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Immenſee.
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Immenſee


[figure]

Berlin.:
Verlag von Alexander Duncker,
Königl. Hofbuchhändler.


1852.
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Der Alte.

An einem Spätherbſtnachmittage ging ein alter wohl¬
gekleideter Mann langſam die Straße hinab. Er
ſchien von einem Spaziergange nach Hauſe zurück¬
zukehren; denn ſeine Schnallenſchuhe, die einer vor¬
übergegangenen Mode angehörten, waren beſtäubt.
Den langen Rohrſtock mit goldenem Knopf trug er
unter dem Arm; mit ſeinen dunkeln Augen, in welche
ſich die ganze verlorene Jugend gerettet zu haben
ſchien, und welche eigenthümlich von den ſchneeweißen
Haaren abſtachen, ſah er ruhig umher oder in die
Stadt hinab, welche im Abendſonnendufte vor ihm
lag. — Er ſchien faſt ein Fremder; denn von den
Vorübergehenden grüßten ihn nur wenige, obgleich
Mancher unwillkürlich in dieſe ernſten Augen zu ſehen
gezwungen wurde. Endlich ſtand er vor einem hohen
[6] Giebelhauſe ſtill, ſah noch einmal in die Stadt hin¬
aus, und trat dann in die Hausdiele. Bei dem Schall
der Thürglocke wurde drinnen in der Stube von einem
Guckfenſter, welches nach der Diele hinausging, der
grüne Vorhang weggeſchoben und das Geſicht einer
alten Frau dahinter ſichtbar. Der Mann winkte ihr
mit ſeinem Rohrſtock. Noch kein Licht! ſagte er in
einem etwas ſüdlichen Accent; und die Haushälterin
ließ den Vorhang wieder fallen. Der Alte ging nun
über die weite Hausdiele, durch einen Peſel, wo große
Eichſchränke mit Porzellanvaſen an den Wänden ſtan¬
den; durch die gegenüberſtehende Thür trat er in einen
kleinen Flur, von wo aus eine enge Treppe zu den
obern Zimmern des Hinterhauſes führte. Er ſtieg
ſie langſam hinauf, ſchloß oben eine Thür auf, und
trat dann in ein mäßig großes Zimmer. Hier war
es heimlich und ſtill; die eine Wand war faſt mit
Repoſitorien und Bücherſchränken bedeckt; an der
andern hingen Bilder von Menſchen und Gegenden;
vor einem Tiſch mit grüner Decke, auf dem einzelne
aufgeſchlagene Bücher umherlagen, ſtand ein ſchwer¬
fälliger Lehnſtuhl mit rothem Sammetkiſſen. — Nach¬
dem der Alte Hut und Stock in die Ecke geſtellt hatte,
[7] ſetzte er ſich in den Lehnſtuhl und ſchien mit gefalteten
Händen von ſeinem Spaziergange auszuruhen. —
Wie er ſo ſaß, wurde es allmählig dunkler; endlich
fiel ein Mondſtrahl durch die Fenſterſcheiben auf die
Gemälde an der Wand, und wie der helle Streif
langſam weiter rückte, folgten die Augen des Mannes
unwillkürlich. Nun trat er über ein kleines Bild in
ſchlichtem ſchwarzem Rahmen. Eliſabeth! ſagte der
Alte leiſe; und wie er das Wort geſprochen, war die
Zeit verwandelt; er war in ſeiner Jugend.

Die Kinder.

Bald trat die anmuthige Geſtalt eines kleinen
Mädchens zu ihm. Sie hieß Eliſabeth und mochte
fünf Jahre zählen; er ſelbſt war doppelt ſo alt. Um
den Hals trug ſie ein rothſeidenes Tüchelchen; das
ließ ihr hübſch zu den braunen Augen.


Reinhardt! rief ſie, wir haben frei, frei! den gan¬
zen Tag keine Schule, und morgen auch nicht.


Reinhardt ſtellte die Rechentafel, die er ſchon
unterm Arm hatte, flink hinter die Hausthür, und
dann liefen beide Kinder durchs Haus in den Garten,
[8] und durch die Gartenpforte hinaus auf die Wieſe.
Die unverhofften Ferien kamen ihnen herrlich zu
Statten. Reinhardt hatte hier mit Eliſabeths Hülfe
ein Haus aus Raſenſtücken aufgeführt; darin wollten
ſie die Sommerabende wohnen; aber es fehlte noch
die Bank. Nun ging er gleich an die Arbeit; Nägel,
Hammer und die nöthigen Bretter lagen ſchon bereit.
Während deſſen ging Eliſabeth an dem Wall entlang
und ſammelte den ringförmigen Samen der wilden
Malve in ihre Schürze; davon wollte ſie ſich Ketten
und Halsbänder machen; und als Reinhardt endlich
trotz manches krumm geſchlagenen Nagels ſeine Bank
dennoch zu Stande gebracht hatte und nun wieder
in die Sonne hinaustrat, ging ſie ſchon weit davon
am andern Ende der Wieſe.


Eliſabeth! rief er, Eliſabeth! und da kam ſie,
und ihre Locken flogen. Komm, ſagte er, nun iſt
unſer Haus fertig. Du biſt ja ganz heiß geworden;
komm herein, wir wollen uns auf die neue Bank
ſetzen. Ich erzähl' dir etwas.


Dann gingen ſie beide hinein, und ſetzten ſich auf
die neue Bank. Eliſabeth nahm ihre Ringelchen aus
der Schürze und zog ſie auf lange Bindfäden; Rein¬
[9] hardt fing an zu erzählen: Es waren einmal drei
Spinnfrauen — —


Ach, ſagte Eliſabeth, das weiß ich ja auswendig;
du mußt auch nicht immer daſſelbe erzählen.


Da mußte Reinhardt die Geſchichte von den drei
Spinnfrauen ſtecken laſſen, und ſtatt deſſen erzählte
er die Geſchichte von dem armen Mann, der in die
Löwengrube geworfen war. Nun war es Nacht; ſagte
er, weißt du? ganz finſtere, und die Löwen ſchliefen.
Mitunter aber gähnten ſie im Schlaf und reckten die
rothen Zungen aus; dann ſchauderte der Mann und
meinte, daß der Morgen komme. Da warf es um ihn
her auf einmal einen hellen Schein, und als er auf¬
ſah, ſtand ein Engel vor ihm. Der winkte ihm mit
der Hand und ging dann gerade in die Felſen hinein.


Eliſabeth hatte aufmerkſam zugehört. Ein Engel?
ſagte ſie: Hatte er denn Flügel?


Es iſt nur ſo eine Geſchichte; antwortete Rein¬
hardt; es giebt ja gar keine Engel.


O pfui, Reinhardt! ſagte ſie und ſah ihm ſtarr ins
Geſicht. Als er ſie aber finſter anblickte, fragte ſie
ihn zweifelnd: Warum ſagen ſie es denn immer?
Mutter und Tante und auch in der Schule?


[10]

Das weiß ich nicht; antwortete er.


Aber du, ſagte Eliſabeth, giebt es denn auch keine
Löwen?


Löwen? Ob es Löwen giebt! In Indien; da ſpan¬
nen die Götzenprieſter ſie vor den Wagen und fahren
mit ihnen durch die Wüſte. Wenn ich groß bin, will
ich einmal ſelber hin. Da iſt es viel tauſendmal
ſchöner als hier bei uns; da giebt es gar keinen Win¬
ter. Du mußt auch mit mir. Willſt du?


Ja, ſagte Eliſabeth; aber Mutter muß dann auch
mit, und deine Mutter auch.


Nein, ſagte Reinhardt; die ſind dann zu alt, die
können nicht mit.


Ich darf aber nicht allein.


Du ſollſt ſchon dürfen; du wirſt dann wirklich meine
Frau, und dann haben die Andern dir nichts zu
befehlen.


Aber meine Mutter wird weinen.


Wir kommen ja wieder, ſagte Reinhardt heftig;
ſag es nur gerade heraus, willſt du mit mir reiſen?
Sonſt geh ich allein; und dann komme ich nimmer
wieder.


Der Kleinen kam das Weinen nahe. Mach nur
[11] nicht ſo böſe Augen, ſagte ſie; ich will ja mit nach
Indien.


Reinhardt faßte ſie mit ausgelaſſener Freude bei
beiden Händen, und zog ſie hinaus auf die Wieſe.
Nach Indien, nach Indien! ſang er und ſchwenkte ſich
mit ihr im Kreiſe, daß ihr das rothe Tüchelchen vom
Halſe flog. Dann aber ließ er ſie plötzlich los und
ſagte ernſt: Es wird doch nichts daraus werden; du
haſt keine Courage.


— — Eliſabeth! Reinhardt! rief es jetzt von der
Gartenpforte. Hier! Hier! antworteten die Kinder,
und ſprangen Hand in Hand nach Hauſe.

Im Walde.

So lebten die Kinder zuſammen; ſie war ihm oft
zu ſtill, er war ihr oft zu heftig, aber ſie ließen des¬
halb nicht von einander; faſt alle Freiſtunden theilten
ſie, Winters in den beſchränkten Zimmern ihrer Müt¬
ter; Sommers in Buſch und Feld. — Als Eliſabeth
einmal in Reinhardts Gegenwart von dem Schul¬
lehrer geſcholten wurde, ſtieß er ſeine Tafel zornig
auf den Tiſch, um den Eifer des Mannes auf ſich zu
[12] lenken. Es wurde nicht bemerkt. Aber Reinhardt ver¬
lor alle Aufmerkſamkeit an den geographiſchen Vor¬
trägen; ſtatt deſſen verfaßte er ein langes Gedicht;
darin verglich er ſich ſelbſt mit einem jungen Adler,
den Schulmeiſter mit einer grauen Krähe, Eliſabeth
war die weiße Taube; der Adler gelobte, an der grauen
Krähe Rache zu nehmen, ſobald ihm die Flügel ge¬
wachſen ſein würden. Dem jungen Dichter ſtanden
die Thränen in den Augen; er kam ſich ſehr erhaben
vor. Als er nach Hauſe gekommen war, wußte er ſich
einen kleinen Pergamentband mit vielen weißen Blät¬
tern zu verſchaffen; auf die erſten Seiten ſchrieb er
mit ſorgſamer Hand ſein erſtes Gedicht. — Bald
darauf kam er in eine andere Schule; hier ſchloß er
manche neue Kameradſchaft mit Knaben ſeines Al¬
ters; aber ſein Verkehr mit Eliſabeth wurde dadurch
nicht geſtört. Von den Märchen, welche er ihr ſonſt
erzählt und wieder erzählt hatte, fing er jetzt an, die,
welche ihr am beſten gefallen hatten, aufzuſchreiben;
dabei wandelte ihn oft die Luſt an, etwas von ſeinen
eigenen Gedanken hineinzudichten; aber, er wußte
nicht weshalb, er konnte immer nicht dazu gelangen.
So ſchrieb er ſie genau auf, wie er ſie ſelber gehört
[13] hatte. Dann gab er die Blätter an Eliſabeth, die
ſie in einem Schubfach ihrer Schatulle ſorgfältig
aufbewahrte; und es gewährte ihm eine anmuthige
Befriedigung, wenn er ſie mitunter Abends dieſe
Geſchichten in ſeiner Gegenwart aus den von ihm
geſchriebenen Heften ihrer Mutter vorleſen hörte.


Sieben Jahre waren vorüber. Reinhardt ſollte
zu ſeiner weiteren Ausbildung die Stadt verlaſſen.
Eliſabeth konnte ſich nicht in den Gedanken finden,
daß es nun eine Zeit ganz ohne Reinhardt geben
werde. Es freute ſie, als er ihr eines Tages ſagte,
er werde, wie ſonſt, Märchen für ſie aufſchreiben; er
wolle ſie ihr mit den Briefen an ſeine Mutter ſchicken;
ſie müſſe ihm dann wieder ſchreiben, wie ſie ihr gefallen
hätten. Die Abreiſe rückte heran; vorher aber kam
noch mancher Reim in den Pergamentband. Das
allein war für Eliſabeth ein Geheimniß, obgleich ſie
die Veranlaſſung zu dem ganzen Buche und zu den
meiſten Liedern war, welche nach und nach faſt die
Hälfte der weißen Blätter gefüllt hatten.


Es war im Juni; Reinhardt ſollte am anderen
Tage reiſen. Nun wollte man noch einmal einen
feſtlichen Tag zuſammen begehen. Dazu wurde eine
[14] Landpartie nach einer der [nahgelegenen] Holzungen
in größerer Geſellſchaft veranſtaltet. Der ſtunden¬
lange Weg bis an den Saum des Waldes wurde zu
Wagen zurückgelegt; dann nahm man die Proviant¬
körbe herunter und marſchirte weiter. Ein Tannen¬
gehölz mußte zuerſt durchwandert werden; es war
kühl und dämmerig und der Boden überall mit ſeinen
Nadeln beſtreut. Nach halbſtündigem Wandern kam
man aus dem Tannendunkel in eine friſche Buchen¬
waldung; hier war alles licht und grün, mit¬
unter brach ein Sonnenſtrahl durch die blätterreichen
Zweige; ein Eichkätzchen ſprang über ihren Köpfen
von Aſt zu Aſt. — Auf einem Platze, über welchem
uralte Buchen mit ihren Kronen zu einem durch¬
ſichtigen Laubgewölbe zuſammenwuchſen, machte die
Geſellſchaft Halt. Eliſabeths Mutter öffnete einen
der Körbe; ein alter Herr warf ſich zum Proviant¬
meiſter auf. Alle um mich herum, ihr jungen Vögel!
rief er, und merket genau, was ich euch zu ſagen habe.
Zum Frühſtück erhält jetzt ein Jeder von euch zwei
trockene Wecken; die Butter iſt zu Hauſe geblieben,
die Zukoſt muß ſich ein Jeder ſelber ſuchen. Es ſtehen
genug Erdbeeren im Walde, das heißt, für den, der
[15] ſie zu finden weiß. Wer ungeſchickt iſt, muß ſein
Brod trocken eſſen; ſo geht es überall im Leben.
Habt ihr meine Rede begriffen?


Ja wohl! riefen die Jungen.


Ja ſeht, ſagte der Alte, ſie iſt aber noch nicht zu
Ende. Wir Alten haben uns im Leben ſchon genug
umhergetrieben; darum bleiben wir jetzt zu Haus, das
heißt, hier unter dieſen breiten Bäumen, und ſchälen
die Kartoffeln, und machen Feuer und rüſten die
Tafel, und wenn die Uhr zwölf iſt, ſollen auch die
Eier gekocht werden. Dafür ſeid ihr uns von euren
Erdbeeren die Hälfte ſchuldig, damit wir auch einen
Nachtiſch ſerviren können. Und nun geht nach Oſt
und Weſt und ſeid ehrlich!


Die Jungen machten allerlei ſchelmiſche Geſichter.
Halt! rief der alte Herr noch einmal. Das brauche
ich euch wohl nicht zu ſagen, wer keine findet, braucht
auch keine abzuliefern; aber das ſchreibt euch wohl
hinter eure feinen Ohren, von uns Alten bekommt er
auch nichts. Und nun habt ihr für dieſen Tag gute
Lehren genug; wenn ihr nun noch Erdbeeren dazu
habt, ſo werdet ihr für heute ſchon durchs Leben
kommen.


[16]

Die Jungen waren derſelben Meinung, und began¬
nen ſich paarweiſe auf die Fahrt zu machen.


Komm, Eliſabeth, ſagte Reinhardt, ich weiß einen
Erdbeerenſchlag; du ſollſt kein trocknes Brod eſſen.


Eliſabeth knüpfte die grünen Bänder ihres Stroh¬
huts zuſammen, und hing ihn über den Arm. So
komm, ſagte ſie, der Korb iſt fertig.


Dann gingen ſie in den Wald hinein, tiefer und
tiefer; durch feuchte undurchdringliche Baumſchatten,
wo Alles ſtill war, nur unſichtbar über ihnen in den
Lüften das Geſchrei der Falken; dann wieder durch
dichtes Geſtrüpp, ſo dicht, daß Reinhardt vorangehen
mußte, um einen Pfad zu machen, hier einen Zweig
zu knicken, dort eine Ranke bei Seite zu biegen.
Bald aber hörte er hinter ſich Eliſabeth ſeinen Namen
rufen. Er wandte ſich um. Reinhardt! rief ſie,
warte doch, Reinhardt! — Er konnte ſie nicht gewahr
werden; endlich ſah, er ſie in einiger Entfernung
mit den Sträuchern kämpfen; ihr feines Köpfchen
ſchwamm nur kaum über den Spitzen der Farren¬
kräuter. Nun ging er noch einmal zurück, und führte
ſie durch das Wirrniß der Kräuter und Stauden auf
einen freien Platz hinaus, wo blaue Falter zwiſchen
[17] den einſamen Waldblumen flatterten. Reinhardt ſtrich
ihr die feuchten Haare aus dem erhitzten Geſichtchen;
dann wollte er ihr den Strohhut aufſetzen, und ſie
wollte es nicht leiden; aber dann bat er ſie, und dann
ließ ſie es doch geſchehen.


Wo bleiben denn aber deine Erdbeeren? fragte
ſie endlich, indem ſie ſtehen blieb und einen tiefen
Athemzug that.


Hier haben ſie geſtanden, ſagte er; aber die Kröten
ſind uns zuvorgekommen, oder die Marder, oder viel¬
leicht die Elfen.


Ja, ſagte Eliſabeth, die Blätter ſtehen noch da;
aber ſprich hier nicht von Elfen. Komm nur, ich bin
noch gar nicht müde; wir wollen weiter ſuchen.


Vor ihnen war ein kleiner Bach, jenſeits wieder
der Wald. Reinhardt hob Eliſabeth auf ſeine Arme
und trug ſie hinüber. Nach einer Weile traten ſie
aus dem ſchattigen Laube wieder in eine weite Lich¬
tung hinaus. Hier müſſen Erdbeeren ſein, ſagte das
Mädchen, es duftet ſo ſüß.


Sie gingen ſuchend durch den ſonnigen Raum;
aber ſie fanden keine. Nein, ſagte Reinhardt, es iſt
nur der Duft des Haidekrauts.


Storm, Immenſee. 2[18]

Himbeerbüſche und Hülſendorn ſtanden überall
durch einander, ein ſtarker Geruch von Haidekräu¬
tern, welche abwechſelnd mit kurzem Graſe die freien
Stellen des Bodens bedeckten, erfüllte die Luft. Hier
iſt es einſam, ſagte Eliſabeth; wo mögen die Andern
ſein?


An den Rückweg hatte Reinhardt nicht gedacht.
Warte nur; woher kommt der Wind? ſagte er, und
hob ſeine Hand in die Höhe. Aber es kam kein Wind.


Still, ſagte Eliſabeth, mich dünkt, ich hörte ſie
ſprechen. Rufe einmal dahinunter.


Reinhardt rief durch die hohle Hand: Kommt hier¬
her! — Hierher! rief es zurück.


Sie antworten! ſagte Eliſabeth und klatſchte in die
Hände.


Nein, es war nichts, es war nur der Wiederhall.


Eliſabeth faßte Reinhardts Hand. Mir graut!
ſagte ſie.


Nein, ſagte Reinhardt, das muß es nicht. Hier
iſt es prächtig. Setz dich dort in den Schatten zwi¬
ſchen die Kräuter. Laß uns eine Weile ausruhen;
wir finden die Andern ſchon.


Eliſabeth ſetzte ſich unter eine überhängende Buche
[19] und lauſchte aufmerkſam nach allen Seiten; Reinhardt
ſaß einige Schritte davon auf einem Baumſtumpf und
ſah ſchweigend nach ihr hinüber. Die Sonne ſtand
gerade über ihnen; es war glühende Mittagshitze;
kleine goldglänzende, ſtahlblaue Fliegen ſtanden flügel¬
ſchwingend in der Luft; rings um ſie her ein feines
Schwirren und Summen, und manchmal hörte man
tief im Walde das Hämmern der Spechte und das
Kreiſchen der andern Waldvögel.


Horch, ſagte Eliſabeth, es läutet.


Wo? fragte Reinhardt.


Hinter uns. Hörſt du? Es iſt Mittag.


Dann liegt hinter uns die Stadt; und wenn wir
in dieſer Richtung gerade durchgehen, ſo müſſen wir
die Andern treffen.


So traten ſie ihren Rückweg an; das Erdbeeren¬
ſuchen hatten ſie aufgegeben, denn Eliſabeth war
müde geworden. Endlich klang zwiſchen den Bäumen
hindurch das Lachen der Geſellſchaft; dann ſahen ſie
auch ein weißes Tuch am Boden ſchimmern, das war
die Tafel, und darauf ſtanden Erdbeeren in Hülle
und Fülle. Der alte Herr hatte eine Serviette im
Knopfloch und den Jungen die Fortſetzung ſei¬
2*[20] ner moraliſchen Reden, während er eifrig an einem
Braten herumtranchirte.


Da ſind die Nachzügler! riefen die Jungen, als ſie
Reinhardt und Eliſabeth durch die Bäume kommen
ſahen.


Hierher! rief der alte Herr, Tücher ausgeleert, Hüte
umgekehrt! Nun zeigt her, was ihr gefunden habt.


Hunger und Durſt! ſagte Reinhardt.


Wenn das Alles iſt, erwiderte der Alte, und hob
ihnen die volle Schüſſel entgegen, ſo müßt ihr es auch
behalten. Ihr kennt die Abrede; hier werden keine
Müßiggänger gefüttert.


Endlich ließ er ſich aber doch erbitten, und nun
wurde Tafel gehalten; dazu ſchlug die Droſſel aus
den Wachholderbüſchen.


So ging der Tag hin. — Reinhardt hatte aber doch
etwas gefunden; waren es keine Erdbeeren, ſo war
es doch auch im Walde gewachſen. Als er nach Hauſe
gekommen war, ſchrieb er in ſeinen alten Pergament¬
band:


Hier an der Bergeshalde

Verſtummet ganz der Wind;

Die Zweige hängen nieder,

Darunter ſitzt das Kind.
[21]
Sie ſitzt im Thymiane,

Sie ſitzt in lauter Duft;

Die blauen Fliegen ſummen

Und blitzen durch die Luft.
Es ſteht der Wald ſo ſchweigend,

Sie ſchaut ſo klug darein;

Um ihre braunen Locken

Hinfließt der Sonnenſchein.
Der Kuckuck lacht von ferne,

Es geht mir durch den Sinn:

Sie hat die goldnen Augen

Der Waldeskönigin.

So war ſie nicht allein ſein Schützling; ſie war ihm
auch der Ausdruck für alles Liebliche und Wunderbare
ſeines aufgehenden Lebens.

Da ſtand das Kind am Wege.

Weihnachtabend kam heran. — Es war noch Nach¬
mittags, als Reinhardt mit andern Studenten im
Rathskeller am alten Eichentiſch zuſammen ſaß. Die
Lampen an den Wänden waren angezündet, denn hier
unten dämmerte es ſchon; aber die Gäſte waren ſpar¬
ſam verſammelt, die Kellner lehnten müßig an den
Mauerpfeilern. In einem Winkel des Gewölbes
ſaßen ein Geigenſpieler und ein Zittermädchen mit
[22] feinen zigeunerhaften Zügen; ſie hatten ihre Inſtru¬
mente auf dem Schooß liegen und ſchienen theilnahm¬
los vor ſich hin zu ſehen.


Am Studententiſche knallte ein Champagnerpfrop¬
fen. Trinke, mein böhmiſch Liebchen! rief ein junger
Mann von junkerhaftem Aeußern, indem er ein volles
Glas zu dem Mädchen hinüberreichte.


Ich mag nicht, ſagte ſie, ohne ihre Stellung zu ver¬
ändern.


So ſinge! rief der Junker, und warf ihr eine Sil¬
bermünze in den Schooß. Das Mädchen ſtrich ſich
langſam mit den Fingern durch ihr ſchwarzes Haar,
während der Geigenſpieler ihr ins Ohr flüſterte; aber
ſie warf den Kopf zurück, und ſtützte das Kinn auf
ihre Zitter. Für den ſpiel' ich nicht, ſagte ſie.


Reinhardt ſprang mit dem Glaſe in der Hand auf,
und ſtellte ſich vor ſie. Was willſt du? fragte ſie
trotzig.


Deine Augen ſehn.


Was gehn dich meine Augen an?


Reinhardt ſah funkelnd auf ſie nieder. Ich weiß
wohl, ſie ſind falſch! — Sie legte ihre Wange in die
flache Hand, und ſah ihn lauernd an. Reinhardt hob
[23] ſein Glas an den Mund. Auf deine ſchönen, ſünd¬
haften Augen! ſagte er, und trank.


Sie lachte, und warf den Kopf herum. Gieb!
ſagte ſie; und indem ſie ihre ſchwarzen Augen in die
ſeinen heftete, trank ſie langſam den Reſt. Dann
griff ſie einen Dreiklang und ſang mit tiefer leiden¬
ſchaftlicher Stimme:

Heute, nur heute

Bin ich ſo ſchön ;

Morgen, ach morgen

Muß Alles vergehn!

Nur dieſe Stunde

Biſt du noch mein;

Sterben, ach ſterben

Soll ich allein.

Während der Geigenſpieler in raſchem Tempo das
Nachſpiel einſetzte, geſellte ſich ein neuer Ankömmling
zu der Gruppe.


Ich wollte dich abholen, Reinhardt; ſagte er. Du
warſt ſchon fort; aber das Chriſtkind war bei dir ein¬
gekehrt.


Das Chriſtkind? ſagte Reinhardt, das kommt nicht
mehr zu mir.


Ei was! Dein ganzes Zimmer roch nach Tannen¬
baum und braunen Kuchen.


[24]

Reinhardt ſetzte das Glas aus der Hand und griff
nach ſeiner Mütze.


Was willſt du? fragte das Mädchen.


Ich komme ſchon wieder.


Sie runzelte die Stirn. Bleib! rief ſie leiſe, und
ſah ihn vertraulich an.


Reinhardt zögerte. Ich kann nicht, ſagte er.


Sie ſtieß ihn lachend mit der Fußſpitze. Geh!
ſagte ſie. Du taugſt nichts; ihr taugt alle mit ein¬
ander nichts. Und während ſie ſich abwandte, ſtieg
Reinhardt langſam die Kellertreppe hinauf.


Draußen auf der Straße war es tiefe Dämmerung;
er fühlte die friſche Winterluft an ſeiner heißen Stirn.
Hie und da fiel der helle Schein eines brennenden
Tannenbaums aus den Fenſtern, dann und wann
hörte man von drinnen das Geräuſch von kleinen
Pfeifen und Blechtrompeten und dazwiſchen jubelnde
Kinderſtimmen. Schaaren von Bettelkindern gingen
von Haus zu Haus, oder ſtiegen auf die Treppen¬
geländer und ſuchten durch die Fenſter einen Blick in
die verſagte Herrlichkeit zu gewinnen. Mitunter
wurde auch eine Thür plötzlich aufgeriſſen und ſchel¬
tende Stimmen trieben einen ganzen Schwarm ſolcher
[25] kleinen Gäſte aus dem hellen Hauſe auf die dunkle
Gaſſe hinaus; anderswo wurde auf dem Hausflur ein
altes Weihnachtslied geſungen; es waren klare Mäd¬
chenſtimmen darunter. Reinhardt hörte ſie nicht, er
ging raſch an Allem vorüber, aus einer Straße in
die andere. Als er an ſeine Wohnung gekommen,
war es faſt völlig dunkel geworden: er ſtolperte die
Treppe hinauf und trat in ſeine Stube. Ein ſüßer
Duft ſchlug ihm entgegen; das heimelte ihn an, das
roch wie zu Haus der Mutter Weihnachtsſtube. Mit
zitternder Hand zündete er ſein Licht an; da lag ein
mächtiges Packet auf dem Tiſch, und als er es öffnete,
fielen die wohlbekannten braunen Feſtkuchen heraus;
auf einigen waren die Anfangsbuchſtaben ſeines Na¬
mens in Zucker ausgeſtreut; das konnte Niemand
anders als Eliſabeth gethan haben. Dann kam ein
Päckchen mit feiner geſtickter Wäſche zum Vorſchein,
Tücher und Manſchetten, zuletzt Briefe von der Mut¬
ter und von Eliſabeth. Reinhardt öffnete zuerſt den
letzteren; Eliſabeth ſchrieb:


Die ſchönen Zuckerbuchſtaben können dir wohl
erzählen, wer bei den Kuchen mitgeholfen hat; die¬
ſelbe Perſon hat die Manſchetten für dich geſtickt.
[26] Bei uns wird es nun Weihnachtabend ſehr ſtill
werden; meine Mutter ſtellt immer ſchon um halb
zehn ihr Spinnrad in die Ecke; es iſt gar ſo ein¬
ſam dieſen Winter, wo du nicht hier biſt. Nun iſt
auch vorigen Sonntag der Hänfling geſtorben, den
du mir geſchenkt hatteſt; ich habe ſehr geweint, aber
ich hab' ihn doch immer gut gewartet. Der ſang
ſonſt immer Nachmittags, wenn die Sonne auf ſein
Bauer ſchien; du weißt, die Mutter hing oft ein
Tuch über, um ihn zu geſchweigen, wenn er ſo recht
aus Kräften ſang. Da iſt es nun noch ſtiller in
der Kammer, nur daß dein alter Freund Erich uns
jetzt mitunter beſucht. Du ſagteſt einmal, er ſähe
ſeinem braunen Ueberrock ähnlich. Daran muß
ich nun immer denken, wenn er zur Thür herein¬
kommt, und es iſt gar zu komiſch; ſag es aber nicht
zur Mutter, ſie wird dann leicht verdrießlich. —
Rath', was ich deiner Mutter zu Weihnachten
ſchenke! Du räthſt es nicht? Mich ſelber! Der
Erich zeichnet mich in ſchwarzer Kreide; ich habe
ihm ſchon drei Mal ſitzen müſſen, jedes Mal eine
ganze Stunde. Es war mir recht zuwider, daß
der fremde Menſch mein Geſicht ſo auswendig
[27] lernte. Ich wollte auch nicht, aber die Mutter
redete mir zu; ſie ſagte, es würde der guten Frau
Werner eine gar große Freude machen.


Aber du hältſt nicht Wort, Reinhardt. Du haſt
keine Märchen geſchickt. Ich habe dich oft bei dei¬
ner Mutter verklagt; ſie ſagt dann immer, du habeſt
jetzt mehr zu thun, als ſolche Kindereien. Ich
glaub' es aber nicht; es iſt wohl anders.


Nun las Reinhardt auch den Brief ſeiner Mutter,
und als er beide Briefe geleſen und langſam wieder
zuſammengefaltet und weggelegt hatte, überfiel ihn
unerbittliches Heimweh. Er ging eine Zeit lang in
ſeinem Zimmer auf und nieder: er ſprach leiſe und
dann halbverſtändlich zu ſich ſelbſt:

Er wäre faſt verirret

Und wußte nicht hinaus;

Da ſtand das Kind am Wege

Und winkte ihm nach Haus!

Dann trat er an ſein Pult, nahm einiges Geld her¬
aus, und ging wieder auf die Straße hinab. — Hier
war es mittlerweile ſtiller geworden; die Weihnachts¬
bäume waren ausgebrannt, die Umzüge der Kinder
hatten aufgehört. Der Wind fegte durch die einſa¬
[28] men Straßen; Alte und Junge ſaßen in ihren Häu¬
ſern familienweiſe zuſammen; der zweite Abſchnitt
des Weihnachtsabends hatte begonnen. —


Als Reinhardt in die Nähe des Rathskellers kam,
hörte er aus der Tiefe herauf Geigenſtrich und den
Geſang des Zittermädchens; nun klingelte unten
die Kellerthür, und eine dunkle Geſtalt ſchwankte die
breite, matt erleuchtete Treppe herauf. Reinhardt
trat in den Häuſerſchatten, und ging dann raſch vor¬
über. Nach einer Weile erreichte er den erleuchteten
Laden eines Juweliers; und nachdem er hier ein klei¬
nes Kreuz von rothen Korallen eingehandelt hatte,
ging er auf demſelben Wege, den er gekommen war,
wieder zurück.


Nicht weit von ſeiner Wohnung bemerkte er ein
kleines, in klägliche Lumpen gehülltes Mädchen an
einer hohen Hausthür ſtehen, in vergeblicher Bemü¬
hung ſie zu öffnen. Soll ich dir helfen? ſagte er.
Das Kind erwiderte nichts, ließ aber die ſchwere
Thürklinke fahren. Reinhardt hatte ſchon die Thür
geöffnet. Nein, ſagte er, ſie könnten dich hinaus¬
jagen; komm mit mir! Ich will dir Weihnachtskuchen
geben. Dann machte er die Thüre wieder zu und
[29] faßte das kleine Mädchen an der Hand, das ſtillſchwei¬
gend mit ihm in ſeine Wohnung ging.


Er hatte das Licht beim Weggehen brennen laſſen.
Hier haſt du Kuchen; ſagte er, und gab ihr die Hälfte
ſeines ganzen Schatzes in ihre Schürze, nur keine mit
den Zuckerbuchſtaben. Nun geh nach Haus und gieb
deiner Mutter auch davon. Das Kind ſah mit einem
ſcheuen Blick zu ihm hinauf; es ſchien ſolcher Freund¬
lichkeit ungewohnt und nichts darauf erwidern zu
können. Reinhardt machte die Thür auf und leuch¬
tete ihr, und nun flog die Kleine wie ein Vogel mit
ihren Kuchen die Treppe hinab und zum Hauſe hinaus.


Reinhardt ſchürte das Feuer in ſeinem Ofen an
und ſtellte das beſtaubte Dintenfaß auf ſeinen Tiſch;
dann ſetzte er ſich hin und ſchrieb, und ſchrieb die
ganze Nacht Briefe an ſeine Mutter, an Eliſabeth.
Der Reſt der Weihnachtskuchen lag unberührt neben
ihm; aber die Manſchetten von Eliſabeth hatte er
angeknüpft, was ſich gar wunderlich zu ſeinem weißen
Flaußrock ausnahm. So ſaß er noch, als die Winter¬
ſonne auf die gefrorenen Fenſterſcheiben fiel und ihm
gegenüber im Spiegel ein blaſſes, ernſtes Antlitz
zeigte.

[30]

Daheim.

Als es Oſtern geworden war, reiſte Reinhardt in
die Heimath. Am Morgen nach ſeiner Ankunft ging
er zu Eliſabeth. Wie groß du geworden biſt, ſagte
er, als das ſchöne ſchmächtige Mädchen ihm lächelnd
entgegenkam. Sie erröthete, aber ſie erwiderte nichts;
ihre Hand, die er beim Willkommen in die ſeine ge¬
nommen, ſuchte ſie ihm ſanft zu entziehen. Er ſah
ſie zweifelnd an, das hatte ſie früher nicht gethan;
nun war es, als trete etwas Fremdes zwiſchen ſie. —
Das blieb auch, als er ſchon länger da geweſen, und
als er Tag für Tag immer wiedergekommen war.
Wenn ſie allein zuſammen ſaßen, entſtanden Pauſen,
die ihm peinlich waren und denen er dann ängſtlich
zuvorzukommen ſuchte. Um während der Ferienzeit
eine beſtimmte Unterhaltung zu haben, fing er an
Eliſabeth in der Botanik zu unterrichten, womit er
ſich in den erſten Monaten ſeines Univerſitätslebens
angelegentlich beſchäftigt hatte. Eliſabeth, die ihm
in Allem zu folgen gewohnt und überdies lehrhaft
war, ging bereitwillig darauf ein. Nun wurden meh¬
rere Male in der Woche Excurſionen ins Feld oder
[31] in die Haiden gemacht, und hatten ſie dann Mittags
die grüne Botaniſirkapſel voll Kraut und Blumen
nach Hauſe gebracht, ſo kam Reinhardt einige Stun¬
den ſpäter wieder, um mit Eliſabeth den gemeinſchaft¬
lichen Fund zu ordnen und zu theilen.


In ſolcher Abſicht trat er eines Nachmittags ins
Zimmer, als Eliſabeth am Fenſter ſtand und ein ver¬
goldetes Vogelbauer, das er ſonſt nicht dort geſehen,
mit friſchem Hühnerſchwarm beſteckte. Im Bauer ſaß
ein Kanarienvogel, der mit den Flügeln ſchlug und
kreiſchend nach Eliſabeths Fingern pickte. Sonſt
hatte Reinhardts Vogel an dieſer Stelle gehangen.
Hat mein armer Hänfling ſich nach ſeinem Tode in
einen Goldfinken verwandelt? fragte er heiter.


Das pflegen die Hänflinge nicht; ſagte die Mutter,
welche ſpinnend im Lehnſtuhl ſaß. Ihr Freund Erich
hat ihn heut Mittag für Eliſabeth von ſeinem Hofe
hereingeſchickt.


Von welchem Hofe?


Das wiſſen Sie nicht?


Was denn?


Daß Erich ſeit einem Monat den zweiten Hof ſei¬
nes Vaters am Immenſee angetreten hat?


[32]

Aber Sie haben mir kein Wort davon geſagt.


Ei, ſagte die Mutter, Sie haben ſich auch noch mit
keinem Worte nach Ihrem Freunde erkundigt. Er
iſt ein gar lieber, verſtändiger junger Mann.


Die Mutter ging hinaus, um den Kaffee zu beſor¬
gen; Eliſabeth hatte Reinhardt den Rücken zugewandt
und war noch mit dem Bau ihrer kleinen Laube be¬
ſchäftigt. Bitte, nur ein kleines Weilchen; ſagte ſie,
gleich bin ich fertig. — Da Reinhardt wider ſeine
Gewohnheit nicht antwortete, ſo wandte ſie ſich um.
In ſeinen Augen lag ein plötzlicher Ausdruck von
Kummer, den ſie nie darin gewahrt hatte. Was fehlt
dir, Reinhardt? fragte ſie, indem ſie nahe zu ihm trat.


Mir? ſagte er gedankenlos und ließ ſeine Augen
träumeriſch in den ihren ruhen.


Du ſiehſt ſo traurig aus.


Eliſabeth, ſagte er, ich kann den gelben Vogel nicht
leiden.


Sie ſah ihn ſtaunend an; ſie verſtand ihn nicht.
Du biſt ſo ſonderbar; ſagte ſie.


Er nahm ihre beiden Hände, die ſie ruhig in den
ſeinen ließ. Bald trat die Mutter wieder herein.


Nach dem Kaffee ſetzte dieſe ſich an ihr Spinnrad;
[33] Reinhardt und Eliſabeth gingen ins Nebenzimmer,
um ihre Pflanzen zu ordnen. Nun wurden Staub¬
fäden gezählt, Blätter und Blüthen ſorgfältig ausge¬
breitet und von jeder Art zwei Exemplare zum Trock¬
nen zwiſchen die Blätter eines großen Folianten
gelegt. Es war ſonnige Nachmittagsſtille; nur neben
an ſchnurrte der Mutter Spinnrad und von Zeit zu
Zeit wurde Reinhardts gedämpfte Stimme gehört,
wenn er die Ordnungen und Klaſſen der Pflanzen
nannte oder Eliſabeths ungeſchickte Ausſprache der
lateiniſchen Namen corrigirte.


Mir fehlt noch von neulich die Maiblume; ſagte
ſie jetzt, als der ganze Fund beſtimmt und geordnet war.


Reinhardt zog einen kleinen weißen Pergamentband
aus der Taſche. Hier iſt ein Maiblumenſtengel für
dich; ſagte er, indem er die halbgetrocknete Pflanze
herausnahm.


Als Eliſabeth die beſchriebenen Blätter ſah, fragte
ſie: Haſt du wieder Märchen gedichtet?


Es ſind keine Märchen, antwortete er, und reichte
ihr das Buch.


Es waren lauter Verſe, die meiſten füllten höchſtens
eine Seite. Eliſabeth wandte ein Blatt nach dem
Storm, Immenſee. 3[34] andern um; ſie ſchien nur die Ueberſchriften zu leſen.
„Als ſie vom Schulmeiſter geſcholten war. Als ſie
ſich im Walde verirrt hatten. Mit den Oſtermärchen.
Als ſie mir zum erſten Mal geſchrieben hatte“; in der
Weiſe lauteten faſt alle. Reinhardt blickte forſchend
zu ihr hin, und indem ſie immer weiter blätterte, ſah
er, wie zuletzt auf ihrem klaren Antlitz ein zartes Roth
hervorbrach und es allmählig ganz überzog. Er wollte
ihre Augen ſehen; aber Eliſabeth ſah nicht auf, und
legte das Buch am Ende ſchweigend vor ihm hin.


Gieb es mir nicht ſo zurück! ſagte er.


Sie nahm ein braunes Reis aus der Blechkapſel.
Ich will dein Lieblingskraut hineinlegen; ſagte ſie,
und gab ihm das Buch in ſeine Hände. — —


Endlich kam der letzte Tag der Ferienzeit und der
Morgen der Abreiſe. Auf ihre Bitte erhielt Eliſabeth
von der Mutter die Erlaubniß, ihren Freund an den
Poſtwagen zu begleiten, der einige Straßen von ihrer
Wohnung ſeine Station hatte. Als ſie vor die Haus¬
thür traten, gab Reinhardt ihr den Arm; ſo ging er
ſchweigend neben dem ſchlanken Mädchen her. Je
näher ſie ihrem Ziele kamen, deſto mehr war es ihm,
er habe ihr, ehe er auf ſo lange Abſchied nehme, etwas
[35] Nothwendiges mitzutheilen, etwas, wovon aller Werth
und alle Lieblichkeit ſeines künftigen Lebens abhänge,
und doch konnte er ſich des erlöſenden Wortes nicht
bewußt werden. Das ängſtigte ihn; er ging immer
langſamer.


Du kommſt zu ſpät; ſagte ſie, es hat ſchon zehn
geſchlagen auf St. Marien.


Er ging aber darum nicht ſchneller. Endlich ſagte
er ſtammelnd: Eliſabeth, du wirſt mich nun in zwei
Jahren gar nicht ſehen — — wirſt du mich wohl noch
eben ſo lieb haben wie jetzt, wenn ich wieder da bin?


Sie nickte, und ſah ihm freundlich ins Geſicht. —
Ich habe dich auch vertheidigt; ſagte ſie nach einer
Pauſe.


Mich? Gegen wen hatteſt du das nöthig?


Gegen meine Mutter. Wir ſprachen geſtern Abend,
als du weggegangen warſt, noch lange über dich. Sie
meinte, du ſeiſt nicht mehr ſo gut, wie du geweſen.


Reinhardt ſchwieg einen Augenblick; dann aber
nahm er ihre Hand in die ſeine, und indem er ihr
ernſt in ihre Kinderaugen blickte, ſagte er: Ich bin
noch eben ſo gut, wie ich geweſen bin; glaube du das
nur feſt! Glaubſt du es, Eliſabeth?


3 *[36]

Ja, ſagte ſie. Er ließ ihre Hand los und ging
raſch mit ihr durch die letzte Straße. Je näher ihm
der Abſchied kam, deſto freudiger ward ſein Geſicht;
er ging ihr faſt zu ſchnell.


Was haſt du, Reinhardt? fragte ſie.


Ich habe ein Geheimniß, ein ſchönes! ſagte er, und
ſah ſie mit leuchtenden Augen an. Wenn ich nach
zwei Jahren wieder da bin, dann ſollſt du es erfahren.


Mittlerweile hatten ſie den Poſtwagen erreicht; es
war noch eben Zeit genug. Noch einmal nahm Rein¬
hardt ihre Hand. Leb' wohl! ſagte er, leb' wohl, Eli¬
ſabeth. Vergiß es nicht.


Sie ſchüttelte mit dem Kopf. Leb' wohl! ſagte ſie.
Reinhardt ſtieg hinein, und die Pferde zogen an.
Als der Wagen um die Straßenecke rollte, ſah er noch
einmal ihre liebe Geſtalt, wie ſie langſam den Weg
zurückging.

Ein Brief.

Faſt zwei Jahre nachher ſaß Reinhardt vor ſeiner
Lampe zwiſchen Büchern und Papieren in Erwartung
eines Freundes, mit welchem er gemeinſchaftliche Stu¬
dien übte. Man kam die Treppe herauf. Herein! —
[37] Es war die Wirthin. Ein Brief für Sie, Herr
Werner! Dann entfernte ſie ſich wieder.


Reinhardt hatte ſeit ſeinem Beſuche in der Heimath
nicht an Eliſabeth geſchrieben und von ihr keinen
Brief mehr erhalten. Auch dieſer war nicht von ihr;
es war die Hand ſeiner Mutter. Reinhardt brach
und las, und bald las er Folgendes:


In deinem Alter, mein liebes Kind, hat noch
faſt jedes Jahr ſein eigenes Geſicht; denn die Ju¬
gend läßt ſich nicht ärmer machen. Hier iſt auch
Manches anders geworden, was dir wohl erſtan
weh thun wird, wenn ich dich ſonſt recht verſtanden
habe. Erich hat ſich geſtern endlich das Jawort
von Eliſabeth geholt, nachdem er in dem letzten
Vierteljahr zweimal vergebens angefragt hatte.
Sie hat ſich immer nicht dazu entſchließen können;
nun hat ſie es endlich doch gethan; ſie iſt auch noch
gar ſo jung. Die Hochzeit ſoll bald ſein, und die
Mutter wird dann mit ihnen fortgehen.


[38]

Immenſee.

Wiederum waren Jahre vorüber. — Auf einem
abwärts führenden ſchattigen Waldwege wanderte an
einem warmen Frühlingsnachmittage ein junger Mann
mit kräftigem, gebräuntem Antlitz. Mit ſeinen ernſten
grauen Augen ſah er geſpannt in die Ferne, als er¬
warte er endlich eine Veränderung des einförmigen
Weges, die jedoch immer nicht eintreten wollte. Endlich
kam ein Karrenfuhrwerk langſam von unten herauf.
Holla! guter Freund, rief der Wanderer dem neben¬
gehenden Bauer zu, geht's hier recht nach Immenſee?


Immer gerad' aus; antwortete der Mann, und
rückte an ſeinem Rundhute.


Hat's denn noch weit bis dahin?


Der Herr iſt dicht davor. Keine halbe Pfeif' Toback,
ſo haben's den See; das Herrenhaus liegt hart daran.


Der Bauer fuhr vorüber; der Andere ging eiliger
unter den Bäumen entlang. Nach einer Viertelſtunde
hörte ihm zur Linken plötzlich der Schatten auf; der
Weg führte an einem Abhang, aus dem die Gipfel
hundertjähriger Eichen nur kaum hervorragten. Ueber
[39] ſie hinweg öffnete ſich eine weite, ſonnige Landſchaft.
Tief unten lag der See, ruhig, dunkelblau, faſt rings¬
um von grünen, ſonnbeſchienenen Wäldern umgeben,
nur an einer Stelle traten ſie auseinander und ge¬
währten eine tiefe Fernſicht, bis auch dieſe durch blaue
Berge geſchloſſen wurde. Quer gegenüber, mitten
in dem grünen Laub der Wälder, lag es wie Schnee
darüber her; das waren blühende Obſtbäume, und
daraus hervor auf dem hohen Ufer erhob ſich das
Herrenhaus, weiß mit rothen Ziegeln. Ein Storch
flog vom Schornſtein auf und kreiſte langſam über
dem Waſſer. — Immenſee! rief der Wanderer. Es
war faſt, als hätte er jetzt das Ziel ſeiner Reiſe erreicht;
denn er ſtand unbeweglich, und ſah über die Gipfel
der Bäume zu ſeinen Füßen hinüber ans andre Ufer,
wo das Spiegelbild des Herrenhauſes leiſe ſchaukelnd
auf dem Waſſer ſchwamm. Dann ſetzte er plötzlich
ſeinen Weg fort.


Es ging jetzt faſt ſteil den Berg hinab, ſo daß die
untenſtehenden Bäume wieder Schatten gewährten,
zugleich aber die Ausſicht auf den See verdeckten, der
nur zuweilen zwiſchen den Lücken der Zweige hin¬
durchblitzte. Bald ging es wieder ſanft empor, und
[40] nun verſchwand rechts und links die Holzung; ſtatt
deſſen ſtreckten ſich dichtbelaubte Weinhügel am Wege
entlang; zu beiden Seiten deſſelben ſtanden blühende
Obſtbäume voll ſummender, wühlender Bienen. Ein
ſtattlicher Mann in braunem Ueberrock kam dem Wan¬
derer entgegen. Als er ihn faſt erreicht hatte, ſchwenkte
er ſeine Mütze und rief mit heller Stimme: Willkom¬
men, willkommen, Bruder Reinhardt! Willkommen
auf Gut Immenſee!


Gott grüß dich, Erich, und Dank für dein Willkom¬
men! rief ihm der Andre entgegen.


Dann waren ſie zu einander gekommen und reichten
ſich die Hände. Biſt du es denn aber auch? ſagte
Erich, als er ſo nahe in das ernſte Geſicht ſeines alten
Schulkameraden ſah.


Freilich bin ich's, Erich, und du biſt es auch; nur
ſiehſt du noch faſt heiterer aus, als du ſchon ſonſt
immer gethan haſt.


Ein frohes Lächeln machte Erichs einfache Züge bei
dieſen Worten noch um Vieles heiterer. Ja, Bruder
Reinhardt, ſagte er, dieſem noch einmal ſeine Hand
reichend, ich habe aber auch ſeitdem das große Loos
gezogen; du weißt es ja. Dann rieb er ſich die Hände
[41] und rief vergnügt: Das wird eine Ueberraſchung!
Den erwartet ſie nicht, in alle Ewigkeiten nicht!


Eine Ueberraſchung? fragte Reinhardt. Für wen
denn?


Für Eliſabeth.


Eliſabeth! Du haſt ihr nicht von meinem Beſuch
geſagt?


Kein Wort, Bruder Reinhardt; ſie denkt nicht an
dich, die Mutter auch nicht. Ich hab' dich ganz im
Geheim verſchrieben, damit die Freude deſto größer ſei.
Du weißt, ich hatte immer ſo meine ſtillen Plänchen.


Reinhardt wurde nachdenklich; der Athem ſchien
ihm ſchwer zu werden, je näher ſie dem Hofe kamen.
An der linken Seite des Weges hörten nun auch die
Weingärten auf und machten einem weitläuftigen
Küchengarten Platz, der ſich bis faſt an das Ufer des
Sees hinabzog. Der Storch hatte ſich mittlerweile
niedergelaſſen, und ſpazierte gravitätiſch zwiſchen den
Gemüſebeeten umher. Holla! rief Erich in die Hände
klatſchend, ſtiehlt mir der hochbeinichte Aegypter ſchon
wieder meine kurzen Erbſenſtangen! Der Vogel erhob
ſich langſam, und flog auf das Dach eines neuen Ge¬
bäudes, das am Ende des Küchengartens lag und
[42] deſſen Mauern mit aufgebundenen Pfirſich- und
Aprikoſenbäumen überzweigt waren. Das iſt die
Spritfabrik, ſagte Erich; ich habe ſie erſt vor zwei
Jahren angelegt. Die Wirthſchaftsgebäude hat mein
Vater ſelig neu aufſetzen laſſen; das Wohnhaus iſt
ſchon von meinem Großvater gebaut worden. So
kommt man immer ein Bischen weiter.


Sie waren bei dieſen Worten aus einen geräumigen
Platz gekommen, der an den Seiten durch die länd¬
lichen Wirtſchaftsgebäude, im Hintergrunde durch
das Herrenhaus begränzt wurde, an deſſen beide Flü¬
gel ſich eine hohe Gartenmauer anſchloß; hinter dieſer
ſah man die Züge dunkler Taxuswände, und hin
und wieder ließen Syringenbäume ihre blühenden
Zweige in den Hofraum hinunterhängen, Männer
mit ſonnen- und arbeitsheißen Geſichtern gingen über
den Platz und grüßten die Freunde, während Erich
dem einen und dem andern einen Auftrag oder eine
Frage über ihr Tagewerk entgegenrief. — Dann hat¬
ten ſie das Haus erreicht. Eine hohe, kühle Hausflur
nahm ſie auf, an deren Ende ſie links in einen etwas
dunkleren Seitengang einbogen. Hier öffnete Erich
eine Thür, und ſie traten in einen geräumigen Garten¬
[43] ſaal, der durch das Laubgedränge, welches die gegen¬
über liegenden Fenſter bedeckte, zu beiden Seiten mit
grüner Dämmerung erfüllt war; zwiſchen dieſen aber
ließen zwei hohe, weit geöffnete Flügelthüren den
vollen Glanz der Frühlingsſonne hereinfallen, und
gewährten die Ausſicht in einen Garten mit gezirkel¬
ten Blumenbeeten und hohen ſteilen Laubwänden,
getheilt durch einen geraden breiten Gang, durch wel¬
chen man auf den See und weiter auf die gegenüber¬
liegenden Wälder hinausſah. Als die Freunde hin¬
eintraten, trug die Zugluft ihnen einen Strom von
Duft entgegen.


Auf einer Terraſſe vor der Gartenthür ſaß eine
weiße, mädchenhafte Frauengeſtalt. Sie ſtand auf
und ging den Eintretenden entgegen; aber auf halbem
Wege blieb ſie wie eingewurzelt ſtehen, und ſtarrte
den Fremden unbeweglich an. Er ſtreckte ihr lächelnd
die Hand entgegen. Reinhardt! rief ſie, Reinhardt!
Mein Gott, du biſt es! — Wir haben uns lange
nicht geſehen.


Lange nicht, ſagte er, und konnte nichts weiter
ſagen; denn als er ihre Stimme hörte, fühlte er einen
feinen körperlichen Schmerz am Herzen, und wie er
[44] zu ihr aufblickte, ſtand ſie vor ihm, dieſelbe leichte
zärtliche Geſtalt, der er vor Jahren in ſeiner Vater¬
ſtadt Lebewohl geſagt hatte.


Erich war mit freudeſtrahlendem Antlitz an der Thür
zurückgeblieben. Nun Eliſabeth? ſagte er, Gelt! den
hätteſt du nicht erwartet, den in alle Ewigkeit nicht!


Eliſabeth ſah ihn mit ſchweſterlichen Augen an.
Du biſt ſo gut, Erich! ſagte ſie.


Er nahm ihre ſchmale Hand liebkoſend in die ſeinen.
Und nun wir ihn haben, ſagte er, nun laſſen wir ihn
ſobald nicht wieder los. Er iſt ſo lange draußen ge¬
weſen; wir wollen ihn wieder heimiſch machen. Schau
nur, wie fremd und vornehm er ausſehen worden iſt.


Ein ſcheuer Blick Eliſabeths ſtreifte Reinhardts
Antlitz. Es iſt nur die Zeit, die wir nicht beiſammen
waren; ſagte er.


In dieſem Augenblick kam die Mutter, mit einem
Schlüſſelkörbchen am Arm, zur Thüre herein. Herr
Werner! ſagte ſie, als ſie Reinhardt erblickte; ei, ein
eben ſo lieber, als unerwarteter Gaſt. — Und nun
ging die Unterhaltung in Fragen und Antworten ihren
ebenen Tritt. Die Frauen ſetzten ſich zu ihrer Arbeit,
und während Reinhardt die für ihn bereiteten Erfri¬
[45] ſchungen genoß, hatte Erich ſeinen ſoliden Meerſchaum¬
kopf angebrannt, und ſaß dampfend und discourirend
an ſeiner Seite.


Am andern Tage mußte Reinhardt mit ihm hinaus;
auf die Aecker, in die Weinberge, in den Hopfengar¬
ten, in die Spritfabrik. Es war Alles wohl beſtellt;
die Leute, welche auf dem Felde und bei den Keſſeln
arbeiteten, hatten alle ein geſundes und zufriedenes
Ausſehen. Zu Mittag kam die Familie im Garten¬
ſaal zuſammen, und der Tag wurde dann, je nach der
Muße der Wirthe, mehr oder minder gemeinſchaftlich
verlebt. Nur die Stunden vor dem Abendeſſen, wie
die erſten des Vormittags, blieb Reinhardt arbeitend
auf ſeinem Zimmer. Er hatte ſeit Jahren, wo er
deren habhaft werden konnte, die im Volke lebenden
Reime und Lieder geſammelt, und ging nun daran
ſeinen Schatz zu ordnen und wo möglich mit neuen
Aufzeichnungen aus der Umgegend zu vermehren. —
Eliſabeth war zu allen Zeiten ſanft und freundlich;
Erichs immer gleichbleibende Aufmerkſamkeit nahm
ſie mit einer faſt demüthigen Dankbarkeit auf, und
Reinhardt dachte mitunter, das heitere Kind von ehe¬
dem habe wohl eine weniger ſtille Frau verſprochen.


[46]

Seit dem zweiten Tage ſeines Hierſeins pflegte er
Abends einen Spaziergang an dem Ufer des Sees
zu machen. Der Weg führte hart unter dem Garten
vorbei. Am Ende deſſelben, auf einer vorſpringenden
Baſtei, ſtand eine Bank unter hohen Birken; die
Mutter hatte ſie die Abendbank getauft, weil der
Platz gegen Abend lag und des Sonnenuntergangs
halber um dieſe Zeit am meiſten benutzt wurde. —
Von einem Spaziergange auf dieſem Wege kehrte
Reinhardt eines Abends zurück, als er vom Regen
überraſcht wurde. Er ſuchte Schutz unter einer am
Waſſer ſtehenden Linde; aber die ſchweren Tropfen
ſchlugen bald durch die Blätter. Durchnäßt, wie er
war, ergab er ſich darein und ſetzte langſam ſeinen
Rückweg fort. Es war faſt dunkel; der Regen fiel
immer dichter. Als er ſich der Abendbank näherte,
glaubte er zwiſchen den ſchimmernden Birkenſtämmen
eine weiße Frauengeſtalt zu unterſcheiden. Sie ſtand
unbeweglich und, wie er beim Näherkommen zu erken¬
nen meinte, zu ihm hingewandt, als wenn ſie jemanden
erwarte. Er glaubte, es ſei Eliſabeth. Als er aber
raſcher zuſchritt, um ſie zu erreichen und dann mit ihr
zuſammen durch den Garten ins Haus zurückzukehren,
[47] wandte ſie ſich langſam ab und verſchwand in die
dunkeln Seitengänge. Er konnte das nicht reimen;
er war aber faſt zornig auf Eliſabeth, und dennoch
zweifelte er, ob ſie es geweſen ſei; aber er ſcheute ſich
ſie danach zu fragen; ja, er ging bei ſeiner Rückkehr
nicht in den Gartenſaal, nur um Eliſabeth nicht etwa
durch die Gartenthür hereintreten zu ſehen.

Meine Mutter hat's gewollt.

Einige Tage nachher, es ging ſchon gegen Abend,
ſaß die Familie, wie gewöhnlich um dieſe Zeit, im
Gartenſaal zuſammen. Die Thüren ſtanden offen; die
Sonne war ſchon hinter den Wäldern jenſeit des Sees.


Reinhardt wurde um die Mittheilung einiger Volks¬
lieder gebeten, welche er am Nachmittage von einem
auf dem Lande wohnenden Freunde geſchickt bekommen
hatte. Er ging auf ſein Zimmer, und kam gleich dar¬
auf mit einer Papierrolle zurück, welche aus einzelnen
ſauber geſchriebenen Blättern zu beſtehen ſchien.


Man ſetzte ſich an den Tiſch, Eliſabeth an Rein¬
hardts Seite. Wir leſen auf gut Glück; ſagte er, ich
habe ſie ſelber noch nicht durchgeſehen.


[48]

Eliſabeth rollte das Manuſcript auf. Hier ſind
Noten; ſagte ſie, das mußt du ſingen, Reinhardt.


Und dieſer las nun zuerſt einige Tyroler Schnader¬
hüpferl, indem er beim Leſen je zuweilen die luſtige
Melodie mit halber Stimme anklingen ließ. Eine
allgemeine Heiterkeit bemächtigte ſich der kleinen
Geſellſchaft. Wer hat doch aber die ſchönen Lieder
gemacht? fragte Eliſabeth.


Ei, ſagte Erich, das hört man den Dingern ſchon
an; Schneidergeſellen und Friſeure, und derlei lufti¬
ges Geſindel.


Reinhardt ſagte: Sie werden gar nicht gemacht; ſie
wachſen, ſie fallen aus der Luft, ſie fliegen über Land
wie Mariengarn, hierhin und dorthin, und werden an
tauſend Stellen zugleich geſungen. Unſer eigenſtes
Thun und Leiden finden wir in dieſen Liedern; es iſt,
als ob wir alle an ihnen mitgeholfen hätten.


Er nahm ein anderes Blatt: Ich ſtand auf hohen
Bergen....


Das kenne ich! rief Eliſabeth. Stimme nur an,
Reinhardt; ich will dir helfen. Und nun ſangen ſie
jene Melodie, die ſo räthſelhaft iſt, daß man nicht
glauben kann, ſie ſei von Menſchen erdacht worden;
[49] Eliſabeth mit ihrer etwas verdeckten Altſtimme dem
Tenor ſecondirend.


Die Mutter ſaß inzwiſchen emſig an ihrer Näherei,
Erich hatte die Hände in einander gelegt und hörte
andächtig zu. Als das Lied zu Ende war, legte Rein¬
hardt das Blatt ſchweigend bei Seite. — Vom Ufer
des Sees herauf kam durch die Abendſtille das Geläute
der Heerdenglocken; ſie horchten unwillkürlich; da hör¬
ten ſie eine klare Knabenſtimme ſingen:

Ich ſtand auf hohen Bergen,

Und ſah ins tiefe Thal....

Reinhardt lächelte: Hört ihr es wohl? So geht's von
Mund zu Mund.


Es wird oft in dieſer Gegend geſungen; ſagte Eli¬
ſabeth.


Ja, ſagte Erich, es iſt der Hirtenkaspar; er treibt
die Starken heim.


Sie horchten noch eine Weile, bis das Geläute oben
hinter den Wirthſchaftsgebäuden verſchwunden war.
Das ſind Urtöne; ſagte Reinhardt, ſie ſchlafen in
Waldesgründen; Gott weiß, wer ſie gefunden hat.


Er zog ein neues Blatt heraus.


Es war ſchon dunkler geworden; ein rother Abend¬
Storm, Immenſee. 4[50] ſchein lag wie Schaum auf den Wäldern jenſeit des
Sees. Reinhardt rollte das Blatt auf, Eliſabeth legte
an der einen Seite ihre Hand darauf, und ſah mit
hinein. Dann las Reinhardt:


Meine Mutter hat's gewollt,

Den Andern ich nehmen ſollt';

Was ich zuvor beſeſſen,

Mein Herz ſollt' es vergeſſen;

Das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag' ich an,

Sie hat nicht wohlgethan;

Was ſonſt in Ehren ſtünde,

Nun iſt es worden Sünde.

Was fang' ich an!

Für all mein Stolz und Freud’

Gewonnen hab' ich Leid.

Ach, wär' das nicht geſchehen,

Ach, könnt' ich betteln gehen

Ueber die braune Haid !

Während des Leſens hatte Reinhardt ein unmer¬
liches Zittern des Papiers empfunden; als er zu Ende
war, ſchob Eliſabeth leiſe ihren Stuhl zurück, und
ging ſchweigend in den Garten hinab. Ein Blick der
Mutter folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die
Mutter ſagte: Eliſabeth hat draußen zu thun. So
unterblieb es.


[51]

Draußen aber legte ſich der Abend mehr und mehr
über Garten und See, die Nachtſchmetterlinge ſchoſſen
ſurrend an den offenen Thüren vorüber, durch welche
der Duft der Blumen und Geſträuche immer ſtärker
hereindrang; vom Waſſer herauf kam das Geſchrei der
Fröſche, unter den Fenſtern ſchlug eine Nachtigall,
tiefer im Garten eine andere; der Mond ſah über die
Bäume. Reinhardt blickte noch eine Weile auf die
Stelle, wo Eliſabeths feine Geſtalt zwiſchen den Laub¬
gängen verſchwunden war; dann rollte er ſein Manu¬
ſcript zuſammen, grüßte die Anweſenden, und ging
durchs Haus an das Waſſer hinab.


Die Wälder ſtanden ſchweigend und warfen ihr
Dunkel weit auf den See hinaus, während die Mitte
deſſelben in ſchwüler Mondesdämmerung lag. Mit¬
unter ſchauerte ein leiſes Säuſeln durch die Bäume;
aber es war kein Wind, es war nur das Athmen der
Sommernacht. Reinhardt ging immer am Ufer ent¬
lang. Einen Steinwurf vom Lande konnte er eine
weiße Waſſerlilie erkennen. Auf einmal wandelte ihn
die Luſt an, ſie in der Nähe zu ſehen; er warf ſeine
Kleider ab, und ſtieg ins Waſſer. Es war flach, ſcharfe
Pflanzen und Steine ſchnitten ihn an den Füßen, und
4 *[52] er kam immer nicht in die zum Schwimmen nöthige
Tiefe. Dann war es plötzlich unter ihm weg, die
Waſſer quirlten über ihm zuſammen, und es dauerte
eine Zeit lang, ehe er wieder auf die Oberfläche kam.
Nun regte er Hand und Fuß und ſchwamm im Kreiſe
umher, bis er ſich bewußt geworden, von wo er hin¬
eingegangen war. Bald ſah er auch die Lilie wieder;
ſie lag einſam zwiſchen den großen blanken Blättern.
— Er ſchwamm langſam hinaus, und hob mitunter
die Arme aus dem Waſſer, daß die herabrieſelnden
Tropfen im Mondlicht blitzten; aber es war, als ob
die Entfernung zwiſchen ihm und der Blume dieſelbe
bliebe; nur das Ufer lag, wenn er ſich umblickte, in
immer ungewiſſerem Dufte hinter ihm. Er gab indeß
ſein Unternehmen nicht auf, ſondern ſchwamm rüſtig
in derſelben Richtung fort. Endlich war er der Blume
ſo nahe gekommen, daß er die ſilbernen Blätter deut¬
lich im Mondlicht unterſcheiden konnte; zugleich aber
fühlte er ſich in einem Netze verſtrickt, die glatten
Stengel langten vom Grunde herauf und rankten ſich
an ſeine nackten Glieder. Das unbekannte Waſſer lag
ſo ſchwarz um ihn her, hinter ſich hörte er das Sprin¬
gen eines Fiſches; es wurde ihm plötzlich ſo unheim¬
[53] lich in dem fremden Elemente, daß er mit Gewalt das
Geſtrick der Pflanzen zerriß, und in athemloſer Haſt
dem Lande zuſchwamm. Als er von hier auf den See
zurückblickte, lag die Lilie wie zuvor fern und einſam
über der dunkeln Tiefe. — Er kleidete ſich an, und
ging langſam nach Hauſe zurück. Als er aus dem
Garten in den Saal trat, fand er Erich und die Mut¬
ter in den Vorbereitungen einer kleinen Geſchäfts¬
reiſe, welche am andern Tage vor ſich gehen ſollte.


Wo ſind denn Sie ſo ſpät in der Nacht geweſen?
rief ihm die Mutter entgegen.


Ich? erwiederte er, ich wollte die Waſſerlilie be¬
ſuchen; es iſt aber nichts daraus geworden.


Das verſteht wieder einmal kein Menſch! ſagte
Erich. Was Tauſend hatteſt du denn mit der Waſſer¬
lilie zu thun?


Ich habe ſie früher einmal gekannt, ſagte Rein¬
hardt; es iſt aber ſchon lange her.

Eliſabeth.

Am folgenden Nachmittag wanderten Reinhardt
und Eliſabeth jenſeit des Sees bald durch die Höl¬
zung, bald auf dem hohen vorſpringenden Uferrande.
[54] Eliſabeth hatte von Erich den Auftrag erhalten, wäh¬
rend ſeiner und der Mutter Abweſenheit Reinhardt
mit den ſchönſten Ausſichten der nächſten Umgegend,
namentlich von der andern Uferſeite auf den Hof
ſelber, bekannt zu machen. Nun gingen ſie von einem
Punkt zum andern. Endlich wurde Eliſabeth müde,
und ſetzte ſich in den Schatten überhängender Zweige,
Reinhardt ſtand ihr gegenüber an einen Baumſtamm
gelehnt; da hörte er tiefer im Walde den Kuckuck rufen,
und es kam ihm plötzlich, dies Alles ſei ſchon einmal
eben ſo geweſen. Er ſah ſie ſeltſam lächelnd an.
Wollen wir Erdbeeren ſuchen? fragte er.


Es iſt keine Erdbeerenzeit, ſagte ſie.


Sie wird aber bald kommen.


Eliſabeth ſchüttelte ſchweigend den Kopf; dann
ſtand ſie auf, und beide ſetzten ihre Wanderung fort;
und wie ſie ſo an ſeiner Seite ging, wandte ſein Blick
ſich immer wieder nach ihr hin; denn ſie ging ſchön,
als wenn ſie von ihren Kleidern getragen würde. Er
blieb oft unwillkürlich einen Schritt zurück, um ſie
ganz und voll ins Auge faſſen zu können. So kamen
ſie an einen freien, haidebewachſenen Platz mit einer
weit ins Land reichenden Ausſicht. Reinhardt bückte
[55] ſich und pflückte etwas von den am Boden wachſenden
Kräutern. Als er wieder aufſah, trug ſein Geſicht
den Ausdruck leidenſchaftlichen Schmerzes. Kennſt
du dieſe Blume? fragte er.


Sie ſah ihn fragend an. Es iſt eine Erica. Ich
habe ſie oft im Walde gepflückt.


Ich habe zu Hauſe ein altes Buch, ſagte er; ich
pflegte ſonſt allerlei Lieder und Reime hineinzuſchrei¬
ben; es iſt aber lange nicht mehr geſchehen. Zwiſchen
den Blättern liegt auch eine Erica; aber es iſt nur eine
verwelkte. Weißt du, wer ſie mir gegeben hat?


Sie nickte ſtumm; aber ſie ſchlug die Augen nieder
und ſah nur auf das Kraut, das er in der Hand hielt.
So ſtanden ſie lange. Als ſie die Augen gegen ihn
aufſchlug, ſah er, daß ſie voll Thränen waren.


Eliſabeth, ſagte er, — hinter jenen blauen Bergen
liegt unſere Jugend. Wo iſt ſie geblieben?


Sie ſprachen nichts mehr; ſie gingen ſtumm neben
einander zum See hinab. Die Luft war ſchwül, im
Weſten ſtieg ſchwarzes Gewölk auf. Es wird Ge¬
witter, ſagte Eliſabeth, indem ſie ihren Schritt beeilte.
Reinhardt nickte ſchweigend und beide gingen raſch am
Ufer entlang, bis ſie ihren Kahn erreicht hatten.


[56]

Während der Ueberfahrt ließ Eliſabeth ihre Hand
auf dem Rande des Kahnes ruhen. Er blickte beim
Rudern zu ihr hinüber; ſie aber ſah an ihm vorbei in
die Ferne. So glitt ſein Blick herunter und blieb auf
ihrer Hand; und dieſe blaſſe Hand verrieth ihm, was
ihr Antlitz ihm verſchwiegen hatte. Er ſah auf ihr
jenen feinen Zug geheimen Schmerzes, der ſich ſo gern
ſchöner Frauenhände bemächtigt, die Nachts auf
krankem Herzen liegen. — Als Eliſabeth ſein Auge
auf ihrer Hand ruhen fühlte, ließ ſie ſie langſam über
Bord ins Waſſer gleiten.


Auf dem Hofe angekommen trafen ſie einen Schee¬
renſchleiferkarren vor dem Herrenhauſe; ein Mann
mit ſchwarzen, niederhängenden Locken trat emſig das
Rad und ſummte eine Zigeunermelodie zwiſchen den
Zähnen, während ein eingeſchirrter Hund ſchnaufend
daneben lag. Auf dem Hausflur ſtand in Lumpen
gehüllt ein Mädchen mit verſtörten ſchönen Zügen und
ſtreckte bettelnd die Hand gegen Eliſabeth aus. Rein¬
hardt griff in ſeine Taſche; aber Eliſabeth kam ihm
zuvor und ſchüttete haſtig den ganzen Inhalt ihrer
Börſe in die offene Hand der Bettlerin. Dann wandte
[57] ſie ſich eilig ab, und Reinhardt hörte, wie ſie ſchluch¬
zend die Treppe hinaufging.


Er wollte ſie aufhalten, aber er beſann ſich und
blieb an der Treppe zurück. Das Mädchen ſtand noch
immer auf dem Flur, unbeweglich, das empfangene
Almoſen in der Hand. Was willſt du noch? fragte
Reinhardt.


Sie fuhr zuſammen. Ich will nichts mehr, ſagte
ſie; dann den Kopf nach ihm zurückwendend, ihn an¬
ſtarrend mit den verirrten Augen, ging ſie langſam
gegen die Thür. Er rief einen Namen aus, aber ſie
hörte es nicht mehr; mit geſenktem Haupte, mit über
der Bruſt gekreuzten Armen ſchritt ſie über den Hof
hinab.

Sterben, ach ſterben

Soll ich allein!

Ein altes Lied brauſte ihm ins Ohr, der Athem ſtand
ihm ſtill; eine kurze Weile, dann wandte er ſich ab
und ging auf ſein Zimmer.


Er ſetzte ſich hin, um zu arbeiten, aber er hatte
keine Gedanken. Nachdem er es eine Stunde lang
vergebens verſucht hatte, ging er ins Familienzimmer
hinab. Es war Niemand da, nur kühle grüne Däm¬
[58] merung; auf Eliſabeths Nähtiſch lag ein rothes Band,
das ſie am Nachmittag um den Hals getragen hatte.
Er nahm es in die Hand, aber es that ihm weh, und
er legte es wieder hin. Er hatte keine Ruh, er ging
an den See hinab und band den Kahn los; er ruderte
hinüber und ging noch einmal alle Wege, die er kurz
vorher mit Eliſabeth zuſammen gegangen war. Als
er wieder nach Hauſe kam, war es dunkel; auf dem
Hofe begegnete ihm der Kutſcher, der die Wagenpferde
ins Gras bringen wollte; die Reiſenden waren eben
zurückgekehrt. Bei ſeinem Eintritt in den Hausflur
hörte er Erich im Gartenſaal auf- und abſchreiten.
Er ging nicht zu ihm hinein; er ſtand einen Augen¬
blick ſtill, und ſtieg dann leiſe die Treppe hinauf nach
ſeinem Zimmer. Hier ſetzte er ſich in den Lehnſtuhl
ans Fenſter; er that vor ſich ſelbſt, als wolle er die
Nachtigall hören, die unten in den Taxuswänden
ſchlug; aber er hörte nur den Schlag ſeines eigenen
Herzens. Unter ihm im Hauſe ging Alles zur Ruh,
die Nacht verrann, er fühlte es nicht. — So ſaß er
ſtundenlang. Endlich ſtand er auf und legte ſich ins
offene Fenſter. Der Nachtthau rieſelte zwiſchen den
Blättern, die Nachtigall hatte aufgehört zu ſchlagen
[59] Allmählig wurde auch das tiefe Blau des Nachthim¬
mels von Oſten her durch einen blaßgelben Schimmer
verdrängt; ein friſcher Wind erhob ſich und ſtreifte
Reinhards heiße Stirn: die erſte Lerche ſtieg jauch¬
zend in die Luft. — Reinhardt kehrte ſich plötzlich um
und trat an den Tiſch; er tappte nach einem Bleiſtift,
und als er dieſen gefunden, ſetzte er ſich und ſchrieb
damit einige Zeilen auf einen weißen Bogen Papier.
Nachdem er hiemit fertig war, nahm er Hut und Stock
und das Papier zurücklaſſend, öffnete er behutſam die
Thür und ſtieg in den Flur hinab. — Die Morgen¬
dämmerung ruhte noch in allen Winkeln; die große
Hauskatze dehnte ſich auf der Strohmatte und ſträubte
den Rücken gegen ſeine Hand, die er gedankenlos ent¬
gegenhielt. Draußen im Garten aber prieſterten ſchon
die Sperlinge von den Zweigen und ſagten es allen,
daß die Nacht vorbei ſei. Da hörte er oben im Hauſe
eine Thür gehen; es kam die Treppe herunter, und
als er aufſah, ſtand Eliſabeth vor ihm. Sie legte die
Hand auf ſeinen Arm, ſie bewegte die Lippen, aber er
hörte keine Worte. Du kommſt nicht wieder, ſagte
ſie endlich. Ich weiß es, lüge nicht; du kommſt nie
wieder.


[60]

Nie, ſagte er, Sie ließ ihre Hand ſinken und ſagte
nichts mehr. Er ging über den Flur der Thüre zu;
dann wandte er ſich noch einmal. Sie ſtand bewe¬
gungslos an derſelben Stelle und ſah ihn mit todten
Augen an. Er that einen Schritt vorwärts und
ſtreckte die Arme nach ihr aus. Dann kehrte er ſich
gewaltſam ab, und ging zur Thür hinaus. — Draußen
lag die Welt im friſchen Morgenlichte, die Thauperlen,
die in den Spinngeweben hingen, blitzten in den erſten
Sonnenſtrahlen. Er ſah nicht rückwärts, er wanderte
raſch hinaus; und mehr und mehr verſank hinter ihm
das ſtille Gehöft, und vor ihm auf ſtieg' die große
weite Welt.

Der Alte.

Der Mond ſchien nicht mehr in die Fenſterſcheiben,
es war dunkel geworden: der Alte aber ſaß noch im¬
mer mit gefalteten Händen in ſeinem Lehnſtuhl und
blickte vor ſich hin in den Raum des Zimmers. All¬
mählig verzog ſich vor ſeinen Augen die ſchwarze
Dämmerung um ihn her zu einem breiten dunklen
[61] See; ein ſchwarzes Gewäſſer legte ſich hinter das
andere, immer tiefer und ferner, und auf dem letzten,
ſo fern, daß die Augen des Alten ſie kaum erreichten,
ſchwamm einſam zwiſchen breiten Blättern eine weiße
Waſſerlilie.


Die Stubenthür ging auf und ein heller Licht¬
ſchimmer fiel ins Zimmer. Es iſt gut, daß Sie kom¬
men, Brigitte, ſagte der Alte. Stellen Sie das Licht
nur auf den Tiſch.


Dann rückte er auch den Stuhl zum Tiſche, nahm
eins der aufgeſchlagenen Bücher, und vertiefte ſich in
Studien, an denen er einſt die Kraft ſeiner Jugend
geübt hatte.

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Appendix A

Druck von Gieſecke \& Devrient in Leipzig.


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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). Storm, Theodor. Immensee. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpxh.0