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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht.

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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht
oder
Vor fünfzig Jahren.


Vaterländiſcher Roman



Vierter Band.


Berlin.:
Verlag von Carl Barthol.

1852.
[][[1]]

Erſtes Kapitel.
Ein Mann von zu vielem Sentiment.

„Was giebt es Neues?“ rief der Geheimrath
Bovillard dem Legationsrath entgegen, und lud, ohne
ſich im Frühſtück ſtören zu laſſen, durch eine Bewe¬
gung den Eingetretenen zum Platznehmen ein. Die
Zerlegung eines Kapaunenflügels ſchien ihm einige
Anſtrengung zu verurſachen. Uebrigens ſah Herr
von Bovillard gemüthlicher aus als in letzter Zeit;
die Runzeln waren gewichen, das Geſicht glänzte,
beſonders die unteren Theile, das Kinn hatte etwas
Charakteriſtiſches, was ſich in den Augen wiederſpie¬
gelte, obgleich die Lippen erſt der eigentliche Aus¬
druck waren. Herr von Bovillard gab heut kein
Schauſpiel für Andere, ſonſt würde er die Aermel
des Rockes nicht aufgekrämpelt getragen, nicht den
Zipfel der Serviette im Halstuch befeſtigt haben. Er
war für ſich, der Schmecker mit Bewußtſein, aber
der Zutritt eines Freundes, wie Herr von Wandel,
ſtörte ihn nicht. Auch dieſer nahm mit vollkommener
Aiſance einen Platz neben dem Eſſer.


IV. 1[2]

„Das Neueſte hoffe ich von Ihnen zu erfahren.“


„Da, ſagte Bovillard und goß in ein vaſen¬
artiges Kryſtallglas aus der Weinflaſche: Prüfen
Sie, wie ſchmeckt es Ihnen?“


„Es ſchmeckt wie der beſte Champagner, ſchäumt
aber nicht.“


Non mousseux, neueſte Erfindung. Eben aus
Epernay mir zugeſchickt. Es hat es noch Niemand
hier. Darum Discretion. Was ſagen Sie dazu?“


„Der Schaum dünkt mich doch die lockende
Fahne, unter der der Champagner die Welt erobert
hat. Man ſoll nie ohne Noth ſeine Fahne aufgeben.“


„Ihre Säuren, Wandel, Ihre Chemie hat
Ihnen den Geſchmack verdorben. — Ihre Zunge
fühlt das Richtige heraus, aber über die Kritik iſt
Ihnen die petillirender Luſt daran vergangen. — Sehn
Sie mich an, ich kann mich über die Entdeckung wie
ein Kind freuen. — Woran auch ſich halten, wenn
man nicht bisweilen wieder zum Kinde würde!“


„Die Nachrichten lauten übel, Geheimrath. Na¬
poleon iſt ein anderer geworden, ſeit unſere Truppen
in ihre Cantonnements zurückgekehrt. Was er fordert,
iſt nicht mehr der Schönbrunner Vertrag, heißt es.
Ja, man ſpricht, daß Haugwitz wirklich am 15. Fe¬
bruar dieſen neuen, noch demüthigendem Vertrag
abſchloß. Er liege jetzt dem Könige zur Unterzeich¬
nung vor.“


„Liebſter, beſter Freund, warum hören Sie dar¬
auf? Sie brauchen es doch wahrhaftig nicht. Ja,
[3] es ſteht ſchlimm, ſehr ſchlimm, wir werden noch
mehr nachgeben müſſen, aber wer ändert es? Sie
nicht, ich nicht, Niemand. Man muß laviren und
abwarten, bis ein glückliches Changement kommt.
Wir ſind in einen Sumpf gerathen, je mehr wir
ſtrampeln, um ſo tiefer verſinken wir. Nur nicht die gute
Laune verloren. Hören Sie draußen den Leiermann:


Es kann ja nicht immer ſo bleiben
Hier unter dem wechſelnden Mond.

Da, trinken Sie, oder wollen Sie ſchäumenden?
Ich klingle.“


„Der Wein iſt gut, aber er ſteigt zu Kopf.“


„Nun denken Sie an den armen Haugwitz!
wie es in ſeinem ausſehn muß. Kann er dafür?
Verdenken Sie's ihm, daß er ſich auch aus Paris
nicht beeilt zurückzukehren? — Die ſchnaubende Coterie
hier in Reiterſtiefeln, die Rüchel, Blücher, die Prinzen!
Und das Geſchwätz, Geſinge, Gebrüll hinter ihnen.“


Die Gnade Seiner Majeſtät wird, als ſchir¬
mender Fittich, ihn vor Outrage bewahren.“


Herr von Bovillard ſchien bereits in einer
behaglichen Weinlaune:


„Gewiß. Der König läßt ihn nicht los. Wiſſen Sie,
— eigentlich — eigentlich kann er ihn auch nicht leiden,
wie uns Alle nicht, aber — aber das iſt es eben. —
Trinken Sie doch, Wandel, man kann jetzt nichts
Beſſeres thun. C'est le mystère de notre tems, daß
wir unentbehrlich ſind. Von der Canaille bis ins
Schlafgemach Seiner Majeſtät, — ſie können uns
1 *[4] Alle nicht leiden, möchten uns köpfen, erwürgen,
vergiften — von unſern Poſten jagen —“


„Wo findet Seine Majeſtät Staatsmänner —“


Mit einem ſehr pfiffigen Blick und einer eigen¬
thümlichen Handbewegung fiel der Geheimrath ein:
„Er findet ſie ſchon. Er braucht nur auf die Straße
raus zu greifen —“


„Die Luſt haben Miniſter zu ſein, ja, aber
Männer Ihres Scharfblicks!


„Wiſſen Sie, was Oxenſtjerna an ſeinen Sohn
ſchrieb: Mein Sohn, Du glaubſt nicht, etcaetera.
Liebſter Wandel, warum denn nicht Wahrheit zwiſchen
uns! Wenn wir uns in dem Spiegel ſehn — Und
doch, — in keinem Stande Freude, und doch —
wir bleiben, wir werden bleiben, und Sie und ich,
wir wiſſen, warum wir bleiben. — Auf das Wohl
Seiner Majeſtät des Königs! — Das begreifen
Seine reichsfreiherrliche Gnaden, der Herr v. Stein
nicht. Voilà le miracle! Wie lange iſts nun ſchon
her, daß er uns alle aus dem Sattel werfen wollte!
Wenn wir doch Karrikaturmaler hätten! Herr
von Stein als Mauerbrecher! Herr von Stein legt
den Widder an, erſter Moment. Herr von Stein
fährt fort, am Bock zu drehen, zweiter Moment.
Dritter, vierter, fünfter etcaetera, Herr v. Stein ſteht
noch immer am Bock. Finale: Herr v. Stein ſchlägt
hinten über, er hat einen Bock geſchoſſen. — Aber
Sie trinken ja nicht. Vive la bagatelle! — Schnell,
was Neues aus der Stadt.“

[5]

„Das Duell hat endlich ſtattgefunden.“


„Beide maustodt?“


„Blut iſt gefloſſen.“


„Hätte nichts geſchadet. Warum zanken ſie ſich!
Dieſe Militair- und Civilraufereien ſind mir in der
Seele zuwider.“


„Der junge van Aſten hat ſich ein Renommé
gemacht. Die Officiere glaubten nicht, daß er den
Kampf auf krumme Säbel annehmen werde. Der
Cornet iſt ein Schläger à merveille. Der Gelehrte
ging aber drauf los, und die Herren von der Garde-
du-Corps
ſtecken jetzt wieder die Köpfe zuſammen,
denn er trieb ſeinen Gegner Schritt um Schritt bis
in die Büſche.“


„Und das Ende vom Liede?“


„Er war an der Schulter verwundet, cachirte
es aber, und als die Secundanten es merkten, hatte
er den Cornet ſchon in eine verzweifelte Poſition
gebracht. Auf einen Hieb flog der Säbel des
Officiers zu Boden.“


„Und der Cornet mit?“


„Nur ein Fetzen von ſeinem Aermel und etwas
Fleiſch und Blut. Grade genug, um ihn kampf¬
unfähig zu machen, wenn er nicht ſchon desarmirt
geweſen wäre.“


„Und der Held von der Feder verſetzte ihm den
Gnadenſtoß.“


Bewahre! Er ſenkte die Waffe, trat zurück,
und fragte beſcheiden die Secundanten, ob nun der
[6] Ehre genug geſchehen ſei? Man hätte es für ritter¬
lich gehalten, wenn —“


„Ein Roturier ein Cavalier ſein könnte, unter¬
brach ihn Bovillard. Qu' importe! Er hat gehandelt,
wie man uns vorwirft, daß wir handeln, wir nutzen
den Vortheil nicht, der uns in die Hände geſpielt
ward. — Wandel, ſie haben vielleicht recht. Vive la
générosité!


„Die Secundanten erklärten, nach einer längern
Berathung, die Sache für ausgeglichen. Der Fleck
am Aermel, den die Hand gemacht, ſei durch den
Säbel reparirt.“


„Der ihn loshieb! fiel Bovillard ein und gähnte.
Legationsrath, was wären wir ohne den Witz in
Ehren- und Staatsſachen! Die Welt wäre längſt
bankrott ohne die Kunſt der Auslegung. Der Starke
wirft ſein Wort wie Brennus Schwert auf die Gold¬
wage; aber der Schwache muß das Körnchen Mutter¬
witz wie der Goldſchläger breit ſchlagen, um die Riſſe
in der Logik und die falſchen Raiſonnements zu über¬
kleben.“


„Und das Volk gafft doch das Goldblech an, als
wär's maſſiv.“


„Wozu wär's das Volk und wir die Geſcheiten!
— Um eine Liebſchaft war ja wohl die Affaire?
Das Mädchen kann gute Geſchäfte machen, es kommt
en vogue!“


„Mehr Anwartſchaft hätte der junge Gelehrte
darauf, der, wie man ſagt, aus Galanterie, oder wie
[7] Einige behaupten, aus Gehorſam für ſeinen Vater
zum Ritter an einer Dame ward, die er nicht liebt.“


„C'est touchant!“ ſagte Herr von Bovillard und
gähnte noch ſtärker als vorhin.


„Man fängt überhaupt an von ihm zu ſprechen,
es wäre ein Character. Man ſpricht aber auch —
von Ihrem Herrn Sohn.“


Der Geheimrath, der wirklich müde ſchien, ward
aufmerkſamer. Er reckte ſich in ſeinem Stuhl und
goß ein friſches Glas Champagner ein, deſſen Wir¬
kungen er aber ſofort durch ein Glas Waſſer pa¬
ralyſirte.


„Wie befindet ſich der Patient?“


„Mon pauvre fils! — Mein lieber Freund, wer
macht die Erziehung? Ich habe oft darüber nachge¬
dacht. An guten Beiſpielen — das war's nicht eigent¬
ich, was ich ſagen wollte, aber — das zweite Kind des
Lupinus iſt nun auch geſtorben!“


„Ein merkwürdiges Unglück, was dieſen Mann
trifft! Doch meinen auch Viele, es wäre ein Glück,
für die Kinder nämlich. Bei der verkehrten Erzie¬
hung wäre nie aus ihnen etwas Geſcheites geworden.“


„Der Mann! Er Kinder erziehen! Wenn ſie
nach ihm geſchlagen hätten! — Mein Louis, was
ich ſagen wollte, Heim meinte, es ſei keine Gefahr,
wenn er ſich nur vor Exaltationen hütet.“


„Das wird ſchwer ſein.“


„Das befürchte ich auch. Das Blut ſeiner
Mutter. Was die für Nerven hatte! Ich bin ja
[8] bereit, Alles zu thun, — er hat excellente Gedanken,
aber ich muß Ihnen ſagen, ich habe keine Autorité.
Im Disput gerathen wir immer an einander.“


„Der junge Herr von Bovillard iſt noch in
andere Dispute verwickelt.“


Wandel ſprach es mit kalter Stimme.


„Meinen Sie — die alte Geſchichte! Der Ge¬
heimrath warf dabei einen forſchenden Blick auf ihn.
Mein Gott, ich glaubte die Kinderei längſt beigelegt.“


„Nur reponirt, meine ich, bis Ihr Herr Sohn
die Güte haben wird, einen neuen Termin anzu¬
ſetzen.“


„Mann von Ihrer Klugheit und Philoſoph!
ich bitte Sie —“ Bovillard war jetzt aufgeſprungen
und ergriff die Hand, die Wandel halb zurückzog.


„Die Ehrengeſetze dieſer Welt gehen über die
der Klugheit und Philoſophie.“


„Er wird zur Einſicht kommen, und Sie ſind
mein Freund.“


„Und gewiß der Freundſchaft jedes Opfer zu
bringen bereit, nur nicht meinen unbefleckten Namen.“


„Wer redet davon! Ueberlaſſen wir den Ca¬
vallerieofficieren den krummen Säbel; wozu ſind wir
Philoſophen! Die diplomatiſche Kunſt wird mildere
Löſungsmittel finden, als ein Stück vom Aermel, und
vom Fleiſch dazu! Liebſter Legationsrath, das findet
ſich ja.“


„Wenn ich als Beleidigter den erſten Schuß
hätte, verſteht es ſich, daß, wo der Sohn meines beſten
[9] Freundes vor mir ſteht, ich in die Luft feuere. Ihrem
Herrn Sohn bleibt dann überlaſſen zu zielen, wohin
er will.“


Bovillard hatte Wandels Arm an ſeine Bruſt
gedrückt: „Wir verſtehen uns ja. Excentriſch iſt er,
aber Louis iſt kein ſchlechter Menſch.“


„Wenn ich die Freude erlebte, daß mein Freund
Bovillard in ſeinem Sohne einen nützlichen Staats¬
bürger gewönne!“


„Er ſchwärmte auch einmal für die gloire Na¬
poleons. Wer weiß, ob dieſe Phantaſien nicht re¬
diviv werden.“


„Er ſoll jetzt für einen andern Gegenſtand ſchwär¬
men: Die Fürſtin Gargazin behauptete neulich confi¬
dentiell, die eigentliche Krankheit der ſchönen Mamſell
Alltag ſei nichts anderes als cachirte Liebe. Die
Geheimräthin Lupinus iſt in ihren Mittheilungen
ſehr discret. Wenn ich indeß aus einigen hinge¬
fallenen Aeußerungen ſchließen darf —“


„Sind Sie neidiſch, daß mein Junge Glück hat
bei den Frauen?“


„Nur ein väterliches Erbtheil. Wie ich höre,
frequentirt er auch die Cirkel der ruſſiſchen Fürſtin.
Er iſt gern aufgenommen. Sollte dies mit den
Wünſchen und Abſichten ſeines Vaters conveniren?“


„Was geht es mich an! — Aber was geht es
denn Sie an?“


„Nicht das Geringſte, wenn Ihr Sohn nicht den
Namen ſeines Vaters trüge. Die Fürſtin iſt eine
[10] liebenswürdige, feine, geiſtreiche Dame, aber ſie gilt,
mit Recht oder Unrecht, als die geheime Agentin
Rußlands, man behauptet, daß ſie mit Alexander in in¬
timeren Verhältniſſen geſtanden. Ich gebe nichts auf
dieſe Inſinuationen, aber wer ihren Umgang ſucht,
wer viel in ihrem Hauſe erſcheint, entgeht dem
Verdacht nicht. Das kann in dieſem Augenblick
bedenklich werden, da Napoleon — Genug, ich
weiß, die Beſucher des Hotels werden an jedem
Abend verzeichnet und dann nach Paris tele¬
graphirt.“


Bovillard lachte auf, indem er jetzt erſt die
Serviette fortwarf: „Wiſſen Sie, wer am meiſten
bei der Gargazin geſehen wird? — Laforeſt! Con¬
ſpirirt er vielleicht gegen Napoleon? Vielleicht iſt er
aber auch nur da um der Mamſell Alltag willen,
oder um Comteß Laura. Die iſt jetzt auch ein
Schooßkind der Fürſtin. Duroc war auch bei ihr.
Wiſſen Sie, was ich rausgebracht habe? Sie will
die Alltag zu etwas machen, entweder zu einer Pom¬
padour oder zu einer Heiligen. Sie erwartet nur
Ordre deshalb aus Petersburg. Werther Freund,
unter Freunden reinen Wein, was kümmert Sie mein
Sohn bei der Gargazin?“


„Nicht der Sohn, nur die Auslegung, welche
man ſeinen Schritten geben könnte.“


„Sind Sie ſo ſehr um die Auslegung beſorgt,
welche die Leute den Schritten diſtinguirter Perſonen
geben? ſprach Bovillard, ihn ſcharf fixirend. Wiſ¬
[11] ſen Sie, wie man Ihre Schritte hier auslegt?“


„Ein unbedeutender Privatmann, der neben ſei¬
nen wiſſenſchaftlichen Studien nur als Dilettant in
die politiſchen Kreiſe dringt, entgeht wohl der Ehre
dieſes Scrutiniums.


„Haugwitz ſchreibt mir conſidentiell aus Paris.
Für ſchweres Geld hat er eine Copie der Perſonal¬
bemerkungen über Berlin erwiſcht. Hören Sie, da
ſind doch Dinge drunter! — Haugwitz wird ſich hü¬
ten und es drucken laſſen. Laforeſt ſelbſt weiß das
nicht alles; es ſtecken Andere dahinter. Liaiſons de¬
couvrirt, die wir nicht ahnen konnten. Sie ſtanden
doch mit Eiſenhauch in keiner Verbindung?“


„Es bedurfte keines Seherblicks, um die feuer¬
fangende Nähe zu erkennen.“


„Man weiß in Paris, was er vor'm Zubett¬
gehen mit ſeinem Bedienten ſprach, ſeine Lectüre
vor'm Einſchlafen, ſeine Briefe, die er ſchrieb und
wieder zerriß. Ein wahres Glück, daß wir ihn los
ſind, aber — wiſſen Sie, was von Ihnen daſteht?‘,
fragte Bovillard mit einem ſchlauen, ſcharfen Blick.


Wandels blaßgelbes Geſicht verfärbte ſich nicht,
nur ein flüchtiger Glanz belebte das dunkle, kleine
Auge, um ſofort in ein mocquantes Lächeln über¬
zugehen:


„Vielleicht iſt es entdeckt, daß auch ich die Cir¬
kel der Gargazin beſuche.“


„Pah! Drei Reihen Chiffren, die Haugwitz Se¬
cretair nicht dechiffriren konnte, und dann mit andrer
[12] Hand imperatoniſch flüchtig daneben geſchrieben:
„„Wie viel würde er koſten?““


„Sie wollen mich doch nicht ſtolz machen, Bo¬
villard! Um die nackte Klippe des Ehrgeizes iſt
mein Lebensſchiff geſegelt.“


„So lange ſie nackt ausſieht. Wenn man aber
im Vorbeiſegeln zwiſchen den Riffen eine fette Trift
entdeckt, legte mancher wieder bei.“


„Es iſt für mich eine durchaus ſterile Inſel.“


„Wohin denn? Das iſt die Frage.“


„Ich verſtehe die Legitimation derſelben nicht.“


„Ich frage als Freund. Wo hinaus? Man muß
doch endlich mit Ihnen in's Reine kommen. — Ich
wiederhole Ihnen: mich täuſchen Sie nicht. Sie ſind
kein Saint Germain etcaetera. Sie ſind von unſerm
Fleiſch und Blut. Halb nur wie ein Lebemann,
halb wie ein Karthäuſer in einem Schneckenhaus.
Das Leben in Berlin iſt theuer, auf Gold ſitzen Sie
nicht und Gold machen Sie nicht. Sie mögen ein
vortrefflicher Oekonom ſein, aber Ihre Thüringiſchen
Güter verbeſſern Sie nicht in der Apotheke des Herrn
Flittner. Die Delicen der Wiſſenſchaft gönne ich
Ihnen; wer aber den Champagner wie Sie über die
Zunge ſchlürft, will ſie nicht wie die Pedanten um
ihrer ſelbſt, er will etwas daraus für ſich präpari¬
ren. Sie greifen nicht nach dem Monde, aber Sie
erſcheinen wie er aus der Wolke, um wieder da¬
hinter zu verſchwinden. Das iſt hübſch, um Kinder
zu erſchrecken und zu amüſiren, ein Mann will etwas
[13] anderes, als Laterna Magika-Bilder auf die Wand
werfen.“


„Meine Vermögensumſtände, die Niemand kennt,
erlauben mir —“


„Sie ſchweifen ab. Auch ein Cröſus will noch
mehr. Was wollen Sie? — Daß man das nicht
weiß, wirft einen Schatten auf Sie. Wie lange ſind
Sie ſchon in Berlin! Ihr parait et disparait ver¬
ſtärkt den Verdacht; glauben Sie mir, alle Ihre Ge¬
fälligkeiten werden um deshalb falſch ausgelegt, und
das iſt es, was Haugwitz, ich will nicht ſagen, zu
Ihrem Feinde macht, aber er hat eine Scheu vor
Ihnen, er fürchtet Sie. Mein Gott, wir ſind ja
unter uns. Wollen Sie ſich Napoleon verkaufen,
haben Sie ſich ſchon verkauft? Tant mieux, er be¬
zahlt gut. Auf meine Discretion können Sie rech¬
nen. Es ſind Viele erkauft, und doch gute Patrio¬
ten. Sie haben nicht einmal eine Pflicht zu bre¬
chen, und — wie geſagt, mich geht's nicht an. L'ami¬
tié surpasse la trahison. Enfin
, wir ſind ja auch
Napoleons Freunde.“


Der Legationsrath hatte die Stirn in Runzeln
gelegt. Er ſtand wie in ſich verſunken, mit ver¬
ſchränkten Armen, den Blick, der in weite Fernen zu
ſtreifen ſchien, von dem Manne abgewandt, welcher
eben ſo eindringlich zu ihm geſprochen. Es ſchien
ein Selbſtgeſpräch:


„Wer dieſes Meteor ergründete! Ob er wirk¬
lich der Wandelſtern, der im Kreislauf der Aeonen
[14] wiederkehrt, wenn ſeine Zeit kam, die unſre Schwäche
nur nicht ermißt, oder — nur die blitzende Nachterſchei¬
nung, der Komet, der ſeinen Schweif betäubend über
unſre Häupter raſſelt. Wir ſtehen gebeugt unte
dem Hagel ſeiner Meteorſteine und —“ Er hielt
inne und athmete tief. „Und wer ſich ſelbſt getreu
blieb, wird auch hier ſich nicht übertäuben laſſen.
— Nein nein — auch dieſe Sonne von Auſter¬
litz hat trübe Flecke. Groß und ſtrahlend, aber je
mehr ſie der Mittagshöhe ſich nähert, um ſo mehr ſehe
ich ſie ſchwanken, zittern vor ſich ſelbſt. Auch er wird
untergehen, indem er ſich ſelbſt überhebt. Nur wer
feſt und bewußt — Ach, mein Gott! fuhr er fort,
wie aus ſeiner Träumerei erwachend. Ich vergaß
mich da in Gedanken, die nicht hierher gehören.
Groß iſt er, aber — ſichrer der, der ſich an keine
Größe lehnt, nur auf ſich ſelbſt.“


Der Legationsrath hatte ſich verrechnet, wenn
er gemeint, auf den Geheimrath damit einen Eindruck
zu machen. Dieſer hatte ſich ruhig ein neues Glas
eingeſchenkt, und mit derſelben Behaglichkeit ließ
er es über die Zunge gleiten, die er vorhin an
Wandel gerügt oder gerühmt.


„Sie wollen alſo mit Napoleon nichts zu thun
haben! Votre plaisir! Aber, merken Sie ſich, Haugwitz
iſt ängſtlich inquietirt. Er giebt Winke, wie man
Sie beobachten ſoll. Wenn Sie alſo keinen Passe-
par-tout
von Napoleon in der Taſche haben, —“


„Die Aufmerkſamkeit, welche Herr v. Haugwitz
[15] meiner unbedeutenden Perſönlichkeit ſchenkt, möchte
mir ſchmeicheln, wenn —“


„Sie keine andre Abſichten hätten. Gehn Sie
mit ſich zu Rath, entſcheiden Sie ſich, aber bald.
Wir ſind nun ganz wieder in unſrer Aiſance, wenn
er zurück iſt. — Haugwitz bleibt. — Der König iſt
ſeelenfroh, wenn er nichts zu ändern braucht. Es
ſtiefelt ſich fort, ſagen die witzigen Berliner, und
eines Morgens könnte Haugwitz etwas einfallen, —
das paſſirt auch manchmal an einem Feiertage —
der Polizeicommiſſarius klopft an Ihre Thür mit
der Bitte, ſich ſchnell anzuziehen, und Sie werden
eingepackt. — Da haben Sie die Beſcheerung. Man
titulirt's höhere Staatsrückſichten, im Grunde genom¬
men iſt's nur eine Indigeſtionslaune. Sie ſind ein
Mann von großer Klugheit —


„Der indeß bei Verbindlichkeiten, die er eingeht,
den Charakter und ſein Gewiſſen immer berück¬
ſichtigt —“


Etcaetera, bravo! ſagte der Geheimrath und klopfte
ihm auf ſeine Schultern. Wozu noch Flauſen. Das
Uebrige wird ſich finden. Es müßte doch mit dem
Teufel zugehen — Excüs! — wenn er uns nicht
hülfe, die Antipathie zu beſchwören. Haben Sie nicht
ſympathetiſche Tropfen! A propos! da fällt mir
unſer Mirakel ein, unſer Liebespaar! Haben wir's
da nicht durchgeſetzt! Das verloren wir ganz aus
den Augen. Wie ſteht es? — Das iſt der Fluch
eines Staatsmannes, ſein Liebſtes muß er opfern
[16] dem Dinge, was das dumme Volk — wie ſteht's,
Legationsrath?


„Der Dépit amoureux iſt eine paſſagere Er¬
ſcheinung. Die Gargazin, die uns aus Gefälligkeit
beiſtand, iſt der Sache überdrüſſig.“


„Die gute Fürſtin möchte alle Welt glücklich
ſehen. Aber Haugwitz — das iſts, was ich ſagen
wollte. Der arme Haugwitz muß jetzt eine Recreation
haben, nach ſo viel Verdruß! Ein, zwei Fliegen
ſtören uns nicht, aber das Fliegengebrumm, wenn
wir ſchlafen wollen, iſt fatal. Recht was Exquiſites!
Strengen Sie Ihren Scharfſinn an, etwas zum
Todtlachen, bedenken Sie, es gilt fürs Vaterland.“


„Durch den Aufſchub iſt die Sache verdorben.
Die Gluth der erſten Leidenſchaft iſt abgekühlt. Sie
iſt beruhigt, weil er nicht in den Krieg geht. Das
Weitere, denkt ſie, wird ſich finden, oder es wird
ſich auch nicht finden. Was mit larmoyanten Men¬
ſchen machen, die von Seelenadel zu ſprechen an¬
fangen und von der Läuterung durch Entſagung!
Ein Schauſpiel für Engel mag es ſein, wenn
ſie ſich ſo par distance im Theater anſchauen, die
Augen verſchwimmen, und um die Lippen ein weh¬
müthiges Lächeln ſchwebt, aber —“


„Rhabarber und Seelenadel ſtehn bei mir auf
einer Stufe. Ich weiß nicht mehr, wo ich es neulich
las: „„Das entnervt die Seelen und Körper: dies
verhimmelnde Schwärmen raubt unſerm Geſchlecht
die warmblütige Kraft zur That.““ Und wir brauchen
[17] ein rüſtiges Geſchlecht. Alſo, theuerſter Mann, Ihren
ganzen Scharfſinn drauf, fädeln Sie was Neues
ein. Man ſagt, ſie hätte Scheidungsgedanken.“


„Pfui! das iſt unmoraliſch. Ich meine, man
könnte ihr das Unſittliche einer ſolchen Handlung
vorſtellen laſſen.“


„Wenn nur ein Duell zwiſchen dem Rittmeiſter
und Baron zu ermöglichen wäre!“


Der Legationsrath ſchüttelte den Kopf.


„Wer dem Baron eine Kugel vor den Kopf
ſchöſſe, was ich natürlich nur im Scherz ſage, thäte
übrigens dem Staate einen rechten Dienſt.“


„Im Ernſt?“


„Sein Tuch, 's iſt ein Scandal. Wenn man
ſolche Montur gegen die Sonne ausbreitet, können
die Wespen durchfliegen. Ich ſagte es ihm neulich.
Was antwortete er? Er hätte 's ſo eingerichtet, daß
die Kugeln der Staatskaſſe keinen Schaden thäten.
Ich liebe nicht ſolchen frivolen Witz in ernſten
Dingen. — Sie ſind nachdenklich, Wandel? Sie
ſehn nach der Uhr.“


„Einige nennen ihn einen ſchlechten Menſchen.“


„Pah! Seine Maitreſſen bezahlt er gut, unſer
Tuch macht er ſchlecht. Aber im Grunde genommen,
was gehts uns an; wir haben Friede. Noch keinen
Einfall?“


„Doch — vielleicht. Bei ihm iſt Hopfen und
Malz verloren. Wie aber, wenn man ſie eiferſüchtig
machte!“ —


IV. 2[18]

„Auf ihres Mannes kleine Liaiſons! Was hülfe
uns das!“


„Nein, auf den Rittmeiſter. Er ſah neulich die
neue Choriſtin mit dem Operngucker ſehr eifrig an.
Wenn es gelänge, ſie aus ihrer Seelenruhe aufzuſtacheln!
Wenn ſie außer ſich geriethe, ſich fortreißen ließe — “


„Nun, was beſinnen Sie ſich?“


„Es iſt nur ein flüchtiger Einfall — ſchwierig,
aber möglich iſt Alles — wenn ſie in ihrer Ver¬
zweiflung ihren Mann zu Hülfe zöge.“


„Ça serait le comble du ridicule.“


„Aber nichts Neues. Wie geſagt, Alles noch
embryoniſch dunkel, aber ſie muß jetzt mit dem Ritt¬
meiſter aneinander. Das iſt mir klar; es giebt kein
ander Mittel.“


„Wenn es nur zum Rechten führt.“


„Dafür laſſen Sie mich ſorgen.“


„Wohin ſo eilig?“


„Zur armen Geheimräthin! Ach, eine Unglück¬
liche! Die bedarf des Troſtes.“


„Bleiben Sie mir mit der vom Leibe. Ich kriege
Bauchgrimmen, wenn ſie mich lange anſieht.“


„Das iſt eine unglückliche Frau! Nun auch das
zweite Kind!“


„Es waren doch rebutante Geſchöpfe. Sie kann
ſie unmöglich lieb gehabt haben.“


„Der Idealismus weiß von einer Liebe, die
gerade das ihm Unangenehme mit zärtlichen Armen
umfaßt, einer Liebe, die ihre ganze Innigkeit und
[19] Wärme ausſtrömt auf die Subjecte, welche es am
wenigſten empfinden und, ſtatt es zu erwiedern, mit
Undank belohnen, eine Liebe, die ſich gefällt, immer
zu geben und zu opfern, ohne wieder zu nehmen, ja
die ihre höchſte Befriedigung in der Empfindung ſucht,
von Verkennung und Undank heimgeſucht zu ſein.“


„Das iſt nicht unſre Sorte von Liebe; nicht
wahr, Wandel?“


„Die Welt iſt mannigfalt. Bewundern darf
man doch die Märtyrer, auch wenn man ſich nicht
berufen fühlt ihnen nachzufolgen.“


„Par distance! — Warum nahm ſie aber die
Kinder zu ſich?“


„Warum! — Warum nahm ſie ihren Mann?
Sie hat den Geheimrath nie geliebt. Um ihn zu
pflegen. Warum nahm ſie die Alltag zu ſich? Aus
Liebe doch nicht zu dem eigenſinnigen Geſchöpfe?
Mein Herr Geheimrath, Männer wie wir ſind über
die Ungerechtigkeit der Welt hinaus, wir warten nicht
auf Dank, aber erlauben Sie mir, wenn ich die
Frau unglücklich nenne, die für die Anſtrengungen
ihres warmen Herzens, Andre glücklich zu machen,
nichts erndtete, als Verkennung.“


„Liebſter Legationsrath, entgegnete Bovillard,
erlauben Sie mir nichts drauf zu ſagen als: les
goûts sont différents!“


„Ich wünſchte, Sie hätten ſie am Schmerzens¬
lager der kleinen Malwine geſehen. Weil ſie nicht
weinen konnte, das hat man auch getadelt.“

2*[20]

„Die Kinder ſollten ihre Erben ſein; wer kriegt's
denn nun? In ihrer Familie iſt Alles ausgeſtorben.
Mit der einen Seitenbranche iſt ſie ſpinnefeind.“


„Unnatürliche Feindſchaft in Familien! Vielleicht
kann man da freundlich zu einer Verſtändigung ein¬
wirken.“


„Lieber vermacht ſie's den Kapuzinern. Und
fünfundneunzigtauſend Thaler unter Brüdern!“


„Ich glaubte nur achtzigtauſend!“


„Vor dem letzten Heimfall. Aber — fünfzehntau¬
ſend in Obligationen — Sie können ſich drauf ver¬
laſſen, — fielen auf ihr Theil aus der Concursmaſſe
ihres Onkels. Und man muß doch auch rechnen, was
vom Geheimrath dazu kommt, wenn er früher ſtirbt —“


„Wenn er früher ſtirbt.“ Wandel hatte es ſo
gedankenlos, oder in Gedanken verſunken, geſagt, als
er gedankenlos mit ſeinen Handſchuhen geſpielt. Er
reichte zum Abſchied dem Geheimrath die Hand:
„Wenn nicht mehr — ich wollte ſagen, wenn Sie
der verlaſſenen Iſolirten nur ein ſtilles Plätzchen der
Theilnahme in Ihrem Herzen ſchenken wollten!“


„Bleibt ein ehrenwerther Mann, ſprach Bovillard,
als er fort war, nur zu viel Sentiment.“

[[21]]

Zweites Kapitel.
Wandel muß Politik treiben.

Das Haus der Fürſtin ſchien ein offenes. Man
kam und ging, zu jeder Tageszeit; man war will¬
kommen und empfangen, ohne angemeldet zu ſein, und
konnte verſchwinden, ohne daß es bemerkt ward.
Engliſcher Comfort ſchien mit franzöſiſcher Anmuth
und Leichtigkeit gepaart. Aehnliches hatte man in
Berlin noch nicht geſehen; man beredete es, aber ge¬
fiel ſich darin. Keine Thür war verſchloſſen, die
Wände ſchienen von Kryſtall; es iſt aber damit nicht
geſagt, daß nicht doch manche Thür unter der Tapete
verſteckt, und der Kryſtallſpiegel eine Wand verdeckte,
hinter die zu blicken nicht erlaubt war.


Die Fürſtin hatte ſich neuerdings zu einem
längern Aufenthalt eingerichtet. Alle Welttheile hatten
ihre Producte, Kunſtfertigkeit und Erinnerungen bei¬
geſteuert, um die Zimmer auszuſchmücken. Das He¬
truriſche und Pompejaniſche, vor Kurzem die Mode¬
puppe, ward hier paralyſirt durch das Chineſiſche und
Hindoſtaniſche. Porzellanfigürchen, Pagoden und
[22] Pfauenwedel; dazwiſchen die rein geſchnittenen Schön¬
heitslinien eines griechiſchen Basreliefs, römiſche
Kaiſer und Mohrenköpfe auf echten Conſolen, neben
Federkronen von den Sandwichinſeln und urweltlichen
Gerippen, Schamanenmänteln und Bogen und Köcher
der naturwüchſigen Völkerſchaften Sibiriens.


Die Oſtentation alles dieſes Apparates war
wenigſtens nicht auffällig, ein gewiſſer Geſchmack hatte
in der Vertheilung obgewaltet, Licht und Schatten
waren gehörig vertheilt, oder vielmehr der Schatten
waltete ob, indem das Fenſterlicht in den meiſten
Zimmern durch ſchwere Vorhänge und Vorſatzſtücke
gedämpft war. In ſchwarzen Rahmen hingen zwi¬
ſchen den andern Raritäten Landſchaften in Waſſer¬
farben, römiſche Ruinen, zerſtörte Kirchhöfe, Hünen¬
gräber, bemooſte Cruzifixe darſtellend, über dem Meere
hing der Mond in Nebelwolken, oder die Sonne ging
auf, und beleuchtete trauernde Geſtalten oder Knieende
um ein bekreuztes Grab. Auch ſah man näher den
Thüren bereits einige der ſchmal geſchnittenen Holz¬
bilder, auf deren Goldgrund jene hagern, kindlichen
Figuren mit den Unſchuldsköpfen ſich präſentirten, die
erſt ſpäter in Berlin zur äſthetiſchen Anbetung kommen
ſollten. Die modernen Beſucher gingen noch ziemlich
theilnahmlos an dieſen florentiniſchen Stücken vorüber,
während die Mondſcheinskreuze, die verdorrten Kränze
an den eingefallenen Gräbern manchen Seufzer oder
aus ſchönen Augen eine Thräne lockten. „Der Stufen
zur Erkenntniß ſind viele, pflegte die Fürſtin zu ſagen,
[23] und deren nur wenige, die, vom Strahl, erleuchtet,
ſogleich die höchſte beſteigen.“


In den tiefern Kabinetten verbargen ſich oder
lockten größere Heiligenbilder, betende oder angebetete
Madonnen, Märtyrer, in ihren Verzückungen lächelnd,
der Heiland am Kreuz. Da in der verſchwiegenen
Niſche auf einem ſchwarz mit Silber überhangenen
Altar ein Cruzifix von Ebenholz, der Heiland daran
feinſte luccheſiner Elfenbeinarbeit. Als Piedeſtal zum
Cruzifix diente ein künſtlicher dürrer Fels aus Achat,
zu Füßen deſſelben eine kleine Oeffnung, aus der,
geſpeiſt von einem verborgenen Waſſerreſervoir, eine
Quelle ſprudelte. Das Waſſer floß in einen antiken
Sarkophag. Antik wenigſtens die Vorderſeite, deren
heidniſche Basreliefs freilich wenig mit dem Quell
und ſeiner Bedeutung correſpondirten, aber es war
eine Antike, ausgegraben auf einem der Güter der
Fürſtin in der Krimm, und das Heidniſche an den
Bachantinnen ſollte vielleicht durch den friſch hinein
gemeißelten ruſſiſchen Doppeladler purificirt werden.
Neben der ſinnigen Deutung hatte der ſprudelnde
Quell auch eine ganz praktiſche Bedeutung; das kühle
mit Epheu umrankte Cabinet ward durch das ſprin¬
gende Waſſer zur angenehmen Retirade in heißen
Sommertagen.


In einem der helleren Zimmer, mit Magdale¬
nenbildern an der Wand, der Boden ausgelegt mit
reichen orientaliſchen Teppichen, und ſchwellende Di¬
vans an den Wänden, ſaß die Fürſtin mit der Ba¬
[24] ronin Eitelbach. Die Märtyrer und andere Heili¬
genbilder in den dunklern Gemächern mochten ſchlechtere
Copien oder Trödelwaare ſein, die Magdalenen wa¬
ren vortreffliche Copien nach Correggio, Battoni, Mu¬
rillo und Anderen, in der Größe der Originale und
in dem blendenden Farbenglanz, der keine Nachdun¬
kelung ſehen ließ. Koſtbare Goldrahmen umſchloſſen
dieſe Stücke, und ihre Gruppirung war ſo geſchickt,
daß überall das richtige Licht darauf fiel. Es war
das ſorgfältigſt und eleganteſt ausgeſchmückte Zim¬
mer der fürſtlichen Wohnung.


„Das Fräulein wollten eben ausfahren, um,
wie ſie ſagten, Luft zu ſchöpfen, berichtete der Die¬
ner. Wenn aber Durchlaucht befehlen, wird ſie ſich
ſogleich zurecht machen und hier erſcheinen.“


„Was das Fräulein will, muß geſchehen, er¬
wiederte die Fürſtin raſch. Man ſollte doch jetzt
meinen Willen kennen, daß ſie nur ihren Wunſch zu
äußern braucht, und meine Domeſtiken haben zu ge¬
horchen. Iſt ſchon angeſpannt?“


„Zu Befehl, Erlaucht.“


„Da muß ich einen Augenblick zu dem lieben
Kinde. Verzeihung, theuerſte Baronin, ſie erholt
ſich ſo ſchwer. Ich bin ſogleich — meine Gedanken
bleiben bei Ihnen.“


Im andern Zimmer begegnete ihr der Lega¬
tionsrath:


„Schnell einen Liebesdienſt. Die Eitelbach drin¬
nen quält mich mit ihrem Liebesleid. Das iſt Ihre
[25] Sache. Machen Sie ihr bald ein Ende, ſonſt — ich weiß
nicht, was ich thäte, wenn Sie nicht im Spiele wären.“


„Empfinden Erlaucht denn gar keinen Beruf,
ſich der gequälten Schönen anzunehmen?“


„An langweiligen Menſchen hatte ich heute ſchon
genug. Vater und Mutter waren hier, denken Sie,
eine Stunde lang! Dieſe Dankadreſſen im Kanzleiſtil,
dieſe bürgerlichen Rührungsgefühle in der Sonntags¬
haube, der ganze Iffland, Kotzebue und Krähwinkel
in meinem Hauſe. Ich möchte doch um ſolcher Leute
willen keine Migraine bekommen; aber jetzt erbarmen
Sie ſich meiner.“


„Tu l'as voulu, George Dandin! ſagt Molière,“
ſprach der Legationsrath, ſich verneigend.


„Et je le veux, Monsieur le conseiller!“


„Was denkt Prinz Louis, Erlaucht?“


„Ob der Champagner oder der Rheinſtrom eher
in die Lethe fließt.“


„Leider flüſtern ſeine Freunde, daß er ſchon den
nächſten Weg auf dem Jamaikaniſchen Feuerſtrom
Rum dahin ſucht.“


„Der Unglückliche!“


Sie ſchien die eben gegebene Anweiſung an den
Legationsrath auf die Eitelbach eben ſo vergeſſen zu
haben, als ſie an der Ecke eines Divans Platz nahm.
Ein ernſter Zug flog über die Seidenwimpern, die
ſich geſchloſſen hatten wie erſchreckt vor einem Bilde. —
„Vielleicht der letzte Held unter Dieſen! — Warum
fand er nicht den rechten Weg! — Das iſt es nicht.
[26] Aber, Wandel, erklären Sie mir's, es iſt etwas
Niederdrückendes, Entmuthigendes, daß grade dieſer
Einzige in der großen Miſere, dieſe Feuerſeele unter
den Nachtvögeln, wie ein losgeriſſener Stern aus
dem Firmament in einen Sumpf ſtürzen muß!“


„Sie ſprachen es aus, Gnädigſte, weil Alles
verſumpft iſt.“


„Und Sie ſprachen etwas aus, was Sie nicht
verſtehen, nicht verſtehen wollen. — Ich fühlte mich
ſo andächtig geſtimmt. Der arme Prinz! Seit
die Abberufung des engliſchen Geſandten bekannt
iſt, ſoll er ſich in einem erſchütternden Zuſtand
befinden.“


„Es befinden ſich auch Andere, die nicht Prinzen
ſind, in unangenehmer Lage. Mehr als hundert
Preußiſche Schiffe ſind bereits von den Engländern
gekapert. Dem Handel wird dieſer theure Frieden
theuer zu ſtehen kommen.“


„Dieſe Krämerſeelen verdienen es, rief die
Fürſtin. Es war ja ihr ſtiller Wunſch. Wenn
Krämer, Kinder und Narren über ein Land regieren,
wehe ihm!“


Es war ein neues Changement in der Fürſtin
eingetreten; ſie fühlte ſich zum politiſchen Disput
geſtimmt. Wandel kannte die Lineamente in ihrem
Geſicht, welche den Wechſel und welche Stimmung
ſie ausdrückten. Er lehnte ſich über einen Stuhl, um
ihr zu correſpondiren. Vielleicht empfand er auch mehr
Neigung zu einer politiſchen Disputation als zu
[27] einer ſentimentalen mit der Baronin, vielleicht wollte
er ſich auf dieſe präpariren.


„Es giebt auch großartige Krämer. Die Eng¬
länder werden bei dieſem Weltdisput nicht zu kurz
kommen.“


„Ich begreife nicht, wie dieſe hier ohne Scham¬
röthe leſen können, was ſie über ihre Politik urtheilen!
rief die Fürſtin, in wirklichen Affect gerathend. Dieſe
Noten, die Herr von Reden für Hannover in Re¬
gensburg, Ompteda eben in Berlin übergab! Herr
Fox hat im Parlamente gedonnert. Ich habe eine
ſolche Sprache nie gehört.“


„Noten ſind Worte auf Papier geſchrieben,
Erlaucht. Sie leſen ſie, antworten, und das Reſultat
iſt Papier auf Papier! Gekaperte Schiffe, das iſt
etwas Anderes.“


Die Fürſtin hatte vom Tiſche eine engliſche
Zeitung genommen. „Durchfliegen Sie dieſen Artikel.
Mich dünkt, die Worte ſchneiden ſchärfer wie Thaten.
Der Prinz ſoll grade darüber außer ſich gerathen
ſein. Die Lippen ſchäumend, drückte er die Stirn
an die Scheibe, daß ſie zerbrach.“


„Er wird auch wieder ruhig werden, ſagte
Wandel und las: „„Nie hat eine Macht heuchleriſcher
gehandelt und die Geſetze der Treue und des guten
Glaubens frevelnder gebrochen als Preußen. Von
ihm kann man lernen, wie man mit Worten ſchmei¬
chelt und durch Thaten verwundet.““ —


„Iſts nicht ſo!“

[28]

Der Legationsrath zuckte die Achſeln: „Was
aus Unentſchloſſenheit gefehlt und in Thorheit ge¬
ſündigt ward, heißt nun ſträfliche Hinterliſt. —
Warum war man unentſchloſſen und warum handelte
man thöricht!“


„Leſen Sie weiter.“


„„Der aufgegebene Krieg gegen Frankreich war
ein unwürdiges Geſtändniß von Schwäche, die ſoge¬
nannte Verwaltung Hannovers bis zum Abſchluß
des allgemeinen Friedens überdachter Verrath. Er¬
röthet Preußen nicht vor der Entſchuldigung, daß
die Wahl der Mittel zur Sicherung ſeiner Ruhe
nach der Schlacht von Auſterlitz nicht mehr von ihm
abhängig geweſen ſei? Ziemt eine ſolche Sprache
einem ſchlagfertigen Staate, wenn es Ruhm und
Vaterland gilt? Ziemt ſie vor Allem dem Preußiſchen,
der Friedrichs Siege hinter ſich hat, Friedrichs Heer
vor ſich und zur Seite Rußlands Beiſtand? Preußen
prahlt mit gebrachten Aufopferungen. Ja es hat
geopfert ſeine Unabhängigkeit, ſeine Pflicht, ſeine
alten Beſitzungen, ſeine treuſten Unterthanen und
ſeine zuverläſſigſten Bundesgenoſſen. Preußen hat
durch den Schönbrunner Vertrag aufgehört als
ſelbſtſtändige Macht, es kann nur noch exiſtiren unter
den Flügelſchlägen des franzöſiſchen oder ruſſiſchen
Adlers.““


„Was ſagen Sie dazu?“


„Warum fordert man von Epigonen den Muth
der Titanen!“

[29]

„Der kleine König von Schweden ſperrt ihnen
auch die Oſtſeehäfen, er kapert auch wie die Engländer
ihre Schiffe. Man hätte doch nun erwartet, ſie
würden Schwediſch Pommern nehmen!“


„Man iſt befangen im Bewußtſein ſeines Un¬
rechts, und ſtatt es gut zu machen, indem man es
vollendet, verdoppelt man den Fehltritt, indem man
ihn halb thut.“


„Das iſt Ihre Moral, Wandel. Ich im Gegen¬
theil bewundere den Muth dieſer Staatsmänner.
Mit welchem Geſichte kann der Mann von Schön¬
brunn vor die Prinzen, vor die Bilder ſeiner
alten Könige treten, vor das Land, vor das Preu¬
ßiſche Heer, vor Friedrichs Armee? Erklären Sie
mir den Muth, Wandel, wie er vor dieſem ſtolzen,
hochmüthigen Officiercorps es ausſprechen darf: Preu¬
ßen fühlt ſich zu ſchwach, mit dem ſtärkſten Bundes¬
genoſſen an der Seite einen gerechten Krieg zu füh¬
ren. Können Sie's?“


„Gnädigſte Frau, vor wem erröthen, wem Re¬
chenſchaft geben! — Wer fordert ſie von dem Manne!“


„Und ſei es nur vor ſeinem eigenen Spiegel.“


„Der Spiegel, Gnädigſte, iſt unſer Machwerk;
man ſchleift, färbt ihn, wie man will, man ſtellt ſich
vor ihn, wie man Luſt hat. Die Hand in der
Bruſt, das Kinn aufrecht, die Blicke funkelnd. Oder
die Arme gekreuzt auf der Bruſt, die Augen nieder¬
geſchlagen; der Spiegel iſt gehorſam, er giebt Alles
wieder. Denken Sie ihn ſich ſo, mit verkniffenen
[30] Lippen davor, und er lispelt: er war ſtark und wir
ſchwach, er entſchloſſen, und wir wiſſen nie heut, was
wir morgen thun ſollen, er hat ein kriegsgewöhntes,
ſiegreiches Heer und wir eines, was den Krieg ver¬
lernt hat. Ein Krieg koſtet Blut, viele Menſchen,
er ruinirt noch mehr Bürger, ſeine Nachwehen ſind
furchtbarer als ſeine Verwüſtungen. Alles das ſind
Realitäten, die Ehre aber iſt ein Wahn. Mein Kö¬
nig hat einen Abſcheu vor Blutvergießen und ich
liebe es nicht. Alle gute Menſchen lieben es nicht.
Gott auch nicht, er hat den Frieden geboten und Na¬
poleon bietet ihn uns auch. Sind das nicht eben ſo
viele Winke des Himmels! Wofür ſollen wir uns
ſchlagen? Für uns doch nicht. Er will uns ja mehr
geben, als wir hatten. Für Oeſtreich etwa, das ver¬
loren hat? Wir ſind doch nicht Don Quixoten, um
für einen Rivalen uns zu opfern? Oder für das thö¬
rige Gebrauſe, was man jetzt öffentliche Meinung
nennt? Wiegt meines Königs unausgeſprochener
Wunſch nicht ſchwerer? Die öffentliche Meinung
macht mich nicht zum Miniſter, ſie möchte mich ſtür¬
zen. Aber ſie kann's nicht. Mein König kann
mich halten, und er wird es.“


„Von Advocaten des Teufels hab' ich wohl ge¬
hört, ſagte die Fürſtin, ihn fixirend, nur weiß ich
nicht, wer ſie bezahlt.“


„Ich halte Excellenz für einen ſehr honetten
und zuweilen ſehr heiligen Mann, der, wenn er den
Feind citirt, es gewiß nur thut, um ihn zu beſchwö¬
[31] ren. Vielleicht — ich ſage, es iſt möglich, daß er
jetzt in der Stille die Hände vor ſeinem Bilde, näm¬
lich im Spiegel, faltet, auch vielleicht ein Kreuz
ſchlägt, und aus tiefer Bruſt ſeufzt: Ich bin ja nur
ſein unwürdiges Werkzeug! Gegen letzteres wird
denn wohl Niemand etwas einzuwenden haben.“


„Incorrigibler!“ ſagte die Fürſtin und gab ihm
einen leichten Schlag mit dem ausgezogenen Hand¬
ſchuh, um doch wieder ſinnend vor ſich niederzublicken:


„Und doch, wäre es ein Weſen von Fleiſch und
Blut, dieſes Preußen, ich könnte es beneiden um die
Empfindung. So zerknirſcht in Demuth niederzufal¬
len in den Staub, an die Bruſt zu ſchlagen und zum
Herrn zu rufen: Strafe mich um meinen Dünkel und
meine Ueberhebung. Das ſind die Früchte meiner
Saaten, daß ich mich auflehnte gegen Deine Satzung!
— Ach nein, ſie kennen nicht die Wolluſt der De¬
muth und Zerknirſchung, ſie ſind alle noch aus Frie¬
drichs Schule, ſchlechte Schulknaben, ſie beten nicht
den Herrn, nur ihren Witz an, und ſein Geſpenſt
ſeh ich umherſchleichen — das muß eine furchtbare
— die fürchterlichſte Strafe des Himmels ſein: ſo
ſein Werk zertrümmert, ſeine Schöpfung verhöhnt,
ſein Geiſt zum Pasquill — und keiner den Muth, in
ihrer Erniedrigung die Arme zu erheben: „Herr, er¬
barme Dich unſer!“


Herr von Wandel kannte die Fürſtin — auch
ihre temporellen Viſionen. Sie genirten ihn nicht.
Die liebenswürdige Frau liebte nicht die Gêne. Er
[32] wartete in Geduld, bis der Paroxysmus vorüber
war; er brauchte nicht lange zu warten.


„Nun an Ihr Geſchäft, ſprach ſie. Wie lange
laſſen Sie die arme Eitelbach warten!“


„O dies hat Zeit!“


„Sie würden einen guten Marterknecht abgeben.“


„Ich weiß in der That noch nicht, was ich mit
ihr reden ſoll.“


„Wenn Sie nur die perſifliren können, die Sie
vorgeben zu lieben, ſo verſuchen Sie es einmal, ſich
in die Baronin zu verlieben. Ich erlaube es Ihnen.“


„Der Rath iſt nicht ſo übel!“ ſagte der Lega¬
tionsrath und verneigte ſich tief. „Mit meiner gnä¬
digſten Freundin Erlaubniß will ich wenigſtens den
Verſuch machen.“


Die Fürſtin hörte es nicht mehr, ſie warf am
Fenſter der abfahrenden Adelheid Abſchiedsgrüße zu.

[[33]]

Drittes Kapitel.
Herr von Wandel muſz ſentimental ſein.

„Unter Heiligenbildern eine Heilige!“ rief der
Legationsrath der Baronin entgegen.


„Wiſſen Sie, was mein Mann von Ihnen ſagt?
replicirte die Baronin? Wie heilig Sie auch aus¬
ſähen, Sie wären ein Pfifficus, und er möchte mit
Ihnen keine Geſchäfte machen.“


„Warum ſollte er theilen! Er macht für ſich
allein die beſten.“


„Ihnen traute er nicht über den Weg, meinte
er neulich.“


Der Legationsrath zückte lächelnd die Achſeln:
„Was konnte ich dafür, daß aus der Mäntelgeſchichte
nichts ward. Meine Abſichten waren die beſten,
meine Demarchen gut, es ſtieß ſich an andern Dingen.
— Ja, theuerſte Freundin, wie viel iſt damit aus¬
geſprochen! Unſer Wille mag noch ſo rein ſein, wir
thun alles, was wir können, der Himmel ſelbſt ſcheint
uns zu winken, und es wird doch nichts draus. Das
iſt der unerforſchliche Organismus jener höheren
IV. 3[34] Sphärenkreiſe, in die unſer Auge vergebens zu drin¬
gen ſucht. Darin finde ich aber eben den merkwürdi¬
gen Unterſchied zwiſchen Ihrem und unſerm Geſchlecht,
ich meine zwiſchen den Erwählten. Während wir
noch immer titaniſch nach dem Unmöglichen ringen,
findet das edle Weib ſchon in der Entſagung den
höhern Troſt. Da erſt verklärt ſich ihre Liebe zu
derjenigen, welche nicht beſitzen, nur beglücken will;
ſelbſt beglückt, wenn ſie den geliebten Gegenſtand glück¬
lich ſieht in der Liebe zu einer andern.“


Der Legationsrath ſchien unwillkürlich mit dem
Taſchentuch über ſeine Augen zu fahren. Die Ba¬
ronin ſah ihn aber ſehr ſcharf an:


„Was meinen Sie denn damit? Denn das habe
ich Ihnen auch abgemerkt, Sie ſagen nichts ohne
Abſicht.“


„Meine Freundin wird aber darin mit mir
einig ſein, daß es unter zartfühlenden Seelen beſſer
iſt, über gewiſſe Intereſſen nur andeutend wegzu¬
gehen, als ſie auszuſprechen. Wer heilende Wunden
muthwillig aufreißt, wird zum Selbſtmörder.“


Die Baronin ſah ihn ſo klar an, daß Wandel
ſeine Augen einen Moment niederſchlug:


„Manche Wunde thut auch wohl, wenn man
weiß, daß, der ſie ſchlug, es in guter Abſicht that.
Sie ſind nicht Dohlenecks Freund, leugnen Sie's
nur nicht; ich weiß es —“


„Mir iſt er eigentlich ganz indifferent, meine
Freundin. Wenn er feindliche Gefühle gegen mich
[35] hegt, ſo ſind ſie ihm wahrſcheinlich vom jungen Bo¬
villard beigebracht.“


„Sie meinen auch, wie die Andern, daß es nur
Mißverſtändniſſe ſind?“


„Von dem, was die Leute ſprechen, laß ich mich
nie beſtimmen.“


„Ja, es iſt ein Mißverſtändniß, ſprach ſie mit
gen Himmel erhobenen Blicken. Es war kein Zufall,
ich weiß, daß alle die Kränkungen von ihm abſicht¬
lich ausgingen — “


„Iſt es möglich!“


„Ja, mein Herr Legationsrath, ſo gewiß, als
Sie hier vor mir ſitzen.“


„So abſcheulich hatte ich ihn mir doch nicht ge¬
dacht. Und ſieht aus, als könnte er keinem Kinde
das Waſſer trüben.“


„Und ſeine Seele iſt ſo rein, wie der Spiegel
eines Sees.“


„Sie ſprechen in Räthſeln. — Ich, oder viel¬
mehr ein Freund, glaubten letzthin in Ihren Blicken
ein ſtummes Spiel gegenſeitiger Verſtändigung zu
entdecken. So kann man ſich täuſchen!“


„Sie haben ſich nicht getäuſcht.“


„Das Räthſel wird immer dunkler.“


„Und immer heller in meiner Seele. Ja, weil
der edle Mann ſah, wie mein Gefühl für ihn immer
heftiger ward, wie ich mich von ihm hinreißen ließ,
und weil er mich wahrhaft liebt, darum mit eigner
Selbſtüberwindung jene Kränkungen und Aergerniſſe,
3*[36] die mich tief betrübten, um dann mich wieder deſto
höher zu erheben. Er beleidigte mich, um mich wie¬
der zu mir ſelbſt zu bringen, um mich von meiner
Leidenſchaft zu heilen. So lebten wir eine lange
ſchmerzliche Weile uns zur gegenſeitigen Qual, bis
— wir uns verſtanden haben. Nun aber haben wir
es, und ich bitte es ihm tauſendmal im Herzen ab,
wie ich ihm Unrecht gethan. Ich glaubte zu leiden,
und wie mußte er erſt leiden, indem er mir und ſich
zugleich ſo unausſprechlich wehe that.“


Wandel, der etwas unaufmerkſam geſeſſen, warf
hier einen forſchenden Blick auf die Rednerin. Er
hatte manches, aber dies grade nicht erwartet. Die
Geſchichte intereſſirte auch ihn nicht mehr beſonders,
oder er war im Nachſinnen, wie er ihr eine andre
Wendung beibringe, um ihr wieder ein Intereſſe abzu¬
gewinnen. Es war die Neugier, wie man in einem
empfindſamen Roman plötzlich die Seiten umſchlägt,
um die Motive eines den Leſer überraſchenden Sinnes¬
umſchlags zu erfahren, mit der er ſie raſch fragte:


„Und das hat er Ihnen alles geſagt?“


„Kein Wort.“


„Ah, alſo die Sympathie der Seelen!“


„Warum ſenken Sie die Augen?“


Er mußte ſich geſtehen, daß dieſe Wendung dem,
was die Freunde wollten, am wenigſten entſpreche:


„Oh, das iſt ein Thema, rief er, bodenlos, un¬
ergründlich.“


„Sie erſchrecken ja beinah.“

[37]

„Ich! — Erſchrak ich! — Ich ſtellte mir nur
vielleicht die Frage, ob es ein Glück iſt, in der
Seele des Andern leſen zu können? Oder nicht
vielmehr ein Unglück? Fragen Sie ſich einmal,
ganz aufrichtig, die Hand aufs Herz. Würden
Sie wünſchen, daß ein Andrer Ihre Gedanken läſe
wie ein offnes Blatt?“


Er hatte ihre Hand ergriffen und legte ſie ſanft
an ihr Herz. Sie ließ es geſchehen, und ſah ihm
klar in die Augen. Ohne alle Bewegung ſprach ſie
mit heller Stimme:


„Ja, es könnte Jeder leſen.“


„Auch der Baron, Ihr Gemahl?“


„Jetzt erſt recht. — Im Anfang ſchoß es mir
da über den Kopf. Nachher ward ich zuweilen ſtutzig,
ich ſchämte mich, wenn der und jener mir jetzt ins
Herz ſähe, und ich gab mir Mühe, daß ichs mir
anders zurecht legte und rechtfertigte, aber nun habe
ichs nicht nöthig. Da fiel mir wieder ein, was mal
der Prediger ſagte: Jedes guten Menſchen Herz
muß ſo zugerichtet ſein wie ein Glasſchrank. Darin ver¬
birgt man nichts, und wer in die Stube tritt, ſieht es.“


„Der gute Prediger unterließ nur hinzuzuſetzen,
meine Freundin, daß wir nicht Jeden in unſre
Stube laſſen. Die Stube verſchließen wir, und der
Glasſchrank ſteht nur offen für unſre Freunde, für
die, welche wir geprüft, die täglich Zutritt haben.
Ja die mögen hineinſchauen, und ſich der Dinge
freuen, die uns erfreuen.“

[38]

„Ach, ich weiß Jemand, der würde ſich zuknöpfen,
wenn man ihm ins Herz ſehn wollte!“


„Wer iſt das?“ Wandel ſchien über dieſe Wen¬
dung des Geſprächs noch weniger erfreut.


„Sie ſind ein guter Menſch, Herr von Wandel, aber
voller Finten. Reden Sie ſich ja nicht aus, ich weiß es.“


Er hatte ihre ſchöne Hand, die über der Divan¬
lehne lag, erfaßt und brückte ſie ſanft an die Lippen.
„Könnten Sie in dies Herz ſchauen! ſprach er
ſeufzend. Finten nennt es meine Freundin. Im¬
merhin! Finten ſind Spitzen, aber es ſind blutende
Spitzen, Dolchſtiche, Dornen, die Andre hinein ge¬
drückt. Da iſt der einzige, aber ein ſüßer Troſt, daß
um dieſe Dornen Roſen blühten.“


Sie hatte die Hand ruhig ſeinen Küſſen über¬
laſſen, und ſchien verwundert, als er plötzlich aufſtand
und den Stuhl wegſetzte.


„Wohin wollen Sie denn?“


„Nach dem Lande, wo keine Roſen blühen.“


„Jetzt doch nicht gleich?“


„Ich bin keine Stunde ſicher, daß nicht die Päſſe
und Anweiſungen aus Petersburg eintreffen, und dann
darf meines Verweilens nicht mehr lange ſein. Die
Academie in Petersburg hat zu meiner Beſchämung
eine ſo dringende Vorſtellung an Seine Majeſtät den
Kaiſer gerichtet, die Unterſuchung der Bergwerke für ſo
wichtig erklärt, und meine geringen Kenntniſſe ſo hoch an¬
geſchlagen, daß ich undankbar wäre, wenn ich dem ehren¬
vollen Rufe zu folgen nur einen Augenblick zauderte.“

[39]

„Ihre Verdienſte in Ehren, aber — die Gar¬
gazin wird ſie wohl recht ausgeſchrien haben.“


„Erlaucht hat allerdings auch Güter in Aſien,
und einige Bergſtriche verſprechen, wenn mein Auge
aus der Ferne ſich nicht täuſcht, unter geſchickter
Hand eine ungewöhnliche Ausbeute.“


„Nach Aſien wollen Sie, Herr Gott, das
iſt weit.“


„Bis an die Chineſiſche Gränze. Sie mögen
denken, wie ſchwere — ſehr ſchwere Opfer es mich
koſtet!“


„Wie ſo denn?“


„Muß ich nicht meine eignen Güter in Thürin¬
gen verlaſſen?“


„Wiſſen Sie, was mein Mann ſagt? — Die
möchte er nicht geſchenkt haben; wenn ſie nicht die
Feldſteine zu Klößen kochen lernten, müßte 'ne
Kirchenmaus drauf verhungern.“


„Ei, Ihr Herr Gemahl auch Oeconom! Ich
hielt ihn nur für einen Speculanten. Für den
glücklichſten, weil — er das große Loos gezogen hat.“


Die Baronin lachte ihn recht herzlich an:
„Damit meinen Sie mich; mir verbergen Sie nichts.
Wenn Sie aber meinen Mann fragen, ſo ſagt er
Ihnen, es wäre ſeine ſchlechteſte Speculation.“


„Ich halte viel auf Ihren Herrn Gemahl. Ueber
dem tiefen Schacht von Wiſſen und Erfahrung
ſpielen wie Schmetterlinge Humor und Witz. Ich
weiß ſeinen kauſtiſchen Witz zu ſchätzen; weil ich ihn
[40] verſtehe, verwundet er mich nicht wie Andere, und
es thut mir aufrichtig leid, daß unſre verſchiedenen
Berufsgeſchäfte uns ſo ſelten zuſammen fühlten. —
Glauben Sie mir, auch von ihm wird mir die
Trennung ſchwer.“


„Von wem denn ſonſt noch! Von der Geheim¬
räthin oder der Fürſtin! oder — oder — oder“


„Verdiente ich dieſe Bitterkeit? Die Baronin
Eitelbach ſieht mich gern ſcheiden.“


„Nein, weiß Gott, nein, ich plaudre gern mit
Ihnen. Ich glaube Ihnen nicht alles, was Sie
ſagen, aber es hört ſich ſo hübſch an. Es klingt,
als ob man mit Ihnen in die Wolken fliegen müßte.“


„Seele mit dem Taubenauge und dem Blick
des Adlers, erlauben Sie mir den Bruderkuß auf
die Stirn der Schweſter zu drücken.“


Sie wehrte ihn, als er im Begriff war es
zu thun, ſehr entſchieden zurück: „Sie ſind noch
nicht fort. Wenn's ſo weit iſt, wollen wir uns be¬
ſinnen.“


Einen Wunſch erlauben Sie mir wenigſtens,
mit den Lippen auf Ihre ſchöne Hand zu hauchen.“


„Hauchen Sie aber nicht zu lange.“


„Wie Sie in meine Seele blicken, möchten Sie
eben ſo klar in die des Rittmeiſters blicken! Jetzt
noch nicht, aber ſpäter, wenn ich fort bin.“


„Warum denn jetzt nicht?“


„Jetzt hat er genug Beſchäftigung mit der
kleinen Choriſtin.“

[41]

„Welche Choriſtin?“


„Die in der Geiſterinſel die Herzen entzückt.
Sie wiſſen ja.“


„Sie ſind ein abſcheulicher Menſch.“


„Vielleicht irre ich mich auch. Sein Neffe, der
Cornet, bezahlt ſie, und die böſe Welt ſagt: für
ſeinen Onkel. Doch, wie geſagt, das mag nur Gerede
ſein. Und wäre es, iſts ein Verſuch, ſeinen Schmerz
zu betäuben. Das will ich ihm verzeihn. Aber —
ich glaube, es iſt vielleicht beſſer, ich ſchweige.“


„Nein, jetzt iſts beſſer, Sie reden. Das iſt eben
ſo abſcheulich von Ihnen, daß Sie einen Stachel
Einem ins Herz ſenken, und dann laufen Sie fort.
Man quält ſich, was es iſt, und dann iſts am
Ende nichts.“


„Auch ich hoffe, daß es nichts iſt. Das iſt das
Opfer, welches ich Rußland und der Wiſſenſchaft
bringe, jetzt von ſo vielen Freunden mich loszureißen,
die vielleicht meiner Hülfe bald bedürfen. Einer Ei¬
genſchaft rühme ich mich — ich ward frei von Affec¬
ten, ich blicke klar in die Zukunft, in die Seelen der
Menſchen, die Fältchen und die Schleier derſelben täu¬
ſchen mich nicht. Der Rittmeiſter iſt, ja, ich gebe es
zu, was man nennt, ein guter Menſch, aber verſchul¬
det, bis über die Ohren verſchuldet. Der Krieg
konnte ihn retten. Nun bleibt Friede. Er muß alle
Anſtrengungen machen, ſich über dem Waſſer zu hal¬
ten. Damals, als es losgehn ſollte, überkam ihn
ein nobler Impuls; das iſt nun vorüber, er iſt
[42] Menſch, ein armer Edelmann, ein Officier, auf ſeine
Gage angewieſen, von Gläubigern gedrängt, gewiſ¬
ſermaßen von den Umſtänden zum Aventurier geſtem¬
pelt, gezwungen, ſein Alles auf eine Karte zu ſetzen.
Lieber Gott, er iſt darum kein Böſewicht, daß er
alle Rollen ſpielt, den brüsken, den ſentimentalen,
ſogar den idealen Liebhaber, um eine reiche Frau zu
kapern.“


„Sind Sie bei Troſt? Ich bin ja verheirathet!“


„Daran denkt ein ſolcher Aventurier nicht. Er
hält Alles für erlaubt, und in der Noth kein Band
zu feſt. Ich kenne ſolche Menſchen.“


„Jetzt ſchweigen Sie. Sie mögen viele Men¬
ſchen kennen, aber den Rittmeiſter Stier von Doh¬
leneck kennen Sie nicht. Ich könnte Ihnen ſehr böſe
werden, ſpinnefeind, wenn Sie nicht ein ſo guter
Menſch wären. Darum bitte ich Sie, thun Sie mir
den Gefallen und — ſein Sie ſtill. Kein Wort
mehr davon!“


Er verneigte ſich reſpectvoll: „Ich gehorche dem
Befehl, wo ein leiſer Wunſch genügt hätte; aber eine
Bitte ſpreche ich im Scheiden aus. Wenn das Traum¬
bild Ihres Glaubens zuſammenſinkt, wenn Sie ſich
ſchwach fühlen, wenn mit Ihrem Vertrauen das
Glück des Lebens vor Ihnen zuſammenbricht, dann
denken Sie, dann rufen Sie mich. Ich werde Ihre
Stimme hören, auch wenn hunderttauſend Meilen
uns trennen, kein Brief mich trifft, keine Taube durch
die eiſigen Lüfte dringt. Wenn Auguſte von Eitel¬
[43] bach gepreßten Herzens in ihrem Kummer meinen
Namen nennt, wenn ſie ſchluchzend in die Nacht
ruft: Ach, wäre er hier, er könnte mir helfen, dann
werde ich Ihren Ruf hören, ob ich im tiefſten
Schacht der Bergwerke von Irkutzk dem Licht der
Gnomen folge, um die Adern edler Erze zu ſchürfen,
oder einſam ſchweife auf einem Rennthierſchlitten um
die kalten Seen Sibiriens — und ich bin bei Ihnen.“


Ohne einen Händedruck war er nach der Thür
geeilt. Sie rief ihm nach:


„Nach Sibirien gehen Sie?“


„Warum ſchaudern Sie, gnädige Frau? Es iſt
warm auch am Eispol, wenn das Blut im Herzen
pulſt.“


„Ich dachte nur — Ich war in Glogau, als der
Erxner, der Raubmörder, nach Sibirien transportirt
ward. Was man doch manchmal Närriſches denkt —
wenn Sie auch ſo in Ketten hingeſchleppt würden! —
So fuhr er auch zuſammen, wie Sie jetzt —“


Er verneigte ſich noch ein Mal und war ver¬
ſchwunden. Sie ſah ihm aus dem Fenſter nach. So
in ſich verſunken hatte ſie ihn noch nicht geſehen.
Er erwiederte den Gruß zweier Bekannten nicht.
„Er hat nur einen Fehler, ſprach ſie bei ſich, er
kann den Rittmeiſter nicht leiden. Aber — aber er
wird noch nicht — mit Sibirien hats gewiß noch
gute Weile.“

[[44]]

Viertes Kapitel.
Ob's edler im Gemüth, die Pfeil und Schleudern
Des wüthenden Geſchicks erdulden oder —

„Thorheit, zu glauben, daß ein Menſch ſeiner
Zeit voraufgeht. Von der Strömung in der Luft
werden wir gezogen, wie die Atome dem Athem
zufliegen. Es iſt das unergründete Geſetz in der
moraliſchen Welt, was den Rieſen wie den Zwerg
regiert, und die tollſte Ironie iſt es, der wahn¬
ſinnigſte Traum unſrer trunkenen Phantaſie, zu
wähnen, daß wir aus eignem freien Impuls die
Welt nur um eine Spanne weiter rücken!“


Zwei Geneſende ſaßen auf einer abgelegenen
Bank im Thiergarten, die laue Sommerluft ein¬
ſchlürfend. Der eine, den Arm in einer ſchwarzen
Binde, — ſchien ſeine Krankheit bereits abgeſchüttelt
zu haben, und das blaſſe Geſicht röthete ſich, wäh¬
rend die Glieder oft elaſtiſch zückten. Es war
Walter. Der andre trug keine ſichtliche Verwun¬
dung, aber der kräftige Geiſt ſchien mit einer
phyſiſchen Mattigkeit im fortdauernden Kampf, und
[45] ſein auch bleiches Geſicht blitzte von einer ver¬
rätheriſchen Röthe, während das dunkle tiefe Auge
geſpenſterhafte Glanzblitze warf. Es war Louis
Bovillard; er hatte die obigen Worte geſprochen.


„Dem Fatalismus huldigen, dahin alſo führte
unſer langer ſaurer Bildungsproceß, unſer Suchen,
Tappen, Klimmen! entgegnete Walter. Du mußt
bekennen, daß die Türken dies Ziel bequemer haben. —
Du biſt noch krank.“


Bovillard ſah mit ſeinem glühenden Auge weh¬
müthig auf den Freund: „Was hilft Dir Deine
Geſundheit?“


„Daß ich meine Kraft ſparte.“


„Wofür? Was hilft der Ameiſe die Seherkraft
der Kaſſandra, wenn der Stiefel eines Stallknechts
ſich nur aufzuheben braucht und der Bau ihres
Lebens iſt zerſtört!“


„Gott und Natur ſind ewig, und der Menſch —“


„Bleibt ihre erhabenſte Creatur, aber ewig wie
Herkules am Scheidewege. Da ſteht: Entſage! und
ein himmelblaues Lamm daneben, Dich auf Dornen¬
wegen zur Trübſal zu führen. Hier ſteht: Genieße!
und Fuchs, Wolf und Schlange ſtehn als Deine Lehr¬
meiſter dabei.“


Walter hatte längere Zeit vor ſich hingeblickt;
die Lucubrationen des Freundes hatten ihn nicht
geſtört: „Wo iſt das Allgemeinwohl? das iſt die
Frage. Sitzt's in den Gipfeln? in den Wurzeln?
Wo iſt das Mark? Wir fühlen es, wie das Waſſer
[46] den feſten Boden unterſpült, die Wurzeln vom Erd¬
reich löſt, wir fühlen das Annahen des Sturmes.
Und noch wäre Rettung möglich, aber die phleg¬
matiſche Maſſe ſchließt noch die Augen, trunken
ſchreien Einige in die Lüfte, aber ſie helfen nicht,
nur dem Feinde geben ſie ein Zeichen, wie es
ſteht. Die zu Wächtern beſtellt ſind, zu Baumeiſtern
und Steuerleuten, ſingen uns Schlaflieder zu.
Sie zittern nicht vor der Gefahr draußen, nur
vor der Aufregung, welche die Furcht davor im
eignen Lager verurſacht. Wo nun Einer mit dem
beſten Willen kommt, wo ſoll er anklopfen, wo,
wenn er ſein Gut und Blut hineinwerfen möchte,
iſt die Büchſe, um es aufzunehmen? Das iſt die
Frage.“


„Was hilft's Dir, wenn Du die rechte Ein¬
gangsthür in ein verrottet Haus findeſt, wo drinnen
nichts mehr zu retten iſt.“


„Es iſt“, fuhr Walter auf. „Wie hätte dieſer
Staat ſo lange beſtehen können und leuchten in der
Geſchichte. Es iſt etwas nie da geweſenes, wie dies
Regentengeſchlecht perſönlich auf das Volk einge¬
wirkt hat. Das leugneſt Du Dir nicht fort, vom
Anbeginn bis heute. Es hat alles, was ſein eigen
war, Gedanken, Geiſt, Intelligenz, Thatkraft, Muth,
Entſchloſſenheit, Ausdauer, ausgeſprützt in die Adern
der rohen, verwilderten Stämme, die es vorfand,
die es ſpäter mit ſeinen ſtarken Armen umklammerte,
bis ſie unter dem warmen ſchirmenden Druck zu
[47] einem Leibe verwuchſen. Wir ſollten freudig ſtaunen
über das Wunder einer Gärtnerkunſt, denn das
war es, wo die Fürſten von anderm Stamme, Blut,
aus einem fernen, fremden Lande, ſo ſich mit dem
Boden, den Boden mit ſich amalgamirten; wenn
nicht eben die Impfe ſo wunderbar nachhaltig ge¬
wirkt hätte, daß alles, was auf dem Throne zur
Geltung kam, im Volke ſich wiederſpiegelt und
reproducirt, wie die Stärke vorhin nun die Schwächen,
wie das Licht, jetzt die Schatten. Iſt nun ein Volk
von der Vorſehung deſtinirt, das frage ich mich,
ſein Licht ausgehn zu laſſen, weil von ſeiner Herr¬
ſchaft ihm keins mehr leuchtet, ſich ſelbſt auszulöſchen
aus der Reihe der lebendigen Nationen, weil der
Druck der Luft von oben, das Miasma, es affirirt!
Iſt's deſtinirt, mit allen Mitteln zur Hand, ſich
nicht ſelbſt curiren zu dürfen?“


„Wenn es ein Affenvolk iſt! Und wir ſind
Alle Affen. Was willſt Du mehr von ihm?“


Das mehr, was die Erziehung, grade jene
ſeiner Könige es lehrte: ſelbſt zu denken und zu
fühlen. Dieſe Eigenſchaften ſind nicht fortgeſpült;
ſie wuchern geil und luſtig fort. Es kam einmal
die Sitte von oben herab, die nüchterne, ſtrenge
hausbackne Bürgertugend von jenem Soldatenkönig,
dann vom ſelben Throne mit den laxen Sitten und
der Frivolität jene eben ſo nüchterne Aufklärung.
Jetzt, wo Frömmigkeit und Gerechtigkeit in mildem
Scheine von oben ausſtrahlt, wo wir aus einem
[48] guten Sinne auf Tüchtiges gehofft, iſt's die Unent¬
ſchloſſenheit, die ſich auf das Volk ergießt und es
zerſetzt. Wie, wo ſoll da geholfen werden! Nein,
wer ſoll helfen, wer die adſtringirende Säure gie¬
ßen in die in Auflöſung befindliche Maſſe!“


„Frage lieber, wer iſt der neue Prometheus?
Denn die Nachkommen des alten verfolgten Revolu¬
tionairs ſind im Laufe der Zeit legitime Philiſter
geworden, gute Bürger, die des Nachtwächters Ruf
gehorchen: Bewahrt das Feuer und das Licht. Schaff
Dir neue Menſchen. Mit den alten iſt nichts anzu¬
fangen.“


Bovillard war aufgeſtanden und blickte in die
Ferne, wo die Sonne zwiſchen dem Walde verſank.


„Thorheit, wiederholte er, zu rühmen, daß wir
die Zeit verrücken, die, unſer ſpottend, über uns hin¬
rollt. Der Kriegswagen des Donnergottes, von
Sturmroſſen gezogen, Feſtungen zermalmt er und
Heere, die für unüberwindlich galten, wie Kartenhäu¬
ſer und bleierne Soldaten, und es iſt nichts ſo feſt
auf Erden, was nicht ſchon knickt, wo ſein ſchnauben¬
des Geſpann heranbrauſt.“ — Er legte ſeinen Arm auf
Walters Schultern. — „Ich war da, Lieber, ich ſah
es ja in der Nähe. Unſern Staatsmann ſah ich, hei¬
liger Gott! Friedrich und ſein großer Ahn, der
Kurfürſt, müßten im Sarge roth werden, wenn ſie
das geſehen! Ein Verräther — nein! Man kann
nur verrathen, was man weiß. Wenn er ſich in den
Wagen ſetzte, zur Conferenz zu fahren, wußte er
[49] noch nicht, was er rathen, fordern, ſprechen ſollte.
Napoleon fuhr ihn an. Er ſchwieg. Napoleon ca¬
jolirte ihm, ging ihm um den Bart. Er ſchwieg
auch. Dies Schweigen ſoll wirklich den großen
Mann anfänglich verwirrt haben, bis er merkte, daß
man auch ſchweigen kann, nicht um zu verſchwei¬
gen, ſondern weil man nicht weiß, was man wol¬
len ſoll. Solche Rathloſigkeit, ſolche Faſſungskraft,
ſolcher Mangel an Gedanken und Muth! Der Ver¬
treter des Militairſtaates wußte von den militairi¬
ſchen Operationen nicht, was ein Quartaner in Preu¬
ßen wiſſen muß, ließ ſich einſchüchtern, Gott weiß
womit, und was Napoleon in ſeiner Laune einfiel:
er ließ ſein Heer über Gebirge und Flüſſe ſpringen,
Schleſien nehmen, Polen revoltiren, daß die Adjutan¬
ten hinter der Thür kaum das helle Auflachen zu¬
rückhielten. Das Heer, geſchwächt, blutend, hätte da¬
mals nicht vier Meilen mehr gemacht. Dann, zum
Troſt, überſchüttete er ihn mit Lobſprüchen für ſeinen
guten Willen, ſeine Einſicht, und unſer Mann ward
roth vor Freude. — Und in ſolche Hände legen
unſre Fürſten unſer Schickſal, und ſolchem Feinde
gegenüber!“


„Die deutſchen Fürſten —“


„Laß mich von ihnen ſchweigen. Was ich auch
da ſah, wenn eine Nachwelt kommt, wird ſie's nicht
glauben. Sauve qui peut, das iſt das große Schi¬
boleth der Zeit.“


„Und das deutſche Volk?“

IV. 4[50]

„Soll es für die goldne Bulle ſchwärmen, für
Regensburg oder Wetzlar! Schwärmer giebt es,
wofür wären wir Deutſche!“


„Auch die Kreuzfahrer waren Schwärmer, und
doch eroberten ſie Jeruſalem.“


„Warte nur, Lieber, wenn die gutgeſinnten Bür¬
ger die Straßenjungen gegen ſie animiren. Koth auf
ſie! Mit Recht, ſie ſtören ja die Ruhe. Alle die
Volkserhebungen, die man verſucht hat, da und dort,
um den Erzherzog zu ſoulagiren, kläglich fielen ſie
aus, und wenn man Frieden ſchloß, wie ließ man
ſie im Stich! die armen Schelme! Was heut Tu¬
gend heißt und Patriotismus, die Diplomatie ſtem¬
pelt's morgen zum Verbrechen und Hochverrath,
wenn's ihr ſo bequemer iſt. Was willſt Du da vom
armen Volk erwarten! Sie äffen den Fürſten nach,
und ſie thun Recht. Wer etwas für ſich ſchaffen
kann, zugegriffen, ſo lange es Zeit iſt! Die alten
Bande ſind gelöſt. Es giebt kein Recht, kein Geſetz,
kein Vaterland mehr. Haſche den Sonnenblick, ge¬
nieße den Augenblick, Du weißt nicht, was morgen
kommt. Schöne Mädchen und Cyperwein, Walter,
ſo lange es ſchmeckt. Preußen that Recht, wir wa¬
ren im Unrecht; es hat den größten Biſſen erſchnappt.
Preſſe Hannover aus, Du weißt nicht, ob es Dir
nicht ſchon morgen wieder entriſſen iſt. Schöne
Mädchen und Cyperwein! nur nichts von Vaterland,
Menſchenglück. Phantasmagorien, nichts als Mond¬
ſcheinilluſionen. Im Ernſt, Walter! Sieh mich nicht
[51] ſo an. Die alte Zeit iſt abgelaufen, aller Widerſtand
iſt Thorheit — der neue Titane zerſchlägt dem alten
Sonnengott den Karren, die Splitter und Funken
fliegen durchs Weltall. Duck Dick in eine Höhle,
wenn Du eine findeſt, und wenn Du lebendig bleibſt,
gaffe ihm nach, wohin er ſeinen Feuerball peitſcht.
Ich weiß es nicht.“


„Und doch, ſprach Walter, ihm nachblickend, als
er ohne Abſchiedsgruß nach der Stadt gegangen, doch
würdeſt Du der Erſte ſein, wenn —“ Er folgte ihm.


Seltſam, als Walter in das Haus des Geheim¬
rath Lupinus trat, ſollte er eine Unterhaltung über¬
ſtehen, die denſelben Gegenſtand hatte.


Er fand den gealterten Mann kränkelnd. Er
huſtete viel. Walter meinte, das Zimmer ſei wohl
lange nicht gelüftet, der Bücherſtaub habe etwas
Drückendes.


Der Geheimrath hörte ihn mit Freundlichkeit an.


„Gewöhnen wir uns doch daran, das Leben als
eine Gewohnheit zu betrachten, dann fällt ſo Vieles
fort, was uns ſonſt quält und ängſtet. Iſt nicht der
am glücklichſten, der nichts in ſeiner Lebensweiſe än¬
dert? Wer immer ändert, ſtellt damit nur ein Te¬
ſtimonium aus, daß er nie zufrieden war. Ich weiß
es, ich werde ſterben, vielleicht bald, aber Sie werden
noch lange leben; nun laſſen Sie uns von Ihnen
reden. Da iſt Herr Niebuhr nun angekommen. Er
wird beſtimmt angeſtellt, und wahrſcheinlich in eini¬
gen Wochen ſchon iſt er Bancodirector mit dem Titel
4*[52] Geheimer Seehandlungsrath. Er hat Ihre Abhand¬
lung über Alba Longa mit Vergnügen geleſen. Er
wird ein Mann von Einfluß werden. Jetzt kann ich
Sie noch empfehlen, vielleicht bald nicht mehr. Sa¬
gen Sie mir Ihre Wünſche, lieber Walter.“


Auf Walters Geſicht ſtand die Antwort. Es
war ein Thema, was ſie oft beſprochen. Mit einem
vielſagenden Blicke faßte der Kranke die Hand des
Geſunden:


„Unſer Staat iſt kränker, als ich bin. Die Re¬
publik liegt in den letzten Zügen, die Scipionen
ſchlummern in ihrer Gruft, die Virtus neben ihnen,
unſer Actium und Philippi ſteht vor den Thoren, die
Catonen mögen den Giftbecher leeren, es bricht zu¬
ſammen, Herr van Aſten, ich weiß es auch, und der
Cäſar ſcheint auch ſchon da, der uns nur nicht behagt.
Was bleibt da dem Freien? — Das Exempel, das
ihm ein alter Freigelaſſener ließ.“


Der Geheimrath hatte ſich mit Mühe vom Stuhl
erhoben, und war, auf einen Stock geſtützt, an ſeine
heiligſte Bücherwand geſchlichen. Einen, Walter wohl¬
bekannten dünnen Band, unſcheinbar in altem Leder,
nahm er heraus. Es war eine Ausgabe des Horaz,
an die er keine fremde Hand ließ; er zeigte das Buch
nur ſeinen Freunden.


„Wenns Ihnen ſchlimm ums Herz wird, hier
iſt der Troſt. Zweifeln Sie, daß Horaz ein guter
Patriot geweſen? Ging ihm das Schickſal des Rö¬
miſchen Staates nicht ans Herz? Ich ſage Ihnen,
[53] es ſchnitt ihm hinein, tiefer, als die Herren Ausleger
denken; der Schnitt ſteht nur zwiſchen den Verſen,
und da verſtehn ſie nicht zu leſen. Was hätte es
nun geholfen, wenn er ſich ins Schwert geſtürzt?
Was hatte Rom davon, daß Brutus es that! Horaz
warf ſeinen Schild fort, machte ſich auf die Behen¬
digkeit ſeiner Hacken, und als er ſtille ſtand, und ſich
den Staub abklopfte, ſah er, daß der Himmel noch
immer blau war und die Sonne ſo lau und
golden auf das ſchöne Italien ſchien, als vorhin.
Hätte er nun krächzen ſollen wie die Eule Tacitus
von ihrem alten Thurm, Zeter und Wehe über
die Verderbniß der Zeit! Hat Tacitus die Zeit beſſer
gemacht, oder die römiſchen Sitten, hat er Rom nur
einen beſſern Kaiſer verſchafft? Contrair, ſie wurden
immer ſchlimmer. Die Bußprediger thuns nicht, und
in das Rad der Weltgeſchicke greift keiner ein;
das geht über die Köpfe der Völker und Königreiche.
Ein Narr, wer da glaubt, daß er in die Speiche faßt,
ohne zermalmt zu werden und ausgelacht obenein.
Horaz ſchloß Frieden. Hat er darum ſein Vaterland
verrathen? Sein Vaterland war größer. Ubi bene
ibi patria!
Er ſang: Beatus ille qui procul negotiis
Sein contentam ducit vitam klang wie ſüße Muſik
unſern Vätern ins Ohr. Er ließ die laufen, quos
curriculo pulverem olympicum collegisse juvat,
und
freute ſich, von Roſen und Epheu umkränzt, am
funkelnden Falerner. Er ließ den Auguſtus regieren,
wie er Luſt hatte, denn er ſtand unter dem beſſern
[54] Regiment der guten Cynera. — Nicht wahr, das iſt
recht frivol und ſchlecht von ihm gehandelt! Und ſo
was der Jugend zu predigen! Aber, aber — zwei
tauſend Jahre beinah vergangen, und Horaz lebt!
Die Brutus ſpuken freilich, in allen Revolutionen,
gar tugendhafte Männer, aber was hinterlaſſen ſie?
Verfolgungen, Criminalprozeſſe, Steckbriefe, Aus¬
weiſungen, Schaffotte, Bankrotte, ruinirte Familien,
Elend — aber wen auch das Rad nach oben trägt,
dem Horaz hört er immer gern zu, er hat in
aller Welt das Bürgerrecht, der ſüße Prediger einer
Lebensweisheit, die dauern wird, ſo lange die
Welt ſteht.“


Walter ſchwieg. Sie hatten auch darüber ſchon
oft ſich verſtändigt, daß ſie ſich nicht verſtändigen
könnten. Der alte Gelehrte klopfte ihm auf die
Schulter:


„Will ich Sie denn zwingen, junger Eigenſinn!
Erinnern Sie ſich, wie Morus ſeine herrliche Biographie
des Philologen Reiske anfängt: Omnis vitae Reiskianae
ratio fuit, non cedere malis sed audentiorem contra ire!

Iſt auch ein ſchöner Spruch und ein klaſſiſches La¬
tein. Meinethalben immer drauf los wie der große
Reiske. Erinnern Sie ſich aber gelegentlich, daß
Horaz auch geſagt hat: Est modus in rebus, sunt
certi denique fines
. Er hat keine Maxime aufgeſtellt
wie Cicero, daß der Menſch wedeln ſoll vor der Macht,
weil ſie Macht iſt. Und dann dachte auch wohl der
heidniſche Philoſoph nicht an den Wurm, 's iſt an einem
[55] anderen, der das Maaß finden, die Gränze ſtecken
ſoll. Und „Integer vitae, scelerisque purus — das
hat dieſer ſelbe Horaz auch geſagt. In meinem Teſta¬
ment hatte ich es Ihnen vermacht — dieſe — ja
dieſe Leydener Silberſchrift mit verſchlungenen Hän¬
den. Warum ſo lange warten! Raſch in die Bruſt¬
taſche, zur Erinnerung an einen alten Mann, der
Ihnen wohl wollte.“


Das war etwas Ungeheures — Walter erſchrak:


„Dies Exemplar, Herr Geheimrath!“


Der Gelehrte drückte es ihm in die Hand:
„Dieſes, ich weiß keinen beſſern, der es nach mir
aufhebt. — Es iſt freilich nur vom zweiten Abdruck.
Ja, wenn es mir gelungen wäre, eines mit dem
Todtenkopf zu erhalten! Was habe ich nicht correſpon¬
dirt, nach England, Schweden, was habe ich geboten!
Der Herr Legationsrath von Wandel, was hat
der ſich nicht für Mühe gegeben — er hofft noch
immer; aber — es war vielleicht ein zu großer
Wunſch, und kein Menſch ſcheidet von dieſer Welt, der
ſagen kann, daß Alles in Erfüllung ging, was er
wünſchte.“


Den Geheimrath befiel hier ein heftiges Hüſteln.
Die Sprache verſagte ihm und der kalte Schweiß
ſtand auf ſeinem blaſſen Geſicht. Als Walter ihn
nach ſeinem Stuhl führen wollte, ſtand die Geheim¬
räthin plötzlich da — man konnte glauben, daß ſie
hinter einer Bücherwand Zeuge des Geſprächs ge¬
weſen. „Verzeihn Sie, Herr van Aſten, man muß
[56] einen ſo langen Umgang mit einem theuren Kranken
gehabt haben, um ſeine Wünſche zu verſtehen.“


Ihr Blick hatte ihn fortgewieſen, und er ge¬
horcht. Faſt machte er ſich einen Vorwurf. Hatte
ihm der Geheimrath nicht noch etwas ſagen wollen?
Vielleicht war es das letzte Mal, daß er ihn ſah.
Aber er hatte ſchon die Weiſung der Geheimräthin
überſchritten, die aus Vorſorge für den Kranken den
Befehl gegeben, Niemand ohne ihr Vorwiſſen in das
Zimmer zu laſſen. Er zauderte im Vorzimmer. Der
Kranke mußte ſich wieder erholt haben, er hörte ihn
die vorhin angefangene Ode: Integer vitae, scele¬
risque purus
recitiren.


War es ſein Sterbegeſang? Die Geheimräthin
ſchien betroffen, als ſie zurückkehrend Walter noch
fand. Der Blick, den ſie ihm zuwarf, hatte etwas
Befremdendes, es war ihm auffällig, daß ſie ein Tuch
vor dem Munde hielt, welches ſie im Augenblick, wo
ſie ihn ſah, fallen ließ. Er glaubte ſich zu entſin¬
nen, daß ſie ſchon im Krankenzimmer es an die Lip¬
pen gehalten. Doch es war nur ein Moment gegen¬
ſeitiger Befangenheit. Sie ſetzte ſich auf ein Sopha,
oder ließ ſich fallen, und drückte das Tuch an das
Geſicht. Ein Schluchzen hörte er nicht. Er ſprach
einige Worte der Theilnahme, daß die Gefahr wohl
nicht ſo groß ſein werde, als man annehme, daß die
Natur des Geheimrathes auch ſchwerere Krankheiten
zu überwinden im Stande ſei, daß er unter einer
ſolchen Pflege geneſen müſſe.


[57]

Den ſtarren, höhniſchen Blick, als ſie das
Tuch wieder ſinken ließ, konnte er nie vergeſſen.


„Meinen Sie, Herr Doctor? — Er wird ſter¬
ben. Wenn auch nur darum, damit die Leute ſagen
können, ich hätte ihn ſchlecht gepflegt.“


„Gnädige Frau, es iſt nur eine Stimme, mit
welcher Aufopferung Sie für das Schickſal Ihrer
Angehörigen ſorgen.“


„Sind Sie wirklich noch ſo jung und harmlos,
Herr van Aſten? — Sie haben doch auch ſchon Er¬
fahrungen hinter ſich, ſetzte ſie hinzu, und ſollten
wiſſen, was auf dieſe Stimme zu bauen iſt. Oder
hörten Sie immer nur den lächelnden Anfang, und
ſchloſſen vergnügt ihr Ohr, wenn die herzlich Theil¬
nehmenden von ihrem Lobe ſich erholten, zuerſt in kühler
Betrachtung, die ſie unpartheiiſche Würdigung nennen,
dann in leiſen Bemerkungen, daß bei dem vielen Guten
doch auch Schattenſeiten ſind; endlich wenn die liebrei¬
chen Seelen erkannt, daß ſie unter ſich ſind, öffnen ſich
die Schleuſen und die ätzende Bitterkeit ſchießt heraus,
bis von dem Lobe nichts bleibt, als eine tödtende Wunde.“


„Das Thier im Menſchen zu bekämpfen, ſind
wir auf dieſer Erde.“


„Meinen Sie, Herr Doctor! Ich meinte nur,
die Klauen und die Stachel unter einer glatten Haut
zu verbergen. — Wer leben will, athmen, genießen, rief
ſie mit einer heiſeren Stimme, die nur aus einer
zerriſſenen Bruſt kommt, dem rathe ich nicht, die
Waffen fortzuwerfen, die ihm die Natur gab.“

[58]

„Sie gab uns auch andre — einen Schild,
durch welchen die Stacheln nicht dringen.“


„Der Schild, den Sie meinen, heißt Reſigna¬
tion. Sind Sie in der That noch ſo unſchuldig,
Herr van Aſten, oder, ich glaube doch nicht, daß Sie
zu den concilianten Gemüthern ſich geſchlagen haben,
die jeden Riß mit einer weißen Salbe heilen möch¬
ten. Nein, ich weiß es, auch Sie ſtemmen den Kopf
gegen eine Mauer — Machen Sie ſich doch nicht
kleiner, als ſie ſein wollen, vor — denen, welche Sie
von einer beſſeren Seite kennen gelernt! —“ ſprach
ſie plötzlich aufſtehend. Sie war in einer Aufregung,
die Walter an ihr neu war. Sie wollte das Zim¬
mer verlaſſen, aber es war ein Dämon in ihr, der
ſie ſprechen ließ, was ſie nicht ſprechen wollte.


„Das Leben iſt ein fortwährender Krieg Aller
gegen Alle. Einfaltspinſel oder Betrüger, die von
der Humanität faſeln. Die ſtillen, friedlichen Pflan¬
zen haben kein ander Naturgeſetz, als eine die andre
niederzudrücken. Nur die entfernt ſtehen auf zwei
Gipfeln, die den Saft der Erde, Thau und Licht des
Himmels nicht zu theilen haben, mögen mit Liebe
coquettiren. Das kann der Menſch nicht. Zwei, die
auf zwei Gipfelhöhen ſtehen, beneiden ſich auch in
der Entfernung; ſo fein hat die Natur es gefügt. —
Unterbrechen Sie mich nicht, mein Herr, ich ſtatuire gar
keine Ausnahmen. Mann und Frau ſind doch wenig¬
ſtens eins, wollten Sie einwenden! Ja! beiden Ehen
die im Himmel geſchloſſen werden. Nur ſchade, daß
[59] bei denen, die wir kennen, der Notar und der Geiſt¬
liche das Werkzeug waren. Wir leben auf dieſer
Erde, mein Herr. Ihre dämoniſchen Säfte, ihr Athem
zuckt in unſerm Blute, und ihr Princip iſt: tödten, in¬
dem wir nach Luft und Leben ringen. Ihre Rechts¬
gelehrten ſprechen ja wohl von dem Recht der Noth,
wonach von zwei Schiffbrüchigen auf einem Brett
der ſchlauere und ſtärkere den andern hinabſtoßen
darf. Die Thoren nennen es einen Ausnahme¬
fall. Es iſt die Regel, das Naturgeſetz, danach leben
Könige und Völker, es gilt allüberall, wo die heiße
Sonne auf das blaſſe Elend ſcheint, und der blaſſe
Mond ſpöttiſch über die Seufzer lächelt, die aus der
heißen Bruſt zu ihm aufſteigen. Oder gehören Sie
zu denen, die das Brett loslaſſen, und ſich von der
Welle fortſpülen laſſen, damit die Creatur am an¬
dern Ende, der edle Nebenmenſch, gerettet wird?“


„Ich ward noch nicht in die Verſuchung geführt.“


„Wenigſtens ehrlich!“ lachte die Geheimräthin.
Nein, nur halb ehrlich! Die kleinen Verſuchungen,
wo Sie unterlagen, haben Sie aus Schonung gegen
ſich ſelbſt vergeſſen. Sie zittern nur vor den gro¬
ßen, die noch kommen.“


„Ich will ſie abwarten.“


„Mit der Miene eines Stoikers. Aber ich ſehe,
wie der unterdrückte Ehrgeiz, das getäuſchte Ver¬
trauen unter den Fältchen Ihrer Stirn kocht. Sie
thun recht daran, Herr van Aſten, die Haut recht
glatt zu ſpannen. Aber mich täuſchen Sie nicht, ſo
[60] wenig als ich Sie täuſchen will. Ja, ich bin im
Kriege mit dieſer Welt um mich her. Wenn ich nicht
ſchon ganz gemieden, ausgeſtoßen bin, o glauben Sie
nicht, daß es aus Menſchenliebe, aus einem Reſt
von Achtung vor meinen Eigenſchaften iſt. Die ge¬
ſellſchaftlichen Rückſichten drücken ihren Stachel auf
den zurück, der ſie zuerſt bricht. Das iſt es allein.
Darum kommt man noch in mein Haus, darum öff¬
nen ſich die Flügelthüren, wo ich erſcheine. Darum
noch Händedrücke, plötzlich ſüße Mienen, wie ſauer
es ihnen auch wird, ein Embraſſement! Ich gebe
ja noch zu eſſen, ich habe einen Namen, mein Mann
hat einen, meine Väter hatten einen. Andere führen
eine glänzendere Tafel, haben höhere Titel, verſam¬
meln anmuthigere Geſellſchaft um ſich, aber die Thü¬
ren könnten ſich doch einmal ſchließen, man könnte
hinausgeſtoßen werden, und dann bin ich gut genug
als pis-aller. O die Menſchen ſind vorſichtige Re¬
chenmeiſter. Auch ſind Einige ſo gütig, zu meinen,
daß ich Verſtand hätte, ſogar einen ſcharfen. Ich
ſehe ihre Schwächen. Das iſt Vielen ſehr unange¬
nehm. Meine Zunge verwundet auch wohl; es iſt
meine Natur. Das iſt vielen dieſer zartgeſchaffenen
Seelen noch unangenehmer. Da ſie mich nicht von
der Welt ſchaffen können, was ihnen das Liebſte
wäre, verſuchen ſie, mit mir zu liebäugeln. Und das iſt
das Geſcheiteſte. Wen man fürchtet und nicht ver¬
nichten kann, muß man ſtreicheln, bis die Gelegen¬
heit kommt, eine Fallgrube, in die man ihn hinter¬
[61] rücke ſtößt. Das iſt die Politik der Natur; Könige
und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben ſie,
und es giebt, die meinen, daß die Welt nur durch
ſie beſteht.“


Wer hatte dieſe unglückliche Frau bis zu die¬
ſem Aeußerſten gereizt? So hatte ſie ſich nie ihm
gezeigt. Sie ſchien ſeine Gedanken zu leſen:


„Hat meine Aufwallung Sie erſchreckt? Beru¬
higen Sie ſich, mein Herr, ich werde auch wieder
ruhig werden. Es iſt zuweilen Bedürfniß, ſich ge¬
gen Menſchen auszuſprechen, von denen wir glauben,
daß ſie uns verſtehen.“


Sie war ans Fenſter getreten, aber mit einem
Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter,
jetzt aufmerkſamer, bemerkte. Sie hatte das Fenſter
geöffnet, um Luft zu ſchöpfen, aber ſie hatte mit dem
Tuche raſch die Toilette ihrer Phyſiognomie gebeſſert.
Als ſie ſich zu unſerm Bekannten umwandte, war
das Geſicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung
war verſchwunden, die Augen ſtachen noch, aber
glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernſte Aus¬
druck, der in ihren Zügen feſſelte und abſtieß.


„Ich gab mich Ihnen eben ganz wie ich bin,
Sie konnten das geheimſte Fältchen in meiner Seele
leſen. Ich überlaſſe Ihnen, davon Gebrauch zu ma¬
chen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht ſo albern,
zu glauben, daß ein Reſt von Dankbarkeit und Pietät
Sie beſtimmen ſollte, mich zu ſchonen. Nein, be¬
urtheilen Sie mich, klagen Sie mich an vor der
[62] Welt, wie Sie mich kennen gelernt. Mein unglück¬
licher Mann wird ſterben, — den täuſchenden Troſt
der Aerzte weiß ich zu würdigen — er wird ſterben,
und mich wird man anklagen. Man wird ſagen, ja,
als es zum Aergſten kam, da ſchlug ihr das Gewiſ¬
ſen, da pflegte ſie ihn, da verließ ſie ihn nicht bei
Tag und Nacht, da härmte ſie ſich ab. Warum nicht
früher? Und die klugen Leute haben Recht, denn der
Schein iſt wider mich. Wer ſieht denn hinein in
das geheime, zwanzigjährige Wehe eines zerriſſenen
Herzens! Ich verbarg es der Welt; es hat Niemand
ein Recht, meine zerriſſenen Schuldbücher nachzuſchla¬
gen. Das Glück meines Lebens koſtete mich der
Schein, die Rolle einer Befriedigten zu ſpielen. Wenn
ich nun aufſchrie: er war nie mein Gatte! Nein,
mein Herr, ich ward ruhig, ich ward ſehr ruhig. Sie
mögen mich eine Frau ſchelten, die um ihren Mann
ſich erſt kümmerte, als der Anſtand forderte, auf ſei¬
nem Todtenbett das Haar vor Schmerz zu raufen.
Ich will ihnen auch den Gefallen nicht thun; ich
will ihnen auch den Schein laſſen, mich kalt, gefühl-
und herzlos zu ſchelten. Meine Trauer will ich in
mich verſchließen, und eine ſtumme Bildſäule an ſei¬
nem Sarge ſtehen, damit ſie ein Räthſel mehr zu
löſen finden. Jeder mag es nach ſeiner Art. Sie,
Herr van Aſten, kennen mich nun, in einer unbe¬
wachten Stunde ſchloß ich mein ganzes zerrüttetes
Sein vor Ihnen auf. — Nun ſuchen Sie ſich Com¬
pagnie, die Ihnen gefällt, unter Hohen und Niedern,
[63] über mich herzufallen, mich zu zergliedern, verurthei¬
len. Ich bin auf Alles gefaßt.“


„Ich aber nicht darauf, daß Frau Geheimräthin
Lupinus mich dazu fähig hält.“


„Fähig, das weiß ich nicht, ich kenne Sie nicht
genug. Aber aus Klugheit dürfen Sie vielleicht nicht
Compagnieſchaft halten. Die gemeinen Seelen müſſen,
es iſt ihre Natur, Krieg führen gegen alles, was ſich
über ihr Niveau erhebt. Und Sie ſind in dieſem
Kriege. Bleiben Sie in der Defenſive, ſo ſind Sie
verloren. — Ich weiß es nicht, ſetzte ſie nach einer
Weile hinzu, ich kümmere mich nicht darum, ob Sie
den Muth haben, Ihren Feinden ins Lager zu
dringen.“


Unwillkürlich war Walters Blick auf ſeinen Arm
in der Binde gefallen.


„Sie haben den Chevaleresken geſpielt, Ihren
Gegner am Leben gelaſſen. Verſpielt, Herr van
Aſten! Wer ſeinen Gegner nicht vernichtet, hat ihn
geſtärkt. Hätten Sie Rache genommen, wie die Be¬
leidigung es heiſchte, ja dann — aber glauben Sie
nicht, daß man Sie darum für einen Cavalier hält,
weil Sie nach der Mondſcheinſchrift in dem ſchwarzen
Buch der Cavalierehre gehandelt. Obſolete Dinge!
Man zückt die Achſeln, ein Gelächter rieſelt, wenn
die Junkerofficiere von der Affaire erzählen. Der
Andre wird jetzt beklagt, Sie — Sie, Walter, werden
nicht gefürchtet. Und Sie könnten gefürchtet werden,
es war in Ihre Hand gegeben. Es war die einzige
[64] Waffe für den Bürgerlichen, glauben Sie mir, ich
kenne ſie ja, ſich Reſpect zu verſchaffen. Die warfen
Sie aus der Hand. Was wollen Sie nun thun!
Alles, was Ihre feine, ſcharfe Feder ſchreibt, kitzelt
da keinem die Haut. Sie antichambriren umſonſt,
Ihre Ideen bleiben Mondſcheinsgedanken, denn die
Welt bleibt dieſelbe, Herr van Aſten. Nach jedem
Erdbeben, wo einmal die Lohe des Geiſtes, aus der
verſchloſſenen Tiefe berſtend, über die Thäler und
Berge wirbelte und die Wolken erleuchtete, wo die
Geknebelten Freiheit ſchrien und Recht, nach jedem
ſolchen Rauſch kommen ſie wieder zur Beſinnung, es
zieht ſich wieder die Rhinoceroshaut der Gewohnheit
um das Pſeudotitanengeſchlecht, das den Himmel
ſtürmen wollte, und die Menſchheitsbeglücker hat man
noch immer nachher gekreuzigt und verbrannt, wenn
man es nicht für bequemer hielt, ſie nur einzuſperren
und auf dem Stroh verfaulen zu laſſen. Die Welt
wird nicht anders.“


„Noch würde ich ſie geändert haben, wenn ich
den Cornet in die jenſeitige geſchickt. Die Rache
baut nicht Häuſer, ſie zerſtört nur. Wehe, wo es
gilt, unſer zerrüttetes Gemeinweſen wieder heben,
wenn die bisher Gedrückten nur daran denken, ſich
an ihren Unterdrückern zu rächen, wenn nicht alles
Perſönliche als weſenlos bei Seite bleibt, wenn die
Retter nicht mit ernſtem, heiligem Willen an die That
gehen.“


Man hätte ein chamäleontiſches Mienenſpiel auf
[65] dem Geſicht der Geheimräthin bemerken können, das
ſich endlich in ein feines ironiſches Lächeln um ihre
Lippen auflöſte:


„Sie haben die Prüfung gut beſtanden, Herr
van Aſten; ganz wie ich erwartete. Hoffen wir Alle
auf dem Wege der Geduld und Entſagung zu unſerm
Recht zu kommen. Ich habe Geduld. Nicht wahr!
Und ich habe entſagt — ſogar dem Glück, verſtanden
zu werden. Kann man mehr? Leben Sie wohl —“


Sie war gegangen, um an der Thür wieder
ſtehen zu bleiben: „Sahen Sie Adelheid ſeit Ihrem
Ehrenhandel?“


„Sie hatte einen Rückfall, als ich nach meiner
Geneſung anſprach.“


„Sie werden auch in dieſer Entſagung ſich einen
Lorbeer erwerben können.“


„Wenn ich um den Sinn der Worte bitten
darf?“


„Daß Adelheids Sinn, ſeit ſie bei der Fürſtin
iſt, ſich geändert hat, brauche ich Ihnen doch nicht zu
ſagen.“


„Die Fürſtin hat ſo wenig Macht, als irgend
eine Frau auf Erden, Adelheids Sinn zu beugen.“


„Freilich, da ein Andrer ihn ſchon gebeugt hatte.“


„Ich werde mich ſelbſt zu beugen wiſſen vor dem
Unabänderlichen, wenn es entſchieden iſt.“


„Eine ſeltſame Bezeichnung für den jungen
Bovillard.“

„Bovillard!“

IV. 5[66]

„Liebt, das heißt, er raſ't für ſie. Nun, das weiß
jedes Kind — Sie gewiß auch.“


„Bovillard!“


„Er iſt ja auch wohl Ihr Freund. Was thut
das! Daß die Fürſtin ſie deshalb zu ſich genommen,
daß es eine große Komödie in der Komödie war, iſt
Stadtgeſpräch. Daß Adelheid ſeine Neigung erwie¬
dert und nur krank iſt, weil ſie es zu geſtehen ſich
ſcheut, ſind öffentliche Geheimniſſe.“


Walter hatte an ſeinen wunden Arm gefaßt, nur
um mit der Hand irgend etwas zu faſſen. Der furcht¬
bare Schmerz erpreßte einen unterdrückten Schrei, er
lehnte ſich erblaſſend an ein Möbel.


„Nun, Sie werden heroiſch ſein. Wer wird
Rache nehmen, wenn er beleidigt iſt! Und an einem
Freund! Uebrigens glaube ich wirklich nicht, daß die
Gargazin an Herrn von Bovillard ernſtlich denkt.
Sie hat wohl andre Plane. — Haben Sie nicht
gehört, wann Kaiſer Alexander Berlin wieder be¬
ſucht?“


Walter hatte nur die Hälfte gehört.


Er hatte, reſpectvoll vor ihr ſich neigend, für
die gütigen Mittheilungen gedankt; der Kaiſer, wie
er gehört, werde ein Bad in Aſien beſuchen. Es
ſei bei der geſchwächten Geſundheit des erhabenen
Monarchen wohl recht zu wünſchen. Unten an der
Treppe faßte er wieder ſeinen Arm: „Dies Weib!
Dies Weib! Gießt ſie Gift oder Feuer in die
Adern!“

[67]

Die Lupinus lachte, als ſie allein war, häßlich
auf: „Der Wurm ſticht doch, wenn er getreten iſt,
und der verwundete Elephant und Löwe erhebt ein
Gebrüll, wovon der Wald erzittert, nur der Menſch
prätendirt edel zu ſein, wenn er mit einem ſtummen
Seufzer ſich zertreten läßt.“


5 *
[[68]]

Fünftes Kapitel.
Nur keine Lüge mehr!

Es war ein glänzender Geſellſchaftsabend im
Palais der Fürſtin. Aber der Abendſtern, der heute
glänzen ſollte, erſchien wie ein erlöſchendes Licht, wie
eine ſchöne Statue in Mondſcheinbeleuchtung.


Es war etwas vorangegangen. „Ein zu heißer
Tag!“ ſagten die Herren.


Die Fürſtin lächelte ſanft.


Man wußte in den flüſternden Gruppen, wes¬
halb die Fürſtin die ſchöne Adelheid in ihrem Hauſe
aufgenommen. Sie ſollte es decoriren, wie die ſchönen
Bilder, Statuen und Raritäten an den Wänden es
decorirten. Gerade wie die Lupinus vorhin ein ſol¬
ches Möbel für ihr Haus gebraucht. Dies hatten
die ſcharfen Zungen ſchon längſt ausgeſprochen.


Auch mag ein Möbel, eine Ornamentur, die in
einem Hauſe längſt ein abgenutzter, alltäglicher Ge¬
genſtand geworden, in einem andern durch geſchickte
Verwendung wieder zu einem der Bewunderung
werden.


[69]

Aber die Fürſtin arrangirte nichts, ſie ließ Alles
gehen, wie es wollte. Das junge Mädchen war nicht
wie eine Untergebene, nicht wie eine Tochter, man
möchte ſagen auch nicht wie eine Freundin, ſondern
wie eine Herrin aufgenommen, der ein Recht auf
dieſes Haus und Alles darin zuſtand. Sie hatte ihre
beſonderen Zimmer, Diener, ſie konnte Beſuche
empfangen, ausfahren, wie ſie Luſt hatte. Sie erſchien
oder blieb aus, wenn Geſellſchaft ſich verſammelte;
die Fürſtin betrachtete es als Freundlichkeit, wenn ſie
Theil nahm, und dankte ihr, jedoch mit der Bitte, es
nie als ein Opfer zu betrachten, vielmehr ganz ihrem
Penchant zu leben.


Die Königin Louiſe hatte wieder gelegentlich den
Wunſch geäußert, die ſchöne Adelheid zu ſehen. Der
Wunſch einer Königin iſt ſonſt Befehl. Aber als
Adelheid die Augen niedergeſchlagen und geantwortet
hatte: Was ſoll ich vor der hohen Frau! war die
Fürſtin ihr mit der liebenswürdigſten Art um den
Hals gefallen: „Sie haben Recht, was ſollen Sie da!
Warum ſich einen Zwang anthun. Solche hohe Per¬
ſonen werfen in der einen Stunde einen Wunſch hin,
um ihn in der nächſten zu vergeſſen.“


Gegen vertraute Freunde äußerte ſie: „Wo die
Sonnenblume wuchert, verkäme das Veilchen. Der
Gärtner behandelt jede Pflanze nach ihrer Natur.
Zwingt man ihr Licht, Erde, Wärme auf, die ihr
fremd ſind, vergeht ſie oder ſchießt zu einer unnatür¬
lichen Baſtardart auf. Und eine Pflanze, die im
[70] Zimmer krank war, heilt man nur, wenn man ſie
dem natürlichen Boden zurückgiebt. Es iſt an dem
jungen Mädchen zu viel erzogen worden; das raſche,
künſtliche Einimpfen von Wiſſenſchaft und Grundſätzen
hat ihren natürlichen Entwickelungsgang geſtört.
Dieſen muß man wieder herſtellen, indem man ſie
ganz ſich ſelbſt überläßt —“


„Und ihren Phantaſien“ hatte einer der Freunde
geantwortet.


Es mußte im Ton ein Vorwurf liegen. We¬
nigſtens faßte die Gargazin es ſo auf, indem ſie
nach einem Augenblick Nachdenkens entgegnete: „Und
warum nicht! Sehnen wir uns nicht Alle zuweilen in die
Märchenwelt zurück, wo die Blumen ſprechen und
die Wälder ſingen. Iſt denn die Unterhaltung am
Theetiſch ſo feſſelnd, daß wir darum nicht begierig
wären, die Stimmen der Vögel zu verſtehen! Wir
können nicht mehr aus dem Gewühl der Geſellſchaft
dahin zurück, warum es denen nicht erleichtern, die
noch halb im Flügelkleide gehen! Die Phantaſie, ſich
ſelbſt überlaſſen, ſchießt giftige Blüthen, will man
behaupten. Wie macht denn die Biene den Honig?
Keiner lehrt ſie, welche Blumen und Kräuter ſchäd¬
lich, welche den ſüßen Saft enthalten. Sie nippt
den Thau, ſie nippt den Duft, ſie ſaugt am Buſen
der Natur, — der Menſch ſoll nicht Inſtinct haben,
wollen ſie behaupten, weil der Schöpfer ihm einen
beſſeren Mentor mitgab. Die arme Vernunft, und
die noch ärmlichere Erziehungskunſt! Was präparirt
[71] ihm dieſe für Kreuz- und Querwege, welche philiſter¬
hafte Muſterkarte von eingepferchten Begriffen und
Vorſtellungen, durch alle die das arme Kind ſyſte¬
matiſch hindurch ſoll auf den Weg zur Vervollkomm¬
nung. O geht mir damit, laßt es ſpringen, wie das
Reh im Walde. Verirrt es ſich, wird es ſich wieder
hinausfinden. Naſcht es von einer giftigen Frucht,
legt es ſich unter einen Blüthenſtrauch ſchlafen, der
tödtenden Dunſt aushaucht, ſo hat die Natur, die
Bergluft, der klare Quell tauſend Mittel, das Gift
zu paralyſiren. Sehn Sie das Bild, hatte ſie, auf
eine Schilderei zeigend, geſprochen. Das Kind iſt
am Abgrund eingeſchlafen, aber ſein Genius wacht
neben ihm.“


„Könnte es aber nicht einmal ſein, Erlaucht,
daß der Genius müde würde von dem ewigen Hände¬
aufhalten? hatte Lombard erwiedert. Was macht
denn dann das arme Kind, wenn er einſchläft.“


„Es würde unzweifelhaft in den Abgrund ſtürzen,
mein Herr Geheimrath, wo es indeß nicht ſo düſter
und ſchreckhaft ſein muß, als der Maler angedeutet,
denn ich weiß von ſehr geiſtvollen und liebenswür¬
digen Perſonen, die in dem finſtern Grunde wie zu
Hauſe ſind. Das arme Kind —“


„Würde ſich auch gefallen, wenn es einmal ge¬
fallen iſt, meine gnädigſte Frau?“


„Wenn ſein Engel erwacht iſt, wird er die Arme
emporſtrecken, und aus den dunkeln Wolken da wird
ein Vaterauge blicken, von ſo glänzender Huld, daß
[72] ſelbſt mein Herr von Lombard davon geblendet
wäre, und eine lichte Wolke würde ſich herabſenken
in den Grund, das Kind umſchließen, und es ſanft
in die Lüfte heben.“


„Charmant, Erlaucht, ganz ſanft, hatte Lombard
gerufen, ſanft und langſam, damit es doch noch ein
bischen da unten ſich umſehn kann, und eine
recreirende Erinnerung in die Wolken mitnimmt.
Bon Dieu, wie grau hat der Maler ſie angelegt!
Das ſind Wolken, die Regen träufen.“


„Thränen aus ſchönen Augen“ hatte die Fürſtin
erwiedert.


Es war etwas vorangegangen vor dem Abend,
von dem wir ſprechen wollten. Die Fürſtin war
von ihrem Princip gewichen, ſie hatte Adelheid ge¬
nöthigt, mit der Baronin Eitelbach eine Spazierfahrt
zu machen. Sie wollte die ſchöne Seele los ſein.
Adelheid hatte ſie als Blitzableiter gebraucht, ohne
zu bedenken, ob die elektriſchen Zuckungen des Ent¬
ſagungsfiebers nicht in den Blitzableiter ſelbſt über¬
gehen und ihn verderben könnten. Die Welt wäre
vollkommen, wenn es keinen Egoismus gäbe, ſagen
weiſe Leute. Andre meinen, es wäre darin nicht
auszuhalten, wenn nicht bisweilen der Impuls der
Selbſtſucht zerſtörend durch die Linien und Netze
führe, mit denen uns die berechnende Weisheit zu
Zahlen in einem großen Exempel machen will.


Es war ein ſchwüler Sommertag, aber es
ruhte ſich ſo weich in den Polſtern des offenen,
[73] von engliſchen Federn geſchaukelten Wagens, und
der ruſſiſche Kutſcher lenkte ſeine Pferde pfeilſchnell
durch die ſchattenreichſten Gänge des Thiergartens.
Eine Fahrt, recht geeignet, um ſeinen Träumen
nachzuhängen; die Gedanken konnten ſpielen, wie
die Schatten der Blätter auf den hellen Kleidern der
ſchönen Damen, die, ſie wußten ſelbſt nicht recht
warum, hier copulirt waren.


Die Baronin war eine herzensgute Seele;
deſſen war ſie ſich jetzt ſelbſt bewußt, ſeit die Liebe ihr
ein Bewußtſein gegeben. Sie hatte nie hinter dem
Berge gehalten, als ſie noch nichts mitzutheilen
hatte, nämlich aus ihrem innern Leben; ſeit hier ein
Gedanke wogte, und andere erzeugte, die ſie für
ihr unbeſtreitbares Eigenthum hielt, erſchien es ihr
ſogar als Pflicht, von dieſen Gefühlen und Gedanken
auszuſchütten. Je ſchwerer uns eine Errungenſchaft
ward, um ſo höher taxiren wir ſie, um ſo mehr
halten wir uns berechtigt, daß Andere Belehrung
von uns empfangen müſſen. Es iſt nun einmal
aller Autodidacten Art.


Adelheid war eine Kranke. Das war eine
angenommene Sache, nur war man darüber uneinig,
ob ihre Krankheit eine phyſiſche oder pſychiſche ſei.
Die Roheren oder die Gleichgültigen ſagten: ſie
ſei ſo ſchlecht von der Geheimräthin behandelt worden,
oder ſie habe ſich doch ſo wenig mit ihr vertragen
können, daß ſie fortlaufen mußte, und man habe
es dann nachher ſo abgekartet, als hätte die Fürſtin
[74] ſie nur wegen des Nervenanfalls ins Haus genommen.
Von dieſer erſchrecklichen Behandlung oder dem
inneren Zwieſpalt ſei das arme Mädchen krank und
ſchweige nur darüber aus Großmuth und Schonung
gegen ihre frühere Wohlthäterin. Vermittelnde ſprachen
für jene ſchon erwähnte Tradition, daß die Geheim¬
räthin ihr Verhältniß zu Walter van Aſten begün¬
ſtigt, daß ſie ungehalten geworden, weil Adelheid
kalt gegen ihn geworden; das habe beide auseinander
geriſſen. Aber krank konnte ſie doch darum nicht ſein;
nicht aus Verdruß, daß ſie die Liebe einer Frau
eingebüßt, welche ſie nie geliebt, noch Wohlthaten,
welche ihr ſtets drückend geweſen. Genoß ſie doch
jetzt die volle Liebe und Wohlthaten der liebens¬
würdigen Fürſtin in ganz anderm Maaße.


Alſo mußte eine andere Liebe ihrem kranken,
unbeſchreiblichen Weſen zum Grunde liegen. Und hier
war das Feld der Vermuthungen für die Feineren.
Sie hatte dem ihre Neigung zugewandt, der ſie als
Lehrer raſch und glücklich in ein höheres geiſtiges
Leben geführt. Es war eine reine, uneingeſchränkte
Neigung geblieben, welche ſie, von Bewunderung und
Dankbarkeit erwärmt oder getäuſcht, für Liebe ge¬
halten, bis — ein Anderer erſchien, für den ihr
Herz anders ſchlug. Sie war krank geworden,
wirklich körperlich leidend, unter Gefühlen, die ſie
vergebens zu unterdrücken verſucht. Da war — es
mußte eine Kriſis eingetreten ſein, die mit einer
äußern Begebenheit in Verbindung ſtand. Sie war
[75] in Folge derſelben in ein andres gaſtliches Haus
übergebürgert. So weit war den Eingeweihten alles
klar. Sie kannten auch den Namen des Zauberers,
ihn ſelbſt. Hier aber ſchoß ein neues Räthſel auf,
eine neue Sphynx lagerte ſich vor dem Porticus, der
in die Salons der Fürſtin führte.


Louis Bovillard hatte Zutritt. Die Fürſtin, die
um Alles wiſſen mußte, nahm ihn, wenn nicht mit
Auszeichnung, doch mit zuvorkommender Theilnahme
und Güte auf. Er, bis da ein wüſtes Genie, das
man verloren gab, vermieden, wenn nicht gar aus¬
geſtoßen aus der Geſellſchaft, ward von ihr
nicht nur zu den kleinen Cirkeln und Partien
gezogen, ſie ſchien die Fahne über ihn ſchwenken zu
wollen, wenn ſie die höchſten und ehrenwertheſten
Perſonen in ihr Haus geladen hatte. Und er ging
aufrecht und ſtolz umher, unbekümmert um die,
welche ihn ſcheuten oder haßten; denen mit ironiſchem
Mitleid ſich nähernd, welche vor ſeiner Berührung
erſchraken. Bis auf eine feinere Toilette, eine
gentilere Haltung ſchien er hier derſelbe Louis
Bovillard, auf den man einſt auf der Straße
mit Fingern zeigte; dieſelbe Nonchalance, der¬
ſelbe kauſtiſche Witz, mit bittern Sottiſen, mit
einem beißenden und vernichtenden Urtheil, derſelbe
Uebermuth und dieſelbe Rückſichtsloſigkeit gegen
die, um welche die Geſellſchaft ſich ehrerbietig
gruppirte.


Nur wenn Eine erſchien, war er ein Anderer.
[76] Sein Uebermuth war gebrochen, ſein Witz ſtockte,
ſeine glühenden Augen hafteten auf ihr. Er konnte
dem flüchtigen Beobachter, wenn er ſie dann wieder
zu Boden ſinken ließ, wie ein verlegener, junger
Menſch bedünken, der zum erſten Mal in eine
Geſellſchaft tritt. Und doch war Louis Bovillard
kein Räthſel.


Aber ſie, die Eine, welche dieſe Wirkung auf
den tolldreiſten Wüſtling geübt! Liebte ſie ihn, ſie,
die ſo ruhig und kalt ihm entgegentrat, wie jedem
andern gleichgültigen Gaſt, ſeine Verbeugung mit
leichter Grazie erwiedernd, um, nach wenigen ge¬
wechſelten Worten über Wärme und Kälte, Wetter
und Wind, Anderen entgegen zu eilen! Wie war ſie
da erfreut, ſchüttelte die Hände, embraſſirte die un¬
bedeutendſten und unangenehmen Damen wie nur
theure Jugendfreundinnen. Nur daß ſie, plötzlich in Ge¬
danken verſunken, auf ihre Anſprache zerſtreut ant¬
wortete. Sie mußte nicht recht zugehört haben, ſie
verwechſelte die Perſonen. „Eine verzogene kleine
Glücksprinzeſſin,“ hatte da wohl eine vornehme
Dame geäußert, die auf ſpecielle Aufmerkſamkeit
Anſpruch machte. — „Sie iſt wohl deſtinirt, immer
die Intereſſante zu ſpielen,“ entgegnete eine andere. —
„Sie iſt krank, und kränker, als wir denken,“ ſagte
ein Arzt, der berühmte Doctor Marcus Herz, welcher
ſie ſeit einiger Zeit aufmerkſam zu beobachten ſchien.
Auf die Frage: was ihr fehle? entgegnete er: „Was
unſerm Staate fehlt, eine heftige Kriſis, damit die
[77] Krankheit herauskommt.“ — „Welche Krankheit?“
— „Die ſchwerſte, die, welche man vor ſich ſelbſt
verbirgt.“


Sie liebt ihn doch, ſagten die Empfindſamen,
denn ſie war immer blaß. Das blühende Colorit
war verſchwunden, die Roſenröthe, die ſie überhauchte,
ging ſo ſchnell vorüber, als ſie plötzlich kam. Sie
konnte unter andern blühenden jungen Mädchen wie
eine Geiſtererſcheinung ausſehen. Klopfte man bei der
Fürſtin vorſichtig an, ſo ſchien ſie überraſcht von der
Wahrnehmung. Sie hatte gar nichts bemerkt, da es
ihr Princip ſei, ein ſo vom Himmel ſichtlich begün¬
ſtigtes Weſen ganz ſich ſelbſt zu überlaſſen. Schon
die Beobachtung wirke ſtörend ein auf eine ſo eigen¬
thümlich conſtruirte Pſyche. Freilich konnte auch ſie
dem, was zu Tage lag, ihr Auge nicht verſchließen,
aber ſie hatte ſchnell die Erklärung gefunden. Adel¬
heid war enthuſiaſtiſche Patriotin. Die Schmach des
Vaterlandes drückte ihre Seele.


Und Adelheid beſtätigte es ja mit Wort und
That. Sie begriffe nicht, wie man Bovillard heißen
könne! hatte ſie einmal ausgerufen, als verlautete,
daß der Kaiſer der Franzoſen dem Geheimrath Bo¬
villard eine Auszeichnung durch ſeinen Geſandten zu¬
kommen laſſen. Jemand, der fein auf den Strauch
klopfen wollte, hatte darauf erwiedert, der junge Bo¬
villard theile nicht die Meinungen ſeines Vaters.
„Aber er ſchwärmt für Bonaparte's Größe!“ hatte ſie
ruhig erwiedert und ſich abgewandt.


[78]

„Alſo darum kann ſie ihn nicht leiden!“ hatte
zu ſeinem Nachbar der Kammerherr von St. Real
geſagt, welcher die Cirkel der Fürſtin zu frequentiren
anfing, ſich aber noch beſcheiden im Hintergrunde
hielt. Meinen Sie nicht auch, lieber Doctor Herz,
daß unſre jungen Mädchen anfangen an Ueber¬
ſchwänglichkeit zu leiden?“


Der Doctor hatte freundlich nickend ſeine Hand
auf die Schulter des Kammerherrn gelegt: „Wir
ſind Alle zu Leiden geboren; der Unterſchied iſt nur,
daß die Einen an zu vielen Mängeln, die Andern
an zu vielen Vollkommenheiten leiden. Zum Exem¬
pel, die Einen ſind zu dumm und die Andern zu
klug. Beide Krankheiten ſind darin ſich gleich, daß
beide incurabel ſind. Ihre Differenz aber iſt, und
darin werden Herr Kammerherr mir wieder Recht
geben: wer überſchwänglich klug iſt, leidet nur für
ſich, der überſchwänglich Dumme macht Andre leiden,
denn ſie müſſen ihn anhören.“


Auch die Baronin Eitelbach betrachtete Adelheid
als eine Kranke; Adelheid litt an der Krankheit, in
deren Ueberwindungsſtadium ſie ſich ſelbſt befand.


„Liebe Seele, hatte ſie geſagt, ich kenne ja das.
Sie ſind verliebt, und wollen ſich's nicht eingeſtehen.“


Adelheid war aufgefahren: Sei es denn Zeit, um
zu lieben, wo man nur haſſen müſſe! Sie hatte
von der Ehre und der Noth des Vaterlandes geſpro¬
chen, warm, wie es aus dem Herzen kam, in ſolchen
Augenblicken dürfe der Menſch nicht an ſich denken!
[79] Aber ſie erſchrak über ihre eigenen Worte. Es war
eine Rede, geborgt aus einer anderen Stimmung,
denn ſie hatte ja eben nicht an das Vaterland, ſie
hatte nur an ſich gedacht: Wie ſie dort im kurzen
Röckchen unter den Platanen geſpielt, unter den Brom¬
beerſträuchern Hütten gebaut, der kleine grüne Fleck
hinter den verkümmerten Tannen war eine Wüſte
geweſen, die für ſie kein Ende hatte. Das Wort
Waldeinſamkeit war noch nicht Gemeingut, aber ſie
hatte die Ahnung und den Begriff. Und dann —
durch dieſelbe Allee war ſie ſpäter gefahren, und
wenn ſie an die forſchenden Blicke der Neugierigen
dachte, die ſie jetzt erſt verſtand, ſchoß das Blut ihr
zu Kopf! Aber auch die Obriſtin Malchen und ihre
Nichten verſchwanden wieder wie neckende Spukgei¬
ſter hinter den Geſträuchen, in denen die Sonne ihr
Gold ausſprenkelte. Wie oft war ſie an der Seite
der Geheimräthin hier vorüber gerollt. Warum war
dieſe Erinnerung ihr jetzt weit ſchreckhafter? War¬
um rückte ſie in die Ecke des Wagens, als ſcheue ſie
vor der Berührung eines Geſpenſtes? Verdankte
ſie ihr nicht viel, ſehr viel, ihr ganzes geiſtiges
Daſein dem Umgang der klugen Frau, ihren Belehrun¬
gen? Ja, vielleicht war es das, was wie ein Froſt¬
fieber ihre Adern durchrieſelte. Sie war die che¬
miſche Säure geweſen, die aus der jungen Bruſt die
Begeiſterung, aus dem Blut die Elaſticität geſogen,
den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Sie
wäre untergegangen, das fühlte ſie, in dieſer kalten,
[80] zerſetzenden Nähe, und etwas davon war in ihr ge¬
blieben, es beſchwerte ihr Blut, es trübte ihren Blick,
der Egoismus des Verſtandes!


Und als dieſe wechſelvollen Schickſale wie die
Stäubchen im Sonnenſtrahl vor ihrem inneren Auge
wirbelten, hatte ſie ſich gefragt: warum das Schick¬
ſal ſo wunderbar mit ihr geſpielt? ſie ſchleudere aus
einem Arm in den andern, Menſchen und Gewohn¬
heiten tauſchend, wie die Bilder aus einer Laterna
Magica? Ob ſie eine beſondere Beſtimmung habe,
indem ſie die Menſchen in ihrer Schlechtigkeit kennen¬
lernen ſollte? Eine entſetzliche Frage hatte in dem
jungen Herzen angepocht: hat die Natur den Men¬
ſchen auf die Welt geſetzt zur Lüge, oder um nach
der Wahrheit zu ringen? Die der Lüge lebten,
einen andern Schein um ihr Sein woben, — hatte ſie
nicht beobachtet, daß grade dieſe vom Glück ange¬
ſtrahlt waren, geſucht, geſchätzt, anerkannt, ſelbſt von
denen, welche ſie durch und durch erkannten! Die
dagegen kein Aushängeſchild über ihr Weſen trugen,
ihre Gedanken rein ausſprachen, grade auf ihr Ziel
losgingen, wo hatten ſie es erreicht, wie wurden
doch ihre Gedanken mißverſtanden, anders ausgelegt,
höchſtens belohnt durch eine laue Anerkennung ihres
redlichen Strebens. Aber hinzugeſetzt ward: ſchade,
damit wird er nie durchdringen. Es hilft der Welt
nichts was er thut. — Was hatte Walter errungen?
— Der arme Walter! Und ſie! — Sie hatte ihn
getäuſcht, ſie täuſchte ihn noch immer fort, ſie
[81] täuſchte ſich — ſie war in ein Labyrinth der Lüge
gerathen. Und wo der Ausweg!


Als wolle ſie ihn ſuchen, hatte ſie in die Wipfel
geblickt, deren Blätter im Abendwinde durcheinander¬
wogten, ohne daß ſie nur eins mit den Augen ver¬
folgen können. Da hatte die Baronin jene Worte
an ſie gerichtet. Und wieder betraf ſie ſich auf einer
Lüge. Sie mußte das Auge vor dem Blick der
Eitelbach niederſchlagen. So hell und klar ſah dieſe
ſie aus ihren großen blauen Augen an. Das aus¬
drucksloſe Geſicht gewann durch das Gepräge der
Wahrheit einen Ausdruck, der für ſie in dem Moment
überwältigend war.


„Liebe Alltag, warum zieren Sie ſich denn vor
mir, ſprach die Eitelbach mit dem gutmüthigſten Tone
von der Welt. Der Bonaparte mag ein noch ſo
böſer, und unſer König ein noch ſo guter Menſch
ſein, jeder Menſch denkt doch an ſich zuerſt.


„Jeder!“ ſagte Adelheid, um nur durch ein
Wort ihrer gepreßten Bruſt Luft zu machen.


„So iſt es ſchon. Ich laß mich auch gar nicht
mehr irre machen. Krieg mag ſchon nöthig ſein
auf der Welt, meinethalben; ich kenne ſie aber, die
Herren Officiere, alle, und da iſt keiner, der nicht an
ſein Avancement denkt, wenn er ſich in den Kragen
wirft und grunzt, daß man glaubt, die Seele ſollte
ihm ausgehn, von des Königs Rock und Friedrichs
Ehre, und wenn er dann auf den Hacken Kehrt
macht und eine Miene ſich geben will — Na, habe
IV. 6[82] Dich nur nicht, denke ich. — Grade wie mein Mann.
Wenn der ſpuckt und über den Frieden lamentirt und
ſagt: Daran gehen wir zu Grunde! dann weiß ich
auch, was die Glocke geſchlagen hat. Wenn er die
Mantellieferung gekriegt, dann wären wir nicht zu
Grunde gegangen und es könnte Friede werden in
alle Ewigkeit. So ſind die Männer. Sie denken
nur an ſich.“


„Nicht alle.“


„Nein, Einer nicht. Aber ſonſt! Ja, wenn das
Andre draußen mit ihren Wünſchen zuſammenpaßt,
dann ſind ſie lichterloh. Das weiß dann zu parli¬
ren und encouragirt ſich, bis ſie's am Ende ſelbſt
glauben, daß es darum iſt. Es amüſirt mich, wenn
ich ſie ſo höre ſich warm reden; aber mich täuſchen
ſie nicht mehr, auch die Klügſten nicht. Ich denke:
ſprecht Ihr nur, ich weiß doch, was dahinterſteckt.“


„Täuſchen die Männer nur? Belügen wir uns
niemals“?


Die Baronin ſchien nachzuſinnen: „Nein, liebe
Seele, Engel ſind wir auch nicht immer. Wenn
mein Mann Feuer ſchlägt, mancher Schwamm will
gar nicht zünden, aber der andre fängt im Augen¬
blick. Der iſt weicher, ſagt er. So ſind wir Frauen,
habe ich da gedacht. Wenn ein Funke vom Him¬
mel fiele, bei den Männern hat es gute Weile,
aber wir — “


„Lodern raſcher auf. Iſt das aber gut?“


„Was vom Himmel kommt, iſt doch gut. Die
[83] Leute ſagen nun, Sie könnten den Louis Bovillard
nicht ausſtehen, weil er den Napoleon einen großen
Mann nennt und Gott weiß was. Die Leute ſind
nicht geſcheit. Er thut es nur, um ſie zu necken und
Sie auch. Und wiſſen Sie, warum Sie ihm immer
den Rücken kehren? Damit er ſich nicht einbilden
ſoll, daß Sie ihm gut wären. Und warum Sie im¬
mer ſo in Extaſe ſprechen, wie Sie die Franzoſen
haſſen? Nur damit die Andern nichts merken ſollen,
wie Sie verliebt ſind.“


„Frau Baronin!“


„Mir machen Sie nichts weiß. Sie ſind's bis
über die Ohren, und wenn er ſelbſt ein leibhaftiger
Franzoſe wäre, ſchadet nichts. Und wenn er dem
Bonaparte ſein General, oder gar ſein Spion wäre,
da würde Ihr Franzoſenhaß ſo klein, ach, mit dem
Theelöffel könnten Sie ihn runter ſchlucken.“


Adelheids erſtaunter Blick ſagte: Wie kamſt
Du dazu?


Auch dieſe ſtumme Sprache verſtand die Erleuch¬
tete: „Und ich weiß auch wohl nicht, was Sie jetzt
denken? Daß die blinde Henne auch mal ein Korn
gefunden hat. — Denken Sie's immer zu, ich nehm's
Ihnen gar nicht übel. Als ob ich nicht wüßte,
daß die Andern auch ſo denken! Das genirt mich
aber gar nicht. Haben ſie doch gedacht, ſie könnten
mir Männchen vormachen und mit mir Blindekuh
ſpielen in Ewigkeit. Eine Weile geht's, aber dann
fällt die Binde doch runter. Jetzt ſollen ſie's aber
6*[84] nicht mehr, da gebe ich Ihnen mein Wort. Allzu¬
ſcharf macht ſchartig, und hinterm Berge wohnen auch
Leute, ſagte meine Mutter. Aber warum wickeln Sie
ſich ſo in Ihr Shawl? Zu ſchämen brauchen Sie
ſich doch nicht, und vor mir am wenigſten, denn ich
ſage es Jedem grad heraus: Ich liebe und bin
glücklich.“


„Und Sie haben doch entſagt!“ Das Verhält¬
niß der Baronin war zum öffentlichen Geheimniß
geworden.


„Und nun bin ich grade erſt glücklich. Ich weiß
er liebt mich, und er weiß, ich liebe ihn, und es
geht nun einmal nicht.“


„Iſt das ein Glück?“


„Muß man denn ſich immer ins Auge ſehen,
die Lippen öffnen und die Hand drücken, um ſich zu
ſagen, daß man ſich liebt! Wenn wir noch ſo weit
getrennt ſind, ſehen wir nicht beide da den Abend¬
ſtern aufgehen? Brauchen wir uns Briefe zu ſchrei¬
ben, um uns zu ſagen, daß wir uns nie vergeſſen
werden? Ja, ehedem dachte ich wohl, ohne Roſabil¬
lets auf duftendem Papiere, und ſchöne Präſente ginge
es nicht. Ach, wie iſt das alles ganz anders! Dieſe
Blicke aus ſeinen treuen, guten, ſchönen Augen wer¬
den immer vor mir ſtehen, wie die Sterne am Him¬
melsbogen. Und iſt das kein Glück, daß ich über¬
zeugt bin, auch er ſieht mich, wie ich ihn ſehe! Auch
er wird von falſchen Zungen umſchwirrt, die mich wie
ihn verreden. Aber auch er weiſt ſie zurück! Nein,
[85] je weiter Zeit und Ort uns entfernen, um ſo inni¬
ger wird unſer Bund, denn er iſt unauflöslich. —
Und Adelheidchen, ſo könnten Sie auch fortlieben und
glücklich ſein — “


„Und lügen — lügen in Ewigkeit!“ brach es
aus der gepreßten Bruſt. Es war unwillkürlich;
die Eitelbach wollte ſie nicht zur Vertrauten ihrer
Gefühle machen.


„Entſagen, Liebe, iſt das lügen! Der Beſitz
tödtet die Freude des Verlangens, hat mir Jemand
ins Stammbuch geſchrieben. Würde ich ihn lieben,
wie jetzt, wenn er vor acht Jahren — Nun ja, wäre
er mein Mann, dann würden wir uns vielleicht recht
gut ſein, aber hätten ſich unſre Seelen kennen ge¬
lernt! Die gemeinſchaftliche Menage, ſagt der Le¬
gationsrath, das tägliche Beieinander ſtumpft die fei¬
neren, ſinnigen Gefühlsfäden ab, nur Verlangen
und Entbehrung weckt die edleren Seelenkräfte. Er
will's mir auch ins Buch ſchreiben. Er braucht es
nicht, ich fühle es, ich weiß es. Ich ward eine an¬
dere, mein Mann ſagt, er kennt mich nicht wieder.
Nun bin ich erſt froh, ich weiß warum, ich lebe. Wir
nicken uns durch die Lüfte einen guten Morgen zu.
Wenn ich ausfahre, freue ich mich der friſchen Luft;
auch ihn kühlt ſie ja, wenn er über die Haide ſprengt.
Abends ſchüttelt er treuherzig den Kopf und ruft mir
Gute Nacht! zu.“


Adelheid faßte krampfhaft den Arm ihrer Be¬
gleiterin: „Soll das Ihr Leben dauern?“

[86]

„Herr Gott, wie Sie zittern! — Warum denn
nicht.“


„Weil — allmächtiger Gott, ich glaube, der
Verſucher rauſcht in den alten Eichen! Nennen Sie
das entſagen?“


„Wie denn ſonſt! Der Verſucher, das weiß ich
wohl, mit dem hat die Fürſtin es zu thun, er vergiftet
das Blut, ſagt ſie, und der ſündhafte Gedanke zehrt
an der Seele, ein kleiner Fehltritt ſei nichts gegen
eine große Gedankenſünde. Ach, die gute Gargazin
iſt eine Ruſſin, ſie kennt die Liebe nicht, die ſich Alles
verſagt, und nur für den Geliebten ſorgt. So, liebe
Seele, würden Sie lieben. Wenn Sie den Herrn
van Aſten heirathen müſſen, weil er Ihr Wort hat,
thun Sie's, und er wird gewiß ein guter Ehemann
werden, beſſer als meiner. Aber dann, wenn Sie
Ihre Pflicht gethan, wer darf Sie von Ihrem Bo¬
villard trennen, o dann werden Sie ſelig, unaus¬
ſprechlich ſelig werden.“


Adelheid fühlte einen Schwindel, es ſchwankte
und drehte ſich und ihr war, als müſſe ſie aus dem
Wagen ſpringen. Es war aber mehr als eine Empfin¬
dung der aufgeregten Stimmung. Der Kutſcher,
wie ſich nachher ergab, betrunken, hatte den Wagen
aus der Seitenallee in die Chauſſee umgelenkt, ohne
den Charlottenburger Milchkarren, der leer aber lang¬
ſam ihm entgegenfuhr, zu bemerken. Die Fuhrwerke
waren an einander geſtoßen, freilich zum größern
Schaden des Karrens, der zerbrochen am Boden lag,
[87] die Blechgefäße polterten auf die Straße, aber auch
die Equipage hatte ſich übergelehnt, und Adelheid
war jetzt zu dem gezwungen, wozu vorhin innere
Angſt ſie drängte.


Als die Baronin noch um Hülfe ſchrie, hatte ſie,
raſch entſchloſſen, ſich ſchon danach umgeſehen, und
ſie war zur Hand. Zwei einſame Spaziergänger
waren von den entgegengeſetzten Seiten des Weges
auf den Lärm herangeeilt. Adelheid riß ihr Shawl
von den Schultern, und warf es dem ihr Nächſt¬
ſtehenden zu. Als er aber die Arme ausbreitete, um
ihr herabzuhelfen, fuhr auch ihr ein Schrei über die
Lippen, kein lauter in dem allgemeinen Toben und
Fluchen, aber laut genug, daß er zweien durchs Herz
fuhr, der, welche ihn ausgeſtoßen, und dem, welcher
ihr die Arme entgegenſtreckte. Walter van Aſten ſah,
wie Adelheid ſich von ihm abwandte und umſchlungen
vom Arm des Rittmeiſters Stier von Dohleneck aus
ihrer gefährlichen Lage gehoben ward. Er hatte genug
geſehen. Auch die Baronin durchzückte ein Ton, der
nur halb über ihre Lippen kam. Sie nahm die Hülfe
des jungen Mannes dankbar an: „Ich danke Ihnen,
ſagte ſie, ihr Haar in Ordnung bringend, daß gerade
Sie es ſind.“


Wir laſſen unſere Leſer auf der dunkelnden
Charlottenburger Chauſſee nicht länger verweilen;
was geht uns der Lärm, das wüſte Gezänk an zwi¬
ſchen Kutſcher, Milchmann, den umſtehenden Schieds¬
richtern und Helfern. Ein Rad war gebrochen, in
[88] der Equipage konnten die Damen nicht mehr nach
Hauſe fahren. Ihre Retter führten die Erſchreckten
langſam, bis eine leere Kutſche ihnen begegnete.


Adelheid wußte nachher nicht, was der Rittmeiſter
mit ihr geſprochen, ſie wußte ſelbſt nicht, ob es der
ihr wohlbekannte Rittmeiſter geweſen, an deſſen Arm
ſie ging. Sie wußte nichts von ſich auf dem viertel¬
ſtündigen Wege. Erſt als man ſie in den andern
Wagen hob, fühlte ſie einen Händedruck. Walters
Stimme flüſterte feſt, aber nicht rauh und kalt:
„Zum Abſchied, Adelheid! Nun biſt Du frei.“


Die Damen hielten ein gegenſeitiges Schweigen
für die beſte Unterhaltung auf dem Rückwege. Adel¬
heid hatte ſich feſt in ihr Shawl geſchlungen, obgleich
es eine laue italieniſche Nacht war und die Baronin
ihr Tuch abwarf, um ſich nicht zu echauffiren. Das
junge Mädchen mußte frieren, ihre Zähne klappten,
und es waren wohl Phantaſieen, wenn die Baronin
oft die Worte hörte: „Nur keine Lüge mehr!“

[[89]]

Sechstes Kapitel.
Die Wolluſt der Märtyrer.

Das war dem glänzenden Geſellſchaftsabend
vorangegangen.


Es war noch etwas Anderes vorangegangen —
im Souterrain des Hauſes.


Wer die liebenswürdige Wirthin ſah, wie ſie
mit mädchenhafter Grazie den Gäſten entgegeneilte,
und über das unerwartete Erſcheinen von dem und
jenem faſt kindlich erfreut ſchien, konnte an der
Wahrhaftigkeit ihrer Empfindungen zweifeln! „Wenn
ſie es auch nicht ſo meint, iſt es doch angenehm,
daß ſie es ſo zeigt!“ Aber er konnte nicht ahnen,
wie dieſe Augen, aus denen Wohlwollen und Güte
blitzten, vor einer Stunde auf ein anderes Schau¬
ſpiel, ich ſage nicht lächelnd geblickt, aber theilnahmlos,
ſtier. Auch das paßte nicht, vielleicht mit der Wolluſt
eines geſättigten Raubthiers, das ſeines Opfers
Blut fließen ſieht.


Der Kutſcher hatte es allerdings verdient. Mit
einer milderen Züchtigung wegen des erſten Unfalls
[90] auf der Potsdamer Chauſſee davon gekommen,
rief ſein Ungeſchick heute auf der Charlottenburger
die exemplariſche Strafe hervor, welche der Haus¬
hofmeiſter ihm dictirt. Auf Ordnung muß ein
Herr und eine Herrin im Hauſe halten. Es war die
Ordnung, daß der dienſtvergeſſene Leibeigne von
zweien andern eine Lection empfing, deren Maaß
nur unſere Begriffe und die Kraft unſrer Nerven
überſteigt. Auch daß die Herrin zugegen war, um
nach Handhabung der Ordnung zu ſehen, verſtieß
nicht abſolut gegen die Sitte. Nur daß ſie, mit ver¬
ſchränkten Armen an der Kellerthür ſtehend, ſo lange
zuſehen konnte, ohne mit den Augenwimpern zu
zücken, ohne auf die Wehlaute des Zerfleiſchten ein
Halt zu rufen, daß um ihre Lippen ein eigenthüm¬
liches Lächeln ſchweben konnte, während ein ſelt¬
ſamer Glanz in ihren Augen leuchtete und ihre Stirn
wie vor Freude ſich röthete, das mußte einen be¬
ſondern Grund haben.


Es hatte auch einen. In Gedanken verſunken,
in Phantaſieen, die ſie intereſſiren mußten, ſchien ſie
eigentlich, was geſchah, vergeſſen zu haben. Sie
hatte auch den fragenden Blick des Kochs aus der
Ukraine überſehen, der einen Augenblick inne hielt,
in der Meinung, es ſei genug. Ein Sklave darf
keine Meinung haben; als ſie nicht gewinkt, fuhr
er mit dem Stallknecht in der Arbeit fort. Die
Herrin hatte es zu verantworten; er und der Kalmück
waren nur die Werkzeuge, vielleicht die willigen.
[91] Der Zoll von Herrendienſt, den ſie dem Kutſcher
abentrichteten, war gewiß nur eine Vergeltung für
viele ähnliche, die jener bei andrer Gelegenheit
ihnen geleiſtet.


Es hätte ſchlimmer werden können, wenn nicht
der franzöſiſche Kammerdiener der Fürſtin zugeflü¬
ſtert: „Madame la princesse, je crains que les cris
de la bête ne pénètrent pas oreilles de Made¬
moiselle Alltag. Elle fait sa toilette tout près de l'es¬


Da war die Fürſtin aus ihren Träumen erweckt
worden. Etwas unangenehm, ſchien es. Die Alltag
durfte nichts hören. Sie hatte den Executoren raſch
gewinkt, inne zu halten; ſie wollte ungehalten ſein, daß
man ſie nicht früher aufmerkſam gemacht, aber ſie ſagte,
der Anblick ſei rebutant. Sie hatte etwas von pauvre
homme
hingeworfen, und Anweiſung gegeben, ihn
gut zu pflegen, damit er bald wieder ſeinen Dienſt
verrichten könne.


Und ſie hatte noch eine unangenehme Ueber¬
raſchung gehabt. Der Kammerdiener hatte ihr auch
etwas vom Herrn Legationsrath zugeflüſtert, was ſie
damals überhört. Oben fand ſie ihn in einer An¬
wandlung von Ohnmacht auf dem Kanapé.


„Poſſen! oder was iſt das?“ fragte ſie ver¬
wundert, als er ſich durch die Tropfen erholt, die
ſie aus ihrem Flacon geſprengt, und er ſelbſt ein
Fläſchchen entkorkte, um durch das Einathmen wieder
zum vollen Gebrauch der Sinne zu kommen.


[92]

„Ich kann kein Blut ſehen, ſagte er. Sie
wiſſen es.“


„Starker Mann!“


„Stärkere leiden an Idioſynkraſieen.“


„Wer ſeinen Freund zum Rendezvous auf
zwei Kugelmündungen ladet!“ Es blieb zweifelhaft,
ob die Bemerkung ironiſch gemeint war, ihr Blick
verrieth es nicht. Ihre Gedanken waren noch an¬
derswo.


„Die Kugel bringt den Tod, dem Andern oder
mir. Ich fürchte weder dieſe Frage zwiſchen Sein
und Nichtſein, noch das Eingehn in das Nichtſein.
Aber das Blut iſt eine unvertilgbare Eſſenz, ſprach er
ſchaudernd, und ſprang auf. Ich kann nicht dafür,
daß meine Natur ſo iſt, noch begreife ichs, warum
die ewig gebährende Mutter dieſe Anomalie in
ihrem großen Schöpfungswerk zuließ. Ich wiſche
alle Tinten, Farben ſpurlos aus, aber warum wider¬
ſteht dieſer häßliche rothe Saft, warum wird er ſo
oft zum Verräther —“


„Weil der Himmel das warme Blut in unſere
Adern goß, rief die Gargazin, als den köſtlichen Saft,
in dem wir uns berauſchend einen Vorſchmack ſeiner
Seligkeiten trinken mögen. Das begreifen Sie freilich
nicht, Mann von Marmor.“


„Den Rauſch begreif ich, Erlauchte Frau, auch
den Rauſch in Blut. Aber nicht, verzeihen
Sie, wenn es durch Geißelhiebe aus dem —
Rücken einer elenden Creatur gepeitſcht wird. Alles,
[93] was man ohne Zweck thut, iſt meiner Natur ent¬
gegen.“


„Der Zweck! Curios! Fragen Sie meinen
Haushofmeiſter. Der Menſch hat es verdient.“


„Daß Sie ſich ſelbſt ſtrafen, und Ihren beſten
Kutſcher zerſchlagen laſſen, damit er ſechs Wochen
nicht auf dem Bock ſitzen kann, wenn je wieder?“


„Ich war in einer animoſen Laune. Wer wider¬
ſteht einem Impuls?“


„Darum war ich um meine Erlauchte Freundin
beſorgt, denn der Exceß in der Beſtrafung könnte
in dieſem Staate unangenehme Folgen haben.“


„Die ſich redreſſiren laſſen.“


„Gewiß, es bleibt indeß immer ſehr unan¬
genehm, wenn man ſeine Kräfte zum Redreſſiren
von Vergangenem verwenden muß. Die Meinung,
das Publikum übt eine Macht, die wir durch den
Widerſtand nur intenſiv ſtärker machen. Wenn es
hieße, die Fürſtin Gargazin hat ihren Leibkutſcher
zu Tode prügeln laſſen, ſo würde man die Gerichte
wohl zum Schweigen bringen, weil Sie die Fürſtin
Gargazin ſind, auch für die Oeffentlichkeit würde
die Wiſſenſchaft Atteſte bereit haben, daß der Kutſcher
an einem organiſchen Fehler geſtorben iſt, aber das
Todesröcheln des Zerfleiſchten möchte doch etwas
Leichengeruch in den harmoniſchen Duft hauchen,
den der Liebreiz einer Natalie Gargazin um ſich
gezaubert.“


Sie ſchwieg, aber ihre Lippen ſchwellten ſich
[94] unmerklich zu einem ſüßen Lächeln. Von dem Ge¬
ſprochenen hatte ſie wohl nur einen Theil gehört.
Mit wieder auf der Bruſt verſchlungenen Armen, wie
vorhin, ſprach ſie: „Sie ſahen den Tod und ich
das Leben, Sie das Entſetzen und ich — ich, was
kann ich dafür, daß ich anderer Natur bin, Herr von
Wandel! Pawlowitſch wird nicht ſterben, dieſe Ge¬
ſchöpfe haben eine andre Natur. Sie kennen das
nicht. Er iſt mein treuſter Diener. Meinen Sie,
daß er mich weniger lieben wird, weil ich ihn züch¬
tigen ließ? Wenn er geneſen iſt, verſichere ich Sie,
wird er mit verdoppelter Devotion ſich auf die Erde
werfen, meinen Rockſaum küſſen und bei ſeinem Hei¬
ligen für mich beten. Und ich, ich theile dieſe Ge¬
fühle der Anhänglichkeit für das Geſchöpf. Ich em¬
pfand die Geißelſchläge mit. — Lachen Sie nur!
Das verſtehen Sie eben nicht. Sie können auch bei
der Abbildung eines Martyriums lachen, oder wen¬
den dem ſchönſten Bilde aus Ekel den Rücken. Mich
ergreift immer eine unbeſchreibliche Wonne bei dieſen
Qualen, mein Blut wallt, mein Körper empfindet
ſie mit; dieſes ſprützende Blut, ich ſehe es ſchon in
Roſen und Lilien verwandelt, dieſe Röthe des äußer¬
ſten Schmerzes auf den Wangen, der Todesſchweiß,
die verzückten Augen, die krampfhaften Verrenkun¬
gen, mir werden es lauter Schönheitslinien, und wo
Sie Zerriſſenheit und Untergang ſehen, durchſchauert
mich ſchon Harmonie und Vollendung.“


„Das heißt ein Läuterungsprozeß in procura
[95] geführt, ſagte der Legationsrath, oder er dachte es
vielleicht nur, denn die Fürſtin, in ſich verſunken,
ſchien auf ſeine Erwiederung kaum zu achten. „Wenn
man nur dem Geſchöpf dieſe Ueberzeugung auch ein¬
impfen könnte, ſo würden ſeine Schauer, die, wie ich
glaube, gemeinerer Art ſind, ſich gewiß auch in eine
wollüſtige Empfindung auflöſen.“


„Sie würden es!“ rief die Fürſtin. „Wer ſagt
Ihnen, daß ſie es nicht ſchon ſind! Er leidet für
ſeine Herrin, die er anbetet, er leidet durch ihren
Willen, und er kennt kein höher Geſetz. Dieſe Leib¬
eigenen ſind glücklicher als wir, mein Herr Legations¬
rath von Wandel. Wie das Animal, die Pflanze,
ſtehen ſie dem Urſprünglichen näher. Und wir rin¬
gen unſer Leben durch vergebens nach dem Paradie¬
ſeszuſtande zurück, in dem ſie exiſtiren. Wie die Lilie
auf dem Felde, wie der Vogel im Buſch, freuen ſie
ſich der Sonne, die ſie beſcheint, ſie legen ihr Haupt
nieder auf den grünen Raſen unter ſeinem Himmel,
oder auf die Bank, die man ihnen am Ofen gebaut.
Sie denken nicht, ſie ſorgen nicht auf den andern
Tag; Speiſe und Trank ihnen ſchaffen, iſt unſere
Aufgabe. Sie kennen unſre Pein und unſre Qua¬
len nicht, unſre Zerrüttung und Zerriſſenheit ſteht
ihnen fern. Sie würden ſie ſo wenig begreifen als
der Herr von Wandel, warum der Erlöſer für uns
gelitten hat, warum in Natur und Welt es ſo gefügt
iſt, daß immer ein Anderer für den Schuldigen lei¬
det, daß es Sündenböcke gab im alten Teſtament,
[96] Märtyrer und Heilige, die den Ueberſchuß ihrer gu¬
ten Werke uns als Erbe ließen. Dieſe Sklaven
ſingen und lachen, während wir, die Erwählten, die
tauſend Nadel- und Dolchſtiche empfinden, die Welt
und Verhältniſſe täglich in unſer Herz drücken, und
wir müſſen dazu ein lächelnd Geſicht machen, auch
wenn wir in krampfhafter Pein vergehen möchten.
Was iſt das bischen Noth dagegen, das unſre Laune
ihnen bereitet; die ſchöpferiſche Laune, die heute quält
und morgen dafür entzückt.“


„Warum ſtehen Sie in Gedanken verloren? hub
ſie nach einer Pauſe wieder an; ihre Verzückung, wie
es ſchien, hatte ſich gelöſt. Sie ließ die Arme ſinken,
und ſah ihn faſt mitleidig an. „Sie armer Mann,
was ich Sie bedaure in dem hochmüthigen Mitleid,
was Sie in dem Augenblick über die Schwärmerin
empfinden mögen.“


„Ich bedauerte nur erwiederte er, daß die Gott¬
heit, die wir uns als männliches Weſen denken, kein
Weib iſt. Wie viel ſchöner würde ihre Welt ſein.“


„Ihr Spott kann mich nicht mehr beleidigen. Sie
thun mir ſo unendlich weh, weil jede Entzückung
Ihnen verſagt iſt. Aber ich appellire an Ihren Ver¬
ſtand. Womit wollen Sie die Welt zuſammenhal¬
ten? Dieſe Maſſe, dieſen Pöbel, das Chaos von
kriechendem Gewürm, das fliegen möchte und nicht
aufrecht gehn kann! Wer ſoll ſie bändigen, feſſeln,
wenn keine eherne Fauſt, umſpielt von ſüßen Him¬
melslichtern, da iſt, keine beſeligende Illuſion; dieſe
[97] gemeinen, rohen, ſelbſtiſchen Creaturen, die aus Hab¬
ſucht Einer auf den Andern ſtürzen, ſich zerreißen,
verzehren möchten. Sie kratzen ſich die Augen aus,
damit der Bruder nicht ſchärfer ſieht, ſie verſchlingen
die Vorrathskammern, die ihren eignen Winter ſichern
ſollten, damit die Mitmenſchen nicht im Vollen leben.
Täuſcht Sie der Popanz Humanität, den die After¬
weiſen an ihren papiernen Geſetzeshimmel malen,
und Jeder ſtellt dem Andern ein Bein, und Gift auf
der Zunge, Erbſchleichern, Betrug, Raub, Bruder¬
mord lauert unter der Lämmermaske dieſer Alltags¬
geſichter.“


„Der Popanz täuſcht mich nicht, Prinzeſſin, ſagte
Wandel. „Mich täuſcht überhaupt nichts. Ja, könnten
wir ſie alle wieder als eine Horde Leibeigene ein¬
pferchen in die dumpfen Ställe alter Gewohnheiten,
— Schade nur, daß es auch eine Illuſion iſt, und
wenn — die Prieſter würden ſich untereinander auch
auffreſſen.“


„Hoffen Sie noch auf die Vernunft“, fuhr die
Fürſtin fort, die ihn wieder nur halb gehört. „Die
Göttin, die ſie in Frankreich auf die Altäre hoben,
hat doch zu aller Welt geſchrieen: ‚ſeht, wie albern
und ohnmächtig ich bin!‘ Oder hoffen Sie's mit dem
Geiſt, der wie ein Blitz aus dem Himmel in das
Gewürm wetterleuchtet. Wie oft fuhr er nieder in
dieſem Deutſchland, in Philoſophen und Geſetzgeber, in
verſtockte Mönche, Stubengelehrte und Fürſten auf dem
Thron. Was hat er gezündet, gewärmt und gefruchtet!
IV. 7[98] Die dumpfen Ställe der alten Gewohnheit hat er in
Brand geſteckt, aber die Unglücklichen, daraus Ver¬
triebenen, wo fanden ſie ein anderes, helleres, wär¬
meres Obdach! Feuersbrünſte hat er angefacht, Wäl¬
der und Haiden verzehrt, aber wo nur eine Fackel
angezündet, die in der Nacht leuchtet, welche immer
darauf wieder eintrat. Da lobpſalmen die alten Wei¬
berſtimmen in den nüchternen Kirchen den Herrn, daß
er die Gräuel des Aberglaubens und der Finſterniß
verſcheucht hat, aber wo blieb ihr Licht, das ihnen
leuchtete, durch den finſterſten Wald des Zweifels
ihnen den Weg zeigte, wo ihr Haus, das die Müden
und Beladenen aufnahm, wo das Geläut der Him¬
melsglocken, die ſie mit Engelszungen in Schlaf ein¬
lullten, wo der Schlafpelz, die weiche Bärenhaut,
in die ſie ſich hüllten, und alle Sorgen waren ver¬
geſſen! Wo in aller Welt können dieſe Verirrten,
Heimathloſen, anklopfen in ihren Aengſten, ihrer
Zerriſſenheit, um den Troſt zu finden, den nur die
Gewißheit giebt! Was hilfts ihnen, wenn ſie ſich von
des Teufels Krallen gepackt fühlen, und der gelehrte
Herr mit den Päffchen ſetzt die Pfeife fort, um vor¬
nehm herablaſſend der armen Creatur mit rationa¬
liſtiſcher Saalbaderei zu demonſtriren, daß der Teufel
wahrſcheinlich nicht exiſtirt. Um etwas Gewiſſes,
Feſtes, Sicheres ſchreien ſie, und er ſetzt ihnen eine
Schüſſel Schlangeneier vor, aus denen, ſtatt eines,
tauſend Zweifel ſchlüpfen!“


Diesmal war es der Legationsrath, welcher nicht
[99] Acht gegeben. Er hatte mit ſeinen Augen einen Punkt
fixirt, und packte plötzlich den Arm der Fürſtin am
Handgelenk:


„Ein Blutfleck!“


Der Aermel ihres Mouſſelinekleides trug unver¬
kennbar die Spuren eines darauf geſprützten Tropfens.


„Ich habe es wirklich nicht geſehen.“


„Aber Andere werden es ſehen. Um des Him¬
mels willen wechſeln Sie das Kleid, ehe es Jemand
bemerkt. Adelheid —“


„Intereſſiren Sie ſich ſo für das Mädchen?“
ſprach die Fürſtin, der die Unterbrechung nicht uner¬
wünſcht zu kommen ſchien, indem ſie den befleckten
Aermel mit den Fingern prüfte. Es war ein eigner
Ton, in dem ſie fragte, der baare Gegenſatz zu dem
Affecte, in welchem das Vorige geſprochen war.


„Nicht im geringſten. Ich intereſſire mich für
den Gegenſtand, der Ihr Intereſſe erregt hat. Da
ich Ihre Abſichten ahne, muß ich wünſchen, daß jeder
Nebelfleck, der Ihren Anblick vor den Augen der
Unſchuld trüben dürfte, entfernt würde.“


Sie ſah ihn ſcharf an: „Sie ſind die Unintereſſirt¬
heit ſelbſt. Und doch — zuweilen fällt vor meinem
Auge Ihre ſchöne Hülle ab wie Staub und Moder,
und das nackte Gerippe ſtarrt mir entgegen; das
Herz von chemiſchen Agenzien zernagt. Aber glauben
Sie nicht, daß ich erſchrecke. Ich betrachte gern die
Natur in ihrem geheimſten Schöpfungsprozeß, wie
ſie ihr Schönſtes und Beſtes muthwillig ſelbſt ver¬
7*[100] nichtet. O immer zu, die Natur iſt eine elende Kam¬
merzofe des Myſteriums, aus dem die Gnade leuchtet.
Immer zu, mein Freund, ſich ſelbſt verzehrt, bis der
Durſt brennend, unerträglich wird! Dann verlangen
auch Sie nach dem Quell. O welche Kämpfe wird
es Ihnen koſten, wie wird dieſe Stirn rollen vor ſtol¬
zem Zorn, wie dieſe Rieſenbruſt toben vor unaus¬
ſprechlicher Pein, wie werden Sie wüthend mit der
Fauſt dagegen ſchlagen, ringend einen Gigantenkampf
mit dem Selbſtbekenntniß, bis — bis der Rieſe kra¬
chend zu Boden ſtürzt, und wie ein Kind an der
Mutter Bruſt liegt! Wie werden Sie ſchlürfen,
unerſättlich an dem Born der Gnade!“


Mais en attendant?“ ſagte der Legationsrath.


„Rührt Sie denn nicht Adelheids Schönheit?“


„Daß ich nicht wüßte.“


„Mir unerklärlich, mein Herr großer Sünder.
Anfänglich hielt ich es für Verſtellung, Sie wollten
mich täuſchen. Jetzt haben Sie mir nicht allein die
Beruhigung gegeben, ſondern auch das Räthſel zurück¬
gelaſſen, daß das Mädchen Sie kalt läßt. Iſt ſie
Ihnen eine zu vollkommene Schönheit?“


„Kunſtkenner gehen auch an vollendeten Meiſter¬
werken vorüber.“


„Weil nur die ſie intereſſiren, fiel ſie ein, die
Mängel haben. Iſt's der Egoismus des kritiſchen
Sinnes, der immer corrigirend ſchaffen möchte?“


„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sagen Sie,
eine Antipathie gegen was man reine Unſchuldsſeelen
[101] nennt. Es überkommt mich ein Fröſteln in Gegen¬
wart ſolcher jungen Mädchen.“


„Ich begreife es, weil ich es mitfühle. Aber —“


„Sie ſelbſt kajoliren die Nymphe.“


„Sie wiſſen, warum.“


„Und eben deshalb wundre ich mich, daß Sie
dem jungen Bovillard den Zutritt in Ihr Haus er¬
leichtern.“


Die Gargazin ſah ihn ſchadenfroh an: „Für
die Naivheit möchte ich Sie küſſen.“


„Sie protegiren ihn nicht?“


„Wenn man Erz ſchmelzen will, braucht man
Feuer.“


„Wenn man aber das Feuer über den Keſſel
ſchlagen läßt, kann es leicht kommen, daß das Erz
überläuft und verdorben wird.“


„Qu'importe! ſagte die Fürſtin und ſtäubte an
dem Fleck am Aermel. Was nennen Sie verdorben
werden?“


„Ich ſcheue nicht vor einem gewagten Spiel,
aber ich frage mich vorher, ob der Vortheil das Ri¬
ſiko lohnt?“


„Was geht Sie meine Rechnung an! Einen
Stein kann man nicht ſchmelzen, man ſprengt ihn
oder wartet, bis der Blitz ihn ſpaltet; das Erz kann
man aber ſo lange glühen und wieder zerglühen
laſſen, bis man es zu der Form geſchmeidig findet,
die man ihm geben will. Wollen Sie ſich in Adel¬
heid verlieben, Ihre Künſte an ihr verſuchen, ich habe
[102] nichts dagegen, ich will nicht eiferſüchtig ſein. Sie
liebt ihn, ich meine Bovillard, das iſt ihre Krank¬
heit, die verborgene, die an ihr zehrt. Sie muß her¬
aus, die Kriſis iſt nothwendig; darum wird ſie kom¬
men, ohne daß wir etwas dazu thun. Verſtehen
Sie mich, wir laſſen die Natur walten.“


„Und dann?“


„Wenn Sie die Bibel läſen, würden Sie wiſ¬
ſen, man ſoll nicht für den andern Morgen ſorgen.
Sein Sie heut Abend liebenswürdig, Herr Lega¬
tionsrath.“


„Ich bin nicht ganz disponirt.“


„Sie ſollen es ſein. Sie können es ſein. Herr
von Bovillard hat nur zwei Augen, und die gehören
jetzt nicht ihm.“


Die Wagen fingen an vorzurollen; die Fürſtin
verſchwand mit dem wiederholten Befehl: „Sein Sie
liebenswürdig!“ — Sie hatte kaum Zeit, ihre Toi¬
lette zu ändern, aber Niemand hat den Blutfleck an
ihrem Aermel geſehen.

[[103]]

Siebentes Kapitel.
Was ſagen Sie zu meiner Frau?

Das war dem glänzenden Geſellſchaftsabend vor¬
angegangen.


Der Abendſtern, der heute glänzen ſollte, ſag¬
ten wir ſchon, erſchien aber wie ein erlöſchendes Licht.
Die Töne, welche im Souterrain das Ohr zerriſſen,
waren nicht zu Adelheid gedrungen, und wenn einer,
ſo ahnte ſie nicht den Grund; es war für ſie nur
in der Luft das dumpfe Accompagnement ihrer eige¬
nen zerriſſenen Gedanken. Nie war ihr eine Toilette
ſchwieriger geworden. Sie dachte, ſo müſſe einem
Verurtheilten zu Muthe ſein, wenn er ſich zum letz¬
ten Gange ankleidet.


Zum Glück war die Aufmerkſamkeit heute nicht
auf die blaſſe Adelheid concentrirt; ſie richtete ſich
vielmehr auf eine andere Erſcheinung, von der man
ſagen durfte, daß ſie in voller Blüthenpracht war.


Aus einiger Entfernung ſah die junge Dame
an der Thürecke wie ein liebliches junges Mädchen
aus, dem die Scham die Wangen röthet, die Augen
[104] ſchlägt ſie nieder in holder Befangenheit. So ſchüch¬
tern ſtand die Gazellengeſtalt, halb bedeckt von dem
Oleanderbosket, das aus irdenen Töpfen in maleri¬
ſcher Unordnung um den mit Epheu umhangenen
Thürpfoſten duftete. Die ſchöne Blüthe zitterte vor
jeder Berührung, wenn wir die Begegnung, die An¬
ſprache der älteren Damen, welche die Thür paſſirten,
ſo nennen ſollen. Das Wechſelgeſpräch war immer ſehr
kurz; man konnte glauben, zur Zufriedenheit des jun¬
gen Mädchens, das vielleicht erſt ſeit Kurzem in
die Geſellſchaft eingeführt war, und der Boden
unter ihr brannte, vor Angſt, daß ſie einen Verſtoß
begehe.


Wenn man einen Schritt näher trat, verwan¬
delte ſich die Achtzehnjährige allerdings in eine voll¬
blühende Zwanzigerin, die Moosroſe ward zur vol¬
len Centifolie. Aber ſchön blieb ſie, man konnte un¬
willkürlich rufen: wunderſchön! Wem das dunkle,
ſchwimmende Auge zwiſchen den ſchwarzen Brauen
und den rothen, anmuthig ſchwellenden Pfirſichwan¬
gen einen Blick zuwarf, mußte von Stein ſein, wenn
er nicht gerührt ward. Und war ſie nicht eine Zau¬
berin, eine Armida? Zwiſchen den Oleandertöpfen
ſchoſſen eine weiße und eine Feuerlilie in die Höhe,
und bunte Glaslampen, damals etwas in Berlin
Unbekanntes, warfen ihr Zauberlicht auf die Blumen
und das ſchöne Mädchen, das ſich auf ihnen zu wie¬
gen ſchien wie eine Titania, Grazie jede Bewegung.
Wie ſie mit den Blumen in ihrer Hand ſpielte, die
[105] ſie vielleicht in Gedanken von einem Strauch ge¬
pflückt; das war kein gewöhnliches Fächerſpiel, das
die Verlegenheit verbergen ſoll und die fehlenden
Worte erſetzen. Es war die Sicherheit einer Köni¬
gin, die den Herzen zu gebieten weiß, unbeſorgt um
ihre Herrſchaft. Wenn ſie die ſanft geworfenen Lip¬
pen öffnete und die ſchönen Zähne im Geſpräch
zeigte, konnte man ſchwören, wenn man auch kein
Wort verſtand, daß ſie eine witzige Replik, eine glück¬
liche Bemerkung hinwarf. Sie konnte auch abferti¬
gen, und man mochte ebenſo ſchwören, daß die Vie¬
len, die mit ihr eine Unterhaltung anknüpften, aus
Luſt oder aus Gelegenheit, ihr nicht genügten.


Wenn man indeß noch einige Schritte näher
trat, — doch wir können unſre eigenen Beobach¬
tungen ſparen, wo eine Gruppe Herren, an der
Thür gegenüber, ſich die ihrigen ſchon mittheilten.


„Was hat ſie denn heut für ein Roth auf,“
ſagte ein Garde-Officier.


„Wer?“


„Comteß Laura. Das blinkert ja wie eine Car¬
moiſinmuſchel.“


„Neuſte Joſephinenſchminke, liebſter Graf, drängte
ſich der Baron Eitelbach an ſein Ohr. Bei Herrn
Arnous vorige Woche friſch aus Paris. Die von der
Oper ſind außer ſich, iſt ihnen zu theuer. Was
kann der Schönheit zu theuer ſein, ſage ich.“


„Und greifen in die Taſche.“


Der Baron hielt allerdings beide Hände in
[106] den Seitentaſchen, und es klimperte etwas von Gold,
aber er zuckte die Schultern: „Fürs ganze Corps de
Ballet
! Na, hören Sie, das bringt mir ein ganzes
Regiment nicht auf. Alles was recht iſt.“


„Sie ſparen's für Ihre Frau Gemahlin.“


„Ein ſublimer Einfall von Ihnen Graf, wahr¬
haftig ein ſehr ſublimer. Wie ſie blaß ausſieht ge¬
gen die Laura! Aber ſie will ſich nicht ſchminken.
Partout nicht mehr.“


„Hat's auch nicht nöthig,“ ſagte ein dritter
Intimus.


„Meinen Sie? — Ich ſage Ihnen, die Schminke
bringt 'ne Revolution hervor. Das iſt ein Geſchicke
zu Arnous, aber — die alte Voß und — na warten
Sie nur, ich kann ſie Ihnen alle nennen, die ſchon
von haben. Sind ihrer nicht viel; aber paſſen Sie
acht, eh' vierzehn Tage um ſind —“


„Wenn die Männer die Thränen auf den Wan¬
gen ſehn, ſagte der dritte Intimus, greifen ſie doch
in die Taſche, und wenn das Roth pures Gold
wäre.“


„Gold, ein charmanter Einfall! rief der Baron.
Wenn's Mode würde, echtes Gold auf die Backen!
Bei Gott, ich gäbe was drum; wie die Weihnachts¬
äpfel. An den Backen ſähe man's den Frauen an,
was ihre Männer werth ſind.“


„Eine Taille, auf Ehre doch, wie 'ne Wespe,
ſagte der Garde-Officier. Ich ſollte meinen, wer ſich
ſo ſchnürt, brauchte ſich gar nicht zu ſchminken.“

[107]

„Und Füßchen, 'ne Pariſerin könnte ſie benei¬
den,“ meinte der Dritte.


„Das tänzelt nur ſo auf dem Boden.“

„Was für welche hat meine Frau dagegen!
Sehn Sie mal,“ rief der Baron und nahm eine Priſe.

„Eine Heroine muß nicht auf Tänzerfüßen ſtehn.“

„Heroine! charmanter Einfall. Meine Auguſte
eine Heroine. Wie ſie mit einander parliren! Ich
verſichere Sie, auf Ehre, meine Frau ſpricht jetzt wie
ein Buch. Immer Schiller im Munde.


Und die Tugend, ſie iſt kein leerer Schall,
Erzeugt in dem Hirne des Thoren!

Damit weckt ſie mich alle Morgen. Bei Gott, 's iſt
wahr. Macht Alles die unglückliche Liebe.“


„Schade, Baron, daß Sie ſich nicht auch un¬
glücklich verlieben können.“


„Warum kann ichs nicht?“


„Weil Sie zu reich ſind. Wer Geld klimpern
läßt, iſt immer glücklich in der Liebe.“


„Sie ſind ein charmanter Menſch, aber was ſoll
mir die unglückliche Liebe?“


„Sie könnten dann auch einmal mit der Tugend
in Berührung kommen.“


„Was hab ich von der Berührung?“


„Tugend vermehrt den Credit.“


Der ganze Körper des Barons zückte in der
nicht wohl zu beſchreibenden Bewegung eines Ge¬
ſättigten, welcher gleichgültig eine Schüſſel vorüber¬
gehen läßt, an der die Blicke der Hungrigen noch
[108] verlangend ſchweben. Er bedurfte nicht mehr Credit,
als er beſaß. Aber auch der Satte lächelt, wenn
ſeine Gäſte die Speiſen loben, die er ihnen vorge¬
ſetzt. Der Baron von Eitelbach lächelte wohlgefällig
über die Bewunderung, welche man der Schönheit
ſeiner Gemahlin zollte, während man ihre Reize mit
der der Comteß verglich. Zum Vortheil der erſteren;
es waren Kenner, die hier urtheilten. Auf den
Hacken ſich wiegend, die Hände noch immer in den
Taſchen, die breite Unterlippe aufgeworfen, hatte er
gleichgültig die Geſellſchaft im andern Zimmer ge¬
muſtert, während ſein Ohr doch bei der Unterhaltung
blieb, als er es für ſchicklich hielt eine Diverſion zu
machen:


„Sehn Sie mal, wie die Alltag eingepackt hat.
Gar nicht wieder zu erkennen.“


„Etwas blaß, äußerte der dritte Intimus. Das
kann ſeine Urſachen haben.“


„Man hat zu viel Geſchrei von ihr gemacht.“
Der Baron hatte es gleich geſagt.


Das Kennerauge des dritten Intimus ließ ſich
nicht täuſchen.


„Vorübergehende Indispoſition. Friſch begoſſen
und die Blume iſt wieder in voller Pracht.“


Ueber die Indispoſition lächelten die Kenner;
der Baron fühlte ſich geiſtreich geſtimmt; er nannte
die unglückliche Liebe eine Klippe für die Schönheit.
Lob erndtete er dafür nicht, denn die Aufmerkſamkeit
der Andern war wieder auf die ſchöne Comteß gerichtet.

[109]

„Auf wen mag ſie nur vigiliren?“


„Sie iſt unruhig.“


„Warum ſteht ſie aber wie eine Schildwacht an
der Thür?“


„Muß wohl ſeinen Grund haben. — Halt! ſehn
Sie ſchon wieder —“


Die drei Kenner rückten die Köpfe noch näher
zuſammen. Die Comteß hatte während des Geſprächs
mit der Baronin nochmals durch die Thürritze geblickt.


„Das muß man doch rauskriegen. Welcher
Magnet ſteckt in der andern Stube?“


Wie der Zunächſtſtehende ſich auch auf den Spitzen
ſeiner Schuhe erhob, konnte er doch nur einen Theil
des Zimmers überſehen. Da kam plötzlich ein anderer
Gegenſtand aus demſelben, und mit vielen Verbeu¬
gungen durch die beiden Damen ſchlüpfend, erreichte
er die beobachtende Gruppe.


Der Geheimrath Lupinus von der Vogtei war
gewiß nicht gefährlich, für das Auge keiner galanten
Dame, die noch auf Jugend Anſpruch macht; aber
je ſchärfer das Auge der Liebe iſt, um ſo blinder
wird es für die Gefahr, die von Beobachtern droht.
Das ſchlaue Geſicht des Geheimraths verrieth, daß
er Neuigkeiten geangelt, und ſeine freudige Miene,
daß er den Markt erreicht, wo er ſie abſetzen konnte.


„Rathen Sie!“ ſprach er, ſich die Hände reibend.


„Das lohnte noch der Mühe.“


„Ein neuer Gegenſtand?“


„Funkelnagelneu.“

[110]

„Raus mit der Sprache. Was wiſſen Sie?“


„Sehr viel. Die letzte Aventure wird nur ver¬
tuſcht, aber parole d'honneur, Sie können ſich drauf
verlaſſen, ſie iſt ſo —“


„Sie meinen die mit der Schildwacht — der
Kerl kann doch nicht hier ſein!“


„Iſt eingeſtiegen, Herr Baron, ſo gewiß ich vor
Ihnen ſtehe. Herr Graf verziehn die Miene, in der
Garde hat man ſich das Wort gegeben, nicht davon
zu ſprechen. Nun ich ſchweige in Devotion, wenns
verboten iſt.“


„Was gehts mich an, ſagte der Officier mit
einem nicht zu unterdrückenden Schmunzeln, und wenn
der Grenadier dafür Spießruthen laufen müſſen, ſo
wüßt er doch, wofür.“


„Dazu iſts aber nicht gekommen. Die Disci¬
plin hat aus Galanterie ein Auge zugedrückt.“


„Sie hat ihn wirklich ins Fenſter gewinkt?“
fragte der dritte Intimus.


„In den Communs, Sie wiſſen doch in Pots¬
dam die kleinen holländiſchen Häuschen neben dem
Marmorpalais.“ Der Geheimrath ſprach es, mit
vorgehaltener Hand, dem Fragenden faſt ins Ohr.
Er mußte es aber mit ſolcher Kunſt accentuiren, daß
es auch den beiden Andern nicht entging? „Ja, warum
hat man für Cavaliere und Hofdamen ſo niedrige
Fenſter gebaut, ça ne coûte qu'un pas! Warum duf¬
teten die Linden ſo ſüß in der lauen Nacht? Warum
ſchlugen die Nachtigallen ſo verführeriſch? Warum
[111] ſtellt man einen jungen Grenadier, ſechs Fuß hoch
wie ein Apollo, vor das Kammerfenſter einer ſchönen
Hofdame? Warum ſchien der Mond ſo ſehnſüchtig
und beleuchtete den jungen Mars. Da iſt gar nichts
bei zu verwundern, und eigentlich trägt Niemand die
Schuld, denn Gott bewahre, daß er ins Fenſter ge¬
klettert wäre, ſo ein ſechsfüßiger Kerl braucht nur den
Fuß aufzuheben, ſo iſt er drin.“


„Und?“


„Das einzige Unglück war, daß die Uhren in
Potsdam nicht ſtimmten, denn als die Ablöſung kam,
hatte es drinnen noch nicht voll geſchlagen.“


„Dem Glücklichen ſchlägt keine Stunde.“


„Superbe Bemerkung des Herrn Domherrn.
Die Eſel — verzeihen Herr Graf, es war wohl nur
der betrunkene Unterofficier, machten Lärm, und —
wie geſagt, wenn nicht glücklicherweiſe der junge Prinz
Hohenlohe bei der Patrouille geweſen wäre — Man
deckte den Mantel der Liebe über die Affaire, ſchmiß
den Unterofficier, weil er in der Betrunkenheit einen
falſchen Rapport gemacht, auf achtundvierzig Stunden
ins Cachot, ſeine Kerls waren Stockpolen, die nicht
deutſch ſehen und hören können, man zeigte ihnen
den Bambus, wenn ſie ſich einfallen ließen etwas
auszuſchwatzen, was ſie nicht verſtehen, übrigens ein
Paar Louisd'or Schmerzensgeld — Ah, Prinz Hohen¬
lohe hat wie ein Cavalier gehandelt.“


„Und doch wußte mans, ehe der Morgen in
Potsdam graute, ſchon in allen Wachtſtuben.“

[112]

„Meine Herren, ſagte der Gardeofficier in ver¬
traulich officiöſem Ton, Discretion! Man wußte es
auch ſchon am andern Morgen in Berlin, aber auf
der Wachtparade gab man ſich das Wort — Ich rathe
auch Ihnen —“


„Discrétion pour jamais! rief der Geheimrath,
den Finger an den Lippen. Ihro Majeſtät die Kö¬
nigin darf nichts davon erfahren, wandte er ſich zu
den Andern. Die liebe Comteß, es iſt doch ein gar
zu charmantes Kind, und bei Licht beſehen, was iſt
es denn? Eine Viſion, die Phantaſie einer lauen
Juninacht — “


„Aber nicht die erſte, ſchmunzelte der Baron, in
der Dragonercaſerne wiſſen ſie auch davon zu er¬
zählen.“


„Mon cher baron, l'amour règne partout, aber


Was bei Mondenlicht geſponnen,

Verrinnt beim Licht der Sonnen.“

„Der Kerl aber, der Grenadier, iſt nach War¬
ſchau in ein Regiment geſteckt, ſagte der Officier.
Und er war nicht von Mondenſchein gewebt, das
verſichere ich Sie.“


„Monsieur le comte, die Erſcheinung im Zim¬
mer iſt auch ſchwarz von Kopf bis Fuß, ordentlich
ſpectre-artig, nahm der Geheimrath wieder das Wort.
Das blaſſe Geſicht in der weißen Hand, ruht er auf
dem Sopha, den Clacq auf dem Schooß, die Beine
unnachahmlich hingeſtreckt, die andre Hand im Knopf¬
loch am Herzen, als wenn er eine tiefe Wunde ver¬
[113] ſtecken will. Soll ich Ihnen noch das ſchwarze Haar
beſchreiben, in dem zuweilen dieſe ſelbe Hand wühlt?
— Nein, die Augen ſind noch dunkler. Schade nur,
daß ſie nicht ein einziges Mal nach der Thürritze
gerichtet ſind, um die andern ſchwarzen Augen zu
ſehen, die ſehnſüchtig durchblicken. Je vous assure,
wenn die ſich begegneten, die einmal Funken zuſam¬
men ſchlügen, Stahl und Feuerſtein —“


„Hohl Sie der Kuckuck, Geheimrath, wer iſt's?“


„Impertinent!“ ſagte eine herzutretende Dame.
„C'est affreux,“ die andere.


„Il joue l'Anglais!“ erwiederte jene. Beide
kamen durch die bewußte Thür; die Baronin aber,
am Arm die ſchöne Laura führend, mit ihnen zugleich.


„Warum ereifern Sie ſich, meine Damen! Mir
und Comteß Laura iſt's vorhin auch ſo paſſirt. Er
merkte uns erſt, als wir uns neben ihm auf's Sopha
ſetzten, und dann redete er uns für Andere an. Nicht
wahr, Comteß?“


„Er iſt zerſtreut,“ ſagte die Comteß und war
es ſelbſt.


„Haben wir's ihm übel genommen? — I Gott
bewahre. Wenn mich Einer nicht ſehen will, laß ich
ihn ſtehn.“


„Aber, gnädige Frau, wer iſt er denn, daß er
ſich ſo etwas herausnehmen darf?“


„Ach Gott, vom jungen Bovillard iſt man weit
mehr gewohnt. Erinnern Sie ſich noch —“


„Doch werden Sie mir zugeben, daß Damen
IV. 8[114] in einer Geſellſchaft wie dieſe mehr Conduite von
Herren vorausſetzen dürfen, wenn ſie dahin ge¬
hören
.“


Der letzte Satz ward von den feinen Lippen ſehr
ſcharf betont.“


„Wen die Fürſtin eingeladen hat, der gehört
doch her.“


„Mein Mann meinte, erwiederte die Andre, die
noch nicht Luſt hatte von ihrem hohen Pferde zu
ſteigen, es gehöre doch ein eigner Tie dazu, einen
Menſchen von dem Renommé ihrer Société auf¬
dringen zu wollen. Mein Mann iſt ſonſt gar nicht
ſcrupulös, und gegen unſre erlauchte Wirthin fällt
es mir auch nicht im entfernteſten ein, damit etwas
geſagt zu haben. Sie wird wohl ihre Gründe haben,
warum ſie Leute zuſammen bittet, die nicht zuſammen
gehören.“


„Beſte Frau Staatsräthin, erwiederte die Eitel¬
bach, wozu wären denn die Geſellſchaften, als daß
ſich die zuſammenfinden, die noch nicht zu einander
gehören. Wenn man immer nur alte Bekannte ſähe,
das wäre ja langweilig.“


„Philoſophie, wie ſie auch iſt, im Münde einer
ſchönen Frau, erwiederte die Staatsräthin mit ſüßem
Lächeln, iſt immer liebenswürdig. Nur begreife ich
nicht, wenn der junge Herr von Bovillard ſo viel zu
denken hat, warum er ſeinen Penſée's grade in einer
Geſellſchaft nachgeht.“


„Wiſſen Sie, wie mir eine Geſellſchaft vorkommt,
[115] entgegnete die Eitelbach? Als wie eine Komödie, wo
jeder anders ausſieht und anders ſpricht als ihm zu
Muth iſt. Uns werfen ſie vor, daß wir uns putzen
und ſchnüren und auflegen und ausſtopfen — Ihr
Herren mögt immer laut lachen, ich ſeh's doch, wie
Ihr's innerlich thut. Das genirt mich gar nicht,
denn die Männer ſpielen mehr Komödie als wir.
Ach Gott, wenn ſie ſich präpariren, liebenswürdig zu
ſcheinen, um Einer die Cour zu machen, wo ſie's
gar nicht ſo meinen. Und wenn Einer vornehm thut,
als hätte er eine Elle verſchluckt, oder gelehrt redet,
als wär's ein Buch, da möchte ich ihn immer fragen:
warum quälſt du dich denn? Wenn du 'raus biſt,
ſtöhnſt du doch auf und ſchlenkerſt mit den Armen,
als wenn du den engen Rock aufreißen wollteſt, und
denkſt: Gott ſei Dank, daß es aus iſt. Warum haſt
du denn angefangen, warum biſt du nicht gekommen,
wie du biſt, und haſt geſprochen, wie dir der Schnabel
gewachſen iſt.“


Der Baron Eitelbach rieb ſich vergnügt die
Hände: „Was ſagen Sie zu meiner Frau, Frau
Staatsräthin?“


„Sie wird doch Ausnahmen machen. Sie iſt
nicht ſo grauſam, uns alle zu verdammen.“


„Da iſt Einer wie der Andre. Jetzt merk ich's
nur erſt, aber ich habe es längſt gewußt.“


„Ihren Herrn Gemahl werden Sie wenigſtens
ausnehmen?“


Die Baronin ſchien ſich zu beſinnen, indem ſie
8 *[116] ihn anblickte. Ihre Antwort begann mit einem lang
gezogenen „Na! — Das iſt wahr, ein Petit-Maitre
will er nicht ſein, und die Cour macht er auch nicht,
nämlich in Geſellſchaften, und ſpricht auch nicht, als
ob er die Weisheit mit Löffeln gegeſſen hätte, denn
er macht ſich nichts aus den Gelehrten, aber —“


Das „Aber“ der ſchönen Frau, als ſie inne
hielt, ſchien lautlos von allen Lippen wiederholt,
nur ihr Gemahl rief es laut lachend: „Aber, Auguſte,
nur raus damit!“


„Aber, rief ſie raſch, mein Mann thut jetzt, als
wenn er wünſchte, daß ich Alles ausplaudern ſollte,
weil er ſo thut, als ob er ſich nichts draus machte.
Nachher zu Hauſe, und im Wagen ſchon, würde er
mir das Kapitel leſen: Aber, Auguſte, wie konnteſt
Du wieder! Sehn Sie, wie er das Kinn im Hals¬
tuch verſteckt. Er möchte Sie glauben machen, daß
er ſich vor Lachen ausſchüttet, aber — aber ich will
keine Komödie vor Ihnen aufführen.“


Das Urtheil über die Baronin lautete heute ſehr
verſchieden. „Wer hätte es von ihr gedacht! ſagte
die Dame, welche wir als Staatsräthin angeredet
hörten. Früher nicht den Mund geöffnet, ohne eine
Betiſe zu ſagen, und wirft jetzt mit Sottiſen um
ſich!“ —


„Ich weiß aber nicht, engegnete die andere, ob
mir das rohe Tuch nicht lieber war als die neue
Appretur im Lagerhauſe.“


„Die ſie indeß gewiß nicht dem Bügeleiſen
[117] ihres Mannes verdankt, fiel die erſte ein. So lange
ſie neu iſt, wird ihre Neuheit frappiren; ich fürchte
aber, daß es mit dem Glanze gehen wird, wie mit
dem Tuche ihres Gemahls: nach den erſten Regen¬
güſſen wird es fadenſcheinig.“


Die Urtheile der Männer lauteten günſtiger.
Einige gingen ſo weit, zu behaupten, ſie hätte ihren
Verſtand nur cachirt oder ihr Mann ihn nicht auf¬
kommen laſſen, wogegen Andere wollten, er ſei viel¬
leicht grade durch die Reibung mit ihm ins Leben
gerufen. Die Feineren lächelten: es war ja die
Wirkung der Liebe. Die Flammen hatten eine Eis¬
kruſte oder Bleirinde geſprengt.


„Schade, daß ſie nicht mehr jung genug iſt,
um eine Gurly zu ſpielen,“ ſchloß Einer. „Alſo
doch auch ſie eine Rolle,“ entgegnete ein Anderer.
„Sie hörten ja, daß ſie keine Ausnahmen ſtatuirt.“
Den eigentlichen Vortheil zog Comteß Laura von
dem Disput, wenn es ein Vortheil war, daß ſie
über dem neuen Gegenſtand der Unterhaltung dem
ſcharfen Scrutinium entſchlüpfte.

[[118]]

Achtes Kapitel.
Nationalität.

In einem andern Zimmer ſah man Staats¬
männer, Gelehrte und Künſtler ſich um die Wirthin
bewegen. Die Zeitverhältniſſe, die Politik, waren in
das Geſpräch gezogen, aber mit jenem Takt, der
alles Beſtimmte und Perſönliche ausſchloß.


Eine jener Stimmen war hier erklungen, die
damals nur wie vereinzelte Accorde, Trompetenſtöße
aus einem mythiſchen Lande, in das Gewirr des
Tages ſchmetterten, um ſpäter zu einem rauſchenden
Orgelton zu werden. Nicht daß nicht ſchon im Volke,
unter einzelnen Gelehrten, in den Univerſitäten und
Schulen, der Ruf der Nationalität vibrirte, den
ſpäter die Arndt und Andre zu einem mächtigen
Schlachtruf für die deutſche Nation erhoben, aber in
den höheren Kreiſen der Geſellſchaft verſtummten
dieſe Töne, erſtickten dieſe Luftzuckungen noch immer
an einer ganz andern Luftatmoſphäre. Man hörte
ſie an, nicht ungefällig, aber vornehm Beifall
lächelnd, wie man eine neue, überraſchende Erfin¬
[119] dung betrachtet, deren glänzende Erſcheinung man
zwar bewundert, aber ihre Wirkſamkeit und Dauer¬
haftigkeit bezweifelt.


Man hatte nachdenklich einem Redner zugehört,
welcher geſprochen von der Heiligkeit, einem Volke
anzugehören, von dem Recht auf Sprache, Sitte,
eigenes Weſen, ja von der Pflicht deſſelben, für
dieſes höchſte Gut ſein Alles einzuſetzen. Eine
Nation, die gegen dieſe Pflicht gleichgültig werde,
habe ſchon das Anrecht auf ihre Exiſtenz eingebüßt.
So weit ward der Sprecher verſtanden, die Damen
hatten Verſe aus der Jungfrau von Orleans und
Tell citirt. Aber als er weiter ging, und nicht ſowohl
den Haß gegen alles Franzöſiſche, nicht allein gegen
Bonaparte und ſeine Soldaten, gegen die Revolution
und die Jacobiner empfahl, worin man ihm bei¬
geſtimmt haben würde; als er es als noch heiligere
Pflicht forderte, daß der Einzelne wie das Ganze
ſich verſenke in das, was deutſche Art und Weſen
ſei; daß nur dann, wenn wir dieſes wieder rein
hergeſtellt in der Sprache, unſern Gewohnheiten, unſrer
Denkweiſe, wenn wir ganz wieder zurückgekehrt zur
eigenthümlichen Anſchauungsart unſrer Väter, das
Fremdartige, was durch Jahrhunderte ſich in unſer
Blut gefreſſen, abſtreifend und ausmerzend, daß nur
dann Rettung ſei für unſre Nation von der Fremd¬
herrſchaft: da hörte man wohl belobende Phraſen;
die meiſten aber verſtanden es nicht, Andere ſchwiegen,
noch Andre ſchüttelten den Kopf.


[120]

Der Redner hatte eine noch kühnere Hypotheſe
aufgeſtellt: nur in der Nationalität ſei die Wurzel
der Kraft, um der Tyrannei zu widerſtehen. Der
corſiſche Rieſe, der mit den Flügeln des Vogels
Rock die Welt umſpanne, wiſſe, was er thue, indem
er das Ureigene der Nationen erdrücke, um ſie in
eine Allgemeinheit von gleicher Farbe, gleicher
Prägung zu ſtampfen. Das ermatte den Lebensnerv;
woran ſolle die Begeiſterung, der Patriotismus ſich
klammern, wenn ein Pfeiler nach dem andern der
alten heiligen Erinnerungen, der Töne und Bilder
zerbreche, an denen wir uns als Kinder gehalten.
Das unſcheinend Unbedeutendſte ſei da von Wichtig¬
keit, ein altes Lied, es dünkt uns ohne Sinn, ein
Sprüchwort, eine Ruine, ein dunkler Winkel, den
ein Geiſt, eine Sage umſchwebt, eine Gewöhnung,
die uns albern erſcheint. Alles ſei doppelt bedeutend,
was als Heftnadel gelten könne, um ein Volk
zuſammenzuhalten, in einem Augenblick, wo Alles
hinarbeitet, es zu zerſplittern und ſein Tichten und
Trachten in allgemeine Begriffe von Wohlergehen
und Glückſeligkeit aufzulöſen.


Er ging noch weiter: nur den Nationen, welche
dieſe ihre Nationalität feſtgehalten, winke die
Palme des Sieges. Nicht ſeine Inſellage ſchütze
Albion, ſondern das ehrenwerthe Feſthalten an den
alten Sitten und Geſetzen. So ſah er in Spanien
eine Mauer, an welcher des Eroberers Ehrſucht
ſcheitern müſſe, er erwartete von den Basken in den
[121] Pyrenäen, daß ſie die Standarte der heilig ge¬
haltenen Volksrechte erheben würden, er blickte nach
Rußlands Steppen, wo eine Völkerwiege des Ur¬
eigenen braue, aber ſeine Stimme wurde bewegt, als
er von dem theuren, deutſchen Vaterlande ſprach,
einem Volk, das ſich ſelbſt zerriſſen und ſich nicht
wieder finden könne, das wie Kinder, die Muſcheln
am Meer ſammeln, alles Neue, Fremde, Glänzende
aufgreife, das wie ein Schwamm die Feuchtigkeit der
Luft einſauge und ſeine ſchönſten Eigenſchaften zu ſelbſt¬
mörderiſcher Thätigkeit auspräge. Mit ſeltner Empfäng¬
nißkraft begabt, drängt ſeine Natur es dazu, alles
Große zu bewundern, aber ſein böſer Geiſt wolle,
daß es nur das Fremde bewundert; wo die eigne
Größe Anerkennung fordert, erſchrecke es ſcheu, kalt,
ängſtlich und im Mißtrauen an ſich ſelbſt zergehe
die ſchönſte Kraft.


Der Redner, ein junger Mann von hoher Ab¬
kunft, hatte einen doppelten Fehler begangen. Er
hatte begeiſtert geſprochen; die Begeiſterung gehört
in keinen Salon. Er war ſelbſt gerührt worden;
das war ein Fehler unter allen Umſtänden. Er
hatte aber auch ſein Auditorium nicht berechnet,
und das war unverzeihlich. Er befand ſich in Fried¬
richs Hauptſtadt, in einem Kreiſe von Würdenträgern
und ausgezeichneten Männern, die ſich für Träger
der Monarchie des großen Königs hielten, dieſe
ſelbſt aber für ſo feſt, geſichert und in gutem Stande,
daß es nur einiger Ausbeſſerungen bedürfe, aber
[122] keines Fundamentalbaues. War nicht ſeine ganze
Rede ein indirekter Angriff gegen die Schöpfung
des Einzigen? Wo war denn die Nationalität hier,
die er als einzigen Anker, der Zukunft und Ver¬
gangenheit zuſammenhalte, anpries! Wo das
ureigene deutſche Element? Friedrich, der mit dem
Degengriff und der Feder zerſtörend in das Zer¬
fallende hineingegriffen, hatte eine Schöpfung hin¬
geſtellt, die der Gegenwart angehörte. Freilich hatte
er dieſen Vorwurf in ſeinem Sinne nicht deutlich
ausgeſprochen, noch begriffen es Alle, aber man
fühlte es.


Ein peinliches Schweigen war eingetreten. Einige
Damen lobten hinter dem Rücken das ſonore Organ
des Redners; leiſe, aber laut genug, daß er es
hören konnte. Man begegnete ihm mit großem
Reſpect, aber — es galt ſeinem Stande. Der junge
Mann fühlte ſich unbehaglich, er verſchwand bald;
er war noch zu Hofe geladen.


Dennoch hatte ſeine Rede einen Eindruck hin¬
terlaſſen.


Ob die Fürſtin das Lob der Nationalität,
die Hoffnung auf Rußland, für ein Compliment
genommen!


„Was ſagen Sie dazu?“ ſprach ſie, aus ihrem
Nachſinnen erwachend, als ihr Blick auf einen Mann
fiel, deſſen Stirn, Auge, Haltung, den Künſtler
nicht verkennen ließ, der ſich mit dem Stolz des
Bewußtſeins in dem Kreiſe bewegte, welcher an
[123] Stand und Geburt weit über ihm ſtand. Aber ſein
Blick, ſeine Sprache, die Nonchalance ſeines Weſens
bekundete, daß er ſich, wenn nicht ihnen gleich, doch
frei und unberührt von der Präponderanz dieſer Ge¬
burts- und Standesvorzüge fühlte, ohne doch in das
umgekehrte Extrem zu verfallen, einer brusken Nicht¬
achtung. Er hatte der Rede des jungen vornehmen
Mannes mit zugehört, anfangs aufmerkſam, dann
hatte er mit dem Kammerherrn von St. Real
eine Marmorgruppe betrachtet, und ſchien ihn jetzt
auf einige Fehler derſelben aufmerkſam zu machen.


„Ich habe die Eloquenz admirirt, entgegnete
der Künſtler. Ueberhaupt, wenn in den Schulen
etwas dafür gethan würde, möchte die art rhétorique
auch in Deutſchland Progreſſen machen.“


„Ich meine, was Sie zur Sache ſagen. Was
halten Sie von der Nationalität, Schadow? Ein
Künſtler muß darüber ein Urtheil haben.“


„Meine gnädige Fürſtin, entgegnete der Bild¬
hauer, wenn man die Menſchen nackend auszieht,
ſo ſieht Einer aus wie der Andere, und wir
Scülpteurs haben's eigentlich nur mit nackten Men¬
ſchen zu thun.“


„Aber die Racen ſind anders gebildet. Wo
wären die Götterbilder der Griechen, wenn ihre
Phidias und Praxiteles nur nackte Hottentotten
geſehen hätten.“


„Ich parire darauf, wenn Phidias ſich nur
eine hübſche Hottentottin ausgeſucht, er würde auch
[124] eine Venus zu Stande gekriegt haben, die unſre
Amateurs admiriren müßten. Und was die Racen
betrifft, ſo iſt unſre deutſche auch eben keine
Schönheit geweſen. Nach den Deſcriptions der Hi¬
ſtoriker und den Sculpturen an den Säulenbildern
waren unſre barbariſchen Vorfahren barbariſch
häßlich.“


„Die Cultur alſo hat die Racen veredelt. Das
iſt Ihre Meinung?“


„Sie könnte noch immer etwas mehr thun,
als ſie gethan hat; indeſſen wir Künſtler dürfen es
nicht zu genau nehmen. Wo wir nichts finden,
borgen wir, hier einen Arm, da ein Bein, eine Hüfte,
eine Schulter —“


„Und das Beſte thun Sie ſelbſt hinzu, die
Harmonie. Die Kunſt iſt Stückwerk, wie Alles
unter dem Monde, der Geiſt muß in die Formen
fahren, um ihnen eine Seele zu geben. Aber Sie
wollen mich nicht verſtehen, und verſtehen mich doch.
Die Griechen waren eine Nation, die Römer —“


„Die Juden ſind auch eine, fiel Schadow ein,
und doch rümpft man in der Société die Naſe.“


„Ich will Ihre Meinung wiſſen, Schadow,
ſagte die Fürſtin mit entſchiedenem Tone. Ihre
Moquerien ein ander Mal.“


„Wenn man meine Sculpturen ſo gütig iſt zu
rühmen, ſagte der Künſtler, iſt's jetzt ſo Mode,
ein Schwanzende dran zu ſetzen, daß wir uns von
der franzöſiſchen Imitation losreißen müßten. Ich
[125] habe auch nichts dagegen; wer frei ſtehen kann, mag
ſich losreißen, aber ein Kind gebiert ſich nicht ſelbſt.
Es iſt dazu eine Mutter und ein Vater nöthig, und
die mußten wieder Väter und Mütter haben. Meine
erſten Väter waren die franzöſiſchen Maitres, die
der grand Frédéric herberief. Was fängt die
junge Welt jetzt an gegen ſie zu ſchwätzen! Auch
meine Jungens, der Rudolf und Wilhelm, thuns,
ſeit ſie den Mund aufthun können, als müßte
es ſo ſein. Habe auch nichts dagegen, denn
Schwatzen gehört zum Leben, aber ich lache ſo im
Stillen, was wäre ich denn, und was wäret Ihr
und wir Alle ohne die Franzoſen! Und die Fran¬
zoſen ohne die Italiener, und die ohne die Römer
und Griechen. Und die Griechen vielleicht ohne die
Aegypter und ſo weiter.“


„Sie mögen Recht haben.“


„Da wollen ſie jetzt auf Goldgrund malen,
lange Engelsgeſichter mit Wickelkinderleibern und in
Schleppkleidern, und das nennen ſie deutſch, weil ſie
vor vierhundert Jahren, als das Gold noch wohlfeiler
war, die Leinwand ſo angeſtrichen haben. Als ob
der Fieſole und die Florentiner ſo gemalt hätten,
wenn ſie damals ſchon Beſſeres geſehen.“


„Sie ſpringen ab. Iſt die Nationalität Ihnen
gar nichts?“


„Das Kleid, was der Menſch ſich anlegt, weil
wir nun einmal nicht nackt gehen ſollen. Sie ſagen,
es ſchickt ſich nicht, ich aber meine, weil wir zu eitel
[126] ſind. Weiter nichts, um unſre Gebrechen und Un¬
ſchönheiten zu bemänteln, legen wir Cotillons, Sur¬
touts und Redingoten an. Und gar nicht nach un¬
ſrer Wahl, wie wir's von unſern Voreltern über¬
kommen haben. Wir ändern nur den Schnitt. Und
von wem kommt der? So weit Sie zurückgehn, aus
Paris. Nehmen Sie mir Stück für Stück vom Leibe,
was vom Auslande ſtammt, und ich würde wirklich
mich nicht unterſtehen, in dem Koſtüm, was die Na¬
tur mir läßt, vor Euer Erlaucht ſtehn zu bleiben.
Was iſt's nun mit der Nationalität anders, gnä¬
digſte Frau, verſchieden geſchnittene und gefärbte
Röcke um dieſelben Menſchen. Freilich preſſen enge
Schuhe den Fuß der Chineſinnen klein, und der des
Türken wächſt plump in ſeinen weiten Pantoffeln,
aber der Fuß bleibt Fuß, und mit der Sohle treten
ſie in Grönland auf und in Conſtantinopel. Iſt der
Franzos ein Andrer, weil er mehr auf den Zehen
geht, und wir mehr auf den Hacken? Wo wir nun
Alle bettelarm wären, und zottig umherlaufen mü߬
ten in unſrer Blöße, lohnt ſich's da, um den Schnitt
und das Koſtüm uns zu haſſen? denn weiter iſt
die Nationalität nichts.‘


„Einem Bildhauer vergebe ich dieſe Naturauf¬
faſſung. Aber Sonne, Clima, Luft wirken verſchie¬
den auf die Creatur. Die Nationen ſind verſchieden
in Gemüthsart, Intentionen, das können Sie nicht
abſtreiten.“


„Ja, in jedem Lehrbuch ſteht's, daß der Fran¬
[127] zoſe leichtes Blut hat, der Spanier ſchwarzes, der
Italiener heißes, der Deutſche warmes. Der Fran¬
zos iſt leichtfüßig und eitel, der Italiener zän¬
kiſch und rachſüchtig und der Deutſche keuſch und
treu. Eigentlich brauchte man nur an den Puls zu
faſſen, und gleich hätte man weg, von welcher Na¬
tion Jemand iſt. Schade nur, Prinzeſſin, daß
ich in Italien die liebſten Menſchen fand, von
warmem Blut und dem beſten Herzen, fleißig, em¬
ſig, rechtſchaffene Familienväter und treue Freunde.
Sollte ich ſie darum haſſen, oder die Franzo¬
ſen, weil Montesquieu und Rouſſeau, weil Buf¬
fon und Laplace Franzoſen waren, oder alle Deutſche
darum lieben, weil ſie alle grad, ehrlich, Män¬
ner von Wort, Biedermänner und keuſch wie Jo¬
ſeph ſind?“


Herr Schadow hatte dabei wie zufällig den
Blick auf den Kammerherrn von St. Real ruhen
laſſen, welcher etwas unruhig ward. Es giebt Thiere
und Menſchen, welche das Fixirtwerden nicht vertra¬
gen. Die Fürſtin, ſichtlich im Innern bewegt, nahm
das Wort:


„Sie haben Recht, die Nationalität iſt auch
nur ein Götze, geknetet und angeſtrichen aus
Leim und Koth, aus Träumen und Blut. Aber,
Herr Schadow, ein ſchön geformtes Götterbild bleibt's,
ſchöner als Ihre Apollo und Jupiter!“


Der Meiſter hatte eine Priſe genommen:
„Ja, die Koſtüms ſind recht hübſch, ich zweifle
[128] gar nicht, daß der Patriotismus einſt eine Rolle
ſpielen wird.“


„Wie wir Alle!“ ſagte die Fürſtin, indem ihr
Blick die Geſellſchaft überflog. Die Eitelbach und
Laura gingen vorüber; ſie nickte ihnen zu, aber ihre
Gedanken waren mit Anderm beſchäftigt, und die
Worte kaum an den Bildhauer und den Kammerherrn
gerichtet, ſo wenig als an den Rittmeiſter Dohleneck,
der eben aus dem andern Zimmer auf ſie zuſchritt.
Sie ſprach mit ſich ſelbſt.


„Wir Alle ſpielen eine Rolle, vor Andern oder
vor uns ſelbſt. Wenn wir uns doch darüber nicht
täuſchen wollten! Schadow hat Recht, was iſt denn
unſer eigenſtes Eigenes? Die Scene, wo wir auf¬
treten, das Licht, das uns anleuchtet, das Kleid, das
ſich an unſre Glieder ſchmiegt, es übt Einfluß, es
macht uns erſt zu dem, was wir ſcheinen; das Lä¬
cheln der Lippen, es iſt angeblaſen vom Augenblick,
der Stimmung; Alles, was wir zu beſitzen glauben, iſt
Geborgtes, und wir nur Molusken, die Farbe und Ge¬
ſtalt annehmen von der Flüſſigkeit, die ſie einſau¬
gen, Schmetterlinge, denen der Blüthenſtaub den
Duft leiht, und der Finger des Knaben entfärbt ſie
wieder; Irrlichter ſind wir, ſchaukelnd in der Vibra¬
tion der Luft, und unſere thörichtſte Rolle, es iſt
die unverſchämte Lüge, wenn wir wahr zu ſein
glauben.“


„Dazu, meinen Einige, wären wir auf der
Welt,“ entgegnete der Meiſter.


[129]

„Schadow, haben Sie nie die ungeheure Leere
empfunden, dies gähnende, graue Mißbehagen der
Creatur?“


„Niemals, meine Gnädigſte.“


„Ich kann den Trinker begreifen, der ausſtürzt
Becher über Becher, immer feurigern Wein, es iſt
die Moluskenſehnſucht nach einer Exiſtenz, nach der
Verkörperung des Geiſtes.“


„Wenn ich den brennenden Durſt empfinde,
den Erlaucht meinen, ſagte Schadow, dann knete ich
ihn in Thon, und meißle ihn in Stein.“


„Und das todte Werk vor ſich, ſind Sie
befriedigt?“


„Da iſt's heraus, fix und fertig, was mich
plagte, nach allen Regeln ſteht's vor mir, und ich
bin frei.“


„Glücklicher — Unglückſeliger! Bis Sie wieder
von Neuem geplagt werden.“


„Dann ſchaff ich's von Neuem aus mir raus.“


„Und käme eine andre Zeit, die alle dieſe
Regeln zuſammen würfe?“


„Dann habe ich für meine geſchaffen und damit
genug gethan.“


War das Zuſtimmung, war es Schadenfreude,
oder wo kam der Funke her, der plötzlich über
ihr Geſicht zückte: „Und Sie haben Recht. Wir,
wir hier leben ja Alle nur für unſre Zeit. Nur
unſre Rolle gut durchgeſpielt, das iſt die Aufgabe.
Harmonie hineinbringen müſſen wir, nicht die
IV. 9[130] aus den Sphären, die bringt ſchrillende Dishar¬
monieen. Die Harmonie des Scheins. Sie ſchaf¬
fen, was heute gilt, der Componiſt, was heut
die Ohren kitzelt, der Philoſoph, der Politiker, —
ach, mein Gott, wohin verirrten wir uns, lieber
Schadow, ſchwärmen und philoſophiren, heißt das
nicht aus der Harmonie unſrer Rolle fallen,
und unſre lieben Gäſte blicken verwundert nach
uns.“

[[131]]

Neuntes Kapitel.
Sie haſſen.

Der Rittmeiſter von Dohleneck hatte die Fürſtin
in Beſchlag genommen: „Ein Wort nur, gnädigſte
Frau, eine Bitte!“


„So dringend?“


„Ja. — Sie ſind ihr Schutzengel.“


„Ich ein Engel! Wen beſchütze ich? —“


„Auguſte — die Baronin Eitelbach!“ corrigirte
er ſich.


„Ach ſo! Eine ſchöne Frau hat überall Schutz¬
engel. Jeder Cavalier iſt es.“


„Die Comteß Laura hat ſie an ihren Arm
gepackt, und ſchleppt ſie wie ihr Opfer mit ſich. Sie
iſt zu arglos, zu gut, ſie begreift nicht, daß dieſe
Compagnieſchaft ihrem Ruf ſchadet. Es verdrießt
mich ſchon den ganzen Abend, aber —“


„Da iſt ja ihr Gemahl, der Baron.“


„Der! —“


„Er iſt freilich ein ſeltſamer Freigeiſt.“


„Was ſchiert er ſich um ſeine Frau und ihren Ruf.
9 *[132] Er freut ſich, daß ſie mit einer vornehmen, bei Hofe
gern geſehenen, Dame intim ſcheint.“


„Dann ſprechen Sie doch ſelbſt mit ihr. Sie
wiſſen ja, wie gut ſie von Ihnen denkt.“


„Erlauchte Frau, Sie wiſſen, wie wir —“


„Das hätte ich beinahe vergeſſen. Kinder, was
trübt Ihr Euch das kurze Schmetterlingsleben durch
Scrupel. Was hilft Euch die Pein? Wenn Ihr
Euch auch noch ſo ehrbar grüßt, ſo kalt an einander
vorübergeht, dem böſen Leumund entgeht Ihr doch nicht.
Am wenigſten Sie, Dohleneck, wenn Sie ſich
der lieben Frau zum Ritter aufdringen, wie Sie
jetzt thun.“


Der Rittmeiſter war um einen halben Schritt
zurückgetreten, wäre es keine Dame und nicht die
Fürſtin geweſen, hätte er die Hand vielleicht an den
Degen gelegt. Er erkannte ſchnell ſeine Poſition.


„Gnädigſte Fürſtin, ich wollte keinem Cavalier
Anſpielungen gerathen haben, die der Ehre meiner
tugendhaften Freundin zu nahe träten. Aus Ihrem
Munde nehme ich dankbar die Worte als eine
freundliche Warnung.“


Sie blickte ihn mit einer herzgewinnenden
Freundlichkeit an: „Die arme Laura! Da ſcheut Ihr
Herren der Schöpfung Euch nicht, um einer
Frauen Ehre zu erhöhen, die von andern zu ver¬
giften. Iſt das ritterlich, Herr von Dohleneck? Was
ſie von meiner Laura ſchwätzen und plaudern, was
geht es mich an!“ —


[133]

„Sollten Sie nichts gehört haben?“ —


„Ich kam als Fremde her, ich bin es noch,
ich nehme die Perſonen, wie ich ſie finde, was in
der Geſellſchaft von Traditionen umgeht, kümmert
mich nicht. Sollte ich bei allen Gäſten, die mich mit
ihrem Beſuch beehren, danach mich erkundigen, ſo
weiß ich wirklich nicht, ob mein Salon nicht leer
bliebe. Ueberdem ſagten Sie ſelbſt, daß der Hof ſie
protegirt, ich ſollte meinen, das ſei genug, um dem Vor¬
wurf zu begegnen, der in Ihrer Bitte für mich liegt.“


Aber der Rittmeiſter hatte Succurs bekommen.
Herr von Fuchſius und eine Hofdame waren hin¬
zugetreten. Auch der Legationsrath ſchloß ſich der
Gruppe an. Die Hofdame hatte Zweifel, ob der
Hof die Comteß noch länger halten werde, ſeit der
letzte Scandal laut geworden. Herr von Fuchſius
wußte, daß der König ſehr aufgebracht ſei, und der
Legationsrath, daß die alte Voß das Ohr der
Königin belagere, welche noch die meiſte Prädilection
und Entſchuldigungen für die ſchöne Comteß hätte.


„Auch die alte Voß! wiederholte mit einem
eigenen Lächeln die Wirthin. Da iſt ja eine völlige
Verſchwörung gegen ein armes Mädchen, das ſich
nicht vertheidigen kann. Ich verſtoße wohl ſchon,
wenn ich es verſuche?“


„Ihre Erlaucht wollen gütigſt vermerken, ſagte
die Hofdame, es iſt noch nichts darüber ausgeſprochen.
Bis jetzt iſt ſie recipirt, und Fürſtin Gargazin
können ſie ohne Gefahr bei ſich ſehen.“

[134]

„Sie würden mir einen großen Gefallen er¬
weiſen, liebe Almedingen wenn Sie mich davon
avertirten, ſobald ich es nicht mehr darf.“


„Sobald man ihr die Thüre weiſt; Erlaucht
können ſich darauf verlaſſen, daß ich mit der erſten
Nachricht zu Ihnen fliege.“


Die Fürſtin drückte ihr verbindlich die Hand:
„Von Ihrem Eifer bin ich überzeugt. Bis dahin
hat es aber wohl noch einige Zeit?“


„Es ſind vielleicht doch nur Mißverſtändniſſe,“
warf der Legationsrath hin.


„Oder ſie beſſert ſich auch. Man muß ihr nur
Zeit laſſen,“ meinte Herr von Fuchſius.


„Ein zehn — fünfzehn Jahr, murmelte der
Legationsrath, dann macht ſich das von ſelbſt.“


„Macht mir das junge Reh auf der Maienwieſe
nur nicht ſcheu, ſagte die Fürſtin. Wenn Ihr ihr
beſtändig von der Argliſt und Tücke der Menſchen
vorerzählt, glaubt Ihr, daß Ihr ſie dadurch ſchützt.
In ihrer Angſt und Verwirrung läuft ſie von ſelbſt
in's Netz.“


Das junge Reh ſtand plötzlich unter ihnen. Laura
hatte wohl nur durch das Zimmer gewollt, denn der
Glanz ihres Auges verrieth nicht, daß ſie gelauſcht,
noch von dem, was hier über ſie geſprochen worden,
eine Ahnung hatte. Auch verrieth die Miene der
Fürſtin nichts von Betroffenheit, als ſie die Flüchtige
erhaſcht, und den Arm um ihre Schulter, wie eine
Mutter um ihr Lieblingskind, ſchlang.


[135]

„Haben Ihnen nicht die Ohren geklungen? Wenn
Sie wüßten, was wir geſprochen, würde Laura bis
über die Ohren roth werden.“


Die Comteß meinte, es wäre ſehr heiß.


„Nun möchte der Wildfang gleich an's Fenſter
ſtürzen, um ſich zu erkälten. Nein, Comteß, hier iſt
ein Familienrath, ich ſtelle die Mutter vor, und alle
dieſe Freunde werden mir beiſtehen Sie zu hüten.“


„Ich bin Ihnen ſehr obligirt — “


„Aber das Kind weiß ſelbſt, was ihm am Beſten
iſt! Nicht wahr? So leſe ich Ihre Gedanken, die
geheimſten auch, aber — ich verrathe nichts. Iſt ſie
nicht ein Feenkind, wandte die Fürſtin ſich zu den
Andern; da iſt doch kein verborgenes Fältchen, nichts
Angelerntes, nichts von Verſtellung. — Sehn Sie
in dies Gazellenauge; nur etwas zu munter noch,
leichtſinnig, flatterhaft, ein Schmetterling, der lauter
Honig naſchen möchte, aber mit der Zeit pflückt man
Roſen, mit der Zeit wird ſie auch den rechten Weg
finden. Ach das macht ſich Alles von ſelbſt. — Sehn
Sie! Jetzt ſollte ein Maler dieſen Augenniederſchlag,
dieſe Grübchen am Kinn malen. Herzens-Engels¬
kind —“


Die Fürſtin wollte ſie embraſſiren, aber ſtatt
des Feenkindes mit den Pfirſichwangen ſtand ein
blaſſes, ſcharfgeſchnittenes Geſicht vor ihr, ſtatt des
blühenden Hauptes mit dem phantaſtiſchen Lockenbund
eine eng anſchließende Haube mit Spitzen, und ſtatt
der Gazellenaugen, die gutmüthig und gedankenlos
[136] umherſchweiften, fuhr ihr ein ſtechendes kleines Augen¬
paar entgegen. Die Geheimräthin Lupinus war
ungemeldet eingetreten.


„Mein Gott, welche Ueberraſchung!“


Die Gargazin ſpielte hier keine Rolle, als ſie
mit den geöffneten Armen zurück fuhr. Es war eine
vollkommene natürliche Ueberraſchung; denn ſie war
jedes andern Beſuches gewärtig, als der Lupinus,
die zwar zu ihren Soireen ein für alle Mal formell
eingeladen, aber noch nie gekommen, auch nie er¬
wartet war. Ob ſie aus Nachläſſigkeit der Domeſtiken
ungemeldet bis in das Zimmer gedrungen, ob die
Fürſtin im Eifer des Geſpräches die Meldung nicht
gehört, laſſen wir unentſchieden, aber Thatſache war,
daß ſie unbemerkt mitten im Zimmer ſtand und der
Wirthin in dem Augenblick ſich näherte, als die
Comteß durch eine Seitenbewegung ſich den Armen
der zu gütigen Fürſtin entwunden hatte.


Alle waren überraſcht; nur die Ueberraſchende
ſchien ſich in der Wirkung, die ihre Erſcheinung her¬
vorrief, zu gefallen. Sie hatte etwas geſtört, vielleicht
zerſtört, eine Gruppe voll Liebe und Einigkeit. Die
Luſt, welche das Zerſtören veranlaßt, wird von Vielen
als eine Wolluſt geſchildert.


Die Lupinus war eine andere geworden, als
wir ſie kennen gelernt. Die bunten Farben waren
aus ihrer Kleidung verſchwunden, aus ihren Zügen
der Liebreiz, der noch feſſeln konnte, während die
Schärfe derſelben zurückſchreckte. Ihre Augen konnte
[137] man nie eigentlich ſchön nennen, aber es lag zuweilen
etwas Schmachtendes, Sehnſüchtiges darin, was mit
dem lauernden Aufblitzen verſöhnen mochte. Man
bedauerte ſie, man las die Unbefriedigung, welche als
Unruhe in ihr aufzückte. Dieſe Unruhe ſchien einer
eiskalten Ruhe gewichen. Schien, ſagen wir, ſo
lange ſie Herrin über ſich blieb, aber in Momenten
zückte das Feuer der Unruhe wieder heraus, ihr Auge
ſchoß Blitze, die wehe thun konnten, vor denen ein
ſanftes Auge ſich unwillkürlich ſchloß, wie ein keuſches
Gemüth vor einem Anblick, den es nie geſehen, und
doch hat es die Empfindung, daß es ſo etwas nicht
ſehen darf. Und doch, wie ſchnell war die Ruhe
wieder über das Geſicht ausgegoſſen und ein Lächeln
ſchwebte um die Lippen, das ein Maler vielleicht mit
dem einer Heiligen verglichen, die unter Folterqualen
zu den Umſtehenden ſpricht: Es ſchmerzt nicht.


Die Fürſtin und die Geheimräthin hatten einen
Verſuch gemacht ſich zu embraſſiren, ein Verſuch, der,
an irgend etwas geſcheitert, in einem wiederholten
Händeſchütteln ſich aufgelöſt.


„Ich werde Ihnen das nie vergeſſen, da ich
weiß, was Sie mir bringen,“ waren die nächſten
Worte der Gargazin, und die Freude ſchien auf ihr
Geſicht zurückgekehrt, als ſie den neuen Gaſt neben
ſich auf's Canapé gezogen. Ihr Auge ſtreifte über
die Andern hin, es lag darin ein gütiger Befehl an
die Freundesgruppe, ſich aufzulöſen. Die Hofdame
hatte ſich mit dem Regierungsrath ſchon fortgeſchlichen.
[138] Der Comteß nickte ſie zu: „Geben Sie Ihren Arm
getroſt dem guten Rittmeiſter. Ich verſichere Sie,
Comteß Laura hat keinen beſſern Freund als Herrn
von Dohleneck.“


„Ich weiß, was ich Ihnen bringe, hatte die
Geheimräthin erwiedert. In das Haus der Freude
eine Trauergeſtalt, aber die Pflicht der Dankbarkeit
geht über dieſe Rückſicht.“


„Dankbarkeit? rief die Fürſtin mit einem er¬
ſtaunten Blick, indem ſie die Hand der Geheimräthin
an ſich zog. Sie ſtehen noch immer, Herr von
Wandel, wollen Sie nicht neben uns Platz nehmen,
meine Freude theilen. — Madame Lupinus ſpricht
von Dankbarkeit!“


„Nur von einer Pflicht, gnädigſte Fürſtin, die
ich ſo lange aufgeſchoben. Sie haben ſich meiner
Pflegetochter wie eine wahre Mutter angenommen.“


„Ach das! — Ich bitte Sie, kein Wort davon.“


„Gönnen Sie mir das Wort. Ja, ich bekenne
es, ich bringe ein Opfer, um endlich auszuſprechen,
was ich über Ihre Handlungsweiſe denke.“


„Egoismus, nichts als Selbſtſucht! Weil Adel¬
heid mir gefällt, weil ich mein Haus, meine Geſell¬
ſchaften durch Ihre Schönheit ſchmücken will.“


Die Fürſtin fühlte ihre Hand ſanft gedrückt:
„Warum das wiederholen, was der Pöbel über uns
urtheilt. Adelheids blühende Jugend gehörte nicht
in mein Krankenhaus. Sie erkannten es — und —
ich geſtehe es Ihnen, im erſten Augenblick ſchmerzte
[139] mich die Art, wie das theure Kind mir entführt
ward; jetzt preiſe ich den Himmel, daß er es ſo gefügt
hat, und — daß er Ihnen den raſchen Entſchluß
eingab.“


Die ſchönen Seelen verſtanden ſich; das vorhin
verſuchte Embraſſement erfolgte wie von ſelbſt.


„Einen Fingerzeig des Himmels wollen Sie
darin erkennen, ſagte die Fürſtin. Ich kann noch
immer nicht umhin, mir einen Raub vorzuwerfen.“


„Laſſen wir den Streit darüber, gnädigſte Frau.
Adelheid gehört in Ihr Haus, es iſt meine aufrich¬
tige Meinung. Der Legationsrath kann bezeugen,
wie oft ich es ausſprach. Bei mir wäre ſie ver¬
kommen.“


„Sie ſpricht nur mit der größten Liebe von dem
Guten, was ſie durch meine Freundin erfahren.“


„Es thäte mir leid um das Kind, wenn ſie un¬
wahr würde.“


„Warum ſo ſelbſtquäleriſch. Sie wiſſen ſelbſt,
bis zu welcher Verirrung das Dankbarkeitsgefühl
ſie trieb.“


„Und doch hat ſie mich nicht ein einziges Mal
beſucht.“


Das hatte die Geheimräthin nicht ſagen wol¬
len; es war heraus, ehe ſie es verſchlucken konnte,
und, was ſchlimmer, die Fürſtin hatte es aufge¬
fangen.


„Sie ſind leidend, ſprach ſie mit bewegter
Stimme. Und Sie überwanden ſich, verließen Ihr
[140] ſtilles Aſyl, und — Ich weiß ja, wie ich dieſes
Opfer zu ſchätzen habe.“


Die Geheimräthin war wieder ganz Herrin über
ſich geworden: „Doch iſt es nicht ganz ſo. Warum
zwiſchen uns eine Verheimlichung! Ueberwindung
koſtet es mich, ja, ſehr große, dieſe Feſtkleider wieder
anzulegen. Ich erwarte auch nicht Erheiterung, noch
ſuche ich Zerſtreuung, denn ich betrachte es als eine
Pflicht gegen mich ſelbſt. Sie ſehen alſo, mein Opfer
iſt reiner Egoismus.“


„Wie Sie ſich da wieder täuſchen wollen! Sie
thun es um der Geſellſchaft ſelbſt willen, Sie er¬
kennen die Pflicht, daß wir nicht uns, daß wir für
Alle leben ſollen.“


„Oder ſie für uns!“ rief eine Stimme in
der Geheimräthin, die aber diesmal auf den
Lippen erſtarb. Die Gargazin mußte den Sinn
verſtanden haben, ſo leuchtete ein Blick ſie an; es
war ein merkwürdiges Verſtändniß zwiſchen beiden
Frauen. Sie liebten ſich gewiß nicht, aber zum Haß
war für die Fürſtin kein Grund. Sie ſah ſich um,
ob Niemand lauſchte. Der Legationsrath war un¬
ſchädlich, er bildete eine Schutzmacht gegen die Andern.


„Wir verſtehen uns, glaube ich, beſſer, als wir
einen Ausdruck dafür finden, hub die Fürſtin an,
der Lupinus näher rückend. Was iſt uns die Ge¬
ſellſchaft? — Ich ſetze voraus, daß wir beide jetzt
über die kleine Rivalität recht herzlich im Innern
lachen, ich meine die, welche die Leute uns anlügen.


[141]

Ich gebe auch zu, daß in der Lüge etwas Wahres
war. Wir ſpielten Schach mit einander, weil ſie uns
dazu nöthigten, zwangen. Genug, wir haben geſpielt.
Weiter war es nichts.“


„Und Euer Erlaucht gewannen.“


„Die Erlaucht hatte nichts damit zu ſchaffen.
Wir gingen unſerm Penchant nach, und in einem
Punkte ſtießen wir an einander.“


„Ich gebe keine Geſellſchaften mehr. Mein Haus
iſt ein Haus der Trauer geworden, mein guter
Mann —“


„Wird gewiß unter ſolcher Pflege geneſen. Wer
redet davon! Wir wollen ja nur unſre Gedanken
über das Weſen der Geſelligkeit einklingen laſſen.
Lieben wir ſie etwa um ihrer ſelbſt willen? Um
daraus Belehrung, Troſt, Hülfe zu ſchöpfen? Sind
wir lüſtern wie die unſterblichen Götter im Olymp,
die den Opferduft der Menſchen mit Wohlgefallen
einſchlürfen ſollen? Oder iſt es bei uns die Nei¬
gung, das Verlangen, mit unſers Gleichen zuſammen
zu ſein? Sehn Sie, wie unſer Freund lächelt.
Nicht wahr, das brauchen wir beide nicht, wir haben
Reſſourcen in uns, um uns vor der Einſamkeit nicht
zu fürchten.“


„Ich lächle nur, ſagte Wandel, weil Sie von
„„Ihres Gleichen““ ſprechen.“


„Und mit Ihrer Bosheit treffen Sie es. Wir
zaubern das um uns, was uns doch nicht entgeht.
Weil wir unter Thoren leben müſſen, verſchaffen
[142] wir uns einen kleinen Hof von allen Thorheiten um
uns her. Wer dreiſt einer Gefahr entgegen geht,
hat ſie halb überwunden. Eine Welt en miniature
ſollen unſre Salons bilden. Was im großen, wirk¬
lichen Leben uns anwidert, das erſcheint uns auf
dieſer Bühne gefälliger, weil wir damit ſpielen, es
regieren zu können meinen. Am Ende bilden wir
uns ein, dieſer Mikrokosmus iſt unſer Werk, und
wir hätten alle dieſe Puppen uns zum Vergnügen
ausgeſtopft und in Scene geſetzt.“


„Man muß nur nicht die Drahtfäden merken
laſſen,“ ſagte der Legationsrath.


„Zum Vergnügen! fiel die Geheimräthin ein,
die aufmerkſam gefolgt. Wo wir wiſſen, wie Einer
den Andern verredet, hier mit Lob ihn überſchüttet,
um, wenn er ihm den Rücken gedreht, ihn zu ver¬
ſpotten; wiſſen, wie die mit Honiglippen uns Ku߬
hände zuwerfen, gegen uns cabaliren. Hier drückt
ein Beamter dem andern die Hand, und empfiehlt
ſich ſeiner Gewogenheit, während die Entlaſſung oder
Verſetzung des zweiten ſchon in der Kanzlei iſt, und
er hat ſie betrieben, um in ſeinen Poſten zu rücken.
Wo ſie uns ſchön und geiſtreich finden, um ſich nach¬
her vor Lachen auszuſchütten, daß wir es geglaubt!
Die Tugend in Aller Munde, und die Kuppleraugen
ſchleichen um, ihre Opfer ſich auszuſuchen. Nur die
abſolute Mittelmäßigkeit iſt ſicher, denn was hervor¬
ragt, worin es ſei, iſt den Pfeilen ausgeſetzt. Sie
zumeiſt, die wähnen, ſie zu regieren. Man preiſt Ihr
[143] Zauberfeſt, man erhebt es beim Abſchied in den
Himmel, aber ehe ſie nur in den Wagen ſpringen,
klagen ſie über die Langeweile. Zurückſetzung, gemiſchte
Geſellſchaft, daß die Wirthin es nicht verſtanden die
Gäſte zu placiren, ſie klagen vielleicht über Hochmuth,
Anmaßung, über das Eſſen und Trinken auch, Gott
weiß worüber nicht. Ich begreife, wie man mit dieſen
Puppen ſpielen, aber wie es ein Vergnügen ſein kann,
das bleibt mir ein Räthſel.“


„Ihre Kritik geht über die Geſellſchaft hinaus,
ſagte der Legationsrath. Das Räthſel iſt die Welt — “


„Und wehe, wer nicht mit ihm ſpielen kann,
rief die Fürſtin aufſtehend, denn neue Gäſte waren
im Vorzimmer eingetreten. Wer auf dieſem bunten,
beweglichen Teppich nicht mit den Füßen einer Tän¬
zerin wandelt, hier über Gegenſtände ſpringt, dort
ſie fortſtößt wie Glaskugeln, der iſt verſtrickt, er iſt
verloren.“


„Es giebt noch einen andern Weg — wo man
feſt ſtehen kann —“ entgegnete die Geheimräthin, in¬
dem ſie auch aufſtand. Es war ein Metallklang in
der Stimme, wie ein Grabgeläut.


Den Weg, unterbrach die Fürſtin, den Weg
haben Sie doch nicht gefunden!“


Sie blickte ihr forſchend in's Auge; als die Lu¬
pinus antworten wollte, rief die Gargazin, wie von
etwas überwallt: „Sie haſſen! — O unglückliche
Frau, der Haß iſt ein zu fürchterliches Spiel für
uns; der Haß hat einen unergründlichen Fonds, Sie
[144] wiſſen nicht, was da herauskommt aus der gähnenden
Kluft — ſelbſt der Schmetterling flattert nicht lange
darüber — “


Sie ward unterbrochen. Ein freudiges Ach
mußte ſich aus ihrer Bruſt ringen, um eine andere
Erſcheinung zu begrüßen, wir wiſſen nicht, wen?
Es iſt uns auch gleichgültig; der unerwarteten Er¬
ſcheinungen, die alle aus dem Fonds ihrer Liebe mit
einem gleichen Ton der freudigen Ueberraſchung be¬
willkommt wurden, waren viele. Die Lupinus aber
hätte, noch nicht in die Geſellſchaft eingeführt, allein
geſtanden, wäre nicht der Legationsrath geweſen. Im
Nebenzimmer arrangirte man Spieltiſche, es wurden
ſchon Karten umgereicht.


„Werden Sie ſpielen?“ fragte Wandel.


„Werden Sie reiſen?“ entgegnete die Geheim¬
räthin.


„Ich riethe Ihnen eine Karte zu ergreifen.“


„Und ich Ihnen zu reiſen.“


„Warum?“


„Aus demſelben Grunde, weshalb Sie mir
zur Karte rathen. Man iſt der Mühe überhoben
zu antworten, wenn man fürchtet gefragt zu werden.“


„Gilt der Haß, dem Sie die Geſellſchaft geweiht,
auch mir?“


„Ich bin es müde, Räthſel zu löſen.“


„Im Augenblick, wo Sie den Schlüſſel fanden?“

[145]

„Um auf einen neuen Verſchluß zu ſtoßen. Viel
Glück, Herr Legationsrath, in Rußland.“


„Will ich, gehe ich denn dahin?“


„So wollen Sie Jemand damit täuſchen?“


„Meine Feinde. — Kennen Sie meine Feinde?“


„Nicht alle — Einige.“


„Verlangen Sie, daß ich die Sorgen, unter deren
Wucht ich meine Freundin erliegen ſehe, noch durch
Mittheilung von Verhältniſſen erhöhe, die nur mich
allein betreffen! Nicht mich allein — nein, gewiß nicht,
ich bin der letzte — aber Niemand, der mir perſön¬
lich theuer iſt.“


„Ihre Sachen ſind gepackt, Extrapoſtpferde ſtehen
für Sie täglich im Hofe des franzöſiſchen Attaché
bereit.“


„Das ward Ihnen bekannt?“


„Durch Zufall.“


Er ſah ſich um: „Wenn Sie eines Morgens
hörten, daß ich über Nacht aufgegriffen, über die
Gränze geſchleppt ward, und wenn am andern Abend
die Nachricht käme, daß er mich füſiliren ließ, ſo
würden Sie den Grund der Vorſicht wiſſen.“


„Wer?“


„Napoleon.“


„Da würden Ihre Pferde doch nicht beim Vi¬
comte Marvilliers ſtehen.“


„Der Löwe ſucht nach dem Raub nicht in ſeiner
Höhle.“


„Aber der junge Attaché!“

IV. 10[146]

„Wenn ich Ihnen ſagte, daß er darum weiß,
wäre ich ein Verräther. Ich will kein Verräther
werden, lieber — ſcheiden.“


Er hatte ſich halb umgewandt, um raſch die
Hand der Geheimräthin zu ergreifen: „Leben Sie
wohl,“ liſpelte er.


„Nur Eines, — iſt Ihr Leben in Gefahr?“


„Noch nicht, aber — Gütiger Gott! Die pein¬
liche Erwartung einer Entſcheidung, in der ich täglich
ſchwebe, verſchließt mir die Lippen, wenn ich ſie öffnen
müßte, um Vertrauen zu gewinnen. Ich klage Nie¬
mand, Sie am wenigſten an. Im Gegentheil, Sie
haben Recht, daß Sie mir dies Vertrauen nicht ſchen¬
ken, ganz Recht; verdammen, Sie mich als Lügner,
der die Pflicht hatte zu ſprechen, und wenn er den
Mund öffnen ſollte, ihn verſchließt, als kaltherzigen
Intriguanten, der mit den Gefühlen ſpielt, der edle
Herzen zerreißt, verdammen Sie mich, Sie haben
Recht, aber — wenn es vorbei iſt, widmen Sie mir
eine Thräne der Theilnahme, wenn Sie erkannt, daß
ich nicht anders handeln durfte.“


„Wandel! ſie hielt inne — Wann, — wann
kommt die Entſcheidung?“


„In einer Woche, vierzehn Tage — höchſtens
ein Monat, wenn aus Warſchau —“


„Aus Warſchau?“


„Ich betheure Ihnen, es iſt nur eine Vorſichts¬
maßregel; vielleicht zerläuft Alles wieder, wie ſo oft,
in Luft und Wind.“

[147]

„Wer iſt in Warſchau?“


„Entfiel mir das Wort! — Ich bin ver¬
wirrt —“


„Das muß Entſetzliches ſein, was Sie außer
ſich bringt.“


„Was iſt entſetzlich, Freundin, in dieſen Welt¬
kriſen! Seine Hand zitterte in der ihren. Ihr Scharf¬
blick errieth es. Nun bin ich in Ihre Hand gegeben.
Mein Leben hängt von Ihnen ab. Gehen Sie zu
Laforeſt und — “


„Sie phantaſiren. Als ob er nicht wüßte, daß
Sie mit der Ruſſiſchen Diplomatie verhandeln.“


„Auch daß man mich verſtrickt, nennen Sie es
Zufall, in ein Netz gezogen, deſſen Zipfelende die
Bourbonen halten; daß Ludwig XVIII. wieder in
Polen iſt, daß Dinge in Frankreich vorbereitet wer¬
den; daß in Napoleons nächſter Umgebung Perſonen
gewonnen ſind; daß ihm die Flaſchen mit dem Keller¬
ſiegel, die er mit ſich führt, nichts helfen; daß die
Suppe, die er koſtet, das Geflügel, das er in den
Mund führt —“


„Schweigen Sie, um Gottes Willen, ſchweigen
Sie —“


„O ich möchte Alles, was man mir eingefüllt,
ausgießen, es zerſprengt meine Bruſt; denn bei Gott,
nur mein böſes Glück, nicht mein Wille hat mich hier
verſtrickt. — Ich fühle mich ſchon erleichtert, daß ich
eine Mitwiſſerin habe, bei der mein Geheimniß wie
im Sarge ruht —“

10*[148]

„Man wird auf uns aufmerkſam werden, daß
wir uns ſo lange abſondern.“


„Sie haben Recht, und ich die Beruhigung, daß
wenn ich plötzlich verſchwinden ſollte — Ihr Verdacht
mir nicht wie ein ängſtlicher Schatten auf der Heer¬
ſtraße nachſchleppt — “


„Um Gottes Willen, meinen Sie, daß Sie dieſe
Nacht ſchon verſchwinden müſſen.“


„Ich meine nichts, ich weiß nichts; ich ſollte
meine Lippen verfluchen, daß ſie zum Verräther wur¬
den, aber mir iſt wohl zu Muthe, wohl wie einem
Kinde, das ſeinen erſten Fehltritt beichtete. Nein, nein,
es war wohl nur die Angſt, erpreßt durch Ihre
Drohung.“


„Warum ſtürzten Sie ſich in dieſe Lage?“


„Warum bin ich ein Menſch!“


„Reißen Sie ſich los — wenn es ſein muß,
reiſen Sie auf der Stelle fort!“


„Ich lebte nur für Andere. — Nein, nein, ich
weiß es, ich bin nöthiger hier. Ich will für Andere
leben — Sein Sie unbeſorgt — Nur um etwas
Geduld flehe ich noch — o könnten Sie in mein
Inneres blicken — Pflichten hier, Pflichten dort,
Verlockungen — aber — ſein Sie überzeugt, als
Mann, als Sieger werde ich daraus hervorgehen.“


„Man kommt.“


„Ein Freundesrath — “


„Ich werde Sie nicht bemerken, wenn Sie ver¬
ſchwinden.“

[149]

„Heiter! meine Freundin. Es war ſehr gut,
daß Sie herkamen, aber Sie kamen als Trauerge¬
ſtalt. Sie freuten ſich des Eindrucks. Um des
Himmels Willen, mit Geiſtererſcheinungen darf man
nicht ſpielen. Fort die Trauer, einige bunte Bänder,
ſtimmen Sie ein in den frivol geiſtreichen Ton. Man
muß mit ihnen tänzeln, die Gargazin hat Recht. Sie
hat erkannt, daß Sie haſſen. Das kann ſchlimm
werden. Werfen Sie die Maske ab, nicht haſtig —
laſſen Sie ſich allmälig erheitern durch die liebens¬
würdige Geſellſchaft. Da bringt man Ihnen eine
Karte, nehmen Sie, ſpielen Sie, mit wem Sie wollen,
es ſind alles Puppen; aber nicht zerſtreut.“


Die Eitelbach präſentirte der Geheimräthin eine
Karte: „Wollen Sie?“


„Mit dem größten Vergnügen.“


„Ihnen präſentire ich keine Karte, denn Sie
mogeln, ſagt mein Mann.“


Damit ging die Baronin ſchnippiſch am Le¬
gationsrath vorüber, der ſcherzhaft die Finger nach
einer Karte geſpitzt hatte.


„Sie wird immer ſchöner,“ ſagte eine Stimme
hinter dem Legationsrath.


„Kann man ſchöner werden, wenn man eine
vollkommene Schönheit iſt,“ entgegnete Herr Schadow.

[[150]]

Zehntes Kapitel.
Der verlorne Sohn und die heilige Magdalene.

Das Spiel war zu Ende. Die Geheimräthin
hatte allein gewonnen, und bedeutend. Sie war ge¬
ſprächig, ſehr liebenswürdig geweſen. Jetzt ſah ſie
neben ſich nur verdrießliche Geſichter. Wenn ſie noch
heiter und aufgeweckt blieb, legte man es ihr als
Freude über den Gewinnſt aus, den die andern Mit¬
ſpieler berechneten. Sie war raſch aufgeſtanden, um
mit der Lorgnette die Bilder an der Wand zu be¬
ſehen.


Es war hoch geſpielt worden. Der Kammerherr
hatte anſehnlich verloren. Er zankte ſich mit ſeinem
vis-à-vis über einige Points. Die Wechſelreden
wurden ſo anzüglich, daß die Baronin Eitelbach die
Herren bitten mußte, ſich zu menagiren. Der Kam¬
merherr warf dem Andern einen maliciöſen Blick zu,
den jener, den Stuhl heftig fortrückend, durch ein
Murmeln erwiederte: wer krumm ginge, könne auch
nur krumm handeln. Der Kammerherr gehörte zu
denen, welche das Glück haben, zuweilen taub zu ſein.


[151]

Die Baronin hatte ihre Börſe ausgeſchüttet:
„Mehr habe ich nicht; mein Mann muß zahlen.“ —
„Das geht immer ſo, wer Glück in der Liebe hat,“
ſagte der Baron, verdrießlich die lange Börſe ziehend.
„Ich verbitte mir alle Gemeinplätze,“ hatte ſie er¬
wiedert. Er wollte nicht glauben, daß ſie ſo viel
verloren haben könnte, als ſie angab, ſie warf ihm
den Bêtezettel hin, er rechnete, wollte zanken, es war
aber Niemand mehr da, mit dem er zanken konnte.
Indem er die Geldſtücke hinwarf, ziſchelte er der
Baronin etwas in's Ohr. Sein Auge begleitete dabei
den Rittmeiſter. Sie ward hochroth, ſtand raſch auf
und warf ihm mit einer Replik einen verächtlichen Blick
zu, um ihm daraus den Rücken zu kehren.


Auch an andern Tiſchen war Uneinigkeit wegen
der Berechnung. Ueberhaupt ſchien die von poetiſchem
Duft umwobene Harmonie, welche vorhin geherrſcht,
etwas zerriſſen. Ein erwarteter Gaſt war noch nicht
da. Der Duft der Speiſen drang ſchon verlockend
aus den Souterrains, aber es — ſollte noch ge¬
wartet werden; der Prinz Louis hatte diesmal be¬
ſtimmt ſeine Gegenwart verſprochen. Einigen Herren
ſchien dies ſehr unangenehm. Man fragte, ob er
denn überhaupt kommen werde? Jemand meinte, die
Anweſenheit des Geheimrath Lupinus dürfe Seine
Hoheit ſchwerlich locken.


Ein beſternter Herr entgegnete lächelnd: „Das
würde wohl nicht der einzige Gegenſtand ſein, der
einem Königlichen Prinzen hier nicht lockend vorkäme.
[152] Man muß geſtehen, wenn man die Sociétè über¬
fliegt, daß unſere gute Prinzeſſin mit aſiatiſchem
Geſchmack eine kleine Völkerwanderung zuſammen¬
getrieben hat.“


„Sie liebt die Quodlibets, aber das Koſtüm iſt
gewählt,“ ſagte die Almedingen. Herr von Fuchſius
ſpielte auf den neulichen Vorfall des Prinzen mit
dem zweiten Lupinus an. Die Hofdame hatte davon
reden gehört, ſie wußte auch, daß man bei Hofe
choquirt geweſen, ſie hatte aber noch nichts Näheres
erfahren können, und war ſo begierig wie der Be¬
ſternte, es zu erfahren. Man zog ſich in eine Fenſter¬
niſche zurück.


„Eine der Plaiſanterien Lombard's, die gar
nichts auf ſich gehabt hätte, wenn nicht der Humor
des Prinzen eine Bombe hineinwarf, die unter einem
entſetzlichen Eclat platzte. Ihnen iſt bekannt, daß
Seine Königliche Hoheit Luſt bekamen, ſich in die
Humanitätsgeſellſchaft aufnehmen zu laſſen.“


„Was er nur in all den Geſellſchaften ſucht!“
ſagte die Almedingen.


„Man ſagt den Geiſt, den er — an einem an¬
dern Ort nicht finden kann. Ob es ihm in der Hu¬
manitätsgeſellſchaft gelingt, laß ich auf ſich beruhen.
Die Aufnahme iſt ſehr einfach durch ein Ballottement
erfolgt, in dem noch Niemand durchfiel. Nur eine
ſchwarze Kugel war in der Urne, die ſich ſeltſamer¬
weiſe bei jeder Aufnahme findet. Beim Receptions¬
diner neulich ſcherzte der Prinz darüber, und äußerte,
[153] er möchte wohl den kennen, der ihn aus der geehrten
Geſellſchaft hinaus ballottiren wollen. Lombard, der
bei ſehr guter Laune war, ärgerte ſich gerade über
den Geheimrath, der zu eifrig eine farcirte Faſanen¬
bruſt tranchirte, auf die er vielleicht ſelbſt reflectirt
hatte. Er flüſterte mit ernſthafter Miene, die Augen
auf Lupinus gerichtet, dem Prinzen etwas in's Ohr,
und, die Achſeln zückend, ſchloß er halb laut: er iſt
ſonſt ein braver Mann, man begreift nicht, wie er
dazu gekommen iſt. Der Prinz ſtarrte lachend den
Regenten der Vogtei an, und wenn er es nicht ſelbſt
bemerkt, ſo flüſterten ſeine Nachbarn es ihm in's Ohr.
Nun hätten Sie den unglücklichen Geheimrath ſehen
ſollen. Ein Schauſpiel für Götter, wie er auffuhr,
Meſſer und Gabel fallen ließ, kreideweiß, der Stuhl
hinter ihm fiel nieder. Man kann buchſtäblich ſagen,
die Augen gingen ihm über, und die Stimme verſagte
ihm. Er wehte ſich mit den Händen Luft zu. End¬
lich brach es los. Ein Gefangener am Marterpfahl
bei den Irokeſen, ſah er alle Augen auf ſich gerichtet,
und der Prinz hatte die Grauſamkeit, mit dem Ernſt
eines Generals beim Kriegsgerichte ihn unverwandt
anzuſtarren. Nun, meine Damen und Herren, die
Beredtſamkeit des Geheimrath Lupinus mögen Sie
ſich denken. Nachdem er die Wolken der unerhörten,
fürchterlichen Verleumdung zu zerſtreuen geſucht, kam
er auf ſein theures Ich zu ſprechen, natürlich fran¬
zöſiſch, welches von der Muttermilch an nur in De¬
votion für das Königliche Haus ſich geſäugt. Nach
[154] vielen Endlich — Aber — Rückfällen — Wiederho¬
lungen — gerieth er in eine Art dithyrambiſchen
Schwunges, und aus der Kehle oder der Bruſt kam
ein Lobgeſang auf das Königliche Blut, das ſo rein
und heilig, wie es im Herzen pulſt, durch alle Glie¬
der fließe, daß jeder Tropfen davon reiner ſei, wie
der Purpur des Morgenrothes. — Alle ſahen auf den
Prinzen, der bis da mit unveränderter Miene den
Mann angeſchaut, — er mochte eine Viertelſtunde
geſaalbadert haben, — als er raſch aufſtand, das
gefüllte Glas in die Hand nahm und die Lippen
öffnete. Ringsum geſpannte, bange Erwartung.
„Mais — riefen Seine Königliche Hoheit, eine kleine
Pauſe — c'est assez!“ — Kein Wort weiter. Sie
ſtürzten das Glas runter, ſtampften es auf den Tiſch
und converſirten mit ihrem Nachbar weiter über die
Trüffelpaſtete.“


Der Beſternte, einem fremden Hofe angehörig,
ſchwellte ſichtlich von einem innern Behagen, das er
zu verbergen ſich Mühe gab, während die Hofdame
erblaßt war:


„Entſetzlich! Und —?“


„In der Geſellſchaft war eine Todtenſtille, Je¬
der ſah auf ſeinen Teller.“


„Und der unglückſelige Prinz?“


„Aß mit großem Appetit. Vielleicht dachte er
nach, ob die Geſellſchaft eines ſo genialen Einfalls
werth war. Lupinus ſaß, was man in Berlin ſagt
„wie übergoſſen.“ Er ließ alle Schüſſeln vorübergehn.“

[155]

„Unglaublich!“ riefen beide Zuhörer, jeder dachte
etwas andres.


„Daß ſolch ein Menſch ſich nicht vernichtet fühlt,“
ſagte die Almedingen.


„Weshalb, meine Gnädigſte?“


„Weil er die Urſach war, daß ein Prinz von
Geblüt ſich ſelbſt vergaß. Wenn eine ſolche Gewiſ¬
ſenslaſt auf mich drückte, ich wüßte doch nichts an¬
ders, als daß ich mir das Leben nehmen müßte.“


„Die Gewiſſen ſind verſchieden, entgegnete Fuch¬
ſius. Das iſt eine wunderbare Gabe Gottes. Herr
Lupinus gehört zu der großen Klaſſe Menſchen, die
man wie die Fröſche mit Keulen in den Sumpf
ſtampfen mag, ſie ſtecken die Köpfe doch wieder raus.“


Das zarte Gefühl der Almedingen erlaubte ihr
nicht länger dem Geſpräche zuzuhören. Als ſie ge¬
gangen, ſagte der Beſternte: „Mich dünkt, zu dieſer
Klaſſe gehört die Majorität der Menſchen.“ Der
Regierungsrath erwiederte:


„Wenigſtens, wenn die Keulenſchläge, die ſie
täglich empfangen, ſie zur Beſinnung ihres Unwerths
brächten, wäre die Welt eine andere, als ſie iſt.“


Die Nachricht lief um, der Prinz werde gar
nicht kommen. Es ſeien Depechen vom Rhein höchſt
betrübenden Inhalts eingelaufen, darauf er zu Hofe
berufen. „Und ſie läßt noch nicht ſerviren!“ ſeufzte
ein Präſident, die Uhrkette ziehend.


Die noch nicht ſerviren ließ, hatte während deſ¬
ſen die Goldſtücke vom Spieltiſch eingeſammelt und,
[156] nachdem ſie dieſelben in Papier gewickelt, in den
Pompadour der Geheimräthin gleiten laſſen.


„Wollen Sie mich beſtechen?“


„Ich könnte Sie doch nur belohnen wollen, daß
Sie meinen Abend durch Ihre Heiterkeit geſchmückt.“


„Ich bin ſchon belohnt durch den Genuß, den
mir Ihre Picturen gewähren. Von wem iſt dieſer
verlorne Sohn?“


„Von einem Spanier. Ein Ribera, ſagt man;


Einige wollen gar von Murillo. Betrachten Sie
dieſe Schwielenhaut, dieſe Kruſte von Schmutz, man
ſieht ordentlich die verſchiedenen Lager, auf denen er
ſich gewälzt.“ —


„Ich bewundere nur das Geſicht. Aufgedunſen
wie von der ſchlechten Nahrung, aber wie glüht das
Auge!“


„Einige finden Aehnlichkeit mit Prinz Louis
Ferdinand.“


„Wie blaß, bemerken Sie, Erlaucht, bei dieſer
Beleuchtung. Ich möchte eher an den jungen Bo¬
villard erinnert werden.“


„In der That. Die ſchwarzen Brauen, auch im
Kinn. — Warum iſt dieſe herrliche Parabel nicht
weiter geführt! Wir ſehen nur die Vaterfreude.
Wenn auch die Geliebte ſeiner Jugend die Arme
dem Verlornen entgegen breitete, wie viel rührender
wäre die Geſchichte.“


„Sie könnte auch aus Verzweiflung verloren,
vielleicht die Magdalene ſelbſt geworden ſein.“

[157]

„Das iſt eine geiſtreiche Combination, ein ge¬
nialer Gedanke!“


„Da hebt ja ſchon eine heilige Magdalene die
Arme ihm entgegen. Wenn man die zwei Rahm¬
ſtücke ausſchnitte, wäre es ein Bild. Dieſelbe Größe,
dieſelbe Färbung.“


„Ueberraſchend! Worauf Sie mich aufmerkſam
machen!“


„Erlaucht haben viele Magdalenenbilder! Wo¬
hin ich ſehe — “


„Hier Battoni, da Correggio; da iſt auch ein
Murillo — den liebe ich weniger — dort ein Carlo
Dolce, ein Van der Werf, Guido Reni. Von ge¬
ſchickten Malern copirt; ich gab ihnen meiſt ſelbſt
Anleitung.“


„Seltſam, ſagte die Geheimräthin, ich erinnere
mich keiner Magdalene von Raphael.“


„Der divino maëstro hatte ſich ſo ganz der Ma¬
rienverehrung hingegeben! Für mich hat der Mag¬
dalenencultus etwas Berauſchenderes. Leben wir
nicht Alle der Erde näher, keimt nicht das Veilchen
aus ihrer dumpfen Verborgenheit, athmet die Nelke
nicht ihre Würze, fühlt unſre Bruſt ſich nicht wun¬
derbar geſchmeichelt vom Duft der Nachtſchatten! Die
Marien bewundern, die Magdalenen begreifen wir.
Wenn die ewige Jungfrau ihren Arm um uns legt,
müßte es, dünkt mich, die Empfindung wie eines vom
Blitz Getroffenen ſein; wenn die heilige Magdalene ihn
ſanft um uns ſchlingt, o wie anders, wie gern würden
[158] wir uns von ihr heben laſſen, ſchweben durch die
Wolken, die ſich öffnen, denn ſie flüſtert uns Bal¬
ſamworte zu: auch ich kannte Deine Schmerzen und
Deine Wonnen.“


„Raphael ſucht, gnädigſte Frau, neben dem Ideal
der Schönheit immer auch die Naturwahrheit; nun
will man in dieſen reizenden Magdalenen —“


„O, ich kenne dieſe Kritik, unterbrach die Gar¬
gazin. Um der Wirklichkeit zu genügen, die ſie Wahr¬
heit nennen, ſoll man die Magdalenen mit blaſſen
Lippen, abgehärmten Wangen und erloſchenen Augen
malen. Das wird ein büßendes Weib, aber keine
Heilige, die ſchon den Vorſchmack der himmliſchen
Wonnen empfindet. Nein, eine Magdalene, die zur
himmliſchen Glorie ſich aufſchwingt, ſie iſt keine her¬
untergekommene Dirne aus den Kloaken irdiſcher Ge¬
meinheit, ſie muß, indem ihr Auge die Himmels¬
wonnen koſtet, was ihr dort geboten wird, noch mit
dem vergleichen können, was ſie zurückläßt. Dies
ſchöne Haar, die reizende Figur, die ſüße Lippe und
der wogende Buſen, dies Alles, was wir ſehen und
was entzückt, muß auch ihr noch gefallen, ſie muß
ſich mit Schmerzen davon trennen, und doch
giebt ſie es mit Vergnügen hin für die Schönheit
und Wonne, die ſie nur ſieht. So denke ich ſie mir
wie einen Geiſt, der, ſchon frei im Aetherlichte empor¬
ſchwebend, noch einmal in die verlaſſene Hülle zu¬
rückgekehrt iſt, um, nach des Dichters Worten, noch
einmal mitzufühlen Schmerz und Qual.“

[159]

„Ich könnte ſie mir anders denken, ſagte
die Lupinus vor ſich hinblickend. Doch das gehört
nicht her.“


„Jede neue Anſchauung iſt mir willkommen.
Für mich iſt die Magdalene der eigentliche Inbegriff
des Myſteriums der göttlichen Liebe.“


„Hat ſie denn wirklich geliebt, ſagte die Ge¬
heimräthin. Mich dünkt, ihre Art von Liebe konnte
nicht zum Glauben führen!“


„Weil ſie changirte?“


„Ja, wäre ſie eine Sultanin geweſen, die ihre
Lieblinge ſich wählte und entließ, um endlich ihr
Ideal zu finden. Aber ſie iſt doch gedacht als ein
armes Mädchen. Hat nun ihr Fonds von Liebe
ausgereicht, um alle die fortzulieben, die mit
Seufzern und Schwüren kamen, mit Betheurungen
und Gluth, die Lieder und Geld zu ihren Füßen
ſtreuten, und gähnend fortgingen, um nicht wieder
zu kommen? Vielleicht ward ſie auch gemißhandelt, und
von denen, die ſie wirklich zu lieben geglaubt; ihre
edelſten Empfindungen, wenn ſie ſich zu äußern
wagten, wurden verſpottet. Und das durch Monden,
Jahre wiederholt. Solchen Fonds von Erfahrungen
hinter ſich, Täuſchungen darf man es nicht mehr nennen,
erwarten wir von ihr etwas anderes als Verach¬
tung, Bitterkeit gegen das ganze Geſchlecht! Ich könnte
ſie mir denken als eine Intriguantin, welche ihre
Luſt dann findet, die Männer gegen einander zu
hetzen, als eine Brandſtifterin, eine Semiramis,
[160] eine Amazonenkönigin, die die Brandfackel in Länder
und Städte wirft —“


„Vielleicht auch als Brinvilliers — das iſt das
richtige Argument des Verſtandes, meine theure
Frau. Das wahrhaft von der Liebe erfüllte Gemüth
— Was iſt Ihnen?“


„Nichts — ein vorübergehender Stich vom
langen Sitzen.“


„Die Liebe ſucht nichts, die Liebe findet Alles,
fuhr die Fürſtin mit ſüßer Stimme fort. Wer nur
ein Ohr dafür hat, nicht muthwillig es ſchließt, wo
der Spring unter der grünen Tiefe rauſcht, aus
Furcht, daß er zu furchtbar vorbricht. O die Thörigen!
Sehen Sie da den Rittmeiſter und die Eitelbach!
Wo alles ſich findet, was ſich nur ſuchen will, gehen
ſie wie Wachspuppen einander vorüber.“


„Mich dünkt, Adelheid und der junge Bovillard
thun das auch.“


„Kinder, die Verſteck ſpielen.“


„Ich glaubte, ſie in Feuer und Flamme zu finden.“


„Im hellen Zimmer jagen, im dunkeln fangen
ſie ſich.“


„Mamſell Alltag iſt blaß.“


„Unter den vielen Geſchminkten.“


„Der Marmorausdruck ihres Geſichts —“


„Geliehen, theuerſte Frau! Was das arme
Kind ſich Mühe giebt, ihr Gefühl uns zu verbergen,
die tauſend Nadelſtiche, die das kleine Herz durch¬
bohren! Solche widernatürlichen Affecte rächen ſich.“

[161]

„Aber eine mütterliche Freundin, wie Erlaucht,
wird der Leidenden zu Hülfe kommen.“


„Da darf kein Fremder helfen wollen. Wahr
und wahrhaftig nicht. Die Natur findet ihren Weg
und die Knospe bricht auf, wenn die Blume reif iſt.“


„Schade nur, wenn das arme Mädchen ſich
wieder täuſchte!“ ſagte die Lupinus nach einer Pauſe.


„Wie meinen Sie das?“


„Der junge Herr von Bovillard iſt zwar, was
man nennt, in der Geſellſchaft wieder ehrlich ge¬
macht, aber — ein Sort kann er ihr doch nicht
machen. Ich glaube ſchwerlich, daß man ihm eine
Anſtellung gäbe, wie jetzt die Dinge ſtehen. Sein
Vater hat auch nicht mehr den früheren Einfluß.
Der alte Alltag würde mit der Mariage ebenſowenig
zufrieden ſein.“


Ein vornehmes Lächeln ſchwebte um die Mund¬
winkel der Fürſtin: „Daran habe ich wirklich nicht
gedacht.“


„Hat Ihre Majeſtät noch das Verlangen,
Adelheid zu ſehen?“


„Die Königin hat wirklich an Anderes zu denken.
Da fällt mir ein, in der Magdalene, die hier die
Arme, nach Ihrer glücklichen Entdeckung, dem ver¬
lornen Sohn entgegen hält, findet Schadow Aehn¬
lichkeit mit unſrer Adelheid.“


Die Geheimräthin lorgnettirte: „Der Schnitt
des Geſichtes, aber — ich möchte eher eine Ver¬
wandtſchaft mit der Comteß Laura entdecken.“

IV. 11[162]

„Wie fein wieder Ihr Blick, Sie ſind eine
geborne Kunſtkennerin. Merkwürdig, Laura iſt faſt
ganz ſo coſtümirt. Wir wollen die ſchönen Mädchen
uns herrufen, um zu entſcheiden, wer ein näheres
Anrecht darauf hat, eine Heilige zu werden.“


Die ſchönen Mädchen waren nicht im Mag¬
dalenen-Zimmer. In dem Cabinet hinter den Feuer¬
lilien ſtand Adelheid, an derſelben Thürpfoſte, wo die
Comteß geſtanden; faſt in derſelben Stellung, auch
ſie blickte durch die Thürritze, theilnahmlos, zerſtreut,
wenn Vorübergehende ſie anredeten.


Die Gargazin und die Lupinus ſahen ſich be¬
deutungsvoll an.


Es war nicht Zeit mehr zu feinen Beobachtungen.
Das war kein eitles Spiel einer Koketten, die auf
neue Eroberungen ſinnt, die ſich im Gedanken vor
dem Spiegel ſchmückt und, in der Phantaſie ihr
eigen Bild malend, ſich fragt: „wirſt du ihm ſo
gefallen?“ Sie athmete nicht, ſie zitterte nicht, aber
der Rand des Blumentiſches, den ſie krampfhaft
faßte, hätte, wenn er Empfindung gehabt, einen
eiskalten Druck empfunden. Sie wußte nicht, daß
ihr Lockenbund ſich etwas gelöſt und eine Flechte,
ſie entſtellend, auf die Seite fiel, ſie fühlte den
Boden unter ſich brennen, und ihr war eiskalt zu
Muthe; nur ſchoß es zuweilen glühend heiß durch
die Adern, und gegen die Augen drängte es wie
ein Strom, der einen Ausweg ſucht, aber die
Wächter haben die Schleuſen zugezogen.


[163]

Die Gargazin drückte die Hand ihrer Begleiterin
und flüſterte ihr in's Ohr: „Die Knoſpe bricht;
heut entſcheidet es ſich.“


Zu mehr war nicht Zeit.


Gruppen drängten ſich um einige ſpät Ange¬
kommene. Prinz Louis kommt nicht, lautete die eine
Botſchaft. Ein Zweiter wußte von der eingelaufenen
Nachricht: der franzöſiſche Kaiſer habe Diſtricte und
Orte am Rhein beſetzt, die unzweifelhaft zu Preußen
gehörten, und mit dem Uebermuth der Reunions-
Kammern ſie für franzöſiſches Staatsgut erklärt.
Der Miniſterrath war nach dem Palais berufen.
Man hatte auch Generale in äußerſter Erhitzung
dahin ſtürzen ſehen. Einige wollten wiſſen, man
werde über Nacht dem franzöſiſchen Geſandten die
Päſſe zuſtellen. Die Fürſtin rief nach dem Geheim¬
rath Johannes von Müller. Er war nicht mehr in
der Geſellſchaft; ſchon vor einer halben Stunde war
er abberufen. Eine andere Botſchaft aus dem Hauſe
der Geheimräthin: der Herr Geheimrath befinde ſich
in heftigem Fieber und phantaſire, indem er wun¬
derbare Namen anrufe.


„Will denn Alles heut den ſchönen Abend uns
ſtören!“


Die Geheimräthin war nicht der erſte Gaſt, wel¬
cher Abſchied nahm.


Die Geheimräthin hatte eine Ahnung den ganzen
Abend durch geplagt. Ihr ſei, verſicherte ſie, als wenn
ein furchtbares Gewitter, ein Erdbeben im Anzuge ſei.


11*[164]

„Um ſo größer war Ihre Gefälligkeit, den gan¬
zen Abend die Heitere geſpielt zu haben —“


Dafür hatte die Fürſtin ſie weiter begleitet, als die
Etiquette forderte, vielleicht billigte: „Ich möchte von
Ihnen den Muth lernen, wie man bei einem Erd¬
beben lächelt.“


Die Fürſtin lächelte aber nicht, als ſie zurückkehrte,
man konnte vielmehr ein leichtes Schaudern bemerken:
„Ich hoffe, es war das erſte und letzte Mal.“ Ein Ver¬
trauter, wie Wände und Möbel es ſind, vor denen
man nichts verbirgt, aber ſie erwiedern das Vertrauen
nur durch Schweigen; ein ruſſiſcher Cavalier hatte
den Herzenserguß gehört und wagte darauf zu fragen:
„Warum behandelten Erlaucht die Frau mit der Auf¬
merkſamkeit?“


„Weil ich ſie fürchte, hatte die Fürſtin dem Mö¬
bel erwiedert, weil — ich muß Wandel fragen.“


„La table est servie!“ meldete der erſte Kam¬
merdiener.


Auch Wandel war verſchwunden. Der erſte Gaſt
war jetzt der Präſident, die vornehmeren waren fort:
„Es wird doch auch diesmal nur blinder Lärm ge¬
weſen ſein!“ ſagte die Fürſtin.


„Gewiß, entgegnete der Präſident, indem er ihr
reſpectvoll den Arm reichte. Man wird ſchon wieder
ein Auskunftsmittel finden, und wir können —“


„Ruhig eſſen, Herr Präſident. Meine Herren,
führen Sie die Damen, unſre Ordnung iſt zerriſſen
— wie es ſich findet.“

[165]

Die Ordnung war zerriſſen, die Tiſchgänger
wurden gepaart, wie Niemand es erwartet hatte.


Wir haben Louis Bovillard in dieſer Soirée
nur einmal in's Auge gefaßt, und auch da nur durch
die Vermittelung anderer Augen. Vielleicht verloren
wir nichts. Den vernichtenden Titanenhumor, der
ihn für Viele intereſſant machte, ließ er nur noch
ſelten ſpielen. Was gehörte er in die Geſellſchaft!
War er doch auch vielleicht entwichen in einem lan¬
gen Siechthum! Was der Strömung der Zeit an¬
gehört, wird heut von ihr auf der Woge hoch getragen,
daß es die Wolken anſprützt, um morgen im Ab¬
grund zu verſinken. Der Kothurn, den wir heut be¬
wundern, morgen belächeln wir ihn. So liefert
die Tragödie von geſtern immer Stoff zur Komödie
von heute.


Louis Bovillard ſahen wir durch die Thürritze
als Träumer. Im Coſtüm des engliſchen Spleen
hatte er einige alte Damen verletzt. Die jungen
mochte er nicht verletzen wollen, denn er war plötzlich
ein Anderer geworden. Er war in ihrem Kreiſe voll
Laune, Witz, liebenswürdig vom Wirbel bis zur Zeh,
aufmerkſam auf jede Neckerei, die er in dem Tone
wiedergab, von dem ſie ausging. Was hatte ihn ſo
verwandelt? Die Liebenswürdigkeit der jungen Da¬
men oder die ſteinernen Geſichtszüge, die Adelheid
ihm zeigte? Man kann ja nicht immer in einer Ge¬
ſellſchaft den Träumer ſpielen, ſonſt wird man lang¬
weilig; und Adelheid mochte das auch denken, denn
[166] nichts verrieth, daß ſie ſich über dieſe Veränderung
wunderte.


Man hatte in dem luſtigen Zimmer Pantomi¬
men aufgeführt beim Klange des Klaviers. Aber
Louis mußte längſt vergeſſen haben, um was er am
Inſtrumente ſaß. Er träumte wieder, denn er hatte
ſich in Accorde vertieft, die wohl zu einem ſchauerlichen
Liede von Novalis oder Tieck paßten, aber nicht zu der
harmloſen Situation aus der jüngſten Reichardſchen
Oper, noch zu den Scherzen des Suchens nach der Muſik.


Hatte die junge Geſellſchaft das gemerkt? denn
ſie war allmälig verſchwunden vor den dumpfen,
langaushallenden Tönen, die er den Taſten ent¬
lockte. Nur Eine war hinter dem Klavier ſitzen
geblieben, und als er die Phantaſie mit einem Ton¬
ſchlage ſchloß, der wie ein tief aufſeufzender Meeres¬
ſtoß gegen das Eis brach, reſpondirte ein Ton der
Bewunderung aus ihrer Bruſt.


„Das war zu göttlich! Eigentlich verdiente es
einen Kranz!“ Comteß Laura war aufgeſprungen,
und ehe der Fortepianoſpieler es ſich verſah, fuhr
ihr weicher Arm um ſeine Schulter und ſteckte das
Bouquet feuriger Nelken, das ſie in der Schürze ge¬
tragen, raſch ihm an die Bruſt. Als er den Arm
faſſen wollte, um den Dank auf die Hand zu hau¬
chen, war die Nymphe entſchlüpft. Das Unglück
aber wollte, daß der Zipfel ihres garnirten Tuches
an ſeinen Rockknopf ſich geneſtelt. Das Tuch war
lang, und erſt in der Mitte des Zimmers ward ſie
[167] inne, daß ſie an ihn gefeſſelt war. „Sie zerreißen
mein Tuch.“ Er zog ſie langſam an ſich. „Was
wollen Sie?“ — „Sie ſtrafen, daß Sie entfliehen
wollten.“


Sie mußte ihr Tuch mehr lieben, als die
Strafe fürchten, ſonſt hätte ſie doch das Tuch losge¬
laſſen und wäre entflohen.


Als er ihr jetzt entgegen ſprang, um ſie zu ſtra¬
fen, erſchreckte ihn nicht ihr leichter Schrei, mit dem
ſie dem ſtrafenden Arm ſich zu entwinden ſuchte,
ſondern — eine Erſcheinung. Adelheid ſtand zwi¬
ſchen der Thür und ihm, die Hand an's Herz ge¬
preßt, als fühle ſie einen Schmerz, blaß, mit Geiſter¬
augen, wie eine Bildſäule.


„Meine Herren, ſchnell den Arm den Damen!“
riefen mehre Stimmen, als durch die offene Thür
der Zug zum Speiſeſaal vorüberging. Sans gêne,
Jeder, wer ihm zunächſt ſteht.“


Ob er, ob die Comteß das Tuch vom Knopfe
losgeneſtelt, wiſſen wir nicht, aber es mußte losge¬
macht ſein, denn Bovillard fand kein Hinderniß mehr,
als er der ihm Nächſtſtehenden den Arm öffnete.
Es machte ſich von ſelbſt, es ging nicht anders, ohne
einen Verſtoß. Es war Adelheid, die der Strom
auf ihn zudrängte, während er die Comteß fortſchob.
Auch ſie mußte, ſie ſtand ihm zu rechts. Aber ſie
weinte. Eigentlich bebte nur ihre Bruſt.


„Ihre Schlußaccorde — es war mir, als ob —
als ob etwas ſprang —“

[168]

„Darf ich — ?“ rief die näſelnde Stimme des
Baron Eitelbach zur Comteß, ohne ſich zu tief zu
neigen. Sie ſah ihn einen Augenblick von oben bis
unten an, und ſteckte dann ihren Arm in den ſeinen
mit einem: „qu'importe!“ Es machte ſich auch von
ſelbſt. Es waren die letzten Gepaarten.


Drei Paare folgten einander zu Tiſch, von denen
Keiner am Abend erwartet, daß der Zufall ihn zu
dem Andern führen würde. Die zwei ſahen wir
eben; ihnen voran ging der Rittmeiſter Stier von
Dohleneck und die Baronin Eitelbach. Spottvögel
verglichen ſie mit Kerzen auf einem Armleuchter.

[[169]]

Eilftes Kapitel.
Ein belauſchtes Intermezzo.

Im Vorzimmer des neuen Miniſters ſtand Walter
van Aſten. Es war vieles vorgefallen, was dieſe
Audienz, um die er nicht nachgeſucht, immer wieder
aufgeſchoben hatte. Der Miniſter war einmal zum
Könige berufen geweſen, eine dringende Conferenz
hatte ſich ein ander Mal in die Länge gezogen. Man
hatte ihm hinaus ſagen laſſen, es thue dem Miniſter
ſehr leid, aber um ihm ſeine Zeit nicht zu rauben,
werde Excellenz ihm einen andern Tag beſtimmen
laſſen.


Am heutigen war Walter mit frohem Herzen
aus dem Hauſe gegangen. Nicht weil ein entfernter
Bekannter, der ſich plötzlich ſeinen Freund nannte,
heut Morgen zu ihm geſtürzt war, mit der frohen
Kunde, die er vom Schwager des Bruders eines
Kanzeleibeamten gehört, daß derſelbe ſeine Brochure
auf dem Arbeitstiſch des Miniſters liegen geſehen.
Seine Schrift hatte Walter faſt vergeſſen. Was war
es jetzt Zeit zu Organiſationen! Wenn man im
[170] Mittelalter eine Glocke goß zu Ehren einer Stadt,
opferten die Reichen von ihrem Silber, daß ſie einen
ſchönen Klang gewinne, ſo war der Glaube. Wenn
aber das Erz im Guß war, überkam eine fieberhafte
Luſt Alle, man griff in die Läden und trug, was
man koſtbares entbehren konnte, hinzu; ja, auch was
man nicht entbehren konnte, und in der Opferluſt ſah
man arme Wittwen, alte Mütterchen, hinzuſtürzen,
um ihren letzten Löffel in den Keſſel zu werfen. Ihr
Herz jauchzte, und die Thräne rollte über die ver¬
trockneten Runzeln, wenn ſie ihr theures Silberſtück
ſchmelzen ſahen. Zur Glorie der Stadt! Und wenn
ihre Gebeine längſt moderten, lebte, athmete, tönte
ihr Opfer den Nachlebenden in der Luft, im Silber¬
klang der Glocken.


Eine ähnliche Empfindung war es, mit der
Walter heut ſich auf den Weg gemacht. Er hatte
kein Silberſtück zu bringen; in dem Augenblick fühlte
er Alles werthlos, was er gedacht, geſchrieben, ſich
ſelbſt wollte er opfern. Gleichviel was man mit ihm
anfinge. Es war kein anderer Impuls in ihm als
die Luſt des Atoms, ſich aufzulöſen in das Allgemeine.
Nur raſch wünſchte er die Operation. Es iſt ja
Alles vergänglich; auch der tiefſte Seelenſchmerz, von
dem wir nie zu geneſen glauben, iſt nur ein bitterer
Rauſch, der ſich verflüchtigt. Wie furchtbar er auch
die Bruſt des Ruhigen, Verſchloſſenen durchwühlt, ſo,
in ſtillen Augenblicken, daß er die Sonne unterge¬
ſunken ſieht, um nirgend wieder aufzugehen, auch
[171] der Schmerz arbeitet doch nur wie Alles, was Odem
hat, bis — ſein Athem ausging! Dann — ja dann,
was uns ins Auge fällt, der Abendſtern oder ein
Abenteuer, ein Problem oder ein Bild aus dem
Alltagsleben, Hitze oder Kälte, Hunger oder Durſt,
die Neugier oder die Müdigkeit, ſie erregen neue
Wünſche, neue Anſtrengung, neue Arbeit, neues Leben.
Was wäre auch das menſchliche, wenn es an einem
Schmerz ſchon verblutete, und jedem ſind der Schmer¬
zen ſo viele zugemeſſen!


Die Sonne der Liebe, die ſo wunderbar bei
ihrem Aufgang in ſein graues Leben geſtrahlt, war
verſunken, — freilich er hatte ſchon lange ihr Licht
immer matter, immer kälter werden ſehen, aber ſo
plötzlich untergeſunken, ſo dunkel, unheimlich war auf
ein Mal die Nacht, daß mit ihr Alles verſunken ſchien,
was er gebaut, geträumt. Für ſich, was ſollte er da
noch bauen, ſchaffen, wollen? Wozu? Was er für
ſich erſtrebt, es hatte ja keinen Zweck mehr! Ehre! Wo
war denn Ehre überhaupt zu gewinnen! Eine Exiſtenz!
Brauchte er um die zu ringen? Ein dampfender
Schlund ſchien ſich vor ihm zu öffnen, in den er,
ein anderer Curtius, unverzagt geſtürzt wäre. Er
hatte den Kanonendonner bei den Revuen gehört,
das Gepraſſel des Pelotonfeuers. Wenn das Ernſt
ward, die breite Bruſt den dampfenden Batterieen
entgegen zu halten, müßte es nicht Luſt ſein!


Der Miniſter ließ ihn lange warten. Seine
Excellenz waren in eifrigem Geſpräch mit einem vor¬
[172] nehmen Beſuch. Wenn ſie ſich der Thüre näherten,
ſchallten Worte und ganze Sätze zu ihm; dann, die
Klinke an der Hand, machten ſie wieder Kehrt, es
ſchien neues Oel in die Flamme gegoſſen, und indem
ſie ſich tiefer in's Zimmer entfernten, gingen die
Worte in unarticulirte Töne über. Er glaubte den
Titel ſeiner Schrift zu hören. Er konnte ſich aber auch
getäuſcht haben. Er näherte ſich unwillkürlich dem Tiſche,
worauf die letzte Lectüre des Miniſters lag. Obenauf
ſeine Schrift. Sie war an vielen Stellen eingeknifft.
Er ſah dicke rothe Striche, Ausrufungs- und Frage¬
zeichen. — Alſo doch darum! Sie hatte die volle
Aufmerkſamkeit des ausgezeichneten Mannes erregt.
Mußte er ſich nicht vorbereiten? Er trat zaudernd
noch näher. Da ſtand ein Bravo! dick neben einer
Stelle. Sein Herz klopfte.


Schon griff ſeine Hand nach dem Buche, als die
Thür aufſprang, und der Miniſter ſeinen Beſuch
hinaus begleitete. Sie bemerkten ihn im Eifer der
Unterhaltung nicht; der Fremde mochte zur engliſchen
Geſandtſchaft gehören, ſie ſprachen engliſch.


„Mylord, Preußen iſt durch den neuen Vertrag
ohne Schwertſtreich aus der Reihe der europäiſchen
Mächte geſtrichen, Sie können's in hundert Schriften
leſen, ſprach der Miniſter. Was verlangen Sie noch
von uns!“


„Und doch hat Seine Majeſtät, Ihr König,
Laforeſt's Antrag nicht gewillfahrt,“ ſagte der Eng¬
länder.


[173]

„Weil der unverſchämte Menſch forderte, er
ſolle Lombard für etwas belohnen, wofür —“


„Sie und ich ihm einen andern Lohn gönnen,
fiel der Geſandte ein. Indeſſen hatte Lombard nichts
gethan, als was Seine Majeſtät billigen mußten, er
hatte Haugwitz während deſſen Abweſenheit ver¬
theidigt, das heißt, den Vertrag, den der König
ſelbſt ratificirt hat.“


„Die Patrioten hätten Lombard in Stücke
zerriſſen, wenn man ihn noch decorirte und be¬
ſchenkte.“


„Seine Majeſtät hörten auf die Stimme des
Volkes, aber auch auf die Ausfälle des Moniteur.
Um Napoleon zu genügen, hat man den Baron
Hardenberg entlaſſen.“


„Kämmerchen vermiethen,“ warf der Miniſter hin.


„Excellenz, nichts deſto weniger muß ich Ihnen
bekennen, daß mein Cabinet grade dies am wenigſten
verſteht. Und wenn mein Cabinet, das engliſche
Volk begreift es nicht.“


„Giebt die Diplomatie niemals mit der einen
Hand, um mit der andern, zu nehmen?“


„Nicht in Kriſen, wo man nicht weiß, ob
man noch Zeit hat, den ausgeſtreckten Arm zurück¬
zuziehen.“


Der Miniſter, der eine Weile vor ſich hinge¬
blickt, zückte mit den Achſeln: „Und doch irren Sie,
Mylord, die Uhren auf dem Continent gehen lang¬
ſam. Die Stunde iſt noch nicht ſo weit vorgerückt.“

[174]

„Seiner Majeſtät Uhr ging raſcher, als Sie uns
Hannover nahmen, Ihre Häfen uns verſchloſſen.“


„Weil Napoleon ſchneidend auf die Ausführung
des Vertrages drang. Er ſtand mit dem Hammer
des Auctionators da.“


„Und jetzt mit dem Lictorenbeile, Excellenz.
Er legt den Vertrag aus, wie es ihm gefällt. Er
hat vor der Zeit Ihre Beſatzung aus Weſel ver¬
drängt. Der Commandirende derſelben hat, beinah
ausgehungert, in ſeiner abgeſchnittenen Lage um
die zurückgelaſſenen Vorräthe bitten müſſen. Murat,
der neu creirte Großherzog von Berg, hat, auch nach
dem ſchmählichen Vertrage, unbeſtreitbar preußiſche
Bezirke, Alten, Eſſen, Werden beſetzt. Er zieht die
Kaſſen ein, requirirt für die Magazine, ſetzt Beamte
ein und ab. Der Kaiſer bleibt, aller Remon¬
ſtrationen ungeachtet, herriſch dabei. Ihr Staat iſt
ſo abſolut iſolirt, daß er von Frankreich abhängig
ſein muß, und doch genügt das Napoleon nicht.
In ſeinem Uebermuthe ſpielt er mit Preußen wie
der Tiger mit ſeinem Opfer, ehe er es zerreißt.
Wozu Schonung, er ſpricht es deutlich aus gegen
Jeden, der es hören will, nicht vor ſeinen Miniſtern,
vor ſeinen Stallknechten ruft er: was Rückſichten
gegen einen Staat, der ſo tief in der öffentlichen
Meinung ſank, daß er nirgends Freunde hat; daß die
es waren am lauteſten vor Schadenfreude lachen
werden, wenn er zuſammen ſtürzt. Napoleon ſucht
Krieg, er will Krieg, er provocirt ihn —“

[175]

„Und findet lämmermüthige Geduld, fiel der
Miniſter unerwartet ein. Mit ironiſchem Lächeln
ſetzte er hinzu: Sollte Seiner Majeſtät, dem Kaiſer
der Franzoſen, da nicht am Ende ſelbſt die Geduld
ausgehen!“


Der Britte fixirte ihn: „Eine Maske, Excellenz,
thut zuweilen ihre Dienſte, wenn man ſich noch
verſtellen kann; wenn man aber ſich ſo deployirt hat,
daß der Feind alle Schwächen und Hülfsmittel kennt,
iſt es zu ſpät. Und wenn ſie es noch länger hin¬
halten, Ihr Volk hält es nicht länger aus.“


„Kennt man das auch in Paris!“ ſagte der
Miniſter mit einem eigenthümlichen Tone, zwiſchen
tiefem Ernſt und leichtem Spott.


„Ihre Staatsmänner zählen noch nach Jahren,
hub der Britte wieder dringender an. Ich nach
Monden, Wochen, vielleicht nach Tagen. Wiſſen Sie
hier nichts von den Verhandlungen mit den deutſchen
Fürſten im Weſten und Süden? Um das Reich
Karls des Großen zu ſtiften, müſſen die Wittekinde
vorher im Staube liegen. Er darf auch den Schein
eines Sachſenreiches nicht dulden. Wüßten wirklich
Ihre Staatsmänner nichts davon, verſchlöſſen ſie
in unglaublicher Verblendung ihr Ohr, oder glauben
ſie noch, ihr Veto einzulegen, wenn Alles abge¬
macht iſt?“


Der Miniſter war bewegt, nicht durch die letzte
Mittheilung des Engländers. Er hatte nur bis
jetzt ſeine Stimmung durch Einwendungen in iro¬
[176] niſchem Tone zu verdecken gewußt. Wie tief er in
eignen Gedanken verſenkt war, beweiſt der Umſtand,
daß er das Vorzimmer vergaß, und Walter nicht
bemerkte, obſchon dieſer keinen Verſuch gemacht, ſich
zu verbergen. Der Engländer mochte ihn geſehn, aber
für einen Vertrauten, zum Haus gehörig angeſehen
haben; auch ſetzte er vielleicht nicht voraus, daß ein
Sekretair die engliſche Sprache verſtand. Der Miniſter
ging unruhig einige Schritte auf und ab. Walter hielt
es ſogar für ſeine Pflicht, durch ein Geräuſch ſeine
Anweſenheit zu verrathen, aber ohne ſeinen Zweck
zu erreichen.


„Wir wiſſen noch mehr, Mylord, ſprach der
Miniſter, vor dem Britten ſtehen bleibend. Eine
Revolution iſt im Ausbruch, eine Revolution, welche
allen, die geweſen ſind, die Krone aufſetzt. Sie
ſpielt in der Hofburg zu Wien. Der Steuermann
ſpringt in den Rettungskahn, Fahrzeug und Volk
ſich ſelbſt den Wellen überlaſſend. Franz II. legt die
römiſche Kaiſerwürde nieder, er will ſeine deutſchen
Provinzen los und ledig erklären von allen Pflichten
gegen das Reich. Das Reich mag an der nächſten
Klippe zerſchellen, damit Oeſtreich gerettet wird.“


„Mich dünkt, einen preußiſchen Staatsmann
ſollte dieſe Nachricht nicht erſchrecken,“ ſagte ruhig
der brittiſche Diplomat.


„Wenn er aus Herzbergs Schule iſt! Wir
fragen, hat er ein Recht dazu, darf er preisgeben
ein ihm anvertrautes, heiliges, das höchſte Amt der
[177] Nation, der Chriſtenheit, ohne die zu befragen, die
durch freie Wahl es ihm auftrugen? Das deutſche
Volk behält das unveräußerliche Recht auf ſein
Daſein.“


Der Britte fixirte ihn: „Sprechen Eure Reichs¬
freiherrliche Gnaden da als preußiſcher Miniſter?“


Im Staatsmann arbeitete ein Feuer fort, er
hörte nicht den Einwand: „Das iſt der Fluch jener
franzöſiſchen Revolution, die aus dem nackten Begriff
ſchöpfte, und in den Hexenkeſſel roher Begriffe Alles
einwarf, Todtes, Lebendiges, Ungebornes und Ver¬
weſtes, aber auch das Heiligſte und Gerechteſte. Was
blieb denn noch über, woran wir uns halten, wo der
Vielfraß Zeit Alles aufzehrte, als das Vaterland!
Zerſetzen wir auch das auf ſeine Knochen und Fa¬
ſern, dann Valet die letzte Sprungkraft, die uns
aus dem Schlamm aufreißt. Ohne daß wir an
Deutſchland feſthalten, iſt kein Heſſen und kein Sach¬
ſen, ja, kein Preußen und kein Oeſtreich. Sie, My¬
lord, wenn ich nicht irre, rühmen ſich Walliſer Ab¬
kunft, was hält denn Ihr großbritanniſches Reich
zuſammen, als daß es Eins ward, Britten und Sach¬
ſen, Sachſen und Normannen, Engländer und Schot¬
ten, ſelbſt das widerſträubende Irland hat der Na¬
tionalſinn mit eiſernem Arm an die gemeinſame
Bruſt geklammert. Wäre es Bonaparte damals ge¬
lungen, hätte er Ihre Schiffe geſprengt, Ihre Strand¬
batterieen durchbrochen, Ihre Armee geſchlagen, Lon¬
don genommen, hätte er die Mythe in's Leben und
IV. 12[178] die Kronen von Frankreich und England auf
eines, ſein Haupt geſetzt, hätten Sie ſich genügen
laſſen mit einem kleinen Walliſer Reich, oder Pic¬
tenreich? Zerfallen und zerfahren war Ihr ſchöner
germaniſcher Staat, wenn der Nationalſinn kein Herz
mehr hatte, von dem alle Adern ihr Blut empfin¬
gen. Uns hat man die Adern unterbunden, ſeit
Jahrhunderten das Blut abgezapft und in andre Ka¬
näle es zu leiten geſucht, und doch wallt und ſtrömt es
immer wieder nach dem Herzen hin. Es ſucht es,
und kann's nicht finden, das iſt ſeine [Qual], aber
es muß, es wird es wieder finden, oder — der
deutſche Name iſt ausgeſtrichen aus der Geſchichte.“


„Und in England, wollten Sie ſagen, fuhr der
Britte, ohne aus ſeiner Gelaſſenheit zu kommen,
fort, als der Miniſter plötzlich inne hielt, daß die
getrennten Stämme dies Herz erſt gefunden haben.
Richtig; es war ein glücklicher, aber ein künſtlicher
Prozeß. Die Fuſion des Blutes iſt hergeſtellt, aber
der Stempel darauf iſt das Intereſſe. Das ſollten
Sie doch nicht vergeſſen, Sie leſen es ja auch in
allen Journalen und Schriften. Ja, Excellenz, wir
dürfen uns nicht darüber täuſchen, es iſt das In¬
tereſſe, was uns zuſammenfügte und hält, ein Band,
das Napoleon durch ſeine Continentalpolitik täglich
feſter macht. Aber wenn wir ſehen, daß die Conti¬
nentalmächte, in deren Intereſſe es lag, mit unſerm
zu gehen, ihr eignes vergeſſen, wenn wir ſie ſchwan¬
ken ſehen von einem Tage zum andern, ihre Ent¬
[179] ſchlüſſe ändern, dann — mein Herr, wir ſind Kauf¬
leute, Phantaſieen und Fanatismus, zu manchen Ge¬
ſchäften gut, um den Impuls zu geben, tragen wir
in unſerm Contobuch nur unter dem Riscontro ein.
Napoleon iſt ein großer Speculant, er ſetzte bisher
Alles auf eine Karte; ſo lange trauten wir ihm nicht.
Seit er aber im fortdauernden Gewinnen und ſich
immer conſequent iſt, dürfte England dahin kommen,
ihn als einen ſolidern Kaufmann zu betrachten, mit
dem es ſich wohl einmal auf ein Geſchäft einlaſſen
könnte.“


„Pitts Nachfolger werden und können ſich auf
eine Aſſociéſchaft mit Bonaparte niemals einlaſſen.“


„Alle Vorſtellungen täuſchen, ſobald die Rech¬
nung ein andres Facit giebt.“


Der deutſche Staatsmann ſah ihn ſcharf an:
„Mylord, ich habe mir die Achtung vor dem Cha¬
rakter bewahrt, auch in der Politik — und ich glaube,
nie falſch gerechnet zu haben. Ein wirklicher Cha¬
racter ſtimmt mit den Geſetzen der Mathematik.
Die Maske iſt zu durchſichtig. Wo könnte England
gewinnen?“


„Wenn es die ſchwankende, haltungsloſe Politik
derer, die ſeine Freude ſein müßten und es nicht
ſind, ſich ſelbſt überläßt, und mit dem ſtarken Feinde
ein einfaches Geſchäft macht, Zug um Zug?“


Der Britte ſah ſich vorſichtig um. Indem ſein
Blick auf Walter fiel, dämpfte er die Stimme. Es
war ein ſtilles Zwiegeſpräch von einigen Secunden.
12*[180] Der Miniſter horchte, den Kopf etwas vorgebeugt,
zu, bis er ihn wieder in die Höhe warf. Er war
ein ganz Andrer geworden, alle Unruhe und Agita¬
tion war fort. Sein Auge lachte ſogar etwas höh¬
niſch, als er mit lauter Stimme ſprach:


„Daß er die Propoſition machen ließ, bezweifle
ich gar nicht, wenn er aber England Hannover zu¬
rück anbot, ſo kenne ich die klugen Kaufleute in der
Downingſtreet zu gut. Fehlgeſchoſſen, Ihr greift
nicht nach dem Danaergeſchenk. Wie! Eine Heerde
Euch ſchenken laſſen, und wenn ſie Euch gehörte ſeit
Abrahams Zeit, aber um Haide und Stall haben
ſich Wölfe gelagert! Wollt Ihr ſie annehmen unter
der Condition, daß Ihr die Wölfe nicht bekriegen
dürft, daß Ihr Eure Lämmer unter der Aufſicht der
Raubthiere ſcheert und die Wolle holt? Glaubt Ihr
zu beſitzen, was nur auf einem Vertrage beruht, und
wenn der Wolf hungrig iſt, wollt Ihr ihm das Pa¬
pier entgegen halten? Nimmermehr, Mylord, lehren
Sie mich von Ihren Staatsmännern nicht kleiner
denken, nicht an ſie den Maßſtab von dieſen hier an¬
legen! Ja, ſei es, das Intereſſe allein trennt und
verbindet, und darum bleibt England uns verbün¬
det, wie gut oder wie ſchlecht wir's ihm gelohnt.
Und doch rechne ich nicht darauf — ich habe gelernt,
auf nichts mehr zu rechnen, ich rechne allein — doch
das gehört nicht hierher. Im Uebrigen, Mylord,
jetzt iſt es Sommer, aber Bonaparte fängt erſt im
Herbſt Krieg an.“

[[181]]

Zwölftes Kapitel.
Ein Plagiarius wird entdeckt.

Walter hatte auf den erſten Blick in dem Mi¬
niſter den Mann erkannt, mit dem er zufällig in
Sansſouci zuſammengetroffen war — nicht zu ſeiner
Ueberraſchung; eine leiſe Ahnung war ſchon früher
in ihm aufgeſtiegen. Dennoch fühlte er ſich ange¬
nehm berührt. Er war bei dem ausgezeichneten
Manne eingeführt, er kannte den Miniſter, der Mi¬
niſter ihn, er durfte hoffen von einer vortheilhaften
Seite; ſo waren die erſten läſtigen Formalien be¬
ſeitigt.


Nachdem der Engländer gegangen, durchſchritt
der Miniſter noch einmal das Vorzimmer. Die
Mittheilungen des Britten beſchäftigten ihn, die Lip¬
pen bewegten ſich, die Hände ſpielten ein Pantomi¬
menſpiel, als er ſich jetzt raſch nach dem Tiſche
umkehrte.


„Wer ſind Sie? Was wollen Sie hier?“ fuhr
es heraus, als er Walter erblickte, und um die Au¬
genbrauen wölbten ſich gefährliche Runzeln.


[182]

„Euer Excellenz haben mich beſchieden.“


„Wer — Sie ſind doch nicht?“


„Mein Name iſt Walter van Aſten. Wenn
keine Verwechſelung unterlief, ward ich von Excellenz
erwartet.“


Der Miniſter ſah ihn von oben bis unten an.
In den Runzeln der Augenbrauen ſammelte ſich
ein Gewitter des Zornes, aber während um die
Lippen ein ſpöttiſcher Zug bemerkbar ward, glänzte
in den Augen, die ihn ſcharf durchbohrten, etwas
von Mitleid mit Verachtung gemiſcht.


„Sie — Sie haben das da — er griff nach
Walters Brochure, und indem er ſie mit zwei Fingern
verächtlich aufhob, hielt er ſie ihm plötzlich mit beiden
Händen vor's Geſicht, um ſie eben ſo raſch wieder
auf den Tiſch zu werfen. — Das haben Sie ge¬
ſchrieben — ich meine, Sie haben es drucken laſſen?“


„Ich habe keinen Grund es zu leugnen.“


„Und mir unterſtehen ſie ſich dieſe Schrift zu
unterbreiten?“


„Ich erfuhr erſt heut, daß Eure Excellenz von
meiner Schrift Notiz genommen.“


„Der Rittmeiſter Dohleneck iſt Ihr Freund?“


„So viel ich weiß, ſteht er zu meinem Vater
in Verhältniſſen.“


„Doch noch etwas Beſcheidenheit, durch den
Papa und die Freundſchaft mir in die Hände zu
ſpielen, wozu Ihnen ſelbſt die Unverſchämtheit
abging. Gut geſpielt, mein Herr, Sie können ſich
[183] rühmen, daß ich Sie einen Augenblick für ehrlich
hielt.“


„Wenn meine Anſichten oder meine Darſtellung
Euer Excellenz Mißfallen erregten, ſo glaube ich
wenigſtens dieſe Behandlung nicht verdient zu haben,
da ich mich Ihnen damit nicht aufgedrängt habe. —
Wenn Euer Excellenz mich nur deshalb rufen ließen,
ſetzte er nach einer Pauſe hinzu, ſo glaube ich jetzt
entlaſſen zu ſein.“


„Unverſch — Ihre Anſichten! Herr, in drei —
hat ein Plagiarius Anſichten? Kann ein Dieb ſagen,
der einen Kaſten aus dem offnen Fenſter ſtahl, daß
ihm die Sachen darin gehören, wenn er ſie in
ſeiner Spelunke in Schränke und Fächer geſtellt hat?“


Walters Blut ſtürzte gegen ſeine Bruſt, er
preßte die Lippen, ſeine Stirn glühte, und wie ein
eiskalter Strahl fuhr es ihm zugleich vom Wirbel
bis zur Zeh: „Was haben Euer Excellenz mir zu
befehlen?“ Er ſprach es mit feſter Stimme, aber
es war der letzte Moment der Faſſung.


„Scheeren Sie ſich zum — wo Sie hergekommen,
und unterſtehen ſich nicht, mir wieder unter Augen
zu treten.“


Der Miniſter hatte mit halber Wendung ihm
den Rücken gekehrt.


„Ich werde nicht gehen, hörte er hinter ſich
eine klar tönende Stimme. Denn darum haben,
darum können Excellenz mich nicht herberufen haben.
Ich gehe nicht, weil ich es mir ſchuldig bin, und ich
[184] gehe nicht, weil ich es Euer Excellenz ſchuldig bin.
Ich habe ein Recht, vor Ihnen gerechtfertigt zu
werden, wir der Miniſter ein Recht hat, vor mir
gerechtfertigt zu ſtehen, und wäre ich die unterſte
menſchliche Creatur in dieſem Staate.“


Der Freiherr ſah ihn über die Schulter an:


„Im Mundwerk ein Virtuos wie im Stil; aber
ich liebe nicht Virtuoſen, ich will Charaktere. Was
haben Sie vorzubringen? Kurz!“


„Daß hier ein Mißverſtändniß ſein muß.“


„Es iſt Alles klar. Mit abgeſchriebenen Ge¬
danken wollen Sie ſich brüſten. Gehn Sie zu
andern Staatsmännern. Ich will Ihnen den Ge¬
fallen thun und Sie vergeſſen. Verſtanden? Ganz
vergeſſen! Machen Sie da Ihre Fortune. Aber,
junger Mann, wem es ernſt iſt um das Vaterland,
und wo es ſich handelt um ſeine heiligſten In¬
tereſſen, da dulde ich keine Escroquerie.“


Es war nicht mehr die Gluth der Entrüſtung
und des Zornes, es war eine löſende Wärme, welche
unſern Bekannten aus ſeiner Erſtarrung in's Leben
rief. Hier war ein Mißverſtändniß. Er fühlte ſich
ſo muthig wie je. Der Miniſter, der, ohne ihn noch
eines Blickes zu würdigen, gegangen war, und ſchon
die Thüre in der Hand hielt, hörte den entſchiedenen
Tritt des Andern hinter ſich, er hörte ein Halt ihm
zurufen! Vielleicht wäre der Dreiſte ihm in's andere
Zimmer gefolgt, wenn er nicht an der Schwelle
Kehrt gemacht. Vorhin hatte Walters Stimme ihn
[185] ſanfter geſtimmt; der klare, ruhige Blick, die geſetzte
Haltung, mit der er ihn jetzt anſah, hemmte noch
einmal das Gewitter, das im Losbruch, entweder
gegen einen unerhört Unverſchämten oder gegen
einen Unſchuldigen. Das klare blaue Auge ſprach
für die Unſchuld.


„Excellenz, ich weiß, was ich begehe, und weiß,
daß ein Klingelzug, ein Rufen aus Ihrem Munde,
über mein Loos entſcheidet. Laſſen Sie mich durch
Ihre Diener hinauswerfen, in's Gefängniß ſchleppen,
mir den Prozeß machen wegen Attentats gegen
einen höhern Staatsbeamten im Dienſt. Ich will
nichts ableugnen, und weiß, daß es mehre Jahre
Feſtung, meine Carriere koſten kann. Dennoch! —
So heilig Ihnen Ihr unbeſcholtener Ruf iſt, ſo
heilig mir meine Ehre. Der Staatsmann, den ich
nicht mit den übrigen verwechsle, der die Dinge
nach ihrem Werthe prüft und die Menſchen nicht
nach ihrem Kleid und Namen, er hat mich, den er
freundlich in ſein Haus lud, hier in ſeinem Hauſe
einen Plagiarius geſcholten, er hat mich des Dieb¬
ſtahls, der Escroquerie gezüchtigt. Ich habe ein
heiliges Menſchenrecht, dafür Rechenſchaft zu fordern.
Von Andern würde ich ſie nicht fordern, die in
brutalem Dünkel den Untergebenen nicht fähig halten
zu denken, was ſie nicht ſelbſt gedacht; von
Euer Excellenz fordre ich ſie, und Sie werden ſie
mir gewähren. Weſſen Gedanken habe ich entwendet,
weſſen Schrift nachgedruckt? wen habe ich um ſeinen
[186] Vortheil betrogen? Dieſe Schrift, die Anſichten darin,
falſch oder richtig, ſind meine. Ich bin auf Tadel
gefaßt, ich werde auch Verſpottung zu ertragen wiſſen,
aber ich will mein Recht als Eigenthümer.“


Er hatte das Heft vom Tiſche ergriffen. Der
Miniſter ſah ihn mit einem durchdringenden Blicke
eine Weile an, aber während der Zorn noch auf den
Lippen ſchwebte und den untern Theil des Geſichtes
durchzückte, glätteten ſich ſchon die Falten der Stirn
und unter den Brauen wurden die Augen klar; ja
ein ſpöttiſches Lächeln fing an ſich über die Mund¬
winkel zu legen.


„Die Gedanken, mein Herr, ſind meine.“


Walter hielt zum erſten Male den Blick nicht
aus, er ſenkte ſeine Augen; der Blick wurde ganz
ſarkaſtiſch.


„Meine eigenen, wiederholte der Miniſter in
einem Tone, der dem Blick entſprach. Ihre Artigkeit
wird doch nicht Beweiſe fordern?“


„Und wäre das, mein Gott!“


„So wäre das noch keine große Sünde. Ge¬
danken können ſich begegnen, Gedanken fliegen durch
die Luft. Der Eine, arglos, im Eifer des Geſprächs,
läßt ſie über die Lippen, und ſie vibriren von Ohr
zu Ohr, bis der letzte Horcher ſie in Worte faßt und
ſie für die ſeinen hält, weil er ſie zu Papier bringt.
Dieſen Diebſtahl will ich Ihnen verzeihen, aber —“


Darauf war Walter allerdings nicht vorbereitet
geweſen, aber ein Blick auf das Exemplar der Druck¬
[187] ſchrift in ſeiner Hand gab ihm den Muth zurück.
Er hielt das dicke Bravo! mit Rothſtift dem Miniſter
entgegen:


„Hier fanden Excellenz —“


„Einen meiner Gedanken ausgeführt, wie es
mir gefiel. Nein, ich bekenne, mehr. Was ich erſt
flüchtig hingeworfen, auf eine andere Zeit die Aus¬
führung verſparend, fand ich ſo entwickelt, es bekam
Hand und Fuß, es ward durch die Wendung ein
neuer Gedanke. Es überraſchte mich, und ich war
froh, daß Jemand mich verſtanden hat, in meinem
Sinn gedacht, weiter gedacht als ich —“


„Gott ſei Dank!“ brach es von Walters Lippen.
Er vergaß in dem Augenblick ſeine Stellung, ſelbſt
die peinliche Lage, in der er ſich noch eben befand.
Er zückte mit der Hand, als wolle er nach der des
Miniſters greifen. „Gott ſei Dank, ich bin gerecht¬
fertigt. Dieſe Wendung werden Sie mir doch als
Eigenthum laſſen!“


Indem der Staatsmann ihn unverwandt an¬
blickte, ſchien die Wolke von vorhin ſich wieder auf
ſeinem Geſicht zu ſammeln, aber es war eine Magie,
um nicht zu ſagen Sympathie in Beider Augen,
welche den Ausbruch des Gewitters noch nicht zuließ.


„Auch die darauf folgenden Seiten? Sehn Sie
nach.“


Walter blätterte. Sie waren mit Rothſtift an der
Seite von oben bis unten angeſtrichen.


„Es iſt nur die Entwickelung jener Wendung
[188] des Gedankens. Ich glaube, ſie iſt folgerichtig und
nicht unglücklich.“


„Ich glaube es auch,“ ſagte der Miniſter. Es
wetterleuchtete wieder. Er ſprach raſch in abgeſtoßenen
Sätzen: „Alſo Ihre Entwickelung? — Mit Ihren
Fingern geſchrieben? — Zweifle ich nicht. — Und
der Rittmeiſter, Ihres Vaters Freund, hat nicht mit
Ihrem Wiſſen gehandelt? — Ich will es glauben. —
Kennen Sie den Regierungsrath Fuchſius? — Still!
Es kommt nichts darauf an. — Die Verlegenheit
will ich Ihnen ſparen. — Gedanken fliegen nicht
allein durch die Lüfte, auch durch die Finger von
Abſchreibern. — Sind Sie ein Clairvoyant? Ja, ich
hörte, aus der romantiſchen Schule. — Sahen Sie
die Ausführung, Seite für Seite, Satz für Satz,
Wort für Wort durch die Mauer ſchimmern? Sie
ſchrieben vermuthlich um Mitternacht, beim Vollmond.
Sagen Sie ja. Auf eine Illuſion mehr kommt es
einem Romantiker nicht an, und wir ſcheiden in
Freundſchaft. Ich kann Sie noch als einen ehrlichen
Menſchen mir aus dem Sinn ſchlagen, wenn Sie
mir ehrlich verſprechen wollen, künftig zu wachen,
wenn Sie über Dinge ſchreiben wollen, die Sie zu
verſtehen glauben.“


„Ich bin kein Oedipus, Excellenz, und ſtehe
ſprachlos vor dieſer Sphynx.“


Der Miniſter nahm ihm die Brochure aus der
Hand, aber indem er demonſtriren wollte, zerdrückte
er ſie in der Heftigkeit ſeiner Geſticulation.


[189]

„Als ich ſie vorgeſtern in die Hand bekam, war
ich entzückt. Der Anfang ſuperbe. Das Vorwort
iſt von Ihnen, das kann ein Geſchäftsmann nicht.
So wollte ich die Verordnung vor's Publicum ge¬
bracht, ſo eingeleitet. Selbſt die Perücken, durch die
ich mich ſchlagen muß, würden einigen Reſpect vor
dieſer Ueberzeugungskraft, vor dieſer Geſinnung in
blühender Sprache, die zum Herzen dringt, gewinnen.
Das kommt von Ihnen? Nicht?“


„Wenn nicht ein unſichtbarer Geiſt es mir ein¬
gab, der ſein Eigenthum reclamirt.“


„Machen Sie Ihre Sache nicht ſchlechter, als ſie
iſt, junger Mann. Geſtehen Sie offen Ihren Fehl¬
tritt ein. Von da ab hat der Teufel der Eitelkeit
Sie geplagt — Wort für Wort abgeſchrieben.“


„Von wem?“


„Ich will's noch glauben, daß Sie das Original
ſelbſt nicht kannten.“


Der Miniſter war, mit einem ſtummen Wink,
daß der Andere ihm folge, in ſein Arbeitszimmer
getreten. Vom Schreibtiſch nahm er ein ſauber
mundirtes Promemoria und reichte es Walter: „Leſen
Sie! die Ausarbeitung des Herrn von Fuchſius,
welche dieſer geſchickte Arbeiter auf die von mir ihm
angegebenen Ideen entwarf, ganz zu meiner Zufrie¬
denheit, ganz in meine Ideen eingehend.“


Walter las, blätterte, überflog mit ſteigender
Verwunderung. Das Thema daſſelbe, die Einleitung
die formelle eines geübten Geſchäftsmannes, die Ein¬
[190] theilungen faſt die nämlichen mit ſeiner Schrift, dann
eine Ausführung — es war faſt Wort für Wort die
ſeine — nur der rhetoriſche Schluß ein anderer im
Aktenſtil.


Er ließ das Papier ſinken. Ein Lichtſtrahl zückte
durch das Zimmer und auch in ſeine Seele: „So
iſt der Streit nur um die Priorität!“


„Der Streit iſt entſchieden, fiel der Miniſter
ſcharf ein. Meine Gedanken über die Regeneration
des Bauernſtandes ſind älter als — was geht das
Sie an! Fuchſius theilte ich ſie Ende des vorigen
Jahres mit, wir hatten darüber Geſpräche, ſeit ſechs
Monaten iſt er mit der Ausarbeitung des Promemoria
beſchäftigt, ſtückweiſe kannte ich die Arbeit ſchon früher,
in ihrer vollendeten Geſtalt legte er ſie mir vor drei
Monaten vor. Ihre Brochure trägt die Jahres¬
zahl 1806 auf der Stirn. Die Sache iſt damit zu
Ende.“


Der Miniſter ſchien etwas zu erwarten. Wäre
er ein König geweſen, die Stirn mit dem orientali¬
ſchen Nimbus umſtrahlt, hätte man meinen ſollen,
er erwarte, daß der Andere zerknirſcht ihm zu Füßen
ſtürze, ſich ſeiner Gnade ergebend. Aber er war ein
deutſcher Mann, ein Freiherr im ſchönſten Sinne des
Wortes; er erwartete, daß der moraliſche Eindruck
den jungen Mann erſchüttern, zu Boden werfen
werde, dann verkündete ein gütiger Zug um die Au¬
gen, daß er Gnade walten ließ für den Verirrten.
Der Miniſter war kein Moraliſt, ſonſt würde er ge¬
[191] ſprochen haben, daß ein freies Bekenntniß, eine un¬
verhüllte Beichte die Hälfte der Schuld löſche, und
der Weg zur Läuterung ſei. Wenn etwas davon
auf ſeinen Lippen ſchwebte, ward es zurückgedrängt
durch die aufrechte Haltung des Andern. Er begeg¬
nete nur dem Blick des Selbſtbewußtſeins.


„Sie wollen nicht?“ — Eine Bewegung deutete
dem jungen Mann an, daß er entlaſſen ſei.


Walter verbeugte ſich und ging. Der Miniſter
ſchien es nicht erwartet zu haben: „Sie haben mir
nichts mehr zu ſagen?“ wandte er ſich noch ein
Mal um.


„Seit Sie mir zu ſprechen verboten haben. Ich
würde ſonſt, was Excellenz vielleicht entgangen, be¬
merklich gemacht haben, daß es Buchhändlerart iſt,
auf Druckſchriften, die am Ende eines Jahres er¬
ſcheinen, die Jahreszahl des folgenden zu ſetzen; daß
ferner unter meinem Vorwort das Datum ſteht, an
dem ich die Schrift vollendet, und das war ſchon
in der Mitte vorigen Jahres, alſo ehe Euer Excellenz
Herrn von Fuchſius die Aufgabe ſtellten; ferner, wenn
es in einer ſo unwichtigen Angelegenheit darauf an¬
käme, könnte ich durch den Buchdrucker mein Manu¬
ſcript, durch das Zeugniß von Freunden darlegen,
wie ich die betreffenden Stellen bereits Anfang vori¬
gen Jahres niedergeſchrieben hatte. Ich könnte auch
bemerken, daß aus einer gedruckten Schrift, welche
beinahe ein Jahr circulirt, ſich leichter Auszüge
machen laſſen, als aus einer ſchriftlichen, die im
[192] Bureau eines Miniſters unter dem Siegel der Amts¬
verſchwiegenheit bewahrt iſt.“


„Halt! Die ſämmtlichen Excemplare Ihrer Schrift
ſind aufgekauft und makulirt worden, ehe ſie in's
Publicum kamen.“


„Wer that das!“ rief der Erſtaunte.


„Ihr eigner Vater. Weil er es bereute, ließ er
mir das letzte Exemplar durch Herrn von Dohleneck
zuſtellen.“


„So könnte ich ſchließlich darauf aufmerkſam
machen, ſagte Walter, daß ich mit dem Herrn Regie¬
rungsrath in durchaus keinen Relationen ſtehe.“


„Kennen Sie Herrn von Fuchſius,“ unterbrach
ihn der Miniſter, der ſchon in der Mitte der Rede
mit eigenen Gedanken beſchäftigt ſchien.


„Man rühmt ihn als einen unſerer befähigteſten
jüngern Beamten, dem eine glänzende Carriere be¬
vorſteht.“


„Ich frage, ob Sie ihn kennen? Perſönlich?
Schickten Sie ihm wirklich kein Exemplar? Wiſſen
Sie, daß er keines beſeſſen?“


Als Walter den Mund öffnete, ſchoß wieder ein
Lichtſtrahl durch das Zimmer. Er erinnerte ſich, als
er bei jenem andern Miniſter eine Audienz erhalten,
daß Herr von Fuchſius damals aus dem Zimmer
gegangen, daß dem Miniſter kurz zuvor ein Vortrag
über die Schrift gehalten ſein mußte. In dem ernſten
Moment fuhr ein Lächeln über ſein Geſicht. Er
erinnerte ſich, daß Fuchſius, als er durch's Vor¬
[193] zimmer an ihm vorüber ging, eine Druckſchrift aus
der Taſche ſah!


„Herr Regierungsrath von Fuchſius!“ meldete
in dem Augenblick der Amtsbote.


„Soll warten!“ ſagte der Miniſter. „Im Bureau!“
rief er dem Boten nach.


Er ſchien mit Gedanken beſchäftigt, als er, die
Hände auf dem Rücken, aus dem Fenſter ſah. War
Walter vergeſſen? Hatte der Staatsmann angenom¬
men, daß er gehen müſſe? Sollte er jetzt gehen?
Sich räuspern?


Plötzlich wandte er ſich um. Er hatte ihn nicht
vergeſſen, aus dem Pult riß er ein Concept, und
warf es hin: „Verſuchen Sie ſich daran. Hier auf
der Stelle. Da iſt Papier und Feder. — Eine Aus¬
arbeitung — ganz nach Ihrem Sinne — an die
Lineamente brauchen Sie ſich nicht zu halten; da iſt
viel dummes Zeug darin. — Eine Stunde haben
Sie Zeit. Ich habe Geſchäfte, die mich wohl noch
länger abhalten.“


IV. 13
[[194]]

Dreizehntes Kapitel.
Blicke aus eines Miniſters Fenſter in's Volksleben.

Die Thür ſchlug hinter ihm zu. — War das
eine Rechtfertigung, daß der Miniſter dem jungen,
ihm fremden Manne das Heiligthum ſeines Arbeits¬
zimmers mit den offen ſtehenden Schränken überließ?
Walter konnte wieder lächeln, als aus einem halb
geöffneten Schubfach ein Körbchen mit Goldſtücken
ihm entgegenblitzte. Da lag auch ein verſiegeltes
Packet mit der Aufſchrift: „Nach meinem Tode zu
verbrennen.“ Vornehme Leute haben oft eigne Vor¬
ſtellungen, wie ſie die von ihnen verletzte Ehre ihrer
Untergebenen herſtellen. Jedenfalls war es nur eine
halbe Rechtfertigung; der Miniſter wollte ihn durch
die neue Aufgabe prüfen, ob er im Stande ſei,
ſelbſtſtändig Gedanken zu entwickeln und auszuar¬
beiten.


Das Concept, das ihm übergeben war, enthielt
flüchtige, von des Miniſters Hand hingeworfene
Sätze, etwa folgender Art: Was allgemeine Stim¬
mung, wenn kein geſetzliches Organ dafür exiſtirt! —
[195] Jeder Miniſter ausſchließlich in ſeinem Geſchäfts¬
kreiſe — ein König oder Gliederpuppe. Fehlt jedes
Element, den König aufzuklären über den wahren
Status. — Geheime Kabinetsräthe! — Dahinter
war ein dicker Dintenklecks. Der Schreiber hatte mit
der ſtumpfen Feder aufgeſtaucht. Abſolut nicht mehr
möglich. Autaut! — Fein anzufangen. — Dum¬
mes Zeug! So Hardenberg nach heutiger Conferenz.
Blücher würd's beſſer verſtehen. — Dahinter einige
Striche, Federproben, Eſelsohren!


Daraus ein Promemoria entwerfen! Aller¬
dings das Zeichen eines großen Vertrauens. War
Excellenz Denkweiſe ſo bekannt, daß er aus Chiff¬
ren und Hieroglyphen ein Syſtem conſtruiren konnte?
Oder hatte er ihn abſichtlich in ein Labyrinth geſetzt,
um ihn auf bequeme Weiſe los zu werden, wenn er
den Ausgang nicht fand?


Feder und Papier waren zurecht gelegt, aber
Gedanken ſollen dem Schreiben vorausgehen. Sie
im Promeniren zu ſammeln, war die Stube zu klein.
Und es war drückend heiß. Er lehnte ſich aus dem
Fenſter, um Luft zu ſchöpfen. Die Nachmittagsſonne
brannte von dem wolkenloſen Horizont auf die brei¬
ten Straßen Berlins. Die geputzten Spaziergänger,
die nach dem Thiergarten eilten, ſuchten die ſchmale
Schattenſeite. Er hörte ihre Geſpräche. Nicht Einen,
der nicht dem Andern zurief: „Das iſt mal heiß!“
Jener machte die Bemerkung: Anno 99 wäre es
doch noch heißer geweſen. — „Ja, ja, ſo geht's!“
13*[196] ſchloſſen zwei Bekannte mit einem deutſchen, viel¬
ſagenden Händedruck ein Geſpräch, in welchem ſie
ſich eben nichts zu ſagen gewußt. — „Schlechte Zei¬
ten!“ — „Wenn nur Friede bleibt!“ — „Meinen
Sie? — Ja — ja — wer weiß!“ — „Hab ich's Ihnen
nicht immer geſagt, es geht oder es geht nicht.“ —
„Ja, wenn nicht der Bonaparte wäre!“ — „'Ne
ſappermente Wirthſchaft!“ — „Na, man wird ja
ſehen.“ — „Und das Bier auch immer ſchlechter.“ —
„Saure Gurkenzeit, Herr Gevatter!“ — „Die armen
Komödianten! rief eine geputzte Dame. Nein, an ſol¬
chem Tage ſpielen zu müſſen!“ — „Und Belmonte und
Conſtance!“ — „Und in Pelzen, hu, einem ſchaudert!“
— „Und wie leer wird es ſein!“ — „Vor leeren
Bänken ſpielen müſſen! Ich kann mir gar nichts
Schauderhafteres denken. Das ruinirt ja die Kunſt!“
— Hinter den Geputzten ſchlenderte wie ein Opfer¬
thier, nicht eins, das erſt gebraten werden ſollte,
ſondern das ſchon gebraten war vom Sonnenbrand,
ein junger Burſch im Sonntagsrock. Der Mund
offen, die blaßblauen Augen unter den glatt herab¬
hangenden Stirnhaaren der Ausdruck eines Mini¬
mum von Seele. Plötzlich aber belebten ſie ſich von
Pfiffigkeit; halb puſtete, halb pfiff er, und war ſeit¬
wärts geſprungen nach dem Straßenbrunnen. Raſch
klirrte die Plumpe, und ſeine Lippen ſchlürften aus
Herzensluſt an dem dick vorſprudelnden Waſſerſtrahl.
Warum mußte er es ſo laut machen, daß die Schwe¬
ſtern ſich umſahen: „Aber Karl, Potz Wetter, wie
[197] unanſtändig!“ — „Nein, Mutter, ſieh! der Karl! der
Junge hält doch nie auf Reputation. Als ob er von
'ner Schuſterfamilie wäre! Wie ein lebendiger Stra¬
ßenjunge!“ — „Warte nur, wenn der Vater!“ —
„Du kriegſt ja draußen Weißbier, Karl,“ rief die
Mutter. „Wenn nur die wirklichen lebendigen Stra¬
ßenjungen es nicht gehört hätten. Es ſchnalzte und
grinſte: „Straßenjungen! Wer ſind denn Eure Stra¬
ßenjungen!“ — „Und wer ſind ſie denn! Aus der
Fiſcherſtraße!“ — „Wenn man ſie nicht kennte! Die
näht Pantoffeln zu. Selbſt Schuſter!“ — „Und die
Andre — Schneidermamſell bei den Komödianten!“
„Dicke thun hilft nichts.“ — Hätten die geputzten
Damen nur geſchwiegen! Aber ſie ſchwiegen nicht.
Sie mußten ihre Ehre vertheidigen. Die Straßen¬
jungen ließen ſich in Berlin nicht überſchreien. Die
corpulente Mutter ermahnte ihre Töchter, ſich mit
dem „Kropzeug“ nicht abzugeben. „Selbſt Krop¬
zeug!“ war das Echo. Das war natürlich nicht zu
ertragen. Die Frau rief aus Leibeskräften nach ihrem
Manne: ob er das dulden wolle, ſeine Frau Kropzeug
genannt! Der Mann ſchien ſonſt voraufgeſchickt,
das jüngſte Kind auf dem Arm, damit die Ehre
der geputzten Familie nicht compromittirt werde.
Sein blauer Ueberrock mit dem hochſtehenden Kragen,
in den der Kopf beinahe verſank, die groben Knie¬
ſtiefel und das weit aus ihnen vorblickende
Pfeifenrohr paßten allerdings nicht zur Eleganz des
weiblichen Theils der Familie, und man durfte an¬
[198] nehmen, daß er ſich bei Hofjägers an einen aparten
Tiſch ſetzen müſſe. Aber in der Noth hört ſolche
Diſtinction auf. Während der Mann zurückkeuchte,
ſo haſtig, daß der Pfeife die Spitze abbrach, und er
jetzt vollkommen Grund hatte zum Zorn, hatte der
Auftritt ſchon eine andre Phyſiognomie angenommen.
Fritz war von den Schweſtern animirt worden. Daß
einer der Straßenjungen ſich dicht vor ſie geſtellt
und die Zunge „geblökt,“ durfte er doch nicht dul¬
den. Der Thäter lag auf dem Boden, und Fritz
auf ihm, es war indeß zweifelhaft, ob er nicht bald
unter ihm liegen würde. Da war es eben ſo natür¬
lich, daß der Vater mit dem zerbrochenen Pfeifen¬
rohr darunter ſprang. Es war auch nicht mehr Ge¬
ſchrei, kaum mehr das, was man in Berlin ein
Aufgebot nannte, es war das nächſte daran. Vor¬
übergehende ſtanden ſchon, wie es ſich ſchickt, entwe¬
der ſtill, oder nahmen Theil, als ein Einſpänner um
die Ecke bog und den Knäuel in etwas trennte.


Es waren anſtändige Leute auf dem Wagen, der
Herr Hoflackirer und ſeine Frau mit ihrer Couſine
Charlotte, deren Vaternamen uns noch immer ein
Geheimniß blieb. Anſtändige Leute flößen Achtung ein,
beſonders, wenn ſie Wagen und Pferde haben. An¬
ſtändig will Jeder ſein. Der Herr Hoflackirer hatte
aber ſeinen Rock geknöpft und trug ſeinen Hut wie
ein vornehmer Mann, auch kutſchirte er ſelbſt, und
das Geſtränge glänzte, wenn auch nicht von Silber,
doch von etwas, was wie Silber ausſah. Hätte er
[199] nun die Peitſche knallen laſſen, und ein donnerndes
Wort geſprochen von Auseinander! und Ruhe und
Ordnung, und hätte den Wagen durchrollen laſſen,
dann wäre Alles gut geweſen; aber er fragte: „Was
iſt denn hier los?“ Und ſeine Damen erkundigten
ſich noch eifriger. Bei dem Durcheinander von Ant¬
worten ſchien der Streit jetzt erſt recht anzufangen.
Wenn man nicht darüber in's Reine kam, wer aus¬
geſchlagen habe, was weniger darüber, wer ausge¬
ſchimpft hatte? Die Frau Hoflackir ſchien für die
geputzten Damen mehr Sympathie zu empfinden,
während ihre Couſine die armen Jungen in ſo fern
in Schutz nahm, als man nicht gleich losſchlagen
müſſe, wenn Einer mit der Zunge blökt. Wenn die
Damen im Wagen ſchon verriethen, daß ſie im In¬
quiriren nicht geſchickt waren, ſo viel weniger der
Herr Hoflackir, der ſich einige Blößen gab, welche auch
von dieſem Auditorium gefühlt wurden. Schwierig
war allerdings ſeine Stellung, wenn er außer den
Parteien auch noch den Meinungszwieſpalt zwiſchen
ſeinen Beiſitzerinnen ſchlichten ſollte; man ſoll ſich
aber nicht zum Richter beſtellen, wenn man nicht
das Zeug dazu hat, ſagte nachher ein ehrbarer
Mann.


Die Frau Hoflackir mußte durch eine ſehr un¬
anſtändige Geſte eines Straßenjungen in ihrem
Zartgefühl verletzt ſein, denn ſie ſchrie auf, wie ihr
Mann auch dazu komme, unter dem Pöbel ſie zur
Schau zu halten! Hatte ſie dabei unglücklicherweiſe
[200] auf die geputzten Schweſtern ihren Blick gerichtet,
denn dieſe — der Zorn macht blind, — nahmen
den Affront auf ſich. „Pöbel! Wer iſt denn hier ihr
Pöbel!“ griffen aber ein zehn Stimmen zugleich die Be¬
leidigung auf. Jetzt war es an Charlotten, auch die
ihre zu erheben: „Und wer ſind Sie denn, meine
Damen, wenn ich fragen darf? Das iſt meine
Couſine, die Frau Hoflackir, und der Herr Hoflackir,
mein Couſin, hat immer nur mit anſtändigen Leuten
zu thun.“ — „Sie meinen wohl, wir wären nicht
anſtändig,“ ſchrie die eine Geputzte, die den im Streit
ihr herabgeriſſenen Hut wieder auf das glühende
Geſicht geſetzt hatte, nur nicht ganz in der vorigen
Façon. — „Da müßte doch die Polizei mitſprechen!“
rief die Zweite. — „Die Polizei, rief Charlotte, die
kennt ihre Leute, und weiß, wer ſich Abends, wenn
er aus der Tanzſtunde nach Hauſe geht, von Re¬
ferendarien in Conditorläden führen läßt.“ — „In Con¬
ditorläden! Das iſt eine ausverſchämte Lüge! Das
ſollen Sie mir vor dem Criminal beweiſen, meine
Dame. Der Herr Referendar invitirten mich, aber ich
ſagte: das würde ſich wohl nicht ſchicken, Herr Re¬
ferendar! Und wir ſind da nicht hineingegangen.“ —
„Es kommt mir auch gar nicht darauf an, wo Sie
die Roſinen gegeſſen haben,“ replicirte Charlotte mit
einem ſehr feinen Blick. — Die zweite Schweſter
hielt die Höflichkeit nicht mehr für angebracht: „Und
woher Sie die Roſinen in Ihrem großen Munde
haben, weiß man auch!“ — „Ja, manche Leute, fiel
[201] Charlotte ein, manche Leute haben einen ſehr großen
Mund, und ſehen Wunder wie aus, Sonntags vor'm
Brandenburger Thor, wo ſie keiner kennt, aber vor'm
Hamburger Thor kennt man ſie auch.“ — „Vor'm Ham¬
burger Thor!“ ſchrie die Eine. „Vor'm Hamburger Thor!
wiederholte die Andre! Da hätte man Sie ja raus ge¬
ſchmiſſen, Knall und Fall, wenn's nicht der Herr Wacht¬
meiſter geweſen wäre.“ — „Mit Schmiedegeſellen geben
wir uns allerdings nicht ab, trumpfte Charlotte drein,
die ſind uns zu rußig!“ — „Sie iſt ja eine Köchin!“
fuhr die jüngſte auf. „Eine Geheimrathsköchin! Und eine
für Alles!“ Die urſprünglichen Parteien waren auf¬
gelöſt, vermiſcht; es gab nur einen gemeinſamen
Kampf gegen die im Wagen Sitzenden. Wer die
allgemeine Lachluſt gegen ſich hat, iſt verloren. Wie
ſchwer der Herr Hoflackir auch zur Empfindung zu
dringen war, denn die Frau Hoflackir mußte ihm
mit der Fauſt in den Rücken pauken, damit er nur
merkte, daß ſie ohnmächtig ward, jetzt glaubte er
fluchen zu müſſen. Es geſchah zwar mit einer ge¬
waltigen Bierſtimme, aber weder mit den rechten
Ausdrücken, noch mit der rechten Folge. Zuerſt Flüche
aus dem Stall, dann Gründe. Ein Donnern, das
mit dem Säuſeln des Windes endet, verfehlt
ſeine Wirkung. Im Hohngelächter der Buben blieb
ihm nur das letzte Mittel, nach der Polizei zu rufen,
und er ſchwor, ſo wahr er Seiner Majeſtät Hoflackirer
wäre, wolle er ſie Alle durch die Bank in die
Stadtvoigtei ſchmeißen laſſen. Ehe ſich Einer deſſen
[202] gewärtigte, war Charlotte plötzlich vom Sitz aufge¬
ſprungen, hatte ſich übergelehnt, dem Schwager
Zügel und Peitſche entriſſen, und ließ mit einem:
„Platz!“ die Peitſche knallen. Das muthige Pferd,
des langen Geredes ſichtlich überdrüſſig, bäumte ſich
mit einem Satz, der dem Wagen zwar einen Stoß
verſetzte, daß die Frau Hoflackir ihre Ohnmacht ver¬
geſſen mußte; aber der Peitſchenhieb hatte auch den gor¬
diſchen Knoten zerhauen, den zu löſen dem Herrn
Hoflackir am ſchwerſten geworden wäre. Der Haufe,
der auf die Rodomontade ſchon zu Thätlichkeiten
Miene machte, flog auseinander, und Kies und
Funken ſtoben.


„Kikelkakel Polizei! rief Charlotte, als ſie Zügel
und Peitſche dem verdutzten Herrn Schwager wieder
in die Hand warf. Darum lohnte ſich's auch!“ Die
aus der Ohnmacht erwachende Frau Hoflackir ſtöhnte:
das komme davon, wenn man ſich mit gemeinen
Leuten einlaſſe. — „Gemeine Leute, das geht ſchon,
entgegnete Charlotte, deren Herz jetzt warm wurde,
und ihre Zunge löſte ſich. Aber wenn gemeine Leute
wollen gebildet thun, Couſine, das iſt um die Cre¬
pance zu kriegen. Die Schmiedetöchter da an der
Panke, Hufſchmied war er für die Fuhrleute und
Bauern! Aber ſeit er den Knopfladen in der Stadt
angenommen, da ſollte es oben raus. 'Ne Mamſell
läßt ſich auch gleich machen, habe ich oft zu meinem
Geheimrath geſagt. Das koſtet Geld und Bildung,
mit 'nen Paar Redensarten und 'nem langen Plun¬
[203] derkleid iſt's nicht gethan. Da mußten ſie in die
Komödie, vom Tanzboden in's Corps de Ballet.
Ging's nicht ſo, dachten ſie, geht's ſo. Das kennt
man ja. Und Airs geben ſie ſich, wenn ein Officier
mal auf der Redoute: „Meine Damen!“ geſagt hat.
Als ob man nicht wüßte, wie ſie mal barfuß laufen
mußten und Reiſig auf der Hucke tragen, das iſt
noch keine Sünde nicht, aber pfui, wer ſich ſchämt,
was er geweſen iſt. Und gegen den Vater wäre
auch gar nichts zu ſagen, wenn er nicht ſo ſchreckliche
Manieren hätte. Man merkt doch gleich den Grob¬
ſchmied raus. Und wo er zuſchlägt, wächſt kein
Gras. Aber er iſt doch mal ihr Vater, und geſtohlen
hat er auch nicht. Aber die Mutter, na, lieber Gott,
wenn man von der erzählen wollte! Unter der
Haube iſt ſie nun mal, aber von vorher weiß man
Geſchichten. Gott bewahre mich, daß ich was ſagte.
Wer Allen die Haube vom Kopfe reißen wollte, die
jetzt hochmüthig thun, und auf Andere ſchief runter
ſehen, da hätte man viel zu thun. Einer den Andern
verreden, das iſt die Schlechtigkeit der Menſchheit,
und bis das nicht abgeſchafft iſt, Couſin, da können
Sie mir glauben, iſt's nichts in der Welt. Ich weiß
das ja von meinem Geheimrath. Da möchte Einer
den Andern runter bringen. Katzenfreundlich vor den
Augen, und wenn ſie ſich den Rücken gedreht haben,
pfui! Da ſtellt Einer dem Andern das Bein, und
noch weit höher hinauf. Und wenn er gefallen iſt,
da drücken ſie ihm die Hand und thun, als ob ſie
[204] die Augen wiſchen, aber wenn er ſich wieder ſetzen
will, Proſtemahlzeit! ſie ſitzen ſchon auf dem Stuhl.
Der König hat's anders haben wollen, aber ſie
haben ihm geſagt, es geht nicht. Sire, haben ſie
geſagt, wollen Sie die Menſchen anders machen,
als ſie ſind? Solch ein ſeelensguter König! Wenn's
nur nach dem ginge! Ja, ich ſollte mal drei Tage
lang König ſein, Couſin. Ich wollte die Menſchen
ſchon anders machen. Krieg, wollen Sie jetzt haben,
ſoll er machen. Warum Krieg! Brauchen wir Krieg?
Wenn wir Krieg brauchen, haben wir ihn ja
draußen, ſo viel wir wollen. Der Bonaparte macht
ihn, ſagt mein Geheimrath und die Andern. Miſch
Dich nicht in was Dich nichts angeht. Und unſere
propern Soldaten, was haben wir davon, wenn wir
ſie todtſchießen laſſen? Aber's wird doch Krieg.
Paſſen ſie acht, es geht los.“


Einmal auf dem Einſpänner, mußten wir ihn
doch bis an's Thor begleiten. Wir zweifeln nicht,
daß Charlottens Lunge, die das auf dem damaligen
Berliner Straßenpflaſter vermocht, auch draußen auf
dem weichen Erdreich des Thiergartens noch lange
fortgefahren iſt. Ob ihre politiſchen Deductionen
zur Belehrung des Hoflackirerſchen Ehepaares bei¬
getragen, laſſen wir auf ſich beruhen, ſie verſchafften
ihnen aber den Vortheil, nichts von den Spitzreden
zu hören, die unter lautem Hohngelächter ihnen
nachſchallten.


Hier war nur eine Partei zurückgeblieben, man
[205] möchte ſagen, eine Herzensſeligkeit, und die geputzten
Mamſellen fielen ſich mit den Straßenjungen um die
Wette in's Wort, um den Fortgerollten etwas Krän¬
kendes nachzuſchicken. Der Zorn, wenn er auch nicht
mehr trifft, muß ſich ſelbſt genügen. — Nein, wenn
ſolche Leute ſich was herausnehmen wollen, die nichts
ſind! — Wer unter der Gaſſenjugend kannte nicht
die Geheimraths Charlotte! Wenn die anfängt, müſſen
die Fiſchweiber unterducken. — Ja, mit den Fiſch¬
weibern mag ſie Trödel anfangen, da iſt ſie unter
ihres Gleichen, aber ſich unterſtehen, anſtändige Per¬
ſonen auf der Straße zu attaquiren! — Eine Köchin
ſo aufgedonnert, ein Scandal, was die Polizei ver¬
bieten müßte. — Die Polizei fragt freilich nicht, wo
eine Köchin ihr Umſchlagetuch her hat. — Vom
Wachtmeiſter hat ſie es gewiß nicht erhalten! —
Wenn Charlotte ſich noch einbildete, daß der Geheim¬
rath ſie heirathen würde, hier auf der Straße war
es eine ausgemachte Sache, daß ſie die Rechnung
ohne den Wirth gemacht. — Und ihre Couſine, mit
der ſie ſo groß that! — Ja, wenn man nicht Alles
wüßte, wenn man ſie nicht gekannt hätte! — Ja,
der Herr Hoflackir war ein honetter, proprer Herr, der auf
ſich was hielt. Immer adrett. Er zahlte baar. —
Der arme Hoflackir, daß er ſich von der Perſon
herumkriegen laſſen! — Aber es war ihm ſchon recht,
warum war er ein ſolcher Schafskopf! — Die Wage
des armen Hoflackirs ward immer leichter. Arbeiten
verſtünde er, das müßte man ihm laſſen, aber ſonſt —
[206] ein Einfaltspinſel. — Und ohne die Weiber was
wäre er! — Barfuß, die Stiefel auf dem Rücken,
war er durch's Halleſche Thor eingewandert. Aus
dem Voigtlande! Ja, wenn ſeine Meiſterin nicht ein
Auge auf ihn geworfen! Und wie hatte er es ihr
vergolten! — Aus dem Voigtlande mußte er her¬
kommen, um Andern das Verdienſt wegzuſchnappen,
und dann will er noch Polizei ſpielen über Berliner
Stadtkinder! Himmelſchreiende Anmaßung!


Der honette, propre, adrette, immer baar zah¬
lende Herr Hoflackirer wäre gewiß noch ſchlimmer
geworden, hätte nicht die Polizei jetzt wirklich mit
vielem Geräuſch verſucht, die Gruppirung auseinander
zu treiben. Sie jagte ſich mit den Gaſſenjungen.
Die anſtändigen Leute erſuchte ſie auseinander zu
gehen, denn je weniger jetzt zu ſehen war, um ſo
mehr drängten ſich, um noch zu ſehen, was Andre
vor ihnen geſehen hatten. Die urſprünglichen Tumul¬
tuanten waren längſt entwiſcht, und die ehrbare Fa¬
milie des weiland Hufſchmied, jetzigen Knopfhändlers,
ſchon auf dem Wege nach dem Hofjäger, wo ſie,
nach einigen Nachrichten, die wir aber nicht verbürgen
wollen, ſich mit der des Hoflackirers verſtändigte,
indem ſie herausfanden, daß es nichts als ein Mi߬
verſtändniß geweſen, was ſie an einander gebracht.


Unter den ehrbaren Bürgern war ſehr ernſthafter
Disput über den Vorfall. Um ſo beſſeres Streiten,
als kaum Einer von denen, die ſtritten, noch mit Augen
geſehen, um was es ſich ſtritt. In einem Punkt nur
[207] waren Alle einig: Warum war die Polizei nicht
früher gekommen?


„War denn die Polizei überhaupt nöthig?“ ſagte
der Begleiter einer ältlichen Dame, der etwas Fremd¬
artiges an ſich hatte. Er war aus Amerika nach
einem langen Aufenthalt daſelbſt in ſeine Vaterſtadt
zurückgekehrt. Man ſah ihn verwundert an. „Haben
Sie denn da keine Polizei?“ — „Wo man ſie braucht.
Was ſich von ſelbſt ſchlichtet, dazu ruft man ſie nicht.“
Die ehrbaren Männer ſchüttelten den Kopf: Es war
ja ein Scandal! „Doch nur für die, welche ſich um
ſolche Bagatellen ſtritten.“ Aber es ward ein Auf¬
lauf; es hätte noch ſchlimmer werden können. Einer
mußte doch beiſpringen. „Hätten die Nachbarn und
ehrbaren Bürger ſich nicht ſelbſt helfen können, wenn
es ihnen zu arg ward.“ Man verſtand ihn nicht.
Das wäre noch hübſcher, ehrbare Bürger um ſo was
zu incommodiren! Die meiſten Nachbarn meinten,
es liege an der Unvollkommenheit der Geſetze, man
ſolle andere machen; nur waren ſie verſchiedener An¬
ſicht über das wie: den Straßenjungen ſollte ver¬
boten werden auf der Straße zu ſchreien, verlangte
der Herr Tabackskrämer drüben. Der Schullehrer
meinte: den Frauenzimmern müßte unterſagt ſein,
in einem Putz auf der Straße zu erſcheinen, der über
ihren Stand ginge, denn daher komme doch die ganze
Geſchichte. Ein Dritter: man ſolle nicht Jedem er¬
lauben, auf der Straße zu plumpen, denn das ſei
der eigentliche Quell. Man kam zu keiner Einigung.


[208]

Als die Leute erfahren, der Mann ſei ein Ameri¬
kaner, erregte er den Reſpect, welchen in Berlin Alles
beanſprucht, was weit her iſt. Mehre der ehrbaren
Leute, die zugleich auch wißbegierig waren, umringten
ihn mit beſcheidenen Fragen über amerikaniſche Ein¬
richtungen. Einer, der ihm aufmerkſam und bei¬
ſtimmend zugehört, ſagte: „In alledem, mein geehrter
Herr, mögen Sie Recht haben, aber ich frage Sie,
wenn Sie keine Schilderhäuſer und Schildwachten
in Amerika haben und keine Polizeicommiſſare und
Sergeanten, wer reißt denn den Handwerksburſchen
die Pfeifen aus dem Mund?“ — „Niemand.“ —
„Ja, mein Gott, wie kann denn aber da Ordnung
in Amerika ſein!“


Die guten Bürger ſchüttelten den Kopf. Die
ältliche Dame, welche ſich von dem Amerikaner führen
ließ, und zu ihm in dem Verhältniß einer Bekannten
oder Verwandten ſtehen mochte, die, einſt ſeine müt¬
terliche Lehrerin, die langen Jahre vergißt, welche
den Knaben zum Mann erhoben, ſagte mit der Feier¬
lichkeit überlegenen Wiſſens und doch mit dem gut¬
müthigen Lächeln einer mütterlichen Freundin, die
Verirrungen ſanft aufnimmt, weil wir Alle irren:
„Du wirſt überall Ungläubige treffen, mein lieber
Friedrich, wenn Du von den Vorzügen Deiner neuen
Welt da drüben ſprichſt. Und Dir ſelbſt wird, wenn Du
Dich nur wieder zurecht findeſt, auch das Auge auf¬
gehen, daß in keinem Staate ſo väterlich für das
Wohl der Bürger geſorgt iſt, als in dem unſeren. Nur
[209] in dem Einen haſt Du Recht, da iſt es beſſer bei
Euch, daß ſie die Kirchen heizen! — Ja, ich habe
es immer geſagt, wenn die Obrigkeit dafür bei uns
ſorgte, was hätten die Leute dann noch zu klagen! —
Nun, wer weiß, wenn ich die Augen ſchließe, kommt
man wohl auch noch dahin! Die großen Herren hier
haben immer an Anderes zu denken, was ihnen
wichtiger ſcheint, darüber vergeſſen ſie das Nächſte.“ —
„An dieſem heißen Auguſttage iſt es doch wohl nicht
das Nächſte, liebe Tante,“ entgegnete der Amerikaner.
— „Wenn wir aber nicht im Sommer für den
Winter ſorgen, dann iſt es im Winter zu ſpät. Im
Winter aber denken ſie, nun, es iſt ja noch Zeit,
es kommt ja der Sommer. So wechſeln Winter
und Sommer und es geſchieht nichts.“


Es war eine bekannte alte Dame der Reſidenz,
gleich geſchätzt wegen ihrer Wohlthätigkeit und Fröm¬
migkeit, als wegen ihres klaren Geiſtes. Nur war
ſie ebenſo bekannt wegen dieſes Steckenpferdes, das
ihr zur fixen Idee geworden. Sie meinte, die Ar¬
muth fühle ſich erſt recht, wenn ſie in ihren Lumpen
in den kalten Gotteshäuſern ſtehe, wogegen die
Verlaſſenen und Gedrückten mit einem ganz anderen
Gefühl gegen ihren Schöpfer und ihre Mitmenſchen
aus den warmen Kirchen zurückkehren würden, gleich
wie ein Satter gegen die Verdrießlichkeiten des
Lebens geharniſcht ſei, wo ein Hungernder auf den
erſten Angriff fällt. So wußte ſie zu beweiſen, daß
aus dem Heizen der Kirchen nicht allein chriſtlich
IV. 14[210] frommer Sinn, allgemeine Menſchenliebe, ſondern
auch Zufriedenheit, Selbſtbeſcheidung und Gehorſam
gegen die Obrigkeit, kurz ein glückliches, vollkom¬
menes Gemeinweſen entſpringen müſſe. Man nannte
ſie ein Original; Einige aber meinten: iſt nicht
jedes denkende Weſen mehr oder minder ein Original,
das von einer gehegten Vorſtellung nicht laſſen kann,
ſie nährt, und von ihrer Realiſirung das Wohl der
großen und kleinen Kreiſe abhängig wähnt, in
denen ſein Gedanke ſich bewegt? Glaubt nicht jeder
ein Radicalmittel zu wiſſen, ſchüttelt er nicht be¬
denklich den Kopf, wenn die Regierer und Lenker
andere Mittel ergreifen, ſeines ignorirend, und iſt
nicht der ganze Complex dieſer Sinnenden, Den¬
kenden und Thätigen doch eigentlich das Corpus
der geiſtigen Menſchheit, welches, aus wie vielen
Irrthümern es auch beſtehe, die Trägen und Stumpf¬
ſinnigen mit ſich fortreißt in dem großen Ent¬
wickelungsprozeß der Menſchheit?


Die Straße war wieder ſtill geworden und
Walter ſaß am Schreibtiſch. Er ſchlug die Augen
nieder. Es war eine ermattende Luft. Er ſchüttelte
die Träume ab, aber die Wirklichkeit kehrte als
Traumbild zurück. Eine Seite ſtand fertig geſchrieben,
als er die Feder wieder fortlegte und ſich zurück¬
lehnte: „Lohnt es ſich denn um dieſes Volk! Will
es anders ſein, als es iſt! Weiß es, was es wollen
muß, um aus der Dumpfheit der Exiſtenz —“


Er trat noch einmal an's Fenſter.

[[211]]

Vierzehntes Kapitel.
Blicke aus eines Ministers Fenster ins innere
Leben.

Es war nicht grade kühler geworden, aber die
Sonne prallte nicht mehr vom Pflaſter und den
hellen Häuſermauern zurück. Sie war hinter das
Dach eines hohen Gebäudes geſunken. Ein vor¬
nehmeres Publicum bewegte ſich langſam zum
Thore hinaus. Da ging ſein Vater, im Arm den
Rittmeiſter von Dohleneck. Seltſame Freundſchaft
vom neuſten Datum! Er lächelte über das Gerücht,
das der Witz der Berliner Börſe erfunden: ſein
Vater wolle ihn enterben, weil er keine Schulden
gemacht, um den Rittmeiſter zu adoptiren, der viel
Schulden hatte; denn die Firma Walter van Aſten
verdanke ihren Credit denen, die keinen hätten. Ihre
Schuldigkeit ſei es daher, das Schuldenmachen zu
begünſtigen. Er wußte nun, was ſeinen Vater und
den Officier auf's Neue verband. Es war kein an¬
genehmer Gedanke. Er wollte nicht durch einen
Vater, noch weniger durch einen Gensdarmen-Ritt¬
meiſter, es war ſein Stolz geweſen, nur durch ſich
14*[212] empfohlen zu ſein. „War das nicht auch vielleicht
Phantaſie, fuhr er aus ſeinen Träumen auf, eine
fixe Idee, wie die der guten alten Oberkirchenräthin!
Bewegen wir uns nicht alle in einem großen Ge¬
ſpinnſt, über das wir nie hinausfliegen, wie wir
uns auch anſtrengen! Wir ſehen nur nicht das
Gängelband, an dem man uns führt. Ja, Alle ſind
wir eingeführt in die Kreiſe, wo wir wirken
ſollen; der durch ſeinen Namen, Herkunft, der durch
die glatten Wangen, das Geld des Vaters, es war
ihm mitgegeben, als er geboren ward. Der ruft
den Schneider, den Coiffeur, den Tanzmeiſter zu
Hülfe. Sie leſen, bilden ſich, um zu wirken. Was
wäre unſer ernſteſtes Studium, wenn uns nicht doch,
als endliches Ziel, ein Wirkungskreis vor Augen
ſtände, der uns gefällig machen ſoll, uns unter den
Menſchen erhebt, einen Einfluß verſchafft! Warum
nun, wo wir immerfort Hülfe ſuchen müſſen, um die
Lücken unſeres dürftigen Ichs auszufüllen, die von
uns ſtoßen, die man uns darreicht, die von ſelbſt
da iſt! Das Netz, das uns umſchlingt, heißt Con¬
nerionsweſen. Iſt's nicht in unſre Natur eingeimpft,
bedingt durch unſre Geſellſchaft, unſer Gemeinweſen,
lag es nicht ausgeprägt in unſerm zünftigen, deutſchen
Sippſchaftsweſen? Der Sohn ſchlüpfte in die Kund¬
ſchaft, Rüſtung, die Lehen ſeines Vaters, die Geſetze
drückten ein Auge zu, die Freundſchaft half und
die Gewohnheit machte die Vererbung zu einem
Recht. So überall. Wir ſehen freilich Lumpe auf
[213] dieſem Wege ſteigen, wo das Verdienſt zur Thür
hinausgewieſen wird. Warum läßt es ſich ausweiſen?
Warum greift es nicht zu den Mitteln, welche die
Vorſehung ihm bot! Iſt das nicht vielmehr Hochmuth,
vielleicht der impertinenteſte Dünkel, ſich nur ſelbſt
genügen zu wollen? Sollen wir nicht klug ſein wie
die Schlangen! Und was Klugheit! Graſſirt nicht unter
dieſen Menſchen die Manie zu protegiren! Sie
locken uns; wir brauchen nur zuzugreifen. Es iſt
der Kitzel des Stolzes und der Armſeligkeit derer,
die aus ſich nichts machen können, Andre zu erheben,
die ſich ihnen fügen, ihren Launen ſchmeicheln, in
ihre Gedanken hineinlügen. So entſtanden Schulen,
künſtleriſche, philoſophiſche, religiöſe, ſo erwuchs das
Königthum zu der mythiſchen Größe. Man erhob
ſich, weil man Kleinere unter ſich groß werden
ließ. Man unterließ den Pyramidenbau, weil man
inne ward, daß man doch nicht über die Wolken
dringe; aber je mehr Abſtufungen man zu ſeinen
Füßen betrachtete, um ſo erhabener dünkte man ſich
ſelbſt. Es iſt ihr Spielzeug, warum erfaſſen wir es
nicht, und laſſen ſie ſpielen zu unſerm Zwecke!“


Die Baronin Eitelbach fuhr vorüber. Der Ritt¬
meiſter grüßte ſie in feierlich militäriſcher Haltung. Sie
erwiederte den Gruß in derſelben Art. Er ſah
ſeinen Vater lächeln. Es war ja ein Allerwelts¬
geheimniß. Was hatte die halben noch im Nebel¬
ſchleier verborgenen Dirigenten zu dem frevelhaften
Spiel veranlaßt? Man nannte hochgeſtellte Perſonen.
[214] Was hatten ſie für ein Intereſſe, daß zwei ſich ver¬
liebten, die bis da eine Abneigung gegen einander
empfanden, eine verheirathete Frau von unbeſcholte¬
nem Ruf und bekannt wegen ihres Phlegmas, und
ein Officier, deſſen Paſſionen im Strom des Alltäg¬
lichen nie dem Siedegrad nahe gekommen waren?
Was anderes, als die Sättigung, welche die Buhle¬
rin endlich zur Kupplerin macht! Der Kitzel, mit
den Gefühlen Anderer zu ſpielen, wo die eigenen ver¬
ſiegt und ausgebrannt waren, die dämoniſche Luft,
über das Loos Anderer zu ſchalten und walten, gleich¬
viel, ob mit ihrer Freiheit ihre Stellung in der
Welt, ihre Ehre, ihr Seelenfriede und ihr Le¬
bensglück verloren ging. So mehr Vergnügen, je
ſchwieriger die Aufgabe war. In der Anſtrengung
die Hinderniſſe überwinden, ſtählt die Kraft. Und
dieſen mächtigen Antrieb zum Böſen, ſollte man ihn
wegwerfen, wo man ihn zum Guten angreifen und
nutzen kann.


Der Wagen war vorübergerollt. Sein Blick
fiel auf eine Fenſterreihe, ſchräg dem Hotel gegen¬
über. Ein Theil dieſer Fenſter war mit grünen Ja¬
louſieen verſchloſſen; ſie ſchienen nicht erſt heute gegen
den Sonnenbrand herabgelaſſen, der dicke Staub
darauf ſprach von einem langen Verſchluß. Das
ganze Haus ſah ſtill und öde aus wie eines, worin
Krankenluft wehte. Ein Leiterwagen mit Strohbun¬
den kam langſam herangefahren. Er hielt ſeitwärts.
Man ſtreute das Stroh ſorgſam auf das Pflaſter
[215] vor dem Hauſe. Jetzt rollte vor einem der Mittel¬
fenſter die Jalouſie langſam auf, eine weibliche Ge¬
ſtalt ſah auf die Arbeiter hinaus. Die Geheimräthin
Lupinus gab den Leuten Anweiſungen, die er nicht
hörte. Sie hatte wieder ein Tuch vor dem Munde
und wehte ſich friſche Luft zu. — Man nannte die
Lupinus eine unglückliche, ſchwer vom Schickſal heim¬
geſuchte Frau. Man rühmte ſie wegen der ſtoiſchen
Ruhe, mit welcher ſie die harten Unfälle, die Schlag
auf Schlag ſie trafen, ertrug. Sie widmete ſich Tag
und Nacht der Pflege des kranken Gatten, und mußte
von ihren Bekannten an die Pflicht erinnert werden,
zuweilen auch an ſich ſelbſt zu denken. Die Zufälle des
Geheimraths ſollten beſonderer Art ſein, und er ſeine
Pflegerin durch wunderbare Phantaſieen plagen. Von
alledem merkte man nichts, wenn ſie in der Geſell¬
ſchaft erſchien. Sie ſprach von dem, was ihr bevor¬
ſtehe, mit Ruhe und Faſſung. Sie mache ſich keine
Illuſionen, wenn auch die Aerzte ihr Troſt zuſprä¬
chen; mit einem Seufzer fügte ſie hinzu, ſie habe in
ihrem Leben die Trugſchlüſſe dieſer Wiſſenſchaft hin¬
länglich kennen gelernt. Sie citirte gern Stellen
aus Mendelsſohns Plato. Was ſei denn das Leben
anders, als ein Gefängniß oder ein Wachtpoſten,
aus dem die Seele ſich hinausſehnt, nach Befreiung
oder Ablöſung. Sie blickte auch wohl nach den
Sternen, und ſchien über ſich ſelbſt zu lächeln, wenn
ſie in zwei kleinen, die ſie bezeichnete, die lieblichen
Kinder zu ſehen glaubte, die unter ihrer mütterlichen
[216] Pflege in das Jenſeits entſchweben müſſen. Halten
Sie mich um deswillen nicht für eine Schwärmerin,
ſetzte ſie mit einem ſanften Händedruck hinzu, dazu
bin ich verdorben. Meine Freunde ſagen ſo oft,
daß ich es am Ende glauben muß, ich ſei eine Phi¬
loſophin. Die Leidenſchaften, die uns verwirren und
aufregen, wer kann von ſich rühmen, daß er ſie ganz
bewältigt, um zu der Ruhe der Seele zu gelangen,
welche uns zu wahrhaft Freien macht! Bin ich nicht
eine ſchlechte Philoſophin, wenn ich nicht einmal ſo weit
über mich Herr ward, wie mein guter Mann? Er ſieht
ſeiner Auflöſung mit der Ruhe des Gerechten entge¬
gen, froh wie ein Kind jeden Augenblick genießend,
der ihm noch geſchenkt iſt; der Sonnenſtrahl, der in
ſein Zimmer fällt, preßt ihm ein Lächeln aus, er
weht mit der Hand durch die Sonnenſtäubchen; er
ſtreichelt dem Kater über den Rücken: was wird aus
Dir nach meinem Tode werden? Er kann noch
ſcherzen: ob man nicht Verſorgungsanſtalten für
treue Hausthiere einrichten ſolle? Mein Herz blu¬
tet bei dieſen Scherzen, und das ſollte eine Philoſo¬
phin nicht. Sie ſollte auch nicht mehr hoffen, wo
der Verſtand ihr ſagt, daß hinter der Hoffnung ein
Strich gemacht werden muß. Ich kann es noch nicht,
ſprach ſie, ſich plötzlich abwendend, das Tuch am Ge¬
ſicht, da ſehen Sie, was ich für eine Philoſophin bin!


Die Geheimräthin Lupinus ward allgemein be¬
wundert, aber man fröſtelte bei dieſer Bewunderung
und man vermied ſie. Walter hatte ſcharfe Augen.
[217] Das Geſicht kam ihm heut beſonders ſpitz vor. Sie
ſchielte ja. Fiel nicht ihr Blick ſeitwärts über die ganze
Straße? Wie kam ihm die Vorſtellung von einem
Brennglas, das in der Ferne zünden ſoll? Er hatte
niemals Zuneigung für ſie empfunden. Er hatte ſich
ehemals ſelbſt darum getadelt, denn er glaubte, es
ſei nur die Abneigung, welche kluge Männer ſo oft
gegen kluge Frauen empfinden, aus Hochmuth oder aus
Eiferſucht. Er hatte dieſe Gefühle damals bekämpft,
er hatte ſich zur Freundlichkeit gezwungen gegen eine
Frau, die ſie ihm ſelbſt gezeigt und ſpäter ſeinen
Dank beanſpruchte. Sie hatte ſeine Geliebte gerettet.


Das war längſt Vergangenes. Er erröthete ſo¬
gar bei der Erinnerung, wie er ihren Launen ent¬
gegengekommen war. Junge Männer, wenn ſie eines
unpaſſenden Benehmens ſich erinnern, gäben im Au¬
genblick dieſes Unbehagens einen Theil ihres Lebens
darum, die Erinnerung auszulöſchen. Was ging
ihn jetzt die Lupinus an? Und doch ſtand ihr vol¬
les Bild vor ſeiner Seele; das, welches im Spiegel
ſich wiedergiebt, und das, was kein Glas und kein
Metall aufnimmt. — Wie oft hatte er im Geſpräch
über ernſte wiſſenſchaftliche Gegenſtände die Schärfe
ihres Verſtandes, ihre Phantaſie im Combiniren be¬
wundert, aber es war, als ob ein bleigrauer Schleier
gleich darauf die Anſchauung überzog, eine ätzende
Subſtanz, welche die eben noch blühenden Farben
verzehrte; aus dem Gemälde ward ein blaſſer Kupfer¬
ſtich. Er war nie erhoben durch ihr Geſpräch, er
[218] ging nie froh von ihr. Was wollte dieſe Frau?
Jetzt eine Philoſophin, die das Firmament durch¬
dringen will nach dem Ewigen; jetzt ſchien ihre Bruſt
ſich zu heben von Hochgefühlen für Vaterland, Frei¬
heit, für die Heroen der Menſchheit. Fand ſie eine
Schranke, eine eiſerne Wand, vor der ſie zurückſank
nach verzehrendem Kampf? — Nein, ihre Flügel
ſchienen ſchon erlahmt, wenn die Zuſchauer fort¬
ſahen. Und dann wie das Vogelgeſchlecht, das auch
Flügel hat, aber nie in die Wolken ſich erhebt, flat¬
terte ſie im Frivolen, Eitlen, gehoben von keinem
andern Drang als dem der Gefallſucht. Tauſende,
die nach dem Intereſſantſein haſchen, zufrieden, wenn
irgend etwas als vorzüglich anerkannt wird, ſei es
auch nur eine Lieblingsarie am Klavier, ein kleiner
Fuß, ihr feines Whiſtſpiel. Wo blieb ſie denn
ſtehen, woran hielt ſie ſich? fragte er ſich. Wäre ſie
ſich ſelbſt genug? Auch die Vorſtellung, von Allen
verkannt zu ſein, es iſt eine bittere Wolluſt, aber ſie
mag zur Säule werden, auf die zuletzt allenfalls
eine Säulenheilige klettert und in ſchwindelndem
Stolz auf das Gewühl herabſieht.


Aber — nein, dazu pulſte ihr Blut zu ruhig.
Der holde Wahnſinn ſpielte nicht um ihre Schläfe, ſie,
jeden Augenblick die ſich bewußte Beherrſcherin ihrer
Worte, ihrer Mienen. Wußte ſie ja ſogar, daß ſie
den Männern nicht gefiel, daß Frauen vor ihren Lieb¬
koſungen erſchraken. Gefühlvolle erkältete ihr Ge¬
ſpräch, Geiſtreiche fühlten ſich gelähmt. Nur ganz
[219] Beſchränkte waren durch ihr Wohlwollen geſchmeichelt,
nur ſolche geriethen in Entzückungen über ihren Geiſt,
die von ihr ſich heben und tragen laſſen wollten, und
auch dieſe nur ſo lange, bis ſie ihrer nicht mehr be¬
durften. Und auch das wußte die Unglückſelige!
Wohin er blickte, was ſie gelten wollte, ſie erreichte
es nicht. Schwärmte ſie für Napoleon, ſtudirte ſie
Plato, begeiſterte ſie Fichte, erglühte ſie für die
Schönheitsformen des Alterthums, war ſie plötzlich
von patriotiſchen Gefühlen für die Ehre des Vater¬
landes erweckt, war ſie die liebevolle Pflegerin des
kränklichen Gatten? Nichts von alledem! Walter
hatte mathematiſche Beweiſe dafür.


Sie ſchloß jetzt wieder die Jalouſieen. Die ſpitzen
Finger der magern Hand waren noch ſichtbar, wie
ſie ſich mühten eine Schlinge an einen Wandnagel
zu befeſtigen. Es gelang nicht ſo ſchnell. Das Spiel
der einſamen Hand hatte etwas Unheimliches für
Walter. Was wird ſie nun drinnen in der dunkeln Stube
anfangen? Handarbeiten? Sie nahm ſie nur vor,
wenn Fremde da waren, gewiſſe angefangene Stücke,
die er gut kannte, Stickereien, Nähtereien, die aber
nie fertig wurden. Würde ſie ſich an's Bett des
Kranken ſetzen, den Schweiß von ſeiner Stirne
wiſchen, ſeine magere Hand liebevoll ſtreicheln? Er
glaubte durch die Mauer zu ſehen, daß ſie es nicht
that. Er hätte eine Wette darauf gewagt, daß ſie
mit Schaudern vom Kranken ſich abwandte. Vielleicht
ergriff ſie eine Lectüre? — Was ſollte ſie leſen?
[220] Und am Krankenbett! Da lagen gewiſſe Bücher,
Mendelsſohns Plato, Tiedge's Urania, Fichte, Schleier¬
macher, aufgeſchlagen oder mit Zeichen unter ihrem
Arbeitstiſch. Je nach dem Beſuch, der ſich meldete,
ward eines auf den Tiſch gelegt. Die Geheimräthin
galt für eine ſehr beleſene Frau, ſie ſprach mit Geiſt
über die Novitäten, die — ſie nicht geleſen hatte.
Walter hatte ſie für ſie leſen, ihr den Inhalt vor¬
tragen müſſen. O er wußte Beſcheid im Hauſe; und
wie viel hatte ihm Adelheid mitgetheilt! — Ein Schmerz,
ein Gedanke, ein Blitz zückte durch ſeine Bruſt. Was
hat ſie mit Adelheid gewollt? — Nicht drei Tage
waren vergangen, und ſie hatte ſie gequält, alle ätzende
Schärfe des Verſtandes auf das Kind der Natur
ausgegoſſen. Was war denn ihre Abſicht? Sein
Herz pochte immer heftiger. Ein Möbel, den Schmuck
des Hauſes, den man ankauft, um Gäſte anzulocken,
verdirbt man nicht, man bemüht ſich nicht, ihm die
natürliche Farbe, ſeinen Glanz zu rauben. Aber hatte
nicht dieſe Frau — Adelheid hatte es nie ausge¬
ſprochen, in ihrem Stocken, ihrem Zittern hatte er
es geleſen. Mein Gott, was hatte ſie gewollt! — Dunkle
Bilder wogten vor ſeiner Stirn — der Legationsrath,
ſein räthſelhaftes Verhältniß zur Lupinus! Hatte ſie
einen Kuppelhandel treiben wollen? — Nein, ver¬
giften — ſie vergiften. Aber warum, womit? Weil
Unglückliche den Anblick von Glücklichen nicht ertragen
können? Weil der Adel einer reinen gottgeſchaffenen
Seele zum beſtändigen Vorwurf für die wird, welche
[221] dieſen Adel eingebüßt. Es war plötzlich eine Ueber¬
zeugung, die ihn durchdrang. Aber war es nur
Inſtinct geweſen, oder hatte ſie ſyſtematiſch gearbeitet?
Mein Gott, iſt es denn möglich, daß eine Frau
ſyſtematiſch an ein ſolches Geſchäft geht! Es war
wohl nur ein Gebilde des Argwohns, und doch —
alle ihre Handlungen — und boten Erfahrung und
Geſchichte ihm nicht hundert Beiſpiele einer ſolchen
Verführungsluſt bloß aus dem Gelüſt zu verführen!
Wie man dem Tobſüchtigen Waſſerſtürze giebt, hatte
ſie auf alle ihre warmen Gefühle einen Eisguß ge¬
ſchüttet. Das junge warme Herz, ja es ſollte ſyſte¬
matiſch erkalten, vor der Zeit abſterben, — nicht an
eignen bitteren Erfahrungen, an denen einer egoiſti¬
ſchen Seele, die nicht mehr Liebe, Glauben, Hoffnung
kannte. Ein blühendes Geſchöpf, von der Natur mit
allen Frühlingsregungen begabt, wollte ſie zum aus¬
gebrannten Vulcan machen. War ſie das ſelbſt? —
Nein, etwas lebte doch in der Frau, ein geheimes
Feuer — Haß, Neid, eine ſtille Wolluſt des Egoiſ¬
mus. Eine kaltherzige Egoiſtin iſt zu Allem fähig —
So wollte ſie Adelheid präpariren, zu einer Mitſün¬
derin, einer Verlorenen, Troſtloſen.


Und er ſelbſt! — Stand er ohne Schuld da!
Hatte ihn nicht längſt eine Ahnung überſchlichen, daß
die Lupinus dies beabſichtigte? Und hatte er die
Ahnung nicht aus dem Sinn geſchlagen, und aus
Eigennutz? War es nicht ſein Wunſch geweſen, daß
ſeine Braut dort aushalte, weil er in dieſem Hauſe
[222] freien Zutritt hatte, weil in letzter Zeit wenigſtens
die Geheimräthin ſeinen Wünſchen entgegen zu kom¬
men ſchien, weil er unter andern Verhältniſſen, in
einem andern Hauſe für ſeine Hoffnungen fürchten
mußte? Darum hatte er, zwar nicht gegen ſeine Pflicht
gehandelt, aber doch — die Gedankenſünde begangen.
Selbſt ein Egoiſt, wagte er Andere anzuklagen!


Da rollte die Equipage der Fürſtin vorüber,
im Fond dieſe mit Adelheid, auf dem Rückſitz ſaß
Louis Bovillard. Die Fürſtin ſchien zu ſchlummern.
Adelheid und Louis ſahen nichts, ſie ſahen nur ſich.
Der Wagen war verſchwunden, eine Erſcheinung.


Ein „Gott ſei Dank!“ löſte ſich aus Walters
Bruſt, vielleicht von ſeinen Lippen. Er fühlte eine
wohlthätige Transpiration. Das Schickſal hat es ſo,
es hat es vielleicht zum Beſten gefügt. Ja, im Conto¬
buch ſtand noch ſeine Schuld auf der Seite „Soll,“
aber ſie war ausgeglichen auf der Seite „Hat.“ Er
hatte nichts mehr. Seine Geliebte war die Geliebte
eines Andern. Sie war gerettet, und er — verloren?
Nein, er war nur frei geworden, um ſein ganzes
Ich, ohne Egoismus, hinzugeben einer andern
Geliebten, dem Vaterlande, der Idee, als deren letztes
Ziel in der Ferne — Deutſchlands Errettung vom
Fremdjoche ſchwebte.


Mit Eifer ſetzte er ſich an den Schreibtiſch, und
ſeine Arbeit förderte ſich. Er war fertig, als der
Miniſter eintrat.

[[223]]

Funfzehntes Kapitel.
Alles für einen Andern.

Die verfinſterte Stirn des Miniſters, mit welcher
er eingetreten, erheiterte ſich nicht, als er das Papier
durchlas. Er flog es nur noch über, als er es auf
den Tiſch fallen ließ.


„Das iſt nichts, — gar nichts.“


„Euer Excellenz Ideen —“


„Die Ausführung taugt nichts. Dilettanten¬
arbeit für Herrn Merkel in den Freimüthigen. Oder
an die Zeitung da in Leipzig. Wir arbeiten hier
nicht für die elegante Welt.“


Walter hielt den Hut ſchon unter dem Arm,
und verbeugte ſich, den Entlaſſungswink anticipirend.


„Empfindlich! Das taugt nicht für die Staats¬
carriere.“


„Da meine Schrift nichts taugt, kommt wohl
darauf nichts mehr an.“


„Man darf nicht der Empfindlichkeit nachhängen,
wenn man ſich berufen fühlt, für das Gemeinweſen
thätig zu ſein.“

[224]

„Mir ward eben der Beruf abgeſprochen.“


Der Miniſter hatte, ohne ihm zu antworten,
das Papier wieder in die Hand genommen, und
klopfte, indem er ſprach, mit der umgekehrten Hand
darauf.


„Dürfte“ — „ſollte“ — „wagte!“ Wie ſoll das
wirken! Das gleitet an den blaſirten Ohren vorüber,
wie eine obligate Flöte, die den Waldſturm accom¬
pagniren will. Das Gleichniß vorn, machen Sie ein
Gedicht daraus. Dieſen hier muß man derb, Schlag
auf Schlag, die Nothwendigkeit vor's Auge führen.
Da iſt ein guter Paſſus, aber die Worte auch
wieder viel zu gehobelt. Und wie ſollen ſie die
Anſpielung verſtehen? Mit der Trompete ihnen in's
Ohr blaſen, es iſt noch immer ſanftere Muſik als
die Kanonen.“


Walter äußerte etwas davon, daß die Stellung
eines Anfängers, der kaum in das Geſchäftsleben ge¬
blickt, ihm nicht erlaube, ſich ſofort in die Stellung
des Miniſters gegen ſeine Collegen, oder gegen die
Majeſtät des Königs ſelbſt zu finden. „Das glaube
ich gern, ſagte der Miniſter, der, ſichtlich erſchöpft
und mit andern Gedanken beſchäftigt, ſich auf das
Ruhebett geworfen. Man muß Vieles erſt lernen.“


Walter wartete noch immer auf das Zeichen
der Entlaſſung. Der Miniſter blätterte in einem
Notizbuch. Hatte er ihn vergeſſen? Plötzlich ſprach
er: „Setzen Sie ſich und ſchreiben!“ Walter folgte
mechaniſch. „Nein, hier neben mir; ich will Ihnen
[225] in's Geſicht ſehen.“ Der Miniſter ſah ihm, kaum
zwei Schritt entfernt, in's Geſicht. War das wieder
eine ſeiner eigenthümlichen réparations d'honneur, oder
ſollte es eine neue Prüfung ſein? Der Miniſter
dachte an beides nicht. Er überſann ein Thema, mit
dem er nicht fertig werden mochte, er ſteckte das
Gedenkbuch wieder in die Taſche:


„Es iſt gut, ein ander Mal.“


Was ſollte das heißen? — Er beſtimmte ihm
einen andern Tag. Nein, morgen; überhaupt erwarte
er ihn jeden Tag um die und die Stunde. Weshalb?
Wozu?


„Die Form Ihrer Anſtellung wird ſich ſpäter
finden. Die Branche, für die Sie ſich eignen, muß
ſich erſt ermitteln.“


Walter ſah ihn in ſtummer Verwunderung an:


„Eben war ich auf's Schmerzlichſte in meiner
Ehre gekränkt—“


„Das iſt ausgeglichen, fiel der Andere ein.
Sie wollen Ihre Freiheit aufgeben, ſich dem Staats¬
dienſt widmen. Ich nehme Ihr Anerbieten an. Wie
geſagt, bis ſich etwas Beſtimmteres findet, betrachte
ich Sie als meinen Privat-Secretair. Ich kann in
vielen Dingen Ihre Feder gebrauchen.“


„Ich bin noch nicht gereinigt. Nach einer ſo
ſchweren Anklage muß der Angeſchuldigte auf einen
klaren Richterſpruch beſtehen.“


„Sind Sie ſo punktiliös? Ich ſprach mit
Fuchſius. Die Sache klärt ſich einfach auf. Während
IV. 15[226] er in der Bearbeitung meines Entwurfs war, kam
ihm Ihre Schrift zu Händen.“


„Er räumte ein — ?“


„Daß er ſie benutzt hat.“


„Wer gab ihm ein Recht dazu?“


„Er hielt die Schrift für eine preisgegebene,
verſchollene — machen Sie das mit ihm aus.“


„So entblödete er ſich nicht, eine fremde Arbeit
für die ſeine auszugeben.“


„Er entnahm Ihnen nur die Entwickelung der
Gründe, die Ausführung —“


„Drei Viertel ſeiner Schrift —“


„Unter andern Verhältniſſen würde auch ich es
nicht gut heißen. Hier galt es, eine ſchwierige Arbeit
bald und zum Zwecke tauglich herzuſtellen. Die
suprema lex, das salus reipublicae. Warum doppelt
ſchreiben, was einmal zum Zweck genug iſt!“


Der Miniſter wollte den Regierungsrath gerecht¬
fertigt ſehen; es wäre von Walter thöricht geweſen, jetzt
mit Hartnäckigkeit auf ſeiner Meinung beſtehen. Er
gab ſie nicht auf, aber er ſchwieg, weil er auf des
Staatsmannes Stirn andre Gedanken gelagert ſah.


„Ich brauche Jemand, auf den ich mich ver¬
laſſen kann, der, offenen Kopfes, fähig iſt, im
Umgang, in der Geſellſchaft ſich geltend zu machen.
Verſtehen Sie, Jemanden, der nicht mit der Thür
in's Haus fällt, was man mir wohl zum Vorwurf
macht, der das Metall der Geſinnung in eine ge¬
fällige Form zu ſchmelzen weiß. Nicht ein Haarbreit
[227] darf er aufgeben, aber den Widerſtößen ſoll er eine
gewiſſe Elaſticität entgegenſetzen. Ich muß ihn
brauchen können, nicht zu förmlichen Miſſionen, für
die Form iſt Vorrath die Fülle, aber zu gelegentlichen.
Keinen Spion, aber er ſoll die Sinne wach haben.
Keinen — der Miniſter hielt inne, und als er
Walters ſich röthende Stirn bemerkte, kam er ſchnell
dem Mißverſtändniß entgegen. Er muß von Geburt
ſein, einen Namen haben, der ihm überall Eingang
verſchafft, auch am Hofe. Das iſt das Traurige,
daß die Miniſter nie mit voller Kraft nach außen
und nach innen wirken können, daß ſie der
Vermittler, Unterhändler bedürfen, nennen Sie's
immerhin Kundſchafter, die ſie mit dem Hofe, den
höchſten Perſonen in Rapport ſetzen und zugleich den
Kabinetsräthen aufpaſſen. Jammervoll, unnatürlich
iſt es, ein Kraftzerſplittern, was die beſten In¬
tentionen erlahmt, aber es iſt nun mal ſo, und
gegen ein Gift braucht man ein Gegengift.“


„Unter den Männern von Geburt werden
Excellenz eine reiche Auswahl haben.“


Der Staatsmann verſtand den kleinen Parir¬
hieb, aber mit einem vornehm leichten Aufzücken
ging er über etwas hinweg, was zu beachten er
nicht für werth hielt.


„Die beſten ſind geſchulte Puppen, wenn redlich,
ſteif wie ein Wegweiſer. Sie machen Front dahin,
wo ſie vor zwanzig, dreißig Jahren den Feind ſahen;
daß die Dinge ſich verändert, daß er jetzt von den
15*[228] Flanken, vom Rücken droht, iſt ihnen nicht begreiflich
zu machen. Friedrichs Schule hat ſich ſchlecht be¬
währt. Ueber das Militair rede ich nicht, nur vom
Civil. Da ſtehn die Poſten, wo man ſie hingeſtellt,
ſich brüſtend, daß ſie die Stelle nie um einen halben
Fuß breit verlaſſen, aber unaufmerkſam, wenn die
Contrebande drei Schritte von ihnen bei hellem Tage
über die Grenze dringt. Was geht es ſie an, ſie
thun ihre Pflicht! Wenn die dumpfe Tugendtreue,
eigentlich nur Bequemlichkeit, ſie auszuhalten drängt,
ſo wäre ihre höhere Tugend und Treue, ihre Be¬
fehlshaber aufmerkſam zu machen, daß man ihre
Kräfte beſſer verwende. Vor dieſer Anmaßung,
Ueberſchreitung ihres Dienſtes, erſchrecken dieſe Men¬
ſchen wie vor einer Sünde gegen den heiligen Geiſt.
Mag das Vaterland untergehen, wenn ſie nur an
ihrem Schilderhaus präſentirten. So nicht Einer, nein,
Alle, keine Freiheit des Urtheils, keine ſelbſteigene Bewe¬
gungskraft. Je beſſer dieſe Normalpreußen geſchniegelt,
gebürſtet und geſchnürt ſind, ſo kleiner der Kern des
Menſchen darin. Ja, in Manchem, wenn man ihn auf¬
hülft, iſt's hohl, das Mark in die Rinde geſchoſſen.“


„Die Klage der Patrioten iſt doch, daß von
dieſer Schule ſich nur zu Viele frei gemacht,“ ent¬
gegnete Walter.


„Wo aus dem Leibe die Seele längſt entwichen
iſt, was wundern wir uns über die Ueberläufer zum
andern Extrem? Dieſe Ungebundenheit, Frechheit,
Lascivität in der Meinung und den Sitten, preiſe
[229] man ſie immerhin als Geiſtesfreiheit, Aufklärung
und Liberalität, es ſind nur die Symptome einer
Auflöſung —“


„Vor der Gott uns bewahre!“ fiel Walter ein.


„Und nicht bewahren wird, wenn wir nicht ſelbſt
etwas dazu thun, wenn wir nicht —“ Der Miniſter
war aufgeſprungen, er unterbrach ſich ſelbſt gewalt¬
ſam. Daß er ſo weit in der erſten Stunde des Ver¬
trauens gegen ſeinen neuen Bekannten gegangen,
ſchien dieſem ein beſſeres Zeichen der Ehrenrettung.


„Kennen Sie den Legationsrath Wandel?“ fragte
der Miniſter plötzlich.


„Er iſt ein Ausländer.“


„Ausländer! — Mit einem Lächeln fuhr der
Miniſter fort: Scheint doch dieſer Staat deſtinirt,
von Ausländern ſeine Impulſe und ſeine ausgezeich¬
neten Männer zu empfangen. Schwerin war ein
Schwediſch Pommer, Keith ein Britte, Derfflinger
ein Oeſterreicher; auch iſt der wackere Blücher ein
Mecklenburger, Hardenberg ein Hannoveraner. Mo¬
ſes Mendelsſohn ſtammt auch nicht aus den Mar¬
ken, und die Väter eines guten Theils unſrer
Diplomatie, unſrer Staatsmänner und Officiere
wußten vor den Dragonaden in ihrer Normandie
und Provence kaum von der Exiſtenz eines Lan¬
des, das Brandenburg heißt. Vergeſſen Sie auch
nicht, junger Mann, daß die Hohenzollern aus
Franken oder gar aus Schwaben ſind. Einge¬
wanderte, wenn Sie wollen, ich hielt ſie für mehr,
[230] für Eroberer, — wie der Nilſtrom Aegypten er¬
obert hat.“


„Man ſagt, Herr von Wandel ſei im Thürin¬
giſchen angeſeſſen. Noch Andre geben ihm die Nie¬
derlande oder eine däniſche Colonie zum Vater¬
lande.“


„Meinethalben Island oder Teneriffa, wenn
— Man muß ſich gewöhnen, Preußen anders zu
betrachten, als nach dem Naturprozeß. Nation und
Staat waren hier nicht eins, ſie wurden es. Es
koſtet auch mich zuweilen Mühe, von den mitgebrach¬
ten Vorſtellungen zu laſſen. Aber es geht nur ſo,
nicht anders, oder Alles zerfällt. Es war allein der
Geiſt dieſer großen Fürſten, der das Verſchiedene,
Fremdartige aneinander kittete, einen Hauch hinein¬
goß. Dieſen Geiſt muß man lebendig erhalten, im¬
mer wieder wärmen die junge Tradition, damit
ſie nicht alt wird. Finden wir innerhalb unſerer
Grenzen nicht den Licht- und Wärmeſtoff, ſo greifet
nach draußen. Was anderwärts Verbrechen, hier iſt
es erlaubt, Gebot der Nothwendigkeit, der Selbſter¬
haltung.“


„Ich habe nicht die Ehre, Herrn von Wandel
näher zu kennen.“


„Das Myſteriöſe, womit er ſich umgiebt, ſchreckt
die Menſchen zurück. Ich mag die nicht tadeln,
welche ſich hier vor den Blaſirten verſchließen. Eine
eiſerne Maske vor's Geſicht, um die warmen Puls¬
ſchläge des Herzens nicht zu verrathen!“

[231]

„Man geſteht ihm ebenſo die Gabe zu feſſeln zu,
als abzuſtoßen.“


„Charaktere und ernſte Sitte bedarf die Nation;
der Staat darf es nicht ſo genau nehmen. Eine
Libertinage, die nicht die publiken Sitten verletzt,
darf ich überſehn. Er weiß das Siegel des Anſtan¬
des darauf zu drücken. Er beobachtet ſcharf, hat
merveillöſe Kenntniſſe, Takt, mit ſeiner Suada ent¬
lockt er Geſtändniſſe, ohne ſelbſt etwas zu verrathen,
er iſt bei den Frauen beliebt, eine faſt unerläßliche
Eigenſchaft eines Diplomaten, den man brauchen
will,“ ſetzte der Miniſter lächelnd hinzu.


„Seine Liaiſons mit der Fürſtin Gargazin ſind
Stadtgeſpräch.“


„Die ſind in dieſem Augenblick nicht hinderlich.
Und zudem kann Haugwitz ihn nicht leiden, er fürch¬
tet ihn. Das ſpricht zu ſeinen Gunſten.“


„So haben Excellenz bereits entſchieden —“


„Wenn er Feuer in der Bruſt ſich bewahrt hat.
Er muß noch glauben können, wenn er nicht mehr
lieben kann, haſſen doch aus Herzensgrunde, das
Schlechte, Erbärmliche, die Verrätherei, das Schön¬
thun mit dem Fremden; er muß noch haſſen können,
denn wer nur im Sumpfe fortſchwimmt mit der Reſigna¬
tion, endlich doch zu ertrinken, paßt nicht für mich.“


„Er gilt als in intimem Connex mit den Män¬
nern der Lombardſchen Clique.“


„Wiſſen Sie, ob er dieſe Creaturen nicht nur
belauſchen, durch Gefälligkeiten ihre innerſte Natur,
[232] wenn ſie eine haben, ihre geheimſten Gedanken her¬
auslocken will? Wiſſen Sie, ob hinter dieſer anſchei¬
nenden Indifferenz, dieſem blaſirten Weltbürgerthum
nicht ein Haß glimmt, wie ich ihn wünſche? Ja,
dahin ſind wir gekommen: bis der Deutſche nicht
haſſen lernt, aus vollem Herzen haſſen, bis er ſeine
philanthropiſchen Schwärmereien, jenen Allerwelts¬
gerechtigkeitsſinn, ohne ſich ſelbſt je gerecht zu wer¬
den, nicht durch Kaſteiungen und Blut ſühnt, bis er
nicht wieder zum Egoiſten wird, iſt Deutſchland ver¬
loren.“


„Ich glaube, Excellenz, in dieſen Studien be¬
findet ſich unſer Volk.“


„Studien! Da liegt das Elend. Studien vor
einer Kriſis! Der Haß, der ſeine Verwünſchungen
in's Firmament ſpeit, thut es nicht, der Weltſturm
treibt die Dünſte fort, ehe es zum Gewitter kommt.
Handeln! Und bis dahin ließen wir's kommen, daß
wir nicht mehr offen handeln dürfen; die Tugend,
die Thatkraft muß ſich verbergen, hinter einer Larve
agiren. Schlimm, daß es iſt, aber es iſt. Wir
brauchen die Tugenden der Brutus, behüte uns Gott
vor ihren Dolchen, aber jener zähen Feſtigkeit, die
ihre Gefühle nicht bei jedem Gegenſtand aufflackern
läßt, ſondern ſie verſchließt, im Stillen nährt, bis
der Augenblick der That kam. Weshalb preiſen wir
jenen Mann, mit dem unſere Geſchichte anfing?
Spielte der römiſche Rittmeiſter in Rom den deut¬
ſchen Patrioten, radotirte Arminius in den Kaffee¬
[233] häuſern über Deutſchlands Unglück, ſang er Lieder
zur Guitarre, zum Ruhm ſeines unvergänglichen
Vaterlandes, damit die Römerinnen dem blondhaari¬
gen Schwärmer Bravo klatſchten? Er ſchwieg und
hatte die Augen auf, er ſchwieg und diente, um zu
lernen, er ſchwieg und ſammelte Haß und Haß, bis
es ein Stock ward, den Feind zu zermalmen. —
Wir ſind herabgedrückt, entwürdigt, bis zu dieſer
Lage, fuhr der Miniſter nach einer Pauſe fort; aber
noch ſchlimmer als die wirkliche Thatſache, wenn wir
ſie uns zu verbergen ſuchen. Offen es uns ſelbſt
eingeſtanden, das iſt der erſte unerläßliche Schritt
zur Rettung. Mir graut vor dieſem Bramarbaſiren,
vor dieſem Cornetsdünkel. Ich liebe die ſtillen Men¬
ſchen, die ſich des Urtheils enthalten, weil ich denke,
ſie könnten doch Vernünftiges denken, wo die lauten
Denker nur Unſinn zu Tage bringen.“


Der Miniſter hatte ausgeſprochen. Er ging noch
in Aufregung umher, aber ſein Blick forderte unſern
Freund auf, ſeine Meinung auszuſprechen.


„Einige, dünkt mich, ſind ſtill aus Ueberzeugung,
weil ihre Anſicht nicht verſtanden würde, Andere aus
Furcht, die Mehrzahl aber, meine ich, aus Specu¬
lation, um ſich nicht zu compromittiren, wenn die
Dinge anders ausſchlagen, als ſie berechnet hatten.“

„So kennen Sie Wandel?“ fragte der Miniſter
ſcharf, vor ihm ſtehen bleibend.


„Ich ſehe ungern in dies unbewegliche Geſicht.“


„Das ſtimmt mit Fuchſius. Weiter!“

[234]

„Ich kenne ihn wirklich nicht, Excellenz.“


„Weiter!“ ſprach der Miniſter.


„Wenn der tiefſte Grund des Menſchen ſich auf
dem Geſichte irgend ein Mal abſpiegelt, ſo erſchrecke
ich, daß ich nie einen Zug auf ſeinem ſah, der den
Menſchen verrieth. Die Diplomatie mag andere Ge¬
ſetze haben, ich aber könnte dem nie vertrauen, der
ſtets Herr iſt über ſich. Wer alle Gefühle und Lei¬
denſchaften koſtete, wie Mithridates die Gifte, um
ſich ihrer zu erwehren, hat den göttlichen Menſchen
in ſich getödtet. Wer den Ausdruck für Liebe, Haß,
Furcht, Ehrgeiz, Lüſternheit und Habgier bis zum
unkenntlichen Schattenſpiel überwunden hat, ſcheidet
für mich aus der Reihe der ſinnlichen Geſchöpfe.
Ohne Sinnlichkeit kann ich mir aber keine Sittlich¬
keit denken, und keinen Charakter, der nicht die Sitte
zum Fundament hat.“


Der Miniſter ſah ihn eine Weile an. Die
Schärfe ſeines Blickes ging in Wohlgefallen über.
Er klopfte ihm auf die Schulter: „Wir werden uns
näher kennen lernen. — Aber — ich will ihn doch
noch nicht aufgeben. Ich glaubte indeß das in ihm
zu entdecken, was ich hier nirgend finde. Dies un¬
ausſtehliche Sichſpreizen und Kniſtern, um vorneh¬
mer ſcheinen zu wollen, als man iſt, macht für mich
dieſe Menſchen um zehn Prozent ſchlechter, als ſie ſind.
Wir wollen ihn auf die Probe ſtellen, Sie ſollen
mir behülflich ſein.“


„Als Kundſchafter!“

[235]

„Ihr Vater ſteht mit ihm in Relationen, wie
Fuchſius mir mittheilte. Ein guter Kaufmann giebt
nur Credit dem, der Credit hat.“


„Auch ein Kaufmann iſt Illuſionen unterworfen.“


„Das ſollen Sie ermitteln, mit Fuchſius ſollen
Sie ſich darüber verſtändigen. Fuchſius hat Anti¬
pathieen gegen Wandel. Das muß ein Staatsbeamter
ſein laſſen, ich meine perſönliche Antipathieen. Aber
er will Renſeignements haben, erinnere ich mich
recht, aus den Niederlanden, daß häßliche Schatten
ihm folgen. Irgendwo hat ein Glücksritter — es
iſt ein Entführungsroman, mit Tod, Erbſchleicherei
und ſo weiter gekuppelt, — für Romane habe ich
keinen Sinn, Fuchſius wird Ihnen das Nähere
mittheilen. Aber auch er mag in ſeinem Argwohn
zu weit gehen. — Haben Sie Bedenken?“


„Ich kenne bis jetzt weder den Roman noch
die Wahrheit.“


„Oder wiſſen Sie ein taugliches Subjekt? Ein
feiner Beobachter, oder ein blitzendes Talent. Auch
Sarkaſtik oder Humor wären treffliche Eigenſchaften,
Feuer, wenn auch mit etwas Qualm, das die
Salonmenſchen hinreißt. Mag er auch ſonſt ein ver¬
lorener Sohn ſein, wenn er nur kein verlorener
Sohn für's Vaterland iſt. Es giebt viele verlorene
Söhne, die nur eines Impulſes bedürfen, damit
das erſtickte Feuer aus der Schlacke auflodere.
Englands erſte Staatsmänner gingen dieſen Weg,
aus einem Roué ward ein Charles Fox. — Sie
[236] denken an Jemand. Sinnen Sie nach. Er darf
nicht ſcheuen, die Stellung anzunehmen. Es iſt ein
Sort. Den Rathscharakter, mit einem anſehnlichen
Gehalt, habe ich, um der Form zu genügen, für ihn
bereit; die eigentlichen Dienſte ergeben ſich mit der
Zeit. Morgen ſehen wir uns wieder. — Jetzt gehen
Sie in's Bureau, und beſprechen ſich mit Herrn
von Fuchſius.“


Walter trat einen Schritt zurück: „Excellenz, eine
erſte Bitte, und wenn ſie mir abgeſchlagen würde,
meine letzte, erlaſſen Sie mir dieſe Conferenz. Ich
kann nicht mit Herrn von Fuchſius — dienen.“


Die Brauen des Freiherrn zogen ſich zu¬
ſammen, die Augen wurden kleiner, ohne die Schärfe
ihres Blickes zu verlieren. Er warf einen Gegen¬
ſtand, den er in der Hand hielt, auf den Tiſch.


„Soll ich etwa ihn um Sie aufgeben! —
Herr, ihn kenne ich, Sie noch nicht.“


Er wandte ſich wieder, um nach einigen Schritten
zurückzukehren. Das Ungewitter war verzogen und
die Stirn ward heiterer, als er zum zweiten Mal
die Hand auf Walters Schulter legte:


„Junger Mann, Sie müſſen noch viel lernen.
Glücklicherweiſe nur, was jeder Fant, der ein
Jahr in der Routine iſt, an den Fingern weg hat.
Iſt ein Staatsmann ein Gott, ein Deukalion,
daß er ſeine Menſchen ſich machen kann, wenn ihm
die nicht gefallen, die ihm das Schickſal zuweiſt?
Er hat genug gethan, wenn er jeden an den Platz
[237] ſtellt, den er füllt. Findet er nur das heraus, iſt er
ſchon weiſe. Den er zum Steineklopfen braucht, von
dem darf er nicht fordern, daß er Nähnadeln
ſpitzt. Und wen er zum Schatzmeiſter gemacht, und
ſeine Läden bleiben verwahrt, ſoll er ihn fortjagen,
weil er ſich einmal einfallen ließ, in ſeines Herrn
Sonntagsrock auf der Promenade zu ſtolziren? Hab
ich etwa hier Vorrath, daß ich nur zu wählen brauche?
Wollte ich Alle um ſolches Vergehen fortjagen, ſo
könnte ich vom Thürſteher bis zum erſten Geheimrath die
Geſchäfte allein übernehmen. Herr von Fuchſius iſt
jung, und ſieht in die Zukunft, er denkt an's Va¬
terland und denkt richtig, ſoll ich ihn zum Teufel
ſchicken, weil er nebenher auch an ſich denkt? Fordere
vollkommene Menſchen, und Du wirſt als Eremit
zu Grabe gehen. Kein Wort mehr davon. Die Ehre
meiner Beamten, die ich mir bildete, iſt meine Ehre.
Es kann Ihnen auch einmal zu Gute kommen.“


Jetzt war Walter entlaſſen. An der Thür blieb
er ſtehen.


„Ich wüßte —“ Er ſtockte; es ſchickte ſich nicht mehr.


„Preßt es die Bruſt, heraus damit —“


„Einen Mann —“


„Der geeignet. Nennen Sie ihn. Ich ſann
eben auch nach.“


„Er iſt mein Freund —“ Walter ſtockte.


„Deſto beſſer.“


„Ja, ich kann aus vollem Herzen ſagen, er iſt
der Mann, wie Excellenz ihn ſuchen.“

[238]

„Sein Name?“


„Wird ihn hier nicht empfehlen.“


„Wenn es ein guter iſt?“


„Der Sohn des Geheimrath von Bovillard.“


„Der Tolle?“


„Louis von Bovillard. Für ſein Herz, das für's
Vaterland ſchlägt, ſag ich gut. Das erſtickte Feuer
kann aus der Aſche zu einer Flamme aufglühen,
wenn er an eine edle Schmiede kommt.“


Walter blickte zweifelnd auf den Miniſter, der
nachdenkend ſtand: „Senden Sie ihn zu mir, ich
glaube, Sie haben gut getroffen. Er hat ſeine Wiener
Miſſion mit mehr Eifer ausgeführt, als Haugwitz
wünſchte. Aber —“


„Euer Excellenz Bedenken ſollen mir Befehle ſein.“


„Nein — der alte Bovillard hat ja ſeinen pro¬
vencaliſchen Adel renoviren laſſen. Es ſind die
Bovillard Maitres de Ceriſé. Ich danke Ihnen,
Herr van Aſten, daß Sie mich an ihn erinnert
haben. Ueber wen dieſe Menſchen hier entrüſtet ſind,
muß kein gewöhnlicher Menſch ſein. — Bringen Sie
ihn mir. — Iſt er noch mit ſeinem Vater über¬
worfen? Gleichviel. Die Bovillard de Ceriſé waren
ſchon in den Kreuzzügen genannt, und was mehr
iſt, wahrſcheinlich von reiner celtiſcher Abkunft. Faſt
unbegreiflich, wie ein ſolches Mondkalb von Vater
da hinein kam. Schicken, bringen Sie ihn bald. —
Da erinnere ich mich, dem jungen Mann wird eine
fixe Anſtellung jetzt ſehr gelegen kommen.“

[239]

„Um die Ausſöhnung mit dem Vater zu er¬
leichtern?“


„Nein, die Gargazin ſagte mir neulich, er iſt
ſo gut wie verlobt mit einem ſchönen jungen Mädchen,
eine Beauté der Stadt, es wäre aber viel Jammer
von beiden Seiten, weil nichts daraus werden kann.
Nun kann ja etwas daraus werden. Wie geſagt,
führen Sie ihn zu mir, und freuen ſich, daß Sie
Ihres Freundes Glück machen.“


„Ich freue mich,“ entgegnete Walter mit voller
Stimme, aber ſie klang wie ein Grabesgeläut, und
entfernte ſich.

[[240]]

Sechszehntes Kapitel.
Theorie und Praxis des Egoismus.

Als Walter aus dem Hauſe trat, war es nicht
mehr ſo heiß, daß er darum die Weſte ſich aufreißen
mußte. Er wollte auch nicht Kühlung, der ſchwere
Athemzug bedeutete etwas anderes.


Er eilte nach Louis Bovillards Wohnung. Noch
eine ſchwere Laſt von der Bruſt und dann war er
frei. Die Vorübergehenden dünkte der junge Mann
mit der gerötheten Stirn, dem ſtieren Blick, der nicht
um ſich ſah, nicht auswich, ein Trunkener; ſie wichen
ihm aus. Er hörte nicht das Rollen der heim¬
kehrenden Wagen, nicht den Tambour, der den Zapfen¬
ſtreich ſchlug, er hörte überall nur ein dumpfes
Grabgeläut.


Auch den Wagen der Fürſtin ſah er nicht, die
doch dicht an ihm vorüber fuhr. Er hörte nicht
Adelheids Stimme, mit einem ſo ſchelmiſchen Silber¬
klang, wie auch wir ſeit den Tagen ihrer kindiſchen
Luſt ſie nicht gehört. Es waren Nachtigallentöne
[241] mit Lerchengewirbel, in denen ſie der Wonne, die
die Bruſt ſprengte, Luft machte, nur Accorde, aber
wer, der ihr in's Auge ſah, verſtand ſie nicht!
So ſahen wir es niemals glänzen, lachen; ſie
neckte den ernſten Geliebten, ſie war Muthwillen
und Ausgelaſſenheit. Louis Auge glänzte auch,
dunkel ſchön, nur auf ſie den Blick gerichtet, aber
den Zug des Muthwillens, des Uebermuths, der
feinen Ironie, die ſonſt um ſeine Lippen ſpielten,
in ſeinen Augen blitzten, ſuchte man umſonſt. Die
Fürſtin, in ihre Wagenecke gedrückt, ſah mit ſtillem
Lächeln dem Spiele zu. Walter ſah und hörte nichts.
Auch die im Wagen bemerkten ihn nicht. Es war
für Beide gut.


Je näher er dem Hauſe kam, ſo langſamer
ging er. Nicht daß er unſchlüſſig geworden, er ſann
nur über die Weiſe, wie er dem Freunde ſein
Glück mittheilen wolle, ohne ſeinen Stolz zu ver¬
letzen, ohne ihn auf immer zum Sklaven der
Dankbarkeit gegen ſich zu machen. Wußte, ahnte
Bovillard, daß er der Räuber grade an ſeinem
Glücke war? Er hatte Grund zu glauben, daß es
Bovillard bis jetzt verborgen geblieben, und er
ſcheute eine Scene, die das Verhältniß enthüllte.
Er war in einer heroiſchen Stimmung, und wünſchte
ſie durch einen Auftritt nicht gedämpft, der ohne
ſentimentale Regung nicht abgehen konnte.


Oben auf der Treppe hörte er eine zänkiſche
Frauenſtimme, er glaubte ſie zu kennen; eine andere
IV. 16[242] ſchüchterne, die er nicht kannte. Eine Mädchengeſtalt
kam ihm, die Treppe herab, entgegen; ihre beſtaubte
Kleidung, ihr ſchwankender Tritt ſchien von Er¬
müdung, vielleicht nach einer weiten Fußwanderung
zu ſprechen. Ihr Geſicht ſah er nur halb, ſie hielt
das Taſchentuch vor. Als ſie ihm raſch vorüber war,
brach das unterdrückte Weinen deutlich heraus. Unten
noch eine Weile zaudernd, ſtürzte ſie nach einem noch
heftigern Aufſchluchzen zur Hausthür hinaus.


Die Wirthin kannte Waltern. Der Herr von
Bovillard war nicht zu Hauſe, aber er könne wohl
jeden Augenblick kommen. Als Walter ſeinen Wunſch
ausgeſprochen, ihn zu erwarten, hatte ſie kein Be¬
denken, ihm die Wohnung aufzuſchließen und Licht
anzuzünden. „Denn, ſetzte ſie ſchmunzelnd hinzu, ich
weiß wohl, wen ich einlaſſen darf, und wer mir
nicht mehr über die Schwelle darf. Nein, machte
mir die Perſon nicht ein Lamento. Der Herr van
Aſten müſſen's ja noch gehört haben. Aber, wenn
ſie noch mal kommt, laß ich die Polizei rufen.“


„Wer iſt ſie?“


Die Wirthin verzog noch ſpitziger den Mund:
„Ja, wer wird ſie ſein! — Sie wird keine andere
geworden ſein, als ſie damals war, wir aber ſind
andere geworden, und das müßte ſolche Perſon
doch bedenken. Und dieſe vor Allem. So nobel und
honorig haben Herr von Bovillard ſich gegen ſie
benommen, daß es ihre verfluchte Schuldigkeit wäre,
nun uns nicht mehr zu beläſtigen. Aber nein —“

[243]

Walter wollte nichts davon hören, aber die
Frau wollte noch reden. Sie achtete ſein abwehrendes
Zeichen nicht.


„Nein, Herr van Aſten, von dieſer grade iſt's
ausverſchämt. Sie hat dazumal hinten im Stübchen
auf dem Hofe gewohnt, das ihr der gnädige Herr
chambregarnirt hatte. Gott weiß, was er für einen
Narren an ihr gefreſſen. Sie ließen zwar mal
fallen, das Mädchen hätte Ihnen das Leben gerettet.
Na, was das ſein wird, kennt man ſchon. Ein
paar Ritze hat ſie allerdings an der Schulter.
I Gott, ſolche Mädchen laſſen ſich auch nicht gleich
für Einen todtſtechen. Ich kenne ſie ja. Iſt's nicht
der, ſo iſt's ein Anderer.“


Waltern durchzückte eine Erinnerung. Erſt ſpäter
hatte er den Zuſammenhang der Geſchichte gehört.
Da war es, wo Louis Adelheid zuerſt geſehen! Mit
einem Seufzer, den die Frau nicht hören ſollte,
warf er ſich auf das Kanapé. Die gute Frau hatte
ihn aber doch gehört.


„Sie haben ſchon Recht, über ſolche Undank¬
barkeit muß man ſeufzen. Er hatte ſie von Kopf
bis Fuß gekleidet. Sie hatte ja keinen ganzen
Strumpf auf dem Leibe, als ſie aus dem Priſon
kam. Und dann, wie's nu genug war, hat er ihr
Geld auf den Weg mitgegeben, ich will gar nicht
ſagen, wie viel, denn ich weiß es nicht; aber wenig
war's nicht, denn das Halsband von der ſeligen Frau
Mutter und die emaillirte Uhr gingen drum zum
16*[244] Pfandjuden, dem alten Joel. Er hat's mir ſelbſt
gezeigt, nämlich der alte Joel; er war kein übler
Mann, und ſchund die jungen Leute nicht ſo, wie
jetzt ſein Sohn. Aber geben mußten wir's, da hätte
auch gar keine Raiſon geholfen; denn er hat ein
gar zu gutes Herz. Dieſe Ohrringe habe ich auch
von ihm, aber Alles in Ehren. Als Sie von Ihrer
großen Reiſe retournirten, und krank wurden, ich
habe ihn gepflegt, rechtſchaffen, das kann ich wohl
ſagen, und der alte Herr Geheimrath haben's auch ge¬
ſagt: wenn ſein Sohn immer mit ſo rechtſchaffenen
Weibsperſonen zu thun gehabt hätte! Jetzt ſind wir
nun, Gott ſei Dank, beſſer ſituirt, und wenn uns
mal was fehlt, brauchen wir nicht zu dem Juden¬
ſchinder.“


„Das iſt ſchon lange her, daß er das Mädchen
fortſchickte?“ unterbrach Walter, eigentlich nur um
den Redefluß zu unterbrechen.


„I freilich, das war ja — warten Sie mal —
nun, das thut nichts zur Sache — richtig, wie
ſie ihn todtſchießen wollten, er ward aber nur ein¬
geſperrt. Das Mädchen machte da noch Spektakel,
nämlich, das muß ich ſagen, ganz in der Stille.
Sie weinte auf ihrer Kammer, daß es zum Herz¬
brechen war. Manchmal glaubte ich doch, ſie würde —
wenn ich ſie aufrichtete, ſank ſie zuſammen. Mein
Kind, das hilft doch nun mal nichts, ſagte ich,
raus mußt Du, fort mußt Du. — Und da packte
ſie ihre paar Sächelchen in's Bündel. Na, wenn ich
[245] denke, wie ſie die Treppe runter ging, und unten
blieb ſie noch ſtehen und japſte nur ſo. Ich ſagte: „Nu
ſieh Dich nicht mehr um, Julchen; ein paar Schritt
noch, dann iſt's vorbei. Und komm mir nicht wieder
nach Berlin. Und wenn Du ihn ſonſt wo ſehen
ſollteſt, unterſteh Dich nicht, und ſieh ihm nicht in's
Geſicht, ſonſt riskirſt Du, er läßt Dich greifen und
Du kommſt in's Spinnhaus. Da iſt's eklich. Das
iſt Louis nicht im Stande, ſagte die impertinente
Perſon, und da ſchupſte ich ſie zur Thür raus.
Aber in aller Güte.“


„Sie hat ihn geliebt?“


„Mein lieber, guter Herr, was wird ſie nicht!
Ein neues ſchwarz ſeidenes Kleid hatte er ihr gekauft.“


„Und ſeitdem hat ſie ihn nicht wieder geſehen?“


„Gott bewahre, was denken Sie? — Heute
morgen zuerſt, da war ich nicht zu Hauſe, er auch
nicht. Und kommt wieder! Ich war wie aus den
Wolken gefallen! Na, ich habe ihr denn aber auch
das Kapitel geleſen. Jetzt, wo der Herr Vater ſich
wieder hat nobilitiren laſſen, — wir haben noch nicht
das neue Schild an der Klingel, aber ich hab's
beſtellt. — Jetzt unterſteht ſich das ausverſchämte
Mädchen, meinen Herrn in Disreputation zu bringen.
Jetzt, mein Kind, wenn er ſo was will, wird er
ſich's anderwärts ſuchen, ſagte ich.“


„Und ſie?“


„Na, Sie können wohl denken. Thränen haben
die immer parat.“

[246]

„Nicht Alle. Was wollte ſie? —“


„Was wird ſie wollen! — Lieber Gott, man
hat doch auch ein Herz, wenn's auch ſolche Menſchen
nicht verdienen, und da ließ ich ſie denn hier am
Tiſche kritzeln. Da liegt ja das Schnitzel. Aber ich
ließ ſie nicht aus den Augen, keinen Augenblick.
Stibitzt hat ſie nichts, obgleich ich ihr nachſagen
muß, reine Finger hatte ſie immer.“


„Sie ſah wie eine Unglückliche aus.“


„Das mag ſchon ſein, mein Herr van Aſten,
muß man aber Andere darum unglücklich machen
wollen, wenn man's ſelbſt iſt! Jetzt kann man wohl
davon ſprechen, unſer junger Herr iſt ein Bräutigam;
wenn's auch noch nicht declarirt iſt, das weiß jedes
Kind. Freilich, der alte Herr Geheimrath wollen
nicht recht dran, denn die Mamſell hat nichts, das
iſt wahr, und ſie ſagen auch, er könnte ſie nicht
gut anſehen, weil ſie bei der Lupinus Kind im
Hauſe geweſen, und da überfrieſelt's ihn immer,
weil er die nicht ausſtehen kann. Aber was thut
das! Mein junger Herr frägt auch nicht, was der
Papa will, und eine Frau, die ſchön iſt, hat ſchon
manchem Mann mehr eingebracht, als volle Kaſten.
Das ſpricht ſich ganz anders, und wenn auch dem
Mann nicht, der jungen ſchönen Frau hilft man
doch gern, beſonders die alten Herren. Das weiß
man ja. Der Geheimrath von ihr, nämlich ihr
Vater, der will auch noch nicht recht dran, ſo heißt
es. Was nicht iſt, kann ja noch kommen. Eine gute
[247] Anſtellung, mein Gott, da müßte mein Herr keine
guten Freunde haben, und jetzt, wo er von altem
Adel gemacht iſt, da kommt das ja von ſelbſt. Und
wer iſt denn der alte Geheimrath Alltag! Jetzt
freilich, ſo lang läßt er das Uhrband raus hängen,
und wenn er zu Königs fährt, ſitzt er wie eine Elle
im Glaskaſten; aber man müßte ja nicht wiſſen!
Mein Seliger, als der Kanzleidiener war, da war
der alte Alltag noch Schreiber, ſo Supernumerar.
Einen Rock hatte er, von ſeinem Vater, der war
dreimal gewandt, und wie lief er Winters, um ſich
warm zu machen! Hätte Einer ihm geſagt, daß
ſeine Tochter mal ſolches Glück machen könnte,
Du meine Güte! — Ein Eſel, mit Reſpect zu
ſagen, wär er ja. — Uebrigens, und wenn's die
nicht iſt, ſo iſt's 'ne Andere. Unter den erſten
Fräuleins kriegt er ſie, wenn's ſonſt nicht iſt,
und darum iſt es ſo ſchlecht und boshaft von der
Perſon, daß ſie kommen muß, und meinen Herrn
in's Gerede bringen, jetzt, wo er ſo ſolide iſt, 's iſt
gar nicht zu ſagen, wie.“


„Die Per — ich meine das unglückliche Mädchen
macht doch nicht etwa ſelbſt Anſprüche?“


Ein unbeſchreibliches Erſtaunen malte ſich auf
dem Geſichte der Frau Wirthin. Worte fand ſie
nicht ſogleich, bis die ganze Wucht ihrer Gedanken
in der Silbe Die! ſich concentrirte. Walter war
beruhigt, wenn er überhaupt der Beruhigung be¬
durfte; aber er wollte Ruhe haben, nämlich von der
[248] Gegenwart des geſchwätzigen Weibes befreit ſein.
Sie ging in einen weinerlichen Ton über, indem
ſie ihren Drahtleuchter ergriff.


„Viele haben ſchlecht von ihm gedacht, das
weiß ich, denn die Welt iſt auch ſchlecht, und Jugend
muß austoben; und wer weiß, wer beſſer iſt, ob der
alte Herr, oder mein junger. Und wie's bei den
vornehmſten Geheimräthen ausſieht, Herr Jeſus,
lieber Herr van Aſten, bei dieſen vornehmen Herr¬
ſchaften, da iſt ja eine Zucht, daß mal der Gott ſei
bei uns drein ſchlagen möchte. Er thut's auch noch,
glauben Sie's mir, und die Julchen, die wir auf
der Straße nicht anſehen mögen, iſt nicht ſchlechter,
als viele von den vornehmen Damen in Brüſſeler
Spitzen. Wenn die ſich ſchämen wollten, man ſieht's
nur nicht, weil ſie ſo dick geſchminkt ſind. Jugend
muß austoben, ſonſt kommt's nachher, aber dann
einen Strich gemacht. So hab' ich's auch meinem
Seligen geſagt: nu ſei zufrieden, was Du haſt, und
um was rückwärts iſt, da haſt Du Dich nicht zu
kümmern. Mein guter Herr, nun ja, tolle Streiche
genug. Nüchtern iſt er nicht immer nach Haus ge¬
kommen, und iſt allerdings auch ſonſt nicht immer
nach Haus gekommen, und den Regenſchirm hat er
im Theater aufgeſpannt, dafür ward er arretirt,
und er iſt oft arretirt worden, aber wenn ſie Alle
in's Priſon bringen wollten, die's verdient haben,
da iſt der König nicht reich genug, um Gefängniſſe
zu bauen. Und wenn ein Armer kam, da blieb kein
[249] Groſchen in der Taſche. — Und nun hat er ſich ge¬
beſſert, und ich wollte ja Jeden zur Treppe runter
ſchmeißen, der ſich mauſig machte und ihm vorhielte,
was ſonſt geſchehen iſt. Das iſt jetzt vorbei, mein
Herr! würde ich ſagen. Und alle ſeine Freunde
müßten das ſagen, denn ich bin nur eine arme Frau,
und verſtehe mich viel darauf, wie ſie da parliren
und mit den Augen zwinkern. Aber Freundſchaft iſt
Freundſchaft. Und wer ein rechter Freund iſt, der
muß ſeinem Freunde Alles hingeben, auch ſein Lieb¬
ſtes. Das iſt Freundſchaft, und wenn Alle ſo thä¬
ten, dann wäre die Welt gut.“


,Ob ſie dann wirklich gut wäre!‘ dachte Walter,
als er allein war. Wenn wir den Egoismus aus¬
gerottet, wie die Raubthiere, wie ein ſchädlich Un¬
kraut, ob ſie die vollkommene würde, von der wir
träumen! — Sprang der erſte Schiffer in den ſchau¬
kelnden Kahn, um den Vater zu retten, wie die
Idylle erzählt, oder war's ein Kaufmann, ein Ver¬
folgter, ein Räuber, der ſein Leben retten, der
Früchte, Gold, Mädchen, Sklaven von den reichen,
im goldnen Meere dämmernden Inſeln holen wollte?
Und fing das Menſchengeſchlecht wirklich an mit einer
Idylle, ſo war es eine kurze; ein ſanfter Hauch der
Engel, der am rauhen Hauch der Elementargeiſter
erſtarrte. Die kurze Idylle war aus, und die lange
Geſchichte fing an — mit Brudermord. Wir Alle aber
ſind nicht die Kinder der Idylle, ſondern die Erzeug¬
ten der Geſchichte. Der Egoismus führte uns über
[250] die Meere, gründete Staaten, erhob Könige auf den
ſchwindelnden Thron, ſchuf Republiken, er trieb uns
in die Schachte der Erde, in die Lüfte auch, daß wir
den Lauf der Geſtirne berechneten. Alles, Alles, wir
wollten Gold machen und fanden, nicht Regenwür¬
mer, die Künſte, die uns zu Gebietern der Natur
erhoben. — Und dieſes mächtige Movens unſers Da¬
ſeins ſollten wir ausrotten, ausbrennen, wie den Nerv
in unſern Zähnen, damit wir nicht mehr Zahnſchmer¬
zen haben! Thorheit, die materia peccans bleibt, und
wirft ſich nur auf andre Theile, edlere vielleicht. Eman¬
cipiren ſollten wir uns wollen, von unſrer Bildung,
aus der Geſchichte, die uns machte, heraus uns
zwängen in ein weſenloſes Daſein, in das Traum¬
leben einer ſchönen Phantaſie, das nie exiſtirt hat,
nie exiſtiren wird. Und doch fordern es Religion und
Philoſophie, beide, ſchroff und mild je nachdem; aus
dem Gewiſſen, weil es verderbt iſt, ſollen wir uns
in's Vage ſetzen, den Reiz ertödten, der uns über
das Thier erhob, zu den wunderbaren Erfindungen
trieb, das Menſchengeſchlecht zu ſeinen großen Tha¬
ten inſpirirt hat. Und grade, die ſich am höchſten
dünken über das Thier, die fühlen wieder den Drang,
den Feuerathem in der Bruſt, mit Flügeln wollen ſie
in den Aether ſchweben, göttergleich ſein, ſich vergeſ¬
ſend, nur für das All, und — ſind aus Koth!


Er ging mit ſich unzufrieden auf und ab; er
griff nach dem Zettel auf dem Tiſch und warf ihn
wieder hin. „Was wird ſie ihm ſchreiben! — Er
[251] ſoll ſie wieder lieb haben, ihr Geld geben!“ Warum
warf er das Papier ſo verächtlich fort? War das
ein ſpecieller Egoismus, den er nach der Vertheidi¬
gungsrede für den generellen verwerfen mußte?


Er hatte ſich mit unterſchlagenen Armen an die
Fenſterbrüſtung geſtellt. Er bereute nicht, daß er
der Geliebten entſagt, nicht, daß er ſie dem Freunde
überließ, ohne Klage, nicht, daß er ihn noch außer¬
dem in den Stand ſetzen wollte, ſein Glück zu ge¬
nießen; das lag hinter ihm als abgethane Noth¬
wendigkeit. Er war ein deutſcher Denker, klar
wollte er ſich machen, warum er gegen ein Princip
gehandelt, das er ſich eben künſtlich entwickelt. Weil
ſie ihn nicht mehr liebte, weil ſie ihn vielleicht nie
geliebt? Dieſen einfachen, natürlichen Grund ſchien
er bei Seite zu ſchieben, und fand den wahren nur
in dem Drange, ſich dem Vaterlande ganz hinzuge¬
ben. Was iſt die Wahrheit einer Ueberzeugung?
Der höchſte Verſtandesrauſch, über den wir nicht hin¬
auskönnen: „Wo wir dies endliche Ziel im Irdiſchen
fanden, ſollen wir ſtehen bleiben, darauf alle unſere
Gedanken, Kräfte werfen. Und es giebt keinen hö¬
heren Begriff, als das Vaterland. Wir haben hu¬
maniſtiſch, philanthropiſch auch dies zu zerſetzen ver¬
ſucht, und wohin hat es uns geführt! In ein Meer
von ſchwimmenden Inſeln und Fata Morganen.
Wenn wir unſer Schiff herantrieben, landen wollten,
verſchwanden die Thürme und Berge in die Wolken,
die Gärten der Armida wurden ſchillernde Sumpfpflan¬
[252] zen, die der Sturm auseinander wehte. Keine dieſer
Ideen, wie auch vom Morgenroth gefärbt, gewann
einen Leib, den wir umarmen, keine ward eine Säule,
ein Fels, an die wir uns im Sturme klammern
konnten. Der edle Schiller traf das rechte Wort:


Die angebornen Bande knüpfe feſt.

An's Vaterland, an's theure, ſchließ Dich an,

Das halte feſt mit Deinem ganzen Herzen!

Hier ſind die ſtarken Wurzeln Deiner Kraft;

Dort in der fremden Welt ſtehſt Du allein,

Ein ſchwankes Rohr, das jeder Sturm zerknickt.

Nur das Vaterland iſt die Eiche, an die wir uns
klammern können, nur ſie hat das Recht, Opfer von
uns zu fordern, das höchſte, letzte auch, uns ſelbſt.
Die tauſend Götzen ſonſt haben keines. Ihnen ge¬
genüber tritt das volle, heilige Recht des Ichs ein.“


Louis kam noch nicht zurück. Das Talglicht auf
dem Tiſche brannte immer düſterer. Sein halb ver¬
kohlter Docht beugte ſich in einer Wölbung immer
höher über die Flamme. Walter hatte aufmerkſam
dem Verbrennungsprozeß zugeſehen, ohne ſich gemu¬
thet zu fühlen, nach der Putzſcheere zu greifen. Er
brauchte kein Licht. Das ewige Gleichniß der Kerze
und des Lebens gaukelte vor ihm in den matten
Schwingungen der Flamme. Da fiel das dicke ſchwarze
Knopfende von der eigenen Schwere herab auf den
Zettel; der noch glimmende Schweif fing an in das
mürbe Papier ein Loch zu ſengen. Walter löſchte,
ehe es ein Brand ward. Dabei mußte er den Zet¬
tel wieder aufnehmen. Die Schriftzüge verriethen
[253] keine ganz ungebildete Hand, ſie flogen über das
Papier. Er fing an zu leſen, und hörte erſt auf,
als es zu Ende war.


„Du mein Alles! Ja, die böſe Frau hat Recht,
Du darfſt mich nicht wiederſehen. Die Frau iſt nicht
böſe. Wer Dich lieb hat, iſt gut. Wer Dir Schmerzen
ſparen will, iſt ein Engel. Nein, Du ſollſt mich nie
mehr ſehen. — Vergieb mir, Du mein einzig Ge¬
liebter, daß ich darum kam. Nur darum — mein
Kopf brennt mir, ich weiß nicht, was ich ſchreibe.
Ich ſah Dich nur unglücklich, nun wollte ich
Dich glücklich ſehen. Iſt das auch eine Sünde! —
Es ſollte meine einzige letzte Freude ſein. Mit einer
einzigen Freude aus der Welt gehn, iſt das zu viel
gefordert! — Sie ſagte — ach Gott, ich klage ſie
nicht an. Wahr und wahrhaftig, Louis, bei Allem,
was Dir theuer iſt, glaube mir, ich kam nicht, um
von Dir zu preſſen, nicht um Dein Glück zu ſtören
— ich Dich ſtören! — Und Du ſollſt mich auch nicht
für eine ausverſchämte Perſon halten, die Dich aus¬
ſog und es lüderlich verbracht hat, und wenn das
Geld fortgerollt, kommt ſie wieder. Glaube ihr nicht,
Louis, und darum ſchon muß ich Dir ſchreiben. Ich
vergebe ihr auch das, denn ſie hat's nicht geſehen,
wie ich damals aus dem Thor wankte. Ich glaubte,
die Luft würde es gut thun, aber die Luft that's
nicht gut. Irgendwo, ich habe den häßlichen Ort
vergeſſen, blieb ich liegen — nein, ich wollte da nicht
— draußen auf der Landſtraße aber fiel ich um, da
[254] hoben ſie mich auf einen Leiterwagen und fuhren
mich rein, in ein großes Haus. Ach, die häßlichen
Geſichter, wie ſie ſich ſtritten! Der Bürgermeiſter
war ſehr zornig, er wollte mich wieder aufladen laſ¬
ſen und zur Stadt hinaus, Gott weiß wohin. Sie
fluchten. Ich habe Dich fluchen gehört, aber ſo nicht.
Einer ſchrie, das gäbe eine Unterſuchung und mache
noch mehr Koſten. Aber wie kommen wir zu der
Laſt! ſchrieen ſechs Andre. Sie müſſen's uns ja ver¬
güten auf Heller und Pfennig! — Eigentlich müßte
der Abdecker auch ſolche kriegen! lachte Einer. —
Louis! Louis! ich lag da, ſinnlos, ſtarr, wie ein ge¬
fallen Thier, um das die Raubvögel ſich ſtreiten.
Wer das erlebt — der hat kein Recht mehr auf dieſer
Welt. Und ich ſollte noch Dein Glück ſtören wollen!
Endlich hieß es, man muß doch was finden, wo ſie
hingehört, und dann hätten ſie mich wieder auf den
Karren geladen, und das hätte ich nicht ausgehalten;
es wäre wohl ſo am Beſten geweſen. Aber als ſie
drauf ſuchten, fanden ſie Dein Geld. Hätte ich
ſchreien können: es gehört ja Dir! hätte ich es ihnen
fortreißen können! Aber ich konnte keinen Finger
rühren, keinen Laut rausbringen. Da ward es ſtille;
ſie ſchmunzelten und führten wieder häßliche, luſtige
Reden. Der Inſpector ſagte, die wolle er ſchon gut
und lange pflegen. Da ward mir das Haar geſcho¬
ren, da ſtürzten ſie kaltes Waſſer über den Kopf mir,
o es war doch immer ſo heiß! Da ſah ich immer
Dich, wenn mir wohler ward. Du zückteſt die Ach¬
[255] ſeln und ſagteſt: Sie iſt doch auch eine Creatur
Gottes. Ach, Du warſt nur wie ein Nebel auf dem
Berge. Wärſt Du in Perſon da geweſen, Du hät¬
teſt Ihnen wohl geſagt, daß ſie's ſanfter machten,
die rohen Männer, die mich bei den Armen und
Beinen in den Badekübel warfen. Es that weh,
aber ich fühlte es ja nur halb.


„Ich ward geſund. Gott weiß wozu. Sie gaben
mir ein langes Papier, das war meine Rechnung,
und den Geldbeutel, der war ganz klein geworden.
Louis, ich hatte noch keinen Groſchen davon ausge¬
geben. Ich wanderte nun nach meiner Vaterſtadt.
Unterwegs habe ich nicht an Dich gedacht, nur an
meinen alten Vater, und was ich ihm ſagen wollte,
wenn ich vor ihm auf die Knie ſtürzte. Ich wußte
es Alles auswendig. Ich hab's ihm aber nicht ge¬
ſagt. — Als ich durch's a Thor kam, trugen ſie
ihn heraus. Ich ſtieß einen Schrei aus, ſie ſtießen
mich fort. Ich lief ihnen nach. Als ſie die Bahre
auf dem Kirchhof niederſetzten, drängte ich mich durch;
da warf ich mich auf die Knie, wollte es dem Todten
ſagen, was ich dem Lebendigen nicht mehr ſagen
konnte. Da haben ſie mich erkannt. Da wieſen ſie
mit den Fingern auf mich, und ziſchelten. Dann
murrten ſie laut. Endlich ſah ich Geſichter, o Herr
Gott, dem Bürgermeiſter und dem Inſpector ſeine,
die waren freundlicher, hätten ſie doch nur laut ge¬
flucht! Aber der Herr Prediger that es. Als mich
der Büttel am Armgelenk gefaßt und aufgeriſſen —
[256] an der eingefallenen Kirchhofsmauer ließ er mich we¬
nigſtens, da durfte ich knieen — da hörte ich des
Herrn Predigers Rede. Mich ließen ſie keine Erde
ihm in die Grube nachwerfen, aber auf mich warf
der Herr Prediger — das kann ich nicht wieder
ſchreiben. Und es war nicht wahr — ich habe mei¬
nen Vater nicht umgebracht! — Und die Blicke nach¬
her, wie ſie an mir vorübergingen! Gott ſei Dank,
dann ward es frei, der ſtille Abend, da lag ich über
ſeinem Grabe, und der Lindenbaum fluchte nicht,
in ſeinen Blättern ſäuſelte es wie ſüße Lieder, und
ich ſchlief ein, bis das Morgenroth mich aus dem
Frieden weckte. Um die Mauer ſchlich ich von hin¬
ten nach dem Hauſe, wo er ſtarb, wo ich geboren
bin. War denn das ein Verbrechen, daß ich es zum
letzten Mal ſehen wollte! Bürgerfrauen hatten mich
bemerkt. Der Rathsdiener, mit dem Schild auf der
Bruſt, kam und ſagte — ach, was er mir ſagte, ich
weiß es nicht: von lüderlichem Geſindel und auf die
Finger ſehen, und hinausbringen, und ich hätte kein
Heimathsrecht mehr!


„Nein, Louis, ich habe keine Heimath; wie ich
da am rauſchenden Waſſer ſtand, da ſahen keine
rothen Geſichter heraus vom Bürgermeiſter, und nicht
die häßlichen ſpitzen der Bürgerfrauen — und da —
da hörte ich, daß Du glücklich wärſt — ich wußte es
ſchon, unter der Linde auf dem Kirchhofe hatte ich
Dich geſehen, und die Herrſchaften, die im Wagen
vor der Schenke ſchwätzten, derweil ihre Pferde Muth
[257] tranken, und ich trank auch Muth, ſie ſagten mir
nichts Neues — und da ſtach es mich, und trieb
mich, Dich wollte ich noch einmal glücklich ſehen.
— Und das hab ich nun auch aufgegeben, da ich
weiß — —“


Hier waren einige Zeilen von Thränen verwiſcht.


„Das Geld brauchſt Du nicht — das kümmert
mich auch nicht mehr, — und mich wirſt Du vergeſ¬
ſen — aber wenn ich nur etwas wüßte, was Dir
recht lieb wäre, ich wollte Alles thun, mir einen
Finger abſchneiden, mich wieder verkaufen, wenn ich
nur wüßte — Und nicht wahr, das war nicht un¬
recht von mir. Manche hat ſich betrunken, ehe ſie
in's Waſſer ſprang. Ich wollte ja nur Dich noch
einmal ſehen, Dich ſehen, wenn Dein ſchön Auge
ſo recht aus voller Seele lacht. — Nein, ich werde
es nicht mehr ſehen — Lebe wohl, Du mein Alles —“


Die Unterſchrift war wieder von den Thränen
ausgelöſcht. Aber dahinter noch einige kaum lesbare
Zeilen: „Aber ich muß Dich ſehen — hilf mir Gott,
wenn ich mein Wort breche. Wenn Du in die
Kirche gehſt mit ihr. Ganz von ferne — ſieh Dich
nicht um, Du wirſt mich nicht entdecken. Trinken
muß ich den Strahl aus Deinem Auge, und dann —“


Die letzten Worte gingen in ein fieberhaftes
Gekritzel über. Walter war von der Lecture aufge¬
regt; aber ſein Entſchluß ſchnell gefaßt.


„Es giebt doch etwas auch neben dem Vater¬
lande, um was der Menſch ſein Höchſtes einſetzt,
IV. 17[258] ſich ſelbſt. Und wo iſt der Sittenrichter, der es kalt
verdammt?“


Er nahm das Papier, falzte es und that es in
ſeine Brieftaſche: „Ich will ihr Teſtamentsvollſtrecker
ſein. Wenn ſie nur etwas wüßte, was ihm recht lieb
wäre, was ſie zu ſeinem Heile thun könnte! Ich
übernehme es für ſie. Sein Liebesglück darf durch
dieſe Erinnerung nicht vergiftet werden. Was könnte
er ihr helfen, ohne ihre Liebe zu erwiedern! Sie
bleibe vor ihm verſchwunden, ſpurlos. Die Wirthin
werde ich inſtruiren. Was er — ohne Liebe, aus
Erbarmen für ſie thun könnte, kann ich ebenſo gut.“


Seinen Vorſatz, auf Louis Rückkehr zu warten,
um mündlich der Ueberbringer der frohen Botſchaft
zu ſein, gab er jetzt auf. Der Freund weilte zu
lange bei ſeinem Glück. Er nahm Papier und Fe¬
der und theilte ihm kurz und klar, was ſeiner warte,
was von ihm gefordert werde, mit. Er ſtellte ſich in
den Hintergrund und ließ den neuen Miniſter ſelbſt
den ſein, der zuerſt ſein Auge auf Louis Bovillard
geworfen, für ſich die beſcheidene Rolle eines um
Rath Befragten vindicirend, welcher nur aus vollem
Herzen die Eigenſchaften beſtätigen können, welche der
Miniſter bereits in ihm entdeckt.

[[259]]

Siebzehntes Kapitel.
Ein volles Bekenntniſz.

Im Hauſe der Fürſtin hatte ſich ſeit jenem
Geſellſchaftsabend Vieles ereignet, von dem wir nicht
Zeuge waren; es drückte ſich auf den Phyſiognomien
ab. Adelheid war heut beim Theetiſch eine Hebe;
ſie ging nicht, ſie ſchwebte. Sie ſchien fortwährend
zu ſingen. Man hörte es nicht, aber man fühlte es.
Ihr Geſicht hatte einen andern Ausdruck.


Der Legationsrath bemerkte es gegen die Fürſtin.


„Ei! ſagte die Gargazin mit einem beſondern
Blick. Ich glaubte, dafür hätten Sie keine Augen?“


„Für die Schönheit!“


„Nur für die, welche Sie zergliedern können.
Adelheid giebt das den Reiz, was Sie nicht lieben,
die Harmonie der Seligkeit.“


„Ein Nebelbild!“


Wandel blickte dabei ſcharf aber ruhig auf
Louis Bovillard, der in ſich verſunken im Fauteuil
aß, und die Theetaſſe mit einem verſtohlenen Kuß
auf die Hand hinnahm, welche ſie ihm reichte. Die
17*[260] Beiden hätten das Geſpräch kaum gehört, auch wenn
es laut geführt worden. Wer ſich aber wundert,
den Legationsrath auch in dem kleinen Kreiſe zu er¬
blicken, in dem Louis Bovillard ihm gegenüberſitzt,
dem ſagen wir, daß in der Stadt ein Gerücht
umlief, daß zwei Cavaliere neulich in der Jung¬
fernhaide ihre Piſtolen verſucht; es ſei kein Blut
gefloſſen, aber einige dürre Zweige wären abgefallen.
Was ging Louis der Legationsrath noch an; auch
der Legationsrath hatte an anderes zu denken. Er
war heut nur auf eine Viertelſtunde gelegentlich
angeſprochen, nachdem die Familie aus dem Thier¬
garten zurückgekehrt.


„Was geht Sie das an!“ replicirte die Fürſtin,
ihre Stickerei wieder vornehmend.


„Alles Leben iſt ein Traum!“ rief der Le¬
gationsrath nach einer Pauſe.


Die Fürſtin hielt die Nadel an: „Fallen Sie
nicht aus der Rolle, Herr von Wandel?“


„Welcher?“


„Die Sie die Güte haben, vor ſich ſelbſt auf¬
zuführen. A propos, ich bemerke, Sie fangen an
wenig zu eſſen und vom Glaſe nur zu nippen.
Das iſt für Berlin zu ſpät, man kennt Sie einmal
als Gutſchmecker. Sparen Sie ſich die Rolle der
St. Germain für Sibirien. Sie können ſich dort
mit einem Schamanenzauberer aſſociiren. Vielleicht
kommen Sie in einer ganz neuen Incarnation nach
Europa zurück.“

[261]

Wandel bewunderte die Laune der Fürſtin und
die Farben ihrer Stickerei. Sie ſtieß halb muthwillig
ſeine Hand fort.


„Mir iſt immer bange, wenn Sie etwas an¬
faſſen, daß die Farbe ausgeht. Haben Sie nicht
wieder eine chemiſche Tinktur an der Hand kleben?“


„Erlaucht vergeſſen, daß die Chemie die ſchönſten
Färbeſtoffe präparirt.“


„Bis ſie nicht die Schminke erfindet, die einen
Todten lebendig macht, geb' ich nichts auf Ihre
Wiſſenſchaft.“


„Sie fordern zu viel. Den Schein des Lebens
herzuſtellen, gilt doch für das höchſte —“


„Was ſie geleiſtet hat, fiel die Fürſtin ein, und
eben darum haſſe ich ſie. Eine ſcheinbare Tugend,
ein ſcheinbarer Reichthum, ein anſcheinend blühender
Staat, und Alles übertünchte Gräber — durch Ihre
Chemie. — Was fixiren Sie Adelheid's Freund?“


Wandel ſenkte die Augen: „Hippokratiſche Züge.“


Qu'importe! Schmeckt der Blumenhonig den
Schmetterlingen darum weniger ſüß, weil ſie nur
ein Schmetterlingsleben führen?“


„Der Schmetterling weiß freilich nicht, wie lang
ſein Lebensfaden ihm zugemeſſen iſt, aber — der
Legationsrath beugte ſich näher zur Fürſtin — aber,
ich kann Ihnen nicht verhehlen, man begreift meine
erlauchte Freundin nicht. Sie begünſtigen das Ver¬
hältniß, und thun nichts, ihm eine Zukunft zu
ſichern.“

[262]

„Was heißt Zukunft?“


„Der alte Bovillard ſtellt ſich auf die Hinter¬
füße. Seit er die Flaſche alten Weins, die ſeinen
provencaliſchen Adel enthält, entkorkt, iſt der Duft
ihm in's Gehirn geſtiegen. Er will nichts für ſeinen
Sohn thun. Mamſell Alltag's Vater iſt eben ſo närriſch
von ſeiner neuen Würde benommen. Am Hofe hat man
noch einen Degout gegen den jungen Wüſtling.
Wenn Niemand etwas für ſie thut! Verſchaffen
Erlaucht ihm bei Ihrer Legation eine Stellung,
und er — ich meine, er iſt vernünftig genug ge¬
worden, um zu wiſſen, was der Begriff Vaterland
werth iſt.“


„Haben Sie für nichts Anderes zu ſorgen?“
ſagte die Fürſtin, wieder mit ihrer Arbeit beſchäftigt.


Der Legationsrath griff gedankenlos nach dem
Hut. Es kam zwiſchen Seufzen und Gähnen
heraus: „Wenn man nur nicht ſo viel Gefälligkeiten
übernommen hätte!“


„Und ſich nicht ſo rückſichtslos für ſeine Freunde
und Freundinnen opferte!“ fiel die Gargazin ein.


„Spotten Sie nur! Mir wird der Kopf zu¬
weilen wüſt.“


„Dafür haben Sie ja Arkana zur Hand.“


„Die larmoyante Liebelei des Rittmeiſters und
der Baronin ennuyirt die Freunde.“


„Les Georges Dandins l'ont voulu.“


„Nun ſoll ich die Platoniker wieder auseinander
bringen, oder vielmehr aneinander. Man wünſcht ein
[263] Gezänk, wobei ſie ſich in die Haare geriethen, einen
Eclat, einen coup de main, eine Pulverexploſion.“


„Ich auch, ſagte die Fürſtin. Die Luft wird
unerträglich ſchwül.“


„Der Mann, der Baron, iſt zu gar nichts zu
gebrauchen. Das iſt das Schlimme.“


„Die Baronin ſcheinen Sie ſeit einiger Zeit
wirklich in Affection genommen zu haben.“


„Ich?“


„Pardon! Ich vergaß, daß Sie keine Affectionen
haben. Gehen Sie morgen wieder zur Lupinus.“


„Die unglückliche Frau bedarf des Troſtes.“


„Der Mann wohl nicht?“


„Er iſt in Momenten ſo glücklich. Er kann ſich
über das Geringſte, was ſeinen Phantaſieen ſchmeichelt,
wie ein Kind freuen. Ein alter Einband, eine neue
Lesart, die er entdeckt zu haben glaubt. Auch meine
erlauchte Freundin würde ihre Luſt daran haben,
denn man kann ſagen, es ſchwebt gewiſſermaßen
ſchon die Glorie der Erlöſung um ſeine Stirn.
Lange wird er es nicht machen. Da iſt es denn
Pflicht ſeiner Freunde, was ſie vermögen, die letzten
Augenblicke ihm zu verſüßen.“


„Die Luft im Krankenhauſe ſoll abſcheulich ſein.
Nehmen Sie ſich in Acht.“


„Die Geheimräthin iſt zu eifrig in ihrer Pflege,
zu excentriſch, um immer die gehörige Vorſicht zu
beobachten. Sie erinnern ſich, bei dem Jean Paul¬
feſte, wie Adelheid beinahe verbrannt wäre.“

[264]

Die Fürſtin ſah über die Arbeit ſtarr vor ſich
hin: „Es iſt etwas eigenes, das Kapitel von den
Sympathieen und Antipathieen.“


„Von den Sympathieen haben wir das corpus
delicti
vor uns,“ lächelte Wandel, auf das Liebes¬
paar blickend.


„Aber die Antipathieen haben etwas Monſtröſes,
ſagte die Gargazin, weil wir ſie mit allem Ver¬
ſtande uns nicht zu erklären wiſſen. Giebt es einen
Gegenſatz zum Magnet, einen Stein, der abſtößt?“


„Feuer und Waſſer miſchen ſich nicht.“


„Das iſt es nicht, was ich meine. Das eine
löſcht doch, das andere durchglüht das andere. Aber
wer erklärt dieſe innere Seelen- und Körperangſt, die
ein vernünftiges Weſen oft vom erſten Erblicken an
gegen das andere empfindet? den angebornen
Widerwillen, den geheimen Schauder, wo gar kein
vernünftiger Grund da iſt?“


„Doch vielleicht der Kitzel zu Paradoxieen! Das
häßlich zu finden, was Andre entzückt, fordert der
Widerſpruchsgeiſt von ſelbſt auf, der gerade begabten
Naturen eigen iſt.“


„Warum fürchtet ſich Haugwitz vor Ihnen?“


Wandel ſchien etwas betroffen. Er wollte von
dem Unglück ſprechen, von geheimen Feinden ver¬
redet zu werden, wo ein Ehrenmann ſich nicht ver¬
theidigen kann, weil ihm die Anklage ſelbſt unbekannt
blieb. Das war es nicht, was die Fürſtin meinte.


„Warum hat Louis Vater einen angebornen
[265] Widerwillen gegen die Lupinus? Ich weiß, er hat
dieſe Antipathie. Er kann ſie weder ſich noch Andern
erklären. Solch eine magiſche Scheu zieht ſich durch's
Leben, unzertrennbar von unſrer Perſönlichkeit, wie
wir von unſerm Schatten. Was iſt das nun? Ich,
von meinem Standpunkte, könnte es mir deuten;
aber ich wünſchte Ihre Anſicht zu kennen. Sie
Rationaliſt, Ihre Wiſſenſchaft muß wenigſtens vor
ſich ſelbſt Alles zurechtlegen können, was in der
Natur erſcheint.“


Wandel hub an von den ſich anziehenden und
den ſich abſtoßenden Kräften, von den Stoffen, die
als Wärmeableiter dienen, er ging zur Electricität
über und ſtand beim Blitzableiter, ohne daß wir
wiſſen, wie weit er ſich in die Wolken, und von
ihnen herab wieder in die pſychiſche Welt verſenkt
hätte, als ihn die Fürſtin abermals unterbrach.
Möglich, daß er nicht ohne Abſicht in die Doctrin
ſich verlor, weil er wußte, daß die Fürſtin nie auf¬
gelegt war, Vorleſungen anzuhören, und er in dem
Augenblicke noch weniger, ſie zu halten.


„Warum iſt ſie auch mir zuwider?“


„Zwei Sonnen vertragen ſich nicht am Himmel,
pflegte man zu ſagen. Aber von Rivalität kann nicht
mehr die Rede ſein, wo die eine unterging.“


„Wenn ich Ihnen auch zugeſtände, daß ein
ſolches Gefühl einmal da war, das iſt es nicht. Es
iſt etwas Anderes. Ich kann mit ihr Komödie
ſpielen, aber nachher überfröſtelt es mich, wie Jemand
[266] zu Muthe ſein muß, der erfährt, daß er mit einem
von der Peſt Inficirten Hände geſchüttelt. Nach
jenem letzten Abende erſchien ſie mir im Traum.
Ihre koſtbaren Kleider fielen in Lumpen, eines nach
dem andern, ihr vom Leibe. Ich ſchrie auf, ich floh
vor dem ſcheußlichen Gerippe. Ich war plötzlich aus
dem Bette, und es ſtand noch immer vor mir, ja,
es dauerte eine Weile, als ich ſchon die Augen mit
Gewalt aufgeriſſen hatte, bis es in den Boden
verſank. Was iſt das? Erklären Sie's mir.“


„Vielleicht die polariſche Attractionskraft der
Gegenſätze. Wir träumen das Gegentheil von dem,
was wir fühlten, dachten, erlebten, liebten. Das iſt
der Inhalt der Traumbücher. Die Geheimräthin iſt
immer ſehr gewählt gekleidet, ſie ſpricht und denkt
ebenſo, alles Rohe und Nackte überkleidend.“


„Darum erſchien ſie mir roh, nackt, ſcheußlich!
— Wandel, ich möchte Sie einmal im Traum
ſehen.“


Der Haushofmeiſter war ſchon eine Weile
näher getreten, als er ſich jetzt über den Stuhl der
Fürſtin neigte und einige Worte ihr in's Ohr
flüſterte. Die Fürſtin ließ die Arbeit ſinken; ſie
ſtützte den Kopf im Arm. Die verbiſſenen Lippen
ſprachen von einer unangenehmen Nachricht. Der
Haushofmeiſter flüſterte ſie auch dem Legationsrath
zu: „Er iſt eben verſchieden!“ — „Le pauvre diable!
ſprach Wandel, die Achſeln zückend. Hat er noch
viel gelitten? Ich meine, hat er noch wie neulich
[267] phantaſirt?“ — „Er warf ſich noch einige Male
unruhig, kreuzte ſich, wiederholte den Namen der
Fürſtin, japſte ein paar Mal auf, als wollte er
etwas ſagen. Solchen Kutſcher kriegen wir nicht
wieder!“ hatte der Haushofmeiſter erwiedert.


„Warum mußte auch jetzt grade dieſe Störung
kommen!“ ſagte der Legationsrath und beugte ſich
über den Lehnſeſſel der Fürſtin.


„Wiſſen Sie, theuerſte Freundin, mich ſchaudert
doch zuweilen vor der Leibeigenſchaft.“


Sie blickte verwundert zu ihm auf.


„Ihre beredte Vertheidigung hat mich allerdings
von der Naturnothwendigkeit des Inſtitutes über¬
zeugt. Ich erkenne, welche unausſprechliche Wohlthat
ſie für dieſe Geſchöpfe, Familien, ja dieſe ganzen
Völkerſchaften iſt, die ſich über ihre Naturdumpf¬
heit nicht erheben mögen. Ja, es iſt ein berauſchendes
Gefühl für die von Gott dazu Erwählten, für dieſe
Armen, Verlaſſenen, Urtheilunfähigen ihr Alles zu
ſein, Vater, Mutter und Vormund, für ſie zu fühlen
und zu denken, die Sorgen für unſer eigen Wohl
hintanzuſetzen, um für Hunderte und Tauſende von
Seelen zu ſorgen, welche die Vorſehung in unſre
Hand legte. Von dieſer Seite erſcheint auch mir die
Inſtitution eine wunderbare, heilſame, aber der
Exceß der Gefühle von der andern Seite hat doch
etwas Bedenkliches.“


Sie verſtand ihn nicht.


„Was hat dieſem Menſchen den Tod gebracht,
[268] nachdem er in der Geneſung ſo vorgeſchritten,
der Arzt hatte zuverſichtlich ſeine völlige Heilung
verſprochen, als die Angſt, Gewiſſensbiſſe kann man
ſagen, daß er ſo lange nutzlos liegen mußte, ohne
die Güte ſeiner Herrin durch ſeine Dienſte erwiedern
zu können. Wie durchzückte es ihn, als er hörte, daß
Eure Erlaucht einen Berliner Kutſcher interimiſtiſch
angenommen. Er biß ſich in die Lippen und ballte
die Hand, daß ein Anderer, ein Fremder, ſeine ge¬
liebte Herrin fahren ſollte. Wir verbargen es Ihnen,
er ſprang nachher heimlich auf, kleidete ſich an,
und war ſchon auf dem Wege nach dem Stall.
Wir kamen noch zur rechten Zeit. Als man ihn
wieder in's Bett brachte, überfiel ihn der Paroxys¬
mus; er phantaſirte nur von Peitſche und Pferden,
er umklammerte ſein Kopfkiſſen, wie man Einen
erwürgt, und nannte es Chriſtian. Nenne man es
Eiferſucht, Brodneid, es war etwas Edleres,
meine ich, aber von da ab gab der Doctor die
Hoffnung auf. Es thut mir leid, von einem Todten
es zu ſagen, aber der Menſch hat ſich ſelbſt umge¬
bracht. Ein Selbſtmord aus Pflichtgefühl. Dieſe
Exceſſe des Gefühls, Sie mögen mich darum tadeln,
aber ich kann ſie nicht gut heißen. Etwas Egoismus
iſt jeder Creatur nothwendig, oder ſie hört auf zu
exiſtiren. Selbſterhaltungstrieb und einige vernünftige
Ueberlegung wären Sie auch Ihren Leibeigenen
einzuimpfen ihnen und ſich ſelbſt ſchuldig.“


Die Fürſtin warf ihm einen dankbaren Blick zu.
[269] Es giebt Momente, wo ein Kluger von einer groben,
handgreiflichen Lüge angenehmer berührt iſt, als von
einer feinen, die wie ein lauer Abendwind ſich als
Wahrheit in ſein Herz zu ſchmeicheln ſucht. Ihr
zweiter Blick war auf die Andern gerichtet; aber ſie
waren ſchon verſchwunden. Es war ihr lieb: „Adel¬
heid darf nichts davon erfahren,“ ſprach ſie, zum
Haushofmeiſter ſich umwendend.


„Sie ſind nun ganz d'accord, wir Sie es wün¬
ſchen?“ warf der Legationsrath hin.


„Heut im Thiergarten ſcheint die letzte Scheide¬
wand gefallen.“


„Welche?“


„Die Affection für ihren Lehrer. Sie haben
Recht, Wandel, es giebt auch Exceſſe einer geiſtigen
Leibeigenſchaft.“


„Ich hielt dieſe für überwunden ſeit jenem
Abend.“


„Das Bekenntniß der Liebe ſtöhnte noch immer
unter den Fußklammern des Gewiſſens. Was der
Menſch ſich ſelbſt quälen kann! Sie hat ihm be¬
kannt, wen ſie um ſeinetwillen geopfert, das hat
einige Thränen, Schluchzen, platoniſche Herzſchläge
verurſacht, denn die Rivalen waren Freunde, aber
ſie ſind auf gutem Wege.“


Des Haushofmeiſters Verbeugung war eine
Frage, welche die Fürſtin verſtand.


„Wollen Sie mit mir — den guten Paulowitſch
ſehen?“ fragte die Fürſtin den Legationsrath.


[270]

Wandel ſchien ungewiß, welche Antwort ſie er¬
wartete: „Man hat es der Geheimräthin Lupinus
verdacht, daß ſie die Leiche ihres Dieners wie die
eines Familiengliedes pflegte und ſchmückte. Es iſt
hierorts nicht Sitte.“


„Man muß ſich in die des Ortes fügen, ſagte
befriedigt und laut die Fürſtin, und richtete den
Blick nach oben. Ich werde den treuen Paulowitſch
noch oft ſehen. Den irdiſchen Qualen enthoben,
ſchwebt ſein verklärter Geiſt in die Räume des Lich¬
tes. Ob es da Hohe und Niedere, ob Herren und
Leibeigene giebt, ob wir Alle wie Atome in der Se¬
ligkeit verſchmelzen, die nichts Geſondertes duldet,
Alle Accorde in dem großen Hallelujah, Glockentöne
in der ewigen Harmonie!“


Sie ſprach es, ſich ſelbſt anregend, mit ſilber¬
reiner Stimme. Aus dem andern Zimmer reſpon¬
dirte das Klavier, in Phantaſien, die der Stimmung
entſprachen; ein ernſter Grundton, wie das Wogen
des Meeres, aber wie Schaumwellen ſprützte die
Freude dann und wann auf. Es war Adelheid.


Wandel hatte, um der Stimmung auch zu ent¬
ſprechen, die Hände vor ſich gefaltet. Als die Für¬
ſtin es bemerkte, trat ſie an ihn und riß ſeinen Arm
zurück: „Das ſollen Sie nicht. Sie können gehen.“


Er ſchien einen andern Befehl erwartet zu ha¬
ben, aber mit einer ſpitzen Stimme wiederholte ſie:
„Gute Nacht, Herr von Wandel, ich will im Thomas
a Kempis leſen. Die Lecture intereſſirt Sie nicht.“

[271]

Als der Legationsrath langſam die Hintertreppe
hinunter über den Hof ging, ſah er auf dem Bal¬
con, der nach dem Garten führte, Louis Bovillard
auf einer Bank ruhend. Unter Myrthen- und Oran¬
genſtöcken ſchien er, den Kopf im Arme, auf die Töne
im Zimmer zu lauſchen. Oder auch nicht. Als der
helle Mondenſtrahl, hinter einer Wolke vorkommend,
auf ſein Geſicht fiel, wäre der Beobachter vor dem
finſtern Ausdruck erſchrocken, wenn es in Wandels
Art gelegen hätte, zu erſchrecken. Er dachte, mit
einem ſchlauen Blick auf den dunkeln Garten, wohin
eine leichte Treppe vom Balcon führte, das iſt ja
ein betrübter Anfang zu einer Wonneſcene, als mit
einem letzten Aufſchlag das Spiel endete und der
Klavierdeckel zufiel. Wandel empfand ſo wenig ein
Intereſſe, das zu belauſchen, was auf dem Balcon
vorgehen würde, als für die Penſéen der Fürſtin bei
der Lecture des Thomas a Kempis, oder bei den Ge¬
danken, die über das Buch hinwegflogen: „Groß iſt
Salomo! ſprach er, die Hofthür hinter ſich zudrückend.
Unter der Sonne geſchieht nichts Neues. Und das
Mirakel iſt nur, daß ſie um daſſelbe Elend immer
wieder von vorn anfangen!“


Nur die Nachtvögel hörten das Liebesgeflüſter
unter den Myrthen und Orangen. Der Mond be¬
gleitete es durch die Laubengänge des Gartens. Er
lächelte nicht, er ſeufzte nicht; auch er hörte ja nur,
was er durch Tauſende und Tauſende von Jahren
gehört. Er kennt die ſtille Sprache des ſanften Hände¬
[272] drucks, was der Athemzug ſagt, was die Locke ſpricht,
die ſich auf die Schulter ſenkt, wofür der Hauch aus
der tiefen Bruſt keine Worte findet. Der Mond kennt
alle Sprachen der Welt von Anbeginn, und weiß,
daß keine ausreicht, um den Gefühlen der Liebenden
Worte zu geben, nachdem ſie Alles geſungen und
geſagt, was ſich ſingen und ſagen läßt.


Es waren keine Mondſcheinsgedanken, die durch
die verſchlungenen Hände und Arme von Herz zu
Herzen vibrirten. Es waren aber auch nicht Stürme,
nicht Blitze, die aus Vulkanen zücken. Die Lieben¬
den ſchwebten auf den geglätteten Wegen, wie abend¬
lich ein Nachen über den ſpiegelglatten Fluß zum
Ufer ſchwebt. Aber vorher, als die Sonne noch hoch
ſtand am Himmel, hat der Kahn, unter Geſang und
Rudergeplätſcher, mit Wind, Sonnenbrand und der
bewegten Fluth gekämpft. Davon ruhen ſie jetzt aus,
ſchweigend, es iſt eine Stille, dem Verſtändniß, der
Erinnerung geweiht. In den einſamen Gängen des
Thiergartens erſt hatte Louis erfahren, wem er ſein
Schönſtes geraubt. Es war eine Gewitterwolke am
klaren Horizonte; aber der dunkle Schatten, der auf
ſeine Stirn fiel, zeigte die Gegend ringsum nur um ſo
lachender. Welche Bekenntniſſe entlockte er der Gelieb¬
ten! Darum ihre Kälte, Scheu; und nun hatte
ein Wort ſie freigegeben, Alles gelöſt, ſie wollte ihm
Alles geben, was ſie ſo lange ihm vorenthalten. Und
was hatte er denn dem Freunde geraubt? Sein
Schönſtes, ja, aber nicht ſein Alles. Hatte nicht
[273] Adelheid geſtern einen Brief empfangen von Walter,
einen freundlich heitern, eine Urkunde war es, worin
er das ihm anvertraute köſtliche Gut, wie er es
nannte, der Eigenthümerin zur freien Dispoſition
zurückſtellte. Mit welchem Scharfſinn hatte er aus¬
einandergeſetzt, daß er nie ein Recht darauf gehabt,
daß es höchſte Undankbarkeit ſei, was die Dankbar¬
keit im überſtrömenden Gefühl des Augenblicks auf
den Altar legt, als verfallen anzunehmen, als un¬
widerrufliches Eigenthum. Hatte er nicht klar aus¬
einandergeſetzt, daß er nicht die Eigenſchaften beſitze,
um Adelheid ſo glücklich zu machen, wie ſie verdiene,
dahin, in die glänzenden Höhen ſie zu fühlen, wozu
ihre Schönheit, Natur, die ſichtliche Fügung des Him¬
mels ſie beſtimmt. Er ſei ein ſtiller, ſinnender Mann,
ſie berufen zu glänzen. Sein Verdienſt wäre viel¬
leicht, daß dieſer Glanz ein echter werden müſſe, daß
er ſie gehütet vor dem Flitter und Schimmer, daß
er die Hochgefühle einer deutſchen Jungfrau in ihr
geweckt; darauf ſei er ſtolz; aber hatte er ſich nicht
zugleich angeklagt, daß er dieſe Ueberzeugung gewalt¬
ſam unterdrückt, daß er ſo lange ſich getäuſcht, daß
er, ſchon mit dem Bewußtſein, wie ihre Liebe nur
Achtung ſei, ein Pflichtopfer, ſich fort und fort ge¬
täuſcht, es könnten doch andre Gefühle für ihn zum
Durchbruch kommen, und daß nicht ein freies Opfer
von ſeiner Seite, ſondern erſt ein Zufall, ein Im¬
puls des Momentes, die lange Kette des Truges ge¬
ſprengt habe? Und hatte er nicht endlich verſichert,
IV. 18[274] auch er fühle ſich jetzt frei, glücklich, ſie dürfe um
ihn nicht ſorgen, denn er ſei nun zurückgegeben der
heiligen, ernſten, höchſten Pflicht des Mannes,
ganz ſeinem Vaterland zu leben.


Mit Begeiſterung hatte Adelheid den Brief vor¬
geleſen, dort auf der unter Brombeeren und Ham¬
butten verſteckten Birkenbank, während der Wagen
der Fürſtin langſam auf der Chauſſee auf und
ab rollte. „Nun biſt Du doch zufrieden,“ hatte ſie
geſprochen, und mit der Hand die Falten aus ſeiner
Stirn geglättet. Er hatte geſchwiegen, und ſeine
Zufriedenheit in einem Kuß auf ihren Arm gehaucht.
— Jetzt fuhr ſie wieder mit der Hand über ſeine Stirn:
„Kalt und feucht! Die Abendluft könnte Dir ſchaden!“


Die Nachtvögel zeigten ihnen den Weg. Sie
flatterten, an die hellen Scheiben der Glasthür die
Köpfe ſtoßend. Trüb brannte das Licht im kleinen
Gartenzimmer. Sie hatten ſich noch ſo viel ohne
Zeugen zu ſagen. Es war ſtill im Hauſe, nur aus
dem Souterrain tönte dumpfes Geflüſter der Leute, die
Fürſtin ſaß in ihrem Armſtuhl und hörte über den
Thomas a Kempis nicht, wie Adelheid durch die
Thür blickte. Aber als ſie zurückkehrte, hörte auch
Louis nicht ihr Kommen. In ſich zuſammenge¬
ſunken, ſaß er auf dem kleinen Kanapé. Es war
nicht die Erwartung, von der der Dichter geſungen.


Erſt ihr Arm, der ſich ſanft um ſeinen Nacken
chlang, erweckte ihn.


„Noch immer —Walter! Iſt das recht!“ ſprach ſie.

[275]

Der iſt glücklich!“ ſeufzte Louis.


„Glücklich!“ Sie blickte ihn vorwurfsvoll an.


„Iſt's die Lerche nicht, die in den Morgen¬
nebeln nach der Sonne ſteigt. Iſt's der Träumer
nicht, der die ganze Menſchheit an die Bruſt ſchließen
möchte! Ich möchte ſie lieber erwürgen!“


„Sprich nicht ſo. Das iſt der Reſt Deiner
Krankheit.“


„Vielleicht ein anderer Reſt! — Er blickte ſtarr
vor ſich nieder. Bin ich nicht ein Feuerbrand,
beſtimmt, was er anrührt, zu zerſtören! Sie hatten's
mir verhehlt, aber ich erfuhr es, als ich geboren
ward hab ich meine Mutter umgebracht. Der Zer¬
ſtörungstrieb war die Mitgift an meiner Wiege,
und hat ſie nicht in meinem Leben luſtig gewuchert!
Meinen Vater — doch davon ſtill. Ich ward ein
wüſter Menſch auf der Univerſität, nicht ganz ſo
ſchlecht als Andere, aber indem ich gegen die Schlechten
losging, ward ich ein Störenfried unter den Guten.
Die Guten ſagen, um das Leben gut zu machen,
muß man ſich vertragen lernen, auch mit dem
Schlechten. Ich habe es nie gelernt. — Ich habe
in's Leben geraſt. Ich wollte Niemand vernichten,
und wie Viele habe ich zertreten. Kennſt Du denn
mein Leben, Adelheid? Soll ich das Alles heraus¬
ziehen aus dem Sumpfe, denn zwiſchen uns muß
Wahrheit ſein. Wie ſie mich aus den Häuſern ge¬
ſtoßen, auf der Straße mir auswichen, mit den
Fingern auf mich gezeigt, bis —“

18*[276]

„Bis Du Dich ſelbſt aufraffteſt!“


„Nein, bis ich auch Dich in's Verderben riß —
damals — bis ich auch den einzigen, den treuſten,
wahrſten Freund nun um ſein Heiligthum betrügen muß.
Was ich berühre, opfere ich. Soll ich es hinnehmen,
wie die Götter der Alten an dem rauchenden Blut
der ihnen geſchlachteten Menſchen ſich weideten! Was
iſt's denn in mir, frage ich, dies düſter glühende
Auge, das Zücken meiner Lippen, der nie geſtillte
Durſt meiner Seele, daß mir das Beſte, Köſtlichſte
aufbewahrt iſt! — Nun ich ſiech bin, troſtlos hinter
mir, troſtlos vor mir, willſt Du blühendes, junges,
reines Leben Dich an den morſchen Stamm ranken,
ich ſoll, muß Dich zerſtören, weil Du mein biſt. —
Ja, Walter hat Recht, nicht für ihn, aber Du biſt
auch nicht für mich.“


„Für wen denn?“ ſprach ſie, und der Ernſt,
der aus Louis Worten hauchte, ſchien plötzlich auf
ſie übergegangen. Aber Louis Ernſt war ein düſterer,
ihre Worte waren ein ſonorer Metallklang. Er hatte
es nicht geſehen, wie ſie in krampfhafter Erſchüt¬
terung den Arm von ſeiner Schulter zurückgezogen
hatte, und das Geſicht mit beiden Händen bedeckte.
So ſetzte ſie ſich in die andere Ecke des Sopha's,
und eine Pauſe trat ein.


„Weinſt Du? Habe ich Dich gekränkt, Adelheid?“


„Ich weine nicht, ſagte ſie im ſelben Tone,
und Du kannſt mich nicht beleidigen. Ich dachte
nur über mein Schickſal nach, und — bei Deinen
[277] Worten brach es heraus, ach, von ſo lange her!
Louis, das Schickſal ſchleudert mich ja in Deine
Arme. Was würde ich denn, was bin ich? O mein
Gott, es iſt ſchrecklich, wenn die Binde ſo mit
einem Mal von den Augen fällt!“


„Du biſt die gefeierte —“


„Puppe von — ich weiß nicht wie Vieler.
War ich denn nicht herausgeriſſen aus dem Schooß
meiner Familie, dem Glück, der Bildung, für die
ich geboren war, haben ſie nicht Alle an mir gear¬
beitet, mich zu erziehen, der Eine ſo, der Andere ſo,
um aus mir zu machen, was ich nicht war, um
mich zuzuſtutzen zu etwas, ſie wußten ſelbſt nicht,
was, aber ihr Ziel haben ſie Alle erreicht, die vielen
Künſtler, ich bin wie der Vogel, den man aus dem
Neſte nahm, und buntes Gefieder ihm anklebte. Die,
denen das Gefieder gehört, erkennen ihn doch nicht
an, ſie ſpotten ſtill über den Eindringling, aber zu
den Seinen darf er auch nicht zurück. Er gehört da
nicht mehr hin.“


„Welche Phantaſieen, meine Adelheid!“


„Ich ſehe nur zu klar, und nur zu lange ließ
ich mich von der ſüßen, eitlen Gewohnheit einſchläfern,
daß ich die Augen nicht aufſchlug, daß ich die
Stimme nicht hörte, die im Innern immer deut¬
licher rief. Jenes abſcheuliche Weib — o ſie war
noch die Beſte, ſie wollte mich nur einfach verderben;
da war ich unſchuldig; wie der Vogel, der aus dem
Neſte flattert, fiel ich in das Netz, das ſie aus¬
[278] geſpannt. Aber die Andre, o mein Geliebter, ich
fühle das Gift, daß ſie in meine Adern ſprützte,
es ſchleicht noch jetzt, es zehrt noch.“


„Die Geheimräthin wollte Dir wohl!“


„Sie will, ſie kann Niemand wohl wollen,
glaube es mir, Louis. Sie hat kein Herz; darum
wird ihr unwohl, wo ein Herz warm ſchlägt. Ich
las von einem Geſpenſterthier, das Nachts ſich auf
die Schlafenden legt und das Blut ihnen ausſaugt.
Sie ſaugt auch das Blut aus, mit ihren ſpitzen
Reden, ihren ſpitzen Blicken. Ich wäre ſchlecht
geworden, Louis, das fühle ich, ich ward ſchon
eine Andre, wie ein in Eis getauchtes Tuch warf
ſie's um die Bruſt, wenn edlere Empfindungen auf¬
zückten.“


„Was wollte ſie mit Dir?“


„Martern will ſie, ſie muß martern, was glück¬
licher iſt. Sie konnte den Kanarienvogel quälen,
wenn er zu luſtig ſchmetterte; ſie beneidete das arme
Thier im Käfig, ſie marterte ihre Domeſtiken, ihren
Mann, ſich ſelbſt auch, wenn ſie ſich ertappte, daß
ſie lebhafter geweſen, als ſie ſcheinen wollte. O Lieb¬
ſter, es iſt entſetzlich, wenn ich daran denke, ein
Traum, und mich ſchaudert, er iſt vielleicht noch
gräßlicher, als ich zu träumen wagte!“


„Und alle Welt bewundert ſie.“


„Die Welt hat Recht. Dieſe Frau und dieſer
Mann dazu —“


„Welcher?“

[279]

„Der Legationsrath. — Sie ſind beide — hohl,
verrathe mich nicht, Louis, ausgehöhlte Geſpenſter.
Sie haben alles menſchliche Gefühl aus ſich geſogen,
gepreßt. — „„Man muß die Empfindungen und Re¬
gungen, die uns ſtören, aus ſich heraus deſtilliren,““
hörte ich ihn einmal ſagen, und das haben ſie, ſie
haben daraus präparirt die ſchöne Glätte, den glän¬
zenden Firniß, den die Welt bewundert.“


„Mein Gott, woher kam Dir die Erkenntniß?“


„Weiß ich's? Sie hielten mich für das Schoo߬
kind, das man ausputzt, in den Armen ſchaukelt,
mit Glanz und Süßigkeiten nährt, von dem man
alles Unangenehme fern hält, auch die Gedanken —
und die Gedanken kamen doch, von ſelbſt — ich
war unausſprechlich unglücklich!“


„Dich mißhandelt?“


Sie nickte: „Es waren unſichtbare, feine Geißel¬
ſchläge, die Luft fühlte ſie kaum. Wie ein feiner,
ätzender Staub auf die Lunge geworfen.“

„Und Du mußteſt es dulden?“


„Wie ſchließt man das Auge vor dem Zücken
des Blitzes, das blaue Licht ſchießt durch die geſchloſſe¬
nen Lider. — Ich mußte es dulden, ohne ihr entfliehen zu
können, und es war mir auch nicht erlaubt zu klagen.
Und ich mußte immer lügen — lügen von unermeßlicher
Dankbarkeit; wenn ich es nicht ausgehalten wäre ja das
Urtheil der Welt über mich zuſammengebrochen —“


Er warf, die Hände faltend, ſein Geſicht in
ihren Schooß: „Und daran war ich ſchuld!“

[280]

„Nein, klage Dich nicht an. Es war eine Kette
von Beſtimmungen. Aber untergegangen wäre ich
in der Lüge, das fühle ich. Je größer ſie ward, ſo
kälter ſchlug's mir an's Herz.“


„Gott ſei Dank, eine Frau, die warm fühlt,
nahm Dich zu ſich.“


Adelheid war aufgeſtanden. Sie ſchüttelte den
Kopf. Eine hohe Röthe überzog ihr Geſicht, als ſie
ſich zu ihm umwandte, die Hände ſanft auf ſeine
Schultern legte und ſeine Augen küßte:


„Laß uns davon nicht ſprechen, Liebſter.“


„Du zweifelſt an der Güte der Fürſtin?“


„Meine Augen wurden geöffnet, wunderbar klar
liegt es vor mir; Blicke, um die mich Niemand be¬
neiden darf. Das iſt die entſetzliche Schule der
Lupinus. Nein, mein Geliebter, laß uns davon
ſchweigen.“


„Auch hier nicht glücklich?“


„Ich werde glücklich, denn ich werde wieder ich
ſelbſt.“


Er blickte ſie fragend an.


„Bin ich denn mehr, als ich dort war! Da
wollte man den ſeltenen Vogel in ein Bauer ſperren,
dort flatterte ich an einer unſichtbaren Kette, hier
läßt man mich frei fliegen, weil man weiß, ich kann
nicht entfliehen. Ich habe ja kein Haus, wohin. Eine
Leibeigene bin ich, nicht anders als die da unten auf
den Bänken ſchlafen müſſen. Jeden braucht man,
wozu er gut iſt, und ſo lange er dazu gut iſt. Mich
[281] ſtaffirt man aus mit allem Glanze, ſo lange es ſich
lohnt. Wenn ich nicht mehr hübſch bin, nicht mehr
ſingen, Muſik machen, nicht mehr tanzen kann, nicht
mehr muntere Antworten gebe, nicht mehr die Her¬
zen entzücke, dann wirft man mich fort wie jedes
andre unnütze Werkzeug. Sie hat ſo wenig ein
Herz für mich, als die Lupinus. Und die Andern!
Sehe ich denn nicht, wie man mich abſchätzt? Gehöre
ich zu dieſen Erwählten? Fühle ich nicht unter ihren
Complimenten und ſchmeichelnden Reden heraus,
was ich ihnen bin, was ich ihnen wäre ohne den
geliehenen Luſtre? Rümpfen dieſe vornehmen Damen
nicht die Naſe, wenn ihre Töchter mich einladen, mich mit
ihren Freundſchaftsverſicherungen überſchütten? Zittern
die Mütter nicht, wenn die Söhne mir zu viel Aufmerk¬
ſamkeit erwieſen? Nahte ſich mir denn mit ernſter
Abſicht in der langen Zeit nur ein edler Mann aus
dieſen Kreiſen? Herr von Fuchſius iſt ehrlich genug:
er trat bald zurück, weil ich kein Vermögen beſitze.
Die Andern ſagen es nicht, aber ich leſe ihre Ge¬
danken. Mitten im Zauberwirbel der Geſelligkeit,
der Pracht und rauſchender Luſt, bin ich eine Fremde,
mitten in den Schaaren, die mich umdrängen, eine
Gemiedene. „Wer wird ſie denn nehmen!“ hörte ich
eine vornehme Dame zu einer andern flüſtern, nach¬
dem ſie vorher nicht Worte genug gefunden, mir
Schönes zu ſagen. „Sie iſt doch nur eine Geſell¬
ſchafterin, erwiederte die Andre; ein vornehmer Lock¬
vogel.“ — „Und mit ſolchen Ballſchönheiten geht's
[282] bald zu Ende.“ — „Dann kommt zuletzt doch noch
Einer, der erſte Beſte, ſetzte die Andre tröſtend hinzu.
Und unter der Haube iſt unter der Haube.“


„Warum hört Adelheid auf das Geſchnatter!“


„Weil ich es hinter ihrem geſchloſſenen Munde
leſen würde. Ja, ich bin eine Gebrandmarkte —
erſchrick nicht, Louis, vor dem Wort, es iſt nicht ſo
übel, es ſind viele Beſſere als ich, ich könnte zuwei¬
len ſogar ſtolz darauf ſein. So ſtolz, daß ich auch
meine Gleichen ſuche. Brauchſt Du noch Beruhi¬
gung um Deinen Freund, ſo wiſſe, ich hätte jetzt
Waltern nicht mehr die Hand gereicht. Er war mein
Mentor, mein Schutzengel, er hob mich, ihm danke
ich, daß ich nicht unterging in dem Sumpfe; aber
nun ſteht er mir auch ſo hoch da, daß ich den ſtil¬
len, reinen Strom ſeines Lebens durch meine Be¬
rührung nicht trüben, nicht ſtören darf und will. —
Du biſt mein Retter. Wir haben uns nichts vorzu¬
werfen, wir ſind beide Fremde, Mißverſtandene, Ge¬
miedene, Ausgeſtoßene, und unſre Herzen ſchlagen zu
einander. Das hinter uns laſſen wir ruhen, und
blicken — wir flüchten beide — in eine beſſere Zu¬
kunft.“


„Wie Du ſelbſtquäleriſch Dich erniedrigſt, ſprach
er, ihre Hand an ſein Herz drückend. Wenn der
gerechte Richter die Wage hält, iſt die Schwere
Deiner Schuld wie die Flaumfeder, die in der Luft
ſich wiegt.“


„Die Welt iſt kein gerechter Richter; ſie wägt
[283] auch nicht die Schuld, ſie wägt nur die Verhältniſſe ab.
Auch der gerechte Richter fragt, was ich bin, nicht
was ich hätte ſein können. Was bin ich denn! Nicht
hier, nicht dort eine Wahrheit! Ein halbes Kind, her¬
ausgeriſſen aus dem elterlichen Hauſe, lernte ich tän¬
zeln, ehe ich gehen kennte, Komödie mußte ich ſpielen,
ehe ich von dem etwas wußte, was ich ſpielen ſollte. Ehe
ich eigen gedacht, empfunden, gelebt, lernte ich reflectiren.
Die ſchlichte Bürgerstochter, plötzlich geſtoßen in Kreiſe
der erſten Geiſter und der vornehmen blaſirten Men¬
ſchen, mußte ich Angelerntes herſagen. Louis, erſchrickſt
Du nicht, wie ich rede! Iſt das die natürliche Sprache
eines zwanzigjährigen Mädchens! Soll, darf ſie reflek¬
tiren, wie ein Mann, der die Lebensſchule durchgemacht
hat! Ich erſchrecke oft vor mir ſelbſt; ich ſchaudere,
wenn ich in den Spiegel ſehe. So haben ſie mich
heraufgeſchraubt zu einem unnatürlichen Daſein.
Ich frage mich oft in Stunden der Verzweiflung:
kann mich wer ſo lieben? wer ſich mir vertrauens¬
voll hingeben? Statt eines kindlichen Mädchens eine,
die die Schlechtigkeit der Menſchen im tiefſten Grunde
kennen gelernt —“


„Aber unberührt von ihr blieb. Deine ſchöne
Natur hat geſiegt.“


Sie ſtrich ihm die Locken aus der Stirn: „Sei
ehrlich! Wäre es Dir nicht lieber, wenn ich ein
Kind wäre, das arglos, neckiſch, vertrauensvoll ſich
in Deine Arme würfe? So zerdrücke ich oft eine
ſtille Thräne, wenn ich im Hauſe bin, wo ich nicht
[284] mehr zu Hauſe bin, wenn die jüngern Schweſtern
mich mit neugierigen Fragen beſtürmen, über die ich
lächeln muß. Wäre ich wieder ſo! ruft es, aber ich
möchte doch wieder nicht ſo ſein, ich könnte nicht
wieder ſo ſein, — es iſt eine Kluft geriſſen, und
ich gehöre nicht hierhin, nicht dorthin. Das iſt der
Fluch —“


„Nicht Deiner Schuld.“


Sie blickte ſinnend vor ſich und ſchüttelte lang¬
ſam den Kopf: „Wenn mein Herz blutete und
ſpringen wollte unter der ſchillernden Maske, log
ich nicht, indem ich nicht aus der Rolle fiel? Miſchte
nicht da etwas Falſchheit ſich unwillkürlich in mein
Denken und Thun? Ich log mir Entſchuldigungs¬
gründe vor. Die Phantaſie iſt unerſchöpflich. Ich
log mir vor die Vortrefflichkeit meiner zweiten Mutter,
der Geſellſchaft, der Welt, bis es nicht mehr ging,
bis das Bewußtſein herausplatzte. War es keine
lange Lüge, die ich auch mit Dir geſpielt? Schon
da an dem ſchrecklichen Orte! Dein Blick hatte mich
verwundet, aber die Wunde that nicht weh. Hatte
ſich Dein Geſicht mir nicht eingeprägt! Es durch¬
ſchauerte mich mit Angſt, als Du mich verfolgteſt,
aber es war eine bange, ſüße Angſt, bis an jenem
Abend, wo Du —“


„Da ſchon! Entzückendes Bekenntniß!“


Sie nickte, die Hände vor'm Geſicht. „Ja, da
ſchon, wie ich Dich mit kaltem Mitleid von mir
ſtieß, Dir verzieh unter der Bedingung, daß Du
[285] mich nicht wieder ſäheſt, als ich Dir ſagte, ich könne
Dich nie lieben, es war ſchon eine Lüge. Ich preßte
das Feuer mit aller Gewalt in die Bruſt zurück.
Ich log mir vor, daß es nur Mitleid ſei, daß ich
Dich verabſcheue, und ich log weiter. Es war die
Angſt vor Dir, vor mir ſelbſt, ich wollte mich retten
aus dem Strudel, aus dem Hauſe, Selbſtſucht war's,
als ich an Walters Bruſt bekannte; ja es war Liebe,
aber nicht ihr Sonnenſchein, ein ſüßes Mondenlicht,
die Liebe der Achtung, der Dankbarkeit, der Be¬
wunderung. Jahre ſind über dieſe Lüge hingegangen,
ſie machte mich bitter, unzufrieden, ich mußte mich
ſelbſt verachten, und — iſt das keine entſetzliche Schuld,
daß ich zwei Jahr das Lebensglück des edelſten
Mannes erſchüttern mußte. — Schuld gegen Schuld,
Geliebter, wir haben beide zu büßen und gut zu
machen. Einer muß ſich am Andern ſtützen, auf¬
richten, — Einer dem Andern Muth zuſprechen.
Das Leben hinter uns begraben wir und fangen
beide ein neues an.“

[[286]]

Achtzehntes Kapitel.
Der Weg zum neuen Leben.

Von der düſter brennenden Kerze war ein ver¬
glimmendes Dochtſtück nach dem andern gefallen;
hier ohne Schaden auf die Marmorplatte des Tiſches.
Auch war es nicht dunkel im Zimmer, der Mond
und das dämmernde Morgenlicht erhellten es. „Das
iſt mein Vaterland,“ murmelte Louis, in das Licht
ſtarrend.


Adelheid fühlte wunderbare Kraft; er ſchien
zerknickt. Mit wie leuchtenden Blicken er auch ihren
Reden zugehört, das Leuchten verſchwand allmälig,
das Auge ward matt, ein wehmüthiges Lächeln
ſpielte um ſeinen Mund, und die Augenwimpern
ſenkten ſich wie die eines Einſchlummernden.


Und ſie hatte doch, eine begeiſterte Prophetin,
geſprochen. Den Weg zum neuen Leben hatte ſie ihm
gezeigt — es gab nur einen — das Vaterland.


[287]
Die angebornen Bande knüpfe feſt.

An's Vaterland, an's theure, ſchließ Dich an,

Das halte feſt mit Deinem ganzen Herzen!

Hier ſind die ſtarken Wurzeln Deiner Kraft;

Dort in der fremden Welt ſtehſt Du allein,

Ein ſchwankes Rohr, das jeder Sturm zerknickt.

Und das eine Vaterland war ein größeres geworden.
Es war nicht heut erſt der Gegenſtand ihres Ge¬
ſprächs. Warum hatte Louis immer durch ein ſtilles
Nicken, was eben ſo gut dem ſchönen Munde und
den ſchönen Worten galt, geantwortet? Er ſeufzte
tief auf:


„Wo iſt denn Deutſchland?“


„Ich ſpreche nicht von dem Traum hinter uns,
Lieber, ſagte ſie lächelnd, nicht vom Kyffhäuſer und
der Kaiſerherrlichkeit. Du moquirſt Dich darüber.
Das deutſche Vaterland liegt vor uns —“


„Das Walter Dir malte,“ unterbrach er.


„Walter und Hunderte und Tauſende, unſere
Edelſten!“


„Was in der eignen Bruſt des Schwärmers
lebt, überträgt er auf die Millionen Creaturen, in
denen nichts lebt, als der Gedanke, wir ſie morgen
ſatt werden.“


„Als wüßte ich nicht, wie Du voriges Jahr
in edler Begeiſterung ſelbſt Deinen Vater auf¬
weckteſt!“


„Damals! ſeitdem — Gieb die Hoffnung auf.
— Dies Volk erwacht nicht wieder, es iſt kein Volk. —
Deutſchland iſt ein Traum der Dichter!“

[288]

„Und eben floß Palm's Blut dafür. Es raucht
zum Himmel.“


„Und iſt übermorgen vergeſſen.“


„Ueberall knirſcht die verhaltene Entrüſtung,
Greiſe, Knaben, ſchwache Frauen, kannſt Du ihre
Stimmen verleugnen, die Thränen der Wuth, die
am ſtillen Heerde geweint werden!“


„Ich hörte ſie, ich ſah mehr als Du; ſie ſchnitten
Pfeifen aus dem Rohr, mit den Trompeten ſollten
ſie's aufnehmen, ſie ſprangen auf die Bänke, Einige,
und ihre Fäuſte zerdrückten in der Luft den Eroberer;
die Andern brüllten dazu und ſtampften das Seidel
auf das Brett. Wenn man uns nur ruft! Pamphlete
über Pamphlete, von den Kanzeln donnerte es,
Schmähworte, Verwünſchungen — heute! — Ueber¬
morgen ſah ich ſie wieder, er war als Sieger ein¬
gezogen. Sie hatten die Dächer ausgehoben, ihn zu
ſehen. In den Schänken war auch nur eine Stimme
— der Bewunderung: die herrlichen Bärenmützen,
die Bärte der Sappeurs, nein, das war ganz anders
als bei uns. Die Einquartierung ſo liebenswürdig,
ſie hatte nicht den Teller zum Fenſter hinaus ge¬
worfen, ſie hatte ein Kind auf den Armen gewiegt;
o es waren prächtige Menſchen, verleumdet, ſie
hielten Mannszucht. Die Jungen, die die Pfeifen
geſchnitten, machten ihre Exercitien nach. Wo gab
es bei den Deutſchen einen Tambour-Major!“


„Das iſt ein Pasquill auf den Pöbel überall.“


„Der in Frankreich war ein anderer. O, die
[289] gepuderten Ehrenmänner! Gute Deutſche, ſangen ſie
Claudius Rheinweinlied, und die Augen gingen
ihnen über, aber — aber nachher ſah ich ſie anders.
Die Verhältniſſe waren ja auch anders. So lange
es ging, war es gut, was aber nicht mehr geht, iſt
nicht mehr gut. Man muß nicht mit dem Kopf
durch die Wand rennen wollen. Wer nicht bei Zeiten
nachgiebt, hat nachher das Zuſehen. Und im Grunde
genommen, was iſt es denn, was ein guter Bürger
braucht? Ruhe und Ordnung, Handel und Wandel.
Dafür zahlt er ſeine Steuern. Was kümmert's ihn,
an wen!“


„Sind die Krämer die Nation?“


„Wenn Du Pöbel, Alltagsſeelen und Kaufleute
davon nimmſt, was bleibt vom Volk? O, erinnere
mich nicht daran. Ich habe auch die Andern kennen
gelernt. Da in den Ameiſenhaufen, wie ſie rannten,
Einer über den Andern, um zu retten — ſich!
Das war ein Wirbelſturm der Angſt, wer zuerſt
ankomme. Nur die Fahne des Vaterlandes brauche
es aufzupflanzen, meinten unſere Freunde, ein
Trompeter daneben, und die Deutſchen würden in
hellen Haufen heranbrauſen, Waffen! ſchreien. Die
gute Fahne wäre zur Vogelſcheuche geworden, ſie
wären in ihre Verſtecke gelaufen, wie vor einem
Peſtzeichen. Nein, ich hörte Hüons-Horn, der
Kaiſer der Franzoſen ſtieß hinein, und ſie tanzten
ſich raſend, todt. Wer das mit anſah, Adelheid,
dieſes Kriechen, Antichambriren, dieſe Botſchaften
IV. 19[290] der kleinen Hohen und Höchſten, wie ſich jeder ent¬
ſchuldigte, ſeine Veneration auf dem Präſentirteller
vor dem Unüberwindlichen hinhielt, wie er den Andern
fortſtieß, verredete, denuncirte, wie er, kaum daß er
die Unterwerfung unterzeichnet, auch ſchon um die
Belohnung petitionirte; wie ſie, die Stolzen, Hoch¬
gemuthen, mit Ahnen von Odin und aus dem
Cheruskerwalde, ſeinen Satrapen um die geſtickten
Rockſchöße tänzelten, froh eines Händedrucks, und
wenn ſein Vater auch ein Stallknecht geweſen! Ihre
Elſteraugen verſchmerzten auch einen Sporentritt
um die Erlaubniß, mit zugreifen zu dürfen, wo ſie
ausgeſchüttet lagen, zu Füßen des Giganten, die
Klöſter, Stifte, Städte, Schlöſſer, Abteien. O, wie
er lächelte, das gelbe, ſchöne Geſicht mit den klugen
durchdringenden Augen, als er mit der Fußſpitze
ihnen die Erlaubniß zuſtieß, und ſie ſtürzten
hin und rafften. „Waren das meine Feinde!“
ſprach der Apoll mit dem Satanslächeln. Wer das
ſah —“


„O weh, ſeufzte Adelheid mit abgewandtem
Geſicht, er hat auch den Glauben an ſein Vaterland
verloren.“


„Klage die Grüfte an! ſprach er dumpf vor
ſich hin. Die da haben's verſchuldet.“


Sie ſah ihn mit tiefer Wehmuth an, und eine
helle Thräne fiel aus ihren Wimpern. Sie galt
nicht dem Vaterlande. Saß er nicht da wie eine
ſchöne Ruine, ein Verſchwender am letzten Reſt
[291] ſeiner Habe! — Mit geknicktem Glauben und ohne
Hoffnung! Aber er war ja noch krank!“


„Der Erzherzog Karl war einſt Dein Held!
Noch lebt er.“


„Es lebt nur Einer, rief er aufſtehend — er, der
Gigant, vor dem dieſe Miſere daliegt, wie das
Blachfeld vom höchſten Thurm geſehen. Er wird ihr
Wohlthäter werden, nicht wie unſere Philanthropen
faſeln, nicht weil er ſie erheben, verſtändiger,
beſſer, glücklich machen, weil er die Qual ihres
Daſeins enden wird. Wer, die nicht leben können,
ſchnell ſterben läßt, iſt ihr Wohlthäter. Sein Sieges¬
wagen mit ſchnaubenden Roſſen wird über die Staaten
und Throne raſſeln, und die zerbrochenen Scepter
liegen wie Spreu an den Landſtraßen. Was bauten
ſie die Throne nicht feſter, warum ſtahlen ſie der
Sonne den Schein, um ihre Kronen zu vergolden!
Beim feuchten Herbſtwinde kommt das ſchlechte
Metall zum Vorſchein. Was brauchten ſie die Stäbe
nicht als weiſe Richter, warum als Korporalſtöcke!
Warum ward die Weisheit ſchimmlig, die Kraft
ſtockig? Ihnen geſchieht Recht und den Völkern.
Zum Kehraus wird geblaſen, mit Poſaunen, Pauken
und Kanonen. Er iſt der Mann dazu, ſeine Seele
Stahl. Die Weichherzigen, die Gemüthlichen haben
ausgeſpielt; die Menſchheitsthränen ſind in den
Sumpf gefallen, aus dem kein reiner Bach mehr
entſpringt; es muß wettern, blitzen, donnern, daß
das Unterſte ſich zu oberſt kehrt. Meine Seele jauchzt,
19*[292] ein Weltgericht iſt im Anzug und das neue Evan¬
gelium in Blut und Brand getauft.“


Adelheid erſchrak nicht, es zückte ein Freuden¬
ſtrahl in ihrem Auge. Das war ja das Schütteln
eines Fiebers. Louis zitterte, indem er den Rock
vor der Morgenluft ſich zuknöpfte; aber ein hitziges
Fieber bringt eine Kriſis hervor, das ſchleichende
nur iſt ohne Hoffnung. Stahl war noch in dieſer Seele.


„Du biſt für ihn begeiſtert?“ ſprach ſie raſch.


„Du biſt ein freier Mann, fuhr ſie fort, als
er ſchwieg. Senke nicht den Blick, ich erſchrecke nicht
darüber, ich freue mich, daß Du begeiſtert biſt.
Louis Bovillard, iſt das franzöſiſche Blut in Dir
erwacht? Du begehſt dann kein Verbrechen, wenn
Du das erworbene Land Deiner Väter abſtreifſt,
wo Dich nichts mehr feſſelt. Du kehrſt zurück in
das Land Deiner Vorfahren. Siehſt Du da nur Leben,
Rettung, für einen großen Gedanken, für Dich, o ſo
zaudere nicht, aber offen, ehrlich, kehre dahin zurück,
zu ihm, den Du für einen Heros und Heiland hältſt,
ſchlürfe den Feuerathem ein aus ſeiner mächtigen
Bruſt, diene ihm, wie Du willſt, Du wirſt in jeder
Geſtalt willkommen ſein, und lebe auf als Mann. —“
Er ſchwieg noch immer. — „Dein Vater hat es Dir ja
leicht gemacht. Er hat ſeine franzöſiſchen Erinnerungen
wieder an's Licht gezogen, ſo etwas gefällt jetzt an
Napoleons Hofe“


Er ſchwieg noch immer, dann brach es heraus:
„Ich kann ihn aber nicht lieben.“

[293]

„Aber, Louis, Du biſt ein Mann. Ein Mann
muß lieben oder haſſen; in wetterſchweren Zei¬
ten darf er nicht die Hände in den Schooß legen,
abwarten, was kommt. Mein innig Geliebter, Du
darfſt nicht unter die Alltagsmenſchen verſinken. Dein
edles Selbſt darf nicht untergehen in dem Schwarm,
den Du verachteſt; nein, aufrichten ſollſt Du Dich,
ſtärken am Anblick der Jämmerlichen, deren Unent¬
ſchiedenheit das Elend über uns gebracht. Du mußt
Dich entſcheiden; haſt Du gewählt, o dann wird der
Funke wieder ſprühen, er wird Dich drängen zum
Handeln. Wo Du wählſt, ich folge Dir.“


Er hielt ſeine Hand auf ihre Stirn: „Wäre ich
Sachſe geweſen, und hätte den großen Karl bewun¬
dert, ich glaube doch nicht, daß ich gegen mein Volk
ſtreiten könnte.“


Ihr Auge blickte ihn freudig an.


„In dieſer Luft bin ich, ſind meine Väter ge¬
boren, in dieſen Sitten, Gewohnheiten ſogen ſie
das Leben ein, zeugten ihre Kinder. Wir erwarben
ein Vaterland, und es hat uns erworben. Ich hätte
in den Reihen der Sachſen geſtritten, Adelheid, auch
wenn ich gewußt, daß Karl ſie zertreten mußte.“


Sie hatte geſiegt, er war wieder gewonnen, dop¬
pelt gewonnen. Es waren Momente der Seligkeit,
die Feder und Farbe umſonſt zu malen verſuchen.
Die Morgenluft wehte ſchon friſch in's Zimmer, als
ſie die Balconthür öffneten, die erſten Vögel erhoben
ihre zwitſchernden Stimmen in den dunkeln Gebüſchen
[294] und ein röthlicher Streifen färbte den öſtlichen Ho¬
rizont. Im Himmel und in den Büſchen war noch
Poeſie. Die gefiederten Sänger brauchen nicht für
morgen zu ſorgen. Der himmliſche Vater ſpeiſt ſie,
aber von denen, welchen er Verſtand gab, fordert
er, daß ſie ſelbſt ihre Speiſung ſuchen. Es galt,
für Louis einen Wirkungskreis zu ſuchen, und auf
die Poeſie folgte ein langes proſaiſches Geſpräch.
Es geht nun einmal nicht anders im Leben.


„Du glaubſt nicht, wie mich der Gedanke an¬
widert, für dieſen Staat zu arbeiten, mich hineinzu¬
werfen in einen Topf, wo der Zufall die Looſe zieht,
zum Werkzeug herzugeben, wo Keiner weiß, was er
will, und Niemand, weſſen Wille gilt. Ja, wär's
in Oeſtreich, im kleinſten Lande, wo ſie den Muth
haben ſich zu geſtehen, was ſie wollen. Und wär's
das abſolut Schlechte, die Gewißheit iſt ein Troſt.“


Sie war beredt, ſie hatte Troſt auch dafür.
Oeſtreich lag auf den Tod verwundet, wo war das
deutſche Land, wie er es wünſchte! Preußen konnte
in dieſem Augenblick Alles wieder gut machen, es
ſtand da wie berufen, einzutreten in die große Ge¬
ſchichte. Durfte da Einer ſeiner Söhne ſich losrei¬
ßen, in der Fremde kämpfen wollen? Sie hatte
Schillers dreißigjährigen Krieg eben geleſen. Sie
erinnerte daran, wie die letzten Ritter für die gei¬
ſtige Freiheit von einem Fürſten und einem Heer,
wenn dieſe geſchlagen, zu dem andern übergingen,
und mit dem letzten Häuflein, das noch im Felde
[295] ſtand, kämpften ſie unverzagt, ohne die Hoffnung zu
laſſen — und die Hoffnung ließ auch ſie nicht zu
Schanden werden.


Das Kämpfen mit dem Schwert war jener Zeit
für den, der nicht dafür geboren oder dazu gezwun¬
gen war, ein noch fremder Gedanke. Es gab viele
Wege, dem Vaterlande ſich zu widmen. Der gefun¬
dene ſollte zugleich der zu ihrer Verbindung ſein.
Adelheid erröthete nicht vor dem Gedanken, daß ſie
ihr Glück daran knüpfte. Wer nicht zugleich an den
theuren eigenen Heerd denkt, deſſen Liebe zum Vater¬
lande iſt ein Feuer, das in den Schlott praſſelt und
keine Wärme zurückläßt, hatte Walter geſagt. — Es
lag wieder kraus vor ihnen, ſie konnten den Weg
nicht finden. Die Fürſtin wollte ſich damit nicht be¬
faſſen; Adelheid wußte nicht, weshalb, denn ſie glaubte
nicht an den vorgeſchützten Grund: eine Fremde dürfe
ſich nie in die innern Angelegenheiten eines Staates
miſchen. „Die Verwendung meines Vaters würde
einen Preis koſten, rief er unwillig, für den ich alle
Aemter der Welt fortſtieße.“ Aber ſoll uns das
kümmern! ſchienen Beider Blicke ſich zu ſagen. Sie
hatten die Hände in einander geſchlungen zum Ab¬
ſchied. Da röthete ſich plötzlich wunderbar Adel¬
heids Geſicht, als ſie eben geſprochen: „Muth,
Lieber, wir haben uns ganz gefunden, das Uebrige
wird ſich von ſelbſt machen. Wer weiß, was Du
zu Hauſe findeſt!“ Die Röthe kam aber nicht
vom Blut; es war der erſte Sonnenſtrahl, der
[296] durch die Büſche ſchoß. Sie nahmen es als ein
gutes Omen.


Adelheid führte ihren Freund auf dem Wege,
den vorhin Wandel genommen, durch das Souter¬
rain nach der Hofpforte. Als ſie die ſteinerne Wen¬
deltreppe hinab waren, kam ihnen Lichtſchein entge¬
gen. In der Mitte des Flurs lag eine Leiche, die
Diener hatten Kerzen darum angezündet. Sie ſtarr¬
ten zurück. „Eine Leiche!“ Adelheid unterdrückte
einen Schrei.


In dem Augenblick ward ihr Name oben von
der Fürſtin gerufen. „Wir müſſen ſcheiden!“ —
„Bei einer Leiche! Das iſt ein böſes Omen, Adel¬
heid.“ — „Ein gutes! rief ſie an ſeinem Halſe.
Auch der Tod ſoll uns nicht erſchrecken, auch der Tod
nicht trennen!“


Die Fürſtin war ſehr blaß. Mit gläſernen,
durchwachten Augen ſtarrte ſie das junge Mädchen
an, aber nicht verwundert, ſie noch wach zu finden.
Sie fragte auch nicht, woher ſie komme. Es war
eine innere Bewegung, als ſie Adelheid an ſich
drückte und ſie bat, bei ihr zu wachen, oder auf dem
Sopha zu ſchlafen. Sie hatte geleſen, das Buch
war ihr entfallen, und ſie hatte böſe Träume gehabt,
oder Viſionen, wie ſie ſagte. Man ſah, ſie fürch¬
tete ſich in der unheimlichen Einſamkeit des grauen¬
den Morgens. Adelheid wollte die Kammerfrau
wecken. Die Fürſtin ſchüttelte den Kopf: „Thun Sie
es diesmal ſelbſt mir zu Liebe.“ Sie zitterte heftig,
[297] als Adelheid ſie entkleidete; ſie hatte nie die Fürſtin
zittern geſehen. Auch war ſie ſeit lange nicht ſo
zärtlich geweſen. Als ſie ihr zum Schlafengehen die
Hand drückte, ſprach ſie: „A propos, ich vergaß Ihnen
zu ſagen, die Königin hat ſich wieder durch die Voß
nach Ihnen erkundigen laſſen. Bereiten Sie ſich vor,
bei nächſter paſſender Gelegenheit werde ich Sie der
Majeſtät vorſtellen. Sie werden ihr ſehr gefallen.“


Die aufſteigende Sonne konnte nicht durch
die ſchweren Jalouſieläden in das dunkle Zimmer
dringen, ſonſt hätte ſie auf dem Sopha ein ſehr
frohes Geſicht geſehen. Das Lächeln blieb, als Adel¬
heid einſchlief. Sie hatte ſich bis heut vor der an¬
gekündigten und immer wieder aufgeſchobenen Vor¬
ſtellung vor der Königin geſcheut. Heut träumte ſie,
daß Engel ſie zu ihr führten.


Als Louis Bovillard in ſein Zimmer trat, goß
die Tageskönigin ihr erſtes volles Roth durch das
Fenſter. Alle Gegenſtände waren purpurn, am leuch¬
tendſten aber ſein Geſicht, als er in dem Goldſchein
Walters Brief las und überlas. Er mochte zuerſt
glauben, es ſei ein Traum. — Er zerdrückte eine
Thräne, die ſich über die Wimpern ſchleichen wollte,
riß das Fenſter auf, ſchlürfte die wonnige Morgen¬
luft ein und warf ſich dann lächelnd auf's Sopha.
Es war am ſpäten Vormittag, als er erwachte, aber
ſein Geſicht lächelte noch immer.

[[298]]

Neunzehntes Kapitel.
Verfallene Wechſel.

Wer nicht beobachtet ſein will, verhängt ſeine
Fenſter. Wer Geheimes ſchafft, verſtopft auch die
Schlüſſellöcher. Das weiß ein Dummkopf, aber den
Klügſten, welche den Luftzug berechneten, der durch
ein Mauſeloch dringen mag, paſſirt wohl, daß ſie
vergaßen, den Schlüſſel in der Thür umzudrehen. —
Weiſe ſagen, wenn den Klugen das nicht zuweilen
paſſirte, wär's in der Welt nicht auszuhalten; die
Affecte, die ſie unbeſonnen handeln laſſen, ſeien das
Salz, welches das Leben vor der Fäulniß ſchützt.
Behaupten doch noch Weiſere: wenn alle Menſchen
verſtändig wären und Charakter hätten, müſſe die
Welt vor lauter Reibung in Flammen aufgehen.


Der Legationsrath von Wandel wollte heut ge¬
wiß nicht beobachtet ſein. Er war in ſeinem Labo¬
ratorium, eine kleine alte Küche nach dem Hofe hin¬
aus, die, unbenützt zum gewöhnlichen Gebrauch, an
[299] ſeine Zimmer ſtieß. Es war kaum nöthig geweſen,
die Fenſter mit Matten zu behängen; durch ihre,
alle Farben ſchillernden, mit Staub und Spinne¬
weben umzogenen Scheiben wäre kein Blick ge¬
drungen. Hier durfte kein Diener Ordnung ſchaf¬
fen, keine Aufwärterin den Staub wegkehren. Es
ward Niemand eingelaſſen, außer bei beſonderen Ge¬
legenheiten der Aſſeſſor und Apotheker Flittner, der
Geheimrath Hermbſtädt und andre bekannte Chemiker.


Aber dann hatte die Küche ein etwas veränder¬
tes Anſehen. Um irgend ein glänzendes Experiment
zu zeigen, waren Töpfe, Tiegel fortgeſtellt, es war
der übrige Apparat mehr theatraliſch geordnet. Auch
wurden ein Gerippe, und zwei Frauenbilder, die an
der Wand hingen, beſeitigt. Wahrſcheinlich ſaß auch
der Legationsrath nicht ganz in dem Koſtüm wie
heute vor der Retorte — in Hemdsärmeln, weiten
Unterbeinkleidern, um den Kopf einen turbanartigen
Bund gewickelt, auf der Naſe eine große Brille mit
Ohrenklappen, und mit einem ſeidenen Halstuch, das
über die Lippen und halb über die Ohren ging.


In dem einen Tiegel kochte ein Stoff. Er ſchob
das Tuch höher und drückte den Turban tiefer in die
Stirn, wenn er mit einem Spahn darin rührte, und
neue Ingredienzien hinzuthat. Alsdann ſchien er
dem Kräuſeln des Rauches, der ſich in den Schlott
verlor, mit Aufmerkſamkeit zu folgen. Das erſte
Experiment mußte geglückt ſein, das Reſiduum des
Tiegels ward in eine Retorte gethan, und der Lega¬
[300] tionsrath ſah dem Entwickelungsprozeß des Gaſes
mit einem ſtillen Vergnügen zu. Darauf deutete
wenigſtens der halb verzogene Mund und der ſchlaue
Blick des halb ſchielenden Auges, während er auf
dem Schemel zurückgelehnt ſaß, ein Bein über dem
andern wiegend.


Sein Blick fiel aber auch auf die beiden Frauen¬
bilder. Wie er mit den Augen zwinkerte, ſchien er mit
ihnen ein eigenthümliches Geſpräch zu führen. Seine
Lippen bewegten ſich, er geſticulirte mit den Händen.
Ein Diagnoſtiker hätte vielleicht bemerkt, daß ihm die
Unterhaltung einige Anſtrengung koſtete. Wenn er
noch ſchärfer ſah, würde er aber auch bemerkt haben,
daß es Wandels Abſicht war ſich zu etwas zu zwin¬
gen, was ihm Pein verurſachte. Es giebt eine Wol¬
luſt, die auch den Schmerz aufſucht.


Die beiden Bilder waren in Waſſerfarben, beide
ſchöne Frauengeſichter. Die Aeltere, blaß und kränk¬
lich, hatte einen ſchmachtenden Blick; die jüngere
Nußbraune ſchaute mit ihren funkelnden Augen kecker
in die Welt hinein. Wandel ſchien ſich lieber mit
der Aelteren zu unterhalten, als einer genaueren Ver¬
trauten. Wohl nickte er der Jüngeren und warf ihr
auch eine Kußhand zu, aber es war, als ob er das
Funkeln ihrer Augen nicht lange ertrug. Er ſchlug
zuweilen ſeine Augen nieder. Beide waren unzwei¬
felhaft Schweſtern, dem wohlhabenden Stande an¬
gehörig, wie ihre reichen Kleider, nach der Mode der
vergangenen Jahrzehnde, andeuteten.


[301]

Seine Lippen flüſterten, Laute, freilich nur für
die Geiſter, welche im Sonnenſtrahl als Stäubchen
ſich ſchaukelten, aber auch der Dichter darf ſie hören:


Schöne Molly, warum ließeſt Du nicht den Vor¬
witz! Deine Kohlenaugen funkelten vielleicht noch,
munterer als auf dem Bilde, und Dein Leib wäre
ſo wonnig und voll, denn Du hatteſt Anlage zum
Embonpoint, als Deine arme Schweſter da täglich
magrer und dürrer wird. Wenn ich nicht mit Draht
hülfe, fiele ſie auseinander. — Arme Angelika, Dir
konnte ich nicht anders helfen. Hadre mit der Na¬
tur, daß ſie Dir keinen beſſern Bruſtkaſten ſchuf. Du
dankſt mir auch, daß ich Deine Schmerzen ſchneller
endete. Ja, ich weiß es, Angelika, wir ſind Freunde
geblieben — wenn die Wolke durch den Mond ſtreift,
und Du mir im Nebelgerieſel einen feuchten Kuß
auf die Wange hauchſt, es iſt ein Kuß des Dankes
und der Liebe. — Ich verſichere Dich auch, ich habe
Dich geliebt. Du warſt ſanftmüthig, voller Erge¬
bung, eine Schwärmerin freilich, aber klug genug,
von einem Manne nicht mehr zu fordern, als er
geben kann. Ein Mann hat viele Ausgaben, das
ſaheſt Du ein. Und darum Dein ſchönes Teſtament,
das wahrhafte Zeichen einer ſchönen Seele, obgleich
ich geſtehen muß, daß ich es eigentlich dictirt hatte.
— Um dieſes Teſtamentes willen wirſt Du mir ewig
unvergeßlich bleiben! — Nein, ohne Spaß, das Andre
ſeitdem iſt alles Spaß, Du gabſt Alles für mich
auf, in Brüſſel Deinen Mann, in Paris Dich ſelbſt.
[302] Mit ſolcher Aufopferung, Entſagung, ſolchem Fana¬
tismus hat mich keine geliebt. Um deswillen ver¬
ſprach ich Dir, was Du in der Fieberhitze des Todten¬
bettes forderteſt — das letzte heilige Gelöbniß, Dich
auch im Tode nicht von mir zu laſſen. Vernünftige
Menſchen würden es eine unſinnige Plackerei nennen!
Ich habe Dich verſtanden — nicht Dein Geiſt, das
iſt eben Alfanzerei! — aber Deine Materie, was
ſich von Dir erhalten ließ, ſoll mich umſchweben. Ein
beſcheidener Platz am Nagel. Nein, mehr. So haſt
Du meinen Muth geliebt, der ſich nicht ſcheute, Dich
ſchneller ausleben zu laſſen, Du wollteſt, daß ich an
dieſem Anblick die Nerven immer mehr ſtähle, wenn
ſie ſchwach würden, immer mehr Herr über jene Em¬
pfindungen würde, die der Menſch ſein Erbtheil nennt.
Wenn Du Deine Augen aufſchlagen könnteſt! Wie
hat das Recipe gewirkt. Ich ſchüttle Deine Hand,
klapperndes Gebein. Ich fürchte mich nicht vor Dir,
vor nichts!


Und doch ſchienen ſeine Kniee beim Niederſetzen
nicht ganz ſo feſt, als das Todtengerippe an der
Wand noch hin und her raſſelte, bis es die vorige
Ruhe gewonnen. Er biß ſich in die Lippen. Dann
ſchlug er das Auge zum andern Bilde auf:


Die Schelmin! — Noch ſehe ich Dich, Du aller¬
liebſtes Geſchöpf, wie ich Dich am Schlüſſelloch er¬
tappte. War es denn Lüge, als ich Dir die Kehle
zuhielt und den Mund mit Küſſen erſtickte. Ich liebte
Dich ja, das war Wahrheit. Nur Dir zu Liebe
[303] hätte ich's? Was ging's Dich an, ob das auch Wahr¬
heit war? — Du wardſt glücklich, ſelig in meinen
Armen. Die todte Schweſter hinderte es ſo wenig,
als die kranke es gehindert hatte. — Sie wußte es,
ſie hat ſehr viel gewußt, ehe ſie ſtarb, und mich
darum nicht minder geliebt. — Eine Närrin, Molly,
eine abſcheuliche Thörin warſt Du, Du hätteſt noch
lange glücklich ſein können, wer weiß wie lange!
Denn Du hatteſt die Kunſt Dich zu conſerviren, Du
wärſt witzig geblieben und hätteſt meinen Geiſt auf¬
gefriſcht — ich hätte Dir wirklich nachgeſehen. —
— Aber Du bekamſt Gewiſſensbiſſe — Thorheit, es
war zu ſpät, meine liebe Molly; es war auch nur
die Angſt, daß es Dir wie Angelika erginge. Das
wollte ich Dir verzeihen, liebes Mädchen, aber ſo
dumm zu ſein, daß Du es nicht bei Dir behielteſt,
daß Du es mir in einer ſchwachen Stunde vertrau¬
teſt! Das war die größte Sünde, die der Menſch
begeht, die Sünde gegen ſich ſelbſt, und Du mußt
geſtehen, das verdiente ſchon die Strafe. Nachher
ward der kleine Schelm pfiffig. Allen meinen Küſſen,
Seufzern widerſtandeſt Du, Du wollteſt kein Teſta¬
ment machen. Ich verdenke es Dir nicht. Es ver¬
längerte dein Leben, und mich zwang es zur Ver¬
ſchwendung. Mußte ich nicht meine ganze Liebenswür¬
digkeit auf Dich ausſchütten, mußte ich nicht allen
zarten Saiten meines Daſeins ſüße Töne entlocken,
um Dich nur zum Schweigen zu bewegen? Mein
Kind, das hat mich viel Anſtrengung gekoſtet, denn
[304] Du warſt mir ſehr gleichgültig geworden, und mir
entging darum eine ſchöne Irländerin, auf die ich
mein Aug' geworfen. Nachher ſchwiegſt Du nicht —
Du ſchriebſt einen Brief — Du ſchriebſt Dir ſelbſt Dein
Urtheil — darüber kannſt Du nicht klagen. Aber ich —


Er verzog das Geſicht und ballte die Fauſt ge¬
gen das Bild: Der Brief — den ich fand, iſt zu
Aſchenſtäubchen aufgelodert, aber es ſtand darin von
einem andern Briefe, der meiner Wachſamkeit ent¬
ſchlüpft war — Molly! Molly! — Sein Geſicht be¬
kam einen furchtbar häßlichen Ausdruck; die Zähne
fletſchten zwiſchen den zurückgekniffenen Lippen wie die
Hauer eines Ebers, die Augen ſprühten das grün¬
liche Feuer einer wilden Katze. Aber der Paroxys¬
mus der Wuth und Angſt war ſchnell vorüber, die
aſchgraue Urnenruhe lagerte ſich wieder auf dem
gelben Geſichte, die Finger entklammerten ſich. —
Poſſen! In einem Dutzend Jahren und nicht zum
Vorſchein gekommen! Feuer — Regengüſſe — Feuch¬
tigkeit — Staub und dünnes Briefpapier! — Lacht
Ihr, daß ich mich noch zuweilen ängſtigen kann! —
Mes dames! was wollen Sie? Ich beweiſe Ihnen
ja das vollſte Vertrauen — Ja, Sie ſehen Alles.
Sie brauchen jetzt durch kein Schlüſſelloch zu obſer¬
viren, ich verhänge nicht einmal Ihr Geſicht. Was
verlangen Sie mehr? Einige Galanterie? — Mes
dames de Bruckerode, je vous assure, que tout ce
que vous voyez n'est que moutarde après dîner, rien
qu'un dessert maigre après un repas délicieux.

[305] Wirklich, Angelika — das waren andre Zeiten, andre
Genüſſe, voller Empfindung, Sympathieen, Leiden¬
ſchaften. Was iſt es jetzt? Aſche! Damals glühende
Kohlen! Calculatoriſche Geſchäfte! Wo ſind Deine
ſüß ſchmollenden Lippen, meine Molly? So etwas
giebt es nicht mehr. Deine ängſtlichen Blicke, als
Du die Chocolate trankſt, ich mußte vorher nippen,
und dann, o das war Wonne! O und Du, meine
Angelika, Du hatteſt nicht genippt. Feſt mich an¬
blickend, ohne Angſt, Vorwurf, nur das tiefe See¬
lenverſtändniß im Auge, leerteſt Du die Schaale, und
drückteſt mit der feuchten kalten Hand meine. Du
hatteſt mich verſtanden, ich Dich. Ils sont passés,
ces jours de fête!“


„Schönen guten Morgen, mein lieber Herr Ge¬
heimer Legationsrath!“ unterbrach eine heiſere Ba߬
ſtimme dieſe Schwärmereien des Einſamen, und vor
ihm ſtand der Kaufmann van Aſten.


Es war ſo, — keine Erſcheinung der Traum¬
welt. Der alte van Aſten war der letzte Mann, der
in ein Traumgewebe gepaßt hätte. Trotz ſeiner ſchwe¬
ren rindsledernen Schnallenſchuhe war er unbemerkt
durch die beiden Zimmer gekommen, und drückte jetzt
die Thür hinter ſich zu, während dem Legationsrath
die Binde vom Kinn rutſchte, und er, aufſpringend,
an der Lehne des Stuhles ſich hielt.


„Na wie geht's Ihnen denn, mein lieber Herr
von Wandel. Haben ſich ja ſo lange nicht ſehen
laſſen. Iſt das Freundſchaft?“

IV. 20[306]

Der Turban und die Brille waren vom Kopf
des Legationsraths verſchwunden, eine Operation, die
ihm Zeit ließ, ſeine Faſſung wieder zu gewinnen.
So war es; man merkte nichts von Beſtürzung, kein
Zittern mehr, es war das feſte, eiskalte Geſicht, mit
den durchforſchenden Augen, als der Legationsrath
den Kaufmann anredete.


„Wie kommen Sie hierher?“


„Durch die Thüre. Herr Legationsrath hatten
vergeſſen, den Schlüſſel umzudrehen. Sehen Sie mal,
liebſter Herr von Wandel, in unſern unſichern Zeiten!
Wie viel Geſindel ſchleicht um. Hätten ja Ihren
Sopha forttragen können. Sie hätten's in Ihren
Meditationen nicht gemerkt. Aber ich habe hinter mir
zugeſchloſſen; wir können jetzt ganz ſicher ſein.“


„Tauſendmal Vergebung, mein theuerſter Freund,
daß Sie mich in dieſem Koſtüm und hier — Kom¬
men Sie in meine Wohnſtube. Dieſe unerwartete
Freude —“


Er wollte ihn unter den Arm faſſen; eben ſo
ſchnell aber hatte der Kaufmann einen Schemel vor
die Thür geſtellt und darauf Platz genommen. Wo
van Aſten einmal Platz genommen, hätte es anderer
Kräfte bedurft ihn wieder fortzubringen. Breitbeinig
ſaß er, die Füße feſt auf den Boden, die Arme auf
den Stock geſtützt. Der Stock ſchon hatte etwas Reſpect
gebietendes, er ſchien mit Blei ausgegoſſen, als er
auf die gebrannten Flieſen ſank.


„Werde mich ja nicht unterſtehen, Sie zu deran¬
[307] giren. Wo ich Sie finde, ſind mir Herr Legations¬
rath lieb. Und Geſchäfte ſind Geſchäfte.“


„Die können warten!“


„Wenn Sie nun auf dem Sprunge ſtänden,
den Stein der Weiſen zu finden. Da kommt's auf
den Augenblick an. Silberblick heißt's ja wohl?
Müßte ich mir den Vorwurf machen, daß ich die
Menſchheit um eine köſtliche Erfindung betrogen hätte.“


„Wie Sie wollen! ſagte Wandel und nahm
auf dem Stuhle Platz, ſo nachläſſig, wie ſeine innere
Aufregung erlaubte, den Rücken dem Heerde zuge¬
kehrt, ein Bein über das andre ſtreckend. Wie der
Kaufmann in ſeiner Poſitur dem Rath den Weg
durch die Thür verſperrte, ſchien dieſer den zum Heerde
zu verbarrikadiren. Den Stein der Weiſen ſuchen
nur die Thoren, und Gold —“


„Hat ein Philoſoph nicht nöthig. Und was Sie
ſonſt präpariren, geht mich nichts an. Im Geſchäft
Geheimniſſe unter Brüdern.“


„Doch nicht unter uns, Herr van Aſten, lächelte
der Legationsrath. Sie werden mich auslachen. Ich
verſuche, eine koſtbare Schminke zu präpariren.“


„I, ſehn Sie mal! Sind eben aus Paris
auf der Stechbahn ganze Kiſten angekommen. Er¬
ſchrak, wie ich bei Herrn Arnous den Preis auf dem
Conto-Current las.“


„Eben deshalb verſuche ich, ob ich dieſe ſoge¬
nannte Joſephinenſchminke billiger nachbilden kann.
Die vornehmen Damen ſind wie toll danach, der
20*[308] Preis iſt nur zu exorbitant. Sie ſoll, doch das will
ich erſt verſuchen, einen angenehmen, natürlichen
Duft verbreiten, ohne der Haut ſchädlich zu werden.
Deshalb haben die erſten Chemiker der Akademie
ſich für die Kaiſerin Joſephine an die Aufgabe ge¬
macht. — Thorheiten, nicht wahr, Herr van Aſten,
aber was wäre das Leben ohne Thorheiten! Ich
habe die Schwäche, daß ich meinen Freunden und
Freundinnen zu gefällig bin; aber ich plaudre nicht
gern davon, wenigſtens nicht, bis es geglückt iſt. Es
iſt auch eine kleine Ueberraſchung damit im Spiel.
Darum, auf Ihre Verſchwiegenheit rechne ich.“


„Wie auf den Tod. Sie ſind ein braver Mann,
Herr Legationsrath. Der Kaufmann ließ ſeine Augen
im Laboratorium wandern. Was ſind denn das für
Frauenbilder?“


„Wären Ihnen die Züge vielleicht bekannt?“
fragte Wandel, ihn ſcharf fixirend.


„Kam nie aus Berlin heraus. Aber das ſind
keine deutſchen Frauenzimmer.“


„Welcher Kennerblick! Die Aeltere eine Schwe¬
din, die Jüngere eine Italienerin.“


„So! ſo! Ich hätte ſie für Schweſtern gehalten,
und ſie kommen mir ſo niederländiſch vor. Sie müſ¬
ſen nämlich wiſſen, ich bin auch aus flämiſchem Blute.“


Der Legationsrath verzog fauniſch das Geſicht:
„Ich ſtrenge mich vergebens an, eine Aehnlichkeit
zwiſchen Ihnen und den Damen zu entdecken.“


„So wenig als zwiſchen mir und dem Skelett
[309] da. Wollen Herr Legationsrath das etwa auch ſchmin¬
ken? — War auch wohl eine Dame?“


„Ich führe es mit mir zu anatomiſchen Studien.
Schon ſeit länger. Ich kaufte es einmal von einem
Todtengräber, ich erinnere mich wirklich nicht, wo.“


„Gleichviel! Der Tod iſt jetzt umſonſt, und
Leichen wohlfeil. Aber die italieniſche und die ſchwe¬
diſche Schweſter, das müſſen ein paar hübſche Mäd¬
chen geweſen ſein. Gönne es Ihnen, Recreations
der Jugend, geht mich nichts an.“


Die umſchweifenden Blicke ſchienen je mehr und
mehr den Legationsrath in eine unbehagliche Span¬
nung zu verſetzen. Er kämpfte ſichtbar mit einem Ent¬
ſchluß, der ihm ebenfalls ſchwer ward, aber es brach her¬
aus: „Was verſchafft mir die Ehre Ihres Beſuchs?“


„Eine kleine Geſchäftsſache.“


„Welche, theuerſter Freund? Doch nicht —“


„Ein kleiner Wechſel —“


„Richtig! Der Legationsrath ſchlug ſich an die
Stirn. Der iſt aber erſt in acht Tagen fällig!“


„Freut mich, daß Sie ſich ſo genau erinnern.
Ich habe immer geſagt, Sie ſind ein prompter Mann.
Ja, in acht Tagen, fünftauſend Thaler.“


„Die Sache iſt mir ſehr erinnerlich — zu Ende
der Hundstage, aber ich glaubte, Sie hätten die
Bagatelle längſt abgegeben.“


„Auch geſchehen, mir aber wieder zurückcedirt.
Hat viele Herren gehabt; das macht ſich wohl ſo im
Geſchäft.“

[310]

Als der Kaufmann ſein Taſchenbuch aus der
Bruſt zog, wobei er aber etwas ſorgſamer zu Werke
ging, als an jenem Abend, wo er die Wechſel vor
dem Rittmeiſter auf den Tiſch ausſtreute, fiel Wan¬
del ihm in's Wort:


„Aber laſſen wir das nachher. Die Sache iſt
ja kaum der Rede werth. Wie geht es jedoch Ihnen?
Sie ſehen nicht ganz wohl aus. Daß die Partie
Ihres Herrn Sohnes rückgängig ward, konnte Sie
doch nicht touchiren. Er iſt im Gegentheil in ſich
gegangen und hat beim neuen Miniſter eine kleine
Stellung angenommen. Ich parire, er wird ein ver¬
nünftiger Menſch werden.“


„Kann ſein. Söhne koſten immer Geld, ſo
oder ſo; ob ſie vernünftig ſind oder toll.“


„In jenem Zuſtande wird er auch die vernünftige
Partie, welche ein geliebter Vater für ihn ausgeſucht,
nicht länger von der Hand weiſen.“


„Kann ſein, kann auch nicht ſein. So oder
ſo. Hilft auch nichts, wenn Krieg wird. Es weiß
Niemand, wo den Andern der Schuh drückt, mein
Herr Geheimer Legationsrath.“


„Ich bin ſimpel Legationsrath,“ lächelte Wandel.


„Sie ſind ein geborner Geheimer. Ja, wenn
Sie das wüßten, Sie müßten aber noch mehr wiſſen.“


Wandel hatte unverwandt das etwas ſchwer zu
ſtudirende Geſicht des Kaufmanns beobachtet, und
glaubte darauf geleſen zu haben, was ihm Ruhe
gab. Der Mann war innerlich bewegt. Plötzlich
[311] griff er nach ſeiner Hand, oder vielmehr nach dem
untern Arm, es iſt aber möglich, daß der treuherzige
Freundesdruck auch der Wucht des Stockes galt, den
er mit dem Arme ſchüttelte und ſehr ſchwer fand.
Mit einer Stimme, der Wiederhall eines vollen Her¬
zens, ſprach er:


„Herr van Aſten, Sie drückt etwas. Ich bedaure,
daß es mir nicht gelungen, Ihr volles Vertrauen
zu erwerben. Könnten Sie an der Bruſt eines
Freundes Ihren Kummer ausſchütten, ſchon das
würde Sie erleichtern. Ein unbefangener Freund ſieht
aber oft klarer, und Auswege und Mittel, die dem
ſelbſt Bedrängten entgehen. Mein Gott, ſollte der
drohende Krieg — aber ich ſchweige —“


Mit voller Ruhe erwiederte der Kaufmann:
„Geheimes will ich Ihnen gar nichts ſagen, aber
was die ganze Börſe erfahren hat, das können Sie
auch wiſſen. Wir hatten für 10.000 Thaler Weine
aus Bordeaux beſtellt —“


„Wir? — Ah, das iſt das kleine Compagnon¬
geſchäft mit Seiner Excellenz. Sie exportirten da¬
für Holz und Bretter von Seiner Excellenz Gütern.“


„Wiſſen Sie das auch? — Schadet nichts.“


„Das Schiff muß jetzt in Stettin angekom¬
men ſein.“


„Iſt! — Mit Weinen, delikaten Weinen — volle La¬
dung zum Werth von 100.000 Thalern unter Brüdern.“


„Hunderttauſend! Eine Null zu viel.“


„Da liegt es, das Geheime, mein Herr Lega¬
[312] tionsrath. Nur eine einzige Null zu viel bei der
Beſtellung. Der Caſus iſt klar — ein Schreibfeh¬
ler. Wer ihn beging, iſt gleichgültig. Der Zufall
kann einen Artillerielieutenant auf den Kaiſerthron
bringen, und der Zufall ein großes Reich ſtürzen,
warum nicht auch ein großes Handlungshaus.“


„Es beweiſt nur, welchen Credit Ihre Firma in
Bordeaux haben muß.“


„Es beweiſt, daß Einem auch der Credit den
Hals zuſchnüren kann.“


„Ich begreife Ihre Lage, die Waare iſt für den
Augenblick nicht abzuſetzen, ſie überſteigt weit den mo¬
mentanen Bedarf. Alles ſchränkt ſich ein. Indeß
wird jetzt Ihr Credit ſich beweiſen. Ihre Freunde
werden ſich zeigen.“


„Haben ſich ſchon gezeigt.“


„Sie werden Ihnen beiſpringen.“


„Sind ſchon geſprungen. Kommen lauter kleine
Wechſelchen zurück. Werden noch mehr kommen.“


„Excellenz der Miniſter —“


„Pſt! Excellenz ſind ja kein Kaufmann, laſſen
mich nicht vor. Verdenk's Ihnen auch nicht, ſind ja
nicht in die Gilde eingeſchrieben. Wollten nur ge¬
legentlich eine kleine Chance mitmachen. Alles
cordial, mündlich. Setzten großes Vertrauen in mich,
was ich ſehr äſtimire. Wenn wir den Profit gemacht,
war's ja beim alten van Aſten, ob er die Hälfte
auszahlen wollte. Verklagt hätte er mich nimmer.“


„Aber er ſetzte den Werth ſeiner Hölzer auf's Spiel.“

[313]

„Wird kein Narr geweſen ſein! Auf Höhe deſſen
hatte er ſich vorher auf mein Haus in der Span¬
dauerſtraße intabuliren laſſen. Jedes Kind ſieht
nun ein, daß ich mit Excellenz nicht die Schuld
eines Schreibfehlers halbiren kann, und Excellenz
haben zwar einen vortrefflichen Magen, aber die
Hälfte von meinem Wein trinkt auch er nicht aus.“


Eine Pauſe trat ein. Der Legationsrath blickte
mit verſchränkten Armen vor ſich nieder:


„Ihre Lage iſt traurig, aber nur wer ſich ſelbſt
aufgiebt, iſt verloren. Die Weine unter dem Steuer¬
verſchluß, gleichviel ob hier oder in Stettin, ſind
ein todtes Kapital, welches das größte Haus ruiniren
könnte. Darüber täuſche ich mich nicht; täuſchen Sie
ſich auch nicht, mein Freund. Wechſelprolongationen
auf den Credit eines einmal erſchütterten Hauſes,
Moratorien, die Ihre Gönner Ihnen verſchaffen möchten,
ſind mißliche Auskunftsmittel. Selbſt müſſen Sie
ſich helfen.“


„Ich denke ſchon daran.“


„Nichts Kleines. Um Gotteswillen das nicht.
Ein Verſchwender, der die Groſchen zuſammenzu¬
ſcharren anfängt, iſt verloren. Er muß auf's Neue
verſchwenden, um die Verſchwendung zu verſtecken.
Das todte Kapital muß flüſſig gemacht, der Wein
ausgetrunken werden. Das können Sie durch Ihre
Verbindungen — ich ſage Ihnen, es iſt möglich.“


Der Kaufmann ſah ihn pfiffig an: „Etwa eine
Kabinetsordre extrahiren, daß Jedermann zur Stär¬
[314] kung ſeiner Geſundheit täglich ein Viertelchen Medoc
trinken ſoll? Medoc iſt nicht Salz, Herr Legationsrath.“


„Noch heut das ausführbar, was unter Friedrich
dem Großen noch möglich geweſen wäre. Aber
Andres iſt ausführbar — Größeres — erſchrecken
Sie nicht; man könnte indirect die Leute zwingen,
wenn man direct auf das höchſte Ziel losſteuert.
Wäre Ihr Medoc nicht ein Kapital, das zwei- drei¬
hundert Prozent eintrüge, wenn Sie es an einer
Nordküſte lagern hätten, wo Napoleons Continental¬
ſperre ſchon Kraft hat? Wird die Schifffahrt ge¬
ſchloſſen, ſind Sie wieder ein Cröſus.“


„Alle Zeichen deuten, daß wir Krieg anfangen.“


„Alle Zeichen ſind trügeriſch, wo kein Wille iſt.
Noch ſchwankt die Waage. Die Kriegspartei ſcheint
nur ſchwer, weil die Stimmen der Schreier das Feld
behaupten. Mit Geſchick ließen ſich Stimmen ge¬
winnen, die dieſen Officieren und Gelehrten die
Wahrheit ſagten, wohl verſtanden, im Intereſſe des
großen, wohlhabenden Bürgerthums. Abſchreckende
Gemälde von den Drangſalen eines Krieges, wie er
auf alle Stände zurückwirkt, Handel, Induſtrie,
Ackerbau auf Jahrzehnde zurückbringt. Ihnen vor¬
geſtellt, wie auch im günſtigſten Falle der Bürger
durch den Krieg nichts gewinnt als erhöhte Ab¬
gaben! Die Kriegspartei iſt thätig mit ernſten und
Spottliedern, mit Pasquillen, mit fulminanten Tiraden!
Warum werfen die Freunde des Friedens nicht
einige Tauſende zum ſelben Zwecke hin, an die
[315] Zeitungsſchreiber, die Journaliſten. Man kann viel
damit machen, ich verſichere Sie.“


Der Legationsrath mußte ſchnell an den glotzenden
Augen des Kaufmanns bemerken, daß er ihn auf
ein Terrain geführt, wohin dieſer ihm nicht folgte:
„Die Schriftſteller machen nicht den Krieg.“


„Sie haben Recht, man ſagt, die Kabinette
machen ihn. Wer ſind die Kabinette? Menſchen mit
Neigungen, Schwächen, Leidenſchaften, Anſichten.
Balancirend hierhin, dorthin, bald auf die Stimme
der Furcht, der Vorliebe, zuweilen auf die des
Publikums hörend. Ihr gütiger Monarch will nicht
den Krieg, das Kabinet auch nicht. Er wird beiden
aufgedrängt von den leidenſchaftlichen Parteien, vom
Intereſſe früher alliirter Mächte. Preußen ſteht aber
jetzt allein. Dieſe Alliirten ſind innerlich erbittert,
ihre Beihülfe zweifelhaft, der Krieg kann ſehr un¬
glücklich ausſchlagen. Die Kabinetsräthe ſehen es ein,
der König möchte den Frieden erhalten, und wenn
ſie doch das Wort Krieg ausſprechen, iſt's, weil ſie
gezwungen werden, weil ſie keine Unterſtützung gegen
die jungen Schreier und Fanatiker finden. Mein
Herr van Aſten, warum treten denn nicht die Pa¬
trioten zuſammen, ich meine die, welche Mittel
haben, warum unterſtützen ſie nicht das Kabinet?
Das iſt noch möglich. Fragen Sie ſich doch, was
es gilt? Bleibt Friede, bleibt er nur durch eine
Allianz mit Napoleon, es giebt nichts Drittes.
Krieg mit ihm oder Anſchluß. Im letzten Falle
[316] Beitritt zu ſeinem Continentalſyſtem, die Häfen ſind
geſperrt, und Ihr Bordeauxwein, ohne Concurrenz, iſt
wenigſtens dreihunderttauſend Thaler werth. Nun rech¬
nen Sie, wenn Krieg wird, wenn es nur bleibt, wie es
iſt! Ihr Wein ein todtes Kapital, Ihre Gläubiger
lebendige Quälgeiſter, Ihr Haus erſchüttert, vielleicht
— Man ſchätzt Sie auf über zweihunderttauſend, wenn
indeß Ihre Activa nichts werden, Ihre Paſſiva —
ich ſchweige davon. Aber in ſolchem äußerſten Fall
muß der Mann das Aeußerſte wagen. Und ſind Sie
allein in dem Falle? Verabreden Sie ſich, ſchießen Sie
zuſammen. Luccheſini, Haugwitz, Lombard, ſie Alle
ſind ja zugänglich, die freundlichſten Menſchen. Sie
erwarten ja nur, daß man ſie unterſtützt, gewichtige
Stimmen aus dem Publikum. Schaffen Sie, wo¬
mit man ihnen hilft, um den Schreiern den Mund
zu ſtopfen. — Mit hunderttauſend Thalern über¬
nehme ich's.“


Der Kaufmann verſtand jetzt, aber er war ſicht¬
lich von einer Vorſtellung betroffen, die ihn ſchwindlig
machte. Das Argument des Legationsraths hatte
etwas Verführeriſches, die Verhältniſſe waren, wie
er ſie ſchilderte, aber er erſchrak zuerſt vor dem Ge¬
danken, daß ein einfacher Bürger ſich unterfangen
dürfe, in das Schickſal eines Staates einzugreifen,
dann, daß er dies ſein könne; zuletzt, wenn er die
angenehme Maske von der Sache fortzog, erſchrak
er, denn was war die patriotiſche Operation — ?
Van Aſten war ein rechtlicher Mann.


[317]

„Mein theuerſter Herr! ſprach der Legationsrath
wieder mit der gewohnten Ueberlegenheit des vorneh¬
men Mannes, und auch ſein Koſtüm hinderte ihn
nicht, die Situation, die er liebte, einzunehmen, ein
Bein über das andere, den Hinterkopf mit der Lehne,
die Finger der rechten Hand mit ſich ſelbſt ſpielend.
Mein theurer Herr, wenn wir uns doch gewöhnten,
die Verhältniſſe zu betrachten, wie ſie ſind. Was
ſind die Menſchen in ihrer Maſſenhaftigkeit anders,
als Heerden zweibeiniger Geſchöpfe, beſtimmt, von
Anderen, die klüger ſind, geleitet zu werden. Sie
wären ja wie die Schaafe, unglücklich, wenn ſie kei¬
nen Bock hätten, der ihnen vorſpringt. Oder hul¬
digen Sie dem Perfectibilitätsglauben, daß dieſes Con¬
volut von Dummköpfen einmal Vernunft bekommen
kann? Daß ſich dann Alles von ſelbſt machen werde,
was jetzt die Geſcheiten für die Anderen denken und
abthun? Nicht einmal zu der Einſicht kommen ſie,
trotz der Erfahrung von ſo viel tauſend Jahren, daß
ſie nicht klüger werden, als die vor ihnen waren.
Lieber Herr, ich bitte Sie, wo hat die Menge denn
ein Urtheil, nur über die gewöhnlichſten Dinge?
Sehn Sie in's Theater, wie ſie ängſtlich werden,
bis eine Autorität den Mund aufthut, damit ſie ſein
Urtheil nachſprechen können. Verſtändigen wir uns
doch nur darüber, was ſind ſie denn weiter als unſre
Packeſel; und darüber iſt allein die Frage, wer ihnen
ſeine Laſt aufpackt, und wer den Eſel ſchlägt. Wozu
ſtifteten ſie Freimaurerorden, Gemeindeordnungen, eleu¬
[318] ſiniſche Geheimniſſe, Conſtitutionen, als zur Handhabe,
wie man die Laſtträger am beſten dreſſirt: die Fahne,
die Feuerſäule, das Schiboleth, darauf kommt's ja
nicht an. Als der Herrſchaft der Könige in Frank¬
reich das Garaus gemacht ſchien, wäre nichts dagegen
zu ſagen geweſen, denn daß das Volk ſich ſelbſt be¬
herrſchen ſollte, war nichts als eine ſchöne Chimäre,
wenn nur die klugen Leute, welche die Könige vom
Thron gejagt, ſich unter einander verſtändigt hätten,
wie ſich in die Macht theilen! Das iſt das Unglück,
daß die Klugen darüber nie in's Klare kommen. Fra¬
gen wir uns: Wer hat denn überhaupt in der Welt
geherrſcht? Einige wenige Könige, die Genies waren
oder Feldherren aus Paſſion; das waren ſeltene Aus¬
nahmen. In der Regel waren es kluge Miniſter,
ſchlaue Favoriten, noch ſchlauere Maitreſſen. Sie
herrſchten um ſo ſicherer, je feiner ſie es zu verſtecken
wußten. Oder wollen Sie nach Klaſſen gehen? Die
Hohenprieſter fingen an, dann kamen die Könige,
dann militairiſcher Adel, dann Prieſter, Könige und
Feudalritter im bunten Gemiſch, bis die Könige wie¬
der glaubten das Oberwaſſer zu haben; da nahmen
es ihnen die Philoſophen. Das Schiboleth, früher
Glauben geheißen, hieß nun Aufklärung. Wer weiß
denn, wenn die Klugen inzwiſchen nichts Anderes er¬
finden, ob der Myſticismus, der Pfaffenglaube die
Herrſchaft der Aufklärung nicht wieder ablöſt! Dem
Volke kann das ganz gleichgültig ſein. Bei allem
dieſem Wechſel bleiben ſie und werden bleiben, was
[319] ſie von Anbeginn waren, Heerden, Knechte, Sklaven,
Contribuenten für die Regierer; aber bei allem die¬
ſem Wechſel, mein theuerſter Freund, iſt nur das
beſtändig, daß die Pfiffigſten das Heft in der Hand
behalten. Nun ſehe ich aber nicht ab, warum die
reichen Leute nicht einmal den Prieſtern, Rittern und
Philoſophen das Geſchäft abnehmen, warum ſie nicht
auch einmal pfiffig ſein und regieren wollen? Sie
ahnen nicht, mein werther Herr, welche Macht in
Ihren Comtoirſtuben, Ihren Wechſeln, in Ihren Fe¬
derſtrichen ruht, durch welche Sie Welttheile verbinden.
Im vollen Ernſt, Ihnen, den großen Kaufleuten,
Fabrikanten blüht die künftige Weltherrſchaft entgegen.
Sie haben die erſten Kenntniſſe von allen Vorfallen¬
heiten, mit einiger Umſicht berechnen Sie, was in
der Welt gilt und gelten wird, Sie haben die Sprache,
die alle Welt verſteht, das Geld. Geld brauchen die
Staaten zum Kriege, zum Frieden. Wenn Sie nur
etwas abgeben, ſich etwas verſtändigen wollten, etwas
mit den Ackerbau treibenden Herrſchaften, etwas mit
den Herren von der Feder, es braucht da nur kleine
Aufmerkſamkeiten und Gefälligkeiten, ein klein wenig
auch mit den Ideen, welche, was man nennt, beim
Volk im Schwunge ſind, ſo prophezeie ich Ihnen,
Sie, die Herren von der Induſtrie, werden bald die
wahre, reelle, effective Univerſalmonarchie in Händen
haben, wie die großen Handelsherren in dem kleinen
Venedig ehedem, wie im großen England und im
noch größern Amerika jetzt ſchon und in Zukunft noch
[320] mehr. Sie, Theuerſter, fingen ja ſchon an. Bravo!
Ihre Aſſociéſchaft en commandite mit der Excellenz
war eine großartige Idee, nur muß man ſich von
den vornehmen Herren nicht über's Ohr hauen
laſſen. Wenn Sie geſchickt agiren, haben Sie den
Herrn ja noch jetzt in Händen, er muß jeden Eclat
vermeiden, während Sie vis-à-vis de rien Alles ein¬
ſetzen müſſen. Alſo, Courage, für Frieden und Ruhe
Alles dran geſetzt, Frieden und Ruhe, welche die Nation
und Ihr König wünſchen. Alſo warum nicht friſch und
kühn, ein Auge zugedrückt und in die Taſche gegriffen!“


Herr van Aſten griff auch in die Taſche, aber
nur um ſeine Brieftaſche vorzuholen. Er war wäh¬
rend der langen Rede wieder ſeiner Herr geworden:
„Weil mir ein Sperling in der Hand lieber iſt, als
eine Taube auf dem Dache. Weil mein Fuß zu dick
iſt, um ihn in Diplomatenſchuhe zu ſtecken. Weil
ich auf glattem Boden nicht gehen kann, und weil
ich in der Schule gelernt habe, daß, wer beſticht,
eben ſo ein Schurke iſt, als wer Beſtechung nimmt.
— Hier iſt Ihr erſter Wechſel.“


Das Bleiſtift, welches die Brieftaſche verſchloſſen,
zwiſchen den Zähnen haltend, zog der Kaufmann den
Papierſtreifen heraus.


„In acht Tagen ſtehe ich zu Dienſt, entgegnete
Wandel mit einem Verſuch zu lächeln. Preſſirt es
ſo, Herr van Aſten?“


„Mich nicht. Glaubte vielleicht, daß es Sie preſſi¬
ren würde, den Wechſel einzulöſen.“

[321]

„Zeigen Sie. Sollt' ich mich im Datum geirrt
haben!“


Der Kaufmann hielt den Wechſel ſeitwärts in
die Höhe. Sein Bein und Stock blieben die Barriere.
„Sie haben ja wohl gute Augen. — Sehen Sie? —
Sie ſehen vielleicht nicht Alles. Ich auch nicht. —
Die Schrift iſt blaß. Herr Legationsrath, ſeit acht
Tagen wird ſie jeden Tag bläſſer, und in acht Tagen
hätte ich einen weißen Papierſtreifen in der Taſche.
Iſt das nicht curios?“


Wandel hielt die Hand vor's Geſicht, um beſſer zu
ſehen. Plötzlich drehte er ſich auf den Hacken um, und
ſank auf den Stuhl zurück mit einem lauten Auflachen.
Van Aſten verlor keine ſeiner Bewegungen aus dem Auge.


„Das iſt curios.“


„Nur curios, Herr Legationsrath?“


„Waren Sie beſorgt, daß ich den Wechſel um
deswillen nicht honoriren würde?“


„Beſorgt eigentlich nicht, Herr Legationsrath, ich
ließ nur, als ich's merkte, vom Notar eine vidimirte
Abſchrift nehmen, und den curioſen Fall ad proto¬
collum vermerken.“


„Die Geſchichte wird immer hübſcher. Ich hatte
damals eine ſympathetiſche Dinte präparirt, und tauchte
wahrſcheinlich aus Verſehen die Feder beim Ausfüllen
des Wechſels hinein. Wollen Sie gefälligſt herge¬
ben, der Schade iſt im Moment reparirt.“


Er ſtellte eines der Kohlenbecken vom Heerde
auf den Fenſterſims.


IV. 21[322]

„Wie Sie wollen, lächelte der vornehme Mann,
als van Aſten das Papier hinter ſeinen Rücken hielt.
Probiren Sie ſelbſt, eine Sekunde leiſe über den
Kohlendampf und die natürliche Schwärze iſt wieder
hergeſtellt.“


Der Kaufmann beſann ſich einen Moment. Er
ſchien ſeine Poſition nicht verändern zu wollen, bei
der Operation am Fenſter hätte er dem Rath den
Rücken wenden müſſen. Er überreichte ihm den Wech¬
ſel, von dem er ja eine vidimirte Copie beſaß, ſtrengte
aber jetzt wo möglich ſeine Augen noch mehr an, jede
Bewegung des Andern zu verfolgen. Wandel fuhr
nur leicht ein paar Mal über das Kohlenbecken und
reichte den Wechſel, ohne ihn ſelbſt anzuſehn, zurück:
„Prüfen Sie jetzt ſelbſt.“


Die Schrift ſtand wieder ſchwarz da, aber das
Papier ſchien ſehr mürbe geworden.


„Soll ich Ihnen vielleicht einen neuen Wechſel
ſchreiben? — Sie ſcheinen etwas ängſtlich. — Ich
vergebe Ihnen, ein Kaufmann ſoll vorſichtig ſein.
Mit dem größten Vergnügen.“


Er ſchob aus dem Winkel einen kleinen Tiſch
mit Schreibzeug hervor, beſtimmt, um ſeine Notate
bei den chemiſchen Experimenten zu machen, und —
ſchrieb.


Van Aſten hatte zu dem Anerbieten weder ja
geſagt, noch nein. Er benutzte den freien Moment,
ſich umzuſchauen. Es war ein ſtiller Sonntag Nach¬
mittag, das ganze Haus ſchien in's Freie ausgeflogen,
[323] er war auf der Treppe Niemand begegnet. Im Hofe
knarrte nicht der Brunnen, keine Stimme; man
hörte nur das Zwitſchern der Sperlinge, in der Küche
das Picken des Holzwurms in dem alten Gebälk.
Van Aſten war auch ein muthiger Mann, aber ihm
war eigen zu Muthe, wenn ſein Blick auf das Ge¬
rippe fiel, auf die eiſernen Geräthſchaften, die eben
ſo viel Waffen werden konnten. Waren nicht auch
vielleicht auf dem Heerde, in den Tiegeln und Deſtillir¬
kolben geheime Waffen! Wenn der Koch mit dem
Löffel daraus auf ihn ſprützte, mochte nicht eine Eſſenz
darin enthalten ſein, die ihn betäubte, ihn ſelbſt im
Augenblick blaß machte wie die Schrift auf dem
Wechſel?


Waren nicht die Blicke, die der Schreibende
ſeitwärts dann und wann auf ihn gleiten ließ, auch
Waffen! Der Kaufmann ſtand hinter ſeinem Schemel,
den darauf geſtemmten Stock noch feſter in die Hände
preſſend.


An einer ſchwarzen Tafel ſtanden mit Kreide
arithmetiſche Figuren, darunter Berechnungen, die
des Kaufmanns Aufmerkſamkeit anzogen, große Zah¬
len addirt. An der einen Ecke:


80.000 + 15.000 - 40 Jahr p. p. + + + zu viel.
Summa: 95.000 - 40 Jahr p. p. + + + zu viel.
an der andern:
90.000 + 28 Jahr - Verstand.
p. p. 90.000
180.000 + 28 Jahr - Verstand. ???

21*[324]

Der Legationsrath war fertig und hielt ihm die
Schrift hin: „Wollen Sie probiren — engliſche Im¬
mortell-Dinte, neueſte Erfindung von Parry —
es ließe ſich darin ein Geſchäft machen. Um alle
Simulation zu vermeiden, habe ich unter heutigem
Datum acceptirt.“


„Wollen Herr Legationsrath noch gefälligſt da¬
runter notiren: Duplicat des an dem und dem ac¬
ceptirten Solawechſels.“


„Wozu, theuerſter Mann, wir tauſchen die Pa¬
piere aus und damit iſt die Sache abgemacht.“


„Möchte gern den erſten Wechſel auch behalten,
nur aus Curioſität, von wegen der ſympathetiſchen
Dinte. Geſchieht Ihnen ja kein Schade dadurch,
lieber Herr Legationsrath. Können noch, der Sicher¬
heit wegen, hinzubemerken: Duplicat u. ſ. w., wodurch
der Primawechſel außer Kraft geſetzt iſt. Weiter
nichts. Bin ein Raritätenſammler, und trenne mich
nicht gern von Seltenheiten.“


Wandel war in die Höhe geſprungen, wie der
Tiger beim Geräuſch des herangeſchlichenen Jägers.
So funkelte auch ſein Auge, als er krampfhaft die
Stuhllehne preßte. Der Stuhl in ſeiner Hand hätte
zur Waffe werden können, aber nicht gegen den, der
ihm gegenüber ſtand. Die markigen Hände des
Kaufmanns umklammerten den Stock, ſein Kinn
lehnte ſich darauf und ſeine hellblauen Augen fielen
ohne Blinkern auf die gelbglühenden des Andern.


„Was wollen Sie noch?“ fragte Wandel.


[325]

„Sie haben noch einen Wechſel von mir accep¬
tirt, auf Höhe von zehn Tauſend Thalern.“


„Der am vierzehnten October fällig iſt, mein
Herr.“


„Weiß es, wir könnten aber vielleicht noch ein
Geſchäftchen machen. Schreiben Sie mir noch ein
ſolches Duplicat — der Wechſel wird auch blaß.“


Wandel verkniff die Lippen. Nach einer Pauſe
ſagte er: „Wie Sie wünſchen.“


„Iſt mir lieb, daß Sie ſo gefällig ſind; den
Verfalltag wünſch ich nur etwas anders. Schreiben
Sie gütigſt: acceptirt zum erſten September.“


„Herr! Das ſind nicht vierzehn Tage.“


„Weiß es.“


„Das könnte mich derangiren.“


„Würde mir ſehr leid thun.“


„Das iſt unverſchämt.“


„Kann ſein. Ein Kaufmann muß die Con¬
juncturen benutzen. Iſt ſich Jeder ſelbſt der Nächſte,
darin werden Sie mir Recht geben.“


„Ihre Gründe, Herr van Aſten! Durch das
Duplicat verſchwindet jede Beſorgniß wegen der
Dinte.“


„Gründe wollen Sie! So viel Sie wollen:
bis zum vierzehnten October kann Krieg ausgebrochen,
Sie können todt, bankerott, Sie können nach Aſien
und Sibirien gereiſt ſein. Ich könnte Ihnen noch
viel mehr Gründe ſagen, der Hauptgrund aber iſt,
ich will mein Geld haben.“

[326]

„Das iſt ein ſehr verſtändlicher, mein Herr
van Aſten. Wenn ich mich recht beſinne, könnte ich
mich dazu beſtimmen laſſen. Ich erwarte Rimeſſen
aus Thüringen, die jeden Augenblick eintreffen müſſen.
Indeſſen, Kaufmann gegen Kaufmann — dies un¬
beſchadet unſerer Freundſchaft — was geben Sie für
die Gefälligkeit?“


„Die Wechſel für's Geld.“


„Und die Prima für die Anticipation?“


Beide ſahen ſich durchdringend an. Beide wa¬
ren Kaufleute durch und durch in dem Augenblick,
die durchbohrenden Blicke wurden milder, die Dro¬
hung ſchmolz in ein Lächeln. Wandel ſchrieb auch
den zweiten Wechſel um, und nachdem van Aſten ihn
ſorgſam geprüft, tauſchte er beide neue Wechſel gegen
die beiden Primawechſel aus.


Von dem geſchraubten Ton vorhin merkte man
nichts mehr. Die Unterhaltung floß noch einige Augen¬
blicke über gleichgültige Dinge, wie zwiſchen Geſchäfts¬
männern, die eine unangenehme Disharmonie durch
freundliches Entgegenkommen verlöſchen wollen. Van
Aſten verſicherte, daß er ihre Differenz ſchon ſo gut
wie vergeſſen habe, Wandel lobte es, wer erfolgreich
leben wolle, müſſe an die Zukunft und ſo wenig als
möglich an die Vergangenheit denken. Auch vor
Raritäten müſſe man ſich hüten, ſie würden am Ende
ein todtes Kapital, in welchem unſer Lebensſtock
immer ſparſamer, dünner wird. „Da! — er riß
aus einer Lade unter der ſchwarzen Tafel eine Partie
[327] Papiere hervor — was habe ich davon, daß ich dieſe
Aſſignate zwölf Jahre aufhob, eine halbe Million,
und darüber!“


„Freilich jetzt nur Raritäten, ſagte nachdenklich
der Kaufmann. Kein Gläubiger iſt mehr ſo dumm,
ſie für Activa anzuſehen. Vor fünf bis ſechs Jahren
konnte man wohl noch etwas darauf erſchwindeln.“


„Fidibus,Theuerſter! Zum Feueranmachen brauche
ich ſie.“


„Ueber eine halbe Million! Na — ſie werden
Ihnen auch nicht ſo viel gekoſtet haben.“


„Es kommt darauf an,“ entgegnete der Legations¬
rath mit einem eigenen Zücken um die Lippen.


„Was haben Herr Legationsrath denn da an
der Tafel ausgerechnet? Thaler und Verſtand iſt ein
curioſes Additionsexempel.“


„Phantaſiebeluſtigungen! Vielleicht Geſchäfte,
die ich vorhabe.“


„Das ſind hohe Summen.“


„Ich habe größere Geſchäfte gemacht.“


„Das Facit des einen iſt fünf und neunzig Tau¬
ſend, das des andern hundert und achtzig Tauſend ohne
den Krimskrams dran von unbekannten und irratio¬
nalen Größen.“


„Sie ſind ein unbefangener Mann, aber von glück¬
lichem Takt. Beide Geſchäfte kann ich nicht zuſammen
machen. Es gilt die Wahl. Zu welchem rathen Sie?“


„Wenn ich hundert und achtzig Tauſend machen
kann, ziehe ich ſie fünf und neunzig Tauſend vor.“

[328]

„Ich auch, lachte der Legationsrath. Nur habe
ich die achtzig Tauſend ſo gut wie in der Hand;
beim andern Geſchäft aber ſind Schwierigkeiten zu
überwinden; es iſt, würde der Engländer ſagen, ein
steeple chase mit Hinderniſſen.“


Sie winden ſich durch, Herr Legationsrath.“


„Ich nehme es als ein gutes Omen an, lächelte
Wandel. Wir ſcheiden doch als Freunde.“


„Wie vorher.“


Der Legationsrath hatte den Kaufmann bis zur
Thür begleitet.


„Nun ſehen Sie, da wir als Freunde ſcheiden,
und Sie ſich ſo honett gezeigt, iſt ein Dienſt des
andern werth. Sie haben mich gerettet, ich geſteh's
Ihnen, für den Moment. Und aus purer Gefällig¬
keit! Der alte Aſten iſt aber kein Bettler. Er
nimmt nichts umſonſt. Alſo erſtens dafür: tiefſte
Verſchwiegenheit; von mir hört keiner eine Sylbe.
Zweitens eine Maxime: ein Kaufmann darf nicht zu
viel Speculationen auf ein Mal vor ſich haben.
Wenn er zu lange wählt, entſchließt er ſich zu ſpät.
Sieht er zu eifrig nach der Taube auf dem Dache,
ſo fliegt ihm auch der Sperling aus der Hand.
Merken Sie ſich das; raſch zugegriffen. Und drittens
iſt mir ſchon lange für Sie was eingefallen. Machen
Sie ſich doch an Madame Braunbiegler. Das wäre
eine Partie für Sie. So reich wie dick. Hundert¬
zwanzig Tauſend unter Brüdern. Der alte Braun¬
biegler verſtand's. Lauter ſolide Hypotheken und
[329] Pfandbriefe. Und die halbe Fabrik! Unter uns hun¬
dertfunfzig Tauſend wenigſtens. Und Sie, mit Ihrer
Chemie, können das Tuch noch dünner ſtrecken. Zu¬
gegriffen! Ein Bischen Schwierigkeiten, aber Sie
kriegen ſie.“


Die Treppen dröhnten unter den ſchweren Trit¬
ten des Kaufmanns, er ſah nicht mehr die Bläſſe
auf dem Geſicht des Legationsrathes; nicht wie er in
die Küche zurück wankte, nicht wie er, an der Thürpfoſte
ſtehen bleibend, das kalte Geſicht mit beiden Händen
bedeckte. Da verließ ihn ſeine Kraft. Ihn ſchwin¬
delte, es drehte ſich um ihn wie im Kreiſe, die Bil¬
der, das Gerippe, die Retorten. Er fletſchte die
Zähne, die Augen traten aus den Höhlen, er ballte
die Fauſt gegen die Bilder: „Lachen Sie nur, „Mes
dames de Bruckerode!“
Dann wankten die Knie.
Der ſtarke Mann ſank auf den Schemel, es war
auch ihm zu viel geweſen. Die Retorte fiel von der
Erſchütterung vom Geſtell und verſchüttete ihren In¬
halt in die Kohlen, der Staub wühlte auf, die Bilder
bewegten ſich, das Gerippe raſſelte an der Wand.

[[330]]

Zwanzigſtes Kapitel.
Eine Spinne in ihrem Netz gefangen.

„Sie kommen ſo vergnügt von ihm?“ empfing
die Geheimräthin den eintretenden Legationsrath. Er
ſah allerdings anders aus, als wir ihn neulich ver¬
ließen. In ſorgfältiger Toilette und Coiffüre, ein
Ordensband am Knopfloch, ein anderes, das ſich
unter dem Halstuch verſteckte, ſchien er mehr zum
Beſuch bei Hofe als im Krankenzimmer ajuſtirt. Es
iſt indeß zu bemerken, daß er ſeit Kurzem ſeiner Klei¬
dung eine Sorgfalt widmete, welche ſeine Freunde
in der letzten Zeit vermißt hatten. Der Kleidung
entſprach der heitere Geſichtsausdruck. „Wie haben
Sie ihn gefunden?“ ſetzte die Lupinus hinzu.


„Wie meine Freundin mich findet vergnügt.“


Sie blickte ihn verwundert an.


„Sie wiſſen, daß er in ſeiner Collection eine ſeltene
Ausgabe des Horaz nicht beſitzt, die mit verſchlungenen
Händen und einem Todtenkopf unter dem Druckort.“


„Leyden, Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts,
Initialen von der und der Form, unterbrach ihn die
Lupinus; ich habe es oft genug hören müſſen. Er
hatte alle Commiſſionäre in Requiſition geſetzt und
große Summen geboten, immer umſonſt.“

[331]

„Und jetzt hat er ſie.“


„Wie iſt das möglich! Sie ſelbſt ſagten, die
Ausgabe wäre nicht mehr aufzutreiben.“


„Um einem Sterbenden einen letzten heitern
Augenblick zu machen, dünkt mich, iſt Alles möglich
und — erlaubt.“


„Erlaubt!“ wiederholte die Lupinus betonend,
und blickte ihn fragend an.


„Es thut mir leid, daß Sie nicht zugegen wa¬
ren. Wie ſeine Augen aufblitzten; er traute ihnen
kaum, und hatte auch gewiſſermaßen Recht. Bekannt¬
lich ward dieſe Ausgabe in Leyden während der
ſchweren Belagerung der Stadt gedruckt. Die Setzer
waren einer nach dem andern auf den Mauern ge¬
fallen. Die Typen wurden zu Kugeln umgeſchmol¬
zen. Aber der Factor, der Letzte in der Druckerei,
hatte ſelbſt ſein Letztes daran geſetzt, dieſen Horaz,
die Ehre der Officin, zu vollenden. Mochte dann
die Freiheit, der Proteſtantismus, Holland, die Stadt
Leyden untergehen, wenn nur die Leydener Horaz¬
ausgabe für die Nachwelt lebte. Von allen ſeinen
Typen, die ſchon als Kugeln um die Schanzen pfiffen,
hatte er nur ſoviel ſich losgebettelt, um den Titel noch
zu drucken, er ſelbſt Setzer, Drucker. Da, im Vor¬
gefühl ſeines Schickſals, ſetzte er unter die Jahreszahl
und das Wort Leyden einen kleinen Todtenkopf. Nur
eine geringe Zahl Exemplare hatte er abgezogen, da
verließen ihn die Kräfte. Er ſank um, mehr vom
Hunger als von der Arbeit erſchöpft. Die Soldaten
[332] drangen ein, auch die letzten Buchſtaben fortzuneh¬
men, als die Glocken der Stadt ertönten. Der Ent¬
ſatz war gekommen. Leyden ward frei, der Factor
ſtarb zwar am ſelben Tage, auch der größte Theil
der Bürgerſchaft war von Hunger, Seuchen, Kugeln
fortgerafft, aber er ſtarb mit frohem Geſicht — ſeine
Horazausgabe, Leydens Ehre, war gerettet. — Iſt
es nicht ein rührendes Kapitel aus der Geſchichte
der Menſchheit? Erhebt es nicht das Gefühl, daß
ein armer Setzer für eine Idee ſein Leben daran
ſetzte und glücklich ſtarb!“


„Allerdings, aber —“


„Wer glücklich ſtarb, hat glücklich gelebt. Es
waren nur fünf und neunzig Exemplare des Titels
mit dem Todtenkopf gedruckt. Sie ſollten das Ehren¬
denkmal für den Patrioten bleiben. Der Magiſtrat
ließ die übrigen Titel mit einer Aenderung abziehen.
Auch ſie ſind von hohem Werth; die aber mit dem
Todtenkopf und dem Todtenſchweiß des Armen un¬
ſchätzbar. Sie wurden an hohe Potentaten verſchenkt,
ſie finden ſich jetzt nur in den Königlichen Bibliotheken
von Schweden Guſtav Adolf führte ſein Exemplar
im Felde immer mit ſich —, England, Dänemark.
Durch die Einnahme von Breda kamen mehrere nach
Spanien. Man hielt es in Holland für eine große
Calamität. Bei den endlichen Friedensverhandlungen
gab dies manchen Anſtoß. Die Generalſtaaten gaben
ſich umſonſt alle Mühe, die Exemplare zurück zu er¬
halten. Später ſind durch die Verführung des Gel¬
[333] des und die Macht des Handels auch Exemplare nach
Amerika gegangen.“


„Von daher haben Sie keins bezogen.“


„Gewiß nicht, ſie ſind auch gar nicht mehr im
Handel.“


„Sie haben ihm ein nachgemachtes Exemplar
gebracht.“


Mit einem weichen Lächeln drückte er ihre Hand:
„Finden Sie das Unrecht, Freundin, wenn ich ſeit
Wochen ein ſolches Titelblatt nachbilden ließ! Es
koſtete einige Mühe, Druckerſchwärze und Papier dem
Braun des Alterthums ähnlich zu vergelben, allein
die geſchickte Unger'ſche Officin überwand alle Schwie¬
rigkeiten. — Er iſt ſo glücklich wie jener Setzer in
Leyden, ein letzter Sonnenſtrahl fiel in den Dämmer¬
ſchein ſeines Lebens. Schadet es ihm, daß es nur
eine Illuſion iſt! Was iſt denn unſer Aller Glück
anderes. Sind nicht alle unſere frohen Stimmungen
auch nur das Product von Illuſionen! Die frohen, meine
Gönnerin, wie die böſen. Die Wahrheit finden wir
nur in uns ſelbſt, wenn wir alle Täuſchung abgeſtreift.“


„Ihre Leydener Geſchichte, ſo rührend ſie iſt,
erinnert mich nur zu ſehr an die Kindheit des Menſchen¬
geſchlechts. Ueber dieſe naiven Zuſtände von Ehre
ſollten wir doch hinaus ſein!“


Sie ſaßen auf dem Kanapé derhalb dunklen Stube.


Sollten! rief er, ſich in die Ecke zurück leh¬
nend, und wir ſind immer nur Kinder wie am erſten
Tag. Nur das Spielzeug wechſeln wir, oft auch
[334] nur wie es in Familien mit beſchränkten Mitteln
geſchieht. Die Mütter nehmen ihren Kleinen die
Puppen und Soldaten allmälig fort, an denen ſie
ſich das Jahr durch ſatt geſpielt, um ſie ihnen friſch
lackirt und neu angezogen zu Weihnachten wieder zu
ſchenken. Die klügſten Kinder merken es nicht. So
das ganze Menſchengeſchlecht. Nur die Erwählten
kommen mit ſich in's Klare. — Ja, wenn ſie ſo weit
ſind, wenn alle Nebel, Dämmerſcheine, chromatiſche
Täuſchungen, Vorurtheile geſunken, wenn ſie wiſſen,
ihre Kreiſe und ſich ſelbſt zu beherrſchen, wenn ſie
ſich das Zeugniß ablegen können, daß ſie durch nichts
ſich beirren laſſen, keine Mißgriffe thun, rein und
grad auf ihren Zweck hinſteuern, — dann — das
muß ein Göttergefühl eigener Art ſein.“


Die Geheimräthin ſenkte in ihrer Sophaecke den
Kopf: „Wer kann das von ſich ſagen!“


„Ich kenne eine Frau, die es kann!“ Er ſah
vor ſich auf die Diele. Es war etwas Eigenes heut
im Benehmen des Legationsrathes. So weich ſein
Ton, ſo ſanft vorhin ſein Händedruck, ſo geſchmeidig,
faſt herzlich ſein ganzes Benehmen; aber er ſah ſie
nicht an, er ſtreckte nicht die Hand aus, um ſie auf
ihren Arm zu legen, er ſaß iſolirt wie ein Träumer,
und nur durch das Medium der Töne waren ſie
in Berührung.


„Die Klügſte kann ſich darin täuſchen!“


Er ſchien es nicht gehört zu haben. Er legte
den Arm auf die Lehne, und ſeine Finger häm¬
[335] merten gedankenlos auf das polirte Ebenholz, wäh¬
rend ſeine Augen jetzt an der Decke hafteten.


„Mögen Sie ſich immerhin momentan iſolirt
fühlen, was iſt das gegen das beruhigende Gefühl,
wie ein Gott in Ihren Kreiſen gewaltet zu haben.
Sind nicht, ſeit Sie mit ſich klar wurden, Ihre
Wünſche in Erfüllung gegangen; ich meine, iſt nicht
Alles geſchehen, was Sie für gut, für nothwendig
erachteten? Jenes undankbare Mädchen, das wirklich
Ihr Lebensglück ſtörte, mußte Sie verlaſſen, ohne
daß Sie der geringſte Vorwurf trifft. Man entführte
ſie Ihnen, die Menſchen bedauern Sie ſogar wegen
der hinterliſtigen Art, wie es geſchah, ohne zu
ahnen, welche Wohlthat Ihnen damit widerfuhr.
Damit wurden Sie zugleich die läſtigen Geſell¬
ſchaften los, die Sie hinderten, ganz ſich ſelbſt zu
leben. Wie oft fand ich meine Freundin in Sorgen
um das Schickſal des kränklichen Bedienten. Was
ſtand dem armen Geſchöpf bevor, ſobald Sie ſich
ſeiner nicht mehr annehmen konnten? Bettelſtab,
Hospital! Da hat Gott ſeiner ſich erbarmt, ihn zu
ſich genommen. Gott nimmt ſich aber nur da der
Menſchen an, wo er ihren ernſten Willen, ihre an¬
geſtrengte Thätigkeit ſieht, ſich ſelbſt zu helfen. —
Wie belohnten jene unartigen Kinder Ihre mehr als
mütterliche Aufmerkſamkeit! Ich darf Ihnen wohl
ſagen, man verdachte es Ihnen, daß Sie ſich ſelbſt
dieſen verwahrloſten Geſchöpfen opferten. Man hielt
es für eine Art Oſtentation, man meinte, Sie wären
[336] auf die Sprünge der Fürſtin Gargazin gekommen.
Das ſind die Urtheile der Menſchen! Kann ein
Vernünftiger noch davor Reſpect haben! Sie lernten
nur zu bald, daß für dieſe Unglückſeligen nichts
Beſſeres ſei, als — wenn auch ihrer eine unſichtbare
Hand ſich erbarme. Dieſe ſo früh verdorbenen Kinder
wären ja unter der Aufſicht des nichtigen, läppiſchen
Vaters, unter der Erziehung dieſer Köchin in Grund
und Boden verworfene Geſchöpfe geworden. Und
am Ende hätte Sie noch ein Vorwurf getroffen.
Aber das Unkraut konnten Sie nicht mehr aus¬
ziehen, Sie nicht mehr Weizen ſäen. Verzeihung,
daß ich ſo offen es ausſpreche, auf die Gefahr hin,
Sie zu beleidigen, die Kinder mußten ſterben.“


„Mußten —“ wiederholte mehr fragend als
trumpfend die Geheimräthin.


„Ja, theuerſte Frau, ſagte er mit Nachdruck.
Ich habe es mir oft überlegt. Hätten Sie einen
Vortheil davon gehabt, daß ſie ſtarben, wäre eine
Erbſchaft im Spiel geweſen, dann war es anders.
Was jetzt die Leute ſagen, darauf kommt es nicht an.“


Sie ſchielte, innerlich bebend, zu ihm hinüber,
wagte aber die Frage: „was ſagen denn die Leute?“
nicht über die Lippe zu bringen.


„Die Geſchichte der Medea halte ich für eine
unglücklich erfundene Fabel, fuhr er in derſelben
Ruhe fort. Eine Mutter ihre Kinder ſchlachten, um
ihren Geliebten zu retten! Das wäre eine Verirrung
der Natur. — Ja, wer über dieſe Empfindungen
[337] hinaus iſt; ich könnte mir eine Medea denken, ohne
die brennende Gluth des Südens, eine, deren Blut
eiskalt geworden, eine Seherin des Nordens, die
abgeriſſen, abgeſchüttelt hat alle die Fibern und
Blutadern, die ſie mit den Lebendigen zuſammen¬
halten, eine Norne, welche im ehernen Becher die
Looſe der Menſchen ſchüttelt; wer fallen muß, der
fällt, ſie kann nicht weinen, ſie kann nicht lächeln, es
muß. — Sind wir nicht Alle auf dieſen Prozeß an¬
gewieſen, iſt es nicht der natürliche des Daſeins?
Das Blut wird mit den Jahren kälter, was uns in
der Jugend entzückte, gleichgültig. Unſere Träume,
Phantaſieen, Projecte belächeln wir. Werden die
Menſchen mit Runzeln liebenswürdiger? Wir erken¬
nen ihre Schwächen, die Ideale ſind längſt geſunken,
ihre Eigenheiten treten heraus, ſie werden uns wider¬
wärtig. Nein, nicht widerwärtig, Freundin, nur
gleichgültig. Wir hören eine Todespoſt verwundert
an: Hat der noch gelebt, wir dachten, er ſei längſt
todt! Wir ſterben mit, wo Alles um uns ſtirbt, und
laſſen darum ſterben, was nicht leben kann! Einer
weniger, der Anderen in die Quere kam, Einer we¬
niger, der mit verbrannten Flügeln nach der Sonne
flattern wollte! Wem ſind ſie denn nicht verbrannt?
Wir ſind allzeit bereite Todtengräber — aus Mitleid,
Adepten der Nothwendigkeit. — Das iſt weit natür¬
licher als die andere Erklärung, daß wir's aus Neid
wären, aus Haß, Haß gegen die ganze Menſchheit.
Iſt denn die Menſchheit werth, daß wir ſie haſſen?
IV. 22[338] So wenig als unſerer Liebe. Allerdings lehrt uns
der Inſtinkt, zu ſtechen, wo wir geſtochen werden.
Sticht uns ein Größerer, ſtechen wir den Kleineren.
Dagegen iſt nicht anzukämpfen, es iſt das Naturgeſetz
der Creatur. Wo wir's überwinden, iſt Unnatur;
die Verweichlichung der Moral, die wir umſonſt Re¬
ligion taufen, es bleibt Verkehrtheit, die ſich rächt.
Aber nur nicht aus Haß, Erbitterung; wir ſpielen
mit Tod und Leben, wie man mit uns ſpielt; die
Folterſchrauben, die man uns anſetzt, probiren wir
an Andern, um zu erfahren, wie viel ein Menſch aus¬
halten kann. Das führt zu einem Ziele; der Haß
iſt immer eine irrationale Potenz, die in's wüſte Blaue
treibt, wo Niemand das Ende abſieht. Pfui Blut¬
rache! pfui, das alte moſaiſche: Zahn um Zahn!
Wem hat es genutzt, und alles Unnütze iſt Verbrechen.
Dagegen begreife ich ſehr wohl, was der Alltags¬
menſch Rache nennt, und was doch weiter nichts iſt
als der Schuß nach einem Ziele. Napoleon hat
Palm erſchießen laſſen. Er hat Recht gethan, man
ſoll ihn fürchten. Die Schriftſteller ſollen ſich nicht
unterſtehen, ihn unangenehm zu kitzeln. Dies Recht
hat Jeder — ſich furchtbar, ſich gefürchtet zu machen.
Aber mit Klugheit, mit Vorſicht es benutzt! Nicht
Jeder iſt Napoleon, aber Jeder kann wie die kleine
Spinne
aus ſeinen eigenen Säften ein Netz ſich
weben, um die zu fangen und verderben, die ſich in
ſeine Region drängen. Haben Sie einmal die Spinne
beobachtet? Es iſt für mich ein furchtbares Thier.
[339] Da liegt ſie ſtill, zuſammengekauert, ich möchte ſagen,
fromm, im Centrum ihres Kreiſes, ſie ſcheint zu
ſchlafen, aber ſie iſt nur penſiv, ſie brütet über ihr
ungerechtes Loos. Warum gab die Natur den Flie¬
gen, Bremſen, Mücken, Wespen Flügel? Sie flat¬
tern, ſpielen in den Lüften ein gedankenloſes Spiel,
ſie naſchen an den Blumen, ſie ſchlürfen den Sonnen¬
ſchein. Die Spinne iſt ſtiefmütterlich behandelt, ſie,
die arbeitſame, denkende Schöpferin, muß an Mauern
kriechen, in Winkeln ihr Gehänge ſpinnen, aus ihrer
beſten Kraft, nur um ſich zu halten, zu exiſtiren. Sie
iſt geſcheut, verachtet. Soll ſie nicht dem Schickſal,
dem ungerechten, zürnen, nicht Grimm im Herzen
tragen! Beim Allmächtigen, meine Freundin, welcher
Gerechte fordert das von ihr! Sie fügt ſich in das
Unabänderliche, ſie wartet und lauert; einmal kommt
doch der Augenblick, um das Gefühl der Rache zu
kühlen. Dann — auch dann ſtürzt ſie noch nicht wie
eine Harpye auf ihr Opfer los. Sie ſcheint fort¬
zuſchlafen, bis der unbeſonnene Wildfang ſich in das
Netz verwickelt hat, ſtrampelt. Dann — Was ich
plaudere! — Da halte ich Sie ab von der Pflege
des armen Kranken. — Es wird ja ohnedem nicht
mehr lange dauern. — Sollte der Krieg losbrechen,
ach Gott, eine wahre Wohlthat, wenn der liebe Gott
den Dulder früher zu ſich nimmt. Denken Sie den
armen Gelehrten, wenn der Feind einrückte! Oder
Berlin wird geſtürmt; welches Loos, wenn er mit
ſeinem noli turbare circulos meos dem franzöſiſchen
22*[340] Chaſſeur entgegenträte. Im beſten Fall, es iſt Na¬
poleons Art, alle Einwohner einer eroberten Stadt
müſſen zum innern Schutz in die Nationalgarde
treten. Stellen Sie ſich den Geheimrath vor mit
dem Gewehr auf dem Rücken, einen Säbel an der
Seite! — Nein, aus Liebe für ihn muß man ihm
bald den ewigen Frieden wünſchen. — A propos,
ich vergaß, womit haben Sie denn vorhin geräuchert?“


Die Geheimräthin hatte vielleicht mit ganz andern
Empfindungen auf dem Sopha Platz genommen. Sie
ahnte nicht, daß eine Schreckensſtunde ihres Lebens
nahte. In ein laues Bad, umduftet mit Wonne¬
gerüchen, glauben wir geführt zu werden, und ſie
haben uns in ein kaltes Sturzbad gelockt. O das
iſt nichts, wo es mit einem Mal herabrauſcht, aber
wenn man uns feſtgebunden, und tropfenweis, ſtärker
und ſtärker, fällt es auf unſern Schädel, endlich öffnet
ſich das ganze Reſervoir —


Sie verſuchte zu ihm aufzuſehen, aber ſie ertrug
nicht den eiskalten, durchbohrenden Blick.


„Wie meinen Sie das?“


„Ich meine, welche Ingredienzien ſchütteten Sie
in die Kohlenpfanne? Denn daß Sie räuchern, da¬
gegen iſt nichts zu ſagen, es iſt vielmehr nothwen¬
dig. Der Staub, die Ausdünſtungen, der Kater¬
geruch, es hat Alles zuſammen genommen etwas
Eblouirendes. Es muß dagegen gewirkt werden.
Aber Vorſicht, meine Freundin, man muß ſich gegen
den Verdacht im Voraus ſchützen.“

[341]

Sie wollte aufſtehen; ſie ſank auf's Kanapé zurück.


„Mit nichts, als was ich von Ihnen habe,“
ſprang es aus der gepreßten Bruſt.


„Sie meinen die kleine Apotheke, meine Gönnerin,
die ich Ihnen aus Herrn Flittners Apotheke zum Haus¬
bedarf zuſammenſtellen ließ. Die wird vor jedem Me¬
dicinalcollegium die Prüfung beſtehen. Es ſind die un¬
ſchuldigſten Mittel, wenn man ſie unſchuldig gebraucht.
Freilich, wenn man ſich vergreift, dann ſtehe ich für
nichts. Waſſer das beſte Heilmittel, man kann auch
mit Waſſer ermorden.“


Ein zweiter Verſuch, aufzuſpringen, ſcheiterte an
der Schwäche ihrer Knie; aber ſie lehnte ſich zurück
und die Kraft hatte ſie gewonnen, ihm ſtarr in's
Geſicht zu ſehen. — O dies unveränderliche Geſicht!
War es auch nur eine Muskelbewegung, die eine Auf¬
regung, Furcht, Schadenfreude, Mitgefühl verrieth! So
hätte er eine Liebeserklärung machen, ſo ein Todes¬
urtheil ausſprechen können. Er erfaßte die Spitze ihrer
Hand: „Verſtändigen wir uns doch! Das Nothwendige
erkenne ich an. Wo der Bruch da iſt, der zur Auflöſung
führt, ſoll der Wahrhaftige nicht Salbe darüber ſtreichen.
Er muß ſich in das finden, was nun einmal nicht zu än¬
dern ging; ich kann es auch nicht tadeln, wenn er der
Nothwendigkeit einen Schritt entgegen that. Aber — “


„Bei allen Mächten, warum foltern Sie mich? – –“


„Opiate, narkotiſche Mittel, alle Säfte aus Ve¬
getabilien dunſten und verdunſten, wie Veilchen und
Roſe duften und verduften. Sie laſſen Materielles
[342] nicht zurück, wogegen alles Mineraliſche ein Reſiduum,
einen Satz, einen Ausſchlag zurückläßt. In wie ver¬
änderter Form es auch ſei, die Wiſſenſchaft findet
ihn. Wenn wir doch dieſe wohlthätige Weiſung der
Natur nie aus dem Auge ließen! Das Lebendige
im Pflanzen- und animaliſchen Leben iſt beſtimmt,
zu blühen, reifen, um ſich dann zu verflüchtigen,
damit es, im Aether ſcheinbar verſchwimmend, irgend
wo wieder anſetzt zu neuem Leben. Dieſe Ausſicht
kann uns angenehm berühren, zu welchen Träumen
giebt ſie nicht Stoff! Aber erſchrecken kann es uns
nicht. Dagegen repräſentirt der Stein, das Metall
die irdiſche, niederdrückende Schwere. Wir mögen
den Stein noch ſo hoch in die Luft ſchleudern, er
kehrt wieder zurück. Er kann uns auf die Bruſt fal¬
len, unſer Fuß ſtolpert daran, und wenn wir ihn
zerreiben zu Pulver, Staub, er fällt wieder auf die
Lunge, und bei der Section findet ihn der Arzt.“


Die Geheimräthin hatte ſich jetzt aufgerafft; mit
beiden Händen an die Sophalehne ſich haltend, ſah
ſie über die Schultern auf den Sprecher zurück:


„Welche Verſtändigung, — was wollen Sie?“


„Ich, für mein Theil, meine Gönnerin, was
kann ich wollen! Was könnte ich bezeugen? Gar
nichts! — Daß ich bei Herrn Flittner auf Ihren
Wunſch eine Hausapotheke entnahm! Das iſt Alles
dort in die Bücher eingetragen. Eine exacte Apo¬
theke. — Und wer ſagt denn, daß das Phyſikat zu
einer Obduction zu ſchreiten ſich veranlaßt finden
[343] wird! Reine Vermuthungen von mir. Nur in Ihrem
Intereſſe, ein Freund ſtellt ſich oft das Schlimmſte vor.
Denn wer in aller Welt draußen wird auf die Ver¬
muthung kommen, weil in dieſem Hauſe ſo kurz hinter
einander bedenkliche Todesfälle eingetreten ſind, daß hier
eine ungeſunde Luft iſt, aus irgend einer nicht ergründe¬
ten Urſache. Die Polizei hat jetzt an Anderes zu denken.“


„Aber wenn — wenn ſie daran dächte!“


„Da ſind tauſend Möglichkeiten, wie man ihr
ein X für ein U macht.“


„Aber wenn man Sie —“


„Sie meinen, wenn man mich als Zeugen auf¬
riefe. Frau Geheimräthin, das iſt eigentlich eine
Beleidigung. Zweifeln Sie, daß ich gegen mein Herz
reden, und nicht meine höchſte Achtung vor Ihrem
Charakter ausſprechen würde?“


„Nach meinem Charakter würde man nicht fragen.“


„Man wird Thatſachen fordern. Was kann ich
denn über Thatſachen ausſagen! Daß die Kinder
näſchig waren, daß ſie zugriffen, wo ſie nicht ſoll¬
ten; daß ſie in ihrer Naſchgier eine ſchädliche Speiſe
vom höchſten Küchenbrett holten. Oder wird man
mich inquiriren, ob ich den Geruch in der Kranken¬
ſtube abſcheulich fand? Da würden die Experten
ſich nicht mit Meinungen befaſſen. — Doch, was ich
Ihnen zu ſagen vergaß, es war ſehr klug, daß Sie
dem todten Johann den Blumenkranz ſo tief in
die Stirn drückten. Da kam ein häßlicher blauer
Fleck über der Schläfe zum Vorſchein —“

[344]

Es war der entſetzlichſte Blick, den wir von ihr
ſahen — nein, den ſahen wir hier noch nicht. — Es
war einer, der einen Abſchnitt im Leben bedeutet.
Mit ſolchem warf der Wütherich den Schlüſſel zum
Hungerthurm, worin er ſeinen Feind geſperrt, in den
Fluß, mit ſolchem ſcheidet man von der Hoffnung,
man ſtößt den Kahn zurück in's Meer, der uns an
die Wüſte trug, um darin zu verſchmachten. Aber
ein Blick war's, wie ein Eiſendruck, der die erſchlaff¬
ten Nerven plötzlich ſtählt.


„Herr Legationsrath, was fordern Sie von mir?“


„Fordern — ich!“


„Ihre Principien verbieten Ihnen, etwas Unnützes
zu thun. — Kurz, ſchnell, damit wir in's Reine kommen.“


„Ich wollte Sie weder ängſtigen, noch deran¬
giren — nur eine kleine Bitte. Eine Zahlung von fünf¬
tauſend Thalern übermorgen genirt mich, weil mir eine
Deckung aus Hamburg ausblieb. Sie haben wohl
die Güte, mir mit den fünftauſend, welche Sie aſſer¬
viren, augenblicklich beizuſpringen, bis meine Rimeſſen
aus Thüringen ankommen.“


„Ich — ich werde ſie Ihnen ſchicken.“


„Wozu Dritte impliciren — es giebt ſo leicht
Nachfragen. Nur eine Feder, meine Gönnerin, um
die Schuldſchrift aufzuſetzen.“


Sie wankte an den Secretair; die Goldrollen
aus dem verborgenen Fach lagen auf der Platte.
Sie wies ſtumm darauf hin.


Er machte das Zeichen des Schreibens.

[345]

„Wozu das?“


„Es iſt doch der Ordnung wegen.“


Um ihm zum Schreiben Platz zu machen, trug
ſie die Rollen auf einen andern Tiſch. Die Rollen
waren ſchwer, ihre Glieder waren wie gebrochen.
Eine entglitt ihr, einige Goldſtücke rollten umher, die
ſie aufzuheben ſich bückte.


„O mein Gott, Sie geben ſich meinetwegen ſo
viel Mühe!“ rief er, auf dem Stuhl ſich umwendend,
ſchrieb aber weiter. Er wandte ſich wieder um: „Wie
wollen Sie es mit den Zinſen gehalten haben?“


Sie antwortete nicht.


„Es iſt doch wegen Lebens und Sterbens, ver¬
ehrte Freundin. Ich würde ſechs Procent ſchreiben,
aber Sie könnten, da Sie nicht kaufmänniſche Rechte
haben, dadurch in Ungelegenheiten kommen. Sehr
möglich auch, daß der Zinsfuß in dieſer Kriſis noch
ſteigt. Ich ſetze daher lieber: je nach dem höchſten
Börſenſatz.“


Sie winkte ihm Schweigen mit einem krächzen¬
den Hohngelächter. Er ſchrieb weiter. Was ſchrieb
er noch! Er war aufgeſtanden und hatte ihr mit einer
verbindlichen Verbeugung den Schuldſchein überreicht.
Sie warf ihn auf den Tiſch, ohne ihn anzuſehen.


Jetzt war nichts mehr von Angſt, Scheu, Ban¬
gigkeit in dieſem Geſichte, es wogte ein wildes Feuer
in der Bruſt, ihre Augen vermieden ihn nicht, ſie
ſah mit einer Art böſer Freude auf ihn:


„Was iſt Ihnen noch ſonſt gefällig? — Da iſt
[346] der Schrank mit meinem Silberzeug — dort meine
Geſchmeide, Ketten, Ohrringe — meine Juwelen.
Da im Korb die Schlüſſel zum ganzen Hauſe. Er¬
brechen Sie, nehmen Sie fort, was Sie Luſt haben.“


„Ich erkenne Ihre Güte, unter welcher Form ſie
ſich auch ausſpricht. In Bezug darauf habe ich mir
noch eine zweite Bitte erlaubt. Zum erſten September
läuft ein Wechſel auf mich von zehntauſend Thalern
ab. Nur für den unerwarteten Fall, daß meine Ri¬
meſſen auch bis dahin nicht einträfen, wünſchte ich
mich hier ſicher zu ſtellen. Für Frau Geheimräthin
Lupinus liegen funfzehntauſend Thaler auf der See¬
handlung disponibel. Ich habe mir erlaubt, ein
Ceſſionsinſtrument auf Höhe von zehntauſend dort
aufzuſetzen. Zugleich ein eventuelles Recipiſſe. Wenn
Sie die Ceſſion gefälligſt unterzeichnen, befreien Sie
mich, ich geſtehe es, von einer momentanen Verlegen¬
heit. Momentan, ſage ich, denn — er lächelte — meine
Ausſichten ſind gut. Es koſtete nur den Entſchluß
zu einem ſehr glücklichen Geſchäft, deſſen Chancen
ſo gut wie in meiner Hand liegen. Glauben Sie
mir, ich bin ſicher auf höher als dieſe Bagatelle.“


„Wie hoch ſchätzen Sie ſich, mein Herr?“


Der Hohn in der Frage berührte ihn nicht. „Auf über
zweihunderttauſend Thaler, meine Gnädige,“ antwortete
er freundlich und überreichte ihr die eingetauchte Feder.


Sie warf ſich auf den Stuhl, ſie überlas, ohne
zu leſen, ſie ſchrieb ihren Namen darunter; zu ſeiner
Befriedigung, indem er ihr über die Achſel ſah, deut¬
[347] lich genug. Sie ſtand auf, ſie ſah, ſie hörte nichts
mehr, quer durch das Zimmer wankend, ſtürzte ſie
auf's Sopha. Thränen, um zu weinen, fand ſie
nicht, die Augen brannten unter den vorgehaltenen
Händen. Endlich ward es ein krampfhaftes Schlucken,
Schluchzen, ihre Füße klappten auf dem Boden, ihre
Bruſt hob und ſenkte ſich, ſie holte Luft.


Wandel falzte das Papier und ſteckte es in die
Brieftaſche, die Goldrollen hatten in den Taſchen nicht
rechten Platz. Er ſchlang um einen Theil ſein ſeidenes
Tuch, legte das Pack in den Hut und wollte leiſe zur
Thür hinaus, als — ihm ein anderer Gedanke kam.


Er ſaß neben der Lupinus, als ſie die Augen
aufſchlug.


„Noch martern!“ rief ſie zuſammenzuckend.


„Nein, war die Antwort mit feſter Stimme, nur
zu ſtählen wünſchte ich meine Freundin.“


„Das Wort nicht mehr aus Ihrem Munde!
Kennten Sie, was Erbarmen heißt, bäte ich Sie,
mir aus den Augen, aus meiner Nähe! Ein Todten¬
gerippe könnte mit ſeinen hohlen Augen mich nicht
ſo entſetzlich anſtarren.“


„Denken Sie, ich wäre eines, lächelte er. Ich
habe ein ſolches ſtets neben mir — eine einſt heiß
geliebte Freundin. Wenn ich verzweifeln wollte, das
Blut gegen die Stirn preßte, wenn ich einen dummen
Streich zu begehen im Begriff war — dumm ſind
alle Handlungen, deren Impuls im Blute liegt —
dann drück ich ihr die Knochenhand, ich preſſe mich an
[348] ihre Bruſt, ſie muß neben mir ruhen, und ich werde
geſund, Sie war ein liebliches Weſen, das nur den
Impulſen des Herzens folgte, ſie kannte keinen andern
Regulator ihrer Handlungen, und — was iſt ſie nun? —
Ein Traum ihr Leben, nur ihre Treue, Hingebung war
mehr — ſie, im Tode, giebt mir Kraft im Leben, ſie
gießt Eiſen in mein Blut, Stahl in meine Nerven.
O erheben Sie ſich, ſo dürfen wir nicht ſcheiden.“


„Die Kette iſt geſprengt — auf ewig.“


„Wenn uns die Verhältniſſe auseinanderreißen,
warum denn in Feindſchaft? — War denn unſre Freund¬
ſchaft auf Affecte begründet? — Ruhe iſt die erſte Pflicht,
um in einem Schiffbruch nach dem Kahn auszublicken,
der uns retten kann. Ich bewunderte Ihre klare Ruhe
und Klugheit, die Ihnen die Entſchloſſenheit gab —
wie lange handelten Sie in dieſer Conſequenz, und
nun ſoll die Aufwallung eines Augenblicks —“


„Wo die Hölle ſich vor mir aufthut —“


„Gut, nennen Sie es Hölle, mich einen Dämon,
Teufel, weil ich nach derſelben Conſequenz handle,
wie meine Freundin gehandelt hat. Aber wer in die
Hölle ſteigt, um in dem Bilde, was Sie beliebten, zu
bleiben, würde dort ſehr einſam leben, wenn er nur
mit Heiligen umgehen wollte. Wir ſelbſt ſollen uns
das Ziel ſein, aber die Aſſociation iſt das Mittel. —
Iſt das undenkbar, daß wir uns gegenſeitig noch
Hülfe leiſten könnten! Weil Sie mir jetzt halfen —
meinethalben helfen mußten, — können Sie nie in
die Lage kommen, wo Sie von mir Hülfe erwarte¬
[349] ten? — O ſtill, meine Freundin, ich weiß, was die¬
ſes Aufathmen ſagen ſoll: Sie ſtürzten lieber in den
Abgrund, als ſie von mir annehmen! Ich laſſe die¬
ſem natürlichen Gefühl ſein Recht, wie die Alten
ſchreien mußten, um ihren Schmerz loszuwerden.
Schreien Sie, meine Freundin, innerlich, weinen Sie,
wenn Sie wieder Thränen finden, verfluchen mich!
Nichts von Reſignation, Vergebung edler Seelen;
ein Palliativ, was die Natur abſchwächt. Nein, erge¬
hen Sie ſich in Ihrem ganzen Haß, aber dann — dann
bedenken Sie, daß wir Beide uns kennen, daß der
Zufall in der Welt eine bedeutende Rolle ſpielt, daß,
wo kein Thron mehr ſicher ſteht, die ſicherſte Stellung
im Leben es nicht mehr iſt, daß Fälle denkbar ſind —“


Sie ſah ihn ſcheu an: „Sie meinen —“


„Ich gebe nichts auf Ahnungen, aber — einen
Wunſch, eine Weiſung laß ich Ihnen zurück, als
letztes Angebinde. Sie haben ſich ſtark gezeigt, blei¬
ben Sie es, wenn das Unglück da iſt. Welches
Recht haben dieſe Menſchen, die wir kennen, über
uns? Etwa uns in's Herz zu ſchauen! Der Pöbel!
Wer in aller Welt giebt ihnen das: unſre innerſten
Gedanken auszufragen? In's Gefängniß mögen ſie
den Freien ſchleppen, auf den Rabenſtein uns ſchlei¬
fen, nicht uns zwingen, daß wir uns ſelbſt verrathen
und verdammen. Das Recht hat keiner Mutter Sohn,
er ſtehe ſo hoch er will. Der Pöbel kann uns nicht,
wir können ihn, wenn wir feſt bleiben, überwinden.
Die Märtyrer wurden mit Recht Heilige, nur daß
[350] ſie thöricht waren, ſich für Andere martern zu laſſen.
Wir würden es für uns. Sie verſprechen es mir,
Schweſter im Bunde, ewig zu ſchweigen, ich ſchweige
auch. Darauf einen Bruderkuß!“


Er war fort; ſeine letzten Tritte verhallten auf der
Treppe. Sie hörte die Hausthür öffnen, zuſchlagen.
Aber er war noch bei ihr. Sein Bruderkuß brannte jetzt
wie Feuer, jetzt wie Eis. Sie war gebrandmarkt, der
Druck des Stempels drang von der Stirn bis in's
Herz; ſie fühlte ihn von den Fingerſpitzen bis zur Zeh.


Warum bin ich ein Weib! lachte es in ihr.
Vergeltung! — Ohnmacht! — So viel kleine Opfer,
und der Dämon ſelbſt, ſein Hohngelächter zitterte
in der Luft, er umſchwirrte ſie, unerreichbar. — Und
hätte er zu ihren Füßen gelegen, ohnmächtig, ge¬
bunden, woher denn Marterwerkzeuge nehmen, die
ihren Rachedurſt geſtillt! Welche Schmerzen konnten
das Maaß ihrer Schmerzen ausgleichen! — Und durfte
ſie's? — Ein Laut, ein Schrei, ein Wort des Ge¬
marterten, und die Klingeln und Glocken hätten in den
Lüften geklungen, geklungen bis an's Ende der Welt,
wo Gerechtigkeit iſt. — Wo iſt denn Gerechtigkeit! – –


„Nein, ſie war noch an ihn gekettet an einer
feinen, unſichtbaren Stahlkette — jede Rachezückung
und ſie vibrirte wieder, electriſch, in ihm, er hob die
Fauſt — nein, er lachte ſie nur an, mit ſeinen
Hayfiſchzähnen: Wenn mich, vernichteſt Du Dich! —
Zu entſetzlich, er war, er blieb ihr unſichtbarer
Bundesgenoß. — Wer in dieſe Strudel trieb, muß
[351] eine Säule finden, woran er ſich aufrecht hält. —
Ein Todtengerippe! Was iſt ein fühlloſes Todten¬
gerippe Schreckliches mit einem verglichen, was die
Augen noch rollen kann in den Höhlungen? Ja,
ſie bedurfte ſolches Stahlguſſes, ſolcher Stärkung,
des glühenden Eiſens, das zur Wolluſt werden kann,
wenn es den Nerv in dem nagenden Zahne aus¬
brennt. Sie ſtürzte in das Krankenzimmer.


Ja, das war noch ſchrecklicher als ein Gerippe
an der Wand. Er ſtand aufrecht. Wie die letzte
Flamme in einem verglimmenden Feuer auflodert,
ſpielte der letzte Athem in dem lebendigen Knochen¬
mann. Er mußte furchtbar geſpielt haben. Da lagen
zerſchlagene Gläſer, Geſchirre, die koſtbaren Horaz¬
bände auf die Erde geworfen; ein dicker Staub
wirbelte durch das Sonnenlicht, das ohnedem nur
dunſtig durch die trüben Scheiben drang, wie eine
dumpfe abendliche Kirchenbeleuchtung durch gelbe
Scheiben. Auch die Decke vom Schreibtiſch halb
herabgeriſſen, und der Kater oben, mit gekrümmtem
Rücken und orangeglühenden Augen, ſpinnend. Was
hatte das ruhige alte Thier in dieſe Unruhe verſetzt!


Hatte er, vom Schmerz ergriffen, dieſe Ver¬
wüſtung angerichtet? Körperliche Schmerzen waren
es nicht. Dieſe ſchienen überwunden. Das Geſpenſt,
den Schlafrock weit auf, ein Gerippe darunter, ſo
wankte er auf die Frau zu. Die Bruſt ſchlug noch
— heftig, in den Skeletthänden hielt er ihr ein
Buch entgegen. Das Buch zitterte durch die Luft.
[352] Das war ein wüſter Blick in dem Auge, ſein letzter,
das war ein Schrei aus tiefer Bruſt, auch ſein
letzter: „Weib! es iſt falſch — Alles falſch!“


„Alles iſt falſch!“ antwortete ſie tonlos.


Er hatte nicht mehr die Antwort gehört. Er lag auf
der Diele, er hatte ausgelitten. Der Kater war vom
Tiſch geſprungen und bäumte ſich über den Leichnam.
Die Geheimräthin irrte in der Stube umher und
konnte den Spiegel nicht finden. Als ſie ihn ge¬
funden, konnte ſie nichts drin ſehen. Sie rieb und
rieb, aber der Spiegel blieb blind. „Mein Gott, ich
muß doch die Wahrheit ſehen!“ rief ſie, und ſuchte
nach einem Tuche. Jetzt meinte ſie, der letzte Hauch
ſei abgerieben. Sie ſah ſich und ſie ſah ſich nicht.
„Allmächtiger!“ —!“ ſchrie ſie auf und preßte die
Hände über ihren Scheitel. Dieſe Bewegung ſah
ſie, aber ſonſt nur Umriſſe. Umſonſt quollen die
Augäpfel aus den Höhlungen hervor. Mit einem neuen,
entſetzlichen Schrei fuhr ſie zurück. Die Geſtalt im
Spiegel fuhr auch zurück: „Ich bin ja hohl!“ Es
war ein heulender Ton.


Ihr Diener fand ſie nachher halb auf der Erde
liegend, den Kopf auf's Sopha gefallen. Sie ſträubte
ſich verzweifelt, als man ſie in's Bett bringen
wollte, und rief ein Mal über das andere, man
werde gewiß nichts finden.

Appendix A

Druck von Eduard Krauſe in Berlin.


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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Alexis, Willibald. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpwr.0