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[[1]]
Belphegor,
oder
die wahrſcheinlichſte Geſchichte
unter der Sonne.


Of all Animals of Prey, Man is the only ſo-
ciable one. Every one of us preys upon his
Neighbour, and yet we herd together.
(GAY.)


[figure]

Zweyter Band.


Leipzig,:
bey Siegfried Lebrecht Cruſius. 1776.
[[2]][[3]]

Sechſtes Buch.


A 2
[[4]][[5]]

Der Bewegungsgrund, warum Belphe-
gor von ſeinem Patrone die Erlaub-
niß erhielt, ihn bis nach Abißinien zu be-
gleiten, war nicht der loͤblichſte: er wagte
den Unterhalt auf der Reiſe an ihn, um
dieſe Auslage dort tauſendfach durch ihn
wieder zu gewinnen. Einer von den Va-
ſallen des großen Neguz, die bloß das Ceri-
moniell der Huldigung verrichteten, aber
ihm keinen Gehorſam leiſteten, der Koͤnig
von Niemeamaye, hatte ein Projekt un-
ter der Hand, daß das Projekt aller Pro-
jekte genennt zu werden verdient. Er konnte
es nicht erdulden, daß einer ſeiner Nach-
barn ein einziges Koͤrnlein Gold außer ihm
beſaß, und weil durch ſein Land nur ein
einziger Fluß gieng, der Goldkoͤrner bey ſich
fuͤhrte, die er doch ungemein liebte, ſo wollte
er es veranſtalten, daß alle Goldkoͤrner ſei-
ner Nachbarn in ſein Gebiet gebracht wer-
den, und ſie keine bekommen ſollten. Er ließ
deswegen den Fluß an der Graͤnze ſeines
A 3Gebiets
[6] Gebiets mit einer ſtandhaften dreyfachen
Mauer verdaͤmmen, und leitete ihn in un-
zaͤhlbaren Kanaͤlen in ſeinem Lande herum;
da er aber doch nothwendig endlich einmal
ihn einen Ausgang wieder geben mußte,
wenn er ſein Reich nicht zu einer offenbaren
See machen wollte, ſo ließ er in einiger
Entfernung von ſeinem Ausfluſſe in das be-
nachbarte Gebiet, von Weite zu Weite tau-
ſend immer feinre Netze, von dem ſtaͤrkſten
Baſte geflochten, vorziehen, die das unnuͤtze
Waſſer durchließen und den Sand mit den
koſtbaren Goldkoͤrnern zuruͤckhielten. Das
Projekt wurde zwar ausgefuͤhrt, hatte aber
einen ſo ſchlechten Erfolg, daß der Fluß ent-
weder die Netze zerriß, oder ſich daneben
einen heimlichen Ausgang grub, oder gar
die Wohnungen der Einwohner durch Ueber-
ſchwemmungen verwuͤſtete. Ob man ihm
gleich alles das vorſtellte, ſo glaubte er es
doch vor großer Herzensfreude nicht und
triumphirte bey jeder Handvoll Goldkoͤrner,
die man ihm in ſeinen Schatz lieferte, daß
er bald der einzige gluͤckliche Beſitzer des
Goldes, und ſeine Nachbarn ganz entbloͤßt
davon ſeyn wuͤrden: nichts ſchlug ſeine
Wonne
[7] Wonne ſo ſehr nieder, als daß er ſich nicht
des Fluſſes von ſeiner Quelle an bemeiſtern
konnte und ſo viele Koͤrner vor ihm ſchon
fremde Haͤnde bereicherten. Dieſer widrige
Gedanke brachte ihn eines Tages auf den
tollen Anſchlag, den Fluß von der Quelle
weg mit einem ungeheuren Umſchweife durch
eine Sandwuͤſte in ſein Gebiet zu leiten,
ohne daß er ein fremdes beruͤhren ſollte:
doch ſehr bald, obgleich mit dem bitterſten
Widerwillen, verließ er dieſe ausſchweifende
Idee und begnuͤgte ſich, von der Nothwen-
digkeit gezwungen, mit dem Antheile, den
er ſeinen Nachbarn abſchnitt, die den Fluß
von ihm empfiengen.


Demungeachtet bemerkte er zu ſeinem Leid-
weſen, daß fuͤr die Lebensmittel, die ſein
Land nicht hinlaͤnglich lieferte und die Ein-
wohner doch fuͤr unentbehrlich zu ihrem Da-
ſeyn hielten, ein mittelmaͤßiger Theil von
ſeinem Golde wieder zu den Nachbarn uͤber-
gieng, die ihnen mit den fehlenden Beduͤrf-
niſſen aushalfen: er verbot dieſen Handel:
die Einwohner beſchwerten ſich uͤber Man-
gel, und er gab den Befehl, daß kuͤnftig,
um keines fremden Zuſchuſſes zu beduͤrfen,
A 4jeder
[8] jeder Einwohner des Tags nur einmal
eſſen ſollte.


Alle dieſe Anſtalten waren noch nicht hin-
reichend, dem Golde jeden Ausgang zu ver-
wehren: der Menſch hat Grillen; das Frem-
de gefaͤllt ihm, weil es fremd iſt, und er
wuͤnſcht es zu beſitzen: auch fuͤr dieſe Ein-
faͤlle fluͤchtete noch eine ziemliche Menge Gol-
des uͤber ſeine Graͤnzen. Sogleich verbot
er den Einwohnern dergleichen Einfaͤlle auf
immer und ewig, und wer ſich derſelben
nicht enthalten konnte, mußte ſich von ihm
das verlangte Fremde einhandeln: er gab
ihnen fuͤr das Gold, das der fremden Waare
beſtimmt war, innlaͤndiſche Kleinigkeiten,
und gebot ihnen bey Vermeidung einer ſtar-
ken Strafe, ſich einzubilden, daß es die ver-
langten fremden Koſtbarkeiten waͤren: er
verkaufte ihnen die Zaͤhne von wilden Katzen,
und befahl ihnen zu glauben, daß es Ele-
phantenzaͤhne waͤren, getrocknetes Schweins-
blut mußte ſtatt des Zibeths, und Haaſen-
felle ſtatt der Pantherhaͤute dienen. Damit
aber die fremden Originalwaaren ſich nicht
unvermerkt einſchleichen und heimlich etwas
von ſeinem Golde herausziehen moͤchten, ſo
zog
[9] zog er eine Mauer um ſein Land, beſetzte ſie
mit ſtreitbaren Maͤnnern, die jedem, der ſei-
nem Verbote zuwiderhandelte, hundert Ru-
thenſtreiche auf den bloßen Ruͤcken ſtehen-
des Fußes mittheilen und ihn aus ſeinen
Graͤnzen verjagen mußten.


Nachdem er durch dergleichen Veranſtal-
tungen ſeine Goldbegierde zum Nachtheile
der Nachbarn geſaͤttigt hatte, ſo konnte er
es eben ſo wenig dulden, daß jemand außer
ihm in ſeinem Lande dieſes herrliche Metall
beſaß. Er ſann auf Mittel, auch dieſen
Vorrath, wo nicht ganz, doch zur Haͤlfte
in ſeinen Schatz zu leiten. Da ſeine Unter-
thanen mit allen ihren Habſeligkeiten ſein
Eigenthum waren, ſo maßte er ſich das
Monopolium aller ihrer Beduͤrfniſſe an:
von ihm mußten ſie ſelbſt die Fruͤchte kau-
fen, die ſie durch ihren Fleis auf ihrem
Grund und Boden gezeugt hatten; ſie muß-
ten ihm ſogar fuͤr den Durchgang der Luft
durch ihre Lunge einen Zoll bezahlen, bis er
endlich alles Gold in ſeinem Palaſte aufge-
haͤuft, und die Einwohner zu einem Laſtviehe
gemacht hatte, dem er das Futter umſonſt
gab, weil ſie es ihm nicht mehr abkaufen
A 5konn-
[10] konnten. Das ganze Land war Eine große
Familie, deſſen Hausvater der Regent vor-
ſtellte, der ſein ſaͤmmtliches Geſinde mit den
Fruͤchten des Landes naͤhrte, keine Auflagen,
keine Taxen erhob, weil es in die gluͤckliche
Situation gekommen war, daß niemand
mehr etwas geben konnte.


Alle Kanaͤle des Reichthums auf der Ober-
flaͤche der Erde waren verſiegt, oder doch ſo
bekannt, daß ſie ihm keine beſondre Freude
machen konnten. Er wollte auch die Einge-
weide des Erdbodens pluͤndern: nur fehlte
es ihm an Leuten, die die Kunſt verſtunden,
der Erde ihre Schaͤtze abzunehmen. In die-
ſer Hinſicht ließ er aus allen Gegenden
Kuͤnſtler von dieſer Art zu ſich einladen,
und that ihnen Verſprechungen, die jeden
anlocken mußten, ſich dafuͤr auszugeben.


Von allen dieſen Umſtaͤnden hatte Bel-
phegors Patron genaue Nachricht, und war
feſt entſchloſſen, ſie nicht ungenutzt zu laßen.
So bald ſeine Geſchaͤfte in Abißinien verrich-
tet waren, begab er ſich mit Belphegorn
auf den Weg nach Niemeamaye, in deſ-
ſen Nachbarſchaft er vormals ſchon einen
Handel getrieben und eben bey dieſer Gele-
genheit
[11] genheit die vorhergehenden Nachrichten von
dem Koͤnige jenes Landes geſammelt hatte.
Auf der Reiſe dahin offenbarte er erſt Bel-
phegorn ſeinen Anſchlag. Wir wollen,
ſagte er ihm, uns fuͤr die erfahrenſten Berg-
maͤnner ausgeben, dadurch das Vertrauen
des Koͤnigs gewinnen, unter der Hand ſeine
im Herzen mißvergnuͤgten Unterthanen auf
unſre Seite bringen, den geizigen Barbaren
umbringen, und uns in ſeine aufgehaͤuften
Schaͤtze theilen: — im Grunde aber —
was er weislich in petto behielt — ſollte
Belphegor fuͤr ſeine Abſicht nur zur Maſchine
dienen, auf die er, wenn der Streich mis-
laͤnge, alle Strafbarkeit laden, und die er
nach einer gluͤcklichen Ausfuͤhrung ohne,
oder mit einer kleinen Vergeltung ſich vom
Halſe ſchaffen koͤnnte. Belphegor erſchrak:
kaum merkte dies ſein Gefaͤhrte, als er ſich
ſeine Beſtuͤrzung zu Nutze machte, und ihn
mit dem grauſamſten Tode bedrohte, wenn
er ſich nicht zu dem Vorſchlage bequemen
wollte: Belphegor ſtraͤubte ſich lange. —
Wohl! ſo verhungre hier in der Wuͤſte!
ſprach jener, und machte eine Bewegung
zum Abmarſche. Selbſtliebe, Rechtſchaffen-
heit,
[12] heit, Abſcheu gegen eine ſo grauſe That, wie
ein Mord, ſtritten mit dem wildeſten Auf-
ruhre in dem verlegnen Belphegor: er wollte
ihn zuruͤckrufen, er ſetzte einen Fuß bedaͤcht-
lich vorwaͤrts und zog ihn haſtig wieder zu-
ruͤck; er aͤchzte, er zitterte, er ſann, und
endlich eilte er dem boͤſen Manne nach, um
ihm ſeine Huͤlfe zu verſprechen, ob er gleich
bey ſich den feſten Vorſatz hatte, nicht Einen
Finger zu einem Morde anzulegen: nur aus
Liebe zur Selbſterhaltung that er ihm dies
verſtellte Verſprechen, und war willens, ſich
lieber einer Verraͤtherey gegen dieſen Boͤſe-
wicht, als einer Mordthat ſchuldig zu machen.
Der Liſtige, um ſich ihn deſto feſter zu ver-
binden, ſchlug anfangs ſein Anerbieten aus,
und verſicherte, daß er einen ſolchen feigen
Undankbaren nicht zu einer Unternehmung
zulaſſen wuͤrde, fuͤr die er von einem ſo
ſchlechten Werkzeuge alles fuͤrchten muͤßte.
Belphegor wurde aͤngſtlich, die Qual des
Verhungerns ſtellte ſich ihm in der fuͤrchter-
lichſten Schwaͤrze vor, er ſetzte in ihn, be-
ſchwor ihn und erhielt endlich, doch als
eine Freundſchaft, die Erlaubniß, an der
moͤrdriſchen That einen ruͤhmlichen Antheil
zu neh-
[13] zu nehmen. Belphegor wuͤnſchte nur durch
dieſe Einwilligung mit ihm in bevoͤlkerte Ge-
genden gebracht zu werden, um alsdenn ſich
ſeiner Geſellſchaft, ohne Hungersnoth, heim-
lich entziehen zu koͤnnen. Auch dieſer An-
ſchlag wurde ihm vereitelt: die Wuͤſte dauerte
bis an die Mauer, die die Graͤnze von Nie-
meamaye
bezeichnete, und er mußte wi-
der ſeinen Willen an die Betruͤgerey Hand
anlegen.


Noch immer hoffte er ſeinem Gefaͤhrten
entwiſchen zu koͤnnen, ſo ſehr ihn dieſer auch
beobachtete und aus Furcht vor Verraͤthe-
rey faſt nicht von der Seite ließ. Sie wur-
den nach der Gewohnheit des Landes dem
Koͤnige hinter einem Schirme vorgeſtellt, der
ihren profanen Augen ſeine geheiligte Perſon
verdeckte und nur ſeine Stimme durchließ.
Belphegors Gefaͤhrte verſtund die Sprache
des Landes, und jener mußte daher ein
ſtummer Zuhoͤrer ſeyn. In acht Tagen war
es ſchon ſo weit gekommen, daß ſie der Koͤ-
nig unter die Zahl der Auserwaͤhlten erhub,
denen es vergoͤnnt iſt, ohne Schirm mit ihm
zu ſprechen: doch bey ſolchen Unterredun-
gen wußte es Belphegors Geſellſchafter
jedesmal
[14] jedesmal dahin einzuleiten, daß er dieſer
Ehre allein genoß, und Belphegor in einem
verſchloßnen Zimmer zu Hauſe bleiben mußte,
weil ſeine Treue durch verſchiedene bedenk-
liche Aeußerungen zu verdaͤchtig geworden
war, um ihn bey dem Vorhaben eine ſpie-
lende Perſon ſeyn zu laſſen, oder ſich voͤllig
von ihm zu trennen.


Der kritiſche Tag ruͤckte heran, an wel-
chem der Koͤnig von dem Gefaͤhrten des Bel-
phegors mit einem Dolche aufgeopfert wer-
den ſollte. Laͤnger konnte er den Gedanken
nicht ertragen, der Mitbewußte einer ſo na-
hen ſchrecklichen That zu ſeyn: er arbeitete
ſich aus ſeiner Gefangenſchaft heraus, be-
gab ſich in den koͤniglichen Palaſt, wo er
auf das vorgewieſene Zeichen, daß er unter
die Vertrauten des Koͤniges gehoͤre, zu ihm
eingelaſſen wurde und ihm die drohende
Lebensgefahr eroͤffnete. Sobald er in den
Saal trat, machte ihn die Phyſiognomie des
Koͤnigs ſtutzig: ſie ſchien ihm ſo bekannte
Zuͤge zu haben, die nur durch Zeit und Zu-
faͤlle verdunkelt waren, daß er den unbe-
weglichſten Blick auf ſie heftete. Die naͤm-
liche Aufmerkſamkeit verwandte auch der
Koͤnig
[15] Koͤnig auf Belphegorn, und uͤber der wechſel-
ſeitigen unaufhoͤrlichen Betrachtung vergaßen
ſie lange, daß ſie zuſammengekommen wa-
ren, um ſich zu ſprechen. Belphegor ließ
in der Verwirrung ſich einen europaͤiſchen
Ausruf entfahren, den der Koͤnig in der
naͤmlichen Sprache beantwortete, und ſehr
bald war es entwickelt, daß auf dem nie-
meamayiſchen Thron — der Herr Medar-
dus, Magiſter der Philoſophie und freyen
Kuͤnſte, ſein beſter Freund, ſaß. Sie be-
willkommten und freuten ſich einige Zeit,
worauf Belphegor ſeinem wiedergefundenen
Freunde die Abſicht ſeines Beſuchs bekannt
machte; man kehrte ſogleich Anſtalten vor,
dem gefaͤhrlichen Streiche zuvorzukommen,
ſetzte den boshaften Unternehmer deſſelben
gefangen, beſtrafte ihn und that andre ſo
alltaͤgliche Sachen, daß ich mich ſchaͤme,
eine darunter zu beruͤhren.


Nachdem man ſich hinlaͤnglich uͤber das
Unvermuthete dieſer Zuſammenkunft gewun-
dert hatte, ſo fand ſich bey beyden die Neu-
begierde ein, zu wiſſen, wie ſie moͤglich war.
Belphegor that ſeinem koͤniglichen Freunde
ſeiner Seits bald voͤllige Genuͤge und dankte
Bihm
[16] ihm beſonders mit vieler Ruͤhrung fuͤr die
Befreyung vom Tode, die er ihm zu Se-
gelmeſſe
unter dem Charakter eines heili-
gen Thiers haͤtte angedeihen laſſen.


Siehſt du, Bruͤderchen! unterbrach ihn
Medardus, davon weiß ich Dir kein Wort;
in meinem Leben bin ich nicht in das Ding —
Selenmeſſe, oder wie Du es nennſt —
gekommen. Da ich von euch weggeriſſen
wurde —


Um des Himmels willen! wie gieng das
zu? —


Wie das zugieng, Bruͤderchen? — Das
mußte eine Hexerey oder eine andre Teufe-
ley ſeyn. Da ich ſo mitten unter euch ſtehe,
war mirs auf einmal, als wenn mir leiſe
ein Strick um den Leib geſchlungen wuͤrde,
und ſiehſt Du, Bruͤderchen? in der Minute
hieng ich Dir in einem Walde an einer hohen
Stange, zu welcher ſie mich, wie ich hernach
gewahr wurde, mit einem ſtarken Seile und
einer Rolle hinauſgezogen hatten. Kurze Zeit
darauf wurde ich herabgelaſſen, um dem
Loͤwen vorgeſetzt zu werden, den Fromal ku-
rirte: doch was denkſt Du wohl, Bruͤder-
chen? — Das naͤrriſche Thier ließ ſich bey
mir
[17] mir nieder, belekte mich, wie Fromaln, von
der Stirn bis zum Kinne, und bruͤllte ſo
freudig, als wenn er ſeinen leiblichen Bru-
der in mir angetroffen haͤtte, legte die ge-
heilte Klaue auf mich und behandelte mich
recht freundſchaftlich. Die Prieſter wurden
ſtutzig, hielten mich fuͤr ein beſondres Ge-
ſchoͤpf und glaubten gar, daß die Seele ei-
nes nahen Anverwandten aus der Familie
des Loͤwen auf ihrer Wanderung in mir her-
berge: denn anders konnten ſie ſich die
glimpfliche Begegnung des Thieres nicht er-
klaͤren, als daß er ſich ſcheue, die Banden
des Bluts in mir zu verletzen. Die Leute
muͤſſen eine Kolonie von den Aegyptern ſeyn,
oder ihren Glauben an die Seelenwande-
rung in Aegypten geholt haben: wer Luſt
hat mag das unterſuchen, — genug, mir
ſchafte die Seelenwanderung herrlichen Nu-
tzen. Sie thaten mir die Ehre an, mich
als ein heiliges Thier zu bewirthen, und
weil ich doch aͤuſſerlich die Menſchenfigur
hatte, ſo gab man mir menſchliche Nahrung
und einen eignen Stall gleich neben meinem
vermeinten Blutsfreunde.


B 2Nicht
[18]

Nicht lange, nachdem ich dieſe Wuͤrde zu
bekleiden angefangen hatte, entſtund Krieg,
und weil das Koͤnigreich, wo ich mit mei-
nen uͤbrigen heiligen Kameraden lebte, das
einzige heidniſche war, ſo hielten es die ma-
hometaniſchen Feinde deſſelben fuͤr ihre erſte
Pflicht, alle Spuren des heidniſchen Got-
tesdienſtes zu vernichten; und die Reihe
traf vor allen Dingen zuerſt uns heilige Thie-
re. Als man meine europaͤiſche Abkunft
aus meiner Geſichtsfarbe ſchloß, ſo nahm
man mich voller Freuden in Triumphe mit
ſich fort *): doch mein Trupp wurde von
den Feinden zerſtreut, man ließ mich zuruͤck,
und ich entfloh den ſchwarzen Barbaren.


Ich irrte herum und ſtieß auf eine Kara-
vane, die nach Nigritien gieng. Es waren
Europaͤer dabey, die mich verſtunden; ich
bat um Aufnahme und erlangte ſie. Was
ſollſt du in Nigritien, unter den kohlſchwar-
zen Kreaturen? dachte ich. Siehſt Du, Bruͤ-
derchen? ich wußte aus einer alten Geogra-
phie, daß weiter herunter die Goldkuͤſte
liegt:
[19] liegt: wo es Gold giebt, glaubte ich gewiß
einen Europaͤer, wenigſtens einen Spanier
anzutreffen. Ich wußte auch, daß die edel-
denkenden Englaͤnder hier ein Monopolium
mit ihren Nebenmenſchen treiben; wenn alſo
alles fehl gieng, hofte ich wenigſtens mit
einer Ladung dieſer Waare nach Amerika und
von da nach Europa zu ſchiffen, oder wie
ich ſonſt dahin kommen moͤchte. In dieſer
Meinung, Bruͤderchen, ſuche und finde ich
eine Gelegenheit, wie ich ſie wuͤnſchte. Die
Abreiſe verzoͤgerte ſich, und indeſſen machte
ich eine Bekanntſchaft, die mich ganz davon
zuruͤckzog.


Dem Manne, der mich nach Europa
tranſportiren wollte, war durch ſeinen Ab-
geordneten, die den Einkauf beſorgten,
von den ſchwarzen Toͤchtern des Landes eine
zugefuͤhrt worden, die in ihrer pechſchwar-
zen Haut ſo ſchoͤn war, als jede europaͤiſche
Venus von dem glaͤnzendſten Marmor. Das
Geſicht war zwar etwas afrikaniſch; aber
ihre runden fleiſchichten Arme, ihr luxuri-
render Buſen, ihre vollen Huͤften, das —
Bruͤderchen, alles, alles war ſchoͤn an ihr.
Ihr Herr hatte die keuſcheſten Abſichten von
B 3der
[20] der Welt auf ſie; er fuͤhlte nicht ein Fuͤnk-
chen Liebe zu ihr, ſondern ſie gefiel ihm, weil
ihm ihre Perſon mit allen ihren Schoͤnheiten
ein baares Kapital zu ſeyn ſchien, das er
in Amerika mit reichen Intereſſen durch ihren
Verkauf haben wollte. Deswegen enthielt
er ſich aller unerlaubten Begierden gegen ſie,
weil er fuͤr ſie und daher auch fuͤr ſeinen
Vortheil gefaͤhrliche Folgen davon beſorgte.
Er unterrichtete ſie ſelbſt in Franzoͤſiſchen
und Engliſchen, worinne es ihm aber nicht
ſonderlich gluͤckte, weil ihm ſeine Geſchaͤfte
ſo vielfaͤltig daran verhinderten: er uͤber-
gab ſie meiner Unterweiſung. Sie wußte
wenig von den beiden Sprachen, die ſie ler-
nen ſollte, aber doch zur Liebe und zur Er-
zaͤhlung ihrer Geſchichte genug. Bruͤder-
chen, ſeitdem meine Frau von Gottes Erd-
boden weg iſt, habe ich kein einziges Maͤd-
chen ſo lieb gehabt, als die allerliebſte nied-
liche Zaninny. Bruͤderchen, fuͤhle einmal,
wie mir das Herz pocht, indem ich ſie nen-
ne! Sie merkte wohl, ohne daß ichs ihr
ſagte, daß eine Revolution in meinem Herze
vorgehn mußte, wenn ich ſie ſah; und daß
es unter ihrer ſchwarzen Bruſt eben ſo zu-
gehn
[21] gehn mochte, das ſagte ihr aufrichtiges Ge-
ſicht und Auge ohne Huͤlfe der Zunge: dem
guten Geſchoͤpfe ſtiegen gleich alle Empfin-
dungen in die Mine, und wer ihr Geſicht
buchſtabirte, buchſtabirte ihr Herz. Sie
hatte ein Paar zaͤrtliche funkelnde Augen, die
ſie uͤber der platten Naſe ſo verliebt herum-
waͤlzte, daß ich mannichmal mir nach dem
Pulſe fuͤhlte, ob ich noch athmete, oder von
ihnen verſteinert waͤre. Ich wußte ſchon,
daß ſie ihren Eltern geſtohlen worden
war, und ſie ſagte mir durch Geberden und
mit ihrem Bischen Franzoͤſiſch, daß ſie ihr
Land nicht gern verließe, und ſagte mir noch
oben drein — daß ſie mich von Herzen lieb
haͤtte, bat mich, ſie wieder zu ihren Eltern
zu bringen, und bat mich ſo, daß ich dachte:
Nun, ſo biſt du doch mit deiner guten Za-
ninny
wahrhaftig faſt ſo gluͤcklich als mit
deiner verſtorbenen Frau, und wenn dich ihre
Eltern zum Schwiegerſohne annehmen und
ſich nicht daran ſtoßen wollten, daß ich ſo
haͤßlich weiß bin — ja, ich bliebe mit mei-
ner Zaninny in ihrer Huͤtte und wuͤrde ein
Afrikaner, aͤß, traͤnk, ſchlief, ſpielte mit
ihr, jagte, ſammelte Datteln fuͤr ſie, huͤte-
B 4te das
[22] te das Vieh mit ihr, oder was es ſonſt hier
zu Lande zu thun giebt: die afrikaniſche
Sonne wuͤrde ia wohl mit der Zeit einen
huͤbſchen Neger aus mir machen. — Kurz
in meinem Herze war ſie ſchon voͤllig meine
zweyte Frau. Endlich kamen zu ihren Bit-
ten gar Thraͤnen, ſo recht aus der Empfin-
dung herausgeweinte Thraͤnen, daß ich al-
ter Narr neben ihr ſaß und eine nach der
andern unter die ihrigen auf ihren Schoos
fallen ließ. Sie ſchlang ihre Negerarme
um meinen Hals, und waͤhrend der Umar-
mung troͤpfelte eine Thraͤne auf meinen lin-
ken Backen — Bruͤderchen, die brannte!
die brannte, daß mir die Waͤrme bis zur
Zehe herunter lief; ich ſchwitzte, das Herz
klopfte, alle meine fuͤnf Sinne waren in
Bewegung, und in meinem Kopfe gieng es
ſo verwirrt her, wie in der Welt — alles
unter und uͤber einander! Ich konnte nicht
anders, ich mußte ihr verſprechen, ſie von
dem Sklavenhaͤndler zu erretten. Was fuͤr
eine Freude, als ſie das hoͤrte! wie unſin-
nig ſprang und huͤpfte ſie, und fiel mir um
den Hals, um die Kniee, druͤckte mir die
Hand, ſtreichelte mir die Backen, daß ich
wie
[23] wie ein alberner Toͤlpel da ſtand, unbeweg-
lich, und nicht wußte, daß ich ſtand, nicht
einmal, daß ich exiſtirte. Des Nachts
marſchirten wir aus. Ich wollte ſie, aus
Mitleid zu ihren Fuͤſſen, auf die Schultern
nehmen: aber ehe ichs konnte, faßte ſie mich
in der Mitte, nahm mich auf ihren Ruͤcken
und galopierte, wie ein Rennthier, mit mir
davon, ſo lange, ohne Aufhoͤren, ſo ſehr
ich auch bat auszuruhen, bis ſie mit ihrem
africaniſchen Accente rief: Je meurs! und
entkraͤftet mit mir in den Sand niederfiel.
Kein Tropfen Waſſer, keine menſchliche
Huͤlfe, nichts war bey der Hand. Ich aͤng-
ſtigte mich, ich lief um ſie herum, ich faßte
ihre Hand, ich fuͤhlte an ihr Herz, ob es
noch ſchlug, ich bat ſie nur ein Wort zu ſpre-
chen: umſonſt ſie ſchlief vor Mattigkeit ein.
Schlafe ſanft, ſagte ich, aber erwache mir
nur wieder! — Ich ſetzte mich neben ſie
und faͤchelte ihr das Geſicht. Ja, Maͤd-
chen, wenn du mir nicht wieder erwachſt!
dachte ich immer; aber ſie ſeufzte, und nun
war ich froh; ich faͤchelte bis ſie endlich er-
wachte; ſo muͤde ich war, konnte ich doch
vor Sorge und Angſt kein Auge zu thun.
B 5Hun-
[24] Hungernd und durſtend wanderten wir von
neuem durch lange Sandfelder, kamen dem
Ufer zufallsweiſe nahe, wollten es nicht wie-
der verlaſſen, und verließen es doch wider
unſern Willen. Bruͤderchen, nichts war ge-
wiſſer als unſer Tod; und mir giengen die
Augen ſchon uͤber, wenn ich nur daran
dachte, wer wohl zuerſt ſterben wuͤrde: was
ſollte aus meiner gutherzigen Zaninny wer-
den, wenn ich vor ihr aus dem Leben muͤß-
te; und wenn ſie vorangieng — daran
konnte ich gar nicht denken. Ploͤtzlich, da
wir mit der groͤßten Angſt kaͤmpften, kamen
wir an Huͤtten: wir waren im Lande der
Maladellaſitten. Wir fanden wieder Dat-
teln, und ich hielt mit meiner Zaninny die
erſte frohe Mahlzeit: wir labten uns, wa-
ren zuſammen froͤlich und giengen tiefer ins
Land. Auf einer Ebne, die mit gruͤnen ein-
zelnen Straͤuchen und Palmbaͤumen beſetzt
war, ſaß an einem Fluͤßchen, das ſich viel-
faͤltig auf dem Platze herumſchlaͤngelte, ein
Kreis von nackten Damen, die auf den kreuz-
weis untergeſchlagenen Fuͤſſen mit einer Feier-
lichkeit und Ernſthaftigkeit da ſaßen, als wenn
ſie uͤber die Staatsangelegenheiten des ma-
ladella-
[25] ladellaſittiſchen Reichs rathſchlagten. Ue-
ber ihre Schultern hiengen ungeheure Ma-
ſchinen von Fleiſche, deren eigentliche Be-
ſchaffenheit ich anfaͤnglich nicht zu erklaͤren
wußte; allein bey naͤherer Bekanntſchaft
fand ich, daß es die Bruͤſte dieſer Damen
waren, die hier zu Lande zu einer ſolchen
Groͤße anwachſen, daß man ſie uͤber die
Schultern wirft: auf welcher Geſtikulation
die vornehmſte Grazie der daſigen Frauen-
zimmer liegt, weswegen viele, die beſon-
ders gefallen wollen, ſich oft ſo kuͤnſtliche
Bewegungen zu geben wiſſen, daß jene ſchoͤ-
nen Auswuͤchſe von den Achſeln herunter-
fallen muͤſſen, worauf man ſie mit einer
ſo annehmlichen reizenden Nachlaͤſſigkeit zu-
ruͤckwirft, wie mein ehemaliger Superin-
tendent die Knoten an ſeiner Alongenperu-
cke. Um den Kreis herum huͤpften und
ſprangen eine Menge Meerkatzen von einer
beſondern Art. Bruͤderchen, die luſtigſten
Thierchen, die ich geſehn habe! Sie ſpran-
gen den Franenzimmern auf den Ruͤcken,
knippen ſie in die Ohren, guckten ihnen
durch die Arme, biſſen ſie in die Backen,
ſchlugen Burzelbaͤume uͤber ſie weg, ſetzten
ſich
[26] ſich auf die Schultern und graueten ihnen mit
den Tatzen ſehr lieblich die Koͤpfe, kitzelten ſie,
balgten ſich mit einander und ſpielten tauſend
andre kurzweilige Poſſen, welche von den ern-
ſten da ſitzen den Frauenzimmern, die außer dem
den Mund zu keinem Worte oͤffneten, mit
der luſtigſten Laune belacht wurden. Die
drollichten Thierchen hatten von der Natur
am Ende des Ruͤckens ein glattes polirtes
Horn, wie der Spiegel auf den Ruͤcken ei-
nes Hirſchkaͤfers, nur vielmal groͤßer, das
voͤllig die Dienſte eines Spiegels verrichtete.
Nie war das Geſicht dieſer Damen heitrer
und ihre Mine froͤlicher, als wenn jene
Luſtigmacher ihnen ihre Spiegel zukehrten,
worinne ſie ihre ganze Figur in der ſchoͤn-
ſten Miniatur erblickten, ſo verſchoͤnert, daß
ich ſelbſt, als ich mich einſt darinne beſah,
von meiner Geſtalt begeiſtert wurde, ob ſie
gleich in Natur nicht ſonderlich begeiſternd
iſt; und die liſtigen Kreaturen ſprangen alle
Mal mit einer ſolchen Wendung, daß eine
aus dem Kreiſe ihr liebes Ich in dem Spie-
gel zu ihrer großen Herzensfreude erblickte,
worauf derjenige, der ihr dieſe Luſt gemacht
hatte, einen ſanften Schlag mit ihrer rech-
ten
[27] ten Bruſt empfieng, um ſie alsdann mit ei-
ner zierlichen Grazie wieder uͤber die Achſeln
werfen zu koͤnnen. Da war noch nicht Be-
wundernswuͤrdiges genug. Ein Theil von
dieſen Meerkatzen bediente die Nymphen ſo
ordentlich und regelmaͤßig, als vernuͤnftige
Menſchen nur haͤtten thun koͤnnen. Sie
reichten ihnen in Cocosſchalen Erfriſchungen,
ſie vertrieben die Fliegen von ihren Schoͤn-
heiten, die vom Kopfe bis auf die Fuͤße mit
einem roͤthlichen Safte uͤbertuͤncht waren,
ſie dienten ſtatt der Pferde, wenn ſie von
einem Orte zum andern wollten, und wenn
ſie weiter nichts thaten, giengen ſie wenig-
ſtens auf den zween Hinterfuͤſſen neben ih-
nen mit ſehr niedlichen Grimaſſen her. —
Ich wollte mich nicht vor dieſer Geſellſchaft
voruͤber wagen, und gleichwohl konnten wir
doch keinen Umweg nehmen, um ſie zu ver-
meiden. Endlich faßte ich meine Zaninny
bey der Hand und gieng mit ihr auf ſie zu.
Man ſah uns an, lachte und ſchwieg. Die
Meerkatzen bedienten uns mit Cocusſafte,
und wir ließen uns hinter dem Kreiſe, ein
jedes auf ſeine gewoͤhnliche Art zu ſitzen, nie-
der. Nicht lange waͤhrte es, als die Meer-
katzen
[28] katzen ihr Spiel um meine Zaninny trieben;
ſie kehrten ihr den Spiegel ſo oft und ſo
vielfaͤltig zu, daß das Maͤdchen mit ihrem
ganzen Geſichte in Freundlichkeit und Wohl-
gefallen zu zerfließen ſchien. Was iſt Dir
denn, Zaninny? fragte ich etliche Mal
und ſchuͤttelte ſie bey der Hand, als wenn
ich ſie aus dem Traume erwecken wollte, in
welchem ſie verſenkt ſchien. Ich fragte noch
einmal, und — Bruͤderchen! ploͤzlich ſezte
ſie ſich auf eine Meerkatze und trabte davon.
Ich gerieth vor Schmerz und Schrecken
außer mir; ich lief ihr nach, ich rufte: um-
ſonſt! ſie galopirte friſch hinweg und war
mir in kurzer Zeit ganz aus den Augen. Ich
wußte nicht, ob ich uͤber ſie weinen oder
zuͤrnen ſollte. Ich wollte vor Unwillen allen
Meerkatzen ihre verdammten Spiegel ausrei-
ßen, die doch einzig daran ſchuld waren;
ich ſeufzte und ſchmaͤhte, ich aͤchzte und tobte,
warf mich auf den Boden und machte mei-
ner Beklemmung durch einen Strom von
Thraͤnen Luft. Indem ich, vertieft in mei-
nen Schmerz, dort liege, und die Augen
aufſchlage — Bruͤderchen, ſo hat mich
die ganze Geſellſchaft umringt, und lacht!
und
[29] und lacht! daß einer jeden zwo Meerkatzen
die Huͤften halten mußten. Ich lachte mit:
Du weißt, Bruͤderchen, ein ſroͤliches Geſicht
macht das meinige gleich zu ſeinem Gefaͤhr-
ten: ich mußte lachen, ob ich gleich vor
Schmerz halb verruͤckt war. Denkſt Du
wohl, Bruͤderchen? — das brachte mich
in ihre Gunſt. Ich mußte in der Mitte
ſitzen bleiben: die Meerkatzen lagerten ſich
hinter den Damen, und dieſe lachten uͤber
jede Bewegung, jede Mine, die ich machte,
uͤber meine Art zu ſitzen, und machten ſich
uͤberhaupt auf meine Unkoſten ſo luſtig, tur-
lepinirten mich bisweilen, um das Gelaͤch-
ter zu ſchaͤrfen, ſtießen, warfen mich, ließen
ihre Meerkatzen auf mir herumſpringen, um
uͤber mich zu ſpotten, wenn mir eine einen
loſen Streich ſpielte: kurz, ich ſchien mir in
meinen Augen eine erbarmenswuͤrdige
Figur, weil ich eine laͤcherliche abgeben
mußte.


Ja, Freund, unterbrach ihn Belphegor,
Du haſt Recht. Aber welch ein trauriger
Beweis von der Neigung des Menſchen zum
Unterdruͤcken! Fromal, wenn Du es hoͤrteſt,
wuͤrdeſt Du nicht ſagen? — wo der Menſch
nicht
[30] nicht mit ehernen Waffen, nicht in der That
unterdruͤckt, da thut er es mit der Lunge,
in der Einbildung, durch die Vorſtellung
ſich ſo lange andre unter ſich zu denken,
als er uͤber ſie lacht. Menſch! Menſch! —


Ach, Bruͤderchen, die Erniedrigung war
mein Gluͤck auf einige Zeit —


Belph. Daran zweifle ich gar nicht
Weißt du noch, was du mir einſt ſagteſt?
— Gegen Kreaturen unter ſich iſt der
Menſch guͤtig, gerecht, mitleidig, wenn
ſein Vortheil nicht in den Weg tritt, nur
uͤber und neben ſich iſt ihm alles verhaßt.


Medardus uͤbergieng dieſe Erinnerung
mit einem erroͤthenden Stillſchweigen und
fuhr in ſeiner Erzaͤhlung mit dem Tone fort,
wie ein Menſch, der ſich bey einer Satyre
getroffen fuͤhlt. — Ja, Bruͤderchen, ſie
war mein Gluͤck, ſagte er. Sie luden mich
durch ihre Winke ein, ihnen zu folgen; weil
ich fuͤr meinen Appetit dabey zu gewinnen
hofte, nahm ich die Einladung ohne Beden-
ken an: die ganze Geſellſchaft ritt mit ſittſa-
men Ernſte auf ihren großen Meerkatzen fort,
und ich hatte die Ehre ihnen zu Fuſſe nach-
zuſpatzieren.


Nach
[31]

Nach unſrer Ankunft in eine Huͤtte von
Baumaͤſten wurde die Tafel von Meerkatzen
beſetzt, die in dieſer Gegend alle haͤusliche
und galante Verrichtungen unter Haͤnden
haben, und ſehr fruͤhzeitig dazu abgerichtet
werden. Sie lernen ihre Wiſſenſchaften ſo
ſchnell, daß in einem Jahre eine Meerkatze
den hoͤchſten Grad ihrer Vollkommenheit er-
reicht. Siehſt Du, Bruͤderchen? es wurde
viel aufgetragen, von wenigem gegeſſen,
und nichts fuͤllte uur eine Viertelelle Hunger
in meinem Magen aus. Man ſpielte nur
mit dem Eſſen; und ich hatte Luſt, im voͤlli-
gen Ernſte damit zu verfahren. Man lach-
te abermals uͤber mich; und da man ſich
uͤberdruͤßig gelacht hatte, ſahe man mich
mit keinem Blicke mehr an. Ich wurde aus
der Huͤtte verwieſen, mußte eine ziemliche
Strecke von dem Schlafgemache meiner
Goͤnnerinnen in einer kleinen Kabane ſchla-
fen und mich mit Seilen von Baſt feſt an-
binden laſſen; — vermuthlich damit ſie
ungeſtoͤrt [u]nd ſicher fuͤr meinen naͤchtlichen
Ueberfaͤllen ſchlafen koͤnnen, dachte ich: aber
es mußte wohl nur eine Cerimonie ſeyn;
denn mit jeder Viertelſtunde bekam ich von
Ceiner
[32] einer meiner uͤberfirnißten Damen einen Be-
ſuch, der mich keine Minute ruhig ſchlum-
mern ließ, ſo ſehr meine ermuͤdeten Lebens-
geiſter der Erhohlung bedurften. Ich ward
ungeduldig, riß mich von meinen Banden
los, ergriff die Muthwillige, die mich eben
beunruhigte, um ſie aus meinem Schlafge-
mache hinauszuwerfen: ſie ſchrie Gewalt,
und aus ihren aͤngſtlichen Geberden konnte
ich ſchließen, daß ſie ihren herbeyeilenden
Schweſtern meine That als einen Anfall auf
ihre Tugend abmalen mochte, ob ſie gleich
vorher mehrere auf die meinige gethan hatte.
Sie ſchrieen, laͤrmten und tobten alle, ſtei-
nigten mich, hezten ein ganzes Regiment
Meerkatzen auf mich los, die mich mit ihren
Tatzen elendiglich zerkratzten. Ich ertrug
mein Schickſal mit Geduld; aber den Tag
darauf wurde ich ausgelacht! Bruͤderchen,
ausgelacht, bis zur aͤrgſten Beſchaͤmung!
Ich forſchte nach meiner Zaninny, ich lief
allenthalben herum, ſie aufzuſuchen; ich
fand ſie nirgends: ich war untroͤſtlich, doch
wurde ich bald durch ein laͤcherliches Schau-
ſpiel wieder aufgemuntert. Die Meerkatzen
haben das feinſte Gefuͤhl der Ehre: Neid
und
[33] und Vorzugsſucht beherrſchen ſie ganz.
Tages vorher hatte einer das Gluͤck gehabt,
daß uͤber ſeine Kapriolen der Zirkel am lau-
teſten und haͤufigſten gelacht hatte: alle
uͤbrigen wurden neidiſch und verſengten
ihm mit einem Feuerbrande im Schlafe ſei-
nen Spiegel auf dem Ruͤcken: weil er aus
einer harten fuͤhlloſen Haut beſteht, ſo wird
er es nicht eher inne, bis der Brand die
Hinterkeulen ſchon zu verwuͤſten anfaͤngt.
Das arme Geſchoͤpf hinkte traurig herum
und mußte mit ſeinen Schmerzen der Geſell-
ſchaft oben drein zur Kurzweile dienen, die
ſich in ein ausgeſchuͤttetes Gelaͤchter uͤber
ſeinen Zuſtand ergoß, das zunahm, je mehr
ſeine Kameraden ihn neckten und quaͤlten.
Die ganze Erklaͤrung des Vorfalles theilte
mir eine von den rothen Nymphen durch
ihre kuͤnſtliche Geberdenſprache mit: denn
ſie waren insgeſamt geborne Pantomimen-
ſpielerinnen und ſprachen deswegen ſelten
anders als durch Minen und Geſtikulationen.
Durch eben dieſen Weg erhielt ich auch die
Eroͤffnung, daß in dieſem Diſtrikte nichts als
lauter Frauenzimmer mit ihren bedienenden
und zeitverkuͤrzenden Meerkatzen wohnten,
C 2und
[34] und daß ſie bey andern Beduͤrfniſſen der
Natur ihre Maͤnner aus einem nahgelegnen
Gebirge zu ſich beriefen, die dort das Land
fuͤr ihren beyderſeitigen Unterhalt bauen
und Schminke fuͤr die Koͤrper ihrer Damen
ſammeln mußten. Lange konnte ich in dem
Lande nicht mehr ausdauern; unter lauter
Meerkatzen bekoͤmmt man leicht Langeweile;
auch ich wurde den ſchoͤnen Bewohnerin-
nen des Landes beſchwerlich, weil ihnen alles
ſo alltaͤglich an mir geworden war, daß ſie
nicht mehr uͤber mich lachen konnten. Der
ganze Himmelsſtrich war mir verhaßt, weil
er meine geliebte Zaninny ohne mich beſaß:
ich nahm meinen Abſchied, und diejenige
Dame, die ich in der erſten Nacht zu einem
keuſchen Geſchrey genoͤthigt hatte, und die
mir ſeitdem gewogner als alle andre war,
gab mir mit dem langen Nagel ihres Dau-
mens, die ſie dort zu der anſehnlichſten Groͤße
anwachſen laſſen, zum Andenken ihrer Ge-
wogenheit einen Schnitt auf den rechten
Backen, wovon du noch bis itzt die Narbe
ſiehſt. Alle Mannsperſonen mußten ſich in
dieſer weiblichen Republik mit einem ſolchen
Schnitte zeichnen laſſen, zum Beweiſe, daß
ſie
[35] ſie diejenige Schoͤne, von welcher ſie ihn em-
pfiengen, als Sklaven unter ſich gebracht
hat; und wenn man der Meerkatzen uͤber-
druͤßig iſt, ſo iſt es die einzige Zeitverkuͤr-
zung unter ihnen, einander die Schnitte
vorzuzaͤhlen, mit welchen eine jede ihre ver-
meinten Sklaven gebrandmahlt hat. Ich
begab mich auf den Weg und wandelte
langſam mit trauriger Beklemmung von
dem Orte, wo ich meine beſte Zaninny
zuruͤckließ. — Doch, dachte ich, wer weiß,
wozu dies gut iſt, daß du ſie verlieren muß-
teſt? Vielleicht — ach, wer kann ſich alles
Boͤſe denken, dem ich dadurch entkommen
bin, und alles Gute, das ich moͤglicher
Weiſe dadurch erlangen kann? Wer weiß,
wozu es gut iſt? — Mit dieſem Gedanken
beruhigte ich mich auf meinem Marſche und
kam mit ihnen zu den Emunkis, einem
elenden Volke, das unter dem abſcheulich-
ſten Regimente lebte. Ihr Herr war der
geilſte, geizigſte, grauſamſte Tyrann der Erde.
Meine Ankunft fiel auf einen Tag, wo alles
in der groͤßten Feierlichkeit war. Der neue
Deſpot hatte den Thron beſtiegen und nach
dem daſigen Staatsrechte ſeinen uͤbrigen zwey
C 3und
[36] und ſiebzig Bruͤdern goldne Stricke zugeſchickt,
an welchen ſich ein jeder mit eigner Hand
aufhaͤngen mußte: das ganze Volk lief
einer Gallerie zu, wo ſie alle nach der Rang-
ordnung des Alters an ihren goldnen Stri-
cken ſchwebten, und der tumme Poͤbel fro-
lockte uͤber dieſe erſten Opfer, die der Deſpot
ſeiner Tyranncy gebracht hatte. Ich habe
mich lange Zeit an ſeinem Hofe aufgehalten,
und ihm muß ich mein Koͤnigreich Nie-
meamaye
verdanken. — Medardus ſeufzte
ein wenig bey dieſer Stelle und fuhr ſogleich
wieder fort. — Der dicke Goͤtze ſaß unauf-
hoͤrlich in einer dichten Wolke von Wohlge-
ruͤchen, die ihm alle Sinne ſo ſehr benebel-
ten, daß er nie zu ſich ſelbſt kam: unauf-
hoͤrlich mußte ein Haufen Gold und eine
von ſeinen Weibern zu ſeinen Fuͤßen liegen.
Seine Leibwache beſtand bloß aus Weibern,
die nie eine maͤnnliche Seele zu ihm ließen:
die hoͤchſten Stellen des Landes waren zwar
mit Maͤnnern beſetzt, allein die oberſten Be-
fehlshaberinnen der Leibwache hatten in
allen Rathsverſammlungen die ausſchlagen-
den Stimmen, und jene mußten nur vor-
tragen und vollſtrecken, was dieſe geboten.
Alle
[37] Alle Maͤdchen von den erſten Augenblicken
des Lebens waren im ganzen Reiche ſeine
Leibeignen: die Vornehmern und Reichern
hatten ſich des Rechts bemaͤchtigt, ſeine
Leibwache auszumachen, und die Gemeinen
oder Armen wurden in ſein Serail nach dem
Maaße ihrer Schoͤnheit gewaͤhlt, und die
Haͤßlichen im Namen des Koͤnigs an die
Liebhaber oͤffentlich verkauft. Der Deſpot
hatte eine ſo unſinnige Liebe zum Golde, daß
er nicht ſchlafen konnte, wenn nicht einige
Haufen neben ſeinem Lager aufgeſchuͤt-
tet lagen.


Alſo war er dein Lehrmeiſter? unterbrach
ihn Belphegor etwas bitter.


Der gute Medardus erſchrak: er wollte
ſeine Erzaͤhlung fortſetzen, und die Bitterkeit
der Frage nicht zu fuͤhlen ſcheinen; allein
Belphegor faßte ihn ſtaͤrker und ließ ihn
nicht durchwiſchen. Er malte ihm mit
den friſcheſten Pinſelzuͤgen, doch mit etwas
Galle vermiſcht, den Neid und die Unter-
druͤckung vor, die er, als der ſonſt treuher-
zige wohldenkende Medardus, als Beherr-
ſcher von Niemeamaye gegen ſeine Nach-
barn und Unterthanen ausgeuͤbt hatte.
C 4Dem
[38] Dem Monarchen wurde bange; er raͤuſperte
ſich, er ruͤckte ſich auf ſeinem Sitze hin und
wieder, er wußte nicht, ob und was er reden
ſollte, bald ſchien er ſich entſchuldigen, bald
anklagen zu wollen, waͤhrend deſſen ſein
Moraliſt unaufhoͤrlich fortfuhr, mit aller
Staͤrke ſeiner Beredſamkeit ſein eingeſchlaͤ-
fertes gutes Herz aufzuwecken. — Bruͤder-
chen, ſprach er endlich, ich bitte Dich,
ſchweig! Du machſt mir ſo baͤnglich ums
Herze, daß ich heute noch lieber zu einem
Glaſe friſchen Apfelwein mit Dir zuruͤckgehn,
als hier eine Minute laͤnger befehlen moͤchte.
Du uͤbertreibſt! —


Nicht Einen Strich in dem Gemaͤlde
uͤbertreibe ich, antwortete Belphegor, und
ließ den Strom ſeiner Geſezpredigt von
neuem hervorbrechen.


Was biſt Du denn beſſer? ſchloß Belphe-
gor; worinne beſſer als der wilde Deſpot,
an deſſen Hofe du deinen Geiz lernteſt?
Weniger grauſam, aber der naͤmliche Un-
terdruͤcker.


Sein Freund fiel ihm um den Hals,
erbot ſich alles geſammelte Gold unter ſeine
Nachbarn auszutheilen, allen ſeinen Skla-
ven
[39] ven das Ihrige wieder zu erſtatten, wie der
geringſte unter ihnen zu leben, ſeine ganze
Macht niederzulegen, mit ihm zu einem
Kruge Apfelwein zuruͤckzuwandern und ſo
viel Gutes zu thun, als er koͤnnte. Bel-
phegor war mit ſeiner Reue zufrieden und
fragte ihn, um ihre Aufrichtigkeit zu verſu-
chen, welchen Tag er alle dieſe Verſprechun-
gen erfuͤllen wuͤrde. Er ſtuzte ein wenig
uͤber die Frage, doch ſetzte er lebhaft hinzu:
Morgendes Tages! Belphegor nahm ſeine
Hand darauf an und brach die Materie ab,
doch ſein Freund kehrte oft zu ihr wieder
zuruͤck. — Bruͤderchen, ſagte er, es iſt ein
verzweifelt ſchweres Ding, allein Herr von
ſeinem Willen zu ſeyn und lauter Gutes zu
thun. Sonſt, wenn ich einem armen dur-
ſtigen Manne einen Trunk Apfelwein reichte,
wuͤnſchte ich immer: o wer dich doch auf
einen Thron ſetzte, daß du die Leute gluͤckli-
cher machen koͤnnteſt! Jaͤmmerlich iſt doch
die Armuth, daß man nicht mehr fuͤr den
armen Nebenmenſchen thun kann, als ihm
hoͤchſtens auf ein Paar Minuten den Durſt
loͤſchen oder den Hunger ſtillen! wenn ich
reich, wenn ich maͤchtig waͤre — kein
C 5Menſch
[40] Menſch auf Gottes Erdboden, ſo weit nur
mein Auge reichte, ſollte mir Zeitlebens hun-
gern oder durſten. — Bruͤderchen, ich hab
es erfahren. Ich habe ſonſt mit meinem
Kruge Apfelwein Mehrern Gutes gethan, als
itzt mit meinem Golde. Das boͤſe Men-
ſchenherz! Fromal ſagte mir wohl, ich ſollte
nicht ſchwoͤren, ich wuͤrde einen Meineid
begehn; ich habe ihn begangen. Aber,
Bruͤderchen, nicht ein Troͤpfchen Menſchen-
blut klebt an meinem Gewiſſen. Siehſt
Du? ich fand an dem gelben Unrathe ſo vie-
len Gefallen, ich wollte gern viel und immer
mehr haben, ich nahm es, wo es zu bekom-
men war: ich habe doch wenigſtens nie-
manden Leides gethan. Wenn man ſo bloß
ſich ſelbſt, ſeine Begierden und ſeine Macht
zu Rathe zu ziehn braucht, da laͤßt man
leicht die Zuͤgel ſchießen: doch Du, Belphe-
gor, Du ſollſt in Zukunft mein einziger Rath-
geber ſeyn. —


Belphegor fand bey dieſer Erklaͤrung fuͤr
ſeine moraliſirende Laune eine herrliche Aus-
ſicht und nahm deswegen den Vorſchlag zur
Mitregentſchaft mit Freuden an; und ſeit
dieſem
[41] dieſem Augenblicke theilten ſie Macht und
Anſehn mit einander.


Den erſten und zweyten Tag that Belphe-
gor ernſtliche Erinnerungen wegen der ver-
ſprochnen Wiedererſtattung, und es fauden
ſich tauſend Entſchuldigungen und Verhin-
derungen: Belphegor drang alsdann weni-
ger ernſtlich, ſeltner und endlich gar nicht
mehr darauf; tadelte alle getroffne Anſtalten
als unbillig, unfreundlich, unterdruͤckend,
und behielt ſie bey: es blieb alles, wie es
war, und ſtatt daß ſonſt alles Gold aufge-
haͤuft wurde, ließ er etwas mehr von den
geſammelten Schaͤtzen in den Umlauf kom-
men, damit das Volk wieder die Ingredien-
zen zu zwo Mahlzeiten kaufen konnte.
Unter ſeinen Leidenſchaften war die Liebe
zum Golde ſchwaͤcher als bey ſeinem Mitre-
genten: er war freygebig und ermahnte
auch dieſen es zu ſeyn: aber deſto heftiger
war ſein Ehrgeiz: allmaͤhlich vermehrte er
die Ehrenbezeugungen, die er von ſeinem
Volke foderte, und wenn er nicht reich zu
ſeyn wuͤnſchte, ſo wollte er angebetet ſeyn,
ohne zu fuͤhlen, daß es auch eine Unter-
druͤckung giebt, die dem Menſchen ſeine
Wuͤrde
[42] Wuͤrde nimmt und ihn zum kriechenden
Sklaven macht. Genug, der weiſe Mora-
liſt wurde zum Unterdruͤcker, haßte und
liebte die Menſchen nach ihrer groͤßern oder
geringern Kunſt zu ſchmeicheln und ſich zu
demuͤthigen, der Kriechendſte, der Hinge-
worfenſte war ihm der Beſte, und man
mußte kriechen oder leiden — eine Alterna-
tive, die dem voͤlligen Zwange gleich iſt!


Inzwiſchen waren die benachbarten E-
munkis
von ihrer Sklaverey ſo uͤbermaͤßig
niedergedruͤckt worden, daß ihr betaͤubtes
Gefuͤhl rege wurde; ſie empfanden, daß ſie
Menſchen waren, ſtuͤrzten ihren Tyrannen
von dem Throne, ermordeten die Leibwache,
die bisher den Meiſter geſpielt hatte, wie
vorhin der Koͤnig von Niemeamaye er-
zaͤhlte, und da Faktionen unter ihnen ent-
ſtunden, vertrieb eine die andre, welche itzt
mit dem wuͤtendſten Ungeſtuͤme in das Reich
einbrachen, deſſen Herrſchaft Belphegor und
Medardus theilten. Der Sturm drang mit
einer unglaublichen Schnelligkeit bis zur
Hauptſtadt, alles gerieth in Verwirrung
und Unordnung, man ſetzte ſich zur Gegen-
wehr, und niemand wußte, warum man
ange-
[43] angegriffen wurde. Die beyden Regenten,
die nicht ſonderlich kriegeriſchen Muth be-
ſaßen, hielten es fuͤr das heilſamſte, ſich
mit der Flucht dem Ungewitter zu entziehn.
Belphegor verſorgte alle Taſchen von dem
aufgehaͤuften Golde und entkam gluͤcklich:
doch Medardus, der ſich zu reichlich damit
verſehen wollte, zauderte ſo lange bis die
Burg umringt wurde, die die aufgebrach-
ten Vertriebnen einnahmen, pluͤnderten und
anſteckten.


Belphegor entkam wohl, aber der Sturm
folgte ihm nach. Seine vorigen Untertha-
nen, die Niemeamayen, waren von den
Emunkis vertrieben, jene brauchten einen
andern Platz, ſie vertrieben die naͤchſten Voͤl-
ker, deren ſie maͤchtig werden konnten, und
man vertrieb und ward vertrieben, ſo lange
bis zwey Voͤlker vernuͤnftig genug waren,
ſich unter Einem Himmel neben einander in
Friede zu vertragen.


Von dem Tumulte wurde Belphegor mit
fortgeriſſen, machte ſich aber gluͤcklich davon
loß, und nahm ſeinen Weg allein nach Aegyp-
ten, wo er bey einem europaͤiſchen Kauf-
manne ſein rohes Gold in Geld umſetzte und
ſich
[44] ſich ſehr in ſeine Gunſt empfahl, weil er ſich
nach ſeinem Verlangen nur die Haͤlfte des
Werthes dafuͤr bezahlen ließ. Er verſprach
ihm fuͤr hoͤfliche Worte und einen maͤßigen
Vortheil ſeinen Schutz und ſeine Geſellſchaft,
in welcher er nach Aſien uͤbergieng. Weil
der Werth ſeines Goldes nicht lange mehr
aushalten zu wollen ſchien, ſo bot er ſeinem
Beſchuͤtzer ſeine Dienſte an, der ſie nicht
ausſchlug und ihm in kurzer Zeit einen Auf-
trag nach Perſien gab, wo er gewiſſe Hand-
lungsgeſchaͤfte fuͤr ihn beſorgen ſollte.


Seine Reiſe gieng gluͤcklich und ohne wi-
drige Zufaͤlle von ſtatten bis zu ſeiner Annaͤ-
herung an die perſiſchen Graͤnzen. Bey der
Geſellſchaft, mit welcher er reiſte, befanden
ſich einige Aliden, *) die zu jeder Zeit des
Tags, wenn es die Geſetze ihrer Religion
foderten, ſeitwaͤrts giengen, um ihr Gebet
einſam zu verrichten. Belphegor ward von
der Innbrunſt, mit welcher er ſie es ver-
richten ſah, wenn er ſie belauſchte, ſo ent-
zuͤckt, daß er nur eine Ueberredung und ein
Meſſer brauchte, um ſich auf der Stelle be-
ſchneiden
[45] ſchneiden zu laſſen und ein Juͤnger des Ma-
homed und Ali zu werden. Er gewann die
Leute lieb, unterredete ſich oft mit ihnen
uͤber ihren Glauben und bewies ihnen ſehr
viel Guͤte, welche ſie ihm reichlich erwieder-
ten. Die Freundſchaft war geknuͤpſt, und
er erſuchte ſie ſogar, ihn einen Zeugen ihres
Gebets ſeyn zu laſſen, welches ſie ihm be-
willigten: doch bediente er ſich dieſer Er-
laubniß mit vieler Beſcheidenheit, und nie
gebrauchte er ſie, ohne daß das Feuer ihrer
Andacht ihn zu einem Kniefalle und zur Verei-
nigung ſeiner Innbrunſt mit der ihrigen hin-
riß. — Aber warum nennt man nur dieſe
Leute Unglaͤubige? dachte er oft bey ſich
ſelbſt; ſie, die mit den feurigſten Regungen
Gott verehren, deren ein Chriſt nicht faͤhiger
ſeyn kann? Kann ein Herz, das zu einer ſo
ruͤhrenden Erhebung von ſeinem Schoͤpfer
begeiſtert wird, das Herz eines Unglaͤubigen
ſeyn? Mag er doch den Mahomed, den
Ali oder Abubecker fuͤr große Menſchen
halten, mag er ſich doch ein Stuͤckchen von
ſeinem Fleiſche verſchneiden laſſen, mag er
doch nach Mekka oder nach Bagdad ſein Ge-
ſicht bey dem Gebete kehren: wenn ſein Herz
nur
[46] nur zu Gott gekehrt iſt, gilt jenes nicht alles
gleich? — O daß doch die Menſchen keine
Gelegenheit entwiſchen ließen, ſich zu ent-
zweyen, ſich zu trennen, ſich zu haſſen, zu
verfolgen, ſich zu ſchlagen, wuͤrgen, morden!
Ja, Fromal, Recht hatteſt du: — die
Menſchen vereinigten ſich, um ſich zu tren-
nen. Konnten ſie nicht alle in ſtiller Ein-
tracht auf dieſem weiten Erdenkreiſe ſich nie-
derwerfen und das ewige Weſen mit der
vollen ſtarken Empfindung anbeten, die es
verdient? Konnten ſie die Welt nicht einen
allgemeinen friedſamen Tempel ſeyn laſſen,
wo Millionen Menſchen, Nationen und Voͤl-
ker in unuͤberſehlicher Weite mit vereintem
Gefuͤhle ihren Dank zu dem Allguͤtigen em-
porſandten, der ſie faͤhig machte, ihm zu
danken? Konnte es nicht dem einen gleich-
guͤltig ſeyn, ob ſein Nachbar das Geſicht
nach Oſten oder Weſten kehrte, ob er ſich
im Staube waͤlzte oder auf den Knieen lag,
ſich dabey die Haut blutig rizte oder das
ſchoͤnſte Feſtkleid anzog, die Haͤnde erhub
oder ſenkte, ein flammendes Opfer zu ſeiner
Andacht hinzuthat, oder ſein Herz nur flam-
men ließ? Und ſollte es nicht vielleicht dem
Schoͤpfer
[47] Schoͤpfer und alſo auch dem Menſchen gleich-
guͤltig ſeyn muͤſſen, ob der Hoͤchſte, der
Groͤßte, deſſen Begriff unſer Gedanke doch
niemals umfaßt, in dem Wurme, dem
Stier, der rohen Misgeburt, der ungebil-
deten Phantaſie, im Stein, Holze, Metall
oder in der bloßen Idee, als Tien, Jeho-
vah, Jupiter angebetet wird? Sollte dies
nicht vielleicht ſeyn? Wenn ſo viele Tau-
ſende durch einen unvermeidlichen Zuſam-
menhang von Urſachen unter die Stufe der
Erleuchtung, der Aufklaͤrung des Verſtan-
des hinabgeſtoßen werden, ſollte der
Ewige ihre Empfindung verſchmaͤhen,
die ſie ihm in einem Bilde opfern, das ihre
ſchwache Vernunft und wilde Phantaſie nicht
anders zu ſchaffen vermochten? Sollte er ſie
darum verſchmaͤhn, weil er ſie durch eine
Reihe von Begebenheiten zu tumm bleiben
oder werden ließ, um ſich zu den Begriffen
eines chriſtlichen Philoſophen zu erheben?
Im Grunde, bey genauerer Unterſu-
chung war es nicht der Peruaner aus eigner
Wahl, der ſeinen Schoͤpfer in der Sonne
fand und das Blut ſeiner eignen Kinder zu
ihr empor dampfen ließ, nicht der Mexikaner,
Dder
[48] der ſich an dem geopferten Fleiſche ſeiner
Feinde labte — nein, eine lange Reihe
von nicht ſelbſt gewaͤhlten Urſachen ga-
ben den Erkenntuißkraͤften dieſer Voͤlker eine
ſolche Wendung, drangen ihnen ſolche Ideen
in einem ſolchen Lichte auf, daß ſie ſich ih-
ren Gott ſo und nicht anders, ſeine Vereh-
rung ſo und nicht anders denken konnten:
ihre Begriffe vom Guten und Boͤſen, von
Recht und Billigkeit bildete das Schickſal,
nicht ſie. Sie deswegen ſtrafen, weil ihr
Geiſt zu ſchwach war, ſich durch aufge-
drungne Irrthuͤmer hindurchzuarbeiten, hieße
das nicht einen Menſchen mit Stricken und
Feſſeln allmaͤhlich auf den Boden niederziehn
und ihn zuͤchtigen, daß er nicht gerade ſteht?
Hieße das nicht einen Bucklichen peitſchen,
weil er ſeine verwachſne Bruſt nicht gerade
ausdehnt? — Und gleichwohl unterſtan-
den ſich es Sterbliche, dem Richter der Welt
dies Verfahren zuzuſchreiben, ja ſogar es
an der Stelle des Richters der Welt zu thun!
— Gewiß, die Menſchen ſammelten ſich,
um ſich zu trennen, um zu kriegen, und
weil es ihrem Neide und ihrer Vorzugsſucht
an hinlaͤnglichen Platze fehlte, ſo peitſchen
ſie
[49] ſie ſich auch herum, weil der Zufall in dem
Kopfe des einen die Ideen anders geordnet
hatte, als in dem Gehirne des andern: o
Unſinn! und oft zankte man ſich oben drein
nur deswegen, weil der eine etwas weniger
einfaͤltiges glaubte als der andre. — Eine
Sekte, wo die dogmatiſche Sucht kein Herze
nagt und ſeinen Leidenſchaften zum Lanzen-
traͤger dient — wo iſt eine ſolche, ſie iſt
mir willkommen! ſie iſt mir die beſte! —
Freund, rief er dem Aliden zu, der ſich eben
naͤherte, Freund! wenn alle Juͤnger des Ali
mit ſolcher Inbrunſt beten wie Du, ſo wer-
de ich noch heute ihr Bruder! Wenn ſie ſich
ſelbſt ſo lieben, wie ihren Gott, ſo ſchneide
mir ein Stuͤck Haut ab, ritze mir die Ba-
cken, bade mich, oder mache eine Cerimo-
nie, wie du willſt, um mich zu deiner Sekte
einzuweihen, oder mich zu zeichnen, daß
ich zu ihr gehoͤre! — genug, ich will der
Genoſſe deines Bekenntniſſes ſeyn und unter
Menſchen leben, die ſich weniger haſſen als
andre: denn daß ſie ſich mehr lieben ſoll-
ten, das fodre ich von Menſchen nicht. —


Der Alide erſtaunte uͤber den Eifer, mit
welchem er dieſe Anrede hielt, und war im
D 2Begriffe,
[50] Begriffe, ihm ſeine Freude daruͤber auszu-
druͤcken, als eine Stimme aus dem Geſtraͤu-
che hervorbruͤllte: Du Verworfner, der du
die heilige Sonna*) verachteſt, und den
triegeriſchen Ali uͤber den erhabnen Abube-
cker ſetzeſt, ſtirb von meinen Haͤnden, Un-
glaͤubiger! — Sogleich durchrennte ein her-
vorſtuͤrzender Mann ſchaͤumend mit einem
Spieße den betaͤubten erſchrocknen Aliden,
daß er leblos auf den Fleck niederſank, den
kurz vorher ſein Knie in dem Feuer ſeines
Gebetes gedruͤckt hatte. — Blut! ſetzte der
Moͤrder hinzu, gottloſes Blut! fließe zur
Ehre des großen Propheten und ſeiner recht-
maͤßigen Nachfolger! —


Belphegor war von Schrecken und Er-
ſtaunen einige Zeit uͤberwaͤltigt, doch bald
kehrte ſein Muth und ſeine Faſſung zuruͤck,
und er ſprang auf, den Tod ſeines Gefehr-
ten zu raͤchen: allein er war ohne Waffen,
und ſein Gegner verwundete ihn mit der naͤm-
lichen Wuth, womit er jenen durchbohrt
hatte; doch nicht toͤdtlich. Als Belphegor
von
[51] von dem Stoße niedergeſtuͤrzt war und in
der Ohnmacht von dem Sonniten fuͤr todt
gehalten wurde, ſo begab ſich dieſer hinweg,
nachdem er vorher in einem lauten Gebete
dem großen Propheten und ſeinem Nachfol-
ger Abubecker zu Gemuͤthe fuͤhrte, was fuͤr
eine wichtige Verbindlichkeit er ihnen durch
die Ermordung dieſer beiden Unglaͤubigen
auferlegt, und was fuͤr einen vorzuͤglichen
Anſpruch er ſich auf die ſchoͤnſte Huri des
Paradieſes erworben habe. Sein Reli-
gionseifer war geſaͤttigt, und nach einer ſo
verdienſtlichen Handlung gieng er an ſeine
Berufsarbeit zuruͤck und pluͤnderte mit ſeinen
Geſellen die Karavane, zu welcher Belphe-
gor gehoͤrte: denn er war ein Raͤuber vom
Handwerke.


Belphegor lag ohne Beſonnenheit in ſei-
nem Blute und erwachte nur, um ſeine Ent-
kraͤftung zu fuͤhlen: er ſah ſich um, er rief,
ſo ſtark er vermochte; alle menſchliche Huͤlfe
war von ihm fern. In einem ſo troſtloſen
Zuſtande war Geduld das einzige Uebrige,
ihm die Erſchoͤpfung ſeiner Lebensgeiſter zu
erleichtern; Er war vor Mattigkeit in einen
Schlummer verfallen, aus welchem ihn der
D 3Ruf
[52] Ruf einer Stimme erweckte. Er ſchlug die
Augen auf und wurde einen Mann gewahr,
der ihn arabiſch anredete. So wenig er
auch von der Sprache wußte, ſo konnte er
doch ſeine Begebenheit und ſein Verlangen
nach Huͤlfe darinne ausdruͤcken. Der Ara-
ber machte ſogleich die großmuͤthige Anſtalt
ihn fortzuſchaffen, und ließ ihn auf ein Ka-
meel laden, daß er kurz vorher nebſt etlichen
andern einer reiſenden Karavane abgenom-
men hatte, wobey er ſeinen Leuten den Be-
fehl gab, den Verwundeten in ſein Schloß
zu bringen und bis zu ſeiner Ankunft gehoͤ-
rig zu pflegen. Der Mitleidige war, wie
man leicht merkt, gleichfalls ein Raͤuber
von Profeſſion, kam in einigen Wochen auf
ſein Schloß zuruͤck und fand Belphegorn
von ſeinen Wunden geheilt. Er war ſo
edelmuͤthig, jeden Dank von ſich abzuleh-
nen, und bot ihm Wohnung und Tafel auf
ſo lange Zeit an, als ihm beliebte. Bel-
phegor wurde von Dankbarkeit uͤber eine
ſolche Begegnung um ſo viel lebhafter ge-
ruͤhrt, weil die uͤble Behandlung, die er
bisher von den Menſchen in verſchiedenen
Welttheilen erdulden mußte, das menſchli-
che
[53] che Geſchlecht in ſeinen Augen ſo erniedrigt
hatte, daß er eine ſolche Denkungsart von
einem Mitgliede deſſelben gar nicht mehr er-
wartete. Der Raͤuber ſchenkte ihm eins
von den ſchoͤnen Kleidern, die er mit ſeiner
lezten Beute erobert hatte, gab ihm verſchie-
dene andre Koſtbarkeiten und ließ ihm nicht
die mindeſte Bequemlichkeit mangeln.


Belphegor wurde durch dieſen freygebi-
gen Raͤuber mit dem Menſchen um vieles
wieder ausgeſoͤhnt: nur blieb es ihm ein
unaufloͤsliches Raͤzel, das oft ſein Nachſin-
nen deſchaͤftigte, wie man ſo vortreflich und
ſo ſchlecht zu gleicher Zeit handeln, zu glei-
cher Zeit ſo gutdenkend und ein Raͤuber ſeyn
koͤnne. Da er keine befriedigende Erklaͤ-
rung dieſes Phaͤnomens zu finden im Stan-
de war, ſo wandte er ſich an ſeinen Wohl-
thaͤter ſelbſt und legte ihm die große Frage
vor, deren Beantwortung ihm ſo ſchwer
fiel. Der Araber war ungemein erſtaunt,
daß er ſo fragen konnte, und verſicherte,
daß er nicht begreife, warum jene beiden
Dinge nicht beyſammen ſeyn ſollten, da
das eine ſowohl wie das andre, eine gute
wohlanſtaͤndige Sache waͤre. — Gaſtfrey,
D 4ſagte
[54] ſagte er, ſind meine Voreltern vom Anfan-
ge her geweſen: der Menſch war in ihren
Mauren ihr geheiligter, unverletzlicher Freund,
und außer denſelben jederzeit ihr Feind. Der
weiſe Allah*) theilte ſeine Guͤter unter ſeine
Kinder aus; wer keine Portion davon be-
kam, muß ſie ſich verſchaffen, oder darben.
Ich wage mein Leben, um eine zu erhal-
ten:
mein Gegner wage das ſeinige, um
ſeine zu behalten: wohlan! der Tapferſte
iſt der Beſitzer. Der Elende, der Arme,
der Kranke, der ſich nicht in den Streit
mengen und Wohlſeyn und Bequemlichkeit
erkaͤmpfen kann, muß der Sklave des Maͤch-
tigern ſeyn, oder von ſeinem Wohlthaten
leben. Jeder rechtſchaffne Araber haͤtte Dich
in ſein Haus, wie in eine Freyſtaͤtte aufge-
nommen, weil Du ihrer bedurfteſt; Du warſt
zu elend, mein Sklave zu ſeyn: ich mußte
alſo dein Wohlthaͤter werden; und ſo lange
Du in meinem Bezirke wohnſt, hoͤre ich
nie auf, dies zu ſeyn: Du biſt der Sohn
meiner Familie. —


Aber
[55]

Aber außer demſelben dein Gegner, un-
terbrach ihn Belphegor, den Du pluͤnderſt,
oder zum Sklaven erniedrigſt? —


Nicht anders? Ich und meine Familie
ſind zu Einem Koͤrper vereinigt: was nicht
mit dieſem Bande an mich geknuͤpft wird,
iſt Feind. Denkt ihr unter euerm Himmel
anders? —


„Allerdings? Ungeſtoͤrt genießt jeder den
„Antheil von Gluͤck, den ihm der Zufall zu-
„warf: Geſetze und Henker ſind ſeine Waͤch-
„ter. —‟


Und Niemand raubt dem andern einen
Pfennig? Einer darbt, wenn der andre ſich
fuͤttert, ohne ſich mit ſeinen Faͤuſten etwas
zu erkaͤmpfen? —


„Nein, wir kaͤmpfen nicht mit Faͤuſten,
„ſondern leider! mit unſerm Verſtande —
„wir betriegen. —‟


Betriegen? Elende feige Kreaturen! der
liſtigſte Haufe hat bey Euch alſo das Ober-
gewicht? — Fi! —


„Der Maͤchtige, der Große genießt ſeinen
„Ueberfluß ſorgenlos; denn er iſt auf allen
„Seiten verſchanzt: der Arme genießt das
„Brod ſeines Schweißes eben ſo ruhig;
D 5„Man-
[56] „Mangel ſchuͤtzt ihn wieder Bevortheilung:
„der ganze uͤbrige Haufe iſt im Krieg verwi-
„ckelt, und der Hinterliſtigſte iſt der gluͤck-
„lichſte Sieger. —‟


Was fuͤr jaͤmmerliche Kreaturen ihr ſeyd!
die niedertraͤchtigſten Raͤuber des Erdbodens!
Jede Beute iſt bey uns der Preis der Tapfer-
keit, jede bey euch ein Denkmal einer nie-
drigen Seele. Trenne mein Haupt ſogleich
von meinen Schultern, wenn Ein Betrug
darinne gebruͤtet worden iſt! Was ich bin,
wurde ich durch mich ſelbſt, durch meinen
Muth.


Belphegor war wahrhaftig am Ende ſei-
ner Diſputirkuuſt, und der zuruͤckgebliebene
Grad von Abneigung gegen den Menſchen
ließ ihn auch keine ſonderliche Muͤhe neh-
men, etwas fuͤr die polizierten Raͤube-
reyen zu ſagen: er ſchwieg mit einem Seuf-
zer und gab den Grundſaͤtzen des Arabers
Recht.


Eine ſo angenehme Ruhe ſtoͤrte nichts als
der Einfall eines benachbarten Raͤubers in
das Schloß, wo ſie Belphegor genoß. Die-
ſer Held hatte in Erfahrung gebracht, daß
Belphegors Goͤnner bey dem letzten Meiſter-
ſtreiche
[57] ſtreiche, den er ſpielte, zwo der herrlichſten
cirkaßiſchen Schoͤnheiten in ſeine Gewalt
bekommen hatte. Ein ſolcher Preis war es
wohl werth, daß man ſein Leben einmal
daran wagte: die Liebe ſetzte ſeiner Tapfer-
keit den Sporn in die Seite, und er zog
mit ſeiner ganzen Mannſchaft aus, jene
zwo Nymphen entweder in ſeine Haͤnde zu
bekommen, oder ſie wenigſtens ihrem gegen-
waͤrtigen uͤbergluͤcklichen Beſitzer zu entreiſ-
ſen, ſollte es auch durch den Tod geſchehen
muͤſſen. Er ruͤckte an, uͤberraſchte ſeinen
Gegner, der ſich nicht in der mindeſten Be-
reitſchaft befand und ſich ſchon ergeben mußte,
ehe er ſich zur Wehre ſtellen konnte. Der
Feind begnuͤgte ſich, alle Oerter zu durch-
ſuchen, wo er die verlangten Schaͤtze ver-
muthete, und ward nicht wenig ungehal-
ten, da ihm allenthalben ſein Wunſch fehl-
ſchlug. Er erhielt zwar die Nachricht, daß
der uͤberwundne Herr des Schloſſes, den
ſein Alter uͤber die Begierden der Liebe ſchon
ziemlich hinwegſetzte, die ſchoͤnen Cir-
kaßierinnen nach ihrer Erbeutung ſogleich
in Geld verwandelt habe: allein da er dies
bey ſeiner jugendlichen Lebhaftigkeit nicht
begrei-
[58] begreifen konnte, ſo erklaͤrte er es ſchlecht-
weg fuͤr eine Erdichtung, ſtellte ſeine Nach-
forſchung noch etliche Mal an und fand
jedesmal nichts. Um aber doch ſeinen
Gang und ſeine hintergangne Hoffnung be-
zahlt zu machen, nahm er dem Ueberwund-
nen ſeine Slaven und eine Auswahl von
ſeinen beſten Habſeligkeiten mit ſich hinweg,
das Uebrige nebſt dem Schloſſe ſteckte er in
Brand, und war ſo großmuͤthig, und gab
Belphegorn und ſeinem Wohlthaͤter, weil er
ſie beyde zu nichts anzuwenden wußte, die
Freyheit und voͤllige Erlaubniß, alles Gluͤck
in der ganzen weiten Welt aufzuſuchen.


Sie giengen beyde mit einander fort, und
es war ſchwer zu unterſcheiden, welcher von
ihnen eigentlich den Verluſt erlitten hatte.
Sie nahmen ihren Weg nach der Landſchaft
Diarbek und fanden ſie bey ihrem erſten
Eintritte mit Empoͤrung und Blute uͤber-
ſchwemmt. Kaum hatten ſie ein Dorf er-
reicht, als ſie ſchon mit dem Schwerdte in
der Hand auf ihr Gewiſſen befragt wurden,
ob ſie ſich zu Dubors oder Miſnars,
oder Abimals, oder Ahubals, oder des
Sul-
[59] Sultans Amurat Parthey hielten. — Zu
derjenigen, die das meiſte Recht fuͤr ſich hat,
oder lieber zu keiner, antwortete Belphegor.
Ich kenne weder Amuraten, noch Duborn,
noch die du mir nennſt; es herrſche uͤber Diar-
bek, wer kann oder will! — Da ein Tuͤrke keine
andre als lakoniſche poſitive Antwort an-
nimmt, ſo wurde die Frage noch einmal
und zwar peremtoriſch gethan, und um ihn
zu einer beſtimmten Antwort deſto ſchneller
anzutreiben, ſchwangen die Examinanten
ihre Saͤbel uͤber ihren Koͤpfen und hielten
ſich zum Hiebe bereit. Jede entſcheidende
Antwort konnte ihnen den Tod bringen, und
jede Verzoͤgerung brachte ihn gewiß: ſie
waͤhlten blindlings ihre Parthey und trafen
gluͤcklicher Weiſe diejenige, zu welcher die
Fragenden ſich bekannten. Dieſe vortheil-
hafte Wahl errettete ſie vom Untergange:
man ließ ihnen die Freyheit, in Diarbek
zu exiſtiren, und bekuͤmmerte ſich weiter nicht
um ſie. Bey dem Fortgange ihrer Reiſe ge-
ſchah ihnen von Zeit zu Zeit die naͤmliche An-
frage, und der Zufall, auch zuweilen Liſt
half ihnen jedesmal aus der Gefahr! Um
ſich ihr aber nicht laͤnger auszuſetzen, be-
ſchloſſen
[60] ſchloſſen ſie ein Land mit dem eheſten zu ver-
laſſen, wo die Neutralitaͤt ſchlechterdings
unerlaubt war. An den Graͤnzen erfuhren
ſie, daß Miſnar alle ſeine Nebenbuhler be-
ſieget, ermordet und ſich auf drey Wochen
die Herrſchaft uͤber Diarbek errungen hatte,
nach deren Verlaufe der Sultan Amurat fuͤr
gut befand, ihn vom Throne heruntertreiben
und ſtranguliren zu laſſen, nebſt allen denje-
nigen, die die kurze Gnade ſeiner Regierung
erhoben hatte.



Sieben-
[[61]]

Siebentes Buch.


[[62]][[63]]

Einem Blutbade entgiengen ſie, um in ein
andres zu gerathen: bey dem erſten
Schritte, den ſie auf perſiſchen Boden ſetzten,
kamen ihnen ſchon blutige Stroͤme entgegen:
je weiter ſie ihr Weg fuͤhrte, deſto mehr
haͤuften ſich die Spuren des Mordes und
der Grauſamkeit, und zuletzt gelangten ſie
an einen graͤßlichen Wahlplatz, wo Schaa-
ren uͤber einander geſtuͤrzter Leichname in
graͤßlichen Haufen, mit getoͤdteten Kameelen
und Maulthieren vermiſcht, lagen. Belphe-
gor fuhr mit Entſetzen vor dem ſchrecklichen
Anblicke zuruͤck, und ſein Gefaͤhrte zitterte
eben ſo ſehr vor Furcht und Grauen, und
beyde ſtanden lange in einem ſtummen
Erſtaunen.


Bald aber machte die Furcht der Neube-
gierde Platz: ſie verlangten außerordentlich,
die Urſache zu wiſſen, die Menſchen zu einem
ſo unmenſchlichen Todtſchlage berechtigt ha-
ben konnte: demungeachtet zog ſie die Be-
ſorgniß, in die naͤmlichen unbarmherzigen
EHaͤnde
[64] Haͤnde zu verfallen, bey jedem Tritte zuruͤck.
Sie faßten aber dennoch Muth, ſetzten ihre
Wanderſchaft fort und fanden hin und wie-
der halblebende Todte, aber nirgends einen
voͤllig Lebendigen. — Was ſoll das? rief
Belphegor. Sind das Anſtalten, die menſch-
liche Gattung in dieſen Gegenden auszurot-
ten? Eine ſo ausgeſuchte Begierde hat doch
keiner der beruͤhmteſten Tollkoͤpfe noch gehabt.
Wohlan, Freund! wir wollen weiter drin-
gen! Werden wir unter dem allgemeinen
Ruine begraben, was ſchadets? — Wir
athmen die verpeſtete Luft dieſes Erdkreiſes
nicht mehr, deren kleinſtes Theilchen durch
den Hauch eines Unmenſchen entweiht, durch
die Lunge eines Barbaren gegangen iſt.
Gewinn iſt ein ſolcher Verluſt. —


Sie ſetzten ihren Weg noch einige Tage
fort und trafen nichts mehr als die vorher-
gehenden Gegenſtaͤnde an — Beweiſe der
Unmenſchlichkeit genug, aber keinen Men-
ſchen. Endlich wurden ſie gewahr, daß die
Einwohner aus den Doͤrfern nur gefluͤchtet
waren und einzeln mit bedaͤchtlicher Schuͤch-
ternheit aus den Waͤldern zu ihren Wohnun-
gen zuruͤckkamen. Sie forſchten ſo lange
bis
[65] bis ſie erfuhren, daß vor einigen Tagen
eine ſchoͤne Europaͤerinn in dem Harem des
großen Koͤniges von Perſien gefuͤhrt worden
ſey: eine Karavane von Reiſenden war dem
Zuge begegnet, und da ſie ungluͤckſeliger
Weiſe ihm nicht ausweichen konnte, ſo hat-
ten ſich die Evnuchen einen Weg mit dem
Schwerdte durch ſie gebahnt. Das naͤm-
liche Schickſal betraf alle, die die Unvorſich-
tigkeit oder das Ungluͤck hatten, ſich auf
dem Wege finden zu laſſen: der kluͤgere
Theil war aus den Wohnungen, die an der
Straße lagen, gefluͤchtet, um nicht durch
einen unbedachtſamen Blick auf eine ver-
ſchleierte Schoͤnheit das Leben zu verwirken.


Belphegor haͤtte gern dem großen Sohne
des Himmels fuͤr dieſe Barbarey den Kopf
abgeſchlagen, wenn er bey der Hand gewe-
ſen waͤre, und machte verſchiedene Anmer-
kungen in ſeinem Tone daruͤber, die bey
andern, als ſklaviſchen erſtorbnen Gemuͤ-
thern, einen foͤrmlichen Aufruhr veranlaßt
haͤtten. Wenn es aber gleich nicht dieſe
Wirkung that, ſo fuͤhlten doch ſeine Zuhoͤrer
einen gewiſſen Schwung in ſeiner Denkungs-
art und ſeiner Beredſamkeit, welcher ſie
E 2dunkel
[66] dunkel uͤberredete, daß er keiner vom gemei-
nen Haufen, ſondern ein Weiſer ſeyn muͤſſe,
weswegen ſie ihm riethen, die Bekanntſchaft
eines gewiſſen Derwiſches zu machen, der
in einer voͤlligen Einſamkeit lebte und ihnen
unter dem Namen des Derwiſches in den
Bergen bekannt ſey. Sie ſetzten hinzu,
jedermann, der ihn geſprochen, ſey voller
Bewundrung und Ehrfurcht zuruͤckgekom-
men und habe verſichert, daß ſein Mund
von einem unerſchoͤpflichen Strome von
Weisheit und heilſamen Lehren uͤberfließe.


Eine ſolche Nachricht war fuͤr Belphegors
Begierde ein Sporn: kaum konnte er ſie
endigen laſſen, als er um einen Wegweiſer
bat, der ihn zu dem gluͤcklichen Orte fuͤhren
ſollte, wo er einen Menſchen zu finden
hoffte. Sein Gefaͤhrte, deſſen Durſt nach
Weisheit nicht ſo heftig brannte, warnte
ihn ſehr eifrig, ſein Leben und das wenige
gerettete Geld nicht der Treuloſigkeit dieſer
Boͤſewichter anzuvertrauen, die ihn in un-
wegſame Gebirge fuͤhren und in den erſten
Abgrund ſtuͤrzen wuͤrden. So ſehr er ihm
mit ſeiner arabiſchen Beredſamkeit zuſetzte,
und ſo ſtark er ſeine Warnung mit Gruͤnden
unter-
[67] unterſtuͤtzte, ſo blieb doch Belphegor in ſei-
nem Vorſatze unbeweglich: eben ſo unbe-
weglich blieb auch der Araber in dem ſeini-
gen, und trennte ſich von ſeinem Gefaͤhrten,
um wieder in ſein Vaterland zuruͤckzukehren,
wo man nach ſeiner Meinung viel edelmuͤ-
thiger ſtiehlt und raubt als irgendwo.


Belphegor kletterte nebſt ſeinem Wegwei-
ſer mit ſeinem gewoͤhnlichen Ungeſtuͤme uͤber
Felſenſpitzen, ſteinichte unſichre Wege, ſchluͤ-
pfrige hervorragende Stuͤcken Stein, wo
ein einziger Fehltritt in unabſehbare Tiefen
ſtuͤrzte, wo den herabfallenden Millionen
hervorſtehende Spitzen erwarteten, um ihn
zu zermalmen, durch ſtechendes Geſtraͤuch
von Wacholdern, die einen kleinen ver-
ſchlungnen Wald bildeten, uͤber Waſſerfaͤlle,
uͤber Schnee, Eis und faſt durch die Wol-
ken, um zu dem Derwiſche der Berge zu
gelangen. Nachdem ſie drey Tage mit dem
hoͤchſtmuͤhſamen Wege gekaͤmpft hatten, ſo
wurde er ſelbſt ein wenig mißtrauiſch gegen
ſeinen Fuͤhrer: doch druͤckte die Hitze ſeiner
Erwartung und die Groͤße der gehofften
Freuden bald jeden Argwohn nieder; er
beruhigte ſich damit, daß er dem Wegweiſer
E 3alles
[68] alles bey ſich habende Geld uͤbergab und ihn
verſicherte, daß der ganze Schatz ſein wer-
den ſollte, wenn er ihn durch Verkuͤrzung
des Weges nur etliche Stunden fruͤher zu
dem weiſen Derwiſche zu bringen wuͤßte:
der Andre nahm es mit Dankbarkeit an und
verſprach ſein Verlangen ſo ſehr als moͤglich
zu erfuͤllen. Auch fanden ſie ſich beym An-
bruche des Tages auf einem Felſenruͤcken,
von welchem ſie eine ſchoͤne muntre lachende
Ebne uͤberſahen, die durch den Anblick
ſchon ihnen die ausgeſtandnen Beſchwerlich-
keiten hinlaͤnglich verguͤtete. Belphegors
Herz ſchlug vor Entzuͤcken, als er die Woh-
nung des Derwiſches durch ein duͤnnes
Palmwaͤldchen hervorſchimmern ſah: gern
haͤtte er mit Einem Sprunge die heilige
Schwelle betreten: jedes Lufttheilchen, das
er einhauchte, ſchien ihm reiner und heili-
ger zu ſeyn.


Wenn die Muſen gegen einen Proſaiſten
nicht etwas ſproͤde waͤren, ſo rief ich ſie mit
lautem Schreyen um ihren Beyſtand bey
der Schilderung eines der ſchoͤnſten Thaͤler
an; aber ſo muß ein armer Verfaſſer in
ungebundner Rede die Sache allein beſtreiten.
Will
[69] Will indeſſen eine ſich herablaſſen, meinen
Pinſel zu fuͤhren, ſo greife ſie zu! —


Die ganze Flaͤche des beynahe eyfoͤrmi-
gen Thales war ringsum von Bergen um-
ſchloſſen, die ſich amphiteatermaͤßig in man-
nichfaltigen Abſaͤtzen erhuben: hier ſteilte
ſich eine ſchneeweiße Felſenſpitze, wie ein
Thurm, in die Hoͤhe, hinter ihr dehnte ein
brauner Berg den langen Ruͤcken weg, und
hoͤher als beyde verlor ſich eine Menge
zackichter graͤulicher Gebirge mit ungleichen
Hoͤhen am Horizonte: dort hiengen Felſen-
ſtuͤcken in der Luft, die nur Einen Stoß zu
brauchen ſchienen, um herabzuſtuͤrzen, neben
ihnen bedeckte ein duͤſtres Strauchwerk den
phantaſtiſch gekruͤmmten Berg, der ſich mit
einer Menge kahler Beugungen und Hoͤlun-
gen endigte, und die breitſten weitſchim-
mernden Haͤupter entfernter Gebirge daruͤber
emporſteigen ließ: bald ſtuͤrzte ſich ein klei-
ner Bach beynahe haͤngend an einer Felſen-
wand herab, verſchwand, brach eine weite
Strecke davon wie ein brauſender ſchaͤumen-
der Bach aus dem Felſen hervor, flog uͤber
ausgehoͤlte ſchwebende Steine hinweg und
wurde von einem Schlunde gierig verſchlun-
E 4gen,
[70] gen, um nie in dieſer Gegend wieder zu
erſcheinen: bald ſtieg eine allmaͤhliche ſchief-
gedehnte beraſete Anwand bequem in die
Hoͤhe und thuͤrmte ſich ploͤtzlich in unzaͤhli-
che Hoͤhen, die ſich gleichſam wetteifernd
uͤber einander erhuben, hier nackt, dort in
einem Mantel von gelbgruͤnem Geſtraͤuche,
bald aus Pyramiden, bald als umgeſtuͤrzte
Kegel, hinter welchen eine weißgraue Ko-
lonnade vom majeſtaͤtiſchen Felſen den Ge-
ſichtskreis begraͤnzten und weitgedehnt in
ungleicher Groͤße allmaͤhlich verſchwanden.
Die Seite, von welcher ſie in die Ebne
hinabſtiegen, war ein hoher platter Berg,
der an ſich ſchon die Ausſicht beſchloß, mit
einem Cedernwalde bedeckt, durch welchen
ſie hindurchwandern mußten, und kaum
waren ſie heraus — ſiehe! ſo ſtund, wie
hinter einem eroͤffneten Vorhange das ganze
ſchoͤne Thal, in ſeine vielfaͤltigen Waͤlle von
Gebuͤrgen und Felſenwaͤnden, wie ſie vorhin
gemalt worden ſind, eingezaͤunt, mit etli-
chen kleinen ſchmalen Waſſerkanaͤlen durch-
zogen, mit einzeln Bucketen von Obſibaͤu-
men, lichten und dunkelgruͤnen Buͤſchchen,
beynahe regelmaͤßigen Pflanzungen, friſch-
gearbei-
[71] gearbeitetem Acker, bluͤhenden kriechenden
und aufgeſtengelten Gewaͤchſen, Gruppen
von Citronenbaͤumen mit goldnen blinken-
den Fruͤchten, zerſtreuten kleinen Huͤttchen
gleichſam beſtreut — kurz, das herrlichſte
lachendſte Moſaik der Natur vor ihren Augen.


Belphegor war uͤberraſcht, betaͤubt, uͤber-
waͤltigt, hingeriſſen, er ſtaunte, er war ſei-
ner Sinnen nicht maͤchtig; er warf ſich vor
Begeiſterung auf die Erde und kuͤßte den
Boden, als den Eingang zu einem Heilig-
thume. So bald ſeine Empfindungen we-
niger gewaltſam wurden, ſo beſahe er die
Gegend um ſich mit unerſaͤttlicher Begierde,
ſahe und hatte nie genug geſehn. Sein Fuͤh-
rer ermahnte ihn zur Eilfertigkeit, wenn er
noch vor Abend bey dem Derwiſche anlan-
gen wollte, weil ſeine Wohnung faſt an dem
andern Ende des Thales liege und noch viele
Stunden erfodre, wenn ſie gleich ihre Schritte
verdoppeln wollten. Belphegor riß ſich, wie-
wohl mit einigem Widerſtande, von dem
entzuͤckenden Anblicke los, um einem noch
entzuͤckendern zuzueilen.


Kaum waren ſie die langgedehute An-
hoͤhe hinuntergeſtiegen, als ſie ein krumm-
E 5laufen-
[72] laufender Gang einlud, durch einen kleinen
dunkeln Hain zu wandeln, an deſſen Ende
ſich zwo vierfache Reihen von Pomeranzen-
baͤumen anſchloſſen, die dahinterliegende
Saatfelder von Mais durch die Zwiſchen-
raͤume der Staͤmme durchſchimmern ließen.
Am Ende derſelben fanden ſie etliche Huͤtten
von Baumzweigen, doch ohne Bewohner.
Belphegorn befremdete dieſe Entweichung,
und er ward um ſo viel neugieriger, die Be-
wohner aufzuſuchen. Sie giengen in der
Folge uͤber verſchiedene kleine Kanaͤle, die
mit Obſtbaͤumen eingefaßt waren, durch
kurze ganz natuͤrliche Wildniſſe von Ahorn-
baͤumen, durch Felder mit funkelnden Kuͤr-
biſſen, Melonen und andern lachenden Fruͤch-
ten. Schoͤner, als alles, war der Zugang
zu der Wohnung des Weiſen: Reihen Maul-
beerbaͤume, um die ſich die herrlichſten Wein-
reben mit halbreifen roͤthlichen lang herab-
haͤngenden Trauben ſchlangen; hinter ihnen
Beete mit Gartenfruͤchten, beſonders Melo-
nen; darauf Pfirſchbaͤume mit rothſchim-
mernden ſamtnen Fruͤchten beladen, Abri-
koſenbaͤume mit Reichthume uͤberſchuͤttet;
die ganze Scene ſchloſſen vier erhabne Zy-
preſſen,
[73] preſſen, die uͤber dem laͤchelnden Kolorite
der Fruchtbaͤume mit ihrem melancholiſchen
Gruͤn in vier Spitzen emporſtiegen und un-
ter ihre Zweige die Wohnung des Derwiſches
gleichſam wie unter Fluͤgel nahmen. Der
ehrwuͤrdige Alte ſaß mit zwo Toͤchtern in
perſiſcher Kleidung auf einem Steine vor
ſeiner Wohnung und ſchaute mit entbloͤß-
tem Haupte nach der Sonne hin, die eben
hinter dem gegenuͤber ſtehenden Berge ver-
ſinken wollte.


Belphegor hatte ihn kaum in der Ferne
erblickt, als er mit ſeiner Haſtigkeit auf ihn
zuflog ſich ihm zu Fuͤßen warf und mit der
feurigſten Innbrunſt ſeine Kniee umfaßte.
Der Alte hub ihn laͤchelnd auf und noͤthigte
ihn durch ein freundliches Zeichen, ſich neben
ihm niederzuſetzen. Das Gefuͤhl einer ge-
genwaͤrtigen Gottheit koͤnnte kaum feuriger
und mehr uͤberwaͤltigend ſeyn, als Belphe-
gors Empfindungen: er war ſich ſeines Da-
ſeyns nicht bewußt, ein Schwarm ununter-
ſchiedner Vorſtellungen und glaͤnzender Bil-
dern ſchwebten um ſeine betaͤubte Seele,
und eben ſo viele verwickelte Gefuͤhle fuhren
durch ſein Herz. Lange ſaß er, ſo außer
ſich
[74] ſich geſetzt, neben dem Alten, der den in-
nerlichen Tumult in ſeiner Mine las und
darum ihn geruͤhrt bey der Hand faßte,
ohne ſein Stillſchweigen zu unterbrechen.
Endlich machte ſein Gaſt den Anfang: er
ſchuͤttete ihm in einem Strome von perſi-
ſchen Worten ſein Herz aus, die aber mei-
ſtens halberſtickt und abgeriſſen hervorka-
men, weil er der Sprache zu wenig maͤch-
tig war, als daß ſeine Empfindungen und
Gedanken die Gelaͤufigkeit der Zunge nicht
uͤbereilen ſollten. Der Derwiſch bat ihn,
von ſeinem Wege auszuruhn und alsdenn
ein kleines Mahl mit ihm im Mondſcheine
einzunehmen. Belphegorn uͤberlief ein ſuͤßer
Schauer, als er dieſes hoͤrte, und er begab
ſich hinweg.


Die aͤlteſte von den beyden Toͤchtern
fuͤhrte ihn in ein Kabinet, wo ſie ihm ein
reinliches Lager von Blaͤttern mit einer Decke
von einem orieutaliſchen Halbtuche zu ſeiner
Ruhe anbot und zu ihrem Vater zuruͤckkehrte.
So ermattet er war, ſo hatten doch die vor-
hergehenden heftigen Empfindungen ſeine
Nerven zu ſehr angeſpannt, als daß der
Schlaf ſie haͤtte uͤberwaͤltigen ſollen. Er lag
voller
[75] voller Gedanken in einem oft unterbrochnen
Schlummer, und konnte endlich ſeinem Ver-
langen nach dem Geſpraͤche des Derwiſches
nicht mehr widerſtehen: er ſprang auf und
gieng zu ihm.


Waͤhrend der Mahlzeit entwickelte es ſich
bald, daß der vermeinte Derwiſch ein Euro-
paͤer war. — Ein Europaͤer! rief Belphe-
gor voll Freuden: und aus welchem Lande?
Aus Frankreich, antwortete jener und ſeufzte.
Aus Frankreich, das mich mit vielen ſeiner
Soͤhne undankbar ausſtieß. Ich bin der
Bruder der ungluͤcklichen Markiſinn von E. —
Der Markiſinn von E.! unterbrach ihn Bel-
phegor. Der ungluͤcklichen Markiſinn, die
die graͤulichen Tuͤrken in vier Stuͤcken ſpal-
teten, daß ſie großmuͤthig den Prinzen
Amurat bey ſich aufgenommen hatte! —
Ein Zug ihres Charakters! die gute Schwe-
ſter! ſagte der Alte. Freund! erzaͤhle mir
die Geſchichte, daß ich hoͤre und in meinen
weißen Bart dazu weine.


Belphegor gehorchte ihm; und ſein Zuhoͤ-
rer hoͤrte ihre widrigen Schickſale mit ge-
ruͤhrter Aufmerkſamkeit, erhub bey dem Ende
der Erzaͤhlung ſeine Augen gen Himmel, in-
deſſen
[76] deſſen ihm etliche Thraͤnen die Wangen
heruntertroͤpfelten: dieſe, ſprach er, weih
ich dir!


Aber, fieng Belphegor nach einer kleinen
Pauſe an, wie konnte dich, ehrwuͤrdiger Va-
ter, deine Flucht in dieſe himmliſche Einſie-
deley, ſo weit von deinem Vaterlande fuͤh-
ren? Du floheſt Frankreich. —


Um einer Urſache willen, unterbrach ihn
der Alte lebhaft, die die Menſchheit mit
ewigen Flecken brandmalt — Flecken, die
keine Thraͤnen auswaſchen koͤnnen. Wir
wurden Opfer der Ruhmſucht eines ſtolzen
Monarchen, *) des eingewurzelten Vorur-
theils, politiſcher Raͤnke und des Privat-
haſſes; und wurden, nach dem oͤffentli-
chen
Vorwande, der Religion, der Recht-
glaͤubigkeit geopfert. Ich floh nach Deutſch-
land mit einigen meiner vertriebnen Mitbruͤ-
der, um es zu bereichern und poliren zu
helfen. Ich floh, aber mein Herz blieb in
Frankreich, oder es irrte vielmehr mit mei-
ner S ** herum: denn unmoͤglich konnte
ihre Liebe ſie in einem Lande zuruͤckbleiben
laſſen, das ihren zaͤrtlichen Freund verſtoſſen
hatte.
[77] hatte. Ich lebte indeſſen nur zur Haͤlfte:
ich bin von jeher ein Geſchoͤpf geweſen, das
mehr in der Imagination als in der
Wirklichkeit lebte, gluͤcklich und un-
gluͤcklich war. Meine verlaßne Liebe er-
zeugte bald mit Huͤlfe meiner Einbildungs-
kraft eine Melancholie in mir, die mich von
aller Geſellſchaft entfernte: ich lebte, dachte
und fuͤhlte in der tiefſinnigſten Einſamkeit,
und ich dachte nichts, als meine S **, und
fuͤhlte nichts als meine Liebe. Geſchaͤfte
und andre Verbindungen zwangen mich haͤu-
fig, meine Einſiedeley zu verlaſſen: ich that
es mit Widerwillen, mit dem groͤßten Wi-
derwillen, weil keine andre S ** in der
ganzen ſchimmernden Geſellſchaft, in wel-
cher ich, wie ein Geſpenſt, taͤglich herum-
wanderte, anzutreffen war: keine, auch
nicht die ſchoͤnſte, auch nicht die bewun-
dertſte bewegte den Perpendickel meines Her-
zens nur um eine Sekunde ſchneller: alles
waren mir ſteife unnatuͤrliche Kreaturen, die
den Mangel des natuͤrlichen Reizes durch
Kunſt und Anſtand erſetzen wollten, aber
ihn fuͤr mein Gefuͤhl unendlich wenig erſetz-
ten, durch den falſchen Anſtrich nur deſto
mehr
[78] mehr vermiſſen ließen; mein Herz fand nir-
gends anziehende Kraft und allenthalben
Widrigkeiten. Je weniger mein Gefuͤhl
gleichſam ausgefuͤllt wurde, deſto mehr ver-
ſtaͤrkte es ſich! und zuletzt war gar nichts
mehr uͤbrig, das nicht, ſo zu ſagen, wie
ein leichter Span auf einem Weltmeere, dar-
auf geſchwommen haͤtte: gar nichts druͤckte
ſich ihm ein. Geſchwind zerriß ich alle Ban-
den, die mich an die Menſchen feſſelten,
und floh eine Geſellſchaft, wo ich allzeit Ge-
legenheit zum Misvergnuͤgen fand, weil kein
Vergnuͤgen meinen Foderungen gleich kam.


Nicht lange nach dieſer Entfernung von
den Menſchen that ich einſtmals eine kurze
Ausflucht in die Geſellſchaft: ich fand ein
Maͤdchen, das gleich bey dem erſten Anbli-
cke eine mehr als magnetiſche Kraft fuͤr alle
meine Sinne hatte. Mein Gefuͤhl, das in
meiner einſamen Periode mit der Einbil-
dungskraft in genauere Vertraulichkeit gera-
then war, erhob ſich ploͤzlich zu einer ſolchen
Staͤrke, daß ich mir ſelbſt ſagte: ich habe
ſie gefunden! — Ein Maͤdchen voll der
ſuͤßeſten Naifetaͤt, mit der aufrichtigſten Mi-
ne, die mit der Zunge und dem Herze in
Einer
[79] Einer vollkommnen Harmonie ſtund, ohne
Zwang, ohne ſtudierte Hoͤflichkeit, ohne ga-
lante Grimaſſen, voll Natur, voll der un-
ſchuldigſten Natur, ohne glaͤnzenden Wiz,
aber mit einem feinen Verſtande und den
geſundeſten Grundſaͤtzen geziert — alle dieſe
Zuͤge leuchteten mir auf einmal mit vereinig-
ter Kraft in die Augen. Mein Herz wankte,
alle meine Kraͤfte bis zu den innerſten wur-
den erſchuͤttert, meine Empfindungen vom
Grunde aufgewiegelt, mein Kopf ſchwindel-
te, die Augen wurden truͤbe, ich ſchwaͤrmte,
ich ſchwatzte wie im Phantaſieren des hitzi-
gen Fiebers, ich taumelte und ſank —
durch eine geheime Veranſtaltung des Schick-
ſals — an ihren Buſen, an den Buſen
des Maͤdchens, das jenen Tumult in mir
erregte. — O edler Freund! mein altes
Herz ſchlaͤgt noch itzt hurtiger, wenn ich an
das Erwachen gedenke, das auf jenen Fall
erfolgte. — Das unſchuldige Maͤdchen ent-
ſagte aus natuͤrlichem Mitleide allen Fode-
rungen des Wohlſtandes und ließ mich an
ihrem Buſen liegen, trieb alle zuruͤck, die
mich von ihr reißen wollten. Er ruhet hier
ſanft, ſprach ſie mit dem naifſten Tone der
FGuther-
[80] Gutherzigkeit: er liege, bis er wieder er-
wacht. — Alles ſagte ſie, ohne zu wiſſen,
daß ſie das brennbarſte Herz an das ihrige
druͤckte und ein Feuer einſaugen ließ, das
nie die Vernunft wieder loͤſchen wuͤrde. Ich
lag an ſie gelehnt; und an ſie gelehnt, er-
wachte ich. Himmel! welche Empfindung,
als ich um mich blickte! als ich bey meiner
erſten Bewegung mit ihrem Blicke zuſam-
mentraf! Ich war nicht mehr mein: ſie ver-
ſtund meine Verwirrung, wollte ſie min-
dern und vermehrte ſie. Endlich ermannte
ich mich; ich ſprang auf und gieng hinweg.


Das gute Maͤdchen merkte genau, daß
ſie die Urſache meiner Unruhe und meiner
Entfernung war: aber ungluͤcklich, daß die-
ſe Bemerkung ſie ſelbſt in die ſchrecklichſte Un-
ruhe ſtuͤrzen mußte! Sie war ſchon verlobt:
das iſt mit Einem Worte alles geſagt. Mei-
ne natuͤrliche Melancholie wuchs zu der hoͤch-
ſten Staͤrke an, ohne daß ich das Hinder-
niß meiner Liebe wußte: alles war mir
ſchwarz: ich quaͤlte mich mit ſelbſtgeſchaff-
nen Schwierigkeiten; ich marterte mich mit
Kummer, daß ich zu dem Beſitze meiner Ge-
liebten nicht gelangem konnte, ohne mich
im
[81] im mindeſten erkundigt zu haben, ob ihr
Beſitz unmoͤglich oder ſchwer zu erlangen ſey.
Sie war arm, und eine kleine Ueberlegung
waͤre zureichend geweſen, meine traurigen
eingebildeten Schwierigkeiten zu zerſtreuen;
allein mein ſchwermuͤthiges Gefuͤhl ergoͤtzte
mich: die Vernunft wuͤrde mir meine Gluͤck-
ſeligkeit geraubt haben, wenn ſie es wegraͤ-
ſonnirt haͤtte. Oft genug unterbrachen es
meine Geſchaͤfte, auf die ich zuͤrnte, und
die ich doch gut abwarten mußte, wenn ich
nicht an meinem Einkommen leiden wollte.
— Gott! dachte ich oft in meinen einſa-
men Stunden, warum ordneteſt du deine
Welt ſo an, daß tauſend geſchmackloſe Geſchaͤf-
te, Millionen mit der Empfindung nicht zu-
ſammenhaͤngende Dinge den Menſchen im
Wirbel herumdrehen, daß elende Berufsar-
beiten die Zahl der Stunden verringern muͤſ-
ſen, die er in dem ſuͤßeſten Schlummer des
Gefuͤhls und der Einbildung vertraͤumen
koͤnnte? — Freund! haſt Du nie einen
Mangel in Deinem Leben empfunden, der
jede fuͤhlende Seele unvermeidlich treffen
muß? — Die Natur hat eine unendliche
Menge Anlaͤſſe zur Empfindung in die Welt
F 2aus-
[82] ausgeſtreut, aber zu einzeln ausgeſtreut,
jeder Menſch trift auf ſeinem Wege nur ſel-
ten einen an: der große Haufe, deſſen Ge-
fuͤhl vom Sorgen und Geſchaͤften zuſam-
men gepreßt iſt, vermißt nichts; er laͤßt ſo-
gar die aufſtoßenden Veranlaßungen vor-
uͤbergehn, ohne daß eine ſich an ſeinem Herze
einhaͤngt, und es auf ſich zieht: aber der
Mann, bey dem Gefuͤhl alle ſeine uͤbrigen
Kraͤfte uͤberwiegt, bey dem ſich, ſo zu ſagen,
alles in Empfindung aufloͤſt, was ſoll der
thun, wenn er allenthalben Saͤttigung ſucht,
wenn er ſeine Gluͤckſeligkeit gern haufenweiſe
verſchlingen moͤchte, und ſie ihm doch nur
gleichſam in einzelnen Biſſen zugezaͤhlt wird:
muß ein ſolcher nicht bey der gegenwaͤrti-
gen Einrichtung der Welt einbuͤßen? Konnte
die Natur unſern Planeten und ſeinen Be-
wohner nicht ſo anlegen, daß er, mit weni-
gem, mit dem Nothduͤrftigen zufrieden, ſeine
Beduͤrfniſſe niemals erweiterte, niemals in
die tolle Geſchaͤftigkeit ſich hineinwarf, zu
welcher ihn itzt unzaͤhlige, unvermeidliche
Nothwendigkeiten hinreißen? Waͤre die Welt
gleich weniger thaͤtig, weniger lebhaft ge-
worden, waͤre ſie nicht dafuͤr gluͤcklicher?
Was
[83] Was nuͤtzt es, daß itzt jedermann eilfertig
nach ſeinem Vortheile laͤuft, rennt und an-
dre wegſtoͤßt? Nimmt man dieſe ungluͤckliche
Geſchaͤftigkeit der Welt, dieſe Mutter ſo un-
zaͤhlbarer Uebel hinweg, muͤſſen nicht als-
dann alle die unſeligen Leidenſchaften weg-
fallen, die itzt Menſchen von Menſchen tren-
nen und ſelbſt den empfindenden Zuſchauer
dieſes allgemeinen Kampfjagens der Welt
das Leben verbittern? Die Menſchheit iſt ge-
wiß nichts dadurch gebeſſert, daß ſie ſich zu
den gegenwaͤrtigen Bequemlichkeiten und dem
Ueberfluſſe der Europaͤer emporarbeitete, daß
man nicht mehr Eicheln, ſondern die man-
nichfaltigen Schmierereyen der Mundkoͤche
genießt, daß man nicht mehr auf Stroh,
fondern Matratzen oder Federbetten ſchlaͤft,
daß man ſtatt des klaren Bachs in einen
franzoͤſiſchen oder venetianiſchen Spiegel
ſieht: gewiß im Grunde nichts gebeſſert,
nichts gluͤcklicher! Alles hierinne beſtimmt
die Gewohnheit: dieſe machte es, daß
vormals engliſche Lords auf einem Schnee-
ballen ſo ſanft ruhten, als itzt ein engliſcher
Zaͤrtling auf dem ſeidnen Kopfkuͤſſen. Nach
meinem Wunſche und meiner Einbildung
F 3ſollte
[84] ſollte der Menſch mitten auf ſeinem Wege
zur Verfeinerung ſtehen bleiben, wenn er
auch gleich nicht auf der ganz unterſten ewig
ſeyn wollte: die Materialien der Geſchaͤftig-
keit und der Begierden, die ihn itzt herum-
treiben, ſollte vor ihm verborgen und er ein
ruhiger ſanfter Hirte, hoͤchſtens ein Ackers-
mann bleiben: die Erde waͤre nicht zu enge
fuͤr die Beybehaltung dieſer Lebensart gewe-
ſen, wenn nur die Menſchen nicht die tollen
Begierden beſeſſen haͤtte, uͤber und neben
einander her zu kriechen: und Freund! bey
jener geringen mittelmaͤßigen Geſchaͤftigkeit
ſein Leben unter dem Schatten der Empfin-
dung ohne Politik, ohne Oekonomie, Ju-
risprudenz, Handel und andre Vervollkom-
mungen, die den Menſchen zum kalten fuͤhl-
loſen Geſchoͤpfe, leer von Imagination und
Empfindung machen, ordentlich und ruhig
hinwandeln, welch ein Gluͤck! Welch eine
Herrlichkeit, wenn ich damals fuͤr mich und
meine Lucie die Erde ſo haͤtte umſchaffen
koͤnnen! Wahr iſt es, ich haͤtte getraͤumt:
aber ſuͤßer Traum iſt doch beſſer als bittres
Wachen. Meine Geſchaͤfte verbitterten mir
wirklich mein Leben außerordentlich: ſie ſtoͤr-
ten
[85] ten meine Melancholie und wurden von mei-
ner Melancholie geſtoͤrt; und am Ende mei-
nes Haͤrmens erfuhr ich, daß Lucie verlobt
und gar verheirathet war, daß ſie an einen
der veraͤchtlichſten Maͤnner des Landes ver-
heirathet war. Welch ein Donnerſchlag
fuͤr einen truͤbſinnigen Liebhaber! Ich em-
pfieng taͤglich die ſchrecklichſten Nachrichten
von ſeinem Betragen gegen ſie. Der Un-
menſch, das unſinnigſte Geſchoͤpf des Erd-
bodens, das gar nicht aus der Hand Got-
tes gegangen ſeyn kann, quaͤlte ſie aus Ei-
ferſucht und zuletzt aus bloßem tyranniſchen
Muthwillen: er merkte, daß auf dem Bo-
den ihres Herzens eine Zuneigung lag, die
durch die aufgezwungene eheliche Pflicht nur
niedergedruͤckt, aber nicht getoͤdtet war: er
merkte dies blos, weil ſeine angeborne Ei-
ferſucht; oder vielleicht das Bewußtſeyn ſei-
nes Mangels am Verdienſt ihn vorausſetzen
hieß, daß ſie ihn nicht ganz und jeden an-
dern mehr lieben muͤßte. Ohne die minde-
ſte Veranlaſſung zu dieſem Argwohne behan-
delte er ſie, als wenn er voͤllig bewieſen waͤre.
Er foderte eine Bedienung von ihr, die er
kaum der niedrigſten Magd zumuthen konn-
F 4te:
[86] te: ſie mußte ihn auf ſeinen Befehl die Spei-
ſen auftragen, auf ſeinen Befehl faſten oder
eſſen, ihn ankleiden und ausziehn, und die
ſchlechteſten Dienſte verrichten, indeſſen daß
die Aufwaͤrterinn, die im Muͤßiggange zu-
ſah, von ihm geliebkoſt wurde und die Rechte
der Frau genoß. Der Barbar wollte ſich
an ſeiner unſchuldigen Ehefrau auf dieſe Art,
gleichſam wie durch Repreſſalien, raͤchen;
und da ſie ohnmaͤchtig, empfindlich, zaͤrt-
lich und ſchwach zum Wiederſtande war, ſo
verdoppelte der Unbarmherzige ſeine Mar-
tern, jemehr er wahrnahm, daß ſie dadurch
niedergeſchlagen und gekraͤnkt wurde. Sie
kam in die Wochen, ſie wurde gefaͤhrlich
krank; und waͤhrend, daß ſie nach Troſte
und Wartung ſchmachtete, hetzte der Boͤſe-
wicht Dachſe mit ſeinen Hunden im Hauſe,
ließ ſeine Pferde im Hofe unter ihren Fen-
ſtern herumfuͤhren und dazu trommeln, des
Nachts, oder wenn ſie ſonſt ſchlummerte,
ploͤzlich Toͤpfe oder Flaſchen vor ihrem Zim-
mer entzweyſchlagen, oder ein andres hefti-
ges Geraͤuſch erregen, das ſie aufwecken
mußte. — kurz, er marterte ſie auf alle er-
ſinnliche Weiſe und ſtudierte darauf, ſie nicht
allein
[87] allein zu quaͤlen, ſondern jede Qual noch
mit einer Bitterkeit zu begleiten, die ſtaͤrker
als die Qual ſelbſt ſchmerzte. Er nahm ihr
das Kind und uͤbergab es ſremden Haͤnden,
wo ſie es ohne die aͤngſtlichſte Beſorgniß
nicht wiſſen konnte, da es unter den ihrigen
die beſte Erziehung, den nuͤtzlichſten Unter-
richt haͤtte genießen koͤnnen. Sie bat, ſie
flehte auf den Knieen: der Tyrann lachte.
Sie fiel ihm um den Hals, ſie badete ſein
Geſicht mit Thraͤnen, ſie beſchwor ihn bey
der Wohlfahrt ſeines Kindes, bey ſeiner
eignen Gluͤckſeligkeit, ſie nicht von ihrem
eignen Herze zu trennen, das allzeit mit
ihrem Kinde an Einem Platze wohnte. Der
tuͤckiſche Boͤſewicht verbarg die Empfindung,
die ihm eine ſolche Bitte wider ſeinen Willen
aufdrang: er verließ ſie, gab zwar Befehl,
ihr das Kind zu uͤberliefern, wiederrief ihn
aber gleich, ehe es noch gebracht wurde.
Seine Launen waren gewiß die einzigen un-
ter dem Himmel: er war ihr beſtaͤndiges
Spiel und wurde von ihnen von einer Ent-
ſchließung zur andern herumgeworfen; ehe
er eine ausfuͤhrte, riß ihn eine andere hin,
ſo eine dritte, und nach einem weiten Zirkel
F 5kam
[88] kam er wieder auf den erſten Fleck. So
gieng es ihm hier: ſeine Tochter blieb in
den Haͤnden, denen er ſie zu ihrer Verwahr-
loſung anvertraut hatte, und ihre Mutter
eine betruͤbte, ungetroͤſtete Mutter.


Von allen dieſen Drangſeligkeiten em-
pfieng ich Nachricht, ſo wie ſie geſchahen;
und was denkſt Du, das ich thun ſollte,
Freund? —


Dem Henker den Kopf zerbrechen! rief
Belphegor und ſtampfte, ihn erwuͤrgen, und
mit dem ungluͤcklichen Schlachtopfer auf
dem Arme davon fliehn! —


Nein, Freund meines Herzens, ſo haſtig
war ich nicht: ich nahm allen empfindlich-
ſten Antheil an ihrem Unſtern und graͤmte
mich in Stillen fuͤr ſie, da ich weiter nichts
vermochte. Mein Kummer wollte mich toͤd-
ten: die Liebe ſpornte mich an, die Ungluͤck-
liche zu erloͤſen, aber Muthloſigkeit ſchraͤnkte
meine Ueberlegung und meine Kraͤfte ein:
ich Feiger erloͤſte ſie nicht.


Himmel! konnteſt du mich nicht rufen?
fuhr Belphegor haſtig, wie aus einem Trau-
me, empor.


Der
[89]

Der Derwiſch ſah ihn laͤchelnd an. — Ed-
ler Mann! wo ſollte ich dich ſuchen? fragte
er mit gefaͤlliger Freundlichkeit.


Belphegor beſann ſich und merkte, daß
ihm die Schwaͤrmerey ſeiner Einbildungs-
kraft den Streich geſpielt hatte, ihn einen
ſolchen Anachroniſmus begehen zu laſſen. —
Nun, ſo fahre fort! ſprach er erroͤthend. —


Beſter Freund, ſagte der Derwiſch nach
einer Pauſe, dieſer einzige Zug macht dich
mir theuer. — O haͤtte ich dich damals
gekannt, haͤtteſt du damals mit deinem Feuer
meinen erloſchnen Muth wieder anzuͤnden
koͤnnen, wie gluͤcklich waͤre ich geweſen! ich
waͤre nicht die Speiſe eines heimlichen
Grams geworden! — Doch das Schickſal
half ſchnell: der Tyrann ſpannte ſeine Fol-
ter ſo ſtark an, daß alle Erduldung und Ge-
laſſenheit zerreiſſen mußte. Da alle ſeine
Erfindungskraft im Quaͤlen erſchoͤpft ſchien,
ſo gab ihm eine wolluͤſtige Laune den tollen
Gedanken ein, ſie nackt ſehen zu wollen.
Er gebot ihr, ſich auszukleiden, und vor
ſeinem und etlicher Freunde Angeſicht —
wie er es nannte — à la grecque zu tanzen.
Sie wiederſetzte ſich, ſie ſtritt, ſie focht: um-
ſonſt!
[90] ſonſt! ſie wurde uͤberwaͤltigt: man riß ihr
die Kleider ab, man entbloͤßte ſie, und ſie,
die leidende Unſchuldige, ſtand, wie die Bild-
ſaͤule der Geduld auf einem Monumente, mit
bethraͤntem Geſichte und verſteinertem Blicke
da, um den Hoͤhnereyen der Unſinnigen zum
Ziele zu dienen. Sie gieng verwildert hin-
weg und gerieth in eine Verruͤckung, von
welcher ſie, bis an ihren Tod, zuweilen
Ruͤckfaͤlle ſpuͤrte. Zween Tage lang irrte ſie
zerſtreut und ohne Beſonnenheit im Hauſe
herum, ſeufzte und ſprach kein Wort; end-
lich warf ſie in einem Anfalle von Raſerey
in der Nacht verzweiflungsvoll alle Bande
der Mutterliebe von ſich, vergaß ſich ſelbſt
und entfloh, ohne bemerkt zu werden. Doch
bey aller Verwirrung fuͤhrte ihr das Ge-
daͤchtniß mein Andenken zuruͤck: ſie fuͤhlte
in ſich ſelbſt, daß ſie ehmals fuͤr mich em-
pfunden: ihre verungluͤckte Liebe ſuchte in
der meinigen Troſt, und ſie floh zu mir.
In dem eutſetzlichſten Zuſtande der Verwil-
derung, mit herumhaͤngenden Haaren, ro-
then aufgeſchwollnen Augenliedern, in offner
flatternder Kleidung, mit bloßen Fuͤßen kam
ſie in dem fuͤrchterlichſten Regenwetter eines
Abends
[91] Abends auf meine Stube, als ich tief[ſi]nnig
uͤber Mittel, ſie zu retten, nachdachte. Sie
fiel auf die Kniee, ſie flehte mich um meinen
Beyſtand an: ich erkannte ſie nicht, ſo ſehr
war ſie entſtellt, und ſo wenig ließ mich die
Betaͤubung des Schreckens meine Sinne ge-
brauchen. Sie ſtuͤrmte, wie unſinnig, auf
mich los; und noch kannte ich ſie nicht, bis
ſie ihren Namen nennte, bis ſie an meine
Liebe mich erinnerte — da erwachte ich,
aber nur wenige Augenblicke, um deſto laͤn-
ger mit allen meinen Kraͤften niederzuſinken.
Ihr Bild erſchuͤtterte mich bis in das Mark;
in einer todtenaͤhnlichen Fuͤhlloſigkeit ſaß
ich da: ich glaube, wir waͤren zu Monu-
menten unſers eignen Kummers verſteinert,
wenn uns nicht mein Nachbar, der neben
meiner Stube wohnte und uͤber die Stille,
die ſo ploͤtzlich das lauteſte Wehklagen un-
terbrach, erſtaunt war, durch ſeine Dazwi-
ſchenkunft getrennt haͤtte. Er hatte Kalt-
bluͤtigkeit genug, unſrer Sinnloſigkeit durch
geſunde Ueberlegung zu Huͤlfe zu kommen:
er ſchlug der ungluͤcklichen Entlaufnen einen
Zufluchtsort vor, wo ſie weder Mann noch
Geſetze wiederfinden ſollten.


Es ge-
[92]

Es geſchah; und ich beſchloß, mich von
meinen laͤftigen Geſchaͤften loszureißen, mein
Vermoͤgen heimlich aus dem Lande zu brin-
gen und mich in einer hinlaͤnglich ſichern
Entfernung mit ihr niederzulaſſen: ich waͤre
nicht ſtark genug geweſen, ein ſolches Pro-
jekt zu bewerkſtelligen, aber mein Freund
unterſtuͤtzte mich. In einiger Zeit war alles
vorbereitet, der Tag beſtimmt, und ich eilte,
meinen Anſchlag ins Werk zu ſetzen. Ich
komme in das Haus, wo ich ſie abholen
ſollte, und wohin ich, ſeit ihrem Eintritte
darein, nicht gehen durfte; ich finde ſie vol-
ler Erwartung und Zittern in den Armen
eines Frauenzimmers, die vor Verwundrung
oder Schrecken zuſammenfuhr, als ich hin-
eintrat. Meine Aufmerkſamkeit war auf
mein Vorhaben zu ſehr geheftet, um ſie
mehr als ſluͤchtig zu uͤberſehn: ich bot mei-
ner Lucie ſchon die Hand, um mit ihr fort-
zugehn, als mir ihre bisherige Beſchuͤtzerinn
die andre ergriff, und in der Sprache mei-
nes Vaterlandes mir die Geſchichte meines
Lebens und meiner Liebe bis zu meiner
Flucht aus Frankreich erzaͤhlte, und zuletzt
mich fragte, ob ich mich dazu bekennen wollte.
Ich
[93] Ich erſtaunte, daß ſie alles dies wiſſen konnte,
und noch mehr, als ich in ihr — meine S **
fand. Guͤtiger Gott! welche Begebenheit!
Zu einer Zeit ſie wieder zu finden, wo mein
Herz ſchon ganz an ein andres geknuͤpft war!
Die Liebe zu ihr war zwar durch die Laͤnge
der Zeit verdunkelt, aber ihr Andenken kehrte
doch ſtark genug in mich zuruͤck, um mich
in einen Streit mit mir ſelbſt zu verſetzen.
Ohne Anſtand ſprach ſie mich, da ſie meine
Verlegenheit gewahr wurde, von meiner
erſten Verbindung frey und kam mit mir
uͤberein, meine Liebe in Freundſchaft zu ver-
wandeln, die Alter und Zeit bey ihr von der
ehemaligen Waͤrme zu einer kaͤltern Geſetzt-
heit herbeygebracht haͤtten. Sie begleitete
uns eine kleine Strecke; in kurzem war ich
mit meiner Lucie an Ort und Stelle und
gleich darauf ihr Mann.


Ich hatte die Verwegenheit, in mein Va-
terland nach einiger Zeit zuruͤckzugehn, mich
um Gelder zu bewerben, die ich dort zuruͤck-
gelaſſen und in den Haͤnden meiner Anver-
wandten glaubte: doch wie betrog ich mich!
Der Sturm der Verfolgung hatte aufgehoͤrt
zu wuͤten, aber ſie wuͤtete noch durch die
Geſetze.
[94] Geſetze. Allenthalben fand ich noch Spu-
ren der Unmenſchlichkeit, allenthalben hoͤrte
ich die vergangnen Graͤuel noch erzaͤhlen,
bald im triumphirenden, bald im klagenden
Tone. Meine Mitbruͤder, die ſich noch
heimlich dort aufhielten, zogen mich mit
aller Muͤhe von dem Anſuchen um mein
Ruͤckgelaßnes ab; aber ſie konnten mich
nicht zuruͤckhalten. Ich erlangte nichts
und brachte mich durch meine Zudringlich-
keit ins Gefaͤngniß. Meine Frau und meine
beyden Toͤchter, die mir itzt das Alter und
die Einſamkeit verſuͤßen, befanden ſich in
der klaͤglichſten Lage: ſie mußten ſich im
Verborgnen bey einem meiner gutherzigen
Anverwandten aufhalten, der mit der Gri-
maſſe ein Katholik und im Herzen der auf-
richtigſte Hugenott war, und mich der Will-
kuͤhr einer blinden zelotiſchen Juſtiz uͤberlaſ-
ſen, oder ſich entdecken und mit mir zugleich
dem Aberglauben aufopfern wollte. Guͤtiger
Gott! wie wir litten! wie ich in meinem Kerker
ſeufzte! Ich war ſchon beynahe von mei-
nem Schmerze aufgezehrt und troͤſtete mich
mit meinem nahen Ende, ich war ſchon
gegen alle Vorſtellungen von den kuͤnftigen
Ungluͤck-
[95] Ungluͤckſeligkeiten meiner Familie abgehaͤrtet,
als ich ploͤtzlich die entſetzlichſte Nachricht er-
hielt, daß meine Frau und Kinder in dem
Gefaͤngniſſe neben mir ſchmachteten. Auf ein-
mal ſtuͤrzten alle meine ſchlafenden Empfin-
dungen, wie ein Donnerwetter, uͤber mich
her und warfen Beſonnenheit, Leben und
alle Kraͤfte darnieder: ohnmaͤchtig lag ich
da, und mein Waͤrter hielt mich fuͤr todt.


Als ich wieder zu mir zuruͤckkam, ver-
langte ich nichts ſo angelegentlich, als meine
Familie ein einziges Mal zu umarmen und
dann zu ſterben: dieſe Guͤte war zu groß,
um ſie mir nicht zu verweigern: meine
grauſamen Richter ſchlugen ſie nicht allein
ab, ſondern ſetzten ſogar die grauſame Be-
dingung hinzu, daß ich, um ſie nur zu ſehn,
um nicht ſie und mich auf ewig den Ketten
zu uͤberliefern, in vier und zwanzig Stun-
den das Bekenntniß meiner Vaͤter abſchwoͤ-
ren und in den Schoos der Kirche, dieſer
verfolgenden Kirche, als in den Schoos
einer Mutter zuruͤckgehn muͤßte. Alles ſetzte
mir zu, eine Heucheley zu begehn, um einer
Grauſamkeit auszuweichen. Ich uͤberlegte
Gund
[96] und uͤberlegte, kaͤmpfte und ſtritt mit mir
ſelbſt. — Guͤtiger Gott! rief ich endlich
und ſank auf meine Kniee, konnteſt du den
Menſchen ſo ſchaffen, daß nothwendig einer
mit dem andern nicht gleichfoͤrmig denken
mußte, und daß doch gleichwohl jeder ſich
fuͤr den einzigen Beſitzer der Wahrheit hielt,
konnteſt du zulaſſen, daß einer den andern
zu ſeiner Meynung zwingen wollte; warum
ſollteſt du es mir als ein Verbrechen anrech-
nen, wenn ich den Geſetzen deiner Einrich-
tung folge, wenn ich, der Schwaͤchre, dem
Staͤrkern mich unterwerfe und in die Anord-
nung fuͤge, die von Ewigkeit her in deiner
Welt geherrſcht hat — daß der Schwaͤchre
Unrecht behielt, thun und ſelbſt glauben
mußte, was der Staͤrkre zu glauben gebot.
Glauben kann ich nicht: aber um drey
Menſchen aus einem martervollen Leben zu
erloͤſen, um ſie nicht ewig in Banden ſeufzen
zu laſſen, um ſie der Gluͤckſeligkeit faͤhiger
zu machen, wozu du doch jedes Geſchoͤpf
auf dieſe Erde, nach unſrer aller Gefuͤhle,
geſetzt haben willſt — kann ich nicht um
ſolcher edlen Endzwecke willen, die dein eig-
ner Wille ſeyn und deine Billigung haben
muͤſſen,
[97] muͤſſen, den Staͤrkern ohne Suͤnde betriegen,
thun als wenn ich das Joch ſeiner Meynung
annaͤhme, und bleiben, was ich meiner Ein-
ſicht nach ſeyn muß? Nach den naͤmlichen
Geſetzen der Natur, die meine Seele befolgt,
wenn ſie meine Meynung fuͤr wahr erkennt,
handelt auch die ſeinige, wenn ſie der ihri-
gen anhaͤngt: du haſt uns einmal ſo ange-
legt, daß unſer Glaube von erlernten Vor-
urtheilen, Leidenſchaften, unmerkbaren Nei-
gungen und Trieben, wie eine Marionette,
regiert werden ſoll, was kann ich dafuͤr,
daß mich die meinigen zur Linken ziehn, und
meine Feinde zur Rechten? Noch mehr!
was kann ich dafuͤr, daß meine Gegner
die Staͤrke haben, mich nach ihrer Rich-
tung hinzureiſſen oder zu wuͤrgen? — Ich
ſchwoͤre: wer von uns beyden Recht hat,
weißt du nur, du Richter der Welt: du
willſt es nicht unmittelbar entſcheiden; ich
bleibe alſo bey der Wahrheit, die mir die
Nothwendigkeit des Schickſals als Wahrheit
aufgedrungen hat, und entſage ihr mit dem
Munde, weil ebendieſelbe Nothwendigkeit
der Staͤrkern mich dazu zwingen laͤßt.
Wohl! mein Meineid muß das edelſte Werk
G 2ſeyn;
[98] ſeyn; denn es rettet drey zur Gluͤckſeligkeit
beſtimmte Geſchoͤpfe vom Elende. —


Und du ſchwurſt? fragte Belphegor. —


Ja, ich that es! und mein Gewiſſen hat
mir noch nie einen Vorwurf daruͤber ge-
macht: ich glaube, ich that die nuͤtzlichſte,
die beſte That. Sie machte mich und meine
Familie frey, ſie brachte uns der Moͤglich-
keit, nicht ungluͤcklich zu ſeyn, naͤher: was
konnte ich mehr? — daß meine Abſicht
nicht erreicht wurde, daß wir einem Un-
gluͤcke entgiengen, um in ein andres zu fal-
len, war das meine Schuld?


Und, guter Mann, noch kamſt du nicht
zur Ruhe? unterbrach ihn Belphegor. —


Nein, ich wurde herumgetrieben. Der
Glaube der Europaͤer war damals in einer
allgemeinen Gaͤhrung: niemand glaubte als
was er mußte, und wenige glaubten, was
ſie bekannten. Nirgends konnte man neu-
tral ſeyn: allenthalben wurde man in den
Krieg verwickelt. Meine Melancholie er-
neuerte ſich: die duͤſtre Vorſtellung, daß ich,
ein Geſchoͤpf, das ſich dem Engel gleich
duͤnkte, nicht die Gluͤckſeligkeit des niedrig-
ſten Inſekts genießen ſollte, daß meine Bruͤ-
der
[99] der um mich herum ſich zerfleiſchten, erwuͤrg-
ten, elend machten, daß ſie, wie Raubthiere,
einander aufrieben, eins der entſchloßne
Feind des andern war und nur Gelegenhei-
ten, untriftige Gelegenheiten ablauerte, um
die Feindſchaft in Thaͤtlichkeit ausbrechen
zu laſſen — die noch ſchwaͤrzere Vorſtel-
lung, daß dies der ewige Lauf der Menſch-
heit geweſen war, womit ſich tauſend andre
Ideen vergeſellſchafteten, die mir dieſes
Leben und unſern ganzen Planeten wild,
oͤde, duͤſter, neblicht abmalten — ein Ge-
maͤlde, das nicht bloß in meiner Einbil-
dungskraft wohnte, ſondern das ich in der
Wirklichkeit um mich, hinter und vor mir
erblickte, ſo bald ich nur Einen Blick aus
mir ſelbſt that! — alle dieſe melancholi-
ſchen Gedanken machten meine laͤngſtgefaßte
Neigung zur Einſamkeit wirkſam: ich be-
ſchloß, außer der Welt zu ſeyn, bloß in
meiner Einbildungskraft zu exiſtiren, fuͤr
mich und meine Familie zu leben. Ich un-
ternahm mit einem Kaufmanne, der Ge-
ſchaͤfte in Perſien hatte, die Reiſe, ſuchte
den abgelegenſten Winkel und ſuchte ſo
lange, bis ich dieſen Plaz fand, wo mein
G 3Haupt
[100] Haupt grau geworden und meine Schlaͤfe
eingeſunken ſind. Mein Gefaͤhrte war un-
gluͤcklich in ſeinen Geſchaͤften, wurde gepluͤn-
dert, entfloh mit Muͤhe den Haͤnden der
Barbaren, die ihn zerſtuͤcken wollten, fluchte
der Welt und begab ſich mit zween ſeiner
Gefaͤhrten zu meiner Geſellſchaft. Wir
haben dieſen Platz angebauet, bepflanzt, wir
haben uns in kleine Geſellſchaften getheilt;
wir haben gluͤcklich, ruhig und im Frieden
zuſammen gelebt, weil wir klein an Anzahl
und unſre Nahrung hinreichend war: aber
fuͤrchterliche Ausſicht, wenn dieſer kleine
Trupp zu einer Groͤße anwachſen ſollte, die
den Eigennutz anfachen und die ſchoͤne Ruhe
dieſes Winkels in eine kriegeriſche Scene
verwandeln wuͤrde! Aber vielleicht ſehe ich
noch ſelbſt den Tod dieſen ganzen Schau-
platz leer machen, und dann moͤge ein an-
drer tugendhafter Trupp ihn finden und be-
wohnen, aber nie zu einem Volke werden! —
Freund! ich habe es dahin gebracht, wohin
ich wuͤnſchte: ich habe mir in meinem Kopfe
den Menſchen zu den Vollkommenheiten
eines hoͤhern Geiſtes erhoben, ich ließ ihn
in dieſer gluͤcklichen Illuſion mit den Ge-
ſchoͤpfen
[101] ſchoͤpfen der hoͤchſten Ordnung wetteifern,
ich liebte dieſe Idee, ward ſtolz darauf und
war — gluͤcklich. Um in dieſer Welt ſich
zu freuen, daß man ein Menſch iſt, um
ſich und ſeinem Geſchlechte Wuͤrde zu geben,
um auf ſeine Natur ſtolz zu ſeyn, muß man
ſich illudiren: man muß die Augen ver-
ſchließen, keinen Blick außer ſich thun, und
dann in ſuͤßen Schwaͤrmereyen dahintraͤu-
men. Itzt, da meine ganze Seele von ih-
rer Hoͤhe und anſchauenden Kraft herunter-
geſunken iſt, itzt will ſie nicht mehr traͤumen:
aber wohl mir! ich werde bald zu einem an-
dern Traume hinuͤberſchlummern. —


O edler Mann! unterbrach ihn Belphe-
gor; ich habe ebenfalls in deinem Traume
gelegen, aber das Schickſal und Akante
verſcheuchten ihn; und ſeitdem habe ich ge-
ſehen! geſehen und gelitten! Ich miſchte
mich in das Gedraͤnge und —


„Und du bekamſt Wunden und Beulen an


„Ehre, Vermoͤgen und gutem Namen!‟
Noch mehr! kein Fleck iſt an meinem Koͤrper,
den nicht eine Narbe brandmarkt! und
wenn ich aus dem Getuͤmmel zur Stille kam,
ſo verwundeten die graͤßlichſten Vorſtellun-
G 4gen
[102] gen meine Seele: die Welt ſollte mir eine
friedliche Wohnung gluͤcklicher Kreaturen
ſeyn, und die Erfahrung ſtellte ſie mir als
eine Hoͤle auflauernder Raͤuber vor: in dem
Menſchen wollte ich einen guten freundli-
chen Bruder finden, und ich fand einen
eigennuͤtzigen habſuͤchtigen Wolf. —


„Lieber Fremdling! wenn du mit dem
bloßen innern Geiſtesauge die Erde uͤber-
ſiehſt, ſo findeſt du ein gewiſſes Leere, ein
gewiſſes Geiſtliche darinne, daß dir ekelt,
daß du ſie ein fades Werk nennen mußt;
gleichwohl iſt es dein Beruf auf ihr zu leben.
Um das zu koͤnnen, finde ich nur zween
Wege: entweder ſtuͤrze dich in das Gewirre,
das Getuͤmmel der Freuden, der Geſchaͤfte,
des allgemeinen Streites des Eigennutzes,
ficht, ſiege oder ſtirb! Laß dich in dem Wir-
bel des Taumels herumdrehen, ohne zu den-
ken, ohne anders als uͤber die Oberflaͤche
der Dinge zu reflektiren: zum ruhigen ſtillen
Anſchauen der Sachen, zum Eindringen in
ſie laß es nie kommen! Lebe, wie die mei-
ſten Einwohner der Welt leben, das heißt,
komme nie zu dem Grade des Nachdenkens,
wo du mehr als einen kleinen Zirkel der Welt
uͤber-
[103] uͤberſchauſt, ſiehe nicht uͤber dich und deinen
Nutzen hinweg! Sey ein menſchliches
Thier, kein menſchlicher Geiſt! — Oder
waͤhle den andern Weg: reiſſe dich von
allen Banden loß, die dich an die Menſchen
feſſeln, exiſtire nur in deiner Seele, vergrabe
dich in ruhige einſame Stille! und dann
alle Fittige deiner Einbildungskraft und
Empfindung angeſpannt! laß ſie fliegen ſo
hoch ſie die Luft traͤgt, bis zum Aether!
uͤberlaß dich ganz den ſuͤßeſten Illuſio-
nen, *) die die Menſchheit erſinnen mag,
G 5dem
[104] dem Glauben an Vorſicht, Unſterblichkeit und
Erhabenheit der Seele: ſetze deine Natur und
alſo auch dich ſelbſt auf die hoͤchſte Staffel
der Weſen, ruͤcke ſie der Gottheit nahe:
weide dich an dieſen Schauſpielen der Ima-
gination und der Empfindung: ſey mehr
Geiſt als Thier, lebe mehr in der Idee
als in der Wirklichkeit und kenne nichts auf
der
*)
[105] der Erde außer dir! — Einer von beyden
Wegen muß dich zur Gluͤckſeligkeit fuͤhren:
du mußt entweder mit der Welt raſen, oder
dich von ihr trennen! Der denkende Mann,
mit ſtarkempfindendem Herze, der nur zu-
weilen ſich in ihr Spiel miſcht und nur ſel-
ten eine Karte zugiebt, der verliert allzeit an
ſeiner Ruhe, beſonders wenn er jedesmal
den Fuß zuruͤckzieht und nachdenkt und ver-
gleicht und erwaͤgt. — Ich betrat den
zweyten Pfad: dich ſtieß das Schickſal auf
den erſten, aber du verließeſt ihn, wie ich
merke, du irrteſt von einem zum andern,
du wollteſt raſen und auch vernuͤnftig ſeyn;
und ſiehe! die Stunden der Vernunſt, des
Nachdenkens wurden fuͤr dich Stunden der
Angſt, der Beunruhigung.„ —


Weiſer, ehrwuͤrdiger Mann! rief Belphe-
gor entflammt, fuͤhre mich auf den Weg
meiner erſten Jugend zuruͤck, in die Gefilde
der Einbildung, in welchen du bisher ge-
wandelt haſt! Ich bleibe bey dir: ich baue
ſtatt deiner das Feld und erarbeite meine
und deine Nahrung: wenn der Abend mir
den Schweis abkuͤhlt, dann ſitze ich mit
dir unter dem Schatten dieſer Zypreſſen und
ſchwaͤrme
[106] ſchwaͤrme mit dir in bilderreichem Nachden-
ken und ſuͤßen Grillen herum; wir traͤumen
wachend uͤber unſer Selbſt, du lehrſt mich
deine alte Erfahrung, wir leben in uns,
mit uns, und denken nicht Eine Minute dar-
an, ob Kreaturen, die ſich mit uns zu Ei-
ner Art rechnen, außer unſern Bergen ein-
ander zerfleiſchen, wuͤrgen, braten, roͤſten,
eſſen. Wehe euch, ihr Freunde, daß ihr
noch auf der ofnen See der Welt herumge-
worfen werdet, noch nicht wenigſtens eine
kleine Bucht gefunden habt, die euch vor
den Gefahren ſicherte, wenn ihr gleich das
tolle Spiel der Welt mit anſehn muͤßtet. —
O wuͤßtet ihr, welchen Hafen ich hier ent-
deckt habe, der mich vor Stuͤrmen, ſelbſt
vor dem Anblicke der Stuͤrme verbirgt, wie
wuͤrdet ihr uͤber mein Gluͤck frohlocken und
eilen, es mit zugenießen! Kommt, kommt!
Meine Arme ſind offen, weit ausgebreitet,
euch zu empfangen! Hier wollen wir in ſeli-
ger Entzuͤckung, wie gekroͤnte Streiter, die
Wunden zaͤhlen, die wir erfochten haben. —


Die Freude riß ihn ſo heftig hin, daß er
den Alten umarmte, kuͤßte und nicht aus
ſeinen Armen laſſen wollte. Mitten unter
dieſen
[107] dieſen Freudensbezeugungen hub ſich der Alte
empor und ſprach mit ernſter Mine: Freund,
noch eine Pflicht iſt mir uͤbrig — eine
traurige aber doch ſuͤße Pflicht: begleite mich!
Du kanſt empfinden; Du wirſt alſo kein
uͤberfluͤßiger, kein muͤßiger Zeuge davon
ſeyn. —


Belphegor ſtaunte voller Erwartung, als
die beiden Toͤchter den Alten unter die Arme
faßten und ihn ſeitwaͤrts durch einen ge-
kruͤmmten Weg in ein dunkles Zypreſſenwaͤld-
chen fuͤhrten, das jedem, der hineintrat,
einen heiligen Schauer entgegen ſandte: durch
die Spitzen der Baͤume fiel duͤſtrer Mond-
ſchein auf den Weg und auf einzelne Plaͤtze
zwiſchen den Baͤumen, wo ihn eine zufaͤllige
Oeffnung durchließ: Stille herrſchte uͤberall
und weit ſahe das Auge in eine langgedehnte
Duͤſternheit hinab, die aber der Blick mehr
vermuthen als ſehen ließ. Der Greis gieng
ſtillſchweigend fort bis zu einem Steine, wo
er ſich ſeufzend niederſetzte und mit einem
Tone, der Thraͤnen vermuthen ließ, zu Bel-
phegorn ſprach: Itzt, Freund, will ich Dir
ihre Geſchichte erzaͤhlen, dann troͤpfle ein
Paar Thraͤnen auf dieſen Stein! und wir
gehn.
[108] gehn. — Eines Morgens kurz nach unſrer
Ankunft in dieſem Thale, als die friſcheſte
Heiterkeit die ganze Natur belebte, ſaß ich,
meine Lucie im Arme, auf dieſem Stein und
freute mich mit ihr uͤber die Ruhe, die wir
genoſſen, und die Drangſale, denen wir ent-
gangen waren, und waren ſo zufrieden und
liebten uns in der gluͤcklichſten Trunkenheit
und Vergeſſenheit unſrer ſelbſt; wir dachten
auf den Plan, wie wir unſer kleines Feld
bepflanzen, und dieſem freygebigen Boden
unſre nothduͤrftige Nahrung abgewinnen
wollten. — Siehe! rief ſie und wies auf
ein bluͤhendes Gewaͤchs, das zwiſchen den
Baͤumen ſtund, auch dieſes muͤſſen wir
pflanzen; es lacht ſo lieblich; wer weis,
welche heilſame Kraͤfte es in ſich verbirgt?
Laß uns verſuchen! So ſprach ſie und langte
darnach. Nein, ſagte ich und hielt ſie zu-
ruͤck, laß mich lieber zuerſt ſehn; waͤre es
Gift, es koͤnnte dich toͤdten. Wie koͤnnte,
erwiederte ſie, unter einem ſo einladenden
Blicke toͤdtendes Gift verborgen ſeyn? ich
pflanze es um unſer Haus, waͤre es auch
nur um ſeiner reizenden Bluͤthe willen. —
Sie pfluͤckte einen Zweig ab, koſtete die
Frucht
[109] Frucht der herabhaͤngenden Schote und fand
ihren Geſchmack weniger ſchoͤn als die Mine,
aber doch nicht uͤbel. Sie koſtete noch ein-
mal, und dann wieder, gab mir davon, ich
konnte aber nichts genießen. Ich bat noch-
mals, die Frucht wegzuwerfen; allein ſie
fand den Geſchmack ſuͤßer und angenehmer,
je mehr ſie genoß. Wir beſchloſſen, die
Pflanze zu verſetzen, ſprachen und ergoͤtzten
uns an kuͤnftigen Einrichtungen noch lange
Zeit. Ploͤzlich verſtummte ſie, entſank ſich
windend meinem Arme, ich faßte ſie auf,
rief; umſonſt! alle Glieder zitterten mit kon-
vulſiviſcher Bewegung, die Muſkeln des Ge-
ſichts verzerrten ſich in ſchreckliche Minen,
ſie ſchluchzte noch einige unvernehmliche
Worte, ſtarrte dahin und — ſtarb.


Er verſtummte, und die Geſchichte ſelbſt
lehre den Leſer ſeine Empfindung. —


Mitten in der Nacht als die ganze kleine
Kolonie in dem tiefſten ſorgenloſeſten Schlafe
lag — denn vor welchem Eigennutze ſollten
ſie in der abgeſonderſten Einſamkeit ſich
fuͤrchten? — weckte Belphegorn ploͤzlich ein
Getoͤſe, das immer mehr ſich verſtaͤrckte,
und naͤher ruͤckte: er hob ſich empor und
wurde
[110] wurde von einem Widerſcheine erhellet, der
die ſchrecklichſte Feuersbrunſt ankuͤndigte. Er
ſprang auf, ſchaute herum und erblickte
Wohnungen und Baͤume vom Feuer ergrif-
ſen, uud zahlreiche Truppe mit lodernden
Harzfackeln uͤber die Ebnen hinſtreichen, um
die Verwuͤſtung noch weiter auszubreiten.
Er erſchrak, wollte ſeinen Freund retten,
wurde inne, daß ſeine Huͤtte beinahe ſchon
niedergebrannt war, vermuthete, daß er
das Opfer der Flammen geworden ſey,
dachte an ſich und floh.


Der Ueberfall geſchah von einem Truppe
Einwohner, die jenſeits der Berge zunaͤchſt
angraͤnzten. Die Ruchloſen vermutheten,
daß Niemand einen ſo beſchwerlichen Weg,
wie Belphegor, unternehmen koͤnne, wenn
ihn nicht wichtige Reichthuͤmer lockten: da
ihnen der Mann etwas auslaͤndiſch vorkam,
ſo war der naͤchſte Einfall, ihn fuͤr einen
Zauberer zu erklaͤren, der durch geheime
Wiſſenſchaften in den Bergen verſchloßne
Schaͤtze in der Ferne geſpuͤrt habe und itzt
gekommen ſey, ſie abzuholen. Aus dieſer
Urſache verſammelten ſie ſich ſogleich als der
vermeynte Schatzgraͤber ſeinen Weg in das
Gebuͤr-
[111] Gebuͤrge antrat, folgten ihm heimlich nach
und beſchloſſen, ſeine Ruͤckkunft mit den
Schaͤtzen zu erwarten: da ihnen aber einfiel,
daß der Mann, als ein Zauberer, wohl
ſeine Ruͤckreiſe auf gefluͤgelten Drachen oder
mit einer andern Art von Hexentranſporte
veranſtalten koͤnnte, ſo aͤnderten ſie weislich
den Plan und faßten den Schluß, ihn noch
die naͤmliche Nacht mit Feuer, als den ſi-
chern Waffen wider alle Zauberey anzugrei-
fen, wiewohl ſie auch noch die menſchen-
freundliche Nebenabſicht hatten, ihn vermit-
telſt deſſelben aus ſeiner Wohnung hervorzu-
ſcheuchen, ſich die Schaͤtze zeigen zu laſſen,
und ihm alsdann zur Belohnung die ver-
dammten Zaubergebeine zu Aſche zu verbren-
nen. Noch mehr wurden ſie in ihrer Mey-
nung beſtaͤrkt, da der zuruͤckkommende Weg-
weiſer ihnen das empfangne Geld zeigte und,
um ſeine Erzaͤhlung intereſſanter zu machen,
hinzuſetzte, daß ihm dieſes der Mann durch
einen Schlag mit ſeinem Stabe aus der Er-
de habe hervorſpringen laſſen. Jedermann
brannte vor Verlangen auf dieſe Nachricht
und ſahe ſchon aus jedem Flecke, worauf er
trat, Silber und Edelgeſteine hervormar-
Hſchiren,
[112] ſchiren, beſichtigte jedes beſondere Stein-
chen und vermuthete unter jedem abgefallnen
Blatte eine verdeckte Koſibarkeit. Sie war-
teten in einem Hinterhalte, bis der Zauberer
ſchlafen wuͤrde, wo ſeine Kraͤfte nicht wir-
ken koͤnnten, und fuͤhrten ihr ſchreckliches
Stratagem aus. Sie zuͤndeten die Huͤtten
des Derwiſches an, der wegen langer Si-
cherheit ungewohnt worden war, Feindſe-
lichkeiten von Menſchen zu beſorgen, und
mit ſeinen Toͤchtern verbrannte, ehe ſie ihr
trauriges Schickſal wahrnahmen. Belphe-
gor erwachte, ehe das Feuer ſeine Wohnung
verheerte und entrann in den nahen Wald,
indeſſen daß die Feinde an der brennenden
Huͤtte des Derwiſches und den uͤbrigen lauer-
ten, um den herauskommenden Zauberer zu
erhaſchen: ſie lauerten, bis alles niederge-
brannt war, ſie lauerten bis zum Morgen:
der Zauberer erſchien nicht, weswegen ſie
vermutheten, daß er durch die Luͤfte ent-
wiſcht ſey, und da ſie ſich nicht getrauten,
ihm auf dieſem Wege nachzuſetzen, ſo ver-
fluchten ſie ihn, giengen unwillig fort, mach-
ten eine Eintheilung von den Schaͤtzen, die
ſie haͤtten bekommen koͤnnen, und pruͤgel-
ten ſich tapfer herum, wenn einer zu hab-
ſuͤchti-
[113] ſuͤchtige Anſpruͤche machte: ſo nahm die Ko-
moͤdie doch wenigſtens ein wuͤrdiges Ende. —


So ſind meine ſchoͤnen Hoffnungen aber-
mals zerſtaͤubt? rief Belphegor, als er ſich
ein wenig geſammelt hatte. Ich wollte erſt
anfangen zu traͤumen, und habe ſchon aus-
getraͤumt! daß doch jede Gluͤckſeligkeit auf
dieſem elenden Planeten voruͤberfliegender
Traum iſt, und nur die Leiden nicht! —
So will ich wenigſtens die Umſtaͤnde brau-
chen, wie ſie ſind: kann ich in dieſem Win-
kel nicht mit meinem ehrwuͤrdigen Freunde
gluͤcklich leben, ſo will ichs ohne ihn thun.
Hier in dieſen Bergen will ich wohnen, die
Fruͤchte der verſcheuchten und getoͤdteten Be-
wohner genießen, und dann Tod! dann in
deiner Umarmung gluͤcklich werden! —
So beſchloſſen, ſo gethan. Er ſchlich ſchuͤch-
tern zu den Wohnplaͤtzen zuruͤck, fand alles
verheert, verwuͤſtet, verbrannt und keine
lebendige Seele. Die wenigen Fruͤchte, die
er antraf, reichten auf einige Tage hin, und
ſo eifrig er die Huͤlfe des Todes vorhin
wuͤnſchte, ſo bekuͤmmert war er itzt, da ihr
Termin ſo nahe herbeyruͤckte. Er machte
ſchon verſchiedene Anſchlaͤge, wie er ſich mit
H 2dem
[114] dem vorhandnen Vorrathe beladen und aus
den Gebuͤrgen hinausbringen ſollte. — Al-
lein, ſprach er endlich unmuthsvoll, ob
mich der Hunger oder die Menſchen toͤdten!
Sollte ich ihrer Grauſamkeit gar den Gefal-
len erzeigen und mich von ihnen umbringen
laſſen? Nein, hier ſterbe ich! Hier, Tod,
erwarte ich deinen huͤlfreichen Schlag! —


Mit dieſer Entſchließung ſetzte er ſich un-
ter einen Baum und wartete voller Verlan-
gen auf den Tod. Mitten unter ſeinen
Erwartungen hoͤrte er das Geraͤuſche
eines Fußtrittes, hielt es fuͤr einen Feind,
und weil er ſchlechterdings nicht von Men-
ſchenhaͤnden umgebracht ſeyn wollte, ſo
ſprang er auf und floh. Der andre ſezte
ihm nach und erhaſchte ihn: in der erſten
Hitze, ehe ſie einander erkannten, thaten ſie
ſich ein Paar Feindſeligkeiten an, und wur-
den endlich zu ihrem Leidweſen gewahr, daß
ſie ſich unnoͤthige Wunden gemacht hatten.
Es war einer von der Kolonie des Derwi-
ſches, der Belphegorn bey dieſem geſehn
hatte und alſo wohl ſchließen konnte, daß
ihn Eine Urſache mit ihm in die Flucht ge-
trieben habe. Sie verſtaͤndigten ſich hier.
uͤber,
[115] uͤber, und Belphegors erſte Frage war als-
dann, wo der Derwiſch hingekommen ſey.


Er iſt nebſt ſeinen beiden Toͤchtern zu Pul-
ver verbrannt, war die Antwort. Ich ha-
be in den Ruinen ſeiner Wohnung ihre Ge-
beine gefunden, geſammelt und dort unter
jenem friſchen Erdhuͤgel verſcharrt. —


So verſcharre mich neben ihm! unter-
brach ihn Belphegor; denn ich will ſterben,
hier auf dieſem Flecke ſterben. —


Der andere that etliche unmaßgebliche
Vorſchlaͤge, wie ſie wohl mit Ehren beide
noch laͤnger leben koͤnnten, und ermahnte
in dieſer Ruͤckſicht Belphegorn, mit ihm ſich
durch das Gebuͤrge durchzuarbeiten, franzoͤ-
ſiſche Kaufleute aufzuſuchen und dann nach
Frankreich zuruͤckzukehren.


Nein, ich will ſterben! rief Belphegor.
In Frankreich ſind Menſchen; wo die ſind,
iſt man ungluͤcklich: ich will ſterben. —


Sein Freund ſezte ihm mit ſeiner ganzen
Beredſamkeit zu, weil ihm daran lag, einen
Gefaͤhrten zu ſeiner Reiſe zu haben, und
brachte es endlich ſo weit, daß er wenig-
ſtens ſeine Vorſchlaͤge in Erwaͤgung zog. —
Wir wollen als Gaukler, als Leute, die
H 3Merk-
[116] Merkwuͤrdigkeiten zeigen, herumziehn, bis
wir in eine Stadt kommen, wo uns die Zu-
flucht zu einem Konſul meiner Nation offen
ſteht: — das war ſein Vorſchlag. — Bel-
phegor weigerte ſich, wollte ſterben, willigte
drein und blieb leben.


Sie verſorgten ſich mit allem, was ſie
tragen konnten, traten den Weg an und
Belphegor ſandte einen ſchwermuͤthigen Seuf-
zer in das verwuͤſtete Thal zuruͤck, als ſie
in den Wald hineintraten, um es nie wie-
der zu erblicken.


Sie ſanuen nunmehr auf Projekte, wie
ſie die Neugierde der Perſer reizen und ihnen
fuͤr eine kleine Beluſtigung den Unterhalt
abgewinnen koͤnnten. Nachdem vieles Nach-
denken verſchwendet war, ſo brachte Bel-
phegorn ein Einfall darauf, die Geſchichte
Alexanders des Großen nach ſeinem Tode
zu malen, und ſie als ein den Perſern hoͤchſt
interreſſantes Schauſpiel fuͤr Geld zu zeigen:
— verſteht ſich, daß die Vorſtellung nicht
zum Vortheile des Macedoniers ausfallen
ſollte.


Belphegor war nun einmal geſchworner
Feind der Eroberer und aller, die jemals
zum
[117] zum Wuͤrgen und Morden Anlaß gegeben
hatten: weil er beſtaͤndig wider ſie zuͤrnte,
ſo wollte er ſchon vor vielen Jahren in einer
unwilligen Laune, ſie insgeſammt der oͤffent-
lichen Verachtung ausſetzen, doch gluͤckli-
cher Weiſe hatte er die Idee aufgehoben, um
izt ſein Brod damit zu verdienen.


Die Kompoſition des Gemaͤldes war er-
funden, und man ſchritt zur Ausfuͤhrung;
aber zur groͤßten Beſtuͤrzung wurde man ge-
wahr, daß man zum Malen Leinwand und
Farbe brauche und doch kein Geld bey der
Hand habe, um dieſe Materialien anzukau-
fen. Belphegors Gefaͤhrte wußte Rath zu
ſchaffen: er ſchlich des Abends in ein klei-
nes Dorf, kam zuruͤck und uͤberbrachte ſei-
nem Gefaͤhrten, ſo viel er fuͤr noͤthig erach-
tete, was er aller Wahrſcheinlichkeit gemaͤß
geſtohlen haben mußte: es wurden Farben
aus Wurzeln gepreßt, aus Erden zuberei-
tet, die Leinwand aufgeſpannt, das Palet
ergriffen und das Ganze meiſterlich ausge-
fuͤhrt. Belphegor konnte etwas zeichnen
und ſein Gefaͤhrte hatte es ehemals gekonnt:
dieſer wenigen Talente ungeachtet, brachten
ſie doch ein Werk zu Stande, dem man we-
H 4nigſtens
[118] nigſtens mit Huͤlfe einer deutlichen Erklaͤ-
rung anſehn konnte, was der Kuͤnſtler aus-
zudruͤcken gemeynt geweſen war. Dies Mei-
ſterſtuͤck der Kunſt wurde auf Stangen zu-
ſammengerollt getragen und jedem neugieri-
gen Auge zur Anſicht geoͤfnet, ſobald dafuͤr
etwas bezahlt war.


Ein neues Hinderniß! Beide waren nicht
ſtark genug in der Landesſprache, um ihr
Gemaͤlde mit der gehoͤrigen Fluͤchtigkeit der
Zunge redend zu machen: und gleichwohl
war eine woͤrtliche Erklaͤrung mehr als Licht
und Schatten in ihrem Werke. Sie mach-
ten indeſſen einen Verſuch. Belphegor er-
zaͤhlte in dem naͤchſten Dorfe den erſtaunen-
den Zuhoͤrern mit lauter Stimme von dem
Wuͤtrich, dem bekannten Alexander, der
ganz Perſien bezwungen, und verſprach ih-
nen zu zeigen, wie dieſer Erzfeind des per-
fiſchen Namens nach ſeinem Tode zur ver-
dienten Strafe gezogen, wie ſein Koͤrper zer-
ſtuͤckt und in die niedrigſten Geſtalten ver-
wandelt worden, und wie er zulezt mit ſei-
nem uͤbermuͤthigen Stolze ſey gebraucht wor-
den, um ein Mausloͤchlein zuzuſtopfen u. ſ. f.


Nie-
[119]

Niemand wußte etwas von dieſem Blut-
hunde, dem Alexander: den Ali kennen wir
wohl, ſagten die Anweſenden, welcher hoch-
gelobt und gepreiſt ſey. Andre glaubten,
daß er den Ali laͤſtern und von ihm ſo ſchaͤnd-
liche Aergerlichkeiten erzaͤhlen wolle. Dieſe
machten dem Schauſpiele ein ploͤzliches En-
de, huben Steine auf und bombardirten
auf Gemaͤlde und Kuͤnſtler los, daß beide
nicht ohne Loͤcher davon kamen: ſie ergriffen
die Flucht und beſſerten, als ſie ſich in Si-
cherheit ſahen, Tapete und Malerey wieder
aus.


Die Leute ſind hier zu devot, ſagte Bel-
phegor. Freylich muß man Plaͤtze ſuchen,
wo ſchon ein gewiſſer Luxus herrſcht, und
wo die Menſchen nicht mit ihren Beduͤrfniſ-
ſen zu ſehr beſchaͤftigt ſind, um am Verguuͤ-
gen Geſchmack zu finden. Dummheit und
Devotion muͤſſen Leute, die fuͤr den Ge-
ſchmack und die Philoſophie arbeiten, wie
das Feuer vermeiden.


Sie giengen in eine kleine Stadt, aber
auch hier wußte niemand etwas von dem
großen Alexander, doch ſah man, um das
Beduͤrfniß der Langeweile zu befriedigen,
H 5die
[120] die wunderbaren Schickſale des todten Halb-
gottes auf der Leinwand an. Sie ſchauten
alſo erſtlich: wie dem ſeynwollenden Halb-
gott Alexander und großen Menſchenwuͤrger
die Wuͤrmer aufm Leib herummarſchiren und
jedes ſein Portionlein abzwackt. — Ferner
ſchauten ſie: wie von dem großen Alexander
und Erzfeind der Perſer ein Theil in den
Magen eines Schweins uͤbergeht. — Die
Idee, ſieht man wohl, war ſehr moraliſch,
und Belphegor bedeutete ſein Auditorium
dabey, daß die Theilchen Materie, die ehe-
mals den Alexander ausmachten, als er Per-
ſien ſchaͤndlicher Weiſe bekriegte, nach ſei-
nem Tode zerflogen und verſchiedenen Men-
ſchen, Pflanzen und Thieren zu Theil ge-
worden waͤren. Er ließ daher ſeinen Hel-
den unter einer Eiche begraben liegen, ſeine
Beſtandtheile in den Baum aufſteigen und
zu Eicheln werden, dann unter dieſer Ge-
ſtalt in den Magen einer Sau hinunterſtei-
gen, von dieſer ſeinen Ausgang nehmen,
einen Fleck duͤngen, zu Flachſe aufwachſen
und in dieſer Form von einem alten babylo-
niſchen Weibe gebraucht werden, um ein
Maͤuſeloch zu verſtopfen. Auf aͤhnliche
Weiſe
[121] Weiſe mußte ein andrer Trupp von ſeinen
Beſtandtheilen eine Reiſe thun, ſo ein drit-
ter und noch mehrere, und jede Reiſe endigte
ſich mit einer hoͤchſtunangenehmen Herber-
ge. — So viel ſinnreiches und wahres die
Erfindung auch enthielt, ſo konnten die Ein-
wohner doch nicht viel Beluſtigung daran
finden, weil ſie nichts davon begriffen; be-
ſonders wollten ſie nichts mit dem Alexan-
der zu thun haben, der nie einem unter ihnen
den Kopf entzwey geſchlagen hatte, und ih-
nen alſo auch nicht bekannt war: der Ge-
winnſt war ungemein geringe.


Sie machten einen dritten Verſuch in
einer groͤßern Stadt: abermals Unwiſſen-
heit! keine Seele wußte nur Eine Sylbe
vom Alexander; man konnte ihn nicht ein-
mal ausſprechen. Sie ſtellten ſich auf einen
Marktplatz, wo das Volk ſich um einen Gau-
kler aufmerkſam verſammelt hatte, den es
aber ſogleich haufenweiſe um der Neuheit
willen verließ, als die beyden Europaͤer ihre
Stangen hoch in die Luft aufrichteten.
Man wurde durch den Anblick der Gemaͤlde
nicht ſonderlich ergoͤtzt, man gaͤhnte: indeſ-
ſen hatte der Gaukler es doch einmal uͤbel
genom-
[122] genommen, daß er durch die Ankunft dieſer
Leute einen Verluſt an Zuſchauern erlitte;
er hoͤrte alſo kaum die erſte Sylbe von dem
Namen des Alexanders, als er, um ſich zu
raͤchen, unter die Menge das Geruͤchte aus-
ſtreute, daß dieſe Ruchloſen den großen Pro-
pheten Ali verſpotten und laͤcherlich machen
wollten: das Volk, das ohnehin wegen ſei-
ner betrognen Erwartung wider die Euro-
paͤer eingenommen war, fieng bald Feuer,
gab eine Salve Steine und Knittel auf die
Gemaͤlde, ſtuͤrmte darauf loß, eroberte und
vernichtete es unter dem lauteſten Jubel.
Ein Gluͤck war es, daß der Poͤbel Gelegen-
heit fand, ſeine Wuth an der fuͤhlloſen Lein-
wand zu ſaͤttigen: denn waͤhrend dieſer Ra-
ſerey erwiſchten die beyden Europaͤer eine
Oeffnung in dem Gedraͤnge, durch welche
ſie wohlbedaͤchtig hindurchkrochen und mit
leidlich heilen Gliedmaßen zum erſten Thore
hinausliefen.


O Wohnung des Neides und des Un-
gluͤcks! rief Belphegor; haͤßliche Erde!
Auch in dem niedrigſten Gewerbe iſt Krieg!
findet ſich Gelegenheit fuͤr Menſchen, einan-
der mißguͤnſtig zu verfolgen! O Erde, du
Woh-
[123] Wohnung des Neides! — Freund! was
ſollen wir nun thun? —


Betteln! ſagte der Gefaͤhrte ſeines
Ungluͤcks.


Betteln! ſchrie Belphegor und ſeufzte. —


Nicht anders! Weg mit dem Stolze!
Unverſchaͤmtheit her! das iſt itzt unſre noth-
wendigſte Bruſtwehr.


Belphegor ſtieß einen Valetſeufzer an den
Stolz aus, ließ ſich von ſeinem Freunde die
Haare abſchneiden und wanderte mit ihm
auf gutes Gluͤck hin.


Die Lebensart war nicht wenig eintraͤg-
lich fuͤr ſie: doch fuͤr Belphegorn weniger
als ſeinen Gefaͤhrten, weil dieſer die Kunſt
der Unverſchaͤmtheit beſſer inne hatte. Bel-
phegor troͤſtete ſich damit, daß er ſein ſchlech-
teres Fortkommen einer hoͤhern natuͤrlichen
Wuͤrde zuſchrieb, und ſein geſicherter Stolz
hielt den Neid zuruͤck. Ploͤtzlich wandte ſich
durch einen Zufall das Gluͤck. Der zuruͤck-
geſetzte Belphegor gerieth auf den Einfall,
das Frauenzimmer zu ſeiner Goldmine zu
machen, und bediente ſich dabey der bekann-
ten Wuͤnſchelruthe — der Schmeicheley:
jeder, die er anſichtig wurde, ſagte er eine
Suͤßig-
[124] Suͤßigkeit — je haͤßlicher ſie war, je ſtaͤr-
ker gab er die Doſis — und er lebte im
Ueberfluſſe. Sein Gefaͤhrte war ſchon zu
ſehr gewohnt, einen Vorzug vor ihm zu ha-
ben, als daß er ſich itzt ſo ruhig von ihm
uͤberholen laſſen ſollte: es kam ihm als ein
Eingriff in ſeine Rechte vor, ſein Neid wurde
rege, und da er ihm nichts entgegenzuſetzen
hatte, ſo wuchs er taͤglich im Stillen, bis
er mit Sturm ausbrach. Er ſuchte Urſache
zum Zwiſte, und wie leicht kann jedem in
dieſer Welt damit gedient werden! Er fand
ſie, Belphegor gab nach, bis er endlich
durch den Ungeſtuͤm des Andern gleichfalls
erhitzt wurde; es wurde offner Krieg, worinne
Belphegor den Kuͤrzern zog: ſein Gefaͤhrte
pluͤnderte ihn, und verſetzte ihn in einen
Zuſtand, daß er ihm nicht ſogleich nachfol-
gen konnte, entfloh und trennte ſich von
ihm auf ewig.


Belphegor lag mit blutendem Geſichte
und halbgelaͤhmten Lenden an einem kleinen
Fluſſe, wo er abermals uͤber Welt und Men-
ſchen ſein Klagelied ſang und von den Be-
ſchwerlichkeiten des vorigen Treffens aus-
ruhte. Endlich da er weiter nichts vor ſich
ſah,
[125] ſah, als ſeinen Weg und ſein Bettlergewerbe
fortzuſetzen, ſtund er unwillig auf und hinkte
laͤngſt des Fluſſes hin.


Nach einer kleinen Strecke ſtieß er an ein
Frauenzimmer, das an einem Scheidewege
auf einem Steine ſaß und ihn ſchon in der
Ferne mit den wolluͤſtigen Geberden bewill-
kommte: er merkte alſo leicht, daß es eine
von den orientaliſchen Schoͤnheiten war, die
ihre Reize auf den oͤffentlichen Straßen
ſelbſt verhandeln. Sein Muth war zu ſehr
geſunken, um an ihren Einladungen Theil
zu nehmen: er gieng alſo ungeruͤhrt vor-
uͤber und wuͤrdigte ſie kaum eines Seiten-
blickes. Sie folgte ihm und beunruhigte
ihn mit den Bemuͤhungen, ſein Felſenherz
zu erweichen, ſo lange bis er unwillig ſie
zuruͤckwies: ſie verfolgte ihn unaufhoͤrlich.
Um wenigſtens die Qual ihrer Zudringlich-
keit zu mindern, bat er ſie, ihm den Weg
zur naͤchſten Hauptſtadt zu zeigen, welches
ſie gern that, weil der naͤmliche Platz fuͤr
ihre Geſchaͤfte der vortheilhafteſte war, und
unterwegs, da ſie durch ſeine Offenheit
gleichfalls offen geworden war, unter-
hielt
[126] hielt ſie ihn mit ihrer Geſchichte, den Be-
ſchwerlichkeiten ihres Handwerks und ihrem
Ekel dafuͤr. Sie bewies beſonders bey
dem letzten Punkte eine Empfindſamkeit, die
ſie ihrem Begleiter merkwuͤrdig machte, und
verſicherte, daß ſie nichts als die aͤußerſte
Noth in eine der ſchaͤndlichſten erniedri-
gendſten Lebensarten geſtuͤrzt habe, die ſie
haßte und verfluchte, und nur, um nicht zu
verhungern, emſig betreiben muͤßte. — O,
ſetzte ſie hinzu, Schickſal! du biſt der Schoͤ-
pfer unſrer Vergehungen!



Achtes
[[127]]

Achtes Buch.


I
[[128]][[129]]

Belphegors Begleiterinn fieng ungeheißen
an, ihm etliche Stuͤcke ihrer Geſchichte
mitzutheilen, und zwar mit dem Tone eines
geheimen Kummers, der ſich oͤffnen will, um
ſich zu erleichtern: allein ihr Zuhoͤrer war
mit ſeinen eignen truͤbſinnigen Gedanken zu
ſehr beſchaͤftigt, um von ihrer Erzaͤhlung
intereßirt zu werden. Sie fuhr demungeach-
tet ungehindert fort und verſicherte, daß der
ganze unuͤberſehliche Faden ihrer grauſamen
Schickſale von einem gewiſſen Fromal an-
geſponnen ſey, dem ſie dafuͤr allen Fluch des
Himmels und der Erde zur Belohnung an-
wuͤnſchte.


Belphegor fuhr auf und ſah ſie unbeweg-
lich an. Von einem gewiſſen Fromal! rief
er, wie aus einem Traume erwachend.


Ja, von dieſem ſchaͤndlichſten aller Boͤſe-
wichter, der mich verleitete, einen gewiſſen
Belphegor zum Hauſe hinauszuwerfen —


Einen gewiſſen Belphegor! unterbrach
ſie ihr Gefaͤhrte erſchrocken, doch ohne ſich
I 2zu ver-
[130] zu verrathen, ob er gleich merkte, mit wem
er zu ſprechen die Ehre hatte.


Sie erzaͤhlte ihm hierauf mit gelaͤufiger
Zunge ihre ganzen Schickſale bis zu der
großen Wolkenreiſe, *) wo ſie von ihrem
verſoͤhnten Liebhaber und ſeinem Freunde Me-
dardus getrennt wurde, und zwar mit den
naͤmlichen Umſtaͤnden, unter welchen meine
Leſer ihren Bericht bereits vernommen haben.
Belphegor konnte daraus nichts anders
ſchließen, als daß die Geſchichte wahr und
ſein Freund Fromal ein treuloſer Freund ſey,
der ihn doppelt hintergangen, als er ihn
nach ſeiner Verweiſung aus Akantens Hauſe
beruhigte, und als er ihm die Urſachen her-
rechnete, warum er zu ſeiner Vertreibung
etwas beygetragen hatte. Er naͤhrte ſchon
lange einen bittern Unwillen wider alles,
was menſchlich heißt, bey ſich, und glaubte
um ſo viel leichter, daß ſein Schluß richtig,
und Fromal, wie alle Menſchen, ein Boͤſe-
wicht ſey.


Waͤhrend daß er mit einer geheimen me-
lancholiſchen Freude dieſer Meynung beyfiel,
fuhr Akante in ihrem Berichte fort und
erzaͤhlte
[131] erzaͤhlte ihm, daß ſie von ihrer Wolkenfahrt
in die Tuͤrkey herabgelaſſen worden ſey und
ſich, um ihrem gaͤnzlichen Mangel abzuhel-
fen, an einen reichen Kaufmann als Skla-
vinn verhandelt habe.


Mein Herr, ſagte ſie, ward meiner bald
uͤberdruͤßig: ſo ſehr ich ſelbſt nach dem Ver-
luſte meiner hauptſaͤchlichſten natuͤrlichen
Schoͤnheiten in Europa gefiel, ſo wenig
wurde dieſer fuͤhlloſe Tuͤrke von meiner mar-
mornen Hand und meinem ſchoͤn lackirten
Geſichte geruͤhrt, das leider! itzt nur noch
Ruinen ſeiner vormaligen Schoͤnheit aufzu-
weiſen hat. Er verkaufte mich an einen
Herrn, der ſich beſſer darauf verſtand, weil
er ein Paar elende Goldſtuͤcke bey dem Han-
del gewinnen konnte. Mein neuer Herr
nahm mich in ſein Serail und verkaufte
mich in etlichen Wochen an Mulai Jaſ-
ſem,
einen Handelsmann aus Antiochien;
Mulai Jaſſem verkaufte mich an Abi
Nizza
nach Bagdad; Abi Nizza uͤber-
ließ mich ſeinem Bruder, dem Abi Eſſer:
Abi Eſſer,
ein aufbrauſender Mann, ward
zornig auf mich, warf mich zum Hauſe hin-
aus, ließ mich wieder zuruͤckholen, um mir
I 3hun-
[132] hundert Peitſchenhiebe mitzutheilen, und ver-
tauſchte mich gegen ein ſchoͤnes kaſtanien-
braunes Pferd an einen Franken, *) der
mich endlich in die Haͤnde eines perſiſchen
Herrn brachte, eines der maͤchtigſten Herrn
im Koͤnigreiche; und ich wurde unter die
Zahl ſeiner Beyſchlaͤferinnen aufgenommen.
Ob er gleich aus beſondern Abſichten nur
zwey Weiber hatte, ſo war doch ſein Haus
ein beſtaͤndiger Schauplatz des Zanks und
Tumultes: es theilte ſich in zwo Faktionen,
die einander toͤdtlich haßten und mit aller
Erfindungskraft auf Mittel ſannen, ihren
Haß zur Thaͤtlichkeit werden zu laſſen:
Sklaven, Sklavinnen, alles hatte den Groll
von ſeiner Gebieterinn angenommen und
verfolgte ſich, als wenn es ſeine eigne An-
gelegenheit waͤre. Vorzuͤglich aͤußerte ſich
dieſe Feindſchaft bey der Geburt eines
Kindes; die eine von den beyden Weibern
war ganz unfruchtbar, und die andre hinge-
gen hatte ihrem Herrn ſchon drey Kinder ge-
boren: ein ſolcher Vorzug war des bitterſten
Neides werth. Als dieſe Gluͤckliche zum
vier-
[133] viertenmale niederkam, ſo biß ſich ihre Nei-
derinn vor Zorn und Unwillen bey der erſten
Nachricht davon ſo heftig in die Unterlippe,
daß man ſie abloͤſen mußte, um eine Ent-
zuͤndung des ganzen Geſichts zu verhindern.
Kaum hatte ſie den Schmerz ausgeſtanden,
als ihr die Rachſucht den grauſamen Ent-
ſchluß eingab, die Woͤchnerinn nebſt ihrer
Frucht im Bette zu verbrennen: ſie gab ih-
rer Partey Befehl dazu, die mit der groͤß-
ten Bereitwilligkeit eilte, ihn zu vollſtrecken.
Im Augenblicke loderten die Flammen in
ihrem Zimmer und allen Ecken hervor, er-
griffen die naͤchſt daran ſtoßenden, verbrei-
teten ſich weiter, und in wenig Minuten
war der ganze Palaſt in Rauch und Flam-
men gehuͤllt: man rettete ſich, wie man
konnte, und mit dem groͤßten Theile der
Sklavinnen entlief ich, um ein leichter Joch
zu finden, als das wir bey unſerm gegen-
waͤrtigen Tyrannen zu tragen hatten: doch
wir wurden von etlichen Verſchnittnen ein-
geholt, gemuſtert und bis auf eine kleine
Anzahl verkauft, bey welcher Gelegenheit ich
in die Haͤnde des großen maͤchtigen Fali
gerieth, um die Aufwaͤrterinn einer ſeiner
I 4Bey-
[134] Beyſchlaͤferinnen zu werden. Er hatte dem
Sultan, ſeinem Herrn, wichtige Dienſte im
Kriege gethan und noch vor kurzem etliche
Provinzen erobert, weswegen ihm ſein Herr
mit vieler Achtung und Schonung begegnete.
Einer von den Feldherren, der mit ihm eine
gleich lange Zeit gedient hatte und es hoͤchſt
uͤbel empfand, daß ihm das Gluͤck weniger
gewogen war und ihn etliche Stufen niedri-
ger in der Gunſt ſeines Deſpoten ſitzen ließ,
hielt ſich fuͤr verpflichtet, einen ſolchen
Mann zu haſſen, zu verfolgen, und wo moͤg-
lich, unter ſich zu erniedrigen. Er ſuchte
jede Gelegenheit anzuwenden, ihn ſeinem
Herrn verdaͤchtig zu machen; und keine
gluͤckte ihm. Seine Mißgunſt ſtieg zu einer
ſolchen Hoͤhe, daß es ihm genug war, ſei-
nen Nebenbuhler zu ſtuͤrzen, wenn er gleich
ſelbſt in ſeinen Fall mit hinabgezogen wer-
den ſollte. Unter den vielen fehlgeſchlage-
nen Liſten erfand er endlich eine gluͤckliche,
wobey ich die Hauptrolle ſpielte.


Als ich eines Tages dicht an den Mauern
des Harems Feldblumen fuͤr meine Gebie-
terinn ſuchen mußte, ſo naͤherte ſich mir ein
alter Evnuche und verſprach mir gleich bey
der
[135] der erſten Anrede, mein Gluͤck auf ewig zu
machen, wenn ich mich in ein Verſtaͤndniß
von der aͤußerſten Wichtigkeit mit ihm ein-
laſſen wollte. Ich wurde neugierig, und
er verlangte von mir, daß ich mich ſchlech-
terdings in die Gunſt des Fali einſchmei-
cheln und zu der Ehrenſtelle einer wirklichen
Beyſchlaͤferinn erheben laſſen muͤßte. Wie
kann ich das? fragte ich. — Dafuͤr laß
mich ſorgen! war ſeine Antwort: gieb mir
nur dein Wort, daß du dich zu allen Schrit-
ten, die die Sache erfodert, gehorſam be-
quemen willſt, ohne jemals zuruͤckzuweichen
oder furchtſam vor Schwierigkeiten zu er-
ſchrecken, die ſich dir in Menge entgegen-
ſtellen werden. Ueberlaß dich meiner Fuͤh-
rung, und folge an meinem Arme jeder mei-
ner Bewegungen ohne Widerſtreben nach!
In wenig Wochen ſollſt du im Triumphe
auf dem Gipfel ſtehen, von welchem deine
Gebieterinn itzo auf dich herabſieht. —
Ich verſprach, ihm in allem zu gehorſamen:
und ſogleich verließ er mich, ohne mir das
mindeſte von dem Gange ſeines Anſchlags
zu entdecken. Ich war erſtannt, ich ſann
nach, und gieng voll unruhiger Erwartung
I 5und
[136] und Erſtaunen mit meinen Blumen in den
Palaſt zuruͤck. Ich mußte jeden der fol-
genden Tage Blumen ſuchen; ich glaubte
jedesmal den alten Evnuchen zu finden, um
etwas beſtimmteres von meinem bevorſte-
henden Gluͤcke zu erfahren: allein ſtatt ſei-
ner kam den dritten Tag der große Fali
und eine kleine Weile darauf der alte Evnu-
che, der uns aber bald wieder verließ, nach-
dem er mir einen verſtohlnen Wink gegeben
hatte, die Gelegenheit zu nuͤtzen. Ich nahm
die ſchoͤnſte unter meinen Blumen, uͤber-
reichte ſie ihm demuͤthig und warf mich vor
ihm nieder. Herr, ſprach ich, ſiehe in Gna-
den das geringe Geſchenk deiner Magd an
und verſchmaͤhe nicht die Gabe ihrer Haͤn-
de! — Er befahl mir aufzuſehn, und ver-
ſicherte mich ſehr freundlich, daß ich Gnade
vor ſeinen Augen gefunden haͤtte, worauf
er mir zu meiner Arbeit zuruͤckzukehren gebot
und mich verließ. Ich pfluͤckte gedanken-
voll weiter und fand in dieſem Raͤthſel alles
unaufloͤslich: ich brachte vier und zwanzig
Stunden in der quaͤlendſten Ungewisheit
zu, bis der alte Evnuche zu mir kam und
mir das Geheimniß zum Theil entwickelte.
Du
[137] Du ſollſt, ſagte er mir, von Stund an zur
Beyſchlaͤferinn des erhabnen Fali, des gro-
ßen Feldherrn ausgerufen werden, und ſo-
gleich wirf die Sklavenkleider von dir und
ziehe dieſes Gewand an, das dich mit dei-
ner bisherigen Gebieterinn in gleichen Rang
ſetzt, und, wenn du klug genug biſt, mei-
nen Rathſchlaͤgen getreulich folgſt und die
noͤthige Vorſichtigkeit gebrauchſt, dich an die
Spitze des ganzen Harem emporheben wird.
— Ich zog das koſtbare Kleid an, gelobte ihm
den unverbruͤchlichſten Gehorſam und folgte
ihm, worauf ich in ein ſchoͤnes moͤblirtes
Zimmer kam, das mir nebſt etlichen andern
zu meiner Wohnung beſtimmt war: die fuͤr
mich beſtellten Verſchnittene und Sklavinnen
empfiengen mich und ſtunden auf jeden mei-
ner Winke in Bereitſchaft: — kurz, ich
war die geehrteſte gluͤcklichſte Bewohnerinn
des ganzen Harems und in der Gunſt mei-
nes Herrn die oberſte.


Guter Mann! Du weißt es vielleicht aus
eigner trauriger Erfahrung, daß der Neid
unmittelbar in die Fußtapfe tritt, wenn die
Groͤße den Fuß von ihr aufhebt: ich erwar-
tete ihn und trug ihn daher deſto ſtandhafter.
Meine
[138] Meine vorige Gebieterinn ſetzte den ganzen
Harem wider mich in Aufruhr; ihre ehema-
ligen Feindinnen — welches alle ihres glei-
chen waren — wurden itzt die auserleſen-
ſten Freundinnen, die ſich mit ihr zu meinem
Umgange verſchwuren. Der alte Evnuche
ſtellte mir die Groͤße der Gefahr oft vor Au-
gen, da ich ſie ohne ihn nicht einmal erfah-
ren haben wuͤrde, ſo verſteckt waren alle
Minen, die mich ſprengen ſollten, ermahnte
mich zu vorſichtiger Standhaftigkeit und
ſchwur mir theuer zu, daß mich nicht der
mindeſte Stoß von der angelegten Untergra-
bung treffen werde, weil er mein Beſchuͤtzer ſey.
Sein Wort war mir um ſo viel ſichrer, weil
ich wußte, daß er der Liebling unſers Herrn
war und ſo viel uͤber ihn vermochte, daß
auch die Neigungen des großen Fali von
dem Willen und der Billigung dieſes alten
Geſchoͤpfes abhiengen: alle Unternehmun-
gen wider mich giengen alſo fehl, nur die
einzige, die ungluͤcklichſte unter allen waͤre
beynahe gelungen — man trachtete mir
nach dem Leben. Weil man nirgends zum
Zwecke gelangen konnte, ſo ließ man die
Decke meines Schlafzimmers allmaͤhlich ſo
zer-
[139] zerwuͤhlen und die Befeſtigung derſelben ſo
locker machen, daß ſie unfehlbar herunter-
fallen und mich toͤdten mußte. Ob man
gleich bey dieſem moͤrderiſchen Anſchlage die
noͤthigſten Maasregeln ergriffen hatte, um
den voͤlligen Einſturz zu veranſtalten, wenn
ich den Untergang nicht vermeiden konnte,
ſo kam doch der Zufall ihren weiſen Veran-
ſtaltungen zuvor, und warf die Decke mit
einem gewaltigen Krachen hernieder, als
ich eben auf den gluͤcklichen Sofa in den
Armen des großen Fali in der vollſten Em-
pfindung lag. Der Feldherr, der uͤber dieſe
Stoͤrung ſeines Vergnuͤgens ergrimmte,
forſchte nach dem Thaͤter; denn man fand
deutliche Spuren, daß Kunſt gebraucht wor-
den war, den Fall zu befoͤrdern: er forſchte
mit aller Strenge nach ihm, doch ohne ihn
zu entdecken. Dieſe Fruchtloſigkeit ſeiner
Bemuͤhung ließ ihm eine Verſchwoͤrung ver-
muthen, in welche, wo nicht das ganze
Harem, doch wenigſtens der groͤßte Theil
deſſelben verwickelt ſeyn mußte: theils um
zu ſtrafen, theils um abzuſchrecken, ließ er
ein ſchreckliches Blutbad anrichten, das die
Haͤlfte des Serails und mit derſelben auch
meine
[140] meine vorige Gebieterinn wegnahm. Ich
bat, ich flehte; aber der raſende Fali war
unerbittlich und ruhte nicht eher als bis er
die Zuſammenrottung in Stroͤmen Menſchen-
blut erſaͤuft hatte.


Kurz nach dieſem grauſen Auftritte ent-
zuͤndete ſich ein neuer Krieg: alles war in
Zwietracht; und mein alter Evunche berich-
tete mir, daß er der einzige Urheber dieſer
Unruhen ſey und ſie zu Befoͤrderung ſeiner
Abſichten nie erloͤſchen laſſen duͤrfe. — Und
welche ſind das? fragte ich neugierig. —
Abſichten, erwiederte er, deren Reife her-
annaht. So hoͤre dann! Den Mann, in
deſſen Umarmung du bisher die ſuͤßeſten Em-
pfindungen der Liebe geſchmeckt haſt, ſollſt
du ſtuͤrzen. — Ihn? fuhr ich auf: ihn,
von deſſen Haͤnden ich Gluͤck und Wohlſeyn
empfieng, der mich auf die oberſte Staffel
ſeiner Gunſt erhob, ihn ſollte ich ſtuͤrzen?
Undankbar will ich nimmermehr ſeyn. —
So ſtuͤrze dich! war ſeine kalte Antwort.
Waͤhle zwiſchen ſeinem und deinem Unter-
gange! — Ich wollte Einwendungen ma-
chen und Fragen thun, aber er ſchnitt mir
meine Rede gerade zu ab, verbot mir alle
Decla-
[141] Declamationen und befahl mir zu waͤhlen,
und dann zu hoͤren, was ich gewaͤhlt haͤtte.
Keine Verlegenheit kann in der Welt groͤßer
geweſen ſeyn, als die meinige damals: ſich
ſelbſt, oder ſeinen Wohlthaͤter ſchaden muͤſ-
ſen, ein trauriger Wechſel! Ich gehorchte
dem Verlangen meiner Selbſterhaltung und
bezeigte mich zu den Anſchlaͤgen des boͤſen
Evnuchen bereitwillig, der mich alsdann
durch den ſchrecklichſten Schwur die Bewah-
rung des Geheimniſſes angeloben ließ. Der
große Edzar, fieng der Boͤſewicht an, der
Nebenbuhler unſers Herrn, hat mich zu der
Ausfuͤhrung ſeiner Abſichten auserſehen; ich
habe mich ihm verpflichtet und muß ſchlech-
terdings ſeinen Auftrag zu Stande bringen.
Er gebot mir eine von den niedrigſten Skla-
vinnen in die Gunſt des Fali zu bringen,
deren Gluͤck in meiner Gewalt waͤre, und
die alſo entweder ſich in unſre Entwuͤrfe fuͤ-
gen oder ihrer eignen Erhaltung entſagen
muͤßte: ich waͤhlte dich dazu, und du haſt
dein Gluͤck dem Gluͤcke eines andern vorge-
zogen, was man leicht vorausſehn konnte.
Vernimm alſo was dir weiter zu thun ob-
liegt! Der große maͤchtige Herr deines
Herrn
[142] Herrn wird dich von ihm verlangen: es
wird ihm ſchwer werden, und ich will ma-
chen, daß es ihm unmoͤglich wird, dich zu
miſſen, eben ſo wie der Feldherr Edzar es
bey ſeinem Herrn dahinbringen wird, daß
es ihm unmoͤglich iſt, dich nicht zu beſitzen.
Der erhabne Herrſcher aller Herrſcher wird
uͤber die Verweigerung deines Herrn er-
grimmen, und ſiehe! ſo iſt ſein Fall gewiß,
und du wirſt zu der Umarmung des maͤch-
tigſten Regenten erhoben.


Die ſo lange vorher ausgeſonnene Bos-
heit wurde ihrer Ausfuͤhrung taͤglich naͤher
gebracht: in kurzer Zeit hatte der tuͤckiſche
Edzar ſeinen Herrn beredet, daß ich die
groͤßte Schoͤnheit des Orientes ſey, und dieſe
Ueberredung war hinreichend, ihn bis zum
Unſinne in mich verliebt zu machen, ob er
mich gleich nie geſehn hatte. Er verlangte
mich ſchlechterdings zu beſitzen, und erwar-
tete nichts weniger, als daß ſein getreuer
Knecht Fali ſeinen Wuͤnſchen den mindeſten
Wiederſtand entgegenſetzen werde! je mehr
dieſer wankte, dem Verlangen ſeines Herrn
zu gehorſamen, je mehr feuerte der alte
Evnuche ſeine Liebe an, je mehr ſuchte er
ihm
[143] ihm glauben zu machen, daß er ohne mich
der ungluͤcklichſte Sterbliche ſey, und ſich da-
her den ungerechten Zumuthungen ſeines
Herrn gerade zu wiederſetzen muͤſſe: der alte
Boͤſewicht, um den Untergang ſeines Herrn
deſto ſchneller zu befoͤdern, rieth ihm ſogar,
den Antrag der Haͤrte und Unwillen abzu-
weiſen. Auf der andern Seite blies Edzar
die Leidenſchaft des Deſpoten unermuͤdet an,
und die beiden Alten, der Koͤnig und ſein
Feldherr Fali, waren wie zween gierige
Raubthiere, die ſich auf die Aufmunterung
und Loshetzung jener beiden Verbrecher um
mich, ihre Beute, haßten, verfolgten und
lieber gar gewuͤrgt haͤtten. Der Koͤnig mußte
meinen Herrn ſchonen, wenn er ſich nicht
der Gefahr eines Aufruhrs ausſetzen wollte:
denn Fali war der Liebling aller Soldaten,
die ihn, wie ihren Vater, vor jeder Verle-
tzung zu ſichern ſuchten und fuͤr ſeine Erhal-
tung ihre eigne verachtet haͤtten. In dieſer
quaͤlenden Verlegenheit griff er nach der Liſt
und wollte mich durch verdeckte Wege aus
den Haͤnden des widerſpenſtigen Fali reißen:
Edzar erfuhr ſeinen Anſchlag und beguͤn-
ſtigt ihn. Man legte an dem Theile des
KPala-
[144] Palaſtes, wo ich wohnte, Feuer an,
und wenn ich mitten durch die Flammen
mich retten wuͤrde, ſo ſollten mich einige
Auflaurer auffangen und dem Koͤnige uͤber-
liefern. Der alte Evnuche, der von allen
dieſen Raͤnken voͤllig unterrichtet war, ließ
zwar die Flammen ungehindert auflodern
und mich eben ſo ungehindert von meinen
Entfuͤhrern davontragen, allein auf ſeine
Veranſtaltung wurden einige von den koͤni-
glichen Aufpaſſern eingefangen und vor dem
Fali gebracht, der mit der Wuth eines Loͤ-
wen wider ſeinen Herrn tobte, Schaͤtze, Pa-
laſt, Weiber und alles der Willkuͤhr der
Flamme uͤberließ, und davon eilte, um
mich zuruͤckzuholen, oder alles zum allge-
meinen Aufſtande aufzuwiegeln und dann
ſeine Beleidigung mit Blute zu raͤchen. Er
raſte wie ſinnenlos, und Zorn und Rachſucht
machten ſeine Liebe zu mir ſtaͤrker als ſie
wirklich war: er lief, ohne zu wiſſen wohin,
indeſſen daß ihm der Dampf von ſeinem ver-
brennenden Vermoͤgen nachrollte. Wem er
auf ſeinem Wege begegnete, dem erzaͤhlte er
mit der aͤußerſten Haſtigkeit ſeine Geſchichte,
und jeder war ſchon auf ſeiner Partey, ehe
er ihn
[145] er ihn noch dazu ziehen wollte: in kurzer
Zeit verbreitete ſich der Tumult allenthalben,
Soldaten und andre Einwohner eilten in
vermiſchter Ordnung einher, und alles rief:
es lebe Fali! es ſterben alle ſeine Feinde!
— Der beleidigte Feldherr ſelbſt war an
ihrer Spitze und ſchnaubte vor Zorn und
Rache: das Scharmuͤtzel fieng an und wur-
de bald zur offnen Schlacht. Man er-
wuͤrgte ſich, man ſchlug ſich blutig, man
hieb ſich nieder, mir und dem Fali zu Eh-
ren. Der Sieg ſchien ungezweifelt fuͤr den
Feldherrn, als ploͤzlich ſeine ganze Partey
ſich von ihm trennte und ihn der Wuth ſei-
ner Gegner uͤberließ, die ihn gefangen nah-
men. Dieſer ploͤzliche Unfall war Edzars
Veranſtaltung, der unter dem Hintertrupp
von Falis Verfechtern das Geruͤchte aus-
ſtreuen ließ, daß ihr Anfuͤhrer in einer ent-
legnen Straße große Gefahr laufe, in die
Haͤnde der Feinde zu fallen: ſogleich ſtuͤrzte
ſich der getreue Trupp an den Ort, wohin
ſie das falſche Geruͤchte rief; die Uebrigen,
die dies fuͤr Flucht hielten, folgten ihnen
zum Theil nach, um ſich mit ihnen zu ret-
ten, zum Theil um die Entflohenen zu ihrer
K 2Schul-
[146] Schuldigkeit zuruͤckzubringen. Dieſe Tren-
nung verurſachte bald allgemeine Unordnung
und Verwirrung: dieſer fuͤrchtete ſich, jener
zuͤrnte, dieſer tobte, jener ſtand vor Zer-
ſtreuung unthaͤtig: ein jeder wurde durch
eine Leidenſchaft von der Gegenwehr abgeru-
fen, die Feinde drangen ein, trieben ſie fort
umringten den verlaßnen Fali und brachten
ihn vor ſeinen Herrn, der ihn gern mit dem
Blicke vor Wuth getoͤdtet haͤtte und ihn ſo-
gleich den graͤulichſten Martern uͤbergeben
ließ.


Nunmehr, da der Sturm voruͤber war,
hatte er Muße, die Schoͤnheit in Betrach-
tung zu nehmen, die ihn veranlaßt hatte:
ich wurde zu ihm gefuͤhrt. War es Unmuth
und boͤſe Laune oder entſprach meine Geſtalt
ſeiner uͤberſpannten Erwartung nicht! —
ich mißfiel ihm im hoͤchſten Grade, ſo ſehr
daß er mich von zween Evnuchen zum Se-
rail hinauspeitſchen ließ und ſogleich Befehl
gab, dem Edzar, der die Wolluſt ſeines
Herrn ſo unverantwortlicher Weiſe zu der
falſcheſten Erwartung verfuͤhrt hatte, den
Kopf glatt vom Rumpfe herabzuſaͤbeln. —


Da
[147]

Da ſieht man doch, daß die Vorſicht noch
lebt! wuͤrde Freund Medardus ausrufen —
ſprach Belphegor, ohne zu uͤberlegen, daß
dieß ein Mittel ſeyn koͤnnte, ſich vor der
Zeit zu verrathen: allein Akante war zu ſehr
in ihre Geſchichte vertieft, um ſich ein ſol-
ches Anzeichen nicht entwiſchen zu laſſen.
Sie hielt ſich alſo blos an das Weſentliche
des Ausrufs und fiel ihm haſtig ins Wort:
— Ja, ſo wuͤrde ich auch denken; aber
warum mußte denn der ungluͤckliche Fali um-
kommen, der treu fuͤr ſeinen Herrn gefoch-
ten und eine niedertraͤchtige Beleidigung
nicht als ein feiges Lamm erdulden, ſon-
dern den Urheber derſelben muthig beſtrafen
wollte? warum ließ da deine Vorſicht nicht
lieber den Streich des Fali gelingen, der in
ſeinem Herrn einen groͤſern Boͤſewicht ge-
zuͤchtigt haͤtte als Edzar war? —


Belphegor wollte antworten, aber ſie ließ
ihn nicht zum Worte: in Einem unaufhalt-
ſamen Strome fuhr ſie zu fragen fort. —
Warum mußte ich, die ich zu dem gottloſen
Anſchlage hingeſchleppt worden war, die
ich wie eine lebloſe Maſchine dabey gleich-
ſam fortgeſtoßen wurde, warum mußte ich
K 3aͤrger
[148] aͤrger als Edzar, der gottloſe Anſtifter des
Verbrechens, behandelt werden? Mit Ei-
nem kurzen Hiebe war ſein Leben und ſeine
Marter aus: aber ich Elende wurde von
zween wilden Evnuchen zum Serail unter
tauſend empfindlichen Hieben hinausgetrie-
ben, dem Schmerze, dem Kummer, der
Duͤrftigkeit und allen nur erdenklichen Un-
gluͤcksſeligkeiten uͤbergeben; ich mußte vier-
und zwanzig Stunden lang unter freyem
Himmel, allen Unfaͤllen der Witterung aus-
geſetzt, mit einem von Blute unterlaufnen
Ruͤcken liegen, durch die Barmherzigkeit
eines Fremden in ein Haus gebracht, geheilt
und durch ſeine ploͤzliche Abreiſe mitten in der
Kur dem Elende von neuem ausgeſetzt wer-
den, ich mußte von Almoſen leben und die
meiſte Zeit hungern, ich mußte endlich, um
weniger zu hungern, mich der Willkuͤhr
eines jeden uͤberlaſſen und — — hier ver-
ſiummte ſie.


Alles verdiente Strafen! fuhr Belphegor
haſtig auf, fuͤr die lahme Huͤfte, die du
mir — — hier beſann er ſich: denn Akante
ſah ihn ſehr ernſthaft und bedenklich an;
und weil ein Argwohn leicht Gruͤnde zur
Gewiß-
[149] Gewisheit findet, ſo erblickte ſie, aller
Unkenntlichkeit ungeachtet, ungemein vie-
le Aehnlichkeit in den Geſichtszuͤgen
des Mannes mit demjenigen, dem ſie
ehemals lahme Huͤften gemacht hatte.
Sie hielt es wenigſtens der Muͤhe werth,
einem Verſuch mit einer Anfrage zu thun;
und da ihr ehmaliger Liebhaber ein Bettler
war, ſo konnte ſie nichts dabey verlieren,
ſich ihn unter den Charakter einer Hure dar-
zuſtellen. Sie ſah ihn immer ſteifer an,
ſagte die erſten Sylben ſeines Namens, bis
ſie ihn ganz herausſprach, und der gute
Mann aus angeborner Aufrichtigkeit es ihr
laͤnger nicht verhelen konnte, daß er es war,
den ſie nannte. Beide, obgleich keins vor
dem andern viel voraus hatte, ſchaͤmten ſich
mit ihrem Reſte von europaͤiſchem Gefuͤhle,
ſich in ſo traurigem erniedrigendem Zuſtande
widerzufinden. Haͤtte auch gleich kein Ue-
berbleibſel von Liebe mitgewirkt, ſo waͤre
die Gleichheit des Elends und ihrer Abkunft
ſchon kraͤftig genug geweſen, ſie fuͤr einan-
der anziehend zu machen: doch mitten unter
den Empfindungen, die ihre Wiedererken-
nung begleiteten, konnte Akante nicht
K 4vergeſ-
[150] vergeſſen, daß ihr bisheriges Ungemach eine
Folge von den Huͤftenſchmerzen ſeyn ſollte
die ſie Belphegorn gemacht hatte, beſonders
da Leute, die viel gelitten haben, alle Bey-
ſpiele wider die Billigkeit der Vorſehung
begierig auffangen, um ſich gleichſam fuͤr
ihr ausgeſtandnes Ungluͤck dadurch an ihr zu
raͤchen.


Was? rief ſie; ſo vieles Herzeleid ſoll
ich durch zween oder drey Ribbenſtoͤße ver-
dient haben, die ich dir, verblendet von un-
willkuͤhrlicher Leidenſchaft und von Fromals
ruchloſer Ermunterung angetrieben, ohne
deinen großen Schaden gab? indeſſen daß
Edzar, dieſer uͤberlegende ſtudierte Boͤſewicht,
mit Einem leichten Schwerthiebe davon kam,
und ſein niedertraͤchtiger Herr, der keine
Sonne ohne eine That der Grauſamkeit un-
tergehen ließ, noch lebt und in hohem Wohl-
ſeyn uͤber Perſien herrſcht? — Welche Pro-
portion? Oder hat vielleicht mein ganzes
Geſchlecht ſchon vor der Geburt lahme Huͤf-
ten gemacht, daß es unter dieſem ganzen
Himmelsſtriche zur elendeſten Sklaverey ver-
bannt iſt? ſchon von dem erſten Augenblicke
ſeiner Exiſtenz dazu verdammt iſt? Warum
iſt mein
[151] iſt mein ganzes Geſchlecht von ewigen Zeiten
her der Jochtraͤger des eurigen, eurer Be-
duͤrfuiſſe, eurer Bequemlichkeit, eurer uͤblen
Laune geweſen? Wodurch hat es eine ſolche
Zuruͤckſetzung unter das eurige verdient?
— Nichts als ſeine ungluͤckliche Schwaͤche
warf es in die allgemeine Unterdruͤckung!
Ueberſieh alle Zeiten und Laͤnder! Mußte die
Gattung vernuͤnftiger Kreaturen, die ihr in
Europa als Engel anbetet und vielleicht
durch Schmeicheleyen einſchlaͤfern wollt, da-
mit ſie euch ihre Ueberlegenheit nicht fuͤhlen
laſſen, der ſchoͤnſte Theil der Schoͤpfung
nicht beſtaͤndig dienen, in jedem Verſtande
dienen? und nicht blos dienen, ſondern der
Sklave des rohen grauſamen ſtaͤrkern maͤnn-
lichen ſeyn? Allenthalben war dies, den ein-
zigen kleinen Punkt ausgenommen, auf wel-
chem wir das Leben empfiengen, und auch
hier noch vor wenigen Jahren. Ihr Maͤn-
ner konntet in der tollſten Raſerey zu Tau-
ſenden nach einem kleinen Striche ſteinichten
unfruchtbaren Erdreiches laufen *) und Tod
und Gefahren in jeder Geſtalt entgegengehn;
K 5ihr
[152] ihr konntet euch um eines lecren Titels, ei-
ner einfaͤltigen Grille: eines blendenden
Nichts, wuͤrgen, zerfetzen, verſtuͤmmeln:
und doch kam keiner noch auf den edlern
Vorſatz, das weibliche Geſchlecht in allge-
meine
Freiheit zu ſetzen. Schaͤmt euch,
ihr Elenden! Um euern verfluchten Durſt
nach Golde, nach Laͤndern, Titeln oder an-
dere noch niedrigere Leidenſchaften der Ra-
che, der Zankſucht, des Neides zu ſaͤttigen,
macht ihr, ſo oft es euch beliebt, die Erde
zum Schlachtfelde und wißt euren unmenſch-
lichen Thaten tauſend ſchimmernde Maͤntel
umzuhaͤugen und tauſend glaͤnzende Anſtriche
von Edelmuth, Großmuth, Menſchenliebe,
Patriotiſmus zu geben: doch fuͤr das Ge-
ſchlecht: das euch mit Schmerzen gebar,
wagtet ihr nie einen Schritt! vergoßt ihr
nie einen Tropfen eures menſchenfeindlichen
Blutes! Wohl den guten freundlichen Rit-
tern, die waͤhrend der Barbarey unſers va-
terlaͤndiſchen Himmelsſtrichs ſich uͤber alle
Vortheile und Ruͤckſichten des Eigennutzes
emporſchwangen und mit der Lanze in der
Hand, von dem einzigen Triebe der Ehre
und Menſchenliebe begeiſtert ausgiengen, die
Ban-
[153] Banden der weiblichen Knechtſchaft zu zer-
brechen und rohen Unterdruͤckern des ſchwaͤ-
chern Geſchlechts die Koͤpfe zu zerſpalten!
Wohl ihnen, ſie waren die edelſten Krie-
ger, die jemals die Waffen ergriffen: deren
Namen in alle Felſen des Erdbodens mit
unausloͤſchlichen Zuͤgen haͤtten eingegraben
werden ſollen, und welche die Verewigung
mehr als alle beruͤchtigte Laͤnderverwuͤſter,
Staͤdtezerſtoͤrer und Menſchenwuͤrger verdient
haͤtten. O daß ihr geheiligter Staub nicht
hier unter meinen Fuͤßen ruht! daß die Staͤtte
unbekannt iſt, die ihre edlen Gebeine be-
wahrt! Jedes Mitglied des weiblichen Ge-
ſchlechts ſollte zu ihnen eine Wallfahrt thun
und ſie mit Blumenkraͤnzen und Raͤucherwer-
ke ehren: jedes Maͤdchen ſollte ihnen die er-
ſten Locken weihen, jede an ihrem Hochzeit-
tage ihnen ein Feſt feiern. Dann wuͤrde
einem unter euch vielleicht das eiskalte Blut
genug erwaͤrmt werden, um nach einem aͤhn-
lichen Lorber zu ſtreben: dann wuͤrde ein
ſolcher Preiß vielleicht die Tapferkeit einiger
ruhmſuͤchtigen Waghaͤlſe beleben, ſich zu der
groͤßten Unternehmung zu vereinigen; dann
wuͤrden Schaaren von edlen Streitern den
nuͤzlich-
[154] nuͤzlichſten Kampf wagen, muthig uͤber Seen,
Berge und Schluͤnde hineilen, um in Nor-
den und Suͤden, in Oſten und Weſten die
Ketten zu zerſprengen, womit mein Ge-
ſchlecht an das Joch der maͤnnlichen Unter-
druͤckung angeſchmiedet iſt. O Freund!
haͤtteſt du Geiſt und Feuer genug, ſo koͤnn-
ten wir zuerſt dieſe Lorbern einerndten! ſo
koͤnnten wir, wie der enthuſiaſtiſche Peter *)
uͤber den Erdboden hinfliegen und Kaiſer,
Koͤnige und Fuͤrſten aufmuntern, dem hal-
ben Theile der Menſchheit Friede, Ruhe,
Freiheit und Gluͤckſeligkeit zu erkaͤmpfen!
Komm, Freund! Laß uns jeden, der Macht
hat, das ſchwarze Gemaͤlde der weiblichen
Sklaverey mit den ſchauderndſten Farben
vor die Augen halten, und wer dann keinen
Sporn in ſeinem Herze fuͤhlt, den treffe
Fluch, den verzehre der Donner des Him-
mels! den Feigen! den Nichtswuͤrdigen! —


Belphegorn ſchauderte bey dieſer lebhaften
Deklamation, und er fuͤhlte in ſeinem Kopfe
ſo etwas, als wenn ſeine Einbildungskraft
anfien-
[155] anfienge Feuer zu fangen; ſein Herz ſchlug
gleichfalls ſchneller, und in allen ſeinen Adern
regte ſich ſeine vorige Tapferkeit: allein zu
Akantens Begeiſterung konnte er ſich doch
nicht erheben, um das Mißliche und Phan-
taſtiſche in der vorgeſchlagnen Unterneh-
mung nicht zu fuͤhlen. Die ganze Sache
war: Akante hatte kurz vor ihrer Zuſammen-
kunft mit Belphegorn von einem ihrer Lieb-
haber, weil er ihr ſeine Erkenntlichkeit nicht
beſſer zu beweiſen wußte, eine große Schach-
tel mit Opium empfangen, wovon ſie in
der Geſchwindigkeit eine ziemliche Portion
verſchluckte, die ihre Nerven zu jenem
Schwunge der Begeiſterung anſpannte, daß
ſie ein ſolches phantaſtiſches Projekt entwer-
fen und Belphegorn mit ſolcher Lebhaftigkeit
zur Ausfuͤhrung antreiben konnte.


Da ſie endlich nach vielen Zunoͤthigungen
gewahr wurde, daß ihr Geſellſchafter nie
genug befeuert werden konnte, ſo bot ſie ihm
in einer Art von Trunkenheit das Mittel an,
das bey ihr eine ſo wirkſame Kraft geaͤußert
hatte. — Nimm, ſprach ſie, und iß! Dieſe
Frucht muß deiner Einbildungskraft Fluͤgel
anſetzen, ſie muß dich uͤber dich ſelbſt em-
por-
[156] porſchwellen: nimm, iß! und wenn du dann
zu der wichtigen Unternehmung dich nicht
hingeriſſen fuͤhlſt, ſo biſt du nicht werth,
daß du aus der Bruſt deiner Mutter einen
Tropfen Blut empfiengſt. —


Der gluͤhende Belphegor nahm den ange-
botnen Opium und verſchluckte eine große
Menge, die in kurzer Zeit eine fluͤchtige An-
ſpannung aller ſeiner Gefaͤße veranlaßte,
daß ſeine Imagination aufbrauſte; und in
dieſem Taumel gab er Akanten die Hand,
ſchwur ihr einen theuern Eyd, und nichts
war gewiſſer, als daß ſie beide, wie irrende
Ritter, zu der Erloͤſung des weiblichen Ge-
ſchlechts auswandern wollten. Da ſie in
einem Lande waren, das ihnen Gelegenheit
genug anbieten konnte, ihre ritterliche Tapfer-
keit zu uͤben, ſo ſollte das Kriegstheater zuerſt
dort eroͤffnet werden. Sie fiengen den Zug
an, und ihre vier Arme duͤnkten ihnen in
ihrer ſtolzen Berauſchung ſo ſtark als hundert-
tauſend zu ſeyn, weswegen ſie nicht die min-
deſte Bedenklichkeit hatten, ohne Huͤlfstrup-
pen mit dem ganzen Oriente allein fertig zu
werden. Sie ruͤckten an den naͤchſten Ort
an, drangen mit Geſchrey in ein Haus und
verlan-
[157] verlangten von dem Manne die Befreyung
ſeines Weibes und ſeiner Toͤchter aus der
haͤuslichen Sklaverey. Der Mann, der
weder ihre Anrede noch ihre Foderung ver-
ſtand, aber doch aus ihrem Betragen ſchlieſ-
ſen konnte, daß ſie nichts weniger als in
friedlichen Abſichten zu ihm kamen, hielt es
fuͤr rathſam allen Gewaltthaͤtigkeiten vorzu-
beugen, weil es noch in ſeiner Macht ſtuͤnde,
ſetzte ſich zur Gegenwehr, und ſeine Weiber,
zu deren Erloͤſung unſre Helden ausgereiſt
waren, geſellten ſich zu ihnen wider ihre Be-
freyer, die ſie mit Fauſtſchlaͤgen, Naͤgelkratzen
und andern Waffen zum Hauſe hinauskom-
plimentirten, vor der Thuͤre ließen und in
Friede und ſiegreich wieder in ihre vier
Mauern zuruͤckkehrten.


Theils von ihren ritterlichen Thaten und
den empfangnen Schlaͤgen, theils von der
Ueberſpannung des Opiums ermuͤdet, blie-
ben ſie beide auf dem naͤmlichen Flecke lie-
gen, wohin ſie der letzte feindliche Stoß ver-
ſetzt hatte, und im kurzen waren ſie in dem
tieſſten Schlaf, worinne ſie unter den ſchwaͤr-
meriſchſten Traͤumen und Entzuͤckungen bis
zum Morgen verblieben.


Als
[158]

Als ſie erwachten, ſahen ſie ſich voller
Verwundrung an einem Orte, den ſie vor
ihrem Schlafe niemals gekannt hatten, ent-
deckten voller Verwundrung Beulen und ge-
ronnenes Blut eins in des andern Geſichte;
erblickten mit Erſtaunen Spuren eines Schar-
muͤtzels, deſſen Folgen ſie deutlich fuͤhlten,
ohne daß ſie nach ihrem lebhafteſten Be-
wußtſeyn dabey geweſen waren. Das ganze
kriegeriſche Projekt, wovon ſie eine mislun-
gene Probe geliefert hatten, war bis auf das
kleinſte Sylbchen aus ihren Koͤpfen verflo-
gen: ſie ſannen, aber ihr eigner Zuſtand
blieb ihnen ein unaufloͤsliches Raͤthſel, wes-
wegen ſie ohne ferneres Kopfbrechen ſich
von der Erde erhuben und bedaͤchtlich ihren
Weg antraten.


Sie bettelten und waren bey dieſem Ge-
werbe ehrlich und redlich in die chineſiſche
Tartarey hineingerathen, wo neue Unfaͤlle
auf ſie warteten. Bekanntermaßen herrſcht
noch der voͤllige Naturkrieg unter dem tar-
tariſchen Himmel, und eben damals hatten
die Nunni, weil ſie an ihren Plaͤtzen Lan-
geweile hatten, ſich es einfallen laſſen,
einen Spatziergang von etlichen funfzig
Meilen
[159] Meilen zu den Hiutſchis zu thun und ſie
aus ihren Wohnſitzen herauszutreiben: die
Hiutſchis, welche einmal auf Gottes Erd-
boden exiſtiren ſollten und zu ihrer Exiſtenz
Platz brauchten, thaten den Niungis ein
Gleiches und noͤthigten ſie, ihnen zu wei-
chen: die Niungis raͤchten ſich dafuͤr an
den Aldſchehus; allein dieſe waren ſo
halsſtarrig tumm, nicht weichen zu wollen,
welches die Niungis, die ihrentwegen
einen ſo weiten Weg nicht umſonſt gethan
haben wollten, ſo uͤbel nahmen, daß ſie alle
umzubringen beſchloſſen: da dieſes aber
nicht ſo ſchnell von ſtatten gehen wollte, als
ſie anfangs vermutheten, und ſogar ihnen
ſelbſt den Untergang zu drohen ſchien, ſo
waren ſie zeitig genug ſo klug, daß ſie Friede
anboten und den Aldſchehus einen Plan
vorſchlugen, wo ſie ſich auf Unkoſten ihrer
Nachbarn fuͤr die Koͤpfe entſchaͤdigen konn-
ten, die ſie ihnen nicht entzweygeſchlagen
hatten. Die Aldſchehus ergriffen begierig
eine ſo ſchoͤne Gelegenheit, ihrem Schaden
beyzukommen, und wanderten mit ihnen zu
den Mogolutſchis, die ſie bis auf das
kleinſte Kind dem Vergnuͤgen ihrer Tapferkeit
Laufzu-
[160] aufzuopfern gedachten: allein die Mogo-
lutſchis
waren kluͤger als ihre Angreifer,
und entwiſchten ihnen, weil ſie ſich ihrer
ungleichen Kraͤfte ſehr wohl bewußt waren.
Eine ſolche unverantwortliche Vereitlung
aller ihrer Abſichten machte ſie hoͤchſt unwil-
lig, daß die Mogolutſchis ihre Haͤlfe zu
lieb hatten, um ſie ſich von ihnen zerbrechen
zu laſſen, und die vereinigten Aldſchehus
und Niungis faßten in ihrem Grimme den
ruͤhmlichen Vorſatz, alle ihre tartariſchen Ne-
benmenſchen, deren ſie nur habhaft werden
koͤnnten, bis auf die Wurzel zu vertilgen.
Sie hielten Wort: ſie ſchweiften nach allen
Himmelsgegenden zu, und welches Men-
ſchenkind in ihren Weg gerieth, das hatte
gelebt. Durch dieſe erhabne Tapferkeit
brachten ſie es in wenig Jahren dahin, daß
in einem weitlaͤuftigen Diſtrikte keine Spur
von Gottes Schoͤpfung mehr anzutref-
fen war.


Gerade zu einer Zeit als man eine Tro-
phee von Erwuͤrgten errichtet hatte, fuͤhrte
das Schickſal unſre beyden Wanderer unter
Muͤhſeligkeiten und Hunger dahin: ihre
Kleidungen waren ſehr abgenutzt, ſie hielten
es alſo
[161] es alſo fuͤr dienlich, ſie auf der Stelle von
den Fragmenten, die an den Leichnamen
hiengen, ſo gut zu rekrutiren als es die Um-
ſtaͤnde erlaubten. — Wohin ſollen wir nun?
fragte Belphegor. Wir wollen gehn, bis
uns der Hunger toͤdtet, es ſey wo es wolle.


Kaum hatte er den Entſchluß gefaßt, als
ſie ein Trupp Niungis umringte und auf
ihre bittenden Zeichen, beſonders wegen ih-
res friedfertigen auslaͤndiſchen Ausſehns,
mit ſich zu ihrem Oberhaupte ſchleppte, der
ihnen bey dem Truppe zu bleiben verſtattete
und ſie dem Hauptanfuͤhrer ſeiner Nation
als eine Seltenheit vorzuſtellen gedachte.
Die Maͤrſche waren uͤbermaͤßig ſchnell und
eilfertig: ſie wurden durch etliche vereinigte
feindliche Horden getrennt, und dieſe hatten
die Bosheit, den Trupp, zu welchem unſre
Europaͤer gehoͤrten, zu verſolgen, bis ihn
ein Moraſt von der Gefahr der Nachſetzung
befreyte, wo der groͤßte Theil deſſelben
ſtecken blieb und ſtarb. Unſre Europaͤer wa-
ren mit einigen Tartarn ſeitwaͤrts in einen
Wald geſprengt, wo ſie der Feind ruhig ließ
und zu andern erhabnen Kriegsthaten wie-
der umkehrte.


L 2Bel-
[162]

Belphegor und Akante hatten nebſt ihren
Gefaͤhrten einige Zeit in dem Gehoͤlze zuge-
bracht; als dieſe ſie ploͤtzlich verließen und
durchaus nichts mehr mit ihnen zu ſchaffen
haben wollten.


Trauriges Schickſal! rief Belphegor.
Trauriges Schickſal! rief Akante; und bey-
de wollten mit aller Gewalt ſterben: ſie ba-
ten den Tod inſtaͤndigſt, mit ihren Koͤrpern
die Raubthiere der dortigen Gegend zu be-
dienen, aber der Tod war taub: ſie erblick-
ten Fruͤchte, langten zu, erquickten ſich und
wurden durch die einzelnen Staͤmme der
Baͤume Waſſer gewahr, giengen darauf zu
und fanden — offenbares Meer. Viel-
leicht, ſprach Belphegor wieder auflebend,
vielleicht hat uns hier uͤber dieſe Fluthen der
Himmel einen Weg gebahnt, um in das
koͤſtliche Europa wieder zuruͤckzukehren. Lebe
auf, Akante! Hier iſt der Weg in unſer Va-
terland. Alles, was ich dort ausgeſtanden
habe, von deinen Huͤftenſtoͤßen bis zum Auf-
haͤngen unter den Lettomanern, iſt nichts
gegen die Schmerzen, die ich in andern
Welttheilen habe ertragen muͤſſen. Wenig-
ſtens kann man dort ruhiger Zuſchauer von
dem
[163] dem allgemeinen Kriege bleiben und ſo leid-
lich ohne Schmerzen leben, wenn man ſich
nicht in das tolle Spiel der Welt miſcht,
wenigſtens die Leute nicht einen vernuͤnfti-
gern Weg fuͤhren will, als ſie ſelbſt zufaͤlli-
ger Weiſe oder aus eigner Wahl eingeſchla-
gen haben. Ich ſehe es wohl — leider zu
ſpaͤt! — daß ich ſelbſt, von meinem war-
men zelotiſchen Herze und von uͤbertriebner
Rechtſchaffenheit verleitet, Millionen Schmer-
zen auf mich geladen habe: aber wohl mir!
dieſes Meer fuͤhrt mich nach Europa zuruͤck,
und da will ich mit dir, Akante, die gemein-
ſchaftliches Ungemach an mich feſſelt, gluͤck-
lich leben: denn Erfahrung hat mich auch
klug gemacht, mein Feuer iſt verdampft, und
ſelbſt der Neid der Menſchen ſoll mir meine
Rechnung auf ein ruhiges zufriednes Leben
nicht verderben. — Akante! freue dich!
Unſer Schickſal heitert ſich auf.


Akante, die dieſe Aufheiterung in der Ent-
deckung eines offnen weiten unbekannten
Meeres nicht finden konnte, blieb ungeruͤhrt
und beſchloß mit einem Seufzer und dem
Ausrufe: trauriges Schickſal!


L 3Auch
[164]

Auch warteten ſie wirklich lange auf den
gehoften Beyſtand des Himmels und die
Ueberfahrt nach Europa, naͤhrten ſich kuͤm-
merlich mit geſammelten Fruͤchten und Wur-
zeln, bis endlich die Saiten der Hofnung
ſchlaff wurden, und der Muth gleichfalls. —
Trauriges ungerechtes Schickſal! — dabey
blieb Akante und beſchloß verzweiflend, ſich
in die See zu ſtuͤrzen. — Laß mich voran!
rief Belphegor. Gab mir die Natur das
Leben und doch keine Mittel es zu erhalten,
ſo werfe ich die unnuͤtze Laſt von mir und
ſterbe. — Mit dieſem Worte ſprang er un-
aufgehalten in die Fluth: allein ein Reſt
von Liebe zum Leben oder eine andere Urſache
machte, daß er ſich unbewußt im Waſſer,
ohne zu ſinken, fortarbeitete und nach dem
Ufer zuſchwamm, wo er ganz durchnaͤßt und
kraftlos ſich auf das Trockne hinwarf.


Er erholte ſich; ſein erſter Blick gieng
nach Akanten, aber fand ſie nicht: er ſuchte,
er rief und fand ſie eben ſo wenig. Nach
langem vergeblichem Bemuͤhen blickte er
endlich ſeufzend nach der See hin, als
wollte er zum zweytenmale ſich ihr uͤberge-
ben; — ſiehe! ploͤtzlich wurde er ein Fahr-
zeug
[165] zeug gewahr, das mit etlichen Perſonen an
einer andern Seite des Ufers abfuhr. Er
rief, er ſuchte das Geraͤuſch des Waſſers zu
uͤberſtimmen, es gluͤckte ihm, und man ru-
derte auf ihn zu. Es war ein Kanot aus
einer benachbarten Inſel, das ihm wiewohl
weigernd einnahm und ihm ſeine geliebte
Akante wiedergab. Sie hatte ſich nicht ent-
ſchließen koͤnnen, nach ſeinem Beyſpiele ihren
Tod in den Wellen zu ſuchen, war troſtlos
am Ufer hinaufgeirrt und hatte in einer
Bucht das Kanot mit zween Wilden gefun-
den, die Muſcheln ſuchten: ſie wurde von
ihnen aufgenommen, und auf ihr Bitten
waren die Wilden Belphegors Geſchrey zu-
gerudert, ob ſie gleich mehr wuͤnſchte als
hefte, daß ſie ſeine Errettung bewirken
wuͤrde, weil er nach aller Wahrſcheinlichkeit
ſchon als Leichnam von den Wellen empor-
getragen werden mußte. Sie ließen ſich
mit freundſchaftlicher Freude fortrudern und
liebkoſten ihre Erretter mit allen erſinnlichen
Zeichen der Dankbarkeit; doch konnten ſie
nicht den ganzen Reſt von Mistrauen aus-
loͤſchen, der ihrem Geſchlechte eigen iſt.
Die Reiſe waͤhrte lang, und ehe ſie ſich es
L 4ver-
[166] verſahen, ſetzten ſie ihre Fuͤhrer unter einem
liſtigen Vorwande an einem weitausgedehn-
ten feſten Lande aus, an welchem ſie hin-
fuhren, woranf ſie in ihre Kanote ſprangen
und mit der groͤßten Eilfertigkeit hinwegru-
derten. Die beiden Betrognen riefen ihnen
nach, aber vergeblich.


Abermals durch die Bosheit der Menſchen
ungluͤcklich! ſprach Belphegor. Von einem
feſten Lande zum andern fortgeſchleppt, was
haben wir gewonnen? — Daß wir nicht
die Voͤgel jenes Landes, ſondern die Raub-
thiere dieſes Bezirkes fuͤttern! — O Akante!
welch ein Ungeheuer iſt der Menſch! Unbe-
leidigt, bey den groͤßten Zeichen des Zu-
trauens, der Dankbarkeit, der Freundſchaft
iſt er doch, ſelbſt außer dem Stande der
Geſellſchaft, der hartherzigſte Feind von
jedem, den er nicht kennt. Muß nicht tief
in die Seele der Zug der wechſelſeitigen
Feindſchaft gegraben ſeyn, wenn er jeden
als ſeinen Gegner behandelt, ihm als ſei-
nem Feinde nicht traut, ſo lange er nicht
durch die Bande der Gewohnheit und der
Geſellſchaft mit ihm verknuͤpft iſt? — O
Fromal! du hatteſt Recht: die Menſchen
ſammel-
[167] ſammelten ſich, um ſich zu trennen. —
Was ſollen wir nun, Akante? — Wir wol-
len uns ins Land wagen; ob uns der Hun-
ger und das unbarmherzige Schickſal im
Stilleſitzen oder auf dem Marſche aufreibt:
gleich viel! Wohlan, wir gehn! —


Akante war es zufrieden: die Reiſe wurde
angetreten, und in wenig Tagen hoͤrten ſie
das Geſchrey von Menſchen. — Hoͤre,
Freundinn, ſagte Belphegor dabey, wohl
iſt mir beſtaͤndig in der Einſamkeit: aber
ſo bald ich Menſchen merke, ſo iſt mein
Wohlſeyn voruͤber: ich erwarte einen Feind.
Wir wollen den Rufenden entgehn: eher
will ich hier in der Wuͤſte unter Thieren ſter-
ben, als unter Menſchen leben. —


Ploͤtzlich, als er noch redete, flog lang-
ſam ein glaͤnzender goldgelber Vogel nahe
vor ihrem Geſichte vorbey: ſeine Federn
warfen an der Sonne den Strahl eines
Sterns von ſich, und ihre Augen waren ſo
ſehr davon geblendet, daß ſie ſeine ſchoͤne
Bildung kaum bemerken konnten. Unmit-
telbar auf ihm folgte ein Paar nackte Men-
ſchen, die keuchend und mit aller Anſtren-
gung des ganzen Koͤrpers ihm nachſetzten,
L 5beide
[168] beide Augen unverwandt auf ihn emporge-
richtet, ohne neben ſich mit Einem Blicke zu
ſchauen. Der Vogel ſchien zuweilen nur zu
ſchweben und ihre Ankunft zu erwarten:
ſeine Verfolger ſammelten ihre letzten Kraͤfte,
eilten hinzu, und kaum glaubten ſie mit
ihren Fingerſpitzen den ſtrahlenvollen Spie-
gel ſeines Schwanzes zu beruͤhren, als er
langſam fortſchwebte und ſie entkroͤftet hin-
ter ſich zuruͤckließ. Da das Schauſpiel auf
einer weiten ausgebreiteten Ebne vor ſich
gieng, ſo konnten die beyden Zuſchauer un-
gehindert jede Bewegung bemerken. Die
Nachſetzenden rafften ſich zwar jedesmal,
daß ihnen der Vogel einen ſolchen Betrug
ſpielte, wieder auf und verfolgten ihren
Raub von neuem, allein da ihre Kraͤfte un-
gleich waren, ſo kam ihm der eine meiſtens
um etliche Schritte naͤher als der andre,
woruͤber dieſer ſich ſo erbitterte, daß er alle
ſeine Staͤrke anwandte, jenen Gluͤcklichern
von ſeinem Vorſprunge zuruͤckzuziehn, und
da eine ſolche Aufhaltung gleichfalls Erbit-
terung erregen mußte, ſo zankten ſie ſich ſo
lange herum, bis keiner von beiden einen
Schritt weiter gehen konnte, oder der Vogel
indeſſen
[169] indeſſen ſo weit aus dem Geſichte gekommen
war, daß ſich keiner ohne Narrheit die Luſt
ankommen laſſen konnte, ſeine Beine nach
ihm zu ermuͤden, oder von den uͤbrigen, die
in verſchiedenen Entfernungen gleichfalls
nachfolgten, waren einige ſo weit zuvorge-
kommen, daß ſie ſich unmoͤglich uͤberholen
ließen. So jagten unzaͤhlige Truppe hinter
dem goldnen Gefieder drein, keiner erhaſchte
es, und alle hatten am Ende — muͤde
Beine.


Kaum hatten die beiden Europaͤer dieſe
Luſtjagd aus dem Geſichte verloren, als ein
neuer Laͤrm ihre Aufmerkſamkeit auf eine an-
dre Seite zog. Sie horchten; und bald
ſtuͤrzte ſich ein ſchlankes Reh, deſſen Laͤufte
aus Einem großen Kriſtalle gemacht zu ſeyn
ſchienen, und deſſen ganzer Leib ſo hell leuch-
tete, daß die Gegend, wo es lief, Buͤſche
und Baͤume, wie von dem aufſteigenden
Lichte der Morgenſonne, uͤbergoldet wurden:
ſeine Augen ſtrahlten wie Fixſterne, und
wer in ſeinem Leben nie einem Rehe zu Ge-
fallen ſich wunde Fuͤße gemacht hatte, der
mußte doch durch die Schoͤnheit dieſes Thiers
gereizt werden, die ſeinigen einmal daran
zu
[170] zu wagen. Belphegor war ſchon im Be-
griffe, darnach zu haſchen, als ein Trupp
Reiter in voͤlligem Galope, mit verhaͤngtem
Zuͤgel, ſchaͤumenden, ſchnaubenden Roſſen
uͤber Buͤſch, Geſtraͤuch, Huͤgel und Steine
daherflogen und das funkelnde ſtrahlende
Thier zu ereilen ſuchten. Alle Roſſe hatten
nicht gleichen Athem und alle Reiter nicht
gleiche Geſchicklichkeit; es mußten alſo eini-
ge zuvorkommen, einige zuruͤckbleiben: um
ſich nicht mehrere zuvorzulaſſen, wandten ſie
ſich zu den Folgenden, und nun focht man
mit allen Kraͤften, wer die Ehre haben ſoll-
te, voranzureiten: man verwundete, man
verſtuͤmmelte, man laͤhmte, man toͤdtete ſich,
und wer die Oberhand behielt, gewann
nichts als den leidigen Vortheil, ſeine Weg
und ſeine Thorheit weiter fortzuſetzen. —


Himmel! wo ſind wir? rief Akante. —
In der Welt, antwortete Belphegor: denn
man zankt, man ermordet ſich. — Aber,
fuhr Akante fort, was fuͤr ein herrlicher
Theil der Welt iſt das, wo ſolche koſtbare
funkelnde Voͤgel und ſo ſtrahlende Rehe an-
getroffen werden! Kaum kann ich glauben,
daß wir noch auf unſerm Planeten ſind. —
Wir
[171] Wir ſind es, mitten auf dem Kothhaufen,
wo alles funkelt und glaͤnzt, und alles
nichts iſt. Laß uns weiter gehn! — O
wer doch einen ſo reizenden Vogel, oder ſo
ein goͤttliches Thier fangen koͤnnte! Was
haben wir zu verlieren? Ich daͤchte wir wag-
ten eine Jagd mit. — Eine ſolche thoͤrichte
Jagd! die ſo viele Beſchwerlichkeiten koſtet,
wo die Beute ſich bald naͤhert, bald ent-
fernt und, wie es ſcheint, nie erhaſcht wird!
Und was haͤtteſt du am Ende, wenn du den
goldnen Vogel auch gleich vor Tauſenden
einholteſt? Nimm ihm das ſchimmernde Ge-
fieder! und vielleicht haſt du ein uͤbelſchme-
ckendes unnahrhaftes Fleiſch als die veraͤcht.
lichſten Federn bedecken. Nein, ich kenne
die Welt mit ihren Taͤuſchereyen. — Aber
ſieh nur, Belphegor, das volle feurige Gold,
das dem Vogel vom Ruͤcken blitzt! Ach, ſo
ein goͤttlicher Vogel und ihm nicht nachzu-
laufen! Du biſt erſtaunend finſter und traͤ-
ge. Ich gehe: willſt du mit mir? —


Belphegor hielt ſie zuruͤck und ſchwur ſehr
nachdruͤcklich, daß er nie einen Fuß nach
dem glaͤnzendſten Vogel bewegen werde,
ſollte er ſich gleich ſeinen Haͤnden ſelbſt dar-
bieten
[172] bieten. Sie ließ ſich zwar durch ihn abra-
then, weil keiner von den reizenden Voͤgeln
bey der Hand war, allein ſie wiederholte
doch ihr Verlangen darnach ſo oft, daß ſie
bey jedem Schritte einen erwartungsvollen
Blick auf die Seite warf, ob nicht vielleicht
bald einer von den paradieſiſchen Voͤgeln
erſcheinen werde, um ihm ſogleich nachzu-
ſetzen. Sie hofte und hofte, aber keiner
wollte ihr dieſen Gefallen erzeigen.


Nachdem ſie ſich indeſſen, bis auf guͤn-
ſtigere Zeiten, die ſich Akante voͤllig gewiß
verſprach und Belphegor voͤllig unmoͤglich
glaubte, mit etlichen wilden Fruͤchten geſaͤt-
tigt hatten, uͤberließen ſie ſich von neuem
dem Schickſale und dem Wege, die ſie beide
nach etlichen Tagen an einen Platz fuͤhrten,
wo alles den Hauptſitz des Landes vermuthen
ließ. Eine zehnfache Mauer von hohem
dornichten Geſtraͤuche umſchloß den Platz,
aus welchem die Stimmen der Freude und
des Vergnuͤgens ſo weit und ſo laut erſchall-
ten, daß ſelbſt Belphegors Herz, ſo dis-
harmoniſch auch ſeine Stimmung war, wi-
der Willen zu einer gleichlautenden Empfin-
dung hingeriſſen wurde; und Akante war
ganz
[173] ganz Gefuͤhl, ſie brannte vor Begierde nach
einem Orte, der ſchon durch die Annaͤhe-
rung ſo bezaubern konnte. — Wir muͤſſen
hinein, ſprach ſie zu ihrem Gefaͤhrten, es
koſte, was es wolle! Wir muͤſſen hinein!
Was fuͤr Wonne muß an dieſem Orte woh-
nen und jede Empfindung der Traurigkeit
verdraͤngen, der uns ſo munter, ſo froͤlich,
ſo himmliſch einladet! —


Der Ort iſt auf der Erde, antwortete
Belphegor; es ſind Menſchen drinne: das
iſt genug, um alle dieſe verfuͤhreriſchen Toͤne
fuͤr Sirenentoͤne zu halten. Nicht einen
Schritt thue ich. —


Aber wie kannſt du einer ſo goͤttlichen
Muſik wiederſtehn? Du, der du ſonſt, bey
jeder leiſen Beruͤhrung fuͤhlteſt, der du nichts
als Gefuͤhl ſchienſt! — Meine Seele erhebt
ſich uͤber ſich ſelbſt; ich denke und empfinde
ganz anders, ſeitdem ich jenen goldnen Vo-
gel erblickt und dieſe reizende Muſik gehoͤrt
habe. Komm! deine Erfahrung hat dich
mißtrauiſch gemacht. —


Menſchen ſind Menſchen, und Welt iſt
Welt; und deſto gefaͤhrlicher, wenn ſie mit
ſolchen Taͤuſchereyen lockt! —


Aber
[174]

Aber hoͤre nur! Auf dem Todbette, unter
dem Kampfe mit Hunger und Schmerz, muͤßte
dein Herz noch bey ſolchen Toͤnen erwachen
und ſchneller ſchlagen. Komm! wir muͤſſen
hinein! —


Belphegor ſtraͤubte ſich lange, ſetzte ihr
noch manche ſchwarze und bittre Anmerkung
uͤber das arme Menſchengeſchlecht entgegen:
nichts half! Je laͤnger er ihr Vergnuͤgen
aufhielt, deſto ſtaͤrker wurde ihr Verlangen.
Sie quaͤlte ihn ſo lange, bis er ſich endlich
nach einem Eingange, und da er dieſen
nicht fand, nach einem bequemen Orte zum
Durchbrechen umſah. Akante, die uͤber
ſeine ſaumſelige Bedachtſamkeit hoͤchſt unge-
duldig war, verſuchte ſelbſt allenthalben, den
Weg zu eroͤffnen, rizte ſich blutig, entkraͤf-
tete ſich und kam nie zum Zwecke. Indeſſen
fand Velphegor eine kleine ſchmale Oeffnung,
wo die Dornen weniger dicht ſtunden und
einer vorſichtigen Beugung nachgaben: hier
machte er einen Verſuch und es gelang ihm
wirklich, mit etlichen leichten Verwundun-
gen durchzuſchluͤpfen. So ſehr er auch Akan-
ten Behutſamkeit und Langſamkeit empfahl,
ſo war doch ihre Begierde zu feurig, ſie uͤber-
eilte
[175] eilte ſich, ſchluͤpfte zwar hindurch, aber zer-
riß ſich das Kleid, und das ganze Geſicht
war voller Ritze.


Die erſte Dornenpalliſade war durchkro-
chen: kaum hatten ſie ausgeſchnaubt, als
ſie eine zweite aufforderte. Sie thaten das
naͤmliche mit dem naͤmlichen Gluͤcke und Un-
gluͤcke. — Es zeigte ſich eine dritte: auch
dieſe wurde uͤberwunden; und ſo arbeiteten
ſie ſich noch durch zwo Mauern hindurch,
wo ſich Belphegor ungeduldig hinwarf und
ſchlechterdings nicht weiter wollte: allein
Akante bat ihn mit allen weiblichen Kuͤnſten,
mit einem Kniefalle, mit Thraͤnen, mit Lieb-
koſungen; er war unerbittlich. — Sagte
ich dir nicht, ſprach er unmuthig, daß wir
in Dornen und Suͤmpfe gerathen wuͤrden?
Wo gehſt du auf dieſem Planeten Einen
Schritt, ohne daß deine Fuͤße nicht bluten?
Verſtopfe deine Ohren! verſchließe deine Au-
gen! ſey kein Menſch, wenn du auf ihm ohne
Ungemach leben willſt! — War das nicht
mein Rath? — Wer weis, wie viele Tage-
reiſen lang wir ohne Nahrung, ohne Klei-
dung uns unter tauſend Schmerzen durch
dieſe vermaledeyten Doruenzaͤune durchar-
Mbeiten
[176] beiten muͤſſen, um zu dem Platze zu gelan-
gen, wohin uns dieſes Zauberkonzert ruft;
und wenn wir angelangt ſind, was wird
alsdenn geſchehn? — Entfliehn wird die
Muſik, wie die goldnen Voͤgel und die ſtrah-
lenden Rehe! entfliehn, je naͤher wir kom-
men, und uns, wie alle Guͤter dieſes Koth-
balles, zum Narren haben! herumfuͤhren,
Muͤhe machen, um uns am Ende einſehn
zu laſſen, daß wir Thoren geweſen ſind! —
Ich gehe nicht weiter. —


Auch ließ er ſich wirklich durch keine Vor-
ſtellung weiter bewegen, ſondern uͤbernach-
tete da, Akante konnte mit Muͤhe einſchlum-
mern, ſo beſchaͤftigte ſie ihre Erwartung und
die Gewalt der Muſik, die ihr mit jedem
Augenblicke voller und hinreißender zu wer-
den ſchien; und wenn ja eine kurze Zeit der
Schlummer ſie uͤberwaͤltigte, ſo rollten doch
ſo viele Gedanken und Empfindungen unauf-
hoͤrlich durch Kopf und Herz, daß ſie nie
zu einem anhaltenden erquickenden Schlafe
uͤbergehn konnte. Kaum warf der Morgen
den erſten Schimmer auf ihre Lagerſtaͤtte hin,
als ſie ſchon aufſtand und Belphegorn mit
neuen Kraͤften antrieb, ſeinen Weg fortzu-
ſetzen.
[177] ſetzen. Die Ruhe hatte ſeine Seele der
Kraft der Muſik und der Staͤrke von Akan-
tens Vorſtellungen geoͤffnet: es ſchien ihm
gleich thoͤricht umzukehren und weiter zu
gehn: er waͤhlte alſo, wohin ihn ſeine Em-
pfindung zog; er fieng die Arbeit von neuem
an. Sie legten noch den naͤmlichen Tag
die fuͤnf uͤbrigen Dornenhecken zuruͤck, und
obgleich die Dornen weniger verſchlungen,
die Oeffnungen haͤufiger und die Muſik auf-
munternder und entzuͤckender wurde, je wei-
ter ſie kamen, ſo traten ſie doch erſchoͤpft
und kraftlos aus der letzten hervor, beſon-
ders da ſie auf ihrem heutigen Wege nur hin
und wieder einige nicht ſonderlich ſchmecken-
de Fruͤchte zu Stillung ihres groͤßten Hun-
gers angetroffen hatten.


Bey ihrem Heraustritte aus der letzten
Dornenwand eroͤffnete ſich ihrem Blicke ein
weites merkwuͤrdiges Theater; aber die Mu-
ſik wurde nur noch leiſe in der Entfernung
gehoͤrt, welches unſre beiden Wanderer um
ſo viel weniger bemerkten, weil ihre Augen
genug Beſchaͤftigung hatten, um das Ohr
ſein Vergnuͤgen nicht vermiſſen zu laſſen.
Eine weite unuͤberſehlige Ebne dehnte ſich
M 2vor
[178] vor ihnen aus, und die Ausſicht wurde
durch eine Menge großer und kleiner Gebaͤu-
de unterbrochen, worunter beſonders eins
in der Mitte derſelben wegen ſeiner Schoͤn-
heit und ſeines Umfangs hervorleuchtete:
alle waren von Reißig und Baumſtaͤmmen
ſauber geflochten, weitlaͤuftig und kuͤndigten
auf allen Seiten Bewohner von Geſchmack
und Liebhaber des Schoͤnen an. Auf der
Ebne zeigte ſich ihnen eine Menge großer
rieſenmaͤßiger Figuren, die gravitaͤtiſch auf
und abwandelten, indeſſen daß ihnen eine
Menge Perſonen einen Platz fuͤr ihre Schritte
frey machen mußten, worauf ein homeri-
ſcher Gott mit ſeinem goͤttlichen Rieſengange
Raum genug gefunden haͤtte. Je mehr ſie
ſich dieſen Koloſſen naͤherten, jemehr nahm
ihre Groͤße ab, und als ſie endlich ihrem
Wirkungskreiſe ſo nahe waren, als es die
abhaltenden Platzmachenden Kreaturen zu-
ließen, ſo fanden ſie zu ihrer großen Ver-
wunderung, daß es Zwerge waren, Zwer-
ge von der kleinſten Art, die auf unmaͤßig
hohen Stelzen daherwandelten. Ihr einzi-
ger Zeitvertreib war ein ſolcher gravitaͤtiſcher
Spatziergang, und ihre ganze Beſchaͤftigung
beſtund
[179] beſtund darinne, daß einer den andern durch
irgend ein Mittel von ſeiner Stelze abzuwer-
fen ſuchte. Je hoͤher die Stelze ihren Mann
emportrug, deſto aufmerſamer waren aller
Augen auf ihn gerichtet, und deſto eifriger
waren die Bemuͤhungen, ihn herunterzuſtuͤr-
zen. Einige zielten von Ferne mit Steinen
und Stangen nach ihm, von welchem jeder,
der zu ihrem Ziele geworden war, gewiß
allemal Beulen und Quetſchungen bekam,
wenn er ſich auf ſeiner Stelze im Gleichge-
wichte erhielt: andre draͤngten ſich ſo nahe
zu ihm, daß ſie, wie renomiſtiſche Studen-
ten, bey dem Ausſchreiten mit den Stelzen
zuſammenſtoßen mußten, und wer fiel, —
fiel, oft der Angreifer, oft der Angegriffne:
noch andre ließen einem ſo vorzuͤglich hohen
Stelzenzwerge ploͤzlich Steine in den Weg
waͤlzen, die den Zirkel ſeiner Leibwache ſo
ſchnell uͤberraſchten und mit dahin riſſen,
daß ſie dieſelben nicht fortſchaffen konnten;
und wenigſtens ſtolperte der Mann mit der
Stelze, wenn er auch nicht ganz ſtuͤrzte, und
die uͤbrigen hatten wenigſtens die Freude uͤber
ihn zu lachen. So war dieſer Platz ein beſtaͤn-
ſtig abwechſelnder Schauplatz, wo neue
M 3Zwer-
[180] Zwerge mit hoͤhern Stelzen erſchienen, und
andre von den ihrigen heruntergeworfen
wurden, einige ſtolz daherwandelten, und
einige mit zerbrochnen Armen, zerquetſchten
Koͤpfen, beſchundnen Beinen ſchmerzhaft
ſich im Staube wanden.


Luſtig iſt es, ſprach Belphegor, Zuſchauer
von dieſem Stelzenkaruſelle zu ſeyn; aber
ſich drein zu mengen! — bewahre dafuͤr
der Himmel jeden Mann, der ſolche Stelzen
entbehren kann! — Aber, ſieh, Akante!
was wimmelt dort? —


Sie ſahen beide hin, und wurden einen
Trupp kieinere Zwerge gewahr, die auf kur-
zen niedrigen Stelzen das ganze Spiel der
vorigen auf einem kleinen Platze nachaͤfften,
ſich wechſelsweiſe herunter warfen und ſich,
um die Ehre der Gleichheit mit jenen groͤſ-
ſern Zwergen zu erlangen, Beine, Arme
und Haͤlſe zerbrachen. —


Siehſt du, Akante? das alberne Men-
ſchenvolk! rief Belphegor. Sonſt wuͤrde
mir dieſer Anblick ein Laͤcheln abgenoͤthigt
haben, izt zwingt er mich zum Aerger.
Kannſt du etwas raſenderes denken, als ſich
die Haͤlſe zu zerbrechen, um ſie ſich wie an-
dre
[181] dre zerbrochen zu haben. Fort! laß uns
keine Menſchen ſehn, ſo ſehn wir keinen Un-
ſinn! — Wo iſt nun die Freude, die dir
jene lockende Muſik verſprach? Horche doch!
Wo iſt es hin, das toͤnende Konzert? Ver-
ſtummt! Nicht einen Laut, nicht ein Ge-
ſchwirre hoͤrſt du izt mehr. — Was zu ver-
wundern? Sagte ich dirs nicht? — Es
iſt eine Freude unſers Planetens, und alſo
eine Betriegerinn. —


Akante erſtaunte, horchte und wurde itzo
erſt inne, daß ſie ſich durch einen ſo be-
ſchwerlichen Weg dem Vergnuͤgen naͤher ge-
bracht hatte, um es zu verlieren. Sie troͤ-
ſtete ſich inzwiſchen mit der Moͤglichkeit, es
mit einer doppelten Verguͤtung wiederzufin-
den, und munterte Belphegorn auf, ſie zu
den uͤbrigen Merkwuͤrdigkeiten des Ortes zu
begleiten. Sie giengen weiter, und ſogleich
zog ein weitlaͤuftiges Gebaͤude ihre Aufmerk-
ſamkeit an ſich, beſonders war Akante vor
Entzuͤcken ganz außer ſich ſelbſt geſetzt, da
ihr aus demſelben ganze Reihen von den
goldnen Voͤgeln entgegenſtrahlten, denen ſie
vor etlichen Tagen mit aller Gewalt nachja-
gen wollte, da ſie ganze Truppe von den
M 4helleuch-
[182] helleuchtenden Rehen erblickte, und Schaa-
ren Menſchen bey ihnen, die mit ihnen ver-
traulich umgiengen.


O Belphegor! ſeufzte ſie, wie gluͤcklich
muͤſſen dieſe Menſchen ſeyn, die die ſchoͤnen
Voͤgel in ſolchem Ueberfluſſe beſitzen, wo-
von mich ein einziger ſchon hinlaͤnglich be-
gluͤcken wuͤrde! Siehe! Dieſe Gluͤckſeligen
koͤnnen ſie pflegen und warten, ſie ſtreicheln,
ſie liebkoſen, den goldgelben Samt ihres
Gefieders beruͤhren, ihre Ohren an den
lieblichen Liedern ihrer Kehle weiden — o
wer ein Glied von dieſem beneidenswuͤrdi-
gen Haufen waͤre! Sie haben errungen, wo-
nach vermuthlich ſo viele noch keuchend lau-
fen, dem ich gern nacheilte — ach! komm!
Laß uns wenigſtens die Augen an dieſen eng-
liſchen Geſchoͤpfen ergoͤtzen! —


Gute Akante! Du beneideſt dieſe Leute;
aber, aber! — ich ſehe ſchon ein trauri-
ges Anzeichen. Was gilts? Sie fuͤhlen ein
Gluͤck dieſer Erde, das heißt, eine beneidete
Laſt. Siehſt du nicht? —


Und was? rief Akante haſtig. —


Sie haͤngen ja alle die Koͤpfe. Deine
Einbildungskraft berauſcht ſich bey dem Ver-
gnuͤgen
[183] gnuͤgen gleich, und du vergißt, daß du auf
der Erde biſt. —


Nein, da ſind wir nicht! Weder bey dem
Pabſt Alexander, dem ſechſten, noch bey
dem Markgrafen, wo meine Schoͤnheiten
ſo jaͤmmerlich verwuͤſtet worden ſind, weder
bey dem großen Fali, noch bey irgend ei-
nem Herrn, deſſen Sklavinn ich geweſen
bin, habe ich eine ſo entzuͤckende Koſtbarkeit
angetroffen, als dieſe goldnen Voͤgel oder
dieſe ſtrahlende Rehe: ſie ſind uͤber alle Herr-
lichkeiten dieſer Welt erhaben, und wir muͤſ-
ſen nothwendig in einem Paradieſe ſeyn. —


Wohl! aber wiſſen moͤchte ich nur, war-
um die guten Leute in ihrem Paradieſe die
Koͤpfe haͤngen. — Sie giengen, um Er-
kundigung daruͤber einzuziehn, allein da ſie
die Sprache nicht verſtunden, ſo erfuhren
ſie blos, was ſie ihre Augen belehrten, naͤm-
lich daß die Leute muͤhſam die goldnen Voͤ-
gel und Rehe warten und fuͤttern mußten,
und nach aller Wahrſcheinlichkeit Lange-
weile
bey dieſem Amtsgeſchaͤfte hatten.


Weil ihre Neubegierde auf dieſe Art nicht
weiter geſaͤttigt werden konnte, ſo wandten
ſie ſich auf die andre Seite, wo ſich ihnen
M 5neue
[184] neue Merkwuͤrdigkeiten darboten. Ein Zwerg,
der die uͤbrigen an Kleinheit merklich uͤber-
traf, lag auf einem ſehr erhoͤhten von Zwei-
gen geflochtnen Sofa, an welchem eine Men-
ge Zwerge zu ihm hinaufzuklettern verſuch-
ten. Ob er gleich nur von der Hoͤhe war,
daß ihn die beyden Europaͤer aufrecht ſte-
ſtend bequem uͤberſehen konnten, ſo koſtete
es doch den armen Kreaturen unendliche
Muͤhe daran hinaufzuſteigen, beſonders weil
einer dem andern aus Neid die Muͤhe viel-
faͤltig vermehrte: denn ſobald einer nur um
ein Paar Zolle mit dem Kopfe hoͤher zu ruͤ-
cken ſchien, ſo beeiferten ſich ganze Schaa-
ren aus allen ihren Kraͤften, ihn hernieder
zu reißen: man ſchlang ſich um ſeine Fuͤße,
man hieng ſich ihm an die Huͤften, man
ſuchte ihn durch Kuͤtzeln oder durch Gewalt-
thaͤtigkeiten herunterzubringen, und meiſten-
theils gelang es den Misguͤnſtigen, ihre
Schadenfreude an dem Falle eines ſolchen
Geſtuͤrzten zu vergnuͤgen. Die wenigen aber,
die allen dieſen Hinderungen wiederſtanden,
alle dieſe Beſchwerlichkeiten uͤberwanden und
gluͤcklich zu dem Sofa emporkamen, genoſ-
ſen fuͤr ihre angeſtrengte Bemuͤhung kein an-
dres
[185] dres Gluͤck, als daß ſie neben dem kleinen
Zwerge, der den Sofa inne hatte, ſich nie-
derſetzen und ihn taͤglich und ſtuͤndlich an-
ſehn durften. Dabey waren ſie unaufhoͤr-
lich, ein jeder fuͤr ſich, beſchaͤftigt, den
Blick des kleinen Zwergs durch alle nur er-
ſinnliche Mittel auf ſich zu lenken und ſeine
Geſichtsmuſkeln in eine laͤchelnde Mine zu
verſetzen. Zu dieſem Ende zwickten ihm ei-
nige ſanft die Ohren, andre hielten ihm
ſtarkriechende Eſſenzen vor, andre boten ſei-
nen Lippen die auserleſenſten Fruͤchte und
wohlſchmeckende Konfituren dar, dieſe be-
luſtigten ihn mit burlesken Grimaſſen und
kurzweiligen Gaukeleyen, jene rieben ihn am
ganzen Leibe mit kleinen Samtbuͤrſtchen ſo
einſchlaͤfernd ſanft, daß er oft durch ihre
Dienſtfertigkeit in einen wohlthuenden
Schlummer verſezt wurde. Sobald einer
es durch ſein angewandtes Mittel dahin
brachte, daß er einen freundlichen Blick weg-
haſchte, ſo mußte er ſogleich mit allen ſeinen
Kraͤften ſich Feſtigkeit auf ſeinem Sitze ver-
ſchaffen, um nicht hinuntergeſtuͤrzt zu wer-
den: denn ſobald die Sehnerven des kleinen
Zwergs nur anfiengen, ſich in die Richtung
nach
[186] nach ihm hinzuwenden, ſo war der ganze
uͤbrige neidiſche Haufe ſchon in Bereitſchaft,
Hand an ihn zu legen, um ihn durch einen
wohlabgezielten Stoß aus dem Gleichge-
wichte von der Hoͤhe hinabzuwerfen.


O Akante! rief Belphegor unwillig aus,
bin ich denn beſtimmt, zu meiner Qual be-
ſtimmt, taͤglich mehrere — taͤglich abge-
ſchmacktere Narrheiten zu erblicken? —
Komm! ich muß mich dem ſchmackloſen
kindiſchen Spiele entreiſſen oder zu meinem
Aerger hier bleiben. Thorheit oder Bosheit!
daß ihr doch der ewige Wechſel auf dieſem
verhaßten Planeten ſeyn muͤßt! —


Obgleich Akante nicht ſo viel Aergerliches
in jenem Schauſpiele fand und es gern und
mit Vergnuͤgen noch einige Zeit genoſſen
haͤtte, ſo mußte ſie ihm doch nacheilen oder
allein zuruͤckbleiben: denn kaum hatte er die
letzten Worte geſagt, als er haſtig fortlief
und einen Ausgang aus dieſem fuͤr ihn wi-
drigen Orte ſuchte, den er ohne Muͤhe ent-
deckte, und nicht den zwanzigſten Theil ſo
viel Zeit brauchten ſie, um herauszugehn,
als ſie noͤthig hatten, um hineinzukommen:
in wenigen Augenblicken ſahen ſie ſich wie-
der
[187] der auf freyem Felde, und die Muſik erhub
ſich von neuem ſo lieblich als jemals und
haͤtte ſie es bereuen laſſen koͤnnen, daß ſie dem
Orte entflohen waren, wenn ſie nicht ge-
wußt haͤtten, daß es eine ſuͤßklingende Taͤu-
ſcherey
war, die nur außer ihm in der Ferne
anlockte, aber in ihm ſelbſt ganz verloren
gieng. Demungeachtet hielt ſich Akante oft-
mals auf, um ſich von dem lieblichen Kon-
zerte entzuͤcken zu laſſen, allein Belphegor
trabte ſo friſch davon, daß ſie jede Minute
nutzen mußte, um ihm nachzukommen.


Belphegor konnte nicht aufhoͤren, uͤber
das Geſehne zu eifern, und Akante unterließ
eben ſo wenig, es zu bewundern: jenem
ſchmeckte jeder Biſſen uͤbel, weil er — nach
ſeinem Ausdrucke — in dieſem Vaterlande
der Thorheit gewachſen war, und dieſe war
noch zu voll von Entzuͤcken uͤber dieſe naͤm-
lichen Abgeſchmacktheiten, um Appetit und
Speiſe zu ſuͤhlen.


Einen kleinen ſchmalen Weg wurden ſie
gewahr; ſie uͤberließen ſich ihm, und er
fuͤhrte ſie in einen Wald: ſie giengen lange
Zeit
[188] Zeit, und ſiehe! — ploͤtzlich ſtießen ſie auf
eine große Geſellſchaft Zwerge, die ſich in
verſchiedene kleine Partien getheilt hatten.
Belphegor, der in ſeiner miſanthropiſchen
Laune alles vermied, was mit dem Menſchen
verwandt war und ihm nach ſeiner Mey-
nung nichts als Aerger erwarten ließ, drehte
ſich unwillig und fluchend um, als ihm ein
Alter nacheilte und ihn durch Zeichen bat,
mit ſeiner Gefaͤhrtinn naͤher zu kommen: er
ließ ſich endlich bewegen und wurde von
ihm in die Geſellſchaft eingefuͤhrt. Man
ſollte vermuthen, daß die Zwerge, da ſie
nie andre Menſchen als von ihrer Groͤße
geſehn hatten, uͤber die Statur der beiden
Europaͤer erſtaunt ſeyn wuͤrden, allein weit
gefehlt! Aus dieſer Gleichguͤltigkeit konnte
man ſchon ſchließen, daß ſie die weiſeſten
Zwerge im Lande ſeyn mußten, die vermoͤge
ihres Verſtandes wohl praͤſumiren konnten,
daß der Kreis ihrer Erfahrungen nicht mit
dem Kreiſe der Wirklichkeit und Moͤglichkeit
Eine Peripherie habe.


Dieſe ehrwuͤrdige Geſellſchaft beſaß ein
Geheimniß, deſſen Erfindung noch in unſerm
Jahr-
[189] Jahrhunderte einem der groͤßten europaͤi-
ſchen Genies *) Kopfſchmerz und Nachden-
ken vergeblich gekoſtet hat — das Geheim-
niß der allgemeinen Sprache. Sie konnten
ſich mit den Menſchenkindern aller Zonen
und Mittagskreiſe unterhalten, ohne ihre
Sprache zu wiſſen, wenn dieſe nur eine
kleine Anzahl Zeichen verſtehen lernten, die
ſie einem jeden durch eine eigne Methode
ſchnell und leicht beyzubringen wußten. So
bald dieſe Schriftzeichen gefaßt waren, de-
ren ungemeine Simplicitaͤt ihre Erlernung
außerordentlich erleichterte, ſo ſetzten ſich die
beiden Interlokutoren an eine Tafel, die
mit feinem Sande bedeckt war, in welchem
jeder mit einem weiſſen Staͤbchen ſeine Ge-
danken zeichnete, die er ausdruͤcken wollte;
der andre, ſo bald er den Sinn davon ge-
ſaßt hatte, machte den Sand mit einem
platten Inſtrumente wieber eben und ſetzte
das Geſpraͤch durch die naͤmliche Zeich-
nung fort.


Auf dieſe Weiſe erfuhr Belphegor, der
ſich mit ſeiner Gefaͤhrtinn zu ſeinem Vergnuͤ-
gen
[190] gen und zu ihrem Leidweſen lange unter
jenen weiſen Zwergen aufhielt, eine um-
ſtaͤndliche Beſchreibung von dieſem ſonder-
baren Lande, der Lebensart und den Be-
ſchaͤftigungen ſeiner Einwohner, wovon der
Leſer hier das Vornehmſte antreffen ſoll.


Wir haben lange Zeit, zeichnete ihm der
Alte, der ihn bey ſeiner Ankunft ſo guͤtig
aufnahm, auf dem Sande vor — wir ha-
ben lange Zeit unſer Land fuͤr das einzige
dieſer Erde, und uns daher fuͤr die einzigen
Bewohner derſelben angeſehn; allein ſchon
laͤngſt haben wir auch durch die tiefſinnig-
ſten Schluͤſſe entdeckt, daß dieß ein ungeheu-
rer Irrthum iſt, der uns weit von der Wahr-
heit abgefuͤhrt hat. Der ganze Lebenslauf
unſer aller iſt — daß wir geboren werden,
eine Zeitlang in Dummheit und Unwiſſenheit
herumwandeln, in einem gewiſſen Alter,
wenn wir Thaͤtigkeit und Staͤrke genug be-
ſitzen, auf die Jagd nach goldnen Voͤgeln,
helleuchtenden Rehen und Hirſchen, auf den
Fang nach buntſchimmernden Fiſchen aus-
gehn, oder die nicht Geiſt, Muth und Athem
genug beſitzen, ſich in dieſe Jagd einzulaſſen,
dieſe
[191] dieſe kriechen verachtet und abgeſondert in
einem Winkel herum, wo ſie fuͤr ſich und
die uͤbrigen Einwohner Wurzeln ausgraben,
Fruͤchte ſammeln und andre Nahrungsmittel
aufſuchen muͤſſen. Wir andern, die wir zu
jener Jagd und Fiſcherey tuͤchtig genug ſind,
wir wenden alle unſre Kraͤfte dazu an, wir
verfolgen Voͤgel, Wild oder Fiſche, nach-
dem unſer Geſchmack oder die Gelegenheit
uns beſtimmt; keiner hat noch jemals eins
erhaſcht, und doch ſind tauſende dabey um-
gekommen, weil ihnen der Athem ausgieng,
tauſende haben einander aus Neid darum
gebracht; nur wenige erjagen zuweilen eine
goldne Feder, die ſie kaum beſitzen, als ſie
des erlangten Beſitzes uͤberdruͤßig ſind:
demungeachtet bleibt keiner, der es nur im
mindeſten vermag, von dieſem muͤhſamen
Geſchaͤfte zuruͤck, laͤuft und laͤuft, und hat
am Ende — nichts, oder wenigſtens ein
Etwas, das ſo gut als ein Nichts iſt, ſieht
ein, daß es ein Nichts iſt, und begiebt ſich
endlich an dieſen Ort, der der letzte allge-
meine Sammelplatz unſer aller iſt, wo wir
uͤber die Thorheit unſers Lebens weinen oder
lachen, ſchmaͤlen oder laͤcheln. Siehe! alle
Ndieſe
[192] dieſe Truppe hier thun nichts als daß ſie
mit luſtiger oder trauriger Geberde ſich
uͤber die Narrheit derjenigen aufhalten, die
noch itzt goldnen Voͤgeln und rothſchim-
mernden Fiſchen nachlaufen, ohne zu wiſſen,
daß ſie leeren Fantomen nachjagen, die ſie
am Ende eben ſo betriegen werden, wie uns
alle; und wenn wir einige Zeit ſo geſeufzt
oder gelacht und gelernt haben, daß wir
Narren Zeitlebens geweſen ſind, ſo ſchlaͤgt
uns der große maͤchtige Tod mit der Kenle
auf den Kopf — und weg ſind wir! Wir
gehn hinweg, um kuͤnftig unter andern Ge-
ſtalten die naͤmliche Reihe unbewußt wieder
durchzumachen. —


So waͤrt ihr ja Menſchen, wie wir alle
ſind! dachte Belphegor bey ſich; und euer
Land nicht ein Haarbreit anders als die
uͤbrige Welt! Das wahre Ebenbild unſrer
Erde!


Akanten lag nichts ſo ſehr am Herzen als
den Ort kennen zu lernen, der ſie mit dem
ſchoͤnen Konzerte entzuͤckt hatte, und Belphe-
gor bekam auf ſeine Anfrage folgende Ant-
wort:
[193] wort: — Das iſt der Ort, der außen lockt
und inwendig ſchreckt, außen lauter Ver-
gnuͤgen verſpricht und inwendig lauter Lan-
geweile giebt, wo ein Theil auf Stelzen
ſtolz daherſchreitet und ſich wechſelsweiſe ab-
wirft, ein andrer muͤhſam, mit Ueberdruß
und Ekel goldne Voͤgel, Rehe und Fiſche
pflegt und unter vieler ſaurer Beſchwerlich-
keit wartet, und ein dritter ſich um ſuͤße
und ſaure Blicke zankt, beneidet, verfolgt;
wo jeder ein beneideter Laſttraͤger iſt —


Und was fuͤr ein Ort iſt das? wollte
eben Belphegor fragen — Himmel! was
fuͤr ein Krachen! welches Getoͤſe! rief Akante
ploͤtzlich. — Welche Erſchuͤtterung! Wir
gehn unter! Die Erde wankt! rief Belphe-
gor; und im Augenblicke verſenkte ein
ſchreckliches Erdbeben eine unuͤberſehliche
Flaͤche Landes in den Abgrund, das Meer
ſchwoll an ſeinen Platz in hohen gethuͤrmten
Wellen empor, das Stuͤcke Boden, auf wel-
chem unſre Geſellſchaft ſaß, riß ſich mit
der entſetzlichſten Erſchuͤtterung los und
ſchwamm, wie Delos als es Latonen wider
die Wuth ihrer Feinde ſchuͤtzen ſollte, mit
N 2ſeinen
[194] ſeinen Bewohnern auf der See fort und
fuͤhrte ſie — der Himmel und das neunte
Buch wiſſen es wohin.


Dieſes war der große Riß, den das liebe
Schickſal, nach der Muthmaßung vieler
Geographen, Hiſtoriker und Philoſophen,
in das feſte Land unſrer Erdkugel gemacht
hat, um alle diejenigen zum Aprile zu
ſchicken, die trocknes Fußes aus Aſien nach
Amerika uͤbergehen wollen; und wenn Bel-
phegor und die ſchoͤne Akante eine Zeichnung
von dem Wege hinterlaſſen haͤtten, den die
ſchwimmende Inſel mit ihnen nahm, ſo
wuͤrden wir ohne Zweifel mit Gewisheit er-
fahren, wie man aus Aſien nach Amerika
ſegeln ſoll.




[[195]]

Neuntes Buch.


N 3
[[196]][[197]]

Wie, wenn der Fuhrmann, der ſeine
Roſſe durch Fluch und Peitſche zum
unumſchraͤnkten Gehorſame gewoͤhnt hat,
ſein allmaͤchtiges O! ruft, der ganze Poſt-
zug ſogleich in einem Tempo, wie ange-
mauert, ſtillſteht; ſo ſchwamm das abge-
rißne Stuͤck Land mit Belphegorn und ſeinen
Gefaͤhrten eine lange Strecke fort, und ploͤtz-
lich ruhte es unbeweglich und ward zur
feſten Inſel, nicht weit von Kaliſornien;
und wie verſchiedene große Gelehrte an ih-
rem Schreibetiſche uͤberzeugend eingeſehn
haben, ſo wurde der ſchwimmende Boden
auf einen ſpitzigen Felſen aufgeſpießt, der
ihn bis an den juͤngſten Tag tragen kann,
wenn nicht ein Erdbeben einen Strich in die
Rechnung macht.


Die Gefellſchaft, die dieſe bedenkliche
Fahrt nicht ohne eine kleine Beſorgniß, daß
der Tod mit dem Spiele Ernſt machen
moͤchte, aber doch gluͤcklich und wohlbehal-
ten zuruͤcklegte, beſtund aus Belphegorn,
N 4Akan-
[198] Akanten und dem Alten, der in ſeiner Unter-
redung mit ihnen durch das graͤuliche Erd-
beben geſtoͤrt wurde. Belphegor war nicht
uͤbel zufrieden, daß ihn das Schickſal ſo ein-
ſam, fern von allen Menſchen, auf die offne
See hingeſetzt hatte, und ward es viel we-
niger, als er ſich gegenuͤber ein großes feſtes
Land wahrnahm, welches die uͤbrigen, weil
ſie nicht ſo viel Menſcheufeindlichkeit beſaßen,
doppelt erfreute. Doch auch fuͤr ihn mußte
das Vergnuͤgen uͤber ſeine Einſamkeit nur
von kurzer Dauer ſeyn, wenn er die Duͤrf-
tigkeit und Huͤlfloſigkeit betrachtete, worinne
ſie ſich befanden. Das Erdbeben hatte ih-
nen wohl einen guten Vorrath Brennholz
mitgegeben, aber nicht einen einzigen Frucht-
baum, nicht ein einziges Gewaͤchſe, nicht
eine Staude, die nur im mindſten geſchickt
geweſen waͤre, einen menſchlichen Hunger zu
ſtillen. Fiſche zu fangen hatten ſie keine
Werkzeuge, und eben ſo wenig Materialien,
ſie zu verfertigen; gleichwohl war dieß die
einzige Nahrung, deren ſie habhaft werden
konnten. Zum Gluͤcke hatte der Alte auf
ſeiner Jagd nach goldnen Fiſchen in juͤngern
Jahren die Kunſt gelernt, ſie bey hellem
Waſſer
[199] Waſſer mit der Hand zu fangen: der Hun-
ger trieb ihn an, daß er eine Fertigkeit wie-
der verſuchte, die er ſchon laͤngſt aufgegeben
hatte, allein durch das Alter und die Unge-
wohnheit waren ſeine Haͤnde unſicher und
unſtaͤt geworden, daß er alſo mit der aͤußer-
ſten Anſtrengung in einem Tage kaum genug
fieng, um ſich und ſeiner Geſellſchaft das
Leben zu friſten, aber nicht um ſie zu naͤhren.
Oben drein mußte das Ungluͤck ihren Jam-
mer vermehren und den Alten, deſſen
ſchwaͤchlicher Koͤrper einen ſo kuͤmmerlichen
Unterhalt nicht ertragen konnte, in wenig
Tagen ſterben laſſen. Was nun zu thun? —
Nichts als zu hungern oder zu ſterben!


In dieſer ſchrecklichen Verlegenheit mußte
ſich Belphegor bequemen, den Ton ſeiner
Menſchenfeindlichkeit um vieles herabzuſtim-
men: ſo ſehr er ſonſt vor dem Anblicke der
Menſchen flohe, ſo eifrig ſpaͤhte er itzt an
dem Rande ſeiner Inſel, um vielleicht an
dem entgegenſtehenden Ufer menſchliche Fi-
guren zu entdecken, denen er durch Rufen
und Zeichen verſtaͤndlich machen koͤnnte,
daß hier einige von ihren Bruͤdern ihres
Beyſtandes beduͤrften: er duͤnkte ſich zwar
N 5etwas
[200] etwas bewegliches wahrzunehmen, allein
ſein Auge reichte nicht voͤllig bis dahin, um
es gehoͤrig zu unterſcheiden. Endlich, nach
langem vergeblichen Warten, warf er ſich
verzweiflungsvoll nieder und rief:


O Natur! o Schickſal! daß ihr doch in
ewiger Uneinigkeit wider einander ſeyn muͤßt!
Sollte das Ungluͤck die Bande der Menſch-
heit naͤher zuſammenziehn, ſollte es ein Ge-
ſchoͤpf dem andern theuer und nothwendig
machen, warum mußte das Schickſal wohl
tauſend Ungluͤcksfaͤlle in unſer Leben hin-
werfen, aber unter dieſen tauſenden kaum
einen die Wirkung thun laſſen, wozu er nach
unſrer Meynung beſtimmt iſt? — Meine
traurige Huͤlfloſigkeit, die Naͤhe des Todes,
die Moͤglichkeit der Rettung, die Zudring-
lichkeit der Gefahr — alles zuſammen hat
mein Herz wieder geoͤffnet: ich fuͤhle einen
Zug nach Menſchen; ich wuͤrde ſie vielleicht
lieben, wenn ſie mich retteten; ich haſſe ſie
ſchon weniger: aber wenn ich meine Haͤnde
gleich zu Freundſchaft und Wohlwollen aus-
ſtrecke, und Niemand mir die ſeinigen bie-
tet? Wenn mich das Schickſal auf der einen
Seite zu den Menſchen hinſtoͤßt, und auf
der
[201] der andern ſie wieder von mir entfernt? —
O Labyrinth! O Raͤthſel! Der Tod ſchneider
den Knoten am beſten entzwey. Wohlan!
zeugt die Natur Geſchoͤpfe, um ſie in Qual
zu verſenken; macht ſie ſo herrliche Anſtal-
ten, um ſie unter einander zuſammenzu-
knuͤpfen, daß ſie erſt hungern, frieren,
ſchmachten, die aͤußerſte Erſchoͤpfung der
Kraͤfte durch Schmerz und Gefahren erdul-
den, ſich kraͤnken, verfolgen, martern, er-
wuͤrgen muͤſſen, damit der kleine Reſt, der
der Gefahr und dem ganzen tollen Spiele
der Welt entrann, ſich lieben und in Friede
bey einander wohnen koͤnne; durchwebte ſie
dieſes Leben mit Dornen, um uns die ein-
zeln bluͤhenden Bluͤmchen deſto wohlthuen-
der, einnehmender zu machen; gab ſie ihren
Geſchoͤpfen eine ſo traurige Fruchtbarkeit,
daß ſie mehrere ihres Gleichen hervorbrach-
ten, als nach der Veranſtaltung des Schick-
fals ernaͤhrt und erhalten werden konnten:
— mag ſie es verantworten! Ich kann
nicht mit ihr rechten: denn — ungluͤcklich
genug! — wir haben keinen Richterſtuhl,
der uͤber uns erkennt; der Menſch, ihre
Kreatur, muß leiden, weil er der ſchwaͤchere,
weil
[202] weil er nichts iſt. — O Akante! warum
ſollten wir uns nach Huͤlfe umſehen? Um
noch einmal ſo lange unter Schlangen, Ei-
dexen, Skorpionen herumzukriechen? Haben
wir nicht Biſſe und Stiche genug bekom-
men? — Laß das veraͤchtliche Geſchlecht,
das zum Quaͤlen allzeit, und zur Huͤlfe nie
bey der Hand iſt, laß es! Wir wollen ihn
fluchen und ſierben! —


Mit dieſen ſchwarzen Gedanken faßte er
ſie halb ſinnlos in die Arme; ſie weinte, er
fluchte; ſie dachte an alle Oerter der Freude
zuruͤck, wo ſie jemals in Luſt und Entzuͤcken
geſchwommen hatte. — O wie ſchoͤn, dachte
ſie, war es im Serail des großen Fali! wie
ſchoͤn bey dem Markgrafen von Saloica,
ob ich gleich alle meine Schoͤnheiten dort
einbuͤßte! wie ſchoͤn bey Alexander dem ſech-
ſten! wie ſchoͤn uͤberhaupt in Europa in den
Armen meiner Geliebten, Belphegors und
Fromals und Stentors und Bavs und
Maͤvs und Euphranors und andrer ſchoͤnen
Juͤnglinge! Ach, die gluͤckliche Zeit iſt vor-
uͤber; und hier ſoll ich nun auf dieſer duͤr-
ren oͤden Inſel ohne Geſang und Klang —
nicht einmal begraben, ſondern vermodern
und
[203] und von den Voͤgeln des Himmels zerſtuͤckt
werden! Kein Juͤngling ſoll eine einzige
Strophe auf meinen Hintritt ſingen! kein Lieb-
haber eine Thraͤne auf meine erblaßten Wan-
gen troͤpfeln und ſie wieder aufkuͤſſen! —
Nichts, alles nichts! alles nichts! alles iſt
aus! Ich muß ſterben, unbeklagt ſterben!
— Belphegor, du haſt Recht: das laͤcher-
liche thoͤrichte Leben iſt nicht werth, daß
man es durchlebt, weil man es ſo bald miſ-
ſen muß. Ich habe von Heiden, Juden
und Chriſten leiden muͤſſen, und die graͤuli-
chen Keile waren alle eins: aber ich habe
auch Freuden genoſſen, und da ich ſie wie-
der zu erlangen hoffe, ſo ſoll ich gar ſterben!
ſie auf ewig miſſen! — O du tolles abge-
ſchmacktes Leben! waͤrſt du nur ſchon vor-
uͤber! — Sie weinte bitterlich.


Beide wollten ſterben; allein da der Tod
mit ſeiner ſaumſeligen Huͤlfe nicht allzeit auf
die erſte Bitte erſcheint, ſo kam indeſſen zu
Stillung ihrer Schmerzen ſein Bruder —
der Schlaf.


Bey ihrem Erwachen, das etwas ſpaͤt
des Tages darauf erfolgte, ſahen ſie einen
Trupp Kanote nicht weit von ihrer Inſel in
Ord-
[204] Ordnung geſtellt und mit einer Menge wil-
der Mannsperſonen augefuͤllt; und ſo ſehr
ſie Tages vorher unwillig waren, daß nicht
zween Menſchen zu ihrer Huͤlfe herbeyeilten, ſo
ſehr erſchraken ſie itzt, daß ihrer eine ſo große
Menge bey der Hand war. Wirklich hatten ſie
auch alle Urſache zu erſchrecken: denn nicht
aus bruͤderlicher Liebe, ſondern aus Beſorg-
niß fuͤr Feindſeligkeiten waren ſie herbeyge-
kommen. Sie hatten ihre Schiffahrt mit der
Inſel angeſehn und viel Bedenkliches dabey
gefunden, daß ſich in ihrer Nachbarſchaft
eine ſo große Maſſe niederließ, die vorher
nicht vorhanden geweſen war: da dieſes
verſchiedne wunderliche Gedanken veranlaßte,
beſonders daß es vielleicht gar eine Rotte
boͤſer Geiſter ſeyn konnte, die nicht in den
beſten Abſichten auf die Nachbarſchaft mit
einer ſo anſehnlichen Wohnſtaͤtte angekom-
men ſeyn moͤchten, ſo beſchloſſen ſie, nicht
laͤnger in einer quaͤlenden Ungewißheit zu
bleiben, ſondern die Sache ſiehendes Fußes
in Augenſchein zu nehmen. Daher waren
ſie in der Nacht mit ihrer ganzen Flotte von
Kanoten abgeſegelt, einige hatten ſich in der
Entfernung gehalten, und andre waren ge-
landet,
[205] landet, um heimlich die neue Inſel zu un-
terſuchen. Als ſie aber ſo wenig erſchrecken
des und nur zween in tiefen Schlaf verſenkte
Sterbliche antrafen, ſo ſchien es ihnen das
rathſamſte den Tag in Schlachtordnung ab-
zuwarten und ſie alsdenn die Probe ihrer
Gottheit oder Sterblichkeit ablegen zu laſſen.
Zu dieſem Ende wurden die beyden Schla-
fenden durch ein heftiges Geſchrey, das alle
anweſende Haͤlſe zugleich anſtimmten, bey
Tages Anbruche auſgeweckt, und etliche toll-
kuͤhne Wagehaͤlſe hatten ſich ſchon in ihren
Kanoten um die Inſel herumgeſchlichen, um
ſie von hintenzu anzufallen, zu binden und
triumphirend in ihre Heimath zu fuͤhren, um
ihren Stand und ihre Macht weiter zu un-
terſuchen.


Sabald als Belphegor bey ſeinem Erwa-
chen die Menge Menſchen erblickte, ſo war
ſeine erſte Empfindung — Schrecken, wie
bereits geſagt worden iſt: doch belebte die
Nothwendigkeit der Huͤlfe und eine Art von
Verzweiflung ſeinen Muth ſo ſehr, daß er
durch bittende Zeichen und demuͤthige Geber-
den ſie auf ſeine Inſel zu locken und ihnen
zu glei-
[206] zu gleicher Zeit verſtaͤndlich zu machen ſuchte,
wie ſehr er ihres Beyſtandes beduͤrfe. An-
ſtatt einer guͤtigen freundſchaftlichen Antwort
toͤnte ihm ein fuͤrchterliches Kriegsgeſchrey
entgegen, das bald hinter ſeinem Ruͤcken
wiederholt wurde, worauf etliche ſie uͤber-
fielen, mit Seilen von Baſte feſſelten und
ihren Gefaͤhrten winkten, mit den Kanoten
herbeyzurudern und die Gefangnen einzuneh-
men, welches im Augenblicke geſchah.


Obgleich die Art, mit welcher dieſe Wil-
den die beiden Europaͤer bewillkommten und
aufnahmen, nicht die erfreulichſten Ausſich-
ten verſprach, ſo war doch Belphegor aͤu-
ßerſt zufrieden, das er auf ein langes feſtes
Land gebracht werden ſollte, wo er wenig-
ſtens Einen Fleck mit hinlaͤnglicher Nahrung
anzutreffen hofte: Akante hingegen, deren
Keuſchheit eben keine ſonderliche Muͤhe und
Vorſorge mehr verdiente, weil ſie ſchon lei-
der! ſo ſehr als ihr Geſicht zerfezt und ver-
ſtuͤmmelt war, dachte an alles, waͤhrend
der Ueberfahrt, nicht ſo ſehr und angelegent-
lich als an die Gefahren, die unter ſo wil-
den Barbaren ihrer weiblichen Ehre drohen
konnten. So natuͤrlich, ſo tief mit dem
weib-
[207] weiblichen Weſen verwebt iſt Sittſamkeit
und Keuſchheit, daß hier Akante ſo gar,
nachdem ſie ſchon in neun und neunzig Faͤl-
len beſudelt worden ſind, doch im hunder-
ten noch fuͤr die Erhaltung ihrer Reinlichkeit
ſorgte!


Belphegor raͤſonnirte indeſſen unaufhoͤr-
lich bey ſich uͤber die Feindſeligkeit und das
Mistrauen, das die Wilden bey ihrer Auf-
nahme blicken ließen. — Ein neuer Beweis,
ſagte er ſich, unter den vielen, die ich ſchon er-
lebt habe, daß die Natur ihren Soͤhnen keine
angeborne bruͤderliche Zuneigung zur Mitgift
ertheilte. Warum fuͤhlt der Wilde dieſen Zug
zu keinem Fremden? Warum iſt ihm außer
der kleinen Geſellſchaft, die lange Gewohn-
heit mit ihm eins hat werden laſſen, alles
Feind! — O Natur! Natur! Du mußteſt
dem Menſchen dieſes Mistrauen einpflanzen,
um deine Kreaturen Selbſterhaltung zu leh-
ren: aber trauriges Mittel! damit jedes
ſich erhalte, muß jedes des andern gebor-
ner
Feind, von allen ſich trennen und nur
durch Gewohnheit, Eigennutz, Zwang der
Freund von etlichen wenigen werden! Un-
gluͤckliche Geſelligkeit! magſt du doch In-
Oſtinkt
[208] ſtinkt oder vom Beduͤrfniſſe erzeugt ſeyn, du
biſt allzeit ein trauriges Geſchenk: du ſam-
melteſt die Menſchen in Rotten, um ſich zu
befeinden und zu zerfleiſchen. War es aus
Oekonomie oder um das Schauſpiel blutiger
zu machen, daß nicht Menſchen gegen Men-
ſchen, ſondern Trupp gegen Trupp ſtreiten
mußte? Doch weg mit den truͤben Gedan-
ken! Ich bin vom Hunger und vom Tode
gerettet: dieſe unverdorbnen Kinder der Na-
tur, die Unerfahrenheit fuͤrchten, und die
Furcht feindſelig verfahren lehrte, werden
unſre friedlichen Geſinnungen kaum merken
und uns eben ſo friedlich begegnen. Der
Zunder der Feindſchaft, der in der ganzen
Welt glimmt, kann ſich nicht bey ihnen ge-
gen uns entflammen: freue dich, Akante,
wir ſind wenigſtens dem Tode, wo nicht fer-
nern Ungemaͤchlichkeiten entflohen! —
Es muß doch ſo eine Anordnung, ſo ein
geheimes Etwas ſeyn, das die menſchlichen
Begebenheiten zum Beſten der einzelnen Mit-
glieder der Erde zuſammenknuͤpft: ein Et-
was, das aus den widerwaͤrtigſten Saa-
men den entgegengeſezten Vortheil, aus
Mis-
[209] Mistrauen und feindlicher Furcht Errettung
entwickeln kann. —


Die Freude, ſich aus der augenſcheinlich-
ſten Todesgefahr ſo unvermuthet geholfen
zu ſehn, gab ſeiner Philoſophie einen ſo ge-
ſchmeidigen Fluß, daß ſie bis zum Landen
ſich in dieſe Selbſtbetrachtung ergoß.


Nachdem ſie unter einem ununterbroch-
nen Jubel in das erſte Dorf eingezogen wa-
ren, ſo glaubte Belphegor nichts gewiſſer,
als daß man auf ſeine erſte Bitte, ſobald ſie
nur verſtanden worden waͤre, mit der groͤß-
ten Bereitwilligkeit ſeinen Hunger befriedi-
gen werde. Er that zwar ſeine Bitte, aber
niemand ſchien ſie zu verſtehen, ſondern man
ſperrte ihn nebſt Akanten nach einer langen
Prozeſſion in ein Gebaͤude ein; und eine
kleine Weile darauf trug man ihnen Speiſen
im Ueberfluſſe auf, deren Ungewohnheit ih-
nen die Ueberladung erſparte. Die Einwoh-
ner, die ſie genau beobachteten, frohlockten
nicht wenig als ſie ihre Gefangnen mit ſo
vielem Appetite eſſen ſahen, welches Vel-
phegorn, der es ſich als eine Freude der
Menſchenliebe und des Mitleids ausgab,
beinahe auf beſſere Geſinnungen von der
O 2menſch-
[210] menſchlichen Natur brachte und ſeine bishe-
rigen Beſchwerden uͤber ſie bereuen ließ. —
Hier, ſagte er zu Akanten, hier iſt unver-
dorbne Natur: in keiner ſogenannten poli-
zierten Geſellſchaft wuͤrde man ſo naife Aus-
druͤcke des Mitleids und vielleicht auch ſchwer-
lich eine ſo ſorgſame Verpflegung, ohne alle
Ruͤckſicht auf eignes Intereſſe, angetroffen
haben.


Nur das einzige war ihm unbegreiflich,
daß dieſe mitleidigen Verſorger ſie gleich an-
fangs aller Kleider beraubt hatten, beſtaͤn-
dig gefeſſelt hielten und auf das ſchaͤrfſte be-
wachten: er ſann tauſend guͤnſtige Urſachen
dafuͤr aus, die insgeſammt ganz wahrſchein-
lich, aber keine die wahre war.


Nach einer achttaͤgigen Wartung und Be-
koͤſtigung, die ihnen ihre Kraͤfte voͤllig wie-
der hergeſtellt hatte, wurden ſie des Mor-
gens unter dem Zuſammenlaufe des ganzen
Dorfs ausgefuͤhrt, und jedes in der ganzen
natuͤrlichen Bloͤße an einen Pfahl gebunden:
beide zitterten nicht ohne Grund fuͤr ihr Le-
ben; doch war ihnen alles noch Raͤthſel.
Verſchiedene von den Umſtehenden waren
mit bedenklichen Werkzeugen bewaffnet, die
zu nichts
[211] zu nichts als zum ſchneiden und ſaͤgen ge-
ſchickt waren: ein großes Feuer loderte in
hohe Flammen empor, und nichts war wahr-
ſcheinlicher, als daß ſie beide gebraten wer-
den werden ſollten. Mitten unter dieſer
unſeligen Vermuthung rennte eine Weibs-
perſon, unſinnig wie ein Maͤnade, auf Bel-
phegorn zu und zwickte ihm mit einem ſtei-
nernen Inſtrumente ein Stuͤck Fleiſch aus
dem Arme, daß er vor Schmerz vergehn
mochte; das Blut quoll aus der Wunde,
und ſchnell hielt einer der Daſtehenden ein
Gefaͤß unter, um es aufzufangen und zu ver-
ſchlucken. Dem Beiſpiele des raſenden Wei-
bes folgten einige andre, und in kurzer Zeit
waren die beiden Leidenden vor Schmerz
faſt erſchoͤpft und ganz mit Wunden bedeckt,
ihr Blut von verſchiedenen getrunken, und
Stuͤcken von ihrem Fleiſche im Triumphe
davon getragen worden. Aus dieſem tragi-
ſchen Ende, das ihre guͤtige Verpflegung
nahm: konnte man ſchließen, daß man nur
die menſchenfreundliche Abſicht dabey gehabt
hatte, ihr Blut und ihr Fleiſch fetter und
wohlſchmeckender zu machen und ihnen Kraͤfte
zu geben, daß ſie durch ihre Martern deſto
O 3laͤnger
[212] laͤnger ihrer Grauſamkeit zur Kurzweile die-
nen konnten.


Von dem ſchrecklichen Schauſpiele war
kaum der erſte Akt voruͤber, als ploͤzlich ein
Schwarm von der benachbarten Voͤlkerſchaft
eindrang, nach einem kurzen Gefechte
die Barbaren vom Schauplatze fortſchlug,
das Dorf anzuͤndete und die blutenden Eu-
ropaͤer mit ſich hinwegnahm, die dieſe Sie-
ger ſogleich nach der Ankunft in ihrem Dorfe
verbanden und ſorgfaͤltig verpflegten. We-
der Belphegor noch Akante trauten itzt dem
Gluͤcke mehr, ſondern argwohnten eine neue
Grauſamkeit hinter dieſer Guͤtigkeit: da ſie
aber ſo ſehr lange bis zur voͤlligen Heilung
anhielt, ſo wußten ſie wenigſtens nicht, was
ſie denken ſollten, wenn ſie auch gleich nichts
Gutes erwarteten.


Ihre gegenwaͤrtigen Verpfleger waren
ſehr religioͤſe Leute. Sie hielten es fuͤr
hoͤchſtſuͤndlich, einen Menſchen zu eſſen, ohne
ihn vorher den Goͤttern geopfert zu haben;
und um ihre Nachbarn, die gewiſſenloſe
Leute waren und ſie fraßen, ohne ihren
Goͤttern einen Biſſen davon anzubieten, von
dieſer aͤrgerlichen Gottloſigkeit abzuhalten,
unter-
[213] unternahmen ſie beſtaͤndige Anfaͤlle auf ſie:
ſo oft ſie durch Kundſchafter erforſchten, daß
man eine ſolche Mahlzeit halten wolle, ſo
brachen ſie auf, befreyten die fuͤr die Gefraͤ-
ßigkeit jener Barbaren beſtimmten Opfer mit
Gewalt, kurirten ſie ſorgfaͤltig wieder aus,
opferten ſie ihren Goͤttern und aßen ſie mit
der groͤßten Anſtaͤndigkeit.


Kein andres Schickſal iſt alſo von der
Froͤmmigkeit dieſer Leute fuͤr unſre beiden
Europaͤer zu hoffen: und kurzer Zeit nach
ihrer voͤlligen Genefung erfuhren ſie es ſelbſt,
daß kein andres auf ſie wartete. Belphe-
gor raſte vor Zorn und Verdruß; er wollte
nicht eſſen, und wan zwang ihm die Spei-
ſen ein: er wurde gemaͤſtet, um ein wuͤrdi-
ges Gericht fuͤr die Tafel der Goͤtter zu
werden. Der Termin des Opfers, das
Hauptfeſt des Jahres, naͤherte ſich, und
die Vorbereitungen nahmen ihren Anfang.


Unterdeſſen fuͤhlten ihre Nachbarn ein ge-
waltiges Jucken der Tapferkeit in Armen
und Fuͤßen, ſie hatten lange muͤßig zu Hau-
ſe gelegen, und wie das unvernuͤnftige Vieh
nichts gethan als gegeſſen, getrunken und
bey ihren Weibern geſchlafen. Um ſie die-
O 4ſer un-
[214] ſer unruͤhmlichen Ruhe zu entreißen, ſand
ſich bey einem unter ihnen gerade zu geleg-
ner Zeit ein Traum ein, der kaum erzaͤhlt
war, als alle bis zum kleinſten Nervengefaͤ-
ße ſich begeiſtert fuͤhlten, nach den Waffen
griffen und auszogen, als brave Menſchen-
kinder ihre Gliedmaßen gegen ihre Nachbarn
zu brauchen, die izt mit ihrem Feſte beſchaͤſ-
tigt waren und alſo ihren Muth nicht in der
gehoͤrigen Bereitſchaft hatten. Sie kamen;
ſie fielen das Dorf an, wo Belphegor und
Akante zum Opfer aufbewahrt wurden, ſie
ermordeten und erwuͤrgten, was ihnen in
den Weg kam, und um ſo viel hitziger und
unbarmherziger, weil die lange Ruhe ihre
Kraͤfte und ihren Muth thaͤtiger gemacht
hatte. Die Uebereilten wurden in die Flucht
getrieben, und die Sieger bemaͤchtigten ſich
der zum Opfer beſtimmten Gefangnen, unter
welchen auch Belphegor und Akante mit fort-
geſchleppt wurden: allein da ſie von den
Einwohnern des Dorfs eine hinreichende
Anzahl bekommen hatten, um ihr blutbegie-
riges Vergnuͤgen an ihnen zu befriedigen,
ſo gaben ſie auf die uͤbrigen weniger ſorg-
faͤltig Acht. Als ſie nach Hauſe kamen,
wurden
[215] wurden ſie wegen großen Ueberfluſſes aus-
getbeilt, und jedermann, der einen
Anverwaudten im Treffen eingebuͤßt hat-
te, bekam einen von den Gefangnen
an deſſen Stelle: unter welchen die bei-
den Europaͤer zu einer Wittwe kamen, die
ihnen die Ehre anthat, erſtlich den Verluſt
ihres Mannes auf das empfindlichſte an
ihren Leibern zu raͤchen, und dann ſie zu
ihren Sklaven zu machen.


Der gegenwaͤrtige Zuſtand war unange-
nehm, aber in Vergleichung der naͤchſtvor-
hergehenden vortreflich; wenigſtens war
das Leben ſicher. In kurzer Zeit bekam
das ganze Dorf einen neuen Paroxiſmus von
Tapferkeit, und alles zog aus, ſogar die
Weiber waren nicht davon ausgenommen:
auch Belphegor und Akante mußten, ſo we-
nig ſie auch den Kuͤtzel der Tapferkeit em-
pfanden, den Zug verſtaͤrken helfen. — Da
ſie aber vorausſehen konnten, daß das En-
de des Feldzugs ihren Zuſtand wohl ver-
ſchlimmern aber nicht verbeſſern koͤnne, ſo
beſchloſſen ſie bey der erſten Gelegenheit zu
entwiſchen, in eine Einoͤde zu fliehen und
da lieber kuͤmmerlich zu verhungern, als in
O 5beſtaͤn-
[216] beſtaͤndiger Gefahr zu ſeyn, daß man der
Grauſamkeit eines Barbaren mit langſamen
Martern zur Beluſtigung und endlich gar
mit ſeinem Fleiſche zur Saͤttigung dienen
muͤſſe. Die Gelegenheit zeigte ſich, und
ſie entflohen, verſteckten ſich lange Zeit, um
der Nachſtellung zu entgehn, in einem Mo-
raſte, und ruͤckten, ſo oft ſie ſich ſicher ge-
nug glaubten, weiter fort. Aber ihre Noth
hatte nur eine andre Mine angenommen:
der Tod drohte ihnen immer noch, nur un-
ter einer neuen Larve. Ihre Nahrung muß-
ten ſie muͤhſam ſuchen und fanden ſie nicht
einmal in zureichender Menge, und die Be-
ſchwerlichkeiten der Witterung machten ihre
traurige Situation vollſtaͤndig.


Wer haͤtte ſich in ſolchen Umſtaͤnden nicht
den kummervollſten Reflexionen uͤberlaſſen
ſollen, auch ohne ſo viele Miſanthropie, wie
Belphegor, im Leibe zu haben? — Um ſo
viel mehr mußte er es thun: der Strom
ſeiner aͤrgerlichen Klagen ergoß ſich von
neuem uͤber den Menſchen und die Natur.
Als er eines Morgens ſein Kummerlied unter
einem Brodfruchtbaume ſang, ſo hoͤrte er
ploͤzlich einige Stimmen und erſchrack, wie
leicht
[217] leicht zu vermuthen, weil er izt bey jeder un-
bekannten Stimme einen Menſchen vermu-
thete, der ihn ſchlachten wollte: er verkroch
ſich und horchte. Der Ton hatte nichts
barbariſches, und bey ſeiner Annaͤherung
wurde er inne, daß es Akante war, die
zween Fremde in europaͤiſcher Kleidung zu
ihm fuͤhrte. Er verließ alſo ſeinen Schlupf-
winkel und erfuhr, daß es zween Spanier
waren, die man mit einem Schiffe von
Panama abgeſendet hatte, um Unterſu-
chungen in dieſer Gegend anzuſtellen, Fahr-
ten und Laͤnder zu entdecken. Akante, die
bey dem Don, deſſen Maͤtreſſe ſie ehemals
geweſen war, ein wenig Spaniſch gelernt
hatte, wußte wenigſtens noch genug davon,
um zu erkennen, daß es Spaniſch war,
was dieſe beiden Leute mit einander ſprachen,
als ſie ihrer bey einer Quelle anſichtig wur-
de, wo ſie tranken: ſie wagte ſich zu ihnen,
entdeckte ihnen die Verlegenheit, in welcher
ſie nebſt Belphegorn hier ſchmachtete, nebſt
einigen andern Umſtaͤnden ſo deutlich, als
ihre kleine Fertigkeit in der Sprache es zu-
ließ. Die Fremden ließen ſich bewegen, zu
Belphegorn mit ihr zu gehn, kamen zu ihm,
und
[218] und erboten ſich, ſie beide auf das Schiff
mit ſich zu nehmen. Der Vorſchlag wurde
freudig angenommen, und der Marſch zu
dem Schiffe angetreten.


Sie kamen an den Ort, wo ſie das Boot
befeſtigt hatten, das ſie uͤber einen nicht
allzu breiten Fluß wieder zuruͤckfuͤhren ſollte;
aber ſie ſuchten umſonſt: das Boot war un-
ſichtbar. Sie riefen, ſie ſahen, und ſiehe
da! in einer weiten Entfernung ſahen ſie
es, mit Huͤlfe eines Fernglaſes, den Fluß
hinuntertreiben, und nur einen einzigen
Menſchen auf ihm, der, ſo viel ſich unter-
ſcheiden ließ, durch unaufhoͤrliche Bewe-
gungen, die auch von einem Geſchrey be-
gleitet werden mochten, ſeine Rettung ver-
muthlich zu bewirken ſuchte. Man eilte,
ſo ſchnell man konnte, an dem Rande des
Waſſers hin, es einzuholen, und bemuͤhte
ſich durch beſtaͤndiges Schreyen theils die
Leute herbeyzubringen, die es verlaßen hat-
ten, theils dem armen Huͤlfloſen, der darauf
zuruͤckgeblieben war, Hofnung zu machen,
daß ſeine Errettung vielleicht nicht weit
mehr ſey. Das Boot ſtieß indeſſen an eine
kleine
[219] kleine Sandbank an, wo es aber der Strom
bald wieder losarbeitete. Dieſer Umſtand
ließ wenigſtens die, welche ihm nacheilten,
Zeit gewinnen, und ſie waren ihm itzt ſchon
ſo nahe, daß ſie mit dem Verlaßnen darinne
ſprechen konnten. Man wollte ihm helfen
und wußte nicht wie: man hielt ſich in-
deſſen mit Stangen in Bereitſchaft, um ſie
bey der erſten guͤnſtigen Gelegenheit anzu-
wenden. Der Strom naͤherte zuweilen ih-
rem Ufer das Boot und einmal ſo ſehr,
daß einer von den Spaniern es mit ſeiner
Stange erreichen konnte; er zog es ein gu-
res Stuͤck naͤher, der darinne ſitzende froh-
lockte ſchon, Belphegor warf ſich ins Waſ-
ſer, ſchwamm zu dem Taue, womit es am
Ufer befeſtigt geweſen war, und das itzt
nicht weit vom Rande ſchwamm, ergriff es,
nahm es zwiſchen die Zaͤhne und ſchwamm
zuruͤck, der andre Spanier haſchte es mit
ſeiner Stange, man griff zu, und nach etli-
chen Drohungen und Wendungen war man
ſo gluͤcklich es mit vereinten Kraͤften ſo
nahe zu bringen, daß man es bis zu einem
Ausſteigeplatze von dem Strome forttreiben
laſſen und mit dem Taue zuruͤckhalten konnte,
daß
[220] daß es ſich nicht zu weit vom Ufer wie-
der entfernte.


Mit einer unbeſchreiblichen Freude ſprang
der Erretter aus dem Boote und dankte ſei-
nen Errettern ſo lebhaft, daß man beynahe
das Fahrzeug, das ihnen zu ihrer eignen
Zuruͤckfahrt zu dem Schiffe unentbehrlich
war, haͤtte entwiſchen laſſen: beſonders
wurde Belphegor fuͤr ſeine muthige Hand-
lung mit Liebkoſungen uͤberſchuͤttet und in
Umarmungen faſt erdruͤckt. Man beſich-
tigte das Tau und wurde mit Erſtaunen
uͤberzeugt, daß es entzweygeſchnitten war.
Jedermann war deswegen um ſo viel mehr
begierig, die beſondern Umſtaͤnde von der
Losreiſſung des Bootes zu wiſſen: man
ſtuͤrmte von allen Seiten auf den Erretteten
mit Fragen zu, und er verſicherte ſie, daß
er weiter nichts von dem traurigen Vorfalle
ſagen koͤnne, als daß die vier uͤbrigen, die
ſie im Boote bey ihm zuruͤckgelaſſen, unter
dem Vorwande, daß ſie Enten auf einem na-
hen Sumpfe ſchießen wollten, aller ſeiner
Vorſtellungen und Verweiſe ungeachtet, aus-
geſtiegen waͤren und mit einem Jagdmeſſer
hinterliſtig den Tau entzweygehauen haͤtten,
um
[221] um ihn der Willkuͤhr des Stroms zu uͤber-
geben. Die Urſachen ihrer Bosheit waren
ihm unbekannt: wenn er aber eine vermu-
then ſollte, ſo mußte es nach ſeiner Mey-
nung Unzufriedenheit ſeyn, daß man ihm
die Aufſicht uͤber das Boot anvertraut und
ihn einen Fremden jenen Eingebornen vor-
gezogen habe. Die Spanier, die man itzt
fuͤr ein Paar Offiziere erkannte, wuͤteteu
wider die Boͤſewichter, und am meiſten dar-
uͤber, daß ſie ſich durch die Flucht ihrer
Strafe entzogen hatten.


Unterdeſſen flog der Gerettete, den ſeine
Dankbarkeit noch ganz begeiſterte, noch ein-
mal auf Belphegorn zu und verſuchte —
als er merkte, daß er kein Spaniſch ver-
ſtand — eine Sprache zu finden, worinne
er ihm ſeine Empfindungen frey und gelaͤu-
fig auszudruͤcken wußte: es gelang ihm,
und dann empfieng Belphegor eine feurig
warme Dankſagung, eine ſo freundſchaftlich
warme, als ſie ihm ſein vertrauteſter Freund
haͤtte geben koͤnnen, und oben drein die
Verſichrung, daß er nebſt ſeiner Gefaͤhrtinn
in Karthagena ſo lange bey ihm bewirthet
werden ſollte, als es ihm nur gefiele. —
Die
[222] Die Vorſicht lebt noch, ſprach der dankbare
Mann mit froͤlichem Tone: ſie hat mir mit
meinem Bootchen aus dem grimmigen Fluſſe
geholfen, warum ſollten ſie mir denn nicht
nach Karthagena wieder verhelfen, um dir
fuͤr deine Wohlthat zu danken? — Ja die
Vorſicht lebt noch: wenn wir zum Schiffe
kommen, Bruͤderchen, ſo wollen wir ihr zu
Ehren eine Flaſche zuſammen ausleeren.


Das Boot wurde unterdeſſen beſtiegen,
und man ruderte den Strom hinab,
um wieder zu dem Schiffe zuruͤckzukehren,
und jeder ſpannte dabey ſeine Geſchicklichkeit
und ſeine Kraͤfte an. Sie erreichten das
Schiff, und Belphegor wurde mit Akanten
von ihrem neuen Freunde auf das herrlich-
ſte bewirthet: die Flaſche loͤßte allen die
Zunge, und jedes ließ ſeinen Gedanken und
Worten ungehinderten Lauf: man erzaͤhlte
ſich und erzaͤhlte ſich ſo lange bis der Be-
wirther die Flaſche vor Haſtigkeit hinwarf
und Belphegorn um den Hals flog. —
Bruͤderchen, ſchrye er, biſt Du es? biſt
Du es? Gewiß? Du, Bruͤderchen? der
mich, deinen Medardus, in dem ab-
ſcheulichen Palaſte zu Niemeamaye mit-
ten
[223] ten in den Flammen zuruͤckließ? — Sagte
ich doch: die Vorſicht lebt noch: wir dach-
ten einander nimmermehr wieder zu finden,
aber ſiehe! hier ſind wir beyſammen. Wer
haͤtte das denken ſollen? — Und Du auch,
Akantchen? — Wohl uns! wenn wir erſt
wieder in Karthagena ſind! Dann ſolls euch
gehn! — ſo gut, als ihrs itzt ſchlecht ge-
habt habt! Gluͤckliches Wiederſehn, und
nimmermehr wieder Verlieren! — und ſo
trank er munter ſein Glas aus. —


Aber, ſprach Belphegor, wenn die Vor-
ſicht noch lebt, wie Du noch immer feſt
glaubſt, warum ließ ſie mich erſt ſo lange
Zeit zweifeln, ob uͤberhaupt eine exiſtirte?
Warum mußte ich geſchunden, zerſchnitten,
geſengt und beynahe gefreſſen werden, um
davon uͤberzeugt zu werden? und noch kann
unſer Wiederſehn eben ſo ſehr die Wirkung
eines Ohngefehrs, eines zufaͤlligen Schick-
ſals als einer Vorſicht ſeyn? Meine Leiden
machen meinen Glauben an ſie kein Haarbreit
ſtaͤrker; ja ſo gar — ſie ſchwaͤchen ihn. —


Biſt Du noch ſo ein Gruͤbelkopf, Bruͤ-
derchen? unterbrach ihn Medardus. Er-
ſaͤufe Zweifel und Grillen in der Flaſche:
Pgenug,
[224] genug, ich glaube, daß eine Vorſicht iſt,
und wers nicht glaubt, den ſoll der Teufel
holen! — Nun, Bruͤderchen! — und ſo
ſtieß er an ſein Glas — alle, die eine Vor-
ſicht glauben, ſollen leben! —


Man merkte es, daß die Flaſche den
jovialiſchen Medardus begeiſtert hatte; und
da Belphegors Rauſch ein truͤber melancho-
liſcher Rauſch war, ſo haͤtten beyde beynahe
uͤber Schickſal und Vorſicht in einen unſeli-
gen Zwiſt verwickelt werden koͤnnen, wenn
nicht Akantens Dazwiſchenkunft ſie getrennt
und im Frieden erhalten haͤtte.


Als der Rauſch ausgeſchlafen war, ſo
kehrte zwar die alte Vertraulichkeit wieder
zuruͤck, allein Belphegor blieb doch truͤbſinnig.
Akante heiterte ſich mit jeder Stunde wieder
auf: mit jeder Erzaͤhlung, die ihr Medar-
dus von dem Reichthume und den Schoͤn-
heiten zu Karthagena machte, mit jeder Aus-
ſicht auf Ruhe, Bequemlichkeit, Ergoͤtzlich-
keit, die er ihr eroͤffnete, verſchwand das
Andenken der uͤberſtandnen Beſchwerlichkei-
ten, und es verſtaͤrkte ſich ihre Munterkeit und
Lebhaftigkeit; ſie quaͤlte ſich nicht, ob dieſe
angenehme Erwartungen ein Geſchenk des
Schick.
[225] Schickſals oder der Vorſehung ſeyn moͤch-
ten: genug, ſie ſollte ſie genießen, und war
damit zufrieden, daß ſie ſie genießen ſollte.
Belphegor hingegen lief taͤglich und ſtuͤnd-
lich die traurige Geſchichte ſeines vergang-
nen Lebens durch, fand uͤberall Gelegenheit
zu klagen und mit ſeinem Glauben ſich auf
die Seite eines blinden Schickſals zu neigen,
wozu Medardus mit ſeinem unumſchraͤnkten
Vertrauen auf eine Vorſehung nicht wenig
beytrug, weil er ihm dadurch immer Gele-
genheit gab, zu ſeinen Zweifeln und dem
Nachdenken daruͤber zuruͤckzukehren.


Indeſſen hatte das Schiff ſeinen Weg
nach Panama angefangen und jede Stunde,
die Medardus miſſen konnte, brachte er mit
Belphegorn zu, um einander zu erzaͤhlen
und Aumerkungen daruͤber zu machen.


Was findeſt Du nun in meinem ganzen
Lebenslauf? fragte Belphegor eines Abends,
als er ſeine Geſchichte von dem Brande in
Niemeamaye bis auf den gegenwaͤrtigen
Augenblick geendigt hatte — was findeſt Du
darinne, blindes Schickſal oder uͤberlegte
Vorſehung? Ich wollte durch eine Reihe
Beſchwerlichkeiten dahin, die Neid und Bos-
P 2heit
[226] heit meiſtens nur gelegentlich uͤber mich
ausgoſſen: keins haͤngt mit dem andern zu
einem gewiſſen Zwecke zuſammen, ſondern
ich wurde gequaͤlt, weil die Menſchen nun
einmal ſo gemacht ſind, daß ſie nach ihren
Geſinnungen und Leidenſchaften, die auch
nicht ihr Werk ſind, nicht anders als mich
quaͤlen mußten. Die Barbaren, die mich
und Akanten nach einer langſamen Marter
freſſen, oder die uns ihren Goͤttern opfern
wollten — was koͤnnen dieſe dazu, daß ſie
dieß nicht eben ſo ſehr, wie wir, fuͤr die
ſchrecklichſte Grauſamkeit halten? Eine fort-
geſetzte Reihe von Begebenheiten, nebſt ih-
ren urſpruͤnglichen natuͤrlichen Anlagen,
Trieben und Neigungen, ſtellten ihnen all-
maͤhlich jenes als zulaͤßig und dieſes als
vortreflich vor, ſo wie uns eine andre lange
Reihe von Begebenheiten die Handlung,
einen Menſchen zu ſchlachten, als abſcheulich
abmalte. Was fuͤr ein Plan iſt es aber,
Menſchen ſo anzulegen, daß aus ihrem er-
ſten Triebe der Selbſterhaltung Leidenſchaf-
ten aufwachſen muͤſſen, die ſolche barbari-
ſche Grundſaͤtze erzeugen? Was ſind dieſe in
jenem vorgeblichen Plane? Zweck oder Mit-
tel?
[227] tel? — Zweck koͤnnen ſie nicht ſeyn: denn
welche Idee, Kreaturen zu ſchaffen, damit
ſie einander freſſen! — Mittel eben ſo
wenig: denn wozu fuͤhren ſolche Unthaten
im Ganzen oder im Einzelnen? — Entwe-
der muͤßte alſo hier in dem Plane der Bege-
benheiten ein thoͤrichter Zweck oder ein thoͤ-
richtes Mittel angenommen werden, oder
die ganze Sache muß ein zufaͤlliger,
nicht intendirter
Umſtand ſeyn; und,
und! — vielleicht war die ganze Reihe
meines, deines Lebens, die Begebenheiten
der ganzen Erde nichts als dieſes — Wir-
kungen des Zufalls und der Nothwendigkeit,
wo Leute, die dieſe Woͤrter nicht leiden konn-
ten, Zweck und Mittel herauskuͤnſtelten,
und, wie die Wahrſager, auch zuweilen dieſe
beyden Sachen ſelbſt herausbrachten. —


Bruͤderchen, Du ſchwatzeſt zu ſubtil: Du
gruͤbelſt und gruͤbelſt, und haſt am Ende
nichts als Unruhe und Ungewisheit zum
Lohne: ich glaube friſch weg, ohne mich
links oder rechts umzuſehen, daß alles gut
und weiſe angeordnet iſt, und wenn mich
die Kerle, die Dich verſchlingen wollten,
ſchon halb hinuntergeſchluckt haͤtten, ſo daͤchte
P 3ich doch:
[228] ich doch: wer weiß, wozu das gut iſt? Ich
komme am beſten dabey zu rechte: iſt auch
wirklich alles Nothwendigkeit und Zufall;
muß ich mich von dieſen beyden Maͤchten
herumſtoßen laßen — wohlan! ich wills
gar nicht wiſſen, daß ſie mich blind herum-
ſtoßen. Der Kopf wird ſo dadurch wirb-
licht genug, ſoll ich mir ihn noch durch Gruͤ-
beleyen wirblicht machen? — Nein! jede
Freude genoſſen, wie ſie ſich anbietet, jeden
Puff angenommen, wie er koͤmmt, und im-
mer gedacht: wer weiß, wozu er gut iſt? —
das heißt klug gelebt! — Und das kannſt
Du mir doch nicht laͤugnen, Bruͤderchen,
daß die gottloſen Kerle, die mich mit dem
Boote fortwandern ließen, mich in die
Angſt verſetzen mußten, damit ich dich wie-
derfaͤnde? Waͤre ich in dem Palaſte zu Nie-
meamaye nicht beynahe verbrannt, haͤtte ich
nicht ſo viele Gefahren zur See und in Ame-
rika ausgeſtanden, ſo waͤre ich itzt nicht bey
Dir, ſo freueten wir uns itzt nicht —


Beſter Freund! unterbrach ihn Belphe-
gor: dieſer Zweck iſt auf deiner Seite er-
reicht, aber auf der meinigen nicht. In
dem Sturme der Leidenſchaften, unter dem
Gefuͤhle
[229] Gefuͤhle der Widrigkeiten wuͤtete meine Seele,
wie ein Betrunkener; alles war mir ſchwarz,
ich deklamirte, aber ich raͤſonnirte nicht
Itzt da ſich durch dein Wiederſehn meine Aus-
ſichten erheitern, da der Taumel des widri-
gen Gefuͤhls verfliegt, itzt tritt eine Stille
ein, die tauſendmal quaͤlender als der
Sturm iſt — uͤberlegtes Raͤſonnement in
dem truͤben Tone, in welchem ich vorher de-
klamirte: kurz, ich bin aus dem Getuͤmmel
der Schlacht, Wunden und Schmerzen her-
ausgeriſſen worden, um an mir ſelbſt zu
nagen. Soll dieſes Zweck oder Mittel von
einem kuͤnftigen Zwecke ſeyn? — und ſo
wird wohl der letzte, auf dem alles abzielt,
der Tod ſeyn. —


Wer weiß, wozu Dir das gut iſt, Bruͤ-
derchen? ſprach Medardus. Du mußt nur
Muth ſchoͤpfen —


Lieber Mann! heißt das nicht zu einem
lahmen Fuße ſagen: hinke nicht? — Fuͤhre
ich die Federn meines Denkens und Em-
pfindens an der Schnute, um ſie nach
Wohlgefallen lenken zu koͤnnen? —


Bruͤderchen, mir war bange, als ich in
dem Palaſte zu Niemeamaye mitten unter
P 4den
[230] den Flammen, wie in einem Feuerofen,
ſteckte: aber ich dachte doch, wenn Du
gleich zu Pulver verbrennſt, wer weiß, wozu
das gut iſt? wo nicht Dir, doch einer leben-
digen Kreatur auf der Erde itzt oder in Zu-
kunft; und ſiehſt Du? ich kam gluͤcklich
durch. —


Aber wie kamſt Du durch, Freund? —


Durch einen beſondern Zufall. Du weißt,
der Boͤſewicht, der mit Dir nach Niemea-
maye kam, um mich ſchaͤndlicher Weiſe zu
toͤdten, wurde zu einem ewigen Gefaͤngniſſe
verdammt, weil wir kein Blut vergießen
wollten, ob er gleich den Tod verdient hatte.
In dem Tumulte, als ihn ſeine Wache ver-
ließ, hatte er ſich durchgearbeitet, ſtrich durch
die Burg, fand die Kleidung, die Du von
Dir geworfen hatteſt, zog ſie an, weil ſie
ganz mit Goldkoͤrnern angefuͤllt war, und
wollte ſo in ihr entfliehen. Da aber die
koͤniglichen Inſignien darauf waren, ſo hiel-
ten ihn die Feinde fuͤr den Koͤuig, nahmen
ihn gefangen, und waͤhrend daß alles jauchzte
nnd nach dem Orte zulief, wo man den ge-
fangenen Koͤnig zeigte, erwiſchte ich eine
Oeffnung und entkam gluͤcklich. Ich wan-
derte
[231] derte bis zur Hauptſtadt des großen abißi-
niſchen Reichs, wo ich mir durch die mitge-
brachten Goldkoͤrner die Bekanntſchaft eini-
ger Kaufleute erwarb, die mir nach Neu-
guinea
zu helfen verſprachen, damit ich
von da nach Europa zuruͤckgehn koͤnnte, wo-
hin ich mich außerordentlich wieder wuͤnſchte.
Mein Verlangen wurde befriedigt: ich gieng
mit einem engliſchen Sklaventranſporte ab,
aber um zwiſchen zwey Elementen, Waſſer
und Feuer, beynahe umzukommen. Siehſt
du, Bruͤderchen? Den ſchwarzen Afrikanern
wurde in ihrem engen Loche bange: ſie woll-
ten mit Gewalt in ihr Vaterland zuruͤck, ſoll-
ten ſie auch durch den Tod dahinkommen:
denn die naͤrriſchen Kreaturen bilden ſich
ein, daß ſie ſicher ihre Heimath wieder fin-
den, ſo bald ſie geſtorben ſind. Um dieſe
Reiſe zu thun und ſich zu gleicher Zeit an
den Leuten zu raͤchen, die ſie wider ihren
Willen in eine andre Gegend verſetzen woll-
ten, ſtiegen ſie in der zwoten Nacht nach
unſrer Abreiſe einer dem andern auf die
Schultern, um die Fallthuͤre ihres Behaͤlt-
niſſes aufſtoßen und herausklettern zu koͤn-
nen: der Raum von dem Boden bis an die
P 5Thuͤr
[232] Thuͤr war ſo hoch, daß wenigſtens drey
Mann uͤber einander ſtehen mußten, um ſie
zu oͤffnen. Der boͤſe Streich gelang ihnen
wahrhaftig: einer von ihnen kletterte heraus
und fand die Sklavenwache ſchlafend. Hur-
tig warf er ſeinen zuruͤckgebliebnen Kamera-
den eine Strickleiter hinunter, ergriff das
Gewehr der Wache und brachte ſie mit
einem guten Degenſtoße um, worauf er den
Getoͤdteten mit Huͤlfe der uͤbrigen herzuge-
eilten Negern uͤber Bord warf. Zum Un-
gluͤcke ſchlief alles, was ſchlafen durfte, feſt,
weil jedermann die ganze vorhergehende
Nacht hatte arbeiten muͤſſen, und die weni-
gen Wachenden wachten nur halb: dieſer
Umſtand verſtattete den Negern durch das
Schiff zu ſtreichen. Sie fanden einen ſchla-
fenden Matroſen, der ſeinen Tabaksbeutel
mit dem Feuerzeuge an ſich haͤngen hatte:
ſie ſchnitten ihn los und brachten wirklich
ein Stuͤck Schwamm zum brennen; durch
etliche andre brennbare Materien brachten
ſie es zur Flamme, die ſie in verſchiedene
Theile des Schiffs ausſtreuten. Damit aber
niemand ſie fuͤr die Urheber des Bubenſtuͤcks
erkennen moͤchte, krochen ſie in ihr Behaͤltniß
zuruͤck,
[233] zuruͤck, und waren bereit, in dem Feuer mit
umzukommen, wenn es das Schiff ganz zu
Grunde richten ſollte, welches ſie von Her-
zen wuͤnſchen mochten. Die Flamme griff
auch ſchon wirklich weit um ſich, verwuͤſtete
hin und wieder, als man es erſt gewahr
wurde. Bruͤderchen, das war ein Schrecken!
das war ein Tumult! — Verbrennen oder
ertrinken! Das ſchien die einzige Wahl:
aber, Bruͤderchen, ich ſollte Dich wieder-
ſehn: das Feuer wurde gedaͤmpft und die
Urheber entdeckt. Die einfaͤltigen Geſchoͤpfe
hatten vergeſſen, die Strickleiter an ihrer
Fallthuͤre wegzuſchaffen: kurz, der boͤſe Han-
del wurde ausfuͤndig gemacht und hart
geſtraft.


Waren wir dem Feuer entgangen, ſo war
es nur, um in die Haͤnde der Feinde zu fallen.
Die Spanier und Englaͤnder hatten damals
das Recht, einander allen erſinnlichen Scha-
den und Feindſchaft anzuthun: denn kurz
vorher war zwiſchen beiden ein Krieg aus-
gebrochen. Siehſt Du, Bruͤderchen? wir
wußten nichts davon, und erwarteten alſo
gar nicht, daß jemand unſer Feind ſeyn
wollte, weil wir niemanden etwas zuwider
gethan
[234] gethan hatten: allein da die beiden Maͤchte
uneinig waren, ſo mußten wir arme Unſchul-
dige ihren Zorn entgelten und uns — moch-
ten wir, mochten wir nicht — als Feinde
behandeln laſſen, weil uns ein engliſches
Schiff trug. Ein ſpaniſches griff uns an
und fuͤhrte uns gluͤcklich nach Karthagena,
wo ich bewies, daß ich kein Englaͤnder war
und auch nicht einmal den Namen nach an
dem Mißverſtaͤndniſſe zwiſchen den beyden
Koͤnigen einigen Antheil haͤtte: auf dieſen
Beweis gab man mir die Erlaubniß, mein
Gluͤck zu ſuchen, wo ich es finden konnte.
Ich fand einen Platz bey einem Kaufmanne,
wo ich mich gegenwaͤrtig noch befinde, und
auf deſſen Verlangen ich dieſe Reiſe nach
dem kaliforniſchen Buſen mit unternehmen
mußte. — Gluͤckliche Reiſe! ich habe Dich
wiedergefunden; ich bringe Dich nach Kar-
thagena, und nun leben und ſterben wir
beyſammen.


Seine Wuͤnſche wurden erfuͤllt: ſie er-
reichten gluͤcklich Panama und machten als-
dann in kurzer Zeit den Weg bis nach Kar-
thagena, wo Medardus ſeinem Freunde
eine anſtaͤndige Verſorgung verſchafte, und
dieſer
[235] dieſer Akanten, die Gefaͤhrtinn ſeiner Schmer-
zen und ſeines Ungluͤcks, zu ſeiner wirklichen
Ehegattinn erhub.


Belphegor glaubte ſich nunmehr am Ende
ſeiner Leiden, heiterte ſich durch ſeine Zer-
ſtreuungen und Geſchaͤfte genugſam wieder
auf, um ſeine bisherige truͤbe Laune ziemlich
zu vergeſſen; allein der herrſchende Ton ſei-
ner Empfindungen und ſeiner Gedanken
blieb beſtaͤndig der ſchwermuͤthige, der me-
lancholiſche, und ſeine Unterhaltungen mit
ſeinem Freunde betrafen meiſtens das große
Labyrinth — die Begebenheiten und Schick-
ſale der Menſchen. Er wankte mit ſeinem
Glauben zwiſchen Nothwendigkeit und Vor-
ſehung hin und wieder, und ſeine eigne
Ueberzeugung zog ihn allezeit zu der erſtern,
ob ihn gleich ſein Freund zu der letztern zu
ziehen ſuchte. Wenn aber auch ſein inner-
licher Zuſtand nie voͤllig ruhig werden konnte,
ſo glaubte er wenigſtens, daß die Menſchen
und das Schickſal ſeinen aͤußerlichen nicht
weiter beunruhigen wuͤrden; aber auch
hierinne glaubte er falſch: die Menſchen
mußten ihn in ſeiner Ruhe ſtoͤren, weil er ſie
im Laſter und der Unterdruͤckung ſtoͤren wollte.


Seine
[236]

Seine Geſchaͤfte fuͤhrten ihn oft in ſolche
Verbindungen, daß er das ganze Spiel der
Leidenſchaften und des Eigennutzes in dem
deutlichſten Lichte ſehen konnte: er fand,
daß auch in dieſer neuen Welt, wie in der
alten, der Neid beſtaͤndig den Bogen ge-
ſpannt hielt, und jeder ſeine Obermacht zur
Unterdruͤckung mißbrauchte. Anfangs ließ
er ſich zwar von der Klugheit zuruͤckhalten,
allein in kurzem haͤuften ſich die Reizungen
ſo ſehr, daß ſein Unwille alle Klugheit uͤber-
ſtimmte: er riß ihn hin und ſtuͤrzte ihn in
täuſend Unannehmlichkeiten und eben ſo
viele Gefahren.


Der Herr, in deſſen Dienſten er ſtand,
war ein Kreole *) und hatte deswegen den
Haß aller gebornen Spanier auszuſtehn:
bey jeder Gelegenheit, wo von einem unter
dieſen das Intereſſe oder die Ehre ſeines
Herrn gekraͤnkt wurde, focht Belphegor mit
allen Kraͤften ſeiner Beredſamkeit und ſei-
nes Leibes, ihn zu vertheidigen. Sein Ei-
fer machte ihn bey ſeinem Herrn beliebt und
wurde dadurch um ſo viel ſtaͤrker angefacht.


So lange
[237]

So lange er wider die Ungerechtigkeiten
und den Stolz der gebornen Spanier dekla-
mirte und mit ſeiner gewoͤhnlichen Heftig-
keit auf die Verachtung loszog, die ſie gegen
alle Kreolen blicken ließen, auch zuweilen
dadurch, daß er zu heftig die Partie der
Kreolen nahm, ſich blaue, braune, gelbe
und rothe Flecken, Wunden und Beulen
verurſachte, ſo uͤberhaͤufte ihn ſein Herr
mit Liebkoſungen und Geſchenken, Belphe-
gor empfieng die freundlichſten guͤtigſten Bli-
cke unter allen im ganzen Hauſe, ſein Ge-
ſpraͤch war die liebſte, die einzige Unterhal-
tung ſeines Herrn, und dieſer konnte ihm
ſtundenlang zuhoͤren, wenn er eine Straf-
predigt uͤber Welt und Menſchen hielt und
die Zuͤge in ſeinen Gemaͤlden des kindiſchen
menſchlichen Stolzes von gebornen Spa-
niern entlehnte: ſobald er aber Einen Zug
der Unterdruͤckung einfließen ließ, die der
Kreole ſo gut als der Spanier begieng, ſo
ſchwieg man anfangs ſtill, und wenn er
ſeine Schilderungen mit ſolchen Dingen gar
zu ſehr uͤberladete, ſo wurde die Unterhal-
tung abgebrochen. Belphegor, der ſeinen
Herrn, im Durchſchnitte gerechnet, fuͤr gut
hielt,
[238] hielt, duͤnkte ſich verpflichtet, ihm auch die
kleinen Flecken abzuwiſchen, die die Grund-
flaͤche ſeines Charakters beſchmuzten und die
ſich nur durch die Laͤnge der Gewohnheit ſo
tief eingefreſſen hatten, daß er ſie, wie alle
Menſchen ſeines Schlages um ihn, fuͤr keine
Flecken hielt. Dahin gehoͤrte vorzuͤglich die-
ſe Art von Grauſamkeit, die auch Menſchen
begehen, wenn ſie nichts als gerecht ſind,
andern zwar ſehr puͤnktlich ihre eignen Ob-
liegenheiten entrichten, aber auch mit der
aͤußerſten Strenge ihr Recht von andern ver-
langen. Da dieſe Strenge ſich am meiſten
da aͤußert und auch, ohne gerichtliche Straf-
faͤlligkeit, am meiſten da aͤußern kann, wo
eine alte verjaͤhrte Unterdruͤckung zum Recht
geworden iſt, und ein Trupp armſeliger
Kreaturen, ſo bald ſie zu exiſtiren anfangen,
ſchon die Moͤbeln eines andern ſind — kurz,
wo Leibeigenſchaft und Sklaverey herrſchen;
ſo fand Belphegor fuͤr ſeinen Strafeifer nir-
gends reichlichern Stoff als in ſeinen gegen-
waͤrtigen Umſtaͤnden. Die Indianer, dieſe
armen Laſttraͤger, dieſe Soufre-douleurs
von Amerika, und man moͤchte ſagen, der
ganzen Menſchheit, reizten ſeinen Unwillen
am
[239] am heftigſten. Er ſah, daß alles ſich ver-
einigte, auf die Koſten dieſer Elenden wohl
zu leben, und ſein Ungeſtuͤm, da er ſo viele
Nahrung fand, brach von neuem los. —
Ihr ſeyd Unmenſchen, ſprach er einſt zu ſei-
nem Herrn; ihr macht eure Schultern leicht
und legt alle Laſten der Menſchlichkeit dieſen
Kreaturen ohne Mitleid auf: ihr druͤckt ſie,
weil ſie keine rechten Chriſten ſind, ohne zu
bedenken, daß ſie Menſchen ſind. Laßt die-
ſen Ungluͤckſeligen ihren Pachacamac*) oder
wie ſie ihn ſonſt nennen wollen, und erleich-
tert ihnen die Muͤhe zu leben, und ihr ſeyd
ihre wahren Wohlthaͤter. Iſt es nicht ewige
Schande, eine halbe Welt zu erobern, ihre
Einwohner zu Sklaven zu machen und dann
noch an ihrem duͤrftigen Unterhalte zu ſau-
gen? — Aber warum konnte nun die Natur
ihr Werk ſo anlegen, daß alle dieſe Haͤrte
eine nothwendige Folge von ſeiner Einrich-
tung ſeyn mußte? daß ein Theil der Men-
ſchen von dem andern nicht allein zur Arbeit
gezwungen, ſondern auch uͤberdieß noch hart
behandelt werden mußte? daß ein Theil ganz
ernie-
Q
[240] erniedrigt werden mußte, damit der andre
deſto hoͤher ſich emporhebe? — O Gott!
mir ſchwellen alle meine Adern, wenn ich
dieſen tollen Lauf der Welt uͤberdeuke! —
Was ſind dieſe Befehlshaber, dieſe Corre-
gidoren anders als privilegirte Unterdruͤcker!
Was ſeyd ihr, die ihr den Reichthum des
Landes der Erde abgewinnt, anders, als
immerwaͤhrende Unterdruͤcker? als vom Recht
geſchuͤzte Unterdruͤcker, wenn ihr auch noch
ſo gelinde verfahrt? Und wenn der Elendedieſe
beiden Ruthen bis zum Verbluten gefuͤhlt hat,
dann ſetzt noch der geiſtliche Blutſauger den
Ruͤſſel an und zieht dem armen Einfaͤltigen
den wenigen Saft aus, der ihm uͤbrig blieb,
verkauft ihm ſchnoͤde nichtsnutze Poſſen und
pflanzt ihm den haͤßlichſten Aberglauben ein,
damit ihn Gewiſſen und Bloͤdſinn zum Kaufe
zwingen. — Iſt es erhoͤrt, o Natur, daß
du eine Gattung von deinen Geſchoͤpfen ſo
ganz ſtiefmuͤtterlich vernachlaſſigen konnteſt?
Waren die Indianer nicht auch dein Werk?
Und doch ließeſt du ſie vielleicht viele tauſend
Jahre in Dummheit und dem grauſamſten
Aberglauben herumkriechen, Sklaven ihrer
Tyrannen und ihrer Goͤtter ſeyn, dann ſie
zu tau-
[241] zu tauſenden erwuͤrgen, in das Joch der Eu-
ropaͤer ſtecken und nun langſam von allen
Seiten bis zur Vernichtung quaͤlen: du
ſchufeſt ſie, um ſie langſam aufzureiben. —


Einen ſolchen Sermon hielt natuͤrlicher
Weiſe ſein Herr nicht laͤnger aus, als bis er
ſich das erſtemal getroffen fuͤhlte, wo er ſich
meiſtentheils wegwandte, raͤuſperte, eine
Beſchaͤftigung vornahm, jemanden rief,
das Zimmer verließ, oder etwas anders
that, das ihn darauf zu hoͤren hinderte.
Eine jede ſolche Unterhaltung ſchwaͤchte bey
ihm den Geſchmack an Belphegors Umgan-
ge, und obgleich dieſer ſich ſehr oft durch
ein kleines Lob auf die Gutherzigkeit des
Mannes wieder in Gunſt ſezte, ſo hieß das
doch nur, einen ſchlimmen Eindruck beneh-
men, aber keinen guten geben. Dieſen Um-
ſtand nuͤzten ſeine Kameraden, die ſchon
laͤngſt mit ſchielen Augen die Vorzuͤge an-
geſehn hatten, die er von ſeinem Herrn ge-
noß, ihn dieſer Vorzuͤge zu berauben. Sie
ſtellten Belphegors Deklamationen von der
ſchlimmen Seite vor, erdichteten etliche, die
er wider ſeinen eignen Herrn namentlich in
ſeiner Abweſenheit geſagt haben ſollte: ſie
Q 2fanden
[242] fanden leicht Glauben, und bald wurde
Belphegor zuruͤckgeſezt, verachtet, und jedes
auch das mindeſte ſeiner Worte uͤbel genom-
men, man machte ihm, ob er gleich von Wunden
und Beulen verſchont blieb, das Leben doch
ſo ſchwer, daß er dieſen innerlichen Schmerz
gern gegen alle koͤrperliche vertauſcht haͤtte:
er wurde es endlich muͤde, verlies das Haus
und lebte von der Guͤtigkeit ſeines Freundes
Medardus, der ſich mit der groͤßten Bereit-
willigkeit ſeiner annahm und auf einen an-
dern Plaz fuͤr ihn dachte.


So ſchwer ihm dieſe Bemuͤhung wurde,
ſo gieng ſie ihm doch endlich gluͤcklich von
ſtatten: er verſchafte ſeinem Freunde einen
andern Platz, aber keine Ruhe. Er brachte
ihn in das Haus eines Mannes, der recht
dazu geſchaffen ſchien, ſeinen bisherigen Un-
willen uͤber die amerikaniſche Unterdruͤckung
zu erhoͤhen, und den ganzen Belphegor in
Feuer und Flammen zu ſetzen. Ein Mann
war es, der ſein Leben in der wolluͤſtigſten
Traͤgheit dahinſchlummerte, und wenn er
ja handelte, doch nie uͤber die Graͤn-
zen der Sinnlichkeit hinauswich: wenn
er geſchlafen hatte, ſo aß oder trank er, und
wenn
[243] wenn er gegeſſen oder getrunken hatte, ſo
ſchlief er, und wenn er deſſen uͤberdruͤßig
war, ſo ließ er ſich von einem Pferde tragen
oder von etlichen ziehen: zuweilen gebrauchte
er ſogar Sklaven, hierzu, um zugleich ſei-
nen Stolz zu kuͤtzeln, wenn er Geſchoͤpfe,
die mit ihm einerley Figur hatten, ſo unter
ſich erniedrigt ſehen konnte. Wenn er ſpeiſte;
mußte einer von ſeinen Hausbedienten ihm
mit lauter Stimme ſeinen Stammbaum, der
von Erſchaffung der Welt anhub, vorleſen,
desgleichen jede Lobrede, die auf einen ſeiner
Vorfahren gehalten worden war; und da er
meiſtens uͤber dem Leſen einſchlief, ſo war
es kein Wunder, daß die Geſchichte ſeiner
Abſtammung ſeine einzige Lektuͤre ſchlafend
und wachend ausgemacht hatte, ohne daß
er mehr davon wußte, als daß Adam ſein
erſter Stammvater geweſen ſey, weswegen
er es bey jeder Gelegenheit mit großem
Stolze zu ruͤhmen wußte, daß ſeine Familie
unmittelbar von Gott ſelbſt gemacht wor-
den ſey.


Der Anblick eines ſo vegetirenden Ge-
ſchoͤpfes mußte Belphegorn natuͤrlich auf-
bringen, beſonders wenn er es mit den huͤlf-
Q 3loſen
[244] loſen Mitgeſchoͤpfen verglich, die ihm die
Mittel zu einer ſo weichlichen Bequemlichkeit
erarbeiten mußten: er wollte nicht mehr die-
ſelbe Luft mit ihm athmen, oder von Einem
Dache mit ihm bedeckt ſeyn; und als er eines
Tages den Auftrag bekam, ihu mit der Vorle-
ſung ſeines Geſchlechtsregiſters einzuſchlaͤ-
fern, ſo that er ihm mit dem Eifer eines
Bußpredigers eine ſo nachdruͤckliche morali-
ſche Vorhaltung ſeiner noch weniger als thie-
riſchen Lebensart und der Unterdruͤckung, die
er begehn muͤßte, um ſie genießen zu koͤnnen,
daß der Mann kein Auge zu thun konnte,
woruͤber er ſo ergrimmte, daß er den armen
Belphegor, als einen unbrauchbaren Be-
dienten, zum Hauſe augenblicklich hinaus-
weiſen ließ. Das Schickſal war hart, aber
ein kleiner Reſt von Stolze, der ihn uͤberre-
dete, fuͤr die Wahrheit eine Aufopferung ge-
than zu haben, ſtaͤrkte ihn hinlaͤnglich, daß
er ſo aufgerichtet und froͤlich, wie ein Maͤr-
tyrer, uͤber die Schwelle ſchreiten konnte.


Er nahm ſeine Zuſlucht zu Akanten, die
noch, ſo ſehr ſich ihre Reize auch vermin-
dert hatten, aus dem naͤmlichen Grunde
gern mit der Liebe ſpielte, aus welchem ein
alter
[245] alter Fuhrmann gern klatſchen hoͤrt, wenn
ſein Arm zu ſteif iſt, die Peitſche ſelbſt zu re-
gieren. Sie war — wenn man ihre Ver-
richtung bey dem eigentlichen Namen nennen
darf — eine Kupplerinn, und genoß die
Freuden ihrer Jugend wenigſtens in der
Einbildung,
wenn ſie den fremden Ge-
nuß derſelben vor ſich ſahe, da das unbarm-
herzige Alter ſie leider! unfaͤhig gemacht
hatte, ſich in der Wirklichkeit daran zu ver-
gnuͤgen. Ihr Mann, der mit ſeinem Kopfe
immer auf irrendritterliche Fahrten ausgieng,
konnte uͤber dem Eifer, die ganze Welt zu
beſſern, nicht daran denken, ſein Haus zu
beſſern, das durch die Geſchaͤftigkeit ſeiner
Frau einem Bordelle nicht unaͤhnlich gewor-
den war. Er merkte nicht das mindeſte hier-
von, ſondern lebte nunmehr von der Ein-
nahme ſeiner Frau, unbekuͤmmert, daß ſie
der Gewinſt einer Unterdruͤckung war, die
alle andern uͤberwiegt — der Unterdruͤckung
der Tugend. Indeſſen daß dieſe ohne ſein
Bewußtſeyn taͤglich hinter ſeinem Ruͤcken
geſchah, ſchwaͤrmte er mit ſeinen Gedanken
in der Welt herum, ſuchte Materialien zum
Aerger auf und zuͤrnte, daß die Natur nicht
Q 4ihn
[246]ihn um Rath gefragt hatte, als ſie eine
Welt ſchaffen wollte. Mitten unter ſeinem
traurigen Zeitvertreibe gerieth er in die Be-
kanntſchaft eines Mannes, der ſein Haus
oft beſuchte, Akanten reichliche Geſchenke
machte, ohne jemals mehr zu thun, als bey
ihr ein und auszugehen. Da er alſo bey
den Luſtbarkeiten, die an dem Orte vorge-
nommen wurden, blos ein uͤberfluͤßiger und
oft laͤſtiger Zuſchauer war, ſo bekommpli-
mentirte ihn Akante ſo lange, bis er ſich zu-
weilen bereden ließ, ſich zu ihrem Manne zu
begeben und mit ihm zu unterhalten.


So zuruͤckhaltend und lakoniſch der Frem-
de war, ſo offenherzig aus der Bruſt her-
aus redte hingegen Belphegor: und bald fan-
den ſie beide, daß ihre Denkungsart nicht
ganz disharmoniſch war; ſie wurden einan-
der interreſſant und in kurzem Freunde, doch
lange nicht ſo ſehr, daß der Fremde auf die
vielen Zunoͤthigungen, ſich entdeckt haͤtte.
Endlich machte einſtmals die Flaſche, wo-
mit er Belphegorn haͤufig bewirthete, ſeine
Zunge ſo gelaͤufig, das er folgendes Bekennt-
niß ablegte: — Ich war ehemals ein Her-
renhuter, konnte aber den verſchleierten De-
ſpotis-
[247] ſpotismus, der dieſe Gemeine unter den hei-
ligſten Benennungen tyranniſirt, nicht laͤn-
ger mehr erdulden, und trennte mich deswe-
gen von ihr. Menſchen geboten uns will-
kuͤhrlich und wollten uns uͤberreden, daß
die Stimme des heiligen Geiſtes durch ſie
gebiete. Ich glaubte dem heiligen Geiſte
nicht mehr blindlings und wurde deswegen
gemishandelt: ich verlies eine Sekte, wo
die natuͤrliche Freiheit ungleich mehr einge-
ſchraͤnkt iſt, als in der deſpotiſchten Monar-
chie, und die Schranken ungleich ſchwerer
erweitert werden, weil ſie mit der Heiligkeit
uͤberfirnißt und zugleich die Stuͤtzen des
Ganzen ſind, um deſſentwillen ſie je laͤnger,
je mehr vervielfaͤltigt werden muͤſſen, ſo daß
zuletzt entweder ein Pabſt mit etlichen liſti-
gen Fuͤchſen den uͤbrigen Haufen ganz ab-
rutiren muß, um ihn in Ruhe nach Will-
kuͤhr, wie Marionetten, zu regieren, oder
die ganze Geſellſchaft ein Trupp ſo verdorb-
ner Chriſten voll Zanks, Uneinigkeit und Tu-
mult werden wird, wie die uͤbrigen alle.
Sollteſt du denken, daß unter der ſtillen
friedfertigen Mine des Bruders das naͤmli-
che Herz lauſcht, und daß ſeine Geſellſchaft
Q 5eine
[248] eine Welt iſt, wo der Schwaͤchre eben ſo
ſehr unter ſchoͤnen Namen betrogen und
tyranniſirt wird als in andern Geſellſchaften?
— Glaube mir, es iſt ſo! Ich entſagte dem
ſeparatiſtiſchen Deſpotiſmus und durchlief
Koͤnigreiche, Herzogthuͤmer und Fuͤrſtenthuͤ-
mer, Ariſtokratien und Republiken, allent-
halben begegnete ich dem Deſpotismus im
Großen oder im Kleinen, unter dieſer oder
jener Maſke, verſteckt oder offenbar. In
jedem, auch dem kleinſten Staate lauſchte
dieß vielkoͤpfichte Ungeheuer, und ganz Eu-
ropa ſchien von ihm verſchlungen zu werden.
Regierungsgehuͤlfen, denen die Gunſt des
Fuͤrſten mehr galt als die Gluͤckſeligkeit des
Volks, untergruben liſtig die Schutzwehren,
die die Monarchie vor den Eingriffen des
Deſpotismus ſichern ſollten, oder warfen
ſie aus eigner Herrſchſucht mit Gewalt nie-
der: ſie legten der Nation Laſten auf, daß
ſie ſich unter der Buͤrde kruͤmmte: und be-
ſchwerten ſie, um ſie gluͤcklich zu machen.


Um es gluͤcklich zu machen! rief Belphe-
gor verwundert. —


Ja, Freund! Man erſann eine Philoſo-
phie, deren oberſter Grundſatz im Grunde
war:
[249] war: man muß den Menſchen das Leben
ſauer und ſchwer machen, um ſie gluͤcklich
zu machen. Man hatte bemerkt, daß Staa-
ten durch Induſtrie und Geſchaͤftigkeit bluͤ-
hend und glaͤnzend geworden waren: man
hielt den Glanz des Staats und die Gluͤckſe-
ligkeit ſeiner Mitglieder fuͤr untrennbare
Dinge! oder man wuͤrdigte vielleicht nicht
einmal die leztern einiger Ruͤckſicht, und ſezte
es alſo als einen Grundſatz feſt, daß die
Gluͤckſeligkeit eines Volks mit ſeiner Indu-
ſtrie zunehme; und jedermann dachte auf
Mittel ſein Volk auf dieſen ſichern Weg zur
politiſchen Gluͤckſeligkeit zu fuͤhren. Sogar
Junker, die eine Hand voll Bauern unter
ihrem Kommando hatten, die ihnen ihr Feld
pfluͤgen und ihr Vieh huͤten mußten, ſpra-
chen von Induſtrie, und wollten ihre Ar-
beiter induſtrioͤs machen, weil ſie alsdann
noch mehr faullenzen zu koͤnnen hoften. In-
dem man allenthalben Mittel zur Induſtrie
aufſuchte, bemerkte man, daß die Einwoh-
ner einiger Laͤnder mit wenigen Auflagen be-
ſchwert und nicht induſtrioͤs geweſen waren:
ſogleich erklaͤrte man dieß fuͤr die Wirkung
von jenem, was es vielleicht in einigen ein-
zelnen
[250] zelnen Faͤllen wirklich ſeyn mochte, ob es
gleich in den meiſten nur ein begleitender,
oder hoͤchſtens mirwirkender Umſtand
war. Das Geheimniß war gefunden, und
jeder Politiker, der rechnen gelernt hatte,
machte es zum Glaubensartikel, daß man
dem Volke viel nehmen muͤſſe, damit es viel
gewinne; und ein junger Sekretaͤr einer Kam-
mer fertigte mich, da ich aus meinem geſun-
den Menſchenverſtande Einwendungen da-
wider machen wollte, friſch weg damit ab,
daß ich das Ding nicht verſtuͤnde. —
Freund! heißt das nicht einen Eſel mit Peit-
ſchenſchlaͤgen zum Laufen bringen? Gut! er
laͤuft ſtaͤrker nach Empfang der Hiebe; aber
iſt nicht ein gewiſſer Punkt, wo das gute
Muͤllerthier nicht ſtaͤrker laufen kann, wo
er entweder unter den Schlaͤgen erliegen,
oder ſeinen Fuͤhrer ſich wiederſetzen muß? und
iſt nicht ein gewiſſer Punkt, innerhalb deſſen
die Induſtrie durch die erſchoͤpften Kraͤfte
der Menſchen, durch die beſondre Lage und
Beſchaffenheit des Landes und tauſend an-
dre Urſachen eingeſchraͤnkt wird, uͤber die
ſie nie hinausgebracht wird, man lege dem
Volke jeden Tag neue Laſten auf? — Und
iſt denn
[251] iſt denn die Gluͤckſeligkeit der einzelnen
Mitglieder bey der Berechnung eine bloße
Null? Sollen die Menſchen nichts als Laſt-
traͤger ſeyn, denen man taͤglich mehr auf-
legt, damit ſie taͤglich mehr tragen lernen?
Sollen ſie immer gieriger nach Gewinn
trachten, um immer mehr geben zu koͤnnen?
Heißt das nicht, ſie zu allen den Laſtern
hinſtoßen, die man fuͤr Schandflecken der
Geſellſchaft erkennt? zur Habſucht, Liſt, Be-
trug — kurz, zu allen Vergehungen, die
durch den leichten Zaun der Geſetze durch-
ſchluͤpfen koͤnnen? —


Verflucht ſey die Induſtrie! rief Belphe-
gor. Je mehr ſie ſteigt, je mehr raubt ſie
der Geſellſchaft Annehmlichkeit, Zierde, und
den einzelnen Mitgliedern die Gluͤckſelig-
keit. — Was thut ſie? Sie ſchiebt einigen
wenigen das Kopfkuͤſſen der Bequemlichkeit
unter, macht alle, mehr oder weniger, zu
habſuͤchtigen Woͤlfen und liſtigen Fuͤchſen,
und wirft den groͤßten Haufen auf den har-
ten Pfuͤhl der Arbeit, der Beſchwerlichkeit,
der Kuͤmmerniß, des Mangels. — Wohl
euch! ihr Thiere, und ihr Menſchen, die ihr
ihnen
[252] ihnen gleicht, denen thieriſches Beduͤrfniß den
ganzen Kreis ihrer Gluͤckſeligkeit ſchließt! —


Freund! Du biſt voreilig. Die Induſtrie
rottet eben ſo viele Laſter aus als ſie giebt —


Was iſt da gewonnen? —


Was bey jedem Wechſel auf unſerm Pla-
neten gewonnen wird — man tauſcht ein
andres Uebel ein. Daran kann ich mich
gewoͤhnen, nur an die Unterdruͤckung nicht.
Mein Gefuͤhl von Freiheit, das bey jeder
Spur von ihr bis zum Tumulte aufruͤhriſch
wird, trieb mich aus der alten Welt, wo
deſpotiſche Grundſaͤtze die Schranken derſel-
ben immer enger zuſammenzogen, ſo enge,
daß an manchen Orten kein Menſch mehr ein
freies Wort zu fluͤſtern wagte. Aber
Freund! welch ein Wechſel! hier fand ich
die Unterdruͤckung in roher unbekleiſterter
Geſtalt, und mit feiner Tuͤnche uͤberzogen;
gerade dieſelbe Welt, wie auf der andern
Halbkugel, an manchen Orten beſſer, an
manchen ſchlimmer. Ebendieſelbe Kraft,
die in der Bewegung der koͤrperlichen Welt
ein gewiſſes Gleichgewicht erhaͤlt, muß auch
die moraliſche und politiſche Vollkommen-
heit des Ganzen in einer gewiſſen Tempera-
tur
[253] tur erhalten, daß alle Zeiten und alle Orte
im Beſitz und Mangel ſich die Wage halten.


Leider! ſeufzte Belphegor, iſt die Welt
ſich allenthalben gleich. Aber muß es ſo
ſeyn? Oder iſt nicht zu vermuthen, daß
einſt ein Mann, der mehr Geiſt iſt als ſeine
Mitbruͤder, die groben Feſſeln zerbrechen
wird, die dieſen und jenen Theil der Menſch-
heit an den Bock der Sklaverey anketten:
denn die feinen gewohnten Banden, an
welchen der Gewaltige den Schwachen all-
zeit fuͤhrt, dieſe zu zerreiſſen, iſt Gott und
Menſch zu ſchwach, ſo lange die Natur keine
Umſchaffung unternimmt: aber ein ſolcher
Mann, der die Indianer an ihren Unter-
druͤckern raͤchet, zwar tauſend Unſchuldige
bey ſeiner Rache mit hinraft, aber ſie doch
zu einem edlen Zwecke hinraft —


Dieſe Erloͤſung wird die Zeit bewerk-
ſtelligen. —


O die leidige langſame Zeit, die erleich-
tern aber nicht erloͤſen kann! — Die Men-
ſchen kaͤmpften um Herrſchaft, bis der Maͤch-
tigere obſiegte und den Schwaͤchern nieder-
warf: ſo lange dieſem das Joch neu war,
trug er es unwillig und regte ſich, wenn jener
zu hart
[254] zu hart druͤckte: mit der Zeit wurde er durch
die Gewohnheit eingeſchlaͤfert, und fuͤhlte
gar nicht mehr, daß ihm der Druck auf dem
Halſe lag: — ſiehe! das iſt bisher die
Huͤlfe geweſen, die die traͤge langſame Zeit
gereicht hat. —


O Freund! ich bin nicht der Mann, der
dieſe hohe Unternehmung wagen koͤnnte;
aber eins kann ich! ich kann Vorſchlaͤge
und Projekte thun. Von jeher war es mei-
ne Lieblingsbeſchaͤftigung, uͤber die Gebre-
chen der Regierungen nachzudenken und
Plane zu ihrer Verbeſſerung auszuſinnen:
keine darunter ſind ausgefuͤhrt worden,
aber die Welt befaͤnde ſich gewiß wohl da-
bey, wenn ſie alle ausgefuͤhrt waͤren. Ich
habe einen Entwurf erſonnen, wie alle
Kriege, wenigſtens in Europa, auf immer
unthaͤtig gemacht und ganz vertilgt werden
koͤnnten. —


Willkommnes Projekt! O Natur! warum
gabſt du mir nicht Kraͤfte in meinen Arm
und Muth genug in mein Herz, ein ſo er-
habnes Projekt zu bewerkſtelligen? —


Er braucht weder Muth noch ſtarken Arm
dazu, um die Uebereinſtimmung aller Maͤchte
von
[255] von Europa, uͤber die Beylegung ihrer Feh-
den etlichen aus ihrem Mittel den Auftrag
zu geben. *) Herrliches Projekt, das
Schwerdt und Kanone unſchaͤdlich, einen
ganzen Welttheil ruhig, bevoͤlkert, wirklich
polirt machen, und jedes empfindende Herz
mit dem Menſchengeſchlechte ausſoͤhnen wird!
Freund, wenn ich den Anfang eines ſolchen
Gluͤcks erlebte! und ſich dabey bewußt zu
ſeyn, daß man die Idee dazu im Kopfe ge-
habt hat, was fuͤr eine Freude muͤßte das
ſeyn! —


Beſter Freund! eine uͤberſchwengliche
Freude! Allein Krieg iſt ſeltner, doch Unter-
druͤckung dauert Tag fuͤr Tag: haͤtteſt Du
ein Projekt, dieß Ungeheuer zu vertilgen. —


Auch dafuͤr weiß ich eins. Alle Regenten
duͤrften nur mehr fuͤr die Gluͤckſeligkeit ihrer
Staa-
R
[256] Staaten als fuͤr ihren eignen Glanz ſorgen,
alle deſpotiſche Grundſaͤtze aus ſich und ih-
ren Dienern verdraͤngen, das Leben und
Wohlſeyn des geringſten Unterthans hoͤher
ſchaͤtzen als allen Pomp, ſich und das Volk
nicht als zwo Parteyen betrachten, worun-
ter eine die andre immer feiner zu uͤberliſten
ſucht, eine nicht geben, und die andre neh-
men will, ſondern ſich als eine Geſellſchaft
behandeln, die ein gemeinſchaftliches In-
tereſſe vereint —


Wenn ſoll dieß Projekt ausgefuͤhrt ſeyn? —


Ja — wollte er antworten, aber man
rief Feuer im Hauſe, und die Antwort blieb
unvollendet.



Zehn-
[[257]]

Zehntes Buch.


R 2
[[258]][[259]]

Das Feuer war bald gedaͤmpft, und die
beiden Unterredenden kehrten beru-
higt zu ihrem Geſpraͤche wieder zuruͤck.
Belphegor nannte kein Gebrechen in dieſer
Welt, wofuͤr ſein Geſellſchafter nicht ein
Recept wußte: er wußte eins fuͤr die Unord-
nung der Finanzen in Deutſchland, Frank-
reich und andern Laͤndern; er konnte hab-
ſuͤchtige Miniſter kuriren, er wollte muͤßige
Regenten von ihrer Liebe zum Vergnuͤgen
heilen, er wollte ihnen Kraft und Willen
zur Ausuͤbung ihrer Pflichten einpfropfen —
ach, was weiß ich, was fuͤr trefliche medi-
einiſche Geheimniſſe er weiter noch in ſeiner
Gewalt hatte? Doch ließ ſich ſeine Kur nie-
mals unter einen Fuͤrſten, einen Miniſter
oder einen ganzen Staatskoͤrper herab und
war ſo ziemlich den Verfaſſern politiſcher
Syſteme gleich, die Fuͤrſten und Koͤnigen
vorſchreiben, was ſie thun ſollen, um uns
zu lehren, was ſie nicht thun. *) Demun-
R 3geachtet
[260] geachtet mußte ſich ein Mann, wie Belphe-
gor, ungemein uͤber ſo kuͤnſtliche Spinne-
weben freuen und brachte manche Nacht
ſchlaflos hin, um aͤhnliche Geſpinſte aus
ſeinem Gehirne zu erzeugen. Er erzaͤhlte ſie
ſeinem neuen Freunde und ließ ſich die ſeini-
gen erzaͤhlen, wodurch ihre gegenſeitige Zu-
neigung taͤglich feſter wurde, wiewohl auch
der Fremde noch eine andre Abſicht hatte,
warum er Belphegors Haus ſo oft beſuchte,
und mit welcher er gleich anfangs hineinge-
kommen war.


Auch dieſes war nichts geringers als ein
Projekt, das aber nicht die weitlaͤuftige Beſ-
ſerung eines Fuͤrſten oder Staats, ſondern
die Kur eines Anverwandten betraf, der ſich
allen Ausſchweifungen uͤberließ, ihm, um ſie
deſto freyer zu genieſſen, entlaufen war, und
den er darum Schritt vor Schritt betrachten
wollte. — Wir hatten, erzaͤhlte er eines
Tags Belphegorn, anſehnliche Beſitzungen
in New Wight: mein Verwandter und
ich ſollten eine Erbſchaft heben, auf die wir
laͤngſt gewartet hatten; allein der Befehls-
haber des Gebiets, der ungerechte Fro-
mal


Fro-
[261]

Fromal? rief Belphegor erſtaunt. —


Ja, er ſelbſt, dieſer gewiſſenloſe Mann,
verwickelte uns in feingewebte Schwierigkei-
ten, die uns den Beſitz der Erbſchaft lange
Zeit aufhielten. —


Fromal! Er that das? —


Ja, und zwar aus einem Grolle wider
den Erblaſſer und aus Habſucht, ein Stuͤck
Landes zu beſitzen, welches an einem ſeiner
Gaͤrten ſtieß, den er dadurch zu erweitern
wuͤnſchte. Der Verwandte, den wir beerb-
ten, ſchlug ihm ſein Anſuchen darum etliche
Mal ab, aus welchen Urſachen weiß ich
nicht; und haͤtte der ruchloſe Fromal ihn
nicht gefuͤrchtet, ſo wuͤrde er ohne Bedenken
Gewalt gebraucht haben, zu ſeinem Zwecke
zu gelangen; allein da ihm ſeine eigne
Sicherheit dieſes widerrieth, ſo verſteckte er
ſich hinter tauſend Kunſtgriffe, die ihm aber
unſer Verwandter gluͤcklich zu vereiteln wuß-
te; doch ließ die Vereitelung einen Groll in
ihm zuruͤck, den nichts als unſer Verluſt
verſoͤhnen konnte —


Alles dieß that Fromal? —


Ja, alles that er, der Ungerechte! Er
legte uns mannichfaltige Fallſtricke, als
R 4unſer
[262] unſer Verwandte ſtarb, wovon jeder eine
rechtmaͤßige Foderung zu ſeyn ſchien; die
Schwierigkeiten waren unendlich, und wir
wuͤrden unſre Erbſchaft noch nicht gehoben
haben, wenn wir uns nicht entſchloſſen haͤt-
ten, ihm das Stuͤck Landes zu uͤberlaſſen,
das die Urſache ſeiner Verfolgung war.
Wir mußten unſern Bedruͤcker liebkoſen, ihm
ein Geſchenk damit machen und noch oben
drein allen Schein der Beſtechung ſorgfaͤl-
tig vermeiden, und in kurzer Zeit waren wir
die ruhigen Beſitzer unſrer Erbſchaft. —


Alles dieß that Fromal? —


Er that noch mehr als alles dieß; wir
ſind nicht die einzigen, zu deren Unter-
druͤckung er ſeine Gewalt mißbrauchte. —


Komm! wir muͤſſen ihn beſſern oder ſtra-
fen! — Er war mein Freund, ſein Herz
war gut, ich will ihn ſprechen, er wird mich
hoͤren; ſchon einen meiner Freunde habe ich
von dem Wege der Unterdruͤckung zuruͤckge-
bracht, warum nicht auch dieſen? — So
bald Du in ſein Gebiet wieder gehſt, ſo
nimm mich mit Dir! Er muß ein gerechter
oder kein Befehlshaber ſeyn. —


Wenn
[263]

Wenn dieß moͤglich zu machen waͤre,
Freund! Ich habe ſchon uͤber manchem
Entwurfe gebruͤtet, wie man ihn beſſern
koͤnnte, aber wer will ſie ausfuͤhren? —


Ich! unterbrach ihn Belphegor hitzig. —


Einen ſchlafenden Loͤwen mag ich nicht
wecken. Die Schuld einer Ungerechtigkeit,
die er an uns begangen, liegt auf ihm.
Ich werde, ſo bald ich meinen Anverwand-
ten gewonnen habe, in ſein Gebiet zuruͤck-
kehren und dem Goͤtzen opfern muͤſſen, da-
mit er mich nicht verſchlingt: ſiehe! das iſt
das Grundgeſez des Schwaͤchern. Alles,
was man thun kann, iſt — Plane entwer-
fen; aber ſie ausfuͤhren zu wollen, dafuͤr
bewahre der Himmel! —


Ich will meinen ausfuͤhren, ſagte Bel-
phegor, und ſeitdem war er unaufhoͤrlich
mit ſeiner Reiſe zu Fromaln und mit ſeiner
Beſſerung beſchaͤftigt, deren Anfang er ſo
ſehnlich wuͤnſchte, und wovon er ſo gewiß
einen gluͤcklichen Erfolg hofte, daß er mit
Ungeduld und oft mit Haͤrte ſeinen Freund
ermahnte, die Abreiſe zu beſchleunigen.


Nachdem dieſer ſeine Geſchaͤfte abgethan,
ſeinen Neffen, dem er ungekannt in alle
R 5luͤder-
[264] luͤderliche Haͤuſer nachfolgte, wieder gewon-
nen und von ſeinen Ausſchweifungen abge-
zogen hatte, ſo wurde die Fahrt angetreten,
und Belphegor erhielt unter der Bedingung
die Erlaubniß, der Reiſegefaͤhrte ſeines
Freundes und ſein Hausgenoſſe zu werden,
wenn er ſein Projekt, den ungerechten Fro-
mal zu beſſern, aufgeben wollte, wenigſtens
ſich es nicht befremden ließ, wenn er, ſo
bald Ungelegenheit von ſeinem Verfahren zu
beſorgen ſtuͤnde, ſein Haus und ſeine Freund-
ſchaft meiden muͤßte. Belphegor verſprach
alles, vergaß Akanten, ſeinen Freund Me-
dardus, ſein Haus, und folgte allein dem
Triebe ſeines warmen Gerechtigkeit lieben-
den Herzens.


Sie erreichten vie Inſel New Wight
gluͤcklich; und Belphegors erſte Bemuͤhung
war, ſeinen alten Freund zu beſuchen. Er
glaubte, daß ſeine Perſon ſeinem Vortrage
ein großes Gewicht geben werde, und ſuchte
ſich darum ſo gleich zu entdecken, als er ſich
um den Zutritt zu ihm bewarb. Fromal
empfieng ihn mit der lauen Hoͤflichkeit eines
Vornehmen, begegnete ihm freundlich, aber
nicht freundſchaftlich. Belphegor vermißte
die
[265] die ehemalige Waͤrme der Vertraulichkeit
bald und gab ſich alle Muͤhe, ihn zu be-
feuern: Er lenkte das Geſpraͤch auf die Vor-
fallenheiten ſeines Befehlshaberamtes, und
ſein Freund wurde noch zuruͤckhaltender: er
kam auf die Begebenheit des Mannes, der
ihn mit ſich gebracht hatte, ließ etliche hin-
geworfne Worte verrathen, daß er von der
Sache wohl unterrichtet war und ſie als
eine Ungerechtigkeit verabſcheute. Er er-
zaͤhlte ihm die Geſchichte davon unter veraͤn-
derten Namen und mit ſtarken lebhaften
Ausdruͤcken der Mißbilligung. Fromal
ſchien dabey zu empfinden: er machte die
gewoͤhnlichen Geberden eines Menſchen, der
ſich getroffen fuͤhlt, und eben als Belphegor
die Moral zu ſeiner Erzaͤhlung hinzuſetzen
wollte, brach er ab und entſchuldigte ſich mit
dringenden Geſchaͤften, daß er ſich von ihm
beurlaubte. Sein Geſezprediger war zwar
mit dieſer Entwickelung des Geſpraͤchs nicht
ſonderlich zufrieden, doch hoffte er einen
gluͤcklichen Ausgang ſeines Vorhabens, weil
ſein Freund noch Gefuͤhl hatte.


Er wiederholte ſeinen Beſuch’ zum zwey-
ten, zum dritten und mehrmalen: allemal
wurde
[266] wurde es mit der groͤßten Hoͤflichkeit beklagt,
daß unausſezbare Geſchaͤfte die Annehmung
ſeines Zuſpruchs nicht verſtatteten, und
wenn der gute Mann von der Vortreflich-
keit ſeines Unternehmens nicht zu ſehr ge-
blendet geweſen waͤre, ſo haͤtte er leicht
darauf verfallen koͤnnen, daß man jeman-
den oft abweiſt, um ihn nicht wieder zu
ſehn: allein eine ſo ruhige Bemerkung ver-
ſtattete ihm die Hitze, womit er ſeinen Zweck
verfolgte, nicht zu machen: er ließ ſich ge-
troſt abweiſen und ſetzte getroſt ſeine Anfra-
gen fort. Endlich merkte er wohl, daß er
mehr Schwierigkeiten bey Formals Bekeh-
rung fand, als bey dem ehrlichen treuher-
zigen Medardus, und begriff den Bewe-
gungsgrund, der den Befehlshaber gegen
eine Unterredung mit ihm abgeneigt machte:
ſeinen Plan aufzugeben, war fuͤr ihn der
Tod; er entſchloß ſich kurz und nahm ſeine
Zuflucht zur Feder. Er ſchrieb ihm die leb-
hafteſte angreifendſte Vorhaltung ſeiner Un-
gerechtigkeiten, bat, beſchwor, drohte in
ſchauernden Ausdruͤcken, und verlangte
nichts als eine Wiedererſtattung aller be-
gangnen Bedruͤckungen. — Gieb, ſchloß er,
gieb
[267] gieb den Bedruͤckten, die Du vor Raͤube-
reyen ſchuͤtzen ſollteſt und ſelbſt beraubt
haſt, gieb ihnen alles wieder, ſey kuͤnftig
gerecht, billig, menſchenfreundlich! — und
Du biſt wieder mein Freund; wo nicht, ſo
ſoll Dich meine Nachkommenſchaft bis in
Ewigkeit verfluchen, und jeder Tropfen mei-
nes Blutes, ſo lange er noch in einer Ader
fließt, um Rache wider Dich ſchreyen. —


Der Brief that ſeine Wirkung. Belphe-
gor hatte ſehr ſorgfaͤltig verhelt, daß er der
Urheber von ihm war, und Fromal, der
dieß nicht vermuthete, hatte bereits zu viel
geleſen, um wieder aufhoͤren zu koͤnnen, als
er den Verfaſſer deſſelben errieth. Er las
ihn unruhig und zitternd durch, mußte es
noch einmal thun und wurde in ein tiefes
Nachdenken verſenkt, las ihn wieder und
ſann, konnte nicht eſſen und nicht ſchlafen.
Die ſchauerhaften Beſchwoͤrungen ſeines
Freundes ſchlichen unaufhoͤrlich, wie Ge-
ſpenſter, vor ſeiner Seele voruͤber: er
wuͤnſchte, ſich bey dem Manne rechtfertigen
zu koͤnnen, der einen ſolchen Aufruhr in ihm
gemacht hatte, und doch ſchaͤmte er ſich,
ihm in die Augen zu ſehn. In dieſer unru-
higen
[268] higen Unentſchloſſenheit ließ er zween Tage
verſtreichen, und Belphegor ſeufzte und
trauerte ſchon, daß ihm ſein Zweck ſo ganz
fehl gegangen, und ſein Freund ſo verhaͤr-
tet ſey. Mitten in ſeiner Unzufriedenheit
daruͤber bekam er die Nachricht, daß der
Befehlshaber ihn zu ſprechen verlange: er
gieng nicht, er flog. Ob ſich gleich eben
ſo leicht vermuthen ließ, daß ſeine Vorſtel-
lung beleidigt habe, und daß man ihn nur
rufen laße, um ihn den Unwillen uͤber ſeine
Beſſerungsſucht zu empfinden zu geben, ſo
war doch bey allen ſchmaͤhenden Deklama-
tionen, die ihm eine gegenwaͤrtige Mis-
handlung wider den Menſchen auspreßte,
noch zu viel Reſt guter Meynung von der
menſchlichen Natur aus den erſten Jahren
der Einbildungskraft bey ihm uͤbrig, als
daß er insbeſondre ſeinen ehmaligen Freund
einer gaͤnzlichen Verhaͤrtung faͤhig hal-
ten ſollte.


Seine gute Erwartung wurde zum Theil
erfuͤllt: Fromal dankte ihm fuͤr die wohl-
meynende Abſicht ſeines Briefs und verbarg
ihm keine von den Regungen, die er in ihm
erweckt hatte; er erkannte ſich aller Vor-
wuͤrfe
[269] wuͤrfe werth, die ihm darinne gemacht wur-
den, hatte aber auch fuͤr jede eine ſchoͤne
Entſchuldigung in Bereitſchaft, und bat
Belphegorn, ſein Freund wieder wie vor-
mals zu ſeyn, welches gewiſſermaßen ein
ſtillſchweigender Vertrag ſeyn ſollte, ihn ins
kuͤnftige mit ſolchen Unruhen zu verſcho-
nen. — So legte es auch Belphegor aus
und ſprach daher mit dem ganzen Ernſte
eines Bekehrers: Nicht Eine Minute kann
ich Dein Freund ſeyn, ſo lange Deine Reue
nicht wirkſamer iſt: nicht bloß vergeſſen,
ſondern wieder gut machen mußt Du Deine
Ungerechtigkeiten, nicht bloß unterlaßen,
ſondern beſſer handeln. — Fromal wieder-
holte die Verſichrung ſeiner Reue nochmals
und glaubte damit wegzukommen, allein
Belphegor wich auch nicht Einen Punkt von
ſeinen Foderungen ab und gieng in dem
Feuer der Unternehmung ſo weit, daß er
von ihm, wie ehmals vom Medardus, ver-
langte, ſeine Befehlshaberſtelle aufzugeben,
um ſich vor neuen Mißbraͤuchen zu huͤten.
Die Anfoderung war uͤbertrieben, und ver-
darb darum die Haͤlfte der gemachten guten
Wirkung: Fromals Eigenliebe fuͤhlte etwas
zu wi-
[270] zu widriges dabey, um ihm nicht ein Vor-
urtheil wider den Mann einzuſloͤßen, der
ſie thun konnte. Aus dieſer Urſache brach
er kurz darauf abermals das Geſpraͤch ab,
ohne weiter einen Anſpruch auf Belphegors
Freundſchaft zu machen, der ihn ungern
verließ, weil er von dieſer Unterredung den
entſcheidenden Ausſchlag gehoft hatte.


Indeſſen blieb doch Fromaln, ſo ſchwer
es ihm fiel, ſich mit ſeiner Eigenliebe ganz
zu entzweyen, ein Stachel zuruͤck, der ihn
von Zeit zu Zeit an Belphegors Vorhaltun-
gen erinnerte: er liebte ihn wegen ſeines
Eifers fuͤr ſeine Beſſerung, er wollte ihn
gern oft ſehen, und gleichwohl fuͤrchtete er
eben dieſen Eifer zu ſehr, um ihn oft ſehen
zu koͤnnen. Endlich ſchlug ſeine Eigen-
liebe einen Mittelweg ein: er bemuͤhte ſich,
ihn durch Liebkoſungen, Geſchenke und Eh-
renbezeugungen zu gewinnen, oder ſeine
ernſte Beredſamkeit einzuſchlaͤfern: er zer-
ſtreute ihn durch verfchiedene Vergnuͤgun-
gen; er kuͤtzelte ihn durch Wohlleben und
dachte ſeine ernſte Tugend im Weine zu er-
ſaͤufen. Zur Haͤlfte gelangs ihm; aber mit-
ten unter Ergoͤtzlichkeiten mußte er ſichs oft
gefallen
[271] gefallen laſſen, einen verwundenden Stich
zu empfangen: doch muß man es zu Fro-
mals Ehre ruͤhmen, daß er oft ſelbſt den
Faden zu ernſten Betrachtungen anſpann
und mit ſeiner vorigen Staͤrke und Lebhaf-
tigkeit uͤber Welt und Menſchen philoſo-
phirte: er beruͤhrte ſo gar oft ſeine eignen
Vergehungen, tadelte und entſchuldigte ſie.
Belphegor ließ keine Gelegenheit voruͤber-
gehn, die Wiedererſtattung fuͤr alle zu ver-
langen, die Fromals Unterdruͤckung gefuͤhlt
hatten: um ſich auch dieſe beſchwerliche An-
foderung zu erſparen, bot er Belphegorn
das Stuͤck Land zum Geſchenke an, das er
ſeinem Hausherrn durch Bedruͤckungen ab-
genoͤthigt hatte. Belphegor weigerte ſich,
und ſeine Gerechtigkeitsliebe ſtellte ihm den
Beſitz dieſes Geſchenkes als einen zweyten
Diebſtahl an: doch Fromal, der den Men-
ſchen kannte, machte ihn durch haͤufige Zu-
noͤthigungen, durch die Vortheile und An-
nehmlichkeiten, die er ihm dabey verſprach,
mit der Idee davon ſo vertraut, daß er
wirklich nach langem Weigern das Geſchenk
annahm, ohne es weiter fuͤr einen Diebſtahl
zu halten. Der Genuß mannichfaltiger
SVer-
[272] Vergnuͤgungen bey dieſer Beſitzung und die
Erkenntlichkeit dafuͤr minderten allmaͤhlich
den Unwillen wider Fromals begangne Un-
gerechtigkeiten, und bald wurde nur davon
geſprochen, um daruͤber zu ſpekuliren. So
war nach vielfaͤltigen, meiſtens ſelbſterregten
Leiden Belphegor in Ruhe, beſaß ein klei-
nes Landguͤtchen mit einer fuͤr ihn bequemen
Wohnung, mit ſchattichten Baͤumen, um
darunter philoſophiſch zu traͤumen, uͤber
ſein Leben nachzudenken, die Welt nach
Maaßgebung ſeiner Laune zu ſchimpfen oder
zu bewundern — mit einem Gaͤrtchen, um
darinne, wie die Patriarchen, zu graben,
zu ſaͤen, zu pflanzen — mit einem Felde,
um darauf ſeinen Unterhalt von etlichen Ne-
gern erbauen zu laſſen, die ihm Fromal dazu
geſchenkt hatte. Itzt, da er ſelbſt die Nuͤtz-
lichkeit dieſer Schwarzen genoß, verſchwand
das Duͤſtre in der Vorſtellung von ihrem Zu-
ſtande ganz: ob er ſie gleich als Menſchen-
freund beklagte und behandelte, ſo ſchienen
ſie ihm doch nicht mehr ſo ungluͤcklich wie
ehmals, und die Idee von einem Sklaven,
von dem Verkaufe deſſelben, dieſe ſonſt fuͤr
ihn ſo aufbringende Idee, familiariſirte ſich
ſo ſehr
[273] ſo ſehr mit ihm, daß ſie ihm gleichguͤltig
wurde. Er lebte in der gluͤcklichſten Ein-
ſamkeit, in der beneidenswuͤrdigſten Ruhe;
was ihm mangelte, erſetzte ihm ſein Freund,
und beide waren itzt wieder mit ganzer Seele
einig und vertraut.


Belphegors Gluͤckſeligkeit weckte bald in
Fromaln ein Verlangen nach einer aͤhnli-
chen Ruhe auf, welches die Ermuͤdung von
Geſchaͤften verſtaͤrkte, beſonders da er von
Natur eine ſtarke Neigung zur Spekulation
hatte, die itzt durch Belphegors Beiſpiel
wieder aufgelebt war.


Lange blieb ſein Verlangen ein bloßer
Wunſch, und Belphegors Auffoderung ver-
mochten nicht, ihn zu einem Entſchluſſe zu
bringen, zu welchem ihm eine widrige Be-
gebenheit zwang. Schon lange hatte einer
von ſeinen Unterbedienten, vermuthlich von
Neid und Eiferſucht angetrieben, heimlich
eine Partie wider ihn gemacht, die itzt zu
ſeinem Schaden ausbrach. Man wollte
ihn durch Verdrießlichkeiten abmatten und
noͤthigen, die Befehlshaberſtelle niederzule-
gen, zu deren Erlangung ſein Nebenbuhler
ſchon die noͤthigen Veranſtaltungen getrof-
S 2fen
[274] fen hatte. Er ſah ein, worauf es angefan-
gen war, und um einem gewaltſamen Sturze
zu entgehen, ſtieg er ſelbſt von ſeiner Wuͤrde
herunter und vergrub ſich mit ſeinem Freun-
de Belphegor in der Einſamkeit: da er aber
die Schikane und Beunruhigung des neuen
Befehlshabers fuͤrchtete, ſo verließ er mit
Belphegorn die Inſel und kaufte ſich eine
maͤßige Beſitzung in Virginien, die er auf
den Rath ſeines Freundes in drey gleiche
Theile zerſchnitt, um ſie ſo mit ſeinen zween
Freunden zu beſitzen: denn man hatte ſich
ſchon Muͤhe gegeben, Akanten und den gu-
ten Medardus gleichfalls zu der Geſellſchaft
zu ziehn. Die Nachfragen blieben lange
fruchtlos; man ſchrieb und ſchrieb, und er-
fuhr nichts, bis endlich, da ſie bereits ver-
zweifelten, ſie wiederzufinden, Fromal die
Nachricht erhielt, daß ſie einer ſeiner Be-
kannten auf ſeinem Schiffe zu ihnen fuͤhre.
Die Nachricht wurde bald durch ihre An-
kunft beſtaͤtigt, und die gluͤcklichſte Stunde
vereinigte drey Freunde wieder, die Schick-
ſal und Leidenſchaften oft von einander ge-
trennt hatte, um hier in ſtiller Ruhe dem
Tode langſam entgegenzuwandeln.


Akante
[275]

Akante erſchien nicht; ſie hatte kurz vor
der Abreiſe eine verliebte Kuppeley unter-
nommen, und da der Mann, deſſen Frau
ſie durch ihre Bemuͤhungen zur Untreue ver-
leiten wollte, die Sache ſehr uͤbel nahm, ſo
raͤchte er ſich mit einem guten Schlage an
ihr, der ſo uͤbel abgepaßt war, daß ſie nach
langen Schmerzen verſchied. Aus alter
Liebe, und weil er ihre ſchlimme Seite nicht
genug kannte, betrauerte ſie Belphegor und
beklagte ihren Tod als einen Verluſt fuͤr
ſich: allein Medardus unterbrach ſein Kla-
gelied und rieth ihn, nicht Einen Seufzer
an ein ſchaͤndliches Weib zu verſchwenden,
das nicht verdient haͤtte, Athem zu holen. —
Bruͤderchen, ſprach er, ſie haͤtte die Minute
nach ihrer Geburt einen ſo geſunden Schlag
auf den Hirnſchaͤdel bekommen ſollen: ſo
waͤren viele Menſchen weniger ungluͤcklich,
und Du nicht betrogen worden. Sie war
eine Falſche, die liſtig die Grundſaͤtze und
Neigungen desienigen annahm, deſſen Huͤlfe
ſie eben brauchte: in einer Minute war ſie
zaͤrtlich, feurig verliebt und bis zur Ueber-
treibung einſchmeichelnd, die folgende Mi-
nute, wenn es ihr Vortheil verlangte, kalt,
S 3verach-
[276] verachtend ſtolz, und warf vielleicht einen
Liebhaber zum Hauſe hinaus, in deſſen Um-
armung ſie kurz vorher den Himmel zu fuͤh-
len vorgab. —


Belphegor ſeufzte. —


Sie trieb, fuhr Medardus in ſeiner Pa-
rentation fort, zuletzt die ſchaͤndlichſte Kup-
peley, und war ſo geſchickt, Dir ihr ab-
ſcheuliches Gewerbe zu verbergen. In Ei-
nem Hauſe unter Einem Dache mit ihr wuß-
teſt Du am wenigſten davon, und oft, wenn
Du in Deiner Stube ſpekulirteſt, wurden
vielleicht unter oder neben Dir der Wohlluſt
die ſchaͤndlichſten Opfer gebracht. Sie hat
mich, ſie hat Dich hintergangen, durch Luͤ-
gen und durch That: wie fuͤhrte Dich nur
das liebe Schickſal wieder zu ihr?


Belphegor ertheilte ihm daruͤber die ge-
hoͤrige Nachricht, und am Ende ſeiner Er-
zaͤhlung rief Medardus aus: Da ſieht man
doch, daß die Vorſicht noch lebt! Betruͤge-
rey und Laſter finden am Ende allezeit ſol-
chen Lohn.


Aber, unterbrach ihn Belphegor, iſt das
Vorſehung, ein Geſchoͤpf, das tauſend an-
dre ungluͤcklich gemacht hat, mit einer Keule
vor
[277] vor den Kopf ſchlagen zu laſſen? Wenn
heute, wenn morgen einen unter uns ein
herabfallender Stein quetſcht, oder die Keule
eines Raͤubers verwundet, daß wir unter
langen Schmerzen ſierben muͤſſen, ſo ſind
wir Akanten gleich: was iſt aber bey uns
die Abſicht der Vorſehung? — Iſt es Stra-
fe? — warum ſoll ich oder Du, die wir
nicht zur Haͤlfte ſo viel Boͤſes begangen ha-
ben, warum ſollen wir mit jener ungleich
groͤßern Verbrecherinn gleich geſtraft ſeyn?
und das iſt eine uͤble Gerechtigkeit, wo alle
Vergehungen auf gleichen Fuß behandelt
werden: wenn wenig oder viel mit Einem
Grade von Beſtrafung wegkoͤmmt, ſo haͤtte
ich Luſt, lieber viel zu begehen. — Iſt es
in unſerm Falle keine Strafe? — deſto
ſchlimmer! warum trift den Unſtrafbaren
mit dem Strafbaren ein Gleiches? Woher
weiß ich das, daß Einerley Begebenheit in
einem Falle es iſt, im andern nicht? und
wie kann ich aus Akantens Vorfalle ſchlieſ-
ſen, daß eine Vorſicht mit Abſicht ihr
dieſes Schickſal wiederfahren ließ? —


Bruͤderchen, Du diſputirſt mir nichts aus
dem Kopfe. Vielleicht wuͤrden wir von
S 4einem
[278] einem Steine erſchlagen, um großen Laſtern
und Ungluͤckſeligkeiten zu entgehn. Wer
weiß! wozu es gut iſt? —


Elende Ausflucht! Warum wurde denn
Akante, die dadurch von ungeheuren Laſtern
und vielem Ungluͤcke haͤtte bewahrt werden
koͤnnen, wie man nun deutlich ſieht, nicht
im ſechſten oder ſiebenten Jahre erſchlagen?
und warum geſchah dieß ſo vielen, deren
wohlgefuͤhrtes Leben es nicht vermuthen
ließ, daß ihnen durch ihren Tod große Laſter
erſpart wurden? Sollten wir Akantens Ge-
ſchick erfahren, um großem Ungluͤcke zu ent-
gehn? — Wahrſcheinlich keinem groͤßern
als wir ſchon erduldet haben! — Nach
Deiner Philoſophie, Freund, waͤre es der
hoͤchſte Grad der Vorſehung, alle Kinder
unmittelbar nach der Geburt vor den Kopf
ſchlagen zu laſſen. —


Aber, Bruͤderchen, wenn viele, die es nicht
verdienten, eben ſo geſtorben ſind, ſo iſt ja
das nichts ſonderbares: es braucht nicht
Strafe zu ſeyn: ſie mußten einmal ſterben,
ſo galt es ja gleich, ob ihnen eine Krankheit
die Kehle zudruͤckte, oder ein Stein den Kopf
zerquetſchte.


Alles
[279]

Alles gut, Freund! Aber woher weißt
Du, daß dieß bey Akanten nicht eben der-
ſelbe Fall war? Woher weißt Du, daß
Eine Begebenheit in zween Faͤllen zwo ver-
ſchiedene Abſichten hatte? — Das kannſt
Du nicht beweiſen; Du kannſt gar nicht be-
weiſen, daß eine Abſicht dabey war, Du
kannſt —


Freund, unterbrach ihn Fromal, darf
ich auch meine Meynung ſagen? — Ich
erblicke in den Begebenheiten der Erde und
jedes einzelnen Menſchen einen Zuſammen-
hang, der ſie ſo zuſammenkettet, daß eine
wirkt, und die andre gewirkt wird, um wie-
der zu wirken. Dieß iſt das einzige, was
ich mit Gewisheit ſehe, und wenn ich
daran zweifeln wollte, ſo wuͤrde ein Stein,
der auf meinen Kopf faͤllt, mich lebhaft da-
von uͤberzeugen: es iſt eine Bemerkung, die
eine leichte Aufmerkſamkeit macht, und ſie
hat, deucht mich, die naͤmliche Evidenz, die
das Zeugniß unſrer Sinnen giebt. Dieſer
bemerkte Zuſammenhang ſoll einen Namen
bekommen: richte ich meinen Blick bloß auf
die Nothwendigkeit und Unwiderſteh-
lichkeit dieſes Zuſammenhangs, daß ein
S 5Glied
[280] Glied in der langen Kette der Begebenheiten
genau an das andre ſchließt, daß ich keins
herausnehmen kann, ohne die Ordnung und
Folge des Ganzen zu aͤndern und alſo eine
andre Kette zu machen, daß durch lange
Vorbereitungen eine guͤnſtige und widrige
Begebenheit, der Sturz vom Pferde und der
Gewinnſt eines großen Looſes ſeit dem An-
beginne der Dinge ſchon gewiß war und izt,
wenn ſie geſchieht, unvermeidlich iſt: ſe nen-
nen wir den Zuſammenhang der Dinge, von
dieſer Seite betrachtet — Schickſal,
Fatum.
Betrachten wir ihn aber auf einer
andern, in ſo fern eine jede Wirkung die
abgezielte Abſicht von dem Urheber der Din-
ge bey der Anordnung aller vorhergehenden
Urſachen ſeyn konnte: ſo nennen wir es
Vorſehung. In beiden Faͤllen bleibt der
Zuſammenhang derſelbe, gleich nothwendig
und unausweichbar, nur der Name und
die Vorſtellungsart wird geaͤndert. In
dem erſten Geſichtspunkte iſt die Welt
ein von dem Ueheber der Welt veranſtaltetes
Spiel der natuͤrlichen Kraͤfte: er warf
Schwerkraft, Centralkraft, elektriſche, ma-
gnetiſche und andre Kraͤfte der Koͤrperwelt
zuſam-
[281] zuſammen, er warf denkende und wollende
Vermoͤgen, Neigungen und Leidenſchaftrn
in die Geiſter, und gab einer jeden Kraft
eine beſtimmte Regel fuͤr ihre Wirkungen.
Das Spiel begann: Ideen, Neigungen,
Leidenſchaften kaͤmpften unter einander, Koͤr-
per ſtritten mit Koͤrpern: die Maſchine der
Welt iſt ein perpetuum mobile, wo Stoß
auf Stoß, Wirkung auf Wirkung unaus-
bleiblich folgen, der Gerechte und Ungerech-
te von einem Steine zerquetſcht wird, wenn
er gerade voruͤbergeht, indem ihn ſeine
Schwerkraft zur Erde herabzieht, wo der
Boͤſe und Gute von der Kanonenkugel weg-
geriſſen wird, wenn ſie ihn auf ihrem Wege
antrift — kurz, wo aus dem verwirrten
ſtreitenden Haufen der Weltkraͤfte eine Wir-
kung nach der andern hervorſteigt, und jede
der ihr angewieſnen Regel allein folgt. —
Im zweyten Geſichtspunkte iſt die Welt eine
kuͤnſtlich ausgeſonnene Maſchine, wo Rad
in Rad greift, der Gang und die Wirkung
eines jeden nach einem Riſſe ausgerechnet
und beſtimmt iſt, es ſey nun, daß der Kuͤnſt-
ler durch unſichtbare Federn unaufhoͤrlich
bey jedem Raͤdchen mitwirkt, oder daß er
nur
[282] nur einige dieſes Einfluſſes wuͤrdigt, oder
daß ſein Werk nach ſeiner erſten beſtimmten
Anlage ohne fernere Beyhuͤlfe ſeinen ange-
wieſnen Gang vor ſich fortgeht. Da nun
jede Wirkung auf die vorhergehende Urſache
ſo gut paßt, daß dieſe um jener willen da-
zuſeyn ſcheint, ſo ſtellen wir uns vor, daß
der Stein darum einem Menſchen auf den
Kopf faͤllt, weil er getoͤdtet werden ſoll:
die Einbildungskraft hat hierbey Raum die
Menge zu ihrem Spiel; wenn der Stein ei-
nen Menſchen trift, den wir nach unſerm
Urtheile fuͤr boͤſe halten, ſo nennen wir es
Strafe: trift er einen guten, ſo nennen wir
es Schickung, oder wie es uns ſonſt beliebt.
Aber allzeit iſt es blos unſre Erfindung,
unſre Vorſtellung, die wir nie zu einiger
Evidenz erheben koͤnnen. — Jeder Menſch
wird durch Erziehung, Unterricht, natuͤrli-
che Anlagen und Neigungen zu einer von die-
ſen Vorſtellungsarten hingeriſſen und gleich-
ſam ſo geſtellt, daß er den Zuſammenhang
der Welt in einem von jenen Geſichtspunk-
ten ſieht. Dich, Freund Medardus, lei-
teten die Umſtaͤnde auf das Syſtem der Vor-
ſehung, mich auf das andre. Wir wollen
nicht
[283] nicht uͤber Namen und Vorſtellungs-
arten
ſtreiten: darinne kommen wir alle
uͤberein, und dieß ſehen wir alle ſo evident,
als unſre Augen uns von dem Daſeyn einer
Sonne uͤberzeugen, daß ein feſtgeketteter,
nothwendiger, unwidertreiblicher Zuſam-
menhang in den Begebenheiten der Erde und
jedes Bewohners derſelben vorhanden iſt:
wer dieß laͤugnet, ſpielt mit Worten. Wer
ſich eine von den beiden Vorſtellungsarten
dieſes Zuſammenhangs waͤhlt, waͤhle dieje-
nige, die ihm nach ſeiner Lage Thaͤtigkeit
zur Handlung und Beruhigung in der Wider-
waͤrtigkeit mittheilt; und er hat wohl ge-
waͤhlt: aber weſſen Gewalt iſt es uͤberlaſſen,
eine ſolche Wahl zu treffen? Allmaͤhlich er-
zeugt ſich aus ſeinen Kenntniſſen, Schickſa-
len und Beobachtungen daruͤber ein gewiſſer
lichter Schimmer der groͤßern Wahrſchein-
lichkeit, der eine von jenen Meinungen in
ſeinem Kopfe hervorſtechender macht; und
ich kann mir vorſtellen, daß dieſer Mann bey
dem Fatum eben ſo viele Beruhigung findet,
als ein andrer bey der Vorſehung. —


Medard. Unmoͤglich, Bruͤderchen!
Das trockne, leere, geiſtloſe Fatum vergli-
chen
[284] chen mit einer lebenden, thaͤtigen, wirkſa-
men Vorſehung — welch ein Unterſchied!


From. Ja, Freund, fuͤr die Einbil-
dungskraft! die freylich ein freyeres Feld
fuͤr ſich findet, wenn ſie den Zuſammenhang
der Dinge perſonifieiren und ihn mit allen
Eigenſchaften eines ſorgſamen Vaters aus-
putzen kann. Ich tadle dieß nicht: da die
meiſten Menſchen blos durch Einbildungs-
kraft und Empfindung geleitet werden, ſo
muß das Syſtem der Vorſehung fuͤr ſie ein
unendlich wohlthaͤtiges und vorzuͤgliches
Syſtem, und die Menſchen deſto gluͤcklicher
ſeyn, je ausgebreiteter es wird: und doch
beſizt es nur der kleinſte Theil der Menſch-
heit.


Medard. Ganz Europa beſitzt es ja.


From. Dem Namen nach! Der groͤßte
Haufen, Gelehrte und Ungelehrte, moͤchte
ich behaupten, hat im Munde und in der
Imagination die Vorſehung und im Verſtan-
de das Fatum: pruͤfe ſie, und du wirſt fin-
den, daß die Vorſehung der meiſten ein per-
ſonificirtes, mit etlichen glaͤnzenden Eigen-
ſchaften der Vorſehung ausgeſchmuͤcktes Fa-
tum iſt. Von Europa faͤllt alſo ein großer
Theil
[285] Theil wahre Anhaͤnger dieſes Syſtems hin-
weg; und welche Menge in den uͤbrigen
Welttheilen, die insgeſammt bey der erſten
einzig gewiſſen evidenten Beobachtung
ſtehen geblieben ſind, dem Grunde, von wel-
chem alle unſre Erklaͤrungen und Vorſtel-
lungsarten entſtanden ſind, und in welchen
ſie ſich alle aufloͤſen laſſen, naͤmlich: daß
ein feſtgeketteter unwidertreiblicher Zuſam-
hang in den Begebenheiten der Welt iſt.
Frage den Neger, den Indianer, den Kal-
mucken! und wenn er ſeine dunkle Empfin-
dung hiervon auszudruͤcken weis, ſo wird
er dir dieſe Idee geben; und doch, obgleich
das Fatum der herrſchende Glaube von mehr
als der halben Menſchheit iſt, ſtreitet der
Tuͤrke mit der Kuͤhnheit eines Loͤwen, und
jederman glaubt, er habe ſeinen Muth ſeinem
Glauben an das unausweichbare Schickſal
zu verdanken. Das Syſtem der Vorſehung
ſcheint mehr die Staͤrke zum Dulden als zum
Handeln zu geben; und, Freund, du wirſt
herrlichen Troſt von ihm empfangen haben?


Medard. Herrlichen Troſt? Wer weis
wozu mir das gut iſt? — ſo dachte ich bey
dem
[286] dem fuͤrchterlichſten Sturme des Ungluͤcks,
und ich konnte getroſt hindurch gehn.


Belph. Gluͤckliche Illuſion! Wie wohl
waͤre mir geweſen, wenn ſie mein Unmuth
nicht aus meiner Seele getrieben haͤtte: aber
mein Ungluͤck war zu ungeſtuͤm; eine eiſerne
Seele haͤtte es kaum tragen koͤnnen: und
wenn ich gleich alle Fittige meiner Einbil-
dungskraft ausgeſpannt haͤtte, um mich zu
uͤberreden, daß alles zu etwas gut ſey, wie
haͤtte ichs vermocht? — Wozu konnte es
gut ſeyn, daß die Natur die Menſchen ſo
anlegte, daß ſie in dem allgemeinen Hand-
gemenge auch meinen Scheitel ſo oft ver-
wundeten? Wozu konnte das gut ſeyn? —


Fromal fiel ihm ins Wort: Du haſt
erfahren, Belphegor, daß die Menſchen
nicht das ſind, wofuͤr wir ſie uns in dem
erſten Rauſche der Jugend ausgaben: keine
friedlichen Geſchoͤpfe, die vom Verlangen
wohl zu thun gluͤhn, die in Ruhe und Ein-
tracht neben einander leben, ſich uͤber ihr
wechſelſeitiges Gluͤck freuen, und heiter,
froh, zufrieden den muntern Tanz des Le-
bens dahinhuͤpfen: Du haſt ſie gefunden,
wie ich dir verkuͤndigte — eine Heerde Raub-
thiere,
[287] thiere, die Eigennutz, Herrſchſucht, Neid
ewig zuſammenhetzet, die ſich in Truppe
verſammelten, um einander deſto wirkſamer
befeinden zu koͤnnen, durch ihre natuͤrlichen
Anlagen, durch die Oekonomie ihres Weſens
zum immerwaͤhrenden Kriege beſtimmt, den
ſie beſtaͤndig in roher grauſamer, oder min-
der grauſamer, oder verkleideter Geſtalt fort-
ſetzen, blutig oder unblutig, ſo wie Geſetze,
Sitten und Verhaͤltniſſe es ihnen erlauben;
eine Heerde Raubthiere, wo eins uͤber das
andre will, eins das andre zu unterdruͤcken
ſucht, und wo die meiſten auch in einer be-
ſtaͤndigen verjaͤhrten Unterdruͤckung gehalten
werden: — denn uͤberſiehe die ganze Flaͤ-
der Erde, ob nicht blos kleine Flecken von
der Sonne der Freiheit mit ſchwaͤcherm oder
ſtaͤrkerm Schimmer erhellt werden, indeſſen
daß große weite Ebnen von der tiefſten Fin-
ſterniß der Sklaverey uͤberdeckt ſind, wo je-
des muthige Wort auf der Zunge ſtirbt, wo
der Geiſt der Freundſchaft nie athmet, und
jeder mit ruͤckhaltender. Kaͤlte den andern in
langer Entfernung von ſich haͤlt, wo der
Elende nicht einmal das Eigenthum ſeines
Lebens beſitzt: uͤberſieh alle Zeiten, und ſie
Twerden
[288] werden Dir das naͤmliche Trauerſpiel der
Unterdruͤckung vorſtellen: uͤberſiehe Dein
eignes Leben, Freund, und haſt Du nicht
allenthalben, wenige gute, edlere Seelen
ausgenommen, die Menſchen im einzel-
nen
und im Ganzen mit meiner Schilde-
rung paſſend gefunden?


Belph. Ja, leider! ſind mir Laͤhmun-
gen, Narben, Beulen unverwerſliche Zeu-
gen davon!


From. Wovon Du Dir aber den groͤß-
ten Theil erſpart haͤtteſt, wenn Du der Par-
tie jenes londuer Jungen gefolgt waͤreſt, deſ-
ſen Beiſpiel fuͤr mich die goldne Regel mei-
nes Verhaltens jederzeit geweſen iſt. Ein
Haufen groͤßerer Buben, in deren Mitte er
ſtund, geriethen in Zank: das Handgemen-
ge wurde allgemein, man ſchlug ſich blut-
ruͤnſtig, man riß ſich Haare aus, nur mein
Knabe buͤckte ſich und kroch mit beſondrer
Geſchicklichkeit durch die erhabnen Arme der
Streiter hindurch und kam allein unverſehrt
aus dem Kampfe. Laß den Menſchen die
wilde Luſt ihres Kampfjagens, laß ſie ſich
balgen und raufen, mit dem Degen, mit
der Feder, mit Verlaͤumdungen, mit den
Naͤgeln!
[289] Naͤgeln! ſchleiche dich durch ſie hindurch
und laß dich nie geluͤſten, ihnen zu ſagen,
daß ſie Narren find, noch vielweniger ſie
geſcheidter machen zu wollen! Die Maſchine
kann nichts mehr oder weniger und nichts
anders thun, als wohin ſie der Stoß der
auf ſie wirkenden Raͤder treibt, und wer ſie
aus ihrer Richtung herauslenken will, muß
Kraͤfte genug zum Wiederſtande haben, oder
er bekoͤmmt Stoͤße, wovon ihn vielleicht der
erſte ſchon zu Boden wirft. — Entdeckte
ich Dir nicht dieſe Erfahrung, Freund? Und
warum folgteſt Du ihr nicht?


Belph. Folge einer kalten Erfahrung,
wenn dein Herz in lichten Flammen lodert,
und die Gluth Dich erſticken oder den Buſen
zerſprengen will! Folge ihr, wenn Du kei-
nen Schritt thun kanſt, ohne daß Dich nicht
tauſend Gegenſtaͤnde umgeben, die Dich
durch ihre Narrheit oder Schaͤndlichkeit zum
Unwillen reizen, wenn du beſſern oder nicht
ſehen, kein Menſch ſeyn, kein Gefuͤhl von
Recht und Unrecht, vom Guten und Boͤſen
haben mußt!


From. Alles dieß beſitze fuͤr Dich, zu
Deinem Gebrauche, um Dich in Deinem
T 2eignen
[290] eignen Verhalten davon leiten zu laſſen, und
danke der Natur und dem Schickſale, daß
ſie ſich beide vereinigten, Dich zum warmen
gefuͤhlvollen denkenden Manne, zum Ken-
ner und Verehrer des Guten und Rechtſchaf-
nen zu machen! daß ſie unter Deinen uͤbri-
gen Mitgeſchoͤpfen nur wenigen dieſe Wohl-
that erzeigten, iſt das Dein Werk? oder
kannſt Du das aͤndern? Es iſt im Laſter
und in der Thorheit eine gewiſſe Fatalitaͤt
— hier in Virginien zwiſchen zween Freun-
den kann ich dieß ſagen — die Erfahrung
lehrt es, man folgre daraus, ſo viel ſchaͤd-
liches man wolle: was kann ich dafuͤr, daß
die Erfahrung mich eine Wahrheit lehrt, die
aus ſchaͤdlichen Folgen beſchwaͤngert iſt? —
Mein eignes Beiſpiel lehrte mich ſie. Ich
habe zwo Hauptvergehen in meinem Leben
begangen: ich habe Dich, Belphegor, mei-
nen Freund, hintergangen, und bin ein
Unterdruͤcker geworden. Ich war es —
ich geſtehe dieß, Freund — ich war es,
der Akanten antrieb, Dich aus ihrer Liebe
und ihrem Geſichte, obgleich nicht mit der
gebrauchten Haͤrte, zu verbannen: allein
die Liebe riß mich hin; ſie uͤberwaͤltigte meine
Freund-
[291] Freundſchaft fuͤr Dich ſo ganz, daß ich
Dich unmoͤglich ohne Neid in ihren Umar-
mungen die ſuͤßeſte Wohlluſt genießen ſehen
konnte: die Freundſchaft kaͤmpfte wider die
Eiferſucht, und ich war blos ihr Tummel-
platz: ich konnte nichts wollen und nichts
beſchließen: die Leidenſchaft ſiegte, ich ver-
draͤngte Dich, und wurde ein Falſcher, um
mir die Scham vor Deinen Vorwuͤrfen zu
erſparen, hintergieng Dich zweimal mit Luͤ-
gen: doch Akantens Treuloſigkeit ſtrafte mich
dafuͤr. — Freund, vergiebſt Du mir einen
Fehltritt, zu welchem mich alles hinriß? Ich
war meiner nicht maͤchtig, ich mußte ihn
thun, in meiner Lage war er unvermeid-
lich, nothwendig.


Belph. Meine Freundſchaft vergab Dir
ihn, ehe Du ihn thateſt. Umarme mich!
Verzeihung geben und empfangen iſt die Ge-
ſchichte des Menſchen. Jeder dieſer Fehl-
tritte iſt mir begreiflich; allein wie Du, ein
ſo entſchloßner Feind aller Unterdruͤckung,
verleitet werden konnteſt, Handlungen zu
begehn, die Du jederzeit verabſcheuteſt, das,
das iſt mir unerklaͤrbar.


T 3From.
[292]

From. Nicht unerklaͤrbarer, als da Du
uͤber den Tod eines einzigen Schwarzen
einen Krieg mit mir, Deinem Freunde, an-
fangen konnteſt —


Medard. Oder da ich eine Mauer um
Niemeamaye ziehen und allen Einwohnern
ihr Gold abnehmen ließ. Siehſt Du, Bruͤ-
derchen? dazu wird man Dir durch die Ge-
legenheit ſo hingeriſſen, daß man hinter
drein ſich nicht einmal erzaͤhlen kann, wie
es zugieng.


From. Als Sklave verkauft, kam ich un-
ter den weißen Knechten nach Amerika, in
die Pflanzung eines Tyrannen, der uns das
Joch ſeiner Gewalt bis zur Uebertreibung
fuͤhlen ließ. Ich wurde durch eine ſolche
Behandlung gewiſſermaßen wild und grau-
ſam gemacht: ich faßte oft den Entſchluß
den Mann umzubringen, oder ſelbſt zu ſter-
ben und ein qualvolles Leben zu endigen.
Waͤhrend daß ich unentſchloſſen mit dieſem
Gedanken umgieng, entſtund ein Aufruhr
auf der Inſel: man halte ſich allgemein zu
dem Untergange des Befehlshabers verſchwo-
ren, deſſen Bedruͤckungen und Kraͤnkungen
alles Rechts ſchon laͤngſt unertraͤglich ge-
worden
[293] worden waren. Man ſtuͤrmte ſein Haus,
man nahm ihn gefangen, man ſteinigte ihn,
und er wurde im Getuͤmmel erdruͤckt. Die-
ſen Tumult nuͤzten einige Banden weiße
Knechte, ſetzten ſich in Freiheit, erſchlugen
ihre Herren, und unter dieſen Streitern der
Freiheit war auch ich. Da das. Volk ſich
ſelbſt einen Befehlshaber waͤhlen wollte und
doch in zwo Parteien getheilt war, ſo ſtellte
ich mich mit meiner Bande an die Spitze der
maͤchtigern, half ihr ſiegen, und ihre Wahl,
weil ſie keinem unter ſich einen ſo wichtigen
Vorzug goͤnnten, fiel auf mich: ich wurde
ihr Befehlshaber und blieb es ſo lange, bis
mich die Kabalen eines Nichtswuͤrdigen be-
fuͤrchten ließen, daß ich, da mir die Beſtaͤ-
tigung des Hofs fehlte, zulezt unterliegen
wuͤrde. Mein Sklavenſtand und die rohe
Behandlung darinne hatten mir einen Theil
meiner Menſchlichkeit genommen: druͤcken
und bedruͤckt werden, hatte ſich mit mir ſo fa-
miliariſirt, daß es mir nicht mehr wie ſonſt
einen Schauer abnoͤthigte, ſondern ich konnte
es mit kaͤltern Blute ſehen und denken, weil
es mein taͤglicher Anblick und mein taͤgliches
Geſuͤhl geweſen war. Ich kam mit dieſer
T 4ver-
[294] verminderten Menſchlichkeit in meine Wuͤrde,
erhielt einen weitern und freyern Wirkungs-
platz, mehr Gegenſtaͤnde der Begierden und
mehr Gewalt, meine Begierden wuchſen,
wuchſen uͤber meine Kraͤfte hinweg und —
Freunde, ſoll ichs euch weiter erzaͤhlen?
Meine Geſchichte iſt die Geſchichte aller Men-
ſchen. Ich wurde die Marionette meines
Eigennutzes und meiner Eigenliebe; und
Belphegor, Du weißt es, wie ſehr ich unter
ihrem Befehle ſtund, als Du mir Deine
freundſchaftliche Huͤlfe zur Beſſerung anbo-
teſt. Wegen dieſes einzigen gluͤcklichen Er-
folgs laß Dich alle Wunden und Beulen
nicht gereuen, die Dir Dein zu feuriger Ei-
fer fuͤr Recht und Gerechtigkeit geſchlagen
hat. Du haſt mich zum Menſchen wieder
umgeſchaffen, Dir bin ich mehr als mein
Leben — meine Ruͤckkehr zur Vernuͤnftig-
keit ſchuldig. Freunde! laßt uns unſre Er-
fahrung nicht umſonſt mit dem Verluſte unſrer
Tugend, eingeſammelt haben! Wir haben
bewieſen, daß man nie gut genug ſeyn kann,
um es beſtaͤndig und in allen Vorfallenheiten
zu ſeyn, daß der Sauerteig des Neides und
der Herrſchſucht in jedem Herze liegt und bey
ſtaͤrkrer
[295] ſtaͤrkrer oder ſchwaͤchrer Veranlaſſung die
ganze Maſſe unſrer Begierden durchſaͤuert,
daß Freundſchaft, Rechtſchaffenheit und
ſelbſt die Religion zu ſchwach iſt, ſeiner bei-
ßenden Schaͤrfe zu wiederſtehen: wir wollen
es nicht ohne unſern Nutzen bewieſen haben.
Hier auf dieſem Flecke laßt uns in froher
Einſamkeit und ruhiger Eintracht den Reſt
unſrer Tage hinleben, und unſern Begier-
den jeden Sporn, jeden Reiz benehmen, die
ſie aufwiegeln koͤnnten, dieſe ſchoͤne Ruhe zu
ſtoͤren. Wir wollen dieſen Flecken Erde,
der unſer Eigenthum geworden iſt, zu glei-
chen Theilen beſitzen; unſre Beduͤrfniſſe koͤn-
nen nicht uͤber unſer thieriſches Selbſt hin-
ausreichen, und ſie werden uns nicht ent-
zweyen, ſo lange uns nicht gaͤnzlicher Man-
gel um Leben und Nahrung kaͤmpfen laͤßt.
Wir wollen uns von unſerm Geſchlechte tren-
nen, damit nicht ein neidiſcher Anfall von
ihnen unſre Gluͤckſeligkeit unterbricht: ſo
ſind wir von innen und von außen verſchanzt
und machen fuͤr uns allein eine Welt aus
— eine Welt, wie wir ſie in den erſten
Jahren unſers Lebens traͤumten, Belphegor
— eine Geſellſchaft, die Freundſchaft, Liebe,
T 5Sym-
[296] Sympathie des Kopfs und des Herzens zu-
ſammenknuͤpft, die ſo arm iſt, daß keine
neidiſche habſuͤchtige Begierden ſie zu tren-
nen vermoͤgen, und ſo reich, daß ſie außer
ſich ſelbſt nichts weiter beduͤrfen.


Alle billigten den ſchoͤnen Plan, und Bel-
phegor fiel ſeinen beiden Freunden vor Ent-
zuͤcken um den Hals, ſegnete und preiſte ſie,
daß ſie ihm das goldne Alter ſeiner Jugend
wieder zuruͤckfuͤhrten. — So werden wir,
ſezte er hinzu, die einzigen Gluͤcklichen auf
der Erde ſeyn, die im Himmel ſind, waͤh-
rend daß alles außer unſrer Geſellſchaft im
Aufruhr der Leidenſchaften herumgetrieben —


Ja, unterbrach ihn Fromal, wir koͤnnen
es ſeyn, ſo lange nicht die Menſchen uns
unſre Freude misgoͤnnen. Du weißt, Bel-
phegor, in dem Rauſche unſrer fruͤhen Jah-
re ſchufen wir uns ein Ideal von Gluͤckſelig-
keit, womit wir aus Mangel an Erfahrung
die Wohnung des Menſchen ausſchmuͤckten:
ich ſuchte ſie, als ich in die Welt trat, al-
lenthalben, und erblickte ſie nirgends. Je
mehr ich von der Erde kennen lernte, je
mehr mußte ſich meine Vorſtellung von der
menſchlichen Gluͤckſeligkeit verengern, und
zulezt
[297] zuletzt ſchrumpfte ſie gar bis auf das magre
Etwas zuſammen — Abweſenheit wirklicher
Leiden; wer dieſe errungen hat, der iſt
menſchlich gluͤcklich. Die Freuden des
Lebens ſind duͤnne, wie die Frucht eines
ſandigten Ackers, verſtreut: es gehoͤrt zu
beiden gute Oekonomie. Freiheit, dieſes
hauptſaͤchlichſte Ingredienz einer poſitiven
Gluͤckſeligkeit, wie wenige genießen ſie! Die
meiſten muͤſſen ſich mit dem Schatten und
dem Worte begnuͤgen: macht die Rechnung
und ziehet die Summe, und unter allen Voͤl-
kern der drey Welttheile unſrer Halbkugel
werdet ihr nicht bey dem zehntauſendſten
Theile die Illuſion der Freiheit finden. Der
nackte Wilde kaͤmpft mit Hunger, Durſt,
Kaͤlte und Regen: der polizierte Europaͤer
mit tauſendfachem kuͤnſtlichen Mangel, mit
Arbeit, mit dem Eigennutze, der unterdruͤ-
ckenden Gewalt und Millionen Leidenſchaf-
ten: Aſiater, Afrikaner und Amerikaner ſind
mehr oder weniger vom Deſpotiſmus und
Geize ihrer Beherrſcher gequaͤlt: nirgends
ſind die Bewohner der Erde zufrieden, und
nirgends koͤnnen ſie es ſeyn: Die Gluͤckſelig-
keit unſers Planetens ſcheint in die gemaͤßigte
Zone
[298] Zoar der Gluͤckſeligkeit des Ganzen zu gehoͤ-
ren, eine mittlere laue Temperatur, nicht
befeuernd und auch nicht ganz kalt. Ge-
wohnheit und Unwiſſenheit ſind ihre beiden
Endpunkte. Wer die Erde zum Garten,
zur Heimath der Gluͤckſeligkeit macht, iſt ein
Schwaͤrmer oder ein Unwiſſender; wer ſie
als eine Wuͤſte, ein Jammerthal ſchildert,
iſt ein Milzſuͤchtiger oder ein Boͤſewicht.
Sie iſt ein Mittel zwiſchen beiden, ein
what d’ye call it


Belph. Das aber doch bisweilen mehr
der letztern Schilderung gleicht.


From. Ja, es ſcheint, beſonders wenn
man den Lauf der vergangnen Begebenhei-
ten im Ganzen uͤberſchaut: aber merke auch,
daß die Geſchichte derſelben ein gedung-
nes
voll gruppirtes Gemaͤlde iſt, deſſen
Theile ſich in der Natur nicht ſo nahe be-
ruͤhrten, wo zwiſchen den armſeligen Spitz-
buͤbereyen und Moͤrdereyen etwas heitre
Intervalle waren. — Doch laßt uns alle
dieſe leidigen Kenntniſſe wegwerfen! Laßt
uns nichts als unſern kleinen Zirkel der
Freund-
[299] Freundſchaft uͤberſehen, und wenn ſich un-
ſre Spekulation uͤber ihn hinauswagt, mit
Medardus Auge alles anſchaun, in der Ab-
ſicht alles gut zu finden: ſich ſo beluͤgen,
iſt eine Pflicht, die unſre Zufriedenheit
fodert.


Belph. Oft war dieß meine Rede.
Gluͤckliche Menſchen, ihr Unwiſſende, ihr,
denen der Himmel bloß ſchlichten Menſchen-
verſtand und keinen forſchenden gruͤbelnden
Geiſt gab! Ihr ſchleicht den Pfad eures
Lebens dahin, weint oder lacht, wie euch
die Umſtaͤnde gebieten, ihr laßt euch gewiſſe
fuͤr eure Ruhe heilſame Meinungen ein-
pfropfen, ſie durch die Laͤnge der Zeit zum
feſten unverwelkenden Glauben aufwachſen,
ohne zu unterſuchen; und wohl euch! Da
euer Auge nicht weit reicht, ſo erblickt es in
dem kleinen Horizonte wenig Boͤſes, von
der Unordnung der Erde nur kleine einzelne
Fragmente, die euch nicht eher ſtark ruͤh-
ren, als bis ſie auf euern Scheitel fallen.
Freund, wenn es moͤglich waͤre, den laͤſti-
gen Plunder der Erfahrung von uns zu
werfen, das Auge unſers Geiſtes zu ſtuͤm-
pfen
[300] pfen und ſeinen Geſichtskreis ſo ſehr als
moͤglich zu verengern, waͤren wir nicht
gluͤcklich?


Ja, unterbrach ihn Medardus, wir wer-
den dieß ſeyn, Bruͤderchen; und wenn mein
gutes Weibchen, oder meine Zaninny, oder
das ſchoͤne Negermaͤdchen in Kartha-
gena bey uns waͤre — wir waͤren doppelt
gluͤcklich; und dann einen Trupp kleine
Nachkommenſchaft um uns herum — Bruͤ-
derchen, das waͤre Dir ein Himmelreich.


Fromal nickte und ſchwieg.



Beſchluß.
[301]

Beſchluß.



So war der Plan fuͤr ihre Einſamkeit,
die fuͤr ſie ein Zuſtand der erfreulich-
ſten Ruhe und der ſuͤßeſten Zufriedenheit,
die gluͤcklichſte Periode ihres ganzen Lebens
war. Sie ſuchten ſich je laͤnger, je mehr
von dem Geiſte des Nachforſchens und der
gruͤbelnden Unterſuchung abzuziehn, weniger
zu denken und mehr zu handeln, ſich in alle
die kleinen Beſchaͤftigungen des Garten-
baus, der Feldarbeit zu zerſtreuen, zu ſaͤen,
zu pflanzen, zu begießen, zu erndten, und
dadurch ihre Lebensart derjenigen nahe zu
bringen, die die geringſte an Achtung, und
die oberſte an Gluͤckſeligkeit iſt, der ſriedli-
chen Lebensart der erſten Vaͤter, des arka-
diſchen Dichterlandes und des Landmanns
in den Zonen der Freiheit. Ein jeder hatte
in ſeiner Beſitzung eine kleine reinliche Woh-
nung, worinne er nebſt ſeinen Sklaven
Raum hatte, ein jeder machte mit ſeinen
Skla-
[302] Sklaven eine Familie aus, wovon er der
Vater war, der ſeine Kinder nur ſo lange
in leichten Einſchraͤnkungen erhielt, bis ſie
erkannt hatten, wie liebreich ihr Vater war.
Hinter jeder Wohnung breitete ſich ein Gar-
ten in eine laͤngliche Flaͤche aus, mit Kuͤchen-
kraͤutern und Gewaͤchſen, auch mit einigen
Blumen, die das Klima vertrug, geſchmuͤckt,
den jeder Beſitzer mit eigner Hand pflegte
und bearbeitete: jeder aß das Werk ſeiner
Haͤnde, und jede Staude, die auf ſeinem
Tiſche erſchien, ſchmeckte ihm doppelt ſuͤß,
weil er ſie mit dem Schweiße ſeiues Ange-
ſichts erkauft hatte. Wenn ſie die Arbeiten
des Gartens ermuͤdeten, giengen ſie auf das
Feld, die Verrichtungen ihrer Sklaven —
wiewohl ſie ihnen nie dieſen Namen gaben —
zu uͤberſehen, ſie durch ihre Gegenwart zum
Fleiße und durch Freundlichkeit zu Muth
und Geduld anzufriſchen. Zu gewiſſen
Jahrszeiten und nach Endigung gewiſſer
Arbeiten, des Pflanzens, des Saͤens, der
Erndte ſtellten ſie kleine Feſte an, wo ſie
unter hohen Baͤumen oder am Eingange ih-
rer Wohnung ſaßen und ſich vaͤterlich an
den Ergoͤtzlichkeiten ihrer Angehoͤrigen ver-
gnuͤgten:
[303] gnuͤgten: Dieſe ſpielten die rohen Spiele ih-
res Vaterlandes, ſangen mit rauher Kehle
und mit der vollſten Empfindung, tanzten
mit unabgezirkelten Schritten, wilden Spruͤn-
gen, huͤpften ſich luſtig, mengten in alles
ihren ungebildeten Scherz und plumpe
Schaͤkereyen, und lachten ſich froͤlich, froͤ-
licher als die Tafel der auserleſenſten witzi-
gen Koͤpfe. — Oft verſuchten ihre Herren,
ihre Spiele und Taͤnze nachzuahmen, und
wurden fuͤr jeden Fehler der Ungeſchicklich-
keit mit einem lauten Gelaͤchter beſtraft.
Die kleine Bande wurde durch dieſe Ermun-
terungen belebt und erfindſam: ſie ſtreng-
ten oft ihren Wiz an, ihre Herren gleich-
falls mit kleinen Freuden zu ergoͤtzen. Sie
uͤberraſchten ſie unvermuthet mit einer vor-
zuͤglich großen oder ſchoͤnen Frucht, mit
einem anſehnlichen Gewaͤchſe, das ſie ent-
deckt und verborgen, oder mit Fleiß und in
der Abſicht heimlich gewartet hatten, ein
unvermuthetes Vergnuͤgen damit zu er-
wecken: ſie ſannen neue Taͤnze und Ver-
ſchoͤnerungen fuͤr die alten aus, um ſie bey
dem naͤchſten Feſte aufzufuͤhren, und die Er-
wartung des Vergnuͤgens machte ihre Haͤnde
Uund
[304] und Fuͤße thaͤtig. Waͤhrend daß in der
Entfernung etlicher Meilen von ihnen,
laͤngſt der ganzen Kuͤſte von Nordamerika,
Sklaven von ihren Herren, und die Herren
von ihren Sklaven geplagt, und beide ein
Paar feindliche Parteien ausmachten, die
ſich wechſelſeitig quaͤlten und wechſelſeitig
dafuͤr raͤchten, ſaß hier Herr und Knecht,
in Eins vereinigt, beyſammen und machte
ſich das Leben angenehm: niemand ließ die
Subordination fuͤhlen, und niemand fuͤhlte
ſie, und jeder, der ſich eines ſolchen Gluͤcks
unwerth machte, wurde aus der Geſell-
ſchaft verbannt und an einen Herrn ver-
kauft, der ihn den Unterſchied zwiſchen har-
tem und leichtem Joche lehrte. Auf dieſe
Weiſe, ohne politiſches Regiment, beynahe
in dem Stande der Gleichheit, wie er nie
war und Philoſophen ihn traͤumten, in der
bloßen Familienunterwuͤrfigkeit der Natur,
entgieng dieſe kleine Geſellſchaft allen den
beſchwerlichen Folgen zweyer Dinge, die
dem Menſchengeſchlecht die groͤßten Wohl-
thaten erwieſen und den groͤßten Schaden
zugefuͤgt haben — der Geſelligkeit und des
Eigenthums.


Bel-
[305]

Belphegorn zerſtreute dieſe ruhige un-
angefochtene Lebensart allmaͤhlich die duͤſtern
Wolken, die ſeine Widerwaͤrtigkeiten um ſeine
Seele verſammelt hatten; er ſahe die Dinge
der Welt weniger ſchwarz, weil der Zirkel
um ihn erheiterter war, und weil er ſich ge-
woͤhnte, mehr das Gegenwaͤrtige zu empfin-
den als daruͤber nachzudenken, ſeinen Blick
mehr in ſich und den kleinen Umkreis ſeiner
kleinen Beduͤrfniſſe und Freuden zuruͤckzu-
ziehn und uͤberhaupt den Horizont ſeines
Nachdenkens mehr und mehr zu verengern,
mehr finnlich als geiſtig, mehr empfinden-
des und handelndes als denkendes Thier
ſeyn zu wollen. Zu gleicher Zeit nahm er
unvermerkt die gutherzige Philoſophie ſeines
Freundes, Medardus an, ſich zu uͤberre-
den,
daß alles gut ſey, und daß vielleicht
die groͤßten Unordnungen der moraliſchen
und koͤrperlichen Natur zu einem unbekann-
ten Guten abzwecken, nichts der Natur zur
Laſt zu legen, zu glauben, daß ſie ganz
Nordamerika Jahrhunderte hindurch ſich be-
kriegen, freſſen, ſchinden laſſen kann —
Denn das konnte er ſich nicht ausreden,
daß die Natur die erſte Urheberinn dieſer
U 2herge-
[306]hergebrachten Grauſamkeiten ſey —
daß ſie die Mexikaner Jahrhunderte durch
viele tauſend Menſchen ſchlachten und uͤber-
haupt den Menſchen zum grauſamſten
Raubthiere ſchaffen konnte, um ihn langſam
nach den ſchrecklichſten Unthaten zum liſtigen
feinen Fuchſe oder zum friedſamen Schafe
werden zu laſſen — zu glauben, daß alles
dieſes die Natur wollen mußte, da ſie der
menſchlichen Gattung die Diſpoſition dazu
gab, ohne daß ſie dabey etwas anders als
die heilſamſten beſten Endzwecke vor Augen
hatte, und daß ſie die Menſchen recht
ſchlimm werden ließ, um ſie leidlich gut wer-
den zu laſſen, ohne daß ſie deswegen Tadel
verdiene. So unvertraͤglich auch jene ge-
ſammelten Erfahrungen mit dieſer medardi-
ſchen Philoſophie ſcheinen, ſo ſtiftete doch
die Liebe zur Ruhe nebſt der Abweſenheit
aller Widerwaͤrtigkeiten, wie auch die Sen-
kung ſeiner Imagination, die vollkommen-
ſte Vereinigung zwiſchen ihnen, die nur zu-
weilen eine duͤſtre Stunde unterbrach, aber
nicht trennte.


Fromal
[307]

Fromal war ſtets ein kaͤltrer Raͤſonneur
geweſen, als Belphegor, und diente auch
itzt noch dazu, Waſſer in die Flamme zu
gieſſen, wenn ſie zuweilen bey dieſem auflo-
derte. Er geſtund frey, daß er ſich nicht
in die gluͤckliche Illuſion verſetzen kann,
welche ſeinem Freund Medardus ſo vielſaͤl-
tig das Leben erleichtert habe und noch er-
leichtere, daß ihm aber ſein Glaube an Noth-
wendigkeit und unvermeidliches Schickſal
die naͤmlichen wohlthaͤtigen Dienſte erzeige,
und daß auch uͤberhaupt ſeine Meynung
hieruͤber von der medardiſchen nur im Na-
men
und der Vorſtellungsart unter-
ſchieden ſey. Zugleich verbat er aber, mit
Einwilligung ſeiner uͤbrigen Freunde, anders
als mit Kaͤlte uͤber dieſen Punkt zu ſprechen,
um ſich nicht durch warme Imagination
und durch ein warmes Herz in eine neue
Tiefe von Zweifeln und Beunruhigungen
ſtuͤrzen zu laſſen.


Medardus erhielt ſich in ſeiner Heiter-
keit und Zufriedenheit bis an ſein Ende,
und da er im Begriffe war zu ſterben, war
noch ſein letztes Wort: wer weiß, wozu
U 3mirs
[308] mirs gut iſt? — Er hatte vor ſeinem Tode
noch zwo fuͤr ihn ſehr erfreuliche Begeben-
heiten erlebt. Der Kaufmann, der Fro-
mals und Medardus Gelder untet ſich hatte
und ihnen von Zeit zu Zeit Proviſio-
nen zuſchickte, die ſie in ihrer kleinen Kolo-
nie nicht beſaßen, ſendete ihnen ſolche einſt-
mals unter der Aufſicht eines jungen Men-
ſchen, der ſein Faktor war und andre Ma-
terialien, die in der Kolonie erbaut wurden,
mitnehmen ſollte. Medardus, ein Freund
vom Geſpraͤche, ließ ſich mit ihm ein, er-
zaͤhlte ihm, wie gewoͤhnlich, ſein Leben und
ließ ſich das ſeinige erzaͤhlen; und aus
deutlichen Beweiſen erhellte es ſonnenklar,
daß der Fremde des Herrn Medardus —
leiblicher Sohn war, der ihn berichtete,
daß ſeine Geſchwiſter außer einem alle ver-
blichen, ſeine uͤbriggebliebne Schweſter ver-
heirathet und er hieher geworfen worden
ſey. — Alle geſtorben? ſprach Medardus.
Siehſt Du, mein Sohn? wer weiß, wozu
das gut iſt? — Er ſollte mit der Zeit in
die Kolonien aufgenommen werden, allein
ehe es geſchah, ſtarb ſein Vater und die fol-
genden Unruhen hintertrieben es.


Die
[309]

Die zwote angenehme Begebenheit war
das Wiederfinden ſeiner geliebten Zaninny,
die als Sklavinn nach Amerika verkauft,
unter einem harten Herrn gelitten hatte,
ihm entlaufen war und ſich in die Kolonie
unſrer Europaͤer rettete, wo ſie ihren gelieb-
ten Medardus an der Narbe erkannte, die
ihm eine von den gleißenden Damen im
Lande der Meerkatzen mit dem Nagel ihres
Zeigefingers geſchnitten hatte; und da der
Schnitt in einer eignen Figur gemacht war,
die ſie in dieſem Lande oft geſehen hatte, ſo
brachte es ihr das Andenken ihrer alten
Liebe zuruͤck: doch umſonſt! Denn ſie war
ſo hoͤflich geworden, oder der Geſchmack ih-
res Liebhabers hatte ſich ſo geaͤndert, daß
er ihr einen Platz in ſeiner Wohnung
aus Wohlthaͤtigkeit, aber nicht aus Liebe
anwieß.


Kaum drang zu Anfange des gegenwaͤr-
tigen Krieges das Geruͤcht bis in die Kolo-
nie, daß jeder Koloniſt fuͤr die Freyheit wi-
der ein unterdruͤckendes Vaterland fechten
muͤſſe, als Belphegorn ſein Enthuſiaſmus
von neuem ergriff; er riß ſich, ungeachtet
aller
[310] aller Vorſtellungen ſeines Freundes Fromals,
der ihn mit Gewalt und mit Liſt zuruͤckhal-
ten wollte, aus ſeinen Armen und ward
unter einem andern Namen eiller von den
Vorfechtern der koloniſtiſchen Armee. —
Er war es, der einige der kernhaſteſten Re-
den in einigen Verſammlungen hielt: er er-
langte etliche anſehnliche Vortheile uͤber die
Englaͤnder; der Auszug des Krieges wird
lehren, wer von beyden Theilen Recht be-
halten, und ob Belphegor als Patriot und
Menſchenfreund allgemein bekannt werden,
oder im Streite fuͤr die Freyheit ungeruͤhmt
umkommen ſoll.



[][][][][][]
Notes
*)
Dies war vermuthlich einer von den Koͤnigen,
die mit aller Gewalt eine weiße Geſandſchaft
aus dem Norden haben wollten.
*)
Eine von den mahomedaniſchen Sekten.
*)
Bey den Mahometanern dasjenige, was bey
den Katholiken die Tradition iſt.
*)
Das hoͤchfte Weſen.
*)
Ludwig des 14.
*)
Unter Illuſion verſteht der gute Alte wahr-
ſcheinlicher Weiſe die Meynungen, die nicht
mit einer ſolchen Strenge bewieſen werden
koͤnnen, daß gar kein Zweifel mehr uͤbrig
bleibt, ſondern wo im Grunde allemal der
ausſchlagende Grad Ueberzeugung zugenom-
men
, und nicht durch die Beweiſe allein ge-
wirkt
wird; und in dieſem Falle waͤre im
Grunde die ganze Philoſophie Illuſion. Alle
Meynungen, die jemals von Philoſophen er-
dacht ſind, oder kuͤnftig erdacht werden, ſind
nichts als verſchiedene Vorſtellungsarten von
den Dingen: die Dinge ſelbſt kennt niemand:
z. B. den Lauf der Welt ſtellen ſich einige als
die
*)
die Wirkung eines blinden Zufalls, andre als
die Folge einer feſtgeketteten Nothwendigkeit,
eines Fatums, andre als die abgezweckte An-
ordnung einer nach Plan und Abſicht handeln-
den Vorſicht vor: jede unter dieſen Vorſtel-
lungsarten hat Gruͤnde fuͤr ſich, aber keine ſo
viele, daß ſie die Beweiſe der uͤbrigen und alle
Zweifel ganz vernichtete: es ſind Verſtellun-
gen von dem Laufe der Welt, aus verſchiede-
nen Geſichtspunkten genommen: wer nun un-
ter dieſen eine fuͤr die einzige wahre haͤlt,
der ſetzt dem Gewichte ihrer Gruͤnde etwas
wiſſentlich oder unwiſſentlich hinzu — wel-
ches meiſtentheils unſre Leidenſchaften und
Ideen ohne unſer Bewußtſeyn thun — und
illudirt ſich, in ſo fern dieſes zur Ueberzeu-
gung ausſchlagende Etwas nicht die reine
Wirkung iſt. Glauben kann man in dieſer
Welt nie ohne Illuſion.
*)
Im erſten Bande.
*)
So werden die Chriſten im Oriente genennt.
*)
Nach Palaͤſtina in den Kreutzzuͤgen.
*)
Peter der Eremit, der die Kreutzzuͤge veran-
laßte.
*)
Leibnitz.
*)
Ein in Amerika von europaͤiſchen Eltern
geborner.
*)
Gott der Peruaner.
*)
Vermuthlich iſt ſeine Meynung, daß eine Ver-
anſtaltung getroffen werden ſollte, die den
Austraͤgen der Fuͤrſten im deutſchen Reiche
gleich kaͤmen, wo bey entſtehenden Zwiſtigkei-
ten die Unterſuchung und Entſcheidung eini-
gen ſelbſtgewaͤhlten Maͤchten von Europa auf-
getragen wuͤrde. Freylich ein herrliches aber
ſchweres Projekt!
*)
Sagt ich weiß nicht wer?

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpw7.0