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Biographien
der Wahnſinnigen.


Drittes Baͤndchen.

Leipzig,:
bei Voß und Compagnie.
1796.

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Biographien
der Wahnſinnigen.

Drittes Baͤndchen.
[]

Amalie F…


Schoͤn und artig war Amalie als Kind, eine
der ſchoͤnſten und artigſten ihres Geſchlechts
war ſie als Jungfrau. Ihre Eltern liebten
ſie als das einzige Pfand ihrer Liebe mit in-
nigſter Zaͤrtlichkeit, ſahen es gerne, wenn die
Juͤnglinge der großen Stadt ihr tiefe Kom-
plimente machten, und hoͤrten es noch lieber,
wenn ſie, hingeriſſen von der Allgewalt ihrer
Schoͤnheit, laut ausriefen, daß ſolch ein Maͤd-
chen des Koͤnigs Krone verdiene. Sie hatten
durch thaͤtigen Fleiß und gluͤckliche Induſtrie
Biogr. d. W. 3. B. A
[2] ein anſehnliches Vermoͤgen erworben, ſie muͤh-
ten ſich, es nach Kraͤften zu mehren, damit
Amalie einſt in den Armen eines redlichen
Mannes vollkommen ein Gluͤck genieſſen koͤnne,
welches ſie der vielen Sorgen und haͤufigen
Geſchaͤfte wegen nur ſparſam und kaͤrglich ge-
noſſen hatten. Sie ſahen dieſem gluͤcklichen
Zeitpunkte mit Begierde entgegen, und woll-
ten dann im ruhigen Genuſſe eines geſchaͤft-
freien Alters zuſehen, wie ihr geliebtes Kind
ein Gluͤck genieſſen wuͤrde, das ihnen ſo man-
chen kummervollen Tag, ſo manche ſchlafloſe
Nacht gekoſtet hatte.


Amalie kannte die wohlthaͤtige Abſicht ih-
rer guten Eltern, ſie ehrte ſolche mit dem
reinſten, kindlichſten Danke, aber ſie fuͤhlte
noch nicht Drang nach Maͤnnerliebe, noch nicht
Sehnſucht nach ihrem oft ſo gefaͤhrlichen Ge-
nuſſe, ihr war ſo innig wohl, wenn ſie frei
und ohne Zwang umher wandeln, die Reitze
[3] der Natur — deren eifrige Verehrerin ſie von
Jugend auf war — ungeſtoͤrt genieſſen, ihre
Wunderwerke ungehindert bewundern konnte.
Ein nicht allzukleiner Garten, der das Hinter-
theil des vaͤterlichen Hauſes umgraͤnzte, war
im Fruͤhlinge, Sommer und Herbſte ihr Lieb-
lingsort. Wenn ihre Eltern, oder die Die-
ner und Maͤgde derſelben ſie ſuchten, ſo fan-
den ſie ſolche allemal in dem angenehmen Gar-
tenſaale, deſſen Fenſter hohe Pfirſchen und
Aprikoſenbaͤume, noch hoͤhere Weinreben be-
ſchatteten. Hier naͤhte und ſtrikte, hier las
und ſpielte ſie auf dem Klaviere, hier fuͤt-
terte ſie Huͤhner und Tauben, welche im nahen
Hofe niſteten, und immer am Fenſter des
Saals der reichlichen Wohlthat ihrer Gebie-
terin harrten.


Ehemals [umfaßten] unnuͤtze Buchsbaͤume
die regelmaͤſſigen Vierecke des Gartens, in
ihrer Mitte gruͤnten Tarbaͤume in mancherlei
A 2
[4] Figuren, und unter ihren dunkeln Schatten
trauerten Tulpen, Nelken und Narziſſen. Ama-
liens freier Wille hatte ihn in einen der
fruchtbarſten Kuͤchengaͤrten verwandelt, ſie zog
den groͤßten Spargel, den ſchoͤnſten Blumen-
kohl, ſie pfluͤckte die ſaftigſte Pfirſche, die ſuͤſ-
ſeſte Traube, und fuͤhlte ſich ganz gluͤcklich,
wenn ihr guter Vater die Frucht ihres Fleiſſes
mit beſonderm Appetite genoß, und ihre Kunſt
mit zaͤrtlichen Ausdruͤcken bewunderte. Der
Mutter Ermahnung, daß ſolche Arbeit die
zarten Haͤnde verderbe, machte dann keinen
Eindruck auf ihr Herz. Sie ſah ihre Schoͤn-
heit zwar als ein wohlthaͤtiges Geſchenk des
Schoͤpfers an, aber ſie war nicht eitel genug,
ſich zur Vermehrung derſelben das kleinſte Ver-
gnuͤgen zu entſagen, und eben dies erhoͤhte
den Werth derſelben. Sie glich vollkommen
der Roſe, die in freier Luft, geſtaͤrkt durch
Thau und Regen, ihre vollen Knospen oͤfnet,
da die meiſten ſtaͤdtiſchen Schoͤnheiten ſonſt ſo
[5] ganz der Blume im Treibhauſe gleichen, der
jedes kuͤhle Luͤftchen ſchadet, die jeder ſtarke
Sonnenſtrahl verſengt.


Eben feierte Amalie ihren zwanzigſten Ge-
burtstag, als ihr Vater ſie in ihrem Gar-
ten uͤberraſchte, mit vaͤterlichem Gefuͤhle ihre
Hand faßte, und ſie nach dem kleinen Saale
fuͤhrte.


Vater. Du duͤnkſt dich wohl recht zu-
frieden und gluͤcklich, wenn du in deinem
Garten umher wandeln, und zuſehen kannſt,
wie deine Pflanzen ſo herrlich gedeihen, zur
Vollkommenheit, zum Genuſſe empor reifen?


Amalie. Ach ja, lieber Vater, ja!
Wenn in der Nacht der Regen mich weckt, und
fruͤh die aufgehende Sonne mein Fenſter be-
leuchtet, da eile ich im ſchnellſten Fluge herab,
um zu ſehen, wie alle Gewaͤchſe, zum neuen
[6] Wachsthume geſtaͤrkt, daſtehen, und freue mich
dann ſo innig, ſo aufrichtig mit ihnen.


Vater. Ich glaubs, glaubs herzlich ger-
ne! Auch ich fuͤhlte einſt dieſe Wonne im
ſtaͤrkern Grade. Ich ſah Jahre lang zu, wie
du, meine theure Tochter, zur Vollkommen-
heit empor keimteſt, wie ſich nach und nach
alle deine Reitze und Tugenden entwickelten.
Du bluͤhſt lange ſchon herrlich, ſoll ich nie
Fruͤchte von dir erwarten?


Amalie. Ich verſtehe ſie nicht, beſter
Vater, habe ich ſie vielleicht beleidigt, ſind
dies Vorwuͤrfe — —


Vater. Keine Vorwuͤrfe, ein ſo liebes,
gutes Kind verdient ſie nicht. Ich will dich
nur an deine kuͤnftige Beſtimmung erinnern.
Du feierſt heute deinen zwanzigſten Geburts-
[7] tag, dies Alter berechtigt mich, mit dir auf-
richtiger, als ſonſt zu ſprechen.


Amalie. Ich erwarte noch immer mit
gleicher Sehnſucht ihre naͤhere Erklaͤrung.


Vater. Sie ſoll dir ſogleich werden.
Deine Freundinnen, welche mit dir ſpielten,
mit dir emporwuchſen, haben ſchon alle ge-
heurathet, viele derſelben ſind ſchon gluͤckliche
Muͤtter, ihre Eltern genießen ſchon den ſuͤßen
Lohn ihrer Erziehung, ich allein erwarte ihn
noch immer vergebens.


Amalie (hoch erroͤthend). Wie ſoll —
wie kann denn ich — ich habe ja keinen Lieb-
haber.


Vater. Aber der Verehrer in Menge,
welche ſich alle in die zaͤrtlichſten Liebhaber
umwandeln werden, wenn es anders dein klei-
[8] ner Eigenſinn erlaubt. Viele gute und edle
Juͤnglinge warben bei mir ſchon um deine
Hand, ich verwieß ſie an dich, aber ſie kehr-
ten bald traurend zuruͤck, und klagten mir,
daß du ihre Blicke nicht ſehen, ihre Seufzer
nicht hoͤren wolleſt.


Amalie. Lieber, theurer Vater, ich bin
ſo gluͤcklich, wollen Sie mich denn un-
gluͤcklich wiſſen? Ich fuͤhle noch keine Neigung
zur Heurath, moͤglich, daß ſie in Zukunft
ſich naͤhert, moͤglich, daß ſie bald erſcheint,
dann will ich ihres Rathes achten, aber jetzt.
— — O laſſen ſie mich ferner unter ihrem
Schutze leben! Die Liebe meiner Eltern, mein
kleiner Garten iſt der einzige Wunſch meines
Herzens. Goͤnnen ſie mir ihn noch laͤnger,
ich wuͤrde keines ohne Trauer vermiſſen
koͤnnen.


Vater. Es thut mir weh — —


[9]

Amalie. O wenn es ihnen auch nur
unangenehme Stunden verurſacht, dann will
ich ja gerne mein eignes Gluͤck vergeſſen, wil-
lig ſelbſt ungluͤcklich ſein, um nur Sie ruhig
zu wiſſen.


Vater. Gott bewahre mich fuͤr jedem
Zwange, ſelbſt fuͤr dem Scheine deſſelben.
Nun kein Wort mehr davon! Wenn du auch
itzt ſelbſt meine Einwilligung zur vortheilhaf-
teſten Heirath forderteſt, ſo wuͤrde ich ſie dir
weigern, weil ichs nur fuͤr ein Opfer des
Gehorſams, nicht fuͤr freien Willen achten
wuͤrde. Du biſt mein einziges Gluͤck, meine
einzige Freude auf dieſer Erde! Weh mir,
wenn ichs durch einen vielleicht thoͤrichten
Wunſch gemindert ſaͤhe.


Amalie. Dank, tauſend Dank, beſter
der Vaͤter, ich — —


[10]

Vater. Halt ein, ich verdiene ihn nicht,
ich ſagte dirs ja ſchon deutlich, daß mein Ei-
gennutz mich ſo nachgebend mache. Itzt von
etwas andern! — — Dein Garten gruͤnt und
bluͤht herrlich, kein Plaͤtzchen iſt mehr vor-
handen, wo noch eine Staude, ein Baum
gepflanzt werden koͤnnte. Du wirſt bald ge-
ſchaͤftlos darinne umher wandern muͤſſen. — —


Amalie. Das eben nicht, denn eben
das Wachſen und Gedeien aller, die ich
pflanzte, labt mein Herz, aber wenn er groͤſ-
ſer waͤre, wenn ich freien Raum rings um-
her haͤtte, dann wollte ich manche ſchoͤne Idee
ausfuͤhren, die itzt ungenutzt ſchlummern
muß, nur manchmal meine Einbildungskraft
angenehm beſchaͤftigt.


Vater. Alſo haͤtte ich deinen Wunſch
doch ſo ziemlich errathen. Ich ſann hin und
her, womit ich an deinem [Geburtstage] dein
[11] Herz erfreuen koͤnnte — denn ein Bindband
haſt du doch wohl erwartet? — —


Amalie. Erhielte ich nicht ſchon das
ſchoͤnſte und koſtbarſte? (ihm um den Hals
fallend) den deutlichſten Beweiß ihrer vaͤter-
lichen Liebe?


Vater. Schmeichlerin! Wie innig ſie
zu kuͤſſen verſteht! Solch ein Kuß iſt des
Lohns ſchon werth! — — Sag mir einmal:
Da du ſo eine große Freundin der Natur und
der Oekonomie biſt, war denn deine reiche
Einbildungskraft nie ſo freigebig, dich mit
einem Landgute zu beſchenken, an deſſen ſchoͤ-
nen Garten fruchtbare Felder und Wieſen,
rieſelnde Baͤche und ſchattichte Waͤlder graͤnz-
ten? —


Amalie. Oft, lieber Vater, ſehr oft.
Da wars, als ob ſie ihre Fabriken und Hand-
[12] lung aufgegeben haͤtten, auf einem ruhigen,
ſtillen Landgute mit mir wohnten, und ich die
ganze große Wirthſchaft fuͤhrte. Ach, wie ge-
ſchaͤftvoll ich da umher eilte! Aus der Kuͤche
in den Stall, aus dem Stalle in den Gar-
ten, aus dieſem auf die Wieſen oder zu den
Schnittern des Feldes, und wie ich mich dabei
ſo froh und gluͤcklich duͤnkte! — — Solch
eine Wonne laͤßt ſich nur fuͤhlen, nicht be-
ſchreiben.


Vater. Und wenns nun wuͤrklich ſo waͤ-
re — —


Amalie. (voll Freude) Wenns wirklich
ſo waͤre, guter Vater, wenns wirklich ſo
waͤre!


Vater. Deine reine Freude iſt der
ſchoͤnſte Lohn meiner That, ich habe meine
Fabrik mit anſehnlichem Gewinne verkauft,
[13] meine Handlung niedergelegt, und gehe itzt,
mit dem Hrn. von H** den Kauf ſeines
Landgutes abzuſchlieſſen, will dirs zu deinem
Geburtstage verehren. Daß du deine guten
Eltern mit dir dahin nehmen, ihrer pflegen,
ihnen ein ruhiges Alter verſchaffen wirſt, bin
ich im Voraus uͤberzeugt.


Amalie. O gewiß! O gewiß! Ach
Gott, mein Dank iſt ſtumm! Ich fuͤhls,
empfinde es nur!


Vater. Du kennſt doch dies Landgut
und ſeine angenehme Lage.


Amalie. Ob ichs kenne? Genoß ich
nicht mit ihnen im Fruͤhjahre dort einige der
gluͤcklichſten Tage meines Lebens? Wenn ich
mich noch ruͤckerinnere, am hohen Fenſter
ſtehe, hinab blicke ins Thal, das die breite
Elbe durchſtroͤmt, und an ihrem Ufer fette
[14] Schweizerkuͤhe, Schwane, Gaͤnſe, Enten,
Pferde und Fiſcher im bunten Gewuͤhle ſchaue,
und nun denke, daß dies immer ſo dauern,
immer ſo ſeyn ſoll! Ach, Vater, die Freude
macht mich zum Kinde. Ich wuͤrde weinen
wie dieſes, wenn ſie nur mit mir ſcherzten.


Vater. Nein, ich ſcherze nicht, ich
habe deine Meinung gehoͤrt, ſie war mir zu
wiſſen noͤthig. Zu Mittage ſiehſt du mich
wieder, und Nachmittage fahren wir auf dein
Landgut, um dort in laͤndlicher Einſamkeit
deinen Geburtstag zu feiern.


Er gieng die entzuͤckte Amalie ſtaunte
ihm noch lange nach, ſie muͤhte ſich verge-
bens, den Genuß ihres kuͤnftigen Gluͤcks zu
faſſen, ihr kleiner Garten ward ihr zu enge,
ſie eilte zur Mutter, und ſank weinend in
ihre Arme. Die gute Mutter war von al-
lem unterrichtet, ſie lobpreißte mit ihr des
[15] Vaters Entſchluß, meinte aber zugleich, daß
eine kleine Liſt denſelben gefoͤrdert habe. Er
will, ſagte ſie, dich raſtlos beſchaͤftigen, da-
mit du, wenn du die Laſt der allzuhaͤufigen
Geſchaͤfte nicht mehr ertragen kannſt, dir ei-
nen Gehuͤlfen ſuchſt, der ſie mit dir theile.
Amalie beſaß ein gutes, dankbares Herz.
Freude und Ueberraſchung hatte es noch mehr
geoͤfnet, ſie gelobte daher der Mutter, des
Vaters Wunſch nach Kraͤften zu foͤrdern, und
ſo bald der aͤchte Geliebte erſcheine, ihn zu
ihrem Gehuͤlfen zu waͤhlen.


Nach dem Eſſen ſtieg Amalie mit ihren
Eltern in den Wagen, um in ihrer Geſell-
ſchaft nach dem bereits erkauften Landgute zu
fahren. Ihre Freude war groß und uͤber-
ſchwenglich. Man muß ſelbſt die Oekonomie
leidenſchaftlich lieben, um alle das Vergnuͤ-
gen fuͤhlen und mit genieſſen zu koͤnnen, wel-
ches die gluͤckliche Amalie dort im vollem
[16] Maaße genoß; ich enthalte mich daher jeder
Beſchreibung, gehe zu wichtigern Begebenhei-
ten uͤber.


Es war eben Erndezeit. Amalie eilte je-
den Morgen, jeden Abend zu den Schnit-
tern, labte ſie reichlich und ſah dann mit
Wonne zu, wie dieſe den Reichthum des
Landmanns dort in Garben ſammleten, da
auf Waͤgen luden, und endlich hingeriſſen
vom innern Gefuͤhle frohe Erndelieder an-
ſtimmten. An einem ſchwuͤlen Nachmittage
ſchlenderte ſie eben aus dieſer Abſicht durchs
lange Dorf, hatte beinahe ſchon das Ende
deſſelben erreicht, als ſich hinter ihr ein
klaͤgliches Geſchrei erhob; ſie blickte ruͤckwaͤrts,
ſahe Greiſe und Kinder aͤngſtlich nach den
Huͤtten eilen, und hoͤrte deutlich rufen, daß
ein großer, wuͤthender Hund durchs Dorf
renne, ſchon einige ſpielende Kinder gebiſſen
habe. Sie erſchrack ob der nahen Gefahr,
wußte
[17] wußte nicht, ob ſie vor oder ruͤckwaͤrts gehen
ſolle, und ſah endlich den Hund auf ſich zuei-
len. Ein altes Muͤtterchen, das ſeinen kleinen
Enkel retten wollte, wurde von ihm zu Boden
geſtuͤrzt, und nun eilte er unaufhaltſam nach
Amalien zu. Angſt und Schrecken hemmte
ihre Kraͤfte und Stimme. Sie eilte jam-
mernd vorwaͤrts, erblickte die wuͤthende Beſtie
ſchon hinter ſich, und ſtuͤrzte, indem ſie ſich
in ihr Kleid verwickelte, huͤlferufend und
ſinnlos zu Boden. Als ſich ihre Sinne wie-
der ſammleten, und ſie empor blickte, ſtand
ein fremder Juͤngling vor ihr; er hielte un-
ter ſeiner Linken einen bloßen Degen, und
reichte ihr mit traurigem, aber doch freund-
lichem Blicke, die Rechte. Unfern von ihr
waͤlzte ſich der wuͤthende Hund in ſeinem
Blute, vom Dorfe herauf erſcholl aus dem
Munde der Herbeieilenden das Lob des muthi-
gen Retters.


Biogr. d. W. 3. B. B
[18]

Amalie (zu dem Juͤngling). So habe
ich ihnen mein Leben zu danken? So haben
ſie meine armen Eltern der Verzweiflung
entriſſen?


Der Juͤngling (blickte ſtaunend in ihr
Angeſicht, laͤchelte etwas bitter und ſchwieg).


Amalie. Wie ſoll, wie kann ich ihnen
die edle That lohnen? O Gott, wenn ich
mir die drohende Gefahr, den gewiſſen,
ſchrecklichen Tod denke, ſo beben alle meine
Glieder. (ſie lehnt ſich auf ſeine Schultern).
Und nun gerettet durch ſie, edler Unbekann-
ter! Ich muß nochmals fragen: Wie ſoll ich
ihnen die That lohnen? Vermags dieſe
Thraͤne der Freude — —?


Der Juͤngling. Sie gnuͤgt! Sie gnuͤgt!
(duͤſter) Fraͤulein! Iſt ihnen itzt beſſer?


[19]

Amalie. Bin ich nicht gerettet?


Juͤngling. (mit feſtem, ernſten Tone)
So leben ſie wohl! Dort kommen Leute, wel-
che ſie nach Hauſe fuͤhren werden.


Er entfernte ſich ſogleich mit ſchnellen
Schritten nach dem Walde, welcher unfern
dem Dorfe lag. Vergebens flehte Amalie im
ruͤhrendſten, ſchmelzendſten Tone um Ruͤck-
kehr, vergebens ſandte ſie aus dieſer Ab-
ſicht dem immer ſchneller Eilenden Boten nach,
die erſtern wurden raſch zuruͤck gewieſen, die
ſpaͤtern konnten ihn nicht mehr erreichen, ihr
Auge verlohr ihn im Walde, und Amalie
trauerte tief, daß ſie den Namen ihres Ret-
ters nicht einmal im Gebete nennen koͤnne.
Sie ſetzte ſich ermattet auf der kleinen An-
hoͤhe nieder, Greiſe und Kinder ſtanden ne-
ben ihr, und erzaͤhlten ihr: Wie der unbe-
kannte Juͤngling, als ſie um Huͤlfe rief, raſch
B 2
[20] aus dem nahen Graben, in welchem er wahr-
ſcheinlich gelagert lag, empor ſprang, ſeinen
Degen zog, und mit zwey kraftvollen Hieben
den wuͤthenden Hund zu Boden ſtreckte. Sein
Bild ſchwebte klar und deutlich vor Amaliens
Augen. Er war groß und ſchoͤn, ſein brau-
nes Haar rollte in verwirrten Locken um ſein
Haupt, deckte ſeine gewoͤlbte Stirne, an
deren Ende ein paar große, ſchwarze Augen
oft wild, nur einmal freundlich hervorblick-
ten. Sein von der Sonne verbranntes, aber
doch bleiches Angeſicht, verkuͤndigte Krankheit
oder inneres Leiden. Seine Kleidung verrieth
ehemaligen Reichthum, denn ſie war nach der
neueſten Mode gemacht, bewies aber auch
eben ſo deutlich wenigſtens nahende Armuth,
denn ſie war ſchon abgetragen, hie und da
merklich beſchmuzt. Der erſt ſich faͤrbende
Bart war uͤbrigens der aͤchte Beweiß, daß der
Unbekannte kaum vierundzwanzig Jahre zaͤhle,
vielleicht ſich ihnen erſt nahe. Er hatte Ama-
[21] lien vom ſchmaͤhligen Tode gerettet, ſie nicht
eher, als bis die Einwohner des Dorfs zu
ihrer Unterſtuͤtzung herbei eilten, verlaſſen.
Es war daher kein Wunder, daß die Geſtalt
des edlen und ſchoͤnen Retters tiefen Ein-
druck auf ihr Herz machte, es mit Wuͤnſchen
fuͤllte, die ſie bisher noch nicht gekannt hatte.


Noch ſtaunte ſie dem Entflohenen in die
weite Ferne nach, hofte vergebens, daß er
ruͤckkehren wuͤrde; als ein Greis ihr eine
Schreibtafel uͤberreichte, welche er in dem Gra-
ben gefunden hatte. Sie war geoͤfnet, nicht
unedle Neugierde des Weibes, ſondern ſehn-
liches Verlangen, den Retter durch dieſen
gluͤcklichen Zufall naͤher kennen zu lernen, ver-
leitete Amalie, ſolche zu durchblaͤttern. Sie
war leer, nur zwei Seiten waren beſchrieben,
es ſchienen fluͤchtige Gedanken, welche der
Verfaſſer eben entworfen hatte, als Amaliens
aͤngſtliches Geſchrei ihn zu Huͤlfe rief. Ama-
[22] lie las ſie mehr als einmal, ſie karakteriſirten
das Gefuͤhl, die Denkungsart und den un-
gluͤcklichen Zuſtand des Juͤnglings deutlich.
Sie war eitel genug, das Ende derſelben auf
ſich zu deuten, und dies erhoͤhte den Werth
des gefundenen Schatzes um ein großes.


„Liebe! Liebe! Liebe!“ ſo ſtand in der
Schreibtafel geſchrieben, „du biſt ein unbe-
„greifliches Weſen! Wie ſoll, wie kann ich
„mir deine entgegengeſetzten Wuͤrkungen er-
„klaͤren? Du machſt aͤußerſt gluͤcklich, aber
„auch noch weit ungluͤcklicher! Nein, nein!
„Nie gluͤcklich! Du biſt nur ein ſuͤßes Gift,
„das zum [Genuſſe] reizt, langſam, aber auch
„ſicher toͤdtet. Du biſt das aqua toffana der
„menſchlichen Sinne, Begierden und Leiden-
„ſchaften! So will ich dich kuͤnftig nennen,
„und mich fuͤr deinem Genuſſe huͤten, nicht
„leeren den goldnen Becher, den mir mit
„laͤchelnder Miene das Meiſterſtuͤck der Schoͤp-
[23] „fung reicht. Du theilſt dich in verſchiedene
„Zweige, du liebſt als Freund, als Mut-
„ter und Vater, als Bruder und Kind, als
„Gatte und zaͤrtlicher Liebhaber; aber du
„biſt und bleibſt Gift! Betruͤgt nicht auch
„der Frennd den Freund, flucht nicht oft der
„Vater dem Kinde, haßt nicht das Kind die
„Eltern, der Bruder die Schweſter, wird
„nicht die Gattin dem Manne, die Geliebte
„dem Liebhaber oft ungetreu? Aqua toffana
„des menſchlichen Geſchlechts! So will ich dich
„kuͤnftig nennen! — — Schoͤn und reitzend
„gieng ſie geſtern vor mir uͤber, lockend und
„anziehend war ihre Geſtalt! Ich haͤtte vor
„ihr niederknien und ſie anbeten moͤgen, wie
„ſie mitleidig und liebevoll den gefallenen
„Buben [aufhob], ihm das Butterbrod wieder
„in die Hand ſteckte, ſeine Wangen ſtreichelte,
„und ſeine Thraͤnen trocknete. Millionen —
„wenn ich ſie beſaͤße — haͤtte ich geopfert,
„um die Stelle des gefuͤhlloſen Buben ein-
[24] „nehmen, den Strich ihrer ſeidnen Hand fuͤh-
„len, den unnachahmlichen Blick ihres gro-
„ßen Auges auffangen zu koͤnnen; aber,
„aber — —“


Hier hatte zum groͤßten Mißvergnuͤgen der
leſenden Amalie der unbekannte Schreiber ge-
endet. Mit innigem, noch nie gefuͤhlten Ver-
gnuͤgen wiederholte ſie die lezten Zeilen, wenn
ſie aber bis ans Ende kam, da ſank ihr Blick
traurig zu Boden, das zweimal wiederholte
Aber ſchien ſo ganz das angenehme Lob ver-
nichten zu wollen. Daß ſie es uͤbrigens ſei,
von welcher der Unbekannte ſpraͤche, ward ihr
um deswillen zur vollen Ueberzeugung, weil
ſie ſich deutlich der ganzen Handlung erin-
nerte, welche ſie geſtern an einem kleinen
Bauernbuben geuͤbt hatte.


Sie ſuchte endlich nach mehrern Lichte in
der Schreibtafel umher, und fand in einer
[25] Falte derſelben zwei kleine Zettel. Großmuͤ-
thiger Wilhelm, ſtand auf einem derſelben
mit Bleiſtift geſchrieben, kehre zuruͤck, und
troͤſte deine ungluͤckliche Mutter! Heilloſer
Bube, war der Innhalt des zweiten, wenn
du es noch einmal wagſt, in der Naͤhe mei-
nes Schloſſes zu erſcheinen, ſo vergeſſe ich,
daß ich dein Vater war, und ſchieſſe dich gleich
einem ſchaͤdlichen Raubthiere nieder. Nimm
dies zur lezten Warnung, und packe dich auf
ewig von hinnen! — — Mit vielen Thraͤ-
nen ſchien das erſtere betraͤufelt, mit keiner
einzigen das leztere.


Amalie nahm innigen Antheil am Schick-
ſale der ungluͤcklichen Mutter, des wahr-
ſcheinlich noch ungluͤcklichern Sohnes; ſie ſchau-
derte fieberhaft empor, wenn ſie ſich den wuͤ-
thenden Vater dachte, der ſein eignes, ge-
wiß unſchuldiges Kind ſo grauſam von ſich
ſtieß, es ſogar zu ermorden drohete. Sie
[26] blickte dankbar gen Himmel, weil er ihr ei-
nen ſo guten Vater geſchenkt hatte, aber ſie
weihte auch dem ungluͤcklichen Juͤnglinge reich-
liche Thraͤnen, weil er, mit des Vaters
Zorn und Fluch belaſtet, unſtaͤtt und fluͤchtig
umher irren mußte.


Eben fiel es ihr aufs Herz, daß ihre
Eltern durch falſche Nachricht getaͤuſcht, um
ſie zagen koͤnnten, und wollte nach dem
Schloſſe ruͤckkehren, als man ihr meldete,
daß beide ſchon in ſchneller Eile ſich nahten.
Sie verbarg die Schreibtafel in ihre Taſche,
und wallte ihnen entgegen. Angſtvoll blickten
die Aermſten ſie an, als ſie ſich naͤherten,
freudetrunken ſanken ſie in ihre Arme, als
ſie die gluͤckliche Rettung erfuhren, welche ſie
vorher nur wuͤnſchen, nicht hoffen konnten.
Auch ſie wuͤnſchten den edlen Unbekannten eh-
ren, danken und lohnen zu koͤnnen, neue
[27] Boten wurden ausgeſandt, kehrten aber gleich
den erſtern ohne ihn zuruͤck.


Amalie trauerte aufs neue, ihr gutes
Herz war des Dankes ſo voll, es preßte und
aͤngſtigte unaufhoͤrlich ihre ſonſt ſo ſorgenfreie
Bruſt. Sonſt ruhte ſie die ganze Nacht un-
geſtoͤrt im Arme des wohlthaͤtigen Schlafes,
itzt durchwachte ſie oft halbe Naͤchte in ban-
gem Gefuͤhle und ſtummen Staunen. Im-
mer ſtand der edle Juͤngling vor ihr, bald
laͤchelte, bald drohte er. Sein Ungluͤck
machte gerechten Anſpruch auf ihr Mitleid,
auf ihre Huͤlfe, ſie trauerte tief, daß ſie
ihm die letztere nicht leiſten koͤnne. Schoͤn
und reitzend, ſprach ſie oft hingeriſſen vom
innigen Gefuͤhle, ſtand er vor mir, lockend
und anziehend war ſeine Geſtalt, aber,
aber — er floh, und ich kann ihn nicht wie-
der ſehen, nicht danken fuͤr ſeine große Wohl-
that!


[28]

Um nicht neues Ungluͤck zu erfahren, ſo
antwortete ſie wenigſtens oft dem fragenden
Vater, beſuchte ſie nicht mehr die Schnitter
des Feldes, ſaß immer nur unthaͤtig und trau-
rend in den Lauben des Gartens, weil ſie dort
ungeſtoͤrt an den Unbekannten denken, ſeine
Schreibtafel durchblaͤttern, und ſeine Sen-
tenzen leſen konnte. Oft ſtand ſie auch auf
dem hohen Altane des Gartens, irrte gedan-
kenlos mit ihrem Blicke in der reizenden
Gegend umher, und ward nur dann aufmerk-
ſam, wenn ſie in der Ferne oder Naͤhe einen
einzelnen Wanderer erblickte. Sehr oft fuͤhr-
te ſie ihr forſchendes Auge, ihre immer ge-
reizte Einbildungskraft irre, ſie eilte dann
— ohne einer Gefahr zu gedenken — ins Freie,
und kehrte mißmuthig zuruͤck, wenn ſie uͤber-
zeugt wurde, daß der Wanderer ihrem
Juͤngling nicht gleiche.


[29]

Bei einer aͤhnlichen Gelegenheit ſtieg ſie
bis ans Ufer der Elbe hinab; gegen uͤber lag
eine kleine Inſel, welche hohe Weiden und
Erlen beſchatteten, ihr wohlthaͤtiger Schat-
ten, ihre melancholiſch umher ſchwankenden
Aeſte luden ſie zum Genuſſe ein. Ein kleines
Schifchen lag am Ufer, ſie rufte die nahen
Fiſcher herbei, und ließ ſich nach der Inſel
fuͤhren. Verſunken in ſuͤßen Traͤumen, um-
herſchweifend im reizenden, oft aber auch ge-
fahrvollen Irrgarten der Liebe — denn Ama-
lie liebte ſchon wirklich — vergaß ſie die be-
ſtimmte Ruͤckkehr, ſah nicht, daß ſchwarze
Gewitterwolken ſich uͤber die Berge herab ins
Thal ſenkten, und fuͤrchterlichen Sturm ver-
kuͤndigten. Zu ſpaͤt erwachten die ſchlafen-
den Fiſcher, machten Amalien die drohende
Gefahr kund, und hoften mit Gottes Bei-
ſtande in ſchneller Eile noch uͤberzuſchiffen,
ehe der Sturm zu wuͤthen beginne. Wahr-
ſcheinlich wuͤrde ſich Amalie zu der gefahrvol-
[30] len Ueberfahrt nicht entſchloſſen, lieber das
Ende des Sturms auf der Inſel abgewartet
haben, wenn nicht die Schiffer ſie verſichert
haͤtten, daß jeder anhaltende Platzregen die
Inſel, ihrer niedrigen Lage wegen, uͤber-
ſchwemme, und ſie dann ſicher ein Raub der
Wellen wuͤrde, wenn dieſer allen Anzeichen
nach erfolgen ſollte.


Mit bebendem Herzen betrat Amalie das
Schifchen, noch mehr zitterte und zagte ſie,
als in der Mitte des Stroms der Sturm zu
wuͤthen begann, den Kahn unaufhaltſam mit
ſich fortriß, und nach einigen Schifmuͤhlen
hinſchleuderte, welche am Ufer des Stroms
lagen. Schon entſagten die ermatteten Schif-
fer jeder Hofnung zur Rettung, ſchon ließen
ſie die unnuͤtzen Ruder ſinken, und hoben die
Haͤnde zum lezten Gebete empor, als das
kleine Schiff im vollen Laufe an einen Pfahl
ſtieß, und ſchnell umſchlug. Die Fiſcher ſuch-
[31] ten ſich durch Schwimmen zu retten; Ama-
lie vermochte es nicht, ob ſie gleich ihr
langes Kleid, das ſich gleich einem Seegel
auf dem Waſſer ausbreitete, nicht ſinken ließ.
Die Vorſtellung des gewiſſen Todes raubte
ihr die Sinne; wie ſie wieder denken und
fuͤhlen konnte, lag ſie am Ufer des Fluſſes,
der unbekannte Juͤngling ſtand neben ihr, und
hielte ihre Linke in ſeiner Rechten, um den
Schlag ihres Pulſes zu beobachten. Sein
Haar, ſeine Kleider trieften vom Waſſer,
Fieberkaͤlte ſchuͤttelte ſeine Glieder, und ruͤt-
telte ſeine Zaͤhne, er laͤchelte freundlich, wie
ſie die Augen oͤfnete, er ließ ihre Hand ſin-
ken, wie ſie Dank ſtammelte. Der Muͤller
eilte mit ſeinen Leuten herbei. Pflegt ihrer,
bis der Sturm voruͤber zieht, und fuͤhrt ſie
dann in die Arme der harrenden Eltern zu-
ruͤck, ſprach der Unbekannte, und entfernte
ſich ſchnell. Bleib, bleib! geliebter Retter!
rief zwar Amaliens ſchwache Stimme ihm nach,
[32] aber der Sturm verwehete das leiſe Lispeln
der Matten, er hoͤrte ihren Ruf nicht, und
zog eilend von dannen.


Eine neue Ohnmacht, die Folge des vie-
len verſchluckten Waſſers, bemaͤchtigte ſich
Amaliens Sinnen, ſie erwachte erſt nach ei-
ner halben Stunde in den nahen Huͤtten, wo-
hin ſie die Muͤller getragen hatten. Ihre El-
tern ſtanden weinend vor ihr, troſtlos rang
die zaͤrtliche Mutter die Haͤnde, verzweif-
lungsvoll raufte der Vater ſein Haar, ſie
ſah's, aber ihr erſtes Wort war doch die
Frage: Ob ihr edler Retter abermals ver-
ſchwunden ſei? Eine Thraͤne ſchlich uͤber ihre
bleiche Wange, als die Muͤller verſicherten,
daß man ihn nicht mehr geſehen, nicht wiſſe:
Wohin er ſeinen Weg genommen habe? — —
Vater und Mutter muͤhten ſich vergebens,
ſie durch Scheingruͤnde der moͤglichen Entdek-
kung
[33] kung zu troͤſten, ſie nannte ſich hoͤchſt un-
gluͤcklich, weil ſie nicht dankbar ſein konnte.


Wie man ſie nach dem Schloſſe getragen,
und der herbeigerufene Arzt verſichert hatte,
daß ſie gluͤcklich gerettet, und keine Gefahr
des Lebens vorhanden ſei, gab der Vater ih-
ren Bitten nach, und ſandte in alle Gegen-
den Boten aus, welche den Retter ſeines
Kindes wenigſtens auf einen Tag, auf eine
Stunde in ſein Schloß laden ſollten. Auch
die Muͤller wurden auf Amaliens Verlangen
herbeigerufen, und mußten ausfuͤhrlich erzaͤh-
len, wie der unbekannte Juͤngling ſie geret-
tet habe.


Er ſaß, ſprach einer derſelben, eben in
meinem Gaͤrtchen, und trank Milch, um die
er mich gebeten hatte, als der Sturm be-
gann. Ich trat zu ihm, und bat ihn, in
die Huͤtte zu kommen: aber er lachte bitter,
Biogr. d. W. 3. B. C
[34] und verſicherte mich, daß er ſich nie beſſer
befinde, als wenn er im Freien zuſehen koͤn-
ne, wie wilder Sturm in fruchtbaren Gefil-
den wuͤthe. Ich geſteh's aufrichtig, daß mir
dieſe menſchenfeindliche Antwort wehe that,
und wollte ihn eben verlaſſen, als er mit ein-
mal in die Ferne ſtarrte, pfeilſchnell auf-
ſprang, und nach dem Fluſſe hinab lief, ich
folgte ihm muͤhſam, und ſah gleich ihm, daß
der Sturm das kleine Schiff auf dem Stro-
me herab gegen die Muͤhlen treibe, ich rann-
te zuruͤck, um mit meinen Knechten dort
Huͤlfe leiſten zu koͤnnen, beweinte aber auf-
richtig ihren Tod, wie ich das Schiff nicht
mehr, und die Fiſcher im Waſſer erblickte.
Um wo moͤglich, Rettung zu verſuchen, rann-
te ich mit meinen Knechten am Ufer auf-
waͤrts, und ſah deutlich, wie die Fiſcher das
Land gluͤcklich erreichten, der fremde Unbe-
kannte aber eben unſre Jungfrau ſchwimmend
durch die Wellen trug. Wir frohlockten ihm
[35] entgegen, aber ſeine Blicke waren nur auf
die Ohnmaͤchtige gerichtet, er legte ſie nahe
am Ufer nieder, und entfernte ſich erſt dann,
als wir bei ihm anlangten.


Nach dieſer Erzaͤhlung wurde die Begier-
de, dem edlen Retter danken zu koͤnnen, in
den Herzen der guten Eltern gleich ſtark rege,
auch ſie wuͤnſchten, daß die ausgeſandten Bo-
ten ihn finden, und aufs Schloß fuͤhren
moͤchten. Mit eben ſo ſtarker Sehnſucht er-
warteten ſie die Ruͤckkehr derſelben, trauerten
und weinten mit ihrer Tochter, als alle ohne
Hofnung, ohne Troſt ruͤckkehrten. Keiner
hatte ihn geſehen, keiner mit ihm geſprochen,
er ſchien einer wohlthaͤtigen Gottheit zu glei-
chen, die nur dann zu Huͤlfe herbeieilte,
wenn Amaliens Leben in Gefahr ſchwebte;
die ploͤtzlich verſchwand, wenn ſie fuͤr dieſe
Rettung danken wollte.


C 2
[36]

Ungeachtet aller Verſicherung des Arztes,
daß alle Gefahr geendet habe, fand man
Amalien doch am andern Morgen in einer
anhaltenden Fieberhitze. Angſt und Schrecken,
die jaͤhe Erkaͤltung hatte auf ihren Koͤrper;
betrogene Hofnung, getaͤuſchte Sehnſucht,
den geliebten Retter zu ſprechen, auf ihre
Seele gleich ſtark gewuͤrkt. Der Arzt erſchrak,
als er ſie in dieſem Zuſtande traf, er ver-
heelte den Eltern die Gefahr nicht, in wel-
cher ſie einige Tage nachher wirklich ſchwebte,
aus welcher ſie endlich nicht die Kunſt des
Arztes, ſondern jugendliche Kraft und Staͤrke
gluͤcklich rettete. Groß war dieſe Zeit uͤber der
liebenden Eltern Jammer, ſie wichen nicht von
dem Bette des einzigen Kindes, und hoͤrten
es deutlich, wie ſie oft durch Huͤlfe des fie-
briſchen Irrwahns in Waͤldern umher irrte,
ihren Retter ſuchte, und nirgends fand.


[37]

Nach vier Wochen konnte ſie zum erſten-
male wieder im Garten umher ſchleichen, und
die Reize des nahenden Herbſtes genießen. Tod
waren fuͤr ſie ſeine Freuden, die er auf ſo
vielerlei Art, auf ſo mancherlei Weiſe ge-
waͤhrt. Ihr Herz war mit Sehnſucht, mit
inniger Liebe gefuͤllt, ſie fuͤhlte es deutlich,
daß ſie nur in den Armen des Retters gluͤck-
lich leben, nur in dieſen die Freuden der
Natur genießen koͤnne. Immer ſchwebte ſein
Bild vor ihren Augen, bald ſah ſie ihn,
wie er mit maͤnnlicher Staͤrke den wuͤthenden
Hund toͤdtete, noch oͤfterer, wie er ſie in
ſeinen Armen aus den Fluthen rettete. Ge-
taͤuſcht durch ihre lebhafte Einbildungskraft,
ſchmiegte ſie ſich dann feſt an ſeine Bruſt,
und ſchauderte traurend zuruͤck, wenn das
angenehme Bild verſchwand, ſie verlaſſen und
einſam da ſtand. Die Schreibtafel des Unbe-
kannten, welche ſie ſtets bei ſich trug, war
ihr ehe ſchon theuer, itzt theurer als alle
[38] Schaͤtze der Erden; ſie beſchaͤftigte ſich ſtun-
denlang damit, und mehrte dadurch ihre Me-
lancholie um ein großes, weil jedes Wort,
das darinne geſchrieben ſtand, ſie uͤberzeugte,
daß ihr Liebling ungluͤcklich ſei, wahrſchein-
lich mit Elend und Mangel kaͤmpfte, vielleicht
um deswillen unſtaͤt und fluͤchtig umher irre.


Mit dieſen Gedanken beſchaͤftigt, ging
ſie einige Wochen nachher nach einem kleinen
Buchenhain ſpatzieren, ihr folgten zwei Die-
ner, welche der beſorgte Vater zu ihrem
Schutze geordnet hatte, ſie waren ihr nicht laͤ-
ſtig, weil ſolche ſie nie in ihren Gedanken ſtoͤhr-
ten, nur ſtill hinter ihr her ſchlenderten.
Der Weg nach dem Haine fuͤhrte durch eine
Allee von Obſtbaͤumen, ihre Aeſte bogen ſich
unter der Laſt der vielen Fruͤchte; ehemals
wuͤrde dieſer Anblick ihr das groͤßte Vergnuͤ-
gen gewaͤhrt haben, itzt war er ihrem Auge
laͤſtig, es weilte nur auf den gelben Blaͤt-
[39] tern, die hie und da hervorblickten, und
den nahenden Winterſchlaf verkuͤndigten. O
koͤnnte ich mit euch ruhen und ſchlafen, rief
ſie aus, und unwillkuͤhrliche Thraͤnen waͤſſer-
ten ihr großes Auge.


Noch immer war dieſer Gedanke ihre Be-
ſchaͤftigung, als ſie ſchon auf einem großen
Steine im Walde ſaß, und die Diener hinter
ihr mit einmal laut und aͤngſtlich zu ſchreien
begannen. Amalie fuhr erſchrocken empor,
forſchte nach der Urſache, aber die Diener
konnten fuͤr Schrecken nicht antworten, zeig-
ten mit ihrer Rechten unaufhoͤrlich nach einem
Baume. Amaliens Blick folgte, ſie ſah an
dem Aſte deſſelben einen Menſchen hangen,
ihr zweiter Blick [uͤberzeugte] ſie ſchon, daß
dies ihr Retter, der ungluͤckliche, [unbekann-
te]
Juͤngling ſei. Die Hofnung, Vergelterin
zu werden, ihn auch aus den Armen des
Todes zu retten, hielte ſie aufrecht, ſie eilte
[40] hinzu, und rufte die noch immer ſtaunenden
Diener zur Huͤlfe herbei. Durch ihr flehen-
des Bitten bewogen, loͤßte einer derſelben
mit ſeinem ſcharfen Meſſer das Strumpfband,
an welchem der ungluͤckliche Selbſtmoͤrder
hing, er ſank herab, lag ſtarr und tod zu
Amaliens Fuͤßen. Sie jammerte, rang nach
Huͤlfe, fand keine, und befahl endlich, ihn
nach dem Schloſſe zu tragen. Unterwegs traͤu-
felten ihre Thraͤnen oft auf die bleiche Wan-
ge des Juͤnglings, ſie beſchwor die Diener,
daß ſie die Art ſeines Todes niemanden ent-
decken moͤchten, ſie verſprach ihnen immer-
dauernde Verſorgung, wenn ſie ihrer Bitte
achten wuͤrden, und ſie gelobten ſtrenges
Stillſchweigen.


Jeder der Schloßbewohner glaubte, daß
man den Juͤngling tod im Walde gefunden
habe, und da ſein Geſichte noch nicht ent-
ſtellt, ſeine Wangen mehr bleich als blau
[41] waren, ſo glaubte dies auch der herbeieilen-
de Wundarzt, irrte nicht, wenn er ihn als
einen jaͤh Erſtickten oder vom Schlage getrof-
fenen Menſchen behandelte. Als er kurz nach-
her die Adern deſſelben oͤffnete, und noch Blut
floß, da gewaͤhrte er der harrenden Amalie
[Hofnung], und Zeichen des nahenden Lebens
machten dieſe bald zur frohen Gewißheit.
Reine, aͤchte Freude glaͤnzte zum erſtenmale
wieder auf ihren Wangen, faͤrbte dieſe hoch-
roth, als man ihr meldete, daß der Juͤng-
ling wieder athmete, und die Augen oͤfne.
Vater und Mutter theilten dieſe Freude red-
lich mit ihr, und ſahen es gerne, daß ihr
Kind auf ſo ſchoͤne Art an dem Unbekannten
wieder vergolten habe, was er ohne Lohn an
ihr uͤbte.


Noch hatte der Ungluͤckliche kein Wort ge-
ſprochen, als der Wundarzt Amaliens Bit-
ten nachgab, und ſie vor ſein Bette treten
[42] ließ, ſie wuͤnſchte abſichtlich mit ihm einige
Worte allein ſprechen zu koͤnnen, und hatte
ſich deswegen aus dem Zimmer ihrer Eltern
weggeſchlichen. Des Juͤnglings Auge ſtarrte,
als ſie eintrat, wild und unruhig umher, es
blieb an ihr hangen, und ſtaunte ſie an.
Amalie trat zu ihm, und bog ſich mitleidig
auf ihn herab. Thraͤnen ſammelten ſich in
ſeinen Augenwinkeln, er wollte ſprechen, und
vermochte es nicht.


Amalie (ſeine Hand ergreifend, und
wahrſcheinlich auch druͤckend). Sein und blei-
ben ſie ruhig! Verſchmaͤhen ſie nicht die Huͤl-
fe der dankenden Freundinn. Kann es ſie [be-
ruhigen]
, ſo ſchwoͤre ich Ihnen auf meine Eh-
re, daß niemand weiß, wie ich ſie fand und
rettete.


Der Juͤngling (ſchwach). Sie? Sie
retteten mich?


[43]

Amalie. War's nicht Pflicht, nicht
Schuldigkeit? Nicht Wiedervergeltung? O
Grauſamer, du thateſt mir weh, ſehr weh,
daß du mir ſo hartnaͤckig jeden Dank rauben
wollteſt.


Der Juͤngling (ſehr geruͤhrt). Ich —
ich muß danken — — Und dieſe Schonung —
meiner Ehre — —.


Thraͤnen rollten uͤber ſeine bleichen Wan-
gen, er deutete mit dem Finger darauf, um
Amalien zu uͤberzeugen, daß dieſe Opfer ſei-
nes Dankes waͤren. Der Wundarzt nah'te
ſich itzt, und bat dringend um Entfernung,
weil heftige Gemuͤthsbewegung dem Kranken
aͤußerſt ſchaͤdlich ſei.


Amalie wich dieſem Bewegsgrunde willig,
und ſah mit Vergnuͤgen, als ſie an der
Thuͤre ruͤckblickte, daß das Auge des Juͤng-
[44] lings ihr dankbar folge. Sie hatte wahrge-
nommen, daß dem Kranken reine Waͤſche
mangle, ſie ſandte ſolche ſogleich durch ihre
Diener, nnd ordnete dieſe zu ſeinen Waͤrtern
und Waͤchtern, damit nicht neuer Anfall der
Verzweiflung ihre Huͤlfe vernichte. Froh ging
ſie am Abende ſchlafen, froͤhliche Bilder der
Zukunft umgaukelten ſie traͤumend, weil
Wundarzt und Diener ſie verſicherten, daß
alle Gefahr ſchwinde, und der Kranke mit
gutem Appetite die Suppe genoſſen habe,
welche ſie ihm ſandte. Noch froͤhlicher er-
wachte ſie, und kleidete ſich mit ſchneller Eile
an, als man ihr am Morgen meldete, daß
der Fremde in ihrem Vorzimmer harre, ſie
zu ſprechen verlange. Er trat bald hernach
auf ihr Geheiß ein, ſie zitterte ihm entge-
gen, und reichte ihm ihre Rechte.


Der Juͤngling (dieſe kuͤſſend). Mein
Fraͤulein, ich komme ihnen zu danken — —


[45]

Amalie. Nicht auch den ſchon laͤngſt
ſchuldigen Dank abzuholen? Ich verwahrte
ihn tief in meinem Herzen, er ward mir
oft zur ſchweren Laſt. Ich hoffe, daß ſie ihn
nicht verſchmaͤhen, mich davon befreien wer-
den.


Der Juͤngling. Was that ich, das
des herrlichen Danks wuͤrdig waͤre? Ich ret-
tete ihr Leben, aber ſie, mein Fraͤulein,
retteten Leben und Seele. Schon beim na-
henden Tode wird's heller! Es giebt eine
Ewigkeit, einen Belohner des Guten und
Boͤſen! Ich bin nun uͤberzeugt, will dulden
und leiden, ſo lange er's fordert; daß ich's
vermag, danke ich ihnen mit dem geruͤhrte-
ſten Herzen. Leben ſie wohl! Er ſah die edle
That, er nur allein kann ſie belohnen, ich
traue auf ihn, er wird's gewiß thun!


[46]

Amalie (zitternd und bebend). Wie,
ſie wollen uns wieder verlaſſen? — — (lang-
ſam) Mich verlaſſen?


Der Juͤngling. Muß ich nicht! Ich
habe die ganze Nacht nach Ausſicht und Huͤlfe
gerungen; ich fand nur eine moͤgliche. Sonſt
verachtete ſie mein ſtolzes Herz, itzt will,
und muß ich ſie ergreifen. Ich hoffe, daß
irgend ein mitleidiger Offizier mich als
einen Soldaten annehmen, und mir dieſen
harten Stand durch menſchliche Behandlung
erleichtern wird. Ich muß eilen, ihn auszu-
fuͤhren, damit nicht zu fruͤhe Reue ihn ver-
nichtet, und mich aufs neue zur Verzweif-
lung reizt.


Amalie. Nein! Nein! — — Gott be-
wahre! Sie bleiben bey mir, bey meinen
Eltern, werden ihr Sohn, und mein — —
(ſie ſtockt) und mein Bruder, mein Geſell-
[47] ſchafter. (der Juͤngling ſchuͤttelt mit dem Kopfe)
Sie muͤſſen bleiben, und ſollte ich kniend ſie
bitten! Werden, koͤnnen ſie dann mich ver-
laſſen?


Der Juͤngling. O Gott! Wie ſelig
wuͤrde ich mich in Ihrer Geſellſchaft duͤnken!
Wie angenehm wuͤrden meine Tage dahin
ſchwinden, aber bald wuͤrde auch ſchwarze
Verlaͤumdung — — O daß ich's als Kind
geſtehen muß! — — Verlaͤumdung eines Va-
ters mich dieſem ſeligen Gluͤcke entreiſſen,
und dann waͤre ich ja noch ungluͤcklicher,
muͤßte ein Raub der Verzweiflung werden.
Drum iſt's Pflicht, daß ich ſcheide, da es
noch moͤglich iſt. Das Ungluͤck hat mich zu
ſeinem Lieblinge erwaͤhlt, bisher ſuchte es
mich emſig, ob ich ihm gleich zu entgehen
ſuchte, itzt will ich es ſuchen, und ſehen,
ob es mich auf ewig feſſeln, oder den An-
blick des Duldenden fliehen wird.


[48]

Amalie. Wenn blos die Sorge, daß
irgend eine Verlaͤumdung den lebhaften Dank
in meinem und meiner Eltern Herzen mindern
koͤnne, ſie zu ſolch einem Schritt verleitet,
ſo ſchwoͤre ich ihnen bei Gott dem Allmaͤchtigen,
daß dies nie geſchehen wird, nie geſchehen
kann, ſo ſollen meine Eltern ſogleich in ih-
rer Gegenwart meinen Schwur wiederholen.
(ſie wollte gehen, der Juͤngling hielt ſie zuruͤck.)


Der Juͤngling. Ich bin ſchon uͤber-
zeugt.


Amalie (freudenvoll). Und bleiben?


Der Juͤngling. Und bleibe, weil mei-
ne Retterin es fordert.


Amalie. Und nehmen aus der Hand
des Vaters, der Mutter und der Schweſter
jede
[49] jede Huͤlfe, jede Unterſtuͤtzung an, die ſie noͤ-
thig haben.


Der Juͤngling (mit ſich kaͤmpfend).
Verzeihen, vergeben ſie, aber es koſtet mich
Muͤhe, den unbaͤndigen Stolz zu daͤmpfen,
der das einzige Erbtheil meines Vaters iſt.
Ja, ich nehme alles an, womit ihre unver-
diente Guͤte einen Ungluͤcklichen beſchenken
will. — —


Amalie. Nur zu belohnen wuͤnſcht.


Sie fuͤhrte nun den Unbekannten ins
Zimmer ihrer Eltern, und ſah mit Vergnuͤ-
gen zu, wie dieſe von wahrer Dankbarkeit
beſeelt, ihm gleiche Antraͤge machten, mit
edler Großmuth ihre Neugierde bekaͤmpften,
nicht nach der Urſache ſeines Ungluͤcks forſch-
ten, ſondern es nur durch das Verſprechen
aller moͤglichen Huͤlfe zu lindern ſuchten. Der
Biogr. d. W. 3. B. D
[50] Juͤngling erkannte ihre edle Behandlung mit
innigem Danke, und gelobte, nicht allein
zu bleiben, ſondern ſich auch ganz der Lei-
tung des guten Alten zu uͤberlaſſen, der
ſich's mehr als einmal von ihm ausbat, daß
er ihn Vater nennen moͤge. Kommen ſie,
lieber Sohn, ſprach er endlich zum geruͤhrten
Juͤnglinge, ich muß mit ihnen in meinem
Kabinete allein ſprechen. Mit gluͤhender
Wange und weinendem Auge kehrte endlich
der Juͤngling zur harrenden Amalie zuruͤck,
und geſtand ihr auf einem Spaziergange im
Garten, daß der gute Vater ihn mit einer
vollen Geldboͤrſe beſchenkt, und von ihm ver-
langt habe, daß er morgen nach der nahen
Stadt reiſen, ſich dort ſeinem Stande gemaͤß
equipiren ſolle.


Amalie. Sie kehren doch aber ſo bald
als moͤglich zuruͤck?


[51]

Der Juͤngling. Gott, im Himmel!
Sie koͤnnen fragen? Waͤr's nicht der Wille
des neuen, allzuguͤtigen Vaters, der's mit
vollem Rechte erkennt, daß man die Men-
ſchen nur nach den Kleidern beurtheilt, ich
wuͤrde nicht von der Sonne weichen, die mich
itzt ſo huldvoll anlaͤchelt, in deren Strah-
len ich mich nie zu waͤrmen hofte.


Amalie (laͤchelnd). Nun wohl, ich
will ſehen: Ob der neue Bruder die Schwe-
ſter auch wuͤrklich zaͤrtlich liebt? Ihre fruͤhere
oder allzulange verzoͤgerte Ankunft wird's ent-
ſcheiden.


Der Juͤngling. Dann bin ich morgen
wieder hier.


Amalie. Dieſe Eile wuͤrde die Abſicht
des Vaters und den Entzweck ihrer Reiſe
vernichten. Warten ſie, ich will's berechnen!
D 2
[52] Wenn ſie kein Geld ſparen, und dies haben
ſie wahrlich nicht noͤthig, ſo koͤnnen ſie in
acht, laͤngſtens zehn Tagen wieder hier ſein.
(ſcherzend) Ja, ja, lieber Bruder Wilhelm,
in zehn Tagen erwartet dich deine Schweſter
mit Sehnſucht, und wird an deiner Liebe
zweifeln, wenn du ſpaͤter wiederkehrſt.


Der Juͤngling (etwas unruhig). Sie
nannten mich Wilhelm? Woher wiſſen ſie
es, daß ich mich ſo nenne?


Amalie (etwas verwirrt). Warum ſoll
ich's laͤugnen? Als ſie mich aus den Klauen
des wuͤthenden Hundes retteten, fand ein
Bauer ihre Schreibtafel im Graben. Daß ich
ſie begierig durchblaͤtterte, wenigſtens den
Namen meines Retters darinne zu finden
hofte, muß ich ihnen frei geſtehen. Sie war
ſeit langer Zeit, das einzige,aber gewiß
theure Andenken, welches ich von ihnen be-
[53] ſaß, itzt will ich es ihnen gerne zuruͤckgeben,
da ſie verſprochen haben, mich nicht mehr zu
verlaſſen.


Wilhelm. So wenig dieſe Schreibtafel
auch enthielt, ſo ſehe ich doch ein, daß ſie
durch ihren Beſitz mein ungluͤckliches, aͤußerſt
trauriges Schickſal beinahe ganz kennen lern-
ten. Wie ich ſehe, ſo habe ich dadurch in
ihren Augen nichts verloren, es iſt daher
Pflicht, ihnen alles aufrichtig zu erzaͤhlen, da-
mit mir nicht verlaͤumderiſche Zungen rauben,
was ihr guͤtiges Herz mir bisher in ſo vol-
lem Maaße ſchenkte.


Ich bin der einzige Sohn eines Edel-
manns in B —, ich nenne mich Wilhelm
von L —. Meine Mutter — — Ach ihr
fruͤher Tod war die ganze Urſache meines Un-
gluͤcks! — — Meine Mutter liebte mich zaͤrt-
lich, und erzog mich ſorgfaͤltig, ſie ver-
[54] mochte wenig uͤber das rohe, oft wilde Herz
meines Vaters, aber manchmal gelang es
ihr doch, mit ihren ſanften Vorſtellungen
Eingang zu finden, und dann benutzte ſie
ſolche redlich, um mein Gluͤck zu foͤrdern.
Mein Vater hatte nicht die geringſte Erzie-
hung erhalten, er konnte nur reiten, jagen,
trinken und mit vieler Muͤhe ſeinen Namen
unterſchreiben, er achtete es daher gar nicht
fuͤr noͤthig, mir eine beſſere Erziehung zu
gewaͤhren. Nur durch Jahre langes und un-
ermuͤdetes Bitten vermochte es meine Mut-
ter uͤber ihn, daß ich nach der Hauptſtadt
in eine ritterliche Akademie geſandt, und
dort erzogen ward. Ich war der guten Mut-
ter einzige Freude und Vergnuͤgen, ſie hatte
nicht aus Liebe, ſondern aus Zwang geheu-
rathet, und doch entſagte ſie willig aller ih-
rer Freude, um mich nur vor den Mißhand-
lungen des oft grauſamen Vaters zu retten,
[55] und einen beſſern, thaͤtigern Mann aus mir
zu bilden.


Anfangs mußte ich ſie jedes Jahr, wenn
die Schulferien eintraten, beſuchen; als aber
mein Vater mich einigemal barbariſch pruͤgel-
te, weil ich auf der Jagd einen Fuchs ge-
fehlt, einmal gar aus Verſehen eine Hirſch-
kuh geſchoſſen hatte, ſo entſagte ſie auch die-
ſem Vergnuͤgen, und ließ mich nicht mehr
heimholen.


Wie ich endlich meine Studien vollendet
hatte, und nun Dienſte des Staats ſuchen
wollte, auch wuͤrklich ſchon gegruͤndete Hof-
nung dazu hatte, da ſandte mir meine Mut-
ter einen Eilboten, und befahl mir, ſo
ſchnell als moͤglich aufs vaͤterliche Schloß ruͤck-
zukehren, weil der Vater wuͤthe und tobe,
ſie zu ermorden und mich zu enterben drohe,
wenn ich ſeine Ahnen und Familie ſo ſchimpf-
[56] lich entehren, ein elender Federheld, ein
kriechender Hofſchranze werden wollte. Als
ich dem Befehle der guten Mutter getreu,
daheim anlangte, ſtand ſie weinend am Fen-
ſter, und hob ihre Haͤnde bittend in die Hoͤ-
he, mein Vater empfieng mich mit tiefem
Ernſte an der Thuͤre, und fuͤhrte mich ſtill-
ſchweigend in ſein Kabinet. Auf dem Tiſche
lagen zwei Piſtolen, er nahm ſie unter den
Arm, und ſah mich lange mit finſterm Blicke
an. Biſt, ſprach er endlich, eine wahre Zuk-
kerpuppe geworden! Wie das alles gepudert,
geſchnerkelt und gedrechſelt iſt! Wie's witter[t],
als ob Biſamkatzen hier niſteten! Schwoͤren
wollte ich einen hohen Eid, und meine Se-
ligkeit rein erhalten, daß du nicht mein
Sohn ſeiſt, wenn dir nicht der liebe Gott
aus Erbarmen eine Naſe ins Geſicht gepflanzt
haͤtte, welche die verdammten Staͤdter doch
nicht verhunzen konnten, die der meinigen
noch immer aͤhnlich ſieht. Du haſt mir neu-
[57] lich geſchrieben, ſo hat mir wenigſtens deine
ſaubre Mutter vorgeleſen, daß du feſt ent-
ſchloſſen ſeiſt, Dinte zu lecken, Federn zu
kaͤuen, und mit gleißneriſchen Worten den
Obrigkeiten ihre Rechte zu ſchmaͤlern, die
einſt ihre Vorfahren mit Muth und Blut
theuer erkauften, ich kann unmoͤglich glau-
ben, daß mein Blut ſo ganz ausarten ſollte,
und habe dich herberufen, um deine Mei-
nung zu hoͤren, und dir meinen Willen zu
verkuͤndigen.


Ich kannte den wuͤthenden Jaͤhzorn mei-
nes Vaters aus fruͤherer Erfahrung, ich ſah
ein, daß er fuͤrchterlich wuͤthen, mich ſicher
vernichten wuͤrde, wenn ich auch nur mit
Gruͤnden ſeine einmal gefaßte Meinung wider-
legen wollte, ich geſtand ihm daher offen,
daß ich Staatsdienſte fuͤr meine Beſtimmung
gehalten haͤtte, weil er mich ſtudieren ließe,
daß ich aber Stolz genug von ihm geerbt haͤt-
[58] te, mit Freuden jedem Dienſte zu entſagen,
wenn er es nicht ausdruͤcklich fordere. Nein!
nein! rief er haſtig aus, und warf die Piſto-
len weg, ich fordre es nicht! Du biſt doch
mein Sohn! Sieh, waͤrſt du hartnackig auf
deinem verdammten Vorſatze beſtanden, ich
haͤtte dir, ſo wahr Gott lebt, eine Kugel
durch den Kopf gejagt; itzt umarme ich dich
aber als meinen Sohn, werde dich im-
mer als ſolchen erkennen, wenn du fortfaͤhrſt,
meinen Willen zu beobachten. Laß es gehen,
Wilhelm, fuhr er fort, die verdammten
Staͤdler haben dich zwar ganz verhunzt, aber
ich wills uͤber mich nehmen, noch aus dir ei-
nen braven Kerl zu machen, haſt du das ver-
dammte Geſchmiere und Gekritzle begreifen
lernen, ſo wird dir's auch nicht ſchwer wer-
den, dich in ritterlichen Thaten zu uͤben, die
ſchon in deinem Blute keimen muͤſſen, wenn's
aͤcht und rein auf dich kam.


[59]

Er erlaubte mir nun, meine Mutter zu
beſuchen, die mich weinend umarmte, und
mir zaͤrtlich dankte, daß ich mich ſo willig
der wilden Laune meines Vaters gefuͤgt hatte.
Er war bei Tiſche munter und froͤhlich, als
ich in einem gruͤnen Jagdrocke erſchien, und
nannte mich zum erſtenmale ſeinen lieben
Sohn, als ich nachmittags ſeinen wildeſten
Hengſt auf der Reitbahn gluͤcklich umher tum-
melte. Das iſt, rief er dann immer aus,
die wuͤrdige Beſchaͤftigung eines Kavaliers,
und nicht das elende Federgeſchmiere, wel-
ches jeder buͤrgerliche Schlucker nachahmen kann,
weil eine Feder einen Pfennig, ein ſolcher
Hengſt aber hundert Dukaten koſtet. Ich
mußte taͤglich mit ihm auf die Jagd gehen,
und da ich nach Monatsfriſt ſo gluͤcklich war,
einen Hirſch zu erlegen, den er ſelbſt im
Schuſſe gefehlt hatte, ſo war ſeine Freude
groͤßer, als wenn ich Vicekoͤnig des Landes
geworden waͤre.


[60]

Am Abende nach dieſer in ſeinen Augen ſo
wichtigen Heldenthat, erklaͤrte er mich wuͤr-
dig und faͤhig, ſeinen Namen auf die Nach-
welt fortzupflanzen. Suche dir, ſprach er zu
mir, ein Maͤdchen, das dir behagt, du
mußt binnen Monatsfriſt heurathen. Fuͤr
deinen und deines Weibes Unterhalt will ich
ſorgen, und euch beide ſtandesmaͤßig erhal-
ten; nur fordere ich, daß ſie wenigſtens
ſechszehn Ahnen zaͤhle, und nicht die Toch-
ter eines Federhelden, ſondern eines aͤchten
Ritters ſei. Dies ſind meine einzigen Bedin-
gungen, uͤbrigens haſt du freie Wahl in der
Nachbarſchaft rings umher, mußt aber bin-
nen Monatsfriſt enden, ſonſt waͤhle ich, und
dann bleibt nur blinder Gehorſam dein
Loos! — — Da ich den Starrſinn meines
Vaters nur allzugut kannte, zuverlaͤßig
wußte, daß ſeinen einmal gefaßten Entſchluß
kein Zufall vernichten konnte, ſo hielte ich am
andern Morgen Rath mit meiner Mutter.
[61] Mein Herz kannte noch nicht die Feſſeln der
Liebe, mein Auge hatte wohl manches Maͤd-
chen ſchoͤn gefunden, aber mein Herz noch
keins geliebt, ich hofte daher mit Grunde,
daß ſie mich leiten, mit dem beſten und tu-
gendhafteſten Maͤdchen der Gegend bekannt
machen wuͤrde.


Die theure, mir ewig unvergeßliche
Mutter vergoß Thraͤnen der Freude, als ſie
meine Bitte hoͤrte, ſie hatte ſchon oft in den
angenehmen Stunden der Einſamkeit, in wel-
chen ſie ungehindert traͤumen und wuͤnſchen
konnte, mir eine Gattin auserkohren, ſie
verſprach mich heute noch mit ihr bekannt zu
machen, und fuhr mit mir in die nahe Nach-
barſchaft, wo ein alter Edelmann haußte,
welcher Ahnen genug, Geld aber um ſo we-
niger hatte, uͤberdies kein Federheld, ſondern
ein aͤchter Jaͤger und Ritter war. Meine
Mutter hatte mir ſchon unterwegs erzaͤhlt,
[62] daß ſie die juͤngſte ſeiner Toͤchter fuͤr mich be-
ſtimmt habe, weil ſie fein gefaͤllig, duldſam,
und das Ebenbild ihrer Mutter ſei, die ſich
auch nach der wilden Laune und dem harten
Starrſinne ihres Mannes fuͤgen muͤſſe, der
guten Tage nur wenige zaͤhle. Wir wurden
aͤußerſt freundlich empfangen; ſchon der bloße
Gedanke, daß der reiche Erbe unter ſeinen
Toͤchtern eine Gattin waͤhlen koͤnne, machte
den rauhen Alten gefaͤllig und freundlich. Ich
ſah und ſprach die juͤngſte ſeiner Toͤchter, ih-
re angenehme Geſtalt, noch mehr aber ihre
Anmuth und gefaͤlliges Weſen feſſelten ſogleich
mein freies Herz. Moͤglich, daß die Eile,
mit welcher mein Vater eine Gattin von mir
forderte, und die Furcht, daß ich keine ſchoͤ-
nere und beſſere finden koͤnnte, mich ſogleich
beſtimmte. Genug, ich reiſte aͤußerſt verliebt
von dannen, und nahm die ſuͤſſe Hofnung
mit mir, daß auch ich geliebt wuͤrde.


[63]

Amalie (hoch erroͤthend). Das war
ſchneller, als ich's dachte.


Wilhelm (tief ſeufzend). Ja wohl,
mein Fraͤulein, ja wohl! und vielleicht eben
darum auch ſo ungluͤcklich! — — Um des
Vaters Gunſt ferner zu erhalten, entdeckte
ich ihm ſogleich alles, und er war mit mei-
ner Wahl vollkommen zufrieden. Ob ich gleich,
ſprach er, das Maͤdchen nicht kenne, ſo kenne
ich doch Vater und Mutter, ich habe an die-
ſen nichts auszuſtellen, du an jener nichts,
auf dieſe Art ſind alle Theile zufrieden.
Freilich iſt ſie arm, wird auſſer ihrer Perſon
wenig ins Haus bringen, aber dies iſt mir
nicht unangenehm, ſo koͤnnen doch die Leute
nicht einmal ſagen, daß mein Sohn durch eine
Frau reich ward; wie ſie's oft von mir
ſchwaͤtzten, weil deine Mutter ein paar elen-
de Tauſend Thaler von ihren Eltern zur Mit-
gift erhielt.


[64]

Nach ſeinem Verlangen reiſte ich am an-
dern Morgen wieder zu meiner Geliebten,
bat ſie zu uns zu Tiſche, und fuͤhrte ſie mei-
nem Vater entgegen, als er von der Jagd
ruͤckkehrte. Er empfing ſie außerordentlich
freundlich, nannte ſie ſchoͤn und liebenswuͤr-
dig, ſtreichelte ihre Wange und kuͤßte ihre
Stirne, ſie mußte bei Tiſche an ſeiner Seite
ſitzen, er ſprach nur mit ihr, und ward
ganz entzuͤckt, als die Holde aus Liebe zu
mir ſich außerordentlich muͤhte, ſeinen Bei-
fall zu erhalten. Von dieſer Zeit an war ſie
oft in unſerm Hauſe, der Bund unſrer Lie-
be ward daher taͤglich feſter und inniger.
Mein Vater hatte der Hochzeit wegen ſchon
einmal Abrede mit ihren Eltern genommen,
itzt ſchien er ſie abſichtlich durch kahle Aus-
reden zu verzoͤgern, obgleich meine Geliebte
ihm immer theuerer und ſchaͤtzbarer zu werden
ſchien, ſogar manches mit einem Worte von
ihm
[65] ihm erhalten konnte, was wir oft vergebens
von ihm zu erſtehen ſuchten.


Schon lange hatte Abzehrung, die Folge
des vielen Grams und Kummers, am Leben
meiner Mutter genagt, immer kraͤnkelte ſie,
war wenige Tage geſund, itzt da der Herbſt
ſich nahte, begann ihr Leiden ſtaͤrker, ſchien nach
der Verſicherung des Arztes bald ganz enden
zu wollen. Mein Vater fand in der Krank-
heit der guten Mutter neuen Stof zur Ver-
zoͤgerung der ſehnlich gewuͤnſchten Hochzeit.
Obgleich die Kranke ihn oft verſicherte, daß
ihr die Gewißheit meines Gluͤcks Labſal in
ihrem Leiden, Beruhigung in ihrem Tode
ſein wuͤrde, ſo beſtand der Vater doch hart-
naͤckig auf ſeiner Weigerung, und behauptete,
daß der Sohn, wenn die Mutter auf dem
Krankenlager ſchmachte, nicht Feſte der Freu-
de feiern koͤnne. Wir mußten dieſen edlen
Biogr. d. W. 3. B. E
[66] Bewegsgrund ehren, und den Ausgang ge-
duldig erwarten.


Zu meinem Troſte war meine Geliebte
die meiſte Zeit auf unſerm Schloſſe, und
pflegte meine gute Mutter, die vielleicht um
meinetwillen ſich am liebſten von ihr die Ar-
zeney reichen, und das Kopfkuͤſſen ruͤcken
ließ. Ich war dann immer im Zimmer
der Kranken gegenwaͤrtig, und genoß die
Freude, mich im Blicke meiner Verlobten
zu ſonnen. Aber mein itzt wieder aͤußerſt
muͤrriſcher Vater goͤnnte mir dies Gluͤck nicht
lange, ich mußte ſtets mit ihm auf die Jagd
ziehen, oft im Walde noch laͤnger unter
mancherlei Vorwand weilen, wenn er zu
Hauſe der Ruhe genoß. Daher kam's, daß
ich ſelbſt in der Sterbeſtunde meiner Mut-
ter nicht zugegen war, erſt heimkehrte, als
ſie ſchon vollendet hatte. Meine Geliebte
brachte mir weinend ihren Segen, aber er
[67] haftete nicht, mit ihr ward meine Freude,
mein Gluͤck, meine Ruhe zu Grabe getragen.


Der Mutter Tod war nun wuͤrklich ein
aͤchtes Hinderniß meiner Verbindung gewor-
den. Die Verlobte konnte nicht laͤnger in
unſerm Schloſſe weilen, ſie ſchied ahndend
und aͤußerſt traurig von mir, ich durfte ſie
nicht begleiten, weil nach der Verſicherung
meines Vaters kein Platz im Wagen ſei,
und er ſie ſelbſt heimfuͤhrte; ich durfte ſie
nicht beſuchen, weil es ſich nach ſeinem Aus-
ſpruche, nicht zieme, daß der trauernde Sohn
geckenmaͤßig auf verliebten Spaziergaͤngen um-
herirre. Ihre Briefe waren daher mein ein-
ziger Troſt, ihr groͤßtes Vergnuͤgen, die mei-
nigen.


Schon hatte ich einen langen Monden,
ohne ſie zu ſehen und zu ſprechen, durch-
ſchmachtet, als mein Vater mich in ſein Ka-
E 2
[68] binet berief. Ich habe, ſprach er kalt und
ernſt zu mir, die Sache reiflicher und beſſer
uͤberlegt, ich finde, daß deine Heurath un-
noͤthig ſei, offenbar zur Hinderung deines
Gluͤckes zu fruͤh beginnen wuͤrde. Deiner
Mutter Tod hat Veraͤnderungen hervor ge-
bracht, die ich nicht voraus ſah, ich werde
vielleicht ſelbſt noch einmal heurathen, kann
mehrere Kinder bekommen, und dies verur-
ſacht dann eine andere Einrichtung, die nur
die Zukunft entſcheiden kann. Bis dahin wirſt
du wohl thun, wenn du in die Stadt zu-
ruͤckkehrſt, ſie ohne meine ausdruͤckliche Er-
laubniß nicht verlaͤßt, und dich um einen
Dienſt bewirbſt, der dich in den Stand
ſezt, eine Frau aus eignem Vermoͤgen zu
ernaͤhren. — —


Vergebens muͤhte ich mich, ihm durch
eigne, vorher geaͤußerte Gruͤnde zu wider-
legen, er geſtand offen, daß er ſich geirrt
[69] habe, nun allzu gut einſehe, daß der Adel
nicht entehrt werde, wenn er dem Staate
diene. Vergebens ſuchte ich ihm zu beweiſen,
daß itzt Entſagung der Heurath unmoͤglich ſei,
ihm und mir zum Nachtheile und Schimpfe
gereichen werde, er verſprach alles auf ſich zu
nehmen, alles ohne dieſen zu enden. Und
damit du's nur weißt, fuhr er raſch auf,
dein Maͤdchen gefaͤllt mir ſelbſt, ich werde
ſie eheſtens heurathen, bin mit dem Vater
ſchon richtig, in drei Wochen iſt die Hoch-
zeit. Wollte dir's zwar verheelen, um dir
die kleine Kraͤnkung zu erſparen, weil du
mich aber zwingſt, ſo ſage ich dir lieber itzt,
was du am Ende doch erfahren mußt. Du
ſiehſt itzt ein, daß deine Gegenwart dir und
meiner Braut nicht viel Vergnuͤgen gewaͤhren
wird, drum folge meinem Rathe, und kehre
nach der Stadt zuruͤck.


Ich will, und vermags nicht, ihnen mei-
ne Empfindung zu ſchildern, ich ſtand nie-
[70] dergedonnert und angeheftet am Boden, das
glaͤnzende Licht, welches mir ſo lange ſchon
in der Ferne leuchtete, jeden meiner Schritte
leitete, war verloſchen, ich tappte im Fin-
ſtern, wagte keinen Schritt vorwaͤrts. Ohne
Gefuͤhl und ohne Weigerung duldete ich's,
wie mein Vater mich unter dem Arme ergrif,
nach dem Wagen ſchleppte, und mit mir
zur Stadt fuhr. Nur dunkle Erinnerung die-
ſer ſchrecklichen Reiſe ruht noch in meinem
Gedaͤchtniſſe, Plane zur Flucht, zur ſchnel-
len Entfuͤhrung beſchaͤftigten meine Einbil-
dungskraft, und hielten mich aufrecht. Ich
ſah ruhig zu, wie der hartherzige Vater
mancherlei Stoff zu Frauenkleidern einkaufte,
und murrte nicht, wenn er mich wohl gar
fragte: Ob dieſe oder jene Farbe ſeiner Braut
gut ſtehen werde?


Wie er abreiſte, wollte auch ich mit dem
feſten Vorſatze, ihm die Beute zu entreiſſen,
[71] nachfolgen; aber mein Koͤrper unterlag, ein
hitziges Fieber ergrif mich in der folgenden
Nacht, ich konnte erſt nach drei langen Wo-
chen wieder anhaltend denken, nach einem
Monate erſt mein Lager verlaſſen. Die Hof-
nung, daß meine Gelebte wacker kaͤmpfen,
nicht des Vaters Hand annehmen wuͤrde, ſtaͤrk-
te mich, und gab mir die verlohrnen Kraͤfte
wieder. Fremde Waͤrter, die gleichguͤltig in
mein Leiden blickten, keine meiner Fragen
beantworten konnten, ſaßen mir bis dahin zur
Seite, ich entließ ſie, und eilte, ſo ſchnell
es die wohlbelohnten Poſtknechte vermochten,
nach meiner Heimath.


Um des Vaters Zorn nicht zu reitzen,
und mich vor ſeinen Blicken beſſer verbergen
zu koͤnnen, ſtieg ich bei einem Jaͤger in der
Nachbarſchaft ab. Er bewillkommte mich mit-
leidig, und entdeckte mir endlich unverholen,
daß meine Ankunft zu ſpaͤt erfolgt, meine
[72] theure Karoline ſchon ſeit einer Woche mit
meinem Vater auf ewig verbunden ſei. Ich
tobte, raßte, ſank in Ohnmacht, erwachte
wieder und rang vergebens nach Huͤlfe. Be-
ſeelt mit dem wuͤthenden Muthe der Ver-
zweiflung, eilte ich gerade aufs vaͤterliche
Schloß, ſtuͤrmte unaufhaltſam nach ihrem
Zimmer, in welchem ich ſie nach der Verſiche-
rung einer mitleidigen Magd finden ſollte.
Die arme Leidende ſaß am Fluͤgel, ſpielte
traurig ein raſches Jagdlied, mein Vater
ſtand gelehnt an ihrem Stuhle, und horchte
mit Wohlgefallen zu. Mein feſter Tritt
weckte ſie und ihn empor, Karoline erkannte
mich, ſprang eilend auf, und ſank weinend
in meine Arme.


Was ich in dieſem ſchrecklichen Augen-
blicke dachte, ſagte und that, weiß ich ſelbſt
nicht; er rauſchte gleich einem jaͤhen Gewit-
terſturme voruͤber. Ein Schuß, das Sauſſen
[73] einer nahen Kugel weckte mich zur Empfin-
dung empor. Mein Vater, der indeß ſeine
Piſtolen geholt hatte, wollte eben die zweite
auf mich abdruͤcken, als Karoline in ſeine
Arme ſank, und es verhinderte. Wie ſie
ihn beſaͤnftigte, wenigſtens am Kindermord
hinderte, kann ich ebenfalls nicht ſagen, nur
ſo viel erinnere ich mich noch, daß er mir
Verzeihung zuſicherte, wenn ich mich ſogleich
entfernen wuͤrde. Was ſeine Drohung gewiß
nicht vermocht haͤtte, vermochte ihre Bitte,
ich ging oder wankte vielmehr willig von dan-
nen, und durchwachte die quaalvolle Nacht
bei dem Jaͤger, bei welchem ich vorher Ein-
kehr genommen hatte.


Schon am andern Morgen erhielte ich die
troͤſtende Nachricht von ihr, daß mein Va-
ter nicht mehr zuͤrne, daß ſie ſogar gegruͤn-
dete Hofnung habe, er werde mir vergoͤn-
nen, im Schloſſe wie ehe zu wohnen, ihr
[74] durch meine Gegenwart den unertraͤglichen
Kummer zu verſuͤſſen. Ohne zu bedenken,
daß dieſes Huͤlfsmittel mir und ihr in der
Folge gleich ſtark ſchaͤdlich ſein muͤſſe, hofte
ich mit ihr, und erhielte noch am nemlichen
Tage von ihr den Zettel, welchen ſie in mei-
ner Schreibtafel gefunden und geleſen haben.
Mein Vater liebte ſie heftig, er konnte nicht
ihren Bitten, noch weniger ihren Thraͤnen
widerſtehen, ſie hatte daher durch mancherlei
Scheingruͤnde, vorzuͤglich aber durch erſtere,
die Einwilligung zu meiner Ruͤckkehr erhalten.
Nur machte er's, als ich, ihrer Einladung
getreu, wirklich ruͤckkehrte, zur unverletzli-
chen Bedingung, daß wir uns nie, als nur
in ſeiner Gegenwart, ſehen und ſprechen ſoll-
ten. Wir gelobten's, aber wir hielten es
nicht.


Ich wuͤrde zu weitlaͤuftig werden, wenn
ich ihnen alle die Kunſtgriffe erzaͤhlen wollte,
[75] die wir taͤglich anwandten, um uns nur eine
Minute lang allein zu ſehen und zu ſprechen.
Nicht Verſicherung der ehemals ſo zaͤrtlichen
Liebe, ſondern Klagen uͤber unſer Ungluͤck,
Ringen und Sehnen nach aͤchter Huͤlfe und
Troſt waren dann der Inhalt unſerer Ge-
ſpraͤche. Ich und ſie ſahen zu gut ein, daß
Liebe nicht mehr moͤglich, im Gegentheile
hoͤchſt ſtraͤflich ſei, und ich ſchwoͤre zu Gott dem
Allmaͤchtigen, daß ich keinen Kuß foderte, ſie
keinen gewaͤhrte.


Einen vollen Monden hatten wir ſo quaal-
voll durchlebt, als mein Vater in die Nach-
barſchaft auf eine Jagd geladen wurde. Wi-
der ſeine Gewohnheit nahm er mich nicht mit
ſich, erneuerte aber, als er ſchied, ſein
Verboth mit ſtrengem Ernſte. Dieſer War-
nung ungeachtet fanden wir uns doch im na-
hen Luſtwaͤldchen, wo uns eine dunkle Laube
Sicherheit zu gewaͤhren ſchien. Eben wollte
[76] ich mir von ihr erzaͤhlen laſſen, wie's moͤg-
lich war, daß ſie mir untreu werden, daß
ſie meinen Vater ehelichen konnte, als er
wuͤthend in die Laube ſtuͤrzte, mich beim
Haaren ergrif, und ſinnlos auf der Erde
umher ſchleppte. Wie ich erwachte, ſtand ein
Jaͤger bei mir, welcher mir im Namen des
Vaters kund machte, daß ich ein Kind des
Todes ſein, das Leben meiner itzigen Mut-
ter ſelbſt in Gefahr ſetzen wuͤrde, wenn ich
es je wagte, mich dem vaͤterlichen Schloſſe
wieder zu nahen.


Ich taumelte fort, irrte drei Tage durch
in Waͤldern umher, aß und trank nicht,
hofte auf dieſe Art mein Leben und das un-
ertraͤgliche Leiden zu enden. Da ich ohne an-
dern Endzweck umher wandelte, hatte ich
mich dem Schloſſe meines Vaters binnen die-
ſer Zeit oft genaͤhert, einige ſeiner Jaͤger
waren mir ſogar begegnet: ich erhielte am
[77] dritten Tage durch einen derſelben den Zettel,
welchen ſie ebenfalls in meiner Schreibtafel
fanden. Durch dieſe erfuhr ich zugleich, daß
mein Vater die ungluͤckliche Karoline noch am
nemlichen Abende nach einem unbekannten Orte
fortgefuͤhrt habe, erſt heute ohne ſie zuruͤckge-
kehrt ſei. Dieſe Nachricht, die mehrere be-
ſtaͤtigten, nicht die Drohung des unnatuͤrlichen
Vaters bewog mich, eine Gegend zu verlaſ-
ſen, in welcher ich namenloſes Elend, un-
nennbaren Schmerz geduldet, der frohen,
ſeligen Augenblicke nur wenige genoſſen hatte.
Nicht Abſicht, nur Ungefaͤhr fuͤhrte mich zu
dem Jaͤger, bei dem ich abgeſtiegen war,
auch dieſes nur, nicht jene war Urſache, daß
ich nach meinem Koffre fragte. Schmerz und
Wuth ergrif mich aufs neue, als mir der
Jaͤger durch Zeugen bewieß, daß mein Vater
alle meine Sachen ſelbſt abgeholt haͤtte. Zur
gaͤnzlichen Ueberzeugung reichte er mir einen
Zettel, auf welchem ungefaͤhr folgende Worte
[78] geſchrieben ſtanden: Alles was du, ungera-
thener Sohn, bisher beſaßeſt, war ein Ge-
ſchenk deines Vaters, er nimmts zuruͤck,
weil du dich des Namens eines Sohnes un-
wuͤrdig gemacht haſt, er laͤßt dir nur ſo viel,
als einem Bettler, wie du in der Zukunft
ſein wirſt, noͤthig iſt. Willſt du ſeinen letz-
ten Rath achten, ſo werde Soldat; Preußen
und Oeſtereich ruͤſten ſich itzt gegen einander;
wo du hingehſt, wirſt du eine Kugel finden,
die dein Lohn ſein wird, wenn du es je wie-
der wagſt, dich meinem Angeſichte zu naͤ-
hern, oder mich Vater zu nennen. — —
Dies ſchreckliche Todes-Urtheil eines Vaters
war itzt, nebſt einem kleinen Buͤndel Waͤſche,
den mir der Jaͤger uͤbergab, mein ganzer
Reichthum. Ich irrte damit planlos umher,
ruhte in Waͤldern und Felſenhoͤhlen, floh und
haßte die Menſchen, ſuchte ſie nur dann,
wenn der Hunger mehr als mein innerer
Schmerz an mir nagte.


[79]

Das Schickſal fuͤhrte mich endlich in ihre
Gegend. — — Sie forderten aufrichtige Er-
zaͤhlung meines Leidens, ſie muͤſſen es mir
daher vergeben, wenn ich aufrichtig ſpreche,
es dem elenden Bettler nicht verargen, wenn
auch er ſchoͤn findet, was doch nur eines Koͤ-
nigs wuͤrdig iſt.


Amalie (verwirrt, aber mit ſichtbarem
Vergnuͤgen). O nein! ſprechen ſie ohne
Ruͤckhalt; daß ich innigen Antheil an ihrem
Leiden nahm, und immer nehmen werde, be-
weiſen ihnen meine Thraͤnen.


Wilhelm. Lohne es ihnen der Ewige,
kein Sterblicher vermags nicht, iſt's wenig-
ſtens nicht wuͤrdig. — — Am Tage zuvor,
ehe der wuͤthende Hund ſie verfolgte, ſahe
ich ſie zum erſten male. Die ganze, pracht-
volle Natur, die am ſchoͤnſten iſt, wenn ſie
zur Vollkommenheit reift, hatte bisher nicht
[80] den geringſten Eindruck auf mich gemacht,
aber das Meiſterſtuͤck der Schoͤpfung vermoch-
te es um ſo ſtaͤrker. Ich ſah's, und das
kummervolle Bild meiner ehemaligen Verlob-
ten, meiner itzigen Mutter, ſchwand aus
meinen Augen, beſchaͤftigte nicht mehr meine
Einbildungskraft, ich ſah nur das holde,
mitleidige Maͤdchen, das ſich des armen ge-
fallenen Knaben erbarmte, und mit ſo ſicht-
barem Vergnuͤgen uͤber die kleine, aber doch
edle That bei mir voruͤberging. Ich genoß
die Wonne, ſie aus einer nahen Gefahr zu
retten. Das Bild, wie ſie mir ſo innig und
gefuͤhlvoll dankten, blieb feſt vor meiner
Seele ſtehen, aber noch feſter die Ueberzeu-
gung, daß ein ſolcher Engel den elendeſten
und ungluͤcklichſten der Sterblichen nur gleich-
guͤltig anblicken koͤnne.


Amalie (hingeriſſen vom innern Ge-
fuͤhle). O wie ungerecht, wie unbillig!


Wil-
[81]

Wilhelm. Dies war die Urſache, daß
ich lieber forteilte, als ichs noch ver-
mochte, nicht ruͤckkehrte, um vielleicht, ich
geſteh's offen, die Erniedrigung dulden zu
muͤſſen, daß man mir eine kleine That mit
einigem Gelde belohnen werde. Aber die Be-
gierde, ſie noch oͤfterer zu ſehen, und ins-
geheim bewundern zu koͤnnen, ließ mich doch
nicht aus dieſer Gegend wandern, trieb mich
immer zuruͤck, und gluͤcklich duͤnkte ich mich
dann, wenn ich ſie nur ſah; ruhte ſanft
auf Laub oder Stein, wenn ihr Bild vor
mir ſtand und mich anlaͤchelte. Zum erſten-
male fuͤhlte ich meine Armuth tief, zum er-
ſtenmale preßte ſie mir eine bittere Thraͤne
aus, als ich ſie nach der kleinen Inſel hin-
uͤber ſchiffen ſah, ein unwiderſtehlicher Trieb
mich ihnen nachzog, ich uͤberſchiffen wollte,
und vergebens in allen Taſchen einige Gro-
ſchen ſuchte, um die Schiffer zu bezahlen.
Ich kann die Empfindungen, die mich durch-
Biogr. d. W. 3. B. F
[82] ſtroͤmten, nicht ſchildern, der nahende Sturm
ſtimmte ſo ganz damit, und hielte mich auf-
recht. Ich war ſo gluͤcklich, ſie wieder zu
retten, es ſchien, als ſie endlich die Augen
oͤfneten, als ob ſie mich nicht mehr kannten,
ſich nicht mehr meiner erinnerten; das Ge-
fuͤhl meines Elends, meiner Unwuͤrdigkeit
ergrif mich aufs neue, ich eilte fort, und
ſank entkraͤftet in einer Hoͤhle nieder, in
welcher ich ſchon oft geruhet hatte. Mit Ta-
ges Anbruch wanderte ich fort, wollte nach
dem Rathe des Vaters die mitleidige Kugel
ſuchen. Verzweiflung hatte ſchon lange mit
mir gekaͤmpft, itzt begann ſie mich zu uͤber-
winden, weil ich uͤber einen Monat lang ent-
fernt von derjenigen, deren Anblick allein
mir noch Troſt gewaͤhren konnte, umher
irrte. Ich beſchloß, das Ende meines Lebens
ſelbſt zu ſuchen, es nicht erſt durch Sklave-
rey zu erkaufen. Nur einmal wollte ich ſie
noch in der Ferne ſehen, und dann ſterben;
[83] ich kam am vorigen Tage im Walde an, er-
fuhr durch einen Holzbauer, daß ſie toͤdlich
krank waͤren. Da nun auch der einzige Wunſch
meines Herzens vernichtet war, ſo ward end-
lich der lange Vorſatz zur ungluͤcklichen That.
Das Gefuͤhl des Todes war ſchrecklich, ich
wuͤrde ewig ungluͤcklich ſein, wenn ſie mich
nicht gerettet haͤtten.


Der Juͤngling ſchwieg, Amalie wollte
ſprechen, ihm wenigſtens fuͤr ſein Zutrauen
danken, und mit der angenehmern Zu-
kunft troͤſten, aber ſie vermochte es nicht,
denn ſeine Erzaͤhlung hatte Sturm in ihrem
Buſen erregt. Ihr liebendes Herz hatte
ſchreckliche Qualen geduldet, als er ihr er-
zaͤhlte, daß er ſchon verlobt ſei, und die
Verlobte auch als Mutter noch liebe, ſie nicht
vergeſſen koͤnne; es hatte neue Hofnung ge-
ſchoͤpft und Wonne gefuͤhlt, als der Juͤngling
ſo offen bekannte, daß ihr Anblick der Ver-
F 2
[84] lobten Bild aus ſeinem Herzen verdraͤngt ha-
be. und ſie nun unumſchraͤnkt darinne herr-
ſche, aber ſein namenloſes Leiden heiſchte
auch Mitleid, ſie zollte es mit haͤufigen Thraͤ-
nen, ſie konnte aber nicht ſprechen, ergrif
ſeine Hand, und druͤckte ſie mit Staͤrke.


Feuriger glaͤnzte itzt das matte Auge des
Juͤnglings, angenehme Roͤthe faͤrbte ſeine
Wangen, als er ſah und fuͤhlte, daß er nicht
verachtet wuͤrde, er kuͤßte die wohlthaͤtige
Hand mit Innbrunſt, er druͤckte ſie an ſein
klopfendes Herz, und der Bund der Liebe
ward ſtillſchweigend geſchloſſen. Noch hatten
ihn freilich nicht Worte bekraͤftigt, nicht
Schwuͤre verſiegelt, aber er war doch feſt und
dauerhaft. Kehren ſie nur bald zuruͤck! fluͤ-
ſterte am Ende Amalie, und wiſchte ſich die
Thraͤnen aus den Augen, weil ein Diener
nahte, der ihnen verkuͤndigte, daß das Mit-
tagsmal bereitet ſei.


[85]

Wie dies [geendet] war, meldete ein an-
derer Diener, daß der Wagen, welcher Wil-
helmen nach der Stadt fuͤhren ſollte, ange-
ſpannt ſei. Sein Auge ſuchte Amalien, ein
Blick der Liebe ſtaͤrkte, und verſicherte ihn,
daß man ihn ſehnlich ruͤckerwarten werde.
Er nahm dankbaren Abſchied von allen, und
eilte vorwaͤrts.


Amaliens Eltern ſprachen nun offener und
freier, jedes entdeckte ſeine Meinung uͤber
den fremden Juͤngling. Die gutherzige Mut-
ter war voll von Lobſpruͤchen uͤber ſein gefaͤl-
liges und ſittſames Betragen, ſie glaubte
uͤberzeugt zu ſein, daß ſicher unverdiente Un-
gluͤcksfaͤlle den Aermſten bisher ſo unfreund-
lich verfolgt haͤtten. Strenger und nicht ſo
billig urtheilte der Vater, auch er ruͤhmte
des Juͤnglings hoͤfliche und edle Lebensart,
aber er glaubte auch feſt, daß nicht unver-
dientes Ungluͤck, ſondern weit wahrſcheinli-
cher jugendliche Fehler, Verfuͤhrung und
[86] Leichtſinn ihn in dies Ungluͤck geſtuͤrzt haͤtten,
und nun planlos in der Irre umher jagten.
Wenn er wiederkehrt, fuͤgte der Vater hin-
zu, will ich offen mit ihm ſprechen, ſein
zerruͤttetes Gluͤck wiederherſtellen, und ihn
mit ſeinen Eltern, die freilich nicht ohne
Urſache mit ihm zuͤrnen werden, auszuſoͤh-
nen ſuchen. Er hat das Leben meines einzigen
Kindes zweimal gerettet, er verdient dieſen
Lohn vollkommen, und wird itzt vorſichtiger
handeln, da Ungluͤck ihn weiſer gemacht hat.


Amalien that's weh, ihren Liebling ſo
verkannt zu ſehen, ſie vertheidigte der Mut-
ter Meinung, als aber der Vater die ſeini-
ge hartnaͤckig behauptete, ſo erzaͤhlte ſie ihm
zum Beweiſe ihrer Meinung die ganze Ge-
ſchichte des ungluͤcklichen Juͤnglings. Der Va-
ter ſchien nun zu ihrem groͤßten Vergnuͤgen
vollkommen uͤberzeugt. Wenns wirklich ſo iſt,
dann hat der Aermſte, ſprach er mit Thraͤ-
[87] nen im Auge, ſchrecklich geduldet, dann ver-
dient er, daß ich ſein Vater werde und ewig
bleibe!


Amaliens Herz ward durch dieſe Verſiche-
rung geoͤfnet, ſie ließ es dem geruͤhrten Al-
ten nicht undeutlich merken, daß ſie es gerne
ſehen wuͤrde, wenn er ihn durch unaufloͤsliche
Bande an ſich feſſele, und gab ihm ſogar
Winke, wie er dieſe am beſten knuͤpfen koͤn-
ne. Der Vater ſchwieg, ſchuͤzte am andern
Morgen dringende Geſchaͤfte vor, und reiſte ab,
ohne daß Amalie erfahren hatte: Wohin er
reiſen wuͤrde? Wenn ſie bei der Mutter nach
der Urſache dieſer ſchnellen Reiſe forſchte, laͤ-
chelte dieſe geheimnißvoll, verſicherte ſie aber
zugleich, daß kein Ungluͤck dieſe ſchnelle Ab-
reiſe verurſacht habe. Amalie ſuchte zwar oft
im Stillen die Urſache derſelben zu [ergruͤn-
den]
, als aber die Zeit nahte, daß Wil-
helm ruͤckkehren ſollte, da vergaß ſie des
[88] Vaters, gedachte nur der Wonne, die ihrer
harrte.


Ohne es wirklich zu wollen, ging ſie am
zehnten Tage nach Wilhelms Abreiſe ſpazie-
ren, ohne es zu wiſſen, wandelte ſie auf
der Straße nach der Stadt, ſchauderte won-
nevoll aus tiefen Gedanken empor, als ein
Wagen voruͤber rollte, und Wilhelm ihr aus
dieſem entgegen ſprang. Der Willkomms-
gruß war innig und herzlich, der Abend ſo
reitzend und ſchoͤn, ein Fußſteig kruͤmmte
ſich durch die Wieſen, fuͤhrte durchs Luſt-
waͤldchen nach dem Schloſſe, ſie waͤhlten die-
ſen, und ließen den Wagen fortfahren.


Wilhelms Geſtalt hatte ſich um vieles
veraͤndert, ſein verwirrtes Haar war itzt
kunſtvoll und doch kunſtlos gelockt, ſeinen
ſchlanken Koͤrper machte ein wohlgeformtes
Kleid noch ſchlanker. Luſt und frohe Hofnung
[89] hatte ſeine Wangen hoch geroͤthet, ſeine Au-
gen mit Kraft und Feuer gefuͤllt. Sie wall-
ten nahe am Orte voruͤber, wo Amalie den
Verzweifelnden rettete. O damals war's
ſchrecklich! Damals war's ganz anders! rief
er aus, und ſank vor Amaliens Fuͤſſen nie-
der. Sie wollte ihn aufheben, und vermochte
es nicht, ſie ruhte auf ſeinen Schultern,
duldete Kuͤſſe des Dankenden, erwiederte ſie
am Ende, und geſtand ihm in abgebroche-
nen, aber deutlichen Worten, daß ſie ihn
ſchon lange graͤnzenlos liebe. Er dankte aufs
feurigſte und zaͤrtlichſte, Freudenthraͤnen be-
nezten ihre Hand, und waren der Beweiß,
daß er ſpreche, wie ſein Herz denke.


Schon ging die Sonne unter, als ſie
das Waͤldchen verließen, ſie ſchlichen lang-
ſam nach dem Schloſſe, und doch ſchienen ſie
ihrem Gefuͤhle nach zu ſchweben, die ganze
Natur tanzte im bunten Gewuͤhle vor ihren
[90] Augen, alles ſchien zu lachen, zu ſcherzen
und Theil zu nehmen an der Wonne, die
ihr Herz empfand. Mit beſorgter Miene
kam ihnen die Mutter entgegen, und weckte
ſie aus der gluͤcklichen Schwaͤrmerei. Haͤtte
mich nicht der Kutſcher verſichert, ſprach ſie
im Tone des ſanften Vorwurfs zu Amalien,
daß dein Retter dein Begleiter ſei, ich wuͤr-
de uͤber dein langes Außenbleiben Todesangſt
gefuͤhlt haben. — —


Amalie wollte ſich [entſchuldigen], aber
eben ihre Entſchuldigungen bewieſen der er-
fahrenern Mutter deutlich, daß ihr Kind lie-
be. Die Blicke, welche beim Abendmale im-
mer auf Wilhelmen gerichtet waren, und be-
ſchaͤmt zur Erde ſanken, wenn der Mutter
Auge ihnen begegnete, uͤberzeugten ſie vol-
lends. Als die Diener das Zimmer verlaſ-
ſen hatten, ergrif die Mutter der Tochter
Hand und laͤchelte.


[91]

Amalie. Theure Mutter! Wie ſoll ich
dies geheimnißvolle Laͤcheln deuten?


Die Mutter. Wie du willſt, nur nicht
ungerecht. Du wuͤnſchteſt ſchon laͤngſt zu wiſ-
ſen: wohin dein Vater gereiſt ſei? Itzt
will ich dir's entdecken: Er will dein Gluͤck
vermehren!


Amalie. (verwunderungsvoll). Mein
Gluͤck?


Die Mutter. Dies (mit einem bedeu-
tenden Blick auf Wilhelmen) ſcheint freilich
keiner Vermehrung faͤhig, aber ich hoffe doch
ganz gewiß, daß der gute Vater dir viele
Freude ruͤckbringen wird.


Amalie. Ich verſtehe ſie immer we-
niger.


[92]

Die Mutter. Sollſt es bald vollkom-
men. Ich verſprach freilich zu ſchweigen, aber
die Gelegenheit iſt zu ſchoͤn, ich muß zum
erſtenmale in meinem Leben beweiſen, daß
ein Weib nicht zu ſchweigen verſteht. Die
Erzaͤhlung, welche du uns neulich von dei-
nes Retters ungluͤcklichem Schickſale machteſt,
traf deines Vaters Herz mit Macht. Er be-
ſchloß, ihm ſeine edle Thaten zu lohnen,
ihn mit ſeinem Vater auszuſoͤhnen, oder
dieſem wenigſtens zu ſagen, daß er ihm Va-
ter werden wolle, wenns der aͤchte wirklich
zu ſein aufhoͤre.


Wilhelm (erſchrocken). O dann un-
ternahm er eine Unmoͤglichkeit. Gott, ich
fuͤrchte nun alles, fuͤrchte mit Recht, daß
des unnatuͤrlichen Vaters Jaͤhzorn den groß-
muͤthigen Vermittler auch gegen den unſchul-
digen Sohn erbittern wird.


[93]

Die Mutter. Sorgen ſie nicht! Er
reiſte mit dem feſten Vorſatze ab, alles mit
Gelaſſenheit zu ertragen, ſich vorzuͤglich von
der Wahrheit ganz zu uͤberzeugen, um dann
ungehindert an ihrem Gluͤcke zu arbeiten.


Wilhelm. Dies wird meines Vaters
Verlaͤumdungskunſt vollkommen vernichten.
Ha! daß ich nur hoffen, nur waͤhnen konn-
te: Ich wuͤrde, ich koͤnne einſt noch gluͤcklich
ſein!


Die Mutter. Ruhig, lieber Sohn,
ruhig! Sie kennen das Herz meines Gatten
nicht. Sein Vorſatz iſt, nicht Verlaͤumdung,
nur unwiderlegbare Beweiſe koͤnnten ihn ver-
nichten, und dieſe wird ihr Vater gewiß
nicht liefern. Morgen kann er wieder zuruͤck-
kehren, bis dahin harren ſie geduldig, und
glauben indeß feſt, daß er, daß ich's red-
lich mit ihnen meine.


[94]

Wilhelm dankte fuͤr ihre guͤtige Meinung,
aber ſein unruhiger, trauriger Blick bewies
deutlich, daß er neues Ungluͤck ahnde. Ver-
gebens ſuchte ihn Amaliens Blick zu [ermun-
tern]
, vergebens fluͤſterte ſie ihm zu, daß
keine Verlaͤumdung ihre innige Liebe zu ihm
ſchwaͤchen koͤnne, er ſchied traurig, und blickte
ſeufzend gen Himmel.


Amalie ſaß ſchon am andern Morgen
lange allein in der Gartenlaube; es war
zwar ein unfreundlicher, nebelvoller Herbſt-
tag, aber ſie hatte ihrem Wilhelm auf dem
geſtrigen Spaziergange erzaͤhlt, daß ſie je-
den Morgen dieſe Laube beſuche, ſie hofte,
verſtanden zu werden, und harrte itzt ver-
gebens. Eben wollte ſie mißvergnuͤgt ins
Schloß ruͤckkehren, als ein Bauer ſie im
Garten ſuchte, und ihr einen kleinen Zettel
uͤberreichte. Ein fremder Herr, ſprach er,
gab mir ihn dieſen Morgen, und bat mich
[95] ſehr, ihnen ſolchen allein zu uͤberreichen.
Als er fortging, oͤfnete ihn Amalie ahn-
dungsvoll und ſchaudernd.


„Mein unerbittliches Schickſal, ſtand mit
Bleiſtift darauf geſchrieben, zwingt mich zur
neuen Flucht. Sie wird mir beinahe unmoͤg-
lich, zentnerſchwer haͤngts au meinen Fuͤßen,
aber ich muß fliehen, wenn ich nicht ganz
ungluͤcklich werden will. Erfaͤhrt mein grim-
miger Vater meinen Aufenthalt, ſo iſt
ſchmaͤhliches Gefaͤngniß mein unverdientes
Loos! O daß ich nicht ganz aufrichtig mit
ihnen ſprach, ſie nicht wenigſtens bat, meine
ungluͤckliche Geſchichte ihren Eltern zu ver-
ſchweigen; aber es iſt geſchehen, und ich
muß fliehen. Ich war einige Augenblicke
graͤnzenlos gluͤcklich, um mein kuͤnftiges, im-
mer dauerndes Ungluͤck recht lebhaft fuͤhlen
zu koͤnnen. Sicher wird mein Vater heute
mit dem ihrigen auf dem Schloſſe anlangen,
[96] hoͤren ſie nicht zu, wenn er mir fluchen, glau-
ben ſie nicht, was er erzaͤhlen, behaupten
und zu beweiſen ſuchen wird. Das Unge-
heuer, welches mich verfolgt, iſt mein Va-
ter, ich fuͤrchtete, zu viel zu verliehren,
wenn ich ihnen alles erzaͤhlte, ſie wuͤrden mit
Grunde beſorgt haben, daß der Sohn eines
ſolchen Boͤſewichts nicht redlich denken koͤnne.
Noch einmal! Glauben ſie nicht, was ſelbſt
die beſtochenen Richter glauben, die mich
gleich ihm verfolgen. Sollte es aber doch
moͤglich ſein, daß die Verlaͤumdung in ihrem
Herzen Eingang faͤnde, ſo bitte, flehe und
beſchwoͤre ich ſie, daß ſie mich wenigſtens be-
dauern, und feſt uͤberzeugt bleiben, daß ſie
immer und ewig mit der groͤßten Zaͤrtlichkeit
verehren, bis zum lezten Athemzuge anbe-
ten wird, der Ungluͤcklichſte unter den Sterb-
lichen, Wilhelm L — —.“


Amalie
[97]

Amalie lehnte ſich zitternd an den Stamm
einer Linde, ſie liebte zum erſtenmale, liebte
heiß und zaͤrtlich, hatte ſich unendliche Won-
ne und Freude im Arme des Geliebten ge-
traͤumt, ſah ſie itzt mit einmal ſchwinden,
Kummer und Schmerz ſich nahen. Haͤtte
ſie in dieſem Augenblicke die Straſſe gekannt,
auf welcher ihr Geliebter wandelte, ſie wuͤr-
de Vater und Mutter verlaſſen, Ungluͤck und
Elend willig mit ihm getheilt haben. So
groß, ſo unumſchraͤnkt iſt die Macht der Lie-
be, wenn einmal das Herz ſich ihr geoͤfnet,
die Vernunft ihr die Zuͤgel uͤberlaſſen hat!
Darum, liebes Maͤdchen, huͤte dich, zu lie-
ben, ehe du uͤberzeugt biſt: ob du ohne
Hinderniß lieben kannſt? [Denn] biſt du ein-
mal hingeſunken in die Arme des Geliebten,
haſt du gekuͤßt ſeinen Mund, gehoͤrt ſeine
Schwuͤre, ſo rettet dich nichts mehr, du biſt
feſt an ihn gekettet, ſinkſt und faͤllſt mit ihm
Biogr. d. W. 3. B. G
[98] in den Abgrund, den eigne That oder der
Vorſehung Wille zu ſeinen Fuͤßen oͤfnete.


Lange ſtaunte noch Amalie in die Ferne,
ſuchte ihren Wilhelm und fand ihn nicht, al-
les war wuͤſte und oͤde um ſie her, der Ne-
bel ſank, die Sonne lachte freundlich auf ſie
herab, aber ſie fuͤhlte ihre wohlthaͤtige Waͤr-
me nicht, Fieberkaͤlte durchzitterte ihr Herz,
und verbreitete ſich durch ihren ganzen Koͤr-
per, ihre Zaͤhne klapperten, und entpreßten dem
ſtarrenden Auge eine Thraͤne des bittern Kum-
mers. Sie ſuchte Troſt, fand ihn nirgends,
und eilte in die Arme ihrer Mutter. Mit
verwirrtem und traurigem Blicke kam ihr dieſe
ſchon am Eingange des Gartens entgegen,
auch ſie hatte einen Brief in ihrer Hand, ihre
Miene, mit welcher ſie ihn oft anſah, be-
wies deutlich, daß er die Urſache ihres Kum-
mers enthalte.


[99]

Amalie (weinend und ſchluchzend). Hat
er auch Abſchied von ihnen genommen?


Die Mutter. Wer? liebes Kind, wer?


Amalie. Mein Wilhelm.


Die Mutter. Wo iſt er? Wo treffe
ich ihn?


Amalie (kann aus Uebermaaß des ſchmerz-
haften Gefuͤhls nicht ſprechen, und deutet mit
der Hand in die Ferne).


Die Mutter. So iſt er fort? So be-
ſtaͤtigt er wirklich die Nachricht, welche ich
eben durch deinen Vater erhielt?


Amalie. Nachricht? Welche Nach-
richt?


G 2
[100]

Die Mutter (fuͤhrt ſie nach dem Gar-
ten zuruͤck, den Brief oͤfnend). Hoͤre, und
ſtaune mit mir:


„Theures Weib! Gieb dem ungluͤcklichen
Juͤngling, der unſerm einzigen Kinde zwei-
mal das Leben rettete, den Beutel mit Gold,
welchen du rechts in meiner Schatulle findeſt,
rathe ihm zur ſchnellen, eiligen Flucht aus
unſerm Lande, aus Deutſchlands Graͤnzen.
Ich bin ihm das Leben meines Kindes ſchul-
dig, ich halte es fuͤr Pflicht das ſeinige zu
retten, ohne zu uͤberlegen: ob ich recht
handle, wenn ich einen uͤberwiesnen Moͤr-
der den Armen der ſuchenden Gerechtig-
keit entreiſſe? Ich wollte ſein Gluͤck gruͤnden,
und hab's ohne Verſchulden ganz vernichtet.
Er ſchmachtete ſchon zwei Monden lang im
Gefaͤngniſſe, er iſt durch Zeugen uͤberwieſen,
daß er mit ſeiner Stiefmutter im vertrauten
Umgange lebte, mit ihr zweimal den Vater
[101] zu vergiften ſuchte, ihn einmal wirklich ver-
giftete. Nur die Kunſt der Aerzte hat ihn
vom Tode errettet, dem er itzt langſam und
abzehrend entgegen ſchmachtet. Die Gehuͤlfin
ſeiner ſchwarzen That, ſeine Stiefmutter hat
ſchon durch des Henkers Schwerd ihr Leben
geendet, uͤber den Fluͤchtling iſt das ſchreck-
liche Urtheil des Rades ſchon ausgeſprochen.
Ich konnte und durfte es nicht hindern, daß
der mit vollem Rechte Rache heiſchende Vater
ſeinen Aufenthalt den Gerichten entdeckte,
die ihn morgen ſchon bei euch ſuchen werden.
Ich verzoͤgere aus Abſicht meine Ruͤckkehr, da-
mit mir nicht Verantwortung uͤber ſeine Flucht
werde. Ich ſende euch meinen Bedienten in
Geheim mit dieſer Nachricht voraus. Sollte
der Ungluͤckliche noch in der Stadt ſein, wo-
hin ich ihn ſandte, ſo ſchickt dieſen Bedien-
ten, der von allem unterrichtet iſt, ihm mit
dem Golde nach, damit er ſich rette, und
in der Ferne eine That bereue, die ihn in
[102] aller Menſchen Augen verhaßt machet, die
Gott ihm nur allein vergeben kann. Bei
aller Angſt, die ich hier am Bette des
ergrimmten Vaters dulde, danke ich doch
Gott, daß ich vorher pruͤfte, ehe ich be-
ſchloß, und ungeachtet du es widerrietheſt,
nicht blindlings glaubte. Gott, was wuͤrde
aus dir und mir, aus meinem armen Kinde
geworden ſein, wenn ich es mit einem Va-
termoͤrder verbunden haͤtte! Lies Amalien
dieſen Brief vor, ich zweifle nicht, daß ſein
Inhalt maͤchtig genug ſein werde, die Liebe
zu ihm zu tilgen, welche ich ſchon in ihrem
dankbaren Herzen empor keimen ſah.“


Aber der Brief war's nicht vermoͤgend!
Amalie trauerte tief und innig, weil ſie mehr
ihres Wilhelms, als des Vaters Worten
glaubte, und die ſchreckliche Erzaͤhlung fuͤr
eine Verlaͤumdung des harten und ergrimm-
ten Vaters achtete. Sie ſprach mit der Mut-
[103] ter laut daruͤber, als der andere Tag ver-
floß, und die Gerichte nicht erſchienen; ſie
beweinte noch immer den entflohenen Gelieb-
ten, als endlich der Vater ruͤckkehrte, ihr
durch umſtaͤndliche Erzaͤhlung die Wahrheit
ſeines Briefes ſo deutlich bewies, daß ſie
nur im Verborgenen noch um ihn trauern,
ihn nur in ihrem Herzen entſchuldigen konnte.
Sie ſchiens gleichguͤltig zu achten, als end-
lich die Gerichte, welche erſt der Formalitaͤt
wegen durch die Landesregierung erſucht wer-
den mußten, wirklich nach ihm forſchten, und
genau unterſuchten: ob niemand durch fruͤhe
Warnung ſich zu ſeinem Mitſchuldigen ge-
macht habe?


Amalie nannte von dieſer Zeit an, den
Namen ihres Retters nicht mehr, aber ihre
Lebhaftigkeit, ihre Theilnahme an allen laͤnd-
lichen Geſchaͤften ging ganz verlohren, ſie ſaß
am liebſten auf ihrem Zimmer, ſie bat drin-
[104] gend, ſie den Winter uͤber nicht nach der
Stadt zu fuͤhren, und ſah es nicht gerne,
wenn ihre Eltern ſie in ihrer Einſamkeit
ſtoͤhrten, oder gar Geſellſchaft in ihr Zimmer
fuͤhrten. Der Fruͤhling begann, Vater und
Mutter hoften, daß der Alleserfreuende auch
ihrer Tochter Herz erfreuen werde, aber ihre
Erwartung ward durch den Erfolg getaͤuſcht,
Amalie trauerte noch immer in ihrem Zimmer,
als die Veilchen lieblich dufteten, und ihre
ſchoͤnen Abrikoſenbaͤume ſchon verbluͤht hatten.
Sie gab zwar oft den ſanften Ermahnungen
des Vaters nach, ging mit ihm im Garten,
und uͤber Feld ſpazieren, aber ſie ſtaunte im-
mer gedankenvoll in die Ferne, und trat ge-
fuͤhllos die Pflanzen zu Boden, welche ſie
ſonſt ſo emſig gepflegt hatte.


Moͤglich, daß Gram uͤber das innere
Leiden ſeines Kindes des Vaters Tage ver-
kuͤrzte, er ſtarb im folgenden Herbſte an ei-
[105] nem Nervenfieber, nachdem er zuvor ſeine
Tochter dringend gebeten hatte, ihre Tage
mit mehr Freude zu genießen. Sein Tod
machte tiefen Eindruck auf Amaliens Herz,
und vermehrte ihre Trauer um ein großes.
Wenigſtens konnte und durfte es ihr niemand
verdenken, wenn ſie unter dieſem Vorwande
noch einſamer lebte, ihr Zimmer aͤußerſt ſel-
ten verließ. Ihre Mutter trauerte ſelbſt aufs
innigſte uͤber den Verluſt ihres geliebten Gat-
ten, und ſah's gerne, wenn ihr Kind mit
ihr klagte und weinte; aber ſie erſchrack auch
herzlich, als ihr der beſuchende Arzt die ge-
wiſſe Vermuthung entdeckte, daß ſchleichende
Abzehrung am Leben ihrer Tochter nage, und
ſie nothwendig im nahenden Fruͤhjahre die
Waſſer zu Spaa trinken muͤſſe, wenn das Ue-
bel nicht unheilbar werden ſolle.


Da fieberhafte Anfaͤlle die Mutter verhin-
derten, Amalien zur beſtimmten Zeit ſelbſt
[106] zu begleiten, ſo vertraute ſie ſolche einer al-
ten Muhme, die eines Pfarrers Wittwe
war, und von Amalien immer vorzuͤglich ge-
liebt wurde. Amalie hatte ſich lange gewei-
gert, die Reiſe zu unternehmen, und laͤ-
chelte ſanft, wenn der Arzt ihr die Gefahr
groͤßer ſchilderte, als ſie ſelbſt war. Sie
wuͤrde ſeinen Rath nicht befolgt haben, wenn
nicht die Mutter ausdruͤcklichen Gehorſam ge-
fordert, und ſie verſichert haͤtte, daß laͤn-
gere Weigerung ſie aͤußerſt kraͤnken werde.


Amalie blieb ſich auf der Reiſe immer
gleich, nahm an nichts Antheil, bezeugte
keine Freude uͤber die ſchoͤne Gegend, welche
ſie durchreiſte, und trank ſchon einige Wo-
chen ohne Erfolg den Brunnen, als ſie einſt
nach der Verſicherung der alten Muhme aͤuſ-
ſerſt luſtig und munter von da in ihre Woh-
nung zuruͤckkam. Sie iſt itzt, ſchrieb bald
darauf die frohe Alte der Mutter, ganz ein
[107] anderes Maͤdchen geworden, puzt ſich wieder,
geht den ganzen Tag ſpazieren, iſt bey al-
len Freudenfeſten und Pikniks gegenwaͤrtig,
und kommt oft ſpaͤt in der Nacht vom Tanze
nach Hauſe.


Die gute Mutter wurde durch dieſe Nach-
richt ſehr getroͤſtet, ſie dankte dem Arzte fuͤr
ſeinen guten Rath, und lobte die kraͤftige
Wirkung des Waſſers; aber ihr Dank und
Lob dauerte nicht lange, verwandelte ſich in
unheilbaren, tiefen Jammer, als die Muh-
me ohne Amalien ruͤckkehrte, der ſtaunenden
Mutter die ſchreckliche Nachricht brachte, daß
ihre Tochter wahrſcheinlich mit einem Gelieb-
ten aus Spaa entflohen ſei, all' ihr Geld
und Koſtbarkeiten mit ſich genommen, ihr
nur ſo viel gelaſſen habe, als zur Ruͤckreiſe
noͤthig war. Zur Beſtaͤtigung ihrer Erzaͤh-
lung zeigte ſie der jammernden Mutter ei-
nen Zettel von Amaliens Hand geſchrieben,
[108] welchen ſie auf ihrem Nachttiſche gefunden
hatte.


„Eilen ſie, ſtand darauf geſchrieben, nach
Hauſe, und troͤſten ſie meine arme Mutter
mit der Verſicherung, daß mich zwar mein
unvermeidliches Schickſal wahrſcheinlich auf
ewig von ihr trennt, daß ich aber den Schritt
freiwillig wage, ihn nie zu bereuen, gegruͤn-
dete Hofnung habe. Sie ſoll bald Nachricht
von mir erhalten, ich zweifle dann nicht, daß
ſie mir mein vaͤterliches Erbe nicht vorenthal-
ten wird, damit ich in den Armen eines red-
lichen Mannes, um deswillen ich eine ſo gute
Mutter verließ, ruhig und zufrieden leben
kann. Theure Mutter, trauern ſie nicht,
wenn ſie dies leſen, bedenken ſie, daß ihre
Tochter daheim verwelkt waͤre, und itzt in
der Ferne herrlich bluͤhen, ihnen jederzeit
Nachricht von ihrem Befinden geben, und nie
aufhoͤren wird, ſie um den muͤtterlichen Se-
gen zu bitten.“


[109]

Dies war aller Troſt, alle Hofnung, an
welche ſich durch einen langen Monat die kla-
gende Mutter halten konnte. Die redliche,
aber auch mit der großen Welt ganz unbe-
kannte Pfarrerswittwe konnte keine ihrer Fra-
gen beantworten, ihr in dem Labyrinthe von
Zweifel, und Ahndung gar keinen Weg zei-
gen. Sie war immer huͤbſch daheim geſeſſen,
hatte Arndts Paradies-Gaͤrtlein durchblaͤt-
tert, indeß Amalie ungehinderte Freiheit ge-
noß, ihren Plan zu entwerfen, und auszu-
fuͤhren.


Nach Monatsfriſt ward der Leidenden der
erſte Troſt, ſie erhielte einen Brief von ih-
rer Tochter. Dieſe bat ſie des gewagten
Schrittes wegen innig und ruͤhrend um Ver-
gebung, ſchilderte ihr aber die Liebe zu ei-
nem der edelſten Maͤnner ſo groß, und ihr
kuͤnftiges Gluͤck in ſeinen Armen ſo reizend,
daß die gute Mutter willig verzieh, und
[110] zum erſtenmale wieder froͤhlicher athmete.
Noch, ſchrieb Amalie am Ende, kann ich
ihnen den Namen desjenigen, deſſen Liebe
mich ſo graͤnzenlos gluͤcklich macht, nicht nen-
nen, aber bald ſollen ſie alles erfahren. In-
deß bitte ich ſie, mir von meinem vaͤterli-
chen Erbe fuͤnf tauſend Thaler nach Luͤbeck an
Wechsler R —. zu uͤberſenden, welcher be-
reits den Auftrag hat, es weiter zu ſchicken.
Verzeihen ſie mir dieſe Vorſicht, ſie iſt zu
meinem Gluͤcke noͤthig. Dies wuͤrden ſie uͤbri-
gens um ein großes befoͤrdern, wenn ſie alle
Kapitalien, die mir mein Vater hinterließ,
indeß aufkuͤndigten, damit ich ſolche zur Zeit
erhalten, und in dem Lande anlegen kann,
wo ich kuͤnftig leben werde.


Die getroͤſtete Mutter achtete es nicht
fuͤr noͤthig, den Rath weiter blickender
Freunde zu hoͤren, ſie ſandte die geforderte
Summe nach Luͤbeck, verſprach in einem
[111] Briefe, alles zu erfuͤllen, was ihr geliebtes
Kind fordere, zur Vermehrung ihres Gluͤcks
heiſche, und beſchwor nur am Ende ihre
Tochter, ihr wenigſtens doch noch einmal in
ihrem Leben die Wonne zu goͤnnen, ſie zu
umarmen, und zu ſegnen.


Hoffend und fuͤrchtend verſtrichen nun ei-
nige Monate ohne weitere Nachricht. Die
aufs Neue leidende Mutter wandte ſich des-
wegen an den Wechsler R —. zu Luͤbeck.
Er berichtete ihr, daß er das Geld richtig
erhalten, es laut Ordre an einen jungen,
ſchoͤnen aber ganz unbekannten —ſchen Offizier
[ausgezahlt] habe, und ſonſt nichts berichten
koͤnne.


Neue Monate verfloſſen ohne Troſt; das
Leiden der duldenden Mutter mehrte ſich,
nagte an ihrem Leben, und vernichtete es
ganz, als die Blaͤtter wieder zu ſproſſen be-
[112] gannen. Sie ſtarb ohne Troſt, ohne Nach-
richt: wie es ihrem einzigen Kinde gehe?
Ob es noch hienieden walle, oder ihrer dort
ſchon harre? Die Gerichte nahmen das große
und anſehnliche Vermoͤgen in Empfang, ver-
walten es noch, weil erſt itzt die naͤchſten
Anverwandten ſolches zu fordern beginnen.


Lange blieb dieſen Amaliens Schickſal un-
erforſchlich, erſt durch ungefaͤhren Zufall er-
fuhren ſie es ſeit kurzem, und ſetzen mich in
Stand, ihre weitere Geſchichte zu erzaͤhlen:
Amalie trank, wie ich ſchon erwaͤhnt habe,
das Waſſer zu Spaa aus Gehorſam, vergaß
es oft zu trinken, wenn ſie ſich aus dem Ge-
tuͤmmel, welches den Brunnen umgab, los-
riß, und in der ſchoͤnen Wildniß umher irr-
te. Die ganze Gegend ſtimmte dann ſo ganz
mit ihrem Gefuͤhle, mit ihrer Melancholie,
die Herz und Seele fuͤllte. Wenn ich ihn nur
noch einmal ſehen, und mit der Verſicherung
troͤ-
[113] troͤſten koͤnnte, daß ich ihn noch liebe! rief ſie
dann immer aus, und ſuchte ihn vergebens
unter den Luſtwandelnden, welche hie und
da in Gruppen gelagert ſaßen, dort wieder
einzeln auf den Bergen umher kletterten.


An einem ſchoͤnen Morgen ſaß ſie eben
mit dieſem Gedanken auf einem Abhange, als
ſie dicht unter ſich einen Juͤngling erblickte,
welcher, in einen Kaputrock gehuͤllt, nach-
denkend da ſas, und ein ofnes Buch in der
Hand hielt. Seine Phiſionomie erinnerte ſie
lebhaft an ihren Wilhelm, es ward leicht in
ihrem Herzen, licht in ihrer Seele, ſie zit-
terte ahndend bei ihm voruͤber. Der Juͤng-
ling ſprang erſchrocken empor, ſank langſam
zuruͤck, und rief freudig aus: Sie iſt's!
Er iſt's! antwortete Amalie, und ſank in
ſeine Arme. Der Bund der Liebe ward er-
neuert, und durch Kuͤſſe des frohen Will-
komm's gefeiert.


Biogr. d. W. z. B. H
[114]

Schon waren alle Brunnengaͤſte nach der
Stadt zuruͤckgekehrt, als Wilhelm und Ama-
lie noch immer am Abhange ſaßen, ſich ihr
Leiden, ihr Schickſal erzaͤhlten. Wilhelm be-
wies, daß ſchaͤndliche Verlaͤumdung und un-
gegruͤndete Eiferſucht des Vaters ihn ſo ſchreck-
lich verfolgt habe. Wahr iſt alles, was ich
ihnen, ſprach er, ſchon ehedem erzaͤhlte,
nur verſchwieg ich's, daß der Vater meine
ungluͤckliche Mutter ſogleich nach dem Gefaͤng-
niſſe ſchleppte, und mich, da ich ſeinem
Grimme entflohen war, raſtlos ſuchte, end-
lich im Walde fand und gleich der Mutter
den Gerichten uͤberlieferte. Staunend ſtand
ich und ſie, als die Gerichte Bekenntniß der
ſchaͤndlichen Thaten von uns forderten, die
wir nie geuͤbt, nie beſchloſſen hatten. Ver-
gebens ruften wir Gott zum Zeugen und
Schuͤtzer an, als rachſuͤchtige Buben, die
mein Vater im Dienſte hatte, wider uns
auftraten, und beſchworen, was wir nie ge-
[115] than hatten. Wahrſcheinlich ſchreckte ſie mein
drohender Blick, denn erſt ſpaͤter erfuhr ich,
daß ſie mich weniger als meine Stiefmutter
beſchuldigt hatten, die Ungluͤckliche wurde zur
Folter, und als ſie aus Schmerz auf dieſer
alles bekannte, was die Richter heiſchten,
zum Tode verurtheilt. Ein Brief, den ſie
in ihrer lezten Stunde an meine Familie
ſchrieb, und worinne ſie ihre und meine Un-
ſchuld mit den kraͤftigſten Worten verthei-
digte, rettete mich nach der Hand aus dem
Gefaͤngniſſe, meine Freunde beſtachen, von
meiner Unſchuld uͤberzeugt, den Kerkermei-
ſter, und entriſſen mich der blinden Rachſucht
des immer noch tobenden Vaters.


Amalie glaubte und trauete Wilhelms
Worten, denn ſie liebte und verſicherte ihn,
daß er durch die treue Erzaͤhlung ſeines un-
gluͤcklichen Schickſals in ihrem Herzen nichts
verlohren, vielmehr alles gewonnen habe.
H 2
[116] Sie forſchte emſig nach der Erzaͤhlung ſeines
weitern Schickſals.


Als ich ſie ſo ſchnell verlaſſen mußte, er-
zaͤhlte er weiter, da kaͤmpfte die Verzweif-
lung aufs neue mit mir, ich wuͤrde ganz ge-
wiß geendet haben, wenn der Gedanke: Ein
Engel liebt dich! mich nicht geſtaͤrket, mir
nicht die Moͤglichkeit, ihn noch einmal wie-
der zu ſehen, zum neuen Ziele ausgeſteckt
haͤtte. Ich irrte zwar troſtlos, aber doch
nach Rettung umherblickend vorwaͤrts, ich
duͤnkte mich nirgends ſicher vor der grauſen
Rache meines Vaters, ich ſchiffte uͤbers Meer
und kam nach —. Dort fand ich unvermu-
thet Freunde, die ſich meines Elends erbarm-
ten, ich ward der Monarchin vorgeſtellt, und
ſie ernannte mich zum Hauptmanne eines Re-
giments, das ſie eben errichtet hatte. Um
nicht einſt auch hier entdeckt und verfolgt zu
werden, gab ich mir den Namen einer Fa-
[117] milie, mit der ich nahe verwandt bin, und
ich haͤtte nun zufrieden und gluͤcklich leben koͤn-
nen, wenn nicht die ſehnſuchtsvollſte Liebe an
meinem kleinſten Vergnuͤgen genagt, mich
bald unfaͤhig gemacht haͤtte, je mehr eines
derſelben zu genießen. Ueberall ſah ich ihr
Bild, uͤberall ruhten ſie in meinen Armen,
und wenn ich ſie dann feſt an mein Herz druͤcken
wollte, da ſchwanden ſie, und ließen mir
Sehnſucht, Kummer und Trauer zuruͤck.


Amalie. Ging's mir beſſer?


Wilhelm. Als ich hofnungslos auf
dem Krankenlager ſchmachtete, mit Sehn-
ſucht das Ende meiner Leiden erwartete, da
traten meine neuen Freunde zu mir, und
forderten, daß ich nach dem Rathe des Arz-
tes den Brunnen zu Spaa trinken ſollte.
Vergebens ſchuͤtzte ich die Koſten und [den]
Mangel an Gelde vor, ſie halfen dem leztern
[118] auf der Stelle ab, und ich mußte aus Dank-
barkeit ihrer Bitte Gewaͤhrung zuſichern.
Ohne Hofnung eines gluͤcklichen Erfolgs reiſte
ich ab, die angenehme Reiſe erheiterte mich
ein wenig, und weckte in mir die Luſt zum
[fernern] Leben und Dulden. Der Arzt hatte
mir vorzuͤglich Zerſtreuung angerathen, ich
ſuchte ſie emſig, als ich zu Spaa anlangte,
und hofte ſie im Spiele zu [finden]. Moͤglich,
daß Betruͤger mit mir ſpielten, noch moͤgli-
cher aber, daß meine geringe Aufmerkſam-
keit die Urſache meines Ungluͤcks war, ich
verlohr in einem Tage mein ganzes Geld,
rettete nur etwas weniges zur [fernern] Zeh-
rung, zur Ruͤckreiſe nichts. Eben ſaß ich
hier, rang nach Mitteln, wie ich der neuen
Verlegenheit ausweichen koͤnne, ſuchte mit
gierigem Auge einen Retter — —


Amalie (ihn ins Wort fallend). Und
fandeſt ihn in mir. Armer Wilhelm, Kum-
[119] mer und Mangel ſoll dich nimmer kraͤnken,
wenn du die Huͤlfe deiner Amalie nicht ver-
ſchmaͤhſt, ſie wuͤrdigſt, deine aͤchte Freun-
din zu ſein.


Wilhelm widerſprach, nahm aber end-
lich doch das Gold, welches ſie ihm mit dem
groͤßten Vergnuͤgen reichte. Schon auf dem
Spaziergange des Nachmittags ward uͤber die
Mittel, wie ſie ſich in Zukunft ungeſtoͤrt lie-
ben koͤnnten, mancherlei geredet. Wilhelm
bewies durch unumſtoͤßliche Gruͤnde, daß er
ihr ohne Gefahr ſeines Lebens nicht folgen
koͤnne, aber doch folgen wuͤrde, wenn ſie
ſich von ihm trennte. Amalie erkannte durch
dieſen Entſchluß die Groͤße ſeiner Liebe, und
verſprach ihm zu folgen, da er's nicht ver-
moͤge.


Die Liebenden ſahen ſich nun taͤglich, faſt
ſtuͤndlich, und wenn die alte Muhme feſt
[120] glaubte, daß die ihr anvertraute Tochter auf
dieſem oder jenem Balle in Zuͤchten und Eh-
ren tanze, ſo ſchlich dieſe, verfuͤhrt durch
heiſſes Flehen und Bitten, mit ihrem Wil-
helm nach ſeiner einſamen [Wohnung], ſchmach-
tete in ſeinen Armen, gewaͤhrte und genoß
die Fruͤchte der Liebe. Moͤglich, daß ſie
ſchon in dieſen gefahrvollen Stunden die hei-
ligen Lehren der Mutter vergaß, die ange-
nehme Stimme der Verfuͤhrung hoͤrte, und
dem Geliebten gewaͤhrte, was der Gatte nur
fordern ſoll; moͤglich, daß eben dieſe That
ſie ſo eng und feſt an ihn kettete, einer der
vorzuͤglichſten Bewegsgruͤnde war, daß ſie die
Mutter verließ, und mit ihm nach einem
fremden Lande fluͤchtete.


Genug, daß ſie dies that, und nach
Monatsfriſt mit ihrem Wilhelm im Hafen zu
—. landete. Da er ihr ſchon vorher erklaͤrt
hatte, daß zur Heurath eines Offiziers der
[121] Wille der Monarchin erfordert wuͤrde, da er
hinzu fuͤgte, daß ſie ſolchen nie gewaͤhre,
wenn die Braut nicht eignes Vermoͤgen be-
weiſen koͤnne, ſo hatte ſie ſchon von Luͤbeck
aus an ihre Mutter geſchrieben, und Wil-
helm hatte ſelbſt den Wechsler beſtimmt, wel-
chem das Geld geſchickt werden ſollte. Amalie
duldete es uͤberdies aus oben angefuͤhrten
Gruͤnden willig, daß ihr Geliebter bis
zu erhaltener Erlaubniß fuͤr ſie im abgelegen-
ſten Theile der großen Stadt eine Wohnung
miethete, und war zufrieden, wenn er ſie
nur oft beſuchte, und ihr einige Stunden des
Tags widmete. Ein neuer, wichtiger Grund,
bald Wilhelms Gattin zu werden, aͤußerte
ſich kurz nachher deutlich. Amalie fuͤhlte ſich
ſchwanger, und bat ihren Wilhelm dringend,
ſie fuͤr der nahen Schande zu retten, ſich
in Gottes und der Menſchen Gegenwart als
Vater des werdenden Kindes zu bekennen.


[122]

Dieſen gerechten Wunſch zu erfuͤllen,
nahm Wilhelm Urlaub, reiſte nach Luͤbeck,
um dort das Geld erheben, und dann unge-
hindert der Monarchin Erlaubniß fordern zu
koͤnnen. Amalie ſchied ungerne von ihm, nur
der Gedanke, daß die Reiſe der Frucht ihrer
Liebe ſchaden koͤnne, bewog ſie, ihn ruhig
daheim zu erwarten, ſonſt haͤtte ſie nichts
abgehalten, mit ihm zu reiſen. Seine Brie-
fe, welche ſie immer richtig erhielt, troͤſte-
ten ſie anfangs, waren aber bald der Stof
zu großem Kummer, als er ihr berichtete,
daß er zwar das Geld richtig erhoben, aber
wegen gefahrvollen Winden und uͤblem Wetter
die Ruͤckreiſe zu Lande unternehmen muͤſſe.


Erſt nach langen drei Monaten kehrte er
in ihre Arme zuruͤck, fand ſie jammernd und
weinend. Ihre Hausfrau, welche ſie freilich
nur fuͤr die Maitreſſe eines Offiziers nahm,
aber doch wegen ihres ſanften, ſtillen Ka-
[123] rakters und ihrer eingezogenen Lebensart eine
Art von Hochachtung gegen ſie fuͤhlte, hatte
in Wilhelms Abweſenheit Bekanntſchaft mit
ihr gemacht, und einige Wochen vor ſeiner
Ankunft, ſie oft laut und ſtark bedauert.
Da Amalie nach der Urſache dieſes ſonſt nie
geaͤußerten Mitleids forſchte, ſo geſtand ihr
jene, daß ſie vollen Grund dazu zu haben
glaube. Soll ich ſie nicht bedauern, ſprach
ſie, ſie ſitzen den ganzen Tag daheim, hof-
fen und harren auf die Ankunft ihres Gelieb-
ten, und waͤhnen nicht, daß er vielleicht nie
die Stadt verlaſſen, ſie wahrſcheinlich in den
Armen einer andern vergeſſen hat.


Amalie. Gott, das waͤre ſchrecklich.


Die Hausfrau. Schrecklich oder nicht
ſchrecklich, aber wahr bleibt's doch. Schon
vor fuͤnf Tagen ſah ich ihn auf dem Parade-
platz ſtehen, und heute, als ich vom Markte
[124] zuruͤckkehrte, fuhr er mit einem ſchoͤn gepuz-
ten Frauenzimmer in einem ofnen Wagen bei
mir voruͤber. Sein freundlicher Blick, mit
welchem er ſeine Gefaͤhrtin anſah, die laͤ-
chelnde Miene, mit welcher ſie ſeine Erzaͤh-
lung anhoͤrte, ſchien mir Beweis genug, daß
ihre Bekanntſchaft nicht erſt heute begonnen
habe.


Daß dieſe Schreckenspoſt tiefen Eindruck
auf Amalien machte, ſchrecklichen Jammer
uͤber die folgenden Tage und Naͤchte verbrei-
tete, wird jedes fuͤhlende Herz leicht einſe-
hen, wenn es ſich in ihre Lage verſetzt, nur
einige Minuten das toͤdtende Gefuͤhl zu em-
pfinden ſucht: Du gabſt ihm alles! Du biſt
ſchwanger und nun von ihm verachtet, ver-
laſſen! Ein Brief, welcher indeß von —.
datirt anlangte, der Amalien ſichere Hofnung
machte, daß der Verfaſſer in einigen Tagen
gewiß nachfolgen wuͤrde, verhinderte es noch,
[125] daß die ſelbſtmoͤrderiſchen Gedanken, welche
anhaltend mit ihr kaͤmpften, nicht zum Vor-
ſatze wurden.


Eben, als Wilhelm anlangte, hatte die
allzu geſchaͤftige Hausfrau ihr aufs neue er-
zaͤhlt, daß er in einem oͤffentlichen Garten
mit dem Frauenzimmer ſpazieren gegangen ſei,
daß ſie ihn mit dem Finger gedroht, und er
ſie veraͤchtlich angeblickt habe. Seine Gegen-
wart, ſein Erſtaunen, als Amalie ihm die
Urſache ihrer Thraͤnen erzaͤhlte, troͤſteten
bald die Leichtglaͤubige. Auch bewies der
Brief, welchen er ihr von der Mutter brach-
te, und das erhobne Geld nur allzu deutlich,
daß Wilhelm wirklich zu Luͤbeck war. Zwar
brachte er Amalien nur drei tauſend Thaler,
und hatte fuͤnfe erhalten, aber es ſchien ihr
ganz natuͤrlich, daß er ſolche, ob er gleich
uͤber Tauſend mit ſich genommen hatte, auf
der weiten Reiſe verzehrt habe. Der Brief
[126] ihrer guten, alles ſo willig verzeihenden Mut-
ter, die Ankunft ihres Geliebten, die Ver-
ſicherung ſeiner ewigen Trene waren ihr reich-
licher Erſatz fuͤr das wenige Geld, dem nach
der Mutter Verſicherung ohnehin das vaͤter-
liche große Erbtheil binnen einem halben
Jahre folgen ſollte. Ihr Herz hatte ſchon
lange keine Freude gefuͤhlt, es war begierig
nach dem reichen Genuſſe, es vergab und
verzieh willig, und duͤnkte ſich aufs neue in
den Armen des Geliebten gluͤcklich.


Freilich minderte ſich dies Gluͤck um ein
großes, als ihr Wilhelm entdeckte, daß er
keine Hofnung zur Erlaubniß der Heurath ha-
be, wenn er nicht deutlich beweiſen koͤnne,
daß ſeine Braut ſechs tauſend Thaler im Ver-
moͤgen habe; aber ihre uneigennuͤtzige Liebe
fand bald neuen Rath und Troſt, ſie oͤfnete
mit zufriedener Miene ihre Schatulle, legte
alle ihre Koſtbarkeiten und den groͤßten Theil
[127] ihrer Baarſchaft auf den Tiſch, und fragte
Wilhelmen laͤchelnd: Ob dies alles wohl den
Werth von ſechs tauſend Thalern ausmachen
werde? Wilhelm meinte, daß es wohl noch
mehr betragen koͤnne, und nahms auf ihre
Bitte uͤber ſich, die Koſtbarkeiten in baares
Geld zu verwandeln, und dann die vollen
ſechs tauſend Thaler nach gewoͤhnlichem Ge-
brauche bei der Kriegskaſſe zur Sicherheit und
zum Beweiſe im Namen ſeiner kuͤnftigen Gat-
tin verzinnslich anzulegen. Schon am an-
dern Morgen brachte er ihr die troſtreiche
Nachricht, daß er die Juweelen gut verkauft
habe, [und] nun hineile, um die Bittſchrift
mit allen erforderlichen Beweiſen verſehen
beim Kriegskollegium einzureichen. Freudig
klopfte Amaliens Herz, wenn er ihr dann
in der Folge oft die angenehme Nachricht
brachte, daß in einigen Tagen die Gewaͤh-
rung ſeiner Bitte erfolgen muͤſſe.


[128]

Eben ſprach er mit Amalien von ihrer
kuͤnftigen Einrichtung; wie ſie ruhig und
vergnuͤgt mit einander leben wollten, als ſein
Bedienter ihn aufſuchte, und ihm eilfertig mel-
dete, daß eben ein Hof-Lakei ihn in ſeiner
Wohnung geſucht habe, um ihm zu ſagen,
daß er morgen fruͤh im Kabinete der Monar-
chin erſcheinen ſolle. Beide verſchwendeten
nun die Zeit mit Muthmaßungen, und da
ſie keine wahrſcheinliche finden konnten, ſo
ward am Ende beſchloſſen, daß Amalie den
Ausgang ruhig erwarten, Wilhelm hingegen
ſo gleich nach erfolgter Audienz ſie beſuchen,
und von allem unterrichten wolle.


Obgleich Amalie ruhiges Harren gelobt
hatte, ſo durchwachte ſie doch ahndungsvoll
die lange Nacht, und blickte ihren Wilhelm
troſtlos an, als er mit ſichtbar verlegner
Miene zu ihr ruͤckkehrte.


Amalie.
[129]

Amalie (zitternd). Ich bin auf alles
gefaßt, und heiſche nur ſtrenge Wahrheit.


Wilhelm. Sie ſoll dir werden, doch
bitte ich dich vor allem, ſei ruhig! Meine
Bothſchaft kann wohl Verzoͤgerung, aber kei-
nesweges Vernichtung [unſrer] nahen Heurath
enthalten.


Amalie (traurig). Verzoͤgerung? Als
ob in dieſer nicht ſchon namenloſes Leiden fuͤr
mich laͤge.


Wilhelm. Es ſteht bei dir, ſie zu
vernichten.


Amalie. Bei mir? O dann biſt du
morgen mein auf ewig.


Wilhelm. Hoͤre und urtheile. Als ich
ins Kabinet der Monarchin trat, laͤchelte
Biogr. d. W. 3. B. I
[130] ſie ſanft. Ich hoͤre, ſprach ſie, er will heu-
rathen? Wenns Ew. Majeſtaͤt, antwortete
ich, gnaͤdigſt erlauben, ſo iſt's mein feſter
Wille. — — Nachdem ſie nach dem Namen
meiner Braut, nach ihrem itzigen und kuͤnf-
tigen Vermoͤgen geforſcht hatte, ſo begluͤckte
ſie mich mit ihrer Erlaubniß.


Amalie. O die Holde! O die Gute!


Wilhelm. So dachte auch ich, aber
ſchaudernd zog ſich's durch's Mark des Ruͤk-
kens, als ſie hinzu fuͤgte: Bring' er morgen
ſeine Braut zu mir, ich will mir das Ver-
gnuͤgen machen, ihr ſelbſt dieſe ſchriftliche
Erlaubniß einzuhaͤndigen, und in ihren Mie-
nen zu leſen: Ob ſie ihn recht innig und
zaͤrtlich liebt?


Amalie. War's dies alles? O ich gehe
ja gerne zu ihr. Mag ſie's dann auch ſehen,
[131] daß deine Liebe mich zur Gluͤcklichſten der
Sterblichen macht. Was ſchadet es?


Wilhelm. Es wuͤrde mein groͤßter
Triumph ſein, wenn dein jetziger Zuſtand
nicht zum offenbaren Verraͤther unſers ver-
trauten Umgangs wuͤrde, wenn dieſer nicht
vielleicht die Monarchin zum Zorne, wenig-
ſtens zur Ungnade gegen mich reizte.


Amalie. O Gott, daß ich dies vergeſ-
ſen konnte! Was ſoll ich nun beginnen? O,
warum uͤberlegten wir's nicht fruͤher, daß
dem uͤbereilten Schritte Strafe folgen muͤſſe.


Wilhelm. Noch iſt Abhuͤlfe moͤglich,
aber ich wiederhole es noch einmal feierlich,
daß ich ſie ohne deine Einwilligung nicht be-
nutzen werde. In der Eile und Verlegenheit,
in welche mich das Verlangen der Monarchin
verſetzte, fiel mir die vielleicht gluͤckliche Ent-
I 2
[132] ſchuldigung bei, daß ich meine kuͤnftige Gat-
tin ſogleich zu ihr fuͤhren wuͤrde, wenn ſie
bereits in der Reſidenzſtadt angelangt waͤre.
Es iſt moͤglich, fuͤgte ich hinzu, daß ſie bin-
nen Monatsfriſt, aber auch wahrſcheinlich,
daß ſie erſt in zwei oder drei Monden hier
ankommt. Nun, antwortete die Monarchin,
ſo hat's ja keine Eile! Wenn ſie ankommt,
ſo fuͤhre er ſie zu mir, und die Erlaubniß
ſoll ihr ſogleich werden. Ich dankte ehrfurchts-
voll, und eilte hieher, um dir alles zu er-
zaͤhlen, und dich nochmals zu verſichern, daß
es ganz allein von dir abhangen ſoll: Ob du
ſogleich und in deinem jetzigen Zuſtande vor
der Monarchin erſcheinen, oder die nahende
Entbindung abwarten willſt? Biſt du zum er-
ſtern entſchloſſen, ſo werde ich willig dir fol-
gen und nicht murren, wenn das ſcharfſich-
tige Auge der Monarchin mich ungnaͤdig an-
blicken wird. Behagt dir um deiner und mei-
ner Ehre willen die kleine Verzoͤgerung beſſer,
[133] ſo werde ich dir innig dafuͤr danken, dich
aber auch eben ſo eifrig bitten, mich dann
durch keinen Vorwurf zu kraͤnken, weil ich
dir freie Wahl goͤnnte, und es ganz bei
dir ſteht, heute ſchon wider Vermuthen hier
anzulangen, und morgen mit mir zur Mo-
narchin zu gehen.


Amalie. Nein, Theurer, nein! Ich
ſehe die Wichtigkeit deiner Gruͤnde ein, und
ehre ſie, ohne an einen Vorwurf zu denken.
Ich muß dir ja vielmehr danken, daß du
mich auf ſo gute Art aus der groſſen Angſt
und Verlegenheit retteteſt. Ich harre gedul-
dig, bis ich ohne Scheu vor den Thron der
Monarchin treten kann.


Wilhelm. Ehe du ſichern Entſchluß
faſſeſt, mußt du mich noch hoͤren. Die Ret-
tung wird gluͤcklich gelingen, aber — ich kann
und darf dir's nicht bergen — ſie iſt auch ge-
[134] fahrvoll. Oft ſpricht die Monarchin mit man-
chen der Hofleute uͤber verſchiedene Sachen,
oft erfaͤhrt ſie dadurch Dinge, die gar nicht
vor ihr Ohr kommen ſollten. Leicht und mehr
als wahrſcheinlich moͤglich iſt's daher, daß
ſie ſich bei einigen nach meinem Thun und
Laſſen erkundigt, daß dieſe erzaͤhlen, was
ſie wiſſen, und hinzufuͤgen, daß ich meine
meiſten Stunden bei einem Maͤdchen verlebe,
das ich zu heurathen gedenke. Dann wuͤrde
ſie meine Nothluͤge entdecken, Betrug ahn-
den, und ihre Guͤte ſich gewiß in immer-
waͤhrenden Zorn verwandeln.


Amalie. O allzu Vorſichtiger! Aber
nein, du haſt Recht, der Zufall iſt leicht
und moͤglich. Wie koͤnnen wir ihn abwenden?


Wilhelm. Daruͤber harre ich deines
Raths, der meinige, ob er gleich aufrichtig
ſein wuͤrde, koͤnnte dich an meiner Liebe
[135] zweifeln laſſen, und dann waͤre mein Gluͤck,
meine Wonne auf immer zerſtoͤhrt.


Amalie. Ich verſtehe den Wink, und
werde ihn nach Kraͤften benutzen. Du mußt,
ſo ſchwer es mir auch fallen wird, mich we-
niger, und unter dieſer Zeit nur im Geheim
beſuchen, damit die geſchwaͤtzigen Hofleute
nicht erzaͤhlen, was ſie nicht erfahren koͤn-
nen. Sprech ich ſo recht, wie du's forderſt?


Wilhelm. Wie's die Klugheit heiſcht,
aber der Liebende achtet ſie nicht, und ich
werde dich fleißiger als je beſuchen.


Amalie (ihn umarmend). Ich danke
dir fuͤr den Beweis deiner Liebe, es wuͤrde
mich aͤußerſt geſchmerzt haben, wenn du ihn
nicht geleiſtet haͤtteſt, aber ich fordere ihn
nicht, weil er dich und mich leicht ungluͤck-
lich machen koͤnnte. Du haſt Recht, ſtrenge
[136] Vorſicht iſt noͤthig, ich werde dich daher nur
Abends, und auch dann nur, wenn man
dich in keiner Geſellſchaft vermißt, bei mir
erwarten, und mich damit troͤſten, daß die
kurze Trennung dich mir auf ewig ſichern
wird.


Wilhelm hatte gegen dieſen Entſchluß,
ob er ihn gleich ſelbſt weiſe nennen mußte,
noch manches einzuwenden; aber er gab end-
lich der Vorſtellung ſeiner Geliebten nach,
und verſprach in Zukunft nur bei Nachtzeit,
nur verkleidet zu erſcheinen. Im laͤngern Ge-
ſpraͤche fand endlich Amalie noch uͤberdies, daß
die ganze Verzoͤgerung ein wahres Gluͤck fuͤr
ſie ſei, weil ſie, wenn auch die Heurath
noch ſo ſchnell vollzogen wuͤrde, doch nicht
haͤtte in Geſellſchaften erſcheinen koͤnnen, ſich
dort auf jeden Fall uͤbler Nachreden blosſtel-
len wuͤrde, weil der Tag ihrer Heurath je-
dem bekannt ſein mußte, ihre nahe Ent-
[137] bindung aber eben ſo wenig verborgen bleiben
konnte.


Ehe Wilhelm ſchied, rieth er ihr, daß
ſie ſobald als moͤglich von ihrer Mutter das
vaͤterliche Erbtheil heiſchen ſollte, damit ſie
nach erfolgter Entbindung mit mehr Pracht
in der Welt erſcheinen, und alle zum Be-
kenntniſſe zwingen koͤnne, daß ſie ihren Gat-
ten durch Liebe und Reichthum zum Gluͤcklich-
ſten der Sterblichen gemacht habe. Amalie
fand auch dieſen Rath gut und billig, ſie
ſchrieb ſchon am andern Tage an ihre Mut-
ter, Wilhelm trug den Brief ſelbſt auf die
Poſt, aber er ging, wie ſchon das Vorher-
gehende beweiſt, verlohren, kam wenigſtens
nicht in der Mutter Haͤnde.


Wilhelm beſuchte nun ſeine Amalie nie
mehr am Tage, und da er oft zum Abend-
eſſen geladen wurde, auch ſelten am Abende.
[138] Sie lebte ganz einſam, war zufrieden, wenn
ſie ihren Wilhelm wenigſtens nur die Woche
einmal ſah, und ſchoͤne Buͤcher leſen konnte,
die er ihr reichlich ſchickte.


Da Wilhelm der geſchwaͤtzigen Hausfrau,
welche ſeiner Amalie durch ihre ungegruͤndete
Erzaͤhlung ſo großen Jammer verurſacht hat-
te, im gerechten Ausbruche des Zorns ſehr
hart begegnet war, und nun mit Recht be-
ſorgen mußte, daß ſie aus Rache jeden ſei-
ner naͤchtlichen Beſuche in der Stadt verbrei-
ten und erzaͤhlen wuͤrde, ſo ſuchte er fuͤr
ſeine Amalie eine andere und beſſere Woh-
nung, fand ſie bald hernach, und Amalien
eben ſo willig, ſolche ſogleich zu beziehen;
denn auch ſie war mit dem Betragen ihrer
Wirthin unzufrieden, weil ſie oft noch be-
haupten wollte, was doch eine offenbare Un-
moͤglichkeit war. Sie war aͤußerſt vergnuͤgt,
als ſie in ihrer neuen Wirthin eine recht gute,
[139] gefaͤllige Hausfrau, und in ihren zwei Toͤch-
tern warme Freundinnen fand, die ſie mit
groͤßter Sorgfalt und Eifer bedienten, ieden
ihrer Wuͤnſche zu errathen und zu erfuͤllen
ſuchten.


Schon war Amalie ihrer Entbindung na-
he, als an einem Sonntage Nachmittags,
den ihre neue Wirthin ſammt ihren Toͤchtern
mit einer kleinen Spazierfahrt feierten, et-
was leiſe an ihre Thuͤre klopfte. Ihr Wil-
helm hatte ſie ſchon volle acht Tage nicht be-
ſucht, ſie hofte Nachricht von ihm zu erhal-
ten, oͤfnete ſie freudig, und trat verdruͤß-
lich zuruͤck, als ſich ihre ehemalige Wirthin
mit einem freundlichen Gruße hereindraͤngte.


Wirthin. Da ich eben hier vorbeiging,
und durch Zufall ihre Wohnung erfuhr, ſo
konnte ich mir's nicht abſchlagen, ſie ein we-
nig zu beſuchen. —


[140]

Amalie (gleichguͤltig). Es iſt mir ein
beſonderes Vergnuͤgen, ſie — —


Wirthin. Und zu ſehen: Wie ſie ſich
befinden? Wie ſie ſich bei der nun allgemein
bekannten Heurath benehmen?


Amalie (verwundernd). Heurath?


Wirthin. Ich finde ſie ruhig [und] ge-
laſſen! Das iſt freilich das beſte Mittel,
welches ſie beſonders in ihren jetzigen Umſtaͤn-
den ergreifen koͤnnen, aber recht und billig
iſt's doch nicht, daß er ihnen das Maul
machte, ſie aus den Armen ihrer Eltern ent-
riß, und endlich in dieſem Zuſtande ſitzen
ließ.


Amalie. Frau! Wollen ſie mir mei-
nen Verſtand, mein Leben rauben? Doch
ich kenne ſie ja! — — Womit habe ich's
[141] denn verdient oder verſchuldet, daß ſie ſich
ordentlich bemuͤhen, mein armes Herz ſo
grauſam zu quaͤlen?


Wirthin. Hab ich's nicht gedacht,
mir's nicht vorgeſtellt, daß ſie immer noch
hintergangen und betrogen werden, ſo will
ich nicht ehrlich ſein! Alſo wiſſen ſie wirklich
noch nichts?


Amalie. Was ſoll ich denn wiſſen?


Wirthin. Was die ganze Stadt weiß,
was ſie am meiſten betrift, und ſie doch nicht
erfahren haben. Aber ſie werden auch tref-
lich bewacht! — — Noch ruhen die ſchimpf-
lichen Namen, mit welchen mich der Herr
Offizier zu beehren beliebte, ſchwer auf mei-
nem Herzen, ich dachte: Kommt Zeit,
kommt Rath; ſie wird's einſt zu ſpaͤt er-
kennen, daß ich's gut mit ihr meinte!
[142] Itzt bin ich hier, um es ihnen zu be-
weiſen.


Amalie. Zu beweiſen? Madam! wenn
ſie dies koͤnnten!


Wirthin. O ich vermags nur allzu
gut, und wenn ſie mir folgen wollen, ſo
ſollen ſie in einer halben Stunde mit ihren
eignen Augen uͤberzeugt werden.


Amalie (haſtig). Ich will, ich will!


Wirthin. Nur muß ich ihnen zuvor
alles erzaͤhlen.


Amalie. Alles, ja alles!


Wirthin. Sie wohnen itzt in einem
Hauſe, das in der ganzen Stadt im uͤbel-
ſten Rufe ſteht. Ihre Wirthin hat keine
[143] Toͤchter. Dieſe und die Maͤdchen, welche
ſie immer beſuchen, ſind oͤffentliche Freuden-
dirnen, die ſich ungeſcheut der Wolluſt
weihen.


Amalie. Gerechter Gott! Nein, es
iſt unmoͤglich!


Wirthin. Sie ſollen uͤberzeugt wer-
den. Schon am andern Tage kannte und er-
fuhr ich ihre ſchoͤne, neue Wohnung, aber
ich dachte mir: was geht's dich an, viel-
leicht will ſie's ſelbſt nicht beſſer haben! Wenn
ich mich aber wieder erinnerte, daß ſie rei-
cher und rechtſchafner Eltern Kind waͤren, daß
ſie ſo innig und fleißig am Morgen und
Abende ihre Haͤnde zu Gott empor hoben,
ſo ward mir weh im Herzen, und ich be-
ſchloß, ſie einmal im Voruͤbergehen zu warnen.
So oft ich aber auch kam, ſo ward ich unter
mancherlei Vorwand abgewieſen, und nicht
[144] zu ihnen gelaſſen. Unter dieſer Zeit ward's
in der Stadt allgemein bekannt, daß ihr Ge-
liebter ein ſehr ſchoͤnes, aber nicht reiches
Hoffraͤulein heurathe, und bei Hofe, weil
ſie ein Liebling der Monarchin ſei, großes
Gluͤck machen werde.


Amalie. Nein, Nein! Das Geruͤcht
war falſch! Es iſt nicht moͤglich!


Wirthin. Hoͤren ſie nur weiter, und
denken ſie immer, daß ich ſie von allem zu
uͤberzeugen gekommen bin. Wenn ich dies
alles hoͤrte, ſo dachte ich immer an ſie, und
weihte ihnen manche Thraͤne. Ich erkundigte
mich nach allem genauer, erfuhr allezeit mehr
Gewißheit, und da ich ſelbſt im Hauſe, wo
das Fraͤulein wohnte, eine alte Bekanntſchaft
erneuerte, ſo ſah ich nicht allein den Herrn
mit dem Fraͤulein recht oft ſpazieren fahren,
ſondern hoͤrte auch, daß am verfloßnen Don-
nerſtage
[145] nerſtage die wirkliche Vermaͤhlung gefeiert
werden wuͤrde.


Amalie. O mein Herz! Mein armes
Herz!


Wirthin. Es koſtete mich Muͤhe und
Geld, mich mit eignen Augen zu uͤberzeu-
gen, ich draͤngte mich gluͤcklich in die Kapel-
le, ich ſah, wie ihr Geliebter das Fraͤulein
nach dem Altare fuͤhrte, und mit ihr auf
ewig verbunden ward. Die Monarchin, der
ganze Hof war gegenwaͤrtig, es wurde alles
praͤchtig gefeiert. Nach der Trauung fuhren
ſie nach Hof, und ſpeiſten an der oͤffentli-
chen Tafel; geſtern und vorgeſtern waren be-
ſondere Feſte auf einem Luſtſchloſſe vor der
Stadt; heute iſt Ball und Souper in dem
Hofgarten, wenn ſie mir folgen wollen, ſo
koͤnnen ſie dort die Neuvermaͤhlten ſehen, es
Biogr. d. W. 3. B. K
[146] aus aller Munde erfahren, daß ich keine Ver-
laͤumderin, keine Luͤgnerin bin.


Amalie. Ich will! — — Gott wird
mir Kraft verleihen! — Ich will mich uͤber-
zeugen! Ha, Ha! Das nagt! Das
ſchmerzt! — — (tritt ans Fenſter) Allmaͤch-
tiger! Du legteſt mir die Laſt auf, du wirſt
ſie mir auch tragen helfen! Kommen ſie,
kommen ſie! ich will mich von ſeinem Mein-
eide uͤberzeugen, und dann ihnen erſt recht
danken! — — Ach recht innig danken!


Sie ergrif nun ihren Mantel, und eilte
am Arme der Wirthin auf die Gaſſe. Oft
nahte ſich Ohnmacht, oft mußte ſie ruhen,
aber ſie ſprang immer wieder haſtig empor,
und wallte weiter. Als ſie in den Garten
kam, und die Menge Menſchen erblickte,
ſchiens ihr leichter zu werden. Sie ging [ru-
hig]
am Arme der Fuͤhrerin, und forſchte
[147] einigemal, wenn ihr die ſchreckliche Gewißheit
werden wuͤrde. Ihre Fuͤhrerin verſprach ſie
ſo bald als moͤglich, und drang mit ihr vor-
waͤrts nach dem Orangerieplatz, wo ſie das
Brautpaar zu treffen hofte. Auch fand ſie
ſolches bald.


Der wirklich ungetreue Boͤſewicht ſaß mit
ſeiner neuen Gattin auf einem erhabenen
Platze, er ſcherzte, taͤndelte mit ihr, und
begoß ihren Buſen mit Pomeranzen-Bluͤthen.
Die neugierige Menge ſtand gaffend in der
Tiefe, und unter dieſen auch Amalie, wel-
che ſich wankend auf den kraftvollen Arm ih-
rer Fuͤhrerin ſtuͤtzte. Fieberkaͤlte durchſchau-
derte ihre Nerven, durchbebte ihre Sin-
ne, und ſchuͤttelte ſie zur Empfindung, zum
Gefuͤhle empor. Sie ſah den Treuloſen mit
ſeiner Gattin ſcherzen, ſie hoͤrte ringsumher
die Menge ausrufen: Dies iſt ein ſchoͤnes,
aber auch ein gluͤckliches Paar! Sie fuͤhlte
K 2
[148] ſich betrogen, verlaſſen, ſie breitete verge-
bens ihre Arme aus, druͤckte ſie leer an ſich,
und ſank zu Boden.


Ihre Fuͤhrerin empfahl ſie der Aufſicht
der Naͤchſtſtehenden, und eilte, um einen
Wagen herbeizuholen, der ſie bis nach ihrer
Wohnung fuͤhren koͤnne. Indeß ſie nach die-
ſem umher rannte, erregte die Ohnmaͤchtige
Aufmerkſamkeit unter der Menge, alles reihte
ſich um ſie, und das vergnuͤgte Brautpaar
ſtieg hinab, um ebenfalls zu erfahren: Was
die Aufmerkſamkeit des Poͤbels mehr als ihr
Gluͤck reitzen koͤnne? Eine Ohnmaͤchtige! rief
Wilhelms Gattin mitleidig aus, und reichte
ihr Riechflaͤſchchen hin, um ſie damit zu wek-
ken. Eine Ohnmaͤchtige! ſtammelte Wilhelm
nach, und erkannte auf den erſten Blick die
hintergangene und betrogene Amalie. — Er
blickte aͤußerſt verlegen umher, und ſah zu
ſeinem groͤßten Vergnuͤgen, daß ſich eben
[149] Amaliens neue Wirthin mit ihren Maͤdchen
herbei draͤngte, welche die Ohnmaͤchtige auf-
hoben, und eilend forttrugen. Iſt's eine
ſolche! riefen viele aus, welche die Wirthin
kannten, dann haͤtten wir unſer Mitleid ſpa-
ren koͤnnen! Ja wohl! Ja wohl! antwor-
teten andere, und die Menge zerſtreute ſich
wieder, folgte nicht der Ohnmaͤchtigen, weil
man ſie des Mitleids und fernerer Geſellſchaft
unwuͤrdig achtete. Wilhelms Blick allein
folgte ihr, und kehrte erſt dann zufrieden
zuruͤck, als er ſah, daß man in der naͤch-
ſten Allee die Ohnmaͤchtige in einen Wagen
hob, und eilend davon fuͤhrte.


Er erdichtete am Abende Dienſtgeſchaͤfte,
um ſich auf ein kleines Stuͤndchen von ſeiner
Gattin zu trennen, und eilte in einen Man-
tel gehuͤllt nach Amaliens Wohnung, um dort
zu erfahren: wie es geſchehen konnte, daß
ſie ſeines [ausdruͤcklichen] Verbots ungeachtet
[150] ausgegangen, und bis in den Garten gedrun-
gen ſei? Die Wirthin, welche von allem,
was Wilhelm unternahm, nuterrichtet war,
und fuͤr ihr Stillſchweigen von ihm reichlich
bezahlt wurde, konnte ihm das Raͤthſel nicht
loͤſen, weil ſie ſogleich nach dem Eſſen mit
ihren Maͤdchen nach dem Garten gegangen war,
gar nicht vermuthen konnte, daß Amalie eben-
falls dahin kommen wuͤrde. Sie hatte ſolche
erſt dort ohnmaͤchtig am Boden erblickt, und
es fuͤr das rathſamſte geachtet, ſie ſo ſchnell
als moͤglich nach Hauſe zu fuͤhren.


Wilhelm billigte dieſe Vorſicht, aber er
tadelte auch um ſo ſtaͤrker die wenige Wach-
ſamkeit der Wirthin, die er doch ſo freige-
big bezahlt hatte. Er fragte nun: wie es
Amalien ergehe? Wie ſie ſich benaͤhme, und
was ſie ſpreche? Die Antwort der Wirthin
ließ ihm keinen Zweifel uͤbrig, daß Amalie
ſeine Heurath erfahren habe. Denn ſie hatte
[151] ſich zwar nur erſt ſeit kurzem aus der Ohn-
macht erholt, noch nichts Zuſammenhaͤngen-
des geredet, aber doch einigemale die Worte:
Verheurathet! Seine Gattin! ausgeſpro-
chen.


Der Treuloſe uͤberlegte noch lange mit
ſeiner ſchwarzen Gehuͤlfin: ob es nicht moͤg-
lich ſei, Amalien eines andern zu uͤberreden,
und kam mit der Erſtern endlich dahin uͤber-
ein, daß ſo wohl ſie, als ihre Maͤdchen,
jede beſonders und einzeln, ihr erzaͤhlen ſoll-
ten, daß man zwar ſogleich von ihrer Krank-
heit ihrem Geliebten Nachricht gegeben habe,
er aber erſt morgen erſcheinen koͤnne, weil
er ſchon ſeit drei Tagen das Vermaͤhlungsfeſt
einer Hofdame feiern helfe, zu ihrem Braut-
fuͤhrer ſei erwaͤhlt worden, und es ihr wahr-
ſcheinlich um deswillen verſchwiegen habe, da-
mit die Idee einer vollzogenen Heurath ſie
wegen der noͤthigen Verzoͤgerung der ihrigen
[152] nicht kraͤnken moͤge. Gelingt die Liſt, fuͤgte
der Boͤſewicht hinzu, ſo komme ich morgen
wieder, und ſuche ſie zu beſtaͤtigen, gelingt
ſie nicht, ſo muß ich andere Maasregeln er-
greifen, damit ich nicht durch ſie verrathen,
und in der Laufbahn meines Gluͤckes geſtoͤhrt
werde.


Am folgenden Morgen erſchien er aber-
mals bei der Wirthin, dieſe berichtete ihm
mit trauernder Miene, daß die Liſt der Er-
wartung nicht entſpreche. Sie ſagte, erzaͤhlte
ſie ihm, zwar nur ein einzigesmal: Nein,
nein! man betruͤgt mich nicht mehr! Aber
die Miene, mit welcher ſie die ganze Erzaͤh-
lung anhoͤrte, bewies deutlich, daß ſie kein
Wort davon glaube. Uebrigens, fuͤgte ſie
hinzu, lebe ich der ruhigen Hofnung, daß
keine weitere Liſt noͤthig ſein, und der Jam-
mer bald mit ihr enden wird. Sie liegt in
ihrem vollen Anzuge auf dem Bette, will
[153] nichts trinken, nichts eſſen, ſchlaͤgt oft ſtun-
denlang die Augen nicht auf, und hat ſich
im Anfalle des Schmerzes, der ſie itzt oft
ergreift, die Lippen ſchon ganz wund gebiſſen.
Treibt ſie's heute noch ſo fort, ſo endet's
morgen ſicher mit ihr. Um ſo beſſer, ſprach
der Gottloſe, ſo erſpare ich mir den Beſuch
bis auf andere Zeit, und trift ihre Vermu-
thung ein, ſo erwarte ich auf der Stelle
Nachricht. Der Bothe ſoll gut belohnt
werden.


Er ging alſo mit dieſer ſchrecklichen Hof-
nung von dannen, daß diejenige, welche ihm
alles gab, was ſie beſaß, welche ihm Vater-
land und Unſchuld opferte, bald enden, und
nicht vor Gerichte als einen Raͤuber und Moͤr-
der ihn anklagen wuͤrde! Es durchſchaudert un-
willkuͤhrlich meine Nerven, wenn ich mir ih-
ren Schmerz, und ſeine ſchwarze That den-
ke! Gerne wuͤrde ich an der Wahrheit der
[154] leztern zweifeln, und mich der Menſchheit
zu Liebe mit den Gedanken troͤſten, daß die
Sage die That vergroͤßerte, durch erdichtete
Nebenumſtaͤnde dunkler zu faͤrben ſuchte, aber
aller Troſt ſchwindet, und die That wandelt
ſich zur vollen Gewißheit, wenn ich mich des
ehrwuͤrdigen Greiſes erinnere, welcher mir
die ganze Geſchichte erzaͤhlte, fuͤr ihre Wahr-
heit buͤrgte, und mich dringend bat, ſie bald
bekannt zu machen, damit die unbefleckte Un-
ſchuld die Gefahr kennen lerne, und dem
Schmeichler nicht traue, nicht glaube, der
ſie ihr zu rauben ſucht.


Am folgenden Abende brachte ein Bothe
Wilhelmen die Nachricht, daß die Hofnung
ſich immer mehre, und aͤußerſt wahrſcheinlich
ſchon die folgende Nacht zur Gewißheit wer-
den wuͤrde. Er laͤchelte, und uͤberſandte der
Wirthin ein kleines Pulver, welches ſie Amalien
reichen moͤchte, wenn ſich der Anfall erneuere.
[155] Wie der Bothe zuruͤckkehrte, ging die Wir-
thin mit dem Pulver nach Amaliens Zimmer;
ſie und ihre Maͤdchen hatten vorher einige
Gaͤſte zu bewirthen gehabt, waren ſchon ſeit
einer Stunde nicht bei der Kranken geweſen,
und hielten's nicht fuͤr noͤthig, weil ſie ſtets
ſtill und meiſtens ſinnlos auf ihrem Bette
lag. Die Wirthin erſtaunte ſehr, als ſie
ſolche dort nicht mehr traf, vergebens nach
ihr das ganze Haus durchſuchte. Wilhelm
ward von dieſem neuen Zufalle ſogleich benach-
richtigt, forſchte vergebens ingeheim in der
ganzen Stadt nach ihr umher, durchlebte ei-
nige Tage in quaalvoller Angſt, vergaß aber
bald alles, als niemand ſie finden konnte,
und der Gedanke, daß ſie ſich wahrſcheinlich
im Fluſſe ertraͤnkt habe, immer mehr zur
Gewißheit wurde.


Wie's kam und geſchah, daß Wilhelm
ſo aͤußerſt undankbar, ſo grauſam an Ama-
[156] lien handelte, will ich itzt in Kuͤrze erzaͤh-
len. Alles, was Amaliens Vater von ihm
ſchrieb, war reine Wahrheit. Seine Mutter
ſtarb, als er auf der Univerſitaͤt zu —. ſtu-
dieren ſollte, aber die meiſte Zeit im Trun-
ke, Spiele und naͤchtlichen Schwaͤrmereien
verſchwendete. Eben hatte er ſeine akademi-
ſchen Jahre, aber keineswegs ſein Studium
vollendet, als ſein Vater ihm berichtete, daß
er naͤchſtens wieder heurathen, und es gerne
ſehen wuͤrde, wenn er zur Hochzeit nach
Hauſe kaͤme.


Schon war dieſe vollzogen, wie er auf
dem vaͤterlichen Schloſſe anlangte, er ſah ſeine
junge, ſchoͤne Stiefmutter zum erſtenmale,
fand ſie aͤußerſt reizend, und ſah, ſeinen
Grundſaͤtzen gemaͤß, den Namen, welchen
er ihr geben mußte, als gar kein Hinderniß
an, ſie innig zu lieben. Sein Vater liebte
die Jagd auſſerordentlich, und gab ihm volle
[157] Gelegenheit, der Stiefmutter Geſellſchaft zu
leiſten, ihr zu bekennen, was er fuͤhle. Ihr
Gatte war ſchon uͤber ſechzig alt, ſie mußte
ihn wider Willen ehelichen, ſein Sohn war
ein ſchoͤner, feuriger Juͤngling — — Urſa-
chen genug, um den Abſcheu zu tilgen, der
ihr Herz fuͤllte, als ſie zum erſtenmale hoͤr-
te, daß der Sohn ihres Gatten ſie liebe.
Er heiſchte Troſt, ſie gewaͤhrte ihn anfangs
ſchwach, bald ſtaͤrker, und endlich auf ſolche
Art, daß dem Verfuͤhrer nichts mehr zu
wuͤnſchen uͤbrig blieb. Der betrogene Vater
entdeckte bald die ſchreckliche That, er uͤber-
zeugte ſich [augenſcheinlich], verſtieß den unna-
tuͤrlichen Sohn, und vergab der flehenden
Gattin.


Wie ſich die Liebenden abermals ſahen und
fanden, kann ich nicht genau beſtimmen, aber
daß es geſchah, daß ſie in dieſen Zuſammen-
kuͤnften die Vergiftung des ungluͤcklichen Al-
[158] ten beſchloſſen, ſie dreimal auszufuͤhren ſuch-
ten, nur einmal halb vollendeten, iſt durch
gerichtliche Akten bewieſen.


Der aͤußerſt gekraͤnkte Alte ſchwieg nun
nicht laͤnger, er bemaͤchtigte ſich des in der
Naͤhe lauernden Sohns, und uͤberlieferte ihn
ſammt der ungetreuen Gattin dem Gerichte.
Dies ſprach uͤber beide das verdiente Todes-
urtheil aus, konnte es nur an der ungluͤck-
lichen Verfuͤhrten vollziehen, weil Wilhelm
wahrſcheinlich durch Huͤlfe einiger Univerſitaͤts-
freunde dem ſchmaͤhlichen Tode gluͤcklich ent-
rann.


Mit ſeiner nun folgenden Geſchichte habe
ich meine Leſer ſchon bekannt gemacht. Er
kam auf ſeiner neuen Flucht, die ihn von
Amaliens Seite trennte, bis nach —, fand
dort Unterſtuͤtzung, und erhielte wirklich eine
Lieutnantsſtelle. Ein Hoffraͤulein, deren
[159] Mutter ein Liebling der Monarchin war,
fand den neuen Offizier ſchoͤn, und dieſer
war bald kuͤhn genug, ihr ebenfalls zu ſagen,
daß er ſie aufs innigſte und zaͤrtlichſte liebe.
Die Art, mit welcher ſeine Erklaͤrung aufge-
nommen wurde, gab ihm gegruͤndete Hof-
nung, daß er nicht vergebens bitten werde,
durch ſolch eine Heurath ſich leicht in die
Hoͤhe ſchwingen koͤnne. Er verdoppelte ſeinen
Eifer, und dieſer ward bald mit dem Be-
kenntniſſe belohnt, daß man ihn wieder lie-
be, daß ſelbſt die Mutter eine Heurath mit
ihm nicht misbilligen wuͤrde, wenn er nur
wenigſtens Hauptmann ſein wuͤrde, und dann
ſo viel Vermoͤgen darthun koͤnne, als zur
Sicherſtellung des erforderlichen Wittwenge-
halts noͤthig waͤre. Fuͤr die Hauptmanns-
ſtelle, ſetzte die Geliebte hinzu, wird meine
Mutter bei erſter Gelegenheit ſorgen, fuͤr
das Geld muͤſſen ſie aber dann ſorgen, weil
meine Mutter außer der Gnade der Monar-
[160] chin kein großes Vermoͤgen beſitzt, und um
jener willen ihr Kind nicht ohne die geringſte
Ausſicht einer lebenslaͤnglichen Verſorgung
verheurathen darf.


Wilhelm hatte kein Vermoͤgen, noch
weniger eines von ſeinen Freunden zu hoffen,
aber er machte der Geliebten doch zu letztern
Hofnung, vermehrte dieſe bald durch erdich-
tete Briefe, weil er eine Zeitlang anhaltend
gluͤcklich ſpielte, und bei der Fortdauer die-
ſes Gluͤcks die erforderliche Summe bald zu-
ſammen zu bringen glaubte. Er ward kurz
nachher zum Hauptmanne ernannt, aber itzt
auch um ſo dringender von der Geliebten an
der Erfuͤllung ſeines Verſprechens erinnert.


Nicht um, wie er vorgab, das Geld
aus ſeinem Vaterlande abzuholen, ſondern
um in Spaa ſein Gluͤck im hoͤhern Spiele zu
verſuchen, nahm er im Fruͤhjahr Urlaub, und
hatte
[161] hatte dort eben ſeine ganze Baarſchaft ver-
ſpielt, als die ungluͤckliche Amalie ihn ſah
und fand. Daß ihm in dieſen Umſtaͤnden ihr
Anblick angenehm war, wird jeder ohne Ver-
ſicherung glauben, wenn ich noch hinzu fuͤge,
daß er ſie wirklich einſt liebte, und ſie nie
ganz vergeſſen konnte. Seinem eignen Ge-
ſtaͤndniſſe nach, fuͤhrte er ſie wirklich aus der
Abſicht nach — , um ſie zu heurathen, als
er aber dort anlangte, ſeine ehemalige Ge-
liebte ihn mit voller und inniger Liebe em-
pfing, aͤußerſt ſorgfaͤltig forſchte: ob er er-
fuͤllt habe, was er verſprochen hatte, und
mit empfindlicher Rache drohte, wenn er ſie
durch ungegruͤndetes Verſprechen am groͤßern
Gluͤcke hindere, da ward ſein falſcher Ehr-
geiz rege, er erdichtete eine lange Erzaͤh-
lung, die ſich damit ſchloß, daß ſein Va-
ter geſtorben ſei, und er erſt in einigen Mon-
den aus dem anſehnlichen Erbe die erforder-
liche Summe erheben koͤnne. Amaliens Gold
Biogr. d. W. 3. B. L
[162] ſetzte ihn in den Stand, der Geliebten an-
ſehnliche Geſchenke zu machen, und dadurch
ſeine Ausſage zu beſtaͤtigen.


Wie er nach Luͤbeck reiſte, um dort die
fuͤnftauſend Thaler zu erheben, war's ſchon
in ſeinem Herzen beſchloſſen, die Ungluͤckli-
che auf die ſchrecklichſte Art zu hintergehen,
und dies Geld zu der Heurath mit dem Fraͤu-
lein zu verwenden. Seine Neigung zum Spiele,
das er nicht genug kannte, haͤtte ihm bald
dieſer Ausſicht beraubt, aber die allzu gute
Amalie war guͤtig genug, die fehlende Sum-
me durch ihre Koſtbarkeiten zu erſetzen, deren
Werth weit hoͤher als jene war, und den Un-
empfindlichen in den Stand ſetzte, ſeiner
nunmehr erklaͤrten Braut einen Theil derſel-
ben zum Geſchenke zu verehren. Die Audienz
bei der Monarchin war ein Werk ſeiner Er-
dichtung, er wollte dadurch nur Amalien zur
Vorſicht und Verzoͤgerung der verſprochenen
[163] Ehe bewegen. Wie vollkommen ihm dieſe
Liſt gelang, habe ich bereits erzaͤhlt.


Noch hielt er's fuͤr noͤthig, nicht mit der
Ungluͤcklichen zu brechen, weil der Mutter
Brief ihm Hofnung machte, daß das anſehn-
liche vaͤterliche Erbe bald folgen wuͤrde, dies
wollte er erſt in Sicherheit bringen, und
dann die Verlaſſene, Betrogene, Entehr-
te — — Es faͤllt mir ſchwer, die Menſch-
heit durch Erzaͤhlung ſo ſchwarzer [Greueltha-
ten]
zu entehren! Es thut mir innig weh,
mein eignes Geſchlecht durch ofnes Bekennt-
niß zu brandmarken, aber die Wahrheit for-
derts, ich bin ihr zur Warnung aller dies
Opfer ſchuldig — — Der Boͤſewicht geſtand
es am Ende ſeiner Tage ſelbſt, daß er ſie
dann durch Gift zu toͤdten, um ſich von ih-
ren Vorwuͤrfen zu befreien, beſchloſſen hatte.


L 2
[164]

Jeder meiner Leſer wird nach dieſer Er-
zaͤhlung nun uͤberzeugt ſein, daß das Pul-
ver, welches er ihr nach der zu fruͤhen Ent-
deckung durch den Bothen uͤberſandte, ſicher
auch toͤdtendes Gift in ſich enthielt. Wohl
ihr, der ſchrecklichen Dulderin, wenn es fruͤ-
her angekommen waͤre, und ihr namenloſes
Leiden geendet haͤtte. Sie wuͤrde dann ent-
feſſelt vom irdiſchen Schmerze und Jammer
hinuͤber zum ewigen Lohne, der ihr nur fuͤr
ihre unendliche Quaal Erſatz ſein konnte, ge-
wandelt ſein.


Wilhelm lebte durch zwei Jahre mit ſei-
ner Gattin in einer hoͤchſt unzufriedenen Ehe,
man ſah ein, daß er mehr verſprochen hatte,
als er itzt erfuͤllen konnte, und dies gab oft
Anlaß zu Hader und Zanke, weil ſeine Gat-
tin eben ſo wie er zur Verſchwendung geneigt
war, [und] dieſe ſie ganz natuͤrlich in Schul-
den und Noth ſtuͤrzte, aus der eben die zu guͤ-
[165] tige Monarchin ſie retten wollte, wie des
Unerforſchlichen Gericht uͤber den Boͤſewicht be-
gann, der ganz ſicher uͤberzeugt zu ſein glaub-
te, daß Amalie ſchon laͤngſt geendet haͤtte,
ihn nie mehr zur Verantwortung ziehen wuͤrde.


Der Kronprinz ging einſt an einem ſchoͤ-
nen Sommerabende, in ſeinen Mantel ge-
huͤllt, ganz allein in den entlegenen Gaſ-
ſen der Stadt ſpazieren; wie er in die klein-
ſte derſelben einlenken wollte, ſah er zwei
Weiber an der Thuͤr des Eckhauſes ſitzen,
ſie waren im tiefen Geſpraͤche begriffen, und
erregten ſeine Aufmerkſamkeit dadurch, daß
ſie beide gefuͤhlvoll und theilnehmend weinten.
Er blieb an der Ecke ſtehen, und hoͤrte ih-
rem Geſpraͤche zu.


Gott wird's, ſprach die eine, doch einſt
ſchrecklich ſtrafen und raͤchen, ſie hat daher
vollkommen Recht, daß ſie ihm nicht vorgreift,
[166] nicht im Namen der Leidenden Klage erhebt,
die ſie doch nicht erweiſen kann, und am Ende
wohl gar in Schimpf und Schande ſtecken
bleibt. Genießt er, wie ſie mich verſichert,
die Protektion des Hofs, ſo kann ihm unſer
eins nicht ſchaden, aber wenn ich ihm einſt
begegne, ſo ſpeie ich doch vor ihm aus, und
denke mir in meinem Herzen: es giebt auf
der Welt keinen groͤßern Boͤſewicht, als du
biſt!


Dieſe wenigen Worte, welche dem Hor-
chenden gar nichts enthuͤllten, ſondern nur
zur naͤhern Entdeckung reizten, bewogen ihn,
ſich dem Platze zu naͤhern, den eben eine der
Frauen mit den gewoͤhnlichen Abſchiedsworten
verlaſſen hatte. Er gruͤßte die Ruͤckgebliebene
freundlich, ſprach vom Wetter und andern
gleichguͤltigen Dingen, und ſuchte am Ende
dem Ziele naͤher zu kommen. Aber die freund-
liche Alte blieb ganz verſchloſſen, nahm ihn
[167] fuͤr einen Spion, und beantwortete keine ſei-
ner Fragen. Schon wollte er ſich unbefriedigt
entfernen, als ein Buͤrger voruͤber ging,
den Kronerben erkannte, und ihn als dieſen
gruͤßte. Dieſer Gruß machte die Alte ſo-
gleich aͤußerſt redſelig, ſie verſprach ihm al-
les zu erzaͤhlen, wenn er ihr kleines Zimmer
mit einem Beſuche beehren wolle. Der Prinz
verſprachs, und folgte ihr nach.


Wenn meine Leſer in dieſer Alten Ama-
liens ehemalige, redliche Wirthin bereits er-
kannten, ſo muß ich ihnen offenherzig geſte-
hen, daß ſie ſich in ihrer Muthmaßung nicht
betrogen, und zu Frommen derer, welche
etwan einer entgegengeſetzten Meinung waren,
nur noch hinzufuͤgen, daß ſie es wirklich war.
Ich uͤbergehe die ganze Erzaͤhlung der Alten,
weil ſie meinen Leſern ohnehin bekannt iſt,
ich beginne nur, wo Amalie aus dem Hauſe
der ſchaͤndlichen Kuplerin entfloh.


[168]

Da ſchwere und ſchreckliche Verzweiflung
mit der Ungluͤcklichen kaͤmpfte, ſie die Laſt
des marternden Gefuͤhls nicht zu ertragen
vermochte, ſo rang ſie nach Luft und Huͤlfe,
ſprang raſch von ihrem Lager auf, kam unbe-
merkt aus dem Hauſe, und wandelte ohne
Plan, vielleicht auch ohne Bewuſtſein in den
Gaſſen umher. Die Hand des Ewigen —
denn Zufall und Ungefaͤhr darf ich dies nicht
nennen — fuͤhrte ſie vor dem Hauſe ihrer ehe-
maligen Wirthin voruͤber.


Dieſe hatte ſie lange vergebens im Gar-
ten geſucht, erſt ſpaͤter erfahren, daß ſie
wieder in die Klauen ihrer laſterhaften Wir-
thin gefallen ſei, und weihte ihr eben, vor
der Thuͤre ſitzend, einen theilnehmenden Seuf-
zer, als Amalie bei ihr voruͤber wankte.
Sie ſah ihr Leiden, ihre ſchreckliche Zerruͤt-
tung der Sinne, nahm ſie mitleidsvoll bei
der Hand und fuͤhrte ſie nach dem Zimmer,
[169] welches ſie ehe ſchon bewohnt hatte. Dort
pflegte ſie ihrer mit inniger Sorgfalt, eilte
nach Huͤlfe, als die ungluͤckliche Dulderin
bald hernach ein todtes Kind gebahr. Die
Geburt deſſelben war aͤußerſt ſchmerzhaft und
gefahrvoll, aber Amalie ſprach dieſe ganze Zeit
uͤber kein Wort, verrieth durch keine Miene
den ſchrecklichen Schmerz, welchen ſie dulden
mußte. Als man ihr den neugebohrnen, aber
auch todten Knaben zeigte, da laͤchelte ſie
freundlich, wollte ihn kuͤſſen, ſtieß ihn aber
haſtig von ſich, und fragte nie mehr nach
ihm. Die Folgen der ſchweren Geburt wa-
ren noch gefahrvoller, ſie kaͤmpfte oft mit dem
Tode, nur ihre jugendlichen Kraͤfte uͤberwan-
den ihn.


Als der Arzt ſie fuͤr geſund erklaͤrte, da
ward man erſt uͤberzeugt, daß ihr Ungluͤck
ihr den Verſtand geraubt habe. Sie aß und
trank gleich einer Geſunden, ſprach aber nie
[170] ein Wort mehr, und verrieth keine andern
Symptomen ihres Wahnſinns, als daß ihre
Rechte immer auf ihrem Herzen ruhte, ſie
mit dieſer oft den innern, wahrſcheinlich
ſtets nagendenden Schmerz herauszugraben
ſuchte, und dadurch oft ihre linke Bruſt ver-
wundete. Immer ſtarrte ihr Auge nach die-
ſem oder jenem Gegenſtande, nur dann,
wann ihre Wohlthaͤterin die Stimme ihres
Treuloſen nachzuahmen ſuchte, da ward ſie
aufmerkſam, und wenn irgend jemand den
Namen Wilhelm nannte, da fuhr ſie er-
ſchrocken empor, ſtarrte wild umher, und
wuͤhlte am Ende fuͤrchterlich und mit ſchmerz-
hafter Miene in der linken Bruſt, unter
welcher ihr betrogenes Herz klopfte.


Ich fand, endete die Wirthin, in ihrer
Taſche eilf Louisd'or, ich ernaͤhre ſie ſchon
durch volle zwei Jahre, gebe ihr willig zu
eſſen, was gut und theuer iſt, will mein
[171] weniges Vermoͤgen gerne zu ihrem Beſten
verwenden, ſo lange es dauert, aber wenns
endet, und ich die Ungluͤckliche nicht mehr un-
terſtuͤtzen kann, dann will ich ſie Gottes
Barmherzigkeit empfehlen, und zu ihm ſa-
gen: Stehe du ihr bei, ich that, was ich
vermochte!


Des edlen Prinzen Geſicht gluͤhte, er
wiſchte eine Thraͤne aus ſeinem Auge, und
verlangte die Ungluͤckliche zu ſehen. Alles
uͤberzeugte ihn, daß die Wirthin ſtrenge
Wahrheit geſprochen habe, ihr Zimmer war
ſauber, noch reinlicher ihr Bette und Klei-
dung. Sie ſaß in einem Lehnſtuhle, und
ſtarrte mit ihrem großen Auge nach einem
Bilde, das an der Wand hing. Ihre un-
nachahmliche, leidende Miene ruͤhrte das
Herz des Prinzen aufs aͤußerſte, er wollte
den Namen Wilhelm ausſprechen, er ver-
mochts nicht; druͤckte der Wirthin ſeine volle
[172] Boͤrſe in die Hand, und ſchied ſchweigend,
aber noch tiefer fuͤhlend.


Am andern Morgen ſandte er nach Wil-
helmen, der bereits Obriſter geworden war.
Sie werden mich begleiten, ſprach er mit
ernſtem Blicke, und ging nebſt zwei ſeiner Ad-
jutanten nach dem Hauſe, in welchem Amalie
duldete. Wie er in dieſes trat, blickte er
nach Wilhelmen um, der mit bleichem An-
geſichte folgte, Entdeckung und Strafe um
ſo mehr ahndete, weil die Wirthin den Prin-
zen als einen ſchon Bekannten bewillkommte.
Haben ſie Muth, ſprach der Prinz zu ihm,
mir weiter zu folgen? Wilhelm neigte ſich
zitternd und bebend.


Der Prinz. Haben ſie Muth mir zu
folgen? Ich fordere Antwort.


[173]

Wilhelm. Wenns Ew. Hoheit — —
befehlen! — —


Der Prinz. Sie werden kein Wort
ſprechen, ſich mit keinem Laute verrathen,
nur hoͤren und ſehen!


Er ging voran, Wilhelm folgte in der
Mitte der Adjutanten, der Prinz oͤfnete leiſe
die Thuͤre, und blieb unter dieſer ſtehen.
Amalie ſtarrte wie geſtern vor ſich hin, nur
ſchien ſie des Verraͤthers Gegenwart zu ahn-
den, denn ſie wuͤhlte mit ſchmerzhafter Mie-
ne in ihrem Buſen. Wilhelm ſtuͤtzte ſich auf
die Nebenſtehenden, welche, ohne ſeine Schuld
zu kennen, das Bild des Kummers und
Schmerzes theilnehmend anſtaunten.


Dies iſt ihr Werk, das Meiſterſtuͤck ih-
res Herzens! ſprach der Prinz im unterdruͤck-
ten aber grimmigen Tone zu Wilhelmen, und
[174] lehnte die Thuͤre leiſe zu. Oder iſt's nicht
ſo? fragte er weiter. Koͤnnen ſie die That
entſchuldigen? — —


Wilhelm war uͤberraſcht, der Leidenden
Anblick hatte ſein Herz getroffen, und ihm
die Verſtellungskraft geraubt, er konnte nicht
antworten, nicht laͤugnen.


Prinz. Und deine Strafe, Boͤſewicht?
— — Etwann dieſer Rock der Ehre? — —
(Wilhelm ſank zu ſeinen Fuͤſſen nieder) Um
der Unſchuldigen willen, die du gleich ihr lok-
teſt, will ich nicht dein oͤffentlicher Anklaͤger
werden, aber wenn du nicht noch heute frei-
willige Entſagung deines Dienſtes einreichſt,
nicht morgen ſchon die Hauptſtadt, und in
drei Tagen meiner Mutter Reich verlaͤßt, ſo
werde ich Strafe fuͤr eine That finden, fuͤr
welche das Geſetz keine beſtimmte, weil es
den Menſchen derſelben nicht faͤhig achtete.
[175] Ich wuͤrde nebenbei von dir Erſatz fuͤr die
Ungluͤckliche fordern, wenn du ihr Ehre und
Verſtand wieder zu geben vermoͤchteſt. Geh,
und wenn dich Verzweiflung quaͤlt, ſo ſei
dies dein einziger Troſt, daß ich der Ver-
laßnen Vater ſein, ihr Leiden nach Kraͤften
mildern werde.


Wilhelm. Großmuͤthigſter der Sterbli-
chen! Verzeihung! Erbarmung!


Prinz. Mit dir? (bitter lachend) Sie
werde dir, wie du ſie gabſt! Meide mein
Angeſicht, erfuͤlle die Bedingung, oder ich
werde auch der Verlaßnen Raͤcher!


Auf ſeinen Wink mußten die Adjutanten
den Obriſten hinabfuͤhren, er wankte fort,
kam am Abende ſchon um ſeinen Abſchied ein,
und verſchwand am andern Tage aus der Re-
ſidenz. Viele, welche ſeine Umſtaͤnde kannten,
[176] meinten, daß er der vielen Schulden wegen
entflohen ſei; ſelbſt ſeine Gattin war dieſer
Meinung, und troͤſtete ſich bald uͤber ſeinen
Verluſt, weil ſie ihn laͤngſt nicht mehr liebte.
Nur einige wenige erfuhren die wahre Urſa-
che, und ehrten im Stillen die Gerechtigkeit
des Prinzen, der ſeine Mutter ſelbſt bat,
ihr bereits gegebnes Wort zu erfuͤllen, und
die unſchuldigen Glaͤubiger des Entflohnen zu
bezahlen.


Ehe der edle Prinz das Haus der Dul-
derin verließ, trat er ins Zimmer ihrer wohl-
thaͤtigen Wirthin, und forſchte genau: wie
viel ſie fuͤr die anſtaͤndigſte Pflege, Wartung
und Koſt der Ungluͤcklichen des Jahrs hindurch
fordere? Die Gnuͤgſame heiſchte zweihundert
Thaler, der Prinz gab ihr eine Anweiſung
auf vierhundert, welche ſie jaͤhrlich aus ſeiner
Kaſſe erheben ſollte, und als er am Abende
ſeiner erhabnen Gattin die ruͤhrende Geſchichte
ver-
[177] vertraute, ſo legte dieſe ſogleich noch jaͤhrlich
zweihundert Thaler dazu. Die Wirthin ward
dadurch in den Stand geſetzt, ſich ganz dem
Dienſte der Leidenden zu widmen, ihr uͤber-
dies noch eine eigne Waͤrterin zu halten.


Aber hienieden bluͤhte kein Gluͤck fuͤr die
Ungluͤckliche, hienieden konnte ihr fuͤr namen-
loſes Leiden kein Lohn werden, ſelbſt die vaͤ-
terliche Fuͤrſorge des erhabnen Herrſchers ward
ihr in der Folge Stof zu neuem Leiden. So
ernſtlich der Prinz auch allen die zugegen wa-
ren, Stillſchweigen auferlegt hatte, ſo we-
nig ward doch ſein Gebot erfuͤllt, weil man
ihn aufrichtig liebte, und gerne dem Volke
im Voraus kund machen wollte, welch ein
gerechter Fuͤrſt es einſt regieren wuͤrde. Alle,
die dieſe Geſchichte erfuhren, wuͤnſchten auch
die Leidende zu ſehen, und unter dieſen gabs
ſehr viele, welche zugleich erfahren wollten:
was fuͤr einen Eindruck der Name Wilhelm
Biogr. d. W. 3. B. M
[178] auf die arme Wahnſinnige mache? Sie ſpra-
chen ihn daher oft in ihrer Gegenwart aus,
und Amalie wuͤhlte dann anhaltend in ihrem
Buſen, verwundete ihre Bruſt ſo ſtark, ſo
oft, daß bald ein unheilbarer Krebs an ihr
nagte, und, aller Huͤlfsmittel ungeachtet,
ihr Leben unter den ſchrecklichſten Schmerzen
endigte.


Das edle Paar beweinte den Tod der
Ungluͤcklichen, als es ſolchen erfuhr, und die
gutherzige Wirthin genoß bis an ihr Ende
den jaͤhrlichen Gehalt zum Lohne.


Vor zehn Jahren ward zu B— der An-
fuͤhrer einer Raͤuberbande vor Gerichte ge-
ſtellt, zehne ſeiner Mitſchuldigen ſtarben auf
ihn, und beſchuldigten ihn graͤßlicher Thaten,
er allein laͤugnete jede derſelben, uͤberſtand
[179] die Schmerzen der Folter, und bekannte
nichts. Als man aber ſeines Laͤugnens unge-
achtet das Urtheil uͤber ihn ausſprach, ihn
wirklich zur Richtſtatt fuͤhrte, und er den
Henker mit dem Rade in der Hand auf ſich
harren ſah, da ward ſein Herz erweicht, er
verſprach alles und noch weit mehr zu beken-
nen, und ward zuruͤckgefuͤhrt.


Es war Wilhelm, aus ſeiner freiwilligen
Ausſage habe ich dieſe Geſchichte geſammlet,
die Luͤcken derſelben gefuͤllt. Er hatte ſich An-
fangs nach ſeinem Abſchiede aus — wieder
dem Spiele gewidmet, noch einige unſchul-
dige Maͤdchen verfuͤhrt und betrogen, wurde
in manchem Lande verbannt, geaͤchtet, und
machte endlich mit Raͤubern Bekanntſchaft,
die ihn ſeiner Faͤhigkeiten wegen bald zu ih-
rem Oberhaupte waͤhlten. Neunzehn Men-
ſchen bluteten unter ſeiner mordenden Hand;
M 2
[180] ihm wurden ſechs Tage zur Reue, zur Ver-
ſoͤhnung vom Gerichte bewilligt. Er bete-
te andaͤchtig, [duldete] reuemuͤthig hienie-
den die gerechte, verdiente Strafe, und
dort — — —


Allmaͤchtiger, richte du! Ich darf, ich
vermags nicht!


[181]

Marie L...


Wenn dumpfer Glockenſchlag vom Thurme
herab einen Leichenzug verkuͤndigt, da wird's
mir immer zu enge im Gemache, ich eile ins
Freie, und ſtarre dem Zuge nach, welcher
den Vollendeten zu Grabe begleitet. Todes-
gedanken fuͤllen dann mein Herz, die unlaͤug-
bare Gewißheit, daß man auch mich einſt zur
Verweſung hinuͤber tragen werde, ſteht feſt
vor meinen Sinnen, vor meiner Seele.
Wallt eine zahlreiche Menge hinter dem Sar-
ge, ſehe ich haͤufige Thraͤnen fließen, und
leſe in jedem Geſichte das ſchmerzhafte Ge-
fuͤhl des Verluſtes, ſo wuͤnſche ich eben ſo
zu ſterben. Es ſcheint mir dann ſo ſuͤß, ſo
[182] lohnend, die Achtung ſeiner Mitbruͤder und
Freunde mit hinuͤber zu nehmen, es beweißt
ſo deutlich, daß der Vollendete Menſchen-
und Freundes-Pflicht redlich erfuͤllte, und
izt noch den lezten Lohn erndet, der ihm
hienieden werden konnte.


Traͤgt man aber eine Mutter zu Grabe,
und ſehe ich hinter ihrem Sarge kleine Kin-
der wallen, die ihren großen Verluſt noch
nicht fuͤhlen, angſtvoll umherblicken, und
ſich durch angenehmere Gegenſtaͤnde zu zer-
ſtreuen ſuchen. Ach! dann blutet mein Herz,
dann bleibt mein Blick feſt an den Ungluͤckli-
chen hangen, die alles — alles verlohren ha-
ben! Wer wird ſie warten und pflegen? Wer
uͤber ſie wachen? Wer jedes Ungluͤck und Un-
gemach von ihnen entfernen? Vertraut die
armen Waiſen der Tugendhafteſten, der Red-
lichſten auf Erden. Sie hat, ſie kanns nicht
haben das ſorgfaͤltige, zaͤrtliche, nie ſchla-
[183] fende Gefuͤhl der wahren Mutter, es iſt ein-
zig in der Natur, es iſt anhaltender In-
ſtinkt, der nie ſich mindert, aber auch nicht
nachahmen laͤßt. Die armen, verlaßnen Kin-
der werden es fruͤh genug fuͤhlen, daß ſie
keine Mutter haben! Sie gleichen der Blu-
me, welche im engen Raume eines Topfes
bluͤht, ſie waͤchſt und gedeiht, aber nicht
gleich jener, welche die Mutter Erde in ih-
rem Schooſe ernaͤhrt.


Urtheile ich unbillig? Ein Beiſpiel, das
ich aus tauſend aͤhnlichen waͤhle, ſoll's ſtaͤr-
ker beweiſen.


Marie war die Tochter eines Landkraͤ-
mers, der ſich und ſeine treue Gattin durch
emſigen und redlichen Fleiß wohl ernaͤhrte.
Sie gebar ihm drei Kinder, und ſtarb, als
ſie ihn mit dem vierten erfreuen wollte.
Marie war die aͤlteſte unter ihren Geſchwi-
[184] ſtern, und noch nicht ſechs Jahre alt, als
man ihre gute Mutter zu Grade trug. Ihr
Vater fuͤhlte den Verluſt der geliebten Gat-
tin tief, tiefer als viele andere, weil ſie
ihm drei unerzogene Kinder hinterließ, und
ſein kleiner Handel ihm nicht erlaubte, da-
heim zu ſitzen, und die Verlaßnen zu pfle-
gen.


Um ihnen eine neue Mutter zu geben,
ſuchte er eilend unter den Toͤchtern des Lan-
des eine zweite Gattin, nicht wahre, aͤchte
Liebe, ſondern Nothwendigkeit beſtimmte
ſeine Wahl. Sein Herz trauerte noch um die
Verlohrne, es war dieſem gleichguͤltig, wel-
che er waͤhlen wuͤrde, ſein Verſtand rieth ihm
nur, eine fleißige und gute Wirthin zu ſu-
chen, er glaubte ſie in der Tochter eines be-
nachbarten Kraͤmers zu finden, und zog nach
vier Wochen ſein Trauerkleid aus, um ſie
als ſeine Frau heimfuͤhren zu koͤnnen.


[185]

Beim erſten noͤthigen Abſchiede empfahl
er ihr mit naſſem Blicke ſeine Kinder, ſie
verſprach Erfuͤllung, aber ſie vergaß nur all-
zu bald ihrer Zuſage. Es waren nicht ihre
Kinder, ihr Herz fuͤhlte keinen Drang zur
nothwendigen Pflege, ſie vernachlaͤßigte ſol-
che auf eine auffallende Art, und wie der
Vater wiederkehrte, hatte man Mariens
juͤngſte Schweſter ſchon begraben.


Wohl ihr, ſprach der Vater im wehmuͤ-
thigen Tone, wohl ihr, ſie ruht an ihrer
Mutter Seite! Bald uͤberhaͤufte er aber die
hartherzige Stiefmutter mit verdienten Vor-
wuͤrfen, als alle Nachbarn ihm einſtimmig
erzaͤhlten, daß Mangel an Pflege den Tod
des Kindes befoͤrdert habe. Der Friede ſei-
ner Ehe ward dadurch maͤchtig geſtoͤhrt, ſeine
zweite Gattin widerſprach anhaltend und ſtark,
reizte ſeinen Zorn oft ſo maͤchtig, daß er ſie
mit Schlaͤgen zum Stillſchweigen zwang.


[186]

Weh dem Manne, Weh der Frau und
tauſendfaches Weh uͤber jede Ehe, in welcher
Schlaͤge den Kampf der haͤußlichen Zwiſtigkei-
ten entſcheiden! Friede und Eintracht, die
einzigen Stuͤtzen der Ehe, weichen dann un-
aufhaltſam von dannen, Haß [und] Zwietracht
bereitet ſich eine ſichere Wohnung, und ladet
alle Freunde, eine ungeheure Zahl, zum
Mitgenuſſe ein.


Um ſeines Lebens wieder froh zu werden,
zog der betrogene Gatte aufs neue ſeinem Ge-
werbe nach, kehrte nur ſelten heim, und
blickte ſeufzend zum Himmel, als er einſt
ſeinen einzigen Sohn, einen lieben, mun-
tern Knaben, nicht mehr hienieden fand.
Ende nur, Ende! ſprach er voll Schmerz
zu ſeiner Gattin, du wirſt es dort einſt ſchwer
verantworten muͤſſen!


[187]

Daß Vorwuͤrfe dieſer Art die unempfind-
liche Stiefmutter noch mehr zum Zorne reiz-
ten, kann man ſich leicht vorſtellen, ihre
Begierde nach Rache ſuchte Nahrung, und
fand ſie darinn, wenn ſie jedes geringe Ver-
brechen der kleinen Marie mit unnachſichtli-
cher Strenge beſtrafen konnte. Dieſe duldete
im Stillen, weinte freilich oft ingeheim auf
ihrer Mutter Grab, beſaß aber doch Muth
und Staͤrke genug, die barbariſche Behand-
lung ihrer Stiefmutter zu ertragen. Sie
fand in der Folge, daß Schmeichelei der lez-
tern Zorn ſtillen koͤnne, und muͤhte ſich an-
haltend, ihr dieſe reichlich zu zollen; da-
durch gewann ſie endlich das Herz der Uned-
len, ward beſſer von ihr behandelt, und
verſicherte dem heimkehrenden Vater, daß es
ihr auch in ſeiner Abweſenheit wohl ergehe.


Der erfreute Vater ſuchte ſich nun wie-
der mit ſeiner Gattin zu verſoͤhnen, aber
[188] ſeine Muͤhe gelang nicht, ſie haßte ihn herz-
lich und wuͤnſchte ihn oft ingeheim den Tod.
Sie zeugte kein Kind mit ihm, und nahm
dies immer zum Vorwande, wenn ihre an-
haltende, verdrießliche Laune Stof zu neuen
Zaͤnkereien gab.


Marie war itzt ſchon ſiebzehn Jahr alt,
und ſollte eben, auf ihre eigene Bitte, kuͤnf-
tiges Jahr als Magd in die Dienſte eines
Bauern treten, als ein kleines Kavallerie-
kommando, um die verbotene Getraideaus-
fuhr zu hindern, ins Dorf verlegt wurde.
Die Soldaten kamen oft in den Laden, wel-
cher in Mariens Hauſe zum Verkaufe offen
ſtand. Sie nannten die Kraͤmerin ſchoͤn, und
dieſe war eitel genug, dieſe gemeine Schmei-
chelei durch wohlfeilen Kauf zu vergelten.
Ein junger Unterofficier bewies ſich unter al-
len am eifrigſten, er kam oft, ohne etwas
zu kaufen, ſcherzte, taͤndelte, und ward
[189] von der eitlen Kraͤmersfrau bald ſtark und
innig geliebt. Ich will nicht unterſuchen, ob
er nur aus eigennuͤtziger Abſicht oder aus
wahrer Neigung dieſe Liebe erwiederte, ge-
nug, daß er das leztere behauptete, und bald
Lohn in Menge erndete.


Um ungehindert mit ihrem Liebhaber bu-
len zu koͤnnen, lud ſie ihn oft zum Beſuche
ein, und um Mariens moͤglichen Verrath zu
hindern, ſuchte ſie die Unſchuldige in aͤhnli-
che Netze zu verwickeln. Auf ihr Verlangen
brachte der Liebhaber die juͤngſten und ſchoͤn-
ſten Soldaten mit ſich, welche ſich eifrig muͤh-
ten, in Mariens Herzen Liebe zu wecken.
Sie war wirklich reizend und ſchoͤn, und da-
her ſchon der Muͤhe werth, die dieſe rohen
Seelen an ihr verſchwendeten.


Lange kaͤmpfte, lange widerſtand Marie,
endlich unterlag ſie den Schwuͤren und Ver-
[190] ſicherungen eines Einzigen, der ihr anhal-
tend nachſchlich, ihr die Moͤglichkeit bewieß,
daß er ſie heurathen, und in ſeiner Heimath
mit ihr zufrieden und gluͤcklich leben koͤnne.
Sie geſtand ihm Gegenliebe, ſie erlaubte
ihm Kuͤſſe, vergalt ſogar einige derſelben,
aber ſie kaͤmpfte wacker, und ſtieß ihn mu-
thig von ſich, wenn der Kuͤhne mehr noch
fordern wollte.


Die leichtſinnige, treuloſe Stiefmutter
hoͤrte dieſe Nachricht mit innigem Verdruſſe;
um — es iſt ſchaͤndlich, aber wahr — um
Mariens ſchlafende Begierden zu wecken,
hatte ſie oft in ihrer Gegenwart den Liebha-
ber Gunſtbezeugungen gewaͤhrt, die ihre Un-
treue an ihrem Ehemanne nur allzu deutlich
beſtaͤtigten; izt nahte bald die Zeit ſeiner
Heimkehr, ihr grante vor Entdeckung, ſie
vermuthete ſogar, daß Marie blos deswegen
ſo wacker kaͤmpfe, um ungeſcheut Verraͤthe-
[191] rin werden zu koͤnnen, und wandte daher
alles an, den Fall der Ungluͤcklichen zu be-
foͤrdern. Sie leitete den Kuͤhnen einſt ſelbſt
zur Nachtszeit nach der Schlafkammer des
anvertrauten Kindes, und frohlockte mit in-
niger Schadenfreude, als ſie nachher uͤber-
zeugt ward, daß ihre Schandthat gelungen
ſei.


Die ungluͤckliche Marie fuͤhlte ihren Fall
tief, ſie ſah die hoͤlliſche Liſt ihrer Stiefmut-
ter ein, ſie erfuhr ſie ſelbſt durch den wirk-
lich liebenden, izt bereuenden Liebhaber, und
troͤſtete ſich mit der moͤglichen Hofnung, daß
er wenigſtens ſein Verſprechen halten, und
ſie heurathen wuͤrde. Er erneuerte dies Ge-
luͤbde noch oft, als aber die Ausfuhr des
Getraides wieder erlaubt ward, und die
Soldaten nach ihrem Standquartiere ruͤckkehr-
ten, da ward auch an ihr das Spruͤchwort
erfuͤllt, daß ein Soldat in einem jeden Staͤdt-
[192] chen ein anderes Maͤdchen waͤhle. Er gelobte
beim Abſchiede, ihr ſtets zu ſchreiben, er
erfuͤllte ſein Geluͤbde nie, beantwortete kei-
nen ihrer Briefe, in welchen ſie ihm in der
Folge ihren ungluͤcklichen Zuſtand entdeckte,
und vergebens um Mitleid und Huͤlfe flehte.


Die betrogne Ungluͤckliche konnte ihn nicht
vergeſſen, das Pfand ſeiner treuloſen Liebe
ruhte unter ihrem Herzen, mit jedem Mor-
gen ahndete ſie Entdeckung, und mit dieſer
das Ende ihres guten Rufs, die Verachtung
aller Redlichen des Dorfs. Ihre Stiefmut-
ter, welche am leichteſten ihren Zuſtand arg-
wohnen konnte, entdeckte ihn auch zuerſt.
Sie ſprach troͤſtend mit der Leidenden, zeigte
ihr Wege und Mittel, wie ſie der [drohen-
den]
Schande ausweichen koͤnne, und wollte
ſie eben unter einem erdichteten Vorwande
zu einer entfernten Anverwandtin ſenden, als
der Vater unverhoft heimkehrte.


Ein
[209[193]]

Ein ſcharfer, anhaltender Blick welchen
dieſer am andern Morgen auf Marien warf,
vernichtete ihre Verſtellung, ſie ſtuͤrzte ſchluch-
zend zu ſeinen Fuͤſſen nieder, bekannte ihr Ver-
brechen und flehte um Mitleid. Er fuͤhlte ſein
und ihr Ungluͤck tief, aber er vergab, und wil-
ligte nicht in den Plan, welchen die Stiefmut-
ter entworfen hatte, und izt erneuerte.


Was ich und du ſo leicht entdeckten,
ſprach er, kann dem ganzen Dorfe nicht
mehr verborgen ſein, man wuͤrde groͤſſere
Verbrechen ahnden, wenn ſie ſich entfernte,
und ihr noch ſtaͤrkere Verachtung bereiten. Sie
muß bleiben, und mags der ganzen Welt be-
weiſen, daß ſie eine ſorgloſe Stiefmutter hatte!


Im ganzen Dorfe behauptete man anfangs
mit Recht, daß die Kraͤmersfrau es mit den
Soldaten halte, und ihres Mannes Ehre ver-
kaufe; als man aber Mariens Zuſtand — wie
Biogr. d. W. 3. B. N
[210[194]] der Vater weislich vorausſah — ſchon laͤngſt
entdeckt hatte, da ſchwand dieſe Nachrede, ie-
der glaubte nun, daß die leichtfertige Tochter
die Soldaten ſo oft ins Haus gelockt, und da-
durch ihren Fall ſelbſt befoͤrdert habe.


Man erzaͤhlte dieſe Meinung dem Vater
offen, man bedauerte ihn, daß er ein ſo unge-
rathnes Kind habe, und gab dadurch der liſti-
gen Stiefmutter die herrlichſte Gelegenheit,
nicht allein ihren guten Ruf zu retten, ſondern
auch durch erdichtete und heimliche Verlaͤum-
dung das Herz des Vaters von ſeinem ungluͤck-
lichen Kinde abzuwenden. Sie erzaͤhlte und
bewies ihm durch hundert geſchaͤftige Zeugen,
daß ſie dieſen Umgang nicht geduldet, die Toch-
ter oft vergebens gewarnt habe.


Marie, welche dieſe ſchreckliche Liſt nicht
ahndete, duldete die Vorwuͤrfe ihres Vaters,
die oͤffentliche Verachtung der Dorfbewohner im
[211[195]] Stillen, und achtete ſie fuͤr eine natuͤrliche Fol-
ge ihres ungluͤcklichen Falls. Weh thats ihrem
Herzen freilich, daß der Vater, welcher ihr An-
fangs ſo unbedingt vergab, izt ſeine Vorwuͤrfe
ſo hart und anhaltend erneuerte, und nach ei-
nigen Wochen ohne Seegen, ohne Abſchied wie-
der von ihr ſchied, aber der heimliche Troſt der
Stiefmutter, daß ſich dies alles aͤndern wuͤrde,
und vorzuͤglich das Bewuſtſein, daß ſie ohne
Vorſaz gefallen ſei, hielt ſie im Sturme auf-
recht.


Am Abende vor ihrer Niederkunft, wie ſie
eines nothwendigen Geſchaͤftes wegen uͤbers
Dorf ging, ward ſie von einem Haufen muth-
williger Buben aͤuſſerſt gekraͤnkt, ſie entfloh ih-
rem ſchrecklichen Spotte mit Muͤhe, und weinte
die ganze Nacht hindurch troſtlos. Fruͤh ward
ſie mit einer Tochter entbunden, und genoß die
Freuden einer Mutter im aͤuſſerſt kargen Maaſe.
Neue Kraͤnkungen verbitterten ihr ſolche auf
N 2
[212[196]] die ſchrecklichſte Art. Keiner der vielen Dorf-
bewohner wollte Pathe des Kindes werden, ie-
der entſchuldigte ſich mit kraͤnkendem Spotte,
nur mit vieler Muͤhe beredete man einen ar-
men Tagloͤhner, dieſe nothwendige Pflicht zu
erfuͤllen. Auch dieſer war hart genug, wie er
das Kind auf ſeine Arme nahm, in Gegenwart
der leidenden Mutter zu ſprechen: Komm, ar-
mes Wuͤrmchen, komm! Da wir dir deinen
ehrlichen Namen nicht geben koͤnnen, ſo wollen
wir wenigſtens einen Chriſten aus dir machen!


Dieſe hartherzige Rede fuͤllte Mariens
Herz mit unausſprechlichem Jammer. Ihre
Stiefmutter raͤumte, als alle weggegangen wa-
ren, eben das Zimmer auf. Die troſtloſe Ma-
rie ſprach hart mit ihr, und bewies — was ſie
noch nie gethan hatte — mit unumſtoͤßlichen
Gruͤnden, daß ſie ihr allein dies Ungluͤck, dieſen
Jammer zu danken habe, nie gefallen ſein wuͤr-
de, wenn ſie ihren Fall nicht vorbereitet haͤtte.


[213[197]]

Verdiente Vorwuͤrfe erbittern das Herz
des Laſterhaften am meiſten, er kann ihnen
nichts, als ungeſtuͤme Wuth entgegenſetzen.
Dies war auch hier der Fall, die Stiefmutter
gebot Stillſchweigen, die Tiefgekraͤnkte ſchwieg
nicht, und die Grauſame ſchleuderte im Anfalle
der Wuth eine Schuͤſſel voll Waſſer, die ſie
eben in Haͤnden hatte, nach ihr hin. Die
Schuͤſſel flog voruͤber, aber das Waſſer beſpriz-
te Marien heftig, ſie ſank ohnmaͤchtig zuruͤck,
erwachte zwar nach anhaltender Bemuͤhung
wieder, aber ihr Verſtand war auf immer ver-
lohren.


Groß muß ihr Leid, tief ihr Jammer ge-
weſen ſein, wenn mit dem Verſtande nicht auch
Gefuͤhl und Empfindung des Ungluͤcks entfloh,
denn man achtete anfangs ihren Wahnſinn fuͤr
Verſtellung, und ſuchte dieſe durch die bitter-
ſten Vorwuͤrfe, durch die haͤrteſten Mittel zu
entfernen. Endlich uͤberzeugte man ſich von
[214[198]] der ſchrecklichen Wahrheit, und uͤberließ ſie
nun, ohne Huͤlfe zu verſuchen, dem Raube des
Wahnſinnes.


Ihr Kind ſtarb nach zehn Wochen, ſie hat-
te es zaͤrtlich geliebt, aber ſie ſahs ohne Ruͤh-
rung, ohne Thraͤne zu Grabe tragen. Viel-
leicht goͤnnte ihr der Wahnſinn die gluͤckliche Ue-
berzeugung, daß es ihm jenſeits beſſer, als in
dieſem Jammerthale, ergehen wuͤrde.


Anfangs ſprach ſie ſelten und aͤuſſerſt we-
nig, ſaß mit ſtarrendem Blicke in einem finſtern
Winkel des Zimmers, arbeitete gar nichts, for-
derte aber auch nie Speiſe oder Trank. Man
machte dem Vater ihr Ungluͤck kund, er eilte
zur moͤglichen Huͤlfe herbei, aber ſie wurde
vergebens verwendet. Tiefe Reue und innigen
Schmerz fuͤhlte der Alte, als ihn ſein ungluͤck-
liches Kind nicht mehr kannte, ihn mit Verach-
[215[199]] tung von ſich ſtieß, ſtets ſeinen Anblick floh, nie
mit ihm ſprach.


Wie ſich der Fruͤhling nahte, die Baͤume
gruͤnten und bluͤhten, ſchien ſichs mit Marien
zu beſſern, ſie ward mit einmal luſtiger, puzte
ſich ſtets ſo gut, ſo ſchoͤn, als ſies vermochte,
aber bald artete dieſer Putz in Karikatur aus,
jeder hellgefaͤrbter Lappen wurde von ihr begierig
ergriffen, und ohne Unterſchied zu ihrem Putze
verwandt. Sie ſuchte nebenbei jedes Stuͤckchen
leeres Papier zu erhaſchen, beſchrieb's mit ſinn-
loſen Worten, und verſiegelte es ſorgfaͤltig.


Dieſe Veraͤnderung dauerte einige Mona-
te, ſie ſprach in dieſer Zeit immer noch aͤuſſerſt
wenig, that ſehr geheimnißvoll, begegnete allen
mit ſichtbarem Stolze, und laͤchelte mitleidig,
wenn man dieſen Stolz ruͤgte. Wenn ſie ſich,
ihrer Einbildung nach, recht auszeichnend und
ſchoͤn gepuzt hatte, ſo ging ſie im Dorfe umher
[216[200]] ſpatzieren, gruͤßte jeden mit einem gnaͤdigen
Kopfnicken, machte ſich aus einem breiten
Blatte einen Faͤcher, und ſah es ſehr gerne,
wenn die loſen Dorfjungen als Bediente hinter
ihr her ſchritten, oder gar den Schlepp ihres
Kleides trugen.


Einſt kam ſie athemlos mit einem groſſen
beſchriebenen Papiere nach Hauſe, und machte
es allen Anweſenden kund, daß ihr Geliebter
ſich im Kriege hervorgethan habe, General ge-
worden ſei, und naͤchſtens im Dorfe erſcheinen
wuͤrde, um ſie als ſeine Gemahlin nach der
Stadt zu fuͤhren. Dieſe Idee, welche ſie wahr-
ſcheinlich ſchon lange im Stillen beſchaͤftigte,
blieb nun unausloͤſchbar vor ihrer Seele ſte-
hen, war der Urſtoff aller ihrer Reden und
Handlungen. Sie ſtand jeden Tag mit der
Gewißheit auf, daß ihr Gemahl heute an-
kommen wuͤrde, und legte ſich mit der feſten
Ueberzeugung nieder, daß er morgen erſchei-
[217[201]] nen wuͤrde. Sie verſchwendete jeden Vormit-
tag zu ihrem Putze, der oft aͤuſſerſt uͤbertrie-
ben war, oft auch nachahmungswuͤrdige Er-
findungskraft verrieth. Sie ging jeden Nach-
mittag ihrem Geliebten entgegen, und kehrte
ohne Trauer am Abende zuruͤck, wenn er
ganz natuͤrlich nicht erſchien. Ihre geſchaͤf-
tige Einbildungskraft ſchuf ſich einen kleinen
Karren zur Kutſche um, in welchem ſie oft
viele Stunden im vollen Staate ſaß, und es
jedem Jungen mit dem freundlichſten Blicke
lohnte, wenn er ſie darinne ſpazieren fuͤhrte.


Als ſie eben ein Haufe wilder Jungen
auf dieſe Art ſpazieren fuͤhrte, und ſie auf
eine hoͤchſt uͤbertriebne Art mit hundert
Lappen behangen und gepuzt war, reiſte
ich in Geſchaͤften durchs, Dorf, und kehrte
im Wirthshauſe zur Mittagszeit ein. Ma-
riens Karren ward nahe bei mir voruͤberge-
zogen, ſie ſprang eilend herab, und naͤherte
[218[202]] ſich mir mit hofnungsvollem, aber auch er-
wartungsreichem Blicke. Ich ſtand, ahndete
und fuͤhlte. Lange betrachtete mich die Un-
gluͤckliche ſpaͤhend und pruͤfend, endlich begann
folgendes Geſpraͤche.


Marie. Kommen Sie von der Armee?


Ich. Nein, liebes Kind!


Marie. (mit verachtungsvollem
Blicke)
Liebes Kind? Mit wem glaubt der
Herr wohl zu ſprechen? Ich bin die Frau
Generalin von Ebsdorf, ich erwarte ſtuͤnd-
lich meinen Gemahl, und wollte mich nur
erkundigen: Ob er (ſie legte einen be-
leidigenden Nachdruck auf dieſes Er)

ſeiner Suite nicht begegnet ſei?


Ich (mich faſſend) Nein, meine
Gnaͤdige, ich war nicht ſo gluͤcklich.


[219[203]]

Marie (ſehr freundlich und ge-
ſpraͤchig)
O es iſt ein ſchoͤner, junger, al-
lerliebſter Herr! Man kann's wahrlich ein
Gluͤck nennen, wenn man ihn kennen lernt!
Er hat mich ſchon gefunden, und blos aus
Liebe geheurathet. Ich bin nur eines armen
Kraͤmers Tochter aus dieſem Dorfe, aber ich
lebe doch, wie ſie leicht ſehen koͤnnen, voll-
kommen meinem Stande gemaͤß. Mein lie-
ber Gemahl laͤßt es mir an nichts gebrechen.
Er haͤlt mir Pferde, Wagen und Bediente
in Menge. Ich habe ihm ſchon ein ſchoͤnes,
allerliebſtes Fraͤulein gebohren, er liebt es
raſend, und hat's zu ſich genommen. Das
gute Kind muß ſchon recht groß gewachſen
ſein; ich erwarte ihn und ſie mit groͤßter
Begierde.


Ich konnte nicht antworten, das Gefuͤhl
ihres ungluͤcklichen Zuſtands nagte an mei-
nem Herzen, ſie nahm mein Stillſchweigen
[220[204]] fuͤr Bewunderung ihrer Schoͤnheit. Ja, ja,
ſprach ſie laͤchelnd, ſchoͤn bin ich, das haben
noch alle, die mich ſahen, willig geſtanden.
Ich wuͤnſche ihnen gluͤckliche Reiſe, und, wenn
ſie etwann ihrer Frau entgegen reiſen, ſo
bitte ich, ſie in meinem Namen zu gruͤſſen.


Sie ging wieder nach ihrem Karren, und
laͤchelte huldreich auf mich herab, als ihn
die Buben voruͤberzogen. Ich ſtarrte ihr lan-
ge nach, endlich trat der Wirth herbei, und
erzaͤhlte mir ihre ganze Geſchichte. Wie ich
fortreiſen wollte, ſaß ſie in meinem Wagen,
und wollte, ungeachtet aller Vorſtellung des
Wirths, nicht weichen. Mir that's weh, als
er ſie mit Gewalt heraushob, ſie ſchimpfte
ſchrecklich, als ich in den Wagen ſtieg, und
verſicherte mich, daß es ihr Gemahl raͤchen
wuͤrde.


Erſt nach acht Jahren fuͤhrte mich mein
Schickſal wieder durch dieſes Dorf. Meine
[221[205]] erſte Frage war nach Marien. Sie lebte
nicht mehr, hatte einige Monate vorher ihr
Jammerleben vollendet. Haͤufiger Widerſpruch
hatte ſie am Ende raſend gemacht, ſie war,
mit Ketten belaſtet, geſtorben. Die Idee
ihres Wahnſiuues wich auch in der Todes-
ſtunde nicht, als der Prieſter zu ihr ins Zim-
mer trat, ſtreckte ſie ihre Arme nach ihm
aus, rief: Mein Gemahl, biſt du da? und
verſchied!


Ihr Vater war ſchon vorher geſtorben.
Kummer uͤber ſeine ungluͤckliche Tochter, und
ſpaͤtere Ueberzeugung, daß ihre Stiefmutter
wuͤrklich die ganze Urſache ihres Ungluͤcks
war, hatte ſeinen Tod befoͤrdert. Niemand
weinte an ſeinem Grabe, denn ſein Kind,
welches er, ungeachtet ſeines Wahnſinnes,
zum Erben ſeines Vermoͤgens eingeſezt hat-
te, fuͤhlte ſeinen Verluſt nicht, und die
treuloſe Gattin war frech genug, ihre Freude
[222[206]] uͤber ſeinen Tod auch nicht an ſeinem offnen
Sarge zu verbergen. Sie heurathete bald
hernach einen jungen Tagloͤhner, der Mariens
Ungluͤck an ihr im vollen Maaſe raͤchet, ihr
jeden Tag durch ſaure Arbeit, durch harte
Schlaͤge verbittert.


Heil mir, wenn die Abſicht, aus wel-
cher ich dieſe kleine Geſchichte erzaͤhlte, nicht
unbelohnt bleibt! Heil mir, wenn ich unter
den vielen Tauſenden nur ein Maͤdchen vor
Verfuͤhrung warne, und es ihm einleuchtend
darſtelle, daß dieſer ſtets Ungluͤck ohne Zahl,
Jammer ohne Ende folgt; daß ſie alle an-
genehmen Ausſichten des Lebens vernichtet,
alle Hofnungen toͤdet, und die Gefallne zur
immerwaͤhrenden Dulderin und Buͤſſerin ver-
urtheilt. Praͤge dir dies feſt ein, liebes
Kind, und uͤberhuͤpfe dieſe große Wahrheit
nicht mit leichtſinnigem Blicke!!!


[223[207]]

Das Hoſpital der Wahnſin-
nigen zu P.


Wie ich zu P — in H — wohnte, mach-
te mich mein guͤnſtiges Geſchick mit dem wuͤr-
digen und verdienſtvollen Arzte bekannt, wel-
chem das in dieſer Stadt erbaute große Hos-
pital der Wahnſinnigen zur Leitung und Auf-
ſicht anvertraut war. Wir ſprachen oft von
dieſen Ungluͤcklichen. Ich ſah's ſo gerne,
wenn Hofnung zur Geneſung in ſeinem Auge
glaͤnzte, und hoͤrte es mit groͤßtem Vergnuͤ-
gen, wenn er wuͤrklich durch Kunſt und raſt-
loſe Bemuͤhung dem ſchrecklichen Wahnſinne
ein Opfer entriſſen, den Geretteten wieder
in die Arme ſeiner Verwandten und Freunde
ruͤckgeſandt hatte.


[224[208]]

Seine Erzaͤhlungen weckten Verlangen in
mir, das Haus des Jammers in ſeiner Ge-
ſellſchaft beſuchen zu duͤrfen, und er war ſo
gefaͤllig, mir meine Bitte zu gewaͤhren. Mein
Herz ſchlug ſtaͤrker, meine Bruſt athmete hef-
tiger und ſchneller, als ein Thuͤrhuͤter die
verſchloßne Pforte oͤfnete, und wir in einen
großen, mit hohen Mauern umgebenen Vor-
hof eintraten.


Es war ein heiterer, warmer Fruͤhlings-
tag, mehr als zwanzig, meiſtens noch junge
Maͤnner, wallten darinne auf und nieder.
Keiner ſprach mit dem andern, alle ſchritten
tiefdenkend umher, ſprachen mit ſich ſelbſt,
oft laut, oft nur mit ansdrucksvoller Pan-
tomime. Keiner ſchien die Waͤrme der wohl-
thaͤtigen Fruͤhlingsſonne zu fuͤhlen, oder An-
theil zu nehmen am Wiedererwachen der ge-
nußreichen Natur. Zwei derſelben muͤhten
ſich ſogar, jedes Bluͤmchen auf einem großen
Ra-
[209] Raſenplatze zu vernichten, und von einer
Hollunderſtaude, welche in einer Ecke gruͤnte,
die Blaͤtter abzupfluͤcken, und mit einem deut-
lichen Rachegefuͤhl am Boden zu zertreten.
Wahrſcheinlich war's oͤde und wuͤſte in ihrem
Herzen, wahrſcheinlich konnte ihr Auge, das
finſterer Wahnſinn truͤbte, die gruͤnende Hof-
nung nicht ertragen.


Ich uͤberblickte mit traurigem Gefuͤhle die
große Anzahl der Wallenden, und fragte mei-
nen Fuͤhrer haſtig: Ob dieſe alle der fuͤrch-
terliche Wahnſinn mit ſeinen ſchwarzen Fit-
tigen decke? Sein trauriges Ja mehrte mein
Mitleid, aber aͤchte, theilnehmende Freude
fuͤllte mein Herz, als er mich mit dem fe-
ſten Tone der Ueberzeugung verſicherte, daß
er von allen dieſen noch Beſſerung hoffe, und
raſtlos an ihrer Geneſung arbeite.


Biogr. d. W. z. B. [O]
[210]

Wir traten vorwaͤrts; viele gruͤßten uns
laͤchelnd und freundlich, nur einige gingen
mit trotziger und finſtrer Mine voruͤber.


Eben wollte ich nach der Urſache dieſes
auffallenden Unterſchieds forſchen, als mir
mein Freund erzaͤhlte, daß ihm der finſtere
Blick der Wenigen weit beſſer, als der
freundliche Gruß der Uebrigen behage. Er-
fahrung, ſprach er, hat mich uͤberzeugt,
daß baldige Geneſung erfolgt, wenn ſich der
arme Kranke vor mir verbirgt, oder mich
mit finſterm, zuruͤckſchreckendem Blicke be-
willkommt. Er fuͤhlt, er ahndet eine Ver-
aͤnderung ſeines Zuſtandes, er trennt ſich
hoͤchſt ungerne von ſeiner Lieblingsidee, ſieht
ein, daß meine Arzenei dieſe Veraͤnderung
verurſacht, haßt und flieht beide, weil der
Kampf der ruͤckkehrenden Vernunft nur ſchwach
beginnt, und der ſtaͤrkere Wahnſinn noch
ſtets den Sieg erringt.


[211]

Im Hintergrunde des Vorhofes ſtand
ein großer, runder Thurm vor meinem Blik-
ke. Kleine, vergitterte Fenſter, das dum-
pfe Kettengeraſſel, welches daraus ertoͤnte,
gaben ihm das Anſehen eines Gefaͤngniſſes,
und bewieſen zugleich, daß man Wahrheit
geahndet habe. Ich ſchauderte zuruͤck, als
mir mein Freund kund machte, daß in die-
ſem Gefaͤngniſſe nur ſchuldloſe Menſchen
ſchmachteten, welche meiſtens ohne Hofnung
die Beute des Wahnſinnes waͤren, oft hart
gefeſſelt werden muͤßten, damit ſie im An-
falle der Raſerei nicht ihre Wohlthaͤter und
Waͤrter ungluͤcklich machten.


Nie fuͤhlte ich's lebhafter, als izt: Welch
ein koſtbares Kleinod die Vernunft ſei! Nur
ſie unterſcheidet den eingebildeten, ſtolzen
Menſchen vom reiſſenden, grimmigen Thiere!
Ohne ſie muß er, gleich dieſem, um un-
ſchaͤdlich zu ſein, mit Ketten belaſtet und im
O 2
[212] Kerker verwahrt werden! Allmaͤchtiger, guͤ-
tiger Schoͤpfer! Sie iſt das Meiſterſtuͤck dei-
ner Allmacht, ein Theil deines goͤttlichen Ur-
ſtofs, und doch — O daß ich nicht Anklaͤger
meiner Mitbruͤder werden muͤßte! — und
doch achtet man dein unſchaͤzbares Geſchenk ſo
wenig! Eine namloſe Menge ſpielt und taͤn-
delt mit ihr gleich einer Puppe, giebt ſie
den wilden Leidenſchaften zum Raube, und
laͤßt ſie ſchmachten und mißhandeln unter ih-
rer Geiſſel! Nur wenige ſchaͤtzen, bilden ſie,
und ſuchen durch ſie zu ſchoͤpfen im Meere
der hoͤhern Kenntniſſe, ſich an ihrer Hand,
der Urquelle des aͤchten Gluͤcks, zu nahen.
O daß meine Stimme der Staͤrke meines Ge-
fuͤhls gleichen moͤchte, ſie wuͤrde wie Poſau-
nenruf des lezten Gerichts durch die weite
Welt ertoͤnen, und jedem Bewohner derſelben
zurufen: Menſch! achte den Werth deiner
Vernunft! Ohne ſie gleichſt du dem Loͤwen,
welchen man im eng vergitterten Kaſten zur
[213] Schau umher fuͤhrt. Ohne ſie biſt du un-
dankbarer, als ein Hund, der die naͤhrende
Hand ſeines Wohlthaͤters dankbar lekt!


Der Arzt fuͤhrte mich durch die Thuͤre
des Thurms nach einem großen, runden, aber
ſehr reinlichen Saale. Ich ſtand zoͤgernd an
der Thuͤre ſtille. Staͤrkeres Geraſſel der
Ketten und ſchallende, zakende Stimmen
ſchreckten mich zuruͤck. Mein Auge blickte
furchtſam in die Hoͤhe, aus welcher beides
herab ertoͤnte.


Ein breiter Gang, zu welchem in einer
Ecke des Saals eine kleine Wendeltreppe em-
por fuͤhrte, lief rings in der Mitte ſeiner
Hoͤhe an der Wand umher. Ich ſah in die-
ſer viele kleine Gemaͤcher, in welche man
durch den Gang gelangen konnte, aller Thuͤ-
ren ſtanden offen, aus welchen hie und da
ein armer Wahnſinniger mit ſcheuem, oft
[214] fuͤrchterlichem Blicke hervorgukte, und dies
ſchreckliche Laͤrm verurſachte.


Dieſe Ungluͤcklichen waren meiſtens nur
mit einem langen, leinenen Hemde bekleidet,
weil ſie, nach der Verſicherung des Arztes,
keine andere Kleidung duldeten. Ihre Fuͤſſe
waren mit Ketten belaſtet, welche ſie hin-
derten, den Gang zu betreten, nur, wenn
ſie den Kopf vorwaͤrts bogen, konnten ſie
aus ihrem kleinen Gemache herausgucken.


Als mich endlich der Arzt vorwaͤrts fuͤhr-
te, traten noch mehrere in die Thuͤre ihres
Gemachs, ſprachen laut, ſchnell, aber un-
verſtaͤndlich, und winkten uns, naͤher zu
kommen.


Zwei noch junge, ſehr ſauber und an-
ſtaͤndig gekleidete Offiziere gingen ganz allein
und ohne Ketten mit in einander geſchlagnen
[215] Armen im Saale auf und nieder. Ihr Blick
hing am Boden, ſie ſchienen uns nicht zu
ſehen, wenigſtens nicht zu achten. Mein
Blick folgte ihnen, mein Herz war gepreßt,
es ſuchte und hofte Erleichterung, indem ich
meinen Freund fragte: Ob dieſe nicht auch
bald geneſen wuͤrden?


Nie! antwortete der Arzt im feſten To-
ne der Ueberzeugung. Nie! wiederholte er
mit einem Seufzer, ſie werden bis ans Ende
ihres Lebens ſo auf und niederwallen, immer
Plane zur Befoͤrderung ihres eingebildeten
Gluͤcks entwerfen, und ſie doch nicht ausfuͤh-
ren koͤnnen! O es ſind aͤuſſerſt merkwuͤrdige
Menſchen, fuͤgte er hinzu, wenigſtens ſpielt
hier die Natur ſehr geheimnißvoll und eben
ſo wunderbar. Haͤtte ich nicht ſelbſt ſo oft
die Simpathie, ſamt allen ihren Wuͤrkungeu
mit Macht und Kraft beſtritten, ich wuͤrde
[216] hier einen der ſtaͤrkſten Beweiſe ihres Da-
ſeins finden.


Dieſe Rede machte mich aufmerkſam, ich
forſchte weiter, und fand meinen Freund wil-
lig, ſich naͤher zu erklaͤren.


Dieſe beiden Offiziere, erzaͤhlte er mir,
ſtanden zu verſchiedner Zeit in der Reſidenz-
ſtadt eines kleinen Fuͤrſtenthums auf Werbung.
Am Hofe deſſelben lebte eine junge, ſehr rei-
che und eben ſo ſchoͤne Dame, beide verliebten
ſich heftig in ſie, beide liebten hofnungslos,
wurden melancholiſch und endlich wahnſinnig.
Ihr hartes Schickſal brachte ſie hier zuſammen.
Es iſt ſicher und erwieſen, daß ſie ſich vorher
nie ſahen, nie kannten, denn, wie der Groſ-
ſe, Hagere ſchon hier als ein Wahnſinniger
ſchmachtete, ward der Kleinere erſt von einem
ganz andern Regimente nach dieſer Stadt auf
Werbung geſandt, aber in eben dem Augen-
[217] blicke, in welchem er nachher wenigſtens vier
Jahre ſpaͤter in meiner Gegenwart in dieſen
Saal gefuͤhrt ward, eilte ihm der erſtere mit
ofnen Armen und dem lebhafteſten Gefuͤhle rei-
ner Freude entgegen, umarmte ihn zaͤrtlich
und kuͤßte ihn unzaͤhliche mal.


Von dieſem Augenblicke an ſind ſie unzer-
trennliche Gefaͤhrden, ſcheinen immer nur ei-
nen Sinn, einen Gedanken zu haben, nur
ein einziges Weſen auszumachen. Alle ihre
Bewegungen und Handlungen, ſelbſt die Be-
friedigungen aller ihrer Inſtinkte ſind einander
gleich, geſchehen auf einerlei Art und zur naͤm-
lichen Zeit. Sie eſſen, trinken, wachen und
ſchlafen miteinander. Hoͤrt der erſtere auf zu
eſſen, ſo folgt der andere ſogleich nach, laͤßt
dieſer die Haͤnde ſinken, ſo ſinken auch die Haͤn-
de des erſtern. Laͤchelt er, ſo laͤchelt jener
auch, kurz zu ſein — Ich beobachte ſie ſchon
vier Jahre, und habe noch nie an einem die-
[218] ſer ſeltnen Freunde irgend eine Empfindung,
Gefuͤhl oder Stellung bemerkt, welche der an-
dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach-
ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden
Voͤgeln, welche man die Unzertrennlichen
nennt, weil ſie ſtets nebeneinander ſitzen, mit
einander freſſen und trinken.


Einſt wagte ich's, ſie zu trennen, aber
beide raßten ſchrecklich, und ſanken einander
wonnetrunken in die Arme, wie ich ſie wieder
zuſammenfuͤhrte. Merkwuͤrdig, aber durch die
ſorgfaͤltigſte Beobachtung iſt es uͤberdies erwie-
ſen, daß ſie nie ein Wort mit einander, oder
mit irgend einem Menſchen ſprachen. Sie ge-
hen meiſtens ſtill, ohne jemanden zu beleidi-
gen, im Saale auf und nieder, ſtehen nur
ſelten ſtille, und ſuchen dann durch gleichfoͤr-
mige, aber aͤuſſerſt ausdrucksvolle Pantomime
ihren Schmerz, ihren Kummer auszudruͤcken.
Wenn die Uhr im Saale Zehne ſchlaͤgt, ſo
[219] eilen ſie haſtig ins Bette, und ſtehen mit dem
erſten Schlage der ſechſten Stunde wieder auf.


Sie putzen ſich ſtets ſorgfaͤltig, und brin-
gen oft zwei Stunden an ihrer Toilette zu, ſie
zittern und beben, wenn ich ſie in die freie
Luft fuͤhren laſſe, ſie koͤnnen den Anblick der
Sonne nicht ertragen, und ſinken ohnmaͤch-
tig zu Boden, w[e]nn ich ſie mit Gewalt der
Wuͤrkung ihrer Strahlen ausſetze, aber wenn
der Mond ſich fuͤllt, ſo ſtehen ſie oft um
Mitternacht auf, und ſtarren ſehnſuchtsvoll
nach ihm hinauf. Wenn ein Frauenzimmer
in den Saal tritt, ſo eilen ſie haſtig auf ſie
zu, blicken ihr forſchend ins Geſichte, wei-
chen aber traurend zuruͤck, wenn ſie diejenige
nicht fanden, welche ſie wahrſcheinlich ſuch-
ten.


Da ich vor zwei Jahren bemerkte, daß
ſie jedes Stuͤckchen Papier eifrig ſammleten,
[220] zugleich darnach griffen, und, war das Stuͤck-
chen auch noch ſo klein, ſich redlich darein
theilten, ſo befahl ich ihnen, in meiner Ge-
genwart Feder, Dinte und Papier zu reichen.
Sie ergriffen alles mit groͤßter Begierde, ſez-
ten ſich ſogleich zum Tiſche, ſchrieben lange
und anhaltend, formirten endlich einen Brief,
und ſteckten ihn in einen kleinen Riz der
Mauer. Ich harrte mit Ungeduld auf den
Augenblick, in welchem ich mich dieſer Briefe
bemaͤchtigen koͤnne, ich war aͤuſſerſt begierig
zu ſehen, ob ſie auch gleichfoͤrmig dachten
und ſchrieben, aber ich ward in meiner Er-
wartung ganz betrogen, weil beide Briefe
leer, und in keinem der kleinſte Federzug
enthalten war.


Keine Arzenei wuͤrkt auf ihre Koͤrper,
meine ganze Kunſt wird an ihnen zur Stuͤm-
perin, ich muß ſie ganz ihrem ungluͤcklichen
Schickſale uͤberlaſſen, und als Menſchenfreund
[221] hoffen, daß der Tod ihr Leiden bald enden
wird. Ich hoffe dies mit Zuverſicht, weil
eine ſtarke Abzehrung an ihrem Koͤrper
nagt, die ich eben ſo wenig zu hindern im
Stande bin.


Vor Jahresfriſt wagte ich eine kleine
Liſt, und hofte große Wuͤrkung von ihr.
Ich ſchrieb im Namen der Dame, deren
Schoͤnheit ſie ungluͤcklich gemacht hatte, troͤ-
ſtend an beide, machte ihnen entfernte Hof-
nung, und ſuchte ſie dadurch aus ihrer koͤr-
perlichen Unempfindlichkeit zu wecken, aber
mein Vorſatz mißlang vollkommen, ſie ſtieſ-
ſen die Briefe mit Verachtung und zornigem
Blicke zuruͤck, waren nicht zu bewegen, ſie
zu oͤfnen, ob ich ihnen gleich erklaͤrte, daß
die ſchoͤne M — aus B — ſie durch mich
an ſie abgeſandt habe. Selbſt ihr Name
machte keinen Eindruck auf ſie, und die Hof-
nung zu ihrer Rettung ſchwand nun ganz.


[222]

Mein Gefuͤhl war bei dieſer Erzaͤhlung
mannigfaltig und ſchmerzhaft. Mein Ohr
horchte, mein Auge beobachtete die Wan-
delnden, und uͤberzeugte ſich bei jeder gleich-
foͤrmigen Bewegung, daß mein Freund Wahr-
heit ſpreche. Ich haͤtte ſo gerne mit den Lei-
denden geſprochen, wurde aber bald uͤber-
zeugt, daß die Befriedigung dieſer Hofnung
eine wahre Unmoͤglichkeit ſei, denn ſie achte-
ten meiner und des Arztes nicht, ſchienen es
gar nicht zu hoͤren, wenn dieſer ſie fragte,
und wandelten ſtillſchweigend voruͤber.


Wer wagts — wer kann das Gefuͤhl,
die Jahre lang dauernden, immer ſich ganz
gleichen Handlungen dieſer Ungluͤcklichen er-
klaͤren? Viele geheimen Wuͤrkungen der Na-
tur liegen noch verborgen vor unſerm Blicke,
wir forſchen vergebens, koͤnnen nur ſtaunen
und anbeten.


[223]

Mein Freund fuͤhrte mich izt nach der klei-
nen Treppe, welche zu den Gemaͤchern der
geketteten Wahnſinnigen empor fuͤhrte. Er
fragte nach dem Waͤrter derſelben, weil nur
ſein Anblick die Raſerei der Ungluͤcklichen daͤm-
pfen konnte. Er war nicht zu Hauſe, aber
ſeine Tochter, eine ſtarke, nicht haͤßliche Dir-
ne erſchien, und verſicherte mich mit einem
zufriednen Blicke — der mein Gefuͤhl empoͤr-
te — daß mir in ihrer Geſellſchaft kein Leid
wiederfahren wuͤrde.


Sie ging voran, ich und mein Freund
folgten. Beim erſten Gemache blieben wir ſte-
hen. Ein ſchoͤner, noch nicht vier und zwanzig
Jahr alter Juͤngling lag ausgeſtreckt am Bo-
den, ſtuͤzte ſein Geſicht auf ſeine Hand, und
traͤllerte eben ein bekanntes Volksliedchen. Er
gruͤßte uns freundlich, wie wir naͤher traten,
und traͤllerte weiter.


[224]

Der Arzt. Nun? wie gehts ihnen?


Der Wahnſinnige. Gut, herrlich! Was
ſoll mir abgehen? Haͤtte mir eher den Tod
eingebildet, als daß man in einem Narrenhau-
ſe ſo angenehm und ſchoͤn bewirthet werden
ſollte. (mich anblickend und nochmals
gruͤſſend)
Votre Serviteur, Monsieur! Be-
ſuchen Sie uns auch? Wollen wahrſcheinlich
ſehen: Wie wir hier leben? Ich verſichere
Sie: Schoͤn und herrlich! Was kann ich
mehr fordern? (in ſeinem Gemache um-
her deutend)
Ich habe ein praͤchtig moͤb-
lirtes Zimmer, und mein ſchoͤner, allerlieb-
ſter Engel, (der Tochter des Waͤrters
den Fuß kuͤſſend)
unſre brave Koͤchin
kocht uns die beſten Speiſen! Mir geht nichts
ab! Gar nichts! Ich lebe herrlich und zu-
frieden! Haͤtte mich der Teufel nicht auf einer
Miſttrage herein getragen, ſo waͤre ich ja
gluͤcklicher, als ein Koͤnig! Aber nicht wahr,
mein
[225] mein ſchoͤnes Kind, (zur Koͤchin) deswe-
gen lieben ſie mich doch von Herzen? — —


Ein Wahnſinniger trat izt grade uns ge-
genuͤber in die Thuͤre ſeines Gemachs, und
begann graͤßlich und unverſtaͤndlich zu ſchreien.
Der muntere Juͤngling blickte hinuͤber.


Hoͤren ſie doch, ſprach er laͤchelnd, wie
der Kerl tobt! Was ſpricht er denn fuͤr eine
Sprache? Ich verſtehe Waͤlliſch, Franzoͤſiſch,
Deutſch und Latein, aber das verſtehe ich
nicht! Es giebt mancherlei Sprachen in der
Welt, der Geier mag ſie alle lernen!


Apropos! Herr Doktor, ſie muͤſſen er-
lauben, daß ich morgen zur Ader laſſe. Ich
ſchlafe ſo unruhig, und wenn der Monsieur
Teufel mir wieder einmal eine Viſite macht,
ſo bin ich nicht ſtark genug, den Kerl zur
Thuͤre hinaus zu werfen, und hiemit Punk-
P
[226] tum. Ich will ſchlafen gehen! (er ſtand
auf, und warf ſich auf ſein Bette)

Angenehme Ruhe, Allerſeits! Angenehme
Ruhe!


Er legte ſich nun auf die Seite, und
ſchien ſogleich zu ſchlafen. Wir traten ſeit-
waͤrts, meine erſte Frage war: Ob mein
Freund Hofnung habe, den Ungluͤcklichen wie-
der herzuſtellen? Er zuckte zweifelnd die
Achſeln. Noch, ſprach er, ſchaͤtze ich ihn nicht
ganz fuͤr verlohren, aber ich habe auch we-
nig Hofnung. Er iſt erſt ſechs Monate un-
ter meiner Obſorge, aͤndert ſichs nicht bald
mit ihm, ſo wird meine Bemuͤhung zwar
nicht wanken, aber die Ueberzeugung ſich
auch mit jedem Tage befeſtigen, daß ich ver-
gebens arbeite. (laͤchelnd) Sie wuͤnſchen
ſeine Geſchichte zu wiſſen, ich will ſie ihnen
in Kuͤrze erzaͤhlen.


[227]

Er iſt das einzige Kind armer Eltern,
des Vaters Bruder ſtudierte, ſchwang ſich
durch Genie bei Hofe empor, und nahm den
hofnungsvollen Juͤngling zu ſich, um ihn
durch ſein Anſehen zu unterſtuͤtzen, und, weil
er kinderlos war, einſt zum Erben ſeines
anſehnlichen Vermoͤgens einzuſetzen. Der
Juͤngling lernte und ſtudierte mit anhalten-
dem Fleiſſe, ward bald der Liebling ſeines
Onkels, erhielte von ihm, was ſein Herz
nur wuͤnſchen konnte.


Schon in ſeinem zwei und zwanzigſten
Jahre ward er zum Doktor der Rechte auf
der Univerſitaͤt promovirt, ſollte bald her-
nach einen eintraͤglichen Dienſt antreten, und
die Tochter eines ſehr reichen Kaufmanns
heurathen. Ob dieſe Heurath gleich der Lieb-
lingsplan ſeines Onkels war, ſo widerſezte
ſich der Neffe doch mit Ernſte derſelben. Der
Onkel forſchte insgeheim nach der moͤglichen
P 2
[228] Urſache, und entdeckte bald, daß der feurige
Juͤngling ein ſchoͤnes Stubenmaͤdchen zaͤrtlich
liebe, ihr die Ehe verſprochen habe, und
eben deswegen die vortheilhafte Heurath ſo
ſtandhaft ausſchlage.


Ohne die moͤgliche Wuͤrkung zu uͤberle-
gen, ſandte der Alte die Geliebte ſeines
Vetters insgeheim, ohne daß der leztere
ein Wort davon erfuhr, nach einer entle-
genen Stadt, und hofte mit Zuverſicht, daß
Abweſenheit dieſe Liebe heilen wuͤrde. Der
Juͤngling ging voll Verzweiflung umher, als
er ſich von ſeiner Inniggeliebten getrennt ſah,
und wahrſcheinlich muthmaßte, durch welche
Hand er getrennt wurde. Schon am dritten
Tage war auch er aus der Hauptſtadt entflo-
hen, und alle Nachfrage nach ihm vergebens.


Man hofte, ihn bei ſeiner Geliebten
wieder zu finden, aber er erſchien nicht;
[229] endlich bangte man fuͤr ſein Leben, und be-
ſchrieb im ganzen Lande ſeine Perſon und
Kleidung. Auch ich las ſie, und erſtaunte,
als einige Bauern ihn einſt auf einer Trage
ins Spital brachten, und mir erzaͤhlten, daß
ſie ihn im tiefen Walde halb tod gefunden
haͤtten, aus ſeinen verwirrten Reden ſchluͤſ-
ſen muͤßten, daß er wahnſinnig ſei.


Ich glaubte das leztere nicht, behandelte
ihn mit Sorgfalt und Vorſicht, und hofte,
daß mit den koͤrperlichen Kraͤften auch ſein
Verſtand ruͤckkehren werde; aber mein Biſchen
Kenntniß betrog mich diesmal ſchrecklich, mit
den Kraͤften mehrte ſich auch ſein Wahnſinn,
er drohte, den Waͤrter mehr als einmal zu
erdroſſeln, und ich mußte ihn feſſeln laſſen.


Ich korreſpondirte vorher ſchon mit ſei-
nem Onkel, und ſchrieb ihm izt, daß wahr-
ſcheinlich er nur den Ungluͤcklichen retten
[230] koͤnne, wenn er ihn ſeine Geliebte wieder-
ſchenke, und die Heurath mit ihr erlaube.
Ehe ich Antwort von ihm erwarten konnte,
erſchien der redliche Alte ſelbſt, und brachte
die Geliebte ſeines ungluͤcklichen Neffens mit
ſich.


Ich bereitete dieſen auf beider Empfang
vor, aber er ſchien meine Erzaͤhlung gar
nicht zu achten, ſcherzte uͤber andre Dinge,
und war luſtig und froͤhlich. O beſter Freund,
vergeſſen will ich die ruͤhrende Szene nie, als
ich endlich den guten Alten ſamt der Gelieb-
ten an ſein Bette fuͤhrte. Sie war ruͤhrend
und herzangreifend!


Der Alte wollte den laͤngſt entbehrten
Liebling umarmen, aber der Ungluͤckliche ſtieß
ihn von ſich, weil er ihn fuͤr den Teufel an-
ſah, der ihn zu holen kaͤme. Seine Gelieb-
te reichte ihm ſchluchzend die Hand, aber wir
[231] mußten alles anwenden, um ſie ſeinen Haͤn-
den zu entreiſſen, weil er ſie fuͤr untreu hielt,
und mit aller Gewalt morden wollte. So
ſehr ſich beide muͤhten, ihn von ſeinem un-
gluͤcklichen Irrthume zu uͤberzeugen, ſo war
doch jede Muͤhe vergebens, er raßte an-
haltend und ſchrecklich, und ich war gezwun-
gen, die Hoffenden troſtlos fortzuſchicken.


Fruͤh fand ich ihn wieder froͤhlich und lu-
ſtig, er erzaͤhlte mir mit lachendem Munde,
daß er geſtern mit dem Teufel gekaͤmpft, und
ſein ungetreues Maͤdchen ermordet habe.
Izt, rief er munter aus, bin ich wieder
frei und ledig, kann mich nach Gefallen in
eine andere verlieben.


Ich wagte es nicht, ſeine Freunde wie-
der vor ſein Bette zu fuͤhren, und ſandte ſie
mit dem Verſprechen heim, daß ich alles an-
wenden wuͤrde, um ihn gerettet in ihre Ar-
[232] me zu liefern, aber noch bin ich nicht vor-
waͤrts geſchritten. Die Idee vom Kampfe mit
dem Teufel ſizt feſt in ſeiner Seele, er er-
neuert ſie oft jeden Tag, und raßt dann
fuͤrchterlich! —


Sein trauernder Onkel ſchreibt mir jeden
Poſttag, und will izt das arme Maͤdchen zur
Erbin ſeines ganzen Vermoͤgens einſetzen, da-
mit er doch, nach ſeinem eignen Ausdrucke,
auf einer Seite die große Suͤnde verſoͤhne,
zu welcher ihn ſein Ehrgeiz und zu große
Habſucht verleitet hat.


Ich blickte nochmals ins Gemach des Un-
gluͤcklichen, er ſchlief ſanft, ich haͤtte es ihm
ſo gerne zugefluͤſtert, daß ſein Maͤdchen treu
und gluͤcklich ſei, aber der Gedanke, daß er
mich fuͤr den Teufel halte, und mir meine Ab-
ſicht mit Tode lohnen konnte, hielte mich zu-
ruck.


[233]

Wir gingen weiter, und ſtanden am zwei-
ten Gemache. Eine lange, hagere Figur mit
hohlen Wangen und fuͤrchterlich rollendem
Auge ſaß an einem kleinen Tiſche, auf wel-
chem viele Stuͤcke Papier umher lagen. Der
Ungluͤckliche hatte eine Feder in der Hand,
ſtarrte ein vor ſich liegendes Papier an, und
ſprach ohne Unterlaß, indem er eine Summe
zu addiren ſchien: Eins und Eins iſt
Eins! Eins und Eins iſt Eins
! —
Sichtbare Angſt herrſchte in ſeinem gan-
zen Geſichte, ſo oft er dieſe Worte ausſprach,
und doch wiederholte ſie ſein Mund beſtaͤn-
dig.


Eben wollte ich meinen Freund nach der
Urſache ſeines Wahnſinns fragen, als dieſer
ſich dem Ungluͤcklichen naͤherte, und ihm hef-
tig ins Ohr ſchrie: Eins und eins iſt
zwei
! — Iſt zwei! ſeufzte der Aermſte. Iſt
zwei! wiederholte er laͤchelnd, legte die Fe-
[234] der nieder, und wiſchte die Schweißtropfen
von ſeiner Stirne.


Das iſt die einzige Wohlthat und Huͤlfe,
ſprach izt der Arzt zu mir, die ich dem Un-
gluͤcklichen gewaͤhren kann, nur Schade, daß
ſie ſo kurz dauert, oft nur einen Augenblick
fruchtet. Geben ſie acht, ehe eine Minute
vergeht, wird er wieder zu addiren begin-
nen, und wieder: Eins und Eins iſt
Eins
! ausrufen. Die Prophezeihung des
Arztes ward fruͤher erfuͤllt, denn wie ich nach
ihm hinblickte, nahm er ſchon wieder die Fe-
der in die Hand, und wiederholte dieſe Wor-
te unaufhoͤrlich.


Mein Freund ſtand traurig da, und
blickte ſeufzend gen Himmel. Sollten ſie's
wohl glauben, ſprach er mit warmen Gefuͤh-
le, daß dieſes Wort, dieſer elende Rech-
nungsfehler, den jeder Schulknabe beim er-
[235] ſten Anblick finden wuͤrde, einem geſchickten,
rechtſchafnen Manne ſeinen Verſtand, ſechs
unerzognen Kindern einen wuͤrdigen Vater,
und einer zaͤrtlichen Gattin ihren Mann rau-
ben konnte? Und doch geſchah's! Ach! un-
ſer Verſtand iſt ein elendes Ding; Prinz
Hamlet hat recht, wenn er ihn fuͤr eine
Stecknadel feil bietet, wir verliehren ihn oft
uͤber Dinge, die dieſen Werth nicht enthal-
ten.


Meine Neugierde war heftig geſpannt,
ich wuͤnſchte, den Ungluͤcklichen naͤher zu ken-
nen, und mir ward Erhoͤrung!


Friedrich H — hatte ſich durch emſigen
Fleiß und aͤchtes Verdienſt eine Stelle bei
der Staatskaſſe erworben, welche ihn wohl
ernaͤhrte, und erlaubte, ſeine Geliebte als
Frau heimzufuͤhren. Er lebte mit ihr zufrie-
den und gluͤcklich, ſie gebahr ihm ſechs Kin-
[236] der, welche geſund und munter heranwuch-
ſen, und den zaͤrtlichen Vater manche Freu-
de gewaͤhrten, wenn er nach vollbrachten
Dienſtſtunden in die Arme ſeiner Familie zu-
ruͤckkehrte. Er lebte nicht ſparſam, aber
haͤußlich; konnte zwar bei ſo zahlreichen Kin-
dern nicht ſammlen, aber er gab auch nie
mehr aus, als er einnahm. Er liebte Ord-
nung und Richtigkeit im aͤuſſerſten Grade,
trieb ſie oft bis zur Aengſtlichkeit, aber nie-
mand verdachte ihm dies, weil er jaͤhrlich Mil-
lionen einzunehmen und auszugeben hatte,
und bei ſo großen Summen aͤuſſerſte Auf-
merkſamkeit erfordert wurde. Seine Kaſſe muß-
te jaͤhrlich viermal unterſucht werden, man
kannte ſeine Redlichkeit und Treue, wollte
aus dieſer Ruͤckſicht ihn oftmals den Abſchluß
erſparen, aber er war nie zu bewegen, dieſe
Wohlthat anzunehmen, und bat dringend,
daß man das Geſetz ſtreng an ihm erfuͤllen
moͤge.


[237]

Einſt nahte wieder die Unterſuchungszeit,
er kam ſpaͤter, als gewoͤhnlich, aus dem
Amte, brachte immer viele Rechnungen mit
ſich, verſchloß ſich in ſein Zimmer, und be-
ſuchte nicht, wie gewoͤhnlich, ſeine Kinder.
Er lag ſchlaflos an der Seite ſeines Weibes,
und antwortete nicht, wenn ſie nach der Ur-
ſache ſeiner Seufzer forſchte.


An einem Morgen, deſſen vorhergehende
Nacht er in ſeinem Zimmer durchwacht hatte,
ließ er ſein Weib und Kinder zu ſich rufen,
er entdeckte der erſtern weinend und haͤnde-
ringend, daß ihm in ſeiner Kaſſe zehntau-
ſend Gulden
mangelten, daß ein ungewiſ-
ſenhafter Beamte ihn um dieſe Summe be-
trogen haben muͤſſe, er nun hingehen wolle,
um dieſen Reſt anzuzeigen, und ſich freiwil-
lig den harrenden Ketten zu uͤberliefern. Er
umarmte ſein troſtloſes Weib, ſegnete ſeine
Kinder, machte dem erſtaunten Praͤſidenten
[238] den großen Reſt bekannt, und ging, ohne
daß dieſer es gebot, nach dem Gefaͤngniſſe.


Man unterſuchte ſogleich ſeine Kaſſe,
fand ſeiner abgeſchloſſenen Rechnung gemaͤß,
den Reſt richtig, und uͤbergab die Rechnung
zur naͤhern Reviſion einem andern Rechnungs-
verſtaͤndigen. Jeder, der den Redlichen kann-
te, bedauerte ihn, und obgleich der Ungluͤck-
liche der Verlaͤumdung am meiſten blosgeſtellt
iſt, ſo glaubten doch alle einſtimmig, daß ein
Liſtiger ihn betrogen habe, er nun fuͤr frem-
des Verbrechen buͤſſen muͤſſe.


Schon am andern Morgen erſchien der
Redliche, welchem die Reviſion der Rechnung
anvertraut war, mit heiterm Geſichte vor
dem Praͤſidenten, und bewies ſonnenklar, daß
der rechtſchaffne H — keinen Pfennig reſtire,
ſich nur auf eine unbegreifliche Weiſe im La-
[239] teriren um die Summe von zehntauſend Gul-
den verſtoſſen habe.


Der erfreute Praͤſident ſandte ſogleich nach
dem Gerechtfertigten ins Gefaͤngniß, er ver-
ſammlete, ehe er anlangte, die vielen Beam-
ten ſeines Departements in ſeinem Zimmer,
und wollte in ihrer Gegenwart den Ungluͤckli-
chen von ſeiner Unſchuld uͤberzeugen. Ein Laͤrm
auf der Gaſſe machte ihn bald aufmerkſam, er
ſah hinab, und bereute es izt herzlich, daß
er aus wahrer Freude zu raſch gehandelt habe.
Er hatte ohne weitern Befehl nach dem Ge-
fangnen geſandt, man ahndete Verhoͤr, und
fuͤhrte ihn mit Wache durch die Gaſſe. Der
neugierige Poͤbel ſtroͤmte bald herbei, und
uͤberhaͤufte den Ungluͤcklichen mit Beſchimpfun-
gen mancher Art.


Ich muß, ich will dies Verſehen ſchon wie-
der durch die herrlichſte Genugthuung tilgen,
[240] ſprach der Praͤſident, und harrte des Kom-
menden. Er trat mit blaſſem Angeſichte und
verzweiflungsvollen Blicken ein, der Praͤſi-
dent eilte ihm entgegen, und umarmte ihn
zaͤrtlich. Sie ſind unſchuldig, rief er aus,
ganz unſchuldig! Ich bitte tauſendmal um Ver-
gebung, daß ich ſie aus wahrer, aber zu ra-
ſcher Freude dem Spotte des Poͤbels ansſezte,
aber ehe eine volle Stunde vergeht, ſoll ihre
Unſchuld durch den Trommelſchlag in der Stadt
bekannt gemacht werden. Ich will ſie in mei-
nem Wagen nach Hofe fuͤhren, und dem Monar-
chen als einen ſeiner treuſten Diener vorſtellen.


Friedrich ſchien den Inhalt dieſer Rede
nicht zu fuͤhlen, er ſtarrte ſtillſchweigend vor
ſich hin. Kommen ſie, fuhr der Praͤſident
fort, und uͤberzeugen ſie ſich, daß ihr ganzer
Reſt nur ein Additionsfehler war. Er fuͤhrte
Friedrichen nun ſelbſt nach einem Stuhle, legte
ihm die Rechnung vor, und bat ihn, dieſe
ein-
[241] einzige Seite zu addiren. Friedrich erfuͤllte
den Befehl auf der Stelle, er addirte voll-
kommen richtig, wie er aber an zwei Aus-
gabsſummen kam, von denen jede einzelne zehn-
tauſend Gulden betrug, und welche eben neben-
einander ſtanden, ſo ſprach er: Eins und eins
iſt Eins! Iſt ja zwei, und folglich zwanzig-
tauſend, rief der Praͤſident frohlockend aus,
und alle Anweſenden jubelten mit ihm. Iſt
zwei! Gott im Himmel! Iſt zwei! lallte
Friedrich nach, und ſank ohnmaͤchtig vom
Stuhle.


Man hatte große Muͤhe, ihn wieder zu
wecken, und noch groͤßere, um ſich von der
ſchrecklichen Gewißheit zu uͤberzeugen, daß
ſein Verſtand verlohren ſei. Er ſprach irre,
und begann, fuͤrchterlich zu raſen; man muß-
te ihn binden, um ihn nach ſeiner Wohnung
zu fuͤhren.


Biogr. d. W. 3. B. O.
[242]

Das Leiden der guten Gattin muß ſchreck-
lich geweſen ſein, als ſie ihren guten Mann
gerechtfertigt, aber auch wahnſinnig erblickte.
Man glaubte anfangs, daß ein hitziges Fie-
ber ſeine Raſerei enden wuͤrde, aber ſie dau-
erte fuͤrchterlich fort, und da ſeine Gattin
und Kinder ſich oft aus Liebe zu ihm der To-
desgefahr ausſezten, er einſt beinahe den
aͤlteſten Knaben erdroſſelte, ſo ward er auf
Befehl des Monarchen hieher gefuͤhrt, und
meiner Sorge anvertraut.


Sein armes Weib genuͤßt mit ihren ver-
laßnen Kindern bis an ihren Tod den ganzen
Gehalt ihres Mannes. Der groͤßte und moͤg-
lichſte Erſatz fuͤr ihr Leiden, aber auch der klein-
ſte fuͤr ihre immer noch fortdauernde Liebe.
Erſt vor einigen Monaten beſuchte ſie ihn, er
kannte ſie nicht. Ihr Jammer war graͤnzen-
los, aber ich konnte ihn nicht einmal durch
[243] Hofnung lindern, denn ſein Verſtand wird
nie wiederkehren.


Nur mit anhaltender Sorgfalt konnte ich
ſeine immer dauernde Raſerei mindern, aber
ſie kehrt noch oft zuruͤck, und er muß aus
nothwendiger Vorſicht Feſſeln tragen. Ich
darf es ihm nie an Papier und Schreibge-
raͤthe mangeln laſſen, dies beruhigt ihn mehr,
als alle Arzeneien, er rechnet dann ohne
Unterlaß, ſpricht immer: Eins und Eins
iſt Eins
, und wenn ich oder ein anderer
ihm zurufe: Iſt zwei! ſo ſcheint zwar, ein
noch glimmender Funke ſeiner Vernunft die
Wahrheit zu faſſen, aber ſie ſchwindet oft in
dem Augenblicke wieder, in welchem er ſie zu
faſſen ſucht.


Mein Gefuͤhl fand keine Worte, ich weih-
te dem Ungluͤcklichen eine Thraͤne, und folgte
ſtillſchweigend zum dritten Gemache.


O. 2
[244]

Ein kleiner, blaſſer, noch junger Mann
hukte in der Mitte deſſelben. Seine Kette,
an welche er angeſchloſſen war, reichte nicht
bis zur Thuͤre, er blickte ſehnſuchtsvoll nach
uns heraus, kuͤßte, gleich Kindern, ſeine
Hand, und warf dieſe Kuͤſſe unſrer Fuͤhre-
rin zu. Das iſt mein Schatz! das iſt mein
Schatz! ſprach er leiſe, und mit einer Mi-
ne, die mein ganzes Mitleid heiſchte. —


Treten ſie nicht naͤher! rief der Arzt, und
riß mich zuruͤck, als ich mich ihm nahen woll-
te. Er iſt, fuhr er fort, unter allen meinen
Patienten der gefaͤhrlichſte und voll Heimtuͤk-
ke, er ſucht jeden mit dieſer unſchuldigen
Miene zu locken, und wuͤrde ſie ſicher mor-
den, wenn ſie ihm an Staͤrke und Kraͤften
nicht uͤberlegen ſind. Ich kann ſeinen Zuſtand
nicht lindern, bald wird er auch die Sprache
verliehren, die ihn noch allein vom Thiere
unterſcheidet. Ich muß ihn als wahrer Men-
[245] ſchenfreund das Ende ſeiner Leiden, den Tod
wuͤnſchen, ob mir gleich eine ſehr große Sum-
me geboten iſt, wenn ich ihn wieder geſund
machen koͤnnte.


Sein Name und ſeine Geſchichte iſt ein
Geheimniß, das ich zu verſchweigen verſprach.
Er iſt der einzige Zweig einer ſehr beruͤhm-
ten und reichen Familie, er ward ein Opfer
der Liebe, mehr kann ich ihnen nicht ſagen.


Indem ich noch einmal auf ihn blickte,
und mich unmoͤglich uͤberzeugen konnte, daß
eine ſo leidende und anziehende Miene ſo
ſchreckliche Heimtuͤcke verrathen koͤnne, trat
der Waͤrter zu uns, welcher eben nach Hau-
ſe gekommen war. Er ſah, daß ſich der ar-
me Leidende, vielleicht in einem Anfalle von
Raſerei, ſein langes Hemde am Halſe zer-
riſſen habe, er trat zu ihm, um das geloͤß-
te Band wieder zu befeſtigen. Ich ſtaunte,
[246] als ſich bei ſeiner Annaͤherung die Miene des
Leidenden mit einmal veraͤnderte, er klap-
perte, gleich einem wilden Thiere, mit den
Zaͤhnen, ſchnapte oft nach der Hand des Waͤr-
ters, und ſchmiegte ſich nur dann furchtſam
in Winkel, als dieſer ihn aͤuſſerſt raſch an-
redete, und Ruhe gebot.


Armer, bedauernswuͤrdigſter Ungluͤcklicher,
auch ich wuͤnſche dir den Tod, und dort vol-
len Lohn fuͤr dein unnennbares Leiden, denn
hienieden gruͤnt kein Freudenblatt fuͤr dich,
hienieden mußt du auch das einzige Labſal
des huͤlfloſeſten Ungluͤcklichen, den Troſt dei-
ner Mitmenſchen entbehren! Dein ſchreckli-
cher Wahnſinn zwingt ſie, dich mit Furcht
zu quaͤlen, wenn ſie dir Huͤlfe leiſten wol-
len!


Hier koͤnnen ſie ohne Scheu eintreten,
wenn ſie anders ruhig zuhoͤren wollen, ſprach
[247] mein Freund, als wir uns dem naͤchſten Ge-
mache naͤherten.


Ein junger, aber wohlgekleideter Mann
trat uns entgegen, und bewillkommte uns
mit freundlichem Blicke; er ſchlepte eine Ket-
te hinter ſich, ich wich zuruͤck, weil ich von
dieſer auf Gefahr ſchloß. Mein Freund
ſah's, und verſicherte mich, daß dieſe Kette
nur die Flucht des Leidenden, nicht ſeine Ra-
ſerei hindern ſolle.


Willkommen, willkommen, ſprach izt der
freundliche Mann zum Arzte, ich danke ih-
nen, daß ſie mich auch einmal wieder beſu-
chen, und danke ihnen doppelt, daß ſie mir
abermals einen ihrer Freunde auffuͤhren. (zu
mir)
Ich bin ihnen fuͤr die Ehre ihres Be-
ſuches hoͤchſt verbunden, ſie werden die kurze
Zeit, welche ſie mir ſchenken wollen, nicht
bereuen, denn ſie lernen in mir den Ungluͤck-
[248] lichſten aller Menſchen kennen. Gern wollte
ich ihnen einen Stuhl anbieten, aber ich ha-
be keinen. Sehen ſie nur, ſehen ſie! (in-
dem er im Zimmer umherzeigte)
Eine
kleine Bettſtelle, ein angenagelter Tiſch und
Stuhl! Das iſt mein ganzer Hausrath! Ge-
nug fuͤr einen Wahnſinnigen, aber viel zu
wenig fuͤr einen Ungluͤcklichen, der ſich beſſe-
rer Zeiten erinnert, und bei der groͤßten
Selbſtverlaͤugnung dies Gefuͤhl nicht unter-
druͤcken kann. Eben ſaß ich hier, und hader-
te mit Gott: Warum er nur mir allein taͤg-
lich, faſt ſtuͤndlich einen vollen Leidensbecher
reiche, mich mit allmaͤchtiger Hand zwinge,
ihn bis auf den lezten Tropfen zu leeren? Ich
wollte, aber ich konnte nicht beten, meine
Seele murrte, ich war der Verzweiflung na-
he! — — Aber izt, izt iſt mir wieder wohl
und leicht! Wenn ich nur einen Menſchen er-
blicke, der Antheil an meinem Jammer nimmt,
der nur mit einer mitleidigen Miene mich troͤ-
[249] ſtet, ſo fuͤhle ich mich wieder ſtark genug, ein
Ungluͤck zu ertragen, unter deſſen Laſt der groͤßte
Philoſoph erliegen wuͤrde. (meine Hand
ergreifend)
Ha, edler Mann, dein Blick
ſtaͤrkt und labt! Du giebſt dem armen Bett-
ler ein reichliches Allmoſen, er kann wochenlang
ſich damit ſaͤttigen. Deine warme Theilnahme
verdients, daß ich dich mit meinem Ungluͤcke
bekannt mache, und weihſt du mir dann eine
Thraͤne des Mitleids, ſo will ich ſie von dei-
ner Wange kuͤſſen, und denken, ich habe Nek-
tar aus Hebens Hand getrunken!


Mein Vater war ein reicher und angeſehe-
ner Edelmann, ich bin izt ſein einziger und
hoͤchſt ungluͤcklicher Sohn. Er war in ſeiner
fruͤhen Jugend Soldat geworden, hatte mit
Ruhm und Ehre dreißig Jahre lang gedient,
wurde als General verabſchiedet, und liebte
noch immer mit inniger Waͤrme jeden Solda-
den. Er glaubte feſt, daß nur dieſer Stand
[250] einen jungen Menſchen bilden koͤnne, und ſand-
te mich unter das Regiment eines ſeiner alten
Kriegskammeraden, als ich erſt ſechzehn Jahre
alt war. Ich diente brav und wacker, ward
in meinem achtzehnten Jahre ſchon zum Offi-
zier befoͤrdert, und hatte, ehe ich das dreiſ-
ſigſte erreichte, die wahrſcheinliche Ausſicht auf
eine Kompagnie.


Wenn du dieſe erhaͤltſt, ſprach mein al-
ter Vater zu mir, als ich ihm ſchon als Un-
terleutnant entdeckte, daß ich raſend verliebt
ſei, ſo kannſt du deine Geliebte ohne Anſtand
und mit meinem Segen heurathen, aber eher
wird aus der Heurath nichts, weil mir von
jeher ein Leutnant mit einer Frau unertraͤglich
war. Ich machte dieſe harte Bedingung mei-
ner Geliebten mit Thraͤnen kund, und erhielt
von ihr das heilige Verſprechen, daß ſie mei-
ner ſo lange mit aͤchter Treue harren wolle,
bis ich ſie erfuͤllen koͤnne.


[251]

Wenn ſie je liebten, ſo werden ſie's aus
Erfahrung wiſſen, daß Liebe aͤuſſerſt thaͤtig
ſei, wenn ſie dadurch ihr Ziel erreichen kann.
Ich liebte heftig, aber da der Lohn der Liebe
von meiner Befoͤrderung abhing, ſo liebte ich
auch eben ſo ſtark meinen Dienſt, und erfuͤllte
jede Pflicht deſſelben mit raſtloſem Eifer. Mein
Obriſter erkannte dieſen Dienſteifer, empfahl
mich bei jeder Gelegenheit dem Generale des
Regiments, ich ward in Jahresfriſt zehn
andern vorgezogen, und, ehe ichs vermu-
then konnte, zum Oberleutenante ernannt.


Nun mußte ich aber acht Jahre harren,
ehe mich die Reihe zur hoͤhern Dienſtſtuffe
wieder traf.


Eben war ich der aͤlteſte Oberleutenant,
als mein alter Obriſter ſtarb, und ein jun-
ger, reicher Fuͤrſt ſeine Stelle erhielt. Viele
der Officiers murrten daruͤber, ich am ſtaͤrk-
[252] ſten und lauteſten, weil ich, wenn unſer
verdienſtvoller Obriſtleutenant vorgeruͤckt waͤ-
re, eben ſo wahrſcheinlich eine Hauptmanns-
ſtelle erhalten haͤtte. Der junge Obriſte er-
fuhr alles, und ließ mirs bei jeder Gelegen-
heit deutlich merken, daß er Rache uͤben
wuͤrde.


Zufall und Gelegenheit machte ihn mit
meiner Geliebten bekannt, ſie hing noch im-
mer mit ſeltner Treue an mir, aber ich ſah's
deutlich, daß auch er ſie liebe, und mich
durch falſche Verſprechungen aus ihrem Her-
zen zu verdraͤngen ſuchte. Ich duldete im
Stillen, aber mein Rachegefuͤhl mehrte ſich
oft ſo maͤchtig, daß nur meines Maͤdchens
Kuß es unterdruͤcken konnte.


Wie ein halbes Jahr verfloſſen war, ſtarb
ein Hauptmann unſers Regiments, ſeine Stel-
le konnte mir, meiner Meinung nach, gar
[253] nicht verſagt werden. Ich reiſte zu meinem
Vater, und fand ihn willig, mir meine Heu-
rath zu erlauben, ſo bald ich Kapitain ſein
wuͤrde, er trat mir ſogar die Haͤlfte ſeiner
Guͤter im Voraus ab, damit ich mit meinem
kuͤnftigen Weibe ſtandesmaͤßig leben koͤnne.
Wie ich zum Regimente ruͤckkehrte, hoͤrte ich
mit Erſtaunen, daß mir ein anderer vorge-
zogen ſei, und der Obriſte oͤffentlich geſagt
habe, daß ich mir, ſo lange er beim Regi-
mente ſei, keine Hofnung zur weitern Befoͤr-
derung machen ſolle.


Ich fuͤhlte dieſe unedle Rache, dies groſ-
ſe Unrecht tief. Ich wuͤthete, ich raßte, eilte
zum Obriſten, und traf ihn nicht, ich ging
nach der Wachtparade, und fand ihn unter
einer Menge von Offizieren. Sein Anblick
empoͤrte mich ſchrecklich, ich forderte ihn oͤf-
fentlich, und wie er mich voll Verachtung an-
blickte, ſo zog ich meinen Degen, wuͤrde
[254] ihn durchbohrt haben, wenn meine Kamme-
raden mich nicht abgehalten haͤtten. Ich ward
ſogleich arretirt und in den Kerker gefuͤhrt.
Die ſcharfen Subordinationsgeſetze verurtheil-
ten mich ohne Gnade zum Tode.


Mein alter Vater eilte zu meiner Ret-
tung herbei, er heiſchte Huͤlfe und Rath von
allen ſeinen Freunden, ſie erklaͤrten ihm ein-
ſtimmig, daß nur verſtellter Wahnſinn mich
vom Tode retten koͤnne. Er fand Mittel,
mir den Rath kund zu machen, ich bereute
meine That und befolgte ihn getreu. Die
erkauften Aerzte beſtaͤtigten meinen Wahn-
ſinn, nur der rachgierige Obriſte bezweifelte
ihn, und brachte es durch ſein Anſehen bei
Hofe dahin, daß man mich zwar nicht zum
Tode verurtheilte, aber als einen gefaͤhrlichen
Wahnſinnigen auf ewig in den Narrenthurm
zu ſperren befahl.


[255]

So ſehr mein guter Vater auch flehte,
mich ſelbſt zu bewachen verſprach, und mit
alle ſeinem Haabe fuͤr jeden kuͤnftigen Fall
haften wollte, ſo ward das Urtheil doch an
mir vollzogen. Der redliche Alte konnte dies
Ungluͤck nicht uͤberleben, er ſtarb, und meine
Guͤter ſind izt in den Haͤnden eines mir un-
bekannten Onkels, der damit nach Gefallen
ſchalten kann, und nur hier meinen duͤrfti-
gen Unterhalt bezahlen muß.


Schon oft erhoͤrte unſer gefuͤhlvoller Arzt
mein Flehen, und berichtete nach Hofe, daß
ich von meinem Wahnſinne vollkommen geheilt
ſei, ſchon Jahre lang nicht die geringſte Spur
deſſelben verrathe, aber allemal erfolgte die
harte Antwort, daß dieſe Anzeige mein Ur-
theil nicht lindern koͤnne, weil ich nach den
klaren Buchſtaben deſſelben zum ewigen Ge-
faͤngniſſe im Narrenthurme verurtheilt ſei. (er
ging mit ſtarken Schritten im Gema-
[256] che auf und nieder)
Ach es iſt ſchrecklich,
ſo leiden zu muͤſſen! Zweimal habe ich ſchon
dem Kriegskollegium eine Schrift eingereicht, in
welcher ich erklaͤrte, daß mein Wahnſinn Ver-
ſtellung war, ich flehte um den Tod, den das
Geſetz gebot; aber man beantwortet meine
Bitte nicht einmal, man wirft ſie hartherzig
in einen Winkel, und vergißt des Elenden.
(gen Himmel.) Wenn du gerecht biſt, ſo
wirſt du's ahnden und raͤchen! Aber es ſcheint,
als ob du mich auch nicht hoͤren wollteſt. Wie
oft habe ich ſchon vergebens aus der Tiefe zu
dir empor geſchrieen! Heiſcher war meine
Stimme, und du hoͤrteſt ſie doch nicht. Ohne
deinen Willen faͤllt kein Sperling vom Dache,
ohne deinen Wink trennt ſich kein Haar vom
Haupte! Bin ich denn weniger als ein Sper-
ling oder ein Haar? (ſeine Ketten raſ-
ſeln)
Hoͤrſt du denn das Raſſeln meiner Ket-
ten nicht? (er raſſelt ſchrecklich damit)
Hoͤrſt du's nicht? (er ſtuͤrzte weinend)
auf
[257]auf ſein Bette) O ich bin das ungluͤck-
lichſte deiner Geſchoͤpfe! Du hoͤrſt, du ſiehſt,
du achteſt mich nicht!


Er verhuͤllte ſein Geſicht, und weinte im
Stillen, auch meine Thraͤnen floſſen, ich ſah's
ungerne, als der Arzt mich bei der Hand er-
grif, und aus dem Gemache fuͤhrte. Er
ſchenkte mir ſo willig ſein Zutrauen, es war
grauſam, daß ich ohne Abſchied, ohne Troſt
ſcheiden ſollte. Ich wollte wieder ruͤckkehren,
mein Freund laͤchelte. Mir mißfiel dies Laͤ-
cheln, es verrieth Unempfindlichkeit. Wie koͤn-
nen ſie izt — izt lachen? fragte ich etwas
unwillig.


Der Arzt. Weil der Schein ſie truͤgt.
Es waͤre ſchrecklich, wenn's ſo waͤre, wie's
der arme Wahnſinnige erzaͤhlte.


Ich. So iſt's nicht ſo?


Biogr. d. W. 3. B. R
[258]

Der Arzt. Nein, mein Theurer, nein!
Nicht Wuͤrklichkeit, nur ſein Wahnſinn quaͤlt
ihn ſo! Sehen ſie mich noch ſo ſtarr an, ich
kann's doch nicht aͤndern! Der arme Ungluͤck-
liche iſt wuͤrklich der einzige Sohn eines ſehr
reichen Edelmanns, ſein Vater ſtarb, als er
Leutenant war. Der Vater hatte ihm, ſeines
Geitzes wegen, wenig Zulage gegeben, izt
machte ihn ſein Tod zum unumſchraͤnkten Herrn
einer großen Summe, er verſchwendete ſie
ſorglos, vernachlaͤßigte den Dienſt ganz, ging
mit liederlichen Dirnen um, und machte ih-
nen große Geſchenke. Ganz natuͤrlich war's,
daß er unter ſolchen Umſtaͤnden oft praͤterirt
ward. So lange ſein Geld dauerte, achtete
er dies nicht; wie's aber endete, da forderte
er mit Ungeſtuͤm Befoͤrderung. Man verſprach
ſie ihm, wenn er ſich beſſern wuͤrde, aber er
erfuͤllte ſein Verſprechen nicht, machte haͤufi-
ge Schulden, und ward endlich kaſſirt. Die-
ſe Strafe weckte ihn aus ſeinem Leichtſinne, er
[259] ging tiefſinnig umher, ward melancholiſch,
und endlich vollkommen wahnſinnig.


Als ihn ſeine Freunde hieher ſandten, und
die moͤglichſt gute Pflege fuͤr ihn zu zahlen ver-
ſprachen, redete er kein Wort, und wollte
ſich ſtets morden. Mit anhaltender Kunſt und
Muͤhe weckte ich wieder Gefuͤhl und Empfin-
dung in ihm, er ſprach oft ſtundenlang ver-
nuͤnftig, und gab mir gegruͤndete Hofnung zu
ſeiner Rettung. Ich wollte ſchon ſeinen
Freunden Nachricht davon ertheilen, und
eben einen Brief an dieſe bei ihm abholen,
als der Waͤrter mir berichtete, daß er raſe,
jeden, der ſich ihm nahe, fuͤr ſeinen Obriſten
halte, und ihn zu morden drohe. Ich eilte
herbei, und mußte ihn feſſeln laſſen. Nach
und nach beſſerte es ſich wieder mit ihm,
aber er erzaͤhlte mir und allen, die ihn be-
R 2
[260] ſuchten, die Geſchichte, welche ſie ſo ſehr
ruͤhrte.


Ich kann mir die Entſtehung derſelben
deutlich denken. Als er raßte, forderte er
ſeinen Obriſten, den er wahrſcheinlich der
Kaſſation wegen haßte, beſtaͤndig auf ein Du-
ell heraus. Wie ich ihn feſſeln ließ, hielte
er auch mich fuͤr den Obriſten, uͤberhaͤufte
mich mit Schmaͤhworten, und waͤhnte, daß
ich ihn nach dem Gefaͤngniſſe fuͤhren laſſe.
Die ſchwache Ruͤckkehr ſeines Verſtandes uͤber-
zeugte ihn in der Folge, daß er im Narren-
thurme ſei, die Vorſtellung ſeines ehemali-
gen, heftigen Wahnſinns blieb, und daher
entſtand die Geſchichte, welche izt den einzi-
gen Gegenſtand ſeines Wahnſinnes ausmacht,
aber mich auch uͤberzeugt, daß ich ihn nicht
mehr retten kann, denn Erfahrung hat mich
belehrt, daß keine Rettung mehr zu hoffen
ſei, wenn das Bild des Wahnſinnes einmal
[261] feſt vor der Seele ſteht, ſich nicht mehr wen-
det oder dreht, keiner andern Vorſtellung
Platz geſtattet.


Schon ein Jahr lang raßt er nicht mehr,
thut niemanden etwas zu Leide, koͤnnte un-
gehindert im Vorhofe und Saale ſpazieren
gehen, wenn nicht bei dem geringſten Schei-
ne der Freiheit die Hofnung zur Flucht in
ihm erwachte. Er klettert dann ohne Unter-
laß an jeder Mauer empor, wuͤrde ſicher den
Hals brechen, wenn ich ihm Freiheit goͤnnen
wollte.


Wir gingen weiter. Im erſten Gemache,
das wir betraten, ſaß in der Mitte deſſel-
ben ein ehrwuͤrdiger Greis auf einem Lehn-
ſtuhle, ſein weiſſes Silberhaar hing in ſpar-
ſamen Locken um ſeine Schlaͤfe; eine große
Narbe, die vom Haare herab uͤber den lin-
ken Backen lief, und ſich erſt am Kinn en-
[262] digte, verunſtaltete den aͤchten Petruskopf ein
wenig. Er laͤchelte ruhig und zufrieden, als
wir an der Thuͤre ſtille ſtanden. Er winkte
mit der Hand den Waͤrter zu ſich.


Wie theuer, ſprach er, haſt du (indem
er auf mich und den Arzt deutete)

die Sklaven bezahlt?


Der Waͤrter. Jeder derſelben koſtet
mich hundert Zechinen.


Der Greis. Nimm ihnen die Feſſeln
ab, ſie ſind frei! Das Geld dafuͤr wird Dir
mein Kaſſier auszahlen, und noch funfzig
Dukaten fuͤr deine Muͤhe! (zu uns) Das
erſte europaͤiſche Schif wird euch nach eurem
Vaterlande fuͤhren! Gruͤßt in meinem Na-
men eure Weiber und Kinder! Wenn ſie
beim frohen Willkomme Gott inbruͤnſtig dan-
ken, ſo gebietet ihnen, daß ſie meiner in
[263] ihrem Gebete gedenken ſollen! Geht! Mehr
fordere ich nicht! Kein Wort des Danks!
Euer ſtummes Entzuͤcken, eure Thraͤnen ſind
mir Danks genug! Gott mit euch! ihr frei-
en Maͤnner!


Der Waͤrter ging, wir folgten. Der Arzt
ergrif meine Hand, und druͤckte ſie mit Waͤrme.
Das iſt mein Liebling, ſprach er mit geruͤhr-
ter Stimme, ſein Wahnſinn iſt mir ſo ehr-
wuͤrdig. Ich wuͤrde mich gluͤcklich ſchaͤtzen,
wenn ich ihm ſeinen Verſtand wiedergeben
koͤnnte, damit er die wenigen Tage ſeines
Lebens noch fuͤhle, was er andern ſo willig
goͤnnt und ſchenkt.


Er war der Sohn eines ſehr armen Edel-
manns, ſeine zahlreichen Ahnen verſchaften
ihm das Maltheſerkreuz. Da er nur von die-
ſem beſſere Tage hoffen konnte, ſo zog er
[264] nach Maltha, um dort die erforderlichen Ka-
ravannen mit, und ſich einer Kommende wuͤr-
dig zu machen. Er kaͤmpfte mit großer Ta-
pferkeit im erſten Seegefechte gegen die Tuͤr-
ken, vermehrte dieſe Tapferkeit bei jeder Ge-
legenheit, und ward von dem Großmeiſter
nach einigen Jahren zum Befehlshaber einer
Galeere ernannt. Sein Muth war groß, er
wagte es einſt, drei feindliche große Schiffe
anzugreifen, und haͤtte geſiegt, wenn alle
Ritter gleich ihm gefochten haͤtten. Nicht
Tapferkeit, nur allzu große Menge beſiegte
ihn endlich, und nur dann erſt, als er am
Boden blutete, und nicht mehr ſtreiten konn-
te.


Harte Gefangenſchaft und Sklaverei war
nun ſein Loos. Er ward zehnmal verkauft,
und duldete oft ſchreckliche Qualen. Die Mit-
glieder des ſo menſchenfreundlichen Ordens
der Trinitaren fanden ihn endlich in Smirna,
[265] als er auf den Straſſen dieſer Stadt, gleich
einem Pferde, einen Karren ziehen mußte.
Er war damals ſchon fuͤnf und vierzig Jahre
Sklave geweſen, und zaͤhlte ſechs und ſiebzig
Lebensjahre. Sie erbarmten ſich ſeines Elen-
des, und loͤßten ihn, ſeines hohen Alters
wegen, mit einer geringen Summe.


Er ſchifte mit ihnen nach Maltha, und
ward dort mit auszeichnender Hochachtung
empfangen. Sein Ruhm, ſeine Tapferkeit
lebte noch in den Herzen der alten Ritter,
der Großmeiſter gebot ihm, Belohnung ſei-
ner vieljaͤhrigen Leiden zu fordern, er bat um
eine kleine Kommende in ſeinem Vaterlande,
und reiſte mit der Verſicherung dahin ab, daß
ihm die erſte ledige werden ſolle. Zwei deut-
ſche Moͤnche des Trinitaͤr-Ordens begleiteten
ihn auf ſeiner Reiſe, er war aͤuſſerſt froh und
munter, und genoß die Frucht der Freiheit
mit Juͤnglingskraͤften.


[266]

Wie er zum erſtenmale wieder die deutſche
Sprache allgemein ſprechen hoͤrte, ſo weinte
er, gleich einem Kinde, ſtundenlang, und
wie er die Graͤnze ſeines geliebten Vaterlan-
des betrat, ſprang er aus dem Wagen, kuͤßte
die Erde, betete inbruͤnſtig und anhaltend.
Seine Begleiter harrten lange des Endes,
als es aber nicht erfolgen wollte, hoben ſie
ihn in den Wagen, und hoͤrten mit Erſtau-
nen, daß er irre rede. Sie nahmens Anfangs
fuͤr Schwaͤche des Alters, als es ſich aber
nicht mit ihm beſſern wollte, da wurden ſie
uͤberzeugt, daß ihm die Erfuͤllung ſeines ſehn-
lichſten Wunſches den Verſtand geraubet habe.


Immer bat er auf der langen Reiſe Gott,
daß er ihm nur das Gluͤck gewaͤhren moͤge,
noch vor ſeinem Ende die Erde ſeines Vater-
lands kuͤſſen zu koͤnnen. Er genoß es, aber
er bezahlte es auch mit einem unſchaͤzbaren
Preiſe, mit dem Verluſte ſeines Verſtandes.
[267] Die Moͤnche verpflegten ihn einige Zeit in ih-
rem Kloſter, als aber der arme Wahnſinnige
ihre kloͤſterliche Einſamkeit maͤchtig ſtoͤhrte, da
meldeten ſie es den Maltheſerrittern, und die-
ſe uͤbergaben ihn meiner Pflege.


Er lebt in ſeinem Wahnſinne froh und
gluͤcklich, er glaubt, daß er ein aͤuſſerſt rei-
cher, chriſtlicher Kaufmann zu Emirna ſei,
achtet den Waͤrter fuͤr ſeinen Buchhalter, und
ſendet ihn taͤglich aus, um Chriſtenſklaven
los zu kaufen. Wenn er dann in meiner
oder eines Fremden Geſellſchaft vor ihm er-
ſcheint, ſo haͤlt er dieſe fuͤr erloͤſte Sklaven,
und ſchenkt ihnen die Freiheit.


Auch er koͤnnte ungehindert und frei im
Saale und Vorhofe umher wandeln, wenn
er nicht die uͤbrigen Wahnſinnigen zur Wuth
reizte. Sein Wahnſinn achtet ſie alle fuͤr
Sklaven, er erloͤſt ſie in ſeiner gluͤcklichen
[268] Einbildung, und fordert dann, daß ſie Gott
und ihm danken ſollen. Wenn ſie ſich nun
ganz natuͤrlich nicht ſeiner Laune fuͤgen wol-
len, ſo haͤlt er ſie fuͤr Renegaten, und be-
leidigt ſie ſo lange, bis ſie ſich empfindlich
an ihm raͤchen. Um ihn daher nicht taͤglicher
Mißhandlung auszuſetzen, darf ich ihn nicht
aus dem Gemache laſſen.


Anfangs gab ihm der Waͤrter, gleich al-
len Uebrigen, eine Kette, aber er weinte
ſchrecklich, und duͤnkte ſich wieder in der
Sklaverei; ich konnte ſeine Thraͤnen nicht
ſehen, nahm ihm die Kette ab, und ordnete
einen Waͤchter an ſeine Thuͤre. Jzt iſt die-
ſer aber nicht mehr noͤthig, weil er feſt
glaubt, daß vor der Thuͤre Tuͤrken auf ihn
lauern, und in die Sklaverei ſchleppen wol-
len, er wuͤrde daher um keinen Preiß in
der Welt die Schwelle uͤberſchreiten.


[269]

Ich habe Hofnung, daß der Tod bald
ſein irdiſches Leiden enden, und ihn ins
Gefilde des Lohns fuͤhren wird. Er iſt oft
ſehr ſchwach und kraftlos, die ungeheuren
Kraͤfte ſeines Koͤrpers widerſtreben izt nicht
mehr, er wuͤrde hundert Jahre uͤberlebt ha-
ben, wenn nicht vierzigjaͤhrige Sklaverei dar-
an genagt haͤtte. O er muß viel und ſchreck-
lich geduldet haben! Sein Ruͤcken iſt von tie-
fen Narben durchfurcht, und die Haut ſeiner
Haͤnde und Fuͤſſe iſt von ſchwerer Arbeit aͤuſ-
ſerſt abgehaͤrtet.


Der Großmeiſter zu Maltha hat Wort
gehalten, ihm ward eine Kommende, welche
jaͤhrlich zehn tauſend [Gulden] traͤgt, da er
ſie aber nicht genuͤſſen kann, ſo muß ihn ſein
Nachfolger bis an ſeinen Tod ernaͤhren. Er
thuts mit Gewiſſenhaftigkeit, und wuͤrde ihm
gerne die theuerſten Weine, die koſtbarſten
[270] Speiſen bezahlen, wenn ichs erlauben koͤnn-
te, und dieſe nicht ſein Elend vermehrten.


Der Arzt hatte wahr prophezeit, ſchon
vierzehn Tage nachher ſtarb der arme Greis.
Eine Viertelſtunde vor ſeinem Tode erhielt
er den vollen Gebrauch ſeiner Vernunft wie-
der. Wo bin ich denn? Bin ich wuͤrklich in
meinem Vaterlande? fragte er den Waͤrter, und
als dieſer es bejahte, ſo rief er freudig aus:
So iſt ja mein innigſter Wunſch erfuͤllt, ſo
ſterbe ich vergnuͤgt und mit der Gewißheit
eines jenſeitigen Lohns! — — Dies konnte
der arme Leidende mit Zuverſicht ſagen, denn
wenn er dort nicht Lohn faͤnde, was ſollten,
was koͤnnten wir hoffen? Wir, die wir nie
Eltern, Freunde und Vaterland auf immer
verlaſſen mußten, nicht ſchmachteten in Ket-
ten der Sklaverei und des Wahnſinns! Oft
den Becher der Freude leerten, und ſchon
[271] bebten, wenn nur der Kelch des Leidens vor
uns uͤber ging.


Mein Freund fuͤhrte mich nun bei eini-
gen Gemaͤchern voruͤber. Hier, ſprach er,
koͤnnen ſie nur die hoͤchſt traurige Erfahrung
ſammlen, daß der raſende Menſch tief unter
dem Viehe erniedrigt ſei. Ich liebe ſie zu
ſehr, als daß ich ihnen dieſen ſchrecklichen
Anblick goͤnnen ſollte. Wilde, immerdauernde,
oft wuͤthende Raſerei hat dieſe Ungluͤcklichen
ſo entſtellt, daß ſie ſolche nicht fuͤr Menſchen
erkennen wuͤrden. Gott gebe, daß ſie bald
enden, ich kann ihnen mit aller meiner Kunſt
nicht einmal Linderung geben! Noch will ich
ſie mit zwei merkwuͤrdigen Maͤnnern bekannt
machen, und dann gehen wir mit der Ueber-
zeugung von hinnen: Daß Menſchenelend
nicht zu zaͤhlen ſei!


Hier, ſprach mein Freund, indem er
[272] mich an ein anderes Gemach fuͤhrte, wollen
wir wieder einkehren.


Ein kaum funfzigjaͤhriger Mann, deſſen
Blick nicht Wahnſinn, ſondern tiefes Denken
verkuͤndigte, ſaß an einem niedrigen Tiſche
auf einem kleinen Fußſchemel, hielt zwiſchen
ſeinem Knie einen alten Schuh, und flickte
ſolcheu mit einer eilfertigen Emſigkeit.
Gleich, gleich ſtehe ich zu Dienſten, ſprach
er, indem er uns fluͤchtig anblickte, und noch
eilfertiger arbeitete. Ehe ich mit meinem
Freunde ſprechen konnte, ſprang er vom
Schemel empor, ergrif ein Stuͤck Papier,
verfertigte ein Maas daraus, und trat zu
mir.


Was verlangen ſie, fragte er haſtig,
Stiefel oder Schuhe? Ich blickte verlegen auf
meinen Freund, und dieſer antwortete, daß
ich nur ein paar Schuhe zu haben wuͤnſchte.


Alles
[273]

Alles eins! alles eins, ſprach der Wahn-
ſinnige, indem er an meinen Stiefeln umher
maaß, ich mache Stiefeln und Schuhe, wie
man ſie fordert! Habe zwar ſehr viel Arbeit,
muß eben fuͤr ein ganzes Regiment neue
Schuhe verfertigen, aber mit Gottes Huͤlfe
werde ich doch auch fertig werden! Wenn
man ein krankes Weib und ſieben Kinder zu
ernaͤhren hat, muß man keine Kundſchaft
verachten. Ihr Diener, mein Herr, ihr Die-
ner! Morgen um dieſe Zeit kann ihr Be-
dienter anfragen, ſie werden wohlfeil und
gut bedient werden.


(er ſezte ſich wieder zu ſeiner Ar-
beit rufend)
: Anne, gieb dem Herrn ei-
nen Stuhl, und laß mir die Kinder nicht ſo
ſchreien, gieb jedem ein Stuͤck Brod, ich
habe ja heute vollanf gekauft. Weine nicht im-
mer, haſt's nicht Urſache! So lange mir
Gott Geſundheit und Arbeit giebt, hat's mit
Biogr. d. W. 3. B. S
[274] uns keine Noth. Klopft aber auch der Tod
bei mir an! (laͤßt ſeine Arbeit ſinken,
und blickt ſehnſuchtsvoll gen Himmel
empor)
Je nun, dann wird der da oben
euch auch nicht verlaſſen! (horchend) Was
ſagſt du? Betteln wirſt du mit deinen Kin-
dern gehen muͤſſen? (weinend) Das waͤre
ſchrecklich! Das wird Gott verhuͤten! Ich
muͤßte im Himmel oben noch verzweifeln,
wenn ichs ſaͤhe, und nicht helfen koͤnnte! — —
Sei froͤhlich, Anne, ſei munter! Ich will recht
fleißig arbeiten, damit wir uns ein Haͤuschen
und ein Stuͤckchen Feld kaufen koͤnnen, dann
koͤnnt ihr mich ruhig ſterben ſehen!


Er arbeitete nun aufs neue und aͤuſſerſt
emſig. Sein trauerndes Geſichte erheiterte
ſich nach und nach; Zufriedenheit und frohe
Ausſicht thronte darinne. Wir traten auf den
Gang.


[275]

Dieſer arme Wahnſinnige, ſprach mein
Freund, iſt wuͤrklich ein Schuſter. Er lebte
ehemals auf einem benachbarten Dorfe, er-
naͤhrte ſich, ſein Weib und ſieben kleine Kin-
der ſparſam, aber ehrlich. Alle ſeine Nach-
barn nannten ihn nur den fleißigen Schuſter,
weil oft um Mitternacht ſeine Lampe noch
brannte, und die Voruͤberwandelnden ihn
arbeitend, und ſein Weib ſpinnend erblick-
ten.


Wie vor funfzehn Jahren Theuerung und
Hungersnoth unſer armes Vaterland quaͤlte,
viele Tauſende huͤlflos verſchmachteten, und
eine fuͤrchterliche Epidemie den Arm manches
arbeitenden Vaters laͤhmte, da nahte ſich
auch Elend und Jammer ſeiner kleinen Huͤtte.
Es war ihm ſchlechterdings unmoͤglich, nur
das trockne Brod fuͤr ſeine Familie zu gewin-
nen, er und ſein Weib mußte jedes entbehr-
liche Kleidungsſtuͤck, und endlich auch das
S 2
[276] Bette verkaufen, um den Hunger der armen
Kinder nur nothduͤrftig zu ſtillen.


Als alles verkauft war, ſelbſt die taͤg-
liche Arbeit immer ſparſamer wurde, warf
Elend und Noth ſeine Gattin und alle ſeine
Kinder aufs Krankenlager, auch er ſchwankte
matt und kraftlos umher, konnte den Kran-
ken kaum einen kalten Labetrunk reichen, und
die wenige Arbeit nicht mehr foͤrdern. Wie
er einſt troſtlos am Strohlager ſeines Wei-
bes ſaß, alle ſeine Kinder wimmerten, und
er der Leidenden aufrichtig geſtand, daß er
nicht wiſſe: Wo er morgen einen Biſſen Brod
hernehmen ſollte? Da ſprach ſein Weib: Va-
ter, du mußt betteln gehen! Die allgemeine
Noth wird die Herzen der Reichen doch oͤf-
nen! Geh nach der Stadt, und bring uns
Brod, ſonſt verſchmachten wir alle!


Er antwortete nicht, weinte ſchrecklich,
[277] und wankte, wie am Morgen die Kinder
Brod heiſchten, haͤnderingend zur Thuͤre hin-
aus. Ein eben ſo armer Nachbar begegnete
ihm. Nachbar, ſprach er, ich muß betteln ge-
hen, ſeid ſo barmherzig, und reicht meinem
Weibe und Kindern dann und wann einen
Trunk Waſſer, wenn ich wiederkomme, will
ich redlich mit euch theilen.


Er eilte nun nach der Stadt, man fei-
erte eben Weihnachten, und vieles Volk wall-
te nach der Domkirche, wohin er ebenfalls
folgte. Ein Prieſter wollte die Kanzel beſtei-
gen, der verzweifelnde Vater ſprang vor-
waͤrts, riß ihn zuruͤck, und betrat ſelbſt die-
ſen ehrwuͤrdigen Plaz.


Hoͤrt mich, rief er im fuͤrchterlich ruͤhren-
den Tone aus, hoͤrt mich! Wenn ihr Men-
ſchen — rettet mich, wenn ihr Chriſten ſeid.
Ich bin der ungluͤcklichſte, der elendeſte un
[278] ter euch! Ich bin Gatte, und habe ein kran-
kes Weib! Ich bin Vater, und habe ſieben
kranke Kinder! Sie heiſchen Brod von mir,
und ich kann ihnen keines geben. Kommt
naͤher, blickt meine Haͤnde an, ſie ſind voll
blutiger Schwuͤlen! Wenn ihr lange ſchon auf
weichen Betten ruhtet, arbeitete ich noch, um
ihren Hunger zu ſtillen, aber mein Verdienſt
reichte nicht zu, ich habe alles verkauft, um
ſie zu ſaͤttigen, ich habe nichts mehr, als die-
ſe Lumpen, und die armen Wuͤrmer fordern
noch immer Brod. — — Izt muß ich bet-
teln gehen! Betteln fuͤr mein Weib, fuͤr
meine Kinder! Ich erfuͤlle dieſe Pflicht mit
ſchwerem Herzen, ſie ſezt mich in die Zahl
der Muͤßiggaͤnger herab, und ich wars doch
nicht, verdiente immer mein Brod im Schweiſ-
ſe meines Angeſichts. Ich bettle fuͤr mein
Weib und Kinder! Ich bettle in der Gegen-
wart eures und meines Gottes, weil ich
hoffe, daß ihr um ſo thaͤtiger ſeine Gebote
[279] erfuͤllen, und die Bitte des Armen nicht ver-
ſchmaͤhen werdet. Erbarmt euch meines ar-
men Weibes, ſie liegt daheim und jammert!
Erbarmt euch meiner kranken Kinder, ſie win-
ſeln fuͤr Hunger! Erbarmt euch des ungluͤck-
lichſten der Vaͤter, welcher es hoͤren muß,
und nicht helfen kann!


Wie er die lezten dieſer merkwuͤrdigen
Worte ausgeſprochen hatte, ſank er ohnmaͤch-
tig zuruͤck. Erſtaunen hatte bisher alle Ge-
genwaͤrtige gefeſſelt, izt eilten viele herbei,
dem Ungluͤcklichen beizuſtehen. Man hoͤrte lau-
tes Schluchzen und Weinen, auch ich war in
der Kirche und weinte mit. Es war ruͤhrend
anzuſehen, wie alle mit empor geſtreckten
Haͤnden ihre Gabe zur Unterſtuͤtzung darzu-
reichen ſuchten. Es mußte Gott das wohlge-
faͤlligſte Opfer ſein, als hunderte ſich herbei
draͤngten, und den Schmachtenden nach ihren
Wohnungen tragen wollten; ich war auch un-
[280] ter dieſer Zahl, und man goͤnnte mir nur
um deswillen den Vorzug, weil ich ein Arzt
war, und jeden Beitrag anzunehmen ver-
ſprach.


Ehe ich ihn forttragen laſſen konnte, hat-
ten ſich ſchon einige Menſchenfreunde mit Tel-
lern an die Kirchthuͤren geſtellt, ſie ſammle-
ten, was man geben wollte, und ehe es mir
gelang, den Ungluͤcklichen aus einer Art von
Starrſucht zu wecken, brachten ſie ihn ſchon
ſechshundert zwei und funfzig Gulden, als
einen Lohn ſeiner ruͤhrenden Predigt. Bis an
den Abend mehrten ſich dieſe Beitraͤge bis
auf eilfhundert Gulden.


Einige der Anweſenden forſchten nach ſei-
nem Namen und Wohnorte, mehr als zwan-
zig edle Frauen fuhren dann eilend nach ſei-
nem Dorfe, nahmen Betten, Kleider und
Speiſen mit ſich, um die Nackenden zu klei-
[281] den, die Hungrigen zu ſpeiſen! Wie froh,
wie gluͤcklich haͤtte der gute und redliche Va-
ter nun in der Mitte ſeiner Familie leben
koͤnnen! Ich war ſo gluͤcklich, ſein Weib und
alle ſeine Kinder vom nahen Tode zu retten,
aber ihn — dem ich ſo gerne geholfen haͤt-
te — konnte ich nicht wiedergeben, was er
zur Rettung der Theuern opferte. Sein Ver-
ſtand war verlohren! Schon ein Anfall von
Wahnſinn mußte ihn verleitet haben, die Kan-
zel zu beſteigen, er ſiegte ganz, als er ſeine
merkwuͤrdige Rede vollendet hatte. Durch volle
drei Jahre raßte er unaufhoͤrlich, ich mußte
ihn feſſeln laſſen, und vermochte ſeine Pein
gar nicht zu lindern.


Einſt beſuchte ihn — was oft geſchah —
ſein Weib mit einigen ihren Kindern, ſie
hatte ſich auf meinen Rath von dem reichen
Almoſen eine kleine Wirthſchaft gekauft, und
jammerte diesmal lauter, als je, weil ihr
[282] Gatte die Fruͤchte derſelben nicht mit genuͤſ-
ſen konnte. Er lag ohne Empfindung da,
hatte ſie noch nie erkannt, izt richtete er ſich
mit einmal in die Hoͤhe, blickte ſtarr umher,
und rief endlich aus: Weib, ſo lebſt du! ſo
leben meine Kinder noch: Dann muß ich ja
arbeiten! — — Nach dieſen Worten ſprang
er vom Bette auf, forderte ſein Werkzeug, und
raßte aufs neue ſo lange, bis ich ihm Werk-
zeuge von Holz verfertigen ließ, und alles
gab, was er forderte.


Er kennt nun allemal ſein Weib und ſeine
Kinder, aber er glaubt feſt, daß er noch in
ſeiner Huͤtte wohne, arbeitet ohne Unterlaß
an einem Schuhe, den er beſtaͤndig flickt und
wieder auftrennt. Wenn ihm ſein treues Weib
ſein Gluͤck erzaͤhlt, und zum Genuſſe einladet,
ſo laͤchelt er einige Minuten ganz zufrieden,
faͤngt aber in den folgenden wieder emſig an zu
arbeiten, und troͤſtet ſie mit der Verſicherung,
[283] daß er ſich durch anhaltenden Fleiß ſchon noch
ein eignes Haus erwerben wolle.


Oft hat ſie mich kniend gebeten, ihr den
geliebten Gatten zur eignen Pflege anzuver-
trauen, ſie hofte, daß Ueberzeugung ihn viel-
leicht retten koͤnne, ich hofte es anfangs mit
ihr, aber er raßte, als man ihn aus ſeinem
Gemache fuͤhrte, und endete nicht eher, als
bis man ihn wieder dahin gebracht hatte.


Ich hab's uͤber mich genommen, Vater ſei-
ner verlaßnen Kinder zu werden! Seine aͤlte-
ſte Tochter dient in meinem Hauſe, ſein Erſt-
gebohrner ſteht der Mutter in der Wirth-
ſchaft bei, die uͤbrigen drei Knaben lernen ein
Handwerk, und die juͤngſten zwei Maͤdchen ſind
noch bei der Mutter. Alle fuͤhren ſich gut und
rechtſchaffen auf, alle beſuchen ihren Vater
fleißig, lieben ihn von ganzem Herzen, weil
er alles fuͤr ſie that, und ihnen am Ende ſeinen
Verſtand opferte.


[284]

Ich trat noch einmal zu ſeinem Gemache.
Ehrfurcht und tiefe Hochachtung fuͤllten mein
Herz, ich baute dem edlen Vater Statue und
Tempel, und fragte mein Gedaͤchtniß: Ob
es einen wuͤrdigern und groͤſſern Mann, als
dieſen, kenne? — — Das iſt mein Liebling!
rief ich endlich aus, und ſank in die Arme mei-
nes Freundes! Gott wird's vergelten, ſprach
ich, daß ſie der Vater ſeiner Kinder wurden,
ſie werden Theil haben an ſeinem herrlichen
Lohne!


Wir gingen weiter, an der naͤchſten Thuͤre
ſtand ein alter, hagerer Wahnſinniger, welcher
ein großes Packet Schriften in der Hand hielt,
und mich durch eine Menge Gruͤnde zu uͤber-
zeugen ſuchte, daß er ſeinen Prozeß auf die
unrechtmaͤßigſte Art verlohren habe. Kommen
ſie nur naͤher, ſprach er, und entfaltete ſeine
Schriften, ſie werden das himmelſchreiende
[285] Unrecht deutlich einſehen, und mir ihren Bei-
ſtand gewiß nicht verſagen.


Hatte er Weib und Kinder? fragte ich
meinen Freund. Nein, antwortete dieſer, keins
von beiden. Unter allen, welche hier dulden,
wuͤrde er am wenigſten Mitleid verdienen,
wenn Wahnſinn nicht ein Elend waͤre, welches
man ohne Mitleid nicht betrachten kann.


Er war der Erbe eines ſehr reichen Vet-
ters, welcher Kaufmann und Fabrikant war.
Zu dumm, um die ſpekulatifiſche Handlung
fortzuſetzen, und zu geizig, um einen ver-
nuͤnftigen Gebrauch von ſeinem Reichthum zu
machen, verkaufte er Waarenlager und Fabrik,
ſperrte das baare Geld in eiſerne Kaͤſten, lieh
nur auf Pfaͤnder von doppeltem Werthe, und
nahm juͤdiſche Intereſſen. Sein Geiz mehrte
ſich taͤglich, und erlaubte ihm nicht, an eine
Heurath oder an irgend einen Genuß des
[286] menſchlichen Lebens zu denken. Er hungerte
und darbte, um nur ſeinen Geldhaufen zu ver-
mehren.


Ein noch minderjaͤhriger Verſchwender ver-
pfaͤndete ihm einſt einige koſtbare Juwelen fuͤr
tauſend Gulden. Der Vormund erfuhr's,
und forderte ſie zuruͤck, weil man nach den Ge-
ſetzen einem Minderjaͤhrigen kein Geld leihen
darf. Der Geizige wollte nicht erſtatten, es
kam zum Prozeſſe, der natuͤrlich verlohren
ging, dem Ungluͤcklichen ſeinen Verſtand raub-
te, als er die Juwelen zuruͤckgeben mußte,
und die Pfandſumme von tauſend Thalern ver-
lohr. Sein Vermoͤgen ſteht izt unter gericht-
licher Verwaltung, er kann es nicht gen[u]ſſen.
Er raßt nie, aber er iſt aͤuſſerſt heimtuͤckiſch,
und will jeden erwuͤrgen, der nicht gleich ihm
behauptet, daß er ſeinen Prozeß auf die un-
rechtmaͤßigſte Art verlohren habe.


[287]

Nur naͤher, nur herein! rufte uns eine
Stimme entgegen, als wir zum naͤchſten Ge-
mache kamen. Ein huͤbſcher, noch junger Mann
trat an die Thuͤre, haͤtte er nicht eine Kette
hinter ſich geſchlept, ich wuͤrde ihn nicht fuͤr
wahnſinnig gehalten haben. Sein ofner Blick,
ſeine heitre Mine, ſein laͤchelndes Auge wi-
derſprach dieſer Vermuthung ganz.


Sie kommen wahrſcheinlich, ſprach er im
freundlichen Tone, mein Kunſtſtuͤck zu betrach-
ten, ich mache mir ein Vergnuͤgen daraus, ſie
damit bekannt zu machen, und wuͤnſche von
ganzem Herzen, daß es ihnen nuͤtzen und ſie
warnen moͤge.


Er trat izt hinter einen viereckigten Ka-
ſten, der in der Mitte des Gemachs auf einem
Stuhle ſtand, mit kleinen runden Oefnungen
verſehen, und vollkommen einem Guckkaſten
[288] aͤhnlich war. Mein Freund fuͤhrte mich hin,
und wir ſahen hinein.


Der Wahnſinnige. Geben ſie Acht,
izt wird das Spiel beginnen. (mit lauter
Stimme
) Izt ſchwebt eine Spinne in der
Mitte des Gemachs, ſie webt ihr kuͤnſtliches
Netz, alles iſt fein und niedlich, alles ſchoͤn
und ſimmetriſch! Geben ſie acht, viele Flie-
gen ſummen ohne Argwohn umher, eben hat
ſich eine im Netze verwickelt, die Spinne eilt
herbei, ſaugt ihr das Blut aus, und toͤdet
ſie qualvoll. Eben ſo fangen uns die liſtigen
Weiber, und wenn wir im Netze der Liebe
verwickelt ſind, ſo quaͤlen und martern ſie uns
zu Tode. — —


Heiſa, da kommt ein luſtiger Knabe, er
macht Seifenblaſen, und freut ſich der ſchoͤ-
nen Farben. Der Thor bedenkt nicht, daß
er ſich einſt im maͤnnlichen Alter mit Weh-
muth
[289] muth an dies Spiel erinnern wird. Er wird
lieben, er wird Treue von ſeinem Weibe for-
dern, und dieſe wird gleich der ſchoͤnſten Sei-
fenblaſe in der Luft verſchwinden. — —


Hui! mich friert, es iſt grimmig kalt!
Schnee deckt die Erde, und glattes Eis baut
Bruͤcken uͤber den tiefen Fluß. Viele wallen
ſorglos daruͤber, und ſtuͤrzen zu Boden, es
geht ihnen wie den Maͤnnern, welche den
Schwuͤren der Weiber trauen, ſie ſcheinen feſt
zu halten, aber ſie ſind glatt wie Eis, wenn
man ſicher darauf baut, ſo ſtuͤrzt man nie-
der, und ſchlaͤgt ſich den Kopf entzwei. — —


Geben ſie Acht, es beginnen neue Sze-
nen! Hurra! Hurra! Es giebt eine Jagd!
Der ſichere Hirſch wird uͤberfallen, er eilt
vorwaͤrts, die Jaͤger und Hunde verfolgen
ihn! Hurra! Hurra! Das geht ſchnell und
fluͤchtig! Ach der arme Hirſch! er weint,
Bio. v. d. W. 3. T
[290] lechzt, ſinkt und wird zerriſſen! — — Ein
wahres Bild des menſchlichen Lebens! (mit
ſanfter und geruͤhrter Stimme
) Der
Hirſch iſt der Redliche, Jaͤger und Hunde ſind
ſeine Feinde — denn welcher Redliche hat
keine Feinde? — Er wird verfolgt, bis er
unterliegt! Nur Schade, daß ſo viele große
Herren erklaͤrte Liebhaber dieſer Jagd ſind!


(im vorigen Tone) Heiſa! Da gehts
luſtig zu! Ein reicher Herr feiert eben ſei-
nen Geburtstag, eine Menge Gaͤſte ſchmauſen
an ſeiner Tafel. Sehen ſie nur, wie er ſich
bemuͤht, jedem vorzulegen, wie er ſogar ſei-
nem treuen Jagdhunde auch ein Bein zu-
wirft. — — Alles, ſpricht der weiſe Salo-
mo, alles dauert auf dieſer Welt nur eine
kurze Zeit! Der Reichthum des Freigebigen
ſchwindet, und ſeine Freunde mit ihm. Er
muß am Ende betteln gehen. Sehen ſie, hier
wankt er am Stabe der Armuth voruͤber, nur
[291] ſein treuer Jagdhund begleitet ihn. Der lez-
tere beweißt deutlich, daß man Dankbarkeit
nur unter Thieren ſuchen, ſie von Menſchen
nicht erwarten darf! — —


Geben ſie Acht, geben ſie wohl Acht! Izt
kommt das lezte und beſte meiner Stuͤcke.
Nun, meine Herren, was ſehen ſie?


Der Arzt. Einen Spiegel.


Der Wahnſinnige. Und in dieſem?


Der Arzt. Nichts.


Der Wahnſinnige. Gar nichts?


Der Arzt. Rein nichts!


Der Wahnſinnige. Hm! Hm! Merk-
wuͤrdig, aber wahr! Es iſt der Spiegel der
edeln und uneigennuͤtzigen Handlungen aller le-
benden Menſchen. Da ſie nichts darinne er-
blicken, ſo iſts erwieſen, daß alle, die auf
T 2
[292] Erden wohnen, vollkommne Taugenichtſe ſind.
Ihr Diener, meine Herren, ihr Diener!


Er trat nun ſeitwaͤrts, und ſtaunte ſtill
vor ſich hin. Endlich legte er ſeinen Zeigefin-
ger an die Naſe, und trat wieder vor uns
hin. Was iſt, ſprach er im langſamen To-
ne, liſtiger als der Teufel und maͤchtiger
wie Gott?


Wir ſchwiegen.


Ich will's ihnen erklaͤren! fuhr er laͤ-
chelnd fort. Das Weib iſt's! Das Weib!
Denn der Teufel mußte ſich der Huͤlfe eines
Weibes bedienen, um den Mann verfuͤhren
zu koͤnnen. Es iſt maͤchtiger wie Gott, denn
dieſer brauchte ſechs Tage, um die Welt zu
erſchaffen, und das Weib bedarf oft nur
eines Augenblicks, um dieſe ſchoͤne Welt in
eine Hoͤlle zu verwandeln! Leben ſie wohl!
[293] (mit vielem Nachdrucke) Und gedenken
ſie meiner, wenn ein Weib ihnen Liebe ſtam-
melt!


Er ging ruͤckwaͤrts, und der Arzt fuͤhrte
mich nach dem Gange.


Wer iſt dieſer ſeltne Menſchen- und Wei-
berfeind? fragte ich ihn ſogleich.


Der Arzt. Ich nicht, und niemand weiß
es. Er wandelte vor ſechs Jahren mit ſeinem
Guckkaſten im Lande umher, drang ſogar in
die Geſellſchaftszimmer der Großen, und ſagte
ihnen oft die bitterſten Wahrheiten. Sein
Wahnſinn wurde erſt vollkommen entdeckt,
als man ihn vor Gerichte zur Verantwor-
tung zog.


Da er manches Frauenzimmer tief belei-
digt und gekraͤnkt hatte, und man durch ſorg-
faͤltiges Nachforſchen ſeinen Namen, Karakter
[294] und Vaterland nicht entdecken konnte, ſo
ward er, auf Befehl des Monarchen, meiner
Sorgfalt anvertraut. Er raßt, wenn ich ihm
ſeinen Guckkaſten nehme, er lebt ruhig und
zufrieden, wenn ich ihm dieſen laſſe. Dies
iſt alles, was ich ihnen von ihm erzaͤhlen
kann, denn er beantwortet keine einzige Fra-
ge, welche mir mehr Licht geben koͤnnte.
Wahrſcheinlich muß ein treuloſes Weib ihn
betrogen, und falſche Freunde ihn verrathen
haben, weil er den Schmerz daruͤber in allen
ſeinen Handlungen und Reden aͤuſſert.


Ich verließ nun, an meines Freundes
Hand, das Haus des Elendes. Den Ein-
druck, den ſeine Bewohner auf mich mach-
ten, fuͤhlte ich lange, fuͤhle ich oft noch!


[295]

Das ſteinerne Brautbette.


Wie ich einſt durch einen Theil der hohen
und maͤchtigen Bergkette reiſte, welche Boͤh-
mens Bewohner von ſeinen Nachbarn trennt,
machte mich die ſchlechte Straſſe aͤuſſerſt mis-
launiſch, ich achtete der brennenden Sonnen-
hitze nicht, verließ meinen Wagen, und
ſchlenderte auf einem Fußſteige fort, indeß
jener in einem tiefen Hohlwege fuͤrchterlich
umher ſchwankte. Die Gegend war roman-
tiſch, oft auch fuͤrchterlich wild, ich wollte
ſie genuͤſſen, aber alle meine Rippen wider-
[296] ſprachen dieſem Genuſſe, und bewieſen mir
durch lebhafte Schmerzen, daß eine Gegend,
welche dieſes Gefuͤhl vernrſache, unmoͤglich
ſchoͤn ſein koͤnne.


Der Fußſteig, auf welchem ich wandelte,
ſchlaͤngelte ſich in ein kleines Thal hinab, wel-
ches hohe, unfruchtbare, oft nackende Felſen
rings umher einſchloſſen, und die gerechte
Sorge in mir erregten: Ob ich einen Aus-
gang finden wuͤrde? In den Ritzen der Fel-
ſen gruͤnten hie und da Kiefern und Tannen,
ihre Zwergengeſtalt bewies deutlich, daß ſie
nur ſparſame Nahrung fanden. Die Sonne
ſtand hinter den hoͤchſten Bergen, und warf
ihren Schatten ins Thal herab, ich eilte, ihn
zu genuͤſſen, und ward, wie ich ruhte, wie-
der heiter und munter.


Es war oͤde und leer im ganzen Thale,
ein paar Ziegen kletterten auf den nahen Fel-
[297] ſen umher, und horchten ſchuͤchtern, wenn
vom Berge herab die Raͤder meines Wagens
raſſelten, oder dem unwilligen Kutſcher dann
und wann ein lauter Fluch entſchluͤpfte. Mir
grade gegenuͤber thuͤrmte ſich ein Fels empor,
deſſen Spitze ſich in zwei Theile theilte, und
dem Kuͤhnen, welcher ſeinen Gipfel zu erſtei-
gen wagte, einen Ruheplatz in ſeiner Mitte
bot.


Ich unterſuchte eben: Ob dieſen Platz
Kunſt oder Natur geformt habe, und wollte
mich grade vom erſtern uͤberzeugen, als ein
altes Muͤtterchen mit einer Holzbuͤrde bei
mir voruͤber ſchlich, und auf einem nahen
Stein zu ruhen ſuchte. Ihr folgte ein jun-
ges, ſtarkes Maͤdchen, das eine gleiche Buͤr-
de trug, ſich unfern von mir lagerte, und
nach dem Felſen hinſtarrte, welchen mein
Auge erſt verlaſſen hatte.


[298]

Der Alte. (zu ihr) Gaffe nicht ſo
hinuͤber, und bete lieber ein Vater Unſer,
damit dich Gott fuͤr aͤhnlichem Ungluͤcke be-
huͤte. — —


Die Dirne machte ſogleich ein Kreuz,
und betete recht andaͤchtig.


Ich unterſuche nie die Abſicht eines Ge-
betes, ſei dieſe auch welche ſie wolle, ſo bleibt
mir der Betende immer ehrwuͤrdig, und ich
ſtoͤre ihn hoͤchſt ungerne. Ich harrte daher,
bis ſie gebetet hatte, und nahte mich dann
erſt der Alten, um zu erfahren, was ſich
auf dieſem Felſen Merkwuͤrdiges zugetragen
habe.


Die Alte. Ja, mein lieber, guter Herr,
das kann ich ihnen ſo eigentlich nicht erzaͤh-
len, ich hab's nur einſt von meiner ſeeligen
Mutter erfahren, und dieſe wußte es auch
[299] nur vom Hoͤrenſagen, und ſo mag dann man-
ches verlohren gegangen ſein, was ich ihnen
gerne erzaͤhlen wollte, wenn ich's recht zu
erzaͤhlen wuͤßte. So viel iſt gewiß, daß vor
einigen hundert Jahren auf dieſem Felſen ein
ſchoͤnes Schloß ſtand, und darinne eine rei-
che Edelfrau mit ihrer einzigen Tochter leb-
te. Dieſe liebte einen jungen Herrn aus der
Nachbarſchaft, welchen die Mutter nicht lei-
den konnte, und es daher nie erlauben woll-
te, daß ſie ihn heurathe. Aber die Tochter
achtete der Mutter Verbot nicht, und ver-
ſprach heimlich ihrem Liebhaber, ſo lange ſei-
ner zu harren, bis die Mutter ſterben wuͤrde.


Kurz vor ihrem Tode erfuhr die Mut-
ter dies Verſprechen, ſie ward aͤuſſerſt
daruͤber boͤſe drohte der Ungehorſamen mit
dem Fluche, und bat Gott inbruͤnſtig, daß
er ihn hoͤren, und der Tochter Brautbette in
einen Stein verwandeln moͤge, wenn ſie den
jungen Ritter dahin fuͤhren wolle.


[300]

Die Mutter ſtarb, und die ehrvergeßne,
ungehorſame Tochter reichte bald hernach ihrem
Liebhaber die Hand. Sie feierten ihre Hoch-
zeit mit großer Pracht auf dem Schloſſe, wel-
ches auf dieſem Felſen ſtand. Wie ſie um Mit-
ternacht nach der Brautkammer gingen, hoͤrte
die Nachbarſchaft rings umher einen fuͤrchter-
lichen Donnerſchlag. Am Morgen war das
ſchoͤne Schloß verſchwunden, kein Weg und
Steg fuͤhrte mehr nach dem Felſen. Die un-
gehorſame Tochter ſaß ganz allein auf der
Spitze deſſelben in dem ſteinernen Brautbette,
welches man izt noch deutlich ſehen und be-
trachten kann. Kein Menſch konnte ſie ret-
ten, und jeder, welcher es wagen wollte, zu
ihr hinauf zu klettern, ſtuͤrzte herab. Sie
mußte ohne Huͤlfe auf dieſem Felſen verzwei-
feln und Hungers ſterben. Ihren todten Koͤr-
per fraſſen die Raben, und die Uhus ſchlepten
ihre Gebeine in der Gegend umher, damit
jedes ungehorſame Kind ſich ein Beiſpiel neh-
[301] men, und den lezten Willen ſeiner Eltern
gewiſſenhaft erfuͤllen moͤge. — —


Aber dieſe allgemeine Volksſage, dies
Maͤrchen, wie ſie es zu nennen belieben,
muß doch Deutung und Urſprung haben!
ſprach ich zum wuͤrdigen Amtmanne der Herr-
ſchaft, bei welchem ich am Abende Gaſtfrei-
heit genoß, und ihm die Erzaͤhlung des al-
ten Muͤtterchens wiederholte.


Ich zweifle, antwortete er laͤchelnd, doch
will ich ihnen zu Gefallen unſer beſtaͤubtes
Archiv durchſtoͤbern, es iſt reichhaltig an Nach-
richten aus der Vorzeit, und da die Ge-
ſchichtſchreiber immer gewiſſenhaft anzeigen:
Wie theuer man in jedem Jahre das Maas
Korn, das Bund Knoblauch oder Zwiebeln
bezahlte? ſo werden ſie dieſe merkwuͤrdige
Geſchichte nicht vergeſſen haben, ſo werde ich
gewiß etwas Aehnliches finden, wenn auch
[302] muͤndliche Sage und Erzaͤhlung das Ganze
vergroͤſſert und verunſtaltet haͤtte.


Beim Abſchiede erinnerte ich ihn noch-
mals an ſein Verſprechen, und erhielte nach
Jahresfriſt folgende Geſchichte von ihm:


[303]

Hugo und Kleta.


Im Jahre 1316 wurde um die Zeit der
Metten, die man am Feſte des heiligen Ja-
kobs betet, dem edlen und geſtrengen Herrn
Hanns von Ottenwald ein Toͤchterlein geboh-
ren. Am Abende vorher begann die edle
Frau die erſten Geburtsſchmerzen zu fuͤhlen.
Der Himmel war ſchoͤn und heiter, ehe aber
die Mitternacht ſich nahte, verfinſterten dun-
kele Gewitterwolken die Sterne, der Sturm-
wind ſaußte im Forſte, und bruͤllte in den
Hoͤhlen der Felſen. Uhue und Eulen flatter-
ten am Fenſterlein der Schlafkammer, und
kraͤchzten fuͤrchterlich.


Wie's im Forſte noch immer tobte, der
Blitz eine Eiche zerſpaltete, und der Sturm-
wind hohe Tannen entwurzelte, erblickte das
Toͤchterlein das Licht der Welt, es war hold
[304] und ſchoͤn, die Mutter kuͤßte es mit In-
brunſt, der Vater nahm's wonnetrunken in
ſeine Arme, Knechte und Maͤgde jubelten,
nur der alte Vogt ſchlich traurend nach ſei-
nem Gemache, und bat Gott wehmuͤthig,
daß des Fraͤuleins Lebenstage nicht ſeiner Ge-
burt gleichen moͤchten, denn er war wohl er-
fahren in mancherlei Deutungen, und hatte
die Erfahrung geſammlet, daß Gewitterſturm
in der Stunde der Geburt auf mancherlei Un-
gluͤck deute.


Das edle Toͤchterlein gedeihte vortreflich,
es wuchs zur mannbaren Jungfrau empor,
und reizte Alt und Jung zur groͤßten Be-
wunderung ſeiner Schoͤnheit. Gott hoͤrte das
Flehen der Eltern nicht mehr, ihre Ehe ward
in der Folge nicht mit mehrern Kindern ge-
ſegnet, ſie mußten ſich mit dem Einzigen be-
gnuͤgen, und liebten es mit groͤßter Zaͤrt-
lichkeit.


Edel-
[305]

Edeldrud, ſo hieß die Jungfrau, ward
fromm und tugendſam erzogen, ſie konnte
kraͤftige Morgen- und Abendgebete aus dem
Stegreife ſprechen, und wenn ſie in der Ka-
pelle vorbetete, ſo eilten alle Bewohner der
Veſte herbei, um nachzubeten, was ihr hol-
der Mund ſo lieblich und andaͤchtiglich aus-
ſprach. Auf einem der nahen Felſen, welche
ſich, links und rechts der Veſte, in großer
Anzahl in die Hoͤhe thuͤrmten, hatte einer
ihrer Vorahnen eine Kapelle zu Ehren der
heiligſten Jungfrau erbaut. Dorthin wall-
fahrtete ſie oft mit ihrer Magd, und betete
ſtundenlang, wenn ihr Vater in der Naͤhe
jagte.


Eben war ſie ſiebzehn Jahr alt, als ſie
auch dahin wallfahrtete, und nicht wieder-
kehrte, wie die Sonne ſich ſchon hinter dem
Forſte verſteckt hatte. Der beſorgte Vater
ging aus, um ſie zu ſuchen, und fand ſie
Biogr. d. W. 3. B. U
[306] nicht in der Kapelle. Ihr Schleier hing un-
fern davon an dem Aſte einer Tanne, unter
deren Schatten man viele Huftritte erblickte.


Der arme Vater raßte, er ſandte ſchleu-
niges Aufgebot an alle ſeine Leibeigne, und
irrte mit ihnen in der ganzen Gegend um-
her, um ſein einziges Kind zu ſuchen und
zu finden. All ſeine Muͤhe war vergebens,
er mußte heimkehren zur jammernden Mut-
ter, und konnte ihr leidendes Herz mit kei-
ner troͤſtenden Nachricht erfreuen. Die ſchoͤne
Edeldrud war verſchwunden, keine Spur ver-
rieth ihren Aufenthalt, keine Botſchaft von
ihr erquickte die trauernden Eltern. Ehe ein
Jahr verging, toͤdtete der Jammer die ar-
me, ſchmachtende Mutter, ihre lezten Wor-
te waren Seegen uͤber ihre geraubte Tochter,
wenn ſie noch hienieden wallen ſollte; ihr lez-
ter Blick bewies es deutlich, daß ſie ſolche
[307] dort zu finden, wenigſtens wieder zu ſehen
hofte.


Der alte Vater ſaß nun einſam auf ſei-
ner Veſte, er haßte die Jagd, weil dieſe
ihm einſt allzu weit von ſeiner Tochter ent-
fernt hatte, er haßte den Trunk, weil Edel-
drud ihm nicht mehr den Becher kredenzte,
er haßte Gelage und Geſellſchaft, weil bei-
des ihn hinderte, an ſein geliebtes Kind zu
denken, und ihrem Andenken eine Thraͤne zu
weihen. Er ſprach aͤuſſerſt wenig, oͤfnete ſein
Thor keinem Freunde, keinem Fremden, und
hofte, daß Kummer und Gram ſein Meiſter-
ſtuͤck bald vollenden, ihm gleich der Gattin
zu ſeinen Vaͤtern verſammlen wuͤrde. Sechs
lange Jahre hofte er dies vergebens, denn
ſein ſtarker Koͤrper trozte dem Leiden der
Seele, er konnte ihn wohl beugen, aber nicht
zerſtoͤren.


U 2
[308]

Einſt ſaß er noch um Mitternacht ohne
Schlaf in ſeinem Gemache. Alles ruhte, nur
er nicht. Das Bild ſeiner geliebten Tochter
ſtand lebhaft vor ſeiner Seele. Nur einmal
wuͤnſchte er ſie noch zu ſehen und an ſein Herz
zu druͤcken. Ein Gepolter, welches aus der
Ferne ertoͤnte, weckte ihn aus ſeinem Tief-
ſinn, er oͤfnete das Fenſter und horchte. Es
klopfte anhaltend am aͤuſſerſten Thore der
Veſte, es daͤuchte ihm, als ob ein Kind wei-
ne, und eine unverſtaͤndliche Stimme jam-
mere. Er berief den Waͤchter, dieſer hatte
ein gleiches vernommen, und heiſchte des
Burgherrn Rath: Ob er das Thor oͤfnen,
oder nur Nachfrage halten ſollte?


Der Burgherr war noch unentſchloſſen,
er ging mit dem Waͤchter hinab, und beſtieg
in ſeiner Geſellſchaft die Mauer.


Wer klopft bei ſo ungewoͤhnlicher Stun-
de? fragte er, als das Klopfen ſich erneu-
erte.


[309]

Jammernde, unverſtaͤndliche Toͤne erklan-
gen in der Tiefe, ein kleines Kind rief:
Mach auf da! Mach auf! — —


Der Waͤchter argwohnte Verraͤtherei, und
widerrieths dem Burgherrn, als er die Bitte
des Kindes erfuͤllen wollte. Er weckte die
Knechte, ſie zuͤndeten Fackeln, und ſenkten
ſie an einem Seile uͤber die Mauer hinab in
die Tiefe, ihr Feuer verbreitete Licht umher.


Eine edle Dame, an deren Guͤrtel viel-
faͤrbige Steine glaͤnzten, deren Hals und Arm
mit großen Perlen umwunden war, ſtand na-
he am Thore, ſie ſtreckte ihre Haͤnde bittend
in die Hoͤhe, und hob ſtillſchweigend und
jammernd ein kleines Kind empor, wenn
man nach ihrem Namen und der Urſache ih-
rer Ankunft forſchte. Man ſah in der Naͤhe
und Ferne niemanden, argwohnte aber doch
[310] noch immer, weil die Dame keinem Rede
ſtehen wollte.


Schon bat der herbeigeeilte Vogt den
Burgherrn, die Unbekannte bis am Morgen
harren zu laſſen, und wollte es ihr eben
kund thun, als ſie ihr flehendes Angeſicht
noch einmal zu ihm empor wandte. Er ſchau-
derte zuruͤck. Gott und Marie! rief er aus,
war dies nicht Jungfrau Edeldruds Blick?
Iſts nicht ihre ganze Geſtalt? — —


Wie der Burgherr, deſſen Auge nicht
mehr hell ſah, dieſe Vermuthung hoͤrte, und
einige der Knechte ſie beſtaͤtigten, da achtete
er keines moͤglichen Verraths, eilte hinab
von der Mauer, half ſelbſt die Riegel zuruͤck-
ſchieben, und zitterte und bebte, als die ed-
le Frau mit ihrem Kinde herein, und zu ſei-
nen Fuͤſſen niederſtuͤrzte. Er hob ſie ahndend
empor, er druͤckte ſie mit frohem Entzuͤcken
[311] an ſein Herz, wie er ſein einziges, ſein ver-
lohrnes Kind in ihr erkannte. Es iſt unſre
Jungfrau Edeldrud! murmelten einige der
Knechte. Sie iſt's! Sie iſt's! jubelte end-
lich die ganze Menge, und draͤngte ſich lieb-
koſend an ihre Seite.


Sie riß ſich mit einmal vom Halſe des
Vaters los, und uͤberblickte mit unruhigem,
ſuchendem Blicke die Menge. Ha, ich verſtehe!
rief der Vater, ob dir dein Gefuͤhl gleich die
Sprache geraubt hat, ſo ſpricht dein Blick
doch deutlich. Du ſuchſt deine Mutter? Sie
iſt nicht mehr hienieden, ſie hinterließ dir
Seegen in Fuͤlle, nimm ihn aus der Hand
deines Vaters, und murre nicht mit Gott,
da er dir dieſen noch goͤnnte.


Edeldrud ſank wieder weinend und ſchluch-
zend in die Arme des Vaters zuruͤck, er lei-
tete ſie nach dem Saale. Der Vogt trug das
[312] kleine Kind auf ſeinen Armen neben her, es
ſpielte mit dem grauen Haare des Vaters,
und fragte ihn mehr als einmal; Ob er es
liebe?


Wie ſie im Saale anlangten, fuͤhrte ſie
der Vater zum Kredenztiſche, er ſchwenkte
die Humpe, ſie war noch halb gefuͤllt. Ge-
liebte Tochter, rief er wonnetrunken aus,
fuͤlle mir den Becher! Immer flehte ich zu
Gott, daß er mir dies Gluͤck gewaͤhren ſolle,
er hat mein Flehen erhoͤrt, ich will's genuͤſ-
ſen!


Edeldrud fuͤllte den Becher, Thraͤnen
traͤufelten darein. Es ſind Thraͤnen der Freu-
de, es ſind deine Thraͤnen, ſie koͤnnen nicht
ſchaden, ſprach der Vater, und leerte den
Becher. Izt, fuhr er fort, ſaͤttige aber auch
meine Neugierde, die ſich maͤchtig regt. Wo
warſt du dieſe lange Zeit? Wie kam dies
[313] Kind in deine Haͤnde. Iſt's das deinige?
O ich will's als Enkel an meine Bruſt druͤk-
ken, und ſollte es auch ein Baſtard ſein!


Edeldrud hob das Kind weinend empor,
und legte es in die Arme ihres Vaters. Ihr
Blick ſuchte den Himmel, und blieb betend
an ihm hangen. Das Kind hing ſich an des
Greiſes Hals, kuͤßte ſeine Wangen, und
ſprach ſchmeichelnd: Mir gut ſein! Mich lieb
haben! — —


Der alte Vater fuͤhlte dieſe Bitte tief,
und ſchloß es mit Vatergefuͤhl an ſein Herz.
Erzaͤhle, ſprach er zu Edeldruden, erzaͤhle
offen und aufrichtig, es wird Wolluſt fuͤr
mein Herz ſein, wenn es dir recht viel ver-
geben kann!


Edeldruds Blick ſank zur Erde, ihr An-
geſicht gluͤhte, Begierde nach Rache funkelte
[314] in ihrem Auge, ſie oͤfnete ihren ſchoͤnen
Mund, und deutete mit der Hand darauf.
Mutter kann nicht reden, ſprach das Kind,
hat keine Zunge! Der alte Vater ſchauderte
zuruͤck, alle Anweſende falteten die Haͤnde
und ſtaunten. Lange wagte es keiner, die
ſchreckliche Muthmaſſung zu pruͤfen; endlich
nahte ſich der Vogt, und ſah nun deutlich,
daß der ungluͤcklichen Edeldrud die Zunge
wuͤrklich zur Haͤlfte abgeſchnitten, die Wun-
de aber ſchon lange verheilt ſei.


Des Vaters Schmerz war groß und
ſchrecklich, er zitterte und bebte, wenn er
ſich das Leiden der Ungluͤcklichen dachte; er
wuͤthete, wenn er uͤberlegte, daß er nicht
Rache nehmen koͤnne an dem Urheber dieſer
ſchaͤndlichen That. Die Nacht verfloß ſchlaf-
los, alles jammerte, alles weinte und be-
dauerte das harte Schickſal der Ungluͤcklichen.


[315]

Nach manchen Fragen, die Edeldrud nur
durch Zeichen beantworten konnte, ward dem
Burgherrn kund, daß wahrſcheinlich maͤchtige
Raͤuber ſie ehemals aus der Kapelle entfuͤhrt,
und ſo ſchrecklich mißhandelt hatten. Wie
aber in der Folge ſich ihr hartes Schickſal ge-
aͤndert, wie und durch wen ſie die ſchoͤnen
Kleider, den koſtbaren Schmuck und die Edel-
ſteine, welche ſie am Haupte, Halſe und
Guͤrtel trug, erhalten hatte, konnte Edel-
drud mit aller Muͤhe und Anſtrengung keinem
der Anweſenden begreiflich machen. Nur ſo
viel erfuhren ſie mit Gewißheit, daß das
kleine Kind — ein ſchoͤnes, liebes Maͤd-
chen — ihre Tochter, und ſie aus einer wei-
ten Ferne mit ihr bis hieher geflohen ſei.


Endlich goͤnnte der Vater ſeinem wieder-
gefundenen Kinde Ruhe, er fuͤhrte ſie nach
ihrem ehemaligen Gemache; ſie weinte ſehr,
wie ſie es betrat, und kniete betend an ihr
[316] Lager. Am Morgen beſuchte ſie der Vater,
er hatte die ganze Zeit ſich mit ſeinem Vogte
berathet, er hofte, durch wohlgeordnete Fra-
gen mehreres Licht zu erhalten.


Liebſt du den Vater dieſes Kindes? ſprach
er zu ſeiner Tochter.


Edeldrud. (bekraͤftigte es mit
den deutlichſten Zeichen.)


Der Vater. War er dein Gatte? Wur-
deſt du auf rechtmaͤſige Weiſe mit ihm ver-
heurathet?


Edeldrud. (legte die Hand auf
die Bruſt, und neigte ihr Haupt.)


Vater. War er ein Ritter? Oder mehr
noch, als ein Ritter?


Edeldrud. (bejahte beide Fra-
gen.)


[317]

Vater. War er unter denen, welche
dich mir raubten? Hatte er Theil an der
ſchrecklichen That, die ſie an dir uͤbten?


Edeldrud. (verneinte dieſe Fra-
ge.)


Vater. Wurde er vielleicht dein Ret-
ter?


Edeldrud. (beſtaͤtigte es mit groſ-
ſer Freude.)


Vater. Wo iſt er? Lebt er noch?


Edeldrud. (weinte, und gab durch
Zeichen zu verſtehen, daß ſie das be-
zweifle.)


Vater. Wie ward'ſt du von ihm ge-
trennt? Wie kamſt du hieher?


Edeldrud. (deutete auf ihr Kind,
und ſuchte dem Vater begreiflich zu
[318] machen, daß dieſes alles erzaͤhlen
wuͤrde.)


Der Vater verſtand die Deutung, und
beſtuͤrmte nun das Kind mit vielen Fragen,
aber ſeine Neugierde ward nur hoͤchſt maͤßig
befriedigt. Das muntere, geſchwaͤtzige Maͤd-
chen erzaͤhlte zwar vieles, aber doch nichts,
was auf naͤhere Entdeckung haͤtte leiten koͤn-
nen. Seiner Ausſage nach lebte die Mutter
mit dem Vater auf einer ſchoͤnen Veſte, die
ein praͤchtiger Garten umgab, in welchem ſie
oft ſpazieren gingen. Der Vater liebte die
Mutter recht ſehr, und dieſe liebte ihn auch
recht ſehr. Sie hatten viele Knechte, Diener
und Maͤgde, und lebten froh und zufrieden,
nur die Mutter weinte manchmal; wenn
aber der Vater kam, da wiſchte ſie ſchnell
ihre Thraͤnen ab und laͤchelte.


Einſt gingen ſie froͤlich ſchlafen. In der
Nacht erwachte die Kleine, wilde Maͤnner
[319] ſtanden mit Fackeln an ihrem Lager, riſſen ſie
empor, und trugen ſie nach dem Vorhofe.
Die Mutter ſtand ſchon weinend und haͤnde-
ringend unter einem Haufen anderer Maͤn-
ner, welche das Kind nicht kannte. Die
Veſte ſtand in Flammen, den Vater ſah man
nicht. Andere Fremde brachten Roſſe herbei,
die Mutter mußte eines derſelben beſteigen;
viele Reuter umgaben ſie, einer derſelben
reichte der Mutter das Kind.


Lange, lange zogen ſie vorwaͤrts, muß-
ten oft im Forſte ſchlafen, dann und wann
auch hungern. Ehe die Sonne am Tage zu-
vor unterging, kamen ſie in eine wilde Ge-
gend, wo man nichts als Felſen und Steine
ſah; die Mutter weinte viel. In der Nacht
erwachte das Kind auf dem Arme der Mut-
ter, dieſe lief ſchnell und eilend, ſprang wie
ein Reh uͤber Steine und Felſen hinweg, und
langte endlich am Thore der Veſte an, wo
[320] ſie heftig klopfte, und dem Kinde durch Zei-
chen zu verſtehen gab, daß es rufen moͤge:
Wer ſein Vater war? Wie er ſich nenne?
In welchem Lande ſie wohnten? konnte das
Kind nicht erzaͤhlen.


Da der Haufe, welcher nach der Ausſage
des Kindes ſeine Mutter ſo lange gefangen
mit ſich fuͤhrte, wahrſcheinlich nahe der Ka-
pelle gelagert hatte, aus welcher ehemals
Edeldrud geraubt wurde, ſo ſandte der Va-
ter ſogleich den Vogt mit einer Menge Reiſi-
gen aus, um dieſen auf die Spur zu kom-
men, und ſo die moͤgliche Entdeckung zu foͤr-
dern. Aber dieſer kehrte ſchon am Abende mit
der Verſicherung zuruͤck, daß er zwar die Staͤt-
te ihres Lagers zwiſchen den Felſen entdeckt,
aber die weitere Spur verlohren habe. Wie
ich aber, erzaͤhlte er weiter, beim Ruͤckzuge
in der Kapelle betete, und eures Jammers
lebhaft gedachte, da gab mir ſonder Zweifel
Gott
[321] Gott einen Rath ein, der euch, wenn ihr ihn
nuͤtzen wollt, dem Endzwecke naͤher fuͤhren
wird. Beruft einen gelehrten Moͤnch aus dem
nahen Benediktiner Kloſter, lohnt ihn gut,
damit er der geſtrengen Frau die Kunſt zu
ſchreiben lehre, ſie wird dann ihm alles kund
machen koͤnnen, was ſich mit ihr zugetragen
hat, und ihr werdet es durch ihn wieder er-
fahren.


Der alte Vater ergrif dieſen Rath mit vie-
len Freuden, er that ihm ſeiner Tochter kund,
und dieſe aͤuſſerte große Begierde, dieſe Kunſt
bald zu erlernen.


Schon am andern Morgen erſchien der
Moͤnch, und gelobte, binnen Jahr und Tag
der edlen Frau die Schreibekunſt vollkommen
zu lehren. Alles harrte dieſer Zeit mit Be-
gierde entgegen, ehe aber noch Edeldrud die
Buchſtaben nachmahlen konnte, warf Alter,
Biogr. d. W. 3. B. X
[322] und wahrſcheinlich auch innerer Kummer, den
Vater aufs Krankenlager, er beſtellte ſein
Haus, ſezte ſein ungluͤckliches Kind zum Er-
ben ſeiner Guͤter ein, und ſchied mit der ſichern
Hofnung, daß ihm dort Aufklaͤrung werden,
und der Ewige die Rache an dem ruchloſen Thaͤ-
ter ſelbſt uͤben werde, die er hier nicht vollen-
den konnte.


Edeldrud trauerte tief und lange am Gra-
be ihres Vaters, ſie legte die Trauerkleider
nie mehr ab, und ging immer als eine tiefge-
beugte Witwe umher. Sie ließ ihre Veſte
ſtets ſorgfaͤltig bewachen, und das Thor der-
ſelben keinem Fremden oͤfnen. Wie ihr bald
hernach der Vogt kund machte, daß er im For-
ſte einen Haufen Reiſige getroffen habe, die
ihm nicht Rede ſtehen wollten, ſo duͤnkte ſie
ſich auf der Veſte nicht mehr ſicher, ſammlete
ihre Schaͤtze, und zog mit ihrer Tochter, wel-
che ſie innig liebte, gen Regensburg, wo ſie
[323] ſich ein Haus miethete, und aͤuſſerſt einſam
lebte.


Der alte Moͤnch ward ihr lieb und theuer,
ſie ernannte ihn zu ihrem Kaplan, nahm ihn
mit ſich, und lernte bald die damals noch ſo
ſeltne Kunſt, ſich durch geſchriebne Buchſtaben
verſtaͤndlich zu machen. Er ward in der Folge
ihr Dollmetſcher, und erklaͤrte dann immer,
was ſie einem oder dem andern ſagen wollte.


Auch ihrer Tochter, welche ſich Kleta nann-
te, mußte die Schreibekunſt lernen, und da
ſie einſah, daß dies das einzige Mittel ſei,
mit ihrer Mutter ſprechen zu koͤnnen, ſo er-
warb ſie ſich bald ſo große Fertigkeit darinne,
daß ſie, nach der Verſicherung des Moͤnches,
nicht allein ſehr ſchoͤn, ſondern auch fertiger,
als mancher gelehrte Mann ſchreiben konnte.


X 2
[324]

Wie Kleta die Jahre des Maͤdchens ver-
ließ, in den Stand der Jungfrauen trat, nach-
zudenken und zu uͤberlegen begann, heiſchte ſie
oft von ihrer Mutter die Erklaͤrung ihres ehe-
maligen wunderbaren Schickſals, aber die
Mutter erwiederte allemal, daß dieſes ihr izt
noch nicht Frucht bringe, mehr Schaden als
Nutzen verurſachen koͤnne.


Ich will, ſchrieb ſie ihr einſt mit Thraͤ-
nen, dies Geheimniß nicht mit in mein Grab
nehmen, du wirſt die ganze Erzaͤhlung mei-
nes aͤuſſerſt grauſamen Schickſals nach meinem
Tode in meinem Kleinodienkaͤſtchen verwahrt
finden. Bis dahin erlaube mir aber zu ſchwei-
gen, denn es wuͤrde mir aͤuſſerſt wehthun,
wenn ich durch aͤchte Erzaͤhlung zwar dein
Mitleid reitzen, vielleicht aber deine Liebe
vermindert ſehen muͤßte. Es fiel mir ſchwer,
meinen Vater todt zu ſehen, aber ich wuͤrde
noch weit ſtaͤrker an ſeinem Grabe gejammert
[325] haben, wenn mich nicht die frohe Hofnung,
daß nun das Bekenntniß meines Schickſals
niemand mit Gewalt fordern koͤnne, getroͤſtet
haͤtte. Bedenke dies, und ehre meinen Kum-
mer. Kleta thats, und hielte redlich Wort,
ſie forſchte nie mehr darnach, und glaubte
izt, was der Moͤnch ihr ſo oft geſagt hatte,
daß die Mutter ihn noch nie zum Vertrau-
ten ihres Geheimniſſes gemacht habe.


Edeldrud lebte zu Regensburg ſehr ein-
gezogen, ſie konnte mit niemanden ſprechen,
und ſuchte daher jede Geſellſchaft zu vermei-
den. Da ihr Haus ganz einem Kloſter glich,
und ſie nur taͤglich mit verſchleiertem Ange-
ſichte nach der Kirche ging, ſo nannte man
ſie nur die fromme Stumme. Viele glaub-
ten, daß ſie wuͤrklich ſtumm ſei, nur we-
nige wußten es, daß ſie durch einen unbe-
kannten Zufall ihre Zunge verlohren habe.


[326]

Als Kaiſer Ludwig von ſeinem ungluͤck-
lichen Zuge aus Italien nach Deutſchland
ruͤckkehrte, und mit ſeiner Hofſtatt in Re-
gensburg einige Zeit weilte, war Kleta eben
ſiebenzehn Jahr alt geworden. Alle, die ſie
ſahen und kannten, lobpreißten ihre auſſeror-
dentliche Schoͤnheit, und behaupteten einſtim-
mig, daß noch keine ſchoͤnere und reitzendere
Dirne in dieſer Stadt gelebt habe. Dieſer Ruf,
welcher ſchon allgemein war, ehe der Kaiſer
anlangte, verbreitete ſich bald am Hofe deſ-
ſelben. Die jungen Ritter wuͤnſchten dieſe
Perl der Schoͤnheit naͤher zu ſehen; ſie ſchli-
chen an ihrem Hauſe voruͤber, und ſammle-
ten ſich in der Kirche, wo ſie betete. Wann
dann Kleta etwan ans Fenſter trat, oder in
der Kirche ihren Schleier luͤftete, ſo war's,
als wenn die Sonne aufging, aller Augen
wandten ſich nach ihr, und verehrten ſie.


An der Spitze aller, welche Kletas große
Schoͤnheit verehrten, und nach einem Blicke
[327] ihrer ſchoͤnen Augen geizten, ſtand Hugo von
Immenthal, ein ſchoͤner, holder Juͤngling.
Er war mit dem Kaiſer nach Italien gezo-
gen, hatte ſich durch emſige Dienſte, durch
ſeltne Treue bei ihm ſo beliebt und angenehm
gemacht, daß er ihn, gleich ſeinem Sohne,
liebte, und immer an ſeiner Seite gehen ließ.
Alle wichen ehrfurchtsvoll zuruͤck, als ſie ſa-
hen, daß des Kaiſers Liebling Kletas Schrit-
ten eifrig folge, und offen erklaͤrte, daß er
dieſe Jungfrau als Weib heimzufuͤhren wuͤn-
ſche.


Durch raſtloſes Beſtreben hatte er Kleta
aufmerkſam gemacht. Wenn er auf ſeinem
ſchwarzen Streitroſſe die Straſſe herauf trab-
te, ſo trat ſie immer ans Fenſter, und laͤ-
chelte vergnuͤgt, wenn das gereizte Roß den
feſten Reiter herabwerfen wollte, und doch
nicht konnte. Wenn ſein Sporn hinter ihr in
der Kirche klirrte, ſo luͤftete ſie ſtets den Schlei-
[328] er, und weilte oft lange mit ihrem Blicke auf
ihm. Dies war aber auch alles, was er durch
volle zwei Monden, von welchem jeder Tag
ſeine Liebe mehrte, gewinnen konnte. Die
Ehrfurcht erlaubte es ihm nicht, die Mutter
ſammt der Tochter auf der Straſſe oder in der
Kirche anzureden, und wollte er es wagen,
unter irgend einem erdichteten Vorwande in
ihr Haus einzudringen, ſo ward er immer mit
der Verſicherung zuruͤckgwieſen, daß keinem
Ritter der Eingang offen ſtehe. Jeder, mit
welchem er ſprach, kannte die ſchoͤne Kleta,
aber keiner unter allen hatte Zutritt in ihrem
Hauſe, oder war faͤhig, ihm ſolchen zu bewuͤr-
ken.


Wie ſchon namenloſe Liebe an ſeinem Her-
zen nagte, er in mancher durchwachten Nacht
hundert Plane entwarf, von welchen er am
andern Tage keinen ausfuͤhrbar fand, machte
ihm der Kaiſer kund, daß er zur Uebung ſei-
[329] ner Ritter ein Turnier feiern wolle, welches
glanzvoll und praͤchtig beginnen, und zehn
Tage lang dauern ſollte.


Hugos Herz ward durch dieſe Nachricht
hoch erfreut, die immer thaͤtige Liebe zeigte
ihm in dieſem Augenblicke Moͤglichkeit und Hof-
nung. Er fragte: Ob der Kaiſer alle edle
Jungfrauen der Stadt zum Feſte laden wuͤrde,
und bat, als dieſer es bewilligte, der Herold
dieſer kaiſerlichen Gnade werden zu duͤrfen.


Die Bitte ward bewilligt, ſchon am an-
dern Morgen zog er mit kaiſerlichem Geleite
durch die Straſſen, um alle edle Jungfrauen
zu laden. Kletas Wohnung war ganz natuͤr-
lich eine der erſten, welche er beſuchte. Ich
komme im Namen des Kaiſers, ſprach er zum
Thuͤrſteher, und dieſer oͤfnete nicht allein ehr-
erbietig das Thor, ſondern ging auch, ſeiner
geſtrengen Frau Botſchaft zu bringen.


[330]

Hugo harrte nicht lange, man fuͤhrte ihn
nach einem Gemache, wo er Mutter und
Tochter an einem Strickrahmen fand; er gruͤß-
te die erſtere mit Ehrfurcht, und erklaͤrte
der leztern des Kaiſers Einlandung mit ſtamm-
lenden Worten. Kletas Wange hatte ſich hoch
geroͤthet, als ſie den Ritter erblickte; ſie
bleichte izt maͤchtig, als ſie ſeine Bothſchaft
hoͤrte, und nicht wußte, wie ſie ſolche be-
antworten ſollte. Sie blickte ihre Mutter an,
und heiſchte Rath und Unterricht. Edeldrud
ergrif den Griffel, ſchrieb ihr einige Worte
auf die Schiefertafel, Kleta laͤchelte, und
antwortete izt dem Ritter, daß ſie die hohe
Ehre des Kaiſers ſchaͤtze, und ſeinem Befehle
gemaͤß beim Feſte erſcheinen werde.


Hugo dankte, zoͤgerte ſo lange, als
moͤglich, bewunderte die ſchoͤne Arbeit der
noch ſchoͤnern Haͤnde, und ging endlich, weil
er des Wohlſtands wegen nicht laͤnger blei-
[331] ben konnte. Kleta begleitete ihn bis an die
Stufen der Treppe, er ſtammlete einige Wor-
te der tiefſten Verehrung; die Jungfrau laͤ-
chelte, und ſtand noch an der Treppe, wie
er ſchon wieder auf ſeinem Roſſe ſaß. Wie
ſie ins Gemach ruͤckkehrte, fand ſie ihre Mut-
ter in Thraͤnen, ſie forſchte nach der Urſache,
und fragte offenherzig: Ob ſie ſich vielleicht
nicht geziemend betragen, ſie durch irgend
etwas beleidigt habe?


Die Mutter trocknete ihre Thraͤnen, und
verſicherte, daß dieſe nur einer traurigen
Ruͤckerinnerung wegen floͤſſen. Du haſt,
ſchrieb ſie, dich wohl und anſtaͤndig betragen.
So ſehr ich's wuͤnſchte, konnte ich doch die
Einladung nicht ablehnen. Es iſt eine große
Ehre, in Turnierlogen Sitz nehmen zu duͤr-
fen; wer ſie ausſchlaͤgt, beweißt deutlich,
daß er ſie nicht verdient. Waͤrſt du einige
Jahre aͤlter, ſo wuͤrde mir dieſe Einladung
[332] aus mancher Ruͤckſicht willkommen ſein. Viele
Jungfrauen ſahen im Turniere ihren kuͤnfti-
gen Gatten. Kummer und Jammer haben
mich zum Grabe reif gemacht, ich wuͤrde aͤuſ-
ſerſt ſchwer ſterben, wenn ich dich an meinem
Sterbelager ohne Stuͤtze erblicken muͤßte.
Vielleicht iſt mein Ende naͤher, als ich glau-
be, vielleicht iſt es Gottes Fuͤgung, ich will
ihr nicht vorgreifen.


Die Anſtalten zum herrlichſten Turniere,
welches jemals gefeiert wurde, begannen nun
mit vollem Ernſte, ſelbſt Edeldrud war ganz
damit beſchaͤftigt. Ihr Herz hing ganz an
dem einzigen Kinde, ſie wuͤnſchte, daß es
glanzvoll erſcheinen moͤge, und oͤfnete ihr
Schmuckkaͤſtchen, um Kletas Guͤrtel und
Wams reichlich zu zieren. Hugo trabte unter
dieſer Zeit taͤglich an Kletas Hauſe voruͤber,
er traf ſie immer am Fenſter, und ward
[333] von ihr ſtets freundlich gegruͤßt. Sein Herz
hofte, und war izt thaͤtiger, als vorher.


Noch hatte der Kaiſer keine der edlen
Jungfrauen beſtimmt, welche nach Sitte und
Gebrauch den Preiß austheilen ſollte; er
war ſogar verlegen, welche er waͤhlen wuͤrde,
weil unter allen Geladnen ſich keine befand,
die ihres vorzuͤglichen Ranges wegen dieſe
Ehre mit Recht fordern konnte. Gnaͤdiger
Herr, ſprach Hugo, laßt das Loos entſchei-
den. Sind die Jungfrauen verſammlet, ſo
zaͤhle ich ihre Menge, thue eben ſo viel ſil-
berne Kugeln, unter welchen ſich nur eine
einzige goldene befindet, in einen Beutel,
laß dann jede ziehen, und ihr ernennt die-
jenige als Preißgeberin, welche die einzige
goldene erhaͤlt.


Dem Kaiſer behagte dieſer Vorſchlag ſehr,
er billigte ihn ganz, und Hugo erhielt den
[334] Auftrag, alles noͤthige zu beſorgen. Schon
einige Tage vorher, ehe das Feſt begann,
zogen aus der Naͤhe und Ferne die aufgebot-
nen Ritter herbei, jeder fuͤhrte Reiſige und
Knappen hinter ſich, der Tritt der ſtolzen
Roſſe ertoͤnte Tag und Nacht in den Straſ-
ſen, die ganze Stadt glich einem Turnier-
platze.


Am fruͤhen Morgen des Feſtes zogen die
zwoͤlf Ehrendamen, welche die Schaar der
edlen Jungfrauen zu leiten und zu fuͤhren
verordnet waren, durch alle Straſſen der
Stadt, und ſammleten die Geladnen hinter
ſich. Wie ſie an Kletas Wohnung anlangten,
und der Herold ihre Gegenwart durch lauten
Trompetenruf verkuͤndigte, ſeegnete Edeldrud
ihre Tochter, und ſandte ſie hinab. Lautes
Fliſtern durchlief die Menge, wie ſie am Thore
erſchien; unwillkuͤrliches Staunen und tiefe
Ehrfurcht feſſelte alle, wie ſie ihren milch-
[335] weiſſen Zelter beſtieg, und zwoͤlf in Scharlach
gekleidete Diener ſich hinter ihr auf ihre Rap-
pen ſchwangen.


Kleta trug einen Rock und Wams von
dichtem, purem Goldſtuͤcke, ihr ſchwarz ſamt-
ner breiter Guͤrtel war mit Edelgeſteinen ein-
gefaßt, in ſeiner Mitte ſchlaͤngelte ſich eine
Schlange von bunten Edelſteinen rings um
ihren Koͤrper. Ihr ſchwarzes Haar war mit
groſſen Perlen behangen, welche nachlaͤſſig auf
die Arme herabſanken, und dieſe bis an die
Haͤnde dicht umſchlungen. Ihr aufgeſchuͤrzter
Schlepp war von ſchwarzem Sammet, welchen
goldne Spangen faßten, und deſſen Saum
ebenfals viele Edelſteine zierten, ſelbſt an ih-
ren Halbſtiefeln und an der Decke ihres Zel-
ters erblickte man dieſe Steine im Ueberfluſſe.
Sie glich einer Koͤniginn, welche im Trium-
phe durch die Stadt zog; alle Zuſchauer nann-
ten ſie die Sonne, und achteten die uͤbrigeu
[336] nur als ihre Trabanten. Selbſt der Kaiſer
erſtaunte ob ihrer Pracht und Schoͤnheit, als
er den Zug von ſeinem Erker uͤberblickte,
und forſchte begierig nach ihrem Stand und
Namen.


Wie alle Jungfrauen im Saale verſamm-
let waren, trat Hugo mit dem Beutel, wel-
cher die Kugeln enthielt, in ihre Mitte. Freu-
de und Wonne glaͤnzte in ſeinem Geſichte, der
Liſtige war ſeines Wunſches, ſeiner geheimen
Abſicht gewiß. Er hatte ſich einen Sack ver-
fertigen laſſen, den eine Scheidewand an einer
Ecke theilte, im groſſen Raume lagen die ſil-
bernen, im abgetheilten die einzige goldne Ku-
gel, er druͤckte dieſen zu, ſo lange andere
griffen, er oͤfnete ihn, und verbarg jenen, als
Kleta mit zitternder Hand hinein grif. Ihre
Wangen roͤtheten ſich hoch, und aller Uebrigen
bleichten maͤchtig, wie ſie in ihrer Hand die
goldne Kugel erblickten. Niemand ahndete die
Liſt,
[337] Liſt, nur der Kaiſer fragte ſeinen Liebling
laͤchelnd: Wie's moͤglich ſei, daß das blinde
Loos diesmal ſo hell geſehen habe?


Hugo fuͤhrte nun Kleta, als Koͤnigin des
Turniers, in die Schranken, und von dort
unter den reichgeſtickten Baldachin, welcher
ihren erhabnen Sitz deckte. Er war vorbe-
reitet auf dieſen Gang, und ſuchte ihn nach
Kraͤften zu nuͤtzen. Schoͤne Preisgeberin,
ſprach er kuͤhn und doch zagend, wuͤrde es
euch wohl verdruͤſſen, wenn ich mich euch als
Sieger nahte, und den Preis von euch for-
derte?


Kleta. Wie waͤre dies moͤglich? Es
wuͤrde mich im Gegentheile ſehr freuen, wenn
ich die Gluͤckliche waͤre, welche eure Tapfer-
keit kroͤnen koͤnnte.


Biogr. d. W. z. B. Y
[338]

Hugo. Und wuͤrde der vom Kaiſer be-
ſtimmte goldne Helm der einzige Lohn ſein,
welchen ich aus eurer Hand erhielte?


Kleta. Ich verſtehe euch nicht.


Hugo. Wuͤrde nicht wenigſtens ein lieb-
voller Blick mir den Preiß unſchaͤtzbar ma-
chen? Mich nicht mit der Hofnung ſtaͤrken,
daß unendlich groͤſſerer Lohn in der Hand der
Geberin ruhe, mir vielleicht einſt werden
koͤnne?


Kleta. (unſchuldig und gut) O
ich verſichere euch, daß ich euch unter allen
Rittern den Preiß am willigſten goͤnne, und
euch willig, wenn's in meiner Macht ſtuͤnde,
hoͤher als der Kaiſer lohnen wollte.


Hugo. O dann wollte ich ſelbſt mit dem
Satane kaͤmpfen, und ihn uͤberwunden zu
euern Fuͤſſen ſchleppen, damit er das Mei-
[339] ſterſtuͤck der Schoͤpfung knirſchend bewundre,
und den Gluͤcklichſten unter den Sterblichen
beneide!


Der Kampf auf Stich und Hieb, auf
Beil und Kolbenſchlag dauerte zehn Tage
lang. Hugo trat in dieſer Zeit vierzigmal in
die Schranken, und verließ ſie immer als
Sieger. Nur einmal wankte er maͤchtig, wie
ein eiſenfeſter ſchwaͤbiſcher Ritter die Lanze
an ſeinem Harniſche zerbrach. Kleta ſchrie
laut auf, wie er vom Roſſe zu ſinken droh-
te, aber Hugo ermannte ſich ſchnell, ſezte
eine neue Lanze ein, und der Ritter ſchnell-
te in Sand herab. Den heutigen Sieg dan-
ke ich euch, ſprach er zu Kleta, wie er ſie
am Ende des Spiels die Stuffen herabfuͤhr-
te, ich hoͤrte eure Theilnahme, und fuͤhlte
mich ſtaͤrker, als je. Kleta druͤckte unwill-
kuͤhrlich ſeine Hand, und geſtand ihm offen,
daß ſie noch vom jaͤhen Schrecken zittere, und
Y 2
[340] es gerne ſehen wuͤrde, wenn er ſich kuͤnftig
nicht immer an den ſtaͤrkſten wage.


In den Tagen des Kampfes wurden keine
Freudenfeſte gefeiert, die Kaͤmpfenden bedurf-
ten der Ruhe. Die Jungfrauen zogen immer
unter der Obhut ihrer Ehrendamen wieder
heim, und mußten, bis nach entſchiednem
Siege, der kuͤnftigen Feſte und des damals
ſo beliebten Reihentanzes harren.


Kletas Mutter laͤchelte zufrieden und
ſtolz, wie ihr kund ward, daß ihre Tochter
die Koͤnigin des Feſtes ſei. Das Loos war
gerecht, ſchrieb ſie im Taumel der Freude auf
die Tafel, deine Geburt berechtigt dich zu
dieſer Ehre, du verdienſt ſie wuͤrklich. Kleta
forderte naͤhere Erklaͤrung uͤber dieſe dunkle
Rede, aber Edeldrud wiſchte die Worte ſchnell
hinweg, und trat mit naſſem Blicke ans Fen-
ſter.


[341]

Kleta hatte von fruͤher Jugend an ihre
Tage in ſtiller Ruhe durchlebt, izt war ſie
mit einmal ins bunte Hofgewuͤhle verwickelt
worden, ſie taumlete, gleich einer Traͤumen-
den, darinne umher, es war ihr weh und
wohl ums Herz. Weh, wenn die Hunderte
alle nach ihr hinſtarrten; wohl, wenn ſie un-
ter den Hunderten den tapfern Hugo erblickte,
deſſen reizende Geſtalt ihr immer mehr be-
hagte, deſſen Tapferkeit ſie immer ſtaͤrker
bewunderte. Sein Bild wanderte auch mit
ihr ins ruhige Gemach, oft ſah ſie ihn in
Augenblicken der erhizten Einbildungskraft
nahe vor ihrem Sitze ſtehen, und fuhr ſo
raſch empor, daß die Mutter ſorgfaͤltig nach
der Urſache forſchte. Gern haͤtte ſie ihr ſolche
geſtanden, wenn nicht immer geſchaͤftige Die-
nerinnen gegenwaͤrtig geweſen waͤren, welche
den Putz des kuͤnftigen Tages ordneten, und
das Geſtaͤndniß hinderten.


[342]

Der eilfte Tag erſchien nun, und mit ihm
die Stunde, in welcher die Kampfrichter den
Tapferſten nennen, und Kleta ihm den Preiß
reichen ſollte. Sie war diesmal in weiſſe und
himmelblaue Seide gekleidet, und glich voll-
kommen einer Huldgoͤttin, welche von hoͤhern
Gefilden herabſteigt, um den Menſchen be-
greiflich zu machen, daß es noch ſchoͤnere We-
ſen, wie er, giebt. Die Ritter ſtanden in
dichtem Haufen an den Schranken, in welchen
die Richter ſaſſen, ſie erkannten einſtimmig
den Hugo von Immenthal fuͤr den tapferſten.
Der Herold rief ſeinen Namen aus, er trat
mit entbloͤßtem Haupte aus dem Haufen her-
vor, die Jungfrauen warfen Blumen und
Kraͤnze auf ihn herab, er dankte, aber ſein
Blick hing an Kleta, die mit zitternder Hand
den Helm hob, und ihn gegen ihn ausſtreckte.


Du warſt der Tapferſte, ſprach ſie mit
ſtammelnder Stimme, du verdienſt den er-
[343] ſten Preiß und Dank! Mit dieſem Helme
lohnt dich der Kaiſer, welcher den Tapfern
liebt. Mit dieſem Kuſſe (ſie zoͤgerte, und
ſank endlich an ſeine Wangen)
mit
dieſem Kuſſe lohne ich dich im Namen aller
edlen Jungfrauen, welche den tapfern Juͤng-
lingen hold ſind!


Jubelgeſchrei und Trompetenklang ertoͤn-
te weit und breit umher, viele Ritter wuͤnſch-
ten ſich an Hugos Stelle, mehrere Jungfrau-
en neideten Kletas Gluͤck, alle glaubten aber
einſtimmig, daß Hugo einen doppelten Preiß,
des Kaiſers Helm und Kletas Herz, erhal-
ten habe. Hugo glaubte dies auch mit won-
nevollem Entzuͤcken, und muͤhte ſich aͤuſſerſt,
ſeinen Glauben durch frohe Hofnung, durch
naͤhere Gewißheit zu ſtaͤrken. Er ſaß bei der
Tafel ihr zur Seite, er eroͤfnete an ihrer
Hand den Siegesreihen, und Kleta ſtammle-
te ihm Liebe, als er ſie einſt nach einem Er-
[344] ker fuͤhrte, und, vom Tanz und Liebe er-
hizt, Entſcheidung ſeines Gluͤckes von ihr
heiſchte.


Der beobachtende Kaiſer ſah ſeines Lieb-
lings Gluͤck, und goͤnnte es ihm vom Herzen.
Auch ihm behagte Kletas Geſtalt und Betra-
gen, nicht Juͤnglingsliebe, nicht Wallung
der Wolluſt zog ihn nach ihr hin; er wußte
ſich die Neigung ſelbſt nicht zu erklaͤren, ſie
glich der Liebe eines Vaters, welcher ein
verlohrnes, lang entbehrtes Kind unverhoft
wiederfindet. Er ſprach oft mit ihr, und
forſchte einſt mehr, als gewoͤhnlich, nach
ihres Vaters Namen. Kleta achtete es fuͤr
ungerecht, dem Kaiſer irgend etwas zu verſchwei-
gen; er hoͤrte mit ſichtbarer Ruͤhrung zu,
kuͤßte am Ende mit thraͤnendem Auge Kletas
Stirne, und verſprach, des Eheſtens ihre
Mutter zu beſuchen.


[345]

Die Tage des Feſtes floſſen ſchnell vor-
uͤber, denn nichts rauſcht ſchneller, als Ge-
nuß der Freude. Kleta fuͤhlte ſich ungluͤck-
lich, als ſie wieder in der muͤtterlichen Woh-
nung eingeengt war, nicht mehr am Arme
des Geliebten die bunten Reihen durchfliegen,
ſticken oder weben ſollte. Ihr geliebter Hugo
hatte ihr beim Abſchiede verſprochen, am fol-
genden Tage vor dem muͤtterlichen Hauſe zu
erſcheinen, und wuͤrde er eingelaſſen, bei der
Mutter um der Tochter Hand zu werben.
Kleta achtete es fuͤr noͤthig, die gute Mut-
ter darauf vorzubereiten; ſie zoͤgerte lange,
endlich begann ſie doch.


Liebe Mutter, ſprach ſie ſtotternd und
mit geſenktem Blicke, ihr habt wahrgeſpro-
chen! Das Turnier, die Ehre, welche ich
auf dieſem genoß, ſcheint Gottes Fuͤgung zu
ſein. Hugo von Immenthal erhielte den
Preis! Ach! ihr haͤttet nur ſehen ſollen, wie
[346] tapfer er kaͤmpfte! Er iſt des Kaiſers Lieb-
ling! Sein Vater war ein edler, aber auch
armer Ritter! — — Dies hat der Kaiſer
erwogen und den tapfern Sohn mit vielen
Guͤtern belehnt, mit noch mehrern be-
ſchenkt! — — Er iſt izt wohlhabend und
reich! Er koͤnnte zehn Weiber anſtaͤndig er-
naͤhren. — —


Die Mutter. (laͤchelnd, dieſe und
alle folgende Reden ſchreibend)
Was
willſt du mit allen dieſen Reden ſagen?


Kleta. Je nun! (ſtotternd) Ich
wollte nur — — Wie ich ihm den Preis
reichen, und im Namen aller Jungfrauen
kuͤſſen mußte — — da — dachte ich eurer
Rede, und da — — Wie wir einſt den Rei-
hen getanzt hatten, und ich im Erker Luft
ſammlete, da trat er zu mir — — da frag-
te er mich, drang [ungeſtuͤm] — — Nein,
[347] nicht ungeſtuͤm, aber doch auch heftig in
mich, und da dachte ich wieder an eure Wor-
te, und — — und — — verſteht ihr mich
denn nicht, Mutter? — —


Mutter. (laͤchelnd) O! nur allzu
gut! Du liebſt!


Kleta. Wenn dies Liebe iſt — — und
freilich — — was kann es anders ſein? — —
Ihr moͤgt wohl recht haben — — Aber dann
liebt er mich auch, recht ſehr liebt er
mich! — — Er will bei euch um mich wer-
ben — — vielleicht heute noch! Ihr werdet
ihn doch nicht abweiſen? — — Der Kaiſer
billigt ſeine Wahl, auch er will ihm ſein
Vorwort verleihen, und den Kaiſer, Mut-
ter, den Kaiſer duͤrft ihr nicht beleidigen.
Er iſt ſo lieb, ſo gut! Er ſprach oft mit
mir. Er nannte mich ſeine Tochter, und
Thraͤnen glaͤnzten in ſeinem Auge, wenu
[348] er mich ſo nannte. Er wird euch naͤchſtens
heimſuchen, er hat's mir verſprochen; er
haͤtte viel mit euch zu reden, ſagte er einige
mal, und hofte, Freude und Troſt bei euch
zu finden.


Die Mutter. (weinte heftig)


Kleta. Ihr weint auch? Darf Hugo
nicht erſcheinen, wenn er kommt?


Die Mutter. Er darf! Ich will ihn
kennen lernen, und entſpricht er meiner Er-
wartung, ſo will ich deine Liebe nicht hin-
dern, ſondern vielmehr foͤrdern — Mein
Ende naht ſich, ich fuͤhl's zu deutlich! Du
bedarfſt eines Gatten! Ich werde vergnuͤgt
ſterben, wenn ich dich an meinem Lager in
ſeinen Armen erblicke.


[349]

Kleta. (voll Freude.) Ihr wollt
ihn alſo ſehen, ſprechen, kennen lernen?
O das habt ihr ja ſchon! War er nicht neu-
lich ſchon bei euch? Brachte er nicht die Ein-
ladung zum Turnierfeſte?


Die Mutter. (haſtig) Dieſer iſt's?
Dieſer iſt Hugo von Immenthal?


Kleta. Ja! Ja! dieſer iſt's?


Die Mutter. (immer haſtiger)
Der Ritter mit dem rollenden, ſchwarzen
Auge? Mit der gebognen Habichtsnaſe?


Kleta. Ja, der Ritter mit dem ſchoͤ-
nen Auge, mit der aͤchten Heldennaſe!


Die Mutter. (ſtuͤzt ihren Arm
auf den Tiſch, verdeckt mit der Hand
[350] ihr Geſicht, nach langem Kampfe)

Ich will ihn noch einmal ſehen, aber dann
— — Liebe Tochter, wenn ich's hindern
muß, ſo mußt du unbedingt folgen!


Kleta. Das waͤre ſchrecklich! — —


Die Mutter. Schrecklich, aber du
mußt! — —


Der lange Morgen floß nun ſtill und
traurig voruͤber. Edeldrud ſaß mit ſtarren
Blicken auf ihrem Sitze, Thraͤnen ſchlichen
oft uͤber ihre bleichen Wangen herab. Kleta
ſchlich zagend und bangend im Gemache um-
her, blickte nach ihrer Mutter, hofte, wuͤnſch-
te und ahndete. Sie eilte zitternd ans Fen-
ſter, wenn auf der Straſſe Huftritte ertoͤn-
ten, ſie wankte traurig zuruͤck, wenn ein
fremder Ritter voruͤberzog.


[351]

Wie Nachmittags die Diener die unbe-
ruͤhrten Speiſen wieder abgetragen hatten,
meldete einer derſelben den Ritter Hugo von
Immenthal. Die Mutter ſchauderte hoch em-
por, Kleta zitterte und bebte; endlich wink-
te Edeldrud, und er ward vorgelaſſen. Ihr
Blick ſtarrte nach ihm hin, wie er eintrat;
ſie verhuͤllte ihr Geſicht, wie er naͤher kam.
Hugo ſtaunte ob des Empfanges, er blickte
nach Kleta hin, welche ihn zu troͤſten wuͤnſch-
te, aber nicht troͤſten konnte. Endlich faßte
ſich Edeldrud, ſie nahm den Griffel in die
Hand, und ſchrieb die Frage auf: Wie nann-
te ſich euer Vater? Hugo konnte nicht le-
ſen, Kleta mußte die Frage erklaͤren. Mein
Vater, ſprach Hugo ſtandhaft, war einer
der unſchuldigen Edlen, welche man faͤlſch-
lich der Theilnahme an Kaiſer Albrechts
[352] Mord beſchuldigte, er nannte ſich Otto von
Farwangen — —


Wie er dieſe Worte ausgeſprochen hatte,
ſprang Edeldrud von ihrem Sitze empor, ſie
ſtarrte fuͤrchterlich nach Hugo hin, ſie winkte
mit der Hand, wollte gehen, vermochte es
nicht, und ſtuͤzte ſich auf ihre Tochter. Da
ſie immer nach dem andern Gemache zu ge-
hen wuͤnſchte, ſo leitete ſie Kleta endlich da-
hin.


Hugo ſtand lange ſtaunend und harrend
im Gemache, endlich meldete ihm eine Die-
nerin, daß die edle Frau ihn heute nicht
ſprechen koͤnne, aber morgen um dieſe Zeit
ganz gewiß wieder hier zu ſehen wuͤnſche,
viel mit ihm zu ſprechen habe. Er ging
hoffend
[353] hoffend und fuͤrchtend, denn er liebte Kleta
unausſprechlich, konnte ſich ohne ihren Beſitz
kein Leben mehr denken.


Eben ſo ergings der gleich ſtark lieben-
den Kleta, ſie ſtand weinend an ihrer Mut-
ter Seite, welche einen fuͤrchterlichen Kampf
zu kaͤmpfen ſchien, bald ihre Arme mit Em-
pfindung der Freude und Sehnſucht ausſtreck-
te, bald wieder ſchaudernd zuruͤckſank, und
ihr Geſicht verhuͤllte. Als es ſchon Mitter-
nacht war, und Kleta immer noch an ihrem
Lager wachte, forderte ſie den Griffel, und
ſchrieb folgende Worte auf:


Arme Kleta, ich bedaure dich, du kannſt,
du darfſt nie Gattin des Hugo von Immen-
Biogr. d. W. z. B. Z
[354] thal werden! Entſage dieſer Liebe, die ich
nicht billigen kann. Naͤhre ſie nicht mit der
Hofnung, daß mein Tod dir freie Wahl
gewaͤhren wird. — — Ich muß ſie dir rau-
ben, muß alles verhindern, da ich noch lebe.
Der Mutter Fluch iſt ſchrecklich, geht immer
in ſtrenge Erfuͤllung! Er wuͤrde dich tauſend-
faͤltig treffen, wenn du mein Gebot verach-
teſt! Kleta! Kleta! wenn du dies vermoͤch-
teſt, dann wuͤrde ich noch in der Ewigkeit
die Stunde verwuͤnſchen, in welcher ich dich
gebahr, und mit Gott rechten, warum er
mir ein ſo ungehorſames Kind ſchenkte.
Kleta! Kleta! wenn du mit ihm zum Al-
tare wandelſt, ſo wird der Prieſter Fluch,
ſtatt Seegen, uͤber euch ausſprechen, wenn
du ihn als Gatte in deine Kammer fuͤhrſt,
ſo moͤge dein Brautbette ſich in Stein, und
[355] die weichen Pfuͤhle deſſelben in ein brennen-
des Schwefelbad verwandeln! Schaudre zu-
ruͤck vor dieſem Fluche, und erinnere dich
deſſen all dein Lebelang! — —


Schrecklich! Schrecklich! ſchrie die geaͤng-
ſtigte Kleta, wie habe ich dies verdient, daß
meine gute Mutter mir mit dem Fluche
droht, mit einmal mich ſo graͤnzenlos un-
gluͤcklich macht?


Daruͤber, ſchrieb Edeldrud, ein ander-
mal, vielleicht bald naͤhere Erklaͤrung. Bis
dahin ehre aber mein Gebot, und dulde im
Stillen. Lange habe ich die Groͤſſe meines
Ungluͤcks allein getragen, aber bald werde ich
einen Theil deſſelben auf deine Schultern le-
gen muͤſſen. Haſſe mich nicht, verachte mich
nicht, ich kann's nicht aͤndern!


Z 2
[356]

Kleta ſchwieg, die Groͤſſe ihres Jam-
mers raubte ihr die Sprache, ſie ſuchte ſich
zu faſſen, aber wenn ſie vorwaͤrts blickte,
ihren Hugo, in den Armen einer andern, ſich
verlaſſen ſah, da wollte ihr Herz brechen, ihr
Muth ganz ſinken.


Wie der Morgen nahte, ſchien ihre Mut-
ter zu ſchlummern, aber bald fuhr ſie aus
dieſem Schlummer empor, und ließ ſich nach
einem nahen Kloſter fuͤhren, von deſſen
Thurme man eben die Fruͤhmeſſe verkuͤndig-
te. Kleta folgte nicht, ſie war's nicht ver-
moͤgend, Thraͤnen ſchienen eben ihren Schmerz
erleichtern zu wollen, ſie warf ſich auf ihr
Lager, und nezte es mit dieſen.


Nach einer Stunde weckte man ſie aus
ihrem Schlummer, und berief ſie ans Lager
[357] der Mutter. Sie lag ſtarr und roͤchelnd auf
dieſem, ſchien ſelbſt ihr einziges Kind nicht
mehr zu kennen. Zwei Maͤgde hatten ſie
nach dem Kloſter geleitet, ſie betete dort am
Altare der Mutter Gottes, wo eben ein
ehrwuͤrdiger Prieſter die Meſſe las; ſchon
war dieſe beinahe geendigt, als der Prieſter
ſtarr ſtehen blieb, und endlich ohnmaͤchtig zu
Boden ſank. Wie die herbeigeeilten ihn weg-
trugen, ſahen erſt die Maͤgde, daß ihre Frau
ſich im gleichen Zuſtande befinde; ſie war
ruͤckwaͤrts zu Boden geſunken, und roͤchelte
gleich einer Sterbenden. Nur mit Muͤhe
konnte man ſie nach Hauſe und auf ihr La-
ger tragen.


Kleta warf ſich uͤber ſie hin, und ſuchte
ſie durch ihr Geſchrei zu wecken, aber Edel-
[358] drud hoͤrte ſie nicht mehr. Der herbei gerufne
Arzt erklaͤrte, daß der kalte Schlag *) ſie
geruͤhrt habe, und keine Hofnung zu ihrer
Rettung vorhanden ſei. Kleta ſank bei dieſer
Nachricht troſtlos und ohnmaͤchtig zu Boden;
wie ſie wieder erwachte, hatte ihre Mutter
ſchon vollendet.


(Die Fortſetzung folgt.)

[][][]
Notes
*)
So nannte man damals alle gewaltſame [...]
kungen und Laͤhmungen, welche nicht durch
die Wallung des Blutes entſtanden.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Biographien der Wahnsinnigen. Biographien der Wahnsinnigen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpx3.0