oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Kunſtlehre.
Carl Mäcken, Verlagsbuchhandlung.
1852.
[[III]]
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Künſte.
Erſtes Heft:
Die Baukunſt.
Carl Mäcken, Verlagsbuchhandlung.
1852.
[[IV]][[V]]
Inhaltsverzeichniß.
Dritter Theil.
Die ſubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen
oder
die Kunſt.
Zweiter Abſchnitt.
Die Künſte.
Erſte Gattung.
Die objective Kunſtform oder die bildenden Künſte.
- §§. Seite
- Grundbegriff 550—552 173—177
- A.Die Baukunſt.
- a. Das Weſen der Baukunſt.
- α.Ueberhaupt 553—561 178—207
- β.Die einzelnen Momente.
- Das Material 562 207—215
- Die Haupttheile des Baus 563 215—217
- Die Linien 564 217—221
- Die Hauptrichtungen 565 221—223
- Die Compoſition.
- Die Oekonomie 566 223—226
- Die Proportion 567 226—228
- Der Contraſt 568 228—230
- Die Löſung des Contraſts, die Gliederung 569 230—232
- Der Rhythmus, die Symmetrie 570 232—236
- Die Eurhythmie 571 237—238
- Die Glieder im engeren Sinn 572 238—244
- Das Ornament 573 245—250
- §§. Seite
- b. Die Zweige der Baukunſt 574—576 251—264
- c. Die Geſchichte der Baukunſt.
- Vorbegriff 577 265—266
- α.Die Baukunſt des Alterthums.
- 1. Die orientaliſche Baukunſt 578—582 267—283
- 2. Die griechiſche Baukunſt 583—585 284—293
- 3. Die römiſche Baukunſt 586 294—297
- β.Die Baukunſt des Mittelalters.
- 1. Vorſtufe 587—590 297—311
- 2. Mitte 591—593 312—324
- 3. Ausgang 594 324—326
- γ.Die moderne Baukunſt 595 326—330
- Anhang. Die untergeordnete Tektonik 596 331—338
Zweiter Abſchnitt.
Die Künſte.
Erſte Gattung.
Die objective Kunſtform oder die bildenden Künſte.
§. 550.
Nach dem in §. 533—537 begründeten Geſetze tritt zuerſt die bildende
Phantaſie (§. 404) als Urheberin einer beſtimmten Kunſtform hervor.
Auf das Geſicht organiſirt, iſt ſie im Raume thätig an dem körperlich aus-
gedehnten und ſchweren Stoff als ihrem Materiale. Das vollendete Werk
ſteht bewegungslos und ſtumm dem Zuſchauer gegenüber, vermittelt ihm
durch das Auge das innere Bild, zu deſſen Träger der Stoff umgeſchaffen iſt,
und lebt in ſeiner Phantaſie zu Bewegung und Sprache auf.
Das Theilungsprinzip iſt in den angeführten §§. zunächſt äußerlich
auf die Natur des Materials gegründet, dann in die Tiefe verfolgt, auf
die Arten der Phantaſie §. 402—404 und in letzter Inſtanz auf das
Grundgeſetz des Syſtems, das Auseinandertreten des Schönen in eine
objective und ſubjective Form und die Vereinigung dieſer Gegenſätze,
zurückgeführt. Wenn von der bildenden Kunſt geſagt iſt, ſie ſei es, die
„zuerſt“ auftrete, ſo iſt dieß zunächſt Bezeichnung nicht zeitlicher, ſondern
begriffsmäßiger Folge. Alles Daſein iſt weſentlich Körperliches im Raume,
aller Bethätigung in der Zeit iſt dieſe Grundform vorausgeſetzt; ſo muß
auch die Kunſtform, welche den naturſchönen Stoff weſentlich als räum-
lichen erfaßt und nachbildet, die erſte ſein. Allerdings iſt jedoch dieſes
Vorausgehen dem Begriffe nach in gewiſſem Sinn auch ein Vorausgehen
der Zeit nach. Schon zu §. 533, 1. iſt berührt, daß die Muſik und
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 12
[174]Poeſie darum, weil ſie vermöge des unmittelbaren, leichteren Fluſſes,
worin hier das Innere in das Aeußere übergeht, am früheſten hervor-
treten, keineswegs auch am früheſten eine Reife der Ausbildung erhalten,
durch die ſie zum adäqueteſten Ausdruck des Kunſtlebens einer Zeit ſich
erheben; es leuchtet ſchon vor der näheren Nachweiſung ein, daß die
Künſte, die im greiflichen Stoffe darſtellen, die vorzugsweiſe entſprechende
Form geweſen ſein müſſen für die Phantaſie der Völker des Alterthums,
die wir als weſentlich objectiv beſtimmte, anſchauende, auf das Auge ge-
ſtellte (vergl. 404 Anm. a. und 425, 3.) aufgewieſen haben. Es hat
alſo trotz der längeren Uebung, welche die bildende Kunſt vorausſetzt und
deren Nothwendigkeit noch beſonders hervorzuheben iſt, früher eine Bau-
kunſt u. ſ. w. gegeben, welche der Kunſtgeſchichte angehört, als eine Muſik
und Poeſie. Dieſer Punct iſt übrigens noch an andern Stellen zu be-
leuchten. — Die bildende Phantaſie ergreift denn als thätige Kunſt körper-
lich ausgedehnten, ſchweren Stoff und verarbeitet ihn ſo, daß ihm die
ſchöne Form, wie ſie vor der Phantaſie des Künſtlers auf Grund äußerer
Geſichtsanſchauungen als Object eines innern Sehens ſchwebt, als ein
geiſtiger Mantel übergelegt wird. Dieſer Stoff iſt todt (§. 490) in dem
engeren Sinne, daß die unorganiſche oder abgeſtorbene organiſche Maſſe
auch durch die Thätigkeit des Künſtlers keine wirkliche, in ein ebenfalls
bewegtes inneres Bild unmittelbar übergehende Bewegung erhält. Das
fertige Werk iſt zunächſt im eigentlichen Sinne bewegungslos und ſtumm;
die bildende Kunſt muß Angeſichts des Satzes, daß die Kunſtthätigkeit im
Ganzen und Großen von Stufe zu Stufe die am meiſten ſprechende Form
ſucht (§. 533 Anm. 1.), mit ihren Vorzügen ſogleich ihre Mängel enthüllen.
In einem gewiſſen Sinne freilich muß ſie ſprechend ſein, in dem Sinne
nämlich, daß ſie überhaupt eine Idee in lebendiger Form ausdrückt, und
dieſen die Phantaſie des Zuſchauers mittelbar in Schwingung verſetzenden Aus-
druck verſteht der §. unter Sprache, wenn er ſagt, daß das todte Werk in der
Anſchauung zu Bewegung und Sprache erwache (vergl. §. 489,1.); handelt
es ſich aber von Bewegung und Sprache (oder Ton) im eigentlichen Sinn,
ſo fehlen dieſe dem Werke der bildenden Kunſt. Nehmen wir nun die drei
Momente zuſammen: den Künſtler, in welchem ein Phantaſiebild innerlich lebt,
das Werk, welches körperlich, bewegungslos, ſtumm hingeſtellt iſt in den
Raum, den Zuſchauer, in deſſen Anſchauung es auflebt, aufthaut, ſo haben
wir einen Prozeß, der wohl zu merken iſt, um den tiefen Unterſchied zu
verſtehen, der ſich im Prozeſſe der Muſik und Poeſie nachher herausſtellen
wird: es iſt eine Bewegung in zwei Tempi, deren erſtes das Hinſtellen
des Objects im Raum, deren zweites das Hinüberſpringen des Objects
in den Zuſchauer iſt; die Kugel fliegt hier nicht direct, es iſt ein getheilter
Act wie der aufſchlagende Schuß wie Unterſchied vom wagrechten, nur
[175] daß freilich die Kugel im Aufſpringen nicht verweilt, wie das in Stein,
Erz u. ſ. w. verfeſtete Bild des Künſtlergeiſtes.
§. 551.
Wenn alle Kunſt objectiv iſt, wie das Naturſchöne (§. 489), ſo iſt es
die bildende im engeren Sinn dieſes Prozeſſes, der ebenſoſehr als eine Ver-
ſenkung des Geiſtes in den greiflichen Stoff, wie auch als eine klar ſcheidende
Gegenüberſtellung gegen denſelben erſcheint und nach erfolgter ſchwerer und dem
Handwerke verwandterer, lange techniſche Uebung fordernder Bewältigung in
ihm einen feſten Niederſchlag des innern Bildes zurückläßt, welcher, getrennt
von ſeinem Urheber, wie ein Naturſchönes vom Zuſchauer vorgefunden wird.
In aller Kunſt ſtellt ſich die Objectivität des Naturſchönen, die in
das ſubjective Leben der Phantaſie aufgeſogen war, als eine geiſtig un-
geſchaffene, als eine Geburt des Geiſtes wieder her; die Phantaſie war
das Grab des Naturſchönen und iſt zugleich der verborgen nährende
Mutterſchooß, woraus es als dieſe neue Geſtalt wieder an das Licht tritt.
Innerhalb der Reihe der Künſte aber kehrt in der bildenden Kunſt die
Bedeutung im engeren Sinne wieder, die das Naturſchöne im ganzen
Syſtem hatte: zunächſt, wenn wir vom Subjecte des Künſtlers ausgehen,
in dem Sinne, daß deſſen Stimmung und Element ſinnlicher iſt, als in
den andern Kunſtformen. Der Geiſt des bildenden Künſtlers geht auf
das Körperliche in der doppelten Richtung, daß er anſchauend alle Er-
ſcheinung von dieſer Seite faßt, nur im räumlich Ausgeſprochenen, Knochen-
feſten, in Fleiſch und Blut zu Haus iſt, und daß er ausführend in Stein,
Holz, Erde, Farbſtoffen mit meſſendem, taſtendem, fühlendem Finger um-
wühlt, hämmert, meiſſelt, rührt, reibt und ſtreicht. Seine Perſönlichkeit
gibt ſich auch im Umgang als grundverſchieden von der des Muſikers
und Dichters kund: derber, ſaftiger, handwerksmäßiger, naiver, gelegent-
lich cyniſcher; und ſo muß man ſich die ganzen Völker denken, deren
Geiſt zur bildenden Kunſt vorzugsweiſe berufen war. Es iſt kein Wider-
ſpruch, wenn dieſe Verſenkung ebenſoſehr als eine Gegenüberſtellung
beſtimmt wird, was perſönlich gewendet allerdings ſogleich dahin lauten
muß, daß der bildende Künſtler klarer, bewußter erſcheinen wird, als
der Muſiker. Unter der Verſenkung in das Sinnliche nämlich kann hier
natürlich nicht das dumpfe Verwachſenſein der Kindheits-Zuſtände des
Geiſtes gemeint ſein; es iſt eine Naturſtimmung, die aber innerhalb ihrer
ſcharfe Diremtion zwiſchen Object und Subject iſt, und zwar ebenfalls
in dem doppelten Sinne, daß nur der vom naturſchönen Gegenſtande
zurückgetretene Geiſt ſich dieſen klar gegenüberſieht und daß ebenderſelbe
12*
[176]Geiſt das innerlich geſetzte Bild in hellem Rückſchlag hinüberwirft in
körperlichen Stoff. Jenes heimiſche Arbeiten und Umwühlen im Materiale
iſt daher zugleich ein klarer Kampf mit einem Gegner, deſſen ganze
Sprödigkeit auf langem Erfahrungswege ſich zu erkennen gibt und dem
man mit einer reichen Ausrüſtung von Waffen und Kampfregeln auf
langem Uebungswege beikommen und zuſetzen lernen muß. Es muß eine
Kunſtform geben, die den Act des klaren Gegenübertretens, wie er dieſem
Kampfe zu Grunde liegt, in einem ganz andern Elemente tiefer und
geiſtiger vollzieht; aber dieß Tiefere wird erſt ein Drittes ſein, das in
einer zunächſt folgenden zweiten Kunſtform ein Ineinandergähren von
Object und Subject vorausſetzt, welches inniger, aber dunkler iſt, als
das Verhalten in der bildenden Kunſt. Dieſe iſt alſo mehr und weniger,
als die vorerſt auf ſie folgende ſubjective Kunſtform; die Beſtimmtheit der
Gegenüberſtellung zwiſchen dem Naturſchönen und Künſtler, dem Künſtler
und ſeinem Werke iſt ebenſoſehr noch eine Behaftung mit der Natur, ein
Bedürfen des gegebenen Gliedes in der Antitheſe. Mit dem „Zurückſchlingen
der Welt in das Herz“, das die ſubjective Kunſt, die Muſik, zu vollziehen
haben wird, iſt die Klarheit des Gegenſchlags, aber auch dieſe Behaftung
mit dem Object aufgehoben und eine Wiederherſtellung dieſes Objects aus
dem Innern vorbereitet, welche von ungleich hellerem Bewußtſein des
Künſtlers über ſeinen Stoff und ſein Werk begleitet ſein wird. — Endlich
haben wir das Ergebniß dieſes eigenthümlichen Actes der bildenden Kunſt
im Verhältniß zum Zuſchauer zu betrachten. Das vollendete Werk ſteht
im Raume da wie ein Naturwerk; der Künſtler hat es hingeſtellt ganz
auf die eigenen Füße und iſt hinweggegangen. Wie eine Naturerſcheinung
eben da iſt, auf einmal vor uns ſteht, als wäre ſie ein Zufälliges und
Unvermitteltes, ſo auf den erſten Blick das Werk der bildenden Kunſt:
wir treten in einen Raum ein und es ſteht vor uns, als wäre es da
hingefallen oder da gewachſen, bis der zweite Blick uns in die Tiefe der
geiſtigen Vermittlung führt, die es wie einen hohen Fremdling aus
wunderbarer Ferne geholt und hier zwiſchen Erde, Fels, Baum und
Werken des äußern Bedürfniſſes aufgerichtet hat. Trotz dieſem unend-
lichen Unterſchied liegt aber gerade hierin, daß uns das Kunſtwerk ſo
körperlich aufſtößt, die Parallele mit dem Naturſchönen am beſtimmteſten
ausgeſprochen. Daß das Werk des Muſikers und des Dichters, geſchrieben
oder vorgetragen, dieſe Aehnlichkeit mit dem Naturwerke nicht hat, muß
zum Voraus einleuchten.
§. 552.
In dieſem Weſen der bildenden Kunſt iſt der Charakter des voll und
ſcharf Ausgeſprochenen, ſtreng und dauernd Hingeſtellten, aber auch die Reihe
[177] ihrer Beſchränkungen gegründet. Die nothwendige Rückſicht auf die ſpezielle2.
Beſtimmtheit des Raums, in welchem das Kunſtwerk ſtehen ſoll, iſt ebenſoſehr
fördernd, als bindend.
1. Die bildende Kunſt kann man in gewiſſem Sinn die eigentliche,
die Kunſt κατ̕ ἐξοχὴν nennen eben wegen der Klarheit, Vollſtändigkeit,
Solidität, womit hier der Objectſetzende Act vollzogen wird. Kein Werk
einer andern Kunſt muß in ſo unbedingtem Sinne ſich ſelbſt erklären, wie
das ihrige; wo die Darſtellung im Raume verlaſſen und die Zeitform
eingetreten iſt, da bleibt die Seele des abweſenden Künſtlers in ganz
anderem Sinne dennoch gegenwärtig in ſeinem Werke, als im Werke der
bildenden Kunſt, und er muß für dieſen Vortheil nichts Geringeres opfern,
als das einzige Mittel, eine Geſtalt vollſtändig deutlich hinzuſtellen und
in dieſer Deutlichkeit zu feſſeln, feſtzuzaubern, welches eben in der Sicht-
barkeit gegeben iſt. Es bewährt ſich hier der Satz §. 533, 2., daß der
Gewinn im Fortgang nach der andern Seite ein Verluſt iſt. Welche
Beengungen dagegen der Preis ſind, um den die bildende Kunſt ihre
großen Vortheile erkauft, dieß kann erſt bei den einzelnen Gebieten der-
ſelben beſtimmter aufgewieſen werden, denn die Gränzen ſind verſchieden;
der Inbegriff aller dieſer Schranken iſt in der Bewegungsloſigkeit und
Stummheit des Werks (§. 550) ausgeſprochen. Es iſt ſchon geſagt, daß
das Bild im Geiſte des Künſtlers Leben und Sprache gehabt hat und in
dem des Zuſchauers wieder gewinnt, aber es bleibt dabei, daß dem in
ſeinem Material niedergelegten Bilde die eigentliche Bewegung und
Sprache fehlt, alſo die Möglichkeit verſchloſſen iſt, denſelben Gegenſtand
in Einem und demſelben Werke in der Kategorie des Nacheinander ver-
ſchiedener Momente darzuſtellen.
2. Die zweiſeitige Natur dieſes weitern Moments, der engen Beziehung
auf das Umgebende, das ſich unmittelbar aus dem Weſen der bildenden
Kunſt als einer Kunſt des Raumes ergibt, gehört zu dem untrennbaren
Zuſammenhang von Vortheilen und Nachtheilen, der in dieſem Weſen über-
haupt gegründet iſt. Die Rückſicht auf eine beſtimmte Oertlichkeit ver-
ringert ſich allerdings bei der Tafelmalerei, iſt aber bei dem Wandgemälde
noch ganz weſentlich, für Baukunſt und Plaſtik ein Grundgeſetz. Das
ganze Kunſtwerk als Motiv (§. 493) iſt dadurch bedingt und ſeine
Wirkungen bekommen dadurch die Fülle lebendiger Geſammtwirkung; Licht,
Luft, Waſſer, Bäume und künſtlicher Raum baut ſich und webt ſich mit
ihm zu einem Ganzen zuſammen, ſelbſt Beengendes in der Oertlichkeit
kann, wie das Material (§. 518,1.), Quelle der Erfindung neuer Motive
werden; aber dieſe Bindung iſt nichtsdeſtoweniger eine Beengung aller
bildenden Kunſt im eigentlichen Mittelpuncte ihres Weſens, ſobald man
den freien Flug der Künſte der Zeit damit vergleicht.
[[178]]
A.
Die Baukunſt.
a.
Das Weſen der Baukunſt.
Die Theilung der bildenden Kunſt in drei Künſte iſt in §. 538 zunächſt
aus dem Unterſchiede der Arten der bildenden Phantaſie (§. 404) in ihrer
Zuſammenfaſſung mit der trennenden Natur der ſtrengen Bedingungen des Ma-
terials abgeleitet, ſodann auf das im Syſtem herrſchende Geſetz der Zerlegung
in eine objective, ſubjective und ſubjectiv-objective Form zurückgeführt, was ſich
nun näher vorerſt ſo beſtimmt: der Geiſt der Kunſt, um innerhalb der objectiven
Form die ſubjectiv belebtere zu gewinnen, ſetzt ſich als Grundlage, Ausgangs-
punct und Stütze des Fortſchritts eine im ſtrengſten Sinn objective Form.
Der Begriff der Objectivität enthält hier zugleich den einer nur erſt allgemeinen
Bewältigung der Natur als Boden der Kunſt.
Es iſt im erſten Abſchnitt §. 533 ff. die Theilung der Kunſt als eine
dreigliedrige entwickelt, die ſich „zu einer fünfgliedrigen erweitert, ohne
daß darum die Dreitheilung ihre grundgeſetzliche Geltung verlöre“ (§. 538).
Die drei bildenden Künſte ſind die Zweige der Einen bildenden Kunſt,
wie Epos, Lyrik und Drama die Zweige der Poeſie: nach dieſer Seite
ſind und bleiben ſie bloße Unter-Eintheilung des einen der drei Haupt-
glieder des Syſtems der Künſte; aber die Unterſchiede dieſer Zweige be-
ſtimmen ſich zu einer ſo ausgeſprochenen Schärfe und realen Abgränzung,
daß ſie als ſelbſtändige Künſte daſtehen, während die Zweige der Dicht-
kunſt, durchſichtiger, durch geiſtigere Linien getrennt, Namen und Bedeutung
bloßer Zweige behalten: dieß iſt die andere Seite, wodurch neben dem
[179] tieferen Rechte der Dreitheilung des Ganzen die Fünftheilung ihr relatives
Recht erhält. Ueber dieſen Punct hat ſich ſchon die Anm. zu §. 538 aus-
geſprochen. Der Grund der ſchärferen Scheidung liegt zunächſt, wie ebenda
gezeigt iſt, im Unterſchiede des Materials, was nach der Auseinander-
ſetzung §. 534 nicht mehr ſo verſtanden werden kann, als ſtoße dieſes
dem Künſtler von außen auf, ſondern er wählt ein anderes, weil er
anders anſchaut, das Material hat alſo ſeine Geltung nur zuſammengefaßt
mit der Art der Phantaſie, nur als bedingt und ergriffen durch dieſe. Dieß
iſt nun aber näher zu beſtimmen. Wirft man nämlich einen Blick voraus
auf die Poeſie und ihre Zweige, ſo unterſcheiden ſich dieſe nicht durch
das Material, hier richtiger Vehikel, ſondern es iſt ein Unterſchied der
Stellung des Subjects zum darzuſtellenden Objecte (der Welt), was ſie
begründet; ebendarum iſt ihre Trennung nicht ſo ſcharf, daß ſie ver-
ſchiedene Künſte genannt werden könnten. Genauer betrachtet aber ſcheint
es ſich mit den Unterſchieden der bildenden Kunſt auch ſo zu verhalten, daß
nicht das Material, ſondern nur die Anſchauung des Künſtlers gewechſelt
wird: die Plaſtik verarbeitet ſchweres, hartes Material, wie die Baukunſt,
die Malerei hat es mit erdigen, harzigen und andern Stoffen zu thun,
die ſie zerreibt und als Farbe auf einer Fläche ausbreitet; alſo überall
das Feſte, Körperliche, wie in der Poeſie überall die flüſſige Sprache
und (als eigentliches Material) die Phantaſie des Zuhörers. Allein das
Weſentliche iſt dieß, daß die Behandlung in jedem Hauptzweige der
bildenden Kunſt eine ſo verſchiedene iſt, als wäre das Material wirklich
ein anderes. Was die Malerei betrifft, ſo vergißt man bei ihrem Werke,
wie die Wand, die Tafel, Leinwand, ſo auch die Farbſtoffe über dem
Bilde, das in das Auge geworfen wird; was Baukunſt und Plaſtik be-
trifft, ſo wirkt in jener die körperliche Grundeigenſchaft des Stoffs, Schwere
und Härte, eben im äſthetiſchen Eindruck als weſentlich geltend, wogegen
ſie in dieſer unter der warmen, weichen, runden Form, die als Nachbildung
der Oberfläche einer organiſchen Geſtalt dem Material übergezogen iſt, nur
noch verdeckt mitwiegt. Und nun allerdings kommt auch in Betracht, daß
in den beiden letztern Künſten das Material doch nicht ganz daſſelbe iſt,
indem gewiſſe Steinarten, Bronce u. ſ. w. von der einen nicht ebenſo
wie von der andern verwandt werden können. Geht man nun von da
wieder zurück in das Innere als urſprünglichen Grund des Unterſchieds,
ſo zeigt ſich, daß ſich die Sache auch hier anders verhält, als in der
Dichtkunſt: die Arten der Phantaſie, welche den Unterſchied der Zweige
(Künſte) in der bildenden Kunſt begründen, ruhen unbeſchadet der tiefen
Analogie auf einem andern Eintheilungsgrunde, als die Arten, welche
den Unterſchied der Zweige der Dichtkunſt beſtimmen. Letztere beruhen, wie
oben geſagt iſt, auf verſchiedenen Stellungen des Subjects zum Object:
[180] das Object iſt jedesmal daſſelbe, nämlich die Welt in allen ihren Er-
ſcheinungen, aber es wird anders geſpiegelt und mit dieſer verſchiedenen
Art der Spiegelung hängt zwar auch ein Unterſchied ihres Umfangs
zuſammen, aber nur abgeleiteter Weiſe und minder tief einſchneidend; jene
dagegen nehmen ſich jede ein anderes Object, genauer ausgedrückt, das
Object (die Welt) in einem andern Umfang ihrer Erſcheinungen zum
Gegenſtand und zwar ſo, daß dieſer Unterſchied des Umfangs hier ganz
weſentlich entſcheidend iſt: die eine hat es mit Grund-Verhältniſſen der
unorganiſchen Natur, die andere mit dem organiſchen Leib, die dritte erſt
mit Allem, was überhaupt ſichtbar erſcheinen kann, zu thun. Hiemit erſt
iſt es klar geworden, warum hier verſchiedene Künſte, dort nur Zweige
entſtehen; denn daß ungleich ſelbſtändigere Gebiete auftreten müſſen, wo
die einzelnen Kunſtweiſen im Umfang ihrer Stoffe ſo grundverſchieden
ſind, als da, wo die verſchiedene Art der ſubjectiven Aneignung und
Wieder-Entlaſſung aus dem Innern bei geringerer Differenz der Aus-
dehnung auf die Welt der Erſcheinungen den weſentlichen Unterſchied
bildet, dieß leuchtet ſchon vor der Durchwanderung des Syſtems der
Künſte ein. — Der tiefere Grund nun der Eintheilung in dieſem, wie in
den andern Hauptgebieten der Kunſt, liegt (vergl. §. 538) darin, daß
daſſelbe Prinzip, welches das ganze Syſtem und dann die Hauptformen
der Kunſt gliedert, innerhalb der letzteren ſich wiederholt. Eben hier bei
dem Eintritt in die bildenden Künſte erweist ſich die innere Nothwendig-
keit dieſes Geſetzes und ſeiner Wiederkehr durch einen Begriff, der als
Begriff des Stützpuncts und Widerlagers bezeichnet werden kann. Wie
die Natur unſeres Planeten nicht im erſten Anſatz unſere jetzige organiſche
Welt ſchaffen konnte, ſondern zuerſt die großen Maſſen hinwarf als unter-
gebreiteten Boden, als feſtes und grobes Lager, wogegen das organiſch
Lebendige geſtemmt ſich zur freien Bewegung abſtößt, als Sammel- und
Nahrungsſtätte, ſo muß die Kunſt einen erſten Wurf thun, der ſich zu
allen weiteren Schritten als feſter Boden, maſſige Unterlage, Stützpunkt,
Hintergrund, von dem ſie ſich abheben, um zu wirken, als Vereinigungs-
ſtätte verhält: die elementare Vorausſetzung, die urſprüngliche Theſis.
Alle dieſe Begriffe, wie ſie ſich in dem der Objectivität im ſtrengſten
Sinne vereinigen, werden ihre Ausführung finden. Da das ſubjectiv
Belebte weſentlich das Individuelle iſt, ſo fällt hier der Begriff der
Objectivität mit dem der Allgemeinheit zuſammen. Die Baukunſt iſt die
erſte Beſitzergreifung der objectiven Welt für die Kunſt, ſie zieht nur die
erſten, abſtracten Linien durch die Stoffwelt. Daß die erſte Kunſtform,
die nun vor uns liegt, durch dieſe Auffaſſung, wonach ſie allerdings ſogleich
über ſich hinausweist, ebenſoſehr in ihrer Kraft, Selbſtändigkeit und bleibenden
Bedeutung anerkannt iſt, bedarf nach §. 533, 2. keiner weiteren Nachweiſung.
[181]
Dieſe Objectivität tritt zunächſt auf in der Form der ſtreng realen Be-
dingtheit des Zwechmäßigen, dem das Handwerk dient. Von dieſem
Boden nimmt die Kunſt den Ausgang (vergl. §. 546), indem ſie das aus
ſchwerem Material in geometriſchen Linien nach ſtatiſchen Geſetzen aufgerichtete
Gebilde, das dem Menſchen zur ſchützenden Umſchließung dient, zur ſchönen
Form erhebt, wobei das nur abſtracte, d. h. meſſende Sehen (§. 404) die
beſtimmende Art der Phantaſie iſt: die Baukunſt.
Wir nehmen unſern Ausgang vom Gebiete der blos äußerlichen
Zweckmäßigkeit und haben in dem Bauen als Werk der Nothdurft aller-
dings ſchon die Theilung in ein Inneres, einen leeren Raum, deſſen
Erfüllung anderswoher gegeben wird und den die Baukunſt nur zu
umſchließen hat. An dieſen Punct hängt ſich ſogleich die Frage nach dem
Anfang. Hegel beginnt mit der ſelbſtändigen, (im engeren Sinne)
ſymboliſchen Baukunſt, weil er mit der getheilten, die nur Mittel für einen
anderswoher gegebenen Zweck, nur die Hülle für ein Inneres iſt, das
nicht ſie ſelbſt geſchaffen, nicht anfangen zu können glaubt, für den Anfang
vielmehr ein Unmittelbares, noch Ungetheiltes fordert (Aeſth. Th. II. S. 268).
Allein es gibt kein wiſſenſchaftliches Geſetz, das verhindert, den Anfang
hier gegeben ſein zu laſſen durch ein zunächſt-Außeräſthetiſches, das freilich
eine Theilung (in Zweck und Mittel, Inneres und Aeußeres) enthält,
aber gegenüber dem Aeſthetiſchen doch als dieſes Ganze noch durchaus
einfach und elementariſch iſt im Sinn eines gegebenen rohen Nothwerks,
objectiv in der gemeinen Bedeutung des empiriſch real Bedingten; der
Fortſchritt beſteht dann in geiſtiger Erhöhung dieſes Ganzen auf beiden
Seiten ſeiner Diremtion, indem mit dem ideal gewordenen Zweck auch
das Mittel (eben das Bauen) zur ſchönen Form fortſchreitet. Die
ſelbſtändige, ſymboliſche Form gehört in die Geſchichte dieſer Kunſt, nicht
in die Lehre von ihrem Weſen; ein großer Theil deſſen, was unter dieſer
Kategorie aufgeführt iſt, war zudem nicht eigentlich ſelbſtändiges, ſondern
umſchließendes Bauwerk, nur daß das Innere in einem Mißverhältniß
zu der architektoniſchen Umhüllung ſtand: die terraſſenförmig pyramidaliſchen
Bauten Babyloniens, der Belusthurm ſelbſt, trugen einen Tempel, wie
die mexikaniſchen Teocalli, nur daß der ungeheure, wiewohl ſelbſt theil-
weis hohle Unterbau allerdings nebenher ein Streben ausdrückt, durch die
Architektur an ſich ſchon zu ſprechen; die Pyramiden haben als Gräber-
bauten ein Inneres, nur in demſelben Mißverhältniß, die Labyrinthe waren
allerdings ſymboliſch, aber doch zugleich Umſchließung von Gräbern, die
ſieben ſymboliſch verſchieden gefärbten Ringmauern von Ekbatana waren
[182] doch ſchützende Umgebung einer Stadt; die Obelisken ſind keine Bauten.
Die Rieſengeſtalten der Memnonen, Sphinxe u. ſ. w. ſind allerdings
Werke zwiſchen Architektur und Sculptur ſchwankend, gehören aber doch
mehr der letztern an und keinesfalls in die Begriffs-Entwicklung der
erſtern. Wenn wir dagegen die Baukunſt ſogleich bei ihrem eigent-
lichen Weſen faſſen, wonach ſie Umſchließung eines Innern, unſelbſtändig,
dienend iſt, wenn wir ſie in dieſer Beſtimmtheit herübernehmen aus dem
Gebiete des äußerlich Zweckmäßigen, um weiterhin zu zeigen, daß auch
die Erhebung in das Gebiet des Kunſtſchönen daran nichts verändert,
ſo verſteht ſich, daß wir darum nicht meinen, die äſthetiſche Form ſei
entſtanden aus Nachahmung der erſten, rohen Wohnungen. Nur die
allgemeinſten ſtructiven Verhältniſſe und Geſetze haben ſich an dem erſten
Bau-Bedürfniß und ſeiner allmähligen Steigerung entwickelt; nachher eilt
der monumentale Kunſtbau voran und zieht die blos nützliche Baukunſt
nach ſich zu ſeinen äſthetiſchen Formen empor: das Verhältniß kehrt ſich
um (vergl. §. 514). Was wir nun an dieſem, aus der niedrigeren
Sphäre herübergenommenen Anfange bereits haben, iſt dieß: aus ſchwerem
Material wird handwerksmäßig (mechaniſch) aufgeführt ein umſchließendes
Feſtes, wobei das Material keine andere Durchbildung vom Geiſte in ſich
aufnehmen kann, als eine, zugleich an ſtatiſche Bedingungen geknüpfte,
geometriſche. Eine andere Sprache kann dem Stoffe noch nicht entlockt
werden, als die der abſtracten Linie, wie ſie den Umriß der im Raume
ſich ausdehnenden Maſſen beſchreibt. Aeſthetiſch ſprechend kann das Reich
der abſtracten Linien in dem Gebiete der niedern Baukunſt noch nicht
genannt werden; ob und was ſie Tieferes zu ſprechen vermögen im Reich
der höhern Baukunſt und deſſen Rückwirkung auf die niedere, wird ſich
zeigen. Unter den Arten der Phantaſie iſt nun diejenige in Thätigkeit,
die auf das meſſende Sehen ſich gründet; dieſe Organiſation iſt das
ſubjective Medium, in welchem die erſte, primitive, am ſtrengſten objective
Kunſtform ſich verwirklicht. Die ſo beſchaffene Phantaſie wird die Dinge
unter dem Standpuncte anſehen, daß ſie ihre quantitativen Verhältniſſe
auffaßt; auch die organiſche Geſtalt wird ſie in dem Sinne zerſetzend
anſchauen, daß ſie hinter dem warm Belebten und Individuellen die ſich
hindurchziehenden ſtrengen Grundmaaße herausgreift. Was ſie mit dem
ſo geſammelten Anſchauungs-Vorrathe innerlich bildend beginnt, ſollen
wir erſt ergründen, denn eigentlich haben wir ja dieß meſſendes Sehen noch
nicht als äſthetiſches vor uns; ehe es ſich dahin erhebt, iſt der weſentliche
Punct, jene Diremtion, die aller Baukunſt zu Grunde liegt, erſt beſtimmter
in’s Auge zu faſſen.
[183]
Auf allen Stufen dieſer Erhebung bleibt die Baukunſt in dem doppelten1.
Sinn unſelbſtändig, daß ſie in ihrer Aufgabe einem gegebenen Zwecke dient,
ein Inneres, deſſen Erfüllung von anderer Seite erfolgt, nur umſchließt und in
ihrer Ausführung von den auf dem Geſetze der Schwere beruhenden ſtructiven
Bedingungen abhängt. Der Zweck an ſich fordert ſtrenges Durchdenken, in
ſeiner Vereinigung mit dem ſtructiv Nothwendigen exacte Kenntniſſe. Keine
andere Kunſt hängt ſo innig mit der Wiſſenſchaft (§. 516) zuſammen und
trägt ſo beſtimmt den Charakter der Verſtändigkeit. Die auf ſolcher Grund-2.
lage vom Meiſter entworfene Form des Ganzen wird als geometriſch abſtractes
Schema (Riß) dem Materiale vom Handwerker mechaniſch aufgezwungen: das
Ganze der künſtleriſchen Technik (vergl. §. 518) zerfällt in Erfindung und
Ausführung.
1. Man wirft gewöhnlich das Zweckdienende und das Conſtructive
in der Baukunſt ununterſchieden auf die eine Seite (das Decorative,
wovon hier noch nicht die Rede iſt, auf die andere). Allein es iſt wohl
zu unterſcheiden zwiſchen dem gegebenen Zweck und dem ſtructiv Noth-
wendigen. Jener fordert allerdings eine beſtimmte Einrichtung des Baus,
allein die Abhängigkeit von Boden, Material und vom Geſetze der Schwere
überhaupt iſt noch ein zweites Moment, von dem der Architekt überdieß
abhängig iſt, ſo daß er ſich nach zwei Seiten gebunden ſieht. So einfach
dieſe Unterſcheidung iſt, ſo muß ſie doch wohl in’s Auge gefaßt werden,
denn wir werden bald ſehen, daß bei der Frage, wie dieſe Abhängigkeiten
zu äſthetiſchen Motiven werden, nothwendig beide Seiten beſonders zu
betrachten ſind. Schon der Bauzweck nun, die architektoniſche Aufgabe,
fordert tiefes und ſtrenges Denken: ſie enthält viele beſondere Momente,
Räume für verſchiedene Zwecke, von verſchiedenem Umfang, Bequemlichkeit,
Schutz gegen die Elemente u. ſ. w. Dieß Denken hat ſeine beſondere
Schwierigkeit und fordert ein beſonderes Talent: es ſollen alle Räume
nach den verſchiedenen Standpuncten des Grundriſſes, Aufriſſes und
Durchſchnittes in Einklang gebracht werden und dieß verwickelt ſich noch
mehr, wenn mehrere Stockwerke geboten ſind, deren jedes andere Dis-
poſition hat. Dieß Talent iſt allerdings zunächſt eben ein unmittelbares,
angeborenes, ein inneres Schauen, ohne welches auch z. B. der Chirurg
niemals über das Nothdürftigſte ſich erhebt, denn er muß jenen beſondern
plaſtiſchen Sinn haben, innerlich raſch zu ſchauen, wie die Organe im
Körper hintereinander liegen und was Alles, wenn das Meſſer von dieſer
oder jener Seite eindringt, berührt wird; kurz es bedarf Phantaſie ſelbſt
zum untergeordneten Bauen, eben jenes meſſende Sehen, das wir als das
[184] in dieſem Gebiete thätige Organ hervorgeſtellt haben; nur daß wir dieſe
Gabe zunächſt nicht in dem reinäſthetiſchen Sinne des Genie nach §. 411 ff.,
ſondern in dem beſchränkten von §. 415, 1. nehmen. Auf den erſten
Wurf der Erfindung ſoll aber ſofort ein diſcurſives Durchdenken folgen
und hier tritt denn zu der Erwägung des Bauzwecks, der geſtellten
Aufgabe, die weitere Ueberlegung, wie das als zweckmäßig Erdachte mit den
Geſetzen der Materie zu vereinigen ſei, wozu die Kenntniß der Geometrie,
Statik, Mechanik, die Lehre von den Bauſtoffen erfordert wird. Keine
andere Kunſt ruht ſo ſtreng auf der Wiſſenſchaft. Nüchternheit und eine
gewiſſe Kälte erſcheint daher von dieſer Seite zunächſt als der Charakter
der Baukunſt; die Klarheit, die wir in §. 551 von dem bildenden Künſtler
ausgeſagt haben, wird dem Architekten in beſonders beſtimmtem Sinn
eigen ſein.
2. Wir haben die künſtleriſche Technik zu §. 518, 2. eine beſeelte
genannt, die Phantaſie ſoll in den Nerv, in die Finger übergehen, eine
höhere Einheit von Genius und Handwerk iſt gefordert. Nun muß der
Architekt zwar auch das Mechaniſche erlernt haben und der mechaniſche
Arbeiter ſich zu einer gewiſſen Feinheit in der letzten Ueberarbeitung aus-
bilden, aber doch fallen Erfindung und Ausführung in keiner Kunſt ſo
auseinander, wie in dieſer, ſelbſt in der Tonkunſt nicht, wo die Ausführung
ganz andere, als blos mechaniſche, wiewohl nur reproductive Fähigkeit
erfordert. Der einmal erfundene Plan iſt ein rein gemeſſener und meß-
barer Niederſchlag des innern Bildes und bedarf zu ſeiner Aus-
führung nur des Mechanikers, dem er als Riß übergeben wird. Es
ſtellt ſich zwar ein Dritter zwiſchen den Erfinder und den Handwerker:
der Bauführer, aber dieſer ſtellt nicht eine vereinigende Mitte der Erfindung
und Ausführung, ſondern nur die leitende Seite der letzteren dar. Der
Erfinder ſelbſt wird etwa wieder dieſen beaufſichtigen, aber nicht in ſeiner
Eigenſchaft als ſolcher, und in den rauhen Kampf mit dem Materiale
wird er ſich um ſo weniger einlaſſen, weil er Beſſeres zu thun hat, als
in der Mitte der Arbeiter, deren es hier nothwendig viele ſind, ſich
phyſiſch abzumühen.
Es ſteigert ſich aber der Zweck in das geiſtig Unbedingte durch die
verſchiedenen Bedeutungen der Perſönlichkeit, für welche das Bauwerk beſtimmt
iſt: die frei genießende Einzelperſon, die Geſammtperſon, die abgeſchiedene
Perſon, die abſolute Perſon. Die Aufgabe nun, dieſes ideale Innere in den
Formen ſeiner umſchließenden Hülle würdig auszudrücken, verwandelt die erſte
Seite der Abhängigkeit (§. 555, 1.) in freien Dienſt: die Phantaſie als das
[185] Organ der Schöpfung der rein entſprechenden Form für die Idee tritt in
Thätigkeit und erfindet ein Werk, in welchem das vom Zwecke der bloßen
Umſchließung Bedingte zum idealen Ueberfluſſe des Schönen ſich erweitert.
Wir haben eine Stufenleiter vor uns, die im Abſchnitte von den
Zweigen der Baukunſt ausführlicher vorzunehmen iſt: Palaſt (für den
einzelnen Reichen), politiſcher Bau (namentlich Verſammlungs-Gebäude für
politiſche Körper), Grabmonument, Tempel. Die Diremtion iſt auf der letzten,
höchſten Stufe noch da, der Bauzweck iſt gegeben, allein er ſelbſt iſt ideal, iſt
abſolut, iſt Selbſtzweck; für ein abſolutes Inneres ſtellt die Architektur eine
Hülle her, die ſeiner würdig ſein ſoll. Die Stufenleiter der Hebung des
perſönlichen Weſens, dem die Baukunſt ſeine Wohnung bereiten ſoll, iſt
in logiſcher, nicht hiſtoriſcher Folge gegeben. Die höhere Baukunſt beginnt
geſchichtlich mit Grabmal und Tempel, ſtellt dann dem Gemeinweſen
würdige Stätten des Rathes und anderweitiger Vereinigung her und erſt
zuletzt geht die öffentliche Pracht zurück zu dem Leben des Einzelnen, um
ihm ſeinen Wohnſitz zu ſchmücken. Wenn wir nach der Stufenfolge
innerer Begriffs-Erweiterung den Palaſt voranſtellen, ſo haben wir den
edeln Luxus im Auge, der in den Formen der Wohnung es ausdrückt,
daß hier eine Perſönlichkeit weilt, welche der Nothdurft des Lebens ent-
rückt im reinen Aether der Bildung dem Genuße des Schönen lebt. Man
muß dabei vergeſſen, zu welcher Ironie ſich dieß vielfach in der Wirklich-
keit verkehrt, und nur die wahre Beſtimmung im Auge behalten, nach
welcher hier das Nöthige des gemeinen Bauens ſich in das Angenehme,
von da in das Edle und Würdige ſteigert. Die Bauten für die ver-
ſammelte politiſche Gemeinde, das Gericht, die höhere Schule u. ſ. w.
ſtehen aber um ſo viel höher, als die wahre Perſönlichkeit nicht die
einzelne, ſondern die Geſammtperſon iſt (§. 20). Wirklich fallen hier
manche Einrichtungen gemeiner Nützlichkeit, welche der Palaſt des
Einzelnen noch nicht entbehren kann, bereits weg, wiewohl neben
den Haupträumen, wo die höchſte Würde ſich concentriren muß,
untergeordnete Localitäten (Archive u. ſ. w.) mehr äußerlichen Zwecken
dienen. Der Uebergang zu der Todtenbehauſung begründet ſich einfach
darauf, daß die großen Male den abgeſchiedenen Geiſtern hervorragen-
der Menſchen gehören, die im Leben bedeutend geweſen ſind für das
Gemeinweſen. Ihr geiſtiges, dem Gemeinen entrücktes Fortleben
verſtanden die alten Völker als ein empiriſches, ihre Todtenmale waren
Wohnungen; aber ſie erhoben ſich zugleich über dieß Mißverſtändniß,
indem ſie über dem kleinen Todtengemach jene gewaltigen Erhebun-
gen aufführten, welche weithin in die Lande den Ruhm, die geiſtige
Unſterblichkeit des Abgeſchiedenen verkündigten. Der große Todte und
[186] der Gott ſind im Glauben der Völker vielfach ineinander übergegangen;
die Idee der Rückkehr in das Allgemeine und das Aufbewahrtſein im
Weltengeiſte wurde mythiſch zu einem Schwanken zwiſchen der Vorſtellung
von einem Todten und einem Gott. Die Geſchichte der Baukunſt wird
die merkwürdigſten Belege für dieſen Uebergang zwiſchen Grabmal und
Tempel geben; übrigens erinnere man ſich zunächſt an die wirkliche Ver-
ehrung hingeſchiedener Menſchen im Heroon, in der Heiligenkapelle. Im
Tempel nun aber iſt der Bauzweck erſt wirklich und ganz zum abſoluten
geworden, die Architektur hat die Aufgabe erhalten, das abſolute Haus
herzuſtellen. Der Gott wohnt, aber ohne Bedürfniſſe; ob es der Gott
des Polytheiſmus iſt, dem die Sculptur ſeine Geſtalt gibt, oder der Gott
des Monotheiſmus, der nur in der Andacht der in ſeinem Hauſe ver-
ſammelten Gemeinde gegenwärtig iſt, macht hier vorerſt keinen Unterſchied,
denn die vermehrten Cultus-Bedürfniſſe des Innenbau’s für den Gemeinde-
cultus ſind auch nur einzelne Beziehungen in einem Abſoluten, das der
Sphäre des Zwecks enthoben iſt. Die Aufgabe nun, jenes Höhere im
Palaſt, im Gebäude für öffentliche Zwecke, im Todtenmal und dieſes
Höchſte im Hauſe der Gottheit auszudrücken, befreit die Architektur zwar
nicht von der Theilung, die ihr Weſen ausmacht, ruft ſie aber auf zum
freien Dienſte und entzündet die Phantaſie im vollen Sinne des Worts,
denn dieſe iſt ja nichts Anderes, als das Organ, durch welches die reine
Form als abſolut entſprechende Erſcheinung der Idee ſich verwirklicht.
Von einer Umſchließung im bloßen Sinne der Zweckmäßigkeit kann es
ſich jetzt nicht mehr handeln; die Säulenhallen des griechiſchen Tempels,
die hohen Gewölbe der Kirche des Mittelalters ſind (von dem Ornamente
noch ganz zu ſchweigen) gegenüber jenem nächſten Zwecke ein reiner Ueber-
fluß. An dieſem Punct angekommen können wir nun die Begriffs-
Schwierigkeiten, welche die getheilte Natur der Baukunſt mit ſich bringt,
klar erkennen und löſen. Der Eine ſagt, die ſchöne Baukunſt beginne,
wo die Beziehung der Zweckmäßigkeit aufhöre, der Andere ſetzt das Schöne
an ihr gerade in die erfüllte Zweckmäßigkeit und in der Durchführung
ihres Werks ſtellt er die Oekonomie als das höchſte, das äſthetiſche Geſetz
auf. Beide haben Recht, wenn man richtig unterſcheidet. Zweckmäßigkeit
bedeutet nämlich: erſtens die Beziehung auf einen Zweck der Nothdurft
und der bloßen Bequemlichkeit; dieſe Beziehung haben wir hinter uns
und das Wort in dieſer Bedeutung genommen hat der Erſte Recht;
zweitens die Beziehung zu einer von auswärts geſtellten Aufgabe
überhaupt, mag ſie auch an ſich eine ideale ſein, wie wir denn
jetzt eine ſolche in der Aufgabe der Verherrlichung des höchſten Geiſtes
als des die Räume erfüllenden Inhalts vor uns haben. Faßt man nun
auch bei der idealen Aufgabe das in’s Auge, daß der Dienſt hier zwar
[187] ein freier wird, aber doch Dienſt bleibt, ſo kann man eben das Werk,
das dieſer Aufgabe völlig genügt, in der Würdigkeit dieſes Genügens
ſelbſt ein zweckmäßiges nennen; ſo hat alſo der zweite Satz Recht. Man
kann bei andern Künſten, wenn auch das Werk ein beſtelltes iſt, daſſelbe
nicht ebenſo ein zweckmäßiges nennen, weil der Künſtler hier immer das
Ganze aus ſich ſchafft, nicht einen hohlen Raum im Kerne läßt, den nun
ein Anderes (Götterbild, Gottesdienſt) einzunehmen hätte. Drittens kann
aber Zweckmäßigkeit auch die zweite Seite der Abhängigkeit, die wir nun
beſonders in das Auge faſſen werden, nämlich die ſtructive Vollkommen-
heit bezeichnen, und da hat wieder der Zweite Recht, ſofern er in dieſer
Vollkommenheit weſentlich auch die überflüſſigen Theile (Säulenhalle u. ſ. f.)
mitbefaßt; verſteht er aber ſeinen Satz ſo, daß er den äſthetiſchen Ueber-
fluß ausſchließt, ſo iſt er falſch.
Dieſer innere Schwung der Phantaſie, der das Gebäude zur Schönheit1.
erheben ſoll, kann ſich nicht anders äußern, als dadurch, daß er die zweite
Seite der Abhängigkeit (§. 555, 1.) ſelbſt in ein äſthetiſches Motiv verwandelt:
die Schwere darf kein drückendes Geſetz mehr ſein, ſondern muß innerhalb ihrer
ſelbſt ſo überwunden werden, daß ſie in einer reinen und ſatten Wechſelwirkung
ſich auslebend fähig wird, ein Unendliches auszudrücken; eine Umbildung, welche
der Grenze des Stoffes, der Linie, den Schein der Bewegung gibt und als
Rhythmus der Verhältniſſe das Ganze durchdringt. Die großen Wand-2.
lungen der Art dieſer Belebung des Starren und Schweren ſind demgemäß
nicht blos ſtructive Ergebniſſe, ſondern ebenſoſehr Schöpfung der Phantaſie. Dem3.
idealen Ueberfluſſe des Schönen aber (§. 556) wird dieſelbe namentlich in der
Entwicklung eines beſondern Momentes Raum geben, das ſtructiv nicht noth-
wendig fungirt, ſondern jene Wechſelwirkung frei äſthetiſch charakteriſirt und in
einen rein anhängenden Schmuck ausläuft.
1. Streng genommen müßten wir nun zuerſt von der Erzeugung
des innern Bildes der architektoniſchen Phantaſie ſprechen und unter-
ſuchen, welches denn das Reich der Formen ſei, das ihm als Stoff zu
Grunde liegt; denn es mußte ja, was die auf das meſſende Sehen
geſtellte Phantaſie betrifft, eine Lücke gelaſſen werden im zweiten Abſchnitte
des II. Theils, vergl. S. 380, wo von dem dunkeln Verhältniſſe dieſer
Art der Phantaſie zum Naturſchönen als einem ſpäter zu erforſchenden
die Rede iſt. Näher wäre die erſte Frage dieſe: was drückt die Baukunſt
aus? Die zweite: welche Formen ſucht die Phantaſie dafür? und erſt die
dritte: wie legt ſie das ſo erzeugte innere Bild ſtructiv im Materiale
[188] nieder? Allein wir befinden uns in der Lehre von einer ſehr ſchwierigen
Kunſt, deren geiſtige Geheimniſſe nicht erörtert werden können, ehe ein
allgemeines Bild des äußeren Werkes gegeben iſt, das ſie hinſtellt. Es
iſt daher zweckmäßiger, hier von außen nach innen zu gehen und zunächſt
die zweite Seite der Abhängigkeit (§. 555, 1.), die ſtructive, aufzufaſſen.
Es muß dem Geſetze der Schwere Genüge geſchehen. Aber eben dieſe
Bindung ſoll in ein äſthetiſches Motiv verwandelt werden, denn es wäre
nicht abzuſehen, wie die Architektur zur ſchönen Kunſt ſich erheben ſollte,
wenn gerade das Geſetz des Gebietes, worin ſie ſich bewegt, ihr nichts
wäre, als eine Schwierigkeit. Vielmehr die künſtleriſche Begeiſterung muß
ſich weſentlich auf dieſen Punct werfen und gerade in das Gebiet der
Schwere ſelbſt die Poeſie einführen. Nun verſteht ſich, daß dieſe Idea-
liſirung der Schwere nicht wirklich eine Aufhebung derſelben ſein kann,
denn dieſe iſt unabänderliches Geſetz und jede Uebertretung beſtraft ſich
einfach mit Einfall und Zerbrechen, aber auch nicht ſcheinbar, denn des
Grundgeſetzes ſpotten, in deſſen Gebiet ich eben meine äſthetiſchen Wirkungen
ſuche, iſt abſurd und wird im Anblick unerträglich: man denke an ſchiefe
Thürme, Schwebendes, das ſcheinbar keine Stütze hat. Es liegt hier
ein ſchwieriger Punct, denn in gewiſſem Sinne kann man wohl ſagen,
daß das, was wir Ueberwindung der Schwere innerhalb ihrer ſelbſt
nennen, eine ſcheinbare Aufhebung derſelben ſei: wenn man nämlich unter
Schein nicht die gemeine Täuſchung, ſondern den äſthetiſchen, reinen
Schein verſteht. Gemeine Täuſchung iſt, wenn uns der Baumeiſter etwas
hinſtellt, worin die Unterſtützung des Schwerpuncts ſo verborgen iſt, daß
wir meinen ſollen, es ſei durch eine Wunderkraft vom Falle zurückgehal-
ten, was aber vielmehr den Eindruck hervorbringt, als wolle es in jedem
Momente ſo eben fallen; reiner, äſthetiſcher Schein iſt, wenn bei ſichtbar
genügender Unterſtützung der Laſt dieſe von dem unterſtützten Puncte aus,
als hätte ſie nun eine gewiſſe Freiheit erhalten, ſich wie in eigener Be-
wegung weiter zu ſchwingen ſcheint, doch ſo, daß, wenn eben dieſer Schein
zur beunruhigend gemeinen Täuſchung werden könnte, alsbald wieder
ſichtbar genügende Unterſtützung eintritt. Man ſieht, daß hier zunächſt
namentlich von Säule und architraviſch oder in Wölbung übergeſpannter
Laſt als dem Haupt-Ausdrucke des äſthetiſchen Lebens im Bauwerke die
Rede iſt. Auch nicht „theilweiſe“ wird (vergl. Deutinger, d. Gebiet
d. Kunſt im Allg. S. 170) hier die Schwere wirklich aufgehoben, denn
der zunächſt frei ſchwebende Theil iſt durch die mittelbare Unterſtützung in
Wahrheit doch ganz unterſtützt. Jener freie äſthetiſche Schein einer Be-
ſiegung der Schwere, von dem es ſich allein handelt, iſt übrigens zugleich
der Schein einer Beſiegung der natürlichen Cohärenz des Stoffes, denn
das ſchwere Material iſt zugleich zerbrechlich und wie die Neigung zum
[189] Falle erſcheint zugleich die Zerbrechlichkeit überwunden. Dieſer Schein
erſtreckt ſich nun aber auch auf die Stütze: wie die Laſt ſich nach ihr zu
ſehnen ſcheint, um vom freien Gang und Schwung auf ihr auszuruhen
und ſich auf’s Neue fortzubewegen, ſo wird die künſtleriſche Phantaſie
auch ſie ſelbſt beflügeln, daß ſie der Laſt entgegenzuſteigen und im
Zuſammenſtoß mit ihr beruhigt ihr Leben zu ſchließen oder, wie man es
faſſen will, in die Laſt übergefloſſen in’s Breite zu verhauchen ſcheint.
Dieſe Bewegung, die Bötticher (Tektonik der Hellenen) uneigentlich,
aber ſchön eine Entwicklung des im Stoffe latenten Lebens nennt und die
ſich allerdings namentlich in der Raum-öffnenden Stütze und der ſcheinbar
ſchwebenden Laſt anſammelt, wird ſich aber über das Ganze erſtrecken;
die Haupt-Maſſen werden einander entgegenzuſteigen und entgegenzuſin-
ken, dann ſich in Knotenpunkten anzuſammeln, in das Breite auseinander-
zugehen und wieder in die Einheit zuſammenzufließen ſcheinen. Die
Schluß-Empfindung wird ſo die einer durch dieſe allgemeine Wechſelwirkung
völlig geſättigten, zum Abſchluß, zur Ruhe gekommenen Schwere ſein, eines
leichten Kriegs der Kräfte, der mit einem vollen Frieden ſchließt. Dieſer
Prozeß iſt nun zunächſt ein ſolcher, der ſich dem in den Geſichtsſinn ein-
gehüllten Wägen zu fühlen gibt, aber ebenſoſehr dem meſſenden Sehen
als ſolchem: es iſt eine Linie-Schönheit, die Linien ſind aber nur die
äußeren Grenzen der Maſſen; indem nun die Maſſen ſich zu bewegen
ſcheinen, ſcheinen auch die Linien ſich zu fliehen und zu finden, das Be-
wegungsloſe und Stumme (§. 555) erwacht zum Leben, die Bahn des
an den Linien hinlaufenden Blicks ſcheint zu einer Bahn zu werden,
welche die Linien ſelbſt durchlaufen. Das Wägen und Meſſen, das im
äſthetiſchen Eindrucke verhüllt, in der techniſchen Aufnahme ausdrücklich
vorgenommen wird, iſt nun, da die Erſtreckungen auf Zahlen ſich zurück-
führen, zugleich ein Zählen, ebenfalls dort ein verhülltes, hier ein aus-
drückliches. Die Zahl iſt ein Verhältnißbegriff und ſo erhellt überhaupt,
daß das Aeſthetiſche dieſes Ganzen ein Wohlverhältniß iſt: wir nennen es
vorerſt ohne weitere Erklärung einen Rhythmus der Verhältniſſe. Hier
liegt denn die eigentliche Schwierigkeit in der Erforſchung des äſthetiſchen
Geheimniſſes der Baukunſt. Wir werden außer ihr nur noch Eine Kunſt
treffen, deren Schönheit in bloßen Verhältniſſen ruht: die Muſik.
Fr. Schlegel hat tief und geiſtreich die Baukunſt eine gefrorne Muſik
genannt. Wir werden auf dieſes Wort zurückkommen, den Widerſpruch
aber gegen frühere Aufſtellungen über die äſthetiſche Unzulänglichkeit
abſtract meßbarer Verhältniſſe, der ſich hier zu ergeben ſcheint, da in’s
Auge faſſen, wo näher von den Formen die Rede ſein wird, welche die
architektoniſche Phantaſie für ihre Aufgabe ſucht.
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 13
[190]
2. Verſchiedene Bedingungen, die theils im Klima, theils im Cultus-
bedürfniſſe und in beſtimmten praktiſchen Zwecken liegen, führen gewiſſe
ſtructive Nothwendigkeiten mit ſich, die zunächſt rein äußerlich und mecha-
niſch gegeben ſind und die großen Fortſchritte der Technik bedingen. Es
handelt ſich hier, wie die Geſchichte der Baukunſt zeigen wird, namentlich
von dem für den Charakter des Bauſtyls entſcheidenden Theil, der Decke.
Die häufigeren und ſtärkeren Regen in Griechenland forderten das giebel-
förmige Dach, das dem ägyptiſchen Bau fehlte. Der Rundbogen wurde
nöthig, wenn man einen größeren innern Raum überſpannen wollte, der
Spitzbogen, wenn man den ſtarken Seitenſchub des Rundbogens vermeiden
und zugleich, wie Bötticher in dem trefflichen Excurs ſeiner Epoche-machen-
den Schrift über die Tektonik der Hellenen: „Die Entwicklung der freien
Glieder des Baus“ u. ſ. w. gezeigt hat, bei ungleichen Spannweiten und
Stützen-Diſtanzen dennoch gleiche Kämpferhöhe der Stützen und Scheitel-
höhe der Gurten einhalten wollte, wo denn die Nothwendigkeit hoher
Sprengung des Spitzbogens zugleich die ungemeine Verſtärkung der Höhe-
richtung mit ſich brachte. Allein dieſe Wandlungen gingen ebenſoſehr aus
einer äſthetiſchen Quelle, d. h. aus einem Drange der künſtleriſchen
Phantaſie hervor, dem ethiſch-religiöſen Leben der Nation entſprechenden
Ausdruck in der Form zu geben. Das ſtumpfwinkliche griechiſche Giebel-
dach vollendet weſentlich den Charakter ruhigen Abſchluſſes, befriedigter
Harmonie, der Rundbogen und ſein Gewölbe drückt klar das gemeſſen
fortſchreitende Ueberbreiten der Macht des römiſchen Staats über die
Völker, dann daſſelbe Streben und den noch einfachen Idealismus in der
erſten chriſtlichen Kirche, der Spitzbogen-Bau den entfalteten Geiſt der
Tranſcendenz und des reichen Einzellebens der nur corporativ zuſammen-
gehaltenen Individualitäten aus. Es iſt nicht abzuſehen, warum dieſe
großen Unterſchiede nicht gleichzeitig aus zwei Quellen, der näheren eines
ſtructiven Gebotes, der tieferen einer ethiſchen Stimmung ſollten fließen
können, und wenn Bötticher (im a. Excurſe S. 16) die geiſtige Erklärung
des Spitzbogengewölbes den romantiſchen Enthuſiaſten überlaſſen will, ſo
kann man dagegen fragen, was denn ſchließlich mechaniſch genöthigt habe,
das gebundene Verhältniß der Abſtandsweiten oder die Ungleichheit der
Sprengungshöhen zu verlaſſen, und ob nicht ſchon die Entwicklung des
Thurmes zeige, daß die ſtärkere Höhe-Richtung nicht bloß durch
ſtructive Wölbungsbedingungen herbeigeführt, ſondern innerlich im Zuge
der Phantaſie begründet war. Daß die Rückkehr zu claſſiſchen Formen
in der neueren Zeit nicht nur ſtructive Urſachen hatte, ſondern tief in der
ganzen Stimmung und Anſchauung lag, iſt beſonders einleuchtend.
3. Der letzte Satz des Paragraphen führt ein neues Moment ein:
das decorative, welches die im engeren Sinn ſogenannten Glieder
[191] und zugleich das eigentliche Ornament umfaßt. Die Grenze zwiſchen den
Gliedern und dem bloßen Ornament kann vorerſt im Allgemeinen nicht
näher beſtimmt werden, als dahin: das Ornament verrichtet entſchieden
keine ſtructive Function, das Glied kann fungiren oder auch nicht,
einmal angewandt fungirt es theilweiſe, aber ſeine Anwendung iſt an ſich
ſtructiv nicht nothwendig. Mehr darüber ſpäter. Da nun dieſer Theil
des Baues theils keine, theils zweifelhafte und untergeordnete ſtructive
Dienſte verrichtet, alſo gegenüber der Beziehung äußerer Zweckmäßigkeit
als ein Ueberfluß erſcheint, ein reiner Schein der Oberfläche, der dem
nackten Körper des Baues übergeworfen wird, ſo iſt es herkömmlich, ihn
allein als die rein äſthetiſche Seite des Ganzen anzuſehen und jenem
nackten Körper, der nun Kernform heißt, dieſe Schaale als Kunſt-
form gegenüberzuſtellen. So aber wirft man offenbar die Architektur als
Kunſt ganz unter die blos anhängenden Künſte, wohin doch vielmehr
gerade nur die gemeine, dem gewöhnlichen Wohnbedürfniß dienende gehört,
in welcher ſich freilich der Schmuck nur ſo anſetzt, wie an einen Tiſch
oder Stuhl. Eben was wir im vorhergehenden und im gegenwärtigen
Paragraphen auseinandergeſetzt haben, beweist, daß die Kernform ſelbſt
ſchon Kunſtform iſt: die von der Idee des Innern, dem der Bau zur
würdigen Umſchließung werden ſoll, begeiſterte Phantaſie hat das Bild
des Ganzen geſchaffen und ſtructiv ſo durchgegliedert, daß die Bedingungen
der Schwere ſelbſt, überwunden in dem entwickelten Sinne, zum Ausdruck
ihrer Idee dienen mußten. Es iſt auch bereits hervorgehoben, daß
der äſthetiſche Ueberfluß ſchon im Plane des Ganzen, in ganzen,
weſentlichen Hauptheilen (namentlich der Säulenhalle) ſeine Stelle findet.
Sagt man nun, dieß Ganze würde dennoch nackt und todt erſcheinen
ohne die decorative Gliederung, welche eben jenem innern Leben erſt ſeinen
Ausdruck gibt, ſo iſt die Antwort einfach dieſe, daß gerade, weil dieſes
Ganze mit ſeinen weſentlichen Structur-Theilen das Geheimniß der Schön-
heit ſchon in ſich trägt, das decorative Heraustreten dieſes Geheimniſſes
in der Conception deſſelben ſchon organiſch mitempfangen ſein muß und
nur in wiſſenſchaftlicher Trennung für ſich betrachtet wird. Die
Kernform verhält ſich zu ihrer Schaale organiſch: ſie ſind trennbar,
aber ſie ſind miteinander gewachſen, wie in jeder Frucht. Der ſinnvoll
Anſchauende muß auch dem von der Decoration entblösten Kerne an-
ſehen, daß er ein künſtleriſches Werk iſt, wie er dieß dem blos angelegten
Gemälde anſieht, und die fehlende oder weggedachte Decoration muß
ſeiner Phantaſie auf’s Neue innerlich aus dem nackten Kern heraus-
wachſen.
13*
[192]
Indem nun der künſtleriſche Geiſt für dieſe Aufgabe der rhythmiſchen
Belebung ſeines Werkes die Formen ſucht, wirkt er im vollen Gegenſatze gegen
jene Grundlage der Verſtändigkeit (§. 555) als ein vorzugsweiſe unbewußter,
in die Natur verſenkter (vergl. §. 551). Denn er hat in dieſer kein be-
ſtimmtes Vorbild, dem er gegenüberträte, ſondern nur unbeſtimmt ſchweben ihm
die feſten Bildungen der unorganiſchen Natur vor, aus deren Maſſen er
das verworren angedeutete Reich der reinen Verhältniſſe wechſelwirkender Schwere
und der reinen Linie zu derjenigen Klarheit und gemeſſenen Ordnung heraus-
arbeiten muß, vermöge deren ſie fähig werden, ein Abſolutes auszudrücken. Von
dieſer Seite iſt daher die Baukunſt als die Idealiſirung der unorgani-
ſchen Natur zu faſſen; ebenhiemit klingt zunächſt das kryſtalliſche Geſetz,
mit ihm die allgemeine Grundlage der organiſchen Bildung als Pflanze
und animaliſcher Leib und, während der decorative Theil in concrete Nach-
bildung dieſer Formen übergeht, in den Hauptverhältniſſen ſelbſt das in ſeinen
Unterſchieden ſich ſelbſt gleiche geiſtige Leben an. Der Widerſpruch zwiſchen
jenem Charakter der Verſtändigkeit und dieſem dunkeln Verhältniſſe zur Natur
löst ſich in dem Begriffe der Allgemeinheit (§. 553).
Der Charakter des Getheilten, der das Weſen der Baukunſt iſt, tritt
nun nach einer weiteren Seite hervor: ſie iſt gleichzeitig eine vorzugsweiſe
klare und vorzugsweiſe naturdunkle Kunſt; in keiner der bildenden Künſte
tritt die in §. 551 aufgeſtellte und begreiflich gemachte Antinomie ſo beſtimmt
hervor. Dieß zeigt ſich nun, wenn wir von den zu §. 557, 1. aufgeſtellten
Fragen die zweite auffaſſen: welche Formen ſucht die Phantaſie für die
äſthetiſche Aufgabe der Baukunſt? wobei wir dem dort begründeten um-
gekehrten Gange folgen und die erſte Frage, was denn die Baukunſt
ſchließlich ausdrücke, zuletzt beantworten. Es kommt hier, wie bei aller
Phantaſie, weſentlich das Verhältniß zum Naturſchönen in Betracht; die
Phantaſie ruht ja auf ihm als Object, wie der zweite Theil des Syſtems
gezeigt hat, und ſie muß, wenn ſie zur Kunſtthätigkeit übergeht, wie der
erſte Abſchnitt des dritten Theils nachgewieſen, dieſes Object wieder vor ſich
nehmen, klar vor ſich hinſtellen und ſcharf anblicken. Dieß iſt eine volle
Diremtion, ein Gegenſchlag im Bezogenſein, und dieſe Diremtion iſt es
eben, die der Phantaſie auf der Stufe der Architektur noch fehlt. Man
ſagt gewöhnlich ſchlechthin, ſie ſei nicht naturnachahmend. Verſteht man
unter Naturnachahmung (die Berichtigung des Begriffs der Naturnach-
ahmung, die wir längſt hinter uns haben, natürlich überall vorausgeſetzt)
die klare Nachbildung individualiſirter Naturgebilde, ſo kann davon bei
der Baukunſt in dem Sinne allerdings nicht die Rede ſein, wie bei
[193] andern Künſten. Allein es muß auch eine unbeſtimmtere Form der Nach-
ahmung geben, wo dem Künſtler ein nicht Individualiſirtes in der Natur,
das in gewiſſem Sinn von ihm erſt individualiſirt werden ſoll, dunkel
vorſchwebt. Ein ſolches iſt dem Baukünſtler das Erdreich. Betrachten
wir dieſes, ſo bieten die Geſtaltungen der Flächen, der Berge, Felſen,
Höhlen eine Welt von äſthetiſchen Reizen dar, worin neben Farbe,
Schmuck der Vegetation, Bewegung der Luft die Linien der Oberfläche
an ſich eine Hauptrolle ſpielen, wie denn auf die beſtimmten äſthetiſchen
Wirkungen der ſenkrechten, der wagrechten, der Bogenlinien, nachdem ſie
ſchon in §. 91 berührt, dann bei den Erſcheinungen des Waſſers §. 257
beſprochen ſind, in den von der Schönheit des Erdreichs handelnden
§§. 260 ff. mehrfach hingewieſen wird. Dieſe Linien ſind zugleich der
Ausdruck allgemeiner reiner Verhältniſſe des Schweren in ſeinen Wechſel-
wirkungen, des Auflagerns, Stützens, Ueberſpannens, und daher liegt
in dem Reize der Linien auch eine gewiſſe Genugthuung für ein unbe-
wußtes inneres Nachwägen eingeſchloſſen. Nun haben wir Th. I, S. 105
bereits auf eine ahnungsreiche Symbolik der reinen Linie hingedeutet und
S. 108 auch die Baukunſt in dieſem Zuſammenhange ſchon erwähnt.
Was es ſei, worauf dieſe Symbolik der Linie weist, davon iſt nachher zu
reden; die Wahrheit einer tieferen Bedeutung vorausgeſetzt, haben wir die
Aufgabe der Baukunſt jetzt ſo zu faſſen: in der unorganiſchen Natur zieht
ſich überall das Reich der Linien als Umriß der Maſſen in ihren ſtatiſchen
Verhältniſſen durch, aber ſo, daß ſie nirgends in ihrer Reinheit eingehalten
ſind, ſondern in das Unbeſtimmte und Verworrene ausbiegen. Die Regel
ſchimmert ſo zu ſagen nur durch, das ſinnige Auge des (wägend und)
meſſend Sehenden ſchaut ſie hinein oder, wie man will, heraus, indem
ihm das chaotiſch Maſſenhafte wie zur durchſichtigen Hülle wird, hinter
der die reinen Flächen, Winkel, Kreisausſchnitte u. ſ. w. gezogen ſind.
In ſolcher Weiſe iſt nun eben das Auge der Baukunſt thätig, ſie arbeitet
aus dieſer Umhüllung das Reich der reinen Verhältniſſe und Linien her-
aus und nöthigt dieſelbe Natur, durch welche dieſes Reich nur als ein
zerworfenes und verworrenes ſich hindurchzieht, es in geordneter Meſſung
und Fügung der Maſſe zur Darſtellung zu bringen. In dieſem Sinn iſt
denn die Baukunſt Idealiſirung der unorganiſchen Natur. Davon hat
man den unmittelbaren Eindruck, wenn man mitten zwiſchen rauhen Maſſen
einem edeln Bauwerke, ja nur Trümmern deſſelben begegnet: „Spuren
ordnender Menſchenhand zwiſchen dem Geſträuch — dieſe Steine haſt du
nicht gefügt, reich hinſtreuende Natur“ (u. ſ. w. Göthe’s Gedicht: der
Wanderer); man fühlt durchaus, daß hier etwas, wozu die unbewußte
Natur den Anlauf genommen, was ſie aber wie in Zerſtreutheit wieder
der Unordnung überlaſſen, durch die Spannkraft des bewußten Geiſtes
[194] ſtraff angezogen, berichtigt, bereinigt, rectificirt ſei. Nun ſcheinen wir
aber, wie ſchon zu §. 557, 1. angedeutet, hiedurch in einen tiefen Wider-
ſpruch zu gerathen, denn wie wir prinzipiell die Zufälligkeit als Geſetz
des Schönen aufgeſtellt haben (§. 34), ſo haben wir überall nur die von
der freien Linie der Individualität umſpielte regemäßige Linie als ſchön gelten
laſſen (vergl. Th. I, S. 105. Th. II, S. 60. 61, ferner das von der regel-
mäßigen und unregelmäßigen Kryſtallbildung §. 265 Geſagte, endlich die
Hervorhebung des individuell von der ſtrengen Linie Abweichenden in der
Pflanze §. 274, der Thiergeſtalt §. 287, den individuellen Formen der
menſchlich n Schönheit §. 331 ff.). Die Wahrheit dieſes Satzes bewährt
ſich auch unmittelbar im Anblick regelmäßig bebauten und bepflanzten
Erdreichs: die gerade Linie wirkt hier gerade unerfreulich. Aber eben
dieſe Betrachtung wird hier auch zur Löſung des ſcheinbaren Widerſpruchs
führen. Unmittelbar in die naturſchöne Landſchaft eingeführt iſt nämlich
die reine Linie darum ſtörend, weil ſie hier eingreift in einen Zuſammen-
hang, deſſen äſthetiſche Bedeutung, obwohl nicht ohne Mitwirkung hindurch-
klingenden Linienreizes, auf ganz anderem Gebiete (bewegte Schönheit des
Licht- und Luftlebens, Farbe u. ſ. w.) liegt. Ohne dieſe Einmiſchung
in ein beſtimmtes anderweitiges Schönheitsgebiet wäre ſie nur äſthetiſch
nichtsſagend, denn es bleibt bei dem, was über eine Stelle in Plato’s
Philebus zu §. 257 geſagt iſt, daß nämlich die Linie in ihrer abſtracten
Regelmäßigkeit, wie ſie an geometriſchen Körpern vorkommt, äſthetiſch be-
deutungslos iſt; in jener Einmiſchung aber bedeutet ſie etwas den äſthe-
tiſchen Zuſammenhang Störendes, nämlich gemeine Nützlichkeit (Aecker-
Theilung, regelmäßige Baumſtellung in moderner Waldcultur u. dgl.).
Die Kunſt aber, welche jene in der unorganiſchen Natur angedeutete
Linienwelt herauszieht und in eigenem freien Gebilde ordnend diſponirt,
gibt ihr auch ihre eigene Bedeutung und ſie durchdringt und umgrenzt
nun die Hülle eines Innern, das ethiſch iſt. Wo man nun ſieht und
weiß, daß ſie die Stoffe beherrſcht, die einen für idealen Inhalt beſtimmten
Raum umſchließen, wo ſie die Schaale ethiſchen Kernes ordnend beſtimmt,
da wird ſie äſthetiſch. Allerdings führt dieß auf den innern Mangel der
Baukunſt, ihre Getheiltheit nämlich, zurück, denn bei keiner andern Kunſt
bedarf es dieſes Zuſchluſſes eines anderweitigen, ein leergelaſſenes Inneres
beherrſchenden Gehalts. Sucht nun aber die Baukunſt dieſes Innere in
reinen Linien auszudrücken, ſo überſehe man ferner nicht, daß dieſe
abſtract zu nennen ſind nur gegenüber der organiſch individuellen Geſtalt,
an ſich aber von der bloß geometriſchen Linie, von welcher Plato in der
zu §. 257 angeführten Stelle des Philebus redet, ſich dadurch unterſcheiden,
daß ein mit concretem Gehalte erfüllter Künſtlergeiſt ſie zuſammenſtellt,
daß alſo hier von keinem abſtracten, ein für allemal gültigen Kanon
[195] von Formen und Maaßen die Rede iſt, ſondern die nur ſich ſelbſt gleiche
Individualität im Geiſte des Künſtler-Individuums waltet, das nach
einem innern Bilde, welches vor aller ausdrücklichen Meſſung vollendet
vor ſeinem innern Auge ſteht, jedem ſchönen Bauwerk ſeine nur ihm
eigenen Verhältniſſe gibt, und daß daher der fertige Plan, das ausge-
führte Gebäude zwar meßbar und durch Meſſung nachahm-
lich iſt, aber von dem blos Meßkundigen nimmermehr er-
funden wäre. Da nun die Baukunſt in dieſem Sinne das Reich der Linie
einheitlich herausbildet, ſo leuchtet ihre tiefe Verwandtſchaft mit der Kryſtall-
bildung, der erſten Individuen-geſtaltenden Thätigkeit in der Natur (§. 265)
ein, wobei zunächſt nicht an die engere Verwandtſchaft des gothiſchen
Styls mit derſelben, ſondern ganz allgemein an die Analogie der Flächen-
zuſammenſtellenden Thätigkeit in dieſem Wirken des menſchlichen Geiſtes
und in jenem Weben der Natur zu denken iſt. Nicht ein Nachahmen iſt es,
die Formen ſind ja in der Baukunſt entſchieden mannigfaltigere und bei
aller Symetrie nicht einfach dem bloßen Geſetze der Anordnung von Flächen
um eine Achſe unterworfen, aber es iſt der verwandte Prozeß, der auf
höherer Stufe wiederkehrt: hier wie dort ein erſtes Gerinnen aus dem
Unbeſtimmten zum Beſtimmten; wie das verborgene Erdleben zuerſt im
Kryſtall um einen Mittelpunct anſchießend ſich ſammelt zur Einzelbildung,
ſo concentrirt ſich das Leben der Phantaſie aus dem unbeſtimmten Dunkel
ſeiner geſtaltloſen Stimmung in der Baukunſt zur erſten, noch abſtracten
Geſtalt; es iſt wie eine dunkle Reminiſcenz an den nächtlichen Schacht
der Natur, worin jenes Aehnliche ſich begibt. Nun bleibt aber das geo-
metriſche Geſetz, wie es im Kryſtalle zuerſt aufgetreten, die abſtracte
Grundlage auch der organiſchen Bildungen: es liegt der Pflanzengeſtaltung
in ihren Zellen, Kapſeln, es liegt ihrer ganzen Form als Kreistheilungs-
geſetz zu Grunde; reicher und mehrfach verſchlungen dem thieriſch (und
menſchlich) organiſchen Leibe in den Grundbeſtandtheilen ſeines Baus, im
Skelett, in den unendlichen Uebergängen von Kreisſegmenten, aus denen
ſeine ganze Geſtalt beſteht. „Der Zuſammenhang des Bauſtyles mit
Naturbildungen beruht auf der gemeinſchaftlichen Wurzel beider in der
Geometrie“ (Hoffſtadt Goth. ABC-Buch X). In einzelnen Structur-
theilen tritt nun das Vorſchweben der Pflanzenbildung beſtimmter hervor
(Säule, Gewölbe-Rippen) und das Ausblühen in die eigentliche Nach-
bildung der Pflanze in den decorativen Theilen iſt daher nichts Willkühr-
liches, ſondern nur der an’s Licht tretende deutliche Ausdruck dieſes dunkeln
Zuſammenhangs; da aber das Geometriſche auch dem thieriſch (und
menſchlich) organiſchen Leibe zu Grunde liegt, ſo ruft das Bauwerk
unwillkührlich auch deſſen Gliederbau vor das Bewußtſein: es iſt ganz
natürlich, daß man von Sohle, Fuß, Hals, Rumpf, Arm, Flügel, Haupt
[196] bei einem Gebäude redet, daß man ſein ſtructives Wechſelverhältniß,
worin Alles gegenſeitig Zweck und Mittel, alſo Glied iſt, einen Organis-
mus nennt, und die energiſchen Umſäumungen der Decoration erſcheinen
nun weſentlich wie Gelenke. Aber auch an das Geiſtesleben gemahnt
dieſes kryſtalliſche Geſetz des herrſchenden Mittelpunctes: es iſt der noch
abſtracte, ſtarre Ausdruck der Einheit des Geiſtes mit ſich in ſeinen Unter-
ſchieden, und wie ſich der Geiſt in ſeinem Zeitleben dieſe Einheit periodiſch
markirt, ſo werden wir auch in der Baukunſt ein Syſtem markirender,
wiederkehrender Theilungen ſich entwickeln ſehen. Von dieſen dunkel zu
Grund liegenden Anklängen geht die Baukunſt, nur behutſamer, im deco-
rativen Theile zu einem eigentlichen Nachbilden auch des animaliſchen, ja
des höchſten Organiſchen, des menſchlichen Leibs über, das Letztere in der
Säule: da dieſe emporſchwellende Bildung überhaupt einen Eindruck macht,
als wolle ſie tragen, ſo macht der Künſtler aus dieſem Anklang Ernſt
und ſtellt tragende Menſchengeſtalten als Säulen auf. Daß dieß nur ſehr
behutſam und ſparſam geſchehen darf, muß ſchon hier ausdrücklich hervor-
gehoben werden, weil es ein Vorgriff iſt in das Reich der eigentlichen
Individualität, welche ja übrigens in der Baukunſt nur ſo anklingen ſoll,
wie die Erde als Niederſchlag des Urſtoffs, aus dem alles Lebendige wurde,
als Urkeim des Lebens uns an dieſes Leben als wirkliches Daſein dunkel
gemahnt. Wie aber nur die ganze Landſchaft mit Licht, Luft, Waſſer,
Pflanze, Thier und Menſch uns dieſes Daſein wirklich vorführt, ſo er-
wartet auch die Baukunſt ihre Ergänzung durch das Götterbild, durch den
eintretenden Menſchen, und bleibt daher verhältnißmäßig immer eine arme
und abſtracte Kunſt; doch überſehe man nicht, daß auch die Mitwirkung
der wirklichen Landſchaft weſentlich und bleibend zum Werke der Architektur
gehört, da es ja, was noch beſonders herausgeſtellt werden wird, immer auf
einen beſtimmten Ort berechnet iſt, deſſen Linien mit den ſeinigen immer
irgendwie individuell, d. h. in jedem einzelnen Bauwerk eigenthümlich,
ſich zuſammenbauen: hier fügt ſich denn ſelbſt der Reiz der im eigentlichen
Sinn frei ſpielenden Linie, des Lichts, der Luft, der Pflanzen, der um-
flatternden Vögel, der wandelnden Thiere und Menſchen dem ſtreng ge-
meſſenen Ganzen an. — Schließlich iſt nun leicht zu zeigen, wie jene
Antinomie zwiſchen der ſtreng klaren Verſtändigkeit und dem Naturdunkel
in der Baukunſt ſich löst: das Dunkle liegt in jenem taſtenden Suchen
der Phantaſie nach Formen, die nur verhüllt durch die Natur hindurch-
gehen und in keinem klar gegenüberſtehenden Objecte der Nachbildung
gegeben ſind: es ſind nicht individualiſirte, ſondern durch das individuelle
Leben nur allgemein ſich hindurchziehende Formen; ſobald ſie nun ge-
funden und in einem innern Bilde zuſammengeſtellt ſind, unterliegen ſie
eben, weil ſie nur allgemein ſind, der ſtrengen, nüchternen Meſſung. Das
[197] Gemeinſchaftliche für beide Extreme iſt alſo der ſchon in §. 553 aufge-
ſtellte Begriff der Allgemeinheit.
Als ein beziehungsweiſe unbewußter erſcheint aber der Geiſt der Baukunſt
auch in dem Sinne, daß hier die Phantaſie des Einzelnen, wie ſie in ihrer
Beziehung zur Natur näher von der örtlichen Landſchaft dunkel beſtimmt wird,
ſo auch unmittelbarer und unwillkührlicher, als dieß nach der Auseinander-
ſetzung dieſes Verhältniſſes zu §. 379, in §. 384 und §. 416 ff. in anderen
Künſten der Fall ſein wird, von der allgemeinen Phantaſie durchdrungen iſt,
daher dieſe Kunſtform als ein beſonders mächtiger Ausdruck des geſammten
äußern und innern Lebens der Nationen erſcheint, alſo Styl vorzüglich in der
Bedeutung von §. 529 und 530 entwickelt.
Es iſt gewiß keine geſuchte Deutung, wenn man, ganz abgeſehen
von jenem allgemeinen Vorſchweben der unorganiſchen Natur, ſo wie von
dem beſtimmten Nachbilden einheimiſcher Pflanzen im Ornament, eine
dunkle Einwirkung der örtlichen landſchaftlichen Formen auf die architek-
toniſche Phantaſie findet. Den Orientalen ſchwebten in ihrem Drang nach
der Höhe ſichtbar die kühnen Felſen vor, die aus der Mitte ihrer Gebirgs-
züge nadelförmig emporſteigen, in ihren unterirdiſchen Bauen die großen
Höhlen ihrer Felsgebirge, dem Aegyptier in ſeinem ſtumpf dachloſen Bau
die kahlen Plateau-Bildungen ſeines Gebirges, allem orientaliſchen Bau
der in §. 278 geſchilderte Pflanzentypus, den Griechen und Römern die
ruhig groß hingeſteckten, ſanft geſchwungenen Formationen ihres Landes,
der Pflanzentypus §. 279, den Letzteren im Kuppelbau ſpezieller ihre
Pinien, den nördlichen Völkern in der gothiſchen Architektur ihre zackigeren
Gebirge, der Pflanzentypus §. 280, ihre pyramidalen Tannen und Fichten,
im Ornament die eckige Verzweigung und Nadeltheilung dieſer Holzarten,
in den reichgerippten Wölbungen die Veräſtung ihres Laubholzes, das
Laubdach ihrer Wälder; man darf nur nie an ein abſichtliches Nach-
ahmen denken und vollends nicht reden, als ob ſie ſo eben aus den
Wäldern als Halbwilde hervorgekrochen jene Spitzbogengewölbe ausgeführt
hätten. In der localen Natur nun bildet ſich auch der beſtimmte Volks-
geiſt aus. In der Phantaſie des beſonders begabten Einzelnen iſt immer
die Frucht der Geſammtkünſte eines Volks und Zeitalters zuſammengefaßt
(§. 423), aber die ganze Lehre von der Phantaſie hat gezeigt, daß der
einzelne Genius das inſtinctmäßige Geſammtproduct der Phantaſie erſt
zur klaren Geſtalt herausarbeitet. In der Baukunſt jedoch iſt die Selb-
ſtändigkeit dieſes Acts geringer, als in jeder andern Kunſt; der Styl im
[198] Sinne von §. 527, als Styl des einzelnen Meiſters, tritt in den Hinter-
grund, man fragt bei Bauwerken wenig, faſt ſo wenig, als bei dem
Volksliede, nach dem Namen des Meiſters; vielmehr, wie der Dichter
des Volkslieds nur „der Mund der Sage iſt“, ſo der Baukünſtler nur
das Organ einer allgemeinen Stimmung, Auffaſſung, eines allgemeinen
ſocialen, ethiſchen, politiſchen, religiöſen Zuſtandes. Vom Styl iſt daher
hier nur in der provinziellen, nationalen und ganze geſchichtliche
Perioden umfaſſenden Bedeutung des Worts die Rede, und die Haupt-
ſtyle der Epochen, Völker ſind aus ſchrittweiſen Entwicklungsſtufen ent-
ſtanden, worin der Beitrag des Einzelnen gar nicht gezählt wird. Es
handelt ſich von der „Geſammtheit eines kunſtthätigen Geſchlechtes“ (ſ.
Bötticher a. a. O. Excurs 1, S. 40 und die dazu angeführte Stelle aus
Schinkels Vorbildern f. Fabr. u. Handw.), und „man kann von der
Architektonik, welche ſo recht eigentlich die geſammten geiſtigen und äußer-
lichen Intereſſen, das innerſte Bewußtſein wie die phyſiſche Lebens-
thätigkeit eines Volksſtammes umfaßt, vornehmlich ſagen: daß ſie vor
allen andern Erſcheinungen ein eigentliches Kriterion ſeiner geiſtigen Potenz
und ethiſchen Bildungsſtufe gewinnen läßt“. Dieſe Auffaſſung enthält
zugleich, daß überhaupt der ganze Uebergang der Bauthätigkeit von dem
Dienſte des Bedürfniſſes zur Höhe der freien Kunſt vermittelt iſt durch
die Ausbildung des Geſammtlebens; das Geſammtbewußtſein gibt ihr den
begeiſternden Inhalt, vergl. Schleiermacher Vorl. über d. Aeſth. S. 438 ff.
Wie die bildende Kunſt dem Naturſchönen überhaupt (§. 551), ſo ent-
ſpricht demgemäß die Baukunſt der unorganiſchen Schönheit. Sie iſt daher
weſentlich auch durch die Rückſicht auf die Stellung ihres Werks zu ſeiner Um-
gebung gebunden. Wie das Erdreich für das organiſche Leben, ſo iſt ſie Unter-
lage und Verſammlungsſtätte für alle Künſte. Sie iſt nothwendig
2die älteſte Kunſt, Urkunſt. Sie fordert große Maſſen und iſt in ihrer Wirkung
weſentlich erhaben, was einen Gegenſatz des Anmuthigen und Erhabenen
innerhalb dieſer Beſtimmtheit keineswegs, wohl aber das Komiſche ganz aus-
ſchließt. Ihr ganzer Charakter iſt monumental.
1. Der erſte Satz bedarf nach dem Bisherigen keiner Erläuterung.
Beizufügen iſt nur noch die weſentlich bezeichnende Analogie, daß der Bau
durch ſeinen Grund im wirklichen Boden wurzelt, was allerdings zugleich
auf die Analogie mit der feſt an den Boden geketteten Pflanze hinweist,
in deren Reich ja die Baukunſt vornehmlich hinübergreift. Dieſe Bindung
an die unorganiſche Natur macht ſich ferner weſentlich in der nun aus-
[199] drücklich hervorzuhenden nothwendigen Rückſicht auf die äußere (landſchaft-
liche, oder zwar ſelbſt architektoniſche, aber hier wie landſchaftliche Natur
wirkende und jedenfalls mit wirklicher Landſchaft, Bäumen, Hügeln, Luft
und Licht zuſammengehörige) Umgebung geltend. Was in §. 552, 2. von
aller bildenden Kunſt ausgeſagt iſt, daß ſie auf die Umgebung zu berechnen
ſei, gilt in dieſem Grade von keiner andern; der ganze Charakter des
Gebäudes muß mit der umgebenden Natur in ihrem weiteren Umfang
ſtimmen, ſo ſoll z. B. kein griechiſcher Tempel in nordiſcher Natur ſtehen
(Walhalla); es muß mit dem Benachbarten und Nächſten ſich gut
gruppiren und ebenſoſehr von ihm abſetzen; die Linien müſſen ſich har-
moniſch begegnen. Man denke an die herrlichen Stellungen griechiſcher
Tempel und Theater auf Bergen, am Meere, in Hainen. — Der Begriff
einer erſten Theſis für den Fortgang zu den weitern Künſten, wie wir
durch ihn in §. 553 den Uebergang zur Baukunſt gemacht haben, erhält
nun die reale Bedeutung, daß dieſe Kunſt, wie die unorganiſche Natur
allem Lebendigen Boden und Wohnung bietet, wie die Pflanze als ſchattender
Baum und Wald für Thier und Menſch eine ſchützende Stätte öffnet, ſo
die Unterlage und Verſammlungsſtätte für alle Künſte iſt. Am nächſten
und ſtrengſten gilt dieß von der Sculptur, deren menſchlichem Ebenbilde,
dem Inbegriff aller organiſchen Weſen, ſie die Baſis oder zugleich die
ideale Behauſung gibt, die Malerei bedarf ihrer Wände, die Muſik
durchtönt ihre Hallen, die Dichtkunſt iſt unabhängiger, aber ihre höchſte
Form, das Drama, bedarf ihrer zur Herſtellung eines Raums, worin der
Weltſchauplatz künſtleriſch abbrevirt iſt. Jener Begriff einer Vorausſetzung,
einer erſten Theſis erhält nun aber auch die weitere beſtimmte Anwendung,
daß die Baukunſt ebenſo, wie der Planet zuerſt das feſte Gerüſte und die
Maſſen ſchuf, welche den höheren, individuellen Bildungen als ihre Stätte
dienen ſollten, die erſte, älteſte, urſprüngliche, die elementare Kunſt iſt.
Nach der Seite des hervorbringenden Geiſtes wendet ſich dieß ſo, daß der
Menſch den ſchweren Stoff zuerſt in dieſer allgemeinſten, noch äußerlichen
und abſiracten Weiſe umbildend bewältigen mußte, ehe er ihn zum wärmeren
Bilde der organiſchen Geſtalt umzuſchaffen und in ſteigender Durchdringung
immer mehr in reinen Schein aufzulöſen vermochte. Was dabei die
Schwierigkeit der Zeitfolge in der Ausbildung der Muſik und Poeſie be-
trifft, ſo vergl. die vorläufige Andeutung zu §. 533, 1 und 550. Am
klarſten ſtellt ſich das Verhältniß im Mittelalter heraus, das in keiner
Kunſt entfernt eine ſo vollendete Form hervorbrachte, wie in der Baukunſt
(vergl. Schnaaſe Geſch. d. bild. Künſte Bd. IV, Abth. I, S. 117); das
Mittelalter gibt aber darin ein Bild der ganzen Kunſtgeſchichte und fängt
wieder da an, wo einſt der Orient angefangen. Hier findet noch eine
weſentliche Ergänzung, was in §. 559 von der Baukunſt als einer vor-
[200] nehmlich ſtylvollen Kunſtform geſagt iſt. Dieſe Kunſt hat nämlich nicht
nur Styl im ſtrengſten hiſtoriſchen Sinne des Worts, ſondern der Styl für
alle, auch für die nur anhängenden Künſte geht vorzüglich von ihr als
der elementaren, primitiven Kunſt aus. Sie gibt den Ton an für die
Auffaſſungsweiſe aller Künſte, und hat ein Zeitalter keinen Styl in den
übrigen Kunſtformen, ſo wird man auch finden, daß es vor Allem keinen
eigenen Bauſtyl hat. Wie die Griechen bauten, ſo bildeten, malten,
muſicirten, dichteten ſie, ebenſo das Mittelalter, ebenſo die Zeit der
renaissance. Der Bauſtyl namentlich drückt die Grundſtimmung einer
ganzen Zeit aus; wo er fehlt, da fehlt es an einer poſitiven Grund-
ſtimmung.
2. Es wäre zunächſt das Erhabene des Raums (§. 91. 92), was
durch die der Baukunſt weſentlichen großen Maſſen in Wirkung tritt,
denen gegenüber der einzelne Menſch ſich immer zunächſt als kleiner Punkt,
verſchwindenden Schatten fühlt, um erſt in einem weitern geiſtigen Acte
ſich wieder zum Bewußtſein ſeiner geiſtigen Größe aufzuſchwingen. Dieß
iſt nun aber natürlich ein Anderes in der Kunſt, als in der Natur. Es
kann zwar auch in der Kunſt ſowohl ein unförmliches, als ein maaßvolles
Erhabenes (§. 87) geben, die Malerei z. B. ſtellt wildes Gebirge ſo gut
wie edelgeſchwungenes dar, nur daß natürlich auch das Unförmliche hier
vom ſtörend Zufälligen, vom unförmlich Unförmlichen gereinigt wird; wirft
ſich aber eine ganze Kunſt auf das durch Größe der Maſſen Erhabene,
nicht um es zuſammen mit lebendiger Umgebung (Luft, Licht u. ſ. w.) in
einem farbigen Scheine nachzubilden, ſondern um ſchwere Maſſen ordnend
ſelbſt zu thürmen, ſo muß ſich das Ganze des Kunſt-Ideals auf dieſen
Einen Punkt werfen, das Maſſenhafte muß innerhalb ſeiner ſelbſt idealiſirt,
alſo von allem Unförmlichen gereinigt und es muß tiefere Bedeutung, als
die des blos räumlich Erhabenen, hineingelegt werden. Vorläufig leuchtet
ein, daß dieſe tiefere Bedeutung die Idee einer Urkraft ſein müſſe in einer
nähern Beſtimmtheit, welche nachher zu ſuchen iſt. Erhaben iſt alſo die
Baukunſt nicht bloß durch die Größe der Maſſen, ſie wird es auch nicht
ſein durch jene, dem Unförmlichen Raum laſſende, Hinweiſung auf
ungeheure Revolutionen des Erdkörpers, wie dieſelbe in §. 260 den Ge-
birgsmaſſen beigelegt iſt, ſondern ſie wird ein geordnetes Wirken jener
Urkraft andeuten. Dennoch bleibt die Größe der Maſſen immer das, was
den Eindruck in ſeiner Grundlage beſtimmt. Innerhalb dieſes allgemeinen
Charakters der Erhabenheit muß nun aber, wenn man Gebäude nur mit
Gebäuden vergleicht, ein Gegenſatz der ruhigen Schönheit bis zum Nied-
lichen hin und des Erhabenen, des Milden und Starken, und wieder des
Prächtigen und finſter Gewaltigen u. ſ. w. möglich ſein. Daß das Ko-
miſche in der Architektur ganz ausgeſchloſſen iſt, wurde ſchon zu §. 404
[201] bemerkt. Dieß folgt von ſelbſt daraus, daß dieſe Kunſt das Gebiet des
perſönlichen Bewußtſeins nicht betreten kann. Architektoniſch Widerſinniges,
wie ſchiefe Thürme, die wir ſchon angeführt haben, die Schnörkel des
Rokoko u. dgl., verdankt ſeine Entſtehung meiſt dem Aberwitze, die Komik
in dieſe Kunſt einführen zu wollen. — Das Erhabene beſtimmt ſich nun
hier näher als Charakter des Monumentalen. Man erinnere ſich, daß
wir in §. 527 den Styl des wahren Meiſters überhaupt monumental
genannt haben wegen der über den Wechſel des Augenblicks erhabenen
Großheit der Formen; dieß gilt natürlich noch gewiſſer vom nationalen
Styl und vom Styl als Ausdruck ganzer Perioden. Erwägt man nun
nicht nur, daß die Baukunſt in ihrer Fügung großer und ſchwerer Maſſen
beſonders ſtreng alles Dünne, Kleinliche, Unweſentliche abweiſen muß,
und verbindet man damit, was in §. 559 geſagt iſt: daß ſie weit weniger
den Geiſt des einzelnen Künſtlers, als den der Nationen und Zeiten aus-
ſpricht, und daher Styl vornehmlich in jenem gewichtigeren Sinn entwickelt,
ſo iſt der Begriff des Monumentalen für dieſe Kunſt zwiefach begründet,
und wenn wir ſchon zu §. 527 Th. II, S. 125 die allgemeinen Merk-
male des Styls im Begriffe des Architektoniſchen zuſammengefaßt haben,
ſo geſchah dieß, weil man jede Eigenſchaft der Kunſt überhaupt mit dem
Namen derjenigen beſondern Kunſtform zu bezeichnen pflegt, welche dieſe
Eigenſchaft vorſtechend entwickelt. In den großen Werken der Baukunſt
ſteht ein ehrwürdig feſt Begründetes vor uns, die Geſchlechter der Menſchen
umſchweben wie verſchwindende Schatten dieſe gewaltigen Zeugen des Volks-
und Zeitgeiſtes, welche die Maſſenthürmende Gemeinthätigkeit aufgerichtet
hat, um über Jahrhunderte, Jahrtauſende hinaus zu verkünden, was
ſie geahnt, gewollt und gekonnt. Auch das äußerliche Moment, daß zur
Ausführung großer Bauten viele Menſchenhände nöthig ſind, iſt dem
Bewußtſein des Zuſchauers gegenwärtig und wirkt zu dieſem Eindruck mit.
Endlich folgt aus den dargeſtellten Eigenſchaften von ſelbſt, daß die Bau-
kunſt die ſtabilſte, conſervativſte Kunſt iſt, die ſich zu Neuerungen am
langſamſten entſchließt.
Durch ihre ſo beſchaffenen Formen vermag die Baukunſt den Gehalt, für1.
den ſie den idealen Raum herſtellt, nur anzudeuten. Sie iſt daher ſymbaliſche
Kunſt und als ſolche kann ſie Beſtimmteres nicht ausſprechen, als die Ahnung
urſprünglichen Wirkens der bauenden Weltkraft, wie ſolche den Völkern in einem,
ihrer eigenen geſchichtlichen Lebensform entſprechenden, Bilde vorſchwebt. Das2.
Subjective der bloßen Ahnung, was mit dem abſtract Allgemeinen im Weſen
[202] dieſer Kunſt zuſammenfällt, ſteht mit dem Grundcharakter der ſtrengen Objectivität
nicht im Widerſpruch.
1. Nun erſt, am Schluſſe dieſer allgemeinen Darſtellung des Weſens
der Baukunſt, gehen wir an die erſte der zu §. 557, 1. aufgeſtellten Fragen:
was drückt die Baukunſt aus? Der §. beantwortet dieſe Frage zunächſt
dahin, daß ſie nur ein Unbeſtimmtes, Allgemeines, Geahntes ausdrücken
könne, und beſtimmt daher das Verhältniß zwiſchen dem Inhalt und der
architektoniſchen Formenwelt, ſoweit wir ſie nun kennen gelernt haben,
als ein blos andeutendes, ſymboliſches. Symboliſch iſt alle Baukunſt,
nicht blos die im engeren Sinn ſo zu nennende, deren Einführung in der
Anm. zu §. 554 in das Geſchichtliche verwieſen worden iſt. Die nicht
mehr im engeren Sinn ſymboliſche Baukunſt iſt die dienende §. 555, 1.
Dieſe hat nun zwar ihre Bedeutung, das Wort ihres Räthſels, in der
Beſtimmung des innern Raums gefunden, den ſie umſchließt: der Gott,
ſein Bild im Marmor oder im Bewußtſein der andächtigen Gemeinde, iſt
das Wort dieſes Räthſels; die wahre Baukunſt will nicht für ſich ſprechen.
Allein ſie will doch den Geiſt des ihr Inneres erfüllenden Weſens eben
in ihren Formen auch verkündigen. Sie will ſich zu ihm nicht verhalten
wie der Leib eines Individuums zu ſeinem Geiſte, die reife Baukunſt
weiß, daß ſie das nicht vermag; aber ſie will ſich zu ihm verhalten wie
das Kleid zu dem Leibe des Geiſtes, man ſoll dieſer Hülle anſehen, daß
es ein Tempel, eine Grabſtätte des Hingegangenen u. ſ. w. iſt, was der
Anſchauende vor ſich ſieht. In dieſem Sinne muß ſie doch auch für ſich
auf ihre Weiſe ſprechend ſein, wie die Rüſtung, das Gewand eines
Helden, das ſeine wahre Bedeutung nur hat, ſo lang er es trägt, doch
auch als abgelegte Hülle ſein Bild hervorruft. Dieſe Sprache kann freilich
ebenſo nur eine ſehr unvollſtändige ſein, wie dieſes Gewand uns nur ein
unbeſtimmtes Bild ſeines abweſenden Trägers gibt; ſie wird vom Con-
creten, das die Natur, das beſtimmte Bewußtſein der andächtigen Ge-
meinde von ihrem Gott hinzubringt, nur das Allgemeine, einen gewiſſen
Ton, das Stimmungs-Element ablöſen und für ſich herausnehmen, um
es zum Ausdruck zu bringen. Man unterſcheide alſo zwei Beziehungen.
Nach der einen braucht die Baukunſt für ſich nichts zu ſagen, ſie findet
ihre Ergänzung in dem concreten Kerne, der ihren Raum, ihr Inneres
einnimmt, dem Gotte: dieſer ſpricht für ſie und ſie verhält ſich zu ihm
nur hinüberdeutend, andeutend. Aber ebendieß Andeuten iſt doch ganz ihr
eigenes Geſchäft, das ihr Niemand abnehmen kann. Wenn wir nach
dieſer zweiten Beziehung von ihr ausſagen, ſie müſſe doch auch für ſich
ſprechend ſein, ſo iſt der Begriff des Sprechens allerdings in ganz weitem
Sinne zu nehmen. Alle bildende Kunſt iſt nur uneigentlich ſprechend
[203] (vergl. §. 550); dieſe uneigentliche Sprache iſt jedoch bei den übrigen
ſtummen Künſten, die in der concreten Form der Individualität concreten
Sinn niederlegen können, eine ſehr beſtimmte, bei der Baukunſt aber, die
nur über abſtracte Formen verfügt, eine unbeſtimmte. Beide Beziehungen
nun, deren erſte wir mit der geiſtigen Linie, die uns eine zeigende Hand
nach dem gezeigten Gegenſtande führen heißt, deren zweite wir mit dem
Bilde dieſer Hand ſelbſt vergleichen, faſſen ſich in dem Begriffe des
Symboliſchen zuſammen. Wir haben den Begriff des Symbols §. 426
in der Geſchichte der Phantaſie aufgeführt. Soll nun das Symbol außer
ſeiner Stelle in der Phantaſie des Alterthums auch bleibende Bedeutung
behaupten, ſo muß allerdings eine gewiſſe Veränderung in ſeiner Natur vor
ſich gehen und zwar eine ſo ſtarke, daß es zweifelhaft wird, ob man den
Namen belaſſen kann, daher wir hier geringen Werth auf dieſe Bezeichnung
legen. Man ſehe zu, wie oder ob das Weſentliche des Symbols (§. 426,
2.) in einer Zeit ſich behaupten kann, die jener unreifen Vorſtufe, ja auch
dem Mythiſchen überhaupt entwachſen iſt. Bleiben wird die unbeſtimmte
Weite der auszudrückenden Idee, denn jedes Zeitalter wird hinter ſeiner
Welt klar entwickelter Anſchauungen und Gedanken eine Welt dunkler
Ahnungen zurückbehalten. Verſchwinden aber wird das bewußtloſe Ver-
wechſeln des Inhalts dieſer Ahnungen mit einem ſinnlichen Objecte. Soll
nun etwas dem Symboliſchen Aehnliches als Ausdruck für jene dunkle
Welt allgemeiner Vorſtellung beſtehen, ſo wird es dennoch keineswegs das
allegoriſche Verhalten ſein können, was etwa an die Stelle dieſer dunkeln
Verwechslung träte; denn in der Allegorie iſt der Gedanken-Inhalt ein
ganz bewußter, man denkt ſich wenigſtens ganz beſtimmt ein Wort, wenn
auch deſſen Sinn ein ſehr confuſer iſt, und man ſucht abſichtlich hiefür
eine durch Vergleichungspunkte bezeichnende Form. Es iſt zu §. 444 ge-
zeigt, wie dieß von der Schönheit völlig abführt; wenn alſo die Baukunſt
ihren äſthetiſchen Charakter behaupten ſoll, ſo kann von dieſem Verhalten
gar nicht die Rede ſein. Wir werden allerdings eine Auslegung der Bau-
kunſt kennen lernen, die nicht ſymboliſch, ſondern allegoriſch zu nennen iſt,
aber auch jenen Charakter völlig zerſtört. Geht nun die urſprüngliche
Symbolik nicht in dieſes froſtige bewußte Verbergen eines Gedachten in ein
äußerlich analoges Bild über und ſoll ſie doch aufhören, das zu ſein, was
ſie in einem dunkel verwechſelnden Völkergeiſte war, ſo bleibt eben nur
ein frei äſthetiſches Spiel des Andeutens eines unbeſtimmt Geahnten, das
ſich neben dem klar Gedachten (der zweckmäßigen Beſtimmung des Ge-
bäudes) hinzieht, und hiefür haben wir eigentlich keinen Terminus, da
es im ſtrengen Sinn auch nicht ſymboliſch iſt. Es wird nicht wie der
Apis, Lotos, wie der ſchwarze Stein der Araber, der Tempel verehrt, als
wäre er um gewiſſer tertia comparationis (Größe, Zahlenverhältniſſe
[204] u. ſ. w.) willen der Gott ſelbſt, d. h. ein wirklicher heiliger Inbegriff der
weltbauenden Urkraft; der Gott wohnt nur in ihm, aber die Formen des
Baues rufen in die Seele des Anſchauenden ein freies Bild der welt-
bauenden Thätigkeit des Gottes hervor, wie ſie in der Stimmung einer
Zeit, eines Volks aufgefaßt wird. Hiemit iſt das Weſentliche ausge-
ſprochen, was näher zu beſtimmen ſehr ſchwer iſt. Zunächſt iſt wieder
aufzufaſſen, was in §. 557 über die Aufhebung der Schwere innerhalb
ihrer ſelbſt, über den Rhythmus der Linien und Verhältniſſe geſagt iſt:
ſchwungvolles Leben tritt in die Verhältniſſe des Schweren ein, die be-
wegungsloſen und ſtummen Maſſen ſcheinen ſich nun zu bewegen, die
Linien ſteigend, wagrecht hinfließend, in Kreiſen ſich ſchwingend, ſich
fliehend und findend, den Raum zu durchlaufen; ja es iſt, als ob das Ohr
ein Klingen und Hallen vernähme, das von dieſen Bewegungen ausgienge,
wodurch ſelbſt dieſer härteſten, ſprödeſten unter den ſtummen Künſten die
Zunge ſich löst. Wirklich war dieſe Maſſenfügung ja einmal nicht vor-
handen, ſtieg lebendig vor dem Auge des Künſtlers auf, lief durch ſeinen
Griffel als Entwurf über das Pergament und ward in der techniſchen
Ausführung. Die Maſſen des unorganiſchen Erdreichs haben ſich einſt
ebenſo in wirklicher Bewegung erſt aufgebaut, der Planet hat in bewegter
Gährung ſich zur Wohnung der Lebendigen geſtaltet und dieſer Prozeß
wiederholt ſich durch das nachzeichnende Auge in der lebendigen Phantaſie.
Iſt nun die Baukunſt ihrem Weſen nach die Kunſt der Idealiſirung des
unorganiſchen Stoffs (§. 558), ſo ergibt ſich jetzt in beſtimmterer Be-
trachtung, daß ſie das ideale Bild der Urverhältniſſe ſeiner Fügung im
Bau des Erdkörpers hinſtellt und dadurch eine Ahnung des Weltbaus
erweckt, jener urſprünglichen Wirkung des Weltweſens, welche in der
Ordnung ihres Schaffens auch die organiſchen Weſen gebildet und die
erſten Anklänge dieſer höheren Bildung in jener erſten Maſſenfügung,
dann beſtimmter im Kryſtalle vorgebildet hat. Es gilt auch von der
Architektur als einer auf der Geometrie ruhenden Kunſt, was Herder
(Aelt. Urk. d. Menſchengeſchl. Th. I, S. 203 ff.) von dieſer geſagt hat:
ſie ſei eine Kunſt zum Ausdruck unſichtbarer Weltkräfte; man darf auf
ſie anwenden, was der Dichter ſeinem Fauſt bei dem Anblick des Mikro-
koſmus in den Mund legt:
Die Baukunſt will uns ſagen: die reinen Urformen, aus deren un-
endlicher Verbindung auch die organiſchen Geſtalten beſtehen, ziehe ich
heraus aus der unorganiſchen Maſſe, wo ſie unbeſtimmt angedeutet liegen
[205] und zeige durch eine freie kryſtall-ähnliche Verbindung derſelben, was
Alles aus ihnen werden kann. Das iſt der geheimnißvoll hohe Reiz, der
in dieſen klaren, ſcharfen Umriſſen, dieſen ſolid geſtreckten Maſſen mit
den kräftigen Schlagſchatten, dieſen reinen Gegenſätzen und Löſungen dieſer
Gegenſätze ruht; es iſt das andeutende Schema des Kosmos in ſeiner
innern Unendlichkeit, was aus dieſer Sättigung der Gegenſätze des Schweren
und Stützenden, des Senkrechten und Wagrechten, des Anſtrebenden und
Abſchließenden hervorſpringt. So beſtimmt jene Formen ſind, ſo bleibt
das Bild einer ordnenden Urkraft, das ſie andeuten, verglichen mit in-
dividueller Lebensnachbildung, allerdings immer unbeſtimmt; der Grieche
drückt z. B. mit ſeinen Stylen nicht das Weſen der verſchiedenen Gott-
heiten aus, in Jonien herrſcht der joniſche, in Griechenland, Großgriechen-
land, Sicilien der doriſche Styl vor; das Ornament, insbeſondere Sculptur
und Malerei, in vielen Fällen die Stellung des Tempels (für Bacchus
bei den Theatern, Herkules bei den Gymnaſien u. ſ. f.) muß erläuternd
hinzutreten. Dieſe unbeſtimmte erſte Formbeſtimmung der Idee, welche
demnach das Weſen der Baukunſt iſt, würde nun aber viel zu abſtract
verſtanden, wenn man dabei die national geſchichtliche Bedeutung (§. 559)
aus dem Auge verlöre, die ihr innerhalb des Unbeſtimmten doch nähere
Beſtimmtheit gibt. Die Völker geben in ihren Bauſtylen das Bild des
Kosmos, wie er ihnen erſcheint. Nach demſelben dunkeln Schema
haben ſie ihre Geſellſchaft, ihren Staat gegliedert, alle ihre Cultur-
formen beſtimmt und zugleich mit jenem makrokosmiſchen Bilde ſpiegelt
daher ihr Bauſtyl die Grundzüge der Organiſation ihres Lebens. Wie der
Grieche ſein Volksleben zu maaßvoll gebundener Freiheit ordnet, wie er
in ſchöner Naturſittlichkeit der Mutter Erde treu bleibt, in derſelben heitern
Harmonie weltbauend ſtellt er ſich ſeinen Gott vor und ſtellt er ihn in
ſeinem Baue dar; wie der Geiſt des Mittelalters die einzelnen Kräfte
der Geſellſchaft zu harter, dorniger Selbſtändigkeit, aber auch zu heiterem
Spiele entläßt und doch in Corporationen zuſammenſchließt und in ge-
meinſamem Schwung alle emporreißt, in derſelben Weiſe gliedert er ſich
ein ideales Bild des göttlichen Weltbaus in ſeinen Domen. Beſtimmter,
als in dieſen Bemerkungen geſchehen, vermögen wir dieſe dunkeln Be-
ziehungen nicht zu faſſen. Die bekannten Deutungen, welche in den
Figuren und Zahlenverhältniſſen beſtimmte Begriffe der Metaphyſik und
Dogmatik ausgeſprochen finden, ſind nicht mehr ſymboliſch, ſondern ent-
halten eben jene allegoriſche Auffaſſung, die wir vorhin abgewieſen haben.
Stieglitz z. B. (Geſch. d. Baukunſt §. 6 ff.) findet in der Linie die
Ur-Einheit, im rechten Winkel als Bild der Kraft und Gegenwirkung den
Grund aller Geſtaltung, im Dreieck das Erzeugte, den Logos ausge-
drückt u. ſ. w.; eine Myſtik, die denn zugleich Myſtik der Zahl als des
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 14
[206]arithmetiſchen Ausdrucks der Verhältniſſe iſt. Für das Mittelalter benützte
man natürlich, was von Geheimlehren der Bauhütten überliefert wird.
Es iſt unklar, wie Stieglitz (a. a. O. §. 8) die Grundfiguren in dieſer
Deutung als Quelle alles Aeſthetiſchen in der Kunſt bezeichnen kann, da
ja nach dieſem allegoriſchen Schema jeder nur Meß- und Zähl-Kundige
einen Tempel entwerfen könnte; man kann aber, wie wir ſchon zu §. 558
geſehen, das architektoniſche Kunſtwerk nachmeſſen und nachzählen, ohne
daß man es darum hätte erfinden können. Die Allegorie ruht auf dem
Intereſſe der Wahrheit, nicht Schönheit, ſie iſt ſtreng genommen gar
nicht äſthetiſch (vgl. §. 444 Anm.). Der näheren Prüfung ſolcher Aus-
legungen enthebt uns die gründliche Erörterung Schnaaſes (Geſch. d.
bild. K. Bd. VI, Abth. 1, S. 287 ff.).
2. Die Baukunſt ſtellt nichts dar, was von der Urkraft, von deren
Schaffen ſie doch ein Bild geben will, ſo geſchaffen wäre. Es iſt das
Bild einer Ahnung, was ſie gibt, und wie umfaſſend, alles Sein zu-
ſammengreifend, zugleich die Formen des Völkerlebens ſpiegelnd dieſe
Ahnung ſein möge, ſie iſt als ſolche doch zunächſt nur ein Subjectives.
Dieſe Kunſt erſcheint ſo als der Ausdruck einer erſten, nur allge-
meinen künſtleriſchen Stimmung, die noch nichts Beſtimmtes (im eigent-
lichen Sinne individuell geſchloſſener Gebilde des Lebens) gibt, ſondern
ſich nur in Verhältniſſen niederlegt, die ſie einem Stoffe leiht.
Das Subjective fällt alſo zuſammen mit der Allgemeinheit und Abſtract-
heit der Baukunſt, vgl. §. 553. 558, und dieß ſcheint zu einer Auf-
faſſung zu führen, welche einen ganz andern Gang, als den unſrigen,
begründet. Es iſt dieß die von Solger als Eintheilungs-Grund geltend
gemachte Anſicht, die wir zu §. 542 angeführt haben: wie die Poeſie
allen übrigen Künſten als Kunſt der reinen Thätigkeit der Idee gegen-
überſteht, ſo wiederholt ſich in der Gruppe der letzteren die Nothwendig-
keit, daß das künſtleriſche Bewußtſein in ſeiner reinen Allgemeinheit
gegenüber den Kunſtformen, welche die Idee in beſtimmte, individuelle
Körper einſchließen, als eine eigene Kunſt-Art hervortrete; als Ausdruck
dieſes allgemeinen Bewußtſeins ſtellt ſich denn die Baukunſt neben die
Plaſtik, die Muſik neben die Malerei. Wir könnten immerhin von der
übrigen Abweichung in der Geſammt-Eintheilung der Künſte abſehen,
das aber aufzunehmen genöthigt ſcheinen, daß die Baukunſt allen andern
Künſten nicht als die am ſtrengſten objective, ſondern vielmehr als die
nur erſt ſubjective, nur erſt ahnende und dieſe Ahnung blos in Ver-
hältniſſen des Stoffes niederlegende Kunſtform die Vorhalle zu allen
andern bilde. Allein das Entſcheidende iſt der Inhalt jener Ahnung:
dieſer iſt nichts Anderes, als das wirklich objectiv Allgemeinſte, allem
Leben zu Grund liegende Bildungsgeſetz in ſeiner urſprünglichſten Form,
[207] der raumerfüllenden, und das Subjective daran, das blos Geahnte, iſt
eben ein Reflex dieſes Geſetzes im Gemüthe; der Punkt im allgemeinen
Naturleben, wo die Individualiſirung des Elementariſchen ſich in der
Achſen-Anſchießung des Kryſtalls vorbildet, wiederholt ſich in der geiſtigen
Sphäre der Phantaſie und gibt ſich ſein Nachbild in deren Werk. Es
bleibt alſo bei der Beſtimmung der ſtrengen Objectivität und bei unſerem
Eintheilungsprinzip.
In ihre einzelnen Momente auseinandergelegt hat dieſe Kunſtform zuerſt1.
das Material, aus dem ſie ſchafft, darauf anzuſehen, daß es nicht nur feſt,
hart, haltbar ſei, ohne bis zu einem den monumentalen Eindruck aufhebenden
Ueberſchuß der Kraft über die Maſſe fortzugehen, ſondern auch, daß es freie
Theilung zum Zwecke jeder Maſſenfügung zulaſſe, der künſtleriſchen Bear-
beitung der Oberfläche und Ausführung des Decorativen die entſprechende
Textur darbiete und endlich ſowohl durch dieſe, als auch durch den Farbenton
die der Baukunſt und ihrer einzelnen Aufgabe entſprechende äſthetiſche Wirkung
hervorbringe. Nach dieſem Maaßſtabe ſind das Holz, die natürlichen2.
Stein-Arten, der aus Thon künſtlich gebildete Stein und das Eiſen
zu beurtheilen.
1. Die bisherige allgemeine Entwicklung des Weſens der Baukunſt
iſt nun beſtimmter nach ihren einzelnen Momenten auseinander zu legen.
Zuerſt kommt das Material in Betracht. Die Feſtigkeit, Härte, die
Cohärenz als die Eigenſchaft, worauf die Trag- und Haltkraft beruht,
ſind Bedingungen des Materials, welche zunächſt nur die handwerks-
mäßige Seite der Baukunſt angehen. Doch ſtehen auch ſie ſchon mit der
äſthetiſchen in einem untrennbaren Zuſammenhang, denn die verſchiedene
Kraft des Materials kann ein äſthetiſches Motiv im weiteſten Sinne
d. h. Beſtimmungsgrund zu verſchiedenem Style, aber auch im engeren
Sinne d. h. Quelle fruchtbarer Gedanken im einzelnen Zweig oder Kunſt-
werk werden, ſie kann im Gegentheil auch ein äſthetiſches Hinderniß ſein.
Die Rückſicht auf dieſe Grundbedingungen muß ſich daher auch durch das
Folgende hindurchziehen. Was den „Ueberſchuß der Kraft über die
Maſſe“ betrifft, ſ. Anm. 2. Der §. ſtellt nun drei nähere, vom Mecha-
niſchen in das unmittelbar Aeſthetiſche überleitende Bedingungen auf. Die
erſte iſt die der freien Maſſenfügung; der Stoff ſoll ſie zulaſſen, aber
der bearbeitende Menſch muß auch ihre Nothwendigkeit erkannt, die er-
14*
[208]forderliche Behandlung gelernt haben. Durch dieſes Geſetz wird jede
Bauthätigkeit, die den gewachſenen Felſen ſtehen läßt und entweder aus-
höhlt, um nur ein Inneres zu ſchaffen, oder ausſpart und nun von
außen und innen bearbeitet, einer unreifen Vorſtufe zugewieſen, denn
ſie iſt von ihrem Material im Grundplane, in der ganzen Anordnung,
vor Allem in Geſtaltung der Decke, in allen Einzelheiten ebenſo ab-
hängig, als ſie auf der andern Seite zu jeder Willkühr verführt wird.
Von jener Belebung des ſtatiſch Wirkenden, die in §. 557 dargeſtellt iſt,
kann nicht die Rede ſein, wo die Gegenſätze des Tragenden und Ge-
tragenen überhaupt nicht da ſind, weil kein getrenntes Material in gegen-
ſätzliche Wechſelwirkung tritt, ſondern Wand, Stütze, Dach in der Con-
tinuität des Naturproducts fortlaufen. Es iſt hier das Prinzip der Bau-
kunſt, die Idealiſirung der unorganiſchen Natur (§. 558) noch nicht ent-
wickelt, weil der Menſch nur an der ſtehen gelaſſenen unorganiſchen Natur
thätig iſt, nicht Theile derſelben ablöst, um ſie ihr in freiem Aufbau
entgegenzuſtellen. Statt der entfernten Analogie mit ihr, mit Felſen,
Gebirge herrſcht noch das Verwachſenſein mit ihr. Wie innig damit die
tiefere äſthetiſche Wirkung zuſammenhängt, zeigt ſich aus dem Eindrucke
ſolcher Höhlen- und Fels-Tempel: ſie rufen wohl auch die Ahnung der
bauenden Urkraft hervor, aber nicht als einer lichten, geiſtigen, ſondern
als einer dunkeln, blinden, düſtern. Die nächſte Stufe iſt die Anwendung
großer, unbehauener Steinblöcke, aus denen die Haupttheile eines Ge-
bäudes, Wand und Decke, je aus Einem Stücke beſtehend, zuſammen-
gefügt werden. Die Glieder fangen an, ſich zu löſen, aber die bauende
Hand iſt noch von dem Zufall abhängig, ob das Material in großen
Blöcken bricht. Die freie Thätigkeit fordert, daß jedes Glied aus ein-
zelnen Stücken gefügt wird, und dieß geſchieht in erſter, roher Weiſe
im cyklopiſchen Mauerverbande, der die einzelnen Stücke, aus denen er
ſein Werk zuſammenſetzt, noch nicht geometriſch bearbeitet, ſondern, wie
ſie brechen, nach der zufällig gegebenen Fuge aneinanderlegt und auf-
thürmt: immer noch ein halb unorganiſches, berg-ähnliches Häufen, ein
halbes Naturwerk (vergl. §. 524, Anm. S. 116, wo das Stehenlaſſen
eines Stücks Natur im Kunſtwerk als Folge von Unreife oder Ueberreife
erwähnt iſt). Ein Reſt dieſes Natürlichen iſt nach eingetretener regel-
mäßiger Bearbeitung und Fügung abſichtlich beibehalten im ſog. style
rustico, wo dieſes belaſſene Stück Natur den Eindruck derber Kraft her-
vorbringen ſoll. Die wirkliche Beherrſchung des Materials ſetzt voraus,
daß die Größe des einzelnen der Stücke, aus denen der Bau gefügt wird,
ſowie ſeine Geſtalt frei beſtimmt werde; iſt das Material natürlicher
Stein, ſo muß man verſtehen, ihn in verſchiedenen Größen zu brechen,
nach dem Winkelmaaße für die einfache Würfelfigur und nach andern
[209] Maaßen, Zirkelriß u. ſ. w. für Curven und andere, zuſammengeſetztere
mathematiſche Formen im Steinſchnitte zu bearbeiten. Dadurch erſt iſt
der Baukünſtler im Stande, jeden Theil ſo zu fügen, daß jenes leben-
dige Wechſelverhältniß der Kräfte entſteht, das alle Baukunſt fordert.
Ihre ganze Wichtigkeit erhält dieſe Grundbedingung freien Baus in der
Decke: „da aus der Ueberſpannung und Ueberdeckung der Räumlichkeit
wie der freien Stützenweiten die Gliederung der Deckung hervorgeht und
wiederum an die Gliederung der Deckung das Schema des Planes, die
Diſpoſition und die realen Abſtands- oder Spannweiten der freiſtehenden
Stützen gebunden ſind und nach ihr geſtimmt werden, ſo kann man ſagen:
der Bauſtyl ſtehe in Hinſicht auf Mechanik“ (nicht blos dieß) „am höch-
ſten, welcher mittelſt einer künſtlichen, Momente erzeugenden Gliederung
der Decke jedes Material ſo weit beſiegt habe, daß er nicht allein die
größeren Raum- oder Stützweiten überſpannen, ſondern dabei auch jed-
wedes Schema der Räumlichkeit überdecken könne und mithin möglich
mache“ (Bötticher a. a. O. Excurs I, S. 2). — Die zweite Bedingung
iſt eine Textur des Materials, welche die der allgemeinen und einzelnen
Aufgabe entſprechende künſtleriſche Bearbeitung der Oberfläche und Aus-
führung des Decorativen zuläßt. Der Ausdruck iſt abſichtlich unbeſtimmt
gehalten; ein Bauwerk fordert ſeiner Bedeutung nach feinere Bearbeitung,
Schleifung, Politur, einem andern ſteht eine rauhere Oberfläche, ſicht-
barer Meißelſchlag beſſer an; ein gewiſſer Grad von Feinheit, Glätte
wird dem ernſt monumentalen Styl immer widerſprechen, dagegen dem
prachtvollen, glänzenden, leichten, ſchlanken günſtiger ſein; der Zufall,
daß gerade ein Material zur Hand iſt, das in dieſer Beziehung die eine
oder andere Behandlungsweiſe bedingt, kann aber auch auf die Stimmung
des Künſtlers tief zurückwirken und ſo auf den Grundcharakter ſeines
Werkes einfließen. Was insbeſondere die Glieder und das Ornament
betrifft, ſo iſt klar, daß das feinere Korn eine reichere Durchbildung, das
gröbere eine breitere Haltung auch nach dieſer Seite mit ſich bringt. —
Die dritte Bedingung faßt mit der vorhergehenden das Moment der
Farbe zuſammen. Die Wichtigkeit dieſes Moments folgt von ſelbſt aus
dem, was über die in den Farben liegende Stimmung in §. 246 ff.
geſagt iſt. Sofern die natürliche Farbe des Materials unzulänglich er-
ſcheint, tritt hier die Frage über die Polychromie ein. Da jedoch, auch
wenn bewieſen ſein ſollte, daß im griechiſchen Bau kein Fleck unbemalt
blieb, dieſes Verfahren nimmermehr allgemeines, bleibendes Geſetz werden
kann, ſo behandeln wir dieſe Frage vorerſt ganz unbefangen ſo, daß wir
überall von der natürlichen Farbenwirkung des Materials ausgehen und
die Farbe nur als eine Nachhilfe betrachten, die da eintritt, wo dieſe
unzulänglich iſt.
[210]
2. Wir haben nun die wichtigſten Arten des Materials an dieſe
Maaßſtäbe zu halten. Hier bietet ſich denn als das Nächſte ein ur-
ſprünglich lebendiger, durch Trocknung todt gewordener Stoff (vergl.
§. 490 Anm.), das Holz dar. Gerade daß dieſer Stoff ſchon eine Form
mitbringt, ſcheint im Widerſpruch mit dem angeführten §. hier zunächſt
den größten Vortheil zu begründen. Der Baumſtamm nämlich bietet ſich
wie von ſelbſt als Stütze, überzulegender Balken, als Dachſparren dar
und ſo iſt das Weſentliche eines verſchließenden Raumes beiſammen; die
Behauung und die Verbindung durch Stöße der verſchiedenſten Art, Zähne,
Zapfen, Nägel, Bolzen, Schrauben, Bänder, Anker iſt leicht; die Tragfähig-
keit geht vermöge der Zähheit der faſerigen Textur ſechs- bis ſiebenmal weiter,
als die des Steines, der übrigens zudem nie in ſo langen Stücken bricht,
als die größeren Bäume ihre Stämme treiben. Durch dieſe Eigenſchaften
erſcheint denn das Holz als das natürliche Material für den eigentlichen
Kern des Baus, es iſt ſicher das älteſte für das einfache Haus und nichts
ſcheint einleuchtender, als daß die klaren Motive dieſes primitiven Baus
dem griechiſchen Steinbau zu Tage liegen. Wenn man nun aber erwägt,
daß die verſchließenden Maſſen im monumentalen Bau ein Ganzes von
einheitlich gefügten Theilen bilden müſſen, wofern ſie jenen Fluß der
Linie und jene gediegenen Fluchten darſtellen ſollen, die unſer Auge ver-
langt, ſo ſtellt ſich die Sache ganz anders. Die Verſchlüſſe aus langen
Balken zu bilden iſt nur in rohen Blockhäuſern thunlich, die Baukunſt
verlangt kleinere Stücke in Würfel- und jeder andern beliebigen Form,
um die Hände ganz frei zu haben. Solche laſſen ſich nun aus dem Holz
zwar ſchneiden, aber es entſtehen dann zu viele Stellen, wo die Richtung
ſeiner Faſern quer durchſchnitten iſt und daher die Auflöſung eindringt:
ein neuer Beweis, daß todter Stoff (§. 490) überall das Beſte iſt.
Dieſes Uebel zu vermeiden, werden dann die Verſchlüſſe aus Stein,
Backſtein gemacht, das Holz bildet alſo nur das Gerippe, und es ent-
ſteht der ſogenannte Riegelbau, welcher, der übrigen Nachtheile nicht zu
gedenken, ein für allemal den Charakter der Zweiheit, Getheiltheit trägt.
Das Holz iſt aber überhaupt ein Material von ungleich geringerer Dauer,
als mineraliſcher Stoff; Bedeckung mit Anwurf ſchützt es auf lange Zeit,
iſt ihm aber auch wieder ſchädlich, und der Schein eines Gebäudes aus
Einem Material, der durch den Verputz hervorgebracht werden ſoll,
bleibt immer etwas Unſolides. So ergibt ſich denn, daß ſich das Holz mit
der Entwicklung des monumentalen Bau’s mehr und mehr in das Innere,
namentlich das Dachgerüſte zurückziehen mußte. Nichtsdeſtoweniger behält
der Holzbau ſeinen, ſelbſt äſthetiſchen, Werth. Wenn er nicht durch
Verputz es verbergen will, daß er nur ein Gerippe-Bau iſt, wenn er
das Holzgerüſte durch einen beſondern Anſtrich, der allerdings dem Holze
[211] nöthig iſt, geradezu hervorhebt, wenn er ſich beſcheidet, einen ländlich-
patriarchaliſchen Charakter zu entwickeln, ſo erfreut er durch ſeine primitive
Stimmung, ſeine Urſprünglichkeit, und zwar nicht nur im eigentlichen
Gebiete der ländlichen Baukunſt, worin er allerdings einen alterthümlich
gemüthlichen Styl beſonders im deutſchen Hochgebirg und in der Schweiz
entwickelt hat, nicht nur in Structuren tüchtiger Gemeinnützlichkeit, wie
Eiſenbahnſchuppen und Anderes, nicht nur im Innern monumentaler Ge-
bäude, wie denn der offene Dachſtuhl der Baſilika ſo entſprechend dem
Sinne eines Urbaus ehrwürdig einfacher Religion wirkt, ſondern auch
fortwährend und jederzeit in größeren Werken der politiſchen und reli-
giöſen Baukunſt ſowohl, als im ſtattlichen Wohnhaus. Da erinnert man
ſich, daß das Bauernleben, dem der Holzſtyl beſonders angemeſſen iſt,
die urſprüngliche Form begründeten menſchlichen Zuſammenlebens iſt, das
Einfache, Urgerüſtartige, worin alles ſtreng Conſtructive als ſolches her-
vortritt, erhält höhere, poetiſche Bedeutung. Nun, dieſe Beſcheidung vor-
ausgeſetzt, kommen erſt die poſitiven Vortheile in Betracht. Man kann
jeden Raum überſpannen und bei ſehr ausgedehntem Umfang durch Hänge-
werk dennoch die Stütze entbehrlich machen, concentriſche Ueberſpannung
runder Gebäude, die dem Steinbalkenbau eigentlich widerſpricht, iſt da-
durch dem Holze noch natürlich, man kann mit verbundenen Bohlen,
deren Seitenſchub ein Durchzug auffängt, rundbogig und ſpitzbogig wöl-
ben, man kann endlich Kuppeln herſtellen. Und nun iſt noch der große
Vortheil der leichten Schnitzung des Holzes zu erwägen, wodurch nicht
nur dieſelbe Welt von Gliedern, die ſich im Steinbau ausgebildet, ſich
kräftig in ihm ausdrücken läßt, ſondern wodurch dieſes Material zugleich
das Motiv für die reichſte ornamentiſtiſche Erfindung in ſich enthält. Die
Zierlichkeit, die damit gegeben iſt, widerſpricht dem Charakter der das
Grundgerüſte bloslegenden Urſprünglichkeit nicht; aber wo ſie für ſich
mit Verkennung des ſtructiv Ausdrucksvollen, was in dem letzteren liegt,
ſpielend verfolgt wird, führt ſie freilich in das Leere und Kindiſche. Die
nachdrücklich leitende Hand eines daneben entwickelten Steinbaus iſt aber
bei glücklicher Ausbildung des Holzbaus immer vorausgeſetzt; fehlt ihm
dieſe Anlehnung, ſo bleibt er bei den Motiven des Zeltes ſtehen, wie der
dünne Stangenbau der Chineſen mit den ausgeſchweiften Dächern und
phantaſtiſchen Verzierungen. — Das ächt monumentale Material iſt aber
der gewachſene Stein. Dieſer verhärtete Niederſchlag der großen Erd-
Revolutionen, der an ſich ſchon das feſte Gerüſte der Erde darſtellt, hat
die nöthige Dauer und Tragkraft, um das ideale Abbild des Grundbaus
der Erde dauernd in ihm auszuführen, er enthält jenes Verhältniß zwi-
ſchen Kraft und Maſſe, wodurch dem Auge die großen Functionen der
ſtructiven Theile überzeugend entgegentreten, und bietet ſich ebenſoſehr zur
[212] Fügung der mehr nur verſchließenden Maſſen, ſo daß ein Ganzes aus
Einem Guſſe, wie bei dem Holze nicht, möglich wird. An ſich indiffe-
rent gegen die Form nimmt er im Allgemeinen jede an, die nicht zu
einer den ſtructiven Charakter aufhebenden Dünnheit fortgeht, doch laſſen
ſich die natürlichen Grenzen des Verhältniſſes zwiſchen Kraft und Maſſe
durch bindende Nachhilfen (Döbel u. dergl.) erweitern. Die im Allge-
meinen körnige Textur gibt auch dem feiner Ausgeführten im decorativen
Theile den nöthigen Charakter der Solidität und läßt doch verſchiedene
Grade der Feinheit in der Bearbeitung der Oberfläche bis zur Politur
zu, und die große Mannigfaltigkeit der Färbung bietet ſich den verſchie-
denſten Zwecken dar: die vollere Farbe und das reinere Weiß den Auf-
gaben höherer Pracht, die ruhigeren Farbentöne dem einfacheren monu-
mentalen Zwecke. Verkleidung und Färbung kann, wo die gewünſchte
Farbenwirkung im Materiale nicht vorhanden iſt, nachhelfen, ohne daß
der Stein darunter leidet, wie das Holz. Wie ſich innerhalb dieſer all-
gemeinen Eigenſchaften einzelnes Geſtein unterſcheidet, wird an wenigen
Haupt-Arten klar. So bieten die quarzhaltigen Sandſteine in ihren
Farben: grau, gelblich, grünlich, weißlich, braun, düſterer oder heller roth
(Straßburger- und Freiburger-Münſter) dem Auge einen architektoniſch
höchſt wirkſamen Ton und zugleich iſt ihre markige Textur in dem Sinne
günſtig, daß ſie die allzufeine Bearbeitung der Oberfläche nicht zuläßt,
daher eine mächtigere, energiſch breite Ausführung der Glieder und Or-
namente gebietet; der Meißelſchlag, den man bei ſolcher Behandlung
ſichtbar läßt, ſtimmt mit jener Textur zuſammen und gibt den Eindruck
des Kräftigen, des Naturderben, des Monumentalen. Dagegen hat der
thonhaltige Keuperſandſtein (namentlich am Neckar) zwar ebenfalls ange-
nehmen, wiewohl nicht ſo ſchönen, graulichen, grünlichen, auch röthlichen
Farbenton, iſt durch ſeine Weichheit bequemer zu bearbeiten und läßt
feinere Einzelbildungen zu; allein dieſe Eigenſchaft führt auch leicht zu
einer Zierlichkeit, die nicht mehr architektoniſch iſt, und zu dem weniger
kräftigen Eindruck der thonigen Textur kommt noch die nahe liegende allzu-
geleckte Behandlung der Oberfläche, namentlich durch häufiges Schleifen.
Eine noch viel breitere Haltung, als der quarzige Sandſtein, bedingt durch
ſeine Poroſität der Tufſtein; das Starke und Tüchtige der maſſigen Behand-
lung wird bei der gelben Farbe des Travertin zum Großartigen, Feſtlichen.
Unter den Kalkſteinen iſt hier als beſonders edles Baumaterial nur der Mar-
mor zu erwähnen und zwar vor Allem der weiße. Die reine Farben-Einheit,
die das Weiß darſtellt, verbunden mit dem feinen Korn, dem Anhauch
von Durchſichtigkeit, übergehend in den herrlichen gelblichen Anflug, den
der pariſche und penteliſche Marmor mit der Zeit annimmt, muß als der
herrlichſte Stoff für den idealen Ausdruck der höchſten Aufgaben der Bau-
[213] kunſt erſcheinen. Dagegen ſind es die bunten, bunt-geäderten und ſchwarzen
Marmor-Arten, ſowie die ſo gefärbten Arten des Urgebirges, Granit,
Baſalt, Porphyr, Serpentin u. ſ. w., welche ſich für glänzende Ausfüh-
rung von Aufgaben mehr beſonderer, differenter Art, wie Paläſte, Feſt-
ſäle, Grabdenkmale als das naturgemäße Material darbieten, denn das
Schwarze und die vollere beſtimmte Farbe ruft eine ſpezifiſche Stimmung
hervor, wie ſie der idealen Allgemeinheit des Tempels und anderer
monumentaler Bauten von großer öffentlicher Bedeutung nicht zuſagt.
Die Härte des Urgebirgſteins, welche die Behandlung ſehr erſchwert,
weist ebenfalls auf dieſe Beſchränkung hin und auch die Politur, die bei
den ſchwarzen und bunten Steinen geliebt wird (man nennt in weiterem
Sinn allen politurfähigen Stein Marmor), entſpricht mehr den genannten
Zwecken. — Trotz allen dieſen Vortheilen liegt im Steinbau eine Be-
ſchränkung, welche die Architektur in engen Grenzen der Entwicklung
hätte halten müſſen, wenn nicht das Bedürfniß freierer Bewegung zu
einem andern Materiale gegriffen hätte. Man kann nämlich aus Stein
zwar wölben, wo es ſich aber nicht blos von Gurtbögen, ſondern
ganzen Gewölben (Tonnengewölben, Kuppel u. ſ. w.) handelt, da iſt
es nothwendig, die Steine durch Mörtel zu einem möglichſt feſten Con-
tinuum zu verbinden, weil durch Bruch oder Ausweichen eines einzigen
Steins das Ganze leidet. Schon da wird alſo der Stein als ſolcher
unweſentlich; doch behält er daneben ſeine Bedeutung namentlich da, wo
das Gewölbe, wie z. B. bei einer Brücke, ſelbſt ſtarke Laſten tragen muß.
Nun aber führen gleichzeitig ſtatiſche Bedingungen und äſthetiſches Ge-
fühl zu einer reicheren Gliederung ſolcher Gewölbe, die nicht ſelbſt wieder
zu tragen haben und die man zur Verminderung des Drucks und Schubs
ſo viel als immer möglich zu erleichtern ſucht: zur Herſtellung eines Netzes
von Stützen, auf welchen leichte, durch Kreuzgurten vierfach getheilte
Wölbungen ruhen; hier fungiren nur die Gurten, die Kappen ſind blos
dünner Verſchluß und da iſt denn der Stein wirklich nicht mehr zweck-
mäßig, ſondern wird ein künſtliches Material erfordert, aus dem ſich
eine Maſſe wie in Einem Guß, ein Continuum, das hart und doch
nicht dick und ſchwer iſt, herſtellen läßt. Dieſe gegliedertere Form führt
alſo noch beſtimmter, als jene einfachere vom Stein ab; wo dieſer ein-
ziges Prinzip iſt, da entwickelt ſich wirklich das Wölben nicht; der Steinbau
in ſeinem wahren Weſen führt nicht zum Runden, ſondern beharrt bei
der geraden Linie und ihrer Verbindung zum Winkel, wo das Geſetz
der Schwere nur in der Form der freiſtehenden Stütze und des überge-
legten Steinbalkens überwunden wird: er bleibt gebundener Steinbalken-
(Architrav-) Bau. Gebunden aber iſt dieſer Bau nicht nur in der ganzen
Anlage durch das Unverrückbare, Unbewegliche ſeiner Verhältniſſe, ſon-
[214] dern auch nach der Seite des Materials durch ſeine Abhängigkeit vom
natürlichen Brechen des Geſteins. Es laſſen ſich freilich Steinbalken bis
in die 30 Fuß Länge brechen, aber dieß bleibt mehr oder minder zufällig;
die Baukunſt muß ſuchen, Räume verſchiedener Weiten überſpannen zu
können ohne dieſe Abhängigkeit und das Verharren im Steinbau iſt daher
nur der Beweis, daß ſich dieſes Streben noch nicht eingeſtellt hat. Daß
übrigens der Zufall des Geſteinbruchs auch hier zum äſthetiſchen Motiv
werden kann, leuchtet ein: große Quader, große Balken, wo ſie ſich
brechen laſſen, beſtimmen den Künſtler zu energiſcheren Formen, als
kleine. — Jenes künſtliche Material nun iſt der zum Ziegel gebrannte
Lehm. Abgeſehen von dem Zwecke freierer Gliederung iſt es zunächſt der
Stein-Mangel, der dieſes Material (auch durch bloße Trocknung an der
Luft gehärtet) hervorbringt. So in Aſſyrien, ſo in ſteinarmen Gegenden
überall. Große Härte und Dauerhaftigkeit läßt ſich ihm geben, in der
Form, Größe, Fügungsweiſe läßt es große Freiheit zu, es iſt bekannt,
wie man jetzt z. B. ganze Fenſterfüllungen zu Kirchen aus Einem Stück
herſtellt; der Mörtel verbindet die Theile zu ungemein feſten Maſſen.
Für die tragenden Haupttheile wird der Stein mit der ſichtbaren Fügung
ſeiner maſſigen Blöcke günſtiger ſein, der ſich dann in der Wölbung (und
Dachdeckung) mit dem Backſtein verbindet. Bloßer Backſtein-Bau ſetzt, wie
der Holzbau, wenn er ſich zu monumentaler Bedeutung erheben ſoll,
allerdings den entwickelten Steinbau voraus, wie er aber in ſteinarmem
Lande die Noth in eine Tugend verwandeln kann, iſt ſchon zu §. 518
berührt. Wir führen noch an, wie die nöthige Sparſamkeit zu Gliede-
rungen im gothiſchen Bau geführt, welche das Prinzip der Theilung in
fungirende und blos verſchließende Maſſe in höchſt belebter Weiſe auch
auf die Mauer des Wohnhauſes übergetragen haben, wo denn zwiſchen
Pilaſter-artigen ſtärkeren Körpern die mittleren Felder mit den Fenſtern
als bloße Füllung erſcheinen (vergl. die ſchönen Häuſer aus Greifswalde
und Elbing in Kallenbachs Atlas); wenn hier ornamentartige Theile zu
tragenden, widerhaltenden ſich entwickeln, ſo werden umgekehrt tragende,
wie die kleinen Wölbungen, die über wagrechte Thür- und Fenſterſtürze
geſetzt ſind, zu Ornamenten. Im Uebrigen iſt durch ſchwerere Brennung
und leichtere Verbröcklung des aus der Linie Heraustretenden im Orna-
mente Mäßigkeit geboten, was namentlich bei der wuchernden gothiſchen
Ornamentik als heilſam erkannt iſt. Was nun die Oberfläche betrifft, ſo
läßt ſich der Backſtein beſonders leicht für polychromiſchen Schmuck ver-
kleiden; allein er bedarf es keineswegs, gerade hier liegt vielmehr noch
ein wichtiger Punct, der uns auch zum natürlichen Steine noch einmal
zurückführt. Der Backſtein läßt ſich noch abgeſehen von der Farbe durch
die Fügungsweiſe zu einer in mannigfaltiger Zeichnung an Stickerei
[215] erinnernden Darſtellung der Flächen verwenden (opus reticulatum u. ſ. w.),
er läßt ſich aber auch aus verſchiedenfarbigem Thon bereiten, in verſchie-
denen Farben glaciren und die ſo gefärbten Einzelglieder können in ihrer
Fügung wie ein Moſaik zu beliebiger Form zuſammengeſtellt werden,
wozu noch die plaſtiſche Belebung durch Vor- und Zurückſtellen tritt. Hier
iſt eine Auskunft der fruchtbarſten Art aus der Streitfrage der Polychromie
gegeben und daraus muß auch der Steinbau offenbar noch mehr lernen,
als bisher, er muß, wo er ſich zur Verbindung mit der Farbe nicht ent-
ſchließen kann und will, durch Anwendung verſchiedenen Farbentons im
Geſtein und Beiziehung des Backſteins in Gliedern, Ornamenten eine
Polychromie ohne Farbe entwickeln. — Endlich das Eiſen. Seine Stärke
und Bildbarkeit durch Schmieden und Guß, die Leichtigkeit ſeiner Ver-
bindung durch Schrauben u. ſ. w., das Verhältniß der Kraft zum Volu-
men, das eine Raumöffnung erlaubt, wie kein anderes Material, ſcheint
eine Welt neuer Entwicklungen zu verſprechen. Es leuchtet aber ſogleich
ein, daß hier ein Grad der Raumeröffnung nicht nur möglich, ſondern
mit Nothwendigkeit gegeben iſt, der wohl praktiſch für die modernen Be-
dürfniſſe, aber nicht monumental iſt. Hier nämlich wird jenes in rein
ſtructiver Hinſicht ſo günſtige Verhältniß zu dem im Paragraphen abge-
wieſenen Mißverhältniß zwiſchen Kraft und Maſſe, weil in der Welt des
Schönen Inneres (hier Kraft-Entwicklung und Rhythmus der Verhältniſſe)
und Aeußeres (hier Fülle der Ausdehnung) einander augenfällig entſprechen
müſſen. Dazu kommt dann, daß aus dem Eiſen ſich das decorative Ele-
ment nicht organiſch entwickeln läßt; denn eben weil die Leiſtung mit ſo
wenig Aufwand von Maſſe geſchieht, eignet ſie ſich nicht zu einem ent-
ſprechenden Ausdruck in kräftig hervorſchwellenden und wieder eingezogenen
Gliedern, aus den mechaniſchen Verbindungen durch Schweißen, Schrau-
ben u. ſ. w. läßt ſich keine organiſch begründete Symbolik als Ausdruck
des Zuſammenſtoßes entwickeln und bei der eigentlichen Ornamentik wird
die Dünne übel wirken, wie in den ſtructiven Theilen. Der vorzüglich
Raum-öffnende Charakter wird dem Eiſenbau vor Allem die Herſtellung
des Innern (namentlich auch Galerien, Emporen u. dergl.) anweiſen und
es iſt abzuwarten, was er darin noch leiſtet.
Das Ganze, zu welchem die Baukunſt dieſes Material zuſammenfügt,
beſteht, als Umſchließung eines Raums nach den Seiten und nach oben, aus
Wand (Mauer) und Decke: jene tragend, dieſe zunächſt getragen. Das
Ganze bedarf des Unterbaus und die Decke meiſt noch eines Dachs. Die
Nothwendigkeit der Raumöffnung fordert Fenſter und Thüren und, zu-
[216] ſammenwirkend mit dem äſthetiſchen Geiſte, als Reduction des Tragenden
freiſtehende Stützen. Der wichtigſte unter dieſen Theilen iſt die Decke:
die Art, wie ſie den Raum überſpannt, ſich mit den freiſtehenden Stützen ver-
bindet, aus einem blos Getragenen und Gehaltenen zu einer Einheit mit
dem Tragenden und Widerſtrebenden fortgebildet wird, begründet die Grund-
form des ganzen Baus. Der hievon ausgehende Schwung bemächtigt ſich vor
Allem der freiſtehenden Stütze und erhebt ſie zur gegliederten Geſtalt.
Wand und Decke ſind die urſprünglichen einfachen Grundbeſtand-
theile der Umſchließung eines Raumes. Sie ſtellen zunächſt einfach den
Hauptgegenſatz, den des Tragenden und Getragenen, dar. Ein weſent-
licher Zuwachs zu dieſen Grundbeſtandtheilen iſt noch nicht gegeben im
Unterbau, der übrigens nicht nur die ſtatiſche Bedeutung hat, als Verſtärkung
des natürlichen Grunds das Ganze zu tragen, ſondern auch die äſthetiſche,
den idealen Bau von dem rohen der unorganiſchen Natur ſtreng abzu-
ſondern. Das Dach iſt ſchon ungleich wichtiger, doch keiner der abſoluten
Beſtandtheile und nicht in jedem Bauſtyl vorhanden; es iſt zunächſt der
Schutz der Decke, kann aber auch (im Kuppelbau) mit ihr zuſammen-
fallen; doch erkennt man, daß die Decke, wenn ſie es zu tragen hat, eine
neue Function erhält, indem ſie dann nicht mehr blos getragen iſt. Auch
Thüren und Fenſter führen kein ſtructiv beſtimmendes neues Glied ein,
die Art ihrer Ueberdeckung hat zwar zu wichtigen ſtructiven Schritten ge-
führt, indem die Nothwendigkeit, den überdeckenden monolithen Sturz zu
entlaſten, ſchon die Griechen zu jener Methode führte, die Steine des
Mauerwerks auf beiden Seiten von unten auf anſteigend übereinander
ſo vertreten zu laſſen, daß die obere Oeffnung ſchmal oder ſogar ſpitz-
winklich wird: eine merkwürdige Vorſtufe des Prinzips der Wölbung; im
Großen und Ganzen aber folgt ihre Form nur den Kunſtfortſchritten, die
ſich an wichtigeren Theilen entwickeln. Ein organiſch bedeutendes neues
Glied iſt erſt die freiſtehende Stütze, dieſe Abbreviatur der Wand oder
Mauer. Der Paragraph ſagt, daß ſie dem Bedürfniſſe der Raumeröff-
nung im Zuſammenwirken mit dem äſthetiſchen Geiſt ihre Entſtehung ver-
danke; warum dieſe höhere Beziehung gerade an dieſer Stelle zuerſt
eingeführt wird, dieß erklärt ſich, wenn man bedenkt, wie im Innenbau
die freien Stützen zunächſt zwar nur mechaniſch nothwendig werden, wenn
für weite Räume Decken-tragende Körper erforderlich ſind und doch Ver-
kehr und Ueberſchauung des Raums nicht unterbrochen werden ſollen, wie
jedoch an einer Aufgabe ſo umfaſſender Art ſich vorzüglich die höhere
Kunſtform entwickeln muß, die ſolche Räume weit über das bloße Bedürfniß
hinaus organiſiren und ein Hauptmoment der Entfaltung freier Schönheit
in jenen freien Körpern erkennen wird, wie mit den größeren Räumen
[217] auch die Zahl ſolcher freier Körper in äſthetiſchem Ueberfluſſe ſich mehrt;
wenn man ferner bedenkt, wie im Außenbau die Säulenhalle ſich aus-
bildet, welche über das gemeine Bedürfniß von vornherein hinaus-
liegt. Die frei ſtehende Stütze hängt aber weſentlich mit der Decken-
bildung zuſammen, und umgekehrt entwickelt dieſe in Verbindung mit ihr
erſt jene höhere Bedeutung, wodurch ſie eine Einheit des Tragenden und
Getragenen darſtellt. Wo ſie ein Dach zu tragen hat, leiſtet ſie dieß nun
in der kühneren Weiſe, daß von Stütze zu Stütze ein Balken ſich über-
ſpannt, der von dieſen getragen wird, aber ſelbſt, obwohl frei ſchwebend,
die Deckenbalken und das Dach trägt, wo ſie ohne dieſe Function ſich
zum getheilten, zergliederten Gewölb ausbildet, das ſich auf Stützen ſtemmt,
da ſtellt ſie jene Einheit in einer kunſtvollen gegenſeitigen Spannung dar.
Im Kuppelbau ohne innere Decke fällt freilich ein Theil der letztern reichen
Wechſelwirkung weg, doch iſt die Kuppel ſelbſt nicht blos getragen, ſondern
trägt zugleich durch innere Spannung ſich ſelbſt. Eben durch dieſe zuſammen-
faſſende Bedeutung iſt es nun aber die Decke, welche die Grundform und
Gliederung des ganzen Baus bedingt und die durchgreifendſte Bedeutung
für das Ganze hat. Dieſer ſchon zu §. 562, 1. berührte Punct iſt zunächſt
in der Lehre von der architektoniſchen Compoſition, vollſtändiger im geſchicht-
lichen Theile wieder aufzufaſſen, wo zugleich die im §. eingeführten Begriffe
des Haltens und Widerſtrebens ihre Erläuterung finden werden. Das
ſtatiſche Leben, das von hier ausgeht, verwandelt nun die frei ſtehende
Stütze, ſofern ſie nur trägt, in die rund mit ſanfter Schwellung auf-
ſtrebende Säule, und ſofern ſie zugleich einem Seitendruck widerſtrebt,
daher die viereckige Maſſe jenes Mauerſtücks erfordert, das Pfeiler heißt,
verleiht es dieſem ſeine künſtleriſche Gliederung: Geſtaltungen, auf die
wir ſeines Orts zurückkommen werden.
Dieſe Theile ſtellen als Grenze ihrer Fügung die Linien und Flächen dar,1.
welche, an ſich nur eine leere Unendlichkeit darſtellend, durch Abbrechung und
Zuſammenſtellung ihrer verſchiedenen Richtungen zur Andeutung beſtimmteren
Inhalts erhoben werden. Die wagrechte gerade Linie drückt die an der feſten
Erde ruhig gehaltene, die ſenkrechte die bewegt aufſteigende Kraft aus; jene
kann ſich gegenſätzliche Bewegung und Zuſammenfaſſung nur in der abſtracten
Form des Winkels und Vierecks geben, das im Zuſammentritt mit der ſenk-
rechten den ausgedehnten Körper umſchreibt, welcher die Wirkungen beider,
nunmehr hin- und zurückfließenden, Linien vereinigt. Die ſchrägen Linien als
die mittleren zwiſchen dieſen ſind zuſammenfaſſend, aufgerichtet und zum Winkel
verbunden, ſchließen ſie das Ganze nach oben ab. In der gebogenen Linie2.
kündigt ſich durch ihre Rückkehr in ſich das tiefere, ſubjective Leben an, aber
[218] als Kreis- und Halbkugel fließt ſie in unterſchiedsloſer Einheit; nur verbunden
mit den Gegenſätzen der geraden Linie ſtellt ſie als Kreis- und Kugelaus-
ſchnitt in allen Formen und Zuſammenſetzungen, welche möglich ſind, ohne das
ſtatiſche Geſetz aufzuheben, den vollendetſten Anklang innerer Unendlichkeit dar,
der dieſer Kunſt in ihren ſtructiven Haupttheilen möglich iſt.
1. Wahre, innere Unendlichkeit hat nur jenes Ineinander von Linien
(als Begrenzungen des raumerfüllend Körperlichen), welches der organiſche
Leib darſtellt, in der Durchſchnittsbildung zwar meßbar, in der frei ſpie-
lenden Linie der Individualität unbeſtimmbar; die Baukunſt weist auf
dieſe vollzogene Geſtalt der innern Unendlichkeit nur entfernt hinüber
(vergl. §. 558). Dieſes Hinüberweiſen liegt aber darin, daß ſie den Ver-
lauf der Linie, der in ſeiner Einfachheit das „ſchlechte Unendliche“ wäre,
durch Zuſammenſtellung verſchiedener Linien bricht. Es verſteht ſich zwar,
daß die Baukunſt nicht eine Linie buchſtäblich in’s Unendliche fortlaufen
laſſen kann, aber ſie kann durch Unterlaſſung architektoniſchen Abſchluſſes
dieſen Eindruck erregen; dieß zeigt die Pyramide, die nach oben zwar in
ihrer Spitze ſich abſchließt und ſo eine Zuſammenfaſſung des breiten
Erdlebens in eine ideale Einheit ſymboliſirt, aber da ſie keine eigentliche
künſtleriſche Baſis hat, den Zuſchauer beſtimmt, von oben nach unten zu
gehen und die beiden Schenkel als in’s Grenzenloſe ſich abſenkend zu
denken: ein unendlicher Prozeß, der in die leere Vorſtellung eines un-
organiſirten, formloſen Erdlebens hinausführt; ſofern in dieſen Andeutungen
auch das Politiſche ſich ſpiegelt, drückt ſich darin aus, daß die monarchiſche
Spitze ſich über einer werthlos ungezählten Menge erhebt. In der wahren
Baukunſt erſcheint die aus zwei ſchrägen Linien gebildete Spitze nur als
ein auf die beſtimmte Baſis des Vierecks, Achtecks geſtelltes Dreieck. —
Was nun zunächſt die allgemeine Bedeutung der Linien (und Flächen)
betrifft, ſo muß man ſich wohl hüten, in der zu §. 561 angegebenen
Weiſe zu allegoriſiren; es iſt zunächſt der Zweck des Gebäudes und das
ſtatiſche Geſetz, was die Linien beſtimmt, aber wir haben ebenda geſehen,
daß ſie in gewiſſem Sinne doch auch für ſich ſprechen. Nun, da wir auf
ihre beſtimmteren Unterſchiede eingehen, kann vorläufig auf den grund-
verſchiedenen Eindruck des rechtwinklichen Gebäudes und der Rotunde als
ſchlagendes Beiſpiel hingewieſen werden. Die Art, wie wir nun die
Bedeutung der Linien zu beſtimmen ſuchen, weicht einigermaßen von der
in §. 91 und 261 gegebenen ab; dieß iſt aber natürlich daraus zu er-
klären, daß dort von Formen der unorganiſchen Natur die Rede iſt, deren
Wirkung nothwendig ein bewegteres Gefühl, ſo zu ſagen mehr Farbe,
lyriſchen und dramatiſchen Ton mit ſich führt, als die reine, ſtrenge Linie
der Baukunſt. Klarer wird die angegebene Bedeutung werden, wenn die
[219] aus dem Vorherrſchen der einen oder andern entſtehenden Hauptrichtungen
in der Darſtellung der geſchichtlichen Style nach ihrem geiſtigen Ausdruck
beſtimmter charakteriſirt werden. Die Bedeutung, die wir der Brechung
der einen Linie durch die andere, der Zuſammenſtellung im Winkel u. ſ. w.
beilegen, mag man ſich vorſtellig machen, indem man ſich erinnert, wie
wir die Symbolik der abſtracten Formen ſelbſt auf das reiche Leben des
Charakters übertragend, den unintereſſanten Menſchen flach nennen, von
dem in’s Unbeſtimmte zerfließenden Gemüthe ſagen, es fehlen ihm die
Ecken und Spitzen. Dieß iſt nun freilich ein Vergleichen mit ganz Ent-
legenem, analogiſirt man beſtimmter, ſo iſt es eine andere Linie, die an
den Geiſt gemahnt, wogegen dann die gerade und der Winkel als ſtreng
ſächlich erſcheint; immer jedoch bleibt die Umwendung von einer Linie in
die andere die erſte Beſtimmung des Unbeſtimmten, immer erſcheint dieſer
Abſtoß als ein entferntes Vorzeichen deſſen, was in unendlich höherem
Gebiete der Gegenſtoß von Ich und Nicht-Ich iſt. — Gehen wir nun
ſpeziell auf die verſchiedenen Linien ein, ſo bedarf die Ausſage des §.
über die Wirkung der wagrechten und ſenkrechten keiner weitern Aus-
führung, die Charakter-Unterſchiede des Styls, worin die eine oder andere
vorherrſcht, ſind ſo bekannt, daß wir uns ſchon hier darauf berufen dürfen.
Die unterſcheidende Bewegung und Zuſammenfaſſung tritt nun zunächſt in
der wagrechten Linie ein durch den rechten Winkel, der vierfach wieder-
holt das Viereck eines Grundriſſes bildet: ſie ſtößt ſich viermal ab und
kehrt ſo in ſich zurück. Da wir die Linien immer zugleich als Flächen
vor uns haben, ſo laſſen wir nun aus dem Zuſammentritt mit der ſenk-
rechten Linie ſogleich den von ſechs Vierecken umgrenzten Körper entſtehen,
den wir nur darum nicht mit ſeinem eigentlichen Namen Würfel nennen,
weil wir uns als herrſchende Form das Oblongum im Grundriſſe vor-
behalten müſſen, in welchem ein Unterſchied der Länge von der Breite
und Höhe auftritt, der in concreterem Zuſammenhang weiterhin aufzu-
faſſen iſt. Beide Linien, die wagrechte und ſenkrechte, ſind nun von der
doppelten Bewegung des Hin- und Zurückfließens ergriffen; das Auge
geht in die Tiefe, muß umwenden und zurückgehen, es ſteigt an Wänden
und Stützen auf, ſinkt wieder herab und ſteigt wieder auf: ein erſter, zu
relativem Abſchluß gelangender Bewegungsprozeß. Was nun die ſchräge
Linie betrifft, ſo macht ſich ihre zuſammenfaſſende Natur als Diagonale
in der Theilung des liegenden Vierecks geltend, noch wichtiger iſt der
Zuſammentritt zweier ſchräger Linien als Abſchluß nach oben im Giebel
(die geböſchten Mauern, Thüren Aegyptens ſind eine ſchon von unten be-
ginnende Neigung zu dieſem Zuſammentritt): hier ſteht ſie in der Mitte
zwiſchen Liegen und Aufſteigen, iſt daher wirklich vermittelnd und gibt in
dem ruhigeren oder bewegteren Abſchluß des ſtumpferen oder ſpitzeren
[220] Winkels bereits eine höher einheitliche Zuſammenfaſſung. Es bedurfte
keiner beſondern Hervorhebung, daß auch dieſer Winkel als ein doppelt
bewegter, ein aufſteigender und nach unten ſich ausbreitender, vom Auge
begleitet wird. In der That, wie der menſchliche Körper nicht nur an-
geſchaut werden kann als aufſteigender Bau, deſſen Säulen Rumpf und
Haupt tragen, ſondern auch als abſteigender, deſſen kugelförmiges Haupt ſeine
Träger nach unten ſchickt und ſie ſich unterſtellt, ſo kann im Bauwerk nach
allen ſeinen Theilen das Obere wie als Letztes, ſo auch als Erſtes gefaßt werden,
das ſeine Träger in die feſte Erde ſenkt, nur daß in dieſer Doppelbewegung
die aufſteigende Faſſung als die beſtimmende immer wiederkehrt und den
Vorrang behält; blos in einer ſo unreifen Baukunſt, wie ſie im gedrückten
indiſchen Grotten-Tempel mit vorherrſchender Laſt auftritt, erſcheint die
abwärts gehende Bewegung als die herrſchende, nur in der Pyramide
bleibt die Bewegung auf oder ab zweifelhaft; das Werk der ächten Bau-
kunſt kann zwar auch als ein nach dem Mittelpuncte der Erde abſinkendes
gefaßt werden, entſcheidend aber bleibt der Eindruck, daß es durch einen
markirten Anſatz ſich erhebt und ſchließlich feſt nach oben zuſammenfaßt:
der Dachgiebel liegt zwar auf, breitet ſeine Flügel dem empfangenden
Gebälke, der Wand entgegen, allein Unterbau und Sockel treiben das
Auge aufwärts, das Kranzgeſimſe durchſchneidet jene abſinkende Bewegung,
der Blick geht wieder empor und ſchließt ſeinen Weg in der Spitze. Dem
widerſpricht dasjenige nicht, was im vorhergehenden §. über die Bedeutung
der Decke geſagt iſt: die Organiſation geht zwar von ihr aus und der
Blick des Anſchauenden daher von ihr abwärts, allein ſchließlich erſcheint
ſie doch aus den von unten aufſteigenden Stützen hervorgewachſen oder
von ihnen gefordert, gleichſam erwartet. Die Thurmpyramide als ſpitzigere
Form des Winkels iſt für das Auge ſchlechthin mehr ſteigend, als abſinkend.
Die ſchräge Linie hat allerdings noch eine andere Bedeutung, als die
hier geltend gemachte der Zuſammenfaſſung: ſie erzeugt Mannigfaltigkeit,
wo ſie Winkel und Kreis polygoniſch bricht. Es iſt aber hier nur erſt
von den Hauptformen im Großen und Ganzen die Rede, wo denn dieſe
Linie in ausgedehnter Richtung angewandt jenen Charakter behauptet.
2. Von der runden Linie iſt ſchon in §. 257 die Rede geweſen.
Horizontal erſcheint ſie nur im Rundbau, halbkreisrunden Chor-Abſchluß,
dort als vollkommener Kreis, dem die Kuppel noch die Halbkugel (ganze
Kugel iſt natürlich undenkbar) hinzufügt. Kreis und Kugel iſt Sinnbild
des Vollkommenen, Planetengeſtalt; das menſchliche Haupt als höchſtes
in der organiſchen Natur iſt rund, aber es ſtellt ſich Eckiges daran hervor;
das Runde iſt als die in gleichem Abſtande vom Mittelpuncte immer fort-
ſtrebende und zurückkehrende, in ſich verlaufende Linie eine leere, unter-
ſchiedsloſe Einheit und gleicht dem Selbſtbewußtſein, das ausgehend doch
[221] immer bei ſich bleibt, aber dem unerfüllten, objectloſen, inhaltsloſen.
Daher fordert der §. als höhere Form den mit der geraden Linie, die
nun die Gegenſätze des erfüllten Lebens andeutet, zuſammengeſtellten Kreis-
und Kugel- Ausſchnitt: dieſer erſcheint dann als die Einheit, welche Gegen-
ſätze überſpannt, zuſammenfaßt, auflöst. Auch an das Firmament erinnert
das übergeſpannte Runde; iſt alle Baukunſt idealiſirte unorganiſche Natur,
ſo iſt dieſer Theil das ideal nachgebildete Himmelsgewölbe, die tiefere
Hindeutung aber iſt die auf den überblickenden, vereinenden, überwachenden
Geiſt. Von den verſchiedenen Curven, welche architektoniſch möglich ſind,
iſt hier noch nicht weiter zu handeln. Das Verhältniß der krummen zur
geraden Linie iſt eigentlich irrationell, aber nur ebenſo wie der erſte Stoß
des Geiſtes in ſeiner reinen Allgemeinheit auf das Object, und wie für dieſen
nun die ſchwere Aufgabe der Ergreifung und Verarbeitung des Gegen-
ſtandes beginnt, ſo für die Baukunſt die Schwierigkeit der Ueberführung,
Vermittlung zwiſchen beiden Linien. Sie hat dieſelbe in verſchiedener Weiſe
zu löſen geſucht, wie die Geſchichte zeigen wird. Daß die im engern
Sinne ſogenannten Glieder hier von höchſter Bedeutung ſind, leuchtet ein.
Der vollendete Bau zerfällt, in ſeinen Erſtreckungen betrachtet, nach dem1.
Raum-Schema in den Grundriß, nach ſeinem Innern in den (ſenkrechten)
Durchſchnitt, nach ſeinem Aeußern in den Aufriß. Die Geſtalt der Einzel-
theile ſpricht ſich in der Schärfe ihrer äußern Grenze durch das Profil aus.
Die äſthetiſche Wirkung des Innern und Aeußern zeigt das perſpectiviſche
Bild. Auf die Unterſcheidung des Innern und Aeußern (§. 555), das2.
Syſtem der Linien (§. 564), die ſtructiven Hauptmomente (§. 563) gründet
ſich nun die Eintheilung verſchiedener Hauptrichtungen in der Baukunſt:
Innenbau und Außenbau, Hochbau und Langbau, daneben Vierech
und Rundbau, Bau der vorherrſchenden Laſt oder Kraft. Der Innenbau
bedingt die Ausbildung der Façade. Dieſe Gegenſätze verhalten ſich ſo, daß
die entwickelte Kunſt ſowohl ihre Glieder, als auch ſie ſelbſt unter ſich mit
mäßigem Uebergewichte des einen oder andern Moments verbindet, wobei die
Vereinigung des Viereckigen und Runden von durchgreifender Wichtigkeit iſt.
1. Von den verſchiedenen Riſſen iſt hier nicht in der Abſicht die Rede,
um noch einmal den der Ausführung vorangehenden Entwurf von dieſer
zu unterſcheiden, wie dieß ſchon in §. 555 geſchehen, ſondern um das
Gebäude nun von allen Seiten zu betrachten; es iſt als vollendetes ge-
dacht und muß nach ſeinen verſchiedenen Dimenſionen auseinandergelegt
werden, damit ein Geſammtbild entſtehe. Volle äſthetiſche Geltung hat
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 15
[222]blos die perſpectiviſche Zeichnung, die erwähnten geometriſchen Riſſe ſind
nur Momente, aus denen das Geſammtbild ſich aufbaut; der Grundriß
zeigt keine Geſtalt, ſondern nur Raumſchema, Umfang und Diſpoſition
des Umſchließenden und Stützenden, der Durchſchnitt in ſenkrechter Richtung
(auf Längendurchſchnitte haben wir hier nicht einzugehen) legt nur das
Innere in ſeiner Gliederung nach Breite und Höhe blos, der Aufriß gibt
je nur Eine Seite, das Profil zeichnet nur die äußere Umgrenzung des
durchſchnittenen Körpers in ihrer Schärfe; aber bei einem in ſo viele
Seiten zerfallenden Werke wie dem der Baukunſt iſt der äſthetiſche Genuß
des Ganzen erſt, wenn er ſich durch dieſe Grundlagen der Auffaſſung des
Einzelnen vermittelt, ein vollſtändiger und daher verbergen auch dieſe
abſtracten Momente für den lebendig Auffaſſenden jene Reize in ſich, die
das Aufquellen des ganzen Bildes in ſeinen verſchiedenen Stufen begleiten.
Die perſpectiviſche Zeichnung dagegen iſt aufgenommen vom Standpuncte
des Zuſchauers, der vom Ganzen auf eine gewiſſe Entfernung zurückge-
treten iſt und es nun ſo auffaßt, wie es ſich dem überblickenden Auge nach
den Geſetzen der ſcheinbaren Veränderung in der Ferne nach Tiefe und Höhe
darſtellt. Die fehlende Farbe, die Nicht-Aufnahme jenes Naturtons, den
das Gebäude durch das Nagen des Wetters u. dgl. erhält, die Weglaſſung
des Umgebenden unterſcheidet dieſe Auffaſſung noch vom maleriſchen Bilde,
das aber auch nicht mehr blos architektoniſch-äſthetiſch iſt, ſondern andere
äſthetiſche Beziehungen hinzubringt; das perſpectiviſche Bild gibt die reine
Geſammt-Wirkung der raumerfüllenden Formen.
2. Das perſpectiviſche Bild muß das Innere und das Aeußere des
Gebäudes geſondert darſtellen. Durch dieß und durch den Unterſchied des
Durchſchnitts von Grundriß und Aufriß haben wir nun nebſt den zwei
vorhergehenden §§. alle Bedingungen beiſammen, um die großen Haupt-
Unterſchiede der Richtung zu überſehen, die als an ſich begründet im
Weſen der Baukunſt zuerſt in abſtracter Allgemeinheit aufzuführen ſind,
in der Geſchichte der Style aber als ihrer realen Darſtellung ſich zu
concreten Geſtalten entwickeln, wo denn auch die geiſtige Bedeutung,
welche dieſen Gegenſätzen inwohnt, beſtimmter zur Sprache kommen muß,
als es hier möglich iſt, wo dem Hiſtoriſchen nicht zu ſehr vorgegriffen
werden darf. Vorerſt iſt zu begründen, warum keine weiteren Hauptrichtungen,
als die genannten, aufgeführt werden können. Dieſe Frage erhebt ſich
nur bei der auf die Linien gegründeten Eintheilung in Langbau und Hoch-
bau. Hier iſt kein Breitenbau aufgeführt: in der Erörterung der archi-
tektoniſchen Compoſition wird ſich zeigen, warum das Oblongum mit dem
Eingang an einer der Schmal-Seiten künſtleriſch gefordert iſt; der Palaſt
als Oblongum mit der Façade auf einer Langſeite, wodurch die Länge
zur Breite wird, gehört mit mehreren andern Conſtructionen (für Ge-
[223] werbe, Verſammlungen u. ſ. w.) in das Gebiet, wo die blos anhängende
Kunſt ſich erſt zur freien erhebt. Neben dem Viereckbau iſt kein Dreieck-
bau, noch außer der runden irgend eine mathematiſche Figur genannt:
der Grund davon wird ſich aus dem erſt aufzuführenden Geſetze der
Symmetrie ergeben; alle zuſammengeſetzten Schemata, wie Kreuzgeſtalt,
Polygon haben das Viereck und den Kreis zu Grunde liegen. Der
Gegenſatz des Viereckigen und Runden iſt zunächſt nur mit einem „Da-
neben“ aufgeführt und erſt nachher die tiefgreifende Bedeutung ſeiner
Löſung hervorgehoben. Die reine Rotunde kommt nämlich, abgeſehen
von Gebäuden, die nicht den höchſten Gebieten angehören, wie Theatern,
Odeen, und von bloßen Theilen eines Bauwerks der höchſten Gattung,
wie Kirchthürmen, nur als eine Uebergang bildende vereinzelte Erſcheinung
vor, die ſich mit dem Vierecke, welches die durchaus herrſchende Grundform
iſt, erſt zu vereinigen hat; der Grund davon iſt im Charakter unterſchiedsloſer
Einheit, der im Kreiſe liegt, ſchon im vorhergehenden §. im Allgemeinen aufge-
wieſen und ebenda die innere Bedeutung des Eckigen und der Kreisausſchnitte
ſo weit ausgeſprochen, daß ſich errathen läßt, warum die Vereinigung dieſer
Gegenſätze ein Ziel der reifſten Entwicklung iſt. Dagegen tritt jedes
Glied der übrigen Gegenſätze, die der §. aufführt, einſeitig ausgebildet
nicht nur in vereinzelten Uebergangs-Erſcheinungen, auch nicht im blos
anhängenden Gebiete (wie Hochbau bei Fabriken), ſondern in ganzen,
wiewohl nur unreifen Kunſt-Epochen als herrſchende Richtung der höheren
und höchſten Kunſt (Grabmal, Tempel) auf und erſt die reife Kunſt, wie
der Ueberblick über ihre Geſchichte zeigen wird, verſöhnt in irgend einem
Grad immer ſowohl die Glieder jedes Gegenſatzes miteinander, als auch
das Ganze jedes Gegenſatzes mit dem Ganzen eines andern. Die Façade,
d. h. die reichere Kunſtgliederung der Seite, die der Bau der Menge der
Vorübergehenden und Eintretenden entgegenſtreckt, dieſes Angeſicht, worin
der Bau ſeine Seele nach außen ausſpricht, wird darum weſentlich vom
vorherrſchenden Innenbau entwickelt, weil dieſer ſein zunächſt verborgenes
Innere als Hauptſitz der Schönheit nach außen dem Herantretenden an-
zukündigen bedacht ſein muß, was freilich eben ſelbſt ſchon eine relative
Löſung des Gegenſatzes zwiſchen Innenbau und Außenbau iſt. Was
übrigens dieſen Gegenſatz betrifft, ſo wird ſich zeigen, daß wo ſeine
Glieder noch einſeitig auftreten, zugleich eine dialektiſche Schwierigkeit
darüber entſteht, welchem [derſelben] eine Bauart angehöre.
Dieſe Elemente hat die Compoſition, welche in dieſer Kunſt als
Rhythmus (vergl. § . 500) das Ganze des äſthetiſchen Lebens in ſich begreift,
15*
[224]zuerſt nach dem Geſetze des Umfangs-Maaßes (§. 495. 496) oder der
Oekonomie ſo durchzubilden, daß nach der Seite der architektoniſchen Auf-
gabe und der in ihr enthaltenen Idee nichts fehlt und nichts müßig liegt, nach
der ſtructiven Seite alle Theile zu Momenten des wechſelwirkenden Ganzen,
d. h. zu Gliedern werden.
Wir haben nun die Compoſition als die Herſtellung der Einheit in
der Vielheit zu betrachten und faſſen ſie hier von Anfang an als
Rhythmusbildend auf, denn hier iſt der Rhythmus Alles: d. h. er hat
nicht, wie in andern Künſten, Individuen zu ordnen, welche auch außer
dieſer Ordnung etwas für ſich wären; der Theil eines Gebäudes (z. B.
die Säule) kann ein Individuum genannt werden, aber nie in dem Sinne,
wie z. B. eine einzelne menſchliche Geſtalt in einer plaſtiſchen Gruppe,
einem Gemälde, Gedichte von mehreren Figuren, Charakteren, denn er iſt
außer ſeiner Beziehung zum Ganzen nichts, exiſtirt als Einzelweſen in
der Natur gar nicht. Das ganze Geheimniß der Schönheit liegt alſo
im Verhältniß, was in der Darſtellung des allgemeinen Weſens der
Baukunſt hinreichend dargethan iſt. Indem wir nun den dort (§. 557)
ſchon aufgeſtellten Begriff des Rhythmus, wie alle jene erſten allgemeinen
Beſtimmungen zergliedern, nehmen wir die einzelnen Pflichten der Com-
poſition der Reihe nach auf, wie ſie in §. 495 ff. aufgeſtellt ſind, und
nennen die erſte, welche das Maaß zu beſtimmen hat, wodurch das Zu-
viel und das Zuwenig abgeſchnitten wird, die der Oekonomie, denn
obwohl dieſe erſte Aufgabe der Compoſition in der Anwendung auf
ſämmtliche Künſte ſo heißen kann, ſo gilt doch der Name ſchon ſeiner
Etymologie nach im ſtrengſten Sinne der Baukunſt. Beiläufig iſt
der Begriff ſchon zu §. 556 aufgeführt, wir faſſen ihn jetzt ge-
nauer. Die Oekonomie iſt nicht blos Sparſamkeit, man verſtehe denn
darunter mehr, als eine blos negative Thätigkeit, nämlich jene Weisheit
des Haushalts, die am rechten Orte reichlich ausgibt um am andern
wenig oder nichts ausgeben zu müſſen, während die Thorheit durch ein
Zuwenig am falſchen Ort zu einem Zuviel am andern genöthigt wird.
Dieſe Pflicht oder Tugend bezieht ſich nun zunächſt auf den gegebenen
Bauzweck, der aber nachgewieſener Maßen mit der Idee zuſammenfällt,
weil eben ein an ſich idealer Zweck vorausgeſetzt iſt. Was dem Gottes-
dienſt abgeht, das fehlt dem Ausdrucke der Gottheit, was leer und müßig
ſteht als ein todter Ueberfluß, dient weder dieſem noch jenem. Die
Glockenthürme, die dem Pantheon zu Rom aufgeſetzt ſind, erſcheinen als
ein rein ſtörender Ueberfluß an einem antiken Tempel und ſind zugleich
zu wenig für den chriſtlichen Begriff des Glockenthurms, der mit dieſem
antiken Gebäude unvereinbar iſt; dieß fällt ſelbſt abgeſehen von ihren
[225] ſchlechten Formen unmittelbar architektoniſch in’s Auge. Man darf natür-
lich den Cultuszweck nicht zu enge nehmen: das Götterbild oder die
Gemeinde ſoll nicht nur gehörigen, ſondern würdigen Raum haben, worin
das Gemüth entſprechend der Stimmung, die in der Art der Gottesver-
ehrung liegt, ſich erweitern kann. Inhaltsvoller entfaltet ſich das Geſetz
der Oekonomie, wenn ſich der Bau dem umfaſſenderen Zwecke gemäß
mehrfach gliedert, wie in der reich entwickelten Kreuzesform der gothiſchen
Kirche, verglichen mit dem einfachen Säulenhauſe der Griechen, am inhalt-
vollſten, wenn eine ganze Gruppe von Gebäuden Einen Gedanken darzu-
ſtellen hat. Nach der ſtructiven Seite, deren innige Einheit mit der äſthe-
tiſchen Belebung ſchon erläutert iſt, gebietet das ökonomiſche Geſetz, keine
Kraft zu verſchwenden, ſondern ſie an der rechten Stelle ſo zu ſparen, daß ſie
an der andern mit um ſo vollerer Wirkung entwickelt werden kann, und um-
gekehrt durch Kraftaufwand am rechten Orte Erſparniß am andern zu gewinnen,
allerdings alſo mit möglichſt wenigen Mitteln das möglich Bedeutendſte zu wir-
ken, nur daß dabei nicht vergeſſen werde, wie jede Zurückhaltung und Entfal-
tung der Kraft im äſthetiſchen Gebiete auch vollkommen erſcheinen muß. Da
dieß ein Wechſelverhältniß aller Theile vorausſetzt, ſo führt das Geſetz der
Oekonomie bereits auf das tiefere der durchgängigen Gliederung, wonach
nichts im Bau hervortreten ſoll, was nicht ein Moment iſt in jener gegen-
ſeitigen Spannung des Ganzen, worin Alles trägt und getragen, hält
und gehalten wird. Nur kommt dieſes tiefere Geſetz noch nicht nach
ſeinem poſitiven innern Grunde, ſondern erſt äußerlich, negativ, quanti-
tativ zur Sprache. Es handelt ſich um das Zuviel und Zuwenig, die
nur zwei Kehrſeiten deſſelben Fehlers ſind. Eine Säule, die nichts trägt,
ein ſchwebender Anbau (z. B. Balkon), deſſen Unterſtützung nicht augen-
fällig iſt, Säule und Gebälk, die vor einer gewölbten Oeffnung, welche
ihrer nicht bedarf, rein decorativ vorſpringen: Alles dieß iſt ſowohl Zuviel,
als Zuwenig. Es verſteht ſich, daß es verſchiedene Grade der Innigkeit
gibt, womit die einzelnen Theile als Glieder organiſirt werden. Das
Dach trägt nicht ebenſo, wie es getragen wird, wiewohl es in anderer
Weiſe weſentlich dem Ganzen dient, nicht nur als mechaniſcher Schutz,
ſondern auch als äſthetiſcher Abſchluß; die horizontale Deckung trägt zwar
die Decktafeln (Kalymmata) und, wenn man die Triglyphen mit ihr
zuſammenfaßt, das Kranzgeſimſe und die Dachſparren, aber ſie trägt nicht
ſo viel wie die Säule; dagegen übt die gewölbte Decke eine ungleich
ſtärkere, organiſch eingreifendere Thätigkeit aus. Vom Standpuncte der
Oekonomie betrachtet iſt nun an dieſen zwei Hauptſyſtemen namentlich in’s
Auge zu faſſen, wie der griechiſche Styl den rohen Pfeiler auf die Säule,
dieſe vom plumpen auf den ſchlankeren Schaft reduzirt und indem er alle
Laſt auf die Säulen-Axen wirft, eine ſtraffe Sparſamkeit entwickelt, wie
[226] dagegen der mittelalterliche Bau durch die Rippen die Gewölbefelder
entlaſtet, allen Schub auf die Strebepfeiler hinausleitet und da-
durch einen noch ſtrengern Haushalt einführt. Von den Gliedern
im engern Sinne wiſſen wir (§. 557) bereits ſoviel, daß ſie
das ſtructive Leben des Baus mit wenig oder gar keiner eigentlichen
Dienſtleiſtung nur äſthetiſch ausſprechen; es wird ſich fragen, wie weit
das Geſetz der Oekonomie wenigſtens einen Schein des Fungirens von ihnen
fordere, doch muß ſchon hier einleuchten, daß ſelbſt ſolche Zierden, welche
auch nicht ſcheinbar tragen oder durch einen fingirten Druck erzeugt ſind,
ſondern eine Beendung, einen Schluß anzeigen, wie Akroterien, Palmetten
am Stirnziegel, Schlußblumen, als ein wohlbegründeter Ausdruck des Aus-
athmens der Kräfte, durch daſſelbe nicht als müßiger Ueberfluß ausge-
ſchloſſen ſein können. Das Glied geht hier in das Ornament über, dem
durch dieſe Andeutung ſeine Berechtigung und Grenze im Allgemeinen
geſetzt iſt. — In §. 496 iſt an das vorliegende Compoſitionsgeſetz die
Frage nach Recht und Umfang der Epiſode angeknüpft; die Anmerkung
erwähnt als Beiſpiel in der Baukunſt den Erker, dahin gehört auch der
Balkon, es handelt ſich aber vornehmlich vom höchſten Zweige der Bau-
kunſt und da iſt z. B. an Seitenkapellen einer Kirche zu erinnern. Die
Sache iſt dadurch ſchwierig, daß uns im gegenwärtigen Zuſammenhange
das Geſetz der Symmetrie noch nicht vorliegt; ein Anbau, der nicht grund-
weſentlich, ſondern nur durch ein hinzukommendes Motiv (wie Stiftung
einer Familie, einer Innung, die im urſprünglichen Plane nicht mitberech-
net war) bedingt iſt, wird durch die Symmetrie doch ſo in das Ganze
hineingezogen, daß er integrirend erſcheint, und dem entſpricht die innere
Wahrheit, daß ein Werk individueller Frömmigkeit (wie ſie Familien-
begräbniſſe, Seitenaltäre in angehängten Kapellen ſtiftet) doch eben ein
Ausfluß des Allgemeinen iſt, dem der ganze Bau dient, wie denn auch
in der weltlichen Baukunſt ſolche Anſätze, die das Intereſſe weiteren gebil-
deten Genuſſes, öffentlichen Darſtellens und Heraustretens u. dergl. noch
über den Umfang des ſtrengeren Grundplans fordert, aus dem urſprüng-
lichen Bauzwecke natürlich fließen. Wie weit es ſtörend ſei oder nicht,
wenn man die nachträgliche Anfügung erkennt, iſt in abstracto nicht zu
entſcheiden; ein Styl iſt darin nothwendig ſtrenger, als der andere. Wird
aber der Anbau nicht in die Symmetrie des Ganzen hineingezogen, ſo iſt
er architektoniſch ein Fehler und nur die liberale maleriſch hiſtoriſche Be-
trachtung mag ſich mit ihm verſöhnen.
Das zweite Geſetz, welches das Werthverhältniß der Theile zu beſtimmen hat
(§. 497), ſchreibt der Baukunſt als poſitive, aber noch abſtracte Grundlage der Schön-
[227] heit die Proportion vor. Sie beſtimmt das Verhältniß der untergeordneten
zu den herrſchenden Theilen, für alle Theile die Verhältniſſe der Länge, der
Höhe, der Dicke und Breite untereinander.
In §. 497 hieß dieſes Geſetz das der Ueberordnung, Nebenordnung,
Unterordnung. Der dadurch bezeichnete Werth-Unterſchied muß nun in
der Architektur als einer meſſenden Kunſt nothwendig zunächſt als ein
Größen-Verhältniß erſcheinen, worin ein Verhältniß der Stärke (Dicke)
einbegriffen iſt. Dieſes Quantitative wird allerdings von einem Quali-
tativen durchkreuzt, d. h. von einem Unterſchied im Maaße der Durch-
gliederung und Reichthum des Schmucks, jedoch ſo, daß innerhalb der
feiner gegliederten und geſchmückteren Theile ſelbſt wieder der Werth-
unterſchied ſich in einem Größenverhältniß ausdrückt. Das Maaßgeſetz in
der Baukunſt iſt denn weſentlich ein Geſetz der gegenſeitigen Verhält-
niſſe, der Proportion. In dieſem Geſetze iſt keineswegs ſchon das
Ganze der architektoniſchen Schönheit enthalten; wenn wir zu §. 566
geſagt haben, ihr ganzes Geheimniß liege im Verhältniß, ſo war dort im
Begriffe des Verhältniſſes noch weſentlich Tieferes mitbefaßt, nämlich ein
Verhältnißleben der ſtructiven Leiſtungen. Wäre das Größenverhältniß
Alles, ſo müßten beſtimmte Maaßverhältniſſe als Richtſchnur aufgeſtellt
werden können; davon kann aber keine Rede ſein; die claſſiſche Baukunſt
wurde erſt, als ihr inneres Leben vertrocknet war, von der Doctrin auf
einen Kanon von Maaßen reduzirt. Die Erfindung tritt als Qualitatives
erſt hinzu und gibt jedem Kunſtwerk, wie ſie ihm ſein tieferes, im Größen-
verhältniß nicht erſchöpftes Leben einhaucht, ſo auch ſeine eigenen Maaße
und es bleibt inſoweit auch in Beziehung auf unſere Kunſt bei dem Satze
§. 35 und 36, 2., der jede beſtimmte Maaßnorm für das Schöne verwirft.
Nichtsdeſtoweniger enthält das Geſetz des Größenverhältniſſes mehr, als
eine blos äußerliche und negative Bedingung, damit Schönes entſtehen
könne, ſeine Unzulänglichkeit zur Begründung des ganzen Schönen beſteht
blos darin, daß es die zwar poſitive, aber nur erſt abſtracte Grundlage
ausſpricht, die ſich zur wirklich ſchönen Geſtalt verhält, wie das Knochen-
gerüſt mit ſeinen Maaßen zu dem organiſchen Leib. Näheres kann über
das vorliegende Geſetz an der gegenwärtigen Stelle überhaupt nicht aus-
geſprochen werden, denn nicht nur keine beſtimmten Maaße für die Theile
eines Baus laſſen ſich angeben, ſondern auch mit Verzichtung darauf läßt
ſich im Allgemeinen nicht ſagen, was ein Herrſchendes, was ein Unter-
geordnetes, was dem Untergeordneten wieder untergeordnet ſei und wie
ſich dieß theils in den Größenverhältniſſen überhaupt, theils inner-
halb des Werth-Unterſchieds in Gliederung und Ausſchmückung, der die
allgemeinen Größenverhältniſſe durchkreuzt, ausdrücken müſſe. Denn nicht
[228] nur die Erfindung des Einzelnen iſt es, die innerhalb eines gewiſſen
Spielraums frei über die Proportionen ſchaltet, ſondern die Styl-Erfindung
im Ganzen und Großen, ein Werk des Geſammtgeiſtes der Nationen,
beſtimmt dieſen Spielraum ſelbſt in jener verſchiedenen Weiſe, die ſich nur
in der Geſchichte der Bauſtyle im Weſentlichen angeben läßt. Wie ver-
ſchieden iſt die Proportion der Höhe zur Breite und Länge im griechiſchen und
gothiſchen Bau, wie verändert ſich das dem Werthe und Gliederungsgrade nach
Herrſchende, da der griechiſche Tempel den geiſtigen Mittelpunct des gothi-
ſchen Doms, den Chor, gar nicht hat, wie wechſeln die Verhältniſſe im Unter-
geordneten, da jenem die Gruppen in Gruppen theilende Anlage ganz abgeht,
da er nicht Fenſter, nicht Seitenportale neben dem Portal hat! Aber auch
das Wenige, was ſich durch verſchiedene Style mit einiger Gleichmäßig-
keit hindurchzieht und worüber ſich daher etwas Allgemeines aufſtellen
läßt, gehört bereits zu der Erörterung der tieferen Aufgaben der Compo-
ſition, zu der wir nun übergehen, als der Stelle, worin die Proportions-
Verhältniſſe ihren innern Grund haben. Dieß iſt das Schwere an der
Baukunſt, daß wegen ihrer abſtracten Natur ihre verſchiedenen Seiten ſich
trennen zu laſſen ſcheinen wie in keiner andern Kunſt, während doch jede
wieder in der andern begründet iſt und daher das Auseinanderhalten ſo
leicht zum Wiederholen führt. Hervorzuheben iſt noch, daß der Begriff
der Proportion weſentlich eine fortlaufende Wiederkehr derſelben Verhält-
niſſe bei mehrfach vorkommenden Theilen derſelben Seite und Function,
ſowie bei ganzen ſich wiederholenden Seiten in ſich ſchließt. Dieß führt
auf das Geſetz der Symmetrie, deſſen Aufführung jedoch erſt andere weſent-
liche Momente vorausſetzt.
Das Geſetz der Scheidung (§. 498) entwickelt die Formen des Con-
traſts in den Gegenſätzen der Linien (§. 564) und der ſtructiv thätigen Kräfte
(§. 563). Indem die Compoſition dieſe Verhältniſſe ergreift und vor Allem
das Einförmige durch die milde Form des Contraſts zur Mannigfaltigkeit um-
zubilden hat, erhebt ſie ſtatt des gleichſeitigen Vierecks das längliche zur
herrſchenden Grundform, theilt und öffnet die Maſſen über das bloße Bedürfniß.
Dabei leitet ſie der tiefere Zweck, den Ausdruck eines bewegten Anlaufs, eines
Strebens nach oben und einer geiſtigen Bezwingung der Maſſen überhaupt zu
gewinnen. Den ſtarken Contraſt entwickelt ſie in den volleren Gegenſätzen der
Linien und dem Conflicte zwiſchen Kraft und Laſt: einem Ausdruck des
Widerſtreits von Weltkräften, der, wie jene mildere Entgegenſtellung, ſeine
Löſung fordert.
[229]
Die Momente, die hier auftreten, ſind in abſtracter Aufreihung alle
bereits dageweſen, in einem gewiſſen Sinne ſind ſie auch ſchon zuſammen-
gefaßt worden von §. 563 an; ſie treten aber jetzt in die neue Beziehung
der Compoſition, ſie ſtellen ſich unter den künſtleriſchen Begriff des Con-
traſts, der ſeiner Löſung zugeführt werden ſoll. Es iſt in §. 498 eine
milde Form des Contraſts (bloßer Unterſchied, Mannigfaltigkeit) und eine
ſtarke (voller Gegenſatz) unterſchieden worden. Alle Kunſt bewegt ſich in
dieſen Gegenſätzen, ein allgemeines äſthetiſches Geſetz gebietet jeder, ſie zu
entwickeln. Dabei hat aber jede ihre beſondere Aufgabe und aus dieſer
fließt für ſie die beſtimmtere Begründung deſſen, was an ſich ſchon das
äſthetiſche Gefühl überhaupt fordert. Dieß zeigt ſich ſogleich an den drei
Momenten, die wir als Formen der Belebung des Einförmigen zum
Mannigfaltigen unter dem Begriffe des milden Contraſts zu befaſſen haben.
So iſt denn die Form des Würfels an ſich ſchon leblos abſtract, es fehlt
ihr die Bewegung des Unterſchieds. Es iſt daher einer der wenigen
allgemeinen Sätze, die ſich über architektoniſche Proportion aufſtellen laſſen,
daß das Compoſitionsgeſetz die Verlängerung des Würfels zum Oblongum
fordert. Allein es liegt dabei ein beſtimmterer Zweck zu Grunde, der rein
im Geiſte dieſer Kunſt begründet iſt: das Oblongum ſoll einen Anlauf,
eine Bahn nach einem Ziele ausdrücken, wie ja ſein innerer Raum in
Wirklichkeit den Eintretenden hinanführt zum Götterbilde, zum Hochaltar.
Durch dieſes Vorherrſchen der Länge würde aber der Bau als träg an
der Erde hinlagernd erſcheinen, wenn nicht die Linie des Aufſchwungs,
die ſenkrechte, in einer, wenn nicht die Breite überbietenden, doch an ſich
bedeutenden Höhe zur Geltung käme; auch dieß iſt eine allgemein äſthe-
tiſche Forderung des Auges, deren Recht man dem ſtumpf abgeſchnittenen
ägyptiſchen Tempel gegenüber empfindlich genug fühlt, allein es iſt auch
poſitiv der Ausdruck religiöſen Aufſtrebens, der dieſes Verhältniß verlangt,
wobei man keineswegs unmittelbar an den gothiſchen Hochbau zu denken
hat, denn auch der griechiſche Tempel iſt kein ſo einſeitiger Langbau wie
der ägyptiſche. Eine weitere weſentliche Art der Einführung des beleben-
den milderen Contraſts iſt nun die Maſſentheilung und Raumöffnung. Die
erſtere bricht die Einförmigkeit der Flächen durch Gliederung und Orna-
ment, reduzirt als tieferer Grund der Sparſamkeit die Mauermaſſen und
geht ſo in die zweite, die Raumöffnung über, von der ſchon zu §. 563 geſagt
iſt, wie ſie aus äſthetiſchem Motive das Bedürfniß überſteigt. Das all-
gemein äſthetiſche Prinzip, welches die Belebung des Eintönigen durch
Contraſte des Mannigfaltigen gebietet, wirkt alſo in der Baukunſt in die-
ſer beſondern Weiſe der Maſſenbezwingung, deren beſtimmtere Formen
die Lehre vom Decorativen und die geſchichtliche Ueberſicht über die Haupt-
ſtyle zu zeigen hat. — Der ſtarke Contraſt tritt nun natürlich im vollen
[230] Gegenſatze des Wagrechten und Senkrechten, des Geraden und Runden
hervor, und in dieſen Linien bewegt ſich der Zuſammenſtoß der Grund-
gewalten: der Conflict zwiſchen Kraft und Laſt, zwiſchen Schub und Ge-
gendruck. Die Compoſition hat dieſem Conflicte ſeinen vollen Ausdruck
zu geben, denn der ſtarke Contraſt gibt allem Kunſtwerk erſt ſeine feſten
Knochen, Kraft und Salz; in der Baukunſt aber ſoll gemäß ihrer Auf-
gabe, eine Symbolik der bauenden Weltkraft zu geben, vor Allem der
Kampf und Gegenſchlag, auf welchem alle Organiſation des Kosmos ruht,
zur Darſtellung kommen. Das mechaniſch Nothwendige erhebt ſich zum
Ausdruck der Idee, daß der Streit der Vater des Lebens iſt.
Die Herſtellung der Einheit durch Vorbereitung, Motivirung,
Löſung der Gegenſätze (§. 499) vollzieht ſich im Allgemeinen durch lebendige
Entwicklung jedes Cheils aus dem andern. Dabei macht ſich nun vor Allem
die durchgreifende Bedeutung der Decke (vergl. §. 563) in der Art geltend,
daß ſie in ihrer Verbindung mit der freiſtehenden Stütze das Ganze zu einer
organiſchen Wechſelwirkung von Kräften gliedert, welche in ihrer durchgebil-
detſten Form auch die Wand ergreift. Hier treten denn die zuſammenfaſſenden
Linien-Verhältniſſe (vergl. §. 564) in das Leben.
„Im Allgemeinen“: denn ihren vollen Ausdruck erhält die lebendige
Einheit, die dieſes Ganze durchſtrömen ſoll, erſt in den Gliedern und
im Decorativen überhaupt, das hier zwar allerdings als weſentlich mit-
wirkend ſchon in’s Auge gefaßt werden muß, jedoch ohne noch zu der in
§. 557, 3. vorbehaltenen näheren Betrachtung zu kommen. Ehe von der
Bedeutung der Decke die Rede iſt, wird die lebendige Entwicklung jedes
Theils aus dem andern überhaupt als Ausdruck jener Einheit bezeichnet,
denn das wichtigſte Geheimniß ſitzt zwar in jener, aber es handelt ſich
auch von Anderem, wo die Decke jene große Bedeutung nicht haben
kann oder gar nicht in’s Spiel kommt. Im mehrſtockigen Palaſte z. B.
ſoll ein Stockwerk auf das andere vorbereiten, ſo daß ſie in ihren ver-
ſchiedenen Abſtufungen von Größe des Raumöffnenden, von äſthetiſcher
Entwicklung überhaupt aus einander hervorzuwachſen ſcheinen, bis das
Glänzendſte erreicht iſt und dann dieſe Bewegung in einem letzten un-
ſcheinbareren und leichteren Stockwerk ſich auslebt; es erhellt daraus, wie
verkehrt es wäre, den unterſten Stock am reichſten auszuſtatten. Im
durchgegliederten Thurme ſoll ſich das Achteck aus dem Viereck und aus
jenem die Pyramide wohlvorbereitet herausgliedern. Das Portal, die
Façade überhaupt bereitet auf ein reiches und großartiges Inneres vor.
[231] Der einzeln, von der Kirche getrennt ſtehende Campanile iſt ein iſolirtes,
in das Ganze nicht aufgenommenes, mit dem Langbau jener einen unge-
lösten Kontraſt darſtellendes Gebilde. Das Wichtigſte iſt nun aber aller-
dings die Decke. Hier fällt mit dem ſtärkſten Conflicte zugleich die Löſung
in Eines zuſammen, denn wie ſie als übergelegte Laſt allen tragenden
Theilen den Kampf bietet, ſo faßt ſie als das ausgeſpannt Spannende
zugleich ſie alle mit Macht zuſammen und von ihr aus geht die Ver-
wandlung aller weſentlichen Theile des Baus in Glieder eines Organis-
mus, wie dieß in jenem ſchon zu §. 562, 1. angeführten Satze Böttichers
ausgeſprochen iſt, der das Thema enthält, welches der Geſchichte der
Style zu Grunde liegt. Eben der Streit der Kräfte iſt daher auch ihre
Einheit, und das Bild der Wohlordnung des Lebens, wie es aus dem
Kampf der Gegenſätze ſich erzeugt, der Harmonie aus Disharmonie, der
Geiſt, der aus den Reibungen der Materie aufblitzend Alles in ſeine
Einheit zuſammenfaßt, hat daher hier ſeinen geheimnißvollen Sitz. Die
Vorbereitung der kämpfenden Gewalten auf den Zuſammenſtoß iſt bereits
die Vorbereitung auf ihre beruhigende Zuſammenfaſſung: die Wand und
noch mehr die freiſtehende Stütze wächst der Laſt der Deckung entgegen
und findet nun eben in dieſer Leiſtung ihre Ruhe, ihre Feſtigkeit, die
Decke legt ſich mit ihren Enden auf, breitet ihren übrigen Theil frei
ſchwebend über und dankbar für das Auflager ſchenkt ſie dem Tragenden
eben durch ihren Druck ſeinen Halt und Beſtand; nur ſoll natürlich in
dieſer Verſöhnung der Ausdruck des Conflicts nicht verſchwinden: Fenſter
und Thüren folgen in der Form ihrer Bildung demſelben Geſetze, und
ſo bleibt kein Architekturtheil übrig, der nicht in die Wechſelwirkung des
Ganzen eingefaßt wäre, Alles iſt ſich gegenſeitig Motiv; aufſtrebende
Thürme, wo ſie hinzutreten, erſcheinen wie Blumen mit hohen Stengeln,
die aus dieſem vollen, lebensreichen Organismus aufſchießen, um weithin
ſeine Herrlichkeit zu verkündigen. Nun erſt erhalten auch die in §. 564
noch abſtract aufgeführten Linien-Verbindungen ihre wahre concrete Be-
deutung; ſie ſind nur die äußere Grenze organiſcher Verhältniſſe wirk-
licher Körper: die wagrechte über der ſenkrechten erſcheint in dem über
Wand und Säule geſpannten Gebälke, die runde über der ſenkrechten im
Gewölbe; jene ruht auf der Säule, dieſe auf dem Pfeiler; jene läßt
die Wand noch ungegliedert, dieſe zieht auch die Wand in die allgemeine
Gliederung wechſelwirkender Kräfte. Die ſchrägen Linien zum Giebel
zuſammentretend bilden das Dach, das in ſeiner mechaniſchen Bedeutung
nur ſchützend, in ſeiner äſthetiſchen ſchließlich das Ganze noch einmal
nach außen zuſammenfaſſend wirkt und der Höherichtung ihre vollſtändige
Entwicklung gibt. Noch eine andere Bedeutung erhält die ſchräge Linie
in der gothiſchen Baukunſt: ſie beherrſcht als Diagonale auch die Gliede-
[232] rung des Innern in ihren Gewölbefeldern und beſonders den polygonen
Theil des Grundriffes; aber auch in dieſer Anwendung hat ſie weſentlich
zuſammenfaſſenden Charakter.
Das einheitliche Leben des Ganzen als Rhythmus (§. 500) muß ſich,
da es ſich nicht in dem freien Fluſſe der individuellen Linie bewegen kann,
zunächſt in einer um ſo ſtrengeren Durchführung jener allgemeinen Grundlagen
alles individuellen Lebens (§. 558), erhoben zum bindenden Geſetze der Sym-
metrie, geltend machen. Dieſelbe iſt als Gleichſeitigkeit bei nur gedachtem
Mittelpuncte bloße Regelmäßigkeit; in ihrer wahren Bedeutung tritt ſie
auf, wenn der Mittelpunct als ausgebildeter Körper zwei oder mehrere
gleiche Seiten beherrſcht, und ihre reichſte Form iſt die gruppirte Symmetrie,
wo die ſich gegenüberſtehenden Seiten ſelbſt wieder ſolche Mittelpuncte haben
2.(vergl. §. 265). Die Symmetrie entwichelt ſich nothwendig in der Zwei- und
Dreizahl mit den aus ihr hervorgehenden Zahlfortſchritten (vergl. §. 500, 2.);
daſſelbe Zahlengeſetz greift aber als Ausdruck des in der Symmetrie nicht er-
ſchöpften rhythmiſchen Lebens durch die Hauptmomente des Ganzen.
1. Die Gliederung (§. 569) iſt noch nicht der Rhythmus, wie er
in §. 500 dargeſtellt iſt. Er verhält ſich zu ihr, wie der allgemeine
Lebensſtrom zu den feſten Formen im organiſchen Leibe: dieſe ſind zwar
die Röhren, durch die er fließt, die Knotenpuncte, in denen er ſich takt-
feſt ſammelt, allein die Bahn ſeiner Bewegung, ſein Aushohlen, Aus-
athmen, ſich Anſammeln, neues Ausſtrömen bis zum Schlußpuncte kann
und muß in der Betrachtung getrennt werden von den Fügungen der
Theile, durch die er ſich bewegt. Wir haben erſt ganz allgemein einen
Rhythmus der Verhältniſſe und Linien in §. 557 gefordert und in §. 566
die ganze Compoſition als Rhythmusbildend gefaßt; der Begriff erhält aber
jetzt engern Sinn und beſtimmt ſich vorerſt zum Geſetze der Symmetrie. In
den Künſten, die das individuelle Leben nachbilden, wird die rhythmiſche
Bewegung als ein Geiſt der Einheit auftreten, der als eine unberechen-
bare, freie Strömung Theile beherrſcht, die entweder, wie im vorhin
gebrauchten Beiſpiele, zwar als Glieder an Form einander gleich ſind,
doch nicht in abſtract geometriſchem Sinne und zudem durch ungleiche
Stellung unterſchieden, oder überhaupt ungleich, wie in einer Landſchaft,
einem Drama. Die Baukunſt aber bildet ja nicht das individuelle Leben
im freien Spiele ſeiner Linien nach, ſondern ſie nimmt, wie dieß in
§. 558 gezeigt iſt, nur die allgemeinen Grundlagen, welche als ver-
borgene Regel alles Leben binden, gleichſam das Knochengerüſte aus dem
Fleiſche des Lebens oder aus dem wechſelnden Geiſte die zeitrechnenden
[233] Marken ſeiner Beſinnung für ſich heraus als das Element, worin ſie
idealiſirend bildet und tiefe Bedeutung ſymboliſch niederlegt. Hier, in
dieſem Gebiete der abſtracten Linie, kann der Rhythmus nicht ein freies
Spiel des Ungleichen unberechenbar beherrſchen, ſondern er muß ſich
vorerſt ganz abſtract ſo äußern, daß er das Ungleiche ſelbſt gleich macht,
d. h. daß Solches, was von einem Mittelpuncte mehrzählig ausſtrahlt,
dieſem zwar ungleich, aber untereinander gleich iſt, und dieß eben iſt
die Symmetrie. Shakespears Lear z. B. führt zwei Fabeln nebeneinander
her, ſie ſind ſich ähnlich, aber nicht gleich, die Handlung der einen folgt
der andern mit raſchen Schritten, doch bleibt ſie auch zurück, um ſie
wieder einzuholen u. ſ. w.; im Bauwerke dagegen müſſen zwei Haupt-
theile, die parallel ſich gegenüberſtehen, einander ganz gleich ſein an
Maaßen, Zahl ihrer Einzeltheile u. ſ. f. Ueberall wo das Starre erſt
in dieſer allgemeinſten Weiſe geſtaltet wird, muß dieſe gemeſſene Bin-
dung und gezählte Gleichſeitigkeit herrſchen, nicht nur in der höhern Archi-
tektur, ſondern in aller Tektonik (vergl. Schleiermacher Aeſth. S. 443. ff.).
Daß hiedurch die Proportion erſt ihren beſtimmten Inhalt bekommt, iſt
zu §. 567 bemerkt. Es ſind nun die verſchiedenen Arten der Symmetrie
beſtimmter zu unterſcheiden. Die erſte, abſtracteſte Form iſt die Gleich-
heit von zwei Seiten nach Linie, Maaß, Zahl und Form einzelner ſelbſt-
ſtändiger Theile, wie Fenſter, Säulen u. ſ. w., die ſich ergibt, wenn man
durch ein (ſchlechthin oder relativ) Ganzes als theilenden Mittelpunct eine
nur gedachte Linie zieht. Schneidet dieſe ideale Linie der Länge nach
durch die Mitte eines reicher gegliederten Baus oder ſenkrecht durch ein-
zelne Theile, woran runde oder geneigte Linien vorkommen, wie bei
Portalen, Säulen, gewölbten Fenſtern, Dachgiebeln, ſo tritt der in
§. 265 hervorgehobene Fall ein, daß die beiden Seiten das umgedrehte
Gegenbild von einander darſtellen. Aber nicht beliebig nach verſchiedenen
Richtungen kann man eine ſolche theilende Linie als Mittelpunct für gleiche
Seiten ziehen; ſolche fallen nicht ab, wenn man die Mitte eines Oblongums
quer von oben durchſchneidet: ſelbſt im griechiſchen Tempel kann nach außen
die Vorhalle reicher gegliedert ſein, als die Hinterhalle, und im Innern
begründet die Stelle des Götterbildes, das geſchloſſene Gemach an der
Hinterſeite der Celle eine Ungleichheit; die gothiſche Kirche aber zerfällt
ſo in zwei Seiten von noch viel auffallenderer Ungleichheit. Ebenſowenig
entſteht, wenn man in der Breite durchſchneidet, eine Symmetrie des
Obern und Untern. Dieß iſt eben ein Beweis, daß die Symmetrie
nicht Alles iſt; ſie kann das aus tieferer Quelle Gegliederte nur in Einer
Richtung durch ihr Taktgeſetz beherrſchen. Die reichere Form der Sym-
metrie nun entſteht, wenn der herrſchende Mittelpunct als beſondere Form
ſichtbar hervortritt, wie im Bau des Mittelalters an der Façade das
[234] höhere Mittelſchiff mit dem Portal, in einem Palaſte der reichere Mittel-
bau zwiſchen den Flügeln u. ſ. w. Der beherrſchten Seiten können nun
mehr ſein, als zwei, z. B. vier in der Grundform des griechiſchen Kreuzes
mit vier gleichen Armen, die von dem Kuppelbau in der Mitte auslau-
fen. Die reichſte Form iſt, wenn die beherrſchten Seiten ſelbſt wieder
dieſe Theilung des Ganzen durch eine reichere Mitte darſtellen, indem
ſich in ihnen wiederholtes Gleiches um eine ſolche gruppirt, wie wenn
Säulen mit Pfeilern wechſeln, wenn gruppirte Fenſter um ein reiches
Portal ſich gegenüberſtehen, wenn die Querſchiffe einer Kirche mit Thür-
men verſehen vom Centralpuncte aus ſich entwickeln. Alles dieß kann
ſich nun natürlich in reicherer Weiſe ausbreiten in einer ganzen Gruppe
von Gebäuden, aber die größere Mannigfaltigkeit des Symmetriſchen
geht hier auf Koſten der ſtrengen Geſchloſſenheit, wie ſie in Einem Bau
ſich durchgliedert. Schließlich iſt noch zu bemerken, daß Mangel an Sym-
metrie, wie ſie durch Laune, durch äußere Hinderniſſe, Zufälle eindringt,
nie vom architektoniſchen, ſondern nur vom maleriſchen oder überhaupt
nicht rein äſthetiſchen, ſondern mit geſchichtlichen Empfindungen gemiſchten
Standpunct aus gebilligt werden kann, und da mag freilich das Unregel-
mäßige namentlich in größeren Ganzen, wie Straßen, öffentlichen Plätzen
ſchöner erſcheinen, als die kahle Regelmäßigkeit unhiſtoriſcher moderner
Städte.
2. Es iſt zu §. 500, 2. geſagt, daß in den Künſten, die nur in
entferntem Sinn nachahmende ſind, ein Zahlgeſetz, insbeſondere ein Zwei-,
Drei- und Fünfſchlag mit beſonderer Beſtimmtheit auftreten müſſe. In
der Symmetrie herrſcht klar die Zwei, wo die Mitte eine nur gedachte
iſt und die unterſchiedenen Einzeltheile der gleichen Seiten nicht gezählt
werden; werden dieſe gezählt, ſo geht die Progreſſion in geraden Zah-
len, alſo auf Grundlage der Zwei fort. Tritt die Mitte als beſondere
Form hervor, ſo herrſcht die Grundzahl alles Lebens und aller Bewe-
gung, die Drei, und da ſich die beherrſchten Seiten wieder zweifach oder
mehrfach theilen, ſo ſchreitet die Progreſſion von da weiter fort. Man
darf bei den „aus der Zwei- oder Dreizahl hervorgehenden Zahlfort-
ſchritten“ natürlich nicht an die reine Regel der Arithmetik denken. Die
Drei kann zu vier, fünf, ſieben u. ſ. w. fortſchreiten, wenn die Mitte
mit drei, vier Ausſtrahlungen u. ſ. w. zuſammengerechnet wird. So iſt
es auch in der Symmetrie des Organiſchen. Die Symmetrie iſt nun
aber nur der Niederſchlag des rhythmiſchen Lebens in der Gleichbildung
ſich wiederholender Theile; dieſe Theile ſelbſt ſind Ausſtrahlungen der
Kraft des Ganzen, die in ihrer Entfaltung ſich ſammelt, geſammelt ſich
wieder entfaltet und endlich beruhigt ihr Leben abſchließt. Der Rhythmus
wird daher in den Hauptmomenten der Fügung des Ganzen ſeinen all-
[235] gemeinen, die Symmetrie nun unter ſich begreifenden Ausdruck haben,
aber auch dieſer muß ſich in einer ſtreng geometriſchen Kunſt in einem
Zahlenverhältniß äußern. Nur bewegt ſich jetzt die Zählung in andern
Richtungen und iſt nicht mehr von einem gleichen Maaße gezählter Theile
die Rede. So gibt denn in der Richtung der Höhe das Tragende und
Getragene einen vollen Zweiſchlag, nimmt man den Unterbau dazu, ſo
iſt es ein Dreiſchlag. Unterſcheidet man zwiſchen Dach und Säule oder
Wand das Mittelglied des Gebälkes, ſo ſpricht ſich ohne den Unterbau
wieder eine Drei, mit dieſem eine Vier aus. Zieht man das Maſſen-
theilende und Raumöffnende bei, ſo tritt in der Mauer Sockel, Haupt-
fläche, Fries, in den frei ſtützenden Körpern Fuß, Schaft, Capitell, im
gothiſch gegliederten Thurme Viereck, Achteck, Helm einander im Drei-
Tacte gegenüber. Im Kreuzgewölbe ſcheiden ſich vier Felder, der Schluß-
ſtein als herrſchende Mitte eingezählt gibt die Fünf. Im Wohnhaus wird
die Zahl von drei Stockwerken die rhythmiſch beſte ſein. Geht man dem
Grundriß nach in die Länge und Breite, ſo gibt im griechiſchen Tempel
die Celle mit Vor- und Hinterhalle eine Drei, dieß Ganze mit dem
Säulen-Umgang eine Zwei; der gothiſche Bau läßt verſchiedene Aus-
gangspuncte der Zählung zu: die Vierung als herrſchende Mitte mit den
vier Ausſtrahlungen Chor, Querſchiffe, Langſchiff bildet eine Fünf; nimmt
man den Chor als reichern Vorſchuß des Centralpuncts der Vierung mit
dieſem zuſammen und ſo als Herrſchendes, ſo ſchickt dieſer Kern zwei
Arme nach der Seite, einen dritten in gerader Richtung aus; geht man
aber von der Façade aus, ſo hat man im Langſchiff den einheitlichen
Ausgang, der ſich in den Quer-Schiffen nach zwei Seiten auseinander-
ſchlägt und in der Schluß-Einheit des Chors wieder zuſammenfaßt. Die
Verſchiedenheit dieſer Zählungsweiſen, deren eine wie die andere zuläßig
iſt, beweist nun aber allerdings, daß die Zahl nicht der Kern des äſthe-
tiſchen Geheimniſſes, ſondern nur ſein Ausdruck iſt; das Weſen der Sache
iſt die Bewegung mit ihren gegenſätzlichen Wendungen und anſammelnden
Ruhepuncten, dieſen Tactſchlägen mit den Ausathmungen dazwiſchen; im
äſthetiſchen Genuſſe läuft ein Zählen dieſer Momente nur dunkel und
halbbewußt unter, wirft ſich das Bewußtſein darauf, ſo kann verſchieden
gezählt werden, nur daß die Progreſſionen der geraden oder ungeraden
Zahl auf die bezeichnete Weiſe einen Zwei- oder Dreiſchlag mit den ge-
nannten Fortſchreitungen immer unterſcheiden laſſen. Jede weitere myſtiſche
Ausdeutung iſt ſchon zu §. 561 Anm. 1. abgewieſen. Eine ſolche hat ſich
namentlich an die Meſſungs-Verhältniſſe der gothiſchen Baukunſt gehängt,
denen man ein allegoriſches Zahlen-Geheimniß unterlegte, das in ihren
Gewerks-Vereinen bewahrt ſein ſollte. Die Grundzahl ſoll im polygonen
Chorſchluß gegeben ſein: iſt er dreiſeitig aus dem Achtecke conſtruirt, ſo
[236] ſoll die Zahl acht in den Pfeilern, in den Länge-Maaßen der ganzen
Kirche herrſchen; iſt er dreiſeitig aus dem Sechsecke conſtruirt, die Sechs;
iſt er fünfſeitig, die Fünf; iſt er ſiebenſeitig, die Sieben. Auch auf die
Geſtaltung der Fenſter und Ornamente ſoll die Grundzahl Einfluß ge-
habt haben u. ſ. w. Dieſe Zahlen werden dann myſtiſch gedeutet. So
Stieglitz (Geſch. d. Bauk. S. 538 ff.), Hoffſtadt (Goth. ABCBuch
S. V ff.), der jedoch ſonſt ſein großes Verdienſt in der Erforſchung
des geometriſchen Elements im gothiſchen Styl hat. Wir verweiſen übri-
gens auch hier auf Schnaaſes Kritik dieſer Anſichten (Geſch. d. bild. Künſte
Bd. IV, Abth. 1 S. 287 ff.). Die Annahme einer Grundfigur für das
Ganze des gothiſchen Gebäudes gehört zunächſt nicht hieher, wo nur von
Zahlenverhältniſſen die Rede iſt, doch fällt die Behauptung des Durch-
gehens der übereinander gelegten Quadrate (Quadratur, Achtort, Achtuhr)
oder Dreiecke (Triangulatur) durch das Ganze in dieſe Kategorie der
äußerlich mathematiſchen Fixirung des Schönen; auch dieſen Punct dürfen
wir der kunſtgeſchichtlichen Kritik überweiſen (vergl. Schnaaſe a. a. O.
S. 319 ff.). — Faſſen wir aber, was von der Proportion in §. 567
allgemein geſagt iſt, mit dem Satze zu §. 568, 1., wonach ein beſtimmtes
Geſetz der Proportion im Unterſchiede der Länge von der Breite und
Höhe ſich hervorſtellte, zuſammen und fragen nun, ob das Geſetz des
Rhythmus in den Tactſchlägen ſeiner Athmung nicht weitere Beſtimmungen
begründe, ſo iſt die Antwort, daß ſolche in einem gegebenen Style, doch
ebenfalls mit einem großen Spielraume für die individuelle Erfindung,
ſich entwickeln werden. So iſt in der gothiſchen Kirche die Einheit, von
welcher die ungefähre Beſtimmung der Verhältniſſe des Grundriſſes aus-
geht, in dem Quadrate gegeben, das in der Vierung des Kreuzes liegt;
es wiederholt ſich einfach in jedem Querſchiffe, mehrfach, gewöhnlich drei-
mal im Mittelſchiffe des Langhauſes, theilt ſich in Hälften im Seiten-
ſchiffe, ſo daß je zwei halbgroße Quadrate jedem ganzen des Hauptſchiffes
zur Seite liegen. In der Pfeiler-Reihe drückt ſich dieſes Verhältniß da-
durch aus, daß der Abſtand zwiſchen zwei Pfeilern die Breite der Seiten-
ſchiffe, zwiſchen drei die des Mittelſchiffes, alſo des Grundquadrats dar-
ſtellt. Nach der Chorſeite wiederholt ſich das Quadrat einfach und der
polygone Chor-Abſchluß legt ſich an dieſes Quadrat ſo, daß ſein Radius
die Hälfte der Breite deſſelben beträgt. So kehrt theils ganz, theils
zur Hälfte getheilt das Grundmaaß wieder und ſtellt ſich ein Rhythmus
zählbarer Maaße im Grundriſſe dar (ſ. Schnaaſe a. a. O. S. 128. 129).
Doch auch dieß iſt nur das Durchſchnittsverhältniß, modificirt ſich ver-
ſchieden in der Wirklichkeit und ſo ſind wir von allen Seiten von dem
Berechenbaren zum Unberechenbaren der Schönheit geführt.
[237]
Die architehtoniſche Schönheit bewegt ſich in allen, von §. 564 an auf-
geführten Momenten und faßt ſich im Rhythmus ſo zuſammen, daß ſie ihm
das Wohlverhältniß der Eurhythmie gibt. Ueber dieſelbe kann nichts Wei-
teres ausgeſagt werden, als daß ſie ein andeutendes Bild des Weltalls (vergl.
§. 561) als eines zur reinen Harmonie geordneten Ganzen vor Augen ſtellt.
Die Symmetrie kann noch nicht die Schönheit ſelbſt ſein, denn es
kommt ja erſt darauf an, was ſich gegenüberſteht und um welchen Mit-
telpunct. Wir haben verſchiedene Arten der Symmetrie angegeben, deren
jede ſelbſt wieder ihre ſpecielleren Verſchiedenheiten zuläßt. Der tie-
fere, allgemeinere Rhythmus, der durch die Symmetrie mit ſeinen Takt-
ſchlägen greift, kann ſelbſt verſchiedener Art und in jeder Art zwar vor-
handen, aber mangelhaft entwickelt ſein. Im Rhythmus nun faßt ſich
ſchließlich das Geheimniß der architektoniſchen Schönheit zuſammen. Er
ſteht ſelbſt über der Gliederung, welche das allgemeine Syſtem der Linien
(§. 564), der Hauptrichtungen (§. 565), der Arten des Contraſtes (§. 568)
und ſeiner Löſung (§. 569) bedingt; denn der Unterſchied der Gliederung
beſtimmt den Unterſchied der Style, es ſind aber in jedem Styl ſchöne
und unſchöne Verhältniſſe möglich; es gibt keinen Rhythmus ohne Gliede-
rung, er iſt nicht denkbar außer ihr, aber von ihr noch zu unterſcheiden.
Er entfaltet die Schönheit ſeiner Verhältniſſe namentlich im Rahmen der
Oekonomie (§. 566), der Proportion (§. 567) und ſchließlich der Sym-
metrie, aber eben weil das innere Leben, das durch dieſen Rahmen
ſtrömt, ſich nicht bei Schuh und Zoll beſtimmen läßt, iſt auch dieſer
Rahmen ein veränderlicher, nicht zu beſtimmender. Und ſo läßt ſich denn
Weiteres ſchlechthin nicht ausſagen, als: der Rhythmus ſoll ſchön ſein.
In der That iſt nicht zu fragen, warum man denn ein Näheres über
die Schönheit in der Baukunſt nicht feſtſtellen könne, ſondern wie man
dazu komme, nur zu meinen, man könne es? Und die Antwort iſt, daß
der Grund in der abſtracten Natur dieſer Kunſt liegt. Keine andere
Kunſt außer der Muſik legt wie ſie die ganze Schönheit in Meſſungs-
Verhältniſſen nieder und da vergißt man leicht, was ſchon nachdrücklich
hervorgehoben iſt, daß das ausgeführte Gebäude zwar nachgemeſſen wer-
den kann, aber von dem blos Nachmeſſenden darum nie erfunden wäre,
d. h. daß auch hier die freie Erfindung der Phantaſie es iſt, welche das
Schöne ſchafft. In geiſtiger Allgemeinheit aber läßt ſich natürlich ganz
feſt beſtimmen, was architektoniſch ſchön ſei. Schönheit iſt vollkommener
Ausdruck der Idee in der reinen Form. In der Baukunſt iſt die Idee
des Weltgebäudes ſymboliſch darzuſtellen und ein Gebäude iſt ſchön, wenn
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 16
[238]es dieſe Idee in ihrem wahren Vollgehalte, d. h. als die Idee eines
wohlgeordneten Ganzen, einer lebendigen, ſich bis zur Beruhigung aus-
lebenden Wechſelwirkung der Kräfte, kurz wenn es den Koſmos darſtellt.
Das äſthetiſche Leben des Bauwerks bliebe aber ein verborgenes, wenn
es ſich nicht eine beſondere Welt von Formen erzeugte, die ſich als ſein deco-
rativer Ausdruck (vergl. §. 557, 3.) der Kernform anlegen. Es ſind dieß
theils Umbildungen der Oberfläche fungirender Hauptglieder, wodurch insbe-
ſondere die freiſtehende Stütze zur Kunſtform der Säule und des Pfeilers wird,
theils eigene Bildungen oder Glieder im engeren Sinne, welche, die weſent-
lichen Theile des Bauwerks umſäumend, den Contraſt, ſeine Vorbereitung,
Motivirung, Löſung und überhaupt den Rhythmus zur Anſchauung bringen.
Dieſe ſind theils runde, theils gerade; die erſteren ſind vorherrſchend durch die
Fiction motivirt, als wäre der Stoff urſprünglich weich geweſen; im Uebrigen
ſind die Motive aus der Pflanzenwelt, aus dem Mechaniſchen, aus der Bau-
kunſt ſelbſt entlehnt. In ihrer Verbindung heißen die Glieder bei längerer
Ausdehnung Geſimſe.
Die Grenzen dieſes Gebiets ſind nach zwei Seiten ſchwer zu be-
ſtimmen; die eine dieſer Seiten liegt auf folgendem Puncte: an den architek-
toniſchen Hauptgliedern werden Geſtaltungen vorgenommen, welche gerade
in ihrem Haupttheile nicht als beſondere, angelegte Form erſcheinen, durch
welche vielmehr das ganze Hauptglied iſt, was es iſt, ſo an der Säule,
am Pfeiler, am Gebälke, an den Gewölbe-Gurten. Jene beiden insbe-
ſondere gewinnen erſt hiedurch die Kunſtform, welche ſchon in §. 563
hervorgehoben werden mußte. Ein Theil jener Geſtaltungen beſteht be-
reits aus Gliedern im gewöhnlichen engern Sinn und dieſer Complex
pflegt bei der Lehre von Säule und Gebälk u. ſ. w. abgehandelt zu
werden, wiewohl der letztere Theil bei der beſondern Erörterung der Glieder
auch vorkommen muß. Wir ziehen das Ganze jener Bildungen in Einen
Abſchnitt mit den Gliedern zuſammen. Die andere Seite iſt die Grenze
nach dem eigentlichen Ornament hin: nimmt man, wie Bötticher, durch-
gängig die Blumen- und anderen Formen, die den Gliedern urſprünglich
aufgemalt, ſpäter plaſtiſch an ihnen ausgeladen ſind, als das urſprüngliche
Motiv der Entſtehung des ganzen Glieds, ſo läuft die ganze Lehre von
den Gliedern unterſcheidungslos in die vom Ornament hinüber. Wir
werden Bötticher nicht durchaus folgen können und eine ungefähre Grenze
zu beſtimmen ſuchen. Innerhalb des Gebiets der eigentlichen Glieder
zeigt ſich eine weitere, ſchon zu §. 557, 3. angedeutete Schwierigkeit: einige
[239] haben noch Function; ſo ſchützt die Gliedergruppe, die das Kranzge-
ſimſe bildet, vor Regen, die Triglyphe trägt, der Abakus des Kapitells
iſt nicht abſolut nöthig, aber doch dienlich; Conſole oder Kragſtein trägt
bald wirklich, bald nur ſcheinbar; andere fungiren entſchieden nicht und
liegen daher näher an der Grenze des eigentlichen Ornaments; Hübſch
(D. Architektur u. ſ. w. S. 13) nennt ſie Zierglieder. Wir heben das
Weſentliche dieſer ſchwierig abzugrenzenden Formenwelt hervor und be-
ginnen von jenen Umgeſtaltungen ganzer Körper, welche decorativ das ſtatiſche
Leben ausſprechen. Die freiſtehende Stütze ſoll ihre Tragkraft kundgeben
durch einen Schein, als wüchſe und ſtiege ſie mit organiſchem Schwunge
ihrer Laſt entgegen oder ſtemmte ſich (als Pfeiler) nicht nur gegen den
ſenkrechten Druck, ſondern auch gegen den Seitenſchub. Der einfacheren
Aufgabe des bloßen Widerſtands gegen den Druck von oben wird eine
Belebung entſprechen, welche in das Pflanzenreich, in den central peri-
pheriſchen Wuchs des Baumſtamms hinüberſpielend den Körper cylindriſch
bildet und, um die Anſpannung einer elaſtiſchen Kraft anzudeuten, ihn
gegen die Mitte ſchwellt (Entaſis), nach oben aber verjüngt. Dieſes
Hinanſtreben wird im Zuſammenſtoße mit der Laſt naturgemäß mit einer
Ausbreitung ſchließen, welche wir bei den eigentlichen Gliedern zu er-
wähnen haben; wir nehmen aber hier zum Voraus Rückſicht auf ſie, weil eine
weitere Form der Belebung des Schaftes weſentlich mit ihr zuſammenhängt:
um nämlich das Anſtreben zum Stützen noch beſtimmter zu charakteriſiren,
werden ringsum Furchen, Canneluren am Cylinder aufwärts gezogen,
welche, energiſche Schattenſtreifen erzeugend, das Auge nöthigen, an ihm
hinanzuſteigen, und mit den Gräten oder Stegen, welche zwiſchen ihren
Eintiefungen heraustreten, die concentriſch angeſpannte, durch die An-
ſpannung eine ſcharfe Ausquellung hervorpreſſende Kraft darſtellen; das
Motiv aus der analogen Natur, das dieſer Form (Rhabdoſis) zu Grunde
liegt, hat Bötticher (a. a. O. S. 135) im Stengel der Schirmtragenden
Dolde nachgewieſen, wo denn eben in der Eigenſchaft des Schirmtragens
die Vorankündigung jener obern Ausbreitung liegt. Eine dazwiſchen ge-
ſchobene Platte wird den Zuſammenſtoß jener Ausbreitung mit dem Architrav
mildernd, ſchützend, überleitend vermitteln. Nehmen wir nun hinzu, daß der
Druck von oben auf den unterſten Theil der Säule auch hier Ausſchwellungen
motiviren muß, durch die ſich ihr Körper vom Unterbau abheben wird, und
daß etwa auch hier eine dazwiſchen gefügte Platte den Zuſammenſtoß mit dem
Unterbau vermitteln wird, ſo haben wir die organiſche Drei-Gliederung
der Säule in Fuß, Schaft, Kapitell und damit eine neue klare Form jenes
Zahlengeſetzes §. 570, 2. Eine andere, ſtärkere Art der Belebung wird
der Gewölbetragende Pfeiler fordern; die ausquellenden Rippen der Ge-
wölbe-Gurten bedingen beſondere Anſätze, die an ihm auswachſend ihnen
16*
[240]zum Träger dienen (Dienſte) oder ſich in ſie fortſetzen. Der Bündel von
Rundſtäben, zu welchem dadurch der Pfeiler ſich geſtaltet, wird aber nicht
als blos mechaniſche Anſetzung, ſondern als organiſche Ausquellung er-
ſcheinen, wenn tiefe Höhlungen zwiſchen ihnen eine in der Anſpannung ſich
zuſammenfaſſende und dadurch wieder die convexe Rundung hervorpreſſende
Kraft zum Ausdrucke bringen. Auch hier klingt ein Naturgebilde an: der
Stengel von Pflanzen, die aber nicht Schirme, ſondern weiter verzweigt
runde Früchte, Kürbiſſe, Heidelbeeren, glockenförmige Blumen (salvia
splendens) tragen (ſ. Metzger Geſetze und Pflanzen- und Mineralien-
bildung angewendet auf altdeutſchen Bauſtyl S. 8 und Taf. III), was
dem gewölbſtützenden Körper entſpricht. Die weitere Umbildung, welche
in der Uebereckſtellung liegt, wird bei der Darſtellung der gothiſchen Bau-
kunſt zur Sprache kommen. Aehnliche Belebung wie an der Säule wird
nun auch kleineren Stützen angemeſſen ſein; ſo erhält die Triglyphe als
viereckig aufſtrebende Stütze des Kranzgeſimſes winklicht eingeſchnittene
Furchen nach Art ähnlich gefurchter Pflanzenſtengel. Anders wird es ſich
mit Körpern verhalten, welche vereinzelt und ſelbſtändig aus Wand oder
Pfeiler hervortreten, um ſcheinbar oder wirklich eine Laſt, Balkon, Fenſter-
bank, Kranzgeſimſe, Gewölbegurten, auch Bildſäulen u. dgl. zu tragen:
Conſolen, Kragſteine; ihre Vorderſeite wird eine ausgeſchweifte Grundform
annehmen, welche ſchon den eigentlichen Gliedern angehört, wiewohl ſie
in verſchiedenartiges Ornament ausblühen mag. Wir müſſen aber von
dieſer Erwähnung ſelbſtändigerer, einzeln eingeſetzter Ausladungen noch
einmal zur Umbildung der Oberfläche von Hauptkörpern zurückkehren.
Nicht nur die freiſtehende Stütze nämlich, ſondern auch die Wand ſoll in
einer durchgegliederten Baukunſt in einer Weiſe belebt werden, welche die
Einförmigkeit ihrer Fläche theilt und ihr zugleich den Chrarakter des Auf-
ſtrebens gibt durch hinanſteigende Ausladungen, welche die Dienſtleiſtung
des Tragens dem übrigen Körper abzunehmen ſcheinen oder zum Theil
wirklich abnehmen: dieß ſind Halbſäulen, Pilaſter, Liſſenen, Formen, deren
Motiv aus der Architektur ſelbſt entlehnt iſt. Die bedeutenderen Bildungen nun,
die wir hier zuerſt aufgeführt, gehören der Vorbereitung und Motivirung des
Kontraſts an: ehe das Auge bei dem Zuſammenſtoße der Kraft und Laſt
ankommt, ſieht es denſelben in ſchlank anſteigenden Formen vorangekündigt,
die Kraft gerüſtet zum Kampfe, bewegt ihm entgegenſtrebend. Der Zu-
ſammenſtoß ſelbſt aber drückt ſich nun ſammt ſeiner Löſung in den eigent-
lichen Gliedern aus, zu denen wir jetzt, nachdem wir ſie im Bisherigen
nur theilweiſe beigezogen und angedeutet, übergehen, um ſie für ſich im
Zuſammenhang zu betrachten. Die Glieder ſind theils runde, theils gerad-
linigte Profilbildungen, welche an allen weſentlichen Grenzen des Baus
hinlaufen und die doppelte Bedeutung haben, ſowohl die Grenze und
[241] den an ihr ſtattfindenden Kampf der Kräfte durch eine energiſche Scheidung zu
markiren, als auch dieſe Scheidung wieder aufzulöſen, das Vorangehende zu
dem Folgenden in organiſchem Uebergang hinüberzuführen. Sie erſcheinen zwar
auch als äußerſte Einfaſſungen, wie das Kranzgeſimſe des Giebelfelds, dieß
aber nur für den Anblick von einem gewiſſen Standpunct aus, denn an ſich
führt im Gebäude Alles ineinander über; ſo iſt jenes Kranzgeſimſe die Bord-
bahn des Dachs, tritt alſo ſcheidend und vermittelnd zwiſchen dieſes und das
Giebelfeld. Man kann die einzelnen Glieder nicht danach eintheilen, daß ſie
ſcheiden, Conflict ausdrücken oder hinüberführen, den Conflict löſen: das
Conflict-Ausdrückende iſt zugleich auch löſend; die runde Ausladung,
welche von der Laſt hervorgedrängt erſcheint und daher allerdings vor-
herrſchend den Zuſammenſtoß ausdrückt, hat doch durch ihr Profil auch
die Bedeutung, das Vor- und Zurückſtehende, Tragende und Getragene
aufeinander zurückzuführen, und das Geradlinige, was wie ein Band
zuſammenhält, ſchneidet zugleich durch das eckige Profil ſeiner Hervorragung
einen Haupttheil vom andern mit ſcharfer Beſtimmtheit ab. Die Glieder
gemahnen ſo an die Interpunction in der Schrift, welche zugleich logiſch
theilt und verbindet; tiefer iſt die ſchon oft gebrauchte Vergleichung mit
der copula in der Rede, welche allerdings weſentlich Band iſt, aber als
ſolches ebenſoſehr den Gegenſatz von Subject und Prädicat markirt, denn
gerade das dazwiſchen tretende Band zeigt, wie dieſe Momente einer
Verknüpfung bedürfen. Aber auch mit Hervorragungen und Schatten-
ſtreifen am Organiſchen, wie mit Augenknochen, Brauen, Augenlidern
ſind die Glieder zu vergleichen; ein ſtattlicher Bau ohne kräftig ausge-
ſprochenes Dachgeſimſe gleicht einem Geſichte mit kaum ſichtbaren Aug-
brauen, ſchmalen, dünnen Lidern und dürftigen Wimpern; das gewöhn-
lichſte Tiſchlergeräthe, Thüre, Lambris iſt ohne Glieder einem ſolchen faden
Geſichte gleich. Die tiefſte und wahrſte Vergleichung aber iſt die mit den
Gelenken des organiſchen Leibs, die durchaus ebenſo weſentlich abtheilend,
als, mit ihren Einlaſſungen und Bändern, vereinigend ſind wie die
Glieder in der Baukunſt. Nunmehr erſt leuchtet ein, was bei allem über
die Gliederung im Großen bisher Geſagten auf die eigentlichen Glieder
Hinüberweiſendes bemerkt iſt: dieſe ſind der ſchließliche künſtleriſche Aus-
druck jener ganzen ſtructiven Belebung, wodurch das Bauwerk zu einem
rhythmiſch bewegten Organismus wird. Ueberblicken wir nun die weſent-
lichſten Formen. Den Hauptunterſchied begründet das runde und gerad-
linigte Profil. Unter den runden Gliedern ſind es die convex ausgebogenen,
welche, wie ſchon geſagt, zunächſt dem Ausdrucke des Contraſts dienen,
denn ſie erſcheinen einfach als Anſchwellungen, hervorgebracht durch eine
Fiction, welche ſpielend annimmt, der Stoff ſei urſprünglich weich geweſen
und durch den Druck der Laſt herausgequollen. Faſſen wir nun ſogleich
[242] den oben erſt flüchtig berührten Punct des Zuſammenſtoßes der Säule mit
ihrer Laſt in das Auge, ſo ſehen wir hier die herauspreſſende Gewalt in
dem ſogenannten Wulſt (Echinus) ausgedrückt; wir können in ihm nicht
wie Bötticher das Motiv eines Blätterkelchs mit ganz übergelegten Blättern,
alſo eine überfallende Welle finden; das äſthetiſche Motiv, das den Gliedern
zu Grunde liegt, kann allerdings nur frei ſpielende Andeutung eines
Analogons aus der Natur oder verwandten mechaniſchen Formen ſein und
die Vorſtellung einer förmlichen Uebertragung führt zum Widerſinn; dieß
gilt natürlich auch von jener Fiction des Ausſchwellens eines weich ge-
dachten Stoffs: ſie wird in der Andeutung gleichſam wieder zurückge-
genommen, ſonſt müßte ja die ganze Form der unterliegenden Maſſe als
zerdrückt dargeſtellt werden, oder wenn man lieber will, das Zurücknehmen
objectivirt ſich als augenblickliche Wiederverhärtung der Maſſe, welche nur
eine mäßige Anſchwellung zuläßt; allein die Analogie muß doch wirklich
zutreffen; ein Blätterkelch aber kann auch nicht einen Augenblick nur analog
als einer drückenden Laſt untergelegt vorgeſtellt werden, weil er völlig
kraftlos, widerſtandslos iſt. Iſt daher ein ſolcher dem Wulſte des doriſchen
Säulencapitels durchgängig aufgemalt und tritt am joniſchen als ſoge-
genannter Eierſtab plaſtiſch hervor, ſo können wir dieſe vegetabiliſche Form
nur als weiteren ornamentiſtiſchen Zuſatz, der ſich aus dem Profile der
Ausſchwellung ergab, nicht als urſprüngliches Motiv derſelben faſſen.
Den Pfühl (Torus) faßt Bötticher als einen Bundwulſt, d. h. eine
Anhäufung von umgeflochtenen Bändern, wonach wir ihn nicht hieher zu
den Gliedern, die einen Conflict, ſondern erſt nachher zu denen zu ziehen
hätten, die eine Verknüpfung ausdrücken; er erſcheint uns aber in der
regelmäßigen Form des vollen Halbzirkels als eine durch den Druck einer
Laſt motivirte Ausſchwellung, bei welcher kein Motiv gegeben iſt, daß ſie
nach der einen oder andern Seite überneige, weil ein Hinanlaufen oder
Ablaufen in einer oder mehreren Einziehungen daneben in geſonderter
Weiſe ausgedrückt iſt; die Bänder-Umflechtung aber iſt dann nur als ein
Ornament zu faſſen, das ſpielend andeutet, als müſſe dieſe Ausquellung,
weil ſie ſich nach keiner Seite anlehnt, durch ein Riemengeflechte zuſammen-
gehalten werden. Bei gedrücktem Profil (als umgekehrter Wulſt) dagegen
hat der Pfühl dieſe Anlehnung und eignet ſich wieder für das Blätter-
Ornament. Was nun die concaven Glieder für ſich betrifft, ſo iſt die
ganze Einziehung, Hohlkehle, Trochilus, als völliger Halbzirkel eine
Einpreſſung zwiſchen zwei Ausſchwellungen, welche zugleich ein energiſches
Einſchlucken, Zuſammenziehen der Kraft vor ihrer Ausladung anzeigt; ſie
gehört in dieſer völligen Ausbildung der gothiſchen Baukunſt an, wo wir
ſie näher würdigen werden. Ihre (nicht reinen, ſondern nach einer Seite
ausgezogenen) Hälften dagegen ſtellen als Anlauf und Ablauf die Zurück-
[243] führung eines ſchmäleren Körpers auf einen überragenden oder unter-
liegenden breiteren Körper dar, wo es dem Gefühle überlaſſen iſt, ob es
dieſe Linie einem leichten Drucke der Laſt zuſchreiben will, der dieſe freiere
Ausbreitung zuläßt, oder ein ganz freiwilliges hinanſtrebendes und ab-
fließendes Ausquellen der Maſſe anzunehmen vorzieht; jenes wird mehr bei
der großen Architektur, wo dieſe Kehlen ſich an ſchwere Platten aufwärts
anſchmiegen oder abwärts als Unterſtes einer von oben gedrückten Maſſe
anlegen, dieſes bei Gefäßen der Fall ſein. Bei dieſen concaven Formen
iſt es vorzüglich, wo die Schattenwirkung ihre Energie ausübt, daher der
Name scotia. Hier erſt, als Verbindung des convexen und concaven
Profils, haben wir nun die Welle (Kyma) aufzuführen. Sie zeigt offen-
bar einen ſpielenden Uebergang zwiſchen dieſer freieren Ausbreitung und
jener abgenöthigten Auspreſſung an. Die ſteigende Welle drückt eine Be-
laſtung aus, die zu unterſt eine Ausſchwellung bewirkt, weiter nach oben
aber der Maſſe vergönnt, in leichterem Spiele der Einziehung und Wieder-
ausbreitung ſich dem Ueberragenden anzulegen; bei der fallenden Welle
geht dieſelbe Bewegung von dem ſchmäleren Körper der Laſt nach der
überragenden Unterlage hin. Die verkehrt ſteigende und verkehrt fallende
Welle bringt ein Spiel der Kräfte zur Anſchauung, worin der Druck
anfangs leichter wirkend der Maſſe nur die concave Bewegung, dann
ſtärker zwingend die convere Ausſchwellung abgewinnt. Der Blätterſchmuck
gibt der Doppelbewegung ihren organiſch äſthetiſchen Ausdruck. — Sehen
wir nun in allen dieſen Gliedern den leichteren oder ſtärkeren Conflict
ausgedrückt (wiewohl ſo, daß die Ueberleitung oder Löſung zugleich mit-
gegeben iſt), ſo ſymboliſiren dagegen andere zunächſt die Verknüpfung.
Dieſe können allerdings nicht aus einem der Maſſe ſelbſt, als wäre ſie
eine bewegte, untergeſtellten Motive, ſondern nur aus der Analogie eines
von außen mechaniſch Angelegten erklärt werden, welches den äſthetiſchen
Anſchein hat, als verhindere es eine Wirkung des Conflicts, welche bis
zur Zerſtörung der Form fortgienge. Bötticher, der ihre Bedeutung
ſpezieller darin findet, daß ſie die übrigen Glieder als der Kernform ver-
knüpft darſtellen ſollen, nennt ſie Heftbänder. Zu den zarteren Formen
dieſer Art gehört ein Glied von rundem Profil: der Stab, deſſen Name
unpaſſend auf die hinanſtrebenden gothiſchen „Rundſtäbe“ übergegangen und
überhaupt unrichtig iſt; er ſtellt eine zuſammenhaltende, umgelegte Schnur
dar, die in der ſogenannten Perlenſchnur ſich plaſtiſch als eine Spange
ausſpricht, woran Aſtragalen gefaßt ſind. Von eckigem Profil iſt der
Riemen (ſonſt auch Leiſtchen), der einfach oder in mehrfacher Umwicklung
(spira) die ausquellende Maſſe zuſammenhält, als habe er ſie am Platzen
zu hindern; das letztere iſt z. B. unter dem Wulſte des doriſchen Säulen-
knaufs der Fall, wo dieſe Form von der Aehnlichkeit eines mehrfach umge-
[244] wundenen Rings den Namen annulus erhalten hat. Wenn man den Pfühl,
der ſeinen lateiniſchen Namen von der aufgemalten oder angebildeten
Riemen-Umwicklung hat, nicht, wie oben geſchehen, in der Reihe der
Schwellungen, die aus einem Druck hervorgehen, aufzählt, ſondern als
verſtärktes Heftband faßt, ſo bleibt unklar, warum denn gerade am Fuße
der joniſchen und attiſchen Säule ein ſo ſtarker Bandwulſt nöthig ſei. Ein
etwas breiteres Heftglied von eckigem Profil iſt das Band oder der Streif,
dem das Motiv einer gewobenen Binde, wie ſie namentlich als Kopf-
ſchmuck üblich war, taenia, urſprünglich zu Grunde liegt: die am häufigſten
angewandte Verknüpfung, die durchgehende, Alles umſäumende Form. Sie
ſäumt aber blos eine Mehrheit von Gliedern ab, wogegen es noch einer
ſtärkern Form braucht, um einen ganzen Haupttheil abzuſchließen und
zugleich ein kräftiges Uebergangs-Moment zu einem folgenden zu bilden.
Dieß iſt die Platte, Plinthus oder Abakus. Nicht immer treten dieſe beiden
Bedeutungen in gleicher Stärke ein; ganz klar ſind ſie vereinigt in dem
Abakus des Säulenfußes und Säulenknaufs: an dieſer Stelle bedarf das
Auge eines zwiſchen Unterbau und Säulenfuß, zwiſchen Hauptbalken und
Kapitel eingefügten Körpers, der energiſch nach zwei Seiten abſchließt,
ſcheidet, durchſchneidet, zugleich aber nicht nur den Zuſammenſtoß mildert,
vermittelt, ſondern auch rhythmiſch die wiederkehrend gleiche Form in der
Tafel des Unterbaus, in Gebälk und Kranzgeſimſe ankündigt; dagegen
herrſcht der nur abſchließende Charakter in der ſtark vorſpringenden Platte
der Kranzgeſimſe, welche wirklich den äußerſten Saum eines Baus bilden
kann und mit ſchützender Ueberragung das Ganze einrahmt. Man ſieht
alſo an dieſem ſtärkſten unter den geraden Gliedern, daß ſie ebenſoſehr
durch- und abſchneidend trennen, als auch verbinden. — Dieſe Glieder
nun treten in einfacher oder reicherer Verbindung zu Geſimſen zuſammen
und umſäumen ſo alle bedeutenden Grenzen, wo Haupttheile des Baus
wie Säule und Laſt zuſammenſtoßen, betonen weniger ausgeſprochene
Theilungen wie zwiſchen Sockel und Mauer, faſſen die Oeffnungen der
Thüren und Fenſter ein und erſcheinen in oben genannter Weiſe zum Theil
auch als äußerſter Rahmen eines ganzen Baus. — Wir haben hier die
Glieder der claſſiſchen Baukunſt ſyſtematiſch wie abſolute aufgeführt; denn
ſie tragen den Charakter einer organiſchen Nothwendigkeit, der ſie zu
Muſtern erhebt, nur nicht in dem todten Sinne, als ob ſie keiner Fort-
und Umbildung fähig wären. So liegen ſie ſelbſt der gothiſchen Archi-
tektur zu Grunde und wir werden finden, wie durch Abſchrägungen, tiefe
Einkehlungen und ſtärkere Ausſchwellungen, veränderte Stellungen dieſer
Formenwelt eine neue Seele eingehaucht wird.
[245]
In unmerhlichem Uebergang ſetzen ſich dieſe Formen in das eigentliche
Ornament fort, das mit dem Scheine ſtructiver Dienſtleiſtung, der den Glie-
dern eigen iſt, nur in näherer oder entfernterer Erinnerung zuſammenhängt und
im Weſentlichen ein ſpielendes Ausathmen dieſer Scheinfunction darſtellt. Be-
ſtimmter treten hier neben geometriſchen, techniſchen vegetabiliſche, ja thieriſche
und menſchliche Bildungen hervor und in ihnen liegt die tiefere Bedeutung, daß
die abſtracten Formen der Baukunſt auch die Grundlagen des organiſchen Le-
bensgeheimniſſes enthalten (vergl. §. 558). Endlich blüht das innere Leben
in den Schmuch der Farbe aus. Das architektoniſche Geſetz verlangt aber für
jene organiſchen Formen ſtrenggemeſſene Styliſtrung, für die Farbe, daß ſie die
reine Wirkung der Gliederung im Großen und Kleinen nicht verdecke, ſondern
ausſpreche; ſonſt entſtehen unſtatthafte Uebertragungen der einen Art der Phan-
taſte in die andere (vergl. §. 532—541).
Wir haben geſehen, daß die Formen, die wir in und mit den Glie-
dern zuſammenfaßten, zum Theil noch wirklich fungiren, insgeſammt aber
wenigſtens noch den Schein tragen, als ſeien ſie durch eine ſtructive
Kraftwirkung motivirt. Bötticher nun beſtimmt das Ornament dahin, daß
es die Function der Kernform durch ein analoges, aus der Natur (oder
mechaniſchen Welt) entlehntes Schema ſymboliſch charakteriſire; da er aber
bei ſämmtlichen Gliedern ein ſolches Analogon (Blätter, Stickereien u. ſ. w.)
als urſprüngliches Motiv ihrer ganzen Geſtalt annimmt, ſo fällt hier
der Unterſchied von Glied und Ornament weg und kann Solches, was
wir entſchieden bloßes Ornament nennen, wie die Blumenformen der
Akroterien, in Einem Zuge mit jenen Formen, die wir Glieder nennen,
aufgeführt werden; jene Akroterien wie die Firſt- und Stirn-Ziegel mit
ihren Blumen erſcheinen dann einfach als frei beendende decorative Glie-
der. Wir dagegen glauben ſolche Formen, wie die letzteren, von jenen
Ausſchwellungen und Bändern, welche, obwohl nur in freiem Scheine,
noch als Wirkungen ſtructiver Nothwendigkeit ſich darſtellen, unterſcheiden
zu müſſen; aber auch ſo bleibt die Grenze allerdings ſchwankend. Wohin
iſt z. B. am doriſchen Gebälke die regula und via mit den Tropfen zu
ſtellen? Kündigt jene das Triglyphon als Stütze des Regenableitenden
Geiſon (Dachgeſimſes) an, charakteriſirt dieſes nur die vorſpringende
Richtung des letztern, wie Bötticher annimmt, ſo dienen doch beide weit
nicht ebenſo dem äſthetiſchen Ausdrucke des Scheins einer wirklichen Function,
wie die Welle, der Wulſt, die Bänder, und nicht anders verhält es ſich
bei der Deutung aus Reminiſcenzen des Holzbaus (Dielenköpfe, Ver-
zahnung des Deckbalkens), denn dieſer Nachklang wäre ja bloßes Spiel
[246] ohne allen Anſpruch, daß man wirklichen Holzbau hier ſehe. Es wird
ſich ſchwer eine ſchärfere Beſtimmung für das Ornament finden laſſen,
als die des Paragraphen: eine ſpielende Ausathmung desjenigen Decora-
tiven, das noch ſcheinbar fungirt, wobei der Zuſammenhang mit dem
letzteren ein näherer oder entfernterer ſein kann. So ſind nach unſerer
Anſicht die Blätter, Blumen, Web-, Stick-, Flecht-Muſter, welche den Glie-
dern angeſetzt ſind, nicht durchgängig urſprüngliches Motiv, ſondern der
Schein der Function, der in den Gliedern liegt, gibt der Phantaſie wei-
tern Anlaß zu einer ſpielenden ornamentiſtiſchen Anlegung von Formen
individueller Art, die anderswo dem Aehnliches leiſten, was das Glied zu
leiſten ſcheint. Dabei iſt aber ein großer Unterſchied: einige dieſer ſpie-
lenden Bezeichnungen ſind inniger, naturgemäßer, ſo die Muſter von
Bändern, Geflechten, um ein Halten, Binden, Tragen zu bezeichnen, die
Meereswelle, um die Regenableitende Leiſtung des Kranzgeſimſes auszu-
drücken; andere aber ſind willkührlicher, entfernter, wie die Blätter und
Blumen, welche Gliedern angelegt ſind, die eine Ausſchwellung durch Be-
laſtung ausdrücken. Aber ſelbſt ein Uebergang in thieriſche Form kann
wieder ſehr innig charakteriſiren, wie die griechiſchen Löwenköpfe und
gothiſchen Thiergeſtalten als Waſſerſpeier. Von der Volute am joniſchen
Kapitel wird in der Geſchichte der Style die Rede ſein. Die Akroterien,
die Palmetten-Aufſchläge der Firſt- und Stirn-Ziegel haben mit den
fungirenden Kräften nur noch den ganz entfernten Zuſammenhang, daß
die aufſtrebende Kraft noch eine letzte, freie Blüthe entwickelt: faſt wie
Uhlands Schlußſonett, das eben noch gedichtet ſein will, damit die Sonetten-
reihe ein Punctum habe; ebenſo die gothiſchen Fialen und Schlußblumen.
Dagegen iſt der Rund- und Spitzbogen-Fries der romaniſchen und gothi-
ſchen Bauart ein Ornament, das faſt die innigere Bedeutung eines Glie-
des hat, denn es iſt motivirt durch die Reminiſcenz an die wirklichen
geſimsartigen Wölbungsreihen, welche übergebaute Stockwerke zu ſtützen
hatten. Soviel über die fließende Natur der Grenze zwiſchen Glied und
Ornament und zugleich über das Weſen des letztern in ſeiner nächſten
Bedeutung. Der Mißbrauch des Ornaments wird da beginnen, wo alle
und jede Erinnerung an das organiſch Wirkende, aller und jeder Aus-
druck einer naturgemäßen Ausathmung der Kräfte erliſcht, wo das Spiel
bodenlos wird oder ſogar zum Widerſpruche gegen das Organiſche in der
Wirkung der tektoniſchen Kräfte ausartet, wie die Anfügung weſentlicher
Momente des Architrav-Baus als bloße Zierrath an den Gewölbebau;
der Spielraum iſt aber dennoch ein großer und dürfen einer fruchtbaren
Phantaſie, dem Reichen und Prachtvollen die Grenzen nicht zu eng ge-
zogen werden. Die Gebiete nun, aus denen das Ornament entnommen
wird, haben wir ſo eben bei der Frage über die charakteriſirende Bezie-
[247] hung deſſelben zum Gliede bereits berührt; ſie ſondern ſich, genauer be-
trachtet, in zwei Hauptſphären: unorganiſche und organiſche Formen.
Die unorganiſchen Formen ſind zunächſt geometriſche Linienſpiele, wie
Mäander, Zickzack, Schachbrett-Verzierungen u. dgl. Man hat erkannt,
daß ſie größtentheils nicht unmittelbare, willkührliche Erfindung, ſondern
aus mittelbarer Quelle, aus mechaniſcher, ſchmückender Technik, nämlich der
Kunſt des Mattenflechtens und Teppichwirkens als der urſprünglichſten
Bildnerin des Umſchließenden im Zeltbau entnommen ſind (vergl. Semper
die vier Elemente d. Baukunſt S. 56 ff.). Aber die Baukunſt entlehnt
ihre Ornament-Formen auch aus ihrem eigenen Gebiete; ein Beiſpiel
hatten wir oben im Rund- und Spitzbogenfries; Anderes, wie Halbſäulen,
Liſſenen, Pilaſter, haben wir im vorhergehenden Paragraphen in die
Sphäre der Maſſentheilenden Gliederung gezogen, ebenhieher gehören
Blend-Arkaden, Blendfenſter, Wiederholung des Fenſters im Fenſter,
Spitzgiebel u. dgl., allein auch dieſe an ſich über dem bloßen Ornament
liegende Sphäre geht unmerklich in daſſelbe über und ſo wiederholen ſich
denn architektoniſche Formen, wie Säulchen u. dergl. vielfach im Kleinen,
im bunten Spiele der bloßen Verzierung. Eine ungleich reichere Quelle
von Ornament-Motiven iſt nun aber das Gebiet der organiſchen Formen
und zwar das vegetabiliſche, denn nur in engen Schranken (der Grund
dieſer nothwendigen Sparſamkeit iſt ſchon zu §. 558 ausgeſprochen) tritt
das animaliſch und menſchlich Organiſche hinzu. Dieſe belebtere Formen-
fülle verkündigt, daß die Kunſtthätigkeit, nachdem ſie in der Gliederung
das Weſentliche geleiſtet, nun in freierem Empfindungsſchwung dichtend
ihr inneres Leben erklingen läßt, es iſt ein Hinüberblühen in das benach-
barte Kunſtgebiet der Plaſtik, doch wohl zu unterſcheiden von den An-
lehnungen der eigentlichen Plaſtik, wie ihr gewiſſe Stellen des Bauwerks,
Metopen, Giebelfelder, Portale u. ſ. w. eine natürliche Stelle bieten.
Dieſes Hinüberblühen hat nun den tieferen Sinn, den der Paragraph
mit Zurückweiſung auf §. 558 ausſpricht, es iſt der ſchwungvollere Aus-
druck des Bewußtſeins, daß das Gliederungs- und Symmetrie-Geſetz der
Baukunſt ein allgemeines, auch dem organiſchen, ja geiſtigen Leben zu
Grunde liegendes iſt; allein gerade daraus folgt, daß nicht in die wirk-
liche Zufälligkeit der individuellen freien Form übergegriffen werden darf;
der Begriff, daß die Baukunſt die allgemeinen Grundlagen auch des
organiſchen Lebens herausſtellt, greift auch über die wirklichen organiſchen
Formen, in denen ſie ſpielend dieſes Geheimniß verräth, wieder über,
und dadurch ſtellt ſich das Geſetz feſt, daß auch dieſe belebteren Formen
geometriſch ſtyliſirt werden müſſen. Das Geometriſche leiht nicht
nur Ornament-Motive, ſondern es beherrſcht alles Ornament, gerade
namentlich in der Nachbildung des Vegetabiliſchen, ja hier iſt zum Theil
[248] nicht von einem Nachbilden, ſondern von einem Zuſammentreffen zu
ſprechen, wie wir denn bei dem gothiſchen Ornamente ſehen werden, daß
der meſſende Künſtlergeiſt von ſeinem eigenen Geſetz auf dieſelben Blatt-
ſtellungen geführt wurde, wie der Naturgeiſt in ſeinem unbewußten
Schaffen in der Pflanzenbildung. Aber ſelbſt in der freigebildeten Karya-
tide iſt, freilich in höherer Verklärung, noch die Strenge architektoniſchen
Styls; jene Jungfrauen des Erechtheums tragen frei, ſie wollen tragen
und eben in dieſem Willen hält ſich die Geſtalt ſtreng und gemeſſen zu-
ſammen, der Druck der Laſt, wie er durch die ideale Säulenachſe
in dieſen ſchönen weiblichen Körpern hinabgeht, iſt von ihnen energiſch
aufgefangen und in eine muskelkräftige Gegenſtemmung verwandelt. —
Aber auch in die Malerei blüht die Baukunft, ebenfalls ab-
geſehen von den eigentlichen Anlehnungen, hinüber. Hier ſtehen wir vor
der ſchwierigen Frage der Polychromie der Baukunſt. Da das Claſſiſche
ein Muſtergültiges iſt, ſo iſt dieſe Frage als eine hiſtoriſche aufgetreten.
Seitdem aber Hittorf in ſeinem Werke: Restitution du temple d’Em-
pedocle à Sclinunte ou l’architecture polychrôme chez les Grecs
(Paris 1851) mit einer Fülle von Gründen gezeigt hat, daß der griechiſche
Tempel durchaus bemalt war, muß man, da ein ſo weit gehender Farben-
ſchmuck ſelbſt durch die Autorität der Griechen nicht zum unbezweifelten
Dogma werden kann, zunächſt vom Hiſtoriſchen wieder abſehen und rein
objectiv prüfen, ob und wieweit Polychromie der Architektur dem Schön-
heitsgeſetze entſpreche, und je nachdem das Urtheil ausfällt, die Griechen
entweder auch darin anerkennen oder ihr Gefühl verwerfen, oder endlich
einen dritten Weg ſuchen, den wir im Weitern bezeichnen werden. Keine
Kunſt iſt ſoſehr auf die reine Form im Sinne des Räumlichen geſtellt,
wie die Architektur. Die Farbe ſpricht (vergl. §. 247) die innerſte Qua-
lität der Dinge als eine gährende, lebendig webende, miſchende aus; ſie
hat dadurch eine Wärme, einen Stimmungs-Ausdruck, welcher einer Kunſt
der kalten, reinen Meſſung widerſprechend, zu ſubjectiv für dieſe Anwen-
dung ſcheint. Allein wir haben auch von einem ſtatiſchen Leben, von
einem Organismus, von einem Aufthauen gefrorner Linien in der Phan-
taſie des Zuſchauers, von einem Ausblühen des Gefühls im Ornamente,
welches der Wahrheit, daß hier die Grundlage aller Lebensformen das
bildende Geſetz iſt, auch durch Nachahmung der vollen individuellen Ge-
ſtalt den lebendigeren Ausdruck gebe, geſprochen und wir faſſen dieß Alles
dahin zuſammen, daß dieſe am ſtrengſten objective Kunſt, gerade weil ſie
ſo ſehr objectiv iſt, daß ſie nur in der Allgemeinheit des Rhythmus bloßer
Verhältniſſe und Linien ſprechen kann, ganz beſonders eine Kunſt der
bloßen Stimmung und in dieſem Sinne höchſt ſubjectiv iſt. Dieſe
Stimmung darf und ſoll ſich denn auch in der Farbe ausſprechen: als
[249] hätte der Bau wie ein Baum, eine Blume durch innere Säftegährung
ſich ſelbſt gebildet und gebaut, ſchlägt ſich ſein inneres Geheimniß als
warmes Pigment auf der Oberfläche nieder. Es iſt an ſich kein nöthigender
Grund vorhanden, dieſen Niederſchlag auf die Stellen, an welchen das
innere Leben empfindungsvoller hervortritt, auf Glieder und Ornamente
zu beſchränken; die Hauptflächen ſind ja Momente der Geſammtgliederung,
alſo in die allgemeine Bewegung hineingezogen, ſie müſſen ihr, obwohl
weniger offenbares Leben, das an jenen Puncten nur ſtimmungsreicher her-
vorblüht, ſelbſt auch in der Farbe ausſprechen dürfen. Daraus ergibt ſich
zunächſt als einziges Geſetz, daß die Farbe dieſes Leben nicht verdecke,
ſondern hervorhebe, daß alſo die Glieder und Ornamente lebhafter, die
Hauptmaſſen nach dem Umfang ihrer Flächen einfacher, beſcheidener, mit
gedämpften Tönen bemalt ſeien und daß die theilenden Felder, Linien-
züge u. ſ. w., womit die Malerei die Einförmigkeit der großen Flächen
bricht, ihren natürlichen Gliederungstheilen entſprechen. Allein es
kommt nun ein weiteres Moment in Betracht, das, zunächſt äußerlich,
doch auf das Grundweſen der Baukunſt zurückführt und allerdings eine
beſchränkende Beſtimmung mit ſich bringt. Der Farbenauftrag kann den
Zerſtörungen des Wetters nicht ſo dauernd widerſtehen, wie die feſte
Form; dieſe ſind zwar geringer im glücklichen Himmelsſtrich, doch müſſen
wir auch an den griechiſchen Tempeln jetzt mühſam die Farbenſpuren zu-
ſammenſuchen, im nordiſchen Klima aber ſind ſie ſo ſtark, daß die Farben
in der kürzeſten Zeit verſchwinden. Nun iſt aber die Baukunſt nicht nur
weil ſie eben einmal das feſteſte Werk hinſtellt, ſondern an ſich ihrem
ganzen Geiſte nach dauernd, monumental; daher ſteht ein an ſich äſthetiſch
noch ſo wohl begründeter Anflug von höchſt vergänglicher Natur mit ihrem
Weſen in Widerſpruch und was an ſich aus obigen innern Gründen wohl
zuläſſig wäre, unterliegt aus weiteren, phyſiſchen Gründen, die aber auch
zu innern Gründen werden, einer weſentlichen Einſchränkung. Dieß trifft
auch die griechiſche Baukunſt, deren Farben durch die Gunſt des Klima’s
nur relativ länger aushielten; der Süden kann weiter gehen in der Poly-
chromie, als der Norden, aber er iſt zu weit gegangen und zwar auch
dann, als die anfangs nur aufgemalten „Ornamentſchemata plaſtiſch aus-
geſprochen wurden“ (Bötticher a. a. O. Einl. S. 18), denn auch das
plaſtiſch profilirte Ornament wurde noch überdieß bemalt und ebenſo die
Hauptflächen immer wenigſtens mit einem Farbenton überzogen. Hätten
die Griechen gewußt, daß einſt ihre Tempel in der Naturfarbe des Ma-
terials daſtehen werden und daß die ſpät nachfolgenden Geſchlechter ſo
ſchwer ſich entſchließen können, zu glauben, daß der herrliche Marmor
einſt über und über bemalt geweſen, ſo hätten ſie wohl ſtrenger den
Farbenſchmuck auf die geſchützteſten Stellen beſchränkt. Dieſe Beſchränkung
[250] iſt nun, wie geſagt, dem Norden noch nöthiger und muß daher hier weiter
gehen. Allein der genannte Widerſpruch räth überhaupt ein anderweitiges
Auskunſtsmittel und dieſer oben angedeutete Mittelweg führt auf die An-
merkung zu §. 562 zurück. Iſt nämlich der Farbenſchmuck der Baukunſt
äſthetiſch gerechtfertigt und fordert doch ihr Weſen ſchlechthin das Dauernde,
ſo wird die beſte Auskunft die ſein, nicht nur überhaupt durch den natür-
lichen oder künſtlichen Farbenton des Materials an ſich zu wirken, ſondern
durch ebendenſelben auch verſchiedene Farbenwirkungen hervorzubringen.
Es iſt zu §. 562 in dieſer Richtung namentlich vom Backſtein die Rede
geweſen; er kann mit dem Stein verbunden, es können aber auch ver-
ſchiedene Steinarten für die Hauptmaſſen und für das Glied und Orna-
ment gewählt oder endlich Backſtein und verſchieden gefärbte Steine ver-
bunden werden. Theilweiſe Bemalung iſt auch ſo nicht ausgeſchloſſen,
aber je rauher das Klima, deſto mehr wird ſich die Farbe, die freilich
der verputzte Riegelbau nicht entbehren kann und viel reicher entwickeln
dürfte, als er es thut, in das Innere zurückziehen. Von dieſem iſt jedoch
hier eigentlich nicht die Rede, denn dieſe Seite führt zu den anhängenden
Künſten, welche dem durch die Baukunſt umſchloſſenen Raume mit Rück-
ſicht auf anderweitige Momente, Gottesdienſt, Luxusbedürfniß u. ſ. w.
ſeine Ausſchmückung zu geben haben. — Wenn nun die Baukunſt jenes
Stylgeſetz im Ornamente und das oberſte Geſetz der Polychromie, daß
ſie die Wirkung der Gliederung nicht verdecken ſoll, mißachtet, ſo ent-
ſteht ein unſtatthafter Uebergriff in die Plaſtik und Malerei; ja in die
letztere auch abgeſehen von der Bemalung durch die Formen ſelbſt, denn
ſind einmal die Schranken überſprungen, ſo wird nicht nur in das Ge-
biet der Plaſtik überhaupt eingegriffen, ſondern das an ſich ſchon unſtatt-
haft überwuchernde Plaſtiſche überdieß maleriſch behandelt in einer Weiſe,
wie es die Plaſtik nicht darf, und ſolches, was der Plaſtik ganz ver-
ſchloſſen iſt, wie faſeriges Pflanzen-Detail, Wolken u. dergl., in der Archi-
tektur nachgebildet. Die unreife und überreif willkührliche Baukunſt gibt
davon reichliche Belege. Die Mißachtung, richtiger der bewußte Frevel
der Verhöhnung des ſtatiſchen Geſetzes, geht übrigens dann natürlich tie-
fer, als blos auf das Ornament: man will mit ganzen architektoniſchen
Maſſen malen, ja muſiciren, tanzen und witzig dichten. Von ſolchen rein
unberechtigten Uebergriffen wird jedoch die Geſchichte der Bauſtyle die
maleriſche Auffaſſungsweiſe in der Architektur, wie ſie ganzen Völkern
und Epochen eigen iſt, wohl zu unterſcheiden haben.
[251]
b.
Die Zweige der Baukunſt.
In der Baukunſt als der am ſtrengſten objectiven und keinen natur-1.
ſchönen Stoff im engeren Sinne nachbildenden Kunſtform können aus ſämmt-
lichen Theilungsgründen §. 539. 540 keine ſelbſtändigen Zweige abgeleitet
werden. Eine ſolche Unter-Eintheilung kann ſich hier nur auf die Zuſammen-2.
ſtellung der architektoniſchen Thätigkeit, welche untergeordneten Zwecken, mit
derjenigen, welche dem abſoluten Zwecke dient, alſo auf den in §. 556 ent-
haltenen Umriß ihrer Sphären gründen und dadurch wird das hiſtoriſche Mo-
ment §. 541 hier zur Grundlage eines für alle Zeit ſtehenden Unterſchieds.
In den ſo gebildeten Zweigen erſt erhalten jene andern Theilungsgründe nach-3.
träglich ihre Bedeutung und treten bemerkenswerthe Anklänge an die klar ge-
ſchiedenen Zweige anderer, reicherer Kunſtformen hervor.
1. In §. 538 iſt gezeigt, wie ein Unterſchied, der in andern Kunſt-
formen nur großartige Zweige begründet, in der bildenden Kunſt ſelb-
ſtändige Künſte bedingt: haben wir in der Poeſie Epos, Lyrik, Drama,
ſo entſteht uns dagegen hier die Kunſt-Gruppe: Baukunſt, Bildnerkunſt,
Malerei. Dieſe Theilung ruht, wie ebenfalls gezeigt iſt, auf den Ver-
bindungen der Arten der Phantaſie, welche in §. 404 aufgeführt ſind:
bildende, empfindende, dichtende, und in eben dieſen Verbindungen liegt
auch der erſte Grund einer weiteren Theilung in untergeordnete Zweige
(§. 539). In den weiteren Künſten, die der Gruppe der bildenden an-
gehören, macht ſich nun dieſes Theilungsprinzip allerdings ſchon in be-
ſtimmterer Weiſe geltend, die Baukunſt aber hat dadurch, daß ſie der
Gruppe angehört, in welcher die Zweige als ganze, ſelbſtändige Künſte
auftreten, ſo zu ſagen ihren Theil dahin: ſie iſt Zweig und treibt nicht
ſelbſt gleichwiegende, coordinirte Zweige. Der Grund davon liegt zu-
nächſt in ihrer ſtreng objectiven Natur: nur wo einmal das ſubjective
Leben in wärmer beſeelender Kraft eindringt, können verſchiedene Miſchun-
gen des Objectiven und Subjectiven und die ihnen entſprechenden Ver-
bindungen zwiſchen den Arten der Phantaſie (vergl. den Schlußſatz in
§. 539) hervortreten und klar geſchiedene Zweige, deren jeder unbezwei-
felt dem rein äſthetiſchen Kunſtgebiet angehört, begründen. Man bedenke
ferner, daß die Verbindungen zwiſchen den Arten der Phantaſie weſentlich
durch die verſchiedene Weiſe, wie ſie ſich zu dem Stoffe des Naturſchönen,
[252] welcher nachgebildet wird, verhalten, das Auseinandertreten einer Kunſt
in beſtimmte Zweige bedingen, daß alſo z. B. das Epos als die bildende
Form der dichtenden Phantaſie den Stoff der Menſchenwelt und Natur
in anderer Weiſe anfaßt und umfaßt, als die empfindend dichtende oder
lyriſche und als die im reinſten Sinn dichtende oder dramatiſche Form.
Wo aber dieſe Beziehung zu einem Stoffe nicht da iſt, wie in der Bau-
kunſt, da können demnach ſolche Unterſchiede auch nicht eintreten. Hiemit
iſt geſagt, daß das weitere einen Zweig-Unterſchied begründende Moment
(§. 540), welches in den Unterſchieden der auf den Stoff begründeten
Arten der Phantaſie (landſchaftlich, thieriſch u. ſ. w.) liegt, eben weil
ja ohne daſſelbe auch die Unterſchiede und Miſchungen der bildenden, em-
pfindenden, dichtenden Phantaſie nicht in Wirkung treten können, in die
Baukunſt keine Theilung einführen kann. Daß ein drittes Moment, der
Unterſchied der einfach ſchönen, erhabenen und komiſchen Phantaſie nur
den erſteren ſeiner Gegenſätze in dieſem Gebiete geltend machen kann, iſt
ſchon in §. 560 geſagt und es erhellt, daß auch dieß nicht hinreicht, eine
ſtrenge Zweig-Eintheilung hervorzurufen: zwiſchen zierlichen und impo-
ſanten Bauwerken beſteht kein Unterſchied wie zwiſchen Idylle, Elogie
und Epos, Ballade, Drama. Die weiteren in §. 540 aufgeführten
Theilungs-Momente dagegen ſind ganz anderer Art und treten ungleich
beſtimmter hervor, jedoch auch nicht ſo eingreifend, wie in andern Kün-
ſten. Was den erſten derſelben betrifft, ſo bedingt der verſchiedene Grad
des Umfangs allerdings den bedeutungsvollen Unterſchied zwiſchen einfacher
und gruppirender Compoſition im einzelnen Bauwerk, ſo wie zwiſchen
einzelnen Gebäuden und Gebäude-Gruppen; allein jene Verſchiedenheit
der Compoſition gehört der Geſchichte der Bauſtyle an und der Gegenſatz
zwiſchen dem Einzelnen und dem cykliſch Zuſammengeſtellten kann, ſo
wichtig er iſt, nicht ebenſo einen Zweig-Unterſchied begründen, wie z. B.
in der Malerei das einzelne hiſtoriſche Charakterbild als Porträt und das
hiſtoriſche Gemälde, worin eine Vielheit ſolcher in Handlung geſetzt iſt;
denn in der Baukunſt wächst durch die Verbindung mehrerer Werke nicht
ein ſo weſentlich Neues zu, wie in der nachbildenden Kunſt durch die
Verbindung vieler Individuen: hier folgt daraus eine ganz andere Be-
handlung des einzelnen Individuums, in der Baukunſt dagegen zeigt nach
wie vor der Künſtler in der geſchloſſenen Compoſition des einzelnen Werks
ſeine höchſte Kraft; ein Forum und ein einzelner Tempel auf demſelben
verhält ſich nicht wie ein dramatiſches Gemälde und die Einzeldarſtellung
eines hiſtoriſchen Charakters. Das andere jener Momente iſt der Unter-
ſchied des Materials. Derſelbe bildet in den Künſten eine neben den
Hauptzweigen herlaufende Eintheilung, welche mehr oder minder ein-
ſchneidend hervortritt, er kann aber den Mangel an einer auf jene Haupt-
[253] momente begründeten Zweigbildung nicht erſetzen. So beſteht in der Malerei
aus tieferen Gründen der große Unterſchied von Landſchaft, Genre, Bild-
niß, Geſchichtsbild und erſt weiterhin tritt dann allerdings in einigen dieſer
Zweige der Unterſchied des Materials und der Technik in ſeiner ganzen
Wichtigkeit hervor. Wie bedeutend dieſer in der Baukunſt iſt, hat ſchon
§. 540 Anm. 1. und §. 562 gezeigt. Allein abgeſehen davon, daß er
die eigentliche Zweig-Eintheilung nicht erſetzen kann, iſt auch nicht zu
überſehen, daß die ſo eben zur Verdeutlichung beigezogene Malerei immer
und überall das eine oder andere Material wählen und demnach ihren
Styl beſtimmen kann, während in der Baukunſt die Ergreifung verſchie-
denen Materials namentlich von localen Zufällen abhängt. Einige Arten
von Bauwerken werden zwar auch da, wo es Stein gibt, immer zweck-
mäßiger in Holz, andere in Backſtein ausgeführt werden, umgekehrt wird
für gewiſſe Arten auch da, wo es keinen Stein gibt, dieſer nicht blos
aus ſtructivem, ſondern auch monumental äſthetiſchem Zwecke um jeden
Preis hergeſchafft werden müſſen, allein dieſe Arten ſelbſt gründen ſich
auf ein ſtreng aus der Sache, dem Bauzweck, genommenes Eintheilungs-
prinzip und daher kann der auf das Material begründete Styl-Unterſchied
nicht in erſter Linie ſeine Bedeutung geltend machen.
2. Wenn demnach eine ſolche Eintheilung in der Baukunſt nur auf
die verſchiedenen Bauzwecke gegründet werden kann, ſo iſt zunächſt nicht
zu überſehen, daß dieß eigentlich ein logiſcher Mißſtand iſt, der ſo in der
Gliederung keiner andern Kunſt eintritt, denn nur im Tempel erhebt ſich
das Bauen zur reinen Kunſt, allen andern Bauten wird nur durch Rück-
ſtrahlung des künſtleriſchen Schwungs, den der abſolute Zweck im Tem-
pelbau hervorruft, der Stempel aufgedrückt, der ihnen die höhere äſthe-
tiſche Form verleiht; es wird daher durch jene Eintheilung Aeſthetiſches
und nicht rein Aeſthetiſches coordinirt. Dennoch führt der objective, ge-
ſchichtliche, öffentliche, monumentale Charakter, der ſich durch jenen Stempel
auch über die Gebäude-Arten ausdehnt, welche nicht der abſoluten Idee
der Religion dienen, eine Würde mit ſich, welche gebietet, jene logiſche
Kluft zu überſehen. Dieſe Zuſammenſtellung des abſoluten Baus mit den
Bauten der relativen Zweckmäßigkeit führt nun, wenn man auf den
Schlußſatz von §. 541 zurückblickt, zu einem tief bedeutenden Unterſchiede
zwiſchen der Baukunſt und andern Künſten. Dort iſt nämlich geſagt, das
Eindringen der zweiten Stoffwelt führe die Schwierigkeit mit ſich, daß
gewiſſe Zweige, die es hervorbringt, neben ſolchen Zweigen, deren
Aufkommen ſie eigentlich verdrängen müßte, fortbeſtehen, wie das mythiſche
Gemälde neben dem hiſtoriſchen, das denſelben reinen Geſchichtsgehalt wie
jenes, aber frei von der tranſcendenten Form zur Darſtellung bringt.
Dem mythiſchen Gemälde (ebenſo dem Epos, Myſterien-Drama) würde
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 17
[254]nun der Tempel entſprechen und die Frage nach einer Gattung von
Architektur entſtehen, die ihn ebenſo zu verdrängen beſtimmt wäre, wie
das rein hiſtoriſche Gemälde das mythiſche, der Roman das Epos, das
reine Drama die Myſterienſtücke, wiewohl beide vermöge jenes geſchicht-
lichen Widerſpruchs noch nebeneinander beſtänden. Allein eine ſolche Gat-
tung gibt es nicht, Tempel und Kirche kann nicht erſetzt werden. Es iſt
aber auch kein innerer Grund dazu vorhanden und hier liegt denn in
der individualitätsloſen Natur der Baukunſt ein großer Vortheil über andere
Künſte. Das abſolute Haus iſt nämlich gar nicht nothwendig das Haus
eines tranſcendenten Gottes, ſondern kann ebenſowohl das Haus der
reinen Gegenwart des immanent angeſchauten abſoluten Geiſtes in der
Andacht der Gemeinde ſein. Weil die Baukunſt keine Individuen bildet,
ſo bildet ſich auch keinen Götterleib und neben dem Hauſe, das der Ver-
ehrung des nicht mythiſch vorgeſtellten allgemeinen Geiſtes dient, können
ohne Widerſpruch die Bauwerke ſtehen, die der beſondern Realität deſſelben
in den beſtimmten Sphären des Lebens gewidmet ſind. Dieß öffnet
einen ſchönen Blick in die Zukunft: die reine Religion als Erhebung zum
wahrhaft Unendlichen wird ihren Tempelſtyl erzeugen und da aller Styl
ſeine Hauptwurzel in der Baukunſt hat, iſt ein neuer Kunſtſtyl ebendaher
eine Möglichkeit. Wir werden daſſelbe bei der Muſik finden; es gibt
eine götterloſe Muſik, die dennoch religiös iſt im Sinn einer Cultusform
und die neben der weltlichen Muſik in alle Zeit beſtehen kann ohne den
Widerſpruch, der in dem Nebeneinanderbeſtehen des rein hiſtoriſchen und
des mythiſch hiſtoriſchen Gemäldes liegt.
3. Nachdem gezeigt iſt, daß die einzige durchgreifende Eintheilung
auf die Zwecke der Baukunſt gegründet werden kann, ſo tritt nun nach-
träglich vor Allem, zwar weit nicht beſtimmt genug, um mehr, als eine
ſchwankende Analogie, zu bilden, doch ſehr intereſſant der Anklang an
den tieferen Zweig-Unterſchied in anderen Künſten hervor, der im §. an-
gedeutet iſt. Zunächſt ſpielt etwas den Arten der Phantaſie, die auf den
naturſchönen Stoff gegründet ſind, Entſprechendes herein: die ländliche
Baukunſt erinnert an die landſchaftliche Phantaſie (ganz abgeſehen von
der allgemeinen Beziehung, in der die ganze Baukunſt als die Idealiſi-
rung der unorganiſchen Natur zu ihr ſteht §. 558) zugleich an die Sphäre
der rein menſchlichen, die das Genrebild erzeugt; an dieſe mahnt in
anderem Sinne das ſtädtiſche Wohnhaus und der Privat-Palaſt, der
letztere hat zugleich Analogie mit dem Porträt; das öffentliche, politiſche
Gebäude entſpricht der geſchichtlichen Phantaſie; in Bauten des öffentlichen
Verkehrs miſcht ſich dieſe wieder mit der landſchaftlichen, in Gebäuden
der Gewerbsthätigkeit u. dergl. mit der genreartigen, in Gebäuden für
geiſtige Zwecke mit jener Sphäre der „rein menſchlichen“, die das Humane
[255] im edelſten, allgemeinſten Sinn ergreift. Man ſieht hier in ſchwachen
Linien etwas den Stoff-Unterſchieden der Plaſtik Aehnliches, in deutlicheren
die Gattungen der Malerei, in ganz zarten Umriſſen die der Dichtkunſt
wie in der Ferne ſich ankündigen: die letzteren, denn das politiſche Ge-
bäude erinnert an das politiſche Drama, den hiſtoriſchen Roman,
auch an das Epos, das ländliche an die Idylle, wohl auch an
das Volkslied, Palaſt und Wohnhaus etwa an die Novelle, das
Grabmal an die Elegie. Freilich ſieht man auch, wie wenig von einer
ſtrengen logiſchen Analogie die Rede ſein kann, da bei den meiſten
Gattungen verſchiedene Beziehungen ſich finden laſſen; zudem bringt das
Haus der Religion eine beſondere Schwierigkeit in dieſe Vergleichung, daher
wir es bei der Aufzeigung der Analogieen gar nicht berückſichtigt haben:
es entſpricht den höchſten Zweigen in allen Künſten und zugleich der
mythiſchen Abzweigung derſelben, hat aber, wie gezeigt iſt, eine andere
Berechtigung, als letztere, nämlich eine bleibende. Die Zweige der
andern Künſte, mit denen wir die Sphären der Baukunſt andeutend
zuſammengehalten haben, beruhen übrigens nicht blos auf der Ergreifung
verſchiedenen Stoffes, ſondern, namentlich in der Dichtkunſt, auf dem
Unterſchiede der bildenden, empfindenden, dichtenden Phantaſie; ſind daher
jene Analogieen trotz ihrer Unbeſtimmtheit kein leeres Spiel, ſo macht ſich
in den Gebieten der Baukunſt auch dieſes auf die Arten der Phantaſie
begründete oberſte Eintheilungsgeſetz der Kunſtzweige (vergl. §. 539) in
erſten ſchwachen Spuren bemerklich. Schließlich iſt nunmehr auch hervorzu-
heben, daß der Unterſchied der einfach ſchönen und erhabenen Phantaſie,
obwohl, wie geſagt, nicht eine Haupt-Eintheilung begründend, doch in den
Gegenſätzen zierlicher, ſchlanker, heiterer und gewaltiger, pompöſer, im-
poſanter Bauart ſtark genug ſich geltend machen wird und ebenſo der des
Einfachen und Gruppen-Umfaſſenden, wie der des Materials und darauf
ſich gründenden Styl-Unterſchieds.
Da die Geſammtperſon eines Volkes dem höchſten Inhalt ihres Bewußt-
ſeins in der Verehrung des abſoluten Geiſtes ſeinen Ausdruck gibt, die Einzel-
perſon aber ſich ihr als Glied einreiht, ſo tritt die für einzelne, endliche Zwecke
thätige Baukunſt mit derjenigen, die ſich durch den abſoluten Zweck zur freien
Schönheit erhebt (§. 556), in eine innere Einheit zuſammen, die ſich als Rück-
wirkung des am Tempelbau entwickelten Monumentalſtyls auf jenes ganze Ge-
biet äußert. Am weiteſten liegt von dem oberſten Puncte dieſer Einheit das
Wohnhaus ab, das im Privatpalaſte ſeine geſonderte Idealität ausbildet; unter
den öffentlichen Bauten haben zunächſt die für den Zweck der Ernährung und
17*
[256]des räumlichen Verkehrs, dann die für Ackerbau, Gewerbe, Handel, Pflege
der Leidenden, für die Vertheidigung des Staats beſtimmten die gewichtige Be-
deutung darzuſtellen, welche das Nützliche und Nothwendige in dieſem Zuſammen-
hang erhält; höher tritt die Einheit des Staatslebens in den Gebäuden für
Regierung und Rechtspflege hervor; ſein rein menſchlicher, geiſtiger und ſittlicher
Gehalt ſpricht ſich in den Bauwerken für Erziehung, Wiſſenſchaft, Kunſt aus.
Wir beginnen mit dem Gebiete der ſogenannten weltlichen Baukunſt.
Der §. ſtellt ausdrücklich heraus und begründet tiefer, was ſchon zu §. 574, 2.
von der Rückſtrahlung des am Tempel entwickelten Monumentalſtyls auf
dieſe Sphäre geſagt iſt. Es wird hier der Begriff der Perſönlichkeit wieder
eingeführt, der ſchon in §. 556, welcher die gegenwärtige Eintheilung vor-
zeichnet, der leitende war. Der Tempel iſt die Stätte des abſoluten
Geiſtes; in dieſem ſchaut die Geſammtperſon eines Volks das Perſönliche
in allen Perſonen an, ſei nun die Vorſtellung dabei die mythiſche, als
wäre dieſer reine Geiſt ſelbſt wieder Einzelperſon, oder nicht. Der Tempel
kann nun zunächſt nur das weltbauende Wirken dieſer abſoluten Perſon
ſymboliſch darſtellen, dabei ſchwebt aber der Baukunſt zugleich das dem
beſtimmten Geſammtleben des eigenen Volks entnommene Bild einer ethiſchen
Ordnung vor und ſo iſt der Ausdruck des Tempelſtyls mittelbar ein per-
ſönlicher. Die Geſammtperſon eines Volks hat ihre weiteren beſonderen
Zwecke zu realiſiren; ſie erhalten ihre Weihe durch die Einheit des ganzen
Volkslebens, die ſich ſelbſt wieder als Glied jener höchſten, göttlichen
Einheit weiß; der Geſammtperſon des Volks aber reiht ſich die Einzel-
perſon als Glied ein und tritt ſo in dieſelbe Kette, die zu der höchſten
Einheit führt. Dieß ſoll ſich nun auch äſthetiſch ausdrücken; auch das
Gebäude, das nur einem der beſonderen und einzelnen Zwecke dient, ſoll
perſönlich ſein nicht nur in dem gemeinen Sinne, daß es eben für die
Bedürfniſſe einer Perſon oder mehrerer Perſonen errichtet iſt, ſondern im
Sinn einer künſtleriſchen Gliederung, welche an jene höhere Wohlordnung
erinnert, durch die der Tempel auf den weltbauenden und zugleich den
ethiſchen Koſmos gründenden abſoluten Geiſt hinweist. Dieſer Ausdruck
wird ſich nun einfach daraus entwickeln, daß jeder beſondere, nur etwas
über das rohe Bedürfniß ſich hebende Bauzweck einen Hauptraum zwiſchen
untergeordneten Räumen fordert, der als reichere, Symmetrie-bildende
Mitte hervortreten muß; ſolche Mittelpuncte ſtellen die geiſtige Einheit der
in jedem zweckmäßigen Ganzen verbundenen Einzelzwecke dar, ſie ent-
ſprechen dem Charakterbeſtimmenden in der Perſönlichkeit, an ſie knüpft
ſich der äſthetiſche Ueberfluß, an ſie vorzüglich legt ſich der höhere Styl an.
Dieß gilt denn ſchon vom Wohnhauſe des Einzelnen; ſoll es nur irgend
über das Nothdürftige ſich erheben, ſo darf es kein Würfel mit Fenſtern
[257] und Thüren ohne Unterſchied ſein; ein ſolcher iſt unperſönlich, man ſoll
dem Bau anſehen, daß zwiſchen den untergeordneten Gelaſſen für die Be-
dürfniſſe ein bevorzugter Raum die Bewohner zum freien geſelligen Zuſammen-
ſein vereinigt; dieſer ſoll ſich als idealer Kern, als herrſchende Mitte
reicher gegliedert und verziert hervorheben. Natürlich iſt dabei nicht buch-
ſtäblich an einen Einzelnen, ſondern an eine Familie gedacht; die Familie
iſt Prototyp des Staats und das edlere Wohnhaus daher bereits auch
Prototyp der öffentlichen Bauten. Im Hauſe des Landmanns herrſchen
nothwendig die Gelaſſe für Vorräthe, Vieh u. ſ. w. im Umfange ſehr
ſtark über jenen Mittelpunct vor, es iſt Prototyp des Geſammtlebens in
ſeinen primitiven Zuſtänden; es wäre ſehr anziehend, bei der ländlichen
Architektur, namentlich dem ſchönen idylliſchen Holzbau des alemanniſchen
Deutſchlands und der Schweiz zu verweilen, es iſt aber hauptſächlich das
bürgerliche Wohnhaus in der größeren, Städtebildenden Gemeinde, das
hier zur Sprache kommen muß. Das antike Haus wendet ſeine be-
deutendſte Seite nach innen: der umſäulte Hof, nach welchem alle Ge-
mächer münden, obwohl nicht nach der Straße gekehrt, iſt hier das Vor-
bild des öffentlichen Platzes, der Agora, des Forums; das neuere Haus
wirft eine Façade nach der Straße, durch die es verkündigt, daß der
Einzelne dem Ganzen angehört, legt gewöhnlich die edleren Räume in
den mittleren Stock und ſpricht ihren Werth durch erhöhte architektoniſche
Schönheit, durch einen reichſten Mittelpunct in dem reicheren Stockwerk
aus, öffnet ſie auch wohl durch Loggia, Balkon, Erker nach außen; in
jenem ländlichen Holzbau entſprechen die zierlichen Galerien dieſer Be-
deutung. Unter dem Palaſte, zu dem wir nun übergehen, wird hier nur
der Privatpalaſt verſtanden. Es iſt hier allerdings eine logiſche Schwierig-
keit: im monarchiſchen Staate iſt der fürſtliche Palaſt zugleich Privatge-
bäude und zugleich ſoll er das Ganze des Staates im concentrirteſten
Sinne darſtellen; da müßte er an die Spitze der Eintheilung im §. ge-
ſtellt werden. Wir ſehen aber auf die Sache und ſtellen die Gebäude für
öffentliche Thätigkeiten an die Spitze. Im Palaſte, wenn man ihn in
ſeiner richtigen Bedeutung nimmt, ſteigert ſich denn das Privathaus für
ſich zur Idealität; er iſt für dieſe Gattung, was der Tempel für das
Ganze aller Gattungen iſt. Da er die Blüthe glücklicher Humanität dar-
ſtellt, ſo werden ſelbſt die untergeordneten Gelaſſe durch ihren Reichthum
die Erleichterung und Veredlung des Bedürfniſſes anzeigen, für die Räume
des reinen Genuſſes wird daher noch höhere Pracht gefordert. Für dieſe
Steigerung des Einzelnen im Staate ſoll aber der Palaſt durch den
Charakter des Einladenden, heiter und gaſtfrei Geöffneten ſeinen Tribut
an das Ganze zahlen. Das Wohnhaus erhält nun aber ſeine öffentliche
Bedeutung weſentlich durch die Vielheit, ſie iſt die Heerde, die in den
[258] bedeutenderen öffentlichen Bauten ihren Hirten erwartet. Da iſt denn die
Herrſchaft eines gewiſſen Grads von äſthetiſchem Reichthum in der Mehr-
zahl der Wohnhäuſer ein wohlthuender Ausdruck verbreiteter Wohlhaben-
heit und Bildung, man denke an Städte, wie Nürnberg; dieſer Aus-
druck ſcheint ſich in einer Menge von eigentlichen Paläſten zur Erſcheinung
eines Volks von Reichen zu ſteigern, ſolche iſt aber vielmehr Ausdruck
einer zum Schaden des Staates übergewachſenen glänzenden Ariſtokratie,
im Mittelalter eines Sitzes ewiger Fehde, daher kriegeriſch burgartige Paläſte
entſtehen, die den Charakter des Reichen mit dem des finſter Trotzigen
mühſam vereinen. Dieſelbe zerſprengte Welt kleiner Herren erzeugt die
einzelnen Burgen, Vorbilder der kriegeriſchen Schutzbauten des Gemein-
weſens. Dagegen ſind heitere Landhäuſer die zur Idealität geſteigerte
Idylle der Wohnung des Landmanns. — Unter den öffentlichen Bauten
nun dürfen wir vielerlei Anlagen mitzählen, welche nicht umſchloſſene
Räume ſind nach dem im §. 555 aufgeſtellten Grundbegriffe, aber weſent-
lich die Bedeutung haben, zu den eigentlichen Bauten für Zwecke des öffent-
lichen Lebens vermittelnd hinzuführen. Es ſind dieß zunächſt die Anlagen
für die Ernährung und den großen Verkehr. Hier ſind die Waſſerleitungen
zu nennen; man denke an die großartigen Werke der Römer, deren Bau-
thätigkeit überhaupt in dem ganzen vorliegenden Gebiete des Zweckmäßigen
und Politiſchen ſo gewaltig monumental hervortritt; man denke aber auch
an die Ausſpendung des klaren Elements im Brunnen, der die ehrwürdige
Bedeutung ſeiner labenden Aufgabe in beſonderer Schönheit, ſelbſt durch
Spiele über das Bedürfniß darzuſtellen hat (Enneakrunos in Athen, Fontänen
Roms, des Mittelalters, z. B. der ſchöne Brunnen in Nürnberg). Für
Zufuhr und Verkehr aller Art ſorgt die „völkerverbindende“ Straße, ihre
Bedeutung tritt erhebend beſonders in kühnen Steigungen, Durchbrüchen,
in ſchwungvollen Brücken hervor, über deren ſchönſte Form ſich nichts
Beſſeres ſagen läßt, als Schillers Wort: unter mir, über mir rennen die
Wellen, die Wagen und gütig gönnte der Meiſter mir ſelbſt, auch mit
hinüberzugeh’n. Nun tritt auch der Verkehr zu Waſſer in ſeiner Be-
deutung hervor: der Kanal, das Schiff, dieſe Erfindung der Kühnen, die
„zuerſt, ein dreifach Erz um die Bruſt, mit trockenem Auge die finſtere
Tiefe durchfurchten und die ſchwimmenden Ungeheuer erblickten“; hier iſt an
den äſthetiſchen Unterſchied des Segel- und Dampfſchiffs, ähnlich dem der
gewöhnlichen Fahrſtraße und der Eiſenbahn, zu erinnern. Schiffswerfte,
Häfen können mit der Zweckmäßigkeit gewaltigen und reizvollen Eindruck
verbinden. — Die eigentlichen Bauten für öffentliche Zwecke dienen zunächſt
der elementaren Thätigkeit des Ackerbaus: große Gehöfte der Landwirth-
ſchaft; bei Anlaß der Stallungen, die dafür nothwendig ſind, können wir
die Marſtälle nennen. Die vermitteltere Thätigkeit des Gewerbes führt uns
[259] zunächſt wieder zu den baulichen Unternehmungen des Einzelnen im Staate
zurück; da können denn Fabrik-Bauten das Bedeutende der Thätigkeit,
für welche ſie errichtet ſind, freilich ſchwer in edlem Style ausſprechen,
doch iſt eine ſolche Charakteriſtik nicht ganz ausgeſchloſſen; wichtiger aber
ſind die Gebäude, welche die Corporation, die Gemeinde oder der Staat
für die Ausſtellung und den Verkauf des Producirten herſtellt. Die Welt-
Ausſtellung in London hat eine großartige, doch nur momentane Eiſen-
und Glasconſtruction an’s Licht gerufen, die ungemeine Bedeutung, welche
die Induſtrie für das ganze Völkerleben gewonnen hat, und ihr inniger
Zuſammenhang mit der Kunſt fordert aber monumentale Gebäude für
fortdauernde Ausſtellungen in den Hauptſtädten und entſprechende in den
Provinzialſtädten mit der höchſt förderlichen Maaßregel des fortwährenden
Uebergangs der Producte von jenen in dieſe. Zugleich hat aber die
größere Gemeinde und der Staat für die Waarenauslage der Einzelnen
große, vereinigende Räume herzuſtellen, eben ſolche fordert der Verkauf
der Producte für die Ernährung: Handelsmarkt, Speiſemarkt (macellum
u. ſ. w.), Bauernmarkt. Bedeutung ſolcher Plätze im antiken Leben;
großartige Einrichtungen; Lebendigkeit des Bildes; Bazar u. ſ. w. Mit
dem Handelsmarkt verbindet ſich der Geldmarkt, Wechslerbuden, Börſe.
Die verſchiedenen klimatiſchen Bedingungen verlangen mehr offene oder
mehr geſchloſſene Räume, im Weſentlichen iſt aber für alle dieſe Waaren-
Auslagen u. ſ. w., wenigſtens für den feineren Theil dieſer Dinge und
Geſchäfte überall die offene Säulenhalle gefordert, deren Bedeutung uns
noch weiterhin in anderem Zuſammenhang entgegentreten wird. Zu dem
gegenwärtigen ziehen wir noch die Pflege für das äußere Wohl, wie ſie
ſich in Armenhäuſern, Krankenhäuſern (ospedale grande in Mailand),
Invalidenhäuſern ausſpricht. Die Griechen hatten in ihrem Prytaneion
neben der Beſtimmung für die Verſammlungen des engeren Raths ein
Centralheiligthum, ein Symbol des Hauſes mit immerwähremdem Veſta-
Feuer, einen heiligen Herd als idealen Ausdruck dieſes ehrwürdigen
Mittelpuncts der Familie, worin mit den Prytanen Ehrenbürger und
fremde Geſandte geſpeist wurden. Auch das Kriegsweſen mag in dieſem
Gebiete des äußerlich Nützlichen und Nothwendigen aufgezählt werden:
die Gebäude für Waffen-Erzeugung, Aufbewahrung der kriegeriſchen Vor-
räthe, die in einem ſtattlichen Raume für Aufſtellung hiſtoriſcher Waffen-
ſammlungen und Trophäen ihren idealen Mittelpunct finden (Arſenal in
Venedig, Zeughäuſer in Wien und Berlin, Schlüter); die Befeſtigungs-
bauten, Mauern, Thürme, Vorwerke, ganze Feſtungen: reicher Stoff für
einen Künſtler, der die große Bedeutung der Vaterlandsvertheidigung in
würdigen Formen auszuſprechen weiß; dazu die Wohnungen für die
präſente Mannſchaft, die Kaſernen; bei den Römern war auch das Lager
[260] architektoniſch bedeutend. — Gehen wir nun zu den Räumen über, welche
für die Thätigkeiten beſtimmt ſind, die das Allgemeine im Staatsleben
durchführen, worin alſo die Staats-Einheit ſich concentrirt darſtellt, nämlich
den Gebäuden für Regierung und Rechtspflege, ſo haben wir die An-
ordnung, nach der wir die Bauwerke für die geiſtigen Staatszwecke über
ſie ſtellen, gegen den Einwand, daß auch dieſe Gegenſtand der Ver-
waltung ſeien, damit zu rechtfertigen, daß der höhere Inhalt es iſt, der
die bedeutendere Kunſtform fordert; das Staatsleben zeigt hier unvermeid-
lich die logiſche Schwierigkeit, daß Erziehung, Wiſſenſchaft, Kunſt, die
ſeine höchſte Blüthe ſind, ſelbſt wieder Objecte der regierenden praktiſchen
Thätigkeit ſein müſſen, über der ſie doch ihrem geiſtigen Werthe nach
ſtehen; die Religion, die nicht mehr als Kirche einen Staat im Staate
bilden würde, ſtände in demſelben Verhältniß. Das Alterthum und Mittel-
alter, deſſen Staatsleben ein erweitertes Gemeindeleben war, hat denn
dieſen Geſchäften Gebäude errichtet, deren Charakter durchaus ein öffent-
licher war und deren Styl die ganze Würde der höchſten Staatsthätig-
keiten nach außen verkündigte: Buleuterion, Prytaneion nach dem einen
Theile ſeiner Beſtimmung, Curia, Baſilika, Rathhaus, Stadthaus. Der
moderne Beamtenſtaat hat entſprechend ſeinem mechaniſchen Charakter ſeine
Büreaugebäude meiſt ſchmucklos hingeſtellt; in der einzelnen Gemeinde
nimmt jetzt neben dem Rathhaus der Raum für die Geſchwornen-Gerichte
ſeine Bedeutung wieder in Anſpruch, aber auch die großen amtlichen
Mittelpuncte, die Miniſterialgebäude ſollten durch ihre architektoniſche Form
wieder in ihrer Bedeutung anerkannt werden, vergl. Hallmann Kunſtbeſtr.
der Gegenw. S. 82: Ueber den Entwurf eines Staatsverwaltungsge-
bäudes zu Berlin. In den Zuſammenhang dieſer Art von Gebäuden
gehören auch die Archive, Münzen, Schatzhäuſer (die Tholen der Alten)
und zum Raume der Juſtiz die Gefängniſſe, deren nothwendig ſchwere
Formen einer tragiſchen Würde nicht unfähig ſind. — Nunmehr aber hat
ſich der ganze Adel des geiſtigen Nationallebens in den Gebäuden der
Erziehung, Unterricht, Wiſſenſchaft und Kunſt darzuſtellen. Eigentlich iſt
jedes Gebäude für die Wiſſenſchaft auch Unterrichts-Gebäude, denn die
Räumlichkeit für gegenſeitige Mittheilung der Wiſſenſchaft zwiſchen Ein-
geweihten, das Local der wiſſenſchaftlichen Akademie, ſoll ungetrennt ſein
von den Räumen für die Mittheilung derſelben an die lernende Jugend.
Ein Feſtſaal für die Feier der hohen Bedeutung wiſſenſchaftlicher Anſtalten
ſoll als idealer Mittelpunct der Räume für jenen Zweck und für die Lehr-
zwecke hervortreten. Bei den Alten war dieß Alles offene Halle: eine
Poeſie der Einheit geiſtiger Beſchäftigung und ſchönen Naturlebens, dem
die neue Zeit und der Norden freilich entrückt iſt, doch darf auch im
modernen höheren Schulgebäude der Säulengang nicht fehlen. Etwas
[261] Anderes aber war bei den Alten mit dem Unterrichts-Gebäude vereinigt,
was nun in der Abſtraction unſres Lebens davon getrennt oder gar nicht
vorhanden iſt, indem unſerem Geſchlecht und verknöcherten Staate kaum
die Erinnerung mehr geblieben iſt, daß das Gymnaſium und die Gymnaſtik
zuſammenfallen: die Bau-Anlagen für die leibliche Erziehung, die Pa-
läſtra, die Ring-, Lauf-, Schwimm-, Reitſchule. Die Thermen können
wir damit zuſammenfaſſen, die großen, umfaſſenden Bad-Anſtalten, die
als arme Einzelheiten bei uns der Privatunternehmung anheimfallen,
während im Alterthum die gründliche reinigende Erfriſchung und Durch-
knetung des Körpers Menſchen- und Bürgerpflicht war, ein Edles, Ehr-
würdiges, dem Götter vorſtanden. Selbſt im Mittelalter hatte die geringſte
Ortſchaft ihre Badſtube und es war nicht als möglich erkannt, daß der
Menſch ſeinen Körper zur dumpfen, rohen Maſchine geiſtloſer Zwecke
herabſinken laſſe und in dieſem Schmutze noch meine, ſeinem Gotte zu
gefallen. Zur geiſtigen. Erziehung und Bildung, zur Schule gehören
noch die Bibliotheken, die Räume für naturhiſtoriſche, technologiſche Samm-
lungen und die ſchon oben genannten Krankenhäuſer, ſofern ſie weſentlich
dem Lehrzwecke beſtimmt ſind. — An dieſe ganze Gebäude-Klaſſe reihen
ſich nun die Räume für die Kunſt, zunächſt für den Kunſtunterricht: die
Kunſt-Akademie; an dieſe ſchließt ſich der Bäu für die Sammlungen der
Werke bildender Kunſt, alter und neuer: das Muſeum, die Pinakothek,
Glyptothek. Es verſteht ſich, daß die Kunſt ihre eigene Würde durch die
Architektur feiern wird (Gebäude in München, Muſeum in Berlin). Nun
fehlen noch Bauwerke für die feſtliche Ausübung der Muſik und die Dar-
ſtellung des dramatiſchen Kunſtwerks: Odeen und Theater. In dieſen
Räumen, wo die Grundempfindungen des nationalen und menſchlichen
Lebens in Tönen erklingen, das erhöhte Bild der Welt durch die Mimik,
unterſtützt durch Malerei und Muſik, vor Auge und Ohr ſich entfalten ſoll,
iſt dem Architekten eine Aufgabe von um ſo größerer Bedeutung geſtellt,
als hier offenbar ein neuer, höherer Kreis ſich öffnet, zu dem wir im
nächſten §. übergehen: der Kreis der Gebäude für reinen äſthetiſchen Selbſt-
genuß der innerſten Seele des Nationallebens. Das Theater insbeſondere
iſt ein idealer Raum: das Ganze der Bühne und des Zuſchauer-Raums
ſoll die Stimmung erregen, daß hier der reinſte Auszug des Lebens in
einer Handlung ſich aufrollt, und die Architektur hat dem entſprechend
einen Boden, eine Umſchließung zu ſchaffen, wie wir ſie uns vor-
ſtellen, wenn wir reine Menſchheit, frei von allem Druck des gemeinen
Zufalls und Bedürfniſſes uns in der edelſten äußern Umgebung denken.
Das moderne Theater iſt weſentlich Innenbau, das antike zog als Außen-
bau die wirkliche Natur hinzu und ſuchte die herrlichſten Ausſichten (Segeſt,
Taormina und andere). Das römiſche Amphitheater, für die roheren Spiele
[262] beſtimmt, wie dieſes harte Volk ſie liebte, imponirt durch den Pomp ſeiner
geſchloſſenen, maſſenhaften, doch ſinnreich durchgeführten Gliederung.
Das Geſammtleben fordert aber noch Räume, welche ausdrücklich der
öffentlichen Darſtellung des Ganzen als ſolchen dienen, zunächſt noch in prak-
tiſchem Sinne: dieß ſind die Plätze und Gebäude für die Volksverſammlung,
die Volksvertretung; ſodann im Sinne des freien, rein darſtellenden Selbſtge-
nuſſes der Geſammtperſönlichkeit: dieß ſind die Anlagen für das Volksfeſt.
An die erſteren vorzüglich ſchließen ſich naturgemäß die Ehrendenkmale für
verdiente Einzelperſonen. Dieſes Gebiet ſteht der Aufgabe, worin alle Bau-
kunſt ihre höchſte ideale Einheit hat, dem Tempelbau am nächſten, tritt mit
ihm und den ihm unmittelbar angehörigen Nebengebäuden in Gruppen zuſammen,
zieht zu dieſen auch die bedeutendſten Bauwerke der vorangehenden Gattung
(§. 575) und ſo erwachſen die Mittelpuncte, die den Kern der höchſten cyk-
liſchen Aufgabe, des Städtebaus, bilden.
Alle bisher aufgeführten Gebäude, ſelbſt die der Regierung und
Rechtspflege, dienen, verglichen mit den Räumen, wo das Ganze als
ſolches in ſeiner Lebendigkeit ſich ausdrücklich darſtellen ſoll, einem Einzel-
zwecke. Bei den Alten war nun der politiſche Marktplatz, die Agora,
das Forum mit den Rednerbühnen, Hallen der Mittelpunct, wo das
Volksganze zunächſt politiſch praktiſch in der Form der Volksverſammlung
(etwa in der beſondern Abtheilung des comitium) ſich zu öffentlicher Hand-
lung vereinigte. Dieß war die lebendige Seele ihres Zuſammenlebens
in Städten, allerdings nicht ſelbſt ein Gebäude, aber der Centralplatz
aller Gebäude, das offene Auge ihrer geſchloſſenen Einheit. Da die
Oeffentlichkeit das Element des Staates war, ſo liefen ihre Adern, eben
jene mehr erwähnten Säulenhallen, Stoen, Leſchen, Portiken, nach einer
Seite mit einer Mauer geſchloſſen oder nach beiden Seiten offen, auch
durch die ganzen Städte hin, fanden aber ihren vereinigenden Mittelpunct
im Hauptplatze; daneben konnte die Volksverſammlung allerdings auch
beſtimmte Räume, wie die Theater, benützen. Das Mittelalter hatte in
ſeinen Lauben noch einen Nachhall jenes das Ganze einer Stadt durch-
ziehenden Ausdrucks der Oeffentlichkeit. Im modernen Staate hat die
Stelle des politiſchen Mittelpunctes, der Agora, der Raum für die
Volksvertretung eingenommen. Er fordert in Kraft ſeiner Bedeutung die
würdigſte Ausſtattung unter den politiſchen Bauten (England, Parlaments-
gebäude); die politiſche Bewegung der neuern Zeit hoffte wie alle Künſte,
ſo vor Allem die Baukunſt nach dieſer Richtung zu beleben. — Die
[263] andere Seite der ausdrücklichen Oeffentlichkeit iſt diejenige, worin die
Geſammtperſon in freiem Selbſtgenuſſe rein darſtellend die Fülle ihrer
Kräfte ſich ſelber zeigt. Dieß iſt die wahre Bedeutung des Volksfeſtes.
Es knüpft ſich unmittelbar an die öffentlichen Plätze, denn wenn auch
die größeren Spiele, nachdem ſie ſich reicher ausgebildet, nicht mehr hier
abgehalten wurden, ſondern Stadium, Hippodrom oder Circus, ebenſo
die Turnierplätze und Felder für die andern Spiele des Mittelalters ſich
außerhalb der Städte verlegten, ſo ging doch immer der Feſtzug von
hier aus und zeigte damit an, daß da, wo das Ganze als politiſche
Einheit ſein Leben concentrirte, auch die Blüthe dieſes Lebens, die Schön-
heit und Freude vor Allem ſich entfalten müſſe. Griechenland hatte außer-
dem ſeine Orte für die großen Spiele der Haupt-Nationalfeſte: Olympia,
Delphi, Iſthmus, Nemea. Die Theater ſind nun wieder beizuziehen, ſie
gehören zu dieſer architektoniſchen Gruppe, denn ihre Leiſtungen waren
einſt und ſollen ſein weſentlicher Theil des Feſtes. Auf den großen Ver-
ſammlungs- und Feſträumen ſtehen nun aber naturgemäß auch die Denk-
male für die großen Männer des Staats, der Wiſſenſchaft, Kunſt und,
wo gleichmäßige Entwicklung der menſchlichen Kräfte in ihrem unendlichen
Werth erkannt iſt, für die Sieger in den Feſtſpielen. Lebendige und
Todte werden dieſer Ehre gewürdigt. Anlagen von Begräbniß-Orten,
Gräberſtraßen, Kirchhöfen und Erfindung von eigentlichen Grab-Monu-
menten, deren Grundcharakter immer eine, die Grabkammer weithin ver-
kündigende Erhöhung ſein wird, iſt eine beſondere Aufgabe der Baukunſt;
aber die Ehre, welche der um das Oeffentliche verdienten Perſönlichkeit,
namentlich durch Aufſtellung der Bildſäule, auf dem belebten öffentlichen
Platz erwieſen wird, führt uns durch die verewigende Kraft des Todes
zu einem Cultus (Heroen-, Heiligen-Verehrung), dem nun die Architektur
an ebenſolchen Stellen ſeinen Raum: Altar, Heroon, Kapelle hinzuſtellen
hat, und ſo auf dem in §. 556 dargeſtellten Uebergange zum Tempel
zurück. Haben doch Völker, die ihre großen Männer ehren, ſie häufig
im Haupttempel ſelbſt begraben, ihnen hier ihr Ehrendenkmal geſetzt und
ſo Kirchen zu National-Heiligthümern umgeſchaffen (Weſtmünſterabtei,
S. Croce in Florenz). Beſondere Ruhmeshallen ſind ein abſtracter Ge-
danke (Walhalla u. ſ. w. in Baiern). Die Haupt-Tempel ſind nun zu
aller Zeit den öffentlichen Plätzen nahe geſtanden, nicht blos äußerer
Zwecke, ſondern der innern Bedeutung wegen, denn die ausdrückliche
Erinnerung und Bethätigung der Gemeinſamkeit iſt der Uebergang zur
Erinnerung des Unendlichen. Abgeſondertere Tempel hatten im Alterthum
ihren heiligen Bezirk, Peribolos (Aule, Temenos, Herkos) mit heiligen
Quellen, Bäumen, Hainen, Inſchriftſäulen, Sieges- und Heldenmalen,
Schatzhäuſern und Wohnungen für Prieſter und Tempeldiener. Pracht-
[264] thore, Propyläen führten zu den bedeutendſten Tempeln (Parthenon,
Tempel in Eleuſis u. and.). Im Mittelalter dehnen ſich Prieſterwoh-
nungen zu Abteien, Klöſtern aus; dieſe geſelligen Clauſuren für Solche,
die ſich der Aſceſe dieſer Zeit gewidmet, ſind aber zugleich Wiegen un-
entwickelter Wiſſenſchaft und Kunſt und entſprechen nach dieſer Seite den
Gebäuden für dieſen Zweig, den Univerſitätshäuſern, Akademieen. Sie
haben nach innen ihre Oeffentlichkeit, die ſich in der an das antike Peri-
ſtyl erinnernden Halle des Kreuzgangs darſtellt. Kapitelſaal und Refec-
torium ſind die Rathhaus- und Palaſtähnlichen Feſträume. Baptiſterien,
Kapellen, Grabkirchen geſellen ſich ferner zum Dome des Mittelalters. —
Blicken wir nun auf die Gebäude-Arten §. 575 zurück und überſchauen
wir, wie ſie in einer natürlichen Reihe zu dem Tempel führen, ſo ſehen
wir in dieſem ihren Gipfel und Mittelpunct, der ſich, unbeſchadet ein-
zelner abgeſonderter Tempelbauten, nicht nur mit den Räumen und Ge-
bäuden der ausdrücklichen Oeffentlichkeit, ſondern auch mit den bedeutendſten
jener für Einzelzwecke beſtimmten Bauwerke zuſammengruppirt. In Rom
ſtand der höchſte Nationaltempel auf dem Capitol unmittelbar am Forum,
in Athen, verbunden mit dem Theater und hochwichtigen Heiligthümern
an und auf der Akropolis, ebenfalls unmittelbar an der Agora, wo ja
auch der Areopag ſich befand. Wie im Dorfe der Kirchthurm idylliſch als
Hirte der Heerde erſcheint, ſo iſt nun der Tempel auch räumlich zu einem
Mittelpuncte geworden, der, mit den wichtigſten öffentlichen Gebäuden
vereinigt, die Maſſe der Privathäuſer ſich unterordnet, ihnen ihre höchſte
Idealität, mit dem Markt u. ſ. w. ihren abſoluten Feſtraum und Feſt-
ſaal gibt. Dieß muß das Haupt-Augenmerk für die höchſte, cykliſche
Aufgabe, den Städtebau, ſein. Von der andern Seite macht ſich aber
hier in ihrem ganzen Gewichte die Rückſicht auf die umgebende Natur in
der Beziehung der Geſundheit (Licht, Luft, Waſſer) Sicherheit und Schön-
heit (Höhe und Thal, Fluß, Meer, Vegetation) geltend. Die Alten bil-
deten zwar ein Ideal einer regelmäßigen Stadt aus, orientaliſche Städte,
wie Babylon, waren ganz ſyſtematiſch angelegt, aber ſelten iſt dem Bau-
meiſter die Aufgabe eines Stadtbaus rein gegeben: Zufall und Inſtinct
bilden die Anfänge, die Kunſt findet in dem Gegebenen oft ein abſolutes
Hinderniß, oft höchſt fördernde Motive. Wo Zufall und Inſtinct glücklich
gegriffen, die Kunſt edel nachgewirkt, entſtehen die wahrhaft lebendigen
Städtebilder mit hiſtoriſchem Charakter. Iſt aber die Aufgabe rein ge-
ſtellt, ſo muß künſtleriſche Verbindung von Regelmäßigkeit und mit Rück-
ſicht auf große und ſchöne Natur zu gewinnende Mannigfaltigkeit das
Ziel ſein; die geradlinigten, öden Reſidenzſtädte, die namentlich das vorige
Jahrhundert abſtract auf den Sand hinſtellte, ſind traurige Denkmale
unfruchtbarer Willkühr.
[265]
c.
Die Geſchichte der Baukunſt.
Da die Baukunſt nach §. 559 mehr, als jede andere Kunſt, ein Er-
zeugniß der allgemeinen Phantaſie iſt, ſo geht ihre Geſchichte auch inniger mit
der Geſchichte der Religion (vergl. §. 417 u. 561 zuſammen; ein Verhältniß,
aus welchem für den Schlußpunct ihrer geſchichtlichen Entwicklung, die Frage
über die Baukunſt der modernen Phantaſie (vergl. §. 460—469), beſondere
Schwierigkeit um ſo mehr entſpringt, als der Bauſtyl den Stylcharakter aller
Künſte vorzeichnet.
Die allgemeine Phantaſie iſt weſentlich eine religiös beſtimmte; ge-
hört die Baukunſt in näherem Sinn, als jede andere, ihr an, iſt ſie
weſentlich Völkerkunſt, eine Kunſt des Styls in der großen nationalge-
ſchichtlichen Bedeutung des Worts, ſo folgt alſo, daß ihre Geſchichte
enger, als die jeder andern Kunſt, mit der Geſchichte der Religion zu-
ſammengeht. Ebenſo folgt dieß aus ihrem Weſen an ſich, gemäß welchem
der tiefſte Sinn ihrer Formen eine ſymboliſche Andeutung des Weltbaus
iſt. Wir begründen darauf ſogleich das Recht, die folgende Darſtellung
der Hauptmomente ihrer Geſchichte auf den Tempelſtyl zu beſchränken,
wofür wir uns zugleich auf das berufen, was über den innern Zuſam-
menhang des Tempelſtyls mit dem weltlichen Bauſtyl geſagt iſt. Der
eigentliche Grund aber, warum wir dieſen §. an die Spitze der geſchicht-
lichen Darſtellung ſetzen, iſt dieſer: der Schluß der Geſchichte einer jeden
Kunſt iſt nicht einfach das Ende, ſondern der Zielpunct, die beſtimmende
Seele des Entwicklungsgangs; ſo verhält es ſich ja mit aller Geſchichte:
ohne eine Idee über ihr Wohin gibt es keinen Begriff von dem Was
und Wie ihres Gangs. Nun werden wir allerdings bei einer andern
Kunſt finden, daß dieß Wohin auf ein Zurücktreten aus dem Kreiſe des
wahrhaft productiv Lebensfähigen im modernen Ideale, alſo auf ein
relatives Ende führt, bei der Plaſtik nämlich. Bei der Baukunſt aber
würde, wenn ſie ſich ebenſo künftig auf Reproduction beſchränken müßte,
ein Widerſpruch zwiſchen einem oben aufgeſtellten Satz und einer That-
ſache entſtehen. Die Thatſache iſt, daß das moderne Weltalter bis jetzt
in der Baukunſt keinen, in andern Künſten aber allerdings einen eigenen
Styl erzeugt hat, denn es gibt doch eine wirkliche, eigenſtändige moderne
Malerei, Muſik, Poeſie; der Satz aber iſt, daß die Baukunſt das
[266] Grundſchema der Anſchauungsweiſe einer ganzen Zeit, das objectivſte
Bild des Styls, wie er auch die andern Künſte durchdringt, darſtelle,
daß dieſe überhaupt auf ihrer Grundlage ſich entwickeln, wie dieß in
ihrem Begriff als Urkunſt (§. 560) liegt und wie es die Geſchichte zeigt.
Dieſer Widerſpruch läßt ſich nur ſo löſen: das moderne Zeitalter iſt in
verſchiedenen Kunſtformen ſchon productiv aufgetreten ſelbſt in dem Sinne
der Entwicklung eines eigenen großen Styls, doch ſind dieß mehr punc-
tuelle Anſätze, es fehlt noch der Styl im Sinne gemeinſamen Schwungs;
eine Zuſammenfaſſung der vereinzelten Kräfte zu dieſem gemeinſamen
Schwung ſetzt voraus, daß erſt die Zerriſſenheit der Geiſter einem ge-
meinſamen Gefühle, einer kräftigen, herrſchenden Grundſtimmung weiche,
daß dieſe einen Bauſtyl erzeuge und dieſer Bauſtyl den andern Künſten,
wie es ſein ſoll, ihre Unterlage gebe. Nun müßte aber dieſes Grund-
gefühl ein religiöſes ſein, um eine neue Baukunſt zu erzeugen. Das
moderne Ideal iſt aber ein rein weltliches, es hat ſich von der zweiten
Stoffwelt abgelöst (§. 466). Gerade auf dieſem ſchwierigen Puncte
können wir jetzt auf eine Bemerkung zu §. 574, 2. zurückweiſen. Dort
haben wir geſagt, die Baukunſt beſitze in der Individualitätsloſigkeit ihrer
Formen die Fähigkeit, der Verehrung eines nicht mythiſch vorgeſtellten
allgemeinen Geiſtes zu dienen. Hier entſteht denn die Frage, ob nicht
im modernen Geiſte die unentwickelten Keime einer neuen Religion liegen,
welche keiner zweiten Stoffwelt bedürfte und doch Religion wäre, welche,
wenn ſie einmal zur Reife gelangte, eine Baukunſt zu ſchaffen fähig wäre,
die zugleich Allem, was die moderne Zeit von Styl in den andern Kün-
ſten erzeugt hat, jene ihm allerdings noch fehlende Einheit, Gemeinſam-
keit gäbe. Die Lücke, welche in der Geſchichte der Baukunſt bei dem
modernen Ideal eintritt, kann nur mit einer Zurückverweiſung auf dieſen
Punct ausgefüllt werden; ein Zielpunct wird dieſes Hindeuten auf eine
dunkle Zukunft inſofern immer noch heißen können, als in rein künſtleri-
ſcher Beziehung ſich wenigſtens ſo viel errathen läßt, daß dieſe Zukunft
irgendwie auf eine Syntheſe der dageweſenen Hauptgegenſätze des archi-
tektoniſchen Styls hinarbeiten muß, wie wir ſolche am Ende dieſes ge-
ſchichtlichen Ueberblicks, freilich ohne die Möglichkeit näherer Beſtimmung,
berühren werden.
[267]
Daß der orientaliſche Geiſt auf die Baukunſt als die ihm vorzugsweiſe1.
entſprechende Form angewieſen war, erhellt aus der Vergleichung ihres Weſens
§. 553—561 mit der orientaliſchen Phantaſie §. 426—430. Allein aus die-
ſem Zuſammentreffen geht keineswegs hervor, daß die Baukunſt im Morgen-
lande ſich zur Vollkommenheit entwickeln konnte; vielmehr geben die orientali-
ſchen (und andere, auf ähnlicher Stufe ſtehende) Völker den Grundzügen, in
denen ihr Geiſt mit dem Weſen dieſer Kunſt zuſammentrifft, die beſondere Be-
ſtimmtheit, die aus ſeiner eigenen Unreiſe entſpringt. Dieſe beſteht vor Allem2.
darin, daß hier die Baukunſt im engeren Sinne ſymboliſch auftritt, in-
dem ſie entweder ſelbſtändig, d. h. ohne ein Inneres zu umſchließen (vergl.
§. 555) und daher in die Nachahmung der individuellen Geſtalt in der Weiſe
der auf das taſtende Sehen geſtellten Phantaſie übergreifend, oder abgeſehen
von einem zwar vorhandenen Innern und in unverhältnißmäßigem, das Weſen
der Gottheit als ein verborgenes bezeichnenden Uebergewicht der architektoniſchen
Maſſe zu dieſem einen geheimnißvollen Sinn auszudrücken ſucht.
1. In den Ueberſchriften müßten ſich eigentlich die bereits den Inhalt
bezeichnenden Beſtimmungen der Ueberſchriften zu a,α u. ſ. w. in B des
zweiten Abſchnitts des zweiten Theils wiederholen; wir vermeiden dieß
hier und fernerhin der Kürze wegen. Die Darſtellung ſelbſt wird zeigen,
wie und warum die claſſiſche Baukunſt eine objective iſt, die mittelalter-
liche eine phantaſtiſch ſubjective u. ſ. w. — Die orientaliſche Phantaſie
iſt als eine dunkel und traumartig ſuchende, weſentlich dualiſtiſche ſymbo-
liſch, ſie geht auf das Erhabene, ſie iſt vorherrſchend eine bildende und
zwar im Sinne des meſſenden Sehens, ſie iſt ſtabil. Dieß Alles iſt in
den angeführten §§. ſchon ſo vollſtändig auseinandergeſetzt, daß zu
§. 430, 1. (Th. II, S. 429) geſagt werden konnte: „in der Kunſtlehre
dürfen wir nur die Schlußfolgerung pflücken, ſo wird einleuchten, daß die
eigentliche Kunſt der orientaliſchen Völker die Baukunſt war“. Die Bau-
kunſt haben wir als die elementare Urkunſt kennen gelernt, wir dürfen
dieſen ihren elementaren Charakter mit dem elementaren Urgeiſte jener
Völker, in dem alle Bildung unentwickelt eingehüllt iſt, nur einfach zu-
ſammenhalten, um dieſen Satz beſtätigt zu ſehen. Denn ganz im Allge-
[268] meinen iſt ſie, wie dieſer Völkergeiſt, dualiſtiſch durch ebenſo ſtreng ver-
ſtändiges (§. 555), als dunkel in die Natur verſenktes (§. 558) Weſen,
ſie iſt ſymboliſch (§. 561), erhaben und höchſt conſervativ (§. 560). Jene
Verſenkung in die Natur iſt weſentlich auf das Unorganiſche, Landſchaft-
liche bezogen und auch in dieſer Beziehung iſt in §. 426 geſagt, daß die
orientaliſche Phantaſie auf die unorganiſche Schönheit (und organiſche bis
zur thieriſchen) beſchränkt ſei. Wie die Baukunſt in der äſthetiſchen Bil-
dung des Geiſtes analog iſt dem Momente, wo in der Natur die indi-
viduenbildende Concentration beginnt mit der Axen-Anſchießung des
Kryſtalls, ſo entſpricht der Anfang der Bildung der Menſchheit überhaupt
demſelben Vorgang in der Natur und iſt ebendaher unter den Künſten
weſentlich auf jene gewieſen. Allein es verhält ſich hier wie mit der
Frage, ob der Begriff des Erhabenen darum, weil die orientaliſche Phan-
taſie weſentlich eine erhabene war, erſt in der Darſtellung dieſes geſchicht-
lichen Ideals, wie Hegel gethan, aufzuführen ſei: was zu verneinen iſt,
weil ein Völkergeiſt, der durch das Primitive ſeiner Bildung vorzüglich
auf ein Moment im Schönen gewieſen iſt, eben dieſes in mangelhafterer
Form zum Ausdruck bringen wird, als ein Volksgeiſt von entwickelter
Bildung, der die Momente des Schönen frei umfaßt. Ebenſo wird jener
Geiſt eine Kunſtgattung, auf die er, weil ſie ſelbſt Vieles noch nicht aus-
drücken kann, gerade durch ſeine Unfreiheit und das Helldunkel ſeiner
Anſchauung gewieſen iſt, mangelhafter ausbilden, als ein ſolcher, der mit
geklärtem Geſichtskreiſe die verſchiedenſten Kunſtgattungen frei ausbildet
und nur je der vorliegenden Aufgabe gemäß ſich auf eine derſelben be-
ſchränkt. Dort wird der ſcheinbare Widerſpruch entſtehen, daß der dunkel
ſuchende Geiſt gerade in der Kunſtform, welche dieſer ſeiner Stufe
entſpricht, zu viel wird ſagen und ausdrücken wollen, ja Alles; denn in
ſeinem Helldunkel ſchlummert eingehüllt doch der ganze Geiſt und er
ſchüttet ihn ganz in die einzige Kunſtform, in der er ſich leichter bewegt,
während die andern zwar nicht der Anbauung entbehren, aber doch zurück-
bleiben. Die Scheidung der Künſte iſt noch nicht ernſtlich eingetreten, die
Baukunſt muß für die andern vicariren, jedenfalls, wie ſich ſogleich zeigen
wird, für die Plaſtik. — Es iſt nur noch zu bemerken, daß wir mit den
Erſcheinungen der Baukunſt im Orient die früheſten monumentalen Ver-
ſuche anderer Völker, nordeuropäiſcher und amerikaniſcher, hier zuſammen-
zufaſſen um ſo mehr berechtigt ſind, da alle primitiven Kunſtformen auf
die gemeinſame Völkerwiege in Aſien zurückweiſen.
2. Die ſymboliſche Bedeutung der Baukunſt wird weſentlich beſchränkt
durch den in §. 555 vorangeſchickten Begriff der Theilung in Inneres
und Aeußeres, der Aufgabe, einen anderweitig zu erfüllenden Raum nur
zu umſchließen. Hegel hat das Verdienſt, zuerſt als unreife orientaliſche
[269] Form die ſelbſtändige, eigentlich ſymboliſche Architektur aufgeſtellt zu haben
(Aeſth. B. II, S. 272. ff.). Die orientaliſche Baukunſt will durch ihre
Formen ohne ein Inneres oder abgeſehen von einem ſolchen ſprechen, ja
dieſer ſich ſelbſt noch unklare, aus der Natur erſt herausringende Geiſt
ſucht in dem Aufwühlen der Erde, in dem Aufthürmen der Maſſen, in
dieſem den großen Revolutionen, durch welche die Geſtalt unſeres Plane-
ten ſich zur Reife gegohren, ähnlichen Thun den Sinn des Lebensräthſels
zu finden: das Bauen iſt ein Rathen. Eine eigentliche Architektur, die
ganz ohne Inneres einen beſtimmten Sinn ausdrücken ſoll, kann es
aber nicht geben; wenn z. B. indiſche Tempelhäuſer aus dem Fels ge-
meiſelt in Mahamalaipur ohne alles Innere vorkommen, ſo iſt dieſe Wie-
derholung einer Form, die ſonſt immer ausgehöhlt, alſo mit einem Innern
auftritt, offenbar nicht als eine Verſchärfung ſymboliſcher Abſicht, ſondern
mehr als das Spiel eines äſthetiſchen Luxus zu verſtehen; wo das Innere
rein wegfällt, liegt ſonſt immer ein Hinübergriff in die Plaſtik vor und
die „zwiſchen Architektur und Sculptur ſchwänkenden“ Bauwerke ſind
daher die erſte, im engſten Sinn ſymboliſche Form, die hier aufzuführen
iſt. Es gibt nun kein anderes Beiſpiel, das ſo ganz in die Mitte dieſer
beiden Künſte fällt, als jene bergartig aus Erde aufgeworfenen Reliefs
in Nordamerika, im Ohio- und Wiſconſin-Staate: eine 700 F. lange
Schlange, Alligatoren, Molche, Schildkröten, Vögel, Füchſe oder Katzen-
Arten, ganze Reihen anderer vierfüßiger Thiere (Bären?), 30 bis über
200 Fuß lang, auch menſchliche Geſtalten 125 F. lang und 120 F. mit
ausgeſtreckten Armen breit. Auf dem Rücken dieſer ſeltſamen Werke der
Ureinwohner Amerikas befinden ſich, ein Beleg ihrer religiös ſymboliſchen
Bedeutung, Opferſtätten, Altäre; vergl. über ſie Smithsonian contributions
to Knowledge Vol. I. Dieß iſt nun wirklich gebaute Plaſtik, plaſtiſches
Bauen, rein ſchwankende Mitte zwiſchen Bau und Bildwerk. Senkrechte
Stellung eines Gebildes, worin individuelle Geſtalt nachgeahmt iſt, führt
bereits beſtimmter zur Plaſtik hinüber; am wenigſten, wenn dieß Gebilde
nur ſymboliſch iſt, d. h. noch nicht mythiſch-menſchliche Geſtalt nachahmt.
Zu ſolchen blos ſymboliſchen Gebilden würden die Obelisken gehören,
wenn erwieſen wäre, daß ſie nicht blos Denkpfeiler für Inſchriften ſind,
ſondern Sonnenſtrahlen bedeuten; möglich, daß ſie nur in künſtleriſcher
Zubereitung jene rohen Steinpfeiler des Nordens wiederholen, die vielleicht
das Bild einer Perſon vertreten (vergl. Kugler, Handbuch d. Kunſtgeſch.
S. 10). Dagegen iſt beſtimmt hieher der indiſche Dagop zu ſtellen,
ſofern er keineswegs immer einen hohlen Raum in ſeinem Innern für
Reliquien u. dgl. hat, ſondern meiſt ſolid iſt: auf cylindriſchem oder pyra-
midalem Unterſatz eine maſſiv gebaute Halbkugel, das Symbol der Waſſer-
blaſe (Bild der Hinfälligkeit des Lebens) darſtellend; das Ganze 50—70 F.
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 18
[270]hoch. Den ſächlichen Symbolen am nächſten ſtehen die thieriſchen Gebilde;
Thierglieder mit menſchlichen Gliedern verbunden zeigen den unvollendeten
Fortgang vom Symbol zum Mythus (vergl. §. 427). In feſter, raum-
erfüllender Form ausgeführt gehören ſolche Darſtellungen aber bereits der
Plaſtik an, ſofern nicht coloſſales Verhältniß, ſtreng meſſende, den Schein
individueller Belebung ausſcheidende Behandlung der Formen und reihen-
weiſe Aufſtellung ſie doch wieder zur Architektur herüberzieht; dieß eben
iſt aber der Fall bei jenen ungeheuern Elephanten, Stieren, Löwen In-
diens, den Sphinxen und Widdern Aegyptens. Man denke namentlich
an die coloſſale Sphinx bei Ghizeh; auch die reihenweiſe Aufſtellung
herrſcht beſonders im ägyptiſchen Tempelgebäude. Aber auch die rein
mythiſche, d. h. unvermiſcht menſchliche Göttergeſtalt wird unter dieſen
Bedingungen zu einem Werke, das zwiſchen Baukunſt und Sculptur
ſchwankt, wie die ungeheuern Memnonen Aegyptens. Hier geht jedoch
allerdings die ſculpturartige Architektur beſtimmt in die architekturartige
Sculptur über und wir werden den Faden in der Geſchichtsdarſtellung
der letztern Kunſt wieder aufzufaſſen haben. Die beliebte Verbindung der
Bildſäule mit dem Pfeiler oder wirkliche Function derſelben als Pfeiler
mag hier als Ausdruck eines Zuſammenklebens beider Künſte noch er-
wähnt werden. — Wo nun aber in dieſe unreife Baukunſt auch wirklich
die Theilung in ein Inneres und Aeußeres eingetreten iſt, ſetzt ſich den-
noch die Symbolik auch in dieſes Verhältniß fort und äußert ſich durch
alle Stufen, ſelbſt bis zur vollendetſten architektoniſchen Leiſtung der hier
zuſammengefaßten Völker, hindurch in einer auffallenden Kleinheit des
eingeſchloſſenen Raums im Verhältniß zur Größe und Ausführlichkeit des
Umfaſſenden, einem Mißverhältniß, das ebendaher rührt, daß das Letztere
auch abgeſehen von jenem, d. h. vom realen Bauzweck, noch für ſich ſym-
boliſch ſprechen will. Noch nicht im ſtrengen Sinne kann dieß ausgeſagt
werden von offenen, mit Umfaſſungen in geometriſcher Form umgebenen
Opferſtätten, die aber als uralte ſinnbildliche Baukunſt von Wichtigkeit
ſind: ſo jene über Nordamerika von Michigan bis zum Meerbuſen von
Mexiko zerſtreuten, aus Erde und Steinen aufgeworfenen heiligen Kreiſe,
Ovale, Vierecke, griechiſche Kreuze und andere Formen von Umwallungen,
die ſicher ſymboliſchen Sinn in ihrer Geſtalt an ſich trugen, gewiß aber
zugleich dem Gottesdienſte der Ureinwohner des Landes beſtimmt waren.
Sie ſind eng verwandt mit jenen Zuſammenſtellungen von Steinen in ein-
fachen Kreiſen oder Kreiſen in Kreiſen, auch im Viereck und in Parallel-
Linien, die in der Bretagne und in England von den alten Kelten (ſo
namentlich die Trümmer zu Carnac in der Bretagne und Stonehenge bei
Salisbury), aber auch in Skandinavien von Germanen errichtet ſind. Das
Offene ſolcher Raumeinfaſſenden Erhöhungen nähert ſie noch mehr den
[271] oben erwähnten ſenkrechten Gebilden, Obelisken u. dgl. Allein die letztern
Monumente ſind zugleich dadurch merkwürdig, daß hier die Anfänge
ſtructiver Gliederung, die Trennung und Verbindung von Laſt und Stütze,
Wand und Dach theils in übergelegten Steinbalken bei den Umkreiſungen,
theils in Platten über Stützen ruhend bei den Altären, theils in wirk-
licher Zuſammenſchließung zu Steingemächern oder eigentlichen Tempel-
heiligthümern hervortreten (Dolmin, Cromlech). Die Kreis- und andern
Formen der Umfaſſungen waren ſicher ſymboliſch, ob von aſtronomiſcher
Bedeutung ähnlich wie die ſiebenfachen, verſchieden gefärbten, übereinander
aufſteigenden Ringmauern Ekbatana’s, läßt ſich nicht beſtimmen. Sym-
boliſche Bauwerke, deren unendliche Gemächer, Höfe, Irrgänge den Wan-
derer zum tiefſten Staunen hinreißen, waren auch die ägyptiſchen
Labyrinthe, das größte am See Möris, deſſen unterer Theil Königsgräber
bildete und das Herodot mit ſo großer Bewunderung beſchreibt. Die
Zwölfzahl der Höfe und die andern Zahlenverhältniſſe bezogen ſich gewiß
nicht blos auf die 12 Könige und die Zahl der Regierungsbezirke, ſon-
dern hatten zugleich aſtronomiſche Bedeutung. Sie wurden bekanntlich
in Griechenland nachgeahmt (Kreta). Aehnliche Beziehungen mögen auch
in den Verhältniſſen anderer königlicher Grabdenkmäler Aegyptens, die
zugleich den Göttern geweiht waren, den ſogenannten Memnonien
geherrſcht haben (Oſymandeum zu Theben). Das Mißverhältniß der
Schaale zum Kern iſt nun aber gerade da in ſeiner ganzen Beſtimmtheit
vorhanden, wo die Baukunſt vom klaren Bauzweck geleitet ihre Haupt-
aufgaben, aber noch im Dienſte der ſymboliſchen Phantaſie, löst. Die
Terraſſenthürme Aſſyriens und Babyloniens, die Pagoden Indiens, die
Pyramiden, die Tempel Aegyptens haben ein im Verhältniß zur Bau-
maſſe ſo kleines Inneres, daß, wenn die äußeren Formen auch keinen in
eine beſtimmte Formel faßbaren Sinn hatten, doch die gewaltige Erhebung
und Maſſe für ſich ſchon nicht als bloßes Gewand, in welchem ſich eine
innere Gliederbildung des Baus ausgeprägt hätte, den Zuſchauer in eine
geheimnißvolle, ahnende, rathende Stimmung ſetzen ſollten. Die Kleinheit
des Innern drückt im Allgemeinen immer aus, daß das Weſen des Gottes
ein verborgenes iſt; gewöhnlich iſt das Heiligthum dem Laien unzugäng-
lich und wo er hintritt, findet er nicht, was einem ſo langen, weitläufti-
gen Verweilen in den vorbereitenden äußern Architekturformen entſpräche.
Es geht daraus eine logiſche Schwierigkeit in Beziehung auf den Unter-
ſchied von Innen- und Außenbau hervor, die wir kennen lernen werden.
Im indiſchen Grottentempel iſt das Dunkel ſelbſt ſymboliſch, ruft eine
dämmernde, bange Ahnung des verborgenen Gottes hervor. Endlich war
der eigentliche Tempelbau gerade da, wo er zur höchſten Ausbildung ge-
dieh, welche innerhalb dieſer Vorſtufe reifer, claſſiſcher Kunſt, mit der wir
18*
[272]uns hier beſchäftigen, möglich war, in Aegypten, überdieß neben ſeiner
architektoniſchen Form ebenſoſehr noch ein großes Syſtem von Tafeln für
jene ſymboliſche Geheimnißſchrift, die Hieroglyphen.
Ebenſo bewährt ſich an der Baukunſt die in §. 430 aufgezeigte Eigen-
ſchaft dieſer Phantaſie dadurch, daß das Erhabene, welches im Weſen dieſer
Kunſt an ſich liegt, hier zum Ungeheuern, ausſchweifend Prachtvollen, dunkel
Majeſtätiſchen wird. Es fehlt nicht die ſtrenge Meſſung, aber dualiſtiſch
wuchert unter und neben ihr maaßloſe Ausdehnung und wilde Geſtaltenbildung:
der Ausdruck einer noch unfreien Verſenkung in die Natur, die ſich zugleich in
der auch neben dem freien Bau fortbeſtehenden Neigung zum Bauen in natür-
lichem Fels kund gibt.
Wir nehmen den Schluß des §. in der Erläuterung herauf und ſagen
von dieſer Baukunſt der dunkeln, ſymboliſchen Phantaſie, daß die Ver-
ſenkung in die Natur, welche nach §. 558 neben der klaren Verſtändig-
keit aller Baukunſt eigen iſt, von ihr in einem beſtimmten engeren Sinne
gilt. Zunächſt in dem buchſtäblichen, daß der Orient es liebt, den ge-
wachſenen Stein architektoniſch zu bearbeiten: ein Verfahren, deſſen Un-
freiheit ſchon zu §. 562, 1. auseinandergeſetzt iſt. Die Zufälligkeit und
Willkühr der Formen, die daraus hervorgeht, werden wir vorzüglich in
den indiſchen Höhlentempeln ausgeſprochen finden. Der Orient (und
Aegypten) haben die Vorliebe zur Arbeit in natürlichem Fels auch nach
der Ausbildung des Baus aus freigefügtem Materiale nie ganz aufgegeben.
In Griechenland finden ſich nur noch vereinzelte Nachklänge. Aber auch
der freie Bau des Orients ſelbſt iſt noch zu ſehr naturartig, nicht wahre,
volle Idealiſirung der unorganiſchen Natur, ſondern ſtreckt und dehnt ſich
bergähnlich, maſſenhaft ungegliedert. Den Ausdruck ungegliedert werden
wir in der Folge bedeutend beſchränken müſſen, dabei aber das Urtheil im
Weſentlichen doch feſthalten. Dieß naturartige Thun, Thürmen, Wühlen
iſt in dem ungeheuern Aufgebot von Menſchenkräften zugleich ein Verachten
der Freiheit, des Menſchenwerths; man erinnere ſich allein, daß an der
Pyramide des Cheops nach Herodot 100,000 Menſchen mit den Vorarbeiten
vierzig Jahre lang beſchäftigt waren, man denke an die Rieſenarbeit der
indiſchen Höhlenbauten, wo ganze Gebirge harten Granits Stundenweit in
den verſchiedenſten Formen, auch in mehreren Stockwerken übereinander
durcharbeitet ſind. Dieſe Art der Kraftentwicklung erinnert an die furcht-
bare Thätigkeit des Planeten, wodurch die Gebirge entſtanden ſind, an
[273] das Erhabene des Raumes in ſeiner formloſen Geſtalt; das Erhabene
wird in der §. 430 dargeſtellten Weiſe zum Ungeheuren. Die Baukunſt
iſt an ſich eine vorzugsweis erhabene Kunſt, hier wird ſie erhaben in
dieſem beſondern Sinne. Der Dualismus des Gemeſſenen und Unge-
meſſenen (man vergl. zu dieſer nähern Beſtimmung in §. 430 die intereſſante
Parallele der entſprechenden Pflanzenwelt §. 278) drückt ſich nun zunächſt
darin aus, daß „unter“ dem Gemeſſenen, d. h. innerhalb des bändigenden
Maaßes und dieſes Maaß ſelbſt in’s Coloſſale treibend der dunkle Natur-
drang aufgährt; daraus geht eben das Ungeheure hervor, was wir ſowohl
am Hochbau, als am Längenbau beſtätigt ſehen werden. Das Ungemeſſene
tritt aber auch „neben“ das Maaß ſo, daß das Gemeſſene von aus-
ſchweifender Pracht umwuchert und dadurch wieder aus den Fugen ge-
trieben und verdunkelt wird, was ſich bei der Gliederung und bei dem
Ornamente zeigen wird. Das dunkel Majeſtätiſche wird ſich ebenfalls bei
den einzelnen Formen beſtimmter hervorſtellen, während es im Allgemeinen
ſchon durch die Zuſammenfaſſung der Symbolik mit der dieſer Baukunſt
eigenen Erhabenheit ſich ergibt.
In der Ausbildung der nationalen Bauformen macht ſich nun der Dualis-
mus in der Weiſe geltend, daß die in §. 565 aufgeſtellten Gegenſätze in ein-
ſeitiger Herrſchaft hervortreten. Das verborgene Weſen der Gottheit wird von
der traumartigen indiſchen Phantaſie (vergl. §. 431) in dem zu einem Außen-
bau zweifelhaft umſchlagenden Innenbau der in den natürlichen Fels gehauenen
Grottentempel dargeſtellt. Dieſer dunkel majeſtätiſche Bau iſt durch die
Stütze ſeiner niedrigen Decke, die gedrückte Säule, welche ſich unreif aus dem
Pfeiler hervorbildet, zugleich ein Bau der vorherrſchenden Laſt. Durch die
unbeſtimmt wechſelnde Grundform des Ganzen und das wuchernde unorganiſche
Spiel der Glieder und Ornamente erſcheint er als unentwickelter Keim der
reinen geſchichtlichen Bauſtyle.
Das einſeitige Auftreten jener großen Gegenſätze, welche §. 565 aus
den Grundlinien und Erſtreckungen, die im Weſen der Baukunſt liegen,
abgeleitet hat, iſt mit dem obigen Ausdruck „nationale Bauformen“ nicht
ſo zuſammenzufaſſen, daß man annähme, es trete je Ein Gegenſatz nur
bei Einer Nation hervor. Vielmehr iſt hier als ganz weſentlich noch
hinzuzufügen, daß gerade im Orient und bei den mit ihm hier zuſammen-
geſtellten Völkern die einſeitigen Hauptformen faſt überall bei Einem und
demſelben Volke nebeneinander vorkommen, zwar im Werthe nicht coor-
dinirt, aber doch ſo, daß man ſieht, wie der reine Styl erſt geſucht wird.
[274] So erſcheint der Höhlenbau auch bei den Aegyptiern, obwohl nur als
Grab, nicht als Tempel, er iſt depotenzirt durch den ägyptiſchen Tempel-
bau, den wir kennen lernen werden. Allerdings war das ägyptiſche Felſen-
grab tempelartig und ſehr intereſſant wäre es, wenn Gau (Nub. Alterth.)
mit ſeiner Annahme Recht hätte, daß der freie ägyptiſche Tempelbau von ihnen
ausgegangen ſei (dagegen ſ. Schnaaſe Geſch. d. bild. K. B. I, S. 413 ff.).
Uebrigens war der Höhlenbau als Grab auch bei den Perſern noch be-
deutend entwickelt, in eingeſchränkterer Weiſe kommt er auch bei den anderen
Völkern des Alterthums, ſelbſt Griechen und Römern (Katakomben), vor.
So werden wir ferner umgekehrt den thurmartigen Terraſſenbau, der in
Aegypten zur Pyramide wurde, auch bei den Indiern und ſonſt in weiter
Verbreitung finden. — In der Geſchichte dieſer einſeitigen Formen der
orientaliſchen Baukunſt ſtellen wir nun voran den Bau, der von dem
erſten jener gegenſätzlichen Paare (§. 565, 2.) das Glied des blos Innern,
von dem letzten das Glied des herrſchenden Ausdrucks der Laſt aus-
ſcheidet: den indiſchen Höhlentempel. Wir können uns hier nicht auf die
Frage über ſein wirkliches Alter einlaſſen: uns genügt, daß er ſeinem
Weſen nach der urſprünglichſte, Incunabel-artigſte Styl iſt. Nicht un-
wahrſcheinlich, daß er aus einem Gräber-Bau hervorgegangen iſt, wodurch
denn der Uebergang von der Verehrung der abgeſchiedenen zu dem der
abſoluten Perſon (vergl. §. 556) auch hier in ſeiner tiefen Bedeutung
hervorträte und jene Depotenzirung deſſelben in Aegypten zugleich als
Rückführung auf die urſprüngliche Beſtimmung erſchiene. Das Einwühlen
in den gewachſenen Fels erſcheint ſchon an ſich als die urſprünglichſte
Form, als das Thun einer erſten Kunſt, die noch nicht frei aus frei ge-
theiltem Material zu ſchaffen wagt, und die ganze künftiges beſtimmter
Ausgebildetes vorbildende, keimvoll unbeſtimmte Formenwelt, die damit
verbunden iſt, geht eben aus dieſer ſchon oben charakteriſirten vollen Ver-
ſenkung in die Natur und Bindung an das gegebene Material hervor.
Als bloßer Innenbau weist dieſe Architektur zunächſt in intereſſanter vor-
bildlicher Weiſe auf den mittelalterlichen Styl hin; dazu kommt, daß der
gewöhnliche Grundriß des Quadrats ſich auch zur Form des griechiſchen
Kreuzes, zum Oblongum mit halbkreisrundem und halbkuppelförmig ge-
decktem Abſchluß für das Götterbild geſtaltet, ja (in den buddhiſtiſchen
Höhlentempeln gewöhnlich) ſogar die Decke (freilich nur in Tonnen-Form,
zum Theil mit Annäherung an die Hufeiſenform) gewölbt iſt, die Pfeiler-
Reihen einen breiteren Mittelgang frei laſſen und ſo ein Hauptſchiff mit
Seitenſchiffen aufzutreten ſcheint. Wie aller Innenbau, ſpricht ſich auch dieſer
durch eine geſchmückte Façade aus, freilich kein eigentliches Portal, wie
in den gothiſchen Domen, ſondern nur aus den vorderſten Pfeilerreihen
und einem friesartigen Wandſchmucke beſtehend. Wo dieſe Façade nicht
[275] iſt (wie in den meiſten Buddha-Tempeln), kann eigentlich auch von keinem
Innenbau die Rede ſein, denn ohne alles Aeußere kann man auch nicht
von einem Innern ſprechen; man nähme denn die umgebende Felswand
mit unſcheinbarer Oeffnung als die das Ganze umfaſſende Mauer, die der
Künſtler von der Natur wie von einem frühern rohen Künſtler überkam:
eine Auffaſſung, wodurch dann auch jener Satz §. 278, 2., daß überall
im Orient das Innere unverhältnißmäßig klein ſei, auf dieſe Grotten ſeine
Anwendung findet. Aber jene Vorbildung einer Baukunſt, welche die
antike Säulenhalle in den umſchloſſenen Raum hereinnimmt, verbindet ſich
nun ohne alles feſte Geſetz auch mit einem Außenbau, der als Keim des
Claſſiſchen erſcheinen kann. Es wird nämlich nicht blos eine Höhle in
den Fels gehauen, ſondern auch wieder nach oben gearbeitet, die Felſen-
decke weggenommen, ſo ein großer freier Hof gebildet, in deſſen Mitte ein
Fels ſtehen gelaſſen, zum Sanctuarium mit Nebenkapellen ausgearbeitet
und im Fels rings um den Hof eine Pfeilerreihe ſo ausgemeiſſelt, daß
er wie das vorſpringende griechiſche Tempeldach über ſie überhängt. So
namentlich die prachtvolle Kailaſa zu Ellora. Nun iſt das Innere wieder
zu einem Aeußern umgeſtülpt und es verhält ſich wie mit jenen primitiven
Thieren, die man gleich einem Handſchuh umkehren kann, ohne daß ſie
Schaden leiden. Eigentlich war freilich ſchon der Höhlentempel relativ ein
Außenbau, denn in ihm ſtand ein Sanctuarium, zu dem ſich der übrige
Raum, der als Ganzes doch ein Innenbau war, als Aeußeres verhielt.
Man ſieht ſchon hier die zu §. 578 bemerkte dialektiſche Schwierigkeit
des Begriffs von Innen- und Außenbau. Dieſer Hofbau ſteht nun aber
durch eine ſeltſame Nabelſchnur mit dem Höhlenbau in Zuſammenhang,
indem ausgeſparte Brücken von dem freiſtehenden Tempel zu Grotten-
tempeln führen, die in Stockwerken übereinander in den umgebenden Fels
gemeiſſelt ſind. — Ganz incunabelartig iſt namentlich der Pfeiler, von
dem man eben nicht weiß, ob man ihn Säule nennen ſoll. Die Haupt-
form unter ſeinen wechſelnden Bildungen iſt dieſe: er beginnt von unten
mit einem Würfel, der bedeutend höher, als breit iſt; aus ihm entwindet
ſich ein ungleich kürzerer, verjüngt anlaufender, nach unten meiſt ausge-
bauchter, cannelirter Schaft, der durch einen aus mehreren Ringen be-
ſtehenden Hals in das Kapitell übergeht, das aus einem überſtark aus-
quellenden gedrückten Pfühl gebildet iſt; der Decke iſt es durch eine Platte
verbunden, an die ſich zwei conſolenartige Anſätze ſchließen, auf welchen
jene vermittelſt eines architrav-artigen Streifens ruht, der im Keime das
griechiſche Gebälke zeigt. Dieſer Säulenpfeiler ſtellt denn den Druck einer
ungeheuern Laſt dar, welche, von der überall niedrigen Decke ausgeübt,
das Kapitell zu jener Breite ausquetſcht, ſo daß das Band, das um ſeinen
mit Streifen verzierten Kreis läuft, als ein Ring erſcheint, der es dem
[276] Drucke gegenüber zuſammenhalten muß, und welche zugleich dem kurzen Schafte
nicht erlaubt, aus dem Unterſatze entwunden frei hinanzuſteigen. Wie in
dieſer gedrückten Form die Säulentheile unentwickelt im Keime da ſind, ſo
kommt auch der Pilaſter ſchon vor: an jenen Außenbauten die Geſimſe
der Stockwerke tragend im Aeußern, in den Grottentempeln den Pfeilern
entſprechend an den Wänden; unter den Gliedern glaubt man außer den
vorherrſchenden Wülſten auch jene andern einfachen Hauptformen (§. 572),
welche nachher die claſſiſche Baukunſt ausgebildet hat, auftauchen zu ſehen,
aber jede feſte Geſtalt verſchwimmt wieder im bunten Wechſel, der in eine
Ornamentenfülle wuchernd ausſchlägt, in welcher nun auch ſpätere Formen
entwickelter Kunſt, ſelbſt der Spitzbogen, anklingen, aber Alles in der-
ſelben unbeſtimmbaren Buntheit, und dazu kommen nun die Thier- und
Menſchengeſtalten, tragend, mit Wand und Pfeiler verwachſen, frazzen-
haft, den traumartigen Eindruck vollendend. Weſentlich iſt, daß auch die
Dachung der freiſtehenden Bauten keine Regel hat, ſondern bald flach,
bald kuppelförmig iſt. Dieſer Formenwechſel iſt nun, wie geiſtig durch
die phantaſtiſche Stimmung, ſo äußerlich durch dieſelbe Abhängigkeit
vom Material bedingt, aus welcher das Schwanken im Grundplane
zu erklären iſt, eine Abhängigkeit, die, wie eben der Stein ſich hemmend
oder zum Spiel auffordernd darbietet, ebenſoſehr Willkühr iſt, vergl. Anm.
zu §. 562, 1. Der Schluß-Eindruck, wie er ſchon zu §. 578 als be-
ſonders bezeichnender Zug der orientaliſchen Art, das Weſen der Gottheit
als ein verborgenes anzudeuten, hervorgehoben wurde, iſt der des traum-
haften Dunkels. In der Nacht dieſer Höhlentempel, im Schooß der Erde
wird das Gemüth mit dämmernden Gefühlen, mit ſcheuer, ſchauriger Ahnung
des dunkeln Urgrunds aller Dinge, der aus finſterer Tiefe des Abſoluten
arbeitenden, zeugenden Urkraft erfüllt. Die Seele wird nicht frei, wie die
niedrige Decke auf den ſchweren Pfeilern laſtet bang auf ihr das brütende
Geheimniß einer unerforſchlichen Weltordnung, die den Einzelkräften keine
klare, lichte Entfaltung gönnt.
Dagegen geſtaltet ſich aus der Kegelform des Grabhügels ein Bau, der
bald als Grab, bald als Tempel erſcheint und durch das Mißverhältniß des
Aeußern zum Innern einſeitiger Außenbau, in ſeiner Richtung einſeitiger
Hochbau und darin zugleich Bau der einſeitigen Kraft iſt. Derſelbe tritt vor-
züglich bei den weſtaſiatiſchen Völkern auf, gliedert ſich als viereckiger,
terraſſenförmig verjüngt aufſteigender Thurm, verbindet ſich vorzüglich bei den
Perſern mit einem reichen Palaſtbau, deſſen ſchlanke Säulen aber ebenfalls
[277] die einſeitige Höherichtung ausdrücken, umſchlingt in Indien als Pagode
ſeine Form mit ausſchweifender Ornamentik und vereinfacht ſich in Aegypten
zur kryſtalliſchen Keilform der Pyramide.
Nirgends tritt der Uebergang zwiſchen der Bedeutung der abgeſchie-
denen und der abſoluten Perſon ſtärker hervor, als hier. Es iſt nichts
einfacher, als daß über dem Grabe großer Verſtorbener eine gewaltige
Erhöhung errichtet wird, welche ihr Andenken weithin in die Lande ver-
kündigt und ſelbſt das denkbar einfachſte Bild der Erhabenheit, der auf-
gerichteten Kraft iſt, durch die der Todte im Leben ſich ausgezeichnet.
Solche Hügel, in Kegelform, urſprünglich und theilweiſe auch ſpäter blos
aus Erde aufgeworfen, ſind in Nord- und Süd-Amerika, wie in Aſien
und Europa verbreitet. Nun plattet man die Spitze des Kegels ab und
opfert auf dieſer Höhe: den Manen des Todten oder dem Gotte, der ihn
zu ſich erhoben hat, dieß geht ineinander über, da eben der Tod ſelbſt
den Uebergang in das allgemeine Leben, die Rückauflöſung in das Ganze
iſt, in welcher die Vorſtellung das aufgelöste Einzelleben oder das Ge-
ſammtleben fixiren oder unklar beide zuſammenfaſſen kann. So ſchwanken
die Nachrichten über den Belusthurm zu Babylon, ob er ein Tempel oder
Grabmal eines Königs Belus geweſen, und er war vielleicht beides, da
im untern Gelaſſe der Coloß „Jupiters“ (nach Herodot), im obern jenes
Ruhebett des Belus ſtand. Der entwickelte Tempelbau depotenzirt übrigens,
wie ſchon erwähnt iſt, auch dieſe Form wieder zum bloßen Grabmal.
Der einfache kegelförmige Erdaufwurf mußte nun, wenn er jene höhere
Bedeutung erhalten und zur herrſchenden Tempelform werden ſollte, aller-
dings erſt eine künſtleriſche Gliederung gewinnen. Er nimmt zunächſt die Form
des viereckigen, verjüngt aufſteigenden Terraſſenbaus an, die wir auch in
Nordamerika ſehen; dieſe Form wird zu einem aus Werkſteinen frei ge-
fügten, an der Oberfläche künſtleriſch bearbeiteten Werke ſelbſt in Mexiko,
wo wir ſie unter dem Namen Taocalli (Gotteshaus) finden. Die Terraſſen
ſind zum Theil ſchon hier wieder ausgefüllt, die Oberfläche verſchieden
geſchmückt, Prachttreppen führen hinan. Das oberſte Stockwerk trägt nun
in Mexiko gewöhnlich ein kleines Tempelhaus und ebenſo war dieß ohne
Zweifel in Niniveh, das ähnliche Thurmbauten gehabt haben muß, wie
der aus acht ungeheuern Abſätzen aufſteigende Belusthurm in Babylon.
Dieſer Bau gehört nämlich vorherrſchend den Aſſyrern an und theilt
ſich von ihnen den Perſern mit. Das Grabmal des Cyrus im alten
Paſargada hat dieſelbe Form und trägt auf ſeinem ſechsten Abſatze ein
kleines Tempelhaus. Die Form der Bedachung dieſes Hauſes, die ſelbſt
in Mexiko auftritt, werden wir ſpäter in’s Auge faſſen. Hier iſt vor
Allem die durchgängige Kleinheit dieſes Hauſes im Verhältniß zu dem
[278] ungeheuern Stufenbau hervorzuheben: ſie bezeichnet zunächſt dieſen Bau
als einſeitigen Außenbau und dadurch ebenſogut wie der bloße Innenbau
des Grottentempels das verborgene Weſen des Gottes oder Geiſtes, der
im obern Heiligthum des Belusthurms gar keine Bildſäule hatte, während
ebenda das Tempelgemach im unterſten Geſchoße mit der Bildſäule des
Gottes auch noch in keinem Verhältniß zur Größe des Ganzen ſtand.
Dieſer Hochbau iſt aber ebenſoſehr bloßer Kraftbau; die Stockwerke
tragen einander in Wirklichkeit, aber alle zuſammen ſcheinen einer unge-
heuern Laſt entgegenzuſtreben, die nicht oder in unverhältnißmäßiger Klein-
heit da iſt, das Streben athmet ſich vielmehr in der Verjüngung des Keils
von ſelbſt, ohne Widerſtand aus. Säulen treten nicht auf, denn es iſt
nichts zu tragen, es wäre denn richtig, daß die kleinen obern Tempel-
häuſer in Niniveh und Babylon Anten-Tempel mit zwei Säulen waren,
was aber nicht zum Weſen dieſes Baus als eines Ganzen gehört. Man
kann ohne Widerſpruch mit der Ableitung dieſer Form aus dem Tumulus
die Auffaſſung Sempers (die vier Elemente der Baukunſt S. 70 ff.) ver-
binden, welcher den Thurm als Mittelpunct eines ganzen Terraſſenſyſtems
anſchaut, deſſen einzelne Abſätze oder Etagen (denn in den Stockwerken
nimmt er durchgängig Wohnungen an) den Knechten und Unterſaßen, dem
Fremdenverkehr, lagernden Caravannen, Bazar, Staatsgeſchäften, Unter-
richt, Gymnaſtik dienten, worauf höher der öffentliche Palaſt des Herrſchers
(Audienz- und Gerichtshof), dann ſein Privatpavillon folgt und endlich
erſt die hohe, ebenfalls terraſſirte Pyramide mit dem „Grabmal des Stamm-
herrn, der dem unterjochten Volk zum Gott aufgedrungen ward“: das
Ganze ein Ausdruck des erobernden Satrapendeſpotismus, eine lagerartige
Gruppirung, ein Bild des Subordinationsprinzips. Der Begriff der auf-
ragenden Kraft ſteigert ſich in dieſer Auffaſſung zu dem einer ſyſtematiſch
dargeſtellten kriegeriſchen Deſpotenkraft. Mit dem Terraſſenſyſteme ver-
bindet ſich nun allerdings ein reicher Palaſt-Styl, in Perſien, wie die Reſte
von Tſchil-Minar zeigen, in einer Mäßigung und künſtleriſchen Durch-
führung des Einzelnen, welche ſich weit über den mit Alabaſterplatten
getäfelten, im Weſentlichen jedenfalls ſäulenloſen Ziegelbau Aſſyriens er-
erhebt. Man ſieht, daß hier die Fortſchritte nicht am (Grab-)Tempel,
ſondern, dem realen perſiſchen Geiſt (§. 431, 2.) entſprechend, am Palaſte
geſchehen. Der Säulen-getragene Saal ſpielt eine Hauptrolle. Die Säule
hat den Schaft zur Freiheit entwickelt und zwar in vollem Gegenſatz gegen
Indien: er iſt nicht nur cannelirt, geſchwellt, verjüngt, ſondern ſteigt
ſehr ſchlank zu bedeutender Höhe auf, wodurch ein Ausdruck des Ueber-
gewichts der Kraft über die Laſt auch hier ſich geltend macht. Baſis und
Kapitell iſt entwickelt; an jener entſpricht die große fallende Welle unter
dem Pfühle mit Riemen, der ſchon an das Griechiſche erinnert, nicht dem
[279] ſtarken Drucke, der an dieſer Stelle ſtattfindet, dieſe Form iſt leicht, ge-
hört mehr dem Gefäß an, bezeichnet aber ebenfalls den Charakter des
laſtlos Aufſteigenden; das Kapitell iſt noch phantaſtiſch mit voll ausge-
ladenen Pferden und Stieren oder einem ſeltſamen, vierfach gerollten
Ornamentkörper geſchmückt, von deſſen Verwandtſchaft mit einer griechiſchen
Form die Rede ſein wird; das Gebälk an der Façade der Höhlengräber
nähert ſich jedenfalls dem joniſchen. Reicher polychromiſcher und plaſtiſcher
Schmuck zierte dieſe aſſyriſch-perſiſche Baukunſt. — In Indien treffen wir
nun, umgeben von einem Complexe von Reinigungsteichen, Säulengängen,
Hallen für die Wallfahrer, Prieſterwohnungen, kleineren Tempeln u. ſ. w.,
ebenfalls die Stufenpyramide unter dem Namen Pagode (Bhaguwati, d. h.
heiliges Haus). Hier wird nicht mehr der Fels bearbeitet, ſondern aus
Werkſteinen frei gefügt. Die Pagode iſt Tempel, eines ihrer, nicht großen,
Gemächer enthält das Götterbild. Was auch hier an ſpätere (gothiſche)
Formen entwickelter Baukunſt keimartig gemahnt, iſt der Uebergang vom
Viereck in das Achteck (das aber durch weitere Entkantung als Sechszehn-
Eck erſcheint), überhaupt der Drang zu einer Brechung des Maſſenhaften,
der jedoch in indiſcher Weiſe als krauſe Ueberladung und Verſchüttung
der Grundform erſcheint: die Uebergänge der Terraſſen ſind mit gewölb-
förmigen Uebergängen ausgefüllt, dazwiſchen treten kleine Kuppeln her-
vor; überall Pilaſter, Niſchen mit geſchweiften Bekrönungen, reichen Ge-
ſimſen, Thier- und Menſchengeſtalten; das Ganze ſchließt kuppelartig,
aber dieſer ſchließende Körper blüht ſelbſt wieder in eine ſeltſame fächer-
oder pfauenſchweif-artige Form aus. — In Aegypten dagegen iſt es,
wo dieſer Hochbau, wie der Höhlenbau, ſich wieder auf die Beſtim-
mung des Grab-Denkmals beſchränkt, denn ein Tempelbau ganz an-
derer Art hat ſich ausgebildet, und die Sage, daß die Pyramiden
von gottloſen Königen herrühren, beweist eine ſtarke prieſterliche Op-
poſition gegen dieſen militäriſch-despotiſchen Kraftbau (vgl. Semper a.
a. O. S. 86). Die Abſätze werden ausgefüllt, mit reich bearbeiteten
Steintafeln überkleidet und es erſcheint die viereckige Keilform der
eigentlichen Pyramide. Das Mißverhältniß des Kerns zu der großen,
nun faſt ungegliederten, ſoliden Schaale drängt ſich doppelt ſtark auf.
Sieht man dieſe einfache Form näher an und erwägt, was ſchon zu
§. 564, 1. über ihren äſthetiſchen Charakter geſagt iſt, ſo eröffnet ſich
ein eigenthümlicher Blick: ſie ſcheint beſtimmt, nicht etwas für ſich zu
ſein, ſondern ein Theil, und zwar ein abſchließender, d. h., mit weniger
Veränderung, ein Dach. Dieß gilt dann von dieſem Hochbau in allen
ſeinen Formen in der Art, daß man meint, einen der Abſätze der Ter-
raſſenbauten in der Form gedeckt und abgeſchloſſen ſehen zu müſſen, welche
die Grundlinie des ganzen Terraſſen-Baus iſt: der Pyramidalform.
[280] Das iſt nun aber wirklich geſchehen in jenen Grab- und Tempelhäuſern,
die auf der Höhe der Teocalli, auf dem Denkmal des Cyrus ſtehen und
wohl auch auf den aſſyriſchen Thürmen ſtanden. Auf dieſem Puncte
werden wir die Sache bei den Griechen wieder auffaſſen. — Uebrigens
hat ſich auch der pyramidale Bau als Grabdenkmal bei allen alten
Völkern erhalten, wie der Höhlenbau. Bei den Griechen und Römern
gliedern ſich die ſo geſtalteten Grabmäler wieder ſtufenförmig, gehen
aber im Grundriß auf die Kegelform zurück, d. h. ſie ſind rund; man
denke an die Gruppe abgeſtumpfter Kegel in Albano (Monument der
Curiatier), an das Grabmal Auguſts und Hadrians in Rom, des He-
phäſtion in Babylon, das Mauſoleum in Halikarnaß.
Der ägyptiſche Geiſt bewährt ſich als ſtreng meſſender (vergl. §. 432),
indem er die widerſtandslos in die Höhe ſtrebende Form in einen feſt an der
Erde gelagerten Langbau (§. 565) umwandelt, in welchem zugleich durch die
Geſtalt der Säule und des Gebälks ein organiſches Verhältniß zwiſchen
Kraft und Laſt einzutreten beginnt, der aber dadurch einſeitiger Langbau
iſt, daß in dem platten Dache der zuſammenfaſſende Abſchluß der ſchrägen
Linie ausbleibt, welche dafür als pyramidaler Nachklang in der Richtung der
2.Mauern auftritt. Auch die Glieder werden einfach und klar. Indem dieſer
Bau die Gemeinde in ſeine vorbereitenden, Mauer-umſchloſſenen Theile, aber
nicht in ſein Innerſtes, das Heiligthum des verborgenen Gottes, aufnimmt,
erſcheint er als unentſchiedener Außenbau. Jene Theile: Sphinx-Alleen
mit Vorthoren, große Portale mit Flügelgebäuden, vielſäulige Vorhallen, weitere
Vorräume, in’s Unbeſtimmte wiederholbar und dehnbar und dadurch allerdings
Ausdruck des fortdauernden Ungemeſſenen im Gemeſſenen, ſtehen in ſolchem
Mißverhältniß zu der kleinen und dunkeln Tempelzelle, daß der Grundcharakter
des Ganzen der des Empfangens, der Annäherung, der unbefriedigten Er-
wartung iſt.
1. Im ägyptiſchen Tempel iſt der thurmartige Hochbau völlig nieder-
geſchlagen und zu der beruhigenden Form des klaren Oblongums, das
ſich beſtimmt an den feſten Boden der Erde hinlegt, umgewandelt. Dieſes
Oblongum iſt allerdings nicht im eigentlichen Tempelhaus zu ſuchen, ſon-
dern in einer Anreihung verſchiedener Räume, die zum zweiten Theile
des §. näher zu erläutern iſt. Verſchwunden ſind aber nicht nur die ge-
häuften Terraſſen-Würfel, in welchen der aſſyriſch-perſiſche Bau ſich erhob,
ſondern auch die Zuſammenneigung zweier ſchrägen Linien zu einer Spitze,
[281] die ſeiner pyramidalen Geſtalt zu Grunde lag und in der eigentlichen
Pyramide zu Tage tritt, wird in dem Sinne nicht verwendet, daß ſie
zu der abſchließenden Giebelform des Daches ſich umbildete. Durch die
flache Deckung (wo es ſich überhaupt von gedeckten Theilen handelt), ſo-
wie durch die ausgedehnte Reihe der Vorräume, von welcher zu 2. die
Rede ſein wird, iſt nun dieſer Bau zu ſehr Langbau; alſo auch hier
wieder einſeitiges Hervortreten einer der in §. 565 aufgeführten Rich-
tungen. Dagegen hat ſich ein Reſt des Pyramidalen in der ſchrägen
Neigung der Thore und der Seitenflächen aller Mauern erhalten; dieſe
Richtung hat ſich von der geraden ſenkrechten noch nicht getrennt, um ſich
über ihren wagrechten Abſchluß als höhere Zuſammenfaſſung zu legen,
ſondern iſt noch unreif mit ihr verwachſen, denn die Mauer iſt nach der
innern Seite ſenkrecht. Wo nun der Mauer die freiſtehende Stütze vor-
geſtellt iſt, um einen Säulen-Umgang zu bilden, oder wo ſie die Decke
eines auch nach oben ganz geſchloſſenen Raumes trägt, iſt dagegen ein
weiterer Schritt an die Schwelle organiſch reifer Baukunſt gethan: die
drückende Laſt, die in Indien den Pfeiler nicht wahrhaft zur Säule
werden läßt, das Auffahren in die Höhe, das in Perſien auch der tra-
genden Säule zu ſchlanke Verhältniſſe läßt, iſt verſchwunden, Gleichge-
wicht von Kraft und Laſt bis nahe zur Vollkommenheit entwickelt. Die
ägyptiſche Säule ſondert ſich klar in die durch die Natur der Sache be-
dingte Dreiheit der Gliederung; nur erſcheinen an jedem Theile derſelben
Eigenheiten, die auf die Unreife zurückweiſen: die runde Form der Fuß-
Platte iſt nicht das richtige Glied für die Vermittlung mit der Sohle
des Baus, der verjüngte, in angemeſſenem Höhenmaaß aufſteigende Schaft
hat häufig über dem Plinthus eine ſeiner Bedeutung widerſprechende Ein-
ziehung, iſt theils convex, theils concav, aber ſeicht cannelirt, hat neben
ſenkrecht laufenden Pflanzen-Ornamenten auch horizontale bandartige oder
hieroglyphiſches Bildwerk darſtellende, die ſeiner Bewegung widerſprechen.
Neben der als offener Lotoskelch oder Palmblätter-Krater motivirten Welle
des Kapitells, die ſich über einer Anzahl von Ringen erhebt, tritt eine
nach unten ſtatt nach oben ausgeſchwellte, alſo den Druck der Laſt am
falſchen Puncte darſtellende Knoſpenform auf, auch Kapitelle mit Iſis-
Masken ſind nicht ſelten; ſtatt der Platte erhebt ſich über dem Kapitell
ein Würfel, zu ſchmal, um eine richtige Vermittlung mit dem wagrecht
überliegenden Balken darzuſtellen; dieſer kommt ſo hoch zu liegen, daß
die quer übergelegten Deckenbalken nicht über ihn treten können, ſondern
ihre Köpfe hinter ihm tiefer auf dem Würfel aufſitzen: damit fällt der
ſchöne mittlere Theil weg, den wir im dreigliedrigen griechiſchen Gebälke
finden werden, und es erhebt ſich über dem mit einem Rundſtabe ge-
ſäumten Hauptbalken ſogleich das Kranzgeſimſe, das ſich, da es nichts
[282] weiter zu tragen und nicht vor Regen zu ſchützen hat, nur als große
Hohlkehle mit einem Leiſten darüber darſtellt. Hiemit ſind zugleich die
wenigen, einfachen Glieder genannt, zu denen ſich das wuchernde indiſche
Formenſpiel zuſammengezogen hat. Das ſcharfe Abgrenzen drückt ſich
auch darin aus, daß die ſenkrechten Kanten des ganzen Baus ebenfalls
mit Rundſtäben eingefaßt ſind. Reicher Sculptur- und Farbenſchmuck
bedeckt alle Flächen, hat aber, da Giebel und Fries fehlen, nicht die
natürlich ſich ergebenden Hauptſtellen zu beſonderer, reicher Concentrirung
gefunden.
2. Neben der klaren Meſſung, welche demnach die Einzelformen
nunmehr beherrſcht und vereinfacht, drängt ſich in der Anlage des Ganzen
auch hier noch die orientaliſche Ungemeſſenheit hervor. Der ägyptiſche
Tempelbau iſt nicht eigentlich ein „Einſchachtelungs Syſtem“ (Kugler),
ſondern ein unbeſtimmtes fadenartiges Anreihungsſyſtem von lauter Vor-
räumen; nur wenn man von dieſer Längen-Richtung abſieht, bietet ſich
das Bild der Einſchachtelung dar: Schaale auf Schaale, Zwiebelhaut
auf Zwiebelhaut und ſchließlich — kein Kern, eine taube Nuß, d. h.
am Ende der langen Anlage, umgeben von Prieſterwohnungen, Archiven,
Gehegen für die heiligen Thiere u. dergl. ein verhältnißmäßig ſehr klei-
nes, monolithes, dunkles, nur dem Prieſter zugängliches, ſelten auch
nur ein Götterbild umſchließendes Heiligthum. Daß dieſer taube Kern
nicht in der Mitte, ſondern am Ende einer langen Reihe von Vorräumen
liegt, iſt freilich gerade das Weſentliche. Dieſe Räume ſind eine große
Zeile für ungeheure Wallfahrten. Lauter Thor, lauter Empfangen,
Erwarten, Annähern und keine Ankunft, lauter Schwelle, ungelöstes
Räthſel, genau entſprechend der Bedeutung der ägyptiſchen Phantaſie, ſ.
§. 432, 2. Die Prozeſſion wird zuerſt von einer mit coloſſalen Sphinx-
und Widder-Reihen eingefaßten Straße (Dromos) empfangen; einfache
Vorthore, eines oder auch mehrere, faſſen dazwiſchen die Wallfahrer
wieder enger zuſammen, um ſie wieder freier zu entlaſſen; am Schluſſe
dieſer Allee werden ſie von einem Prachtthore mit zwei hohen thurm-
artigen Flügel-Gebäuden (Pylonen), davor Obelisken und Coloſſe ſtehen,
empfangen und treten durch die Pforte in der Mitte, an deren Hohlkehle
das geheimnißvolle Symbol des geflügelten Globus angebracht iſt. Es
folgt ein großer, unbedeckter Vorhof, deſſen Umfaſſungs-Mauer mit
Säulen umſtellt iſt; man kann ihn mit dem Prachtthor als einen Pro-
pyläenbau bezeichnen und einen häufig vorkommenden zweiten Vorhof,
dem wieder Pylonen vorgeſetzt ſind und der dieſelbe Geſtalt hat, zur
Unterſcheidung von ihm Pronaos nennen, doch nur, wenn der ſogleich
zu nennende weitere Raum fehlt, was aber bei bedeutenderen Anlagen
nie der Fall iſt; das Schwanken der Bezeichnungen iſt übrigens tief in
[283] der Natur dieſer Anlagen begründet. Der weitere Raum, auf den wir
ſo eben hingewieſen, iſt nun die Vorhalle: ein bedeckter, nur durch
kleine Oeffnungen beleuchteter vielſäuliger Saal (Oikos hypoſtylos oder
polyſtylos), vom Vorhofe aus durch eine Pforte zu betreten, denn er iſt
nach dieſer Seite zwar durch keine Wand, aber in den Zwiſchenweiten
der Säulen durch Brüſtungen geſchloſſen. Die Formen der Säulen in
dieſem dunkel majeſtätiſchen, ahnungsvoll ſpannenden Raume pflegen nach
Reihen abzuwechſeln, auch iſt die mittlere höher: eine perſpectiviſch ma-
leriſche Neigung (vergl. Schnaaſe a. a. O. S. 402), die merkwürdig auf
das Mittelalter hinweist. Eigentlich wäre denn dieſer Raum der Pronaos,
wenn auf ihn unmittelbar das Heiligthum folgte, aber dazwiſchen treten
nun noch weitere Räume: nämlich abermals eine, zuweilen vorhofähn-
liche, zuweilen ein weiteres hypoſtyles Gemach darſtellende Vorhalle, dann
ein oder zwei Vorſäle ohne Säulen, und dann erſt das Heiligthum.
Wenden wir nun auf dieſe Anlage den Begriff des Innen- oder Außen-
baus an, ſo ſcheint ſie zunächſt jenes, iſt es auch in gewiſſem Sinne,
denn ganz durch eine Mauer eingefaßt, die andächtige Menge in ihre
Räume aufnehmend, ſchließt ſie ſich gegen das Aeußere ab und verkün-
digt ihre innere Schönheit nur durch die Façade der Pylonen. So iſt
das orientaliſche, griechiſche, römiſche Wohnhaus ja ein Innenbau, weil
es alle ſeine Gemächer nach innen um einen Hof umherlegt, wo ſich alle
architektoniſche Schönheit verſammelt. Ueberdieß iſt die bedeckte vielſäulige
Halle ein Haupttheil; dieſer aber iſt eben ganz Innenbau, er erinnert
auch durch die höhere Säulenreihe der Mitte an die gothiſche Kirche.
Allein dieß Alles iſt ja nicht das Heiligthum ſelbſt, die in dieſen Vor-
räumen andächtig verſammelte Gemeinde iſt nicht im Tempel, kann und
darf nicht in dieß unverhältnißmäßig kleine Allerheiligſte eintreten, ſie iſt
draußen. Alſo faſt lauter Aeußeres mit wenig Innerem; dieß Aeußere
iſt aber nicht das umgezogene Gewand, in deſſen Formen das Innere
ſich nach außen ausdrückt, es iſt nicht umgelegt, ſondern vorgelegt, neben
das Innere geſondert hingeſtellt, dem oberflächlich gegliederten Thiere
gleich, das ſeinen Magen an einem fadenartigen Darm nachſchleppt.
Dieß nennen wir unentſchiedenen Außenbau. Was übrigens das Unge-
meſſene betrifft, ſo iſt es auch in der obigen Darſtellung eines unbe-
ſtimmten Anreihungsſyſtems noch nicht erſchöpft: Sphinx-Alleen, Vorhöfe
können auch ganz fehlen, zwiſchen zwei Vorhöfe noch ein ſchmälerer,
alleenartiger ſich fügen (wie im Tempel von Luxor), die Alleen und
Vorhöfe ſtehen auch, ein weiterer Ausdruck der Zuſammenhangsloſigkeit,
nicht nothwendig in gerader Linie.
[284]
Die griechiſche Phantaſie (vgl. §. 434—441) macht zugleich mit der Sym-
bolik der falſchen Selbſtändigkeit der Baukunſt, dem Coloſſalen, dem Schwanken
zwiſchen Gemeſſenem und Ungemeſſenem, ebenſo der Einſeitigkeit in Beziehung
auf die Hauptrichtungen und Gegenſätze, die zugleich Unentſchiedenheit war,
ein Ende, und errichtet dem lichten Gotte ſein mäßig großes, ſchön erhabenes
2.Haus. Dieſe Erzeugung des Schönen iſt zugleich organiſche Umbildung der
orientaliſchen Elemente: der hohe Terraſſenbau wird zu einem Unterbau von
wenigen Stufen herabgeſetzt, die pyramidale Linie tritt als Giebeldach ab-
ſchließend über den, ebendarum nicht mehr einſeitigen, Langbau der vier-
eckigen Tempelhalle, der Säulenhof wird, während die Prachtthare geſondert
vor den Hauptbau treten, von ihr als ſeinem Centrum an ſich gezogen. Dieß
Säulenhaus mit Vor- und Hinterhalle iſt ein klarer, aber nicht einſeitiger
Außenbau.
1. Man vergl. die Darſtellung der griechiſchen Phantaſie, um die
geiſtigen Bedingungen, aus denen dieſer Bau hervorgegangen, ſich zum
lebendigen Bilde zu erheben. Durch die „Degradation“ (Hegel) des blos
Symboliſchen wird auch die Baukunſt dem falſch Symboliſchen entzogen
und auf die Symbolik, welche begriffsmäßig ihre Beſtimmung iſt (§. 561),
beſchränkt. Damit iſt auch die klare Trennung in ein Inneres und Aeuſ-
ſeres, der freie Zweckdienſt der Baukunſt (§. 555) da. Wir werden ſehen,
wie dadurch die Verwirrung der Begriffe von Innen- und Außenbau
geſchlichtet wird. Die Klarheit dieſer Scheidung iſt zugleich reine Ein-
führung des Qualitativen in das Quantitative: der Tempel ſoll durch
ſeine Form, nicht durch ſeine Maſſe wirken, er wird mäßig groß; 200′
äußere Länge, 90′ Breite, 50′ Höhe ausſchließlich des Giebels iſt das
ungefähre Maaß der größeren Tempel. Innerhalb des Erhabenen iſt
dieſer Bau durch die Reinheit der Meſſung, welche alles Ungemeſſene
aufzehrt, ruhig ſchön. Der Gott iſt Perſon geworden, ſchöner Menſch;
das orientaliſche Dunkel iſt in der Durchbildung des Symbols zum My-
thus erleuchtet. Ihm, dem klar gegenwärtigen, ſoll ſein klares Haus
errichtet werden. Nirgends im Orient hat der Tempel dieſe Bedeu-
tung in ihrer Einfachheit gehabt: die Bedeutung des Hinantretens, der
Verſammlung der Gemeinde, die nun aber doch nicht im eigentlichen
Heiligthum war, überwog in der architektoniſchen Darſtellung immer das
[285] Sanctuarium und dieſes war ein Schlupfwinkel für den Gott, häufig ſo,
daß er ſelbſt hier nicht zu finden war.
2. Die griechiſche Kunſt ſteht auf den Schultern der orientaliſchen,
ſie iſt eine freie, ſchöpferiſche, organiſche Umbildung derſelben, ſetzt ſie
zur Vorſtufe, zum bloßen Stoff herab. Wie weit dieß ſo zu verſtehen
ſei, daß die Griechen ſelbſt mit orientaliſchen Formen begannen, wieweit
ſo, daß die Uebergangsſtufen auf den Vermittlungswegen, namentlich in
Kleinaſien (auch Phönizien mag dabei gerade in der Baukunſt wichtiger gewe-
ſen ſein, als wir wiſſen) ſich ausbildeten, wieweit ſo, daß ſolche Uebergangsfor-
men überhaupt nicht anzunehmen ſind, ſondern der griechiſche Geiſt mit Einem
Wurf das ihm bekannte Bild vorclaſſiſcher Kunſt umſchuf, darauf können
wir hier nicht eingehen. Der griechiſche Tempelbau erſcheint nach allen
Seiten als eine ſolche organiſche Umbildung. Sein auf ſtarken Stufen
ſich erhebender Unterbau iſt der ſchon in Perſien bedeutend gemäßigte
aſſyriſch-ägyptiſche Terraſſenthurm, degradirt, eingeſchmolzen zur großen,
den Bau wie ein Anathema hinanhaltenden Tafel (vgl. Bötticher a. a. O.
B. I, S. 123); die Stufen ſind nicht zum Steigen, dieſer Zweck erfor-
derte kleinere Zwiſchenſtufen; daraus erhellt deutlich jene Reminiſcenz oder
vielmehr Umbildung einer vorausgehenden unorganiſch maſſenhaften Form.
Jenes kleine Haus, das auf dem Cyrus-Grabmal und wohl auf allen
aſſyriſch-perſiſchen Stufenthürmen (wie auf den mexikaniſchen Teocalli)
ſtand, iſt, wie es ſoll, in der entſprechenden Größe zur Hauptſache gewor-
den; ſehen wir, mit dem Bilde des griechiſchen Tempels in der Phan-
taſie, einen ſolchen Stufenthurm an, ſo meinen wir, wir müſſen ihn von
oben zuſammendrücken, damit die Träger, die Stufen, nicht mehr in dieſem
Mißverhältniß aufgebäumter Größe zum Getragenen, dem Tempelhaus,
ſtehen. Der einſeitige Hochbau hat hiemit aufgehört. Aber darum iſt
nicht der einſeitige ägyptiſche Langbau eingetreten, denn das Oblongum
des Tempelhauſes iſt nicht platt gedeckt, ſondern jenes aus der Zuſammen-
neigung zweier ſchräger Linien gebildete Dach, das als zuſpitzende Wieder-
holung der pyramidalen Bewegung des ganzen Terraſſenbaus ſich über
das mehrmals erwähnte kleine Haus, das er trug, breitete, gibt jetzt der
Decke den Abſchluß, der ihr im ägyptiſchen Tempel in ſo ſtörender Weiſe
mangelt. Die Pyramide iſt, wie ſie ſoll, ein bloßes Moment geworden.
Aber dieſes Dach iſt nicht Walmdach wie an den Teocalli Mexiko’s, ſon-
dern hat die Form angenommen, die ſich auch in Perſien, bei dem Cyrus-
Grabmal, findet: es iſt Giebeldach, hat alſo die reichere Symmetrie zwei
verſchiedener Seitenpaare, deren eines das Vorn- und Hinten, das andere
die Nebenſeiten darſtellt. Zugleich aber geſchieht der weitere Hauptſchritt
einer neuen Organiſation: das Tempelhaus wird zum Magnet, an den
jene Theile anſchießen, die in Indien den freiſtehenden Tempel äußerlich
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 19
[286]getrennt umgeben, in Aegypten dem Sekos vorausgehen, ihn an
ihr Ende drücken: der Säulenhof des geöffneten Felstempels, die
ſäulenumſtellten Vorhöfe, die ſäulengeſtützte Vorhalle rücken an die Cella
als ihren Mittelpunct an, werden wahre Vorhalle (templum in antis
mit vorgeſtellten Säulen, Proſtylos) und Hinterhalle (Amphiproſtylos) und
endlich Säulenhalle, die um das ganze Haus läuft, deſſen vorſpringendes
Dach die Säulenreihe als integrirendes Glied in die Einheit des Ganzen
begreift (Peripteros, mit doppelter Säulenreihe Dipteros). Das Rudiment
dieſer concentrirten Form findet ſich jedoch bereits in einer abweichenden
Tempelgattung Aegyptens, den ſogenannten Typhonien. Hier hat das
Haus die Geſtalt des länglichen Vierecks und eine Säulenreihe umher,
aber an den Ecken nicht Säulen, ſondern Pfeiler, d. h. Mauerſtücke, Reſte
der Mauer; die Säulen ſind ferner mit einer Mauerbrüſtung bis zur hal-
ben Höhe des Stammes miteinander verbunden und die Intercolumnien
an Vor- und Rückſeite weiter, als auf den Langſeiten. Alſo ein großer,
weſentlicher Schritt ſchon in Aegypten, der aber nur halb verſtanden, voll-
zogen iſt und den Griechen das volle Verdienſt des Verſtändniſſes und
der Vollendung läßt, die ſo gut als eine Schöpfung iſt. Daß auch in
Griechenland die Zwiſchenräume der Säulen durch Gitter, ſelbſt niedrige
Mauern geſperrt waren (ſ. Bötticher a. a. O. B. II, S. 76) hat hier
nur den Zweck, die Bildſäulen, Weihgeſchenke zu ſichern, und iſt nicht
Ausdruck eines unüberwindlichen Zugs der Abſchließung, Heimlichkeit wie
dort. — Nun wurde aber von den Griechen die hohe Bedeutung eines
würdigen Vorbereitens auf das Heiligthum ſelbſt nicht verkannt; die For-
men, die ihr entſprechen, ſollten nur nicht die Einheit des Ganzen ſtören:
ein Prachtthor mit Säulenhalle trat daher als Propyläon an den Ein-
gang in den Peribolos, den heiligen Bezirk, und einfache Hallen, Stoen
zogen ſich in Art von Höfen umher (vergl. §. 576). Nunmehr hat auch
die Unklarheit über Innen- und Außenbau ein Ende. Angeſichts dieſes
Tempels mit ſeiner einladenden, heitern Säulenhalle, deſſen Inneres
dem Volke zwar nicht unzugänglich, jedoch keineswegs für die Verſamm-
lung der Gemeinde beſtimmt iſt, wo vielmehr vor der Bildſäule des
Gottes nur der Prieſter auf dem kleineren Altar die unblutigen Opfer
verrichtet, während die großen Brandopfer außen vor dem Pronaos auf
dem größern Altare vollzogen werden, ſtellt ſich nun der einfache Satz
feſt: ein Außenbau iſt der Tempel, der nicht ſein Inneres ſo organiſirt,
daß darin die Beſtimmung ausgedrückt iſt, die Gemeinde zum Gottesdienſt
in ſich aufzunehmen, ſondern das Bild der Herrlichkeit des Gottes dem
von außen herantretenden Menſchen objectiv hinſtellt. Das Hauptmoment
der Organiſation des Innern für jenen Zweck iſt die Säule als das
Mittel der Raumöffnung für die verſammelte Menge; der griechiſche
[287] Tempel kehrt ſie nach außen. In Indien beſtimmte uns die Anlegung
der Pfeiler-Reihen in den Grottentempeln zu der Bezeichnung: Innen-
bau; war aber dieſe Bezeichnung ſchon darum wieder zweifelhaft, weil
in dieſem Innern ſelbſt wieder ein Sanctuarium war, ſo ſchlug in den
offenen Felsbauten mit einem Hofe, um welchen Pfeiler-Stellungen, in
den Fels gehauen, liefen, der ganze Bau in einen die Gemeinde in das
Außen verweiſenden, alſo einen Außenbau um. In Aegypten beſtimmte
uns die Aufſtellung und Anreihung der Säulenumſtellten und Säulen-
getragenen Räume innerhalb einer Mauer zu der Bezeichnung eines
zweifelhaften Außenbaus, denn in das Innere eingelaſſen blieb das Volk
wieder außen, das Heiligthum ſelbſt war ihm unzugänglich. Jetzt nun
haben wir einen klaren Begriff, um die Bezeichnung Außenbau
unzweifelhaft aufzunehmen. Dieſer Außenbau iſt aber nicht einſeitig;
der orientaliſche Bau hörte nicht auf, einſeitig zu ſein, weil er zwiſchen
zwei Gegenſätzen ſchwankte, vielmehr ſchwankte er gerade, weil er einſeitig
war; am griechiſchen dagegen bewährt ſich, was §. 565 ſagt, daß die entwickelte
Kunſt jene Gegenſätze nicht abſtract, ſondern nur mit mäßigem Ueber-
gewichte des einen oder andern Moments ausbildet; man weiß, woran
man iſt, und doch iſt man durch keine Ausſchließlichkeit gebannt. Denn
das Innere iſt, obwohl nicht für größere Verſammlung beſtimmt, doch
nicht verſchloſſen, es iſt zugänglich, die Herrlichkeit des lichten, nicht ver-
borgenen Gottes darf jeder Reine ſehen. Die Säulenhalle verkündigt
nicht, lädt nicht ein, um zu täuſchen, die Nuß iſt nicht taub. Weil in der
Objectivität des griechiſchen Geiſtes der Gott ganz Geſtalt geworden iſt,
bedarf es neben der Bildſäule keines, in demſelben Raume vorzunehmen-
den, weitläufigen, ſubjectiven Gottesdienſtes; das Innere iſt aber ausge-
bildet, ein würdiges, zum Schauen beſtimmtes, reichgeſchmücktes Gemach
für den Gott, und die Vorhalle concentrirt noch einmal den Geiſt des
Schauenden zur Sammlung, ehe er eintritt. Ein Reſt orientaliſcher Ver-
borgenheit ſtellt ſich allerdings in dem Dunkel der Tempelzellen dar, die
nur durch die offenen Metopen des altdoriſchen Baus oder auch durch
Fenſter an den Wänden (über beides vergl. Bötticher a. a. O. B. I,
S. 160. Bd. II, S. 9) mangelhaftes Licht erhielten. Das ſchönere
Götterbild fordert aber volles Licht und nun wird das Dach durchſchnitten,
eine Säulenreihe, auch eine zweite, die eine Galerie bildet, darüber um-
gibt dieſen offenen innern Raum vor dem Götterbilde: hypäthriſcher
Tempel (in die doch wohl gegen L. Roß entſchiedene Debatte darüber
können wir nicht eintreten). Der Bau wird jedoch auch dadurch kein
Innenbau; denn auch das ſo nach oben geöffnete Innere iſt kein Raum
für die andächtig verſammelte Gemeinde; es iſt ein inneres Aeußeres, ein
wiederholtes Aeußeres wie in der Anlage des Wohnhauſes, die durch
19*
[288]ihren Hofraum, das Periſtyl, im Innern nur ſo zu ſagen die Straße
oder die Agora in ſich hereinnimmt. Im eigentlichen Innenbau muß das
Innere reich und weit entwickelt und zugleich bedeckt ſein.
Der maaßvoll objective, im Realen befriedigte und doch von ethiſchem
Schwung bewegte Geiſt ſpricht ſich in dem Verhältniß der Länge-Richtung zur
Höhe-Richtung ſo aus, daß das Ganze, vorherrſchend von jener beſtimmt und
an der Erde hingelagert, zugleich ſchwungvoll emporſtrebt, dieſes Streben auf’s
Neue in der Länge-Richtung beruhigt, dann noch einmal kürzer wiederholt,
hierauf abermals durch die wagrechte Linie theilt und endlich durch die geneigte
abſchließt. Das klar beſchloſſene Gleichgewicht von Kraft und Laſt,
das dieſer Gliederung zu Grunde liegt und ſich als reine Entwicklung und
Löſung des Contraſts darſtellt, findet ſeinen vollen äſthetiſchen Ausdruck in der
nun vollendeten Kunſtgeſtalt der Säule und des Gebälks mit dem Dache.
In dieſem Organismus, ſowie in der ſchönen Nothwendigkeit der Glieder
und alles Ornaments, beurkundet ſich die Phantaſie des meſſenden Sehens
als eine vom plaſtiſchen Geiſte beherrſchte (§. 439); dieſe Verwandtſchaft iſt
aber keine verworrene Miſchung, vielmehr ſind der unterſcheidenden Thätigkeit
des letzteren die Stellen angewieſen, wo das Ganze ſeinen innern Reich-
thum naturgemäß am vollſten anſammelt: Giebelfeld, Metopen, Cella-Fries.
Endlich überkleidet der maleriſche Sinn alle Flächen und Formen mit einer
reichen Farben-Harmonie.
Der griechiſche Geiſt iſt ethiſch ohne Bruch mit der Natur (vergl.
§. 349. 425. 438). So bleibt denn auch ſein Bau feſt an der
mütterlichen Erde, fährt nicht ruhelos auf wie der eigenſinnige, heftige
Kraftbau der Aſſyxer. Er iſt demgemäß länger, als hoch, aber es fehlt
ihm nicht die feurige Energie des Emporſtrebens, nur daß ſie wieder von
dem Geiſte der Lagerung, der horizontalen Linie der Nothwendigkeit be-
ruhigt wird, bis ſie in der mittleren zwiſchen der ſenkrechten und wag-
rechten Linie, der zuſammengeneigten ſchrägen ausathmet. Es iſt dieß
zunächſt ein klarer Dreiſchlag, der aber zu einem Fünfſchlage wird, wenn
man die Theile mitzählt, in welche die auf das Emporſtreben folgende,
im Gebälke dargeſtellte Längerichtung ſich unterſcheidet: der erſte Taktſchlag
iſt das Aufſtreben: die Säule; der Unterbau, von dem ſie aufſtrebt, ſtellt
die Längerichtung, die das Ganze charakteriſirt, noch nicht in der Selb-
ſtändigkeit dar, um beſonders gerechnet zu werden; der zweite der Archi-
trav, der nun die Längerichtung wiederholend zugleich in der durchgreifen-
den Form eines ausdrücklichen, künſtleriſch hervorgehobenen Moments
[289] darſtellt; der dritte die Triglyphe, als Stütze des Kranzgeſimſes die auf-
ſteigende Richtung kurz wiederholend; der vierte das vorſpringende Kranz-
geſimſe, deckend, ſchützend vor dem Regen, Dachſparrentragend, noch ein-
mal horizontal durchſchneidend; der fünfte der Abſchluß der Bewegung im
Dache. Dieſen Formen liegt nun ſtructiv das reinſte Gleichgewicht von
Kraft und Laſt zu Grunde; hier haben wir jene Ueberwindung der
Schwere innerhalb ihrer ſelbſt (§. 557) in der erſten, einfachen Form
ihrer Vollkommenheit: es iſt noch nicht ein Hinübergreifen von Kraft
und Laſt ineinander, ſondern ein voller Gegenſchlag, der aber durch die
volle Befriedigung der Gegenſätze mit voller Ruhe endet. Am ſtrengſten
ſtellt ſich dieß im altdoriſchen Bau dar, wo alle Laſt auf die Säulen-
Axen zurückgeworfen wird, indem über dem Kapitelle der Stoß des frei-
ſchwebend tragenden Architravs, auf dieſem nach hinten die Stirn des
ebenfalls ſchwebenden, die Deckplatten tragenden Deckenbalkens, nach
vornen die Triglyphe aufliegt, die das Kranz- (Trauf-) Geſimſe und mit
ihm das Dach trägt. Ein Theil dieſer rein beſchloſſenen Wechſelwirkung
löst ſich durch die ſpätere Aufſtellung einer weiteren Triglyphe auf dem
zwiſchen den Säulen übergeſpannten Theile des Architravs, noch beſtimm-
ter im joniſchen Bau wieder auf. Dieſe reine Abrechnung zwiſchen den
fungirenden Maſſentheilen, dieſe klare Löſung von Contraſten liegt nun
bereits in der Kernform, aber ſchon in ihrer allgemeinen Hervorhebung
mußte die decorative Charakteriſtik derſelben mitberührt werden. Die
letztere, wie ſie in den Formen der Säule, des Gebälks mit ſeinen drei
Theilen: Architrav, Fries, Traufgeſims, des Dachs entwickelt iſt, muß
jedoch auch ausdrücklich gewürdigt werden. Hiefür können wir uns aber
auf §. 572 berufen, wo das Weſentliche ſchon vorgebracht iſt, auch kommen
wir im Folgenden noch einmal darauf zurück; daher hier nur einige Be-
merkungen. An Fuß, Schaft, Capitell der Säule ſind die unpaſſenden
Formen, die in Aegypten neben den der organiſchen Kunſtgeſtalt nahen
noch auftreten, beſeitigt und jene einfachen, eben in §. 572 aufgeführten
Bildungen und Glieder entwickelt. Auch das vorlaufende Mauerende der
Vor- und Hinterhalle iſt im Antentempel mit ſäulenähnlichen Motiven
zum Pfeiler ausgebildet. Die Platte (Plinthus), niedriger gebildet, ragt
jetzt über das Kapitell hervor und ſtellt dadurch nicht nur eine klare Vor-
ankündigung der wiedereintretenden Längerichtung dar, macht jener fatalen
Lücke, die der ägyptiſche Bau an dieſer Stelle zeigt, ein Ende, ſon-
dern gibt auch der Ausbildung des Frieſes Raum, indem der Deckenbalken
nicht mehr in gleicher Höhe mit dem Architrav auf dem Plinthus auf-
liegt, ſondern auf dem erſteren. Die Frage über die Herkunft aus dem
Holzbau, die an dieſer Stelle aufzunehmen wäre, überlaſſen wir der
Kunſtgeſchichte und geſtehen nur, daß die dagegen vorgebrachten Gründe
[290] uns nicht völlig überzeugen. Der Würde des Steinbaus verſchlägt ohne-
dieß die freie Beibehaltung einer ſolchen Reminiſcenz als künſtleriſchen
Motivs ebenſowenig, als die Aufnahme von Motiven eines Prachtzeltes,
wie man ſie an andern Theilen der Gliederung nachzuweiſen ſucht. Die
Triglyphe, die Stütze des Kranzgeſimſes, iſt als kurze Wiederholung des
aufſtrebend Tragenden in der Säule mit jenen dem Pflanzenſtengel ent-
nommenen Schlitzen gefurcht. Das Kranzgeſimſe namentlich führt uns
auf die eigentlichen Glieder, die wir ebenfalls aus §. 572 kennen. Der
ägyptiſche Styl hat ihre wuchernde Ueberfülle eingeſchränkt, aber bis zur
Armuth. Im griechiſchen Bau iſt die Armuth wieder zu wohl gemeſſener
Fülle entwickelt und jedes einzelne Glied hat innere Nothwendigkeit; es
ſymboliſirt frei, aber mit der bezeichnendſten Form, die denkbar iſt, die
ſtructive Function. So umſäumen reich und doch ſparſam die Glieder
alle Theilungen des Gebäudes, laſſen nichts nackt und ſtoffartig. Statt
weiteren Eingehens heben wir nur hervor, daß die Welle jetzt nicht mehr
als kelchförmiges Kapitell, ſondern, den Druck des laſtenden Dachs
zu charakteriſiren, namentlich am Traufgeſimſe auftritt und daß die ſenk-
recht einfaſſenden Rundſtäbe verſchwunden ſind, weil die äußerſten Enden
des Baus nicht einer letzten Zierde bedürftige Mauern, ſondern Säulen
ſind. Die Glieder nun blühen durch gewiſſe eingeritzte und bemalte oder
wirklich geſchnitzte Formen, die zum Theil ihr urſprüngliches Motiv dar-
ſtellen, zum Theil ſich nur als entſprechendſter Anklang nachträglich an-
legen (vergl. §. 572 Anm.), in das Ornament hinüber: es ſind Blumen,
Blätter, Zeichnungen von Gewirktem, Geflochtenem u. dgl. Um den or-
ganiſchen Schönheitsſinn der Griechen ins Licht zu ſetzen, fügen wir zu
den Bemerkungen jenes §. nur noch hinzu, wie naturgemäß der Abakus
des Kranz- und Giebel-Geſimſes mit dem Ornamente der Waſſerwoge,
die Kymatien mit Blumen (Anthemien) und überfallenden Blättern, die
horizontalen Platten und Bänder mit Mäander-Tänien (kopfſchmuck-artigen
Wirkereien), Perlenſchnüren, an ihrer Unterſeite mit ſtarken geflochtenen
Gurtbändern verziert ſind. In dieſen Ornamenten findet denn Bötticher
die künſtleriſche Reminiſcenz der Zeltdecke; Sempers Erklärung aller
Ornamentirung der Verſchlüſſe aus der urſprünglichen Kunſt der Matten-
flechter und Teppichwirker iſt ſchon zu §. 573 angeführt. Die innere Decke
ſoll durch den Schmuck eines Sternes auf den einzelnen Deckplatten an das
Himmelsgewölbe erinnern: der ideale Raum wiederholt in ſich auch das
Bild des Himmels im natürlichen. Das Dach zieren die aufgeſchlagenen,
Blumen darſtellenden Stirn- und Firſtziegel, die waſſerausſpeienden Löwen-
köpfe, den Giebel die Akroterien (große Blumen, Greife u. dgl.), welche
das letzte Ausathmen der Höhe-Richtung verſinnlichen. Die Löwenköpfe
gehören als thieriſche Formen ſchon in das Feld der eigentlichen Plaſtik.
[291] Dieſe hat ſich in Indien, in Perſien (Säulenkapitelle), in Aegypten
(Pfeilerſtatuen wie in Indien, Ueberſäung der Wände mit Reliefs, Mas-
kenkapitelle) mit der Baukunſt unreif vermiſcht. Sieht man nun den
griechiſchen Bau an, ſo beſtätigt ſich zunächſt an ſeinem Charakter im
Ganzen, daß die griechiſche Phantaſie eine auf das taſtende Sehen
(Plaſtik) geſtellte war. Der plaſtiſche Geiſt macht ſich hier innerhalb des
meſſenden (bauenden) in dem reinen Organismus des Ganzen geltend;
es iſt gegliedert, aber ruhig gegliedert ohne perſpectiviſche Gruppenwir-
kungen, ohne maleriſche, ſubjective Bewegtheit. Fernher und leiſe klingt
das Bild des organiſchen Leibes an (vergl. §. 558). Ebendeßwegen
aber, weil das Plaſtiſche als bloßer Geiſt, nicht in ſeiner eigentlichen
Thätigkeit in das Architektoniſche ruhig eingeſtrömt iſt, vermiſcht es jene
nicht mehr in verworrener Weiſe mit dieſem. Karyatiden, Telamonen ſind
ſelten und treten als bewußtes, freies Spiel in herrlicher Behandlung
auf. Die Plaſtik zieht ſich von Kapitellen, Wänden zurück und findet
ihren geſonderten, begrenzten Anſammlungspunct in den Verſchlußtafeln
der früheren Oeffnungen zwiſchen den Triglyphen, den Metopen, am
Frieſe der Cella und den Giebelfeldern, dieſen würdevollen Stirnen des
Dachbaus, deren Ehre dem Tempel und dem Hauſe der gefeiertſten
Sterblichen vorbehalten war. — Von dem Alles überziehenden Farben-
ſchmuck iſt zu §. 573 die Rede geweſen.
Der griechiſche Bauſtyl entwickelt ſich geſchichtlich (vergl. §. 531) zunächſt
in zwei Hauptformen, die aber auch gleichzeitig fortbeſtehen; der ſtreng gebun-
denen, männlich ſtarken doriſchen und der weiblich weicheren joniſchen, die
das Einzelne zu ſelbſtändigerer Freiheit entläßt und feiner durchbildet. Der
ſpätere, reiche Styl erzeugt aus einer Verbindung dieſer Formen eine dritte,
die er mit einem an Aegypten erinnernden Zuſatze von Pracht umgibt: die
korinthiſche.
Zu den drei Hauptſtadien, die nach §. 531 aller Styl in ſeinen
Entwicklungsſtufen durchläuft, verhalten ſich die Bauſtyle ſo, daß die
beiden dort zuerſt aufgeſtellten: ſtrenger, harter und hoher oder erhaben
ſchöner Styl in der Baukunſt noch das Doriſche in ſich begreift, das ſich
in eine härtere Form, die altdoriſche (mit den ſtämmigeren Säulen u. ſ. w.),
und in die gemilderte der perikleiſchen Zeit unterſcheidet; was in §. 531
einfach ſchön, reizend, rührend heißt, gilt vom joniſchen, und das zuletzt
genannte, dort als ein Uebergang der letzteren Stylform bezeichnete Sta-
dium der Prachtliebe u. ſ. w. gilt, nur nicht in dem ſchon beſtimmt
[292] tadelnden Sinne, vom korinthiſchen Styl. In der ohne Platte und Fuß
aus dem Stylobat ſich erhebenden, enger geſtellten, ſtärkeren, niedrigeren,
mit breiteren, nur einen dünnen Grad übrig laſſenden Cannelen gefurchten
Säule mit dem Wulſt und dem ſtarken Abakus (Plinthus, Platte), in
dem ſtreng gebundenen, obwohl ſpäter verlaſſenen Verhältniß der Triglyphe
zur Säulen-Axe, zum Deckbalken, zum Traufgeſimſe zeigt ſich der ſub-
ſtantielle, den Einzelnen ſtreng an das Ganze bindende, in altgediegener
Sitte unbeweglich verharrende, männlich ſtarke doriſche Geiſt. Die joniſche
Säule dagegen ſpricht ſchon durch ihre Stellung auf einer beſondern Platte
und den über ihr herausquellenden, ſich wieder einziehenden und wieder
ausquellenden Fuß (die ſchönere, attiſche Baſis) aus, daß die tragende,
Raumöffnende Stütze, entſprechend dem leichteren, beweglich fortſchreiten-
den, demokratiſchen joniſchen Geiſt, mehr Individuum für ſich iſt. Eben
dieſer Sinn liegt in der weiteren Säulenſtellung, dem höheren, ſchlankeren,
weniger geſchwellten und verjüngten, zwiſchen ſeinen tieferen und ſchmäle-
ren Cannelen einen Steg ausſparenden, alſo dem Körper mehr Raum
laſſenden und ihn daneben ſchärfer anſpannenden Schafte. Das Kapitell
zeigt die feinere, reichere Durchbildung im Perlenſtabe, der an die Stelle
der Ringe tritt, und zugleich die freie Entlaſſung, vollere Verwirklichung
des Einzelnen in der plaſtiſchen Ausſchnitzung der überfallenden Blätter
an dem zarteren Echinus (Wulſt), die dem derberen doriſchen nur auf-
gemalt ſind. Was nun die vielgedeuteten Voluten betrifft, ſo beſteht für
uns kein Zweifel, daß ſie unter jene Motive gehören, welche die Griechen
vom Morgenland entlehnt und mit ihrem edlen organiſchen Sinn umge-
bildet haben. Die Ammoniten waren in Aegypten und ſind noch jetzt in
Indien Gegenſtände hoher Heilighaltung; dieſe verſteinerten Zeugen einer
untergegangenen Thierwelt erſchienen eben, weil die entſprechende Form
ſich nicht mehr fand und man von der Bildungsgeſchichte des Planeten
mit ihren früheren Thiergeſchlechtern nichts wußte, als ein Wunderbares,
Göttliches; ſie wurden wegen ihrer Aehnlichkeit mit dem Widderhorn als
Lebensſpur eines widderhäuptigen Gottes angeſehen; das heilige Symbol
eignete ſich um ſeiner ſchönen Windung willen zum Ornament und ſo
ſehen wir es in verſchiedenen Stellungen an den Säulen auf einem aſſy-
riſchen Relief und an perſiſchen Säulen. Die griechiſche Behandlung
dieſes Motivs nun läßt ſich ungeſucht mit dem allgemeinen Motive der
runden Glieder zuſammenfaſſen: der Urſprung, die ſymboliſche Bedeutung
wurde vergeſſen, in freier architektoniſcher Umbildung wurde die Schnecken-
windung einfach wie eine verſtärkte Wirkung der, einen als urſprünglich
weich fingirten Stoff ſeitlich herauspreſſenden Laſt dargeſtellt und die vier
Windungen an den Nebenſeiten in den ſogenannten Polſtern in anmuthi-
gem Spiele zuſammengefaßt. Es iſt eigentlich die aufgelegte Platte
[293] (vgl. Hettner Vorſch. d. bild. Kunſt d. Alten S. 75 ff.), welche auf den
Seiten ſtark ausladend, da ſie an dem dünneren Schafte keinen Stütz-
punct hat, in dieſer Weiſe der Umbildung eines orientaliſchen Motivs ſo
behandelt wird, daß ſie vom Drucke des Architravs nicht blos eine Aus-
ſchwellung zu erleiden, ſondern ſich ſchneckenförmig in ſich einzurollen ge-
nöthigt ſcheint; ſchlank aufgeſchoſſen fährt die dünn gedeckte Säule bei
dichtem Zuſammenſtoße gleichſam zurück und windet ſich an den Seiten
in ſich ſelbſt ein. Die noch vorhandene Platte, die dennoch als Vermitt-
lung mit dem Balken nicht fehlen darf, erſcheint nun als ein abgeblätter-
tes Stück dieſes Körpers um ſo viel ſchmäler und daher widerſtandsloſer,
ſo daß ihr die Laſt im Profil noch eine Wellenform aufdrückt. Dieſe
Wirkungen muß das Gebälke ausüben, obwohl es der ſchlankeren Stützen-
form entſprechend nothwendig leichter iſt, als das doriſche. Der Haupt-
balken (Architrav) theilt ſich in drei Platten oder Streifen, die Triglyphen
fallen mit jenem gebundenen doriſchen Verhältniß weg, der glatte Fries
wird durch Ornament, Bildwerk geſchmückt, das mehrfach abgeſtufte, leich-
ter gehaltene Kranzgeſimſe beginnt von unten mit den (perſiſchen?) Zahn-
ſchnitten. — Der reiche korinthiſche Styl nun erſcheint in Baſe, Schaft,
Weite der Säulenſtellung, Gebälke (nur ſtatt der Zahnſchnitte Kragſteine,
mutuli) dem joniſchen gleich; das Kapitell aber iſt offenbar zunächſt ein
Rückgang von der doriſchen Umbildung des ägyptiſchen Kelchkapitells in
einen Wulſt zu der urſprünglichen ägyptiſchen Form. Dieſes Kapitell
war in Aegypten gewöhnlich ein weit ausladender, oft aber auch über-
höhter ſchlanker, an die Palme erinnernder Krater; zur letzteren Form
kehrt der korinthiſche Styl zurück, umlegt aber den Krater ſtatt mit pal-
menartigen, mit Akanthusblättern, die im Geiſte der Durchbildung des
Einzelnen, welche ſtatt des blos Aufgemalten nun ein noch volleres kör-
perliches Heraustreten verlangt, als ſchon der joniſche Styl, plaſtiſch
profilirt ſind, und läßt unter der wieder etwas ſtärkeren, an den vier
Ecken ausgebogenen Platte vier Rollen heraustreten, welche zwiſchen den
joniſchen (nun polſterloſen) Voluten und Pflanzenranken ungewiß ſpielend
in der Mitte ſchweben. Das Prachtvollere wendet ſich zu orientaliſchem
Glanze zurück. Sehr intereſſant ſtellt ſich nun eine doppelte Spur orien-
taliſchen Einfluſſes heraus: die joniſche Säule weist nach Aſſyrien und
Perſien, die doriſche iſt rein griechiſche Umgeſtaltung des ägyptiſchen Wellen-
Capitells, die korinthiſche erſcheint als beſtimmtere Aufnahme einer ägyp-
tiſchen Form.
[294]
Die römiſche Baukunſt nimmt gemäß dem Geiſte der Nation (vergl.
§. 442 ff.) von den Griechen den reichen korinthiſchen Styl auf, erhöht im
Sinne des Coloſſalen und Pompöſen ſeine Verhältniſſe und ſteigert ſeine Pracht.
2.Eigen iſt ihr und bezeichnet ebenſoſehr die umſpannende Macht des erobernden
Volks, als ſeinen praktiſchen Charakter, die Wölbung: ein fruchtbares Prinzip,
das auch nach verſchiedenen Seiten, insbeſondere als kuppelbedeckter Rundbau
(vergl. §. 565), ausgebildet wird, ohne daß doch die wahren Ergebniſſe deſſelben
zur Entwicklung gelangen; vielmehr wird die Wölbung unorganiſch mit den
3.griechiſchen Formen zuſammengeſtellt. Der praktiſche Beruf äußert ſich zugleich
durch reiche und großartige Schöpfungen im Gebiete der Einzelzwecke des per-
ſönlichen und öffentlichen Lebens (vergl. §. 575. 576).
1. Wir übergehen den etruriſch-römiſchen Architravbau mit der ſoge-
nannten toſcaniſchen Säule und führen den zur Kaiſerzeit aus Griechenland
aufgenommenen korinthiſchen Styl als das eine Moment der römiſchen
Baukunſt auf. Neigte dieſer Styl an ſich ſchon zu orientaliſcher Pracht,
ſo liegt nun in der römiſchen Richtung auf das Coloſſale und Pompöſe
urſprünglich auch etwas an den Orient Gemahnendes, das eben darum
jene Ausbildungsſtufe des Griechiſchen ſich vor allen andern aneignete.
Die römiſche Prachtliebe iſt aber mit dem ſchon an ſich Prächtigen dieſes
Styls nicht zufrieden; das korinthiſche Kapitell erhält zu den Akanthus-
blättern die joniſchen Voluten in ihrer ganzen Größe, ja Adler- und Genien-
Geſtalten treten aus jenen hervor, der Stamm bedeckt ſich mit Ornament
oder bleibt mit Abwerfung der Cannelen ganz glatt, um Granit und
farbigen Marmor in ſeinem Glanze zu zeigen. Die Verhältniſſe werden
namentlich in der Höherichtung in’s Coloſſale getrieben, ſo daß zwiſchen
der Höhe der Säule und der Tiefe der Halle, der Länge der Architrave
in den Zwiſchenweiten ein Widerſpruch entſteht, da die Marmorblöcke in
ſolcher Größe nicht beizuſchaffen waren, um Ueberſpannungen von ent-
ſprechender Breite und Länge auszuführen. Die weitere Häufung der
Formen zeigt ſich erſt in der Verbindung des griechiſchen Styls mit dem
Gewölbe.
2. Die Kunſt, durch Fügung von Steinen, die im Keilſchnitte be-
arbeitet ſind, zu wölben, tritt in vereinzelten Erſcheinungen ſchon im
Orient hervor, ſelbſt die Griechen ſcheinen von den entfernteren Anſätzen
[295] in cyklopiſchen Thoren und dann in den runden Tholen, nach gewiſſen
Spuren zu ſchließen, bis zur eigentlichen Wölbung vorgedrungen zu ſein,
ihre Erfinder aber ſind diejenigen zu nennen, welche den unendlichen Vor-
theil, den dieſe Kunſt gewährt, zuerſt verſtanden, benützt und ſie demge-
mäß im Großen und bleibend angewandt haben; dieß ſind die Etruſker
und von ihnen haben ſie die Römer. Jener Vortheil beſteht, wie ſchon
zu §. 562 geſagt iſt, in der Freiheit von der zufälligen Vorfindung und
Brechung des Materials und daraus folgt ſogleich der entſcheidende Einfluß,
den dieſe Kunſt auf die Bildung der Decke (vergl. 562, 1. 563), hiemit auf
die Linienverbindungen (vergl. §. 564), den Contraſt und die Art ſeiner
Löſung (vergl. 568. 569) haben muß. Durch die ſich ſelbſt tragende
Spannung des Gewölbes kann nämlich ohne Nachhilfe einer Zwiſchenſtütze
eine Breite und Länge überdeckt werden, ſo groß ſie immer der praktiſche
und äſthetiſche Bauzweck fordern mag; es kommt nur darauf an, dem
Gewölbe ein Auflager zu geben, das dem ſenkrechten Drucke deſſelben und
der neuen nun eintretenden Wirkung der Laſt, dem Seitenſchube, wider-
ſteht. Nimmt man aber die Zwiſchenſtütze hinzu und organiſirt mehrere
Gewölbe nebeneinander, ſo vermag man jeden Raum zu überſpannen,
ohne doch die Bögen in’s Uebergroße zu ſteigern; ein neues Gliederungs-
geſetz, eine Quelle von Schönheiten in allen Momenten der Compoſition
iſt gewonnen; die Freiheit in der Ueberſpannung beliebig großer Räume
iſt zugleich Freiheit in der Form des Grundplans; Rundbau, Viereck,
Verbindung von Vierecken zur Geſtalt des Kreuzes, Verbindung von
Rund- und Viereck-Bau: jedes Schema kann durch dieſes Mittel über-
deckt werden und die techniſche Möglichkeit wird eben zum Motive reicher
neuer Schönheits-Entwicklung. Die Römer haben nun die Wölbung in
verſchiedenen Formen ausgebildet: als einfachen Arkadenbogen, als Tonnen-
gewölbe für ſich und in Verbindung mit dieſem, als Niſche (eine zur
reicheren Decoration der Wand bei ihnen ſehr beliebte Form), als Rotunde
mit Kuppel, als Kreuzgewölbe, d. h. als Durcheinanderſchiebung oder
Kreuzung zweier Tonnengewölbe. Sie haben ſogar bereits die ſtetig
wirkende Laſt eines Kuppel-Gewölbes dadurch zu theilen gewußt, daß
ſie es in Gurtbögen gliederten, zwiſchen denen die übrige Füllung
nun aus einem leichten Verſchluß beſtehen konnte (ſo Minerva Medica
vergl. Leibnitz D. ſtruct. Element in d. Archit. S. 41); nur treten freilich
die Gurtbögen nicht als Glieder hervor, ſondern bleiben verſteckt und
dadurch ein Schritt von der größten Wichtigkeit, den wir bei der chriſt-
lichen Baukunſt wieder aufzufaſſen haben, unentwickelt. Vergleichen wir
nun unter dieſen verſchiedenen Gewölbformen den kuppelbedeckten Rundbau
mit dem Kreuzgewölbe, ſo erſcheint er, ſo impoſant er auch, namentlich
im Pantheon, auftritt, doch neben dieſem, in welchem ein an ſich ſchon
[296] zum Ausdrucke der Mannigfaltigkeit getheiltes Rundes mit dem Viereck ſich
verbindet, einförmig, als unterſchiedsloſe Einheit, und bewährt ſich alſo,
was ſchon zu §. 565 von ihm geſagt iſt. Es erſcheint hiemit wieder eine
einſeitige Richtung, welche in der weiteren Geſchichte ſich mit ihren Gegen-
ſätzen verſöhnen ſoll; eine Einſeitigkeit, die dießmal allerdings nicht in
einer unreifen, ſondern einer reifen Kunſt auftritt, dafür aber auch ſelbſt
in dieſer vereinzelt (außer dem Pantheon in Veſta-Tempeln) und in
andern Formen vermittelt (eben im Kreuzgewölbe und in jener Gurtbogen-
Kuppel), nur noch nicht in wahrhaft concreter Durchbildung, noch nicht
ſo, daß die vermitteltere Form weiterhin angewandt wird und ſich als
Styl feſtſetzt. Da nun aber bei den Römern die Gliederung des Runden
noch nicht wahrhaft entwickelt iſt, ſo dürfen wir gerade in der einfachen
kuppelbedeckten Rotunde ein treues Bild der weltgeſchichtlichen Bedeutung
dieſes Volks ſuchen, den Ausdruck der übergreifenden Weltmacht, die
ſich mit demſelben Geiſte der Klugheit und Kraft über die Völker her-
ſpannt, mit welchem ſie in der techniſchen Praxis ein ſo wichtiges Geſetz
entdeckt. Wir haben dieß ſchon zu §. 557, 2. beiſpielsweiſe angedeutet;
zu dem, was zu §. 564, 2. über die runde Linie geſagt iſt, verhält ſich
dieſe Auffaſſung ungeſucht als nähere, geſchichtliche Anwendung. Es fehlt
aber dem römiſchen Gewölbebau noch an einem andern weſentlichen Mo-
mente. Die freiſtehende Stütze nämlich erhält in ihrer Verbindung mit
dem Gewölbe eine neue Aufgabe; ſie ſoll nicht nur dem ſenkrechten Drucke,
ſondern auch dem Seitenſchube widerſtreben. Dieſe neue Function fordert
ſtatt der Säule den Pfeiler. Der Pfeiler aber ſoll dieſe ſtructive Leiſtung
in einer neuen Kunſtform ausſprechen und es leuchtet ein, daß eine neue,
ſchöne Form der Vermittlung entſtehen wird, wenn dieſe gegliederte Ge-
ſtalt des Pfeilers ſich zugleich mit der concreten Durchgliederung des Ge-
wölbs, deren Rudiment in jenen Gurtbögen auftritt, verbindet. Auf dieſem
Puncte aber verſagt den Römern die Erfindungskraft. Sie wiſſen den
Pfeiler nicht zu gliedern; wo ſie das Gewölbe nicht auf die Wand ſetzen,
belaſſen ſie ihn als rohes Mauerſtück und da irgend eine Kunſtform doch
hinzutreten ſoll, ſo ſtellen ſie die ganze Säule, als mittragend an den
Pfeilern im Kreuzgewölbe, als ganz unthätig vor den Arkadenbogen. Hier
tritt denn über ganzen oder Halbſäulen zugleich ein Gebälke oberhalb des
Bogens hervor und ſo verbindet ſich der Architrav- und Säulenbau als
reine, nicht fungirende Blend-Architektur mit dem Gewölbebau; die wirk-
liche Form bleibt noch, die Kunſtform iſt bloßer Schein, man „ſchämt
ſich“ der erſteren (Hübſch a. a. O. S. 48). Das Organiſche, das ſich
entwickeln ſoll, wird allerdings eine Verbindung von Säule und Pfeiler
ſein, aber keine äußerliche, todte, ſondern eine innige, bewegte, lebendige.
Die unorganiſche Vermiſchung von zwei grundverſchiedenen Stylen tritt
[297] nun aber auch im Großen auf, indem Tempel, die mit einem Tonnen-
gewölbe überdeckt ſind, horizontal abgeglichen und mit einer Säulenhalle
ganz im griechiſchen Style umgeben werden, indem ferner vor die Rotunde
ein Säulen-Porticus mit Gebälk und Giebel tritt.
3. Die ungemeine Fruchtbarkeit und Großartigkeit der Römer in nicht
religiöſen Bauten iſt ſchon in der Aufführung der Zweige §. 575. 576
mehrfach angedeutet. Wir weiſen noch einmal beſonders auf die Waſſer-
leitungen, Brücken, Befeſtigungen, Lager, Triumphbögen, Grabdenkmale,
Amphitheater (Coloſſeum) hin. Unter den öffentlichen Bauten für be-
ſtimmte politiſche Thätigkeiten iſt von beſonderer Wichtigkeit die Baſilika,
die wir ſofort in neuem Zuſammenhang aufzunehmen haben. Durch das
Kaiſerthum tritt als umfaſſender Prachtbau der Palaſt wieder in ſeine
Bedeutung. Die Privatwohnungen werden reicher, die Nothwendigkeit
treibt zugleich in die Höhe: der mehrſtöckige Bau, der für die moderne
Zeit ſich wieder feſtſetzen mußte, wird eingeführt. Auch in der ungemeinen
Solidität ihres Baues, in der Tüchtigkeit und Nettigkeit der Fügung zeigt
ſich der praktiſche Charakter der Römer.
Die romantiſche Phantaſie des Mittelalters (§. 447 — 458) ergreift in
ihrem noch an das objective Ideal des Alterthums anknüpfenden Beginne (vergl.
§. 460) zunächſt, namentlich im weſtrömiſchen Reiche, für den chriſtlichen Gottes-
dienſt den einzigen Innenbau, den die claſſiſche Baukunſt darbot, die Baſilika:
einen Langbau mit innerer Säulenſtellung, der zugleich durch die Erhöhung
und beſondere Deckung der Mittelhalle ein Streben zu gegliederter Höhe-
richtung andeutet. In dieſe zu Grund gelegte Form wird durch das Ver-
hältniß der Säulenhalle zur Apſis und die Art der innern Verzierung die per-
ſpectiviſche Wirkung, durch den Zutritt des Querſchiffs die reichere Symme-
trie eingeführt. Die runde Linie verbindet ſich nur erſt in untergeordneter
Weiſe mit der geraden. Der angefügte Vorhof wird wieder aufgegeben und
weicht der bloßen Vorhalle, welche zunächſt allein die Einſeitigkeit eines bloßen
Innenbaus ergänzt.
Die dem Geiſt aufgegangene innere Unendlichkeit fordert für den
Gott, der nun in dem engeren Sinn offenbar iſt, daß er als inneres
[298] Leben dem Bewußtſein inwohnt, einen Tempel, in welchem die Gemeinde
ſich verſammelt, in deren Andacht eben der Gott gegenwärtig iſt. Wie
nun die Kunſt-Anfänge dieſer Phantaſie überall an die Formen der antiken
Kunſt anknüpfen, ſo auch hier. Daß das eigene Bedürfniß des neuen
Gottesdienſtes die Form, von welcher nun zu ſprechen iſt, auch ohne
Vorbild erzeugen konnte (vergl. Zeſtermann d. antiken und die chriſtl.
Baſiliken), unterliegt keinem Zweifel, aber wenn einmal in der heidniſch-
römiſchen Baſilika die Grundform für die chriſtliche ſo klar vorliegt,
iſt auch kein Grund da, die Annahme eines wirklichen Ausgangs dieſer
von jener zu verwerfen. Die antike Baſilika war von dem Bedürfniß
erzeugt, einen bedeckten Raum für Handel, Börſe, Luſtwandeln und
ſpäter zugleich für Rechtspflege zu beſitzen. Wir kennen die vielen Hallen,
Stoen, Porticus der Alten (§. 575). Perſien hatte ſäulengetragene Säle
in ſeinen Königspaläſten, der ägyptiſche Tempel ſein vielſäuliges Vorhaus.
Dieſe Form eines gegliederten Innenbaus war vom Occidente vergeſſen;
jenes Bedürfniß ſollte ſie in beſtimmterer Geſtalt neu erzeugen und ſo
führte es denn auf den Gedanken, vier Hallen, zu einem länglichen
Viereck zuſammengeſchloſſen, oben zu decken. Man hatte nun einen dop-
pelten innern Raum: den breiteren in der Mitte der an den vier Seiten
ganz umlaufenden Säulenreihe und den Umgang um dieſelbe, der ſich
namentlich zu Buden, Läden, überhaupt Handelsgeſchäften darbot. Dieſer
hatte gewöhnlich zwei Stockwerke, das obere namentlich für Solche, die
luſtwandeln oder den Gerichtsverhandlungen im Mittelraume zuhören wollten.
Ein rings abfallendes Dach deckte dieſen Umgang. Nun aber konnte nicht
daſſelbe Dach den Mittelraum decken, denn dieſem verſchafften die Fenſter,
welche den umlaufenden Porticus erhellten, nicht hinreichendes Licht. Daher
mußte derſelbe mit einer neuen, Licht einlaſſenden Erhöhung, die nun ihr
eigenes Dach erhielt, über dieſes Dach aufſteigen. Nimmt man mit
Zeſtermann an, daß es gar keine gewölbten Baſiliken gab, was aber
unwahrſcheinlich iſt, ſo bleiben nur die zwei Formen übrig: entweder erhob
ſich über dem Gebälke der erſten Säulenreihe, die den Mittelraum und
die umlaufende Halle trennte, eine zweite für das zweite Stockwerk dieſer
Halle, die das Dach dieſes Seitenraums trug, und zugleich eine dritte
Stellung von Säulen, Pilaſtern oder nur eine Mauer als Umfaſſung des
erhöhten Mittelſchiffs, worüber dann das Dach deſſelben ſich legte; oder
aber es ſtiegen ſehr hohe Säulen von unten bis unter dieſes letztere Dach,
an welche ſich als Träger für das untere Stockwerk und das Dach der
Seitenhalle niedrigere Pilaſter anlegten. Das Licht für den Mittelraum
fiel bei der zweiten Form durch die Zwiſchenweiten dieſer hohen Säulen,
bei der erſten durch die Zwiſchenweiten jener dritten Säulen- oder Pilaſter-
Reihe oder, wenn es eine Mauer war, durch Fenſter. Wir haben alſo
[299] außer der neuen Form eines Innenbaus auch ein Streben in die
Höhe und zwar in der gegliederten Weiſe eines Aufſteigens in zwei Ab-
ſätzen von verſchiedener Breite, deren jeder ſeine eigene Bedachung hat.
In der chriſtlichen Baſilika nun ſehen wir dieſen Bau auf folgenden
Puncten weiter entwickelt. Die Säulen, in zwei oder vier Reihen ein
breiteres Mittelſchiff von zwei oder vier Seitenſchiffen abgrenzend, laufen
nicht mehr im Viereck um, ſondern gehen der Länge nach ganz durch und
führen den Blick nach dem Altar hin, der am Ende des Mittelſchiffs
(Hauptſchiffs) ſteht. Nun iſt die Frage, ob ſchon der römiſchen Baſilika
für den Sitz des Richters an ihrem Ende eine halbkreisrunde Niſche, die
Apſis, concha, tribunal (im chriſtlichen Sprachgebrauch: Tribuna) angebaut
war; dieſer Theil erhält jedenfalls in der chriſtlichen Baſilika als Sitz für
die Kleriker, vor welchem der Altar ſteht, eine ſo beſtimmte neue Bedeutung,
daß wir uns bei der Erörterung jener Frage hier nicht aufzuhalten haben;
denn dahin, nach dieſem geheiligten Raume (Sanctuarium), wo der Altar
ſteht und hinter ihm im Halbkreiſe die Verwalter des göttlichen Geheimniſſes
ſitzen, iſt jetzt perſpectiviſch der Blick gelenkt: das Schiff erſcheint als „die
geöffnete Bahn zum Tiſche des Herrn“ (Schnaaſe a. a. O. B. III, S.
144); es iſt dieß bereits ein Empfindungszug, der, dem Alterthum
fremd, nun in die Baukunſt eintritt und ihr einen maleriſchen Charakter
gibt (vergl. §. 458). Eine ſpäter aufgegebene Anordnung, das Herein-
rücken des Raums für die Kleriker in das Hauptſchiff durch das mit
Schranken umſchloſſene Preſbyterium, faſſen wir hier nicht näher in’s Auge;
in der ausgebildeten Form gehört das ganze Schiff der Gemeinde. Das
größere Raumbedürfniß war es zunächſt, was dem oblongen Raume
das Querſchiff anfügte, das nun mit zwei Armen über das Langſchiff
hervorzutreten begann und zwar nicht, wie man meint, die Form des
lateiniſchen Kreuzes mit Abſicht nachbildete, wohl aber jene reichere Form
der Symmetrie (§. 570) einführte, worin die Längsrichtung in eine Be-
wegung nach zwei Seiten ſich veräſtet. Die durchlaufende Mauer des
Querſchiffs, in deſſen Mitte nun der Altar ſtand und das wie ein eigenes
Haus für ihn erſchien, mußte ſich nach dem Langhaus hin öffnen und
nach dem Mittelſchiff deſſelben geſchah dieß durch einen hohen Bogen, dem
ſogenannten Triumphbogen. Die Säulen der Schiffe trugen die höhere
Mauer des Mittelſchiffs anfangs als geradlinig (architraviſch) übergelegte
Laſt, dann aber mittelſt Arkadenbögen. In dieſen, ſowie im Triumphbogen,
in der Tribune und den Fenſtern haben wir vorerſt den einzigen Ein-
tritt der runden Linie als Halbkreis, denn die Deckung war urſprünglich flach
und caſettirt, nachher ſprach ein offener Dachſtuhl den primitiven Charakter
dieſes urchriſtlichen Tempels aus. Jene Arkadenbögen aber verſtärkten durch
ihre Bewegung von Säule zu Säule den hinleitenden, einladenden per-
[300] ſpectiviſchen Eindruck. Dazu trat der Schmuck. Dieſes Ganze nämlich
mit ſeinen antiken Säulen, plaſtiſch unverzierten Flächen, in Beziehung
auf die Kunſtform (im engeren Sinn) außer den Reminiſcenzen und
wirklichen Bruchſtücken, die es vom claſſiſchen Bau herübernimmt, einfach
bis zum Rohen, umgibt ſich doch mit maleriſcher Zierde: buntem Mar-
mor, Moſaikfußböden und Moſaikbildern, Goldgrund. Die Gegenſtände
der Bilder nun vollenden den perſpectiviſch hinleitenden Charakter, denn an
der Mauerfläche über den Säulen liebt man Scenen, welche die Kämpfe
der erſten Kirche und ihre Vorbereitung im Alten Teſtament darſtellen,
am Triumphbogen die myſtiſchen Allegorien des Evangeliums, der durch
Gottes Wort erquickten Seele, Chriſtus als Lamm u. dgl., während die
Altarniſche die wirkliche menſchliche Geſtalt des Erlöſers in rieſigen Ver-
hältniſſen darſtellt: alſo ein Weg vom Kampfe zur Herrlichkeit, von der
Geſchichte durch das Sinnbild zum leibhaftigen Ideal. — Was die Glie-
derung der Höherichtung betrifft, ſo iſt ein Fortſchritt über die römiſche
Baſilika im Aeußern dann erwieſen, wenn dieſe zwei Walmendächer hatte,
denn das Giebeldach der chriſtlichen iſt Façade-bildend und überhaupt eine
belebtere Organiſation. Im Uebrigen verkündet dieſer Innenbau ſeine
Bedeutung nach außen architektoniſch nur durch die Vorhalle am Eingang,
zu welcher der frühere ſäulenumſtellte Vorhof (Atrium) mit dem Brunnen
(cantharus) einſchmolz, nachdem die Aufgabe verſchwunden war, eine
Menge von Katechumenen, Büßenden, Profanen vom Heiligthum abzu-
ſondern. Dieſer Vorhof, der ſelbſt wieder eine Vorhalle hatte, war
wirklich etwas Aegyptiſirendes. — Noch iſt die Anlage von Krypten unter
der Tribune zu erwähnen als merkwürdiger Beitrag zur Erweiſung jenes
mehrbeſprochenen Zuſammenhangs zwiſchen Grab und Tempel, denn ſie
ſind Stätten für die Gebeine der Heiligen und aus den Katakomben her-
vorgegangen. Hier war Wölbung nöthig, hier pflanzt ſich als unter-
irdiſcher Keim das Kreuzgewölbe fort, um ſeiner Zeit am Tageslichte
ſeine neue Entwicklung zu feiern.
Von der andern Seite ſtrebt der jetzt im byzantiniſchen Reich herr-
ſchende runde Kuppelbau, der zugleich eine ſtärkere Höherichtung ausſpricht,
in verſchiedenen Formen nach Tilgung ſeiner Einſeitigkeit durch reichere Glie-
derung, Verbindung mit dem Viereck und mit der Längerichtung, wobei
er mit der Kuppel das Tonnen- und Kreuzgewölbe vereinigt; aber ſeine cen-
trale Natur geräth dabei in Widerſpruch mit dem neuen Einheitspuncte des
chriſtlichen Gottesdienſtes, welcher das Perſpectiviſche (§. 587) bedingt. Dieſen
2.Styl nehmen die Muhamedaner (vergl. §. 461) auf und bilden ihn zu
[301] einem einſeitigen Innenbau aus, in welchem die unentſchiedene Grundform von
einer phantaſievollen Ornamentik zelt- und teppichartig überkleidet wird, welche
ſelbſt das ſtructiv Dienende in ein Decoratives verwandelt und die Flächen
mit jenem Arabeskenſpiele ſchmückt, in deſſen bunten Verſchlingungen ein dem
Kryſtalle verwandtes Geſetz der Wiederkehr gegen einen Mittelpunct herrſcht,
das in der Folge bedeutenden Einfluß auf die Kunſt des Abendlands gewinnt.
1. Jener reine Rundbau, namentlich im Pantheon dargeſtellt (§. 586),
einſeitig und daher in der reifen Kunſt ſehr vereinzelt (vergl. §. 565),
enthält doch einen Keim, den die romantiſche Phantaſie ergreifen und aus-
bilden wird: das Runde ſtellt, wie wir geſehen, in tieferer Vermittlung
mit dem Geraden und Eckigen eine ſubjective Bewegung dar, welche der
Innerlichkeit dieſes ſubjectiv beſtimmten Bewußtſeins zuſagen muß. Haben
wir dagegen dem Rundbau mit Kuppel, dem dieſe Vermittlung abgeht,
nur die Symbolik übergreifender Herrſchermacht zuerkannt, ſo mußte dieſe
Form dem orientaliſch geſtimmten byzantiniſchen Geiſte einförmiger deſpo-
tiſcher Einheit beſonders zuſagen, während dieſer Geiſt doch als ein chriſt-
licher die erſten Schritte zu jener tieferen Vermittlung zu vollziehen ge-
trieben ſein wird. Der Rund- und Kuppelbau tritt auch im weſtrömiſchen
Reiche, in rein orientaliſchem Lande (Jeruſalem) zunächſt theils als Tauf-
kapelle, theils aber und namentlich als Grabkapelle, Grabkirche auf; nun
aber wird er im byzantiniſchen Reiche zum Gotteshaus und ſucht in ver-
ſchiedenen Formen herum, jene tiefere Geſtaltung zu finden. Er gliedert
ſich polygoniſch, legt Säulengetragene, in doppelten Stockwerken ſich er-
hebende, mit Halbkuppeln überwölbte Niſchen zwiſchen die ſtarken Pfeiler,
welche die Kuppel tragen, überwölbt den zweiſtockigen Umgang um dieſen
Mittelraum mit Tonnengewölbe; ſo S. Vitale in Ravenna, die Münſter-
kirche in Aachen als Hauptform der karolingiſchen Uebertragung dieſes
Styls neben der Baſilika (z. B. Abteikirche in St. Gallen) in das nörd-
liche Abendland, die jedoch Abweichungen hat: achteckige Kuppel, keine
Niſchen, u. ſ. w. Hat ſo der Rundbau durch das Polygon ſich bereits mit
dem Eckigen vermählt, ſo wölbt er nun auch gewöhnlich die Kuppel über
ein Quadrat und als wichtiges weiteres Moment tritt ein, daß er ſich
neben immer reicherer Gliederung von Niſchen und Galerien (dieſe für
den von den Männern getrennten weiblichen Theil der Gemeinde: eine
Trennung, welche in der Baſilika durch die Schiffe bewerkſtelligt wird),
die er zwiſchen ſeine Pfeiler ſtellt, in die Länge ſtreckt, indem er an
zwei Seiten ſeiner Kuppeln große Halbkuppeln anlegt, welche mit dieſer
zuſammengefaßt eine elliptiſche Form darſtellen und eine Neigung im Keim
anzeigen, ein Oblongum zu überwölben. Allein dieß iſt blos entfernte
Andeutung; die wahre Form wäre ein Netz von Kreuzgewölben, über ein
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 20
[302]Oblongum geſpannt; daß in dem Bau, von dem hier die Rede iſt, der
Sophien-Kirche in Conſtantinopel, an die zwei andern Seiten ſich Räume
legen, die mit Kreuzgewölben überdeckt ſind (wie in jener polygoniſchen
Grundform der Umgang um das mittlere Rund mit einem Tonnengewölbe),
beweist nur das Unbeſtimmte des taſtenden Suchens, denn dieſe Räume,
die man entfernt mit Seitenſchiffen vergleichen kann, bilden kein Con-
tinuum und der Hauptraum hat dieſe tiefere Gliederung der Decke eben
nicht. Die Kuppel und die Halbkuppeln (an die größeren wieder kleinere
angelegt) treten hier im Aeußern hervor, während ſie in jenem Polygon-
bau noch überdacht ſind: dieß iſt wieder mehr Zugeſtändniß an den
Außenbau, während übrigens Vorhof und Vorhalle den reichen Innenbau
dort wie hier nach außen kundgeben; aber es tritt ein Aufgehäuftes, un-
klar Aufgeſchupptes in dieſen ſteigenden Anlagerungen vor das Auge, das
eben auch einen dunkel ſuchenden, thürmenden Geiſt ausſpricht. Anderswo
(auf den griechiſchen Inſeln) wird ein einfaches Oblongum kofferförmig
mit einem Tonnengewölbe bedeckt; es tritt aber auch eine reichere Form
auf: der Grundriß zeigt ein griechiſches Kreuz mit vier faſt oder ganz
gleichen Armen, die Kuppel in der Mitte, die Arme mit Tonnengewölbe
gedeckt, mit außen ſichtbarer oder (wie in Nazario e Celſo in Ravenna)
bedachter Kuppel, oder es tritt außer der Hauptkuppel auf jeden der vier Arme
eine kleine Kuppel (Apoſtelkirche in Conſtantinopel, häufig im ſpäteren
byzantiniſchen Reiche, in Italien noch in der Marcus-Kirche beibehalten);
ja der unbeſtimmte Drang, der doch die wahre Form in der Anwendung
des Kreuzgewölbes nicht finden kann, überſetzt alle Nebenräume mit kleinen
Kuppeln. Auch auf dem einfachen Quadrate bringt man mehrere Kuppeln
an und bildet durch dieſe ein Kreuz, indem man vier kleinere um eine
größere ſtellt. In Rußland bürgert ſich neben einer Form, wo vier
Kuppeln auf den Ecken eines Quadrats ſtehen, die Grundform eines
Kreuzes mit fünf Kuppeln ſtehend ein. — Alle dieſe verſchiedenen Bildungen
nun ſind ihrer Anlage nach concentriſch. Aber der Altar ſtand nicht im
Centrum (außer in der Apoſtelkirche in Conſtantinopel); er trat an die
öſtliche Seite dem Eingang gegenüber in die Apſis, die auch dieſen Bauten
nicht fehlte. Das war nun ein Widerſpruch, denn die Anlage des Ganzen
weist auf den Mittelpunct des Kreiſes, der geiſtige Mittelpunct aber be-
findet ſich an einer der Seiten. Die Symbolik der weltlichen überſpannen-
den Macht in der Kuppel will ſich noch nicht hergeben zum Uebergang in
eine Form, die ſich als jene „Bahn zum Tiſche des Herrn“ darſtellt;
gleichſam ein Bild der Cäſareopapie. Reicher Schmuck von Moſaik,
Goldgrund, Marmor, Malerei erhöht die Pracht dieſer Bauten, aber die
architektoniſche Ornamentik iſt auch hier nicht weiter entwickelt, ſondern
wiederholt nur die alten römiſch-griechiſchen Formen. Nur erſt ſchwach
[303] taucht ein neues decoratives Prinzip in der Raumöffnung auf: es kommen
Gruppirungen von Fenſterbögen vor, zwei kleinere mit einer Trennungs-
ſäule dazwiſchen und einem größeren darüber, oder drei, wovon der mittlere
größer, und dazu ein übergewölbter noch größerer; dieß iſt ein Anfang
einer innern Vermannigfaltigung der Symmetrie, der ſich übrigens auch
in Baſiliken-Bauten des Abendlands findet. Am Kapitell werden die vege-
tabiliſchen Formen conventionell geometriſch ſtyliſirt und beginnt die weich
anſchwellende Kelchform in die Würfelform überzugehen: Anfänge einer
kryſtalliſchen Anſchauungsweiſe, die wir nun immer ſtärker werden ein-
treten ſehen.
2. Der muhamedaniſche Bau iſt einſeitiger Innenbau durch die Ein-
ſchließung ſeiner Säulenumſtellten Höfe mit der Moſchee in rohe Mauern
und die Unſcheinbarkeit des Aeußern überhaupt. Allerdings tritt das
Schwanken des Begriffs wieder ein wie im altorientaliſchen Bau: im Innern
iſt die Gemeinde in ihrem Vorhof wieder außerhalb des Heiligthums;
doch iſt ihr dieß nicht verſchloſſen wie in Aegypten. Im Uebrigen paßt
auf die Baukunſt der Muhamedaner (die wir hier ſchon in der Vorſtufe
aufführen müſſen) ganz, was in §. 461 geſagt iſt: „eine Phantaſie, die
mit üppigem Spiel der Erfindung eine Fülle von Pracht ſtreng meſſend
um einen geſtaltloſeren Mittelpunct verſammelt“. Zahl und Stellung der
Hauptgebäude im Hof iſt unbeſtimmt, ihr Plan quadratiſch, polygoniſch,
der Kreuzform genähert, baſilikenartig oblong; nur die Kuppel, einfach oder
eine Gruppe von mehreren, ſteht feſt. Nun aber ergreift die orientaliſch
wuchernde Phantaſie die ſtructiven Formen und hebt ſie in lauter Orna-
ment, lauter Spiel auf; die Verzierung und das Glied ſpricht nicht die
thätige Kraft des architektoniſchen Organs aus, ſondern verkleidet ſie. Die
Kuppel nimmt (wie in Rußland durchgängig) die Zwiebelform (oft mehr
birnen- und pinienapfelähnlich) an und erinnert ſo an das nomadiſche
Zelt; die innern Wölbungen kryſtalliſiren ſich zu jenen honigzellenartigen
Bildungen, die zugleich wie Tropfſteine überhängend dem Orientalen die
Stimmung der kühlen Grotte gewähren, übrigens ſtructiv einen Uebergang
vom Viereck des Baus in die Rundung vermitteln. Der Arkaden-, Thor-
und Fenſterbogen geht vom halbkreisrunden in den (gedrückten) Spitzbogen
(Aegypten und Sizilien), Kielbogen (Perſien und Indien), Hufeiſenbogen
(Afrika, Spanien) über, ſchneidet ſeine verſchiedenen Formen wieder in
einzelne Kreisſtücke aus, verdoppelt ſich zu übereinander aufſteigenden
Bögen. Das Auftreten des Spitzbogens iſt, weil nur erſt im Aeußern
als decoratives Moment, unweſentlich für die Entſtehung des Spitzbogen-
ſtyls. Die meiſten dieſer Bogenformen nun ſind unpraktiſch, ſpielende
Willkühr, aber bewegt, reizvoll. Die Säule wird zeltſtangenartig dünn,
ſie verliert den Ausdruck der Stütze, ſie ſpielt ebenfalls mit ihrer Aufgabe.
20*
[304]Wie ein bunter, reicher Zelt-Teppich überzieht nun der maleriſche Orna-
mentenſchmuck ſtrahlend von Gold, Silber und Farbenpracht dieſes Ganze.
Die Zeichnungen dieſes Schmucks ſind Geſchlinge von ſtab-, band-, blumen-
artigen Formen, an ſich kraus, aber von einem Geſetze gebunden, das
wie ein Magnet die ausgewichenen Ranken, Bänder, Linien, Stäbe zur
Wiederkehr nöthigt; das Auge verliert und ſucht und findet den Faden,
der ſich in unendlichen ſcharfſinnigen Verſchiebungen und Verwicklungen
wie ein Räthſel verbirgt und wieder hervortritt (vergl. insbeſondere den
trefflichen Abſchnitt bei Schnaaſe a. a. O. B. III, S. 426 ff.). Das
Verbot der Nachbildung der menſchlichen und thieriſchen Geſtalt hat dieſe
Phantaſie genöthigt, ihre Fülle in dieſes Gebiet zu ergießen, das vom
arabiſchen Volke auch den Namen Arabeske bekommen hat. Es findet in dieſen
Formen zwar keine regelmäßige Symmetrie ſtatt wie im Kryſtall; aber nirgends
iſt eine Naturform (Pflanze) in dem annähernden Grade der Natur nachge-
bildet, wie im claſſiſchen Ornament, es herrſcht mitten im Spiel eine geometriſche
Styliſirung, die Brechung aller Winkel erinnert an die Entkantung im
Kryſtall und ein achſenbildender Mittelpunct tritt zwar meiſt nicht förmlich
hervor, wirkt aber in der Weiſe verborgener Anziehung in jenem Geſetze
der Wiederkehr. Es iſt ein Gerinnen des einfach Flüſſigen und natürlich
Fortlaufenden in der claſſiſchen Architektur, ein Anſchießungs-, ein geome-
triſches Umſtellungs- und Zuſammenſtellungs-Prinzip, das wir in ſtrengerer
Weiſe im europäiſch mittelalterlichen Bauſtyl werden auftreten ſehen, nicht
ohne Einfluß des Mauriſchen in den Kreuzzügen, aber zugleich aus
tieferem innern Grunde. Doch überhaupt und allgemeiner theilt ſich auch
das Streben der Durchbrechung, Verwandlung des Conſtructiven in ein
Decoratives dem Abendlande mit, nur daß es hier als Moment in einem
Höheren aufgeht. Endlich erwähnen wir noch das Wiederauftauchen des
Höheſtrebens im ſchlanken Thurmbau des Minarets.
Die erſte weſentliche Fortbildung dieſer Elemente geſchieht im roma-
niſchen Style. Derſelbe nimmt den abendländiſchen Langbau der Baſilika auf,
verſtärkt aber ſeine Höhe und vermittelt ihn mit dem morgenländiſchen Hochbau
zunächſt in unvollkommener Weiſe durch die über die Vierung zwiſchen dem
verlängerten Chor, dem nun ſtehend gewordenen Querſchiff und dem Langſchiff
übergewölbte Kuppel. Ungleich tiefer aber verſöhnt er jenen Gegenſatz, hiemit
auch den Gegenſatz der runden und geraden Linie, der Länge und Breite in
der nunmehr durchgeführten Gliederung der Decke zum halbkreisförmigen,
zwiſchen Gurtbögen in einem Uetze von Quadraten geſpannten Kreuzgewölbe.
Dieſe Verſöhnung wird durch die Wechſelaufhebung der Schwere, durch den
Uebergriff der Gliederung zwiſchen Gewölbe und Stütze zugleich zu einer neuen,
[305] tieferen, das nun aufgegangene ſubjective Leben darſtellenden Verſöhnung des
Gegenſatzes von Kraft und Laſt.
Wir halten an dieſem Style des eilften, zwölften und angehenden drei-
zehnten Jahrhunderts, auf deſſen neuere Benennung „romaniſch“, Verbrei-
tung und verſchiedene Formen in der Normandie, in Italien, Sizilien (nor-
manniſch-arabiſcher Styl), Deutſchland (Köln, Mainz, Worms, Speyer
u. and. wichtige Denkmale), England einzugehen Sache der Kunſtgeſchichte,
nicht der Aeſthetik iſt, zunächſt feſt, daß ſeine Grundlage die abend-
ländiſch altchriſtliche Form, die Baſilika iſt, alſo Langbau und darin
das Hauptmoment des Antiken erhalten. Im Grundriſſe tritt zu der nun
feſt und allgemein gewordenen Anordnung eines über das Langſchiff zu
beiden Seiten hervorragenden Querſchiffs die Verlängerung des Chors,
richtiger die Verlängerung, wodurch die halbkreisrunde Tribune zuſammen
mit dem weiteren Quadrate, das ihr vorgeſchoben iſt, zum Chore wird,
der nun dem Cultus der Geiſtlichkeit vollen Raum gibt und jede Herein-
ziehung dieſes Theils in das Schiff erſpart. Spezielle Formen, wie die
Anlegung weiterer Chorniſchen-artiger Kapellen an den Chor, die Ab-
rundung der Querſchiff-Enden, übergehen wir. Die Geſtalt des lateini-
ſchen Kreuzes ſteht nun feſt: zwei durcheinandergeſchobene Langhäuſer,
ein gedoppelter griechiſcher Tempel mit eingeſchluckter Säulenhalle in zwei
verſchiedenen Richtungen. Nun aber tritt als ein weiteres Moment der
in der Entwicklung begriffenen reichen Concretion von Gegenſätzen die
verſtärkte Höhe-Richtung hervor. Die innere Erhöhung des Chors um
mehrere Stufen gehört noch nicht dieſer Richtung in ihrer Allgemeinheit
an, denn ſie verſtärkt nur nach innen die perſpectiviſche Wirkung der
Herrſchaft des geiſtigen Centrums und iſt ſtructiv durch die im romani-
ſchen Styl feſtſtehende Anordnung der Krypta unter dem Chore bedingt.
Es ſteigt aber das allgemeine Höhenverhältniß der Baſilika um ein Be-
deutendes, der Schwung nach oben, ein natürlicher Ausdruck der wach-
ſenden tranſcendenten Stimmung, treibt das Mittelſchiff um mehr, als
das Doppelte ſeiner lichten Weite, empor. Das Höheſtreben tritt aber
auch in der beſonderen Form der übergewölbten (polygoniſch getheilten)
Rundung der Kuppel über der Vierung des lateiniſchen Kreuzes auf.
Dieß iſt nun Combination des morgenländiſchen, byzantiniſchen Rund-
baus und des abendländiſchen Langbaus der Baſilika. Der byzantiniſche
Styl hat aber (§. 588) ſelbſt ſchon das übergewölbte Runde mit dem
Geraden und Langgeſtreckten, nur nicht mit ſo entſchiedenem Langbau
combinirt; der Widerſpruch des räumlichen und geiſtigen Centrums, der
dadurch eintrat, iſt nun auch im romaniſchen Style, und zwar aus-
geſprochener, vollſtändiger vorhanden: die Kuppel iſt eine zu bedeu-
[306] tende Bildung, um mit dem von ihr überwölbten Raum als ein vor-
übergehender Sammelpunct zu gelten, in welchem der Eintretende aus
der Längebewegung des Lang-Schiffs und der Seitenbewegung des Quer-
Schiffs ſich nur faſſen und vorbereiten ſollte auf den Hintritt zu dem im Chor-
eingang ſtehenden geiſtigen Centrum des Altars. Die wahre, tiefe Vermitt-
lung des Hohen und Langen, Runden und Geraden liegt vielmehr in dem
nunmehr zur Durchführung durch das Ganze des Raums gelangenden
Kreuzgewölbe. Wir haben dieſes ſchon bei den Römern gefunden,
aber vereinzelt, ohne Conſequenz und nicht völlig entwickelt; nun wird
es Syſtem und iſt daher jetzt erſt in ſeiner ganzen Bedeutung als die
freieſte Gliederung der Decke zu betrachten. Das Tonnengewölbe lagert
als ungegliedert fortlaufender Halbkreisbogen der Länge nach auf den
Mauern, die es der Quere nach überſpannt. Die Mauern bedürfen
einer bedeutenden Stärke, um ſowohl dem ſenkrechten Druck, als dem
Seitenſchube des Gewölbes zu widerſtehen. Das Kreuzgewölbe dagegen
beſteht aus zwei durcheinandergeſchobenen Tonnengewölben, die, indem
ſie ſich durchſchneiden, vier Dreieckfelder bilden. In den Diagonalen,
worin ſie ſich durchſchneiden, nehmen dieſe zwei Gewölbe ihren Schub
gegenſeitig auf und werfen ihn auf die vier Ecken des Quadrats, über
welches ſie geſpannt ſind. Die Trag- und Widerſtandskraft muß ſich
alſo an dieſen vier Ecken concentriren und fordert zu dieſem Zweck an
dieſen Stellen ſtarke Stützen. Die Wand zwiſchen dieſen Stützen trägt
nicht mehr, aller Druck iſt dieſen zugeleitet; ſie kann daher geöffnet wer-
den, indem man von Stütze zu Stütze einen Bogen ſprengt, welcher aus
einem ſtarken Gurte von Steinen geſpannt iſt, auf dem die Curve der
Kreuzgewölbe-Anſätze ruht: Gurtbögen. Dieſer freien Oeffnung bedarf
ja ein Raum, der eine innere Säulenhalle darſtellt und nur an ſeiner
Umfaſſungs-Mauer und dem erhöhten Mittelſchiff von dem Punct an, wo
es über die Seitenſchiffe emporragt, geſchloſſen iſt. In der geradlinig
gedeckten Baſilika ſahen wir Arkadenbögen, von Säule zu Säule ge-
ſpannt, der Länge nach fortlaufen und das Mittelſchiff von den zwei
Seitenſchiffen, oder dieſe ſelbſt wieder (wenn die Kirche fünfſchiffig war)
je in zwei Schiffe abgrenzen. Dieſe Stützen (zunächſt Säulen, es iſt von
ihrer Veränderung noch ausdrücklich zu ſprechen) ſtellt man nun in wei-
teren Abſtänden und ſtreckt die Bögen nicht mehr nur der Länge nach,
ſondern auch der Breite nach, ſo daß ſie mit ihren Gurten ein Netz von
Quadraten einrahmen, deren jedes mit einem Kreuzgewölbe überſpannt
iſt. Die Gurtbögen, die der Länge nach hinlaufen, heißen Länge- oder
Deckgurten, die, welche der Quere nach laufen, Stirn- oder Quergurten.
An den Umfaſſungs-Mauern und an der Mauer des höheren Mittelſchiffs
bleibt die Verſchlußwand; die hier an ſie anliegenden, nicht frei geöff-
[307] neten Bögen heißen Schildbögen. Da der ganze Querſchub auf dieſe
Mauern hinausgeleitet wird, jedoch nur auf die Puncte derſelben, welche
den frei ſtehenden Stützen im Innern entſprechen, ſo wäre nur nöthig,
ſie an dieſen Puncten zu verſtärken, im Uebrigen als leichte Verſchlüſſe
zu behandeln. Die Verſtärkung iſt aber um ſo nothwendiger, da hier
kein weiteres Gewölbe anſchließt, das durch Gegendruck den Schub von
der andern Seite neutraliſiren könnte. Wie die romaniſche Baukunſt
dieſen Theil behandelt, davon nachher. Nun ſind große Räume auf eine
Weiſe gedeckt, in welcher das gebundene Verhältniß des Architrav-Baus
in ein unendlich freieres aufgehoben iſt; ſie ſind im Innern nach allen
Seiten offen und die Bewegung der Länge und der Breite nach iſt gegen-
ſeitig vollkommen ineinandergeſchmolzen: die Durchwölbung geht, in allen
Gewölbe-Quadraten ſich ſchneidend, nach beiden Seiten und die größeren
Zwiſchenſtandsweiten der Stützen erleichtern ebenſo die Breite-Bewegung,
die ſich mit der Längsbewegung kreuzt. Dieſe Einheit von Gegenſätzen
ſtellt ſich in den Diagonalen dar, welche die Durchſchneidungslinien der
vier Dreieckfelder jedes Gewölbes darſtellen: es herrſcht ein Diagonalen-
ſyſtem, das die Gegenſätze der Länge und Breite über’s Kreuz von Stütze
zu Stütze laufend verſöhnt. Was die byzantiniſche und mauriſche Bau-
kunſt mit ihren vielen Kuppeln auf Einem Bau dunkel ſuchte, iſt jetzt
gefunden, der rohe Neubeginn deſſen, was ſchon die Römer begonnen,
zur Gliederung erhoben. Die Gliederung wird aber nun noch in einem
tieferen Sinne vollbracht durch eine neue Geſtaltung der Stütze im Ver-
hältniß zu dem von ihr getragenen und gehaltenen Gewölbe. Sie könnte
zwar noch Säule ſein und iſt es auch noch mancher Orten, aber in ge-
drückter, ſtämmiger Form, da eine neue, doppelte Leiſtung der Stütze
aufgelegt iſt. Allein offenbar fordert die vereinigte Wucht des Drucks
und Schubs eine andere Form, einen Zuwachs an Maſſe, der dem
Begriffe des Widerlagers entſpricht; dieß iſt der Pfeiler. Dieſer ſoll
jedoch ebenfalls kein rohes Mauerſtück bleiben und nun beginnt jene
Gliederung, in welcher ſich verwirklicht, was zu §. 564, 2. als Aufgabe
hingeſtellt iſt: die runde Linie ſtellt zunächſt eine lebendigere, organiſche
Bewegtheit, einen Anklang an ſubjectives Leben dar; wo ſie ſich aber
über die gerade ohne tiefere Vermittlung überbreitet, erinnert ſie weniger
an ſubjective Tiefe, als an ein Uebergreifen der Macht; dagegen wo
ſie ſich mit jener ſo verbindet, daß beide flüſſig ineinander übergreifen,
da gemahnt ſie an den Geiſt, der die objective Welt durchdringt, in ſich
aufnimmt und auflöst. So ſetzt denn der Pfeiler, nachdem er in der Weiſe
einer neuen, gruppenbildenden Symmetrie mit dazwiſchentretenden Säulen-
ſtellungen gewechſelt, nach und nach an ſeinen Körper nicht nur pilaſter-
artige Vorlagen, ſondern zuerſt ſchwächere, dann vollere Halbſäulen an,
[308] welche die Gurtbögen tragen, und an den Laibungen dieſer treten neben
eckigen Perfilirungen, die der pilaſterartigen Vorlage entſprechen, ſtarke
Rundſtäbe hervor, welche als Fortſetzung dieſer Halbſäulen erſcheinen
oder umgekehrt als eine Ausquellung durch den Druck am Gurtbogen,
welche in den Pfeiler hinabläuft, an ihm fortgeſetzt den in ihn hinunter-
geleiteten Druck und Schub darſtellt. Dieß Hinauf und Herab, Hinüber
und Herüber zwiſchen Gewölbe und Träger iſt denn ein ſchlagendes Bild
des ſubjectiv neu bewegten Lebens. Wo noch die Säule ſich behauptet
oder wo ſie ſpäter wieder auftritt, ſtellen weniger vollkommen ſeltſam
gebildete Conſolen-Anſätze an ihrem Schafte dieß Wechſelverhältniß dar.
Aber nicht genug; die eigentliche Linie des Drucks und Schubs, der ſich
auf die Pfeiler hinüberwirft, liegt ja in den Diagonalen des Kreuzge-
wölbes; mit der Zeit treten auch an dieſer Stelle Gurten hervor, eckige,
dann in Rundſtäbe ausquellende Rippen, Kreuz-Gurten oder Diagonal-
Gurten genannt, welche zunächſt ein neues Befreiungs-Moment in die
Laſt des Gewölbes einführen, indem die vier Felder zwiſchen ihnen und
den Stirn- und Deckgurten, da alle Kraft in dieſem Gerippe concentrirt
iſt, nun aus Backſteinen ganz dünn als bloße Verſchlüſſe, als Kappen
ausgeführt werden können. Dieſe Kreuzgurten ſetzen ſich nun ebenfalls
in den Pfeiler als weiterer eckiger und zum Rundſtab ausgebildeter An-
ſatz fort oder erſcheinen umgekehrt als Fortwachſen dieſes in ihm gegebenen
Anſatzes und nun iſt jene Entlaſtung, jene gegliederte Wechſeldurchdrin-
gung, jene tiefſte Vermittlung von Kraft und Laſt vollendet. Es bleibt
nur noch übrig, nach den Stellen zu ſehen, wo ſtatt des frei öffnenden
Pfeilers die verſchließende Mauer die Gewölbe-[Quadrate] begrenzt. An
der Mauer der Seitenſchiffe ſteigen Halbſäulen ſtatt der Pfeiler als
Gurtenträger hinauf; eine weitere Gliederung tritt hier noch nicht ein,
um die Mauer eines Theils ihrer nothwendigen Stärke zu entheben. Am
höheren Mittelſchiff aber muß, um bis zu dem Gewölb-Anſatz hinauf-
zureichen, eine der Halbſäulen von dem Pfeiler über deſſen Kapitell
hinaufſchießen, an der Wand hinauflaufen, bis wo ſie dem Gewölbe ſein
Auflager geben kann: eine neue, kühne Durchſchneidung der Horizontal-
gliederung, welche nur dann als eine Entſtellung der Säulenform be-
trachtet werden kann, wenn man eben annimmt, es ſolle eine eigentliche
Säule ſein, während es vielmehr eine neue Form iſt, ein ſchlanker
Stamm, der wie der Pinienſtamm zur kuppelartigen Ueberwölbung hin-
aufwächst.
Das Höheſtreben nimmt ferner, jedoch nunmehr als organiſchen Schluß
ſeiner Durchdringung eines Ganzen, den aſſyriſchen Hochbau als Thurm wieder
[309] auf. Mit der Kreisbewegung verbindet es ſich in den Anfängen der Gliede-
rung der Wandflächen im Innern und Aeußern durch ſenkrechte Wandſtreifen
und rundbogige Verzierungen. Das neue Syſtem einer reicheren, gruppirenden
Symmetrie belebt dieſe Einzelgliederungen wie das Ganze. Zugleich hebt ſich
die Einſeitigkeit des Innenbaus wie ſchon durch den Thurm, ſo durch reiche
Portale, durch deren Einſchrägung und andere Durchbrechungen der Maſſe nach
außen auf. Die Ornamentik im Einzelnen geht trotz der beziehungsweiſe ſtren-
gen Einfachheit des Ganzen in ein Formenſpiel über, welches einen noch nicht
organiſch gezügelten Ueberſchuß von Bildungstrieb kund gibt und in ſeiner Will-
kühr wie in ſeiner Regelmäßigkeit auf mauriſchen Einfluß hinweist.
Durch die Einführung des Thurms tritt in der Baukunſt des Mittel-
alters ein orientaliſcher Zug hervor, den wir beſtimmter im gothiſchen
Styl erkennen und in ſeinen innern Grund verfolgen werden: dieſelbe
Kraft, welche den Kern des Hauptkörpers mehr und mehr in die Höhe
treibt, ſchießt auch in dem widerſtandsloſen Hochbau, dem aſſyriſchen Thurm
ähnlich, empor. Dabei kann natürlich von keinem geſchichtlichen Zuſam-
menhang die Rede ſein, es iſt vielmehr zunächſt die Glocke, die dieſen
Theil des Baus bedingt, aber dieß äußere Motiv ſchließt den tieferen
Grund eines dem Orient verwandten Höhedrangs nicht aus. Dieſer
Drang iſt nun aber qualitativ verändert, er iſt nicht mehr Aufſchuß roher,
ſondern Aufſchwung vergeiſtigter Kraft; der Thurm iſt nicht mehr iſolirt,
ſondern Glied eines Ganzen, beſtimmteſter Ausdruck eines Höheſtrebens,
das durch deſſen übrige Gliederung geht und, wie die Aloë aus ihrem
geſtachelten Blätterbuſche, als ſeine letzte, beſondere Bildung dieſen ſchlan-
ken Stengel in die Höhe treibt; der Thurm ſelbſt iſt ebendaher nicht eine
gelenkloſe Aufhäufung von Würfeln, welche von unten an die pyramidale
Linie beherrſcht, ſondern viereckig oder rund, durch Glieder und Ornament
in Stockwerke getheilt, von Fenſtern durchbrochen ſteigt er gleichförmig auf
und ſetzt nur oben die Pyramide als ſeinen Abſchluß, wie denn dieſe
Form nur dazu beſtimmt iſt, auf. Eine innere Unklarheit zeigt ſich noch
in der Häufung der Thürme bis zu vier oder fünf, deren zwei an die
Vierung des Kreuzes geſtellt der Kuppel, über welcher häufig ſelbſt wieder
ein Thurm ſich erhebt, noch mehr den Ausdruck eines Mittelpuncts geben,
während doch der geiſtige Zielpunct im Chore liegt. — Der Thurm ge-
hört dem Aeußern an; wir gehen von da zunächſt zu Formen fort, die ſo-
wohl das Innere, als Aeußere beleben. Die Wandfläche, die noch in’s Lange,
Breite und Hohe neben den verhältnißmäßig kleinen Fenſtern ausgedehnte
Herrſchaft hat, fängt an ſich zu gliedern, und zwar vorherrſchend ſenkrecht,
durch ein Aufſchießen des Pilaſters, das ihm die weniger ſtark ausgeladene
Form der Liſſene gibt, und dieſe geht, wie der Pfeiler in das Gewölbe,
[310] ſo in den, alle horizontalen Theilungen umlaufenden, Rundbogenfries über;
alſo auch hier Einheit des Geraden und Runden. Im Innern ſind Em-
poren, Galerien feſtſtehende Form und durchbrechen ebenfalls im Rund-
bogenſyſtem die Maſſen; aber auch das Aeußere, vorzüglich die Chorniſche
(wo ſie die Kreisſchwingung concentrirt noch einmal ausſprechen vergl.
Schnaaſe a. a. O. B. IV, S. 196) umſäumen blinde oder wirkliche
Arkaden. Jene gruppirende, reichere Symmetrie ſpricht ſich vornämlich
in dieſen Arkaden durch die ſeitliche Umſtellung größerer Bogenöffnungen
mit kleineren in den Fenſtergruppen mit Trennungs Säulchen dar. Wenn
nun bereits dieſe Momente den Charakter der innern Gliederung nach
außen ausſprechen, wenn der Thurm das Höheſtreben namentlich an der
Façade der äußern Beſchauung vorführt, ſo wird dagegen durch das Portal
mit ſeiner reichen Wechſelgruppirung von Pfeiler-Ecken und Säulen nicht
nur die Schönheit des Innern überhaupt, ſondern beſtimmter der Charakter
des Innenbaus durch die eingeſchrägte Form angekündigt (die auch
den Fenſtern eigen iſt). Dieſe Form macht die Wirkung eines Herein-
ziehens; ſie ladet den Beſchauer ein, in die Räume einzutreten, in welche
ſie jene äußere Säulenhalle des claſſiſchen Tempels eingeſchlürft und mit
der Herrlichkeit des Gewölbes, die nun noch klarer, als die geradlinige
griechiſche Decke, auf das Firmament hinweist, überſpannt hat. Wie im
Innern der Pfeiler in die Bögen, ſo ſetzt ſich hier Säule und Pfeiler-
Ecke in die rundbogige Ueberſpannung dieſes Pracht-Thores als entſpre-
chende Ausladung fort, kündigt alſo auch nach dieſer Seite den Charakter des
Innern im Aeußern an wie die Liſſene mit dem Rundbogenfries. Die Füllung
des Bogens und die Zwiſchenräume der abgeſtuften Säulen und Pfeiler-
Ecken bieten zugleich dem plaſtiſchen Schmuck das Hauptfeld ſeiner An-
lagerung, während im Innern die Wände noch immer der Malerei einen
ausgedehnten Flächenraum gönnen. Ueber dieſem Portale prangt die
Fenſter-Roſe (das Radfenſter), ein weiterer Schritt in der verſchönernden
Maſſenbrechung. Sehen wir ſchließlich nach den Kunſtformen im engern
Sinn, Gliedern und Ornament und was unbeſtimmt zwiſchen ihnen liegt,
ſo iſt namentlich die Umgeſtaltung des Säulen-Capitells hervorzuheben;
es nimmt die Würfelform an: eine in dieß oberſte Säulenglied hereinge-
zogene Vorankündigung des Bogens mit ſeiner Laibung. Daneben treten
korinthiſirende Capitelle, oft mit jener Grundform wieder verbunden, auf
und ſetzen ein reiches Formenſpiel an, von deſſen Charakter ſogleich mehr
zu ſagen iſt. Die eigentlichen Glieder an Säulenfüßen und Geſimſen be-
halten im Allgemeinen noch die claſſiſchen Muſterformen; es iſt hier nur
auf die unendlich erweiterte Herrſchaft des Rundſtabs aufmerkſam zu machen,
die aus der obigen Schilderung des Wölbungs- und Pfeiler-Syſtems
hervorgeht; bezeichnende Umwandlungen einzelner Hauptglieder (Abakus
[311] und Welle), die jetzt ſchon beginnen, ſind bei dem gothiſchen Styl aufzu-
faſſen. Was nun die eigentliche Ornamentik betrifft, ſo bricht hier am
beſtimmteſten in Erfindung ſeltſamer Linienſpiele, krauſer Verſchlingungen,
Zickzackformen u. ſ. w., noch mehr in den Thier- und Menſchen-Frazzen,
die ſich an Capitelle, Geſimſe, Conſolen u. ſ. w. anſetzen, die phantaſtiſche
Subjectivität des Mittelalters (§. 450) hervor; je mehr gegen Ende die-
ſes Styls (im Anfang des 13. Jahrhunderts), deſto ſtärker. Allein dieſe
phantaſtiſche Subjectivität iſt einer eigenen Ordnung und Durchgliederung
innerhalb ihres Charakters nicht unfähig; dieſe hat ſie noch nicht gefun-
den, dualiſtiſch bricht neben der durch alle jene Momente keineswegs auf-
gehobenen Breite, Maſſenhaftigkeit der Hauptkörper, die immer noch einen
primitiven Eindruck urchriſtlicher Einfachheit macht, jene abentheuerliche
Formenwelt hervor, abentheuerlich eben, weil ſie das Ganze nicht durch-
dringen kann: ein noch unvermittelter Ueberſchuß von Bildungstrieb. Nun
iſt aber dieſe Formenwelt dennoch ſtreng geometriſch, conventionell behan-
delt; die einzelne Form iſt zwar, namentlich durch die Einmiſchung der
Thier- und Menſchengeſtalt, phantaſtiſcher, als in der arabiſchen Orna-
mentik, doch herrſcht bei weniger krauſer Verſchlingung ſichtbarer ein bin-
dender Mittelpunct, eine ausdrückliche und gemeſſene Symmetrie, die an
ein kaleidoſkopiſches Anſchießen erinnert. Das nordiſche Weſen drückt
ſich in ſtrengerer Bindung einer zum Wilden geneigten Sinnlichkeit gegen-
über der vom Maaße liberal beherrſchten fließenden Sinnlichkeit des
Claſſiſchen bereits beſtimmter aus. Wie weit dabei wirklicher arabiſcher
Einfluß gegangen ſein mag, iſt nicht zu beſtimmen; verwandter eigener,
nordiſcher Sinn kam jedenfalls der Nachbildung entgegen: verwandt, wenn
man zuſammenhält, was über den Dualismus im orientaliſchen und ger-
maniſchen Naturell in den zwei Abſchnitten des zweiten Theils geſagt iſt.
Arabiſch und byzantiniſch-arabiſch erſcheint aber allerdings auch der noch
vereinzelt in den Oeffnungen auftretende Spitzbogen, Kielbogen, der Bogen
mit mehreren Kreisausſchnitten; in dieſen Kreisausſchnitten beginnt übri-
gens das Kreisſegment ſo groß zu werden, die Steinſpitze, welche zwei
derſelben trennt, ſich ſo tief hereinzuſtrecken, daß man eine rein einhei-
miſche Form, das Kleeblatt, in der Entwicklung begriffen ſieht. Ueber-
haupt jedoch erinnert die große Neigung zur Behandlung des Structiven
als eines blos Decorativen, namentlich in den Arkaden, an das Arabiſche;
die überdünne Zwergſäule, die in der Mitte häufig durch Knoten geſchürz-
ten Bündel ſolcher decorativer Säulchen weiſen ebenfalls auf ſolche Ein-
flüſſe. Dieſe Buntheit tritt aber in ihrer wuchernden Fülle, wie geſagt,
erſt gegen Ende dieſes Styls auf in dem ſogenannten Uebergangsſtyl,
der dem gothiſchen unmittelbar vorausgeht.
[312]
Der gothiſche Styl gibt die Kuppel auf und legt die geiſtige Ein-
heit ganz in den Chor; er löst die letzte ſtructive Gebundenheit durch die
Spitzbogenwölbung in Freiheit auf und bricht zugleich die letzte Maſſenherr-
ſchaft durch die Strebepfeiler und Strebebögen, zwiſchen welchen die Wand ſich
als hohes, großes Fenſter öffnet; er führt Kraft und Laſt durch die feinere
Gliederung des Pfeilers und der Gurten noch vollſtändiger ineinander über und
ruft alle Haupttheile zu gegenſeitiger Vermittlung; er zieht in noch ſtärke-
rem Höheſtreben und entſchiedenem Durchdringen des Senkrechten alle Theile
empor und drückt dieſe Richtung abſchließend in dem gewaltigen, jetzt organiſch
entwickelten Thurmbau aus, der, vereinigt mit dem geſteigerten Reichthum
des Aeußern überhaupt und beſondere der Façade, nunmehr auch den Charakter
des Innerlichen mit vollendeter Pracht im Aeußern kund gibt. Zugleich
dehnt ein orientaliſcher, aber durch die reiche Gliederung der Maſſen ver-
geiſtigter Drang des Coloſſalen alle Verhältniſſe zu Staunenerregender
Größe aus.
Wir übergehen den ſogen. Uebergangsſtyl und faſſen den gothiſchen
ſogleich in ſeiner Vollendung. Hier ſehen wir denn vor Allem jenes
Schwanken zwiſchen einem geiſtigen und einem örtlichen Centrum ver-
ſchwunden, indem die, allerdings immer noch bedeutend hervortretende
Wölbung über der Kreuzung der Arme gewöhnlich nicht mehr mit einer
Kuppel, ſondern, wenn überhaupt dieſer Punct eine Auszeichnung er-
fährt, nur mit einem, dem bedeutenderen Thurmbau untergeordneten
Thurme gekrönt wird. Der Chor erhebt ſich nun zwar, da die Krypta
verſchwindet, nur um wenige Stufen; aber er wird um mehr als das
Doppelte jenes ſchon im romaniſchen Bau ihm vorgelegten Quadrats
verlängert, er wird in der belebten Polygonform abgeſchloſſen, um die
ſich gewöhnlich noch ein Kranz ebenfalls polygoniſch geſchloſſener Kapellen
herumlegt, und, was das Wichtigſte iſt, die Pfeiler der Seitenſchiffe des
Langhauſes ſetzen ſich in ihm als ein Umgang fort und beleben ſo dieſen
durch den prachtvollen Hochaltar und die Chorſtühle geſchmückten Raum
mit einer Fülle von Formen, die in der reichen Concentrirung des hier
in einen Strahlenbündel zuſammenlaufenden Gewölbes ihren Gipfel findet.
Jene ſubjective, maleriſch perſpectiviſche Wirkung, die ſchon die Baſilika,
noch mehr der romaniſche Bau hatte, findet in dieſer Ausſtrahlung oder
Einſtrahlung nun ihr nicht mehr zweifelhaftes Ziel. — Das zweite weſent-
[313] liche Moment iſt die Durchführung des Spitzbogens als Gewölbe. Der
ſchon zu §. 557 berührte techniſche Grund iſt der, daß das Rundbogen-
gewölbe in der räumlichen Anordnung des innern Planes noch eine Ab-
hängigkeit mit ſich führt: ſollen nämlich die Gewölbe gleiche Kämpfer-
und Scheitel-Höhe haben, ſo müſſen hier alle Gewölbefelder mit ihren
Stützen aus gleichen Quadraten beſtehen; der romaniſche Styl, der aus
dieſem Grunde das ganze Innere auf einem Netze von Quadraten durch-
wölbte, die aber in den Seitenſchiffen nothwendig kleiner waren, konnte
daher nicht die Gewölbe der letzteren und die des Mittelſchiffs durchgängig
auf gemeinſchaftliche Stützen ſtellen, ſondern ließ mit den Pfeilern der
großen Quadrate die Säulen oder Pfeiler wechſeln, welche den kleineren
Quadraten des Seitenſchiffs angehörten. Nun aber ſoll das Ganze ein-
heitlich auf daſſelbe Syſtem von Pfeilern geſtellt werden, die ſich in das
Seitenſchiff wie in das Mittelſchiff verzweigen, daher muß in dieſem
das Gewölbefeld der Tiefe nach ſchmäler werden, damit die Abſtands-
weiten der Pfeiler mit den kleineren Gewölbefeldern des Seitenſchiffs zu-
ſammenfallen. Rechtecke, Oblongen treten daher hier an die Stelle des
Quadrats, die Kämpfer- und Scheitelhöhen ſollen aber dennoch durchgängig
gleich ſein: dieß macht der aus den zwei unteren Theilen eines Halbkreiſes
gezeichnete Spitzbogen möglich, den man nur bei weiterer Sprengung ge-
drückter, bei ſchmälerer ſteiler führen darf, um jene Unabhängigkeit zu
erreichen. Mit dieſem Bogen iſt die größte Freiheit in der Deckenbildung
erreicht, welche überhaupt möglich iſt; ſie kann jeden Raum ohne ſtörende
Ungleichheiten der Höhen und, da das Gewölbe ſelbſt durch eine Fort-
bildung jener Kreuzgurte, auf die wir übergehen werden, ungemein er-
leichtert iſt und an ſich noch ungleich weniger, als das rundbogige, ein
Continuum bildet, ohne Vermehrung der Laſt überſpannen; „das Prinzip
der Cohärenz iſt völlig beſiegt“ (Bötticher). Dieſes Gewölbe übt aber
auch ungleich weniger Seitenſchub aus, als das rundbogige; die Stützen,
gegen deren Gewölbe ein zweites geſpannt iſt, erleiden noch entſchiedener,
als im romaniſchen Bau, nur lothrechten Druck; an den Seiten aber,
wo dem letzten Gewölbe kein weiteres entgegenwirkt und wohin allerdings
der Seitenſchub fällt, macht es die nun geringere Macht deſſelben mög-
lich, die ſtarke Mauer, welche den romaniſchen Bau noch umfing, in ein-
zelne Maſſen, die nur auf den Puncten, wohin jener Schub fällt, den
nöthigen Widerhalt herzuſtellen haben, alſo in Pfeiler aufzulöſen: die
Mauer zwiſchen dieſen kann beliebig dünn gehalten ſein, ja ſie kann ganz
geöffnet werden und an ihre Stelle treten denn die großen, ſchlanken,
ſpitzbogigen Fenſter, in die ſich das, anfangs ſehr kleine, Rundbogen-
fenſter des romaniſchen Styls nun verwandelt hat. Die wegen Mangel
an zureichender Baſis nothwendig ſchwächeren Strebepfeiler des höheren
[314] Mittelſchiffs fordern aber eine Ergänzung durch das ſtärkere Widerlager
der Seitenſchiffe, und dieſe wird durch die Strebebögen hergeſtellt, welche
von dem das Dachgeſimſe des Seitenſchiffs überragenden Strebepfeiler
hinaufſpringen zu dem des Mittelſchiffs. Dieſe Bögen ſtellen die Wechſel-
beziehung zwiſchen dem Gewölbe der Seitenſchiffe und des Oberſchiffs
ebenſo im Aeußern her und dar, wie im Innern die aufſchießende Halb-
ſäule, und es erzeugt ſich das Bild jener allſeitigen Vermittlung, welche
ein weiterer Grundzug des gothiſchen Styls iſt und die wir ſogleich auf
einem andern Puncte noch inniger ausgedrückt finden. Ehe wir nämlich
weiter gehen, müſſen wir, weil hier die Grundzüge des Styls zuſammen-
zuſtellen ſind, einen Theil der Einzelgliederung ſogleich jetzt beiziehen.
Die aufgeführten Momente erſcheinen zunächſt ſtructiv bedingt; da aber
der ganze Fortſchritt kein äußerlich nothwendiger, ſondern ein geiſtig ge-
wollter iſt, ſo legt ſich die errungene Freiheit als ein ſichtbarer Geiſt
auch in die Anſchauung, jedoch nicht ohne jene Kunſtformen, deren Be-
deutung wir von §. 572 her kennen. Sie ſollen zeigen, daß der Trag-
Pfeiler jetzt noch weniger zu leiſten hat, daß die Laſt nicht ſich über ihn
herlegt, ſondern in ihn gleichſam niederfließt, oder umgekehrt; jenes
lebendige Herüber und Hinüber, das ſchon im romaniſchen Bau ſich durch
die Rippenbildungen an Quer-Längen- und Kreuz-Gurten ſich darſtellte,
ſoll noch beſtimmteren Ausdruck finden. Der Pfeiler wird daher höher,
ſchlanker; er bedarf keines eckigen Mauerſtücks mehr zu ſeinem Kerne, er
kann wieder (unverjüngte) Säule ſein; die Rippen, die von dieſer Stütze
auslaufen, dürfen nicht, wie im romaniſchen Styl, als er zufolge jener
ſich entwickelnden Wechſelſpannung des Kreuzgewölbes wieder zur Säule
griff, häufig geſchah, auf Conſolen auflagern, ſondern ſie müſſen, wenn
höher belebte Form entſtehen ſoll, dem Säulenkern wie früher dem Pfei-
lerkern von unten angelegt ſein und aufſteigend in das Gewölbe und
die es einſpannenden Gurte ſich veräſten. Um nun dieſen Wechſelübertritt
zwiſchen Kraft und Laſt noch kräftiger auszuſprechen, werden zwiſchen
dieſen Rundſtäben tiefe Hohlkehlen in den Säulenkern ſo eingeſchnitten,
daß ſeine Rundung nicht mehr convex hervortritt und die Rundſtäbe nicht
mehr angelegt, ſondern als Ausſproſſungen Einer Maſſe erſcheinen. Die
eingezogene und ausgeſchweifte Geſtalt erſcheint nun dem Auge als ein-
gezeichnet in ein übereckgeſtelltes Viereck: ein Moment, auf das wir zu-
rückkommen werden. Die tiefe Kehle ſpricht die ſtraffſte Zuſammenfaſſung
des Körpers aus, der ſeine Tragkraft entwickeln ſoll, und die Leiſtung
der Kraft, die nun, je ſchlanker das Ganze, deſto energiſcher erſcheinen
muß, ſchwellt die Rundſtäbe zu der belebteren Birnenform aus. Dieſe
Formen mit ihren Kehlen laufen denn durch das Kapitell hindurch fort
in die verſchiedenen Gurten, an denen nun kein Reſt von eckig ſchwerer
[315] Form mehr übrig bleibt, und der Pfeiler enthält daher in ſeinem Profil
ſchon das ganze Gewölbe, dieſes iſt ſeine Entfaltung, er ſelbſt deſſen
Einheit. Jeder der halbſäulenartigen Rundſtäbe („Dienſte“) erhält nun
ſein eigenes Capitell, denn er iſt durch ſeine Bedeutung für das Gewölbe
ſelbſtändiger geworden; nur der für das Mittelſchiff beſtimmte läuft ohne
Capitell wie vorher durch, um ein ſolches erſt in ſeiner Kämpfer-Linie
anzuſetzen. Die Capitelle dürfen jetzt nicht mehr die Wirkung eines ſatt
auflagernden Drucks darſtellen; ihr ſteiler Kelch, das nicht angeſchmiegte,
mehr ſich ablöſende, hier weniger geometriſch ſtyliſirte Blattwerk erinnert
eher an den blätterbeſetzten Knauf eines Baumſtamms an der Stelle, wo er
in die Veräſtung übergeht. Später fallen die Capitelle ganz weg. — Das
Höheſtreben fällt mit dem Spitzbogenſtyl an ſich zuſammen; die hohen
Spitzbögen, welche die breiten Räume zu ihrer Ueberſpannung fordern,
ziehen die Strebepfeiler nach ſich; der Drang der ſtructiven Freiheit, der
dieſen Styl erfand, enthielt zugleich dieſen Trieb nach oben. Dieſer Zug
dringt aber nun durch das Ganze; die Horizontal-Linie beſchränkt ſich
immer mehr, Alles ſtreckt ſich aufwärts, das Dach ſteigt in ſehr ſteilem
(nicht, wie man meint, durch das Klima gefordertem) Giebel auf, es
herrſcht der Verticulariſmus. Wie derſelbe in aller Verzierung und
Scheingliederung die wagrechten Abſchlüſſe und Sonderungen überragt und
durchbricht, wird ſich im folgenden §. zeigen; der Zug nach oben iſt aber
weſentlich ein Drang nach wirklicher, gewaltiger Höhe und als letzter,
ſtärkſter Ausdruck deſſelben iſt hier wieder der Thurm hervorzuheben.
Er legt ſich nicht mehr an die Vierung des Kreuzes, wie im romaniſchen
Styl, der an dieſer Stelle eine Gruppe von zwei Thürmen aufzuſtellen
liebte, denn mit der Kuppel iſt ja auch die Bedeutung dieſes Puncts
als eines falſchen Neben-Centrums aufgegeben, ſondern an die Façade
ſo, daß das Hauptſchiff ſich nach vorn in ihm abſchließt oder ſein ſpitzer
Giebel zwiſchen zwei, die Länge der Nebenſchiffe abſchließenden Thürmen
aufſteigt. Indem ſich nun mit einer, und zwar nicht nur an der Ein-
gangs-Seite des Langſchiffes, ſondern auch der Kreuzſchiffe, die, durch
den breiteren Chor verkürzt, eines ſolchen Schmucks mehr bedürfen, ge-
ſteigerten Pracht der Façade dieſer Hochbau vereinigt, wird jene ſchon
im romaniſchen Bau bewerkſtelligte Aufhebung der Einſeitigkeit des Innen-
baus (vergl. §. 590) um ſo entſchiedener vollzogen, da der Thurm nicht
nur in eine mit den höchſten Pyramiden wetteifernde Höhe geführt, ſon-
dern zugleich noch weit mannigfaltiger, als im romaniſchen Bau, geglie-
dert wird. Auch hier wird nämlich die Mauermaſſe mehr und mehr in
gewaltige Pfeiler aufgelöst, zwiſchen denen Fenſter ſich öffnen, das Viereck
geht in das Achteck und dieſes in den mit Maaßwerk geſchmückten, luftigen
Rippenbau des Helms über. Man würde ſich durch den hinreißenden
[316] Eindruck dieſer aufſtrebenden Coloſſe zu dem Hochbau Aſſyriens als reinem
einſeitigen Kraft- und Außenbau noch beſtimmter, als durch den romaniſchen
Bau, nämlich auch in Beziehung auf das Maſſenhafte, zurückverſetzt
glauben, wenn nicht dieſe formreiche Entwicklung unmittelbar ausſagte,
daß hier ein Gliederungsgeſetz, das ſeinen weſentlichen Ausdruck in einem
reinen Innenbau hat, ſich nur überdieß nach außen wirft, um allem
Volke deſſen Herrlichkeit zu verkündigen und es durch die prachtvolle Pforte
in ſeine Räume zu ziehen. Es ſtrebt aber überhaupt der ganze Bau zum
Coloſſalen und dieſes Streben gemahnt überhaupt orientaliſch. Auf eine
Verwandtſchaft des Mittelalters mit dem Orient haben wir aus Anlaß
des Charakters der Ornamentik ſchon zu §. 590 hingewieſen, ſie iſt ebenſo
hier hervorzuheben, denn aus einer Vergleichung von §. 343 mit 354,
ſiehe insbeſondere Anm. 1, von §. 426 ff. mit 447 ff., ergibt ſich, daß der
beiden Weltanſchauungen gemeinſchaftliche Dualiſmus beide zum quantitativ
Erhabenen in der Kunſt treiben mußte; aber der Dualiſmus des abend-
ländiſch germaniſchen Geiſtes iſt nicht ein Schwanken zwiſchen dumpfem
Brüten und wilder Trunkenheit, ſondern das eine der extremen Momente
iſt tiefe Innerlichkeit und die hervorſchießende Kraft und Luft, die das
andere bildet, wird in ſeiner Darſtellung durch architektoniſche Maſſen von
dieſer Innerlichkeit durchdrungen und gegliedert.
Die claſſiſchen Einzelglieder werden in bewegtere Formen verwandelt,
die herrſchende tiefe Hohlkehle verſtärkt den Charakter des Innerlichen, in der
Abſtoßung der Ecken und Uebereckſtellung, der Durchführung des Polygoniſchen
überhaupt, einem Verhältnißſpiele, das ebenſoſehr ein Gefühl der Freiheit in
Beherrſchung des Schweren, als eine ſtrenge Bindung darſtellt, dringt in neuer
2.Weiſe der Charakter des Kryſtalliſchen durch. Der Bildungstrieb der
Phantaſie legt ſich aber zugleich in einer unendlichen Vielheit des Ornaments
nieder, das alle Oeffnungen und Flächen füllend, überkleidend, durchbrechend,
allem Aufſtrebenden Spitzen aufſetzend ſich vorzüglich in den Fenſterfüllungen,
an den Façaden, an der Thurmſpitze anſammelt. Die Regel, welche dieſe
Vielheit beherrſcht, iſt ein geometriſcher Schematiſmus, der das Einfache ver-
äſtend fortgliedert, daſſelbe Gebilde in verſchiedenen Größen in ſich ſelbſt wieder-
holt, in verſchiedenen Stellungen um einen Mittelpunct gruppirt, in deſſen
Achſenwirkung nun das kryſtalliſche Geſetz, hier in freierer Weiſe, wiederkehrt.
Die reichen Pflanzenformen werden von derſelben Geſetzmäßigkeit beherrſcht.
Endlich aber zieht, alles Horizontale durchſchneidend, der Schwung nach oben
dieſe ganze Fülle des Schmucks in gemeinſamer Richtung empor. Die Glas-
malerei vollendet die Wirkung des Innerlichen, die Plaſtik entfaltet ihren
reichen Beitrag vorzüglich am Portal.
[317]
1. Im romaniſchen Style war der Säulenfuß noch attiſch, die Ge-
ſimſe aus Gliedern zuſammengeſetzt, die im Weſentlichen noch die antiken
Grundformen hatten; der nun zur Reife gediehene Sinn des Mittelalters
ergreift jetzt dieſe Gebilde, und die Hohlkehle, die wir ſchon kennen ge-
lernt haben und die nun ebenſo an allen Oeffnungen auftritt, am Ge-
ſims die Welle tief unterſchneidet und zur Waſſernaſe bildet, führt ihren
einziehenden, einſchlürfenden und zugleich kräftige Schattenſtreifen bildenden
Charakter durch; die Platte fällt als Waſſerſchräge ab und es iſt dieß
nur eine einzelne Aeußerung des Syſtems der Einſchrägung, das wir
ſchon in der Thür- und Fenſterbildung des romaniſchen Styls kennen ge-
lernt haben und das nun allgemein wird und mit der Entrandung, Ent-
eckung, Entkantung zuſammenfällt. Zunächſt trägt dieſes Hohlkehlen- und
Entkantungsſyſtem, das ſich dem Syſteme des Vortretens und ſcharfkantigen
Abgrenzens in der claſſiſchen Baukunſt ſo eigenthümlich entgegenſtellt, einen
Ausdruck von lebendiger Wärme, gemüthlicher Heimlichkeit, der entſchieden
auf das vertiefte ſubjective Leben hinweist; in den herrſchenden tiefen
Hohlkehlen liegt dieſer Charakter der Innerlichkeit vermöge der Eigen-
ſchaften, wie ſie eben bezeichnet ſind, ſchlagend ausgeſprochen; die Ab-
ſchrägungen, Entkantungen tragen ihn ebenfalls, denn die Ecken erſcheinen
abgeſtoßen, um in das Innere hereinzuziehen, im Innern am Pfeiler,
um von dem Mittelſchiff in die Seitenſchiffe einladend hin- und zurück-
zuführen. Dieſer letztere Theil des neuen Gliederungsſyſtems hat aber
noch ſeine beſtimmtere Bedeutung und Wichtigkeit und iſt daher genauer
in’s Auge zu faſſen. Zunächſt erinnert er beſtimmter an den Kryſtall, als
die arabiſchen und romaniſchen Formen (vergl. §. 588. 590); nur darf
man nicht mit Metzger (Geſetze der Pflanz.- und Mineral.-Bildung, ange-
wandt auf den altdeutſchen Bauſtyl) meinen, es ſeien dieſe Formen dem
Kryſtalle abgeſehen, ſondern es iſt nur eine unbewußte Wiederholung deſſen,
was die Natur unbewußt thut, im bildenden Menſchengeiſte (vergl. §. 558
Anm.). Schon das große Thurmgebilde erinnert an eine durch Entkantung
und Enteckung vom Viereck in das Achteck, dann in die Spitze überge-
führte Kryſtallſäule. Hieher gehört aber namentlich die Geſtalt des Pfeilers;
was an Thüren, Fenſtereinfaſſungen einfach Abſtoßung der Ecken iſt, er-
ſcheint hier vielmehr als Folge der Uebereckſtellung. Zunächſt entſteht
dieſe Form ſchon am romaniſchen Pfeiler dadurch, daß ſein, zwar in
regelmäßiger Flucht aufgeſtellter, viereckiger Kern an den vier Seiten der
ſtarken Halbſäulen mit Pilaſtervorlagen anſetzt, die nun eine Form bilden,
welche ein zweites, auf dem erſten übereckgeſtelltes Viereck darſtellt; bei
dem gothiſchen Bündelpfeiler ſahen wir das übereckgeſtellte Quadrat als
Grund-Schema ebenfalls durch die ſtarken Halbſäulen-Vorlagen entſtehen.
Wie nun aber die Phantaſie einmal dieſe Form in ihrem Werke ſich hat
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 21
[318]bilden geſehen, ſo fällt ihr ein, daß man’ ſo überhaupt alle Quadrate
umſtellen kann und daß dieſes aus dem übrigen Entkantungsſyſteme ſich
von ſelbſt ergibt; nun führt ſie dieſe Form überall an den eckigen Bau-
gliedern durch. Erinnert nun die Entkantung überhaupt an den Kryſtall
mit der concentriſchen Anlagerung von Flächen, deren Mannigfaltigkeit
durch Entrandung u. ſ. w. aus dem Einfachen des Dreiecks, Vierecks
entſteht, um eine Achſe, ſo ſieht man in zwei oder mehreren aufeinander-
übereckgeſtellten Quadraten die Verwachſung von Zwillings-Kryſtallen.
Am Pfeilerfuße bildet ſich, den vielen Rundſtäben mit abgefasten Ecken
folgend, ſo ein reiches Polygon, das ſich vielgetheilt abſtuft bis zum kleinen
Pfühle hinauf, auf welchem der Schaft der Halbſäule ruht. Es iſt nun
überhaupt neben dem ſchwungvoll eingezogenen Runden derſelbe polygo-
niſche Charakter, den im Großen ſchon der Chor-Abſchluß entwickelt hat,
in die untergeordnete Formenwelt eingetreten und dieſer entſpricht dem
eckigen nordiſchen Naturell ſo entſchieden, daß ja ſelbſt die lateiniſchen
Buchſtaben eckig ausgebrochen werden und in der Plaſtik und Malerei alle
Falten ſich ebenſo brechen müſſen. Allein im Eckigen iſt nun das Spiel
mit dem Eckigen eingetreten; das kryſtallartig Mathematiſche iſt nach dieſer
Seite ebenſoſehr ein völlig Freies; die barbariſche Gebundenheit, die der
fließenden griechiſchen Einfalt unfähig iſt, hat ſich innerhalb des Gebundenen
frei gemacht, das eiſig Winterliche belebt ſich zu dieſem Schalten eines
erfinderiſch wendenden, wechſelnden, umſtellenden Scharfſinns, man möchte
ſagen: zu dieſer Poeſie der Meßkunſt.
2. Dieſe Phantaſie, welche nicht auf ruhigem Gleichgewichte der Kräfte
ruht, wie die griechiſche, iſt zugleich überhaupt eine bunte, vielgeſtaltige;
jener überſchüſſige Bildungstrieb, der darin begründet iſt und im romaniſchen
Style ſein Bett noch nicht gefunden hatte (§. 590), findet es jetzt, d. h.
nicht, er beſchränkt ſich, ſondern er ſproßt in einer unendlichen Fülle des
Ornaments auf, aber nicht mehr in jener abentheuerlichen, ſondern in
einer geregelten Weiſe. Die Fülle äußert ſich in der Umſpinnung ſämmt-
licher Räume; es wird nichts Leeres, nichts Nacktes, nichts Stumpfes
mehr geduldet: es wird gefüllt, überkleidet und übergittert, blumenartig
zugeſpitzt, es wird durchbrochen und die Durchbrechung iſt nicht mehr
Durchbohrung von Steinplatten, ſondern Zeichnung mit Stein in’s Leere,
ein kühner höchſt kunſtreicher Gebrauch des ſchweren Stoffs, als gälte es
nur, Formen aus ihm zu bilden wie Linien mit dem Zeichenſtift. Indem
wir nun die Regeln ſuchen, welche in dieſer zunächſt das Auge über-
ſchüttenden Fülle die Einheit durchführen, treten zugleich von ſelbſt die im
§. genannten hauptſächlichen Anlagerungsſtellen des Ornaments hervor.
Wir ſehen zunächſt den Grundſatz der Veräſtung wirken; derſelbe iſt ſchon
im Uebergang zwiſchen Pfeiler und Gewölbe aufgetreten und ſchließt den
[319] weitern Grundſatz der Wiederholung in ſich, doch ſo, daß beide zu unter-
ſcheiden ſind. Dieß zeigt nun ſogleich der Schmuck des Fenſters. Der
Blendbogen, in den die Fenſtergruppen des romaniſchen Styls mit ihren
Trennungsſäulchen eingerahmt waren, iſt nämlich geöffnet worden und in
ſein Leeres zeichnet ſich nun das reiche Ornament ein, das man Maaß-
werk nennt. Daſſelbe bildet ſich aus einer organiſchen Veräſtung von
Stäben mit eckiger Vorlage, die theils auf der ſchrägen Fenſterbrüſtung
frei, theils aus einem von Hohlkehlen durchſchnittenen Bündel an beiden
Seiten als feine Pfoſtengliederung aufſteigen, während andere Rundſtäbe
deſſelben Bündels zur ſpitzbogigen Einrahmung des Ganzen fortwachſen.
An den Stellen, wo man einen Kreis oder Bogen blätterartig theilen will,
löſen ſich die eckigen Vorlagen der Stäbe oder Sproſſen ab, biegen ſich in
das Leere herein und ſchneiden ſo unter dem Namen der ſogenannten Naſen
eine Blattform aus. Dieſe organiſche Veräſtung kann als eine freiere
Wiederholung des Pfeilers und Gewölbes betrachtet werden. Zunächſt
nun werden auf dieſe Weiſe gewöhnlich zwei Spitzbögen gebildet, es
wiederholt ſich durch ſie das Fenſter im Fenſter und dieſe Wiederholung
wiederholt ſich abermals, denn in dieſen Spitzbögen ſind wieder kleinere,
in dieſen oft noch kleinere Spitzbögen; es handelt ſich aber nun um die
Füllung des übrigen Raums, d. h. des noch leeren Hauptfeldes über den
größeren ſecundären Spitzbögen unter dem Spitzbogen des Fenſters ſelbſt
und ebenſo über den kleineren Spitzbögen, die unter den größeren befaßt
ſind. Dazu dienen in der Zeit des noch reinen Styls fünf Grundformen:
der volle Kreis, der Vierpaß und das Vierblatt, der Dreipaß und das
Dreiblatt; dieſe combiniren ſich auf die verſchiedenſte Weiſe: die Päſſe
nehmen die Blätter, der Kreis die Päſſe und die Blätter, die Blätter
wieder Blätter in ſich auf; der Kreis theilt ſich ohne Vermittlung des
Paſſes in eine vielblättrige Geſtalt; die Blätter ſind rund oder ſpitz oder
rund und durch Naſen gelappt u. ſ. w. In dieſen Bildern tritt nun die
Kreistheilung hervor, wie ſie den Kryſtall in einfacher, die Pflanzenbildung
in mannigfaltiger Weiſe beherrſcht (auch hiezu vergl. Metzger a. a. O.).
In der wechſelnden Stellung und Zuſammenſtellung derſelben aber zeigt
ſich vornämlich das, was der §. einen mathematiſchen Schematiſmus nennt
(vergl. Bötticher a. a. O. S. 23): daſſelbe Verhältnißſpiel, das wir in
der Brechung und Umſtellung des Eckigen haben ſchalten ſehen, tritt hier
in reicherer Weiſe ein und wendet als eine künſtleriſche Scholaſtik das
Dogma der Grundform nach allen Seiten: der Drei- und Vierpaß, das
Drei- und Vierblatt kann ſich auf die breite oder ſpitze Seite ſetzen, in
das Feld zwiſchen den Spitzbögen heruntertreten oder auf deren Spitzen
lagern, an den äußerſten größten Spitzbogen anlegen oder von ihm ab-
löſen, mehrere dieſer Bilder können ſich um einen Kreis oder Kreiſe um
21*
[320]ſich her gruppiren u. ſ. w. Wir nennen auch dieſes Gruppirungsgeſetz kryſtalliſch
wie die einheitliche Wiederkehr im mauriſchen und romaniſchen Ornament;
der Unterſchied iſt aber der, daß jetzt die Formen nicht nur die band- und
ſtabartige Verſchlingung mit nicht ausdrücklich hervortretendem Mittelpunct
aufgeben und als ſelbſtändige Ganze ſich um einen ſolchen gruppiren,
ſondern daß dieß auch in viel mannigfaltigerer, gefüllterer Weiſe geſchieht;
das Kaleidoſkop (§. 590) iſt voller geworden, wird öfter gedreht und
daher das Anſchießungsprinzip, wie im Dogma durch viele Beweiſe,
reicher belegt. Uebrigens wird durch die vielen gebogenen Spitzen, welche
nun theils durch die Naſen, theils durch die leergelaſſenen kleinen Felder
zwiſchen den Einäſtungen entſtehen, das Eckige des gothiſchen Styls zum
Dornigen, was ebenfalls als ein winterlicher, nordiſcher Geiſt gemahnt.
— Es liegt nun aber dem Maaßwerke noch ein beſtimmteres geometriſches
Geheimniß zu Grunde; in der Blüthezeit des Spitzbogenſtyls ſtehen nämlich
jene genannten fünf einfachen Grundformen, welche theils einzeln, theils
combinirt, über den aliquoten Theilen der Weite des Hauptſpitzbogens
mit den ſecundären Spitzbögen zuſammengeſtellt die Grundlinien des Maaß-
werks bilden, mit der Art des zu Grunde gelegten Spitzbogens in einem
nothwendigen mathematiſchen Zuſammenhang, ſo daß ihre Meſſung das
Maaß des letzteren und umgekehrt ergibt, alſo z. B. ein vom Spitzbogen-
rande abgelöster Vierpaß nur in einem Spitzbogen beſtimmter Form vor-
kommen kann. Das Abweichen von dieſen einfachen Verzierungsgrund-
formen, das Dominirenlaſſen gewiſſer willkührlicher Gebilde ohne be-
ſtimmtes geometriſches Geſetz, welche früher (wie die Fiſchblaſe) nur in
untergeordneter Weiſe als gelegentliche Ausfüllung von Nebenräumen ſich
ergeben hatten, bezeichnet den Verfall dieſes Styls. Jenen geometriſchen
Zuſammenhang zwiſchen der Art des gewählten Spitzbogens und der Ver-
zierungs-Motive müſſen die alten Meiſter, wie ſich nachweiſen läßt, zum
Theil genau, zum Theil annähernd ſich zum Bewußtſein gebracht haben,
aber nicht durch ſtarres Feſthalten an einmal feſtgeſtellten Zahlenverhält-
niſſen, auch nicht auf rein mathematiſchem Wege, ſondern durch ein von
inniger Vertiefung geleitetes Probiren und Suchen mit Zirkel und Lineal*).
Dieſes Maaßwerk wiederholt ſich nun als Durchbrechung in den
Galerien, welche die Dachgeſimſe zieren, im Thurmhelm, in den
Strebebögen, in den eigentlichen Vergitterungen, welche über Wand
oder Fenſter frei abſtehend die Fenſterform wiederholen, als bloßes
[321] Relief in den Flächenverkleidungen der Spitzgiebel (Wimberge), in der
herrlichen kreisförmigen Roſe über dem Portal, an den Flächen, welche
neben ihr, zwiſchen den Strebepfeilern, Fenſtern an der reichen Façade
übrig bleiben und nicht nackt gelaſſen werden dürfen, ſparſamer im Spitz-
bogenfries, der an den Stockwerken der Thürme, unter dem Dachgeſimſe
ſich hinzieht. Haben wir ſo die Regel gefunden, welche dieſe Formenwelt
innerhalb des einzelnen Theils beherrſcht, ſo tritt nun aber als gemein-
ſchaftliche Einheit für alles Ornament, zugleich ſelbſt wieder Ornamente
beſonderer Art motivirend, derſelbe Verticularismus in Wirkung, welcher
dieſem ganzen Styl zu Grunde liegt. Dieſer Höhenzug führt in gemein-
ſamem Schwunge Alles empor; er ſetzt dem in Stufen mit Geſims-Ver-
kröpfungen verjüngt aufſteigenden Strebepfeiler die Fialen auf, läßt an
jenen Stufen überall ebenſolche Fialen aufſproſſen, um dazwiſchen liegende
Spitzbögen und Spitzgiebel zu umflügeln, er ruft die Spitzgiebel ſelbſt
überhaupt hervor und weist ihnen ihre bedeutendere Stelle über den
Fenſter- und Portalſpitzbögen an, um überall die Horizontal-Linie der
Galerien, Stockwerkgeſimſe u. ſ. w., damit nichts Wagrechtes ungebrochen
bleibe, aufſteigend zu durchſchneiden, er ſchließt dieſe Geſammtbewegung
im Thurme ab. Und in dieſem Höhenzuge tritt abermals jenes Geſetz
der Wiederholung ein: wie das Fenſter und Portal die Wölbung mit den
Tragepfeilern, ſo wiederholt der Spitzgiebel und die Gruppe kleiner Giebel,
welche auf der Höhe des Strebepfeilers der Fiale vorangeht, den Dach-
giebel, die kleine Fiale die größere, alle Fialen den Thurm oder umge-
gekehrt. Endlich begnügt ſich aber dieſer Styl nicht mit einer nackten
Schräge, nackten Spitze, zum Theil nicht einmal mit einer nackten Spitzbogen-
Umrippung: er läßt an den Gräten des Spitzgiebels, Giebels, Dachs,
Thurmhelms, den Kanten der polygonen Fialen jene Blätter ausſproſſen, die
an ein über eine Kugel hergewachſenes Kohlblatt erinnern („Krabben“),
und faßt eine Gruppe derſelben in der Kreuzblume zuſammen, die alle
Spitzen krönt. Alles, was im Maaßwerk vegetabiliſch erſcheint, iſt nicht
urſprünglich Pflanzenmotiv, ſondern nur geometriſch ſich ergebende pflanzen-
artige Form; hier erſt, wie am Kapitell des Tragpfeilers, tritt eigentliche
Pflanzenform ein. Heimiſche Pflanzen, Wein-, Epheu-, Hopfen-, Stech-,
palmenblatt werden nachgebildet, aber in der guten Zeit immer ſtreng
ſtyliſirt und in dieſer Styliſirung ſpielt die kugelartige ſchwungvolle Aus-
wölbung neben der kräftigen Einkerbung, — alſo auch hier das nordiſch
individualiſirende Element — eine Hauptrolle (herrliche Kapitelle im Ulmer
Münſter). Die Thiergeſtalt erſcheint phantaſtiſch in der beſtimmten Function
des Waſſerſpeiers, die menſchliche ſtellt ſich auf Conſolen, von Baldachinen
gedeckt an die Tragpfeiler, auf die Strebepfeiler, vorzüglich aber (hier
freilich unſchön ſchräg) in die tiefen Kehlen des in reichem Rippenbündel
[322] aufwachſenden Portals der Façade, welches zugleich im Füllungsfelde
ſeines Spitzbogens die Stelle für das Relief bot, das mit den reichen
Figurenreihen der Hohlkehlen zu ſeinen Seiten an dieſem Hauptpuncte der
concentrirten Pracht ein großes cykliſches Ganzes, ein kirchliches Epos
zuſammenſtellte. — Endlich haben wir noch nach der Farbe zu fragen.
Da im Aeußern durch das unendliche Ornament die Baukunſt ſelbſt ma-
leriſch geworden iſt, da im Innern faſt keine Wandfläche mehr übrig
bleibt, ſo kann ſich dieſelbe blos an Einzelnes legen: an die Halbſäulen
der Pfeiler, ihre Kapitelle, an die Gurtrippen; häufig beſchränkt ſie ſich
hier auf eine Bemalung der nächſten Stelle der Kreuzgurtrippen um den
Schlußſtein (meiſt blau, roth, Gold); ſie trägt pflanzenartige Aus-
ſtrahlungen in die Gewölbekappen ein, ſie färbt die Heiligen und ihre
Häuschen. Aber es ſoll ein höherer Erſatz für die großen romaniſchen
und byzantiniſchen Wandgemälde werden; die Wand iſt vom Fenſter ein-
genommen; auf dieſe Stelle concentrirt ſich nun die Farbenwirkung als
eine, den Feldern des Maaßwerks in ſtreng architektoniſcher, höchſt or-
ganiſch angeſchloſſener Compoſition eingeordnete Glasmalerei. Gluthvoll
leuchtend dämpft dieſe dennoch das grelle Licht, das ſonſt die Hallen er-
füllen würde und vollendet ſo durch farbiges Helldunkel den Charakter des
Innerlichen: wie es ein idealer Raum iſt, in den wir treten, ſo iſt auch
das Licht ein künſtliches, ein ideales, vermitteltes, verinnerlichtes.
Die Freiheit, welche nun ſo weit geht, daß ſie das Structive in eine
allgemeine Empfindungsbewegung (vergl. §. 458) hinauftreibt, ſchlägt jedoch in
Abhängigkeit um; das rein geiſtige Aufſtreben von der Erde iſt ebenſoſehr an
die äußere Vielheit einer mythiſchen Ueberfülle gebunden; neben das Innere
fällt ein gerippartiges, ſtachliches, die vielen Einzelglieder ſtructiv nicht zuſam-
menhaltendes Aeußeres; die Weite und Größe verbunden mit dieſer Vielheit
und dem farbigen Helldunkel wirkt im Sammeln zerſtreuend, berückend: alle
dieſe Züge faſſen ſich in dem ſinnlich geiſtigen Dualiſmus der phantaſtiſchen
Subjectivität (vergl. §. 447) zuſammen.
Es iſt das eigenthümlich Antinomiſche am gothiſchen Wunderbau, daß
man im Bewundern ſeine Schwächen tadeln, im Tadeln wieder be-
wundern muß. Am beſtimmteſten hat dieſe Schwächen des gothiſchen
„Glashauſes“ Hübſch (a. a. O.) aufgeführt, er ſelbſt muß aber das
Lob zwiſchen den Tadel miſchen, nur daß jenes nicht in der eigenthüm-
lichen Wage mit dieſem ſchwebt, wie wir es für das Richtige halten. Die
kühne Freiheit iſt ebenſoſehr Abhängigkeit, weil die nun allzuleichten Ge-
[323] wölb-Verſchlüſſe nicht einmal den Brand des Dachſtuhls aushalten können;
am Thurm iſt der durchbrochene Helm kein genügender Wetterſchutz, er bedarf
einer beſondern hölzernen Eindachung. Tiefer gefaßt ſchwankt jene kühne
Gewölbung an den Grenzen des Structiven hin; es iſt zwar des Geſetz-
lichen nicht ſo geſpottet wie da, wo nicht in einem großen Styl, ſondern
in ſubjectiver Manier das A[rc]hitektoniſche ſentimental, maleriſch behandelt
wird in entſchieden unberechtigter Art der Einmiſchung des Styls der einen
Kunſt in den der andern (vergl. §. 532), aber es iſt doch ſchon haar-
ſcharf an das Unberechtigte angeſtreift, das ſtimmungsvolle Hinüberfließen
des Tragenden in das Getragene iſt eben im Begriff, den Widerſtreit von
Kraft und Laſt nicht zu verſöhnen, ſondern zu verwiſchen; namentlich in dem
allmählichen völligen Aufgeben des Kapitells, das ſich doch ganz natürlich
ergibt, iſt jene Hauptbedingung der ſchönen Compoſition, das ſcharfe
Markiren des vollen Contraſts im Zuſammenſtoße (vergl. §. 568), das
trotz der vermittelnden Ueberführung der Glieder nie geopfert werden ſoll,
verflüchtigt. Das Verhältniß zwiſchen dem Innern und Aeußern des Baus
ſpiegelt klar jenen bei der Betrachtung des Ornaments mehrfach ſchon in
Erinnerung gebrachten Dualiſmus des Geiſtlichen und Sinnlichen in der
Welt des Mittelalters wieder; die aufgegangene tiefe Geiſtigkeit iſt nicht
durch die Perſönlichkeit durchgeführt, Innigkeit und Rohheit, ſpröder Eigen-
ſinn, geiſtige Durchſichtigkeit aller Dinge und mythiſches Verkörperungs-
bedürfniß, das einen neuen Olymp erzeugt, fallen nebeneinander, ſchieben
ſich zwiſcheneinander: ſo erſcheint der Außenbau an ſich als ein unter
allem Reichthum des Ornaments dennoch trockenes Knochengerüſte, das
dem ſtimmungsvollen Innenbau kein genügendes Fleiſch umlegt, man iſt
an die dürren Leiber bei den ausdrucksvollen Köpfen in der deutſchen
Malerei erinnert; die unendlichen Spitzen ſind die ſpröde Monadenwelt
der trotzigen Einzelkräfte der mittelalterlichen Geſellſchaft, die noch nicht
wahrhaft Staat heißen kann, ſie ſind zugleich die vielen Götter des Mittel-
alters; das Gemeinſame der aufſteigenden Linie faßt zwar dieſe ragenden
Einzelkörper ebenſo zuſammen, wie die Religion jene ſpröde Welt von
Individuen, Corporationen in gemeinſamem Schwunge vereinigte, und der
Thurm, worin ſich dieſe Bewegung abſchließt, iſt zugleich der eine Gott
als Schluß jenes Olypms, aber in der Baukunſt reicht jener gemeinſame
Höhenzug als bindende Einheit nicht hin, dieſelbe fordert vielmehr eine
körperlich übergreifende Subſumtion des Vielen (unter gemeinſamer Decke);
und ebenſo verhält es ſich im Leben: kein wahrhaft als Geſetz, Recht,
Regierung zuſammengefaßtes Allgemeines faßt die kirchlich vereinigten
Einzelkräfte des Mittelalters auch vernünftig weltlich zuſammen; endlich
wie die vielen Spitzen und Ornamente einer durchgängigen Eiſenver-
rankerung bedürfen, ſo muß die ſcholaſtiſche Spitzfindigkeit den ganzen
[324] Mythenkreis neben dem Einen Gott ſtützen und heften. In einer früheren
Vergleichung fanden wir die Scholaſtik als geometriſchen Schematiſmus
in der Erfindung und Reglung der Ornamente thätig. Man wird den
Reichthum derſelben und das Syſtem der Einzelglieder nicht ganz gerecht
beurtheilen, wenn man vom Standpuncte einer ſo abſolut ſtreng nur or-
ganiſch charakteriſirenden Kunſtform ausgeht, wie Bötticher; mehr freie
Poeſie, als der einfache griechiſche Bau zuläßt, muß berechtigt ſein. Aber
es gibt auch in dieſem weiteren Spielraum ein Maaß, das nur ein ſo
kühner Bau in ſeiner Selbſtändigkeit, nie aber eine Zeit, die das Ganze
nicht ſelbſt genial erfunden hat, überſchreiten darf. — Die coloſſale Größe
macht das Innere zu einer Welt, einer geiſtlichen Stadt, worin rührend jeder
ſeine Seelenlabung jederzeit holen kann (vergl. Hegel Aeſth. II, S. 342.
343), allein die vielen Altäre, die gleichzeitigen Gottesdienſte, das Ab-
und Zugehen, das hallende Geräuſch zerſtreut ebenſoſehr, als es ſammelt,
und das farbenglühende Helldunkel entſpricht einer Andacht, die zu wenig
Boden ſchlichten, hellen Denkens hat, um wahre Erbauung zu ſein, die
vielmehr eine tiefinnerliche Aufregung iſt.
Den Zuſtänden §. 362 ff. und der Wandlung der Phantaſie §. 464 ff.
entſpricht von der einen Seite eine Ausſchweifung des gothiſchen Styls von
noch geſteigerter Zierlichkeit in Willkühr, von der andern Seite das durch
deutliche Vorboten einer ganz veränderten Stimmung innerhalb jener Form an-
gekündigte Eindringen claſſiſchen, zunächſt römiſchen Styls, deſſen anfängliche
bewegtere Miſchung mit mittelalterlichen Motiven vorerſt einer ſtrengeren Nach-
ahmung weicht. Der realiſtiſcher gewordene Sinn zeigt ſich zugleich in dem
Ueberwachſen der weltlichen Zweige der Baukunſt.
Daß die Kühnheit und unendliche Verzierungsfälle, der maleriſche,
bewegte Zug des gothiſchen Styls noch nicht Willkühr genannt, noch nicht
zu den rein unbefugten Einmiſchungen der Stylgeſetze einer Kunſt in die
andere geſchlagen werden darf, ſondern in jener antinomiſch ſchwebenden
Weiſe aufzufaſſen iſt, wie wir es zum vorhergehenden §. bezeichnet haben,
dafür liegt der ſichere Beweis in der Erſcheinung einer Stylweiſe inner-
halb deſſelben, welche unzweifelhaft Willkühr iſt, die ſtructiven Geſetze
entſchieden verſpottet, das Ornament augenfällig desorganiſirt, alſo im
Grunde vielmehr Manier zu nennen iſt. Anfangs erſcheint dieſe Aus-
[325] ſchweifung nur erſt als noch größere Zierlichkeit namentlich in der Stei-
gerung des Rippengliederbaus im Gewölbe zu Netz-, Stern-, Korb-
Gewölben, welche die Maſſe bis auf ein Aeußerſtes zu entlaſten ſuchen,
bald aber geht dieſer ſpätgothiſche Styl in die bezeichnete geſetzloſe
Spielerei über; ſie äußert ſich namentlich im Ornament als Abweichen
von jener geometriſchen Regel in der Verbindung beſtimmter Verhältniſſe
des Maaßwerks mit beſtimmten Spitzbögen, als willkührliche Ausfüllung
der Felder, beſonders mit geſchweiften Formen (die Fiſchblaſe z. B. wird
nun nicht mehr in übrig gebliebene Nebenfelder verwieſen, ſondern ſpielt
eine Hauptrolle), als ſeitliche Ausbiegung (Frauenſchuh u. dergl.), als
Aufnahme nicht geometriſch ſtyliſirten Zweigwerks, als Einführung der
geſchweiften Form auch an die Stelle des Spitzbogens (Eſelsrücken). Da-
neben tritt aber ein anderer Zug hervor: ein Zug zum Einfacheren,
weniger Getheilten und zur horizontalen Linie: Vorzeichen jener Stimmung,
die ruhiger an der Erde bleiben will, die zu jener Verſöhnung mit der Ob-
jectivität ſtrebt, welche wir als Prinzip des modernen Ideals aufgeſtellt
haben. In der Wölbung erſcheint dieſer Zug als erneuerte Liebe zum
ruhigeren Rundbogen, als Aufnahme des Stichbogens, im Ornament als
Eintritt geradlinigen Stabwerkes in die Füllungen, das nun freilich mit
dem Bogenſegment in einem ſchlechten Verhältniß ſteht und ſo auch den Ver-
fall bezeichnet, den wir nicht weiter verfolgen. Dieſe Zeichen treten außer-
halb Italiens auf, wo der gothiſche Styl niemals in ſeinem ganzen Weſen
eingedrungen iſt, wo vielmehr frühe der romaniſche Rundbogen wieder
vorgezogen und ſchon im fünfzehnten Jahrhundert zum claſſiſch römiſchen
Style, namentlich zur Kuppel, zunächſt in anmuthig bewegter Verbindung mit
Baſiliken-Grundformen, ornamentiſtiſchen Einzelformen des Vorgothiſchen
(gruppirten Fenſtern u. dgl.) zurückgegriffen wird. Dann aber wird der
römiſche Bauſtyl mit vollem Bewußtſein erneuert und bildet ſich, was wir
Renaiſſance nennen; in Italien zunächſt als freiere, noch immer an die
Baſiliken-Anlage anknüpfende, die Façaden lebendig gliedernde (Bru-
neleschi, anfangs Bramante), dann als nüchtern correcte, auf Vitruv ge-
baute Nachahmung (Alberti). Dieſer erneuerte römiſche Styl entſpricht
genau der Wiederaufnahme des objectiven claſſiſchen Ideals in noch un-
verarbeiteter Form, welche der lebendigen Aneignung vorangehen mußte;
ſie verbindet ſich, wie die neue Anſchauungsweiſe mit der noch nicht durch-
gebildeten Perſönlichkeit, auf widerſprechende Weiſe mit der Sitte und An-
ſchauung einer vom Alterthum gänzlich verſchiedenen Zeit. Weniger gilt dieß
von den Italienern als dem am reinſten romaniſchen Volke; es ſtellt ſich
hier nicht weiter ein Reſt Mittelalter mit dem Antiken zuſammen, der
Widerſpruch liegt, abgerechnet die urſprüngliche innere Unwahrheit des
römiſchen Styls an ſich, die in der decorativen Verbindung des Architravſtyls
[326] mit der geſchloſſenen Façade und der Wölbung beſtand und nun wieder
zu Ehren kommt, nur zwiſchen der Form und dem eigentlichen Bau- und
Wohn-Bedürfniß. Es iſt übrigens Ausdruck des neuen Zuges zur Wirk-
lichkeit, daß dieſer erneuerte antike Styl ebenſo bedeutend in einem Reich-
thum neuer öffentlicher und Privat-Paläſte, als an Kirchen, hervortritt.
Im Mittelalter wie im Alterthum ging der Styl vom Tempel aus und
zog die übrigen Zweige nach; jetzt hört der religiöſe Bau auf, ſtylbildend,
maaßgebend zu ſein.
Ein phantaſiereiches Verzierungsſyſtem verdrängt in Italien wieder jene
nüchterne Nachahmung, geht in ein leidenſchaftliches, gewaltſames Formenſpiel
und von da in vollendete, aufgeregt empfindſame, aller ſtructiven Geſetze ſpottende,
üppige und durchaus ſchnörkelhafte Manier über (vergl. §. 473). Dieſe ver-
pflanzt ſich zu den nordiſchen Völkern, die bis dahin die erneuerte claſſiſche
Form mit Reſten der gothiſchen in charakteriſtiſcher Weiſe gemiſcht haben, und
2.beherrſcht von Frankreich aus die Welt (vergl. §. 370 ff. und 476). Nach-
dem die Revolution des Lebens und der Phantaſie dieſem Unweſen ein Ende
gemacht hat, vermag jedoch auch der geläuterte moderne Geiſt auf dem Gebiete
der Baukunſt nicht ſchöpferiſch zu werden, ſondern nur die dageweſenen Style
in ihrer Reinheit nachzubilden. Die Erzeugung eines dem Weſen des modernen
Ideals (vergl. §. 467) entſprechenden neuen Styls hängt von den Bedingungen
ab, die ſich aus §. 577 ergeben.
1. Der erſte Theil des §. umfaßt das Reformationszeitalter und die
Zeit bis zu dem Zuſtande, den der zweite Theil unſeres Syſtems als
Mitte des Modernen in der äſthetiſchen Phyſiognomik der Geſchichte und
in der Geſchichte der Phantaſie aufſtellt: vom ſechzehnten bis tief in’s
achtzehnte Jahrhundert. In Italien gibt ſich das raſchere, feurige Ge-
fühl, das allenthalben erwacht, ſeinen architektoniſchen Ausdruck vorerſt in
brillanter Neubelebung des nüchtern gewordenen Renaiſſance-Styls, edler,
reicher Glieder- und Ornamentfülle (Raphael, Sangallo u. And.); das
Wildere geht von einer mächtigen, aber gewaltſamen Perſönlichkeit, von
M. Angelo, aus: die Rieſen-Pilaſter und Gebälke, Verkröpfungen, das
Brechen und Einſchneiden der Giebel über Thür und Fenſter, der Anfang
des Schnörkels in geſchweiften, gerollten Verzierungen. Dieſe Erſcheinun-
gen, ſo wie den reinen Rokoko, der durch Bernini und Borromini, den
[327] „Todfeind der geraden Linie“, im ſiebzehnten Jahrhundert aus dieſen
Anſätzen ſich entwickelt, hat die eigentliche Kunſtgeſchichte näher zu ſchil-
dern; die Aeſthetik begnügt ſich, da ſie nur, wo ein neuer Originalſtyl
auftritt, tiefer einzugehen hat, mit der Zurückweiſung auf die allgemeinen
Zuſtände, die ſich in ſolchen Formen culturhiſtoriſch ſpiegeln, ſowie auf
die geſchichtliche Geſtalt des Geiſtes und der Phantaſie, der ſie entſpre-
chen. Jene Zuſtände ſind zunächſt bei den Italienern zuerſt die ſchönere
Humanitäts-Entfaltung des früheren ſechzehnten Jahrhunderts, dann die
ſeelenloſe Pracht des reſtaurirten, innerlich verwilderten Katholicismus
§. 366, 2.; in der Geſchichte der Phantaſie iſt es die erſte, friſche An-
eignung des objectiven Ideals des Alterthums §. 467, dann die „empfind-
ſam gereizte, gewaltſam ſchwülſtige, ſubjectiv willkührliche“ Stimmung, die
in §. 473 aufgeführt iſt; dieſe kräuſelt den Stein wie Papierſchnitzel, zieht
ihn in lauter unbeſtimmte, ſchilf- und faſernartige Formen aus, unterbricht
alles Tragende in ſeiner ſtructiven Grundlinie und verhöhnt ſo mit ſelbſt-
gefälligem Lächeln das Geſetz der Schwere, wickelt den Thurm in Schnecken-
linien auf u. ſ. w. Wir haben aber noch nicht das ganze Bild, wenn
wir dieſe Bauformen nur mit den ſüdlichromaniſchen Zuſtänden zuſammen-
halten; wir müſſen uns erſt nach dem Norden wenden. Der neuitalie-
niſche Bauſtyl wandert zunächſt nach Frankreich (Franz I.), dann weiter
und namentlich nach Deutſchland. Die Reformation konnte keinen neuen
Bauſtyl ſchaffen, weil ſie keine neue Religion ſchuf; hier wie in Frank-
reich verbindet ſich nun die Renaiſſance mit den Reſten des Gothiſchen,
mit dem ſteilen Giebel, den mancherlei Bogenformen, die das Spät-
gothiſche, zum Theil aus dem mauriſch-Romaniſchen, wieder aufgenommen,
und dieſe Miſchung iſt es, die als beſonders charakteriſtiſch hervorzuheben
iſt, denn in ihr ſpiegelt ſich die rauhere, heftigere nordiſche Kraft in ihrer
unausgeglichenen Verbindung mit dem neuerwachten Humanitätsprinzip
(§. 470. 471); die gewaltſameren Formen aber, die von M. Angelo aus-
gehen und den Rokoko einleiten, in dieſen Ländern immer noch mit jenen
gothiſchen Reſten gemiſcht, charakteriſiren genau jene allgemeine wilde
Entfeſſelung der Leidenſchaften §. 368. 369 und fallen ganz mit dem
„Ausgeſchwungenen, Luftigen, Weiten, Bewegten“ der übrigen Culturformen
(ſ. ebend.) zuſammen. Die Feſtſtellung und Herrſchaft des Rokoko aber,
woraus nun jene gothiſchen Reſte verſchwunden ſind, als allgemeine, ab-
ſolute Convenienz fällt zuſammen mit den Zuſtänden der abſoluten fran-
zöſiſchen Monarchie, der frivolen Aufklärung u. ſ. w. §. 370—373 und
der entſprechenden geiſtigen, ſog. claſſiſchen Dictatur §. 476. Es bedarf,
wenn man dieſe §§. vergleicht, weiterer Schilderung nicht. War ſchon
in der reingothiſchen Baukunſt zu viel maleriſche Empfindungsbewegung,
wurde in der ſpätgothiſchen durch die Steigerung dieſer Bewegtheit das
[328] Structive bereits entſchieden beeinträchtigt, ſo iſt nun in die Baukunſt
geradezu der Affect gefahren und zwar derſelbe, der in der Malerei ſelbſt
jede ſatte, ganze, beſtimmte Form ſcheut, nur das Runzliche, Hingeſchleu-
derte, Ausgefaſerte liebt. Die Pflanze insbeſondere wird nun in der
Baukunſt nicht nur nicht, wie es ſein ſoll, geometriſch ſtyliſirt, ſondern ihr
natürlicher Styl noch entſtyliſirt. Doch iſt anzuerkennen, daß die Franzo-
ſen in dieſem Unweſen nie ſo weit gegangen ſind, als die Italiener, und
daß ſie zuerſt wieder einiges Maaß in daſſelbe eingeführt haben.
2. Die politiſche Revolution ging hervor aus einer Abſtraction der
Idee, welche auf dem Boden der Culturformen im Sinn der negativen
Aufklärung rein durchſchneidend, abmähend wirkte, vergl. §. 374. Sie
konnte nach manchen früheren Verſuchen, zum Einfacheren und Strengeren
zurückzukehren, nur den Boden bereiten für die concrete Aufklärung mit
ihrer wiedergewonnenen, richtigen Anſchauung des römiſch Claſſiſchen und
des rein Claſſiſchen, des Griechiſchen (Stuart und Revett); die Revolution
im Gebiete der Phantaſie ſelbſt §. 477 ff. wurde nicht ſchöpferiſch in der
Baukunſt, denn ein neuer Bauſtyl ſetzt ganz andere, völkerumfaſſendere
Bedingungen voraus, als eine Umwälzung in der Poeſie. Wie ſich dieſe
ſtürmiſche Gährung zur wahren Humanität mittels der wahren Aneignung
des claſſiſchen Ideals läutert, ſo bereitet ſich nun in der Baukunſt die
reine Reſtauration des Griechiſchen vor, die moderne Romantik reſtaurirt
das Gothiſche, und wie einmal der große geſchichtliche Gegenſatz der
Hauptſtyle mit unſchöpferiſcher reiner Objectivität anerkannt iſt und nach-
geahmt wird, ſo entwickelt ſich weiter der reine Eklekticismus, der nun
alle Style kennt, anerkennt, wiederholt und in jedem Style bauen kann,
nur in keinem eigenen. Vergl. zu dieſem Zuſtand §. 377 und 482. Die
Zopfzeit erſcheint dieſer völligen Zeugungsunfähigkeit gegenüber friſch,
kühn, ſchwungvoll, phantaſiereich, würdig wie ihre Tracht gegenüber der
Hungrigkeit der modernen. Was nun die Frage nach einem neuen Bau-
ſtyl anbelangt, ſo läßt ſich im ganz Allgemeinen wohl beſtimmen, was er
enthalten muß, und dieſe Beſtimmung entſpricht auch ganz der Art, wie
jeder neue Bauſtyl ſich zu früheren verhält: er ſchafft nicht abſolut Neues,
ſondern bildet frühere Style zu Momenten eines neuen, organiſchen Gan-
zen um. Iſt nämlich das moderne Ideal überhaupt die Phantaſie der
wahrhaft freien, mit der Objectivität verſöhnten Subjectivität, ſo ſind als
die Prinzipien, die ſo zu Momenten umgebildet werden, die zwei großen
hiſtoriſchen Hauptſtyle gegeben: der befreiten Subjectivität entſpricht die freie
Raumüberſpannung, die Wölbungskunſt des Mittelalters, der harmoniſchen
Objectivität die claſſiſche Baukunſt, und wie dieſer große Gegenſatz geiſtig ver-
ſöhnt werden ſoll, ſo liegt in der Baukunſt die Aufgabe vor, dieſe zwei Style
zu einem neuen, dritten ineinanderzuarbeiten. Dieſe Verſöhnung iſt im Ideal
[329] überhaupt ſowohl Ausfluß, als Quelle der wahren Freiheit, die dem
Mittelalter noch fehlte, daher ſeine Subjectivität eben die phantaſtiſche
war. Das Bewußtſein des Mittelalters war zu innerlich, weil es nicht
innerlich genug war, d. h. weil es die Geiſtigkeit der Weltanſchauung
nicht im freien Denken wirklich innerlich durchzuführen vermochte, und
ebendaher fiel es zugleich und neben der aufgegangenen Innerlichkeit der
Aeußerlichkeit, der politiſch ungeeinigten Vielheit roher Kräfte, der neuen
Vielgötterei anheim. Dieß drückte ſich in ſeinem Bauſtyl aus und dieſe
Seite ſeines Bauſtyls ſoll eben dadurch, daß das ewig Gültige im Claſſi-
ſchen, die harmoniſche Gediegenheit, die organiſche Einheit, die Ruhe, die
er voraus hatte, mit dem Wahren des mittelalterlichen Baus ſich verſchmelzt,
getilgt werden. Das antike Bewußtſein hatte aber die Subjectivität nicht
entwickelt, dem entſprechend iſt ſein Bauſtyl zu gebunden, und wie das
Mittelalterliche, ſo muß daher in dieſer Verſchmelzung nothwendig auch
das Claſſiſche einer weſentlichen Umbildung unterliegen. Worin aber
dieſe Umbildung beider Miſchungsbeſtandtheile, denen ſo entgegengeſetzte
ſtructive Prinzipien zu Grunde liegen, beſtehen ſoll? Darauf hat nur
die Zukunft die Antwort. Bötticher beſtimmt die „Syntheſe“ dahin,
daß zum Deckenbau des Mittelalters die claſſiſche Baukunſt ihre organiſch
naturgemäße Formenſprache (Glieder und Ornament) geben müſſe. Allein
er ſelbſt hat die reine Strenge dieſer Formenſprache nur im griechiſchen
Architravſtyl nachgewieſen, dieſer, als prinzipiell verſchieden, läßt ſich als
ſolcher offenbar mit dem Gewölbebau nicht verſchmelzen. Auch wird man
ſo, nach dem einfachen Gegenſatze von Kernform und Kunſtform, nicht
ſcheiden können, denn nicht alle Glieder- und Ornamentbildung des go-
thiſchen Styls war phantaſtiſch und abentheuerlich; das Hohlkehlen- und
Ecken-Abſtoßungsſyſtem, alſo das Prinzip der einwärts gewendeten Glie-
derung mindeſtens war wohlthuend für das Auge, warm, heimlich, dem
Norden angemeſſen. Hübſch (in der öfters angeführten geiſtreichen
Schrift) ſucht den Punct, welchen die moderne Baukunſt erfaſſen und fort-
bilden müſſe, zwiſchen der altitalieniſchen (gemiſcht romaniſchen und alt-
römiſchen) Bauart und der Früh-Renaiſſance; Verbindung der Säule
und des Rundbogens (namentlich als flachen oder Stichbogens in der
Archivolte) iſt das Weſentliche der von ihm empfohlenen Verſchmelzung,
für die geſchloſſene Façade nimmt er die Liſſene auf, für die Decke der
(proteſtantiſchen) Kirche, deren Bild er entwirft, das Tonnengewölbe.
Die Wölbungsart bietet noch ihre beſondern ſchwierigen Fragen; die
Meiſten rathen das romaniſche Rundbogen-Kreuzgewölbe; daſſelbe ließe
ſich mit dem ſpitzbogigen in Einem Gebäude immerhin verbinden, aber
von dem Gottesdienſte, dem der neue Styl dienen ſoll, wird, ſo wenig
wir ihn noch kennen, doch anzunehmen ſein, daß er von dem proteſtan-
[330] tiſchen das größere Gewicht der Predigt in ſich hinübernehmen werde, und
dieß fordert Vermeidung des vielfachen Wiederhalls in den vielen Ge-
wölbefeldern, lichte Oeffnung der Seitenſchiffe, und doch wäre ein Auf-
geben jener kühnen Ueberſpannungen ein offenbarer Rückſchritt zum
Aermeren. Alſo überall ungelöste Fragen, und es kann auch keine Pflicht
geben, ſie zu löſen, weil es für jetzt keine Möglichkeit gibt. Einem neuen
Bauſtyl muß eine neue Form der Bildung vorausgehen: eine Bildung,
welche das Chaos kritiſcher Gedanken, auflöſender und erhaltender Ten-
denzen, trennender Leidenſchaften, das unſere unzufriedene Uebergangszeit
darſtellt, zu einem Zuſtande natürlichen, einfachen Geſammtgefühls aufge-
hoben haben muß, eines Geſammtgefühls, welches zugleich die Kluft zwi-
ſchen der Bildungsſtufe der Stände in der Beziehung der Religion ſo
ausfüllt, daß trotz den Unterſchieden in der Ausbildung des Denkens
Ein Höchſtes Allen gleich ehrwürdig iſt. Ein ſolches Gemeingefühl muß
ſich in einem neuen Cultus darſtellen und die Bedürfniſſe dieſes Cultus,
der den geläuterten romaniſch-katholiſchen Feſt- und Formſinn und die
gelichtete germaniſch-proteſtantiſche Innerlichkeit irgendwie verſchmelzen
wird, werden auf der Grundlage jenes Gemeingefühls, das eben dem
Künſtler ſelbſt lebendig inwohnen wird, dieſen erwecken, daß er denkend
und doch naiv die Frage, die wir mit bloßem Denken nicht löſen können,
einfach löſen wird. Hiemit ſind wir zu §. 577 zurückgekehrt, der in der
Anmerkung bereits auch den naheliegenden Vorwurf eines Widerſpruchs
zwiſchen dem Satze in §. 466, im modernen Ideal habe ſich das Schöne
von der Religion getrennt, und zwiſchen den nunmehr aufgeſtellten Sätzen
widerlegt.
[331]
Anhang.
Die untergeordnete Tektonik.
An die Baukunſt ſchließen ſich verſchiedene Arten techniſcher Thätigkeit1.
an, welche nur Zweckmäßiges hervorbringen, aber daſſelbe auf Grundlage des
architektoniſchen Styls verſchönern, wobei die äſthetiſche Aufgabe darin be-
ſteht, daß der anhängende Schmuck zwar ſpielend, doch in organiſch klarer
Weiſe den Zweck ausdrücke. Am nächſten ſteht der Baukunſt die Fügung und2.
Verzierung unbeweglicher, gewiſſen im Bauzwecke ſelbſt begriffenen Bedürfniſſen
dienender Werke; auch die Technik größerer, beweglicher oder zwar kleinerer,
aber auf das Geradlinige angewieſener Geräthe ſchließt ſich ihr in innigem
Zuſammenhang an. Dagegen nähert ſich die Technik der Gefäße und des
handlichen Geräthes durch Vorherrſchen des Runden und der Nachbildung orga-
niſcher Formen in der Verzierung dem Gebiete der nächſtfolgenden, die concrete
Geſtalt nachahmenden Kunſt. Auch die Bekleidung architektoniſcher Räume
und größerer Geräthe mit weichen Stoffen und die äſthetiſchen Motive in der
Anfertigung derſelben knüpfen ſich an das Gebiet der Architektur. Die Ge-3.
ſchichte des Styls in dieſer reichen Formenwelt folgt überall den Epochen des
Bau-Styls.
1. Die Baukunſt ſelbſt im Ganzen und Großen iſt das Extrem,
wodurch die Kunſt ihre Wurzel im Lebensbedürfniß und Handwerk hat,
indem ſie zunächſt dem Zwecke der geſchützten Wohnung dient und von
dieſem Ausgangspuncte ſich zur würdigen Umſchließung eines durch den
abſoluten Selbſtzweck der Idee geforderten Innern erhebt. Jede Kunſt
hat nun ihre anhängenden Formen, worin ein an ſich Außeräſthetiſches
durch äſthetiſche Zuthat gehoben oder als lebendiger Stoff zu äſthetiſcher
Darſtellung verwendet wird vergl. §. 545 ff. Unter dieſen verſchiedenen
Formen kann der Baukuſt nur diejenige anhängend zur Seite ſtehen,
worin ein der äußern Zweckmäßigkeit dienendes Erzeugniß verſchönert
wird vergl. §. 546. Unter äußerer Zweckmäßigkeit kann hier natürlich
nicht jene umfaſſendere verſtanden werden, welcher die Baukunſt ſelbſt
dient, ſondern nur das Gebiet der untergeordneten Zwecke, das ſich nie-
mals zu der Höhe jenes abſoluten Selbſtzweckes erheben kann wie der
Bauzweck im Tempel, das Gebiet des einzelnen Bedürfniſſes, wofür ſich
[332] der empiriſche Menſch durch Geräthſchaften, Gefäße u. ſ. w. die Mittel
ſchafft. Wir nennen dieß Gebiet das der untergeordneten Tektonik. Otfr.
Müller befaßt unter dem Namen Tektonik ſowohl die Baukunſt im Großen,
als die Technik der Geräthe und Gefäße; wir folgen ihm, indem wir
durch den Beiſatz „untergeordnet“ dieſe Geſammt-Benennung auch für die
Architektonik offen laſſen. Die tiefere äſthetiſche Bedeutung aller ver-
ſchönernden Kunſt iſt ſchon in §. 545 mit Rückbeziehung auf frühere,
allgemeine Sätze ausgeſprochen. Niemand rühme ſich des Kunſtſinns,
der ſich nicht auch für dieſe untergeordneten Zweige, wodurch die Kunſt
ſich concret mit dem Leben verſchlingt, lebendig intereſſirt; wer das Auge
im Großen für das Schöne gebildet hat, der geht am Laden des Kunſt-
tiſchlers, Waffenſchmieds, an der Auslage von Gefäßen u. dergl. nicht
gleichgiltig vorüber. Das äſthetiſche Geſetz nun für dieſes Gebiet beſtimmt
der §. dahin, daß das verſchönernde Spiel den zierenden Zuſatz mit der
außeräſthetiſchen Kernform nicht äußerlich, ſondern organiſch in einer den
Zweck ſelbſt klar ſymboliſirenden Weiſe vereinigen ſoll. Wenige Beiſpiele
mögen dieß erläutern. Der thieriſche Fuß an antiken Tiſchen und andern
Geräthen zeigt ſinnig an, daß das Geräthe beweglich iſt, die Panther-
tatze deutet ſpezieller die Beſtimmung des Weintiſchs an (Attribut des
Dionyſos). Am Sturmbock kann der harte, ſpröde, dumpfe Stoß nicht
beſſer charakteriſirt ſein, als durch den Widderkopf. Der Hahn am Schloſſe
des Schießgewehrs ſchnappt vor, ſchlägt auf, entzündet das Feuer: das
Schnappen mag durch eine Fiſchform ſymboliſirt werden, oder mehr als
pickender Stoß aufgefaßt durch das Bild des Raubvogels, dagegen be-
zeichnet der Drache zugleich den Entzündungsprozeß; ſo belebt ſich die
Waffe und es liegt in dem treffenden Spiele des Schmucks dieſelbe Poeſie
wie in Beilegung perſönlicher Namen, wodurch bei den alten Völkern
jede Waffe zu einem perſönlichen Weſen wurde, wodurch die Glocke, das
Schiff noch heute beſeelt vorgeſtellt wird. Dagegen mag durch die Be-
merkung, daß es ſehr ſchwer iſt, für den Mechanismus des Zündnadel-
gewehrs eine paſſende ſymboliſche Verzierung zu erfinden, ſogleich auf
den ſchweren Kampf hingewieſen werden, welchen in der modernen Zeit
der Kunſtſinn mit der Nacktheit zu beſtehen hat, die der unendliche Fort-
ſchritt der mechaniſchen Erfindungen mit ſich bringt.
2. Es iſt ſehr ſchwer, die unendliche Formenwelt einzutheilen, von
der es ſich hier handelt. Die Eintheilung nach Gegenſtänden, an ſich
ſchon ſchwierig, durchkreuzt ſich mit der Eintheilung nach Gewerken, da
dieſelben Gegenſtände, aus verſchiedenem Materiale geformt, verſchiedenen
Zweigen der Technik zufallen. Der §. legt ſeiner Ueberſchrift die Richt-
ſchnur zu Grunde, daß er von dem Gebiete, das der Baukunſt enger ſich
anſchließt, zu den Endpuncten fortgeht, wo ſich dieſe Welt geſchmückter
[333] Formen mehr und mehr in die Sculptur verläuft. Dieß geſchieht in dem
Grade, in welchem die runde Linie und die Zierrath, die Organiſches
nachbildet, herrſchend wird. Je mehr die ſtrenge geometriſche Linie herrſcht,
deſto näher ſtellen ſich dieſe Gebilde an die Seite der Architektur. Wir
beginnen die Ueberſicht mit jenen größeren Gegenſtänden, die ſich dadurch
der Baukunſt am engſten anſchließen, daß ſie unbeweglich im Bauwerk
ſtehen und einem Zwecke dienen, der im Bauzwecke mitenthalten iſt;
zunächſt im idealen Bauzweck des Grabmals und Tempels: Sarkophag,
Grabſtein, Altar, Chorgeſtühl, Kanzel, Sacramentshaus, Orgel nach der
decorativen Seite ihres Baus, Taufſtein. In dieſen Bildungen wird ſich
immer der Bauſtyl einer Zeit wiederholen, aber reicher, als das Bau-
werk ſelbſt, in eine vielfältige Ornamentenwelt hinüberblühen. Im Mittel-
alter hat ſich an dieſen Zweigen vorzüglich die blühende Schnitzerkunſt ent-
wickelt, denn für die im Innern geſchützt ſtehenden Werke war das
Holz ein ganz günſtiges Material; doch auch dem Stein wurde nun (vor-
züglich in den reichen Sacramentshäuſern) ein Formenſpiel abgewonnen,
das die Nachwelt anſtaunt. Die Namen Adam Kraft und Syrlin mögen
ſtatt aller weitern Schilderung ein lebendiges und herrliches Bild in der
Phantaſie hervorrufen. Welcher Schwung, welche ſtrotzende Kraft und
welche Genialität der Windung, Verſchlingung, welche markige Schärfe
dringt nun namentlich in die Pflanzen-Ornamentik ein, die hier einen
ungleich reicheren Spielraum hat, als in der großen Architektur! — Von
Solchem, was der nützlichen Baukunſt angehört, mag hier der Ofen
erwähnt werden; die Kunſt des Eiſengießers und des Töpfers kann aus
dem Zwecke der Feurung einen Reichthum charakteriſirender äſthetiſcher
Motive entwickeln. In untergeordneterer Weiſe ſchließen ſich an die
Architektur gewiſſe Aufgaben des Schmieds und Schloſſers, zum Theil
auch des Eiſen- und Bronce-Gießers an: Gitter, Geländer, Träger von
Hervorragendem, reiche Schlöſſer, Thürklopfer u. dergl.; nimmt man die
letzteren, kleineren Objecte für ſich, ſo gehören ſie freilich in ein weiter
unten aufzuführendes, näher der Plaſtik zuzuweiſendes Gebiet, allein
wir dürfen ſie mit dem Feſten des ganzen Bauwerks zuſammenfaſſen.
Auch die zuerſt genannten größeren Formen gehen ja vielfach in eigentlich
plaſtiſches Bildwerk über, das aber hier eben Ornament einer architekto-
niſch behandelten Grundbildung iſt und deren Geſetzen folgt. Die Bele-
gung des Bodens gehört dem Moſaik-Arbeiter und Tiſchler, der Architekt
kann ihm die Motive vorzeichnen, welche hier auf die Technik des Flech-
tens, Wirkens hinüberweiſen, ein Gebiet, von deſſen Stellung nachher
die Rede ſein wird. — Wir gehen nun zu den Geräthen über, d. h.
vorerſt nur zu einem Theile derſelben, demjenigen nämlich, der durch
Größe oder, wenn die Formen klein ſind, durch ſächlich begründetes
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 22
[334]Vorherrſchen der geraden Linie immer noch in näherem Zuſammenhang
mit dem Bildungsgeſetze der Baukunſt ſteht. Es handelt ſich jetzt um
lauter bewegliche Gegenſtände, denn auf dieſe hat ſich der Name Ge-
räthe durch den Gebrauch beſchränkt. Zu dem größeren Geräthe gehört
Alles, was man Möbel nennt: Tiſch, Seſſel (und Prachtſeſſel: Thron),
Bank, Schrank, aber auch Fahrzeuge: Wagen, Schlitten. Es theilen ſich
je nach dem Materiale verſchiedene Gewerke darein: Tiſchler, Bronce-
und Eiſen-Gießer, Marmor-Arbeiter (ein unbeſtimmtes Gebiet zwiſchen
Baukünſtler und Bildhauer), Wagner, zum Theil Dreher, Toreut d. h.
der Techniker, der aus Metallen oder Elfenbein, Perlmutter u. dergl.
treibt, fügt und die Oberflächen des Ganzen in verſchiedener Weiſe künſt-
leriſch bearbeitet. Dieſe letztere Technik (römiſch caelatura) begreift nun
freilich Vieles in ſich, was wir als bereits mehr dem Plaſtiſchen ange-
hörig, jetzt Sache des Gold- und Silber-Arbeiters, Ciſeleurs, Gürtlers
weiter unten aufführen, doch iſt ſie ebenſo in dem vorliegenden Gebiete
größeren, mehr bauartig gefügten Geräthes thätig. Hieher können wir
auch noch Lampen-, Lichter- und Gefäßgeſtelle, wie Kandelaber, Dreifüße,
Leuchter, Kronleuchter ziehen, die freilich ſchon, dem größten Theil ihrer
Form nach, in organiſche Formen-Nachbildung ſich auflöſen können, doch
in ihren Grundlinien immer ſtructiv, Säulenartig, auch Hängwerkartig
bleiben. Aber ſelbſt Kleines, Handliches, zur Aufbewahrung der ver-
ſchiedenſten Dinge Beſtimmtes gehört noch hieher, ſofern das Gerad-
linigte darin herrſcht; Behälter zu gottesdienſtlichem Gebrauche wie Mon-
ſtranzen folgen ſtreng dem Bauſtyl; doch auch Unbedeutenderes, dem
gewöhnlichen Gebrauche Dienendes iſt hier zu nennen: Laden, Käſtchen
(antike Schmuckkäſtchen: cistae mysticae), mit eingelegter, erhabener Ar-
beit, Niello u. ſ. w. geſchmückt: ein Feld, worin namentlich noch die
Cinquecentiſten ſo viel Reiches und Zierliches geleiſtet haben. Zu den
Behältern läßt ſich das Uhrgeſtelle rechnen, dem eine architektoniſche Bil-
dung immer die natürlichſte iſt. Selbſt die Cartonnerie und die Sattler-
arbeit in geradlinigten Behältern mag hier noch erwähnt werden. —
Gehen wir nun zu dem Gebiete über, das ſich beſtimmter der Plaſtik
nähert, ſo iſt es zunächſt die Herrſchaft der runden Linie, was dieſen
Uebergang bildet, und dieſelbe iſt durch die Beſtimmung, Flüſſiges in ſich
aufzunehmen und auszugießen, im Gefäße gegeben. Das gröbere
hölzerne Gefäß, Faß, Bütte u. ſ. f. ſchicken wir mit der kurzen Be-
merkung voran, daß dieſe Arbeiten des Küfers und Schefflers nicht immer
ſo nackt und roh geweſen ſind, wie heutzutage in den meiſten Ländern,
vielmehr Schnitzwerk, verſchiedenfarbige Holzarten, ſchön geſchwungene
Grundform ſelbſt dieſem Werke des Bedürfniſſes einen höheren Anhauch
gegeben haben. Das kleinere Gefäß nun beſchäftigt nach dem verſchiede-
[335] nen Materiale den Marmor-Arbeiter, Dreher, Flaſchner, Zinngießer,
Eiſen- und Bronce-Gießer, wieder den Toreuten, namentlich aber den
Kerameuten: den Bildner aus Thon (in neuerer Technik auch Porzellan)
und Glas. Bötticher (Tekt. d. Hell. Thl. I, S. 42 ff.) hat gezeigt,
wie ſchön organiſch, der Gliederung in ihrer Baukunſt entſprechend, die
Griechen das Gefäß in ſeinen Haupttheilen: Keſſel oder Bauch, Fuß,
Hals mit Lippe und Henkel entwickelt haben. Das Trinkgefäß unter-
ſcheidet ſich von dem zum Aufbewahren und Ausgießen beſtimmten durch
ſeine weitere Mündung; dagegen öffnet ſich die Lampe nur in einem
engen Mund für den Tocht, deſſen Flamme das flüſſige Oel verzehrt.
Zu getriebener Arbeit eignet ſich beſonders die weitgeöffnete Schüſſelform.
An die Gefäße können wir die Technik des Korbflechtens anſchließen, da
ſie ihre niedlichſten Formen im gefäßähnlich Runden hervorbringt. —
Es bleibt nun eine unüberſehliche Maſſe meiſt „handlichen Geräthes“
übrig, deſſen Grundform durch den rein äußern, praktiſchen Zweck ſo
gegeben iſt, daß die höhere Technik aus ihr nichts entwickeln, ſondern
ſich nur an ſie anlegen kann; je weniger ſie denn in die Fügung ſelbſt
einzudringen vermag, um ſo weniger kann ſie in architektoniſchem Style
verfahren, um ſo mehr wird ſie vegetabiliſche, thieriſche, menſchliche For-
men anbringen und daher in die Plaſtik hinüberweiſen, nur daß dieſe
Formen hier vom Organiſchen in Arabasken-Weiſe abweichen, Pflanzen-
und animaliſche Geſtalten oder dieſe unter ſich miſchen können, was ihnen
den ornamentiſtiſchen, alſo doch architektoniſchen Charakter bewahrt. Man
denke hier an Waffen, Stöcke, Scepter, muſikaliſche Inſtrumente (auch
Glocken), an Küchen- und Hausgeräthe der verſchiedenſten Art, und wenn
man zweifelt, ob ſelbſt dieſe letzteren Dinge der Erwähnung werth ſeien,
überſehe man die Ausgrabungen von Pompeji. Dagegen ſchreitet die Ver-
zierung der Speiſetafel bis zu Gegenſtänden fort, die blos der Pracht
wegen aufgeſtellt werden; Tafel-Aufſätze können in ihrem Hauptkörper
architektoniſch organiſirt ſein, aber Pflanze, Thier- und Menſchengeſtalt
wird doch den Haupttheil ihrer Gruppirung bilden. Das Kleinſte in der
nun vor uns liegenden unendlichen Maſſe iſt Schmuck in Edelſteinen,
edlen Metallen, Elfenbein u. dergl.: ein Gebiet, das wir im Anhang
zur Bildnerkunſt wieder aufzunehmen haben, denn hier namentlich legt
ſich die Organiſches im Kleinen nachbildende Zierplaſtik an oder gibt dem
niedlichen Ganzen ſeine Form. Doch bleibt Vieles übrig, was nicht ſo
beſtimmt in das Plaſtiſche hinübergeht; eine Spange z. B. kann ganz
plaſtiſch als Schlange, aber auch in Gelenken als Kette, ſomit mehr
architektoniſch-ornamentiſtiſch behandelt werden. — Es verſteht ſich nun,
daß an einem großen Theil des hier vor uns ausgebreiteten Reichs an-
hängender Schönheit auch die Malerei als verzierende Kunſt thätig ſein
[336] kann, namentlich an den Thon-Gefäßen. Und nach dieſer Kunſt führt
noch ein anderes großes Gebiet hinüber: die Weberei, Wirkerei, Stickerei
von Stoffzeugen und die Bekleidung der innern Architektur und der
Möbel mit denſelben. Die Farbe iſt in der Verfertigung dieſer Stoffe
allerdings das Haupt-Augenmerk, doch wird ſich die Zeichnung vorherr-
ſchend in architektoniſchen Motiven und architektoniſch ſtyliſirten Pflanzen-
formen bewegen; die einfachſten jener Motive ſind jene uralten Linien-
ſpiele des Mäanders, der Würfelzuſammenſtellung u. dgl., welche von
der im älteſten Zuſtande zu Verſchließung der Räume berufenen Technik
ausgingen, der Matten- und Teppichwirkerei (vergl. §. 573, 1. Anmerk.).
Weiterhin trat der Teppich ſeine urſprüngliche Beſtimmung größtentheils
an die Wandmalerei, in der neuern Zeit auch an die todte Papiertapete
ab und diente mehr zur Ueberkleidung einzelner Theile des architektoniſchen
Raums. Werden nun mit den Teppichen und andern Stoffzeugen die
innern Räume bekleidet, drapirt, die gepolſterten Möbel überſpannt, ſo
iſt dabei eines Theils weſentlich ebenfalls auf Farben-Harmonie zu ſehen,
aber nur ebenſo wie in der Polychromie der Architektur; nach der andern
Seite handelt es ſich von der Form und in dieſer Beziehung erinnert das
Geſchäft des Sattlers, Decorateurs zwar an die Faltengebung in der
Plaſtik, aber der zu überkleidende Körper iſt ja hier ein architektoniſcher
und ſo wird mehr ein Gefühl räumlicher Harmonie im Großen verlangt.
3. Das Gebiet, das wir hier überblickt haben, bildet einen Theil
der Culturformen, die uns in anderem Zuſammenhang, nämlich als eine
weſentliche Seite des geſchichtlichen Lebens, wie es Stoff der Phantaſie
und Kunſt wird, durch die Haupt-Epochen der geſchichtlichen Schönheit in
Th. II, Abſchn. 1 C, b. begleitet haben. Nunmehr, da wir ſie nicht mehr
als Stoff, ſondern als Theile der Kunſtthätigkeit ſelbſt vor uns haben,
erkennen wir ihren tiefen Zuſammenhang nicht nur mit dem Bildungs-
zuſtande der Völker überhaupt, ſondern beſtimmter mit der Stufe ihrer
Kunſt, und zwar iſt gemäß der aufgezeigten Natur dieſes Gebiets, ſo
vielfach die Objecte auch in die Bildhauerei und Malerei hinüberragen,
das Beſtimmende, Tongebende ſpezieller die Baukunſt. Ihrem Style folgt
im Großen und Ganzen dieſe Formenwelt. Die Aeſthetik, hier noth-
wendig auf das Prinzipielle ſich einſchränkend, hat daher nur auszuſprechen,
daß mit den geſchichtlichen Hauptformen der Architektur auch der allge-
meine Styl-Charakter dieſer Zweige geſchildert iſt. Die bunte, übervolle
Pracht des Orients, die edle, den Zweck in der Kunſtform einfach aus-
ſprechende Einfalt der Griechen, die kryſtalliſch-polygoniſche, mit vielen
Spitzen in die Höhe ſtrebende, reich und weit über den Zuſammenhang
mit dem Zweck hinaus ornamentirende Technik des Mittelalters, ausge-
bildet unter Einflüſſen des Mauriſchen, deſſen Bauſtyl ſelbſt ſchon in lauter
[337] Decoration ſich auflöst, der phantaſievolle Reichthum der Renaiſſance, der
gerollte, gefaſerte, geſchnörkelte, die Muſchelform liebende, doch in ſeiner
leidenſchaftlichen Manier immer noch einer gewiſſen Energie theilhafte
Rokoko: alle dieſe Geſtaltungen entſprechen genau der Phyſiognomie des
gleichzeitigen Bauſtyls. Dagegen iſt die moderne Zeit von jedem Bildungs-
geſetze verlaſſen und zwar eben aus dem Grunde, weil ſie keinen eigenen
Architekturſtyl hat; wie ſie in der Baukunſt prinzipienlos eklektiſch iſt, ſo
fährt ſie in dieſem Gebiet anhängender Technik nachahmend zwiſchen allen
dageweſenen Formen umher. Es fehlt ihr nicht an Erfindung und Geiſt;
namentlich die Franzoſen, das Volk des Geſchmacks (denn dieſem nament-
lich gehört das vorliegende Gebiet an, vergl. §. 79), aber auch die
Deutſchen (man denke an einen Schinkel) entwickeln einen Reichthum von
Talent, aber alle Erfindung bewegt ſich nur auf der Grundlage des Form-
geſetzes dieſes oder jenes ſchon dageweſenen Styls und daher haben Völker
des Orients, die noch Reſte feſter, nicht auf einem Widerſpruche mit der
Natur beruhender Cultur bewahren, auf der Weltausſtellung in London
die moderne Bildung ſo vielfach durch das Charaktervolle ihrer Producte
beſchämt. Wir haben den Grund, warum wir keinen eigenen Bauſtyl
haben, §. 577. 595, 2. in der Unruhe eines Zeitalters aufgezeigt, das
es zu keinem Gemeingefühl bringen kann, welches die Beſtimmtheit und
Feſtigkeit, die objective Geſtaltungsfähigkeit einer Naturkraft hätte. Aus
dem Gewühle dieſer in unzählich ſich durchkreuzenden Thätigkeiten auf
eine dunkle Zukunft unbefriedigt hinarbeitenden Zeit ſind noch mehrere
poſitive Erſcheinungen hervorzuheben, welche, ebenſoſehr wohlthätig und
ſtaunenswerth, als auch Quelle des Uebels und Unſchönen, im Gebiete
der Culturformen einer poſitiven Stylbildung ungünſtig ſind. Die Wiſſen-
ſchaften, Phyſik, Chemie, Technologie u. ſ. w. haben eine Welt neuer
Stoffe, neuer techniſcher Verfahrungsweiſen entdeckt und eingeführt; die
Stoffe werden zwar wunderbar leicht verarbeitet, aber es iſt ihrer zu
viel, um ihnen ruhig einen künſtleriſchen Styl zu entlocken. Der Markt wird
mit Maſchinenproducten überſchwemmt; das Maſchinenproduct iſt todt, ab-
ſtract, aber wohlfeil, es führt das Bequeme auch dem Armen zu. So un-
endlich dadurch die Bedürfniſſe geſteigert ſind, ſo muß doch die Speculation
athemlos über alles beſtimmte Bedürfniß hinaus auf Neues ſinnen, um die
neuen Stoffe (Guttapercha u. dgl.) zu benützen, die Maſchine zu be-
ſchäftigen, und die Haſt des Modewechſels, des größten Stylfeinds, wird
daher von der Production noch mit doppelter Hetzpeitſche angetrieben.
Daß ſie durchaus auf den Markt arbeitet, dieß verhindert die Bildung
lebendigen Styls auch darum, weil nicht, wie bei der beſtellten Arbeit der
Hand, die Rückſicht auf Zeit und Ort das Innige des individuellen Motivs
hinzubringt. Die höhere Kunſt ſucht von oben einzuwirken, vergl. über
[338] die Umkehrung des Verhältniſſes zwiſchen Kunſt und Handwerk §. 514.
In der That aber iſt der wahre Sinn dieſer Umkehrung nicht der, daß
der Künſtler, der nicht handwerksmäßiger Techniker iſt, dieſem ſeine Er-
findungen hinüberreicht und bei ſeiner Ausbildung akademiſch mitwirkt,
ſondern ein großer Theil der Talente, welche ſich zur höheren Kunſt
rechnen, müßte geradezu ſelbſt techniſch thätig werden in dieſem Gebiete,
zu ihm, wenn man will, hinunterſteigen. Aber auch dieſer Uebertritt, die
Bevölkerung des feineren Gewerkes mit Künſtlern, würde, ſelbſt in Maſſen
vollzogen, uns nicht in naher Zukunft zu dem führen, was uns fehlt,
einem Styl. Die tröſtlichſte Betrachtung der gegenwärtigen Zuſtände iſt
die von Semper (Wiſſenſchaft, Induſtrie und Kunſt) ausgeſprochene; er
faßt das nachahmende Formengemiſch unſerer Zeit als einen Zerſetzungs-
prozeß aller traditionellen Typen durch ihre ornamentale Behandlung auf,
welche einer neuen originalen Stylbildung ebenſo vorausgehen muß, wie
die fruchtbare Erde ſich aus zerriebenen Schichten früherer Formationen,
aus verwesten Pflanzenwelten bildet. Im Ganzen und Großen ruht aber
die Hoffnung auf derſelben Betrachtung wie die Hoffnung auf eine neue
Entwicklung der Baukunſt.
Appendix A
Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.
[][][]
wird über den hier angedeuteten, von ihm aufgefundenen geometriſchen Schlüſſel, der von den
Combinationen Hoffſtadts und Anderer wohl zu unterſcheiden iſt, die ausführliche Rechenſchaft
geben.
- License
-
CC-BY-4.0
Link to license
- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Vischer, Friedrich Theodor. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpvv.0