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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht.

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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht
oder
Vor fünfzig Jahren.


Vaterländiſcher Roman


Fünfter Band.


Berlin.:
Verlag von Carl Barthol.

1852.
[][[1]]

Erſtes Kapitel.
Ernste Fragen, die Mancher überſchlagen wird.

Den Druck der ſchwülen Luft fühlte ein Jeder,
aber ein Höhenrauch ſchien die ſchwarzen Wolken noch
zu verbergen. Es wetterleuchtete auch ſchon, nur
wirkten die electriſchen Zückungen verſchieden. Aengſt¬
lich vor dem Ausbruch flatternde Vögel, gewahrte
man nicht. Es waren Männer im Lande und in
der Hauptſtadt, welche bang der nächſten Entwicke¬
lung entgegen ſahen, um ſo banger, als das Gewit¬
ter ſo lange ſich hingezogen. Kluge und ernſte Män¬
ner, welche fürchteten, daß es in einem entſetzlichen
Schlage ſich entlade, ein Wolkenbruch die Saat eines
Jahrhunderts fortſpülend; aber ſie ſchwiegen, ſie bar¬
gen den düſtern Ernſt in ihrer Bruſt. Wäre es doch
zum Verbrechen geworden, durch eine Kaſſandraſtimme
den Muth der Muthigen zu dämpfen! Seltſam, es ſol¬
len gerade die Feuergeiſter geweſen ſein, dieſelben, die
vorhin keinen Anlaß verſäumt, zum Kriege anzuſpor¬
nen, welche jetzt mit banger Ahnung dem Unvermeid¬
lichen entgegen ſahen! Sahen ſie rings umher nur
V. 1[2] blutige Sümpfe, wo der Funke erſtickt, oder trauten
ſie dem eigenen Feuerſtoffe nicht?


Dagegen waren es die, welche bis dahin ihren
Sinn vor dem Ernſt des Augenblicks verſchloſſen
hatten, vor denen er jetzt, ein geharniſchter Rieſe,
ſtand. Geflattert waren ſie wie der Schmetterling,
in ihrem Dünkel mit dem Ueberwältigenden ſpielend,
jetzt Bewunderung für das Meteor des Tages, jetzt
kalt abwägende Richter, Gleichgültigkeit heuchelnd vor
dem Ungeheuerſten, was ſeit einem Jahrtauſend ge¬
ſchehen, um ungeſtört zu bleiben in der ſüßen Ge¬
wohnheit, nicht mehr und weiter zu denken, als ihrer
Behaglichkeit zuſagte. Und nun waren ſie aus ihrem
Taumel der Sicherheit, aus ihrem Dünkel, ihrer
Täuſchung erwacht; es war anders geworden. Das
Schauſpiel, was ihnen auf den fernen Brettern zu
ihrer Unterhaltung aufgeführt ſchien, ward Ernſt, die
Darſteller ſchloſſen ſich zu eiſernen Phalangen, über
die Lampen rückten ſie heran, um die dupirten Zu¬
ſchauer zu erdrücken. Die immer zum Frieden gere¬
det, die Napoleons großen Sinn, ſeine Bewunderung
für Preußen im Munde geführt, die da gepredigt,
das geht uns nichts an, an uns wird er ſich nicht
vergreifen, auch ihnen waren plötzlich die Schuppen
von den Augen gefallen, und nun ſprudelte und
tobte es. Tauſende von Stimmen, eine wollte die
andre überſchreien, die am lauteſten, heftigſten, welche
am leichtſinnigſten der Zeichen geſpottet. Da kam es
denn wohl, daß die am ernſteſten und unverdroſſen
[3] um Einlaß gepocht zur unerläßlichen That, jetzt von
dem Troß zurückgeſtoßen waren, und den Spott
hinnehmen mußten, ſie ſeien nicht zur rechten Zeit
entſchloſſen.


Noch lag ein officieller Schleier über der nächſten
Zukunft, aber er war ſo durchlöchert, daß wer nur
das Auge aufriß, durchſah. In Paris war der Rhein¬
bund geſtiftet und Preußen war nicht dazu geladen,
ja es hatte noch nichts davon erfahren. Die Fürſten,
welche an der Leimruthe ſaßen, auffliegen konnten
ſie nicht mehr, aber frei mit ihren Flügeln flattern,
und der Großmüthige hatte ſie dafür entſchädigt
mit den Beuteſtücken in ſeinem Netze, mit den
freien Städten, den Gütern der Stifter, Klöſter, der
Reichsritterſchaft, mit der Souveränität im eignen
Lande. Frei, von Niemand behindert, durften ſie mit
den Flügeln die ſchlagen, die darunter ein Recht
hatten auf Schutz. Ihre Rechte, die beſiegelt ſtan¬
den in alten Verträgen, waren durch einen Federſtrich
ausgelöſcht. Und die duftende Zeitungsphraſe des
Moniteurs ſagte: „Des Kaiſers Abſichten hätten ſich
hier wie immer mit den wahren Intereſſen Deutſch¬
lands übereinſtimmend gezeigt.“ — Und wohin ſollten
ſie ſchreien, wohin Hülfe flehend die Arme ſtrecken? Der
Kaiſer hatte die römiſche Kaiſerwürde niedergelegt, „da
er außer Stande ſei, ſeine beſchworenen Pflichten ge¬
gen das Reich zu erfüllen.“ Wo war das Reich, wo
das deutſche Volk! Oeſtreich, des langen, ehrenwerthen
Kampfes müde, hatte ſich in ſein Schneckenhaus ge¬
1*[4] zogen, das halbe Reich hing im Netz des Eroberers,
und nur Preußen ſtand allein im Winkel, ohne den
Muth, ohne den Beruf, ohne die Mittel.


Das fühlte Jeder in Preußen. Wenn eine
Ueberzeugung auf dem trocknen Boden aufſchießt,
von dem wir reden, ſo haben Spötter behauptet, daß
ſie, wie ein Unkraut, das die Wolken ſäen, plötzlich
die Felder überwuchert, oder wie ein Heidebrand
über Berge und Thäler ſich ergießt. Dann iſt kein
Widerſtand mehr. Aber jeder Fanatismus berührt
in der Regel nur gewiſſe Kreiſe, nur die an der
Straße Wohnenden, die auf den Höhen Sichtbaren.
Die in den tiefen Niederungen nur ſich ſelbſt leben,
unbekümmert um was nicht ihre nächſte Sorge angeht,
berührt er nur ſelten. Aber der Fall war hier. Des
Herzogs von Enghien Aufhebung und Füſillade hatte
nur die politiſch Denkenden und Fühlenden getroffen,
was gehn den guten Bürger Staatsacte an! Darum
haben ſich die zu kümmern, die dazu geboren ſind,
oder dafür bezahlt werden. Aber daß er den Buch¬
händler Palm in Braunau erſchießen laſſen, berührte
das Gefühl des Menſchen, ſogar den Gedanken des
Bürgers. War Palm nicht ein Bürger, eingeſchrieben
in die Bürgerrolle, der ruhig ſeinem Verdienſte
nachgegangen und ruhig ſeine Abgaben gezahlt hatte?
Was ging ihn die Schrift an, die er verlegt, und
noch dazu ſtarb er den Heldentod, weil er den nicht
nennen wollte, dem er ſein Wort gegeben zu ſchweigen!
Das konnte Jedem „paſſiren!“ Iſt ein guter Bürger
[5] da, um den Heldentod zu ſterben! Es war ein Brand,
der durch alle Glieder ging, vom Wirbel bis zur
Zeh. Die Entrüſtung fand keine Worte dafür, und
je gebundener die Meinung in dem andern gefeſſelten
Deutſchland war, ſo lauter ſprach ſie ſich in Preußen
aus. Man fühlte, was Freiheit war, und fing an zu
begreifen, daß ſie ein Gut, ein heiliges Menſchenrecht
iſt. Zur Unterſtützung der Familie des ermordeten
Mannes wurden überall im Lande reiche Samm¬
lungen veranſtaltet, und die Regierung ſchritt nicht
ein, weder aus Furcht vor dem Kaiſer, noch wegen
unbefugten Collectirens.


Es war Leben im Lande; aber man ſah es der
praſſelnden, ängſtlichen Geſchäftigkeit an, daß die
Uebung fehlte. Wie jene Bürgerfrau beim großen
Brande der Petrikirche die Borsdorfer Aepfel ſauber
in Papier wickelte, während das Silberzeug auf der
Diele zerſtreut lag, griff man nach dem Entfernten
und ließ das Nächſte liegen. Faſt ein halbes Jahr¬
hundert war vergangen, ſeit Preußen einen Krieg um
ſein Alles geführt! Feinde ringsum, und der Geiſt
verkörperte ſich zur wahrhaft rettenden That. Rings¬
um ſahen ſie jetzt ja keine Feinde, und der Geiſt
fehlte zur That, weil — man ihn noch nicht ſuchte.


So ſah es in den Bürgerhäuſern aus. Es wird
ſich ja ſchon Alles machen, auch ohne uns, war das
Troſtwort. Wie es in den Palläſten der Großen, in
den Hotels der Miniſter ausſah?


In dem des neuen Miniſters ſaß in dem Zim¬
[6] mer, das wir ſchon kennen, Walter van Aſten am
Schreibtiſch. Aber die Flügelthüren waren zu dem
neben anſtoßenden Audienzſaal geöffnet, wo der Re¬
gierungsrath von Fuchſius auf und ab ging. Zu¬
weilen blätterte er in Schriften, zuweilen trat er zu
dem neuen Secretair, um Bemerkungen mit ihm zu
wechſeln. Er wartete auf eine Audienz und hatte
ſchon lange gewartet, der Miniſter war in den obern
Zimmern mit dem jungen Bovillard. Walter war bei
einer Arbeit, aber er ließ oft ſelbſt die Feder ruhen,
und das gelegentliche Geſpräch mit dem Rathe ſchien
ihm keine unangenehme Unterbrechung.


„Sie haben ſich da einen gefährlichen Rivalen
zugeführt, ſagte der Rath. Sie beſchäftigt er mit
Berichten über ſein Papiergeld, und Herrn von Bo¬
villard ſchließt er in ſeinen Intimis das Herz auf.“


„Das war die ihm zugedachte Stellung, ent¬
gegnete Walter, die Feder weglegend, und ſtand auf.
Wir ſind Jugendfreunde, die Verhältniſſe haben darin
nichts geändert, und wenn ſie es hätten, was kommt
es jetzt darauf an, wo der der Beſte iſt — der han¬
deln kann!“


„Wer handeln kann! rief Fuchſius mit einem
wehmüthigen Lächeln. Welche bittere Erfahrungen
ſtehen Ihnen hier noch bevor!“


„Deren Herr von Fuchſius enthoben iſt, weil er
freiwillig ſeine Stellung aufgab.“


„Das ſoll eine Spitze ſein, lieber Aſten, aber
ſie verwundet mich nicht. — Ich bin dennoch frei¬
[7] willig abgetreten und zu meiner juriſtiſchen Carriere
zurückgekehrt, trotz alledem, was Sie das Gegen¬
theil zu glauben berechtigt.“


„Ich ſetze voraus, ſagte Walter und reichte ihm
die Hand, daß Sie nach dem, was zwiſchen uns
darüber verhandelt iſt, in mir keine perſönliche Ran¬
cune mehr vermuthen. Sie wäre jetzt ein Ver¬
brechen.“


Der Rath drückte die gebotene Hand. „Ich bin
keinen Augenblick in Zweifel über Ihre Intentionen,
und eben darum thun Sie mir leid. Sie werden
das Meer der Täuſchungen von vorn an ausſchlür¬
fen. — Zugeben will ich Ihnen übrigens, daß jener
Umſtand vielleicht der äußere Anlaß war, aber der Ent¬
ſchluß datirt von länger. Der Gedanke, daß Seine Ex¬
cellenz von jetzt ab meine Arbeiten mit einer Reſerve von
Mißtrauen controlliren dürfte, änderte meine bisherige
Stellung zu ihm; indeſſen, wertheſter Freund, was
ſind Stellungen, wo Alles Schattenbilder ſind in
einer Laterna magica, wir Alle Tropfen in einem
Meer — Sie einer, Bovillard, der Freiherr ſelbſt,
Alle, Alle, die das Beſſere wollen.“


„Wer ſich verloren giebt, iſt verloren, entgegnete
Walter. Wir ſind künſtlich iſolirt, ja, umgürtet
von Gräben, Waſſer, Sandwällen, und unſer
Feuer droh in ſich ſelbſt ſich zu verzehren. Das
iſt Ihre, das iſt Vieler Anſicht. Aber wer berechnet
die Macht des Feuers, wo ringsum trockene Stoffe
lagern! Mag einmal entzündet, es nicht zu einer
[8] Lohe aufſchlagen, die über Deutſchland ſich ergießt.
Mag ſie nicht Europa in Flammen ſetzen!“


„Und was dann! — Ich redete nicht davon. —
Der Krieg liegt ein ſo wüſtes, troſtloſes, verworrenes
Bild vor mir wie der Friede. — Ihr wollt das Volk
wecken, einen Nationalkrieg entzünden — die Idee
liegt doch dunkel im Hintergrunde?“


„Und Sie theilten ſie nicht?“


„Ich habe ſie getheilt — aber das iſt vorüber.
Einen Sturm wollen Sie los laſſen, und was weht
er auf? — Staub. Mehr nicht. Das Ferme [...]t, was
Kreuzzüge möglich machte, iſt ausgegangen. Auch die
franzöſiſche Revolution könnte ſich nicht wiederholen.
Ja, trockene Stoffe liegen die Hülle und Fülle um
uns her, aber es iſt Schlacke, Aſche. Sie müßten es
doch erfahren haben, lieber Aſten. Was hat Ihre
äſthetiſche Schule gewirkt? Es ward Vielen, die
noch warmes Blut haben, etwas heißer zu Muthe
als gewöhnlich. Sie hatten Viſionen, phantaſirten,
aber über die reale Welt hinaus. Und nun — wo
iſt's in die Nation eingedrungen, wo in's Herzblut, wo
iſt neues großes Geſchaffenes, das weiter zündet und
weckt? — Die Völker ſind ein farbloſes Decoct ge¬
worden, eine träge, weiche, ſchwammige Maſſe, der
der überſprudelnde Enthuſiasmus, die Exceſſe der
Furcht und Dummheit, die elaſtiſche Kra [...]t ordentlich
chemiſch abgezapft haben. Wo iſt etwas Ureigenes,
Schaffendes zurückgeblieben von den Säulen des Her¬
kules bis zur Mongolei? Dies todte, willenloſe Re¬
[9] ſiduum ehemaliger Kraft, nur dann und wann auf¬
ſprudelnd in einer Fuſelbegeiſterung, nimmt jeden
Eindruck an, die Farbe, den Stempel jedes Siegers.
Jetzt iſt's der Corſe, der ihn ihr aufdrückt. An ſeine
Weltherrſchaft glaube ich nicht, auch er wird fallen,
aber noch nicht. Das Ungeheuer bläſt noch mit vollem
Athem. Was nun das Volk vorher electriſiren, ſeine
Kraft vom Wirbel bis zur Zeh nervös aufregen, um es
in ſeinen feuerſchnaubenden Rachen zu treiben! Wenn
es Krieg ſein muß, warum nicht das alte vertrocknete,
knarrende Geſtell ihm entgegen halten! Kracht und
bricht es, ſo zerſchmettert er nur, was ohnedem ver¬
loren gehen muß.“


„Und an dieſem Geſtell, mein Herr, ſtanden
noch vorgeſtern Einige bewundernd!“


„Zwiſchen vorgeſtern und heut liegt geſtern, und
von geſtern zu heut iſt eine Kluft. Auch die Le¬
bendigen reiten heute ſchnell.“


„Drei Fürſten haben dieſen Bau aufgerichtet,
größere kannte ihre Zeit nicht, und ein treues Volk
hat mehr als hundert Jahre in unſäglicher Auf¬
opferung, in rührendem und felſenfeſtem Vertrauen mit¬
gearbeitet. Wäre das Werk ſchon ſo ganz morſch, ſo
vom Boden gelöſt, ſo die Fundamente verfault!“


Der Rath ſenkte ſchweigend den Kopf.


„Und wenn dem ſo iſt, ſo laßt es fallen, fuhr
Walter auf. Der Grund und Boden iſt noch da, auf
dem es ſtand, das Holz, aus dem es gezimmert, das
Eiſen, das ihm Klammern und Nägel gab. Die
[10] Arme ſind noch kräftig, die Fäuſte markig, die Schul¬
terſehnen zäh und dauerhaltig. Es iſt ein dauer¬
haltiges Geſchlecht, auf deſſen Schultern ſich die
Hohenzollern zu Kriegsfürſten erbeben, und noch ver¬
ſpüren wir nichts davon, daß die Träger der Laſt
überdrüſſig wurden. War der Geist des großen Kö¬
nigs nur das Product einer Zeit, die nicht mehr iſt
ſo muß ein anderer Geiſt ſich erheben. Und hören
Sie nicht den Geiſt? Brauſt er nicht daher wie das
Wehen der Luft, das dem Gewitter voraufgeht! Es
kommt eben nur darauf an, ihm die Richtung zu ge¬
ben, daß er nicht ſpielend vorüber fährt, daß er in's
Mark dringt.“


„Und das iſt ein Prozeß, nicht ſchwerer und
nicht leichter, als die Quadratur des Cirkels finden.“


„Weil ihn noch Niemand verſucht.“


„Vergeſſen Sie doch nicht die Zöpfe, und vor
den Zöpfen waren Perrücken, und der Puderſtaub,
den ſie ausgeſtreut, liegt dem Volke auf der Lunge.
Sie glauben es zu kennen, weil ſie es an ſchönen
Sommerabenden bei der Promenade vor ſeinen Thüren
tanzen ſahen. Lernen Sie es kennen, wie ich, durch
die Adminiſtrationsacten. Steigen Sie mit dem
Acciſe-Reviſator, mit dem Steuer-Reviſor in's Heilig¬
thum ihrer Häuslichkeit, und ſehen unter der dicken
Schaale hausbackener Ehrlichkeit die verſeſſene Dumm¬
heit, den Troß und die ſpeculirende Pfiffigkeit. Ge¬
lingt es ihnen, da ins Mark hinein die patriotiſchen
Gefühle zu ſchauern, dann erkläre ich Sie für einen
[11] Zauberer. Der Corporalſtock, mein Freund, iſt der
Zauberſtock, der aus den Bauerlümmeln adrette Sol¬
daten macht. Sie können nicht dafür, ſie wiſſen's
nicht anders. Und weil es etwas beſſer bei uns
war als draußen, halten ſie es für das Vollkommenſte.
Der Schuh drückt auch ſie, aber ſie gehen von dem
alten Leiſten nicht ab. Väter und Großväter ließen
ja danach arbeiten und ſie haben auch gelebt. In
dies dumpfe Dämmerleben wirft die alte Glorie einen
etwas poetiſchen Schein. Item ſie ſind zufrieden, ſie
hoffen, daß es ſo bleibt, ſie geben ihre Söhne her
es zu vertheidigen, weil es ſo hergebracht iſt, weil
ſie müſſen, ſie ſtehen auch vielleicht ſelbſt auf, wenn
es ihnen befohlen wird. Sie werden Vivat ſchreien
und ſich nach Schuldigkeit ſchlagen. Das iſt aber
auch Alles. Mehr fordern Sie nicht. Sie werden
ſich über die Geſichter wundern, wenn die Herren
mit ihren Reorganiſationsprojecten hervortreten. Ich
rede gar nicht von den Berechtigten, die Zeter ſchreien
müſſen, weil es ihnen in's Fleiſch ſchneidet, auch der
große vernünftige Pöbel, der dabei profitirt! Ach, wie
mächtig iſt die träge Gewohnheit. Wie werden ſie
die Köpfe zuſammenſtecken: Es ging doch ſonſt! Es
iſt doch immer ſo gegangen! Warum ſoll es denn
nun mit einem Mal anders werden. Man weiß,
was man hat, man weiß aber nicht, was man kriegt. —
Wir ſind nun mal von ſinnender Natur und unſre
ſinnenden und träumenden Speculationen ſchön wie der
Regenbogen, aber fußen ſo wenig als er auf der
[12] realen Erde. — Da hören Sie nur, wie man ſchon
in Entſetzen über Ihre Treſorſcheine die Köpfe ſchüttelt.
Papiergeld iſt etwas noch nicht Dageweſenes. Da¬
mit iſt für ſie der ganze Credit des Staates erſchüttert.
Das ſteht freilich da nicht in Ihrem ſchönen Programm.“


Als der Rath eine Bewegung machte nach dem
Papier, was auf dem Schreibtiſch lag, hatte Walter
ſchnell den Bogen umgedeckt. Er hatte vorhin ſtill
die Miene verzogen, als Fuchſius von den Arbeiten
geſprochen, welche der Miniſter ihm aufgelaſtet, denn
es war eine andre Arbeit, mit der er beſchäftigt war,
und er mußte Gründe haben, weshalb der Rath ſie
nicht ſehen ſollte. Fuchſius ſtand auf, Walter aber
ging einige Schritte auf und ab, indem er ihn doch
mit einer Bewegung zum Bleiben einlud. Das Lä¬
cheln auf des Rathes Lippen mochte der Betrachtung
gelten, wie bald Jemand im Amte die Miene ändert.
Es war allerdings nicht mehr der ſinnende Gelehrte,
der an die Dinge außer ſeinem Ideenkreiſe nur vor¬
ſichtig taſtet, ein anderes Gefühl ſprach ſich in einem
andern Weſen, einer andern Haltung, aus, als er
jetzt ſtehen blieb:


„Sie erkennen die Kriſis. Sie wiſſen wie wir,
daß die Verſäumniß damals uns jetzt eine Noth¬
wendigkeit aufdringt. Wir handeln nicht mehr frei,
wir müſſen handeln, wenn wir nicht wie ehrloſe
Feiglinge uns in den Staub werfen, den Sieger
bitten wollen, tritt uns auf den Nacken, wir haben's
verdient. Fordern Sie das? Selbſt unter dieſen
[13] blaſirten, verlüderten, albernen Menſchen geht ein
ſtiller Schauer des Entſetzens. Sie ahnen, was ſie
ihrer Geſchichte, den Namen ihrer Väter und ihrer
Fürſten im Grabe ſchuldig ſind. — Und wenn es
ſo iſt, kein Preuße iſt, den es nicht durchzückt: jetzt
muß es ſein! wenn es ſich um Sein und Nichtſein
handelt, ſollen wir losſchlagen mit einem gebundenen
Arm, wo ein Schnitt den andern frei macht! Iſt
das preußiſch gehandelt, im Sinn des großen Kur¬
fürſten, der vom Rheine flog mit einer Handvoll
Männer und die Schweden ſchlug gegen alle Regeln
der alten Taktik! Oder im Sinne Friedrichs, der
ſchöpfte, wo Keiner vor ihm Quellen ſah! Wäre denn
damit Alles erſchöpft? — Sie haben nur ihren Nach¬
folgern den Weg gezeigt, wie der Geiſt immer neue
finden muß, wenn die Natur ſich verſchließt. — Er¬
lahmt ſind die Völker, aber ſind ſie ſchon entnervte,
kraftloſe Greiſe? — Unſeres nicht. Wer hat es denn
auf die Probe geſtellt? Ja, es taumelt noch in einem
großen Traumdaſein, von einer Glorie geblendet,
die nicht in ſein Mark drang. Kennen wir dies
Mark, wiſſen Sie, welches Gewicht es ſchwingt, wenn
wir dem Blute freie Strömung geben! — Die Maſſen,
ja, ſie ſind träg, verdroſſen, nachhinkend. Ein Thor
oder ein Verbrecher, wer den Funken hineinſchleu¬
dert und brennen läßt, wie es kommt. Nein, er muß
als Wächter dabei ſtehen. Sie taumeln zuerſt denen
nach, die ſie führen; dann lernen ſie ſchreiten, ihnen
folgen. Endlich gehen ſie auch wohl eine Strecke
[14] vorwärts ohne Führer. So iſt's in der Welt ſeit
ihrem Beginn. Aus den ſchlechteſten Soldaten, aus
den Neapolitanern, hat Bonaparte feuerfeſte Krieger
gemacht. Und der gute, feſte, grobkörnige Teig, der
uns vorliegt, ihn ſollen wir nicht zu formen verſu¬
chen, wenn Gott uns Männer ſchickt, die Einſicht haben!
Wenn wir Stahl und Feuerſtein haben, ſollen wir
nicht Funken ſchlagen; wenn wir ein Volk haben,
das ſein Vaterland liebt, ſollen wir es nicht aufrufen,
nicht electriſiren, ſein Alles einzuſetzen, wo es ſein
Alles gilt.“


Der Rath ſeufzte mit einem wehmüthigen Blick
auf den Redner, während er doch mit wachſender
Theilnahme ſeiner Rede zugehört zu haben ſchien.
„Leben Sie wohl, van Aſten, ſprach er, ihm die Hand
reichend. Ich weiß auch, wie glücklich Illuſionen
machen.“


„Und Sie halten es für Unrecht, mich zu wecken;
wer nie geträumt hat, nicht träumen kann, dem geb
ich kein Recht dazu. Aber von Ihnen fordere ich
es als Pflicht. Fürchten Sie nicht, daß ich wie der
Nachtwandler vom Dache ſtürze.“


„Männer fordern Sie, Männer von Einſicht.
Und Sie glauben, der Rechte iſt da. Sind Männer
der Einſicht auch Männer der That? Einſicht hatten
Viele. Was halfen ſie, wenn ſie die Achſeln zückten,
weil ſie ſich zu ſchwach fühlten. Aber dieſer, den Sie
meinen, und die Wenigen mit ihm, die ihn verſtehen,
fühlt den Beruf! Das iſt Ihre Antwort. Er fühlt
[15] ſich auch ſtark, in's Rad zu greifen, mit eiſernen
Beſen, Karſten, Schaufeln will er den Schlamm
auskehren, und aus den Gebirgen Waldbäche in die
verſchlammten Kanäle leiten. Zugegeben dieſe Her¬
kuleskraft; iſt, wo des Feindes Hammer ſchon am
Außenthore kracht, Zeit dazu die Garniſon neu zu
organiſiren?“


„Die Noth lehrt nicht allein beten, ſie lehrt uns
auch die Zeit ergreifen. Wenn ſie zehn, zwanzig Jahre
vergeudet, um ſo ſchwerer wiegt, um ſo koſtbarer iſt
der Augenblick, und der ein Verſchwender, ein Ver¬
räther, der ihn ungenutzt verſtreichen läßt. Sie ken¬
nen den erſten Sturm, den er gewagt. Er blitzte ab,
werden Sie entgegnen. Aber er ward nicht abgeſchla¬
gen. Als der König das Memorial zurückgab, nahm
man uns da etwa die Waffen? Gab man ihm die
Entlaſſung? Er ward nur ungnädig aufgenommen,
weil ſie der Gedanke aus der bequemen Ruhe ſtörte.
Der Gedanke ward ſeitdem ſtärker, die Bundesgenoſſen
wuchſen, und aus der Ruhe haben Andere den Mo¬
narchen geriſſen. Es iſt eine Zeit der Unruhe, und
er muß deſſen Hand faſſen, der den Boden unter ihm
feſt macht.“


„So will er es wirklich noch einmal wagen!
Ich ſage Ihnen, die Kabinetsräthe ſprengt er nicht.
Er ſpringt eher ſelbſt.“


„Gefahr kommt nicht in Anſchlag, wo es nur
einen Weg giebt. Sie ſchätzen die Menſchen ab
nach den langen Jahren der Schlaffheit; warum
[16] müſſen ſie dieſelben bleiben, wenn der Sturm ſie
packt! Verjüngt ſich denn nicht die Natur; wenn
Aecker durch lange Jahre brach lagen, iſt ihre Trag¬
kraft dann nicht eine neue? Wenn die Stadt brennt,
Ueberſchwemmung die Deiche gebrochen hat, entwickelt
ſich nicht eine Kraft, eine Energie, die man nie er¬
wartet hatte! Haben wir nicht Beiſpiele, daß die
Muthloſeſten in's Feuer ſtürzen, über glühende Bal¬
ken klettern, um ihre Theuren zu retten. Ja, der
Rettungsmuth wird zum Fieber, ſie ſtürzen um Gleich¬
gültige in die Flammen. Das trauen Sie einem
Volke nicht mehr zu, wenn es das Vaterland gilt!
Aber nein, wir ſind einig. Das Volk iſt eine Maſſe,
die Färbung und Form, Thätigkeit und Trieb nur
von den Wenigen empfängt, die ſich ihm geweiht ha¬
ben. Sie wie ich verachten das Geſindel, das ſo
lange die Brut des Adlers in Käfigen fütterte, ihr
die Flügel verſchnitt, wenn ſie aufflatterte, ſie ſtrei¬
chelte: überhebe dich nicht, der Weg zur Sonne iſt zu
weit für dich. Dieſe ſtoßen wir fort. Ihr Mi߬
trauen jetzt trifft die Wenigen, die es wagen. Nein,
Herr von Fuchſius, es trifft weiter. Ihr Mißtrauen
ſpritzt ſein Gift über die Natur hinaus, die wir ſehen,
in die Natur, die wir nur ahnen. In ihr herrſcht ein
ewiges Maaß, das der mächtigſte Frevler nicht über¬
ſchreitet. Das Glück wie das Verbrechen hat ſein Ziel; ſo
die Schmach, das Elend. Es muß eine Erhebung,
eine Erlöſung geben für ein gedrücktes Volk,
wenn es eine ſittliche Weltordnung giebt.“


[17]

„Und wie viele Völker gingen unter, um nie
wieder aufzuſtehen.“


„Iſt Deutſchland ſchon Byzanz! Iſt's Preußen?
Im Volke unten ſind noch Erzſtufen, die im rechten
Schmelzofen ein Glockenmetall geben. Die zu ſuchen
iſt unſere heilige Pflicht; und daß ſchlechte Verwalter
dies ergiebige Bergwerk unverantwortlich verwüſtet,
doppelte Aufgabe für uns, das Verſäumte nachzu¬
holen.“


Der Regierungsrath ſaß in Gedanken verſunken,
den Kopf im Arm:


„Iſt denn eine ſittliche Weltordnung! — Dieſe
Geſchichte, die das Weltgericht ſein ſoll, was iſt ſie
denn, wenn wir ſie mikroskopiſch betrachten! In ihren
großen Phaſen ein wohl aufgezogenes Uhrwerk, aber
wir zu klein für dieſe Meſſungen, Infuſorien, Schaum¬
theile, die die Woge über das ungeheure Rad gießt.
Auf die das Loos fiel, geboren zu werden, während
das Waſſer ſtieg, ſchwärmen im Morgenrothsgefühl
der Titanen; die aber geboren wurden, um zu ſter¬
ben, wenn es überſchlägt, wurden Thränodiſten oder
Stoiker. Da liegt der Kern.“


Walter entgegnete: Wen die Geburt an großen
Scheideſtunden auf die Welt geſetzt, ſei geboren, auch
groß zu fühlen.


„O geben Sie mir wieder die Götterfunken, die
Fichte, Schiller uns in's Blut hauchten! Nur muß
man nicht Specialgeſchichte ſtudiren, nicht Akten leſen.
Da ſinkt Ihre ideale Gerechtigkeit in's Reich der weſen¬
V. 2[18] loſen Schatten! Ja, mein Freund, die furchtbare
Nemeſis iſt da, die auf ihrer Mühle alles Geſchaffene
wieder zermalmt, und Maaß für Maaß übt, aber
bilden Sie ſich nicht ein, daß es Einem der Geſchädigten
zu Gut kommt. Bonaparte's Arm zerdrückt das Re¬
giment jener kleinen Gewaltigen, die Ludwigs Wol¬
ken-Perrücke auf den hohlen Schädel drückten, und
auch ausrufend l'état c'est moi! die Majeſtät des
deutſchen Königthums verhöhnten, mit ihren Mai¬
treffen das Mark des Landes verpraßten, und ſeine
Söhne geknebelt nach Amerika verkauften. Der Gott
der Gerechtigkeit hat die blutigen Thränen, die
Schmerzenslieder der gefangenen Sänger erhört; aber
die Rache trifft die Kinder der Schuldigen. Ruft
ſie die in's Leben, deren Gebeine im heißen Afrika blei¬
chen? Und unter den Lebendigen! Die Gewaltigen
ziehen aus mit ihren Geldſäcken, die Kinder der
Maitreſſen, vom Mark des Landes gefüttert, ſind
große, reiche Herren geworden, und die Unterthanen,
das Volk — bekommt Einer nur einen Heller wieder?
Nein, es muß von Neuem ſteuern und ſteuern, um
die Nemeſis zu bezahlen und die neuen Gewaltigen
groß und reich zu machen. Seine Marſchälle, Brü¬
der, werden Fürſten, Könige; wir bleiben, was wir
waren, die Maſſe, aus der man den Saft preßt.
Auch dieſe neuen, ja auch ſie wird die Nemeſis er¬
eilen, auch Bonaparte wird über's Rad geſchleudert
werden, aber erſt, wenn wir längſt modern, und was
unſre Kinder vom Raube zurückerhalten werden, —
[19] nun, das kümmert Sie und mich nicht. Wir haben
ja keine Kinder.“


„Aber einen Glauben habe ich, entgegnete Wal¬
ter, daß in dieſer Fäulniß noch geſunde Stämme ſind.
Grade aus dieſem abgeſtorbenen Elend im Reiche
erheben ſich die Größen unſeres nächſten Vater¬
landes.“


„Was iſt Größe! Sie werden nun in un¬
ſern Archiven blättern. Ach, wenn Sie in den
Correſpondenzen, den wenigen Zeugniſſen der Zeit¬
genoſſen leſen, die man klugerweiſe daſelbſt vor
der Fackel der Geſchichte bewahrte, ach, Sie werden
ſo viel Perrücken und Schlafröcke ſehen, daß Ihnen
die großen Männer darüber verſchwinden. Wie viele
Wunder, wie vieler Heroismus, wie viel Unbegreif¬
liches wird Ihnen ſehr begreiflich und ordinair er¬
ſcheinen. Die Glas Waſſer, die umgeſtoßenen Cho¬
colatentaſſen, Liebſter, ſind es nicht allein, die über
Königreiche, Dynaſtieen und Völkerglück entſchieden
haben, der ewige Faden der Gemeinheiten und Nie¬
derträchtigkeiten zieht ſich durch die Weltgeſchichte.
Mückenſtiche, eine ſchlafloſe Nacht, eine ſchlechte Ver¬
dauung, haben auch über die Impulſe derer entſchie¬
den, die auf der Menſchheit Höhen wandelten; ſo we¬
nigſtens admiriren wir ſie. Wie mögen ſie in jenen
Regionen über uns lächeln! — Wo unſrer Fäulniß
Sitz iſt, darüber ſind unſere Freunde einig. Aber
worauf brüſten wir uns noch, und wenn wir
die Theile unter das Mikroskop bringen, auch da
2 *[20] ſchillernde Verweſung! Wie ſtolz ſind wir auf unſre
unpartheiiſche Juſtiz, und der pfiffige Müller Arnold
kochte noch vergnügt ſeine Klöße von dem abgeſtriche¬
nen Mehl, als die Präſidenten ſchon vor den Recom¬
mandationen der Lichtenau ſich bückten, und zitterten,
wenn Einer, den ſie abgewieſen, an ſie appellirte.
Für welches Wunderwerk galt Friedrichs Controlle,
ſein großes Auge ſah ja Alles, es zählte die Gro¬
ſchen; ſchlagen Sie aber die großen Baurechnungen
nach, und ſehen, wie grob er doch betrogen ward!
Unſre ſtolzen Großen am Hofe, wie viele danken ihre
Grafentitel, nicht dem Könige, dem Kammerdiener
Rietz! Wie manche ihre Titel, Güter, Orden, der
Laune des Augenblicks, einem ſchönen Frauenblick!
Wie kamen wir denn zu Haugwitz, wie zu —,
zu —, zu — Ward ihr Werth auf der Staatswage
abgewogen?“


„Wie kamen wir zu dem, den Sie und ich gleich
verehren, ein geharniſchter Geiſt, der durch dieſe Mi¬
ſere ſchreitet?“


„Und wie Hamlets geharniſchter Vater in die
Verſenkung fallen wird. Und das, ehe Hamlet Muth
bekommt. — Der Freiherr wird ſich nicht, ich ſage es
Ihnen, er kann ſich nicht halten. So lange er ſeine
Pfeile nicht losſchoß, fürchtete, darum ſchonte man
ihn. Wenn er den Köcher entleert hat, wird man
ihm ein Bein ſtellen. Er wird zu ſchroff drauf los¬
gehen, und unvermerkt ſitzt er in der Schlinge. Da
wird er haspeln, poltern, um ſich ſchlagen, das De¬
[21] corum verletzen, die Fäden des Gewebes ſind aber
zu weit geſponnen, es umſtrickt ihn. — Er drückt,
wie einer jener coloſſalen Granitblöcke, die aus
einer Sündfluth auf unſrer Ebene zurückblieben, den
Sand nieder, aber der Sand erhebt ſich nicht zu ihm,
und er befruchtet ihn nicht. Man klopft und zerſprengt
dieſe Steine. Unſer Sand bleibt Sand. Und end¬
lich — er iſt ein feuerſprudelnder Rieſe, aber —
warum läßt er Bovillard oben ſeine ſturmſchnauben¬
den Reformationsaufſätze niederſchreiben, und Sie be¬
ſchäftigt er wie einen Rechenknecht? — Weil Sie
bürgerlich ſind, theuerſter van Aſten; wenn er Bo¬
villard unter den Arm faßt, mit ihm auf und ab
geht, ſind es immer Staatsgeſchäfte, von denen ſein
Auge leuchtet, was die Lippe ſo angenehm bewegt?
Ihn intereſſirt ebenſo der reine celtiſche Urſprung der
Familie Bovillard, die neue Fabel, mit der Bovil¬
lards Vater die Cirkel amüſirt, vom Haus oder
Gau oder Clan Ceriſé oder Ceriſon, wobei ich gar
nicht in Abrede ſtellen will, daß ein in der Descen¬
denz ſo heruntergekommener Adel gut thut, ſeine
Ascendenz bis zu den Cimbern hinaufzuführen und
ſeine Schläfe mit Druidenkränzen zu umwinden. —
Ein großer Mann muß ſich auch amüſiren, und neben
der Nothwendigkeit für Andre muß Jeder auch für
ſich leben.“


„Und wofür leben Sie jetzt?“


„Für die Verbrecherwelt. Die Wahrheit, die
ich in der Pſychologie des Staates nicht fand, ſuche
[22] ich in der der Gefängniſſe. Es iſt eigentlich derſelbe
Stempel, nur urſprünglicher, friſcher. Das Schillerſche
Weltgericht finde ich hier viel conciſer, concreter. Die
Kreiſe eines Verbrechers, klein fangen ſie an, um
raſch größer zu werden, bis er noch ſchneller ſeine
Kataſtrophe erreicht; dann verengen ſie ſich wieder,
immer raſcher, bis ſie zur Schlinge werden. Dort
ſehen wir nur Stückwerk, hier Totalitäten.“


„Aber nichts, was das Gefühl erhebt.“


„Wie aus dem unſcheinbaren Keim eine ganze
Verbrecherlaufbahn entſpringt, wie die erſte Unter¬
laſſungsſünde, die Scham darüber, das Streben, es
zu verbergen, eben ſo oft, als der Kitzel der Luſt
das Individuum weiter treibt, gäbe das keine An¬
ſchauungen, Belehrung, ja Erhebung? Da! in der
großen Geſchichte vertuſcht man es, wie aus dem
Kleinen das Ungeheure ſich ballt, hier iſt kein Grund
dazu, die Diplomaten und Hiſtoriker fehlen, die das
Schlechte ſchön malen, dem Albernen einen tiefen
Sinn unterlegen. Die Natur giebt ſich, wie ſie iſt,
und verſucht's ein Verbrecher, durch Lügen ſich einen
beſſern Schein zu geben, ſo braucht man ihn nur
fortlügen zu laſſen, er verſtrickt ſich mit jedem Worte
tiefer, unlösbarer, und die Wahrheit fällt wie der
reife Apfel vom Baume. Und wenn mitten aus der
Verworfenheit ein ſchöner menſchlicher Zug, wie ein
Licht aus beſſern Welten, vorſchießt, da kann dem
Criminaliſten eine Thräne in's Auge treten, und er
kann den Verbrecher lieben, den er verdammen muß.
[23] Ja, Theuerſter, der Sprung aus der Politik in die
Criminaliſtik iſt für mich zur Rettung geworden aus
einer Welt der Verweſung, über der der gleißende
Schein immer mehr reißt, in eine Naturwelt, wo es
noch chaotiſch daliegt, unſchön, meinethalben ekelhaft,
aber es iſt die grelle Naturwahrheit, die der Menſch
beſſern, veredeln ſollte, gewiß, es war ſeine Aufgabe,
aber er hat ſie verpfuſcht. Jetzt begreife ich die Völ¬
kerwanderung. Die Barbaren, welche die römiſche
Culturwelt mit ihren Keulen niederſchlugen, waren
nicht etwa rohe Engel aus dem Paradieſe, auch unter
ihnen graſſirten Laſter, Blutſünde und Gräuel aller
Art, aber ſie waren der friſche Abdruck des giganti¬
ſchen Menſchengeſchlechts.“


„Den finden Sie doch nicht unter Ihren Ver¬
brechern in den Voigteien? Ich konnte ſie immer nur
als den Abdruck unſrer Sittenverderbniß betrachten.“


„Nun, ſo ſtudire ich in ihnen das Schattenſpiel
unſer ſelbſt.“


„Aber wo unter hundert Fällen neun und neun¬
zig nur die Verwechſelung des Mein und Dein zum
Gegenſtand haben.“


Fuchſius ſah ihn lächelnd an: „Iſt das nicht
die große Frage, die Alles regiert! Nur daß die
Groben für Andre, die Feinen für ſich einen Mantel
darüber hängen. Von meinen Verbrechern wollen
die Wenigſten ſich ſelbſt täuſchen, es iſt daher viel
leichter, die Bemäntelung abzureißen und der Sache
auf den Grund zu kommen. Uebrigens verſichere ich
[24] Sie, daß ich die intereſſanteſten Studien vorhabe.
Wir ſtimmen darin, wenn Sie in Verbrecherwelt
nur einen andern Abklatſch der höhern Stände er¬
blicken. So zergliedere, arrangire ich ſie mir; ich
finde die Erklärung für Vieles, was oben im Licht
geſchieht, in meinem Schattenreich. Ich dringe in
manchen intricaten Dingen bis in die Familien, auch
in recht angeſehene, und finde immer den Abdruck
deſſelben Stempels. Die Zerlaſſenheit, das laxe We¬
ſen, die Maximen, Principien dringen von oben nach
unten durch wie eine ätzende Säure. Hier verſchenkt
man freilich nicht Staatsgüter, die Hunderttauſende
werth ſind, zur Erinnerung für gute Compagnieſchaft
bei einer Orgie, noch ſchwarze Adlerorden an Roués
für eine Galanterie, man giebt am Sterbebette eines
Monarchen keinen Judaskuß ſeiner Maitreſſe um
eine letzte Gnadenbezeugung und um ſie deſto ſicherer
zu machen, damit, wenn er die Augen geſchloſſen,
man ſie auf die Wache ſchickt. Noch trifft man auf
vornehme Damen, die, wenn die Sünde ſie verläßt, doch
von der Sünde nicht laſſen können, und unbeſcholtene
Töchter guter Familien in ihre Zauberkreiſe verlocken,
nicht aus Eigennutz, rein aus Vergnügen, und noch we¬
niger verſtehen meine Schelme, Betrüger, Galgenvögel,
darüber den Schleier von Philoſophie und Humani¬
tät zu breiten, aber — Sie werden vielleicht nächſtens
Dinge ſehen, die Sie nicht erwarten, und die Geſellſchaft
wird die Augen aufreißen. Leben Sie wohl — Excel¬
lenz verkehrt mir zu lange mit Herrn von Bovillard.“


[25]

„Sie ſcheinen wichtigen Entdeckungen auf der
Spur.“


Fuchſius nickte.


„Dann müßten Sie eilen. Mich dünkt, das große
Ungeheuer Krieg verſchlingt die kleinen.“


„Falſch geſchloſſen, Herr van Aſten. Die Cri¬
minaliſtik hat die Beſtändigkeit vor der Politik voraus.
Wer auch ſiegt, das Jagdrecht der Juſtiz und Polizei
auf die gemeinen Verbrecher bleibt unangetaſtet.
Spitzbuben, Räuber und Giftmiſcher liefern die Krieg¬
führenden ſich mit gegenſeitiger Courtoiſie aus, und
der Strick iſt der ſicherſte Orden für den, der eine
Expectanz darauf erwarb.“


Der Rath ſchien doch noch etwas ſagen zu wol¬
len, als er den Thürgriff langſam aufdrückte, Walter
kam ihm zu Hülfe. Wenn er aus ſeiner Wiſſenſchaft
ihm etwas mittheilen könne, möge er commandiren;
er glaube nicht zu verſichern nöthig zu haben, daß er
auf ſeine volle Verſchwiegenheit rechnen könne.


„Fand in letzter Zeit eine Communication zwiſchen
dem Miniſter und dem Legationsrath Wandel ſtatt?“


„Ich glaube, es poſitiv verneinen zu können.“


Der Rath ſchien zufrieden: „Sie ſelbſt kamen
nie mit ihm in nähere Berührung?“


„In keine andere, als welche die geſellſchaft¬
lichen Beziehungen im Hauſe der Geheimräthin Lu¬
pinus mit ſich brachten.“


„Mit der ſchien er in Relationen zu ſtehen —“


„Welche das Geklätſch zu andern machte, als
[26] ſie vielleicht waren. Sprach man doch auch, daß die
Geheimräthin ſich ſcheiden laſſen und ihn heirathen
wolle. Da, ſo viel mir bekannt, ihre Verbindung
ſeit dem Tode des Geheimraths ſich gelöſt hat, ſo
war auch das gewiß ein falſches Gerücht.“


„Um ſo mehr, als jetzt verlautet, daß Herr von
Wandel auf Freiersfüßen bei der reichen Braunbiegler
aus und ein geht.“


„In der That?“


Der Rath faßte freundlich Walters Hand und
mit demſelben Tone ſagte er: „Herr van Aſten, ver¬
zeihen Sie die Indiscretion, an der Börſe meint
man, daß Ihres Herrn Vaters Angelegenheiten
ſchlimm ſtehen. Er hat ſich in einer Speculation
verrechnet —“


„Und wird hoffentlich, wenn ſie fehlſchlägt, der
Mann ſein, der ſeinen ehrlichen Namen mit dem
Letzten, was er beſitzt, löſt.“


„Daran zweifle ich nicht, und wünſche ihm, daß er
ohne dieſes Opfer ſich aus der Klemme zieht. Aber
er ſteht in Geſchäftsverkehr mit Wandel, er hat
Wechſel von ihm, er hat Mittel gefunden, während
man glaubte, daß Wandel auf Prolongation dringen
werde, ihn zu beſtimmen, daß er dieſe Wechſel in
andere auf kürzere Sicht umſchrieb. Schon das iſt
merkwürdig. Noch auffälliger, daß, während man
Urſach hatte, an des Legationsraths Verlegenheit zu
glauben, dieſer aus Mitteln, die man nicht kennt,
Ihren Vater prompt befriedigt hat.“


[27]

„Man dürfte doch auch bei den Gerichten wiſſen,
was in der Stadt ein lautes Geheimniß iſt, daß
Herr von Wandel mit diplomatiſchen Ambaſſaden in
vertrauten Relationen ſteht.“


„Pah! ſagte der Rath. Spione hier werden
nicht mehr theuer bezahlt, ſeit man die Geheimniſſe
wohlfeiler hat. So viel haben wir heraus, was
ſeine politiſchen Myſterien anlangt, iſt er ein Wind¬
beutel, nur mit der Ruſſin ſteht er noch in einer Ver¬
bindung. Sie iſt keine Verſchwenderin und bezahlt
ihn mit der Münze, die er bringt. Mit Verſprechun¬
gen löſt man aber nicht Wechſel von zehn und zwan¬
zig Tauſend Thalern. Ich will, mein theuerſter Herr,
nicht hoffen, daß Ihr Vater ſich näher mit ihm
einließ.“


„Sie erſchrecken mich —“


„Wenn Sie für Ihren Vater einſtehen, gewiß
ohne Grund. Aber — warnen Sie ihn, ſoweit ein
Sohn es darf, der zugleich ſeine Pflichten kennt gegen
den Staat und die Gerechtigkeit.“ — Er zog Walter
an ſich, und die Hand am Munde, ſprach er ihm in's
Ohr: „Ich habe den dringendſten Verdacht, daß dieſer
Herr von Wandel —“


In dem Augenblicke hörte man ſtarke Fußtritte
auf der Treppe.


„Der Miniſter!“


„Und ſehr ungnädig, ſagte Fuchſius, die Thür
öffnend. Die Audienz iſt ungünſtig ausgefallen. —
Schade, daß Bovillard nicht Ihr Rival iſt, er wird
[28] unfreundlich entlaſſen, und ich habe nicht Luſt, den
Zornerguß Seiner Excellenz auf mich zu laden. — Von
dem Bewußten ein ander Mal. Bis dahin Ver¬
ſchwiegenheit!“


Der Rath war durch das Audienzzimmer nach
der andern Ausgangsthür geeilt, ehe der Miniſter in
jenes eingetreten war.

[[29]]

Zweites Kapitel.
Ein treuer Diener ſeines Herrn.

Der Miniſter war aufgeregt. Auf und ab ge¬
hend ließ er ſeinen Getreuen über den Grund nicht
lange im Unklaren. Ihm war es darum zu thun,
dem jungen Bovillard eine officielle Stellung zu ge¬
ben, die ihm einen Zutritt bei Hofe verſchaffe. Bis
geſtern hatte man ihm Hoffnung gemacht, heut war
Bovillard durch Vertraute inſinuirt worden, daß er,
um der Perſon des Miniſters einen abſchläglichen
Beſcheid zu erſparen, lieber freiwillig zurückſtehen
möchte.


„Excellenz Feinde alſo auch da geſchäftig!“


„Diesmal ſind ſie unſchuldig.“


„Hätte mein Freund ſelbſt eine Unbeſonnenheit —“


Ein „Freilich! wer denn ſonſt!“ ſprudelte von
den Lippen, und verbot dem Secretair fortzufahren.


„Warum hat er nicht wie ein Karthäuſer gelebt,
warum hat er tolle Streiche gemacht, warum hat er
im Parterre den Regenſchirm aufgeſpannt, als die
[30] Thränen um den Jammer der Eulalia aus den Lo¬
gen floſſen.“


Alſo der Zorn war Ironie. Walter ließ eine
Bemerkung fallen, daß für Jugendſünden die Zeit
das beſte Heilmittel ſei. Der Freiherr war noch
nicht in der verſöhnlichen Laune. „Jede Sünde rächt
ſich,“ rief er und ſchien ſeine Schritte zu verdoppeln,
aber die Gedanken waren weit darüber fortgeflogen.


„Warum hat er nicht Komödie geſpielt wie die
Andern. Warum ſich nicht mit Tugend und Anſtand
geſchminkt! War das ſo ſchwer! Brauchte nur ſei¬
nen trefflichen Vater zu imitiren.“


„Geheimrath Bovillard iſt mir in der That un¬
begreiflich. Wiegt ihm die Gunſt, die Euer Excellenz
ſeinem Sohne ſchenken, das Glück deſſelben auf! Ihm
wäre es doch ein Leichtes, Haugwitz und die Andern
umzuſtimmen.“


„Was kümmern mich die! Die Königin will
ihn nicht.“


„Die Königin! — Sie iſt doch ſonſt nicht ſo
ſtreng in ihrem Umgang.“


„Wenn ſie's wäre! — Freilich, ſie müßte drei
Viertel des Hofes fortjagen. — Nun hat ſie ſich auf
dieſen geſetzt. Man hat ihn ihr als den Ausbund
von frecher Sittenloſigkeit geſchildert. Sie betrachtet
es als einen Hohn, einen Cavalier von dem Rufe
in ihre Antichambres zu bringen. Sie haßt auch
wohl im Sohn den Vater. Kurzum, Weiberphanta¬
ſieen ſind einmal nicht zu berechnen.“


[31]

Eine Pauſe trat ein. Die Stirn des Staats¬
manns ſchien heller zu werden, der neue Beamte
hatte ſeinen Vorgeſetzten wenigſtens ſo weit ſtudirt,
um zu wiſſen, wann es an der Zeit ſei zu Einwen¬
dungen, wann zu Vorſtellungen. Eine geſchickt an¬
gebrachte Schmeichelei verträgt auch der gradeſte Ehren¬
mann. Er hub damit an, ſeines Freundes gute
Eigenſchaften gegen ſeine Schattenſeiten abzuwägen.
Seine Kenntniſſe, ſeine Begabung, ſeinen feurigen
Willen für das Vaterland konnte er mit mehr Wärme
und Bewußtſein an's Licht ſtellen. Er ging diplo¬
matiſch darauf über zu dem glücklichen Blick, der
dieſe Vorzüge erkannt, ihnen den richtigen Wirkungs¬
kreis angewieſen, Talente, die ohnedem wahrſcheinlich
untergegangen wären; Talente, die aber richtig ge¬
nutzt, gerade ſo, wie der Miniſter beabſichtigte, noch
günſtiger wirken könnten. Ein junger Mann von
Stande, von der perſönlichen Begabung, jetzt, wo es
Alles gelte, unter die Puppen und Schranzen geſtellt,
könne viele üble Einflüſſe am Hofe paralyſiren. Wenn
ſein ſchönes Auge die verwüſteten Hofleute lange an¬
blicke, habe er oft bemerkt, daß ſie den Blick nicht
aushielten. Auch der Einfluß, den er auf Frauen
übe, ſei nicht zu gering anzuſchlagen. Vielleicht, daß
ſelbſt Ihre Majeſtät, wenn ſie ſich überzeugt, daß Bo¬
villard beſſer als ſein Ruf ſei, ihm eine Stütze ſein
und in ihm am Hofe eine Stütze finden werde ge¬
gen die Schaalheit und Feigheit der Blaſirten. End¬
lich, ſchloß er, daß, wenn kein anderes Hinderniß
[32] augenblicklich im Wege ſtehe, es dem Miniſter ſelbſt
ein Leichtes ſein werde, die Königin, die ihn ſo gern
höre, auf andere Gedanken zu bringen.


Auch jener Miniſter, der ihn einſt nach Karls¬
bad wies, würde es eine gute Elaboration genannt
haben, um ſo mehr, als Walter nur die eigenen An¬
ſichten des Freiherrn in ſeinem Vortrage verſchmolz.
Aber der Schluß traf nicht das Rechte.


„Ich nicht. Ich grade kann, darf darin nichts
thun. Ihre Majeſtät iſt empfänglich für Ideen; mit
Perſonalien darf ich ihr nicht kommen.“


Ein Ausruf des Secretairs proteſtirte dagegen.


„Frauen, mein Lieber, wollen beſonders behan¬
delt ſein, auch die ausgezeichnetſten. In ihren Vor¬
urtheilen gegen Perſonen gehorchen ſie dem Impulſe.
Sie käme mir wohl mit dem Spruche des Dichters
von dem, was ſich ſchickt: Da frage nur bei edlen
Frauen nach! Und ſie hätte Recht. Schöne Seelen
werden nicht durch Gründe, nur durch eine ſchöne
Regung überwunden. Wenn er nicht darauf ein¬
gehen will, was ich ihm ſagte, ſo iſt es nichts.“


„Es ſtände in Bovillards Willen?“


„Seine Braut iſt die ſchöne Perſon, die neulich
die Geſchichte mit Ihrer Majeſtät hatte. Ich weiß
es beſtimmt, die Königin iſt, wie hohe Perſonen
ſind, für das Mädchen enthuſiasmirt; wenn er den
Vortheil benutzte —“


Der Miniſter hielt inne; nicht weil er die Röthe
auf Walters Geſicht bemerkte, ſondern weil er ſelbſt
[33] etwas von Erröthen fühlte. Ein ernſter Staatsmann
darf auch die Intrigue ſpielen laſſen, weil leider
keine Staatskunſt ohne ſie beſtanden hat, aber ſchon
der Schein iſt gefährlich, daß er im Ernſt ſich in
ihr Spiel verliert. Der Miniſter griff nach den
Scripturen auf dem Tiſch und ſchien von der Lectüre
abſorbirt, während Walter mit einem wehmüthigen
Lächeln einer Erinnerung nachhing.


Der Vorfall, auf den der Freiherr angeſpielt,
war eine bekannte Stadtgeſchichte, die vor einigen
Tagen ſich ereignet. Wir müſſen mit unſeren Leſern
aus dem Hotel des Miniſters einen Seitenſprung
nach einem öffentlichen Ball thun, den eine Corpo¬
ration zu Ehren der Majeſtäten veranſtaltet hatte.
Die Königin Louiſe hatte das ſchöne Mädchen be¬
merkt und ein Dienſtthuender mochte aus Unkennt¬
niß eine mißverſtandene Vorſtellung gemacht haben,
als ſie im Vorübergehen die Frage an Adelheid ge¬
richtet: „Was ſind Sie für eine Geborne?“ Die
Baronin Eitelbach, welche neben Adelheid geſtanden,
wollte, erſchrocken, dem jungen Mädchen zu Hülfe
kommen, und hatte die hiſtoriſch gewordene Antwort
gegeben: „Ach, Ihre Majeſtät verzeihen, ſie iſt gar
keine Geborne.“ — Nur die Gegenwart der Königin
hatte ein Gelächter zurückgehalten, was wie ein Ge¬
witterſchauer auf den Geſichtern der Umſtehenden
V. 3[34] drohte. Ihre ganze Huld und Majeſtät hatte die
Fürſtin zuſammengenommen, um jene ſtrafenden Worte
zu ſprechen, die ebenfalls in die Geſchichte überge¬
gangen ſind, und nach verſchiedenen Berichten am
wahrſcheinlichſten ſo lauteten: „„Ei, Frau Baronin,
Ihre naiv ſatiriſche Antwort ſollte gewiß das junge
Mädchen nicht kränken. Von Geburt wenigſtens ſind
alle Menſchen ohne Ausnahme gleich. Iſt es auch
ermunternd und erhebend, von Eltern und Vorfahren
abzuſtammen, die ſich durch Verdienſte und Tugenden
auszeichneten, und wer wollte den Werth nicht an¬
erkennen und ſich nicht ſelbſt geehrt fühlen durch die
Ehre, aus einer guten Familie zu ſein! Aber Gott
Lob, das gilt für alle Stände gleich, und aus den
unterſten ſind die größten Wohlthäter des Menſchen¬
geſchlechts hervorgegangen. Stand und Würden
kann man erben, aber innere perſönliche Würdigkeit,
worauf am Ende doch Alles ankommt, muß Jeder
ſich ſelbſt erwerben. Der Weg dahin iſt die Selbſt¬
beherrſchung, und ich bin überzeugt, wenn ich in den
Zügen des jungen Mädchens leſe, daß ihre Seele
dieſen Weg längſt gefunden hat. — Ihnen, liebe
Baronin, danke ich, daß Sie mir Gelegenheit gaben,
den Anweſenden meine Meinung darüber zu ſagen.
Es iſt die Meinung, welche auch im Herzen meines
Gatten, des Königs, lebt.““ Der ſtrafende Blick
der Königin, der leichthin über die Reihen flog, hatte
ſich in den huldvollſten verwandelt, als er Adelheid
wieder traf. Sie wechſelte einige Worte mit ihr, die
[35] nur die Wenigſten hörten, aber Beider Augen ver¬
riethen den Sinn. Mit dem gnädigſten Nicken war
ſie vorüber geſchwebt.


Die Scene hatte ſich im Augenblick verwandelt.
Die moquanten Mienen von vorhin waren zu langen
Geſichtern geworden. Das junge Mädchen war noch
eben als ein Eindringling in dieſe Kreiſe betrachtet
und gemieden worden; faſt iſolirt hatte ſie neben der
Eitelbach geſeſſen, kein Tänzer ſich ihr genaht. Welche
Urtheile waren hinter ihrem Rücken gefällt worden!
Ach, ſelbſt ihre Jugendgeſchichte hatte man hervor¬
gezogen. — Iſt das die! hatten zwei Hofdamen ſich
erſchreckt angeblickt, mit dem Verſuch, über die Er¬
innerung zu erröthen, der indeß unter dem dicken
Karmin erſtickt war. Einige begriffen nicht, was
denn den Ruf ihrer Schönheit gemacht. Andre hat¬
ten gemeint, es komme eben nur auf den Ruf an,
und in wie viel Häuſern ſie geweſen: und nirgend aus¬
gehalten! Da war es doch klar, daß ſie ſelbſt daran
ſchuld ſei. Einige hatten ſich gewundert, Andere es
ſchon choquant gefunden, daß man ſie dieſen Cirkeln
aufdringe. — Man muß eine ruſſiſche Fürſtin ſein,
um ſich das erlauben zu dürfen! — Aber bei der Fürſtin
muß ſie wohl auch ſchon auf der Kippe ſtehen, ſonſt würde
ſie ihren Schützling nicht von der Eitelbach chaperon¬
niren laſſen. Was läßt ſich die gute Baronin nicht auf¬
binden! — Eine Zuhörerin konnte ſchon fragen, ob denn
Adelheid ſchon aus dem Hauſe ihrer Eltern verſtoßen ge¬
weſen, als ſie in dem der Obriſtin eine Zuflucht geſucht.


3*[36]

Und nun, wie Nebel bei einem Sonnenblick,
war Alles anders geworden. Woltmann berichtet
von der Königin Louiſe, daß, wenn ſie mit Häßlichen
geſprochen, auch dieſe allmälig den Umſtehenden ſchön
gedünkt; ſolchen Zauber ſtrahlte die Fülle ihrer An¬
muth aus. Eine ähnliche Magie hatte Louiſe hier
geübt. — Nein, wie ſchön ſie iſt! hörte die Eitelbach
jetzt hinter ſich flüſtern. Welcher Anſtand! — Es iſt
etwas Gebornes darin! — Die Eitelbach war ohne
Neid; mit Vergnügen ſah ſie die Lorgnetten auf
ihren Schützling gerichtet. Sie lächelte die Dame
an, die ſich an ihren Arm hing: „Nein, liebſte Ba¬
ronin, was müſſen Sie für eine Freude haben, einen
ſolchen Engel zu bemuttern! Aber ſie iſt auch der
beſten Obhut anvertraut.“ — Damen und Herren
ließen ſich Adelheid vorſtellen. Ihre Antworten ent¬
zückten. — Da, um das Glück vollſtändig zu machen,
hatte ſich auch der König ihr genähert. Auch er
ſprach gnädig; freundlich ſah er zum ſchönen Mäd¬
chen nieder, man hörte durch das Geräuſch huldvolle
Worte: viel von gehört haben — ſehr freuen — einen
braven Vater haben — Auch die jüngeren Prinzen
waren herangetreten, der König ſcherzte mit ihnen.
Ein Scherz von den gewichtigſten Folgen. Bald durch¬
flog die Sääle die Neuigkeit: die Prinzen tanzen mit
der Alltag.


Sie war der Stern des Abends. Sie blieb der
Gegenſtand des Geſpräches in den Equipagen, die
nach Hauſe rollten. Ueber ihre Schönheit war nur
[37]eine Stimme. Nur etwas zu ernſt! Aber die Hold¬
ſeligkeit der Königin hatte ihr auch davon angehaucht.
Welche naive, frappante Antworten ſie gegeben! Wie
hatte ſie den jungen Prinzen Auguſt auf eine etwas
kecke Frage anlaufen laſſen! Aber wie hatte der
ältere Bruder, Prinz Louis, ſich benommen?— Eine
ſolche ſpirituelle Schönheit mußte doch auf den galan¬
teſten Ritter wirken. — Er war an ihr vorüber ge¬
gangen. — Unmöglich! hieß es; aber Viele verſicherten
es. Der unglückliche Prinz ſieht jetzt nur Geſpenſter!
Die Ausſicht auf den Krieg ſchüttelt in ihm wie ein
kaltes Fieber. — Aber nein, er war zurückgekehrt, er
hatte mit ihr Worte gewechſelt. Es klang unglaublich,
was der Lauſcher gehört. Er hatte ſie wehmüthig
angeblickt, wie Hamlet Ophelien: „Was wollen Sie
in dieſer Atmoſphäre? Die iſt nur für kranke Seelen.
— Und ſie, was hatte ſie geantwortet? „Gnädigſter Herr,
ich meinte, wer geſund iſt, bringe Lebensluſt in
jede Atmoſphäre mit.“ — Unbegreiflich fanden es
Viele — ein ſimples Bürgermädchen, die Tochter von
dem alten Geheimrath Alltag! Er wird wohl nun
geadelt werden, meinten Einige. Andre ſchüttelten
ſchlau den Kopf: Wer weiß denn, ob er ihr Vater
iſt! Eine Dame fand in Adelheids Geſicht Züge, die
an den vorigen König erinnerten.


Als der Kammerherr von St. Real der Fürſtin
Gargazin in einem entfernten Zimmer die erſte Nach¬
richt mit den Worten hinterbracht: „Sa fortune est
faite!“
hatte ſie lächelnd geantwortet: „Wiſſen Sie
[38] nicht von dem Schatzgräber, der niemals reich ward,
weil er alles gefundene Gold als Meſſing verkaufte?“
Es mußte alſo doch eine Verſtimmung, wenigſtens
eine Gleichgültigkeit zwiſchen der Prinzeſſin und ihrer
Pflegetochter eingetreten ſein. „Sie haben ſich gut
amüſirt? Das freut mich, ſagte ſie beim Einſteigen
in den Wagen. Die Königin wird Sie rufen laſſen.
Ich weiß nicht, was Ihre Majeſtät mit Ihnen beab¬
ſichtigt, ich empfehle Ihnen auch nicht, das Eiſen zu
ſchmieden, ſo lange es heiß iſt, denn Sie ſind ein
Sonntagskind, und es fügt ſich Alles anders, als
man es dachte. Der Hof ſagt, Ihr Glück iſt gemacht,
die Stadt wird es nachplaudern, ich warne Sie auch
nicht vor dem Neide — ich ſchaudre nur vor dem,
was die Menſchen Glück nennen. Der große Schil¬
ler hat ein ſchönes Gedicht geſchrieben, aber ſein
glücklicher Polykrates war doch ein Thor. Warum
warf er den Ring in's Meer, deſſen Anſchauen ihm
täglich Freude machte? Das Verhängniß wandte er
nicht ab, wer aber brachte ihm die verlornen Augen¬
blicke zurück, als der Schimmer des Diamanten ihn
entzückt!“


Drei Tage lang ſprach man am Hofe, ſieben in
der Stadt, nur von der ſchönen Adelheid. Dann
waren andre Gegenſtände gekommen. Die Königin
hatte ſie nicht rufen laſſen, die Königin hatte an
Anderes zu denken. Die Fürſtin mochte auch an
Anderes denken, ſie ſagte nichts, aber wenn ſie Adel¬
heid ſah, ſchien ihr lächelnder Blick zu ſprechen:
[39] wenn eine Königin vergaß, uns rufen zu laſſen, ſo
wäre es an uns, ſie anzurufen, damit ſie ſich unſrer
wieder erinnere. Zur Diplomatin iſt ſie nicht geboren.


Der Miniſter mochte das und ſeine letzte Be¬
merkung längſt vergeſſen haben, indem er mit der
Schrift ſich auf das Canapé geworfen und mit dem
Daumennagel Zeichen am Rande machte, als er auch
das Papier ſinken ließ.


„Was wollte denn Fuchſius?“


„Sein Anliegen hat er mir nicht mitgetheilt.“


„Er iſt wie ein Trüffelhund auf Maleficanten.
Als ob es darauf jetzt ankäme, einen Dieb und Be¬
trüger mehr in's Zuchthaus zu liefern. Was ſagte
er ſonſt?“


„Er ſieht trüb.“


Der Miniſter ſchien in dem Zuſtande der Er¬
ſchöpfung, wo man lieber hört als ſpricht, eine in¬
directe Aufforderung an Walter, zu ſprechen. Er
mochte die unausgeſprochene Abſicht des Staatsman¬
nes treffen, als er in Kürze die Anſichten des Re¬
gierungsrathes referirte. Ganz wider Erwarten fiel
der Zuhörer mit der Bemerkung ein: „Und hat er
nicht Recht?“


„Ich, Excellenz, habe mir den Glauben an eine
ſittliche Weltordnung bewahrt.“


„Auch nachdem Sie das Geſindel von nahe ge¬
ſehen haben? Das iſt viel!“


[40]

Der Freiherr mußte tief erſchüttert ſein. So
hatte der neue Secretair ihn noch nicht geſehen. Es
war aber zugleich eine weiche Stimmung, die ihm
Hoffnung machte, mit Vorſchlägen, die er in petto hatte,
durchzudringen.


„Leſen Sie alſo!“ ſprach der Miniſter.


Walter nahm das Papier, welches jener auf das
Canapé fallen laſſen. Der Miniſter ſchüttelte mit
dem Kopf.


„Zuvor die Hauptpaſſus, die wir aus dem vo¬
rigen Memorial heraushoben. Man muß ſich dieſe
erſt vergegenwärtigen. Es wird nicht mehr Alles für
heut paſſen.“


Walter griff nach einem andern Heft und las:


„„Bedrohte Selbſtſtändigkeit — Unwille der
Nation über den Verluſt ihres alten, wohlerworbenen
Ruhmes.““


Der Miniſter ſchüttelte den Kopf: „Dies bleibt
nun weg. Wüſter Lärm genug.“


Walter las weiter: „„Affilirung der Cabinets¬
regierung mit Haugwitz. An den Miniſtern haftet
die Verantwortlichkeit für das, was ſie nicht beſchloſſen,
vor dem Publikum.““


„Oeffentliche Meinung! corrigirte der Miniſter.
Weiter.“


„„ Man ſchämt ſich einer Stelle, deren Schatten
man nur beſitzt.““


„Habe ich das im April geſchrieben? Seine
Lippen warfen ſich zu einem höhniſchen Lächeln. —
[41] Illuſionen! Wenn ſich Einige geſchämt haben, jetzt
haben ſie ſich anders beſonnen. Das bleibt weg.“


Walter fuhr fort: „„Das Ehrgefühl der Be¬
amten wird unter einer ſolchen Regierung unterdrückt,
ihr Pflichtgefühl abgeſtumpft. — Subalterne ge¬
horchen nur noch halb, ſie ſuchen ihr Heil bei den
Götzen des Tages.““


„Das bleibt. Das hat gewirkt, es kann noch
wirken. Für die Reputation ihres Beamtenheeres
haben ſie noch einiges Tendre. Weiter!“


„„Der Monarch lebt in völliger Abgeſchieden¬
heit von ſeinen Miniſtern. Von Allem, was geſchieht,
erhält er nur einſeitige Eindrücke durch das Organ
ſeiner Cabinetsräthe.““


„Sie halten inne. Haben Sie da Bedenken?“


„Könnten wir nicht die Perſon des Monarchen
aus der Sache laſſen?“


„Wir leben nicht in England. — Wir leben
in Preußen, wo der Monarch mit dem Volke iden¬
tiſch iſt. Es ſcheint eine Anomalie, aber es iſt eine
Wahrheit. Wehe ihm und dem Volke, wenn es nur
ein Schein werden könnte. Wo ein Fürſt dieſe ab¬
norme Stellung hat, wo der Kopf ſich eins fühlt
mit dem Körper, muß er auch das vertragen können,
was die andern Glieder. Preußens König iſt ſo
wenig ein Kaiſer Karl und König Artus, die als Pagoden
daſitzen, drei Köpfe höher als ihre Tafelrunde, als er ein
Fürſt iſt, dem die Conſtitution ein glänzendes Altentheil
angewieſen hat. Er iſt nur der er iſt, indem er eine
[42] Partikel ſeines Volkes iſt. Exceptionell, ja, ja, durch¬
aus exceptionell, aber ſo iſt's. Wir dürfen's nie
aus dem Auge laſſen. Er muß empfinden wie wir
— das Streicheln und die Schläge. Man muß ihn
anfaſſen können, ſchütteln ein wenig, ein derbes Wort
ſagen. Verträgt er es nicht — doch weiter, weiter!“


„Excellenz, einen jungen Eichbaum ſchüttele ich,
aber eine Sinnpflanze —“


„Es iſt keine Zeit für Sinnpflanzen, wenn der
Samum weht. Man muß ihn ſchütteln. Uebrigens
vergeſſen Sie nicht, das Gefühl für das Rechte hat
er von ſeinen Ahnen geerbt. Er ſteht über den
Parteien. Das iſt allerdings eine Eigenſchaft, die
jeder König haben müßte, da aber nicht jeder König
ſie hat, Reſpect vor dem, der ſie und in ſolchem
Umgange ſich bewahrt hat. Eine große moraliſche
und intellectuelle Kraft hätte Europa noch nach dem
Tage von Auſterlitz gerettet. Dieſe Kraft fehlte.
Ich kann dem, dem ſie die Natur verſagte, ſo wenig
Vorwürfe machen, als Sie mich anklagen können,
nicht Newton zu ſein. — Weiter!“


„Nun folgen die ſubjectiven Gründe. „„Wer
hat dies unbedingte königliche Vertrauen? Beyme und
Lombard, von ihnen ganz abhängig Haugwitz. Je¬
ner — guter Juriſt, ward übermüthig, abſprechend,
corrumpirt —Verbindung mit Lombard untergrub ſeine
Sittenreinheit — gemeine Aufgeblaſenheit ſeiner —““


Der Miniſter wehte mit der Hand. „Die Frauen
mögen jetzt fortbleiben.“


[43]

„Wahrſcheinlich auch die folgende Charakteriſtik:
„„Phyſiſch und moraliſch gleich gelähmt und abge¬
ſtumpft. Seine Kenntniſſe franzöſiſche Schöngeiſterei.
Ernſthafte Wiſſenſchaften haben dieſen frivolen Men¬
ſchen nie beſchäftigt, frühzeitige Theilnahme an den
Orgien der Rietziſchen Familie ſein moraliſches Ge¬
fühl erſtickt.““ Soll das auch bleiben?“


„Weiter!“


„„In den unreinen und ſchwachen Händen eines
franzöſiſchen Dichterlings von niederer Herkunft, eines
Roués, der ſeine Zeit im Umgang mit leeren Men¬
ſchen, mit Spiel und Poliſſonnerieen vergeudet, iſt die
Leitung der diplomatiſchen Verhältniſſe, und in einer
Periode, die in der neuern Staatengeſchichte nicht
ihres Gleichen findet.““ Auch das?“


„Iſt's nicht wahr?“


„Aber wozu der Vorwurf niederer Herkunft?“


„Das verſtehn Sie nicht. Der Miniſter war
aufgeſprungen. Brüſtet er ſich nicht ſelbſt bei jeder
Gelegenheit, daß er der Sohn eines Perrückenmachers
iſt! Ein Scandal! eine Verworfenheit ohne Gleichen.
— Ja, wenn ſie den Adel nicht ſyſtematiſch zu La¬
quaien depravirt hätten, es ſtände anders. — Ihnen
geſchieht recht. — Laß ſie an der Frucht ihrer Schuld
nagen.“


„Das folgende, perſönlich gegen den Miniſter Ge¬
richtete iſt ſchon ſo oft geſagt —“


„Kann aber nicht oft genug wiederholt werden.“


Walter las mit Zaudern: „„Sein Leben eine
[44] ununterbrochene Folge von Verſchobenheiten oder
Aeußerungen von Verderbtheiten. Sein Urtheil ſeicht
und unkräftig, ſein Betragen ſüßlich und geſchmeidig.
— Als Gelehrter Phantaſt — dann Myſtiker aus
Liederlichkeit — Geiſterſeher aus Mode — Herrn¬
huter aus Bequemlichkeit — verſchwendet die dem
Staat gehörige Zeit am Lhombretiſch. Abgeſtumpfter
Wollüſtling, gebrandmarkt im Publikum mit dem Na¬
men eines liſtigen Verräthers ſeiner täglichen Ge¬
ſellſchafter und eines Mannes ohne Wahrheit und
Wahrhaftigkeit.““


Walter hielt inne und blickte auf den Miniſter.


„War's eine zu ſchwere Aufgabe für Ihre Feder?“


„Ich frage mich nur, ob dieſer perſönliche An¬
griff nothwendig iſt?“


„Man muß Perſonen ändern, wenn man Ma߬
regeln ändern will, habe ich Ihnen dictirt. Man
muß die Perſonen niederſchlagen, daß ſie das Auf¬
ſtehen vergeſſen, wenn ſie zur Vordertreppe hinabge¬
worfen, auf der Hintertreppe immer wiederkommen.
Man muß ſie zertreten, tödten, vernichten, wenn mit
ihnen die Maßregeln unmöglich ſind. Schonung aus
Mitleid wird Verbrechen.“


„Wenn wir auf den Erfolg rechnen können!
Seine Majeſtät erwiederten auf das erſte Memorial,
worin Excellenz auf Aenderung des Cabinets dran¬
gen: Sie wünſchten nur, daß man Ihnen Beweiſe
der Verräthern dieſer Leute gäbe, ſo würden Sie
keinen Anſtand nehmen ſie zu entfernen. Die Be¬
[45] weiſe — ſagt wenigſtens das Publikum — liegen
ſeitdem zu Tage — und —“


„Es bleibt Alles, wie es geweſen. — Und das,
Herr, ſoll uns beſtimmen, nicht unſre Pflicht zu thun!
Nicht zu rütteln an den faulen Aeſten, ſo lange wir
Mark in den Gliedern haben, nicht zu ſchreien, rufen,
warnen, ſo lange wir Athem haben und man uns
nicht den Mund verbindet. Wie?“


„Ich ſchweige in Ehrerbietung vor Eurer Excellenz
gerechter Entrüſtung.“


„Nein, Sie ſollen ſprechen, Ihre Meinung ſa¬
gen, dazu ſind Sie hier; darum ließ ich mich in das
Geſpräch mit Ihnen ein. — Sie meinen, auch dieſe
Denkſchrift wird ohne Wirkung bleiben?“


„Man weiß, daß auch der alte General Blücher
deshalb vergebens an den König geſchrieben hat.“


„Und jetzt werden dieſe Denkſchrift die Prinzen
Wilhelm, Heinrich, Louis Ferdinand, Rüchel und
ich unterzeichnen. Damit keiner meiner Freunde mir
vorwirft, daß ſie in der Hitze und Galle auf's Pa¬
pier geworfen iſt, wird Johannes Müller ſie vor der
Unterſchrift überarbeiten. Wenn ſolche Namen zu¬
ſammenklingen, ſolche Männer die Arme verſchlingen,
ſolche Gründe ihm in's Ohr donnern, über welche
Zaubermacht müßten dieſe Wichte gebieten, wenn er
widerſtehen kann. — Hier iſt Müllers Concept. Er
ſchließt: „„Dieſes Cabinet, welches nach und nach
zwiſchen Eure Majeſtät und das Miniſterium ſich
eingedrungen hat, daß Jedermann weiß, was bei uns
[46] geſchieht, geſchehe nur und allein durch die drei oder
vier Männer, hat, beſonders in Staatsſachen, alles
und jedes Vertrauen längſt eingebüßt. Ja, Majeſtät,
die öffentliche Stimme redet fürchterlich deutlich und
beſtimmt von Beſtechung.““


„So wird er Ihnen entgegnen: Beweiſ't es!
Excellenz, dies eine Wort kann Alles verderben.
Können wir, kann irgend Einer den Beweis führen?
Ja, die Hand auf's Herz, kann einer dieſer Hoch¬
geſtellten und Gefeierten vor Gott die Betheuerung
ausſprechen: ich bin feſt überzeugt, daß franzöſiſches
Geld in ihren Taſchen klimpert! Haben wir nicht
vielmehr die moraliſche Ueberzeugung, daß ſie mehr
aus Indolenz, Eitelkeit, Dünkel, aus eigener Ueber¬
hebung, aus Schlaffheit und Faulheit im Denken,
ſich gegen das Vaterland verſündigen, als daß ſie
wirklich Verbrecher ſind!“


Der Miniſter machte, die Hände auf dem Rücken, die
Augen niederſchlagend, wieder ſeine Zimmerpromenade:


„Sie mögen Recht haben, Gott hat ſie nicht in
ſeinem Zorn erſchaffen, nur in ſeinem Mißmuth: daß,
zu unſerer Beſchämung, auch ſolches Gewürm herum¬
kriechen muß.“


„Vermöge ihrer zwei Beine müſſen ſie doch auf¬
recht gehen, und aufrecht gehend müſſen ſie die Augen
aufſchlagen, ſie müſſen ſehen, was vor ihnen iſt. In
Augenblicken, wo ſie aus ihrem wüſten Taumel er¬
wachen, müſſen ſie auch an den Richterſpruch der
Nachwelt denken.“


[47]

„Was kümmert dies Geſindel die Nachwelt!
Den Bauch vollgeſchlagen, die Taſchen gefüllt, ſo
weit es die Honettität erlaubt, das heißt die Rückſicht
vor den Leuten, mit denen ſie mal Lhombre ſpielen
können, und nach ihnen die Sündfluth!“


„Das Gefühl für Schimpf und Schande —“


„Prallt von den bunten Blechſchilden ab, voraus¬
geſetzt, daß ſie mit Gehalt, Penſionen, Güterſchen¬
kungen gefüttert ſind.“


„Excellenz, Lombard ſprudelt und ſpricht jetzt
nur Krieg, Luccheſini erklärt laut und offen, es ginge
nicht anders, Haugwitz läßt den Kopf hängen —“


„Weil ſie ſich vor'm Pöbel fürchten.“


„Kann der Strahl nicht auch in ihnen gezündet
haben?“


„Noch ein Optimiſt! Da walte Gott. Pack ſie
am Kragen und ſchmeiß ſie zur Thür hinaus, ſo
kommen ſie zur Hinterthür wieder hereingetänzelt und
fragen mit einem ſüßen Händedruck, es ſei doch wohl
nicht ernſt gemeint geweſen? Wirf ihnen einen Schur¬
ken in's Geſicht, ſo lächeln ſie über den liebenswür¬
digen Scherz. Was iſt ein Fußtritt in einen Plun¬
derhaufen! Sie wollen Miniſter bleiben, Geheim¬
räthe, weiter nichts, und ſie haben Recht. Was
wären ſie, wenn ſie es nicht ſind!“


„Und wenn dann doch eine innere Röthe der
Scham —“


„Wenn die einmal herauskommt, treten ſie vor
den Spiegel und liebäugeln mit ſich wie der Pha¬
[48] riſäer. Werfen ſich in die Bruſt, denn was ſie vor
ſich ſehen, iſt ja ein treuer Diener ihres Königs.
Das iſt der rechte bequeme Bettelmantel für dieſe
Menſchen. Wenn ſie etwas Dummes und Schlech¬
tes gemacht, was ſie vor Gott und Menſchen und
ſich ſelbſt nicht rechtfertigen können, haben ſie es nur
als treue Diener ihres Herrn gethan. Alles für ihren
König! Mag Land und Volk darüber untergehen,
wenn ſie nur hinter der Decke der treuen Dienerſchaft
ſalvirt ſind. Scham in dieſen Laquaienſeelen! Die
ſich nicht ſchämen, ihre eigenen Fehler und Sünden
dem aufzupacken, als deſſen Götzendiener ſie ſich an¬
ſtellen! Der, den ſie als das ſtrahlende Abbild gött¬
licher Majeſtät anpreiſen, als Kratzbürſte zu brauchen,
an der ihr Schmutz kleben bleibt! — O dies
Gezücht ſchämt ſich auch nicht, wenn es umſchlägt,
die Achſeln zu zücken und mit den Augen zu zwin¬
kern: Er wollte ja nicht anders, wir konnten nichts
thun! Wer ſeine eigene Menſchenwürde opfert, dem
iſt nichts heilig, er opfert Alles, zuletzt den Götzen
ſelbſt, wenn ein mächtigerer da iſt.“


Walter ſagte nach einer Pauſe: „Sind Eure
Excellenz überzeugt, daß Haugwitz auf ſeiner Reiſe
ohne Inſtructionen gehandelt hat?“


Der Miniſter faßte leicht ſeinen Rockzipfel: „Ein
König, mein Lieber, iſt ein Menſch, und ein Menſch
noch nicht ein Chamäleon, wenn die Meinungen in
ihm ſchwanken. Die Friedrich und Joſeph, die Lud¬
wig und Karle der Vorzeit ſind Ausnahmen. Die
[49] Mehrzahl der Fürſten ſind Menſchen wie wir. Das
Gute und das Böſe, das Richtige und das Falſche
rollirt in ihnen wie in einem Glücksrad. Da iſt es
Pflicht der gewiſſenhaften Räthe, den Augenblick
ergreifen, wo das Gute und Richtige oben liegt.
Da müſſen ſie das Rad ſtille halten, ſie müſſen es,
ſage ich, auf die Gefahr hin, daß es ſie ergreift und
zerdrückt. Trauen ſie ſich das nicht zu, ſollen ſie in
der Schreiberſtube bleiben, oder ihrem Ehrgeiz mit
Kammerherrnſchlüſſeln genügen laſſen. — Wer ſo
dreiſt iſt, da oben ſtehen zu wollen, hat vor Gott,
vor dem Volke, vor ſeinem König ſelber die Pflicht,
ihm dreiſt in's Geſicht zu ſehen. Nicht ſeine guten
Launen ſoll er belauſchen, um Gefälliges ſich und
Anderen zu wirken, ſeine ernſten Augenblicke ſoll er
ihm abſtehlen, und wollen ſie entfliehen, ſoll er ſie
feſthalten, mit eiſernem Händedruck, er darf die Run¬
zeln des Unmuths nicht ſehen, er ſoll den ſprudelnden
Zorn nicht achten. Es iſt ein anderer Zeuge dann
über ihm, über beiden ſteht ein anderer König, vor
dem der Purpur und die Staatsweisheit Plunder
ſind. — Und dringt er abſolut nicht durch, ſoll er
vor ſeinem Könige ſich neigen und ſprechen: „nimm
das Amt zurück, das noch rein iſt in meinen Händen!
Wehe dem, der ein leichter Gewiſſen hat, es zu be¬
flecken.“ Das iſt ein wahrhaft treuer Diener.
Die armen Könige, die keine Männer finden, nur
treue Diener wie dieſe hier! ſetzte der Miniſter mit
gedämpfter Stimme hinzu und trat, die Arme unter¬
V. 4[50] ſchlagend, an's Fenſter. — Die armen Könige! wie¬
derholte er! ich könnte ſie bedauern. Solche treue
Diener waren es, die die Throne unterhöhlt, Dy¬
naſtieen geſtürzt. Ein argliſtiger, böſer Staatsmann
hinterläßt Flecke; die kann man auswaſchen, aus¬
beizen. Ein Chamäleon, das von jedem Regenbogen¬
ſtrahl der königlichen Laune durchſchauert iſt, und ihn
in Reſcripten und Geſetzen austräufen läßt in alle
Adern des Landes und Volks, dem Flüchtigen den
Stempel der Autorität aufdrückend, der verdirbt die
Völker und die Monarchieen. Ich ſage Ihnen


Ein Geräuſch in der Ferne unterbrach ihn, zu¬
gleich brachte der Diener Licht. Es war Abend
geworden.

[[51]]

Drittes Kapitel.
Gewetzte Degen.

Der Lärm war ein wirres Stimmenmeer, unter¬
brochen von ſchallendem Gelächter. Ein ſchärferes
Ohr hätte das Klirren von Stahl herausgehört, aber
die Fenſter, die ringsum von Neugierigen aufgeſchla¬
gen wurden, ließen es nicht zu. Auch der Miniſter
öffnete einen Flügel:


„Wahrſcheinlich wieder ein Theaterfurore!“


„Die Schick ſpielt heut die Eliſabeth und die
Unzelmann die Maria Stuart, bemerkte Walter. Man
ſprach davon, daß es unter ihren Anhängern einen
Scandal geben könne.“


Der Miniſter blickte hinaus: „Ich ſehe Uni¬
formen, wenn ich nicht irre, Gensdarmen. — Der
Lärm kommt näher.“


Das Gelächter war jetzt mit lebhaften Huſſa's,
Bravo's und einem ſchrillen Pfeifen untermiſcht.


„Etwa noch eine Schlittenfahrt! Daß Gott er¬
barm, dieſe Menſchen lernen nichts.“


Eine Menſchenmaſſe wälzte ſich auf die Straße
4 *[52] zu, und die klappenden Hacken auf dem Pflaſter deu¬
teten auf ein Laufen. Eine Art Verfolgung mußte
ſein, aber die Verfolgten, wie immer Straßenjun¬
gen voran, jauchzten zugleich wie in einem Triumph¬
geſang.


„Die Sache wird ernſthafter. Sie möchten ſich
umſehn, Aſten, was es giebt.“


Die Dienerſchaft unten hatte ſich ſchon um¬
geſehen und der Haushofmeiſter kam eben mit einem
Rapport herauf, der von den Ausrufungen, die man
jetzt deutlich von der Straße hörte, unterſtützt ward.


Es war allerdings ein Straßenſcandal, doch
ernſterer Art. Viele junge Gensdarmen und Garde
du Corps waren von einem luſtigen Gelage in Char¬
lottenburg ſpät zurückgekehrt. Der Wein ſollte in
Strömen gefloſſen ſein. Gläſer klangen, zerbrachen,
einige waren ſogar durch die Fenſter geflogen. Es
galt aber weder der Schick noch der Unzelmann, ſon¬
dern den Franzoſen und Napoleon. Man hatte ſich
in einen Harniſch getrunken, geſungen und votirt.
Beim weiten Wege durch den nächtlichen Thier¬
garten war der Rauſch nicht verraucht, vielleicht hatte
der Anblick der Victoria auf dem Brandenburger
Thore ihn noch erhöht. Die Kühnſten vorauf waren
als Sieger durchgeſprengt. Wo es beſchloſſen wor¬
den, ob hier erſt, oder ſchon in Charlottenburg, weiß
man nicht. Plötzlich war man abgeſeſſen und nach
dem Hotel des franzöſiſchen Geſandten gezogen. Der
eigentliche Hergang ward verſchieden erzählt, man
[53] hatte Urſache, die Sache zu vertuſchen. Ob man
Spottweiſen angeſtimmt, was man ſchrie, welche
Reden man ſich gegen den Bevollmächtigten des
franzöſiſchen Kaiſers erlaubt, blieb unausgemacht,
aber junge Officiere hatten ihre Säbel gezogen, und
auf den Treppenſtufen zum Hotel gewetzt. Es konnte
im Dunkeln geſchehen. Weder die Sterne am Him¬
mel noch die ſpärliche Straßenbeleuchtung machten
die Uebermüthigen kenntlich. Aber plötzlich, wie durch
einen Zauberſchlag, wurde es im Hotel hell. Die
Fenſter, von denen man die Läden fortriß, glänzten
von ſo ſchnell angezündeten Kerzen, daß die Ver¬
muthung wenigſtens da war, der Ambaſſadeur habe,
wie von Allem, auch von dieſem Impromptu Wit¬
terung gehabt. Symbol für Symbol. Wir kündi¬
gen den Frieden, rief der Klang; ich nehme die Kün¬
digung an, antwortete der Lichterſchein. Uebrigens
blieb es todtenſtill im Haus, kein Kopf zeigte ſich
an den Fenſtern.


Die älteren und beſonneneren Officiere waren
bei dieſer unheimlichen Manifeſtation zurückgeſprun¬
gen, und hüllten ſich in ihre Mäntel. Nur einige
jüngere, in denen der Wein glühte, waren durch
den Lichtſchein, auch wohl durch die Acclamationen
des Straßenpublikums, das ſich in immer dichte¬
ren Schaaren ſammelte, noch mehr entzündet. Aber
während ihre geſchwungenen Pallaſche funkelten,
vernahmen andere ſchon deutlich Hufſchlag und in
der Scheide klirrende Säbel. War auch hier ein
[54] Verrath, eine Denunciation, eine geheime Sympathie
im Spiele? Die Thatſache war, im Gouvernements¬
gebäude mußte der Feldmarſchall Möllendorf, oder
wer ihn vertrat, wach geweſen ſein, denn Huſaren
und Polizeidiener ſprengten heran, um dem Unfug
zu ſteuern, die Thäter zu ergreifen.


Der Lärm wuchs. Die ſympathiſirenden Zu¬
ſchauer bildeten noch einen Wall gegen die andrin¬
gende Polizeimacht. Unter den beſonnenen Theil¬
nehmern an dem Abenteuer war die Gewiſſensfrage,
ob ſie für ihre Perſonen ſich in's Dunkel ſalviren,
und die jüngern Unbeſonnenen, die nichts von der
Gefahr ahnten, ihrem Schickſal überlaſſen ſollten,
oder ob ihre Pflicht erheiſche, ſie mit ihnen zu theilen?
Bei einem Rittmeiſter, den mittleren Jahren näher
als denen der Jugend, war der Entſchluß ſchnell
zum Durchbruch gekommen, denn aus dem Dunkel
der Bäume, wo er ſich den Mantel ſchon feſt umge¬
knöpft, ſprang er plötzlich zurück, umfaßte einen jün¬
gern Officier, der eben mit ſeiner Degenſpitze eine
Scheibe im Fenſter des Erdgeſchoſſes berührte — in
welcher Abſicht, wußte der junge Menſch nachher ſelbſt
nicht — und mit den Worten: „Fritz, biſt Du toll?“
ſchleuderte oder riß der ſtarke Mann ihn zurück.
Fritz ſchrie Worte, die vor jedem Gericht als Landes¬
verrath gelten mußten, der Rittmeiſter küßte ſie ihm
von den Lippen: „Ja, Fritz, wenn's losgeht, ſchla¬
gen wir ihn mit einander todt. Du nicht allein, Fritz,
Reſpect, ich bin Dein Onkel, Dein Chef, ich ſchlage
[55] mit. Aber jetzt, Ordre parirt! — Mäuschenſtill!“
Damit hatte er den eigenen Mantel losgeriſſen und
um die Schultern des Neffen geknöpft. Der Neffe
parirte auch, er ſchulterte, ein Gliedermann, aber in
der Hand den blanken Degen. — „Platz! Platz!“
riefen die Polizeimänner. — „Retten Sie ſich!“ rie¬
fen viele Stimmen aus den Gruppen; die Gruppen
machten diesmal Partie mit Offizieren und Junkern,
deren Uebermuth ſo oft doch ihre lauten Aeußerun¬
gen des Unwillens hervorgerufen hatte. Der Ritt¬
meiſter hatte raſch den Pallaſch ſeinem Neffen aus
der Hand geriſſen und ebenſo raſch hatten wohl¬
meinende Bürger den jungen Officier untergefaßt und
in's Gedränge geführt. Er war gerettet, aber ſein
Retter — in der leuchtenden Uniform, den blanken
Degen in der Hand!


„Da ſteht er!“ rief der Commandirende der Pa¬
trouille und meinte wohl damit denjenigen, den die
Reiter ſchon von fern geſehen mit der Degenſpitze an
den Fenſtern klirren. „Platz! Platz!“ Der Platz
aber war grade das, was fehlte, und wo er noch
war, trat die hülfreiche Straßenjugend ein, ihn zu
verſperren. Es war von je in ihrer Art, die
Polizei zu necken, und wir verſchwören nicht, daß
ſie der Patrouille falſche Weiſung gab, um ihren
Eifer vom geſuchten Ziele abzulenken.


Aber auch der Rittmeiſter fühlte ſich plötzlich
von einem Mann unter den Arm gefaßt und fort¬
geriſſen.


[56]

„Eilen Sie, ſchnell dort um die Ecke!“ rief
eine ihm nicht unbekannte Stimme.


Als ſie um die Ecke waren, und der Officier
einen Augenblick Athem ſchöpfte, erkannte er wohl in
dem Dienſtbefliſſenen den Sohn ſeines Freundes van
Aſten, der nur einen andern ihm früher erzeigten
Dienſt vergolten hatte; es überkamen ihn aber andre
Empfindungen, als die des Dankgefühls, indem er
den Schweiß von der Stirn wiſchte.


„Ein Officier darf doch nicht Reißaus nehmen!“


„Nicht vor dem Feinde, entgegnete Walter, aber
vor einem Scandal. Schnell fort, beſter Herr von
Dohleneck.“


Der Herr von Dohleneck, der, wenn auch nicht
ſo viel als ſein Neffe, doch auch viel des ſüßen Wei¬
nes getrunken hatte, erhob den blanken Degen in
die Luft: „Stehen oder fallen!“


„Gegen die Franzoſen, Rittmeiſter, nicht gegen
die Polizei.“


Er zog ihn weiter. Aber der Rittmeiſter blieb
wieder ſtehen. Er lehnte ſich an einen Brunnen.


„Das iſt ja eine verfluchte Geſchichte —“


„Die noch übler werden kann. Eine Verhöh¬
nung des Geſandten, eine Verletzung des Völker¬
rechtes. Um Gotteswillen kommen Sie, ſchnell —
weiter. — Werfen Sie den Degen fort!“


„Ein Stier von Dohleneck ſeinen Degen fort¬
werfen! — Wer ſagt das!“


„Es iſt ja nicht Ihr Degen. Ein fremder
[57] Pallaſch, den Sie einem Ruheſtörer aus der Hand
riſſen. Ihr Degen ſteckt ruhig in der Scheide. —
Ich will's bezeugen, wenn's zum Schlimmſten kommt.
Sie wollten nur Ordnung herſtellen, Sie haben
Ihren Degen nicht gewetzt. — Aber es darf nicht
zum Schlimmen kommen. Es könnte ſehr ſchlimm
werden, außerordentlich ſchlimm, Herr von Dohleneck.“


Der Herr von Dohleneck hatte den eiſernen
Schwengel des Brunnens mit dem Arm umfaßt, in
deſſen Hand der blanke Degen hing, während er mit
der andern ſich wie ein Irrer immerfort über die
Stirn ſtrich. Ein Meer von Gedanken mochte auf¬
tauchen; oder verſenkte ſich ſein Sinn in den Keſſel
des Brunnens, und ſtieg in ihm der begreifliche
Wunſch auf, daß die kühlen Quellwaſſer ihn und
ſeine Gedanken überrieſelten!


„Hol' mich der und jener, das iſt ja grade eine
Geſchichte wie damals bei der Schlittenfahrt — “


„Schlimmer, drängte Walter; damals profanir¬
ten Sie Luther, der es Ihnen gewiß vergeben hat,
heut Bonaparte, der es nie vergiebt, nicht Ihnen,
nicht uns, nicht dem Könige.“


„Der König auch nicht! rief der Rittmeiſter.
Ach Gott, ich bin ja Katharina von Bora.“


„Beſinnen Sie ſich.“


„Nein — richtig — ich war nur ihr Kammer¬
mädchen. Das iſt alles eins. Wenn er's erfährt,
bin ich caſſirt.“


„Theuerſter Herr von Dohleneck, ich wünſchte,
[58] die Weihe der Kraft überkäme Sie, und Sie be¬
ſchleunigten Ihre Schritte.“


Dabei blickte ſich Walter um, ob nicht irgendwo
eine Hausthür ſich öffne, in die er ſeinen Begleiter
ſchieben könnte. Aber es war eine ruhige Straße,
man hatte mit der Bürgerglocke geſchloſſen. Nur an
den erhellten obern Fenſtern blickten Neugierige her¬
aus. Es war nicht der aufſteigende Weingeiſt, der
ſchwarze Bilder vor Dohlenecks Hirn malte. Jene
berüchtigte Schlittenfahrt der Gensdarmenofficiere,
in der ſie Luther, Katharina von Bora und deren
Kloſterconvictualinnen in ſehr frivoler Nebenbedeu¬
tung dargeſtellt, ein Ereigniß, das ganz Berlin in
Aufruhr gebracht, hatte den langmüthigſten König
auf's Empfindlichſte gereizt; ſein eigner Wille war
diesmal durchgedrungen, und wenn die Thäter auch
nicht ſo geſtraft wurden, wie er für angemeſſen hielt,
wurden doch die Urheber des Unfugs geſtraft, ſeit
langer Zeit ein Ereigniß, was noch mehr überraſchte,
noch mehr von ſich ſprechen machte, als der tolle
Streich ſelbſt. Es brauchte nicht der Erklärung, die
man verſucht hatte, daß dieſer oder jener Miniſter,
oder ihre Frauen, eine Pique gegen einen oder den
andern der Officiere gehabt, es war der religiöſe
Sinn des Monarchen, der die Profanation rächte.
Man wußte auch ſchon, daß er derartige Kränkungen
nicht vergaß, und die, welche damals der Strafe ent¬
gangen waren, blieben doch in ſeinem vortrefflichen
Gedächtniß notirt.


[59]

Alles das wußte der Rittmeiſter von Dohleneck;
oder vielmehr, es trat jetzt vor ſeine Seele, wie ein
Zauberkünſtler auf ſchwarzem Grunde plötzlich die
bunten Bilder der Erinnerung vor dem Auge auf¬
rollen läßt. Der Wein, der zur Taube, zum Tiger,
zum Bären verwandelt, war der Magier. Es war
in dem Rittmeiſter Alles klar. Aber es ſtand keine
Thräne in ſeinem Auge, er ſprang nicht auf zu einem
wilden Satze, er brummte auch nicht mit geſchloſſe¬
nen Zähnen. Der Wein übt noch eine vierte Macht,
er ſenkt die ſüße Schwermuth über die Seele ſeines
Opfers, die Schwermuth, welche auch über den Glück¬
lichen wie ein feuchter Nebel ſich lagert, Balſam der
heißen Bruſt.


Der Rittmeiſter von Dohleneck wollte einmal
Philoſophie ſtudiren. Wir zweifeln, daß er den Vor¬
ſatz ausgeführt hat, aber in ſeiner Bruſt mußte ſich
etwas von dem Stoicismus regen, der in großen
Kataſtrophen den Schwachen ſtark, den Gedanken¬
loſen zum Denker macht. Er blieb plötzlich auf dem
Damme ſtehen, unbekümmert um den bekümmerten
Blick, den Walter nach dem andern Ende der Straße
richtete. Auch von hier kam eine Patrouille ihnen
entgegen. Er drückte die freie Hand an die Bruſt:


„Wozu ſtrampeln gegen das, was man nicht
ändert! Das Fatum! Nun weiß ich's. — Ob's der
Teufel iſt, das weiß ich nicht, aber es iſt was,
worüber ein ehrlicher Kerl nicht weg kann. Man
möchte nicht, aber es packt Einen — Schulden, Liebe,
[60] Scandale — der Strick ſitzt feſt, eh' man ihn merkt,
und nun will ich hängen. — Ein Stier von Doh¬
leneck flieht nicht. Mögen ſie mich fangen und bra¬
ten, hier bin ich. 'S iſt nun mal ſo.“


„Aber wollen Sie auf die Feſtung, derweil
Ihre Kameraden die Franzoſen ſchlagen? — Ritt¬
meiſter von Dohleneck, jetzt ſich gefangen geben, jetzt
ſich caſſiren laſſen, wo der Krieg vor der Thür ſteht —
Sie haben ihn erklärt — jetzt, jetzt, bedenken Sie,
Ihre Officiersehre ſteht auf dem Spiel — jetzt iſt
es Ihre Pflicht und Schuldigkeit, Sie müſſen ſich
Ihrer Ehre, dem Staate retten — Sie müſſen —“


Dohleneck ſchien es einzuſehen — das Fatum
hatte ihn wieder umgeworfen. Er mußte ſich retten
— aber wie?


Da rollte eine Equipage vorüber, von links und
rechts, von beiden Seiten der Straße zeigten ſich be¬
rittene Piquets. Das Halt! welches Walter dem
Kutſcher zurief, hatte eine glückliche Wirkung. Das
war ein Moment. Im zweiten hatte er den Kutſchen¬
ſchlag aufgeriſſen. Es ſaß nur eine Dame darin.
Walter rief hinein: „Wer Sie auch ſind, es gilt,
einen Verfolgten retten. Kein Widerſpruch, kein Laut!“


Man wird ſich nicht wundern, wenn die Dame,
trotz des kategoriſchen Befehls, ihm nicht ganz nach¬
kam, denn welche Dame in gleicher Lage mit der
Baronin Eitelbach erſchräke nicht, wenn auf ſolche
Anmeldung ein Officier mit blankem Degen ohne
ein Wort, ohne einen Laut zu ihr in den Wagen
[61] ſpringt. Sie ſchrie auf: „Herr Jeſus, was iſt das!“
— Das folgende: „Er bringt mich um!“ erſtickte
aber ſchon auf ihren Lippen, als von denen des
Officiers unter einem ſchweren Seufzer zuerſt ein
Fluch hervorbrach, dann die Worte: „Ich kann nicht
dafür!“ Sie mochte die Stimme früher erkannt ha¬
ben als den Mann, der auf den Rückſitz — halb
ſank er hin, halb warf er ſich. Der Degen rollte
aus ſeiner Hand. Die Baronin fing ihn auf; er
war ſcharf — natürlich, er war gewetzt, und an den
Sandſteinſtufen des franzöſiſchen Geſandten! — und ſie
verwundete ihre Finger. — Nach Hauſe — das ſchicken
wir hier vorauf — kam ſie, die Hand umwunden
mit ihrem Batiſttuch. Ob ſie ſich ſelbſt verbunden,
ob der Rittmeiſter den Chirurg geſpielt, darüber ſchwei¬
gen unſre beglaubigten Nachrichten.


Das war der zweite Moment geweſen. Im
dritten hatte Walter den Wagenſchlag zugeworfen
und dem Kutſcher zugerufen: „Nun zugefahren, was
das Zeug hält!“ Der Kutſcher gehorchte pünktlicher
als ſeine Herrin dem kategoriſchen Befehl und der
Wagen kam unangefochten durch das Polizeipiquet.


Nicht ſo ganz unangefochten kam Walter ſelbſt da¬
von. Das Huſarenpiquet, welches eben um die Ecke
ſchwenkte, als der Wagen abfuhr, ſchien Miene zu machen
ihm nachzuſetzen. Der Commandirende, welcher unſern
Freund zu kennen ſchien, ſalutirte ihm ſchon von fern
leicht mit dem Säbel, um die Frage einzuleiten: ob
nicht ein Militair in die Kutſche geſprungen ſei?


[62]

„Der Schlag ward geöffnet, entgegnete Walter,
und die darin ſitzende Dame nahm, wenn ich nicht
irre, einen Bekannten auf.“


„Ein Officier mit blankem Degen?“


„Der Degen, wenn ich recht verſtand, war mit
den Fenſterſcheiben des Herrn von Laforeſt in Berüh¬
rung gekommen.“


„Cornet Wolfskehl, rief der eine Huſarenofficier.
Sagt ich's nicht!“


„Ich laſſe mich nicht täuſchen, erwiederte der
Commandirende, das war Dohlenecks Statur. Sie
müſſen ihn ja kennen, Herr van Aſten?“


„Sollte der Rittmeiſter ſo jugendlicher Tollheit
zugänglich ſein! Es war zu dunkel. Aber, meine
Herren, da entſinne ich mich ja, der Rittmeiſter war
heut zu Excellenz Schulenburg auf eine Lhombrepartie
eingeladen, Excellenz Blüchers wegen. War Lom¬
bard oder Herr Crelinger der Vierte, darüber bin ich
nicht recht gewiß, aber — warten Sie, — es wird
mir gleich einfallen —“


Der Commandirende lächelte: „Wir danken für
den Avis.“ — „Cornet Wolfskehl wird wohl zu fan¬
gen ſein,“ meinte der Zweite.


Die Huſaren ſprengten ihrer voraufgeeilten Pa¬
trouille nach. Wir verſchwören nicht, daß in ihrer
Verhandlung mit dem Miniſterialſecretair nicht die
wohlmeinende Abſicht mitgeſpielt hat, dem Verfolgten
Zeit zu laſſen.


Der Wagen der Baronin Eitelbach entging glück¬
[63] lich der Polizei und den Huſaren, und als er vor
dem Hauſe der Madame Braunbiegler hielt, war
nichts Gefährliches paſſirt, als daß eine Scheibe im
Kutſchenſchlage — wahrſcheinlich durch einen zufälligen
Ellenbogenſtoß — entzwei gegangen war. Auch hatte
ſich ſeltſamer Weiſe ein Fußgänger, nach einer Ver¬
ſtändigung mit dem Kutſcher, zu ihm auf den Bock
geſetzt. Dieſer war, ſchneller als der Kutſcher herab¬
geſprungen, bereits verſchwunden, als letzterer ſich
langſam heruntermachte, um, in Ermangelung eines
Bedienten, den Wagen zu öffnen. Ehe das geſchah,
hatte ſich aber die Wagenthür gegenüber ſchon von
ſelbſt geöffnet und der Rittmeiſter war nach einem
langen, zärtlichen Kuß auf die Hand der Baronin
entſchlüpft.


Die Eitelbach war nie ſo langſam als heute
die Treppe zu einer Geſellſchaft hinaufgeſtiegen. Auch
im Vorzimmer hatte ſie noch ſo viel mit ihrer Toi¬
lette zu thun. Ein Glück, daß die große Geſellſchaft,
welche ſich noch ſpät bei der Braunbiegler verſam¬
melt, mit andern Dingen beſchäftigt war, um auf
ihre Verlegenheit Acht geben zu können. Dieſe Ver¬
legenheit hätte ſich eigentlich noch um ein Bedeuten¬
des ſteigern müſſen, als die Wirthin ihr mit dem
Bedauern entgegen kam, daß ſie ihre Hand an der
Fenſterſcheibe verwundet habe, ſie hoffe, es werde
doch nicht üble Folgen haben. Die Wirthin hatte
nicht Zeit, ihr Erröthen zu bemerken, ſie hatte über¬
haupt in dem Gewirr nicht Zeit für einen einzelnen
[64] Gaſt. Auch Andere, die an ihr vorüber ſtreiften, be¬
klagten die ſchöne Hand. „Es wird aber gewiß nichts
auf ſich haben.“ Wußte denn Jeder nicht nur die
Thatſache, ſondern ſchon das Mährchen, was ſie
ſich künſtlich zurecht gelegt, um die Wahrheit verber¬
gen zu dürfen? — Von wem hatten ſie's erfahren?
— Gott ſei Dank, daß ſie wenigſtens das nicht ge¬
hört, von dem nichts wußten, was — es war das
erſte Geheimniß, was ſie unter ihrer pochenden Bruſt
verbarg. Die Bruſt blutete vielleicht heftiger als
die Hand.


In ſolchen Stimmungen kann eine große Ge¬
ſellſchaft, wo Keiner Zeit und Raum hat auf den An¬
dern Acht zu geben, zur Wohlthat für ein geängſtetes
Gemüth werden. Ein Hofmann hätte es eine ge¬
miſchte genannt, ſie beſtand mehr aus den Optimaten
des Reichthums als der Geburt. Der Reichthum
hing von den Decken als Kronenleuchter, Armleuch¬
ter, Feſtons, Seiden- und Damaſtgardinen; er laſtete
in den Aufſätzen der Niſchen und Ecktiſche, in den
Teppichen auf dem Boden, vor allem auf und an
der Wirthin. Zum Schildern iſt nicht mehr Zeit.
Die Juwelen, Ketten, Ringe, Aufſätze‚ die Madame
Braunbiegler vom Wirbel bis zum Gürtel, von den
Schultern bis zu den Fingerſpitzen trug, waren in
Berlin ſprüchwörtlich. Reichthum, überall, wohin man
ſah, nicht ausgebreitet, ſondern aufgeſchichtet, laſtend,
prahleriſch, ohne Geſchmack. In ſolchen Kreiſen
pflegt die Unterhaltung der Lebendigen, Hauch,
[65] der über eine Geſellſchaft hinfliegen ſoll, den Wider¬
ſchein und Abdruck des Apparates anzunehmen.


Der Patriotismus hier war anderer Schattirung,
als der, welcher den Scheiben des franzöſiſchen Ge¬
ſandten gedroht. Das große Ereigniß, welches die
Straßen, die höheren Kreiſe heut Abend in Bewe¬
gung verſetzt, die diplomatiſchen in Entſetzen, hatte
weniger Wirkung hervorgebracht. Man betrachtete
den Krieg als etwas Ausgemachtes, Nothwendiges,
die Dehors deſſelben kümmerten die Anweſenden we¬
niger. Nur die jüngern Leute verſuchten in einer
Nebenſtube am Klavier die ſechs neuen eben erſchie¬
nenen Kriegslieder, componirt von Helwig, zu ſingen.
Allgemeinſten Beifall erndtete aber das Kriegslied
der Preußen von Karl Müchler, componirt von Mappes:
„Endlich tönt der Ruf der Luſt!“


Aber es war ein anderer, näher liegender Ge¬
genſtand, der die practiſchen Leute beſchäftigte. Geſtern
war eine Frage entſchieden, die ſchon Wochen lang
die Gemüther beſchäftigt hatte: ob die Infanteriſten
Mäntel haben müßten? Es war eine Frage gewe¬
ſen, ſo wichtig, ſo ernſt behandelt und ſo lebhaft als
irgend eine, welche zuweilen als Rieſenſchlange durch
alle Geſellſchaften in Berlin, von den Spitzen der
Thürme bis in die Winkel der Kellerwohnungen ſich
gewunden und dort ihre Streiter gefunden hat. Fra¬
gen wie die, ob das neue Jahrhundert um Mitter¬
nacht zu 1800 oder zu 1801 gefeiert werden müſſe,
ob Fleck oder Iffland ein größerer Schauſpieler,
V. 5[66] Friedrich oder Napoleon ein größerer Feldherr ge¬
weſen?


Es war eine ungeheure Neuerung, das geſtand
ſich Jeder, Vielen ſchien ſie gefährlich, weil den Fran¬
zoſen nachgebildet. Ja, ein Huſar, ohne Mantel ge¬
dacht, war kein Huſar mehr; aber was blieb er noch,
wenn auch Musketiere, Füſiliere, Grenadiere Män¬
tel erhielten! Der Unterſchied von Cavallerie und
Infanterie ſchien über den Haufen geworfen, ein ſo
unüberſehbarer Eingriff in die beſtehende Ordnung,
als heute Vielen eine Gemeindeordnung bedünkt, die
den Unterſchied von Stadt und Land aufbebt. Frie¬
drich hatte mit einer Infanterie ohne Mäntel geſiegt,
er mußte doch wiſſen, warum es ſo beſſer war. Ein
guter Soldat muß nicht frieren, wenn ſein König
befiehlt, daß er warm iſt. Aber die Neuerer hatten
eingewandt, daß auch der Infanteriſt ein Menſch iſt,
und daß jeder Menſch friert, wenn es kalt iſt, daß der
Regen den einen durchnäßt wie den andern, daß der
Krieg ſeit Friedrich eine andere Façon angenommen, daß
Napoleon die Wintercantonirungen nicht mehr reſpectire,
daß er ſeine Feinde zu Winterfeldzügen nöthigte.


Die Mäntelpartei hatte geſiegt. Geſtern hatte
ein Erlaß der Geheimen Ober-Finanz-, Kriegs- und
Domainen-Direction das Publikum davon avertirt:
wie Seine Majeſtät, der König, ſchon längſt darauf Be¬
dacht genommen, daß der Soldat im Kriege nicht
frieren dürfe, und wie es Seiner Majeſtät Wunſch
ſei, daß alle ſeine braven Krieger eine wärmere
[67] Winterbekleidung erhielten, namentlich die Infanterie
Mäntel mit Aermeln, die Cavallerie wollene Unter¬
hoſen. Da aber ſelbige aus allgemeinen Mitteln zu
beſchaffen in gegenwärtiger Zeit auf mannigfache
Schwierigkeiten ſtoße, ſo werde die Bereitwilligkeit
der Nation angerufen, das Unternehmen des gelieb¬
ten Landesvaters zu unterſtützen und ihren warmen
Patriotismus durch die That zu bewähren.


Mäntel! war das Looſungswort durch die Stadt,
im Civil, wählend das Militair nur Krieg wollte,
mit oder ohne Mäntel. Zum erſten Mal war das
Publikum aufgerufen, ein großes Werk des Allge¬
meinwohls zu unterſtützen, ja die Initiative war
ihm in die Hand gegeben. Wen darf es wundern,
wenn es umher brauſte und ſchwirrte, eine Thätig¬
keit ſich entwickelte, die ſich ſelbſt hemmte und ver¬
wirrte. Der Staat hatte bisher für Alles geſorgt,
nun ſollte der Bürger nicht allein für ſich, auch für
den Staat ſorgen! Commiſſionen und Ausſchüſſe zu
bilden, wo ſollte man gelernt haben, was ſich jetzt
von ſelbſt macht! Der Magiſtrat, der es in die Hand
genommen, fand dafür kein ander Mittel als eine
Subſcription, die von Stadtverordneten Haus für
Haus umhergetragen werden ſollte. Das war ein
langer Weg. Aber nun fühlte ſich Jeder berufen, auf
ſeine Hand es in die Hand zu nehmen; die Rähte¬
rinnen und die Geheimräthinnen, auf den Kanzeln
und in den Werkſtuben, im Theater und in den
Weinhäuſern, auch in andern Häuſern, es war überall
5*[68] nur ein Wort, überall wollte man helfen, noch lie¬
ber Rathſchläge geben, wie man helfen könne.


In der Geſellſchaft der Braunbiegler hatte die
Sache noch eine andere Seite. Auf dem Conto
Debet ſtand Patriotismus und Tuch. Was Madame
Braunbiegler gezeichnet, konnte man auf ihrem ſtrah¬
lenden Geſichte faſt in Zahlen leſen. Die Dame ſelbſt
wog mit ihrem treffenden Blicke die Gäſte ab; auch
ſie las auf jedem Geſichte, wie viel iſt der Mann
werth? Wie viel hätte er zeichnen müſſen? Wie viel
hat er zu wenig gezeichnet? Wie viel zu viel, um ſich
höher zu ſtellen? Endlich — wie tief ſtehen ſie alle
unter dir!


Ihr zunächſt mußte der Baron Eitelbach ſtehen.
War er doch ihr Compagnon! — Aber er ſtand nicht,
er ging, er flankirte mit ſeinem ſtrahlenden Geſicht
durch die Gruppen.


„Was ſagen Sie nun dazu, Kapellmeiſter? Ha¬
ben die Deutſchen keinen Patriotismus nicht, Herr
Righini?“


„C'est étonnant! erwiderte der Angeredete. Selbſt
meine Waſchfrau präſentirte mir einen Subſcriptions-
Zettel.“


„Pfui! Das finde ich eigentlich abſcheulich. Wenn
die Populace ſich erſt mit etwas befaßt, dann, muß
ich geſtehen, faß ich's ungern noch an!“


„Der Geiſt der Zeit!“ ſagte ein Dritter.


„Was iſt das?“ fragte der Baron.


„Ein Buch, was eben erſchienen iſt, bemerkte
[69] ein Vierter, von einem gewiſſen Moritz Arndt. Es
macht viel Aufſehen.“


„Mir unbekannt!“ ſagte der Baron und ließ
ſeine Lorgnette umherblitzen.


Der Vorige bemerkte, daß der eben neu aus¬
gegebene Preußiſche Staatsanzeiger auf das Buch
aufmerkſam mache.


„Was ſteht denn in den Zeitungen? Ich habe
wirklich nicht Zeit, ſie zu leſen.“


„Der Kaiſer Napoleon iſt in Mainz angekom¬
men. Sie ſchreiben, er ſähe magerer und blaſſer
aus als ſonſt, übrigens in vollkommener Geſundheit.“


„Gar nichts Intereſſantes?“


„In Neapel iſt der berüchtigte Räuberhauptmann
Fra Diavolo in Ketten eingebracht worden. Er iſt
wahrſcheinlich jetzt ſchon erſchoſſen.“


„Ah! Compagnon von Rinaldo Rinaldini,
Abälino, Righini etcetera. Der Baron legte mit
anmuthiger Schalkheit ſeine Hand auf die Schulter
des Kapellmeiſters. Der Wahrheit die Ehre, Ihr
Vaterland liefert uns immer die intereſſanteſten Räu¬
berhauptleute, ſtupende Kapellmeiſter und die ſchönſten
Sängerinnen. A propos, wie heißt denn die, die in
Paris jetzt Furore macht?“


„Catalani — man ſchreibt eben, daß der Kaiſer
ihr eine Penſion von 1200 Francs ausgeſetzt hat.“


„Hab's geleſen — ja, ich hab's ſelbſt geleſen.
Man muß die Künſte protegiren, das iſt nobel. —
Die Schmalz ſang auch admirabel, muß man ihr
[70] laſſen — ah, eine Kunſt und eine Stimme! Iſt
jetzt in Italien. Wenn ſie nur hübſcher wäre! —
Es geht nichts über Kunſt, ſag' ich Ihnen. — Neu¬
lich: Beſchämte Eiferſucht! — Was geht mich das
Stück an? — Aber die Mebus! Zum Küſſen, ſag'
ich Ihnen. — Und Mattauſch — iſt nicht mein Mann —
aber die Damen — Göttlich! göttlich! und die Tücher
vor den Augen. — Iffland kam gar nicht gegen ihn
auf. „„Berlin ſah ſeinen Iffland wieder,““ ſteht's
in der Zeitung — ja, 's ſteht Manches in der Zei¬
tung, was doch nicht ſo iſt. Aber Iffland, à la
bonne heure
, halten Sie ihn nicht auch für einen
denkenden Künſtler, Herr General-Stabsarzt?“


Der Angeredete verneigte ſich nur ſchweigend.


„Sehn Sie, das hab' ich immer geſagt, wo
Iffland nicht ſpricht, weiß man ſogar, was er denkt.
A propos, wiſſen Sie denn von der Eigenſatz? —
Geht nach Wien —“


Der Zuſatz ward nur hinter der Hand einem
der Glücklichen ins Ohr geflüſtert. Der Baron be¬
glückte längſt andre Gruppen mit ſeiner erheiternden
Gegenwart, als das ſtille Gelächter im Kreiſe, den
er verlaſſen, den Umlauf machte.


„A propos, ma belle! rief der witzige Baron,
als er ſeine Gattin zu Geſicht bekam, was iſt denn
das für ein Kutſchenfenſterſcheibengeſtoße? Denkſt
Du, Glas koſtet kein Geld? Werde die Thüren mit
Brettern vernageln laſſen, profit tout clair! Dann
ſieht auch Keiner, mit wem Du drin ſitzeſt.“


[71]

„Du weißt — ?“ Ihre weißen Perlenzähne
ſtarrten ihn an.


„Ziert ſich, weil er ihr den ſchönen Arm küſſen
will, und ſtößt darüber die Scheibe ein.“


Ihre Perlenzähne verſchloſſen ſich, aber ihre
ſchönen Augen wurden größer.


„Mir ſchenkt man reinen Wein.“


Jetzt erſt platzte das „Um Gotteswillen, wer?“
heraus.


„Wer anders als der Legationsrath! Was war's
denn nun, daß er zu Dir in die Kutſche ſprang?
Muß man ſich darum ſo haben!“


„Der Legationsrath?“


„Iſt ein geſcheiter Mann und wird nicht
plaudern.“


„Du kannſt ihn ja aber nicht ausſtehn.“


„Man kann Viele nicht ausſtehn, ma chère,
und trinkt doch mit ihnen Brüderſchaft.“


In ſprachloſem Erſtaunen ſah die Baronin ihn
an. „Ma chère, verſtehe mich. Die Sache iſt ganz
ſimpel. Wandel reitet mit Achten vorgeſpannt in's
Herz der Braunbiegler. — Wenn's zum Klappen
kommt, wird ſie — den Teufel — ſo dumm ſein
und einſchlagen. Aber 's iſt doch die Möglichkeit,
wer kennt die Weiberherzen. — Und ein ſolcher Com¬
pagnon in's Geſchäft, na, da gratulire ich! Alſo —“


„Was denn?“


„Um's kurz und klein zu machen, laß Dir von
ihm die Cour machen, ſo viel er Luſt hat, und
[72] wenn er zu Dir in den Wagen ſpringt, ſchrei
nicht auf.“


„Der Legationsrath!“ Weiter wußte die ſchöne
Frau nichts zu ſagen, denn der Legationsrath ſtand
vor ihnen. Es ging zur Tafel. Der Baron legte
den Arm ſeiner Frau in den des Rathes: „Sie
ſchmachtet nach Ihrer Unterhaltung. Sein Sie lie¬
benswürdig, ſo viel Sie können, es wird Niemand
eiferſüchtig —“


In ſich lachend, ſetzte er hinzu: — „außer wer
es ſoll!“


Das Opfer ging neben dem, dem ſie geopfert
ſchien. So roh, widerwärtig, war ihr Gatte ihr nie
vorgekommen. Wandel ging im würdigſten Ernſt.
Er ſprach Gleichgültiges, unbefangen. So war er
bei Tiſch der liebenswürdigſte Nachbar, aber ſein Ge¬
ſpräch, ſeine Erzählungen waren für Alle, ſie mu߬
ten Jeden intereſſiren. Der Baron hatte ſeine Ab¬
ſicht nicht erreicht, die Braunbiegler ward nicht eifer¬
ſüchtig, die Baronin aber ſaß auf Kohlen.


Nachher kam ein Moment, um mit Wandel, in
eine Fenſterniſche von den Aufbrechenden zurück¬
gedrängt, unbemerkt ein kurzes Geſpräch zu pflegen.


„Um Gotteswillen, was iſt das?“


Wandel antwortete, mit der Quaſte der Gar¬
dine ſpielend, als unterhalte er ſich mit ſeiner Dame
über irgend eine Trivialität:


„Sein Sie unbeſorgt. — Ich bin, ich bleibe
der Wächter Ihrer Ehre — der Kutſcher iſt von mir
[73] gewonnen; es wird noch Alles gut werden, wenn
Sie ſich nicht ſelbſt verrathen.“


„Mein Gott, Herr von Wandel, wie komme ich
dazu!“


„Still! Ich beſchwöre Sie, nur keine Emotion!
Sie haben ſich beherrſcht, ich habe Sie bewundert.
Fahren Sie ſo fort. In meiner Bruſt ruht Ihr Geheim¬
niß wie im Schooß der Erde — vertrauen Sie mir — “


„Aber, lieber Gott, wenn ich's recht bedenke,
was iſt es denn eigentlich —“


„Denken Sie nicht, um Gotteswillen, denken
Sie jetzt nicht. Dem Reinen iſt Alles rein, aber —
wer iſt vor dieſen rein? Ein Rendezvous in der
Kutſche — bei Nachtzeit — Ihre verwundete Hand!
— die zerſchlagene Scheibe — die Lüge! O ver¬
zeihen Sie, ich rede nur, was dieſe reden würden.
Gräßlich, wenn Auguſte morgen der Gegenſtand des
Stadtgeſprächs — Nein, nimmermehr! Denken Sie
nicht, Sie ſind in Agitation — laſſen Sie jetzt Andre
für ſich denken, die ruhiger ſind, die wenigſtens ruhi¬
ger ſcheinen,“ ſetzte er ſeufzend hinzu.


Sie reichte ihm bewegt die Hand: „Sie meinen
es gut.“


„Gnädige Frau, ſagte er, reſpectvoll zurücktre¬
tend, Mancher iſt doch beſſer, als man glaubt.“


„Charmant! ſagte der hinzutretende Baron, um
ſeine Frau fortzuführen. Continuiren Sie, Herr Le¬
gationsrath, noch bin ich nicht eiferſüchtig. Aber was
nicht iſt, kann noch werden.“

[[74]]

Viertes Kapitel.
Nur eine Kleinigkeit.

Es war ſchon Nacht, als Walter mit ſeinen Er¬
kundigungen in das Hotel des Miniſters zurückkehrte.


Es waren inzwiſchen noch mehr Nachrichten ein¬
gegangen, geeignet die ernſte Stimmung des Staats¬
mannes zu erhöhen. Seine Gereiztheit hatte aber
einer klaren Ruhe Platz gemacht, gleich wie das
Dunſtgewölk draußen einem ſternenklaren Himmel,
das Geräuſch des Abends einer tiefen Stille ge¬
wichen war. Nur aus entfernten Gärten und Ta¬
bagieen ſchallte noch eine dumpfe Muſik.


Depeſchen wichtigen Inhalts waren dem Miniſter
communicirt worden: Napoleon hatte endlich officiell
dem Berliner Cabinet die Stiftung des Rheinbundes
notificirt mit einer formellen Aufforderung, dieſer
Conföderation zum Wohl des geſammten Deutſchlands
beizutreten. Ein bittrerer diplomatiſcher Hohn ließ
ſich kaum denken. Eben als Laforeſt von ſeiner Mel¬
dung zurückgekehrt, hatte er die Serenade der Gens¬
darmen empfangen!


[75]

„Das iſt ein reiner Zufall!“ war Walters
Meinung.


„Wenn nun die ganze Weltgeſchichte Zufällig¬
keiten wären, die unſer grübelnder Verſtand zu einer
Kette von Nothwendigkeiten verſchlingt!“


Walter meinte, daß Laforeſt zu verſtändig ſei,
eine Inſulte trunkener Jünglinge anders zu be¬
trachten, als ſie war.


„Gewiß, hatte der Freiherr erwidert, Napoleon
wird um dieſer Albernheit willen keine Stunde früher
losſchlagen, als ſeine Abſicht iſt. Aber eben, weil
wir und er noch nicht gerüſtet ſind, weil wir beide
die Maske der Freundlichkeit noch nicht abwerfen
dürfen, zu welchen Lügen zwingt uns abermals die
Unbeſonnenheit! Man muß die jungen Leute härter
ſtrafen, als nöthig. Hardenberg muß wieder mit
ſüßſchwellenden Lippen Betheuerungen unſerer freund¬
ſchaftlichen Geſinnung machen. Das iſt der Fluch
unſerer Gedankenloſigkeit, ſetzte er hinzu, des Alles¬
gehenlaſſens, daß ſich Zuſtände, Stimmungen ent¬
wickeln, die naturgemäß heraus müſſen; wir ließen
ſie zu, wir nährten ſie ſogar, und wenn es zur Ex¬
ploſion kommt, erſchrecken wir, ſtehen rathlos, und
möchten mit Keulen das Kind zurückſchlagen, das
aus der Mutter Leibe will.“


Der Miniſter ſtand wieder am offenen Fenſter.
Athmete er die friſche Herbſtluft ein, oder verfolgte
ſein Auge das ſternenbeſäete Firmament? Zuweilen
ſchien er auf die Blaſeinſtrumente zu horchen, deren
[76] Töne der Luftzug ſtärker herantrug. Es war immer
der Deſſauer Marſch.


„Der alte Deſſauer ſang ja auch, wohl die
Kirchenlieder nach der Weiſe! — Es iſt Alles hier
eine Weiſe. Das iſt's, was den Muth dämpft.“


Walter meinte, in Anſichten ſei doch eine Muſter¬
karte vorhanden.


„Nein, die Uniform iſt in's Blut gedrungen.
Das iſt's! Das iſt das Uebel. Ein König war ein¬
mal ein Wütherich der Sitte, da wurde das Volk puri¬
taniſch, ein anderer ein Freidenker, da wurden ſie
Freigeiſter. Dann Libertins, zur Abwechſelung Träu¬
mer, magnetiſch verzückt, Geiſterſeher. Aus Ueberdruß
auch wieder tugendhaft, häuslich. Sie wären Ency¬
klopädiſten, Freimaurer, bureaukratiſch fiſchblütige
Jacobiner geworden, wenn Menken länger gelebt,
und Beyme nicht in die Stricke der andern gefallen
wäre! — Und was das Uebelſte vom Uebel, ſie hal¬
ten dieſe Virtuoſität des Nachſpringens noch für
Bravour und Tugend.“


„Und hat nicht dieſe Virtuoſität oder Tugend
unſern Staat zu dem gemacht, was er iſt?“


„Reſpect vor dem Geſchlecht, junger Freund!
Die großen Männer waren es, die Rieſengeiſter, von
jenen Bergen ſtammend, auf denen auch der Hohen¬
ſtaufen in die Wolken ſah.“


Auch die Stammburg des Miniſters ſchaute
von einem Berge in die Wolken. Der Miniſter
mußte den lächelnden Zug um ſeine Augen ver¬
[77] ſtanden haben; es lag wieder etwas wegwerfende
Härte in ſeinem Ton:


Sie können nicht dafür, daß Sie es nicht be¬
greifen. Ihre ganze Erziehung, die Bildung hier iſt
daran ſchuld. — Es war ein Experiment, wie es in
der Weltgeſchichte nicht noch einmal vorgekommen.
Daß eine Dynaſtie, ein Fürſtengeſchlecht ein Volk
machte! Zuſammengeleimt widerſtrebende Theile mit
ſeinem Blute. Ich ſage Ihnen, ich habe den höch¬
ſten Reſpect vor dieſem Blute. Welche Eiſentheile,
welche Elaſticität, welche Attractionskraft, Klarheit
muß die Schöpferin Natur da einmal in ihrer über¬
müthigen Laune hineingegoſſen haben! Aber wenn
ein Volk, wenn Stämme, wenn die Natur ſelbſt dar¬
über untergingen, dann erlaube ich mir wenigſtens
eine Thräne an ihrem Grabe.“ —


Nach einer Pauſe hub er wieder an: „Ich ſage
Ihnen, ohne Ariſtokratieen iſt kein Leben in der
Natur, kein Fortſchritt in der Menſchheit. Die Welt¬
geſchichte wäre ein mongoliſch-chineſiſcher Brei, ohne
Halt, Erhebung, tragiſche Größe. Wenn man die
Kirchthürme abbricht und die Schornſteine höher
mauert, die Berge planirt und mit Schubkarren
Hügel aufführt, iſt das Erſatz? Was wäre der Erd¬
ball ohne ſein Granitgerippe, das ihn zuſammenhält
gegen Orkane und Fluthen, Wälle gegen Sonnen¬
brand und Steppenſand! Wo entſpringen die Flüſſe?
In dem ewigen Schnee, der auf ihren Firnen lagert.
Die Menſchennatur iſt nicht anders. Hab ich eine
[78] Stimme wie die Catalani? Sind Sie ſchön wie
Adonis? Können wir's uns geben? Sie würden
mich, ich Sie einen Thor nennen, wenn wir danach
trachteten. Wohin hat die Gleichmacherei der Ja¬
cobiner geführt! Frankreich ſeufzt unter einem neuen
Marſchallsadel; ſo dünn plattirtes Gold es ſei, das
Volk muß es von ſeinem Schweiße hergeben, wie es
die Säckel der Directoren füllen, die Guillotinen mit
ſeinem Gelde bauen mußte! Iſt der alte Adel darum
todt? Er lauert nur, und läßt ſeine Nägel wachſen,
um's wieder an ſich zu ſcharren, wenn die Gelegen¬
heit kommt. Das die Wirkung der Impetuoſen.“


„Hier liegt aber vor uns die Arbeit eines Jahr¬
hunderts, und darüber. Wir ſehen nicht mehr die
Arbeit, nur das fertige Werk.“


„Iſt es fertig? — Er ſchüttelte den Kopf. —
Was wäre der ſchönſte Gliederbau werth, dem der
Kopf fehlte? — Man fängt an, auf Friedrich zu
ſchmälen. Man hat Unrecht, auch der wackere Arndt
irrt. Was er als Sünde des Individuums züchtigt,
war nur der Inſtinct des Blutes, es war die wun¬
derbare Aufgabe der Dynaſtie, die Naturen und ihre
Summitäten zu ertödten, um aus ſich heraus allein
das Werk zu erſchaffen. Wär's ihnen gelungen, ge¬
lingt es ihnen, dann ſind ſie im Recht, es war eine
Miſſion, eine Aufgabe von Gott, aber —“


Das plötzliche Verſtummen des Miniſters war
nicht von den Zeichen begleitet, welche den Willen,
ein Geſpräch abzubrechen, andeuten. Er wollte
[79] Widerſpruch. Walter aber lenkte es von einer Seite
ab, von der er wußte, daß ſie für den Freiherrn im¬
mer empfindlich war. Er lenkte es auf die Frage
hin: ob denn die großen Reorganiſationspläne des
Staatsmannes grade in dem kritiſchen Augenblicke an
der Zeit ſeien?


„Jetzt oder nie! fiel der Freiherr ein. Preußens
Geſchichte laß ich als eine ſeltene Rarität unbe¬
rührt. Wir empfingen das Werk mit dem Stempel,
den ſeine Schöpfer darauf gedrückt. Dieſe Schöpfer
ſind todt. Und wenn ſie als Geiſter aus ihren Grüf¬
ten um uns ſchwebten, ſie könnten uns doch nicht zu¬
flüſtern, was wir thun müſſen, denn ihre Kenntniß
iſt aus ihrer Zeit. Wir müſſen aus der ſchöpfen,
die iſt. Ein ſtolzes Orlogſchiff ſchaukelt im ſtürmi¬
ſchen Meere. Seine Capitain und Steuerleute ſind
geſtorben, ihre Papiere verloren, ſelbſt die Traditio¬
nen, wohin es ſteuern müſſe, ſind es. Was ſoll man
thun? Die Hände in den Schooß legen, es den
Winden überlaſſen, wohin ſie treiben? — Ja, dann
verdienten ſie, Mann und Maus, elendiglich auf dem
Wrack umzukommen. — Nein, das Volk wird zu¬
ſammentreten, berathen, die Tüchtigſten aus ſich, die
Erfahrenſten, die Kühnſten auswählen, ſie in die
Maſten ſchicken, ihnen das Steuer in die Hand geben,
und, mit Gott, ſie werden thun, was an ihnen iſt,
ſich und das Fahrzeug zu retten. — Ein ſolches Schiff
iſt Preußen, ein ſolcher Augenblick iſt dieſer. — Jetzt
gilt es das Volk aufrufen, jetzt oder nie. Erwacht,
[80] erwägt, was es Euch iſt, dies Vaterland, ob es
werth, daß Ihr Alles dran ſetzt, Alles, nicht nur
Gut und Blut, auch die Gewöhnung, das einge¬
ſchrumpfte Daſein, den Stolz. Sie müſſen neu ge¬
boren, ſie müſſen wieder Kinder werden, um der
Gnade empfänglich.“


„Und wenn das Volk den Ruf nicht hörte!“


„So haben wir gerufen, und der Schall vibrirt
fort durch die Luft — er weckt nach uns, Andre wer¬
den uns hören, wenn wir längſt untergegangen.“


Der Freiherr ging wieder in Gedanken verſun¬
ken auf und ab. Er blickte noch einmal zum Fen¬
ſter hinaus, und das Sternenlicht ſchien wieder ſeine
Ruhe und Klarheit auf das characterfeſte Geſicht des
Mannes gehaucht zu haben, als er zurückkehrend ſich
Walter gegenüber am Tiſche niederſetzte.


„Wir dürfen uns nicht in Empfindungen ver¬
lieren, es drängt. Nehmen Sie wieder die Feder —“


Walter ſchrieb — hingeworfene Sätze, die von
den Lippen des Miniſters, wie ein immer lebendige¬
rer Quell, ſprudelten.


„Gedenken Excellenz auch dieſes Memorial durch
die Hand der Königin an die höchſte Stelle zu be¬
fördern?“


„Ja, die Königin — wenn ſie —!“ Die Ge¬
danken flogen, ſie drängten und überſtürzten ſich, con¬
vulſiviſch, wie die Bewegungen der Lippen.


„Und warum es uns verhehlen, was eine nur
zu ſichere Ahnung uns ſagt! Auch dieſer Verſuch
[81] wird ſcheitern! Zu einem Titus in Tagen des Frie¬
dens war er geboren. Die Zeit forderte einen Sulla.
Dieſer bürgerliche Gerechtigkeitsſinn reicht nicht aus in
Zeiten, wo das Recht aufhört. Daß es da ein höheres
giebt, was der geweihte Prieſter aus den Wolken
greifen muß, wer darf ihn tadeln, daß ihn Gott zu
dieſem Glauben nicht geweiht. Er hat eine Scheu
vor außerordentlichen Schritten — es wird ad acta
gelegt werden wie das andre. Sollen wir darum
nicht unſre Pflicht thun? — Wir werden Napoleon
unterliegen.“


„Seiner Uebermacht?“


„Nein, unſrer Unmacht! Unſerm Dünkel, der
den in Sturm und Donner neu ſchaffenden Gott
nicht ſieht. — Schreiben Sie weiter —“


„Und mit dieſer Vorahnung —“


„Vorbewußtſein, corrigirte der Miniſter, will ich
ihnen einen Spiegel hinhalten. Deſto beſſer, wenn
ſie ihn im Zorn zerſchlagen, weil ſie ſo häßlich drin
ausſehn. Wenn die Zuchtruthe des Herrn über
ſie kommt, lernen die Völker beten. Mit Gebet
allein aber, mit dem Inſichgehn iſt's nicht gethan,
ſie ſollen aus ſich herausgehn. An Verſtand hat's
nicht gefehlt, aber an Muth, ihn auszuprägen. Wir
werden nicht erndten, aber ſäen wollen wir. Der
Krieg wird die Saat zerſtampfen, aber ein Körnlein
geht doch auf.“


Es war lange nach Mitternacht, als Walter die
Feder niederlegte. Es war nicht ungewöhnlich, daß
V. 6[82] der Miniſter nach gallichten Ergüſſen ſeiner Heftig¬
keit ſelbſt die Geſcholtenen zur Widerrede aufforderte.
Zur Ruhe zurückgekehrt, hörte er ſie auch ruhig an.
Walter glaubte, daß er in mehreren Punkten die
Wirklichkeit ſchwärzer gemalt, als ſie ſei.


„Das iſt nur der Fluch jeder Parteiſtellung. Im
Eifer fliegen wir über das Maaß hinaus, in der An¬
ſchuldigung wie in der Vertheidigung. Es läßt ſich
nicht anders thun, der redlichſte Wille wird unter¬
than dem Zwecke. Götter ſind wir nicht, und der
Allmächtige wird wiſſen, warum er uns nicht Engels¬
ſeelen gab. — Uebrigens ſolcher Liederlichkeit iſt auch
Gift ein Heilmittel. Heim braucht jetzt Arſenik, wenn
das kalte Fieber abſolut nicht weichen will.“


Walter legte aufſtehend die Papiere zuſammen.
Die Sitzung war geſchloſſen.


„Warum ſchaudern Sie? — Ich bin jetzt heiter.“


„Ich fragte mich nur, noch ergriffen von Ihrer
Darſtellung, ob denn noch ſchlimmere Zuſtände möglich
ſind!“


„Wenn — Gottes Zornruthe nicht drein fährt!
Ja. Er allein kann helfen, das bekenne ich hier vor
Ihnen in Demuth. Wenn keine Blitze niederzücken,
kein Gewitter dieſe faule Luft reinigt, ſo helfen alle
unſere Vorſchläge nichts. Dies in liederlicher Hu¬
manität aufgepeppelte Lottergeſchlecht iſt zu nichts
Urkräftigem mehr tüchtig. Im glücklichſten Fall wür¬
den ſie unſere Pläne wie ein neues Spielzeug hin¬
nehmen, das ſo lange amüſirt, als es neu iſt. Die
[83] Blaſirtheit iſt weder der Begeiſterung noch der Ent¬
rüſtung fähig. Das ihr Fluch. Im Drang nach
Unterhaltung ſpielen ſie mit Allem, was ihnen hin¬
geworfen wird, ſie flattern aber auch in jedes Netz,
das die Argliſt ihnen ſtellt. Wiſſen Sie, welche
Netze, wer ſie ihnen einſt ſtellt? Die Herrſchaft die¬
ſer frivolen Schwätzer, gedankenloſen Roués iſt recht
geeignet, den Boden zu anderer Saat weich zu
machen. Ein Ekel muß doch am Ende die beſſere
Natur überkommen, auch die nichts Beſſeres weiß.
Sie ſtürzt ſich dann aus Verzweiflung in das erſte
Beſte, was ihr vorgehalten wird. Die Verſuche der
Wöllner und Biſchofswerder kamen nur zu früh, zu
ungeſchickt. Darauf ließ man die Romantiker los;
junge Genies, von denen ich gern glauben will, daß
ſie in ihrem taumelnden Uebermuth ſelbſt nicht wu߬
ten, an welchen Fäden ſie flatterten. Dieſe Fäden
ſind abgeriſſen, aber der Knäuel iſt noch da. Wer
ſieht voraus, wann er wieder neue Fäden auswirft.
Friedrich, in ſeiner großen Schöpferkraft ſchwelgend,
vergaß, daß es noch einen Schöpfer außer ihm, über
ihm, gab. Das muß ſich rächen. Den ewigen Gott
haben ſie zum ſentimentalen Großpapa im Schlafrock
gemacht. Gott läßt ſein nicht ſpotten. Das wird,
das muß einen Umſchlag geben. Der kann fürch¬
terlich werden. Den Gott am Kreuze wollen dieſe
nicht mehr anbeten, es können Andere kommen, die
fordern, daß wir das Kreuz ohne den Gott anbeten.
Wie nun, wenn ein langer Friede wieder die Ge¬
6*[84] müther in frivole Ruhe, in läppiſchen Dünkel auf
die Thaten ihrer Väter eingewiegt hat, wenn da
dieſe Mächte wieder ihre Netze ſpinnen! — Nun,
junger Freund, denken Sie ſich dann dieſe von heut,
ſo gedankenlos wirthſchaftend mit dem Gut des Va¬
terlandes, ſo die Traditionen vergeudend, den Staat
von Ehr und Anſehen, durch Jahrhunderte von den
großen Hohenzollern geſammelt, großſprecheriſch und
kleinkrämeriſch, mit einem Faſſungsvermögen, das
nicht über heut hinausgeht, und denken Sie dieſe
Verwalter noch den Mantel der Tugend und Reli¬
gioſität ſich umhängend, und dann fragen Sie ſich
ſelbſt, ob es nicht noch ſchlimmer werden kann, als
es iſt?“


„Es iſt Geiſterſtunde!“


„Und Sie meinen, ich ſähe Geſpenſter. Möglich.
Aber Rom vergißt nie die Feſſeln, die es der Welt
geſchmiedet, und zweimal wurden ſie von Deutſchland
aus gebrochen. Auf dieſer Sandſcholle ruht eine
wunderbare Miſſion — Genug davon! — Wenn ich
ihn weniger haßte, ich könnte ihn lieben, dieſen Na¬
poleon. Ein fürchterlicher Arzt, treibt er die Krank¬
heit mit Skorpionengeißeln zur Kriſis — Aber was
dann kommt — die Geneſung, wie ſie ausſchlägt —!“


„„Man muß auf die großen Beiſpiele der Ge¬
ſchichte zurückblicken, und Vertrauen auf die Vor¬
ſehung haben,““ ſchrieben Excellenz neulich an den
Freiherrn von Vincke.“


„Was hielte uns ſonſt aufrecht! — Aber dieſe
[85] Vorſehung ließ Reiche und Nationen vom Erdball
verſchwinden, um andern Platz zu machen — ſie ließ
auch einen langen byzantiniſchen Todeskampf zu.“


„Was Gott walte, rief Walter, daß dieſe Agonie
von Deutſchland fern ſei.“


„Amen!“ ſagte der Miniſter.


Draußen klirrten Schleppſäbel auf dem Pflaſter,
junge Officiere, von einem verſpäteten Zechgelage
heimkehrend, gingen lachend und ſingend vorüber.
Es war eine unangenehme Störung in der Feier¬
ſtunde des Geſpräches, in der ſtillen Feier der Nacht.


„Es ſind Theilnehmer an der Bravade von heut
darunter, ſagte Walter, der ſich dem Fenſter genähert
hatte. Sie ſind des Erfolges ſicher.“


Der Miniſter legte ſeine Hand auf Walters
Schulter: „Und welchen andern, mein Freund, hätte
dieſe Bravade gehabt, wenn ein Jahr früher!
Damals hätte es zünden müſſen. Damals, als das
Pulver geſtreut lag. Laforeſt hätte ſeine Päſſe fordern
müſſen, es ging nicht anders. Hardenberg hätte ſie
ihm auf der Stelle zugeſandt — der Sturm war
los, die Schleuſen gebrochen, und die Sonne von
Auſterlitz wäre anders untergegangen! Warum trieb
der Champagner ihr Blut nicht durch die Adern! —
Warum da nicht? Warum zu ſpät? Das ſind die
Fragen, die unſere Philoſophie aus ihren Angeln
heben.“


Der Miniſterialſecretair war ſchon aus der Thür,
als er ihn wieder zurückrief.


[86]

„Ich wollte Sie nur um einen kleinen Dienſt
bitten, klein für Sie, groß für mich. Es liegt mir
viel, ſehr viel daran, daß Bovillard Zutritt bei Hofe
erhält. Grade jetzt, wenn das Memorial eingeht. —
Er wird eigenſinnig bleiben. — Thun Sie mir da
den Gefallen und gehn zu dem ſchönen Mädchen, ich
meine ſeine Braut. Stellen Sie ihr die Sache
ernſtlich vor, daß ihr eigen Glück davon abhängt,
ſeine definitive Placirung. Wenn ſie um Audienz
bei der Königin bittet, wenn ſie das Sentiment, ihre
eigne Herzenslage ſchildert, wird es ihr nicht ſchwer
werden, auch Louiſens Herz zu rühren. Die La¬
fontaineſchen Romane ſpuken da noch immer. Ein
Familienjammer iſt außerordentlich wirkſam. Sie
kann ja auch einfließen laſſen, daß nur auf dieſe
Weiſe die Abneigung des alten Bovillard zu be¬
wältigen iſt.“


Walter ſchwieg: „Liegt denn Euer Excellenz ſo
— überaus viel an —“


„An Kleinigkeiten, fiel ihm der Freiherr in's
Wort. „Die Kieſelſteine, die in ein Räderwerk, der
Staub, der in eine Taſchenuhr fällt, ſoll der Müller
und der Uhrmacher ſie liegen laſſen, weil er der Vor¬
trefflichkeit ſeiner Maſchinen vertraut? Ja, Lieber,
der Staatsmann, der auf die Kleinigkeiten nicht
zu achten brauchte, wäre größer, als je einer in der
Welt es war. Sie ſind da, um unſern Scharf¬
ſinn wach zu halten, und der ſie nicht ergreift,
wo ſie ihm günſtig ſind, verſündigt ſich vor dem,
[87] der ſie ihm in die Hände ſpielte. Alſo morgen ſchon,
wo möglich.“


„Excellenz, wie komme ich dazu?“


„Sie waren ja ihr Lehrer. Einige Schmeichel¬
worte, einige Autorität. Einem ſo beredten Lehrer
ſchlägt eine Schülerin nichts ab.“


„Excellenz, dieſe Aufgabe —“


„Koſtet Sie Ueberwindung. Deſto ehrenwerther.
Haben Sie vielleicht ſelbſt einmal — zu tief in die
ſchönen Augen geblickt? — Um ſo ſchöner noch Ihre
Aufgabe. Wir ſind Alle zur Entſagung geboren.“

[[88]]

Fünftes Kapitel.
Zur Königin.

Es war ein ſeltſames Zuſammentreffen. Die
Fürſtin Gargazin war heute mit einem Gedanken
aufgeſtanden, der ſie beim Frühſtück beſchäftigte. Sie
wollte bei der Königin eine Audienz erbitten, um
Adelheid zu präſentiren. Vielleicht die Frucht eines
Traumes; auch unſre Träume ſind nur die Früchte
einer Saat, die wir ſelbſt geſäet. Adelheid fing an
ſie zu geniren. Weshalb? — Das Geſetz ihres Zu¬
ſammenlebens war ja, daß keine die andere geniren
durfte! Und doch — zuweilen, wenn ihre Blicke
ſich begegneten, ſchlug die Fürſtin die Augen nieder.
Die Augen des Mädchens leuchteten ſo hell und klug.
Sie erinnerte ſich unwillkürlich an das, was Wan¬
del über ſie geſagt. Warum blieb er kalt vor dieſer
Schönheit? Warum empfand er ein Unbehagen in
ihrer Gegenwart? — Wandel war ein blaſirter Menſch,
aber — ein Menſchenkenner, es war etwas, worin
beide in ihren Gefühlen ſtimmten. — Und was ſollte
das Mädchen noch in ihrem Hauſe! — Kaiſer Alexan¬
[89] der war fern, er hatte andere Gedanken; wenn er
kam, kam er im Kriegerrock, und dann — dann!
Die beſten Berechnungen ſchlagen am eheſten fehl. —
Und wenn Krieg ward, was ſollte Adelheid in ihrer
Begleitung! — Aber was ſollte ſie bei der Königin?
— Das würde Gott am beſten fügen. Die Fürſtin
war heut von einem Gottvertrauen, das durch die
Ereigniſſe beſtärkt werden ſollte.


Denn während ſie noch am Frühſtückstiſch ſaß,
war die Hofdame der Königin, Fräulein von Viereck,
vorgefahren und hatte unter andern Dingen von der
Verwunderung der Königin geſprochen, daß Erlaucht
ihre Pflegetochter Ihrer Majeſtät noch nicht vorge¬
ſtellt. Die andern Dinge waren bald bei Seite ge¬
ſchoben, die Viereck war nur darum gekommen. Die
Königin durfte es nicht officiell wünſchen, auch war
die Façon ſchwer zu finden, wie die Fürſtin das
junge Bürgermädchen präſentiren ſolle. Alſo ſollte
ein gelegentliches Zuſammentreffen arrangirt werden.
Die Kammerfrau der Königin, Mamſell Schadow,
war eine Bekannte der Alltagſchen Familie. Adelheid
konnte die Kammerfrau beſuchen, und ſo wenig dabei
etwas Auffälliges war, konnte es ſein, wenn Ihre
Majeſtät bei der Gelegenheit das junge Mädchen traf.


Die Fürſtin war über den Vorſchlag um ſo
mehr erfreut, als ſie nicht nöthig hatte Mutterrolle
zu ſpielen. Sie fürchtete nur Widerſtand von dem
capriciöſen Kopfe ihres Schützlings, eine Befürch¬
tung, die um ſo größer ward, als ſie hörte, daß Herr
[90] van Aſten ſich ſchon früh am Morgen bei Adelheid
melden laſſen, daß er angenommen worden und noch
jetzt bei ihr ſei. Was wollte der abgeſetzte Liebhaber
bei ihr! Er konnte doch nicht beabſichtigen, ſeinen
Nebenbuhler und Freund wieder aus dem Sattel zu
heben? Das Kammermädchen hatte zwar an der Thür
gehorcht, aber nichts von Thränen und Betheuerungen.
Die Sprache hatte ſo ernſt geklungen, feierlich und
— doch auch zärtlich, meinte das Kammermädchen.
Sie mußte die Sprache, welche drinnen geſprochen
ward, nicht verſtehen.


Jetzt ging er. Adelheid begleitete ihn bis an
die Gartentreppe. Die Fürſtin ſah durch die Glas¬
thür wenigſtens den Abſchied. Der junge Mann
ſchien verändert, aber zu ſeinem Vortheil, ſeine Hal¬
tung war feſter, entſchloſſener, vornehmer. Er ergriff
Adelheids Hand, er ſchien ſie an die Lippen bringen
zu wollen, aber beſann ſich. Er hob ſie nur bis
ungefähr an die Bruſt und drückte dann ſeine Hand
darauf. Er ſah ſie dabei nicht zärtlich, aber innig
an. Sie mußte ihn wieder ſo anſehen. Sie ſprachen
noch einige Worte, welche die Gargazin nicht hörte.
Dann war es Adelheid, welche ihm kräftig die Hand
ſchüttelte und etwas ihm nachrief. Als er verſchwun¬
den, kehrte ſie um und trat durch die Glasthür.


Sie war nicht betroffen, als ſie der Fürſtin hier
begegnete. Das Betroffenſein war an der Gargazin,
als Adelheid ohne Umwege, beſcheiden, aber kurz und
entſchloſſen, mit der Bitte vorrückte, die Fürſtin möge
[91] ihr vergönnen, die Königin heut um eine Audienz
angehn zu dürfen.


Der Gedanke lag nahe, daß Adelheid von dem
Beſuch der Viereck erfahren.


„Das recherchirte Kind der allgemeinen Gunſt
hat nur zu commandiren. Ich kann nicht dafür, daß
Sie die Hintertreppe hinauf müſſen und Mamſell
Schadow um Vermittelung angehen; hätten Sie mich
früher Ihres Vertrauens gewürdigt, würde es, mir
wohl gelungen ſein, Sie zur Vordertreppe heraufzu¬
bringen.“


Adelheids klarer forſchender Blick durchſchaute
die Sache noch nicht.


„Die Gunſt der Großen, meine Liebe, fuhr die
Gargazin fort, iſt ein Thema, was ſtudirt ſein will.
Es iſt nur das Schlimme, daß wer ſie aus dem
Grunde ſtudirt hat, nicht weiter und nicht beſſer
daran iſt, als der Bauer und das Kind, die den
König für einen Gott halten. Wir ſind ihnen Spiel¬
zeug, das ſie auf ihren Putztiſch ſtellen, ſo lange es
ihnen gefällt. Gefällt es ihnen nicht mehr, wird's
in den Kehricht geworfen. Es iſt Täuſchung, wenn
das Spielzeug glaubt, es könne etwas dazu thun,
daß es ſie länger feſſele, als ihre Laune dauert. —
Erlauben Sie mir eine Warnung. Die Königin hat
ſich für Sie intereſſirt, als Sie ihr noch fern waren,
das Gerede der Leute, Ihr Ruf vermehrte die
Attractionskraft; neulich auf dem Ball erregten Sie
ihr Mitleid. Aber Paſſionen aus Mitleid halten nicht
[92] lange an, und ſind immer mit einer demüthigenden
Aetzung gemiſcht. Das zeigt Ihnen ſchon die Art,
wie die Königin Sie rufen läßt.“


„Mich rufen?“


„Sie fühlen ſich ſchon — ich will nicht ſagen
gekränkt, aber Ihr Gefühl ſträubt ſich. Sie werden
ihr nun vielleicht nicht in der Art entgegentreten,
wie ſie es erwartet; Sie werden in Worten, Blicken,
Haltung, Ihr Selbſtbewußtſein verrathen. Liebes
Kind, das dürfen wir nicht den Großen der Erde
gegenüber. Weil ſie ihre Größe immer fühlen wollen,
wollen ſie uns immer klein ſehen. Je größer wir
vor ihnen ſtehen, ſo mehr heben ſie ſich, um uns
niederzudrücken; je niedriger wir uns aber bücken,
je mehr wir den Schein annehmen, daß ihre Majeſtät
uns eblouirt, ſo gnädiger werden ſie, und heben uns
Zoll um Zoll — es freut ſie dann, wenn wir uns
über Andere groß dünken, denn ſie feiern ſich ſelbſt,
weil ſie uns ſo groß gemacht.“


„Gnädigſte Frau, die Königin hat mich nicht
rufen laſſen, ſie hat mich vielleicht ſchon vergeſſen.
Es iſt mein eigener Wunſch, mich ihr vorſtellen zu
dürfen.“


„Ihr eigener!“ Die Fürſtin hielt inne und maß
das junge Mädchen. Adelheid war immer wahr; es
war eben die Art der Wahrheit, welche der Gargazin
nicht convenirte. Nach einer Pauſe hub ſie lächelnd
wieder an: — „Sie erlauben mir doch zu zweifeln,
daß es ganz Ihr eigener Wunſch iſt, wenn ich be¬
[93] merke, daß er nach einem myſteriöſen Beſuche zum
Vorſchein kommt.“


„Mein Freund und Lehrer hat mich an eine
vergeſſene Pflicht erinnert, ſagte Adelheid, ohne zu
erröthen. Louis Anſtellung —“


„Ah das! Sie accrochirt ſich an der Abnei¬
gung Ihrer Majeſtät, und Sie, meine Liebe, ſollen —“


„Ich ſoll nicht; ich fühle jetzt ſelbſt die Pflicht
— was ein ſchwaches Mädchen vermag, dazu zu
thun, daß Louis einen Wirkungskreis erhält, der ſei¬
nen Talenten angemeſſen iſt, der ihn zu dem erhebt,
wozu er berufen iſt. Meine Hoffnung iſt gering,
aber mein Vertrauen groß. Ich verſtoße vielleicht
gegen die Sitte, ich bin darauf gefaßt, ſelbſt den
Unwillen der Königin werde ich zu ertragen ſuchen,
denn ich bin von ihrem Edelſinn überzeugt, daß ſie
es meine Eltern nicht entgelten läßt. Mißbilligten
Sie es, gnädigſte Frau, ſo —“


„Ich! Nicht im Geringſten. Im Gegentheil,
o das iſt charmant, pikant von Ihnen. Vielleicht
wünſcht es Ihre Majeſtät ſogar, und das iſt der
Grund, weshalb Sie gerufen werden. Nur Atten¬
tion! meine Theure — vergeſſen Sie nicht, das zu
bleiben, als was Sie ſich ausgeben — das ſchwache
Mädchen
! Zeigen Sie ihr um Himmelswillen
nicht das ſtarke Mädchen. Daß allüberall mit
unſerer Stärke nichts gethan iſt, das iſt eine Lehre,
für die unſre Adelheid noch zu jung iſt. Aber einer
Monarchin gegenüber nehmen Sie immerhin die
[94] Lection einer älteren Freundin an, daß wir uns de¬
müthigen müſſen. Sie muß Alles thun, denken,
wir lauſchen nur und laſſen im Gewande der Bitte
Vorſtellungen aufflattern, welche die Fürſtin aufgreift
und zu den ihren macht. Da geben Sie Ihr Eigen¬
thum hin; Sie wären augenblicklich verloren, wenn
Sie in Freude aufblitzten: das habe ich ja geſagt!
das ſind ja meine Gedanken! Einer Monarchin ge¬
genüber dürfen Sie gar nicht denken. Wie eine
Pythia auf dem Dreifuß athmen Sie in halber Auf¬
löſung ihre Aeußerungen ein, Sie nehmen Alles an,
nun, und ich traue Ihnen doch die Klugheit zu, daß
Sie, wie die Prieſterin, dieſe Töne dann zu einem
Spruche ordnen werden, der Ihren Abſichten ent¬
ſpricht. Ach, Sie glauben nicht, wie leicht das iſt,
wenn man erſt die Neigungen und Schwächen der
Großen kennt.“


„Ich werde verſuchen, zu ihrer Seele zu ſprechen.“


„Das iſt recht. Sie liebt bürgerliche, rührende
Scenen. Malen Sie Ihren Liebesſchmerz unter
Schluchzen, mit von Thränen erſtickten Worten. So¬
bald Sie merken, daß ſie gerührt wird, ſtürzen Sie
auf die Knie, ergreifen ihr Kleid — ſie wird Ihnen
aber die Hand reichen, wenn Sie die rechte Sprache
trafen — dann erklären Sie, Ihr ganzes Lebensglück
läge in dieſer Hand, ſie wird Sie huldreich auf¬
fordern aufzuſtehen. Sie erklären aber, Sie würden
nicht aufſtehen, bis — nun, das Uebrige wird ein ſo
kluges Mädchen wiſſen.“


[95]

Adelheid rechtfertigte die Meinung der Fürſtin.
Sie fand eine Antwort, welche dieſe befriedigte, eine
Antwort, die keine Unwahrheit war und doch verbarg,
was die Schülerin über die Anweiſung der Lehrerin
dachte.


Der Wagen war ſchon fortgerollt, als es der
Gargazin, die ihm vom Fenſter nachſah, leid zu thun
ſchien. Wie ſchnell hatte ſie etwas aus der Hand
gegeben, was ſie mit ſo großer Anſtrengung ſich ver¬
ſchafft! Sie hätte ſie wenigſtens ſo nicht fortlaſſen,
einen Faden in der Hand behalten ſollen. Wem die
Intrigue Zweck iſt, wer nur in ihr den ewigen Durſt
nach Thätigkeit löſcht, muß Apparate jeder Art ſtets
fertig um ſich liegen haben, er darf auch das Ge¬
ringfügigſte nicht verſchmähen; der verlorne Faden
kann zur Schlinge, die Schlinge zum Knoten wer¬
den. Nur darf man den Knoten nicht zu feſt ſchürzen,
und noch weniger mit der Scheere ein Band zer¬
ſchneiden. — Sie ließ den Köder an ihrer Angel
fahren, weil ſie des Spiels überdrüſſig war, wie
aber, wenn ein Andrer — wenn die Königin von
Adelheids Naivetät, Klugheit, Liebreiz gefeſſelt ward,
wenn ſie ein Inſtrument aus der Hand gelaſſen, was
hier ihr wichtigere Dienſte leiſten könnte, als dort,
wohin ſie es beſtimmt —


Ein Gedanke durchfuhr ſie blitzartig — der Los¬
gelaſſenen nachzueilen, ſie durch einen geſchickten
Schlingenwurf wieder an ſich zu ziehen, ſelbſt ſie ein¬
zuführen, und wäre es auch durch die Vermittelung
[96] einer Kammerfrau. Schon hielt ſie die Klingelſchnur,
um den zweiten Wagen zu befehlen, als ein andrer
Gedanke dem erſten folgte: War denn Adelheid ein
Inſtrument, das ſich dem Willen ſeines Eigners
fügte? Hatte ſie ſelbſt, die Lupinus, wer denn ſie
zu ſeinen Zwecken formen und bilden können? Wie
die Stehaufmännchen von Hollunderholz, wie eine
elaſtiſche Puppe ſchnellte ſie, geknickt, gebogen, ge¬
drückt, wieder auf zu ihrer Natur. Es war eine,
die den Impulſen gehorcht. Vor ſolchen Naturen
hatte die Gargazin Scheu oder Reſpect. — Sie ließ
die Klingelſchnur aus der Hand. Solche Naturen
rollen oder ſtürzen ſich in ihr Verderben, oder der
Strahl der Gnade durchzückt ſie, wo wir es am we¬
nigſten erwarten. Nur dürfen wir ſie nicht erziehen
wollen.


Plötzlich lachte die Fürſtin hell auf. Aber erſt,
nachdem ſehr ernſte Gedanken ihre Stirn verfinſtert
hatten. Dieſes Mädchen hatte ſie ja ganz durchſchaut.
Ja — es giebt Momente, wo eine unwillkürliche
Macht zwingt, ein Bekenntniß der Wahrheit vor uns
ſelbſt abzulegen, wie Niemand es vor einem Richter
wagt und vermag. Sie hatte, nicht eine Schlange,
aber einen Spiegel an ihre Bruſt gelegt, klar ge¬
ſchliffen, daß er jeden Hauch aufnahm. Der Spie¬
gel hatte geſchwiegen — bis jetzt, aus Dankbarkeit,
Klugheit. Wer bürgte der Gargazin, daß Adelheid
immer ſchweigen werde, jetzt, im nächſten Augen¬
blicke, wenn ſie das Herz der Königin gewonnen,
[97] wenn ihres von einem mächtigen Impulſe ſchlug!
Welcher Eid, welche Pflicht band ſie, wenn die Ma¬
jeſtät der Königin von ihr Wahrheit forderte?


Das waren die ernſten Gedanken. Aber plötz¬
lich löſten ſich die zuſammengekniffenen Lippen, die
Runzeln glätteten ſich, und die Augen glänzten ſcha¬
denfroh: „Sie kann ſich ja nicht verleugnen, ſie wird
dort wie hier das ſtarke Mädchen ſein. Sie wird
das Gefühl der Königin verletzen — und — und —
und — ſie wird zurückgeſchickt, wie ſie gekommen —
Vive la vérité! — Und wenn ſie zu mir zurück¬
kehrt, iſt ſie eine Andre als die fortging, und wir
können uns beſinnen, wie anders wir ſie aufnehmen.“


Mit vergnügtem Geſicht trat die Fürſtin an's
Fenſter. Ihr Auge fiel auf die kleinen Entreſolfen¬
ſter im Seitenflügel, wo die Kammermädchen wohn¬
ten. Ihr fiel ein, daß ſie die Kammermädchen ja
ſchon längſt ſich näher gewünſcht, und ihr Geſicht
verzog ſich zu einem ganz eigenthümlichen Lächeln,
als ſie dachte: das wären ja allerliebſte Stuben für
Adelheid. Da kam der Legationsrath über den Hof.
Das Lächeln ward wieder ein andres: „Eigentlich
haſſe ich ihn, ich müßte ihn verabſcheuen, ich ſollte
ihn fürchten, aber es lügt Niemand ſo angenehm
als er.“


Mamſell Schadow hatte indeſſen gegen das
ſchöne Mädchen nicht die Diplomatin geſpielt. Sie
hatte es mit Herzlichkeit empfangen, obgleich ſie wußte,
daß der Beſuch nicht ihr gelte, und ſie ſogleich in
V. 7[98] den Garten und in den Gang geführt, wo die Kö¬
nigin ihre Morgenpromenade zu machen pflegte.


„Wir gehen hier an den Gebüſchen langſam
auf und ab, und wenn ſie kommt, thun wir, als
ſähen wir ſie nicht. Wenn ſie in Gedanken iſt und
uns nicht ſehen will, was man gleich merkt, treten
wir in's Gebüſch zurück. Will ſie uns aber ſehen,
dann thun wir ſehr überraſcht und etwas erſchrocken.
Das lieben die hohen Herrſchaften und dann encou¬
ragiren ſie uns.“


Eine Mittheilung der Schadow war aber nicht
geeignet, Adelheid zu encouragiren. Ihr Vater, der
Geheimrath, hatte vor einigen Tagen eine kurze Un¬
terhaltung mit der Königin gehabt. Adelheids Name
war dabei genannt worden. „Das iſt ſchade, das
darf nicht ſein!“ hatte die Königin geäußert. Nach¬
her hatte die Schadow Ihre Majeſtät zur Viereck
ſagen gehört: „Ich muß das junge Mädchen einmal
ſprechen.“ Adelheids Vater hatte eine Abneigung
gegen ihre Verlobung mit Louis Bovillard. Die
Mutter betrachtete ſie als ein Glück. Sie wußte von
häuslichem Verdruß deshalb. Ueber dieſen Kampf
war Adelheid hinaus. Beim kindlichſten Gefühl der
Dankbarkeit fühlte ſie ſich frei geworden. Sie hatte
es keinen Hehl gegen ihren Vater gehabt: Ihr habt
mich hinausgeſetzt in eine andre Welt, wo andre Ge¬
ſetze gelten. Wenn ich mich den Pflichten unterwer¬
fen mußte, die ſie fordern, ſo darf ich auch ihre
Rechte für mich anrufen. So war ungefähr der
[99] Sinn eines Geſpräches, in dem der Vater unter¬
legen war. Es war ja nicht eigentlich ſein Depar¬
tement; er fühlte, daß der Geiſt ſeiner Tochter auf
Fittigen flog, die im Staube des Aktenlebens nicht
wachſen. Nun, und wenn er in ſeinem Mißmuth
Seufzern und Klagen gegen die erhabene Perſon Luft
gegeben, ſo fühlte Adelheid eine andere Lebensluſt
in ſich. — Sie fühlte ſich nicht decouragirt.


Die Königin kam, aber nicht allein. Ein Ca¬
valier ging an ihrer Seite, mit dem ſie in lebhaftem
Geſpräche ſchien. Es war ein ſtattlicher, ſchöner
Mann, von einem gewinnenden Anſehen, jede Be¬
wegung weltmänniſche Grazie, obwohl ſein rechter
Arm, früh vom Schlage getroffen, gelähmt an der
Seite hing.


„Graf Hoym, flüſterte die Schadow, der Vice¬
könig von Schleſien. Wir müſſen zurücktreten.“


Beide gingen vorüber, und die Königin bemerkte
ſie in ihrer Aufregung wirklich nicht.


„Palm! Palm! lieber Hoym, das bleibt doch
das Abſcheulichſte. — So unſchuldig, in der Nacht
fortgeriſſen von Frau und Kindern — um — o mein
Gott, ich glaube oft ſeinen Schatten zu ſehen, wenn
ich unter dieſen Bäumen gehe.“


„Die Hunderttauſende, gnädige Frau, die auf
den Schlachtfeldern auch die Kugel traf —“


„Nein, Hoym, das iſt nicht das. Er ſchreitet
über Leichen, das iſt der Weg des Gräßlichen. Aber
der Mord an einem ſchuldloſen Familienvater —“


7*[100]

Das Säuſeln der Bäume und die größere Ent¬
fernung nahmen die andern Worte fort.


„Wie fühlen Sie ſich, meine Liebe? fragte die
Schadow, um ihr Muth zu machen. Nur Geduld,
es wird Alles ganz gut gehen.“


„Mich dünkt, die arme Königin iſt in großer
Aufregung. Iſt denn Graf Hoym jetzt ihr Vertrauter?“


Die Antwort bewies der Kammerfrau wenigſtens,
daß Adelheid keines Riechfläſchchens bedürfe, um
muthig zu bleiben. Adelheids Mutter hatte ihr die
Tochter anempfohlen, wenn die Gegenwart der Ma¬
jeſtät das Kind überwältige.


„Die arme Königin! Sie haben Recht, ſie ſo
zu nennen. Ach, unter uns, ſie hat Niemand, dem
ſie ihr Herz ausſchütten könnte.“


„Ihr Herz?“


Das war ein kluger Blick, welcher der Kammer¬
frau Muth machte, mehr zu ſagen, als Kammerfrauen
eigentlich dürfen.


„Ja, wenn ſie ganz ihrem Herzen leben dürfte!
Dafür hat ſie ihre Kinder, ihren Gemahl, ſich ſelbſt;
aber die großen Staatsangelegenheiten müſſen fürch¬
terlich ſtehen. Das, ich möchte ſagen, zerſprengt ihr
oft das Herz. Liebe Demoiſelle Alltag, ich möchte
Manchen, der die Könige beneidet, einen Blick da
hinein thun laſſen, und ſie würden Gott danken, daß
ſie ſo glücklich in ihrem Hauſe ſind.“


Die Spaziergänger hatten ſich umgewendet und
gingen wieder vorüber.


[101]

Die Königin ſchien noch immer in derſelben
Stimmung:


„Er ſieht die ganze Gefahr, klar und deutlich.
Er könnte retten, und dieſen einzigen Mann, der
retten könnte, ihn läßt man brach liegen.“


Aus Hoyms Antwort konnte man nur die Worte
hören: „Aber der Freiherr von Stein —“


Die Schadow hatte Adelheid tiefer in's Gebüſch
gezogen.


„Das iſt ihr Hauptkummer jetzt. Unſereins darf
freilich nichts davon wiſſen, und noch weniger ſich
darum kümmern, aber man müßte ja nicht Ohren
und Augen haben. Je mehr es eine hohe Perſon
ſchmerzt, um ſo heftiger bricht es unwillkürlich heraus,
und uns beachten ſie doch eigentlich nicht als Ge¬
ſchöpfe, die es angeht und die es verſtehen.“


„Ihre Majeſtät wünſcht den Freiherrn von Stein
zum Rathgeber des Königs?“


Die Kammerfrau ſah Adelheid verwundert an:
„Das wiſſen Sie auch! — Man mag im Publikum
freilich manches wiſſen, von dem die hohen Herr¬
ſchaften glauben, daß ſie es allein beſitzen. Es iſt
ſo. Der Herr hat ſich aber bei Hofe nicht beliebt
gemacht; er hat viel Feinde. Das geht bis zu den
Lackeien hinunter. Sie wiſſen nicht, wie das bei uns
iſt. Wen ſie oben von Einfluß ſehen, deſſen Worte
ſprechen ſie nach.“


„Aber wenn die Königin —“


„Es iſt das Schlimme, liebe Demoiſelle, daß der
[102] König ſelbſt den Herrn nicht liebt — er iſt ihm un¬
bequem. Ganz unter uns, er fühlt oft, daß es beſſer
wäre, wenn die Andern, gegen die jetzt das Ge¬
ſchrei iſt, fort wären, er möchte ſie auch zuweilen
los ſein, denn er iſt der edelſte, beſte Herr von der
Welt, aber ſie ſind ihm bequem, er hat ſich an ſie
gewöhnt. Er entläßt ja keinen ſeiner alten Diener.
Und die ſeelensgute Königin, betrüben möchte ſie ihn
doch auch nicht, und in Staatsangelegenheiten hatte
ſie ſich's zum Geſetz gemacht, nicht mitzuſprechen.
Aber wer kann dafür, wenn das Herz voll iſt und
die Augen übergehen — ſie ſieht ja und hört — und,
wie geſagt, wenn da am ganzen Hofe Niemand da
iſt, der mit ihr fühlt und ſieht — Da iſt nun der
Herr Graf Hoym aus Schleſien angekommen. Ob's
grade der rechte Mann iſt, weiß ich nicht, aber er iſt
ein friſches Geſicht, er ſpielt ihr nicht immer die alte
Melodie vor, und am Ende, wenn man kein Men¬
ſchenherz hat, klagt man auch gegen den Mond und
gegen die Wände.“


Die Spaziergänger waren abermals zurück¬
gekehrt.


„In den Provinzen theilt man Ihro Majeſtät
Entrüſtung, ſagte Hoym, Allen iſt es ein Räthſel:
Friedrichs Staat in den Händen eines franzöſiſchen
Roturiers!“


Die Königin blieb ſtehen: „Sagen Sie lieber,
eines charakterloſen Libertins, der mit den höchſten
Gütern, den Tugenden, der Ehre des ſchönſten Reiches
[103] leichtſinnig ſpielt wie mit den Goldrollen, die er alle
Abend am Pharotiſch verliert.“


„Jammerſchade, daß unſer Haugwitz ſich von
ihm leiten läßt. Sonſt ein ſo liebenswürdiger heller
Geiſt.“


„Mich dünkt, es iſt der höchſte Grad des Un¬
verſtandes, das Werkzeug der Verworfenheit Anderer
zu werden.“


Auf einen ſolchen Ausſpruch aus dem Munde
einer Königin muß der Unterthan in Ehrfurcht
ſchweigen. Hoym ſchwieg; auch die Königin ſchwieg
einen Augenblick, wie im Gefühl, mehr geſagt zu
haben, als die Etikette einer Königin zu ſagen er¬
laubt. Die leichte Röthe war wieder von ihrem
huldſtrahlenden Geſicht verſchwunden, als ſie fortfuhr:


„Ihm, ihm allein verdanken wir es, daß das
Ungeheuer mit kaltem Hohn auf uns herabblickt. Er
verachtet unſre Machthaber, weil wir ſolchen an ihn
bevollmächtigten. Ich ſage nichts davon, wie er in
Brünn ſich fortſchicken, in Wien behandeln, in Schön¬
brunn dupiren ließ; ich zerdrücke meinen Schmerz,
daß er es war, der Hannover uns ſchenken ließ, der
Brocken, an dem unſer Adler erſticken ſollte. Daß
er aber nach dieſer Erfahrung, belaſtet von den Ver¬
wünſchungen einer ganzen edlen Nation, jetzt in
Paris wieder dieſelbe Rolle der Inſouciance ſpielen
konnte!“


„Er war vielleicht, wie Lombard in Brüſſel, von
der Grandeur der neuen Majeſtät eblouirt. Il est un
[104] peu phantaste
, Myſtiker, er glaubt zuweilen an Geiſter¬
erſcheinungen.“


„Nein, Hoym. Er glaubt nur an ſich. Er
ſchrieb damals her: „„Sobald ich ihn geſehen, iſt
Alles abgemacht; ich weiß ja, was er in Wien zu
mir geſagt hat.““ Solcher naive Glaube wäre
rührend, wenn er nicht ein Staatsminiſter des
Königs wäre, wenn nicht Seine Majeſtät das
Wohl ſeines Volkes und ſeiner Krone in ſeine Hand
gelegt hätte. Da, in der ſchrecklichen Audienz, die
er am ſiebenten Tage auf vieles Bitten und Drin¬
gen erhielt, mußte er ſich von Bonaparte die Schmei¬
chelei in's Geſicht ſagen laſſen: „„Sie ſind ehrlich,
ich weiß es, aber Sie haben keinen Credit mehr
in Berlin; Hardenberg und ein Paar andre hirn¬
kranke Narren wühlen das Volk auf und beherr¬
ſchen Ihren König.““ Das mußte er hören, der Ab¬
geſandte Preußens, aus dem Munde des Corſen,
und —– ſchwieg –— mußte ſchweigen — und —
und —“


Als ſie wieder vorüber waren, meinte Adelheid, die
Königin ſei jetzt wohl ſchwerlich geſtimmt, ein unbedeu¬
tendes Mädchen zu empfangen; ob es nicht ſchickli¬
cher wäre, wenn ſie ſich ſtill zurückzöge? Die Scha¬
dow verneinte es: „Das geht bald vorüber. Sie
kann nicht lange zürnen, das iſt ihr himmliſches Ge¬
müth. Es iſt, wie wenn ein Gewitterſturm vorüber¬
zog und dann die Abendſonne ſcheint. Dann athmet
ſie auf, ſie kann ſich an einer Feldblume freuen, und
[105] gerade dann wird ſie erſt recht gütig, wenn ſie auf¬
gebracht war, und möchte es an Allen, denen ſie be¬
gegnet, wieder gut machen.“


Aber das Gewitter war noch nicht ganz vorüber.
Es war nur auf dem Rückzuge. Die Königin wandte
in kürzeren Abſätzen um. Diesmal ſchien Hoym
der Ankläger geweſen zu ſein. Die Fürſtin ſchüttelte
den Kopf:


„Ich hielt ihn für ehrlich. Er hat ein ſo ange¬
nehmes Weſen.“


„Leider iſt es in Paris ſo bekannt wie hier, daß
Luccheſini nach Berlin nur das berichtet, was uns
ſchmeichelt. Die Hauptſachen hat er verſchwiegen.“


„Er iſt ein Italiener. Ich will zugeben, daß
ſeine Luſt das Intriguiren iſt, aber, Graf, er ſieht
ſehr ſcharf die Dinge, wie ſie ſind.“


„Das ſtreitet ihm Niemand ab, Ihre Majeſtät,
aber ſein Geſandtenpoſten in der franzöſiſchen Haupt¬
ſtadt gefiel ihm ſo außerordentlich, daß er das geſchickt
cachirt hat, was unſer Cabinett genöthigt hätte, ihn
auf der Stelle zurückzurufen. Noch weniger als er
hatte ſeine Frau Luſt Paris zu verlaſſen.“


„Muß auch das in unſer Unglück hineinſpielen!“


„Madame la Marquiſe haßt ihre Schweſter, die
Biſchofswerder, auf Tod und Blut. Sie hat ihrem
Gemahl erklärt, daß ſie an Krämpfen verginge, wenn
ſie mit ihr unter dem Himmel einer Stadt leben
müßte. Unſer Ambaſſadeur iſt ein ſo guter Ehemann!
Ich kann ihn nicht entſchuldigen; in milderem Lichte
[106] aber darf ich Haugwitz's Verſehen betrachten. Ward er
nicht immerfort durch falſche Berichte getäuſcht?“


„Ich möchte ſo ungern auch dieſen Mann auf¬
geben! Iſt ſein Eifer jetzt für den Krieg auch Ver¬
ſtellung?“


„Nein, nur aufrichtige Erbitterung gegen Napo¬
leon, der ihn nie leiden mochte und ihn endlich aus
Paris fortſchaffte.“


„O, lieber Hoym — fuhr die Fürſtin mit der
Hand an die Stirn, Menſchen, wie ſie ſein ſollten!
— Sind denn die Könige verdammt, daß ihr Glanz
nur die an ſich zieht, die nicht ſind, wie ſie ſein
ſollen!“


„Jetzt entläßt ſie ihn bald, flüſterte die Schadow.
Geben Sie Acht, ſie wenden noch kürzer.“


Adelheids Herz ſchlug lebhafter. Eine ange¬
nehme Wärme durchdrang ſie, ſie fühlte eine Luſt,
dieſer Königin Angeſicht gegen Angeſicht zu ſtehen.


Es waren wirklich die Abſchiedsworte, als ſie
zum letzten Mal vorüber gingen.


„— Und dieſe Mäntelgeſchichte, welche das
Land in Aufruhr bringt, wird man es künftig glau¬
ben, daß man erſt jetzt, im letzten Augenblick daran
denkt! Eine Sottiſe, bedürfte es noch der Epigramme,
es giebt kein ſchlagenderes auf die Unfähigkeit unſerer
Verwalter. Und ſtatt als wirklich treue Diener ihres
Herrn die Schuld auf ſich zu nehmen, laſſen ſie Seine
Majeſtät den König in kläglichen Lauten zum Pu¬
blikum ſprechen, ſie legen meinem Gemahl Worte in
[107] den Mund, über die ich mich in der Seele ſchäme.
Sie haben nicht daran gedacht, und ihre Pflicht
war es. Iſt das Loyalität? — Auch im Kriegs¬
weſen ſagte mir Rüchel Unbegreifliches. Für das
Nöthigſte nicht geſorgt! Unſre Feſtungen zu armi¬
ren, dazu ſchickt man ſich jetzt erſt an. Es iſt uner¬
hört, man wird es künftig nicht glauben. Wozu
bezogen ſie die großen Beſoldungen, wozu wurden
ihnen Güter über Güter geſchenkt! — Nein, lieber
Graf, das Cabinet, was dieſen gräßlichen Zuſtand
möglich machte — es kann, darf nicht bleiben —
oder —“


Die Worte verhallten. Am Ende der Allee war
der Vicekönig von Schleſien entlaſſen. Louiſe ſtand
eine Weile ſinnend. Ihre ſchöne, anmuthige Geſtalt
im weißen einfachen Morgenkleide ward noch vortheil¬
hafter gehoben durch den grünen Raſenfleck, gegen
den ſie wie eine Marmorſtatue abſchnitt. Ein Sonnen¬
ſtrahl, der durch die Baumwipfel auf ihren Scheitel
fiel, ſetzte ihr eine goldene Krone auf, aber er goß
zugleich ein wunderbares Leben auf das ſchöne Ge¬
ſicht. Es war keine Bildſäule; die Königin ſchwebte
die Allee wieder herab.


„Sie hat uns geſehen. Sie kommt auf uns
zu, ſie wird uns anſprechen. Nun muthig, liebe
Demoiſelle. Wenn ich Ihnen winke, thun wir alſo
wie erſchrocken und treten einen halben Schritt zurück.
Dann wird ſie eine Bewegung machen, daß wir
herantreten. Sie knixen ſo, die Arme kreuzweis auf
[108] der Bruſt, die Ellenbogen gegen den Bauch. Tritt
ſie näher, greifen Sie nach dem Rock, als wollten Sie
ihn küſſen. Sie wird's nicht zulaſſen und die Hand
Ihnen hinhalten. Die führen Sie an die Lippen,
noch immer nach tief unten, das Andre findet ſich
dann. Dreiſt geantwortet, aber ja nicht eigene Mei¬
nungen!“

[[109]]

Sechstes Kapitel.
Die Eine gehörte ſchon einem Andern.

Auf Louiſens Geſicht ſchien jede Spur der
Agitation verſchwunden, als ſie näher kam. Sie
ging auf Beide zu.


„Ihre Majeſtät entſchuldigen, wollte die Schadow
anfangen, es iſt zufällig eine liebe junge Freundin —“


„Es iſt eine alte Bekannte und ein lieber Be¬
ſuch, unterbrach die Fürſtin. Wir ſind ja hier unter
uns, wozu die Komödie! — Es freut mich, Sie
wieder zu ſehen, liebes Kind, ſo wie Sie ſind. Ich
meine, ſetzte ſie lächelnd hinzu, wie Sie bei Gottes
ſchönem Sonnenlicht ausſehen. Das Lampenlicht
täuſcht immer, und es iſt mir lieb, daß ich mich nicht
getäuſcht habe.“


Eine gebietende, aber graziöſe Bewegung hatte,
wie ſie vorhin den Rockkuß abgewehrt, Adelheid auf¬
gefordert, an ihrer Seite weiter zu gehen.


Der Schadow ſchien es zweifelhaft, ob ſie nach
dieſem Empfange reſpectvoll unter dem Baume ſtehen
bleiben, oder in ebenſo reſpectvoller Entfernung fol¬
[110] gen ſolle. Da wandte ſich die Fürſtin freundlich um:
„Ach, liebe Schadow, da fällt mir ein, ich vergaß,
als Hoym ſich vorhin melden ließ, daß meine Lieb¬
lingsbücher auf dem Nähtiſch liegen geblieben ſind.
Sehn Sie doch nach, damit die Kinder nicht darüber
kommen.“


Der Etikettenzweifel der Kammerfrau war gelöſt,
ſie verneigte ſich und die Königin und Adelheid
waren allein.


Es war ein wunderſchöner Herbſtmorgen, kein
Wölkchen am ſonnedurchglühten Himmel, die laue
Luft ſpielte durch die angegelbten Baumwipfel, Sper¬
linge zwitſcherten in den Büſchen, weiße Herbſtfäden
flogen umher. Es war kein gezwungener Anfang des
Geſpräches, wie von ſelbſt kamen die Worte von den
Lippen der Königin:


„Sind Sie auch eine Freundin der Natur?“


„Sie ſtreicht Balſam auf die Wunden der Lei¬
denden, und weſſen Herz vor Freude jauchzt, wo fin¬
det er Laute dafür, als in ihrer ſtummen Sprache!“


Das war zu ſtarke Farbe für die Stimmung,
ſagen wir für die Poeſie der Königin, aufgetragen.
Sie blieb einen Augenblick ſtumm. Dann ſprach ſie
Worte, die auch Andre behorcht haben müſſen, denn
wir finden ſie ſchon verzeichnet:


„Ich muß den Saiten meines Gemüthes jeden
Tag einige Stunden Ruhe gönnen, und ſie dadurch
gleichſam immer wieder aufziehen, damit ſie den rech¬
ten Ton und Anklang behalten. Das gelingt mir
[111] am beſten in der Einſamkeit, aber nicht im Zimmer,
ich muß hinaus in die freie Luft, in die ſtillen
Schatten der Bäume. Unterlaſſe ich es, dann tritt
gewöhnlich Verſtimmung bei mir ein, und je geräuſch¬
voller es um mich wird, um ſo ärger wird ſie. Ach,
es liegt ein ungemeiner Segen in dem abgeſchloſſenen
Umgange mit uns ſelbſt.“


Das war viel von einer Fürſtin gegen ein jun¬
ges Mädchen, welches keine Anſprüche an ihre Ver¬
traulichkeit hatte, welches ſie zum zweiten Mal ſah.
Adelheid fühlte das Viele, es drückte ſie indeß weder
nieder, noch erhob es ſie. Jene hatte wohl Recht:
die auf den iſolirten Höhen thronen, fühlen auch das
Bedürfniß, ihre Gefühle mitzutheilen. Wenn ſie
keine Herzen, Seelen, Geiſter finden, die ſie ver¬
ſtehen, klagen ſie's der ſternbeſäeten Nacht. Sie
ſchütten in der Verzweiflung ihr Herz auch aus vor
den glatten Marmorwänden, lieber als vor marmor¬
kalten und glatten Menſchengeſichtern.


Adelheid geſtand ſich, ſie war in dieſem Augen¬
blick nur eine Wand, ein Baum, an den die Fürſtin
ihr Herz ausſchüttete. In der Art lag aber zugleich
eine Correction. Die Königin hatte die Saiten auf
den Ton geſtimmt, der im Geſpräche durchklingen
ſollte, es war ein elegiſch-ſentimentaler. Er paßte nicht
zu der Stimmung, welche Adelheid mitgebracht,
und die in dem belauſchten Geſpräche neue Nah¬
rung erhalten hatte. Weil Adelheids Saiten zu
hoch geſtimmt geweſen, ſchwieg ſie, in Erwar¬
[112] tung, daß der Einklang mit der Fürſtin ſich herſtellen
werde.


„Sie ſind eines von den glücklichen Weſen, hub
die Königin an, an deren Wiege, wie die Dichter
ſagen, gütige Feen ſtanden.“


Adelheid öffnete die Lippen, aber verſchluckte das
Wort. Die Fürſtin hatte den fragenden Blick auf¬
gefangen und verſtanden:


„Wäre ich nicht die — ſtände ich Ihnen nicht
ſo fern und fremd, ſo würden Sie mich gefragt ha¬
ben: Was iſt denn Glück?“


„An Ihre Majeſtät erlaube ich mir nicht die
Frage, aber an mich ſelbſt: Was macht das Glück
dieſes Lebens aus?“


„Mich dünkt, der Stempel, den der Schöpfer
ſeinen Geſchöpfen aufgedrückt hat, iſt die beſte Antwort.
Sie brauchen ſich nicht im Spiegel zu ſehen. Sehen
Sie nur die Mienen der Leute, denen Sie begegnen.
Die ſchöne Adelheid Alltag iſt überall willkommen.“


„Und doch verdankte ich neulich nur der Huld
einer höheren Zauberin, daß ich dem Spott und der
Kränkung entging.“


„O das waren Unarten. Neidiſche und böſe
Menſchen können den Frieden der Glücklichen nicht
verkümmern. Dieſer Friede iſt ein Gut, was tiefer
liegt. Ihre häßlichen Hände reichen da nicht hin.“


„Gnädigſte Königin, ich preiſe allerdings mein
Glück, weil ich früh einen Lehrer fand, der mich auf
das Wahre hinwies.“


[113]

„Ich kenne Ihren Vater; er iſt ein trefflicher
Mann und treuer Staatsdiener, der nichts Höheres
kennt, als Erfüllung ſeiner Pflichten.“


„Mein Lehrer lehrte mich, fuhr Adelheid raſch
fort, „daß Leiden unſre beſten Erzieher ſind. Aus der
Schule großen Unglücks entwickelt ſich die Seele zur
Freiheit und Selbſtſtändigkeit.“


Die Fürſtin ſah Adelheid befremdet an. Es
war wieder nicht das, was ſie erwartet hatte; aber
das Fremde war nichts fremdartig Feindliches, und
ſtatt abzuſtoßen, brachte es ihr das junge Mädchen
näher. Der immer theilnehmender werdende Blick
verrieth es. Jetzt entſann ſie ſich wohl, daß das
vielbeſprochene Mädchen wunderbare Schickſale erlebt.


„Haben Sie auch dieſe Schule durchgemacht! —
Doch das iſt ja nun vorüber.“


„Wer kann ſagen, daß er aus der Schule ent¬
laſſen iſt, ſo lange er lebt! Und wer ſieht unter
dem fröhlichſten Geſicht die Schmerzen in der Bruſt!“


Das war ein Ton, welcher anſchlug, er vibrirte
durch die Seele der Königin: „Und wer ſieht heute,
was morgen kommt!“


Ein Seufzer machte ſich aus ihrer Bruſt Luft.
Da flog, von einem leiſen Luftzug getragen, einer
jener weißen flockigen Herbſtfäden, wo die Allee ſich
bog, von der Wieſe ihnen entgegen und legte ſich
um Beider Bruſt, indem er, von ihrer Bewegung
feſtgehalten, ſie umſchlang. Beide waren durch ein
Spiel der Natur an einander gefeſſelt. Adelheid
V. 8[114] hob den Arm, um den Faden vom Hals der Fürſtin
loszumachen, aber — es war die Wirkung und die
That des Momentes, jene Einwirkung unſichtbarer
Geiſter, die wir umſonſt erklären, und, wenn erklärt,
ſo wäre es nichts — die Thränen ſtürzten aus den
Augen der Königin, und ſie drückte Adelheid an ihre
Bruſt. Niemand ſah es, es war weite ſonntägliche
Einſamkeit im Park. Die Sonne, obgleich ſie Alles
ſieht, iſt eine ſchweigende Zeugin, die Käfer ſchwirr¬
ten, die Fröſche ächzten ihr monotones Lied in den
feuchten Wieſen; vom Kirchthurm läuteten die ge¬
dämpften Glocken zum Begräbniß einer alten Frau.


Die Lippen der Fürſtin berührten Adelheids
Wangen: „Ach, liebes Mädchen, wer weiß, was mor¬
gen kommt!“ —


Es war da in dem Augenblick mehr zwiſchen
ihnen vorgegangen, als Worte ausſprechen. Die
Königin ſprach: „Sie ſchickte mir der allgütige Va¬
ter im Himmel zu einer Stunde, wo ich Troſtes be¬
durfte. Was man ſo gefunden, läßt man ſo leicht
nicht wieder von ſich.“


Die Emotionen haben ihr ewiges, unverjähr¬
bares Recht, unter den goldenen Decken der Schlöſ¬
ſer wie unter den Schilfdächern der Hütten; aber
hier dürfen ſie austoben bis zur Erſchöpfung, dort
iſt ihnen ein Maaß geſteckt.


Louiſe war wieder die Königin geworden, als
ſie weiter gingen, aber von einer Huld, welche die
Majeſtät überſtrahlte. Sie zeigte nach dem Pavil¬
[115] lon mit chineſiſchem Dach, auf einer kleinen Höhe
vor ihnen: „Dort wollen wir einen Augenblick aus¬
ruhen.“


Ihr Geſpräch, bis ſie den Punkt erreicht, war
lebhaft, aber es floß ruhig hin. Adelheids Aeußerun¬
gen mußten die ganze Aufmerkſamkeit der Fürſtin er¬
regt haben. Sie hatte ſie oft forſchend angeblickt.
Als ſie auf der ländlichen, von Birkenäſten gefloch¬
tenen Bank Platz genommen, ſagte Louiſe:


„Sie ſind noch ſo jung und ſchon ſolche Erfah¬
rungen!“


Adelheid erröthete.


„Sie kamen, wie Sie mir ſagten, nie aus der
Reſidenz, Sie lebten nur in guten Häuſern, unter
reſpectabeln Familien, und zuweilen blitzt es aus
Ihren Reden, als wüßten oder ahnten Sie die Ver¬
worfenheit der ſchlechten Menſchen. Ich glaubte, das
wäre uns nur aufgeſpart, die wir von oben ſo Vie¬
les ſehen, was Ihnen unten verborgen bleibt. Wie
die Motten nach dem Licht, ſo flattern uns die zu,
welche für ihre ungeordneten Begierden unten keinen
Platz fänden. Wir müſſen ſie dulden, weil — ach,
aus vielen Gründen! während die ſtillen, ſittlichen,
bürgerlichen Kreiſe ihnen die Thür verſchließen dür¬
fen. Man thut daher ſehr Unrecht, uns zu beneiden,
liebe Mamſell. Wir, die wir andern Pflichten zu
gehorchen haben, könnten die Niederen beneiden, welche
dieſe Rückſichten nicht kennen. Sie dürfen nach
ihrem Penchant leben und ihre Freunde ſich unter
8*[116] den Rechtſchaffenen und Guten nach ihrem Gefallen
ausſuchen.“


„Ihre Majeſtät, ich meine, es giebt Rückſichten
und Pflichten in jedem Lebenskreiſe.“


„Ganz gewiß, aber es iſt leichter, in den Hüt¬
ten ein ſtilles Glück ſich zu bereiten und doch keine
Pflicht zu vergeſſen, als wenn unſre Wiege dem
Throne nahe ſtand.“


Die Fürſtin ſprach es mit dem bewegt feierlichen
Tone, der keinen Widerſpruch zuläßt. Ihr Auge
ſah dabei wie verklärt in die Ferne. Wo ihre Ge¬
danken waren, ließ ſie die Zuhörerin nicht lange er¬
rathen: „Auch ich habe einen Blick in dieſes Glück
gethan. Es waren die ſchönſten, glänzendſten Stun¬
den meines Lebens. Damals, liebes Kind, hielt ich
es auch für das höchſte Glück, was das höchſte We¬
ſen unterm Sternenzelt einer Sterblichen gewähren
könne, Königin zu ſein über ein glückliches Volk.“


Die Gedanken der Königin verfolgten die be¬
rühmte Huldigungsreiſe, welche ſie nach der Thron¬
beſteigung Friedrich Wilhelms III. mit ihrem Gemahl
gemacht. Tage waren es lichten Sonnenſcheins, als
vorausgeſchickte Cabinetsordres allen Prunk und alle
Ehrenbezeugungen verboten hatten; denn, hatte der
König erklärt, die Liebe des Volkes habe untrüg¬
lichere Merkmale, als Einholungen, Gedichte, Guir¬
landen und Ehrenpforten. Der Monarch hatte er¬
klärt, daß nur die Merkmale der Liebe für ſein Herz
Werth hätten, welche, von keiner Gewohnheit und
[117] Herkommen abhängend, grade aus dem Herzen kä¬
men. Und ſo waren ſie ihr, ſo dem glücklichen Gat¬
ten entgegengekommen. Das Volk that, wie es be¬
fohlen war, und wir haben nicht den geringſten Zwei¬
fel, daß es nicht von Herzen es gethan.


Louiſe letzte ſich an der Erinnerung. Sie
malte einzelne jener ſchönen Züge, von denen uns die
Zeitgenoſſen berichtet. Die Erſcheinung des Königs
und der Königin, einer jungen, von Liebreiz und
Güte umfloſſenen, in Provinzen, wo auch die älte¬
ſten Greiſe ſich nicht erinnern können, je eine Köni¬
gin geſehen zu haben, glich der Erſcheinung von
Schutzgöttern des Vaterlandes, von erhabenen Ge¬
nien der Gerechtigkeit und Milde, die überall, wo ſie
ſich zeigen, unüberwindliche Eroberer, jedes Herz ge¬
winnen. Eine Reiſe war es geweſen fortwährender
Triumphe, nein, eine ununterbrochene Reihe von
Familienfeſten. Da brannte die Sonne herab, daß
man die Augen nicht aufthun konnte, und doch
wich Keiner vom Platze, bis er ſeine Königin
mit Augen geſehen. Da waren neunzehn weiß ge¬
kleidete Mädchen an ihren Wagen geſprungen. Eines
hatte der Königin zugeflüſtert: Wir ſind eigent¬
lich zwanzig, aber die Eine iſt nach Haus geſchickt.
— Warum denn, liebes Kind? — Weil ſie ſo hä߬
lich ausgeſehen. Da hatte Louiſe nach der armen
Häßlichen geſchickt und ſprach am längſten und freund¬
lichſten mit ihr. — Und jener alte Bauer, der ſie ſo
gern ſehen wollen, und immer wieder von den An¬
[118] dern und den Gensdarmen zurückgedrängt war, die
Königin hatte ihn wohl geſehn und heranrufen laſ¬
ſen, und noch ſah ſie ihn, wie der Greis ſein Haupt
entblößte und ſtumm, aber unverwandten Blickes,
die Landesmutter anſchaute. In deſſen Herzen,
wußte ſie, lebte ihr Bild ewig fort! Und wie in
einem andern Dorfe in Pommern die Bauernſchaft
den Wagen umringt hatte, und die Bauern in ihrem
Plattdeutſch durchaus darauf beſtanden, daß ſie aus¬
ſteigen müſſe und ſich „tractiren“ laſſe, damit die
Städter nicht dächten, ſie hätten das Vorrecht allein.
Und die Königin war lächelnd ausgeſtiegen und in
das Bauernhaus getreten, und hatte von dem gro¬
ßen ihr aufgetragenen Eierkuchen ein Stück gegeſſen,
und verſichert, daß er ſehr ſchmackhaft ſei. Und wie
der König im Zelt an der Weichſel, wo er als Gaſt
der Elbinger tafelte, zu dem Landmann, der mit
einer Bittſchrift ſich auf die Knie geworfen, in edlem
Unwillen gerufen: „Nur vor Gott knien! Ein Menſch
muß nicht vor einem andern Menſchen knien!“


„Da habe ich Blicke gethan auf den Heerd mei¬
nes Volkes, ſchloß die Königin, und weiß, wo die
Zufriedenheit und Seelenruhe wohnt. — Sie fröſteln,
liebes Kind, Sie ſchaudern ſogar —“


„Ach, Ihre Majeſtät, es waren Gedanken —“


Die Fürſtin hatte ſie geleſen: „Freilich weiß ich,
nicht überall ſtehen Hütten von Philemon und Bau¬
cis, aber die Immoralität hat da keinen dauernden
Wohnſitz, wo bewährte Tugenden, Patriotismus und
[119] Menſchenliebe die Seelen umſchlingen. Wenn wir
wieder Ruhe und Frieden nach Außen haben, dann
hoffe ich, ſoll es in den höheren — Gott gebe auch
in den höchſten Kreiſen beſſer werden. Aber Sie,
liebes Mädchen, können doch nicht klagen, Ihr guter
Genius führte Sie nur unter edle Menſchen —“


„Erlauchte Frau! ich meine, die Menſchen ſind
in allen Kreiſen Menſchen, und verzeihe mir der All¬
gütige, wenn es Sünde iſt, ſie kommen mir oft wie
ein Knäuel von Schlangen vor. Wenn Eine mich recht
liebevoll anblickt, denke ich an den Tiger, der den Kopf
auf die Krallen drückt, zum Satz auf ſein Opfer.“


„Was ſind das für Phantaſieen!“


„Ich weiß es nicht. Aber ich ſehe überall Lar¬
ven und dahinter Verbrecher.“


„Calmiren Sie ſich.“


„Es iſt nun einmal mein Schickſal, ich ward
von ihm herumgeſchleudert, ich bin keine, ich will
keine Clairvoyante ſein, aber wie Vieles mußte ich
wider Willen belauſchen, und da iſt mir, wenn ich
einen ſtillen Teich ſehe, den kein Lüftchen kräuſelt,
als werde er plötzlich gähren, ſich heben, toben und
Ungeheures zu Tage kommen. Wo wir's am we¬
nigſten erwartet, in den friedlichen Kreiſen, die wir
die glücklichen nennen, als braue unter der Ruhe
Entſetzliches. Die Luft drückt mich, und zuweilen
wünſche ich, daß der Sturm komme, die Elemente
toben; ein Krieg erſcheint mir nicht mehr ſo ſchrecken¬
voll, wenn dieſe brütende Stille nur aufhört.“


[120]

„Das ſind Imaginationen, vielleicht aus den
neuen Büchern. Dieſe Schlegel, Tieck, Novalis ſind
aber eine excentriſche Lectüre, welche das Blut erhitzt;
keine für ein junges Mädchen, das Herz und Geiſt zum
Umgang mit rechtſchaffenen Menſchen ausbilden will.“


„Mich dünkt, Ihre Majeſtät, die Zeit iſt auch
zu ernſt, und fordert von uns andre Pflichten, als
in der Märchenwelt zu luſtwandeln.“


„Das iſt verſtändig von Ihnen. Man eifert
zwar auch gegen das Leſen von Romanen und Schau¬
ſpielen, aber man thut Unrecht. Unſer Iffland führt
uns doch immer rührende Beiſpiele vor, wie wir
uns glücklich finden können in beſchränkten Verhält¬
niſſen. Sie wollen es tadeln, daß er die böſen Men¬
ſchen immer aus der vornehmen Welt nimmt. Aber
hat Iffland Unrecht? Ich wenigſtens und der König
ſehen uns immer mit Befriedigung an, Sie ſollen
ſich nur ein Exempel dran nehmen, die es trifft,
ſagte neulich mein Gemahl. — Den Lafontaine
möchten ſie uns auch verleiden, aber wie viele herz¬
liche und frohe Stunden verdanken wir ihm, wie
vielen Troſt, wenn wir Abends nach einem verdrie߬
lichen Tage uns mit ihm auf dem Sopha vom Ge¬
wühl zurückzogen. O es giebt ſolche Tage, wo Für¬
ſten nichts hören als Klagen, Gegenanſchuldigungen,
wo uns die Welt wie ganz verderbt erſcheint, ein
Knäuel von Schlangen, ſagten Sie, wir wollen es
nur ein Durcheinander von böſen Menſchen nennen.
Da, wenn wir uns fürchten mußten vor Allem, was
[121] uns nahe kam, da erquickte uns Lafontaine mit der
rührenden Einfalt ſeiner Perſonen, wir ſahen uns
an, und wenn wir es nicht ausſprachen, dachten wir
es: es giebt doch noch gute Menſchen. Warum ſind
die es nicht, welche die Vorſehung uns in den Weg
führt. Zuweilen erhört dann der Himmel unſern
Wunſch, und wenn wir es am wenigſten erwarten.“


Der gütigſte Blick ruhte auf Adelheid.


„Was ſind denn Ihre Lieblingscharactere in La¬
fontaine?“ fragte die Fürſtin, um ſie in ihrer ſicht¬
baren Verlegenheit aufzumuntern. Die Gütige ſah
wohl die Wirkung, aber nicht die Urſache. Adelheid
hatte an den Romanen nie Geſchmack finden können;
ſie hatte die wenigſten durchgeleſen. Sollte ſie lügen
vor einer Monarchin, die allen Schmuck der Hoheit
vor ihr abgelegt, und nur in ihrem edelſten Selbſt
ſich gab! Adelheid hätte in dieſem Augenblick auf¬
ſtehen und ihr zu Füßen ſtürzen können, um die Wahr¬
heit in ihr zu verehren, die nicht in ſchönerer Geſtalt
ſich verkörpern konnte, aber die Unwahrheit ſprechen
konnte ſie nicht.


Es floß von ihrem Munde, was ſie dachte, mit
einer kleinen Einfaſſung von Schmeichelei, die darum
nicht Unwahrheit war: „Mich dünkt, des Dichters
Aufgabe iſt, die Menſchen zu ſchildern, wie ſie ſind.
Weil er Dichter iſt, darf er das Schöne und Erhabene
in ſeinem wunderbar geſchliffenen Spiegel vergrößern
und verſchönern, und es mag ihm auch vielleicht
erlaubt ſein, das Häßliche und Schlechte noch etwas
[122] häßlicher zu machen. Doch das verſtehe ich nicht
und beſcheide mich deshalb. Das Große und Schöne
ſoll er jedoch nicht häßlich und niedrig malen, ſonſt
widerſteht er unſerm Gefühl, denn von der Dichtung
verlangen wir Frauen wenigſtens, daß ſie unſre Ge¬
fühle erheben und uns die ewige Schönheit ahnen
laſſen ſoll. Aber wenn er umgekehrt das Kleinliche
und Häßliche ausſchmückt, und dem Gemeinen den
Schein der Tugend und des Edelmuthes umhängt,
damit uns das gefalle, was wir meiden und verab¬
ſcheuen ſollen, dann kommt es mir vor, als verſün¬
digte er ſich an ſeinem hohen Beruf. Wenn ich durch
die Wimpern einer edlen Fürſtin eine Thräne ſich
drängen ſehe, weil ſie bang einer ſchweren Zukunft
entgegen ſieht, für ihre Familie, ihr Volk, ihr Land,
oder iſt's eine der Freude, daß ihr Gemahl ſiegreich
aus dem Felde zurückkehrt, ihre Kinder ihr Freude
bereiten, ihr Erſtgeborner einen erſten Zug entfaltet,
der an den Edelmuth und die Tapferkeit ſeiner Ahnen
erinnert — das, dünkt mich, iſt eine Thräne, die
der Dichter auffaſſen muß wie ein Juwel im Sonnen¬
ſchein. Aber entweiht er die ſchöne Thräne nicht,
wenn er auch alle ſeine unbedeutenden Perſonen bei
jeder Gelegenheit gerührt ſein und weinen läßt, um
Kleines und Geringfügiges, und wenn er die Thräne
dann ſo ſchön ausmalt, daß die armen Leſer mitwei¬
nen müſſen! Sie wiſſen am Ende nicht recht, warum,
aber er erhält die weinerliche Stimmung, weil er
darauf rechnet, daß wir Alle ſchwach ſind und es
[123] uns am Ende an ihn feſſelt. So kommt mir Lafon¬
taine vor, erlauchte Frau, er weiß, wo wir Alle ſchwach
ſind, und da verſucht er uns zu ſtreicheln, er drückt
wehmüthig die Hand, ſchlägt verführeriſche Accorde
an, bis wir fortgeriſſen ſind, und wenn wir wieder
zu uns kommen, ſchämen wir uns darüber, denn er
hat uns weich gemacht, wo wir ſtark ſein ſollten,
und wo haben wir dann noch Gefühl, Stimmung,
die unentweihte Thräne für das große Schickſal wirk¬
lich großer Menſchen.“


Die Königin hatte mit Aufmerkſamkeit zugehört.
Von Spöttern waren ihr ähnliche Urtheile über ihren
frühern Lieblingsdichter ſchon zugedrungen. Dieſer
Ton war anders. Sie ſtimmte nicht bei, ſie wider¬
ſprach nicht, ſie ſchien die Sache zur weitern Ueber¬
legung zurückzulegen, als ſie ſich ſeitwärts wandte:


„Dann iſt wohl Jean Paul Ihr Dichter? Die¬
ſer Liebling der Muſen erhebt uns in die Höhen,
wo unſre Adelheid ſich wohl befindet. Ich liebe ihn
auch, aber mir ſchwindelt zuweilen in ſeinen lichten
Räumen, mitten in meiner Begeiſterung und Bewun¬
derung für ihn fühle ich mich beklommen. Daß ich
es grade herausſage, die Luft dieſer erhabenen We¬
ſen iſt mir zu rein, meine Neigungen ſind doch noch
zu irdiſch, ich fühle, daß ich unter dieſen Natalien
und Lianen eine ſchlechte Rolle ſpielen würde. Es
iſt vielleicht die Eitelkeit — ſetzte ſie lächelnd hinzu
— die Königin möchte nicht gern die Magd ſpielen
in der überirdiſchen Geſellſchaft des edlen Dichters.“


[124]

„Ihre Majeſtät verzeihen, wenn ein ſchlichtes
Bürgermädchen dieſen Stolz auch empfindet. Jean
Paul's Frauen kommen mir oft vor wie aus Monden¬
ſchein und Sonnenſtrahlen gewebt. Wenn man ſich
an ſie hielte, zerflöſſen ſie —“


„Das dürfen Sie in Berlin nicht laut ausſprechen,
ſonſt verketzern ſie uns, fiel die Fürſtin noch im ſel¬
ben Ton ein. — „Nein, alle Admiration dem herr¬
lichen Manne, aber Sie haben wohl Recht, unſere
Zeit fordert Männer, auch Frauen, welche den Din¬
gen und Verhältniſſen in's Geſicht zu ſehn verſtehen,
und vor einer rauhen Berührung nicht zurückſchrecken.
Sie fordert, daß wir unſre Empfindungen beherrſchen.
Es iſt ſchwer, mein liebes Kind, ſchwer für einen
Jeden, die ſchlechten Menſchen nicht merken zu laſſen,
daß man ſie haßt, verachtet, was mehr für uns
Fürſten! Das iſt unſere geprieſene hohe Freiheit, wir
müſſen ſogar freundlich ſcheinen gegen unſre Feinde,
denen die Hand drücken, von denen wir wiſſen, daß
ſie in der Taſche den Dolch gegen uns verſteckt hal¬
ten. Das koſtet etwas — eine Reſignation, die oft
unſre ſchwache Kraft überſteigt. — Wir träumen zu¬
viel von dem Guten und Beſſern. Das iſt ſchön,
aber wir dürfen nicht mehr träumen, wir Alle nicht.
Jede muß ihre ganze Kraft anrufen, um gerüſtet
dem gegenüber zu ſtehen, was Gott zu unſerer Prü¬
fung ſchickt. Wir müſſen uns bezwingen, entſagen
können, auch dem, was uns das Theuerſte, Liebſte iſt!“


Der Ton ihrer Sprache hatte ſich mit ihrer
[125] Stimmung plötzlich verwandelt. Es war auch um
ſie her anders geworden; die Sonne war hinter herauf¬
ziehende Wolken getreten, die Vorläufer des Windes
hatten ſchon länger die gelben Blätter über die Füße
der beiden Frauen getrieben, jetzt fing er an, in den
Büſchen das Gezweig zu rütteln, in raſchen Stößen
ſchüttelte er von den entfernten Baumwipfeln das
Laub. Die laue Luft hatte, wie auf einen Zauber¬
hauch, einer empfindlichen, ſcharfen Kälte Platz ge¬
macht, daß die Damen die Tücher enger um den
Hals zogen.


„Wir müſſen Alle entſagen, ſprach die Königin
feierlich, auch Sie, Adelheid, werden die Kraft haben.
Ich habe das ſchöne Vertrauen, nachdem ich Ihre
ſchöne Seele kennen gelernt.“


Da war auch ein ſchöner Vorhang plötzlich ge¬
fallen, ein Vorhang gewebt aus Sonnenſtäubchen,
die in anmuthigem Spiel hin- und her geſchaukelt,
und die bleierne, graue Wahrheit lag vor ihnen, das,
warum die Fürſtin Adelheid zu ſich beſchieden; auch
das blickte ſchon verrätheriſch hervor, warum Adelheid
gekommen war.


Es giebt im Seelenleben Augenblicke, wo der
Klügſte ſich keine Rechenſchaft zu geben weiß, woher
ein Gedanke aufquillt, dem er plötzlich zu folgen ſich
gedrungen fühlt, auch wenn er entgegen der Strömung
iſt, der all ſein Fühlen und Denken ſich hinneigt.
Bei großen Männern iſt es ein Kitzel, mitten in Planen,
welche die Welt verrücken ſollen, ſich ſtarr auf einen
[126] einzelnen Punkt zu ſetzen, der damit nichts zu thun
hat, ſorglos, ob die Emſigkeit, welche ſie der Bagatelle
widmen, ſie an ihrem größern Schaffen hindert.
Cäſar, mit dem Plan die Welt zu erobern im Kopfe,
beſchrieb, wie ein Liebender die Augen der Geliebten,
die Conſtruction der hölzernen Rheinbrücke, die er
erfunden. Es iſt die ewige Mahnung an die großen
Geiſter, daß ſie auch Menſchen ſind, an uns, daß
all unſer ernſtes Thun vor einem höhern Auge Spiel¬
werk iſt. An Frauen es zu rügen, iſt nie einem
Billigen eingekommen. Wenn ſie gar nicht mehr
ſpielen ſollten, was wären ſie ſich — uns! Auf
Königin Louiſens Seele laſtete Ungeheures. Seit der
vorjährigen Gruftſcene in Potsdam ſchien ſie Vielen
ihrer Umgebung wie ausgetauſcht. Sie las nicht
mehr Lafontaines Romane, daß ſie heute ſie gerühmt,
war nur pietätvolle Erinnerung geweſen, ſie lebte der
ernſten Sorge vor der Gefahr, die über dem Hauſe
ihres Gatten, dem Lande ihrer Liebe und Wahl
ſchwebte. Keine Frau, vielleicht wenig Männer fühl¬
ten ſo ſchwer, innig, zuweilen klar die Bedeutung
der Zeit, und doch hatte ſie ein Etwas, was ganz
außer dieſem Kreiſe lag, mit Eifer aufgefaßt. Sie
hatte ſich für das ſchöne Mädchen intereſſirt, von dem
der Ruf ſo viel ſprach, die erſte Begegnung hatte
dies Intereſſe erhöht. Sie wollte Adelheid, nach
dem gelegentlichen Geſpräch mit ihrem Vater, vor
einer Verbindung bewahren, welche dieſer beklagt,
welche ihr als ein Unglück erſchien. Wie ihre Phan¬
[127] taſie plötzlich ſich dieſes Gegenſtandes ſo bemächtigen
können, bleibt uns ungeſagt, aber es war ſo, es war
nicht unnatürlich, und die Königin ſprach wie eine
liebende, zärtlich beſorgte Mutter zu ihrem Kinde.


Louiſens Beredtſamkeit ward von ihren Zeitge¬
noſſen als bezaubernd gerühmt. Jedes Wort aus
ihrem Munde ſei ein Schlag des Herzens, ein Klang
der Seele geweſen, da wo eben das Wort nur die
wahrhafte Aeußerung des wahrhaft im Innern Le¬
benden war. Der Zauber dieſer Beredtſamkeit ſei
geweſen, daß ſie nicht eine Kunſt war, ſondern eine
Tugend. Wie ihre Briefe ein voller, unverkümmerter
Herzenserguß waren, ſo folgte in ihrer Rede, wenn
das Herz ſie dictirt, die Sprachfertigkeit dem raſchen
Schwunge ihrer Gedanken.


So hatte die Königin zu Adelheid geſprochen.
Der dürre Inhalt der belebten Rede würde lauten:
Sie ſind ein gutes Mädchen, und ein gutes Mädchen
iſt gehorſam dem Willen ihrer Eltern, Eltern ſehen
am beſten, was zum Wohle ihrer Kinder iſt, Ihre
Eltern ſind gegen dieſe Partie, weil ſie dieſelbe für
unpaſſend halten, weil ſie vorausſehen, daß Sie mit
dieſem Manne kein glückliches Leben führen können.
Der Mann Ihrer Liebe iſt ein Wüſtling, Sie ſelbſt
können ſich darüber keiner Täuſchung hingeben, denn
Sie wiſſen es aus eigner Erfahrung. Wenn auch
Ihre Eltern nicht wären, müßten Sie ſich fragen:
Iſt dieſer Mann meiner würdig, bin ich, bei ruhiger
Ueberlegung, noch des Vertrauens, daß er mich glück¬
[128] lich, zufrieden machen kann? Sie müßten ſich auf¬
richtig antworten: Was kann er mir bieten, als ein
ganz verwüſtetes Leben! Welche Bürgſchaft, daß,
wenn er ſich ſcheinbar gebeſſert, er nicht wieder in
das alte Sein zurückverfällt, ſobald die erſte Leiden¬
ſchaft, die er jetzt Liebe nennt, ausgetobt hat. Und
was gebe ich ihm dafür? Den friſchen, frommen
Sinn einer tugendhaften Jugend, ein blühendes Da¬
ſein. Iſt er ſolchen Opfers werth? Kann, ich dies
Opfer vor meinem Schöpfer verantworten, der ſo
ausgezeichnete Gaben mir ſchenkte, nicht um ſie weg¬
zuwerfen? Er wird dereinſt Rechenſchaft darüber
fordern. — Endlich, zugegeben, daß Ihr Herz ſich
ſchwach fühlt, daß Sie ihn lieben. Aber Sie ſind
ein ſtarkes Mädchen, das ſelbſt es ausgeſprochen,
in einer ſo ernſten Zeit dürfe man nicht mit Mähr¬
chen tändeln, nicht dem Spiel der Phantaſie ſich
hingeben. „Sein Sie, zeigen Sie ſich jetzt ſtark.
Drücken Sie Ihre Hand an das blutende Herz —
ich weiß, daß es blutet, ich kenne auch dieſen Schmerz
— aber man kann ihn überwinden! Reichen Sie
mir die andere, dann ſehn Sie mich mit Ihren
klaren Augen, die nicht lügen können, an und ſprechen:
Ja, ich will entſagen.“


So ſchloß die Königin und hatte vielleicht er¬
wartet, daß Adelheid auf die Knie ſinken, ihre Hand
an die Lippen preſſen, das Geſicht in ihrem Schooß
verbergen würde. Gerührt von ſo vieler Güte und
Theilnahme, mußte ſie das Gelöbniß ſtammeln, und
[129] Louiſe hätte ſie dann in ihre Arme geſchloſſen und
vielleicht geſprochen: „Nun ſind Sie mir doppelt ge¬
wonnen!“


Aber Adelheid ſank nicht auf die Knie, ſie preßte
nicht die königliche Hand an die Lippen und verbarg
auch nicht ihr Geſicht. Sie blickte ſo klar und ohne
Trug, wie die Fürſtin es verlangt, dieſe an und ſprach:


„Erlauben mir Ihre Majeſtät, daß ich antworte,
ganz wie ich fühle?“


„Das erwarte ich,“ ſagte Louiſe, ohne ihr Be¬
fremden verbergen zu können.


„Ihre Majeſtät verlangen drei Punkte von mir:
Gehorſam, Einſicht und Entſagung. Man iſt ein
ſchlechter Advokat in eigner Sache, habe ich immer
gehört, möchten Sie, gnädigſte Frau, daher Nachſicht
mit einer Armen haben, die, angeklagt vor einem ſo
hohen Richterſtuhl, ſich zum erſten Mal vertheidigen
ſoll.“


Die Vertheidigung, was den erſten Punkt be¬
traf, führte Adelheid mit einer Ruhe und klaren Aus¬
einanderlegung der Thatſachen, daß man doch glau¬
ben können, es ſei nicht das erſte Mal, daß ſie, des
Ungehorſams gegen ihre Eltern angeklagt, vor Gericht
ſtehe: Noch gehöre ihr Herz und ihre volle Dank¬
barkeit den Theuren, aber nicht mehr ihr Schickſal,
das Vater und Mutter ja längſt in andere Hände
gelegt. Wenn ſie von denen ſich frei gemacht, ge¬
höre dieſe Freiheit ihr, die ſie errungen. Wiſſe ein
Vater, auch der beſte, liebevollſte, immer am beſten,
V. 9[130] welcher Gatte das Glück ſeiner Tochter begründen
werde, dürfe das Herz nie mitſprechen, und blicke
dieſes nicht oft klarer in die Seele des Geliebten
und die Zukunft, als ein redlicher Vater, der im
Staatsdienſt, unter Aktenſtaub ergraut, den Werth des
Menſchen nur nach ſeiner Stellung im bürgerlichen
Leben abſchätze? Und ſei nicht der Wille des Men¬
ſchen wandelbar, es nie vorgekommen, daß Eltern
ihre Anſicht geändert, daß ſie endlich ihre Hand ſeg¬
nend über Ehebündniſſe gebreitet, denen ſie vorher ge¬
flucht, während ſo mancher Vater die Hände gerun¬
gen, manche harte Mutter die Haare gerauft über das
Unglück ihrer Tochter, das ſie durch ihre Hartherzig¬
keit, ihren Eigenſinn herbeigerufen? Aber nein, ihre
Eltern würden rein von dieſer Schuld bleiben. Ihr
Vater kämpfe nur mit alten Vorurtheilen, vielleicht
ſeiner Beſcheidenheit, die ſeiner Tochter ein ſtilleres,
bürgerliches Loos gewünſcht, und das Herz ihrer
Mutter ſei ſchon jetzt weich geſtimmt.


Wenn Adelheid in ihrer Advokatenrede auch
nicht von der Wahrheit abgewichen war, hatte
ſie doch nicht die kleinen Künſte der Diplomatie
verſchmäht. Die verſteckten Anſpielungen auf ſo
manche Familienſcene aus Lafontaine war verſtan¬
den und hatte gewirkt. Wo die Königin über
die erdichtete Situation Thränen vergoſſen, durfte ſie
da die wirkliche mit der Kälte des Verſtandes ver¬
dammen? Adelheid hatte in dieſem Punkte geſiegt.
Die Fürſtin verſchluckte Vorſchläge, die ihr dunkel
[131] vorgeſchwebt, daß ein ſo reines, ſchönes Mädchen,
ein Abdruck der jungfräulichen Natur, nicht in das
verderbte Städteleben paſſe, daß ſie an der Hand
eines braven, einfachen, redlichen Mannes fern auf
dem Lande, in einer Hütte, umſchattet von Flieder¬
büſchen, das Glück und den Frieden des Lebens fin¬
den werde. Ihre großmüthige Phantaſie hatte zwar
die Hütte im Innern recht hübſch austapezirt, aber
— Adelheid paßte doch nicht dahin; zu dieſer Ueber¬
zeugung war die kluge Königin ſchon in der erſten
Hälfte ihres Zwiegeſpräches gediehen.


Aber um zu entſagen, dazu war ſie ſtark. Louiſe
blickte noch einmal mit Wohlgefallen das ſchöne Mäd¬
chen an. Welch ein Moment, wenn ſie, nicht aus
kindlicher Pflicht, nicht aus Rührung, nein, aus vol¬
ler Ueberzeugung erklärte: ja, einer höhern Pflicht
gehorchend, entſage ich. In einer neuen, kurzen An¬
ſprache malte die Königin ihr die Seligkeit dieſes
Gefühls. Sei es nicht eine königliche Tugend, das
Herz der Pflicht unterzuordnen? Grade die auf der
Menſchheit Höhen wandeln, die Fürſtinnen, ſeien von
Anbeginn dazu beſtimmt; zum Beſten des Allge¬
meinwohls träten ſie an den Opferaltar. Es war
eigentlich eine Dithyrambe, in der Louiſe ſich für
die kleine Niederlage erholte; leider aber war Adel¬
heid heut nicht in derſelben Stimmung. Als
hätte die friſche Herbſtluft alle Nebel und Illu¬
ſionen gelichtet, ihre Gedanken geklärt und in Schich¬
ten gelegt, antwortete ſie mit einer Verſtändig¬
9*[132] keit, die einen entzückten Liebhaber vielleicht er¬
ſchreckt hätte:


„Aber, gnädigſte Königin, ich bin nicht aus
fürſtlichem Blute, und weiß daher nicht, warum ich
Opfer dem Allgemeinwohl bringen ſollte. Das hat
von einem unbedeutenden Mädchen nichts zu erwar¬
ten und nichts zu fürchten; ein Tropfen im Meere
mehr oder weniger, das Meer merkt es nicht. — Soll
ich für Andere entſagen? Wem helfe ich, wen tränke
ich? Etwa den Vater meines Geliebten, weil er
dieſe Verbindung nicht wünſcht? Er hat ſich nie
um ſeinen Sohn gekümmert, er hatte ihn ſo gut
wie verſtoßen. Was Louis Bovillard iſt, verdankt
er ſich ſelbſt. Er ſteht frei gegen ſeinen Vater, ja,
er iſt noch freier von ihm, als ich gegen meine EI¬
tern. Kann dieſer Vater mir etwas vorwerfen, was
nicht alle Welt weiß, was ſelbſt vor den Läſterzun¬
gen derſelben rein geſtempelt iſt, ſeit Ihre Majeſtät
mir öffentlich Ihre Huld gezeigt?“


„O nichts von dem! ſprach die Königin mit
abwehrender Handbewegung. Er könnte ſich glücklich
ſchätzen, eine ſo reine Schwiegertochter in ſein be¬
flecktes Haus zu bekommen. Dazu iſt er jetzt ein
Narr! Dieſer profligate Menſch, der ſein Leben
durch nichts gethan, als den Adel ſeiner Menſchen¬
würde herabzuſetzen, pikirt ſich jetzt, aus vermoder¬
ten Pergamenten einen uralten Adel zu beweiſen.
Lächerlich und empörend!“


„Gegen wen, erlauchte Frau, wäre es dann
[133] Pflicht, dem ſchönſten Traume meines Lebens zu ent¬
ſagen?“


„Gegen ſich ſelbſt! Können Sie keinen noch
ſchöneren ſich denken, das Bewußtſein, Ihre Tugend
und Ihr beſſeres Sein vor Ihren Affecten gerettet
zu haben?“


„Ich fühle in mir nicht den Beruf, eine Hei¬
lige zu werden, erwiederte Adelheid. Ich bin, was
ich bin, und will nicht mehr ſein, ein Mädchen wie
andre, von nicht zu heißem und nicht zu kaltem
Blute. Ich glaube mich überwinden zu können, wenn
ich muß, wo ich aber die Nothwendigkeit nicht abſehe,
glaube ich ein Recht zu haben, wie jedes lebende
Weſen, wo Gottes Sonne auf mich ſcheint, mich zu
freuen in ihrem Strahl.“


Die Worte klangen nicht harmoniſch zur Stim¬
mung der Königin, nein, es war eine kecke Diſſo¬
nanz, aber Louiſe konnte nicht zürnen; durch das
Vorangehende war ſie ſchon anders geſtimmt. Das
Geſpräch hatte eine ganz andre Wendung genom¬
men, als ſie beabſichtigt. Sie begnügte ſich zu ſa¬
gen: „Ach, wenn Sie die Seligkeit einmal kennten,
die im Entſagen liegt!“


„Ich habe einſt entſagt, fiel Adelheid ein, und
koſtete nur die Schmerzen der Enttäuſchung, ich
empfand die Folter der Unwahrheit. Ja, Majeſtät,
da fühlte ich, es giebt auch eine Pflicht, uns ſelbſt
treu zu ſein und wahr. Die hatte ich verletzt, mich
verſündigt gegen mich, gegen das Heiligthum meines
[134] Herzens. Es ſchlug für ihn von jenem erſten Augen¬
blick an, und ich hatte ſeine Schläge unterdrückt;
es waren die Rückſichten, die meine Königin aus¬
ſprach. Das waren unglückſelige Monate, Jahre;
die Bruſt blutete und keiner ſah es, und kein Troſt,
ich half ja Keinem damit. Statt kräftig zu werden
und friſch, lähmte die Halbheit meinen Geiſt. — Es
war keine Tugend, es war eine Sünde, es blieb
Sünde, bis ich ſie erkannt und mir gelobte, die
Wahrheit offen zu bekennen. Gott ſchütze und wahre
mich davor, daß ich wieder zurückſinke in die Un¬
wahrheit.“


Sie hielt inne, auch die Fürſtin ſchwieg. Das
Aber, das auf ihren Lippen ſchwebte, ward durch
einen neuen Ausbruch der Rednerin unterbrochen.
Sie fühlte ſich auch vor der gütigſten Königin in
ihrem Recht, jetzt Alles auszuſprechen.


„Das war ein Selbſtmord geweſen, und der
Schöpfer will nicht, daß wir uns ſelbſt vernichten.
Aber es konnte mehr werden, ein Mord an einem
unausſprechlich Unglücklichen, den zu retten meine
ſchönſte Lebensthat wäre.“


„O mein armes Kind, fiel die Fürſtin ein, ich
ſehe die Gluth Ihrer Leidenſchaft, aber täuſchen Sie
ſich nicht. Ich ſehe mehr, Ihre tugendhafte Seele
empfindet mit dem Verlornen Mitleid, Sie wollen
ſich ihm opfern, um ihn glücklich zu machen, Sie
fühlen den Drang ſchöner Seelen, eine Märtyrin
zu werden. Kennen Sie ihn ganz? Fragen Sie
[135] ſich, ob er es werth iſt, der Mann, der — wie viele,
ſo unſchuldig als Sie, mag er auf ſeinem Gewiſſen
haben! Danach fragt die Welt freilich nicht, und
die vornehmen jungen Wüſtlinge machen ſich daraus
kein Gewiſſen. Aber ſie beobachten doch wenigſtens
den äußeren Anſtand. Was man vom jungen Bo¬
villard erzählt, o mich ſchaudert, ihn an Ihrer Seite
zu ſehen!“


„Iſt er darum ſchlechter, weil er keinen Schleier
um ſeine wüſte Jugend gebreitet! Mich ſchaudert vor
denen, die die Welt lobt, weil die Welt nur das feine
Kleid und die feine Miene ſieht, hinter denen ihr
verwüſteter Geiſt ſich verbirgt.“


„Man ſpricht ihm kein langes Leben zu, die
Frucht ſeiner Ausgelaſſenheit.“


„Rechnet die Liebe nach Jahren?“


„Doch ſoll die Ehe ein Bund der Seelen, eine
Harmonie gleichgeſtimmter Geiſter ſein.“


„Iſt ſie's denn immer?“


„Aber der Mann muß wenigſtens die Gefühle
einer edlen Frau zu würdigen wiſſen, wenn er auch
dem kühneren Schwunge ihres Geiſtes nicht folgt.“


Adelheid lächelte: „Sein Geiſt, gnädigſte Frau
— O könnte ich Ihnen dieſen edlen Geiſt malen,
der rein blieb wie der Aether über dem aufgewühlten
Schlamm, könnte ich Ihnen ſein Herz öffnen, wie
es mächtig pulſt für die Leiden, die Ehre des Vater¬
landes, wie nur die Schmach, die er anſehen mußte,
Gift in die Adern ſprützte —“


[136]

„Laſſen wir die Poeſie, liebes Mädchen, es han¬
delt ſich von ernſten Dingen. Ich will Ihnen glau¬
ben, daß ein beſſerer Keim in ihm iſt, daß große
Talente in ihm ſchlummerten, daß Characterſtärke ihm
von Gott gegeben war, ich will zu Ihrem Beſten
Alles zu ſeinen Gunſten glauben, aber warum gab
er ſich keiner geordneten Thätigkeit hin, warum zer¬
ſplitterte und vergeudete er dieſe Gaben. Bei ſeiner
Geburt, dem Einfluß ſeines Vaters wäre ihm ein
Wirkungskreis leicht geworden.“


Adelheid ſah die Königin mit einem eigenthüm¬
lichen Blicke an, es lag Frage, Bitte, ein Forſchen
darin.


„Darf ich?“ Sie hielt die Hände auf der Bruſt.
Der Augenſchlag der Königin winkte Gewährung.


„Ich kenne Jemand, den die Geburt hoch ge¬
ſtellt, höher ſteht nur Einer. Sein Herz ſchlägt für
das Vaterland, ſein Blut glüht für ſeine Ehre. Mit
dem ritterlichen Feuermuth der alten Zeit, ſchlägt doch
dies Herz weich für das Edle, Schöne, Große, das
alle Zeiten ſchmückte. Er möchte, er könnte ein
Volk erheben, es glücklich machen, denn ſeine Gaben
befähigten ihn zu dem Höchſten. Und klar liegt vor
ſeinem Geſichte die Vergangenheit, ſein Auge blickt in
die Zukunft. Warum iſt dies Auge trüb? — Weil
der Horizont trüb iſt. Warum ſank dieſer Feuergeiſt,
deſſen Flügel der Sturm durchſchnitt, der der Sonne
entgegenblickte, ohne zu zücken, in den Schlamm
zurück? Weil die Atmoſphäre zu ſchwer iſt, ſein
[137] Feuerathem ſie nicht durchdringt, ſeine beredte Lippe
umſonſt redet, ſeine kühnen Vorſtellungen an der
Mattigkeit der Menſchen, an der Zähheit, der Ge¬
wöhnung, an der Macht der grauen Alltäglichkeit ab¬
glitten. Da ward er muthlos, er verzweifelte. Er¬
habene Königin, wie ſollte ich es wiſſen! Ich ſpreche
nur, was die Stimmen der Tauſende, die Lüfte mir
zutragen, aber ſie flüſtern und rufen es laut: Das
iſt unſer Loos. Dies Firmament erdrückt die, die zum
Beſſeren aufwallen. Es iſt einmal ſo in dieſem Reiche.
Wer daran Schuld, ſagen ſie nicht, aber ſie zäh¬
len viele, viele edle Geiſter, die im fruchtloſen Kampf
verkamen, untergingen. Wenn der edelſte Prinz, der
tapferſte Held, deſſen Lob in allen Zungen, den die
Armee vergöttert, dieſem Looſe nicht entging, dürfen
wir die verdammen, die daſſelbe gewollt, und auch
ihre Flügel verbrannten, ſie ſanken, tief, tief — Dür¬
fen wir ſie verſinken laſſen.“


Louiſe hatte den Kopf halb abgewandt ſinken
laſſen.


„Meine Königin iſt nicht die grauſame Rich¬
terin, welche die Edlen büßen läßt, was Elende
verbrachen. Man ſagt — fuhr Adelheid mit ge¬
dämpftem Tone fort — der Prinz wäre zu retten
geweſen, wenn er ein edles Weib gefunden, das
ſeine Gedanken und ſeine Sorgen getheilt, wenn eine
ſeiner würdige Gattin, ſeinem Geiſte nahe, ſeiner
Liebe werth, ihn aufgerichtet. Er ſuchte, und — fand
ſie nicht. Man ſagt, man flüſtert es wenigſtens, daß
[138] er Eine geſehen, und er wäre gerettet, er wäre ge¬
worden, ſie ſagen ein Gott. Aber er verſchloß, ent¬
ſagend, die brennenden Wünſche in der Bruſt —
denn — die Eine gehörte ſchon einem Andern!“


Adelheid fühlte, was ſie gewagt, aber es war
eine Macht über ſie gekommen, der ſie nicht wider¬
ſtand. Auf Eine Karte war Alles geſetzt — Tod
und Leben hieß die Kriſis, es gab kein Mittel. Fieber¬
hitze durchglühte ſie, und ſie ſchüttelte vor Froſt, als
ſie aufgeſtanden.


Auch die Königin ſtand auf. Noch wandte ſie
ihr Geſicht ab. Es war etwas war's ein Kampf?
— was ſie vor ſich ſelbſt verbarg. Wenn ſie jetzt
ſich umwandte, ein zürnender Blick, eine Handbewe¬
gung Adelheid zurückwies, wenn ſie ohne eine Sylbe
den Hügel hinabſchritt, Adelheid jetzt allein ließ, ver¬
ſtoßen, verloren — Nein, ſie wandte ſich um, und
im nächſten Augenblick drückte ſie das verlaſſene
Mädchen an ihre Bruſt. Worte ſprach ſie nicht, nur
eine Thräne fühlte Adelheid über ihre Wange rinnen.


Als ſie ſchweigend die Allee zurückgingen, hatte
das Sterbegeläut vom Kirchthurm aufgehört; dafür
ſchmetterten Trompeten, und ein kriegeriſcher Marſch
der Garniſon des Städtchens tönte über die Baumwipfel.


„Gott ſei Dank! ſprach die Königin. Das er¬
leichtert das Herz.“


Am Schloſſe beim Scheiden reichte ſie Adelheid
die Hand zum Kuſſe. Dabei flüſterte ſie ihr zu:
„Wir ſehen uns bald wieder.“


[139]

In ihren Apartements befahl die Königin ihrem
Kammerherrn, zum Miniſter Stein zu fahren. Sie
wünſche ihn zu ſprechen.


Darauf hatte ſie eine längere Unterhaltung mit
der Viereck. Die Hofdame erklärte nachher den Hof¬
leuten, daß Ihre Majeſtät endlich ſo huldreich ge¬
weſen, in den Wunſch einzugehen, den ſie ſchon
längſt gehegt, nämlich bei ihrem geſchwächten Ge¬
ſundheitszuſtande eine Geſellſchafterin zu nehmen,
welche in ihren Apartements wohnen dürfe. Sie
denke die Tochter des Geheimraths Alltag, die ſich
dazu anſtellig zeige, zu acquiriren.

[[140]]

Siebentes Kapitel.
Eine Maus und eine Mauſefalle.

Bei Madame Braunbiegler ſollte Whiſt geſpielt
werden. Die Geſellſchaft war nur klein, kam aber
nicht zur Ruhe. Wenn man kaum die Karten ge¬
zogen, ſtörte eine Nachricht, eine Perſon, die uner¬
wartet hereinſtürzte. Es war nun einmal Unruhe
in der Stadt, die mit dem beſten Willen ſich nicht
bewältign ließ. Man wußte ſchon, daß das Heer
jetzt wirklich auf den Kriegsfuß geſetzt werden ſolle.
Wenn man nur abgewartet hätte, bis die Män¬
telgelder beiſammen waren! hatte Madame Braun¬
biegler gemeint; aber es waren noch nicht ſiebzigtau¬
ſend Thaler geſammelt. — Und was hilft das Geld,
wenn die Schneider fehlen! hatte der Legationsrath
geſagt.


Da brachte Herr von Fuchſius eine Nachricht,
welche alle bisherigen in den Hintergrund drängte.
Die Königin hatte endlich ihren Widerwillen gegen
den jungen Bovillard aufgegeben, er war ihr vor¬
geſtellt worden, ſie hatte ihn gnädig aufgenommen,
[141] ſich günſtig über ihn geäußert, zu Andern aber ſpitz
geſagt, er müſſe wohl viele Feinde haben, da er ihr
ganz anders geſchildert worden. Er war Tages
darauf zum Legationsſecretair, Andre meinten ſogar
zum Legationsrath ernannt worden, beauftragt zu
gewiſſen Vorträgen im Cabinet und in der perſön¬
lichen Nähe der höchſten Herrſchaften.


Man war getheilter Meinung, ob dahinter eine
Intrigue des neuen Miniſters ſtecke oder des alten
Bovillard. Fuchſius lächelte, als eine Dame mit
einem andern: Wiſſen Sie ſchon? hereinplatzte. Die
Alltag iſt zur Geſellſchafterin der Viereck ernannt.
Sie zieht in's Palais! — In's Palais! — Was
das zu bedeuten hatte, darüber war Niemand im Zwei¬
fel, als man auch von der gnädigen Audienz erfuhr,
welche die Königin dem ſchönen Mädchen gewährt.
— „Nun wird's ja Alles klipp und klar. Ja, wer
nur 'ne hübſche Larve hat und Connexionen, dem
fehlt's nicht.“


So hatte Madame Braunbiegler geſagt. Ma¬
dame Braunbiegler war ihrer Zeit eine berühmte
Perſönlichkeit in Berlin, was man heut nennen würde
ein öffentlicher Character, von der ſehr viele Dicta
noch umgehen. Wenn der Raum unſerer Erzählung,
die zu Ende geht, es erlaubte, hätte ſie das Recht
und die Anwartſchaft auf eine bedeutendere Rolle
darin, als wir ihr angewieſen, aber der Rahmen
ſchließt ſich, und die Rückſicht auf den deutſchen Stil
und die Grammatik, die wir bis da nach unſern
[142] ſchwachen Kräften beachtet, verbietet uns, ein Bild in
den Vorgrund zu ſtellen, welches für viele Leſer unver¬
ſtändlich bliebe, ohne eine vorausgeſchickte Abhandlung
über den Mark Brandenburgiſchen Unterſchied zwiſchen
Mir und Mich. So genüge denn für dieſes Mal —
denn es iſt wohl möglich, daß wir ihr künftig wieder
begegnen — ein Dictum, welches mit ſtereotypiſcher
Genauigkeit aus den Akten jener Zeit entnommen iſt.
Ex ungue leonem. Madame Braunbiegler hatte das
Geſpräch über den betreffenden Gegenſtand mit den
Worten geſchloſſen:


„Denn heirathet er ihr och noch! Da gratulir
ich. Er hat niſcht und ſie hat niſcht. Des wird 'ne
magre Kalbfleeſchſuppe. Ne ſage ich doch, wenn
pover Volk noch dicke thun will und vornehm ſind,
die können mich geſtohlen werden.“


Madame Braunbiegler mußte ſich dabei echauffirt
haben; es koſtete ihr immer eine Gemüthsbewegung,
wenn ſie von ordinairen Leuten ſprach, die es den
Reichen gleich thun wollten. Sie war den liberalen
Ideen abgeneigt und hielt auf Standesunterſchied.
Der Shawl war ihr beim Echauffement von den
leuchtenden Schultern gerutſcht. Herr von Wandel legte
ihn ihr ſanft wieder um: „Sie könnten ſich erkälten,
gnädige Frau,“ flüſterte er mit der ſanfteſten Stimme.


Der Ritter begehrte nicht den Dank der Dame.
Wie zufällig, hatte er ſich auf einen Stuhl am Spiel¬
tiſch niedergelaſſen, wo Frau Geheimräthin Lupinus
ſchon mit der Karte in der Hand ſaß.


[143]

„Was ſagt meine Freundin dazu?“


Die Freundin war noch in halber Wittwentrauer,
in grauem Seidenkleide mit ſchwarzem Ueberwurf.
Ihr Geſicht verrieth nur die Verklärung der Trauer.
Man hatte bemerkt, daß ſie, die bei ſeinen Lebzeiten
nie viel von ihrem Manne geſprochen, jetzt gern,
wenigſtens abſichtlich, das Geſpräch auf ihn lenkte.
Immer als Philoſophin. Sie bedauerte ihn nicht,
ſie erklärte es als ein Glück, daß er dieſe unruhigen
Zeiten nicht mehr erlebt. Man wiſſe nicht, wie dieſe
reine, von den Weltverhältniſſen unberührte Seele
in dieſen Berührungen, Stürmen würde gelitten ha¬
ben. Schon ein Collectenſammler, ein Weinreiſender,
der in ſein Zimmer gedrungen, habe ihn in eine
fieberhafte Erſchütterung verſetzt und den Frieden
ſeines Geiſtes auf Tage geſtört. Wenn nun, wie
jetzt täglich geſchähe, Aufforderungen um Charpie,
Beiträge zu dem und jenem in's Haus drängen,
wie hätte ſie ihn davor bewahren ſollen! Schon das
beſtändige Ziehen an der Klingel hätte ſein Nerven¬
ſyſtem angegriffen. Und nun erſt gar die Mäntel¬
geſchichte! Der Bürgermeiſter, Herr Büſching, war
ja mit Herrn Gerresheim und Köls ſelbſt zu ihr ge¬
kommen. Der ſelige Geheimrath habe eine ſo leb¬
hafte Phantaſie gehabt, daß, wenn die Herren ihm
die Noth der armen Soldaten, den Froſt, die Schauer
eines Winterlagers vorgemalt, er die Schrecken am eignen
Leibe empfunden hätte. „O und er war die Liebe und
Theilnahme ſelbſt! Man glaubt es mir nur nicht,
[144] weil ich keine Worte davon machen kann!“ pflegte
ſie zu ſchließen.


Zum Legationsrath ſagte ſie das aber nicht.
Sie erwiederte ihm nur: „Was ich dazu ſage? Das
kommt doch nicht in Betracht. Was aber wird die
Gargazin ſagen?“


„Sie iſt vielleicht auch froh, daß ſie das Wun¬
derthier los iſt, ſagte Wandel leiſer. Beſteht nicht
unſer Leben eigentlich aus Knüpfen und Löſen. Mit
dem Knüpfen werden die Meiſten bald fertig, aber
am Löſen, weil ſie nicht voraus daran gedacht, ſchei¬
tert ihr Bischen Verſtand, und an den ungelöſten
Knoten des Daſeins ging ſo Mancher unter. Es iſt
vielleicht die Ariſtokratie der Erwählten, dieſe Kunſt
ſich anzueignen, bei Allem, was ſie ſchaffen und wir¬
ken, ſchon an die Auflöſung zu denken. O wer es
dahin gebracht —“


„Wenn Alles aufgelöſt iſt, was iſt denn dann?“
unterbrach ihn die Wittwe.


„Freiheit, Chaos, wie Sie es nennen wollen,
allgemeine Glückſeligkeit; denn iſt es nicht ein Glück,
wenn wir nicht mehr zu denken und ſorgen brauchen
um Bagatellen! — Iſt das Leben mehr, meine Freun¬
din! — Pardon, ich halte Ihr Vergnügen auf, Ma¬
dame wartet —“


Er hatte der Braunbiegler Platz gemacht, die
ſich mit ihrer Karte dem Tiſche näherte. Aber mit
derſelben Unbefangenheit war er zur Baronin Eitel¬
bach getreten, die am Fenſter ſtand. Er klopfte auf
[145] ihre ſchöne Hand, er brachte die Fingerſpitzen an
den Mund.


„Immer penſiv?“


„Sagen Sie mal, Legationsrath, was ſieht denn
Fuchſius immer auf die Lupinus? Er iſt doch nicht
in ſie verliebt?“


„Ei, meine Freundin, eine ſo ſcharfe Beobachterin;
man muß ſich vor Ihnen in Acht nehmen.“


„Nein, er obſervirt, er läßt ſie nicht aus den
Augen. Ich ſeh das ſchon eine halbe Stunde an.“


„Nun, wenn es ein ſüßes Spiel der Liebe wäre,
was kümmert es uns beide.“


„Ich bitte Sie! — Die Lupinus —“


„Laſſen Sie doch die arme Wittwe in Ruh.
Haben Sie nicht an Anderes zu denken.“


„Sie ſind ein guter Mann, ich kenne Ihr Herz,
und Sie meinen es von Herzen, ſagte die Baronin,
aber warum müſſen Sie mich immer bei Seit
ziehen?“


„Um alle Gedanken abzulenken. Denn mich,
ſagte Wandel mit einem Seufzer, wird man doch
nicht für den Glücklichen halten können. Im Uebrigen
bis jetzt geht Alles gut. Wenn wir nur auf ſeine
Verſchwiegenheit rechnen könnten. Officiere plaudern
gar zu gern — in der Wachtſtube, bei einer Flaſche
Wein —“


„Wenn ich es nur begriffe —“


Mit einer wehmüthig theilnehmenden Miene
ſchüttelte Wandel den Kopf: „Freundin, wenn Sie
V. 10[146] es mir doch ganz überlaſſen wollten! — Aber —
ſchenken Sie mir das Vertrauen nicht — dann, nun
ja, das verſteht ſich von ſelbſt. — Indeß ich ſchmeichelte
mir, in der Hoffnung auf Ihr Vertrauen, grade ſo
zu handeln, wie ich es thue, zur Schonung Ihrer
Gefühle Ihnen verſchweigen zu dürfen, warum.“


„Aber warum denn? Mein Mann —“


„Iſt — ein Mann, den ich kenne, ſchätze, ich
weiß zuweilen nicht, ob ich mehr ſeinen weltmänniſchen
Freiſinn oder ſeinen Scharfſinn bewundern ſoll.“


„Seinen Scharfſinn?“


„Merken Sie denn nicht, daß er Sie nie mehr
mit dem Rittmeiſter neckt?“


„Ja, aber —“


„Daß der Contact dieſer Verhältniſſe auch einen
Reflex auf Auguſtens Seelenfrieden werfen muß!
Nicht wahr, das iſt es, nicht was Sie nicht begrei¬
fen, ſondern was Sie nicht begreifen möchten. Ich
frage mich ja ſelbſt oft, was iſt denn die Centrifugal¬
kraft unſrer Gedanken, wenn ſie bei dem Problem
ſtehen bleibt! Was hat eine ſchöne junge Frau mit
den Conflicten der Generalintendantur und Militair¬
controlle zu thun? Aber aus dem Cirkel kann ich
nicht heraus. Verdacht iſt Verdacht. — Aus Ver¬
dacht, daß er Verdacht haben könnte, muß er keinen
Verdacht zeigen. Aber ſchon der Schatten des Ver¬
dachts, daß er mit einem einflußreichen Militair —
denn der Rittmeiſter bleibt doch immer der Neffe des
Kriegsminiſters — alſo ſchon die geringſte Colliſion
[147] eines, wie man es immer nenne, doch immer eines
großen Lieferanten, beſonders jetzt, wo die Mäntel¬
beſchaffungscommiſſion —“


Er ward unterbrochen, wie es ſchien, nicht zu
ſeiner Unluſt. Wer an ſo viel und Wichtigeres zu
denken hat, was von ihm fordern, daß er auf Alles
vorbereitet ſei, namentlich wo er es nicht der Mühe
werth hält, ſich viel Mühe zu geben. Aus der Phraſe,
in die er ſich offenbar verwickelte, half ihm der Ein¬
tritt einer neuen Perſon. Eben hatte ſich Madame
Braunbiegler auf ihren Stuhl niedergelaſſen mit
einem: „Na, kommt man denn endlich zur Ruhe.
Das war doch heut eine Störung“ — als eine neue
ſchon wieder da war. Der Geheimrath Lupinus,
nicht der ſelige, ſondern von der Vogtei, war ein¬
getreten, und ſofort ſchien man zu wiſſen, weshalb.
Die Wirthin gab dem allgemeinen Gefühl den
Ausdruck: „Ach Gott, die Flanellleibbinden fehlten
noch!“


Die neuſte Thätigkeit des Vogtei-Lupinus mußte
alſo eine bekannte Sache ſein; was wird in Berlin
nicht bald zu einer bekannten Sache. Wer etwas
gelten wollte, mußte ſammeln, natürlich für die armen
Krieger; wer ſich hervorthun wollte, für einen neuen
Zweck. Von Winkelſammlern wimmelte es in den
Häuſern und auf den Straßen. Der Geheimrath
ſammelte für wollene Leibbinden. Die Mäntel wa¬
ren für die Infanterie, die wollenen Leibbinden für
die Cavallerie. Weshalb grade der Vogtei-Lupinus
10*[148] dieſe Sache mit Eifer ergriffen, dafür wußte der böſe
Leumund auch einen Grund.


Das Sammeln einer Collecte damals war aber
etwas anders. Wenn heut eine ſolche umgeht,
ſind Zweck und Gründe und die Dringlichkeit der
Motive längſt vorher erörtert, durch die Preſſe Ge¬
meingut geworden, und man giebt oder giebt nicht.
In jener Zeit war es anders. Wenn die Deputirten
des Magiſtrats in die Häuſer traten mit der Sub¬
ſcriptionsliſte, ſo fingen ſie damit an, wie jetzt der
Vogtei-Geheimrath, Anfang, Urſach, Gründe, Zweck,
Dringlichkeit vorauszuſchicken und mit einer Bitte
und captatio benevolentiae, je nach der Perſönlichkeit
des Angegangenen, zu ſchließen. Ein etwas um¬
ſtändlicher Weg, der aber das Gute hatte, daß die
Einwohnerſchaft von Berlin mit weniger Collecten
beläſtigt ward.


Nachdem der Geheimrath ſeine Papiere und
Liſten aus der Mappe genommen, welche ein Beamter
ihm nachtrug, hub er an von dem Nutzen der Leib¬
binden im Allgemeinen, er citirte Hufeland und Heim
über die Wichtigkeit, daß der Magen eines Menſchen
warm gehalten werde; wenn die Functionen deſſelben
in Ordnung, ſei der ganze Menſch in Ordnung.
Das gelte aber ganz in's Beſondere vom Soldaten.
Er ging dann auf die Cavallerie über, und beſchrieb,
wie, Luft und Wind ausgeſetzt, ein Cavalleriſt leichter
am Magen ſich erkälte, als ein Infanteriſt, der durch
die Bewegung des Marſchirens ſchon den Magen
[149] ſich warm mache. Wenn nun der letztere jetzt über¬
dies noch Mäntel erhalte, ſo erfordere die Humanität
und Billigkeit, daß man für den Soldaten zu Pferde
auch etwas Uebriges thue. Er ging dann auf die
drohende Herbſt- und Wintercampagne über, und
ſchilderte, wie ein Cavalleriſt friere, wenn er auf der
Erde ſchlafen muß, denn die Zelte ſchützten nicht vor
der Kälte, die aus dem Boden dringt und zuerſt in
den Magen geht, zumal wenn er leer iſt. Nun aber
ſorge ein guter Cavalleriſt allemal zuerſt für den
ſeines Pferdes, und komme es auf dieſe Weiſe oft,
daß er für ſeinen eigenen nicht geſorgt hat. Mit einer
glücklichen Wendung wieder zu den Leibbinden zurück¬
gekehrt, zeigte er, wie ſie am beſten zugeſchnitten und
gebunden würden, gab zu, daß die von Wolle ge¬
ſtrickten allerdings zweckmäßiger, aber nicht ſo ſchnell
zu beſchaffen ſeien, daher die von Flanell dem Be¬
dürfniß und Zeitgeiſt entſprächen, und ſchloß mit
einer rührenden Declamation an die Anweſenden,
daß ſie für König und Vaterland und die leidende
Menſchheit ihr Herz und ihren Beutel zu einer mil¬
den Gabe öffnen möchten. Auch die geringſte ſei
ihm willkommen, lieber jedoch die größeren.


An der Aufnahme ſah man, daß auch hier ſchon
fertige Parteien waren, Infanteriſten und Cavalleriſten,
Mäntel und Leibbinden, Tuch und Flanell. Indeſſen
ſiegte der Flanell. Wer widerſteht, wenn Andre ihm
vorangehn und der Controlleur dabei ſteht.


Nur Madame Braunbiegler fand es impertinent,
[150] grade ihr damit in's Haus zu rücken. Sie gehörte
natürlich zur Tuch- und Mäntelpartei, und erklärte,
ſie würde nicht einen Pfennig rausrücken. „Eine
Kleinigkeit doch!“ flüſterte ihr der Legationsrath zu.
Das brachte ſie nur noch mehr auf: Wenn ſie gäbe,
laſſe ſie ſich nicht lumpen, und wenn's honorig ſei,
greife ſie in die Taſche, daß es ſich ſehn laſſen könne,
aber Bettelei könne ſie nun ein für alle Mal nicht
ausſtehn. „Und wie kommt er denn dazu!“


Wandel zog ſeine „edle Freundin“ bei Seite.
Er theile ganz ihre Anſichten, ob ſie es ihm aber
verzeihen werde, wenn er eine Kleinigkeit nach Kräf¬
ten beiſteure: „Meine Stellung zum Hofe bringt es
mit ſich, und der Geheimrath iſt wohl nicht ohne Auf¬
trag hier.“ Dies wirkte. Es konnte bei Hofe ver¬
merkt werden, daß Madame Braunbiegler nichts für
die Cavallerie gethan. „Schreiben Sie mir auf
mit zwanzig Thaler, Geheimderath!“ rief die Wir¬
thin, und die Blicke der ſtattlichen Frau überflogen
die Geſellſchaft, um für die Thaler das Erſtaunen
zu erndten. „Eine Priſe, Baron!“ Sie griff mit
ihren markigen Fingern tief in die Doſe und ſchien
den Spaniol mit Befriedigung einzuſchlürfen, wäh¬
rend ſie nicht mit gleicher die Worte ihres Compag¬
nons vernahm: „Lupinus, Sie, hören Sie — notiren
Sie mich auch mit zwanzig!“ — „Na, na, Baron,
nur keine Extravaganzen nicht! Seit wann haben
Sie's denn ſo dicke ſitzen?“ — Allerdings hatte der
Baron es nicht ſo dick ſitzen als ſein corpulenter
[151] weiblicher Compagnon, aber er ſchlug mit der Hand
an die Bruſt: „Wenn's Vaterland ruft!“


Lupinus hatte die Hand, welche eben in der
Doſe gewühlt, mit Entzücken ergriffen und an ſeine
Bruſt gedrückt: „Ah! Madame Braunbiegler est un
ange. Votre exemple glorieux rendra notre chose
victorieuse!“


„Umgekuckt, Geheimderath, Ihre Schwägerin
winkt, will Ihnen auch vielleicht 'nen Fuchs geben.
Stecken Sie ein, was Sie kriegen.“


Der Geheimrath Lupinus prallte buchſtäblich
zurück, als er ſein Ohr an den Mund der Geheim¬
räthin gelegt, und dieſe einige Worte ihm zugeflü¬
ſtert hatte.


„Hun — hundert!“


„Ich bitte, Schwager, ſein Sie kein Narr!“
ſagte ſie mit leiſem, ſtrafendem Ton und bitten¬
dem Blick.


„Hundert Friedrichsd'or!“


„Aber ich habe Sie doch ſo ſehr gebeten; das
war ja unter uns — Sie ſind wirklich ein abſcheu¬
licher Menſch.“


Hundert Friedrichsd'or! lief es durch die Ver¬
ſammlung. — Hundert Friedrichsd'or für Flanell!
Starre Blicke, geöffnete Münder. Am weiteſten
hatte die Wirthin ihn auf, es kam aber kein andrer
Laut heraus, als ein: „Na nu —!“


Die Geheimräthin Wittwe empfand das Unan¬
genehme der Situation. Sie erhob ſich etwas vom
[152] Stuhl: „Warum mußte mein guter Schwager über
Etwas an die große Glocke ſchlagen, was ganz un¬
ter uns abgethan werden ſollte! Da es aber ein¬
mal iſt, ſo bin ich meinen verehrten Freunden und
Freundinnen Rechenſchaft ſchuldig. Ich bin nicht ſo
reich, um eine ſolche Summe zu dieſem einen Zwecke
beizuſteuern. Ich erfülle darin nur den Wunſch und
Willen meines ſeligen Gemahls. So wenig er ſich
im Frieden ſeiner Seele um Weltangelegenheiten
kümmerte, ſah er doch mit bangem Blick die ſchwar¬
zen Gewitterwolken nahen, und es waren ſeine letz¬
ten Unterhaltungen mit mir, daß für dieſen Fall
ein guter Patriot, was er könne, zum Wohle des
Ganzen beiſteuern müſſe. Namentlich ging ihm die
Lage unſrer armen Soldaten zu Herzen; er, den
jedes kalte Lüftchen wie ein Eishauch berührte, er¬
ſchrak vor dem Gedanken der Winterfeldzüge, die er
für eine Barbarei der neuern Kriegskunſt erklärte.
Er malte ſich in ſeinen letzten Fieberphantaſieen be¬
ſonders lebhaft das Bild der Bivouaks, und rief
mehr als einmal aus: Und ſie haben nicht mal
warme Kleider! Wenn ein unerforſchlicher Rath¬
ſchluß ihn nicht plötzlich abgerufen, würde er in ſei¬
nem Teſtamente gewiß Legate dafür ausgeſetzt haben.
Wollen Sie es mir daher nicht verargen, wenn ich
dies Teſtament für geſchrieben halte, und in ſei¬
nem Sinne zu handeln denke, indem ich thue, wie
ich gethan. Nicht ich thue es, mir darf Niemand
danken, mir Niemand Verſchwendung vorwerfen,
[153] es iſt ſein Geiſt, der mich in dieſem Augenblick
umſchwebt.“


Während die Geheimräthin es ſprach, waren
Aller Blicke auf ſie gerichtet. Es war eine Feier¬
lichkeit in ihrem Weſen, ein ſonorer Ton der
Sprache, der ſelbſt der Braunbiegler imponirte. Mit
ganz beſondern Blicken beobachteten ſie aber zwei der
Anweſenden, Wandel und Herr von Fuchſius; jenes
Geſicht erheiterte ſich, dieſer behielt denſelben Ausdruck.


„Nun aber, lieber Schwager, ging die Lupinus
plötzlich in einen andern Ton über, thun Sie uns
den Gefallen und gehn zu Andern, denn Ihre Fla¬
nellbinden dürfen unſre Heiterkeit nicht ſtören. Was
Sie mir gethan, iſt vergeben und vergeſſen. Sie
ſehen, wir haben die Karten in der Hand, und bren¬
nen, zu ſpielen.“


Die Liebenswürdigkeit ſelbſt! — Nein, eine Vor¬
nehmheit doch, und dieſe Sanftmuth dazu! — Wenn
es nicht geſagt, wurde es gedacht. Wie herzlich, zu¬
traulich, um es wieder gut zu machen, hatte ſie dem
Schwager, der ſo tief unter ihr ſtand, die Hand
gereicht zum Abſchied. Lupinus hatte die Hand
an die Lippen gedrückt — etwas ſchauſpielerhaft,
ſagten Einige. Wie ein Poliſſon — Andere. —
„Er iſt doch immer der Bruder meines ſeligen Man¬
nes, der einzig Hinterbliebene der Familie! hatte ſie
geſeufzt. Und was man auch immer gegen ihn ſagen
mag, von Herzen iſt er gut.“


Mit welcher Aufmerkſamkeit ſie ſpielte, ſie webte
[154] leichte Scherze in's Geſpräch! Eine Geſchlagene war
am Spieltiſch. Die Braunbiegler geſtand es ſich
ſelbſt. Ein ſchweres Geſtändniß, aber ſie wartete
nur auf die Gelegenheit, ſich wieder zu erheben.
Große Seelen ſchweigen bis zum rechten Augenblick,
kleine knurren und murren bei jeder Gelegenheit.


„I Gott! rief ſie, als die Lupinus Karten gab,
es iſt gar nicht darum, um die Flanellbinden. Tau¬
ſend Thaler ſind mich ein Quark für König und Va¬
terland, Aber der — wie kommt denn der dazu! —
Sag' ich doch, wenn Leute, die nichts haben, Andern
an die Taſche klopfen wollen, das ſollte vom König
verboten werden.“


Man erwähnte, daß die Königin ſich günſtig
über den Eifer des Geheimraths in dieſer Angelegen¬
heit geäußert. Es ſei ſchön, wenn ein alter Sünder
durch gute Thaten ſeine ſchlimmen wieder gut zu
machen ſuche.


„Wenn's nur von ihm käme! ſprach die von
Neuem Geſchlagene. Da habe ich auch nichts gegen.
Er iſt ja ein Mann in Amt und Brod, und der
König wird wiſſen, warum er ſich ſolche Geheim¬
räthe gemacht hat. Aber alle Welt weiß auch, er iſt
nichts im Hauſe. Da ſteckt die Charlotte hinter, ſeine
Köchin. Ich weiß nur gar nicht, wie die Familie den
Scandal zulaſſen kann. Wenn das in meiner wäre,
ich würde mich ja ſchämen —“


„Madame Braunbiegler haben anzuſagen, ſprach
mit großer Milde die Lupinus. — Mein Seliger,
[155] ſetzte ſie hinzu, mußte doch wiſſen, warum er mit
ſeiner unendlichen Güte den Schwachheiten ſeines
Bruders nachſah. Ich bin nur ſeine Erbin. Sein
Wille iſt meiner.“


Das Spiel ging gut. Die Braunbiegler ge¬
wann. Das kühlt den Unmuth. Aber hinter dem
Spieltiſch ward das Geſpräch etwas laut. Verſchie¬
dene Perſonen ſaßen an dem großen Trümeau, der
die Spielgeſellſchaft in ſeinem Glaſe auffing.


„Sie ſind ja ſo munter, liebe Eitelbach?“ fragte
die Lupinus hinüber.


„Der Regierungsrath erzählt uns allerliebſte
Criminalgeſchichten.“


Fuchſius hatte einen dankbaren Hörerkreis. „Das
iſt noch gar nichts, ſagte er. Dann wird Sie eine
andere Geſchichte, die ich in einer engliſchen Zeitung
las, noch mehr intereſſiren. Auf dem Lande lebte
ein Gutsbeſitzer oder Friedensrichter mit ſeiner Frau,
wahre Muſter in Sittlichkeit und Wohlthun. Man
ſtellte die beiden Leute wirklich als Exempel auf.
Sie waren ſchon in vorgerückten Jahren und ohne
Kinder und, da ihnen Alles glücklich ging, bedauerte
man ſie nur, wenn ein Gatte dem andern in jene
Welt voraufgehen ſollte. Der Mann ſtarb zuerſt.
Es hieß, er hätte ſich zu wenig Bewegung gemacht,
der viele Staub ſeiner Bibliothek, den er eingeſchluckt,
hätte ſich auf ſeine Lunge geworfen.“


„Die arme hinterbliebene Frau!“ ſagte die
Eitelbach.


[156]

„Frau Geheimräthin haben vergeben,“ rief ein
Spieler am Tiſch.


„Excus! es flimmerte mir etwas vor den
Augen.“


„Sie ward auch allgemein bedauert, fuhr Fuch¬
ſius fort, ertrug aber ihr Schickſal mit wunderbarer
Faſſung. Sie lebte nur dem Gedächtniß ihres Mannes
und führte mit großen Opfern Alles aus, was er
angeordnet. Man betrachtete ſie als eine Art Heilige.
Da fügte es der Zufall, daß durch einen Gewitter¬
regen der an einem Abhange gelegene Kirchhof von
aller Erde losgeſpült und durch die Gewalt des
Waſſers mehre Särge den Abhang hinunter geſtürzt
wurden. Darunter war auch der, worin der ſelige
Friedensrichter lag. Er zerbrach, und mit Erſtaunen
ſah man die wohl conſervirte Leiche, als wenn er
noch lebte. Von einer beſondern Luft konnte es nicht
herrühren, denn die andern Leichen waren zerſtört.
Man fand aber bald die untrüglichen Merkmale einer
Arſenikvergiftung. Werden Sie es glauben, wenn
ich Ihnen ſage, daß ſich ermittelt hat, die eigene
Frau hat ihn umgebracht.“


Einem unterdrückten Schrei folgte eine lange
Stille: „Aber wie iſt denn das gekommen? Warum
denn? Sie hat ihn ja ſo geliebt!“ rief die Baronin.


Fuchſius, der mit übergebeugtem Leibe auf dem
Stuhle ſaß, wie wohl Erzähler thun, die für eine
lange Erzählung den geſammelten Stoff wie einen
Faden aus ſich herausſpinnen, und dabei nicht rechts
[157] und links blicken, Fuchſius ſah dabei unverwandt vor
ſich auf den Spiegel.


„Das Warum iſt nie recht klar geworden, ant¬
wortete er auf die Frage der Eitelbach. Es iſt eine
ſehr alte Geſchichte. In unſern gebildeten und auf¬
geklärten Zeiten kommt ſo etwas, wie Sie denken
können, nicht mehr vor.“


„Gott ſei Dank, das iſt nicht möglich!“ rief die
Eitelbach.


„Aber ungleich intereſſanter, fuhr der Rath fort,
und vollſtändig ermittelt iſt, wie ſie ihren Mann
umgebracht hat. Können Sie ſich das denken, ſie
puderte ihn, in dem Puderſtaub aber war Arſenik.“


Am Spieltiſch war eine Störung. Der Ge¬
heimräthin waren die Karten aus der Hand gefallen;
ſie ſah blaß aus, ihr Kopf ſenkte ſich. Das hatten
aber nur die Wenigſten geſehen. Im ſelben Moment
ſchon war der Legationsrath aufgeſprungen: „Eine
Maus!“ Er zog das Taſchentuch; damit fuhr und
ſchlug er an der Wand entlang, nach dem Boden.
„Eine Maus, eine Maus!“ — Vergebens ſchrie
Madame Braunbiegler auf: „Wir haben keine Mäuſe!“
Es hatten noch Andre die Maus geſehen, denn worauf
hätte ſonſt der Legationsrath ſich ſo lebhaft geworfen!
Wie auch die Wirthin dagegen proteſtirte, in ihrem
Hauſe ſeien nie welche geweſen, noch ſollten ſie ſich
je zeigen, ſie kam in dem allgemeinen Allarm nicht
auf, beſonders als auch der Regierungsrath, an ihr
vorüberſtreifend, ihr zuflüſterte: „Sie müſſen ſich
[158] ſchon zufrieden geben, es war eine Maus, Madame
Braunbiegler.“ An der Thür ſagte er halb für ſich:
„Eine Falle wird ja auch im Hauſe ſein.“ Die Ba¬
ronin meinte, er gehe eine zu holen, als er ſich un¬
bemerkt im allgemeinen Aufſtand entfernte.


Es war ein verdrießlicher Aufſtand, am verdrie߬
lichſten für die Geheimräthin Lupinus, welche die
Urſache geweſen, denn ſie konnte nun einmal keine
Mäuſe ſehen, ohne einer Ohnmacht nahe zu kommen.
Aber wie ſchnell hatte ſie auch jetzt ſich erholt, ſie
war die erſte, welche ihre Karten wieder in der Hand
hielt: „Warum mußten Sie mich verrathen! ſchmollte
ſie mit einem eignen Blick zum Legationsrath. Das
Thier raſchelte ſo ganz unerwartet zwiſchen Decke und
Wand hervor. Was that das! Die Geſellſchaft wäre
doch in ihrer Aſſiette geblieben.“


Die Geſellſchaft war wieder in ihrer Aſſiette,
aber die Maus noch nicht fort. Man erzählte von
andern bekannten Perſonen, die auch eine Idioſyn¬
kraſie vor Mäuſen hätten. Auch Herr von St. Real
ward erwähnt. Er ſpränge trotz ſeines Krückenſtockes,
wenn er eine wittere, auf Stuhl und Tiſch. „Sprang!“
rief eine Stimme von einem andern Spieltiſch: „Ach,
wiſſen Sie noch nicht, er iſt todt, plötzlich am Schlag¬
fluß geſtorben.“ — Ein allgemeines Bedauern, das
ſich indeß in ein allgemeines wohlgefälliges Lächeln
auflöſte. Nicht der Kammerherr, ſondern ſein Onkel,
der reiche Johannitercomthur Graf St. Real, war
geſtorben und ſein Neffe Erbe ſeines Vermögens und
[159] ſeiner Titel geworden. Der Tribut allgemeiner Theil¬
nahme ward dem unſichtbaren Erben gezollt.


„Ach, ein ſo liebenswürdiger Herr, dem gönne
ich's,“ ſagte die Wirthin.


„Charmanter Cavalier, ſchmunzelte ihr Com¬
pagnon, der Baron. Gefällig gegen Jedermann, hat
noch die feinen alten Hofſitten. Wenn ſolchem Mann
ein Glück zufällt, da kann man doch noch ſagen, es
iſt Gerechtigkeit drin. Die Glückspilze ſind mir
zuwider.“


Die Braunbiegler meinte, er wäre todt, und nun
könnte man ihn in Ruhe laſſen. Die Lupinus nickte
ihr beiſtimmend zu. Sei uns noch eine, die letzte
Rede der Wirthin in ihrer Mundart vergönnt. Dieſe
Mundart iſt ja faſt ausgeſtorben, wenigſtens in den
Kreiſen, in die wir unſre Leſer geführt, aber ſie hat
auch in ihnen geherrſcht, und neben allen Dialecten
der Philoſophie und der Romantik, was der Geſell¬
ſchaft jener Zeit einen bunten Anſtrich gab, von dem
die jüngere Generation keinen Begriff hat.


„Wenn mir nu noch Ener kommt, trumpfte ſie
auf den Tiſch, ob er todtig iſt oder lebendig, des
weeß ich, denn ſchmeiß ich die Karten fort. Zu ville
iſt zu ville. — Aber, Frau Geheimderäthin, müſſen
Sie denn allemal vergeben?“


Der Bediente war eingetreten, offenbar mit einer
Meldung, aber er ſchien zu zaudern, als er die Lu¬
pinus im Begriff ſah, die wieder aufgenommenen
Karten zu miſchen.


[160]

„Es iſt draußen — es ſteht draußen — es will
Jemand Frau Geheimräthin Lupinus ſprechen.“


„Wir haben hier auch zu ſprechen.“


„Der ſagt aber, er muß abſolut.“


„Na, wer iſt es denn, Jean?“


„Ich kenne ihn nicht, Madame Braunbiegler, —
aber — aber er iſt ſehr dringend, er hat ein Schild
auf der Bruſt und ſagt, er muß partout.“


Wandel hatte die Geheimräthin fixirt. Ein „à mer¬
veille!“
entſtieg unhörbar ſeinen Lippen, als ſie die
Karten vor ſich niederlegte und aufſtand. Sie verzog
keine Miene: „Ich kann mir denken, was es iſt;
wahrſcheinlich wegen eines Documentes aus meines
Mannes Nachlaß, auf das eine auswärtige Behörde
aus archivaliſchen Gründen einen Anſpruch geltend
macht. Es thut mir unendlich leid, daß ich abermals
die Geſellſchaft ſtören muß, hoffentlich nur auf einige
Augenblicke.“


Sie rückte den Stuhl zurück. Wandel reichte
ihr den Arm und führte ſie bis an die Thür. Ob
und was er mit ihr geſprochen, weiß man nicht. Sie
haben ſich nicht wieder geſehen, heißt es.


An der Thür blickte die Lupinus noch einmal
über die Schulter, und die ihren Blick damals ſahen,
wollten ihn nie wieder vergeſſen haben. Mit einem
Lächeln rief ſie: „Ich bin am Geben, meine Damen, ver¬
geſſen Sie es nicht und ich werde nicht wieder vergeben.“


Es war eine peinliche Stille von einigen Minu¬
ten. Im Augenblick, wo man einen Wagen abfahren
[161] hörte, trat das Stubenmädchen ein, blaß, wie ver¬
ſtört: „Ach Gott, wiſſen Sie ſchon —“ Die Sprache
verſagte ihr.


„Was?“


„Sie wird abgeführt — ſie iſt criminaliſch —
die Thränen ſtürzten dem Mädchen aus den Augen.
Ach Gott, ach Gott! daß ſolchen Leuten auch ſo was
paſſiren muß. Die gute Frau Geheimräthin!“


„Unmöglich! — Ein Mißverſtändniß!“ — Die
Karten fielen, die Stühle und Tiſche rückten. Ueberall
blaſſe Geſichter. Mehrere Herren waren hinausgeeilt.
Der Baron Eitelbach kam aber ſchon hereingeſtürzt.
Es iſt eine fatale Wahrnehmung für unſer Huma¬
nitätsgefühl, aber es ſteht unbeſtreitbar feſt, mitten
aus dieſem Humanitätsgefühl ſchießt oft eine cani¬
baliſche Luſt, wenn wir ein ungewöhnliches Unglück,
von äußerem Schrecken begleitet, hören. In das Be¬
dauern für die Leidendenden miſcht ſich ein wollüſtiger
Kitzel. Es iſt nicht immer Schadenfreude, oft nur
die Freude, aus dem Alltäglichen heraus in die Re¬
gionen des Ungewöhnlichen uns verſetzt zu ſehen.
Hören wir, daß es nur blinder Lärm war, kein Feuer,
eine Myſtification, ſo werden wir ſtill. Wir äußern
vielleicht ein Gott ſei Dank! Aber ganz recht iſt es
uns nicht, daß die wunderbare Aufregung ohne Re¬
ſultat geblieben.


„'S iſt richtig! Wiſſen Sie's?“ ſchrie der Baron.


„Um des Himmels Willen, was?“


„Sie hat ihrem Mann Rattengift gegeben. —
V. 11[162] Die Leiche iſt heut heimlich ausgegraben — ſecirt.
O wir werden noch mehr hören.“


Die Wirkung auf die Geſellſchaft zu beſchreiben,
unternehmen wir nicht, die aufgeriſſenen Augen, die
bleichen Geſichter, die Taſchentücher, die Eau de Co¬
logneflaſchen. Die „Unmöglich! Es iſt Verleumdung!“
welche zuerſt von den Lippen brachen, verſtummten
allmälig. Es kamen immer mehr zurück, die es be¬
ſtätigten, neue Details angaben. Die hatten die Ge¬
richtsdiener, Andere Fuchſius, einen Criminalrath,
einen Gerichtsarzt geſprochen. Die Geſellſchaft war
aufgelöſt; die Nachrichten wuchſen mit den Ver¬
muthungen. Sie hatte nicht nur ihren Mann ver¬
giftet, auch Kinder, ihre Dienerſchaft. Sie war eine
Giftmiſcherin aus Profeſſion, eine Brinvilliers. Sie
hatte aus einer Apotheke alles Rattengift aufgekauft.


„Daher kann ſie keine Mäuſe und Ratten ſehen.“


Eine Dame entſann ſich, daß ſie einmal eine
ganze Schule zu ſich gebeten und traktirt, und die
Kinder waren nachher krank geworden. Sie hatte
die ganze Schule vergiften wollen, das war keine
Frage. Wir wiſſen nicht, ob in derſelben Geſellſchaft,
aber am ſelben Abend ſchon erzählten Einige, daß
die Lupinus die Intention gehabt, ihre Nachbarſchaft,
ja die ganze Jägerſtraße aufzuräumen.


„Und in unſrer Stadt! — In dem aufgeklärten
Berlin! — Man wird es auswärts nicht glauben.
— Aber wir werden noch mehr hören.“


Nachdem Madame Braunbiegler ſich vom erſten
[163] Schreck erholt, war ſie die aufgeregteſte, wenigſtens
die lauteſte: Wenn man ſie nur gefragt, ſie hätte es
längſt gewußt — nein, das freilich nicht, aber vor¬
geſchwant hätte es ihr, daß es ſo oder ſo etwa kom¬
men werde. Und der Frau hätte ſie ja nicht um die
Ecke getraut; ſo etwas Maliciöſes im Gange und
den Fingerſpitzen, in den Locken und Lippen, und die
cachirte Vornehmheit! An ihrem Geſichte konnte man
ihr die Giftmiſcherin anſehn. Und wenn ſie nur
den wüßte, der ſie ihr zuerſt in's Haus gebracht!


War dies vielleicht die arme Baronin? Sie
ſaß über ihren Stuhl gelehnt wie ein Bild des Ent¬
ſetzens, blaß, mit weit aufſtarrenden Augen, ſprach¬
los. Es war ihr Vieles im Leben begegnet, ſie
hatte einmal geglaubt, noch vor Kurzem, was ſie
dulden müſſe, das dulde Keiner außer ihr, aber das,
was ſie jetzt erlebt, war mehr, es war zu viel. Sie
hatte dafür keine Sprache, vielleicht auch keine Ge¬
danken. Die Lupinus galt ihr, und war ihr immer
vorgeſtellt worden als ein Muſter von feiner, edler
Bildung, von Herzensgüte und Verſtand, das ſie
zwar nicht erreichen, aber auf das ſie zur Nach¬
eiferung blicken, woran ſie ſich halten könne. Und
glaubte die Eitelbach nicht, daß ſie ſchon eine Andere,
Beſſere geworden! Hatte ſie nicht erkannt, woran es
ihr fehle, hatte ſie es in einem gerührten Augenblicke
nicht gradezu ausgeſprochen, und die Lupinus hatte
ihre Hand auf ſie gelegt und mit herzgewinnender
Güte geſagt: die einfältigen Herzens ſind, denen iſt
11 *[164] das Himmelreich offen! — Und ja, ſie war es wirk¬
lich, welche die Lupinus zuerſt mit der Compagnonin
ihres Mannes bekannt gemacht hatte. Da brach es
heraus, Schmerz, Aerger, Wuth: „Herr Gott,
wenn die 'ne Giftmiſcherin iſt, was ſind wir
dann Alle
!“


Der Legationsrath Wandel ſchien in dieſer fürch¬
terlichen Scene nicht ganz die Faſſung behalten zu
haben, welche er in allen Lagen des Lebens an den
Tag gelegt. Das Unglück einer ſo theuren, lang¬
jährigen Freundin mußte auch ihn momentan er¬
ſchüttert haben. Er war wenigſtens für die nächſten
Minuten nicht ganz Herr ſeiner ſelbſt. Er ſaß auf
einem Stuhl, den Rücken der Geſellſchaft zugewandt.
Sein Kopf ſank über. Plötzlich aber ſtand er auf,
und trat in die Mitte des Zimmers. Sein Auge
leuchtete, indem er die Anweſenden überſchaute, ein
hochmüthiger, faſt verächtlicher Ton in ſeiner geho¬
benen Stimme:


„Und wer ſagt — ich frage, wer wagt die Frau,
welche man aus unſerm Kreiſe geführt, eines Ver¬
brechens anzuklagen! Hat Jemand von Ihnen Be¬
weiſe? Lieſt man in ihrem Herzen! Wer, ich frage,
traut ſich zu, auf bloßes Geſchwätz, Vermuthungen
hin, ein Urtheil über eine Dame zu fällen, die als
ein leuchtendes Exempel von Tugend bis da in un¬
ſerer Mitte ſtand? Wer, wiederhole ich, fühlt ſich ſo
reinen Herzens, um den erſten Stein auf ſie zu
werfen! — Warum ſenken Sie die Köpfe? — Wie!


[165]

Weil die Dienſtleute ein Gerücht hereintrugen, un¬
gebildete Gerichtsdiener, übereifrige Beamte ſie ver¬
haftet, vielleicht auf ein bloßes Mißverſtändniß, eine
Verwechslung — Kommt das nicht vor? Giebt es
nicht Juſtizmorde? — Wie, darum verdammen wir
die, die Sie Alle durch lange Jahre mit Bewunderung,
Reſpect betrachtet, die uns galt für ein Weſen hö¬
herer Art! Dieſe Bewunderung für ihre guten Ei¬
genſchaften, der Eindruck, den ſie unwillkürlich auf
uns Alle geübt, wäre erloſchen, fortgewiſcht durch
ein einziges Wort! O mein Gott, laſſen Sie mich
nicht ſo ſchlecht von uns Allen denken, daß ein un¬
beſonnenes, überhaſtetes Wort die Thaten eines gan¬
zen Lebens verlöſchen könnte —“


„Aber —“ fiel ihm Jemand in's Wort. Wan¬
del ließ ihn nicht zu Wort kommen.


„Sie haben Recht, der Schein iſt gegen ſie.
Ich vermeſſe mich auch in keiner Art hier Richter
ſein, noch ableugnen zu wollen, was etwa von em¬
ſigen Polizeibeamten zu Protocoll gegeben iſt. Nein,
von ſolcher Anmaßung bin ich weit entfernt. Aber,
meine verehrten Freunde, hüten wir uns Schlüſſe
zu ziehen aus dem, was ſcheint, was wir vermuthen.
Wollte ich meinen Vermuthungen nachträumen, dem
Scheine trauen, der eben wie ein Blitz vor mir auf¬
zückt, ich müßte zum Ankläger werden gegen die
edelſten Männer, die lauterſten Charactere Berlins.
Sie traute keinem Arzte mehr, ſie glaubte ihre
Schwächen durchſchaut zu haben, ſie nannte ſie ins¬
[166] geſammt Charlatane; das wußte Heim, Selle; Mu¬
cius hat es auch gewußt. Sie präparirte ſich ſelbſt
ihre Hausmittel, ſie hatte ſich eine kleine Apotheke
von Herrn Flittner verſchafft, wie ich ihr auch ab¬
rieth, und vorſtellte, daß es zu Mißdeutungen eben
von Seiten der Aerzte führen könne. Es hat dazu,
meine Herren, geführt, man hat Urtheile über ſie
ausgeſprochen, die ich nicht wiederholen will. Wie
nun, wenn ich dieſem Schein nachginge, argumen¬
tirte: ſie war eine ſehr kluge Frau, die tiefer ſah
als Andere, darum waren die, denen ſie in's Hand¬
werk ſchaute, ihre gebornen Widerſacher, die ihr auf
den Dienſt lauerten, jede ihrer Handlungen mi߬
deuteten; dieſe Aerzte ſind es, die, weil ſie dieſelben
vom Todtenbett ihres Gatten fern gehalten, weil
ſie dieſelben beleidigt, verhöhnt, an Ruf und Praxis
geſchadet, ſie ſind es, welche den Verdacht gegen
die Unglückliche ausgeſtreut, bis andere Elende daraus
eine Denunciation gebildet. O nein, meine Freunde,
ich unterdrücke dieſe Vermuthung, und noch Andere,
ich verſichere Sie, Vermuthungen, die einem an¬
dern als mir zu Schlüſſen würden. Nein, ſie ſteht
mir zu hoch, als daß ich ihr helfen ſollte durch das
Verderben Anderer. — Sie wundern ſich über mei¬
nen perſönlichen Eifer. Nun wohl denn, wenn
Ihnen die Entrüſtung eines Edelmanns über das
Unrecht, das man einer edlen Frau anthut, nicht
Grund genug iſt, ſo habe ich keinen, unter ſo nahen
Freunden zu verſchweigen, daß meine Achtung und
[167] Bewunderung für Madame Lupinus mich nach dem
Tode ihres Gatten trieb, um ihre Hand zu wer¬
ben. Ich ſprach es noch nicht aus, um ihre Ge¬
fühle zu ſchonen, aber ſchon bei einer bloßen An¬
näherung kam ſie ſchonend, doch mit einer Würde
mir entgegen, die alle meine Hoffnungen zurückwies.
Sie gehöre dem Todten wie einem Lebenden an,
und nichts dürfe ſich zwiſchen ſie und dieſe heilige
Erinnerung drängen. Brauche ich Ihnen zu ſagen,
wie ich dieſe heilige Empfindung verſtand und ehrte,
da jeder von Ihnen weiß, daß ich ſeitdem ihr
Haus nicht mehr betrat. Und dieſe Frau wagt
man zu beſchuldigen, daß ſie Hand gelegt an das
theure Haupt ihres Verewigten! Dieſe Mittheilun¬
gen bin ich dem Criminalgericht ſchuldig. Ich werde
ſie machen, und zum Richter ſprechen: Unterſuchen
Sie ſtreng, das iſt Ihre Pflicht, aber erlauben Sie
mir auch, eine moraliſche Ueberzeugung vor Ih¬
rem Stuhle auszuſprechen. Möglich iſt Alles, aber
nur die, welchen die Sünde in ihrem erſten
Stadium, im Argwohn und Neid gegen die Beſ¬
ſeren und Glücklichen, genaht iſt, werden die
Beſchuldigung ausſprechen, ſie werden ein Be¬
hagen daran finden ſie zu glauben, eine edle,
reine Seele wird die Worte ausrufen, welche mir
vorhin in's Ohr klangen: Wenn ſie eine Giftmiſcherin
iſt, gütiger Gott, was ſind wir dann Alle!“


Der Eindruck der Rede war groß. Er hatte
ſeinen Hut ergriffen, ſich gegen die Geſellſchaft ver¬
[168] neigt, am tiefſten gegen Madame Braunbiegler.
Die Geſellſchaft verſtand die Bedeutung. Trotz des
allgemeinen Schauers, trotz der Unruhe des Auf¬
bruchs, denn die Meiſten nahmen Abſchied, be¬
wunderte man den ritterlichen Mann, welcher ſo
der Ehre einer Frau ſich, annahm, die ihm den
Korb gegeben! Und ſeine hohe Geſtalt, ſein tief¬
glühendes Auge unter einer Stirn, die ſich im edlen
Zorn immer höher zu wölben ſchien! So hatte man
ihn nur geſehen, als er im Hauſe der Obriſtin als
Retter auftrat.


Niemand ſchien vergnügter als Baron Eitel¬
bach, er hätte, als Beide im Vorzimmer ſich be¬
gegneten, dem Legationsrath um den Hals fallen
können. Seine Frau übernahm es ſtatt ſeiner.
Eine Thräne glänzte in ihrem ſchönen Auge, als
ſie, vom Arm ihres Mannes ſich losmachend, ihre
Hände auf ſeine Schultern legte und, auf den
Zehen ſich erhebend, einen Kuß auf ſeine Stirn
hauchte: „Eine ſchöne That verdient eine Be¬
lohnung. Eigentlich, daß Sie's wiſſen, habe ich
Sie nicht leiden können — Sie ſind ein guter
Menſch, das wußte ich, aber es war mir doch
immer daneben, als wenn Sie ein ſchlechter Menſch
wären — heute aber — nein, Sie ſind gar kein
Menſch nicht, heute waren Sie wie ein Gott.“


Schade, daß die ſchöne Scene durch ein krei¬
ſchendes Gelächter unterbrochen ward. Nicht das des
Barons, der nur etwas „grinſte“ und ſich vor Scha¬
[169] denfreude die Hände rieb, ſondern geſpornte Stiefel
polterten die Treppe herauf, und der Rittmeiſter ſchrie
ſchon von draußen ſein: Tralirum la, Tralirum la,
nun geht es los! Tralirum la! Krieg! Krieg!
Ausmarſchordre! — Laforeſt kriegt ſeine Päſſe!“


Es war ein Intermezzo, das überhaupt zu dem,
was hier geſchehen, nicht ſtimmte; Trompetengeſchmetter,
das einen Choralgeſang, die Trauermuſik eines Grabes¬
zuges unterbricht. Glühte ſein Geſicht nur von der
Freude oder auch vom Wein? Gleich viel, es glühte
und er war trunken. Er fiel um den Hals, wer ihm
in den Weg trat. „Krieg! 's geht los!“ begleitete
den Kuß. Er hatte den Baron Eitelbach ſo umarmt,
er drückte auch der Baronin ſeinen Bart und ſeine
Lippen an die Wangen. Nur vor der aufrechten
Geſtalt des Legationsraths wich er zurück, um den Ge¬
neral-Stabs-Chirurg Görecke an's Herz zu ſchließen.


Herr von Wandel glaubte einen ſchmerzlichen
Zug um die Augen der Baronin zu ſehen. Er flüſterte
ihr in's Ohr: „Nicht verzweifelt, meine Freundin.
Man muß in ſolchen Momenten der Aufregung auch
einer Rohheit nachſehen, die unter andern Umſtänden
unverzeihlich wäre. — Er kann ſich beſſern, obgleich
— doch es kommt eben darauf an, ob er ein Diamant
iſt, oder nur ein Kieſelſtein.“

[[170]]

Achtes Kapitel.
Wir werden Alle Blut ſehn müſſen.

Die bleigraue Dämmerung eines Nebelmorgens
drang noch kaum durch die von der innern Wärme
angeſchlagenen Scheiben in das Zimmer der Fürſtin,
als dieſe im Negligé aus ihrem Cabinet trat. Wan¬
del, der hinter ihr die Thür ſchloß, war ſchon fertig
angezogen. Er ſah blaſſer als gewöhnlich aus und
ſchlang ein wollenes Tuch gegen die Morgenkälte
um den Hals, ehe er ſich anſchickte, den Mantel um¬
zuwerfen.


Die Fürſtin wies auf die Thür zur Hinter¬
treppe: „Sie können durch den Gartenſalon. Adel¬
heid ſchläft ſchon ſeit geſtern nicht mehr hier.“


„Der Abſchied von der Tugendprinzeſſin war
wohl ſehr rührend?“


Die Gargazin ſagte nach einigem Beſinnen:
„Ja — ich habe geweint.“ Was ſie noch ſagen
wollte, verſchluckte ſie.


„Tant mieux, Madame, ſie kann uns nun prote¬
giren. Le temps se change, mais pas les hommes.“


[171]

„Ich wünſchte, Sie changirten, ſagte die Für¬
ſtin ernſt. — Hat Sie der Anblick des jungen Mäd¬
chens nie gerührt? Zuweilen — wenn ich ſah, wie
alle Verlockungen und Verführungskünſte von ihr
abglitten — ja, zuweilen überkam es mich, ob ſie
nicht in einem unmittelbaren Schutze ſteht.“


„Die Hand des Schutzengels, den der Himmel
ihr geſandt, drücke ich jetzt an meine Lippen. A revoir!
Uebrigens habe ich ja auch ein wenig den Engel agirt.“


Die Gargazin riß die Hand zurück und ihr ſtra¬
fender Blick hätte ihn zum Schweigen auffordern
ſollen, aber er ſchwieg nicht:


„So war uns die Rolle des Verführers zuge¬
wieſen. Jede Rolle iſt gut, wenn man ſie nur gut
ſpielt. Sie ſchaudern, es iſt ein froſtiger October¬
morgen. Sie werden ſich erkälten, Sie ſollten ſich
wieder zur Ruhe legen.“


„Ich ſchaudre, doch ich friere nicht.“


Er ſah verwundert, als ſie nach der Klingel¬
ſchnur griff.


„Ich will nach der Hedwigskirche. — Wenn Sie
geſündigt, fühlen Sie dann nie das Bedürfniß, Ihr
Herz auszuſchütten? Haben Sie gar keine Empfin¬
dung, keine Ahnung davon, welche Erleichterung,
Wohlthat es iſt, ſo belaſtet und gedrückt ſich in den
Staub zu werfen, und im Bekenntniß, in der Beichte
zu den Füßen eines plénipotentiaire der Allmacht
alles das niederzulegen, und jeden Winkel in uns aus¬
zukehren? Glauben Sie mir, es iſt nur ſchwer, wenn
[172] man es noch nicht verſucht. Sind wir erſt daran
gewöhnt, o ſo wird es mehr als ein Bedürfniß,
eine Wohlthat, wie ein Bad nach ſchwülem Tage.
Wie da Luft und Licht allmälig die Adern unſrer
Seele durchhaucht! Der Körper fühlt es mit, er
wird leichter. Wir athmen auf, wenn in den hohen
Hallen der Odem des Ewigen rauſcht, die Orgel in¬
tonirt, die Glocken über uns anſchlagen, der Zug¬
wind trägt uns den Duft des Weihrauchs zu —
wenn dann der Prieſter die Hände auf uns legt,
die leichte Buße mit ernſter Stimme dictirt, und
endlich, das beſeligende Wort der Löſung ſpricht —
o wie ganz anders fühlen wir uns, nein, wir ſind
es. Nun trägt ein Anderer, was wir getragen, die
Füße, die uns kaum trugen, ſind leicht; wir ſanken
hin und ſchnellen auf. Die Welt iſt wieder ſchön,
rings um uns wie neu geboren und wir wie ein Kind,
das nach dem Schmetterling im Sonnenſchein haſcht.
O Sie armer Mann, daß Sie das nicht begreifen.“


„Ich begreife es — ich begreife es vollkommen!“


„Und Sie verſchmähen die Wohlthat.“


„Was dem Armen ein Schatz iſt, wirft der
Reiche oft aus dem Fenſter.“


„O Sie reicher Mann!“ Es war ein böſer,
aber ſcheuer Blick. „Weil Sie ſo gewaltig ſtark
ſind. Weil Sie die Schwäche nicht kennen! — Ich
hätte Sie von Anfang an haſſen müſſen — “


„Aber Sie wollten mich bekehren, darum erbarm¬
ten Sie ſich meiner und liebten mich.“


[173]

„Nein! — Eigentlich bewunderte ich in Ihnen
die Allmacht der Natur. Wie es ihr möglich war,
ein Geſchöpf in Menſchengeſtalt ohne Blut und Herz
zu bilden! Sie waren mir neu, intereſſant, ich
wollte Sie ſtudiren. Ich klopfte an, ob nicht irgend¬
wo eine ſchwache Seite herausklinge — aber kalter
Marmor von außen und noch kälterer innen. Ich
fragte mich, was bewegt denn dieſen Block, den irgend
ein Dämon aus dem kalten Geſtein loshieb und ge¬
meißelt in's Leben ſetzte, mit täuſchender Menſchen¬
ähnlichkeit, aber er ward kein Menſch.“


„Einige wollen behaupten, der Egoismus ſei
es allein, der dieſen — Marmorblock in Thätigkeit
bringt.“


„Aber die Lichter des Himmels blitzen Sie doch
an, die Töne der Natur finden in Ihnen einen Wie¬
derhall. Es rauſcht und ſtrahlt zuweilen ſo harmo¬
niſch heraus, daß Sie blenden, berauſchen, verführen.
Sagen Sie, iſt das Alles nur der Reflex eines Spie¬
gels, den ſelbſt nichts rührt? Haben Sie keine Seele,
oder iſt ſie wie das Meer am Eispol, eingefroren
ſeit ihrer Schöpfung?“


„Viel näher, theuerſte Freundin, läge doch der
Vergleich mit dem Dämon, den der große Dichter
in's Leben rief. Warum ſo ungeheuer weit ſuchen
im Chaos des Möglichen und Unmöglichen, ſtatt
Goethe's Mephiſtopheles zu citiren? Die Ehre er¬
zeigten mir Andre, ſie nannten mich den Geiſt, der
immer verneint. Höflichere hatten ſogar die Freund¬
[174] lichkeit, den Schalk in mir zu wittern, von dem es
dort heißt, daß unter allen Geiſtern, die verneinen,
er dem Herrn der Schöpfung am wenigſten verhaßt
ſei. Doch das laß ich auf ſich beruhen, es iſt Ge¬
ſchmacksſache, wie Alles in der Welt, Antipathieen
und Sympathieen. Was ſich anzieht, was ſich ab¬
ſtößt, es iſt Alles ein Spiel der Laune, die wir nicht
ergründen, der Kern des Kernes, die Urſach der
Urſach, nach der die ſchöne Königin Charlotte ſelbſt
einen Leibnitz umſonſt fragte und quälte. Nein, da¬
nach müſſen wir nicht ſuchen, nicht grübeln, um
Gotteswillen; wir Alle ſind ja nach Ihrem Glau¬
ben — Erwählte oder Verſtoßene, denen die Gnade
leuchtet, oder es blieb in ihnen finſter. Haben Sie
doch Erbarmen mit ſolchem Finſtergebliebenen, er
kann ja nicht für ſeine Maulwurfsaugen, noch daß
ſein Blut ſo kalt blieb als das arctiſche Meer.
Wenn Sie da weiter fragen wollten, hohe Frau,
auf welche Fragen ſtießen Sie, Räthſel, die ſelbſt
Ihr Glaube, der Berge verſetzt, nicht löſt. Zum
Exempel, warum gab der Panurg ſich die Mühe,
Meer da oben am Nordpol zu ſchaffen, wenn es
ſofort zu Eis erſtarrte? Wir Skeptiker würden fra¬
gen, warum ſchuf er nicht ſogleich Eis? es wäre
doch einfacher, bequemer, conſequenter geweſen. Was
hat dies arme Salzwaſſer verſchuldet, daß es die
ſchmerzliche Metamorphoſe erduldete? Muß es, wie
ein neugeboren Kind, die Sünden ſeiner Erzeuger
büßen? Und warum büßen in alle Ewigkeit, denn
[175] bis nicht ein Komet an dieſe alte Erde ſtößt, der
Weltenbrand Alles verzehrt, wird dies unglückliche,
verzauberte Waſſer doch aller Wahrſcheinlichkeit nach
nicht erlöſt.“


„So glauben Sie doch an den Weltenbrand?“


„Ich glaube an Alles, was außerhalb des Krei¬
ſes meiner Thätigkeit liegt. Warum ſollte ich das
nicht aus Gefälligkeit für die Gläubigen! Es geht
mich ja nichts an. Nur fordere ich als Gegenge¬
fälligkeit, daß ſie innerhalb jenes Kreiſes gar keinen
Glauben von mir fordern. Da glaube ich nicht ein¬
mal, was ich vor mir ſehe, fühle, rieche, nur was ich
hinter mir habe, den Wein, den ich geſchlürft, den
Kuß von ſüßen Lippen, den Buſen, an dem ich ge¬
ruht; daran glaube ich, und ſchwöre auf die Selig¬
keit, außerdem aber nur an das mathematiſche Ein¬
maleins, und — noch an Etwas. Da coincidirt ja
unſer Glaube. Der Panurg ſtreute uns aus ſeinem
Würfelbecher auf die Erde, wie wir ſind, Starke und
Schwache, Erwählte und Verdammte. Jeder geht
auf ſeine Graſung. Wenn Jener ſauren Klee liebt,
ſo wäre ich ja ein Thor, ihn fortzureißen, daß er auf
mein ſüßes Kleefeld kommt. Er gab uns verſchiedenen
Geſchmack, und das iſt ſeine nicht genug zu bewundernde
Weisheit, ſonſt fräßen wir Einer den Andern auf.“


„Der Weltenbrand!“ rief plötzlich die Fürſtin auf,
und ihr Geſicht glühte. Nicht die Wärme von innen,
es war eine Purpurgluth, die von außen daran ſchlug.
Die Sonne war aufgegangen, die Wolken zerriſſen,
[176] eine unförmlich große Feuerkugel tanzte im Dunſt¬
licht. Aber bald ſah man ſie nicht mehr vor der
Färbung, die ſie dem ganzen Dunſtmeer mittheilte.
Das Firmament ſchien in Feuer. Das Zimmer,
eben noch in unheimlichem Grau, war von rothem
Gefunkel überſprenkelt. Raſch hatte die Wirthin das
Fenſter aufgeriſſen, und die Dächer der Häuſer, die
weite Stadt, ſo weit man ſie überſah, ſchwammen in
einem Blutroth.


Wenn ſie überraſcht war, ſchien es nicht die
Ueberraſchung des Schrecks, ſondern einer dämoni¬
ſchen Freude. Sie ſtreckte ihren entblößten Arm hinaus
in die kalte Luft, während dieſe Kälte ſie doch nö¬
thigte, die Enveloppe mit der andern Hand feſter
um Bruſt und Hals zu drücken.


„Sehen Sie!“


„Die Nebel zertheilen ſich. Es wird ein ſchöner
Herbſttag werden.“


„Der Tag der Vergeltung! Er bricht an. Feuer
und Blut gemiſcht. O ich könnte mich freuen, ein
entzückendes Schauſpiel, wenn die wogenden Flammen
über dieſe Dächer ſauſten, das Lieb der Vergeltung
heulend —“


„Die ſanfteſte Frau mit Nero-Phantaſieen!“


„Dieſe Dächer, dieſe ſteinernen hohen Mauern
mit ihren griechiſchen, ihren etruriſch römiſchen For¬
men, ſie waren immer meinem Auge eine heidniſche
Decoration. O ich hätte ſie abreißen, offen legen
mögen, daß man hineinblicke und ſehe, was ſie ſo
[177] geſchickt verſchließen, dieſe mit heidniſcher Tugend
übertünchten Sünden.“


„Ich bin nicht aus Berlin — auch kein Preuße,
fahren Sie fort, Prieſterin des heiligen Zornes!“


„Selbſt Sie müſſen das fühlen, kalter Verſtandes¬
mann: hier iſt keine Geſundheit, ſelbſt ihre Rechen¬
exempel ſind falſch, ſie wandeln auf übertünchten
Gräbern und merken es nicht. Ihre Bildung, was
iſt ſie? Eine bunte Garderobe aus allen Ländern
zuſammengeholt, Frack und Friſur aus Frankreich,
ein Surtout darüber aus England, bunte Flitter aus
Italien, Spanien, wo es her iſt. Und die gerühmte
Intelligenz, aus welchem Quell ſchöpfte denn ihr
Geiſt? Trank er von den Silberwaſſern, die aus
dem ewigen Schnee rieſeln, die Gottes Auge befruchtet?
Aus ſchleichenden Flüſſen, künſtlichen Kanälen ſchöpften
ſie ihre Begeiſterung. Dieſe Ramler, Gleim, o es iſt
zum Lachen! Womit beſchäftigte ſich ihre Poeſie,
Philoſophie und Kunſt, als über die Wüſte der All¬
täglichkeit einen glitzernden Teppich zu weben, und
den Gott, den ſie nicht ſahen, aber doch bisweilen
fürchteten, wie Kinder das Gewitter, aus ſeinem
Aetherſitz herabzureißen, um ihm ein bürgerliches
Kleid anzuziehen, bis er zum guten Nachbar ward,
den man zu Gevatter bittet und die Hand ſchüttelt.
Wen verfolgten dieſe Nicolaiten und Jeſuitenriecher,
als die von ſeinem Geiſt Durchſchauerten. Die blieben
die ihnen unbequemen Geſpenſter. So im Sieges¬
wahne haben ſie über dem Schutthaufen, der Gott
V. 12[178] und Teufel, Religion und Aberglaube begräbt, den
Thron der Aufklärung aufgerichtet, im Ich, jeder ein
Gott mit aufgeblaſenen Wangen und Kolophonium¬
blitzen gegen Andersdenkende! Der rechte neue Aber¬
glaube und Aberwitz, wo den Sündern vergeben
wird, wie man irgendwo Gefangene laufen läßt,
weil kein Gefängniß für ſie iſt. Die nach dem Trunke
dürſtenden Wüſtenpilger ſpeiſt man ab mit dem Troſte,
ihr Durſt ſei Illuſion, er werde vergehen durch Ent¬
haltſamkeit. Und wie dieſe Religion ein Mantel
von Spinnweben, ſo iſt ihre Staatskunſt einer von
verſchimmelter Weisheit. Weil ſie ohne wahrhaften
Gott ſind, haben ſie aus einem Menſchen einen Götzen
gemacht. Ich ſah zufällig als Kind, man führte
mich dahin, die Leiche des großen Königs. O ſchau¬
derhafte Erinnerung. Dieſer Größte der Großen,
den ſie in ihrer Vermeſſenheit einem Stern an
den Himmel verſetzt, war eine kleine zuſammenge¬
ſchrumpfte Mumie, ein Kinderbalg, ein verkrummtes
Zwerglein. Man mußte mich fortreißen, denn ich lachte
laut, draußen ſchrie ich noch auf: das iſt kein großer
Mann, das iſt ja eine häßliche Puppe! — Und wenn
wir hinſinken vor der ſchönen gebenedeiten Mutter,
wenn ſich unſer thränenreicher Blick auflichtet zu den
edlen Gottzügen des Gekreuzigten, und ſchwebt er noch
höher beim Klange des gloria in excelsis, zu dem
ewigen Auge des Vaters, dann bezüchtigt man uns
der Idolatrie! Aber dies Pygmäengeſchlecht kniet
und betet vor der kleinen braunen Puppe, und das
[179] nennt es nicht Götzendienſt, das iſt Anbetung der
Wahrheit! Und ſie haben Recht. Das ſind noch die
Beſſern. Wer nichts iſt, muß ſich doch am Anblick
von Etwas, das mehr iſt, ſtärken, und wer nie ein
Goldſtück in die Hand bekam, freut ſich auch über
ein Stückchen Goldpapier.“


„Erlaucht! Das ſind ja Ihre Alliirten! Von
dieſen beredten Lippen hörte ich zwar oft den Wunſch,
daß dies ſündhafte Berlin von ſeinen Götzen ließe,
ſeinem Friedrich und Leſſing, ſeinem Schiller und
Goethe den Rücken kehre und vor dem König der
Könige niederkniete; aber woher dieſe Vernichtungs¬
wuth?“


„Weil ſie nicht zu bekehren ſind! — Dies in
eignem Wiſſensdünkel aufgeſchwollene Pilzgeſchlecht,
im Innern faul und hohl, nimmt keine Lehre an.
Die Ermahnungen der Geſendeten ſtrömen durch das
Faß der Danaiden. Berlin hat die Strafruthe des
langmüthigen Gottes an den Himmel gerufen. Nun
ſteht ſie da. Schmähen Sie mir nicht auf den Mann,
den wir bekriegen müſſen. Des neuen Attila Miſſion
iſt groß, und ich ſehe, ſie iſt noch nicht zu Ende. Nur
wir ſind zu oft am Ende, weil wir mit unſerm Ver¬
ſtand ihm immer dies und das Ziel abſtecken wollten,
und der unſichtbare Wille lächelt über unſre Thorheit.
Die Leichen ſollen ſich noch zu Bergen thürmen und
das Blut in Strömen fließen, wo wir noch kein
Bett dafür ſehen. — Ei, Sie ſchaudern, das freut
mich. So blutig roth wie dieſer Morgen —“


12 *[180]

Wandel ſchauderte wirklich, er zog den Mantel
um die Bruſt: „Sie wiſſen, ich kann kein Blut
ſehen. Alles — Andre — nur kein Blut —“


Die Gargazin ſchien ſich an ſeiner Angſt oder
an ſeinem Schreck zu weiden: „Steigt Ihnen es
auch zu Wangen! — Wir werden Alle Blut ſehn
müſſen, mein Herr von Wandel. Ohne das keine
Erlöſung aus dieſem Daſein. Entweder ſtockt es,
und wir gehen in Convulſionen unter, oder es ſtrömt
in hellen Purpurquellen aus, und das iſt die leich¬
tere. — Hören Sie die Trommeln wirbeln? Wie
muthig und froh gehen die Tauſende dahin, wo die
eiſernen Würfel fallen. — Ja, das Spiel iſt aus,
der Ernſt beginnt, mein Herr. Verſpüren Sie keine
Luſt? Hörten Sie's nicht ſingen: „Im Felde, da
iſt der Mann noch was werth!“ Regte es ſich da
nicht in Ihnen? Hier iſt er — gar nichts mehr
werth.“


Welcher Dämon war in die Frau gefahren?
dachte der Legationsrath.


„Um in's Feld zu ziehn, muß man —“


„Muth haben,“ unterbrach ſie ihn.


„Bewahre Ihr Genius oder Ihre Heiligen die
Liebenswürdigſte Ihres Geſchlechts davor, eine Ama¬
zone zu werden!“


Sie ſchien ihn nicht zu hören.


„So rottenweis ſie fallen, Reihe um Reihe un¬
ter dem Kartätſchenhagel ſtürzen, das Feld ſich lich¬
ten zu ſehen, für einen Feldherrn ſoll es ein Götter¬
[181] ſchauſpiel bieten. Da, wenn er auf der Höhe hält,
den Tubus in der Hand, ſein Schlachtroß unbeweg¬
lich unter ſeinen Lenden, da ſoll Napoleon ein Gott
ſein. Ein Bewegen mit dem kleinen Finger, ein
Seitenblick, ein Zucken mit der Lippe, die Adjutan¬
ten verſtehen es, neue Bataillone wälzen heran, ſie
füllen die Lücken, um wieder — Lücken zu werden —“


„Bis eine kleine Kartätſchenkugel, matt nur
noch im Sande hüpfend, auf den Hügel ſpringt und
den Gott vom Pferde reißt.“


„Qu'importe! So zu ſterben, wäre auch Wol¬
luſt. — Sind wir nicht Alle zu Feldherren geboren,
die wir über die Maſſe uns erheben? Dieſe Maſſen,
die nichts ſind ohne den Geiſt, der ſie regiert, Knäuel
grauen Gewürmes, ein Durcheinander ohne Unter¬
ſcheidung, wenn nicht ein Lichtſtrahl ſie färbt. Wir
färben ſie, geben ihnen Leben, Ordnung, Zweck des
Daſeins — haben wir nicht dafür Recht, über ſie zu
ſchalten wie der Schachſpieler? Futter für's Pulver,
nicht wahr? — Ich kann die Frau da begreifen, wenn
es wahr iſt, was ſie von ihr erzählen. Mit Menſchen¬
leben ſpielen wie mit Schachpuppen, warum ſoll es nicht
zum Kitzel werden, dem man nicht mehr widerſteht.“


„Die Unglückliche! Sie wollte gewiß keine Ver¬
brecherin werden.“


„Wer will das! Sie wollte nur Glück um ſich
verbreiten, aber weil die Menſchen eigenſinnig ſich
ihres auf eigne Weiſe ſuchen, ward ſie erbittert,
bis — bis — Ja — weil ſie nicht Muth hatte zu
[182] ſündigen, darum ward ſie Verbrecherin. Eine
Philoſophin — ſie hatte ihre Götter ſich ſelbſt ge¬
knetet — weiß ich, aus welchem Koth! — Wer den
Gott des Lebens nicht kennt, ſeine Beſeligung, dür¬
ſtet doch nach einer anderen. Der Gott des Todes
gewährt ſie auch, und wem die großen Würgeengel
nicht zu Commando ſtehen, wie Bonaparte, läßt ſich
mit den kleinen genügen. Die Gemeinheit ſagt,
ſie hätte es aus Rache gethan. Nein, ich verthei¬
dige die Frau. Auch ſie nur ein Werkzeug in ſei¬
ner Hand.“


„Sie würde mit ihrer erlauchten Vertheidigerin
ſchwerlich zufrieden ſein.“


„Herr von Wandel wird ſie allerdings beſſer
vertheidigen, weil er ſie beſſer kennt.“


War das ein Baſiliskenblick? — Er wollte
ſprechen — aber er ſtotterte nur von Gott und reinem
Bewußtſein. Wenn ſie unſchuldig, werde jener ſie
ſchützen, dieſes ſie tröſten.


„Reden Sie doch nur in Sprachen, die Sie
verſtehen, herrſchte die Fürſtin ihn an. Wenn Gott
ſeine Zuchtruthe am Himmel aushängt für die Völ¬
ker, ſtraft er auch die Einzelnen. Merken Sie ſich
das, Herr von Wandel. Wenn Peſtilenz, Krieg,
Verderben in einem Lande ausbricht, kommt es nicht
angeweht vom Winde, es bricht von Innen heraus,
wie ein Geſchwür von den faulen Säften. Merken
Sie das. — Werden Sie noch hier bleiben? Mich
dünkt, hier iſt nicht Ihres Weilens. Mich dünkt,
[183] Ihnen könnte Gefahr drohen. — Mich dünkt, man
glaubt Sie zu kennen —“


„Wer?“


„Ich nicht, rief mit Nachdruck die Gargazin.
Ich will nicht, mir graut, Sie kennen zu lernen.
Die Akademie will Sie nicht, aber für Gelegenheit
nach Rußland laſſen Sie mich ſorgen — ich könnte
Ihnen eine Profeſſur in Kaſan verſchaffen.“


Er ſah ſie groß an: „Was iſt's? Wiſſen Sie
etwas? Droht mir etwas? Iſt's vorſorgende Liebe,
oder ward ich Ihnen läſtig?“


„Ich könnte Sie haſſen.“


„Weil Sie mich nicht bekehren können.“


„Nein, ich zittre, wenn ich Sie anſehe. Jetzt
begreif' ich's, wie die erhabene Katharina vor Ab¬
ſcheu und Wuth zittern konnte —“


„Wenn Lieblinge nicht fühlten, daß es ihre
Pflicht ſei, vor ihr zu verſchwinden, wo ihre Gunſt
ausging. Allerdings ein großes Verbrechen der Un¬
dankbaren, durch ihren Anblick der Czarewna eine Er¬
innerung zu verurſachen, die ſie in angenehmeren Phan¬
taſieen ſtörte. Es war eine ſehr zartfühlende Fürſtin.
Erlaucht, unſer Verhältniß ſteht aber doch anders.“


„Es ſteht nichts mehr, es fällt und bricht, wo
Alles bricht und kracht. Aber ich möchte nicht, daß
etwas vor meinen Augen zuſammenbricht, wo ich
mir ſelbſt Mühe gab, es zu bilden, als — meine
Laune ſo war. Wollen Sie nach Kaſan?“


Der Legationsrath verneigte ſich zum Abſchied:


[184]

„Die Luft dort iſt mir zu ſtreng.“


„Was feſſelt Sie hier?“


„Erlaucht wiſſen —“


„Unmöglich — nein abſcheulich — das traue
ich Ihnen doch nicht im Ernſt zu.“


„Eine mariage de raison, weiter nichts. Wenn
wir mit den Leidenſchaften und Phantaſieen zu Rande
ſind, behält die Vernunft das letzte Recht.“


„Mir aus den Augen!“


„Was that Madame Braunbiegler, Euer Er¬
laucht Zorn zu erregen?“


„O mehr als abſcheulich — widerwärtig —
eine Verſündigung gegen Geſchmack, Gefühl, Aeſthe¬
tik! An einen trunkenen Silen konnte die Nymphe
ſich hängen, da war im Epheu holder Wahnſinn —
aber das Thier, das im Schlamme der Gemeinheit
ſich wälzt, das wagten die Griechen ſelbſt nicht —
Und mit Bewußtſein, klar ſehend — Mir aus den
Augen — da iſt die Treppe — wenden Sie ſich nicht
um — Ich will Ihnen nicht wieder in's Geſicht
ſehen — nie, nimmermehr!“


Wandel hatte ſich noch tiefer verneigt und — er ſtand
ſchon auf der Treppe. Da aber wandte er ſich doch um.
Es mußte ein eigner Blick ſein. Sie ward roth und blaß:


„Erinnern Sie ſich, rief ſie ihm nach, daß Sie
keine Zeile Schriftliches von mir in Händen haben.
— Ich kenne Sie nicht. — Fort — hinunter —
Scheuſal — ſchneller!“

[[185]]

Neuntes Kapitel.
Auch ein Satz in die Löwenhöhle.

Er war ſymboliſch die Treppe hinunter gewor¬
fen. Er machte ſich keine Illuſionen darüber. Aber
warum? — Weil er das äſthetiſche Gefühl der Fürſtin
verletzt? Weil grade dieſe Rivalität ihren Schön¬
heitsſinn empörte? — Ein höhniſches Lächeln ſchwebte
auf ſeinen Lippen. Er litt zum erſten Male unge¬
recht. Er hatte nie im Ernſt an die Heirath gedacht;
vielleicht, weil auch ſeine Aeſthetik ſich dagegen ſträubte,
vielleicht, weil er wußte, daß die reiche Braunbiegler
eine Feſtung ſei, die mit den Künſten und Mitteln,
über welche er gebot, nicht zu erſtürmen ſei.


Unrecht leiden, und die Wahrheit nicht aus¬
ſprechen dürfen, die uns frei machte, iſt eine Marter.
Die Lüge, um die er verſtoßen war, gehörte zu einem
Syſtem oder Gewebe, das noch nicht zerriſſen war.
Aber er hatte zu dieſem Schmerz, der edleren See¬
len vorbehalten iſt, keine Zeit. Es waren ganz
andere Vorſtellungen, die ſeiner ſich bemeiſterten.


War es nur eine Weiberlaune, welche plötzlich
[186] in ihr aufgeſtiegen, und hatte die Aufwallung einer
Phantaſie ſo lange, künſtliche, wenn auch nie ganz
feſte Bande geſprengt? Oder lag etwas Beſtimmtes
zum Grunde?


Mit jedem Schritte gewann dir letzte Vorſtellung
an Gewicht. Eine fürchterliche Ueberzeugung, aus
Kettengliedern zu einer Kette geworden. Er war
nicht mehr, oder vielmehr, er galt nicht mehr, was
er gegolten. Wer giebt einem fadenſcheinigen Rock
ſeine Wolle wieder! Sein Kopf ſenkte ſich, ſeine
Füße wurden ſchwerer. Der frühe Morgen war ein
Glück für ihn; er begegnete keinen Bekannten. Der
große Menſchenkünſtler hätte ſeine Aufregung nicht
verbergen können.


Dort ſtand er an der Ecke, zaudernd, drei Wege
vor ihm, der eine führte zur Poſt. Seine rechte
Hand griff unter den Rock, an die Stelle, wo das
Herz ſitzt. Ob er deſſen Pochen hörte, es unter¬
drücken wollte? Ueber dem Herzen war aber auch
die Bruſttaſche des Rockes, in dieſer ſein Taſchenbuch,
und in demſelben ſteckte ein von allen Geſandtſchaften
viſirter Paß in's Ausland. Es waren auch vielleicht
mehre Päſſe auf mehre Namen. — Sein Sinnen
in dem Augenblicke war, ob er nach der Poſt eilen,
Extrapoſt nehmen, und die Stadt und das Land auf
immer verlaſſen ſolle? Vielleicht ließ er damit mehr
hier zurück, als den Staub ſeiner Füße — ſeinen
Namen. An einem andern Orte tauchte er unter
einem andern neugeboren auf; die Welt iſt groß.


[187]

Aber vor ſeinen Augen mußte ſie nicht ſo groß
erſcheinen, als er, mit den Zähnen die Unterlippe
kneifend, vor ſich hinſtarrte. Auf der Landkarte, die
ſein Auge in der Luft vor ſich zeichnete, ſah er viel¬
leicht Städte und Länder, die ihm ſchon verſchloſſen
waren. Indem ſchallte Reitermuſik die Straße herauf.
Berittene Rekruten ſangen das jetzt ſo beliebte:


Friſch auf, Cameraden, auf's Pferd, auf's Pferd!

In's Feld, in die Freiheit gezogen!

Sie ſchaukelten ſich dabei, noch ungeſchult, in toller
Luſtigkeit in den Sätteln.


„Was iſt dieſen Bauerlümmeln Freiheit — was
Vaterland! rief es in ihm. Der Stock ihr Meiſter,
und doch gehn Sie muthig dem entgegen, dem ſie
nicht ausweichen können; ſie müßten denn deſertiren.
Und das Deſertiren hat in dieſem Lande mehr Ge¬
fahr, als — dem Feinde ſtehen. Ich will auch nicht
deſertiren.“


Er ging weiter; nicht nach der Poſt, aber doch
ſchien er noch unſchlüſſig, wohin. War es Zufall,
daß ſeine Schritte ſich nach dem Hotel des fran¬
zöſiſchen Geſandten lenkten? Alles war hier in Thä¬
tigkeit, Packwagen ſtanden unter dem offenen Thor¬
weg; aber auch eine Kutſche angeſpannt auf der
Straße. Laforeſt wollte Abſchiedsbeſuche machen.
Wenn Wandel hier angeklopft, würde er bereitwillig
aufgenommen ſein; er ging unſchlüſſig bis an die
Stufen, aber — er mußte Gründe haben, weshalb
er nicht anklopfte. Er ging raſch vorüber, und
[188] athmete auf. „Er iſt doch nur ein Meteor! ſprach
er für ſich. Wenn er unterſinkt, wo bleibt Napoleons
Schweif!“ Wir glauben, daß Wandel ſich hierin
ſelbſt belog. Er hatte andere Gründe, weshalb er
Frankreich nicht mehr betrat.


Er war auf eine Bank unter den Linden hin¬
geſunken. Zwei Morgenſpaziergänger, die einen
Brunnen tranken, ſetzten ſich ebenfalls. Nachdem ſie
über die Wirkungen des Waſſers ſich des Längeren
unterhalten, ſprachen ſie auch von der Lupinus und
ihrer Verhaftung. Die Geſchichte erhielt neue Wen¬
dungen. Sie war nach des Einen Conjectur eine
geborne Giftmiſcherin aus Inſtinct. Er wollte ge¬
hört haben, ſie hätte ſchon in der Schule angegiftet,
dann als fünfzehnjähriges Mädchen zuerſt ihren Vater
und darauf ihre Mutter complet vergiftet. Die Zahl
ihrer übrigen Opfer laſſe ſich gar nicht berechnen,
und ſie thue es ohne allen Zweck und Vortheil, nur
weil es in ihrem Blute liege. Sie könne es nicht
laſſen. Der Andere wollte entgegengeſetzte Nach¬
richten haben: ſie ſei eine wohlerzogene und ſonſt
treffliche Frau geweſen, aber die Neigung zu einem
fremden vornehmen Herrn habe ſie aus Rand und
Band gebracht. Sie hätte ſich zuerſt ſelbſt vergiften
wollen, weil er ihre Leidenſchaft nicht erwiedert, ihre
Blicke nicht verſtanden. Dann aber hätten ſie ſich
verſtändigt, und der fremde Herr merken laſſen, daß,
wenn ſie frei wäre, und nicht Manches ſonſt im Wege
ſtände, er ſie gern heirathen würde. Darauf hätte
[189] ſie eine Pflegetochter und die Kinder ihres Schwa¬
gers vergeben. Bei der erſten ſei es noch zu rechter
Zeit gemerkt worden und man hätte ſie aus dem
Hauſe geſchafft; die Kinder wären draufgegangen.
Der fremde Herr hätte darauf zu ihr geſagt: ſo ſei
es gar nicht gemeint geweſen, und er habe auf immer
von ihr Abſchied genommen. Da aber hätte ſie
grade ſchon auch ihren Mann vergeben gehabt, und
wäre von der Alteration außer ſich gerathen. Alles
war ja umſonſt gethan.


„Ich weiß nicht, Herr Geheimſecretair, ſagte der
andere Geheimſecretair, ich weiß nicht, ob ich nicht
den andern vornehmen Herrn auch bei den Ohren
faßte.“


„Wird auch geſchehen, rief der Angeredete dem
klugen Manne in's Ohr. Geſtern im Caſino hörte
ich ſo etwas, unter uns geſagt, daß der Herr Re¬
gierungsrath von Fuchſius auf ihn vigiliren. Es iſt
da was, — man weiß nur nicht, was — Indeß man
wird ja davon hören.“


Bald darauf klingelte es heftig in der Wohnung
des Rath Fuchſius, auch noch in früher Morgen¬
ſtunde, denn der Rath ſaß im Schlafrock und Pan¬
toffeln beim Kaffee und Pfeife. Ein fremder Herr
wünſchte in einer dringenden Angelegenheit ihn zu
ſprechen, und ehe noch der Beſcheid hinausging, war
der Legationsrath ſchon eingetreten.


Zwei fein gebildete Männer ſind um den An¬
fang eines Geſpräches nicht verlegen, ohne das Wetter
[190] zu Hülfe zu rufen. Aber Wandel unterbrach den
ſchönſten Fluß der Introduction, bei der Fuchſius
ihn nicht einmal gefragt, was ihm die Ehre des Be¬
ſuches verſchafft, indem er den Hut auf die Erde
fallen ließ und, mit beiden Ellenbogen auf den Tiſch
ſich ſtützend, die Hände gegen die Stirn drückte:


„Mein Gott, wozu das Alles! — Sie wiſſen,
warum ich hier bin. — Die Arme, Unglückſelige! —
Sie ſehn mich in unausſprechlicher Angſt und Ver¬
wirrung — ich kann kaum meine Worte faſſen —
Verzeihen Sie, wenn ich Ungehöriges rede — Sie
wiſſen aus eigner Anſchauung, in wie naher Ver¬
bindung ich mit ihr ſtand —“


„Um ſo ſchmerzlicher, kann ich mir denken, ent¬
gegnete Fuchſius, muß die Beſchuldigung, welche die
Dame trifft, einen edelgeſinnten Freund berühren.“


„Ich danke Ihnen für dieſe ſchonende Sprache.
Eine Bitte voraus — wenn ſie ſchuldig iſt, ich meine,
nach Ihrer Anſicht, gleichviel, ob es nur Ihre mo¬
raliſche Ueberzeugung iſt, oder eine, die ſich auf Be¬
weiſe gründet, erlauben Sie mir wenigſtens, ihrem
älteſten Freunde, ſie in unſerm Geſpräch als eine
arme, unglückſelige Dulderin zu bezeichnen.“


„Da der Juriſt die Regel gelten läßt: Quilibet
bonus praesumitur, donec contrarium probetur
, ver¬
ſteht ſich dieſes Recht für einen ſo intimen Freund
von ſelbſt.“


In Wandels Geſicht blitzte eine Freude auf.
Er reichte ſeine ſchön geformte weiße Hand über den
[191] Tiſch dem Rath: „Dank, tauſend Dank!“ Sie er¬
quicken mein Herz. Und wenn es nur Täuſchung,
ja Selbſttäuſchung wäre, es iſt wenigſtens ein ſchö¬
ner Augenblick. Das erlauben Sie mir, ohne Schmei¬
chelei, hinzuzuſetzen: die Geheimräthin hat den Troſt,
keinem gewöhnlichen Criminaliſten in die Hände ge¬
fallen zu ſein. Still — ſtill — ich weiß, welchen
Werth es für einen Angeſchuldigten hat, einen Unter¬
ſuchungsrichter von Weltbildung, wahrer Humanität
zu haben, der zugleich ein Pſycholog iſt, einen Mann,
der nicht, wie die meiſten rohen Empiriker, aus
dem Dunſtkreis der Verbrecherhöhlen und Straf¬
anſtalten ſeine Menſchenkenntniß geſchöpft hat, und
nicht die holde Röthe der Scham, die Blutröthe des
Schreckes und der Entrüſtung für ein Schuldbekennt¬
niß hält.“


Fuchſius hatte ſeine Pfeife geſtopft, ohne für
nöthig zu halten, auf das Compliment zu ant¬
worten; ſeine Hand hatte er nur zaudernd und wie
ſcherzend von der des Legationsrathes erfaſſen laſ¬
ſen. „Iſt Ihnen das ſo bekannt?“ entgegnete er,
ſcheinbar nur mit dem Luftzug der Pfeife beſchäftigt.


„Ja, ſagte Wandel mit feſter Stimme. Und
nun, ohne Umſchweife, wie es ſich unter Männern
ziemt: was haben Sie über mich disponirt?“


„Sie vergeſſen, daß ich mit der Diplomatie
nichts mehr zu thun habe.“


„Mein Gott, wozu die Komödie! Bin ich ein
fugae suspectus? Haben Sie mich nicht in Ihrem
[192] Hauſe? Mit einem Worte: werden Sie mich ver¬
haften laſſen?“


„Ich — Sie? — Das iſt eine ſonderbare Frage.
Sind Sie denn angeklagt?“


„Qui s'excuse s'accuse, wollen Sie damit ſagen.
Wohlan, ich betrachte mich als ein Angeklagter, und
frage Sie offen heraus: habe ich mich als ein Sur¬
veillirter zu betrachten, oder habe ich die Captur zu
gewärtigen? Um Anordnungen wegen meiner Güter
zu erlaſſen, liegt mir viel daran, es zu wiſſen, und
ich würde Ihnen ſehr dankbar ſein, wenn Sie mir
gradaus Ihre Abſicht mittheilten.“


„Die Criminaljuſtiz ſchreitet bei uns nur im
Fall dringender Verdachtsgründe zur Captur.“


„Nun, ſind das für Ihre Juſtiz nicht dringende
Gründe, daß eines intimen Umganges mit der Ge¬
heimräthin das Gerücht mich bezüchtigt, und ich
räume es ein, es war mehr als Gerücht. Ich
war faſt täglich in ihrem Hauſe, ich führte ihre Geld¬
geſchäfte, ich wußte um Dinge, die Niemand ſonſt
weiß. Sie war eine nervös-hyſteriſche Kranke, eines
jener zartgeſtimmten Inſtrumente, die eine ganz be¬
ſondere Behandlung erfordern, um nicht immer Dis¬
harmonien zu hören und von ſich zu geben. Sie
hatte einen Widerwillen gegen die Aerzte, welche ſie
nicht ſo zu behandeln verſtanden, oder es nicht wollten.
Ich mußte ihr kleine ſympathetiſche Mittel verſchrei¬
ben; es war oft Betrug dabei, das geſtehe ich ganz
offen, denn ſolche Kranke, die ſich ſtets ſelbſt täuſchen,
[193] verlangen, auch von ihren Aerzten getäuſcht zu wer¬
den. Im Verlauf der Zeit war ſie auch damit nicht
zufrieden, ſie wollte ſelbſt operiren. Wie ich auch
dagegen mich ſträubte, ſie beſtellte ſich bei Herrn Flitt¬
ner eine kleine Hausapotheke, und ich mußte den
Vermittler ſpielen. Herr Regierungsrath, alles das
ſind ſchon Verdachtsgründe, auf die ein gewöhnlicher
Richter mit beiden Fäuſten zugreifen würde. Aber
— ich empfand eine Achtung für die ſeltene Frau,
die mit jedem Tage wuchs, die, weil ich ſie erwie¬
dert glaubte, zu einer Seelenharmonie ward. Und
eben ſo offen geſtehe ich Ihnen, ich träumte grade
nicht davon, denn dazu bin ich zu alt, aber ich malte
mir das Glück, dereinſt den Reſt meines Lebens an
ihrer Seite verleben zu können. Dabei war nichts
Arges von meiner Seite, denn mein ſeliger Freund
war um zwanzig Jahre älter als ſeine Frau, kränk¬
lich, ſehr kränklich, die Aerzte ſchenkten ihm kaum
noch einige Frühlinge, obgleich ſie es aus Schonung
der Geheimräthin verſchwiegen. Ich hatte mich ge¬
täuſcht, auch das iſt Ihnen bekannt. Sie gab mir
einen Korb, als ich nach dem Hinſcheiden des Edlen
auf die ſchöne Fernſicht hinwies. Einen entſchiede¬
nen, deutlichen Korb, indem ſie mich zu enttäuſchen
ſuchte, daß ſie je andre Empfindungen für mich ge¬
habt, als die einer Seelenharmonie. Hierin, behaupte
ich eben ſo offen, hat ſie ſich getäuſcht. Aber das
iſt das Eigenthümliche in dieſen ſo für höhere Ein¬
flüſſe immer geſtimmten Seelen, daß ſie den Ein¬
V. 13[194] druck des Momentes übertragen auf Vergangenheit
und Zukunft. Sie hatte ſich an dem Sterbelager
des Gatten überwunden, und dieſen Sieg datirte
ſie weiter zurück. — Doch wohin verliere ich mich.
Ich hatte daran gedacht, wenn ſie frei ward, um
ihre Hand zu bitten, mein Intereſſe war daher des
Geheimraths früher Tod; er iſt früher geſtorben, als
man erwartet, es heißt, nicht auf natürlichem Wege,
ich war bis dahin, wenn nicht täglich, doch ſehr oft
in ihrem Hauſe, im nächſten Verkehr mit der, welche
man der Giftmiſcherei bezüchtigt, ſie empfing Spe¬
cereien, wobei mein Name genannt ward — ich will
mich auch gar nicht darauf berufen, daß ich grade in
letzter Zeit ſeltener anſprach — ich hielt darauf
wirklich um ihre Hand an, wollte alſo meinen Vor¬
theil geltend machen. Nun, mein Herr, entſcheiden
Sie, ob das in Ihrem Lande dringende Verdachts¬
gründe ſind.“


Fuchſius hatte ihn feſt angeſehen: „Ich kehre
die Frage um: was würden Sie in meiner Lage
thun? Sie haben die Rechte ſtudirt.“


„In Amerika ließe ich den Mann auf der Stelle
verhaften. Ich erinnere mich eines ähnlichen Falles,
wo ich als Friedensrichter ſo handelte. Es ergab
ſich nachher, er war unſchuldig. Aber Sie müſſen
den amerikaniſchen Charakter, die beſondern Verhält¬
niſſe beachten. Standesrückſichten giebt es nicht; die
feineren Bezüge der Seelenkunde gehören dort nicht
vor Gericht, nichts als die matter of fact. Ich weiß,
[195] ich ſtoße ſo oft an, indem ich mich in die europäiſchen
Verhältniſſe noch nicht wieder zurechtfinde.“


„Ich höre zum erſten Mal, daß Sie in Ame¬
rika waren, Herr Legationsrath.“


Wandel lächelte: „Ich ehre die Rückſichten, die
ein Criminalrichter hat, auch ſchon Ermitteltes vor
dem Inquiſiten zu ignoriren. Ich aber habe keinen
Grund, zu verleugnen, daß ich erſt Anfang dieſes
Jahrhunderts aus der andern Welt zurückgekehrt bin.“


„Wo Sie doch nicht geboren wurden?“


„Eine Vorahnung, was die Revolution uns
bringen würde, trieb mich ſchon bei ihrem Ausbruch
dahin! ſagte Wandel mit einem tiefen Seufzer.
Wäre ich doch nie zurückgekehrt! Man muß geſtehen,
die Revolution hat mehr und Tieferes zerſtört, als
Königreiche und Fürſtenthümer.“


„Vielleicht auch dem nur den letzten Stoß ge¬
geben, was längſt in ſich zerſtört war,“ ſagte der
Rath.


„Sehr wahr! Eine tiefe Wahrheit, Herr Re¬
gierungsrath. Wenn ich der ſchlichten Sitten, der
Natureinfalt gedenke in unſerm Dorfe, nicht bei den
Landbewohnern allein, auch in unſrer Familie, wie
ſie traulich Abends unter den Lindenbäumen vor der
Thür des reinlichen holländiſchen Hauſes ſaßen und
ihren Thee tranken bei der weißen Thonpfeife. Wer
dachte bei dieſen glücklichen Landbewohnern an das
alte Herrengeſchlecht der Vanſitter. Und als ich
zurückkehrte!“


13*[196]

„Vanſitter! wiederholte Fuchſius, und blickte mit
einer nicht erkünſtelten Verwunderung den an, von
deſſen Lippen dieſes Wort gefloſſen war. Wandel,
der ſich nicht aus ſeiner Ruhe bringen ließ, lächelte
fein:


„Ja, wie Ihnen wohl auch ſchwerlich geheim
blieb, gehöre ich zu dieſer, leider nur zu ausgebrei¬
teten Familie.“


„Sie ſtammen aus Geldern?“


„Wo die Familie herſtammt, darüber befragen Sie
die Heraldiker. Ja, ein großer Theil von Geldern,
Yſſel, glaube ich doch ſogar mehre der größeren
frieſiſchen Inſeln, gehörten zu den Beſitzthümern die¬
ſer alten ſaſſiſchen Dynaſten. Soll ich etwa ſtolz
darauf ſein! Von der Herrlichkeit der Familie blieb
nichts über als die Firma Vanſitter in Kopenhagen,
und dies reiche Handlungshaus, welches vermuthlich
Ihre Notiznahme veranlaßt, iſt ſchon längſt durch eine
Erbtochter in andere Hände übergegangen. Sic transit
gloria mundi
, mein Herr Regierungsrath. Die
echten Abkömmlinge der Vanſitter ſind über die Erde
zerſtreut, wie Ihre Becker und Schulzen.“


„Wie aber kamen Sie zum Namen Wandel?“


„Da lauert wohl die arrière pensée, daß ich
meinen aus Gründen verwandelt hätte! Allerdings,
und wieder auch nicht. Der Zweig, dem ich ange¬
hörte, war ſchon ſeit einem Jahrhundert aus den
Niederlanden nach Dänemark übergeſiedelt, aber den
Grad meiner Verwandtſchaft mit der großen Firma
[197] bin ich nicht im Stande Ihnen anzugeben, denn ſchon
mein Groß-Oheim, der Gouverneur von Surinam,
äußerte lachend: wenn man alle Vanſitter in einen
Sack würfe, würde Gott im Himmel ſelbſt ſeine
Mühe haben, ſie wieder zu rangiren und jeden an
ſeinen Platz zu ſtellen. Ehe ich nach Amerika ging,
hatte allerdings mein Vater mit ſeinem Bruder Mo¬
ritz Wilhelm eine unſerer Stammbeſitzungen in Gel¬
dern, Wandel, von entfernten Vettern wieder erſtanden.
Aber laſſen Sie mich davon ſchweigen, wie ich es
nach meiner Rückkehr wiederfand. Nach der Schlacht
von Gemappes war es geplündert, ecraſirt, die Särge
meiner Vorfahren — doch genug davon! Dennoch
fand ich mich bewogen, wieder den Namen Wandel
anzunehmen, mit welchem Recht, das intereſſirt Sie
nicht — aber beruhigen Sie ſich, ich hätte nöthigen¬
falls verbriefte Nachrichten über dieſe Berechtigung
nachzuweiſen — aber das Motiv können Sie ſich leicht
denken. Nicht wegen des Vanſitter, der von den
holländiſchen Patrioten gehängt war, angeblich als
preußiſcher Spion — der politiſchen Sphäre ward
ich längſt fremd — aber ein anderer Vanſitter hatte
ja, — war's in Brüſſel oder Brügge, die famoſe
Entführungsgeſchichte in der Familie Bruckerode —
ſelbſt bis in die amerikaniſchen Urwälder verfolgten
mich die Zeitungen mit dieſen ſaubern Familien¬
erinnerungen. A propos, weiß man gar nicht, was
aus dieſem, meinem unglücklichen Vetter gewor¬
den iſt?“


[198]

„Wer weiß von allen Opfern, die im Strudel
der Revolution untergingen!“


„Deſto beſſer für ihn. Ich hörte einmal dunkel,
er ſei mit Napoleon nach Aegypten gegangen, und
in Syrien wie die andern Zurückgelaſſenen aus dieſer
Welt geſchieden. Wie dem ſei, er hat ſeine Thor¬
heiten oder ſeine Vergehungen gebüßt, und ſo wenig
ich auf meine altariſtokratiſche Abkunft ſtolz bin, fühle
ich mich verlegen durch die präſumtive Verwandtſchaft
mit einem Vaurien. Wir Alle, mein theuerſter Re¬
gierungsrath, leben nur für die Gegenwart. Ihr und
uns gehören wir an; ein Thor, wer weiter hinaus
will, und nun, Excus für die Abſchweifung, zu un¬
ſerer unglücklichen Geheimräthin zurück. — Hat ſie
wirklich noch nichts eingeſtanden?“


„So nehmen Sie an, daß ſie etwas einzuge¬
ſtehen hat?“


Wandel war aufgeſtanden. Er ſchien ein ſchwe¬
res Wort aus der Bruſt zu preſſen: „Ja, wie die
Dinge ſtehen, kann ich einer Vermuthung mich nicht
erwehren. Und — offenherzig — kann man ein no¬
toriſches Factum beſtreiten? Sie hat die ganze Schule
an Königs Geburtstag nach den Zelten eingeladen;
ſie hat ſie dort bewirthet mit Kaffee und Kuchen; ſie
ſelbſt bereitete den Kaffee, ſie hatte den Zucker mit¬
gebracht, den Kuchen zu Hauſe gebacken. Die Lehrer
und Hunderte von Zeugen ſtanden umher und ſahen — “


„Daß drei oder vier Kinder unwohl wurden und
nach Hauſe gefahren werden mußten, weil ſie ſich den
[199] Magen überladen hatten. Alle ſind wieder hergeſtellt.
Das iſt ein leeres Stadtgeſchwätz.“


„Gott ſei Dank! Aber, unter uns, wir Beide
waren im vorigen Jahre ſelbſt Zeugen von der plötz¬
lichen, unerwarteten gefährlichen Erkrankung der Kin¬
der ihres Schwagers —“


„Die ebenfalls auf dem natürlichſten Wege von
der Welt erfolgte.“


„Das konnte ſein, Herr Regierungsrath. Aber
in Verbindung mit jenem nachfolgenden Factum ge¬
wann die Sache für mich — ja, vor dem Richter iſt
es Pflicht, die innerſte Ueberzeugung auszuſprechen
— ſie gewann dadurch ein mehr als bedenkliches
Anſehn.“


Fuchſius blickte ihn verwundert an.


„Mein Herr Regierungsrath, Hamlets Wor
von dem zwiſchen Himmel und Erde hat eine Be¬
deutung, die wir mit unſerer Philoſophie nicht löſen.
Erklären Sie mir den Inſtinct der Kinder, der vielen
jungen Mädchen, die ohne allen Grund, ohne ein
denkbares Intereſſe, nur einem dunkeln Triebe fol¬
gend, Feuer anlegen. Wie viele ähnliche, grauenhafte
Erſcheinungen zeigt die Criminalgeſchichte aller Völ¬
ker, von ſonderbaren Gelüſten, die zum Verbrechen,
zur entſetzlichſten Atrocität ſonſt gut geartete Seelen
antreiben. — Die Lupinus hat keine Kinder, ich
weiß, wie der Mangel, die Sehnſucht danach auf
Saiten ihres Gemüths hämmert. Sie ſpringt Nachts
aus dem Bette, wandelt umher, den Leuchter in der
[200] Hand — ſo ſagten mir wenigſtens ihre Kammer¬
mädchen — ſie ſucht an den Wänden und ruft:
wo ſind meine Kinder! Die Magie der Natur lehrt
uns die Wahlverwandtſchaft der Gegenſätze. War
der Prozeß ſo undenkbar, daß ſie plötzlich das tödtlich
haßte, was ſie liebte und entbehrte, daß ſie die glück¬
lichern Eltern, die ſie beneidete, verfolgte! Es iſt ein
ſchauerliches Geheimniß der Natur, eine Exception
von der Regel, aber dieſe ganze Frau iſt eine Ano¬
malie. Angenommen dies, konnte ich ſie nicht ver¬
theidigen, vielleicht nicht mal entſchuldigen, aber als
mitfühlender Nebenmenſch konnte ich an ihre That
glauben und ſie doch nicht verdammen.“


„Ich kann Ihnen die Beruhigung geben, ſagte
Fuchſius, daß ſo wenig als die Schulkinder in den
Zelten durch Kaffee, die der Lupinus durch die Cho¬
colate vergiftet ſind.“


Wandel richtete ſich auf, ein tiefer Athemzug
ſchien ihn zu erleichtern und ſein Geſicht klärte ſich
auf. Ehe Fuchſius ſich deſſen verſah, fühlte er ſich
embraſſirt:


„Mein theuerſter — Sie edler Mann, Ihr
Wort iſt Leben. Es hat eine Laſt, eine Angſt, eine
unbeſchreibliche Angſt von ſeinem Herzen gewälzt.
Sie war rein, ich bin der Sünder, der das für mög¬
lich hielt, der mit ſeinem heilloſen Argwohn — o Gott,
ich weiß nicht, was ich rede — Dank, tauſend Mal
Dank, ſie iſt gerettet —“


„Gemach, mein Herr!“
[201] „Sie iſt für mich gerettet. Um das Uebrige
kümmere ich mich nicht.“


„Es bleibt, dünkt mich, noch viel übrig.“


„Das Andre, ich bitte Sie — nicht wahr, ſie
ſoll auch ihren Hausknecht vergiftet haben, und ihren
Mann mit Bücherſtaub, und ein Attentat mit Trüf¬
felwürſten, die ſie ihrem Schwager Lupinus ſchickte.
Erlauben Sie mir, daß ich darüber herzlich lache.
Nach einer ſo ernſthaften Stunde fühlt man zuwei¬
len das Bedürfniß. Nun inquiriren Sie, Liebſter,
ſo viel Sie wollen, wenn Sie mir nur ſagen, ſie
hat keine Kinder vergiftet — “


„Das ſagte ich nicht unbedingt.“


„Bedingt oder unbedingt, mir gleich viel.“


„Man hat eine Subſtanz gefunden —“


„Die wie Arſenik ausſieht. Liebſter Fuchſius,
ich will Ihnen etwas zugeben, ich will ſehr viel zu¬
geben, es iſt Arſenik. O es iſt zum Todtlachen!
In den Bücherſtaub ſoll ſie ihn gemiſcht haben!
Nicht wahr? Da muß ſie ihn vorher im Mörſer
ſtampfen, reiben, ausſchütten, in ein Behältniß, eine
Schachtel füllen, damit ja nichts vorbeifällt; dann
muß ſie es in eine Streuſandbüchſe thun und nun
in die Stube ſchütten, ſchwenken, ſprengen. Erlau¬
ben Sie mir, wenn das die Frau vermochte, ohne
ſich ſelbſt zu vergiften, verdiente ſie ein Prämium
der Akademieen.“


„Der Staub auf ſeinen Lieblingsbüchern iſt un¬
terſucht und Hermbſtädt hat Arſenik darin gefunden.“


[202]

„Der gute Hermbſtädt! Verſtehen Sie mich
recht, ich zweifle gar nicht daran, ich wundre
mich nur, daß Hermbſtädt ihn gefunden hat. Ich
will ihn finden, wo Sie wollen: da hier im alten
Lederrücken des Stuhls, in Ihren Pantoffeln, Arſe¬
nik iſt überall, ſelbſt in Ihrem Blute. Es kommt
nur darauf an, ihn zu ſecretiren. Verrathen Sie
mich nicht den trefflichen Männern hier, ſie ſind alle
meine guten Freunde; aber man kann ein ſehr guter
Menſch und Freund und doch ein ſehr bornirter Che¬
miker ſein. Entre nous soit dit, wie mancher Ruhm
wird hier erblaſſen, wenn die junge Schule in Paris
aufkommt. Namentlich in den Apparaten, um ver¬
borgene Subſtanzen zu entdecken. Hören und Sehen
wird den Herren vergehen, wenn man einen Porzel¬
lanteller über den Körper hält, ein lindes Kohlen¬
feuer darunter, und auf der weißen Glaſur ſpiegelt
ſich Alles ab, was im Leichnam verſteckt war. Da¬
durch wird manches Geheime an den Tag kommen;
aber aus des Geheimraths Stube Alles eher, als
ein Verbrechen — oder fand man etwa Arſenikſtücke
in ſeinem Magen? Die müßten freilich von außen
hineingekommen ſein.“


„Das nicht, aber —“


„Von dem bewußten Staub auf Lunge und
Gaumen. Da rufen Sie mich, Theuerſter, wenn Sie
die Unterſuchung nicht aufgeben, und Sie ſollen das
Wunder ſehen, aus ſeinen ſchweinsledernen Folian¬
ten will ich, vor Ihren Augen, ſo viel Arſenikſtaub
[203] entwickeln, um das ganze Kammergericht, vom Prä¬
ſidenten bis zum letzten Nuntius, damit zu verge¬
ben. Da würden manche Leute triumphiren, die
immer geſagt, daß in den Büchern Gift ſteckt! — Au
revoir!“


„Aber im Magen des Dieners ſtak poſitiv ein
ſtarker Arſenikſatz. Wie erklären Sie das?“


Wandel verbeugte ſich: „Gar nicht; wo das Mähr¬
chen anfängt, kriecht die Vernunft in ihr Schnecken¬
haus. Wenn der Mährchendichter ein Motiv erfin¬
det, warum die Lupinus ihren Hausknecht vergiften
mußte, um ihn los zu werden, wo es ganz einfach
bei ihr ſtand, ihn fortzujagen, wenn er ihr nicht
mehr gefiel, wird ſie auch ein Motiv dafür finden,
warum ſie dem Hausknecht bei einem Dejeuner Trüf¬
felwürſte ſervirte. Mein Verſtand ſteht ſtill, ich weiß
aus dem Mährchen keine andre Moral zu ziehen,
als daß ein Hausknecht von einer Geheimräthin ſich
nicht mit Trüffelwürſten muß traktiren laſſen.“


Er hatte ſchon vorhin Hut und Stock genom¬
men, und drückte jetzt dem Rath die Hand: „Ich
ſpreche Ihnen nochmals meinen Dank aus für die
Beruhigung, welche die Unterhaltung dieſer Stunde
mir verſchafft hat. Moral! Moral iſt das Loſungs¬
wort jetzt. Iſt das Moral, daß ein Publikum, wel¬
ches dieſe Frau bis dahin vergötterte, auf ſolchen
Argwohn hin ſie ſofort für ſchuldig erklärt und als
Scheuſal verdammt? Wenn auch ſonſt Alles bei
uns wankt, konnten ſie doch auf die Unbeſtech¬
[204] lichkeit, auf den Scharfſinn unſrer Juſtiz vertrauen.
Die ſteht doch noch rein, unparteiiſch da. Oder wäre
auch dies nicht mehr? Sie konnten ihr Urtheil, bis
ſie geſprochen, ſparen. Nein, es iſt ihre Luſt, ihr
Kitzel, zu verurtheilen, und mit einer wahren kani¬
baliſchen Wolluſt ſchwelgen ſie darin, das Schlechte
noch ſchlechter zu malen, das Große in's Ungeheure.
Mein theuerſter Regierungsrath, es iſt Vieles in
dieſem Staate faul, ich ſtehe vor einem echten Pa¬
trioten, der das mehr als Einer fühlt, aber — es
iſt nicht die Regierung allein, im Volke ſelbſt —
wenn die Menſchen aller Stände nur erwerben wol¬
len und vergeſſen, daß alle Güter der Selbſtſtändig¬
keit und der Nationalehre untergeordnet werden müſ¬
ſen, wenn ein Volk ſein Daſein behaupten will,
wenn ich dies Treiben ſehe, dann iſt mir oft, als
müſſe das Strafgericht vor der Thür ſtehen — Und
ſteht es nicht vielleicht ſchon da?“


Sein tiefer Blick war nach oben gerichtet. Er
drückte Fuchſius noch einmal die Hand und wollte
hinaus.


„Wohin ſo eilig?“


„Zu meinem alten Geſchäftsfreunde, dem un¬
glücklichen van Aſten.“


„Es kam ja noch nicht zum Aeußerſten.“


„Das — ſehn Sie — das nenne ich gegen die
Moralität!“


„Daß er aus Verſehen eine Quantität Waaren
ſich verſchrieb, die ſeine Kräfte überſteigt? Der Wein
[205] lagert in Stettin. Bis der Concurs regulirt iſt,
finden ſich doch vielleicht Abnehmer.“


„Wer redet davon! — Sein Sohn, ſein einzi¬
ger Sohn könnte ihn retten, wenn er das Mündel
des Alten heirathet. Sechszigtauſend — nein, mit
den Zinſen müſſen es jetzt achtzigtauſend Thaler ſein,
und Demoiſelle Schlarbaum iſt ein hübſches, ſittſa¬
mes Mädchen, er hat nichts gegen ſie einzuwenden,
er bekäme eine vortreffliche Hausfrau, aber — der
junge Mann denkt höher hinaus, ſie iſt ihm nicht
äſthetiſch genug, er hat dem Vater erklärt, betteln
wolle er für ihn, nur könne er das Glück ſeines
ganzen Lebens nicht tödten, das wäre Selbſtmord
an ſeiner Beſtimmung, er gehöre nicht ſich allein an,
es gebe höhere Pflichten, und was der ſentimentalen
Redensarten mehr ſind. Ich ſah eine Thräne im
Auge des Alten, als er es erzählte. Und um dieſer
Tiraden und Sentiments willen läßt der junge Herr,
der als ein Muſter von Tugend verſchrieen iſt, den
würdigen alten Mann, ſeinen Vater — ruiniren.
Und das loben noch Einige, er hat doch ſeinen Ge¬
fühlen gehorcht! — O Menſchen!“


Als der Legationsrath hinaus war, ſprach Herr
von Fuchſius: „Sollte ich mich doch getäuſcht haben?“


Aber der Legationsrath trat wieder ein, ohne an¬
zuklopfen; ja, in ſeiner Aufregung vergaß er, den
Hut abzuziehen.


„Sie fanden ein Reſiduum von Arſenik im Ma¬
gen des Menſchen, des Bedienten oder Hausknechts?“


[206]

„Unzweifelhaftes Arſenikpräparat.“


Wandel fuhr mit beiden Händen an die Stirn,
der Hut flog ab, er ſelbſt ſank auf einen Stuhl,
einige Minuten ſprachlos:


„Dann bin ich ſein Mörder — ich verſchulde
indirect ſeinen Tod — ich gab den Rathſchlag.“


„Erklären Sie ſich deutlicher, wenn ich bitten
darf. Es iſt vermuthlich nur eine Phantaſie.“


„Nein, Wahrheit! Der Menſch litt an einem
perennirenden kalten Fieber — Die Aerzte hatten es
nicht erkannt, getäuſcht durch zufällige Symptome.
Heim macht jetzt Verſuche, das Wechſelfieber mit Ar¬
ſenik zu kuriren. Er wendet es bei Unbemittelten
an, ſeit die China durch den gehemmten oſtindi¬
ſchen Handel ſo enorm aufſchlug. Ich erzählte in
einer Geſellſchaft von der erſten glücklichen Kur. —
Jetzt entſinne ich mich, die Lupinus hörte mit beſon¬
derer Aufmerkſamkeit zu — dieſer Blick, den ich damals
nicht verſtand! — Ihre Wißbegierde, ihre unſelige
Luſt, alles Gewagte zu verſuchen — o arme Freundin,
jetzt wird mir Alles klar, und ich — dein Mörder!“


„Wollen Sie mich jetzt verhaften laſſen; Sie
haben ja ein vollſtändiges Bekenntniß!“ ſprach der
Legationsrath aufſtehend.


Fuchſius hat ihn nicht verhaften laſſen; aber
als er jetzt hinaus war, um nicht wiederzukehren,
ſagte der Regierungsrath: „So kann man ſich in
einem Menſchen täuſchen. Das iſt der Fluch der vor¬
gefaßten Meinungen.“

[[207]]

Zehntes Kapitel.
Verſchlungene Hände.

Ob die Fürſtin in der Hedwigskirche ihr Herz
ausgeſchüttet, wiſſen wir nicht, aber einige Stunden,
nachdem wir ſie verlaſſen, finden wir ſie ſchon in
vollſtändiger Morgentoilette, wie ſie mit einiger Ver¬
wunderung die Meldung eines Beſuches anhört. Der
Beſuch ward angenommen und der Geſandte Herr
von Laforeſt erſchien im Zimmer, um bald darauf
im Fauteuil ihr gegenüber zu ſitzen. Die Fürſtin hatte
dieſe — Aufmerkſamkeit, wie ſie ſagte, nicht erwartet.


„Die Scheideſtunde iſt ſo ernſt, daß man über
die gewöhnlichen Höflichkeitsformeln wegſieht,“ ſetzte
ſie hinzu.


„Warum ernſter, Fürſtin, als jede andre Tren¬
nung?“


„Weil es eine auf immer iſt.“


„Das Wort immer und ewig iſt, dünkt mich,
aus dem Lexicon der Diplomatie geſtrichen. Nämlich
aus dem zum Gebrauch der Adepten. In der Aus¬
gabe, die in's Publikum kommt, iſt es freilich dick
[208] unterſtrichen; wir ſchließen immer ewige Verträge.
Die Formeln aber dürfen wir nie aus dem Auge
laſſen, ſie ſind die ewigen Fäden, an denen ein zer¬
riſſenes Gewebe wieder zuſammengeknüpft wird. Man
muß auch mit dem Teufel höflich ſein, weil man nie
weiß, ob man nicht ſeine Allianz einmal braucht.“


„Sie können unmöglich glauben, daß man auch
jetzt noch einmal den Bruch kittet.“


„Mit dieſen hier? Nein. Gott ſei Dank, die
Saat iſt reif zur Erndte, und die Sicheln geſchlif¬
fen; für Körbe und Scheuern werden Napoleons
Receveurs geſorgt haben. Preußen hat uns viel,
ſehr viel Geld gekoſtet. Es wird mit Zins auf
Zins Alles wieder zahlen müſſen, auch wenn es
darüber drauf geht.“


„Ihre Aſſurance laß ich auf ſich beruhen, aber
wir ſind Preußens Alliirte.“


Laforeſt fixirte ſie lächelnd: „Iſt der ſtarke
Mann, der einen Knaben hinter ſich auf's Pferd
nimmt, weil das Kind allein durch den Wald ſich
fürchtet, der Alliirte deſſelben? Eigentlich iſt's ein
Zwerg, der ſich an die Kruppe des Rieſen klammert.“


„Durch zehn Jahre hat das große Frankreich
unter allen ſeinen wechſelnden Regimenten dieſem
Zwerge geſchmeichelt.“


„Um ſo verdrießlicher ſind wir geſtimmt, und
um ſo ſchärfer wird die Züchtigung ausfallen.“


„Wenn der Rieſe es zugiebt!“


„Das iſt der Punkt, Prinzeſſin. Wir müſſen
[209] uns darüber klar werden. Der Zwerg hinten auf
der Kruppe wird auf die Länge dem Reiter eine lä¬
ſtige Zugabe, er hindert ihn in ſeiner freien Bewe¬
gung und will wohl gar mitſprechen und das Pferd
mitlenken. Wenn man ihn vor aller Welt aufhob, und
von ſeiner Großmuth ein Fait machte, kann man ihn
nicht immer ohne Weiteres wieder in den Staub ſetzen.“


„Laſſen wir die Gleichniſſe. Sie ſind merveil¬
lös in Ihrer Zuverſicht auf Sieg.“


„Mein Kaiſer ſchlägt nur los, wo er ihn ſchon
in Händen hat.“


„Das contraſtirt furchtbar gegen den Glau¬
ben hier.“


„Deſto beſſer. Seit Friedrichs Auge erloſch,
ſieht man hier durch eine Brille, die ihnen immer
das Gegentheil von dem zeigt, wie die Dinge ſind.
Eine wahre Wohlthat der Vorſehung. Was braucht
ein Maulwurf in die Sonne zu ſehn! Den Lauf
der Geſtirne berechnen Andre.“


„Sie gefallen ſich heut in Paradoxieen.“


„Ohne alle Gleichniſſe, Prinzeſſin, und aufrich¬
tig, Gedanke gegen Gedanke! Wenn große Mächte
über große Fragen mit einander in Streit liegen, ſo
iſt die Einmiſchung der kleinen immer verdrießlich.
Was haben ſie in die Wagſchaale zu legen, wo
Kraft, Wille, Genie auf beiden Seiten ſtehen?“


„Wo das Zünglein der Wage hin und her
ſchwankt, dünkt mich, giebt grade ein kleines Ge¬
wicht den Ausſchlag.“


V. 14[210]

„Das beſtreite ich. In der Theorie mag es
richtig ſein, in der Praxis grundfalſch. Bundes¬
genoſſen bringen Prätenſionen mit, und beſchweren,
hemmen die Macht, die zu entſcheiden hat. Wodurch
ſiegte Friedrich? Weil er keine Bagage von Alliir¬
ten hatte, weil er immer frei handeln konnte. Wo¬
durch iſt dies deutſche Reich mit ſeinem König und
Kaiſer römiſcher Nation, das ehedem die Weltherr¬
ſchaft prätendirte, untergegangen? Weil ſeine Kai¬
ſer nie frei handeln konnten; an den Rückſichten,
die ſie allen möglichen Berechtigungen in dem bun¬
ten Reiche gewähren mußten. Oeſtreich verblutet,
England laſſen wir auf ſeinem Brett im Meer Rule
Britannia
ſingen, die Frage ſteht nur noch zwiſchen
Frankreich und Rußland. Ich bin wenigſtens des
Glaubens, daß Rußlands große Staatsmänner die
Sache ſo in's Auge faſſen. Es iſt der Kampf um
die Herrſchaft auf dem Continent zwiſchen dem Oc¬
cident und dem Orient. Was ſoll, was hat da
mitzuſprechen in dieſem Kampfe zwiſchen zwei Ko¬
loſſen die Bagatelle Preußen?“


„Und doch iſt jetzt von ihr allein die Rede. Sie
ruft unſern Beiſtand an, wir gewähren ihn ihr.
Außerdem beruft ſie ſich auf geheiligte Rechte, die
mein Kaiſer reſpectirt.“


„Rechte! Sagen Sie, in aller Welt, was,
Prinzeß, gab dieſem Pilz von geſtern ein Recht, ſich
unter die Großmächte einzuſchieben, und wenn ſie über
Weltfragen entſcheiden, ein Wort mitzuſprechen?“


[211]

„Da Herr von Laforeſt Geſchichte ſtudirt hat,
bin ich wohl der Antwort überhoben.“


„Es iſt einmal ſo geweſen, aber nun iſt es nicht
mehr. Laſſen Sie uns doch darüber klar werden.
Ja, ein großer Geiſt hat in einer mesquinen Zeit¬
epoche die Gelegenheit ergriffen und das Problem
gelöſt, aus Nichts Etwas zu machen. Ich leugne
auch nicht, daß einige andre tüchtige Geiſter, die ihm
vorangingen, ihm vorgearbeitet hatten. Giebt dies
aber dem Product ein Recht, für immer zu beſtehen?
Der große Geiſt ſchläft in Potsdam. Schon jetzt,
nach zwanzig Jahren, ſind ſeine Traditionen erlo¬
ſchen, wie ſein Schatz erſchöpft iſt. Nur ſeine Zöpfe
und Kamaſchen ſind noch da; auch die ſchon durch¬
löchert ſeit der Kanonade von Valmy. Seit dem
Basler Frieden ward die Ehre ſchadhaft, der Riß
immer größer, ſeine Reputation in Europa iſt aus.
— Womit denn erhält man eine unnatürliche Exi¬
ſtenz, als durch krampfhafte Exaltation der kleinen
Mittel. Sind ſie erſchöpft, dann fällt der ſieche Leib
um ſo ſchneller zuſammen. Der Erbe des Empor¬
kömmlings hat das Gut des Erblaſſers verpraßt.
Ein Friedrich ſelbſt, wenn ſeine Gruft ſprengte, wenn
er mit der berühmten Krücke auf ſeinen Schimmel ſtiege,
fände nicht mehr das Material. Er ſiegte über zerſplit¬
terte, uneinige Kräfte, durch die Bewunderung ſeiner
Feinde. Jetzt fände er große einige Nationen wider ſich,
und die Bewunderung der Völker gehört einem Andern.
Laſſe man doch zerfallen, was ſich nicht ſelbſt mehr hält.“


14 *[212]

Die Gargazin war nachdenklich geworden. „Die
hier ſehen davon freilich nichts!“ ſprach ſie mehr für
ſich als zu ihrem Beſuch.


Dem Geſandten ſchien es angemeſſen ihren Ge¬
danken nicht zu Hülfe zu kommen; er fürchtete ein
Zurückſchnellen. Diesmal aber recollirte ſich die
Diplomatin ſelbſt:


„Und doch, iſt es nicht wunderbar, ein Finger
Gottes ſcheint da im Spiel, wie oft hat dieſer Zwerg
unter den Staaten aus ähnlichen Calamitäten ſich
wieder erhoben, ein Phönix aus der Aſche! Es kann
doch plötzlich wieder ein Geiſt aufſchießen —“


„Sehn Sie einen? Einen, der nur begreift,
was Friedrich wollte, der ahnt, was er thun müßte,
um in ſeinem Sinn zu handeln! Er ging ſeiner
Zeit vorauf, dieſe Alle ſind im Nachtrabe. Sehn
Sie einen Einzigen, frage ich?“


„Einen doch —“


„Der iſt bei Seit geworfen, früh verfault, weil
er zu üppig aufſchoß. Iſt das nicht wieder ein Fin¬
ger Gottes, wie ſie dieſen Einzigen behandelt, der
klüger als ſie war. Sie wollten nicht gerettet ſein.
Gott hat ſie mit Blindheit geſchlagen! Das darf
freilich ein profaner Mann wie ich nicht ſagen, aber
Fürſtin Gargazin muß es denken.“


Die Fürſtin ſchien in einem Meer von Gedanken
verſenkt. Ihr Schweigen war ein zugeſtandener Sieg
für den Gegner. Aber plötzlich öffnete ſie die Lippen:


„Einen Mann ſeh ich noch nicht, aber eine
[213] Frau —! Wer kann ſagen, daß er die Königin kennt!
Es iſt ſchon jetzt eine wunderbare Umwandlung vor¬
gegangen. Wer erkennt in ihr wieder die immer tanzende
Huldgöttin vom vorigen Jahre, die nur auf Blumen¬
kränzen ſich zu ſchaukeln ſchien, und mit ihren Tau¬
benaugen die ſentimentalen Gemüther entzückte. Wo
iſt dieſe ſchmärmeriſch tändelnde Fee geblieben!
Alexanders Beſuch, die Nacht in der Gruft, hat ſie
wie ausgetauſcht. In dieſen Augen leuchtet jetzt ein
Geiſt — es iſt eine Majeſtät in dem Blick. Wir
wiſſen nicht, was ſie vermag — was ſie wird.“


„Um des Himmelswillen nur keine Jael und
Judith!“


„Warum nicht eine Jeanne d'Arc.“


„Auch dazu ſind Ihre Majeſtät zu lieblich ſchön.
Im Uebrigen — er verneigte ſich — habe ich nie
daran gezweifelt, daß die Frauen zum Herrſchen und
Beglücken geboren ſind.“


Der Diplomat hielt inne. Hinter dem Com¬
plimente für die Dame vor ihm ſchien er jetzt ernſte¬
ren Gedanken Raum zu geben. Die Diplomatin
las etwas davon, ſie nahm das Compliment nur für
das, was es war:


„Napoleon ſcheint auf den Einfluß der Königin
Louiſe aufmerkſam.“


Laforeſt lachte auf: „Wenn er überhaupt noch
auf etwas hier aufmerkſam iſt.“


„Preußen iſt ihm eine zurückgelegte Station.
Er legt wohl ſchon Relais bis Petersburg?“


[214]

Laforeſt verfolgte den vorigen Gedanken — mo¬
mentan: „Uebrigens keine üble Idee, daß eine Dynaſtie,
die ihre Aufgabe vergaß, durch Frauen daran erinnert
wird! Miraculös, wie der Deutſche es liebt. Was
würde Friedrich im Elyſium dazu ſagen. Napoleon
wird herzlich lachen. — Doch was kümmert uns das!
Ich bin hier, um Abſchied zu nehmen.“


„Aber doch auch, um noch etwas mir zu ſagen,
was bis jetzt nicht über die Lippen wollte. — Be¬
ſitzen Sie ein vollſtändiges Kataſter aller Truppen¬
theile, die in's Feld rücken?“ ſetzte die Gargazin hinzu.


„Napoleon kennt die Kranken und Marauden
in jeder Compagnie, er weiß, wie viel Schüſſe jede
preußiſche Kanone machen kann.“


„Dann wird der Krieg nur ein Rechenexempel.“


„Das iſt er auch. Die Uebermacht erdrückt die
Macht. Das Vernünftige, nein, das Natürlichſte wäre
doch, daß Preußen den Ausbruch des Krieges hinzu¬
zögern ſuchte, bis die ruſſiſchen Armeen ſich nähern;
dann allerdings wäre der Erfolg zweifelhaft. Aber
man will Ihre Hülfe nicht abwarten, die Herren
Officiere, ſelbſt die Feldherrn betrachten es als eine
Ehrenſache, daß Preußen es allein auf ſich nimmt.
Wenigſtens den erſten Choc wollen ſie aushalten und
natürlich ſiegen; alsdann will man Ihrer Armee das
Geſchäft mit dem Kehrbeſen überlaſſen. Sehn Sie,
wie Alles drängt, treibt, ſpornt nach Erfurt. Die
Straße nach Magdeburg iſt ſchon aufgewühlt. Die
Motive, welche die alten Helden anführen, klingen
[215] auch plauſibel, wenigſtens ritterlich, romantiſch: Preu¬
ßen müſſe die Schmach des langen Zauderns dadurch
auswetzen, daß es nun allein den Entſcheidungsſchlag
führt. Die jungen Helden ſagen: Was hat er denn
bewieſen? Die Oeſtreicher konnte er ſchlagen und
die Ruſſen. Die haben wir auch geſchlagen. Nun gilt
es beweiſen, wer beſſer ſchlägt. Kurz, der Chorus
der Alten und Jungen iſt: Drauf los, ehe die Ruſſen
kommen, damit wir die Ehre allein haben. Wenn
das Rechenexempel richtig iſt, iſt auch nichts gegen
die Motive zu ſagen. Wenn ich der großmüthige
Alexander wäre, gönnte ich meinen guten Alliirten
dieſe kleine Freude.“


„Aber Alexander gehorcht höheren Pflichten, als
dem Kitzel der Schadenfreude. Er läßt marſchiren,
Herr von Laforeſt. Möge Ihr Kaiſer auf einen
ernſteren Zuſammenſtoß bereit ſein, als — Sie denken.“


„Wir ſind bereit und — freuen uns darauf,
denn endlich muß es doch entſchieden werden, wem
zwiſchen zwei gleich großen Spielern das Schachbrett
gehört. Aber das iſt ein Kampf, der im Jahr 1806
noch nicht ausgefochten wird. Jetzt räumen wir nur
das Feld von kleinen Mitſpielern, unnützen Rath¬
gebern; es könnte eigentlich beiden Großmächten gleich¬
gültig ſein, welche es über ſich nimmt, dieſe Partei¬
gänger fortzukehren, denn beide haben den Vortheil,
wenn das Feld frei wird. Ihre Armeen können ſich
entwickeln. Und — ſetzte er aufſtehend hinzu — ſie
können ihre ganze Stärke zeigen, ſie kämpfen nicht
[216] für einen Vorwand, ſie kämpfen für ſich — wer
weiß, ob es dann zum Kampfe mit den Maſſen
kommt, ob beide Gewaltige ſich nicht beſſer im Frie¬
den über die Theilung der Erde zu verſtändigen
wiſſen.“


„Nur nicht Menſchheitsbeglückungsträume, Herr
von Laforeſt! ſprach die Fürſtin. Mit dem Oſſian
konnten Sie dieſe hier beſchwatzen; uns in Rußland —“


„Männer wird Napoleon nicht mit Kinderſpiel¬
zeug fangen wollen. Die Welt bedarf der Autori¬
tät. Ein Stempel der Kraft muß den Völkern wie¬
der aufgedrückt werden, damit ſie nicht vom Winde
der Meinungen wie Flugſand durcheinander treiben.
In Frankreich hat ſein Fuß die Jacobiner zertreten,
er hat die zerrüttete Ruhe und Ordnung der Geſell¬
ſchaft wiedergeſchenkt, er iſt des Willens, ſie auch den
Völkern wieder aufzudrücken, wenn — wenn nicht,
die ſeine Bundesgenoſſen darin ſein ſollten, mit dem ge¬
meinſchaftlichen Feind gemeinſchaftliche Sache machen.“


Die Fürſtin blickte ihn ſcharf an. Sie war
verwundert, ſie wollte mehr hören. Der Mund
ſchien, halb geöffnet, als ein Zeichen der Aufmerk¬
ſamkeit, aber er ſpitzte ſich auch wohl ſchon zu einer
ſatyriſchen Entgegnung, während Laforeſt fortfuhr:


„Iſt dies Preußen nicht das wahrhafte Weſpen¬
neſt der Sectirer, Illuminaten, wo täglich Ideen und
Neuerungen geheckt werden, Laiche und Brut zu
neuen Revolutionen. Und das Schlimmſte, ſie wur¬
den von oben unterſtützt, oder gingen von oben aus;
[217] die Philoſophen läßt man Syſteme bauen, man
ſchmeichelt ihnen, ruft ſie in den Staatsdienſt, und
was man niedertreten und ausrotten ſollte, begießt
man noch! Können wir, nach ſolchen Erfahrungen,
uns noch täuſchen, wie weit dieſe Syſteme tragen,
wie ſie das Blut vergiften, den Glauben an die
Autorität in Kirche und Staat untergraben, wo jeder
dürftige Verſtand ſich anmaßt, ſelbſt Alles von vorn
an zu prüfen, bis in den Grund der Dinge hinein!
Täuſchen wir uns auch darüber nicht, daß die Kö¬
nige von Preußen noch die Macht hätten, wenn ſie
wollten, das Unkraut auszujäten. Wir ſahen ja, wie der
Verſuch unter dem vorigen Monarchen mißlang. Es
hat ſich ſo eingefreſſen in den fruchtbaren Boden,
daß es den Weizen nicht mehr aufkommen läßt; ja,
man wird noch oft Verſuche machen, aber ich beſorge,
immer vergebens. Was hat ſelbſt in Oeſtreich das
kurze Beiſpiel Joſephs geſchadet; nun bedenken Sie,
was und wie tief eine ſechsundvierzigjährige Regie¬
rung, und eines Friedrich, das Blut des Volkes ver¬
giften mußte! Voran dem Reigen ging, um das
Maß voll zu machen, ſogar eine philoſophiſche Kö¬
nigin! Es iſt in der Nation zur Tradition gewor¬
den, daß die Macht ihres Staates auf der ſogenann¬
ten Intelligenz beruht, und ſie hat, meines Dafür¬
haltens, darin nicht ſo ganz Unrecht. Darum, Prin¬
zeſſin, darf dieſer Staat keine Macht bleiben, oder
er wird der Funke zu einem Brande für alle Staa¬
ten. Und welche Verpflichtungen haben denn die alten
[218] mächtigen, in ihrer Mitte einen Emporkömmling zu
dulden, der auf ſeine Bildung ſich geckenhaft brüſtet,
und ſich zuweilen die Miene giebt, ſie zu verachten;
ſtand er nicht jetzt eben noch, es war unerhört, wie
der Minos da, und maßte ſich an, zwiſchen den Com¬
battanten über Europas Schickſal zu richten?“


Die Gargazin war ihm mit geſpannter, dann,
wie es ſchien, geſättigter Aufmerkſamkeit gefolgt:
„Herr von Laforeſt überraſchen mich. Wer hätte das
vermuthet. Auch Ihr Kaiſer will, als ein neuer
Sanct Georg, den Drachen des Unglaubens zertre¬
ten! Seit wann ging dieſe remarquable Umänderung
in Seiner Majeſtät vor?“


„Können Sie mit Spott das Einmaleins um¬
ändern, oder einen mathematiſchen Lehrſatz umſto¬
ßen? Der Satz heißt in dieſem Falle: er folgt den
Maximen, die er zu ſeiner Selbſterhaltung für noth¬
wendig hält. Seine Pläne gehn tiefer, als Sie
glauben. Von wo entſpringt alles das Unheil, an
dem die Völker leiden? Aus den Beiſpielen, die
wir unvorſichtig aus dem Alterthum holten, aus der
unverſtändigen Anwendung der Begriffe, die damals
galten, auf die Verhältniſſe von heut. Schon lange
geht er mit dem Project um, das Studium der
Klaſſiker von den Schulen zu verbannen. Das, was
uns nützlich iſt, ſoll daraus überſetzt werden, eine
Ueberſetzung unter dem Stempel der Autorität; mit
dem andern klaſſiſchen Kram fort als Zeitverderb
oder Gift. Stimmte dies nicht mit den Anſichten
[219] meiner erlauchten Frau? Ihre Kirche giebt aus der
Bibel dem Volke nur, was ſie für gut hält, Napo¬
leon will daſſelbe, das Heidenthum will er verban¬
nen. Mich dünkt, da gehen wir noch Hand in Hand.
Er hat die Pariſer Univerſität zum Inſtrumente ſei¬
ner Macht umgeſchaffen. Sind wir da nicht auch
einig? Er will nicht, daß, wie in Deutſchland, ſo
viel Lehrſtühle ſind, ſo viel Irrlehren der Jugend
gepredigt werden. Der Staat ſoll eine Lehre prü¬
fen, als gut und richtig approbiren, und dieſe ſoll
dann in allen Schulen vorgetragen werden. Stim¬
men wir darin nicht? Er haßt die Ideologie, weil
ſie den Menſchen vom Praktiſchen und Nothwendigen
entfernt, weil ſie ewig an der Autorität rüttelt,
Stolz, Ueberhebung, Schwärmer hervorruft. Will
Ihre Kirche die? darf der Staat des großen Czaa¬
ren ſie dulden? Deutſchland ging daran unter.
Preußen ſchmeichelt ihnen, weil die ganze Nation aus
Ideologen beſteht. Darum nennt mein Kaiſer ſie die
Jakobiner des Nordens. Mich dünkt, eins der tref¬
fendſten Worte, die aus ſeinem Kopf entſprangen.“


„Und was iſt der langen Rede kurzer Sinn?“


„Das nur andeuten wollen, wäre Vermeſſen¬
heit, wo die Weisheit eines Alexander ſelbſt das
Beſte treffen und — Fürſtin Gargazin das, was
einſchlägt, ihm anrathen wird.“


„Was aber würden Sie an meiner Statt meinem
Kaiſer rathen? Verſetzen Sie ſich einmal in meine
Stelle.“


[220]

„Für's Erſte würde ich dieſe Don Quixoten
anlaufen laſſen, wie ſie's verdienen. Wer den hei¬
ßen Brei angerichtet, kann ihn aufeſſen. Ihnen
ihren Willen gelaſſen! — Sie lächeln, das wäre gut
franzöſiſch gerathen, und ſo argliſtig dumm, daß es
eigentlich eine Beleidigung ſei, einer Fürſtin Garga¬
zin es in's Geſicht zu ſagen. — Erlauben Sie mir
die Bemerkung, es iſt nicht ſo ganz dumm. Bur¬
hövden hat in Riga den Befehl, zu rüſten. Ver¬
gönnen Sie mir auch, zu bemerken, der Befehl iſt
etwas ſpät an ihn ergangen, viel zu ſpät. Ich tadle
darum Ihre Staatsmänner nicht, denn konnten ſie
wiſſen, daß es hier endlich Ernſt, daß man ſich nicht
doch noch einmal wieder anders beſinnen werde?
Eine Mobilmachung koſtet viel Geld; man thut es
doch nicht immer bloß zum Vergnügen, beſonders
dann nicht, wenn eine ernſthafte, große Rüſtung uns
bevorſteht. Für die ſpart ein weiſer Staatsmann die
vollen Kräfte. Nun rüſtet Burhövden. Es iſt jetzt
Anfang Oktober. Bis ſpäteſtens Ende Oktober ſto¬
ßen die preußiſchen und franzöſiſchen Heere auf ein¬
ander; irgendwo im Herzen von Deutſchland, geht
es nach den Feuerköpfen hier, ſo weit wie möglich
nach dem Rheine zu. Nun bitte ich Sie, wie viel
Truppen kann der wackere Burhövden bis dahin dis¬
ponibel machen, bis dahin durch Kurland, Lithauen,
Preußen, Pommern, Brandenburg, durch unwegſame
Sandſteppen, aufgewühlte Wege, dem Gros der
Preußen nachſchicken? Ich will das Höchſte anneh¬
[221] men, daß dreißigtauſend Mann in forcirten Märſchen
bis zum Entſcheidungstage die Preußen erreichen,
daß ſie dieſelben noch nicht geſchlagen finden; wür¬
den dieſe dreißigtauſend abgematteten Krieger, aus
Complaiſance auf die Schlachtbank geführt, das
Schickſal ändern? Sie würden mit den Preußen
aufgerollt, vernichtet. Und geſetzt, die Preußen ſieg¬
ten, wie viel Broſamen Ehre würden die Bramar¬
baſſe dem ruſſiſchen Succurs zukommen laſſen? —
Rußland wäre noch einmal moraliſch geſchlagen,
ohne ſelbſt geſchlagen zu haben. — Nein, erlauchte
Frau, ich verſetze mich ganz in die Seele Ihrer klu¬
gen Staatsmänner, und ſpreche zugleich im Stolz
eines Franzoſen, wenn ich ſie ſagen laſſe: Rußland
iſt es ſich ſelbſt ſchuldig, nicht mehr durch Echantil¬
lons ſeiner Macht gegen den Giganten zu kämpfen
es darf nicht mehr das Schwert ziehen gelegentlich
für Andre, es iſt Pflicht ſeiner Ehre, Gehorſam
gegen ſeine Machtſtellung, ſeine ganze Macht zuſam¬
menzuhalten, um ſie für ſich auf den furchtbaren Ri¬
valen loszuwälzen, wenn — die Zeit kam.“


„Nachdem die preußiſche Armee vernichtet iſt!“


„Die wird es ohnedies. In ihrem Dünkel wol¬
len es die Herren, die den Konig zum Kriege zwin¬
gen, auf einen Schlag ankommen laſſen. Durch
einen Effectſtreich ſoll wieder gut gemacht werden, was ſo
lange Jahre durch verſäumt iſt. Schade nur, daß Preu¬
ßen nicht Rußland iſt. Sind ſie beſiegt, ſo iſt Preußen
zertrümmert, das Land liegt vor uns, eine offene Beute.“


[222]

„Und Rußland, das zuſieht?“


„Behält die Kraft, auf einen Feind ſich zu ſtür¬
zen, der zwar Sieger iſt, aber blutet. Denn auf
einen verzweifelten Widerſtand dieſer zweimal hun¬
derttauſend Preußen ſind wir gefaßt. Was dann
weiter, ſteht im Rath der Götter, aber ich meine,
daß Kaiſer Alexander, an der Spitze ſeines Reiches,
ſoutenirt von ſeiner Grenze, ein Wort darin mitſpre¬
chen wird, das nicht verhallen kann. Wo zwei Gleiche
ſich gegenüber ſtehen, iſt aber Zeit zum Verhandeln.“


„Ich könnte es eine Gnade Gottes nennen, daß
Preußen keine Staatsmänner hat, wie Herrn von
Laforeſt.“


„Und ich Rußland Glück wünſchen, daß ſein
Czaar eine Freundin hat, deren hellerem Blick er
traut. Unter uns, Napoleon hat keine ſolche Freun¬
din, er glaubt nicht an das wunderbare den Frauen
geſchenkte Ahnungsvermögen. Er traut nur auf ſich.
Das iſt — ein Unglück, denn über aller menſchlichen
Weisheit ſchwebt doch ein Etwas — was wir mit
dem Verſtande nicht ergründen. — Gleichviel nun,
ob Sie Burhövden die Regimenter, die er zuſam¬
mentreibt, marſchiren laſſen, oder ihn freundlich war¬
nen, daß er die Dinge ſich vorher anſieht, daß er
mehr an Rußlands Anſehen denke, als an die mo¬
mentane Freundſchaftsaufwallung Alexanders für Frie¬
drich Wilhelm — das, theuerſte Frau, ſind Baga¬
tellen — ſo oder ſo, ein höherer Wille lenkt dennoch
Alles, und — ich denke, unſer Abſchied iſt nicht auf
[223] lange, wir ſehen uns bald, unter andern Verhält¬
niſſen wieder. — Sie ſehen mich zweifelhaft an, weil
Sie mich kennen. Kennen Sie mich denn ganz, wo
ich mich ſelbſt nicht kenne? Die Völker müſſen re¬
giert werden; und um ſie regieren zu können, darf
man ſie nicht zu klug werden laſſen. So weit gehen
unſre Wege miteinander. Nur in den Mitteln, da
liegt der Unterſchied. Ob Napoleons imperialiſtiſcher
Wille ausreicht — wir kommen da immer wieder
auf den Stock zurück. Es iſt ein gutes, aber ein
grobes Mittel, und wer weiß, ob der Stock nicht
einmal bricht? Ihre — es iſt ja natürlich auch
meine Kirche — hat ſanftere Mittel. Wäre der Pro¬
teſtantismus nicht gekommen, wir wären Alle glück¬
licher! Stände erſt wieder die eine Autorität uner¬
ſchütterlich feſt, dann kettet ſich eine an die andre.
Obgleich ſelbſt nichts weniger als heilig, erkenne ich
doch das ſtille Wirken der heiligen Gemüther, die
der aufgewühlten Erde wieder ein Feſtes geben wol¬
len. Ich ahne Ihr ſchönes, großes Werk, Prinzeſſin.
Nur vorſichtig, den Schleier darüber gelaſſen, die
Welt iſt noch zu ſkeptiſch. Aber ſie wird immer
empfänglicher werden, je mehr ſie verblutet, ermattet.
Wo alle Kraft erſchöpft iſt, hat die Bekehrung leichte
Arbeit, und es iſt gewiß eine ſchöne, belohnende.
Haben Sie Ihren ritterlichen Kaiſer erſt ganz ein¬
geweiht, dann machen ſich die Alliancen von ſelbſt,
und dann ich bin kein Träumer von einem
Weltfrieden, denn die Menſchen ſind einmal ge¬
[224] ſchaffen, um ſich aufzueſſen — aber es iſt doch eine
ſchöne Ausſicht, wenn man einmal Kehraus machte
mit dieſem Cultus des Geiſtes, dieſer Ideenherr¬
ſchaft, wenn alle die Idole ſtürzten, eines nach dem
andern, die der übermüthige Menſchengeiſt aus Erz
und Marmor aufrichtete. Sie ſtreckten ihre Arme bis
in die Sterne, aber ſie ſtanden auf thönernen Füßen.“


An der Thür war der Geſandte noch einmal
umgekehrt, und zog ein gedrucktes Blatt aus der
Bruſttaſche: „A propos, Prinzeſſin, Sie kennen ver¬
muthlich dies noch nicht. Ein Correcturabzug, durch
Zufall mir in die Hände gerathen, ein Avantcoureur
des kommenden Manifeſtes, in die Erfurter Zeitung
geſtreut. Bemerken Sie den Paſſus!“


Die Fürſtin überflog das Blatt: „„Nicht bloß
„„Preußen, die deutſche Nation ſollte, ihrer
„„Selbſtſtändigkeit beraubt, aus der Reihe un¬
„„abhängiger Völker geſtoßen, einer fremden Sou¬
„„verainität untergeordnet werden. Dieſem Schlage,
„„dem ſchrecklichſten, der Deutſchland noch treffen
„„könnte, zu begegnen, ehe es zu ſpät iſt, dieſes iſt,
„„nach glaubwürdigen Nachrichten, der einzige Zweck
„„von Preußens gegenwärtiger Rüſtung.““


„Qu'en dites-vous, Madame? Preußen rüſtet
nicht für ſich, ſondern für die deutſche Nation! Wenn
es nicht ſo entſetzlich naiv wäre, könnten Andre als
wir vor den Conſequenzen erſchrecken. Aber ich hoffe,
man wird weder in der Hofburg zu Wien blaß wer¬
den, noch in Sanct Petersburg roth, noch wird mein
[225] Kaiſer fragen: wer in aller Welt gab denn Preu¬
ßen die Vollmacht für die deutſche Nation? Denn
in Wien, Petersburg und Paris weiß man, daß
Phraſen tönender Wind ſind. Nicht wahr? Aber
ein wenig Achtung giebt man doch, wenn die Kinder
in Phraſen zu ſprechen anfangen, die ſie freilich ge¬
lernt haben, aber man fragt doch: von wem?“


Der franzöſiſche Geſandte, Herr von Laforeſt,
war längſt in ſeinem Wagen fortgerollt.


„Und doch betrügt er mich nur! war das Ende
eines langen Selbſtgeſpräches, aus dem die Fürſtin
bei dieſen Worten zu erwachen ſchien. Aber man
läßt ſich zuweilen gern betrügen.“


Sie ſetzte ſich an ihren Secretair, und ſchrieb
haſtig. Das Billet auf Roſapapier mit der Auf¬
ſchrift: „An den Legationsrath, Herrn von Wandel,“
ward einem Diener übergeben, mit dem Befehl, auf
der Stelle dahin zu fliegen und Antwort zu bringen.


Die Antwort ließ doch eine Stunde auf ſich
warten, welche für die Prinzeſſin in ſichtlicher Span¬
nung verging. Mehrmals hatte ſie ſich wieder zum
Schreiben niedergeſetzt, aber Alles, was ſie angefan¬
gen, gefiel ihr nicht, ſie zerriß es wieder. „Es geht
nicht ſchriftlich, ſprach ſie. Solche Botſchaft kann
nur mündlich an Buxhövden gebracht werden.“


Endlich kam Wandels Antwort. Sie lautete:


„„Die ehrenvolle Miſſion, welche Fürſtin Gar¬
gazin mir zugedacht, wie ſie auch laute, iſt mir der
ſicherſte Beweis für das, was mein Herz mir ſagte,
V. 15[226] daß es eine Selbſttäuſchung war, als ich einen Mo¬
ment glaubte, daß ſie im Zorn von mir ſcheiden
wolle. Eine Heilige kann nicht zürnen.


„„Um ſo ſchmerzlicher trifft es mein Herz, daß
ich dem Rufe nicht folgen kann. Meine Verhält¬
niſſe, meine Ehre gebieten mir, hier zu bleiben. Die
Dame, um deren Hand ich mich bewerbe, wird eine
Aufwallung, zu der ich mich hinreißen ließ, vergeſ¬
ſen, und die Gerüchte, die man über eine Ent¬
zweiung ausſprengt, ſelbſt widerlegen. Wenn die
geringen Gaben, welche die Natur mir ſchenkte, die
Kenntniſſe, welche ich mir erwarb, in Mancher Augen
mir vielleicht eine höhere Sphäre anweiſen, ſo fühle
ich doch nur zu ſehr, daß der Menſch, der immer in
weiteren Peripherieen ſein Glück ſucht, ſo oft das
überſieht, was ihm zunächſt liegt, und worauf Natur
oder Geburt ihn gleichſam hinſtieß. Meine phyſika¬
liſchen und chemiſchen Kenntniſſe berechtigen mich
zum Glauben, daß ich in der Tuchfabrikation Ver¬
beſſerungen einführen werde, welche dem Lande, dem
ich fortan gehören will, von, wenn auch nur gerin¬
gem, doch von Nutzen ſein werden. Lächelt Fürſtin
Gargazin darüber, ſo denkt ſie doch vielleicht milder,
wenn ſie den Spruch ſich zuruft von dem, der ſich
ſelbſt erniedrigt.


„„Und doch würde ich Ihrem Rufe folgen, wenn
nicht die heiligſte Pflicht mich feſſelte. Jene Aus¬
ſichten bei Seite geſetzt, in dieſem Augenblick kenne
ich nur eine Pflicht, eine unſchuldig verfolgte Frau,
[227] die mir einſt theuer war, gegen die Barbarei der
Geſetze zu ſchützen. Ja, ihr gehört mein Leben.


„„Urtheilen Sie über mich, verdammen Sie
mich, ich werde nie vergeſſen, was ſeiner Wohlthä¬
terin, der edelſten Frau des Jahrhunderts, der Für¬
ſtin Gargazin verdankt
Ihr
unterthänigſter — ““


Die Fürſtin zerriß mit einem verächtlichen Lächeln
den Brief in kleine Stücke: „Nun muß ich ſelbſt —“
In ihrem Hauſe war helle Unruhe. Um Mittag
fuhr ihr Reiſewagen, mit vier Courierpferden vor¬
geſpannt, aus dem Thore von Berlin. Eine Relais¬
beſtellung bis Riga flog ihr voraus. Von der Höhe
draußen wandte ſie ſich noch einmal um: „Lebe wohl,
Babel! Du und Dein Reich ſollen vergehen!“


15 *
[[228]]

Elftes Kapitel.
Sie ſind die Puten von Excellenz.

In einem öffentlichen Garten der Vorſtadt war
an einem ſchönen Octobernachmittage eine ungewöhn¬
lich große Zahl von Gäſten verſammelt. Jene Zeit,
wo die Schichten der Geſellſchaft ſich weit ſchroffer
gegenüber ſtanden, als es ſpäter der Fall war, hatte
doch den Vorzug, oder, wenn man es nicht ſo nennen
will, ſie bot für das geſellige Leben den Vortheil, daß
die öffentlichen Vergnügungsorte noch nicht in der Art
ſchroff geſondert waren, daß die Anweſenheit von im Le¬
ben niedriger Geſtellten die höher Geſtellten abhielt,
auch ihr Vergnügen zu ſuchen. Wo der Handwerks¬
burſch Kegel ſchob, konnte auch der höhere Bürger¬
ſtand mit Ehren Weißbier trinken; Beider Gegenwart
ſchreckte ſogar den Königlichen Staatsbeamten und —
was mehr ſagen will — den Officier nicht ab, ſeine
Pfeife zu rauchen. Wenn auch der Reſpect die Stände
nicht an denſelben Tiſchen vereinigte, wie es im glück¬
[229] licheren Süden der Fall iſt, ſo war doch Gottes freier
Himmel, die bretternen Lauben und der ſchmuckloſe
Saal, wenn es regnete, für Alle ein gleiches Aſyl,
wenn ſie aus dem Staub und Geräuſch der Stadt
ſich retten wollten.


Zwar dem Staub und dem Geräuſch waren
dieſe hier nicht entflohen, denn der Garten lag an
der Landſtraße und auf derſelben wälzten ſich vom
frühen Morgen an die Züge der ausmarſchirenden
Truppen. Der Wind trug die Staubwirbel und
Wolken bis mitten in die große Stadt, und die dicke
Lyciumhecke, welche den erhöhten Garten wie eine
Mauer von der Straße trennte, lag in einem braun¬
grauen Puderkleide, welches nichts mehr von dem
urſprünglichen Grün zum Vorſchein kommen ließ
Auch gaben ſich die Mägde und die Gäſte gar nicht
mehr Mühe, den dicken Staub von den Tiſchen ab¬
zuwiſchen, und empfahlen nur, die Porzellandeckel
ſorgſam wieder auf die Weißbiergläſer zu ſtülpen.
Gegen Staub, meinten die Herren, ſei der Tabacks¬
dampf die beſte Waffe.


Man war ja zu Staub und Geräuſch gekommen,
und von den offenen Balconen oder Eſtraden an der
Hecke konnte man den braven Kriegern, die zum
Tod für König und Vaterland auszogen, ein Lebe¬
wohl rufen, man konnte ſeinen Bekannten allenfalls
die Hand reichen oder einen friſchen Trunk auf den
Weg — den ſchon von der Sonne Gebräunten; denn
wie weit her waren die Meiſten marſchirt und wie
[230] lange hatten ſie auf den Sammelplätzen ſtehen müſſen,
ehe die Trommel zum Abmarſch wirbelte. Wie die
Lyciumhecke, Alle von Staub gepudert, vom Blau
ihres Rockes, vom ſchönen weißen Mehl ihrer Locken
war nichts mehr zu ſehen. Aber die Spontons und
Bajonette funkelten in der Sonne, die Federbüſche
ſchüttelten in ihrer bunten Farbenpracht den Staub
ab und — Alle ſangen. Ohne Geſang kein deutſcher
Soldat. Die Disciplin kann Alles; das Singen
wagt ſie nicht zu verbieten. Lieder waren es, die
kein Dichter für ſie gedichtet, am wenigſten brauchten
die Soldaten in Deutſchland einen Tyrtäus; von
den Zeiten des dreißigjährigen Krieges, der Lands¬
knechte, ja noch weiter hinauf, ſie machten ſich ihre
Lieder ſelbſt, oder die Luft hauchte ſie ihnen zu.
Einige aus alter Zeit von Scheiden und Meiden,
von frühem Tod und Morgenroth, von grüner Erde
und Lindenbäumen, klangen wohl noch wie das We¬
hen eines Frühlingshauches durch Blüthenwipfel,
aber ſie klangen ſelten. Der Soldat auf dem Marſche
ſehnt ſich nach „cannibaliſchem Wohlſein.“ Wenn Einer
die Tabacksfreude anſtimmte, den Krambambuli, das
von den Müllerſäcken und Müllermädeln, da ſtimmte
der ganze Chorus ein; Lieder ſind es, welche der
Schrift nicht angehören, aber ſie leben, viele ſchon
Jahrhunderte, und wollen auch wohl noch Jahrhun¬
derte leben.


Daher mochte der Leiermann im Garten, ſo oft
er wollte, ſeine Ballade anheben, die ein patriotiſcher
[231] Poet, um der Begeiſterung aufzuhelfen, gedichtet,
und die etwa anfing:


Grad fünfzig Jahre ſind es her,

Da zog der große König aus

Und hinter ihm ſein muthig Heer,

Den Feinden all zu Schreck und Graus.

Die Militairs hörten gar nicht, die Bürger nur halb
zu, trotz dem, daß jeder Vers eine Schlacht des al¬
ten Fritz illuſtrirte, von Mollwitz bis Torgau. Wenn
aber die Füſiliere: „Ein Schifflein ſeh ich fahren“
anſtimmten, war Alles Aug' und Ohr und die Zu¬
ſchauer ſchienen ſtumm die mit greller Luſtigkeit ge¬
kreiſchten Verſe mitzuſingen:


Wie kommen die Soldaten in den Himmel?

Capitain und Lieutenant, auf einem weißen Schimmel,

Da reiten die Soldaten in den Himmel.

Capitain, Lieutenant, Fähnderich, Sergeant,

Nimm das Mädel, nimm das Mädel bei der Hand,

Soldaten, Kameraden, Soldaten, Kameraden!
Wie kommen die Officiers in die Höllen?

Capitain und Lieutenant, auf einem ſchwarzen Fohlen,

Da wird ſie der Teufel ſchon alle holen.

Capitain, Lieutenant, Fähnderich, Sergeant,

Nimm das Mädel u. ſ. w.

Und wenn die Huſaren, ihren Bart ſtreichend, zu den
Mädchen hinauf ſangen:


Geh du nur hin, ich hab mein Theil,

Ich lieb dich nur aus langer — langer Weil,

Ohne dich kann ich ſchon leben,

Ohne dich kann ich ſchon ſein.
[232]

ſo wollten die Mädchen ſich ausſchütten vor Lachen,
die Zuſchauer unter den Militairs ſtrichen, in eige¬
nen Erinnerungen ſchmunzelnd, ihren Bart.


Es ſaßen viele Officiere, darunter ſehr vornehme,
auf den Eſtraden, den Scheidegruß ihren Kameraden
zu geben, den ſie morgen von den nach ihnen Schei¬
denden empfangen wollten. Aber die ernſte Weh¬
muth, welche ernſte Scheideſtunden hervorrufen, hätteſt
du auf wenigen Geſichtern gefunden. Plötzlich war
der Geſang des Leiermanns verſtummt, und eine
grelle Beckenmuſik ſchallte übertäubend aus dem Gar¬
ten herauf — wie zur Freude Aller. Der General,
den wir einſt in der Geſellſchaft der Lupinus kennen
gelernt, und der jetzt auf einen der größeren Balcone
trat, hatte es im Vorübergehen ſo angeordnet.


„Das war ja nicht mehr zum Aushalten, ſprach
er zu den Officieren, die ſich reſpectvoll erhoben.
Was ſoll das Krächzen! Wenn der Soldat in's Feld
zieht, muß er fidel geſtimmt ſein.“


„Sie leiern ſolche Lieder jetzt in allen Tabagieen,“
bemerkte ein Anderer, und der Adjutant des Generals
fügte hinzu:


„Es geſchieht auch wohl in guter Abſicht, um
die Soldaten zu animiren.“


„Dummes Zeug! Ich weiß, 's iſt von 'nem
Gelehrten, einem der Herren Genies, verfertigt, und
er hat von einer Prinzeſſin ſogar ein Bijou dafür
erhalten. Der Soldat wird davon nicht animirt,
daß man ihm die Geſchichte des ſiebenjährigen Krie¬
[233] ges vorkrächzt. Hat etwa der Papa Gleim dem gro¬
ßen König zu ſeinen gewonnenen Bataillen verholfen?
Laßt die Kerle ſich ſelbſt ihre Lieder ſingen von Schnaps
und drallen Mädchen. Nur nicht ſie animiren wollen,
was ſie nicht verſtehen. Das iſt auch 'ne neue Mode.
Wozu braucht der Soldat animirt zu werden! Ordre
pariren, die Fuchtelklinge und gute Verpflegung —
das macht gute Soldaten.“


„Und Generale, fiel ein Obriſt ein, in denen
Friedrichs Genie fortlebt.“


Der General nahm das Compliment hin, vielleicht
wie etwas, was er von einem Subalternen erwar¬
tete, wofür zu danken ihm aber die Etikette verbot.


„Mit dem Genie, meine Herren, iſt's ein eigen
Ding, ſagte er nach einer Pauſe. Man macht zu
viel Redens davon. Es ſind gewiſſe Sätze, die feſt
ſtehen, wie die Arithmetik, im Uebrigen kommt's auf
den Mann an. Wenn er ſie in der Noth vergißt,
dann holt ihn der Teufel. Aber zu viel gelehrte
Officiers in einer Armee, und die holt auch der Teu¬
fel. Das wimmelte ja in letzter Zeit von Genies,
die uns alle Rath geben wollten. Gott ſei Dank,
daß wir losſchlagen, ehe wir ihren Rath angenommen,
das, meine Herren, iſt's, was mir Aſſurance giebt,
obſchon manches davon, das muß ich Ihnen geſtehen,
ſo auf dem Papier ganz plauſibel klang.“


Unarticulirte Töne und ausdrucksvolle Blicke ga¬
ben zu verſtehen, daß man der Aſſurance nicht bedürfe.
„Was kann Papier und Federkiel beſſer machen!“


[234]

Der Obriſtwachtmeiſter Stier von Dohleneck ſtieß
einen tiefen Seufzer aus, den die Cameraden zu ver¬
ſtehen glaubten. In Gegenwart eines höheren Officiers
müſſen die Subalternen ſchweigen. Wenigſtens iſt
es nicht an ihnen, ein Geſpräch anzufangen, zu len¬
ken oder andrer Meinung zu ſein. So angenehm
dies für die Hochgeſtellten iſt, hat es doch auch ſein
Unangenehmes, weil ſie nun genöthigt ſind, immer
das Wort zu ergreifen, wenn es um ſie her ver¬
ſtummt, und wenn der Pfingſtgeiſt ſie nicht heimge¬
ſucht hat, ereignet ſich auch wohl, daß ſie Alltägliches
zu Tage bringen. Weil ſie immer Zuhörer und immer
Zuſtimmung finden, und, wenn ſie es wollen, immer
belacht werden müſſen, glauben ſie endlich, daß auch
das Alltäglichſte geiſtreich ſei, wenn es aus ihrem
Munde kommt. So hat man davon betrübende Bei¬
ſpiele, daß gewiſſe Tiraden und Banalphraſen, in
welche ſie ſich ſo verſtrickt oder verliebt, daß ſie die¬
ſelben bei jeder Gelegenheit vorbringen, ob ſie paſſen
oder nicht, zu einem Zopf hinter ihrem Rücken wer¬
den, mit dem die nach Herzensluſt ſpielen, bei denen
ſie erſtarrende Devotion vorausſetzen. Es iſt mit
aller Autorität ein eigen Ding. Sie geht und
braucht keine Füße, ſie fliegt und braucht keine Flügel,
ſie ſtrahlt und braucht kein Licht, ſo lange man an
ſie glaubt
; wenn man aber nicht mehr an ſie glaubt,
dann ſieht man ſie hinken, wo ſie zu fliegen meint, und
ſie mag mit tauſend Hohlſpiegeln das Sonnenlicht
auffangen, man ſieht doch nur ihre Schattenflecke.


[235]

Der General hielt auf ſeine Autorität und dul¬
dete keinen Widerſpruch von unten; nach oben erlaubte
er ſich aber Widerſpruch, weil er auch dahin auf ſeine
Autorität hielt. Er galt für ſtreng, tyranniſch in
ſeinen Launen, ja Einige nannten ihn barbariſch in
der Strenge gegen den gemeinen Soldaten, und von
brutalem Stolz gegen das Civil. Heut erſchien er
milder. War es der Anblick der wohlgeordneten
Kriegerſchaaren, war es die Aſſurance, mit dieſem
Heer zu ſiegen, oder der Ernſt, welcher ſich der Seele
jedes denkenden Kriegers vor einer Schlacht bemeiſtert.


„Weiß vielleicht Einer von den Herren, unter¬
brach er das Schweigen, was aus dem Obriſtwacht¬
meiſter von Eiſenhauch geworden. Nach Oeſtreich
kam er voriges Jahr zu ſpät, die Campagne war
vorüber. Demnächſt ſchrieb man, daß er aus Alte¬
ration gefährlich erkrankt ſei. Es ſollte mich doch
wundern, ob er ſich nicht wieder bei uns einfindet,
wenn es Ernſt wird.“


Auf die Frage wußte Niemand Beſcheid; ſie
wußten eben ſo wenig, ob der General etwas zum Lobe
oder zum Tadel des genannten Officiers hören wollte.
Sie ſchwiegen.


„Meine Herren, es iſt ein Genieofficier von
admirabeln Kenntniſſen, hat auch manche vortreffliche
Conceptionen. Ich geſtehe Ihnen, einige waren wirk¬
lich acceptabel, und es that mir leid, als er den
Abſchied nahm. Verdachte es ihm freilich nicht. Wollte
nicht bloß Rath geben, drauf los, in's Feuer; cheva¬
[236] leresque und von exemplariſcher Conduite. Aber, offen¬
herzig, es iſt mir heute doch lieb, daß er nicht bei uns
blieb. Wir wären auf manche Vorſchläge eingegangen,
wir hätten vieles geändert. Vielleicht zum Guten — wer
weiß es, wer hat die Probe gemacht! Heute gereicht
es mir nun zur Genugthuung, daß auch nichts in
unſerm Armeeweſen geändert iſt. Wenn der große
König aus den Wolken blickte, ſähe er ſeine Armee,
wie er ſie verließ, kein Knopf an den Kamaſchen
mehr oder weniger. Und ſo ſoll und wird ſie Bo¬
naparte ſehn. Meine Herren, Attention! Das iſt
etwas, was wir nicht zu gering anſchlagen dürfen.
Er muß bei dem Anblick gleichſam fühlen, daß er
mit dem Genius des vorigen Jahrhunderts ſich ſchla¬
gen ſoll. Und da er ein Mann von einem gewiſſen
Sentiment iſt, muß dies einen moraliſchen Eindruck
auf ihn machen. In ſeinem Moniteur läßt er uns
Don Quixoten nennen. Nun, wir wollen doch ab¬
warten, wer Mühlenflügel und wer Geiſter geſehen hat!“


Man konnte aber jetzt kaum mehr etwas ſehen
und noch weniger hören. Der Staub war unerträg¬
lich geworden, zu Wolken aufwirbelnd fiel er als
trockener Regen nieder. Dazu war ein Toben, Peit¬
ſchengeknall, ein Gewieher der Pferde und ein Ge¬
kreiſch der Troßknechte, daß die Commandoworte nicht
mehr durch das Gewirr drangen. Was halfen die
Flüche und Klingen der Officiere, die auf die Rücken
der Säumigen fuchtelten, wo Alles ſtockte! Drei
Batterieen hatten, nachdem die Dragonerregimenter
[237] das Ihre gethan, die Straße in Grund und Boden
aufgewühlt, und jetzt, ſo weit das Auge vor und
zurück ſehen konnte, war ſie mit Bagagewagen, Fourgons,
mit Kaleſchen und Küchenwagen bedeckt. So breit
der Weg, hatten die Fuhrwerke ſich doch verfahren
und grad am Garten war eine totale Stockung ein¬
getreten. Auch im Fuhrweſen war die alte Ordnung,
aber in jeder Ordnung giebt es Ausnahmen, und
Kutſcher und Fuhrknechte ſind darin verſtockte Ariſto¬
kraten, die auf Rang und Stand im Vorfahren un¬
erbittlich halten. Weſſen Generals, Obriſten oder
Capitains eigne Wagen vorfahren wollen, und da¬
durch die Verwirrung verurſacht, war nicht mehr zu
ermitteln; kurz, Räder, Deichſeln, die Pferde und ihre
Geſchirre waren in ein ſo wüſtes Knäul gedrängt,
daß die Campagnepferde der Officiere dazwiſchen in
Gefahr geriethen, und nicht Reiter noch Fußgänger
mehr hindurch konnten, um zu ſehen, wo die Stockung
anfing und Abhülfe möglich war. Die commandir¬
ten Aufſeher und Officiere mußten über die Wagen
wegklettern und ſpringen, und wo ſich auch das nicht
thun ließ, ſchwangen ſich Einzelne über die Hecke
und ſuchten durch den Garten den Weg zu ihrem Ziel.


Die Lyciumhecke war kein ſchirmender Wall mehr.
Tiſch, Bänke und Eſtraden wurden, weil Alles über¬
ſtieg und durchbrach, verlaſſen, um doch gleich wieder
von Neugierigen beſetzt zu werden. Eine Gefahr er¬
ſchreckt nur im erſten Augenblick, im nächſten erregt
ſie ſchon den Kitzel, es mit ihr zu verſuchen. Die
[238] rohe Wuth, die Leidenſchaften waren entfeſſelt. Man¬
ches Geſicht glühte auch vom Branntewein, es konnte
aus der Zänkerei ein Kampf werden. Die verſchie¬
denen Truppentheile haben immer gegen einander
Eiferſucht. Da warfen ſich die Feldkutſcher vor, wer
wider Recht den Vorrang erſtreiten wollen; dort hechel¬
ten ſie ſich über den Inhalt und die Größe der Ba¬
gagewagen, und aus ihren verſteckten Winken — wo
man dieſe Rückſicht noch beobachtete — erfuhr das
Publikum, daß mancher Officier Dinge oder Gegen¬
ſtände mitnähme, die eigentlich nicht in's Feld gehö¬
ren. Wer daran zweifelte, ſah wohl vorn aus den
Rüſtwagen ein halbverhülltes Frauengeſicht ſcheu
vorblicken, das nicht füglich zu den Marketenderinnen
zählen konnte. Doch waren das nur Ausnahmen.
Aber zwiſchen dem Schreien, Fluchen und Wiehern
tönten noch andre Stimmen, die weder Pferden noch
Menſchen angehörten, ſondern eher auf das Daſein
einer Menagerie ſchließen ließen.


Dieſe Menagerie war indeß gar kein Geheim¬
niß, und wenn die großen Hühnerkörbe, hinten oder
vorn auf den Generalswagen, bis da mit Decken
verhängt geweſen, ſo waren dieſe beim Zuſammenſtoß,
dem Klettern und den Manipulationen der Helfen¬
wollenden von den meiſten abgefallen. Das geängſtete
Federvieh flatterte und gakkerte und ſchien ſelbſt wie¬
der einen Bürgerkrieg in den Gitterkörben zu führen,
als durch das Zurückſtoßen eines Wagens mit Zelt¬
ſtangen dieſe an den Fourgon eines Generals ſtie¬
[239] ßen. Der Wagen ſchwankte und fiel auf die Seite
über, ohne doch ganz fallen zu können, der Hühner¬
korb aber brach, ſtürzte, und die gefiederten Inne¬
wohner, ſo weit ſie nicht von den Zeltſtangen getöd¬
tet waren, krochen, flatterten und flogen heraus. Da
der Korb nach der Seite der Hecke übergeſtürzt war,
entlud ſich die lebendige Beſcherung in den Garten.
Die Hühner, in glücklichem Rettungs-Inſtinct, dräng¬
ten ſich nicht wie die Schaafe in einen Keil, ſondern
über Köpfe und Tiſche flatternd, krochen ſie hier un¬
ter die Hecke, dort zwiſchen die Beine der Gäſte oder
ſuchten in ſympathetiſchem Zuge den Hühnerſtall des
Kafetiers. Der Aufruhr war damit in den Garten
getragen.


Wo war die Disciplin, wenn rohe Trainknechte
über die Hecke auf den Tiſch ſpringen konnten, wenn
die Gläſer von Stabsofficieren unterm wuchtigen
Tritt ihrer geſpornten Reiterſtiefel zitterten, wenn
ſie ohne Rückſicht auf Orden und Epauletten, nicht
einmal die Honneurs machend, auf die Erde platzten,
wenn entlaufenes Federvieh für dieſe Menſchen alle
Rückſichten, die der Autorität gebühren, aufwog!


Wo, wenn ſelbſt ordnungsliebende Bürger nicht
davor ſchauderten, ſondern es in der Ordnung fan¬
den, denn durch den Garten verbreitete ſich ein ge¬
flügeltes Gerücht. „Es ſind ja Obriſt Köckeritzens
Truthähne!“ — „Nein, riefen andre Stimmen, es
ſind Excellenz Feldmarſchall Möllendorfs Puthühner!“


Verwirrung und allgemeine Verfolgung. Die
[240] Truthähne waren kein Geſpenſt; ſie waren geflattert,
geflogen und Viele hatten ſie geſehen. Wohin? Links,
rechts. Die Trainknechte fluchten, ſtatt für die Wei¬
ſung zu danken. Selbſt die erndteten kein freundlich
Wort, die es ſich angelegen ſein laſſen, ein verirrtes
Huhn aufzufangen. Hühner hin, Hühner her, aber
der calecutiſche Truthahn, die Beſtie, wo war er,
und die ſchöne Henne, das Prachtſtück! Sie waren
den Knechten doch vom Mundkoch auf die Seele ge¬
bunden.


Der Garten erſtreckte ſich weit in die Sandebene.
Solche Gärten hatten auch ſtille Plätzchen, wohin ge¬
fühlvolle Gemüther ſich aus dem Geräuſch des Ke¬
gelſchiebens und dem Klirren der Gläſer zurückzogen.
Auf einer Bank unter dem Lycium, das ſeine aus¬
gewachſenen und ſchon vertrockneten Zweige zu einer
Art wilden Laube über ihre Köpfe rankte, ſaßen
Charlotte und ihr Wachtmeiſter. Es war die bittere
Scheideſtunde. Auch wir nähern uns der von unſern
Leſern und ſcheuen uns deshalb, ihnen eine neue
Figur vorzuführen, die — ſie vielleicht nicht wieder¬
ſehen. Uebrigens ſah ein Wachtmeiſter wie der an¬
dere aus.


Charlotte mußte das auch denken. Sie hatte
geweint und hielt das Tuch noch an die Augen. Der
Wachtmeiſter hatte wohl nicht grade geweint, aber ſein
Geſicht war roth, als er die rechte Locke unter dem
Hute ajuſtirte: „Es geht nun mal nicht anders in
der Welt; aber mit Courage geht Alles.“


[241]

„Halten Sie ſich nur recht warm, ſchluchzte ſie,
daß Sie ſich nicht verkälten.“


„Halten Sie nur Ihren Geheimerath warm,
ſagte er. Darauf kommt Alles an. Denn die Civil¬
verſorgungen, das iſt die Schwerenoth, die ſind ver¬
flucht mager.“


„Und trinken Sie nicht ſo viel Schnaps. —
Und wenn eine Kugel kommt —“


„Dann ſchreib ich's Ihnen.“


„Und wenn Sie mir nicht ſchreiben?“


Da hub das Schluchzen von Neuem an; aber
es war nur Charlotte. Der Wachtmeiſter hatte ſeine
Handſchuh angezogen, den Pallaſch in die rechte Lage
gebracht und ſich grad aufgerichtet:


„Demoiſelle Charlotte, wozu hilft das Greinen!
Sie müſſen bedenken, der Soldat iſt Soldat. Iſt's
nicht ſo, ſo iſt's ſo. Sterben müſſen wir alle, und
wenn's uns noch ſo gefällt in einem Quartier, ein¬
mal ziehn wir raus. Drum ſagt unſer Obriſtwacht¬
meiſter: Kerle, Ihr müßt denken, daß Andre nach
Euch kommen, die wollen auch was finden. Und
warum nicht! Sie ſind ja auch Menſchen. Und ſo
iſt das ganze Leben, ſagt er, wir ziehn aus einem
Quartier in's andre. Und wem's ſein letztes war,
das weiß Keiner nicht, denn 's kommt auf ein Mal,
auf den Plutz. Da ſteht der Tod vor ihm roth und
blaß auf der Mauer und kräht ihn an, und eh es
ausgekräht —“


Charlotte ſchrie auf. Es krähte ihn ja an. Auf
V. 16[242] der Hecke ſtand der Calecuter, ſeine rothen Lappen von
der Sonne beſchienen, ſeine Augen funkelnd vor Angſt
oder Zorn. Und die Pute, das Prachtſtück, flog auch
über die Hecke und ihr gar in die Arme. Aber auch
die Trainknechte flogen den Gang herauf, ſchreiend,
fluchend, die böſen Trainknechte, mit ſo zornfunkeln¬
den Augen als der Hahn. Charlotte hatte ſich wirk¬
lich die Pute nicht aneignen wollen, die ſie unwill¬
kürlich an ihr liebebedürftiges Herz gedrückt. Charlotte
war ſelten um eine Antwort verlegen, aber kaum,
daß ſie über die Lippen war, mußte ſie es mit eignen
Ohren hören, daß der Knecht ſie anſchrie: „Selbſt
Pute, ſie!“ und mit eignen Augen mußte ſie es ſehen,
daß der Wachtmeiſter, ſtatt ihr beizuſpringen, mit
nach dem Calecuter haſchte. „Es ſind ja Excellenz
Möllendorfs eigne Truthühner!“ rief ein Andrer, um
ſie zu Reſpect und Raiſon zu bringen.


Der Puter und die Pute waren längſt fort,
denn als Charlotte die Arme öffnete, hatte die letztere
es vorgezogen, einen Satz in die Luft zu machen, als
in die Arme des Knechts zu fliegen. „Beſtien ihr,
wartet!“ war das letzte Wort, das ſie hörte, und
leider war ihr die Stimme ſehr bekannt. Das wilde
Heer war verſchwunden, und das war der letzte Ab¬
ſchied von ihrem Wachtmeiſter.


Die Frau Hoflackir, die herbeikam, fand Char¬
lotten in Thränen. Der Herr Hoflackir, der ſeiner
Gemahlin die beiden jüngſten Kinder auf den Armen
nachtrug, derweil das älteſte an ſeinem Rockſchooß ging,
[243] fragte, warum die Couſine weine. — „Das frägt er
noch!“ ſagte die Frau Hoflackir. — „Es frägt ſich
vieles, ſprach Charlotte mit einem Blicke gen Himmel.
Ach, lieber Couſin, die Militairs in Ehren, aber
ihnen geht doch das ab, was ein empfindungsvolles
Gemüth bedarf, wenn es ſich über das Gemeine des
irdiſchen Daſeins erheben ſoll. Die Montur und die
Uniform ſind etwas ſehr Schönes für König und
Vaterland, aber mehr Gefühle für Frauenwürde fin¬
det man doch beim Civil — ſelbſt bei meinem lieben
Geheimerath.“


Und daß Puter und Pute, dieſelben, noch ein
zärtliches Paar aufſchrecken, noch einen Abſchied ſtören
mußten! Den Obriſtwachtmeiſter Stier von Doh¬
leneck und die Baronin Eitelbach, die in der einſa¬
men Allee am Rande des Gartens promenirten. Es
war die ſüße Verſtändigung nach ſo langen, langen
Zweifeln.


„Und nun grade uns trennen müſſen!“


Seltſam! war es doch hier das Widerſpiel der
andern Abſchiedsſcene. Er ſchien der Geknickte und
ſtrich über die Augenwimpern. Thränen waren es
nicht, aber ein Jucken und Drängen an den Augen,
als fürchte er ſich vor ihnen.


„Wiſſen Sie, mir iſt's manchmal, als wären
wir alle nur da, um uns zu trennen, ſprach die Ba¬
ronin und ſah in den blauen Himmel. Und wir leb¬
ten nur, damit wir uns darauf vorbereiteten.“


Er blickte ſie verwundert an.


16*[244]

„Die zu einander gehörten, müßten ſich ihr Le¬
ben lang ſuchen, und wenn ſie ſich gefunden haben,
wäre es nur, um von einander Abſchied zu nehmen.
Da geht Mamſell Alltag mit ihrem Vater in den
Salon. Das iſt doch ein kreuzbraves, ſchönes und
geſcheites Mädchen. Was hat die ausſtehen und ſich
verſuchen müſſen, darüber iſt doch, nun alle Welt im
Klaren, und nun's ihr endlich gut geht, und die
ſchlechten Zungen ſchweigen müſſen, und die Königin
ſich ihrer angenommen hat, und ſie den nun endlich
heirathen ſoll, den ſie von ganzem Herzen lieb hat,
da — da muß er den Tag vor der Hochzeit ſporn¬
ſtreichs auf und davon.“


„Nur auf einer dringenden Miſſion vom Könige.
Er wird wiederkommen.“


„Wenn ſie ihn nun als Spion hängen!“


Der Obriſtwachtmeiſter ſah ſie noch verwunderter
an. Welche Lichter zückten plötzlich durch dieſe Seele!


„Alles kommt anders, als wir's uns gedacht,
fuhr die Baronin fort, und es iſt überall ſo. Die
arme, unglückliche, ſchreckliche Geheimräthin! Ich
mag's noch immer nicht glauben, daß ſie ſo ſchlimm
iſt, aber wenn ſie ihn liebte und heirathen wollte,
und es darum gethan hat, nun iſt ſie auch auf
immer von ihm getrennt —“


„Wem?‘


„Dem Legationsrath. A propos, der iſt Ihr
aufrichtiger Freund, Dohleneck, Sie mögen es nun
glauben oder nicht. Ein Freund in der Noth iſt er,
[245] das kann ich Ihnen ſagen. Sie packen ihm Alles
auf, wer was zu tragen hat und wen was ängſtet,
und dafür verreden ſie ihn noch. Aber er trägt es
und lächelt. Er weiß auch, Dohleneck, daß er Ihnen
unausſtehlich iſt, und doch ſorgt er um Sie wie ein
Vater, nein, wie ein Freund, der Alles thun möchte,
um mir meinen liebſten Freund zu erhalten. Was
giebt er mir nicht für Rathſchläge, daß Sie in der
Campagne zu Ihrer Geſundheit thun und mitnehmen
ſollen, und bittet mich, daß ich Sie beſchwören ſoll,
Sie möchten ſich nicht zu ſehr exponiren.“


„Wenn er mir den Rath in's Geſicht gäbe,
würde ich wiſſen, wie ich ihm in's Geſicht antworte;
ein Soldat thut nur ſeine Schuldigkeit.“


Sie lächelte ihn ruhig an: „Ich weiß es ſchon.
Grade ſo würden und müßten Sie ſprechen, hat er
zu mir geſagt. Darum hat er mir auch verboten,
Ihnen von den Salben und Pulvern zu geben; Sie
würden lachen und den Plunder in den Graben wer¬
fen. Der Beſte und der Klügſte ändert's nicht, was
kommen ſoll, und das iſt das Wunderbare in
unſrer Beſtimmung, ſagt er, daß man das weiß, und
ſich doch immer wieder gedrungen fühlt, den Rath
zu geben, der nicht befolgt wird. So hat er's auch
mit der Lupinus gemacht. Wie er es ihr auch zu
verſtehen gegeben, daß es nur Achtung und Ver¬
ehrung von ihm ſei, ſie hat's für Liebe gehalten.
Und wie er jetzt auch ſich Mühe giebt, daß ihre Un¬
ſchuld an den Tag kommen ſoll, er weiß doch, ſie
[246] werden nicht auf ihn hören, denn die Menſchen ren¬
nen alle in ihr Verhängniß, und er preiſt die am
glücklichſten, die nicht klug ſind, und nicht Alles ſehen
wollen, denn ihnen wären viele Qualen geſpart.
Darum, ſagt er, hat er uns ſo lieb, ob er ſchon weiß,
daß ich ihm nicht gut bin, und Sie ihn gar nicht
mögen. Da iſt auch alle Mühe umſonſt, ſetzte er
hinzu, alle Beweiſe helfen nichts, und der Mißtrauiſche
weiß ſogar in der guten That, die man ihm erzeigt,
eine heimliche böſe Abſicht herauszuleſen.“


Dem Herrn von Dohleneck ging es dumpf durch
den Kopf: „Wenn man ſich doch getäuſcht hätte!“


„Das ſagt er ja auch. Wenn in der letzten
Stunde nur die Enttäuſchung käme! Wenn er da
liegt auf dem Felde der Ehre, und die Lüfte trü¬
gen mir wenigſtens mit Aeolsharfenklang ſein Ge¬
ſtändniß zu: Ich habe mich in dir geirrt! Das
wäre wenigſtens ein Troſt!“


„Donner und — Himmeldonner! Er macht
mich doch nicht bei lebendigem Leibe todt!“


Der Obriſtwachtmeiſter Stier von Dohleneck
hatte nicht die Veränderung geſehen, die auf dem Ge¬
ſicht der Baronin vorgegangen. Die Thränen ſtürz¬
ten aus ihren großen, ſchönen Augen; ſie zitterte:


„Ja, mein inniger, einziger Freund, er hat eine
Ahnung — er wollte ſchweigen — ich erpreßte ihm
das Geſtändniß — Ihr zügelloſer Muth — er ſah
Ihr Blut fließen — Wir ändern's nicht — ja, es
iſt nur zu wahr, es findet ſich Alles nur, um ſich zu
[247] trennen, die Herzen, um von einander geriſſen zu
werden, die Seelen und Geiſter, um ſich ſchätzen zu
lernen, wenn ſie ſich verloren haben, und das Glück
iſt nur da auf der Welt, daß es zerbricht! — Es
ging ja auch nicht anders, ſagte ſie, ſich zurückbeu¬
gend, und blickte ihn mit freudiger Wehmuth an.
Wir konnten uns ja nur finden, um uns wieder zu
trennen! — Freiwillig, nicht wahr, hatten wir es
gethan? Und nun trennt uns eine höhere Hand.“


„Aber warum denn auf immer! ſagte der Officier,
ihre Hand an die Bruſt drückend. Ohne Hoffnung — “


„Darf der Menſch nicht leben und nicht ſterben,
fiel ſie ein. Das hat er auch geſagt. Und ſah da¬
bei in den Himmel, und das war ein Blick! —
Nein, nicht auf immer! ſagte er, wer unvergänglich
liebte, der liebt auch in die Ewigkeit. Iſt denn das
Blut ein Strom, der uns vom Jenſeits trennt? Da
liegt er auf der Heide, purpurn ſtrömt es aus der
Bruſt des Redlichen. Sein letzter Hauch iſt ſeine
Freundin, ſein letzter Blick für Sie. Wenn er Sie
im Tode ſah, warum ſollen Sie ihn denn nicht im
Tode ſehen! Sie werden ſich wiederſehen!“


„Nun, um Gottes Barmherzigkeit willen, ja,
wir werden uns auch wiederſehen! rief Dohleneck in
ungewöhnlicher Aufregung. Kein Krieg ohne Blut,
aber warum gleich maustodt! Wozu giebt's denn
Charpie und Pflaſterkaſten? Das Blut mag zwi¬
ſchen uns fließen, ja, ein tiefer Fluß, aber warum
ſoll ich denn nicht rüberſpringen und —“


[248]

„Wir werden uns wiederſehen!“ und die Ba¬
ronin öffnete die Arme und der Obriſtwachtmeiſter
auch — Da mußte es um ſie ſauſen, krächzen, und
die wilde Jagd kam hinterher. „Fangt ſie! —
Da ſind ſie! — Die Brut!“


Als die Unholde heranſtürmten, war die Baro¬
nin ſchon durch die Oeffnung der Hecke geſchlüpft.
Der Obriſtwachtmeiſter warf einen Zornblick auf die
Störenfriede, ja, ſeine Linke ruhte auf dem Degen¬
griff. Ob Herr von Dohleneck ihn gezogen hätte, wir
wiſſen es nicht; aber es war ja ſein Wachtmeiſter,
der, in Reſpect erſtarrend, vor ihm ſchulterte und
aus den Lippen des vorgeſtreckten Kopfes die Worte
flüſterte: „Halten zu Gnaden, Herr Obriſtwacht¬
meiſter, ſie ſind die Puten von Excellenz Feldmar¬
ſchall Möllendorf!“

[[249]]

Zwölftes Kapitel.
Die Scheideſtunde ſchlug.

Als die Baronin durch die Hecke geſchlüpft —
ſie hoffte, unbemerkt von den Verfolgern, — befand
ſie ſich in einem ſchmalen Gange, der eigentlich nicht
zum Spazierengehen, ſondern, zwiſchen der beſchnit¬
tenen Baumhecke und einem alten Plankenzaune, mit
Unkraut bewachſen und für den Kehricht des Gar¬
tens beſtimmt war. Ihre Abſicht war auch wohl ge¬
weſen, wenn das wilde Heer vorüber, in die Allee
zu ihrem Freunde zurückzukehren. Davon wurde ſie
zu ihrem Schreck durch einen andern Mann, den ſie
nicht als ihren Freund betrachtete, abgehalten. Nein,
ſie fürchtete oder verabſcheute den alten Herrn von
Bovillard, und glaubte dazu hinlänglichen Grund zu
haben, denn hatte nicht der Legationsrath in einer
vertrauten Stunde ihr — wir ſagen nicht Alles,
aber doch Vieles vertraut, was ſie nie erfahren durfte,
wenn man nicht ohnedem wüßte, daß das Amtsſiegel
der Verſchwiegenheit über die geheimen Staatsange¬
legenheiten in der Hinterſtube des Geheimrath Bo¬
villard nur zu oft erbrochen war.


[250]

Und dieſen ſelben Bovillard, der mit ihr und
dem Rittmeiſter ein ſo grauſames Spiel geſpielt, dem
ſie in ihrer Entrüſtung geſchworen, nie mehr in's
Geſicht zu ſehen, traf ſie an dem einſamen Orte, er
kam grad auf ſie zu, und hob grade den Kopf, den
er geſenkt trug, ehe ſie ausweichen konnte. Zu an¬
drer Zeit kochte es in ihr, ihm Sottiſen oder die
Wahrheit zu ſagen, was ſollte ſie ihm jetzt ſagen,
wenn er mit ſeinem mediſanten Witze ſie raillirte!


Ach, aber der Geheimrath war ein Anderer, in
kurzer Zeit ſchien er um Jahre älter geworden. Wo¬
hin war der elaſtiſche Schritt, die Jugendlichkeit, die
er im Umgange affectirte? Er ging bedächtig und
geſenkten Hauptes. Er litt an fixen Ideen, ſagte
man. War es ſein Stammbaum, deſſen Wurzeln
bis zur Schöpfung der Welt zurückwuchſen, was ſei¬
nen Blick auf der Erde wurzeln ließ? Man hielt es
nur für eine momentane Phantaſie des aufgeklärten
Lebemannes; er benutze ſie, um ſeinem Depit gegen
die Verbindung ſeines Sohnes mit der Demoiſelle
Alltag einen ſcheinbaren Grund unterzulegen. Er
litt, wer ſollte es glauben, an einer andern Idee,
die er zwar nicht deutlich ausſprach, aber aus ſeinen
hervorgeſtoßenen Reden erſchien es, daß er an ge¬
wiſſen Tagen ſich für vergiftet hielt, von wem an¬
ders, als der Lupinus! Auf vernünftige Vorſtellun¬
gen gab der vernünftige Mann zu, daß dies unmög¬
lich ſei, da er jede geſellige Berührung mit ihr ver¬
mieden hatte; aber er nahm doch in jenen Tagen viele
[251] und ſtarke Laxanzen. Er, der erklärte Gegner der
Romantik und alles Myſticismus, las in Büchern,
die man nicht auf ſeinem Tiſch erwarten ſollen, und
an Aerzte, die ſich jener Richtung näherten, ſtellte er
die verblümte Frage, was ſie von dem böſen Blick
hielten, an den die ſüdlichen Nationen glauben, und
ob nicht eine phyſiſche Möglichkeit ſei, daß er der
Geſundheit Anderer ſchaden könne? Der Geheim¬
rath Bovillard war bereits als malade imaginaire
ſprüchwörtlich. Sein Gönner, der Miniſter mit der
aufrechten Haltung, hatte ihm ſeine Univerſalcur,
Karlsbad, wiederholentlich empfohlen, der Geheim¬
rath den Rath aber von der Hand gewieſen — für
jetzt. Er fürchte, es werde ihm als Furcht ausgelegt,
wenn er ſich aus Preußen entferne, er ſei ein Pa¬
triot, darum müſſe er es zeigen. Darum zeigte er
ſich an öffentlichen Orten; wenn auch nicht grade an
dem, wo die Baronin ihm begegnete.


„Ach, meine gnädige Frau, ſagte er, nachdem
von ſeiner Seite weder eine freudige noch eine andre
Ueberraſchung ſtattgefunden, er brachte die Worte
vielmehr mit einer Art innerem Gähnen heraus, in¬
dem er neben ihr herging. Ach, meine gnädige
Frau, die Moraliſten ſagen, Alles in der Welt iſt
eitel; aber es iſt nur die Wirkung aus der Ferne.
Ich ſehe in der Welt nicht ab, warum das eitel ſein
ſoll, was ich genieße, und es ſchmeckt mir. Eitel,
das heißt, es verdirbt und vergeht, wird es nur
durch die Einflüſſe von außerhalb. Könnte Jeder
[252] ſeinem Penchant nachgehen, dann gäbe es keine Eitel¬
keit und keine Sünde, nur vergnügte Menſchen. Sie
lieben im Frühling die Veilchen, ich die Maibutter,
wie ſchön duften ſie am Morgen, wie aromatiſch und
friſch ſchmeckt ſie zum Frühſtück! Da muß ein Welt¬
körper, viele Millionen Meilen von uns entfernt, ſo
einwirken, daß das Veilchen am Abende welk iſt,
meine Butter iſt ranzig und zerfloſſen. Das Uebelſte
iſt, auch die Philoſophie hilft dagegen nicht. Der
böſe Magnet, Dämon, was es ſei in der Ferne,
unſre Pfeile erreichen ihn nicht, und, was noch ſchlim¬
mer, wir wiſſen gar nicht, wo unſer Feind ſitzt. So
iſt der Klügſte nicht ſicher, woher's ihn einmal über¬
kommt, ob er auf dem Eis einbrechen, oder im Tanz¬
ſaal ein Bein brechen ſoll. Was iſt der Krieg?
Die Soldaten bilden ſich ein, ſie trügen ihn, und ſie
bluteten für uns. Aber, contrair, ſie haben das
Vergnügen, und der Civiliſt hat die Leiden; er muß
zahlen und zahlen, Handel und Gewerbe ſtocken und
wir müſſen Spott, Uebermuth und Einquartierung
ertragen, bis wir aus der Haut fahren. Ich will
mich nicht um die Welthändel kümmern, ſagt der
gute Bürger. Und hat er dazu nicht ein Recht? was
er nicht eingerührt hat, braucht er nicht aufzueſſen.
Hat der Weizenbauer in Pyritz die franzöſiſche Re¬
volution gemacht, hat er conſentirt zur Pillnitzer
Alliance, oder hat er Napoleon zum Kaiſer ausge¬
rufen? Gott bewahre, er weiß von alledem nichts,
hat nie was davon wiſſen wollen; aber büßen muß
[253] er jetzt: ſeine Pferde werden ihm ausgeſpannt, Fou¬
rage muß er liefern, ſeine Söhne hergeben zum
Todtſchießen, und wenn die Franzoſen gewinnen,
frißt und prügelt ihn die Einquartierung, ſie ſchmeißt
ihn am Ende aus Haus und Bett, wenn er eine
junge Frau hat, alles das die Wirkung aus der
Ferne, und Niemand weiß, meine theuerſte Baronin,
wo das Uebel ihm ſitzt und von wo es kommt.“


Die Baronin ſchenkte ihm einen Blick, der zu
verrathen ſchien, daß ſie wenigſtens die Ferne kenne,
aus welcher ſie die Wirkung empfunden. Der Ge¬
heimrath hatte für ſolche Blicke keine Augen und kein
Gefühl.


„Meine Beſte, ſagte er, das Geſicht in eigen¬
thümlicher Weiſe verkneifend, und beide Hände gegen
die Seiten ſtemmend, denken wir nicht an vergangene
Thorheiten. Sie ſollten nach Karlsbad. Hier, Gott
weiß, was hier kommt; die ſchwere Luft, und Nie¬
mand weiß, was er in den Sonnenſtäubchen runter¬
ſchluckt, die er einathmet, wenn er den Mund auf¬
thut. — Da — da können Sie ungenirt und frei
leben. Ich ginge ja auch herzensgern, aber — ein
Staatsmann und die Rückſichten. — Excuſe!“


Mit einem raſchen Sprung war er in den Gang
zurück, aus dem er die Baronin unter ſo liebens¬
würdigem Geſpräch bis in den Garten zurückgeführt
hatte. Da trafen ſich im Gewühl viele Bekannte,
die wieder auf die Eſtraden ſtiegen. Die Stopfung
auf der Straße war gelöſt. Der Abendwind trieb
[254] den Staub nach einer jenſeitigen Richtung. Herr
von Fuchſius, der die vereinſamte Frau zuerſt ge¬
wahrte, hatte ihr ſeinen Arm angeboten. Sie hätte
wohl einen beſſeren Führer gewünſcht, ſagte er lächelnd,
aber in dem Gedränge müſſe man ſich ſchon dem
erſten Beſten anvertrauen. „Wer in der Gefahr ver¬
einſamt ſteht, iſt verloren.“ Ueberall Abſchiedsſcenen,
Thränen, Tücher. „Sie waren eben Zeugin einer
der tragiſcheſten Abſchiedsſcenen!“ Die Baronin ſah
ihn verwundert an.


„Herr von Bovillard ſcheint förmlich von ſeinem
Verſtande ſich geſchieden zu haben. Es iſt der Ab¬
ſchied eines Verſchwenders von ſeinem verſchleuderten
Gute. Er iſt auf dem Wege, ein vollſtändiger Hypo¬
chonder zu werden. —– Aber beachten Sie den Ab¬
ſchied dort, er iſt weit trauriger, zwiſchen Vater und
Sohn.“


„Zieht der junge van Aſten auch in's Feld?“
fragte die Baronin, denn dieſer war es, dem ſein
Vater nach einem langen, wie es ſchien, eindringlichen
Geſpräch plötzlich den Rücken wandte.


„Nur in die Freiheit — und der Alte vielleicht
in's Schuldgefängniß.“


Das Verhältniß war ſtadtkundig: „Mein Gott,
wer hat denn da nun Recht? Der junge Walter iſt
auch ein ſo braver Mann!“


Der Rath zuckte die Achſeln: „Baroneß, das
ſind Fragen, auf die nur der liebe Gott Antwort weiß.“


Die Baronin drückte plötzlich die Hand ihres Be¬
[255] gleiters und der Freudenſtrahl in ihrem Auge ſchien
zu ſprechen, daß der liebe Gott wohl Antwort gege¬
ben habe. Der alte van Aſten, der noch eben den
Stock mit beiden Armen unmuthig auf die Erde ge¬
ſtampft und den Hut tief in die Stirn gedrückt hatte,
um den Garten zu verlaſſen, war plötzlich ſtillgeſtan¬
den. Eben ſo raſch wandte er ſich um, und fiel dem
Sohn, der ihm wehmüthig nachgeſehen, um den Hals.


Ob ſie etwas geſprochen und was, wer konnte
das hören, beſonders jetzt, wo wieder ein feierlicher
Marſch von Blaſeinſtrumenten durch die einbrechende
Dämmerung ſchmetterte. Die Baronin riß ihren
Führer auf die Eſtrade. War erſt jetzt die Ordre
gekommen? Die Gensdarmen zogen aus der Stadt,
um in einem benachbarten Dorfe Nachtquartier zu
halten. Noch war es hell genug, um ſich zu erkennen,
und ein letzter rother Schimmer färbte die Feder¬
büſche und Geſichter der Reiter. Die Baronin ließ
ihr Tuch wehen, er ſah es und ſalutirte mit dem
Degen. Sie ſprach kein Wort, aber unverwandten
Blickes ſtarrte ſie hin, bis die Geſtalt ſich in der
Menge verlor, dann lehnte ſie ſich, wie erſchöpft, auf
die Schulter des Rathes. „Wir werden uns wieder¬
ſehen!“ kam es wie aus tiefſter Bruſt. — Unfern
von ihr ſchrie eine andre weibliche Stimme: „Ich
werde ihn nie wiederſehen! Was ſoll aus mir wer¬
den!“ Charlotte war auf eine Bank geſunken. Zum
Glück ſtand jetzt neben ihr ein ältlicher Herr — denn
unter den übrigen Zuſchauern ſchien keiner ſich um
[256] den andern zu kümmern, ihre Blicke und ihre Ge¬
danken gehörten den ſchönen, jungen ausmarſchiren¬
den Reitern allein an. Der ältliche Herr klopfte ihr
auf die Schultern: „Charlotte, weine Sie nur nicht,
gebe Sie ſich zur Ruhe, es wird ſich ſchon Alles
finden, und ich verlaſſe Sie nicht.“


Es war eine beſondere Stimmung unter Allen,
ſehr verſchieden von der lauten beim Vorüberziehen
der frühern Regimenter. Hatte der Abend ſie ge¬
macht? Waren die Gensdarmen grade die Lieb¬
linge der Zuſchauer? Man hörte keine lauten Hurrah's,
keinen jubelnden Zuruf, nur unterdrücktes Schluchzen.
Vielleicht that's die Regimentsmuſik; ſie ſpielte die
Melodie eines alten Volksliedes von Morgenroth
und frühem Tod. Nachher flüſterte man ſich zu: Prinz
Louis ſei in ſeinem Mantel verhüllt unter dieſer
Schwadron in der Stille mit ausmarſchirt.


In den Sälen, die als ſehr beſcheidene Pavillons
des auch beſcheidenen Reſtaurationsgebäudes in den
Garten ausliefen, hatten einzelne Familien und Ge¬
ſellſchaften zum Abendbrod ſich vereinigt. Die Lich¬
ter wurden ſchon angezündet, es ſah aber wenig feſt¬
lich aus, trotz der Aſtern und anderer Herbſtblumen,
die eine ſorgende Hand wohl hie und da auf den
Tiſch geſtellt. Luft und Boden, die Dielen auf dem
Erdreich liegend, waren kalt und feucht, die Frauen
hatten ihre Enveloppen, die Männer ihre Ueberröcke
umgethan. Es war auch ſonſt ein Etwas, was die
helle Freude nicht aufkommen ließ.


[257]

In einem dieſer Pavillons hatte der Geheime
Kriegsrath Alltag ſeine Familie und einige Bekannte
vereinigt. Als Fuchſius die Baronin vorüberführte,
um ſie nach ihrer Equipage zu geleiten, rief ſie, durch
die hellen Fenſter blickend: „Herr Je — da geht ja
Adelheid mit dem jungen van Aſten.“


„Er war ihr hochverehrter Lehrer, ſagte der Rath,
und der alte Alltag hat zum Abſchied alle nächſten
Angehörigen zu ſich gebeten.“


„Geht er auch mit in den Krieg?“


„Er nicht, aber ſeine Tochter. Die Königin
folgt ihrem Gemahl in's Hauptquartier, und Mam¬
ſell Alltag iſt, als Geſellſchafterin der Viereck, be¬
ſtimmt, Ihre Majeſtät mit zu begleiten.“


„Das iſt eigen, ſagte die Baronin, das ſchöne,
junge Mädchen in den Krieg! Was man nicht er¬
lebt! Wiſſen Sie wohl, was ich glaube?“


„Gewiß etwas Richtiges.“


„Der Alte mochte damals nicht die Brautſchaft.
Jetzt, glaube ich, gäbe er etwas drum, wenn die Adel¬
heid beim jungen Aſten geblieben wäre. Er iſt ein
ſolider Menſch, und die Leute meinen, er wird eine
gute Carriere machen. Hübſch iſt er nicht, aber es
iſt ſo etwas in ihm — man traut ihm auf’s Wort.“


Möglich, daß die Baronin das Richtige getroffen
hatte. Der alte Alltag, der ſchweigſam in der Ge¬
ſellſchaft umherging, drückte bei einer Gelegenheit ganz
beſonders die Hand des jungen Aſten, er dankte ihm
mit gerührter Stimme, daß er ſeine Tochter zu dem
V 17[258] gemacht, was ſie ſei. Rührung war weder ſonſt noch
jetzt das Departement des Geheimen Kriegsrathes.
Die Geheimräthin brachte ſelten das Tuch von den
Augen. Sie unterhielt ſich mit dem alten Rittgarten,
er mußte ihr vom Krieg erzählen, wie weit man ſich
herangetrauen könne ohne Gefahr, ob die Franzoſen
auch auf Frauenzimmer ſchöſſen? Nie war ſonſt ihren
Gedanken etwas entfernter geweſen. „Sie iſt noch
gar nicht gereiſt, das Kind, einmal nur bis Potsdam,
und nun muß ihre erſte Reiſe gleich in den Krieg
ſein! — Wer hätte das nur als möglich gedacht;
es wird doch Alles anders, als es ſonſt war.“


„Alles — Alles!“ ſagte der alte Major, den
Kopf ſchüttelnd, die Pfeife mußte ihm heut nicht
ſchmecken.


„'S iſt Fügung des Himmels; das muß uns wohl
tröſten, ſagte die Geheime Kriegsräthin, aber —
aber —“


„Der Himmel fügt es, daß Alles aus dem Ge¬
füge geht, und es wird noch mehr losgehen. Er weiß,
warum. Es muß wohl nicht recht zuſammengefügt
geweſen ſein.“


Eine Converſation kam nicht auf. Wer zu ſprechen
anfing, brach plötzlich ab, im Gefühl, daß es Wich¬
tigeres zu ſprechen gab, und die Zeit war koſtbar.
Und dann hatte Jeder mit dem Andern etwas Beſon¬
deres zu ſprechen. Wenn er fortgegangen, fiel ihm
ein, daß er das vergeſſen, was ihm beſonders auf
dem Herzen lag. Welch ein Strom mütterlicher Er¬
[259] mahnungen war von den Lippen der Mutter gefloſſen,
und immer beſann ſie ſich, daß ſie doch noch etwas
Anderes, etwas Neues zu ſagen hatte.


Jetzt nahte die Scheideſtunde. Adelheid konnte
nicht zum Abendeſſen bleiben, der Wagen der Hof¬
dame, der ſie nach dem Palais bringen ſollte, war
angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigſten
mit ihr geſprochen. Jetzt legte er ſeine Arme um
ihre Schultern: „Du, mein geliebtes Kind, mein
Bijou! Nun ich Dich verlieren ſoll, begreife ich erſt,
was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in
Dir haben können! Liebe Adelheid, ich hätte Dich
mehr lieben können, dann wäre ich Dir mehr gewe¬
ſen und Du mehr mir. Ich hätte Dich beſſer ver¬
ſtanden, und Manches wäre beſſer — vielleicht! Aber
es hat nicht ſein ſollen. Andre ſagen, der Menſch
gehöre zuerſt ſich ſelbſt und ſeiner Familie, und dann
erſt ſeiner Pflicht gegen den Staat. Ich verſtand es
anders. Gott wird wiſſen, wer Recht hat. Wenn
Alles in der Welt wechſelt, ſo wechſeln wohl auch
die Anſichten über die Pflichten. Aber ich glaube
doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht
ſei, der thut Recht, und der himmliſche Vater wird
ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht
thut. —“


Adelheid an ſeinem Halſe wollte nichts davon
wiſſen, daß ihr Vater gegen ſie Unrecht gethan; ſie
habe ſich anzuklagen, daß ſie nicht alle Pflichten eines
Kindes gegen ihn erfüllt.


17*[260]

Er ſchüttelte den Kopf: „Du warſt ein ausge¬
zeichnetes Kind, und für die hat die Vorſehung wohl
beſondere Geſetze. Sie führt ſie Wege, die uns nicht
gut dünken, aber ſie leiten zum Ziel, das wir nur
nicht ſehen. So iſt's mit Dir gekommen, und ſo
wird es noch weiter kommen. Es wird Vieles
beſſer werden, als wir denken — und — wir wer¬
den uns wiederſehen und froher als heut —“


Da brachen die Kleinen in Thränen aus, jede
wollte zuletzt die liebe, ſchöne Schweſter an's Herz
gedrückt haben. Dem Alten ward zu weh um's Herz.
Er konnte die Tochter nicht an den Wagen führen;
er drückte ihr nur die Hand mit abgewandtem Ge¬
ſicht und warf ſich auf einen Stuhl. Die Mutter
auch, nachdem ſie ihr den mütterlichen Segen gege¬
ben. Aber es fiel ihr noch etwas ein, als Adelheid
die Glasthür ſchon geöffnet:


„Und das mußt Du mir heilig verſprechen,
Adelheidchen, daß Du immer wollene Strümpfe trägſt.
Die Octobernächte werden ſchon ſo kalt. Die Köni¬
gin iſt ſo gut, die pure Menſchenfreundlichkeit! Sie
wird ſchon ein Auge zudrücken.“


Adelheid hatte Alles verſprochen, ſie mußte aber
immer wieder daſſelbe und Neues verſprechen: gleich
zu ſchreiben, wenn ihr was paſſirt, kein unreifes
Obſt zu eſſen, was jetzt ſo viele Leute krank mache,
nie zu nahe zu gehen, wo ſie ſchießen.


Endlich mußte doch die Glasthür geſchloſſen wer¬
den, von der Zugluft ſchmolzen ſchon die Talglichte.
[261] Die Geſchwiſter wollten mit; anfänglich die Mutter
auch, ſie fühlte ſich zu ſchwach. Die Kinder aber
konnten ſich im Gedränge und der Finſterniß verlie¬
ren. So machte es ſich denn wie von ſelbſt, daß
van Aſten ſeine ehemalige Braut allein nach dem
Wagen begleitete.


Die Sterne funkelten hell am klaren Herbſthori¬
zont, als ſie aus dem Baumgang traten. An der
Hinterpforte ſtand der Wagen.


Sie reichte ihm die Hand. Mit ihrer Silber¬
ſtimme ſprach ſie: „Walter, hinter uns iſt es klar;
ich hoffe, es wird auch vor uns immer klar bleiben.“


Er ſchlug ein: „Es werden noch viele Nebel
aufſteigen, bewahre Deinen hellen Blick und dann
bleibt es zwiſchen uns klar.“


„In keinem Fältchen Deines Herzens iſt ein
Groll, ſprach ſie, nicht wahr? — Das giebt mir
Muth. Aber —“


Sie zauderte.


„Sprich es aus! ſagte er. Es ſoll gar kein
Fältchen zwiſchen uns bleiben.“


„Ich möchte Dich auch ganz zufrieden, ganz
klar mit Dir ſelbſt verlaſſen. Bin ich's noch, Wal¬
ter, die wie eine Nachtwolke zwiſchen Dir und Dei¬
nem Vater ſchwebt, den Wünſchen des Mannes, deſ¬
ſen Glück und Frieden Dir das Theuerſte ſein müßte?“


„Und wenn Du es wäreſt, was kannſt Du
dafür? Kann der Nordpol dafür, daß der Mag¬
net nach ihm zeigt? Es wäre die Arbeit eines Nar¬
[262] ren, den Magnet zwingen zu wollen, daß er nach
einer andern Himmelsgegend weiſt. Das ſind ewige
Nothwendigkeiten, vor denen die ſich beugen ſollen
und müſſen, die nicht Muth haben, ſie freiwillig an¬
zuerkennen. Dieſer überreichen Welt an Allem fehlt
nur etwas — Charactere. Ich bilde mir nicht ein,
ſie beſſern zu wollen, dazu fühle ich mich zu ſchwach,
aber ich bin ſtark genug, mich nicht von ihr bilden,
fortreißen zu laſſen.“


„Lebe wohl, Walter! ſprach ſie mit erſtickter
Stimme. Ich habe den Glauben: es iſt kein Lebe¬
wohl für immer. Wir ſehen uns wieder.“


„Ich ſehe Dich nicht wieder, denn ich ſehe Dich
immer. Du bleibſt bei mir, wie Du bei mir warſt.
Was wären wir, wie hielten wir's aus unter den täg¬
lichen Hammerſchlägen in dem wirren Mühlengetriebe
des Egoismus und der Erbärmlichkeit, ohne den
Glauben an eine vollkommene Welt, die nur den
Ungeweihten unſichtbar iſt, die auch wir nur in Mo¬
menten erblicken, aber dann ſo klar, ſtabil, in ein¬
ander gefügt, daß wir Troſt ſchöpfen am Born die¬
ſes ewigen Organismus, und lächeln mögen über
uns, daß wir uns von den Widerwärtigkeiten, dem
Schmutz, den Nebeln irren ließen und verzweifelten!
— Das ſollen wir nicht, es iſt unſre Aufgabe, den
Schmutz fortzukehren, die Dünſte wegzublaſen und
den Spiegel in uns klar zu halten für jenen Sil¬
berblick. Arbeit koſtet es, ein furchtbar Ringen,
Selbſtkämpfe mit unſern ſchönſten Illuſionen, aber
[263] auch ſie ſind ein falſcher Troſt, ſie müſſen erſt über¬
wunden ſein, bis wir ſchauen — den unſichtbaren
Staat, die unſichtbare Kirche, bis die unſichtbare
Weltordnung ſo klar vor uns liegt, wie dort der ge¬
ſtirnte Himmel über uns. Es iſt nur Stückwerk,
Adelheid, wohin unſer Auge dringt, aber athmet nicht
Deine Bruſt froher auf? Die Sterne irren nicht,
aber ſie wandeln. Wir wandeln auch, aber wir ſind
glücklicher als jene, die, wenn der Wandellauf ſich
erfüllt, Wunder ſehen, hier Abgründe, dort flammende
Berge. Wir laſſen uns nicht erſchrecken, wir ver¬
gehen nicht in Jubel; wir wußten, es mußte ſo
kommen, und ſtehen gerüſtet für das, was darauf
folgt. — Es wird noch viel Schlimmes folgen,
Du wirſt gerüſtet ſein, Du wirſt ihm klar in's Auge
blicken.“


„Lebe wohl, Walter!“ wiederholte ſie und drückte,
ſich auf den Zehen hebend, einen Kuß auf ſeine
Stirn; dann ſchwebte ſie in den Wagen, er rollte fort.


In einem andern Pavillon des Gartens war
eine militairiſche Geſellſchaft verſammelt, ihr Mittel¬
punkt der General, den wir vorhin auf der Eſtrade
ſahen. Es giebt Momente, wo auch ein Feldherr
genöthigt iſt, ein Auge zuzudrücken. Solch ein Mo¬
ment war's, als der General es gerathen fand, das
tölpelhafte Betragen der Trainknechte nicht zu ſehen.
Er hatte mit den Andern — des Staubes wegen, der
nichts mehr zu ſehen erlaubte, den Balcon verlaſſen.


Jetzt nahm die Erzählung eines jungen Offi¬
[264] ciers, der erſt ſpäter zu dieſem Kreiſe getreten, die
Aufmerkſamkeit in Anſpruch. Er war aus Mittel¬
deutſchland, wohin er in einem Auftrage geſandt ge¬
weſen, zurückgekehrt und berichtete über die Streit¬
kräfte des Feindes, welche ſich am Main und Rhein
ſammelten.


„Und halten Sie dieſe Kerle nun, wie Sie die¬
ſelben ſchildern, für ſtark genug, mit einer discipli¬
nirten preußiſchen Armee aufzunehmen?“


„Excellenz, trotz alledem ſind es nicht mehr die
„windigen“ Franzoſen, wie wir ſie ehedem nannten.
Es iſt wahr, ſie ſtehen in Reih und Glied nicht wie
eine Mauer, ſondern ich möchte ſie einem Aehrenfeld
vergleichen, das bei jedem Windesſpiel ſich bewegt.
Das iſt ihre natürliche Alertität, aber ſie ſtehen
ihrem Mann, und, was gefährlicher, ſie fliegen,
während Oeſtreicher und Preußen marſchiren, und
vermöge der Leichtigkeit ihrer Bewegungen ſteht im
Augenblick ihre Fronte, wo der Feind ſeine Flanke
und ſeinen Rücken hat. Ich hatte oft Gelegenheit,
ſie auf dem Marſche zu beobachten, und wenn man
dies gruppenweiſe Hintänzeln ſieht, dies bunte Durch¬
einander, dazu das Lachen, die Geſchwätzigkeit, wird
man zum Glauben verführt, daß es ein Leichtes ſei,
mit ihnen ein neues Roßbach zu ſpielen, daß eine
unvorhergeſehene Reiterattaque ſie aufrollen müßte.
Aber vermöge dieſer Leichtigkeit ſind ſie eben ſo
ſchnell wieder in Ordnung und zum Angriff bereit.“


„Sie ſagen uns da nichts Neues.“


[265]

„Noch vermeſſe ich mich, dies ſagen zu wollen.
Aber wenn ich heut unſre ſchwerfällige Bagage ſah,
und ſo traf ich es auf dem ganzen Wege nach Mag¬
deburg, und einen Marſch der Franzoſen damit ver¬
gleiche, ſo wird mir mancher ihrer Erfolge erklärlich,
der uns wunderbar bedünkte. Mit Erſtaunen ſah
ich bei ihnen, Excellenz, daß nur der Regiments¬
commandeur oder der Bataillonschef reitet. Einige
Adjutanten neben ihm, das ſind die einzigen Pferde.
Ihre kleinen Torniſter auf dem Rücken, ſpazierte
oder tanzte das Officiercorps in anmuthigem Ge¬
ſpräch bergauf, bergab.“


„Wo haben ſie denn ihre Campagnepferde,
Herr von Müffling?“


„Das fragte ich auch und ward ausgelacht. Sie
haben keine.“


Der General muſterte die Geſichter der Officiere,
auf denen hie und da eine Zuſtimmung zu liegen
ſchien. Er ſchüttelte den Kopf: „Das mag relativ
ſeine Vortheile haben und für dieſe da paſſen, die
aus dem Strudel einer Revolution geboren ſind,
aber ein preußiſcher Edelmann, Herr von Müffling,
wird ſich nie dazu verſtehen, zu Fuß zu gehen.“


Damit war die Sache abgemacht, es verſtand
ſich, daß keine andere Meinung erlaubt war. Aber
bei der Tafel erlaubte man ſich doch Bemerkungen,
daß die Armee unverhältnißmäßig viel Bagage mit¬
ſchleppe, daß das Auge des großen Königs nicht
Alles würde gut geheißen haben, was die Officiers¬
[266] wagen enthielten. Der General fand es für gut,
darauf zu bemerken, daß Friedrichs Kriege und
Märſche aus einem beſondern Geſichtspunkte angeſe¬
hen werden müßten. Hier komme es nicht darauf
an, durch forcirte Märſche und Schwenkungen einen
Feind zu überraſchen, ſondern durch die Wahrheit
ihm zu imponiren. „Das geſchieht, wenn wir ihm
das ganze Gros der preußiſchen Kriegsmacht mit
allem Apparat gegenüber ſtellen. Und da kommt es
denn auf einige Bagagewagen mehr nicht an.“


„Aber das iſt doch zu toll, erlaubte ſich ein
anderer General zu bemerken, der Lieutenant Wolfs¬
kehl hat, wie ich eben höre, ein Clavier in ſeinem
Reiſewagen mitgenommen.“


Man lachte, der erſte General auch. Zu andrer
Zeit würde er vielleicht nicht mitgelacht, und gegen
einen Lieutenant ſeines Regiments in ähnlichem Falle
gedonnert haben; aber er war bei guter Laune:
„Sind die Ritzengnitze ſo muſikaliſch? — Im Uebri¬
gen, meine Herren, es drückt doch eine Aſſurance
aus, die ich beim Militair liebe. Entweder — die
zwei Fälle haben wir vor uns, die Schlacht iſt nicht
entſcheidend, dann beziehen wir Winterquartiere, oder
wir ſchlagen die Franzoſen auf's Haupt, dann iſt
die Jahreszeit zu weit vorgerückt zur Pourſuite, und
wir beziehen auch Winterquartiere. Und iſt denn
das was Unziemliches, in den Winterquartieren Muſik
zu machen? Der junge Menſch will ſich bei Prinz
Louis inſinuiren. Laſſen wir's ihm.“


[267]

Der General war ſogar bei froher Stimmung.
Die Zahl der leeren Rheinweinflaſchen hatte ſich hin¬
ter den Stühlen vermehrt. Als die Aufwärter ab¬
getreten und ein Wink auch die Ordonnanz entfernt
hatte, blickte die Exellenz, das Glas ergreifend,
ſchlau um ſich, und ſah dann auf einen bekränzten
Kupferſtich vor ihnen auf der Wand. Er ſtellte den
Prinzen Louis Ferdinand vor:


„Meine Herren Kameraden, wir ſind unter uns.
Braunſchweigs Plane plaudre ich nicht aus, denn er
theilt ſie Niemand mit. Aber es giebt Lineamente,
die ein gutes Auge von ſelbſt entdeckt. Unſer Gros
ſteht bei Weimar und Erfurt, wir ſchieben unſre
Tête bis Eiſenach vor. Auf dieſe wirft ſich Bona¬
parte mit ſeinem gewohnten Ungeſtüm; wir wollen
zugeben, daß wir anfänglich etwas zurückweichen.
Das können wir mit guten Ehren, verſtehen Sie mich,
bis wir ſtehen bleiben, aber dann ſtehen wir auch.
Inzwiſchen hat Prinz Louis, der die Saale ſcheinbar
occupirt, einen Flankenmarſch am Thüringer Walde
effectuirt, und wenn wir ihn geſchlagen haben, iſt
nur die Frage, wo er das Loch finden ſoll, um zu
echappiren. Der Prinz wird's ihm verlegen, meine
ich, und dann iſt die zweite Frage: was mit dem
Kerl anfangen, wenn wir ihn haben? Wir haben
ihn, ſage ich Ihnen, wie unter dieſem Hut, und der
Prinz, ich gönne ihm die Ehre des Tages. Ange¬
ſtoßen, Kameraden, Prinz Louis Ferdinand!“


Von der Erſchütterung der Aufſtehenden, oder
[268] vom Klang der Gläſer fiel das Bild von der Wand,
das Glas zerbrach. Die Trinker hatten es wohl
nicht gemerkt.


„Da leſen Sie!“ rief der Miniſter ihm entge¬
gen, als Walter ſpät zurückkehrte, und warf ein ge¬
drucktes Blatt auf den Tiſch. „Alles verloren, Alles
aufgegeben, Alles aus!“


„Unmöglich!“ Es war das Manifeſt aus dem
Hauptquartier Erfurt, d. d. 9. October. „Verloren,
Excellenz —“


„Nenne ich eine Sache, die ſo angefangen, auf¬
gegeben, die ſo vertheidigt wird. Da haben wir's,
Lombards Meiſterſtück, coulanter, glänzender Stil,
ſüße Suade, ein junger, ſchüchterner Advocat könnte
nicht beſſer ſeine erſte Proberede halten.“


„Aber der Inhalt!“


„Leſen Sie! Entſchuldigungen, daß wir ſo dreiſt
ſind, Bonaparte den Krieg zu erklären, falls er nicht
ſo höflich iſt, den wirklich unangenehmen Uebelſtän¬
den abzuhelfen, deren Gründe wie ein Rabuliſt ſie
aus den Winkeln zuſammenklaubt, und zwiſchen jeder
Zeile die Bitte, er möchte es ja nicht übel nehmen.“


„Hier finde ich doch eine Stelle, die mich bei
Lombard in Erſtaunen ſetzt: „„Es iſt Preußen er¬
laubt, an ſeine hohe Beſtimmung zu glauben.““


„Die iſt wohl aus Verſehen ſtehen geblieben,
oder aus Complaiſance gegen Müller, oder wer ſonſt an
einem Entwurf ſich verſucht. Und es iſt ihm „erlaubt!“
[269] O es iſt himmelſchreiend, nein, diaboliſch lächerlich,
mit ſolchem Wiſch von Deduction einem Napoleon
entgegen zu treten. Ich getraue mir in ſeiner
Stelle — nein, er braucht nur die Schreiber ſeiner
Schreiber die Feder in's Tintenfaß tauchen zu laſſen,
und ſie können Europa haarklein aus unſrer eignen
Schrift beweiſen, daß wir im Unrecht ſind. Was
handelt es ſich denn hier um Recht und Unrecht!
Was iſt hier Recht und Unrecht? Wir ſtreiten nicht,
wer zuerſt die Pfefferbüchſe nehmen, wer zuerſt im
See fiſchen darf, wir ſtreiten —“


„Um das, was ſie nicht auszuſprechen wagen.“


„Sie müſſen's, ſie mußten's. Die ganze Sprache
der Entrüſtung in die Wagſchaale gethan, die Sym¬
pathieen, die heiligſten und heimlichſten Gefühle der
Nation mußten angerufen, Deutſchland, wo es iſt,
ſitzt, wie es heißt und wie es ſpricht, aufgerufen
werden, mit Flammen mußten ſie ſchreiben, mit Schei¬
dewaſſer, das in die Nieren dringt. Auf dies diplo¬
matiſche Machwerk erhebt ſich kein Arm, und die ehe¬
dem wollten, ziehn ihn wieder zurück, denn wo kön¬
nen ſie vertrauen? Wenn er uns morgen ein Com¬
pliment ſchickt, müſſen wir übermorgen den Degen
in die Scheide ſtecken. Wo kann nur ein Alliirter
noch auf uns bauen, wenn wir nicht jetzt wenigſtens
uns ſelbſt in Aufrichtigkeit und Aufopferungsmuth
überboten, die Schiffe hinter uns verbrannten, die
Scheide wegwarfen. Wir thaten's nicht, wir verſpielten
wieder — Alles, weil wir wieder nur halb einſetzten.“


[270]

„Alles? rief Walter. Der Degen iſt aus der
Scheide und der Herzog von Braunſchweig —“


„Ein Greis, zitternd vor den Schauern der
Vergangenheit. Wenn ein Schwindel in der Schlacht
ihn überkommt, wenn er ohnmächtig wird, ſo müſſen
wir die Schlacht ausſetzen, denn wie ein eigenſinni¬
ger Arzt hält er auf Arcana, will ſein Recept Nie¬
mand mittheilen, und dieſem Einen muß der unglück¬
liche Fürſt ſein Vertrauen, ſein Reich, ſein Alles
übergeben, ohne ihm eigentlich zu trauen. Wär's
nicht zu fürchterlich, klänge es wie eine bittere Sa¬
tyre — ein arabiſches Mährchen —“


„Wenn auch Sie, gnädiger Herr, die Hoffnung
aufgeben!“


„Ich gebe nichts auf, ſprach der Miniſter mit
Stolz, nicht die Hoffnung, nicht meine Plane, nicht
einmal mein Vertrauen zu dieſen Menſchen, denn ich
hatte es nie. Komme, was da will, es muß darauf
wieder anders kommen, und vielleicht iſt es gut, in
Gottes Rathſchluß, daß das Nächſte ſchlecht iſt, un¬
erträglich ſchlecht, daß ſie in Verzweiflung ſich zerbeißen,
daß — daß — Aber Sie, van Aſten, ſprach er, und legte
die Hand ihm auf die Schulter — Sie dürfen nie ver¬
zweifeln, nie den Kopf ſinken laſſen, mir nie den Stuhl
vor die Thür ſetzen, auch wenn ich Sie im Unmuth ein¬
mal zur Thür hinaus würfe. — Die Augen auf! Wenn
ein Unglück geſchieht, haben wir alle Hände voll zu thun.
Jetzt gehen Sie ſchlafen, damit Sie morgen wach ſind.“

[[271]]

Dreizehntes Kapitel.
Der Schüler des Schauſpielers.

Es war eine wunderbar bewegte Nacht vom 13.
zum 14. October. Die Sterne warfen kein Licht
auf das tiefe Saalethal, und die Tauſende von Lich¬
tern, die auf Befehl an den Fenſtern der Stadt
Jena brannten, verbreiteten nur einen ungewiſſen
Schimmer, der die Dunkelheit noch dunkler zeigte.
Aber durch die Nacht rauſchte und dröhnte es, wie
wenn Dämonen einer Erdrevolution vorarbeiten.
Durch die Krümmungen der Schlucht, ſo weit das
Auge getragen hätte, das Ohr reichte, wogte und
wallte es; es war kein Strom, der durch die Rip¬
pen der Erde bricht, keine Windsbraut, die die Wol¬
ken peitſcht, keine Feuersbrunſt, die über Dächerreihen
praſſelt, es war ein heimliches, dumpfes Wirken und
Schaffen, wie eine Sprache, die keine articulirten
Töne findet. Wie die Rieſenſchlange die Erde um¬
faßt; in lautloſer Wuth und Kraft drückt ſie ihre
Weichen, und da ſteigen gepreßte Schmerzenstöne in
die Luft, ſo durchbrach die Monotonie hier ein Schrei,
[272] dort ein Hallo, ein Zuſammenſtoß der Geſchütze und
Rüſtwagen, ein Peitſchenknallen, ein gräßlicher Fluch.
Dann aber wieder tiefe Stille, man hörte nur den
dumpfen, dröhnenden ehernen Tritt der Tauſende,
die Erde ſtampfend, das Wiehern der Roſſe, das
wuchtige Raſſeln der Kanonen.


Die Heeresſäulen der Franzoſen wälzten ſich
durch das tiefe Saalethal, wie die fabelhafte Heer¬
ſchlange, die im Thüringer Walde ſich zeigt, eine
Kette, Mann und Roß, von den Höhen der Berge
bis ſchon hinaus viele Meilen über Jena, da, wo
die Unſtrut in die Saale fällt. Die Thüringer, die
das Weh aller großen Kriege, welche Deutſchland
zerfleiſchten, in ihren ſchönen Thälern, an ihren Berg¬
geländen recht aufgeſogen und eingeſammelt, hatten
ſolche Maſſen Krieger nie geſehen. Eine Völkerwan¬
derung ſchien es.


Wo die Schlange ſich in dem Lichtſchein ringelte,
blitzte es auf von den Bajonetten und Flintenläu¬
fen, den funkelnden Säbeln, von umbuſchten Helmen.
Da auf dem Markte preſchten die Chaſſeure, Raum
machend für den Gewaltigen, und die Glieder ſtan¬
den und präſentirten. Es war eine kurze, aber ernſte
Heeresſchau. Tauſende und Tauſende wälzten ſich
durch die Thore weiter, aber Tauſende und Tauſende
verſchwanden aus der lichthellen Stadt, man wußte
nicht, wohin. Keiner legte ſich zur Ruhe, der Kai¬
ſer wachte! Für wie viel Tauſende ſollte es die
letzte Nacht ſein, eine ſchlafloſe Todesnacht.


[273]

Steile Felsberge wipfeln ſich über der Stadt;
die Knaben üben ſich im Spiel zu klettern, der Je¬
naer Burſch wagt in kecker Laune den gefährlichen
graden Aufweg; wie wollen Mann und Roß und
Kanonen zu uns herauf? ſcheinen die kahlen Berge
höhniſch zu fragen. Aber ein ſiegreiches Kriegsheer
hat für jede Mauer eine Leiter. Es ward eine Nacht
voll Bewegung und Leben; Fackeln, brennende Kien¬
ſcheite erhellten die Berge, die Axtſchläge krachten
durch das Thal. Es giebt keine noch ſo nackte und
ſteile Höhe, die nicht durch Schlingungen und Wen¬
dungen zu gewinnen iſt. Einige hat hier die Natur
oder Vorzeit ſchon gebildet, der Berg am Mühlthal
heißt die Schnecke, andre kann ein geübter Blick ſu¬
chen, und wo die Natur vorgearbeitet, hilft die Kunſt
nach. Napoleon hatte in jener Nacht auch die Hülfe
der deutſchen Wiſſenſchaft. Ein gelehrter Militair in
ſeiner Suite, welcher einſt in Jena ſtudirt, wies den
Ingenieuren die Stege, die er in tollem Uebermuth
der Jugend erklettert. Was man in einer Wette
thut um Kannen Bier, ſoll man's nicht, wo der
Einſatz die Weltherrſchaft iſt! Schaufeln und Aexte
halfen nach; Gerüll, in die Tiefen geſchleudert, Baum¬
ſtämme wurden zu Brücken und das Saalufer von
Jena war kein ſchneebedeckter Simplon. Wo die
Pferde nicht konnten, zogen Menſchenarme das Ge¬
ſchütz. Napoleon ſchmähte in dieſer Nacht nicht auf
die Ideologie der deutſchen Studenten.


Lange ehe der erſte Hahn krähte, war es voll¬
V. 18[274] bracht. Die Maſſen der kaiſerlichen Garden und
Linientruppen ſtanden, ein dicht gedrängt Quarré,
auf dem Bergufer, und auf dem Landgrafenberg, dem
höchſten Punkte, von dem das Auge eine weite Aus¬
ſicht hat auf die Hochebene, die ſich nach Weimar er¬
ſtreckt, erſchien der Feldherr in der Mitte der Seinen.
Fackeln beleuchteten den grauen Mantelrock, das
ſchöne, prüfende Auge des Siegers, während er längs
der Reihen ritt, und den Jubel, der ihn begrüßte
und verdoppelt bei jeder neuen Reihe in die Luft
ſchallte, mit dem Lüften ſeines Hutes erwiederte.
Seine Lippen blieben verſchloſſen, die Augen ſpra¬
chen um ſo beredter: es iſt morgen ein größerer Tag,
denn je!


Der Jubel verhallte, er war in das Gebüſch
geritten, um — zu ruhen, bis der Tag der Ent¬
ſcheidung anbrach. Auch ſeinen Kriegern war es
jetzt vergönnt. Sie ſanken hin, wo ſie in Reih und
Glied geſtanden, die neben dem Pferde, die unter
der Kanone; die kalte Nacht ihr Mantel. Hier brann¬
ten wenige Feuer, auch dieſe halb verſteckt hinter Ge¬
büſch und Erderhöhungen. Die Augen ſchloſſen ſich, ein
allgemeines Schnarchen, ein Bild des Friedens wenige
Stunden vor einem Gemälde des Todes, und welchem!


Nicht Alle ſchliefen. Die dunklen Geſtalten dort
vorn, in ihre grauen Capotmäntel gehüllt, das Ge¬
wehr in den Arm gedrückt, gegen einen Baum ge¬
lehnt, an einen Steinhaufen gekauert, hatten ſcharf
das Aug geöffnet. Es verfolgte jeden Rauchwirbel,
[275] der über den Wachtfeuern des Feindes ſich kräuſelte,
jeden Windzug, der in der Zeltleinwand ſpielte. Seit
die Rotten und Glieder ſich auf die Erde geſtreckt,
konnte man das Schauſpiel frei überſehen. So weit
das Auge in die Nacht reichte, Wachtfeuer und Zelt¬
reihen. Durch ſechs Stunden dehnte ſich die Schlacht¬
linie der Preußen aus, hell, licht, Alles in beque¬
mer, hergebrachter Ordnung. Und hier auf engem
Raum, um einen bewaldeten Berg zuſammengedrängt,
im Dunkel ſeiner Schatten und der Nacht, und am
Rande eines Abgrunds hinter ihm, der Feind. Die
Wachtpoſten ſtanden kaum auf Schußweite von ein¬
ander entfernt; aber es fiel kein Schuß, kein Allarm¬
zeichen, kein verſprengtes Pferd ſtörte die Ruhe.
Schien es doch ein ſtillſchweigend Abkommen, ſie be¬
durften beide der Ruhe, um morgen ſich zu morden.


Nicht Alle ſchliefen, auch von denen nicht, wel¬
chen es vergönnt war. Unter einer Eiche lag ein zum
Tode Verurtheilter. Der Officier, der ihm zur Be¬
wachung zugeordert, hatte ihm doch höflich das Bund
Heu, was für ſein Pferd beſtimmt, zum Kopfkiſſen
gegeben, daß er, ſo bequem es ging, eines letzten
Schlafes vor ſeinem letzten Tage ſich erfreue. Aber
Louis Bovillard konnte nicht ſchlafen, oder er hatte
ſchon genug geſchlafen; er richtete ſich auf und ſtützte
den Kopf auf ſeinem geſunden rechten Arm. Der
linke war verwundet, ein Verband war darum ge¬
ſchlungen. Vorgeſtern war er, als er, aus dem
Saalethal aufgeſcheucht, über die Schwarzach ſetzen
18*[276] wollte, von franzöſiſchen Jägern angerufen worden.
Als er die Antwort ſchuldig blieb, hatten ſie ge¬
feuert. Am Arm verwundet, war er vom Pferde ab¬
geſchleudert und gefangen worden. Man hatte ihn nach
Kahla gebracht und vor ein Kriegsgericht geſtellt.
Da er nichts ſagen konnte oder wollte, als daß er
in Aufträgen ſeiner Regierung nach Franken geſchickt
geweſen, und, beim Rückwege unter die Schaaren der
Franzoſen gerathen, den Verſuch gemacht, durch den
Thüringer Wald ſich nach dem Hauptquartier ſeines
Königs durchzuſchlagen, hatte das Gericht ihn für
einen Spion erklärt und zum Strang verurtheilt.
Irgend ein Zufall, der ſchnelle Abmarſch, hatte die
Execution verhindert; man hatte ihn mitgeſchleppt
bis Jena. Auch hier war dazu keine Zeit, man hatte
ihn auch auf den Berg mitgeſchleppt. — Betrachtete er
jetzt über ſich den dürren Aſt der Eiche, von dem er
morgen herabſchweben ſollte, eine kalte Leiche? Oder
ſuchte ſein Auge durch den nebelgrau belegten Him¬
mel nach einem Stern, an den er ſeine Hoffnung
knüpfen wollte?


Es war keine Hoffnung, die noch mit dieſem
Leben liebäugelt; das ſprach ſein umflorter Blick.


Man hatte ihn immer menſchlich, zuletzt mit
chevaleresker Höflichkeit behandelt. Sein Wächter
hatte ihm vorhin eine Cigarre angeboten, mit dem
ſeltſamen Troſt, wie in Spanien, woher er ſie
gebracht, die Sitte fordere, daß der Henker mit
ſeinem Opfer eine Art Friedenspfeife raucht. „Der
[277] Tod iſt ja der Frieden!“ hatte der Gefangene er¬
wiedert.


Eine Schaar Krähen, von der momentanen
Stille getäuſcht, hatte ſich auf den Aeſten des Bau¬
mes niedergelaſſen; auch ſie ſchienen wie der kluge
Feldherr das große Feld zu überſchauen, wo morgen
Abend eine Tafel, und eine wie große, für ſie ge¬
deckt ſein ſollte. Der Officier, der, mit verſchränkten
Armen auf einem Sattel ſitzend, die Augen auf einen
Moment geſchloſſen, ſchien durch das Gekreiſch der
Thiere erweckt, und ſah mit Verwunderung die Stel¬
lung ſeines Gefangenen. Der Gedanke an einen
Fluchtverſuch konnte ihm nicht kommen:


„Schreckten böſe Träume Sie auf, oder die ge¬
flügelten Beſtien da?“


„Ich bin auf mein Schickſal gefaßt.“


„Um ſo mehr Aufforderung, die letzten Momente
in Ruhe zu genießen. Nehmen Sie eine Morgen¬
erfriſchung.“


Louis lehnte mit Dank die ihm dargereichte Flaſche
ab: „Der Zuſtand meiner Wunde erlaubt es mir nicht.“


Der Capitain lächelte: „Sie ſind nicht Soldat.
Die Wunde iſt nur leicht.“


Bovillard verſtand den Sinn der verhüllten
Antwort: „Meine Wunde iſt tiefer, Capitain.“


„Und Ihr Auge ſtößt ſich an dem dürren Aſt
über Ihnen. Hat Ihnen der Traum ſo beſtimmt
geſagt, daß Sie grade an dem die Sonne zum letzten
Mal aufgehen ſehen werden?“


[278]

„Ich werde eine Sonne dort untergehen ſehen.“


„Wenn ich Ihnen nun meine Meinung ſagte,
daß Sie dieſer Procedur überhoben ſind! Die Re¬
miniscenzen an die Pariſer Laternen ſind in der
Armee nicht beliebt. Daß man es bis jetzt nicht
executirt, was da in Kahla im erſten Aufbrauſen
dictirt ward, könnte Ihnen ſagen, daß man ſich die
Hände mit der Strickarbeit nicht beſchmutzen will.
Es iſt wahrſcheinlich ſchon beſchloſſen, wenn die
Sonne aufgeht, Sie hier unter dem Baume zu fü¬
ſiliren. Sie gehen dann aus dieſer Welt, wie viel¬
leicht eine Viertelſtunde ſpäter die, welche Ihnen
den letzten Dienſt erwieſen, vielleicht wie der, welcher
jetzt die Ehre hat, die letzte Converſation mit Ihnen
zu führen, gewiß wie Hunderte, welche Zeugen ſind,
daß Sie muthig ſterben. Denn ich traue Ihnen das zu.“


„Ich freue mich auf den Tod.“


„Wenn dieſe Freude Ihnen nun vergällt würde,
ſagte der Officier nach einer Weile. Ich ſpreche
darin nur eine Vermuthung aus. Aber es iſt ſon¬
derbar, daß man Sie nicht unten abthat, daß man
Ihnen und uns noch die Mühe machte, Sie dieſen
verteufelten Weg herauf zu ſchleppen. In welcher
Abſicht konnte das ſein?“


„Vielleicht um Nachrichten aus mir zu preſſen,
die meine Unterthanenpflicht zu geben mir verbietet.
Man irrt ſich.“


„Pah! rief der Officier. Aus Ihren Papieren,
ſo weit ſie von Ihnen nicht vernichtet ſind, erſieht
[279] man, daß Sie auf einer Miſſion nach Franken wa¬
ren. Sollten Sie vielleicht eine freie Reichsſtadt,
einen Abt und Biſchof oder gar die Bauern aufwie¬
geln? Was kommt es meinem Kaiſer darauf an!
Die Deutſchen laſſen ſich nicht aufwiegeln. Oder
ſollten Sie belauſchen, welchen Plan wir gemacht,
durch den Thüringer Wald zu brechen? Unſre That
kommt überall Ihren Spionen zuvor. Wir ſind
durchgebrochen, wir haben geſchlagen.“


Der Gefangene ſchwieg, der Andre fuhr nach
einer Pauſe fort:


„Kamerad, aus Vorſicht möchte ich Ihnen an¬
rathen, präpariren Sie ſich noch für einige Momente
auf das Leben. Sahen Sie nicht, daß der Kaiſer
einen eigenthümlichen Blick auf Sie warf? Er wandte
noch einmal ſein Pferd, um Sie wieder anzuſehen.“


„Wie der Tiger ſein Opfer, ehe er es zerreißt.
Das war ſein Blick auf Leichenhaufen.“


„Die ſieht er vor jeder Schlacht. Ob eine mehr
oder weniger, darauf kommt es —“


„Dem Großhändler über Menſchenleben freilich
nicht an.“


„Sie haben den unnatürlichen Haß Ihrer Na¬
tion gegen ihn eingeimpft.“


„Nein!“ antwortete Bovillard nach einigem Be¬
ſinnen.


„Dann würden Sie ſich ſelbſt ſagen: wenn ein
Fürſt einen zum Tode Verurtheilten vor ſein Auge
ließ, bedeutete es ſonſt Gnade.“


[280]

„Sonſt!“


„Sie prätendiren doch nicht, daß Napoleon
einen perſönlichen Haß gegen Sie hat, daß er an
Ihrer Angſt ſich weiden wollte?“


„So wenig, als ich glaube, daß er den Herzog
von Enghien perſönlich haßte, auch nicht den Buch¬
händler Palm.“


„Sie nähren ſelbſt einen bittern Haß gegen den
großen Mann. Das thut mir von Ihnen leid.“


„Gegen den großen Mann! Nein. Es gab


Stunden, wo ich ihn bewunderte. Ja, in dieſer
meiner letzten, darf ich es ausſprechen, Momente,
wo ich in ihm den neuen Heiland dieſer modernden
Weltordnung erblickte. Seitdem — genug!“


„Und zweifeln Sie jetzt, daß ſein Athem ſtark
genug iſt, die langen Zeltreihen da umzublaſen?“


„Die ſehe ich ſchon am Boden liegen.“


„Nun, und warum iſt er Ihnen nicht mehr groß?“


„Weil er keine Größen neben ſich erkennt —“


Louis verſtummte. Was ein Sterbender ſpricht,
hat für den Anſpruch auf Achtung, der ſelbſt den
Tod vor Augen ſieht.


„Beſorgen Sie nicht, mich aufzubringen, Kame¬
rad; was die Deutſchen denken, fängt an, uns in Frank¬
reich mehr zu intereſſiren, als Sie denken. Weil wir ſo
viel handeln, haben wir jetzt nicht Zeit zum Denken.
Sie ſahen in ihm den Prometheus, warum nicht mehr?“


„Dieſe Sucht, alle die zu verleumden, die er
fürchtet, und ſelbſt die, welche ihm dienten, in der
[281] Meinung der Welt zu ſtürzen, um ſie in ſicherer Ab¬
hängigkeit von ſich zu erhalten, das iſt nicht das Krite¬
rium einer großen Seele, nicht Heroendrang, kein pro¬
metheiſcher Funke, es iſt nur der Abglanz der ewigen
Gemeinheit, an der die Menſchheit krank iſt — todt¬
krank — und dieſe Krankheit graſſirt — furchtbar —“


„Was thut's! warf der Franzos ein. Die Welt
will er beſſer machen, mit den Menſchen überläßt er
die Prozedur den Thoren.“


„Und wie kann ſie beſſer werden, wenn die
Menſchen den Bodenſatz, die Schlacken nicht von ſich
werfen? Der edle Prinz, den ich bei Saalfeld ſtür¬
zen ſah, war ein Bewunderer Ihres Kaiſers. Einſt
rief er aus: „„Ich erlaube ihm ja, uns zu vernich¬
ten, aber moraliſch zu meuchelmorden, das empört.““


„Eine ſeltſame Converſation, Kamerad! Der
zum Tode Verurtheilte richtet ſeinen Richter. Ich
hätte gewünſcht, daß Sie heute wenigſtens noch ſein
Bewunderer wären, daß man ihn drauf aufmerkſam
machen könnte —“


„Und daß er vor der Schlacht einen Komödien¬
akt ſpielen, großmüthig mit einer Tirade aus Ra¬
cine oder Corneille mich begnadigen könnte!“


„Was kümmerte Sie die Poſſe, wenn ſie den
ernſten Schluß hätte, daß Sie mit dem Leben davon
kämen, vielleicht gar mit der Freiheit. Nachher
könnten Sie darüber lachen, ſo viel Sie wollten. —
Nun, im Ernſt geſprochen — man weiß in ſeiner
Suite, wer Sie ſind —“


[282]

„Da weiß man ſehr viel!“


„Der Sohn eines Mannes von Einfluß, der lange
die franzöſiſche Partei an Ihrem Hofe gehalten, viel¬
leicht noch jetzt. Das hat die Gemüther ſanft geſtimmt,
Gott weiß, welche Conjecturen die Herren daran knüp¬
fen, genug — ich glaube, es käme nur auf Sie an —“


„Ich ſterbe in der großen Tragödie, in der mein
Vaterland untergeht.“


Die Augen des Verwundeten ſtierten mit einem
Fieberglanze auf die Wachtfeuer im Thale, deren
Flammen jetzt ſichtlich niederbrannten. Der Officier
ſah ihn verwundert an:


Wir werden ſiegen, denn ich glaube feſt an
Napoleons Stern. Aber Sie, ein Preuße! Der
kleine Sieg bei Saalfeld —“


„Ward zum entſcheidenden, da Ihre Feldherren
ihn benutzten, die Saale in reißender Schnelligkeit
zu occupiren. Sie haben das preußiſche Heer um¬
flügelt, von den Marken und Sachſen, woher es ſeine
Lebensſäfte erhält, abgeſchnitten, Sie haben die Hö¬
hen des Fluſſes, die Uebergangspunkte beſetzt, Sie
greifen es im Rücken an, und drängen es mit Ihrer
Uebermacht in die Poſitionen, wo Sie Herren ſind.
Und hier vor meinen Augen ſah ich die Nacht, das
Lager von Hochkirchen wieder, ſogar der verhängnißvolle
Jahrestag iſt's der Schlacht! Dort die weit zerſtreu¬
ten Feuer der ſorglos Gelagerten, ohne Schanzen,
Verhau, natürliche Grenzen; hier zuſammengekeilt
auf der Höhe, welche das Plateau beherrſcht, eine
[283] ſtärkere Kriegsmacht, die, beweglich und elaſtiſch, wie
ein Bergſtrom hinabrauſchend, die zerſtreuten Feinde
durchbrechen, trennen, aufrollen, vernichten muß. Und
der größte Feldherr des Jahrhunderts gebietet über
ein Heer, das eine Einheit iſt. Ja, mein Herr,
dieſe verdienen vernichtet zu werden, die Sie auf die
ſteilen Wände klimmen ließen, ohne den Verſuch
nur, Sie daran zu hindern. Die mit Mann und
Roß und vollem Geſchütz müßig, zaudernd, unſchlüſ¬
ſig zuſehen konnten, wie Napoleon ſich auf dieſen Hö¬
hen formirte, die keinen Angriff wagten und Ihre
Colonnen nicht in den Abgrund ſtürzten — die ſind
ſchon geſchlagen, vernichtet.“


Der Sprecher ſank zurück und drückte ſein Ge¬
ſicht in das Heu. Mit geſpannter Aufmerkſamkeit
hatte der Capitain ihm zugehört. Mit Voranſchickung
eines franzöſiſchen Fluches ſchloß er: „In Ihnen iſt
ein Soldat verloren!“


„Verloren — verloren!“ murmelte Bovillard
dumpf in ſich.


„Warum, Kamerad? Der Mann iſt's nie, wenn
er ſich nicht ſelbſt verloren giebt.“


„Oder eine höhere Hand ihn ſchlug! — Da
wieder!“


Er athmete krampfhaft auf. Die brennenden
Augen ſtierten in den Morgennebel. Die Hand machte
eine convulſiviſche Bewegung; er war im Fieber: —
„Morgen, morgen hinab — mit meinem Vaterland!“


„Sehn Sie Geiſter?“


[284]

Der Capitain fuhr mit Franzbranntwein über
die eiskalte Stirn des Verwundeten. Er erholte ſich,
er hatte ſich wieder aufgerichtet. Die Krähen flat¬
terten, durch etwas erſchreckt, ſchreiend in die Höhe;
die Morgenluft ſtrich durch die Wipfel des Holzes.
Es war ein Bedürfniß, ſich ſelbſt Luft zu machen,
als Louis mit tonloſer Stimme vor ſich hin ſprach:


„In Rudolſtadt, am Tage vor ſeinem Tode,
hatte der Prinz an der fürſtlichen Tafel geſpeiſt. Die
Familie nahm ihn beim Aufbruch mit ſich in ihre
Gemächer; er winkte mir im Abgehen, daß ich auf
ihn warte. Dort warf er ſich an's Klavier und
überließ ſich ſeinen Phantaſieen. Er hat nie ſo ſchön
geſpielt. Ich ſtand allein in dem Saal, ein alter¬
thümlich Zimmer, es dunkelte. Ich lehnte mich an
den Fenſterpfeiler, und ſah den Wolken zu, die über
den Horizont ſtrichen. Ich ſchloß wohl die Augen.
Das waren Töne, die nicht die Finger den Taſten
entlockten, die Seele wogte in düſtern und ſchmerz¬
lich weichen Melodieen; er ſchüttete ſein Innerſtes
aus. Die Prinzeſſinnen weinten. Wolken, nichts
als Wolkengetreibe mit blutrothen Streifen. Da fuhr
eine kalte Hand über meine Stirn, die Hand des
Todes, und vom Druck öffneten ſich meine Augen.
Es gleitete an der Wand hin, ein Schein, ein Licht,
wie ich es nie geſehen — ein Roß in den Wolken,
Pulverdampf, Staub. Es bäumte ſich mit ſeinem
Reiter — ein Blitzſchlag, oder ein Strahl, aus den
Wolken niederzückend — der Schädel ſpaltete — die
[285] Bruſt klaffte — der Reiter ſank vom Pferde — und
es ward wieder Nacht — Im ſelben Augenblicke
ſchloß das Spiel am Klavier mit einer grellen Diſ¬
ſonanz, als ſprängen die Saiten. — Der Prinz,
blaſſer als je, trat heraus und winkte mir, ihm zu
folgen. Er blieb einſylbig. Als er mich entließ,
ſprach er dumpf: „„Ich habe meinen Tod geſehen —““
Er hatte geſehen, was ich ſah.“


„Und?“


„Er fiel am nächſten Tage.“


„Und Sie?“


„Ich bin kein Fortepianoſpieler, der auf den
Wellen der Melodieen ſein Schickſal beſchwört. Und
doch, vorhin drückte wieder dieſelbe kalte Hand auf
meine Stirn, die Wolken theilten ſich und ich ſah —
ich ſah nicht mehr, als ich ſchon längſt geſehen, und
ich ſehe es wieder —“


Er richtete ſich plötzlich auf, er ſtand aufrecht:
„Lachen Sie doch! — Wenn Sie ein Schüler ſind von
Voltaire und Diderot, ſo müſſen Sie mich auslachen
— ich ſah mich ſelbſt.“


„Der Capitain lachte nicht, ihn fröſtelte. Er
ſah eine Patrouille mit einem Ordonanzofficier heran¬
eilen. Er reichte dem Gefangenen die Hand:


„So wünſche ich Ihnen wenigſtens Eines —
vor Ihrer letzten Stunde einen letzten Sonnenblick.“


Bovillard ſchüttelte die dargereichte: „Das iſt
ein guter Wunſch. Das Scheiden von dieſem
Leben wird mir nicht ſchwer, iſt's doch nur ein Reſt,
[286] den ein Verſchwender ließ — aber ſcheiden mit einer
hellen Ausſicht, von Harmonieen umrauſcht — und
— es iſt mir gewährt, ich ſah ein Bild —“


Der Ordonanzofficier war herangetreten: „Der
Gefangene ſoll ſchleunigſt vor Seine Majeſtät den
Kaiſer gebracht werden.“


„Glück auf! flüſterte der Capitain ihm zu. Das
iſt Ihr ſchönes Bild.“


In der kleinen Hütte eines Heidewärters ſtand
der größte Mann des Jahrhunderts. Sie war ſo
klein, daß der Adjutant, der die Feder führte, ſich in
den Winkel drücken mußte, um den Bewegungen des
Kaiſers Platz zu machen. Den Hut auf dem Kopfe,
den Capotrock über der Uniform, ſchritt er auf und
ab, den Tubus in der behandſchuhten Hand. Er
dictirte, er ſprach zu den Generalen, die im Halbkreis
draußen ſtanden, durch die offene Thür. Durch die¬
ſen vornehmen Wächterkreis war auch der Gefangene
in die Hütte gebracht worden.


Der Kaiſer hatte ihn officiell nicht bemerkt; er
dictirte weiter, er obſervirte mit dem Tubus durch
das Fenſter.


„Wenn die Sonne aufgeht, occupiren am lin¬
ken Flügel die Tirailleure das Kiefergebüſch!“ com¬
mandirte er zur Thür hinaus. Ein Adjutant flog
fort. Jetzt, als er ſich umwandte, bemerkte er den
Eingebrachten officiell.


„Ein Spion!“


„Ein Gefangener, Sire!“


[287]

Der Spion oder der Gefangene ſank auch jetzt
nicht auf die Knie, er zitterte nicht, er ertrug den
kaiſerlichen Blick, feſt, ruhig. Vier Augen, die ſich
begegneten, ohne zu zücken.


„Ihre Generale laſſen die Spione hängen, ich
laſſe ſie laufen.“


Der Gefangene ſtürzte dem Großmüthigen nicht
zu Füßen, er umfaßte nicht ſeine Knie, er küßte nicht
ſeine Füße. Der Angriff war fehlgeſchlagen. Son¬
derbar, und doch ſtimmten Beide in ihren Empfin¬
dungen. Als der Kaiſer jetzt wieder mit dem Tubus
an's Fenſter trat, glaubte der Adjutant ein Lächeln
über ſeine Lippen ſchweben zu ſehen. Auch über Bo¬
villards Geſicht flog unwillkürlich eine Bewegung,
die man ſo hätte deuten können.


Wieder ſtand im Vorübergehen, wie zufällig,
der Imperator vor dem Gefangenen ſtill:


„Ihr König hat Krieg gegen mich angefangen;
ich weiß nicht, warum.“


„Ich gehöre nicht zu den Vertrauten Seiner
Majeſtät, meines gnädigſten Königs, auch nicht zu
ſeinen Räthen,“ entgegnete Bovillard.


„Meine Räthe haben mir ein gedrucktes Papier
aus Erfurt gezeigt. Da ſteht lauter Unſinn drin.
Ich kann nicht glauben, daß der König von Preußen
darum weiß.“


Der Gefangene ſchwieg. Der Kaiſer winkte
einigen Generalen und gab ihnen leiſe Befehle. Es
lichtete ſich vor der Hütte.


[288]

„Ihr König iſt ein guter Mann, fuhr der Cäſar
fort, aber er hat böſe Räthe. Sie ſind von England
beſtochen. Er hört nicht die Wahrheit. Ich habe
einen Brief von ihm erhalten, er ſchreibt, er will
nicht Krieg. Ich will ihn auch nicht. Aber die Con¬
ſpirationen meiner Feinde zwingen mich; ſie ſind auch
ſeine Feinde, aller Welt Feinde. Sie leben von In¬
triguen, ſie möchten in ihrem Ehrgeiz, ihrer Rachſucht,
die ganze Welt gegen mich aufwiegeln.“


Der Gefangene ſchwieg.


„Der Brief kam zu ſpät. Sagen Sie das
Ihrem Könige. Das Blut, was vergoſſen wird,
komme über ihre Häupter. Ich kenne ſie — Alle
— Alle!“


Der Cäſar mußte noch Zeit haben zum Zorn;
aber die Gelegenheit war ungünſtig. Wenn ein
Gegner, der uns in Zorn bringen ſoll, ſchweigt,
müſſen wir uns ſelbſt in Harniſch ſetzen.


„Sie waren bei dem Prinzen Louis, fuhr er
dazwiſchen, — ich meine, in Saalfeld — Sie waren
ſein Freund.“


„Ich ſah ihn fallen, den ritterlichſten Fürſten,
das edelſte Blut, was für eine heilige Sache ge¬
floſſen iſt.“


„Er war betrunken, als er ausritt.“


„Er war der größte Bewunderer des größten
militairiſchen Genius dieſer Zeit, und ſprach von
Eurer Majeſtät mit der hohen Achtung, welche jeder
große Mann einer andern Größe ſchuldig iſt.“


[289]

Die Antwort kam dem Cäſar ungelegen. In¬
dem er ſein Auge nach einem Punkte draußen rich¬
tete, rief ſein Blick einen Obriſten heran. Er mochte
etwas ſehen, was dem Feldherrn nicht gefiel. Nach¬
dem er dem Unwillen gegen den Officier Luft ge¬
macht, hatte er den Ton gefunden, in dem er gegen
den Gefangenen einfiel:


„Dieſe Hitzköpfe ſind es, dieſe Kriegspartei von
hirnverbrannten Phantaſten, dieſe Geologen und
Studenten! Der Prinz hat ſeinen Lohn weg. Viel
zu gut! Wie, iſt es erhört, hier ſchreibt mir der
König von Preußen, er wünſcht Frieden, er wünſcht
eine Zuſammenkunft, eine Vermittelung. Die hätte
ſich ſo leicht gemacht. Und während ſein König das
mir ſchreibt, verläßt der Tollkopf ſeinen Poſten, greift
in raſendem Ehrgeiz meine Truppen an. Gleich¬
viel ihm, wie viel Tauſende darum ihr Leben ließen.
Wollte durch die Attaque zur Schlacht zwingen. Und
das nennt er Gehorſam gegen ſeinen Monarchen.
Unerhört!“


Es war die ernſteſte Stunde in Louis Bovil¬
lards Leben. Dem größten Genius des Jahrhun¬
derts ſtand er, der Unbedeutende, gegenüber, gewür¬
digt einer Unterhaltung, um die ihn Millionen be¬
neidet hätten, und in der brennenden Kriſis welchen
Momentes! Und wie kam es, daß nicht Schauer
vor der Größe, nicht Haß und Bewunderung wie
Fieberfroſt und Hitze, in ihm wechſelten? Nein, er
entſann ſich des ſpöttiſchen Artikels einer engliſchen
V. 19[290] Zeitung, worin der angebliche Unterricht geſchildert
ward, den Talma dem neuen Kaiſer im Ausdruck
tragiſcher Affecte gebe. Er ſah nicht den Gewaltigen
vor ſich, ſondern den Schüler des Schauſpielers.


„Sire, entgegnete er, es iſt die Taktik der Preu¬
ßen, einen gewiſſen Angriff nicht abzuwarten, ſondern
ihm zuvor zu kommen.“


Seine Majeſtät der Kaiſer mußte aus irgend
einem Grunde auch dieſe Antwort nicht gehört haben.
Er fuhr im vorigen Tone, als wäre gar nicht da¬
zwiſchen geredet, fort:


„Füſiliren ließe ich ihn, wäre ich Ihr König,
wenn er noch lebte. Weiß Ihr König nicht, wie
auf dieſen Prinzen die Hoffnungen der preußiſchen
Jakobiner gerichtet waren? Wer ſtand ihm dafür,
daß ſein Ehrgeiz nicht weiter ging? Von politiſcher
Freiheit ſprach er, er klagte, daß ich die liberalen
Ideen erſticke — ich kann Briefe des Todten vor¬
legen — eine Krone wäre ihm nicht zu hoch gewe¬
ſen, wenn ſeine Freunde ſie ihm boten. Kennt Ihr
König dieſe Freunde? Hab' ich umſonſt die Jako¬
biner in Frankreich zertreten, damit ſie in Preußen
ihr Haupt erheben? Ihr König dauert mich. Er
iſt von Schwärmern und Jakobinern umgeben. Man
will nicht ſein Wohl, man will liberale Ideen. Ja,
die will man!“


„Laßt die Todten ruhen!“ ſprach Bovillard.


„Und die Weiber auch. — Mit toll gewordenen
Frauen kämpfen müſſen! Und man ſoll nicht in
[291] Harniſch gerathen! — Ich weiß Alles. — Warum
iſt die Königin bei der Armee? — Was thut eine
Frau, wo die Waffen entſcheiden? Ihre alten Ge¬
nerale ſind außer ſich. Weiber im Train, Weiber
im Hauptquartier und eine Armee iſt verloren. Ich
ſollte mich freuen. Nein, ich weiß, was ſie ſoll. —
Den König warm halten. Sie iſt im Dienſte Eng¬
lands, von Alexander beſchwatzt; ſie iſt die Hoffnung
oder die Puppe der Schwärmer für Deutſchland.
Sie hat ihn angetrieben, ſie das Feuer geſchürt,
ſie iſt die —“


„Sire! fuhr Bovillard auf, muß ein Gefange¬
ner auf Alles ſchweigen?“


Napoleons Schlachtroß war vorgeführt.


„Gebt ihm die Briefe! rief der Kaiſer, und das
ſchnellſte Pferd aus meinem Stall.“


Das Roß ſtampfte. Der Kaiſer war ſo dicht
an Bovillard getreten, daß die Geſichter ſich faſt be¬
rührten.


„Junger Mann, die Sterne gehen ihren Lauf
trotz der Weiberlaunen, und wehe, wenn in das Rad
der Weltgeſchicke eine Frauenhand greift. — Ich
biete dem Könige von Preußen noch einmal meine
Hand. Fliegen Sie mit den Schreiben in ſein
Hauptquartier. Keinen Moment Raſt, das Leben
von Hunderttauſend hängt an einem Haar. Drin¬
gen Sie zu ihm durch, ſelbſt übergeben Sie ihm die
Briefe, denn er iſt von Verräthern umringt. Ich
will den Angriff von Saalfeld, ich will Alles ver¬
19*[292] geffen, aber keine Weiber zwiſchen uns. Die Köni¬
gin muß fort. Sie bringen ihm, Ihrem Vaterlande
den Frieden, junger Mann. Raſch, ohne ſich um¬
zuſehen, ohne zu athmen, wie der Blitz!“


Das Schlachtroß bäumte ſich unter dem Impe¬
rator. Der erſte Kanonenſchuß tönte dumpf aus der
Tiefe, und in dem Augenblick ging die Sonne auf,
eine unförmliche, blutroth dunſtende Kugel, den
Herbſtnebel färbend, der nicht weichen wollte. Auch
des Imperators Haupt war einen Augenblick von
ihr angeglüht, der Jubelruf ſeiner Garden ſchwellte
in die Luft. In Louis Bovillard rief eine Stimme:
„Dieſer Sieger bringt der Welt nicht das Heil, er
bringt ihr den Sieg der Lüge.“


Kaum daß der Kaiſer fortgeſprengt, ſtand der
ſchönſte andaluſiſche Renner vor der Thür, man hob
ihn hinauf, vornehme Officiere waren dabei geſchäf¬
tig, man empfahl ihm dringend Eile, die Richtung,
die er zu halten habe, rechts am linken Saaleufer
fort, damit er aus dem Bereich der ſcharmutzirenden
Parteigänger komme, dann müſſe er nordweſtlich nach
der Gegend zwiſchen Weimar und Auerſtädt ſich hal¬
ten, raſch direct nach des Königs Hauptquartier.


Der Capitain geleitete ihn wieder bis zu den
äußerſten Vorpoſten. Las er die Fragen und Zwei¬
fel auf der Stirn des Entlaſſenen? Er flüſterte
ihm zu: „Ein Emiſſair Napoleons, ein Herr von Mon¬
tesquieu, iſt, wie ich eben hörte, von preußiſchen
Parteigängern gefangen. Ihm könnte das Schickſal
[293] drohen, dem Sie entgingen. Die Großmuth iſt viel¬
leicht das Facit einer Rechnung. Gedenken Sie
daran.“


Das konnte es nicht ſein! Auf einer Höhe
hielt er einen Moment, um Athem zu ſchöpfen. Der
mit Millionen Menſchenleben ſpielte, konnte zu einem
ſolchen Spiel in ſolchem Augenblick ſich nicht gedrängt
fühlen — um einen ſeiner Officiere! Da hörten die
einzelnen Signalſchüſſe auf, das Knattern der Ti¬
railleure verſtummte vor dem Krachen der Geſchütz¬
ſalven, es donnerte an den Bergen und die Erde
unter ihm zitterte. Jetzt trieb ein friſcher Morgen¬
wind die Nebel aus einander. In dem Rahmen
breitete ſich zu ſeinen Füßen ein ſonnenerhelltes Bild
— die Schlacht von Jena.


Und in ihm riß auch ein Vorhang, es ward
heller und heller: dort will er den Fürſten von Hohen¬
lohe ſchlagen, und er wird vernichtet, wenn das
Hauptheer ihm nicht zeitig zu Hülfe eilt. Den Kö¬
nig ſoll der Brief zweifelhaft machen, er ſoll, der
Sirenenſtimme der Friedenslockung horchend, den Mo¬
ment verſäumen, er ſoll zaudern, um ſelbſt vernichtet
zu ſein!


Louis Bovillard fühlte an ſein Herz. Es ſchlug
nicht, wie es ſollte, er fühlte ſeinen Puls, er konnte
die Schläge nicht zählen, er drückte die Hand an
ſeine kalte Stirn. Ein tiefbanger Seufzer ſtieg aus
ſeiner Bruſt: „O du Lenker des Weltalls! — nur
bis dahin — warum ſo groß die Miſſion, wenn
[294] der Athem ſo kurz iſt. Kraft nur — dann —
dann —“


Der Andaluſier unter ihm ſcharrte und ſchnaufte
in friſcher Morgenjugendluſt: „Dank für das Ge¬
ſchenk! rief Louis. Trage mich, mein Segler, durch
die Lüfte. Du und ich, wir mögen in Staub ſinken,
wenn der Athem nur ausreicht zu einem Wort —
ein letztes Wort!“

[[295]]

Vierzehntes Kapitel.
In der Dorfkirche.

Im letzten Dorfe, welches die Königin paſſirte,
hatten die Relaispferde gefehlt. Der Geiſtliche hatte
ſeine Ackerpferde vorgeſpannt; aber ſie waren auch
müde, eben von einer Vorſpannfahrt zurückgekehrt.
Die Königin glaubte dem alten Manne die Sorge
um ſeine Thiere anzuſehn; ſie hatte ſich anfänglich
geweigert ſie anzunehmen. Der Prediger hatte er¬
widert: wer weiß, was heute ſein iſt, ob es morgen
ſein bleibt! Wer es hingiebt zu einem guten Werke,
hat doch das Bewußtſein hinter ſich.


Es war noch keine Flucht; die Monarchin hatte
endlich, von den tauſend Stimmen, die laut und lau¬
ter gegen ihre Anweſenheit beim Heere ſich ausſpra¬
chen, gedrängt, das Hauptquartier verlaſſen; ſie wollte
über Naumburg nach ihrem geliebten Magdeburg zu¬
rück. Es war ein herzzerreißender Abſchied geweſen
von dem Gemahl — der Schatten einer Leiche ſchwebte
ſchon über die Umarmung. Ihr ſchwarzes Kleid galt der
blutigen Erinnerung an den Prinzen Louis Ferdinand.


[296]

Tauſend wüſte Nachrichten ſchwirrten durch Wei¬
mar, als ſie es verließ. Alles hatte ſich verändert,
der Feind kam nicht von daher, wo man ihn erwar¬
tete, ſondern griff vom Rücken an. So viel wußte
man ſchon, nicht, wie weit er vorgedrungen. Die
feſten Poſitionen an der Saale mußten ihn doch auf¬
halten! Aber überall auf der Straße: ver¬
fahrnes Fuhrwerk, Maraudeure, Kranke, umgeſtürzte,
geplünderte Bagagewagen, verſprengte Flüchtlinge,
die, jenſeits der Saale durch die erſten Angriffe der
Franzoſen geworfen, jetzt ihre Corps aufſuchten.
Viele ſuchten ſie auch nicht. Bei Lobeda war die
ſächſiſche Bagage, ehe die Franzoſen erſchienen, von
den eignen Trainknechten aufgegeben, überfallen und
geplündert worden. Wer mochte unter den Hunder¬
ten, die davon auf der Straße erzählten, die Vorfallen¬
heiten vergrößerten, ausſchmückten, die Beraubten
immer von den Räubern unterſcheiden! Wohin war
ſchon jetzt der Zauber der Autorität, wenn man Mühe
hatte, für den königlichen Wagen Platz zu machen.


In jenem Dorfe mochte die Ankunft der Monar¬
chin eine Kataſtrophe abgewendet haben. Verwilderte
Schaaren Zerſprengter, die ſich eingelagert, machten
Miene, das Mein und Dein zu vergeſſen. 'S iſt
Krieg, da hört Alles auf! hörte die Königin mit
eignen Ohren. Welche Schadenfreude auf den Ge¬
ſichtern jener Soldaten, die an der Hecke nicht ſchul¬
terten, und ſie trugen den preußiſchen Rock, ſie wu߬
ten, daß es ihre Königin war. Es ſind ausgehobene
[297] Polen! Sollte die Monarchin dies zugeflüſterte Wort
beruhigen? Unter dem blauen Rock ſei Herz und
Verlaß, hatte man ſie gelehrt. Wenn nun Tauſende
von Herzen darunter ſchlugen, auf die kein Verlaß
war, und Friedrichs Disciplin fehlte! Daß dieſe
nicht mehr ſei, hatte ſie in Weimar, Naumburg, ſelbſt
in Berlin von ſo vielen klagenden Stimmen gehört.
Auf dem Kirchhofe fangen Maraudeure, die ihre Beute
von Lobeda theilten, unter wildem Gekreiſch das Räu¬
berlied: Ein freies Leben führen wir, ein Leben
voller Wonne! — Die Königin, während der Um¬
ſpannung einen Augenblick abgeſtiegen, hatte in die
offene Kirche treten wollen, der Geiſtliche aber bat
ſie, umzukehren, es ſeien da Verwundete, Sterbende
untergebracht. Es mochte noch mancher andere An¬
blick ſein, nicht geeignet für die Augen einer zarten
Frau. Am Ausgang hatte ſie ein hingeſunkenes jun¬
ges Weib bemerkt, die Züge des Todes auf ihrem
blaſſen, ſchönen Geſicht. Der Prediger wollte den
Anblick mit ſeinem Rücken decken, aber die edleren Züge
des Mädchens in der widerwärtigen Umgebung in¬
tereſſirten unwillkürlich die Königin. Wie kommt die
Unglückliche hierher? Der Geiſtliche hatte die Achſeln
gezückt: „Eins von den Geſchöpfen, welche die Sol¬
daten mitſchleppen, oder ſie laufen ihnen von ſelbſt
nach. So was gehört freilich nicht in ein Gottes¬
haus, aber wer kann's hindern. Sie haben ſie auch
wohl arg mitgenommen da bei der Plünderung in
Lobeda und geſchlagen. Sie blutete.“ Die Königin
[298] fühlte das Bedürfniß, der Armen etwas Wohlthätiges
zu erweiſen. Ach, ſie hatte nichts, nicht einmal das,
was jeder ihrer Diener bei ſich führte, eine Börſe.
Sie wollte einen heranwinken, aber der Stallmeiſter
ſtand ſchon mit der Miene banger Ungeduld am Wa¬
genſchlag. Aller Mienen ſagten: hier iſt nicht län¬
ger zu verweilen!


Es war ſtiller geworden auf der Straße. Der
Wagen mit den müden Pferden fuhr aber nur lang¬
ſam in den aufgewühlten Wegen. Zuweilen ließ
der Wind den Kanonendonner von der Mittagsſeite
herübertönen. Es ſchien eine ſtillſchweigende Ueber¬
einkunft, nicht darauf zu achten. Die Hofdamen, von
Ueberanſtrengung erſchöpft, nickten. Auch die Königin
hatte, den Kopf in die Ecke gelehnt, zu ſchlafen ge¬
ſchienen. Jetzt richtete ſie ſich auf, warf den Schleier
zurück und bedeckte das Geſicht mit beiden Händen.
Nach einem heftigen Athemholen löſte ſich ihr Schmerz
in Thränen, ſie glaubte ohne Zeugen; aber ihr ge¬
genüber in der Wagenecke wachten zwei Augen. Adel¬
heid Alltag, die hier in beſcheidener Zurückgezogen¬
heit geſeſſen, wagte die Hand der Fürſtin zu ergrei¬
fen und, halb auf das Knie ſinkend, ſie an die Lippen
zu drücken.


„Es iſt ja noch nichts verloren.“


„Nichts!“ ſagte die Königin und ſchüttelte weh¬
müthig den Kopf. — „Aber Ihr Anblick, liebes Kind,
ſollte mir eigentlich Stärke geben. Würden Sie denn
den Muth gehabt haben, Alles zu ertragen, wenn Sie
[299] voraus gewußt, was Ihnen bevorſtand? Die gütige
Vorſehung verhüllte es mit einem Schleier. So hat
der Vater im Himmel es wohl auch mit mir gefügt.
Hätte ich das, was ich jetzt erlebe, noch vor zwei
Jahren ahnen können, und wer ſagt, was mir noch
bevorſteht! Da tänzeln wir im Flügelkleide der Luſt
und ſehen überall Sonnenſchein und Wieſengrün um
uns, während die Herbſtſtürme ſchon heranziehen.
Aber es iſt in ſeinem unerforſchlichen Rathſchluß, daß
wir nichts davon ahnen, um geſund zu ſein und
ſtark, wenn ſie hereinbrechen.“


Adelheid verſuchte von einer beſſern nächſten Zu¬
kunft zu ſprechen. Der Ton ihrer Stimme verrieth,
daß ſie nicht daran glaubte.


„Nein, liebes Kind, ich täuſche mich nicht mehr;
es iſt vieles in dieſen Tagen vor meinen Augen ge¬
riſſen. Es iſt nicht mehr, wie es war. Wohin iſt
unſer Anſehen, wohin die Kriegszucht, wenn ſo kleine
Derangements ſchon ſolche Unordnung bringen! Die
Officiere mußten ein Auge zudrücken. Wenn das
die preußiſche Armee betrifft! Wie hat man uns
belogen! Ich hörte Stimmen aus dem Volke —“


„Wir ſind hier nicht in Preußen.“


„Auch in unſerm Heere ſelbſt. Ich hatte nicht
geglaubt, daß unſre Officiere ſo gehaßt ſind! Dieſer
Widerwille gegen die Junkerherrſchaft! Und ſah ich's
nicht mit eignen Augen! Die Brutalität gegen die
armen Menſchen, und dieſe alten Generale, denen
drei Mann helfen mußten, um auf's Pferd zu ſteigen.
[300] Die in Weimar lachten, unſre Soldaten verzogen
auch den Mund. Der wackre Rüchel ſuchte es mir
zu verbergen. Ach, er iſt auch gefürchtet und ge¬
haßt —“


„Deſto allgemeiner verehrt und geliebt iſt Seine
Majeſtät der König.“


„Gott ſei Dank! Aber auch ich bin verredet,
gehaßt, verleumdet.“


„Um Gotteswillen, Ihro Majeſtät, es iſt nur
eine Stimme der Liebe und Bewunderung —“


„Unter denen, die mir vor Geſicht treten, wie
damals auf der Huldigungsreiſe! Jetzt, liebes Mäd¬
chen, ſehe ich und höre ich ſchärfer. Ich glaubte
meine Pflicht zu thun, als ich dem Könige in's Feld
folgte; ich dachte an die erhabenen Beiſpiele der
Vorfahrinnen unſeres Hauſes, der ſchönen Elſe, die
Kurfürſt Friedrich I., an Louiſe von Oranien, die
dem großen Kurfürſten gefolgt ſind; damals lobte man
es, man bewunderte ihren Muth, und rühmte, daß
ſie die Gefahren ihrer Gatten getheilt, mit Rath und
That ihnen zur Hand. Heut geißelt man mich mit
bittern Sarkasmen.“


„Das iſt nur Lombard —“


„Nein, liebes Kind, das vergebe ich ihm und
könnte ihn darum loben; es iſt einmal ſeine aufrich¬
tige Meinung! Aber es ſi
ſagen? Das vergebe ich ihnen nicht. Vielleicht hätten
ſie mich aufgebracht. Lieber Gott, ich habe doch auch
[301] Gefühle. Davor fürchteten ſie ſich mehr, als davor,
ihre Königin dem übelſten Gerede auszuſetzen. Und
wenn ſie wirklich dachten, daß meine Anweſenheit
beim Heer unſrer Sache Schaden bringt! Sind das
treue Diener ihres Herrn, die ſich mehr vor einem
böſen Geſicht fürchteten, das ich ihnen machen konnte,
als — o mein Gott, wie lernt man die Men¬
ſchen in ſolcher Zeit kennen!“


Sie ſchien von dem Gedanken ſehr geängſtigt.
Nach einer Pauſe hub ſie wieder an:


„Ich wollte ſchon früher zurück, da beſchwor
mich Kalkreuth, er legte auf meine Gegenwart, wie
er ſagte, das größte Gewicht. — Jetzt legt ein An¬
derer Gewicht darauf; Napoleon, weiß ich, beſchimpft
mich und meinen Gemahl laut vor ſeinen Officieren,
wer es will, kann ſeine Schmähungen hören.“


„Ihre Majeſtät hörten dafür den Jubelruf der
braven Truppen, als ſie in Weimar vor Ihnen vor¬
überzogen.“


„Auch das wird mir zum Verbrechen gemacht!
Ich bin die Kriegsfurie, die wuthſchnaubende Me¬
gäre, die den König fort und fort geſtachelt, bis er
ſich zum Kriege entſchloß, ich bin hier, nur damit er
in ſeinem Entſchluß nicht wankend werde. Gott
weiß, daß ich nie über öffentliche Angelegenheiten zu
Rath gezogen wurde und auch nie danach geſtrebt
hatte. Erſt als Kaiſer Alexander voriges Jahr mich
auf die Gefahr unſrer Lage, unſeres Hauſes aufmerk¬
ſam machte, erwachte ich. Damals konnte ich noch
[302] keinen tieferen Blick in unſre Staatsverhältniſſe wer¬
fen; war ich doch wie ein junges Mädchen, das aus
der Penſion in die Geſellſchaft eingeführt wird. Aber
Alexanders Worte erſchreckten, weckten mich; ich ſah
meinen Gemahl, meine Kinder, die Thronfolge,
Alles, was mir lieb und werth war, in Gefahr, ich
bot daher Alles auf, ihn, ſeine Freunde zu wecken.
Ja, ich hielt den Krieg für nothwendig, und wenn
das ein Verbrechen iſt, ſo habe ich ihn gewünſcht.
Mir ſchien, daß alle Güter dieſer Erde untergeordnet
ſeien dem Gefühl edler Selbſtſtändigkeit und der
Nationalehre. Seit ich eine Preußin geworden, fühlte
ich nur als Tochter dieſes Landes. Und den Troſt
habe ich, alle Beſſern fühlen mit mir — es iſt nur —“


Der Wind mußte ſich gewandt haben, wie ein
fernes Gewitter dröhnten die Kanonenſchläge über
die Fläche.


Die Tauentzien fuhr mit einem: „Ach Gott!
ach Gott!“ aus dem Schlaf, aber die Sonne ſchien
hell durch die Wagenfenſter. Im Hohlweg, in den
der Wagen bog, hörte man nichts mehr. Die Hof¬
dame ſchlief wieder ein.


„Sein Tod muß ſchön geweſen ſein! rief die
Königin plötzlich aus ihrem Verſunkenſein auf. Der
Tod für's Vaterland! Der König war tief erſchüt¬
tert; im Leben ſtanden ſie ſich fern. Das iſt das
Schöne vom Tode, daß er verſöhnt. Viele Herren
machten gleichgültige, unangenehme Bemerkungen, wir
ſchloſſen uns ein. — Kannten Sie den Prinzen?“


[303]

„Ich ſah ihn ein oder zwei Mal, gnädigſte Frau.“


„Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?“


Es brach unwillkürlich von Adelheids Lippen,
während ſie roth ward: „Wie Einer, dem der Tod
eine Wohlthat iſt. Wie Einer, der nach der Sonne
fliegt, und oben in der Luft, weil ſie zu rein für
unſre Lunge, erkennt er, daß es vergebne Mühe
iſt. Ihn verläßt die Kraft, er will nicht ſtürzen,
aber er ſtürzt. Es iſt ein troſtloſer Kampf, nicht um
das Daſein — um das Sonnenlicht, möchte ich ſagen.
Er flattert und flattert, um ſich zu halten, den gan¬
zen Schmerz in der Bruſt, wieder auf die dunkle
Erde ſinken zu müſſen, und ihre mephitiſchen Dünſte
fallen ſchon auf die Bruſt — da, wohl ihm, ehe
ſeine Flügel erlahmen, wenn die Kugel eines Schützen
ſeiner Qual ein Ende macht.“


Die Königin warf ihr einen bedeutungsvollen
Blick zu: „Sie halten es für ein Glück, Adelheid?“


„Ja,“ ſagte ſie mit feſter Stimme.


„Sie haben keine Nachricht von Ihrem Bräu¬
tigam?“


„Keine,“ entgegnete Adelheid mit derſelben
Stimme.


„Und keine Ahnung, ich wollte ſagen keine Hoff¬
nung?“


„Euer Majeſtät Frage könnte mich beſorgt
machen, daß Sie auf eine ſchlimme Nachricht mich
vorbereiten wollen. Aber ich bin auf Alles vorberei¬
tet. Wo hat der Einzelne ein Recht auf Glück, wo
[304] das Ganze zuſammenbricht — und doch — doch —
ich habe noch eine Hoffnung, beinahe Zuverſicht, daß
ich ihn noch ein Mal ſehe —“


„Sie irren ſich, Liebe. Ich weiß von nichts.
Ich dachte nur, des Prinzen Tod war ein ſchöner;
ſo könnte ich ihn allen denen wünſchen, die ich ehre
und liebe und die doch nicht leben können. War die
Vorſehung nicht gültig gegen ihn? Vielleicht iſt ſie
es ſo gegen alle Edle. Wer im Leben über den
Staub und Stoff ſich erhob, der, dünkt mich, hat
auch die Kraft, die Mittel, ſich in der letzten Stunde
zu erheben, über den Tod — die Wolken theilen ſich
vor ihm, und er ſieht Sonnenſchein und Herrlichkeit — “


Durch einen Lärm draußen wurden ſie unter¬
brochen. Eine durchdringende Stimme hatte ſchon
aus der Ferne ein wiederholtes Zurück! gerufen. Die
Pferde, entweder ſcheu geworden oder angehalten,
hatten eine Bewegung nach rückwärts gemacht, auch
der Wagen war davon zurückgeſtoßen, als man das
Fenſter von innen niederließ. Ein ſtaubbedeckter
Reiter ſprengte mit verhängtem Zügel ihnen entgegen.
Sein Wehen mit dem Tuche hatten ſie in den Staub¬
wirbeln, die um ihn aufflogen, nicht geſehen. Jetzt
hielt er am Kutſchenſchlag — Da kam ein Schrei
aus dem Wagen. Der Anblick konnte wohl ein zar¬
tes Frauenherz außer ſich bringen. Er hing mehr,
als er ſaß, auf dem Pferde, ein leichenblaſſes Todten¬
geſicht mit gläſernen Augen und ſtierem Blick. Der
Hut war ihm vom Kopf geflogen, die Haare hingen in
[305] zerriſſenen Streifen vom Scheitel. Wie gänzlich vom
Ritt erſchöpft, hielt er ſich mit den Händen am
Sattelknopf, während die Lippen convulſiviſch bebten
im Verſuch, Worte hervorzubringen. Jetzt gelang es
ihm, er riß zugleich Briefe aus der Bruſt, die Worte
kamen abgebrochen vor:


„Zurück — die Königin muß zurück — die
Feinde in Naumburg — die Brücken genommen,
Franzoſen auf den Höhen von Köſen — ein An¬
griff von dort!“


„Die Franzoſen!“ ſchrieen zehn Stimmen. „Wir
ſind verloren!“ die Hofdamen. „Kehrt! Kehrt! Auf
der Stelle Kehrt gemacht!“ commandirten die Stall¬
meiſter.


„Iſt ſchon Gefahr?“ rief die Königin zum Fen¬
ſter hinaus. Ihr Blick ſchien dem Erſchöpften auf
einen Augenblick Beſinnung und Kraft wiederzugeben.


„Noch nicht — noch um Stunden ſind ſie zurück
— mein guter Renner — aber Majeſtät muß nach
Weimar zurück, über den Harz nur iſt noch ein ſich¬
rer Rückweg. — Dieſe Schreiben an den König! —
Schreiben der Argliſt — traue Niemand.“


Die Briefe flogen aus ſeiner zitternden Hand
grade noch in den Wagen, als dieſer Kehrt machte
und die Inſitzenden den Reiter aus dem Geſicht ver¬
loren. Es war gut, daß die Hofdamen Riechfläſch¬
chen bei ſich führten, ein Händedruck der Königin
wirkte indeß vielleicht doch belebender. Louiſe hielt
mit der Linken Adelheids Hand, während ſie aus
V. 20[306] dem Fenſter mit den Stallmeiſtern und den beglei¬
tenden Officieren ſprach. „Die Gefahr iſt vorüber!“
ſagte ſie, den Kopf zurückziehend. „Er ſtirbt!“ rief
Adelheid mit einer ohnmächtigen Bewegung, ſich auf¬
zurichten. Dann ward ſie ſtill und blickte ruhig vor
ſich hin. Wer Zeit und Sinn dafür gehabt, ſie zu
beobachten, würde jetzt ein Lächeln auf ihrem Geſicht
erblickt haben.


Wer hatte Sinn dafür, wer Zeit! Der Wa¬
gen ſchien ſich nicht fortzubewegen: alles Peitſchen
und Fluchen war vergebens bei den müden Thieren.
Endlich ſtürzten ſie; es war aber am Eingang in's
Dorf. Gefahr war nicht mehr, denn von der preu¬
ßiſchen Avantgarde war das Dorf ſchon beſetzt. Rü¬
chel hatte einen Adjutanten der Königin nachgeſandt,
deſſen Meldung mit der des Reiters übereinſtimmte, ſie
müſſe in Eil nach Weimar zurück, von dort ſeien
Relais und Escorte nach Sondershauſen und dem
Harze für ſie bereit. Aber noch fehlten die Pferde,
auch am Wagen war etwas zu beſſern.


Die Königin ging in's Dorf zurück. Sie ſprach
lebhaft mit den Officieren. Sie ſchien in raſchen,
ſcharfen Fragen den Sinn jeder Falte auf ihrem Ge¬
ſicht entdecken zu wollen. Adelheid wankte allein.
Er kam noch nicht. Sie wagte nicht zu fragen; ſie
ſtand, ohne zu wiſſen wie und warum, auf dem
Kirchhof. Ein angelehntes Hinterpförtchen führte in
die Kirche; eine einfache gothiſche Landkirche von
Steinquadern, mit einer Balkendecke. Und doch hatten
[307] Reſte von bunten Scheiben in den Spitzbogenfenſtern
ſich erhalten; ſpinneumwebt, verdunkelt von Staub
und Wetter, und doch genug Farbe enthaltend, um
dem Sonnenſchein, der eindrang, eine dumpfe,
gelb brennende Färbung zu geben. Sie paßte zu
ihrer Stimmung. Ob der Schein ſie lockte, ob eine
Ahnung?


Sie war eingetreten. Sie ſah nichts von den
Schrecken. Vielleicht waren ſie ſchon entfernt. Auf
den Stufen am Hochaltar lag der Bote, welcher der
Königin die Rettungspoſt gebracht. Sein Pferd hatte
ſich losgeriſſen von den Vorreitern, die es auf einen
Wink des Stallmeiſters am Zügel führen ſollten.
Der Mann ſelbſt war ja nicht mehr im Stande, es zu
lenken. Im Dorf war das Thier geſtürzt mit ſeinem
Herrn — ein heftiger, tödtlicher Blutſturz. Louis
Bovillard hatte ſich nicht mehr aufrichten können,
der Pfarrer hatte ihn in die Kirche tragen laſſen.


Der Sonnenſchein fiel durch die gelben Schei¬
ben grade auf ſein Geſicht, als Adelheid eintrat.
Sie ſchrie nicht auf, ſie rang nicht die Hände, ihre
Knie zitterten nicht. Schien es doch, als ſei es nur
die Erfüllung von etwas, was ſie längſt gewußt.
Die Hände faltend blieb ſie noch in der Entfernung
ſtehen und blickte auf ihn, wie man zum erſten Mal
den Grabſtein eines theuren Verblichenen erblickt.
Nicht einmal eine Thräne ſtürzte aus ihrem Auge.
Aber etwas hätte ſie befremden mögen, — auf der
Stufe drunter die jugendliche Geſtalt eines Weibes;
20*[308] ſie hatte ihr Tuch über ſeine Füße gebreitet und ihr
Geſicht in ſeinen Schooß gedrückt. Ein Bildhauer
hätte die Figur der Trauer nicht beſſer dargeſtellt.
Ihr aufgelöſtes Haar wallte um ihren Nacken.

Auch die Anweſenheit dieſer Trauernden ſtörte
ſie nicht. Sie war jetzt neben ihm niedergekniet und
hatte die kalte Hand erfaßt, die ſie an die Lippen
drückte. Sie ſchien zu beten, als es hinter ihr rauſchte;
die Königin legte die Hände ſanft auf ihren Scheitel:
„Mein Kind, es trifft jeden ſein Theil und Du warſt
darauf vorbereitet.“


„Wenn er nur noch einmal die Augen aufſchlüge!“
athmete ſie leiſe.


„Um meinen Dank in den Himmel mitzuneh¬
men, denn er hat ſeine Königin gerettet. Ich kann
ihm nicht mehr danken.“


„Doch, Königin, ſprach Adelheid, ſich umwendend.
Gönnen Sie mir die Freiheit, laſſen Sie mich hier
zurück. Ich war ſeine Braut vor Gott und Ihnen,
er darf nicht verlaſſen ſterben. Die Pflege iſt zu
ſpät, aber den letzten Dienſt kann ich ihm erzeigen.
Laſſen Sie mich ihm die Augen zudrücken.“


Da richtete ſich das verwilderte Mädchen etwas auf
und ſtarrte die Hinzugekommenen an. Der Traum
der Wahrheit ſchien durch ihre brechenden Augen zu
dämmern.


Die Gräfin Voß war an die Königin, die zwei¬
felnd daſtand, getreten und flüſterte ihr zu: „Wenn
Ihro Majeſtät das zugeben, iſt es abſolut unmöglich,
[309] daß die Demoiſelle ferner, in welcher Stellung es
ſei, in Dero Nähe verweilt. Ja, wenn ſie nur ge¬
traut wären —“


In dem nächſten Augenblick geſchah vieles.
Der alte Geiſtliche hatte ſich über den Sterbenden
gebeugt: „Er athmet noch.“ — Das Mädchen zu
ſeinen Füßen rief wie in wahnſinniger Freude: „Louis
ſchlägt die Augen auf.“ Der Sonnenſchein hatte eine
rothe Scheibe getroffen, und ein roſiger Schein brei¬
tete ſich über die eng zuſammengedrängte Gruppe
aus. Der Todte lebte noch, er ſchien zu lächeln, er
erkannte die Gegenſtände. Die Königin aber hatte
im nächſten Augenblicke mit dem Prediger heimlich ge¬
ſprochen: „Ich übernehme alle Verantwortung.“


Der Geiſtliche erwiderte: „Auf die wage ich es
ſelbſt vor dem höchſten Richter, wo ich bald mit ihm
erſcheine. Aber hat er die Beſinnung — und die
junge Dame?“


„Sie wird ihr Ja deutlich ſprechen,“ hatte die
Königin geantwortet und flüſterte Adelheid etwas
in's Ohr: „Bleib knieen, mein Kind!“


Da wollte es der Zufall, während der Pfarrer
in Kürze die liturgiſchen Formeln der Trauung ſprach,
daß ein Knabe des Küſters auf der Orgel intonirte.
Der Sterbende wollte den Kopf aufrichten, das ge¬
lang ihm nicht, aber von ſeinen Lippen kam es: „Da
rufen ſie uns!“ Der Prediger ſah froh der Königin
in's Geſicht, welche Adelheid ſchnell einen Ring an
den Finger geſteckt hatte. Das fremde Mädchen aber
[310] hielt den Kopf des Sterbenden, während der Prediger
die Ringe wechſelte. Als er die entſcheidende Frage
that, antwortete ein Ja ſo wunderbar laut, daß es
die Orgel übertönte. Es war ſein letztes Wort.
Kaum daß der Segen geſprochen, ſank er röchelnd
nieder. Der Brautkuß war der Sterbekuß. Das
fremde Mädchen weinte und lachte: „Ich habe doch
ſeinen letzten Händedruck.“ — Die Königin ſagte:
„Ich konnte ihm doch danken.“


Der Wagen ſtand fertig vor der Kirchenthür.
„Frau von Bovillard! ſprach feierlich die alte Voß,
Ihro Majeſtät ſind bereit.“


Die Fürſtin ſah fragend auf die Trauernde.
Ihr Blick ſchien zu ſprechen: „Willſt Du mich jetzt
verlaſſen!“


Der Geiſtliche ſagte: „Für die Todten ſorgt Gott
und die Kirche. Wer noch Pflichten im Leben hat,
fliehe von hier. Den Todten iſt wohler in der Erde
als den Lebendigen, wo die Verwüſtung ihr Reich
aufſchlägt.“


Das fremde Mädchen ſchrie wie im Irrſinn auf:
„Er wird nicht allein begraben werden.“

[[311]]

Funfzehntes Kapitel.
Ein Frühstück bei Dallach.

Es iſt in der Luft eine Magie, die unſre Wiſſen¬
ſchaft noch nicht erklärt hat; eine Communication durch
unerfaßbare Organe, welche die Begebenheiten ver¬
binden. Unergründlich nannten unſere Väter eine
Tiefe, die ſie noch nicht ergründet; unerfaßbar hätten
ſie das Lichtbild genannt, wir lernten es faſſen und
feſtigen auf der Platte, und an Drahtſeilen fliegt der
Gedanke hunderte von Meilen in Secundenſchnelle,
und drückt ſich auf die Tafel in bunten Buchſtaben,
für jedes Auge lesbar.


Dies Lichtbild ſpiegelte ſich auch ſchon vor den
Augen unſerer Väter, der Gedanke flog auch da mit
derſelben Schnelle, nur faßten ſie ihn nicht, weil ihnen
die Verbindungsmittel unbekannt waren; weil ſie die
Platten und die Drahtſeile nicht ſahen, tauften ſie
es Wunder.


Alte Leute entſinnen ſich, daß man in der Stille
der Nacht nach dem 14. October vor Berlin auf der
Erde die Schläge des Kanonendonners von Auerſtädt
[312] hören können. Von Andern ſagt man, daß ſie am
folgenden Tage ſchon den Ausgang der Schlacht ge¬
wußt. Aufgeklärte meinten, das ſei nur die Nach¬
dröhnung geweſen von dem unglücklichen Gefecht von
Saalfeld, die als Vorahnung geſpukt.


Nicht Alle waren es, es waren nur Wenige,
darunter zwei, die wir kennen.


Der Rath Fuchſius konnte in der Nacht nicht
ſchlafen, ſeine Beängſtigung ward gegen Morgen
immer größer. Er hörte die Kanonenſchläge, ſein
Bett ſchien unter ihm zu zittern; wie feſt er auch die
Augen zudrückte, er ſah immer wieder den hellen
Schein, wie ein Nordlicht, das am äußerſten Ho¬
rizont aus der Erde quillt. Er zündete das Licht an
und ergriff eine Lecture, es war ein Band des
Shakſpeare. Die Stelle aus Macbeth, die er auf¬
ſchlug, war nicht geeignet, ſeine Träume zu be¬
ſchwichtigen:


Die Nacht war ſtürmiſch; wo wir ſchliefen, heult' es

Den Schlott herab; und wie man ſagt, erſcholl

Ein Wimmern in der Luft, ein Todesſtöhnen,

Ein Prophezein in fürchterlichem Laut,

Von wildem Brand und gräßlichen Geſchichten,

Neu ausgebrütet einer Zeit des Leidens.

Der dunkle Vogel ſchrie die ganze Nacht durch:

Man ſagt, die Erde bebte fieberkrank.

Er ſah die Schlacht, die meilenweit ſich dehnende,
mit ihren wankenden und wogenden Linien, den
dampfenden Batterieen, den Cavallerieattaquen, und
ſo gewiß er das Herz unter der Bruſt pochen hörte,
[313] ſo centnerſchwer drückte ihn eine Gewißheit — daß
er nichts Frohes ſah.


Um den fürchterlichen Alp los zu werden, zündete
er noch ein Licht an, und begrub ſich unter ſeinen
Akten. Auch aus dieſen Bergen ſtiegen Dünſte, tiefe
Schachte öffneten ſich, deren Ende er nicht ſah, und
Sphynxe lagerten ſich vor dem Eingang.


„Ein Weib, das ſelbſt eine Sphynx iſt, rief er,
ſich im Armſeſſel zurücklehnend, und der Oedipus
will nicht erſcheinen. Die Thatſache liegt nackt da,
und alle Bezüge, Fäden, die zu einem Motiv führen,
plötzlich abgeſchnitten! Kann ein Weib gebären ohne
empfangen zu haben? Und wo wir einer Spur folg¬
ten, verſchwindet ſie nicht nur, ſondern wir haben
aktenmäßige Beweiſe, wie und woraus ſie entſtanden
iſt! Werden noch Ungeheuer geboren aus dem Mee¬
resſchaum, wenn Götter einen Sterblichen verfluchen,
oder geſtalten ſie ſich im Laich der mephitiſchen
Dünſte dieſer Zeit? Shakſpeare läßt die Gräuel¬
thaten ſeiner Könige durch ungeheuerliche Erſchei¬
nungen vorausverkünden: eine Eule verfolgt einen
Falken, die Roſſe Dunkans freſſen ſich. Solchen An¬
theil des Entſetzens nimmt die Natur am Thun der
Könige! Die Zeiten ſind doch nun vorüber, der
Erdgeiſt kümmert ſich nicht beſorglicher um die Könige
als um die Bettler; ſelbſt wenn große Ideen geboren
werden, Ideen, beſtimmt die Welt zu erſchüttern, was
geht's die Natur an! Sie läßt keine Sterne mehr
den Weiſen nach der Krippe leuchten und keine mo¬
[314] raliſche Revolution bringt ſie aus ihrem Alltagsrock.
Das iſt unſer Troſt. Aber wäre doch ein inniger
Connex da, den wir nur nicht ſehen, zwiſchen den
Werken der großen Geſchichte und den Thaten der
kleinen Menſchen? Spiegelte ſich das Ungeheuerliche
des Weltbrandes wieder im Thun der Individuen,
dort die Revolution in der Deſorganiſation der
natürlichen Gefühle, und der krankhafte Drang,
der Welteroberer erzeugt, riefe hier in der ſchwa¬
chen Weiberbruſt den Kitzel hervor zur ſcheußlichen
That!“


Er blätterte weiter in einem Convolut. Es wa¬
ren Privatcorreſpondenzen der gefangenen Geheim¬
räthin: „Welcher Verſtand! welche klare Erwägung
der Verhältniſſe, welche ruhige, treffende Beobachtung
im Urtheil über Perſonen! Und nirgends nur ein
Wink von auswärts her! Alle ihre Verbindungen
beſtehen die Probe. Und vor allem dieſer!“ Er
überlas noch einmal die Billette, welche Wandel an
die Lupinus gerichtet, und mit ihrer ganzen Corre¬
ſpondenz zu den Akten genommen waren.


Er fuhr, wie ein Unzufriedener mit ſich ſelbſt,
mit beiden Händen über das Geſicht:


„Wie ein Criminalrichter ſich in Acht nehmen
muß, auch auf den dringendſten Verdacht hin, eine
beſtimmte Meinung zu faſſen! Wie leicht verführt
er ſich, und wie ſchwer wird es ihm, dann wieder
auf den richtigen Weg einzulenken! — War ich nicht
ſchon innerlich überzeugt von der Identität jenes von
[315] der franzöſiſchen Juſtiz verfolgten Aventuriers mit
Herrn von Wandel! — Seine Verbindung mit meiner
Giftmiſcherin erſchien mir als ein nur zu deutlicher
Fingerzeig! — Selbſt die kecke Weiſe, wie er ſich mir
damals aufdrängte, konnte mich noch nicht ganz über¬
zeugen. Man hat Beiſpiele — und er iſt klug, ſehr
klug! — Aber dieſe Briefe an die Lupinus! — Der
klarſte Spiegel einer unbefangenen Seele, beſſer als
er ſich ſelbſt darſtellt. Er mag anderweitig — aber
in dieſer Sache iſt er nicht implicirt. Nichts von
Oſtentation, Raffinement! Er ſchreibt wie ein welt¬
erfahrner Mann. Seine Rathſchläge, wie vernünftig!
Er warnt ſie vor der Exaltation, ihr aufrichtiger
Freund; anfänglich zwar ſcheint ein andres Gefühl
im Spiele, die Neigung ſteigert ſich, aber dann dies
allmälige Zurückfallen in den Ton der Achtung und
des Reſpectes. — Schade, daß ihre Briefe fehlen!
Ja, eine Ahnung von dem, was in ihr vorging, mag
er gehabt haben, darum zog er ſich zurück. Und ſoll
ich es ihm als Verbrechen anrechnen, daß er ſich jetzt
Mühe giebt, eine von ihm hochverehrte Frau zu ver¬
theidigen? — Als Criminaliſt ſollte ich es vielleicht,
als Menſch kann ich es nicht.“


Fuchſius war an ein anderes Convolut, das auf
einem Nebentiſch lag, getreten. Es waren franzöſiſche
Akten, er nahm eine Silhouette heraus und hielt ſie
an's Licht: „Und was bedeutete die Aehnlichkeit eines
Schattenbildes mit einem lebendigen Menſchen, wenn
ſie zu entdecken wäre! — Und dann, wie vieler Jahre
[316] Staub hat an dieſen Papieren gezehrt! — Uebrigens
— ſagte er mit wehmüthigem Lächeln — muß man
die Gefälligkeit der franzöſiſchen Behörden bewun¬
dern. Daß wir in einem Kampf auf Leben und Tod
ſind, in einem Kriege, der ſie verpflichtet, Tauſende
und aber Tauſende der Unſern umzubringen, hindert
ſie nicht, uns in unſerm köſtlichen Rechte beizuſtehen,
damit wir ja nicht fehl gehen, ein uns verfallenes
Juſtizopfer, und wäre es auch aus ihren Reihen,
zum Tode zu fangen! Welche Zuvorkommenheit!
Es war Laforeſt's letzter Akt hier unſerm Kanzler die
Akten aus Paris zu communiciren. Eine ſchöne Sache
um das Band der Civiliſation: Die Revolutionen,
die große Verbrecher krönen, retten die kleinen nicht
vorm Galgen. Die ganze Welt wird für ihn zum
Netz und ein Verbrecher findet in keinem Staat und
keinem Volke mehr ein Aſyl!“


Er war an's Fenſter getreten. Es war noch
todtenſtille, finſtre Nacht, obgleich ſchon hie und da
in abgelegenen Gehöften die Hähne krähten. Die
Straßenlampen brannten düſter, die Laternen wurden
vom Morgenwinde geſchaukelt. Ob er horchte — ?
Er hörte nicht mehr den Kanonendonner, aber der
Tritt jedes verſpäteten oder verfrühten Fußgängers
ſchallte aus der Tiefe zu ihm herauf. Fuchſius wohnte
hoch; er konnte die Dächer der nächſtgelegenen Straßen
mit niedrigen Häuſern überſchauen. Als er nach den
Sternen ausſchaute, ſah er einen fernen Lichtſchein.
Es kam aus einem Hoffenſter in einer jenſeits ge¬
[317] legenen Straße Er kannte die Straße, das Haus,
das Fenſter. Hier wohnte der Legationsrath. Das
Fenſter gehörte zu ſeiner Küche, die Küche diente ihm
zum Laboratorium. Was konnte Wandel ſo früh hier
zu ſchaffen haben? Er war ein Nachtſchwärmer; er expe¬
rimentire nie anders als bei Tageslicht, hatte er ſelbſt
zu Fuchſius geſagt. Was präparirte er jetzt? Es war
zwiſchen drei und vier. Und das Licht verſchwand
nicht. Gedanken durchzückten ihn in raſcher Folge.
Was kann er in dieſer Nachtſtunde experimentiren?
Warum die Heimlichkeit? Warum hat er, bei aller
Offenherzigkeit in andern Dingen, Niemand klaren
Wein über ſeine Vermögensverhältniſſe eingeſchenkt?
Warum ſchweigt über ihn der alte van Aſten, der
einmal merken ließ, daß er etwas wiſſe, und jetzt be¬
hauptet, daß er nichts weiß? Er hatte Wechſel von ihm in
der Hand! — Wechſel! — Fuchſius ſah Wandel ſchrei¬
ben. Er rieb ſich wieder die Stirn. Plötzlich ſaß er am
Tiſch und wühlte in den franzöſiſchen Akten. In
einem kleinen vergilbten Handbillet verfolgte er mit
dem Auge und mit dem Finger die Buchſtaben. Ebenſo
raſch riß er das vorige Aktenſtück herbei, und verglich
Wort um Wort, es ſchien Buchſtabe um Buchſtabe.
Es war ein franzöſiſch geſchriebenes Billet Wandels an
die Lupinus: „Welche täuſchende Waffe die Aehnlich¬
keit der Schriftzüge! Wie man auch da ſich in Acht
nehmen muß!“ Aber plötzlich vergrößerten ſich ſeine
Augen, ſein Mund öffnete ſich — ein, zwei — drei
Worte — nicht nur die Schriftzüge der Buchſtaben,
[318] die Schleifzüge, die Abbreviaturen waren dieſelben,
auch die ungewöhnliche Orthographie.


„Floreſtan Vanſitter!“ rief er aufſtehend, und
es ſchien, als fröſtele ihn. Er warf einen Blick in
den Spiegel, ſein Auge glänzte ihm entgegen, ein
Glanz, den man der Freude beimißt. „Pfui! ent¬
fuhr es ſeinen Lippen. Iſt das nicht die canibaliſche
Luſt des Menſchenfreſſers, wenn er ſein Opfer auf
Schußweite erblickt! — Ach, wir ſind alle Canibalen,
alle, uns dürſtet nach Menſchenblut. Bin ich der
Einzige, deſſen Geſicht ſich röthen wird von diaboli¬
ſchem Entzücken, wenn es an's Tageslicht kommt!
Wie wird die Geſellſchaft hier von der Wolluſt des
Entſetzens beben, wenn es ausgeſprochen iſt, wenn
der Mann, mit dem ſie Hände gedrückt, Gläſer an¬
geſtoßen, zu dem ſie ſich gedrängt, von deſſen Lippen
der Honig geiſtvoller Unterhaltung floß, arretirt, in
Ketten eingebracht wird, ein gemeiner Verbrecher.
Unmöglich! werden ſie rufen und doch innerlich zittern,
wenn es nun nicht wahr wäre! — O du Mantel
der Humanität, der uns ſo ſchön ſitzt, aus welchen
Mondſcheinſpinnefäden biſt du gewebt!“


Als er ſich angekleidet und der graue Tag
ſchon durch die Fenſterſcheiben blickte, ſtand ein
junger Menſch in unanſehnlicher Kleidung vor dem
Rathe.


„Nichts von Wichtigkeit, antwortete der Einge¬
tretene auf eine Frage des Rathes. Ihr Benehmen
im Gefängniß bleibt daſſelbe. Sie ließ den Hofrath
[319] Heim, der ihr die Wahrheit ſagte, anlaufen und ver¬
bat ſich ſeine fernere Theilnahme.“


„Sie kennen wir, entgegnete Fuchſius, aber mein
Auftrag war, daß Sie auf alle Ereigniſſe und Be¬
wegungen in dem Kreiſe Acht hätten, dem ſie bis
jetzt angehört. Was haben Sie da beobachtet, Eckard?“


„Nicht das Geringſte, was zur Sache gehört,“
erwiderte Eckard mit einiger Selbſtzufriedenheit.


„Ob es dazu gehört, werde ich beurtheilen. Was
macht ihr Schwager?“


„Er wird ſich doch nicht freuen, daß er penſionirt
iſt. Der Auszug aus ſeiner Amtswohnung in der
Voigtei liegt ihm noch in den Gliedern. Er ſpuckt.
Neulich in der Weinſtube bei Sala Tarone ließ er
einen Witz los. Sie haben darüber gelacht. Das
paſſirt ihm jetzt ſelten.“


„Welchen?“


„Damals, als er wirklich eine Bêtiſe begangen,
ſagte er, nämlich mit den Gefangenen, ſei er mit
blauem Aug davongekommen, und jetzt müſſe er
büßen, wo er unſchuldig ſei wie ein neugeboren
Kind. Er hätte doch ſeinem Bruder nie was zu
trinken gegeben. Nun müſſe er aus Haus und Brod,
bloß weil es ſich nicht ſchicke, daß er der Kerkermei¬
ſter ſeiner Schwägerin würde.“


„Die Juſtiz iſt blind, trifft aber in der Regel
doch am rechten Fleck. Noch etwas von ihm?“


„Er heirathet ſie. Das iſt ausgemacht. Im
Dom iſt ſchon die Trauung beſtellt.“


[320]

„Aus Depit, daß er die Voigtei verlor?“


„Nu ja! Er ſagt aber, weil er das Heulen
der Charlotte nicht länger aushalten können. Das
iſt wahr, ihr Wachtmeiſter iſt bei Saalfeld niederge¬
hauen, als er den Prinzen raushauen wollte.“


„Was iſt denn nicht wahr?“


„Daß der Major Stier von Dohleneck auch da
geblieben wäre. Der iſt nur bleſſirt vom Pferd ge¬
fallen. Sie haben ihn ſplitternackt ausgezogen, dann
gefangen genommen, dann hat er ihnen ſein Ehren¬
wort geben müſſen, und ſo kommt er retour nach
Berlin. Die Baroneß Eitelbach weiß es nur noch
nicht; ſie geht ſchwarz.“


Der Vigilant mußte ſehr genau, auch mit den
innern Familienverhältniſſen, vertraut ſein. Ein flüch¬
tiges Lächeln ging über die Lippen des Rathes.


„Was macht Geheimrath Bovillard?“


„Sieht ſchon wie eine Leiche aus. Laxirt einen
Tag um den andern; zur Abwechſelung nimmt er
auch Vomiſſements. Der Legationsrath Wandel ſagt,
wenn er ſo fortführe, würde es ihm an's Leben ge¬
hen. Es ſei kein Spaß damit. Die Ruhr geht
ohnedies bei der Witterung um, und die Werderſchen
bringen unreifes Obſt. Man wiſſe aber gar nicht,
was noch draus werden könne, denn die Ruhr könne noch
was ganz Andres ſein, woran jetzt kein Menſch denkt.“


Fuchſius hatte nur auf den einen Namen Acht
gegeben: „Läßt der Legationsrath ſich viel beim Kran¬
ken ſehn?“


[321]

„Nicht eben. Er ſteckt ja faſt immer bei der
Braunbiegler. Auch mit dem Baron Eitelbach hat
er viel zu ſchaffen. Der mag ihn nicht; aber er
läßt ihn nicht los. Beſonders wenn er in der Fa¬
brik iſt, da ſpricht er in allen Dingen mit. Der
Baron ſagte: „wenn er mal in den Farbekeſſel fiele,
dann wäre auch nichts verdorben, als die Farbe.“


„Eckard!“ Der Rath zog ihn in den Winkel,
als könnte die Luft hören, was er ihm zu ſagen hatte.
Er ſchloß: „Von jetzt ab vigiliren Sie auf ihn, Schritt
und Tritt. Sie laſſen ihn keinen Moment aus dem
Auge, wo er hingeht, an wen er Briefe abſchickt,
von wo er Briefe empfängt, und wo möglich ſehn
Sie durch ſeine Wände. Iſt denn durch ſeine Diener¬
ſchaft nichts zu ermitteln?“


„Er wechſelt oft die Bedienten und ſie kommen
nie weiter als in ſeine Wohnzimmer. Die Mädchen
im Hauſe ſagen, in der Küche müſſe 's wie im Schweine¬
ſtall ausſehen, er läßt keinen Beſen rein.“


„Was lächeln Sie?“


„Die Mädchen meinen, wenn eine Hintertreppe
wäre, ſo begriffen ſie's.“


„So fährt der Spiritus familiaris wohl durch den
Schlott! ſprach Fuchſius für ſich. Seltſam, auch er
wie ſie nachweislich ohne nähern Umgang, ohne einen
Vertrauten, ein iſolirtes Ungeheuer, das, wie der
Schwamm, aus der Luft den Athem ſaugt.“


„Es war ſchon Einer mal drin, ſetzte Eckard im
Fortgehen hinzu, der ſagt aber nichts.“


V 21[322]

„Wer?“

„Der alte van Aſten.“


„Wie kam der hinein?“


„Sie ſagen, er hätte die Thür aufgelaſſen.
Seitdem läßt er die Thür nicht mehr auf.“


„Haben Sie Verdacht gegen den alten van Aſten?“


Der junge Vigilant ſchüttelte den Kopf: „Wenn
er auch die tauſend Stückfäſſer in Stettin auf den
Buckel laden könnte, wo ſollte er damit hin? Er iſt
ein ruinirter Mann, rein in Rothwein. Durch 'nen
Pfuſchmakler hat er ſchon unter der Hand zum hal¬
ben Preis ausgeboten. Wer will's jetzt! Gewinnen
die Franzoſen, ſo trinken die's aus und zahlen nicht,
gewinnen wir, ſo finden Unſre über'm Rhein den
Wein wohlfeiler. Vielleicht, ſetzte er mit ſchlauer
Miene hinzu, ſoll ihm der Herr von Wandel den
Medoc in was Andres verwandeln, was Käufer fin¬
det. Er iſt ja ein Tauſendkünſtler.“


„Vigiliren Sie!“ ſchloß der Rath die Unter¬
redung.


Ja, wenn die Wände, die des Legationsraths
Wohnung umſchloſſen, vor ihm niedergefallen wären,
und er hätte einen Blick frei gehabt!


Auch der Legationsrath konnte in der Nacht
nicht ſchlafen, auch er hörte den Kanonendonner,
auch unter ihm zitterte das Bette, der Himmel leuch¬
tete, er ſah die Bataillelinien hin und her ſchwanken
und war aufgeſprungen, um Herr zu werden ſeiner
Sinne.


[323]

Auch er zündete Licht an und ergriff eine Lec¬
türe, es war zufällig dieſelbe, die Fuchſius ergriffen.
Da ſchlug er die Stelle auf:


Auf ſiebzig Jahr kann ich mich gut erinnern;
In dieſem Zeitraum ſah ich Schreckenstage
Und wunderbare Ding', doch dieſe böſe Nacht
Macht alles Vor'ge klein.


Der Leſer hielt inne: „Ein Zeichen! Warum dieſe
Nacht?“ Er las weiter:


Der Himmel, ſieh, als zürn' er Menſchenthaten,
Dräut dieſer blut'gen Bühn'. Die Uhr zeigt Tag,
Doch dunkle Nacht erſtickt die Wanderlampe:
Iſt's Sieg der Nacht, iſt es die Scham des Tages,
Daß Finſterniß der Erd' Antlitz begräbt,
Wenn lebend Licht es küſſen ſollte?


Er warf den Band fort: „Albernheit! Was hat der
Himmel ein Recht, auf Menſchenthaten zu zürnen!
Wir ſind's, die die weſenloſe Leere bevölkern, die
Schwächlinge mit ihren Phantaſiegeſpinnſten, die
Starken mit ihren Thaten. Da iſt die Frage: wel¬
cher Zauber iſt ſtärker, die Vogelſcheuchen, die ſie an
die Sterne binden, oder der Wille, der der Nacht
und ihren Uhuſtimmen in's Antlitz, lacht?“


Er zündete eine chemiſch präparirte Kerze an,
welche einen beſonders hellen Schein warf, und trat,
was er wirklich ſelten bei Nacht that, in ſein Labo¬
ratorium. Alles, wie er es am Abend verlaſſen, dort
hingen die Bilder, da das Gerippe, die Retorten,
Kolben, Tiegel auf dem Herde; einige kleine Fläſch¬
chen, auf die ſein Auge zuerſt fiel, ſtanden wie zur
21*[324] Abkühlung am Fenſter. Er hielt den Athem an,
wie um zu horchen. Es bewegte ſich außer ihm
etwas. Er biß ſich in die Lippen: „Thorheit! es iſt
die aufgeregte Phantaſie von der Lecture des Dich¬
ters, des größten, der geboren ward, aber warum
ließ das Schickſal in einer dunklen Zeit den Rieſen
an's Licht treten, daß an ſeinen gigantiſchen Glie¬
dern noch immer ihre Moderfetzen kleben! Er hat
Geiſter beſchworen, ich kann es auch. Nur Jeder in
ſeiner Art!“


Da bewegte ſich das Gerippe ſichtlich, ein ſchril¬
lender Ton kam aus der Mundhöhlung, es rauſchte
etwas heraus, es wehte durch die Luft und das Licht
erloſch. Wandel ſank nicht zu Boden, aber er preßte
den Leuchter ſo feſt, daß das Metall eingebogen war,
der Todtenſchweiß, der von ſeiner Stirn tropfte, hatte
ihn aus ſeinem Starrkrampf geweckt.


„Von einem Nachtvogel ſich erſchrecken laſſen,
der in ſeiner Angſt durch den Schornſtein eindrang!“
rief er, nachdem er mittelſt eines chemiſchen Feuer¬
zeuges das Licht wieder angezündet. „Flattre nur,
Unhold, Du biſt kein Leben, und lügſt keines mehr
der ſchönen Hülle an. Es giebt keine Geiſter, nur
Spuk, den, den die Schwäche unſrer Nerven gebiert.
Aber ein Spuk und eine Verhöhnung unſrer Kraft,
daß wir uns zumeiſt von denen in Angſt ſetzen laſ¬
ſen, die ſelbſt vor Angſt aus ſich herausgehen.“


Aber weshalb war er hier? Um mit den Ge¬
ſpenſtern, an die er nicht glaubte, eine Lanze zu
[325] brechen? — Warum hatte ihn die Dröhnung des
Kanonendonners, warum das Phantasma der Schlacht
aufgeſchreckt? Berührte ihn der Ausgang, welcher
es ſei? — „Doch! rief er plötzlich. Das iſt der
Vortheil jener chaotiſchen Kataſtrophen, welche die
kleine Menſchenwelt und ihre Ameiſenhaufen, Staat
und Geſellſchaft genannt, durcheinanderwerfen, daß
wir uns da frei fühlen. Wo das Haus über ihren
Köpfen zuſammenbricht, merken ſie nicht das Inſect,
das ſie ſticht. — Die Kerker öffnen ſich — vielleicht!
Die Schuldbücher werden zerriſſen — vielleicht! Es
wird vergeſſen, Alles — nein, doch Vieles — auch
das? — Vielleicht.“


Er nahm die Fläſchchen, hielt ſie gegen das
Licht und that ſie dann in ein Etui. „So viele Ar¬
beit um — eine Bagatell. Ich ging doch an ſchwe¬
rere mit leichterm Muth, faſt im elaſtiſchen Tänzer¬
ſchritt. Aber der alte Aſten hatte Recht. Die Po¬
lypragmoſyne hat mir Schaden gethan. Das erſte
Geſetz lautet: nicht zu Vieles im Aug! Dies Ab¬
wägen verwirrt und ſchwächt [unſre] Sehkraft. Raſch
drauf los. Die Weisheit unſrer Väter: Friſch ge¬
wagt, halb gewonnen! Es iſt eine ewige alte Fa¬
bel vom Hunde und dem Fleiſch, und doch, wer
wehrt ſich vor dem Blendwerk, daß ihn das große
Bild im Waſſer verlockt. Und das: Morgen, mor¬
gen, nur nicht heute — wie viel kühnen Entſchlüſſen
brach es den Hals.“


Und doch ſchien er ſelbſt durch hervorgezogene
[326] Sprüchwörterphiloſophie entweder ſich Muth einzuſpre¬
chen, oder ſich immer noch einen Aufſchub abzuliſten. Er
packte die Fläſchchen aus, um zu ſehen, ob ſie auch
eingewickelt waren. Er befühlte auch Gegenſtände,
die er nicht mitnehmen wollte. Es war ſo heiß in
der Küche, ob von der eingeſchloſſenen Luft oder von
ſeiner innern Hitze? Schon hatte er die Thüre in
der Hand, als er zurückkehrte. Ihm fiel ein, daß er
auch auf die ſchlimmſte Eventualität ſich waffnen
müſſe. „Sie dürfen auch nicht das finden, was ſie
bei der Lupinus gefunden.“ Er mußte ſchon vor¬
gearbeitet haben. Nur aus einem Tiegel ſchabte er
vorſichtig den Bodenſatz und warf ihn in den Ab¬
zugsgraben. Dann ſtreute er verſchiedenen Farben¬
puder verſchwenderiſch umher. Die Küche bekam
dadurch einen Wohlgeruch: „In meinen Schmink¬
präparaten mögen ſie meine Arcane entdecken.“


Dann näherte er ſich dem Gerippe: „Wieder
eiferſüchtig? Gieb mir die Hand, Angelika.“ Sie
gab ſie ihm, aber ſchüttelte er ſo heftig, oder war
der Wandnagel loſe? Das Knochenweib ſtürzte herab.
Wir wiſſen nicht, ob er geſchaudert, doch ſchnell hatte
er ſich und das Gerippe gefaßt: „Das hätte ein bö¬
ſer Fall werden können, wie damals, als Du vom
Pferde ſprangſt und ich Dich auffing. Du nannteſt
mich Deinen Lebensretter. Ja, ein theurer ward ich
Dir. Zwei Mal für das eine Bischen Rettung nahm
ich Dein Leben. Ihr armen jungen Weiber! Mit
Eurem warmen Blut und leichten Sinn ſeid Ihr nun
[327] einmal vom Fatum deſtinirt, in unſre Netze zu flat¬
tern. Hier lernte ich Klügere, Kältere kennen, die
auch denken, ſogar berechnen konnten. Das war
Euch unmöglich. Und doch weiß ich nicht, ob Ihr
nicht die Glücklicheren ſeid. Ihr nipptet und dann
ſchlürftet Ihr die Wonne des Lebens in vollen Zü¬
gen. Dann — mit einem Mal — war es aus!
Aber jetzt — jetzt — mach' mir das Leben nicht
ſchwer. Du könnteſt hier an der Wand in einem
unbedachten Augenblick plaudern. Dort im Kaſten
biſt Du nicht gefährlich, Du biſt ein Präparat, eine
anatomiſche Studie. Ruhe da ſanft, und was wür¬
deſt Du ſagen, Liebchen, wenn ich Dir über Jahr
und Tag eine Geſellſchafterin zulegte? Schön und
groß wie Du, aber etwas dumm. Was thut das?
Sie wird Dich nicht langweilen. Sie iſt ſtumm wie
Du. Und wenn Ihr Beide dann friedlich neben ein¬
ander ruht, ſieh, den Troſt gebe ich Dir, bei Dir wird
mein Sinnen bleiben, wir werden nach wie ko¬
ſen, bei Dir werde ich mir Rathes erholen, Du wirſt
mich verſtehen. Die Andre iſt eine Gliederpuppe,
jetzt gelenkig, dann wie Du, aber Deine Folie.
Adieu, mein Herz!“


Und wer behauptet, daß ſeines nicht doch ſchlug,
daß der kalte, gräßliche Hohn auf ſeinen Lippen nicht
nur der Mantel war, der die Natterſtiche, das con¬
vulſiviſche Aechzen, die Qualen, die keinen Namen
haben, bedecken ſollte? Nicht täglich, wie er der Lu¬
pinus log, drückte er das Gerippe an ſeine Bruſt.
[328] Es waren nur die fürchterlichſten Momente, wo er
Kraft bedurfte, und er konnte ſie in ſich nicht finden.
Wer ſah den Angſtſchweiß auf ſeiner Stirn, wer,
wie die Knie wankten, wie er ſich an das Trep¬
pengeländer hielt, als er hinunterſtieg. Es war
ein ſaurer Gang. Warum? das wußte er ſich
nicht zu ſagen. Er hatte ſchon viele Gänge der Art
gemacht.


Aber draußen ſah man ihm nichts davon an.
Wie der Hahn, um die Witterung anzukrähen,
ſchlürfte er ſie ein. Die Luft war grau, regenhaltig,
eine bange Stimmung, wie ſie einem großen Un¬
glück vorangeht. Der Tauſendkünſtler hatte ſchnell
die Phyſiognomie ſich angeeignet.


Wo fand er nicht auf der Straße Bekannte!
Wo ſah man ſich nicht ängſtlich an, hatte ſich trübe
Nachrichten, bange Ahnungen mitzutheilen. Schon
wandelten Frauengeſtalten in Trauer, die frühe Nach¬
wirkung des Gefechtes von Saalfeld.


Der Baron Eitelbach ging zur Börſe. Er ward
unterwegs von Mehren angeſprochen. Man condo¬
lirte ihm. „Wie nahm ſie's auf?“ — „Ich kann
wohl ſagen, ſie deployirt eine große Seelenſtärke.“
— „Iſt's denn auch ganz gewiß?“ — „Na, warum
denn nicht? Sein Neveu, der Wolfskehl, hat ihn
ſelbſt vom Pferde hauen ſehn; er hat's hergeſchrieben.“


Der Legationsrath trat in dem Augenblick an
die Gruppe, und es war der vollſte Ausdruck inni¬
ger Theilnahme, mit der er dem Baron die Hand
[329] drückte: „Sie ſind ein Mann. Er zog ihn etwas
bei Seite. Und ſie iſt eine Frau, die durch Leiden
geadelt wird. Ich bin überzeugt, daß dies Unglück
den wahren Bund Ihrer Seelen nur feſter ſchlingen
wird. Es iſt ſchön, es iſt edel — ich ſage nicht groß
von Ihnen, daß Sie ihre Empfindungen durch ſolche
Theilnahme ehren.“ —


„Gehn Sie doch zu ihr, Legationsrath, tröſten
Sie ſie. Sie hört Sie ſo gern plaudern.“


Ein zweiter Händedruck: „Erlaſſen Sie mir
das. Sie werden ſelbſt den beſten Troſt wiſſen.“


Als noch Jemand an die Gruppe getreten, war
der Legationsrath plötzlich fortgeſprungen. Fuchſius
ſah ihm verwundert nach, aber noch verwunderter
ſah er dem zu, was Wandel begann. Er unterhan¬
delte mit einer Obſthökerin. Er zog die Börſe und
ſchien eine anſehnliche Summe ihr in die Hand zu
drücken. Dann nahm er plötzlich die Körbe mit
Birnen und Pflaumen, den ganzen Vorrath der Händ¬
lerin, und warf ihn in einen der tiefen Rinnſteine,
die den ganzen ſchwimmenden Vorrath alsbald in
ein Abzugsloch trieben. Die Straßenjugend jubelte,
Andre jubelten nicht, ſie ſchimpften auf den vorneh¬
men Herrn, der ſo mit Gottes Gabe umgehe; ſtatt
armen Leuten ſie zu ſchenken, verderbe er ſie. Es
gab einen kleinen Auflauf, aus welchem Wandel ſich
nur mit einiger Mühe losmachte.


Die Herren in der Gruppe hatten zwar mit
Verwunderung zugeſehen, doch ahnten ſie die Auf¬
[330] klärung. Wahrſcheinlich war das Obſt unreif, oder
der Legationsrath hielt es dafür. Er hatte ſchon an
mehren Orten von der unverzeihlichen Nachläſſigkeit
der Polizei geſprochen, daß ſie ſolchen Verkauf zu¬
laſſe, wo die Ruhr in der Stadt graſſire; man wiſſe
ja nicht, was noch daraus entſtehe.


„Ihre Intention in Ehren, ſagte Jemand zu
dem Zurückkehrenden, in dieſer allgemeinen Calami¬
tät iſt es aber nicht recht, Anlaß zum Scandal zu
geben. Das Volk iſt ohnedem aufſäſſig.“


„Und was helfen zwei Körbe weniger!“


„Sie haben vollkommen Recht, meine Herren,
ſagte Wandel, doch wer iſt Herr über ſeine Impulſe!
Zudem ſehe ich ein Geſpenſt, welches mir fürchterli¬
cher dünkt als alle Kriegscalamitäten, die uns noch
drohen mögen.“


Man ſah ihn verwundert an, auch auf die
Sonne, die eben hell durch die Nebel brach, eine
Scenerie, die gar nicht zu Geſpenſtererſcheinungen
paßte. Aber Wandels Geſicht hatte den Ausdruck:


„Wiſſen Sie, meine Herren, welches Unglück
uns droht? Noch iſt es nicht hier, aber es wogt
aus dem fernen Aſien herüber, eine Peſt, gegen die
der ſchwarze Tod, das gelbe Fieber, und was ſonſt
den Namen führte, unbedeutend erſcheinen werden.
Eine Krankheit, die ganze Ortſchaften, Landſtriche
hinrafft, entwickelt ſich in dem brittiſchen Indien.
Die engliſchen Aerzte geben entſetzliche Schilderun¬
gen und behaupten, daß ſie ihren Siegerzug durch
[331] die ganze Welt halten werde. Sie nennen ſie Cho¬
lera morbus
, und was das Schrecklichſte, es iſt kein
ärztliches Mittel dagegen zu entdecken. Sie fängt
mit Vomiren an, heftiger Dyſſenterie, dies ſteigert
ſich in wenigen Stunden bis zum Tode. Der ge¬
ringſte Diätfehler, namentlich der Genuß von unrei¬
fem, ja, ſelbſt von reifem Obſt ruft ſie hervor. Ich
kann Ihnen meine Beſorgniß nicht verhehlen, ich
hörte durch Selle vorhin von Fällen, die mich fürch¬
ten machen, daß ſie ſchon in den Ringmauern von
Berlin iſt. — Ich bitte, laſſen Sie ſich nicht ängſt¬
lich machen, meine Herren, aber hüten Sie ſich ja
vor jeder Erkältung, vor Obſtgenuß. Ja, ja, meine
Herren, wir wiſſen Alle nicht, was uns bevorſteht,
und welche neue Wendung das Schickſal nimmt. Wo
dieſe Krankheit graſſirt, hört der Krieg von ſelbſt
auf. — Sie fühlen ſich doch nicht unwohl, liebſter
Baron, Sie faſſen ſich an den Magen?“


Der Baron hatte Melone gegeſſen. Die Ge¬
ſichter einiger Andern verriethen die Nachwirkung
einer zu lebhaften Schilderung. Da erſt erblickte
Wandel den Rath Fuchſius. Er ergriff ſeine Hand:
„Ach, mein wertheſter Freund! Vorſicht, Vorſicht,
meine Herren, weiter nichts! A propos, was macht
denn unſer Freund Bovillard? Ich ſah ihn ſeit vor¬
geſtern nicht.“


Der Rath zückte die Achſeln: „Durch ſeine
Selbſtcur —“


„Thut er Buße, fiel der Baron ein, für die
[332] Gänſeleberpaſteten und Trüffelwürſte, um die er ſeine
Nebenmenſchen übervortheilt hat. Es hat Einer aus¬
gerechnet, was er in ſeinem Leben verſchlungen hat
— die Summe iſt gar nicht auszuſprechen.“


„Ich bin ſehr um ihn beſorgt, ſagte Wandel,
den Kopf ſchüttelnd. Die fixe Idee kehrt immer wie¬
der. Und ſonſt die Raiſon ſelbſt! Beſtätigt ſich noch
das gräßliche Gerücht, daß ſein Sohn gefangen und
als Spion — das Leben verloren hat — ſo gebe
ich auch den edlen Mann verloren. Heim will es
nicht Wort haben, aber — glauben Sie mir — ſprach
er, Fuchſius bei Seite ziehend, das ſind ſchon die
veritablen Symptome der Cholera. Ach, mein Gott,
ſprach er, ſeine Hand drückend, theuerſter Freund, was
macht denn unſre Freundin?“


„Sie wird mit der Rückſicht behandelt, die ihre
Bildung beanſprucht.“


„Davon bin ich bei ſolchem Inquiſitor über¬
zeugt. Aber noch kein Geſtändniß, keine Regung
des Gewiſſens?“


„Stolz, feſt, ſtarr wie immer.“


„Dann bin ich von ihrer Unſchuld überzeugt.
Jedes Weib verräth ſich, wenn der rechte Inquirent
zu ihrem Gefühle ſpricht.“


„Dieſer Ausſpruch des vollendetſten Weiberken¬
ners ſollte auch mir Beruhigung geben.“


„Nein, nein, inquiriren Sie, ſcharf und ſchär¬
fer, nehmen Sie ſie in's Gebet, wie ich jetzt meinen
Baron. Er will noch nichts davon wiſſen, er iſt ein
[333] ſtarrer Anhänger des Alten, der gute Eitelbach, aber
bei einer Flaſche Burgunder hoffe ich es ihm ein¬
leuchtend zu machen, denn er iſt doch auch ein guter
Patriot —“


„Was?“


„Daß wir unpatriotiſch, unverantwortlich han¬
deln, wenn wir nach wie vor unſer Tuch mit Indigo
färben. Wozu den Engländern den Gewinnſt gön¬
nen, wenn wir das Blau im Lande haben?“


„Wollen Sie die Uniformen in Berliner Blau
tauchen?“


„Kein Scherz. Die Mark producirt ſeit alter
Zeit einen Färbeſtoff in ihrer Waidpflanze, welcher
bis zur Entdeckung der Schifffahrt nach Oſtindien
nicht nur für das Bedürfniß ausreichte, ſondern für
Brandenburg zum ergiebigſten Handelsartikel ward.
Da verließ man die Production, natürlich, weil der
Indigo wohlfeiler, beſſer präparirt war. Jetzt, durch
die Kriegsverhältniſſe, iſt er nicht mehr wohlfeil,
durch Sperrung der Schifffahrt kann er uns ſogar
ganz abgeſchnitten werden, es iſt alſo Aufgabe der
Induſtrie, ein Surrogat zu finden, welches in die¬
ſem Falle ſchon vor uns liegt. Warum in der
Fremde ſuchen, was wir zu Hauſe haben! Es kommt
nur auf die Präparation an, und ich hoffe, den
Baron heut beim Frühſtück zu überzeugen, daß
die, welche ich verſucht, dem Zweck entſpricht. Ja,
damals war Waid nichts gegen Indigo, aber iſt die
Chemie nicht fortgeſchritten? Ich wage zu behaup¬
[334] ten, der Indigo iſt jetzt nichts gegen den Waid. Im
Ernſt, die Sache verdient Aufmerkſamkeit. Preußens
Rock iſt blau, und die Natur weiſt uns auf unſern
Fluren die Pflanze, welche dies Blau in reicher
Fülle enthält. Uns in jeder Beziehung unabhängig
vom Auslande zu machen, iſt, dünkt mich, die erſte
Aufgabe jedes Patrioten. Beſter Rath, beehren Sie
uns mit Ihrer Gegenwart bei Dallach, und helfen
Sie mir unſern Baron von ſeinem eigenen Vortheil
überzeugen.“


Fuchſius war vermuthlich der Anſicht, daß es
für einen Patrioten in dem Augenblick näher liegende
Aufgaben gebe, als die Blaufärberei; er lehnte die
Einladung ab. Auch der Baron ſchien nur ungern
vom Arm des Legationsraths fortgeriſſen zu werden.
„Aßen Sie viel Melone? hörte man im Abgehen
Wandel zum Baron ſagen. So ſpringen wir vor¬
her bei Selle an; er verſchreibt Ihnen eine kleine
Magenſtärkung.“


Die Zurückbleibenden hörten nicht die Antwort,
ſie haben den Baron nicht wieder geſehen. „Er ſcheint
ſeinem künftigen Compagnon überhaupt ſehr ungern
zu folgen, der es doch an Aufmerkſamkeit nicht feh¬
len läßt.“


„Iſt die Sache mit der Braunbiegler wirklich
ſchon ſo weit?“ antwortete ein Anderer. Das ſtumme
Lächeln der Andern war eine bejahende Antwort.


Die Indigo- und Waid-Angelegenheit ſchien den
Baron um ſo weniger zu intereſſiren, je mehr der
[335] Legationsrath in ein wahres Feuer der Begeiſterung
gerieth. Auf dem Frühſtückstiſch, in einem ſeparaten
Zimmer der Reſtauration gedeckt, nahmen die Pro¬
ben Tuch, mit Indigo und Waid gefärbt, und die
Fläſchchen mit Färbeſaft faſt mehr Platz ein, als die
Teller und Flaſchen aus Herrn Dallachs Keller.


„Alles ganz ſchön, ſagte der Baron, wenn nur —“


„In Gedanken! Was iſt's?“


„Wenn wir überhaupt noch blaues Tuch brauchen!“


„Was, Sie Patriot und verzweifeln! Was wol¬
len Sie da am Fenſter?“


„Ich dachte, wenn es ein Courier wäre.“


„Wir ſind unter uns, Patrioten Beide. Hören
Sie, liebſter Baron, und wenn's denn wäre, Tuch
brauchen ſie, ſo lange die Welt ſteht. Iſt's nicht
blaues, dann grünes —“


„Und wenn wir franzöſiſch würden?“


„Changiren wir nur etwas das Blau. — Qu'im¬
porte!
Der Weltbürger iſt auch ein Patriot. Aber
Sie trinken nicht. Schmeckt Ihnen der Burgunder
nicht?“


„Das könnte ich Ihnen wiedergeben.“


„Ich bin etwas trunken, nicht vom Wein; aber
ich möchte heut aller Welt um den Hals fallen. Mir
iſt, als ſtände mir etwas Erfreuliches bevor.“


Herr Dallach war eingetreten und erlaubte ſich,
ſeinen Stammgäſten eine Priſe zu offeriren: „Herr
Baron ſehn etwas angegriffen aus. Ihnen iſt doch
wohl?“


[336]

„Es wird vorübergehn,“ ſagte Eitelbach.


„Er iſt ein Anglomane, will an ſeinem Indigo
feſthalten, da ſehn Sie, Dallach, das iſt mit Waid
gefärbt, wie ich Ihnen ſagte — halten Sie's gegen's
Licht — Der Baron krümmt ſich es einzugeſtehen,
das paſſirt ſo obſtinaten Leuten. — Aber was Teu¬
fel, Eitelbach! hätte er ſich beinah vergriffen und
aus der Färbeflaſche eingeſchenkt.“


„In der Stadt iſt man ſehr unruhig, ſagte Dal¬
lach, Niemand weiß recht was, aber es ſollen beun¬
ruhigende Nachrichten eingelaufen ſein.“


„Pah! nichts von Politik. — Herzensmann,
Sie eſſen zu viel Compott. Nach der Melone, Vor¬
ſicht! Vorſicht! Das merken Sie ſich auch, Herr
Dallach, nicht zu viel Obſt Ihren Gäſten, Sie haben
es zu verantworten. Schicken Sie uns Portwein,
der wird dem Magen des Barons gutthun.“


Ein Zeichen für Herrn Dallach, ſich zu entfer¬
nen. Auch der Baron war einen Augenblick aufge¬
ſtanden und wiedergekommen. Der Portwein ſchien
ihm wohlzuthun. Und doch ſaß er wieder in ſich ver¬
ſunken. Es war nicht ſeine Art:


„Eine niederträchtige Geſchichte!“


„Was kümmert meinen Freund, ſchütten Sie
Ihr Herz aus. Mein Gott, Theuerſter, ich weiß es
ja, Sie wünſchen mich nicht als Compagnon. Verdenk'
ich es Ihnen? Wer läßt gern in ſeine Geheimniſſe
einen Andern blicken! Aber die Sache ließe ſich ja
anders arrangiren. Hänge ich denn ſo ſehr an der
[337] Compagnonſchaft in der Fabrik, oder iſt Madame
Braunbieglers Herz grade an's Tuch gewachſen?
Wir machen nach der Hochzeit eine Tour durch Eu¬
ropa. Wer weiß, ob wir wiederkommen.“


„Es iſt nicht das. Denken Sie ſich, der Schmecke¬
danz, der Kerl auf dem Mühlendamm — ein ver¬
fluchter Jude — “


„Hat doch nicht Wechſel auf Baron Eitelbach?“


„Aber Dohlenecks Wechſel aufgekauft, Gott weiß
wie. — Und nun der todt iſt — “


„Bravo! kann er ſich Fidibus davon machen.“


„Nein, er ſchickt ſie meiner Frau.“


„O, das iſt zum Todtlachen.“


„Nein, zum Einlöſen.“


„Iſt der Kerl verrückt?“


„Wenn nur nicht ein Brief dabei wäre — “


„Von wem?“


„Vom todten Rittmeiſter, ich meine, vom Ma¬
jor Dohleneck.“


„Schreiben die Todten wieder Briefe?“


„Nein, eh' er ausmarſchirte. Solch ein Gali¬
mathias. Wenn er fiele, ſollt' er ſich nur an meine
Frau wenden, die ſei ſo ſterblich in ihn verliebt,
daß ſie ſeine Ehre auch nach dem Tode nicht ſitzen
ließe. Bei Lebzeiten hätte er ſie können um den Fin¬
ger wickeln, und ſie hätte gehörig blechen müſſen. Und
wenn ſie nach ſeinem Tode nicht zahlen wollte, ſo —“


„Schnell noch ein Glas Port. Ich kann mir
denken, wie die Niederträchtigkeit Sie afficirt.“

V. 22[338]

Der Baron ſaß zurückgelehnt auf dem Stuhl,
leichenblaß.


„Die Erzählung hat Sie angegriffen. Hoffent¬
lich hat der Jude nicht die Effronterie gehabt, Ihrer
Frau Gemahlin den Brief zu ſchicken.“


„Hat's! Das iſt es eben.“


„O pfui! Sind Sie auch ſicher, daß der Brief
wirklich von Dohleneck iſt? Ich hielt ihn für ſehr
beſchränkt, aber ehrlich.“


„Das iſt's eben — darüber heult ſie mehr, als
daß er todt iſt.“


„Gemeine Seelen! Nun hat ſie ihn kennen
gelernt. — Sie hat doch den Brief in gerechtem
Zorn zerriſſen und die Wechſel auch?“


„Nein — ſie will ſie auslöſen — ſie iſt ob¬
ſtinat. Ich ſoll's aus ihrem —“


„O, das müſſen wir hindern — auf der Stelle
— wir wollen zu ihr — Was iſt Ihnen?“ —


Der Baron ſtürzte hinaus. Er kam nach einer
Weile, von einem Kellner geführt, wieder herein.
Wandel ſchien die Verwandlung auf ſeinem Geſicht
nicht zu bemerken; in ſolcher Agitation ging er im
Zimmer auf und ab:


„Ich kann's mir denken — ihren Seelenzuſtand!
Sie verachtet ihn. Und doch, ſie will ſich dadurch
an ihm rächen, daß ſie ſeine Manen beſchämt. Das
ſoll das letzte Opfer ſein, was ſie auf ewig von ihm
ſcheidet. O, dort in jener Ewigkeit — mit welchem ſtol¬
zen, vernichtenden Blicke wird ſie ihm entgegentreten —“

[339]

Der Baron hörte nichts davon, er konnte nichts
davon hören. Der Legationsrath that einen Schrei
— er riß die Thüren auf. Herr Dallach und die
Kellner, die hereintraten, ſahen die liebende Theil¬
nahme, mit welcher Wandel dem Erkrankten den
Kopf hielt.


„Ein Arzt!“ — „Ein Wagen!“


„Die verdammte Melone! Habe ich ihn nicht
gewarnt?“


Herr Dallach reichte dem Kranken wieder ein
Glas Portwein. Er wehrte es mit der Hand ab,
Wandel ſchenkte ihm ein Glas Waſſer. Er athmete
wieder auf. „Ach, das Waſſer, ſagte Wandel, wenn
die Aerzte erſt ſeine wunderbare Heilkraft ganz kenn¬
ten! — Jetzt nur friſche Luft!“


Es kam kein Arzt, kein Wagen. „Die Stadt
iſt in Verwirrung.“


„Würden Sie ſich ſtark finden, theuerſter Baron,
zu Fuß nach Ihrer Wohnung — ich führe Sie.“


Der Baron war aufgeſtanden: „Es wird gehn,
es wird ſchon beſſer werden. Ich erhole mich.“


„Die verfluchte Melone!“ knirſchte Wandel und
ſtampfte; er ſtülpte den Hut auf. Er zog den Wirth
noch ein Mal bei Seite:


„Herr Dallach, habe ich's nicht geſagt? O, es
wird noch ärger kommen. Wir können uns gratuliren.“


„Was iſt denn, Herr Legationsrath?“


„Die Cholera! ſchrie er ihm in's Ohr. Ein
Anfall der aſiatiſchen Cholera morbus! Und der Leicht¬
22*[340] ſinn! Aber ſtill, liebſter Dallach, erſchrecken Sie nicht
Ihre Gäſte; wir werden bald mehr hören.“


Indem er den Kranken über die Schwelle mehr
ſchleppte als führte, rief er zurück: „Dallach, laſſen
Sie ja Alles auf dem Tiſche ſtehen, wie es liegt.
Man kann doch nicht wiſſen, ob nicht Recherchen —“


Es war ein ſaurer Weg für den Legationsrath.
Zum Glück, daß die Straßenjungen mit andern Din¬
gen beſchäftigt waren.

[[341]]

Sechszehntes Kapitel.
Das groſze Trauerhaus.

Wo der Trauerhimmel über eine ganze Stadt
ausgeſpannt iſt, wer achtet da ſehr auf ein einzelnes
Trauerhaus! Die Aerzte, nach denen er geſchickt,
waren nicht zu Hauſe geweſen. Sei doch der Krank¬
heitsanfall einer Art, daß ein geſunder Körper ſich
ſelbſt heile, hatte er geäußert, oder wenn — dann
war er plötzlich aufgeſprungen, und ließ doch noch
einen Arzt rufen. Er hatte ihm im Vorzimmer die
Symptome beſchrieben, ſie hatten gelacht, und als
der Doctor in's Zimmer trat, hatte er lächelnd den
Puls des Kranken befühlt und auch lächelnd zur
Baronin geſagt: „Etwas Kamillenthee und Einrei¬
bungen — das wird den Patienten bald auf die
Beine bringen, aber wenn er auf den Beinen iſt,
gnädige Frau, dann thun Sie mir den Gefallen und
laſſen ihn nicht wieder Melone eſſen und ſich erkälten.“


Liebevoller, aufmerkſamer, aufopfernder, hätte
ein Bruder den Baron nicht pflegen können. Tag
und Nacht ſaß er abwechſelnd mit der Baronin an
[342] ſeinem Bette. Er trocknete, er rieb den Leib, er
ſchenkte ihm den Thee, den er ſelbſt vorher koſtete.


„Wenn er nur nicht ſo ſpaßhaft wäre!“ hatte
die Baronin gerufen, als ſie in's Nebenzimmer trat,
um Luft zu ſchöpfen, und ſchauderte. Sie ging in
Schwarz. Viele wollten nie eine Seele in dieſen
großen Augen erblickt haben. Heut wären ſie an¬
derer Meinung geweſen. Dieſer Blick voll tiefer
Wehmuth, voll Stolz und Ergebung ſprach nur von
einem Seelenſchmerz. Als ſie die Worte ausrief,
hatte ſie ſich an die Wand gelehnt. Die Wand ant¬
wortete nicht. Da wollte ſie die Worte wiederholen,
aber ſie kamen anders heraus: „Wenn er mir nur
nicht das gethan! Wenn er nur den Brief nicht ge¬
ſchrieben hätte!“


Hatte Wandel durch die Wand gehorcht! Er
war ein anderer, als ſie zurückkehrte. Wie wenn ein
ſcharfer Oſtwind weht, die Mücken und Inſceten,
die uns geneckt und geplagt, mit einem Mal ver¬
ſcheucht und verſchwunden ſind, waren die launigen
Anecdoten, mit denen er ihre Sorge zu verſcheuchen
geſucht, auf ſeinen Lippen erſtorben. Er ſaß da, ein
blaſſes Bild, auch der Seelentrauer. Er hörte kaum
ihr Kommen, kaum ihre Frage: „Wie ſteht es?“


„Wie ſollen die Glieder geſund ſein, wenn der
Körper krank iſt!“ Er ſprang auf.


„Iſt eine Veränderung eingetreten?“ Der
Kranke lag in dem Augenblick ſtill nach der andern
Seite gewandt.


[343]

Wandel ſtand am Fenſter. Lärm, Unruhe, Hin-
und Hergelaufe, kernige Fluchworte, dazwiſchen ein
Geſchrei, das hier in Heulen überging. Ein Reiter
ſprengte auf der Straße vorüber:


„Das iſt der Rittmeiſter Dorville. Ich fürchte,
er bringt Uebles vom Schlachtfelde.“


Eine Stimme rief zum Fenſter hinauf: „Ver¬
loren! Es iſt Alles verloren.“ Was eine Stimme,
was Stimmen! Es war Alles in der Stadt nur eine,
und das war ein entſetzlicher Wehruf. Wohl denen,
die ihn laut machen konnten; der ſtumme Schmerz
iſt der tiefere. Er ſprengt nicht immer die Bruſt,
aber er ſtopft die Adern, er wirkt einen Nieder¬
ſchlag, der alle Functionen der Glieder lähmt. Das
Herz, das ſo muthig noch eben ſchlug, ſcheint ſtill
zu ſtehen, die Gedanken, die gradaus ſchoſſen, zittern
und verirren. Es war kein lauter Aufſchrei in der
Stadt; kein Todeshieb, der eine Wunde geöffnet, aus
der das Herzblut mit einem Mal ausſtrömt; es war
eine Quetſchung, ein Niederſchlag. Ein Uhrwerk war's,
deſſen Räder noch gingen, aber keines griff in's andere.


Die ſtürzten aus den Häuſern, um draußen
Nachricht einzuziehen, aus dem Sprachgewirr, den
Geſichtern, der Luft. Die drangen in die Häuſer,
um ſie von denen zu erhalten, welche darum wiſſen mu߬
ten. Die fragten mit ſcheuem Entſetzen: Was iſt mit
uns? Die drangen: Was ſollen wir thun? — Ach, es
wußte Niemand, was er thun ſollte, die am wenigſten,
die es wiſſen ſollten!


[344]

Ein Knäuel von Hiobspoſten wälzte, flog durch
die Straßen. Hier ſchüttete es die entſetzlichſten aus,
und ſchien ſich erſchöpft zu haben, aber elaſtiſch ſprang
es in die Höhe, um in der nächſten einen neuen
Regen zu ſprühen. Wenn die Beſonnenſten und
Klügſten es nicht faßten, den Kern nicht heraus¬
zogen, was Wunder, wenn die, welche nie gedacht,
Fäden herausſpannen, die in's Mährchenreich ge¬
hörten. Die Franzoſen hatten geſiegt, die Armee
war in die Flucht geſchlagen; die Beſonnenen hatten
wohl Recht, wenn ſie ſchrieen, man ſolle zukochen,
heizen, für Stroh, Decken, Quartiere und Lazarethe
der Flüchtlinge ſorgen, Andere ſchrieen nach Waffen
und Widerſtand. Da ſchreckte beide die Nachricht
zum blaſſen Verſtummen: Nichts von Flucht und
Widerſtand! Unſre Armee iſt aufgerieben, vernichtet,
alle Generale, der König, die Prinzen gefallen! Nicht
unſre Flüchtlinge, die Franzoſen kommen, ſtürmen,
brandſchatzen, plündern! Das ward zwar von Unter¬
richteten dahin corrigirt: die preußiſche Armee ſei von
den Franzoſen nur umgangen worden, Napoleon
habe ſich zuerſt bei Jena auf das Corps Hohenlohe
geworfen und es vernichtet, darauf oder zugleich ſei
die Hauptarmee, wo der König und die Prinzen, bei
Auerſtädt total geſchlagen, der Herzog von Braun¬
ſchweig, der Oberfeldherr im Getümmel erſchoſſen,
und beide geworfenen Corps, auf einander gedrängt,
würden von den Franzoſen nach dem Rheine zu ver¬
folgt; aber für die Begriffe der Maſſe war das zu
[345] ſchwer zu entwirren. Wenn auch einige Kluge cal¬
culirten, dann entferne ſich ja die Gefahr, wenn noch
Klügere meinten, es ſei nur eine Kriegsliſt, um den
Krieg nach Frankreich zu wälzen, ſo hörten Andere
dafür ſchon, wenn ein Piket Huſaren durch eine ent¬
fernte Straße preſchte, die Vorpoſten der Franzoſen
in die Stadt einreiten. Andre aber hatten beſſer
geſehen oder gehört, es waren Ruſſen oder gar Eng¬
länder, die gelandet oder geflogen waren, um Berlin
beizuſtehen.


Natürlich waren das nur Luftblaſen der Angſt
und Furcht in den unterſten Volksklaſſen, die nie um
öffentliche Dinge ſich gekümmert, die in dem Wahne
ſicher träumten, der Bürger dürfe ſich darum nicht
kümmern, es ſei am Staate, ihn vor Gefahr zu
ſchützen. Ach aber die Höheren waren die Allerrath¬
loſeſten in dieſen Stunden. Die noch die Beſſeren,
die wenigſtens nach Rath verlangten. Wäre er da
geweſen, der Wille zur That hätte ſich auch ein¬
geſtellt.


Man ſah Einige durch die Maſſen ſich drängen.
Aber wo Rathes ſich erholen? Die Lenker des Ca¬
binettes ſollten im Hauptquartier ſein. Hier klopften
ſie umſonſt an die Thür eines Großen. Er lag in
einer heftigen Kolik und hatte befohlen, Niemand
vorzulaſſen. Ein Anderer war bei einem Andern,
der Andere war aber wieder anderswohin geeilt. Im
Gedränge trafen ſich zwei, die ſich einſt geſehen und
ſeitdem nicht wieder, Walter und der alte Rittgarten.
[346] „Zum Gouverneur! rief der Invalide. Er muß die
Trommel rühren laſſen.“ — „Trommeln! Das fehlte
noch, rief ein gutgeſinnter Bürger, um den Wirrwarr
voll zu machen.“ — „Es giebt nur Einen, und wenn
er nicht Hülfe weiß —“


Walter ward durch einen lauten Aufſchrei unter¬
brochen, der durch die Stimmen von Tauſenden und
aber Tauſenden immer neu anwuchs. Das waren
Laute des Schmerzes, aber auch der Freude — „Die
Königin! die Königin!“ In der Entfernung bog
ein Reiſewagen um die Straßenecke. Thränen,
Schluchzen, Jubelrufe! Es war in dem Gewirr
nichts zu verſtehen. Ein Tuch, ein Arm wehte heraus.
Die Beiden, die ſich eben gefunden, wurden wieder
getrennt. Jeder hatte ein anderes Ziel. Aber die
Stimmung ſchien ſich geändert zu haben. Der An¬
blick der Königin hatte gewirkt. Der alte Rittgarten
traf auf entſchloſſene Geſichter. Kernworte, Flüche!
Da ſchüttelte einer ſeinen markigen Arm. Rittgarten
ergriff ihn. Er ſprach Worte, die zum Herzen dran¬
gen. Als ſie das Hotel des Miniſters erreicht, hatte
ſich die Zahl bedeutend verſtärkt; es waren kräftige
Männer, alte Soldaten darunter. Wuth und Freude
ſtrahlte auf den Geſichtern.


Wo war die alte Ordnung, die heilige Ruhe,
wenn man berußte Arme, Schurzfelle auf den Trep¬
pen ſah, Einige ſogar bis in das innere Heiligthum
gedrungen. Es mußte hier ſchon viel vorgegangen
ſein, wenn wir den Miniſter, denſelben, welcher den
[347] jungen Walter nach Karlsbad ſchicken wollte, zwiſchen
dieſen, ſelbſt für die Antichambre ungeeigneten Ge¬
ſtalten umhergehen ſehen, ohne daß ſein Auge Blicke
der Entrüſtung warf. Nein, er trug weder Uniform
noch Hofkleid, auch keinen Stern an der Bruſt, er
ging nicht aufrecht und die Stirn leuchtete nicht vom
Wiederſchein ſeiner unantaſtbaren Würde. „Meine
lieben Freunde!“ ſprach er, zwiſchen den Eingedrun¬
genen ſich bewegend. Seine feinen ariſtokratiſchen
Hände, ſtets in einer Poſition gehalten, die ſie vor
jeder Berührung ſchützen ſollten, berührten doch frei¬
willig die Arme der Bürger, er drückte dem Nagel¬
ſchmied die Hand, er legte ſie dem patriotiſchen Stadt¬
wachtmeiſter auf die Schulter: „Mein liebſter guter
Freund, nur keine Uebereilung.“


„Aber, Excellenz, ſie ſtürmen Ihnen das Haus!“
riefen drei, vier Stimmen.


Der Hausflur war voll, die halbe Treppe, ſie
drängten von draußen, Andre ſtanden im Hofe und
gafften mit häßlichen Blicken die Reiſewagen an, die
in Haſt bepackt wurden. Die Excellenz beugte ſich
über's Geländer, ſie rang die Hände, es war der
mildeſte, freundlichſte Ton: „Um Gottes Willen, meine
Freunde, keine Uebereilung! Was wollen Sie?“


Da brach es los, wie, ich weiß es nicht; es
war aber das Unglück, daß Keiner wußte, was er
wollen ſollte. Es war die Wuth, die in hundert
Lauten ſich Luft machte. „Wir ſind verrathen!“ —
„Der König und die Königin ſind verkauft und ver¬
[348] rathen!“ — „Das Vaterland iſt in Gefahr“ — „Die
Franzoſen vor der Thür!“


„Ja, ja, meine lieben Freunde, um Gottes
Willen ja, es iſt wahr, wir ſind Alle in Gefahr —
aber was wollt Ihr, was ſollen wir thun?“


Eine rebelliſche Stimme aus dem Haufen ſchrie
eine Verwünſchung gegen die verfluchten Junker, die
das Unglück über's Land gebracht.


„Wir ſind Alle gleich! Wir ſind Alle Brüder,
uns Alle trifft es, wir müſſen uns Alle im Unglück
beiſtehen.“


Es klang ſchön, aber die im Hofe zeigten auf
die bepackten Reiſewagen: „Er kratzt aus, uns läßt
er im Stich.“ Ein höhniſches Gelächter verſchlim¬
merte die Lage der Autorität, die es nicht mehr war.
Da ward der Ruf laut: „Widerſtand! Waffen! Ein
Schuft, wer ſeinen König verläßt!“


„Um Gottes Willen, verehrte Mitbürger! Ich
beſchwöre Sie, bedenken Sie Ihre Familien, Ihre
lieben Kinder, Ihre Lage, dieſe Stadt! Es iſt ein
Unglück, ja, ein großes, ein unermeßliches Unglück,
unſre Armee iſt geſchlagen, total geſchlagen, wir
wiſſen nicht, wo ſie iſt. Wo eine ſo tapfere Armee
erliegen mußte, iſt es Thorheit, ich beſchwöre Sie, es
iſt Raſerei, an den geringſten Widerſtand noch zu
denken.“


„War's Thorheit, rief eine Stimme, es war der
alte Rittgarten, als Haddick in unſre Straßen ſprengte,
daß die Berliner nicht zu Kreuz krochen? Raſerei,
[349] daß ſie Schanzen aufwarfen, daß wer eine Muskete
tragen konnte, der Trommel folgte, als die Ruſſen
ihre Kugeln in die Friedrichsſtadt warfen? Des Kö¬
nigs Hauptſtadt ward gerettet!“


„Meine lieben, theuren Mitbürger, bedenken
Sie doch die veränderten Verhältniſſe. Wer war
Haddick, wer die Ruſſen! Der Kaiſer Napoleon iſt
unüberwindlich. Sie waren ſelbſt Militär. O erklären
Sie Ihren Mitbürgern, daß aller Patriotismus und
alle Bravour gegen ein disciplinirtes Heer nichts aus¬
richten. O mein Gott, ſtehn Sie mir doch bei, dieſe
braven, rechtlichen, unſre Mitbürger vor einer ent¬
ſetzlichen Verirrung zu bewahren.“


„Excellenz, erwiderte Rittgarten, eine Schlacht
können wir den Franzoſen nicht liefern, noch beſteht
Bürger und Bauer vor denen, die den Krieg erlernt.
Das weiß ein Kind. Aber hier gilt's, was keiner
erlernt, was geboren iſt, das Herz zeigen am rechten
Fleck. Iſt der König geſchlagen, ſo gilt's, ihm auf¬
bewahren, als treue Unterthanen, unſern Muth, unſre
Treue, uns ſelbſt. Er wird wiſſen, ob er Berlin
halten ſoll oder aufgeben, und an uns iſt's, ihm die
Entſcheidung offen erhalten. Das iſt unſre Schuldigkeit.
Es gilt, der Obrigkeit, die er zurückließ, gehorchen,
und wenn ſie ſtumm bleibt, ſie fragen, was müſſen
wir thun, daß dem Könige ſeine Hauptſtadt gerettet
wird? Sind Soldaten da, ſo ſammelt ſie, ſind In¬
validen, ruft ſie auf, ſie werden daſtehen. Sollen
die Bürger ihnen zutragen, ſchanzen, Wache ſtehen?
[350] Sollen Wagen und Proviant hinaus, die Flüchtlinge
einzuholen. Soll ihnen ein Lager abgeſteckt werden?
Soll junge Mannſchaft geworben werden? Sollen
wir Pulver holen, Kugeln gießen, abkochen für die
Ankömmlinge? Alles das weiß der Bürger nicht,
Excellenz, aber er hat ein Recht, von denen es zu
erfahren, die der König zurückließ an ſeiner Statt.
Die müſſen es wiſſen, die uns vorangehen. Und die
und wir Alle haben die Verpflichtung, uns ſo zu
zeigen, daß der Feind erfährt, er hat eine Stadt von
Männern vor ſich, nicht von Memmen.“


Gewirkt hätte die Rede, wenn nicht zwei Um¬
ſtände die Wirkung paralyſirten. Von draußen ſchrie
es: „Die Königin! die Königin flieht aus Berlin!“
— „Die Königin redet zu den Bürgern!“ Darauf
eilten die Entſchloſſenſten nach dem Palais. Vielleicht
war dort Rath und Hülfe. Im hintern Hofe aber
hatten Andere einen Reiſewagen umgeſtürzt. Wo
miſcht ſich nicht ſchlechtes Geſindel hinein, wenn der
Patriotismus aufbrauſt! „Sie plündern! Herr Major,
hindern Sie's! Man weiß nicht, was draus wird!
— Es ſind Soldaten bei.“ Es bedurfte für den
Officier kaum der Aufforderung.


Die Excellenz ließ ihren Wagen im Stich, ſie
hatte eine höhere Aufgabe, das Terrain war günſtiger,
die Haufen gelichtet, er glaubte geneigtere Geſichter zu
ſehen. Er war auf die letzte Stufe in ihren Kreis getreten:


„Mitbürger! Theuerſte Freunde! Der Augenblick
iſt entſetzlich, aber laſſen Sie ſich von unruhigen
[351] Köpfen nicht aufreden. Hier iſt nicht zu helfen. Der
Himmel hat es ſo gefügt, wir müſſen uns drin fin¬
den. Der mindeſte Widerſtand, irgend ein unruhiges
Benehmen von Ihrer Seite könnte die ſchrecklichſten
Folgen haben. Denken Sie an Ihre Frauen, Ihre
Kinder, denken Sie an Wien! Wie ungnädig hat
Seine Majeſtät der Kaiſer Napoleon das trotzige
Benehmen der Bürger aufgenommen. Er iſt nun
einmal der Sieger. Er wird ein großmüthiger Sie¬
ger ſein, wenn Sie der Vernunft Gehör ſchenken.
Sein Sie freundlich, ſein Sie ſehr freundlich gegen
ihn. Ueberwinden Sie ſich; wenn er einzieht, rufen
Sie Vive l'Empereur! Ich weiß, es wird Ihnen
ſchwer werden, aber der Menſch kann ſich überwinden,
meine Herren, der Menſch kann viel, wenn die Noth
ihn zwingt. Recht friedlich, recht beſonnen. Illu¬
miniren Sie! Das wird ihn überraſchen, ſein Herz
wird ſich aufſchließen. Liebe Mitbürger, hören Sie
auf den Rath eines Mannes, der's mit Ihnen wohl
meint, es iſt nicht für mich. Bedenken, erwägen Sie,
ich wiederhole es nochmals, wie ſchrecklich ſein Zorn
auf Wien fiel. Sie ſind keine Wiener, Sie ſind
Berliner, und das Beiſpiel wird Sie lehren, daß eine
männliche, ruhige Hingebung im Unglück es allein
iſt, die den Patrioten ehrt.“


In den Akten der Zeit wird man freilich dieſe
Rede nicht aufgeſchrieben finden. Aber man findet
mehr — ein gedrucktes Aktenſtück. An allen Straßen¬
ecken ſtand — an einem ſpätern Tage — folgendes
[352] Proclama und in den Berliner Zeitungen las man
es am 21. October 1806.


In dem Proclama hieß es:
„„— Nur feſtes Anſchließen an diejenigen, welche
„„das mühſelige Geſchäft übernehmen, die von einer
„„ſolchen Begebenheit unvermeidlichen Folgen zu min¬
„„dern, ſo wie die, mehr als jemals nöthig gewordene
„„Ordnung zu handhaben, kann die ſchrecklichen
„„Folgen abwenden, welche der mindeſte
„„Widerſtand oder irgend ein unruhiges
„„Benehmen der Einwohner über die Haupt¬
„„ſtadt verbreiten würde, und das noch neuer¬
„„liche Andenken des Betragens, welches die Ein¬
„„wohner Wiens in einer ähnlichen traurigen Lage
„„beobachtet haben, muß die Einwohner Berlins be¬
„„lehren: daß der Ueberwinder nur ruhige
„„männliche Hingebung im Unglücke ehrt.
„„— — — Ich ermahne Jeden (denn — hoffent¬
„„lich werde ich es nicht nöthig haben zu befehlen)
„„— — ruhig bei ſeinem Gewerbe zu bleiben, und
„„alle Sorgen denjenigen zu überlaſſen, welche
„„ſich raſtlos mit ſeinem Wohl beſchäftigen
„„werden. Ich verbiete durchaus alles Zuſammenlau¬
„„fen, alles Schreien auf den Straßen, alles öffent¬
„„liche Theilnehmen an denen ſo verſchie¬
„„dentlich einlaufenden Krieges-Gerüchten;
„„denn ruhige Faſſung iſt dermalen unſer
„„Loos, unſre Ausſichten müſſen ſich nicht
„„über dasjenige entfernen, was in unſern
[353] „„Mauern vorgeht
; — dieſes iſt nur unſer
„„einziges höheres Intereſſe
, mit welchem
„„wir uns allein beſchäftigen müſſen
. — — —


Berlin, den 19. October 1806.


Fürſt von Hatzfeld.““


Es mußten ſchon Flüchtlinge in der Stadt ſein;
vielleicht verbargen ſie ſich vor der Neugier oder dem
Grimm des Volkes in den entfernteren Theilen. Aber
das Volk ſuchte nach ihnen. Da hielt es eine ſtaub¬
bedeckte Reiſekaleſche an, und zwang einen Officier
herauszuſteigen. Vergebens proteſtirte er, daß er
die Schlacht nicht mitgemacht, nicht vom Schlacht¬
feld komme, vielmehr über Schleſien aus Oeſtreich;
der Wagen kam ja vom ſchleſiſchen Thor. Zum Gou¬
verneur wollte er ſich führen laſſen, obgleich ihm die
Eſcorte unangenehm war, als Herr von Fuchſius
ihm begegnete und von der verdächtigenden Beglei¬
tung befreite.


„Zu ſpät!“ — „Wieder zu ſpät! erwiderte Eiſen¬
hauch und drückte die ihm entgegen gehaltene Hand.
Das iſt mehr als Auſterlitz.“


„Zum Gouverneur! Kommen Sie mit? — So
lange die Möglichkeit da iſt —“


„Die Gewißheit!“ unterbrach der Rath.


„Auch Sie ohne Troſt und Hoffnung?“


„Die Geſetze der Natur ſind ewig. Die Kugel
rollt nur, bis ſie den Abgrund erreicht, und der Ver¬
brecher bleibt nur ungeſtraft, bis ſein Maß voll iſt.“


Welche faſt lüſterne Freude glänzte auf Fuch¬
V. 23[354] ſius Geſicht, als er dem alten Bundesgenoſſen die
Hand raſch zum Abſchied gedrückt. „Wohin? Wohin?“


„Das im Kleinen thun, was Gott im Großen
vollenden wird, wenn auch da das Maß voll iſt.
Jetzt entlarven — ein Scheuſal!“


Eiſenhauch begriff ihn nicht. Wer konnte einer
Bagatelle jetzt nachgehn! Das Reich der Pygmäen
war ja aus. Er bedachte nicht, daß um deßwillen
noch nicht das von Titanen beginnt. Er traf den
Miniſter auf dem Flur — er kannte ihn, er wußte,
was er unter andern Umſtänden von ihm erwarten
durfte, aber jetzt — Der Miniſter war zugleich preu¬
ßiſcher Krieger, ein hoher General, er hatte einſt ein
Armeecorps commandirt. Jetzt mußte er den Zopf
fortgeworfen haben, jetzt in Stahl und Eiſen auf¬
ſpringen, und wirklich der Miniſter ſchien erfreut,
wie man erfreut iſt nach einer guten That. Er er¬
kannte ſogleich den Freiherrn: „Gott ſei Dank, mir
gelang eben etwas, was von dieſer Stadt eine große
Gefahr abwendet.“


Da rückte Eiſenhauch raſch in kurzen Worten
mit ſeinen Anträgen vor: er bot ſeine Dienſte an,
er ſtellte ſich zur Dispoſition, wohin man ihn brau¬
chen könne, er wollte noch mehr: einen unterwegs
entworfenen ſtrategiſchen Plan andeuten, wie man
durch raſches Zuſammenziehen der gebliebenen militä¬
riſchen Kräfte und Benutzung der Localitäten Po¬
ſitionen einnehmen könne, nicht ſtark genug, um einem
ernſten Angriff des ſiegreichen Feindes zu widerſtehn,
[355] doch ausreichend, um die Hauptſtadt vor dem erſten
Anprall zu ſchützen, die zerſprengten und flüchtigen
Truppen aufzunehmen, in Cadres zu ſammeln —
als der Miniſter mit Entſetzen ihn unterbrach:


„Sind ſie raſend! In ein brennend Haus ſich
ſtürzen! Wir — wir werben nicht, was neue Sol¬
daten — ſollen wir noch den Kaiſer reizen! Wir
können Gott danken —“


„Wenn wir unſer elendes Leben ſalviren,“ rief
eine Stimme von der Hofthür her.


„Machen Sie ſich aus dem Staube, liebſter Frei¬
herr Eiſenhauch, verſchwinden Sie, ſchnell, ſchnell, ehe
ein Spion Sie erblickt. Gott ſei Dank, mir gelang
wenigſtens eins: das Pulver iſt aus Berlin, ehe er
eintrifft. Er wittert überall Verſchwörungen, Empö¬
rungen, Herr Gott, er hätte in Zorn gerathen können —“


„Ueber die Creatur, die er zum Mann ſchuf, und
ſie ward ein Wurm!“ rief die Stimme und der alte
Rittgarten hob ſeinen Stock. Es war ein erſchrecken¬
der Anblick, der Greis, der ſichtlich auf den Füßen
ſchwankte, ſeine Bruſt bebend, ſein Geſicht vom Blut¬
andrang geröthet, aber weiße, verrätheriſche Streifen
zogen ſich von der Naſenwurzel bis an die Mund¬
winkel. Seine Stimme polterte, aber die Laute wa¬
ren nicht mehr articulirt. Man konnte auf einen
Schlaganfall aus Gemüthserſchütterung ſchließen.
Und den Stock in der Luft ſchwingend, drohte er das
Gleichgewicht zu verlieren. Eiſenhauch hatte ihn
raſch unterfaßt. Mit äußerſter Anſtrengung ſtieß der
23*[356] alte Krieger Worte vor: „Fluch — über die Verräther!
— Dieſe Sykophanten an Friedrichs Thron, die ſein
Volk nichts achteten — ſie werden die erſten ſein—
die ihm die Füße lecken, dem neuen Herrn — Stem¬
pelt dieſen, zeichnet ihn, daß man ihn wieder erkennt,
— er wird die fremde Livrée tragen. — O fort, —
hinaus, die Luft hier erſtickt.“


Rittgartens Stock hatte den Miniſter nicht ge¬
troffen, aber ſein Blick und Wort. Er war ver¬
ſchwunden, in der nächſten Stunde auch aus Berlin.
Die Prophezeiung des Sterbenden ging in Erfüllung.
Der Miniſter — aber er nicht allein — ließ wenig
Monate darauf ſich ein neues bordirtes Galakleid
anmeſſen; er antichambrirte im Miniſterrock des
Königs von Weſtphalen, ſo ſtolz und aufrecht, die
Bruſt ſo reich geſchmückt, und er ſah ſo gnädig und
herablaſſend auf Niedere, als damals, wo er nichts
war und ſein wollte, als ein treuer Diener ſeines
Herrn, des Königs von Preußen. Kleider machen
Leute, ſagt das Sprüchwort, aber nicht auf Alle
paßt es, denn in der Politik giebt es Männer, für
die alle Kleider paſſen.


Ein Sterbender war der Major Rittgarten. Er
athmete draußen noch ein Mal die freie Luft, er
ſchien Eiſenhauch zu erkennen, er erſchrak nicht. Der
führte ihn, den er einſt auf Tod und Leben gefor¬
dert. Ein Anderer hatte die Looſe geworfen, eine
andre Hand die Kugel abgedrückt. Aber da lief ein
Mann mit Pinſel und Zettel heran und klatſchte ein
[357] Plakat an die Thür. Als er das geleſen, zitterte er
zuſammen, Eiſenhauch fühlte eine Erſchütterung in den
Gliedern des Greiſes. Auf dem Plakate ſtanden die
Worte:


„Der König hat eine Bataille verloren. Seine
Majeſtät und deſſen Brüder, Königliche Hoheit,
ſind am Leben und nicht verwundet. Ruhe iſt die
erſte Bürgerpflicht. Ich bitte darum.
Schulenburg.“


„Es wird beſſer,“ antwortete Rittgarten auf des
Majors Frage, der Hülfeleiſtende heranwinkte.


„Ja, es wird beſſer, es muß beſſer werden,“
rief Eiſenhauch.


„O mein Gott, mein Vaterland!“


„Er kann nicht mehr allein ſtehen,“ ſagte Jemand.


„Preußen!“ athmete der Sterbende, an des Frei¬
herrn Bruſt ſinkend — es war ſein letztes Wort.


„Kann nicht mehr allein ſtehen, wiederholte
Eiſenhauch dumpf. Es hätte nicht allein ſtehen dür¬
fen ohne Deutſchland.“


Der Schlag hatte den Invaliden getroffen.


Im Trauerhauſe, dem Hotel des Miniſters ge¬
genüber, hatte auch ein Schlag getroffen. Die Ba¬
ronin lag auf ihren Knieen am Bette, ihr Geſicht
verbergend. Gott verzeih ihrer Seele, wenn ſie nicht
[358] für die des Mannes betete, der eben, nach furchtba¬
ren Convulſionen, ſanft entſchlummert war. Es war
ja Krieg, der in ſeinem Zorn Tauſenden

— unnennbaren Jammer erregte,

Und viel tapfere Seelen der Heldenſöhne zum Ais
Sendete, ſelber ſie aber hinſtreute zum Fraße den Hunden
Und dem Gevögel der Luft. So ward Sein Wille vollendet.

Warum war's eine Sünde, wenn ein edles Weib in
ihrem Gebet an eine andre Seele dachte, wenn ſie
für dieſe um Vergebung flehte. Der Todte vor ihr
hatte nie Jemand getäuſcht, was er war, hatte immer
zu Tage gelegen, der Richter überm Sternenzelt
kannte ihn und würde nach ſeinem Werth oder Un¬
werth das Urtheil fällen. Aber die Seele des Einen
war mit einem Fleck dahin gegangen. Ein einziger
Fleck hatte die reinſte Seele getrübt, und ehe er ſich
verantworten können, hatte das blitzende Schwert den
Helden niedergeſchmettert. Wußte ſie, in welchen
Aengſten, daß er keinen hatte, dem er beichten, gegen
den er ſich von dem einzigen Fehler, der ihn drückte,
entlaſten konnte! Und war es denn eine Sünde,
hatte er nicht wiſſen können, daß ſie gern Alles für
ihn hingab, daß ſie mit Freuden ſeine Schulden be¬
zahlt hätte, wenn er ſich nur an ſie gewandt! War
das nicht edel, daß er es nicht gethan! Nur in einem
ſchwachen Augenblick hatte er ſich verführen laſſen,
auch nur vielleicht in Betreff des Wucherers, der ihn
aus der Noth ziehen ſollte. Und darum auf ewig
verdammt! Nein, wenn Einer, er bedurfte des
[359] Mitleids. Und ſie hatte zum Vater, von dem alle
gute Gaben kommen, gebetet, daß er Dohleneck
vergebe.


Da war ſie, faſt erheitert, aufgeſtanden, ſie hatte
des Todten Hand gedrückt, auch er würde im Leben
nichts dagegen einzuwenden gehabt haben, und in
ſtiller Faſſung ſaß ſie im Lehnſtuhl, die Augen ſchlie¬
ßend, als ein heftiger Schrei ſie aufſchreckte. Der
Legationsrath, der, um Nachricht, ob Gefahr ſei, ein¬
zuziehen, ſie verlaſſen, war zurückgekehrt, er hatte ſich
über das Bett geworfen, der ſtöhnende convulſiviſche
Schrei kam von ihm.


„Da iſt ein edler Freund mir hingegangen. Er
da oben nur weiß, was er mir war!“ rief er, ſich
erhebend, die Hände über's Geſicht deckend. — Nur
auf kurze Secunden. Den nächſten Augenblick beugte
er ſich über die Wittwe, ſie fühlte einen langen Kuß
auf ihre Stirn gedrückt:


„Das iſt der Bruderkuß, der Schweſter gegeben.
Die Sterne wollen es ſo. Edler Todter, deine Seele
blickt auf uns, aber ich ſehe dich ruhig lächeln, denn
du weißt, daß ich deine heiligen Pflichten gegen dein
Weib erfüllen werde. Durch dieſen Kuß beſiegle ich
mein Gelöbniß.“


Sie war vorhin überraſcht worden, jetzt, als
ſeine Lippen ſich ihr näherten, ſtieß ſie ihn zurück.
Sie wollte ſich auf die Leiche werfen, aber mit eben
ſolcher Entſchloſſenheit riß er ſie am Arme zurück:


„Unglückſelige! Wiſſen Sie, was Sie thun? Er
[360] iſt an der Cholera geſtorben. Sein Hauch iſt Peſt.
Er muß noch heut unter die Erde.“


Er ſtand gebieteriſch zwiſchen ihr und der Leiche.
Ehe ſie Zeit zu antworten hatte, führte er ſie ſchon,
halb zwang er ſie an den Schreibſecretair:


„Schnell, keine Minute verloren! Ihre wichtigſten
Papiere, Kleinodien, was Sie an Geldeswerth faſſen
können — in einen Kaſten, Korb, was es iſt. Ich
beſorge mit Ihrem Kammermädchen die nöthigſten
Kleider. Der Wagen rollt vor —“


„Was iſt's, mein Herr!“


„Sie wiſſen nicht! In einer Viertelſtunde
ſpäteſtens müſſen wir fort. Auf der Schöneberger
Höhe ſieht man ſchon die Avantgarde. Alles flieht,
wer nur Pferde auftreibt. Die Königin beinahe in
Lebensgefahr. Sie wird jetzt ſchon aus dem Thore
ſein. Geſtreckter Galopp. Die Franzoſen werden
plündern, vielleicht die Stadt in Brand ſtecken.
Napoleons Wuth iſt unausſprechlich. Nur keine
Frauen zurückgelaſſen, ruft es durch alle Straßen.
Sie mißhandeln — Ihre Brutalität iſt ohne Gränzen.
Unglücklich Weib! keinen Augenblick verloren!“


Er hatte den Secretair aufgeriſſen. Mechaniſch
folgte ſie ſeinem Befehl; ſie hatte keine Luft, keinen
Athem zum Denken, zum Erwägen. Das Räder¬
geraſſel draußen, das Stimmengewirr unterſtützten,
was Wandel ſagte. Eine Chatoulle war in lautloſer
Angſt gepackt.


„Nur nichts Unnützes!“ rief er, als ſie ein Pack
[361] eröffneter Briefe hineinwerfen wollte. „Wozu ſich
mit Erinnerungen beſchweren! Nur nichts hinter uns.“


Die Briefe fielen zerſtreut auf die Tiſchplatte.
Sie ließ Alles geſchehen in ſprachloſer Erſtarrung.
Da nahm er einen: „Ah, Dohlenecks Hand! Selig
ſind die Todten, aber ſie haben nichts zu ſchwatzen.“


Ehe ſie es hindern konnte, hatte er den Brief
in kleine Stücke zerriſſen. Aber ſie hatte den Blick
geſehen, der auf das Papier ſchoß, die Freude, die
aus ſeinen Augen blitzte — es war eine ganz eigen¬
thümliche Freude — das Weiße des Auges verzog
ſich, er kniff die Unterlippe mit den Zähnen ein. Da
blitzte etwas auf in ihr; es war, als ob ein Vorhang
riß. Einige Schritte zurückfahrend, maß ſie ihn vom
Kopf bis Fuß. Es war ein fürchterliches Licht, das
in ihr aufſchoß. Ihr Geſicht röthete ſich, ein Strahl
von einer Freude ſchoß darüber, während ſie un¬
willkürlich die weißen Zähne zeigte, und die Finger
der ſchönen Hände ſich krümmten.


„Warum vernichten Sie gerade den Brief?“


„Weil — weil ich im Intereſſe dieſes heiligen
Todten ſeiner Wittwe Erinnerungen ſparen will, die
den Seelenfrieden einer treuen Gattin trüben könnten.“


Der imponirende Ton verfehlte ſeine Wirkung.
Ein krampfhaftes Lachen erleichterte ihre Bruſt:
„Falſch! es iſt Alles falſch an Ihnen — jetzt — ich
ahne — Sie ſind ein Menſch, dem Niemand trauen
durfte — o mein Gott! — und da der todte Mann
— Wer ſchützt mich!“

[362]

Wir zweifeln nicht, daß der Legationsrath auch
jetzt noch Mittel gefunden — wenigſtens würde er
danach geſucht haben, das Mißtrauen der Wittwe
zu beſchwichtigen, wenn ſein Blick nicht plötzlich durch
einen Gegenſtand an der Thür abſorbirt worden
wäre. Es lag in der Natur der Dinge, daß, nach¬
dem durch die Diener die Nachricht vom Tode des
Barons bekannt geworden, eine Anzahl Freunde,
Angehöriger und Theilnehmender ſich in das Haus
drängte. Eben ſo natürlich war es, wenn bei der
obwaltenden Kriſis einige unangemeldet in das
Zimmer drangen, zur Förmlichkeit eines Trauer¬
beſuches war nicht mehr Zeit. Alle trauerten, und
alle Trauer miſcht ſich. Die Baronin ward em¬
braſſirt, Dienſtleute aus dem Hauſe drängten herein
und ſchrieen beim Anblick der Leiche auf. Das:
„Wiſſen Sie ſchon?“ — „O der iſt glücklich, der
nichts davon hört!“ „Ach wer weiß, was uns
Allen bevorſteht!“ — „Und ſo jung noch!“ — Das
Schluchzen, das ſtille Weinen, das Händeringen, es
war Alles zuſammen wohl geeignet, die peinliche Lage
der Baronin zu vermehren und ihre Aufmerkſamkeit
abzuziehen, aber die Wandels war auf einen andern
Gegenſtand gerichtet geweſen. Er glaubte, als die
Thür aufgeriſſen ward, den rothen Kragen eines
obern Polizeibeamten entdeckt zu haben.


Der war zwar noch nicht eingetreten, aber wie
aus einer geöffneten Schleuſe ergoſſen ſich Nachrichten,
die ihm nicht alle angenehm waren. Dem „Wiſſen
[363] Sie ſchon?“ der und jener Freundin folgte eine
Reihe von Unglücksfällen und eine Todtenliſte. Der
iſt erſchoſſen, der gefangen, der niedergehauen!
Rittmeiſter Dorville ſchien die Pandorabüchſe, welche
alle dieſe Hiobspoſten ausgeſchüttet hatte.


„Sah er auch den Major Dohleneck fallen?“ fragte
ſich ſelbſt überwindend die Baronin ſchüchtern.


„Den hat Dorville ſelbſt geſprochen.“


„Geſprochen! eh' er fiel?“


„Nur verwundet, aber nicht ſchwer. Er iſt
ranzionirt, oder losgegeben, er kommt direct nach
Berlin, nur darf er nicht mehr dienen in dem Kriege.“


Wandel hatte nicht mehr Zeit den Blick zu ſehn,
den ihm Auguſte Eitelbach zuwarf, ein triumphirender,
durchbohrender Blick. Er ſah auch nicht, wie ihre
Bruſt ſich hob, wie ſie tief Athem ſchöpfte, um dann
auf dem Stuhl zuſammenzuſinken, ihre Hände zu
falten und ihr Geſicht zu verbergen. Der junge
Menſch, den wir am Morgen bei Fuchſius ſahen und
den er Eckard nannte, hatte ſich hinter ihn geſchlichen
und ihm zugeflüſtert: „Es will Sie draußen Jemand
ſprechen.“


Wandel fixirte den Menſchen, ob er ihn einer
Antwort zu würdigen habe, als ſein Auge auf
Fuchſius fiel, der unbeweglich an der Thür ſtand.
„Ah, ein alter Freund!“ ſagte er.


„Das glaube ich nicht,“ entgegnete der junge
Menſch.


In dem Augenblick öffnete ſich die Thür und
[364] ein Polizei-Inſpector ſchritt zum Befremden der An¬
weſenden auf Wandel zu:


„Da Sie meiner Invitation nicht gefolgt ſind,
erlaube ich mir, Sie abzuholen, mein Herr.“


„Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen.“


„Wir werden uns kennen lernen.“


„Ah, ich ſah nicht den rothen Kragen! Als was
ſoll ich Ihnen folgen?“


„Als mein Gefangener.“


Noch ein Mal warf ſich Wandel in die Bruſt:
„Noch Poſſen im alten Curialſtyl! Auf Ihre Ge¬
fahr hin! In vier und zwanzig Stunden wird
mein Kaiſer Rechenſchaft fordern für die mir an¬
gethane Beleidigung. Wollen Sie es noch wagen?
Immerhin!“


Aller Augen ſtarrten auf ihn. Nur der Polizei¬
mann ſah ihm feſt in's Geſicht und ſprach mit tö¬
nender Stimme:


„Auf Requiſition des Tribunals der Seine
zu Paris, und auf ausdrückliches Anſuchen des Kai¬
ſers der Franzoſen durch ſeine vormalige Geſandtſchaft
hier verhafte ich Sie.“


Todtenſtille. Wandel erblaßte, doch nur auf
einen Augenblick: „Dann iſt's ein Mißverſtändniß!“
er knöpfte ſich zu, verbeugte ſich leicht gegen die An¬
weſenden und folgte raſch dem Inſpektor. Hinter
ihm ſchnitt ein greller Pfiff durch die Luft. Der
junge Vigilant hatte ſich einen Spaß gemacht. Er
ſchien ihn fortzuſetzen, indem er beim Hinausgehn
[365] zu einem Angehörigen des Hauſes ſagte: „Sehn
Sie nur im Secretair nach, ob da nichts fehlt.“


Der Inſpector brachte den Gefangenen in ein
abgeſondertes Zimmer zu flacher Erde, bis der be¬
ſtellte Wagen ankam. Fuchſius Geſicht war undurch¬
dringlich geblieben, als Wandel an ihm vorüberging.
Das des Polizeimanns verſprach ihm vielleicht mehr,
als er mit verſchlungenen Armen ihn beweglich an¬
blickte:


„So will man mich wirklich ausliefern — auf
Requiſition des Napoleoniſchen Gerichts?“


„Sie hörten es.“


„Wiſſen Sie, was mit mir geſchieht? In vier
und zwanzig Stunden bin ich erſchoſſen. Ich wußte
um eine Verſchwörung gegen Bonaparte's Leben, ich
war vielleicht ſelbſt dabei implicirt. Der Kaiſer weiß
es; mein Loos iſt entſchieden. Iſt Ihre Regierung
ſo verzagt, mich ihrem Feinde auszuliefern, weil er
droht, ſo ſind vielleicht doch noch Patrioten im Volke,
die den Vortheil ihres Vaterlandes und ihren eigenen
bedenken.“


Der fatale Pfiff des Vigilanten antwortete von
draußen. Der Inſpector erwiderte ruhig: „Sie ſind
wegen Giftmordes verhaftet.“


„Das iſt eine andere Sache,“ hatte Wandel auch
ruhig erwidert und ſich nach dem Fenſter gewandt.


Nach einer kleinen Weile trat Herr von Fuchſius
ein. Wandel begrüßte ihn höhniſch:


„Ich gratulire, Ihr Staat macht noch in ſeinem
[366] Untergang Progreſſen zur Geſetzlichkeit. Als wäre
ich in dem glücklichen England, hat man mir ſo eben
das Verbrechen benannt, um was man Luſt hatte, an
mir einen Juſtizmord zu begehen. Ich danke Ihnen
aufrichtig, Herr Regierungsrath, für die Berückſich¬
tigung, da ich weiß, daß ich nach der alten Obſervanz
ſehr wohl ein halbes, auch Jahre in Ihrem freien
Quartier ſchmachten können, ohne mit einer Sterbens¬
ſylbe zu erfahren, was mir die Ehre verſchafft.“


„Guido Floreſtan Baron Vanſitter, genannt
von Wandel!“ redete Fuchſius ihn an.


Er irrte, wenn er auf eine Beſtürzung des Ge¬
fangenen gerechnet hatte. Nur ein moquanter Zug
ſchwebte um die Lippen deſſelben, als er erwiderte:


„Ich bedaure die Mühe, die es Ihnen machen
wird, meine Identität mit der meines genannten
Vetters herzuſtellen. Die meiſten Zeugen ſind ge¬
ſtorben; bis Sie die überlebenden auftreiben und
nach Berlin ſchaffen, darüber können Jahre vergehen.
Der Unterſuchungsrichter hat ein ſaures Geſchäft,
mein Herr von Fuchſius, wenn er Inquiſiten vor ſich
hat, welche die Geſetze, die Menſchen und ihre In¬
quirenten kennen. Aus perſönlicher Freundſchaft und
Reſpect vor Ihrem Character würde ich Ihnen
rathen, die Unterſuchung abzugeben. Sie erſcheint
Ihrem Ehrgeiz lockend, ich verſichere Sie aber, ich
ärgre Sie zu Tode.“


„Aus Reſpect vor Ihrer Bildung, und nur darum,
habe ich zwei Worte mit Ihnen allein zu reden.“

[367]

„Allen Reſpect vor Ihrer Verſicherung, aber ich
glaube Ihnen nicht, weil die Pflicht der Selbſt¬
erhaltung mir gebietet, Ihnen zu mißtrauen. Allein
Ihnen, was Sie wünſchen, aber vorher die Gewi߬
heit, daß hinter der Tapete kein Protokollführer lauert.“


Wandel ſchien ſich dieſe Gewißheit verſchafft zu
haben:


„Was ſteht zu Ihren Dienſten?“


„Führen Sie Gift bei ſich? Ich meine Mittel,
die es Ihnen ermöglichen, ſich der Schande und der
weltlichen Strafe Ihres Richters zu entziehen? Es
iſt meine Pflicht, mich davon zu vergewiſſern.“


„Soll ich Ihnen mit Macbeth antworten:

Weshalb ſollt' ich den röm'ſchen Narren ſpielen,
Sterbend durch's eigne Schwert? So lange Leben
Noch vor mir ſind, ſtehn denen Wunden beſſer.


So lange ich athme, will ich von dieſer ſüßen Ge¬
wohnheit des Daſeins nicht laſſen. Beſſer Kerkerluft
und ſchimmlichte Brodrinde, als ſchwimmen ein Atom
im grauen Nebel der weſenloſen Leere. Nein, da
beruhigen Sie ſich, Sie ſollen mich als Epicuräer
kennen lernen. Ich wollte viel, ich laſſe mich aber
auch genügen am Wenigen. Die Welt iſt ein Kerker,
warum ſollte nicht der Kerker zur Welt werden für
den, der noch Luſt am Leben hat! Ich trank Neapels
Sonnenſchein, der ſich im Golfe badete, aber auch
wenn ſie mich in einen Kerker mit Blechkaſten wür¬
fen, will ich wie ein Kind mit dem Sonnenſtrahl
koſen, der ſich durch die trüben Scheiben Mittags zu
[368] mir ſtiehlt. Ich kann mich auch wie jener mit der
Spinne vergnügen, mit Mäuſen, dem Inſect im
Stroh. Ich will mit ihnen ſpielen, mich necken wie
mit vernünftigen Weſen. Sie ſollen meine Könige,
Staatsmänner, Volkstribunen ſein und ich werde nicht zu
großen Unterſchied mit den wirklichen finden. Oder wollen
Sie mich an die Mauer ketten, Eiſenſtangen mir an
Hände und Füße legen, ich bleibe doch der freie Mann.
Können Sie meinen Geiſt, meine Phantaſie feſſeln?
Können Sie ihr verbieten, mein Gefängniß zu be¬
völkern mit Weſen, die, ohne Selbſtſchmeichelei, etwas
geiſtreicher ſind, als Ihre erwählten Geſellſchaften.
Fürchten Sie ſich nicht vor dem Nagel in der Wand,
gönnen Sie mir ein Strumpfband, ein Halstuch,
ich ſchwöre es Ihnen beim höchſten Eide, bei der
Achtung vor mir ſelbſt, den Verſucher, der mich auch
nur um eine Spanne meines Lebens betrügen wollte,
jage ich hohnlachend zum Gitterfenſter hinaus.“

„Baron Vanſitter, es wäre beſſer für Sie, wenn
Sie mit ernſten Dingen ſich in der Spanne Zeit be¬
ſchäftigten, die Ihnen noch gemeſſen wird.“


„Spanne Zeit! Sie täuſchen ſich. Es wird
eine recht lange Zeit werden. Ich gebe Ihnen mein
Wort, ich werde mich vertheidigen — beſſer als Ihr
Staat gegen ſeinen Ueberwinder. Gewiſſermaßen ſoll
jetzt mein Leben erſt anfangen. Sie kennen mich
doch einigermaßen, und wiſſen, wie ich in die Schran¬
ken trat. Man meinte, ich war ein glücklicher Ad¬
vocat, ich ſetzte manches durch, noch mehr wandte ich
[369] ab. Alles für Andre! Nun, mein Herr, jetzt gilt es
für mich ſelbſt
. Werde ich mich ſchlagen, wie Ihre
Soldaten, für Commisbrod, aus Furcht vor dem Cor¬
poralſtock? Nein, wie der Pirat, den die Fregatten
eingeholt. In dem Todeskampfe ſiegt er wohl zu¬
weilen gegen die Uebermacht, es kommt öfter vor,
daß er die Verfolger mit ſich in die Luft ſprengt.
O, es ſoll ein Kampf werden, auf den ich mich freue;
eine Beſchäftigung für den Geiſt, wie ich ſie wünſche.
Sperren Sie mich in den engſten Kerker; je kleiner
der Keſſel, um ſo großer die Expanſionskraft des
Gaſes. Mein Compliment Ihnen, ich weiß, wen ich
vor mir habe: keine plumpe Criminalſpinne, die
außer ihrer Aktenhöhle, blödſichtig, nicht um ſich weiß,
nein, einen feinen Welt- und Lebemann, der mit ſei¬
nen Kenntniſſen und pſychologiſchen Erfahrungen mich
umgarnen und harmlos fangen möchte. Grad, auf
ſolchen Gegner freue ich mich. Ich ſchätze Sie. Wir
wollen uns in Minen und Contreminen begegnen.
Das wird meinen Geiſt friſch erhalten; das erfriſcht
auch das Blut; weit mehr, als die körperliche Be¬
wegung. Ich werde ein geſunder Gefangener blei¬
ben. Auch Sie ſollen Ihre Freude an mir haben.
Ein Inquiſitor verliebt ſich am Ende in ſeinen In¬
quiſiten — er ſehnt ſich in der Nacht auf den näch¬
ſten Morgen, wo er ihn wieder erblickt —“


„Bis er ihn an einem Morgen dem Richter ab¬
liefert, der ihn nicht zurückliefert.“


„Das bilden Sie ſich ja nicht ein. Sie meinen
V. 24[370] das Schaffot. Was wollen wir wetten? Auf's
Schaffot bringen Sie mich nicht. Ich kenne Ihre
Geſetze, die Anſichten Ihrer Richter. Höchſtens, wenn
Alles gut geht, nämlich für Sie, eine außerordent¬
liche Strafe. Zehn, funfzehn, vielleicht zwanzig Jahr
Gefängniß. Die ganze Welt iſt ein Gefängniß; wie
angeſtrichen, ſchwarz-weiß, blau, grün, ſchwarz-gelb,
das iſt am Ende gleichgültig. Ja, wenn Sie mich
nach Frankreich auslieferten, das wäre eine andre
Frage, vor den Geſchwornen, da hört unſre Logik auf.
Aber Sie ſind ein zu guter Patriot, und die Sache
iſt doch wohl auch für Sie zu intereſſant, um ſie
aus der Hand zu geben.“


„Der Baron Eitelbach iſt nicht an der Cholera
geſtorben,“ ſprach Fuchſius, ihn fixirend.


„Dann wäre es mir doch ſehr intereſſant, zu
erfahren, was man bei ihm finden wird! — Nichts
Mineraliſches, darauf können Sie ſich verlaſſen,“ —
ſprach Wandel mit höhniſch freundlicher Stimme, in¬
dem er die Frechheit hatte, dem Rath dabei ſanft auf
die Schulter zu klopfen.


„Scheuſal!“ rief dieſer zurückweichend.


„Warum das? Nur keine Affecte, ſie paſſen
nicht für Sie, nicht für mich. Ueberhaupt, ſein Sie
darauf gefaßt, durch Ueberraſchungen, Impulſe, Ge¬
fühlsaufwallungen ringen Sie mir nichts ab. Es
iſt für uns Beide beſſer, wenn wir uns auf den
Standpunkt der Humanität und Courtoiſie ſtellen,
wie zwei geſchickte Schachſpieler, wo Jeder die In¬
[371] tentionen des Andern durchſchaut. Einer muß end¬
lich gewinnen, der, der die meiſte Geduld hat und
am längſten wach bleibt. Bleiben Sie wach, Herr
von Fuchſius, Sie haben einen alerten Gegner.
Nein, die Kränkung trau ich Ihnen nicht zu, zu
glauben, ich könnte ſo einfältig geweſen ſein, wenn
ich den mir gleichgültigſten Mann auf der Welt aus
ihr fortſchaffen wollen, daß ich es mit Arſenik ge¬
than und nicht mit Pflanzenſäften, deren Spuren
ſchon nach ein Paar Stunden verflüchtigt ſind.“


Der Wagen, der ihn nach dem Gefängniß ſchaf¬
fen ſollte, war vorgerollt. An der Thür wandte
Fuchſius ſich noch einmal um:


„Herr von Wandel, es iſt möglich, daß Sie Recht
behalten, daß die Gerichte mit ihren groben Werkzeu¬
gen nicht in alle verborgenen Winkel Ihrer Verbrechen
dringen, ich aber habe die volle moraliſche Ueberzeu¬
gung. Um deshalb werde ich die Unterſuchung viel¬
leicht einem unbefangenen, Richter abgeben. Hier
aber, vor Gott, vor der Ewigkeit, oder, wenn Sie
wollen, vor der weſenloſen Leere, deren Annahen
Sie grauen machte, möchte ich in Ihre Seele ſchauen
und eine Frage thun —“


„Deren Inhalt ich mir denken kann. Geben
Sie ſich nicht die fruchtloſe Mühe. Nur ein Wort.
Nicht wahr, vor dieſer Ihrer moraliſchen Ueberzeu¬
gung bin ich ein gräßlicher Verbrecher, weil — weil
ich mit Menſchenleben geſpielt habe, das nehmen Sie
an, zu meinem Vortheil, der Wißbegier, des Ver¬
24*[372] gnügens wegen, was es ſei. Nun blicken Sie um
ſich, links und rechts, in Weſt und Oſt, in Nord und
Süd, auf die großen Spieler. Die haben geſpielt
und ſpielen fort, mit tauſenden, mit hunderttauſen¬
den von Menſchenleben, und ich kleiner, beſcheidener
Bankhalter! — Ja, die haben Motive, antworten
Sie, Menſchenliebe, Allgemeinwohl, Religion, Frei¬
heit und Gleichheit, Thron und Altar, Sitte und
Nationalität — Herr, wer ſagt Ihnen, daß ich nicht
auch Motive habe, Ideen, vor denen alle Rückſichten
ſchwinden müſſen? Kann ich ſie nicht auch über¬
kleiſtern mit Goldſchaum und Tugendfloskeln? Das
wahre Motiv, Herr, das iſt überall daſſelbe: der
Größere frißt den kleineren, wenn er Appetit hat
und ſein Magen es verträgt, und der Unterſchied iſt
nur der: die großen Verbrecher kommen in die Ge¬
ſchichtsbücher und wir kleinen irgendwo in ein Cri¬
minalregiſter. Wenn der Wurm auf uns Mahlzeit
hält, iſt's uns Beiden gleichgültig. — Aber ich, nein,
mir iſt's nicht gleichgültig, ein Stein iſt mir vom
Herzen gewälzt, ein Quell ſprudelte in der Wüſte — ich
habe nichts mehr mit der verfluchten Politik
zu thun
. Verſtellung, Heuchelei,
für Andre denken, fühlen zu ſollen, bin ich
quitt
. Mögen ſie ſich todtſchlagen, betrügen, verre¬
den, glorificiren, wie ſie Luſt haben, mich kümmert's
nicht mehr. Von nun an bin ich wahr, ja, mein
Herr, ich fühle die ganze Seligkeit der Wahrheit, ich
athme, kämpfe, lebe nur für mich.“

[373]

Die Gerichtsdiener waren eingetreten.


„Haben Sie mir nichts mehr zu ſagen? Wir
ſehn uns wahrſcheinlich zum letzten Mal.“


„Das würde ich aufrichtig bedauern.“


„Nichts der Baronin Eitelbach, deren —“


„Deren Glück ich gemacht, wollen Sie andeuten,
lachte Wandel auf. Wider Willen allerdings, wenn
es wäre! Wenn ihre Wunden und ſeine Wunden
geheilt, die Trauermonate mit honetten Thränen
anſtändig verweint ſind, wird ſie ihn heirathen, und
wenn ich an das Glück dieſer geiſtreichen Ehe denke
— wahrhaftig, dann wird mein Gefängniß mir noch
einmal ſo intereſſant erſcheinen.“


„Und keinen Wunſch mehr?“


„Nur eine Bitte. Haben Sie die Güte und
empfehlen mich der Frau Geheimräthin Lupinus. Ich
traue ihr zwar zu, daß, wenn ſie von dem Evene¬
ment hört, eine kleine Schadenfreude in ihr aufblitzt.
Warum nicht, ſie bleibt doch eine charmante Frau.
Wir verſtanden uns, es war eine wirkliche Sympa¬
thie. Durch Mauern und Räume getrennt, werden
wir noch miteinander leben, eine platoniſche Ehe; um
ſo ſicherer, denn unter einem Dach hätte ſie mir doch
vielleicht, aus Rache oder Liebe, einen ihrer Tränke
gereicht, die für meinen Geſchmack zu ſtark ſind. Es
hat ſich ſo beſſer gefügt.“


Die Kutſche mit dem Gefangenen mußte oft
anhalten. Wagen, ſchwer raſſelnd, unter ſtarker Mi¬
[374] litairescorte, verſperrten die Straße. Es waren die
Kaſſen, welche der neue Miniſter fortſchaffen ließ.
„So wird doch etwas gerettet, murmelte der Trans¬
portirte. Und wenn Preußen ſagen kann: Tout est
perdu
, sauf l'argent, iſt's am Ende ein Anfang zu einer
neuen Exiſtenz.“ Walter van Aſten gab aus dem
Fenſter des Miniſters den Commandirenden beim
Transport Anweiſungen. Auch der Geheimrath Alltag
ſchien unter denen, welche auf ihn hörten. Wandel,
der den Zuſammenhang gefaßt, lächelte: „Die Welt
dreht ſich um; das kann was werden! Wer Geld bringt,
kann eine Carriere machen. Die beſte freilich wäre
es, wenn der junge Menſch damit nach Amerika liefe.“


Walter, der ſich dem Auftrage des neuen Mi¬
niſters mit Eifer unterzogen, war gekommen, um ſei¬
nen letzten Bericht abzuſtatten. Er hoffe, das Geld
mit ſichern Leuten an den Ort ſeiner Beſtimmung
abzuliefern, aber — ſein Bericht über die Volksſtim¬
mung war traurig, er hegte keine Hoffnungen, nach
dem, was er geſehen, gehört.


„Wie Jeder beobachtet, ſagte der Bancodirector
Niebuhr, der ebenfalls vom Miniſter Abſchied nahm.
Niemand kann an allen Orten zugleich ſein.“


„Dieſe jubelnden Trainknechte, dieſe gepreßten
Bauerbengel, die froh ſind, dem Stock und der Fuch¬
telklinge einmal entlaufen zu ſein, ſind freilich ſo we¬
nig das Volk, als da die zitternden Käſekrämer und
Schnittwaarenhändler,“ hatte der Miniſter nachden¬
kend erwidert.


[375]

„Und doch, Excellenz, fiel Niebuhr ein, auch
unter ihnen regt ſich ſchon eine andere Stimmung.
Ich lernte, wie Sie, dies Volk erſt kennen. Aber wenn
Sie es jetzt kennten, wie ich, Sie würden es Ihrer
Liebe werth finden. Ich habe in dieſen Tagen nirgend
mehr ſo viel Kraft, Ernſt, Treue und Gutmüthigkeit
zu finden erwartet. Von einem großen Sinne ge¬
leitet, wäre dieſes Volk immer der ganzen Welt un¬
bezwingbar geblieben, und wie ſturmſchnell auch die
Fluth unſer Land überſchwemmt, noch jetzt drängte
ein ſolcher Geiſt ſie wieder zurück. Aber wo iſt er,
der große Geiſt, der es vermöchte!“ *)


„Er wird erſcheinen, rief der Miniſter und
ſeine Stirn leuchtete, indem er Niebuhrs Hand drücke,
die andere reichte er Walter. Warum ſollen nur
die Völker des Alterthums ihren Phönix haben! Iſt
das Chriſtenthum nicht baſirt auf dem Myſterium der
Wiedergeburt! Sollten nur die germaniſchen Völker
beſtimmt ſein, auszugehen und überzugeben in andre!
Ich glaube an den Phönix, aber der Scheiterhaufen
iſt noch nicht hoch genug. Es muß noch vieles
Morſche, Faule, Wurmſtichige darin verbrennen, viel
mehr, als wir wähnten, vieles, was wir geſtern noch
für geſund hielten, vielleicht was uns das Liebſte und
Theuerſte war. Leben Sie wohl, meine Freunde, wir
ſehen uns wieder, wenn noch nicht in beſſerer Zeit,
doch in einer, wo wir wieder hoffen dürfen.“


In den Geſchichtsbüchern ſteht, und es iſt daraus
[376] nicht wegzulöſchen, daß viele der gutgeſinnten Bürger
Berlins die Mahnung jenes Miniſters befolgten.
Sie ſchickten ſich in die Zeit, denn es war böſe Zeit.
Sie ſchwenkten die Hüte vor dem einziehenden Na¬
poleon und riefen „Vive l'Empereur, und illuminirten
ihre Häuſer, daß der Kaiſer ſelbſt in jene Worte der
Verwunderung und der Schmach ausbrach, die wir
nicht wiederholen wollen. Sie thaten es aber nicht
aus Geſinnung, ſondern wie Andere nach ihnen, aus
der „guten Geſinnung,“ welche der Dichter nennt:
die Rückſicht,
Die Elend läßt zu langen Jahren kommen;
ſie ſtimmten zu dem Uebel und ſtreichelten es, damit
das Uebel, das kommen konnte, nicht noch größer
werde, als das, was war. Aber nicht Alle waren
gut geſinnt. Es gab Männer, und Frauen auch,
welche das Uebel beim rechten Namen nannten, und
nicht erſchraken, wenn es ihnen ein böſes Geſicht
machte. Dieſe Einigen waren die Kieſelſteine, an
denen der Stahl Funken ſchlagen ſollte, aus denen
der ſtille Brand ward, welcher ſpäter zum allmächtigen
Feuer aufloderte. Gut Ding will Weile im deutſchen
Lande. Viele hat die Geſchichte genannt, oder fängt
jetzt an, ihre Namen zu nennen, aber wie viele ſind
ſchlummern gegangen, auf ihren Grabſteinen wächſt
Moos, und die Geſchichte kratzt es nicht mehr ab,
um von ihrem ſtillen Wirken Zeugniß zu geben. Da
darf die Dichtung, die ſo viel Trauriges und Schlimmes
nicht verſchweigen durfte, auch an die einzelnen
[377] Muthigen erinnern, und wo wir ſolche Bilder muth¬
loſer Zerſchlagenheit aus der preußiſchen Hauptſtadt
hinſtellen mußten, um wahr zu ſein, wird es zur
Pflicht auch einiger Züge zu gedenken, die ſchon wie
das ferne Wetterleuchten einer beſſeren Zeit am
Horizont erſcheinen.


Da ſtand eine Deputation vor dem Gewaltigen,
und er erwartete ſtammelnde Unterwürfigkeit, Be¬
wunderung und demüthiges Flehen. Er konnte es
erwarten nach dem, was voranging. Aber Einer im
Prieſterkleide trat vor und ſprach: „Sire, ich wäre
nicht werth des Kleides, das ich trage, des Königs,
dem ich diene, des Wortes, das ich verkündige, wollte
ich nicht bekennen, ich ſehe — Eure Majeſtät nicht
gern in Berlin.“ — Was Napoleon erwidert, haben
die Kinder der Zeitgenoſſen vergeſſen, aber im Ver¬
lauf des lebhaften Geſprächs, worin der kühne Mann
den Sieger fragte, ob er denn in der Geſchichte lieber
als ein Räuber daſtehen wolle, denn als ein chriſt¬
licher Herrſcher, trat der alte Erman plötzlich herz¬
haft auf den Kaiſer zu, faßte ſeinen Arm, ſchüttelte
ihn und ſagte: „Ce bras victorieux sera bienfaisant!“
Es wird erzählt, Napoleon ſei erſchrocken zurückgetreten.
Das hatte er aus Berlin nicht erwartet. Später habe
er zu ſeinen Adjutanten geäußert: „quel géant
que ce vieux druide! Jamais prêtre ne m'a dit cela.“


Erman, ſo weiß man, aber nicht aus dem Munde
des beſcheidenen Mannes, der ſelten davon ſprach,
wußte das Geſpräch, als Napoleon eine gnädige
[378] Miene annahm, auf die Königin Louiſe zu lenken.
Als warmer Lobredner der erhabenen Tugenden ſeiner
Monarchin habe er verſucht, die böſe Meinung oder
den böſen Willen des Kaiſers zu beſchämen. —
Darüber ruht ein Schleier, den Niemand lüften wird.
Nach der Rückkehr des Königspaares nach Berlin
überreichte die Königin ſelbſt Erman die Decoration,
welche der König ihm verliehen, mit der Anrede:
Mon chevalier!


Der vor Kurzem verſtorbene Sohn jenes alten
Erman, der auch wieder der alte Erman genannt
ward, der berühmte Profeſſor und Chemiker, ſchrieb
in einem Briefe an eine Verwandte zur Zeit der
Mobilmachung im Herbſte 1850: „Ich denke jetzt oft
an die Worte, die Napoleon an meinen Vater richtete:
Votre reine m'a fait une guerre de petite fille et
de petit garçon.
Schon ſieben Jahre ſpäter waren
die Kinder der Knaben zu den Männern der Katzbach
und von Leipzig erwachſen!


Eine andere Deputation berief ſpäter der zürnende
Kaiſer nach Paris. Es waren Männer des Gerichts,
eines hohen Tribunals, das gewagt, ein Urtheil zu
fällen, welches dem Gewaltigen nicht gefiel. Sie
hatten Einen, der von Paris aus verfolgt ward,
freigeſprochen, und Napoleon wollte ihn verurtheilt
wiſſen. Napoleon donnerte ſie an und ſchloß mit
der Drohung, wenn der Fall wieder vorkäme: „Je
vous fusillerai!“
Der Präſident des Tribunals er¬
widerte dem Imperator: „Sire, vous fusillerez la
[379] loi
.“ Napoleon leitete gegen ihn kein Disciplinar¬
verfahren ein. Der Mann des Rechtes, der die
männliche Antwort gab, hieß Sethe.


Ob der Fall in unſere Geſchichte gehört? —
Er geht über ſie hinaus. Wandel ward von Paris
aus verfolgt, das preußiſche Gericht fand aber die
Beweiſe nicht zur Ueberzeugung geführt. Auch in
Bezug auf ſeine Verbrechen in Berlin hatte Wandel
gegen Fuchſius richtig vorausgeſagt. Trotz der
moraliſchen Ueberzeugung, welche das Gericht gewann,
genügten die Beweiſe nicht, um gegen ihn die letzte
Strafe zu dictiren. Er büßte, wie die Lupinus, für
ſeine ſchweren Verbrechen nur durch eine lange Freiheits¬
ſtrafe. Beide überlebten ſogar ihre Strafzeit.


Viele von den Perſonen, die wir hier vorgeführt,
haben auch den Tag überlebt, mit dem wir unſere
Geſchichte beſchließen, es wäre ſogar möglich, daß ſie
noch heute leben. Wenn ſie die Theilnahme unſerer
Leſer ſich erwarben, wäre es möglich, daß wir auch
von ihren ferneren Schickſalen Kunde gäben, denn es
iſt viel vorgegangen ſeit fünfzig Jahren und heut.


Das war der traurigſte Auszug, den je Berlin
geſehn. Selbſt der Jubel des Volks, als die Wa¬
gen der Königin vorm Schloſſe hielten, um Wäſche
und das Nöthigſte zu einer Reiſe ohne Ziel einzu¬
nehmen, war herzzerreißend für die hohe Frau. Sie
hatte nicht Worte, nur Thränen. Dann die Straßen,
die Tauſende, die dem Wagen folgten, die zum
[380] letzten Mal die geliebte, ſchöne, milde, bürgerfreund¬
liche Königin ſehen wollten. Auch da ſchrieen Viele,
ſie wollten ihr Gut und Blut laſſen, man ſolle ſie
nur rufen. Was ſollte Louiſe antworten! — Auf
Wiederſehn, auf Wiederſehn! ſchluchzte es aus den
Fenſtern. Was konnte ſie darauf antworten!


Die Fenſter alle aufgeriſſen, überall Kopf an
Kopf, Tücher wehten und Tücher trockneten die Augen.
Sie konnte nicht mehr hinauswehen, ſie lehnte ſich
erſchöpft zurück. Und doch fielen ihr zwei ſtattliche
Häuſer auf, da war es ſtill, die Fenſter, auch hie
und da die Laden, waren geſchloſſen. Die Blicke
ihrer Begleiter ſahen mißvergnügt dahin. Die milde
Fürſtin ſagte: „Gewiß ſehr Kranke!“ — „Da wohnt
der Geheimrath Bovillard, ſagte die Hofdame ver¬
legen, er ſoll in der That krank ſein!“ Die Königin
ſchütterte zuſammen und fragte nicht mehr, auch nicht, wer
in dem andern Hauſe wohne? Der Adjutant zu Sei¬
ten des Wagens flüſterte der Voß zu: „'S iſt doch un¬
glaublich vom Grafen St. Real. Er hat Angſt,
daß Napoleon es ihm übel vermerken könnte.“ —
„Aber ein ſehr nobler Cavalier ſonſt, bemerkte die
alte Gräfin. Auch ein Kranker,“ ſagte ſie zur Königin.


Da war die Straße geſperrt in der Nähe des
Doms. Ein Hochzeitszug kam aus der Kirche. Die
Leute lachten, die Straßenjugend war ſogar laut;
ſie machten ihre Gloſſen zum Brautpaar. Auch die
Kaſſenwagen hatten hier Halt machen müſſen, und
Walter war mit dem Geheimrath Alltag aus dem
[381] Wagen geſprungen, nicht aus Theilnahme für die
Hochzeitleute, ſondern weil jeder den Augenblick nutzen
wollte, um Abſchied von einem Angehörigen zu nehmen.


Walter preßte ſeinen Vater an die Bruſt: „Ich
ſuchte Sie vergebens in — Ihrem Hauſe. Aber
was bedeutet das, die Siegel waren abgenommen?“


„Freude, mein Sohn, es können ja nicht Alle
trauern. Die Welt iſt ein großes Kaufmannsſpiel;
wenn Viele verlieren, müſſen doch Einige gewinnen,
wo bliebe es ſonſt! Der Rothwein ſteigt, die Häfen
werden geſperrt. Er iſt ſchon geſtiegen. Geſtern
bot man mir zehn Prozent über den Einkauf, heute
zwanzig, wenn die Franzoſen da ſind, bieten ſie fünfzig.
Soll ich mich nicht freuen, daß die Franzoſen da ſind,
oder ſoll ich weinen, daß unſre Junkerofficiere Schläge
bekommen haben? Dein Vater iſt ein reicher Mann,
er hat Credit, Freunde überall, die ihm längſt hätten
helfen wollen, wenn ſie nur gewußt, daß er in Noth
war. Nicht wahr, die Menſchen ſind doch beſſer, als
wir denken, wir merken's nur nicht! Lebewohl, mein
Junge, behalt im Gedächtniß, daß der beſte Rechner
oft die größten Fehler macht. Wer weiß, wann der
Bonaparte mal 'ne Null zu viel ſchreibt! Drum
rechne nicht zu viel, ſchone Dein Leben, denn Du
mußt rechnen, daß Du wieder eines reichen Mannes
Sohn biſt und ſein Erbe; und Minchen Schlarbaum,
vor der brauchſt Du Dich nicht zu fürchten, wenn Du
wiederkommſt, ſie wird wohl den Herrn von Fuch¬
ſius heirathen. Drum bleibe meinethalben romantiſch,
[382] haſt Recht, ich muß ja jetzt auch romantiſch ſein, auf
jeden Fall aber bleibe — ein Patriot!“


„Platz!“ rief es, der Hochzeitzug bewegte ſich
fort. Aber als der Geheimrath Lupinus mit der ihm
eben angetrauten Frau Geheimräthin nach dem Luſt¬
garten ſchritt, rief es wieder: „Platz! Ihre Majeſtät
die Königin!“ Der Zug ſtiebte auseinander, als
der Wagen ſich langſam Platz machte. Charlotte
hatte in der Kirche viel geweint vor Gemüthsbewegung,
und ſie hatte Gründe: der Tod ihres Wachtmeiſters,
die unverhoffte Ehre, zu der er ihr endlich verhalf,
und der Verdruß, daß ſie keine Kutſchen und Pferde
erhalten können. Die waren alle requirirt zum Trans¬
port und für die Fliehenden. Ein Brautzug zu Fuß
hatte ihr eine Entwürdigung der Ehe gedünkt. Was
aber war das gegen ihr Gefühl, ihre Beſtürzung,
nein, es war ein Donnerſchlag, als man ihr auf die
Schulter ſtieß: „Zurück! die Königin!“ Die Königin
hatte halten und warten müſſen um Charlotten! —
Sie ſah das holdſelige Geſicht der Königin, das ver¬
wundert über das Unerwartete zum Kutſchenſchlage
herausblickte. Da war's um ſie geſchehn; es war zu
viel. In ihrem Brautanzuge, der ſehr koſtbar war,
aber doch vielleicht aus der Garderobe der ſeligen Frau
Geheimräthin, war ſie auf die Knie geſtürzt, das ſchwere
bauſchigte Damaſtkleid im Gemüll der Straße! „Gnade,
allerdurchlauchtigſte Königin, aber ich kann nicht dafür.
Er hat mich geheirathet.“ Als die Königin, die vielleicht
ein Bittgeſuch vermuthete, den Kopf weiter vorbeugte,
[383] ſetzte der Geheimrath mit tiefer Verbeugung hinzu: „Ma¬
jeſtät, nur wegen der allgemeinen Calamität!“


Ob die Königin in ihren Schmerzen gelächelt,
ob ſie wirklich eine Bewegung mit der Hand gemacht,
die für eine Segnung gelten konnte? Sie hatte ſich
ſchnell wieder in die Kutſche zurückgelehnt. Alles
war das Werk des Augenblicks.


Walter zückte plötzlich auf. Der Brautzug trennte
ihn noch von jener Wagenreihe; aber er ſah eine
weibliche Geſtalt in Trauer ſich aus der dritten Kutſche
hinauslehnen und dem alten Alltag einen Scheide¬
kuß geben. Es war Adelheid. Ihre Augen trafen
ſich. „Eine junge Wittwe, die Frau von Bovillard,“
ſagte Jemand neben ihm. Der Wagen rollte den
andern nach. Adelheid ſah noch einmal hinaus und
winkte mit dem Tuche, er wußte nicht, ob ihm, oder
ihrem Vater. Durch die Pappeln ſchwirrte ein Luft¬
zug; ihm war es, als ſäuſele er: Auf Wiederſehn!


„Rebutant! ſagte die Gräfin Voß, als die könig¬
lichen Wagen außer dem Thore waren. Daß Ihro
Majeſtät zuletzt ein ſolcher ridiculer Auftritt in Dero
Reſidenz begegnen mußte. Man ſieht, es iſt mit aller
Ordnung und Dehors dort aus.“


Man mußte Zeit gehabt haben, vielleicht um ſie
zu zerſtreuen, die Fürſtin von den Verhältniſſen zu
unterrichten. Auch hatte man ſie aufmerkſam gemacht, daß
der alte wohlbekannte Kaufmann van Aſten lächelnd an
der Straße geſtanden: „Er hätte doch wenigſtens in
ſolchem Augenblick ſeine Freude verbergen müſſen.“

[384]

Die Königin hatte ſchweigend dageſeſſen. Jetzt
öffnete ſie die Lippen: „Weshalb, meine Freunde,
weil wir traurig ſind und Millionen mit uns, ſollen
Alle trauern! Hat die Vorſehung es nicht ſo gefügt,
daß, während es hier Nacht iſt, jenſeits der Erde die
Sonne ſcheint, und wir wiſſen, daß, wenn es dort
dunkelt, hier der Tag anbricht. Wenn wir Alle in
Finſterniß und Trauer vergingen, wie ſollte der Hoff¬
nungsſtrahl uns erleuchten! Freuen wir uns doch,
daß nicht alle Herzen brechen, daß ſie ſogar noch lachen
können, während wir blutige Thränen weinen. Die
heute ausruhen, ſind morgen wach. — Ich will es
als eine gute Vorbedeutung nehmen, daß wir eine
Hochzeit, Lachende und Frohe ſahen beim Abſchied
aus Berlin. Wir werden es wiederſehn.“


Als ſie, um von der Höhe einen letzten Scheide¬
blick auf die Königsſtadt zu werfen, den Kopf aus
dem Fenſter ſteckte, theilte ſich der Herbſtnebel am
Horizont und die Sonne ſtrahlte aus dem blauen
Firmament. Sie horchte auf die Lerchen in der Luft.
Ob ſie das Lied verſtand? Es war kein letzter Seufzer
des Mohrenkönigs, als er ſein Wehe mir, Alhama!
auf dem Berge ſang, von dem er zum letzten Mal
ſein geliebtes Granada ſah.

Appendix A

Druck von Eduard Krauſe in Berlin.


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Notes
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Hiſtoriſche Worte Niebuhrs aus jener Zeit.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Alexis, Willibald. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpzw.0