-
gleich darf unter Brüdern auch, in möglichst hohem Grade,
Gleichheit des Wesens und der Kräfte erwartet werden,
wogegen dann die Differenz des Verstandes oder der Er-
fahrung, als der rein menschlichen oder mentalen Momente,
um so heller sich abheben kann.
§ 2.
Manche andere, fernere Beziehungen knüpfen sich
an diese ehesten und nächsten Arten an. In dem Verhältniss
zwischen Vater und Kindern finden sie ihre Einheit und
Vollendung. In der bedeutendsten Hinsicht der ersten Art
ähnlich, nämlich durch die Beschaffenheit der organischen
Basis (welche hier das vernünftige Wesen mit den Sprossen
seines eigenen Leibes verbunden hält) weicht es durch die
viel schwächere Natur des Instinctes von ihm ab, und nähert
sich dem des Gatten zur Gattin, wird daher auch leichter
als eine blosse Macht und Gewalt über Unfreie empfunden;
während aber die Neigung des Gatten, mehr der Dauer
nach, als der Heftigkeit nach, geringer ist als die mütter-
liche, so ist von dieser die des Vaters eher in umgekehrter
Weise verschieden. Und so ist sie, wenn in einiger Stärke
vorhanden, durch ihre mentale Natur der Geschwisterliebe
ähnlich; vor welchem Verhältniss aber dieses durch die
Ungleichheit des Wesens (insonderheit Alters) und der
Kräfte — welche hier noch völlig die des Geistes involvirt
— in deutlicher Weise sich auszeichnet. So begründet das
Vaterthum am reinsten die Idee der Herrschaft im
gemeinschaftlichen Sinne: wo sie nicht Gebrauch und Ver-
fügung zum Nutzen des Herren bedeutet, sondern Erziehung
und Lehre als Vollendung der Erzeugung; Mittheilung aus
der Fülle des eigenen Lebens, welche erst in allmählich
zunehmender Weise durch die Heranwachsenden erwidert
werden und so ein wirklich gegenseitiges Verhältniss be-
gründen kann. Hier hat der erstgeborene Sohn den natür-
[13] lichen Vorzug: er steht dem Vater am nächsten und rückt
in die leer werdende Stelle des Alternden ein; auf ihn
beginnt daher schon mit seiner Geburt die vollkommene
Macht des Vaters überzugehen, und so wird durch ununter-
brochene Reihenfolge von Vätern und Söhnen die Idee eines
immer erneuten Lebensfeuers dargestellt. — Wir wissen,
dass diese Regel der Erbschaft nicht die ursprüngliche ge-
wesen ist, wie denn auch dem Patriarchat die mütterliche
Herrschaft und die des mütterlichen Bruders vorauszugehen
scheint. Aber weil die Herrschaft des Mannes in Kampf
und Arbeit als die zweckmässigere sich bewährt, und weil
durch Ehe die Vaterschaft zur Gewissheit einer natürlichen
Thatsache sich erhebt: so ist die väterliche Herrschaft all-
gemeine Form des Cultur-Zustandes. Und wenn der Primo-
genitur die collaterale Succession (das System der »Tanistry«)
an Alter und Rang überlegen ist, so bezeichnet diese nur
die fortgesetzte Wirkung einer früheren Generation: der
succedirende Bruder leitet sein Recht nicht von dem Bruder,
sondern von dem gemeinsamen Vater ab.
§ 3.
In jedem Zusammenleben findet oder entwickelt sich,
allgemeinen Bedingungen gemäss, irgendwelche Verschieden-
heit und Theilung des Genusses und der Arbeit, und ergibt
eine Reciprocität derselben. Sie ist in dem ersten jener
drei Urverhältnisse am meisten unmittelbar gegeben; und
hier überwiegt die Seite des Genusses die der Leistung.
Das Kind geniesst des Schutzes, der Nahrung und Unter-
weisung; die Mutter der Freude am Besitze, später des
Gehorsams, endlich auch verständig-thätiger Hülfe. Einiger-
massen findet eine ähnliche Wechselwirkung auch zwischen
dem Manne und seinem weiblichen Genossen statt, welche
aber hier zuerst auf der geschlechtlichen Differenz und nur
in zweiter Linie auf der des Alters beruht. Jener gemäss
aber macht sich um so mehr der Unterschied der natür-
lichen Kräfte, in Theilung der Arbeit geltend; auf gemein-
same Gegenstände bezogen, der Arbeit zum Behufe des
Schutzes so, dass die Hut des Werthgehaltenen dem Weibe,
die Abwehr des Feindlichen dem Manne zufällt; zum Behufe
[14] der Nahrung: ihm das Erjagen, jener die Bewahrung und
Bereitung; und auch wo andere Arbeit, und darin die
Jüngeren, Schwächeren zu unterweisen erfordert wird,
immer mag erwartet werden, wird auch gefunden, dass die
männliche Kraft gegen aussen, kämpfend und die Söhne
führend sich wende, die der Frau aber an das innere Leben
und an die weiblichen Kinder gehalten bleibe. — Unter
Geschwistern, als welche am meisten auf gemeinsame
und gleiche Thätigkeit hingewiesen werden, kann die wahre
Hülfeleistung, gegenseitige Unterstützung und Förderung,
am reinsten sich darstellen. Ausser der Verschiedenheit
des Geschlechtes wird aber hier (wie schon gesagt) inson-
derheit die Differenz der mentalen Begabung hervortreten,
und gemäss derselben, wenn auf die eine Seite mehr das
Ersinnen und die geistige oder Gehirn-Thätigkeit, auf die
andere Ausführung und Muskelarbeit entfallen. Auch so
aber darf alsdann jenes als ein Vorangehen und Leiten,
dieses als eine Art der Nachfolge und des Gehorsams ver-
standen werden. — Und von allen solchen Differenziirungen
werde erkannt, dass sie sich erfüllen nach Führung der
Natur; so oft auch diese gesetzmässigen Tendenzen, wie
alle anderen, unterbrochen, aufgehoben, verkehrt werden
mögen.
§ 4.
Wenn nun diese Verhältnisse insgesammt als ein
wechselseitiges Bestimmen und wechselseitiges Dienen der
Willen erscheinen, und so ein jedes unter dem Bilde eines
Gleichgewichts von Kräften vorgestellt werde, so muss Alles,
was dem einen Willen ein Uebergewicht verleiht, durch
eine stärkere Wirkung auf der anderen Seite compensirt
werden. So kann als idealer Fall gedacht werden, dass dem
grösseren Genusse aus dem Verhältnisse die schwerere Art
von Arbeit für das Verhältniss, d. i. die grössere oder seltenere
Kräfte erfordernde Art entspreche; und folglich dem gerin-
geren Genusse die leichtere Arbeit. Denn wenn auch Mühe
und Kampf selber Lust ist und werden kann, so macht
doch alle Anspannung von Kräften eine folgende Abspannung
nothwendig, Ausgabe Empfang, Bewegung Ruhe. Der
[15] Ueberschuss des Genusses für die Stärkeren ist zum Theile
das Gefühl der Ueberlegenheit selbst, der Macht und des
Befehlens, während hingegen das Beschützt-, Geleitet-
werden und Gehorchenmüssen, also das Gefühl der
Inferiorität, immer mit einiger Unlust, nach Art eines
Druckes und Zwanges, empfunden wird, auch wenn es
durch Liebe, Gewohnheit, Dankbarkeit noch so sehr er-
leichtert sein mag. Das Verhältniss der Gewichte, mit
denen die Willen auf einander wirken, ist aber noch deut-
licher durch die folgende Erwägung: aller Ueberlegenheit
hängt die Gefahr des Hochmuths und der Grausamkeit
und somit einer feindseligen, nöthigenden Behandlung
an, wenn nicht mit ihr auch die Tendenz und Nei-
gung, dem in die Hand gegebenen Wesen Gutes zu thun,
grösser ist oder wächst. Und von Natur ist dem wirklich
so: grössere Kraft überhaupt ist auch grössere Kraft, Hülfe
zu leisten; wenn dazu ein Wille überhaupt vorhanden ist,
so ist er auch durch die empfundene Kraft (weil diese selber
Wille ist) um so grösser und entschiedener: und so gibt es,
zumal innerhalb dieser leiblich-organischen Beziehungen,
eine instinctive und naive Zärtlichkeit des Starken zu
den Schwachen, welche, im Allgemeinen, von der Zärtlichkeit
der Mutter — da ja diese Triebe in irgendwelchem Masse
auch auf das männliche Geschlecht vererbt werden — ihren
Ursprung und darin ihr Vorbild zu haben gedacht werde.
§ 5.
Eine überlegene Kraft, welche zum Wohle des Unter-
gebenen oder seinem Willen gemäss ausgeübt, daher durch
diesen bejaht wird, nenne ich Würde oder Auctorität; und
so mögen ihrer drei Arten: die Würde des Alters, die Würde
der Stärke und die Würde der Weisheit oder des Geistes
von einander unterschieden werden. Welche wiederum sich
vereinigt darstellen in der Würde, welche dem Vater zu-
kömmt, wie er schützend, fördernd, leitend, über den Seinen
steht. Das Gefährliche solcher Macht erzeugt bei den
Schwächeren Fürcht, und diese würde allein fast nur
Verneinung, Ablehnung bedeuten (ausser sofern ihr Be-
wunderung beigemischt ist), das Wohlthätige aber und die
[16] Gunst ruft den Willen zum Ehren hervor; und indem
dieser vorwiegt, so entsteht aus der Verbindung das Gefühl,
welches wir Ehrfurcht nennen. So stehen sich Zärtlich-
keit und Ehrfurcht oder (in schwächeren Graden): Wohl-
wollen und Achtung gegenüber, als, bei entschiedener
Differenz der Macht, die beiden Grenzbestimmungen der
Gemeinschaft begründenden Gesinnung. So dass durch
solche Motive eine Art des gemeinschaftlichen Verhältnisses
auch zwischen Herrn und Knecht möglich und wahr-
scheinlich wird, zumal wenn dasselbe — wie in der Regel
und gleich den Banden der engsten Verwandtschaft selber —
durch nahes, dauerndes und abgeschlossenes häusliches
Zusammenleben getragen und gefördert wird.
§ 6.
Denn die Gemeinschaft des Blutes, als Einheit des
Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des
Ortes, als welche im Zusammen-Wohnen ihren Ausdruck
hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als
dem blossen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen
Richtung, im gleichen Sinne. Gemeinschaft des Ortes kann
als Zusammenhang des animalischen, wie die des Geistes
als Zusammenhang des mentalen Lebens begriffen werden,
die letztere daher, in ihrer Verbindung mit den früheren,
als die eigentlich menschliche und höchste Art der
Gemeinschaft. Wie mit der ersten eine gemeinsame Be-
ziehung und Antheil, d. i. Eigenthum an menschlichen Wesen
selber, so ist desgleichen mit der andern in Bezug auf be-
sessenen Grund und Boden, und mit der letzten in Bezug
auf heilig gehaltene Stätten oder verehrte Gottheiten, regel-
mässig verknüpft. Alle drei Arten der Gemeinschaft hängen
unter sich auf das engste zusammen, so im Raume wie in
der Zeit: daher in allen einzelnen solchen Phänomenen und
deren Entwicklung, wie in der menschlichen Cultur über-
haupt und in ihrer Geschichte. Wo immer Menschen in
organischer Weise durch ihre Willen mit einander verbunden
sind und einander bejahen, da ist Gemeinschaft von der
einen oder der anderen Art vorhanden, indem die frühere
Art die spätere involvirt, oder diese zu einer relativeu Un-
[17] abhängigkeit von jener sich ausgebildet hat. Und so mögen
als durchaus verständliche Namen derselben neben einander
betrachtet werden 1) Verwandtschaft, 2) Nachbarschaft,
3) Freundschaft. Verwandtschaft hat das Haus als ihre
Stätte und gleichsam als ihren Leib; hier ist Zusammen-
wohnen unter einem schützenden Dache; gemeinsamer
Besitz und Genuss der meisten Dinge, insonderheit Ernährung
aus demselben Vorrathe, Zusammensitzen an demselben
Tische; hier werden die Todten als unsichtbare Geister
verehrt, als ob sie noch mächtig wären und über den Häup-
tern der Ihrigen schützend walteten, so dass die gemeinsame
Furcht und Ehre das friedliche Miteinander-Leben und
Wirken um so sicherer erhält. Der verwandtschaftliche
Wille und Geist ist an die Schranken des Hauses und
räumliche Nähe zwar nicht gebunden; sondern wo er stark
und lebendig ist, daher in den nächsten und engsten Be-
ziehungen, da kann er allein durch sich selber, am blossen
Gedächtniss sich nähren, trotz aller Entfernung mit dem
Gefühle und der Einbildung des Naheseins und gemein-
schaftlicher Thätigkeit. Aber um so mehr sucht er solche
leibliche Nähe und trennt sich schwer davon, weil nur so
jedes Verlangen der Liebe seine Ruhe und Gleichgewicht
finden kann. Darum findet sich der gewöhnliche Mensch —
auf die Dauer und im grossen Durchschnitt der Fälle —
am wohlsten und heitersten, wenn er von seiner Familie,
seinen Angehörigen umgeben ist. Er ist bei sich(chez soi).
— Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zu-
sammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die
gemeinsame Feldmark oder auch blosse Begrenzung der
Aecker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung
an einander und vertraute Kenntniss von einander ver-
ursacht; gemeinsame Arbeit, Ordnung, Verwaltung noth-
wendig macht; die Götter und Geister des Landes und
Wassers, welche Segen bringen und Unheil drohen, um
Gunst und Gnade anzuflehen veranlasst. Durch Zusammen-
wohnen wesentlich bedingt, kann diese Art der Gemeinschaft
doch auch in Abwesenheit sich erhalten, obschon schwerer
als die erste Art, und muss alsdann um so mehr in be-
stimmten Gewohnheiten der Zusammenkunft und heilig ge-
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 2
[18] haltenen Bräuchen ihre Stütze suchen. — Freundschaft
wird von Verwandtschaft und Nachbarschaft unabhängig als
Bedingung und Wirkung einmüthiger Arbeit und Denkungs-
art; daher durch Gleichheit und Aehnlichkeit des Berufes
oder der Kunst am ehesten gegeben. Solches Band muss
aber doch durch leichte und häufige Vereinigung geknüpft
und erhalten werden, wie solche innerhalb einer Stadt am
meisten Wahrscheinlichkeit hat; und die so durch Gemein-
geist gestiftete, gefeierte Gottheit hat hier eine ganz un-
mittelbare Bedeutung für die Erhaltung desselben, da sie
allein oder doch vorzugsweise ihm eine lebendige und blei-
bende Gestalt gibt. Solcher guter Geist haftet darum auch
nicht an einer Stelle, sondern wohnet im Gewissen seiner
Verehrer und begleitet ihre Wanderung in fremde Lande.
So empfinden sich, gleich Kunst- und Standesgenossen, ein-
ander kennenden, auch die in Wahrheit Glaubensgenossen
sind, überall als durch ein geistiges Band verbunden, und
an einem gemeinsamen Werke arbeitend. Daher: wenn
das städtische Zusammenwohnen auch unter dem Begriff
der Nachbarschaft gefasst werden kann; wie auch das häus-
liche, sofern nicht-verwandte oder dienende Glieder daran
Theil nehmen: so bildet hingegen die geistige Freundschaft
eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt
und Versammlung, welche nur durch so etwas als eine
künstlerische Intuition, durch einen schöpferischen Willen
lebendig ist. Die Verhältnisse zwischen den Menschen selber
als Freunden und Genossen haben hier am wenigsten einen
organischen und insofern nothwendigen Charakter: sie sind
am wenigsten instinctiv und weniger durch Gewohnheit
bedingt als die nachbarlichen; sie sind mentaler Natur und
scheinen daher, im Vergleiche mit den früheren, entweder
auf Zufall oder auf freier Wahl zu beruhen. Aber eine
analoge Abstufung wurde schon innerhalb der reinen Ver-
wandtschaft hervorgehoben und führt zur Aufstellung fol-
gender Sätze.
§ 7.
Nachbarschaft verhält sich zu Verwandtschaft wie das
Verhältniss zwischen Gatten — daher Affinität überhaupt —
[19] zum Verhältnisse zwischen Mutter und Kinde. Was hier das
gegenseitige Gefallen für sich leistet, muss dort durch gegen-
seitige Gewöhnung unterstützt werden. Und wie das ge-
schwisterliche Verhältniss — daher alle Vetterschaft und die
Verhältnisse relativ gleicher Stufen überhaupt — zu den
übrigen organisch bedingten; so stellt sich Freundschaft zu
Nachbarschaft und Verwandtschaft. Gedächtniss wirkt als
Dankbarkeit und Treue; und im gegenseitigen Vertrauen
und Glauben an einander muss sich die besondere Wahrheit
solcher Beziehungen kund thun. Weil aber der Grund
derselben nicht mehr so naturwüchsig und von selbst ver-
ständlich ist und die Individuen ihr eigenes Wollen und
Können bestimmter gegen einander wissen und behaupten,
so sind diese Verhältnisse am schwersten zu erhalten und
können Störungen am wenigsten vertragen. Dergleichen
als Zank und Streit fast in jedem Zusammenleben vor-
kommen müssen; denn die dauernde Nähe und Häufigkeit
der Berührungen bedeutet ebensowohl als gegenseitige
Förderung und Bejahung, auch gegenseitige Hemmung und
Verneinung, als reale Möglichkeiten, als Wahrscheinlich-
keiten eines gewissen Grades; und nur so lange als jene
Erscheinungen überwiegen, kann ein Verhältniss als
wirklich gemeinschaftliches angesprochen werden. Hieraus
ist erklärlich, dass zumal solche rein geistige Brüder-
schaften, vieler Erfahrung nach, nur bis zu einer ge-
wissen Grenze der Häufigkeit und Enge die leibliche Nähe
des eigentlichen Zusammenlebens vertragen können. Sie
müssen vielmehr in einem hohen Masse der individuellen
Freiheit ihr Gegengewicht haben. — Wie aber innerhalb
der Verwandtschaft alle natürliche Würde sich in der väter-
lichen zusammenfasst, so bleibt diese als Würde des
Fürsten, auch wo die Nachbarschaft den wesentlichen Grund
des Zusammenhaltens ausmacht, bedeutend. Hier ist sie
mehr durch Macht und Stärke als durch Alter und Er-
zeugung bedingt, und stellt sich am unmittelbarsten in dem
Einflusse eines Herrn auf seine Leute, des Grundbesitzers
auf seine Hintersassen, des Patrones auf seine Hörigen dar.
Endlich: innerhalb der Freundschaft, sofern dieselbe als
gemeinschaftliche Hingabe an denselben Beruf, dieselbe
2*
[20] Kunst erscheint, macht sich solche Würde als die des
Meisters gegen Jünger, Schüler, Lehrlinge geltend. —
Der Würde des Alters ist aber die richterliche Thätig-
keit und der Charakter der Gerechtigkeit vorzüglich
angemessen; denn aus jugendlicher Hitze, Jähzorn und
Leidenschaften aller Art entspringt Gewaltthat, Rache und
Zwist. Der Greis steht darüber als ruhiger Beobachter,
und ist am wenigsten geneigt, aus Vorliebe oder Hass dem
Einen zu helfen wider den Anderen, sondern wird zu er-
kennen versuchen, von welcher Seite das Uebel begonnen
wurde; und ob der Grund dazu stark genug war für einen
richtigen und mässigen Menschen; oder durch welches Thun
oder Leiden, was einer Uebermässiges sich herausgenommen
hat, ausgeglichen werden könne. — Die Würde der Kraft
muss sich im Kampfe auszeichnen; durch Muth und Tapfer-
keit bewährt sie sich. Darum hat sie ihre Vollendung als
herzogliche Würde: welcher die streitbaren Kräfte zu
sammeln, zu ordnen, dem Zuge wider den Feind voran-
zugehen, und für die Gesammtwirkung alles Nützliche zu
gebieten, das Schädliche zu verwehren geziemt. — Wenn
aber in den meisten Entscheidungen und Massregeln das
Richtige und Heilsame mehr zu errathen und zu ahnen dem
Kundigen gegeben, als mit Gewissheit zu sehen einem Jeden
möglich ist; und wenn das Zukünftige verborgen, oft drohend
und fürchterlich vor uns steht: so scheint unter allen Kün-
sten jener der Vorrang zuzukommen, welche den Willen
der Unsichtbaren zu erkennen, zu deuten oder zu bewegen
weiss. Und so erhebt sich die Würde der Weisheit über
alle anderen als priesterliche Würde, in welcher die
Gestalt des Gottes selber unter den Lebenden zu wandeln,
der Unsterblich-Ewige den von Gefahren und Todesangst
Umgebenen sich zu offenbaren und mitzutheilen endlich
geglaubt wird. — Diese verschiedenen waltenden, führenden
Thätigkeiten und Tugenden fordern und ergänzen einander;
und die bezeichneten Würden können ihrer Anlage nach
als in jeder überlegenen Stellung, sofern dieselbe aus der
Einheit einer Gemeinschaft abgeleitet wird, verbunden ge-
dacht werden; so aber, dass die richterliche Würde als die
ursprüngliche dem Stande des Haus-Vaters natürlich ist, die
[21] herzogliche dem Stande des Patriarchen entspricht, endlich
dem Meisterstande die priesterliche Würde am meisten an-
gemessen scheint. Jedoch kömmt auch dem Haus-Vater,
und zumal, indem Einigkeit gegen Feinde, Unterordnung
fordert, dem Obersten eines Clans (als dem Haupte des
ältesten unter verwandten Häusern), in elementarster Weise
aber dem Häuptling eines noch ungegliederten Stammes (der
des mythischen gemeinsamen Ahnen Stelle vertritt) die
»herzogliche« Würde als natürliche zu. Und diese wiederum
erhebt sich zur göttlich-priesterlichen; denn die Vorfahren
sind oder werden Götter; und die Götter werden als Vor-
fahren und väterliche Freunde geglaubt; so gibt es Götter
des Hauses, des Geschlechtes, des Stammes und der Volkes-
Gemeinde. In ihnen ist die Kraft solcher Gemeinschaft auf
eminente Weise vorhanden: sie vermögen das Unmögliche;
wunderbare Wirkungen sind ihre Wirkungen. Darum,
wenn ernährt und geehrt aus fromm demüthigem Sinne, so
helfen sie; schaden und strafen, wenn vergessen und ver-
achtet. Sie sind selber, als Väter und Richter, als Herren
und Anführer, als Zuchtmeister und Lehrer, ursprüngliche
Träger und Vorbilder dieser menschlichen Würden. In
welchen doch auch die herzogliche den Richter erfordert;
denn das Miteinander-Kämpfen macht um so mehr die Bei-
legung inneren Zwistes durch bündige Entscheidung noth-
wendig. Und das priesterliche Amt ist dazu angethan,
solche Entscheidung als eine unantastbare, heilige zu weihen,
die Götter selbst als Urheber des Rechtes und richterlicher
Sprüche.
§ 8.
Alle Würde muss als besondere und vermehrte
Freiheit und Ehre, daher als bestimmte Willenssphäre, aus
der allgemeinen und gleichen Willenssphäre der Gemein-
schaft abgeleitet werden; und so steht ihr gegenüber der
Dienst als eine besondere und verminderte Freiheit
und Ehre. Jede Würde kann als ein Dienst und jeder
Dienst kann als eine Würde betrachtet werden, sofern nur
auf die Besonderheit Rücksicht genommen wird. Die
[22] Willenssphäre und also die gemeinschaftliche Willenssphäre
ist eine Masse von determinirter Kraft, Macht oder Recht;
und dieses ein Inbegriff von Wollen als Können oder
Mögen (Dürfen) und Wollen als Müssen oder Sollen. So
ergibt sich dasselbe als Wesen und Inhalt aller abgeleiteten
Willenssphären, in welchen daher Gerechtsame und Pflichten
die beiden correspondirenden Seiten derselben Sache oder
nichts als die subjektiven Modalitäten der gleichen objek-
tiven Substanz von Recht oder Kraft sind. Und mithin
bestehen und entstehen sowohl durch vermehrte als durch
verminderte Pflichten und Gerechtsame reale Ungleich-
heiten innerhalb der Gemeinschaft durch ihren Willen.
Diese können aber nur bis zu einer gewissen Grenze zu-
nehmen, da jenseits solcher das Wesen der Gemeinschaft
als der Einheit des Differenten aufgehoben wird: auf der
einen Seite (nach oben), weil die eigene Rechtskraft zu gross,
daher der Zusammenhang mit der gesammten gleichgültig
und werthlos wird; auf der anderen (nach unten), weil die
eigene zu klein und der Zusammenhang irreal und werth-
los wird. Je weniger aber Menschen, die mit einander in
Berührung stehen oder kommen, mit einander verbunden
sind in Bezug auf dieselbe Gemeinschaft, desto mehr stehen
sie einander als freie Subjecte ihres Wollens und Könnens
gegenüber. Und diese Freiheit ist um so grösser, je weniger
sie überhaupt von ihrem eigenen vorher bestimmten
Willen; mithin je weniger dieser von irgend welchem
gemeinschaftlichen Willen abhängig ist oder empfunden
wird. Denn für die Beschaffenheit und Bildung jeder indi-
vidualen Gewohnheit und Gemüthsart ist, ausser den durch
Erzeugung vererbten Kräften und Trieben, irgend ein gemein-
schaftlicher als erziehender und leitender Wille der be-
deutendste Factor; insonderheit der Familiengeist; aber
auch aller Geist, der dem Familiengeist ähnlich ist und
Aehnliches wirkt.
§ 9.
Gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung, als
einiger Wille einer Gemeinschaft, ist das, was hier als
[23]Verständniss(consensus) begriffen werden soll. Es ist der
besondere sociale Trieb und Instinct, welcher Menschen als Glie-
der eines Ganzen zusammenhält. Und weil aller Instinct als
menschlicher mit Vernunft angethan ist und die Anlage der
Sprache voraussetzt, so kann es auch als der Sinn (Λογος)
und die Vernunft eines solchen Verhältnisses begriffen wer-
den. Es ist daher z. B. zwischen dem Erzeuger und seinem
Kinde nur in dem Masse vorhanden, als das Kind mit
Sprache und vernünftigem Willen begabt gedacht wird. So
aber kann auch gesagt werden: Alles, was dem Sinne eines
gemeinschaftlichen Verhältnisses gemäss, was in ihm und
für es einen Sinn hat, das ist sein Recht; d. i. es
wird als der eigentliche und wesentliche Wille der mehreren
Verbundenen geachtet. Mithin: insoweit, als es ihrer wirk-
lichen Natur und ihren Kräften entspricht, dass Genuss und
Arbeit verschieden sind, und zumal, dass auf die eine Seite
die Leitung, auf die andere der Gehorsam fällt, so ist dies
ein natürliches Recht, als eine Ordnung des Zusammen-
lebens, welche jedem Willen sein Gebiet oder seine Function
zuweiset, einen Inbegriff von Pflichten und Gerechtsamen.
Verständniss also beruhet auf intimer Kenntniss von
einander, sofern diese durch unmittelbaren Antheil eines
Wesens an dem Leben des anderen, Neigung zur Mit-Freude
und zum Mit-Leide, bedingt ist und solche wiederum fördert.
Daher um so wahrscheinlicher, je grösser die Aehnlichkeit
der Constitution und Erfahrung oder je mehr Naturell,
Charakter, Denkungsart von gleicher oder zusammen-
stimmender Art sind. Das wahre Organ des Verständnisses,
worin es sein Wesen entwickelt und ausbildet, ist die
Sprache selber, in Geberden und Lauten sich mitthei-
lender und empfangener Ausdruck von Schmerz und Lust,
Furcht und Wunsch und aller übrigen Gefühle und Gemüths-
erregungen. Sprache ist — wie Alle wissen — nicht er-
funden und gleichsam verabredet worden als ein Mittel und
Werkzeug, sich verständlich zu machen, sondern sie selber
ist lebendiges Verständniss, zugleich sein Inhalt und seine
Form. Gleich allen übrigen bewussten Ausdrucks-Bewe-
gungen ist ihre Aeusserung die unwillkürliche Folge tiefer
Gefühle, vorherrschender Gedanken, und dient nicht der
[24]Absicht, sich verständlich zu machen, als künstliches
Mittel, welches ein natürliches Nicht-Verstehen voraussetzen
würde; obgleich auch zwischen Verstehenden Sprache als
solches blosses Zeichensystem gebraucht werden kann.
Und allerdings können alle jene Aeusserungen ebensowohl
sich kund thun als Erscheinungen feindseliger wie als
Erscheinungen freundlicher Empfindungen. Dies ist so
wahr, dass es die Anregung gibt, den allgemeinen Satz
auszusprechen: freundliche und feindselige Stimmungen und
Leidenschaften unterliegen den gleichen oder sehr ähnlichen
Bedingungen. Hier aber ist die Feindschaft, welche aus
Zerreissung oder Lockerung natürlicher und vorhandener
Bande hervorgeht, strenge zu unterscheiden von derjenigen
Art, die auf Fremdheit, Unverständniss, Misstrauen beruht.
Beide sind instinctiv, aber jene ist wesentlich Zorn, Hass,
Unwille, diese wesentlich Furcht, Abscheu, Widerwille.
Sicherlich ist nun Sprache, sowie andere Vermittlung der
Seelen weder aus der einen noch aus der anderen Feind-
seligkeit — als welche dort nur der ausserordentliche und
kranke Zustand ist — entsprungen, sondern aus Traut-
heit, Innigkeit, Liebe; und zumal aus dem tiefen Verständ-
nisse zwischen Mutter und Kind, muss Mutter-Sprache
am leichtesten und lebhaftesten hervorwachsen. Hingegen
bei jener lauten und verständnissinnigen Feindseligkeit
kann immer irgendwelche Freundschaft und Einigkeit als
zu Grunde liegend gedacht werden. In einer alten Rechts-
formel bewundert Cicero die Sinnigkeit der Sprache
(fragm. de republ. IV. ap. Non. p. 430 seq.) — »Si iurgant,«
inquit. »Benevolorum concertatio, non lis inimicorum, iurgium
dicitur. Jurgare igitur lex putat inter se vicinos, non
litigare.« — In der That ist nur Blutnähe und Blutmischung,
worin die Einheit, und hieraus die Möglichkeit der Gemein-
schaft, menschlicher wie anderer thierischer Leiber und
Willen auf unmittelbarste Weise sich darstellt; demnächst
die räumliche Nähe, und endlich — für Menschen — auch
die geistige Nähe. In dieser Abstufung sind daher die
Wurzeln alles Verständnisses zu suchen. Und wir stellen
somit als die grossen Hauptgesetze der Gemeinschaft auf:
1) Verwandte und Gatten lieben einander, oder gewöhnen
[25] sich leicht an einander; reden und denken oft und gern
mit, zu, an einander. Ebenso vergleichungsweise Nachbarn
und andere Freunde. 2) Zwischen Liebenden u. s. w. ist
Verständniss. 3) Die Liebenden und Sich-Verstehenden
bleiben und wohnen zusammen, und ordnen ihr gemein-
sames Leben. — Eine Gesammtform des gemeinschaftlichen
bestimmenden Willens, welche so natürlich geworden ist
wie Sprache selber, daher ein Vielfaches von Verständnissen
in sich begreift und das Mass derselben abgibt durch ihre
Normen, nenne ich Eintracht oder Familien-Geist (con-
cordia, als eine herzliche Verbundenheit und Einigkeit).
Verständniss und Eintracht ist also Eines und dasselbe:
gemeinschaftlicher Wille in seinen elementaren Formen: als
Verständniss in seinen einzelnen Beziehungen und Wir-
kungen, als Eintracht in seiner gesammten Kraft und
Natur betrachtet.
§ 10.
Verständniss ist demnach der einfachste Ausdruck
für das innere Wesen und die Wahrheit alles echten Zu-
sammenlebens, Zusammenwohnens und Wirkens. Daher in
erster und allgemeinster Bedeutung: des häuslichen Lebens;
und da den Kern desselben die Verbindung und Einheit
von Mann und Weib zur Erzeugung und Erziehung von
Nachkommen darstellt, insonderheit der Ehe als dieser natür-
lichen Thatsache. Das stillschweigende Ein-verständniss,
wie wir es auch heissen mögen, über Pflichten und Gerecht-
same, über Gutes und Böses, kann wohl einer Verabredung,
einem Vertrage verglichen werden; aber nur, um sogleich
den Contrast desto energischer hervorzuheben. Denn so
kann man auch sagen: der Sinn von Worten sei gleich
demjenigen verabredeter, willkürlicher Zeichen; und ist
gleichwohl das Gegentheil. Verabredung und Vertrag ist
Einigung, welche gemacht, beschlossen wird; ausgetauschtes
Ver-sprechen, also Sprache voraussetzend und gegenseitige
Auffassung und Annahme dargebotener zukünftiger Hand-
lungen, welche in deutlichen Begriffen ausgedrückt werden
müssen. Diese Einigung kann auch unterstellt werden, als
ob sie geschehen sei, wenn die Wirkung von solcher Art
[26] ist; kann also per accidens stillschweigend sein. Aber Ver-
ständniss ist essentiell schweigend: weil sein Inhalt unaus-
sprechlich, unendlich, unbegreiflich ist. Wie Sprache nicht
verabredet werden kann, wenn auch durch Sprache zahl-
reiche Zeichensysteme für Begriffe, so kann Eintracht nicht
gemacht werden, wenn auch noch so viele Arten von Eini-
gungen. Verständniss und Eintracht wachsen und blühen,
wenn ihre Bedingungen günstig sind, aus gegebenen Keimen
hervor. Wie Pflanze von Pflanze, so stammt ein Haus (als
Familie) vom anderen ab, entspringt Ehe aus ihrer realen
Idee. Immer geht ihnen, sie bedingend und bewirkend,
nicht blos ihres Gleichen vorher, sondern auch ein darin
enthaltenes Allgemeineres, und die Form ihrer Erscheinung.
So ist aber auch in grösseren Gruppen diese Einheit des
Willens, als der psychologische Ausdruck des Bandes der
Blutsverwandtschaft, wenn auch dunkler, vorhanden, und
wenn auch für die Individuen nur in organischer Ordnung
sich mittheilend. Wie die Allgemeinheit gemeinsamer Sprache,
als reale Möglichkeit des Verständnisses der Rede, mensch-
liche Gemüther nähert und verbindet, so gibt es auch einen
gemeinsamen Sinn, mehr aber seine höheren Evolutionen:
gemeinsamen Brauch und gemeinsamen Glauben, welche die
Glieder eines Volkes durchdringen, Einheit und Frieden
seines Lebens bedeutend, obschon keineswegs sichernd;
welche in ihm aber und von ihm aus, mit wachsender
Intensität, die Zweige und Aeste eines Stammes erfüllen;
am vollkommensten jedoch die verwandten Häuser in jener
frühen und wichtigsten Bildung organisch-verbundenen
Lebens, dem Clan oder Geschlechte, welches die Familie
vor der Familie ist, wo es eine ihr gleiche Realität hat.
Aus diesen Gruppen aber und über ihnen erheben sich, als
ihre Modificationen, die durch den Grund und Boden be-
stimmten Complexe, welche wir in genereller Abstufung
unterscheiden, als A) das Land, B) den Gau oder die
Mark, und — die innigste Gestaltung von dieser Art —
C) das Dorf. Theils aus, theils neben dem Dorfe aber ent-
wickelt sich, in ihrer Vollendung nicht sowohl durch gemein-
same Natur-Objecte, als durch gemeinsamen Geist zusammen-
gehalten, die Stadt; ihrem äusseren Dasein nach nichts als
[27] ein grosses Dorf, oder eine Mehrheit von benachbarten Dör-
fern; demnächst aber als ein Ganzes über umgebendes Land-
gebiet waltend, und in Verbindung mit diesem eine neue
Organisation des Gaues, in weiterem Umfange des Landes,
darstellend: Umbildung oder Neubildung eines Stammes,
eines Volkes. Innerhalb der Stadt aber treten, als
ihre eigenthümlichen Erzeugnisse oder Früchte, wiederum
hervor: die Arbeits-Genossenschaft, Gilde oder Zunft; und
die Cultgenossenschaft, Brüderschaft, die religiöse Ge-
meinde: diese zugleich der letzte und höchste Ausdruck,
dessen die Idee der Gemeinschaft fähig ist. So kann aber,
in gleicher Weise, auch die ganze Stadt, so kann ein Dorf,
ein Volk, Stamm, Geschlecht, und endlich eine Familie als
besondere Art von Gilde oder von religiöser Gemeinde sich
darstellen oder begriffen werden. Und vice versa: in der
Idee der Familie, als dem allgemeinsten Ausdruck für die
Realität von Gemeinschaft sind alle diese mannigfachen Bil-
dungen enthalten und gehen daraus hervor.
§ 11.
Gemeinschaftliches Leben ist gegenseitiger Besitz
und Genuss, und ist Besitz und Genuss gemeinsamer
Güter. Der Wille des Besitzes und Genusses ist Wille
des Schutzes und der Vertheidigung. Gemeinsame Güter —
gemeinsame Uebel; gemeinsame Freunde — gemeinsame
Feinde. Uebel und Feinde sind nicht Gegenstände des
Besitzes und Genusses; nicht positiven, sondern negativen
Willens, Unwillens und Hasses, also gemeinsamen Willens
zur Vernichtung. Gegenstände des Wunsches, der Begierde,
sind nicht etwas Feindliches, sondern befinden sich in vor-
gestelltem Besitze und Genuss, wenn auch die Erlangung
desselben durch feindselige Thätigkeit bedingt sein mag.
Besitz ist, an und für sich, Wille der Erhaltung; und Besitz
ist selber Genuss, nämlich Befriedigung und Erfüllung des
Willens wie die Einathmung der atmosphärischen Luft. So
ist Besitz und Antheil, welchen Menschen an einander
haben. Insofern aber als Genuss sich vom Besitze unter-
scheidet, durch besondere Acte des Gebrauches, so kann
er allerdings durch Zerstörung bedingt sein; wie ein Thier
[28] getödtet wird, um der Verzehrung willen. Der Jäger und
der Fischer wollen ihre einzelne Beute nicht sowohl be-
sitzen als nur geniessen, obgleich ein Theil ihres Genusses
wiederum als ein dauernder und somit als Besitz sich dar-
stellen mag, wie der Gebrauch von Fellen und irgend welchen
gesammelten Vorrathes. Aber die Jagd ist selber als sich
wiederholende Thätigkeit durch den, wenn auch unbestimmten,
Besitz eines Revieres bedingt, als dessen Genuss sie be-
griffen werden kann. Die allgemeine Beschaffenheit und
den Inhalt dessen muss der Vernünftige zu erhalten oder
sogar zu vermehren wünschen, als die Substanz, deren
Modus und Product die jedesmalige Beute ist. So ist die
Substanz des Baumes, dessen Frucht gepflückt wird, des
Bodens, der geniessbare Halme trägt. Dieselbe Wesenheit
gewinnt aber das gezähmte, gefütterte und gepflegte Thier
selber, sei es um als Diener und Gehülfe gebraucht zu
werden, oder um lebendige und sich erneuernde Theile
seines Leibes zum Genusse darzubieten. In diesem Sinne
werden Thiere gezüchtet, und verhält sich folglich die
Art oder die Heerde, als Bleibendes und Erhaltenes, mithin
eigentlicher Besessenes, zum einzelnen, auch durch Zer-
störung, genossenen Exemplare. Und die Haltung von
Heerden bedeutet wiederum eine besondere Beziehung zur
Erde, dem Weidelande, welches dem Vieh seine Nahrung
gibt. Aber Jagdgründe und Weideland, in freiem Gebiete,
können gewechselt werden, wenn erschöpft, indem die Men-
schen mit Hab und Gut und also auch mit Thieren, ihre
Stätten verlassen, um bessere zu gewinnen. Erst der ge-
brochene Acker, in welchen der Mensch zukünftiger Pflanze
Samen, vergangener die Frucht, mit eigener Arbeit ver-
schliesst, bindet seinen Fuss, wird Besitz succedirender
Generationen, und stellt, in Verbindung mit den immer
jungen menschlichen Kräften selber, als ein unerschöpflicher
Schatz sich dar, wenn auch erst allmählich, durch zu-
nehmende Erfahrung und daraus erwachsende, vernünftige
Behandlung, Schonung, Pflege, in solche Würdigkeit ge-
schaffen. Und mit dem Acker befestigt sich das Haus: aus
einem beweglichen, gleich Menschen, Thieren, Sachen, wird
es unbeweglich, gleich dem Grund und Boden. Der Mensch
[29] wird zwiefach gebunden: durch Acker und durch Haus
zumal, d. i. durch seine eigenen Werke. —
§ 12.
In dauernder Beziehung auf Acker und Haus ent-
wickelt sich das gemeinschaftliche Leben. Es ist nur aus
sich selber erklärbar, denn sein Keim und also, in irgend-
welcher Stärke, seine Wirklichkeit, ist die Natur der Dinge.
Gemeinschaft überhaupt ist zwischen allen organischen
Wesen, menschliche vernünftige Gemeinschaft zwischen
Menschen. Man unterscheidet zusammenlebende und nicht
zusammenlebende — sociale und unsociale — Thiere. Das
ist gut. Aber man vernachlässigt, dass es dabei nur um
verschiedene Grade und Arten des Zusammenlebens sich
handelt, wie das der Zugvögel ein anderes ist als der Raub-
thiere. Und man vergisst, dass Zusammenbleiben das von
Natur Gegebene ist; für Trennung liegt gleichsam die Last
des Beweises ob. Dies will sagen: besondere Ursachen
bewirken, frühere oder spätere, Scheidung, den Zerfall
grösserer in kleinere Gruppen; aber die grössere ist vor
der kleineren, wie Wachsthum vor der Propagation (welche
als ein hyperindividuales Wachsthum begriffen wird). Und
jede hat eine Tendenz und Möglichkeit zu bleiben, trotz
ihrer Division, in den auseinander gegangenen Stücken als
in ihren Gliedern; noch Wirkungen auszuüben, in repräsen-
tativen Gliedern sich darzustellen. Wenn wir daher ein
Schema der Entwicklung denken als von einem Centro
nach verschiedenen Richtungen Linien entsendend, so be-
deutet das Centrum selber die Einheit des Ganzen, und
inwiefern das Ganze als Wille sich auf sich selber bezieht,
so muss in jenem solcher Wille eminenter vorhanden sein.
Aber in den Radien entwickeln sich Punkte zu neuen Cen-
tren und je mehr sie Energie nöthig haben, in ihre Peri-
pherie auszubreiten und zugleich sich zu erhalten, desto
mehr entziehen sie dem früheren Centro, welches nun, wenn
es nicht in gleicher Weise auf ein ursprüngliches sich zu
beziehen vermag, durch Noth schwächer wird und unfähiger,
nach anderen Seiten Wirkungen auszuüben. Immerhin
aber stellen wir vor, dass die Einheit und Verbindung sich
[30] erhalte und Kraft und Tendenz bewahre, als ein Seiendes
und Ganzes in den Beziehungen des Haupt-Centrums zu
den unmittelbar von ihm abstammenden Neben-Centren sich
auszudrücken. Jedes Centrum werde repräsentirt durch ein
Selbst, welches als Haupt in Bezug auf seine Glieder be-
nannt werde. Aber als Haupt ist es nicht das Ganze; und
diesem wird es ähnlicher, wenn es die ihm untergeordneten
Centren in den Gestalten ihrer Häupter um sich versammelt.
Sie sind ideell immer in dem Centro vorhanden, von wel-
chem sie sich ableiten; daher erfüllen sie ihren natürlichen
Beruf, wenn sie sich leiblich ihm nähern, an seiner Stätte
zusammenkommen. Und dies ist nothwendig, wenn gegen-
seitig helfende und gemeinsame Action durch die Umstände
erfordert wird, sei es nach innen, oder nach aussen. Und
also ruhet hier eine Kraft und Auctorität, welche sich, wie
auch vermittelt, auf Leib und Leben Aller erstreckt.
Ebenso aber ist der Besitz aller Güter zuerst in dem Ganzen,
und in seinem Centro, inwiefern es als das Ganze begriffen
wird. Aus ihm deriviren den ihrigen die niederen Centren,
und behaupten ihn auf positivere Art, durch Gebrauch und
Genuss; wiederum andere anderen unterhalb ihrer. So führt
auch diese Betrachtung abwärts bis zur letzten Einheit, der
Familie des Hauses, und ihrem gemeinschaftlichen Besitz,
Gebrauch und Genuss; hier ist dann zuletzt die ausgeübte
Auctorität unmittelbar die selbstischen Individuen angehend,
und nur diese können noch, als letzte Einheiten, Besitz, Frei-
heit und Eigenthum u. s. w. für sich ableiten. Jedes
grössere Ganze ist einem auseinander gegangenen Hause
gleich; und wenn auch etwa dasselbe ein minder voll-
kommenes war, so müssen doch die Anlagen zu allen Or-
ganen und Functionen, welche das vollkommene enthält,
in ihm vorhanden gedacht werden. Das Studium des Hauses
ist das Studium der Gemeinschaft, wie das Studium der
organischen Zelle Studium des Lebens ist.
§ 13.
Wesentliche Züge des häuslichen Lebens sind schon
gezeichnet worden, und ergeben sich hier, mit neuen zu-
sammengefasst. Das Haus besteht aus drei Schichten oder
[31] Sphären, welche sich wie um dasselbe Centrum bewegen.
Die innerste Sphäre ist zugleich die älteste: der Herr und
die Frau; oder Frauen, wenn sie in gleicher Würde neben
einander stehen. Es folgen die Nachkommen; und diese
mögen, selber der Ehe theilhaftig, dennoch in dieser Sphäre
verharren. Den äussersten Kreis bilden die dienenden Glie-
der: Knechte und Mägde: diese verhalten sich wie eine
jüngste Schicht, es sind Anwüchse, mehr oder minder ver-
wandten Stoffes, welche nur insofern der Gemeinschaft an-
ders denn als Objecte und durch Zwang angehören, als sie
durch den gemeinsamen Geist und Willen assimilirt werden
und mit ihrem eigenen Willen sich darein fügen und zu-
frieden sind. Aehnlich ist das Verhältniss der von aussen
gewonnenen, heimgeführten Weiber zu ihren Gatten; und
wie zwischen diesen die Kinder als Erzeugte entstehen, so
bilden Kinder als Nachkommen und Abhängige eine Ver-
mittlung und Zwischenstand von Herrschaft zu Knechtschaft.
Von diesen constituirenden Elementen ist das letzte zwar
am ehesten entbehrlich; aber es ist zugleich die nothwendige
Form, in welche Feinde oder Fremde eingehen müssen, um
am Leben eines Hauses Theil zu nehmen; wenn nicht Fremde
als Gäste eines Mitgenusses gewürdigt werden, der seiner
Natur nach undauernder ist, aber für die Weile einer Theil-
nahme an der Herrschaft um so mehr sich nähert, je mehr
der Gast mit Ehrfurcht und Liebe empfangen wird; je ge-
ringer geachtet, desto mehr der Knechtschaft ähnlich. Der
Knechtesstand selber kann der Kindschaft ähnlich werden,
aber auf der anderen Seite in den Begriff des Sklaven
übergehen, wenn die Würde des Menschen durch seine
Behandlung verachtet wird. Ein so tiefes als gedankenloses
Vorurtheil erklärt die Knechtschaft als an und für sich
unwürdig, weil der Gleichheit des Menschen-Antlitzes wider-
sprechend. In Wahrheit kann durch ein sklavisches Be-
tragen, sei es aus Furcht, gewohnheitsmässig, abergläubisch,
sei es aus kühler Erkenntniss seines Interesses und aus
Berechnung, ein Mensch in den mannigfachsten Verhält-
nissen, sich so tief unter einen Anderen erniedrigen, als
Uebermuth und Wildheit eines tyrannischen Herren die
ihm Untergebenen zu bedrücken und zu quälen versuchen
[32] mag. Beides hat mit dem Stande des Knechtes nicht
eine nothwendige, nicht einmal eine besonders wahrschein-
liche Verbindung. Wenn der dauernd Misshandelte, sowie
der Speichellecker, ihrer ganzen Beschaffenheit nach Sklaven
sind, so ist dagegen der Knecht, welcher Freud und Leid
der Familie theilt, welcher seinem Herren die Ehrfurcht
eines altersreifen Sohnes zollt, und das Vertrauen eines
Gehülfen, oder gar eines Rathgebers geniesst, seiner ganzen
Beschaffenheit nach ein Freier.
§ 14.
Die Verfassung des Hauses ist hier zuvörderst wichtig
als Haushaltung, d. i. in ihrem ökonomischen Aspect,
als zusammen arbeitende und zusammen geniessende Gemein-
schaft. Der sich gleich Athemzügen immer wiederholende
menschliche Genuss ist die Ernährung, daher Schaffung und
Bereitung von Speise und Trank die nothwendige und regel-
mässige Arbeit. Wie sich zwischen den Geschlechtern die-
selbe theilt, ist schon erwähnt worden. Und wie Wald,
Feld und Acker die natürliche äussere Sphäre, so ist der
Herd und sein lebendiges Feuer gleichsam der Kern und
die Essenz des Hauses selbst, die Stätte, um welche sich
Mann und Weib, Jung und Alt, Herr und Knecht, zur
Theilnahme am Mahle versammeln. So wird Herd-Feuer
und Tafel symbolisch bedeutend: jenes als die im
Wechsel der Generationen dauernde Lebenskraft des Hauses;
diese als die gegenwärtigen Mitglieder zur Erhaltung und
Erneuerung von Leib und Seele vereinend. Die Tafel ist
das Haus selber, insofern, als Jeder darin seinen Platz hat
und sein gebührend Theil zugewiesen erhält. Wie vorher
um der einheitlichen Arbeit willen die Genossen sich theilen
und trennen, so findet hier die Wiedervereinigung statt um
der nothwendigen Vertheilung des Genusses willen. Und
analog ist der gemeinschaftliche und gesonderte Genuss aller
übrigen Güter, welche getheilte und gemeinsame Arbeit
hervorbringt. Hingegen widerspricht der eigentliche Tausch
dem Wesen des Hauses; es sei denn insofern er unterhalb
der Vertheilung stattfindet und als die Individuen an dem
ihnen Zugewiesenen ein unabhängiges Eigenthum haben
[33] mögen, wie an den Dingen, welche ein Jeder ausserhalb
der gemeinschaftlichen Thätigkeit für sich allein mag ge-
schaffen haben. Das Haus selber, als Ganzes, und durch
die Hand seines Herrn oder Verwalters, kann Ueberschüsse
seiner Producte durch Tausch in nützlicher scheinende
Form verwandeln. Und solcher Tausch kann als ein regel-
mässiger, und indem er innerhalb einer Gemeinschaft von
Häusern, die selber wie ein umfassendes Haus sich dar-
stellt, stattfindet (wie im Dorfe, in der Stadt, und zwischen
Stadt und Land in einer Landschaft oder in einem städ-
tischen Gebiete), in Ruhe und Frieden sich vollziehend,
Normen gemäss, die durch Verständniss als natürlich, durch
Brauch als herkömmlich und bewährt, durch Glauben als
gerecht sich offenbaren, selber nur als ein Ausdruck gesetz-
mässiger Vertheilung und gleichsam des Mitgenusses an
derselben gedeckten Tafel, begriffen werden. Man bemerke,
dass dieses immer die wie sehr auch verborgene Idee des
Austausches, der einfachen Waaren-Circulation bleibt. Aber
die Erscheinungen können von ihr weit sich entfernen, und
endlich nur noch eine Caricatur ihres Stiles entdecken lassen.
So dass sie zuletzt doch, um richtig begriffen zu werden,
ganz und gar für sich genommen, und von den Bedürfnissen
und Willen der Individuen aus erklärt werden müssen.
§ 15.
Das wirkliche Haus, in seiner sinnlichen Gestalt be-
trachtend, unterscheide ich 1) das isolirte Haus, d. i.,
welches nicht einem Systeme von Häusern angehört. So
ist insbesondere das bewegliche und von Stätte zu Stätte
getragene Zelt des Nomaden. Es überlebt den Ackerbau,
in allgemeiner Verbreitung, als Hof-Ansiedlung, welche
Gebirgen und niedrigem Marschlande natürlich und eigen-
thümlich sind. Gleicher Maassen dauert der Hof, als Herren-
haus oder Stammhaus in der Mark, ausser und über dem
Dorfe, das ihm zu Leistungen, gleich als seinem Urheber
und Beschützer, durch Sitte verpflichtet ist. Aber 2) das
Bauernhaus im Dorfe, ist der festbegründete, der nor-
malen Cultur des Bodens eigentlich angemessene Sitz einer
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 3
[34] für allen [wesentlichen] Bedarf sich selbst genügenden, oder
durch Beistand der Nachbarn und gemeinschaftlicher Helfer
(dergleichen der Dorfschmied und andere Demiurgen) sich
ergänzenden Haushaltung. Es kann aber auch, in unge-
brochener Einheit, alle Werkstätten in sich enthalten, wenn
auch nicht unter einem Dache, doch in einer Verwaltung.
Wie sich ein vorzüglicher Schriftsteller in diesen Dingen
(Rodbertus) den Typus des classischen (hellenisch-römischen)
Hauses vorgestellt hat, nach dem Satze: Nihil hic emitur,
omnia domi gignuntur. Hingegen 3) das städtische Haus,
wie wir es in seinem überwiegenden Charakter denken, als
Haus des Handwerksmeisters, ist auch für seine nothwen-
digen Bedürfnisse auf Austausch angewiesen. Was es selber
hervorbringt (z. B. Schuhe), dient zum grösseren Theile
nicht ihm selber, und wenn die Stadt als Ganzes, als eine
Gemeinschaft von Zünften, begriffen wird, welche durch die
gegenseitig fördernde Thätigkeit derselben ihre Bürgerhäuser,
und somit sich selber, mit nützlichen und guten Sachen
versorgt, so muss sie doch, sofern nicht selber und durch
ihre Bürger Land besitzend und dessen Wirthschaft be-
treibend, fortwährend Ueberschüsse hervorbringen, um sich
mit den nothwendigen Lebensmitteln aus umgebenden Bauern-
häusern zu versehen. So bildet sich der (für eine allge-
meine Betrachtung der Cultur-Phänomene bedeutendste)
Tausch zwischen Stadt und Land, bei welchem das Land
des sichtlichen Vortheils geniesst, welchen Besitz der noth-
wendigen gegen die entbehrlichere Waare gibt, sofern es
nicht Geräthe und andere Mittel der Oekonomie sind, welche
es begehrt; die Stadt desjenigen der Seltenheit und Schön-
heit ihrer Producte; wenn nämlich vorausgesetzt wird, dass
ein weites Landgebiet nur eine Auslese ihrer Bevölkerung
in der Stadt vereinigt, daher etwa die Menge der Arbeits-
kräfte, welche überschüssiges Korn und Fleisch erzeugen,
zu derjenigen, welche verfügbare Handwerks- und Kunst-
gegenstände hervorbringen, wie 10 zu 1 sich verhalte.
Uebrigens stellen wir vor, dass hier Keiner als gewerbs-
mässiger Händler, in Concurrenz mit Anderen, seine Waare
an den Mann zu bringen sich vordrängt; noch als Mono-
polist das dringender werdende Bedürfniss und folgliches
[35] Angebot seiner Käufer erwartet, um möglichst hohen Preis
herauszuschlagen; dies sind Möglichkeiten, aber werden erst
wahrscheinlich, je mehr sich die vermittelnden Nichtarbeiter
der Dinge bemächtigen. Und es bleibt uns die Vermuthung
dafür, dass in einer Verbindung von Stadt und Land, welche,
dasselbe für gut und recht achtend, durch Verwandtschaft
und Freundschaft vielfache Beziehungen ausserhalb jener
Tauschacte unterhält, in Versammlungsstätten und Heilig-
thümern gemeinsamer Mittelpunkte theilhaftig ist, ein brüder-
licher Geist der Mittheilung und gern gewährter Gabe, gegen
den natürlichen Wunsch das Seine festzuhalten, oder von
den fremden Gütern möglichst grosse Mengen zu erwerben,
in irgendwelcher Stärke lebendig bleibe. — Ein ähnliches
Verhältniss erhält wohl auch sich in dem lebhafteren Aus-
tausch zwischen Stadt und Stadt, jedoch weniger im gemein-
schaftlichen Sinne begünstigt, sofern dazu Verwandtschaft
und Nähe und der uncommercielle Charakter der Land-
bewohner dazu beiträgt. — Ferner aber können die höheren
Functionen in einem solchen socialen Körper, diejenigen der
Leitung, animalischer und mentaler, wenn sie gesondert
vorhanden sind, keineswegs als Feilbietung und Verkauf
von Waaren begriffen werden. Sondern sie werden organisch
unterhalten, ernährt, gepflegt, aus gemeinschaftlichem Willen,
daher durch die Kräfte, welche er verfügbar hat, in Gestalt
von Ehrengeschenken, Abgaben, Frohnden. Der Austausch
derselben gegen Dienst-Leistungen, welche jene Functionen
darstellen, ist nichts als eine Form, unter welcher dieses
Verhältniss als ein gegenseitiges deutlich gemacht werden
darf. Es kann aber allerdings sich dahin entwickeln, dass
der Ausdruck als ein adäquater gelten muss, innerhalb
der Beschränkung, in welcher überhaupt die Fähigkeit
und der bedingte Wunsch zu gewissen Verrichtungen
einer an den Markt gebrachten Waare gleich geachtet
werden kann.
§ 16.
Nach Analogie des Hauses werden hier als die am
meisten abgegrenzten Gestaltungen gemeinschaftlichen Be-
3*
[36] sitzes und Genusses das Dorf und die Stadt betrachtet. Vor
der Zweiheit von Haus und Dorf ist der Clan, und ist schon
bezeichnet worden als Familie vor der Familie, ebenso aber,
wenn auch in viel weniger deutlicher Ausprägung, als Dorf
vor dem Dorfe begreifbar. Denn allerdings enthält er die
Möglichkeiten beider Haupt-Formen in sich. Daher ist in
ihm der patriarchalische Charakter (um hierin alle Würde
zusammenzufassen, welche durch Erzeugung begründet ist)
mit dem fraternalen (geschwisterlich-gleichen) vermischt.
Und wie in der Haus-Gemeinde vorzugsweise der erstere,
so kommt dieser am meisten in der Dorf-Gemeinde zur
Geltung. Doch fehlt der brüderliche Geist so wenig dort,
wie hier das väterliche Walten. Aber nur das letztere, wie
es in einem Systeme von Dorfverfassungen mächtig bleibt,
ist für die begriffliche Ansicht der Historie wichtig:
nämlich als die Grundlage des Feudalismus. Als worin der
Glaube an die natürliche Würde eines hervorragenden
Hauses als des edlen, adlichen, sich erhält, auch wenn
solches Glaubens Wurzeln absterben: die Ehrfurcht vor dem
Alter und erhabener Abstammung, welche den Clan-Chef
wirklicher oder eingebildeter Maassen mit dem gemein-
samen Ahnherren des ganzen Clans auf directeste
Weise (in gerader und ungebrochener Linie) verbindet und
also ihm eine göttliche Herkunft, folglich auch leicht gött-
liche Würde zu verbürgen scheint. Aber auch in Hinsicht
auf die Ausübung der Häuptlingschaft kömmt Ehre und
Dank dem Vornehmen zu. So ist es natürlich, wenn
ihm die Erstlinge des Feldes und der Hausthiere dar-
gebracht werden, und wenn bei Besetzung und Theilung
der Mark, welche unter seiner Führung geschieht, ihm
auch, zuerst zum wechselnden, endlich zu dauerndem
Besitze, die nächsten und besten Stücke des Ackerlandes,
vor der Ausloosung, durch allgemeinen Willen zu seiner
Hufe geschlagen werden. Wohl auch ein mehrfacher An-
theil; oder aber, wenn der Clan in mehrere Dörfer sich
gespalten hat, ein gleicher Antheil in jedem (und dies ist
im germanischen Agrarsystem das Gewöhnliche gewesen).
So bleibt auch sein Haus und Hof und Salgut in der Mitte
des Dorfes (der Dörfer) oder (in Berglanden) über dem-
[37] selben, als feste Burg ausgezeichnet. Jedoch die eigentliche
Macht wächst erst dem Feudalherrn zu, wenn er im Namen
der Gemeinde Functionen vollzieht, deren Ergebnisse haupt-
sächlich zu seinem eigenen Nutzen gereichen; woraus dann
erfolgen muss, dass auch die Functionen selber nur noch
als in seinem eigenen Namen geschehend erscheinen. Dies
hat seinen besonderen Bezug auf die Verwaltung des un-
vertheilten Landes, welches, je weniger es ausnutzbar und
erschöpflich ist, desto eher ihm überlassen bleiben kann;
daher Wald mehr als Weide; Wüstland mehr als Wald.
Ja das wüste »Unland« wird wohl gar als nicht einmal zur
Feldmark gehörig betrachtet, daher vielmehr einem höheren
Verbande (dem Gau oder dem Lande) zustehend, also von
dessen Herren verwaltet, die es wiederum den kleineren
Baronen zu Lehen geben. Ein solcher nun besetzt, was
etwa den Anbau zu lohnen scheint, mit seinen Leuten;
denn mit zunehmender Volksmenge hat er als Jagd- und
Kriegs-Ritter ein immer grösseres Gefolge von Dienstmannen
in und um seine Hofstätte versammeln können, die aber
endlich mehr verzehren, als Jagd- und Kriegsbeute zu-
sammen mit Abgaben und eigenen Ackererträgen des
Herren zu leisten vermögen; sie lassen also selber als Bauern
und Viehzüchter sich nieder und werden dazu mit Vieh-
Stapel (woher der Name des Fe-od), Geräthen, Saatkorn aus-
gerüstet. Um so enger bleiben sie dem Herren verbunden
und zu Hofdiensten wie Heeresfolge verpflichtet. Sie haben
ihr Eigenthum. Aber dasselbe ist nicht, wie das der Gemein-
freien, aus ihrer eigenen Genossenschaft, der Gemeinde, zu-
nächst abgeleitet, sondern aus der Gemeinschaft mit ihrem
Herren und bleibt als oberes Eigenthum — worin die später
getrennten Ideen der Gebietshoheit und des Grundbesitzes
ihre Einheit haben — in seiner Hand. Wenn nun dieses
Ober-Eigenthum nach der richtigen, d. i. in Natur der
Sache und Herkommen, Eintracht und Sitte begründeten
Auffassung, der Gemeinschaft und Einheit von Ge-
meinde und Herrn zusteht, so kann doch dieser Gelegenheit
und Versuchung haben, zumal in Bezug auf diese minder-
werthigen Theile, es ganz und gar als seine alleinige Gerecht-
same auszuüben, und endlich auch die Freien, nebst ihren
[38] Abhängigen, zu einem ähnlichen Stande mit seinen Hörigen,
ihr Eigenthum zu einer von seiner Gnade gegebenen blossen
Nutzungs-Gerechtsame (dominum utile) hinabzudrücken; wozu
diese wohl selber (die Freien) ihm, des Schutzes und leich-
terer Pflichten gegen die höheren Verbände bedürfend, ent-
gegenkommen. So dass als letztes Extrem ein nicht mehr
relatives, gemeinschaftliches und getheiltes, sondern absolutes,
individuelles und alleiniges Eigenthum des Herren an der
Mark erscheinen kann (woraus mithin auch alle Merkmale
der blossen Gebiets-Hoheit ausgelöscht sind), und diesem
gegenüber dann, nachdem alle Bande der Gemeinschaft mit
seinen Abhängigen gelöst sind, entweder die vollkommene
Leibeigenschaft derselben, oder ein freies contract-
liches Verhältniss der Pachtung resultirt, welches seinem
thatsächlichen Gehalte nach möglicher Weise allerdings,
nämlich durch Capital und Bildung des Pächters, zum
völligen Gegensatze gegen jene sich entwickeln kann; unter
anderen Umständen hingegen nur veränderter Name und
neue rechtliche Form desselben Zustandes ist. Jedoch
andererseits kann wohl auch, sei es durch eigenen Willen
des Herrn, sei es durch überlegene Wirkung einer ihn
nöthigenden Gesetzgebung, alle Abhängigkeit des unteren
oder bäuerlichen Eigenthums aufgehoben, und dasselbe im
gleichen Sinne als individuelles und absolutes erklärt werden,
wie es das obere geworden ist. In jedem dieser Fälle wird
eine einfache und rationale, mithin abstracte Gestaltung für
die complicirten lebendig-concreten Verhältnisse eingesetzt;
oder vielmehr unternommen, das wirkliche Leben nach
logisch-theoretischen Modellen zuzuschneiden; was die that-
sächlichen Zustände mehr oder weniger an die Hand geben
oder doch erleichtern können.
§ 17.
Die ungeheure Mannigfachheit jener Verhältnisse
aber, welche wieder modificirt werden, wenn an der Stelle
des Feudalherren ein (geistliches) Collegium, Kloster oder
andere Corporation steht, kann hier nicht einmal in Andeu-
tungen befasst werden. Wichtig ist nur überall zu bemerken,
[39] wie sehr in der ganzen Dorf-Cultur und auch in dem darauf
beruhenden Feudalsystem die Idee der naturgemässen Ver-
theilung und dieselbe bestimmende und darin beruhende
des geheiligten Herkommens, alle Wirklichkeiten des Lebens
und ihnen correspondirende Ideen der richtigen und noth-
wendigen Ordnung desselben beherrschen, und wie wenig
darin die Begriffe des Tausches und Kaufes, des Vertrages
und der Satzung leisten und vermögen. Das Verhältniss
zwischen Gemeinde und Herren, vollends aber zwischen
Gemeinde und ihren Genossen, ist nicht in Contracten, son-
dern, wie die der Familie, in Verständnissen begründet. Die
Dorf-Gemeinde, auch wo sie den Herren mitumfasst, ist in
ihrer nothwendigen Beziehung auf das Land einer einzigen
ungetheilten Haushaltung gleich. Die Allmend ist das
Object ihrer Thätigkeit und Sorge, theils für die gemein-
schaftlichen Zwecke der Einheit, theils für die gleichen und
verbundenen Zwecke der Mitglieder bestimmt: wo jenes am
gemeinen Walde, dieses an der gemeinsamen Weide deut-
licher hervortritt. Aber auch die aufgetheilten Aecker
und Wiesen gehören nur für die »geschlossene Zeit« der
einzelnen cultivirenden Familie; nach beendeter Ernte wer-
den die Umzäunungen niedergerissen, und der Boden wird
als Theil des Weidelandes wieder zur Allmend. Und auch
innerhalb jener besonderen Nutzung ist der Dorfgenosse
»durch das über ihm stehende Gesammtrecht mannigfach
beschränkt, indem ihn der Flurzwang bei der Bewirth-
schaftung seiner Wiesen, Felder und Weinberge an die
gemeinschaftliche Ordnung bindet. Es bedarf aber in dieser
Hinsicht kaum einer ausdrücklichen Bestimmung, um den
einzelnen Bauern an die herkömmliche Fruchtfolge, die
herkömmlichen Zeiten des Bestellens und Erntens zu halten.
Denn es ist für ihn schon eine thatsächliche und wirthschaft-
liche Unmöglichkeit, seine Sonderwirthschaft, die ohne das
ergänzende, ja erzeugende Gemeinschaftsrecht lebensunfähig
ist, von der Gemeinwirthschaft zu emancipiren. Die Einzel-
heiten, insbesondere auch die offene und geschlossene Zeit
der Felder und Wiesen, pflegen durch uralten Brauch fest
zu stehen. Sofern aber dieser nicht hinreicht, oder einer
Abänderung bedarf, so tritt der Gemeindebeschluss ein.
[40]Die Gemeinde daher bannt und öffnet die Wiesen und
Felder, bestimmt die Ländereien für Sommerfrucht, Winter-
frucht und Brache, ordnet die Zeit des Säens und Erntens
an, regelt die Weinlese, setzt später sogar den Arbeitslohn
für die Erntezeit fest. Sie hat ferner die Controle darüber,
dass die bisherige Nutzungsart der im Flurzwang stehenden
Ländereien nicht willkürlich geändert und damit die Feld-
gemeinschaft durchbrochen werde, … nicht minder wurzeln
im Gesammtrecht alle die Beschränkungen und Belastungen
des Sondereigens in der Feldmark, welche aus der Gemenge-
lage der Landstücke folgten. … Dahin gehört, seinem
Ursprunge nach, das gesammte Nachbarrecht, indem dasselbe
Anfangs mehr Ausfluss des die ganze Mark umschlingenden
genossenschaftlichen Bandes, als eine auf dem besonderen
Titel des benachbarten Grundstückes ruhende individuelle
Modification eines (an sich absolut gedachten) Eigenthums
war«. (Nach O. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht.
Zweiter Band: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs,
S. 216—218.) Und ein Kenner der indischen Bauer-
schaften schildert dieselben als gleichartig mit den primi-
tiven Verfassungen des Westens, und die Gemeinde als ein
organisirtes, selbständiges und selbstthätiges Wesen. »Sie
schliesst thatsächlich ein fast vollständiges Gerüste von Be-
schäftigungen und Gewerken ein, welche sie befähigt, ihr col-
lectives Leben fortzusetzen ohne Beistand von einer auswär-
tigen Person oder Körperschaft. Ausser dem Hauptmann oder
Rath, welche in einigem Maasse richterliche und gesetzgebende
Gewalt ausüben, enthalten sie eine Dorfpolizei ...., und
schliessen unterschiedliche Familien erblicher Handwerke
ein: den Grobschmied, den Geschirrmacher, den Schuster.
Da findet sich der Brahmine für den Vollzug von Cere-
monien, und sogar die Tänzerin zur Aufwartung bei Fest-
lichkeiten. Regelmässig ist ein Dorf-Rechenmeister vor-
handen .... und die Person, welche irgend eines dieser
erblichen Gewerbe betreibt, ist in Wirklichkeit sowohl ein
Knecht der Gemeinde als eines ihrer constituirenden Mit-
glieder. Er wird bisweilen bezahlt durch eine Zubilligung
von Getreide, häufiger durch Anweisung eines Stückes vom
bebauten Lande an seine Familie zu erblichem Besitze.
[41] Was er überdies etwa zu fordern hat für producirte Waaren,
ist beschränkt durch einen herkömmlichen Preismaasstab,
von welchem nur sehr selten abgewichen wird. Es ist die
Zuweisung eines bestimmten Looses im angebauten Gebiete
an einzelne Gewerke, welche die Vermuthung gestattet, dass
die ursprünglichen teutonischen Gruppen in ähnlicher Weise
selbst-genüglich waren.« (Sir H. S. Maine, Village Com-
munities in the East and West p. 125 f.) Und dies wird
bestätigt in Beschreibung der deutschen Mark: »Für die
Zwecke der Gemeinde als solcher wurde, nach heutiger Vor-
stellung, die Allmende auch insoweit verwandt, als aus ihr
die Vorstände, Beamten und Diener der Gemeinde Lohn
und Entschädigung erhielten. Mitunter wurden für sie
förmliche Amtslehen zum Sonderbesitz aus der Mark ge-
schieden. Fast überall aber gewährte man ihnen in Wald
und Weide besondere Nutzungen, die den Charakter von
Besoldungen trugen. Hierher gehörten, bis sie mit der
Verwandlung des Amtes in Herrenrecht ihr Wesen änderten,
die Nutzungsvorrechte der Obermärker, Holzgrafen, Holz-
richter u. s. w. Ebenso die amtlichen Nutzungen oder Vor-
rechte der Dorf- und Bauerrichter. Besonders aber sind
es die mancherlei auf Einräumung der Gesammtheit be-
ruhenden Genussrechte der Schöffen, Geschworenen, Förster,
Mahlleute, Baumwarte, Weibel, Hirten und sonstigen Gemeinde-
beamten, welche oft ausdrücklich als Ausfluss ihres Amtes,
als Entschädigung für ihre Mühe bezeichnet und behandelt
werden. Auch die Nutzungsrechte der Geistlichen und
Schullehrer werden oft ähnlich aufgefasst. Und endlich
hatten meist auch die Allmendenutzungen der von der Ge-
meinde oder dem Grundherren zum Gewerbebetriebe in der
Mark verstatteten Handwerker einen verwandten Charakter.
Denn die Handwerker galten als Angestellte der Gemeinde,
und waren als solche nicht nur befugt, sondern verpflichtet,
für sie und ihre Mitglieder ausschliesslich oder zunächst
zu arbeiten, oder auch wohl ein bestimmtes Maass von Ar-
beiten, sei es als Abgaben, sei es gegen feste Preise zu
liefern: die am Gemeingut ihnen eingeräumten Nutzungen
aber, welche den Handwerksbetrieb erst ermöglichten und
zugleich als Entgelt dafür angesehen wurden, stellten sich
[42] als eine Art von Besoldung dar. In allen diesen Fällen
indess erscheint das, worin wir eine Verwendung der All-
mende zur Bezahlung besonderer der Gemeinde als solcher
geleisteter Dienste zu erblicken geneigt sind, der gemein-
schaftlichen Denkungsart zugleich als eine Verwendung des
Allen gemeinen Gutes für die unmittelbaren Bedürfnisse
Aller. Denn Vorsteher, Beamte und Diener so gut wie
angestellte Handwerker sind von der Gesammtheit schlecht-
hin beauftragt, und ihr so gut in ihrer Vielheit wie in ihrer
Einheit nützlich.« (Nach Gierkel. c. p. 239 f.) Sie sind
wahre Organe ihres Leibes. Die Verfassung des Zusammen-
lebens ist ökonomisch, das heisst kommunistisch.
§ 18.
Und so ist auch die Stadt, nach der aristotelischen
Beschreibung, und nach der Idee, welche ihren natürlichen
Erscheinungen unterliegt, ein sich selbst genügender Haus-
halt, ein gemeinschaftlich lebender Organismus. Wie auch
immer ihre empirische Entstehung sein mag, ihrem Dasein
nach muss sie als Ganzes betrachtet werden, in Bezug
worauf die einzelnen Genossenschaften und Familien, aus
welchen sie besteht, in nothwendiger Abhängigkeit sich be-
finden. So ist sie mit ihrer Sprache, ihrem Brauch, ihrem
Glauben, wie mit ihrem Boden, ihren Gebäuden und Schätzen,
ein Beharrendes, das den Wechsel vieler Generationen über-
dauert, und theils aus sich selber, theils durch Vererbung
und Erziehung ihrer Bürgerhäuser, wesentlich gleichen
Charakter und Denkungsart immer auf’s Neue hervorbringt.
Und ob sie durch eigenen Besitz und den ihrer Bürger
oder durch regelmässigen Bezug aus umgebendem Gebiete,
ihrer Nahrung und der Stoffe für ihre Arbeit sicher ist, so
widmet sie die Fülle ihrer Kraft auf die feinere Thätigkeit
des Gehirnes und der Hände, welche als Verleihung einer
gefälligen, d. i. dem gemeinsamen Sinne und Geiste har-
monischen Form, das allgemeine Wesen der Kunst
darstellt. Denn seiner Tendenz nach, und wie es durch
irgendwelchen Stil der Gemeinde oder ihrer Stände be-
dingt wird, ist alles städtische Handwerk wahre Kunst;
wenn auch in einigen Zweigen sich diese Tendenz
wenig verwirklichen kann. Als Kunst aber ist das Hand-
[43] werk zuerst für das Gesammtbedürfniss da: als Baukunst
für Mauern, Thürme und Thore, für Rathhäuser und Gottes-
häuser der Stadt; als Plastik und Malerei, um solche Häuser
aussen und innen zu schmücken, das Gedächtniss der Gott-
heiten und hervorragender Menschen durch Bildnisse zu
erhalten und zu pflegen, überhaupt aber das Würdige und
Ewige auch den Sinnen nahe zu bringen. Der enge Zu-
sammenhang, insbesondere von Kunst und Religion (die
Kunst beruht, wie Goethe gesagt hat, auf einer Art von
religiösem Sinn) ist schon im Leben des Hauses begründet.
Aller ursprünglicher Kultus ist familienhaft, daher als häus-
licher Kultus, wo Herd und Altar in ihren Anfängen eines
und dasselbe sind, am meisten kräftig gestaltet; und der
Kultus selbst ist eine Kunst. Was für die Abgeschiedenen
und Verehrten gethan wird, geschieht aus feierlicher, ernster
Stimmung, auf eine besonnene abgemessene Weise, dazu
angethan, dieselbe Stimmung zu erhalten und folglich her-
vorzurufen. Hier wird auf das Gefällige in den Verhält-
nissen der Reden, der Handlungen, der Werke, und das ist,
was in sich selber ein Maass — Rhythmus und Harmonie —
hat, aber auch dem ruhigen Sinne des Geniessenden, als
ob er es aus sich selber erzeugt hätte, gemäss ist, mit
Strenge geachtet; das Misfällige, Maasslose, dem Herkommen
Widrige, verabscheut und ausgestossen. Denn freilich kann
das Alte und Gewohnte, aber auch dieses allein, das Streben
nach Schönheit im Kultus hemmen; und doch nur, weil es
für die Gewohnheit und das ehrfürchtig-fromme Gemüth
eine eigenthümliche Schönheit und Heiligkeit an sich trägt.
Im städtischen Leben gibt aber die Anhänglichkeit an das
Hergebrachte nach; die Lust am Gestalten überwiegt.
In demselben Verhältnisse treten die redenden Künste gegen
die bildenden zurück; oder verbinden und assimiliren sich
die redenden den bildenden. Religion, in ihren Anfängen
der Betrachtung des Todes vorzüglich hingegeben, hat im
Dorfleben als Verehrung der Naturmächte, frohere Beziehung
auf das Leben gewonnen. In ungeheuren Phantasieen thut
sich das Jauchzen über ewig neues Werden kund. Die
Dämonen, welche als Vorfahren nur beruhigte Gespenster
sind, von unterirdischer Existenz, halten als Götter ihre
Auferstehung und werden in den Himmel erhoben. Die Stadt
[44] bringt wiederum die Götter sich näher, indem sie ihre Ge-
stalten sich abbildet und alle Tage betrachtet, wie sonst nur
den Laren des Hauses geschah, die nun allmählich immer
schattenhafter werden. Zugleich aber empfangen die Götter,
gleichsam vom Himmel herabgeholt, eine gedankenhaftere
Bedeutung; sie werden Vorbilder sittlicher Reinheit, Tüch-
tigkeit, Güte; ihre Priester werden Lehrer und Prediger
der Tugend. Hierdurch erst vollendet sich die Idee der
Religion. Ein solches Element wird aber um so nothwen-
diger, je mannigfacher und bunter das städtische Leben
wird, je mehr Verwandtschaft und Nachbarschaft als Gründe
freundwilliger Empfindung und Thätigkeit, wie auch inniger
Bekanntheit und gegenseitiger Scham, ihre Kraft einbüssen
oder auf engere Kreise einschränken. Um so lebhafter ist
die Anregung zur Kunst als einer priesterlichen Praxis;
denn das Gute und Edle, und in diesem Sinne Heilige,
muss mit Sinnen wahrgenommen werden, um auf Gedanken
und Gewissen zu wirken. Auch werden Handwerk und
Kunst wie ein religiöser Glaube, ja als Mysterium und
Dogma, durch Lehre und Beispiel fortgepflanzt; daher am
ehesten in der Familie sich erhaltend, den Söhnen über-
liefert, von Brüdern getheilt, und so knüpft wohl an einen
Ahnen und Erfinder der Kunst die Genossenschaft als ein
Clan sich an, der des gemeinsamen Erbes waltet, und stellt
als integrirendes Glied der Bürgerschaft ein »Amt« der
Stadt-Gemeinde dar. Indem aber die Gesammtheit von
Gewerken mehr und mehr das Wesen der Stadt constituirt,
gelangen sie dann wohl zu einer vollkommenen Freiheit
und Herrschaft in Bezug auf dieselbe; die Stadt wird zur
Hüterin ihres gemeinschaftlichen Friedens und der Ord-
nungen, in welchen derselbe als Organisation der Arbeit
nach innen und nach aussen sich geltend macht. Das sind
heilige Ordnungen von unmittelbarer sittlicher Bedeutung.
Die Zunft ist eine religiöse Gemeinde; so ist die Stadt
selber. Und diesem gemäss wird auch das gesammte wirth-
schaftliche Dasein einer vollkommenen Stadt — sei es,
dass wir in der hellenischen oder germanischen Welt dieselbe
suchen — nicht verstanden werden, wenn nicht Kunst wie
Religion als höchste und wichtigste Angelegenheit der
ganzen Stadt, daher ihrer Regierung, ihrer Stände und
[45] Gilden angenommen wird; als Inhalt ihres täglichen
Lebens, als Maass und Regel ihres Dichtens und Trachtens,
ihrer Ordnung und ihres Rechtes wirksam und gültig. Die
Polis, sagt Platon (in den Gesetzen), ist wie ein echtes
Drama. Erhaltung ihres Selbst in Gesundheit und Kraft
ist selber eine Kunst; wie der vernünftige und tugendhafte
Wandel des einzelnen Menschen Kunst ist. Darum sind
für sie auch Einkauf und Verkauf von Waaren, mit den
so wesentlichen Rechten des Stapels und der Märkte, nicht
Sache unternehmender Individuen, sondern von ihr selber
oder durch ein Amt in ihrem Namen ausgeübte Betriebe.
Der Rath wird Sorge tragen, dass nicht Sachen, welche die
Stadt selber nöthig hat, hinausgebracht oder schädliche
Dinge hereingeführt werden; die einzelne Zunft, dass die
von ihren Meistern verkauften Sachen würdig und gut seien;
die Kirche oder Priesterschaft wird sich bemühen, die auf-
lösenden Wirkungen des Handels und Wandels abzuwehren.
— Den somit angedeuteten gemeinschaftlichen Charakter
der Stadt betrachten ökonomische Historiker mit Recht unter
ausschliesslich commerciellem und politischem Gesichtspunkte.
In diesem Sinne sind einige treffende Sätze Schmoller’s
(Jahrbuch für Gesetzgebung u. s. w. VIII, 1) für die vor-
getragene Ansicht bestätigend. Auf bedeutende Weise hebt
er »die Anlehnung der jeweiligen wesentlichen wirthschaft-
lich-socialen Einrichtungen an die wichtigsten politischen
Körper« hervor (wenn auch ohne Natur und Grenzen des
gemeinschaftlichen Lebens zu erkennen). Und demnach
heisst es: »das Dorf ist ein geschlossenes Wirthschafts- und
Handelssystem für sich« [mit dem Dorfe konnte hier, für
die germanische Kultur, Frohnhof und Kloster, auf gleiche
Linie gesetzt werden]. »Wie die Dorfgemeinde mit ihren
Organen, so entwickelt sich noch viel mehr die Stadt zu
einem wirthschaftlichen Körper, mit eigenthümlichem, kräf-
tigem, alles Einzelne beherrschendem Leben.« ..... »Jede
Stadt, besonders jede grössere Stadt, sucht sich in sich als
ein wirthschaftliches Ganzes abzuschliessen, nach aussen
ihre Wirthschaft und Machtsphäre so weit auszudehnen, als
es geht.« Und so des Weiteren.
[[46]]
ZWEITER ABSCHNITT.
THEORIE DER GESELLSCHAFT.
§ 19.
Die Theorie der Gesellschaft construirt einen Kreis
von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf fried-
liche Art neben einander leben und wohnen, aber nicht
wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und
während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen,
hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten. Folglich
finden hier keine Thätigkeiten statt, welche aus einer a priori
und nothwendiger Weise vorhandenen Einheit abgeleitet
werden können, welche daher auch insofern, als sie durch
das Individuum geschehen, den Willen und Geist dieser
Einheit in ihm ausdrücken, mithin so sehr für die mit ihm
Verbundenen als für es selber erfolgen. Sondern hier ist
ein Jeder für sich allein, und im Zustande der Spannung
gegen alle Uebrigen. Die Gebiete ihrer Thätigkeit und
ihrer Macht sind mit Schärfe gegen einander abgegrenzt, so
dass Jeder dem Anderen Berührungen und Eintritt verwehrt,
als welche gleich Feindseligkeiten geachtet werden. Solche
negative Haltung ist das normale und immer zu Grunde
liegende Verhältniss dieser Macht-Subjecte gegen einander,
und bezeichnet die Gesellschaft im Zustande der Ruhe.
[47] Keiner wird für den Anderen etwas thun und leisten, Keiner
dem Anderen etwas gönnen und geben wollen, es sei denn
um einer Gegenleistung oder Gegengabe willen, welche er
seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet. Es ist sogar
nothwendig, dass sie ihm willkommener sei, als was er hätte
behalten können, denn nur die Erlangung eines Besser-
Scheinenden wird ihn bewegen, ein Gutes von sich zu lösen.
Wenn aber ein Jeder solchen Willens theilhaftig ist, so ist
durch sich selber deutlich, dass zwar die Sache a für das
Subject B besser sein kann als die Sache b, und ebenso
die Sache b für das Subject A besser als die Sache a;
aber nicht ohne diese Relationen zugleich a besser als b,
und b besser als a. Es macht nun die Frage sich geltend,
in welchem Sinne überhaupt von Güte oder Werth von
Sachen, der von solchen Relationen unabhängig sei, geredet
werden könne. Worauf zu antworten. In der hier ge-
botenen Vorstellung werden alle Güter als getrennte voraus-
gesetzt, wie ihre Subjecte; was Einer hat und geniesst, das
hat und geniesst er mit Ausschliessung aller Uebrigen;
es gibt kein Gemeinsam-Gutes in Wirklichkeit. Es kann
solches geben, durch Fiction der Subjecte; welche aber
nicht anders möglich ist, als indem zugleich ein gemeinsames
Subject und dessen Wille fingirt oder gemacht wird,
worauf dieser gemeinsame Werth bezogen werden muss.
Solche Fictionen werden aber nicht ohne zureichenden
Grund erfunden. Zureichender Grund dafür ist schon in
dem einfachen Acte der Hingabe und Annahme eines Gegen-
standes vorhanden, insofern als dadurch eine Berührung
und Entstehung eines gemeinsamen Gebietes statt-
findet, das von beiden Subjecten gewollt wird, und während
der Zeitdauer der »Transaction« beharrt; welche Dauer
sowohl als eine verschwindende oder gleich Null gesetzt
werden, als auch in der Vorstellung zu beliebiger Länge
ausgedehnt werden kann. In dieser Zeit hat solches aus
dem Gebiete, sage des A sich ablösende Stück aufgehört,
ganz und gar unter diesem Willen oder dieser Herrschaft
zu stehen; es hat noch nicht angefangen, ganz und gar
unter dem Willen und der Herrschaft, sage des B zu stehen:
es steht noch unter einer partiellen Herrschaft des A
[48] und schon unter einer partiellen Herrschaft des B. Es
ist abhängig von beiden Subjecten, insofern als ihre Willen
in Bezug darauf gleich-gerichtet sein mögen, wie es der
Fall ist, so lange als der Wille des Gebens und Empfangens
dauert; es ist gemeinsames Gut, socialer Werth. Der
darauf bezogene, verbundene und gemeinsame Willekann
nun als ein einheitlicher gedacht werden, welcher bis
zur Ausführung des zwiefachen Actes von Jedem fordert,
denselben zu vollenden. Er muss als eine Einheit gedacht
werden, insofern er als Subject begriffen oder ihm ein
Subject gegeben wird; denn etwas als Seiendes oder als
Ding denken, und es als Einheit denken, ist einerlei. Hier
aber möge mit Sorgfalt unterschieden werden, ob und wi-
lange solches ens victivumnur für die Theorie, oder in
wissenschaftlichen Denken vorhanden sei; oder, und
wann, auch im Denken seiner eigenen Subjecte, für be-
stimmten Zweck von ihnen gesetzt (was voraussetzt, dass
sie schon ohnehin gemeinsamen Wollens und Thuns fähig
sind); denn wiederum ein Anderes ist es, wenn sie nur als
Theilnehmer an der Urheberschaft des im wissenschaft-
lichen Sinne Objectiven vorgestellt werden (insofern als es
Dasjenige ist, was unter gegebenen Bedingungen »Alle« den-
ken müssen). Und es muss allerdings verstanden werden,
dass jeder Act des Gebens und Empfangens, in der ange-
zeigten Weise, einen socialen Willen implicite mitsetzt.
Nun aber ist sothane Action nicht denkbar ohne ihren Grund
oder Zweck, d. i. die angenommene Gegengabe, und folglich,
da diese Action ebenso bedingt ist, so kann keine
der anderen vorhergehen, sie müssen in der Zeit zusammen-
fallen, oder — denselben Gedanken anders auszudrücken —:
die Annahme ist gleich der Hingabe eines angenommenen
Ersatzes; so dass der Tausch selber, als vereinigter und
einziger Act, Inhalt des fingirten Social-Willens ist. In
Bezug auf denselbigen Willen sind die ausgetauschten Güter
oder Werthe gleich. Die Gleichheit ist sein Urtheil und
ist gültig für die beiden Subjecte, insofern als sie, in
ihrer Einigkeit, es gesetzt haben; daher auch nur für die
Dauer des Tausches, und in Bezug auf den Zeitpunkt des-
selben. Damit es, auch in dieser Beschränkung, objectiv
[49] oder allgemein-gültig werde, so muss es als von »Allen«
gefälltes Urtheil erscheinen. Alle müssen daher diesen ein-
zigen Willen haben; der Tausch-Wille verallgemeinert sich;
Alle nehmen Theil an dem einzelnen Acte und bestätigen
ihn, er wird absolut-öffentlich. Im Gegentheile kann die
Allgemeinheit diesen einzelnen Act verneinen; sie erklärt:
a ist nicht = b, sondern \> b oder \< b; d. i. die Sachen
sind nicht nach ihrem wahren Werthe ausgetauscht. Der
wahre Werth ist der Werth in Bezug auf Alle, als allge-
meines gesellschaftliches Gut gedacht. Er wird constatirt,
wenn Niemand die eine Sache in der anderen höher
oder niedriger schätzt. Es ist aber nur das Vernünftige,
Richtige, Wahre, in Bezug worauf Alle nicht auf zufällige,
sondern auf nothwendige Weise übereinstimmen; so dass sie
in Bezug darauf einig sind, und concentrirt gedacht werden
in dem messenden, wägenden, wissenden Richter, welcher
das objective Urtheil fällt. Dieses müssen Alle aner-
kennen, müssen darnach sich richten, insofern als sie selber
Vernunft oder ein objectives Denken haben, also denselben
Maasstab gebrauchen, mit derselben Waage wägen.
§ 20.
Was ist es nun, das als Maasstab, oder als Waage
vorgestellt wird in der denkenden Vergleichung? Wir
kennen die »Eigenschaft«, deren Menge in diesem festen
Prüfer ausgedrückt werden soll, und nennen sie »Werth«.
Dieselbige darf aber hier gar nicht mehr als »Güte« ver-
standen werden, insofern als Güte etwas ist, was von einem
realen Subjecte empfunden wird: denn die Verschieden-
heit solcher Empfindung in Bezug auf dasselbe Object ist
Voraussetzung des vernünftigen Tausches. Und dagegen
suchen wir die Gleichheit des Werthes, im objectiven
Urtheil, von verschiedenen Objecten. Die natürliche
Schätzung vergleicht Objecte, die zu derselbigen Gattung
gehören, und hier ist das Ergebniss Bejahung oder Ver-
neinung, stärkere oder schwächere, je nachdem sie der Idee
einer solchen Sache gemäss zu sein oder zu widersprechen
scheinen. In diesem Sinne kann man auch die allgemeine
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 4
[50] Gattung brauchbarer (nützlicher) Dinge bilden, um einige
als nothwendig, andere als überflüssig zu bezeichnen, einige
als sehr nützlich hervorzuheben, andere als sehr schädlich
zu verwerfen; hier aber müsste die Menschheit als ein Ganzes
gedacht werden, oder doch eine Gemeinschaft von Menschen,
welche, gleich dem Individuo, lebe, und mithin Bedürfnisse
habe; einig in ihrem Willen sei, mithin Nutzen und Schaden
theile (da nämlich das Urtheil zugleich als subjectives vor-
gestellt wird). Aber, wenn man die Gleichheit des Werthes
zweier ausgetauschten Sachen behauptet, so ist keines-
weges die Meinung, dass dieselben für ein Gesammtwesen
in gleicher Weise nützlich oder nothwendig seien. Es müsste
dann auch die Möglichkeit aufgestellt werden, dass Jemand
absolut schädliche Sachen einkaufe. Aber dies wäre
ungeheuerlich und utopisch. Man mag mit Grund sagen,
dass das Urtheil, welches von der Begierde involvirt
wird, falsch sei, dass also Mancher ein für sich schäd-
liches Ding durch Tausch erwerbe. Aber offenbar ist
der Branntwein, welcher dem Arbeiter schadet, für den
Brennerei-Unternehmer durchaus nützlich, nicht indem er
ihn trinkt, sondern indem er ihn verkauft. Damit eine
Sache überhaupt als gesellschaftlicher Werth gelte,
dazu ist nur erforderlich, dass sie auf der einen Seite im
Ausschluss gegen Andere gehabt, auf der anderen von
irgend einem Exemplare der menschlichen Gattung begehrt
werde; alle ihre übrige Beschaffenheit ist schlechthin gleich-
gültig. Dass sie eine gewisse Menge von Werth habe, heisst
also niemals, dass sie mit so grosser Nützlichkeit angethan
sei. Der Werth ist eine objective Qualität: wie die Länge
für Gesicht und Getast, die Schwere für Getast und Muskel-
sinn, so der Werth für den gesellschaftliche Thatsachen
anfassenden und begreifenden Verstand. Derselbige sieht
Sachen darauf an, und prüft sie, ob sie rasch herstellbar
sind oder viele Zeit erfordern; ob sie leicht sich beschaffen
lassen, oder schwere Mühe kosten, er misst ihre Wirklich-
keit an ihrer Möglichkeit und setzt ihre Wahrscheinlichkeit
fest. Diese ist das einzige, für den vernünftigen Tauscher
subjective, für die Tauschgesellschaft absolute Kriterion
des Werthes. Welches behaupten zunächst nicht mehr heisst
[51] als sagen, dass jeder Vernünftige in Bezug auf feilgebotene
Gegenstände den Gedanken habe (haben müsse), dass die-
selben ihrer Natur nach etwas kosten, um überhaupt und
insbesondere, um an diesem Orte, zu dieser Zeit, da zu
sein; sei es, dass sie andere Gegenstände, um die sie ein-
getauscht wären, sei es, dass sie Arbeit, oder endlich, dass
sie beides gekostet haben. Aber die menschliche Gesell-
schaft, dieses ens fictivum, tauscht nichts ein; es sei denn,
dass sie als besondere Person begriffen werde (was hier
noch ausser aller Frage ist); denn da nur Menschen mit
Menschen tauschen, so ist kein Wesen da, das sich ihr
gegenüberstellen könnte; für sie kosten daher Gegen-
stände nur Mühe und Arbeit; und zwar, da Raub wie
Tausch die Existenz derselben schon voraussetzt, nichts als
hervorbringende, pflegende und züchtende, schaffende und
Stoffe gestaltende Arbeit, als Ursache des Daseins von
Dingen in bestimmter Zeit, zu welcher inneren noch die
äussere Arbeit der Bewegung im Raume hinzukommen
kann, als Ursache ihres Daseins an bestimmtem Orte. Die
Dinge sind ihr daher alle gleich und jedes einzelne oder
jede Menge bedeutet ihr nur eine gewisse Quantität der
für sie nothwendigen Arbeit; daher wenn einige Arbeit
geschwinder ist als die andere, einige ergiebiger (produc-
tiver), d. i. dieselben Dinge mit geringerer Mühe (durch
grössere Geschicklichkeit oder bessere Werkzeuge) hervor-
bringt, so werden in ihr und durch sie alle diese Unter-
schiede aufgelöst in Quantitäten der gleichen durchschnitt-
lichen Arbeitszeit. Das will sagen: je mehr der Aus-
tausch von Waaren allgemein oder gesellschaftlich wird:
nämlich je mehr Jeder seine Waare für Alle feil hält, und
je mehr Alle fähig sind, dieselbe Waare hervorzubringen,
aber aus eigener Einsicht und Wahl Jeder auf die für ihn
leichteste sich beschränkt; also dass nicht eine ihrer
Natur nach gemeinschaftliche Arbeit getheilt wird, oder
sich theilt, indem besondere Künste ausgebildet, vererbt,
gelehrt werden, sondern vielmehr die Subjecte ein Stück
Arbeit nehmen, welches dem Preise, den die Gesellschaft
darauf setzt, am nächsten entsprechen möge, also das mög-
lichst geringe Quantum überflüssiger Arbeitszeit für sich
4*
[52] fordere. So lässt sich Gesellschaft denken, als ob sie in
Wahrheit aus solchen getrennten Individuen bestehe,
welche für die allgemeine Gesellschaft thätig sind, indem
sie für sich thätig zu sein scheinen, und welche für sich
thätig sind, indem sie es für die Gesellschaft zu sein scheinen.
Durch immer erneuerte Theilung und Wahl würde so zuletzt
der Einzelne auf wirklich gleiche und einfache oder elemen-
tare Arbeit kommen, als auf ein Atom, das er zu der gesell-
schaftlichen Gesammtarbeit beitrüge, und aus welchen diese
zusammengesetzt würde. Durch den Tausch alsdann ent-
ledigt sich Jeder des für ihn nicht brauchbaren Werthes,
um einen gleichen für ihn brauchbaren Werth sich anzu-
eignen. Wie aber die wirkliche Structur der Gesellschaft
zu solchem Begriffe sich verhalte, wird Verlauf und Ende
dieser Erörterung zeigen.
§ 21.
Wenn nun auch nichts als Austausch von Waare gegen
Waare in einem fortwährenden Zustande geschähe, so würde
doch jeder Waarenmacher dadurch in eine vollkommene Be-
dingtheit und Abhängigkeit von allen übrigen Waarenmachern
sich befinden, indem sein Beitrag bestimmt wäre, ihm einen
Antheil an allen übrigen geniessbaren Waaren, dazu
aber seinen nothwendigen Ersatz an Arbeitsmitteln (woran
nicht gleiches, sondern verschiedenes Bedürfniss Aller vor-
ausgesetzt wird) zu verschaffen. Dies ist die Abhängigkeit
von der Gesellschaft; welche doch auch ein Stück der
Ueberlegenheit und Verfügung über die Gesellschaft in sich
enthält. Daher drückt sich der Zustand in abwechselnder
Weise als ein bittender und als ein befehlender aus: jener
bezeichnet durch die Feilhaltung der Waare als Werthes,
dieser durch die Feilhaltung des Werthes als einer Waare.
Wenn nämlich eine allgemeine Waare vorhanden ist, welche
durch die Anerkennung Aller, d. i. durch den Willen der
Gesellschaft ihren Stempel als solche empfängt, so bedeutet
dieselbe, als die schlechthin begehrte, eine Macht über jede
beliebige andere, welche sie selber, d. i. ihr Inhaber, für
sich einzutauschen versuchen mag; sie repräsentirt den ab-
stracten Begriff des Werthes. Es ist dadurch nicht aus-
[53] geschlossen, dass sie selber Werth habe, wenn sie ihn
nur in einer handlichen, in gleiche Theile zerlegbaren, leicht
constatirbaren Form darstellt, und mit den übrigen bekannten
Eigenschaften, wie sie am meisten den sogenannten edlen
Metallen zukommen, und diese sind so nothwendig, um die
Werthe zu messen und ihre Verhältnisse zu einander als
einheitliche Preise festzusetzen, als eine Masse ist, in welcher
die Gewichte und die specifischen Gewichte der Körper
ausgedrückt werden. Die Gesellschaft, welcher Gold und
Silber gehört (denn es gehört Niemandem, insofern als es
Geld ist: l’argent n’a pas de maître), bestimmt in Quanti-
täten desselben die Marktpreise der Waaren, über welche
das individuelle Belieben von Verkäufer und Käufer, ihr
Dingen und Feilschen, nur in sehr engen Grenzen sich
hinauf- oder hinunterbewegen kann. Jedoch reiner als durch
irgendwelche »Münze« wird der Begriff des Geldes dar-
gestellt durch eine an sich werth-lose Waare, dergleichen
ein mit Zeichen versehenes Papier ist, welche also nicht
blos ihre Bedeutung, sondern auch ihren Werth allein
durch die Gesellschaft erhält und nicht bestimmt ist, auf
irgend eine andere Weise gebraucht zu werden, als in
diesem gesellschaftlichen Gebrauchedes Tausches. Da-
her will Niemand solches Geld haben, um es zu haben, und
Jeder, um es loszuwerden. Während alle übrigen und con-
creten Dinge gut sind so lange und in dem Maasse, als sie
ihre Idee durch nützliche oder angenehme Wirkungen auf
den Besitzer ausdrücken, so ist dieses abstracte Ding nur gut
so lange und in dem Maasse, als es auf den Nichtbesitzer
einen Reiz durch die Vorstellung auszuüben vermag, dass
er wiederum dieselbe Wirkung nach aussenhin dadurch aus-
üben werde. Andererseits hat jedes Ding als Waare
einen Antheil an dieser Qualität- und Werthlosigkeit des
Geldes; jede Waare ist in einem gewissen Grade Geld,
und sie ist um so besser, je mehr sie Geld ist (je currenter
sie ist). — Die Gesellschaft producirt ihren eigenen Begriff
als Papiergeld und bringt ihn in Umlauf, indem sie
ihm Kurs gibt. Dies gilt, insofern als der Begriff des
Werthes dem Begriffe der Gesellschaft als nothwendiger
Inhalt ihres Willens inhärirt. Denn Gesellschaft ist nichts
[54] als die abstracte Vernunft — deren jedes vernünftige Wesen
in seinem Begriffe theilhaftig ist — insofern dieselbe zu
wollen und zu wirken gedacht wird. Die abstracte Vernunft
in einer speciellen Betrachtung ist die wissenschaft-
liche Vernunft, und deren Subject ist der objective Rela-
tionen erkennende, d. h. der abstracte Mensch. Und folg-
lich verhalten sich wissenschaftliche Begriffe, die ihrem
gewöhnlichen Ursprunge und ihrer dinglichen Beschaffen-
heit nach Urtheile sind, durch welche Empfindungscomplexen
Namen gegeben werden, innerhalb der Wissenschaft, wie
Waaren innerhalb der Gesellschaft. Sie kommen zusammen
im System wie Waaren auf dem Markte. Der oberste
wissenschaftliche Begriff, welcher nicht mehr den Namen
von etwas Wirklichem enthält, ist gleich dem Gelde. Z. B.
der Begriff Atom oder der Begriff Energie.
§ 22.
Der einige Wille in jedem Tausche, sofern der Tausch
als gesellschaftlicher Act gedacht wird, heisst Contract.
Er ist die Resultante aus zwei divergirenden Einzelwillen,
die sich in einem Punkte schneiden. Er dauert bis zur
Vollendung des Tausches, will und fordert die zwei Acte,
aus welchen derselbe sich zusammensetzt; jeder Act kann
aber in eine Reihe von Theilacten auseinanderfallen. Da
er sich immer auf mögliche Handlungen bezieht, so wird
er inhaltlos und hört auf, indem solche Handlungen wirk-
lich, oder indem sie unmöglich werden: jenes Erfüllung,
dieses Bruch des Contractes. Der einzelne Wille, welcher
in den Contract eingeht, bezieht sich entweder auf seine
gegenwärtige und wirkliche Handlung — wie in Hingabe
von Waare oder Geld — oder auf seine zukünftige und
mögliche Handlung — sei es als einen übrigbleibenden
Theil der in ihrer Gesammtheit als gegenwärtig gedachten,
folglich etwa als Hingabe des Restes von Waare oder Geld
zum Inhalte habend; sei es, dass dieselbe ganz und gar und
mit ihrem Beginne in einen entfernten Zeitpunkt (den
Termin) hineingedacht werde —; so dass entweder für den
Theil oder für das Ganze der blosse Wille hingegeben
und angenommen wird. Der blosse Wille kann zwar auch
[55] auf andere Weise evident werden, aber eigentlich wahr-
nehmbar nur, wenn er in ein Wort verwandelt und dadurch
ausgedrückt worden ist. Das Wort wird gegeben anstatt
der Sache. Es hat für den Empfänger den Werth der-
selben in dem Maasse, als die Verbindung von Wort und
Sache eine nothwendige, also die Erlangung für ihn gewiss
ist. Es hat keinen Werth als »Pfand«; denn es kann
weder genossen noch als Sache für sich verkauft werden.
Aber es ist gleich der ideellen Hingabe der Sache selber;
der Empfänger hat das vollkommene Recht auf die Sache
erworben, das Einzige, was er ausser durch seinen eigenen
Willen (dessen actuelle Macht den natürlichen Grund des
thatsächlichen Eigenthums ausmachen würde) haben
kann: nämlich durch den allgemeinen, den gesellschaftlichen
Willen; denn die Gesellschaft, unfähig, jeden Fall zu prüfen,
präsumirt für Hingabe als bedingt durch Austausch, und
für Austausch von Aequivalenten: dies will nichts Anderes
sagen, als dass in der richtig begriffenen Gesellschaft nicht
blos der actuelle Zustand eines Jeden, sondern auch jeder
Austausch und folglich jedes Versprechen als dem Willen
Aller gemäss gültig, d. h. als rechtmässig gedacht wird,
mithin als bindend. Zuerst aber erfordert es die Einwilli-
gung des Empfängers; denn nur mit seinem Willen kann
eine Sache, die ihm gehört (aus dem Grunde des Tausches
als dem allein denkbaren), in den Händen des Anderen
bleiben. Seine Einwilligung kann als ein eigenes Ver-
sprechen, dass er sie ihm bis zum Termine lassen und nicht
entreissen wolle, gedeutet werden. Wenn aber im Allge-
meinen jedes Versprechen als auf künftige Hingabe eines
Tauschgegenstandes bezüglich gedacht wird, so ist sie viel-
mehr gleich einer gegenwärtigen Hingabe auf gemessene
Zeit, zu einem Eigenthume, welches nur durch den Contract-
willen bedingt, als »Schuld« des Inhabers in Bezug auf
seinen »Gläubiger« ein negatives Eigenthum darstellt, näm-
lich die Nothwendigkeit, das Geschuldete an einem
bestimmten Zeittermine herauszugeben, während positives
Eigenthum im gesellschaftlichen Sinne, vielmehr die absolute
(ungebundene) Freiheit ist, über seine Sache bis in un-
begrenzte Zeit und in Bezug auf Jeden zu verfügen. Auch
[56] das Debitum ist wahres Eigenthum in Bezug auf jeden
Dritten, selbst nach dem Termine des Verfalles (und hier-
auf beruht der abstracte Schutz der possessio in gesell-
schaftlichen Rechtssystemen), ja auch in Bezug auf den
Gläubiger bis zu diesem Termine. Daher ist es nur in
Bezug auf diesen und nur durch diese Nothwendigkeit der
»Zahlung« beschränkt, d. h. negirt. Ebenso ist aber das
Eigenthum des Gläubigers an derselben Sache, welches
vom Termine an absolut ist gegen Alle, bis dahin mit allen
Consequenzen negirt durch die Abtretung an den Schuldner;
mit dieser seiner Beschränkung heisst es »Forderung« in Bezug
auf den Schuldner, als Freiheit oder Recht, denselben zur
Herausgabe zu nöthigen, von dem Termine des Verfalles
ab. Es ist also ein gemeinsames und getheiltes Eigen-
thum in dieser Zwischenzeit: indem das vollkommene Eigen-
thum dem Gläubiger gehört, mit Ausnahme der zeit-
weiligen Verfügung, welche dem Schuldner gehört.
§ 23.
Somit ist in einem solchen besonderen Contracte
ebensosehr der Empfänger activ, welcher »den Credit gibt«,
als der Versprechende, welcher den Credit »nimmt«. Der
regelmässige Fall aber, welcher aus dem Tausch von Waare
gegen Waare, durch die Entwicklung desselben zum Ver-
kauf von Waare gegen Geld hervorgeht, ist der Verkauf von
Waare gegen (gegebenen) Credit. Durch die Form des Credits
trifft dieses Geschäft zusammen mit dem Darlehn, welches
in seiner entfalteten Erscheinung Verkauf von Geld gegen
Credit ist. Aber dort ist Credit die aufgeschobene und oft —
zur grossen Erleichterung des Tauschverkehrs — durch
Gegenforderungen aufgehobene Zahlung: das Ver-
sprechen leistet, entweder zeitweilig oder überhaupt, die
Dienste des Geldes; es ist Geldsurrogat, daher um so voll-
kommener, je mehr es durch Zahlungsfähigkeit oder durch
Gegenforderungen des Schuldners zuverlässig ist. Um so
mehr kann es gleich barem Gelde, auch vom Empfänger
aus, als Kaufmittel und als Zahlungsmittel dienen. Den
Geldwerth, auf dessen Namen es angenommen wird, hat es
für Geber und Empfänger: dem Begriffe des Geldes ent-
[57] spricht es durch solchen auf verbundene Willkür allein be-
gründeten, fictiven oder imaginären Werth in zureichender
Weise. Während aber das absolute Papiergeld dasjenige
sein würde, welches Jeder nimmt für beliebige Waare, zu
gleichem Werthe (weil er gewiss ist, einen gleichen Werth
an beliebiger Waare wieder dafür zu erhalten), so gilt hin-
gegen ein »Wechsel« oder derartiges Markengeld nur, weil
und insoweit als der Empfänger sicher ist, entweder es
weiter geben zu können oder zurück an den Geber (den
Aussteller) für den Werth einer bestimmten Waare, z. B.
des Goldes. Es ist Privatgeld, für welches die Gesell-
schaft garantirt, insofern als sie die Nöthigung (Execution)
des Schuldners oder seiner »Bürgen« unterstützt. Das em-
pirische Papiergeld, ausgegeben von einer Person, welche
in einem begrenzten Gebiete die Gesellschaft selber darstellt
(wie der Staat oder seine »Bank« ist), nimmt einen mittleren
Rang ein zwischen solchem Papiergeld und dem vorgestellten
absolut-öffentlichen Gelde, für welches Niemand verant-
wortlich sein würde, weil Alle es begehren und suchen
würden, wie es in Wirklichkeit in Bezug auf das Geld als
(wie immer dargestelltes) allgemeines Kaufmittel der Fall
ist. — Wo aber Geld gegen Credit verkauft wird, da tritt
die Wahrheit des gesellschaftlichen Verkehrs insofern am
deutlichsten zu Tage, als beide Theile nur Geld wollen und
kein anderes Bedürfniss haben. Allerdings wird die »Obli-
gation« selber, welche für empfangenes Darlehn gegeben
wird, zu einer besonderen Art von Waare, welche zu wech-
selnden Preisen von Hand zu Hand gehen kann. Aber
auch, wer sie erwirbt, um sie zu behalten und ihre Süssig-
keit zu geniessen, will nichts als periodisch fällige Geld-
summen, die »Zinsen«, aus ihr herausziehen, auf welche er
einen rechtlichen Anspruch hat, wenn auch die Zurückgabe
des »Kapitals« nicht auf einen bestimmten Termin ver-
sprochen worden ist. Dann ist nämlich diese gar nicht sein
Zweck, sondern er will seine Forderung unrealisirt bewahren
als die beständige Ursache immer erneuerter Leistungen seines
Contrahenten. Nichts als Idee, dargestellt wie das absolute
Geld, durch einen Fetzen Papieres, ist sie die absolute
Waare, die Vollkommenheit der Waare: nämlich nicht ab-
[58] nutzbar und veraltend wie ein todtes Geräth oder gar ein
unnützes, der »Ewigkeit« bestimmtes Kunstwerk, sondern
in Wahrheit ewig jung und gleichsam-lebendige Ursache
regelmässig wiederholter gleicher Quantitäten verkörperter
Lust. Der antike Philosoph hat den lange Zeit autoritativen
Satz überliefert, dass Geld nicht gebäre. Der Satz ist
richtig. Geld ist Macht, aber niemals Macht seiner eigenen
unmittelbaren Reproduction. Was auch immer dafür er-
worben wird, es muss die Hand seines Inhabers verlassen,
um etwas zu erwerben. Es verleiht Niemandem ein Recht.
Dem Gelde gegenüber ist Jeder frei und ungebunden. Die
Obligation hingegen ist ganz und gar rechtliche Macht.
Denn die zukünftige Leistung eines Anderen in seiner
Hand zu haben, ist in der Welt der Thatsachen nicht
möglich. Es ist nur im Rechte möglich. Der Tausch
von Geld gegen Waare ist blos thatsächlicher sinnlicher,
wenn auch nur aus der Gesellschaft verstehbarer Vorgang.
Aber auf Grund des Eigenthums an einer Waare (wie die
Obligation ist) und ohne sie hinzugeben, Geldzahlungen zu
empfangen, das ist ein gesellschaftlich übersinnlicher Zustand.
Denn hier ist ein dauerndes Band geschaffen, im Wider-
spruch mit dem Begriffe der Gesellschaft, welches nicht die
Sachen verbindet, sondern die Personen. Das Verhältniss,
welches schon im einfachen Tauschcontracte momentan ist,
wird hier als zeitlich unbegrenztes gedacht, dort als gegen-
seitige Balance, hier als einseitige Abhängigkeit.
§ 24.
Aber in jedem Tausche kann die Stelle eines wahr-
nehmbaren Gegenstandes vertreten werden durch eine Thä-
tigkeit. Die Thätigkeit selber wird als Leistung hingegeben
und angenommen. Sie muss dem Empfänger nützlich oder
angenehm sein wie eine Sache. Alsdann wird sie gedacht
als eine Waare, deren Production und Consumtion zeitlich
zusammenfallen. Sofern nun eine Leistung nicht gegeben,
sondern nur versprochen wird (im Gegensatze zu der nicht
gegebenen und nur versprochenen Sache), so ist die Wir-
kung von entsprechender Art. Sie gehört dem Empfänger
von Rechts wegen; nach dem Termine kann er rechtmässiger
[59] Weise den Promittenten zwingen, die Leistung auszu-
führen, sowie er rechtmässiger Weise eine verfallene Sache
herauszugeben, den Schuldner und jeden dritten Besitzer
nöthigen, oder sie mit Gewalt nehmen kann. Eine schul-
dige Leistung lässt nur durch Zwang sich nehmen. Das
Versprechen einer Leistung kann aber sowohl gegenseitig
als einseitig sein, mithin auch daraus erfolgendes Zwangs-
recht. In diesem Sinne können daher Mehrere zu einer
gleichen Thätigkeit nach aussenhin sich verbinden,
wobei Jeder der wirklichen Leistung des Anderen als einer
Hülfe für sich geniesst. Endlich können dann Mehrere
übereinkommen, eine solche ihre Verbindung als ein
existirendes und unabhängiges Wesen von der gleichen indi-
viduellen Natur wie sie selber, zu denken, und dieser
fingirten Person einen besonderen Willen und die Fähigkeit
des Handelns, also auch Contracte zu schliessen und sich
zu obligiren, zuzuschreiben. Dieselbe ist aber, gleich allem
übrigen möglichen Inhalte von Contracten, nur insofern als
objectiv-wirkliche zu denken, als die Gesellschaft darin mit-
zuwirken und also ihre Existenz zu bestätigen scheint. Nur
so ist sie ein Mit-Subject der gesellschaftlichen Rechts-
Ordnung und heisst eine Societät, ein Verein, eine Gesell-
schaft oder mit irgend welchen ähnlichen Namen. Der natür-
liche Inhalt solcher Ordnung kann aber in der einen Formel
zusammengefasst werden: pacta esse observanda, dass Con-
tracte gehalten werden müssen, womit die Voraussetzung
eines Zustandes getrennter Willenssphären oder Gebiete ge-
geben ist, deren thatsächlicher Umfang bejahet oder garan-
tirt wird, so dass mithin eine bejahte und folglich recht-
mässige Veränderung jeder Sphäre nur statthaben kann:
entweder zu Gunsten oder Ungunsten von Gebieten, die
ausserhalb des Systemes gelegen sind, oder aber —
innerhalb des Systemes — allein durch Contracte, d. i.
durch Einwilligung des Vermehrten oder Verminderten, und
hiermit gegebene Einwilligung Aller. Solches Zusammen-
treffen der Willen ist seiner Natur nach momentan, punc-
tuell, so dass die Veränderung als Werden des neuen Zu-
standes keine Zeitdauer haben muss. Alsdann entsteht
keine Modification der obersten Regel, dass Jeder innerhalb
[60] seines Gebietes mit Recht thun könne, was er wolle, aber
nichts jenseit desselben. Daher: wo dennoch ein gemein-
sames Gebiet entsteht, wie in der dauernden Obligation und
in der Societät, da muss die Freiheit selber, als Inbegriff
der Rechte, in Bezug darauf zu schalten, getheilt sein, oder
aber eine neue künstliche und fingirte Freiheit hergestellt
werden. Die einfache Form des allgemeinen gesellschaftlichen
Willens, welcher dieses Naturrecht setzt, nenne ich Con-
vention. Es können positive Bestimmungen und Regeln
aller Art als conventionell erkannt werden, die ihrem Ur-
sprunge nach von ganz verschiedenem Stile sind, so dass
Convention oft als Synonym von Herkommen oder Sitte be-
griffen wird. Aber alles, was dem Herkommen oder der
Sitte entspringt, ist nur conventionell, insofern als es um
des allgemeinen Nutzens willen, und der allgemeine Nutzen
von Jedem um seines eigenen Nutzens willen gewollt und
erhalten wird. Es wird also nicht mehr aus dem
Grunde der Ueberlieferung, als heiliges Erbe der Vor-
fahren, gewollt. Und folglich ist es nicht mehr Herkommen
oder Sitte zu heissen würdig.
§ 25.
Gesellschaft also, durch Convention und Naturrecht
einiges Aggregat, wird begriffen als eine Menge von natür-
lichen und künstlichen Individuen, deren Willen und Gebiete
in zahlreichen Beziehungen zu einander und in zahlreichen
Verbindungen mit einander stehen, und doch von einander
unabhängig und ohne gegenseitige innere Einwirkungen
bleiben. Und hier ergibt sich die allgemeine Beschreibung
der »bürgerlichen Gesellschaft« oder »Tauschgesellschaft«,
deren Natur und Bewegungen die politische Oekonomie zu
erkennen beflissen ist: eines Zustandes, worin nach dem
Ausdrucke des Adam Smith »Jedermann ein Kaufmann
ist«. Daher denn, wo eigentlich kaufmännische Individuen,
Geschäfte oder Firmen und Compagnieen, einander gegen-
überstehen, in dem internationalen oder nationalen Markt-
und Börsenverkehr, die Natur der Gesellschaft wie in einem
Extracte oder wie im Hohlspiegel sich darstellt. Denn die
Allgemeinheit dieses Zustandes ist doch keineswegs, wie der
[61] berühmte Schotte sich einbildete, unmittelbare oder auch
nur wahrscheinliche Folge der Neuerung, dass Arbeit ge-
theilt und Producte ausgetauscht werden. Sie ist vielmehr
ein fernes Ziel, in Bezug auf welches die Entwicklung
der Gesellschaft begriffen werden muss, und in dem Maasse
seiner Verwirklichung ist auch das Dasein einer Gesell-
schaft zu einer bestimmten Zeit in unserem Sinne wirklich.
Es ist mithin immer ein werdendes Etwas, das hier als
Subject des allgemeinen Willens oder der allgemeinen Ver-
nunft gedacht werden soll. Und zugleich (wie wir wissen)
ein fictives und nominelles. Es schwebt gleichsam in der
Luft, wie es aus den Köpfen seiner bewussten Träger her-
vorgegangen ist, die sich über alle Entfernungen, Grenzen
und Bedenken hinweg tauschbegierig die Hände reichen,
und diese speculative Vollkommenheit begründen, als das
einzige Land, die einzige Stadt, woran alle Glücksritter
und Abenteurer (merchant adventurers) ein wirklich gemein-
sames Interesse haben. So wird sie repräsentirt, wie die
Fiction des Geldes durch Metall oder Papier, durch den
ganzen Erdball oder durch ein zufällig bestimmtes Terri-
torium. Denn in diesem Begriffe muss von allen ursprüng-
lichen oder natürlichen Beziehungen der Menschen zu ein-
ander abstrahirt werden. Die Möglichkeit eines gesellschaft-
lichen Verhältnisses setzt nichts voraus als eine Mehrheit
von nackten Personen, welche etwas zu leisten und folglich
auch etwas zu versprechen fähig sind. Gesellschaft als
Gesammtheit, über welche sich ein conventionelles System
von Regeln erstrecken soll, ist daher, ihrer Idee nach, un-
begrenzt; ihre wirklichen und zufälligen Grenzen durch-
bricht sie fortwährend. Da nun in ihr jede Person ihren
eigenen Vortheil erstrebt und die übrigen nur bejaht, so
weit und so lange als sie denselben fördern mögen, so kann
das Verhältniss Aller zu Allen, vor und ausserhalb der
Convention, und wiederum vor und ausser jedem beson-
deren Contracte, als potentielle Feindseligkeit oder als ein
latenter Krieg begriffen werden, gegen welchen dann alle
jene Einigungen der Willen als ebensoviele Verträge und
Friedensschlüsse sich abheben. Und dies ist diejenige Auf-
fassung, welche allen Thatsachen des Verkehrs und Handels,
[62] wo auf reine Vermögensbestimmungen und Werthe alle
Berechtigungen und Verpflichtungen zurückgeführt werden
können, allein adäquat ist, und worauf daher jede Theorie
eines reinen Privatrechts oder (gesellschaftlich verstandenen)
Naturrechtes, wenn auch ohne dessen bewusst zu sein, be-
ruhen muss. Käufer und Verkäufer, in ihren mannigfachen
Modificationen, stehen immer so zu einander, dass jeder
für möglichst wenig von dem eigenen Vermögen, möglichst
viel von dem fremden Vermögen zu erlangen begehrt und
versucht. Und die wahren Händler oder Kaufleute halten
auf zahlreichen Bahnen Wettrennen mit einander ab,
worin Jeder dem Anderen zuvorzukommen und wenn mög-
lich als der Erste ans Ziel: den Absatz seiner Waare und
einer möglichst grossen Menge von Waare zu gelangen
trachtet; daher sie oft einander zurückzudrängen oder zu
Falle zu bringen sich bemühen müssen, und der Schade
des Einen gleich dem Nutzen des Anderen ist, wie auch in
jedem einzelnen Tausche, sofern nicht wirklich gleiche
Werthe ihre Eigenthümer wechseln. Dies ist die allgemeine
Concurrenz, welche auf vielen anderen Gebieten statt-
findet, aber auf keinem so deutlich und mit Bewusstheit als
auf dem des Handels, worauf folglich auch im gewöhn-
lichen Gebrauche der Begriff beschränkt wird, und ist schon
von manchen Wehklagenden als Illustration jenes Krieges
Aller gegen Alle geschildert worden, welchen ein grosser
Denker als den natürlichen Zustand des menschlichen Ge-
schlechtes überhaupt begriffen hatte. Aber auch die Con-
currenz trägt, wie alle Formen dieses Krieges, die Möglich-
lichkeit der Beendigung in sich. Auch diese Feinde —
wenn auch diese am schwersten — erkennen unter gewissen
Umständen als ihren Vortheil, sich zu vertragen, einander
ungeschoren zu lassen, oder sogar zu einem gemeinsamen
Zwecke (etwa auch, und zwar am ehesten: wider einen
gemeinsamen Gegner) sich zu verbinden. So wird Con-
currenz durch Coalition beschränkt und abgelöst. — Und
in Analogie zu diesem auf Austausch materieller Werthe
beruhenden Verkehr kann alle conventionelle Gesel-
ligkeit verstanden werden, deren oberste Regel die Höf-
lichkeit ist: ein Austausch von Worten und Gefälligkeiten,
[63] in welchem Jeder für Alle dazusein, Alle Jeden als ihres
Gleichen zu schätzen scheinen, in Wahrheit Jeder an sich
selber denkt und im Gegensatze zu allen Uebrigen seine
Bedeutung und seine Vortheile durchzusetzen bemüht ist.
So dass für Alles, was Einer dem Anderen Angenehmes er-
weist, er wenigstens ein Aequivalent zurückzuempfangen
erwartet, ja fordert; mithin seine Dienste, Schmeicheleien,
Geschenke u. s. w. genau abwägt, ob sie etwa die ge-
wünschte Wirkung haben werden. Formlose Contracte
dieses Sinnes werden fortwährend abgeschlossen und fort-
während werden Viele durch die Wenigen, Glücklichen und
Mächtigen, im Wettrennen verdrängt. — Da überhaupt alle
gesellschaftlichen Verhältnisse in Vergleichung möglicher
und angebotener Leistungen beruhen, so ist es deutlich,
warum hier die Beziehungen auf sichtbare, materielle
Gegenstände vorausgehen und blosse Thätigkeiten und
Worte nur uneigentlicher Weise die Basis derselben aus-
machen können. Im Gegensatze dazu ist Gemeinschaft, als
Verbindung des »Blutes«, zunächst ein Verhältniss der
Leiber, daher in Thaten und Worten sich ausdrückend,
und secundärer Natur ist hier die gemeinsame Beziehung
auf Gegenstände, welche nicht sowohl ausgetauscht, als ge-
meinsam besessen und genossen werden. Auch ist Gesell-
schaft in jenem Sinne, den wir den moralischen nennen
können, ganz und gar mitbedingt durch die Zusammenhänge
mit dem Staate, welcher für die bisherige Betrachtung
nicht vorhanden ist, da die ökonomische Gesellschaft
als sein Prius betrachtet werden muss.
§ 26.
Wenn wir daher den Progress der Gesellschaft, wel-
cher als die höchste Steigerung eines sich entwickelnden
gemeinschaftlichen und Volkslebens erfolgt, in wesentlicher
Einschränkung auf dieses ökonomische Gebiet betrachten,
so stellt er sich dar als Uebergang von allgemeiner Haus-
wirthschaft zu allgemeiner Handelswirthschaft, und im eng-
sten Zusammenhange damit: von vorherrschendem Ackerbau
zu vorherrschender Industrie. Derselbe kann so begriffen
werden, als ob er planmässig geleitet würde, indem
[64] mit immer wachsendem Erfolge, innerhalb jedes Volkes,
die Kaufleute als Kapitalisten und die Kapitalisten
als Kaufleute sich an die Spitze drängen und wie zu
gemeinsamer Absicht sich zu vereinigen scheinen. Diese
Absicht wird am besten bezeichnet durch das Wort »Ver-
kehr«. Denn während sonst ein Haushalter, ein Bauer
oder Bürger, dem Inneren und Centrum des Ortes, der
Gemeinschaft, wozu sie gehören, das Antlitz zuwenden, so
richtet sich dagegen die Handelsclasse nach aussen; nur
die Linien, welche die Orte verbinden, die Landstrassen
und die Mittel der Bewegung gehen sie an. So wohnt sie
gleichsam in der Mitte eines jeden Gebietes, welches sie
bestimmend zu durchdringen und umzuwälzen tendirt.
Dieses ganze Land ist nur Markt für sie: nämlich Einkaufs-
markt und Absatzmarkt; sowohl insoweit, als der Handel
Binnenhandel ist — wo denn gleichsam eine Aufsaugung
und Contraction als Systole, und eine Ausstossung und
Expansion, als Diastole, alternirend stattfinden — als auch
zum Zwecke des Aussenhandels, wo durch diese Vermitt-
lung Abgabe von überflüssigen gegen Aufnahme von be-
durften Waaren geschehen kann. Jedes Land kann zwar
zu einem solchen Handelsgebiete sich entwickeln, aber je
weiter das Gebiet, desto vollkommener wird es als Land
der Gesellschaft; denn desto allgemeiner und freier kann der
Tauschverkehr stattfinden, und um so wahrscheinlicher ist es,
dass die reinen Gesetze desselben zur Geltung gelangen, dass
die Qualitäten, welche ausserdem die Menschen und Sachen
in Bezug auf einander haben, dagegen wegfallen werden.
Und so concentrirt sich endlich das Gebiet des Handels in
einem einzigen Hauptmarkte, zuletzt dem Weltmarkte,
von dem alle übrigen Märkte abhängig werden. Je grösser
aber das Gebiet wird, desto schärfer und reiner hebt auch
die Wahrheit sich ab, dass die Autoren und Leiter solches
Verkehres Alles, was sie thun, um ihres Gewinnes willen
thun; sie stellen sich selber in den Mittelpunkt dieses Ge-
bietes, und von ihnen aus gesehen, sind Erde und Arbeit
dieses Landes wie aller Länder, mit denen sie verkehren,
wirkliche oder mögliche Objecte für Anlage und Umsatz,
[65] mithin für Vermehrung ihres Geldes. Wiederum: je mehr
die Leiter der wirklichen Arbeit oder Production, als
Eigenthümer der Erde und der übrigen materiellen Fac-
toren, als Eigenthümer auch der Arbeiter oder ein-
gekaufter Arbeitskräfte, solches Geschäft durchaus in
Absicht auf Reinertrag oder Mehrwerth betreiben, desto
mehr werden sie selber zu einer blossen Abtheilung
von Kaufleuten, sei es, dass diese unter oder über dem
eigentlichen Handel oder auf gleicher Höhe mit dem-
selben zu agiren scheine, in vielen Interessen mit ihm über-
einstimmend, in anderen ihm entgegengesetzt. Beide Klassen
sind die Ansammler eines flüssigen, beweglichen Geldreich-
thums, der als fortwährend durch seine Anwendung zu
productiven oder Handelszwecken sich vermehrend Kapital-
reichthum heisst. Das Kapital aber stellt sein Wesen zuerst
als die Auslage und das aufs Spiel gesetzte Opfer des
Kaufmanns dar, welcher auf dem billigsten Markte Waaren
einkauft und auf dem theuersten Markte derselben Waaren
sich zu entledigen bemüht ist. — Jeder Verkäufer, welcher
Producte eigener Arbeit feil hält, kann als ein Kaufmann
gedacht werden, insofern als er gleich einem solchen
agirt, und das Verhältniss seines errungenen Preises zu
seinen Auslagen berechnet. Aber: er wird die Differenz
als das Aequivalent seiner Thätigkeit rechnen, durch
welche in Wahrheit neuer Werth hervorgebracht worden
ist. Sofern also solches Aequivalent als wirkliches und gül-
tiges gesetzt werden kann, so nimmt er aus dem gleichen
Markte nicht mehr heraus, als er hineingegeben hat. Und
wenn gegenseitiger Austausch nur zwischen solchen Ver-
käufern stattfinden würde (wie der Begriff des entwickelten
gemeinschaftlichen Wesens unterstellt hat), so könnte
dieser allerdings als gesellschaftlicher Verkehr sich dar-
stellen, indem jeder in unbegrenztes Gebiet, um höchst-
möglichen Preis zu erlangen, hinausstreben mag; als end-
liches Ergebniss muss jedoch die Aufhebung dieser Be-
strebung durch gleiche und entgegengesetzte begriffen wer-
den, wie sehr auch die empirische Erscheinung Uebervor-
theilung des einen Verkäufers durch den anderen zeigen
möchte (was um so weniger der Fall sein kann, je mehr
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 5
[66] ein Jeder als Kaufmann zu handeln verständig ist; und in
diesem Sinne ist gesagt worden, dass die bürgerliche Gesell-
schaft bei jedermann eine encyklopädische Waarenkenntniss
voraussetze: K. Marx, Kapital I, Cap. 1, Anmerk.).
§ 27.
Alles Schaffen, Bilden und Wirken der Menschen
ist etwas wie eine Kunst und gleichsam organische Thätig-
keit, wodurch menschlicher Wille in die fremde Materie,
Form gebend überströmt; und wenn zur Erhaltung, Förde-
rung oder Freude einer Gemeinschaft dienend, wie im
natürlichen und ursprünglichen Verhältnisse, als eine Func-
tion derselben begreifbar, d. i. als ob die Gemeinschaft,
durch diesen Einzelnen (diese Gruppe) ausgedrückt, sich
selber solches leiste. Der Handel als die Geschicklichkeit
Profit zu machen, ist das Gegentheil aller solcher Kunst.
Profit ist kein Werth, er ist nur eine Veränderung in den
Relationen der Vermögen: das Plus des Einen ist das
Minus des Anderen (le proufict de l’un c’est le dommage
d’aultruy:Montaigne). Die Aneignung ist eine blos
occupatorische, also sofern Andere beeinträchtigt werden eine
räuberische Thätigkeit; nicht Arbeit, welche zum Gute (oder
Gegenstande des Gebrauches) verändert, was vorher nicht
da war, ausser als Stoff in der Natur, oder doch nicht von
solcher guten Beschaffenheit war. Und die »Thätigkeit«,
welche Handel in Bezug auf die Gegenstände ver-
nimmt, ist (wenn auch von demselben Subjecte aus irgend-
welche Arbeit hinzukommen mag) ihrer Essenz nach
nichts als Nachfrage, Aneignung, Angebot, Abgabe, also
lauter Handhabungen, welche die Natur der Sache unberührt
lassen. Dagegen ist der Kaufmann, da er einen greifbaren
und doch abstracten Nutzen als den wirklichen und ratio-
nalen Zweck seiner Thätigkeit ausser dieselbe setzt, der
erste (in diesem Sinne) denkende und freie Mensch, wel-
cher in der normalen Entwicklung eines socialen Lebens
erscheint. Er steht isolirt von allen nothwendigen Be-
ziehungen (necessitudines), Pflichten, Vorurtheilen, so sehr
als möglich(A merchant, it has been said very properly,
[67] is not necessarily the citizen of any particular
country:Ad. Smith, Wealth of Nations bk. III, ch. 4;
eine Stelle, welche man mit der früher erwähnten desselben
Autors, dass der Austausch jeden Menschen zum Kauf-
mann mache, vergleichen wolle). Er ist frei von den Ban-
den des Gemeinschafts-Lebens, und je mehr er es ist, desto
besser für ihn. Vor ihm und mit ihm und seines Gleichen
ist zunächst der Gläubiger. Ihr Unterschied ist deutlich:
der Gläubiger handelt mit einer und derselben Gegenperson,
der er Etwas gibt, um ein Mehr zurückzuempfangen. Er
selber erwirbt nichts als eine Forderung, d. i. ein Recht,
welches ihm durch des Schuldners Versprechen gegeben
wird; und damit ein eventuelles Zwangsrecht wider den-
selben, oder (zum Mindesten) das Recht, eine Sache als die
seinige zu behalten oder zu nehmen, welche der Schuldner,
zur Verstärkung seines Verspruchs, als Pfand ihm (realiter
oder blos der Idee nach) übergeben hatte. Dies wurde
schon dargestellt als der reine Fall des in der Zeit
wirksamen Contractes, welcher eine Obligation her-
vorbringt. Dass in Wirklichkeit das Versprochene ein Mehr
sei als das Gegebene, ist dem Begriffe der Obligation nicht
wesentlich; wohl aber dem darunter verborgenen Tausche,
sofern derselbe ein Subject hat, dessen Interesse an dem
Ende als dem Zwecke desselben hängt; das, mit Berech-
nung, ein gegenwärtiges Gut hingegeben hat, um ein zu-
künftiges grösseres zu erlangen. Und dadurch gerade
ist der Gläubiger dem Kaufmanne gleich; denn so lange
als etwa das Darlehen eine Art von Hülfe ist, und Zinsen
nur als Entschädigung (für lucrum cessans oder damnum emer-
gens) bedungen werden, so ist der Gewinn derselben nicht als
bestimmendes Motiv gedacht, dahingegen ist der Kaufmann
ex professo ein zweckmässig Handelnder, und Gewinn das
nothwendige und alleinige Motiv seiner Handlungen.
Dafür tritt er aber auch ohne allen Zwang und ohne die
Härte auf, welche unter Umständen den Gläubiger als
Wucherer verrufen machen. Bei ihm ist Alles gütliche Ab-
machung, als Käufer hat er es mit dem Einen, mit dem
Anderen, und vielleicht Weitentfernten als Verkäufer zu
thun. Obligationen sind nicht nothwendig, wenn auch
5*
[68] möglich und wahrscheinlich, wodurch der Kaufmann selber
ein Schuldner oder ein Gläubiger wird; oder auch Beides
zugleich. Der Gläubiger aber entwickelt sich zu einer
Abart des Kaufmanns, sobald er sein Geschäft planmässig
und um des Gewinnes willen betreibt. So wird die For-
derung, in Gestalt des Wechsels, selber eine übertragbare
Waare, die sich aufkaufen lässt zum Behufe des Verkaufes,
und deren Consumtion durch ihren endlichen Verkauf als
ihre Realisirung stattfindet. Und so bildet sich das Credit-
wesen als ein Hülfsgeschäft des eigentlichen Handels aus.
Wenn die Kaufleute Vermittler des Austausches, so sind
Bankiers Vermittler der Vermittlung. In Wirklichkeit aber
ist es für beide Arten wesentliches Merkmal (welche Dienste
sie immer einander und den Uebrigen leisten mögen), dass
sie nicht als Mandatare, sondern auf eigene Hand, Rechnung
und Gefahr agiren, als freie und selbständige Mächte, denen
alle ihre Handlungen berechnete Mittel für ihre eigenen, in
Gedanken begriffenen Zwecke sind. Dennoch können alle
diese Thätigkeiten, insofern als sie einem ohnehin an zweien
(oder mehreren) diversen Punkten vorhandenen Bedürfnisse
(des Austausches) directe oder indirecte helfen mögen, in
der That als Hülfsfunctionen eines beide umfassenden
Organismus verstanden werden, wenn ein solcher schon
als existent mit Grund gedacht worden ist; mithin auch
zwar nicht der einzelne Kaufmann, wohl aber das gesammte
Gewerbe, der kaufmännische Stand, als ein solches Organ,
das aus gemeinschaftlichem Leben und Willen sei gebildet
worden. Sofern aber keine Gemeinschaft, so ist auch
kein Organ der Vermittlung; wohl aber mag es, blos von
der einen Seite betrachtet, als Organ des günstigen Ab-
satzes sich darstellen; oder kann auch auf der anderen,
als Organ der Zufuhr gebraucht und assimilirt werden;
— beides aber nur unter der Voraussetzung, dass der voll-
zogene Umsatz in Wahrheit einem solchen Ganzen zu gute
komme, als Verwandlung von minder nützlichem in nütz-
licheren Werth und dass seine Nahrung und Vergütung
(obgleich es sie in der Form eines regelmässigen Profits
bezieht) demjenigen Werthe angemessen sei, mit welchem
seine Leistung für dieses Ganze, gerechter Schätzung nach,
[69] ins Gewicht falle; (wodurch also ein höherer Profit nicht
ausgeschlossen wird, sofern derselbe auf Kosten der Frem-
den gemacht werden kann).
§ 28.
In Wahrheit aber bleibt immer der Widerspruch
wirksam und drängt zu einer Umkehrung dieser gesammten
Relationen: dass, während im Allgemeinen jeder Verkäufer
das Product seiner eigenen Arbeit als eine reale Waare feil
bietet, zuletzt andere reale Waaren als Aequivalent dafür
suchend: so ist es dem Kaufmann wie dem Wucherer eigen-
thümlich, diejenige Waare in Händen zu haben, welche sie
nicht producirt haben, nämlich Geld, welches seinem Be-
griffe nach blos ideelle Waare ist, wenn es auch — der
Regel nach — durch die reale Waare eines geprägten Me-
talles repräsentirt werden mag; denn es ist an sich die
blosse abstracte Qualität aller Waare, andere Waaren er-
kaufen zu können, die Kraft eines Hebels oder Gewichtes,
welche nicht geschaffen, sondern nur gesammelt werden
kann. Und sie zu sammeln, das ist es allein, worauf der
Kaufmann es abgesehen hat. Er kauft Geld mit Geld, wenn
auch durch Vermittlung von Waare; der Wucherer sogar
ohne dieses Mittelglied. Beider Thun und Treiben würde
im gesellschaftlichen Verstande nichtig sein, wenn sie nur
ein gleiches Quantum durch ein gleiches Quantum erwürben:
dies ist die Natur des uncommerciellen Darlehens aus Ge-
fälligkeit und Freundschaft und des Verkaufes zum Preise
des Einkaufs, welcher gelegentlich, um eines negativen
Profits willen, nämlich zum Schutze vor Verlust, nothwendig
werden kann. Jedoch als ihres Gewerbes Mächtige wollen
beide regelmässig durch Hingabe eines kleineren ein grösseres
Quantum an sich bringen. Sie wollen Plus machen. In
dem Maasse, als ihnen dieses durch Differenz der Orte und
Zeiten gelingt, so können sie ihr Geld oder ihr Vermögen,
zumal durch klug berechnende Ausnutzung dieser und an-
derer günstiger Umstände, ins Unermessliche vermehren;
gegenüber den Producenten, welche Erträge eigener Arbeit
zu Markte tragen, um dieselben in eine dauerhaftere oder
[70] angenehmere: also zur Aufbewahrung oder zum Genusse
tauglichere Form zu verwandeln; wenn es auch erfolgt,
dass die Geldform, wo sie zu haben ist, vorgezogen wird,
als die verkörperte Freiheit der Auswahl und Eintheilung
zukünftigen Gebrauches. In der That ist dann immer ein
möglicher Gebrauch jene Anwendung, durch welche sich
Geld von selbst vermehrt; und wenn einmal solche Ver-
mehrung als absoluter Zweck gedacht und gesetzt wird, so
kann nur zwischen Wucher und Handel, als den einfachsten
und leichtesten Methoden, die Wahl schwanken. Aber
wenn auch Wünsche und Versuche nicht fehlen, so ist doch
die Gelegenheit und das Gelingen solcher Thätigkeiten oder
der Betheiligung daran, an viele besondere Bedingungen
geknüpft. Hingegen die Vermehrung des Geldes als Arbeits-
Ertrages ist durch Stoff und Werkzeuge der Arbeit, wie
durch die eigene Arbeits-Kraft und Kunst begrenzt. Und
jeder solcher Ertrag kann, auch wenn als lauter Geld er-
scheinend, füglich angesehen werden als der natürliche Lohn
und Preis, welchen das »Volk« (oder wie immer man diesen
Begriff der Gemeinschaft ausdrücken mag) seinem Arbeiter
zur Erhaltung und Förderung gegenwärtigen und zukünf-
tigen Lebens gewährt: also in Wahrheit bestehend aus
Nahrung, Wohnung, Kleidung und allen möglichen Dingen,
die ihm nützlich oder erfreulich sein mögen. Aber das
Volk ist wahnwitzig, wenn es irgend einem, wenn auch
noch so raren und werthvollen Diener eine Menge Geldes
zu dem Zwecke hingibt, dass er ihm Waaren dafür abkaufe,
welche es selber (das Volk) von diesem Trefflichen um eine
grössere Menge Geldes wieder zurückkaufen muss. Des-
halb ist diese ganze Betrachtung der Wirklichkeit, welche
wir als Gesellschaft verstehen, inadäquat. Die Kaufleute
oder Kapitalisten (Inhaber von Geld, das durch doppelten
Tausch vermehrbar ist) sind die natürlichen Herren und
Gebieter der Gesellschaft. Die Gesellschaft existirt um
ihretwillen. Sie ist ihr Werkzeug. Alle Nicht-Kapitalisten
innerhalb der Gesellschaft sind entweder selbst todten Werk-
zeugen gleich — dies ist der vollkommene Begriff der
Sklaverei — sie sind im Rechte Nullen, d. i. werden als
keiner eigenen Willkür, daher keiner in dem Systeme gül-
[71] tigen Contracte, fähig gedacht. Hierdurch wäre zugleich
der Begriff der Herrschaft, als Gegenpol, auf die reinste
Weise ausgedrückt. Zugleich aber wäre der Begriff der
(allgemeinen, menschlichen) Gesellschaft verneint. Zwischen
den Herren und Sklaven wäre kein gesellschaftliches Ver-
hältniss, folglich überhaupt kein Verhältniss vorhanden.
Oder hingegen: die Sklaven sind Personen, freie Subjecte
ihrer Willkür, des Tausches und der Verträge, daher Sub-
jecte der Gesellschaft selbst und der Convention. Und dies
ist das natürliche und normale System allein. Im gesell-
schaftlichen Begriffe des Naturrechts sind alle Menschen als
Vernünftige und Handlungsfähige, a priori gleich. Jeder
ist und hat eine gewisse Macht als seine Freiheit und
Sphäre seiner Willkür. Jeder kann den Anderen tödten,
wenn er es für gut hält. Jeder kann herrenlose Güter sich
aneignen und sie geniessen; gegen Angriffe darauf sich
wehren. Jeder kann, wenn er Stoff und Geräthe hat, neue
Dinge als seine eigenen machen durch eigene Thätigkeit:
Arbeit. Und so kann Jeder seine eigene Thätigkeit zur
Sache machen und verkaufen. Er kann sie zum Gegen-
stande eines Versprechens, also Contractes machen. Die
Anerkennung dieser allgemeinen und nothwendigen Fähig-
keiten, als jedem wenigstens erwachsenen, Menschen zuge-
höriger, macht die rechtliche Sklaverei zum Unding,
hebt sie auf.
§ 29.
Die natürliche Herrschaft der freien Kaufleute oder
Kapitalisten in der Gesellschaft, also in Bezug auf und über
die freien Arbeiter (wie wir die ganze Masse nennen
mögen) verwirklicht sich — wird zur actuellen Herrschaft
trotz dieser letzteren Freiheit — in dem Maasse, als die
Arbeiter des Eigenthums — als des Besitzes von Arbeits- und
Genussmitteln — baar werden, als sie zu blossen Inhabern
von einfacher Arbeits-Kraft (»Händen«) sich differen-
ziren und zugleich verallgemeinern, welche durch die Um-
stände, d. i. durch die Unmöglichkeit auf andere Weise
zu leben, gezwungen (und also bereit) sind, dieselbe um
Geld zu veräussern (quanquam coacti tamen volunt). Diese
[72] Veräusserung um Geld macht sie zu einer nominellen Abart
von Kaufleuten: sie bieten ihre specifische Waare feil und
tauschen, wie alle Waaren-Verkäufer, nicht sowohl andere
specielle, sondern die General-Waare dafür ein, welche die
Freiheit und Macht ist beliebiger Theilung, beliebiger Ein-
käufe oder der Aufbewahrung (Ersparung) und folglich
sogar die logische Möglichkeit der Vermehrung durch
Wucher oder Handel: das temporäre Eigenthum an Geld
macht Arbeiter zu potentiellen Kapitalisten. In welchem
Umfange sie es wirklich werden können ist eine Frage,
die hier ferne bleibt. Auf jeden Fall ist es eine secun-
däre Eigenschaft, die ihren Begriff nichts angeht. Hin-
gegen die Möglichkeit zu temporären Geld-Eigenthümern zu
werden, ist ihnen wesentlich. Durch die Nothwendigkeit
(und soweit als diese reicht), das Geld in Genussmittel zu
verwandeln, wird aber die wahre Bedeutung dieses Handels
eingeschränkt auf den Umsatz der Arbeitskraft selber in
die — der Voraussetzung nach fehlenden — Genussmittel.
Dieser Handel ist folglich keineswegs eigentlicher Handel,
sondern blosser Tausch, wenn auch durch zwei Phasen
passirender. Die Subjecte des eigentlichen, d. i. um des
Profits willen betriebenen Handels stehen ihm gegenüber.
Für sie ist die eingekaufte Arbeitskraft eine Waare, deren
Wieder-Verkauf den einzigen Zweck des Einkaufs darstellt.
Der Wieder-Verkauf kann directe stattfinden durch einfache
Uebertragung: dann ist dieser Handel gleich jedem an-
deren, so specifisch auch die Waaren-Gattung ist. Denn
die Waare Arbeitskraft unterscheidet sich von allen anderen
dadurch, dass ihre allein mögliche Consumption in der An-
wendung auf und Verbindung mit gegebenen Arbeits-Mitteln
(Stoff und Geräthen) besteht, wodurch sie in Annehmlich-
keiten oder Nützlichkeiten, Genussmittel und Productions-
mittel, allgemein gesprochen: in Gebrauchs-Gegenstände
verwandelt wird. Der specifische Handel mit der Waare
Arbeitskraft ist daher durch ihre Consumption bedingt, und
fordert ihren Wiederverkauf in der Gestalt von Genuss-
mitteln: welche aber ausser ihr auch Theile der Arbeits-
Mittel oder ihrer Kräfte in sich enthalten. Der Verkauf
von fertigen Genussmitteln steht an und für sich mit dem
[73] Verkauf von Arbeitskraft auf gleicher Linie: wenn auch
dort eher das eingehandelte Geld etwas Anderes bedeuten
mag, so bedeutet es doch zunächst nichts Anderes —
ausser sich selbst, sofern es selber Genussmittel ist — als
die Möglichkeit seiner Rückverwandlung in andere Genuss-
mittel; und der Verkauf wird nie — wie der Einkauf —
gedacht als vollzogen um künftigen profitabeln Wieder-
Verkaufs (des Geldes) willen. Die Ursachen des Handels-
Profits überhaupt werden hier nicht erörtert. Seine Be-
dingung ist die Erhaltung der Waare: möge sie auch
parzellirt oder fett gemacht, oder wie immer in ihrem Wesen
oder Schein verändert werden: sie darf nicht consumirt,
nicht verbraucht werden. Die Waare Arbeitskraft muss
consumirt werden; sie muss (so zu reden) untergehen, damit
sie in Gestalt der Sachen, welche sie hervorbringt, wieder
lebendig werde.
§ 30.
Wenn der Wucher, dessen erster Act Hingabe des
Geldes zu beliebigem Gebrauche ist, vom Handel dadurch
auf deutliche Weise sich unterscheidet, dass dort der passive
Contrahent, trotz aller formalen Freiheit, als Obligirter in
eine natürliche materielle Abhängigkeit gestellt werden kann,
insofern als er genöthigt ist, mit »fremdem Erze«, sei es
die Gegenstände seiner Verzehrung oder die Mittel zu seiner
Arbeit einzukaufen, so dass seinem Besitze daran ein nega-
tives Eigenthum an (schuldigem) Kapital und Zinsen gegen-
übersteht; so kömmt er dagegen in dieser Wirkung leicht
überein mit der Ausleihung (Verpachtung, Vermiethung)
von Grund und Boden, Haus und Wohnung nebst Zubehör,
sofern dieselbe als reines Geschäft betrieben und betrachtet
wird. Auch hier ist der Pachter (oder Miether) durch seine
Obligation auf eventuelle Ablieferung des Gutes (nach ab-
gelaufenem Contract) und auf Zahlung von Rente, als ein
negativer Eigenthümer an diesen Dingen anzusehen. Aber
hier bleibt der Haupt-Gegenstand (das Kapital) in seiner
Realität erhalten, und kann nicht vertreten werden;
daher ermangelt das Gutsherrenthum (der Landlordism) in
solchem Gebrauche, derjenigen Verwandtschaft, welche der
[74] gemeine Wucher mit dem Handel hat, dass Beide ihre Ein-
lage preisgeben, wenn auch jener ein Versprechen oder
vielmehr eine Forderung (Obligation, Wechsel, und etwa
noch ein Pfandrecht, d. i. das eventuelle Eigenthum an
einem den Verlust des Kapitals ersetzenden Gegenstande),
dieser eine Waare dafür erwirbt. Das Geld verschwindet
in der Circulation. Das Land verschwindet nicht, sondern
bleibt unter den Füssen und Händen seines Bauers. Also
ist der Landlordism, in dieser Hinsicht, die uneigentlichste
Sorte von Handel. Das Land muss erst durch die Vor-
stellung umgeschmolzen werden in Geld oder Geldeswerth,
und dies geschieht, indem es als blosses Mittel gedacht
wird und die Rente als absoluter Zweck; gleichwie das
Kapital blosses Mittel des Ausleihers und des Kaufmanns
ist, Zins oder Profit ihr absoluter Zweck. Während aber
hier das Geld nach seiner Natur behandelt wird — denn
als Geld ist es Mittel, wenn auch zunächst nur zum Er-
werbe von Gegenständen des Bedarfes, in die es verwandelt
werden soll, und nicht zum Erwerbe von seines gleichen
in vermehrter Quantität — nicht also das Land; denn
es ist von substanzieller Wirklichkeit: vielmehr den Men-
schen bedingend, ihn tragend, und an sich bindend, als in
irgend eines Herren Hand oder Tasche zu seiner freien
Verfügung befindlich. Daher ist es ein grosser Fortschritt
des Denkens, wenn das Individuum und die Gesellschaft
Land als eine besondere Art des Vermögens und Geld-
kapitales zu handhaben beginnen. — Wenn nun aber die
schmerzlichste Wirkung der Herrschaft des Handels durch
den unmittelbaren und persönlichen Druck, welchen unter
Umständen der Gläubiger auf den Schuldner ausüben kann,
übertroffen wird, so ist möglicher Weise, und in bekannten
historischen und actuellen Erscheinungen, der Landlord
und sein Agent nicht minder feindlich wider den Pächter,
als schonungsloser Eintreiber von Rente, erbarmungsloser
Vertreiber von Haus und Herd. Der Kaufmann kann
seine Kunden, sei es als Einkäufer oder als Verkäufer,
beschwindeln, ja er hat als gewerbemässiger Profitmacher
starke Versuchungen, reichliche Gelegenheiten, und erwor-
bene oder sogar der Anlage nach geerbte Tüchtigkeit, Nei-
[75] gung und Gewissenlosigkeit dazu; aber dies sind einmalige
Acte, vor deren Wiederholung der Gewarnte sich schützen
mag, und welche vielfach (besonders im Verkehr von Kauf-
leuten unter einander) berechnende Klugheit selbst verbietet.
Es entsteht, der Sache nach, keine Abhängigkeit, kein An-
spruch, kein Zwangsrecht, welches ihn zum Herren über
fremde Thätigkeiten macht. Durch solches haben dagegen
der Gläubiger und der Landlord die Möglichkeit, ihre
Schuldner unmittelbarer Weise für sich arbeiten zu lassen,
ihre Kräfte auszubeuten. Und ebenso verhält sich endlich
der Kaufmann, wenn er einem Handwerker Geld für Stoffe
oder Werkzeuge oder Beides vorschiesst; insofern als dieses
Arbeits-Substrate sind, einem Landlord vergleichbar, aber
sehr verschieden dadurch, dass er nicht den Arbeiter sich
selber überlässt, um aus dessen Gelderträgen seine Rente
zu ziehen; sondern es ist ihm um den eigenen Erwerb der
Arbeitsproducte in natura zu thun, welcher noch, der Form
nach, als Einkauf geschieht, vielmehr aber, da er selber
allein den Preis setzt (denn der Handwerker ist als Schuldner
von ihm abhängig), eine blosse Aneignung heissen sollte;
nicht ein neuer Tausch-Contract, sondern die Folge aus dem
früheren, welcher daher in Wirklichkeit schon einem Ver-
kauf der erst zu schaffenden Waare, d. h. einem Verkauf
der Arbeits-Kraft gleichkömmt, wodurch der Kaufmann
als Eigenthümer derselben und somit als formeller Urheber
der Sachen selbst erscheinen muss. Dies wird auch der
Landlord (ausser als kapitalistischer Unternehmer) in dem
Systeme, wo seine Pächter durch contractliche Bedingung
genöthigt sind, auf seinem Hoffelde zu arbeiten und ihn
also zum Herren verkäuflicher Producte machen. Sofern
aber die Pächter ihre eigene Wirthschaft führen, so kann
er nur, im üblen Falle, ein Zwingherr sein, der nicht
Waaren, sondern Geld aus ihnen erpresst. Die Rollen sehen
wie vertauscht aus. Geldrente ist ihrem Ursprunge nach
immer Naturalrente und geht nicht aus contractlichem Ver-
hältnisse hervor. So bleibt es auch dem Landlord (ausser
sofern er noch nebenher eigentlicher Kapitalist wird) um
die Geldsumme zu thun, weil sie für ihn eine Menge von
Gegenständen und Genüssen bedeutet. Für den Kaufmann
[76] bedeuten die Gegenstände, welche er ins Leben ruft, eine
Summe Geldes, und diese hauptsächlich Möglichkeit ihrer
eigenen Vermehrung.
§ 31.
Wenn nun in dieser Vorstellung des industriell wer-
denden Kaufmanns die erste Methode erkannt wird, durch
welche der Handel in den Arbeitsprocess sich einnistet, so
läuft aber neben ihr eine Phase, in welcher das Princip des
Handels aus der Werkstätte des selbständigen Handwerkers
selber sich entwickelt. Wenn nämlich diese im Allgemeinen
auf Bestellung arbeitet und für die Bedürfnisse ihrer Kund-
schaft, der wirklich die Sachen gebrauchenden, welche rings
umwohnend keine Vermittlung nöthig hat, so kann sie doch
anfangen, auf Vorräthe hinzuarbeiten und auf entfernten
Märkten Absatz zu suchen. Je mehr dieses gelingt, desto
grösser für den Meister die Versuchung, anstatt einer natür-
lich begrenzten Zahl von Lehrlingen und Gehülfen mög-
lichst viele Arbeitskräfte in seinem Hause zu vereinigen
und, sie für seinen Vortheil Waaren herstellen lassend, sich
selber auf das Commando, die Verantwortung und die
geschäftlichen Manipulationen zu beschränken. Auf der
anderen Seite: je ärmer und schwächer der selbständige
Handwerker, desto besser geeignet für den von aussen
herantretenden Kaufmann. Daher der ländliche gegen-
über dem städtischen Arbeiter. Der städtische — so ist
zunächst anzunehmen — ist ein Meister oder will und kann
es werden. Ererbte oder erwerbbare Heimstätte, ererbte
oder erwerbbare Geräthe; so die Geschicklichkeit, so die
Kundschaft, regelmässige Arbeit das Jahr hindurch oder
doch zu allen Fristen des Bedarfes, und in allen diesen
Beziehungen von einer innigen, schützenden Genossenschaft
umgeben, welche die Tendenzen einer kapitalistischen Schei-
dung innerhalb der Werkstätte hemmt. Um so schwerer
ist ihm von aussen beizukommen. Daher ist der ländliche
Arbeiter, der von den meisten dieser Bedingtheiten frei ist,
die gegebene Beute des Kaufmannes, und insoweit als nicht
das städtische Gewerbe durch wachsende Volkszahl, ver-
[77] änderte Werkzeuge, vermehrten Verkehr sich selbst zer-
setzt, so ist die durch den Handel hervorgerufene Industrie
in ihrer ersten Phase ländlich, wenn auch im Widerspruch
mit ihrer Herkunft und inneren Tendenz. Diese vorwiegend
ländliche Industrie ist die Haus-Industrie. Die Abhängig-
keit des Bauern oder Tagelöhners von einem Herrn, die
Pflicht zu frohnden und die Sorge für den eigenen Acker
hindert ihn nicht, in der Winterhälfte des Jahres reichliche
freie Zeit zu haben, welche er in hergebrachter Weise,
sammt Weib und Kindern, zur Ausübung der alten Haus-
haltungskünste, unter denen Spinnen und Weben die ge-
wöhnlichsten sind, anzuwenden pflegt, für eigenen und dem
eigenen nahen Bedarf, hin und wieder auch für den städ-
tischen Markt, oder für den hausirenden Kaufmann. Dieser,
als Kenner des Marktes, und fähig auch entfernten zu er-
reichen, findet hier die ergiebigste Quelle der Werthbildung.
Wenn der Kaufmann dem hausindustriellen Arbeiter Stoffe,
Geräthe, Muster liefert, endlich auch Lebensmittel ihm vor-
schiessen muss, so bleibt demselben nur noch etwa die
heimische Werkstatt als sein Eigenes, was er ausser seinen
Händen und etwa seiner Geschicklichkeit für die Produc-
tion mitbringt. Aber die Einheit von Wohn- und Werk-
stätte ist hier nichts mehr als zufällig. Im Handwerk von
selbständiger Art bleibt sie natürlich, wenn auch nicht
nothwendig; wird von dem Arbeitenden selber als nützliche
und angenehme Unabhängigkeit errungen und behalten, wo
immer die Natur des Gewerkes sie gestattet. Dort mag sie
noch so erwünscht sein, so hängt sie doch nicht mehr von
seinem Willen ab, sondern in zunehmendem Grade von
dem Belieben des Kaufmanns, der sie wenn auch als be-
schwerlich duldet, so lange, bis die Vortheile der Ver-
einigung seiner Einzelnen und ihrer Gruppen in grossen
Etablissements ihre Kosten zu überwiegen scheinen. Die
allgemeinen Vortheile sind: leichtere, zwingendere Aufsicht,
raschere planmässigere Cooperation getrennter oder trenn-
barer Processe derselben Arbeitsmasse, Möglichkeit, die
ganze Production ihrem wichtigsten Markte näher zu brin-
gen. Aber entscheidend hierfür und die gesonderte, ver-
einigende Arbeitsstätte nothwendig machend, wird erst die
[78] Entwicklung der Technik: theils die Auflösung kunst-
hafter Arbeit in ihre Elemente durch Simplification und
die Vertheilung dieser zusammenhängenden, aber mit Ab-
sicht geschiedenen Stücke an dafür geschulte Specialisten;
theils, und besonders, die Erfindung von Werkzeugen,
welche über den Leib der einzelnen Arbeiter-Familie, und
über den Raum ihres Hauses ins Ungeheure hinauswachsen,
d. i. der Maschinerie. Die Wirkung ist dieselbe, wenn
die Haus-Werkstätte des selbständigen Meisters von ihm
selber zur Fabrik-Werkstätte erweitert, das Mannes-Werk-
zeug durch Massenwerkzeuge ersetzt wird. Hiernach sind
in der gesammten Entwicklung der Herrschaft des Handels
über die Arbeit, oder der Industrie, die 3 Phasen zu unter-
scheiden (gemäss der meisterhaften Analyse von K. Marx,
mit einer kleinen Modification der Auffassung), von welchen
aber die beiden letzten enger mit einander zusammenhängen,
als mit der ersten, nämlich 1) die einfache Cooperation,
2) die Manufactur, 3) die maschinenhafte (eigentliche und
grosse) Industrie. Der Begriff der Fabrik — als der manu-
facture réunie — kann die beiden letzten Arten decken,
und so passender Weise der abhängigen Hausindustrie —
als der manufacture séparée — entgegengesetzt werden. —
Die Herrschaft des Handels oder des Kapitals hat zwar ihre
eigentliche und natürliche Sphäre in der gewerbeartigen
Production, wofür viele Ursachen zusammenkommen, von
welchen die wichtigsten ziemlich evident sind und nicht
hier erörtert zu werden brauchen. Dennoch hat sie ihre
Parallele in der Landwirthschaft, welche von ihrem Range
als Mutter aller regelmässigen Arbeit zu einem Zweige
der nationalen oder Welt-Industrie erniedrigt wird. Wenn
auch die besprochene Herrschaft des Landlords nicht direct
auf Waaren-Production ausgeht, so befördert sie doch die-
selbe, da die Geldrente den Producenten zwingt, den theuer-
sten Markt zu erstreben. Neben dem Landlord steht für
den Bauern der Kornhändler und der Wucherer, mit der
Absicht und dem Verstande, einen möglichst grossen Theil
seines in Geld zu verwandelnden Schweisses sich anzueignen.
Aber mit selbständiger Waarenproduction erhebt sich der
Gutshof über den Bauernhof: zuerst die Bauern als dienende
[79] auf sich vereinend, wofür das Leibeigenthum zunächst als
passende Form erscheinen mag. Endlich die freie kapita-
listische Gutswirthschaft mit eigenen Geräthen und Ma-
schinen, durch freie, wechselnde, in Taglohn bezahlte Ar-
beiter, die bewusste Ausbeutung des Bodens und der
Arbeit zum Behuf des grössten Reinertrages; der Grund-
satz: profit is the sole end of trade, auch auf diese älteste
und eigentliche »Oekonomie« angewandt.
§ 32.
So ist überall, wo diese Tendenzen sich vollenden,
die fruchtbare (productive) menschliche Arbeit zu einem
blossen Mittel geworden, welches dem Zwecke eines vor-
theilhaften Wieder-Verkaufes jener höchst sonderbaren
Waare dient. Der Kaufmann oder Kapitalist selber maskirt
sich durch diesen Process in einen Arbeiter oder Arbeits-
Urheber, einen Bauern oder Handwerker, oder Künstler —
er wird Unternehmer von Arbeits-Processen. Der Vorgang
kann, als historischer, ebensowohl in umgekehrter Folge
geschehen: der Besitzer eines Gutes, der Meister eines
Gewerkes, kann Fabrikant, und also Kaufmann werden.
Für den Begriff ist es einerlei. Das Gewerbe des Handels
wird als vorhanden vorausgesetzt; Problem ist: wie wird
es zum herrschenden? Der zum Fabrikanten gewordene
Meister ist nicht weniger als der mit solchem Betriebe sich
abgebende Kaufmann, wesentlich Kapitalist oder ab-
stracte, vermögende Person (welches zugleich der allge-
meine Begriff des Kaufmannes selber ist) und kann also
gleichermassen angesehen werden, als habe er diese seine
Nacktheit a posteriore bekleidet mit der Hülle des schein-
baren Meisterthums. Der Fabrikant oder Unternehmer mag
aber in Wirklichkeit irgendwelche eigene Arbeit oder doch:
Thätigkeit und Dienstleistung in den Productions-Process
hineinfügen, so dass sie zum Ergebnisse mitwirkt und zur
Constitution des actuellen Werthes der hervorgebrachten
Sachen beiträgt; und am ehesten ist von dieser Beschaffen-
heit, was als Leitung und Anweisung, als Disposition der
vorhandenen Kräfte, oberste Aufsicht, kurz als: die Re-
[80] gierung oder Direction eines complicirten Systemes von
Bewegungen und Thätigkeiten von der eigentlichen Arbeit
sich abhebt. So leicht diese Verbindung in Begriff und
Wirklichkeit sich erhält, so ist sie doch nur per accidens
vorhanden und kann folglich, gleich aller eigent-
lichen Arbeit, von der unternehmenden Function ge-
schieden werden; muss von ihr geschieden werden, damit
diese ihrem reinen Begriffe gemäss erscheine. Dieser Evo-
lution bedarf der Kaufmann nicht oder nur in ungewöhn-
lichen Fällen; da er seiner Natur nach nichts mit der
productiven Arbeit zu thun hat. Um so mehr bedarf ihrer
der Meister oder wie sonst wir den productiven Arbeiter
begreifen mögen. Dieser hat sich gleichsam aus dem Inneren
der Arbeit zurückzuziehen, um ihr als einem Aeusserlichen
und blossen Mittel gegenüberzustehen. Jener hat nur
nöthig, sich überhaupt in ein (causales) Verhältniss dazu
zu setzen; dass es ein innerliches werde, ist geringe Gefahr.
So begegnen sich die beiden Gestalten in der Mitte ihres
Weges. Sie finden ihren umfassenden Begriff als den des
unternehmenden Kapitalisten, welchem der andere des leihen-
den Kapitalisten zur Seite tritt, gemäss der ursprünglichen
Differenz von Wucher und Handel. Aber wie diese Be-
schäftigungen, so können jene Eigenschaften in derselben
Person vereinigt sein. Eine Spiel-Art, welche aus beiden
Arten sich entwickelt und neben sie tritt, ist der wettende,
wagende, spielende Kapitalist. Denn auch Handel ist
seiner Natur nach Spiel (le commerce est un jeu), indem
der Einkauf gewagt wird, und günstiger Absatz, wenn auch
immer so wahrscheinlich, nicht gewiss ist. So ist der
Wucher ein Spiel — denn man ist nicht sicher, das hin-
gegebene Kapital, geschweige denn das Plus, die Interessen
zurück zu empfangen. Das Geschäft beruht ursprünglich
auf Hoffnung, demnächst auf Berechnung und Combination
der Wahrscheinlichkeiten; und wenn nur üble Fälle durch
gute ausgeglichen werden, und die guten überwiegen, so
ist der Zweck gewonnen. Jedoch wenn im reinen Spiel
den unberechenbaren (zufälligen) Umständen (der Conjunc-
tur) ihre Wirkung freigelassen und die Möglichkeit des
Verlustes bis zu jeder Höhe von Wahrscheinlichkeit er-
[81] tragen wird, so ist auf der anderen Seite die Bestrebung
natürlich, das Element der Unsicherheit auszustossen und
den Gewinn zu einem sicheren und regelmässigen zu machen.
Von den manchen Methoden, welche das Leihkapital in
dieser Hinsicht anwenden kann, ist die Aufnahme von
Pfändern am wichtigsten. Von den Methoden des Handels
geht uns nur diejenige an, durch welche er sich der Pro-
duction bemächtigt und seinen wesentlichen Gewinn dem
Productionsprocess selber inhaerent macht. Der Absatz
fabricirter Waaren kann ebenso ungewiss sein und fehl-
schlagen, als der Absatz eingekaufter Waaren. Allerdings.
Aber dies ist ein provisorischer Zustand. Er entspringt
aus der mühevollen Ablösung aus einem System von
Gemeinschaften, welche Sachen gleichsam für sich selber
machen und unter sich vertheilen. In der vollendeten Ge-
sellschaft würde wiederum jede Waare durch eine einzige
vereinigte kapitalistische Person mit vollkommener Kennt-
niss des vorhandenen, normalen Bedarfes, in gehöriger
Menge hergestellt und zu ihrem Werthe verkauft werden.
Dieser Begriff kann als unerfüllbar gelten. Und doch sind
es die Approximationen dahin, durch welche die Solidität
der kapitalistischen Production von derjenigen des
gemeinen Handels sich abhebt. —
§ 33.
Dieser Betrachtung gehen wir auf folgendem Wege
nach. Alle Gegenstände des Verkaufes und Kaufes heissen
als solche Waaren. Dieselben werden entweder als fertige
vorausgesetzt; und in diesem Sinne kann Alles, was in der
Willkürsphäre des Einen sich befindet und folglich in die-
jenige eines Anderen übertragbar ist, die Form der Waare
annehmen, z. E. begrenzte Stücke des Grund und Bodens,
seltene Bücher und Gemälde und solche nicht-fungible
Sachen; so nimmt auch die eigene Thätigkeit: Arbeit oder
Dienstleistung, die Form der Waare an. Für den Kaufmann
als solchen, der eingekaufte Waaren zu verkaufen sich
bemüht, insofern er also auf die Production der Waaren
keinen Druck ausübt, sind alle Waaren von dieser Art;
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 6
[82] daher auch alle gleich. Er kann z. E. als Gesinde-Ver-
miether oder Theater-Agent auch mit eingekauften Arbeits-
kräften oder Stimmen handeln; so gut wie mit alten Klei-
dern. Ebenso verhält sich der Kornhändler, wenn in einem
begrenzten Gebiete der Bauern-Stand ihm gegenübersteht.
Durch jede Ernte wird eine gewisse Menge von Getreide
verfügbar und Gegenstand des Handels. Wenn die Subjecte
desselben in eine einzige Person zusammengedacht werden:
so kann nun diese mit ihrem Objecte allerhand Kunststücke
vornehmen, der übrigen Gesellschaft zu Nutzen oder Schaden;
sie kann z. B. einen Theil des Getreides verbrennen, um
den Tauschwerth des Restes über den bisherigen der Ge-
sammtmasse zu erhöhen. Oder — was freundlicher scheint
— sie kann solchen Theil verwahren, um ihn später anzu-
bieten; kurz, welche Manipulationen ihr gut, d. h. den
höchsten Gewinn versprechend dünken. — Oder aber, es
handelt sich darum, Waaren für den Verkauf hervorzu-
bringen. Dies ist nur möglich durch Arbeiten oder durch
Arbeitenlassen. Ein Satz, der keines Beweises bedarf, da
er in der Voraussetzung enthalten ist. Es wird gedacht,
dass die Hervorbringung oder Vermehrung, allgemein ge-
sagt: die »Beschaffung«, in menschlicher Willkür stehe.
Nun kann zwar für ein gegebenes Gebiet der Kauf-
mann, auch ohne zu arbeiten oder arbeiten zu lassen, irgend-
welche Waaren beschaffen: nämlich indem er sie aus einem
anderen Gebiete einkauft und holen lässt. Denke man aber
das gegebene Gebiet über alle möglichen Grenzen erweitert,
oder — was für ein engeres Gebiet das gleiche Ergebniss
hat — sehe man von dieser Möglichkeit ab: so ist die
Alternative offenbar. Freilich aber — und es ist wichtig
zu bemerken —: dem Begriffe der willkürlichen Beschaffung
entspricht das eigene Arbeiten weniger, das Arbeiten-
lassen mehr. Der Arbeitenlassende erfüllt seinen Zweck,
wenn er nicht allein als Urheber jeder hervorgebrachten
Sache, deren natürlicher Eigenthümer er ist, erscheint, son-
dern auch die Menge der verfertigten Sachen nur durch seine
Willkür und durch die Mittel derselben begrenzt wird; das
will sagen: wenn durch Beschaffung der Arbeitsmittel und
Anwendung eingekaufter Arbeitskräfte darauf, er in der
Lage ist, seiner Fabrikation eine beliebige Ausdehnung zu
geben.
[83]
§ 34.
Wenn nun der Profit alles übrigen Handels in diesem
Sinne ein unnatürlicher ist, dass er in einem allgemeinen
gesellschaftlichen System als Profit der handelnden Classe
— wie auch immer derselbe auf die handelnden Personen
sich vertheilen möge —, endlich auf den Betrag des Wer-
thes reducirt werden muss (d. h. durch die Bedingungen
der gesellschaftlichen Entwicklung selber, reducirt zu wer-
den, die Tendenz hat), welchen die in der Uebertragung
der Waaren (oder in ihrer zeitweiligen Aufbewahrung) sich
darstellenden gesellschaftlichen Dienstleistungen haben
mögen (welche Voraussetzung nicht allein alle Dienst-
leistungen, sondern alle Waaren überhaupt betrifft, indem
die nach Zeit und Ort variirenden realen Preis-Glei-
chungen in sich verkleinernden Bögen um die allein nach
der Zeit variirende ideelle Werth-Gleichung oscilliren); so
befindet sich hingegen der Handel, welcher fabricirt, in
einer besser gesicherten Lage. Er fügt einem gegebenen
Werthe durch Arbeit Werth hinzu, wie es der Selbst-
Arbeiter, Bauer oder Handwerker thut, welcher seine Pro-
ducte zu Markte bringt, oder auf Bestellung anfertigt
und verkauft. So wie nun diese Arbeit in einem Systeme
des Austausches nach Werthen ein Aequivalent erzwingen
müsste, bestehend in der Frucht einer Arbeit, welche nach
dem Verhältnisse ihrer Bedingungen als eine
gleich-viel wiegende Arbeits-Masse geschätzt würde;
also fällt auch dem Capitalisten, welcher arbeiten lässt, in
einem solchen Systeme der Werth einer Arbeits-Masse zu,
welche ebenso schwer ist als der Betrag der von ihm selber
angewandten und in Waaren verwandelten Arbeit. Da er
nun diese Arbeit als Arbeitskräfte gekauft hat, so erhebt
sich die Frage: wie ist es möglich, einen regelmässigen
Profit zu erzielen durch die Differenz des Werthes der
Arbeitskräfte als eingekaufter Waaren und des
Werthes der Arbeit als des in verkauften Waaren
mitenthaltenen Princips der Hervorbringung von (neuen)
Gegenständen überhaupt? (unter Voraussetzung, dass die
Waaren zu ihrem Werthe gehandelt werden).
6*
[84]
§ 35.
Arbeiten und Dienstleistungen werden als Waaren
angeboten und verkauft. Sie bedingen ihren Preis wie ein
Laib Brod und eine Nähnadel ihren Preis bedingen. Aber
sie unterscheiden sich von diesen Waaren, welche aus
Natur-Stoffen und aus Arbeit zusammengesetzt sind. Sie
sind blosse Natur-Stoffe, sie sind nicht Producte von Arbeit.
In dieser Hinsicht stehen sie auf gleicher Linie mit dem
Grund und Boden selber. Das Angebot an Grund und
Boden lässt sich überhaupt nicht künstlich oder willkürlich
vermehren, in einem gegebenen Gebiete. Das Angebot an
Arbeitskräften lässt sich allerdings durch Import derselben
vermehren, was aber voraussetzt, dass sie schon Objecte
des Handels sind. Insofern als sie es nicht sind, sondern
jeder Mensch »seine eigene Haut zu Markte trägt«, so ist
die Menge der Arbeitskräfte in derselben Weise beschränkt
wie die Menge des Grund und Bodens. Beide Arten von
Waaren lassen sich nicht machen, können nicht fabricirt
werden. Ihr Werth und Preis ist daher allein durch ihre
vorhandene und actuelle, nicht durch ihre mögliche und
zukünftige Menge bedingt; und durch das Verhältniss jener
Menge zu der Höhe und Kaufkraft des Begehrs. In Wirk-
lichkeit werden aber nicht ausschliesslich allgemeine und
unbestimmte, sondern auch besondere und bestimmte Ar-
beiter oder Dienstleistungen verlangt und angeboten. Um
so deutlicher macht sich die Begrenztheit des Angebotes
geltend. Die Beschränktheit des Angebotes ist ein Vortheil
für die Anbietenden, unter sonst gleichen Umständen. Ihr
Nachtheil ist die Noth und Verlegenheit, in der sie sich um
die gegenüberstehende Waare (Geld- und Genussmittel) be-
finden mögen. Denn je stärker überhaupt der (subjective)
Begehrungs-Werth der fremden Waare, desto schwächer
wird nothwendiger Weise der (subjective) Behaltungs-Werth
der eigenen Waare, desto heftiger, stärker der Wunsch und
Wille, sie abzusetzen. Nun ist auf der einen Seite der
Wunsch, Geld oder Lebensmittel zu erhalten, grenzenlos,
bei jedem Menschen, welcher dergleichen nicht hat; und
nicht etwa aus einer Gemeinschaft bezieht (was hier
durchaus ausser aller Frage bleibt). Er hat nur die Wahl,
[85] das Begehrte sich gewaltsam anzueignen (was wider das
gesellschaftliche Naturrecht verstösst), oder es im Verkehr
zu erlangen durch Verkauf seiner Arbeitskraft. Auf der
anderen Seite ist ein grosser Unterschied, ob eine Waare
verlangt und gekauft wird von denen, welche sie gebrauchen
wollen; d. h. (insoweit) als Zweck, als Sache, als Gebrauchs-
Werth. Sie wird dann in Besitz genommen als ein Object
des eigenen Willens, Ergänzung eigener Kraft. Sie wird
bedurft, wie sie begehrt wird. Wenn auch keine Noth
darum ist, so ist doch ein gewisses Gefallen, etwa gar eine
Leidenschaft dafür vorhanden, jedenfalls ein Wunsch, der
irgendwelche reale Stärke hat. Dies fällt also auch zu
Gunsten angebotener Dienstleistungen ins Gewicht. Und
demnach ist in solchen Fällen und gerade in Bezug auf
Dienstleistungen als Waaren von der besonderen angegebenen
Natur, die ungesellschaftliche Beschaffenheit solches Tausches
offenbar. Vollends wenn die Noth der Verkäufer nicht
absolut oder garnicht vorhanden ist; denn wenn auch die
Heftigkeit des Verlangens der fremden Waare als solcher
uncommerciell, so ist doch der dringende Wunsch, die eigene
loszuwerden, commerciell. Hingegen macht die Abnahme
jener Heftigkeit noch nicht commerciell; mit ihr nimmt
aber auch das Verlangen nach Absatz ab. Der günstigste
Fall für einen anders als gesellschaftlichen Verkehr ist mit-
hin ein auf beiden Seiten gemässigter, jedoch auf Gefallen
oder Bedürfniss an dem Gegenstande oder der Fähigkeit,
welche der Andere besitzt, gegründeter Wunsch des Tau-
sches. In der That ist alsdann der Tausch nur die Form,
in welcher ein Princip der Vertheilung nach gemein-
schaftlichem Maasstabe in die Erscheinung tritt.
§ 36.
Ich begann auf den Unterschied hinzuweisen, ob eine
Waare verlangt werde von denen, welche sie gebrauchen
wollen. Die Ergänzung ist: oder von denen, welche sie
wieder verkaufen wollen. Diese haben gar kein inneres
Verhältniss zu dem Gegenstande, sie stehen ihm mit voll-
kommener Kälte gegenüber. Die Versuchung, aus Zärt-
[86] lichkeit oder Wohlwollen oder aus Freude an dem Werke,
den Arbeiter oder Künstler, nach eigenem Ermessen, und
mit einer Tendenz des Schenkens, zu belohnen, ist nicht
vorhanden. Im Gegentheil: ihre einzige Aufgabe ist, so
wenig als möglich zu geben, um die Differenz gegen ihren
zukünftigen Preis so gross als möglich zu machen; denn
diese Differenz ist Zweck; das Ziel ihrer Bestrebung. Wie
denn in ihren Händen die Waare nichts ist als Tausch-
werth, d. i. nichts als Mittel und mechanische Kraft, fremde
Sachen zu erwerben; dasselbe was Geld, insofern es
Geld, in den Händen eines Jeden ist; während aber ein
Jeder mit Geld — dem natürlichen Tauschwerth — Gegen-
stände, Lebensmittel, Genüsse — natürliche Gebrauchs-
werthe — kauft, so will umgekehrter Weise der Kaufmann
mit Lebensmitteln u. s. w., als künstlichen Tauschwerthen,
den Gebrauchswerth des natürlichen Tauschwerthes, Geldes,
erkaufen, als welcher für ihn wiederum nicht sowohl darin
besteht, Waaren zu seinem Gebrauche, als vielmehr, in
Wiederholung seiner berufsmässigen Thätigkeit, Waaren
zum Behuf des Verkaufes einzukaufen. So ist er denn als
Einkaufender keineswegs in Noth; denn es ist die Voraus-
setzung, dass er Geld als das seine in Händen hat und also
die Freiheit, es auch zum Erwerbe von Genussmitteln an-
zuwenden. Er ist durchaus frei und erhaben, und hat keine
Eile sein Geld loszuwerden. Und so denken wir ihn gegen-
über den Verkäufern ihrer Arbeitskraft. Es ergibt sich
aus diesen Umständen die hohe Wahrscheinlichkeit, dass
der Preis der zum Behuf ihrer Anwendung und Verwer-
thung eingekauften Arbeitskraft einem Betrage an Lebens-
mitteln gleichkomme, welcher nach dem Urtheile des Ver-
käufers das nothwendige Minimum zur Erhaltung
seines Lebens und seiner Genüsse während der Zeit, auf
welche seine Arbeit sich erstrecken soll, darstellt. Dies ist
die negative Grenze, welche er selber, insofern als er
activ negociirt, gelten machen muss, so sehr er wünschen
und sich bemühen mag, einen höheren Preis zu bedingen;
und es ist zugleich die positive Grenze, welche der
Käufer als nothwendige anerkennen muss, der aber um so
mehr abgeneigt sein wird, sie zu seinem Schaden zu über-
[87] schreiten. Dieser Ausdruck ist aber selber eines sehr
variabeln Inhaltes fähig; dessen untere Grenze wiederum
die Erhaltung des blossen Daseins (in den Umrissen,
welche der Wille des Individuums dieser Vorstellung geben
mag) bildet. Und da ist es ferner die vollkommene Noth,
welche die Vorstellung auf ihr niedrigstes Maass reducirt.
Dies ist der natürliche Kostenpreis der Arbeitskraft schlecht-
hin, Bedingung und Material ihrer Erneuerung, welche in-
soweit allerdings einer Production vergleichen werden
kann, und also den wirklichen gesellschaftlichen Werth
constituiren würde. Derselbe hat jedoch seine nächste Be-
deutung nur für die individuelle Arbeitskraft, welche
der Mensch, durch Fristung seines Lebens, z. E. im Anfange
der folgenden Woche von Neuem anzubieten in der Lage
ist. Hingegen sofern die Vorstellung des Existenz-Mini-
mums die Ernährung von Weib und Kind einschliesst, so
ist sie der Reduction ausgesetzt; da Weiber und den frühe-
sten Jahren entwachsene Kinder selber Arbeitskräfte ent-
wickeln und feil halten können.
§ 37.
Der Begriff der durchschnittlichen gesell-
schaftlich nothwendigen Arbeitszeit, der von
ebenso schwerer Bedeutung als von schwieriger Anwendung
ist (wie alle richtigen Begriffe der politischen Oekonomie),
muss auf die eigentliche Sachwaaren-Production, wie sie im
commerciellen Betriebe erscheint, eingeschränkt bleiben, weil
und insofern als hier die concurrirenden Anbieter eine prak-
tisch unbegrenzte Menge ihrer Gegenstände hervorbringen
können und also der unter den günstigsten Bedingungen
Producirende — wenigstens dem Anscheine nach — das
ganze Bedürfniss zu decken vermag; wodurch dann die
Uebrigen, um ihren also bedrohten Absatz wenigstens fest-
zuhalten, ihre Preise den seinigen zu nähern oder gleich
zu machen sich genöthigt finden; demnächst aber, um ihren
Profit nicht dauernd vermindert zu sehen, zu versuchen,
ebenso günstige Bedingungen für sich herzustellen. Dies
ist das eigentliche Princip der Handels-Concurrenz, in-
[88] sofern als der am billigsten einkaufende Händler am billig-
sten absetzen kann und in dem Maasse, als er durch die
Menge seiner Waaren und die Fortdauer seiner Einkaufs-
Gelegenheit zum Mitbieter und Wettbewerber für die An-
deren wird. Jener Tendenz wirkt jedoch die andere ent-
gegen, wonach die wirklich angebotenen Waaren — un-
abhängig von der grösseren Fähigkeit einzelner Producenten
— als solche, und insofern als sie gleich sind, gleiche
Wahrscheinlichkeit des Absatzes haben (und einen Preis
zu bedingen versuchen, der ihrem specifischen Werthe
adäquat sei), nebst der Unmöglichkeit oder Schwierigkeit,
ungünstige Bedingungen günstiger zu machen, nach
Willkür. — Im Austausch der Waaren gegen einander
muss aber von der Vermittlung des Handels abgesehen
werden. Jede Waaren-Gattung tritt in einer gewissen
Menge von (sage:) gleichen Exemplaren auf den Markt
und versucht eine möglichst grosse Menge anderer Waare
dem Markte zu entreissen. In dieser Betrachtung fällt
alle innere Concurrenz derselben Waaren-Gattung weg;
eine Ausgleichung sei vollzogen, als ob die gesammte Menge
in derselben Hand sich befände, mithin ihre Macht geeinigt
und die Macht jeder einzelnen (und folglich jeder Gruppe
oder Sorte) rückwärts durch die Gesammtmacht bestimmt
wäre. Also würde zwischen Monopolisten sich der
Preis-Kampf darstellen. Gegen jede Gattung würde jede
andere mit gleicher Anstrengung und gleichem Angriffe
sich wehren. Das Resultat wird sein: dass jede Menge
einer bestimmten Gattung diejenigen Mengen von anderen
Gattungen bedingt, welche in Wirklichkeit ihr gleich sind
in Bezug auf diejenige Qualität, welche allein auf dem
Markte gewogen wird, sc. ihren Tauschwerth. So ist es
in der Natur, wo nach der mechanischen Theorie jedes
Quantum von Energie sich in ein gleiches anderes ver-
wandelt und durch ein gleiches anderes ersetzt wird. Hier-
durch also werden alle zufälligen und alle abstracten Ge-
winne innerhalb des Marktes ausgeschlossen, und in
Wahrheit findet nur ein Austausch concreter Gebrauchs-
werthe nach dem Maasstabe eines abstracten Tausch-
werthes statt. Zu ihrer Verwirklichung fordert diese Idee:
[89] Gleichheit der Productions-Bedingungen für alle Waaren-
Gattungen (so verschieden sie auch für die Arten und
Exemplare der Gattungen sein und bleiben mögen), mithin
eine gleiche Wirksamkeit der möglichst günstigen (leich-
testen) Bedingungen, eine gleiche Proportion derselben zu
den Gesammtbedingungen; denn gleiche Proportion ist der
allgemeine Begriff der Gleichheit, und eigentliche Gleichheit
nur ihr besonderster Fall. Die günstigsten Bedingungen
aber bestehen: 1) in der Tauschwerthlosigkeit der Natur-
kräfte, als ihrem natürlichen Preis, 2) in der grössten Wirk-
samkeit von Menschen mit einander, 3) in der grössten
Wirksamkeit der Cooperation von Menschen mit den ge-
eignetsten Instrumenten (Werkzeugen, Maschinen). Wenn
diese Umstände erfüllt sind und ausserdem alle Verschieden-
heiten menschlicher Arbeit auf ihr einzig mögliches Maas:
Arbeits-Zeit reducirt werden (was in Wirklichkeit weniger
oder mehr durch ihre actuellen Verhältnisse zu einander
erleichtert wird), so gilt das Gesetz der Constitution des
Werthes jeder Waaren-Gattung und folglich jeder beliebigen
Quantität derselben, durch die zur Production derselben im
Durchschnitt gesellschaftlich-nothwendige Arbeitszeit. Die
Entwicklung der Gesellschaft und ihres Centrums: des
Weltmarktes, bewegt sich in fortwährender Approximation
diesem ihrem relativen Ruhepunkte zu. Jenes Gesetz hat
zunächst eine pure begriffliche Bedeutung, ist daher auf die
Regeln der calculatorischen Synthese oder auf identische
Sätze zurückführbar. Es heisst nämlich nur: was zu den
als vorhanden vorausgesetzten Naturkräften und Dingen
hinzugekommen ist und die gegenwärtigen Formen von
Sachen hervorgebracht hat, das ist eine gewisse Menge
menschlicher Arbeit. Naturkräfte haben — der Voraus-
setzung nach — keinen Tauschwerth; der Tauschwerth
anderer Dinge, welche zur Production nothwendig sind
(Stoffe und Instrumente), ist selber in lauter Arbeitsmengen
auflösbar; folglich der neue Tauschwerth in Stücke ihres
Tauschwerthes und hinzugefügte Arbeit, mithin in lauter
Arbeit. Arbeit hat sich in den Gegenständen verkörpert,
ist gleichsam geronnen in dem gebundenen Ueberschuss,
welchen sie darstellen über die freien Naturkräfte. Die
[90] Waare und ihr Eigenthümer haben nun keineswegs nöthig,
mehr Tauschwerth vom Markte zu verlangen, als sie ihm
bringen oder darbieten, und der in normalem Verhältnisse
eingetauschte Wert (dessen Erklärung durch die Zwischen-
kunft des Geldes um so deutlicher wird, je mehr Geld
aufhört, selber an Waare gebunden zu sein und — als
Credit — seine unsinnliche Natur, als blosse Anweisung auf
Waare, reiner entfaltet) muss nur enthalten: a) den Werth
ihrer (der verkauften Waare) Stoffe und die in ihr enthal-
tenen Stücke von Instrumentwerthen, b) den Werth der
zum Behuf ihrer Production hinzugefügten Arbeit. In dem
letzteren Werthe ist der Zweck enthalten, um dessentwillen
der Kaufmann zum Fabrikanten oder der Arbeiter zum
Unternehmer geworden war — Lohn der Enthaltsamkeit
von Genuss oder Zerstörung der Productionsmittel; Preis
der Geduld, mit welchem er der productiven Arbeit Zu-
schauer gewesen ist.
§ 38.
Der Gewinn oder Mehrwerth ist die Differenz zwischen
dem Einkaufspreis der Arbeitskräfte und dem Verkaufspreise
(nicht ihres Productes, sondern) ihres im Producte enthal-
tenen Tauschwerthes. Auf dem (eigentlichen oder Waaren-)
Markte erscheinen Arbeitskräfte nur in dieser, durch ihre
Vereinigung und ihre Anwendung auf Stoffe und Arbeits-
mittel, verwandelten Gestalt, folglich nicht als Eigenthum
der Arbeiter, sondern der Kapitalisten. Es erscheinen aller-
dings, ausser Sachwaaren, und zum Austausche mit den-
selben, Arbeiten selber als Dienstleistungen, d. i. Arbeiten,
welche nicht in einem Producte verkörpert sind, sondern
gleichsam ihre liquide Form behalten, durch ihre Mitthei-
lung und Empfang selber sogleich consumirt und vergangen.
Sie mögen, als immaterielle Waaren, ihren Werth bedingen,
obgleich sie keinen Werth haben, der durch in ihnen ent-
haltene Arbeitszeit messbar wäre, sondern (gleich manchen
Sachen auch) nur Werth, der richtiger als Normalpreis
bezeichnet wird und ihrer Menge im Verhältniss zur durch-
schnittlichen Stärke des Begehrs proportional ist (d. h. ihr
Werth ist nur als Preis, nämlich in einer gewissen Menge
[91] von anderen Waaren ausdrückbar, ist daher immer ein
Bruch und niemals eine Grösse). Die Arbeitskräfte, welche
Waaren hervorbringen, sind hingegen nicht auf diesem
Markte anzutreffen. Sie sind nicht in dem Sinne Waaren,
wie Sachen es ihrer Natur nach sind, und wie Dienst-
leistungen es sein können; sie begegnen denselben nicht als
gleiche, und als ob der vollzogene Umtausch das Ende
eines Turnus wäre, nach welchem jedes Eingetauschte
seinem Gebrauch entgegengeführt wird, wenn nicht directe
darin verschwindend. Als Princip der Production von
Sachen sind sie nur in Bezug auf dieselbe, hinter und unter
ihr, denkbar. Insofern also, als ihre Verbindung mit den
Substraten der Production nur durch ihren Einkauf möglich
ist, so muss dieser begriffen werden als der Zeit nach
früher und vor dem Verkaufe fertiger Sachen. Der Ar-
beitsmarkt ist durchaus geschieden vom Waarenmarkte,
und unterhalb desselben. Er kann auch als der heimliche
Markt bezeichnet werden, von dessen Präexistenz im offenen
Waarenmarkte keine Spur, keine Erinnerung mehr vor-
handen ist. Dort werden Arbeitskräfte gekauft und bezahlt,
als ob sie zukünftige blosse Dienstleistungen wären, mit-
hin in der Leistung selber sich vollendeten. Die Fiction
ist, dass der Fabrikant (irgend welches capitalistische Sub-
ject, sage: die Actien-Gesellschaft) wirklicher Urheber und
Macher sei, der sich Arbeiter nur als Gehülfen dazu miethet.
Die Fiction gewinnt an ihrem Scheine, je mehr die Anstalt,
d. i. die Bedingungen der Cooperation, und demnächst die
Instrumente selber — lauter Dinge, welche im Eigenthum
des Fabrikanten sind — gleichsam lebendig werden und,
einmal in Bewegung gesetzt, automatische Nachahmungen
menschlicher Hand und Kunst durch ihre zweckmässige
Construction zu leisten vermögen. Wenn es der Eigen-
thümer ist, dessen Zwecken sie dienen, so ist es seine
Initiative, sein Gedanke und Wille, was über ihnen ist,
und sie in gegebenem Momente in Bewegung und wiederum
in Ruhe setzt. Die eingesetzten Arbeitskräfte haben keinen
eigenen Willen, sondern erhalten ihre Aufgabe zugewiesen,
wie ein Mandat, welches durch den Zusammenhang des
Ganzen, durch fixirten Plan und Methode der Bearbeitung
[92] gegebener Stoffe bestimmt ist: die Theilung der Arbeit
innerhalb der Manufactur oder fabricirenden Agricultur.
Oder gar die Werkzeuge, als Maschinen in Systeme ver-
bunden, sind thätig, von den arbeitenden Menschen be-
dient, dieselben beherrschend, so dass diese nicht mehr
so unmittelbar von einem gegenwärtigen, fremden mensch-
lichen Willen, der ihnen Vorschriften macht, als vielmehr
von der gegebenen Beschaffenheit eines »todten Ungeheuers«
abhängig sind, gegen welches sie sich, reagirend, als ein
collectives Ganzes verhalten, und folglich auch um so eher
als solches ihrem Anwender gegenüberstehen. Für die
reale und objective Ansicht ist aber immer und
nothwendiger Weise menschliche Arbeit allein, wenn
auch noch so gewaltiger Instrumente sich bedienend, Ur-
sache menschlicher Werke, individuelle Arbeit indi-
vidueller, collective Arbeit collectiver Werke. Nicht die
Actiengesellschaft, sondern die Arbeitergesellschaft, bringt
die Sachen und Werthe hervor. Und da nur Werke natür-
lichen Werth haben, so gilt auch aus diesem Gesichtspunkte
der Satz: dass Arbeit Quelle aller Werthe. In der
Manufactur ist sie nur verbunden durch gemeinsames
Endziel und die Handhabung gemeinsamer Methode, welche
aber allerdings (weil blosse Gedankendinge) noch als Pro-
ducte und somit als echtes Eigenthum der unternehmenden
und leitenden Person mit Grund gedacht werden können.
In der eigentlichen Fabrik ist sie wesentlich durch ihr
gemeinsames und nothwendiges Verhältniss zur Maschinerie
geeint, die den sichtbaren Körper derselben bildet. In
jedem Falle ist erkennbar, dass nur ihre Einheit, und zwar
dieselbe durch vernünftigen Gebrauch von Stoffen, Plänen,
Instrumenten, das wirkliche productive Princip ausmacht.
Auf dem Arbeitsmarkte können sie zwar als Verkäufer
von Arbeitskraft sich vereinigen und durch Ausschluss der
Concurrenz sich einen höheren gemeinsamen Preis erzwingen.
Aber als Eigenthümer aller Anstalten u. s. w., denen that-
sächlich die Arbeitskräfte nur einverleibt und subordinirt
werden, bleibt die fabricirende Person ebenso natürlicher
— nämlich auf folgerichtige Weise erschlossener — als un-
natürlicher, nämlich durch die sinnliche Erfahrung ver-
[93] leugneter Urheber, folglich auch Eigenthümer der durch
(ihr fremde) menschliche Arbeit erzeugten menschlichen
Werke, welche sie, um den Werth zu behalten, auf dem
Markte abstösst.
§ 39.
Der Arbeitsmarkt setzt keinen Waarenmarkt voraus.
Es ist durchaus gleichgültig für die Betrachtung, auf welche
Weise der Kapitalist zu dem Gelde gekommen ist,
womit er die Arbeitskräfte bezahlt, oder woher die
Producte stammen, welche dieses Geld repräsentirt. Ein
Theil derselben mag aus vorhergehender Production
stammen — vielleicht aus der eigenen Arbeit des Kapi-
talisten — ein Theil erst durch die gegenwärtige und zukünf-
tige bedingt sein. Die Umsetzung von Geld in Genussmittel
hat weder mit dem Waarenmarkte, noch mit dem Arbeits-
markte unmittelbar zu thun; sie gehört einem dritten Markte
an, den wir Kram-Markt nennen dürfen und welcher
als das normale Vehikel der Distribution sich darstellt.
Diese hat allerdings Production zur Voraussetzung und
kann in einer regelmässigen Circulation auf dem Waaren-
markte beruhend gedacht werden. Alsdann ist jener das letzte
Glied, welches in das erste eingreift, wie es aus dem zweiten
sich ableitet. Seine Bewegung ist vom Centro bis zur
Peripherie: er gibt Waaren an alle Geldhabenden, ja er
drängt die Waaren auf und hungert nach Geld, welches, in
zahllosen kleinen Portionen aufgesogen, auf dem Waaren-
markte wiederum in Massen verschlungen wird. Die Be-
wegung des Waarenmarktes ist umgekehrter Weise von der
Peripherie zum Centrum. Er ist die blosse Versammlung
von Producten, deren Entstehung für ihn gleichgültig ist,
die Systole oder Contraction, welcher die Diastole oder
Expansion folgen muss. Der Arbeitsmarkt ist eine Com-
munication innerhalb der Peripherie. Wenn nun Austausch
auf dem Waarenmarkte wie auf dem Arbeitsmarkte ohne
Vermittlung des Handels gedacht wurde, so ist dagegen der
Krammarkt und die Distribution natürlicher Weise ein Ge-
schäft des Ein- und Verkaufs, also die eigentliche Sphäre
der Kaufleute. Und diese kann denn, im vollendeten
[94] System der gesellschaftlichen und kapitalistischen Produc-
tion, als eine gesellschaftliche Dienstleistung aufgefasst wer-
den, welche selber ihren Werth und Entgelt aus dem Waaren-
markte fordern und entnehmen muss, indem gesetzt wird,
dass auch alle übrigen, als Quasi-Productionen und Theile
der gesellschaftlichen Gesammt-Production geordneten Dienst-
leistungen daselbst erscheinen und sich in ihren Werth um-
setzen. Und wiederum können alle Dienstleistungen ge-
dacht werden als selber auf kapitalistische Weise hervor-
gebracht und verwerthet, sofern sie nämlich, um sich geltend
zu machen, durch Anstalten, Stoffe und Geräthe bedingt
sind; so dass sie dann wiederum ihre Abtheilung des Ar-
beitsmarktes voraussetzen, in welcher sie in ihrer rohen
und nackten Potentialität erworben werden.
§ 40.
Indem nun der Krammarkt nur als eine nothwendige
Consequenz betrachtet wird, welche der Waarenmarkt in-
volvirt, so ist die wesentliche Structur der Gesellschaft
durch die drei Acte beschrieben, deren Subject die Kapita-
listenclasse ist, welche als solche mit dem Vermögen
an Arbeitsmitteln ausgestattet gedacht wird (welche also
nicht erst aus dem Markte geholt werden, sondern an ihrem
Platze vorhanden sind): 1) Einkauf von Arbeitskräften,
2) Anwendung von Arbeitskräften, 3) Verkauf von Arbeits-
kräften (in Gestalt von Werththeilen der Producte). An
dem ersten Acte hat auch die Arbeiterclasse ihren
wesentlichen Antheil, wenn auch nur, indem sie sich ihres
Ueberflüssigen um des Nothwendigen willen entledigt. An
dem zweiten Acte hat sie scheinbar nur als Object (als
angewandte) Antheil, in Wirklichkeit liegt in ihr alle ma-
teriale, in der Kapitalistenclasse alle formale Causalität des-
selben. Im dritten Acte agirt diese wirklich ganz und gar
allein, und jene ist nur noch in Gestalt des ihr gleichsam
ausgepressten Werthes vorhanden. Insofern als die Arbeiter-
classe agirt, so ist sie frei: und ihre Arbeit ist nur die
Realisirung ihres Contractes, also Tausches, den sie aus er-
kannter Nothwendigkeit vollzieht. Aller Tausch (und zwar
Verkauf) ist aber die Form selber des Willküractes, wäh-
[95] rend der Handel seine materielle Vollkommenheit ist. Dem-
nach ist die Arbeiterclasse halb-frei — nämlich bis zur
Mitte der drei Acte — und formal willkürlich; im Unter-
schiede von einer supponirbaren Sklavenclasse, welche formal
nur als Werkzeug und als Substrat in dem Process vor-
kommen würde. Hingegen ist die Kapitalistenclasse ganz-
frei und materiell willkürlich. Daher sind denn auch, die
ihr angehören, als ganz freiwillige, freudige und materielle
Constituenten der Gesellschaft anzusehen; die ihr ent-
gegenstehende Menge als halb-unwillige und nur formale
Subjecte. Denn das Interesse und die Theilnahme an jenen
drei Acten und ihrem vollen Zusammenhange ist mit der
vollen Setzung der Gesellschaft, mit der Einwilligung in
ihre Existenz und in die Convention, welche derselben unter-
liegt, gleichbedeutend. — Ob aber diese dualistische Con-
struction ihres Begriffes die allein mögliche sei, ist eine
Frage, welche uns jetzt nicht als eine nothwendige angeht.
Es ist diejenige Construction, welche sich ergibt aus der
Voraussetzung des Handels, wenn derselbe auf dasjenige
Object eingeschränkt wird, welches allein — abgesehen von
seinem Charakter als dienstleistende Thätigkeit, demnächst
aber auch in Bezug auf dieselbe — seinen Zweck und sein
Lebensprincip, den Profit, aller zufälligen Bedingungen
entkleidet und durch seine eigene Essenz als nothwendigen
und regelmässigen Erfolg garantirt: nämlich jene rein fictive,
durch menschlichen Willen gesetzte, unnatürliche Waare:
Arbeitskraft. So finden alle diese Begriffe ihre Lösung
und Scheidung in der Theorie des individuellen mensch-
lichen Willens, worauf daher diese ganze Erörterung hin-
drängt.
[[96]][[97]]
ZWEITES BUCH.
WESENWILLE UND WILLKÜR.
‘Voluntas atque intellectus unum et
idem sunt. Spin.’ ()
‘Der Wille ist die Wurzel der Bildniss.
Ein falscher Wille zerstört die Bildniss.
Böhm.’ ()
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 7
[[98]][[99]]
ERSTER ABSCHNITT.
DIE FORMEN DES MENSCHLICHEN WILLENS.
§ 1.
Der Begriff des menschlichen Willens, dessen
richtige Auffassung der ganze Inhalt dieser Abhandlung er-
fordert, soll in einem doppelten Sinne verstanden werden. Da
alle geistige Wirkung als menschliche durch die Theilnahme
des Denkens bezeichnet wird, so unterscheide ich: den
Willen, sofern in ihm das Denken und das Denken, sofern
darin der Wille enthalten ist. Jeder stellt ein zusammen-
hängendes Ganzes vor, in welchem die Mannigfaltigkeit der
Gefühle, Triebe, Begierden ihre Einheit hat: welche Einheit
aber in dem ersten Begriffe als eine reale oder natürliche,
in dem anderen als eine ideelle oder gemachte verstanden
werden muss. Den Willen des Menschen, in jener Bedeu-
tung, nenne ich seinen Wesenwillen; in dieser: seine
Willkür.
§ 2.
Wesenwille ist das psychologische Aequivalent
des menschlichen Leibes oder das Princip der Einheit des
Lebens, sofern dasselbe unter derjenigen Form der Wirk-
7*
[100] lichkeit gedacht wird, welcher das Denken selber angehört
(quatenus sub attributo cogitationis concipitur). Er involvirt
das Denken wie der Organismus diejenigen Zellen des
grossen Gehirns enthält, deren Erregungen als dem Denken
entsprechende physiologische Thätigkeiten vorgestellt
werden dürfen. Willkür ist ein Gebilde des Denkens
selber, welchem daher nur in Beziehung auf seinen Urheber
— das Subject des Denkens — eigentliche Wirklichkeit
zukömmt, wenn auch dieselbe von Anderen erkannt und
als solche anerkannt werden kann. Beide so verschiedene
Begriffe des Willens haben dies gemein, dass sie als Ur-
sachen oder als Dispositionen zu Thätigkeiten gedacht
werden und also aus ihrem Dasein und ihrer Beschaffen-
heit auf ein bestimmtes Verhalten ihres Subjectes als ein
wahrscheinliches, unter gewissen, mitbedingenden Umständen
als ein nothwendiges zu schliessen erlaubt ist. Aber Wesen-
wille beruhet im Vergangenen und muss daraus erklärt
werden, wie das Werdende aus ihm; Willkür lässt sich
nur verstehen durch das Zukünftige selber, worauf sie be-
zogen ist. Jener enthält es im Keime; diese enthält es im
Bilde.
§ 3.
Wesenwille verhält sich also zu der Thätigkeit,
worauf er sich bezieht, wie eine Kraft zu der Arbeit, welche
sie leistet. Daher ist irgendwelche seine Gestaltung in
jeder Thätigkeit, als deren Subject ein individueller mensch-
licher Organismus verstanden wird, nothwendiger Weise mit-
gesetzt; eben als dasjenige, was in psychischem Sinne solche
Individualität ausmacht. Wesenwille ist der Bewegung
immanent. Um seine Essentia durchaus zu erfassen, so
muss von allem selbständigen Dasein äusserer Objecte ab-
gesehen und Empfindung oder Erfahrung davon nur in
ihrer subjectiven Wirklichkeit begriffen werden. So
gibt es hier nur psychische Realität und psychische
Causalität; das will sagen: nur eine Coexistenz und Suc-
cession von Daseins-, Trieb- und Thätigkeitsgefühlen, welche
durchaus, in ihrer Gesammtheit und in ihrem Zusammen-
[101] hange, als erfolgend aus der ursprünglichen Keimanlage
dieses individuellen Wesens müssen gedacht werden; so
sehr auch die besondere Entwicklung durch den Stoff der
Empfindungen bedingt, also modificirt werde (der also gleich
dem, was sonst die äussere Welt heisst; und wie innerhalb
ihrer der Leib auf Nahrung und andere Gegenstände an-
gewiesen, dadurch erhalten und auch verändert wird). Will-
kür geht der Thätigkeit, auf welche sie sich bezieht, vorher
und bleibt ausser ihr. Während sie selber nichts hat als
ein in Gedanken gesetztes Dasein, verhält sich jene zu ihr
als ihre Verwirklichung. Das Subject beider setzt den
(hier als inert vorzustellenden) Körper durch äusseren An-
stoss in Bewegung. Dieses Subject ist eine Abstraction. Es
ist das menschliche Ich insofern, als es aller übrigen Eigen-
schaften entkleidet und wesentlich denkend begriffen wird:
die (wahrscheinlichen oder gewissen) Folgen möglicher von
ihm selber auszugehender Wirkungen vorstellend und an
einem endlichen Ergebnisse, dessen Idee als Maasstab fest-
gehalten wird, messend; hiernach solche mögliche Wir-
kungen aussondernd, ordnend und für einen zukünftigen
Uebergang in die Wirklichkeit bestimmend. Und so wirket,
nach diesem Begriffe, das Denken, wie mit mechanischem
Zwange, auf Nerven und Muskeln und dadurch auf die
Glieder des Körpers. Da diese Vorstellung nur innerhalb
einer physikalischen oder physiologischen Ansicht vollziehbar
ist, so wird hier erfordert, das Denken selber als Bewegung,
d. i. als Gehirn-Function, und das Gehirn als objectiv-
wirkliches, einen Raum erfüllendes Ding zu verstehen.
§ 4.
Das Problem des Willens als Wesenwillens ist, dieser
Ansicht gemäss, so mannigfaltig wie das Problem des
organischen Lebens selber. Sein besonderer Wesenwille ist
dem Menschenthum natürlich wie jeder anderen Gattung
ihre Gestalt des Leibes und der Seele, und der Einzelne
gelangt zu seinem vollständigen und reifen Dasein, gleich
dem Organismus, welchen er darstellt, durch unmerklich
fortschreitendes Wachsthum aus einem Keime sich ent-
[102] wickelnd, welcher die (psychische wie physische) Bestimmt-
heit in sich birgt, wie sie durch Verbindung der den Er-
zeugern entsprossenen Zellen geschaffen wurde. So ist er,
seinem Ursprunge nach, als ein angeborener und ererbter
zu verstehen, welcher jedoch, in der Vermischung väter-
licher und mütterlicher Anlagen und zugleich in der Be-
sonderheit umgebender Umstände, welche auf ihn wirken,
die Principien hat, aus denen er, als ein neuer und diffe-
renter, wenigstens in gewisse Modificationen sich zu ent-
falten vermag. Seine Ausbildung entspricht jeder Phase
der leiblichen Entwicklung; so viel Kraft und Einheit als
im Organismus ist, so viel Kraft und Einheit ist in ihm.
Wie jener in seinem Werden als ein selbst-thätiger ver-
standen werden muss, so die Entstehung des Wesenwillens.
Solches Werden aber erschliesst sich der Erkenntniss als
eine in unbeschreiblichem Maasse beschleunigte Bewegung,
durch Kräfte, die sich fortwährend vermehrt und mannig-
faltiger gebildet haben, durch alle Geburtenfolgen, welche
dieses einzelne Wesen mit den anfänglichen Gestalten or-
ganischer Materie verknüpfen mögen. Jene machen die
eigene Arbeit des Leibes-Willens, je näher seinem Ur-
sprunge, desto mehr zur verschwindenden (sich gegenüber),
welche gleichwohl geleistet wird, und im Uebrigen unter
Bedingungen, die in der Umgebung gelegen sind. Mehr
und mehr treten aber diese als unterschieden von den inne-
ren Tendenzen hervor, und dann erst lassen sich Verände-
rungen beobachten, welche (in relativer Unabhängigkeit von
den Potenzen der Vorfahren) gleichsam aus eigenen Mitteln
bestritten werden. Diese, beim Embryo fast gleich Null,
sind beim Kinde bedeutend, und steigern zich — allgemein
gesprochen — in gleichem Schritte mit dem Alter. Wenn
also auch Wille in jedem Momente der Zeit ein anderer ist
gleichwie der Leib, so kann doch nach dieser Betrachtung
seine individuelle Entstehung selber als eine Succession von
Willensacten gedacht werden, deren jeder alle vorhergehen-
den — als welche zusammen die so weit fertige organische
Kraft ausmachen — und eine gewisse Beschaffenheit äusserer
Reize voraussetzt. Alle vorhergehenden — bis zurück auf
die anfängliche Anlage, den Urwillen, welcher sie alle, in
[103] dieser bedingten Weise involvirt, nicht als logische, sondern
als reale Möglichkeiten, ja hohe Wahrscheinlichkeiten,
die alsdann, unter gegebenen übrigen Bedingungen, zu
Nothwendigkeiten anwachsen und als solche zur Wirklich-
keit gelangen. Anlagen oder Tendenzen werden in diesem
Process zu Fähigkeiten, in welchen aber jene selber als
Triebe fortwirken, in ununterbrochenem Zusammenhange
mit dem Kerne des Urwillens und durch ihn auch mit
allen seinen übrigen Entfaltungen oder Verzweigungen.
Also, als ein determinirtes Ganzes, steht er — wenn an einem
Punkte diese Entwicklung als vollendet gedacht wird — den
Dingen gegenüber, Wirkungen empfangend und Wirkungen
ausübend, deren jede zwar, in einem vollkommeneren Sinne,
sein (dieses Willens) Act heissen kann, insofern er eben
in seiner Gesammtheit einer Veränderung unterliegt, die
durch ihn selber bedingt ist; doch aber sind alle jene
Kräfte, welche das »Wunder« der Entwicklung bewirken,
auch hier fort und fort lebendig, und machen, dass als
Subject solches Wollens sowohl eine höhere Ordnung oder
Art, welcher diese Kräfte entstammen, begriffen werden
darf wie das Individuum selber (sobald als solcher Begriff
zu irgendwelchem Behufe dienlich sein mag); mithin, wenn
wir die Entwicklung des Individuums als sein Wollen den-
ken, obgleich verstehend, dass ein Unbekannt-Metaphysisches
gleichsam mitwirkt und nachhilft, so müssen wir auch das
Wollen, welches ausserhalb der Entwicklung ist, nach Art
des Werdens und Wachsens zu beurtheilen lernen, nämlich
auch hier das Subject als wesentlich repräsentatives er-
kennend, von dem man auch sagen könnte, dass an ihm
die Vorgänge stattfinden, anstatt: dass es selber sie voll-
zieht; wenn nicht der Unterscheidung halber diejenigen,
welche eine Gesammtveränderung bedeuten, also heraus-
gehoben werden sollten, und wenn nicht eben dieselben
dem Bewusstsein unserer selbst, durch jenes allgemeine
Gefühl der Thätigkeit bekannt wären, welches mit unserem
subjective verstandenen Gesammtzustande (und das ist das
eigentlich Alles Umfassende, Erste und Einzige, was wir
haben und kennen) stricte genommen identisch ist.
[104]
§ 5.
Die allgemeinste Eintheilung thierischer Organe und
Functionen unterscheidet diejenigen des vegetativen (inneren)
und die des animalischen (äusseren) Lebens. Ebenso aber
ist zureichender Grund vorhanden, einen vegetativen und
animalischen Willen zu setzen, welche beide (wie die
physischen Structuren im Leibe) im Thierwillen verbunden
und einander bestimmend gedacht werden müssen. Solche
Verbindung erscheint aber in den besonderen Eigenschaften
und Thätigkeiten des Menschen so eigenthümlich und
bedeutend, dass — für die psychologische Ansicht — es
nothwendig ist, den humanen oder mentalen Willen (und
diese Artung des Lebens) vom animalischen und vegetativen
in derselben Weise zu unterscheiden wie diese von ein-
ander, und die drei Naturen in der menschlichen vereinigt
zu denken, gleichwie die beiden in der allgemein-thierischen
Constitution. Die Thätigkeiten des vegetativen oder orga-
nischen Willens sind durch empfangene oder empfundene
Reize überhaupt (stoffliche Reize), die des animalischen
Willens durch Wahrnehmungen oder Bild-Empfindungen
(sensitive oder Bewegungs-Reize), die des mentalen Willens
durch Gedanken oder Wort-Empfindungen (intellective oder
geistige Reize, welche nach ihrem stofflichen oder Bewe-
gungs-Werth nicht mehr schätzbar sind) bedingt. Das
vegetative Leben, welches allem übrigen zum Grunde liegt
und sich selber als substantiell beharrend setzt, alle beson-
deren Thätigkeiten aber als seine Modificationen und Aus-
drücke, besteht ganz und gar in Erhaltung, Accumulation
und Reproduction seiner und ihm gemässer Kraft und Form
als der Verhältnisse zwischen wechselnden Theilen; es ist
Dasein und Wirkung in Bezug auf sich selber: als Assimi-
lirung von Stoffen, Circulation der Nahrungssäfte, Erhaltung
und Erneuerung der Organe. Das animalische Leben ist
hauptsächlich die hierfür nothwendig und natürlich gewor-
dene äussere Bewegung als Ausgabe von Kraft in Bezug
auf andere Dinge oder Wesen: Innervation und Contrac-
tion der Muskelgewebe zur locomotorischen Veränderung
des ganzen Leibes oder seiner Glieder. Das mentale Leben
ist ausgezeichnet als Mittheilung, d. i. Wirkung auf gleich-
[105] artige Wesen durch Zeichen, daher insbesondere Gebrauch
der vocalen Organe zur Aussprache von Worten, und hier-
aus entwickelt sich die Mittheilung an sich selber, durch
lautes oder stummes Reden, d. i. Denken. Wie aber Mit-
theilung überhaupt schon im animalischen Leben vorbereitet
oder angelegt ist, so werden alle Fähigkeiten und Thätig-
keiten, welche diesem angehören, durch Reden und Denken
vermannigfacht, besondert, erhöht. Die gesammte dritte
Kategorie ist als zurückwirkende Modification der zweiten,
diese als der ersten zu begreifen. Im menschlichen Wesen-
willen sind aber diese Arten zusammen zu denken, insofern
als sie eine Einheit darstellen. Er ist der organische Wille,
definirt durch einen animalisch-mentalen Willen, ist der
animalische Wille ausgedrückt durch organischen und men-
talen zugleich, und der mentale Wille selbst in seiner Be-
dingtheit durch organisch-animalischen Willen. Im orga-
nischen Leben beruhen zuletzt alle seine Motive; im men-
talen erhalten sie ihre Richtung und Leitung, wie ihre be-
sonderste Form; im animalischen treten ihre bedeutendsten
und gewöhnlichsten Aeusserungen am meisten hervor. —
Hiernach bestimme ich mehrere Gruppen psychologischer
Begriffe, als die Gestalten menschlichen Wesenwillens, in
welchen er sich selber bejaht durch Bejahung oder Ver-
neinung anderer Dinge. Nur der positive Sinn wird
durch die Namen angezeigt: welcher aber seine Negation
zugleich erkennbar macht: der Wille den Unwillen oder
Widerwillen. In jeder Form sind aber die psychischen
Werthe der eigentlichen oder productiven und motorischen
Thätigkeiten mit denen der receptiven, sensitiven oder in-
tellectuellen so verbunden, dass sie die Ordnung und den
Zusammenhang derselben darstellen, wie im physiologischen
Sinne die Centralorgane des thierischen Nervensystems solche
Bedeutung haben. Daher ist denn ein bestimmter Empfang
immer der Anfang oder die Tendenz (conatus) zu einer
bestimmten Ausgabe, welche ihm folgen will und muss in
der Richtung ihres geringsten Widerstandes oder des stärk-
sten Zuges. Also sind mit den Eindrücken (oder Ideen)
von gewissen Gegenständen die Neigungen (oder Ideen) zu
gewissen Reactionen als Ausdrücken des eigenen Wesens
[106] auf nothwendige Weise verbunden. Und der Wille kann
ebensowohl als Beziehung auf jene Gegenstände — d. h.
aber auf ihre Perception und folglich auf solche Thätigkeit
— als auch als Beziehung auf diese von innen nach aussen
gerichtete Thätigkeit verstanden werden. In beiden Be-
ziehungen, sofern sie positive oder bejahende sind, ist er
durch seine eigene Natur und Norm gesetzmässig bestimmt:
mit den Gegenständen selber verbunden, zu den ent-
sprechenden Thätigkeiten geneigt und bereit.
§ 6.
Die angeborene Lust an gewissen Gegenständen und
zu gewissen Thätigkeiten nenne ich im menschlichen Wesen
seine Artung des allgemein thierischen Instinctes oder sein
Gefallen. Hieraus erklären wir Alles, was nicht anders
zu erklären ist als durch Entwicklung und normales Wachs-
thum einer mit der Keimanlage gegebenen psychischen
Constitution. Dies ist also der Complex der organischen
Triebe insofern, als sie das gesammte Leben und Weben,
Tichten und Trachten auch des Menschen durchdringen
und beherrschen. Hier sind alle vereinzelten Ideen oder
Empfindungen aus solcher ursprünglichen Einheit abzuleiten
und bleiben in nothwendigem Zusammenhange mit einander.
Und diese Einheit wird unter einem dreifachen Attribute
begriffen: A) als Wille zum Leben schlechthin, also zur
Bejahung der es fördernden, Verneinung der es hemmenden
Thätigkeiten oder Empfindungen, B) als Wille zur Nahrung
und darauf bezogenen Thätigkeiten oder Empfindungen,
C) als Wille zur Fortpflanzung — in dieser Bestimmung
erfüllt sich der Begriff: denn Reproduction ist das Leben
überhaupt; zum Inhalt eines besonderen Willens wird sie
erst in dem Maasse, als besondere Empfindungen oder
Thätigkeiten zu ihrem Behuf nothwendig werden. Diese
Bedürfnisse und Begierden, welchen entsprechende Func-
tionen allen Organismen gemeinsam sind, machen den
Grundton auch im Accorde der menschlichen Triebe aus.
In dem Kraftzustande ihrer Organe und in dem Maasse
ihrer Befriedigung beruhen alle jene Unterschiede der Nei-
[107] gungen und Abneigungen, welche als Befinden und als
Stimmungen sowohl dauernde als zeitweilige Merkmale der
Individuen ergeben. Sie werden gewöhnlich als blos körper-
liche Zustände betrachtet. In Wahrheit ist auch Alles, was
dem eigentlichen Geiste d. i. dem Denken des Menschen
gefällt, auf nachweisbare Art davon abhängig und wirkt
darauf zurück. Aber die ursprünglichen und eigentlichen,
wenigstens allen animalischen Wesen in irgendwelcher Aus-
bildung gemeinsamen Vermittler des Aeusseren und Inneren
sind die Sinnes-Organe, also das Nervensystem. Die Sinne
geniessen, wie der übrige Leib, theils sich selber: und
hierin sind sie unmittelbar bedingt durch Beschaffenheit
und eigenen Zustand; theils ihre Umgebung, die äussere
Welt, deren sie auf eine besondere und mannigfache Weise
theilhaftig sind und inne werden, sie als angenehm oder
als widrig empfindend, wo denn das bejahende Gefühl oder
das Gefallen und das verneinende oder Missfallen ent-
sprechende Bewegungen nicht verursachen, sondern sind:
übergehend in eigentliche Willens-Aeusserungen als Be-
wegungen, welche durch die efferenten Nervenfasern die
Muskeln contrahiren. Man muss entweder die Ursachen
der Bewegungen als Bewegungen erforschen, und dies setzt
eine Erklärung des Lebens überhaupt und Ableitung des
einzelnen Lebens und seiner Entwicklung aus dem allge-
meinen Leben voraus; sodann aber eine Theorie der hier-
durch bedingten Nervenerregungen, wie sie in Wechsel-
wirkung mit äusseren Kräften entstehen, propagirt werden
und theils sich wiederum nach aussen mittheilen, theils
durch neue Gleichgewichtslagen der Molecüle in relative
Ruhe oder Spannungszustände übergehen. Oder aber man
hat die Geschichte und den Zusammenhang der Empfin-
dungen darzustellen, welche in der That nur die subjective
Wirklichkeit jener biologisch-objectiven Erscheinungen sind.
Jede Zelle, jedes Gewebe und Organ sind ein gewisser
Complex von in sich einigem Willen, wie er in Beziehung
auf sich selber und auf sein Aeusseres steht. Und so der
gesammte Organismus. Seine Veränderungen, sofern sie
von innen (von den Nervencentren) ausgehende Bewegungen
sind, durch welche das Leben sich erhält, sind immer auch
[108] durch simultane, von aussen empfangene Eindrücke bedingt.
Diese kommen beim Menschen nur als animalisch-mentale
zur Betrachtung, wenn die Ausdrücke gedacht werden als
von den Centren ausgehend, welche dem organischen Leben
vorstehen, und dies sind die instinctiven Bewegungen oder
Willensäusserungen, durch welche ein Empfundenes bejaht
oder verneint wird. Der Gesammtwille stellt gleichsam
durch die Sinne Fragen an die Dinge, versucht und prüft
ihre Eigenschaften; aber er selber entscheidet und urtheilt,
ob sie seinem Gefallen gemäss oder nicht gemäss, ob sie
gut oder schlecht sind. Die animalischen und die mentalen
Centren (des Rückenmarkes und des Gehirns) und Organe
werden hier nur betheiligt gedacht, insofern als sie selber
Ausdrücke des vegetativen Lebens sind (abhängen von den-
jenigen des sympathischen Systems). Daher denn sind und
bedeuten, in solchem Zusammenhange gedacht, die Sinnes-
organe selber, in allen Einzelheiten ihrer individuellen Be-
schaffenheit, sofern dieselbe auf blosser Entwicklung ur-
sprünglicher Anlagen beruht, ebensoviele Arten des Ge-
fallens als bejahenden (oder verneinenden) Willens. Die
wesentlich subjectiven Sinne, als: das allgemeine Gefühl,
der Geruch und Geschmack, stellen sich am deutlichsten
in dieser Eigenschaft dar; sie sind die am meisten ge-
niessenden Organe.
§ 7.
Hiervon zu unterscheiden, als die andere, die anima-
lische Gestalt des Wesenwillens, ist Gewohnheit. Dies
ist Wille oder Lust durch Erfahrung entstanden: ursprüng-
lich indifferente oder unangenehme Ideen werden durch
ihre Association und Vermischung mit ursprünglich ange-
nehmen, selber angenehmer, bis sie endlich in die Circu-
lation des Lebens und gleichsam in das Blut übergehen.
Erfahrung ist Uebung, und Uebung hier die bildende
Thätigkeit, wie dort die blosse Entwicklung als Ursache
erschien. Uebung wird zuerst durch Entwicklung involvirt
und muss daraus erklärt werden, wie sie sich von ihr ab-
[109] sondert und als eigenthümlichen Factor ausser und neben
ihr sich behauptet, durch die entschiedenere Mitwirkung
der Umstände oder Bedingungen des individuellen Daseins,
welchen durch eine mannigfachere Arbeit der Coordination
ihrer Eindrücke begegnet wird. Entwicklung und Wachs-
thum ist (im normalen Verlaufe) leicht, sicher, allgemein
(des ganzen Organismus); Uebung, zuerst schwer, wird
leicht durch vielfache Wiederholung, macht unsichere und
unbestimmte Bewegungen sicher und bestimmt, bildet be-
sondere Organe und Kraftvorräthe aus. Unzählige mini-
male Wirkungen häufen sich zu solchem Ergebniss. Wie
das Widrige, Feindliche Schmerzen, so erregt das Fremde,
Ungewohnte, in dem Maasse seiner scheinbaren Kraft, zu-
erst Furcht (instinctive Furcht), welche durch oft wieder-
holte Wirkung sich abschwächt, wenn die Gefahr vorüber-
geht, ohne Schmerzen zu bringen. So wird auch das
Gefürchtete und Abscheuliche zuerst erträglich, endlich
sogar angenehm. Wie auch die umgekehrte Verwandlung
durch Erfahrenes bewirkt wird, als eine Art von Rück-
bildung und Entwöhnung. Die Widerstände, welche einer
ruhigen und leichten Empfindung (Apperception) oder der
Aneignung (Assimilirung) des Gegenstandes entgegen sind,
werden durch die eigene, in Uebung sich vermehrende
Kraft überwunden. Aber diese Vermehrung hat bestimmte,
gesetzliche Grenzen. Ueberübung ist Ueberanstrengung und
geschieht entweder auf Kosten (mit Beeinträchtigung) an-
derer Organe, oder hat unmittelbare Ermüdung der ge-
übten Muskeln, mittelbare des gesammten Organismus zur
Folge, d. i. Erschöpfung der vorräthigen Kraft ohne aus-
reichende Kraft des Ersatzes. Hierdurch wird auch er-
klärt, dass ursprünglich leichte und natürliche Thätigkeit
durch lange Dauer schwer, endlich unmöglich wird; dass
lusthafte Empfindungen und Thätigkeiten indifferent, ja
schmerzhaft werden; wie Hunger und Durst durch Ueber-
genuss in Uebersättigung umschlagen, sexuale Begierde in
Ekel — überhaupt Wille in Widerwillen. Jedoch in
erster Linie: wozu auch ursprüngliche Neigung treibt,
solches wird zur Gewohnheit und das Ursprünglich-Ange-
nehme also um so lieber. So treten besondere Arten der
[110] auf Gefallen beruhenden Thätigkeiten als gewohnte um so
eher und um so eigenthümlicher in die Erscheinung: eine
bestimmte Lebensweise (daher die natürliche Umgebung)
wird als Gewohnheit dem Thiere angenehm, endlich un-
entbehrlich; ebenso eine bestimmte Nahrung und die Ge-
nossen seiner Art. Hierin ist auch der Mensch ganz und
gar Thier, wenn auch auf seine eigene Weise; man sagt
wohl, er sei ein Gewohnheitsthier, ein Sklave seiner Ge-
wohnheiten, u. dergl., wodurch allgemeine und richtige
Erkenntniss ausgedrückt wird. Insofern also der Mensch
als eine animalische Species der anderen grossen Abtheilung
organischer Wesen mitgegenübersteht, so ist Gewohnheit
das Wesentliche und Substanzielle seines Geistes. Alle
Uebung und also Gewohnheit setzt irgendwelche sinnliche
Wahrnehmung voraus, also menschliche Gewohnheit auch
das Verständniss von Wortzeichen. Wenn aber ein Thier
zunächst an Gegenstände und deren Genuss sich gewöhnt,
welche mit den Lebensthätigkeiten auf unmittelbare Weise
zusammenhängen; so ferner und insonderheit an gewisse
ihm nothwendige und durch specielle Wahrnehmungen be-
dingte Bewegungen, Arbeiten, welche es einüben muss;
endlich an hiermit simultane, darauf wirkende und dadurch
bewirkte Verläufe und Zusammenhänge von Wahrnehmungen
und Vorstellungen, worauf die den oberen Thieren geläufige
Action des Schliessens als der Ergänzung eines Gegebenen
durch bestehende Associationen beruhet, und — welcher
als Fähigkeit dazu unterschieden wird — der Verstand.
In der menschlichen Natur werden diese Arten nur specia-
lisirt und modificirt, so dass man unterscheiden mag:
menschliche Lebens-, Arbeits- und Vorstellungsgewohn-
heiten, welche doch alle durch zahlreiche und sich kreu-
zende Fäden verbunden sind. Am meisten macht sich hier
merkwürdig — was ein Jeder weiss — wie damit, was man
kann und kennt, übereinkommt, was man mag, wozu man
Lust hat. Denn allerdings ist das Können selber, das Kraft-
gefühl, ein Drang und Wille zur Leistung, als die Nothwen-
digkeit des Organismus auf diese Art zu leben, um sich in
seiner gegebenen Vollkommenheit wenigstens zu erhalten;
denn das nichtgebrauchte Glied, die nichtgeübte Kraft ver-
[111] kümmert durch Atrophie, wie ihre Thätigkeit die Bedingung
und Wirklichkeit ihrer Ernährung ist. Daraus ist verstehbar,
wiefern Gewohnheit, das eigentliche Princip des Könnens,
zugleich activer Wille sei. Denn was man kennt und kann,
das thut man leicht, folglich gern, und ist bereitwillig dazu,
hingegen je fremder etwas ist, desto pein- oder mühevoller,
desto ungerner wird es unternommen. Die Ausdrücke der
originalen Sprachen sind in dieser Hinsicht bedeutend: das
griechische φιλεῖν, wofür auch die Unsrigen sagen: man
liebt = man pflegt solches und solches zu thun; dazu der
besondere Ausdruck ἐϑέλειν, welcher so »Wollen« und
gerade »Bereitwilligkeit« als »Pflegen« sinnreich bedeutet.
Man denket ferner an das römische Wort consuetudo, wo-
durch bezeichnet wird, was der Geist zu seiner Eigenheit
sich geschaffen und verbunden hat: wenn das suum (rad.
sva-) Athem und Blut als ererbten Besitz, so bezeichnet
dieses die neuerworbene, aber mit jenem gleichartig ge-
wordene Habe. Endlich mag auch der Sinn von Gewohn-
heit selber betrachtet werden, wie auch das entsprechende
der Hellenen (ἔϑος); beide weisen gleichsam auf Ansiede-
lungen der Ideen oder Impulse hin; sie haben ihren festen
Ort gewonnen, den heimathlichen Boden, worauf sich ihre
gemeinschaftliche Thätigkeit bezieht, welchem sie sich an-
gepasst und anbequemt haben, um so mehr dadurch mit
einander innig verbunden. — Zur Gewohnheit verhält sich
Verstand als der speciell mitausgebildete sensus communis,
wie zu Gefallen sich die einzelnen Sinnesorgane und deren
Functionen verhalten.
§ 8.
Die dritte Form des menschlichen Wesenwillens nenne
ich Gedächtniss. Sie ist nur eine besondere Evolution
der zweiten und hat denselben Inhalt in Bezug auf die
oberen, cerebralen, beim Menschen vorzüglich ausgebildeten
Centren, welcher dem allgemeineren Begriff in Bezug auf
die gesammte Rückenmarkssäule zukommt. So wird Ge-
dächtniss hier als Princip des mentalen Lebens, somit als
das specifische Merkmal des menschlichen Wesenwillens
[112] begriffen. Nun aber darf man auch, aus dem Gesichts-
punkte der originalen Gleichheit desselben mit allem orga-
nischen Leben, füglich sagen, dass die eigentliche Natur
des Willens überhaupt sich am deutlichsten als Gedächtniss
offenbart oder als die Verbundenheit von Ideen (denn als
solche gelangen die Empfindungen oder Erfahrungen zu
einer vergleichungsweise gesonderten Existenz). In der
That hat man in neuerer Zeit oft vom Gedächtniss als
einer allgemeinen Eigenschaft und Fähigkeit der organischen
Materie gesprochen (Hering, Haeckel, S. Butler) und als
ererbte Gedächtnisse die thierischen Instincte zu erklären
versucht. Dieselben können aber ebenso allgemein als Ge-
wohnheiten verstanden werden und sind nichts Anderes,
wenn sie in Relation zu der Art anstatt in Relation zum
Individuum betrachtet werden; indem die organischen Ur-
triebe — welche nicht ferner zurückführbar sind — solche
Fähigkeiten und Neigungen in sich aufgenommen haben
und als immer stärkere und immer inniger mit ihnen ver-
bundene Keime über das individuelle Leben hinaus fortzu-
setzen tendiren. Und in ähnlicher Weise verhalten sich
Gewohnheit und Gedächtniss: der spätere Begriff löst sich
von dem früheren ab, tendirt aber zugleich als eine immer
stärkere Potenz in jenen zurückzusinken. In diesem Sinne
haben englische Psychologen (Lewes, Romanes) das Theorem
der lapsing intelligence ausgebildet, als Formel für die be-
kannte Erscheinung, dass sogen. willkürliche, d. i. unter
Mitwirkung des Denkens oder — bei Thieren — bestimmter
Wahrnehmungs- oder Vorstellungsacte geschehende Hand-
lungen unwillkürlich oder unbewusst werden, d. i. eines
immer geringeren oder allgemeineren Reizes bedürfen, um
hervorzutreten; ein Process, dessen allgemeiner Inhalt die
Verwachsung von intellectuellen Thätigkeiten mit kine-
tischen Impulsen überhaupt bedeutet; wobei aber zu ge-
denken ist, dass sowohl jede Art von Empfang als jede
Art von Ausgabe nur durch ihre gemeinsame Abstam-
mung aus der Einheit des Organismus erklärbar sind, daher
die Möglichkeit ihrer Verbindung als ein Keim darin ent-
halten sein muss. Wenn Gedächtniss nach der gewöhn-
lichen Wortbedeutung die Fähigkeit ist, Eindrücke zu
[113] reproduciren, und nun in den wissenschaftlichen Begriff
verallgemeinert wird, als Fähigkeit zweckmässige Thätig-
keiten zu wiederholen, so würde dies nicht verständlich
sein, wenn man nicht wüsste, dass Eindrücke selber Thätig-
keiten sind und dass diese Zwiefachheit im Begriffe des
organischen Lebens, wovon alles besondere Leben Modifi-
cationen darstellt, als der Einheit von Ernährung und Re-
production unentwickelt enthalten ist. Wenn aber die Ein-
heit sich theils in der Entwicklung erhält, theils durch
Uebung sich ausbildet, so ist es endlich eine besondere
Verknüpfung, welche des Erlernens bedarf, um behalten
zu werden. Und diese ist in allen Thätigkeiten, welche
ihrem Wesen nach durch die eigenthümlich menschlichen
Begabungen bedingt sind. Erlernung ist theils eigene Er-
fahrung, theils Nachahmung, besonders aber Empfang von
Weisung und Lehre, wie etwas gethan werden müsse, um
richtig und gut zu sein, und welche Dinge und Wesen
heilsam und werthvoll seien. Dies ist daher der wahre
Schatz des Gedächtnisses: das Richtige und Gute zu wissen,
um es zu lieben und zu thun. Denn es als solches wissen
und bejahen, ist einerlei; wie etwas gewohnt sein und es
bejahen einerlei ist; Gefallen an etwas haben und es be-
jahen einerlei ist; obschon keine dieser Bejahungen für
sich allein auch die entsprechenden Thätigkeiten als noth-
wendige Folge hat, und auch ihre Verbindung nur, sofern
sie die Widerstände überwindet. — Der allgemeine Aus-
druck des mentalen Lebens ist die Rede: Mittheilung
eigener Empfindungen, Wünsche und aller möglichen in-
tellectuellen Erfahrung an Andere, oder im stummen Den-
ken, an sich selber. Und wenn auch die Sprache selber
als das Wissen der Bedeutungen und des Werthes von
Wortzeichen, wie als Fähigkeit, sie zu verbinden und zu
gebrauchen, erlernt werden muss — woran freilich Uebung
und Gewöhnung den grössesten Antheil hat — so ist
doch (eben durch Besitz der Kunst) das Gesprochene
wenig vom Denken und in der Regel nur von augen-
blicklichem Gefallen, von Einfällen abhängig, deren
Sinn aus dem Zustande des Redenden und aus den ge-
gebenen Umständen hervorgeht; zumal aus der gestellten
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 8
[114] Anrede, Forderung, Frage. Gefallen kann allerdings imm [...]
als unbewusstes Urtheil gedeutet werden; wie es denn a [...]
als Gutdünken in unserer Sprache bestimmt wird. [...]
so herrschet es wählend in allem Leben, so auch in dem
Leben der Fantasie, jener Form des Gedächtnisses, welche
durch Wortzeichen noch gar nicht bedingt ist, aber wenn
sie einmal vorhanden sind, sie fortwährend, in mannig-
fachen Gruppen, gleich anderen Ideen reproducirt. Ebenso
aber machen sich die gewohnten Ideen-Massen im
stärksten Maasse als Functionen der Fantasie oder des
Gedächtnisses geltend. Endlich aber gibt es Ideen, mit
denen die Verbindung selber eine gedächtnisshafte ist; das
will sagen: es bedarf der Erinnerung oder eines besonderen
Einfalles und Gedankens, gleichsam eines Maasstabes oder
einer Wage, um si zu unterscheiden, ihren Werth zu er-
kennen und demnach erst als die seinigen zu setzen. Der
Rede gleich kommt aber alle andere, durch Fantasie, Ge-
dächtniss oder Vernunft wesentlich mitbedingte menschliche
Arbeit, die als eine schaffende und künstlerische, von
denen der meisten, und besonders der ihm verwandtesten
Thiere deutlich sich abhebt. — Also verhält sich wie Ver-
stand zu Gewohnheit, Sinnlichkeit zu Gefallen, in dem-
selben Sinne Vernunft als Vermögen der Sprache, des
Denkens und denkenden Thuns, zu Gedächtniss. Und
wenn Gedächtniss mentales Gefallen und Gewohnheit zu-
gleich ist, so ist Gewohnheit ein niederes (animalisches)
Gedächtniss und Gefallen das elementare (allgemein orga-
nische) Gedächtniss.
(Anmerkung.) Spinoza hat im menschlichen Willen das
Gedächtniss wiedererkannt. Man sehe am Schlusse des Schol.
zu Eth. III, prop. 2. die Stelle, welche beginnt: »Ein Anderes
ist es, was ich hier vorzüglich erwogen wünsche, nämlich
dass wir nichts aus freiem Beschlusse des Geistes thun
können, wenn wir uns nicht desselben erinnern. Z. E. wir
können nicht ein Wort sprechen, wenn uns dasselbe nicht
einfällt. Nun aber ist es doch nicht im freien Vermögen
des Geistes, an eine Sache zu denken oder sie zu vergessen«;
und nach Erörterung eines Einwandes endet: »so muss
nothwendiger Weise eingeräumt werden, dass dieser Be-
[115] schluss des Geistes, welcher für frei gehalten wird, von der
Imagination selber oder dem Gedächtniss nicht sich unter-
scheidet und nichts Anderes ist ausser jener Bejahung,
welche die Idee, insofern als sie Idee ist, involvirt. Und
ferner entstehen diese Beschlüsse des Geistes mit derselben
Nothwendigkeit im Geiste, als die Ideen der in Wirklichkeit
existirenden Dinge. Die also glauben, dass sie aus freiem
Beschlusse des Geistes reden oder schweigen oder irgend
etwas thun, sind Träumer mit offenen Augen.«
Wir aber glauben freilich, [...]ese Wahrheit in noch
genauere Darstellung fassen zu können, wenn von den Ge-
stalten der Willkür zu reden sein wird.
§ 9.
Hier aber wird zuvörderst die bisherige Ansicht in
einigen allgemeinen Betrachtungen zusammengefasst und zu
Bestimmungen fernerer Begriffe erweitert. A) Alle speci-
fisch menschlichen, also die bewussten und gewöhnlich will-
kürlich genannten Thätigkeiten sind abzuleiten, sofern sie
dem Wesenwillen angehören, aus den Eigenschaften des-
selben und aus seinem jedesmaligen Erregungszustande.
Dieser ist, was wir als Stimmung, oder als Affect, oder
auch als bestimmende Vorstellung, Meinung, Wahn ver-
stehen müssen; ganz allgemein aber als Gefühl bezeichnen,
welches zugleich die Richtung oder die Art und Weise an-
zugeben scheint; man thut wie einem zu Muthe ist, wie
man es gewohnt ist, endlich wie es einem gut dünkt. In
jedem Falle ist ein gewisser Vorrath von Nervenkraft im
Gehirn vorhanden, welcher seinen Weg in die Muskeln
nimmt, soweit er nicht im Gehirn selber sich entladen
kann; hierin wird er aber theils durch die gegebenen äusse-
ren Reize, theils durch den Zusammenhang des Organismus
(des Nervensystemes) bestimmt, in welchem die geübten
Bahnen diejenigen sind, welche das geringste Kraftmaass
erfordern. Alle diese Thätigkeiten, als Ausgabe und Ver-
wendung von Kraft, sind also bedingt durch vorherige oder
gleichzeitige, specifische Einnahme von Kraft, welche selber
nicht anders als durch Arbeit, wenn auch gleichsam auf
ererbtem Grund und Boden geschehende, vor sich gehen
8*
[116] kann. Diese Arbeit ist die Ausbildung des Gehirnes, sein
Wachsthum durch die unter beständiger Ernährung aus
dem vegetativen System geschehenden mentalen Functionen
selber. Die Kraft, welche durch dieselben geübt und ver-
mehrt, zugleich aber von aussen empfangen wird, ist intel-
lectuelle Erfahrung. Sie wird gegeben: theils durch die —
einzelnen und verbundenen — Productionen der Sinnes-
organe, welche jedesmal unter Mitwirkung der schon vor-
handenen, Theile früherer Erfahrungen involvirenden Kraft
des Gehirnes vollzogen werden; theils durch die Arbeiten
aller übrigen Organe, besonders die durch Sinne und Ge-
hirn dirigirten; unter welchen am bedeutendsten in seinen
Wirkungen das eigene Sprechen ist: zugleich Uebung
höchst complicirter Gehirn- und Muskelthätigkeit und
wiederum wahrnehmender Empfang durch das eigene Ge-
hör; theils endlich durch die gesonderte Thätigkeit des
Gehirnes selber, welche von dreifacher Art ist, 1) Be-
wahrung und Reproduction der unmittelbaren Ideen; die
Function des eigentlichen »Gedächtnisses«, 2) Gestal-
tung derselben und Verbindung zu selbständigen Bildern,
welche gleichsam eigenes Leben haben und sich vor dem
»inneren Auge« zu bewegen scheinen; höchst »subjective«
d. i. durch eine eigenthümliche Energie des Gedächtnisses
bedingte Arbeit, die der Fantasie, 3) Auflösung und
Zusammensetzung von Vorstellungen durch Namen, An-
nahme und Abstossung derselben — dies ist die bewusste
Erinnerung, und erst von ihr eine besondere Abzwei-
gung ist das vergleichende, mit Begriffen operirende
Denken oder Rechnen. B) Die Ausbildung bestimmter
Arten des Gefallens, als der Grundrichtungen des Willens,
ist am meisten von inneren Bedingungen — den Anlagen
— und am wenigsten von äusseren — den Umständen —
abhängig. In der Entwicklung von Gewohnheiten mögen
Anlagen und Umstände gleichmässig wirksam, aber von
Modificationen des Gedächtnisses Umstände als überwiegend
gedacht werden. Dies bedeutet dasselbe, als wenn die Er-
folge der Uebung und jener besonderen Uebung, die als
Erlernung unterschieden wurde, in die Schätzung fallen.
Denn allerdings ist auch die Möglichkeit derselben, wie
[117] Jeder weiss, durch Anlagen bedingt und das Gelingen
höchst verschieden. Aber eine schwache Anlage kann
durch starke Uebung einer starken, aber schlecht geübten
wenigstens gleichkommen. Dies trifft ebenso die Anlagen
zu besonderen Künsten und Leistungen, als die Anlagen zu
bestimmten Arten des Verhaltens, Thuns oder Denkens
überhaupt. Man ist gewohnt — und hierin stimmt mit der
herkömmlichen Ansicht das Theorem Schopenhauers über-
ein — als seelische Anlagen und Eigenschaften (nämlich
ausser den körperlichen) intellectuelle und moralische zu
unterscheiden. Dabei werden aber jene durchaus als Fähig-
keiten und nur diese als Neigungen oder Abneigungen ver-
standen. Für die gegenwärtige Betrachtung giebt es nur
Arten des Willens, welche einerseits in der gesammten
leiblichen Constitution ihre objective Wirklichkeit haben,
andererseits in jedem Zustande zugleich Fähigkeiten irgend-
welcher Vollkommenheit sind. Sie sind am deutlichsten
erkennbar durch die Dinge und Thätigkeiten, an welchen
das Wesen Gefallen findet; ferner aber durch die Dinge
und Thätigkeiten, an welche es sich leicht gewöhnt; endlich
durch jene, für welche es ein (leichtes, gutes) Gedächt-
niss hat. C) Alles, was aber dem Gefallen (d. i. dem hu-
manen Instincte), der Gewohnheit und dem Gedächtniss
eines Menschen angehört, kann als von seiner Natur zu
ihrem eigenthümlichen Inhalte assimilirt und verarbeitet
verstanden werden, in der Weise, dass es ein Ganzes oder
eine Einheit mit ihr ausmacht. Oder: wenn Gefallen mit
den ursprünglichen Eigenschaften der individuellen Natur
so völlig identisch angenommen wird, dass es durch blosses
Wachsthum des gesammten Organismus, unter günstigen
Umständen, sich entwickelt, so ist Gewohnheit (als durch
Uebung entwickelt) die andere Natur, und Gedächtniss
(durch Nachahmung und Erlernung) die dritte. Aber die
Natur eines jeden animalischen Wesens stellt sich unab-
änderlich dar in Annahme und Ausstossung, Angriff und
Abwehr, Nahung und Flucht oder, auf psychische und zu-
gleich mentale Weise ausgedrückt: in Lust und Schmerz,
Verlangen und Ekel, Hoffnung und Furcht; endlich durch
neutrale und logische Begriffe: in Bejahungen und Ver-
[118] neinungen. Alles Leben und Wollen ist Selbst-Bejahung,
daher Bejahung oder Verneinung des Anderen, je nach
der Beziehung, in der es zum Selbst (als der Einheit von
Seele und Leib) stehen mag; wie es gefühlt und voraus-
gefühlt (d. i. begehrt oder verabscheut) wird, als gut oder
übel, freundlich oder feindlich, und in dem Maasse, in welchem
solches der Fall ist. Der ganze Inhalt aber unserer beson-
deren Natur oder unseres eigenthümlichen Selbst kann be-
stimmt werden als das, was wir können oder wessen wir
fähig sind — als unsere reale Kraft, d. i., was wir gewollt
haben, und als Gewolltes haben, der ganze Zusammen-
hang unserer Instincte, Gewohnheiten und Gedächtnisse.
Und dieses gibt sich im einzelnen Wollen insbesondere
kund a) durch die unmittelbare (instinctive, vegetative)
Aeusserung der Gefühle, welche von ihnen nicht ver-
schieden ist: als Contraction oder Expansion der Leibes-
masse, wodurch das Individuelle am wenigsten zur Geltung
kommt, b) durch den Uebergang und die Verbreitung der
Gefühle in (Ausdrucks-)Bewegungen, Tönen, c) durch
ihre Erhöhung und Abklärung zu Urtheilen, als gesprochenen
oder nach Art von gesprochenen vorgestellten (gedachten)
Sätzen, wodurch das Individuelle am bedeutendsten sich
ausdrückt. Ferner aber offenbart sich Kraft und Natur
eines Menschen in dem, was objective seine Leistung ist:
die Realitäten davon sein Dasein und Wirken als Ursache
gedacht wird, d. i. sein Einfluss, seine Thaten und seine
Werke. D) Aus allen solchen Aeusserungen versucht man
das Innere oder das Wesen des Menschen zu erkennen.
Wenn dieses an und für sich, in seiner ihm nothwendigen
Action, nichts als blinder Trieb und Drang ist, so mani-
festirt sich derselbe doch anders im vegetativen, anders im
animalischen und mentalen Leben. Wenn in bedeutenden
und tiefen Zügen ausgeprägt, so nennen wir ihn dort
Leidenschaft, als den Drang zum Genusse, allgemeinen
»Lebensdrang«, welcher seine grösste Energie als Zeugungs-
drang oder Wollust offenbart; so aber können wir ihn ferner,
als »Thatendrang« oder Lust zur Bethätigung animalischer
Kraft, Muth nennen, und definiren endlich den mentalen
»Schaffensdrang« oder die Lust, das in Gedächtniss oder
[119] Fantasie Lebendige zu ordnen, zu gestalten, mitzutheilen,
als Genie. Jeder Mensch besitzt ein gewisses Maas von
Leidenschaft, jeder ein gewisses Maas von Muth und jeder
ein gewisses Maas und eine gewisse Art von Genie. Aber
alle diese Eigenschaften müssen immer in Relation zu be-
stimmten Leistungen gedacht werden, wodurch die erste
am wenigsten, die letzte am meisten variabel ist. Und als-
bald leuchtet hervor, wie dies nur specialisirte Begriffe für
die einfachen Gestaltungen des Wesenwillens sind, oder wie
Leidenschaft auf Gefallen, Muth auf Gewohnheit, Genie
auf Gedächtniss beruht. Den Wesenwillen aber, sofern er
in diesen Gesammt-Formen — welche die Elemente der
Willkür involviren und von sich abhängig haben — seine
Ausdrücke besitzt, mögen wir als Naturell unterscheiden.
Im Naturell eines Menschen sind die Tendenzen und Kräfte
der Leidenschaft, des Muthes, des Genies in verschiedenen
Verhältnissen gemischt. Aber Leidenschaft oder Lebhaftig-
keit ist das ursprüngliche Merkmal und gleichsam die Basis
dieses Begriffes. Und diese heisst in ihrer Anwendung und
Wirklichkeit als bejahendes oder verneinendes Verhalten
eines Menschen gegen andere, Gesinnung, nämlich Liebe
oder Hass. So heisst ferner Muth, als Wille zur freund-
lichen oder feindseligen Bethätigung solcher Gesinnung, da-
her als Inbegriff der »moralischen« Qualitäten, Gemüth.
Endlich der einem Individuo eigene Genius, als Gedächtniss
und Gedankenwille in Erwägung und Beurtheilung eigener
und fremder, freundlicher oder feindlicher Verhaltungs-
weisen und Eigenschaften, daher als der Begriff, welcher
die moralischen Tendenzen und Meinungen (Velleitäten)
ausdrückt, wird durch allgemeine Uebereinstimmung als
Gewissen bestimmt. E) An diesen Gestaltungen haften
die Qualitäten des Willens, welche bewundert gelobt
geehrt, oder verachtet getadelt geschmäht werden. In dem
allgemeinen Gebiete ist der gute Wille, vielmehr aber
betont als der gute Wille, im Gegensatze zum Können
und zur vollkommenen Leistung, die intensive An-
spannung der vorhandenen Kräfte, welche in irgendwelcher
Thätigkeit oder auch in einem fertigen Werke ihre Objec-
tität hat. Hier treten also Kraft, d. i. Beschaffenheit als
[120] die Möglichkeit von Actionen, und Wille als die Wirklich-
keit derselben, welche bisher zusammenbegriffen wurden,
auseinander: jene als ein geronnener und fester, substan-
tieller Wille, dieser als Function, daher sich zersetzende,
flüssige Kraft — ein Verhältniss wie von potentieller zu
kinetischer Energie. Und während nun im Allgemeinen
die Kräfte und Fähigkeiten als empfangene Gaben — des
Schicksals oder eines Gottes — erscheinen, so wird als
Urheber gethaner Arbeit, sowohl ihrer Ergebnisse als der
Fähigkeiten an und für sich, der Mensch selber, in seiner
beharrenden Einheit und Individualität, verstanden; nicht
in dem besonderen und nachher zu betrachtenden Sinne,
dass er sie (vorher, in Gedanken) gewollt oder gewählt
habe, und auch anders wollen konnte; sondern, auch
wenn Thätigkeit und Wille als identisch genommen werden,
so scheint aus dem gesammten und allgemeinen Willen der
einzelne und besondere Wille zu fliessen, entsprungen zu
sein. Nach den hier zu Grunde gelegten Bestimmungen
ist der Unterschied wesentlich der von blosser Entwicklung
und hingegen: eigentlicher Uebung (nebst lernender Aus-
bildung und Anwendung) gegebener Anlagen. An der
Uebung nimmt der ganze, schon entwickelte Mensch, nehmen
insonderheit seine specifischen Eigenschaften: Verstand,
Vernunft, physiologisch ausgedrückt: die Centren seines
grossen Gehirns, vollkommenen Antheil. Daher trifft das
Urtheil über die Thätigkeit oder den einzelnen Willen, das
gesammte Wesen, als zureichende Ursache oder involviren-
des Ganzes: wenn es anders wäre, so wäre auch die Wir-
kung oder der Theil anders; weil es so ist, so muss die
Wirkung oder der Theil also sein. An dem gesammten
Wesenwillen werden daher dauernde Eigenschaften unter-
schieden, welche ihn nicht sowohl als Kraft und Substanz,
sondern, in dem bezeichneten Sinne, als Willen und Thätig-
keit expliciren: diese sind, wenn gross und bedeutend, seine
besonderen Vorzüge, Tüchtigkeiten, Tugenden. Und
zwar: die allgemeine Tugend ist Energie — auch That-
kraft oder Willenskraft geheissen; als ihr besonderer Aus-
druck kann im Gebiete der Thaten Tapferkeit, im Ge-
biete der Werke Fleiss (oder Ernst, Eifer, Sorgfalt) hin-
[121] gestellt werden. Solche sind also die correlaten Begriffe
von Leidenschaft, Muth, Genie. Da nämlich diese auf eine
Bedeutung eingeschränkt werden können, wo sie den Willen
als Naturkraft, Begabung (obgleich in so verschiedenen
Anwendungen) bezeichnen, so gelten jene noch besonders
als vernünftiger Wille, die Principien menschlicher Be-
mühung, Uebung, Arbeit. — Aber in diesen Tugenden und
ihren mannigfachen Variationen wird doch die eigentliche
und moralische Güte des Willens, wird daher die Güte
des Menschen nicht gefunden. Wie man durch seine
Fähigkeiten und Künste etwas Besonderes Seltenes Nütz-
liches ist, und ein guter Handwerker, ein guter Soldat, ein
guter Schriftsteller heissen mag, aber nicht ein guter
Mensch: so ist man durch jene Tugenden, durch guten
energischen Willen in Bezug auf irgendwelche vorgestellte
Leistungen vielleicht ein tüchtiger, ein bedeutender, aber
niemals ein guter Mensch. Die Gutheit (um so für den
allgemeinen Begriff zu sagen) des Menschen wird allein in
sein Verhalten zu anderen Menschen gesetzt, hat daher allein
auf jene zweite Reihe der Ausdrücke des Wesenwillens
Bezug. Sie ist die unmittelbar freundlich-günstige Tendenz
des Willens, die Rücksicht (»Blüthe edelsten Gemüthes«,
wie ein Dichter sagt), bereitwillige Mitfreude und Mitleid,
die Anhänglichkeit und dankbare Erinnerung an freund-
liche Gefährten des Lebens. So mögen wir die Reinheit
und Schönheit der »Gesinnung« als Aufrichtigkeit und
Wahrhaftigkeit; die Tiefe, wie wir sagen, und den Adel des
»Gemüthes« insonderheit als Güte; aber die Gutheit und
Rechtschaffenheit des »Gewissens«, jene zarte vielleicht ängst-
liche Gewissenhaftigkeit, als Treue bestimmen. Von diesen
dreien können alle natürlichen moralischen Werthe abge-
leitet werden. Im Vergleiche mit solchen müssen aber jene ge-
meinen Tüchtigkeiten des Willens, so bedeutend auch sonst
ihre Würdigung sein mag, als indifferente auf dem mora-
lischen Gebiete erscheinen. Aus der Vermischung der einen
mit der anderen Gattung von Urtheilen entspringt in der-
gleichen Erörterungen vieles Gewirre. Aber allerdings ge-
winnen jene indifferenten Tugenden moralische Bedeutung,
insofern als sie erfreuen, fremdes Wohl fördern, nützliche
[122] Eigenschaften oder Kräfte sind und mit solcher Tendenz
geübt zu werden scheinen. Wogegen denn um so mehr ihr
Mangel oder ihr Gegentheil nicht bloss verachtet und ge-
tadelt wird, sondern auch als directe beleidigender und
also böser Wille (welcher Unwillen rege macht, wie der
gute Wille Sympathie erweckt) sich darstellen kann. Be-
wundert werden die Tugenden, verachtet ihre Gegentheile
(wir könnten sagen: die Laster, aber wider den Gebrauch
unserer Sprache, worin das Wort keineswegs so weite Be-
deutung hat), auch als Eigenschaften von Feinden, und
doch können jene dann ebenso fürchterlich, als diese an-
genehm und vortheilhaft sein.
§ 10.
Es ist eine durchaus andere Betrachtung, welche den
Willen als Gedankenproduct, als Willkür zu ihrem Gegen-
stande nimmt. Denn ihre Möglichkeit setzt schon die fer-
tige Gestalt des menschlichen Organismus-Willens als ihre
Bedingung voraus, und die unzähligen Ansätze, welche als
Vorstellungen zukünftiger Thätigkeit in jedem Gedächtnisse
sich finden, können nur durch festgehaltene und erneuerte,
erweiterte Arbeit des Denkens zu mannigfachen Bildungen
gelangen. Die einzelnen Tendenzen oder Kräfte, als ge-
dachte, ordnen sich oder werden geordnet zu Systemen, in
welchen jede ihre Stellung hat und das Ihrige leistet, in
Bezug auf die anderen. Solche Einheit aber ist immer, dem
Denken gegenüber sich vorstellend, eine Möglichkeit des
ganzen Menschenwesens, sich zu äussern, zu wirken. Ein
gedachter Zweck, d. i. ein zu erreichender Gegenstand oder
ein erwünschtes Geschehniss, gibt immer das Maas ab,
in Bezug auf welches die vorgenommenen Thätigkeiten ge-
richtet werden, und — im vollkommenen Falle — beherrscht
der Gedanke an den Zweck alle anderen Gedanken und
Ueberlegungen, folglich alle mit Willkür wählbaren Hand-
lungen; sie müssen ihm dienen, zu ihm hinführen (conducere)
oder wenigstens ihm nicht hinderlich sein. Dem einen
Zwecke ordnen daher viele Zwecke sich unter, oder viele
Zweckgedanken vereinigen sich auf einen gemeinsamen,
[123] dessen Erreichung ihnen insgesammt förderlich, also ein
Mittel zu sein scheint. Sie werden selber dadurch immer
wieder zu Mitteln herabgesetzt, nämlich in Bezug auf den
höheren Zweck und durch denselben. Die vollkommene
Herrschaft des Denkens über das Wollen würde mithin
eine Hierarchie der Zwecke darstellen, in welcher alles
Gewollte zuletzt auf einen obersten und allgemeinsten Zweck
hinaufgeführt werden müsste, oder auf mehrere solche, wenn
etwa mehrere als unabhängig von einander und von gleich
grosser Bedeutung einander beigeordnet würden. Aber
auch diese obersten Zwecke beziehen, nach dem aufgestellten
Begriffe, ihre Kräfte insofern vom Denken, als dieses ihnen
seine Anerkennung und Bestätigung verleiht, dadurch sich
mit souveräner Geltung bewährend. Einem solchen Zu-
stande gemäss, müssen alle Erscheinungen des Wollens aus
Gedanken, welche über ihnen oder hinter ihnen vorhanden
sein mögen, sich ableiten oder erklären lassen. — Die
Tendenz zu solcher Herrschaft macht sich in jedem Acte
des (für sich gedachten) Intellectes geltend; denn auch jede
actuelle Wahrnehmung dient zur Leitung und Richtung der
aus dem Wesenwillen entspringenden Conate. Sie bringt
zwar keine Motive hervor; aber sie gibt die Directive
den vorhandenen. Sogar können Vorstellungen und Ge-
danken die nothwendigen Bedingungen oder Gelegenheits-
Ursachen abgeben, um schlummernde Potenzen des Willens
zur Aeusserung zu bringen, und dennoch bleiben diese
ihrem Wesen nach davon unabhängig; wie eine Naturkraft
von den Gesetzen der Bewegung. Das Denken aber wirft
sich zum Herrn auf; es wird der Gott, welcher von aussen
einer trägen Masse Bewegung mittheilt. So muss es selber
als von dem ursprünglichen Willen (daraus es doch hervor-
gegangen ist) abgelöst und frei gedacht werden, Willen
und Wünsche in sich darstellend und enthaltend, anstatt in
ihnen dargestellt und enthalten zu werden. Die Möglichkeit
also der Willkür beruhet darauf, dass die Werke des Den-
kens in Bezug auf ein zukünftiges Verhalten beharren
können, und, obgleich sie ausserhalb des sie festhaltenden
und bewahrenden Denkens nichts sind, eine scheinbar un-
abhängige Existenz darstellen; und indem nun dieses Den-
[124] ken als Willens- wie als Bewegungs-Zustand anderen Willens-
oder Bewegungs-Zuständen vorausgeht und als sie bewirkend
empfunden wird, so wird an jenen nur ihre psychische,
an diesen nur ihre physische Seite ins Auge gefasst, und
so entsteht die Folgerung, dass die Seele (oder der Wille)
auf den Körper wirke, was unmöglich ist, da sie (oder er)
mit dem Körper identisch ist. Das Wahre ist in diesem
Falle: insofern als jenen Gedankenproducten eine Existenz
zugeschrieben werden darf (was unter gehörigem Verständ-
niss durchaus zulässig ist), so wirkt ein ideell Wirkliches
auf ein realiter Wirkliches: ideeller Wille auf realen Willen
(da auch die Möglichkeit, bewegt zu werden, noch psychisch
gedeutet werden muss); ideelle Materie auf reale Materie;
als Ausdruck für den höchst complicirten physiologischen
Vorgang, dass ein Quantum Energie des Gehirns durch
Nerven und Muskeln in die Glieder übergeht.
§ 11.
Der Begriff der Willkür soll zuerst in drei einfachen
Gestaltungen unterschieden werden, je nachdem sie sich
bezieht a) auf ein freies Verhalten im Allgemeinen oder
auf die Wahl eines Gegenstandes, d. i. einer Thätigkeit in
Bezug darauf: diese Form heisse Bedacht. Hier werde
vorgestellt, dass sich zwei von Natur feindliche Ideen be-
gegnen: nämlich eine der Lust und eine des Schmerzes.
In Gedanken sich darstellend ist jene ein Grund für das
eine, diese ein Grund dagegen und für das andere Wollen.
Sie vertragen sich in Gedanken; sie werden einander gegen-
seitig dienstbar. Bedacht als Wille richtet sich auf das
Schmerzhafte, welches von Natur nicht gewollt wird; aber
nur um des dadurch bewirkten, daraus erfolgenden Lust-
haften willen, welches also eigentlich und wirklich zu
gleicher Zeit gewollt oder gewünscht wird. Einstweilen
muss aber dieses nachgeben und zurücktreten, um als
Hintergedanke ohne unmittelbare Kundgebung zu bleiben.
So ordnet sich die Idee des Widerwillens dem Willen und
die Idee des Willens dem Widerwillen unter; sie werden
sich einig; der gemeinsame Sinn und Zweck, nämlich ein
[125] Ueberschuss von Lust, welcher unbedingter Weise willkommen
ist, wird selbständig. Dasselbe Verhältniss findet statt,
wenn eine Lust aufgegeben wird um einer anderen willen,
oder ein Schmerz übernommen, um zukünftigen zu ver-
meiden. Das Wesentliche ist die Opposition. Denn durch
Thätigkeit des Denkens in Bezug auf ein vorzunehmendes
Werk geschieht die scharfe Trennung von Zweck und
Mittel, welche durch ihren Gegensatz vollkommen und deut-
lich wird, wo das Eine die Verneinung des Anderen ist,
nämlich der Zweck das Gute oder die Lust, das Mittel ein
Uebel oder der Schmerz. Keines von beiden wird als
solches gefühlt, indem sie Objecte des Denkens sind; aber
sie werden als Gegensätze gedacht, als Begriffe die nichts
mit einander gemein haben, ausser der Scala in welche sie
zusammengebracht worden sind. Indem Eines sich als die
Ursache des Anderen setzt, so setzt es sich als noth-
wendig in Bezug darauf, um gewollt zu werden, sobald die
gewollte Lust gross genug scheint, ein solches »Opfer« auf-
zuwiegen. Ursache und Wirkung werden daher nach ihrem
»Werthe« verglichen; sie müssen commensurabel sein,
also in ihre Elemente aufgelöst und auf Maas-Einheiten
reducirt werden, welche beiden Grössen gemeinsam sind.
Daher verschwinden hier alle Qualitäten von Lust und
Schmerz als irreal und imaginär: sie müssen sich in lauter
quantitative Unterschiede verwandeln, so dass im Normal-
falle ein Quantum Lust und ein Quantum Schmerz gleich
und entgegengesetzt sind. — Die andere Form der Willkür,
in welcher sie b) auf bestimmte einzelne Handlungen ge-
richtet ist, nenne ich Belieben oder Beschluss. Ein
solches geht aus von einem fertigen über seine Möglich-
keiten denkenden Ich, welches in Bezug auf ihm feststehen-
den Zweck eine dauernde Existenz hat, wenn auch dieser
Zweck nur um vieler anderen Zwecke willen vorhanden
ist, welche ihn als ihren Vereinigungspunkt gesetzt haben.
Nun müssen sich vielmehr nach ihm alle richten innerhalb
seines Bereiches, und während die ursprünglichen Zwecke
alle aus der gemeinsamen Masse der intellectuellen Erfahrung
— nämlich als Erinnerungen und Kenntnisse angenehmer
Empfindungen und Dinge — sich herleiten, so ist in ihm
[126] alle solche Beziehung fast gänzlich erloschen. Daher ver-
fügt es nur über eine gleichartige und gleichgültige Menge
von Möglichkeiten, die ihm gegenwärtig sind und zustehen,
und bestimmt jedesmal so viel davon, wirklich zu werden,
als gerade nothwendig scheint zur Hervorrufung einer vor-
gestellten Wirkung. Eine Mehrheit von einzelnen mög-
lichen Handlungen, welche als reale Objecte dem Denken-
den vorzuschweben scheinen, wird gleichsam zusammen-
gefügt und aufgestellt, um nicht mehr sein möglicher, son-
dern sein wirklicher Wille zu heissen, welcher nunmehr
zwischen ihm und den Dingen steht, aber als der seine
ganz und gar, nämlich durchaus gegen ihn ohnmächtig
und wesenlos, so dass der Urheber sein Werk ebenso leicht
wiederum auflösen und vernichten kann. So lange aber,
als es besteht, so vermag er damit die Dinge und Wesen
anzufassen und sie zu behandeln durch seinen Willen,
sofern dieser selbst auf die Dinge zu wirken gedacht wird,
oder sofern das Subject als directe Causalität gedacht wird
(auf physische Art), so mag es doch und muss nach seinem
Willen sich richten, als nach einem Vorbild oder einer Vor-
schrift, darinnen die allgemeinen Züge derjenigen Gestalt
enthalten sind, welche durch das einzelne Geschehen ihre
besonderen Umrisse empfängt. — Was aber Belieben in
Bezug auf Handlungen ist, das ist c) in Bezug auf das
Denken selber Begriff: nämlich eine bindende Affirma-
tion über den Gebrauch von Wörtern in bestimmtem Sinne,
wonach der Denkende in den Sätzen seiner Rede sich
richten kann und will und zugleich im Stande ist, für die
Vergleichung und derselben angepasste Bezeichnung der
realen Dinge und Verhältnisse solche Einheit als einen
Maasstab anzuwenden. Denn der Begriff selber, z. E. eines
Kreises, ist ein pures Gedankending, nach dessen Aehn-
lichkeit aber Figuren in der Ebene, die entweder gegeben
oder construirt worden sind, als Kreise gelten und behandelt
werden. Hier ist das Denken in der ihm eigenthümlichen
Leistung erkennbar, welche darin besteht, gegen die Viel-
fachheit und Wandelbarkeit der Erfahrung einfache und
constante Schemata auszubilden und festzuhalten, als wor-
auf die mehreren Erscheinungen bezogen werden können,
[127] um desto besser eine in der anderen ausdrückbar zu sein.
Und so sind auch die Begriffe des Richtigen oder Nütz-
lichen und Zweckmässigen, welche der Denkende sich ge-
bildet oder doch bestätigt hat, um sich in Urtheilen oder
Handlungen danach zu richten. Mit ihnen ermisst er, was
die Dinge für ihn werth sind, und was er thun müsse, um
sein Gewünschtes zu erreichen. Solche sind darum in ge-
fasstem Beschlusse entweder implicite und ihren Elementen
nach enthalten, oder sie werden als allgemeine Maximen
darauf angewandt. — Im Bedacht deckt sich die verwirk-
lichende Action mit dem Gedanken selber. Belieben ver-
hält sich wie ein Allgemeines dazu, welchem viele Einzel-
heiten untergeordnet sind. Endlich Begriff lässt die Ver-
wirklichung in Handlungen unbestimmt und nur als Folge
seiner eigentlichen Verwirklichung im Denken selber. Um
Bedacht zu verstehen, muss man die Absicht oder den
Zweck erforschen; um Belieben, wo der Zweck voraus-
gesetzt ist, die Gründe; um Begriff: die Grundsätze, nach
welchen er gebildet sein mag.
§ 12.
Die Gesammtformen der Willkür — welche die Ele-
mente des Wesenwillens in sich enthalten — sollen hier-
nach begriffen werden als Systeme von Gedanken, nämlich
Absichten, Zwecken und Mitteln, welche ein Mensch als
seinen Apparat im Kopfe trägt, um damit die Wirklich-
keiten aufzufassen und anzufassen, woraus mithin wenig-
stens die Grundzüge seiner willkürlichen Handlungen, sofern
sie nicht aus den Gesammtformen seines Wesenwillens her-
vorgehen, müssen abgeleitet werden. Solches System heisse
im Allgemeinen Bestrebung. Dies ist, was den Willkür-
lichen beherrscht, obschon er diese Summe seiner Wünsche
und Ziele sich zurechtgemacht haben und als sein Frei-
gewähltes empfinden mag. Insbesondere ergibt sich daraus
sein freundliches oder feindliches Verhalten gegen die Mit-
menschen; durch den Begriff, dass es seiner Bestrebung
diene, wird ihm das Eine oder das Andere leicht, wo seine
Gesinnung indifferent ist, schwerer wider eine solche Prä-
[128] occupation, welche überwunden werden muss. So darf der
Streber kein Bedenken tragen, irgendwelchen Schein anzu-
nehmen, dessen Effect derjenige eines gleichen Wirklichen
sein kann. Was das wahrgesprochene Wort vereiteln würde,
kann die Lüge verbessern. Seine Gefühle zurückzuhalten,
wenn sie hässlich und abscheulich sind, lehrt das Gewissen.
Sie zu verbergen, wo ihre Offenbarung schädlich sein kann,
ist Begriff und Regel gemeiner Lebensklugheit. Aber ihre
Aeusserungen anzunehmen und abzulegen, je nach Forderung
der Umstände, ja oft die Zeichen entgegengesetzter Empfin-
dungen vor sich her zu tragen, als der wirklich gehegten,
vor Allem aber seine Absichten zu verstecken oder doch
Ungewissheit darüber auszubreiten: das ist einer Handlungs-
weise eigen, welche durch Berechnung geleitet wird,
und dies ist der Begriff des Apparates in seiner anderen
Bestimmung. Der Streber will nichts umsonst thun; Alles,
was er thut, soll ihm etwas eintragen; was er ausgibt, soll
in anderer Gestalt zu ihm zurückkehren; er ist stets auf
seinen Vortheil bedacht; er ist interessirt. Der Berechnende
will nur ein endliches Ergebniss; er thut Vieles scheinbar
umsonst, aber in seinem Calcül ist es vorgesehen und nach
seinem Werthe verzeichnet; und der Abschluss seiner
Handlungen soll nicht blos allen Verlust wieder auf heben,
sondern dazu einen Gewinn ergeben, welchem kein Theil
des ursprünglichen Aufwandes entspricht — dieser Gewinn
ist der Zweck, welcher keine besonderen Mittel gekostet
hat, sondern nur durch richtige Disposition der vorhandenen,
durch Berechnung und Vorbereitung ihres Gebrauches nach
Zeit und Ort, erzielt wird. So zeigt sich Berechnung mehr
in dem Zusammenhange umfassender Handlungen als in
einzelnen kleinen Zügen, Gebahrungen, Reden. Der Stre-
ber sucht seinen Weg, auf welchem er nur eine kurze
Strecke deutlich vor sich sieht; er kennt seine Abhängigkeit
von zufälligen Ereignissen, und hofft auf Glück. Der Be-
rechnende weiss sich überlegen und frei, seiner Zwecke
gewiss und seiner Machtmittel Herr, die er in Gedanken
von sich abhängig hat und nach seinen Beschlüssen lenkt,
wie sehr sie auch in ihren eigenen Bahnen sich zu bewegen
scheinen. Den Complex aber von Erkenntnissen und Mei-
[129] nungen, welche einer über den regelmässigen oder wahr-
scheinlichen Verlauf der Dinge, wie sie durch ihn bestimm-
bar oder nicht bestimmbar sein mögen, hegen, vor sich
haben und benutzen mag, daher die Kenntniss von den
eigenen und fremden, entgegenstehenden (also zu über-
windenden) oder günstigen (also zu gewinnenden) Kräften
oder Mächten, nenne ich seine Bewusstheit. Solche
muss, damit Berechnung richtig sei, allen Ansätzen und
Schätzungen zu Grunde liegen. Das ist das verfügbare, zu
planmässiger Anwendung geeignete Wissen: Theorie und
Methode der Herrschaft über Natur und Menschen. Das
bewusste Individuum verschmäht alle dunklen Gefühle,
Ahnungen, Vorurtheile, als von nichtigem oder zweifelhaftem
Werthe in dieser Beziehung, und will nur seinen klar und
deutlich gefassten Begriffen gemäss seine Pläne, seine
Lebensführung und seine Weltansicht einrichten. Bewusst-
heit ist daher als Selbstbeurtheilung mit seiner Verdammung
ebensosehr gegen die eigenen (praktischen) Dummheiten,
wie Gewissen gegen die eigenen, vermeintlichen Schlechtig-
keiten gerichtet. Jene ist der höchste oder geistigste Aus-
druck der Willkür, dieses der höchste oder geistigste Aus-
druck des Wesenwillens.
§ 13.
Der oberste Zweck, welcher das Gedankensystem
eines Menschen beherrscht, wird nur gewollt, insofern als
das Wollen ein energisches Wünschen ist, in Gedanken.
Er wird gedacht als zukünftige, herankommende Lust. Er
steht nicht in der Freiheit, als etwas, das man — je nach
Wunsch — thun oder lassen, ergreifen und anwenden oder
müssig behalten könne. Er ist vielmehr etwas Fremdes:
möglicher Weise Inhalt fremden Willens, fremder Freiheit;
nothwendiger Weise von dem eigenen Thun und Wirken
verschieden. Und so: was Alle wünschen und ersehnen,
das Glück. Das ist zunächst nichts als günstige, angenehme
Umstände, welche Leben und Thun erleichtern, Werke ge-
lingen lassen, durch Gefahren sicher hindurchführen; Um-
stände, welche vielleicht sich voraussehen und verkün-
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 9
[130] digen, aber vielleicht ganz und gar nicht sich bewirken
lassen: wie gutes Wetter. Und Weniges, was wir wün-
schen, können oder mögen wir auch zu einem Zwecke
machen, den wir bewirken oder erreichen wollen. Dennoch
ist auch Glück, wonach Unzählige streben, rennen und
jagen, als ob es an einem Ziele läge, das man erreichen
müsse: rasch, weil das Verlangen so heftig ist, oder weil
man fürchtet, es möge davongehen, oder Andere zuvor-
kommen und es nehmen, — oder als ob es vor einem her
fliehe und müsse eingeholt werden und ergriffen, oder aus
der Ferne mit Pfeil oder Kugel getroffen. In dieser Vor-
stellung ist das Glück wie ein äusserer Gegenstand, dessen
man durch Anwendung seiner Kräfte sich bemächtigen
könne — wenn man Glück dabei habe, d. i. wenn die
zufälligen Umstände Gunst gewähren mögen. Aber man
kann auch darauf hoffend oder sogar — nach ihrer Wahr-
scheinlichkeit — rechnend, etwas unternehmen und wagen:
auf die Gefahr des Misslingens oder Verlustes, wie der
Spieler thut. Und hier sind unablässige oder oft wieder-
holte Versuche doch auch wiederum einem Streben und
Ringen gleich, als ob man des Zufalles selber Herr werden
wolle. Und in der That: die richtige Voraussicht der
Ereignisse ist eine Art von Herrschaft darüber; obgleich
man sie nicht verändern kann, so mag man sich doch
danach richten, um der guten zu geniessen und die üblen
zu vermeiden. Sie erspart also vergebliche Versuche und
ermuthigt zu anderen, aussichtsvolleren. Aber gerade diese
Voraussicht ist nur in beschränkten Gebieten möglich; als
bloss faktische Erkenntniss ist sie höchst unsicher, als Er-
kenntniss aus den Ursachen höchst unvollkommen: wo sie
sicher und vollkommen zugleich ist, würde sie den Begriff
des Zufalles aufheben, dem doch in allen Gebieten des
Geschehens als der Wirkung ungewöhnlicher oder unbe-
kannter Umstände der weiteste Spielraum bleibt: je weiter
die Entfernung und je weniger von unserer eigenen
Kraft und deren Determination durch die Beschaffenheit
eines verharrenden Willens abhängig ist; obgleich auch
diese nur von Moment zu Moment ein sicherer Factor ihres
Schicksales ist. — Wenn aber das Glück erstrebt, ver-
[131] folgt wird, so wird zukünftiges Ereigniss durch das
Denken einem Gegenstande gleich, dessen Wirklichkeit
bedingt sei durch seine Ursachen, und dessen Ursachen als
eigene mögliche Verhaltungen zu Gebote zu stehen scheinen.
Und hiernach also seine Willkür als Verfügung über Mittel
bestimmend, verwandelt der Mensch ein Stück seiner ima-
ginären Freiheit in ihr Gegentheil — zunächst selber blos
ein imaginäres, aber durch die Ausführung reales. Sonst
sein eigener Herr, wird er, sich bindend, sein eigener
Schuldner und Knecht. Denn allerdings: dieser ganze
Begriff kann in seiner Reinheit nur aufgefasst werden,
wenn alle solche willkürliche Thätigkeit als ein Opfer
vorgestellt wird, mithin als an und für sich ungern, mit
Widerwillen geschehend, so dass nur der Gedanke an den
(allein erwünschten) Zweck, d. i. an Genuss, Vortheil,
Glück, dazu als zu freiwilliger bewegen kann; und die
Freiwilligkeit ist eben die Unfreiheit in Bezug auf sich
selber oder der Selbstzwang, da fremder Zwang und Noth
sie zerstört. Alle Willkür enthält etwas Unnatürliches und
Falsches. Dem ist die Empfindung des unbefangenen Zu-
schauers gemäss, welche sich geltend macht, wenn häufig
solche Thätigkeit als »gemacht«, »forçirt«, »tendenziös« oder
»absichtlich« bezeichnet wird; eine Empfindung ästhetisch-
moralischen Missfallens, welche in Leben und Dichtung oft
auf energische Weise sich geltend macht.
§ 14.
Nun aber wird (wie bekannt genug ist) auf höchst
mannigfache Weise Genuss, Vortheil, Glück erstrebt; in
vielen verschiedenen Dingen wird das höchste Gut zu ruhen
vermuthet. Solche Gegenstände aber können wiederum
unterschieden werden, nach ihrer Beziehung auf die drei
Arten des Lebens. Und innerhalb jeder Kategorie kann
ferner eine Dichotomie stattfinden; indem die Zwecke
anders aussehen, wenn das Denken selber auch den Genuss
sich vorbehält und wesentlich in seiner Thätigkeit die
Lust davon hat; anders, wenn die in ihm enthaltenen, ihm
unterthanen, aber darum vielleicht nicht minder heftigen
9*
[132] Triebe und Begierden dasjenige in ihm sind, was eigentlich
und im Grunde danach verlangt. So sind dieses die Ver-
gnügungen der unteren »Seelentheile«, der grossen Masse;
jenes diejenigen der oberen Theile, der Wenigen, Erlesenen,
Vornehmen. Man mag ein sehr ausgeprägtes willkürliches
Subject sein, auch in mentaler Beziehung, und doch nur
von gemeinem Glück und nichts von den Genüssen des
Denkens wissen; so dass es einem Solchen nicht einfallen
kann, nach dergleichen zu streben — ausser um anderer,
ihm wahrerer Zwecke willen. Wiederum ist Mancher, der
das gemeine Glück gering achtet, aber um das, was ihm
begehrenswerth scheinet, jegliches Mittel sich recht sein
lässt. Und doch kommen Alle darin überein, dass sie die
Mittel haben wollen oder die Macht, welche ihnen die Sicher-
heit darstellt, durch Anwendung soviel von ihren Genüssen
als jedesmal beliebt, zu erwerben. Daher hat Hobbes
recht, wenn er »als eine allgemeine Neigung der Menschheit
das beständige und rastlose Begehren von Macht über
Macht, welches nur mit dem Tode auf hört«, bezeichnet. »Und
die Ursache davon«, sagt er, »ist nicht immer, dass einer
hofft auf ein intensiveres Vergnügen, als er schon erreicht
hat, oder dass er nicht zufrieden sein kann mit einer
mässigen Macht; sondern weil er nicht die Macht und Mittel
zum Wohlleben, welche er zur Verfügung hat, sichern
kann, ohne die Erwerbung von mehr.« (Leviath ch. XI.)
Eben darum ist solches Begehren fast gleichen Inhaltes mit
dem Streben nach Geld; da solches — in einem bestimmten
socialen Zustande — die Macht über alle Güter und Genüsse,
welche es für sich einzusetzen vermag, ist und bedeutet:
das allgemeine Gut, der abstracte Genuss. — Dennoch
aber sind die wirklichen Ziele so etwa verschieden, wie sie
nunmehr durch die Arten der Bestrebungen bezeichnet
werden sollen. Im Allgemeinen und an erster Stelle setze
ich neben einander
a) Eigennutz, aa) Eitelkeit.
Eigennutz schreitet von den allgemeinen groben und
»sinnlichen« Gegenständen — welche in sich eine vielfache
Ausbildung erfahren — zu besonderen, raffinirten und in-
[133] tellectuellen Ausdrücken fort. Das Gedankenmotiv aber,
welches ihm ausser den organisch-animalischen Reizen zu
Grunde liegt, wird durch den Satz des soeben genannten
Autors in schlagender Weise bezeichnet: »dass aller geistige
Genuss darin bestehe, Andere um sich zu haben, mit welchen
sich vergleichend man eine grossartige Meinung von sich
selber haben könne.« (Hobb. de civ. I, 5.) Dies ist, worin
die Eitelkeit oder Gefallsucht gelegen ist, das Trachten
zu scheinen und zu glänzen, bewundert zu werden, sich
gelten zu machen, Eindruck zu machen (zu »imponiren«).
Wenn diese Genüsse der eigenen Macht und ihrer Wir-
kungen auf Andere geradezu das Ziel eines Strebens werden,
so ist Genusssucht der allgemeine Charakter, welchen
es mit Eigennutz gemeinsam hat; denn auch das Nützliche
wird nur um endlicher Genüsse willen gesucht. Wenn
auch der Eigennützige stolz darauf ist, Genüssen entsagen
zu können, als ein Vernünftiger der Zukunft gedenkend,
indem er dem Angenehmen das Erspriessliche vorzieht. —
Eigennutz wie Eitelkeit ist Motiv der Geselligkeit:
Eitelkeit braucht die anderen Menschen als Spiegel, Eigen-
nutz als Werkzeug. — Seine besondere Gestalt, in welcher
er als sein besonderes Ziel die Mittel zu allen möglichen
Genüssen ins Auge fasst, nimmt Eigennutz an — wie schon
vorausbedeutet wurde — als b) Geldgier. Und so ver-
wandelt sich Eitelkeit in die besondere Art des Trachtens
nach Selbstgenuss in Bezug auf äussere Güter, als bb)
Gewinnsucht, welche die verfeinerte Form der Geldgier
ist: ein Trachten mehr nach Wachsthum von Geld und
Gut, als nach einer absoluten Menge davon, welches daher
keineswegs durch diese begrenzt ist, ja vielmehr im Ver-
hältnisse zu ihr zunimmt, nämlich in dem Maasse, als die
eigentliche Geldgier gesättigt ist und zurücktretend das Feld
der Gedanken an Gewinnsucht überlässt. Was ihnen aber
gemeinsam ist, wird auf einfache Weise durch den Begriff
der Habsucht ausgedrückt. — Wenn nun Eigennutz sich
der anderen Menschen als Werkzeuge bedient, so ist er als
das Streben nach solchen immateriellen und durch Denken
allein erfassbaren Mitteln, nämlich den zur Verfügung
stehenden menschlichen Willen und ihren Meinungen über
[134] die eigene Stärke als c) Ehrgeiz zu bezeichnen. Die voll-
kommenste Herrschaft aber über Dinge, und zumal über
Menschen in einem bestimmten Sinne, ergibt sich durch
»Wissenschaft«; in jener Ueberlegenheit, welche die Kennt-
niss der Zusammenhänge, der allgemeinen Bedingungen des
Geschehens und daher Voraussicht und Vorausverkündigung
des Zukünftigen verleiht. So kann cc) Wissbegierde
im Dienste aller übrigen Zwecke stehen, allerdings aber
auch sich ablösen und durchaus auf sich selber beruhen.
Auch in ihrer reinsten Gestalt bleibt sie eine Entwicklung
und Art der Eitelkeit, wenn auch zuletzt Einer mit der
Meinung, die er von sich selber hat, durch Bewusstheit
über Höhe und Inhalt seiner Einsicht, zufrieden und glück-
lich sein mag (was der berühmte Vers ausdrückt: Felix
qui potuit rerum cognoscere causas). Und auf der an-
deren Seite gehen Ehrgeiz und Herrschsucht unmerk-
lich in einander über. Der Herrschende will geehrt werden:
die äusseren Zeichen, dass man seine Macht anerkennt,
fürchtet oder liebt, will er sehen und empfangen. Der
Ehrgeizige will herrschen, wäre es auch nur um frei zu
sein von der Herrschaft Anderer, und ihren Miteifer zu
besiegen.
§ 15.
Alle diese Motive sind — dieser Betrachtung gemäss
— nichts als leere Wünsche in Gedanken oder die instinc-
tiven und unwillkürlichen Triebe oder Arten des Gefallens
selber, insofern als dessen Gegenstände zu Objecten und
Endzwecken des Denkens sind gemacht worden, nach
welchen also die Bildung der einzelnen Willküracte ge-
richtet wird und damit in einem systematischen Zusammen-
hange steht; sie sind nicht, wie sie als die Qualitäten des
Wesenwillens sein würden, unmittelbare Lust und Drang
und in gewissem Maasse Tüchtigkeit zu bestimmter Arbeit,
zu Thaten oder Werken, an deren Werth und Güte ihr
eigener Werth könnte gemessen werden, und es folgt nichts
aus ihnen, als dass ihr Subject viele schon vorhandene und
ihm zu Gebote stehende Mittel anwenden wird, welche die
[135] erwünschten Wirkungen hervorrufen zu können scheinen.
Es ergibt sich nicht eine originelle That, welche die Indivi-
dualität des Subjectes ausdrückt und bedeutet, sondern das
Mittel ist um so richtiger, je mehr es demjenigen gleich-
kömmt, was ein abstractes Subject wollen und thun würde,
welches seine Mittel als zu allen Zwecken geeignete in un-
beschränkter Menge ausser sich hat und kennt, und nur
die Quantität des Aufwandes der zu erzielenden Wirkung
anzupassen als seine Aufgabe findet: woran die höchst ein-
fache und leichte Hantirung, dieselbe von sich »loszuwerden«
und an der richtigen Stelle »anzubringen«, als Erfüllung
sich anschliesst. Daher kann hier nicht der Wille als
»guter« Wille in Bezug auf seine Aufgabe, ein zu vollen-
dendes Werk, gelobt werden: in Versuchen und Bemühungen
sich darstellend, welche immer hinzukommen müssen, auch
um die vollkommene Fähigkeit schöpferisch zu machen; die
Willkür steht nicht der Vollendung, auch nicht dem Können,
sondern ihr steht allein die Verwirklichung gegenüber; diese
aber prägt sie zwar in einer That, einem Werke aus,
welches gelobt oder getadelt werden mag, jedoch niemals
wird Lob oder Tadel auf den Willen dazu sich beziehen,
weder im moralisch-indifferenten noch im moralischen Sinne;
jenes nicht, weil Willkür keine Realität ist, die dem Wesen
des Menschen angehört, dieses nicht, weil sie niemals eine
directe Bejahung der Mitwesen enthalten kann, als welche
allein der Gesinnung, dem Gemüthe und dem Gewissen
entspringt; denn das reine und freie Denken muss immer
wieder nach dem Grunde oder Zweck derselben fragen, und
kann solchen nur in der Beziehung auf das eigene Wohl
entdecken; nur in Bezug auf dieses kann das fremde einen
Sinn haben, muss daher ihm untergeordnet und davon
abhängig gemacht werden. Anerkennen, bewundern wird
man nur die Klugheit als die eigenthümliche Tugend
und Geschicklichkeit des Denkens selber, vermöge deren
es zu gegebenen Zwecken die richtigen Mittel erwählt, und
die Erfolge seiner Thätigkeiten vorauserkennt, überhaupt
alle bekannten Umstände so sehr als möglich nutzbar macht.
Sie ist die Tugend des Gehirns, wie etwa »Schnelligkeit«
Tugend der Beine, »Schärfe« des Gesichts oder Gehöres ist.
[136] Sie ist nicht eine Tugend des Menschen, darum weil sie
seinen gesammten Willen nicht ausdrückt. Der Kluge re-
flectirt, räsonnirt über seine Aufgaben und Bestrebungen;
er ist schlau, wenn seine Berechnung ungewöhnliche
Mittel zu finden und complicirte Pläne darauf zu bauen
weiss; er ist aufgeklärt, klar und deutlich in seinen
Begriffen, wenn er gewisse und richtige abstracte Kenntnisse
über die äusseren Zusammenhänge der menschlichen Dinge
besitzt, und durch keine Gefühle oder Vorurtheile sich be-
irren lässt. Aus der Verbindung und Einigkeit dieser
Eigenschaften geht die Consequenz der Willkür und
ihrer Verwirklichungen hervor, welche daher wiederum als
eine Stärke, als seltene und bedeutende Eigenschaft be-
wundert, aber auch gefürchtet wird.
§ 16.
Etwas Anderes ist es, wenn diese Arten des Strebens,
und Willkür überhaupt, vom Wesenwillen aus beurtheilt
werden, wo sie doch nur als seine hochentwickelten Modi-
ficationen erscheinen. Nämlich: nun kann Alles, was ihm
im unmittelbaren und eigentlichen Sinne angehört, als
durchaus gut und freundlich sich darstellen, insofern als es
den Zusammenhang und die Einheit der Menschen aus-
drückt — welche in der That, wie durch die Gestalt des
Leibes, so durch die der Seele oder des Willens, die einem
jeden solchen Wesen von Geburt an mitgegebene Substanz
seiner Art, bezeichnet wird —, hingegen das »egoistische«
Denken, wodurch das Princip der Individuation aufs Höchste
gesteigert ist, als durchaus feindselig und böse. Im Sinne
dieser Betrachtung, welche nicht richtig, aber tief begründet
ist, wird dann Gemüth oder Herz, auch Gesinnung und Ge-
wissen, mit Güte, als ob sie das nothwendige Attribut dazu
wäre, associirt; gilt dagegen der Berechnende und Bewusste,
weil für »herzlos« und »gewissenlos«, so auch für schlecht
und böse, und Egoismus als gleichbedeutend mit gehässiger,
feindseliger Gesinnung. In Wahrheit ist der Egoist, je
vollkommener ausgeprägt, desto mehr gleichgültig gegen
Wohl und Wehe der Anderen; an ihrem Unheil ist ihm
[137] so wenig in unmittelbarer Weise gelegen als an ihrem Heile;
aber dieses wie jenes kann er mit Absicht befördern, wenn
es seinen Zwecken zu dienen scheint. Eine reine und
allgemeine Bosheit hingegen ist eben so selten, ja fast un-
möglich, als eine reine und allgemeine Güte »des Herzens«,
und derselbigen correlat. Von Natur ist jeder Mensch gut
und freundlich gegen seine Freunde und die er dafür
halten mag (welche gut gegen ihn sind); aber böse und
feindlich gesinnt wider seine Feinde (die ihn misshandeln,
ihn angreifen oder ihm drohen). Jener abstracte und künst-
liche Mensch hat nicht Freund, nicht Feind, ist auch weder
das Eine noch das Andere, sondern kennt nur Alliirte oder
Gegner in Bezug auf die von ihm verfolgten Ziele; beide
sind ihm nur Kräfte oder Mächte, und die Gefühle des
Hasses und Zornes so ungehörig gegen die einen, wie die
der Liebe und des Mitleides für die Anderen. Wenn je
solche in ihm vorhanden sind oder entstehen, so empfindet
sein Denken sie als etwas Fremdes, Störendes, Unvernünf-
tiges, welches zu unterdrücken, ja auszurotten, eher als zu
hegen und zu pflegen, seine Aufgabe ist; denn sie involviren
eine Bejahung und Verneinung, welche nicht mehr durch
die eigenen Interessen und Pläne bedingt und beschränkt
ist, verführen also zu unbesonnenen Acten. Er mag nun
allerdings, feindselig verfahrend, oder überhaupt, so dass er
alle anderen Menschen wie Dinge als seine Mittel und
Werkzeuge behandelt, böse sein und erscheinen gegenüber
seinem eigenen Gemüth und Gewissen — was immerhin
voraussetzt, dass solche Mächte noch in ihm lebendig sind
und dass sie ein entgegengesetztes Verhalten heischen; wie
sie es wenigstens in Bezug auf die Angehörigen und Freunde
wirklich thun. So auch von dem Gemüth und Gewissen
Anderer, welche an seine Stelle sich versetzen. Und von
dieser Meinung, dass die Böse-Handelnden doch noch ein
abmahnendes Gemüth (und also eine natürliche Güte des-
selben) wirklich haben, dass in ihnen die Stimme des
Gewissens nicht ganz und gar »betäubt« und tot sei,
machen sich die Menschen, wie wir sie kennen, ungern los
(eine Erscheinung, deren Ursächlichkeit uns hier nicht an-
geht): darum denn auch ein »böses Gewissen« immer noch
[138] als die Gewähr eines Restes von guter und richtiger Ge-
sinnung gilt, weil es ja die bösen Thaten und Pläne gegen
Freunde missbilligen muss, wenn schon, seiner Natur nach,
nicht minder die guten Thaten oder den Mangel an ge-
höriger Bosheit gegen Feinde. Denn von den Freunden
aus wird darüber geurtheilt, Gemüth und Gewissen selber
gebilligt; insofern als ihnen auch die feindseligen Gebah-
rungen gegen Feinde erwünscht und ehrenvoll sind, so ist
Gemüth schlechthin gut, ausser wenn es irre geht und den
Freunden Uebles, den Feinden Gutes will, und Gewissen
schlechthin gut, als in diesem Sinne richtendes. Wiederum
erscheinen, aus solchem Gesichtspunkte, alle jene (ihrer
Form nach) höchst vernünftigen Bestrebungen, durch welche
man das Glück und die Mittel dazu zu erlangen versucht, wenn
nicht als geradezu böse, so doch als excessive Leidenschaften
(wie die Sprache denn die vornehmsten davon als Krank-
heiten bezeichnet), die wenigstens ausserhalb der Sphäre
der Tugend, in welchem Sinne sie auch verstanden werde,
gelegen seien. Und ferner kann das egoistisch-willkürliche
Thun und Treiben durchaus als ein feindseliges, beleidigen-
des aufgefasst werden, insofern als es durch und durch be-
wusste Schauspielerei ist: wie in allen Fällen, wo es zu
dem Zwecke gebraucht wird, ein Urtheil in einem anderen
Menschen zu bewirken, dessen Falschheit der Handelnde
weiss. Aus nichtigem Stoffe macht er scheinbare Sachen,
und stellt sie gleich Wirklichkeiten hin, um sie dafür aus-
zugeben; wer aber dergleichen annimmt, meinend Etwas zu
empfangen, wird demgemäss zurückwirken, also wie am
deutlichsten vorgestellt wird — etwas dafür geben; dieses
Etwas ist ihm mithin durch solches Kunststück genommen,
geraubt worden. Und wie diese Art der willkürlichen
Handlung zu ihrem allgemeinen Begriffe, so verhält sich
zum Tauschen das Täuschen, zum Verkauf der Betrug.
Die falsche Waare oder Münze und so überhaupt die Lüge
und Verstellung hat, wenn dasselbe leistend (im einzelnen
Falle oder im Durchschnitt der Fälle), gleichen Werth mit
der echten, dem wahren Wort und dem natürlichen Ge-
bahren, wenn mehr leistend, höheren, wenn weniger
geringeren Werth. In Bezug auf die allgemeine Kate-
[139] gorie der verwendbaren Kraft sind Seiendes und Nicht-
seiendes qualitativ gleich (d. i. vielmehr Wirkliches
und Nachgeahmtes, Gemachtes, Fingirtes).
§ 17.
So nun wird in unserer Sprache was bloss aus dem
kalten Verstande, dem »Kopfe« hervorgeht, von den warmen
Impulsen des »Herzens« unterschieden. Der Gegensatz
nämlich, um welchen es sich handelt, wird im Allgemeinen
getroffen, wenn das Gefühl als Impuls und Richtung
gebend, von dem Verstande unterschieden wird; aber in
der lebendigsten und sinnlichsten Weise: das Herz vom
Kopfe. Ehemalige Theorien begriffen solches Gefühl als
verworrene, den Akt des Verstandes aber als klare und
deutliche Vorstellung, und noch bis zu diesem Tage
hat man die Versuche nicht aufgegeben, jene aus diesen
als den scheinbar einfachen und daher als ursprünglich
angenommenen Phänomenen abzuleiten. In Wahrheit ist
das Denken — so rational und durch sich selber evident
es aussehen mag — die complicirteste aller psychischen
Thätigkeiten und erfordert, zumal um unabhängig von den
Impulsen des organischen Lebens vor sich zu gehen, viele
Uebung und Gewöhnung, selbst zur Anwendung so ein-
facher Kategorien wie Zweck und Mittel in Bezug auf ein-
ander. Fassung und Scheidung dieser Begriffe, und dem-
nächst Festsetzung ihres Verhältnisses kann nur durch
Wortvorstellungen, als eigentliches und discursives Denken,
geschehen; so auch die Bildung einer Willkürform, wenn
allein nach überlegten Gründen geschehend, zu sich selber
sagen: ich muss und ich will. Alle Thiere, und in einem
grossen Bereiche auch der Mensch, folgen vielmehr, sich
bewegend und sich äussernd, ihrem »Gefühle« und »Herzen«,
d. i. einer Disposition und Bereitschaft, welche ihrem Keime
nach schon in der individuellen Anlage enthalten ist und
mit dieser sich entwickelt hat. Dies ist aber allerdings,
als intellectueller Besitz gedacht, dasselbe, in einem ur-
sprünglichen, auf die Gesammtverfassung des psychischen
Daseins bezogenen Zustande, was nachher allein vom
[140] denkenden Organe abhängig und hierdurch in eine neue
Ordnung gebracht wird, die dann freilich einfacher ist, weil
sie (wenn möglich) aus lauter gleichen oder doch (im geome-
trischen Sinne) ähnlichen Elementen, nämlich aus selbst-
gemachten, zusammengesetzt ist. So kömmt es, dass im
Menschen, wie er sich des Vergangenen erinnert und durch
sein Denken unzählige Bildempfindungen festhält, die nach
ihrem inneren Zusammenhange und angeregt durch gegebene
Reize, in ihm wechselnd auftauchen, jene »Priorität des
Willens« nur daraus erkennbar ist, dass auch die Abhängig-
keit solcher Gedächtniss- oder Fantasiethätigkeit von dem
verzweigten Systeme der Neigungen und Abneigungen ge-
sehen wird. Wir werden leicht hierüber getäuscht, weil
alle intellectuellen Vorgänge erst die Gefühle, Begehrungen
u. s. w. hervorzurufen scheinen. In Wahrheit aber
wiederholen sich hier immer die Processe der Differen-
zirung und Verknüpfung gegebener Tendenzen und der
Uebergang aus einem Gleichgewichts- in einen Bewegungs-
zustand, indem Bewegung zu dem wahrgenommenen oder
vorgestellten Gegenstande (oder bloss Orte) hingezogen oder
davon abgestossen wird. Hingegen ist die Spannung und
Aufmerksamkeit, daher auch die Schärfe der Sinne wesent-
lich bedingt durch die vorhandenen Antriebe und deren
Erregungszustand in Thätigkeiten und so auch Vorstel-
lungen und Gedanken: das Tichten wird bestimmt durch
das Trachten; je nach dem Zusammenhange mit unseren
Wünschen, unserem Gefallen und Missfallen, unseren Hoff-
nungen und Befürchtungen, kurz: mit allen lust- oder
schmerzhaften Zuständen, denken und träumen wir häufig,
leicht und gern das Eine, Anderes selten und ungern.
Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass doch die trüben
und unangenehmen Vorstellungen einen wenigstens ebenso
grossen Raum in unserem Bewusstsein einnehmen mit den
heiteren und angenehmen; denn solche Vorstellungen können
selber als Schmerzgefühle betrachtet werden, und insofern
als sie es sind, so wehrt sich dagegen der Organismus oder
der Gesammtwille und ringt sie loszuwerden, was nicht
verhindert, dass in den Vorstellungen Stücke enthalten sind,
welche mit Lust empfunden werden, ja in welchen »die
Seele schwelgt«.
[141]
§ 18.
Uebrigens aber sind, wie bekannt, die Gesetze der
Association von Ideen überaus mannigfaltig, weil ihre
möglichen Berührungen und Zusammenhänge unzählige sind;
indessen wird eben dieses zu wenig geschätzt: dass die in-
dividuellen Dispositionen und Fähigkeiten, von dem Einen
auf das Andere überzugehen, aus dem Einen das Andere
zu erzeugen, höchst verschiedene und mit der gesammten
Constitution des Leibes und Geistes, wie sie durch alle
Erlebnisse und Erfahrungen hindurch sich ausgebildet hat,
verwachsen, weil daraus hervorgegangen sind. Denn im
Grossen und Ganzen denkt ein Jeder an seine eigenen
Angelegenheiten, und wenn er sich Gedanken macht, so
sind es Sorgen oder Hoffnungen; wenn nicht Zweifel und
Ueberlegungen, was zu thun sei und wie es auf richtige
Weise zu thun sei. Das ist: den Mittelpunkt seiner men-
talen Thätigkeit bildet seine sonstige gewöhnliche und ob-
liegende Beschäftigung, daher seine Aufgabe und Pflicht,
frühere, gegenwärtige und bevorstehende Function, sein
Werk und seine Kunst. Und gerade darum kann Ge-
dächtniss als eine Form des Wesenwillens bezeichnet
werden, weil es Pflichtgefühl ist, oder eine Stimme und
Vernunft, die das Nothwendige und Richtige in solchem
Werke anzeigt, Erinnerung dessen, was man gelernt, er-
fahren, gedacht hat und als einen Schatz in sich bewahrt,
ganz eigentlich ein νοῦς πϱακτικός, opinio necessitatis, kate-
gorischer Imperativ. Mithin auch in seiner vollkommenen
Gestalt, identisch mit dem, was wir als Gewissen oder
als Genius begreifen. Hier ist nichts Geheimnissvolles im
Spiele: ausser sofern organisches Wollen an sich dunkel,
irrational und Ursache seiner selbst ist. Denn diese beson-
deren Fähigkeiten sind — freilich einerseits angeboren,
dann aber geworden als — feste Associationen, und wenn
in Thätigkeiten übergehend, so beweisen sie dadurch nur
die Stärke ihrer Tendenz oder ihres Conatus. Denn viele
Conate streiten und wetteifern oft mit einander, und schon
indem man an etwas Ausführbares denkt, so ist man in
Versuchung und fühlt einen Antrieb, es zu thun; aber auch
die blosse Wahrnehmung kann genügen, um die Glieder
und Muskeln in Bewegung zu setzen, und um so mehr, je
[142] stärker wir durch Gefallen oder Gewohnheit uns davon an-
gezogen oder abgestossen fühlen; wo dann wiederum die
denkende Auffassung der Sache hemmend entgegentreten
und in anderem Sinne bestimmen kann. In alle diesem,
wo das Gefühl und auch das Gedachte als Gefühl wirksam
ist oder gar herrscht, da ist unser Gebahren, unser Han-
deln und Reden nur ein besonderer Ausdruck unseres Lebens,
unserer Kraft und Natur, und wie wir als Subjecte dieser,
also der organischen Functionen, unseres Wachsthums und
Verfalles, uns fühlen und wissen, nur so auch, obschon
durch andere Empfindungen, jenes unseres Thuns, das »der
Geist« uns eingibt, d. i. ein Zustand und Drang, zusammen
mit denkender Anschauung der gegebenen Umstände, was
sie enthalten und heischen — oder was unbedingter Weise,
unter allen Umständen, das Richtige sei: das Schöne, Gute
und Edle. — Anders wird es in dem Maasse, als die Thätig-
keit des Verstandes sich unabhängig macht und mit ihrem
Materiale frei zu schalten scheint, indem sie das Thunliche
trennt und zusammensetzt. Bisher durchaus bedingt durch
das Werk und von der Idee desselben getragen, reisst sich
nun das Denken davon los, erhebt sich darüber und setzt
das Ende und den Erfolg für sich hin als Zweck,
das Werk selber aber, als ob es davon getrennt und ver-
schieden wäre, als Mittel und nützliche Ursache, so aber
nicht wesentlich und nothwendig, sofern viele Wege zu
demselben Ziele führen oder viele Ursachen dieselbe Wir-
kung haben können, und nun versucht wird, das beste
Mittel zu erfinden, d. i. das Verhältniss von Mittel und
Zweck möglichst zu Gunsten des Zweckes zu gestalten.
Sofern aber der Erfolg durch irgendwelche Mittel — sei es
als das einzige oder als das beste — wirklich bedingt
zu sein scheint, so ist dieses Mittel auch die nothwendige
Ursache und muss angewandt werden.
[[143]]
ZWEITER ABSCHNITT.
ERLAEUTERUNG DES GEGENSATZES.
§ 19.
Wie ein künstliches Geräth oder eine Maschine,
welche zu bestimmten Zwecken angefertigt werden, zu
den Organsystemen und einzelnen Organen eines thierischen
Leibes sich verhält, so verhält sich ein Willens-Aggregat
von dieser Art — eine Gestalt der Willkür — zu einem Willens-
Aggregat der anderen Art — einer Gestalt des Wesen-
willens. Die Betrachtung der verglichenen Phänomene als
wahrnehmbarer Objecte, ist die leichtere, und Erkenntniss
des Gegensatzes der dargestellten psychischen Begriffe kann
durch sie gewonnen werden. Geräthe aber und Organe
haben dieses mit einander gemein, dass sie aufgehäufte
Arbeit oder Kraft (Energie) enthalten und darstellen, welche
der Gesammtenergie des Wesens, zu welchem sie gehören,
zugleich eine Bestimmtheit und Vermehrung gibt, und dass
sie ihre besondere Kraft nur in Beziehung auf diese Ge-
sammtenergie und in Abhängigkeit von derselben besitzen.
Sie unterscheiden sich durch ihre Entstehung und durch
ihre Eigenschaften. Ein Organ wird von selbst: d. i.
durch häufige Anstrengung derselben Thätigkeit — von
dem Gesammtorganismus oder von einem schon vorhandenen
[144] Organe aus — welche auch das vollendete leistet und zu
leisten hat, bildet sich in grösserer oder geringerer Voll-
kommenheit die vermehrte und besonderte Kraft dazu aus.
Ein Geräth wird gemacht von menschlicher Hand, welche
sich eines ausser ihr liegenden Stoffes bemächtigt und
ihm eine besondere Einheit und Form verleiht, gemäss
der in Gedanken festgehaltenen Vorstellung oder Idee des
Zweckes, welchem dieses neue Ding dienen soll (nach dem
Willen des Urhebers), und (nach seiner Meinung und Er-
wartung) dienen wird, so dass es als vollendetes Ding
geeignet ist, besondere Arten von Arbeit zu leisten. —
Durch ihre Beschaffenheit: ein Organ ist als Einheit
nur vorhanden in Bezug auf die Einheit eines Organismus
und kann nicht von demselben getrennt werden, ohne seine
eigenthümlichen Qualitäten und Kräfte zu verlieren; daher
ist seine Individualität nur derivativ oder secundär; es ist
nichts Anderes als der Gesammtleib, auf eine besondere
Weise ausgedrückt oder differenzirt: dieser aber, und also
durch ihn auch das Organ, ist das alleinige seiner Materie
nach und insofern das einzige realiter Individuelle, oder
doch nach Individualität fortwährend Tendirende, was in
aller Erfahrung vorkömmt und vorkommen kann. Hingegen
ein Geräth ist seiner Materie nach allem übrigen Stoffe
gleich und nur eine bestimmte Masse davon, welche auf
fictive Einheiten von Atomen zurückgeführt und als daraus
zusammengesetzt gedacht werden kann. Seine eigene Ein-
heit besteht nur in der Form, welche blos durch Denken
erkannt wird, nämlich als die Richtung und Hinweisung
auf einen Zweck oder Gebrauch. Aber als ein solches
Ding kann es aus der Hand und Macht eines Menschen
in die des anderen übergehen, und kann von jedem an-
gewandt werden, der die Regeln seiner Anwendung kennt.
Seine individuelle und abgesonderte Existenz ist insoweit
vollkommen; aber es ist todt, da es nicht sich erhält und
nicht sich reproducirt; sondern wird abgenutzt, und seines
Gleichen kann nur dieselbe ihm fremde Arbeit und Geist
herstellen, durch welche es selber hervorgebracht wurde;
herstellen nach seinem Bilde oder nach dem Bilde, welches vor
ihm war.
[145]
§ 20.
Die (psychische) Materie, aus welcher die Formen mensch-
lichen Wesenwillens sich gestalten, ist menschlicher Wille
schlechthin oder Freiheit. Freiheit ist hier nichts Anderes
als die reale Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens,
indem sie empfunden oder gewusst ist; eine allgemeine und
unbestimmte Tendenz (Thätigkeit, Kraft), welche in jenen
Formen zur besonderen und bestimmten wird, die Möglich-
keit zur determinirten Wahrscheinlichkeit. Das Subject
des Wesenwillens, insofern als es mit dieser seiner Materie
identisch ist, verhält sich zu seinen Formen, wie die Masse
eines Organismus, sofern sie unter Abstraction von seiner
Gestaltung gedacht wird, zu dieser Gestaltung selber und
zu den einzelnen Organen; d. h. es ist nichts ausser ihnen,
es ist ihre Einheit und Substanz. Seine Formen wachsen
und differenziren sich durch ihre eigene Action und Uebung.
Dieser Process vollzieht sich aber nur zu einem sehr ge-
ringen Theile durch die eigenthümliche Arbeit des Indivi-
duums. Modificationen, in welche sich dieses entwickelt
hat, werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte
(und also Willensformen der Materie nach) übertragen, von
diesen — wenn die Bedingungen günstig sind — ausge-
bildet, und, bei gleicher Determination, ferner geübt, durch
Uebung und Gebrauch sich verstärkend, oder durch
besondere Anwendung wiederum sich specialisirend;
— alle solche Arbeit seiner Vorfahren wiederholt aber
das Einzelwesen in seinem Werden und Wachsen; auf eine
eigenthümliche, verkürzte und erleichterte Weise. — Der
Stoff der Willkür ist Freiheit, sofern sie im Denken ihres
Subjectes existirt, als die Masse von Möglichkeiten oder
Kräften des Wollens und Nicht-Wollens, Thuns und Nicht-
Thuns. Ideelle Möglichkeiten — ideeller Stoff. Die Finger
des Denkens begreifen eine Menge solches Stoffes, nehmen
sie heraus und geben ihr eine Form und formale Einheit.
Dieses Ding, die gebildete Willkür, ist also in der Macht
seines Urhebers, welcher es festhält und es anwendet als
seine Kraft, indem er handelt. Durch Handlung vermindert
er die Menge seiner Möglichkeiten oder vernutzt seine
Kraft; bis zu diesem Moment konnte er noch (gemäss
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 10
[146] seiner Vorstellung) solches auch nicht-thun (unterlassen);
indem er aber thut, verschwindet diese Möglichkeit aus
seinem Bereiche, zugleich mit der entgegengesetzten, des
Thuns. Denn eine (ideelle) Möglichkeit kann vernichtet
werden, indem sie zur Wirklichkeit und indem sie zur
Unmöglichkeit wird. Das vorherige Wollen einer möglichen
Handlung kann einmal als eine Zurüstung zu dieser doppelten
Vernichtung angesehen werden. Es vergrössert die eine
und verkleinert die andere Möglichkeit; und zwar um so
mehr, je wahrscheinlicher die Ausführung und Folge der That
(des ἔργον) auf den Gedanken (λόγος) sein mag, oder je
deutlicher dieser durch sein blosses Dasein als nothwendige
und unbedingte Ursache in Bezug auf jene sich darstellt.
Eben als solche jedoch ist sie nur ein Werkzeug, ein
Instrument, und in Wahrheit wirkt durch dasselbe das
Subject, welches zugleich Denker des Gedankens und Thäter
der That ist.
§ 21.
Andererseits aber: was Handlung in der Wirklichkeit
(wie sie aus diesem subjectiven Gesichtspunkte aufgefasst
wird), das ist der Wille dazu in der antecipirenden Idee
vollständig, nämlich: Verbrauch von Mitteln, welche, um
als solche begriffen zu werden, durchaus vom Denken ab-
hängig sind, so dass die (gedachte) Willkür selber nichts
Anderes ist als die Existenz dieser Mittel, insofern eine be-
stimmte Quantität davon in eine Einheit und Form gebracht
worden ist, wie sie dem jedesmaligen Zwecke angemessen
zu sein schien. Jene ideellen Möglichkeiten sind aber nicht
mehr indifferent, indem sie so als Mittel zu erreichender
Lust concipirt werden, sondern sind selber Lust-Elemente;
und werden viel deutlicher, wenn der Gedanke sie als
Sachen verkörpert, und so die Freiheit gleichsam in ein-
zelne Stücke zerschneidet; so dass der Handelnde, wenn
nicht eine wirkliche Sache, so doch ein Stück seiner Frei-
heit hinzugeben scheine. — Wenn dieses auf diese Weise
verstanden wird, so ist jede Handlung ein Kauf, nämlich
Erwerb eines Fremden durch Hingabe eines Eigenen. Und
[147] diese Conception kann der Wirklichkeit mehr oder weniger
adäquat sein. Was man empfängt, das sind Genüsse oder
Güter (d. i. Sachen als Möglichkeiten von Genüssen); was
man zahlt, das sind Lust-Elemente, Mittel, Stücke der Frei-
heit oder wiederum Güter. — Wenn aber diese Verkörperung
gleichsam zurückgenommen, und der blos subjective Begriff
der Freiheit wiederhergestellt wird, so ist sie die absolute
Position (Selbstbejahung) des Denkens. Hiergegen dann
der Gedanke der Willkür, welcher, in Hinsicht auf den
Zusammenhang der Natur, eine bestimmte Handlung als
Ursache, und somit durch den eigenen Wunsch und Willen
(eines Endes, Erfolges, Zweckes) gefordert, geboten, er-
heischt, als nothwendig setzt, Negation schlechthin; ein
Befehl, den man an sich selber richtet, ein Zwang, den
man (zunächst in der Idee) sich anthut. »Ich will« heisst
hier soviel als »du musst« oder »du sollst«. Man ist es
dem Zwecke schuldig, d. h. sich selber schuldig. Durch
die Ausführung löst man sich von seiner Schuld. — So
stehen sich in Gedanken und in Handlung die Lust- oder
Plus-Elemente und die Schmerz- oder Minus-Elemente als
einander ausschliessend und aufhebend gegenüber.
§ 22.
Im Gebiete der Realität und des Wesenwillens gibt
es keine zweiseitige Möglichkeit, kein Vermögen des Wollens
oder nicht; sondern Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit
sind gleich Kräften und bedeuten die Thätigkeit selber —
auf eine unvollkommene Weise —, welche ihr Inhalt und
ihre Erfüllung ist. Was als einzelnes Stück davon gelöst
werden kann, ist nur Erscheinung und Aeusserung eines
Beharrenden, Bleibenden, das durch solche Function nicht
nur sich erhält, sondern (unter gewissen Bedingungen)
sogar sich verstärkt und vermehrt, indem es ernährt wird
aus einem Gesammtvorrathe, welcher selber sich ernährt
und erhält durch seine Berührungen und Wechselwirkungen
mit den umgebenden, begrenzenden Dingen; als welche so-
wohl psychisch wie physisch verstanden werden können. Es
ist Seiendes als Vergangenes, Gewesenes; hingegen die Mög-
10*
[148] lichkeit, welche in Willkür enthalten ist: Seinendes als
Zukünftiges, Unwirkliches. Jenes kann durch alle Arten
der Empfindung erfahren, gewusst werden, indem Erkanntes
und Erkennendes Eines und dasselbe, jenes so real als
dieses ist. Das Zukünftige aber, nur durch Denken er-
kannt, gewusst, steht ihm wie ein Object, von der Thätig-
keit selber verschieden und ablösbar, gegenüber; Object
wie ein Producirtes, Gebildetes, Fingirtes, aber in einem
minderen und allgemeineren Sinne, als die Gebilde, welche
ferner aus solchem imaginären Stoff durch Denken
gemacht werden mögen; und wiederum, was dort als Pro-
duction begriffen wird, ist, wenn auch unter schaffender
Mitthätigkeit des Subjectes, Bewegung der organisirten
Materie selber, deren Vollendung schon in ihrem Anfange
enthalten ist; so dass immer aus Demselbigen Unbestimmten
Dasselbe Bestimmtere wird. Hier aber ist zuerst Auflösung
in (so sehr als möglich) gleiche Elemente nothwendig, um
diese in beliebigen Formen und beliebiger Menge zusammen-
zusetzen. Und so gilt denn für den Begriff des Wesen-
willens dieses. Alles Können involvirt ein (nicht gedachtes,
sondern reales) Müssen, und (davon nicht verschiedenes)
Geschehen, als seine Entelechie und Ergebniss einer Ent-
wicklung, unter gegebenen Bedingungen. Gleichwie die
Frucht aus der Blüthe sich ergibt, und animal ex ovo. Es
ist Eines und dasselbe, in verwandeltem Zustande. Und so
verhält sich Anfang und Mitte aller Arbeit zu ihrer Voll-
endung, dem Werke. Hier ist nicht das Hingegebene das
Eine, und das Empfangene ein Anderes, so dass sie sonst
nichts mit einander zu thun haben, als dass Eines der
Preis des Anderen ist — wie denn die blosse Formgebung
an einen fremden Stoff so verstanden werden kann, dass
die fertige Sache durch solche Arbeit erkauft wurde —;
sondern die in Wahrheit immer in irgendwelchem Maasse
lebendige Materie wird ergriffen, und durch eine wechsel-
seitige Assimilirung strömen die Kräfte des eigenen Wesens
darin über, werden und bleiben darin lebendig; wie im
Acte der Zeugung und alles künstlerischen Schaffens und
Denkens. Diese Auffassung beruhet auf dem allgemein-
bedeutenden Gesetze: dass jede organische Modification, als
[149] Vermehrung der agendi potentia, sich ausbildet und wächst,
durch das agere selbst, durch die Function (und jede Ver-
minderung, Rückbildung, Tod eintritt durch Nichtgebrauch,
d. i. Nichtleben und Nichtwollen, unterbleibende Erneuerung
der Zellsubstanz und der Gewebe). Denn dieses wird er-
weitert zu dem Satze: dass auch durch die Thätigkeit in
Bezug auf etwas Aeusseres, d. i. durch Richtung des
eigenen Willens darauf, Verwendung der eigenen Kraft zu
seiner Bearbeitung und Cultur, so etwas wie ein besonderes
Organ = besonderer Wille und (durch Uebung) besondere
Fähigkeit sich gestalten müsse. Wie denn das Sehen eine
solche (allgemein-animalische) Thätigkeit in Bezug auf Licht
und beleuchtete Gegenstände, und durch Sehen das Auge
geworden ist. Und wie dieses nur ein Organ ist im voll-
kommenen Zusammenhange mit dem Centralorgan, von dem
aus es innervirt und mit dem Lebensherde, dem Herzen,
von dem es ernährt wird — welche Ernährung selbst
durch seine eigenthümliche Thätigkeit bedingt ist —,
also können wir auch durch Lieben, Hegen und Pflegen
(amplecti) von Wesen und Dingen uns besondere, obgleich
nur psychologisch-reale Organe entwickeln, erhalten, er-
nähren; oder vielmehr: unsere allgemeine organische
Liebeskraft specialisirend ausbilden. Und ferner: durch
Liebe, durch Mittheilung unserer Wesens-Energie nach
aussen, im Maasse ihrer Intensität und Dauer, und je nach-
dem das Aeussere uns nahe ist, von uns empfunden und
erkannt, gleichsam durch den Intellect festgehalten wird,
also fortwährend von dem Strome des Lebens einen meta-
physischen Antheil empfangend — so ist und wird und
bleibt es selber, als ein Lebendig-Thätiges, von mir aus
und durch mich Thätiges, gleich einem Organe, mein
organisches und echtes Eigen, eine nicht einmalige,
sondern dauernde Emanation meines Seins, meiner Substanz.
So ist Alles, was athmet und wirkt als meine Creatur:
was ich erzeugt oder geboren habe, was durch Zucht und
Pflege, Nahrung und Schutz, sich von mir entlehnt und
derivirt hat; endlich was ich geschaffen und gearbeitet, ge-
wirkt und gestaltet habe, durch meinen Geist und meine
Kunst. Dem Allen aber bin ich in irgendwelchem Maasse
[150] ebenso zu eigen wie es mir. Als auch der Leib des Auges
so gut als das Auge des Leibes ist — wenn auch in gerin-
gerem Sinne: denn der Leib kann ohne das Auge, das
Auge kann nicht ohne den Leib lebendig bleiben.
§ 23.
Und so muss immer das organische Ganze im Ver-
hältniss zu seinen Theilen, insofern als solche als distincte
und besondere ein Dasein haben, angeschaut und gedacht
werden. Das gesammte, allgemeine, und alles specielle
Wollen oder Leben, ist weder Lust noch Schmerz, aber in-
sofern als es ganz und einheitlich ist, fortwährende Tendenz
zur Lust; als welche, nach der Definition des Spinoza,
Uebergang ist zu grösserer; und so ist Schmerz Ueber-
gang zu geringerer Vollkommenheit. Beide sind nur
Excesse oder Verrückungen des labilen Gleichgewichtes,
als welches Wille oder Leben sich darstellt. Aber so ist
eben darin ein nothwendiger Consensus: was für das Ganze
Lust oder Schmerz ist, muss Lust oder Schmerz für den
Theil sein, sofern in demselben das Wesen des Ganzen
sich ausdrückt; daher was für den einen Theil, auch für
den anderen, sofern beide an einem gemeinsamen Herde
und beide an einander Antheil haben. Die Willensformen
selbst stehen also in diesen organischen Verhältnissen zu
einander, dass immer vor ihnen und über ihnen ein Ganzes
ist, welches in ihnen sich ausdrückt und zu ihnen sich ver-
hält; und dass dieses Verhältniss das primäre ist, aus
welchem alle übrigen abgeleitet werden müssen. Daher
alle Herrschaft und Bestimmung zwischen den Theilen nur
eine Abbildung dieser Herrschaft des Ganzen über alle
Theile ist; wie denn innerhalb derselben immer von Neuem
relative Ganze vorkommen, die es in Bezug auf ihre Theile
oder Glieder sind. Dieses Alles gilt auch noch, wenn die
Willensformen in Gedanken producirt oder gleichsam expo-
nirt werden; sofern sie nur aus dem Inneren entsprungen
sind, und von demselbigen aus, in der beschriebenen Weise,
festgehalten werden. — Während also Willkür Negation der
(subjectiven) Freiheit ist und willkürliche Handlung eine
[151] Verminderung des eigenen Vermögens; ihr äusserer Erfolg
aber ein Ersatz dafür; so ist Wesenwille die (objective)
Freiheit selber, in ihrer individuellen Wahrheit; und sein
Werk hängt wie eine Frucht an diesem Baume: nicht
bewirkt und gemacht durch Ueberwindung äusseren Wider-
standes; sondern erzeugt, hervorgebracht, geworden.
Und so verhält sich Erwerb und Schaffung durch Ar-
beit zum Erwerb und Aneignung durch Tausch (Kauf).
Verhält sich wiederum eigentliche, schöpferische Arbeit,
welche aus der Unendlichkeit des eigenen Wesens seines
Gleichen bildet, zu der blossen Synthese gegebener
stofflichen Elemente; deren Ganzes so todt und geistlos
ist und nur für das Denken vorhanden als die Stücke
und Theile selber; daher wohl begriffen werden kann
als ein äusserer Zweck, welcher durch die Thätigkeit als
Anwendung von Mitteln erkauft werde.
§ 24.
Die Willkürformen stellen den isolirten Menschen
der gesammten Natur als Geber und Empfänger gegenüber.
Er versucht die Natur zu beherrschen und mehr als das
Gegebene von ihr zu empfangen; also Lust-Elemente aus
ihr herauszuziehen, welche ihm keine Mühe und Arbeit
oder andere Unlust gekostet haben. Aber innerhalb der
Natur tritt ihm auch ein Gleiches erstrebendes, gleiches
Willkür-Subject entgegen, der Andere, welcher seine
Mittel und Zwecke im Ausschluss und Gegensatz gegen ihn
hat, also durch seinen Schaden gewinnt und zu gewinnen
trachtet. Sie müssen entweder sich nicht berühren oder sich
vertragen, um als Willkür-Subjecte neben einander zu ver-
harren; denn wenn Einer dem Anderen nimmt oder ihn zwingt,
so will und agirt jener allein: in dem Maasse als der Zwang
vorhanden ist, welches von der Beschaffenheit angewandter
Mittel und Werkzeuge abhängt. Wenn dieselben nämlich
nicht Lust-Elemente für ihn gleichwie für mich (also insoweit
an sich, d. i. für uns Beide) sind, so handle ich nicht güt-
lich mit ihm; ich gebe ihm nicht was er selber begehrt.
Er handelt entweder garnicht, oder gezwungen, d. h. nicht
um seiner selbst willen; seine Handlung ist nicht Verwirk-
[152] lichung seiner Willkür. Welches aber vorausgesetzt werden
sollte. Dies will aber sagen: der reine Begriff der ab-
stracten Person treibt sein dialektisches Gegenstück aus
sich selber hervor; welcher auf dem Markte erscheint als
Kaufmann wider den Kaufmann, als Person wider die
Person: Concurrenten und Contrahenten. Und wiederum:
ebenso wie die Willensformen verhalten sich ganze Menschen
zu einander; sofern Jeder durch seinen Wesenwillen in
seinem Verhalten bestimmt ist. Auch hier wird durch
Zwang oder Gewalt die Freiheit und das eigene Selbst des
Gezwungenen annullirt; denn nur durch seine Freiheit ist
ein Selbst vorhanden. Aber alle Einzelnen sind hier in
ihren Verhältnissen zu einander nur aus einem Ganzen zu
begreifen, welches in ihnen lebendig ist. Und es ist schon
jetzt verständlich, wie die Glieder durch fortgesetzte be-
sondere Entwicklung sich gegen einander isoliren und ihres
gemeinsamen Ursprunges gleichsam vergessen können. Sie
mögen, nicht mehr für ein Ganzes und sie Verbindendes
Functionen auszuüben und so (auf indirecte Weise) die-
selben einander mitzutheilen scheinen; sondern nur noch
für einander: Jeder zu seinem Besten und nur dadurch
(per accidens) etwa auch für des Anderen Bestes. Hingegen:
so lange als sie aus ihrem Ganzen begriffen werden, so ist
auch ihr Tausch nur eine Folge und Erscheinung ihrer
Function; also ihrer Daseinsweise als organischer Modifica-
tionen, Ausdruck der natürlichen Einheit und Gemeinsamkeit.
§ 25.
Die Begriffe der Willens-Formen und Gestaltungen
sind selber, an und für sich, nichts als Artefacte des Den-
kens; sind Geräthe, dazu bestimmt, das Verstehen der
Wirklichkeit zu erleichtern. So muss höchst mannigfaltige
Beschaffenheit der menschlichen Willen nach der zwiefachen
Betrachtung, ob es ihr realer oder imaginärer Wille ist, auf
diese Normalbegriffe als auf gemeinsame Nenner be-
zogen und dadurch unter sich um so vergleichbarer werden.
Als solche freie und willkürliche Gedankenproducte schliessen
diese Begriffe einander aus: in den Formen des Wesen-
[153] willens soll nichts von Willkür, in den Formen der Willkür
nichts von Wesenwillen mit gedacht werden. Wenn jedoch
dieselben Begriffe als empirische genommen werden (als
welche sie dann nichts als Namen sind, durch welche eine
Vielheit der Anschauung oder Vorstellung umfasst und be-
halten wird; mithin je weiter desto leerer an Merkmalen),
so ergibt sich aus Beobachtung und Ueberlegung leicht:
dass kein Wesenwille ohne Willkür, worin er sich ausdrückt
und keine Willkür ohne Wesenwillen, worauf sie beruht,
in der Erfahrung vorkommen kann. Der Werth der
strengen Scheidung jener normalen Begriffe stellt sich aber
heraus, indem wir gewahr werden, wie die empirischen
Tendenzen in der Richtung des einen und in der Rich-
tung des anderen, zwar neben einander bestehen und wirken,
ja einander fördern und vermehren können, dass aber, in-
sofern als jede Gattung auf Macht und Herrschaft ausgeht,
sie nothwendiger Weise zusammenstossen, sich widersprechen
und sich bekämpfen müssen. Denn ihr Gehalt, in Normen
und Regeln des Verhaltens ausgedrückt, ist von gleicher
Art. Wenn daher Willkür Alles nach Zwecken oder Nütz-
lichkeiten ordnen und bestimmen will, so muss sie die
gegebenen, überlieferten, eingewurzelten Regeln verdrängen,
soweit sie nicht sich solchen Zwecken anpassen lassen; sich
unterwerfen, soweit dieses angehen mag. Also: nicht nur
müssen, je entschiedener Willkür sich entwickelt, oder das
Denken sich auf Zwecke, auf Erkenntniss, Erlangung, An-
wendung von Mitteln, sich versammelt und concentrirt, desto
mehr die Gefühls- und Gedankencomplexe, welche das Be-
sondere oder Individuelle eines Wesenwillens ausmachen,
durch Ungebrauch zu verkümmern in Gefahr sein; sondern
es findet auch ein directer Antagonismus statt, indem
diese die Willkür zurückhalten und sich ihrer Freiheit und
Herrschaft entgegenstellen, Willkür aber vom Wesen-
willen zuerst sich loszumachen, sodann ihn aufzulösen, zu
vernichten oder zu beherrschen strebt. Diese Verhältnisse
werden am leichtesten sichtbar, wenn wir neutrale em-
pirische Begriffe nehmen und empfangen, um in ihnen solche
Tendenzen zu untersuchen: Begriffe der menschlichen Natur
und psychischen Beschaffenheit, wie sie dem wirklich ge-
[154] übten und unter gewissen Umständen regelmässig erfolgenden
Verhalten entsprechend und zu Grunde liegend gedacht
wird. Solche allgemeine Beschaffenheit kann dem Wesen-
willen günstiger und angemessener sein oder der Willkür.
Die Elemente der einen und die der anderen Art können sich
in ihr begegnen und vermischen, und sie mehr oder minder aus-
füllen und bestimmen. Wenn nun diese wiederum unterschie-
den wird, je nachdem sie im organischen, im animalischen oder
im mentalen Leben des Menschen hauptsächlich erscheine,
so mögen folgende bekannte Begriffe sich herausstellen:
- 1) Temperament,
- 2) Charakter,
- 3) Denkungsart.
Welche jedoch aller Connotationen, vermöge deren sie etwas
mit dem »Wesen« oder Wesenwillen des Menschen Iden-
tisches bedeuten, entkleidet und auf den rein logischen
Sinn von »Dispositionen«, die der durchschnittlichen Wirk-
lichkeit entsprechend und antecedirend gedacht werden,
zurückgeführt sein sollen. Man kann aber dieses Verhältniss
auch so darstellen: zu den gegebenen und für Willkür
apriorischen Eigenschaften, welche dem Wesenwillen in-
härent gedacht werden und auch in Opposition zu den-
selben, kann sich Willkür ihre neuen und besonderen Eigen-
schaften herstellen und so etwas wie einen künstlichen
Charakter (u. s. w.) machen, welcher jedoch mit dem natür-
lichen oder aus Wesenwillen herstammenden Charakter
nichts als den Namen gemein hat, einen Namen, der darin
begründet ist, dass durch beide die wechselnden Erschei-
nungen auf einen bleibenden oder substanziellen Träger
bezogen werden. Dieser also, oder Charakter im allgemeinen
Verstande, wird in der Regel aus dem zwiefachen Ursprunge
zusammengeflossen sein; oder das normale Gebahren,
Handeln, Urtheilen (Reden) zu einem Theile aus Gesinnung,
Gemüth, Gewissen, zu einem anderen, sei er grösser oder
kleiner, aus Bestrebung (Interesse), Berechnung, Bewusst-
heit hervorgehen. Wobei immerhin bemerkt werden möge,
wie wenig aber überhaupt ein Mensch seinem eigenen Willen
und seinen eigenen Gesetzen, zumal auf directe Weise, zu
folgen pflegt und vermag.
[155]
§ 26.
Unsere Gefühle werden aber, bei denkender An-
schauung, durch das Verhalten der Menschen in ähnlicher
Weise afficirt, wie durch äussere Gegenstände; nämlich
nicht blos so, dass Bejahung und Verneinung in uns erregt
wird, sondern die psychischen Zustände und Geschehnisse
selber werden auf eine Weise beurtheilt, als ob die Empfin-
dungen denen des Tast- und Temperatursinnes, d. i. der allge-
meinsten Arten unterscheidenden Gefühles überhaupt, gleich-
artig wären. Denn die Gegensätze des Flüssigen und
Trockenen, des Weichen und Harten, des Warmen und
Kalten, pflegen (wenn auch nicht gleichmässig) in popularer
Rede auf die Unterschiede menschlichen Wesens und Be-
tragens angewandt zu werden. Das Flüssige (Strömende),
Weiche und Warme wird den »Gefühlen« zugeschrieben;
von solcher Art ist die Materie, sofern sie reich an
innerer Bewegung ist: daher die individuelle und organi-
sirte, wie denn auch das Leben mit einem Strome und mit
der Flamme oft verglichen wird; und plastische Weichheit
ist allgemeinste Eigenschaft der Zellsubstanz. Hingegen
müssen die letzten Partikel des Stoffes, welche die Träger
mechanischer Wirkungen sind, absolut fest, hart und kalt,
der inneren Bewegung bar, gedacht werden. So wird auch
das blosse Denken und der Verstand empfunden; so auch
sein Stoff und was er daraus hervorbringt. Also ist zu
verstehen, wie ein Temperament u. s. w., worin die Gestalten
des Wesenwillens überwiegen, mit den ersteren Prädicaten,
wenn aber die Gestalten der Willkür, mit den entgegen-
gesetzten belegt werden könne. Denn was im Wesenwillen
enthalten ist und aus ihm hervorgeht, muss ihm selber
gleich sein; und gedachte Actionen sind die Elemente, aus
denen die Willkür zusammengesetzt wird. Dort ist das
Concrete und Ursprüngliche (die Originalität) der Individuen:
was schon als Naturell eine allgemeine Bezeichnung er-
fahren hat. Hier ist das Abstracte und Gemachte, das
Schablonenhafte und Modellirte: und dies ist, was wir als
Apparat verstehen wollten. Temperament, Charakter,
Denkungsart, sofern sie dem Naturell entsprechen, sind
selber natürlich; sofern dem Apparat, künstlich; sind
[156] ein angenommenes (affectirtes) und zur Schau getragenes
»Wesen« eine gespielte »Rolle«.
§ 27.
Das menschliche Leben oder Wollen (und also die
Gesammtheit menschlicher Thätigkeiten) wird entweder als
ein essentiell-organischer und als solcher in die Mannig-
faltigkeit des intellectuellen Lebens sich fortsetzender Process
betrachtet, der bei allen Menschen nur insoweit gleich ist,
als ihre organischen Beschaffenheiten und die Bedingungen
ihrer Entwicklung und ihres Daseins gleich sind; aber ver-
schieden insofern als diese sich differenzirt haben. Das
Wollen ist hiernach nicht lehrbar; wie der alte Satz der
Schulen, welcher dem Seneca entnommen ist, aussagt: Velle
non discitur; oder doch nur lehrbar in dem Sinne, wie eine
schöne Kunst es ist, deren Werke nicht nach Regeln sich
hervorbringen lassen, sondern aus eigenthümlichen leiblich-
geistigen Qualitäten, insbesondere aus einer dahin gerich-
teten Kraft und Stimmung, der schaffenden Phantasie des
Künstlers entspringen müssen. Das Lernen ist hier nichts
als das Wachsthum, die Ausbildung eines angeborenen
Talentes, durch Uebung und durch Nachahmung. Die
künstlerische Thätigkeit ist ein Stück der diesem Menschen
eigenen Art zu leben, zu reden, zu schaffen. Diese prägt
sich aus in dem wahren Werke, wie die Natur und Kraft
eines jeden Organismus sich auf irgendwelche Weise in
allen seinen Theilen ausdrückt, und wie sie zumal in seinen
Generations-Producten auf vollkommene Weise enthalten
ist, und auf neue ihm gleichartige Wesen übertragen, ver-
erbt wird. Dies ist das Leben und die Lebensweise als
Beruf. — Oder aber das Leben wird aufgefasst und be-
trieben wie ein Geschäft mit dem bestimmten Zwecke, ein
eingebildetes Glück als sein Ende zu erreichen. Es lassen
sich dann allerdings Begriffe und Regeln bilden, welche die
beste Methode, solchen Zweck und Erfolg durchzusetzen,
auf eine Art und Weise darstellen, beweisen, mittheilen, dass
sie von jedem Menschen, der logischer Operationen fähig
ist — welche in Wirklichkeit von Allen und in allen
[157] Thätigkeiten vollzogen werden — begriffen und angewandt
werden können. Die Natur aller solcher Theorie wird
am deutlichsten durch die Mechanik. Die Mechanik selbst
ist nichts als angewandte Mathematik. Die Mathematik
ist nichts als angewandte Logik. Das Princip der ange-
wandten Mechanik lässt sich auf folgende Weise als ein
allgemeines aussprechen: möglichst hohen Nutzeffect mit
möglichst geringem Aufwande von Kraft oder Arbeit zu
erzielen. Der Inhalt desselben Princips aber kann in Bezug
auf jede nach einem bestimmten Zwecke gerichtete Unter-
nehmung dahin formulirt werden: der Zweck soll auf mög-
lichst vollkommene Weise durch möglichst leichte und ein-
fache Mittel erreicht werden. Oder in Anwendung auf ein
Geschäft, das um des Geldes willen geführt wird: möglichst
hohen Gewinn mit möglichst geringen Kosten, oder: mög-
lichst hohen Reinertrag! Und in Anwendung auf das Leben
als ein solches Geschäft: die grösste Menge von Lust oder
Glück mit der geringsten Menge von Schmerz, Anstrengung
und Mühsal; dem kleinsten Opfer an Gütern oder Lebens-
kraft (durch Arbeit). — Denn überall, wo ein Zweck er-
reicht werden soll, da ist es nothwendig, dass derselbe
scharf und bestimmt ins Auge gefasst werde — wie ein
sichtbares Ziel des Schützen ins leibliche Auge, also dieser
in den Blickpunkt des Denkens —, dass mit Ruhe und
Kälte überlegt werde, welches die besten, sichersten, leich-
testen Mittel seien, das Vorhaben auf vollkommene Weise
durchzuführen; endlich dass diese Mittel gleichsam mit
fester Hand gepackt, und auf die als richtig erkannte Art
und Weise zur Geltung gebracht werden. Man muss also
1) richtig zielen, 2) richtig urtheilen, 3) richtig handeln.
Das Dritte ist entscheidend und dem Ende am nächsten;
ihm sind wieder 1) und 2) untergeordnet, als Mittel in Bezug
auf diesen ihren Zweck. Da aber auch das richtige
Handeln nur Mittel ist, nämlich um den gewünschten Erfolg
hervorzubringen oder zu erlangen, so ergeben sich solcher
vermittelnden und durch diesen Zweck geforderten Thätig-
keiten die 3 Gattungen, als in Bezug darauf einander coor-
dinirte: 1) die Application des Geistes oder die Apprehen-
sion des Gewünschten oder die willkürliche, d. i. mit Ge-
[158] danken verbundene Aufmerksamkeit, eine Form, welche
allen übrigen willkürlichen Thätigkeiten zu Grunde liegt:
man richtet gleichsam sein Teleskop auf die Sache und die
Selbst-Erkenntniss in Bezug auf das, was man erstreben
will, das Verständniss des eigenen Interesses, ist hiermit
gleichbedeutend. Darüber kann aber jeder aufgeklärt wer-
den, ein Berathender wird ihm den Vortheil zeigen, welchen er
selber nicht sieht, »öffnet ihm die Augen«, »macht ihn auf-
merksam«. 2) Zum richtigen Urtheilen gehört der Besitz
richtiger Begriffe von den relativen Werthen der Dinge,
von den gewissen oder in irgendwelchem Maasse wahr-
scheinlichen Wirkungen menschlicher Handlungsweise. Auch
diese lassen sich als fertige überliefern, als Werkzeuge der
Messung, deren Anwendung sich im Allgemeinen als von
selbst evidente ergibt. 3) Diese Anwendung oder das rich-
tige Handeln, bestehend in der zweckmässigen Disposition
vorhandener Mittel und Kräfte, lässt sich am wenigsten auf
unmittelbare Weise aneignen und hat doch auch seine be-
sondere und mittheilbare Methode.
§ 28.
Also ist die gewonnene Erkenntniss, das Wissen, wie
es gemacht werden müsse, die entscheidende Bedingung; und
es wird vorausgesetzt, dass Jeder die Actionen, welche
Anwendung solches Wissens sind, leicht und von selber
vollziehen könne — die allgemein-menschlichen Fähig-
keiten sind in dieser Beziehung genügend, es wird Nichts
verlangt, als was ein Mensch kann, wenn er nur will. Auf
diese Art und Weise lässt zwar keine Kunst, kein Hand-
werk sich lehren, kann aber wohl Kunst-Stücke zu
machen, beigebracht werden. Und solch’ ein Kunststück
ist das Wollen selber, insofern es als Willkür und also als
gesondert von und vor dem Thun gedacht wird; nun aber
nicht Etwas, das man wiederum, wenn man nur wolle, zu
leisten vermöge, sondern das man (nicht blos möglicher
und wahrscheinlicher, vielmehr) nothwendiger und gewisser
Weise leisten wird, sobald als man erkannt hat und weiss,
dass es in Wahrheit »das Beste« sei. Die Fähigkeit hierzu
[159] ist die allgemein-menschliche des Denkens (wie die der
sinnlichen Wahrnehmung allgemein auch den Thieren eignet),
welches hier Erkennen und Wollen zugleich vollbringt. Da
nun aber das Thun als nothwendige Folge des Wollens
gesetzt wird, so heisst es auch: dass der Mensch immer
thun werde, was er als das in Bezug auf seinen vorge-
nommenen Zweck Nützlichste wisse. Und dieses muss als
richtig anerkannt werden, in dem Maasse, als der Mensch
dem Begriffe eines reinen (abstracten) Willkür-Subjectes
sich nähert. Hingegen je weiter er davon entfernt ist, desto
mehr kömmt auf sein gesammtes Wesen und dessen ge-
sammten Zustand, worin die gerade präsenten Gedanken
nur ein hervorstechendes Moment ausmachen, die Beur-
theilung, woraus dann seine jedesmaligen und beobachteten
Thätigkeiten erklärt werden sollen. Und zu diesen Thätig-
keiten gehört auch das Denken selber, welches mannigfache
und complicirte Zusammenhänge von Ideen zu gestalten
vermag, je nach Begabung, Gewohnheit, Stimmung seines
Autors und den gerade auf ihn wirkenden Reizen; ins-
besondere aber für seine zukünftigen Handlungen ihm selber
Gesetze gibt, in Bezug auf vorgesetzte und bestimmende
Zwecke, welche Arbeit dann nicht sowohl Kenntniss ihrer
eigenen Methode, als vielmehr möglichst vollkommene Kennt-
niss der verfügbaren Mittel, der helfenden und widerstrei-
tenden Umstände, der Wahrscheinlichkeiten günstiger oder
widriger Zufälle, lauter Urtheile und deutlich-klare Wissen-
schaft erheischt, welche wenigstens in ihrer Allgemeinheit,
die auf gegebene Fälle anwendbar ist, von aussen als eine
fertige empfangen werden kann; und in dem Maasse als
dies geschehen ist, so besteht die eigene Arbeit eben nur
in der Anwendung, d. i. theils in Ziehung von Schlüssen
(der ersten Figur), theils in Einsetzung und Miterwägung
so gegebener Factoren; jenes wenn es Maximen oder Regeln
sind, dieses wenn Thatsachen oder Geschehnisse, welche,
sei es gewusst, sei es für wahrscheinlich gehalten, vermuthet,
gehofft werden, so dass darauf »gerechnet« wird. Denn
eine Rechnung ist dieses Ganze, Berechnung der Chancen
eines Unternehmens und, wenn es weit geht, Vorbereitung
in Gedanken auf verschiedene mögliche Fälle. Darum
[160] durchaus ein wissenschaftliches Denken, welches von
aller subjectiven Beimischung frei sein muss, Zusammen-
setzung (Synthese) und Trennung (Analyse) von willkürlich
begrenzten (definirten), aber schlechthin als wirklich ge-
dachten Elementen. Die Methodik, Technik oder Theorie
alles solchen Verfahrens ist es eigentlich, was unter dem
Namen der Logik vorgetragen werden muss: ein Organon
der Wissenschaft, die Lehre, wie man mit begrifflichen
Gegenständen (Entia rationis) operiren oder wie man den-
ken, rechnen müsse, um zu richtigen Resultaten zu gelangen.
Diese Regeln werden gerade im eigentlichen Rechnen und
den verwandten mathematischen Disciplinen am meisten
auf bewusste Weise gebraucht, können aber auf alles wissen-
schaftliche Denken, mithin auch auf jede Art des egoisti-
schen Calcüls angewandt werden. Rechnen aber ist nichts
anderes als »mechanische« (äusserliche) Zusammenfügung
und Zertheilung eines fictiven Stoffes, der Zahlen oder
algebraischen Symbole.
§ 29.
Und so wird nun hier versucht, auch das Willkür-
formen bildende Denken mit mechanischer Arbeit und
seine Vollkommenheit mit durchaus klüglich angewandter
Arbeit zu vergleichen, und diesem entspricht auch die
Gleichnisskraft unserer Sprache, durch welche gesagt wird:
Pläne schmieden, Ränke schmieden, Machinationen anzetteln,
eine weitausgesponnene Unternehmung, ein dichtes Gewebe
von Lug und Trug u. dergl. m.; — so ist hingegen schon
Entstehung und Dasein der Formen des Wesenwillens mit
organischer und — wie wir gewahren, fast unversehens
— das Ideal derselben mit einer künstlerischen Thätig-
keit verglichen worden. Denn in der That: so ist das
Reden und das Denken selber, als worin menschliches
Wesen und die Beschaffenheit der individuellen Seele am
deutlichsten in ihrer besondersten und eigensten Ausbildung
sich offenbart, die gemeine Kunst des Menschen, wie das
Netzespinnen des Insectes, Nestbauen und Gesang des
Vogels ist. Die Frage erhebt sich hier immer: wie kömmt
[161] das Wesen dazu, solches zu können? und die Antwort ist
immer dieselbe, eine dreifache: durch angeborne Anlage
und deren Entwicklung; durch Wiederholung (der Versuche)
und also Uebung; durch Erlernung und Nachahmung, d. i.
durch Empfang von den Könnenden, aber verstehend-mit-
thätigen, sympathischen. Anlage und Lehre weisen, je in
verschiedener Weise, auf eine unbegrenzte Kette der Ver-
ursachung zurück. Anlage wird ganz und gar von den
Erzeugern und durch einen blos organischen Act über-
liefert und kann nur von ihnen überliefert werden; nur
ihre Entwicklung ist die Thätigkeit und selber wesentlich
organische des ausgestatteten Wesens (wofür denn andere
Umstände günstig sein müssen, und auch sorgende Er-
ziehung, als die mentale Fortsetzung oder Ergänzung der
Generation, hülfreich ist). Lernen ist ganz und gar dessen
eigene, und im Menschen wesentlich mentale Thätigkeit,
kann jedoch durch die Kundigen, Alten, Erfahrenen (seien es
Eltern oder Andere), mit eigener Mühe gefördert und durch
ihre Theilnahme die Mühe jenes erleichtert werden.
§ 30.
Die mannigfache, sich theilende und besondernde
menschliche Kunst, bezieht sich als bildende auch, und in
weitester Ausdehnung, auf die Herstellung von Geräthen
und Werkzeugen; so dass zuletzt jede Art, Unterart, Varie-
tät, ihren eigenen Meister und Künstler erfordert. Sie sind
dann mehr als blosse Gebrauchs-Gegenstände, weil etwas
von der inneren Harmonie, Schönheit und Vollkommenheit
des Gestaltung gebenden Organismus in ihrem Leibe und
Wesen ist. Wenn es aber einen Punkt der Entwicklung
gibt, in etwelchen Künsten, oder auch ganze Gattungen
von Künsten, worin die Wirkung ihrer eigenen Werk-
zeuge, oder (was denselben Erfolg hat) die Methode
der Arbeit, in dieser Weise die Oberhand gewinnt (oder
auch von Natur das Hauptsächliche ist), dass nur sie zu
begreifen und anzuwenden nöthig ist, so handelt es sich
nur noch um mechanische oder quasi-mechanische Ope-
rationen, in dem Sinne, dass dabei der Verbrauch von
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 11
[162] Energie, wenn auch durch ein menschliches Gehirn, von
mittlerer Beschaffenheit, dirigirter oder verrichteter, die
eigentliche und entscheidende Function ist, welche geschehen
muss, um auf die gegebene Maschinerie eine bestimmte
Energie mitzutheilen, vermöge deren sie fähig ist, gewisse
Arbeit zu leisten, gewisse Werke hervorzubringen, so dass
jenes Quantum menschlicher Arbeitskraft auch ohne
Veränderung der Wirkung durch ein gleiches Quantum
irgendwelcher anderen mechanischen Kraft ersetzt werden
kann. — Diese Entwicklung vollzieht sich um so leichter,
je mehr blos im Hinblick auf ihren Nutzen, ihre Verwen-
dung und Aufzehrung eine Sache hervorgebracht wird; und
hier gibt es eine Grenze, von welcher an jene allgemein-
menschliche, vernünftige Arbeit, auch ohne sich durch
arbeitende Werkzeuge zu vermitteln, der allein nothwendige
und natürliche Process ist. — Und jener Hergang — des
Productivwerdens der Instrumente — ist nun freilich ganz
und gar nur gleichnissweise zu verstehen, wenn Begriffe
und Methoden die Werkzeuge sind, wie in geistiger Arbeit
und besonders im wissenschaftlichen Denken; aber die
Analogie ist leicht zu verstehen. Es ist nicht so sehr
eine besondere Begabung, Zucht und Uebung mehr er-
fordert, um das Werk zu gestalten, als nur die durchschnitt-
liche, abstracte Qualität des animal rationale; denn die
Methode erleichtert Alles und thut die eigentliche Arbeit;
nur ihr Gebrauch muss erlernt werden und um dessen
willen ihr Wesen erkannt werden. Und hierfür wird die
wahre mentale Production, die Thätigkeit des Gedächtnisses
oder der Einbildungskraft, durchaus überflüssig, ja schäd-
lich; Willkür muss eintreten, d. h. Absicht (Aufmerksamkeit)
und logische Operationen, deren einfacher Ablauf sich zu
jener mentalen Production verhält, wie die blos dirigirte
Ausgabe menschlicher Muskelkraft zu der liebevollen, nach
seinem Geschmack und seiner Sorgfalt vollbrachten
Hand- und Geistesarbeit des Bildhauers oder Malers.
§ 31.
Wesenwille selbst ist künstlerischer Geist. Er bildet
sich selber aus, mit neuem Inhalte sich erfüllend, und
[163] gestaltet denselben in neue Formen. So bildet er aber
auch Vorstellungs- und Gedankencomplexe, Worte und
Sätze, als Urtheile, Einfälle, Vorsätze, welches Alles aus der
Phantasie hervorgehend, einem Ganzen der Empfindung
entspriesst. Wo aber diese productive Thätigkeit gleichsam
erstarrt zu blos logischem Denken, da tritt die abstracte,
allgemeine gleiche geistige Arbeit an die Stelle aller be-
sonderen, concreten, qualificirten; also schon ihrer Natur
nach von dieser Art und auch ohne dass sie sich selber
durch den Gebrauch von Werkzeugen erleichtert und re-
ducirt hat. Vollends aber insofern als diese selber ganz
und gar nach ihrem Zwecke, ihrem Nutzen, ihrer Be-
stimmung gerichtet werden, so werden sie mit Willkür
und aus Willkür gemacht und werden, anstatt concret-
menschlicher, abstract-menschliche Producte: so entsteht
denn auch ein freies System der Willkür oder eine höhere
gegenüber den niederen Willkürformen, indem diese nun-
mehr durch jene bestimmt und von ihr abhängig erscheinen.
Und so sind es insbesondere die Begriffe, welche gleich
Geräthen oder Werkzeugen gemacht werden und gleich
Dingen der Aussenwelt von einer Hand in die andere
gehen. Als Empfänger und Anwender derselben sind alle
Menschen einander gleich. Denn begreifen und dem-
nächst im Gedächtnisse behalten, wie etwas zu machen
sei, kann Jeder, dem das Richtige bewiesen wird; Beweis
wendet sich an die allgemeine menschliche Kraft der Ver-
nunft (d. i. des logischen Denkens), welche den bewiesenen
Satz, das Urtheil als ein richtiges, d. i. die darin behauptete
Relation von Begriffen als wirklich-seiende »fassen« soll.
Eine »Wahrheit« wird so objectiv gemacht für die Vernunft,
wie ein Gegenstand für den Sinn. Und nicht anders ist
es, wenn ein Mittel zu feststehendem Zwecke gewiesen und
solcher »Rath« angenommen wird. Kein Schluss aber kann
besser begründet sein als dieser: wer einen Zweck mit
Entschiedenheit ins Auge gefasst und die Mittel zu seiner
Erreichung deutlich erkannt hat, der wird auch diese Mittel
ergreifen und anwenden, wenn sie in seiner Macht sind,
oder sie zu erlangen versuchen, wenn sie es nicht sind.
Mithin kann hier der Weg-Weiser und Lehrer von aussen
11*
[164] her Alles leisten, und doch thut er nichts als dass er eine
richtige Methode oder die Mittel und Wege zu einem Ziele
wie ein wirkliches Ding hingibt oder zeigt; sie aufzufassen,
zu ergreifen und zu benutzen ist des Adepten eigene Sache;
es wird vorausgesetzt, dass er die allgemeine Fähigkeit dazu
habe, denn dass sie sich ausbilde zu helfen, geht nicht den
Demonstrirenden als solchen an. Dieser, als Lehrender
oder Rathgeber, hat hier eine begrenzte Aufgabe und Ge-
schäft, dessen er sich entledigen kann und seine Leistung
dem Anderen mittheilen, damit dieser ihren Inhalt wie das
Seinige benutze. Für die Wirkung der Erkenntniss und
der erkannten begriffenen Methode, des angenommenen
Rathes (welche der Beschluss und somit die That ist)
bleibt es gleichgültig, ob sie selbstgeschaffen und erarbeitet
oder als fertige empfangen und genommen wurde. Dass
aber die nach ihr gerichtete, ihrer sich bedienende That,
wirklich den gewünschten und vorgestellten Erfolg habe,
hierdurch allein wird die Bewährung ihrer Wahrheit und
Richtigkeit gegeben, denn sie ist so wahr und richtig, als
sie tauglich, zweckmässig, brauchbar ist. — Sowie aber
hier Erkenntniss zu derjenigen Zweck-Handlung sich ver-
hält, welche Fassung des Beschlusses ist, so verhält sie
sich überall, wo sie auf die möglichst zweckmässige
oder richtige Bildung der Willensgeräthe als solcher sich
bezieht. — Der Lehrer und Rathgeber verhält sich anders,
wenn es nicht sowohl um Mittheilung von Wahrheiten, als
um Erzeugung und Ausbildung der Fähigkeit zu bestimmten
Leistungen, gerade insofern als diese eine mentale Kraft
sein mag, sich handelt. Jener muss dann selber ein Meister
oder doch ein Erfahrener und Geübter in dieser Kunst sein;
oder wenn doch die Form der Mittheilung einer Lehre und
Weisheit nothwendig ist, Glauben und Vertrauen finden
oder erzeugen; an den guten Willen anstatt an die Vernunft
sich wenden: Versuche und Bemühung mehr als Auffassung
und Begreifen fordern.
§ 32.
Die Formen des Wesenwillens sind in stärkerer oder
schwächerer Weise immer thätig und wirksam, weil sie
[165] zum Leben gehören; in entschiedener Weise aber, als
Motive, treten sie auf, bei den Gelegenheiten, wo
der Inhalt, auf den sie sich beziehen, irgendwie in Frage
oder zur Wahl kömmt. Dieser Inhalt wird insbesondere
durch Normen oder Gesetze ausgemacht, welche vom All-
gemeinen und Unbestimmten ins Besondere und Bestimmte
sich ausbilden können. Die Formen der Willkür werden
angewandt, indem sie verwirklicht werden. Dies geschieht,
indem das Subject sie denkend festhält und durch gemessen-
bestimmte Action gleichsam ihre Nachahmung und Uebertra-
gung in die Wirklichkeit vollzieht. Ihre Arbeit und ihr Zweck
besteht aber darin, als Motiv dazu zu wirken, entweder
einmalig, dann hört ihr Werth oder ihre Brauchbarkeit auf,
nachdem die Sache gethan ist; oder regelmässig unter ge-
wissen Umständen. Der Fortschritt ihres Inhaltes geht von
einzelnen, durch Addition und Collection, zu umfassenden
und gesammten Normen über. — Nur in dem Maasse, als
der Wille solchen seinen eigenen Normen und Gesetzen, d. i.
seinem natürlichen Gefallen, Sinn und Geschmack (für oder
wider etwas), seinen Gewohnheiten, seinen Ideen (deren
Verbindungen im Gedächtniss) und also im Grossen: seiner
Gesinnung, seinem Gemüthe, seinem Gewissen, diesen
inneren Gesetzen folgt und danach sich richtet, — oder
aber den äusseren Regeln, welche er durch seine Be-
strebung, seine Berechnung, seine Bewusstheit sich vor-
gesetzt haben mag, gehorchet: nur in diesem Maasse ist
der Wille frei, seiner selbst mächtig. Denn jene sind
Determinationen der Freiheit, in welchen sie, als in ihren
nothwendigen Formen, selber erhalten bleibt (wenn auch die
Willkür-Formen zugleich ihre Verneinungen sind). Und so
verhält sich zur rohen und stofflichen Freiheit der Mög-
lichkeit die gebildete und bestimmte Freiheit der Wirk-
lichkeit. Denn Freiheit und Wille ist einerlei. Aber jedes
Wollen, wie jede Bewegung, ist nothwendig, insofern als es
in der Natur der Dinge enthalten ist; und frei, insofern
als ein einzelner Körper oder ein individualer Organismus-
Wille sein Subjekt ist. So ist die Bewegung des Wasser-
tropfens, der auf den Stein fallend seinen Weg abwärts zu
suchen scheint und ihn findet in der Linie des geringsten
[166] Widerstandes oder des stärksten Zuges, eine freie und
nothwendige zugleich: frei, indem seine jedesmalige Lage
und Richtung durch seine eigene Kraft und sein Moment;
nothwendig, indem sie durch andere, fremde Kräfte und
Momente bestimmt ist. So sind auch die höchst geistigen
und vernünftigen Bewegungen der Menschen, zum Theil
aus ihrem eigenen Willen, aber zum Theile aus dem Druck
der Umstände zu erklären; und insofern als er diesem
unterliegt, ist der Wille unfrei oder gezwungen. Dass aber
Nichts — weder ein Ding und seine Beschaffenheit, also
auch keine Willens- oder Willkürform; noch eine Bewegung
oder ein Willensact — in dem Sinne frei könne genannt
werden, als ob es durch die Vollkommenheit seiner inneren
und äusseren Bedingungen nicht in jedem Zeittheilchen
auf vollkommene Weise bedingt und bestimmt wäre: dies
wird hier als verstandene logisch-apriorische Wahrheit vor-
ausgesetzt. Die wirkliche Freiheit des Willens besteht in
seinem Dasein, welches ein Modus der unter dem psychischen
Attribute verstandenen unendlichen, unbegreiflichen, unverur-
sachten Substanz ist; aber nicht insofern es Modalität, son-
dern insofern als es selber substantiell ist. Ausserdem
gibt es eine imaginäre Freiheit für das Denken des Men-
schen, insofern er seine Handlungen und Unterlassungen
als Objecte denkt, zwischen denen als zu ergreifenden er
wählen könne, oder insofern er seinen Willen selber macht
und zusammensetzt, also in Wahrheit als Herr und freier
Schöpfer dieser seiner Gedanken-Creatur gegenüberstehend
gedacht wird.
[[167]]
DRITTER ABSCHNITT.
EMPIRISCHE BEDEUTUNG.
§ 33.
Wenn wir nun versuchen, durch diese Kategorieen
die erkennbaren Eigenthümlichkeiten der Menschen zu be-
greifen, so ergeben sich, wie durch den ersten Anblick,
etwan folgende Bemerkungen. Zuerst gewahren wir in
grossen Zügen den psychologischen Gegensatz der Ge-
schlechter. Es ist eine verbrauchte Wahrheit, um so mehr
aber wichtig, als der Niederschlag einer allgemeinen Er-
fahrung: dass die Weiber durch ihr Gefühl zumeist sich
leiten lassen, die Männer ihrem Verstande folgen. Die
Männer sind klüger. Sie allein sind des Rechnens, des
ruhigen (abstracten) Denkens, Ueberlegens, Combinirens,
der Logik fähig; die Weiber bewegen sich in der Regel
nur auf sehr mangelhafte Weise in diesen Bahnen. Also
fehlt ihnen die wesentliche Voraussetzung der Willkür. Es
ist nicht richtig, dass erst durch (abstractes) Denken und
durch Willkür die Menschen zu eigentlicher Activität,
zur Unabhängigkeit von der Natur und zu irgend welcher
Herrschaft über dieselbe gelangen; richtig ist, dass die
Activität Willkür nothwendig macht und entwickelt und
dass sie mit Hülfe derselben ins Grenzenlose sich steigert.
[168] Nun aber ist, nicht erst unter den Menschen, sondern
wenigstens auch bei den oberen Säugethieren und überall,
wo das weibliche Thier einen grossen Theil seiner Zeit und
Sorge der Brut widmen muss, eben dadurch das Leben
des Männlichen activer, weil ihm die Nahrungssorge an-
heimfällt und als Kampfarbeit vorzüglich jene, welche zu
Angriff und Raub nothwendig ist, ja um den Erwerb des
Weibchens selber er seine Rivalen zu tödten sich bemühen
muss. Als Jäger aber und als Räuber ist er in die Ferne
zu spähen und zu horchen angeregt: er übt diese activsten
und selbständigsten Sinnesorgane, schärft sie für die Wahr-
nehmung entfernter Dinge und macht ihren Gebrauch eben
dadurch willenshafter, d. i. mehr von dem eigenen Gesammt-
zustande und weniger von unmittelbar empfangenen Ein-
drücken abhängig (was die gewöhnliche und physiologische
Sprache eben als »willkürlich« bezeichnet). (Das Gesicht
aber ist in weit höherem Grade als das Gehör für solche
Verbesserung und Spannung geeignet.) So wird ein Mann
eher der activen und eigenen Perception und Apperception
fähig, welche den Stoff der Eindrücke wie mit Greiforganen
anfasst und zurechtmacht, die gegebenen Stücke und Zeichen
synthetisch zu ihrem Ganzen gestaltet. Und dies ist es,
diese wache Aufmerksamkeit, wodurch — wie schon
gesagt worden — der Verstand oder das animalische Ge-
dächtniss wächst und sich ausbildet: ein Organ, dessen
Anlage dann, durch jede Generation vollkommener, auch
auf das weibliche Geschlecht vererbt zu werden tendirt.
Wenn nun zwar die Thätigkeit desselben noch keineswegs
Denken ist, so ist sie doch eine Vorbereitung dazu, insofern
als eine intellectuale Thätigkeit, welche unabhängig von
den unmittelbaren Antrieben des Lebens (ohne Mitbewe-
gungen), und unabhängig von den gerade empfangenen
Eindrücken vollzogen werden kann (nämlich was Verstand
aus eigenen Vorräthen zu den empfangenen und wirksamen
Reizen hinzuthut, wodurch dann es wahr ist ὅτι νοῦς ὁρᾷ
καὶ νοῦς ἀκούει, τἆλλα κωφὰ καὶ τυφλά: mentem esse quae
videt, mentem quae audit, reliqua surda esse et caeca). Denn
die mit solcher wachen Aufmerksamkeit geschehende Ver-
gleichung von Daten, welche blos vermöge der mit Wort-
[169] zeichen operirenden Erinnerung wahrnehmbar sind, ihre
Auflösung und Zusammensetzung, macht das eigentliche
(oder abstracte) Denken aus; und macht Willkür aus, wenn
die Daten wollbare Handlungen und deren, wahrscheinliche
oder gewisse, Wirkungen sind, und der Gedanke eines be-
stimmten Wollens gewählt (ergriffen) oder gebildet wird,
als reine Folge des Denkens an eine (davon total verschie-
dene) solche erwünschte Wirkung. Je mehr nun ein des-
gleichen Erfolg in der Zukunft verborgen liegt, desto mehr
gehört eine geistige Fernsicht, in die Zeit vorausgehend
anstatt in den Raum, dazu um anderes Gedachte daran
zu messen, danach zu richten. Und diese Fernsicht muss
der Mann schon üben, weil ihm die Führung und Leitung
wenigstens in allem nach aussen gehenden gemeinsamen
Wirken obliegt: als welche ihm zunächst als Stärkerem
und Kämpfer natürlich ist, auch als dem Beweglicheren,
Hurtigen, denn das Weib ist dagegen sesshaft und schwer-
fällig zu nennen. Aber ein Wanderer, und besonders der
vorausgehend Lenkende, bedarf der Fernsicht: Umsicht und
Vorsicht, in jedem Sinne, er muss endlich zu urtheilen
sich gewöhnen und lernen: entscheidend was, im Hinblick
auf gegebene Umstände, zu thun das Richtige sei. Aus
dem Vorgefühl nahenden Uebels entwickelt sich Ver-
muthung, aus Zeichen werden Argumente, Kenntniss gleicher
Gefahren bestimmt Pläne. Ebenso muss der Führer den-
ken, wie er die Ordnung im Inneren seiner Gruppe, seines
Zuges, erhalten soll. Streit-Entscheidung fordert und züchtet
die Eigenschaften, welche den Richter auszeichnen: die
Wage ist das Symbol der Gerechtigkeit, als die objectiven,
wahren und wirklichen Verhältnisse von Thun und Leiden,
Haben und Schulden, Rechten und Pflichten ergebend.
Denn insonderheit auch, wofern es gilt, dass Jedem das
Seine zukomme, zu geniessen und zu ertragen, da ist Ver-
gleichung von Grösse, Schwere, Nützlichkeit, Schönheit,
einzelner oder zu einzelnen gemachter Dinge, von erbeuteten
Thieren oder Menschen, von Grundstücken oder Geräthen,
nothwendig. Und aus allgemeiner Vergleichung gehen die
besonderen formalen Thätigkeiten: Messen, Wägen, Rech-
nung aller Art hervor; welche alle mit der Bestimmung
[170] von Quantitäten und den Verhältnissen derselben zu ein-
ander zu thun haben. Hierauf kömmt aber auch das cau-
sale Denken, insofern als es ein vorhergehendes Ereigniss mit
einem nachfolgenden in Bezug auf ihren objectiven Inhalt
— wir sagen nunmehr: in Bezug auf die Menge ihrer
Energie — einander gleichsetzen wird. Und darauf beruhet
jedes wissenschaftliche Verfahren, wie solches, seinen Rudi-
menten nach, auch eingeschlossen liegt in allen praktischen
Betrieben und Künsten, wenn auch hier überall mehr un-
mittelbare Anschauung und Gefühl für das Richtige als
discursive Erkenntniss und Bewusstheit der Verhältnisse
und der Regeln erfordert wird. Aber man pflegt anzu-
nehmen, dass diese immer das ursprünglich Gegebene sei,
jenes allmählich durch mit einander verwachsende Associa-
tionen daraus entstehe. Diese Theorie bleibt hier — wie
auch aus der früheren Erörterung sich ergibt — nur in
erheblich modificirter Geltung bestehen. Denn jene Er-
kenntniss ist schon etwas Anderes, wenn sie von einem
a priori bereiten Gemüth und aus sich selber gebildetem
Talent, gleichsam getrunken wird, etwas Anderes, wenn
ohne solche Voraussetzung äusserlich angeeignet, angefasst
und gebraucht. Von der ersten Art ist sie einer Leier
gleich, welche der Kundige spielt; von der anderen einem
Leierkasten, welchen der Beliebige drehend in Bewegung
setzt. Also ist es auch mit dem Wissen der Gerechtigkeit:
entweder es ist, schon nach seiner Natur, ein Zusammen-
leben damit durch innere Ueberzeugung und lebendigen
Glauben; oder sie ist ein todter Begriff und bleibt es: dessen
man sich bemächtigt hat, und ihn zur Anwendung bringen
mag. Das Eine ist des Edlen Sache; das Andere Sache
eines Jeden. Indessen hierüber ist Vieles gesagt zu werden
übrig.
§ 34.
In den Zusammenhang kehrt aber folgende Betrach-
tung zurück. Wenn dem Manne der Vorzug der Klugheit
zugeschrieben wird, so ist jedoch Klugheit keineswegs gleich
mit intellectueller Kraft überhaupt. Insofern als diese pro-
ductiv ist, synthetisch, so ist vielmehr der weibliche Geist
[171] bedeutender darin. Denn wie in der männlichen Constitu-
tion das musculöse, so scheint in der weiblichen Constitution
das nervöse System zu überwiegen. Ihrer passiveren, stetigen,
in engem Kreise sich bewegenden Thätigkeit gemäss, sind
sie im Allgemeinen empfänglicher und empfindlicher für die
Eindrücke, welche ungesucht, unerwartet von aussen heran-
kommen: lieber das nahe gegenwärtige fortwährende Gute
geniessend, als nach entferntem zukünftigem seltenem
Glücke strebend. Um so entschiedener, leidenschaftlicher
reagirt ihr Wille auf angenehme und unangenehme Ver-
änderungen seines Zustandes: daher denn Sinnlichkeit, als
diese bejahenden und verneinenden Gefühle vermittelnd und
also als Fähigkeit der Unterscheidung des Guten und Bösen,
des Schönen und Hässlichen, sich in einer Weise ausbildet
und verfeinert, die mit der Erkenntniss von Gegenständen
und Vorgängen (der objectiven Erkenntniss) durchaus nicht
zusammenfällt. Diese wird (schon als Wahrnehmung) vor-
züglich durch angespannte Thätigkeit des Auges, demnächst
des Ohres, unter Hülfe des Tastsinnes, gewonnen; jene
gehört zunächst (ausser dem Gemeingefühl) den besonderen
Organen des Geruchs und Geschmackes an und bedarf nur
der passiven Apperception. Sie ist Sache des Weibes, mithin
alles das unmittelbare Verhältniss zu den Dingen, welches
den Wesenwillen bezeichnet. Und alle Thätigkeit, welche
in unmittelbarer Weise, sei es ursprünglich, oder durch
Gewohnheit und Gedächtniss, als Folge und als Artung des
Lebens selber sich äussert; daher alle Ausdrücke, und Aus-
brüche der Gesinnungen, der Gemüthsbewegungen, der
Gedanken, welche das Gewissen eingibt: dies ist dem Weibe,
als dem in jedem Bezuge natürlicheren Menschen, eigen-
thümliche Wahrhaftigkeit und Naivetät, Unmittelbarkeit
und Leidenschaftlichkeit. Und hierin beruhet die Produc-
tivität des Geistes, der Phantasie, welche durch die Feinheit
des wählenden Gefühles, des »Geschmackes«, zur künst-
lerischen Productivität wird. Wenn auch dieselbe, um
grosse Werke leisten zu können, zumeist männlicher Kraft
und Klugheit bedurft hat, sehr oft auch der (egoistischen)
Motive, welche des Mannes Thatkraft anspornen und erhöhen;
so pflegt doch das beste Theil, der Kern des Genies, ein
[172] mütterlich Erbe zu sein. Und der allgemeinste künstlerische
Geist im Volke, wie er in Schmuck, Gesang, Erzählung sich
äussert, wird durch Mädchensinn, Mutterlust, weibliches
Gedächtniss, Aberglauben und ahnendes Wesen getragen.
So bleibt auch der geniale Mensch in vielen Stücken eine
frauenhafte Natur: naiv und aufrichtig, weich, zartfühlend,
lebhaft, in Stimmungen und Launen leicht wechselnd, heiter
oder melancholisch; dazu träumerisch und schwärmend, ja
wie in einem beständigen Rausche dahinlebend, den Dingen
und den Menschen mit Glauben und Vertrauen sich er-
gebend; daher unabsichtlich, ja oft blind und thöricht, in
leichtem wie in schwerem Sinne. Hieraus folgt, dass ein
so Begeisterter, unter den eigentlichen Männern, denen des
trockenen, geschäftsmässigen Ernstes, unverständig, ja dumm,
oder albern, närrisch, wahnwitzig erscheinen kann: wie
unter Nüchternen der Trunkene. Und nicht viel anders
kömmt Solchen, wenn ihr Urtheil völlig unbefangen bleibt,
das Gebahren und Wesen eines echten Weibes vor: sie
verstehen es nicht, es ist ihnen absurd. — In Wahrheit ist
der geniale Mensch mit denjenigen ausgeprägten Eigen-
schaften angethan, welche bei allen redenden Geschöpfen
irgendwie angedeutet sich finden; er kömmt dem Typus
des vollkommenen Menschen, welchen wir hieraus als ein
Idealbild gestalten mögen, am nächsten. Denn Muskelkraft
und Muth zeichnet schon Thiere unter Thieren aus; Gehirn-
kraft und Genie ist der menschlichen Gattung, auch als
Möglichkeit, vorbehalten. Der geniale Mensch ist der
künstlerische Mensch; er ist die entwickelte Gestalt (die
»Blüthe«) des natürlichen (einfachen, wahren) Menschen.
Hingegen was über ihn hinausgeht, durch absichtliches und
bewusstes Thun und Treiben, ist der künstliche Mensch,
d. h. in welchem das Gegentheil des natürlichen erscheint:
als ob er aus sich selber einen anderen gemacht habe,
welchen vor sich her zu tragen ihm nützlich und gut dünkt.
Wenn das Weib dem natürlichen, der Mann dem künstlichen
Menschen, ein jedes seiner Idee nach, ähnlicher sieht, so
ist der Mann, in welchem Wesenwille vorherrscht, noch
vom weiblichen Geiste umfangen; durch Willkür macht er
sich davon ledig und steht erst in seiner blossen Mannheit
[173] da; und das willkürliche Weib ist, in dieser Reihenfolge,
das späteste Phänomen; als welches der freie männliche
Geist sich wiederum gleich gemacht hat. — Uns Allen
kömmt es wohl an, das Un-Bewusste des Weibes, die ge-
heimnissvolle Tiefe seines Wesens und Gemüthes, die fromme
Einfalt seiner Seele zu preisen: wir ahnen zuweilen, was
wir verloren haben, wenn wir kalt und berechnend, flach
und aufgeklärt geworden sind. Und doch bewähret sich
auch hier, dass die Natur ihre Zerstörungen nur vollbringt,
um die werdekräftigen Elemente zu neuem Leben gedeihen
zu lassen. Denn so gewinnt der Mensch, durch reinste
und höchste Erkenntniss, wo ihm Wissenschaft zur Philo-
sophie wird, jene Freude der Anschauung und Liebe zurück,
welche ihm durch alle Arten der Reflexion und des Strebens
verdorben war. Aber diese Aussicht geht über die Grenzen
der hier abgesteckten Betrachtung hinweg. — Wenn wir
hingegen die bezeichneten Antinomieen mit Anlehnung an
die früher geordneten Begriffe darstellen wollen, so ergibt
sich, dass
das Temperament
des Weibes:
durch Gesinnung
des Mannes:
durch Bestrebung
der Charakter
des Weibes:
durch Gemüth
des Mannes:
durch Berechnung
die Denkungsart
des Weibes:
durch Gewissen
des Mannes:
durch Bewusstheit
im Allgemeinen ihre Bestimmtheit und Prägung erhalten. —
Was aber jene Gesammtausdrücke des Wesenwillens be-
trifft, welche ausserhalb dieser Gegensätze hingestellt worden
sind, so können Leidenschaft und Muth in einem analogen
Verhältnisse, wie Genie zur weiblichen und zur männlichen
Natur gedacht werden: jedoch so, dass das Leidenschaftliche
(το επιϑυμητικον), als dem vegetativen Leben und der Repro-
ductionskraft entsprechend, in jener, in dieser das Muthige
[174] (το ϑυμωτικον) als zum animalischen Leben und zur Irri-
tabilität gehörig, am stärksten vorhanden ist: Leidenschaft,
ihrem Begriffe nach passiver Wille, ist im Manne activer;
Muth, seinem Begriffe nach activer Wille, ist im Weibe
(als Geduld, Standhaftigkeit) mehr von passiver Art. Genie,
der geistige Wille (το νοητικον), hat an beiden Charakteren
einen gleichmässigen Antheil; im weiblichen Wesen be-
ruhend, vollendet er sich im männlichen: er ist so viel
inneres, dunkles, passives, als äusseres, helles, actives Leben
und Denken.
§ 35.
Auf gleiche Weise aber wie Weibliches und Männ-
liches, in den meisten dieser Beziehungen, verhalten sich
Jugend und Alter. Das jugendliche Weib ist das eigent-
liche Weib; das alte Weib wird dem Manne ähnlicher. Und
der junge Mann hat noch des Weiblichen viel in seinem
Wesen; der gereifte, ältere Mann ist der wahre Mann. So
gehören denn Frauen und Kinder zusammen, als von
gleichem Geiste, und einander leicht verstehend. Kinder
sind naiv, harmlos, leben im Gegenwärtigen, durch die
Natur, das Haus, und durch den Willen der Liebenden und
Pflegenden, in ihrer Lebensweise und ihrem einfachen
Berufe bestimmt. Das Wachsthum oder die Auswickelung
der in ihnen schlummernden A [...]n — Neigungen und
Fähigkeiten — macht den eigenth [...] [...]alt ihres Daseins
aus. Dadurch erscheinen sie als wahre unschuldige
Geschöpfe, d. i. als auch was sie Uebels thun aus einem
ihnen fremden, in ihnen mächtigen Geiste wirkend. Erst
durch das Denken und Wissen oder das Gelernt-Haben
des Richtigen und der Pflicht, also durch Gedächtniss und
Gewissen, wird der Mensch er selber und wird verant-
wortlich, d. h. weiss was er thut. Aber doch findet dies
erst seine vollkommene Erfüllung, wenn er mit kaltem
Blute, mit Vor-Bedacht gehandelt hat, zu seinem eigenen
Vortheile, ganz als ein Vernünftiger. Alsdann ist auch das
Gesetz und die Regel nicht mehr über und in ihm, sondern
unter und ausser ihm, er befolgt es nicht, weil und wann
[175] er auf andere Weise besser zu seinem Ziele zu kommen
meint; und er nimmt die Folgen seiner Uebertretung auf
sich: als gewisse oder als wahrscheinliche. Er kann sich
verrechnen; und er kann thöricht zu schelten sein, weil er
eine Art von Uebeln der anderen, eine geringere Art von
Gütern der besseren Art vorzieht, vielleicht kömmt er sich
selber so vor, und bereut, wenn er sein Ziel erreicht hat.
Aber, da er überlegte und sich entschied, konnte er (der
Voraussetzung nach) nur mit seiner eigenen Denkkraft über
die ihm bewussten und zu Gebote stehenden Data verfügen.
Die denkende Beurtheilung derselben war seine eigentliche
Thätigkeit: er konnte sie anders beurtheilen: nicht wenn
er wollte, sondern wenn seine Erkenntniss grösser und
weiter gewesen wäre, so hätte er es können. Die Berich-
tigung und Verbesserung der Einsicht bleibt daher das
alleinige Wünschenswerthe: um ein klügeres und also dem
Subjecte besseres Handeln zu bewirken. Durch das unbe-
fangene, rechnende Denken wird der Mensch frei, nämlich
von den Impulsen, Gefühlen, Leidenschaften, Vorurtheilen,
welche ihn sonst zu beherrschen scheinen, frei. So nimmt
denn, mit steigendem Alter, die Leidenschaft der Liebe und
Freundschaft ab, auch Hass und Zorn und Feindschaft.
Aber freilich: in weitem Umfange werden doch diese
selbigen Empfindungen erst lebendig durch die Bedingungen
vermehrter Jahre: wie die Geschlechtsliebe, und ihr Correlat,
die Eifersucht. Ferner [...]ird erst durch die Dauer der Zu-
stände Gewohnhe[it] und das bleibende, wachsende Gefühl
ihres Werthes eine mächtige Potenz, welche Menschen an
Menschen knüpft. Vollends gilt dasselbe, wenn die intellec-
tuelle Entwicklung und Reife in Betracht genommen wird.
Daher wird der Leidenschaftliche, sofern seine Leiden-
schaften Begierden sind und auf ihre Befriedigung und
Stillung nothwendiger Weise ausgehen, leichter und mit
minderer Rücksicht auf andere Motive, die in ihm noch
schwach sind und ihn weniger hemmen, seine vorhandene
Fähigkeit zu listigem, Pläne machendem Denken anwenden
können; also der Junge eher als der Alte. Auch wird er
leichter Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen, um
seine Zwecke zu erreichen, da ihm der jugendliche Muth,
[176] der als solcher unbesonnen ist, zu Hülfe kömmt. Jedoch:
die hauptsächliche Bedingung für ein reines willkürliches
Verfahren bleibt immer die Unabhängigkeit des denkenden
Gehirnes, und sein Reichthum, wodurch es über eine
Fülle gesammelter Erfahrung, hieraus gebildeter und von
aussen angeeigneter Wissenschaft verfügt, klug geworden,
seinen d. i. seines Leibes und Lebens Nutzen erkannt hat.
Und dies ist der Zug, welcher dem Alten eigenthümlich
ist, zumal wenn seine Angelegenheiten und Gedanken alle
auf bestimmte, einfache Ziele, welche durch Klugheit er-
reichbar scheinen, sich concentriren: wie ganz besonders
die Vermehrung der Habe oder Erhöhung der Geltung,
des Einflusses, der Ehre solche natürliche Ziele sind, als
Dinge und Freuden, die unter allen Umständen und allen
Menschen willkommen sind, aber ihren ausschliesslichen
Werth und Reiz erst gewinnen, wenn sie 1) schon genossen
worden sind, also bekannt sind, und 2) nachdem andere,
minder besonnene und vernünftige Liebhabereien, die dem
jüngeren Menschen »in den Gliedern sitzen«, alle jene Er-
scheinungsformen der ursprünglichen, übersprudelnden Irri-
tabilität und Lust zu leben, zu kämpfen, zu spielen (wie man
sagt) ausgetobt haben, stille geworden sind. So ist das bedeu-
tende Wort zu verstehen, welches, auch sonst dieser Be-
trachtung vielfach hingegeben, Goethe als ein Motto er-
wählte, dass »was man in der Jugend sich wünscht, hat
man im Alter die Fülle«, nämlich (so wird diese Idee sich
erläutern) die Mittel und Methoden des Glückes; hingegen
der wirkliche Genuss desselben und seine innere Bedingung
ist die Jugend selber und was ihr angehört, durch keine
Künste wiedergewinnbar.
§ 36.
Während nun der Gegensatz der Geschlechter ein
beharrender und starrer ist, ebendarum auch nur in seltenen
Fällen vollkommen ausgeprägt gefunden wird: so ist der
Gegensatz der Lebensalter wohl entschiedener, aber zugleich
ganz und gar fliessend und kann nur in Entwicklung beob-
achtet werden. Und während jener im vegetativen Leben
[177] wurzelt, dessen Einfluss so viel mächtiger sich erhält im
Weibe, so bezieht sich dieser hauptsächlich auf das anima-
lische Leben, welches zwar auch, insofern es im Manne
bedeutender ist, der Betrachtung auffallend war, aber ganz
besonders, als überwiegend, die absteigende Hälfte eines
normalen Lebenslaufs der aufsteigenden gegenüber aus-
zeichnet; mithin eines männlichen Lebenslaufs um so mehr.
Also ist dort die Antinomie von Gesinnung und Bestrebung,
hier von Gemüth und Berechnung vorwaltend. Der dritte
Gegensatz, welcher hier der Erörterung vorliegt, bewegt
sich vorzüglich im mentalen Gebiete; er betrifft die
Denkungsart, das Wissen. Es ist der Gegensatz zwischen
den Menschen des Volkes und den Gebildeten. Er ist
ein starrer, gleich dem ersten, indem er ganze Classen
unterscheidet, und doch ein fliessender, insofern als die-
selben nur künstlich bestimmt werden können und fort-
währende Uebergänge aus der einen in die andere statt-
finden, zahlreiche Zwischenstufen immer angetroffen werden.
Seine Gültigkeit ist auch dem oberflächlichen Beobachter
erkennbar und wird doch schwer in ihrem begrifflichen
und wahren Sinne verstanden. Doch müssen wir sagen:
nur im Volke ist das Gewissen wirklich lebendig. Es
ist ein gemeinsames Gut und Organ, das doch von dem
Einzelnen auf besondere Weise besessen wird. Von dem
allgemeinen Willen und Geiste, der überlieferten Denkungs-
art abhängig, wird es als Anlage dem Geborenen vererbt,
es wächst mit dem gesammten Denken und als wesentlicher
Inhalt des Gedächtnisses in Bezug auf die eigenen Instincte
und Gewohnheiten, daher als Bestätigung und Heiligung
der empfundenen und wachsenden Liebe zu den Nächsten,
als Gefühl für das eigene und Geschmack in Bezug auf
das fremde Gute und Böse: dort das Natürliche, Gewöhn-
liche, Gebilligte; hier das Widernatürliche, Sonderbare,
Getadelte; daher im Ganzen, im Kreise der Menschen, auf
welche sich ursprünglich allein seine Wirkungen erstrecken,
Freundlichkeit und Artigkeit als Gutes, Widerstreben,
Zornigkeit, Muthwille als das Böse, insbesondere aber
gegenüber den Aelteren, Stärkeren, Gebietenden, der Ge-
horsam und die vollkommene Ergebung in ihren Willen,
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 12
[178] und hingegen Ungehorsam, Eigenwille, Täuschung. Alles
solches Gefühl wird sodann vermehrt und gefördert durch
Beispiel und Lehre, durch Erweckung von Furcht und
Hoffnung, Erziehung zu Ehrfurcht, Vertrauen und Glauben.
So auch erweitert und verfeinert in Anwendung auf höhere,
allgemeinere Autoritäten und Mächte, die Würdenträger und
Edlen in der Gemeinde und die Gebote des Herkommens,
welche sie vertreten; endlich und zumal den unsichtbaren,
heiligen Göttern und Dämonen geweiht. Nun aber kann
dieser fromme Wille des Gemüthes schon im Kinde sowohl
verkümmern als sich entwickeln, sowohl zurückgebildet als
ausgebildet werden, wenn alle die mannigfachen günstigen
Bedingungen ihm versagt werden, und zumal bei schwacher
oder fehlerhafter Anlage. Und um so mehr, je geringer
es geworden ist, desto leichter wird es den ihm feindlichen
Kräften im Kampfe des Lebens erliegen, und so wird es
von dem Willkürlichen als Hemniss aus dem Wege geräumt,
indem er es als einen Complex von Vorurtheilen zu er-
kennen und in seine Elemente aufzulösen beflissen ist.
Aber erst der Gebildete, Wissende, Aufgeklärte, — in
welchem es, sofern er ein Edler, Erzogener, Denkender ist,
auch zu seiner höchsten Entfaltung, seiner zartesten Blüthe
gelangt — kann es auch vollkommen und auf radicale
Weise in sich vernichten, indem er von dem Glauben seiner
Väter und seines Volkes, aus Einsicht in dessen Gründe,
sich lossagt und besser begründete, wissenschaftliche Mei-
nungen über das, was für ihn und etwa auch für jeden
so Vernünftigen erlaubt und richtig oder verboten und
falsch sei, an die Stelle zu setzen versuchen kann; ent-
schlossen wie er ist, berechtigt wie er sich hält, nicht nach
blinden und dummen Gefühlen, sondern allein nach deutlich
begriffenen Gründen seine Handlungen einzurichten. Und
solche willkürliche, eigene Lebensansicht ist dasjenige, was
hier als Bewusstheit verstanden wird. Bewusstheit ist
die willkürliche Freiheit in ihrem höchsten Ausdrucke und
wird, wenn missfallend, »Frechheit« geheissen.
[179]
§ 37.
Das Gewissen dagegen erscheint am einfachsten und
tiefsten als Scham: ein Widerwille, gewisse Dinge zu thun
oder zu sagen, ein Unwille über sich selber, ja möglicher
Weise auch über Andere, deren Gebahren man wie das
Seinige empfindet, nach geschehenem Argen. Als Wider-
wille oder Scheu ist sie der Furcht, als Unwille oder Ent-
rüstung dem Zornesmuth verwandt, und ist immer eine
Mischung aus beiden Affecten, ob vorher oder nachher auf-
tretend. Scham ist zuvörderst Einhüllung, Verbergung,
Verheimlichung; Scheu vor dem Nackten, Offenbaren, Be-
kannten; daher in sonderlichem Bezuge auf das geschlech-
tige, eheliche, häusliche Leben, Weibern und zumal Jung-
frauen, Kindern und auch Jünglingen vorzüglich eigen, und
als ihre Zier geachtet; eben darum weil, und insofern als
es ihnen gewohnt ist und zukömmt, in engem Kreise und
in abhängigem, ehrfürchtigem, bescheidenem Verhältnisse
zu leben, gegen Gatten oder Mutter oder Vater oder Lehrer.
Wer ein Herr ist, wer auf die Strasse und den Markt, ins
öffentliche Leben und die Welt hinaustritt, muss diese
Scham in einigem Maasse überwinden oder doch sie ver-
wandeln in eine neue Gestalt. Stets ist sie eine Kraft des
Wesenwillens, welche zurückhält, verwehrt, wozu andere
Antriebe drängen möchten, und zwar als anerkannte Herrin,
als unbedingter Weise gültige Auctorität, welche immer
Recht hat, immer Recht behält. Man darf nicht Allen
zeigen und sagen und thun, was Einigen zu offenbaren
gehörig ist; noch von Allen erdulden, was von Einigen
man sich gern gefallen lässt, als Gewohnheit liebt, ja als
Gebührendes verlangt. Scham erstreckt sich von dem natür-
lich Ekelhaften, insgemein Missfallenden auf das Verbotene
schlechthin: was als über die Grenzen der eigenen Freiheit,
eigenen Rechts hinausgehend, als Uebertretung und Unrecht
wirklich empfunden, gedacht und gewusst ist; daher alles
unbescheidene, unmässige, schrankenlose Thun und Reden.
In dieser Beziehung also ist es nicht fremder Wille, der
auf An- und Eingriff in sein Gebiet verneinend zurück-
wirkt; auch nicht allein irgend ein gemeinschaftlicher
Wille, welcher Jedem das Seine zuweist und was Keinem
12*
[180] frei steht, schon darum nicht geben und erlauben kann,
weil er es nicht hat; der aber allen Uebertretungen
wehrt, insofern als sie wider seine Bestimmungen sind;
sondern es ist wenigstens zugleich eine Gestaltung des
eigenen Wesenwillens, welche mit dem gemeinschaftlichen
Willen übereinstimmt, gegen eine Gestaltung desselben
Wesenwillens, oder gegen die Willkür, welche in eine
andere Richtung strebt. Scham ist hier entweder die mit
Schmerz empfundene eigene Missbilligung und die der
Genossen oder die Furcht davor, gleich jeder Furcht ein
vorausgefühlter Schmerz. Als Schmerz aber ist sie eine
Verminderung der eigenen Kraft, ist empfundene Ohnmacht,
Geringheit: darum wer der Schande theilhaftig wird, findet
sich als Erniedrigten, Verletzten, Besudelten; die Heilheit
und Schönheit seines geistigen Leibes, seiner Ehre, ist
nicht mehr unversehrt: denn diese wird als Realität em-
pfunden und gedacht, da sie der Wesenwille selber ist, in-
sofern als derselbe Antheil hat an dem Guten, welches in
einer Gemeinschaft geglaubt wird, als er mithin gut ist,
und durch sein Sein auch gut erscheinen muss. Folglich:
wer das Schändliche thut, thut es sich selber zuwider. Dies
ist die ursprüngliche und auch die ausgebildete Idee der
Moralität, bis etwa der Mensch als Individuum und als
blosses Subject seiner Willkür vorgestellt wird. Solcher
natürlicher Grund kann auch so bezeichnet werden: Nie-
mand mag in üblem Geruche stehen, er ist dadurch sich
selber ekelhaft und ein Schlechterer; ja, die sinnliche Be-
deutung dieses Wortes enthüllt den Kern derjenigen Ver-
richtungen, auf welche das Schamgefühl ursprünglicher
Weise sich bezogen hat und noch bezieht. Die Umkehrung,
in welcher moralische Begriffe conventionell werden und
erstarren, sagt: im gesellschaftlichen Leben, welches dir
nützlich, ja für deine Zwecke nothwendig ist, musst du
deine Freiheit aus Rücksicht auf die Freiheiten der Anderen
einschränken, insonderheit aber, um dein Gebiet zu be-
wahren und etwan auch zu erweitern, in ihrer Achtung und
Furcht, als den Meinungen von deiner Stärke, dich erhalten,
darum auch moralisch gut und edel, ehrlich und gerecht
scheinen,wenn einmal und so lange als auf den Schein
[181] dieser Qualitäten Werth gelegt wird; es kann aber nur
auf den Schein der Werth gelegt werden, wenn jedes Mit-
wesen an sich selber denkt und um ihrer übrigen Wir-
kungen willen, theils im Allgemeinen, theils für sich,
solche Qualitäten schätzt; wo denn, da dieselben Wir-
kungen ganz verschiedenen Motiven (aus Wesenwillen oder
aus Willkür) entspringen können, die wirklichen Ursachen
gleichgültig sind, und nur zunächst die gewöhnlichen und
gewohnheitsmässig beliebten vorausgesetzt werden. Denn
allerdings: wenn nur auf dem Markte ein Jeder nach der
Maxime handeln will, dass Ehrlichkeit die beste Politik
sei, so kann es wohl gleichgültig sein, ob er ehrliche Ge-
sinnungen hege, und wenn nur im Salon einer auf
artige, demüthige, verbindliche Weise sich benimmt, so
genügt das, und nur Unerfahrene weigern sich, solches
Papiergeld anzunehmen, obgleich es wirklich durch Con-
vention den gleichen Werth mit barer Münze erhalten hat.
§ 38.
Und wie die Gesetze des Marktverkehrs nur äussere
Schranken einer von Natur grenzenlosen Bestrebung er-
richten, also der Salon einer durch und durch schamlosen
Sucht, sich geltend zu machen, über ein gewisses Maas
hinauszugehen verwehrt. Solche Beschaffenheit der ge-
gebenen Regeln muss um so mehr offenbar werden, je mehr
solche gesellschaftliche Cirkel nach ihren immanenten Prin-
cipien sich entwickeln, mithin von ihren gemeinschaftlichen
Ursprüngen sich entfernen. Das willkürliche Subject, wel-
ches alsdann in beiden zum Vorschein kommt, hat in der
That gar keine Qualitäten, sondern nur eine mehr oder
minder grosse Wissenschaft in Betreff seiner Zwecke und
ihrer richtigen Verfolgung. Kenntniss von Objecten ist die
nothwendige Bedingung des Strebens danach, und Kenntniss
der verfügbaren oder erreichbaren Mittel Voraussetzung für
ihre Benutzung. Daher bedeutet Erweiterung der Kenntniss
Vermehrung und Vermannigfachung der Begierden, und je
klarer und sicherer das Wissen, dass ein gegebenes Mittel
zum Ziele führen werde, desto leichter wird das Wider-
[182] streben, die Scrupulosität, sofern noch dergleichen übrig ist,
überwunden. Die Scham ist Thorheit für denjenigen, der
da weiss, was er thut, der also seine Handlungen abwägt
und ihren Werth misst an ihrem Erfolge, dem gewissen
oder wahrscheinlichen; wenn er also erwartet, dem Tadel
der Anderen zu begegnen, so wird er untersuchen, ein wie
grosses Uebel dieses für ihn sei und ob nicht 1) der Schmerz,
2) der Schade, d. i. der bewirkte zukünftige Schmerz, durch
die zugleich sich ergebenden Vortheile mehr als aufgewogen
werden. Es gibt kein absolutes Uebel, ausser dem Abs-
tractum: Schmerz, und kein absolutes Gut, ausser dem
Abstractum: Lust. Scham aber ist trotzig und setzt abso-
lutes Verbot, absolute Missbilligung gewissen Neigungen
entgegen. Und so ist zu verstehen, wie dieselbe dem Ge-
bildeten, Bewussten unangemessen sei. Wenn man nun
aber der Thatsache sich erinnert, dass die Scham ihre tiefste
Kraft gewinnt als Scham der Sünde und Sündhaftigkeit,
und dass überhaupt Gewissen seinen gedankenhaften
Ausdruck und seine Stütze findet im religiösen Glauben;
so wird erst deutlich, wie der jetzt bezeichnete Gegensatz
hauptsächlich auf die Denkungsart sich erstreckt und schein-
bar eine blos theoretische Bedeutung gewinnt; wie denn
allerdings aus dem Unglauben des Individuums seine Ge-
wissenlosigkeit nicht folgt. Aber die Zerstörung des Glau-
bens als des objectiven Gewissens macht das subjective
Gewissen zu einem schwachen Widerstande. Ueber die
Wurzeln kann man noch stolpern, wenn man den Baum
niedergeschlagen hat; aber man wird nicht mehr mit dem
Schädel dawiderrennen. Nun ist der Glaube ebenso sehr
volksthümlich, als der Unglaube wissenschaftlich und gebildet
ist. Wenn daher ein Dichter und Seher als das eigent-
liche Thema der Welthistorie den Kampf zwischen
Glauben und Unglauben bezeichnet hat, so hätte er den-
selben erläutern mögen als einen Kampf zwischen dem
Volke und den Gebildeten. Und dieselbe Bedeutung hat
auch der Gegensatz des weiblichen und männlichen Ge-
schlechtes. Denn die Weiber sind gläubig, die Männer
ungläubig. Ja, wir werden ihn auch in den Lebensaltern
wiederfinden. Ist doch Frömmigkeit kindlich und bleibt
[183] auch dem anschaulichen, poetischen Natursinne des Jünglings
durchaus innewohnend; dagegen wird ein höheres Mannes-
alter zu selbständigem Zweifel, zu wissenschaftlichem Den-
ken tüchtiger und geneigt; wenn auch der beschauliche
philosophirende Greis zuweilen in die Heiterkeit und das
hingebende Vertrauen der Kindheit zurückkehrt, wo er sein
Herz in Enkeln erneuert findet. Und wie der Greis für
die Jugend, so sind in einem organischen Zusammenleben
Männer für Weiber, also die Wissenden und Weisen für
das Volk, so lange sie ihm nicht als Fremde gegenüber-
stehen, ehrwürdig und bedeutend. Des Greises ist die
Weisheit in Bezug auf die Jugend, des Mannes in Bezug
auf das Weib, und die volksthümlichen Lehrer und Ge-
lehrten wandeln als alte und gescheute Leute zwischen
bäuerlicher Einfalt und Frömmigkeit. So sind denn
alle diese Antithesen nur als mögliche Gegensätze zu
verstehen, welche das Leben ausgleicht, aber das Sterben
entwickelt.
§ 39.
Aus allem diesem gehet hervor, wie der Wesenwille
zu Gemeinschaft prädisponirt, die Willkür Gesellschaft her-
vorbringt. Und folglich ist auch die Sphäre des gemein-
schaftlichen Lebens und Arbeitens den Frauen vor-
züglich angemessen, ja nothwendig. Ihnen ist das Haus
und nicht der Markt, das eigene oder Freundes Gemach,
und nicht der Salon, die natürliche Stätte. Im Dorfe ist
die Haushaltung selbständig und stark, auch in der Stadt
bleibt sie als bürgerliche Haushaltung erhalten und bildet
sich zur Schönheit aus; aber in der Grosstadt wird sie
steril, eng, nichtig, und geht unter in den Begriff einer
blossen Wohnstätte, dergleichen überall, für beliebige
Fristen, um Geld zu haben ist; nicht anders als eine Her-
berge auf Reisen, in der Welt. Und alles Heimathliche
ist so weiblich als das Reisen unweiblich. »Ein ungewan-
derter Geselle ist so gut als eine gewanderte Jungfrau«
ging einst die Handwerkerrede. »Es ist kein ûsgên als
guot, ein inneblîben wêr denn besser«, dieser Spruch des
[184] Mystikers ist ein recht frauenhafter Gedanke. Alle ihre
Thätigkeit ist mehr ein Schaffen nach innen als ein
Wirken nach aussen. Dessen Zweck ist an ihm selber,
und nicht an seinem Ende. Darum scheinen die persön-
lichen Dienste so sehr des Weibes Bestimmung zu sein,
als welche sich in ihrem Dasein vollenden und nicht ein-
mal eine Sache als ihr Ergebniss haben können. So
stehen auch viele Arbeiten des Ackerbaues dem Weib
wohl an, und sind von je, in gesundesten Volkszuständen,
wenn auch oft im Uebermaasse, ihmzugefallen; denn Acker-
bau ist Arbeit schlechthin, ihrer selbst vergessene Mühe,
durch des Himmels Hauch angeregter Kraft; kann als eine
Dienstleistung an die Natur verstanden werden; dem Haus-
halte unmittelbar nahe und an Segen für ihn fruchtbar.
Ferner aber sind unter den Künsten die redenden weib-
licher als die bildenden; man sollte sagen: die tönenden.
Denn Musik, Gesang vor Allem, ist des Weibes Gabe; seine
hohe helle, weiche und geschmeidige Stimme ist Organ der
Vertheidigung und des Angriffs. Schreien und Kreischen,
Jubeln und Wehklagen, wie alles klangreiche, endlich in
Worten sich ergiessende Lachen und Weinen, bricht ihm
wie aus Felsen das Quellwasser aus der Seele. Und das
ist Musik, der laute, wie Mimik der stumme Ausdruck der
Gemüthsbewegung. Alle Musen sind Weiber und Ge-
dächtniss ist ihre Mutter. Zwischen Musik und Mimik
mitten inne steht der Tanz, jene so zwecklosen, so leiden-
schaftlichen und so anmuthigen Bewegungen, in welchen
auch die Tochter einer weichlichen Bildung Kräfte entwickelt,
deren planmässige Anstrengung ihr Todesmüdheit zu bringen
gewiss wäre. Aber wie leicht lernen sie auch alles Unsinnig-
Liebliche, Sinnreich-Wunderbare. Daher ihre Behaltsamkeit
für Formen, Riten, für alte Weisen und Sprüchwörter, für
Räthsel und Zauber, für tragische und komische Geschichten;
ihr Hang zur Nachahmung, ihre Lust an gefälliger Ver-
stellung und zu allem Spielerischen, Reizenden, Einfältigen;
aber auch die Neigung und Stimmung zu tiefstem schwer-
müthigem Ernste, zu frommem Schauder und zum Gebet,
zur ahnungsvollen Geberde, und, wie früher gesagt ward,
zum Träumen, Sinnen und Dichten. Gesang und Dichtung
sind in Ursprüngen Eins; aber auch Gesang und Rede
[185] werden erst allmählich unterschieden und jedes besonders
ausgebildet, und doch behält das eigentlich Rednerische
immer von den Intervallen und Cadenzen des Singens Vieles
übrig. (Dass aber die Sprache schlechthin, das natürliche
Verständniss des Inhaltes von Worten durch Mutterliebe
sei erfunden worden, haben wir schon zu vermuthen wagen
dürfen. Am mächtigsten gefördert, würde wohl richtiger
sein zu sagen; denn auch die Geschlechtsliebe hat einen
heftigen Antheil daran, schon von der Thierwelt her [man
erinnere sich des Darwin’schen Werkes], ja an dem Musi-
kalischen und eigentlich Pathetischen von Gesang und Rede
einen grösseren. Und eine wie viel schwerere, heiligere
Angelegenheit ist für die Frau solche Liebe als dem stre-
benden Jüngling. Auch die Schwesterliebe ist mittheilsam,
redselig, phantastisch. Und so ist überhaupt das Weib als
gesprächig oder geschwätzig von je berufen; wenn auch
viele sinnige es gibt, die im Denken geschwinder sind und
Schweigen für ihre Zier halten.) Unter den bildenden
Künsten — welchem Ausdruck eine weite Bedeutung ge-
lassen werde — sind die textilen, wie bekannt, schon
durch ihre häusliche Bestimmung dem weiblichen Sinne
am nächsten; eine Art der Arbeit, bei welcher das nahe
Gesicht, die emsige Sorgfalt, die genaue Wiederholung eines
Musters, treue geduldige Anhänglichkeit an überlieferten
Stil, aber auch die Freiheit in Erfindung und Darstellung
zierlicher Formen, bedeutungsloser Schnörkel, und die ganze
Intensität eines auf das Warme, Zarte, Behagliche gerich-
teten Geschmackes, lauter Tugenden und Freuden der
Frauenseele sind. So ist ihr auch die Abbildung des
Wirklichen, Gefallenden, Bewunderten, zumal diejenige
leibhaftig-lieber und schöner Gestalten, und zur Bewahrung
des Andenkens für die Anschauung ein rechtes
Liebewerk, wie denn die überaus feine hellenische Legende
von der Erfindung des Portraitmalens bekannt ist. Denn
freilich findet mit der schattenhaften Projection von Formen
in die Ebene — wovon auch die Schreibekunst abstammt
— das weibliche Genie seine Schranken, da Plastik wie
Tektonik eine massivere, bewusstere Phantasie und eine
stärkere Herrschaft über die Widerstände der Stoffe er-
fordern.
[186]
§ 40.
Solches alles ist Mannes Werk, welchem der Stoff
fremd, wenn nicht feindlich ist, den er umwandeln, wenn
nicht bezwingen muss. Und doch ist alle Arbeit dem
Wesenwillen angehörig, so lange sie nicht mit lauter Wider-
willen geschieht und dennoch um des Zweckes willen durch
Denken gewollt wird. So ist alle Arbeit ihrer Natur nach
gemeinschaftlich, aber andere mehr, andere weniger, taugt
dazu, als blosses Mittel begriffen zu werden; mehr weil sie
mit Bitterkeit gemengt ist, daher alle männliche und harte
eher als weibliche und weiche. Die Momente dieser Dia-
lektik sind mithin theils im Objecte, theils im menschlichen
Geiste enthalten. Aber alle Kunst entfällt ihrer Natur nach,
gleich den ländlichen und häuslichen Betrieben, in das
Gebiet der warmen, weichen und feuchten, das ist organisch-
lebendigen und eben dadurch auch weiblich-natürlichen Arbeit
und ist folglich gemeinschaftlich. Wiederum bildet Gemein-
schaft, so lange als sie dessen kräftig ist, auch widrige
Arbeit sich gemäss zu einer Art von Kunst, indem sie ihr
Stil, Würde und Anmuth verleiht und einen Rang in ihrer
Gliederung, als Beruf und Ehre. Aber durch die Be-
lohnung mit Geld, ebenso wie durch Feilhaltung fertiger
Sachen, vollends durch die Arbeit auf Vorrath, tendirt
dieser Process fortwährend, in sein Gegentheil umzuschlagen;
das Individuum zu seinem alleinigen Subjecte zu machen,
neben dem Gedankendinge, das mit ihm gesetzt ist, der
Gesellschaft. Seiner ganzen Beschaffenheit nach und mit
voller Bewusstheit ist solches Subject, wie früher betrachtet
wurde, der Händler oder Kaufmann. Die Opposition und
gegenseitige Negation von Mitteln und Zweck ist um so
deutlicher, weil die Mittel nicht Arbeit sind, wenn auch
unerquickliche, dürre, trockene Thätigkeit. Sondern, was
viel ärger, eine freiwillige Verminderung, wenn auch nur
als möglich gedachte, seines Vermögens, ein Risico, das
eben so sehr seiner Natur nach unlustig, als der Profit
seiner Natur nach lustig ist. (So begibt auch der Krieger
sich in Gefahr: er setzt sein Leben auf’s Spiel; einen
Lorbeerzweig kann er gewinnen. Ein verrückter Speculant,
in der That.) Wir verstehen hieraus, wie sehr der Handel
[187] dem weiblichen Gemüthe zuwider sein muss. Die Handels-
frau, eine schon im frühen Städteleben nicht seltene Er-
scheinung, tritt auch dem Rechte nach aus ihrer natürlichen
Sphäre heraus, sie ist die erste mündige oder emancipirte
Frau. Der Handel ist, in seiner empirisch gewöhnlichen
Erscheinung, auch dem Gewissen entgegen, und vorzüglich
jener höchst weiblichen Empfindung der Scham. Denn
Handel ist dreist und frech. Und er ist lügenhaft. Das
Lob, welches der Händler seiner Waare gibt, ist in der
Regel Lüge, und doch der Wahrheit gleich zu wirken be-
rechnet. Alle Worte sind hier willkürlich und zweckmässig,
darum auch durch und durch prosaisch und kalt. Auch
das wahre Wort kommt darin der bewussten Lüge gleich.
Diejenige Lüge ist innerhalb des Handels nicht verpönt,
weil kein Betrug, welche blos bestimmt ist, die Kauflust zu
erregen und nicht, die Waare über ihrem Werthe zu ver-
kaufen. Aber Alles, was an berechneten Worten im Systeme
des Handels nothwendig, ist, wenn nicht eigentliche Lüge,
so doch seinem Wesen nach Unwahrheit, weil das Wort
seine Qualitäten eingebüsst hat und (gleich allen möglichen
Sachen) zu einer blossen Quantität angewandter Mittel er-
niedrigt wird. In diesem Verstande gilt darum: dass die
Lüge Grundlage der Gesellschaft ist. — Gleichwie
zum Handel aber, so steht das Weib zu aller unfrei-freien
Arbeit und Dienstleistung, welche seinem Gefallen und
seiner Gewohnheit ungemäss ist und doch seinem Pflicht-
gefühl nicht entspringt; daher die käufliche und verkaufte
Arbeit, welche auch an ihrem Producte keine Frucht hat
und Dienstleistung nicht an Menschen oder an die Natur
ist, sondern an todte Geräthe von unheimlich-überwäl-
tigender Macht: die Fabrikarbeit. Und gerade für diese
Bedienung von Maschinen muss den Käufern und Subjecten
der kapitalistischen Production die weibliche Arbeitskraft
vorzüglich geeignet erscheinen, da sie dem Begriffe der ein-
fachen und mittleren (durchschnittlichen) menschlichen
Arbeit am nächsten entspricht, zwischen der Gewandtheit,
Bildsamkeit von Kinderarbeit und der Kraft und Sicherheit
von Mannesarbeit in der Mitte stehend. Denn diese ge-
meine Fabrikarbeit ist leicht: darum von Kindern manche
[188] thubar, als mechanische, gleichartig wiederholte, geringe Mus-
kelenergie jedesmal erfordernde Application, und schwer,
darum oft auch Männer heischend, als Handhabung kyklo-
pischer Werkzeuge mit Aufmerksamkeit, Anstrengung, Ruhe.
Alles was von Kindern nicht geleistet werden kann und
doch von Männern nicht geleistet zu werden braucht, fällt
den Frauen anheim. Wo aber die Umstände gleich sind,
haben sie vor Kindern den Vorzug der Zuverlässigkeit, vor
Männern (aus bekannten Gründen) den Vorzug der Billig-
keit, und damit durch den Arbeitslohn die durchschnittliche
Familien-Erhaltung ausgedrückt werde, müssen sie und
nicht minder die anfügbaren Kinderkräfte auf dem Arbeits-
markte in Concurrenz mit ihren »Ernährern«, den anfäng-
lichen Repräsentanten menschlicher Arbeitskraft, eintreten
(da die Familie aus dem commerciellen Gesichtspunkte
nichts als eine cooperative Societät zum Behuf der Con-
sumtion von Lebensmitteln und der Reproduction von
Arbeitskraft ist). Nun ist ferner offenbar, dass zuerst der
Handel, dann aber nicht eben die industrielle Arbeit, wohl
aber jene Freiheit und Selbständigkeit, mit welcher die
Arbeiterin als Urheberin ihrer Contracte, Inhaberin von
Geld u. s. w. in den Ringkampf um die Lebensfristung
hineingestellt wird, eine Entwicklung ihrer Bewusstheit
fordern und fördern, in welcher sie des rechnenden Den-
kens mächtig werden muss. Das Weib wird aufgeklärt,
wird herzenskalt, bewusst. Nichts ist ihrer ursprünglichen,
trotz aller erworbenen Modificationen immer wieder ange-
borenen Natur fremdartiger, ja schauderhafter. Nichts
ist vielleicht für den gesellschaftlichen Bildungs- und den
Auflösungsprocess des gemeinschaftlichen Lebens charakte-
ristischer und bedeutender. Möget Ihr wehklagen oder
frohlocken über Widernatürlichkeit oder Schönheit dieses
ungeheuren Fortschrittes! Aber wähnet nicht, dass von dem
Verhalten Eurer Empfindung dazu, von Euren Meinungen
und Eurem Geschrei, die Bewegungen desselben abhängen.
Sie sind die einfache und nothwendige Consequenz von
Thatsachen, welche jenseits Eures heftigen Wünschens und
schwächlichen Wollens liegen. Sicherlich ist innerhalb der
allgemeinen Veränderungen dieser ihr intellectueller Aus-
[189] druck derjenige, welcher am wenigsten verdient, als ur-
sächliche Tendenz angesehen zu werden, und doch —
einer leicht erklärbaren Neigung gemäss — am häufigsten
und am liebsten so angesehen wird.
§ 41.
Es würde auch möglich sein, eine correspondirende
Reihe von Folgerungen aus dem Gegensatze von Jugend
und Alter und aus dem Gegensatze von Volk und Gebil-
deten hervorzubringen. Wie Kinder auf Haus und Familie
angewiesen sind, das ist greifbar, und wie ihre Natur wohl
in Dorf und Stadt gedeiht, aber in der Grosstadt und in
der grossen Welt der Gesellschaft allem Verderben ausgesetzt
ist. Spielende, übende, lernende Arbeit ist mit zunehmender
Kraft des Leibes und Intellects dem jungen Menschen an-
gemessen, ja nothwendig; handeln, Profit machen, Kapitalist
sein, ist nicht seine Sache; er ist auch in seinem Unver-
stande dafür dem Weibe ähnlich. Ebenso wird er nicht leicht
zur Klarheit darüber gelangen, dass seine Arbeitskraft eine
Waare in seiner Hand sei und Arbeit nur die Form, in wel-
cher dieselbe tradirt werden müsse. Für die kapitalistische
Production handelt es sich auch gegenüber dem jugend-
lichen Willen, etwas zu werden, durch allmähliches
Wachsthum von Hirn und Hand zu einem Können zu ge-
langen, nur um das, was die Arbeitskräfte in jedem ge-
gebenen Momente sind, anwendbar oder nicht anwendbar?
»Sofern die Maschinerie Muskelkraft entbehrlich macht,
wird sie zum Mittel, Arbeiter ohne Muskelkraft oder von
unreifer Körperentwicklung, aber grösserer Geschmeidigkeit
der Glieder anzuwenden. Weiber- und Kinderarbeit war
daher das erste Wort der kapitalistischen Anwendung der
Maschinerie! Dies gewaltige Ersatzmittel von Arbeit und
Arbeitern verwandelte sich damit sofort in ein Mittel, die
Zahl der Lohnarbeiter zu vermehren durch Einrollirung
aller Mitglieder der Arbeiterfamilie, ohne Unterschied von
Geschlecht und Alter, unter die unmittelbare Botmässigkeit
des Kapitals. Die Zwangsarbeit für den Kapitalisten usur-
pirte nicht nur die Stelle des Kinderspiels, sondern auch
[190] der freien Arbeit im häuslichen Kreise, innerhalb sittlicher
Schranken, für die Familie selbst« (K. Marx, d. Kapital 1.
Kap. 13, 3 a). Wie sich das kindliche, überhaupt jugend-
liche Gemüth zur Wissenschaft verhalte, ist einleuchtend
genug. Es gehört eine gewisse Trockenheit der Phantasie
dazu, welcher freilich die energische Anspannung der vor-
handenen Kräfte helfen kann, um mathematische
Schemata und Formeln zu begreifen; die Mathematik aber
ist Urbild aller wirklichen Wissenschaft, die ihrer innersten
Natur nach willkürlich-künstlich ist. Auch stellt in einigem
Maasse der (ob zwar zu grossem Theile blos den Phrasen
nach) »wissenschaftliche« Unterricht, welchen die Jugend
zumal der höheren d. i. der kapitalistischen Klassen durch
Civilisation erhält, auf ihrer Seite als eine Art von Zwangs-
arbeit sich dar, wodurch leicht die besten Keime eigenthüm-
lichen Geistes in ihnen verkrüppeln, ihr Gemüth erkältet
und ihr Gewissen verhärtet wird; während doch dergleichen
seiner eigentlichen Natur nach Musik und Gymnastik, d. h.
eine harmonische Ausbildung des ganzen Menschen (des
Leibes und der Seele) sein will, so ist oder wird es jene
besondere und einseitige Erziehung des Gedächtnisses,
welche zur Willkür gewandt macht, als zur bewussten An-
wendung eingeprägter Regeln, und mit Worten, Sätzen, ja
sogar Methoden auf mechanische Weise operiren lehrt; wie
denn aber in der That solche gedrillte, gleichgültig-über-
legene, abgebrühte Menschen in den meisten jener Be-
schäftigungen gefordert werden, oder doch am meisten
brauchbar sind, welchen solche Jugend im Dienste der
Gesellschaft oder des Staates (als der personificirten Ge-
sellschaft) sich hinzugeben geneigt oder genöthigt ist. In
allen diesen Rücksichten aber sind in Willen und Anlagen
des gereiften Mannes die Widerstände um so eher ver-
schwunden oder gering geworden, je mehr sie schon ur-
sprünglich schwach waren und je mehr durch den Verlauf
des Lebens ihre Kraft gebrochen wurde. In jeder Hinsicht
ist er der tüchtige gesellschaftliche Mensch, sei es
dass er als freien Herrn seines Vermögens oder nur seiner
Arbeitskraft und anderer Leistungsfähigkeit sich erkenne,
immer ein Strebender, Berechnender, Meinungen kritisch
[191] aufnehmend oder zu seinem Nutzen sich solcher bemäch-
tigend. So ist er, den Anderen gegenüber, durchaus ein
Verkaufender, für sich aber ein Geniessender, insoweit es
ihm möglich ist.
§ 42.
Das Volk ist auch in dieser Beziehung gleich Frauen
und Kindern, dass ihm das Familienleben Leben schlecht-
hin ist; dazu was unmittelbar an diese Enge sich anschliesst,
Nachbarschaft und Freundschaft. Unter den Gebildeten,
sofern dieselben vom Volke sich losgemacht haben und
gänzlich auf eigene Faust ihre Einrichtungen treffen (was
theils schwer sich in allen Stücken vollbringt, theils durch
conventionelle Erhaltung und Erneuerung überwundener
Ideen verhüllt wird), treten diese Zusammenhänge hinter
der willkürlichen Freiheit der Individuen mehr und mehr
zurück. Familie wird eine zufällige Form zur Befriedigung
natürlicher Bedürfnisse, Nachbarschaft und Freundschaft
werden durch Interessen-Verknüpfungen und durch con-
ventionelle Geselligkeit ersetzt. So erfüllt sich auch das
volkheitliche Leben in Haus, Dorf und Stadt; der Gebildete
ist grosstädtisch, national, international. Von fernerer
Ausführung dieser Contraste möge hier nur der eine Punkt
hervorgehoben werden. Der Handel ist in aller ursprüng-
lichen einheimisch-sesshaften Cultur eine fremde und leicht
verhasste Erscheinung. Und der Händler ist zugleich der
typische Gebildete: heimathlos, ein Reisender, fremde Sitten
und Künste kennend, ohne Liebe und Pietät für diejenigen
eines bestimmten Landes, mehrerer Sprachen mächtig, zungen-
fertig und doppelzüngig, ein Gewandter, sich Accommo-
dirender, und doch überall seine Zwecke im Auge Be-
haltender, bewegt er, geschwind und geschmeidig, sich hin
und her, wechselt Charakter und Denkungsart (Glauben
oder Meinungen) wie eine Kleidermode, trägt das Eine wie
das Andere über die Grenzen der Gebiete, ein Mischer und
Ausgleicher, Altes und Neues zu seinem Vortheile Wen-
dender: so stellt er den entschiedenen Widerspruch gegen
[192] den an der Scholle klebenden Bauern, wie auch gegen den
soliden, des Handwerkes pflegenden Bürger dar. Diese sind
beschränkt, unreif, ungebildet im Vergleiche zu jenem.
Wir werden belehrt: »Ist ein Volk schon reif genug, um
des eigentlichen Handels zu bedürfen, aber noch zu unreif,
um selbst einen nationalen Kaufmannsstand zu haben: so
liegt es in seinem eigenen Interesse, dass ein fremdes
höher cultivirtes Volk durch einen sehr tief ein-
dringenden Activhandel einstweilen die Lücke ausfülle«
(Roscher N. Oe. III, S. 134). Aber in Wahrheit ist dies
niemals ein Verhältniss von Volk zu Volk, sondern von
einzelnen zerstreuten Fremden (obgleich sie in Bezug auf
sich selber eine Volksgemeinschaft haben mögen) zu
einem wirklichen Volke; da solches ohne ein wenigstens
bewohntes (wenn nicht bebautes) eigenes Land nicht gedacht
werden kann. Und wo der Handelsmann nicht Fremder
ist, da wird er als ein Fremder geachtet. »Der Korn-
händler ist niemals (in Indien) Inhaber eines erblichen und
in die Dorfgemeinde einverleibten Gewerbes, noch ist er
ein Mitglied der Bürgerschaft in Städten, die aus einem
oder mehreren Dörfern erwachsen sind. Die Handels-
betriebe, welche solchergestalt ausserhalb der organischen
Gruppe bleiben, sind diejenigen, welche ihre Güter von
entfernten Märkten herbringen« (Sir H. Maine, Village
Communities p. 126). Hingegen, wenn dem Handel oder
Kapitalismus das Volk mit seiner Arbeit unterthan geworden
ist, und in dem Maasse als dieses sich erfüllt hat, hört es
auf, Volk zu sein; es wird den ihm fremden äusseren
Mächten und Bedingungen adaptirt, es wird gebildet
gemacht. Wissenschaft, welche eigentlich die Gebildeten
auszeichnet, wird ihm, in was für Mischungen und Formen
auch immer, wie eine Medicin zur Heilung seiner Roheit
beigebracht. Sehr wider den Willen der Gebildeten, insofern
als dieselben mit der kapitalistischen Gesellschaft identisch
sind, wird dadurch das zum »Proletariat« verwandelte Volk
zum Denken und zur Bewusstheit gefördert über die Be-
dingungen, an welche es auf dem Arbeitsmarkte gefesselt
ist. Aus seiner Erkenntniss entstehen Beschlüsse und Be-
mühungen, solche Fesseln zu sprengen. Es vereinigt sich
[193] zu gesellschaftlicher und politischer Action (in Handels-
vereinen und Parteien). Diese Vereinigungen sind ebenso
von vorzugsweise grosstädtischer, demnächst nationaler,
endlich internationaler Ausdehnung und Beschaffenheit, wie
die ihnen vorausgehenden und vorbildlichen Vereinigungen
der Gebildeten, Kapitalisten, der (eigentlichen) Gesellschaft.
Um so mehr werden jene auch active Subjecte der Gesell-
schaft, sofern dies durch gleiches Denken und Thun bedingt
ist. Ihr Ziel ist, auch Miteigenthümer des (nationalen oder
internationalen) Kapitals zu werden, als der Stoffe und
Hülfsmittel ihrer Arbeit; und dies würde, weil es Waaren-
produktion und auswärtigen Handel aufhebt, das Ende der
(im ökonomistischen Sinne begriffenen) Gesellschaft bedeuten.
(Anmerkung 1.) Weil das Thema dieses Buches von
der individualen Psychologie ausgeht, so fehlt die parallele
und entgegengesetzte Betrachtung, wie Gemeinschaft den
Wesenwillen entwickelt und bildet, Willkür bindet und hemmt;
Gesellschaft diese nicht allein entfesselt, sondern auch fordert
und fördert, ja im Wettkampfe ihren rücksichtslosen Ge-
brauch zu einer Bedingung der Erhaltung des Individuums
macht, daher die Blüthen und Früchte des natürlichen Wil-
lens verkümmern lässt, bricht und zerstört. Denn seinen
Bedingungen sich anzupassen, das Thun der Anderen,
welche gewinnen und Erfolg haben, nachzuahmen, ist nicht
allein natürlicher Trieb, sondern wird zwingendes Gebot,
bei Strafe des Unterganges. Gemeinschaft fordert und
züchtet bei den Herrschenden, welche immer Vorbilder sind,
eine Kunst des Herrschens und des Zusammenlebens über-
haupt. Ihr steht nur gegenüber die Gefahr der Spaltung
natürlicher Verhältnisse, weil jedes Feindliche und so Em-
pfundene Feindliches hervorruft; und je grösser auf der einen
Seite die Ueberlegenheit der Kraft oder anderer Macht zu
schaden, desto stärker die Anregung für den Unterdrückten,
seine Vernunft zu Willkür als zu Listen des Kampfes aus-
zubilden. Denn der Gegner nöthigt den Gegner, dieselben
Waffen sich zu schaffen; aber auch andere und bessere zu
erfinden. Daher sind überall, in zerrissenen Zuständen, die
Weiber listig wider die Männer, die Jungen wider die Alten,
die unteren wider die oberen Stände. Und gegen Feinde
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 13
[194] ist von je Willkür (wie Gewalt) geübt, und auch als er-
laubt, ja preiswürdig empfunden worden.
Aber Gesellschaft ist die Allgemeinheit und Nothwen-
digkeit solches Gebrauches, weil und insofern als in ihren
elementaren Verhältnissen wenigstens von der einen Seite
Zwecke gesetzt werden, denen alle Mittel recht sind; und
als schon dadurch dieselben nicht blos mögliche, sondern
natürliche und nur verhüllte (daher höchst wahrscheinliche,
leicht ausbrechende) Feindseligkeiten sind.
(Anmerkung 2.) Der Zusammenhang der (socialen)
Lebens- und der (individualen) Willensformen führt hinüber
zu ihrer Einheit in Formen des Rechtes. Recht entspringt
nicht aus Gedanken und Meinungen über die Gerechtigkeit,
sondern das Leben erzeugt beide Ausdrücke seiner Realität
zugleich, welche dann zu einander in gegenseitiger Causalität
vielfach sich verhalten.
[[195]]
DRITTES BUCH.
PROOEMIEN DES NATURRECHTS.
‘Ἢ οὐκ ἴσμεν ὅτι πάντα ταῦτα
προοίμιά ἐστιν αὐτοῦ τοῦ ΝΟΜΟΥ
ὃν δεῖ μαϑεῖν: Plat. Rep. p. 531 D.’ ()
13*
[[196]][[197]]
ERSTER ABSCHNITT.
DEFINITIONEN UND THESEN.
§ 1.
Das Selbst oder das Subject menschlichen Wesen-
willens ist Einheit, wie die Form des Wesenwillens: näm-
lich Einheit innerhalb einer Einheit und Einheit, welche
Einheiten in sich begreift. Alles solches aber — gleich
einem Organismus und organischen Theile — ist, insofern
es Einheit ist, Einheit durch seine innere Bestimmtheit,
unum per se (ἓν καϑ̕ αὑτό), oder durch das Verhältniss seiner
Theile zu ihm, als lebendigem, welches in ihrem Wechsel
und durch ihren Wechsel sich erhält, alte ausscheidend und
so ihres Lebens und ihrer besonderen Einheit beraubend,
neue bildend oder aus der unorganischen Materie in sich
aufnehmend und sich assimilirend. Daher ist nichts Ein-
heit, insofern es Theil ist, und jegliches Einheit insofern es
Ganzes ist. Als Ganzes ist es nicht blos wiederum Theil
eines Ganzen und in dieser Abhängigkeit zu betrachten,
sondern zugleich Exemplar seiner Art oder Gattung oder
seines realen Begriffs, indem so alle organischen Wesen
zuletzt in der Idee des Organismus enthalten sind, welche
dann selber nur als ein Modus der unendlichen Energie oder
[198] des allgemeinen Willens begreiflich ist, als woraus sie unter
gegebenen Bedingungen sich zu entwickeln vermocht hat.
Denn in Wahrheit steht das Ergebniss hoher Forschung
da, dass alle organischen Individuen zugleich Congregationen
solcher Elementarorganismen sind (der Zellen), welche je
durch ihre Abstammung und durch ihren Zusammenhang
determinirt, selber in ihren bleibenden Relationen die
Form und Einheit des Ganzen darstellen und constituiren,
welchem sie angehören, und das so in seinem jedesmaligen
momentanen Bestande als ihr Werk oder Product erschei-
nen kann, obgleich es doch als sie überdauernde, substan-
zielle oder metaphysische Essenz, d. i. als die Einheit jener
bleibenden Relationen, vielmehr sie als seine blossen Acci-
dentien zu haben und hervorzubringen, wie auch durch
Verbrauch zu zerstören gedacht wird. Solcher Widerspruch
gibt nur den adäquaten Ausdruck für ein wirkliches
Wechselverhältniss und Wechselwirkung zwischen den ver-
bündeten Ganzen, welche je in ihrem Ganzen zwar ent-
stehen und vergehen und seinem Leben und Willen unter-
geordnet zu sein scheinen, indem sie Theile sind; jedoch
selbständig als Ganze, ein höheres Ganze nur durch ihr
Zusammenwirken und die Idee desselben als ihren gemein-
samen Willen darstellen: dies ist das eigenthümliche Merk-
mal eines organischen Ganzen, dessen letzte Theile selber Or-
ganismen sind. Denn von diesen aus gesehen, sind auch
alle die höchst mannigfachen Gewebe, welche die Organe
und Organsysteme ausmachen, ebenso ihre Zusammensetzun-
gen und Gebilde; ob sie gleich ihr eigenes Leben haben,
welches durch die Energie des Gesammtsystems getragen
und bedingt ist, und wiederum dieses bedingt, dazu beiträgt,
ein integrirender Theil desselben ist. Man betrachte die
Anwendung hiervon auf den so bedeutenden Begriff des
Zweckes. Denn jedes Ganze ist sich selber Zweck: dies
ist nur ein anderer Ausdruck für seine Einheit, also für
sein Dasein als dauerndes, als welches durch seine eigene
Kraft von Moment zu Moment, wenn auch zugleich durch
zusammenkommende günstige Bedingungen, d. i. andere,
fördernde Kräfte erhalten wird. Leben ist fortwährende
Arbeit der Assimilirung solcher Energien und fortwähren-
[199] der Kampf gegen widerstehende, Ueberwindung oder Anpas-
sung, Ausscheidung innerer, Verdrängung äusserer Widrig-
keiten. Lebend bewährt und beweist der Organismus seine
Lebens- Fähigkeit, d. i. die zweckmässige (richtige gute)
Beschaffenheit, Einrichtung, Ordnung seiner Kräfte oder
Theile. Aber vom Leben schlechthin und daher von der
Fähigkeit dazu muss die Fähigkeit zum Leben auf eine
bestimmte Weise, in einer besonderen Gestalt, und folglich
unter besonderen erleichternden und erschwerenden Bedin-
gungen unterschieden werden. Wo die Bedingungen
günstig sind, kann auch das Schwächere leben oder länger
leben, als es sonst vermöchte; wo ungünstig, vermag das
Starke sich nicht zu erhalten. Und was mit seinen gege-
benen Eigenschaften in gewisser Beziehung unzweckmässig
ist, kann vielleicht durch Veränderung derselben, also durch
Anpassung an die Umstände fortleben. Und wie vom In-
dividuo, so gilt dies von jeder durch Abstammung verbun-
denen Gruppe, sofern dieselbe als Einheit begriffen wird.
In Bezug auf sie kann ein Individuum und dessen besondere
Beschaffenheit mehr oder minder zweckmässig, d. h. sie
darzustellen, zu erhalten und fortzusetzen tüchtig sein.
Denn wenn von Verschiedenheit der Umstände abgesehen und
dagegen durchschnittlich-gleiche Günstigkeit derselben ange-
nommen wird, so gibt es kein anderes Kriterium für die Zweck-
mässigkeit, welche ein Lebendiges in Bezug auf sich selber
und daher auch, wenn es in Bezug auf ein anderes Ganzes be-
trachtet wird, haben möge, als seine Dauer. Was aber dauert,
ist nicht die Materie, sondern die Form. Und in dieser Hin-
sicht stehen die Formen der Structur und die Formen des
Wesenwillens ganz und gar auf gleicher Linie; beide nicht
durch Sinne fassbar, nicht durch sinnliche Kategorien denk-
bar. Die Form, als das Ganze, wird jedesmal constituirt
durch ihre Elemente, welche in Bezug auf sie materielle
sind, und durch diesen ihren Zusammenhang sich erhalten
und sich propagiren. So ist denn überhaupt immer für ein
Ganzes (als überlebende Form) sein Theil eine vergäng-
lichere Modification seiner selbst, welche seine Natur in
mehr oder minder vollständiger Weise ausdrückt; und könnte
als ein blosses Mittel zu seinem Leben und Zwecke angesehen
[200] werden, wenn er nicht zugleich, während seiner Dauer,
dieses Leben und dieser Zweck selber wäre. Sie — die
Theile — sind gleich, insofern sie an dem Ganzen Antheil
haben; verschieden und mannigfach, insofern als jeder sich
selber ausdrückt und seine eigenthümliche Thätigkeit hat.
Und auf ähnliche Weise verhalten sich zu dem Realbegriff,
d. i. der Gattung, die in ihr enthaltenen Gruppen und In-
dividuen, und wiederum die Individuen zu jeder sie um-
fassenden wirklichen Gruppe, dergleichen erst im Werden
oder auch im Vergehen und etwan im Uebergange zu einer
höheren Bildung begriffen sein kann, immer als ein Actives,
Lebendig-Veränderliches aufgefasst zu werden fordernd. —
Demnach wird hier von der Essentia des Menschen, nicht von
einer Abstraction, sondern von dem concreten Inbegriff der
gesammten Menschheit, als dem Allgemeinst-Wirklichen dieser
Art, ausgegangen; und demnächst fortgeschritten, etwa durch
die Essentia der Race, des Volkes, des Stammes und engerer
Verbände, endlich zu dem einzelnen Individuo, gleichsam dem
Centro dieser vielen concentrischen Kreise, hinabgestiegen. Die-
ses ist um so vollkommener erklärt, je mehr sich verengernde
Kreislinien die Brücke zu ihm hinüber schlagen. Die in-
tuitive und ganz mentale Erkenntniss jedes solchen Ganzen
kann aber mit Fug erleichtert und versinnlicht werden durch
die Vorstellung von Typen, deren jeder die Merkmale aller
zu dieser Gruppe gehörigen Exemplare vor ihrer Diffe-
renzirung zu enthalten gedacht werde; also sowohl vollkom-
mener als sie — nämlich durch die Anlagen und Kräfte,
welche in ihnen durch Nichtgebrauch verkümmert sind —
als unvollkommener: durch diejenigen, so in ihnen besonders
sich entwickelt haben. Das sinnliche aber construirte Bild
eines solchen typischen Exemplars und seine Beschreibung
vertreten also die intellectuelle Idee der realen Essenz jenes
metempirischen Ganzen, für die Theorie. Im Leben aber
kann sich die Fülle des Geistes und der Kraft eines sol-
chen Ganzen, in Bezug auf seine Theile, nur durch den
natürlichen Congress der jedesmal lebenden wirklichen
Leiber in ihrer Gesammtheit ursprünglich und wirklich
darstellen; demnächst aber auch durch eine erlesene Schaar
[201] von Häuptern oder gar durch ein einziges, welche die Wesen
und Willen der übrigen Gemeinheit in sich begreifen.
§ 2.
Die Person oder das Willkürsubject ist, wie eine
Willkürbildung, Einheit durch ihre äussere Bestimmung, unum
per accidens (ἕν κατὰ τὸ συμβεβηκός) mechanische Einheit.
Nämlich: so wie jene nur Realität und Einheit hat für ihr
Subject und durch ihre Beziehung auf mögliche Wirkungen,
so ist der Begriff der Person eine Fiction oder (verwirk-
licht gedacht) eine Construction des wissenschaftlichen Den-
kens, dazu bestimmt die Einheit der Urheberschaft solcher
Bildungen, also der Verfügungen über einen Complex von
Kraft, Macht, Mitteln auszudrücken, eine Einheit, welche
aus vielen Stücken einzelner möglicher Acte — wie immer
deren eigene Einheit begriffen werden möge — erst durch
das Denken zusammengesetzt wird, und mithin ihre Existenz
welche durchaus ideeller Natur ist, nach der Existenz der
Vielheit, ausserhalb derselben und gleichsam über ihr hat;
wenn nämlich vorgestellt wird, dass in der Vielheit Elemente
enthalten sind, welche zu dieser Einheit, d. i. zu ihrem realen
Vor- oder Gegenbild, der Uebereinstimmung in den Richtungen
auf gleiche Zwecke, wie in die Höhe emporstreben (weil, einer
uns natürlichen Einbildung gemäss, das bloss Gedachte über
den wirklichen Dingen in der Luft zu schweben scheint),
während hingegen die Einheit des organischen Wesens nicht
allein in der Vielheit enthalten, sondern auch ihr zu Grunde
liegend und also wie in der Tiefe unter ihr vorhanden
(ohne doch darum getrennt und von ihr verschieden zu sein)
begriffen werden muss. Ebenso: wenn aus einer Menge
solcher empirisch-ideeller Einheiten ihr Begriff abgezogen
wird, so verhält sich dieses Gemeinsame zu der quasi-ding-
lichen Mannigfaltigkeit wiederum auf gleiche Weise wie die
Einheit des einzelnen Dinges zu ihrer Vielheit: das univer-
sale ist post rem und extra res; auch die begriffliche oder
Gattungs-(Klassen-)Einheit ist nur nominell, ideell, fictiv.
Wenn nun in dem Gedankensystem, in welches sie
hineingesetzt ist, die Person alles Mögliche will und thut,
d. h. als Subject wirklicher Willküracte, daher als wirk-
[202] liche Zwecke verfolgend, über wirkliche Mittel verfügend
gedacht wird, so muss auch — sofern sie eine menschliche
sein soll — ein wirklicher Mensch oder eine Vielheit sol-
cher an ihrer Statt denken, wollen und agiren, ihre
Zwecke verfolgen, über ihre Mittel verfügen. Ein Einzelner
oder eine Vielheit: denn die Vielen können gleich einem
Einzelnen zusammendenken, zusammen ihre Willkür »for-
muliren« — nämlich 1) berathen, indem irgend Einer
sein Denken äussert, was er wünsche und für gut halte,
dass Alle wollen möchten, also ihrer Aller Gedanken in Be-
wegung setzend, anregend; sodann etwa Andere dasselbe
oder Aehnliches rathen oder aber dawider rathen; 2) be-
schliessen, indem Alle oder wenigstens so Viele als wollen
(indem die Uebrigen, sich indifferent verhaltend, durch
eigenen Willen sich selber und ihre Macht unwirksam
machen) etwas Bestimmtes zu wollen oder nicht zu wollen,
zu bejahen oder zu verneinen durch bestimmte Worte oder
Zeichen erklären, und also — da jede Stimme oder Will-
kür als gleich stark, als gleich schwer mit jeder anderen
gedacht wird — entweder ein Gleichgewicht entsteht: dann
ist kein Beschluss, keine Entscheidung vorhanden, oder aber
ein Mehr, ein Uebergewicht auf der einen oder der anderen,
der bejahenden oder der verneinenden Seite: dies bedeutet
jedesmal einen positiven Beschluss, möge derselbe die An-
nahme oder Ablehnung eines Gerathenen, Vorgeschlagenen
zum Inhalte haben. Der einzelne Mensch mus gedacht wer-
den als immer des Beschliessens fähig: das will wenig-
stens sagen, es sei immer möglich, dass er, gefragt oder
berathen — durch sich selber oder durch Andere — be-
jahende oder verneinende Antwort, Entscheidung gebe; es
heisst aber auch: wenn er es will und versucht (»sich zu
entschliessen«), es anfängt (conatur), so müsse es auch ge-
lingen, fertig werden; es ist nicht blos möglich, sondern,
als Werk betrachtet, sehr leicht. Man sagt zwar: er kann
sich nicht entschliessen, oder: es wird mir sehr schwer,
mich zu entschliessen; aber dann wirken die Umstände nicht
stark genug, um Willen und Versuch dieses Thuns hervor-
zurufen: die Frage wird gleichsam nicht dringend genug ge-
stellt; wenn Einer sieht, dass er sich entschliessen muss
(z. B. um nicht zu verhungern), so ist es so gut als sicher,
[203] dass dieser innere Widerstand überwunden wird, und das
Ergebniss wird dann nie, gegenüber der Vorstellung einer
bestimmten proponirten Handlung, = 0 sein, sondern ent-
weder Bejahung oder Verneinung. Hingegen eine Menge
ist in diesem Sinne nur dann fortwährend beschlussfähig,
wenn ihre Anzahl eine ungerade ist: dass dieses der Fall
sei, darum eine nothwendige Forderung an ihren Begriff,
wenn sie insoweit einem Einzigen gleich sein soll. Eine
solche Menge nun, welche willens und fähig ist, als eine
Einheit zu beschliessen, heisst eine Versammlung. Sie
kann auch, nach Art des einzelnen Menschen, ein dauern-
des Dasein haben, sofern sie: 1) ideell immer zusammen-
bleibt, für ihre wirklichen Berathungen aber nach bestimm-
ten (und bekannten) Regeln zusammenkommt oder zusammen-
gerufen wird; 2) wenn es nöthig ist, sich ergänzt oder
ergänzt wird. — Nun ist jeder einzelne Mensch der natür-
liche Repräsentant seiner eigenen Person. Der Begriff der
Person kann von keinen anderen empirischen Subjecten ab-
gezogen werden, ausser von den einzelnen Menschen, welche
begriffen werden, insofern als jeder ein Denkender und in
Gedanken Wollender in Wahrheit ist, und folglich gibt es
insoweit wirkliche und natürliche Personen, als Menschen
vorhanden sind, welche sich als solche vorstellen, diese
»Rolle« übernehmen und spielen, oder den »Charakter« einer
Person wie eine Maske vor ihr Antlitz halten. Und als
natürliche Personen sind alle Menschen einander gleich.
Jeder ist mit unbeschränkter Freiheit ausgestattet, beliebige
Zwecke sich zu setzen, beliebige Mittel anzuwenden. Jeder
ist sein eigener Herr. Keiner des Anderen Herr. Sie sind
unabhängig von einander.
§ 3.
Auch eine Versammlung repräsentirt ihre eigene Person.
Aber dieser ihr Dasein ist keineswegs ein empirisch gegebenes
in dem Sinne, wie es von den Personen der einzelnen, sinn-
lich wahrnehmbaren Menschen mit Grund gesagt werden
kann. Die Wirklichkeit der Versammlung setzt die Wirk-
lichkeit der von ihr dargestellten Person voraus, während
im Gegentheil aus der Wirklichkeit des Menschen die Vor-
[204] stellung der Person entnommen wird. Eine Versammlung,
insofern sie sich selber repräsentirt, ist eine künstliche
Person. Sie kann als einheitliches Subject einer Willkür
nur dadurch agiren, dass die Menschen, welche als natür-
liche Personen in ihr enthalten sind, selber die überein-
stimmende Bejahung oder Verneinung ihrer Mehrzahl als
die Willkür — nicht etwa dieser Uebereinstimmenden, auch
nicht ihrer Aller, denn beides würde immer nur viele
Willküren ergeben, sondern dieses ausser und über sich
vorgestellten einheitlichen, persönlichen Wesens (der Ver-
sammlung) setzen und fingiren. Und durch solchen Act ist
sie allerdings den natürlichen Personen gleichgesetzt; sie
existirt für die einzelnen Personen, wie diese für einander
existiren, nämlich durch gegenseitige Kenntniss und Aner-
kennung, dadurch, dass sie einander als Personen begreifen.
Die Theorie kann noch aus vielen Gründen andere Per-
sonificationen unternehmen, und diese ihre Geschöpfe
durch eine natürliche oder durch eine constituirte künstliche
Person repräsentiren lassen; aber jede Person ist für die
übrigen und in ihrem System nur durch so gemachte »An-
erkennung« ihrer Personen-Qualität und damit ihrer Gleich-
heit vorhanden. In der eigenen Setzung ist die Anerken-
nung als secundäres Element nothwendiger Weise enthalten.
Wiederum: allgemeine Anerkennung involvirt die besondere
der Gültigkeit einer gegebenen Vertretung, wo dieselbe
zwar nicht von selbst sich zu verstehen (wie jene des ein-
zelnen vernünftigen Menschen und einer constituirten Ver-
sammlung), aber auf zureichendem Grunde zu beruhen ge-
dacht wird. Dieser Grund ist immer, wo eine wirkliche
Person durch eine wirkliche vertreten wird, Uebertragung
ihrer Vollmacht (Autorität) von jener auf diese, welche, un-
denkbar, wo eine fingirte Person vertreten wird (weil diese
ohne Vertretung auch des Actes der Uebertragung nicht
fähig ist) doch als der Form nach gültiges Schema solches zu-
reichenden Grundes vorgestellt werden kann, da die That-
sache einer Wirkung aus dieser normalen und deutlichen
Ursache gleichkommt. Aus einem System von wirklichen
einzelnen Personen (Menschen) kann aber eine fingirte Per-
son (sei es durch ein Individuum oder durch eine Versamm-
[205] lung vertreten) hervorgehend gedacht werden (wie sie
darin vorhanden ist nur durch die Anerkennung Aller) allein
aus der Willkür eines der vorhandenen Subjecte oder meh-
rerer solcher, welche Stücke ihres Inhaltes (ihrer Freiheit,
ihrer Mittel) zusammensetzen und als eine abgesonderte
Person, mit gegebener oder gemachter Vertretung, consti-
tuiren; mit welchem constituirenden Acte die Bezeichnung
einer vertretenden Person verbunden sein muss — wenn
dies eine Versammlung ist, so gilt schon die Einigkeit ihrer
»Mitglieder« über den gültigen Ausdruck ihres Willens als
Voraussetzung. Aber solche Schöpfung kann, von vernünf-
tigen Subjecten aus, nur geschehen als Mittel zu einem be-
stimmten Zwecke, welcher den Mehreren gemeinsam ist und
sie verbindet. Die fictive Person ist dieser Zweck (oder
ein Aggregat von Zwecken) als einheitlicher, an und für
sich existirender gedacht; während er ohnehin nur als das
Zusammentreffen und die Coexistenz der getrennten Zwecke
vorhanden war. Ihr (der Person) Dasein ist in Wirklich-
keit nur das Dasein der in Bezug auf diese coexistenten
Zwecke zusammengelegten Mittel. Aber durch die (in den
Köpfen seiner Autoren vollzogene) Metamorphose desselben
in Dasein und Begriff einer Person werden diese Mittel ein
Zweck, ihr eigner persönlicher Zweck, aber nicht von ihr
verschieden; denn in Wahrheit ist sie nicht denkend und
hat keinen Zweck; und der Fiction nach hat sie keinen
Zweck ausser diesem, welcher ihre Bestimmung und ihr
Begriff ist. — Nun aber: da der Begriff der Person an und
für sich ein künstliches Product, eine Fiction ist, so ent-
spricht insofern ihm das fingirte Willkürsubject auf voll-
kommenere Weise als das natürliche; und kein Mensch kann
so reinlich als blos auf seinen Vortheil bedacht, blos auf
Gewinn abzielend und nach vorgestellten Zwecken seine
Actionen richtend gedacht werden, als ein denkendes und
handelndes Ding, das als solches blos in der Einbildung
existirt; darum vermag es sowohl ein Individuum als eine
Versammlung leichter »im Namen« solches Gedankendinges
als irgend ein Mensch in seinem eigenen Namen. —
[206]
§ 4.
Jedes Verhältniss der Gemeinschaft ist der Anlage
oder dem Kerne seines Wesens nach ein höheres und all-
gemeineres Selbst gleich der Art oder Idee, woraus die ein-
zelnen Selbste (oder »Häupter«, wie wir mit leichterem
Ausdruck sagen mögen) sich und ihre Freiheit ableiten.
Hingegen stellt jedes gesellschaftliche Verhältniss den
Anfang und die Möglichkeit einer ihm vorgesetzten künst-
lichen Person dar, welche über einen bestimmten Betrag
von Kräften oder Mitteln verfüge; demnach auch Gesellschaft
selber als ein wirkungsfähiges Ganzes gedacht. So ist, in
allgemeiner Fassung, Gemeinschaft das Subject verbundener
Wesenwillen, Gesellschaft das Subject verbundener Will-
küren. Aber um als für sich bestehende Einheit und in
möglichen Verhältnissen zu ihren Theilen als ebensolchen
Einheiten gedacht werden zu können, so muss Gemeinschaft
über eine Phase, in welcher sie von der Mehrheit in ihr
verbundener und sie logisch constituirender Willen nicht
unterschieden werden kann, hinausgewachsen sein und in
einem besonderen dauernden Willen, sei es dem einmüthigen
ihrer gesammten oder etlicher Theile sich ausprägen. Dies
ist ein Process der Entwicklung, den als vollendeten zu er-
kennen dem Beobachter obliegt. Hingegen die separate
Existenz der künstlichen Person muss durch einen beson-
deren Act contrahirender Willküren für einen besonderen
vorgestellten Zweck gewollt und gesetzt werden; der ein-
fachste solche Zweck ist aber die Garantie für andere
schwebende Contracte, wodurch die Erfüllung derselben,
bisher als Wille der Parteien vorausgesetzt, nunmehr zum
Willen dieser einheitlichen künstlichen Person wird, welche
folglich die Aufgabe erhält, diesen Zweck mit den Mitteln
zu verfolgen, welche ihr dazu gewährt werden. Wenn
daher als (objectives) Recht der Willensinhalt jeder Ver-
bindung von Willen in Bezug auf die verbundenen Theile
bestimmt wird, so hat Gesellschaft schlechthin ihr eigenes
Recht, in welchem sie die Befugnisse und Verbindlichkeiten
ihrer Constituenten behauptet; aber aus deren ursprünglicher
vollkommener Freiheit, als dem Stoffe ihrer Willkür, muss
es abgeleitet und zusammengesetzt sein. Dagegen hat Ge-
[207] meinschaft, welche am vollkommensten begriffen wird als
metaphysische Verbundenheit der Leiber oder des Blutes,
von Natur ihren eigenen Willen und ihre eigene Kraft
zum Leben, folglich ihr eigenes Recht in Bezug auf die
Willen ihrer Glieder, so gar dass diese, insofern als sie sol-
ches sind, nur als Modificationen und Emanationen jener
organischen Gesammtsubstanz erscheinen dürfen. — Die-
sem Unterschiede gemäss stehen sich ein Rechtssystem, in
welchem die Menschen als natürliche Glieder eines Ganzen
auf einander bezogen sind, und ein Rechtssystem, in wel-
chem sie als Individuen durchaus unabhängig von einander
nur durch eigene Willkür in Beziehungen zu einander treten,
principieller Weise gegenüber. In der empirischen Juris-
prudenz, insbesondere der römisch-modernen, welche eine
Wissenschaft gegebenen gültigen Rechtes ist, wie es im ge-
sellschaftlichen Verstande sich darstellt, erhält sich jenes
unter dem Namen des Familienrechtes, worin aber eine
pure rechtliche Beschaffenheit darin beruhender Verhältnisse
entbehrt wird, welche um so deutlicher in der anderen und
am meisten differenten Partie des Obligationenrechts
sich abhebt. Denn hier ist eine eigentliche Mathematik und
rationale Mechanik des Rechtes möglich, welche auf lauter
identische Sätze zurückgeführt werden kann, da sie nur mit
modificirten Tauschacten und der dadurch begründeten
Herrschaft einer Person über bestimmte Handlungen der
anderen zu thun hat: die Handlungen gehen gleich Waaren
oder Geldstücken von einer Hand zur anderen, so dass auf
der einen Seite subtrahirt, auf der anderen Seite der gleiche
Betrag addirt wird, wie in einfachen Gleichungen. Die
beiden Rechtsmassen aber entfalten ihr Wesen erst in dem
mittleren Gebiete, dem des Eigenthumsrechtes, wo
sie auch einander nothwendiger Weise begegnen. Hierauf
zielen darum die zunächst folgenden Definitionen.
§ 5.
Als die Sphäre eines menschlichen Wesenwillens
verstehe ich: den Inbegriff alles dessen, was ein Mensch
oder ein Complex von Menschen als die ihm zugehörigen
Kräfte in und an sich hat, insofern als dieselben eine Ein-
[208] heit darstellen, deren Subject alle ihre Zustände und Ver-
änderungen nach innen und nach aussen durch Gedächtniss
und Gewissen auf sich bezieht und mit sich verbunden em-
pfindet.
Als die Sphäre einer menschlichen Willkür ver-
stehe ich: Alles, was Einer ist und was Einer hat, insofern
als er dessen Zustände und Veränderungen als durch sein
Denken bestimmt und davon abhängig begreift und in seiner
Bewusstheit hat.
Die Sphäre des Wesenwillens — oder wie man schlecht-
hin sagen mag: die Willenssphäre — ist gleich der Materie
des Wesenwillens, insofern als dieselbe auf äussere Wesen
und Sachen ausgedehnt gedacht wird. Wenn der allgemeine
Begriff durch Freiheit, so kann dieser besondere durch
Eigenthum definirt werden. Ebenso verhalten sich Will-
kürsphäre und Stoff der Willkür. Das wirkliche Eigen-
thum, insofern es der Willenssphäre entspricht, nenne ich
Besitz, insofern der Willkürsphäre, Vermögen. Also
wie Besitz zu den Formen des Wesenwillens, so verhält sich
Vermögen zu den Formen der Willkür. Aeussere Gegen-
stände werden hier betrachtet nur insofern als der Wille
eines Subjectes darin enthalten ist, sich darauf bezieht und
damit verbunden ist. Und: wie die Formen des Willens
überhaupt determinirte Kräfte und Möglichkeiten des Thuns,
so sind Besitz und Vermögen determinirte Kräfte und Mög-
lichkeiten des Genusses oder Gebrauches von Sachen.
Zur Erkenntniss dieses Gegensatzes dient wiederum
die doppelte Kategorie des Organes und des Werkzeuges.
Besitz kann als organisches und inneres, Vermögen als
äusseres und mechanisches Eigenthum begriffen werden.
Rein psychologisch angesehen ist jener eine Erweiterung des
eigenen realen Wesens, daher nothwendiger Weise selber
eine Realität und am vollkommensten, wenn ein individuell
Lebendiges oder aus solchem bestehend. Dagegen der psy-
chologische Werth des Vermögens: Erweiterung und Ver-
mehrung von Objecten seines Denkens als von den ihm zu-
stehenden Möglichkeiten der Action; an und für sich
durchaus ideeller Natur, wird es am besten auf einen realen
Ausdruck gebracht durch Sachen, welche blos die subjective
[209] Möglichkeit ihrer zweckmässigen Anwendung, als Realisi-
rung, darstellen und bedeuten. Dies ist der das Vermögen
bezeichnende Zweck und Gebrauch. — Besitz ist mithin
— seiner Idee oder seinem Normalbegriffe gemäss — durch-
aus eins und verwachsen mit seinem Subjecte und mit dem
Leben desselben, hat aber zugleich sein eigenes Leben und
seine eigenen Qualitäten, welche dasselbe auf mannigfache
Weise ausdrücken; ist daher eine natürliche Einheit und
untheilbar, und ist unveräusserlich und unabtrennbar von sei-
nem Subjecte mit Willen, sondern nur durch Zwang und
Noth, mit Widerwillen und Schmerzen.
Hingegen wird Vermögen, seinem Begriffe nach, vor-
gestellt als eine Menge und Summe von einzelnen Sachen,
deren jede eine bestimmte Quantität von Kraft darstelle in
einzelne Genüsse sich umzusetzen und zu realisiren, so dass
diese Quantitäten nach Wünschen und Zwecken in beliebiger
Weise theilbar und zusammensetzbar, ferner nicht blos ver-
äusserlich, sondern veräussert zu werden bestimmt sein
müssen.
§ 6.
Wenn nun von Freiheit als dem Besitze des eigenen
Leibes und seiner Organe oder dem Vermögen an eigenen
möglichen Handlungen abgesehen wird, so stellt sich die
Idee des Besitzes am reinsten dar in der Beziehung auf
Leib und Leben eines anderen Menschen, die des Vermö-
gens in der Beziehung auf die mögliche Handlung eines
anderen Menschen. Zwischen diesen beiden Grenzpunkten
bewegt sich daher der Begriff des Eigenthums überhaupt.
Jener entspricht dem Wesen des Familienrechts, dieser ge-
hört dem Obligationenrecht an. Dort ist nur eine Erschei-
nung des natürlichen Rechtes der Gemeinschaft an ihren
Gliedern: welches ihre Freiheit ist. Hier ist der adäquate
Ausdruck des gesellschaftlichen Verhältnisses überhaupt,
welches in dem Uebergange eines Stückes der Freiheit
aus einer Willkürsphäre in die andere besteht. In bei-
den Begriffen ist wirkliches Eigenthum — als Recht an
Sachen — die Ausdehnung der Freiheit; welche am nächsten
auf andere Freiheit gleichwie auf Sachen — als Recht an
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 14
[210] Wesen oder Personen — sich erstreckt. Daher reicht das
Recht der Gemeinschaft an den Leibern ihrer Glieder noth-
wendiger Weise über alle Sachen, welche zu diesen Glie-
dern, als zu ihr selbst, gehören; und so ist es einerlei, ob
das hingegebene Stück einer Freiheit in Handlungen als
Dienstleistungen oder in der Ueberlieferung einer bestimm-
ten Sache sich darstelle, und kann die Bedeutung oder der
Werth jener nach Art eines Sachwerthes, als des leichter
begreiflichen, geschätzt werden. Von allen Sachen aber,
die als organisches Eigenthum einer Gemeinschaft angeschaut
werden, stehen dem Menschen selber die lebendigen Thiere
am nächsten, welche als Gehülfen der Arbeit aufgezogen,
gehegt und gepflegt werden müssen; sie gehören zum Hause,
und das Haus ist der Leib der einfachen Gemeinschaft
selber. Die Ur-Sache ist vielmehr, welche ganz eigentlich
von jeder menschlichen Gemeinschaft be-sessen wird, der
Grund und Boden. Stücke und Antheile daran gehören zu
jeder einzelnen freien Familie, insofern als sie aus höherer
Gemeinschaft sich ableitet, als die natürliche Sphäre ihres
Wesenwillens und Wirkens. Wie das Volk sich gliedert
und ausbildet, so wird in paralleler Entwicklung das Land
aufgetheilt und cultivirt und bleibt doch eine Einheit und
gemeinsames Gut, in weiteren oder engeren Bezügen und
Folgen. So viel auch Arbeit daran thut, sie verbessert
doch nur die Bedingungen für das freie Wachsthum von
Pflanzen, erhält und fördert die productive Kraft der Erde
selber, bereitet die dargebotenen gereiften Früchte für den
Genuss. Anders, wenn Arbeit neue Sachen schafft — wo
die Form so wichtig ist für den Gebrauch als der Stoff,
oder noch mehr. Die Form verleiht ihr der Geist und die
Hand des Einzelnen, des Künstlers, Handwerkers. Aber
durch ihn arbeitet und schafft für sich das gesammte
Haus, dessen Mitglied — Vater, Sohn oder Knecht — er
ist, die Gemeinde, deren Bürger, oder die Zunft, deren Ge-
nosse und Meister er ist. Die Gemeinschaft behält ein
oberes Eigenthum an seinem Werke, auch wenn ihm allein
der Gebrauch als eine natürliche Gerechtsame und Folge
seiner Urheberschaft eingeräumt wird. Der wirkliche Ge-
brauch aber ist wiederum entweder — im natürlichen und
[211] regelmässigen Verlaufe — Gebrauch durch Gemeinschaft
oder durch den einzelnen Menschen. Der natürliche Ge-
brauch, welcher sich auf den Gegenstand als solchen be-
zieht, ist entweder Abnutzung oder Erhaltung zum Behuf
zukünftigen Gebrauches oder fernerer Production. In jedem
Falle ist er eine vollkommenere Aneignung, eine Verinne-
rung oder Assimilation: auch wenn etwa das kostbare
Metall in den Schoos der Erde als Schatz versenkt wird;
sofern nämlich die Erde selber das organische Eigenthum
der Gemeinschaft ist. Entgegengesetzt aber der Gebrauch
durch Veräusserung, in Wahrheit ein Nichtgebrauch.
Berühmt ist die Stelle des classischen Autors, welche diese
Unterscheidung trifft. »Zum Beispiel des Schuhes ist der
eigentliche Gebrauch die Beschuhung, der andere die Ver-
äusserung. Denn auch wer von dem, der des Schuhes be-
darf, Geld oder Nahrung dagegen sich eintauscht, gebraucht
den Schuh als Schuh, aber nicht im eigentlichen Gebrauche;
denn nicht des Tausches wegen ist er geworden«. Tausch
ist anderseits der einzige vollkommen willkürliche Gebrauch.
Er ist selber der adäquate Ausdruck des einfachen Will-
kür-Actes, die Handlung mit Bedacht. Er setzt daher das
vergleichende, rechnende Individuum voraus, und setzt je-
doch nichts voraus als dieses allein, nicht mit einem an-
deren, sondern ihm gegenüber. Wo Mehrere zusammen das
Subject auf einer Seite sind, da müssen sie gedacht werden
als eine beschlussfähige Versammlung und also gleich der
natürlichen Person. Als zu veräussernder Gegenstand oder
Tauschwerth ist die Sache eine Waare. Die Waare ist für
ihren Eigenthümer nichts als Mittel, andere Waaren zu er-
werben. Durch diese wesentliche Eigenschaft sind alle
Waaren als solche gleich, und werden ihre Unterschiede auf
die Quantität eingeschränkt. Den Ausdruck dieser Gleich-
heit haben sie als Geld. Alle Waaren sind potentielles
Geld — Kraft, Geld zu erwerben. Geld ist die Potenz
aller Waaren — Kraft, irgendwelche Waaren zu erwerben.
Daher ist Geld die als Sache begriffene Willkürsphäre über-
haupt Auch die einzelne Handlung, welche aus der Frei-
heit ausscheiden und Gegenstand eines Contractes, mithin
einer Obligation werden kann, hat als solche Tauschwerth
14*
[212] und ist einer bestimmten Menge Geldes gleichzusetzen. »Nur
diejenigen Handlungen aber sind zu Obligationen geeignet,
die einen solchen äusserlichen Charakter annehmen können
und dadurch fähig werden, gleich den Sachen einem frem-
den Willen unterworfen zu werden. Dazu aber wird vor-
ausgesetzt, dass diese Handlungen einen Vermögenswerth
haben oder einer Schätzung in Geld empfänglich sind«
(Savigny,Obligationenr. I, S. 9). Umgekehrter Weise kann
daher ein Versprechen von Sachen, welche Tauschwerth
haben, also insbesondere Geldversprechen, mithin eine
Obligation, selber als Geld dienen und umlaufen. Das Ver-
sprechen, als Ausdruck einer Willkürform, des Beschlusses,
ist selber Macht, Waaren oder Geld zu erwerben, insofern
es angenommen wird; ist Vermögen. Die allgemeine
Annahme muss für sich als Gegenstand einer (stillschweigen-
den) Verabredung, der gesellschaftlichen Convention gedacht
werden, deren Grund, einer Person solchen »Credit« zu
gewähren, die wie immer basirte Grösse der Wahrschein-
lichkeit ist, dass ein dergleichen Versprechen gehalten,
dass die Obligation erfüllt, der »Wechsel« bezahlt oder reali-
sirt werde. Solche Creditzeichen sind mithin und wirken
in um so vollkommenerer Weise dem Gelde gleich, je mehr
diese Wahrscheinlichkeit der Gewissheit und Sicherheit nahe
ist. Also ist aber das Geld als Obligation und die Obli-
gation als Geld der vollkommene und abstracte Ausdruck
des gesellschaftlichen Eigenthums oder des Vermögens, als
der sicheren Macht über fremde, ihrer Natur nach freie, aber
hierzu verbundene Willkür.
§ 7.
Nunmehr ergibt sich hieraus folgende Tabelle zu-
sammengehöriger und entgegengesetzter Begriffe:
| Gemeinschaft. | Gesellschaft. |
| Wesenwille | Willkür |
| Selbst | Person |
| Besitz | Vermögen |
| Grund und Boden | Geld |
| Familienrecht | Obligationenrecht. |
Zu diesen Gegensätzen gehört ferner und ist in allen
[213] gegebenen Begriffen enthalten derjenige, welchen man neuer-
dings oft als die Opposition der rechtlichen Formen des
Status gegen diejenigen des Contracts behandelt hat. Die
Stelle des gelehrten und einsichtigen englischen Autors,
von welcher ein weitgehender Anstoss zu dieser Auffassung
sich vorbereitet hat, verdient hier (als bisher nicht in’s
Deutsche übertragen) angeführt zu werden. »Die Bewegung
der progressiven Gesellschaften«, sagt in zusammenfassender
Betrachtung Sir Henry Maine(Ancient Law, p. 168
7th ed.) »ist in einer Hinsicht gleichförmig gewesen. In
ihrem ganzen Verlaufe wird sie bezeichnet durch die stufen-
weise Auflösung des Familien-Zusammenhanges und das
Wachsthum individueller Obligation an seiner Stelle. Das
Individuum wird fortwährend eingesetzt für die Familie, als
die Einheit, welche das bürgerliche Recht zu Grunde legt.
Dieser Fortschritt hat sich vollzogen in verschiedenen Ver-
hältnissen der Geschwindigkeit, und es gibt Culturen, die
nicht schlechthin stationär sind, in welchen doch der Ver-
fall der ursprünglichen Organisation nur durch sorgfältiges
Studium der Erscheinungen, welche sie darbieten, entdeckt
werden kann … Es ist aber nicht schwer zu sehen, wel-
ches das Band ist zwischen Menschen und Menschen, das
allmählich jene Formen der Reciprocität von Gerechtsamen
und Verpflichtungen ersetzt, die ihren Ursprung in der Fa-
milie haben: kein anderes als Contract. Wenn wir, als
von einem Endpunkte der Geschichte, ausgehen von einem
socialen Zustande, in welchem alle Beziehungen der Per-
sonen in den Beziehungen der Familie vereinigt sind, so
scheinen wir uns stetig auf eine Phase der socialen Ordnung
hinbewegt zu haben, in welcher alle diese Beziehungen aus
der freien Uebereinstimmung von Individuen entspringen.
Im westlichen Europa ist der in dieser Richtung vollendete
Fortschritt beträchtlich gewesen. So ist der Stand des
Sklaven verschwunden — er ist verdrängt worden durch
die contractliche Beziehung des Dienstboten zu seiner Herr-
schaft, des Arbeiters zum Unternehmer. Der Stand der
Frau unter Vormundschaft, ausserhalb der ehelichen Vor-
mundschaft, hat ebenfalls aufgehört zu existiren; von ihrer
Altersreife bis zu ihrer Heirath sind alle Beziehungen, welche
[214] sie bilden kann, contractliche. So hat auch der Stand des
Sohnes unter väterlicher Gewalt keine wirkliche Stelle mehr
im Rechte moderner europäischer Gesellschaften. Wenn
irgendwelche civile Obligation Vater und erwachsenes Kind
verbindet, so ist es eine, der nur Contract ihre gesetzliche
Gültigkeit verleiht. Die scheinbaren Ausnahmen sind Aus-
nahmen von der Art, welche die Regel beleuchten … Die
meisten Juristen sind darüber einig, dass die Classen von
Personen, welche im Rechte äusserer Controle unterworfen
sind, aus dem einzigen Grunde in dieser Lage beharren,
weil sie die Fähigkeit nicht besitzen, ein Urtheil über ihre
eigenen Interessen sich zu bilden: mit anderen Worten, dass
sie des zuerst wesentlichen Merkmals einer Verpflichtung
durch Contract entbehren. — So kann nun das Wort Status
schicklich angewandt werden, um eine Formel des Ausdrucks
zu »construiren für das also angezeigte Gesetz des Fort-
schritts, welches, wie gross immer sein Werth sein möge, hin-
länglich, so viel ich sehe, sichergestellt ist. Alle die Formen
des Status, die im Personenrechte erwähnt werden, leiten
sich her von den Gewalten und Vorrechten, welche ehemals in
der Familie ihren Sitz hatten, und haben in einigem Maasse
noch jetzt davon ihre Färbung. Wenn wir also das Wort
Status, in Uebereinstimmung mit dem Gebrauche der besten
Schriftsteller, auf die Bezeichnung dieser persönlichen Ver-
hältnisse einschränken, und es vermeiden, den Ausdruck auf
Verhältnisse anzuwenden, welche in unmittelbarer oder ent-
fernter Weise Ergebniss einer Uebereinkunft sind, so können
wir sagen, dass die Bewegung der fortschreitenden Gesell-
schaften bisher gewesen ist: eine Bewegung von Status
zu Contract.« Diese klare Ansicht, deren Gültigkeit durch
die hier vorgetragenen Theoreme theils erweitert, theils er-
läutert werden soll, möge zunächst als Thema dienen für
die folgenden Erörterungen.
§ 8.
Herrschaft des Menschen über Menschen wird hier
unterschieden und im engsten Zusammenhange mit dem Be-
griffe des Eigenthums betrachtet. Familienrechtliche Herr-
schaft ist ihrem Wesen nach Herrschaft des Ganzen über
[215] seine Theile, und ist nur Herrschaft des Theiles über Theile,
z. E. des Vaters, Hausherrn über Söhne und Knechte, in-
sofern als ein Theil die Fülle des unsichtbaren Ganzen in
seinem Selbste sichtbarlich darstellt. Dasselbe gilt von
allem gemeinschaftlichen Eigenthum, insonderheit vom Be-
sitze an Grund und Boden. Hingegen gesellschaftliche
Herrschaft wie Eigenthum ist a priori der individuellen
Person gehörig; jedoch, insofern als in der Obligation wirk-
lich eine andere Person vorausgesetzt wird, so ist diese
Mitsubject an ihrer eigenen abgetretenen Handlung, so lange
als dieselbe sich noch in ihrer Freiheit befindet, und hat
ein Miteigenthum an dem Gegenstande oder Geldwerthe,
worauf die Obligation gerichtet ist, so lange, bis sie durch
ihre Erfüllung erlischt oder bis dasselbe durch ihre Fällig-
keit unrechtmässig — im Rechte als Eigenthum nicht mehr
vorhanden gedacht — wird, wenn es auch als possessio
oder thatsächliche Inhaberschaft im Rechte fortdauern und
besonderen Regeln unterliegen mag. Mithin ist ebenso die
Handlung, Thätigkeit, Arbeit, als veräusserte, von dem Augen-
blicke an, auf welchen ihr Beginn ist festgesetzt, verabredet wor-
den, im Rechte seine, des Empfängers, Handlung, Thätigkeit,
Arbeit. Nun ist es allerdings richtig, was die Naturrechts-
theorie lehrt, dass eine Person nicht sich selbst verkaufen
könne, da das Empfangen eines (vermeintlichen) Aequiva-
lents und also das Beharren einer Willkürsphäre, in welche
dasselbe eingeht, Voraussetzung jedes Tausches ist. Hin-
gegen ist allerdings denkbar, dass ein Mensch seine Ar-
beitskraft für Lebensdauer verkaufe, im Uebrigen frei und
des Eigenthums fähig bleibend. Und ferner gibt es kein
begriffliches Hinderniss, warum der Mensch selber nicht
als eine Waare im Eigenthum sich befinden oder als ein
Gebrauchsgegenstand verzehrt werden könne. Vielmehr
sind die absolute Bejahung und die absolute Verneinung
der Personenqualität reciprok. Daher ist die reine Skla-
verei keineswegs im rechtlichen Widerspruch mit einem
gesellschaftlichen System, wenn auch eine durchaus künst-
liche und positive Einrichtung, da die Voraussetzung, dass
alle (erwachsenen oder wirklichen) Menschen durch Will-
kürfähigkeit gleich seien, von der Natur dargeboten wird
[216] und also die einfache und wissenschaftlich erste ist. So
gut als von Natur werthlose Dinge: Stücke Papiers, können
aber auch die Subjecte aller Werthe und Werthbestimmungen
durch Convention zu Gegenständen des Vermögens und
marktfähig gemacht werden, und in der That sind mensch-
liche Leiber natürlichere Waaren als menschliche Arbeits-
kräfte; wenn auch nur diese, und jene nicht, eigene Waaren,
von ihrem natürlichen Eigenthümer feilgehalten, sein können.
Hingegen entspricht diese absolute Knechtschaft ebensowenig
als die absolute Freiheit der Person dem Wesen einer Ge-
meinschaft. Vielmehr ist Knechtschaft solches Rechtes
in erster Linie eine Art der Zugehörigkeit zu ihrem Ganzen,
z. B. zum Hause, wenn auch mehr eine passive, gleich den
Besitzstücken, als eine active, gleich den Selbstträgern seines
Lebens; wirklich in einer mittleren Stellung zwischen bei-
den und zum wenigsten mit einer Möglichkeit der Theil-
nahme an dem gemeinschaftlichen Frieden und Rechte, durch
Gewohnheit und aufmerksame Treue besondere Gerechtsame
zu erwerben fähig. Dieser concrete Begriff ist derjenige
einer Cultur, welche durch Ackerbau und Arbeit, anstatt
durch Handel und Wucher beherrscht wird. Nach dem Ur-
bilde der häuslichen Verhältnisse werden alle Formen der
Abhängigkeit und Dienstbarkeit gestaltet und gedacht. Und
ihnen allen steht eine Art von patriarchalischer Würde und
Gewalt gegenüber. Das Amt des Herrschers hat einen
zwieschlächtigen Charakter. Entweder ihm liegt hauptsäch-
lich die Sorge für seine Unterthanen ob: Schutz, Füh-
rung, Unterweisung. Hier sind sie durchaus gegen ihn die
Geringeren (Inferiores), und obgleich ihr Wohl sicherlich
ebensosehr ihr eigener Wunsch und Wille ist als der seine,
so ist doch die Form des Befehles die angemessene, wo-
durch er ihren Willen wie zu seinem Besten bewegt, denn
sie werden nur als ein Stück oder ein Glied von ihm em-
pfunden. Oder aber es ist allerdings und zuvörderst
seine eigene Sache, welcher er sich widmet; er ist der
Haupturheber und Vorsteher eines Werkes, wozu er der
Hülfe bedarf. Alsdann nimmt er, wenn es möglich ist,
seines Gleichen zu sich, wenn auch zugleich unter seine
Hut und Abhängigkeit sie stellend, und hier ist die Bitte
[217] (als Aufforderung, Geheiss, Auftrag des Ueberlegenen so-
wohl als des Gleichen und Untergeordneten) diejenige Form,
welche einer solchen, ihrem Wesen nach gegenseitigen Be-
dingtheit am meisten entspricht. Die Herrschaft der ersten
Art hat ihren reinen Ausdruck, auf einer vollkommen ge-
meinschaftlichen Basis, als die des Vaters über Kinder: die
potestas; die der anderen Art als die eheherrliche Gewalt:
die manus. Alle Beziehungen zwischen Würde und Dienst,
welche minder tiefen Ursprung haben und minder auch die
Herzen verbinden, lassen sich doch auf eines dieser Sche-
mata oder auf eine Mischung aus beiden zurückführen. Die
Hörigkeit kann von solcher Beschaffenheit sein, dass sie
mehr als die Unterthanschaft eines Sohnes, einer Creatur
oder dass sie gleich der des Gehülfen, Vasallen, Gefolgs-
mannes, Freundes erscheint. In beiden Gestalten kann sie
sich der Knechtschaft, als dem Stande vollkommener Ab-
hängigkeit, mehr oder minder nähern. Aber die Knecht-
schaft selber ist nach dem Maasse jener Typen verschieden,
zumal wo sie wirklich in eine empfundene Familienglied-
schaft sich entwickelt. Sie wird der Kindschaft ähnlicher,
oder sogar der ehelichen Genossenschaft und Kameradschaft.
Und auf’s deutlichste treten die Erscheinungen wiederum
auseinander, wo der Meister (des Handwerks, der Kunst)
einmal dem Lehrlinge und Jünger gegenübersteht, sodann
aber anders zu dem »losgesprochenen« Gesellen als dem
Gehülfen seiner Arbeit, dem Ausführer seiner Gedanken
sich verhält.
§ 9.
In einer neueren Darstellung, welche die schlechthin
gesellschaftlich ausgebildeten Verhältnisse als »egoistische«
unterschieden hat, ist unternommen worden, den Hebel aller
dieser Verhältnisse und alles Verkehrs als Lohn zu definiren
(R. v. Jhering, Der Zweck im Recht Bd. I). Gegen den Begriff
wird kein Einwand erhoben, aber die Bezeichnung ist irrefüh-
rend. Denn gerade wer — wie dieser Schriftsteller — dem tiefen
Sinne der Sprache nachzudenken beflissen ist, wird gewah-
ren, dass es unangemessen sei, eine dargebotene Waare als
[218] Lohn für Zahlung der Münze oder den Preis als Lohn für
Abtretung der Waare zu definiren; wenngleich es üblich
geblieben ist, in einem Zeitalter, wo Niemand zweifelt, die
Arbeitskraft als Waare und den Arbeitscontract als Tausch-
geschäft zu erkennen, die hier gegebene Geldsumme mit
jenem Namen zu schmücken. Vielmehr ist die eigentliche
Bedeutung des Lohnes die einer Wohlthat, welche aus
freien Stücken, d. h. in diesem Falle aus dem Wesenwillen,
gewährt wird, offenbar jedoch regelmässig in Erwägung ge-
leisteter guter Dienste, wie auch geschätzter Eigenschaften
des Wesens und Charakters: der Sorgfalt, des Fleisses, der
Treue, immer aber aus einseitigem Bedünken, Gefallen,
Würdigung, etwa auch daher als Geschenk, Gunst, Gnade
auffassbar. Es ist — kurz geredet — die Art und Weise
des Superior zu geben, und wird dem Verdienste gebühren-
der Maassen zu Theil; daher zu verstehen als nach genos-
senem Guten, empfangener Hülfe u. s. w. erfolgend.
Allerdings mag nun der Diener in Hoffnung und Erwartung
des Lohnes Anstrengungen machen, sich zusammennehmen,
Alles thun, was in seinen Kräften steht, also gleichsam
eine hohe Belohnung zu erkaufen versuchen, wie im
Wettrennen jeder den Anderen zu übertreffen ringt; und
ebenso ist, wie wir wissen, die Concurrenz im Handel, so
alle Mitbewerbung um die Kronen des Ehrgeizes. Aber
schon hier vermischen wir, was getrennt werden muss. Wo
es in Wirklichkeit um ausgesetzte Preise sich handelt, da
mögen zwar die sich Bemühenden als Käufer oder Ver-
käufer begriffen werden, keineswegs aber der Belohnende.
Seine Versprechung ist in der Regel nicht diejenige eines
Contrahenten; er ist nur in moralischem Sinne schuldig,
wenn die Bedingungen erfüllt zu sein scheinen, das Ver-
sprochene nicht vorzuenthalten. Aber er ist selber Richter
über die Leistungen, wie ein Herr (eben darum kann er
auch das Amt des Preisrichters »vergeben«); und was er
gibt, gibt er nach und wegen dem Guten, dahingegen der
Tausch wesentlich ein doppelter und gleichzeitiger Act
ist, das Vor und Nach nicht kennend, so wenig als das
Oben und Unten, (scil. des Ranges, da diese Vorstellung
immer eine räumliche ist, wie ja von Natur der Erzeuger
[219] gegen das Kind, der Mann gegen das Weib dem Wuchse
nach höher und grösser zu sein pflegt) Kein Vor und
Nach; denn wenn die Gegenleistung in der Zeit folgen
soll, so besteht der wirkliche Tausch in dem Wechsel eines
(angenommenen, geglaubten) Versprechens gegen die Sache.
Dort ist ein Act der distributiven, hier der commu-
tativen Gerechtigkeit gegeben, welcher bedeutende Gegen-
satz in der Wurzel identisch ist mit dem unsrigen der Ge-
meinschaft gegen Gesellschaft, und in neue und wichtige
Erörterungen den Ausblick eröffnet. Um aber zurückzu-
kehren: so ist die Handels- und andere Concurrenz (wo ein
Jeder, der mitläuft, reich, mächtig, angesehen zu werden trach-
tet) doch nur eine metaphorische; ihr steht gar kein Subject,
weder ein verkaufendes, noch ein schenkendes gegenüber,
sondern die berechenbaren oder unberechenbaren Umstände
des Schicksals, das Glück, welches aus bekannten oder un-
bekannten Ursachen den Fleiss oder die Frechheit des
Einen belohnt, des Anderen vergeblich sein lässt. Ferner:
die Versprechung eines Preises ist nur dann der ideellen
Hingabe desselben gleich, wenn die geforderte Leistung eine
durchaus objective Beschaffenheit hat, also wie eine Sache
aus der Willkürsphäre des Leistenden ablösbar ist; denn
so wird der Tausch ein vollendeter, sobald als diese auf die
Gegenseite übergegangen ist, indem eine Forderung auf den
Preis oder eine Obligation des Preisstellers daraus entsteht.
§ 10.
Und auf diese wie auf andere Weise kann aus jedem
Dienstverhältniss ein reines Contractverhältniss werden,
wie durch Erfahrung bekannt ist. Aber wiederum erkennen
wir auch, dass durch keine Anstrengung und Willkür ge-
macht werden kann, was nur die freie Natur und der mit
ihr harmonische menschliche Wesenwille hervorbringt, und
dazu gehören dessen Eigenschaften sowohl als nicht weniger
die ihm eigenthümlichen Werke. Alles von dieser Art
kann wohl belohnt, aber nicht bezahlt werden. Von den
Eigenschaften nur was sich etwa aus ihnen in bestimmten
Thaten darstellt, was daher — oder desgleichen — ein
jeder Mensch, auch ohne solche Eigenschaften, zu können
[220] gedacht wird, wenn er nur wolle, d. i. durch eine hinläng-
lich reizende Zweckvorstellung als Motiv zum Gebrauche
seiner Kräfte bewogen werde. Dies ist fictiv: denn es
gibt nicht solche physisch-psychischen Kräfte, die ausser ihm
wären, von Natur. Aber die allgemein-menschlichen
Fähigkeiten, an welchen Jeder einen quantitativ messbaren
Antheil hat, der ihm zur Verfügung steht, insofern als dem
Wirken der Gehirnerregung Contraction der Muskeln folgt,
sind eben in dieser Hinsicht äusseren Dingen gleich, in
Bezug auf welche Jeder ein Gleicher, nämlich Mensch
schlechthin ist, der sie anzufassen und zu dem ihnen eigen-
thümlichen Gebrauche anwenden kann, welcher Gebrauch
wiederum für alle Dinge der gleiche und mithin der leich-
teste ist, insofern als sie die Bestimmung der Waare em-
pfangen, wo also die wahre Anwendung in eine scheinbare,
der Gebrauch in einen Ungebrauch umschlägt. Jedoch
auch der gleiche, insofern als sie nur die Exertion allge-
mein-menschlicher Muskelkraft erfordern. Es berührt sich
hier, wie sonst, das Concret-Allgemeine, welches die An-
lagen alles Besonderen in sich enthält, mit dem Abstract-
Allgemeinen, in welchem durch den Act eines individuellen
oder gesellschaftlichen Denkens alle Besonderheiten künst-
lich ausgelöscht worden sind: das Allgemeine der Idee und
das Allgemeine des Begriffs. In Wirklichkeit ist jedoch
keineswegs, wenn eine Thätigkeit angeboten und verkauft
wird, hiermit gegeben, dass jeder Mensch derselben fähig
sei. Es ist nur die einzelne Person, welche sie für sich
äusserlich macht, und sie nimmt die Form einer solchen
dem Menschen schlechthin möglichen Sache an. Ob dann
und in welchem Maasse, auch die Ausführung solcher
durchschnittlich-allgemeinen Arbeit sich nähere, ist eine
Frage anderen Bereiches. Dies ist allerdings der Fall, je
mehr die Arbeit in Bezug auf dasselbe Werk, daher inner-
halb der Manufacturwerkstatt getheilt, die getheilte sim-
plificirt wird, endlich aber ganz besonders, wenn die Arbeit
durch Maschinen, indem dieselben mehr und mehr selbst-
wirkend werden, zuletzt nur eine Bedienung erfordert; und
wie Maschinen, so Methoden: dahin tendirend, die ausgebil-
dete Geschicklichkeit und Kunst zunächst vollkommener,
[221] alsdann aber überflüssig zu machen. Und je mehr die Ar-
beit abstracte und einfache Arbeit wird, desto deutlicher
bedingt sie als solche ihren Preis und wird auf ihren Werth
als Art der Nutzung und Ausbeutung eines Objectes — wie
der Unternehmer sie einkauft — reducirt; oder: der durch-
schnittliche Preis, zunächst ein imaginäres Mittel zwischen
hohen und niedrigen, wird durch verminderte Zugkraft der
hohen, welche qualificirter Arbeit entsprechen, dem Stande
der niedrigen immer mehr angenähert. Dieser Process voll-
zieht sich noch innerhalb des Systems gesellschaftlicher
Production, welches auf Trennung des Arbeiters von seinen
Stoffen und Werkzeugen beruht. — Hiernach werde beur-
theilt, wie unangemessen der Name des Lohn-Arbeiters
dem Proletarier des gesellschaftlichen Systemes sei. Er
correspondirt in der That dem Namen des Brodherrn oder des
Meisters für den unternehmenden Kaufmann oder Fabrikan-
ten oder die noch unpatriarchalischere Actiengesellschaft,
endlich gar den allerungnädigsten Fiscus.
§ 11.
Dem Lohne als der Gabe des Höheren an den Nie-
deren stellt sich die Abgabe als Beitrag des Niederen für
Leben und Haushaltung des Höheren zur Seite. Beide
entwickeln sich durch die thatsächliche Uebung zur Ge-
wohnheit und werden durch mitwirkende Umstände, zu-
mal als allgemeine Gewohnheit, auch in Bezug auf Art und
Menge zur Pflicht. Als durchaus freiwilligen steht ihnen
die Bitte (namentlich dem Lohne) oder versprochene, wenn
nicht vorgewährte Gunst gegenüber (namentlich der Abgabe).
Als pflichtmässigen das Verlangen (postulatum) oder der Titel
einer Gerechtsame. Endlich aber schlagen beide Gattungen
in contractmässige, — ferner, was aber hier noch nicht in die
Betrachtung fällt, in gesetzmässige — um, wo sie nichts als
bedungene und bewilligte Aequivalente sind für empfangene
und in Aussicht gestellte andere Sachen oder Dienstleistun-
gen. Da nun ihrem Ursprunge nach die Abgabe so sehr
als der Lohn dem Gedächtniss und der Erkennung (reco-
gnitio) eines gemeinschaftlichen Verhältnisses gilt, so sind
beide nichts als sichtbare Ausdrücke des Dankes für ge-
[222] nossenes Gute. Und so kann auch die Abgabe als ein
ehrender, erhöhender Lohn, der Lohn als eine gnädige, er-
niedrigende Abgabe begriffen werden. In dem einen Sinne
ist, beschenkt zu werden, auch ausserhalb des Werthes und
Nutzens, angenehm, in dem anderen lästig. Daher denn
ist die Abschaffung der Abgaben, ihre Ablösung, Verwand-
lung in Steuern u. dgl. als ein Moment der Verwesung ge-
meinschaftlicher Verhältnisse, zugleich zerstörend für den
hierdurch bedingten Rang der Oberen; wenn sie auch ihre
gesellschaftliche Bedeutung, nämlich die vollkommene
vermögensrechtliche Unabhängigkeit durch ein festes, aus
Handels- oder Wuchergeschäften hervorgehendes Geldein-
kommen, allererst möglich macht. Denn zu einem derartigen
Geschäft, auch wenn nicht durchaus als Geschäft betrieben,
wird der schlechthin freie Grundbesitz schon durch die
Form des Pachtcontracts und hieraus fliessenden Bezug
der Grundrente. Wie also jene Veränderung eine doppelte
Seite für die Destinatäre hat: eine schlechte für ihre Ehre
und eine gute für ihr Vermögen, so auch die Abschaffung
des Lohnes, aber in umgewandter Weise für die ihrigen.
Die Oberen haben, auch nachdem alle wirklichen Bande
zwischen ihnen und der Menge zerrissen sind, ein starkes
Interesse daran, den vollen Consequenzen der Gleichheit
aller Willkürfähigen sich entgegenzustemmen, in sofern als
dieselben eine Leugnung ihrer Superiorität enthalten, welche
Superiorität in der That nicht blos beharrt, sondern starrer
und schärfer wird, indem sie in eine gesellschaftliche sich
verwandelt, wo sie ganz und gar nicht im Subject — der
nackten Person —, aber um so mehr im Objecte, im Um-
fange ihrer Willkürsphäre, also zumal ihres Vermögens,
sich findet. Daher haben sie ihre Freude am Scheine und
Namen des Lohnes. Derselbe Schein, wenn auch nicht der
Name, wird von den Unteren als Marke der Dienstbarkeit,
als Unehre empfunden. Hingegen ist ihnen die Sache in
manchen Beziehungen, welche durch sich selber wohl der
Reduction auf reinen Tausch oder Contract fähig sind, nach
ökonomischem Werthe gemessen, günstig. Denn wer es ver-
schmäht (unter seiner Würde hält, sich zu gut dafür hält),
um den Preis einer Waare oder einer Leistung zu feilschen,
[223] der begibt sich dadurch seines hauptsächlichen Vortheils
als Käufer und entgeht, wenn die Leistung schon geschehen
— also, nach dem gesellschaftlichen Schema, ein stillschwei-
gender Contract vorher abgeschlossen worden ist — der
Gefahr, durch Nachforderung des Verkäufers dazu genöthigt
zu werden, nur durch reichliche Zahlung, welche also
über den Werth und Preis hinaus eine freie Gabe zu ent-
halten gedacht wird; und diese mag allerdings als eine Ver-
gütung und eigentlicher Lohn für Eigenschaften und Thä-
tigkeiten, deren Werth nicht angeboten worden ist oder
werden kann, angesehen werden. Sonst aber hat sie den
Charakter des Almosens, als der freiwilligen Abgabe des
Höheren an Niedere, als deren einziger Grund die Noth der
Niederen vorgestellt wird. Doch hat auch dieses einen ver-
schiedenen, gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Sinn;
oder vielmehr verschieden, je wie es aus individualem
Wesenwillen oder individualer Willkür hervorgeht. Denn
einmal geschieht es aus besonderem oder allgemeinem Mit-
leiden, besonderem oder allgemeinem Pflichtgefühl, aus hel-
fender, fördernder Gesinnung, und die Idee einer Nothwen-
digkeit (aus dem eigenen Antriebe) oder Schuldigkeit (aus
dem Verhältnisse einer Verwandtschaft oder Nachbar-
schaft oder Standes oder Berufsgenossenschaft, endlich gar
einer religiösen und etwa allgemein-menschlichen Brüder-
lichkeit) involvirend. Anders, wenn es mit vollkommener
Kälte, um eines äusseren Zweckes willen — z. B. um den
lästigen Anblick des Bettlers los zu werden — gegeben
wird, oder um die Eigenschaft der Freigebigkeit zu zeigen,
um sich in der Meinung von Macht und Reichthum (im
Credit) zu erhalten, oder endlich — und das ist das Häu-
figste, mit dem Uebrigen aber sehr nahe zusammenhängend
— unter dem Drucke der gesellschaftlichen Convention und
Etikette, welche ihre guten Gründe hat, solche Vorschriften
zu machen und durchzusetzen. Und dies ist die Art des
Wohlthuns der Reichen und Vornehmen — eine vornehme
Art, wie alle vornehme Art kühl und gefühllos ist. — Aus
diesen Gesichtspunkten möge das interessante und von
den Neueren so angelegentlich erörterte Phänomen des
Trinkgeldes beurtheilt werden: eine seltsame Mischung
[224] von Preis, Lohn, Almosen, jedenfalls die Gemeinschaft der
Menschen weder zu erhalten, noch zu fördern geeignet.
Es ist wie der letzte Ausläufer und die äusserste Entartung
aller solcher Bildungen. Hingegen ihre ursprüngliche und
allgemeinste Gestalt ist das Geschenk zwischen Lieben-
den, Verwandten, Freunden, wie die vollkommene Gast-
lichkeit und alle echte Hülfe ebensosehr um des Gebenden
selber als um des Anderen willen: die in Wahrheit als na-
türliche Einheit sich empfinden. Auch dieses kann, wie
Alles von gleicher Art, willkürlich und conventionell wer-
den; aber der Schein entsprechender Gesinnung wird mit
um so grösserer Aengstlichkeit festgehalten, da der sonst
sich ergebende Austausch von Naturalgegenständen ohne
Vergleichung und Schätzung, gar zu hybride und absurd
erscheinen müsste. Denn wiederum: ein Geldgeschenk auf
den Platz zu legen, ist nur dann ohne Verletzung jedes
logischen oder ästhetischen Verständnisses zulässig, wenn an
eine Erwiderung nicht gedacht werden kann, als welche eine
totale oder partielle Aufhebung ergeben würde — daher
etwa wohl als Freundesgabe des Höheren, der mit der
Macht auch den Willen haben kann, den Geringeren in
Bezug auf abstractes Vermögen zu stärken; zumal wenn
derselbe mit seiner gesammten Willenssphäre von ihm sich
herleitet, wie vom Vater der Sohn. Dagegen ist ein Geld-
geschenk des Aermeren an den Reicheren durch seinen in-
neren Widerspruch lächerlich. Aus eben demselben, nicht
oberflächlichen Grunde kann zwar der Lohn sein Wesen
bewahren, wenn er in Geld verwandelt wird; die Abgabe
schwerlich. Denn die in Geldform gesetzte Steuer gilt
durchaus, ob nun dem Staate oder einer Unterabtheilung
desselben dargebracht, einer gemeinsamen, von den indivi-
duellen Personen ausser sich gesetzten Casse. Sie ist ein
gesellschaftlicher Begriff und wird im Zusammenhange mit
den Begriffen des Staates und aller solcher Vereine erklärt
werden.
§ 12.
An der Bewegung von Status zu Contract erkennen
wir eine Parallele des Lebens und des Rechtes. Recht ist,
[225] in jedem Sinne, nichts als gemeinsamer Wille; es ist in die-
sem Sinne, als natürliches Recht, die Form oder der
Geist schlechthin, derjenigen Verhältnisse, deren Materie das
Zusammenleben, oder, im allgemeinsten Ausdrucke, der
Connex von Willens-Sphären ist; so jedoch, dass dieselbige
Form auf der einen Seite als die nothwendige Einheit der
Willen und Willenssphären oder als Emanation aus solcher
Einheit gedacht wird, mithin als so real wie die Materie,
deren subjective (psychische oder metaphysische) Erscheinung
sie ist — auch wenn jene (die Materie) als blosses Product
des einheitlichen oder harmonischen Gedächtnisses, socialer
Phantasie, begriffen wird (in dem Sinne, in welchem man
von der dichtenden, schaffenden Volks-Seele auch wissen-
schaftlich geredet hat), — auf der anderen aber als zu der-
gleichen, nur durch Denken existirenden Materie, aus den
Willkürsphären hinzugefügte Form, die blosse Erschei-
nung einer bestimmten Zusammensetzung derselben.
Die allgemeine und einfache Thatsache ist dort die Ver-
bundenheit der Leiber, welche als beständige vorgestellt
wird, wenn das Volk spricht: »Mann und Weib sind Ein
Leib«. Sie ist mithin an und für sich verbundener Wesen-
wille = natürliches Recht: die Form der ehelichen und
aller derartigen Thatsachen, welche als eine organisch an-
gelegte Materie gedacht werden. Hier ist die einfache und
elementare Thatsache der Eigenthums-Wechsel oder Aus-
tausch von Sachen, welcher in zahlreichen Fällen ganz und
gar indifferent ist, immer aber ein blos mechanischer Vor-
gang, Bewegung dessen, was schon vorhanden, und seine
Bedeutung nur durch die Absichten und Berechnungen der
Personen erhält, welche ihn vollziehen und denken. Ihre
bestimmte Willkür macht ihn erst zum rechtlichen Vor-
gang, setzt die Form des Rechtes, welche »natürlich« heissen
darf, weil sie innerhalb dieser ihrer Art das einfachste und
schlechthin rationale Gebilde darstellt. Da aber jede solche
gemeinsame Willkür durch Contract, also dieses Recht, an
und für sich gedacht, nur für seine Subjecte vorhanden ist
— als ihnen zusammen eigener Gedanke oder Begriff — so
bedarf es, um zu einer quasi-objectiven Existenz zu ge-
langen, der allgemeinen Willkür als anerkennender, be-
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 15
[226] stätigender, und fordert die Gesellschaft als derselben
Subject. Ihr Wille als natürlicher und einfacher ist Con-
vention, und ist natürliches Recht in diesem quasi-
objectiven Verstande. Aber weder durch die besonderen,
noch durch den allgemeinen Contract ist ein Subject
solches Willens und Rechtes als Einheit, ausserhalb
und getrennt von der Gesammt-Vielheit, gegeben, wenn
es nicht durch besondere Bestimmung gesetzt worden ist.
Alsdann aber verhalten sich solche Einheiten wie die Con-
tracte zu einander: durch die allgemeine Einheit werden
erst die besonderen Einheiten objectiv-real; sie erheischen
doppelte Setzung. Aber die allgemeine Einheit kann,
wenn selber einheitliche Person (als Staat) auch von sich
abhängige Einheiten einsetzen und benennen, welche gar nicht
auf Contracten von Individuen beruhen, aber Subjecte für
Massen ihrer Willkürsphäre sind, welche dauernd oder in
provisorischer Weise sich darin befinden. Hieraus ergibt
sich die Doctrin der juristischen Personen. Wenn
nun — in neutralen Ausdrücken — als die beiden Grund-
formen des socialen Daseins überhaupt »Verbindung« und
»Bündniss« betrachtet werden, so ist in Gemeinschaft (als
Status) Verbindung früher, die Einheit vor der Vielheit,
wenn auch in der empirischen Erscheinung Einheit und
Vielheit noch nicht auseinander gegangen sein mögen; Bünd-
niss ist später, als ein besonderer Fall, in welchem die be-
sondere Einheit unentwickelt bleiben soll; so wie der
Mann früher ist — der Idee nach — als der Knabe, dieser
aber sowohl als werdender, zukünftiger Mann betrachtet
werden kann, wie auch als Knabe in seiner unentwickelten
Gestalt. In Gesellschaft ist Bündniss das frühere, als der
einfache Fall; Verbindung ist das zwiefache oder mehrfache
Bündniss. Gemeinschaft steigt von Verbindung zu Bündniss
hinab: dieses kann hier nur innerhalb einer objectiv-allge-
meinen Ordnung gedacht werden, da in ihm die Willen am
meisten der Willkür ähnlich werden. Gesellschaft erhebt
sich von Bündniss zu Verbindung. Während aber für
alle einzelnen Willenseinigungen Bündniss die adäquatere
Form ist, insbesondere die allein mögliche für einfache
Combination, so ist hingegen für die Einigung Vieler, welche
[227] Bündnisse Aller mit Allen involvirt, Verbindung die ad-
äquatere Form. Und sie kann wiederum in ihrer höchsten
Entfaltung der Gemeinschaft ähnlicher werden, die sie
setzende Willkür um so mehr dem Wesenwillen gleich er-
scheinen, je allgemeiner sie ist, in ihrem Umfange und in
Bezug auf ihre Zwecke. Denn um so schwerer sind die ihr
unterliegenden Contracte nachweisbar, und sind um so com-
plicirter ihrem Inhalte nach.
§ 13.
Innerhalb einer sich entwickelnden und in viele
Gruppen gegliederten Volks-Gemeinschaft muss aber der
Austausch von Gegenständen und somit die Form des Con-
tractes als in stätiger Zunahme begriffen gedacht werden.
Ungeheure Hemmungen sind jedoch vorhanden und werden
aufgerichtet, dass diese Thatsachen und Formen nicht zu
herrschenden oder gar alleinigen werden. Und die ge-
sammte Entwicklung ist zuvörderst auch eine Vermannig-
fachung und Erweiterung der gemeinschaftlichen Thatsachen
und der Formen des Verständnisses, oder, wie wir im Sinne
des Naturrechts sagen wollen, des Status, als welcher immer
neuen Bildungen sich anpasst. Aus jedem Status wie aus
jedem Contract ergeben sich für die individuellen Selbste
oder Personen, Rechte und Pflichten. Der Status setzt die
Individuen nicht voraus, sondern ist in und mit ihnen da;
was er voraussetzt, ist seine eigene Idee und Form, welche
entweder durch sich selber begriffen oder aus einer anderen
abgeleitet wird. Der Contract ist erst ganz er selber, wenn
er als gemacht von Individuen und als ihr Gedankending
ausserhalb ihrer begriffen wird.
Die Parallele von Leben und Recht wird demnach
zuerst einen Fortgang zeigen von gemeinschaftlichen Ver-
bindungen zu gemeinschaftlichen Bündniss-Verhältnissen; an
deren Stelle treten alsdann gesellschaftliche Bündniss-Ver-
hältnisse, und hieraus entstehen endlich gesellschaftliche
Verbindungen. Die Verhältnisse der ersten Classe sind
wesentlich familienrechtlich und besitzrechtlich; die der an-
deren gehören dem Vermögens- und Obligationenrecht an.
15*
[228] Der Typus aller gemeinschaftlichen »Verbindungen« ist die
Familie selber, in allen ihren Gestaltungen. Der Mensch
findet sich in dieselben hineingeboren; er kann zwar das
Verbleiben darin, aber keineswegs die Begründung sol-
ches Verhältnisses als aus seiner willkürlichen Freiheit er-
folgend mit irgendwelchem Sinne denken. Wenn wir zu-
rückgreifen auf die drei unterschiedenen Fundamente aller
Gemeinschaft: das des Blutes, des Landes und des Geistes
— oder: Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft —
so sind in der Familie alle zugleich, aber das erste als ihr
Wesen constituirend. Die gemeinschaftlichen »Bündnisse«
werden am vollkommensten als Freundschaften aufgefasst;
die Gemeinschaft des Geistes beruhend auf gemeinsamem
Werk oder Beruf, und so auf gemeinsamem Glauben. Es
gibt aber auch Verbindungen, die selber in der Gemeinschaft
des Geistes ihren hauptsächlichen Inhalt haben, und aus
freiem Willen nicht blos gehalten, sondern auch geschlossen
werden: von solcher Art sind vorzüglich die Corporationen
oder Genossenschaften der Kunst und des Handwerks, die
Gemeinden oder Brüderschaften der Religion oder eines be-
stimmten Cultuszweckes: Gilden, Zünfte, Kirchen, Orden; in
allen diesen bleibt aber Typus und Idee der Familie erhalten.
Als Urbild der gemeinschaftlichen Bündnisse kann aber
das Verhältniss von Herren und Knecht, besser: von Meister
und Jünger, in unserer Betrachtung verharren; zumal inwiefern
es von einer jener Verbindungen als von einem wirk-
lichen oder ideellen Hause überdacht bleibt. Zwischen
Verbindung und Bündniss stehen viele wichtige Verhältnisse,
unter welchen das wichtigste die Ehe ist, als welche einer-
seits die Basis neuer Familie darstellt, andererseits durch
freie Einigung des Mannes und Weibes gestiftet zu werden
scheint, welche doch nur aus der Idee und dem Geiste der
Familie begriffen werden kann. Die Ehe in ihrem mora-
lischen Sinne, d. i. die einfache Ehe (Monogamie), kann als
vollkommene Nachbarschaft definirt werden; das Zu-
sammen-Wohnen, die beständige leibliche Nähe, Gemeinsam-
keit täglicher und nächtlicher Stätte, Tisches und Bettes
macht ihr ganzes Wesen aus; ihre Willenssphären und Ge-
biete grenzen nicht an einander, sondern sind wesentlich
[229] Eins, wie die Mark der Dorfgenossen. So stellt auch ihre
Güter-Gemeinschaft im Besitze desselben Ackerlandes
auf die höchste Weise sich dar. — Alle diese Verhältnisse
des Status können zwar im Leben und im Rechte zu Con-
tracten werden, aber nicht ohne ihren wirklichen und orga-
nischen Charakter einzubüssen. Das Dasein von Menschen
in ihnen ist durch besondere Qualitäten derselben bedingt;
sie schliessen daher anders bedingte Menschen von sich aus.
Als Contracte sind sie durch gar keine Qualitäten bedingt,
sondern erfordern blos Menschen, welche dem Begriffe der
Person entsprechen durch irgendwelche als Quantitäten
messbare Fähigkeiten oder Vermögensmengen. So sind nun
die einfachen Contracte des Handelsverkehrs, als worin die
Tauschenden und Geschäfte-Machenden immer als Gleich-
Berechtigte einander gegenüberstehen; und so dass ihre innere
Gleichgültigkeit gegen einander keineswegs der Möglichkeit
und Wahrscheinlichkeit ihrer Verträge entgegen ist, viel-
mehr dieselbe begünstigt, und von dem reinen Begriffe als
Bedingung gefordert wird. Scheinbar beruhen Contracte, so-
fern nicht Zug um Zug geleistet wird, auf Vertrauen und Glau-
ben, wie der Name des Credits anzeigt; und dieses Moment,
dem Wesenwillen angehörig und darauf sich beziehend, kann
bei unentwickeltem derartigem Verkehre wirklich wirksam
sein und bleiben. Mehr und mehr aber wird es verdrängt
und ersetzt durch die Rechnung, in welcher aus objec-
tiven Gründen zukünftige Leistung für sicher oder für mehr
oder minder wahrscheinlich gehalten wird, als aus dem eige-
nen Interesse des Contrahenten erfolgend; sei es, weil er ein
geschätztes Pfand hinterlegt hat oder weil die Möglichkeit
fernerer Geschäfte für ihn von bewiesener Zahlungsfähigkeit
abhängt. Also ist dann der Schuldner nicht mehr ein
Armer, Dienender, Verpflichteter, sondern ein Geschäfts-
mann, wie umgekehrter Weise jeder Geschäftsmann ein
Schuldner zu sein pflegt. Daneben aber gehen die Dienst-
Contracte, vor allen der Arbeits-Contract, welcher die
beiden grossen Classen der Gesellschaft verbindet und die
Form ist, durch deren Eingehung Mengen von Menschen
zu gemeinsamer Arbeit vereinigt werden oder sich vereini-
gen: der wahre Hebel einer socialistisch-revolutionären mög-
[230] licher Weise so gut als einer socialistisch-positiven Construc-
tion des Zusammenlebens.
§ 14.
Gesellschaftliche Verbindungen können sich auf Zwecke
aller Art beziehen, welche als mögliche Erfolge gedacht wer-
den und als erreichbar durch vereinigte Kräfte oder Mittel;
indessen kann eine künstliche Person nicht auf andere
Weise über menschliche Kräfte verfügen, als indem diesel-
ben zu ihrem Eigenthum gehören, also durch ihren Geld-
werth anderem Vermögen gleichartig sind; und so kann
sie entweder, wie eine natürliche Person, Arbeitskräfte ein-
gekauft haben — was ihr Dasein und Geldvermögen vor-
aussetzt — oder es mögen bestimmte Leistungen von ihren
Urhebern selber, sei es mit oder nach der Stiftung, ebenso
wie Geldsummen, ihr bewilligt werden; und diese können
von Allen gleichartige oder verschiedenartige sein, wobei
jedoch die Verabredung möglich ist, dass als Gleichheit
auch ein gleiches Verhältniss zu den Gesammtkräften eines
Jeden gelten solle. Nun ist ein sich wiederholendes Er-
gebniss oder die fortwährende Thätigkeit der Verbindung,
worin der gewünschte Erfolg, der gesetzte Zweck besteht.
Wenn ein Ergebniss: so ist dasselbe entweder nach Be-
lieben theilbar und getheilt zu werden bestimmt, wie ein
Geldertrag — alsdann muss bei gleichen Gesammtein-
lagen (an persönlichen und Vermögensleistungen) zu glei-
chen Theilen, bei ungleichen zu proportionalen
getheilt werden; oder nicht theilbar und nicht getheilt zu
werden bestimmt: dann muss der mögliche und vorausge-
sehene Genuss ein gleicher oder proportionaler sein. Und
ebenso wird es stehen mit dem Nutzen einer fortwährenden
Thätigkeit. In allen diesen Fällen wird aber angenommen,
dass der Aufwand von Kräften und Mitteln mit dem Er-
folge im günstigsten Falle das Verhältniss der Gleich-
heit habe, d. h. dass keine Quantität von Kraft ohne
ihre Wirkung bleibe (verschwendet werde). Was also die
Sich-Verbindenden wollen, ist nur ein Umsatz und Erhal-
tung ihrer Energieen, wie auch durch jeden Act des Wesen-
willens auf bessere oder geringere Weise producirt wird.
[231] Mithin ist eine gesellschaftliche Verbindung nicht als solche
auf die höhere willkürliche Thätigkeit hingewiesen (die
es nicht blos der Form nach ist), und nicht darin ist ihr
Unterschied von der gemeinschaftlichen Verbindung gelegen,
als welche doch auch — vermittelst ihres Hauptes (ihrer
Häupter) — ihren Willen als Willkür darstellen kann;
aber jene ist die allein mögliche Art der Verbindung,
nachdem einmal nichts als individuelle Personen mit ge-
trennten Willkürsphären sind vorausgesetzt worden; und
sie unterscheidet sich deutlich dadurch, dass auf einen be-
stimmten Zweck und bestimmte Mittel dazu alle ihre
Thätigkeit, sofern sie dem Willen ihrer Theilnehmer ge-
mäss, also rechtmässig sein soll, muss eingeschränkt wer-
den. (Hingegen ist es der gemeinschaftlichen Verbindung
wesentlich, so universal zu sein, wie das Leben ist, und ihre
Kräfte nicht ausser ihr, sondern in sich selbst zu haben.)
Allerdings kommen viele solche Zweck-Gesellschaften vor,
bei welchen die Basis eines Contractes mit diesem Inhalte
nicht mehr deutlich ist, weil keine Obligation im rechtlichen
Sinne daraus entsteht, d. h. die in der allgemeinen Rechts-
ordnung als solche anerkannt wäre. Ebenso gehören daher
andere Verbindungen in diese Kategorie, welche zwar die
äussere Gestalt eines reinen Contractes annehmen, aber
wiederum ohne diese gewöhnliche Folge einer gleichsam
handgreiflichen und der Schätzung in Geld empfänglichen
Obligation. »So lässt sich eine Verabredung mehrerer
Menschen denken, in regelmässigen Zusammenkünften sich
gegenseitig in Wissenschaft oder Kunst auszubilden. Diese
Verabredung wird vielleicht die äussere Gestalt eines Ver-
trages an sich tragen [und, möge hinzugefügt werden, einen
Verein begründen], aber eine Obligation auf die so verab-
redete Thätigkeit wird nicht entstehen können« (Savigny
a. a. O.). So kann denn auch ein Verein entstehen, wel-
cher für seine Theilnehmer volle Realität als Person hat,
ohne doch in der Rechtsordnung überhaupt vorhanden zu
sein (nicht-juristische künstliche Person). Hingegen sind
die eigentlich rechtlichen und gesellschaftlich bedeutendsten
Associationen solche des Vermögens, auch in Absicht auf
den Zweck: eine Zusammenlegung von Mitteln zum Behuf
[232] ihrer eigenen Vermehrung; daher insbesondere die Ver-
bindungen des Kapitals für die Zwecke des Wuchers, des
Handels und der Production. Solche Verbindung will Profit
machen, wie die einzelne handelnde Person. Sie hat zu
diesem Behufe Häuser oder Schiffe, oder Maschinen und
Stoffe erworben. Alles, was sie im Vermögen hat, gehört
ihren Theilhabern, aber nicht denselben als Einzelnen, son-
dern insofern sie einheitliche Person sind. Und inso-
weit haben sie folglich ein Interesse an Erhaltung, Herstel-
lung, Vermehrung solcher Geräthe. Davon trennt sich
hier das Interesse der Einzelnen an dem blossen zur Ver-
theilung gelangenden Einkommen, welches in der That
der letzte Zweck ist, dem auch jenes einheitliche Interesse
dienen muss und um dessen willen die ganze Einigkeit ge-
macht worden ist. Diese Trennung kann an einer wirk-
lichen und individuellen Person nur in abstracto vollzogen
werden. Mithin zeigt die Form der Association den reinen
Zusammenhang der Motive auch des individuellen willkür-
lichen Handelns auf deutlichere Weise. Ihre Actionen aber
sind theils nach aussen gerichtet, theils nach innen in Be-
zug auf sich selber und ihre Theilhaber. Zunächst ist sie,
d. i. die sie vertretende Person, auch für jene den Einzel-
nen verantwortlich, welche sich aber zum Behuf
ihrer Controle eine besondere Einheit und Vertretung —
als einfachster Weise in ihrer eigenen beschlussfähigen
»General-Versammlung« — geben können (dieselbe
wird nun aber ihrerseits den Einzelnen verantwortlich wer-
den); nämlich gebunden, wie sie (die Person der Associa-
tion) war, nach der angenommenen Regel eines Mandats-
Contractes zu verfahren. Aber ihre nach innen gerichtete
Action, und das ist, die Theilung ihres (an bestimmten
Terminen) verfügbaren Gewinnes (als des Erfolges ihrer
Handlungen) zwischen sich als Einheit und sich als Viel-
heit, fällt ebenfalls unter dieselbe besondere oder unter
anerkannte allgemeine Rechtsregeln, und stellt, sofern sie
die Einzelnen angeht, ganz und gar wie eine äussere Action
sich dar. Dieselbe ist aber nicht als solche Erfüllung einer
Obligation, unter welcher die Association sich befindet, sondern
ist nur die etwanige Folge ihrer allgemeinen Obligation, das
[233] gesellschaftliche Vermögen theils überhaupt auf zweckmässige
Weise zu verwalten, theils insbesondere zum grössten mög-
lichen Vortheile der Theilhaber. So ist eines Jeden Antheil
in Wirklichkeit nur ein projicirtes und unter besondere,
von ihm selber (wenn überhaupt so) blos mit-abhängige Ver-
waltung gestelltes Stück seines Vermögens; wie auch jeder
für sich zu seinem Geschäfte oder seinen Geschäften wie
zu fremden, obgleich von ihm selber fingirten Personen
sich verhalten kann, sein privates und Genuss-Vermögen
als das eigentlich Seine behauptend. Während aber jene
Geschäfte zwar nach aussen hin (im Handelsrecht) als be-
sondere Personen figuriren können, niemals jedoch auf öffent-
liche Weise gegen ihr eigenes Subject oder gar gegen ein-
ander (sondern nichts sind als er selbst, in besonderen und
anerkannten Ausdrücken; so dass in der That auch mehrere
solche in den wichtigsten Beziehungen selber als eine und
dieselbe Person gelten müssen); anders verhält es sich
mit Vermögens-Gesellschaften, wenigstens rechtlich-
möglicher Weise; denn es kann zwar auch eine solche
mit der Vereinigung ihrer Subjecte — obschon einer Ver-
einigung zu diesem bestimmten Zwecke — insoweit
identisch sein, dass sie (als eine eigentliche Societät oder offene
Gesellschaft) nur für und nicht gegen dieselben vorhanden
ist, mithin auch keine einheitliche juristische Person dar-
stellend (keine universitas, so wenig als das Geschäft, unab-
hängig von seinem Inhaber, dies sein kann, wenn es auch
als »Firma« die Person desselben zu perpetuiren vermag),
sondern allein die in gewissen Folgen als Einheit geltende
Mehrheit der theilhabenden Personen. Hingegen wird die
Vermögens-Gesellschaft frei und selbständig, wenn sie selbst
als ein der Repräsentation bedürfendes Subject vorgestellt
wird, das zwar ohne Obligationen in Bezug auf ihre Actio-
näre (welche darum so heissen, weil sie eine Klage, frz.
action, gegen die Gesellschaft haben) nicht denkbar ist, zu-
gleich aber ein vollkommenes Eigenthum an dem zu-
sammengetragenen Vermögen inne hat, und gleich jeder an-
deren Person bis zur Höhe ihres Eigenthums für eingegangene
Verbindlichkeiten haftet. Andere Formen von Associationen
des Vermögens, wie die eingetragene Genossenschaft, mit
[234] unbeschränkter oder doch über die Antheile hinausgehender
Haftung der Genossen, sind zwar ganz und gar aus beson-
deren Contracten ableitbar, müssen aber in Wirklichkeit,
um leben zu können (ebenso wie die analoge offene Ge-
sellschaft), vielmehr auf Gemeinschafts-Verhältnissen der Mit-
glieder beruhen, sind also dadurch dem gesellschaftlichen
Rechte unangemessen, was die Erfahrung bestätigt. Sie be-
hält entweder ihren Charakter als freie Person: dies wird
für ihre Theilhaber unerträglich; oder sie verliert ihn und
sinkt zu einer blossen Societät herab, alsdann fällt sie unter
die frühere Betrachtung. Die Actien-Gesellschaft da-
gegen, welche nur für sich selber haftet, und zumal in ihrer
natürlichen und fast ausschliesslichen Beschränkung auf
Zwecke des Profitmachens, ist der vollkommene Typus aller
durch Willkür möglichen socialen Rechtsbildungen; eben da-
rum, weil eine gesellschaftliche Verbindung ohne alle Bei-
mischung gemeinschaftlicher Elemente, selbst ihrer Entstehung
nach, als welche sonst so oft über die wirkliche Beschaffenheit
dieser Dinge das Urtheil täuscht. Die Allgemeinheit aber
einer Form der Actien-Gesellschaft, in welcher die Antheile
Mengen von Arbeit anstatt Mengen von Kapital sein würden,
müsste die kapitalistische Productionsweise umschlagen und
damit die Production von Waaren überhaupt aufheben.
[[235]]
ZWEITER ABSCHNITT.
DAS NATÜRLICHE IM RECHTE.
§ 15.
Die antike Philosophie des Rechtes hatte sich das Pro-
blem gestellt, ob das Recht ein Naturproduct (φύσει) oder ein
Kunstproduct (ϑέσει s. νόμῳ) sei. Die Antwort gegenwär-
tiger Theorie geht dahin: dass Alles, was aus menschlichem
Willen hervorgeht oder gebildet wird, natürlich ist und kunst-
haft zugleich. Aber in seiner Entwicklung steigert sich
das Kunsthafte gegen das Natürliche, je mehr die specifisch
menschliche und insonderheit die mentale Kraft des Willens
in Bedeutung und Anteil zunimmt; bis sie endlich in eine
(relative) Freiheit von ihrer natürlichen Basis sich gestaltend,
auch in einen Gegensatz gegen dieselbe gerathen kann. So
ist alles gemeinschaftliche Recht zu verstehen als ein Er-
zeugniss des menschlichen, denkenden Geistes: ein System
von Gedanken, Regeln, Sätzen, das als solches einem Or-
gane oder Werke vergleichbar, entstanden durch die viel-
fache entsprechende Thätigkeit selber, durch Uebung, als
Modification eines schon vorhandenen Gleichartig-Substan-
tiellen, im Fortschritte vom Allgemeinen zum Besonderen.
So ist es sich selber Zweck, wenn auch in nothwendigem
[236] Bezuge auf jenes Ganze, welchem es angehört und ent-
sprossen ist, welches es selber ist, auf eine eigenthümliche
Weise erscheinend. Mithin ist eine verbundene Menschheit
als Natürliches und Nothwendiges vorausgesetzt, ja es ist
ein Protoplasma des Rechtes vorausgesetzt, als ur-
sprüngliches und nothwendiges Product ihres Zusammen-
lebens und Zusammendenkens, dessen fernere Entwicklung
wesentlich durch seine gleichsam eigene Thätigkeit, nämlich
durch den vernünftigen Gebrauch seines Urhebers geschehen
sei. Also ist es zu verstehen, wenn gelehrt wurde, dass es
ein Recht gebe, worin die Natur alle thierischen Wesen
unterwiesen habe, und das als solches auch aller Menschheit
gemein sei. Denn wenn auch Recht hier in einem unbe-
stimmten Sinne gedacht wurde, so ist eben aus diesem un-
bestimmten der bestimmtere abzuleiten; und allerdings ist
der Naturtrieb, welcher Mann und Weib zusammenführt,
Keim des ihnen gemeinsamen, für sie verbindlichen Willens,
welcher die Familie begründet. Und von dieser Idee aus
kann durch Analyse jedes positiven Gewohnheitsrechtes
die Basis jener Normen gefunden werden, welche im In-
neren des Hauses die Verhältnisse zwischen Ehegenossen,
zwischen Eltern und Kindern, zwischen Herren und Dienern
ordnend feststellen. Dieselben sind im Ganzen unabhängig
von der Idee des Eigenthums, welche erst durch die Cultur
des Ackers tiefere Bedeutung gewinnt. Dieses bildet daher
als die sichtbar gewordene Willenssphäre den Kern des
eigentlichen Rechts, welches sich mehr auf die Verhältnisse
zwischen den Häusern, als zwischen den individuellen Fa-
miliengliedern bezieht. Ein mittleres Gebiet ist daher, was
die Verhältnisse zwischen repräsentativen Gliedern, also
insonderheit den Hausherren angeht, inwiefern sie zusammen
einem höheren Verbande angehören, dessen stummer oder
lauter Wille, dessen Idee sie beherrscht. Und in einem sol-
chen sich ausdehnenden verlieren und vereinzeln sie sich,
steht zuletzt als gleiches Individuum der Sohn gegen den
Vater, das Weib gegen den Mann, der Knecht gegen den
Herrn, berühren sich dagegen die entferntesten, einander
gleichgültigsten, ja ihrem Wesenwillen nach feindlichsten
Verkäufer von Waaren, mit angenommener Freundlichkeit,
[237] tauschen und schliessen Contracte. Und diese Freiheit der
Zusammenkunft, die Leichtigkeit Geschäfte zu machen
und die Gleichheit der vernünftigen Menschen, erscheint
alsdann und ist ihnen das Natürliche.
§ 16.
Das natürliche Recht in diesem Verstande über-
wand das bürgerliche Recht der Römer und aller politischen
Gemeinden der antiken Cultur. Es wurde definirt, wie be-
kannt ist, als das gemeinsame Recht aller Menschen; als
was die natürliche Vernunft unter allen Menschen festge-
setzt habe, das daher bei allen Völkern durchweg in glei-
cher Weise beobachtet und auch gemeines Recht (ius gen-
tium) gehiessen werde. Und es wurde, von dem richtigen
Begriffe aus, dass die Entwicklung vom Allgemeinen zum
Besonderen ihren Progress habe, der Schluss gezogen, dass
dieses gemeine Recht der Zeit nach früher sei, als das
particulare der Städte. Und doch erhob die Wirklichkeit den
Widerspruch, dass sie jenes (nach den Bedürfnissen eines
Verkehrs, der nicht zwischen Städten und Städten, mithin
nicht zwischen Bürgern der einen und Bürgern der anderen
als solchen, sondern zwischen Allen und Allen, den nackten
Individuen sich entspann, welche ihre differenten bürgerlichen
Trachten abgeworfen hatten), als ein Reagens in den Misch-
kessel warf, das alle verschiedenen Stoffe in ihre gleichen
Elemente auflösen musste. Und also war es später als
das particulare Recht, nicht dessen Grund und Voraus-
setzung, sondern seine Folge und Negation. Denn es ist
ihm nichts als Hemmniss; und das Gemeine ist so natürlich
und einfach, als ob es von Ewigkeit her müsse vorhanden
gewesen sein und habe gar keine Voraussetzungen, sondern
sei nur durch künstlich-positive Erfindungen und Satzungen
verdunkelt worden, deren Auslöschung mithin die Wieder-
herstellung ursprünglichen Zustandes bedeute. Hier ist
die Lösung des Widerspruchs gelegen; denn hier ist die
Verwechslung fast unvermeidlich. Nämlich es ist diese Ur-
sprünglichkeit eigentlich nicht als zeitliche zu verstehen,
sondern als aeterna veritas, als ein Gedankending oder Ideal,
das ebensowohl in die grenzenlose Ferne der Zukunft als
[238] der Vergangenheit könnte gesetzt werden. Dass es zu ir-
gend einer Zeit wirklich gewesen sei, wird nicht als
historische Ansicht, sondern als ein zweckmässig fingirtes
Schema gemeint, welches der Absicht dienen soll, jenen
Begriff in die zukünftige Wirklichkeit zu übertragen. Die-
selbe Fiction wird allerdings erleichtert durch die Vorstel-
lung, dass ein Allgemein-Menschliches als Kern in allen
sonderbaren Gebräuchen und Formen enthalten sei, und dass
die bewusste Auffassung desselben mit demjenigen sich decke,
was die Vernunft auch ohne alle Erfahrung denken und be-
greifen müsse. »Ius gentium war thatsächlich die Summe der
gemeinsamen Bestandtheile in den Gewohnheiten der alten
italischen Stämme, denn sie waren »alle Nationen«, welche
die Römer in der Lage waren zu beobachten und welche
von Zeit zu Zeit Schwärme von Einwanderern auf römischen
Boden entsandten. So oft als gesehen wurde, dass ein be-
sonderer Brauch in gemeinsamer Uebung sich fand bei einer
grossen Zahl getrennter Völkerschaften, so ward derselbe
gebucht als Theil des Rechtes, das allen Nationen gemein
sei, des Ius gentium. Also, obgleich die Uebertragung von
Eigenthum sicherlich in den zahlreichen Republiken, welche
Rom umgaben, sehr verschiedene Formen angenommen
hatte, so war doch die eigentliche Uebergabe (Tradition)
des Gegenstandes, der übertragen werden sollte, ein Theil
des Ceremoniells in allen [und schien, füge ich hinzu, allein
das Wesen der Sache darzustellen] .... diese wurde folg-
lich aufgefasst als Institution des gemeinen Rechtes« (H. Maine
A. L. p. 49). Allerdings aber, auch wenn die Uebersicht
der Erfahrung weiter ging und über die höher ausgebildeten
griechischen Rechtssysteme sich erstreckte, so wurden die
Thatsachen der mannigfachen Contracte als Kauf, Miethe,
Depositum, Mandat, ebenso wie die Institutionen der Ehe, der
Vormundschaft u. s. w., wenn auch in bunten Verkleidungen,
in allen entdeckt; mithin das Gerüste der entsprechenden
Rechtsformen als allgemein und nothwendig erkannt.
§ 17.
Folglich schloss man: dies sei das Wesentliche, dass
alle Menschen mit einander handeln und Verhältnisse
[239]bilden können — wenn sie nur wollen; dass also, ausser-
halb aller durch eigene Willkür übernommener Verpflich-
tungen, geschlossener Verträge, eingegangener Verhältnisse,
Jeder vollkommene Freiheit habe und behalte. Dieser Frei-
heit war aber nicht blos ein Institut wie die Knechtschaft
entgegen, sondern auch die väterliche Gewalt (ausser über
Kinder und Wahnwitzige) und alle Gesetze, welche in einer
gegebenen Stadt, z. B. in Rom, dem eingeborenen Bürger
und seinem Eigenthum Standesvorrechte vor dem Fremden
verliehen. Insofern als die begriffliche in zeitliche Folge
umgesetzt ward, so schien es, als habe die Willkür von
Gesetzgebern alle diese Schranken aufgerichtet wider die
Natur. Und doch vermochte sich gegen das Fundament
dieser Ansicht, als ob die Menschen von Natur und ur-
sprünglich (weil ihrem Begriffe nach) vernünftig, frei und
gleich seien, die als historische tiefer begründete Anschauung
geltend zu machen, wie sie von Ulpian und anderen
Juristen ausgesprochen wird. Diese unterscheidet natür-
liches und gemeines Recht; sie behauptet sogar den haupt-
sächlichen Gegensatz zwischen diesen beiden Schichten;
denn obgleich das letztere als eine mittlere Lage zwischen
natürlichem und civilem Rechte dargestellt wird, so wird
doch zugleich das civile nur als Anhängsel und speciellere
Ausbildung jenes früheren betrachtet. Hier ist das Natur-
recht Inbegriff der Einrichtungen, welche auch bei den
Thieren sich finden, gemeines Recht derjenigen, die den
Menschen eigenthümlich sind. Diese also beruhen auf einem
Grunde, welchen nicht natürliche Vernunft gelegt hat, son-
dern eine viel allgemeinere Notwendigkeit des Zusammen-
lebens geschaffen hat. Es musste nahe liegen zu folgern,
dass so etwas wie diese Nothwendigkeit auch in den beson-
deren menschlichen Institutionen gemeinen oder civilen
Rechtes enthalten sei; und gegen die Einräumung und Be-
hauptung, dass eben das Allgemeine und nur das Allge-
gemeine offenbar das Nothwendige sei, welches daher als
solches geachtet, erhalten oder wiederhergestellt werden
müsse, konnte zuvörderst sich der Zweifel erheben, was
denn jenes Allgemeine sei? Dass es geschiedene Völker
und Reiche gibt, Sklaverei, Eigenthum, Handelsgeschäfte
[240] und Obligationen, so wird geantwortet. Denn dem civilen
Rechte werden nur einige Vermehrungen und Veränderun-
gen dieser Institute zugeschrieben. Es ist deutlich, dass
hier eine ganz verschiedene Ansicht des Allgemeinen vor-
liegt, aus welcher auch ganz verschiedene Folgerungen sich
ergeben. Gewisse Arten der Verbundenheit und Zusammen-
gehörigkeit sind schon in der animalischen Idee des Men-
schen enthalten. Dieselben werden nicht durch irgend einen
Willen, geschweige durch irgend einen menschlichen Willen
geschlossen; es folgt auch nicht daraus, dass sie bei den
Thieren vorhanden sind, dass ein Mensch mit einem Thiere
sie eingehen könne oder können müsse; mithin folgt ebenso
wenig, weil sie allen Menschen gemein sind, dass jeder
Mensch mit jedem Menschen, wenn er nur wolle, dergleichen
Verbindungen machen könne. Ebenso folgt so etwas
nicht in Bezug auf die Institutionen, welche specifisch
menschlich sind. Vielmehr: wie sich die Idee des Menschen
zu der des Thieres oder einer engeren animalischen Gat-
tung verhält, also verhält sich die Idee, sage des Hellenen,
zur Idee des Menschen. Wie sich, obgleich Paarung auch
Sitte der Thiere ist, nur Mensch mit Menschen paart, so
mag auch, so allgemein die Ehe unter den Menschen ist,
der Hellene nur mit der Hellenin in gültigem Bunde
leben; ob zwar mit irgendwelchem Menschenweibe seine
Begattung vorkommen mag, ja als physiologischer Act sogar
(turpe dictu) mit Thieren möglich ist.
§ 18.
So hat die Allgemeinheit der Ehe unter Men-
schen den zwiefachen Sinn: einmal diesen, dass solches
gemeinschaftliche Zusammenleben zwischen männlichen und
weiblichen Menschen überhaupt stattfinden kann; den an-
deren aber, dass jedes Volk oder sogar jede Stadt jene all-
gemeine Idee auf eine eigenthümliche Weise ausprägt und
an bestimmte Bedingungen die Möglichkeit der nach ihrem
Willen und Recht gültigen Ehe anknüpft. Mithin, wie jeder
Mensch, als Mensch, prädestinirt ist zu einem bestimmten
Rechte, also der Römer als Römer zu einem bestimmteren.
Hierin ist kein Grund entdeckbar, warum das Allgemeine
[241] richtiger und vernünftiger sei. Das Allgemeine in der
früheren Bed eutung setzt eine Rechts-Ordnung voraus, als
ebenso über Menschen waltend, wie die römische Rechts-
ordnung über römischen Bürgern. Aber auch in der spä-
teren Bedeutung kann das gemeine Recht als eine Ordnung
verstanden werden, welche nur nicht als ein Recht gewill-
kürt und gewusst werde, sondern im menschlichen Herzen
als Gefühl für das Nothwendige und Gute, als Widerwille
wohne gegen den Greuel, d. h. als Gesetz des Gewissens.
»Es ist dieses Gesetz nicht geschrieben, sondern geboren, wel-
ches wir nicht gelernt, angenommen, gelesen, sondern aus der
Natur selber empfangen, geschöpft, uns eingeprägt haben,
wozu wir nicht gelehrt, sondern geschaffen, nicht gebildet,
sondern begabt worden sind,« sagt der rhetorische Ausdruck
Cicero’s (p. Mil. c. X). So hat den Instinct der Mutterliebe
Thier und Mensch; der Mensch hat aber zu dem Instincte
dessen Ausbildung in Pflichtgefühl; und so ist Mutter-Recht
gemeines Recht. Das uneheliche Kind gehört zur Mutter
und folgt ihrem Stande. Diese Ordnung ist in Geboten und
Verboten ehrwürdiger und wichtiger; sie hat grössere mo-
ralische Bedeutung. So ist Incest nach gemeinem Recht
verboten und ein Greuel; uneheliche Verbindung anderer
Art ist hauptsächlich wegen seiner mangelhaften Folgen im
heiligen Rechte vom Uebel. Denn jenes Naturrecht ist zu-
gleich heiliges und göttliches Recht und steht unter priester-
licher Verwaltung. Ein Anderes ist es, wenn die Analogie
des bürgerlichen Rechtes auf eine unbegrenzte Sphäre, um
zum Weltrecht zu werden, ausgedehnt wird, nachdem in
dem Wesen jenes die Nabelschnur, welche es mit dem seiner
Natur nach früheren und ihm gleichsam mütterlichen ge-
meinen Rechte verband, ist durchschnitten worden (oder in-
dem der eine Process die Function des anderen ist). Denn
nunmehr ist das bürgerliche Recht nur eine zufällige Be-
schränkung, welche sich die dahinter latirende, empirisch-
wirkliche Freiheit von Menschen (die metaphysische Freiheit
des Willens) gesetzt hat und fortwährend setzt und auch
zerstören kann, wie ja zwei Contrahenten das, was sie obli-
girt, auch auflösen können. Zufällig ist jede besondere
Ordnung; nothwendig ist nur eine Ordnung überhaupt,
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 16
[242] eine Weltordnung, auch diese aber nicht nothwendig als
Wirklichkeit, sondern als ein Mittel zum vernünftigen Leben,
welches der Denkende setzen und bejahen muss. Je mehr
daher die Menschen »als Menschen schlechthin« zusammen-
kommen oder, was dasselbe ist, je mehr Menschen von
allerlei Art zusammenkommen und einander als vernünftige
Menschen oder als Gleiche anerkennen, desto wahrschein-
licher, und endlich nothwendig, wird unter ihnen die Dar-
stellung und Errichtung einer universalen Gesellschaft und
Ordnung. Diese Vermischung geschieht in Wirklichkeit
durch Handel und Wandel; die Herrschaft Roms über den
Orbis Terrarum, welche selber im Handel und Wandel ihre
materielle Basis hat, nähert alle Städte der Einen Stadt,
bringt alle bewussten, feilschenden, reichen Individuen, den
ganzen Herrenstand des unermesslichen Reiches auf dem Fo-
rum zusammen, schleift ihre Unterschiede und Unebenheiten
gegen einander ab, gibt Allen die gleichen Mienen, die
gleiche Sprache und Aussprache, das gleiche Geld, die
gleiche Bildung, gleiche Habsucht, gleiche Neugier — der
abstracte Mensch, die künstlichste, regelmässigste, raffi-
nirteste aller Maschinen, ist construirt und erfunden, und
ist anzuschauen wie ein Gespenst in nüchterner, heller
Tages-Wahrheit.
§ 19.
Das allgemeine und natürliche Recht in diesem neuen,
auflösenden, umwälzenden, nivellirenden Sinne ist durch
und durch gesellschaftliche Ordnung, am reinsten sich dar-
stellend als Verkehrs- oder Handelsrecht. In seinen An-
fängen tritt es durchaus unschuldig auf, es ist nichts als
Fortschritt, Verfeinerung, Veredlung, Erleichterung, es ist
Billigkeit, Vernunft, Aufklärung. Und bleibt dasselbe, der
Form nach, im vollen Marasmus des Kaiserreichs. Beide
Entwicklungen, die Ausbildung, Mobilisirung, Universali-
sirung — endlich als Systematisirung und Codification ab-
schliessend — des Rechtes, auf der einen Seite; auf der
anderen der Verfall des Lebens und der Sitten innerhalb
der glänzenden Staatsbildung und grossen friedlichen Ad-
ministration, raschen, sicheren, freisinnigen Rechtsprechung —
[243] beide Entwicklungen sind oft und in hinlänglich belehren-
der Weise geschildert worden. Aber Wenige scheinen den
nothwendigen Zusammenhang, die Einheit und Wechsel-
wirkung dieser Bewegungen zu erkennen. Allerdings: auch
die gelehrten Schriftsteller vermögen beinahe niemals von
ihren Urtheilen des Gefallens und Missfallens sich zu be-
freien und zu einer durchaus unbefangenen, kalten, gleich-
gültigen Auffassung der Physiologie und Pathologie des
socialen Lebens zu gelangen. Sie bewundern das römische
Reich; sie verabscheuen den Ruin der Familie, der Sitte.
Den Causalnexus zwischen den beiden Phänomenen zu sehen,
ist ihr Gesicht nicht ausgebildet. Und freilich gibt es in
allem Wirklichen und Organischen keine Entzweiung von
Ursache und Wirkung, wie der stossenden Kugel und der
gestossenen. In der That aber war ein rationales, wissen-
schaftliches, freies Recht erst möglich durch die actuelle
Emancipation der Individuen von allen Banden der Familie,
des Landes und der Stadt, des Aberglaubens und Glaubens,
der angeerbten überlieferten Formen, der Gewohnheit und
Pflicht. Und diese war der Untergang des schaffenden
und geniessenden gemeinschaftlichen Haushalts in Dorf und
Stadt, der ackerbauenden Gemeinde und der städtischen
handwerksmässig, genossenschaftlich, religiös-patriotisch ge-
pflogenen Kunst. Sie war der Sieg des Egoismus, der
Frechheit, der Lüge und Künstelei, der Geldgier, der Ge-
nussucht, des Ehrgeizes, aber freilich auch der beschau-
lichen, klaren, nüchternen Bewusstheit, mit welcher Gebil-
dete und Gelehrte den göttlichen und menschlichen Dingen
gegenüberzustehen versuchen. Und dieser Process ist doch
niemals als ein vollendeter anschaubar. Er findet seinen
letzten, besiegelnden Ausdruck einigermaassen in der kaiser-
lichen Erklärung, welche alle Freien des Reiches zu römi-
schen Bürgern erhebt, Allen die Klage gibt und die Steuer
nimmt. Dass nicht eine Constitution folgte, welche auch alle
Knechte für Freie erklärte, war vielleicht eine letzte Ehr-
lichkeit oder letzte Dummheit der Imperatoren und Juristen.
Denn man hätte wissen können, dass dadurch an dem glück-
lich-friedseligen socialen Zustande nichts wäre geändert
worden. Die alte Hausdienstbarkeit war längst verschwun-
16*
[244] den oder zerrüttet. Die formelle Sklaverei war eine ziemlich
gleichgültige und folgenlose Sache, wie auch die formelle
Freiheit gewesen wäre, wenigstens im Privatrecht gewesen
wäre. Willkürliche Freiheit (des Individuums) und will-
kürlicher Despotismus (eines Cäsaren oder Staates) sind
nicht Gegensätze. Sie sind nur zwiefache Erscheinung
desselben Zustandes. Sie mögen streiten um ein Mehr oder
Weniger. Aber von Natur sind sie Alliirte.
§ 20.
Innerhalb der christlichen Cultur wiederholt sich ein
dem antiken anologer Process der Auflösung von Leben und
Recht (wodurch aber Recht seine wissenschaftliche
Vollkommenheit erhält) als einer Vermischung und Verall-
gemeinerung, Nivellirung und Mobilisirung in vergrösserten
Dimensionen; nach dem Verhältnisse, wie die Gebiete selber
weiter sind, der oceanische Handel mannigfacher als der des
Mittelmeeres, die industrielle Technik complicirter, die
Wissenschaft mächtiger; wie überhaupt die ganze Cultur in
der Beherrschung äusserer Mittel als eine Fortsetzung der
antiken erscheint, mit deren Erbe schaltend sie ihre Ge-
bäude den Sternen näher zu bringen vermag, wenn auch
auf Kosten harmonischen Stiles. So hat denn auch die
Aufnahme des fertigen römischen Weltrechtes dazu
gedient und dient ferner, die Entwicklung der Gesellschaft
in einem grossen Theile dieser christlich-germanischen Welt
zu befördern. Als wissenschaftlich erforschtes System, von
grosser Klarheit, Einfachheit und logischer Consequenz,
schien es die »geschriebene Vernunft« selber zu sein.
Diese Vernunft war allen Vermögenden und Mächtigen
günstig, um ihr Vermögen und ihre Macht absolut zu
machen; wie den Kaufleuten und allen Grossen, die ihre
Natural- und Dienstrenten in steigende Geldeinkünfte zu
verwandeln trachteten, ebenso nothwendig war, als den
Fürsten, die durch neue Finanzen die Kosten eines grösseren
und stehenden Heeres, wie einer wachsenden Hothaltung zu
decken versuchten. Es ist sehr falsch, das römische Recht
als eine Ursache oder Potenz zu betrachten, welche diese
ganze Entwicklung bewirkt habe. Es war nur ein bereites
[245] und brauchbares Werkzeug, und doch keinesweges, auch nur
in der Regel, mit Bewusstheit ergriffen, sondern in gutem
Glauben an seine Richtigkeit und Zweckmässigkeit. In
England hat sich dieselbe Entwicklung bis auf den heutigen
Tag ohne römisches Recht (oder doch nur unter ver-
gleichungsweise geringen Einflüssen desselben) vollzogen,
als allmähliche Ueberschattung des gemeinen (d. i. gemein-
schaftlichen) durch das statutarische (d. i. gesellschaftliche)
Recht, oder als Sieg der Principien des personalen über
die des realen Eigenthums. Das allgemeine contractuelle
Privatrecht ist nur der andere Ausdruck des allgemeinen
contractuellen Tausch-Verkehrs und wächst mit ihm, bis es
in einem codificirten Handels-, Wechsel-, See-Recht seine am
meisten adäquate Darstellung findet, welche auf sichtliche
Weise nur zufällige und durchaus provisorische nationale
Beschränkung hat. In dieser Darstellung wiederum so un-
abhängig vom römischen Recht, als die Thatsachen und
Verhältnisse über diesem zu Grunde liegende hinausge-
schritten sind; vielmehr zum guten Theil aus den conven-
tionellen Uebungen (Usancen) seiner Subjecte selber her-
vorgegangen. Hingegen hat mit entschiedener Tendenz das
römische Recht zur Auflösung aller Gemeinschaften, welche
der Construction des Privatrechts aus handlungsfähigen In-
dividuen entgegen sind, mitgewirkt. Gemeinschaftliches
und gebundenes Eigenthum ist für die rationale Theorie ein
Unding, eine Anomalie. Der Satz, dass Niemand wider
seinen Willen in Gemeinschaft festgehalten werden kann
(Nemo in communione potest invitus detineri), schneidet dem
Rechte der Gemeinschaft die Wurzel ab. Die Familie und
ihr Recht wird nur erhalten, insoweit als sie aus rechtlich
Unmündigen bestehend gedacht wird, wodurch die Frau in
gleiche Condition mit Kindern, Kinder in gleiche mit Knech-
ten hinabsinken; der Begriff des Knechtes als des Sklaven
im freien Eigenthum (was er auch in Rom nicht war, so
lange als die res mancipi unterschieden wurden) ist der
elementare und gesellschaftliche Begriff. Indem aber endlich
auch die Frau zu gesellschaftlicher Selbständigkeit und folg-
lich zur civilen Emancipation gelangt, muss auch das Wesen
der Ehe und der ehelichen Gütergemeinschaft in einen
[246] bürgerlichen Contract zerfliessen; der, wenn nicht auf Zeit-
frist geschlossen, doch durch gegenseitige Uebereinkunft zu
jeder Zeit lösbar zu sein verlangt, und dessen monogamische
Beschränkung zufällig wird. Hiermit sind einige der wich-
tigsten Linien dieser in zunehmendem Fortschritte unauf-
haltbaren Disintegration bezeichnet. — Neben dem römischen
Recht läuft aber als sein rechtes Geschwister das philoso-
phische, rationalistische Naturrecht der neueren Zeit. Von
seinen Anfängen an fand es die bedeutendsten Plätze, an
denen es hätte wirken können, theils durch die Reception,
theils durch casuale Gesetzgebung occupirt. Es wurde auf
die Construction des öffentlichen Rechtes als in seine eigent-
liche Sphäre gewiesen; und hier ist es in (wenn auch ver-
hohlener) Geltung geblieben, trotz des tödtlichen Stosses,
welchen die historische Ansicht der römischen Jurispru-
denz ihm zu geben gemeint hat. Als Wirkung des öffent-
lichen auf das private Recht, oder des Staates auf die Ge-
sellschaft war es vorher allerdings für Codification und
planmässige Gesetzgebung gebraucht worden, und hat auch
in dieser Bedeutung seine Rolle nicht ausgespielt. Nachdem
es der Evolution der herrschenden Classe selber gedient
hat, lebt es wieder auf als Programm der unterdrückten
Classe, in der Forderung des Ertrages der eigenen Arbeit.
[[247]]
DRITTER ABSCHNITT.
FORMEN DES VERBUNDENEN WILLENS —
GEMEINWESEN UND STAAT.
§ 21.
Wenn nun die gegenwärtige Theorie den Begriff des
natürlichen Rechtes in einem zwiefachen Sinne festhalten
will, so ist darin die Behauptung enthalten, dass Recht so-
wohl als gemeinsamer Wesenwille, wie als gemeinsame
Willkür verstanden werden kann. Die Wurzel des indivi-
dualen Wesenwillens aber wurde im vegetativen Leben ge-
funden, die der individualen Willkür ist ihre allgemeine
Möglichkeit als Vereinigung zweier Gedanken von gleichem
und entgegengesetztem Lustwerth. So ist auch die Wurzel
des gemeinschaftlichen Willens im vegetativen Leben ver-
borgen; denn das Gattungs- und Familienwesen ist vege-
tatives Leben im sociologischen Sinne: als die substanzielle
Basis menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Die Wurzel
des gesellschaftlichen Willens ist das Zusammentreffen indi-
vidueller Willküren, welche in einem Punkte des Tausches,
der für beide vernünftig oder richtig ist, sich schneiden.
Wie aber jedes Verständniss seine Abstammung aus einem
Allgemeineren hat, das wir als Eintracht bezeichnet haben,
so wurde gelehrt, dass die vereinzelte sociale Willkür den
[248] Begriff der socialen Willkür schlechthin zu ihrer Ergänzung
fordert. Dort geht ein realer objectiver Geist aus der Sub-
stanz des objectiven Geistes, als sein Ausdruck und seine
Modification hervor. Hier entsteht ein Atom des ideellen
Objectiven, welches in ein absolutes Ganzes von solcher Art
sich hineinpassen muss, um auch unabhängig von seinen
Subjecten in objectiver Existenz gedacht werden zu können.
Wir schreiten nun dahin fort, die übrigen Formen gemein-
schaftlichen und gesellschaftlichen Willens zu entwickeln.
Hierbei ist zu erinnern, dass dieselben nur betrachtet wer-
den können, inwiefern sie nach innen verbindlich wirken
oder die einzelnen Willen determiniren. In diesem Sinne
ist Verständniss dem Gefallen, Eintracht der Gesinnung
analog und können wechselweise aus einander erklärt wer-
den. Und so bestimme ich die Analogie von Gewohnheit
als Brauch, die von Gemüth als Sitte. Brauch und Sitte
sind mithin der animalische Wille menschlicher Gemein-
schaft. Sie setzen eine oft wiederholte gemeinsame Thätig-
keit voraus, welchen ursprünglichen Sinnes auch immer,
aber durch die Uebung, das Herkommen, die Ueberlieferung,
leicht und natürlich, von selbst verständlich geworden,
und daher, unter den gegebenen Umständen, für noth-
wendig gehalten. Die wichtigsten Bräuche des Volkes
knüpfen sich an die Ereignisse des Familienlebens: Geburt,
Hochzeit, Sterben, welche regelmässig wiederkehren und
woran, ob sie gleich am nächsten die einzelnen Häuser an-
gehen, alle, auch nachbarlich Zusammenlebende, unwillkür-
lichen Antheil nehmen; wo Clan und Gemeinde noch zu-
sammenfallen, da ist die Gemeinde selber eine grosse
Familie; nachher aber empfindet sie doch die einzelnen Fa-
milien als ihre Glieder, und je mehr ein solches Glied für
sie bedeutend, edel, erhaben ist, desto williger und stärker
(wo nicht feindliche Motive dazwischentreten) die allgemeine
Theilnahme. Dies bleibt immer der innere Sinn des Brauches;
sein anfänglicher Inhalt, der theils einfache Handlung, theils
ein symbolischer Ausdruck oder sinnliches Zeichen eines
Gedankens ist, kann dagegen zur leeren Form werden oder
(wie Alles, was dem Gedächtniss angehört) in Vergessenheit
fallen. Der Gedanke ist entweder: Begründung, Bestätigung
[249] oder Erhaltung einer Gemeinschaft; daher der Wille, hier-
auf bezogene Gefühle, als Liebe, Ehrfurcht, Pietät des Ge-
dächtnisses, zu pflegen und heilig zu halten; oder ist ein
Versuch, Gutes zu bewirken, Uebles abzuwehren, in einer
Form, die dem herrschenden Glauben an Zusammenhänge
von Ursachen und Wirkungen entspricht, mithin in ur-
sprünglichem, phantastischem Volksthum zumeist als Com-
munication mit guten und bösen Geistern.
§ 22.
Die wahre Substanz des gemeinschaftlichen Willens
in einem sesshaften Volke, worin daher zahlreiche ein-
zelne Bräuche beruhen, ist seine Sitte. Wir haben be-
merkt, wie zu der Gemeinschaft des Blutes die Gemeinschaft
des Landes, der Heimath, mit neuen Wirkungen auf die
Gemüther der Menschen, daher theils als Ersatz, theils als
Ergänzung hinzutritt. Der Grund und Boden hat seinen
eigenen Willen, wodurch die Wildheit unstäter Familien ge-
bunden wird. Wie das gebärende Weib den zeitlichen Zu-
sammenhang der menschlichen Leiber sinnlich darstellt, der
Kette des Lebens einen neuen Ring einfügend; so bedeutet
das Land die Zusammengehörigkeit einer zu gleicher Zeit
lebenden Menge, welche nach den in ihm gleichsam verkör-
perten Regeln sich richten muss.
Schon die bewohnte Erde umgiebt das Volk, wie
das Kind von der Mutter Gestalt umhegt wird; und süsse
Nahrung entquillt als freie Gabe ihrer breiten Brust; so scheint
sie auch wie Bäume und Kräuter und Gethier im Anfange
der Dinge die Menschen selber aus ihrem Schoosse hervorge-
bracht zu haben, die sich als Erdgeborene und als Urein-
wohner dieses Landes fühlen. Das Land trägt ihre Zelte
und Häuser; und je fester und dauernder das Gebäude wird,
desto mehr verwachsen die Menschen mit dieser seiner be-
grenzten Scholle. Ein stärkeres und tieferes Verhältniss
aber bildet sich erst zum bebauten Acker: wenn das
Eisen in sein Fleisch schneidet und die Scholle umwälzt,
so wird die wilde Natur bezwungen und gezähmt, wie auch
die Thiere des Waldes gebändigt und zu Haus-Thieren ver-
[250] wandelt werden. Aber dieses Beides ist die allmähliche,
immer erneuerte Arbeit unzähliger Geschlechter und wird
wie ein fertiges Organ, aber auch nur als die Anlage des-
selben und als Forderung zu eigenem Erwerbe und Aus-
bildung von Vätern auf Söhne überliefert. Daher ist das
besessene, behauptete Gebiet ein gemeinsames Erbe, Land
der Väter und Vorfahren, in Bezug worauf sich Alle als
echte Nachkommen und gleich leiblichen Brüdern empfinden
und verhalten. Und also begriffen, kann es wie eine leben-
dige Substanz sich darstellen, die im Wechsel der Menschen
als ihrer Accidentien und Elemente zugleich, nach diesem
ihrem geistigen oder psychologischen Werthe beharret, als
gemeinsame Willenssphäre den Zusammenhang nicht blos der
neben einander, sondern auch die Einheit der nach ein-
ander wohnenden und wirkenden Generationen darstellend.
Wie die Gewohnheit der Nebeneinander-Lebenden ausser-
halb der Instincte des Blutes das stärkste Band bildet, so
erhält Gedächtniss sogar die Lebenden mit den Todten
zusammen, sie noch zu kennen, zu fürchten, zu verehren.
Und wenn die Heimath überhaupt als Stätte lieber Erinne-
rungen das Herz fesselt, Trennung schwer macht, den Ent-
fernten mit Sehnsucht und Heimweh zurückzieht, so hat sie
als der Ort, wo die Vorfahren gelebt haben und begraben
sind, wo noch die Geister der Abgeschiedenen schweifen und
verweilen, über den Dächern und unter den Wänden, schü-
tzend und sorgend, aber auch ihrer eingedenk zu sein, mäch-
tig fordernd, für einfältige und gläubige Gemüther noch eine
besondere und erhabenere Bedeutung. Dieses ist zwar schon
in Haus und Familie unmittelbar vorhanden, auch wenn
noch das Zelt von Lager zu Lager getragen und der Grund
und Boden nur als Träger von Baum- und Krautfrucht,
als Berger des Wildes und endlich als Weideplatz des zahmen
Viehes, um solche freien und reichlichen, keine Sesshaftigkeit
heischenden Gaben geschätzt wird. Jedoch muss die Empfin-
dung dafür stärker werden, je mehr Haus und Hof bleibend
dasteht und mit der Erde verwachsen zu sein scheint, welche
nun auch, urbar gemacht, die umgesetzte lebendige Kraft, und
gleichsam Blut und Schweiss selber, der Vergangenen in sich
[251] trägt und der Geniessenden frommen Dank für sich verlangt.
Das metaphysische Wesen der Sippe, des Stammes,
oder auch der Dorf-, der Mark- oder Stadt-Genossen, ist
seinem Boden, so zu sagen, vermählt, es lebt in gesetzmässi-
ger Dauer, wie im Ehebunde mit ihm. Was in der Ehe Ge-
wohnheit, das ist hier Sitte.
§ 23.
So gestaltete sich auch, in altem Glauben und Mythus,
die Anschauung des Gleichnisses der Arbeit des Pflügers,
Säemannes mit dem Gatten, der des rechten Bundes Pflicht
vollzieht; die echten Kinder, welche solchem Bunde ent-
spriessen, sind so der Frucht des gepflegten Feldes ähnlich,
wie die blossen Muttersöhne dem Schilfhalm, der im Sumpfe
ohne Samen zu wachsen scheint. Und hierauf: auf die Ord-
nung, Befestigung, Heiligung der rechten Ehe (zumal wo
sie sich zur reiner Monogamie gestaltet) ebenso entschieden
wie auf Eintheilung, Befriedigung, Nutzung der Aecker,
und worin beide Sphären verknüpft werden, Besitz und Ge-
rechtsame der einzelnen Familien und Familienglieder, Mit-
gift, Erbgang, bezieht sich in seinen bedeutendsten Wirkun-
gen der Inhalt der Sitte und des durch Sitte gegebenen
Rechtes als Gewohnheits-Rechtes. — Unsere Sitte, Sitte
der Väter, Sitte des Landes und des Volkes ist einerlei. Sitte
besteht mehr in Uebung als, in Empfindung und Meinung;
sie thut sich in der Empfindung lebhafter als Schmerz und
Unwille kund, wenn sie verletzt, gebrochen wird, und dem
gemäss erfolgt ihre Reaction, in That und Urtheil; und die
Meinung tritt um so stärker für sie ein, je mehr sie in
merkbarer Weise sich verändert, die Meinung der Alten
eher als die der Jungen. — In der Dorfgemeinde vor Allem
und die Dörfer umfassender Landschaft herrschet Sitte
und Gewohnheitsrecht; nach ihm als dem allgemeinen und
gemeinsamen, gültigen Willen richten sich die also ver-
bundenen Menschen in weiteren oder engeren Bezirken
ihres Thuns und Treibens, die Herrschenden in ihrem
Herrschen, die Dienenden in ihrem Dienen, und glauben,
dass sie es also müssen, weil Alle es thun und die Väter
es gethan haben, und dass es so richtig sei, weil es immer
[252] so gewesen ist. — Eintracht und Sitte bedingen und för-
dern einander, können aber auch in Conflicte gerathen und
ihre Grenzen mannigfach gegen einander verschieben. Sie
haben als nothwendigen Inhalt gemein, dass sie durchaus
Frieden bedeuten und gebieten, d. i. zunächst (negativ) den
zahlreichen Ursachen des Streites entgegenzuwirken, be-
stehenden zu schlichten, zu sühnen streben; aber schon von
diesen beiden Aufgaben fällt der Eintracht als dem Familien-.
Körperschaftsgeiste eher die erste, die andere der Sitte zu;
denn in dem engeren, häuslichen Kreise sind freilich durch
die fortwährenden und nahen Berührungen alle Arten des
Zankes, der Reibung und Hemmung in dem Maasse wahr-
scheinlich, als Gleichheit des Alters, der Kräfte, der An-
sprüche sich begegnet; aber sie gehen auch, im Wechsel
der Affecte und Stimmungen, rascher vorüber, werden leicht
bereut und leicht verziehen; weichen auch eher der über-
legenen Hand, der hier schlechthin natürlichen Autorität,
welche verschiedene Würde auf eine sinnliche und von
selbst verständliche Art in sich vereinigt. Je mehr aber
solche Würde uneigentlich, blos herkömmlich und durch
Denken vermittelt sich darstellt, und d. i. je weiter der
Kreis sich ausdehnt und je mehr an die Stelle der ver-
wandtschaftlichen Beziehungen die blos nachbarlichen ein-
treten, desto seltener vielleicht, aber auch desto tiefer und
grimmiger mag Unfrieden werden: aus Uebermuth, Herrsch-
und Habsucht, wie aus Hass, Neid, Rachbegierde; und hier
muss die Macht der überlieferten Normen, in welchen theils
alte, bestätigte Wirklichkeit, theils die aufgehäufte Erfahrung
ehemals gefällter Entscheidungen niedergelegt ist, wirksam
sein, um die Zwiespalte zu heilen, die durch geschehene Ver-
letzung oder durch Anfechtung bestehender Sphäre der
Freiheit, des Eigenthums und der Ehre entspringen. Aber
Eintracht und Sitte haben auch zusammen eine positive
friedliche Richtung; sie bejahen die einzelnen, natürlichen
oder durch Gewohnheit begründeten Verhältnisse und
machen die freundliche Leistung und Hülfe zur Pflicht;
und bringen ursprüngliche oder ideelle Einheit und Har-
monie der Gemüther — Familiengeist mehr auf einen unmittel-
baren, Sitte eher auf bildlichen, symbolischen Ausdruck, und
[253] somit in Erinnerung und Erneuerung. Dies ist Sinn und
Werth von Festen und Ceremonien, worin Theilnahme an
Freude und Trauer, gemeinschaftliche Hingebung an ein
Höheres, Göttliches sich kundgibt.
§ 24.
Was aber durch Eintracht sich ergibt, als Inhalt und
Form des Zusammenlebens, das ist eine natürliche und
a priori in ihrem Keime enthaltene Ordnung und Harmonie,
nach welcher jedes Mitglied das Seine thut, thun muss oder
doch soll; das Seine geniesst, geniessen soll oder doch darf.
Das will sagen: es ist durch die organisch-animalische Natur
des Menschen, also vor aller menschlichen Cultur oder Ge-
schichte, gegeben und bedarf nur der Entwicklung durch
ein freies Wachsthum, welches nichts als die ihm gün-
stigen äusseren Bedingungen erfordert; und diese mögen
freilich auch in historischen Umständen liegen. Hin-
gegen Sitte kann auch ihrer inneren Anlage nach nur aus
der schon entwickelten mentalen Fähigkeit und Arbeit der
Menschen begriffen werden; und sie entwickelt sich mit und
an solcher Arbeit, insonderheit wie gesagt wurde: dem
Ackerbau und je mehr diese und andere Kunst mit Geschick
und Klugheit betrieben werden. So muss denn in der
Volksgemeinde aus einem allgemeinen gleichen Wesenwillen,
allgemeiner gleicher Kraft, Pflicht und Gerechtsame, alles
Besondere von dieser Art abgeleitet werden, als durch
eigene Anlage und Thätigkeit ausgebildet; und insofern
also jene selber, in Gesammtheit, solche Arbeit aus sich hervor-
gebracht hat und in ihrer Beschaffenheit und Verfassung
die Kraft und den Willen dazu darstellt, ungleiche Pflichten
und Gerechtsame auf ihre Einheit beziehend — so ist sol-
cher Wille Sitte und (positives) Recht. Hierdurch hat die
Gemeinde zu einzelnen Individuen oder einzelnen Gruppen
das Verhältniss des Organismus zu seinen Geweben und Or-
ganen; und dies ergibt die Begriffe von Aemtern und Stän-
den, welche, indem sie dauernd und etwa gar in Fami-
lien erblich werden, zugleich ihren Zusammenhang mit dem
Ganzen und ihre eigene Freiheit vermehren und befestigen;
sofern nicht das eine auf Kosten des anderen geschieht, wie
[254] denn eine beständige Wahrscheinlichkeit und Gefahr, zu
Gunsten des Zusammenhanges bei eigentlich dienenden,
untergeordneten Gliedern, zu Gunsten der Freiheit bei den
wesentlich herrschenden Functionen gegeben ist. Denn ihrer
Natur nach müssen auch jene irgend welche bestimmende
Wirkungen auf das Ganze ausüben, und sind doch auch diese
so zu definiren, dass sie Gliedern oder Theilen angehören,
welche als solche dem Ganzen dienen und sich nach ihm
richten müssen. Alle diese Verhältnisse aber und ihre Ein-
richtungen sind, wo und wie sie immer gestaltet sein mögen,
positiven Rechtes, als Gewohnheitsrechte, d. i. sie ge-
hören dem Allgemein-Willen an, sofern er als Brauch und
Sitte sich darstellt. Das Volk eines Landes, als Subject
und Träger solches positiven Rechtes nenne ich ein Ge-
meinwesen. Gemeinwesen ist das organisirte Volk
als besonderes, individuelles Selbst, daher in möglichen Ver-
hältnissen zu seinen Gliedern oder Organen gedacht. Die-
sem seinem Dasein nach stellt ein Gemeinwesen als Insti-
tution natürlichen Rechtes sich dar, welches aber eben
mit diesem Acte seiner Schöpfung in das Gebiet des posi-
tiven Rechtes übergehend gedacht wird. Denn wie jede
Verbindung als für sich seiendes Wesen auf einem Ver-
ständnisse beruhet — indem sie für ein gemeinsames Ge-
dächtniss und Sprache vorhanden ist, hat sie für die Meh-
reren objective psychologische Wirklichkeit —, so ent-
wickelt sich der ursprüngliche organische Zusammenhang
zwischen Menschen, welcher durch Eintracht getragen wird,
auf einer gewissen Höhe, unter gewissen Bedingungen, in
die Idee und Essenz eines Gemeinwesens. Diese kann nicht
durch Sitte entstehen; insofern sie Sitte voraussetzt. Man
muss nun an dem Zustande oder der Verfassung eines Ge-
meinwesens unterscheiden, welche Merkmale oder Eigen-
schaften ihm wesentlich, also nothwendig und natürlich (in
diesem bestimmteren Sinne) sind, von den blos accidentellen,
positiven und insoweit veränderlichen. Hiernach kann fol-
gende Eintheilung leicht sich ergeben: 1) patriarchalische
Gemeinwesen, in welchen das Fundament des gemeinsamen
Besitzes an Grund und Boden schon vorhanden, aber noch
nicht ganz und gar wesentlich ist, 2) landschaftliche Ge-
[255] meinwesen, in welchen es vorhanden und durchaus wesent-
lich ist; 3) städtische Gemeinwesen, in welchen es noch
vorhanden, aber nicht mehr schlechthin wesentlich ist.
Diese Begriffe wollen der fliessenden und überaus mannig-
faltigen Beschaffenheit ihrer Gegenstände in einigem Maasse
sich anzupassen versuchen. Haus, Dorf und Stadt — in-
sofern als jedes ein Gemeinwesen sein kann — sind zugleich
die Typen für grössere Complexe, in welchen sie sich leben-
dig erhalten und entwickeln mögen. Das einzelne Haus
hat am schwersten, die einzelne Stadt am leichtesten den
Charakter eines eigenen und selbständigen Gemeinwesens.
Demnach kann vorgestellt werden, dass ein allgemeinster
und weitester Kreis als patriarchalisches und genokratisches
Gemeinwesen sich ausdrücke, innerhalb desselben viele
engere als landschaftliche, nachbarlich-heimathliche, endlich
aus jedem von diesen einige engste, städtische sich erheben.
Und so denken wir ein Reich, zerfallend in Landschaften
oder Provinzen, eine Landschaft oder Provinz, zerfallend in
Herrschaften, Dörfer und Städte; die Stadt hat keine Ge-
meinwesen mehr innerhalb ihrer — es sei denn als Dörfer
— sondern zerfällt in Corporationen und Häuser oder end-
lich in Individuen. Aber so kann es auch Herrschaften,
Dörfer und Städte geben, welche unmittelbar dem Reiche
und seinem Rechte angehören; so auch Corporationen und
Häuser, die unmittelbar unter Land und Landrecht fallen.
§ 25.
Gemeinwesen verhält sich zu Gemeinschaft schlecht-
hin wie Thier (zoon) zu Pflanze (phyton). Die allgemeine
Idee des lebendigen Wesens wird durch die Pflanze reiner,
durch das Thier vollkommener dargestellt; so die Idee des
socialen Körpers reiner durch Gemeinschaft, vollkom-
mener durch Gemeinwesen. Wie die Pflanze in Dasein,
Ernährung und Fortpflanzung ihr Leben vollendet, so ist
die Gemeinschaft des Hauses ganz und gar nach innen ge-
richtet und in Bezug auf sich selber thätig. Das Gemein-
wesen wie das Thier, und im Thiere die besonderen dazu
ausgebildeten Organe, wenden sich nach aussen, abwehrend,
suchend, erobernd, in Allem kämpfend, so aber, dass in
[256] ihnen die vegetativen Functionen als die wesentlichen sich
erhalten, denen jene dienen. Dem Thiere gibt das Nerven-
system, im Zusammenhange mit der Musculatur, seine be-
sonderen Kräfte der einheitlichen Empfindung und Bewe-
gung. Das Gemeinwesen stellt auf gleiche Weise als Heer
sich dar: in vielen verbündeten Aggregaten, von denen
aber einige, voranzugehen bestimmt und geübt, zugleich in
der Wahrnehmung von Freund und Feind, von Beute
und Gefahr, als führende sich ausbilden und ihre Impulse
den übrigen mittheilen. So ist hier die herzogliche Würde
inmitten jedes Kreises wirksam, und die oberste unter ihnen
unterscheidet sich als königliche in mehrerer oder min-
derer Deutlichkeit von allen. Gemeinwesen und Heer sind
auf einer unteren Stufe ihrer Entwicklung so lange, als
ein Volk oder Stamm in gesammter Kopfzahl seine Wohn-
sitze wechselt und zum Kämpfen oder Rauben bereit ist;
nur die Männer eignen sich zu Kriegern und aus Männern
setzt ein wirkliches Heer sich zusammen. Es muss sich
ergänzen aus den zurückbleibenden Knaben und auch von
Tüchtigkeit der Weiber ist in hohem Maasse seine Kraft
abhängig, dass sie starke Knaben gebären und erziehen.
Das Heer ist nicht das Gemeinwesen, sondern das System
von Familien, Geschlechtern, Gemeinden ist es; aber das
Heer, insofern es nach aussen geeinte Einsicht und Macht
ist, Wirkungen ausübend und empfangend. Und die geord-
nete Versammlung der Männer, als führende, richtende, von
der ursprünglichen Menge der Erwachsenen, Vernünf-
tigen (welche im Volke gegenüber Kindern und Greisen,
wie Fremden und Knechten, eine natürliche Einheit bildet,
die Frauen also einschliesst) sich absondernd, hat ihre
Gerechtsame und ihren Vorzug nur als Heeres-Versamm-
lung und kann als solche jene frühere völlig verdrängen
und ersetzen. Jede ihrer Gruppen schaart sich um ihr
Centrum, ihren Häuptling-Vater und Herzog, alle Gruppen
zusammen um den gemeinsamen Häuptling-Vater, Fürst
oder König; mögen sie den Mann dazu erwählen oder mag
er als bestimmter durch Herkommen und Glauben gegeben
sein; und dieses Gegebensein ist es, was durch den empfun-
denen Zusammenhang der verwandtschaftlichen Verbindung
[257] als nothwendig sich offenbart, so dass Wahl nur Bestätigung
oder Ausforschung eines Ersatzes bei mangelndem Her-
kommen oder verlorener Kunde sein muss. Je weniger
aber die Wahl als willkürliche gedacht wird, desto mehr
scheint sie einer göttlichen Hülfe und Inspiration zu be-
dürfen, um eine günstige und wahre zu sein; wie denn auch
das Werfen von Loosen dem Schicksal oder der unge-
sehenen Macht die Wahl anheimstellen will. Diese Vorstel-
lungen sind so lange lebendig, als die objective Einheit vor
ihrer Ueberwindung durch die Bewusstheit der Subjecte
sich zu schützen ringt. Die Einheit wird durch die Ueber-
einstimmung und Einmüthigkeit der Menge am vollkommen-
sten dargestellt; demnächst durch gemeinsamen Rath und
Beschluss der Führer; endlich durch entscheidenden Willen
des einzigen Fürsten. Und diese Kräfte müssen sich in
einander fügen, um gemeinsame Action zu bewirken. Dies
ist unwahrscheinlich und schwer, wenn nicht ihre binden-
den Normen als gewohnte und geglaubte vor ihnen sind
und unabhängig von ihrer möglichen Willkür. Daher kann
jedes dieser Organe, und können alle zusammen, sei es in
ihrer blos inneren oder auch in äusserer Vereinigung, das
Gerechte nicht machen, sondern nur finden.
§ 26.
Ein Heer, als Land zu vertheidigen oder zu erobern
bestimmt, muss aus Männern bestehen, die am Eigenthum
des Landes einen unmittelbaren Antheil haben; denn nur
in diesen kann ein solcher starker Wille als natürlicher und
als Pflichtgefühl vorhanden gedacht werden. Aber erst der
Ackerbau macht den Grund und Boden werthvoll; jedoch
eine kriegerische Gemeinde, sei es, dass sie im ernsten
Kampfe steht, oder in Kampfspielen sich übt, oder aus glei-
cher Gesinnung und nach uralter Gewohnheit der Jagd als
dem Kampfe wider die Thierheit obliegt, ist schwerlich ge-
eignet, der mühsamen Haushaltung sich zu widmen, zu
pflügen, zu säen, zu ernten. Wo daher und so lange als
jene Nothwendigkeit und Gepflogenheit eine allgemeine ist,
da bleibt Weibern und Knechten die Arbeit des Feldes
und die Zucht der Hausthiere. Wenn aber in befestigtem
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 17
[258] Frieden über weites Gebiet das Gemeinwesen eines ganzen
Volkes ausgebreitet ist, so dass nur der Schutz der Reichs-
Grenzen erfordert wird, und vollends, wenn in Folge
dessen zugleich der schwergerüstete und berittene Streiter
die regelmässige, desshalb aber um so seltenere Einheit des
Heeres wird, so bildet sich aus Denen, die vormals etwa nur
in kleineren oder grösseren Gruppen Führer waren, eine
besondere Krieger-Kaste, welche insofern, als in ihr
die ältesten Herren und directesten Nachkommen der Vor-
fahren ganzer Stammes-Abtheilungen, man setze: der Clans,
verbunden sind, mit dem Stande des Adels zusammen-
fällt und so geheissen wird. Dieser ist daher in besonderem
und höherem Sinne frei, nämlich in Bezug auf die Ge-
sammtheit des Reiches oder, in engerem Sinne, des Landes,
welches er zu schützen und etwa auch zu mehren berufen
ist. Im Verhältniss zu ihm ist daher die Freiheit der
Gemeinen eine geminderte, ausser sofern diese auch
selber fortfahren, zur Heeresfolge oder zu einem gültigen
Ersatze derselben fähig und bereit zu sein; oder wenn
sie einem engeren Gemeinwesen angehören, das von den
Wirkungen dieser Umstände frei bleibend seine Abhängig-
keit vom Reiche nur durch sachliche Leistungen an den
Fürsten desselben zu bewähren nöthig hat. Der Adel
aber mag theils seines besonderen Eigenthums, durch wel-
ches der Einzelne den Mark- oder Dorfgenossen gleich ist
oder doch nur einige solche aufwiegt, durch Knechte, die
durchaus von ihm abhängig sind, walten — wie denn ein
solcher Stand aus einer ursprünglich überwundenen Bevöl-
kerung herrühren oder durch Einwanderungen Fremder sich
bilden, endlich aber auch durch Vermehrung, zumal unge-
setzliche, des freien Volkes selber entstehen mag — oder
wenn dies unmöglich oder unzureichend ist, durch Beiträge,
Abgaben der um seinen Hof herum ansässigen Bauern er-
nährt und gepflegt werden. Solche Abgaben können, so
lange als gedacht wird, dass die Dorfgemeinden ihrer Feld-
mark rechte Eigenthümer nach geglaubtem und gehaltenem
Herkommen sind, nur als freiwillige, wenn auch durch
Sitte pflichtmässige begriffen werden. Wenn der Baron
oder Ritter als Freiherr über ihnen im politischen, d. h. im
[259] Sinne des Gemeinwesens, steht, so steht er zugleich im öko-
nomischem u. d. i. im Sinne ursprünglicher patriarchalischer
Gemeinschaft, welche immer als die Basis des Gemeinwesens
betrachtet werden muss, unter ihnen; er ist (insofern als
jenes Verhältniss besteht) von ihrer Gunst, von ihrem guten
Willen abhängig, wird von der Gemeinde als ihr Dienender
unterhalten.
§ 27.
Wenn nun jedes Gemeinwesen als Landschaft in
einer Mehrheit von Herrschaften, von Dörfern, von Städten
sich darstellt, oder aber in solche conföderirte Landschaften
zerfällt, so hat jedes dieser Bestandtheile, insofern es auf
behauptetem Grund und Boden festsitzt und sich zu wahren
fähig ist, eine gewisse Tendenz und Kraft, selber zum Ge-
meinwesen zu werden. In dem Maasse aber, als es dieses
vermag und nicht selber wieder aus möglichen Gemeinwesen
zusammengesetzt ist, so ist es zugleich der vollkommenste
und intensivste Ausdruck eines Gemeinwesens, nämlich am
leichtesten durch die Nähe des Zusammenwohnens, durch
die geringere Wahrscheinlichkeit innerer Reibungen, welche
zwischen selbständigen wehrfähigen Körpern drohen, als
bewegungsfähige Heeres-Versammlung, daher auch als spruch-
fähige Gerichtsversammlung erscheinend. In dieser Bedeu-
tung erfüllt sich als Stadt, welche ein bestimmtes Landge-
biet beherrscht, die Idee des Gemeinwesens. Sie kann so-
gar, wie die Polis der hellenischen Cultur, das einzige wirkliche
Gemeinwesen sein, welches nur als Bundes-Glied selber ein
Gemeinwesen über sich herstellt — welches alsdann nur
noch vermöge einer religiösen und schöpferischen Imagi-
nation (im Mythus) als ein ursprüngliches und zeugendes
gedacht werden kann — oder aber, wie die freie Stadt der
germanischen Cultur, als Theil und Product eines Landes,
eines Reiches, von dem gemeinsamen Boden durch Macht
und Reichthum sich abheben und so doch, mit ihresgleichen
zusammen, in ein analoges Verhältniss zu jenem ihrem Bunde
sich setzen, als ob sie es bildeten, constituirten, wogegen
aber dieses durch seine reale apriorische als heilig geglaubte
Natur gegen die Verwandlung in den Charakter einer blos fic-
17*
[260] tiven und begrifflichen Einheit sich zu retten vermag. Auf
dieselbe Weise aber, wie die Stadt zu ihrem Bunde, verhält
sich der Bürger, als freier und wehrhafter Mann, zu seiner
Stadt. Die Gesammtheit der Bürger schaut das bürgerliche
Gemeinwesen an als ihr Kunstwerk, als ihre Idee. Sie ver-
danken ihm ihre Freiheit, ihr Eigenthum und ihre Ehre; und
doch hat es selber sein Dasein nur durch ihre verbundenen,
vernünftigen Willen, wenn auch als ein nothwendiges, unwill-
kürliches Erzeugniss derselben. Wenn regelmässig der Wille
eines Gemeinwesens in seiner Versammlung durch Einen (den
Fürsten), durch Mehrere (die Vornehmen, Aeltesten) und
durch Viele (die Menge, das Volk) in ihrer Eintracht dar-
gestellt wird, so überwiegt in einem patriarchalischen und
weitesten Gemeinwesen der Monarch; in einem ländlichen,
engeren, der Adel; im städtischen und engsten das Volk.
Wenn ursprünglich jener das Haupt oder das Gehirn im
Haupte ausmacht, der Adel gleichsam die Ganglien des
Rückenmarks, und die Menge gleich den Centren des sym-
pathischen Systems gedacht wird, so wird hingegen endlich
diese, sich selber beherrschend, gleich dem Gehirn im wahr-
nehmenden und wollenden Körper die denkende Potenz und
kann als solche vollkommener werden, als die früheren, da
sie in ihrem leichten und häufigen Zusammensein schwereren
Problemen gegenübersteht, aber auch durch häufige Uebung
und Belehrung sich schärft, und um so mehr Wahrschein-
lichkeit hat, die höchste und edelste, politisch-künstlerische
Vernunft aus sich hervorzubringen. Aber die volle Maje-
stät des Gemeinwesens geht erst aus der Uebereinstimmung
dieser drei Organe hervor, wenn auch in der empirischen
Erscheinung das eine überwiegen, das andere verkümmert
sein mag. Und freilich kann die Volksgemeinde über ihrer
jüngeren und besonderen Bedeutung, in welcher sie ein
coordinirter Factor ist, die ältere und allgemeine behalten,
vermöge deren sie die Gesammtheit und Substanz des Gemein-
wesens sichtbar darstellt, aus welcher also alle jene Centren
und Machtträger erst hervorgegangen sind, und dadurch be-
dingt werden. Aber so verstanden und in letzter Instanz,
besteht allerdings das Volk aus Allen, die irgendwie in
Gemeinschaft zusammenhängen und begreift Weiber, Kinder
[261] und Greise, Schutzgenossen und Knechte als integrirende
Theile in sich.
§ 28.
Es ergibt sich aus allen Vordersätzen dieser Erörte-
rung, dass jede Corporation oder Verbindung von Menschen
sowohl als eine Art von Organismus oder organischem Kunst-
werk, wie auch als eine Art von Werkzeug oder Maschine
aufgefasst werden kann. Denn in Wirklichkeit ist die Es-
senz eines solchen Dinges nichts Anderes, als bestehender,
gemeinsamer Wesenwille, oder constituirte gemeinsame
Willkür, beides nicht mehr in seiner Vielheit, sondern in
seiner Einheit begriffen und gedacht. Wenn wir den Namen
der Genossenschaft auf den ersten Begriff (einer gemein-
schaftlichen Verbindung), den des Vereines auf den an-
deren (einer gesellschaftlichen Verbindung) anwenden, so folgt,
dass eine Genossenschaft als Naturproduct nur beschrieben
und als ein Gewordenes durch seine Abstammung und durch
die Bedingungen seiner Entwicklung begriffen werden kann.
Dies bezieht sich folglich auch auf den Begriff eines Ge-
meinwesens. Hingegen ein Verein ist ein in Gedanken ge-
machtes oder fingirtes Wesen, welches seinen Urhebern
dient, um ihre gemeinsame Willkür in irgendwelchen Be-
ziehungen auszudrücken: nach dem Zwecke, wofür er als
Mittel und Ursache bestimmt ist, muss hier in erster Linie
gefragt werden. Und hiervon wird die Anwendung gemacht
auf den Begriff des Staates als des allgemeinen gesell-
schaftlichen Vereines. — Die psychologische oder metaphy-
sische Essenz einer Genossenschaft, und folglich eines Ge-
meinwesens, geht immer darin auf, Wille zu sein, d. h.
Leben zu haben und in einem — der Dauer nach unbe-
grenzten — Zusammenleben seiner Mitglieder zu bestehen.
Sie führt daher immer zurück auf die ursprüngliche Einheit
der Wesenwillen, welche ich Verständniss genannt
habe, und wie auch immer sie sich aus diesem entwickelt
hat, so ist jedesmal ihr Inhalt so gross, als die Kraft, mit
der sie sich im Dasein behauptet; und dieser Inhalt, als
Sitte und Recht, hat mithin unbedingte und ewige Gültig-
keit für die Mitglieder, welche erst aus ihm ihr eigenes
[262] Recht ableiten, welches sie in Bezug auf einander und alsdann
auch gegen einander haben, folglich auch in Bezug auf und
gegen das eigene Selbst der Genossenschaft, insofern als dieses
seinen gegebenen Willen nicht nach Willkür verändern kann.
Aber die Willenssphäre des Ganzen muss als vor allen ein-
zelnen Willenssphären dieselben involvirend gedacht werden,
und Freiheit und Eigenthum der Menschen sind nur vor-
handen als Modificationen der Freiheit und Eigenthums des
Gemeinwesens. In einem allgemeinen Zusammenhange der
Gemeinschaft würde aber die Sphäre jeder Genossenschaft
wiederum bedingt und bestimmt sein durch frühere und
höhere Genossenschaft, zu welcher sie als Mitglied sich
verhält, bis endlich die höchste als ein alle Menschheit um-
fassendes Gemeinwesen sich würde vorstellen müssen. Und
dies ist die Idee der Kirche und des geistlich-weltlichen
Universal-Reiches. — Hingegen jeder Verein beruht auf
einem Complex von Contracten jedes mit jedem Subjecte,
und dieser Complex heisst als Vereinbarung, durch welche
die fingirte Person gleichsam ins Leben gerufen wird, ein
Statut. Das Statut gibt dem Verein einen Willen durch
Ernennung einer bestimmten Vertretung, es gibt ihm einen
Zweck, welcher nur ein Zweck sein kann, in Bezug auf
welchen die Contrahenten sich einig wissen, und gibt ihm
die Mittel zur Verfolgung oder Erreichung solches Zweckes,
welche Mittel aus den Mitteln jener gegeben und zusammen-
gelegt werden müssen. Diese Mittel sind theils Rechte in
Bezug auf gewisse Handlungen der einzelnen Personen, über
welche der Verein folglich (im Rechte) auf dieselbe Weise
verfügen kann oder darf, wie jedes Individuum die seinigen
in der Willkür hat und darüber verfügt. Sie sind mithin
Stücke der Freiheit. Es sind Zwangsrechte. Wie solche
durch jede Obligation sich ergeben, ist früher betrachtet
worden. Zur Ausübung des Zwanges ist aber ein Verein
seiner Natur nach nicht mehr fähig, als der einzelne Mensch.
Er kann nur handeln durch seinen Repräsentanten; dieser
ist ein Individuum oder eine Versammlung. Wenn ein In-
dividuum, so ist derselbe Fall gegeben, als ob dasselbe in
seinem eigenen Namen zu zwingen versuchen würde. Wenn
eine Versammlung, so kann dieselbe zwar als ein Ganzes
[263] Beschlüsse fassen, aber als handelnde zerfällt sie in die vielen
Einzelnen, welche ihr Wille bewegen oder zwingen soll, da
er doch an und für sich keiner Action fähig ist; und es ist
keineswegs gewiss, dass auch nur die Mehrheit, als Summe
von Einzelnen, zu gemeinsamer Action im Sinne ihres Wil-
lens fähig sei. Die Vereins-Person muss daher, gleich jeder
anderen Person, um zwingen zu können, eine Uebermacht
menschlicher Kräfte durch andere als Zwangsmittel
zu ihrer Verfügung haben, was in einem gesellschaftlichen
Zustande nur dadurch erreichbar ist, dass sie dieselben ein-
kauft. Sie muss daher über Geld als das allgemeine Kauf-
mittel in ausreichender Menge verfügen. Auch dann aber
bleibt die Ausübung des Zwanges an eine grosse Bedingung
gebunden. Das ist die wenigstens negative Mitwirkung der
gesammten Gesellschaft. Der Zwang kann nur dann mit
Sicherheit und Regelmässigkeit erfolgen, wenn Niemand be-
reit ist oder sich bewegen lässt, dem Gezwungenen zum
Widerstande Hülfe zu leisten, oder wenn doch im Vergleiche
zur Macht des Zwingenden die Zahl Solcher eine verschwin-
dende ist, also dass die zwingende Abwehr derselben mit
der gleichen Sicherheit wie der Zwang des ersten »Delin-
quenten« erfolgen wird. Wie bei der ökonomischen Seite
jedes Contractes (oder Tausches) im Sinne der Gültigkeit,
so ist bei der rechtlichen im Sinne der obligatorischen Wirk-
samkeit also die Gesellschaft betheiligt. Sie macht durch
Neutralität den Widerstand unmöglich, wenn die Kräfte
des Berechtigten überlegene sind. Ueberlegenheit des Ein-
zelnen über den Einzelnen im Sinne momentaner und sicherer
Wirkung ist für den durchschnittlichen Fall ausgeschlossen,
da jeder Kräfte genug hat, um sich einem Einzelnen zu
widersetzen. Der Berechtigte muss also Hülfskräfte für
sich werben. Daher würde jeder Verein gegen reale Per-
sonen ohnmächtig sein ohne Geld. Dieses Geld muss ihm
vorher gegeben sein. Er muss darüber mit Freiheit ver-
fügen. Dadurch verfügt er auch über menschliche Kräfte.
Er kann derselben auch zu anderen Zwecken als zum
Zwingen nach innen und aussen bedürfen, und vielleicht
nur zu anderen Zwecken die aus seinem Hauptzwecke fol-
gen, z. B. aus dem Betriebe eines Handelsgeschäftes. Die
[264] Form, in welcher er für diese seine Untergebenen seine
Willkür durch allgemeine Sätze ausdrückt, nenne ich
Satzung. Die Ausführung solcher Satzungen als für
sie verbindlicher Normen ist die im Begriffe zusammen-
gefasste Dienstleistung, für welche jene bezahlt werden;
sie darf nicht selber als obligatorisch gedacht werden, son-
dern sie ist wie im momentanen Tausche dargebotenes
Aequivalent. Auch die individuelle Person kann auf
diese Weise ihren Willen in allgemeine Befehle fassen und
ausführen. Jeder Mandant ist für seinen Mandatar Ge-
setzgeber. Aber das Förmliche der Satzung ist darum dem
Vereine angemessen, weil dieser, auch wenn er durch eine
individuelle Person vertreten wird, zumal aber wenn durch
eine Versammlung, eines bestimmten (im Statut vorgesehenen)
Schematismus bedarf, um seinen Willen überhaupt zu bilden
und als gültigen Beschluss darzustellen. Eben desshalb
ist ihm auch der allgemeinste Ausdruck am meisten
natürlich, als wodurch in gegebener Zeit die grösste Lei-
stung geschieht, wenn die Anwendung auf Gruppen von
Fällen und auf einzelne Fälle jenen seinen abhängigen Per-
sonen überlassen werden kann.
§ 29.
Der Staat hat einen zwieschlächtigen Charakter. Er
ist zuerst die allgemeine gesellschaftliche Verbindung, be-
stehend und gleichsam errichtet zu dem Zwecke, Frei-
heit und Eigenthum seiner Subjecte zu beschützen, mithin
das auf der Gültigkeit von Contracten beruhende natürliche
Recht auszudrücken und durchzuführen. Er ist also, gleich
jedem anderen constituirten Vereine, eine fingirte oder künst-
liche Person und steht als solche in der Rechtsordnung allen
übrigen Personen gleich und gegenüber. Es gibt ein natür-
liches Recht zwischen ihm und den Einzelnen, als zwi-
schen einem Mandatar und seinen Mandanten. Dieses Recht
bleibt also auch über ihm, als gesellschaftlicher Wille, con-
ventionelles Naturrecht, bestehen. Dazu gehört seine ge-
sammte Verfassung und die Ordnung, in welcher er seinen
Willen als gültigen ausdrücken soll. Dieses Recht kann, wie
jedes Recht, streitig sein und es kann eine besondere Person
[265] oder Behörde geben, welche von den Contrahenten (dem
Staate auf der einen Seite, den Einzelnen, d. i. der Gesell-
schaft, auf der anderen) eingesetzt oder anerkannt wird, um
es zu entscheiden. Für diese richterliche Behörde gibt
es dann kein ferneres Recht und ist nicht erfordert, weil
ihr Wille nichts als wissenschaftliche Wahrheit in Bezug
auf das Recht, ihr Handeln nichts als Sprechen ist. Sie
hat mithin auch weder Recht noch Gewalt zu zwingen,
viel weniger als irgendwelche physische Person haben kann.
Sie ist die nackte sociale Vernunft in höchster Potenz, aber
darum auch von allen anderrn Kräften entblösst. Hingegen
ist der Staat, gerade seiner rechtlichen Bestimmung nach,
nichts als Gewalt, Inhaber und Vertreter aller natürlichen
Zwangsrechte. Er selbst bedarf der Erkenntniss des
Rechtes, um es zu erzwingen. Er macht das natürliche
Recht zu seinem Objecte, er nimmt es in seinen Willen auf
und wird Interpret desselben. Was er aber auf diese Art
in seiner Hand hat, das kann er auch verändern. Nicht
blos thatsächlich. Er muss es auch rechtmässiger Weise
verändern können. Denn er kann die Regeln, nach welchen
er es interpretiren will, für seine Untergebenen als Satzun-
gen verbindlich machen. Seine Erklärung, was Rechtens
ist, bedeutet für diese so viel als: was Rechtens sein soll,
mithin in allen praktischen Folgen des Rechtes. In diesem
Sinne kann der Staat beliebiges Recht machen, indem
er seinen Richtern befiehlt, sich darnach zu richten und
seinen Executiv-Beamten, es zu vollziehen. Der unbeschränk-
ten Ausdehnung dieser legislativen Gewalt oder der
Verdrängung des Rechtes von Natur oder aus Convention,
durch Recht von Staats wegen oder aus Politik kann sich
mit Behauptung ihres Rechtes die neben und doch gleichsam
unter dem Staate verharrende Gesellschaft, als Summe von
Einzelnen, widersetzen. Hier würde alsdann eine
rechtliche Entscheidung nur durch das bezeichnete
Schiedsgericht möglich sein. Aber der Staat ist zweitens
die Gesellschaft selber oder die sociale Vernunft, welche
mit dem Begriffe des einzelnen vernünftigen gesellschaft-
lichen Subjectes gegeben ist; die Gesellschaft in ihrer Ein-
heit, nicht als besondere Person ausser und neben die übri-
[266] gen Personen gesetzt, sondern als die absolute Person, in
Bezug auf welche die übrigen Personen allein ihre Existenz
haben; in diesem Sinne gibt es kein Recht gegen sein
Recht, das Recht der Politik ist das Recht der Natur. Mit-
hin ist auch keine Recht sprechende Instanz zwischen Staat
und Gesellschaft — welche doch, wie der Staat selber, aus
der Gesellschaft hervorgehen müsste — noch denkbar; die
gesammte Jurisdiction wird vom Staate abhängig und wird
Anwendung seiner Gesetze. Denn es wird geleugnet, dass
die Gesellschaft ohne den Staat eines allgemeinen Willens
fähig sei, oder doch gesagt, dass sie dessen nur in dem
Maasse fähig sei, um den Willen des Staates als ihren Willen
zu erkennen. Demnach ergibt sich als die natürliche Ord-
nung anstatt der blos negativen eine positive Bestimmung
der Individuen; deren einige durch den Staat mit einem ge-
bietenden Mandate ausgerüstet werden, welches sie weiter-
zugeben fähig sind und gehiessen, so dass endlich jede Per-
son in vermittelter Abhängigkeit an dem Staatswillen theil-
nehmen würde. Dieser Gedanke erfährt eine beschränkte
Durchführung im Systeme der Verwaltung; seine Ver-
allgemeinerung würde die gesammte Güterproduction zu
einem Theile der Verwaltung machen und ist eine (dem Be-
griffe nach) mögliche Form des Socialismus. Diese
kann gedacht werden, ohne die fundamentale Distinction der
gesellschaftlichen Classen aufzuheben. Der Staat würde die
alle Concurrenz ausschliessende Coalition der Kapitalisten
sein; die Production würde fortfahren, zu ihrem Nutzen zu
geschehen. In der internationalen Arbeitstheilung, welche
der Weltmarkt regulirt, würde immer noch die vereinigte
Kapitalistenschaft als Urheber und Verkäufer ihres Gesammt-
products auftreten; wenn auch die Productionsmittel dem
Staate gehören, so würde jene doch als formelles Subject
und Dirigentin der Arbeit Eigenthümer des ganzen Werth-
Theiles sein, welcher nicht zum Ersatze der Productions-
mittel erfordert wird. Aber sobald die Gesellschaft über
alle Grenzen hinaus sich erstreckt hätte und folglich der
Welt-Staat eingerichtet würde, so hätte die Waaren-Produc-
tion ein Ende, mithin auch die wahre Ursache des »Unter-
nehmergewinnes«, des Handelsprofits und aller Formen des
[267] Mehrwerths. Die von der unteren Classe (wie bisher) her-
vorgebrachten Güter könnten von der oberen nur noch an-
geeignet werden, weil und insofern als sie den Staat ver-
tritt, im Namen des Staates, in dessen Namen sie auch
den Theil derselben, welcher nicht zur Unterhaltung der
Arbeiter nothwendig erschiene, unter sich vertheilen würde.
Die willkürliche Basis des Rechtes kommt zu deutlicherem
Ausdruck, wenn das staatliche und gesetzliche Recht alles
gesellschaftliche und contractliche Recht verschlungen hat.
Sie ist immer vorhanden; aber sie wird nicht begriffen, bis
das Subject auch des Naturrechtes als der fortwährenden
Willkür fähige und doch ganz und gar fictive (juristische) Per-
son sich geltend macht. Auch nach dem ersten Begriffe, wo
der Staat als blosser Mandatar der Gesellschaft dargestellt
wird, ist es nur scheinbar die Willkür aller Waarenver-
käufer, welche das conventionelle und erst in zweiter
Linie politische Naturrecht setzt, in demselben Maasse
scheinbar, als die Arbeitskraft scheinbare Waare ist; in
Wahrheit ist es die Willkür aller Verkäufer wirklicher
Waaren, der in Producten verkörperten Arbeitskräfte. Der
Staat ist kapitalistische Institution und bleibt es, wenn er
sich für identisch mit der Gesellschaft erklärt. Er hört
daher auf, wenn die Arbeiter-Classe sich zum Subjecte seines
Willens macht, um die kapitalistische Production zu zer-
stören. Und hieraus folgt, dass die politische Bestrebung
derselben ihrem Ziele nach ausserhalb des Rahmens der
Gesellschaft fällt, welche den Staat und die Politik als
nothwendige Ausdrücke und Formen ihres Willens ein-
schliesst. Hingegen findet der tiefste gesellschaftliche Gegen-
satz zwischen den beiden Begriffen vom Staate statt, deren
Skizze gezeichnet worden ist. Sie stehen sich als Systeme
der Volkssouveränetät — wofür Gesellschaftssouveränetät —
und der Herrschersouveränetät — wofür Staatssouveränetät
gesagt werden sollte — gegenüber und können doch in
mannigfache Mischungen und Verwirrungen eingehen.
§ 30.
Die dritte und endliche Gestaltung eines gemeinsamen
und verbindenden Willens muss als mentale begriffen wer-
[268] den. Auch ihr kann, in der Theorie, zu grösserer Deut-
lichkeit, ein Subject vorgesetzt und dasselbe als ein geisti-
ger (geistlicher) Verband oder Verein; wenn als allgemeines
gedacht: als geistiges (geistliches) Gemeinwesen, geistiger
Staat unterschieden werden. Die Willensformen selber aber
nenne ich: A) die gemeinschaftlichen: im Einzelnen Glaube,
im Ganzen Religion, B) die gesellschaftlichen: im Einzel-
nen Doctrin, im Ganzen öffentliche Meinung. Dies
sind Mächte, denen weder durch menschliche Kräfte (phy-
sische), noch durch äussere Dinge als Werkzeuge (Geld)
sich geltend zu machen und durchzusetzen eigenthümlich
ist, sondern allein durch Vorstellungen und Gedanken,
welche in der Gehirnthätigkeit des Menschen zu sein und
zu wirken bestimmt sind. Sie verhalten sich in ihren be-
deutendsten socialen Actionen urtheilend, richtend, d. h. sie
messen an sich oder an ihren Willens-Meinungen, Maximen
und Regeln die Thaten und Handlungen, also den Willen
derer, worauf sie sich beziehen; so auch, und insbesondere
den Willen des Gemeinwesens, des Staates. So stellt sich
Religion über das Gemeinwesen, öffentliche Meinung über
den Staat. Religion beurtheilt die Sitte und Sitten oder
Gebräuche als gut und richtig oder missbilligt sie als schlecht
und falsch. Oeffentliche Meinung billigt Politik und Ge-
setzgebung als richtig und klug oder verurtheilt sie als un-
richtig und dumm. — Glaube gehört wesentlich der
Menge an und dem unteren Volke: in Kindern und Frauen
ist er am meisten lebendig. Doctrin ist eine Sache, die
nur Wenige zu begreifen, Wenigere zu ersinnen vermögen;
und dies sind klügelnde, vornehm-kühle Individuen, Männer
und Greise. Sie verhalten sich wie Poesie (in ihren Wur-
zeln, als Stimmung zum Gesang, zur erzählenden Mitthei-
lung, mimischen Darstellung) zur vollkommenen Prosa eines
mathematischen Räsonnements oder anderer begrifflicher Com-
binationen. — Die Beziehung der Religion zum Familien-
leben und zur Sitte ist schon angedeutet worden. Sie ist
selber das Familienleben, insofern als die Theilnahme daran
auf vorgestellte, der Phantasie gegenwärtige, treu-verwandte
und befreundete Wesen erstreckt wird; und so von der einen
Seite (der menschlichen) Ehrfurcht, mit frommen Gaben,
[269] Opfern und Spenden, von der anderen (der göttlichen) Gunst,
Schutz und Hülfe entgegengebracht wird; das väterliche oder
mütterliche Walten ist der Grund und Ursprung des gött-
lichen und alles gottähnlichen Waltens und bleibet darinnen
als seine Wahrheit. Religion ist sodann selber ein Stück
der Sitte, durch das Herkommen, Ueberlieferung und Alter
als wirklich und nothwendig gegeben, worin das einzelne
Menschenkind geboren und erzogen wird, wie in die Mund-
art seiner Sprache, wie in die Lebensweise, der Kleidung,
Speise und Trankes, welche seiner Heimath gewohnt ist:
Glaube der Väter, Glaube und Brauch, erbliche Empfindung
und Pflicht. — Wiederum hat und behält Religion überall
und in ihrer höchsten Entwicklung alle eigentlichen Wirkun-
gen in Gemüth und Gewissen der Menschen, durch die
Weihe, welche sie den Ereignissen des Familienlebens: der
ehelichen Gemeinschaft, der Freude über die Neugeborenen,
der Traurigkeit um die Hingeschiedenen, verleihet. Und
ebenso heiligt sie das Gemeinwesen, erhöht und befestigt
die Geltung des Rechtes: als Wille der Alten und der Vor-
fahren ist es schon würdig und wichtig, als Wille der Götter
wird es noch gewaltiger und gewisser. So fordert und
erzeugt die frühere Anschauung die spätere, wirkt die spä-
tere auf die frühere zurück. Das religiöse Gemeinwesen
ist insonderheit Darstellung der ursprünglichen Einheit und
Gleichheit eines ganzen Volkes, das Volk als eine Familie,
das Gedächtniss seiner Verwandtschaft durch gemeinsame
Culte und Stätten festhaltend. Dies ist es in seiner extensiven
Bedeutung; seine intensive Kraft hat es am stärksten als
städtisches Gemeinwesen, als worin die Wichtigkeit des
Glaubens und der Deutung göttlichen Willens, den Inhalt
der Sitte zu ergänzen, für verwickeltere Zustände des Lebens
zu modificiren und zum Theile zu ersetzen, in entschiedener
Weise hervortritt. Dies geschieht ganz hauptsächlich durch
den Gebrauch des Eides: worin die Gegenwart des gött-
lichen Wesens mehr als furchtbare, denn als geliebte, her-
beigerufen wird, damit sie zur Treue und zur Wahrhaftig-
keit ermahne, Betrug und Lüge rächen möge. Und so wird
man nicht irre gehen, wenn man in der Ehe, als dem
Schwerpunkt des Familienwesens, der Eintracht männlichen
[270] und weiblichen Geistes und ferner im Eidschwur die beiden
Säulen erkennt, durch welche Religion das Gebäude des
Gemeinwesens und erhöhten gemeinschaftlichen Lebens unter-
stützt: sie sind die Hauptstücke der Moral, und diese,
ihrem besonderen Charakter nach, ebensosehr Erzeugniss
der Religion, als Recht Erzeugniss der Sitte ist.
§ 31.
Oeffentliche Meinung erhebt selber den Anspruch,
allgemeine und gültige Normen zu setzen, und zwar nicht
auf Grund eines blinden Glaubens, sondern der klaren Ein-
sicht in die Richtigkeit der von ihr anerkannten, angenom-
menen Doctrinen. Sie ist in ihrer Tendenz und ihrer Form
nach die wissenschaftliche und aufgeklärte Meinung. Wenn
sie als solche sich bilden kann, in Bezug auf alle möglichen
Probleme, welche das Denken und die Erkenntniss beschäf-
tigen mögen, so ist sie doch vorzugsweise gerichtet auf das
Leben und den Verkehr der Gesellschaft und des Staates.
Alle bewussten Theilnehmer an demselben müssen für diese
Begriffe und Ansichten sich interessiren, sie zu bilden helfen,
die falschen und schädlichen bekämpfen. Was erlaubt und
nicht erlaubt sei in der Praxis des Handels, und was von
der Kraft und dem Werthe dieser und jener Firma, dieser
und jener Waare, Forderung, einer Münze oder eines
»Papieres« zu halten sei; und in ähnlicher Weise von cur-
sirenden Werthen, Personen und ihren Fähigkeiten in an-
derer Geselligkeit, welche dem Verkehre des Marktes und
der Börse analog vorgestellt wird, das macht, zu allgemeinen
Sätzen erhoben, eine Art von Moral-Codex aus, welcher
zwar sehr veränderlich ist, je nach vermeintlich besserer
Erkenntniss, und viele Opposition wider sich haben mag,
aber um nichts weniger streng ist in seinen Verboten, Ver-
urtheilungen, Strafen; denn wie es ihm nicht um irgend-
welche zu bethätigende Gesinnung, sondern nur um formale
Correctheit der Handlungsweise zu thun ist, so findet eine
Reaction eigentlich nur gegen Uebertretungen statt, während
eine Auszeichnung nach der anderen, der positiven Seite
nicht sowohl möglich ist, da mehr als Regelmässigkeit nicht
verlangt noch erwartet wird: und Bewunderung ist nicht
[271] eben Sache der öffentlichen Meinung, welche vielmehr alle
Erscheinungen auf das Niveau ihres Begreifens zu bringen
sich bemühet. Sie hat es aber keineswegs allein mit correc-
ten und guten Handlungen, sondern ganz vorzüglich auch
mit correcten und guten Meinungen selber zu thun, indem
sie die Uebereinstimmung der einzelnen und privaten Mei-
nungen mit ihr, der allgemeinen und öffentlichen, fordern
muss, um so mehr, da die (vorausgesetzten) vernünftigen und
willkürlichen Subjecte nach ihren Meinungen ihre Hand-
lungen richten. Unter den Meinungen aber sind viele
gleichgültig, keine weniger gleichgültig, als die politischen
Meinungen; denn davon scheint zuletzt abhängig zu sein,
welche Gesetze der Staat geben oder aufrecht erhalten,
welche Politik nach innen und nach aussen er führen werde.
Ist nun hierüber die Gesellschaft zwar theilweise in sich
einig, in vielen Stücken aber auf die heftigste Weise wider-
streitend, so muss jede Partei darnach streben, ihre Mei-
nung zur öffentlichen Meinung oder wenigstens zum Scheine
derselben zu erheben, ihren Willen als den allgemeinen und
vernünftigen Willen, der das gemeinsame Wohl bezwecke,
darzustellen, um hierdurch »ans Ruder« des Staates zu ge-
langen oder die »Klinke der Gesetzgebung« unter ihre Hand
zu bekommen. Auf der anderen Seite hat der Staat selber
oder das Gouvernement, d. i. diejenige Partei, welche
gerade die souveräne Person darstellt oder auf dieselbe den
stärksten Einfluss ausübt, eben so starkes Interesse, die
öffentliche Meinung zu »machen«, zu »bearbeiten«, zu stim-
men und umzustimmen. Was nun auch immer als öffent-
liche Meinung dasein und gelten mag, es tritt an die ein-
zelnen Meinenden als eine fremde und äussere Macht heran.
Dies geschieht aber vorzüglich durch diejenige Art der Mit-
theilung, in welcher alle menschliche Beziehung, Glaube und
Vertrauen zwischen einem Redenden, Lehrenden und einem
Zuhörenden, Verstehenden ausgelöscht ist oder doch werden
kann: die litterarische. Als worin Urtheile und Meinungen
gleich Sachen des Kramhändlers eingewickelt und in ihrer
objectiven Realität zum Genusse dargeboten werden. Wie
denn solches durch das Zeitungswesen: die geschwin-
deste Fabrication, Vervielfältigung und Verbreitung von Ge-
[272] danken, uns gegenwärtig Lebenden, gleich allen anderen
Genussmitteln der Welt, in der vollkommensten Weise zu-
bereitet und dargeboten wird: wie die Küche des Hôtels die
Stoffe zum Essen und Trinken in beliebigen Formen und
beliebigen Mengen vorsetzt. So ist die »Presse« das eigent-
liche Mittel (»Organ«) der öffentlichen Meinung, eine Waffe
und Werkzeug in den Händen Aller, die es zu gebrauchen
wissen, es gebrauchen müssen, von einer universalen Macht
als gefürchtete Kritik von Vorgängen und Veränderungen
der gesellschaftlichen Zustände, der materiellen Macht, welche
die Staaten haben durch Heere, Finanzen und »organisirte«
Beamtenschaften, wohl vergleichbar, in mancher Hinsicht
überlegen; nicht wie diese auf nationale Grenzen beschränkt,
sondern der Tendenz und Möglichkeit nach durchaus inter-
national, also vielmehr mit der Macht, welche die dauernde
oder vorübergehende Einigkeit und Alliance der Staaten
haben mag, sich messend. Daher denn auch als ihr letztes
Ziel angegeben werden kann, die Vielheit der Staaten auf-
zuheben und zu ersetzen, eine einzige Welt-Republik
von gleicher Ausdehnung mit dem Welt-Markte zu stiften,
welche von den Denkenden, Wissenden und Schreiben-
den dirigirt werde und der Zwangsmittel von anderer als
psychologischer Art entbehren könne. Solche Tendenzen und
Absichten gelangen vielleicht niemals zu einem klaren und
reinen Ausdrucke, geschweige denn zu einer Verwirk-
lichung; aber ihre Auffassung dient zum Verständnisse vieler
wirklicher Erscheinungen und zu der wichtigen Einsicht,
dass die Ausbildung nationaler Staaten nur eine vorläufige
Beschränkung der schrankenlosen Gesellschaft ist. Wie
denn der am meisten moderne und gesellschaftliche Staat,
die nordamerikanische Union, am wenigsten so etwas wie
einen nationalen Charakter in Anspruch nehmen kann oder
will. — Ueberhaupt aber gilt die Bemerkung, dass das
Künstliche, ja Gewaltsame in diesen Abstractionen fortwäh-
rend in Erinnerung bleiben muss und der tiefe Zusammen-
hang, in welchem alle diese gesellschaftlichen Mächte mit
ihrer gemeinschaftlichen Basis, den ursprünglichen und
natürlichen, den »historischen« Gestaltungen des Zu-
sammen-Lebens und -Wollens, verharren. Denn gleichwie
[273] die gesammte individuelle Willkür nur ideell von den Im-
pulsen des Lebens und Wesenwillens getrennt werden kann
und unter dem objectiven Aspect vielmehr als ein Product
des Gedächtnisses erscheint, so verhält es sich auch mit
der socialen Willkür. Alle ihre Satzungen und Normen be-
halten eine gewisse Aehnlichkeit mit den Geboten der Re-
ligion, indem sie, wie diese, dem intellectuellen oder men-
talen Ausdrucke des Gesammtgeistes entspringen und die
nunmehr vorausgesetzte Isolation und Selbständigkeit des-
selben vielleicht niemals als eine vollkommene und allge-
meine in der Wirklichkeit angetroffen wird. So ist der
Eid ursprüngliche Gewähr des Vertrages, und von Treue
und Glauben löst sich nicht leicht die »bindende Kraft« der
Verträge in der Bewusstheit der Menschen ab, wenn
auch in Wirklichkeit dergleichen keineswegs erfordert wird
sondern eine einfache Reflexion auf das eigene Interesse
genügt, um die Nothwendigkeit, diese Grundbedingung des
gesellschaftlichen Lebens zu erfüllen, dem vernünftigen Sub-
jecte vorzustellen. — Diesen Punkt deutlich zu machen, ist
nicht leicht, noch ihn zu verstehen. Aber in der Einsicht
und Durchdringung desselben wird der Schlüssel entdeckt
werden zur Lösung der bedeutendsten Probleme des Werdens
und Vergehens menschlicher Cultur.
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 18
[[274]][[275]]
ANHANGSWEISE.
ERGEBNISS UND AUSBLICK.
‘Παντὸς καὶ σωματος καὶ πολιτείας καὶ
πράξεως ἔστι τις αὔξησις κατὰ φύσιν,
μετὰ δὲ ταύτην ἀκμή, κἄπειτα φϑίσις—
Polyb. VI. 52.’ ()
[[276]][[277]]
§ 1.
Es bietet sich dar der Gegensatz einer Ordnung
des Zusammenlebens, welche insofern als auf Ueberein-
stimmung der Willen, wesentlich auf Eintracht beruht, und
durch Sitte und Religion ausgebildet, veredelt wird; gegen
eine Ordnung des Zusammenlebens, welche insofern als auf
zusammentreffenden, vereinigten Willküren, auf Convention
gegründet ist, durch politische Gesetzgebung ihre Sicherung,
und durch öffentliche Meinung ihre ideelle und bewusste
Erklärung, Rechtfertigung empfängt. Ferner, der Gegen-
satz eines gemeinsamen und verbindlichen, positiven
Rechtes, als eines Systemes von erzwingbaren Normen
in Bezug auf die Verhältnisse der Willen zu einander, wel-
ches, im Familienleben wurzelnd und aus den Thatsachen
des Grundbesitzes seinen bedeutendsten Inhalt schöpfend,
seine Formen durch Sitte wesentlich bestimmt erhält,
welcher Religion ihre Weihe und Verklärung gibt, wenn
sie nicht als göttlicher Wille, mithin als Wille weiser und
herrschender Menschen, welche denselben auslegen, solche
Formen zu verändern, zu verbessern lehrt und wagt;
gegenüber einem gleichartigen positiven Rechte, das die
Willküren durch alle ihre Verknüpfungen und Verschlin-
gungen auseinanderzuhalten beflissen, in der conventionellen
Ordnung des Handels und dergleichen Verkehres seine
natürlichen Voraussetzungen hat; aber erst gültig und
regelmässig kräftig wird durch die souveräne Willkür und
Macht des Staates, als das wichtigste Werkzeug seiner
Politik, wodurch er die gesellschaftlichen Bewegungen theils
[278] erhält, theils hemmt oder fördert, und welches durch Doc-
trinen und Meinungen öffentlich vertheidigt, angefochten,
daher auch verändert, verschärft oder gemildert wird. End-
lich gehört dazu der Gegensatz der Moral als eines durch-
aus ideellen oder mentalen Systemes von Regeln des gemein-
samen Lebens: welches auf der einen Seite wesentlich
Ausdruck und Organ der religiösen Vorstellungen und
Kräfte ist: hier mit den Bedingungen und Wirklichkeiten
des Familiengeistes und der Sitte in nothwendiger Ver-
bindung; auf der anderen Seite ganz und gar Product und
Werkzeug öffentlicher Meinung: und alsbald auf alle Be-
ziehungen der allgemeinen contractuellen Geselligkeit und
der politischen Bestrebungen hingewiesen.
Ordnung ist natürliches Recht; Recht schlechthin =
positives Recht; Moral = ideales Recht. Denn Recht als Inhalt
dessen, was sein soll oder sein darf, geboten oder erlaubt wird,
ist das Object eines socialen Willens überhaupt. Auch das
natürliche Recht muss als gesetztes und effectives verstanden
werden; aber es ist in einem allgemeineren Sinne und
minder ausdrücklicher Weise gesetzt; es ist das allgemeine
im Gegensatz zu allem besonderen, oder das einfache im
Gegensatz zum mannigfachen und verwickelten Recht.
§ 2.
Aus Eintracht, Sitte und Religion besteht die Sub-
stanz des socialen Wesens und Willens, wovon die höchst
mannigfachen Modi und Formen unter förderlichen Bedin-
gungen im Verlaufe seines Lebens sich ausbilden, so dass
jede Gruppe und jeder selbständige Mensch in seinem
eigenen Willen und dessen Sphäre, daher in seiner Ge-
sinnung, seinem Gemüthe und Gewissen, wie auch in seinen
gegebenen Umständen, seinem Besitze, und den ihm natür-
lichen, gewohnten, obliegenden Thätigkeiten einen gewissen
Antheil daran empfangen hat, und aus dem gemeinsamen
Herde und Centro ableiten kann. Er hat darinnen die
Wurzeln seiner Kraft, und nähret sein Recht zuletzt aus
dem einen, ursprünglichen, das als ein göttlich-natürliches
ihn umfasst und erhält, wie es ihn hat entstehen und wird
[279] vergehen lassen. Aber unter gewissen Bedingungen, in
manchen Beziehungen, die uns hier merkwürdig sind, er-
scheint der Mensch in willkürlichen Thätigkeiten und Ver-
hältnissen als ein freier, und muss als Person begriffen
werden. Die Substanz des gemeinen Geistes ist so schwach,
oder das Band, welches ihn mit den Anderen verbindet, so
dünn geworden, dass es aus der Betrachtung ausscheidet.
Dies ist im Allgemeinen, in Vergleichung zu jedem familien-
haften, genossenschaftlichen Bunde, das Verhältniss zwischen
Ungenossen: wo — in diesen Beziehungen, oder endlich
überhaupt — kein gemeinsames Verständniss obwaltet, kein
Brauch, kein Glaube verbindet und versöhnt. Es ist der
Zustand des Krieges und der unbeschränkten Freiheit, ein-
ander zu vernichten, nach Willkür zu gebrauchen, zu
plündern und zu unterjochen, oder aber, aus Erkenntniss
besseren Vortheils, Verträge und Verbindungen anzuknüpfen.
So lange und so fern als ein solcher Zustand bestehen mag
zwischen geschlossenen Gruppen oder Gemeinschaften, und
zwischen den Menschen, wie sie durch dieselben bedingt
sind, oder auch zwischen Genossen und Ungenossen in
Bezug auf Gemeinschaft, so geht es diese Untersuchung
nicht an. Sondern: wir verstehen ein Zusammenleben und
einen socialen Zustand, in welchem die Individuen wider
einander in derselben Isolation und verhüllten Feindseligkeit
verharren, so dass sie nur aus Furcht oder aus Klugheit
sich der Angriffe gegen einander enthalten, und mithin
auch die wirklichen friedlich-freundlichen Beziehungen und
Wirkungen als auf dem Grunde dieses Kriegszustandes
beruhend gedacht werden müssen. Dieses ist, wie in Be-
griffen bestimmt worden, der Zustand der gesellschaftlichen
Civilisation, in welchem Friede und Verkehr durch
Convention und in ihr sich ausdrückende gegenseitige
Furcht erhalten wird, welchen der Staat beschützt, durch
Gesetzgebung und Politik ausbildet; welchen Wissenschaft
und öffentliche Meinung theils als nothwendig und ewig zu
begreifen suchen, theils als Fortschritt zur Vollkommenheit
verherrlichen. Vielmehr sind aber die gemeinschaftlichen
Lebensarten und Ordnungen diejenigen, in welchen das
Volksthum und seine Cultur sich erhält; welchen daher
[280] das Staatsthum (in welchem Begriffe der gesellschaftliche
Zustand zusammengefasst werden möge), mit einem freilich
oft verhüllten, öfter verheucheltem Hasse und verachtendem
Sinne entgegen ist; in dem Maasse, in welchem es von
jenem abgelöst und entfremdet ist. Also stehen auch im
socialen und historischen Leben der Menschheit Wesenwille
und Willkür theils im tiefsten Zusammenhange, theils neben
und wider einander.
§ 3.
Sowie ein individueller Wesenwille das nackte Denken
und die Willkür aus sich evolvirt, welche ihn aufzulösen und von
sich abhängig zu machen tendirt — so beobachten wir bei den
historischen Völkern aus ursprünglichen gemeinschaftlichen
Lebensformen und Willensgestalten den Entwicklungsprocess
der Gesellschaft und gesellschaftlichen Willkürgebilde, aus
der Cultur des Volksthums die Civilisation des Staats-
thums. — Dieser Process kann auch auf folgende Weise
nach seinen Grundzügen geschildert werden. Die Substanz
des Volkes bildet als ursprüngliche und beherrschende
Kraft die Häuser, die Dörfer, die Städte des Landes. Sie
bringt dann auch die mächtigen und willkürlichen Individuen
hervor, in vielen verschiedenen Erscheinungen: in den Ge-
stalten der Fürsten, Feudalherren, Ritter, aber auch als
Geistliche, Künstler, Gelehrte. Alle diese bleiben jedoch
im socialen Sinne bedingt und bestimmt, so lange als sie
es im ökonomischen Sinne sind, durch die Gesammtheit des
Volkes, wie sie sich in der Gliederung desselben darstellt,
durch seinen Willen und seine Kraft. Ihre nationale
Einigung, durch welche allein sie als Einheit übermächtig
werden können, ist selber an ökonomische Bedingungen
gebunden. Und ihre eigentliche und wesentliche Herrschaft
ist die ökonomische Herrschaft, welche vor ihnen und mit
ihnen die Kaufherren erobern, indem sie die Arbeitskraft
der Nation sich unterwerfen, in mannigfachen Formen, deren
höchste die planmässige kapitalistische Production oder die
grosse Industrie ist. Herstellung der Verkehrsbedingungen
für die nationale Einigung der Willkürlich-Freien, und Her-
[281] stellung der Bedingungen und Formen der kapitalistischen
Production, ist das Werk der Handelsklasse, welche in ihrer
Natur und Tendenz und meistens auch in ihrem Ursprunge
ebenso international, als national, als grosstädtisch ist, und
das heisst: gesellschaftlich. Nach ihr werden es mehr und
mehr alle bisherigen Stände und Würdenträger, zuletzt,
wenigstens der Tendenz nach, das ganze bisherige Volk.
Mit Ort und Bedingungen ihres täglichen Lebens verändern
die Menschen ihr Temperament; es wird hastig und
wechselnd durch unruhiges Streben. Zugleich mit dieser
Umwälzung der socialen Ordnung und in parallelem
Fortschritte vollzieht sich eine allmähliche Verwandlung des
Rechtes, nach seinem Inhalte und nach seinen Formen.
Der reine Contract wird die Basis des gesammten Systemes,
und die Willkür der Gesellschaft, durch ihr Interesse be-
stimmt, erscheint mehr und mehr, theils an und für sich,
theils als vollstreckender Staatswille, als der alleinige Ur-
heber, Erhalter und Beweger der Rechts-Ordnung,
welche sie mithin von Grund aus verändern zu können und
zu dürfen gedacht wird, nach ihrem Mögen und Belieben,
das aber um ihrer selbst willen ein nützliches oder zweck-
mässiges sein wird. So verwandelt sich Recht, seiner
Form nach, aus einem Gebilde der Sitte, oder aus Ge-
wohnheitsrecht, zuletzt in ausschliessliches Gesetzesrecht,
ein Product der Politik. Es sind nur noch als agirende
Potenzen vorhanden: der Staat und seine Abtheilungen,
und die Individuen; an Stelle natürlich erwachsener, zahl-
reicher und mannigfacher Genossenschaften, Gemeinden und
Gemeinwesen. Und wie diese die Charaktere der Men-
schen mitbestimmt haben, so werden dieselben verändert in
Accommodation an neue und willkürliche Rechtsbildungen;
sie verlieren den Halt, den sie an der Sitte und an der
Ueberzeugung von ihrer Gültigkeit gehabt haben.
Endlich tritt im Verfolge, unter Wirkung dieser Verän-
derungen und unter Rückwirkung auf dieselben, eine vollkom-
mene Verkehrung des geistigen Lebens ein. Ursprünglich
durchaus in der Phantasie wurzelnd, wird es nun abhängig vom
Denken. Dort steht im Mittelpunkte der Glaube an un-
sichtbare Wesen, Geister und Götter, hier die Erkenntniss
[282] der sichtbaren Natur. Religion, welche dem Volksleben
entstammt oder doch mit ihm verwachsen ist, muss die
Führung abtreten an Wissenschaft, welche der gebildeten,
über das Volk erhabenen Bewusstheit entspringt und gemäss
ist. Religion ist direct und ihrem Wesen nach moralisch,
indem sie auf das leiblich-geistige Band, welches die Gene-
rationen der Menschen verbindet, ihre tiefste Beziehung hat.
Wissenschaft erhält erst einen moralischen Inhalt durch
Betrachtung der Gesetze des menschlichen Zusammenlebens,
indem sie daraus die Regeln für eine willkürliche und
vernünftige Ordnung desselben abzuleiten unternimmt.
Und die Denkungsart der einzelnen Menschen wird all-
mählich durch Religion immer weniger, durch Wissenschaft
immer mehr eingenommen. Den Zusammenhang dieser un-
geheuren Gegensätze und Bewegungen, wie er sich historisch
und actuell darstellt, wollen wir auf Grund der mannigfachen
Forschungen, welche die geschäftigen Zeitalter aufgehäuft
haben, dereinst zu erkennen versuchen. Für diese vor-
bereitende Darstellung aber mögen nur noch einige zer-
streute Anmerkungen dieselben genauer zu verdeutlichen
dienen.
§ 4.
Die äusseren Gestaltungen des Zusammenlebens, wie
sie durch Wesenwillen und Gemeinschaft gegeben sind,
wurden unterschieden als Haus, Dorf und Stadt. Dieses
sind die bleibenden Typen des realen und historischen
Lebens überhaupt. Auch in entwickelter Gesellschaft, wie
in den anfänglichen und mittleren Zeiten wohnen die Men-
schen auf diese verschiedenen Arten zusammen. Die Stadt
ist die höchste, nämlich complicirteste Gestaltung mensch-
lichen Zusammenlebens überhaupt. Ihr ist mit dem Dorfe
die locale Structur gemein, im Gegensatze zur famili-
aren des Hauses. Aber beide behalten viele Merk-
male der Familie, das Dorf mehrere, die Stadt mindere.
Erst wenn die Stadt sich zur Grosstadt entwickelt, ver-
liert sie dieselben gänzlich, die vereinzelten Personen stehen
einander gegenüber und haben ihren gemeinsamen Ort nur
als zufällige und gewählte Wohnstätte. Aber — wie die
[283] Stadt innerhalb der Grosstadt, was diese durch ihren
Namen kundgibt — so dauern überhaupt die gemeinschaft-
lichen Lebensweisen, als die alleinigen realen, innerhalb der
gesellschaftlichen, wenn auch verkümmernd, ja absterbend,
fort. Und hingegen: je allgemeiner der gesellschaftliche
Zustand in einer Nation oder in einer Gruppe von Nationen
wird, desto mehr tendirt dieses gesammte »Land« oder diese
ganze »Welt« dahin, einer einzigen Grosstadt ähnlich zu
werden. In der Grosstadt aber, und mithin im gesellschaft-
lichen Zustande überhaupt, sind nur die Oberen, Reichen,
Gebildeten eigentlich wirksam und lebendig, das Maas
gebend, wonach die unteren Schichten, theils mit dem
Willen jene zu verdrängen, theils ihnen ähnlich zu werden,
sich richten müssen, um selber gesellschaftliche und will-
kürliche Macht zu gewinnen. Die Grosstadt besteht, in
jenen wie in diesen Massen, ebenso daher die »Nation«,
und die »Welt«, aus lauter freien Personen, welche im
Verkehre einander fortwährend berühren, mit einander
tauschen und zusammenwirken, ohne dass Gemeinschaft und
gemeinschaftlicher Wille zwischen ihnen entstünde; anders
als sporadisch oder als Ueberlebsel der früheren und noch
zu Grunde liegenden Zustände. Vielmehr werden durch
diese zahlreichen äusseren Beziehungen, Contracte und
contractlichen Verhältnisse, ebenso viele innere Feindselig-
keiten und antagonistische Interessen, nur überdeckt, zumal
jener berufene Gegensatz der Reichen oder der herrschaft-
lichen Classe, und der Armen oder der dienstbaren Classe,
welche einander zu hemmen und zu verderben trachten;
ein Gegensatz, der, nach dem Ausdrucke des Platon, die
Stadt zu einer doppelten, und zwar in ihrem Körper selber
gespaltenen, eben dadurch aber (nach unserem Begriffe)
zu einer Grosstadt macht. Während daher das gemeine städ-
tische Leben durchaus innerhalb der Gemeinschaft des Fami-
lienlebens und des Landes beharrend, wohl auch dem Acker-
bau, aber besonders der in diesen natürlichen Bedürfnissen
und Anschauungen beruhenden Kunst sich hingibt, so
hebt seine Steigerung zur Grosstadt sich scharf dagegen
ab, um jene ihre Basis nur noch als Mittel und Werkzeug
für ihre Zwecke zu erkennen, zu gebrauchen. Die Gross-
[284] stadt ist typisch für die Gesellschaft schlechthin. Sie ist
daher wesentlich Handelsstadt und insofern der Handel
die productive Arbeit darin beherrscht, Fabrikstadt.
Ihr Reichthum ist Reichthum an Kapital, welches in Gestalt
von Handels-, Wucher- oder Industrie-Kapital durch seine
Anwendung sich vermehrendes Geld ist; Mittel zur An-
eignung von Arbeitsproducten oder zur Ausbeutung von
Arbeitskräften. Sie ist endlich Stadt der Wissenschaft und
Bildung, als welche auf alle Weise mit dem Handel und
der Industrie Hand in Hand gehen. Die Künste gehen
hier nach Brod, werden selber kapitalistisch verwerthet.
Das Denken und Meinen vollzieht und verändert sich mit
grosser Geschwindigkeit. Reden und Schriften werden
durch massenhafte Verbreitung die Hebel ungeheurer Er-
regungen. — Von der Grosstadt überhaupt ist aber die
nationale Hauptstadt unterschieden, welche, zumal als
Sitz eines fürstlichen Hofes und Mittelpunkt der Staats-
regierung, in vielen Stücken die Züge der Grosstadt dar-
stellt, auch wenn sie ihrer Volkszahl und ihren übrigen
Zuständen nach es noch nicht sein mag. — Endlich aber
entfaltet sich, und zwar am ehesten durch Synthese dieser
beiden Formen, die höchste Gestalt von solcher Art als
Weltstadt: welche nicht allein den Auszug einer natio-
nalen Gesellschaft, sondern eines ganzen Völkerkreises, der
»Welt«, in sich enthält. In ihr ist Geld und Kapital un-
endlich und allmächtig, sie vermöchte für den ganzen Erd-
kreis Waaren und Wissenschaft herzustellen, für alle Na-
tionen gültige Gesetze und öffentliche Meinungen zu machen.
Sie stellt den Weltmarkt und Weltverkehr dar; Welt-
industrieen concentriren sich in ihr, ihre Zeitungen sind
Weltblätter, und Menschen aller Stätten des Erdballes ver-
sammeln sich geldgierig und genussüchtig, aber auch lern-
und neugierig in ihr. —
§ 5.
Hingegen ist Familienleben die allgemeine Basis der
gemeinschaftlichen Lebensweisen. Es erhält sich in seiner
Ausbildung durch das Dorf- und durch das Stadtleben.
[285] Die Dorfgemeinde und die Stadt können selber noch als
grosse Familien begriffen werden, die einzelnen Geschlechter
und Häuser dann als Elementarorganismen ihres Leibes;
Zünfte, Gilden, Aemter als die Gewebe und Organe der
Stadt. Hier bleibt immer für den vollkommenen Antheil
und Genuss an gemeinem Eigenthum und Gerechtsamen,
ursprüngliche Blutsverwandtschaft und ererbtes Loos wesent-
liche oder doch wichtigste Bedingung; Fremde mögen als
dienende Glieder oder als Gäste für Zeit oder für Dauer
aufgenommen und beschützt werden, und also als Objecte,
aber nicht leicht als Träger und Factoren, dieser Gemein-
schaft angehören; wie auch Kinder zunächst nur als un-
mündige, abhängige Mitglieder in der Familie leben, eben
darum aber in der römischen Sprache »freie« genannt, weil
sie als die möglichen und unter normalen Umständen ge-
wissen zukünftigen Herren vorausgedacht werden, als »ihre
eigenen Erben«. Das sind weder Gäste noch Knechte, weder
im Hause noch in der Gemeinde. Aber Gäste können als will-
kommene, geehrte, der Stellung von Kindern nahekommen,
wie sie als Adoptivkinder oder mit dem Bürgerrecht Beschenkte
darin übergehen und Erbrechtes geniessen; und Knechte
können Gästen ähnlich geschätzt und behandelt werden, ja
auch durch den Werth ihrer Functionen wie Angehörige
mitschalten und walten. So kommt es denn auch vor, dass
sie als natürliche oder eingesetzte Erben hervortreten.
Die Wirklichkeit zeigt hier zahlreiche Abstufungen, untere
und obere, welche den Formeln juristischer Begriffe zu-
wider sind. Denn auf der anderen Seite können alle diese
Verhältnisse durch besondere Umstände vielmehr in blos
interessirte und lösbare Gegenseitigkeiten von einander unab-
hängig bleibender Contrahenten sich verwandeln. In der Gross-
stadt ist solche Verwandlung, wenigstens in Bezug auf alle
Verhältnisse der Dienstbarkeit, natürlich, und vollzieht sich
mehr und mehr durch ihre Entwicklung. Der Unterschied
von Einheimischen und Fremden wird gleichgültig. Jeder
ist, was er ist, durch seine persönliche Freiheit, durch sein
Vermögen und durch seine Contracte; ist also Knecht nur
insofern, als er bestimmte Dienstleistungen einem Anderen
abgetreten hat, und Herr insofern, als er solche empfängt.
[286] In der That ist hier das Vermögen das einzig wirksame
und ursprüngliche Merkmal, während in allen gemeinschaft-
lichen Organismen Eigenthum als Mitgenuss des Gemein-
besitzes und als besondere Rechtssphäre durchaus die Folge
und das Ergebniss der Freiheit oder Ingenuität ist, ursprüng-
licher oder geschaffener (assimilirter); daher, so weit es
möglich ist, nach dem Maasse derselben sich richtend. In
der Grosstadt also, in der Hauptstadt und zumal in der
Weltstadt, geräth das Familienwesen in Verfall. Je mehr
und also je länger sie ihre Wirkungen ausüben kann, desto
mehr müssen die Reste desselben als zufällige erscheinen.
Denn Wenige gehen hier mit der Kraft ihres Willens in
einem so engen Kreise auf. Alle werden durch Geschäfte,
Interessen, Vergnügungen nach aussen und auseinander
gezogen. Die Grossen und Mächtigen haben immer, indem
sie als Willkürlich-Freie sich empfanden, starke Lust gehabt,
die Schranken der Sitte zu durchbrechen. Sie wissen, dass
sie thun können, was sie wollen. Sie haben die Macht,
Veränderungen zu ihren Gunsten zu bewirken, und nur
dies ist die positive Bewährung willkürlicher Macht. Der
Mechanismus des Geldes scheint, unter gewöhnlichen Um-
ständen, wenn er unter hinlänglich hohem Drucke arbeitet,
alle Widerstände zu überwinden, alles Erwünschte zu be-
wirken, Gefahren aufzuheben, Uebel zu heilen. Dies gilt
jedoch nicht durchaus. Wenn auch alle gemeinschaftlichen
Mächte hinweggedacht werden, so erheben sich doch die
gesellschaftlichen Mächte über den freien Personen. Con-
vention nimmt für die eigentliche Gesellschaft, in weitem
Umfange, die Stellung ein, welche Sitte und Religion leer
gelassen haben; sie verbietet Vieles, als dem gemeinsamen
Interesse schädlich, was diese als an und für sich böse
verdammt hatten. Ebenso wirkt, in engeren Grenzen, der
Staatswille durch Gerichte und Polizei. Dieser gibt seine
Gesetze für Alle als Gleiche, nur Kinder und Wahnsinnige
sind ihm nicht verantwortlich. Convention will wenigstens
den Schein der Sittlichkeit bewahren; sie steht noch mit
dem moralischen und religiösen Schönheitssinn in Verbindung,
welcher aber willkürlich und formal geworden ist. Den
Staat geht die Sittlichkeit nichts an. Er hat nur die feind-
[287] seligen, gemeinschädlichen, oder ihm und der Gesellschaft
gefährlich erscheinenden Handlungen zu unterdrücken, zu
bestrafen. Er kann seine Thätigkeit nach dieser Richtung
ins Ungemessene ausdehnen; er kann auch versuchen, die
Motive und Gesinnungen der Menschen zum Besseren zu
verändern; denn so ihm das öffentliche Wohl zur Ver-
waltung gegeben wird, so muss er es nach Belieben de-
finiren können, und er wird endlich wohl zur Einsicht
gelangen, dass nicht irgendwelche vermehrte Erkenntniss
und Bildung die Menschen freundlicher, unegoistischer,
genügsamer mache; dass ebenso aber auch abgestorbene
Sitte und Religion nicht durch irgendwelchen Zwang oder
Unterricht ins Leben zurückgerufen werden könne; sondern
dass er, um sittliche Mächte und sittliche Menschen zu
machen oder wachsen zu lassen, die Bedingungen oder den
Boden dafür schaffen, oder zum Wenigsten die entgegen-
gesetzten Kräfte aufheben müsse. Der Staat, als die Ver-
nunft der Gesellschaft, müsste sich entschliessen, die Gesell-
schaft zu vernichten.
§ 6.
Nichts desto weniger hat die öffentliche Meinung, als
welche die Moral der Gesellschaft in Ausdrücke und Formeln
bringt, und dadurch auch über den Staat erhaben werden
kann, entschiedene Tendenzen, denselben zu drängen, seine
unwiderstehliche Macht zu gebrauchen, um Alle zu zwingen,
das Nützliche zu thun und das Schädliche zu unterlassen:
Erweiterung des Strafgesetzbuches und Ausdehnung der
Polizeigewalt scheinen ihr die richtigen Mittel zu sein, um
den üblen Neigungen der Menge zu begegnen. Sie geht
leicht von der Forderung der Freiheit (für die Oberen) zur
Forderung des Despotismus (wider die Unteren) über.
Denn allerdings hat das conventionelle Surrogat geringen
Einfluss auf die Menge. Sie wird in dem Trachten nach
Vergnügen und Genüssen, welches so allgemein als natürlich
ist in einer Welt, wo das Interesse der Kapitalisten und
Händler allen Bedürfnissen zuvorkommt, und im Wetteifer
anstachelt zu den mannigfachsten Verwendungen des Geldes,
[288] nur durch die Kargheit der Mittel (welche dasselbe Interesse
der arbeitenden Classe als Preis der Arbeitskraft hingibt)
eingeschränkt. Eine besondere und zahlreiche Abtheilung,
welche weit über die gewerbsmässigen »Verbrecher« hinaus-
greift, wird in ihrer Sucht und Noth, sich den Hebel aller
unentbehrlichen und entbehrlichen Genüsse zu verschaffen,
in Wahrheit nur durch die Furcht vor Entdeckung und
Strafe, d. i. durch die Furcht vor dem Staate, gehemmt.
Der Staat ist ihr Feind. Er steht ihnen als fremde und
kalte Gewalt gegenüber. Scheinbar von ihnen selber auto-
risirt, ihren Willen in sich enthaltend, ist er doch allen
ihren Bedürfnissen und Wünschen entgegen, Beschützer
des Eigenthums, welches sie nicht besitzen, Zwinger zum
Kriegsdienst für ein Vaterland, das ihnen nur Herd und
Altar ist in Gestalt eines heizbaren Zimmers höherer Stock-
werke, den vierten bis dritten Theil ihres Arbeitslohnes
kostend, oder süsse Heimath in dem Boden des Strassen-
pflasters, auf dem ihnen fremde Herrlichkeit, unerreichbare,
anzugaffen vergönnt ist; während ihr eigentliches Leben
in einem Gegensatz von Arbeit und Feier, welcher beide
verzerrt, zwischen Fabrik als Leid und Schenke als Lust-
getheilt wird. So ist Grosstadt und gesellschaftlicher Zu-
stand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes,
welches umsonst sich bemüht, durch seine Menge mächtig
zu werden, und, wie ihm dünket, seine Macht nur zum
Aufruhr gebrauchen kann, wenn es seines Unglückes ledig
werden will. Die Menge gelangt zur Bewusstheit, vermöge
einer mannigfachen, durch Schulen und Zeitungen ein-
gegebenen Bildung. Sie erhebt sich vom Classen-Bewusstsein
zum Classen-Kampfe. Der Classenkampf zerstört die Gesell-
schaft und den Staat, welche er umgestalten will. Und da
die gesammte Cultur in gesellschaftliche und staatliche
Civilisation umgeschlagen ist, so geht in dieser ihrer ver-
wandelten Gestalt die Cultur selber zu Ende.
§ 7.
Zwei Zeitalter stehen mithin, um diese gesammte
Ansicht zu beschliessen, in den grossen Culturentwick-
[289] lungen einander gegenüber: ein Zeitalter der Gesellschaft
folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft. Dieses ist
durch den socialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion
bezeichnet, jenes durch den socialen Willen als Conven-
tion, Politik, öffentliche Meinung. Und solchen Begriffen
entsprechen die Arten des äusseren Zusammenlebens, welche
ich zusammenfassend folgendermassen unterscheiden will:
- A. Gemeinschaft.
- 1) Familienleben = Eintracht. Hierin ist der Mensch
mit seiner ganzen Gesinnung. Ihr eigentliches
Subject ist das Volk. - 2) Dorfleben = Sitte. Hierin ist der Mensch mit
seinem ganzen Gemüthe. Ihr eigentliches Subject
ist das Gemeinwesen. - 3) Städtisches Leben = Religion. Hierin ist der
Mensch mit seinem ganzen Gewissen. Ihr eigent-
liches Subject ist die Kirche.
- 1) Familienleben = Eintracht. Hierin ist der Mensch
- B. Gesellschaft.
- 1) Grosstädtisches Leben = Convention. Diese setzt
der Mensch mit seiner gesammten Bestrebung.
Ihr eigentliches Subject ist die Gesellschaft
schlechthin. - 2) Nationales Leben = Politik. Diese setzt der Mensch
mit seiner gesammten Berechnung. Ihr eigentliches
Subject ist der Staat. - 3) Kosmopolitisches Leben = Oeffentliche Meinung.
Diese setzt der Mensch mit seiner gesammten Be-
wusstheit. Ihr eigentliches Subject ist die Ge-
lehrten-Republik.
- 1) Grosstädtisches Leben = Convention. Diese setzt
An jede dieser Kategorieen knüpft sich ferner eine
überwiegende Beschäftigung und herrschende Tendenz damit
verbundener Geistesrichtung, welche demnach so zusammen-
gehören:
- A.
- 1) Hauswirthschaft; beruht auf Gefallen: nämlich
auf Lust und Liebe des Erzeugens, Schaffens,
Erhaltens. In Verständniss sind die Normen
dafür gegeben.
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 19
[290]- 2) Ackerbau; beruht auf Gewohnheiten: nämlich
regelmässig wiederholter Arbeiten. In Bräuchen
wird dem Zusammenarbeiten Maas und Rich-
tung gewiesen. - 3) Kunst; beruht auf Gedächtnissen: nämlich
empfangener Lehre, eingeprägter Regeln,
eigener Ideen. Im Glauben an Aufgabe und
Werk verbinden sich die künstlerischen Willen.
- 1) Hauswirthschaft; beruht auf Gefallen: nämlich
- B.
- 1) Handel; beruht auf Bedachten: nämlich Auf-
merksamkeit, Vergleichung, Rechnung ist die
Grundbedingung alles Geschäftes: Handel ist
die reine (willkürliche) Handlung. Und Con-
tract ist Brauch und Glaube des Handels. - 2) Industrie; beruht auf Beschlüssen: nämlich
vernünftiger productiver Anwendung von Ka-
pital und des Verkaufes von Arbeitskraft.
Satzungen beherrschen die Fabrik. - 3) Wissenschaft; beruht auf Begriffen: wie von
selber evident. In Doctrinen gibt sie sich ihre
eigenen Gesetze, und stellt ihre Wahrheiten dar.
- 1) Handel; beruht auf Bedachten: nämlich Auf-
§ 8.
In dem früheren Zeitalter gibt Familienleben und
Hauswirthschaft den Grundton ab, in dem späteren Handel
und grosstädtisches Leben. Wenn wir aber das Zeitalter
der Gemeinschaft näher betrachten, so machen sich mehrere
Epochen in ihm sichtbar. Seine ganze Entwicklung ist auf
eine Annäherung zu Gesellschaft hin gerichtet; wie aber
andererseits die Kraft der Gemeinschaft auch innerhalb des
gesellschaftlichen Zeitalters, wenn auch abnehmend, sich
erhält und die Realität des socialen Lebens bleibt. Die
erste Epoche aber wird gebildet durch die Wirkungen der
neuen Basis des Zusammenlebens, welche mit dem bebauten
Grund und Boden gegeben ist, der Nachbarschaft neben
der alten und beharrenden Basis der Blutsverwandtschaft;
des Dorfes neben dem Geschlechte. Die andere Epoche ist
gegeben, wenn sich aus Dörfern Städte entwickeln. Ge-
meinsam ist Dörfern und Städten das räumliche Princip
[291] des Zusammenlebens anstatt des zeitlichen der Familie (des
Stammes des Volkes). Denn diese hat ihre Wurzeln als
unsichtbare, metaphysische, gleichsam unter der Erde, indem
sie von gemeinsamen Vorfahren sich herleitet. Die Lebenden
verbindet das Nacheinander der gewesenen und der wer-
denden Generationen, Vergangenheit und Zukunft. Dort
hingegen ist die physische wirkliche Erde, der bleibende
Ort, das sichtbare Land, wodurch die stärksten Beziehungen
und Verhältnisse nothwendig werden. Während des gemein-
schaftlichen Zeitalters bleibt aber dieses räumliche, jüngere
Princip gebunden durch das zeitliche, ältere. Im gesell-
schaftlichen Zeitalter reisst es sich los, und dies ist das
Dasein der Grosstadt. Sie ist zugleich, wie der Name
anzeigt, der herausfallende, übermässige Ausdruck der städ-
tischen Form des räumlichen Princips; welche Form durch
diese Möglichkeit und Wirklichkeit zu der wesentlich und
fast nothwendiger Weise in der Gebundenheit verharrenden
Dorf-Ansiedlung, der ländlichen Form desselben Princips,
in den entschiedensten Gegensatz geräth. Also ist zu ver-
stehen, in welchem Sinne der ganze Gang der Entwicklung
als fortschreitende Tendenz des städtischen Lebens und
Wesens begriffen werden kann. »Man kann sagen, dass
die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft (d. i. der
modernen Nationen) in der Bewegung des Gegensatzes von
Stadt und Land sich resümirt« (K. Marx, Das Kapital 1,
S. 364). Nämlich: von einem gewissen Punkte an gewinnen
die Städte, nach allgemeiner Wirkung und Bedeutung
geschätzt, innerhalb eines Gesammtvolkes das Uebergewicht
über die ihnen zu Grunde liegende ländlich-dorfhafte
Organisation; so dass nunmehr diese mehr Kräfte von ihren
eigenen für die Ernährung und Förderung jener verbrauchen
muss, als sie zum Behufe ihres Selbstersatzes entbehren
kann; folglich ihrer Auflösung entgegengeht, welche die
spätere Auflösung jener in ihr beruhenden Organe und
Thätigkeiten zur nothwendigen Folge hat. Dies ist das
allgemeine Gesetz des Verhältnisses von organischem und
vegetativem, und animalischem oder sensitivem Leben, wie es
in dem normalen und mithin auch in dem möglichst günstigen
Verlaufe der Entwicklung eines Thieres unabänderlich sich
19*
[292] darstellt; und wie es im Menschen, da das animalische
Leben und sein Wille, sich in eine besondere Art, das
mentale Leben und Wollen gestaltet hat, zu einer beson-
deren Bedeutung ausser der allgemeinen gelangen kann;
indem einmal, der Mensch fähig ist, durch Vernunft sich
selbst zu zerstören, sowohl directe, aus Vernunft, als auch
insofern er durch Verfolgung gesetzter Zwecke und Ab-
sichten, sein Schicksal selbst zu bestimmen, mithin sein
Leben zu verlängern, aber auch zu verkürzen in der Lage
ist; und ferner, indem sein Verfall, wie sein Leben, in der
mentalen Sphäre selber, über das sonstige animalische Dasein
hinaus, und etwan auch dieses überdauernd, sich darstellen
kann. So dass, insoweit als diese Phänomene in Betracht
kommen, das eigentliche Animalische gleichsam in der Mitte
zwischen ihnen und denen des vegetativen Lebens bleibt,
und in gewissen Rücksichten jenen, in anderen diesen zu-
gerechnet werden kann. Mithin, wenn in einem normalen
Verlaufe eine aufsteigende Hälfte unterschieden wird, in
welcher das Vegetative über das Animalische überwiegt, von
einer absteigenden, in welcher das umgekehrte Verhältniss
stattfindet; so bleibt dieser zwar in einem allgemeinen
Sinne und folglich auch für den Menschen gültig; kann
aber hier noch den besonderen Inhalt gewinnen, dass das
Animalische, sofern es sich im Mentalen ausdrückt,
diesen Process durchmacht, und daher, an diesem gemessen,
alles übrige Animalische mit dem Vegetativen zusammenfällt
und damit zusammenbegriffen wird, sofern es dieses
ausdrückt. Daher denn in der aufsteigenden Hälfte,
welche bedeutet: Ueberwiegen des Vegetativ-Animalischen,
die 3 Kategorieen und Stufen unterschieden werden, 1) wie
es sich darstellt im Vegetativen selber, 2) im Animalischen,
3) im Mentalen, und eine entsprechende Dreifaltigkeit in
der absteigenden Hälfte, welche das Ueberwiegen des Ani-
malisch-Mentalen bezeichnet. Und nach dieser Idee würde
in einem Volksleben dem Vegetativ-Animalischen das länd-
liche, dem Animalisch-Mentalen aber das städtische Wesen
correspondiren; jenes, wie es auch in der Stadt wirksam
bleibt, ja die Blüthe und höchste Entwicklung des gesammten
Organismus entfaltet; dieses, wie es als grosstädtisches sich
[293] losmacht, und, die Früchte theils zeitigend, theils geniessend,
aus sich selber zu existiren scheint; zugleich mehr und mehr
das Ganze beherrschend, die darin vorhandenen Kräfte
theils an sich zu ziehen, theils (und auch eben dadurch)
zu zerstören tendirt.
§ 9.
Die ganze Bewegung kann aber auch, nach ihrer
primären und durch alle folgenden hindurchgehenden Er-
scheinung, begriffen werden als Tendenz von ursprüng-
lichem (einfachem, familienhaftem) Communismus und
daraus hervorgehendem, darin beruhendem (dörflich-städ-
tischem) Individualismus zum unabhängigen (gross-
städtisch-universellem) Individualismus und dadurch
gesetztem (staatlichem und internationalem) Socialismus.
Dieser ist schon mit dem Begriffe der Gesellschaft vor-
handen, wenn auch zunächst nur in der Form des that-
sächlichen Zusammenhanges aller kapitalistischen Potenzen,
und des Staates, der, wie in ihrem Mandate, die Ordnung
des Verkehres erhält und befördert; allmählich aber über-
gehend in die Versuche, durch den Mechanismus des Staates
den Verkehr und die Arbeit selber einheitlich zu lenken,
deren Durchführung jedoch die gesammte Gesellschaft und
ihre Civilisation aufheben würde. Dieselbe Tendenz be-
deutet aber nothwendiger Weise eine zugleich geschehende
Auflösung aller jener Bande, in welche der einzelne Mensch
sich mit seinem Wesenwillen und ohne seine Willkür ver-
setzt findet, und wodurch die Freiheit seiner Person in
ihren Bewegungen, seines Eigentums in seiner Veräusser-
lichkeit und seiner Meinungen in ihrem Wechsel und
ihrer wissenschaftlichen Anpassung gebunden und bedingt
ist, so dass sie von der sich selbst bestimmenden Willkür
als Hemmungen empfunden werden müssen; von der Gesell-
schaft, insofern als Handel und Wandel unscrupulöse, un-
religiöse, leichtem Leben geneigte Menschen fordert; und
das Eigenthum oder doch die Rechte darauf so sehr als
möglich beweglich und theilbar zu machen drängt; vom
Staate, insofern er diese Entwicklung beschleunigt und
19**
[294] aufgeklärte, gewinnsüchtige, praktische Subjecte für seine
Zwecke am brauchbarsten findet. Solche Mächte, Gegen-
sätze, ihre Entfaltung und ihr Kampf sind den beiden
Culturmassen und Volksgeschichten gemein, von welchen
wir eine astronomische Kenntniss zu haben glauben dürfen:
der früheren, südlich-europäischen, antiken, welche in
Athen ihr höchstes Leben, in Rom ihren Tod gefunden
hat, und der späteren, sich überall anschliessenden und in
vielen Stücken von jener empfangenden, geförderten, welche
als nordeuropäische und moderne unterschieden werde. Wir
entdecken diese gleichartigen Entwicklungen unter einer
ungeheuren Verschiedenheit der Thatsachen und Bedin-
gungen, und innerhalb des allgemeinen gleichmässigen Ver-
laufes, zu welchem alle Elemente beitragen, hat jedes der
Elemente seine verborgenere eigenthümliche Geschichte,
welche durch jene theils bewirkt ist, theils aus ihren eigenen
Ursachen erfolgend, hemmend oder fördernd in dieselbe
hineingreift. — Durch die vorgetragenen Begriffe und Er-
kenntnisse wollen wir aber die Strömungen und Kämpfe
verstehen, welche von den letzten Jahrhunderten aus bis
in das gegenwärtige Zeitalter und über dessen Grenzen
hinaus sich erstrecken. Wir denken zu diesem Behufe die
gesammte Entwicklung der germanischen Cultur, welche auf
den Trümmern des römischen Reiches und als Erbin des-
selben, mit dem allgemein werdenden Bekenntnisse zur
christlichen Religion, unter der befruchtenden Macht der
Kirche sich erhob, als in beständigem Fortgange zugleich
und Untergange begriffen, und darin eben jene Gegensätze
aus sich erzeugend, welche der gegebenen Ansicht unter-
liegen. Dabei werden wir als eigentlichen, ja nothwendigen
Ausgangspunkt, im Gegensatze zu aller aus den Tiefen der
Vergangenheit deducirenden Historie, den Moment der Zeit
festhalten, in welchem der gegenwärtige Zuschauer des un-
ersetzlichen Vorzuges theilhaftig ist, die geschehenden
Bewegungen mit den Augen seiner eigenen Erfahrung zu
beobachten und, wenn auch an den Felsen der Zeit ge-
schmiedet, der nahenden Okeanos-Töchter Töne und Duft
zu vernehmen. —
Appendix A
Pierer’sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.
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- TextGrid Repository (2025). Tönnies, Ferdinand. Gemeinschaft und Gesellschaft. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bq05.0