uͤber
die menſchliche Natur
und
ihre Entwickelung
Leipzig: ,
bey M. G. Weidmanns Erben und Reich. 1777.
Jnhalt
des zweeten Bandes.
Zwoͤlfter Verſuch.
Ueber die Selbſtthaͤtigkeit und Freyheit.
I.
- Einleitung. Schwierigkeiten bey dieſer Unterſuchung
S. 1
II.
- Begriff von der Freyheit, oder von der Selbſtmacht der
Seele uͤber ſich, auf den die Empfindung fuͤh-
ret 5 - 1) Freyheit iſt ein Vermoͤgen, „das nicht zu thun,
„was man thut, oder es anders zu thun, als man
„es thut.‟ Folgen aus dieſem Begriff 5 - 2) Daß wir ein ſolches Vermoͤgen beſitzen, iſt aus
Beobachtungen erweislich 8 - 3) Wie ſolches aus der Erfahrung bewieſen werde?
Woher die Fallazen der Empfindungen hiebey
entſtehen koͤnnen 11
III.
- Von dem Umfange und den Grenzen der Freyheit 19
- 1) Die Freyheit findet ſich bey allen Arten von Kraft-
aͤußerungen der Seele. Jn wieferne ſolche dem
Willen oder der Aufmerkſamkeit ausſchließungs-
weiſe zugeſchrieben werden koͤnne? Von der Will-
kuͤr 19
a 22) Die
[IV]Jnhalt - 2) Die menſchliche Freyheit iſt eingeſchraͤnkt, ſo wohl
in Hinſicht der innern Staͤrke als ihrer Ausdeh-
nung S. 25
IV.
- Das Maß der Freyheit 26
V.
- Wie die Freyheit ſich auf die Vernunft beziehet 31
- 1) Das Vermoͤgen zu dem Gegentheil deſſen, was
wir wirklich vornehmen, iſt noch naͤher zu unter-
ſuchen 31 - 2) Wie die Freyheit ſich auf die Vernunft beziehe
nach den wolfiſchen Jdeen 32 - 3) Jede Handlung iſt eine freye Handlung, in der
eine deutliche Vorſtellung von der Handlung und
von dem Objekt die wirkende Kraft beſtimmt. Von
der moraliſchen Nothwendigkeit 34 - 4) Aber die Handlung kann auch frey ſeyn, wenn
gleich die Kraft von einer nicht deutlichen Vorſtel-
lung und von einer Empfindung beſtimmet wird.
Der Zuſtand der Beſinnung iſt allemal erfoder-
lich, wenn die Seele frey handeln ſoll 37
VI.
- Das Vermoͤgen ſich anders zu beſtimmen bey freyen
Handlungen muß ein aktives inneres Vermoͤgen ſeyn,
und nicht eine bloße Receptivitaͤt anders beſtimmet
werden zu koͤnnen 39
VII.
- Von dem zureichenden Grunde, den freye Handlungen
haben 41
VIII.
- Von ſelbſtthaͤtigen und aus Eigenmacht hervorgehenden
Kraftaͤußerungen. Was es heiße, unabhaͤngig und
aus voller Eigenmacht handeln. Von ſelbſtthaͤtigen
Kraͤften, zu deren Aeußerung ein Reiz von außen er-
fodert
[V]des zweeten Bandes.
fodert wird. Von Aktionen, die durch eine mitge-
theilte Kraft hervorgebracht werden S. 46
IX.
- Von der Selbſtthaͤtigkeit der menſchlichen Seele 59
- 1) Es iſt Erfahrung, daß die Seele mit voͤlliger Selbſt-
thaͤtigkeit handelt, wenn ſie frey handelt 59 - 2) Schwierigkeiten ſich von dem, was alsdenn in uns
vorgehet, deutliche Begriffe zu machen. Wie die
Determiniſten und Jndeterminiſten ſolche Em-
pfindungen erklaͤren 63 - 3) Die Wirkſamkeit der Seele, womit ſie willkuͤrlich
ſich ſelbſt beſtimmt, iſt eine von dem Einfluß aͤuße-
rer Empfindungen erweckte Selbſtthaͤtigkeit 66 - 4) Weitere Fragen und Veranlaſſungen zu fernern
Unterſuchungen dieſer Selbſtthaͤtigkeit der Seele 69
X.
- Von der Beſtimmung der ſelbſtthaͤtigen Seelenkraft
zu einzelnen Aeußerungen 73 - 1) Die Seele wird zuweilen leidentlich beſtimmt; zu-
weilen beſtimmt ſie ſich ſelbſt 74
Erſte Erfahrung: Wenn ſie fuͤhlet und empfin-
det, wird ſie leidentlich beſtimmet 74 - 2) Zwote Erfahrung: Jede Kraftaͤußerung der Seele,
welche unmittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, und von
der wir vorher keine Vorſtellung hatten, iſt eine
ſolche, zu der die Kraft der Seele leidentlich be-
ſtimmt wird 74 - 3) Dritte Erfahrung: Oftmals haben wir ſchon vor-
her eine Jdee von der erfolgenden Aktion, und wer-
den dennoch leidentlich zu ihr beſtimmet 76 - 4) Vierte Erfahrung: Die Gegenwart, die Bear-
beitung und die weitere Entwickelung der Vorſtel-
lungen iſt oftmals keine Selbſtthaͤtigkeit der Seele,
wenigſtens dem Gefuͤhl nach nicht; oftmals iſt
ſie es 76
a 35) Grund
[VI]Jnhalt - 5) Grund dieſer Verſchiedenheit in den Empfindungen.
Fuͤnfter Erfahrungsſatz: von dem Unterſcheidungs-
merkmal ſolcher Aktus der Seele, wozu ſie leident-
lich beſtimmet wird S. 79 - 6) Weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen dieſen, und
denen, wozu ſie ſich ſelbſt beſtimmt 82
XI.
- Fortſetzung des Vorhergehenden. Von den Selbſtbe-
ſtimmungen der Seele zu ihren Aktionen 84 - 1) Die Selbſtbeſtimmung erfodert, daß die Seele in
dem Stande reger Wirkſamkeit ſich befinde 85 - 2) Die Selbſtbeſtimmung zu einer Aktion erfodert, daß
eine Vorſtellung von dieſer Aktion vorhanden ſey 86 - 3) Das Selbſtbeſtimmen iſt ein Aktus der Wieder-
vorſtellungskraft, welcher die Jdee von der Aktion
zum naͤchſten Objekt hat. Und dieſe Reproduktion
iſt eine Selbſtthaͤtigkeit, welche nicht unmittelbar
auf das Gefallen erfolget 89 - 4) Die gefallende Vorſtellung beſtimmt das thaͤtige
Princip nicht innerlich zu der Aktion, welche erfol-
get, ſondern iſt blos ein Objekt, welches der inner-
lich ſchon voͤllig zur Aktion beſtimmten Kraft vor-
gelegt wird 91 - 5) Der letzte Satz wird aus Beobachtungen bewieſen.
Zuerſt aus ſolchen Faͤllen, in denen wir uns mehr
zu einer Art der Handlung als zu der andern be-
ſtimmen 94 - 6) Ferner bey ſolchen Selbſtbeſtimmungen, wo wir
zwiſchen Thun und Laſſen auswaͤhlen 100 - 7) Endlich bey ſolchen Selbſtbeſtimmungen, wo wir
uns zu einer groͤßern Anſtrengung der Kraft oder
zu einer Nachlaſſung derſelben beſtimmen 100
XII.
- Von dem Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen 101
1) Unter-
[VII]des zweeten Bandes.
- 1) Unterſchied zwiſchen Wollen und Verrichten, und
zwiſchen dem Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen
S. 102 - 2) Das Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen erfodert,
daß die Kraft wirkſam ſey, und innerlich zurei-
chend zu der Art ihrer Anwendung beſtimmet 104 - 3) Die Vorſtellung von der Aktion, wozu wir uns
ſelbſt ſollen beſtimmen koͤnnen, muß in uns gegen-
waͤrtig ſeyn 106 - 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Wie weit die
vorſtellende Kraft in jedwedem Fall mit der Vor-
ſtellung von der Aktion beſchaͤfftiget iſt, wenn wir
uns ſelbſt zu der Aktion beſtimmen koͤnnen 107 - 5) Von den verſchiedenen Graden in dem Vermoͤgen
ſich ſelbſt zu beſtimmen 113 - 6) Wie weit auch da ein Vermoͤgen uns ſelbſt anders
zu beſtimmen vorhanden ſeyn kann, wo wir leident-
lich zu etwas beſtimmet werden 113 - 7) Wie weit wir es gewiß ſeyn koͤnnen, daß wir ein
Vermoͤgen anders zu handeln beſitzen. 114 - 8) Das Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen geht nur
auf Handlungen, die ſchon ehemals inſtinktartig
vorgenommen ſind 115 - 9) Wie Vermoͤgen zu entgegengeſetzten Aktionen,
zum Wollen und Nichtwollen, zum Thun und zum
Laſſen, zugleich in der Seele nebeneinander be-
ſtehen 116
XIII.
- Deutlichere Vorſtellung von der Freyheit oder der
Selbſtmacht der Seele uͤber ſich 121
XIV.
- Von den Folgen der Freyheit in den freyen Handlun-
gen ſelbſt 124
a 4XV.
[VIII]Jnhalt
XV.
- Vereinigung der allgemeinen Vernunftſaͤtze mit dem
Begriff von der Freyheit S. 129 - 1) Die Verknuͤpfung zwiſchen Urſachen und Wirkun-
gen iſt nicht allemal eine nothwendige Verknuͤ-
pfung 129 - 2) Unter welchen Vorausſetzungen die verurſachende
Verknuͤpfung zufaͤllig ſey 134 - 3) Unter welchen ſie nothwendig iſt 140
- 4) Zufaͤlligkeit der Verknuͤpfung, wenn freye Urſa-
chen wirken 141 - 5) Eine Erinnerung uͤber den Gebrauch der Gemein-
begriffe von Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit 146
Dreyzehnter Verſuch.
Ueber das Seelenweſen im Menſchen.
I.
- Vorlaͤufiger Begriff von der thieriſchen Natur des
Menſchen, und von dem Seelenweſen in ihm 149
II.
- Unſere Vorſtellungen von der Seele und ihren Veraͤn-
derungen ſind, eben ſo wie unſere Jdeen von den
Koͤrpern, nur Scheine 152
III.
- Von dem koͤrperlichen Beſtandtheile unſers Seelen-
weſens 158 - 1) Von dem Antheil des Gehirns an jedweder Seelen-
aͤußerung. Von materiellen Jdeen 158 - 2) Von der Natur des Selbſtgefuͤhls der Seele. Sie
fuͤhlet und empfindet ſich auf eine aͤhnliche Weiſe,
wie das Auge ſich im Spiegel ſiehet 169
IV.
- Von der Jmmaterialitaͤt unſers Jchs 175
1) Ueber
[IX]des zweeten Bandes.
- 1) Ueber den Begriff von der Jmmaterialitaͤt der
Seele, und von einer ſubſtanziellen Einheit S. 176 - 2) Ob in der ſubſtanziellen Einheit eine Vielfachheit
von Beſchaffenheiten ſeyn, und in wiefern ihr eine
ideelle Ausdehnung zukommen koͤnne 184 - 3) Wie weit zunaͤchſt aus der beobachteten Einheit
des Jchs die ſubſtanzielle Einheit der Seele ge-
folgert werden koͤnne 191 - 4) Jn wie weit die Seelenaktus nur kollektive ſolche
Aktus ſeyn koͤnnen? Die kollektiven Kraͤfte und
Wirkungen ſetzen eine ſubſtanzielle Einheit voraus,
in der die Kollektion geſchieht, und in Hinſicht auf
welche ſie nur ſolche Kraͤfte und Wirkungen ſind,
als ſie ſind 194 - 5) Es iſt ein Unterſchied zwiſchen bloß kollektiven
Kraͤften und Wirkungen, und zwiſchen abſoluten
Kraͤften und Wirkungen eines Dinges, die von
ſeiner Verbindung mit andern abhangen 199 - 6) Die naͤchſte Folge aus dem Vorhergehenden iſt: daß
wenn unſer Jch aus mehreren ſubſtanziellen Ein-
heiten beſtehet, deren Kraͤfte und Aeußerungen,
einzeln genommen, von den Seelenaͤußerungen
verſchieden ſind, ſo muͤſſen jene Kraftaͤußerungen
in jedwedem einfachen Theile des Ganzen zuſam-
menlaufen, oder doch in Einem von dieſen Thei-
len 204 - 7) Ob dieß nicht ſo viel heiße, als: jedweder Theil
dieſes Ganzen muͤſſe ein fuͤhlendes, denkendes |und
wollendes Jch ſeyn; oder, nur Einer dieſer Theile
muͤſſe es ſeyn 206 - 8) Beſchluß dieſer Betrachtung. Das bisher bewie-
ſene fuͤhret nicht weiter als auf eine Vorſtellung, die
zwiſchen die gewoͤhnliche Vorſtellung der Jm-
materialiſten und der Materialiſten faͤllt 210
a 5V.Von
[X]Jnhalt
V.
- Von dem Sitz der Vorſtellungen S. 213
- 1) Fernere Fragen uͤber die Natur des Seelenwe-
ſens 213 - 2) Jnſonderheit uͤber den Sitz der Vorſtellungen.
Verſchiedene Hypotheſen daruͤber 217
VI.
- Beurtheilung der erſten Hypotheſe von dem Sitz des
Gedaͤchtniſſes in der Seele 223 - 1) Die Erklaͤrungsart bey dieſer Hypotheſe. Jhr zu-
folge giebt es keinen unmittelbaren Uebergang im
Gehirn von einer materiellen Jdee zur andern,
die mit ihr verknuͤpft iſt 224 - 2) Auf welche Art viele Schwierigkeiten, die man die-
ſer Erklaͤrungsart entgegenſetzet, gehoben werden
koͤnnen? Wie gewiſſe harmoniſche Bewegungen im
Gehirn gegenwaͤrtig ſeyn koͤnnen, ohne daß weder
die Seele noch die ſonſten gewoͤhnliche Jmpreſſion
von außen ſie hervorbringe? Jmgleichen wie Jdeen
wider den Willen der Seele in ihr und von ihr
reproducirt werden koͤnnen 227 - 3) Schwierigkeiten, die aus der beobachteten Abhaͤn-
gigkeit des Gedaͤchtniſſes von dem Koͤrper, und
von koͤrperlichen Urſachen entſtehen. Wie dieſe ge-
hoben werden koͤnnen 230 - 4) Merkwuͤrdiger Unterſchied zwiſchen willkuͤrlichen
Vorſtellungen, deren Gegenwart von einem ſelbſt-
thaͤtigen Beſtreben der Seele abhaͤnget, und zwi-
ſchen unwillkuͤrlichen, die ſich uns von ſelbſt dar-
zuſtellen ſcheinen 233 - 5) Einwurf, der aus dieſer Verſchiedenheit entſprin-
get gegen die Meynung, daß die Wiedervorſtel-
lungskraft allein der Seele zukomme. Wie ſich
darauf antworten laſſe 236
VII.Von
[XI]des zweeten Bandes.
Von der zwoten bonnetiſchen Hypotheſe, von dem
Sitz der Vorſtellungen in dem Gehirn, und von
dem Vermoͤgen des Gehirns ſie zu reproduci-
ren S. 238 - 1) Auszug der bonnetiſchen Analyſis 239
- 2) Pruͤfung dieſer Hypotheſe. Sie hebt die Freyheit
der Seele nicht auf 247 - 3) Pruͤfung des erſten Grundſatzes. „Ob es eine all-
„gemeine Eigenſchaft organiſirter Koͤrper ſey,
„daß Eindruͤcke auf ſie gewiſſe Diſpoſitionen hin-
„terlaſſen, empfangene Bewegungen nachher leich-
„ter anzunehmen‟ 251 - 4) Pruͤfung des zweeten Grundſatzes. Ob jede ver-
ſchiedene materielle Jdee ihre eigene Fiber erfo-
dere? 255 - 5) Pruͤfung dieſes Syſtems, als eine Hypotheſe be-
trachtet, aus der die pſychologiſchen Erſcheinungen
erklaͤret werden ſollen. Es hat auf einer Seite ei-
nen Vorzug vor dem vorhergehenden, da es die
Abhaͤngigkeit der Jdeen von dem Koͤrper leichter
erklaͤret 262 - 6) Ob irgend eine Vorſtellung ſich jemals gaͤnzlich
verliere 266 - 7) Von dem Kindiſchwerden der alten Leute. Wie
ſolches nebſt andern aͤhnlichen Wirkungen ſowohl
nach der erſten Hypotheſe, als nach der bonneti-
ſchen zu erklaͤren ſey 268 - 8) Jn der bonnetiſchen Hypotheſe iſt eine Luͤcke, da
die Jmpreſſionen in dem Gehirne ihre bleibenden
Spuren haben ſollen, aber die Jmpreſſionen in der
Seele nicht ſo. Eine aͤhnliche Luͤcke findet ſich auch
in der erſten Hypotheſe auf der andern Seite 274 - 9) Beobachtungen, die ſchwerer aus der bonnetiſchen
Hypotheſe erklaͤret werden 278
VIII. All-
[XII]Jnhalt
VIII.
- Allgemeine Ueberſicht der verſchiedenen Hypotheſen
uͤber den Sitz der Vorſtellungen und der Phan-
taſie S. 283 - 1) Vorerinnerung 283
- 2) Von der Ordnung und Folge der Seelen. und
Gehirnsveraͤnderungen wenn Vorſtellungen von
mehrern Objekten in der Empfindung aſſociirt
werden 285 - 3) Was bey der Reproduktion der Vorſtellungen in
dieſer Empfindungsordnung geaͤndert werden kann
und geaͤndert wird 288 - 4) Vortrag einer Hypotheſe, zu welcher die Beobach-
tungen ſich am beſten zu vereinigen ſcheinen 293
IX.
- Verſuch, aus der Analogie der Seelennatur des Men-
ſchen mit ſeiner thieriſchen Natur die Einrichtung
der erſtern aufzuklaͤren 299
Erſte Abtheilung.
- 1) Worinn die Analogie der Seelennatur und der
thieriſchen Natur in dem Menſchen beſtehe? We-
ſentliche Beſtandtheile der thieriſchen Natur 301 - 2) Wie die Seelenkraft mit der Koͤrperkraft in der
thieriſchen Natur in Vereinigung bey den thieriſchen
Bewegungen wirke? Die thieriſchen Bewegungen
haben eine Verbindung mit einander in dem Koͤrper,
und auch eine vermittelſt der Seele 306 - 3) Fragen uͤber die beſtimmte Art dieſer Zuſammen-
wirkung. Wie weit die Seelenkraft die Koͤrper-
kraͤfte, und dieſe jene, erſetzen koͤnnen 312 - 4) Von den blos organiſchen Bewegungsreihen.
Einige ſind natuͤrlich nothwendig, andere ſind
zufaͤllig entſtanden 315
5) Es
[XIII]des zweeten Bandes. - 5) Es aſſociiren ſich organiſche Bewegungen in dem
Koͤrper, wie Vorſtellungen in der Seele S. 317 - 6) Charakter der blos organiſchen Bewegungsreihen
321 - 7) Wie weit die Seele bey dieſen mitwirke, und ihre
Verbindung von der Seelenkraft abhange 328 - 8) Fortſetzung des Vorhergehenden 332
- 9) Von den willkuͤrlich aſſociirten Bewegungen 339
- 10) Wie weit es organiſche Aſſociationen in dem
Koͤrper gebe, die zu den willkuͤrlichen Reihen ge-
hoͤren? und ob dieſe organiſchen Reihen, ohne
Beywirkung der Seele, durch die Koͤrperkraͤfte
hervorgebracht werden koͤnnen 341 - 11) Wie weit die Aktion der Seele und der Koͤrper-
kraͤfte ſich hiebey einander modificiren, und wiefern
die Bewegungsreihen durch die letztern allein, oder
durch die Seele allein, erfolgen koͤnnen 344 - 12) Von den uͤbrigen Bewegungsreihen, die zum Theil
willkuͤrlich, zum Theil blos organiſch ſind 347 - 13) Ob es der Analogie der Natur gemaͤß ſey, die
Jnſekten und andere unvollkommene Thiere fuͤr ſee-
lenloſe Weſen zu halten? Von dem Uebergange von
beſeelten zu unbeſeelten Weſen 349
Zwote Abtheilung. - 1) Analogiſcher Schluß von der thieriſchen Natur
des Menſchen auf ſeine Seelennatur 357 - 2) Eine Folgerung daraus 366
Vierzehnter Verſuch.
- Ueber die Perfektibilitaͤt und Entwickelung des
Menſchen 368 - Vorerinnerung uͤber die Abſicht dieſes Verſuchs 368
Erſter
[XIV]Jnhalt
Erſter Abſchnitt.
- Von der Perfektibilitaͤt der Seelennatur und ihrer
Entwickelung uͤberhaupt S. 373
I.
- Ob der Anwachs des Seelenvermoͤgens allein in einer
Vermehrung der Jdeen und Jdeenreihen beſtehe?
Searchs Gedanken hieruͤber 373
II.
- Naͤhere Unterſuchung uͤber den Anwachs bey den thaͤti-
gen Vermoͤgen 378 - 1) Beobachtungen, welche zu beſtaͤtigen ſcheinen, daß
die Erhoͤhung der Vermoͤgen zu Fertigkeiten allein
in den erworbenen Jdeenreihen beſtehe 379 - 2) Andere Beobachtungen, welche mit dieſer Hypotheſe
nicht ſo gut zu vereinigen ſind 385 - 3) Wenn ein Vermoͤgen in Fertigkeit uͤbergeht, ſo
empfangen a)die Jdeen von den Objekten eine
Leichtigkeit wiedererwecket zu werden; b)die
Vorſtellungen von den Aktionen ſelbſt, die theils
eine Reproduktion der die einzelnen Aktionen be-
gleitenden Empfindungen, theils eine Wiederho-
lung der ehemaligen Kraftaͤußerungen ſelbſt, in
ſich faſſen, werden leichter erweckbar 390 - 4) Genauere Vergleichung der Beobachtungen uͤber
den Zuwachs der Vermoͤgen durch die Uebung.
Was in dieſem Zuwachs enthalten ſey 392 - 5) Zwo Folgen aus dem Vorhergehenden. Von dem
vorzuͤglichen Nutzen, den das Leſen der Original-
ſchriftſteller hat. Von dem Nutzen der Metaphy-
ſik, als einer Uebung der Verſtandeskraͤfte 400 - 6) Wie weit die Erhoͤhung eines Seelenvermoͤgens
ſich uͤber andere Vermoͤgen ausbreite 403 - 7) Von der Schwaͤchung der Vermoͤgen durch allzu
ſtarke Anſtrengung 405
III.Von
[XV]des zweeten Bandes.
III.
- Von der Erhoͤhung der leidenden Vermoͤgen der Seele,
der Receptivitaͤt, des Gefuͤhls und der Empfind-
ſamkeit S. 412 - 1) Von der Erhoͤhung der aͤußern Sinne. Was
hierinn lieget, iſt auch in der Vervollkommnung der
uͤbrigen leidenden Vermoͤgen enthalten 413 - 2) Die erlangten Jdeen von den Objekten machen
Zuͤge und Eindruͤcke bemerkbar, die es fuͤr ſich we-
niger oder gar nicht geweſen ſeyn wuͤrden 415 - 3) Es entſtehet eine Leichtigkeit dergleichen Eindruͤ-
cke anzunehmen, und auf ſie zu reagiren, welche
von der Leichtigkeit die Jdeen von den Objekten
zu erneuern unterſchieden iſt 416 - 4) Die Verfeinerung Einer Seite unſerer leidenden
Vermoͤgen verbreitet ſich uͤber andere 420
IV.
- Worinn die Entwickelung der menſchlichen Natur be-
ſtehe 421 - 1) Allgemeiner Abriß von dem Gange, den die Entwi-
ckelung der Seelenvermoͤgen nimmt 421 - 2) Unterſchied zwiſchen den abſoluten und relativen
Vermoͤgen, und zwiſchen der Ausbildung an jenen
und an dieſen 431 - 3) Ob und wiefern die Entwickelung der Seele als
eine Evolution oder als eine Epigeneſis zu betrach-
ten ſey 434 - 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Die Seelenent-
wickelung nach dem bonnetiſchen Syſtem 436 - 5) Es iſt ſchwer hieruͤber zu entſcheiden, und nicht
anders als durch die Analogie aus der Entwicke-
lung des menſchlichen Koͤrpers 439 - 6) Wie weit zu den beſondern Faͤhigkeiten angeborne
Anlagen einzuraͤumen ſind oder nicht 442
Zweeter
[XVI]Jnhalt
Zweeter Abſchnitt.
- Von der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers
S. 448
I.
Vorerinnerung.
- Wiefern die Bildung organiſirter Koͤrper unausforſchlich
iſt. Abſicht der folgenden Betrachtung 448
II.
- Von dem Princip der Bildung in organiſirten Koͤrpern,
und von Keimen 452 - 1) Allgemeiner Grundſatz 452
- 2) Verſchiedene Perioden in der Entwickelung orga-
niſirter Weſen 453 - 3) Die vornehmſte bildende Urſache bey den organi-
ſirten Weſen liegt in dem Keim. Begriff vom
Keim nach dem Hrn. Bonnet 454 - 4) Begriff von dem Keim nach Hrn. Wolff 459
- 5) Erinnerung uͤber die weſentlichen Bildungsgruͤn-
de nach den Begriffen des Hrn. Wolff 460 - 6) Vom Modell, von Patronen in dem buͤffoniſchen
Syſtem. Von unvollſtaͤndigen Keimen 464 - 7) Von der organiſchen Konkretion 466
- 8) Von der generatione aequivoca. Wie weit ſie
unvernuͤnftig iſt 469 - 9) Von den unorganiſchen Konkretionen und von der
Bildung uͤberhaupt 473
III.
- Von den verſchiedenen Arten, wie Formen in organi-
ſirten Koͤrpern entſtehen koͤnnen 476 - 1) Was hier Form heiße? Wenn neue Formen ent-
ſtehen? und wenn die ſchon vorhandenen nur ver-
aͤndert werden? Wie die Vergroͤßerung eines
organiſirten Koͤrpers ohne Vermehrung der Formen
moͤglich ſey 477
2) Das
[XVII]des zweeten Bandes. - 2) Das Eigene in der bonnetiſchen Evolution haͤngt
von dem Grundſatz ab, daß keine neue Formen
entſtehen, und faͤllt mit dieſem Grundſatze weg.
S. 484 - 3) Fortſetzung des Vorhergehenden 487
- 4) Unter welchen Bedingungen mit der Vermehrung
der Maſſe neue Formen entſtehen muͤſſen? 490 - 5) Wenn neue Formen entſtehen koͤnnen, ſo giebt es
mehrere Arten, wie ſie entſtehen koͤnnen. Von
der Epigeneſis, von der Appofition der Theile und
von der nicht durchgaͤngigen Evolution. Unter-
ſchied zwiſchen den Perioden der Bildung, des Aus-
wachſens und der Fortdauer 494
IV.
- Einige Anmerkungen uͤber die verſchiedenen Entſte-
hungsarten organiſirter Koͤrper, beſonders uͤber
das Evolutionsſyſtem 500 - 1) Es ſind zween verſchiedene Saͤtze. Der erſte: Es
entſtehen keine neue Formen, die nicht ſchon in
dem Keim enthalten ſind. Der zweete: Der
Reim beſtimmt allein die Bildung, und beſtimmt
ſie voͤllig 501 - 2) Die bonnetiſche Hypotheſe hat eine dunkle Stelle.
Es iſt ſchwer ein beſtimmtes Unterſcheidungsmerk-
mal zwiſchen einer organiſchen Form anzugeben,
und zwiſchen den unorganiſchen Verbindungsarten,
die nothwendig entſtehen muͤſſen, wenn mehr Ma-
terie hinzukommt 502 - 3) Dieſe Hypotheſe kann nie durch die Beobachtungen
voͤllig bewieſen werden 504 - 4) Erfahrungen, welche zeigen, daß neue Formen
durch die Verbindung anderer Formen entſtehen
505
IITheil. b5) Die
[XVIII]Jnhalt - 5) Die Entſtehung neuer organiſchen Formen ſetzet
eine Entwickelung ſchon vorhandener Formen
voraus, und geſchieht durch die Vereinigung der-
ſelben. Dieſe Epigeneſis durch Evolution ſcheint
die allgemeine Entſtehungsart organiſirter Weſen
zu ſeyn. Sie muß auch bey den organiſchen Kon-
kretionen ſtattfinden S. 508
V.
- Naͤhere Betrachtung der letzterwaͤhnten Hypotheſe von
der Epigeneſis durch Evolution 513 - 1) Sie vertraͤgt ſich mit allen Beobachtungen 513
- 2) Sie laͤßt eine Erzeugung neuer Theile zu, ohne daß
eigene Keime zu ſolchen Theilen vorhanden ſind.
Von den Wiederergaͤnzungen 515 - 3) Sie laͤßt zu, daß Keime erzeuget werden 516
- 4) Wie die neuen Formen ſich auf den Keim bezie-
hen, aus deſſen Entwickelung ſie hervorgehen.
Jn Hinſicht einiger Formen beſitzet der Keim nichts
mehr als bloße Empfaͤnglichkeit 520 - 5) Was Anlage, Hang, Tendenz und Trieb zu et-
was ſey? Was weſentliche und unabaͤnderliche
Naturtriebe und Formen ſind 522 - 6) Wie die weſentlichen Formen in dem Keim be-
ſtimmt ſind, nach der Hypotheſe der Evolution
und nach der Epigeneſis 526 - 7) Wie bloße Vermoͤgen in naͤhere Anlagen, und
dieſe in Tendenzen uͤbergehen 533 - 8) Allgemeine Naturgeſchichte organiſirter Weſen
534
Dritter Abſchnitt.
- Von der Analogie der Entwickelung der Seele mit der
Entwickelung des Koͤrpers 539
I.Das
[XIX]des zweeten Bandes.
I.
- Das koͤrperliche Werkzeug der Seele entwickelt ſich auf
dieſelbige Art, wie der organiſirte Koͤrper, und
die Seele entwickelt ſich auf eine analoge Art S. 539
II.
- Von dem Seelenweſen im Keim. Die immaterielle
Seele kann nicht entſtehen wie der Koͤrper; aber
der Keim des menſchlichen Seelenweſens kann
entſtehen 540
III.
- Jdee von der angebornen Seelennatur. Vermoͤgen,
Anlagen, Jnſtinkte in derſelben 542
IV.
- Jhre Ausbildung beſtehet in einer Epigeneſis durch
Evolution. Die Art, wie der Koͤrper ſich entwi-
ckelt, wird aus der Entwickelung der Seele er-
laͤutert 548
V.
- Von dem Unterſchied unter Grundvermoͤgen und
abgeleiteten Vermoͤgen 548
Vierter Abſchnitt.
- Von der Verſchiedenheit der Menſchen in Hinſicht ih-
rer Entwickelung 555
I.
- Von der angebornen Verſchiedenheit der Menſchen 555
- 1) Einige Verſchiedenheit in der Natur giebt es,
auch in Hinſicht der Seelenkraͤfte, gegen Helve-
tius 555 - 2) Wie weit die Verſchiedenheit in den Menſchen-
gattungen ein Unterſchied an der Art, oder nur
eine Varietaͤt ſey? Von der Verſchiedenheit an
Abſtammung. Princip der Specifikarion 561
b 23) Von
[XX]Jnhalt - 3) Von den Urſachen, welche die Natur modificiren.
Wie gewiſſe Eigenſchaften des Koͤrpers und der
Seele ſich fortpflanzen S. 569 - 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Von dem Ein-
fluß, den die Einbildungskraft in die Fortpflan-
zung der Nationalcharaktere hat 576
II.
- Von den Urſachen, welche die menſchliche Natur aus-
bilden, und deren Verhaͤltniß gegeneinander 582 - 1) Die Bildungsgruͤnde bey dem Menſchen ſind die
Naturanlage, die phyſiſchen Umſtaͤnde, das
Beyſpiel und die eigentliche Erziehung 582 - 2) Wie groß der Einfluß der Natur ſey in Verglei-
chung mit den hinzukommenden aͤußern Urſachen
589 - 3) Von der Macht der vollkommenſten Erziehung
595 - 4) Wichtigkeit der aͤußern Umſtaͤnde. Vom Geiſt
des Standes 596 - 5) Wie weit die Entwickelung der Seelenkraͤfte der
eigentlichen Erziehung zuzuſchreiben ſey 601
III.
- Von den verſchiedenen Formen der Menſchheit
- 1) Stand der Wildheit, der Barbarey und der Ver-
feinerung 610 - 2) Wie weit dieſe als Stufen der Menſchheit zu be-
trachten ſind 615 - 3) Wie ſich dieſe Zuſtaͤnde auf einander beziehen 616
IV.
- Von der einſeitigen Vervollkommnung des Menſchen 622
- 1) Zu weit getriebene Vervollkommnung an einer
Seite kann der Vollkommenheit der ganzen Na-
tur ſchaͤdlich werden 622
2) Wie
[XXI]des zweeten Bandes. - 2) Wie das Maß der Vervollkommnung an einer
Seite zu beſtimmen ſey, wo ſie in Hinſicht der Voll-
kommenheit des Ganzen ein Groͤßtes iſt S. 628
V.
- Wie die innere Groͤße der Menſchheit in ihren ver-
ſchiedenen Formen zu ſchaͤtzen ſey 632 - 1) Von der abſoluten phyſiſchen Vollkommenheit
des Menſchen. Jnnere Groͤße und Werth der
Menſchheit in dem Menſchen 632 - 2) Wie ferne die koͤrperlichen Vollkommenheiten Be-
ſtandtheile der geſammten menſchlichen Vollkom-
menheit ſind 636 - 3) Die Vollkommenheit der menſchlichen Natur
haͤngt von der Vollkommenheit der Seele ab 642 - 4) Der Werth der koͤrperlichen Kunſtfertigkeiten
haͤngt von der Groͤße der Seelenthaͤtigkeit ab,
die in ihnen wirket 646 - 5) Die Groͤße in den Seelenkraͤften haͤngt von der
Groͤße der innern Selbſtthaͤtigkeit ab 649 - 6) Der innere Werth des Genies und des Charak-
ters haͤngt gleichfalls von der Selbſtthaͤtigkeit der
Seele ab. Von dem innern Werth der Tugend
652 - 7) Eine Folge hieraus, wenn Genies von verſchie-
dener Gattung mit einander verglichen werden 658 - 8) Von dem Werth der Wahrheit im Verſtande 662
- 9) Fortſetzung des Vorhergehenden 670
VI.
- Von der Gleichheit der Menſchen in Hinſicht ihrer
innern Vollkommenheit 676 - 1) Es giebt eine gewiſſe Gleichheit unter den entwi-
ckelten Menſchen 676
b 32) Naͤhere
[XXII]Jnhalt - 2) Naͤhere Beſtimmung, wie weit dieſe allgemeine
Gleichheit gehe S. 678 - 3) Wie weit ſie ſich auf Bloͤdſinnige erſtrecke 683
- 4) Grenzen der allgemeinen Gleichheit aller Menſchen,
und die Folgen derſelben 684
VII.
- Von dem Werth des aͤußern Zuſtandes in Hinſicht auf
die Vervollkommnung des Menſchen 692 - 1) Die aͤußern Umſtaͤnde haben einen relativen
Werth, inſoferne ſie Mittel ſind, die Vervollkomm-
nung der Menſchheit zu befoͤrdern 692 - 2) Wie ferne die aͤußern Umſtaͤnde in Hinſicht auf die
Vervollkommnung gleichguͤltig ſind 694 - 3) Fortſetzung. Allgemeine Anmerkungen uͤber die
Vorzuͤglichkeit gewiſſer Verfaſſungen 697 - 4) Die Vervollkommnung der Menſchen geht weiter
in polizirten Staaten als in der Barbarey und
Wildheit 705
Fuͤnfter Abſchnitt.
Von den Grenzen der Entwickelung und von der Wie-
derabnahme der Kraͤfte 709
I.
- Von dem Aeußerſten in der Entwickelung der Seelen-
vermoͤgen 709 - 1) Vorerinnerung 709
- 2) Die Sinne, die Vorſtellungskraft und der Ver-
ſtand kommen in Hinſicht ihrer innern abſoluten
Groͤße zu einer aͤußerſten Stufe, wo die weitere
Entwickelung aufhoͤrt. Erfahrungen hieruͤber 711 - 3) Die Art wie die Seelenvermoͤgen ihr Groͤßtes er-
langen 714
4) Ob
[XXIII]des zweeten Bandes. - 4) Ob die Grenze der Entwickelung in den Seelen-
vermoͤgen weiter hinausgeruͤckt werden koͤnne S. 719 - 5) Von der Grenze der Perfektibilitaͤt in dem Men-
ſchen, und von der Grenze derſelben in der Seele
721 - 6) Erinnerung uͤber das Maximum in den relativen
Fertigkeiten 724
II.
- Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen uͤber-
haupt 726 - 1) Vorerinnerung 726
- 2) Jn welchem Verſtande die Wiederabnahme der
Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwickelung ſeyn
kann 727
III.
- Von der Abnahme der Kraͤfte, welche aus ihrem Nicht-
gebrauch entſpringet 729 - 1) Ob der Verluſt ehemals gehabter Kenntniſſe als
eine Einwickelung angeſehen werden koͤnne 729 - 2) Verluſt der Vermoͤgen aus dem Nichtgebrauch 731
- 3) Was die Zuruͤckſetzung der Seele in den Zuſtand
der Kindheit in ſich faſſe 735
IV.
- Von der Ermuͤdung der Seelenkraͤfte, und ihren
Schwaͤchung aus andern zufaͤlligen Urſachen 736 - 1) Von der Ermuͤdung der Kraͤfte 736
- 2) Von ihrer Schwaͤchung aus andern Urſachen
740
V.
- Von der natuͤrlichen Abnahme der Seelenvermoͤgen
im Alter 744
b 41) Die
[XXIV]Jnhalt
- 1) Die Abnahme der Seele im Alter kann nicht nach
dem Grade ihrer aͤußern Wirkſamkeit mittelſt des
Koͤrpers beurtheilet werden S. 744 - 2) Von der Abnahme der koͤrperlichen Fertigkeiten
und der aͤußern Sinne 744 - 3) Die Abnahme der Seele im Alter kommt nicht
von dem Verluſte ihrer Vorſtellungen, ſondern
von der erſchwerten Reproducibilitaͤt derſelben
748 - 4) Warum die Alten ſich der Zeiten ihrer Jugend
beſſer erinnern, als der neuern Begebenheiten?
Vergeſſene Vorſtellungen ſind ſolche, die unter an-
dern Vorſtellungen verhuͤllet ſind 750 - 5) Die in dem Alter vorhandenen ruhenden Vorſtel-
lungen ſind etwas Reelles. Ehrwuͤrdigkeit des
Alters. Kindheit des Alters 752 - 6) Die Abnahme an Lebhaftigkeit des Geiſtes von
der zunehmenden Unerweckbarkeit der Vorſtellun-
gen 754 - 7) Ob man aus der Abnahme an Thaͤtigkeit auf die
Abnahme an Kraͤften und Vermoͤgen ſchließen
koͤnne 755 - 8) Wie weit die Abnahme des Seelenweſens eine Ab-
nahme der unkoͤrperlichen Seele ſey? Was die
Analogie hievon lehre, und wie ferne die Erfah-
rungen damit uͤbereinſtimmen 759
Sechster Abſchnitt.
Von der fortſchreitenden Entwickelung des menſchli-
chen Geſchlechts 767 - 1) Vorerinnerung. Es iſt ſchwer auszumachen, ob
es eine fortſchreitende Vervollkommnung des
ganzen Geſchlechts gebe 767
2) Ob
[XXV]des zweeten Bandes. - 2) Ob eine Verbeſſerung der Naturanlagen zu er-
warten ſey S. 771 - 3) Die Vervollkommnung im Geſchlecht kann nur
wachſen durch die Verbeſſerung der aͤußern Mit-
tel, welche die Entwickelung befoͤrdern 775 - 4) Einige Anmerkungen uͤber dieſe Vervollkomm-
nungsmittel 776 - 5) Welche Arten von Kenntniſſen am meiſten die hoͤ-
hern Seelenvermoͤgen in Thaͤtigkeit ſetzen 777 - 6) Welche Vortheile ſich von den jetzo vorhandenen
Vervollkommnungsmitteln fuͤr das allgemeine Be-
ſte der Menſchheit erwarten laſſen 780 - 7) Urſachen, die dieſe Erwartungen ſchwaͤchen 784
Siebenter Abſchnitt.
Von der Beziehung der Vervollkommnung des Men-
ſchen auf ſeine Gluͤckſeligkeit 791 - 1) Die Vervollkommnung des Menſchen und ſeine
Gluͤckſeligkeit ſind in Verbindung, aber doch un-
terſchieden 791 - 2) Die Gluͤckſeligkeit kann nicht allein nach der Zu-
friedenheit geſchaͤtzet werden 792 - 3) Ob die Entwickelung der Menſchheit zu weit ge-
hen koͤnne fuͤr ihre Gluͤckſeligkeit 794 - 4) Gedanken einiger Nenern uͤber die Grenze der Ver-
vollkommnung, wenn dieſe der Gluͤckſeligkeit nicht
ſchaͤdlich werden ſoll 796 - 5) Die Gluͤckſeligkeit der Menſchen beſtehet nicht ganz
im unthaͤtigen Genuß ſinnlicher Vergnuͤgungen
797 - 6) Von dem Vergnuͤgen aus der thaͤtigen Anwendung
der Kraͤfte. Es iſt am groͤßten, wenn die Kraͤfte
in der Maße angewendet werden, wie ſie zugleich
am meiſten vervollkommnet werden 800
b 57) Von
[XXVI]Jnhalt - 7) Von dem Grundgeſetz der angenehmen Gefuͤhle
S. 804 - 8) Die Vervollkommnung des Menſchen macht ihn
der Gluͤckſeligkeit empfaͤnglicher, und gewaͤhrt
ſolche ſelbſt 814 - 9) Die geſammte menſchliche Gluͤckſeligkeit kann nicht
nach dem Grad innerer Vollkommenheit geſchaͤtzet
werden. Sie iſt zum Theil abhaͤngig von aͤußern
Urſachen 816 - 10) Allgemeines Wohl der Menſchheit 820
- 11) Wiefern der Naturtrieb des Menſchen als ein
Trieb zur Entwickelung, zur Vollkommenheit und
zur Gluͤckſeligkeit anzuſehen iſt 820 - 12) Von dem Gefuͤhl der Vollkommenheiten, ohne
Ruͤckſicht auf ihren Gebrauch 826
[[1]]
Zwoͤlfter Verſuch.
Ueber die Selbſtthaͤtigkeit und Freyheit.
I.
Einleitung. Schwierigkeiten bey dieſer Unter-
ſuchung.
Die Freyheit der Seele oder ihre Selbſtmacht
uͤber ſich iſt dem Pſychologen und Moraliſten,
jenem, in ſo fern er ihre Natur erforſchen, die-
ſem, in ſo ferne er ſie erhoͤhen und verſtaͤrken will, ein
eben ſo intereſſanter, und auch eben ſo ſchwer zu bear-
beitender Gegenſtand, als die buͤrgerliche Freyheit
fuͤr den Politiker. Jene iſt auch in der That, in Hin-
ſicht des innern Menſchen und ſeiner Seelenvermoͤgen
daſſelbige, was die letztere bey dem Buͤrger in ſeinem
rechtlichen Vermoͤgen iſt; und jene macht die Groͤße
des Menſchen, wie dieſe die Groͤße des Buͤrgers, aus.
Welchen ſelbſtdenkenden Philoſophen hat nicht wohl die
Unterſuchung uͤber die Natur unſerer Freyheit Anſtren-
gung des Verſtandes gekoſtet? Sie wird auch vermuth-
lich den kuͤnftigen dergleichen noch koſten, da ſie wegen
ihrer Wichtigkeit nicht uͤberſehen, und ihrer Dunkelheit
und Verwirrung wegen nicht leicht hell und beſtimmt
genug gefaßt werden kann.
Es iſt indeſſen von verſchiedenen ſchon erinnert wor-
den, daß der Punkt in dieſer Lehre, der am meiſten zwi-
II.Theil. Aſchen
[2]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ſchen den Determiniſten und Jndeterminiſten ſtreitig iſt,
und der nur darum, weil er einer der verwickelteſten iſt,
am meiſten die Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen pflegt,
wohl nicht ſo erheblich und fruchtbar in ſeinen Folgerun-
gen ſeyn moͤge, als die ſtreitenden Partheyen dafuͤr hal-
ten. Jch bin dieſer Meinung zum Theil auch, wenn
nur das Streitige, ob naͤmlich die menſchlichen Hand-
lungen, die frey ſind, durch zureichende Gruͤnde
voͤllig beſtimmt werden, oder nicht? allein auf dieſe
einzige Stelle eingeſchraͤnket, und das Uebrige, was in
der geſammten menſchlichen Freyheit enthalten iſt, als
unabhaͤngig von jener Streitfrage, der Seele von kei-
ner Seite her entzogen werde. Man nehme heraus,
was die Beobachtungen unmittelbar von der Freyheit
lehren, und was ich mich angewoͤhnt habe, unter dem
Ausdrucke von Selbſtmacht der Seele uͤber ſich zu-
ſammen zu faſſen, und unterſuche deſſen Folgen in der
Moral, ſo mag das uͤbrige zu den feinern metaphyſi-
ſchen Spekulationen gerechnet werden, welches ohne
Verluſt an wichtigen praktiſchen Einſichten als unaus-
gemacht dahin geſtellt bleiben kann. Jch werde wenig-
ſtens in dem gegenwaͤrtigen Verſuche eine ſolche Abſonde-
rung vornehmen. Um ſo mehr, da ich mich uͤberzeugt
halte, daß die ſimple Erfahrungskenntniß von der
Freyheit nur allein dadurch in ſo viele Verwirrungen ge-
rathen iſt, weil man ſie mit allgemeinen Spekulationen
zu fruͤhzeitig vermiſchet hat. Es iſt mir niemals ſchwer
geworden, die Erfahrungen ſelbſt unter ſich zu vereini-
gen. Aber ſobald man mit den allgemeinen Begriffen
von Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit dazwiſchen
kommt, und metaphyſiſche Theorien auf die Empfindun-
gen anwenden will, ſo ſcheinen ſich ſo viele Knoten zu-
ſammen zu ziehen, daß man die Aufloͤſung aufgeben,
oder mit dem Schwerd ſich heraushelfen, und entweder
die eine oder die andere von den Beobachtungen ablaͤu-
gnen,
[3]und Freyheit.
gnen, wie die Meiſten thun, die hierinn entſchieden ha-
ben, oder ſie, wie andere es gemacht, fuͤr einen be-
truͤglichen Schein erklaͤren muß. Denn ſo iſt es gegan-
gen von der Zeit an, da man angefangen hat, uͤber die
Freyheit zu metaphyſiciren, bis auf unſere Zeiten. Die
vornehmſten Gruͤnde und Gegengruͤnde des determiniſti-
ſchen und indeterminiſtiſchen Syſtems lieſet man ſchon
in dem itzo unvollſtaͤndigen Buche des Cicero de fato.
Sollten wir etwan hier ein Beyſpiel haben, wo der ge-
ſunde Menſchenverſtand, der den Empfindungen folgt,
und das Nachdenken der hoͤhern Vernunft unvereinbar
ſind? Ganz dreiſt antworte ich, nein. Aber ob wir
hier nicht ein merkwuͤrdiges Beyſpiel von der Mangel-
haftigkeit unſerer Gemeinbegriffe antreffen? ob nicht et-
wan in den Begriffen von der Nothwendigkeit und Zu-
faͤlligkeit ſich etwas phantaſtiſches eingeſchlichen habe?
ein ſinnlicher Zuſatz der Phantaſie, der mit den reinen
aus Empfindungen abgezogenen Verſtandesbegriffen
vermiſchet worden iſt? oder auch, ob nicht etwan ein
Paar an ſich ganz unterſchiedene, aber einander nahe
liegende und einfache Elementarbegriffe des Verſtandes,
deren Verſchiedenheit man in den allgemeinen Theorien
nicht ſonderlich geachtet hat, mit einander verwechſelt
werden, und nachher bey der naͤhern Beſtimmung und
Anwendung dieſer Grundſaͤtze die Begriffe ſchwankend
machen, wie Bilfinger*) geglaubet hat? Dieß ſind
andere Fragen.
Nach meiner Ueberzeugung, in der ich mich nun
ſchon bey den oͤfters wiederholten Unterſuchungen ſeit
laͤnger als zehn Jahren beſtaͤrkt habe, liegt es eben an
der Unvollkommenheit der tranſcendenten Theorien.
Hier iſt die Verwirrung, die fuͤr mich verſchwunden iſt,
A 2ſeitdem
[4]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ſeitdem ich die Begriffe vom Nothwendigen und Zufaͤl-
ligen zu realiſiren geſucht habe. Jch will nicht, daß
dieß vielleicht manchen zu voreilig ſcheinende Geſtaͤndniß
etwas mehr bedeuten ſolle, als das Geſtaͤndniß eines
jedweden andern, der ſich entſcheidend in dieſer Lehre er-
klaͤret hat. Nur wuͤnſchte ich die Aufmerkſamkeit der
Nachdenkenden dadurch zu reizen. Zum wenigſten darf
ich nach meinen Begriffen keiner Beobachtung Gewalt
anthun, und von allem dem, was der ſtrengſte Jnde-
terminiſt in der Seele von ihrem reellen Vermoͤgen, an-
ders zu handeln, als man handelt, antrifft, darf ich
nichts ablaͤugnen, oder unter dem Vorwande, die Er-
fahrung ſey truͤglich, wegphiloſophiren. Unter allen
Umſtaͤnden, unter denen das geſchieht, was von einem
freyen Wollen abhaͤngt, kann es unterbleiben, oder an-
ders geſchehen. Jch bin auch des Determiniſten Freund.
Wenn dieſer durch die Uebereinſtimmung aller Beob-
achtungen es beweiſet, daß auch die freyeſte Handlung
einen voͤllig zureichenden Grund in den individuellen Um-
ſtaͤnden habe, welche unmittelbar vor der freyen Beſtim-
mung der Kraͤfte vorhergehet, ſo geſtehe ich gerne, daß
er Recht habe, und finde auch hierinnen nichts, was
nicht mit dem vorgedachten recht wohl zu vereinigen
waͤre. Beide Syſteme enthalten Wahrheit in ſich, in
ſo ferne ſie nur dasjenige bejahen, was wirklich beobach-
tet iſt; aber wo beide ſich einander ihr Beobachtetes
ſtreitig machen, wenn es mit dem ihrigen ſich nicht zu
reimen ſcheint, ſo liegt die wahre Urſache davon in der
Unbeſtimmtheit allgemeiner Begriffe, die ſie allenthal-
ben einmiſchen. Am Ende mag mich denn wohl der
Determiniſt naͤher auf ſeiner Seite hin antreffen, als
ſein Gegner; und vielleicht auch mach’ ich es keinem
recht.
Nach meinem Plan, den ich hier gemacht habe,
will ich zuerſt die Selbſtmacht der Seele uͤber ſich,
als
[5]und Freyheit.
als eine hoͤhere Stufe ihrer Selbſtthaͤtigkeit, ſo darzule-
gen ſuchen, wie die bloße Beobachtung uns ſolche zeiget.
Dann will ich einige kurze Reflexionen und die Reihe
der allgemeinen Begriffe anfuͤgen, worinn die metaphy-
ſiſche Spekulation daruͤber enthalten iſt. Dieſe ſollen
das Mittel ſeyn, die dem Scheine nach unvertragbaren
Beobachtungen zu vereinigen, und den aus Empfindun-
gen gezogenen Begriff von der Freyheit ſeiner Schwie-
rigkeiten zu entledigen. Das erſte ſehe ich hier als die
Hauptſache an. Das letztere ſoll mehr eine bloße An-
gabe meiner Gedanken ſeyn, als ein polemiſcher Vor-
trag, der dahin gienge, anders denkende zu widerlegen;
und daher wundre man ſich nicht, wenn man dieſe letz-
tern ſpekulativiſchen Saͤtze weniger mit Gruͤnden unter-
ſtuͤtzet findet, als die erſtern.
II.
Begriff von der Freyheit, oder von der Selbſt-
macht der Seele uͤber ſich, auf den die Em-
pfindung fuͤhret.
- 1) Freyheit iſt hier ein Vermoͤgen, das nicht
zu thun, was man thut, oder es anders zu
thun, als man es thut. Folgen aus die-
ſem Begriffe. - 2) Daß wir ein ſolches Vermoͤgen beſitzen, iſt
aus Beobachtungen erweislich. - 3) Wie ſolches aus der Erfahrung bewieſen
werde. Woher die Fallazen der Empfin-
dungen hiebey entſtehen koͤnnen.
1.
Die Seele wirket in ſich ſelbſt, beſtimmet und veraͤn-
dert ſich, ſo wie ſie außer ſich in den Koͤrper wir-
A 3ket.
[6]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ket. Dieß iſt unlaͤugbar, und wenn auch die Bemer-
kung des Herrn Search’s*) ohne Einſchraͤnkung rich-
tig waͤre, daß ſie niemals ſich ſelbſt anders, als nur
mittelbar modificire, indem ſie außer ſich auf das Ge-
hirn ihre Kraft aͤußert, und dann ſelbſt durch eine Reak-
tion des Gehirns eine Veraͤnderung in ſich aufnimmt.
Eine Jdee, die nicht ſo weit von der gewoͤhnlichen ab-
weichet, als es bey dem erſten Anblick ſcheinen mag, die
ich aber hier nicht unterſuche.
Daher vermag die Seele etwas uͤber ſich ſelbſt,
beſitzet Kraft und Vermoͤgen, auf ſich ſelbſt zu wirken.
Aber dieß Vermoͤgen, auf ſich ſelbſt zu wirken, iſt
noch nicht das, was Freyheit genennt wird, und was
ich hier die Selbſtmacht uͤber ſich nenne. Wo ihre
Thaͤtigkeit als eine Freye Thaͤtigkeit wirket, da muß ſie
auch unthaͤtig oder auf eine andere Art thaͤtig ſeyn koͤn-
nen, als ſie es iſt. Denn wenn ſie nicht anders wir-
ken kann, als ſie wirket, ſie mag in und auf ſich ſelbſt,
oder auf den Koͤrper wirken, ſo kann ſie nicht unthaͤtig
ſeyn, anſtatt daß ſie thaͤtig iſt, und ihre Wirkſamkeit
nicht in ſich ſelbſt zuruͤckhalten, wenn dieſe hervorgeht,
noch ſie in eine andere Richtung bringen, als die iſt,
welche ſie nimmt; und ſo handelt ſie nicht mehr frey,
als das Waſſer, welches aus dem Gefaͤße herausſpringt,
an der Stelle, wo ihm eine Oeffnung gemacht iſt, in der
Richtung und mit der Geſchwindigkeit, die ihm durch
die Umſtaͤnde beygebracht wird; nicht freyer, als eine
Kugel, welche herunterfaͤllt, wenn der Faden durchſchnit-
ten wird, an dem ſie vorher feſtgehalten ward. Die
Selbſtmacht uͤber ſich, die poſitive Kraft, wodurch
wir uns in unſerer Gewalt haben, wenn wir thaͤtig ſind,
erfordert ein gleichzeitiges inneres Vermoͤgen oder
Faͤhigkeit, unter denſelbigen Umſtaͤnden das Gegen-
theil
[7]und Freyheit.
theil von demjenigen zu thun, was wir thun,
wie man ſich kurz erklaͤren kann. Dieß Vermoͤgen, an-
ders thaͤtig zu ſeyn, unſere eigene wirkende Kraft ent-
weder aufzuhalten, zu unterbrechen, oder anders wohin
zu lenken, beſtehet waͤhrend der ganzen Handlung, wenn
dieſe in ihrer ganzen Laͤnge bis zu Ende eine freye
Handlung iſt.
Auf einen Augenblick angenommen, daß dieſe Jdee
von der Freyheit richtig ſey, ſo fuͤhret ſie ſogleich zu ei-
ner wichtigen Folge. Ein freyes, ſeiner ſelbſt maͤchti-
ges Weſen, beſitzet immer noch ein phyſiſches reel-
les inneres Vermoͤgen mehr, als ein unfreyes, das
ſonſten eine Wirkung von gleicher Groͤße hervorbringen
kann, wie jenes. Denn die Selbſtmacht uͤber ſich
enthaͤlt außer der Kraft, welche auf die hervorgebrachte
Wirkung verwendet wird, noch ein anderes Vermoͤ-
gen, das jenem gleichſam zur Seite iſt, und ſo viel in-
nere Staͤrke beſitzet, als hinreichen wuͤrde, die Thaͤtigkeit
des wirkenden Vermoͤgens zu hindern, oder in eine an-
dere Richtung zu bringen. Ein freywirkendes We-
ſen iſt alſo ein groͤßeres, mehr reelles, mehr poſi-
tive Kraft enthaltendes Weſen, als jedes unfreye,
das ſonſten die naͤmliche Handlung hervorbringen kann.
Es iſt Herr uͤber ſich, ſtaͤrker, als es ſich auslaͤßt, in ſei-
nen phyſiſchen Wirkungen, und ergießet ſich nie ganz
in derjenigen Aeußerung, in der es hervorgeht; es kann
noch etwas anders thun, als es thut, und beſitzet ein
poſitives Vermoͤgen zu dem Gegentheil der Handlung zu
eben der Zeit in ſich, in der es ſeine Kraft auf die Hand-
lung ſelbſt anwendet.
Nicht jede Selbſtthaͤtigkeit iſt zugleich auch eine
freye Selbſtthaͤtigkeit. Das Waſſer, welches aus ei-
nem Gefaͤße hervorſpringet, und die Springfeder, welche
losſchnellet, wenn der Faden, der ſie zuruͤckhielt, zer-
ſchnitten wird, wirken durch eine innere Kraft, die
A 4ſchon
[8]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit.
ſchon vorher ein Beſtreben war, und nichts mehr be-
durfte, um ſich in Bewegung zu ſetzen, als daß ein aͤuſ-
ſeres Hinderniß, welches ihr Beſtreben zuruͤckhielt, aus
dem Wege geraͤumet wuͤrde. Die bewegende Aktion
erfolgte aus einem innern Princip. Da iſt alſo Spon-
taneitaͤt. Aber auch Selbſtmacht uͤber ſich? Jſt
auch in der Feder, indem ſie ſich ausdehnet, ein inneres
Vermoͤgen vorhanden, ſich aufzuhalten, oder ſich in ſich
zuruͤckzuziehen? Jſt in dem herausſpringenden Waſ-
ſer eine Kraft, ſich in der Oeffnung feſtzuhalten? Hier
ſind bloß phyſiſche Kraͤfte, einſeitige Vermoͤgen, ſo und
in der Richtung zu wirken, wie ſie beſtimmt ſind. Woll-
te man auch den Druck, der ſich in jedem Waſſertro-
pfen nach allen Seiten hin aͤußert, ſo lange ſie noch in
dem Gefaͤße verſchloſſen ſind, etwan als ein vielſeitiges
Selbſtvermoͤgen anſehen, ſich nach einer jeden Richtung
hin zu bewegen, ſo hoͤret doch dieſer Trieb nach andern
Richtungen hin in ihnen auf, ſo bald ſie zur Oeffnung
herausgehen; oder iſt zum wenigſten kein ſolches Ver-
moͤgen, welches ſtark genug waͤre, um ſie von dem We-
ge, auf dem ſie fortgetrieben werden, abzulenken, noch
weniger ſie mitten in dem Herausſpringen zum Still-
ſtand zu bringen.
2.
Da das Vermoͤgen, anders zu handeln, als man
handelt, nur bloß Vermoͤgen iſt, das aber nicht an-
gewendet wird, und ſeinen Effekt hervorbringet, weil
die Handlung ihren Weg gehet, und nicht wirklich ge-
hindert oder veraͤndert wird; woher kann man ſich denn
ſicher uͤberzeugen, daß ein ſolches Vermoͤgen in uns vor-
handen ſey? Der Reuter, der das Pferd in ſeiner Ge-
walt hat, glaubet doch mit Ueberzeugung, er koͤnne es
von dem Pfade ablenken, auf welchem er es gehen laͤßt,
und daß es nur darauf ankomme, daß er die Kraft in
ſeiner Hand dazu wirklich anwende, wenn es geſchehen
ſolle;
[9]und Freyheit.
ſolle; aber iſt dieß vielleicht eine Einbildung, ein falſcher
Schein von einem Vermoͤgen, das nicht vorhanden iſt?
Jch ſitze jetzo auf einem Stuhle, und glaube, daß ich
in dieſem naͤmlichen Augenblicke das Vermoͤgen habe,
aufzuſtehen und fortzugehen. Unter dieſem Vermoͤgen
verſtehe ich eine gewiſſe poſitive Beſchaffenheit mei-
nes Koͤrpers, welche zu dieſer Wirkung erfodert wird,
und die ich, um jenes mit Gewißheit zu glauben, nicht
beſtimmter noch deutlicher kennen darf. Es hat ſich wohl
zuweilen ereignet, daß jemand unter meinen Umſtaͤnden
in derſelbigen Meinung geweſen iſt, der aber, als er
den Verſuch anſtellen wollte, fand, daß ihm der Fuß
ſchlief, und er wirklich zum Fortgehen unvermoͤgend war.
Man kann ſich alſo darinnen irren. Kann nicht ein Ge-
neſender, der im Bette liegt, ſich ſchon ſtark genug duͤn-
ken, in der Stube zu ſpatzieren, und ſich nachher zu
ſchwach finden, ſich nur auf den Beinen zu halten? Wie
jemand, der in einem Zimmer ohne ſein Wiſſen ver-
ſchloſſen iſt, nicht daran zweifelt, daß er nicht herausge-
hen koͤnne, wenn es ihm beliebe, da er es doch wirklich
nicht vermag, und darinn verbleibet, ohne zu wiſſen, daß
er darinnen verbleiben muͤſſe. Bringet einem Menſchen
unvermerkt eine Portion Opium bey, ſagt der witzige
Verfaſſer, der unter dem Namen des von Joch vor
ein Paar Jahren mit dem Herrn Home zu beweiſen
verſucht hat, daß die Empfindung unſerer Freyheit truͤg-
lich ſey; richtet es alſo ein, daß dieß Opium ſeine ein-
ſchlaͤfernde Wirkung zu eben der Zeit aͤußere, in der er
gewohnt iſt, ſich zur Ruhe zu begeben, weil ſonſten viel-
leicht das Ungewoͤhnliche ſeine Ueberredung ſtoͤren moͤch-
te: wie trefflich wird er hintergangen werden. Er wird
glauben, es ſey ſeine ganz freye Handlung, wenn er dem
Antriebe der Natur nachgiebt, von ſeiner Arbeit ab-
bricht und ſich zu Bette leget; er meinet, ſich ſeiner voͤl-
lig darinnen maͤchtig zu ſeyn, und es unterlaſſen zu koͤn-
A 5nen,
[10]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
nen, wenn es ihm gefaͤllig waͤre. Aber eine phyſiſche
Kraft zwinget ihn, und wenn er wollte, wuͤrde er ſich
in dem Wachen nicht erhalten koͤnnen.
Jn ſolchen nur ſeltenen Beyſpielen ſollte eine Kraft
liegen, die das Zeugniß der innern Empfindung, das
ich von einem Vermoͤgen in mir habe, das Gegentheil
von dem thun zu koͤnnen, was ich wirklich verrichte, un-
zuverlaͤßig und verwerflich machen koͤnnte? Der optiſche
Schein hat mich betrogen, und fuͤr einen ſoliden leben-
den Koͤrper anſehen laſſen, was nichts als ein Gemaͤhl-
de auf einer Flaͤche war, deswegen ſollte ich nach ver-
nuͤnftigen Denkgeſetzen fuͤrchten muͤſſen, daß ich nun
auch hintergangen wuͤrde, wenn ich auf dem Tiſche vor
mir ein Buch liegen zu ſehen vermeine, ob ich gleich das
Zeugniß eines andern Sinnes, des Gefuͤhls, in dieſem
Falle noch nicht zur Beſtaͤtigung meiner Meinung zu
Huͤlfe genommen habe? Doch ich will den Philoſophen,
gegen welche ich hier rede, Gerechtigkeit wiederfahren
laſſen. Solche Beyſpiele ſollen nur zeigen, daß die Em-
pfindung truͤgen koͤnne; denn daß ſie wirklich durchge-
hends truͤge, haben ſie durch andere Gruͤnde, durch ei-
ne vermeintliche innere Unmoͤglichkeit in der Sache ſelbſt,
die aus metaphyſiſchen Grundſaͤtzen hergeholet wird, er-
weiſen wollen. Es wird alſo der Beweis aus der Er-
fahrung dadurch noch nicht unthunlich. Berkeley rai-
ſonnirte die Wirklichkeit der Koͤrperwelt weg, und dar-
auf verwarf er die Ausſage der Empfindung. Ohne
Ruͤckſicht auf die Guͤltigkeit oder Unguͤltigkeit ſeiner Spe-
kulationen, koͤnnte doch ein Unterſchied zwiſchen wahren
und bloß ſcheinbaren Empfindungen gemacht, und jene
von dieſen ausgekannt werden. Berkeley kannte ſelbſt
dieſen Unterſchied ſo gut, wie irgend jemand. War-
um ſollte nicht das Naͤmliche in dem gegenwaͤrtigen Falle
geſchehen koͤnnen? Wir ſind ein und das andere mal zu
voreilig geweſen, und haben uns durch eine unaͤchte Em-
pfindung
[11]und Freyheit.
pfindung verleiten laſſen, zu glauben, es ſey ein reelles
Vermoͤgen in uns vorhanden, das nicht da war, ſollten
wir deswegen nicht in andern Faͤllen es wiſſen koͤnnen,
daß wir uns nicht irren, und uns von dem Daſeyn ei-
nes ſolchen Vermoͤgens ſo vergewiſſern koͤnnen, als von
dem Daſeyn der Koͤrperwelt außer uns? Ob wir denn
nun aber nicht nachher dieſe Empfindungskenntniß wie-
der aufgeben, und die ſubjektiviſche Wirklichkeit fuͤr ei-
nen bloßen Schein erklaͤren muͤſſen, weil die Vernunft
uns lehre, daß das objektiviſche Seyn der Sache etwas
ungereimtes ſey, das iſt, wie ich ſchon erinnert habe, ei-
ne ſpekulativiſche Frage, die uns nicht ſtoͤren muß, wo
wir nur vorlaͤufig unterſuchen, ob die Beobachtung uns
nicht die Wirklichkeit einer Sache lehre, oder uns ſol-
che nur aufbinde?
3.
Es iſt nichts mehr noͤthig, als eine genaue Beob-
achtung unſerer ſelbſt in einigen einzelnen Faͤllen, in de-
nen wir uns gewiß halten, daß wir frey handeln, um
den Gang der Denkkraft zu ſehen, den ſie nimmt, wenn
ſie aus dem Gefuͤhle zu dem Gedanken kommt, ſie koͤn-
ne anders handeln, als ſie es wirklich thut. Dann of-
fenbaren ſich auch zugleich die Urſachen, die ihre Fehl-
tritte hierinn veranlaſſen. Jch will es noch bis weiter
hin uneroͤrtert laſſen, was es mit dieſem Vermoͤgen zum
Gegentheil eigentlich fuͤr eine Beſchaffenheit habe. Ge-
nug, es iſt etwas poſitives in dem ſeiner ſelbſt maͤchti-
gen Weſen; eine gewiſſe abſolute reelle Beſchaffenheit
deſſelben, die mit derjenigen Kraft, welche in Thaͤtigkeit
geſetzet iſt und die freye Handlung bewirket, zugleich
vorhanden iſt. Wir wiſſen, was ein Vermoͤgen zu den-
ken, und ein Vermoͤgen das Nachdenken zu unterbre-
chen; ein Vermoͤgen uns zu entſchließen, und ein Ver-
moͤgen unſern Entſchluß zu aͤndern; ein Vermoͤgen, die
Haͤnde und Fuͤße zu bewegen, und ein anders, ſie wieder
zur
[12]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
zur Ruhe zu bringen und ihre Bewegungen anders wo-
hin zu lenken, u. ſ. w. ſagen wolle. Aus dieſen Em-
pfindungen iſt in uns ein allgemeiner Begriff von ei-
nem Vermoͤgen, von einer Faͤhigkeit und von einer
Kraft entſtanden, welcher immer nur ein gemeiner,
unaufgeklaͤrter und undeutlicher Begriff ſeyn mag, aber
doch ein klarer Begriff iſt, ſo daß wir Vermoͤgen von
Unvermoͤgen, Kraft von Schwaͤche, Faͤhigkeit von Un-
faͤhigkeit, und Macht von Ohnmacht ſo helle durch das
Gefuͤhl unterſcheiden, als das Weiße von dem Schwar-
zen durch die Augen.
Wir erhalten die Jdee von einem Vermoͤgen zum
Handeln aus der Empfindung, die wir von der Handlung
ſelbſt haben. Wir fuͤhlen unſern geſunden Arm auf ei-
ne gewiſſe Art; es entſtehet ein Entſchluß, ihn zu be-
wegen, ein Antrieb gegen denſelben, eine Bewegung in
dem Koͤrper und wiederum neue Gefuͤhle, die darauf
folgen. Das Gefuͤhl von dem Zuſtande, der zunaͤchſt
vor der Handlung vorhergehet, wird unterſchieden
von dem Aktus ſelbſt. Es kam zu jenem etwas hinzu,
eine Vorſtellung, eine Empfindung, ein innerer Trieb
in der Seele, oder was wir unter der Benennung von
Bewegungsgruͤnden befaſſen moͤgen, und da erfolg-
te die Thaͤtigkeit, die nicht erfolgte in einem andern Falle,
wo der naͤmliche Bewegungsgrund vorhanden war, wo
aber an dem dazu erfoderlichen vorhergehenden Zuſtande
etwas fehlte, oder wo auch noch ſonſten etwas dazwiſchen
kam. Solche Empfindungen lehren uns das bloße
unthaͤtige Vermoͤgen von dem wirkenden unter-
ſcheiden. Es haͤngen aber die Vorſtellungen von allen
unſern Vermoͤgen, ſowohl von denen, die wir eigentlich
als koͤrperliche in den Koͤrper hinſetzen, als auch von den
uͤbrigen, die wir fuͤr Seelenvermoͤgen halten, an gewiſ-
ſen Gefuͤhlen, die in uns in unſerm Jnnern ſich befin-
den. Aus Empfindungen nehmen wir den Stoff aller
Jdeen,
[13]und Freyheit.
Jdeen, und aus innern Empfindungen den Stoff zu
den Jdeen von den verſchiedenen Arten der Ver-
moͤgen. Es giebt alſo innere Gefuͤhle, welche fuͤr
uns die Charaktere der Vermoͤgen ſind, an denen
wir ihre Gegenwart erkennen, ſo wie die dazu gehoͤrigen
Phantasme die Vorſtellungen von ihnen als von abwe-
ſenden Gegenſtaͤnden ausmachen.
Das Vermoͤgen zu einer Handlung iſt etwas
an ſich vielbefaſſendes. Wenigſtens iſt dieß von ſolchen
wohl richtig, die wir kennen, wenn ſie auch beym erſten
Blick einfache zu ſeyn ſcheinen. Sie enthalten eine
Menge von Beſchaffenheiten, die, wenn es koͤrperliche
Vermoͤgen ſind, groͤßtentheils nur ſehr mittelbar in ih-
ren Folgen gefuͤhlet werden, und vielleicht wird ein Theil
dieſer Folgen gar nicht in einem ſolchen Grade empfun-
den, als zum Gewahrnehmen noͤthig iſt. Die Vermoͤ-
gen nehmen Groͤßen, Grade und Stufen an. Das eine
Vermoͤgen iſt ein groͤßeres Ganzes, als ein anderes. Es
gehoͤrt mehr Elaſticitaͤt in dem Koͤrper dazu, Luftſpruͤn-
ge machen zu koͤnnen, als ſich gerade auf den Fuͤßen
aufzurichten.
Von einer ſolchen vielbefaſſenden Totalempfindung
der Folgen nehmen wir aber gemeiniglich nur den her-
vorſtechenden Theil heraus, wenn wir ſie bemerken wol-
len. Dieſer Theil iſt unſer Merkmal des Ganzen, und
wir ſetzen das Ganze in ihm. Das iſt die gewoͤhnliche
Regel des Denkens. *)
Jſt es denn alſo zu verwundern, daß die Reflexion
zuweilen irre, wenn ſie urtheilet, es ſey ein Vermoͤgen
in uns vorhanden, wo doch nur ein Theil davon wirk-
lich empfunden wird, der zwar gewoͤhnlicher Weiſe, aber
nicht allemal, das uͤbrige mit ſich vergeſellſchaftet hat?
Wie mancher trauet ſich Seelen-oder Leibeskraͤfte genug
zu,
[14]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
zu, und muß es aus der Probe nachher erlernen, daß
ſeine Schultern zu ſchwach ſind? Wenn ein Kranker ſich
fuͤr ſtaͤrker haͤlt, als ers iſt, ſo entſtehet der Jrrthum
aus der naͤmlichen Quelle.
Jn ſolchen Faͤllen, wo zu dem geſammten vollen
Vermoͤgen noch gewiſſe Zuſtaͤnde in dem Koͤrper erfo-
dert werden, noch mehr, wo es auch außer demſelben
auf gewiſſe Einrichtungen ankommt, da iſt es noch
leichter moͤglich, daß dieſes aͤußere Kennzeichen des Ver-
moͤgens, von dem, was in unſerm Jnnern das Vermoͤ-
gen ſelbſt ausmacht, und was naͤher und unmittelbarer
in uns gefuͤhlet wird, getrennet ſeyn kann, ob es ſonſten
gleich in den gewoͤhnlichen Faͤllen damit verbunden iſt.
Wer es nicht weiß, daß die Thuͤre des Zimmers durch
einen Zufall oder mit Vorſatz zugeſchloſſen iſt, glaubet,
ſie laſſe ſich wie gewoͤhnlich eroͤffnen, und ſchreibet ſich
das Vermoͤgen zu, herausgehen zu koͤnnen, ſo wie er
wirklich das Vermoͤgen beſitzet, zu ihr hinzugehen, und
die Hand anzulegen. Der Reuter, der in der Meinung
iſt, er koͤnne ſein Pferd vom Wege ablenken, wenn er
wolle, betruͤget ſich, wenn jemand ihm den Zuͤgel zer-
ſchnitten, und die getrennten Enden durch ein wenig
Pech wiederum zuſammengeklebet hat, um ihm den Be-
trug zu verbergen. Wir fuͤhlen es nicht allemal, wenn
wir ſitzen, daß die Nerven in den Lenden gedruckt ſind,
und daß der Fuß ſchlafe, aber wir fuͤhlen das uͤbrige,
was zu einer freyen Bewegungskraft derſelbigen nach
unſern ſonſtigen Erfahrungen erfodert wird, und ſchrei-
ben uns alſo das Vermoͤgen zu, von unſerm Sitze weg-
gehen zu koͤnnen.
Es iſt alſo klar, daß die falſchen Urtheile aus innern
Empfindungen auf die naͤmliche Weiſe und aus der aͤhn-
lichen Urſache entſtehen, wie die Fallazen des Geſichts;
aber zugleich iſt es auch klar, daß es aͤhnliche Mittel bey
jenen giebt, wie bey dieſen, den Erſchleichungen zuvor-
zukommen,
[15]und Freyheit.
zukommen, und die Erfahrungen zuverlaͤßig zu machen.
Die Natur ſiehet bey der Uebung von ſelbſten darauf
hin. Sind wir zweifelhaft, ob es ein bloßer Schein
oder ein wahrer Gegenſtand iſt, den wir vor Augen ha-
ben, ſo beſchauen wir ihn genauer, naͤher, von mehrern
Seiten und unter veraͤnderten Umſtaͤnden, wie die Ge-
legenheit zu dieſen oder jenen gegeben wird; und beru-
higet uns dieſes noch nicht, ſo fragen wir einen andern
Sinn, und am gewoͤhnlichſten das Gefuͤhl, durch deſſen
Uebereinſtimmung mit dem Geſicht aller Zweifel geho-
ben wird. Es iſt die naͤmliche Methode, welche uns die
Natur bey den innern Empfindungen gelehret hat. Ob
ich wohl wirklich das Vermoͤgen habe aufzuſtehen, da
ich ſitze; ob ich wirklich die Reihe meiner Betrachtun-
gen, die ich jetzo mit Fleiß verfolge, unterbrechen und
mich der gegenwaͤrtigen Vorſtellungen entſchlagen koͤn-
ne? Was wuͤrde ich thun, wenn ich daruͤber zweifelhaft
waͤre? Mich bemuͤhen, entweder genauer, ſtaͤrker, voͤl-
liger meinen jetzigen Zuſtand zu beobachten, und mit
demjenigen, den ich unter den Begriffen von ſolchen Ver-
moͤgen mir vorſtelle, in deren Beſitz ich zu ſeyn vermei-
ne, vergleichen; oder ich wuͤrde den gegenwaͤrtigen Zu-
ſtand von mehrern Seiten in ſeinen verſchiedenen be-
merkbaren Folgen befuͤhlen. Wenn ich noch zweifelte,
ob ich dieß oder jenes in meiner Macht habe, ſo wuͤrde
ich den Anfang machen, das Vermoͤgen anzuwenden,
und dann darauf achten, ob auch zugleich die Wirkung
anfange hervorzugehen? Dieſe letztere Art der Berichti-
gung iſt dem Befuͤhlen bey den geſehenen Gegenſtaͤnden
aͤhnlich. Es iſt auch das kuͤrzeſte Mittel, um zur Ge-
wißheit zu kommen, und wo es in unſerer Gewalt iſt,
auch das gewoͤhnlichſte, deſſen wir uns bedienen. Sollte
mein Fuß auch jetzo wohl lahm oder ſteif ſeyn? Sollte
ich wohl aufſtehen koͤnnen? Jch ziehe ihn an; erprobe das
Vermoͤgen; es entſtehet ein Beſtreben, und der Koͤr-
per
[16]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
per faͤngt an, ſich zu richten. Es iſt zum Verſuch in
dieſem Falle genug, wenn man es bey dem Anfange der
Aktion bewenden laͤßt, und da in gleicher Maaße die
Wirkung anfangen ſiehet. Man kehret alsdenn zu der
erſten Handlung zuruͤck, von der man wegen des ent-
ſtandenen Zweifels, ob man ſich ſeiner bey ihr maͤchtig
ſey, abgezogen war, ohne der Abweichung zu dem Ge-
gentheile weiter nachzugehen, und ohne die ſie unterbre-
chende und veraͤndernde Aktion voͤllig auszufuͤhren.
Die Handlungen, welche wir mit voͤlliger Be-
herrſchung unſerer ſelbſt verrichten, und welche zu
denen gehoͤren, die am meiſten frey ſind, werden auch
wirklich, wie die Erfahrung lehret, durch ſolche dazwi-
ſchen tretende kleinere Beſtrebungen, die aus
dem Vermoͤgen zu dem Entgegengeſetzten ent-
ſpringen, auf Augenblicke unterbrochen und verzoͤ-
gert, zuweilen mehr, zuweilen minder. Denn die
gleichzeitigen entgegengeſetzten Vermoͤgen ſind
oͤfters wirkende Beſtrebungen und fuͤhlbare Antriebe,
denen die ihrer ſelbſt maͤchtige Seele entgegenſtreben
muß, um ſich in demjenigen Gange der Thaͤtigkeit ohne
Zerſtreuung zu erhalten, auf den ſie aus Abſicht ihre
Kraͤfte gerichtet hat; wie der Steuermann ein Schiff,
das Wind und Wellen von ſeiner Bahn abtreiben wuͤr-
den, wenn er nicht ihrem Einfluſſe durch die Richtung des
Ruders entgegen arbeitete. Freye Handlungen von ei-
niger Laͤnge gehen nicht ſo ununterdrochen in Einer
geraden Linie oder in Einer Richtung fort, als die
bloß phyſiſchen, in denen die wirkende Kraft nach dem
naͤmlichen Geſetze der Thaͤtigkeit in eines fort vom An-
fange bis zum Ende hinwirket.
Es liegt alſo nicht in der Natur der Sache, ſondern
an unſern Uebereilungen, wenn die Empfindungen von
der Selbſtmacht uͤber uns unaͤcht und falſch ſind; ſie
koͤnnen zuverlaͤßig ſeyn und werden. Glauben, daß
ſie
[17]und Freyheit.
ſie allemal unzuverlaͤßig ſind, hieße ſo viel, als ber-
keleyiſiren.
Es iſt nun unnoͤthig, noch beſonders einzelne Faͤlle
von freyen Handlungen anzufuͤhren, in denen ein Ver-
moͤgen, anders handeln zu koͤnnen, empfunden wird. Ei-
nige ſind ſchon nebenher beygebracht. Auch iſt dieſelbige
Handlung, die bey einem Menſchen unter gewiſſen Um-
ſtaͤnden eine freye Handlung iſt, nicht allemal eine ſolche
bey einem andern. Aber jeder meiner Leſer kann hier,
indem er lieſet, bey dieſer ſeiner Handlung ſich fragen,
ob er nicht in ſich auf die erwehnte Art ein Vermoͤgen
fuͤhle, das Leſen zu unterlaſſen, wenn er gleich fortlieſet?
Jch glaube, er leſe mit aller der Kaltbluͤtigkeit, die hiezu
erfodert wird. Jede Betrachtung, jede willkuͤhrliche Be-
wegung des Koͤrpers, jedes Fortſetzen des Fußes, jeder
Griff mit der Hand, jedwede Aktion, die jemand mit
voͤllig deutlichem Bewußtſeyn ohne Leidenſchaft, mit ge-
ſetztem und gegenwaͤrtigem Geiſte vornimmt, giebt eine
Erfahrung ab, die das Geſagte beſtaͤtiget. Wir fuͤh-
len und empfinden es, daß wir ein Vermoͤgen haben, das
zu unterlaſſen, was wir thun, oder doch es anders zu
machen. Wir fuͤhlen einen Zuſtand in uns, der das iſt,
was wir unter dem Begriffe von dieſem Vermoͤgen uns
vorſtellen, und eben ein ſolcher iſt, wie andere, aus de-
nen dieſer Begriff abſtrahirt worden iſt. Noch mehr.
Wir koͤnnen uns ſogleich, wenn wir wollen, davon uͤber-
zeugen, daß ſo ein Vermoͤgen anders zu handeln gegen-
waͤrtig uns beywohne. Laßt es nur anfangen, ſich zu
aͤußern, ſo fuͤhlen wir den Anfang ſeiner Wirkungen.
Wir unterſcheiden uͤberdieß die Faͤlle ſehr deutlich
von einander, wenn wir einmal durch die zu große Leb-
haftigkeit der Jdeen, und durch einen zu ſtarken Drang
der Triebe zur Handlung hingeriſſen werden, und ein
andermal mit voͤlliger Faſſung und Gewalt uͤber uns
ſelbſt etwas ausrichten. Dort verlieren wir die Gegen-
IITheil. Bwart
[18]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
wart des Geiſtes; hier fuͤhlen wir, daß wir die ganze
Dauer der Aktion durch zwar zuweilen mit einer ſtarken
Kraft und mit Nachdruck wirken; aber doch ſo, daß
wir in jedem Momente die Aktion abzubrechen, oder ihr
eine andere Richtung zu geben, vermoͤgend ſind. Oft
wird der Trieb, mit dem wir handeln, in dem Fortgange
der Aktion zu ſtark, und uͤberwaͤltiget uns; aber auch
in dieſen Faͤllen laͤßt uns das Selbſtgefuͤhl die Stelle be-
merken, wo der Widerſtand noch moͤglich war, von der
an aber unſer Vermoͤgen zum Gegentheile immer mehr
geſchwaͤcht, und durch die immer zunehmende zur Aktion
treibende Kraft heruntergeſetzt oder gebunden ward, daß
es in Ohnmacht uͤbergieng. Wir empfinden die allmaͤh-
lig abnehmende Beſonnenheit, und fuͤhlen uns auch als-
denn noch, wenn wir ſchon ſo weit ſind, daß wir uns
dem Strome leidentlich uͤbergeben muͤſſen. Herr von
Joch ſtelle einmal den Verſuch mit dem Opium, den
er vorgeſchlagen hat, wirklich bey ſich an. Glaubet er,
einen nur mittelmaͤßigen Beobachter ſeiner ſelbſt dadurch
mehr als hoͤchſtens einmal zu hintergehen? Nicht zwey-
mal, kaum das erſtemal, woferne nicht die Umſtaͤnde
mit Sorgfalt darnach eingerichtet werden, daß die Re-
flexion auf keine Weiſe rege wird, duͤrfte man’s dahin
bringen, daß ein Menſch, der Opium bekommen haͤtte,
ſich einbilden wuͤrde, es ſtuͤnde in ſeiner Macht, der un-
natuͤrlichen und ſtarken Muͤdigkeit zu widerſtehen, der
er nachgeben muß. So bald der Saft anfaͤngt, ſeine
Wirkungen zu aͤußern, mag er vielleicht noch bey den
erſten Anfaͤllen der Schlaͤfrigkeit die Augen offen zu hal-
ten im Stande ſeyn, und bis dahin, ſo lange er dieß
kann, beſitzet er auch wirklich das Vermoͤgen dazu, und
handelt frey, wenn er ſich ergiebt. Aber die Erſtarrung
dringet weiter ein. Dann wird ſein Widerſtand ver-
geblich, und die Ermunterungskraft im Verhaͤltniß mit
der einſchlaͤfernden zu ohnmaͤchtig. Da faͤngt der Zwang
an.
[19]und Freyheit.
an. Die Selbſtmacht uͤber ſich iſt verlohren. Und ſo
wird ihn ſein Selbſtgefuͤhl, wenn er ſich beobachtet,
nichts mehr und nichts weniger lehren, als was wirk-
lich vorhanden iſt.
III.
Von dem Umfange und den Graͤnzen der Frey-
heit.
- 1) Die Freyheit findet ſich bey allen Arten
von Kraftaͤußerungen der Seele. Jn wie
ferne ſolche dem Willen oder der Aufmerk-
ſamkeit ausſchließungsweiſe zugeſchrieben
werden koͤnne? Von der Willkuͤhr. - 2) Die menſchliche Freyheit iſt eingeſchraͤnkt,
ſowohl in Hinſicht der innern Groͤße, als
ihrer Ausdehnung.
1.
Aus Erfahrungen iſt es alſo außer Zweifel, daß die
menſchliche Seele Selbſtmacht uͤber ſich beſitze.
Aber wie weit erſtreckt ſich ſelbige, und welches ſind ihre
Schranken?
Die Beobachtung lehret uns, daß es ſo vielerley
Arten freyer Thaͤtigkeiten der Seele gebe, als man
uͤberhaupt wirkende Kraftaͤußerungen in ihr unter-
ſcheiden kann; diejenige etwan abgerechnet, welche man
zu ihrer leidenden Receptivitaͤt gewoͤhnlicher Weiſe hin-
rechnet, womit ſie Eindruͤcke von außen und andere vor-
handene Modifikationen in ſich fuͤhlet und empfindet.
Jn einer Reihe von Vorſtellungen und Gedanken, die
die Arbeit des Nachdenkens ausmachen, kann ich eben
ſowohl abbrechen, und entweder die angeſtrengte Kraft
zuruͤckziehen, oder anders wohin lenken, als es in mei-
B 2ner
[20]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ner Gewalt iſt, im Spazierengehen ſtill zu ſtehen, oder
einen andern Weg zu nehmen. Unter unſern Vorſtel-
lungs- und Denkthaͤtigkeiten giebt es ſolche, uͤber die
wir unmittelbar Herr ſind, ſowohl als unter den Aeuße-
rungen der thaͤtigen Kraft, welche neue Modifikationen
in uns und außer uns hervorbringet.
Einige Philoſophen haben die Freyheit auf den
Willen eingeſchraͤnkt; andere laſſen auch der Erkennt-
nißkraft dieſe Beſchaffenheit; und einige haben noch ge-
nauer die Stelle in der Seele angegeben, wo ſie ſitzen
ſolle, da ſie nur allein das Vermoͤgen aufmerkſam
zu ſeyn, das iſt, das Vermoͤgen, die vorſtellende und
denkende Kraft auf einen Gegenſtand hinzuwenden, fuͤr
ein freyes Vermoͤgen erklaͤren, und es die Willkuͤhr
nennen. Dieß letztere heißt ſo viel, als die Freyheit in
dasjenige Vermoͤgen hinſetzen, welches an der Spitze
aller uͤbrigen ſtehet, womit die Seele ein Objekt bear-
beitet. Denn ſie richtet zuvoͤrderſt ihr Gefuͤhl und vor-
ſtellende Kraft darauf, und hierauf entſtehet ein Ein-
druck, eine Vorſtellung, und eine Jdee von der Sache:
dann folget ein Gefallen oder Mißfallen, und dieſe Af-
fektion reizet die begehrende Kraft zu einer Neigung
auf das Objekt, oder zum Widerwillen gegen daſ-
ſelbe.
Wenn es darauf ankommt, ſyſtemmaͤßig ſich aus-
zudruͤcken, ſo kann jedwede dieſer beiden Behauptungen
vertheidiget werden, je nachdem man die Erklaͤrungen
der Worte, und die kuͤnſtlichen Klaſſifikationen der See-
lenvermoͤgen einrichtet. Wer ſo, wie Herr Search,
alle Selbſtbeſtimmungen, alle Beſtrebungen, Thaͤtigkei-
ten und Handlungen, das iſt, alles, was eine Aeuße-
rung der wirkſamen Kraft der Seele iſt, fuͤr eine Wir-
kung des Willens erklaͤret, hat ohne Streit nicht un-
recht, wenn er die Freyheit allein dem Willen beyleget,
und dem Verſtande abſpricht. Denn bey dieſer Abthei-
lung
[21]und Freyheit.
lung wird der Verſtand bloß auf die Receptivitaͤt und
auf das Gefuͤhl eingeſchraͤnket, worinn, als in einem
paſſiven Vermoͤgen, kein Vermoͤgen ſich anders zu be-
ſtimmen ſtatt finden kann. Es laͤßt ſich ebenfalls
vieles zur Behauptung der zwoten Meinung ſagen.
Alles kommt darauf an, wie man ſich erklaͤret, und in
der Anwendung auf einzelne Thaͤtigkeiten verſtanden ſeyn
wolle, wie aus dem Folgenden erhellen wird.
Ueberhaupt die Sache betrachtet, ſo kann man ſich
allenthalben eine Selbſtmacht uͤber ſich in der Seele
vorſtellen, wo ſie mit ihrer Selbſtthaͤtigkeit arbeitet;
ſie beſchaͤftige ſich als Erkenntnißkraft, ſie mache Vor-
ſtellungen, ſie erwecke ſie wieder, ſie verbinde ſie, ſie
trenne ſie; oder ſie bearbeite ſolche als Denkkraft,
ſie urtheile, ſie uͤberlege, ſie ſchließe; oder endlich ſie
wirke mit ihrer Aktivitaͤt, ſie bewege den Koͤrper und
ihre Sinnglieder, oder ſie modificire ſich ſelbſt. Wo
ſie in ſelbſtthaͤtigen Aeußerungen von Schritt zu Schritt
fortgehet, da laͤßt ſich, bey allen dieſen Uebergaͤngen von
der Thaͤtigkeit in dem vorhergehenden Augenblick zu der
in dem naͤchſt folgenden, es als moͤglich vorſtellen, daß
ſie ſich in ihrer Gewalt habe, und in jedwedem Moment
ſich zum Stillſtande bringen, oder anderswohin wenden
koͤnne. So lehren es auch die Beobachtungen. Jn
allen dieſen verſchiedenartigen Verrichtungen zeiget ſich
die Seele hie oder da als eine ihrer ſelbſt maͤchtige Kraft.
Die Sphaͤre der Selbſtmacht uͤber ſich gehet alſo ſo
weit heraus, als die Sphaͤre der thaͤtigen Kraft der
Seele.
Allein weit gefehlt iſt es dennoch, daß die Seele in
allen und jeden Momenten, die in der ganzen Dauer
einer jeden unterſcheidbaren einzelnen Handlung, und
auch in der einfachſten, angenommen, in den zu-
ſammengeſetzten aber beobachtet werden koͤnnen, wirk-
lich frey handeln ſollte. Die freyeſten Handlungen ſind
B 3es
[22]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
es nur in Hinſicht ihrer weſentlichſten Punkte,
von denen die ganze Aktion abgehangen hat. Sie
werden beurtheilt und benennt nach dieſem wichtigſten
Theile; und man hat, um dieſe Beurtheilung zu er-
leichtern, die bekannte Unterſcheidung unter ſolchen
Handlungen, die unmittelbar frey ſind, und ſolchen,
die es nur mittelbar ſind, eingefuͤhrt. Von jenen
iſt hier aber allein die Rede, als ſolchen, die nur im ei-
gentlichen Verſtande freye Handlungen ſind. Zuwei-
len iſt nur der erſte Anſatz zur Aktion eine freye Thaͤtig-
keit; in allen folgenden kann ſich die Seelenkraft mit
ſolcher Staͤrke ergoſſen haben, oder mit ſolcher Gewalt
fortgetrieben worden ſeyn, daß es ihr unmoͤglich war
ſich zu halten, wie ein Menſch, der vom Berge herun-
ter laͤuft, am Ende mehr durch die Kraft der vorher-
gehenden Bewegung fortgeriſſen wird, als ſelbſt noch
fortgehet. Oft finden ſich mehrere ſolcher frey fortge-
ſetzten Schritte auf demſelbigen Wege, die hie und da
zwiſchen den uͤbrigen zerſtreuet ſind, und mit den un-
freyen Fortgaͤngen abwechſeln, wozu die innere Natur,
und die zunaͤchſt vorhergehenden Umſtaͤnde ſie unwider-
ſtehlich fortreißen. Jch ſetze mich zum Nachdenken hin,
das iſt eine freye Handlung; es entſtehen Verbindun-
gen der Begriffe, Urtheile, fortgezogene Schluͤſſe.
Da ſind Reihen von wiedererweckten Jdeen, die ſo
ſchnell eine auf die andere folgen, daß man uͤberraſchet
und unvermoͤgend wird, dazwiſchen zu kommen, oder
den Faden zu zerſchneiden, und nur allein bey irgend
einem merklichen Abſatze abbrechen kann. Aber dage-
gen giebt es ſo viele Stellen, die in der Empfindung
deutlich genug erkannt werden koͤnnen, wo man es fuͤh-
let, daß ein neuer Anſatz der Kraft, oder eine ſtaͤrkere
Jntenſion des vorigen Beſtrebens erfodert wird, wie
bey einem Menſchen, der in die Hoͤhe ſteiget. Und an
dieſen Stellen, und bey dieſen Schritten fuͤhlet die Seele
ſich
[23]und Freyheit.
ſich ihrer maͤchtig. Da kann ſie abbrechen, oder ſich
anders wohin wenden.
Man mache die Neubegierde eines Menſchen auf
eine Seltenheit rege, die man ihm vorzeigen will, wie
der Taſchenſpieler ſeine Zuſchauer. Das Auge wendet
ſich nach der Stelle hin, wo es das Objekt erwartet;
man empfindet, machet eine Jdee; dieſe afficirt das
Gemuͤth, und die Gemuͤthsbewegung ſpannet wiederum
die thaͤtige Kraft, entweder nur dazu, daß wir noch ge-
nauer und beſſer zuſehn, oder auch dazu, daß wir uns
zu einer Handlung in Hinſicht des Objekts beſtimmen.
Jn dieſen und in unzaͤhlig aͤhnlichen Faͤllen erfolget die
Richtung des Sinngliedes und der Aufmerkſamkeit, die
Empfindung, die Jdee, die Gemuͤthsbewegung und
die Neigung mit ſolcher Schnelligkeit eins auf das
andere, daß, wenn die Seele bey dem erſten Anfange
nicht ihrer ſelbſt maͤchtig war, ſie es nachher gewiß auch
nicht geweſen iſt. Jeder Eindruck wuͤrde ſich auf eine
Seele, die, voͤllig leer von allen Vorſtellungen und Fer-
tigkeiten, ſich gegen ihn eroͤffnet haͤtte, auf die naͤmliche
Art ergießen, und in ſie bis in ihr Jnnerſtes eindrin-
gen. Solche Faͤlle ſind es, worauf man die vorher-
erwehnte Lehre von der bloß auf das Aufmerkſamkeits-
vermoͤgen eingeſchraͤnkten Selbſtmacht gegruͤndet hat.
Aber wie viele andere Beobachtungen freyer Thaͤtigkei-
ten giebt es nicht noch, die man mit dieſen haͤtte verglei-
chen ſollen. Und dann haͤtte man die Freyheit wol
nicht eben in dieſen Winkel der Seele eingeklemmt.
Wie, wenn ich z. B. nun den geſehenen Gegen-
ſtand vom neuen genauer anſchaue, wenn ich ihn von
mehrern Seiten betrachte, daruͤber reflektire, ihn mit
andern vergleiche, ſein Gutes und ſein Boͤſes erwaͤge
und abzaͤhle, und dann, wann ich ihn zu beſitzen wuͤn-
ſche, ihn zu erhandeln ſuche, und zu dieſer Abſicht ge-
wiſſe Woͤrter hervorbringe, Geld aus dem Beutel ziehe,
B 4und
[24]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
und ihn zu mir nehme: kann man ſagen, dieſe ganze
Reihe von Verſtandes- und Willensaͤußerungen werde
nothwendig von der erſten Verwendung der Aufmerk-
ſamkeit auf die Sache nach ſich gezogen, ſo daß die
Seele keine dieſer nachfolgenden Schritte mit Selbſt-
macht uͤber ſich unternommen habe? Dieß iſt wider
alle Empfindung.
Vielleicht kann man ſich helfen. Die ganze zuſam-
mengeſetzte Reihe mag vielleicht aus lauter einzelnen
Theilen beſtehen, deren jeder fuͤr ſich eine ſolche Reihe
iſt, die von der Aufmerkſamkeit anfaͤngt, und bey die-
ſem Anfangspunkte frey iſt, aber in den folgenden nicht
mehr. Jch fange an, uͤber die geſehene Sache nach-
zudenken. Da beſtehet der erſte Schritt in einer Hin-
lenkung der Denkkraft auf den Gegenſtand; und auf
dieſen erfolgen Urtheil, Affektion und dann Spannung
der thaͤtigen Kraft, oder Selbſtbeſtimmung, Wollen.
Dieß iſt eine einfache Reihe, wo die Selbſtmacht der
Seele uͤber ſich nur bey dem Anfange allein ſtatt finden
kann. Auf eine aͤhnliche Art verhaͤlt ſichs vielleicht in
den folgenden Theilen der ganzen Aktion. Jch bringe
meine Hand zu dem Geldbeutel. Es entſtehet eine Em-
pfindung, die gefaͤllt, und vom neuen die Kraft der Hand
zur Fortſetzung ihrer Verrichtung ſpannet. Alſo ſind
auch hier die einzelnen Aktionen als Theile des Ganzen
von der naͤmlichen Art.
Gegen dieſe Applikation des Satzes, daß nur Freyheit
ſtatt findet, wo die Seele aufmerkſam wird, wuͤrde ich
nicht viel einwenden. So iſt es. Wenn die ſelbſt-
thaͤtige Kraft der Seele auf einen Gegenſtand ſich be-
ſtimmet, ſo iſt ein Anfang der Aktion da. Dieſe hat
eine Empfindung, oder die Vorſtellung, oder die Jdee
zur Folge, welche auf das Gemuͤth wirket, und eine
Affektion hervorbringet, welche wiederum die Thaͤtigkeit
reizet. Jn den letztern Modifikationen, welche Folgen
jenes
[25]und Freyheit.
jenes erſten Beſtrebens der thaͤtigen Kraft ſind, iſt die
Seele leidend, und hat alſo auch hiebey keine Selbſt-
macht uͤber ſich. Aber da, wo dieſe Reihe an eine aͤhn-
liche nachfolgende anſchließt; wo Anſtrengung, neues
Beſtreben, oder auch nur eine Fortſetzung der erſten Jn-
tenſion erfodert wird, da iſt wiederum eine Stelle, wo
die Seele mit Selbſtmacht uͤber ſich handeln kann.
Jch ſage, wo ſie es kann, denn in den wenigſten Faͤl-
len beſitzet ſie ſolche. Wo keine Aeußerung der Selbſt-
thaͤtigkeit iſt, da iſt keine Freyheit. Aber nicht allemal,
leider nur in den wenigſten Faͤllen, iſt dieſe da, wo je-
ne iſt.
Zugleich aber iſt es nun auch offenbar, was ich
vorher vermuthet hatte, daß man eine jede Beſtim-
mung der ſelbſtthaͤtigen Kraft zur Aktion, eine Anwen-
dung der Aufmerkſamkeit genennt wiſſen wollen.
So muß man zum mindeſten ſich erklaͤren, woferne man
mit der Erfahrung auskommen will.
2.
Dieß iſt nun die Beſchraͤnkung der menſchlichen
Freyheit von einer Seite, in ihrer Ausdehnung naͤm-
lich. Sie iſt es auch in Hinſicht auf die Jntenſion,
da die ihrer ſelbſtmaͤchtige Kraft, welche handelt, ge-
ringe iſt; und ſie iſt ſchwach, in ſo ferne auf das Ver-
moͤgen zu dem Gegentheil geſehen wird. Ein großer
Vortheil wird dem Kaufmanne angeboten. Sein Ent-
ſchluß bleibet frey; denn er beſitzet das Vermoͤgen, ſich
anders zu beſtimmen, und den Handel zu unterlaſſen.
Aber er mache den Verſuch einmal, und er wird finden,
daß es ihm ungemein ſchwer werde, ſeiner Begierde
zum Gewinn zu widerſtehen. Wir haben noch oft das
Vermoͤgen zu dem Entgegengeſetzten; aber es iſt keine
Fertigkeit, mit der wir leicht und geſchwind den Effekt
hervorbringen koͤnnten. Es haͤtte oft einen ſchweren
B 5Kampf
[26]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Kampf gekoſtet, wenn wir einen Gebrauch von dieſem
Vermoͤgen haͤtten machen wollen. Wer unterſcheidet
alle hier wirklich vorkommende Stufen der Schwaͤche,
und wie leicht iſt ſogar der Punkt verfehlet, wo die
Schwierigkeit anders zu handeln in eine Unmoͤg-
lichkeit uͤbergehet? Eine voͤllige Selbſtmacht uͤber
ſich wuͤrde nur da ſtatt finden, wo das gleichzeitige Ver-
moͤgen zu dem Entgegengeſetzten in der Seele eine ſolche
Staͤrke beſitzet, daß es eben ſo leicht iſt, die wirkliche
Aktion zu unterlaſſen, als ſie vorzunehmen, oder gleich
leicht, ſie anders einzurichten, als ſie ſo zu laſſen wie ſie
iſt. Vergleicht man die beyden Vermoͤgen zum Thun
und zum Laſſen, als bloße Vermoͤgen mit einander,
ſo kann das letztere groͤßer ſeyn, als das erſtere. Es
iſt leichter, auf dem Wege den Berg hinauf umzukeh-
ren, als weiter fortzugehen. Aber man muß das wir-
kende Vermoͤgen in ſeiner Wirkſamkeit betrachten, ſo
wie die Bewegungsgruͤnde darauf wirken, und das Ver-
moͤgen zum Gegentheile ſoll ſtark genug ſeyn, jenes in
ſeiner Wirkſamkeit aufzuhalten, oder anders wohin zu
lenken.
IV.
Das Maß der Freyheit.
Man kann die Selbſtmacht uͤber ſich in einzel-
nen Handlungen von einer zwiefachen Seite an-
ſehen, und ihre Groͤße auf eine zwiefache Weiſe be-
ſtimmen. Es iſt eine thaͤtige Kraft da, welche handelt,
und zugleich ein Vermoͤgen zu dem Gegentheile. Die
Summe von beiden zuſammen machet die ganze
reelle phyſiſche Groͤße der freyen Kraft in dem
handelnden Weſen aus, in ſo ferne ſich ſolche
auf die verrichtete Handlung beziehet. Dieß iſt
ihre abſolute Groͤße, nach welcher die innere Groͤße
des freyen ſelbſtthaͤtigen Weſens beſtimmet wird.
Der
[27]und Freyheit.
Der Moraliſt, der die Groͤße der Moralitaͤt, oder
den Grad der Guͤte und der Boͤßheit in der freyen Aktion,
das iſt, die Staͤrke, womit die handelnde Kraft nach
der Richtung hin beſtimmt geweſen ſeyn muß, in der
ſie gewirket hat, um eine ſolche Aktion zu bewirken,
als erfolget iſt, nur einiger Maßen ſchaͤtzen will, muß
doch auch auf beides zugleich, naͤmlich ſowohl auf die
thaͤtige Kraft ſelbſt, als auf das Vermoͤgen zu
dem Gegentheil, Ruͤckſicht nehmen. Sonſt faͤllt
die Schaͤtzung mangelhaft aus. Von einem eigentlichen
Meſſen laͤßt ſich nichts ſagen, da ſolches zur Zeit bey
den Seelengroͤßen nicht moͤglich iſt. Ein Weſen, wel-
ches aus innerer Naturnothwendigkeit Gutes wirket,
welch eine vortreffliche Natur beſitzet es nicht? Aber
dieſe Naturguͤte iſt doch keine freye Guͤte, und ein
freyes Weſen, das eine gleiche Kraft zum Guten be-
ſitzet, wie jenes, hat doch noch mehr innere Guͤte,
und iſt ein groͤßeres Weſen, weil es mit einer groͤßern
innern Kraft wirket, die auch Boͤſes zu thun das Ver-
moͤgen hat, und ihrer ſelbſt maͤchtig iſt, auch dann,
wann ſie Gutes thut. Die nothwendige Guͤte bey
dem Menſchen, ſeine Natur- und Temperamentsguͤte,
hat noch einen deſto wenigern Werth, weil ſie nicht ganz
in einem reellen Grade der innern Selbſtthaͤtigkeit der
Seele beſtehet, ſondern zum Theil nur in dem Koͤrper
ihren Sitz hat, zum Theil auch wahre Schwaͤche und
Ohnmacht iſt. Die allerbeſte menſchliche Tugend iſt
freylich immer in einigem Grade abhaͤngig vom Koͤrper,
aber je mehr ſie doch wahre Tugend iſt, deſto weniger
iſt ſie es, und deſto mehr iſt ſie eine Realitaͤt des innern
Menſchen, und Staͤrke in der ſelbſtthaͤtigen Seele.
Dagegen vermindert auch die Fertigkeit im Guten
an ſich den moraliſchen Werth der Handlung nicht.
Die Leichtigkeit gut zu handeln iſt ein Beweis, daß das
auf das Gute und Rechtſchaffene gerichtete Vermoͤgen
mit
[28]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
mit einer großen Jntenſion wirket. Aber es folget
daraus nicht, daß das entgegengeſetzte Vermoͤgen ſehr
ſchwach ſeyn muͤſſe; nicht einmal iſt es nothwendig, daß
es in Vergleichung mit jenem geringe ſey, ob es gleich
bey den menſchlichen Fertigkeiten wohl ſo iſt. Noch
weniger folget alſo, daß die geſammte handelnde Kraft
ſchwaͤcher ſey, fuͤr ſich nach ſeiner abſoluten Groͤße ge-
ſchaͤtzet, als da, wo die Fertigkeit im Guten fehlet.
Sollte der Erwachſene in der Tugend nicht noch eben die
Geſchicklichkeit beſitzen Boͤſes zu thun, welche er vorher
beſaß, da er mit den Verſuchungen noch kaͤmpfen mußte?
Jene Geſchicklichkeit kann jetzo noch groͤßer ſeyn, als ſie
vorher war, unerachtet ſie ſich jetzo nicht reget. Er
wirket mit einer moraliſchen Kraft, die doch wenigſtens
an der einen Seite, in ſo ferne ſie aufs Gute gehet,
groͤßer iſt, als bey dem ſchwachen Anfaͤnger, wenn ſie
nicht auch an der entgegengeſetzten zugleich es iſt, wie
ſie doch ſeyn kann. Aber auch angenommen, daß die
innere Seelengeſchicklichkeit zum Boͤſen, — alles das
zuſammen genommen, was dazu gehoͤret, — durch die
lange Uebung im Guten in etwas geſchwaͤcht worden
ſey, weil ſie durch den Gebrauch nicht geſtaͤrkt worden
iſt, ſo folgt dennoch nicht, daß der Zuwachs an Selbſt-
thaͤtigkeit an der andern Seite nicht die Abnahme an der
entgegenſtehenden uͤbertreffen koͤnne. Und dann wuͤrde
doch noch die Fertigkeit im Guten eine wahre Seelen-
groͤße ſeyn.
Es kann aber auch zweytens die Groͤße der Selbſt-
gewalt uͤber ſich, beziehungsweiſe geſchaͤtzet wer-
den, in ſo ferne ſie naͤmlich eine Selbſtmacht uͤber
ſich iſt, in ſenſu diuiſo, wie die Alten geſagt haben
wuͤrden, nicht in ſo ferne ſie eine Kraft iſt, welche Selbſt-
macht beſitzet, in ſenſu compoſito, wie ich ſie vorher
betrachtet habe. Alsdenn haͤnget ihre Groͤße nicht ab
von den abſoluten Groͤßen der beiden entgegengeſetz-
ten
[29]und Freyheit.
ten Vermoͤgen zu handeln, und die Handlung zu unter-
laſſen, ſondern von ihrem Verhaͤltniſſe gegen einander;
und ſie iſt deſto groͤßer, je groͤßer das Vermoͤgen
zum Gegentheil in Beziehung auf das Vermoͤ-
gen iſt, welches ſich wirklich aͤußert. Die Tu-
gend, welche im Kampfe gegen Leidenſchaften und Ver-
ſuchungen unterlieget, kann noch mehr werth ſeyn, und
unſere Achtung und Mitleiden fuͤr ſie beweiſet es, daß
wir ihren Werth empfinden, als die ſchwache Tugend,
die nur da thaͤtig iſt, wo das Vermoͤgen zum Boͤſen ge-
ringe iſt. Die wirkende Kraft, die von einer ſtaͤrkern
uͤberwunden wird, kann wohl viel mehr innere Staͤrke
beſitzen, als die, welche uͤber eine ſchwaͤchere den Sieg
erhaͤlt. Man ſchließe alſo nicht, daß lebhafte Perſo-
nen, die ſo oft von ihrer Leidenſchaft hingeriſſen werden,
ein ſchwaͤcheres Vermoͤgen, ſich zu beherrſchen, beſitzen
muͤſſen, als die Temperamentsweiſen, die immer bey
ſich ſelbſt ſind, und ſich faſſen, weil ſie zu wenig em-
pfindſam ſind, um in ſtarke Bewegung geſetzt zu wer-
den. Aber dennoch iſt diejenige Kraft immer noch ed-
ler und groͤßer, die auch ſtaͤrkere Triebe beſiegen kann.
Dieſe relative Groͤße der Freyheit, die Leich-
tigkeit ſich zum Gegentheile zu beſtimmen, die von dem
Verhaͤltniß der beiden Vermoͤgen zu der Handlung und
zu ihrem Gegentheil entſpringet, macht eigentlich die
innere Unabhaͤngigkeit aus, ſowohl von den aͤußern
Dingen, die einen Einfluß in die Handlung haben, als
auch von den innern Modifikationen, die dazu reizen und
bewegen. Je weniger dieſe auf die thaͤtige Kraft einen
beſtimmenden Einfluß haben, deſto weniger wird die
letztere mit Gewalt zu der Handlung fortgetrieben; deſto
gleichguͤltiger iſt die Handlung, und deſto ehe kann ſie
unterlaſſen, oder anders eingerichtet werden. Hiezu
wird nicht allemal ein gleich großes Vermoͤgen erfodert.
Wenn die Wage mit einem geringen Uebergewicht an
einer
[30]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
einer Seite herunter ſteiget, ſo bedarf es auch nur eines
kleinen Gegengewichts an der entgegengeſetzten, um ſie
zuruͤckzuhalten, und wieder in die Hoͤhe zu bringen.
Doch bitte ich, dieß Gleichniß nicht uͤber ſeine Abſicht
auszudehnen.
Die Unabhaͤngigkeit iſt zur Freyheit erfoderlich.
Aber ſie iſt nur eine Beſchaffenheit der freyen Kraft.
Nach der Groͤße von jener kann wohl die Freyheit als
Freyheit, aber nicht die ganze Groͤße der freywir-
kenden Kraft geſchaͤtzt werden. Die unabhaͤngige
Kraft kann eine auf wenige Handlungen und zu ſchwa-
chen Aeußerungen aufgelegte Kraft ſeyn. Jch will nicht
ſagen, daß dieſe Anmerkung ſehr viel auf ſich habe, aber
mich deucht doch, daß ſie von verſchiedenen nicht genug
in Betracht gezogen wird, wenn ſie die Groͤße der Frey-
heit in dem unkultivirten Zuſtande wilder Voͤlker mit der
Freyheit des Buͤrgers in den polizirten Nationen zu ver-
gleichen ſuchen. Der Wilde iſt von Geſetzen und Men-
ſchen unabhaͤngiger, als der Kultivirte. Das mag ſeyn.
Aber beſitzet er uͤberhaupt ſo viele freywirkende Vermoͤ-
gen in Hinficht auf andere Menſchen zu handeln, die aus
der Geſellſchaft entſpringen, als in polizirten Staaten,
wo die Verbindungen und Beziehungen der Menſchen
mit und auf Menſchen verwickelter ſind, und alſo meh-
rere und mannigfaltigere Vermoͤgen außer ſich in Hin-
ſicht auf andere zu handeln entwickelt werden? Man
muͤßte wenigſtens, um die Vergleichung richtig anzu-
ſtellen, zuerſt feſt ſetzen, wie viele und wie große aͤußere
Handlungen das ſind, uͤber die der Buͤrger der einge-
richteten Geſellſchaften Herr iſt, und dieſe mit der gan-
zen Groͤße und Menge derer, woruͤber er es iſt außer der
Geſellſchaft und in dem Stande der Wildheit, verglei-
chen. Was hilfts ihm, wenn er hier Herr uͤber alle iſt;
aber nur wenige beſitzt? Vielleicht iſt er ein unabhaͤngi-
ger
[31]und Freyheit.
ger Bettler, der uͤberhaupt weniger durch Geſetze ver-
pflichtet iſt, weil er weniger Vermoͤgen hat.
V.
Wie die Freyheit ſich auf die Vernunft beziehet.
- 1) Das Vermoͤgen zu dem Gegentheile deſſen,
was wir wirklich vornehmen, iſt noch naͤher
zu unterſuchen. - 2) Wie die Freyheit ſich auf die Vernunft be-
ziehe nach den Wolfiſchen Jdeen. - 3) Jede Handlung iſt eine freye Handlung, in
der eine deutliche Vorſtellung von der Hand-
lung und von dem Objekt die wirkende
Kraft beſtimmet. Von der moraliſchen
Nothwendigkeit. - 4) Aber die Handlung kann auch frey ſeyn,
wenn gleich die Kraft von einer nicht deut-
lichen Vorſtellung oder Empfindung beſtim-
met wird. Der Zuſtand der Befinnung iſt
allemal erfoderlich, wenn die Seele frey
handeln ſoll.
1.
Die bisherigen Bemerkungen koͤnnten gemachtwerden,
ohne die Freyheit noch weiter, als von ihrer Auſ-
ſenſeite anzuſehen. Sie ſtellet ſich dar, ich wiederhole
es mit Fleiß noch einmal, als ein Vermoͤgen, auf ei-
ne andere Art thaͤtig zu ſeyn, als wir es ſind, das
zugleich in uns vorhanden iſt, indem wir unſere Kraft
anwenden. Worinn dasjenige auch beſtehen mag, was
wir die Bewegungsgruͤnde nennen, die Reize und
Veranlaſſungen von innen und außen, die ſich mit dem
Vermoͤ-
[32]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Vermoͤgen zu handeln in uns verbinden, und dieſe zu
thaͤtigen lebendigen Kraͤften machen, ſo ſoll doch da,
wo die Handlung frey iſt, noch in unſerm Jnnern ein
Vermoͤgen zuruͤck ſeyn, den bewegenden Gruͤnden zu
widerſtehen, die wirkende Kraft außer Thaͤtigkeit zu
ſetzen, oder in eine andere Richtung zu bringen. Dieß
iſt die Jdee von der Freyheit, welche das Gefuͤhl der-
ſelben unmittelbar uns vorhaͤlt.
Aber worinn beſtehet das Vermoͤgen zu dem
Gegentheile, dieß unthaͤtige, todte Vermoͤgen, wel-
ches bloßes Vermoͤgen bleibet, und nicht wirket,
naͤmlich nicht dasjenige wirket in Hinſicht auf das Ver-
moͤgen, womit wir die Handlung vornehmen, was es
auf ſolches wirken kann, in ſeiner Wirkſamkeit es nicht
ſtoͤret, noch anders beſtimmet? Jn anderer Hinſicht
hat dieß gleichzeitige Vermoͤgen zum Gegentheile aller-
dings ſeine Folgen und Wirkungen in jeder freyen Hand-
lung, wie ich oben ſchon einmal erinnert habe, und es
in der Folge noch deutlicher entwickeln will. Denn in
der freyen Handlung iſt ein Charakter von der Frey-
heit, mit der die Urſache gewirket hat ein Zeichen von
der wirklichen Gegenwart des Vermoͤgens, ſich auf eine
entgegenſtehende Art beſtimmen zu koͤnnen.
Um einen Verſuch zu machen, wie weit die Natur
dieſes Vermoͤgens ſich deutlicher entwickeln laſſe, will
ich auf dem bisherigen Wege den Beobachtungen nach-
gehen.
2.
Die Erfahrung lehret, daß Freyheit mit der Ver-
nunft oder der hoͤhern Denkkraft in Verbindung
ſtehe. Das vernunftloſe Thier iſt kein freyhandelndes
Weſen, wenn man ihm gleich eine Willkuͤhr, ein
Analogon von menſchlicher Freyheit in eben dem Sinne,
wie ein Analogon der Vernunft zuſchreiben kann. Kinder,
Bloͤdſin-
[33]und Freyheit.
Bloͤdſinnige, Schlafende, Nachtwanderer, Betrun-
kene und alle ſolche, bey denen die Vernunft alsdenn,
wenn ſie etwas unternehmen, ſich nicht wirkſam bewei-
ſet, ſind auch ihrer ſelbſt bey ſolchen Handlungen nicht
maͤchtig. So wie die Vernunft in dem Kinde, und
in dem Juͤnglinge ſich erhebt, ſo waͤchſet auch ſeine Ge-
walt uͤber ſich, und ſeine Freyheit.
Ueberhaupt iſt es ein allgemeiner Erfahrungsſatz:
„Wenn und wo es unmoͤglich iſt, die gegenwaͤrtigen
„Vorſtellungen, die unſere thaͤtige Kraft leiten oder be-
„ſtimmen, ſelbſtthaͤtig zu bearbeiten, aus einander zu
„ſetzen, zu vergleichen und daruͤber zu reflektiren; dann
„und da beſitzen wir auch keine Freyheit.“ Und alles
dasjenige, wodurch jenes Vermoͤgen der Denkkraft bey
einzelnen Handlungen geſchwaͤcht oder aufgehoben wird,
benimmt uns in der gleichen Maße die Gegenwart
des Geiſtes, bringet uns, wie wir ſagen, aus unſe-
rer Faſſung, ſchwaͤchet die Selbſtmacht uͤber uns, oder
hebet ſie auf.
Jn der Wolfiſchen Seelenlehre wird die Freyheit
als eine nothwendige Folge der Vernunft angeſe-
hen. Ein vernuͤnftiges Weſen kann ſich deutliche Be-
griffe machen, und da es ſich nach ſeinen Vorſtellungen
zur Handlung beſtimmet, ſo kann es ſich auch nach
deutlichen Begriffen beſtimmen. Dieß Vermoͤ-
gen, ſich nach deutlichen Begriffen zu beſtim-
men, iſt die Freyheit nach der Wolfiſchen Erklaͤrung.
Alſo iſt Freyheit eine weſentliche Folge und Wirkung
vom Verſtande und Vernunft.
Eine ſolche Abſtammung der Freyheit von der Ver-
nunft kann man nun freilich aus ihren Begriffen nicht
beweiſen, wenn die obige Jdee von der Freyheit zum
Grunde gelegt wird, die wir zunaͤchſt aus den Erfah-
rungen erlangen. Ob der Wolfiſche Begriff einerley
IITheil. Cmit
[34]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
mit dieſem ſey, oder eine Folge davon, oder nur eine
einſeitige Vorſtellung ihres Gegenſtandes, das iſt vor-
her zu unterſuchen, ehe man es bey ihr bewenden laͤſſet.
Und dieß gruͤndlich zu unterſuchen, heißt ſo viel, als die
ganze Beziehung der Freyheit auf das Vermoͤgen deut-
liche Vorſtellungen zu haben, aufzuſuchen. Moͤgen
doch die leidenden, afficirenden und bewegenden Vorſtel-
lungen bis zum hoͤchſten Grade entwickelt ſeyn; folget es,
daß, wenn ſie die Thaͤtigkeitskraft beſtimmen, ſie ſol-
che nicht eben ſo hinreißend und maͤchtig beſtimmen koͤn-
nen, als eine ſtaͤrkere Empfindung, oder eine ſinnlich
verwirrte Vorſtellung unſrer groͤbern Sinne? Koͤnnen
nicht die entwickeltſten Jdeen ſo uͤberwaͤltigend ſeyn, daß
alles Widerſtehen unmoͤglich wird? Aber die von
Wolfen ſo ſorgfaͤltig aufgeſuchten Beobachtungen leh-
ren uns eine Verbindung zwiſchen der Vernunft und
Freyheit kennen, die naͤher betrachtet zu werden ver-
dient.
3.
Erſtlich iſt es gewiß „daß jede Handlung ei-
„ne freye Handlung iſt, zu der unſere Kraft durch
„deutliche Vorſtellungen von der Handlung und von
„dem Objekt, und von deſſen Beziehungen auf uns, be-
„ſtimmt und geleitet wird.“ Dieſe Regel iſt ohne
Ausnahme, wenn ſie gehoͤrig verſtanden wird. Jede
Vorſtellung, die wir deutlich nennen, iſt es nur von
Einer Seite, in Hinſicht einiger Zuͤge in ihr, welche
auseinander geſetzt ſind, und von uns unterſchieden
werden; aber das Ganze derſelben iſt verwirrt und un-
deutlich, wie in den Gemaͤlden. Eine deutliche Vor-
ſtellung, die es nur in einigen Zuͤgen iſt, kann, in ſo
fern ſie als ein verwirrtes und undeutliches Bild auf
die Seelenkraft wirket, zwingend ſeyn. Aber je mehr
ſie deutlich iſt, und in der Maße, wie ſie es iſt, laͤſſet
ſie
[35]und Freyheit.
ſie das Vermoͤgen anders zu handeln ungekraͤnkt,
ſchwaͤchet es nicht, und bindet es nicht. Jn ſolchen
Faͤllen haben wir, wie die Erfahrung lehret, uns alle-
mal in unſerer Gewalt. Und nach deutlichen Vor-
ſtellungen, mit vollem Bewußtſeyn deſſen, was wir
thun, handeln, und durch nichts als durch dieſe deutli-
che Jdeen beſtimmt werden, iſt ſo viel, als ſo handeln,
daß wir uns in unſerer Gewalt haben und frey han-
deln.
Es giebt zwar eine Nothwendigkeit in unſern
Handlungen, die in der Vernunft ihren Grund hat,
und eine wahre phyſiſche Nothwendigkeit iſt, aber
dem Erfahrungsſatze, den ich oben vorher angezeigt
habe, nicht entgegen ſtehet. Man pflegt ſie wohl eine
moraliſche Nothwendigkeit zu nennen. Dieſen
Namen kann ſie haben von einer Seite betrachtet, nur
nicht in derjenigen Bedeutung, in der das Moraliſch-
nothwendige ſo viel iſt, als das Geſetz- und Pflicht-
maͤßige, das billig nicht nothwendig heißen ſollte,
da die Rechtmaͤßigkeit der Handlung fuͤr ſich allein nie-
mals die Selbſtmacht der Seele uͤber ſich aufhebet, und
mit dieſer nichts zu thun hat. Jene phyſiſche Noth-
wendigkeit zeiget ſich in folgenden Beyſpielen. Es iſt
mir, wenn ich wache, und mich beſinnen kann, unmoͤg-
lich, meine Hand willkuͤhrlich an dem Feuer verbren-
nen zu laſſen, ſo unmoͤglich als es dem Reiſenden uͤber die
Alpen iſt, der ſeine Vernunft beſitzet, ſich von dem Fuß-
ſteige hinab in die Abgruͤnde zu ſtuͤrzen. Solche auf-
fallende Unſinnigkeiten kann der mit Ueberlegungskraft
begabte Menſch nicht vornehmen, als nur im Stande
der Vernunftloſigkeit, bey den allerheftigſten Leiden-
ſchaften, welche die Reflexion unterdruͤcken. Eine Lei-
denſchaft brachte den Roͤmer Metius, bringet die
Fackyers und andere Fanatiker, zu Tollheiten. Aber
wo dieſe Urſachen fehlen, da fehlet nicht bloß ihre Wir-
C 2kung,
[36]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
kung, ſondern es fehlet auch das Vermoͤgen zu ſolchen
Wirkungen, wenn geſunde Vernunft das Steuerruder
haͤlt. Die phyſiſche Kraft im Koͤrper, um die Hand
dem Feuer entgegen zu halten, iſt da, aber dieſe macht
das geſammte Vermoͤgen, eine ſolche Handlung vor-
zunehmen, nicht aus. Hiezu wird auch eine Kraft er-
fodert, den ſtarken Widerwillen, den die Vorſtellung
von der That ſelbſt hervorbringet, zu unterdruͤcken, und
ihr entgegen das koͤrperliche Bewegungsvermoͤgen auf
die Handlung zu richten.
Jn den angefuͤhrten Beyſpielen iſt die Gegenwart
der Vernunft, und die Reflexion uͤber die That, die
phyſiſche Urſache, daß die Seele, wenn ſie ſo aͤußerſt
unſinnige Handlungen unterlaͤßt, oder dagegen aͤußerſt
nothwendige vornimmt, dabey nicht frey und mit Selbſt-
gewalt uͤber ſich handelt. Aber ſie verrichtet und un-
terlaͤßt ſolche auch alsdenn nicht um der Staͤrke der all-
gemeinen vernuͤnftigen Ueberlegung willen. Ob es gut
ſey oder nicht gut ſey, die Hand zu verbrennen, das
kann ſie vernuͤnftig nach deutlichen Begriffen uͤberlegen;
und dadurch wird ſie nicht aus ihrer Faſſung gebracht.
Sie wuͤrde von dieſen Reflexionen in der That wenig
Widerſtand finden, wenn ihr einmal die Luſt anwan-
deln ſollte, eine ſolche Probe zu machen. Aber die le-
bendigen verwirrten anſchaulichen Vorſtellungen von der
That, von ihrer Unvernunft und ihren Wirkungen,
welche mit jenen deutlichen Ueberlegungen verbunden
ſind, und ſich gegenwaͤrtig der Seele darſtellen; dieſe
ſind es, die mit ſolcher Heftigkeit auf das Gemuͤth und
auf den Willen wirken, daß die Kraft mit Schaudern
von der Handlung zuruͤckfahren muß, und ſich außer
Stand geſetzet fuͤhlet, ihr nur zu naͤhern und den An-
fang zu machen. Es iſt alſo auch nicht die deutliche
Vorſtellung, ſondern die ſie begleitenden Empfindungen,
was in ſolchen Faͤllen die Handlung erzwinget. Daraus
aber,
[37]und Freyheit.
aber, daß dergleichen zuruͤckhaltende Vorſtellungen un-
ter gewiſſen Umſtaͤnden dennoch durch andere entgegen-
geſetzte uͤberwunden werden koͤnnen, folget weiter nichts,
als daß es Bewegungsgruͤnde gebe, die noch| ſtaͤrker,
als jene ſind. Jn Feuersgefaͤhr ſpringt wohl ein ver-
nuͤnftiger Mann im bloßen Hemde aus dem Fenſter
auf die Straße, und handelt denn eben ſo nothwendig,
als es ihm bey geſunden Verſtande nothwendig iſt, es
bleiben zu laſſen.
4.
Dagegen iſt es nicht allemal nothwendig, daß, um
frey zu handeln, eine deutliche Vorſtellung der Be-
wegungsgrund zur Handlung ſeyn muͤſſe. Der wuͤrde
in Wahrheit nur eine ſchwache Gegenwart des Geiſtes
beſitzen, den jedwede Empfindung oder ſinnliche Vor-
ſtellung, der er nachgehet, ſogleich unvermoͤgend machte,
zu widerſtehen, und anders ſich zu beſtimmen. Das
Gemuͤth wird oftmals im Gewuͤhl der Geſchaͤffte von
verwirrten Bildern ſehr lebhaft angegriffen, und man
beſtimmt ſich nach dieſen unentwickelten Vorſtellungen,
und behaͤlt demunerachtet die Herrſchaft uͤber ſich, fuͤhlt
ſein Vermoͤgen anders zu handeln, und handelt mit
Freyheit. Wenn die bewegende Vorſtellung nur
nicht die ſtaͤrkſte uͤber alle andere iſt, welche die Seele zu
der Zeit in ſich aufbieten kann. Sie kann eine noch
ſtaͤrkere in ihrer Ruͤſtkammer im Vorrath haben, die
ſie jener entgegenzuſetzen, und unter den Umſtaͤnden, un-
ter welchen ſie handelt, zu erwecken und aufzubieten
vermag; und man weiß, wenn auch keine andere da iſt,
wie ſtark allein die einzige Jdee ſey: „ich muß nun ein-
mal meinen eigenen Willen beweiſen;‟ die uns zu Dien-
ſten ſtehet, und ſich bey dem Eigenſinnigen oͤfterer und
ſtaͤrker anbietet, als die Vernunft ſie haben will. Aber
es iſt doch in allen Faͤllen, wenn das Vermoͤgen ſo eine
C 3entge-
[38]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
entgegengeſetzte Vorſtellung hervorzuziehen, und uns nach
ihr zu beſtimmen, vorhanden ſeyn ſoll, auch nothwen-
dig, daß wir uns in dem Stande der Beſinnung
alsdenn befinden. Denn ſo oft es hieran fehlet, ſo oft
fehlet auch das Vermoͤgen, ſelbſtthaͤtig aus ſich die ru-
henden Vorſtellungen und Kraͤfte zu erwecken und thaͤ-
tig zu machen. Die Maximen der Weisheit im Ge-
daͤchtniß helfen nichts, wenn der Menſch nicht die Kraft
hat, ſich ihrer zur rechten Zeit zu erinnern, und ſie zur
lebhaften Gegenwart zu bringen, dann, wann die
Sinnlichkeit ihn angreift. Jhr Vorrath im Kopfe
macht keinen Weiſen, ob ſie gleich die Waffen der Weis-
heit ſind. Die Seele muß die Kraͤfte beſitzen, ſie zu
fuͤhren, worauf alles ankommt; das iſt, die ſelbſtthaͤti-
ge Kraft, die guten Gedanken zu gebrauchen, muß
durch den Anfall der bewegenden Vorſtellung nicht ent-
zogen, noch geſchwaͤcht noch gebunden werden. Und
dazu iſt es nothwendig, daß die Beſinnung oder der
Stand der wirkſamen Vernunft und Ueberlegungskraft
erhalten werde.
Hieraus offenbaret ſich die Beziehung der Freyheit
auf die Vernunft, und der Grund ihrer Verbindung
miteinander ſehr deutlich, obgleich jene nicht einerley
mit dieſer, noch in ihrem ganzen Umfange genommen,
eine nothwendige Folge von ihr iſt.
Die Vernunft iſt ein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen
der Seele, das Vorſtellungen zu ſeinen Gegenſtaͤnden
hat, und die Freyheit iſt eine erhoͤhete Selbſtthaͤtig-
keit in allen Kraftaͤußerungen der Seele uͤberhaupt.
Beide haben eine gemeinſchaftliche Quelle. Daher iſt
es alſo nicht zu verwundern, daß, wo der eine von den
Ausfluͤſſen, zumal derjenige, der meiſtentheils der ſchwaͤ-
chere iſt, naͤmlich die Vernunft, nicht thaͤtig ſeyn kann,
auch von dem ſtaͤrkern keine Wirkungen zu erwarten ſind.
Jſt Unbeſinnlichkeit in der Seele, ſo iſt keine Selbſt-
thaͤtig-
[39]und Freyheit.
thaͤtigkeit da, mit der ſie auf ihre Vorſtellungen wir-
ken, und mittelſt derſelben ſich beſtimmen kann, entwe-
der, weil die Seelenvermoͤgen nicht wirkſam genug ſind,
oder weil die Vorſtellung mit zu großer Gewalt auf ſie
zudraͤnget, als daß ſie ſolche in derjenigen Entfernung
von ſich halten koͤnnte, in der ſie ſo zu ſagen bleiben
muͤſſen, wenn die Seele auch vermoͤgend ſeyn ſoll, an-
dere neben ihnen hervorzuziehen und zu vergleichen.
Jm Schlafe fehlet es an dem erfoderlichen Grade der
Thaͤtigkeit, aus Schwaͤche der Kraft; im wachenden
Zuſtande, wenn ſinnliche Vorſtellungen und Leiden-
ſchaften hinreißen, iſt die Gewalt der Empfindungen
zu uͤberwaͤltigend und feſſelnd.
VI.
Das Vermoͤgen ſich anders zu beſtimmen bey
freyen Handlungen muß ein aktives inneres
Vermoͤgen ſeyn, und nicht eine bloße Recepti-
vitaͤt anders beſtimmt werden zu koͤnnen.
Wenn man weiter die Urſache auffuchet, warum es
eben nothwendig iſt, daß wir uns in dem Stande
der Beſinnlichkeit befinden muͤſſen, indem wir uns zu
etwas beſtimmen, wofern die Handlung unmittelbar
frey ſeyn ſoll, ſo kommen wir auf die dunkelſte Stelle
in dieſer Betrachtung, wo uns die Frage aufſtoͤßt, was
es fuͤr eine Beſchaffenheit mit dem Vermoͤgen habe
uns anders zu beſtimmen, welches wir ſelbſtthaͤtig in
uns ſollen aufbieten, und dadurch die wirkende Kraft
zuruͤckhalten, oder anders beſtimmen koͤnnen. Jn wie
fern iſt dieß Vermoͤgen anders zu thun, als wir thun,
ein wahres aktives Vermoͤgen etwas hervorzubrin-
gen und zu verrichten, und in wie fern iſt es ein Ver-
moͤgen unſers ſelbſtthaͤtigen innern Princips?
C 4Die
[40]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Die Wagſchale ſey durch ein Uebergewicht an ei-
ner Seite nach dieſer hin heruntergeneigt. Leget man
noch ein ſtaͤrkeres Gewicht in die gegenſeitige Schale,
ſo ſteiget jene wiederum in die Hoͤhe, und dieſe letztere
mehr beſchwerte ſinkt herunter. Als die Wage auf die
erſtere Art durch das Uebergewicht ſich bewegte, beſaß
ſie die Receptivitaͤr, durch eine Vergroͤßerung des
Gegengewichts an der andern Seite wieder in den
Gleichſtand zu kommen, und nach der Gegenſeite hin
bewegt zu werden. Machte dieß ihr paſſives Ver-
moͤgen anders beſtimmt zu werden, als ſie es war, die
Wage zu einem freyen ſeiner ſelbſt maͤchtigen Weſen?
Wenn mein Hund mit mir aufs Feld gehet, und
nun hinter einer Kraͤhe herſtreichet, und ich ihn laut
und mit dem Stock drohend zuruͤckrufe, ſo haͤlt er mit-
ten im Lauf inne, und begiebt ſich zu meinen Fuͤßen.
Dieß Thier beſaß alſo waͤhrend des Laufs, wozu es ſei-
ne Begierde trieb, eine Gelenkſamkeit, auf meine
Stimme und auf meinen Stock aufmerkſam zu werden.
Durch die Empfindungen, die daraus entſtehen, konnte
die bewegende Kraft ſeiner Muskeln anders gelenkt wer-
den, als ſie wirklich vorher beſtimmt war. Hat der
Hund deswegen mit Selbſtmacht uͤber ſich und mit
Freyheit gehandelt, als er auf die erſtere Art fortlief?
Wir Menſchen befinden uns zu oft in aͤhnlichen Um-
ſtaͤnden, wenn uns Leidenſchaften hinreißen, als daß
unſer Selbſtgefuͤhl uns nicht ſagen ſollte, daß dieſe Fra-
ge zu verneinen ſey. Soll ich mit Freyheit handeln,
ſo ſoll ich aus mir ſelbſt vermoͤgend ſeyn, mich zu be-
ſtimmen, nicht aber bloß aufgelegt ſeyn, mich leidend
beſtimmen zu laſſen.
VII. Von
[41]und Freyheit.
VII.
Von dem zureichenden Grunde, den freye Hand-
lungen haben.
Ehe man aber weiter geht, iſt es noͤthig auf den Er-
fahrungsſatz zuruͤckzuſehen, den die Jndetermini-
ſten eben ſo vergeblich einzuſchraͤnken und wegzuraiſon-
niren ſich bemuͤhen, weil er ſich mit ihrer Jdee von der
Freyheit nicht vertraͤgt, als ihre Gegner das wahre Ge-
fuͤhl von Freyheit; daß naͤmlich jedwede, auch die al-
lerfreyeſte Handlung, die moͤglich iſt, theils in der Seele,
welche ſich beſtimmt und handelt, theils in den aͤußern
indwiduellen Beziehungen auf das Objekt der Aktion,
theils in der Beſchaffenheit des Objekts ſelbſt, ihren
voͤllig zureichenden, oder wenn man will, beſtim-
menden Grund habe, das iſt, einen Grund, warum
ſie unternommen wird, und warum ſie auf dieſe, und
auf keine andere Art unternommen wird. Die Erfah-
rung iſt hier eben ſo deutlich und entſcheidend, als ſie
es in Hinſicht der Freyheit ſelbſt iſt. Jn unzaͤhligen
Faͤllen erkennen wir den Zuſtand, der unmittelbar vor
der Beſtimmung der Kraft vorhergeht, ſo weit, daß
wir es deutlich ſehen, daß ein ſolcher hinreichender
Grund vorhanden iſt. Und dieß offenbaret ſich am
meiſten da, wo wir mit der voͤlligſten Beſinnung han-
deln, und unſere Aktion ſo voͤllig frey iſt, als ſie es ſeyn
kann. Noch ſind die Jndeterminiſten es ſchuldig, ir-
gend eine einzige vollſtaͤndige Beobachtung beyzubrin-
gen, die hievon eine Ausnahme mache. Denn in al-
len ſolchen Faͤllen, die dem erſten Anſcheine nach viel-
leicht angefuͤhrt werden moͤchten, und auch wohl von
einigen als Beyſpiele gebraucht ſind, iſt es bis zur Evi-
denz gewiß, daß uns die individuellen Umſtaͤnde lange
nicht alle bekannt ſind, und daß alſo auch bloße Unwiſ-
ſenheit den Theil der zureichenden Urſache, den wir
C 5vermiſ-
[42]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
vermiſſen, verſtecken koͤnne, der ſich uͤberdieß in man-
chen Faͤllen gezeiget hat, nachdem man ihn mit mehre-
rer Aufmerkſamkeit aufgeſucht hatte. Es giebt keinen
pſychologiſchen Erfahrungsſatz, der eine ſtaͤrkere Jn-
duktion fuͤr ſich habe, als dieſer. So lange man nur
bey der Erfahrung allein ſtehen bleibt, und die Speku-
lationen aus Begriffen bey Seite ſetzet, wird man kein
Bedenken haben, ihn fuͤr einen allgemeinen Satz zu er-
kennen. Es iſt unnoͤthig, das metaphyſiſche Princip
vom zureichenden Grunde hieher zu ziehen. Jch
wenigſtens wuͤrde mich darum nicht einmal bekuͤmmern.
Genug es iſt eine Uebereinſtimmung aller Empfindun-
gen da, die fuͤr die Allgemeinheit des Satzes ſtreitet,
und wenigſtens nicht erlaubet hier Ausnahmen anzu-
nehmen, als bis etwan durch die ſtrengſten und buͤndig-
ſten Beweiſe dargethan wird, daß es dergleichen geben
muͤſſe, wenn man nicht Widerſpruͤche verdauen wolle.
Durch dieſe letztere Einſchraͤnkung bezeuge ich den Jn-
determiniſten meine ganze Nachgiebigkeit, womit zum
wenigſten diejenigen von ihnen zufrieden ſeyn werden,
die es ſelbſt eingeſtehen, daß die vollkommenſte Gleich-
heit aller individuellen Umſtaͤnde auf beiden entgegen-
geſetzten Seiten (ſtatum perfecti aequilibrii) aus der
Erfahrung nicht zu beweiſen ſey, ob man gleich die
Wirklichkeit ſolcher Faͤlle aus Gruͤnden erkenne, weil
ſonſt keine wahre Freyheit im Menſchen vorhanden
ſeyn koͤnne. Einige von ihnen wiſſen es ſo gut, daß
dergleichen vollkommen gleiche Beſtimmtheit der Hand-
lung und ihres Gegentheils ſelten oder gar nicht beob-
achtet werde, daß ſie daher behauptet haben, es ſey
genug, wenn man ihnen eingeſtehe, der Menſch muͤſſe
doch dann und wann einmal zum mindeſten in ſeinem
Leben in dieſem vollkommenen Gleichgewichte ſich befun-
den haben. Wenn ich hiezu nun noch die Erklaͤrung
ſetze, daß ich jede Theorie hier auf ihrem Werth und
Unwerth
[43]und Freyheit.
Unwerth beruhen laſſen, nur lediglich der Beobachtung
nachgehen, und am Ende es darauf ankommen laſſen
wolle, ob die Jdee von der Freyheit, welche man in
der Experimentalphyſik der Seele aus Beobachtungen
erhaͤlt, durch die metaphyſiſchen Theorien aus Ver-
nunftſaͤtzen auch etwas umgeformt werden muͤſſe, als
welches an ſich ja nicht unmoͤglich iſt, noch befremdend
ſeyn wuͤrde, da wir in andern Wiſſenſchaften von wirk-
lichen Dingen, z. B. in der Aſtronomie, aͤhnliche Bey-
ſpiele haben; wenn, ſage ich, dieß erklaͤrt wird, ſo
deucht mich, ich koͤnne als Philoſoph vom Philoſophen
fodern, daß man mich aushoͤren, und nicht zu voreilig
durch die Abſtraktion von der Freyheit ſich an der rich-
tigen Beobachtung ihrer Aeußerungen ſtoͤren laſſe.
Jn den mathematiſchen Wiſſenſchaften kann man
ſeine Meinung mit wenig Worten ſagen, ohne befuͤrch-
ten zu duͤrfen, von denen mißverſtanden zu werden, von
denen man richtig verſtanden werden will. Jn der
Philoſophie iſt es ſo weit noch nicht, es mag nun die
Unbeſtimmtheit der Begriffe, oder die Unvollkommen-
heit des Ausdrucks, Schuld daran ſeyn. Um alſo den
Mißdeutungen uͤber das, was ich hier unter dem zu-
reichenden Grunde verſtehe, den jede unſerer freyen
Handlungen hat, vorzubeugen, will ich einen wirkli-
chen Verſuch anfuͤhren, den ich mehrmals beſtaͤndig
mit einerley Erfolg angeſtellet habe. Daraus wird
man ſehen, was ich hier unter zureichendem Grund ver-
ſtehe. Jch mag ihn nicht ſo gern den voͤllig beſtim-
menden Grund nennen, weil der aktive Ausdruck be-
ſtunmend eine Nebenidee von einer Aktion des Grun-
des ausdruͤcket, die nicht allemal vorhanden iſt. Sonſt
iſt an einem Worte fuͤr ſich nichts gelegen.
Jch ſetze mir vor, meine rechte Hand auf das eine
oder auf das andere Ende eines Buchs, welches vor
mir liegt, niederzulegen. Jch ſtelle mich ſo gegen das
Buch,
[44]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Buch, daß ich, ſo viel als immer moͤglich iſt, gegen
dieſe beiden Bewegungen nach der einen und nach der
andern Stelle hin, gleichguͤltig werde, und wenn ja
etwan eine dieſer Aktionen ohne mein Wiſſen noch et-
was voraus behalten ſollte, das mich zu ihr vorzuͤglich
geneigt machen moͤchte, ſo kann ich doch die Sache ſo
einrichten, daß der Einfluß davon in meine Beſtim-
mung ſo geringe iſt, daß ich ihn mit aller mir moͤgli-
chen Aufmerkſamkeit nicht wahrnehmen kann. Was
geſchieht? Jch frage mich ſelbſt, nach welcher Seite
ich wohl die Hand hinlegen wolle, nach dieſer oder jener?
und ſo lange ich mich frage und mich bedenke, wechſele
ich die Vorſtellungen von beiden Aktionen in mir ſchnell
mit einander ab. Es geſchieht aber nichts, hoͤchſtens
ſchwebt meine Hand etwas hin und her, oder neiget
ſich eigentlich nur wechſelsweiſe nach beiden Seiten.
Endlich werde ich des Verſuchs uͤberdruͤßig; noch einige
Augenblicke fahre ich vielleicht fort mich zu bedenken,
aber endlich entſchließe ich mich zum Entſcheiden. Fuͤr
welche Seite entſcheide ich nun? Beide ſind mir, ſo
viel ich immer bemerken kann, gleichguͤltig. Jch be-
wege die Hand nach der Stelle und in der Richtung
hin, wovon die Jdee mir am lebhafteſten in dem Au-
genblick gegenwaͤrtig war, da ich mich entſchloſſen hatte
zu entſcheiden.
Jch beſtimmte mich zum Entſcheiden, weil mir
dieß mehr gefiel, als die laͤngere Fortſetzung des vergeb-
lichen Bedenkens. Jch beſtimmte mich zur Rechten,
nicht darum, weil ich in dieſer Aktion den geringſten
Vorzug antraf, ſie fuͤr leichter, bequemer oder angeneh-
mer anſah, als die andere, ſondern nur allein darum,
weil dieſe, da mir beides gleichguͤltig war, eben zuerſt
mir in den Sinn kam. Dieſer letztere Umſtand iſt
nicht der zureichende Grund der ganzen Hand-
lung; — hiezu gehoͤret viel mehr; — ſondern der Grund,
warum
[45]und Freyheit.
warum ich dieſe Aktion vornahm, und nicht die entge-
gengeſetzte. Die Faͤlle, worinn wir uns zu dem be-
ſtimmen, was, nach einer vorhergegangenen Verglei-
chung der mehrern Moͤglichkeiten, uns das Beſte fuͤr
ſich und objektive das Vorzuͤglichſte zu ſeyn ſcheinet,
ſind vielleicht in dem ganzen Jnbegriffe der freyen Hand-
lungen die wenigſten. Oft iſt der Grund, warum wir
dieß greifen, und nicht ein anders, nur der, weil in
dem Augenblicke der Beſtimmung uns jenes zuerſt in
den Wurf kommt. Die meiſten Male iſt vielleicht bei-
des, innerer und aͤußerer Grund beyſammen, aber
oft genug iſt es mehr der letztere, als der erſtere, von
dem das Warum ſo und nicht anderſ? abhaͤngt.
Wir ſagen von ſolchen Handlungen, und karakteriſiren
ſie dadurch; das Erſte ſey das Beſte. Und auch in un-
ſern wichtigen Entſchluͤſſen geſchieht es nicht ſelten, daß,
wenn die lange Ueberlegung uns ſtumpf gemacht hat,
wir endlich eben ſo, wie dort, das Erſte was uns ein-
faͤllt, wenn wir den letzten Entſchluß faſſen wollen, das
Beſte ſeyn laſſen. Eine geſpannte und nun entloͤſete
elaſtiſche Feder ſchnellt eine Kugel fort. Warum dieſe
Kugel und nicht eine andere? Um nichts anders, als
weil dieſe vor ihr lag, und nicht die andere.
VIII. Von
[46]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
VIII.
Von ſelbſtthaͤtigen und aus Eigenmacht hervor-
gehenden Kraftaͤußerungen. Was es heiße,
unabhaͤngig und aus voller Eigenmacht
handeln. Von ſelbſtthaͤtigen Kraͤften, zu
deren Aeußerung ein Reiz von außen erfo-
dert wird. Von Aktionen, die durch eine mit-
getheilte Kraft hervorgebracht werden.
Da die vornehmſte Schwierigkeit bey dem Begriffe
von der Freyheit am Ende in unſerm Begriffe von
der Spontaneitaͤt lieget, ſo laßt uns bey dieſer letz-
tern vorher etwas ſtille ſtehen. Man findet bey den
aͤltern Metaphyſikern ſchon manche allgemeine Betrach-
tungen uͤber die Natur der Kraft und der Wirkſam-
keit, die hieher gehoͤren. Bilfinger hat vorzuͤglich
vieles zur Aufklaͤrung dieſes Begriffs geleiſtet. *) Jch
halte mich uͤberzeugt, man wuͤrde laͤngſtens den etwan
noch fehlenden Schritt gethan haben, wenn man die
Entwickelung der allgemeinen Verſtandesbegriffe, vom
Thun und Leiden, Aktion, Vermoͤgen, Kraft,
Princip, und anderer, die ſich auf dieſe beziehen, et-
was mehr ſich haͤtte angelegen ſeyn laſſen, als es ge-
ſchehen iſt. Dieß ſoll keine Vorrede zu einer metaphy-
ſiſchen Spekulation ſeyn. Jch werde nichts mehr von
allgemeinen Begriffen mitnehmen, als unumgaͤnglich
uothwendig iſt, um deutlich und genau zu ſehen. Wer
dieß nicht verlanget, kann dieſen Abſchnitt uͤberſchlagen,
nnd ihn nachher leſen, wenn er aus dem folgenden be-
merket hat, auf welche Punkte man eigentlich die Au-
gen am meiſten richten muͤſſe. Ueberdieß werde ich
auch die noͤthigen Gemeinbegriffe mehr in den einzel-
nen
[47]und Freyheit.
nen Faͤllen darſtellen, aus denen man ſie ſelbſt ſich ab-
ſtrahiren kann, als in ihren allgemeinen Definitionen,
die man nur alsdenn erſt gut machen kann, wenn man
die Begriffe ſchon genau und ſcharf gefaßt hat.
Eine Handlung, die wir einem thaͤtigen Weſen
zuſchreiben, weil es wenigſtens den vornehmſten Theil
der ganzen thaͤtigen und in der Handlung ſich aͤuſ-
ſernden Kraft in ſich enthaͤlt, iſt auch um deſto mehr
eine ſelbſtthaͤtige Aktion, je weniger irgend etwas
anders, was ſonſt auch vorhanden ſeyn muß, und
deſſen Gegenwart unter die Erfoderniſſe oder noth-
wendigen Umſtaͤnde der Handlung |gehoͤrt, als ein
thaͤtiges Weſen zu der Wirkung etwas beytraͤgt, und
in die Beſchaffenheit der Handlung ſelbſt einen Einfluß
hat. Je mehr alle Thaͤtigkeit aus dem Jnnern der
thaͤtigen Kraft entſpringt, und je mehr alle umgebende
und mit ihr verbundene Gegenſtaͤnde bloß leidentlich ſich
dabey verhalten, deſto mehr ſelbſtthaͤtig iſt die Aktion
in Hinſicht des Dinges, dem ſie zugeſchrieben wird.
Die Selbſtthaͤtigkeit iſt eine Unabhaͤngigkeit des
thaͤtigen Weſens in ſeinem Wirken von den Kraͤften
und Aktionen anderer aͤußerer Dinge.
Die Schale von der Wage ſteiget herunter durch
das Gewicht, welches hineingelegt wird, wie das
Schwerdt durch die Kraft des Arms ſchneidet, der es
fuͤhret. Die Schale und das Schwerdt ſind nicht
ſelbſtthaͤtig. Was ſie wirken, wie groß und ſtark ihr
Effekt auch iſt, und die Richtung, in der ſie wirken,
das iſt nicht in ihrem thaͤtigen Princip beſtimmt, ſon-
dern richtet ſich nach der Groͤße, Beſchaffenheit und
Richtung der Kraft, wodurch ſie getrieben werden.
Dagegen faͤhret die geſpannte und nun ausſpringende
Stahlfeder gegen eine Kugel, und treibet ſie fuͤr ſich
weg. Dieſe Feder iſt ſelbſtthaͤtig, Die Materie der
Kugel beſitzet nichts als eine leidentliche Receptivitaͤt,
eine
[48]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
eine Bewegung anzunehmen; — ihre Ruͤckwirkung,
die man ihr waͤhrend der Aktion der Feder etwan zu-
ſchreibet, abgerechnet. Die ganze Wirkſamkeit vom
Anfange bis zu Ende iſt in der Feder, und gehet aus
einem innern Princip in ihr hervor. Dieß iſt ein Bey-
ſpiel, das uns einen Begriff von einer Selbſtthaͤtig-
keit geben kann, die es in dem hoͤchſten Grade iſt.
Wenn die Feder ſich nur allein ausdehnet, ohne daß ſie
an einen andern Koͤrper anſtoͤßt, ſo iſt keine Aktion in
ein anderes Objekt vorhanden, und die Feder wirket
alsdenn nur auf ſich allein, und in ſich.
Zwiſchen den beiden Aeußerſten in dieſen angefuͤhr-
ten Beyſpielen, zwiſchen der bloß leidenden und der
ganz thaͤtigen Kraft, liegen andere Mittelſtufen, wo-
von ich hier nur folgende beſonders auszeichnen will.
Es ſey die Feder in ihrer freyen ausgeſtreckten Lage,
und es werde ein harter Koͤrper gegen ſie geworfen, der
ſie zuſammendruͤcke und ſpanne. Sobald ſie geſpannt
wird, faͤngt ihre elaſtiſche Kraft an, ſich wirkſam zu
beweiſen. Sie entziehet dem anſtoßenden Koͤrper ſeine
Geſchwindigkeit, ſo lange ſie ihn noch immer naͤher
hinan kommen laͤßt; und alsdenn giebt ſie ihm vom
neuen eine entgegengeſetzte Bewegung, und entfernet
ihn wieder von ſich. Hier laſſen ſich zwo Aktionen der
Feder unterſcheiden, oder vielmehr etwas zweifaches in
der Wirkung, die durch die Aktion hervorgebracht wird.
Die Bewegung des Koͤrpers, der auf die Feder ſtoͤßt
und ſie zuſammendruͤckt, wird zerſtoͤret, und eine neue
Bewegung in derſelbigen Materie hervorgebracht. So-
wohl die erſtere als die zwote von dieſen Aktionen ſind
ſelbſtthaͤtige, jedoch mit einiger Verſchiedenheit,
wenn jede fuͤr ſich abgeſondert und einzeln vorgeſtellet
wird. Die letztere iſt vollkommen ſelbſtthaͤtig, wie in
in dem vorhergehenden Beyſpiele; die erſtere aber nicht
ſo. Der ſtoßende Koͤrper ſpannte durch ſeine Thaͤtigkeit
die
[49]und Freyheit.
die Feder, und hatte alſo einen Einfluß in die Wirk-
ſamkeit ihrer Elaſticitaͤt. Da haben wir ein Beyſpiel,
worinn die nachher ſelbſtthaͤtige Kraft vorher, durch die
Einwirkung einer andern thaͤtigen Urſache, in einen ſol-
chen Zuſtand verſetzet wird, in welchem ſie nun als eine
gereizte und geſpannte ſelbſtthaͤtige Kraft ſich auslaſſen
kann.
Ohne dieſe Beyſpiele von koͤrperlichen Kraͤften
und Thaͤtigkeiten in andern Abſichten als zur Erlaͤu-
terung zu gebrauchen, will ich daraus folgende Unter-
ſchiede bemerklich machen.
Eine voͤllige Selbſtthaͤtigkeit, oder die Selbſt-
thaͤtigkeit ohne Beywort iſt alsdenn vorhanden, „wenn
„die ganze Aktion aus der Kraft der wirkenden Sub-
„ſtanz hervorgehet, ſo daß, wenn ſie eine herausgehende
„Handlung iſt, in den außer ihr befindlichen Dingen
„nichts mehr zur Handlung gehoͤriges enthalten ſey, als
„allein das Objekt, auf welches die Kraft angewendet
„wird, mit ſeiner Receptivitaͤt die Wirkung anzuneh-
„men.‟
Die erweckte Selbſtthaͤtigkeit in der geſpann-
ten Feder iſt doch auch eine Selbſtthaͤtigkeit, und iſt
vorhanden, „wenn die thaͤtige Kraft durch die Aktion
„eines aͤußern Dinges in ſeinen Zuſtand der Wirkſam-
„keit geſetzt worden iſt.‟
Zwiſchen dieſen Selbſtthaͤtigkeiten, das iſt, der
Wirkſamkeit aus eigner Macht und der Wirk-
ſamkeit aus fremder Macht, liegen alle unvoll-
ſtaͤndige Selbſtthaͤtigkeiten in unendlich mannich-
faltigen Stufen, deren Unterſchiede von einem Mehr
oder Weniger in jenen Beſchaffenheiten abhangen. Jſt
die Aktion und die Wirkung, welche hervorgebracht
wird, immer eine unmittelbare Aeußerung einer Kraft,
die allein aus ihrem innern Princip hervorgeht, und
alſo keinesweges als eine mittelbare Aktion einer frem-
IITheil. Dden
[50]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
den Kraft angeſehen werden kann, ſo iſt es doch moͤg-
lich, daß jene ſelbſtthaͤtige Kraft waͤhrend ihrer
Aktion einer beſtaͤndigen Anreizung benoͤthigt ge-
weſen ſey, und dieſe von dem Einfluſſe einer aͤußern Ur-
ſache empfangen habe.
Hiebey ſtoͤßt uns aber in den Erfahrungen noch eine
andere Verſchiedenheit auf, die ſehr in Betracht gezo-
gen zu werden verdienet, weil ſie unſere Begriffe unge-
mein verwirren kann. Es iſt naͤmlich ganz etwas an-
ders, „wenn ein Ding die Kraft eines andern zur
Thaͤtigkeit reizet,‟ und wenn ein Ding einem an-
dern die Kraft verleihet, mit welcher dieß letztere
wirket. Dieſe Verſchiedenheit verraͤth ſich an zweyen
Merkmalen. Wenn eine Kraft nur durch ein anderes
Ding, als durch ſein Jnſtrument wirket, ſo iſt das
letztere nur ein Kanal, der die Wirkſamkeit des erſtern
fortfuͤhrt, oder, nur ein Konduktor, wie die leidenden
Koͤrper bey der Elektricitaͤt; und dann wuͤrde ſich die
Kraft auch ohne dieſes Zwiſchenmittel, auf eine aͤhnli-
che Art, obgleich in einer andern Richtung, wirkſam
haben bewegen koͤnnen. Die Schale der Wage druckt
die Hand nieder durch das Gewicht, welches in ihr liegt.
Aber das Gewicht wuͤrde die naͤmliche Wirkung in der-
ſelbigen Staͤrke unmittelbar hervorbringen koͤnnen. Die
Schale handelt alſo nicht durch ihre eigene, ſondern
durch die fremde Schwere, und der erfolgte Druck iſt
nichts, als eine mittelbare Wirkung des fremden Ge-
wichts, welches durch die Schale wirket. Es verhaͤlt ſich
anders, wo die wirkende Kraft nur zur Thaͤtigkeit von ei-
ner andern gereizet worden iſt. Denn in dieſem Fall wuͤrde
die erfolgte Wirkung aus der Aktion der bloß reizen-
den und erweckenden Kraft nimmermehr erfolget ſeyn.
Dazu kommt noch ein zweytes Kennzeichen. Wenn
eine Urſache nur aus fremder mitgetheilter Kraft thaͤtig
iſt, ſo hoͤret nicht nur ihre ganze Thaͤtigkeit, ſondern
auch
[51]und Freyheit.
auch ihre Kraft als Vermoͤgen auf, ſo bald ſie des Ein-
fluſſes des ſie kraͤftig machenden Weſens beraubet iſt.
Oder wenn es ſich auch, wie bey der Bewegung der
Koͤrper, die ſie im Fallen von der Schwere erlanget
haben, verhaͤlt, wenn naͤmlich die durch einen fremden
Einfluß erzeugte Kraft von einem fortdaurenden, aber
zufaͤlligen und veraͤnderlichen, Zuſtande abhaͤngt: ſo wird
doch, um der Urſache dieſe Kraft zu benehmen, nichts
mehr noͤthig ſeyn, als nur dieſen Zuſtand in ihr abzu-
aͤndern. Alsdenn iſt auch zugleich ihre ganze Thaͤtig-
keit und Vermoͤgen dahin, und in ihr nichts reelles
mehr uͤbrig, kein inneres Princip, kein Vermoͤgen,
keine Faͤhigkeit, außer der bloßen Receptivitaͤt, ſich et-
wan vom neuen mit Kraft begaben zu laſſen. Man
nehme der Kanonenkugel ihre Geſchwindigkeit, die ihr
von der ausdehnenden Kraft des Pulvers gegeben war;
ſogleich hoͤrt alles Vermoͤgen ſich zu bewegen, und
andere Koͤrper zu zerſchmettern, auf einmal auf.
So iſt es wiederum nicht bey den eigenmaͤchtigen
nur zur Thaͤtigkeit gereizten Weſen. Jhre wirk-
ſame Kraftaͤußerung kann aufhoͤren, wenn ſie nicht
zur Wirkſamkeit gereizet wird; aber ihr Vermoͤgen,
ihre tode Kraft bleibet in ihr, wie die Elaſticitaͤt in
der Stahlfeder iſt, auch wenn ſie von keinem Druck ge-
ſpannet wird. Die aus Eigenmacht wirkende Kraft
behaͤlt noch immer eine Realitaͤt mehr in ſich, als
bloße Receptivitaͤt, ſich von einer Kraft wiederum in
einen gewiſſen Zuſtand verſetzen zu laſſen. Auch ungereizet
und unerwecket, in ihrer Ruhe beſitzet ſie das, was wir
Vermoͤgen nennen; welches die reelle Folge hat, daß ſobald
ſie thaͤtig wird, der Effekt den ſie hervorbringet, nun
nicht aus der Wirkung begreiflich iſt, die ſie von der
reizenden Kraft aufgenommen hat, noch dieſer, wie eine
Wirkung ihrer Kraft proportionirt ſeyn kann. Denn ſie
bringet etwas hervor, welches ſowohl der Quantitaͤt als
D 2Quali-
[52]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Qualitaͤt nach von dem verſchieden iſt, was durch den
Einfluß der ſie erweckenden Urſache in ſie hineingeleget
war. Und eben hieran verraͤth es ſich, daß ſelbſt in
ihrem Jnnern eine Realitaͤt vorhanden iſt, die wir Ver-
moͤgen nennen, die ihr nicht gegeben ward und die nun,
nachdem die Reizung hinzu gekommen iſt, das wahre
Princip oder die Quelle ihrer Aktion und ihrer Wirkung
ausmacht. Beſaͤße z. B. die Feder keine Elaſticitaͤt,
ſo wuͤrde ſie wie ein weicher Thon zwar von einem Druck
gebogen werden, aber nicht wieder herauswirken. Die
Wirkung des aͤußern Drucks bringet eine Veraͤnderung
ihrer Figur hervor; und mit dieſer empfangenen Mo-
difikation wuͤrde ſie widerſtehen, und einem andern Koͤr-
per ſeine Kraft benehmen koͤnnen, der ſie vom neuen um-
aͤndern wollte. Aber ſie wuͤrde keine bewegende Kraft
aͤußern koͤnnen, wie ſie wirklich thut.
Ziehen wir noch einmal das Allgemeine, das in den
angefuͤhrten und vielen andern ihnen aͤhnlichen Beyſpie-
len enthalten iſt, die wir anfangs nur aus der Koͤrper-
welt nehmen moͤgen, vor uns herauf, und vergleichen
dieſe verſchiedenen Abſtraktionen mit einander, ſo zeiget
ſich uns das Weſentliche in der Selbſtthaͤtigkeit, und der
Grund und das Maß derſelben.
Jſt es nur Ein Weſen, welches wirket, denn die-
ſen einfachſten Fall kann man am leichteſten uͤberſehen,
und doch in der That aus ihm alles Licht haben, das
man gebraucht, ſo iſt ſeine Aktion eine Folge ſeiner
innern dermaligen Beſchaffenheit, ſeiner thaͤtigen
Vermoͤgen und Kraͤfte. Dieß in ihm vorhandene ma-
chet das innere thaͤtige Princip, den innern zurei-
chenden Grund von der Aktion aus, in welcher die
Kraft hervorgeht und ſich aͤußert. Dieß wirkende We-
ſen wirket alſo ſelbſt und allein, und ſeine Aktion geht
alſo dermalen aus ihm ſelbſt hervor, und iſt in ſo weit
eine ſelbſtthaͤtige Handlung.
Ohne
[53]und Freyheit.
Ohne noch darauf zu ſehen, ob es Eigenmacht,
oder nur fremde Macht iſt, welche dieſe Aktion her-
vorbringet, muß doch da, wo die Aktion auswaͤrts her-
ausgehet, und in einem andern Objekt die Wirkung
verurſachet, noch ein aͤußerer Umſtand hinzu kom-
men, woraus ſich begreiffen laͤßt, warum ſie eben auf
dieſen Gegenſtand, und keinen andern trift, von dieſer
Seite, und auf dieſe Art, und nicht anders *). Die-
ſer Umſtand beſtehet in einer gewiſſen Lage des aͤuſ-
ſern leidenden Objekts gegen die Kraft. Wo
das thaͤtige Weſen in ſich ſelbſt wirket, faͤllt dieſes
Erfoderniß weg. Es iſt aber klar, daß da, wo dieſer
aͤußere Umſtand weiter nichts, als eine unwirkſame
Beziehung der Kraft auf ihren Gegenſtand in ſich
haͤlt, ſolcher zwar als ein Theil des ganzen zureichen-
den Grundes, warum das, was geſchieht, ſo ge-
ſchieht und nicht anders, angeſehen, und alſo auch in
dem ganzen entſcheidenden Grunde der Aktion be-
griffen werden muͤſſe, aber daß auch dieß nicht hindere,
daß nicht die erfolgende Aktion ſelbſt ihrem ganzen in-
nern Gehalt und ihrer Beſchaffenheit nach, der
Art und Weiſe der Thaͤtigkeit nach, ihrer Staͤrke und
Richtung nach, voͤllig und allein in dem Jnnern
des handelnden Weſen, ihren ganzen zureichenden
Grund haben, und eine dieſem innern Princip entſpre-
chende Wirkung ſeyn koͤnne. Denn nichts, als dasje-
nige, worinn die Aktion, wenn ſie ſo zu ſagen außer
dem thaͤtigen Weſen heraus iſt, umgeaͤndert wird, —
und das giebt der Wirkung freylich oft ein ganz entge-
gengeſetztes Anſehen, — haͤngt in dem hier angenom-
menen Fall von dem Daſeyn, von der Receptivitaͤt,
und von der Lage des leidenden Objekts ab. Ob aber
die Aktion voͤllig oder zum Theil ſelbſtthaͤtig aus Ei-
D 3genmacht,
[54]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
genmacht, oder durch eine fremde Kraft, aus innerer
beſtaͤndiger Naturkraft, oder nur aus einer zufaͤlli-
gen, mitgetheilten, aus nur erweckter Selbſt-
thaͤtigkeit, oder aus hineingelegter Kraft ent-
ſpringe? dieß iſt von jenen aͤußern unwirkſamen Um-
ſtaͤnden unabhaͤngig.
Der innere zureichende Grund der erfolgenden
Aktion kann aber ſo in der thaͤtigen Subſtanz vorhan-
den ſeyn, daß er ganz allein von dieſer ſelbſt, ihrer
Natur, oder ihrem zwar erworbenen aber beſtaͤn-
dig fortdaurenden Vermoͤgen abhaͤnget, und daß,
um ſich auf eine ſolche Art zu aͤußern, es durchaus kei-
ner neuen Modifikation von einem andern Dinge, und
keines aͤußern Einfluſſes einer fremden Urſache, mehr
bedarf. Jn dieſem Fall handelt ſo ein Weſen voͤllig
unabhaͤngig, und allein aus Eigenmacht, und
iſt ein ſelbſtthaͤtiges Weſen, in dem Zuſtand betrach-
tet, in dem wir es uns vorſtellen, wenn wir uͤber ſeine
Selbſtmacht urtheilen. Dieß Weſen mag unter andre
aͤußere Umſtaͤnde gebracht; das Zufaͤllige, was gegen-
waͤrtig von der Einwirkung fremder Urſachen in ihm
abhaͤngt, mag abgeſondert; es ſelbſt mag iſoliret wer-
den: ſo hat es das ganze innere Princip in ſich, was
die voͤllige Urſache der Aktion iſt, die aus ihm her-
vorgeht.
So ein Weſen kann das, was es jetzo iſt gewor-
den, ſeyn, und ſeine dermaligen Vermoͤgen und Kraͤfte
erworben haben, ſolche nicht von Natur, nicht noth-
wendig und nicht unverlierbar beſitzen. Aber dennoch
iſt dieſes innere thaͤtige Princip nun einmal mit ſeiner
Natur vereiniget und klebt dieſer beſtaͤndig an, unter
welche Beziehungen die Subſtanz auch gebracht wird.
Jenes Princip iſt eine innere Quelle von Aeußerungen
und Wirkungen, die fuͤr ſich allein ſich ergießet, dauer-
haft iſt und beſtehet in der Maße, daß ſie nicht ſelbſt
durch
[55]und Freyheit.
durch dieſe ihre Aeußerungen geſchwaͤchet werde und
verſiege. Das Gewicht eines Koͤrpers vermindert ſich
nicht, ſo lange fort auch der Koͤrper ſeinen Druck auf
einen andern ſchon geaͤußert hat; und die Ausdehnungs-
kraft der Luft wird nicht geſchwaͤchet, wenn ſie gleich
mehrmalen nach einander angewendet worden iſt. Aber
eine Kanonenkugel verliert ihre bewegende Kraft, in-
dem ſie ſolche auf andere Koͤrper verwendet.
Dieß ſind eigenmaͤchtige Aktionen, die von
ihren Gegenſtaͤnden, auf die ſie verwender wer-
den, bloß aufgenommen werden.
Aber es kann auch dieſer ganze dermalige inne-
re zureichende Grund der Aktion eine Wirkung
ſeyn, welche durch den Einfluß eines andern Dinges in
das handelnde Weſen hervorgebracht iſt, und entweder
immerfort durch eben dieſen Einfluß unterhalten werden
muß, oder doch nicht laͤnger in der thaͤtigen Subſtanz
beſtehet, als bis ſie ſich thaͤtig damit beweiſet, und es
anwendet. Alsdenn iſt es eine fremde Kraft, wo-
durch das wirkende Weſen thaͤtig iſt. Es iſt zwar auch
ſelbſtthaͤtig in den dermaligen Umſtaͤnden, unter de-
nen es wirket, weil das Princip der Aktion innerlich in
der handelnden Subſtanz ſich befindet. Aber man ent-
ziehe dieſe der Einwirkung der aͤußern Urſache, von der
ſie den Zuſtand empfaͤngt, worauf das Vermoͤgen be-
ruhet, ſo iſt ſie tod und unvermoͤgend, wie die Kugel,
der man ihre Bewegung entzogen, und die man von
allem weitern Einfluß einer bewegenden Kraft ent-
fernt hat.
Dieß iſt eine Aktion aus fremder Macht.
Es gehoͤrt keine beſondere Subtilitaͤt dazu, hiebey
noch eine Verſchiedenheit gewahrzunehmen. Jſt der
fremde Einfluß in die thaͤtige Subſtanz ununter-
brochen erfoderlich, ſo iſt dieſe Subſtanz ſchlechthin
nichts als ein leidendes Jnſtrument, durch welches die
D 4fremde
[56]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
fremde Kraft durchgehet, wie der Hebebalken iſt, durch
den eine Laſt in die Hoͤhe gehoben wird.
Beſtehet aber doch der innere Grund der
Aktion in den Dingen ſelbſt als ein bleibender Zu-
ſtand, auch wenn ſich die Kraft verleihende aͤußere Ur-
ſache entzogen hat, wie die Bewegung in der Kugel,
die ſie von dem Druck empfaͤngt, ſo kann man doch ſchon
ſagen, daß hier das wirkende Weſen mit eigener aber
nur mitgetheilter Kraft handele. Allein dieſe Ei-
genmacht klebet ihm nicht laͤnger an, als bis es ſo viele
Wirkſamkeit ausgelaſſen hat, als es vorher an lei-
dentlichen Veraͤnderungen empfangen hatte.
Endlich iſt es leicht begreiflich, daß der ganze in-
nere zureichende Grund, als die Quelle der Aktion,
zum Theil zu der Natur, oder doch zu den bleiben-
den beſtaͤndigen Beſchaffenheiten der Subſtanz ſelbſt
gehoͤren, zum Theil aber von dem Einfluß einer andern
Urſache außer ihr abhangen koͤnne. Jn Hinſicht des
letztern iſt ſie den aus fremder Kraft wirkenden Ur-
ſachen aͤhnlich; in Hinſicht des erſtern aber denen die aus
Eigenmacht handeln, oder den voͤllig ſelbſtthaͤti-
gen. So verhaͤlt es ſich bey der Feder, die geſpannet
werden mußte, ehe ſich ihre Elaſticitaͤt wirkſam bewies.
Jſt in dieſem Fall der Antheil an dem ganzen
innern Grunde der Aktion, welcher in dem Jnnern
des handelnden Wefens ſelbſt liegt, ihm und ſeiner Na-
tur anklebet, zu ſeinen Beſchaffenheiten gehoͤrt, die es
unter allen Umſtaͤnden und Verbindungen in ſich hat,
der groͤßte, erheblichſte, wichtigſte; und iſt das, was
ihm fehlet, um voͤllig zureichend zur Aktion zu werden,
und was anderswoher ihm beygebracht werden muß,
das geringſte, unwichtigſte: ſo iſt dieß eine eigenmaͤch-
tige ſelbſtthaͤtige Kraft, die aber eines Reizes, oder
einer Erweckung von außen bedarf.
„Je
[57]und Freyheit.
„Je weniger alſo von dem ganzen innern zurei-
„chenden Grunde der Aktion in einer Subſtanz von
„aͤußern Urſachen abhaͤngt, deſto groͤßer iſt ihre Ei-
„genmacht.‟
„Je mehr ſie aber, als inneres Princip ihrer
„Handlung betrachtet, ſelbſt eine Wirkung von einer
„aͤußern Urſache iſt, deſto weniger beſitzet ſie ſelbſtthaͤ-
„tige Eigenmacht.‟
Jch habe ſchon bey mehrern Gelegenheiten die
ſelbſtthaͤtigen Veraͤnderungen der Seele von ihren
leidentlichen Modifikationen unterſchieden. *) Aber
dorten konnte es genuͤgen, wenn man nur darauf Ruͤck-
ſicht nahm, in wie weit eine Modifikation oder Wir-
kung, welche erfolgte, in der Seele ſelbſt, und in
ihrer eigenen Kraft, oder wie ferne ſie in einer andern
Kraft außer ihr ihre Quelle hatte. Es war bey einer
Veraͤnderung ihres Zuſtandes nur davon die Frage, wie
weit ſolche eine wahre Aktion oder eine Paſſion ſey?
wie viel ſie naͤmlich ſelbſt von der ganzen thaͤtigen und
verurſachenden Kraft in ſich enthalte, oder wie viel
fremde aͤußere Weſen dazu beywirken? Und weiter in
die Natur der Eigenmacht hineinzugehen war oben un-
noͤthig, weil es nur darauf ankam, wie weit das thaͤtige
Princip ihr eigenes inneres Princip, oder eine fremde
Kraft ſey, die ſie modificire?
Aber hier, wo die Natur der Selbſtthaͤtigkeit
naͤher entwickelt werden muß, wenn anders unſere Jdee
von der Freyheit mehr inneres Licht erhalten ſoll, muß
man ſichs nicht verdrießen laſſen, auch dieſe Begriffe
etwas microſkopiſcher zu betrachten. Jſt das thaͤtige
Princip in der Seele ſelbſt, ſo iſt noch eine weſentliche
Unterſuchung daruͤber zuruͤck: wie weit ſolches einer
Reizung von außen noͤthig habe? wie weit es eine frem-
D 5de
[58]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
de mitgetheilte Kraft ſey, oder von dem Einfluſſe an-
derer abhange? oder wie weit es der Seele ſelbſt blei-
bend zukomme?
Wer nur einigermaßen ſich dieſe allgemeinen Be-
griffe gelaͤuſig gemacht hat, wird es bald gewahrneh-
men, daß dieſes noch lange nicht alles ſey, was hie-
bey weiter entwickelt werden muͤßte, wenn durch den
ganzen Zweig dieſer Notionen Deutlichkeit und Einſicht
gebracht werden ſollte. Aber dann ſchlage er auch die
metaphyſiſchen Schriften nach; und ich hoffe, er werde
die Klage nicht ungegruͤndet finden, wenn ich ſage, daß
hier Dunkelheiten und Verwirrungen vorkommen, woran
man noch die Fackel der Analyſe nicht hingebracht hat.
Noch eine Anmerkung. Wenn die Wirkung, wel-
che hervorgebracht wird, eine Wirkung mehrerer ver-
einigten Kraͤfte iſt, und nur derjenigen Kraft allein zu-
geſchrieben wird, die unter den mitwirkenden den Haupt-
antheil an ihr hat: ſo iſt dieſe letztere nicht in dem eigent-
lichen Sinne, ſondern durch eine Synekdoche die Urſache
zu nennen. Und wenn die Aktion oder die Wirkung
auf dieſe vornehmſte Kraft bezogen wird, ſo kann nicht
eher beſtimmt beurtheilet werden, in wie weit ſie aus ih-
rer innern Eigenmacht hervorgehe, als bis der eigent-
lich ihr zugehoͤrige Antheil von dem uͤbrigen, was an-
dern Urſachen zukoͤmmt, abgeſondert wird. Nichts iſt
leichter zu begreifen, als dieſe logiſche Regel, und nichts
ſcheinet doch ſchwerer zu ſeyn, als ſie bey der Beurthei-
lung wirklicher Dinge gehoͤrig zu befolgen.
IX. Von
[59]und Freyheit.
IX.
Von der Selbſtthaͤtigkeit der menſchlichen Seele.
- 1) Es iſt Erfahrung, daß die Seele mit voͤlli-
ger Selbſtthaͤtigkeit handelt, wenn ſie
frey handelt. - 2) Schwierigkeiten, ſich von dem, was als-
denn in uns vorgehet, deutliche Begriffe zu
machen. Wie die Determiniſten und Jn-
determiniſten ſolche Empfindungen erklaͤren. - 3) Die Wirkſamkeit der Seele, womit ſie will-
kuͤhrlich ſich ſelbſt beſtimmt, iſt eine von dem
Einfluſſe aͤußerer Empfindungen erweckte
Selbſtthaͤtigkeit. - 4) Weitere Fragen, und Veranlaſſungen zu
fernern Unterſuchungen dieſer Selbſtthaͤtig-
keit der Seele.
1.
Man muß ſich in Acht nehmen, daß ſolche auseinan-
dergeſetzten Gemeinbegriffe, wie die vorhergehenden
ſind, die ſich auf ſelbſtthaͤtige Aktionen beziehen, da ſie
Augenglaͤſer vor dem Verſtande ſind, nicht auch, wie
ſo oft geſchieht, zu gefaͤrbten Glaͤſern werden, wenn das
Verſchiedene in unſern wirklichen Empfindungen durch
ſie beſchauet wird. Nur leitende Jdeen ſollen ſie ſeyn,
die uns auf das Mannigfaltige in den Empfindungen
mehr aufmerkſam machen, und die Unterſcheidung und
Deutlichkeit befoͤrdern. Aber ob, wie weit und wenn
wir wirklich ſelbſtthaͤtig oder aus Eigenmacht handeln,
und ob, wie weit, und wann wir leidend von aͤuſ-
ſern Urſachen getrieben werden, das muß allein die Be-
obachtung entſcheiden.
Bey
[60]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Bey unſern einzelnen Handlungen den Grad der
Selbſtthaͤtigkeit in ſeiner voͤlligen Schaͤrfe zu beſtimmen,
das geht ohne Zweifel uͤber alle unſere Kraͤfte. Nur
der Allwiſſende beurtheilet unſere individuellen Kraft-
aͤußerungen nach einer voͤllig gerechten Wage, die es
genau angiebt, was und wie viel unſerm Jch, uns als
Seele zukommt, und wie viel dem Einfluſſe aͤußerer
Umſtaͤnde beyzumeſſen ſey, von denen viele allzu ſehr
im Dunkeln liegen, als daß unſer Auge ſie entdecken
koͤnnnte. Aber dieß macht unſere deutlichen Selbſtge-
fuͤhle nicht unzuverlaͤßig, die uns doch die Unterſchiede,
ſo weit es uns in Beziehung auf unſere ſonſtigen Kennt-
niſſe um ſie zu thun ſeyn kann, deutlich genug vorhalten.
Wir fuͤhlen es oft, daß Empfindungen, Vorſtel-
lungen, Bewegungsgruͤnde uns beſtimmen und fort-
druͤcken, auf eine Art die der aͤhnlich iſt, auf welche
die Schale an der Wage, die im Gleichgewicht ſtehet
von dem Uebergewicht niedergedruͤckt wird; daß ſie uns
ziehen und zuweilen ſtoßen. Jn dieſen Faͤllen ſagen
wir, wenn wir eigentlich reden, nicht, daß wir uns ſelbſt
beſtimmen; wir werden vielmehr beſtimmt, hingeriſ-
ſen, und die erfolgende Aktion wird uns abgezwungen.
Es mag ſeyn, daß die Thaͤtigkeit, welche alsdenn
erfolget, eine Thaͤtigkeit unſers innern Princips ſey;
zuweilen ſcheinet ſie dieß nicht zu ſeyn; aber es wird
unſere innere Selbſtkraft doch von der hinzukommenden
Empfindung oder Vorſtellung modificirt, und nun erſt
durch dieſe neue Beſtimmung zu einem innerlich zurei-
chenden Grunde gemacht, wovon der gegenwaͤrtige
Trieb, das Beſtreben, oder die Aktion, ſo wie ſie erfolget,
abhangen. Daß wir gerade zu derjenigen Kraftaͤußerung
beſtimmet ſind, welche unter dieſen Umſtaͤnden entſpringt,
haͤngt alsdenn von dem Einfluſſe der Empfindung oder der
uns gefallenden Vorſtellung ab, von der wir modificirt
ſind, und iſt alſo ſelbſt kein Werk unſerer Eigenmacht.
Spricht
[61]und Freyheit.
Spricht nicht hingegen das Selbſtgefuͤhl eben ſo
laut, daß wir zuweilen, alsdenn naͤmlich, wenn wir
mit voͤlliger Beſinnung, nach Reflexion, oder, wie wir
ſagen, mit Freyheit uns entſchließen, uns wirklich
ſelbſt beſtimmen? Sind wir nicht in dieſen Faͤllen
vorher, ehe wir unſere Kraft anwenden, innerlich un-
beſtimmt, zum Wollen und Nichtwollen, zum Thun
und Laſſen; oder ſind wir nicht zu beiden entgegengeſetz-
ten auf eine gleiche Art beſtimmt? Wenn das eine er-
folgt und nicht das andere, was geſchieht alsdenn in
unſerer innern Kraft fuͤr eine Veraͤnderung? was
kommt noch zu ihr hinzu, als allein der aͤußere Umſtand,
daß ſie nun auf dieſen und nicht auf einen andern Ge-
genſtand verwendet wird? Das Waſſer am Boden
des Gefaͤßes ſpringt da heraus, wo ihm die Oeffnung
gemacht wird, oder wo der Widerſtand am geringſten
iſt; aber die ganze Aktion iſt Eigenmacht des Waſſers,
inſoferne wir den Druck nach allen Seiten, den es lei-
det, als ſeine eigene innere Kraft anſehen. Sind nicht
die Bewegungsgruͤnde in ſolchen Faͤllen, wo wir uns
ſelbſt zu dem beſtimmen, was uns am meiſten gefaͤllt,
nur ebendaſſelbe, was die gemachte Oeffnung, oder die
Stellen des leichteſten Widerſtandes bey dem Fluͤßigen
iſt, wohin die innere wirkſamſte Kraft ſich ergießet, in-
dem ſie dem leichteſten Wege nachgehet?
Jn ſolchen Beyſpielen, wo wir das Erſte das
Beſte ergreifen, wo kein vorzuͤgliches Gefallen desjeni-
gen, was wir waͤhlen, einen Einfluß in unſere Wahl
hat, iſt unſer inneres Princip doch wohl eben ſo beſtim-
met, auf das gewaͤhlte ſich zu verwenden, als auf das
nicht gewaͤhlte. Das Gewaͤhlte war vor uns das, was
die Kugel bey der ſich ausdehnenden elaſtiſchen Feder iſt,
die ihr eben vorgeleget wurde. Die Feder haͤtte ſich ge-
gen eine Wand losſchnellen koͤnnen, oder gegen jede an-
dere Kugel. Jhre Aktion war ganz eine Wirkung ihrer
Eigen-
[62]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Eigenmacht, und ihre Elaſticitaͤt bekam keine beſondere
innere Beſtimmung durch die Gegenwart der Kugel,
auf die ſie wirkte.
Wenn die gegenwaͤrtigen Empfindungen und Vor-
ſtellungen, das Gefallen, und was uͤberhaupt zu den
aͤußern Beſtimmungsgruͤnden der Aktion gerechnet
werden kann, auch nichts mehr wirken, als nur, daß
ſie dem innern thaͤtigen Princip den Gegenſtand vor-
ſchieben, auf den es ſich anwendet; wenn ſie keine ſolche
Modifikationen ſind, die zu Beſtandtheilen des in-
nern zureichenden Grundes der Aktion werden und
dergleichen in uns auch nicht hervorbringen, ſo iſt die
Anwendung des innern Princips auf das Objekt eine
aͤhnliche voͤllige Selbſtthaͤtigkeit. Da wir ſogar
bey Koͤrpern Beyſpiele von Handlungen finden, die aus
voller Eigenmacht entſtehen, ſo haben wir doch wohl
noch weniger Urſache zu vermuthen, daß unſer Selbſt-
gefuͤhl uns betruͤge, wenn wir dergleichen auch bey un-
ſerer Seele gewahrnehmen.
Die Determiniſten haben doch eingeſtanden, daß
die Bewegungsgruͤnde uns nicht ziehen, ſtoßen,
zwingen, fortreißen, ſondern nur geneigt machen,
lenken, und daß wir uns ſelbſt nach ihnen beſtim-
men. Sie haben den Unterſchied richtig gefuͤhlet, der
wirklich da iſt, aber ſie haben ihn nicht deutlich erklaͤret.
Von dem Vermoͤgen anders zu handeln, als wir
es thun, von der Selbſtmacht uͤber uns, iſt noch
nicht die Rede, ſondern nur von der Spontaneitaͤt
der Eigenmacht. Jſt es alſo zu bezweifeln, daß wir
oftmals ſo ſelbſtthaͤtig und eigenmaͤchtig handeln in der
Art der Handlung, in ihrer Staͤrke, ſo gar in ihrer
Richtung, und ſo unabhaͤngig von den Objekten, auf
die wir uns beſtimmen, als die elaſtiſche Feder, oder
als das herausſpringende Waſſer aus dem Gefaͤß, wel-
ches auch die Richtung, in der es hervorſtroͤmet, in
ſeinem
[63]und Freyheit.
ſeinem innern Druck vorher ſchon hatte, ehe die Oeff-
nung gemacht war, und ſolche durch dieſe letztern nicht
erſt annahm?
2.
Die unmittelbare Erfahrung ſcheinet uns alſo auf ein-
mal alles ins Klare zu ſetzen. Jndeſſen wird die Ausſicht
bald wieder truͤbe, wenn wir ſie deutlicher faſſen wollen.
Wenn unſer inneres Princip zum Wollen und
Nichtwollen, zum Thun und zum Laſſen, zu die-
ſer Art der Aktion und zu einer andern, innerlich un-
beſtimmt, oder zu allen auf gleiche Weiſe beſtimmt iſt,
wie entſtehet denn diejenige Kraftaͤußerung, welche wirk-
lich erfolget? Wollen iſt doch etwas anders, als
Nichtwollen, eine andere Wirkung, eine andere
Beſtimmung; zur Rechten gehen iſt doch eine andere
Aktion, als zur Linken hin gehen. Woher das Eigene
in der Art der Aktion, welche erfolget? Jſt hier nicht
etwas mehr, als bloß eine Applikation des unbeſtimm-
ten innern Princips auf eine gewiſſe Vorſtellung, oder
auf ein gewiſſes Objekt?
Beide, die Determiniſten ſowohl, als Jndeter-
miniſten fcheinen daruͤber einig zu ſeyn, „daß in der
„wirklichen Anwendung der innern Kraft eine eigene
„hinzu gekommene Beſchaffenheit, und zwar in
„dem Jnnern der Aktion ſelbſt vorhanden ſey, die nicht
„bloß von der Beſchaffenheit des Objekts und von deſ-
„ſen Receptivitaͤt abhange.‟ Es iſt daſſelbige Objekt,
ich mag mich beſtimmen zum Wollen oder zum Nicht-
wollen; aber dieſe beiden Handlungen ſind nach den Be-
griffen beider Partheyen, unterſchiedene Aktionen; in
dem Wollen iſt etwas, was in dem Nichtwollen
nicht iſt. Woher nun dieſes?
Da iſt eben die Beſchaffenheit, ſagen die Deter-
miniſten, welche auch ihren zureichenden Grund
haben muß. Sie hat ihn auch in dem Gefallen, oder
in
[64]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
in andern gegenwaͤrtigen Empfindungen. Alſo haben
dieſe letztern Empfindniſſe, wenn wir es gleich nicht
bemerken, das innere thaͤtige Princip zu der beſondern
Aeußerung beſtimmet, zu der es vorher unbeſtimmt war?
Die Gegner laͤugnen dieß. Das Selbſtgefuͤhl, die
ſchaͤrfſte Beobachtung lehret uns, daß wir nicht zu dieſer
beſondern Handlung vorher innerlich beſtimmt ſind, ehe
wir handeln. Aber die erfolgte Handlung hat doch ihre
Eigenheit. Dieſe bedarf keines zureichenden
Grundes, warum ſie iſt, ſetzen ſie hinzu, und hat
auch keinen. Der Gemeinſatz vom zureichenden Grunde
hat ſeine Einſchraͤnkungen. So antworten die Jnde-
terminiſten.
Da ziehet ſich alſo der Knoten wieder feſt zuſam-
men. Das Princip des zureichenden Grundes ſoll ſeine
Einſchraͤnkung haben! Die Vernunft will nicht gerne
daran. Oder ſoll unſer Gefuͤhl irrig ſeyn, welches uns
ſo lebhaft ſaget, daß wir innerlich nicht zum Wollen be-
ſtimmt werden, wenn wir frey wollen? Jſt dieß Ge-
fuͤhl unrichtig, ſo handeln wir nicht einmal aus ſo vol-
ler Eigenmacht, wie ein elaſtiſcher Koͤrper, oder wie das
ausſpringende Waſſer.
Einer unter den ſcharfſinnigſten Jndeterminiſten,
die mir bekannt geworden ſind, der Hr. G. R. Darjes,*)
hat doch geglaubt, der Satz vom zureichenden Grunde
vertruͤge ſich ohne Einſchraͤnkung mit der freyen Wahl,
in ſolchen Faͤllen, wo wir uns zu Einem Mittel von meh-
rern entſchließen, die uns alle zu unſerer Abſicht gleich-
guͤltig ſind, und alſo das Erſte das Beſte ſeyn laſſen.
Das innere Princip iſt nicht mehr beſtimmt zu dem Ei-
nen Mittel, das gewaͤhlet wird, als zu dem andern.
Warum wird es denn gewaͤhlet, und warum nicht ein
anders? Der genannte Philoſoph antwortet, weil es
zu unſerer Abſicht hinreichet, und mehr ſuchen wir nicht.
Jch
[65]und Freyheit.
Jch fuͤhre dieſe ſeine Erklaͤrung hier beſonders an, weil
ich glaube, er ſey im Begriffe geweſen, in dieſer einen
Art von Faͤllen den Knoten aufzuloͤſen. Aber er hat
ihn nicht aufgeloͤſet. Denn die Antwort, die er gab,
war unzureichend. Das Mittel genuͤget zur Abſicht.
Wohl, aber die uͤbrigen Mittel, die nicht gewaͤhlet
werden, genuͤgen auch. Bey dieſen war alſo derſelbige
Grund, wie bey jenen. Warum wurde denn jenes,
nicht dieſe, genommen? Mich deucht, es ſey ſehr auf-
fallend, daß die Antwort ſo lauten muͤſſe: es werde
darum gewaͤhlet, weil es unſerer ſich beſtimmenden
Kraft jetzo vorlieget; nicht aber darum, weil es unſerer
innern wollenden Kraft eine eigne Beſtimmung bey-
bringet, und ſolche nun erſt zu einer eigenen Handlung
geſchickt machet; ſondern darum, weil es ſich nun eben
als ein Objekt darſtellet, uns in dieſem Augenblicke
eben in den Sinn kommt, oder lebhafter und klaͤrer uns
gegenwaͤrtig wird, als die uͤbrigen. Es war die Ku-
gel, die man der elaſtiſchen Feder eben vorlegte, da ſie
ſich ausdehnte. Wie, wenn ein anderes Mittel ſtatt des
gewaͤhlten genommen worden waͤre, wuͤrde alsdenn
eine andere Aktion, eine andere Selbſtbeſtimmung er-
folget ſeyn? Nichts weniger; es wuͤrde dieſelbige Aktion
erfolget ſeyn, nur auf ein anderes Objekt verwendet.
Da iſt alſo nichts vorhanden, was außer dem innern
wirkſamen Princip einen zureichenden Grund erfo-
dert, als nur der aͤußere Umſtand, daß die Kraft auf
dieſes Objekt beſonders appliciret ward; denn weiter iſt
nichts Eigenes in dem, was hiebey wirklich geſchieht.
Alſo war es die Gegenwart dieſes Objekts, was hinzu
kam; und nun hat alles das Jnnere und das Aeußere
der erfolgten Aktion ſeinen voͤllig zureichenden Grund,
warum es ſo, und nicht anders iſt.
Laſſet uns annehmen, die Faͤlle dieſer Art, worinn
wir uns zu Einem von mehrern gleichguͤltigen Dingen
IITheil. Eent-
[66]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
entſchließen, und wo das Warum ſo, und nicht anders,
allein von der Gegenwart des Objekts abhaͤnget, worauf
ſich die Kraft anwendet, waͤren voͤllig erklaͤrt; wie muͤßte
es ſich denn in den uͤbrigen verhalten, wo das vorzuͤgli-
che Gefallen es iſt, wonach wir uns beſtimmen, oder mit
andern Worten, wo wir nach dem Geſetz des Beſten
wollen und handeln? Hier ſcheint der eigentliche Sitz der
Schwierigkeiten zu ſeyn. Handeln wir da ſelbſt, be-
ſtimmen wir uns ſelbſt, wenn wir das waͤhlen, was
uns gefaͤllt? So uͤberredet es uns unſer Gefuͤhl. Oder
werden wir paſſive beſtimmt zur Handlung, und iſt
die Handlung ſelbſt zum Theil wenigſtens eine Leiden-
heit? So ſcheinet es, muͤſſe es ſeyn, wenn wir darauf
ſehen, daß das Gefallen in der Sache uns beweget;
und daß dieß Gefallen ein Empfindniß iſt, wodurch das
Wollen hervorgebracht wird.
3.
Es ſind doch einige Vorbereitungen noͤthig, ehe
man geradezu dieſe Schwierigkeiten angreifen kann.
Meine Abſicht iſt nicht ſo ausgedehnt, die ganze Be-
ſchaffenheit unſerer Selbſtthaͤtigkeit zu unterſuchen.
Dieß iſt eine Tiefe, die uns deſto unerreichbarer vor-
kommt, je weiter man in ſie hinabſteiget. Hier we-
nigſtens verlange ich nicht mehr, als nur bis zu dem
Grunde zu gelangen, woraus dasjenige entſpringet,
was wir in unſern Gefuͤhlen vor uns haben, und helle
genug unterſcheiden. Was iſt in uns vorhanden, was
geſchieht, wenn wir mit Beſinnung willkuͤhrlich wol-
len, uns beſtimmen, und handeln? Was iſt alsdenn
da, wenn wir gereizet, getrieben, gedruckt, genoͤthi-
get werden? Warum das Eine unter dieſen, das an-
dere unter andern Umſtaͤnden? Aber auch zu dieſen
Fragen iſt es noͤthig, ſich nach einigen Erfahrungsſaͤtzen
uͤber die Selbſtthaͤtigkeit der Seele umzuſehen. Sich
beſtim-
[67]und Freyheit.
beſtimmen zu einer Aktion, kann von der Aktion
ſelbſt unterſchieden werden, zu der wir uns beſtimmen.
Dennoch iſt auch die Selbſtbeſtimmung, als eine will-
kuͤhrliche Anwendung unſerer Kraft eine Selbſtthaͤ-
tigkeit.
Zuvoͤrderſt wiederhole ich die Erinnerung, daß ich
hier die immaterielle Seele, das eigentliche Jch, von
ihrem innern unzertrennlichen Organ noch nicht unter-
ſcheide. Die Empfindungen, die Vorſtellungen, das
Wollen, das Thun iſt in der Seele. Dieſe iſt das
leidende und wirkende Subjekt, welches empfindet, den-
ket, will, thaͤtig iſt. So weit unſer inneres Selbſt-
gefuͤhl uns Begriffe von dieſen Modifikationen giebet,
ſo weit gehoͤren ſie zu den Veraͤnderungen des Seelen-
weſens in dem Menſchen.
Dieß Weſen iſt nach der Ausſage aller Erfahrun-
gen nicht ſo natuͤrlich ſelbſtthaͤtig, daß es in dem Zu-
ſtande einer regen und beobachtbaren Wirkſam-
keit ſich befinden kann, ohne von dem Einfluſſe aͤuße-
rer Dinge gereizet und unterſtuͤtzt zu ſeyn. Jm
tiefſten Schlafe, in der Ohnmacht, was wirkt die Seele
dann? Sie mag wirken, ſich beſtreben, etwas hervor-
bringen; niemals ein bloßes oder todtes Vermoͤgen
ſeyn; ſo iſt doch ſo viel entſchieden, daß ſie nichts wirke,
deſſen wir uns nachher erinnern koͤnnen. Jſt ſie in die-
ſem Zuſtande thaͤtig, beſtimmt ſie ſich, handelt ſie, ſo
liegen dieſe ihre Aeußerungen nicht in dem Umfange
deſſen, was wir beobachten, und uͤber die unſer Selbſt-
gefuͤhl uns ſagen koͤnne, ob es Selbſtthaͤtigkeiten oder
Leidenheiten ſind? Wir beduͤrfen klarer Empfin-
dungen von außen, um wachend zu ſeyn; und von
den Handlungen des wachenden Menſchen iſt hier
nur die Rede. Wenn wir auch zuweilen willkuͤhrlich
im Traum handeln, ſo kommen dieſe Aktionen hier we-
niger in Betracht; wie auch alsdenn die Selbſtwirk-
E 2ſamkeit
[68]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ſamkeit im Traume mit den Empfindungen des aͤußern
Gefuͤhls in Verhaͤltniß ſtehen moͤge. Und geſetzt, es
ſind nicht klare aͤußere Empfindungen, ohne welche die
Seele ſich als ein ſelbſtthaͤtiges Weſen vor ſich ſelbſt
nicht zeigen kann, ſo ſind es doch innerliche koͤrperliche
Gefuͤhle, die hiezu erfodert werden.
Alſo iſt die rege thaͤtige Seelenkraft, das in-
nere wirkende Princip, wenn ſie ſich ſelbſtbeſtim-
met, abhaͤngig von andern Dingen, und die Wirk-
ſamkeit deſſelben iſt hoͤchſtens nichts mehr, als eine von
andern Urſachen erweckte Selbſtthaͤtigkeit.
Dieß letztere, naͤmlich eine erweckte aber wahre
Selbſtthaͤtigkeit iſt es auch, was ihre Wirkſamkeit
ausmacht. Zu derjenigen Gattung von unſelbſtthaͤ-
tigen Weſen, welche ſelbſt kein inneres Princip ihrer
Wirkungen beſitzen, und nur Jnſtrumente fremder
Kraͤfte ſind, nur Kanaͤle, wodurch die wahren Quellen
aller Thaͤtigkeit und alles deſſen, was hervorgebracht
wird, hindurchgehen, gehoͤrt ſie ganz gewiß nicht.
Sie iſt nicht der Hammer, wozu ihr Koͤrper die Hand
iſt, die ihn fuͤhret, noch die Kugel, die nur ſo viel be-
wegende Kraft hat, als ihr durch die Schwere im Fal-
len gegeben iſt. Zuverlaͤßig hat ſie ſelbſt ein inneres
Princip zur Thaͤtigkeit. Jn ihren aͤußern Empfindun-
gen verhaͤlt ſie ſich am leidentlichſten, und dennoch giebet
eine etwas genaue Beobachtung gute Gruͤnde an die
Hand, *) zu glauben, daß auch zu den leidentlichſten
Gefuͤhlen, die in ihr entſtehen, die innere Naturkraft
etwas thaͤtig beytrage. Dieſe Mitwirkſamkeit des in-
nern Princips iſt die Selbſtthaͤtigkeit, worinn der Grund
zu dem Vermoͤgen lieget, Vorſtellungen zu haben und
zu reproduciren.
Jſt
[69]und Freyheit.
Jſt nun eine ſolche Modifikation, die ſie aufnimmt,
wenn ſie fuͤhlet, nicht einmal ganz und gar ein Effekt
der Kraft, die von außen einwirket, wie viel weniger
ſind es denn die thaͤtigen Seelenaͤußerungen, zu welchen
ſie, wenn ſie durch jene Gefuͤhle gereizet worden iſt,
uͤbergehet; und ihre Beſtrebungen und Triebe, die ſie
aͤußert, Vorſtellungen zu reproduciren, zu dichten, zu
uͤberlegen, zu wollen, zu bewegen, und etwas hervor-
zubringen? Dieſe Kraftaͤußerungen ſetzen noch viel-
mehr eine abſolute und reelle Beſchaffenheit, als ein
Vermoͤgen in ihr voraus, welches, ehe die Reizung
von außen hinzukommt, ſchon vorhanden war, und nun
rege gemacht, der wahre und letzte Grund der hervor-
gehenden Aktion iſt. Sollte dieſe ſo evidente Folgerung
noch dem mindeſten Zweifel unterworfen ſeyn, ſo kann
die durchgaͤngige Uebereinſtimmung unſerer Selbſtge-
fuͤhle ſie vollends beſtaͤtigen.
Dieß iſt alſo der erſte Erfahrungsſatz, und hier ein
Grundſatz: „die rege Wirkſamkeit der Seele in dem
„Zuſtande, wenn wir wachen, und willkuͤhrlich handeln,
„iſt eine erweckte Selbſtthaͤtigkeit; das innere thaͤ-
„tige Princip, ſo wie es nun der innere zureichende
„Grund der hervorgehenden Thaͤtigkeiten wird, iſt Ei-
„genmacht der Seele, die durch Gefuͤhle und Empfin-
„dungen erweckt und beſtimmt iſt.‟
4.
Bey dieſem Grundſatze, den ich hier als ein Faktum
anſehe, will ich ſtehen bleiben. Die Wirkſamkeit der
Seele, als menſchlichen Seele, die zu empfindende, die
beobachtbare Wirkſamkeit, iſt eine gereizte, erweckte
Selbſtthaͤtigkeit. Aber wie viele Dunkelheit liegt noch
in dieſem Begriff? und wie viel Fragen kann man noch
hinzuſetzen, auf welche die Antworten ſo leicht nicht
duͤrften zu finden ſeyn?
E 3Auf
[70]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Auf welche Art wird das innere Princip in der Seele
rege gemacht? und worinn beſteht dieſe Erregung?
Jſt dieß innere Princip, ehe es noch den aͤußern
Reiz empfaͤngt, bloßes Vermoͤgen, etwas zu ver-
richten, bloße Moͤglichkeit; oder iſt es ſchon thaͤtige
obgleich uns verborgene Kraft?
Wenn das letztere iſt, worinn beſtehen die Aeuße-
rungen, die Beſtrebungen dieſes Princips, ehe die Er-
weckung von außen durch den Koͤrper dazu kommt?
Hievon haben wir wohl nicht einmal Begriffe? oder
ſind dieſe Aeußerungen eben dieſelbigen, die wir das
Fuͤhlen, das Vorſtellen, Denken, Wollen nennen?
innerlich dieſelbigen, nur daß wir ſie nicht gewahrneh-
men koͤnnen? Geben die Eindruͤcke von außen nichts
mehr her, als die Gegenſtaͤnde, auf welche das innere
Princip ſich anwendet, und mit denen die Aktionen erſt
ſelbſt empfindbar vor uns werden? Die Elaſticitaͤt in
der geſpannten Feder iſt innerlich derſelbige wirkſame
Trieb, daſſelbige Beſtreben, derſelbige Drang ſich zu
aͤußern, die Feder mag in dieſem geſpannten Zuſtande
erhalten, oder losgelaſſen werden; ſie mag eine Kugel
antreffen, die ſie fortſtoͤßt, oder ſich ſelbſt ausdehnen.
Jſt dieß ein Bild von der innern Eigenmacht der menſch-
lichen Seele?
Wenn es ſich nicht ſo verhaͤlt, kann es denn nicht
ſeyn, daß beides Seele und Koͤrper, jeder aber fuͤr ſich,
nur in Verbindung wirken? Die Aktion der Seele
ſelbſt iſt Eigenmacht, und der Beytrag des Koͤrpers iſt
es auch. Was beide zuſammenwirken, das kann viel-
leicht in ſeinem Effekt erſt beobachtbar werden, ohne
daß die Aeußerung der Seele fuͤr ſich allein es ſeyn
wuͤrde. Und dieſes Ganze wird als ein Effekt der Seele
angeſehen, weil ſie die vornehmſte der beywirkenden
Urſachen iſt. Sollte es ſich ſo verhalten?
Von
[71]und Freyheit.
Von dieſer Vorſtellung laͤßt ſich vielleicht alsdenn
Gebrauch machen, wenn die Frage iſt, wie das imma-
terielle Jch, und ihr inneres Organ, in Vereinigung
als ein Weſen wirken, und ſich auf einander beziehen?
Dagegen aber hier, wo wir das ganze vorſtellende, den-
kende und wollende Eins, als die Seele anſehen, der
man den organiſirten Koͤrper entgegenſetzet, ſcheinet
man ihn nicht anwenden zu koͤnnen. Wenigſtens iſt
die Vorſtellung natuͤrlicher, daß das geſammte innere
wirkſame Princip, oder der ganze zureichende Grund
der Aktionen in der Seele, als dem Subjekt ſelbſt vor-
handen ſey, nachdem ſie durch Eindruͤcke von außen
modificiret worden iſt.
Jſt das innere Princip der Seele vor der Erweckung
von außen, nur bloßes Vermoͤgen, was iſt es als Ver-
moͤgen? Ein innerer noch unzureichender Grund
zu einer Thaͤtigkeit. Wie wird dieſer unzureichen-
de Grund in einen zureichenden verwandelt? Kann
eine ſolche Erweckung dadurch beſchaffet werden, wenn
das vermoͤgende Weſen leidentliche Modifikationen
von andern empfaͤngt, wie etwan, nach unſern ſinnli-
chen Vorſtellungen zu urtheilen, die vorher ruhende
Kanonenkugel durch die Wirkung des Pulvers, oder
durch den Stoß anderer, eine zerſchmetternde Kraft
bekommt, die ſie vorher nicht beſitzet? Oder gibt es
durchaus kein ganz unwirkſames Vermoͤgen, etwas
zu thun, keine todte Faͤhigkeiten oder Kraͤfte, wie
einige ſolche bloße Vermoͤgen nennen, ohne Wirkſam-
keit? wie es nach der Meinung verſchiedener großen
Philoſophen nicht geben kann, weil ſonſten nicht zu be-
greifen ſey, wie ein unwirkſames Vermoͤgen in eine
thaͤtige Kraft uͤbergehen koͤnne. Jſt aber vorher ſchon
das bloße Vermoͤgen etwas wirkſames, ſo ließe ſich die
Erweckung dieſer todten Kraft zu einer lebendigen, wel-
che durch die Einwirkung einer fremden Kraft verurſa-
E 4chet
[72]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
chet wird, darinn aufloͤſen, daß jenes innere vorher ſchon
wirkſame Princip nur zur Reaktion gegen die von außen
einwirkende Kraft gebracht werde. Und ſollte ſichs ins-
beſondere bey der Seele nicht auf dieſe Art verhalten?
Endlich wenn die Wirkſamkeit der Seele ſowol von
dem innern Naturprincip, als von der Einwirkung
aͤußerer Urſachen abhaͤngt, wie verhaͤlt ſich die Bey-
wirkung von außen zu dem Antheil, den jenes in-
nere Princip an der entſtandenen Wirkſamkeit hat?
Wie unendlich viele Grade und Stufen in dieſer Ab-
haͤngigkeit giebt es nicht, die zugleich die innere Groͤße
der natuͤrlichen Selbſtthaͤtigkeit eines Weſens beſtim-
men? Dieß Verhaͤltniß iſt, zumal bey uns, wenn
das ganze innere Seelenweſen fuͤr die Seele angeſehen
wird, nicht allemal das naͤmliche. Die Lebhaftigkeit
des Geiſtes iſt zuweilen mehr eine Wirkung der heitern
Luft, der Geſundheit des Koͤrpers, des Gluͤcks, des
Weins, als der innern Seelenſtaͤrke. Um manchem
eingebildeten ſtarken Geiſte ſeinen Muth zu entziehn,
darf man ihn nur kuͤmmerlich ſpeiſen, oder in eine dicke
luft bringen; aber bey andern iſt die Quelle des Lebens
und der Staͤrke in dem Jnnern. Nicht alle Menſchen
ſind gleich wetterlaͤuniſch, wie der Hypochondriſt. Wo
liegt der Grund dieſer Verſchiedenheit?
Es iſt ſchon zu viel gefragt. Wenn es in unſern
Gemeinbegriffen nicht noch an demjenigen fehlte, was
die Metaphyſiker in ihren Syſtemen ſchon darinn zu
finden geglaubt haben, ſo ließe ſich Eins und das andere
naͤher beſtimmen, und ohne Zweifel wuͤrden ſie uns denn
ihrem Zwecke gemaͤß um eine Schicht tiefer unter der
Oberflaͤche, und naͤher an das Jnnere unſerer Natur
bringen. Aber unerreichbar iſt dieſes Jnnere doch. Jch
kehre zu den Beobachtungen zuruͤck, und habe bey dieſen
Fragen die Graͤnzlinie ziehen wollen, innerhalb welcher
ich ſtehen bleiben will.
X. Von
[73]und Freyheit.
X.
Von der Beſtimmung der ſelbſtthaͤtigen Seelen-
kraft zu einzelnen Aeußerungen.
- 1) Die Seele wird zuweilen leidentlich be-
ſtimmt; zuweilen beſtimmt ſie ſich ſelbſt.
Erſte Erfahrung: Wenn ſie fuͤhlet und em-
pfindet, wird ſie leidentlich beſtimmt. - 2) Zwote Erfahrung: Jede Kraftaͤuße-
rung der Seele, welche unmittelbar auf ein
Gefuͤhl erfolget, und von der wir vorher
keine Vorſtellung hatten, iſt eine ſolche, zu
der die Kraft der Seele leidentlich beſtim-
met wird. - 3) Dritte Erfahrung: Oftmals haben wir
ſchon vorher eine Jdee von der erfolgenden
Aktion, und werden dennoch leidentlich zu
ihr beſtimmt. - 4) Vierte Erfahrung: Die Gegenwart,
die Bearbeitung, und die weitere Entwicke-
lung der Vorſtellungen iſt oftmals keine
Selbſtthaͤtigkeit der Seele, wenigſtens dem
Gefuͤhl nach nicht; oftmals iſt ſie es. - 5) Grund dieſer Verſchiedenheit in den Em-
pfindungen. - Fuͤnfter Erfahrungsſatz: von dem Unter-
ſcheidungsmerkmal ſolcher Aktus der See-
le, wozu ſie leidentlich beſtimmt wird. - 6) Weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen dieſen
und denen, wozu ſie ſich ſelbſt beſtimmt.
E 51. Wenn
[74]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
1.
Wenn einmal vorausgeſetzt wird, daß die Kraft der
Seele in dem Zuſtande einer regen Wirkſam-
keit ſich befindet, ſo iſt nun vornehmlich auf das Wie
und Wodurch zu ſehen, wenn ſie zu ihren beſondern
Anwendungen, Handlungen und Verrichtungen gebracht
werde? Jch bin wachend und munter, und komme auf
mein Zimmer. Jnnerlich ſind eine Menge von Em-
pfindungen rege, und außerhalb umgeben mich viele
Gegenſtaͤnde. Es reget ſich das Gefuͤhl meines Be-
rufs; ich empfinde Triebe, Verlangen; eine Menge
von Vorſtellungen iſt gegenwaͤrtig. Jch ſetze mich nie-
der, um uͤber die Freyheit zu denken und zu ſchreiben.
Wie geht es zu, daß mein inneres thaͤtiges Princip zu
dieſer beſondern Art von Wirkſamkeit und auf dieſe be-
ſondern Objekte gelenket wird?
Erſte Erfahrung. „Wenn ich Eindruͤcke von
„Gegenſtaͤnden empfange, die auf meine Sinnglieder
„wirken, und ſolche fuͤhle, ſo mag es ſeyn, daß dieß
„Aufnehmen und dieß Fuͤhlen eine Thaͤtigkeit ſey, die
„aus meinem innern Princip hervorgeht; aber es iſt
„gewiß, daß ich zu dieſer Aeußerung beſtimmet wer-
„de.‟ Es iſt eine Reaktion, zu der mich die Ein-
wirkung der aͤußern Dinge noͤthiget; und mir kommt
das ganze Gefuͤhl wie ein Leiden vor. Aber es ſey
eine Thaͤtigkeit, ſo iſt dieß doch gewiß kein thaͤtiger
Aktus, daß meine Kraft auf dieſe Art angewendet
wird. Dieß letztere iſt eine Leidenheit, wozu ſie
beſtimmt wird. Die Groͤße der Reaktion und ihre
Richtung haͤngt von einer andern Urſache ab.
Wenn ich dieſe Empfindung fortſetze, genauer zu-
ſehe, oder die Augen wegwende, verſchließe, ſo fuͤhle
ichs, daß ich hier ſchon mich ſelbſt beſtimmen kann.
Die Jmpreſſionen, welche wir annehmen, koͤnnen wohl
mittel-
[75]und Freyheit.
mittelbar oder auch unmittelbar von Selbſtbeſtimmun-
gen meiner Kraft, welche vorhergegangen ſind, abhan-
gen. Aber hier, wo von dem Eindruck und von dem
Gefuͤhl die Rede iſt, welche unmittelbar auf die Ruͤh-
rung der Organe folgen, da iſt es gewiß, daß die Be-
ſtimmung des innern Sinns zu dieſem Gefuͤhl keine
Selbſtthaͤtigkeit und kein Selbſtbeſtimmen ſey.
Es verhaͤlt ſich auf eine aͤhnliche Art bey den innern
Empfindungen und bey den Empfindniſſen. Jch
werde afficirt von einer Veraͤnderung, von Vorſtellun-
gen. Sie ſind mir angenehm oder unangenehm. Dieſe
Gefuͤhle moͤgen Folgen meines innern thaͤtigen Princips
ſeyn, das auf eine gewiſſe Weiſe zuruͤckwirkt; aber zu
dieſen Ruͤckwirkungen werde ich leidentlich beſtimmt.
2.
Zwote Erfahrung. „Jede Kraftaͤußerung der
„Seele, die unmittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, und
„von der ich keine vorhergehende Vorſtellung habe, iſt
„eine ſolche, zu der die Kraft leidentlich beſtimmet
„wird.‟
Die Eindruͤcke von außen bringen nicht nur die er-
ſten Reaktionen der Seele hervor, die das Fuͤhlen und
das Empfinden ausmachen, ſondern verurſachen auch
andere Kraftaͤußerungen in einem ſo thaͤtigen Weſen,
als die Seele iſt. Es werden entweder Vorſtellungen
erwecket, getrennet, vermiſcht; Jdeen, Gewahrneh-
mungen, Gedanken hervorgebracht, indem die vorſtel-
lende Kraft und die Denkkraft zur Anwendung erwecket
werden; oder es entſtehen auch ganz neue Modifikatio-
nen, eigentliche Thaͤtigkeiten,*) und gemeiniglich
beides zugleich.
Jn jedem Fall, wenn ſie inſtinktartig erfolgen,
ohne daß wir eine Vorſtellung von ihnen gehabt haben,
die
[76]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
die zuvoͤrderſt wieder erwecket ward, iſt es keine Selbſt-
thaͤtigkeit, wenn die innere Wirkſamkeit auf dieſe Weiſe,
in dieſer Richtung und mit dieſer Staͤrke hervorgehet.
3.
Dritte Erfahrung. Es iſt oͤfters eine Vorſtel-
lung von einer Handlung in mir, und dennoch werde
ich leidentlich zu ihr beſtimmt.
Oſtmals habe ich gegaͤhnet, auch gelachet, und
weiß alſo, was beides iſt, kann auch beides willkuͤhrlich
mittelſt dieſer Vorſtellung wieder hervorbringen. Wenn
ich einem andern nachgaͤhne, ſo geſchieht ſolches auch
nicht anders, als dadurch, daß die Vorſtellung von
dem Aktus des Gaͤhnens erreget wird, und in Thaͤtig-
keit uͤbergehet.*) Wie manches Frauenzimmer kann
nicht ihre Thraͤnenquelle fließen laſſen, wenn ſie will!
Aber dennoch uͤberfaͤllt uns auch wohl das Gaͤhnen, das
Lachen, das Weinen, unmittelbar auf eine vorhergegan-
gene Empfindung, ſo daß die Anwendung der thaͤtigen
Seelenkraft, die hiezu erfodert wird, eine pure Leiden-
heit iſt, und die Vorſtellung leidentlich reproducirt, und
die Kraft zur Aktion leidentlich beſtimmet wird. Die
Aktus ſelbſt ſind alsdenn wahre Kraftaͤußerungen; aber
daß unſer inneres Princip ſich auf dieſe Art aͤußert, und
in der Maße hervorgehet, iſt keine Selbſtthaͤtigkeit;
es wird dazu eben ſo beſtimmet, als der reizbare Mus-
kel zum Zuſammenziehen, wenn man ihn mit der Spitze
einer Nadel oder eines Meſſers reizet.
4.
Vierte Erfahrung. „Daß Vorſtellungen in
„uns wieder erwecket, und gegenwaͤrtig gemacht wer-
„den, daß ſie dermalen lebhafter ſind, daß ſie faſt bis
„an die ehemaligen Empfindungen hin ſich auswickeln,
„iſt
[77]und Freyheit.
„iſt oftmals, nach unſerm Selbſtgefuͤhl zu urtheilen,
„eine Leidenheit; aber oft auch, und beſonders in
„dem Zuſtande der Beſinnung, wenn wir unſer ſelbſt
„maͤchtig ſind, eine Selbſtthaͤtigkeit, und eine Folge
„unſers eigenen Beſtrebens.‟
Zuweilen iſt es wallendes Gebluͤt, Affekt, Fieber-
hitze, was uns mit Phantaſien beſchweret, deren wir uns
nicht entſchlagen koͤnnen, wenn wir auch wollen. Da-
gegen, wo wir uns hinſetzen, einen Plan zu durchden-
ken, eine verwickelte Meditation vorzunehmen, eine
Sache von allen Seiten zu uͤberſehen, da fuͤhlen wir
unſere eignen Beſtrebungen, die dazu gehoͤrigen Vor-
ſtellungen in uns hervorzurufen, zu unſerm Gebrauche
gegenwaͤrtig zu erhalten, und ſie eine nach der andern
zu entwickeln.
Wie es ſich auch mit der erſten Reproduktion der
Vorſtellungen verhalten mag: — denn zuweilen, wenn
wir uns mit Fleiß auf etwas beſinnen, fuͤhlen wir auch
hiebey unſer Thaͤtigſeyn; — ſo fuͤhlen wir jenen Unter-
ſchied am ſtaͤrkſten in ſolchen Faͤllen, wo es darauf
ankommt, Jdeen gegenwaͤrtig vor unſerm Bewußtſeyn
zu erhalten und ſie lebhafter in uns auszudrucken. Jch
fuͤhle ſeltener ein Selbſtbeſtreben, wenn mir etwas ein-
faͤllt; aber ich fuͤhle es oͤfters, wenn ich die mir einfal-
lende Sache anſchaulich, und als ſtuͤnde ſie vor mir,
zu gedenken mich bemuͤhe.
Dieſe Verſchiedenheit der Vorſtellungen, da ihre
Gegenwart entweder eine Folge eines thaͤtigen Beſtre-
bens der Seele iſt, oder nicht, haͤngt nicht allein von
ihrer innern Lebhaftigkeit und Staͤrke, oder von der
Menge der innern Aktionen ab, die in ihnen enthalten
ſind. Es kommt auf noch etwas anders dabey an, das
in dem Koͤrper liegt, und uͤberdieß auch auf etwas in
der Kraft der Seele, was wir Geiſtesſtaͤrke nennen.
Der große Verſtand wirket auf eine Sphaͤre von Jdeen,
die
[78]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
die ausgedehnter, intenſiv ſtaͤrker, und voller verwirr-
ten und dunkeln Stellen iſt, und er erhaͤlt ſich dennoch
in ſeiner Faſſung; da hingegen der ſchwache Kopf bey
der geringſten Lebhaftigkeit und Verwirrung fortgeriſ-
ſen wird. Jener behaͤlt ſich in ſeiner Gewalt, ſo lange
dieſe Scene in ihm ſein eigen Werk iſt, das nur durch
ſeine Thaͤtigkeit da iſt, und verſchwindet, ſobald er ſeine
Kraft zuruͤckziehet; dieſer geraͤth außer ſich, und ſein
Blut und ſein Gehirn ſpielt in ihm fort. Es ſind oͤf-
ters dieſelbigen Vorſtellungen, die wir anfangs mit
Muͤhe zuſammengeſucht und geordnet haben, und die
uns nachher, nachdem wir ſchon allzulange und zu hef-
tig mit ihnen uns befaſſet haben, nicht wieder ſogleich
verlaſſen, als es uns gefaͤllig iſt, und als wir aufhoͤren,
ſie zu erregen.
Aber dennoch lehret es die Erfahrung, „daß dieſe
„ihre groͤßere und geringere Abhaͤngigkiet von der in-
„nern Seelenkraft auch mit ihrer Dunkelheit und Klar-
„heit, Verwirrung und Deutlichkeit, Staͤrke und
„Schwaͤche, in Beziehung ſtehe.‟ Je naͤher ſie fuͤr
ſich den Empfindungen kommen, deren zuruͤckgeblie-
bene Spuren ſie ſind, deſto mehr ſind ſie auch, wenn
alles uͤbrige gleich iſt, Leidenheiten, oder deſto leichter
werden ſie es. Je mehr auseinandergeſetzt und je deut-
licher ſie ſind, deſto mehr ſind ſie ſchon bey ihrem erſten
Entſtehen auch Wirkungen von ſelbſtthaͤtigen Seelen-
aͤuſſerungen, und deſto mehr haͤngt auch bey ihrer Re-
produktion von dieſen letztern ab. Dazu kommt, daß
ſie auch in jenem Fall mehr nach Art der Empfindun-
gen wirken, und die Seelenkraft zu neuen inſtinktarti-
gen Aktionen reizen, als ſie es thun, wenn ſie entwickelt
und vernuͤnftig ſind. Je dunkler, je verwirrter, je mehr
beſtimmter und vielbefaſſender die Vorſtellungen ſind,
deſto ehe regieren und lenken ſie unſer Wollen, und un-
ſere Thaͤtigkeit.
Es
[79]und Freyheit.
Es laͤßt ſich etwas aͤhnliches bey unſern Gewahr-
nehmungen, Urtheilen und andern Aeußerungen
der Denkkraft, ſogar bey unſern Ueberlegungen
anmerken. Wie oft werden ſolche uns nicht, ſo zu
ſagen, abgenoͤthiget, wie Empfindungen, ohne daß
wir es fuͤhlen, daß ſolche aus eigenem Beſtreben ent-
ſpringen? deſto weniger und ſeltener, je mehr ſie
ſelbſtthaͤtige Aktus der Denkkraft erfodert haben, ehe
ſie zu Stande gekommen ſind. Und ſolche Aktus der
Seele, wozu ſie paſſive beſtimmet wird, hinterlaſſen ihre
Spuren, welche oft ſo innig an die Vorſtellungen, die
anfangs das Objekt der thaͤtigen Kraft waren, ſich an-
legen und mit ihnen vereiniget werden, daß der Aktus
ſelbſt, wie z. B. das Gaͤhnen, wieder erwecket wird
und hervorgehet, ſo bald die ſie veranlaſſende Vorſtel-
lung wiederum da iſt, und zwar ſo, daß dieſe wieder-
holte Aktion ſelbſt nur eben ſo, wie eine ſonſten paſſive
Empfindung, in der Seele gegenwaͤrtig wird.
5.
Dieſe Verſchiedenheit in den Beſtimmungen der
Seelenkraft mag ihren Grund haben, worinn ſie wolle;
ſie iſt ſo groß, als der Unterſchied zwiſchen Thun und
Leiden, und unſer Selbſtgefuͤhl lehret ſie uns ſehr
deutlich von einander unterſcheiden. Es iſt auch nicht
ſchwer, uͤberhaupt davon eine Erklaͤrung zu geben, ob
dieſe gleich nach den verſchiedenen Vorſtellungen, die
man ſich von der Natur des Seelenweſens macht, auf
eine verſchiedene Art ausfallen muß. Seele und Koͤr-
per handeln in Vereinigung, welche bey allen Hypothe-
ſen, die man auch uͤber die Beſchaffenheit dieſer Ver-
bindung annimmt, die Folge hat, daß mit jedweder
Seelenveraͤnderung, mit jedweder Leidenheit und mit
jeder Thaͤtigkeit eine gewiſſe Beſchaffenheit im Gehirn
vergeſellſchaftet ſey, ohne welche jene wenigſtens nicht
auf
[80]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
auf eine ſolche Art vorhanden iſt, daß wir uns ihrer
bewußtſeyn koͤnnten. Die Kraft der Seele iſt das
wirkſame Princip in dem Fall, wenn die Veraͤnde-
rung eine Kraftaͤußerung iſt; und dann iſt das koͤr-
perliche Organ das leidende, das nichts mehr thut,
als bloß allein zuruͤckwirket; aber hingegen iſt das Or-
gan das wirkende Princip, und die Seele reagirt nur
leidentlich in den Empfindungen. Kann nun das Koͤr-
perliche in dem Organ, die materielle Jdee, oder, wie
wir es nennen wollen, die harmoniſche Veraͤnde-
rung, die zu einer Seelenthaͤtigkeit gehoͤret, durch Ur-
ſachen in dem Koͤrper gegenwaͤrtig gemacht werden, ſo
kann die Seele dadurch leiden, und dann inſtinktartig
zu dem begleitenden, vorſtellenden oder denkenden Aktus
beſtimmet werden.
Jedoch alle Erklaͤrungen bey Seite geſetzt, will ich
noch Eine Bemerkung zu den vorigen hinzuſetzen. Dieß
ſoll der fuͤnfte Erfahrungsſatz ſeyn. „Wenn es
„uns nach der dritten und vierten Beobachtung begegnet,
„daß eine Vorſtellung ohne ein Gefuͤhl unſers eignen
„Beſtrebens in uns gegenwaͤrtig wird, oder gegenwaͤr-
„tig bleibet, oder lebhafter hervorgehet, ingleichen
„wenn wir zu einer Reflexion, oder zu einem Tenk-
„aktus, oder zu einer andern Thaͤtigkeit leidentlich be-
„ſtimmet werden: ſo finden wir uns auf eine aͤhnliche
„Art modificiret, als es nach der zwoten Erfahrung |in
„ſolchen Faͤllen geſchieht, wo eine Kraftaͤußerung un-
„mittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, zu der dieſes Gefuͤhl
„uns beſtimmet.‟
Jch bin in einer Leidenſchaft, oder es wallet doch
das Gebluͤt noch jetzo von ihr. Die vorigen Jdeen
ſteigen von Zeit zu Zeit wieder auf, und reizen zu den
vorigen Aktionen, die dann auch wohl zum Theil wirk-
lich wieder erfolgen. Aber es iſt nicht ſchwer zu be-
merken, daß, was hier leidentlich erfolget, unterbro-
chen,
[81]und Freyheit.
chen, und nur, ſo zu ſagen, ſtoßweiſe erfolget.
So wie die auftretende Vorſtellung weggeht, und ſich
einen Augenblick verliert, ſo faͤllt auch der Anſatz zur
Thaͤtigkeit mit ihr zugleich zuruͤck. Die Aktion beſtehet
in dieſem Fall aus unterſchiedenen getrennten
Theilen, die nach und nach hervorgetrieben werden, aber
keine in Eins fortgehende Aktion ausmachen.
Verfolgt mich ein Gedanke, ſo werde ich zwar zum Ge-
wahrnehmen gezwungen; aber ich fuͤhle es doch, daß
dieß Gewahrnehmen eben ſo vorhanden iſt, als wenn
mir jemand das auf ein Spiegelglas aufgefangene Son-
nenbild in die Augen wirft, und mich mit dieſem Bilde
verfolget. Jch ſchließe die Augen zu, und drehe ſie
weg; aber wenn ich ſie wieder eroͤffne, ſo iſt das blen-
dende Bild, das mich verfolgt, auch wiederum vor
mir; ich mach's wieder ſo, wie vorher. Jch handele
aber unterbrochen, ſo wie mir die Aktion theilweiſe ab-
gezwungen wird.
Dagegen wenn die Kraftaͤußerungen nicht ſolche
unmittelbare Folgen ſind, wozu mich die Gefuͤhle be-
ſtimmen, ſo gehen ſie in Eins fort, wenn ſie einmal
angefangen haben. Der erſte Anfang der Aktion mag
ein unmittelbarer Ausbruch der Kraft ſeyn, wozu das
Gefuͤhl gereizet und geſtimmet hat; aber wenn das, was
ferner erfolgt, meine Selbſtthaͤtigkeit iſt, ſo iſt es eine
Folge meines Beſtrebens, und geht mit dem Beſtre-
ben fort. Jn ſolchen Faͤllen fuͤhlen wir unſer Beſtre-
ben und unſere Selbſtwirkſamkeit, und zwar darum,
weil ſie fortdauern, und ſich dem Bewußtſeyn darſtel-
len. Jn jenem Fall war auch eine Kraftaͤußerung vor-
handen, inſoferne die Wirkung aus dem innern Prin-
cip der Seele hervorgeht; aber ſie erſcheint auf die Art,
wie eine Leidenheit, weil ſie als Selbſtthaͤtigkeit be-
trachtet, nicht fortdaurend iſt, und daher weder nach-
empfunden noch beobachtet werden kann.
IITheil. F6. Dieß
[82]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
6.
Dieß iſt ſchon genug, um den großen Unterſchied
zwiſchen dem Beſtimmetwerden, und zwiſchen dem
Selbſt ſich beſtimmen merkbar zu machen. Jch
gehe auf dem Felde; unvermuthet entſteht hinter mir
ein erſchuͤtterndes Geraͤuſch; ich fahre zuſammen, und
ſehe mich um, ehe ich mich noch beſinne. Hier wer-
de ich, groͤßtentheils wenigſtens, leidend beſtimmt.
Jch ſitze jetzo auf meinem Stuhle, und fuͤhle eine
Unbequemlichkeit. Es faͤllt mir ein, aufzuſtehen, und
die Fuͤße zu bewegen: ich bedenke mich aber noch, weil
ich eben mitten in einer Reflexion begriffen bin, die ich
gerne ganz aufs Papier bringen moͤchte; indeſſen waͤhle
ich doch das erſtere, ſtehe ohne Uebereilung ganz kalt-
bluͤtig auf. Das Gefuͤhl ſagt, daß ich mich hiebey
ſelbſt beſtimme.
Von Empfindung oder Gefuͤhl faͤngt die
Aktion an. Jn dem erſten Fall reizet das Gefuͤhl,
und es erfolget unmittelbar eine Beſtimmung der Kraft.
Das Gefuͤhl beſtehet, oder dauert etwas fort, und es
erfolgen alſo mehrere Beſtimmungen der Kraft von ei-
nerley Art. Jhre Folge auf einander macht die ganze
Aktion aus, die aber als Seelenaktion unterbrochen iſt,
obgleich zuweilen auch in Eins fort zu gehen ſcheinet.
Sie kommt uns in dieſen Faͤllen als ſo etwas Paſſives
vor, wie jede andere leidentliche Empfindung.
Jn dem zwoten Fall faͤngt ſich die Aktion auch mit
einem Gefuͤhl an. Dieß erwecket eine Jdee und macht
meine Aufmerkſamkeit rege. Bis dahin geht ihre un-
mittelbare Wirkung, und bis dahin werde ich be-
ſtimmt. Aber es erfolget noch eine weitere Anwendung
meiner Kraft, bey der ſich die neue Aktion anfaͤngt.
Wie wenn dieſe, auf welche Art ſie auch hinzu-
kommt, durchaus eine Selbſtthaͤtigkeit iſt; wenn die
erfolgende
[83]und Freyheit.
erfolgende Aktion aus dem innern Princip ſo hervor-
geht, wie die Ausdehnung einer elaſtiſchen Feder aus
ihrer innern Elaſticitaͤt: ſo entſtehet hier etwas, das
weſentlich von dem vorhergehenden unterſchieden iſt.
Denn hier iſt die nachfolgende Aktion von ihrem An-
fange an, von dem naͤchſten Schritt an, der auf die
erſte inſtinktartige Aeußerung erfolgte, und noch eine
unmittelbare Folge der Empfindung war, eine wahre
Aktion. Der Anfang von ihr, oder der Anſatz dazu,
der von dem weitern Erfolg unterſchieden werden kann,
wie eine Beſtimmung zur Handlung von der Handlung
ſelbſt, iſt ſchon Selbſtthaͤtigkeit, die nicht mehr unmit-
telbar von einer Empfindung beſtimmet worden iſt.
Und dieſe iſt eine Selbſtbeſtimmung.
Mehr ſuche ich hier noch nicht zu erweiſen, als
daß es eine ſolche weſentliche Verſchiedenheit geben koͤn-
ne. Wie es ſich aber bey den Selbſtbeſtimmungen un-
ſerer Seele wirklich verhalte, wird nun vom neuen aus
Beobachtungen aufzuſuchen ſeyn.
F 2XI. Fort-
[84]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
XI.
Fortſetzung des Vorhergehenden. Von den
Selbſtbeſtimmungen der Seele zu ihren
Aktionen.
- 1) Die Selbſtbeſtimmung erfodert, daß die Seele
in dem Stande reger Wirkſamkeit ſich befinde. - 2) Die Selbſtbeſtimmung zu einer Aktion er-
fodert, daß eine Vorſtellung von dieſer Ak-
tion vorhanden ſey. - 3) Das Selbſtbeſtimmen iſt ein Aktus der Wie-
dervorſtellungskraft, welcher die Jdee von
der Aktion zum naͤchſten Objekt hat. Und
dieſe Reproduktion iſt eine Selbſtthaͤtigkeit,
welche nicht unmittelbar auf das Gefallen
erfolget. - 4) Die gefallende Vorſtellung beſtimmt das
thaͤtige Princip nicht innerlich zu der Aktion,
welche erfolget, ſondern iſt bloß ein Objekt,
welches der innerlich ſchon voͤllig zur Aktion
beſtimmten Kraft vorgeleget wird. - 5) Der letzte Satz wird aus Beobachtungen
bewieſen. Zuerſt aus ſolchen Faͤllen, in
denen wir uns mehr zu einer Art der Hand-
lung, als zu einer andern beſtimmen. - 6) Ferner bey ſolchen Selbſtbeſtimmungen,
wo wir zwiſchen Thun und Laſſen waͤhlen. - 7) Endlich bey ſolchen Selbſtbeſtimmungen,
wo wir uns zu einer groͤßern Anſtrengung
der Kraft, oder zu einer Nachlaſſung der-
ſelben beſtimmen.
1. Die
[85]und Freyheit.
1.
Die vorhergehenden Bemerkungen bringen uns end-
lich zu der dunkeln Stelle hin, wo wir Licht und
Helle zu haben wuͤnſchen. Wir handeln frey, und be-
ſtimmen uns ſelbſt aus Eigenmacht. Dieß fuͤhlen wir.
Aber wir werden auch ſo oft nur leidentlich beſtimmet.
Da die Umſtaͤnde, unter welchen das letztere geſchieht,
aufgeſuchet worden ſind, und uͤberhaupt ſchon der Un-
terſchied zwiſchen wahren Selbſtbeſtimmungen und zwi-
ſchen den paſſive angenommenen Richtungen unſerer
Kraft bemerket iſt, ſo fehlet es nur noch daran, daß
wir auf eine aͤhnliche Art die Erfoderniſſe von jenen
wahren freyen Selbſtbeſtimmungen aufſuchen, und
daraus in die innere Beſchaffenheit derſelben einige
Blicke wagen. Es ſollen aber auch hier wiederum Er-
fahrungen zum Grunde geleget werden.
Die erſte iſt dieſe: „Wo ich mich ſelbſtthaͤtig zu
„etwas beſtimme, etwas will, da muß ſich die innere
„Kraft der Seele, mit der ich will, und mich zu der
„Aktion beſtimme, in einem Zuſtande der regen Wirk-
„ſamkeit befinden.‟
Jch beſtimme mich mit Ueberlegung, zur rechten
Hand zu gehen, oder zur Linken. Da empfinde ich,
daß meine Willenskraft, oder mein Vermoͤgen mich
entſchließen zu koͤnnen, in einem Zuſtand der Wirkſam-
keit iſt. Es iſt zum wenigſten ein Trieb da, heraus
zu wollen. Man beſtimmt ſich ſelbſt, wenn man mit
Beſinnung, und mit Gegenwart des Geiſtes handelt.
Nach meinem Gefuͤhl iſt es wenigſtens ſo; und auf ſol-
che Faͤlle, wo man nach Ueberlegung oder wenigſtens
mit Beſinnung handelt, muß man allein zuruͤckſehen,
wenn man das aufſuchen will, was in unſern Selbſt-
beſtimmungen enthalten iſt. Denn dieſe Kraftaͤuße-
rungen, und nur dieſe ſind zuverlaͤßig diejenigen, die
F 3wir
[86]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
wir als ſolche empfinden, zu denen wir uns ſelbſt be-
ſtimmen, nicht aber zu ihnen gezogen, geſtoßen, oder
leidentlich beſtimmet werden.
Jch beſtimme mich zum Aufſtehen, da ich ſitze.
Das naͤchſte was erfolget, iſt das, was wir in uns das
Wollen nennen. Es gehoͤrt noch mehr dazu, um das
Gewollte auszurichten; aber indem ich mich mit Ueber-
legung zum Wollen beſtimme, ſo finde ich meine
Kraft ſchon in Wirkſamkeit, noch ehe ich will, ſchon
waͤhrend des Beſinnens und des Ueberlegens.
Vielleicht ſchlaͤft mir der Fuß oder iſt paralytiſch
geworden, ohne daß ichs weiß. Alsdenn werde ich
nicht aufſtehen koͤnnen. Dieſe letztere Aktion des Koͤr-
pers wollen wir noch bey Seite ſetzen. Aber ich kann
es doch nichts deſtoweniger wollen, und will es. Jn
dem Zuſtande, da ich mich beſinne und will, finde ich
die innere ſich zum Wollen beſtimmende Kraft erreget
und thaͤtig, und bereit zum Nichtwollen, wenn mir
dieß gefaͤllt.
2.
Die zwote Erfahrung iſt dieſe. „Man kann nichts
„wollen, ſich zu nichts ſelbſtthaͤtig beſtimmen, wenn
„nicht eine Vorſtellung in uns vorhanden iſt, nicht al-
„lein von dem Objekt, worauf das Wollen gehet, ſon-
„dern auch von derjenigen Kraftaͤußerung, welche er-
„folget, indem man will, das iſt, von der Beſtim-
„mung, welche der Kraft im Wollen gegeben wird.‟
Da dieß unmittelbare Erfahrung iſt, ſo kann ich
nichts zu ihrer Beſtaͤtigung ſagen, als daß man nur
in ſolchen Faͤllen, wo man ſich zu etwas entſchließt,
auf ſich acht haben duͤrfe, um es ſo in ſich ſelbſt ge-
wahrzunehmen. Jch bin munter zur Arbeit, komme
auf mein Zimmer, beſinne mich, welches Geſchaͤffte ich
vorzunehmen habe. Es ſind Vorſtellungen von den
Thaͤ-
[87]und Freyheit.
Thaͤtigkeiten vorhanden, die das Geſchaͤffte erfodert,
das ich waͤhle, und dieſe Vorſtellungen ſtellen ſich mir dar.
Die Vorſtellungen von Thaͤtigkeiten ſind den
Vorſtellungen von den Objekten und ihren Wirkungen
einverleibet; aber dennoch iſt die Vorſtellung von der
Sache von derjenigen, die wir von der Aktion ſelbſt ha-
ben, unterſchieden; und jene macht noch dieſe nicht aus,
wie ich anderswo ausfuͤhrlicher und deutlicher gezeiget
habe. *) Nach der jetzo bey vielen gewoͤhnlichen Art,
ſich auszudruͤcken, ſind die Vorſtellungen von Objekten
nichts als innere wiedererweckte ſinnliche Bewegungen
in den Empfindungsfibern, und in dem Gehirn
ſind ohne Zweifel die materiellen Jdeen wirklich ſo et-
was. Dagegen aͤhnliche Spuren in den innern Aktions-
fibern die Vorſtellungen von Aktionen ausmachen.
Aber ohne Ruͤckſicht auf die mechaniſche Pſychologie iſt
es eine Folge der reinen Erfahrungen, daß die Vorſtel-
lungen von Aktionen wirkliche Anfaͤnge zu ihnen in dem
Jnnern ſind, die in dem Koͤrper auch mit den Anwan-
delungen zu gewiſſen Bewegungen verbunden ſind, wel-
che, wenn ſie weiter herausgehen, koͤrperliche Handlun-
gen oder Thaͤtigkeiten werden. Das Koͤrperliche oder
das Materielle zu dieſen Vorſtellungen iſt außer Zweifel
ſo ein Anſatz zu einer Bewegung in den Aktionsfibern,
oder wenn man will, gewiſſe Schwingungen in ihnen,
die aber den Schwingungen der Empfindungsfibern in-
nig einverleibet ſind. Es iſt nicht die Vorſtellung von
dem Objbkt der Handlung allein, die mir vorlieget, wenn
ich mich zu etwas beſtimme, dafern ich mich ſelbſt be-
ſtimme; ſondern auch die Vorſtellung von der Hand-
lung ſelbſt iſt mir gegenwaͤrtig. Mir fallen zwo Ge-
genden in die Augen, wenn ich ſpatzieren gehe, und
ich frage mich, welche von beiden ich waͤhlen ſoll? Die
Empfindungen von beiden Gegenſtaͤnden ſind zunaͤchſt
F 4vor
[88]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
vor mir; ich vergleiche ſie, und finde die eine angeneh-
mer, als die andere; oftmals iſt es auch das Angeneh-
me des Weges, die Art der Bewegung, die ich im Hin-
gehen habe, was den Entſchluß auf eine Seite hinlen-
ket. Allein in jedem Falle, auch in dem erſten, be-
ſtimme ich mich nicht ſelbſt, wenn das Gefallen, was
der Vorſtellung von dem Objekt anklebet, unmittelbar
das Wollen und die Aktion nach ſich ziehet; oder in der
neuern Sprache zu reden, wenn die angenehme Schwin-
gung in der Empfindungsfiber ſogleich die Aktionsfiber
zu ihrer vollen Bewegung beſtimmet. Dieß letztere
geſchieht wohl zuweilen, allein das Selbſtgefuͤhl lehret,
daß es da nicht ſo ſey, wo ich mich ſelbſt zu der Aktion
beſtimme. Jn dieſem Fall finde ich jedesmal eine vor-
hergehende jetzo gegenwaͤrtige Vorſtellung von der Aktion
ſelbſt in mir, ehe ich dieſe will. Die Empfindung des
Angenehmen mag aus der Jdee von dem Objekt ent-
ſtehen, und dieſe Jdee mir naͤher bringen; aber dieß
iſt noch nicht der Entſchluß, oder die Selbſtbeſtimmung
des Willens. Dieß letztere iſt, ſo zu ſagen, ein neuer
Andruck auf die Vorſtellung von der Aktion,
wodurch dieſe mehr und voͤlliger reproduciret
wird.
Aus dieſem Charakter unſerer Selbſtbeſtimmungen
folget, was wiederum unmittelbar durch die Beobach-
tung beſtaͤtiget wird, „daß wir nichts wollen, und uns
„zu keiner Kraftanwendung ſelbſt beſtimmen, als nur
„zu ſolchen, von welchen wir Vorſtellungen beſitzen,
„und die alſo ſchon vorher inſtinktartig erfolget ſind,
„ohne ſie damals gewollt, oder uns ſelbſt dazu beſtim-
„met zu haben.‟ Jedoch ſetze ich dabey voraus, daß
man ſich bey dieſem Satze zugleich auch an diejenige
Einſchraͤnkung erinnern werde, welche ich ihm oben *)
ſchon beygefuͤgt habe.
3. Dritte
[89]und Freyheit.
3.
Dritte Beobachtung. „Wo wir uns ſelbſt be-
„ſtimmen zu einer Aktion, oder ſie wollen, da iſt die-
„jenige Aeuſſerung der Kraft, welche das Beſtimmen
„ausmacht, ein ſtaͤrkeres Beſtreben auf die Vorſtellung
„von der Aktion; und von dieſem Beſtreben iſt es eine
„Wirkung, daß jene Vorſtellung voͤlliger reproducirt
„wird, und in eine volle Aktion, wenigſtens in eine
„innere, uͤbergehet. Und dieß Beſtreben zur Ent-
„wickelung der Vorſtellung iſt eine Selbſtthaͤtigkeit,
„welche nicht unmittelbar auf das Gefallen erfolget.‟
Nicht alle Kraftaͤußerungen der Seele beſtehen in
Reproduktionen und Bearbeitungen der Vorſtellungen,
ja keine einzige beſtehet ganz allein darinn. *) Aber da,
wo wir ſelbſt uns zu etwas beſtimmen, da beſtehet das
Wollen in einer Tendenz, eine vorhandene Vorſtellung
von einer Aktion bis zur Empfindung zu erheben. Mit
dieſer ſind zugleich Gefuͤhle und Empfindungen verbun-
den, durch welche wiederum unmittelbare, inſtinktartige
Thaͤtigkeiten veranlaſſet werden, wovon neue Modifika-
tionen in der Seele abhangen. Niemals iſt eine ganze
individuelle Kraftanwendung der Seele eine Selbſt-
beſtimmung. Aber ſoweit ſie eine ſolche iſt, beſtehet
ſie in einem Anſatz, eine Vorſtellung von einer Aktion
voͤlliger bis zur Empfindung zu entwickeln.
Dieſe reproducirende Aktion iſt nicht unmittelbar
die naͤchſte Folge von der Affektion, welche wir das
Gefallen nennen, und welche inſtinktartig hervorgehet.
Das Gefallen kann aus der Vorſtellung von dem Objekt
der Handlung entſpringen, und dann unmittelbar die
Jdee von der Aktion ſelbſt erwecken; oder, wenn dieſe
ſchon erweckt iſt, ſolche noch mehr gegenwaͤrtig machen.
Bis dahin werden wir beſtimmt. Nur iſt dieß noch
F 5nicht
[90]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
nicht der Entſchluß, oder das Wollen. Dieß letz-
tere iſt eine neue Thaͤtigkeit, die zu derjenigen, welche
durch das Gefuͤhl des Angenehmen unmittelbar hervor-
gebracht worden iſt, und zu der wir leidend beſtimmet
waren, hinzu kommt und auf ſie folget. Wir erken-
nen dieß am deutlichſten, wenn eine merkliche Ueberle-
gung vorhergehet. Wie oft waͤlzen wir dann die Jdeen
und Vorſtellungen um; und wenn nun auch das Gefal-
len da iſt, außer dem wir nichts mehr gebrauchen, ſo
kann uns doch noch eine gewiſſe Bedachtſamkeit, die zu-
weilen Aengſtlichkeit wird, zuruͤckhalten. Wenn wir
aber nichts mehr antreffen, das uns abhaͤlt, ſo beſtim-
men wir uns nach unſerm Gefallen zu einer Vorſtellung,
die ſchon vorher eben ſo vorhanden war, wie ſie es je-
tzo iſt.
Jm Affekt, z. B. bey einem ſtarken Hunger tritt
uns der Speichel in den Mund, wenn wir die wolſchme-
ckende Speiſe auf dem Tiſch vor uns ſehen. Dieß iſt
eine unwillkuͤrliche inſtinktartige Wirkung; und die
ſie begleitende Begierde in der Seele zum Eſſen, welche
zugleich mit jener Bewegung im Koͤrper entſpringet, iſt
es nicht weniger. Aber in einem ſolchen Fall iſt das
Begehren keine Selbſtbeſtimmung, und kein eigentli-
ches Wollen.
Hiemit vergleiche man einen andern Fall, wo wir
nach unſerm ſinnlichen Urtheil ſagen, daß die Bewe-
gungsgruͤnde uns nur geneigt machen, uns nur rei-
zen, locken, aber doch zum Entſchluß nicht zwingen,
nicht beſtimmen und ziehen. Dieſe Verſchiedenheit hat
man gefuͤhlet. Worinn beſtehet ſie? Jch meine hie-
rinn, daß in dem letzten Fall die Selbſtbeſtimmung ei-
ne neue Aktion ſey, welche noch zu der erſten Kraft-
aͤußerung, oder zu der erſten Spannung der Kraft, die
eine unmittelbare Folge von dem Gefallen war, hinzu-
kommt.
Wir
[91]und Freyheit.
Wir handeln zuweilen ohne merkliche Ueberle-
gung, ſehr ſchnell; und dennoch fuͤhlen wir, daß wir
da mit Beſinnung handeln, wo wir uns ſelbſt beſtim-
men, und da nicht, wo wir hingeriſſen werden. Jn
der Beſinnung iſt eine gewiſſe Reihe von Veraͤnderun-
gen enthalten, die zum mindeſten um ein Glied groͤßer
iſt, als die Reihe von Veraͤnderungen iſt, wenn wir
ohne Beſinnung handeln. Jn der Beſinnung finden
wir nur zuerſt ein Gefallen, dann eine gewiſſe Kraft-
aͤußerung, wozu dieß Gefallen beſtimmet, eine Span-
nung der Kraft, oder eine entſtehende Zuneigung zu der
gefallenden Sache; und alsdenn endlich noch eine wei-
tere Selbſtthaͤtigkeit, die aus dem Jnnern kommt, die
nicht unmittelbar auf eine Empfindung folgt. Das
letztere dieſer Stuͤcke fehlt, wo wir leidentlich beſtimmt
werden.
4.
Viertens. „Die gefallende Vorſtellung, auf
„welche ſich die thaͤtige Kraft verwendet, indem wir
„uns ſelbſt beſtimmen, iſt nichts, als ein Objekt,
„das dem innerlichen wirkſamen Princip vorge-
„leget wird;‟ nichts anders, als was die Oefnung
dem herausſpringenden Waſſer iſt, oder die Kugel,
welche der Stahlfeder vorgeleget wird, indem dieſe ſich
ausdehnt.
Die gefallende Vorſtellung, ſo wie ſie da iſt, wenn
die wirkſame Seelenkraft ſich auf ſie wendet, ſie weiter
entwickelt, und zur voͤlligen Aktion herausarbeitet, macht
alſo keinen Beſtandtheil des innern zureichenden
Grundes zu der Aktion aus, die aus dem ſich ſelbſt
beſtimmenden Princip hervorgehet. Sie gehoͤrt alſo
auch nicht zu den innern Beſtimmungsgruͤnden, wo-
durch die innere Kraft aufgelegt gemacht wird, mit ei-
ner ſolchen Jntenſion, und nach derjenigen Richtung
hin
[92]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
hin zu wirken, mit und in der die Kraftaͤußerung er-
folget. Sie iſt das ſich darbietende Objekt; ſie iſt wie
der leichteſte Weg, auf dem die wirkſame, innerlich
ohne ſie voͤllig beſtimmte Kraft ihre Wirkſamkeit
auslaͤſſet. Es handelt alſo die Seele, da wo ſie ſich
ſelbſt beſtimmt, aus voller Eigenmacht.
Dieſer Satz iſt, meiner Meinung nach, eigentlich
der Schluͤſſel, der unſere Selbſtgefuͤhle von den freyen
Handlungen entziffert. Jch bitte meine ſcharſſinnigen
Leſer, ihn zu erproben, ob er allenthalben paſſe. Oben
(IX. 2.) habe ichs erinnert, wo die Schwierigkeiten lie-
gen. Wir fuͤhlen uns, wenn wir willkuͤrlich und frey
wollen und handeln, innerlich nicht beſtimmt mehr zum
Wollen, als zum Nichtwollen, nicht mehr zum Thun
als zum Laſſen; nicht mehr zum Sowollen, als zum
Anderswollen.
Aber die gefallende Vorſtellung gab der Aktion,
welche erfolgte, doch ihre eigenen Beſtimmungen.
Woher dieſe? Sie haben keinen zureichenden Grund,
und beduͤrfen keines; antwortet der Jndeterminiſt. Sie
muͤſſen einen haben; und daher iſt es außer Zweifel,
daß wir nicht ſo unbeſtimmt vor der Aktion haben ſeyn
koͤnnen, als die Empfindung es uns wol uͤberreden will.
Dieß iſt die Antwort der Gegner.
Wie aber, wenn die ganze Vorausſetzung zum
Theil irrig iſt; wenn in der Aktion, welche erfolget,
keine beſondere Beſchaffenheiten vorhanden ſind, die ſich
nicht auch in ihrem Gegentheil finden; ſo bedarf es auch
keines zureichenden Grundes in dem innern Princip
vor der Handlung, warum ſie mehr erfolgt, als nicht
erfolgt, ſo erfolgt, und nicht anders; ſo wenig, als es
eines beſondern Beſtimmungsgrundes in dem innern
Druck des Waſſers am Boden eines Gefaͤßes bedarf,
warum es an der Seite herausſpringet, wenn ihm hier
die Oeffnung gemacht wird, und nicht vielmehr gerade
unter-
[93]und Freyheit.
unterwaͤrts an dem Boden? Es iſt alſo in dem thaͤtigen
Princip der Seele ſo viel zureichender Grund da, als zu
den geſammten Beſchaffenheiten der Aktion erſodert wird,
wenn wir naͤmlich dieſe ſo betrachten, wie ſie aus dem
thaͤtigen Princip hervorgehet.
Wodurch denn aber Wollen und Nichtwollen, Thun
und Laſſen, Sowollen und nicht Anderswollen, ihre
Eigenheiten und Unterſcheidungsmerkmale empfangen,
die ſie an ſich haben? Jch antworte: dieſe Verſchie-
denheiten entſtehen alle aus dem Objekt des thaͤtigen
Princips, welches hier die gefallende Vorſtellung von
der Aktion iſt, worauf die innre Kraft ſich verwendet.
Die Aktion iſt innerlich, als unmittelbare Folge der thaͤ-
tigen Kraft betrachtet, dieſelbige, wir moͤgen wollen oder
nicht wollen, ſo wollen oder anders wollen; aber die
Verſchiedenheit dieſer Aktionen entſpringet aus der ver-
ſchiedenen Receptivitaͤt des ideellen Gegenſtandes, mit
dem ſich die Kraft verbindet, oder auf welches ſie ſich
anwendet.
Jn ſolchen gleichguͤltigen Handlungen, wo uns das
Erſte das Beſte iſt, indem wir uns beſtimmen, iſt es
offenbar, daß es ſich auf dieſe Art verhalte. Es iſt
oben gezeiget worden, wie dieſe letztere auf eine ſolche
Art erklaͤret werden koͤnne, daß alle Schwierigkeiten
wegfallen. Das thaͤtige Princip kann innerlich ſo gut
beſtimmt ſeyn zu dem, was wir waͤhlen, als zu dem,
was wir nicht waͤhlen. Nur die aͤußern Umſtaͤnde fuͤh-
ren auf jenes. Aber dieſe Umſtaͤnde enthalten auch von
nichts mehr den beſtimmenden Grund in ſich, als da-
von, daß die Kraft auf einen beſtimmten Gegenſtand
angewendet wird, und nicht auf einen andern. Sie
geben keine innere Beſtimmungsgruͤnde her zu der Art
der Handlung; und werden nicht zu Beſtandtheilen des
ganzen innern zureichenden Grundes der Aktion; keine
Ergaͤnzung zu dieſem. Wenn es ſich auf dieſelbige Art
auch
[94]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
auch bey ſolchen Handlungen verhaͤlt, die wir nach dem
Grundſatz des groͤſſern Gefallens vornehmen, ſo
wird auch bey dieſen alles voͤllig begreiflich ſeyn. Aber
dieß iſt es auch, was am wenigſten auffaͤllt, was am
verſteckteſten war, ſo lange man nicht deutlich einſah,
worinn die Vorſtellungen von Aktionen beſtehen; und
was vorher ins Licht geſetzet werden muß, wenn unſere
Gefuͤhle von Freyheit nicht mehr raͤthſelhaft ſeyn, oder
gar unbegreiflich ſcheinen ſollen.
5.
Der Beweiß davon, daß die gefallende Vorſtel-
lung, zu der wir uns beſtimmen, ſich wirklich alſo auf
die erfolgende Selbſtbeſtimmung beziehe, muß aus
Beobachtungen gefuͤhret werden. Hiezu kann man aber
nur ſolche Beyſpiele nehmen, bey denen wir uns es voͤl-
lig bewußt ſind, daß wir willkuͤrlich und frey handeln,
und zwar, wo die Handlung unmittelbar willkuͤrlich iſt.
Zuerſt zergliedere man einen ſolchen Fall, wo wir
uns zu Einer Art der Handlung vor der andern be-
ſtimmen.
Jch bin jetzo zur Arbeit aufgelegt. Meine Kraft
iſt rege, und ich fuͤhle ein Beduͤrfniß, mit dem Ver-
ſtande thaͤtig zu ſeyn. Eine Menge von Empfindun-
gen und Vorſtellungen ſind mir gegenwaͤrtig; und ich
frage mich ſelbſt, mit welchem Geſchaͤffte ich mich nun
wohl befaſſen ſolle? Es iſt mehr, als Eins, deſſen
Vorſtellung ſich mir darbietet. Jch vergleiche ſie, und
waͤhle dasjenige, was mir jetzo das angemeſſenſte, oder
das noͤthigſte, oder das angenehmſte zu ſeyn ſcheinet.
Hier kann ichs wohl merken, daß die Gefuͤhle, die in
mir entſtehen, wenn ſie lebhaft ſind, auch ſogleich merk-
liche Begierden erregen. Dieſe Gefuͤhle wirken auf
mich, erregen, ſpannen, reizen meine Kraft, lenken
ſie
[95]und Freyheit.
ſie nach einer gewiſſen Richtung hin, und ich beſtimme
mich nach dieſer Richtung.
Wenn man nun dieß ſo erklaͤret, es ſey die wirk-
ſame Seelenkraft durch die gefallende Vorſtellung
in ihrem Jnnern zu einer gewiſſen Art von Handlung
naͤher beſtimmet worden, als ſie es vorher war, ſo ſagt
man etwas, das von einer Seite betrachtet, mit dem,
was ich wirklich fuͤhle, uͤbereinſtimmet. Allein wenn
ich nur mich ſo entſchließe, als wir es denn thun, wo
wir uns unſern Entſchluß ſelbſt zuſchreiben, und uns
voͤllig in unſerer Gewalt haben; und wenn wir alsdenn
genauer auf das acht haben, was in uns vorgeht, ſo
verhaͤlt es ſich zuverlaͤßig nicht gaͤnzlich auf der Art, wie
man es in jener Erklaͤrung angiebt.
Jch fuͤhle mich vorher, ehe die gefallende Vorſtel-
lung ſich darbietet, eben ſo gut beſtimmt zu einem an-
dern Geſchaͤffte. Anſtatt meine Betrachtung uͤber die
Freyheit fortzuſetzen, war ich aufgelegt, einem Dichter
nachzuempfinden. Oder doch, wenn ich ja mehr zur
Spekulation geſtimmt war, ſo haͤtte ich mich doch eben
ſo gut mit vielen andern befaſſen koͤnnen, wenn mir die
Vorſtellung von ihnen in den Sinn gekommen waͤre,
und auch eben ſo gefallen haͤtte; denn es fallen mir wirk-
lich mehrere Vorſtellungen von Handlungen ein. So
lange ich noch uͤberlege, was ich zu thun habe, und alſo
die Eine Arbeit noch keine Vorzuͤge vor den uͤbrigen mir
zu haben ſcheint, ſo lange fuͤhle ich nicht die geringſte
naͤhere innere Beſtimmung, keinen Drang, keine Be-
gierde zu der Einen mehr als zu der andern.
Es kann vielleicht eine innere Beſtimmung in mei-
nem dermaligen Zuſtande verborgen ſeyn, die ich nicht
gewahrnehme. Jch geſtehe es. Vielleicht geht ein
gewiſſer Zug, aus Gewohnheit entſtanden, mehr nach
der einen Aktion hin, als nach der andern. Aber da
ich dergleichen Beſtimmungen doch ſonſt wohl fuͤhle:
was
[96]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
was habe ich denn fuͤr Grund zu glauben, daß ſie nun
auch da ſey, wo ich ſie mit aller meiner Sorgfalt nicht
gewahrnehme? Und ganz gewiß giebt es doch ſolche
Faͤlle, wo ich ſie nicht gewahrnehmen kann.
Nun aber kommt zu dieſer unbeſtimmten innern
Wirkſamkeit die gefallende Vorſtellung hinzu; ich werde
afficirt, und dieß Gefallen hat eine Wirkung auf mich,
die ich ſo ausdruͤcke: ich werde geneigt, nach dieſer
Vorſtellung mich zu beſtimmen.
Unterſuche ich mich bis hieher, ſo deucht mich, es
ſey offenbar, daß der ganze Unterſchied zwiſchen der
Neigung zu dieſer Aktion, die mir gefaͤllt, und zwi-
ſchen der Neigung zu einer andern, von nichts weiter
abhange, als davon, daß es die Vorſtellung von jener,
und nicht die Vorſtellung von einer andern ſey, welche
mir gefaͤllt, und dadurch meiner wirkſamen Kraft vor-
gelegt wird. Die Neigung zu einem andern Geſchaͤffte
wuͤrde eine Applikation der naͤmlichen innern Kraft auf
einen andern ideellen Gegenſtand geweſen ſeyn. Wenn
mir eine Vorſtellung von einer andern Unterſuchung in
den Sinn gekommen waͤre, ſtatt jener, ſo wuͤrde eine
andere Neigung entſtanden ſeyn, die aber nur ihr Cha-
rakteriſtiſches von ihrem Gegenſtand gehabt haͤtte. Das
innere Princip wollte thaͤtig ſeyn auf irgend ein Objekt,
und beſtrebte ſich, wie die ſich ausdehnende Feder. Die
Jdee, welche dieß Beſtreben auf ſich zog, war das,
was die Kugel iſt, welche der Feder im Wege liegt,
und ihren Jmpuls aufnimmt.
Aber vom Gefallen und Geneigtſeyn bis zur
Selbſtbeſtimmung iſt noch ein Schritt weiter, und
dieſer Schritt iſt ein ſelbſtthaͤtiger Reproduktionsaktus.
So weit ich hiebey mich ſelbſt und meine thaͤtige
Kraft fuͤhlen kann, finde ich in dieſer Selbſtbeſtimmung
wiederum innerlich nichts, das von einem jeden andern
Reproduktionsaktus an ſich unterſchieden waͤre, nur daß
ein
[97]und Freyheit.
ein gewiſſes beſtimmtes Objekt vorhanden iſt, worauf
ſich das Vermoͤgen zu reproduciren anwendet. Das
Gefallen an Einer Vorſtellung hat mir das Objekt dar-
geſtellet, aber mir keine neue Beſtimmung beygebracht,
die meine Wirkſamkeit nur allein auf dieſe Vorſtellung
zu wirken geſchickt gemacht haͤtte. Jene werde mir
in dem Augenblick entzogen, oder es falle mir ein, daß
es gut ſey, einmal nach Eigenſinn zu handeln! Was
wird geſchehen? Es wird mir ein anderer Gegenſtand
vorgelegt. Die Jndeterminiſten haben ſich ganz rich-
tig auf dieſe Faͤlle berufen. Denn ſo viel lieget doch
darinn, daß ſelbſt die Affektion des Gefallens, und
ihre unmittelbare Wirkung keine Ergaͤnzung des in-
nern zureichenden Grundes zu der Handlung war,
woraus dieſe mehr als eine andre hervorgieng. Es
war von nichts mehr der zureichende Grund, als davon,
daß ein beſtimmtes Objekt auf eine naͤhere Art der
Kraft dargeſtellet ward, und daß dieſe ſich eben auf je-
nes anwandte und auf kein anderes. Ob ich alſo ſelbſt-
thaͤtig die Eine Jdee, die mir mehr gefaͤllt, weiter fortſetze,
und bis auf einen gewiſſen Grad hin ſie wieder erwecke,
oder ob ich eine andre auf dieſe Weiſe bearbeite, das iſt
in Hinſicht der reproducirenden Kraft ſo gleichguͤltig,
als es in Hinſicht des Drucks des Waſſers iſt, wo ihm
die Oeffnung gemacht wird. So fuͤhle ichs da, wo
ich mich voͤllig in meiner Gewalt habe, indem ich will,
mich entſchließe, mich beſtimme. Haͤtte ich etwas an-
ders gewollt, als was ich jetzo will, ſo wuͤrde der Un-
terſchied des letztern Wollens und des erſtern wiederum
nur allein objektiviſch geweſen ſeyn.
Oftmals ſtellen ſich mehrere gefallende Vorſtellun-
gen als ideelle Objekte mir dar, die ich aber noch mit
einander vergleiche, ehe ich mich beſtimme. Jn die-
ſem Falle bin ich zu jeder von ihnen geneigt, beſtimme
mich aber zu dem, wozu ich es am meiſten bin. Jed-
IITheil. Gwede
[98]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
wede von ihnen wirket auf mich, und beſtimmt mich
zu dieſer Neigung. Aber ich fuͤhle mich ſo mit dieſen
Neigungen beſtimmet, daß die hinzukommende Wahl
eine Aktion meiner Kraft iſt, die innerlich dieſelbige
ſeyn wuͤrde, wenn ſie auch auf ein andres Objekt gefallen
waͤre. Die Wage ſteigt nieder von dem Uebergewicht,
und es iſt die Kraft des Gewichts, wovon die Wirkung
abhaͤngt. Hiemit mag eine Neigung, die unmittelbar aus
der Empfindung des Angenehmen entſpringet, eine Aehn-
lichkeit haben; allein die freye Wahl, welche nachfolgt, iſt
eine Selbſtthaͤtigkeit, und innerlich eben ſo, wie ſie geweſen
ſeyn wuͤrde, wenn ſie einen andern Gegenſtand gehabt haͤtte.
Jhr eigenes haͤngt nun von der Receptivitaͤt des Objekts ab.
Dieß Objekt iſt eine Vorſtellung von einer Sa-
che, und von einer Thaͤtigkeit. Beyde Arten von Vor-
ſtellungen ſind ſo verſchieden, als die Aktionen und
Empfindungen ſelbſt, von denen ſie zuruͤckgebliebene
Spuren ſind. Daher veranlaſſet die Jdee, meinen Arm
zu bewegen, eine andre Handlung, als die Jdee, meinen
Fuß zu bewegen, wenn die innere thaͤtige Kraft nun jene,
nicht dieſe wieder hervorzieht, ſich auf ſie beſtimmt, und
dieſe Bedingungen will. Dadurch iſt es begreiflich,
daß die Aktion, welche nach dieſen Vorſtellungen erfol-
get, verſchieden ſeyn kann, ohnerachtet der Aktus des
Wollens in der Seele ſelbſt in beyden Faͤllen eben der-
ſelbige iſt. Hierzu kommt noch eine zwote Urſache der
objektiven Verſchiedenheit. Wenn die Selbſtbe-
ſtimmung geſchehen iſt, und die Aktion erfolget, ſo ent-
ſtehen neue Gefuͤhle, welche wiederum die Seele zu in-
ſtinktartigen, ihnen angemeſſenen Folgen beſtimmen.
Kein Wunder alſo, daß die Reihe der Veraͤnderungen,
und alſo die aͤußere Aktion ſogleich ein ganz verſchiede-
nes Anſehen erhaͤlt, und auch wirklich verſchieden wird,
ſo bald ſie, ſo zu ſagen, aus der Kraft heraus iſt, und
ſich auf das Objekt verwendet hat.
Man
[99]und Freyheit.
Man koͤnnte ſagen, da es doch die bewegende
Kraft der Jdee iſt, welche das innere Princip zu
der Neigung beſtimmet, die wir faſſen, ſo empfange
dieſe Kraft eben durch die Jdee innerlich eine gewiſſe
Richtung nach dieſer Vorſtellung hin, welche ſie vor-
her nicht hatte, und alſo empfange ſie eine neue innere
Beſtimmung, geſetzt, daß dieſe auch nur in einer Rich-
tung beſtehe?
Jch antworte. So wenig als der Druck des Waſ-
ſers im Gefaͤß alsdenn erſt eine neue Richtung em-
pfaͤngt, nach der Stelle hin ſich zu |bewegen, wo man
ihm ein Oeffnung macht, die es vorher nicht hatte; ſo
wenig giebt die Jdee, welche ſich der innern wirkſamen
Kraft darſtellt, ihr eine neue innere Beſtimmung.
Das Waſſer beſaß ſchon vorher dieſelbige Tendenz, und
beſtrebte ſich nach allen Seiten hin ſich herauszudrengen,
und auch da, wo es wirklich herausgehet, nachdem die
Oeffnung gemacht iſt. Die Richtung hieher iſt keine
Wirkung davon, daß ein Hinderniß oder der Wider-
ſtand an dieſer Stelle gehoben wird. Wenn das
Waſſer aus der Oeffnung durch eine aͤußere Kraft her-
ausgezogen wuͤrde, wie ein Pfahl aus der Erde, oder
fortgeſtoßen wuͤrde, wie eine ruhende Kugel auf der Ta-
fel: alsdenn wuͤrde die Aktion keine Selbſtthaͤtigkeit
mehr ſeyn.
Allerdings eraͤugnet es ſich oft, daß die entſtehende
Neigung uns hinreißt, wie es in jedem Affekt geſchieht,
und auch zwiſchen durch bey den minder lebhaften Trie-
ben. Jn ſolchen Faͤllen hat das Gefallen noch eine
Wirkung mehr, als dieſe, daß es das Objekt zu der
Kraft, oder die Kraft zu dem Objekt naͤher bringet.
Aber wir fuͤhlen es alsdenn auch in uns, daß uns nicht
ſo ſey, wie in den uͤbrigen Faͤllen, wo wir, unſerer vor-
zuͤglichen Neigung zu einer Sache ohnerachtet, doch uns
voͤllig in unſerer Gewalt haben, und unmittelbar frey
G 2handeln
[100]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
handeln. Und dieſe innere Diſpoſition, daß wir da,
wo wir unſerer Neigung folgen, dennoch innerlich
zu der entgegengeſetzten Kraftaͤußerung eben ſo wohl
aufgelegt und geſtimmt ſind, als zu der, welche erfol-
get, iſt eben diejenige Beſchaffenheit, welche wir durch
die Redensart anzeigen: wir haben uns in unſerer
Gewalt.
6.
Zu der zweyten Gattung von Selbſtbeſtimmungen
gehoͤren ſolche, wo wir zwiſchen Wollen und Nicht-
wollen zwiſchen Thun und Laſſen auswaͤhlen. Jch
beſtimme mich, vom Stuhl aufzuſtehen, oder ſitzen zu
bleiben. Es iſt unnoͤthig, hier wiederum ſo weitlaͤuf-
tig zu ſeyn, als bey dem vorhergehenden. Man unter-
ſuche, uͤberlege, waͤhle und entſchließe; man wird auch
hier daſſelbige finden. Der Unterſchied zwiſchen Wol-
len und Nichtwollen, zwiſchen Thun und Laſſen, wenn
beydes ſelbſtthaͤtige Handlungen ſind, haͤnget wiederum
allein von der Verſchiedenheit der gefallenden Vorſtellung
ab, auf der die wirkſam ſich ſelbſt beſtimmende Kraft
angewendet wird. Nichtwollen iſt ſo gut eine Selbſt-
beſtimmung, als Wollen und Unterlaſſen, ſo weit
es in einem innern Entſchluß beſtehet; ſo gut eine
Kraftaͤußerung, als Verrichten. Jn ihren Folgen
gehen beide freylich ſehr weit von einander ab.
7.
Die meiſten Schwierigkeiten moͤchten vielleicht in
ſolchen Faͤllen angetroffen werden, wo unſere Selbſtbe-
ſtimmungen dahin gehen, eine groͤßere Kraft anzuwen-
den, mit ſtaͤrkerer Jntenſion zu arbeiten, oder im Ge-
gentheil nachlaſſender zu wirken. Jch will ſtaͤrker und
ſchneller fortgehen; ich will langſamer gehen; ich will
ſtill ſtehen. Aber auch dieſe Willensaͤußerungen ſind, als
Hand-
[101]und Freyheit.
Handlungen der Seele betrachtet, wiederum in nichts
unterſchieden, als in Hinſicht der Vorſtellungen, auf
welche die wirkſame Kraft ſich anwendet; in ihrem An-
fang naͤmlich, nicht, in ſo fern ſie von uns ſelbſt ab-
hangen. Aber die nachher erfolgenden Aktionen gehen
ſo weit von einander ab, als Anſtrengung und Unthaͤ-
tigkeit. Die Vorſtellung von jener hat Vorſtellungen
mit ſich verbunden, welche der letztern fehlen, und dieſe
verknuͤpften Vorſtellungen erwecken wiederum neue Em-
pfindungen, welche von neuem reizen, und das innere
Princip der Seele zur groͤßern Thaͤtigkeit unwillkuͤr-
lich ſtimmen koͤnnen. Sonſten fuͤhlen wir es ſehr leb-
haft, daß es oft eben ſo ſchwer iſt, die wirkſame See-
lenkraft zu maͤßigen, und uns zur Ruhe zu bringen, als
es Wirkſamkeit und Thaͤtigkeit iſt, ſie zu ermuntern
und anzuſtrengen.
XII.
Von dem Vermoͤgen, ſich ſelbſt zu beſtimmen.
- 1) Unterſchied zwiſchen Wollen und Verrich-
ten, und zwiſchen dem Vermoͤgen ſich
ſelbſt zu beſtimmen. - 2) Das Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen er-
fodert, daß die Kraft wirkſam ſey, und
innerlich zureichend zu ihrer Art der Anwen-
dung beſtimmet. - 3) Die Vorſtellung von der Aktion, wozu
wir uns ſelbſt ſollen beſtimmen koͤnnen, muß
in uns gegenwaͤrtig ſeyn. - 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Wie
weit die vorſtellende Kraft in jedwedem
Fall mit der Vorſtellung von der Aktion
G 3beſchaͤff-
[102]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
beſchaͤfftiget iſt, wenn wir uns ſelbſt zu der
Aktion beſtimmen koͤnnen. - 5) Von den verſchiedenen Graden in dem
Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen. - 6) Wie weit auch da ein Vermoͤgen, uns ſelbſt
anders zu beſtimmen, vorhanden ſeyn kann,
wo wir leidentlich zu etwas beſtimmt
werden. - 7) Wie weit wir es gewiß ſeyn koͤnnen, daß
wir ein Vermoͤgen anders zu handeln be-
ſitzen. - 8) Das Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen
geht nur auf Handlungen, die ſchon ehe-
mals inſtinktartig vorgenommen ſind. - 9) Wie Vermoͤgen zu entgegengeſetzten Aktio-
nen, zum Wollen und zum Nichtwollen,
zum Thun und zum Laſſen, zugleich in der
Seele nebeneinander beſtehen?
1.
Vermoͤgen, Wollen und Thun unterſcheiden wir
von einander in der Seele, ohnerachtet jedes Wol-
len fuͤr ſich ſchon eine wirkliche Thaͤtigkeit und Kraft-
aͤußerung iſt. Wenn indeſſen dieſer Unterſchied beobachtet
wird, ſo iſt das Wollen nichts anders als die anfaͤngliche
Beſtimmung der Kraft zur Thaͤtigkeit; noch nicht ein
eigentliches Beſtreben, oder ein Trieb, etwas zu ver-
richten, ſondern diejenige Selbſtbeſtimmung und Rich-
tung der Kraͤfte, welche zu einer beſtimmten Handlung
vorher erfodert wird. Wir wollen eine Sache in
Ueberlegung nehmen, ſie durchdenken, wir wollen
uns beruhigen, wir wollen mit dem Koͤrper arbeiten.
Die-
[103]und Freyheit.
Dieſer Wille, dieſe Beſtimmung unſerer Kraͤfte iſt oft
dem Vollbringen ſo nahe, daß beides zuſammenfaͤllt.
Dann nennet man es ein volles, thaͤtiges, kraͤftiges
Wollen. Denn, ich will den Arm ausſtrecken, und
ich thue es, iſt faſt nur eine Aktion. Aber in andern
Faͤllen iſt der Wille zwar vorhanden, wo leider, wenn
es zur Sache kommt, das Vermoͤgen, das Gewollte
auszurichten, fehlet. Und ſehr oft iſt von dem erſten
Wollen bis zum Vollbringen ein langer Weg, auf
dem wir ermuͤden und zuweilen gar nicht fortgehen.
Zuweilen wollen wir etwas auch jetzo nicht, ſondern
erſt auf die Zukunft. Jn ſolchen Faͤllen iſt das
Wollen oder das Beſchließen auch noch jetzo nicht
einmal ein eigentlicher Anfang der Thaͤtigkeit ſelbſt, die
man ausfuͤhren will; ſondern eine gewiſſe Einrichtung
unſerer ſelbſt und unſerer Kraͤfte, die als eine Vorrich-
tung zu der kuͤnftigen Handlung erfodert wird, und
wovon wir, wenn es zur wirklichen Ausrichtung
kommt, anfangen.
Gleichwol iſt jedes Wollen doch auch ſchon eine
Anwendung und Aeußerung der Seelenkraft, und, wie
ſchon angemerket iſt, oft der weſentlichſte Theil der gan-
zen erfolgenden Aktion. Daher kann ich hier, wo es
auf den Unterſchied zwiſchen ſelbſtthaͤtigen und unſelbſt-
thaͤtigen, freyen und unfreyen Aktionen ankommt, das
Wollen mit dem Thun unter einem gemeinſchaftli-
chen Begrif der thaͤtigen Kraftaͤußerung zuſammen
laſſen, und nur dann, wenn etwan auf ihre Unterſchei-
dung etwas ankommt, das Wollen fuͤr die erſte Be-
ſtimmung der Kraft zur Thaͤtigkeit annehmen, das
Thun aber fuͤr die wirklich erfolgende volle Thaͤtigkeit.
Aber ein Vermoͤgen zu einer ſelbſtthaͤtigen Hand-
lung iſt weder ſo viel als etwas wollen, noch ſo viel,
als ſich auf etwas beſtreben. Das Vermoͤgen muß
vorhanden ſeyn, ehe die Thaͤtigkeit erfolgt. Denn ſo
G 4bald
[104]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
bald eine wirkliche Thaͤtigkeit, ein Beſtreben, ein Trieb
erſcheinet, ſo iſt es ſchon mehr als ein Vermoͤgen, we-
nigſtens iſt es nicht ein bloßes Vermoͤgen, ſondern
wirkſames thaͤtiges Vermoͤgen, das von den mehreſten
Kraft genennet wird. Das Vermoͤgen zu einer Aktion
machet ſie moͤglich, aber das Wollen, das Beſtreben
machet ſie ſchon, wenigſtens in ihren erſten Anfaͤngen,
oder in ihren unmittelbar vorhergehenden Zubereitungen,
zu einer wirklichen Thaͤtigkeit.
Von den Vermoͤgen beſitzet die Seele ſo viele und
ſo mancherley, als es Aeußerungen ihrer Kraft giebt.
Und da ſie ſich ſelbſt beſtimmet, ſo beſitzet ſie auch das
Vermoͤgen dazu. Und dieß lihr Vermoͤgen ſich ſelbſt
zu beſtimmen macht ihren Willen aus.
2.
Wenn wir mit Freyheit etwas wollen oder nicht
wollen; etwas thun oder unterlaſſen; auf eine Art es
thun und nicht auf die andere; ſo iſt zugleich in uns ein
Vermoͤgen zu dem Gegentheil. Wir wollen, aber
wir haben das Vermoͤgen nicht zu wollen; wir han-
deln, aber wir haben das Vermoͤgen, es zu unterlaſ-
ſen; wir richten es ſo ein, und koͤnnen es anders ein-
richten. Aber dieſe Vermoͤgen zu dem Gegentheil
von dem, was wir wirklich wollen und vornehmen, die-
ſe Vermoͤgen, uns ſelbſt anders zu beſtimmen, bleiben
nur bloße Vermoͤgen. Es iſt ein weſentliches Stuͤck
in unſerm Begriff von der Freyheit, dieſe Vermoͤgen zu
unterſuchen.
Um die Betrachtung im Anfang ſo einfach zu ma-
chen, als es moͤglich iſt, wollen wir dieſe Ver-
moͤgen, uns ſelbſt zu beſtimmen, nur auf das Ver-
moͤgen zu wollen oder nicht zu wollen, einſchraͤn-
ken. Weil doch oft unſer Wille in unſerer Ge-
walt iſt, wo das Vollbringen es nicht iſt, ſo iſt es fuͤr
ſich
[105]und Freyheit.
ſich klar, daß außer den Vermoͤgen, diejenige anfaͤng-
liche Selbſtbeſtimmung unſerer Kraft zu ertheilen, in
der das Wollen und Nichtwollen beſtehet, noch etwas
mehr vorhanden ſeyn muß, wenn wir auch ein ſolches
Vermoͤgen zu der That ſelbſt beſitzen ſollen. Dieß letz-
tere laß hier noch bey Seite geſetzet werden.
Ein anders iſt ein mittelbares, ein anders ein
unmittelbares Vermoͤgen zu etwas; ein anders ein
nahes und ein entferntes Vermoͤgen; und noch ein
anders, wirkſame Kraft, (potentia in actu primo
et ſecundo, wie die Alten ſagten). Dieſe Unterſchiede
hat man gefuͤhlt; haͤtte man ſie aber deutlich erklaͤrt, ſo
wuͤrde es nicht nur kuͤrzer geſagt, ſondern auch in der
That etwas leichter und beſſer beobachtet werden koͤnnen,
wohin die Vermoͤgen, uns ſelbſt zu beſtimmen, zu rech-
nen ſind, und was in ihnen enthalten iſt. Nun feh-
let aber dieß Huͤlfsmittel, und ich weiß kein anders,
um einen beſtimmten Begrif von jenem Vermoͤgen zu
erlangen, als dieſes, daß man die volle Selbſtbeſtim-
mung zur Richtſchnur nehme, und dann aus den Be-
obachtungen aufſuche, was und wie viel an ihr und an
ihren Beſtandtheilen fehlet, wenn nichts mehr als ein
bloßes Vermoͤgen dazu vorhanden iſt.
Die wirkliche Selbſtbeſtimmung unſerer Kraft er-
fodert:
Zuerſt, daß eine rege Kraft vorhanden ſey, die
innerlich zureichend zu der Aktion eingerichtet iſt, wel-
che erfolget, indem wir wollen, das iſt, uns ſelbſt be-
ſtimmen.
Dann, daß ein ideeller Gegenſtand, oder eine
Vorſtellung in uns vorhanden ſey, und in eine gewiſſe
Lage komme, in der das innere thaͤtige Princip auf ſie
angewendet wird. Hiezu iſt der Grund entweder in
dem vorzuͤglichen Gefallen an dieſer Vorſtellung,
wenn das gewollt wird, was uns das beſte zu ſeyn
G 5ſcheint;
[106]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ſcheint; oder er liegt in andern Umſtaͤnden, unter wel-
chen die innere Kraft ſich derzeit auslaͤſſet.
Aber in jedem Fall iſt die wirkende Kraft innerlich
zu ihrer Aeußerung voͤllig beſtimmt. Nichts fehlet
ihr außer dem Objekt, das aber, wenn es gleich in der
Seele eine angenehme Empfindung hervorbringet, den-
noch der Kraft keine neue Beſtimmung mehr ertheilen
muß, welche auf die folgende Art der Selbſtbeſtim-
mung einen Einfluß hat. Sondern wenn auch die Vor-
ſtellung, als der ideelle Gegenſtand, mit einer Affektion
des Gemuͤths begleitet iſt: ſo muß dieſes weiter keine
Folge fuͤr die Aktion haben, als bloß die Annaͤherung
der Jdee zu der Kraft, oder daß eben dieſes Objekt der
wirkſamen Kraft vorgehalten und dadurch ihre Anwen-
dung auf ſelbiges veranlaſſet werde.
Wie viele von dieſen Jngredienzen fehlen nun dem
bloßen Vermoͤgen? in dem Vermoͤgen nicht zu wollen,
oder zu unterlaſſen, was wir doch wirklich wollen und thun.
Die erſte Wirkſamkeit des thaͤtigen Princips, der
innere zureichende Grund zu der Handlung uͤber-
haupt, darf nicht fehlen. Jm tiefen Schlaf, in dem
Stand der Unbeſinnlichkeit und der Ohnmacht moͤgen
wir noch das Vermoͤgen haben wirkſam zu werden,
aber das Vermoͤgen, unſer thaͤtiges Princip dermalen
anzuwenden, uns ſelbſt zu beſtimmen und zu wollen, beſi-
tzen wir nicht, und koͤnnen es nicht beſitzen, da es uns
ganz an dieſer thaͤtigen Kraft fehlet.
3.
Jſt dieſe Wirkſamkeit vorhanden, ſo beſitzen wir
ſchon eine Spontaneitaͤt, eine Eigenmacht, derglei-
chen in der Stahlfeder iſt, eine Kugel fortzuſtoßen,
wenn ihr eine vorkommt. Aber dieß iſt es noch nicht
alles, was in uns vorhanden iſt, wenn wir ſagen, wir
haben ein Vermoͤgen, uns anders zu beſtimmen, als
es
[107]und Freyheit.
es wirklich geſchieht. Denn dieß letztere heißt ſo viel,
als wir koͤnnen unſere Kraft auf ein anderes Objekt an-
wenden, als dasjenige iſt, wozu wir uns wirklich be-
ſtimmen, und dieß erfodert, daß ein ſolches Objekt
jetzo innerhalb der Sphaͤre unſrer Wirkſamkeit ange-
troffen werde. Sonſten iſt es nichts, als ein Vermoͤgen
einen Menſchen zu ſehen, der aber jetzo viele Meilen
von mir entfernt iſt. Jch habe allerdings das Vermoͤ-
gen ihn zu ſehen, wenn er nur vor mir waͤre. Aber
jetzo habe ich das Vermoͤgen nicht, ihn zu ſehen; und
ſo ſoll es doch ſeyn. Jetzo da ich will, ſoll ich das
Vermoͤgen haben, es nicht zu wollen; jetzo, da ich dieß
will, ſoll ich ein andres wollen koͤnnen.
Es iſt die Jdee vom Nichtwollen ſo gut in uns
gegenwaͤrtig, und bietet ſich uns dar, als die Jdee vom
Wollen; die Jdee von dem Verrichten ſo gut als die
Jdee von dem Unterlaſſen. Und ſo muß es ſeyn. Wenn
wir vorher deutlich uͤberlegen, was fuͤr ein Entſchluß zu
nehmen ſey, ſo vergleichen wir die Jdeen; wir haben
ſie alſo gegenwaͤrtig, und bearbeiten ſie, um die meiſt
gefallende ausfuͤndig zu machen. Jn jedem Fall, wo
wir uns vorher beſinnen, ehe wir wollen, ſchwebt uns
beydes, das Wollen und das Nichtwollen in der Phan-
taſie vor, ſo geſchwind auch die Auswahl erfolgen mag.
Alſo muß die Vorſtellung von dem, was wir ſollen
wollen koͤnnen, in uns dermalen gegenwaͤrtig ſeyn.
4.
Jndeſſen giebt es doch viele Stufen der Klarheit
und Staͤrke, womit eine Vorſtellung in uns gegenwaͤr-
tig ſeyn kann. Daher entſpringen die folgenden Ver-
ſchiedenheiten, welche nach den Begriffen moͤglich ſind,
und nach unſerm Selbſtgefuͤhl in uns wirklich vorkom-
men. Zuweilen denken wir mit voͤlliger Klarheit und
mit Bewußtſeyn an das Gegentheil von dem, was wir
thun, und wir beſtreben uns, das Gute und Gefallen-
de
[108]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
de bey demſelben ausfuͤndig zu machen. Zuweilen ſe-
hen wir das Gegentheil nur in der Ferne ſchwach und
dunkel. Jch weiß, ich halte mich die meiſten male
nicht lange bey der Unterſuchung auf, was fuͤr eine Ar-
beit ich etwa vornehmen ſollte; ich entſchließe mich bald
und doch mit voͤlliger Beſinnung. Oft denken wir gar
nicht an das Gegentheil, und haben nicht einmal eine
Vorſtellung davon in uns. Es faͤllt uns ſolches nicht
einmal ein, wie wir ſagen.
Jn dem erſten Fall beſtimmen wir uns mit deut-
licher Kuͤckſicht auf das Gegentheil, und da
zweifeln wir nicht daran, daß wir nicht das Vermoͤgen
haͤtten, das Gegentheil zu wollen, und daß wir es auch
wuͤrden gewollt haben, wenn es uns gefallen haͤtte. Jn
dem zweyten ſehen wir doch auch auf das Gegentheil zu-
ruͤck, aber auf eine ſchwaͤchere Art. Jn dem letzten Fall
beſtimmen wir uns ohne alle Ruͤckſicht auf das Gegen-
theil. Haben wir hier auch noch ein Vermoͤgen ge-
habt, nicht zu wollen, oder das Gegentheil zu wollen?
Erſtlich, wenn ich keine Vorſtellung von einer
Sache und von einer Aktion in mir habe, wenn keine
Jdee davon in meinem Gedaͤchtniß iſt, oder wenn ſie
durch meine Kraft nicht entdeckt werden kann, oder
wenn ſie dieß nicht kann unter den Umſtaͤnden, unter de-
nen ich mich gegenwaͤrtig befinde, ſo beſitze ich auch kein
Vermoͤgen, meine Wirkſamkeit nach dieſer Vorſtellung
zu beſtimmen, und ſo etwas zu wollen, und die dazu
gehoͤrige Handlung hervorzubringen. Jetzo, da ich in
meiner Stube ſitze, kann ich das nicht beſchauen, was
an einem entfernten Orte ausgeſtellt iſt. Dieß
iſt eine Graͤnzlinie, bis wohin uns die Vorſtellung nicht
fehlen darf, wenn wir ein Vermoͤgen beſitzen ſollen,
uns auf ſie zu beſtimmen.
Dagegen, wenn ich die gefliſſentlichſte Ruͤckſicht
auf das Gegentheil von dem nehme, was ich jetzo will;
wenn
[109]und Freyheit.
wenn ich beide entgegengeſetzte ideelle Objekte betrachtet
und erwogen habe: ſo fehlet nichts mehr, um das Ge-
gentheil wirklich zu wollen, als daß es am meiſten ge-
falle. Daß es aber jetzo mir weniger oder gar nicht ge-
faͤllt, hat ſeinen Grund in der Natur der vorgeſtellten
Sache, und ihren Beziehungen auf mich, alſo in der
Vorſtellung ſelbſt, und in dem Mangel ihrer vorzuͤg-
lich bewegenden Kraft, mit der ſie auf mich zuruͤckwir-
ken konnte; aber nicht darinn, weil ich ſie weniger als
die ihr entgegengeſetzte bearbeitet haͤtte, und ſie weniger
klar und deutlich dermalen in mir gegenwaͤrtig geweſen
waͤre.
Jn |dieſem Fall, wo ich nicht will, weil es mir
nicht gefaͤllt, und wo dieß Nichtgefallen allein darinn
ſeinen Grund hat, weil es an bewegender Kraft in der
gegenwaͤrtigen Jdee von dem Objekt und von der Hand-
lung fehlte, nicht aber darinn, daß ſie etwan nicht in
der gehoͤrigen Lage geweſen waͤre, um auf mich mit ih-
rer bewegenden Kraft wirken zu koͤnnen; in dieſem Fall,
ſage ich, fuͤhlen wirs am deutlichſten, daß wir eben ſo
gut nicht wollen koͤnnen, als wollen, und das Vermoͤ-
gen zu beiden in gleicher Maße beſitzen. Wir fuͤhlen
es, daß, wenn wir nun mehr wollen als nicht wollen,
oder unſere Kraft wirklich auf die erſte Art anwenden,
und nicht auf die zwote, dieß darum allein ſich eraͤug-
ne, weil jenes gefaͤllt, und nicht dieſes.
Wenn die Jdee der Sache ſelbſt es nicht iſt, die
ſie uns gefaͤllig macht, ſondern eine mit ihr verbundene
Nebenidee; und auch, wenn wir es fuͤr gut befinden,
unſerm Kopf zu folgen, gegen die beſſern vernuͤnfti-
gern Gruͤnde: ſo aͤndert dieß nichts in dem Vermoͤgen.
Jch uͤberlege, ich vergleiche, kann das Eine und das
Andere wollen. Zu beiden Beſtimmungen iſt innere
Wirkſamkeit, ein Gegenſtand, und eine ſolche Lage des
Gegenſtandes vorhanden, daß meine Kraft vielleicht
noch
[110]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
noch leichter ſich zum Nichtwollen, als zum Wollen be-
ſtimmen konnte. Allein mir gefaͤllt nun das Eine nicht,
und ich beſtimme mich alſo auf dieſe Jdee nicht.
Dieß iſt die zwote Graͤnzlinie. Sie liegt da, wo
mein klarſtes Selbſtbewußtſeyn, auch nach der ſorgfaͤltig-
ſten Pruͤfung, mir nicht den geringſten Zweifel daruͤ-
ber zuruͤcklaͤßt, daß ich nicht haͤtte nicht wollen koͤnnen;
daß ich nicht das volle Vermoͤgen gehabt haͤtte, mich
auf eine Art zu beſtimmen, die derjenigen, auf der ich
mich wirklich beſtimmt habe, ganz entgegen iſt.
Aber das Selbſtgefuͤhl der Freyheit ſagt uns, daß
eine ſolche gefliſſentliche Erwaͤgung des Gegentheils
nicht allemal vorhanden ſey, auch wenn ich mit Beſin-
nung will, und auch noch eben ſo ſtark ein volles Ver-
moͤgen nicht zu wollen in mir gewahrnehme.
Laß die Jdee vom Nichtwollen, die wir immer noch
als den Gegenſtand anſehen koͤnnen, auf den die ſich ſelbſt
beſtimmende Kraft applicirt werden ſollte, dermalen min-
der lebhaft in mir gegenwaͤrtig ſeyn, und laß dieſen Um-
ſtand allein den Grund ſeyn, warum ſie mir minder ge-
fallen hat, als ihre entgegengeſetzte: ſo kann ſie nichts
deſto weniger auf eine ſolche Art in mir ſeyn, daß, um
ſie mir lebhaft gegenwaͤrtig zu machen, und in meinem
dermaligen Zuſtande ſie mehr zu entwickeln, als es
wirklich geſchieht, weiter nichts erfodert werde, als
daß nur dieſer Aktus der ſtaͤrkern Reproduktion mir
mehr bey ihr gefallen haͤtte, als bey der entgegengeſetzten.
Jch rede immer nur von ſolchen Aktionen, wozu ein
unmittelbares Vermoͤgen vorhanden iſt. Sonſten
liegt nichts daran, wenn ich auf das Gegentheil gar
keine Ruͤckſicht nehme; wenn ich nur es gethan haben
wuͤrde, ſo bald ich in meiner gegenwaͤrtigen Verfaſſung
es gefaͤlliger gefunden haͤtte, mich mehr umzuſehen, und
noch andre Jdeen zu erwecken, als mich zu der Erſten
zu beſtimmen, die ſich darbot. Faͤllt mir das Gegen-
theil
[111]und Freyheit.
theil nicht ein, ſo wuͤrde es mir doch eingefallen ſeyn,
wenn ſtatt der erſten Selbſtbeſtimmung, womit ich der
Jdee folgte, die vor mir lag, die andere Aktion des
Bedenkens mir angenehm geweſen waͤre. Nun habe
ich mich vielleicht nicht bedacht, und alſo habe ich mich
dermalen zum Gegentheil auch nicht beſtimmen koͤnnen,
weil ich es nicht vor mir hatte; aber ich haͤtte mich be-
denken koͤnnen, und hatte alſo ein mittelbares Ver-
moͤgen zu dem Gegentheil.
Wenn ein unmittelbares Vermoͤgen ſich ſelbſt
zu beſtimmen vorhanden iſt, ſo muß doch die Repro-
duktionskraft mit der Vorſtellung, auf welche ich mich
jetzo ſoll beſtimmen koͤnnen, in eine gewiſſe Maße ſich
wirklich beſchaͤfftigen, ſo weit naͤmlich, daß ſie dieſe
Jdee wirklich ſo weit reproducirt haben wuͤrde, als es
das Wollen erfodert, wenn ihr dieſer ideelle Gegen-
ſtand in ſeiner damaligen Lage nur genug dazu gefallen
haͤtte. Wenn ich jetzo das auch nicht wollen kann, was
ich will, ſo habe ich die Vorſtellung von dem Nicht-
wollen, oder von dem Gegentheil als ein Objekt mei-
ner Kraft innerhalb der Sphaͤre meiner gegenwaͤrtigen
Wirkſamkeit, wenn gleich minder nahe und vortheil-
haft, als die Jdee vom Wollen; und die Kraft meiner
Seele iſt innerlich voͤllig aufgelegt und beſtimmt, jene
noch weiter zu bearbeiten und mehr zu entwickeln. Daß
dieß letztere nicht geſchahe, dazu fehlte nichts, als das
Gefallen.
Jch uͤberſehe zwey Wege bey meinem Spatziergehen,
und waͤhle und will den Einen. Es mag wohl ſeyn,
daß, wenn ich den zuruͤckgeſetzten genauer angeſehen
haͤtte, dieſer vielleicht den Vorzug behalten ha-
ben wuͤrde. Aber ich fuͤhle es recht ſehr, daß ich nur
allein nach meinem gegenwaͤrtigem Gefallen mich
mit der Vorſtellung des erſtern befaßte, und daß ich
mich mit der Jdee des letztern wuͤrde befaßt, und auf
dieſe
[112]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
dieſe mich vielleicht wirklich beſtimmt haben, wenn ſie
mir in ihrer dermaligen Lage in mir mehr gefallen haͤtte,
oder wenn es mir gefallen haͤtte, noch vorher mehr die
Sache zu uͤberdenken.
Jſt eine Jdee mir gar nicht gegenwaͤrtig, ſo kann
ich auch unmittelbar ihr Objekt nicht wollen. Aber
wenn ich auf Eine meiner gegenwaͤrtigen Empfindungen
oder Vorſtellungen gewirkt haͤtte, oder ſtaͤrker gewirkt
haͤtte, ſo wuͤrde ſich jene Vorſtellung dargeſtellt haben.
Jch ſehe etwas nicht, das vor mir liegt, aber wenn ich
auf eine andere Empfindung zuruͤckgewirkt haͤtte, ſo
wuͤrde mein Auge in die Lage gekommen ſeyn, es gewahr
zu nehmen.
Mich deucht, es ſey in dieſen Faͤllen deutlich, daß
es mit den unmittelbaren Vermoͤgen, mich zu etwas
anders zu beſtimmen, eine ſolche Beſchaffenheit habe,
als ich vorher ſchon angezeiget. Wenn, um die mir
fehlende Vorſtellung zu erlangen, nichts mehr erfoder-
lich geweſen waͤre, als daß ich unter den gegenwaͤrtigen
Vorſtellungen, als ſo vielen Saiten der Seele, eine an-
dere geruͤhrt haͤtte, als diejenige war, die ich wirklich
ruͤhrte, und wenn ich ein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen ge-
habt habe, jenes zu thun, wenn es naͤmlich bloß daran
lag, weil es mir nicht gefiel, ſo habe ich auch ein Ver-
moͤgen gehabt, mittelbar mich auf die nun nicht ge-
genwaͤrtige Vorſtellung zu beſtimmen. Das weſentli-
che Erfoderniß iſt aber immer daſſelbige. Es mußte
nichts, als nur allein das Nichtgefallen die Urſache ſeyn,
daß ich die dazu erfoderliche Richtung meiner Kraft
nicht wirklich gab. Dieſes mittelbare Vermoͤgen,
ſich ſelbſt zu beſtimmen, vermiſcht unſer Gefuͤhl oft genug
mit dem unmittelbaren. Aber ich will ſie hier bey
Seite ſetzen. Sie machen im Anfange die Betrach-
tung nur verwirrt, und in der Folge erklaͤren ſie ſich
von ſelbſt.
Alle
[113]und Freyheit.
Alle dieſe Beobachtungen beſtaͤtigen das obige Merk-
mal von einem Vermoͤgen, ſich ſelbſt zu beſtimmen,
das aber nur bloßes Vermoͤgen bleibet. So ein Ver-
moͤgen iſt wahre Wirkſamkeit, und iſt auch Wirkſam-
keit auf eine gegenwaͤrtige Jdee. Der Uebergang vom
Vermoͤgen zur Wirkſamkeit haͤngt davon ab, daß durch
das Gefallen an dem ideellen Objekte die Kraft und das
Objekt mit einander in Verbindung kommen, da dieſes
jener vorgeſtellet wird.
5.
Die Vermoͤgen, ſich ſelbſt zu beſtimmen, haben
wie jedwede andere Art von Vermoͤgen ihre Groͤßen und
Grade an innerer Staͤrke und Maͤchtigkeit. Das Ver-
moͤgen kann ſo ſchwach ſeyn, daß es mit dem Unver-
moͤgen zuſammenſchließet, wie wir wirklich oft genug
die Schwaͤche mit der Ohnmacht, und die Schwierig-
keit mit der Unmoͤglichkeit verwechſeln. Das Vermoͤ-
gen erfodert eine innere Zureichlichkeit zu dem Effekt,
der hervorgebracht werden ſoll, und wenn es ein volles
Vermoͤgen iſt, ſo bedarf es keines neuen Zuſatzes von
außen. Aber es kann auch nur zur Noth zureichen;
es kann ganz mit ſeiner voͤlligen Jntenſion und in ſei-
nem voͤlligen Umfange dazu erfodert werden, und den-
noch iſt es ein Vermoͤgen. Es kann uͤberfluͤßige
Staͤrke haben, es kann erhoͤhetes Vermoͤgen und Fer-
tigkeit ſeyn.
6.
Wenn die Empfindung des Vergnuͤgens oder des
Verdruſſes uns zu der folgenden Kraftaͤußerung leident-
lich beſtimmt, und wir alſo nicht ſelbſtthaͤtig handeln,
ſo haben wir es freylich auch nicht in unſerer Gewalt,
dieſe erſte Wirkung von ihrer Urſache abzuſondern und
ſie zuruͤckzuhalten. Ueberfaͤllt uns ein Gefuͤhl, ſo koͤn-
IITheil. Hnen
[114]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
nen wir freylich der Affektion des Gemuͤths, und der
erſten Bewegung, und den Regungen des Verlangens
und der Begierde nicht widerſtehen. Aber wenn nun
die bewegenden Vorſtellungen in uns ohne thaͤtiges Zu-
thun unwillkuͤhrlich gegenwaͤrtig bleiben, ſich erneuern,
und nach und nach der Seele durch ihre wiederholten
Reizungen das Wollen und Vollbringen abnoͤthigen, ſo
folget doch nicht, daß wir nicht ein volles Vermoͤgen
gehabt haben koͤnnten, uns anders zu beſtimmen, wie
uns das Gefuͤhl lehret, daß wir es wirklich gehabt haben.
Die Gegenwart der bewegenden Vorſtellung oder Em-
pfindung, welche in dieſem Fall als die Urſache anzuſe-
hen iſt, kann in unſerer Gewalt geweſen ſeyn, und noch
ſeyn; wenn wir andere Vorſtellungen durch eine Wir-
kung aufs Gehirn hervorrufen koͤnnen, wodurch jene un-
terdruͤcket werden; und wenn nichts mehr daran fehlet,
daß es wirklich geſchehe, und die bewegende Vorſtellung
unterdruͤcket werde, als nur das Gefallen an dieſer neuen
Art der Thaͤtigkeit und des Beſtrebens. Wir koͤnnen
kaͤmpfen gegen die Leidenſchaften und ſiegen.
7.
Das Vermoͤgen zu wollen iſt nur der Anfang
von dem Vermoͤgen zu vollbringen. Von jenem
koͤnnen wir unmittelbar und zunaͤchſt aus dem Gefuͤhl
unſers gegenwaͤrtigen Zuſtandes uͤberzeuget werden, daß
wir es beſitzen. Wir haben eine Jdee vom Wollen,
vom Selbſtbeſtimmen, von Kraft und Vermoͤgen
welche aus unſern innern Empfindungen entſtanden iſt,
wie die Jdee von der rothen Farbe aus unſern Jmpreſ-
ſionen von außen. Und auf dieſelbige Art, wie ich jetzo
gewahrnehme, indem ich die weiße Wand anſehe, daß
unter meinen gegenwaͤrtigen Jmpreſſionen ſo eine ſich
befindet, die ich dadurch bezeichne, daß ich ſie das Ge-
fuͤhl der weißen Farbe nenne, ſo kann ich auch aus der
Ver-
[115]und Freyheit.
Vergleichung meiner gegenwaͤrtigen Gefuͤhle von mei-
nem innern Zuſtande mit den vergangenen es wiſſen,
daß ich jetzo ſo modificiret ſey, als ich es ſonſten gewe-
ſen bin, wo ich mir eine Kraft oder ein Vermoͤgen zu-
geſchrieben habe.*)
Das Vermoͤgen zu vollbringen erfodert noch meh-
rere Diſpoſitionen in der Seele und in dem Koͤrper, de-
ren Daſeyn wir aus dem, was unmittelbar empfunden
wird, mittelbar durch die Jdeenaſſociation erkennen.
Die Jdeen von Thaͤtigkeiten, ſo wie wir ſolche in uns
haben, ſind oft das Kennzeichen geweſen, daß auch die
uͤbrigen in der Seele und in dem Koͤrper dazu gehoͤrigen
Vermoͤgen vorhanden ſind, und zwar ein ſo zuverlaͤßi-
ges, daß wir an dieſem letztern ſo wenig zweifeln, wenn
uns jene Merkmale vorſchweben, als ein Reuter daran
zweifelt, daß er mit dem Anziehen von dem Zaume,
den er unmittelbar mit der Hand anfaſſet, das Gebiß in
dem Maul des Pferdes ziehen und regieren werde. Dieſe
Erkenntniß iſt von der Art, wie andere Empfindungs-
kenntniſſe. Der Reuter koͤnnte ſich doch irren, wenn
Jemand den Zaum in der Mitte durchſchnitten, und
die Enden nur mit Wachs zuſammen gebacken haͤtte.
8.
Kein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen erſtreckt ſich in-
deſſen weiter, als auf Handlungen, die wir einzeln ehe-
dem ſchon unternommen haben, oder die aus ſolchen
zuſammengeſetzet ſind. Unſere Selbſtthaͤtigkeit wirkt
durch die Wiedererweckung der Vorſtellungen
und der Vorſtellungsreihen, die wir von Thaͤtigkeiten
in uns haben. Dieſe Vorſtellungsreihen ſind die Ner-
ven der thaͤtigen Kraft und des Willens, ſo wie die von
den Objekten es bey dem Verſtande ſind. Daher iſt
H 2unſere
[116]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
unſere Selbſtthaͤtigkeit im Handeln das Parallel zu der
Dichtkraft in den Vorſtellungen. Die Vorſtellungen
von Aktionen ſind, ſo zu ſagen, in den Thaͤtigkeitsfibern,
was die Vorſtellungen von Sachen in den Empfindungs-
fibern ſind, und beide erregen ſich wechſelſeitig. Wie
jede neue Vorſtellung, die keine Phantaſie und keine
Produktion der ſchaffenden Dichtkraft iſt, aus einer neuen
hinzugekommenen Empfindung ihren Urſprung hat;
eben ſo gehoͤret auch jedwede Aktion, die nicht bloß eine
Reproduktion einer andern vorhergegangenen iſt, und
auch aus ſolchen nicht zuſammengeſetzet, keinesweges zu
denen, zu welchen wir uns ſelbſt beſtimmt haben, und
ſelbſt beſtimmet haben koͤnnen. Es ſind dergleichen
vielmehr neue inſtinktartige Ausbruͤche unſerer Kraft,
wozu die Seele durch einen gewiſſen Eindruck leidentlich
beſtimmt worden iſt.
9.
Eine Hauptfrage iſt noch dieſe: „Kann denn auch
„in demſelbigen Moment, in welchem wir uns ſelbſt
„beſtimmen, das Vermoͤgen, uns ſelbſt anders zu be-
„ſtimmen, vorhanden ſeyn?‟ Koͤnnen ſolche zwey
entgegengeſetzte Vermoͤgen zugleich neben einander beſte-
hen? Jedes enthaͤlt eine gewiſſe Aktion auf eine Vor-
ſtellung. Kann man zugleich auf die Vorſtellung von
der Handlung wirken, ſolche wieder hervorziehen, gegen-
waͤrtig erhalten, und auch zugleich das naͤmliche bey der
entgegengeſetzten vornehmen?
Die Erfahrung lehret, daß, ſo oft wir zwiſchen
Wollen und Nichtwollen hin und her wanken, auch die
beiden Jdeen von den einander entgegenſtehenden Aktio-
nen in uns mit einander abwechſeln. Und wenn uns
zuweilen mitten indem wir uns entſchließen, die Vor-
ſtellung von dem Gegentheil einfaͤllt, oder gar noch nach-
her, wenn wir ſchon mit der Ausfuͤhrung unſers Ent-
ſchluſſes
[117]und Freyheit.
ſchluſſes beſchaͤfftiget ſind, ſo wird die erſtere Vorſtellung
gleichſam ſo lange aufgehalten, und die letztere nimmt
auf einen Augenblick ihre Stelle von dem Bewußtſeyn
ein.
Siehet man dieſe Erfahrungen genauer an, ſo ſieht
man bald, daß es ſich mit der vorzuͤglichen Gegenwart
der Jdee, nach der wir uns beſtimmen, hier wo unſere
Selbſtbeſtimmung nach ihnen gelenket wird, nicht an-
ders verhalte, als es ſich uͤberhaupt mit ſolchen Vorſtel-
lungen in dem Verſtande verhaͤlt, auf die wir in Einem
Augenblick am meiſten aufmerkſam ſind.*) Mit Ei-
ner ſind wir zwar in Einem Augenblick am meiſten,
und am naͤchſten beſchaͤfftigt, aber es hindert uns dieß
nicht, daß wir nicht wirklich auch auf eine große Menge
anderer in demſelbigen Moment thaͤtig ſeyn ſollten; und
zwar in der Maße, daß nichts mehr noͤthig iſt, als
nur daß es uns gefalle, auch eine von dieſen letztern
mehr hervor zu ziehen, und die vorzuͤglich gegenwaͤrtige
durch ſie zu verdraͤngen und zu verdunkeln. Die Seele
wirket zugleich auf einmal in allen Richtungen auf ihre
Vorſtellungen.
Es wuͤrde allerdings eine große Ungereimtheit ſeyn,
wenn man ſich einbilden wollte, die Seele koͤnne zugleich
in demſelbigen Augenblicke wollen, und daſſelbige auch
nicht wollen. Dieß hieße ſo viel, ſie koͤnne ſich mit ei-
ner Jdee in dem Grade beſchaͤfftigen, als zu dem Wol-
len erfodert wird, und zugleich es auch nicht thun, oder
ſich doch mit einer andern eben ſo ſehr beſchaͤfftigen, daß
die Applikation der Kraft auf die erſtere hintertrieben
werde. Aber man behauptet auch dieß nicht, wenn
man ſaget, daß die Seele etwas wollen koͤnne, und zu-
gleich das Vermoͤgen beſitze daſſelbige nicht zu wollen.
Zu dieſem letztern iſt nichts mehr erfoderlich, als was
H 3auch
[118]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
auch ſehr wohl angehet, naͤmlich daß die Seele, indem
ſie ſich mit einer Jdee ſo weit beſchaͤfftiget und die Kraft
auf ſie anwendet, als es geſchieht, wenn ſie ſich nach
ihr beſtimmet und will, auch zugleich auf eine andere
entgegengeſetzte, ſo zu ſagen, drucke, und ſie vor ſich er-
halte. Die Jdee vom Wollen, Thun, So wollen,
So thun und So handeln iſt am meiſten gegenwaͤrtig;
aber die Jdee vom Nichtwollen, Unterlaſſen, Anders-
wollen, Andershandeln kann zugleich, nur in einem
mindern Grade gegenwaͤrtig ſeyn, wie in einem Koͤrper
eine Bewegung nach Einer Seite hin, zugleich mit ei-
nem Druck nach einer andern beſtehen kann, aber nicht
mit einer wahren Bewegung nach einer andern hin.
Denn ſo verhaͤlt ſich ohngefaͤhr die Jdee von einer Aktion,
welche in uns gegenwaͤrtig iſt, zu der Aktion ſelbſt, oder
zu der wirklichen Selbſtbeſtimmung unſerer Kraft, wie
der Druck oder Anſatz zur Bewegung bey den Koͤrpern
ſich zu der Bewegung ſelbſt verhaͤlt. Jndeſſen wuͤrde
man um dieß im Vorbeygehen noch zu erinnern, eine
ſehr ſonderbare Folgerung machen, wenn man daraus,
daß Wollen und Nichtwollen Anwendungen der Seelen-
kraft auf zwo verſchiedene Jdeen ſind, ſchließen wollte,
daß die Unmoͤglichkeit beide dieſe Kraftaͤußerungen zu-
gleich mit einander zu verbinden, nur allein ihren Grund
in der Einſchraͤnkung und in der Endlichkeit der Kraft
habe, ſo wie in dem Koͤrper die Unmoͤglichkeit nach meh-
reren Richtungen hin zugleich ſich zu bewegen nur daher
entſtehet, weil ſeine Kraft nicht Vermoͤgen genug hat,
ſich allſeitig auf einmal auszulaſſen, und daß alſo, an
ſich die Sache betrachtet, ein unendliches Weſen viel-
leicht zugleich zum Wollen und zum Nichtwollen ſich
beſtimmen koͤnne. Auf dieſe Art wuͤrde der Wider-
ſpruch zwiſchen Wollen und Nichtwollen, und zwiſchen
Thun und Laſſen bey einem uneingeſchraͤnkt wirkſamen
Weſen wegfallen, und uͤberhaupt die Unvereinbarkeit
entge-
[119]und Freyheit.
entgegengeſetzter Handlungen nur eine Art von Kolliſion
ſeyn, die bey endlichen Kraͤften vorkommen koͤnnte.
Jch wuͤrde mich nicht wundern, wenn man dieß be-
hauptet und auf eine aͤhnliche Art jeden Widerſpruch
in den Handlungen fuͤr bloße Relation in Hinſicht auf
die Kraft, welche handelt, erklaͤret haͤtte, wie man es
von dem Widerſpruche der Jdeen geſaget, und dadurch
in der That den Grundſatz des Widerſpruchs, inſoferne
ſolcher ein objektiviſcher Grundſatz unſerer Erkenntniß
ſeyn ſoll, gelaͤugnet hat. Man ſehe aber nach, was
ich anderswo *) hieruͤber weitlaͤuftiger geſagt habe, ſo
wird es einleuchten, daß auch hier ein großer Unter-
ſchied ſey zwiſchen bloß verſchiedenen Handlungen,
die eine Kraft ihrer Einſchraͤnkung wegen nicht auf ein-
mal verrichten kann, wie ein Menſch nicht zugleich zur
rechten und zur linken Hand hingehen, und ſich an meh-
reren Orten gegenwaͤrtig machen kann; und zwiſchen
Handlungen, die ſich ihrer Natur nach wider-
ſprechen, und ſich einander aufheben, wie jene nur
in Hinſicht auf die eingeſchraͤnkte Kraft es thun. Ein
Weſen, das zugleich das naͤmliche wollen und nicht
wollen, daſſelbige zugleich verrichten und unterlaſſen ſoll-
te, muͤßte die Jdee von der Aktion des Wollens in der
Maße gegenwaͤrtig haben, als es erfodert wird, wenn
die Selbſtbeſtimmung der Kraft auf ſie erfolgen ſoll,
und zugleich ſie nicht in dieſer Maße vor ſich haben;
ſie alſo reproduciren und auch nicht reproduciren, ſon-
dern ſie zuruͤckhalten, zugleich ſich nach ihr beſtimmen,
und ſich nicht nach ihr beſtimmen. Dieß iſt ein aͤhn-
liches Erfoderniß, als wenn eine Denkkraft zugleich ei-
nen Gedanken haben und auch nicht haben ſoll. Und
da iſt es offenbar, daß, ſo wie dieß letztere nicht bloß in
Beziehung auf ein gewiſſes denkendes Weſen, ſondern
H 4ſchlecht-
[120]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ſchlechthin unmoͤglich und unthunlich iſt, ſo ſey auch
jenes unmoͤglich durch die Natur eines jeden handeln-
den und ſich ſelbſt beſtimmenden Weſens, es mag ſeine
Kraft eingeſchraͤnkt und endlich, oder unendlich und
eine Allmacht ſeyn.
Es iſt aus dem obigen nunmehr ſehr begreiflich,
daß wir ſo viele Vermoͤgen uns zu beſtimmen zugleich
beſitzen koͤnnen, als wir verſchiedene Vorſtellungen von
Handlungen in uns haben, auf welche wir in demſelbi-
gen Augenblicke wirken koͤnnen, und in einigem Grade
wirken. Dieſe gleichzeitige Wirkung auf ſolche entge-
gengeſetzte Vorſtellungen kann ſo weit gehen, daß ent-
gegenſtehende Neigungen daraus werden, gewiſſe An-
lagen ſich zu entſchließen, dergleichen wir oft genug in
uns gewahrnehmen, beſonders alsdenn, wenn wir ſagen,
daß wir nicht einig mit uns ſelbſt werden koͤnnen.
Nun iſt aber freylich hiebey noch eine wichtige Frage
zuruͤck. Wenn gleich das Vermoͤgen nicht zu wollen
eben ſo gut vorhanden iſt, als das Vermoͤgen zu wollen,
wie die Preſſion nach der einen Seite in dem gedruckten
Waſſer mit einer Preſſion nach der andern zugleich be-
ſtehet: muß denn nicht doch das eine Vermoͤgen zu dem
Entgegengeſetzten von dem, was geſchieht, wegfallen,
oder doch wenigſtens geſchwaͤcht werden, in dem Au-
genblicke, wenn die Aktion erfolget? Jch antworte:
dieß geſchieht wohl da, wo nur allein die erſte Selbſt-
beſtimmung des Willens in unſerer Gewalt war, nicht
aber die folgenden Theile der Handlung. So geſchieht
es bey den Koͤrpern. Die geſpannte Feder druckt auf
beide entgegenſtehende Flaͤchen, von denen ſie geklem-
met wird, gleich ſtark. Aber ſobald ſie nach Einer
Seite hin Freyheit bekommt, ſich auszudehnen, ſo ver-
mindert ſich der Druck gegen die andere, und verſchwin-
det endlich, und mit ihm zugleich das Vermoͤgen, nach
dieſer Seite hin zu wirken. Etwas aͤhnliches geht bey
dem
[121]und Freyheit.
dem Druck des Waſſers vor, das alsdenn, wenn es ſich
nach einer Seite hin wirklich beweget, deſto weniger
nach der gegenuͤberſtehenden hin mit ſeiner Preſſion
wirket. Jn der Seele aber iſt es nicht alſo. Wenn
dieſe ſich waͤhrend der ganzen Aktion in ihrer Gewalt
behaͤlt, ſo beſtehet ihre Vorſtellung von dem Entgegen-
geſetzten, und ihr Druck auf dieſe Jdee eben ſo, wie ſol-
cher im Anfange vorhanden war. Dieß iſt es eben,
was die fortdaurende Gegenwart des Geiſtes, womit
eine freye Handlung ganz durch verrichtet wird, aus-
machet.
XIII.
Deutlichere Vorſtellung von der Freyheit, oder
der Selbſtmacht uͤber ſich.
Nun meyne ich, ſind wir bis auf die eigentliche Stelle
hin, wo ich habe hinwollen. Laßt uns nur noch
einmal auf das Vorhergehende einen allgemeinen Blick
werfen. Wenn wir frey handeln oder mit Selbſtmacht
uͤber uns, ſo ſoll in uns ein Vermoͤgen, uns ſelbſt zu
dem Gegentheil zu beſtimmen, vorhanden ſeyn, und zu-
gleich in demſelbigen Moment vorhanden ſeyn, in dem
wir uns beſtimmen. Und dieß letztere Vermoͤgen ſoll
unter allen Umſtaͤnden der Handlung ein ſolches Ver-
moͤgen bleiben, ſo weit naͤmlich die Handlung frey iſt.
Denn darum hat der Menſch ſich im Affekt noch nicht
in ſeiner Gewalt, weil er etwan im erſten Anfang deſ-
ſelben ſich hatte begreifen koͤnnen? Die Gegenwart des
Geiſtes, die thaͤtige Wirkung der Seele auf den Um-
fang ihrer dermaligen Gefuͤhle und Vorſtellungen (com-
poſitio mentis) muß fortdauern, ſo lange die Hand-
lung als eine freye Handlung fortgehet.
Das Vermoͤgen, anders zu handeln, muß ferner
ein hinreichendes Vermoͤgen ſeyn, das iſt, von ſolcher
H 5Staͤrke,
[122]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Staͤrke, daß es hinreichet, der itzo ſie bewegenden Ur-
ſache, den Empfindungen und Vorſtellungen, welche ſie
afficiren, ſich zu widerſetzen, ſie zu unterdruͤcken, oder ihre
Wirkung aufzuheben, und eine ſelbſtthaͤtige Wendung
der Seele auf das Gegentheil hervorzubringen.
Dieß Vermoͤgen iſt nicht bloße Receptivitaͤt, auf
eine andere Art, durch andere Motiven beſtimmt zu
werden. Es iſt innerlich thaͤtige Kraft, und innerlich
zu dem Laſſen und zu dem Andersmachen voͤllig be-
ſtimmt. Es fehlet nur die wirkliche Applikation der
Kraft auf ihren Gegenſtand; welche alsdenn hinzu-
kommt, wenn dieſer gefaͤllt, oder ihr ſonſten vorzuͤglich
dargeſtellet wird. Jn der Hitze der Leidenſchaft ſind
wir noch wohl faͤhig, durch einen entgegengeſetzten ſtaͤr-
kern Eindruck umgeſtimmt zu werden; aber ſelbſt uns
umzuſtimmen haben wir das Vermoͤgen nicht.
Soll nicht bloß das Wollen frey ſeyn, ſondern
auch das Ausfuͤhren, ſo iſt es noch nicht genug, daß
waͤhrend der Aktion eine Vorſtellung von dem Gegen-
theil vorhanden ſey. Dieſe mag ſogar lebhaft gegen-
waͤrtig ſeyn, wie ſie es im Affekt oft iſt, und ein Wol-
len und Beſtreben, die dermalige Richtung der Seele
zu veraͤndern, nach ſich ziehen. Video meliora,
proboque, deteriora ſequor. Voͤllige Selbſtmacht
uͤber ſich, in Hinſicht der ganzen Aktion, erfodert ein
Vermoͤgen, das Entgegengeſetzte wirklich auszurichten,
und folglich alle Diſpoſitionen und Faͤhigkeiten in der
Seele und in dem Koͤrper, ohne welche das Gegentheil
nicht verrichtet werden kann.
Je lebhafter und ſtaͤrker die Vorſtellungen ſind, die
uns zur Handlung geneigt machen, oder bewegen, je
mehr ſie Empfindungen aͤhnlich ſind, und je groͤßer die
Fertigkeit der Kraft iſt, in ſolche Aktionen auszubre-
chen, deſto mehr gehoͤrt dazu, wenn ein Vermoͤgen zu
dem Entgegengeſetzten ſtatt finden ſoll; deſto ſtaͤrker
muß
[123]und Freyheit.
muß die in der Seele liegende Vorſtellung des Gegen-
theils ſeyn, deſto naͤher muß ſie der Reproduktionskraft
vorliegen, und deſto groͤßer die Fertigkeit ſeyn, auf
dieſe Jdee ſo weit zu wirken, als erfodert wird, ſie zu
einer Aktion zu entwickeln.
Um ſeiner ſelbſtmaͤchtig zu bleiben, iſt es nicht alle-
mal noͤthig, daß das Gegentheil der Handlung zugleich
mit klarem Bewußtſeyn vorgeſtellet werde. Un-
vorſichtigkeit machet die Handlung nicht allemal unfrey.
Wenn man der einſeitigen Vorſtellung von der Aktion
nachgeht, ohne daran zu gedenken, daß man dasjenige
unterlaſſen koͤnne, was man thut, ſo benimmt uns dieß
noch nicht allemal die Herrſchaft uͤber uns. Wenn und
warum aber nicht? Dann nicht, wenn die gefallende
Vorſtellung die Jdee von dem Gegentheil nur nicht ſo
weit aus der Sphaͤre der gegenwaͤrtigen Wirkſamkeit
wegdraͤnget, oder die Seelenkraft nicht ſo ſehr von ihr
abziehet, daß ſie nicht auch bis zur Aktion wieder her-
aufgebracht werden koͤnne, wenn es der Seele gefiele,
ſie hervorzuziehen. Die Vorſtellungen ſind hier die
Tangenten, auf welche die Seele unmittelbar angreifen
kann. Wird Eine von dieſen weggenommen oder zuge-
deckt, daß die Hand nicht zu ihr hinzu kommen kann,
ſo wird dem Spieler das Vermoͤgen entzogen, ſie zu
ruͤhren. Er kann ſie alsdenn nicht ruͤhren, wenn er auch
Neigung dazu haͤtte. Aber ſonſten kann er anſchlagen,
welche er will, wie es ihm gefaͤllig iſt, und auch dieje-
nigen, an die er nicht einmal lebhaft druckt. Wenn die
Aktion nicht unmittelbar frey iſt, ſo kann ſie es doch
mittelbar ſeyn, und ſie iſt es, wenn die Seele durch
eine Wirkung auf ihre dermaligen Vorſtellungen die
Jdee von dem Gegentheil hervorziehen, und zur Aktion
bringen koͤnnte.
Unterſchiedene Vorſtellungen von Gegenſtaͤnden und
Aktionen verdraͤngen einander gewiſſermaſſen, eben ſo
wie
[124]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
wie unterſchiedene Aktionen ſelbſt. Die Menſchenſeele
hat eine eingeſchraͤnkte Sphaͤre ihrer Wirkſamkeit. Sie
vertreiben einander nicht ganz aus der Seele, aber ſie
vertreiben einander, ſo zu ſagen, aus ihren naͤchſten
Stellen von der Seele, von dem Platze der leichtern
Reproducibilitaͤt weg, wo die thaͤtige Kraft am leichte-
ſten ſich auf ſie verwenden kann. Denn nicht jede Vor-
ſtellung, die in uns vorhanden iſt, kann in jedem Zu-
ſtande und unter jeden Umſtaͤnden unmittelbar reprodu-
cirt werden. Hiezu iſt es erfoderlich, daß ſie mit den
unmittelbar gegenwaͤrtigen in einer naͤhern Verbindung
ſtehe, oder ſelbſt darunter gehoͤre. Die menſchliche
Freyheit iſt in allen Hinſichten endlich und einge-
ſchraͤnkt.
XIV.
Von den Folgen der Freyheit in den freyen Hand-
lungen ſelbſt.
Wer Freyheit beſitzet, beſitzet wahre reelle Vermoͤ-
gen, und zwar mehrere neben einander. Von
der Freyheit haͤngt auch die Moralitaͤt des freyen We-
ſens ab, und beides iſt ein Ausfluß, der in der Selbſt-
thaͤtigkeit der Weſen ſeine Quelle hat. Selbſtthaͤtig-
keit iſt zwar fuͤr ſich allein keine Freyheit, und giebt den
Weſen, die ſie beſitzen, fuͤr ſich allein keine moraliſche
Natur. Aber wenn die Selbſtthaͤtigkeit erhoͤhet und
ausgedehnet wird, und alſo mehrere gleichzeitige Thaͤ-
tigkeiten nach mehrern Seiten, und in verſchiedenen
Richtungen hin, entſtehen, ſo wird ein ſolches ſelbſt-
thaͤtiges Weſen ein freyes Weſen, wenn es Vorſtellun-
gen von Handlungen aufnimmt, und dieſe durch ſeine
innere Selbſtmacht reproduciren kann.
Zunaͤchſt begreift man daraus, warum freye Hand-
lungen in einem hoͤhern Verſtande dem handelnden We-
ſen
[125]und Freyheit.
ſen zuzurechnen ſind, als unfreye. Darum naͤm-
lich, weil das freyhandelnde Weſen in einem hoͤhern
Sinn Urheber von ihnen iſt, als das letztere. Es iſt
eine ſolche Urſache ſeiner Wirkungen, welche zugleich
mit einem Vermoͤgen verſehen war, die Wirkung durch
ſich ſelbſt zuruͤck zu halten, und alſo die Urſache ſeiner
Aktion in einer gedoppelten Hinſicht: einmal darum,
weil es ſie gethan hat: und dann zweytens darum, weil
es ſie nicht unterlaſſen hat, wozu es ein Vermoͤgen be-
ſaß. Jn dem freyen Weſen iſt außer dem Vermoͤgen,
etwas thun zu koͤnnen, und außer der wirklichen Appli-
kation dieſes Vermoͤgens auf die Handlung noch ein
drittes vorhanden, naͤmlich das phyſiſche Vermoͤgen zu
unterlaſſen. Die unfreye Kraft enthaͤlt nur zwey von
dieſen dreyen Stuͤcken.
Die Strafen und Belohnungen haben eine hoͤhere
Abſicht bey Menſchen, als bey Thieren, weil ſie bey
jenen eigene und vorzuͤgliche Folgen und Wirkungen ha-
ben, die bey dieſen fehlen. Das unfreye Weſen kann
durch angenehme und unangenehme Folgen der Hand-
lungen in eine gewiſſe Form gebracht, zu gewiſſen Rich-
tungen hingelenket, und auf eine beſtimmte Art gezo-
gen werden; aber in dem freyen Weſen koͤnnen dadurch
neue ſelbſtthaͤtige Vermoͤgen hervorgezogen, das iſt, es
kann eine innere Erhoͤhung der Natur bewirket werden.
Die meiſten kuͤnſtlichen Abrichtungen der Thiere ſchwaͤ-
chen ihre Naturkraͤfte, und ſetzen ſie mehr herunter,
als ſie ſie erheben. Der Menſch dagegen ſammlet aus
den Folgen ſeiner Handlungen, Vorſtellungen von Thaͤ-
tigkeiten, und ſelbſtthaͤtige Vermoͤgen, und erweitert
die innere Sphaͤre ſeiner Wirkſamkeit.
Aber da die Freyheit, oder Selbſtmacht der Seele
uͤber ſich, nur das Vermoͤgen enthaͤlt ſich anders zu be-
ſtimmen, und dieſes nur ein bloßes Vermoͤgen oder ei-
ne tode Kraft bleibet: welche Folgen und Beſchaffen-
heiten
[126]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
heiten kann ſolches in der Handlung ſelbſt hervorbrin-
gen? und kann die freye Handlung auch eigene charakte-
riſtiſche Zuͤge haben, die ſie nicht an ſich haben wuͤrde,
wenn jenes bloße Vermoͤgen nicht in der Kraft vorhan-
den geweſen waͤre, die ſie hervorbrachte? Vaucanſons
Floͤtenſpieler und andere Schreib- und Sprachmaſchi-
nen machen es begreiflich, daß die freyeſten Handlun-
gen, wenn man bloß auf den aͤußern Effekt ſieht, der
von ihnen in andern Koͤrpern hervorgebracht wird, in
ihrem voͤlligen Umfange, und an ſich noch vollkomme-
ner, als es bisher geſchehen iſt, durch Maſchinen nach-
gemacht werden koͤnnen, die doch zu ihrer Art zu wir-
ken ſo einſeitig beſtimmt ſind, daß durchaus kein Ver-
moͤgen, ſich anders zu beſtimmen, bey ihnen gedacht
werden kann. Dieß kann nicht gelaͤugnet werden.
Aber iſt denn das, was eine Maſchine verrichtet, die
ganze Aktion, die ein freyhandelnder Menſch vornimmt,
wenn er ſchreibet, redet, ſpielet? iſt es ſie wohl ganz,
wenn man nur allein auf dasjenige ſiehet, was in dem
Koͤrper des Menſchen vorgehet, und aͤußerlich geſehen
werden kann? Wie vieles fehlet nicht hieran? Ein
Blick auf die Augen, auf das Geſicht, auf die Gebehr-
den und die Bewegungen des uͤberlegenden Mannes,
der zwar mit Feuer und Nachdruck etwas verrichtet,
aber ſeiner ſelbſt maͤchtig iſt, wird es uns anders leh-
ren. Das geſetzte Weſen, die auf alle Seiten hinge-
richtete und angeſtrengte Aufmerkſamkeit, die Menge
der zugleich thaͤtigen Kraͤfte, die, ſo zu ſagen, bereit
ſind, auf jeden Wink ſich anderswohin zu wenden, wenn
die Abſicht es erfodert, und die auch oft zwiſchen durch,
wenn die Vorſtellung von dem Gegentheil einmal leb-
haft wird, von ihrer Richtung abbeugen; dieſe Wir-
kungen, welche aus den thaͤtigen Beſtrebungen des frey-
handelnden innern Princips hervorgehen, koͤnnen in kei-
ne Maſchine uͤbergetragen werden, und ſind wirkſame
Ver-
[127]und Freyheit.
Vermoͤgen, ob ſie gleich von der Seite betrachtet, in
ſo fern durch ſie die Handlung veraͤndert werden kann,
nur todte Vermoͤgen bleiben. Wir vermiſſen ihre Aeuſ-
ſerungen in dem Affekt, wenn der Menſch hingeriſſen
wird, und ſich nicht mehr in ſeiner Gewalt hat. Ei-
ne jedwede individuelle freye Aktion iſt unendlich voͤlli-
ger, mannichfaltiger und vielſeitiger, als ſie uns dann
erſcheinet, wenn nur auf den einen Zug von ihr allein
geſehen wird, der eine einzige Reihe von Veraͤnderun-
gen darſtellt, die wir als die weſentlichen in der Hand-
lung anſehen. Jn den unfreyen Handlungen fehlen
alle diejenigen Beziehungen auf das Gegentheil, die in
den freyen wahrgenommen werden, und aus dem regen
Vermoͤgen, ſich anders zu beſtimmen, entſpringen.
Die Folgen und Wirkungen, welche das Vermoͤ-
gen zum Gegentheil hat, und die man mit den bloßen
Preſſionen in den Koͤrpern vergleichen kann, gehen zu-
naͤchſt aus der Seele in unſern organiſirten Koͤrper uͤber,
und ſind hier noch, wie ſchon erinnert iſt, ſichtlich. Es
iſt nothwendig, daß dieſe Folgen ſich noch weiter heraus
verbreiten, und auch in die aͤußern uns umgebenden
Koͤrper uͤbergehen muͤſſen, ob wir gleich hier ihre Spu-
ren verlieren. Zuweilen laſſen ſie ſich auch hier noch
fuͤhlen und empfinden, wenn gleich nicht mehr deutlich
unterſcheiden.
Wir haben aͤußere Kennzeichen der Spontanei-
taͤt eines handelnden Weſens, und wir urtheilen nach
denſelben, ob wir uns gleich zuweilen dabey irren koͤn-
nen. Veraͤnderungen, Bewegungen, die aus den Ein-
druͤcken von außen her, aus dem Stoße, oder dem Zu-
ge, welche ein Koͤrper empfaͤngt, nicht begreiflich zu
ſeyn ſcheinen, fuͤhren uns auf den Gedanken, daß in
ihm ein inneres Princip als die Quelle ſeiner Aktion
ſeyn muͤſſe. Dieß iſt der Grund, warum wir die klei-
nen mikroſkopiſchen Thierchen fuͤr wahre Thiere halten,
und
[128]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
und ihnen eine innere Selbſtthaͤtigkeit beylegen. Und
in dieſen Faͤllen kann man ſichs auch nicht erwehren, ſo
zu urtheilen, wenn man anders ſelbſt einmal ihre Be-
wegungen aufmerkſam betrachtet hat, ob es gleich an
ſich nicht unmoͤglich waͤre, daß unſer Urtheil falſch ſeyn
konnte. Denn es iſt darauf zu wetten, daß manche
Perſonen die Theilchen des fein geriebenen Eiſens, die
man auf dem Papier durch einen Magneten in Bewe-
gung ſetzen, fortgehen, ſtille ſtehen, ſich umdrehen und
wieder zuruͤckſpringen laſſen kann, ebenfalls fuͤr leben-
dige Weſen anſehen wuͤrden, wenn man ihnen ſolche
zum erſtenmale vorzeigte und die Hand mit dem Ma-
gneten verſteckte, durch deren Wendungen jene Bewe-
gungen verurſacht werden. Doch, weil doch auch in die-
ſem letztern Beyſpiel wirklich eine ſelbſtthaͤtige Kraft
vorhanden iſt, diejenige naͤmlich, welche die Hand
und den Magneten regiert, ſo kann ſolches unſere Ue-
berzeugung von der Animalitaͤt der ſogenannten mikro-
ſkopiſchen Thiere nicht ſchwaͤchen.
Wir haben auch Charaktere der Willkuͤr und der
Freyheit in den aͤußern Wirkungen, aber es iſt nicht
zu verwundern, daß ſie ſchwerer zu entdecken ſind. Da-
her bedienen wir uns ihrer nicht auf dieſelbige Art, ſon-
dern ſchließen ſolche vielmehr nur aus andern bekannten
Aehnlichkeiten der Thiere und Menſchen mit uns ſelbſt
in unſerm Stande der Beſinnung. Es wuͤrde vortreff-
lich ſeyn, wenn wir die aͤußern Abdruͤcke der Freyheit
in den freyen Handlungen genauer und deutlicher ange-
ben koͤnnten. Dieß muͤßte, nur Eins zu ſagen, wenn es
auf die Betrachtung uͤber die Natur angewendet wuͤrde,
die hoͤchſte Freyheit des Schoͤpfers eben ſo ſichtbar in
ſeinen Werken machen, als ſeine Macht und Weisheit
es iſt.
XV. Ver-
[129]und Freyheit.
XV.
Vereinigung der allgemeinen Vernunftſaͤtze mit
dem Begriff von der Freyheit.
- 1) Die Verknuͤpfung zwiſchen Urſachen und
Wirkungen iſt nicht allemal eine nothwen-
dige Verknuͤpfung. - 2) Unter welchen Vorausſetzungen die verur-
ſachende Verknuͤpfung zufaͤllig ſey? - 3) Unter welchen ſie nothwendig iſt?
- 4) Zufaͤlligkeit der Verknuͤpfung, wenn
freye Urſachen wirken. - 5) Eine Erinnerung uͤber den Gebrauch der
Gemeinbegriffe von Nothwendigkeit und
Zufaͤlligkeit.
1.
Nach meiner Ueberzeugung haben die vorhergehenden
Betrachtungen ſo viel außer Zweifel geſetzt, daß
in unſern Empfindungen und Beobachtungen uͤber die
Freyheit alles ſehr wohl mit einander zuſammenhange.
Denn wenn wir auf einer Seite uns unabhaͤngig von
den aͤußern Umſtaͤnden und von den innern Bewegungs-
gruͤnden beſtimmen, und uns ſo fuͤhlen, auf der andern
Seite aber doch dieſen Motiven unterworfen zu ſeyn
ſcheinen: ſo vereiniget ſich dieſes beides durch die Be-
merkung mit einander, daß allerdings unſere innere
Kraft unabhaͤngig und eben ſo gut zum Wollen als zum
Nichtwollen, zum Thun als zum Laſſen, innerlich auf-
gelegt iſt, wenn ſie ſich auf die bewegende Vorſtellung
nicht anders, als auf einen ihr vorkommenden ſchickli-
chen Gegenſtand beſtimmet, und darauf ihre Wirkſam-
keit anwender. Von dieſer Seite betrachtet iſt alſo,
wie ich meyne, die Lehre von der Freyheit als ein Theil
II.Theil. Jder
[130]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
der beobachtenden Pſychologie ihrer Schwierigkeiten ent-
lediget.
Aber nun iſt noch die zwote Seite zuruͤck, an der
man jederzeit ſo viele Dunkelheiten und Verwirrungen
gefunden hat. Wie kann da, wo freye Urſachen wir-
ken, und in ihren Kraftaͤußerungen und Handlungen
eine Zufaͤlligkeit Statt finden ſoll, die allgemeine Ver-
knuͤpfung zwiſchen Urſachen und Wirkungen vorhanden
ſeyn, und wie kann die Wirkung durch ihre vorherge-
hende Urſachen und Umſtaͤnde zum voraus in aller Hin-
ſicht oder vollſtaͤndig beſtimmt ſeyn? Das iſt, wie
laſſen ſich die allgemeinen Grundſaͤtze der Vernunft uͤber
die urſachliche Verbindung, welche durchaus keine Aus-
nahme zu leiden ſcheinen, auch da anwenden, wo freye
Urſachen thaͤtig ſind, und zufaͤllige Wirkungen hervor-
bringen?
Ohne mich in weitlaͤuftige Eroͤrterung der hieher
gehoͤrigen metaphyſiſchen Lehren einzulaſſen, will ich
hier nur in Kuͤrze anzeigen, wie ich fuͤr mich ſelbſt dar-
uͤber raiſonnire. Gewiß iſt es, daß hier irgendwo ei-
ne Verwirrung in den Begriffen ſeyn muͤſſe; und es
laͤßt ſich zum voraus wohl vermuthen, daß der Knoten
nicht nur ſehr verwickelt, ſondern noch dazu an einer
Stelle, vielleicht in den Grundbegriffen, ſitzen muͤſſe, wo
ihm nur mit Muͤhe beyzukommen iſt. Fuͤr diejenigen,
die gaͤnzlich mit den metaphyſiſchen Spekulationen uͤber
Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit unbekannt ſind, wird
dieſer folgende Zuſatz unbrauchbar, den ich ohnedieß
weggelaſſen haben wuͤrde, wenn nicht ſehr viel an der
Aufmerkſamkeit der ſpekulativiſchen Philoſophen, und
wenn es ſeyn koͤnnte, an ihrer Ueberzeugung und Bey-
ſtimmung gelegen waͤre. Dazu kommt, daß doch die
bloße Erfahrungserkenntniß auch von dem Menſchen nur
unverbundene Materialien und zuweilen nur Bruchſtuͤcke
ausmacht, die mittelſt der allgemeinen Vernunftſaͤtze
erſt
[131]und Freyheit.
erſt in ein ganzes wiſſenſchaftliches Gebaͤude zuſammen-
gebracht werden koͤnnen, welches zu foͤrdern der Wunſch
und die Abſicht der Philoſophen iſt.
Die Wirkung iſt mit ihrer Urſache nothwen-
dig verbunden, ſagt Hr. Home und mit ihm andre.
Alſo iſt die Dependenz der letztern von der erſtern noth-
wendig, das iſt, die Wirkung muß erfolgen, und
kann nicht ausbleiben, wenn die ganze Urſache voll-
ſtaͤndig vorhanden iſt. Daher, ſo ſchließen ſie nun wei-
ter, iſt auch die Empfindung, die es uns bey unſern
freyen Handlungen weiß machet, als wenn wir ſie un-
ter denſelbigen Umſtaͤnden, unter welchen wir ſie bege-
hen, unterlaſſen oder anders einrichten koͤnnten, eine
leere Erſcheinung, und eine Fallaz des innern Sinns,
wie es die optiſchen Scheine bey dem aͤußern Sinne
des Geſichts ſind.
Die Empfindung betruͤget uns nicht, antwortet der
Jndeterminiſt, und ich mit ihm. Aber wenn dieſer
hinzuſetzet, „die Dependenz der Wirkung von der Ur-
„ſache binde jene nur alsdenn an dieſe letztere noth-
„wendig, wenn die Urſache eine voͤllig beſtimmende
„Urſache, ein Wolfiſcher zureichender Grund iſt,
„dergleichen ſie nicht allemal iſt, noch ſeyn darf, weil
„nicht alles einen ſolchen zureichenden Grund hat
„noch haben muß:‟ ſo enthaͤlt dieſer Nachſatz ein Rai-
ſonnement, dem ich nicht beytreten kann.
Der Satz, „daß jede Wirkung, welche hervorge-
„bracht wird, jede Sache, jede Modification, jede
„Handlung, welche entſtehet, ihren voͤllig beſtim-
„menden zureichenden Grund habe, von dem es
„abhanget, daß jene entſtehe, und in Hinſicht aller ih-
„rer Beſchaffenheiten und Beziehungen eine ſolche wird,
„wie ſie wirklich iſt, und keine andere; —‟ dieſer Satz
iſt bey mir ein Grundſatz, den ich fuͤr ein Axiom er-
J 2kenne,
[132]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
kenne, ohne daß es noͤthig ſey, ihn als einen Jnduk-
tionsſatz aus Erfahrungen zu beweiſen.
Jndeſſen, wenn er es auch nicht waͤre, als ein all-
gemeiner Grundſatz des Verſtandes in der Metaphyſik
betrachtet, ſo muͤßte ich unmittelbar aus der Erfah-
rung annehmen, daß es mit den Handlungen der
menſchlichen Seele, auch mit denen, die am meiſten
gleichguͤltig und im hoͤchſten Grade frey ſind, eine ſol-
che Beſchaffenheit habe, dergleichen nach dieſem Prin-
cip ein jedes werdendes, und ein jedes zufaͤllig vorhan-
denes Ding haben ſoll. Es fehlet keiner einzigen von ih-
nen an einem ſolchen vollſtaͤndigen und beſtimmenden
Grunde, warum ſie ſo und nicht anders erfolgen. Man
ſehe auf das zuruͤck, was ich oben (N. VII.) hieruͤber
angefuͤhret habe.
Aber wenn die Wirkung mit einer zureichenden
und voͤllig ſie beſtimmenden Urſache verbunden iſt,
ſo findet ſich doch eine zwiefache, durch reelle Merk-
male von einander unterſchiedene Beſchaffenheit dieſer
Verbindung, davon die Eine ſie zu einer nothwen-
digen, die andre ſie zu einer zufaͤlligen Verknuͤpfung
macht. Will man ſie nicht mit dieſem Namen benen-
nen, weil etwan das zur Richtſchnur angenommene me-
taphyſiſche Lexikon dagegen iſt, ſo waͤhle man andere.
Genug, wenn hierbey eine ſolche reelle und deutlich
kennbare Verſchiedenheit angetroffen wird.
Laß die vollſtaͤndig beſtimmende Urſache von einer
Wirkung vorhanden ſeyn, ſo iſt es zwar ein Axiom:
„Wenn jene Urſache vorhanden iſt, ſo erfolget auch die
„Wirkung‟ (poſita cauſa ponitur effectus); aber es
ſtehet eine Einſchraͤnkung dabey, oder ſie muß dabey
ſtehen, naͤmlich dieſe: daferne kein Hinderniß im
Wege lieget. Der Wind wird den beweglichen Wet-
terhahn herumdrehen; aber nur unter der Bedingung,
daß jener nicht aufgefangen wird; oder daß der Wet-
ter-
[133]und Freyheit.
terhahn etwan nicht von jemand mit der Hand feſt ge-
halten werde, oder ſonſten durch den Roſt ſeine vorige
Beweglichkeit verloren habe. Jn dieſen Faͤllen wird
er nicht gedrehet werden. Das angelegte Feuer wird
das Holz verbrennen, wenn es nicht jetzo noch gleich
ausgeloͤſchet wird, oder wenn das Holz, indem das
Feuer zu brennen anfaͤngt, der Flamme nicht entzogen
wird, oder ſonſten nicht etwas geſchieht, welches jene
Wirkung zuruͤckhaͤlt. Ueberhaupt naͤmlich ſetzt der wirk-
liche Erfolg die Bedingung voraus, daß die gegenwaͤr-
tig vorhandene vollſtaͤndige Urſache, welche vor dem
Effekt unmittelbar vorhergehet, noch in dem naͤchſt-
folgenden Augenblicke die naͤmliche bleibe, die
ſie iſt, oder daß nicht zwiſchen ihr und der Wir-
kung ſich etwas fremdes einſchiebe, welches die letz-
tere von der erſten abtrennet. Der Schlag mit einem
Stock auf ein porcellaines Gefaͤß wird es in Stuͤcke
zerſchlagen, wofern er nicht aufgegriffen, oder auch das
Gefaͤß im erſten Anfang des Schlages der Gewalt deſ-
ſelben entzogen wird.
Alſo iſt es klar, daß außer der vollſtaͤndig beſtim-
menden wirkenden Urſache, von der die Wirkung nach
allen ihren Beſchaffenheiten und Verhaͤltniſſen abhaͤnget,
noch immer die Abweſenheit des dazwiſchen tre-
tenden Hinderniſſes vorausgeſetzet werde.
Und alsdenn erfolget ſie nothwendig, oder nach
den gewoͤhnlichen metaphyſiſchen Begriffen, die hier
noch ungeaͤndert beybehalten werden koͤnnen, auf eine
ſolche Art, daß ſie nicht ausbleiben kann. Setzet
die vollſtaͤndig beſtimmende Urſache und die Abweſenheit
aller Hinderniſſe zuſammen, und verbindet damit den
Satz, „der Effekt erfolge nicht‟: ſo iſt in dieſer Ver-
bindung ein Widerſpruch. Der Satz, „es erfolget die
„Wirkung‟, iſt eine ſo nothwendige Folgerung aus je-
nen beiden Vorderſaͤtzen, als die drey Winkel im Trian-
J 3gel
[134]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
gel eine nothwendige Folge von ſeinen drey Seiten ſind.
Dieß laͤugnet derjenige, der etwas dem Zufall uͤber-
laͤßt; und dieß laͤugnet auch der Jntederminiſt. Er
meint, er ſey dazu gezwungen, vermoͤge deſſen, was
ihn die Erfahrung von freyen wirkenden Urſachen leh-
ret. Jch meine es nicht, und wenn ſie dies als das
Schiboleth ihrer Gegner, der Determiniſten, anſe-
hen, ſo nehme ich es an, zu dieſen letztern gezaͤhlt zu
werden.
Allein, wenn die Bedingung, daß kein Hinderniß
da ſey, noch nicht angenommen werden kann; wenn ſie
noch dahin ſtehet, und wenn man nur allein die Vor-
ausſetzung vor ſich hat, „daß die voͤllig beſtimmen-
„de Urſache vorhanden ſey,‟ worunter ich hier, ſo
wohl die eigentliche wirkende Urſache mit ihrer thaͤ-
tigen Kraft, als auch die uͤbrigen poſitiven Er-
foderniſſe und Umſtaͤnde, die etwas zur Beſtim-
mung der Wirkung beytragen, zuſammen nehme: ſo
finden zween ſehr verſchiedene Faͤlle Statt, auf deren
wichtige Unterſcheidung alles ankommt.
2.
Die Urſache mit allen uͤbrigen Erfoderniſſen iſt
vorhanden; aber es kann, ehe die Wirkung erfolgt,
noch etwas Poſitives dazwiſchen kommen. Eine Ku-
gel fahre z. B. in gerader Richtung auf ein Glas zu, ſo
wird ſie das Glas zerbrechen, wenn nichts dazwiſchen
tritt. Aber nun wird ſie aufgegriffen, oder das Glas
wird ihr entzogen, und die Wirkung erfolget nicht. Al-
les war gleichwohl dazu vorbereitet, nichts fehlte mehr
daran, es haͤtte nur nichts neues, nur keine neue Urſache,
keine Wirkung einer andern fremden Kraft, nichts, das
ein Hinderniß ausmachte, hinzukommen ſollen.
Hier war alſo ein Beyſpiel, wo die Regel: poſita
cauſa ponitur effectus, nur unter der Bedingung Statt
fand,
[135]und Freyheit.
fand, wenn kein Hinderniß hinzukommt; und die-
ſe Bedingung war noch nicht mit eingeſchloſſen, als
man vorausſetzte, daß die wirkende Urſache ſammt
allen uͤbrigen Erfoderniſſen vorhanden | ſey.
Das hinzukommende Hinderniß, welches dazwi-
ſchen tritt, und den Erfolg zuruͤckhaͤlt, obgleich ſein zu-
reichender Grund ſchon da iſt, kann eine zwiefache
Wirkung hervorbringen. Zuweilen kann die erſte
wirkſame Urſache mit ihrer ganzen thaͤtigen Kraft, in-
gleichen das Objekt, welches die Wirkung aufnehmen
ſoll, und deſſen Lage gegen die Kraft; mit einem Wort
alles, was zu dem vorhergehenden zureichenden Grunde
gehoͤrte, unveraͤndert bleiben, und noch eben ſo beſte-
hen, wie es vorher war; ohnerachtet der Erfolg durch die
hinzukommende hindernde Urſache zuruͤckgehalten wird.
Das Gewicht in einer Schale an der Wage drucket noch
eben ſo ſtark wie vorher; und die Schale iſt eben ſo be-
weglich, wie vorher: aber dennoch ſinkt ſie nicht, wenn
man ſie von unten unterſtuͤtzet.
Es giebt alſo einen Fall, wo nicht [nur] der voͤllig
zureichende Grund vorhanden iſt, d[urc]h den der Ef-
fekt bewirket wird, ſondern, wo ſelbiger auch unver-
aͤndert beſtehet, und demohnerachtet die Wirkung
nicht erfolget. Mit der Vorausſetzung, daß ein zurei-
chender Grund vorhanden ſey, kann man noch dieſe ver-
binden, daß derſelbige auch unveraͤndert bleiben und be-
ſtehen ſoll; und dennoch erfolget die Wirkung nur un-
ter der Bedingung, „daß nichts anders in den Weg
komme.‟
Alsdenn iſt es offenbar, daß die Verknuͤpfung
zwiſchen der Urſache und ihrer Wirkung eine zufaͤllige
Verknuͤpfung ſey, weil ſie auch fehlen kann. Die Ur-
ſache zieht in dieſen Beyſpielen nicht nur die Wirkung
nicht nothwendig nach ſich, wenn ſie zuerſt vorhanden
iſt, ſondern auch, wenn ſie gleich unveraͤndert beſtehet
J 4und
[136]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
und ſo bleibet wie ſie iſt. Die Urſache ſelbſt und das
Gegentheil von ihrer Wirkung koͤnnen alſo zugleich,
in eben dem Zeitmoment, mit einander beſtehen.
Ob etwa hier nicht alles unter dem zureichenden
Grunde begriffen wird, was man ſonſten darunter
verſteht? Die wirkende Urſache und ihre Kraft ma-
chet freylich den geſammten zureichenden Grund noch
nicht aus, und daher koͤnnte man glauben, es laſſe ſich
die obige Regel, daß die Urſache nur unter einer Be-
dingung die Wirkung nach ſich ziehe, nicht anwenden,
wenn von dem zureichenden Grunde die Rede iſt.
Einige verlangen, daß unter dem voͤllig zureichenden
und beſtimmenden Grunde nicht nur alle innere und aͤuſ-
ſere Erfoderniſſe der Wirkung begriffen werden, ſondern
zugleich auch die Bedingung, daß ſich kein Hinderniß
eraͤugne. Wenn die Kugel, die im Begriff iſt, auf
ein porcellaines Gefaͤß herunter zu fallen, unterwegens
aufgefangen wird, ſo fehlte nach dieſer Jdee von dem
zureichenden Grunde noch etwas daran, naͤmlich dieſer
Umſtand, daß nichts zwiſchen der Kugel und dem Ge-
faͤße ſich befinde, und auch nichts ſich dazwiſchen lege,
wodurch die Wirkung des Stoßes auf das Gefaͤß ver-
hindert werde.
Es iſt unnuͤtz, um Worte ſich zu ſtreiten. Mich
deucht, es ſey in den angefuͤhrten Beyſpielen ungemein
leicht, alles dasjenige reelle und poſitive, was die
Wirkung erheiſchet, und ohne welches ſie ſo, wie ſie
erfolget, nicht erfolgen kann, von dieſer Bedingung:
„daß nur außerdem nichts neues hinderndes hinzukom-
„men ſolle,‟ abzuſondern. Die letztere Bedingung er-
fodert nicht, daß außer demjenigen, was ſchon als vor-
handen angenommen wird, etwas poſitives oder reelles
mehr da ſey, nicht, daß eine neue Kraft, eine neue
Richtung, eine neue Beziehung des Gegenſtandes auf
die Kraft zu dem, was ſchon da iſt, hinzukomme, wo-
durch
[137]und Freyheit.
durch der Wirkung noch beſondere Beſchaffenheiten
gegeben werden, und noch etwas mehr bey ihr begreiflich
werde, was es nicht ſchon aus demjenigen iſt, das in
dem poſitiven zureichenden Grunde zuſammengefaſſet
war. Die bedungene Abweſenheit des Hinderniſſes
enthaͤlt nur allein, daß nichts mehr, als da iſt, hinzu-
komme. Wenn demnach dieſes beides, naͤmlich der
voͤllig beſtimmende poſitive Grund und die Ab-
weſenheit eines Hinderniſſes, ſo deutlich von einan-
der unterſchieden werden kann, ſo deucht mich, man
koͤnne das erſtere wol mit Fuge den ganzen zureichen-
den Grund nennen, weil er alles, was bey der Wir-
kung vorkommt, begreiflich macht.
Allerdings iſt hier die Stelle, wo die Jndetermi-
niſten und die Determiniſten anfangen, ſich von ein-
ander zu trennen, wie ich ſchon erinnert habe.
„Wenn der voͤllig beſtimmende Grund und die Ab-
„weſenheit jedweden Hinderniſſes zuſammen genommen
„werden, ſo erfolget die Wirkung ſo und nicht anders
„ohne alle fernere Bedingung, und ſie erfolgt noth-
„wendig.‟ Dieß iſt ein Grundſatz bey dem einen Theil
und bey mir auch; aber nicht bey den Jndeterminiſten,
welche es fuͤr nothwendig anſehen, dem Princip des zu-
reichenden Grundes gewiſſe Graͤnzen zu ſetzen. Jch
habe mich vorher ſchon erklaͤrt, was man dem Umfang
dieſes Princips entzieht, wird dem Zufall eingeraͤumet.
Hier betrifft der Streit Grundſaͤtze. Aber in der Un-
terſuchung uͤber die Freyheit braucht es keine Spekula-
tion, ſondern nur die Erfahrung, um dieſen Grundſatz
auf die Seelenveraͤnderungen angewendet, ſo ſtark zu
befeſtigen, als die vollſtaͤndigſte Jnduktion jemals ei-
nen allgemeinen Erfahrungsſatz befeſtiget hat.
Aber wenn wir dagegen die Abweſenheit eines Hin-
derniſſes als eine blos negative Bedingung von dem
uͤbrigen poſitiven zureichenden Grund abſondern und
J 5den
[138]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
den letztern allein nehmen, ſo lehren die obigen Beyſpie-
le ſchon, daß die Wirkung ausbleiben koͤnne, wenn
gleich der voͤllig beſtimmende Grund vorhanden iſt, und
daß jene alſo nur zufaͤllig mit dieſem verbunden ſey.
Allein es koͤnne auch andre Faͤlle geben, wo die Ver-
knuͤpfung nothwendig iſt. Dieß iſt ſie naͤmlich als-
denn, wenn die Bedingung, daß kein Hinderniß vor-
handen ſey, ſchon in dem uͤbrigen wahren zureichenden
Grunde begriffen iſt, und zugleich dadurch mit geſetzet
wird, ſo daß dieſer poſitive Grund nicht ſo ſeyn oder ſo
bleiben wuͤrde, wie er iſt, wenn ein Hinderniß erfolget.
Wir ſtellen uns die Urſache, ihre Aktion, und
das Wirklichwerden des Effekts in einer gewiſſen
Zeitfolge vor, ſo nahe und unmittelbar ihre einzelne
Momente auch an einander liegen. Nach dieſer Jdee
kann man mit der Vorausſetzung des poſitiven Grundes
auch ſo gar die Bedingung verbinden, daß in dem er-
ſten Moment kein Hinderniß vorhanden ſey; und es blei-
ben doch noch zween ſehr unterſchiedene Faͤlle uͤbrig, die
beide moͤglich ſind. Jn dem Einen kann noch derglei-
chen Hinderniß in den folgenden Momenten hinzukom-
men, in dem andern aber nicht.
Die Verknuͤpfung zwiſchen der Urſache und ihrer
Wirkung iſt alſo zufaͤllig alsdenn, wenn der ganze po-
ſitive Grund mit allen uͤbrigen poſitiven Erfoderniſſen ſo
ſeyn und bleiben kann, wie er iſt und bleibet, wenn die
Wirkung verurſachet wird, und dennoch ein neues Hin-
derniß dazwiſchen kommen kann, was ſeine Ausrichtung
oder Verurſachung auf haͤlt. Dieß iſt eine Zufaͤllig-
keit, die in dem eigentlichſten Verſtande in der Depen-
denz der Wirkung von der vorhandenen und auch
fortdauernden Urſache Statt findet.
Geſetzt aber, daß die wirkliche Verhinderung nicht
anders moͤglich ſey, als daß auch zugleich alsdenn et-
was in jenem poſitiven zureichenden Grunde, es ſey
nun
[139]und Freyheit.
nun in der wirkſamen Kraft, oder in den aͤußern Erfo-
derniſſen und Umſtaͤnden abgeaͤndert werde: ſo iſt es
dennoch zufaͤllig, daß die Wirkung erfolget, wo der
zureichende Grund jetzo vorhanden iſt. Denn die Wir-
kung kann auch in dieſem Fall ausbleiben, obgleich der
Grund jetzo vorhanden iſt, und veraͤndert wird, wenn
das Hinderniß eintritt. Wenn z. B. die Kugel auf
das Gefaͤß zufaͤhret, und dieſes ihm entruͤcket wird, ſo
kann man ſagen, es ſey das Gefaͤß nicht in derſelbigen
Lage geblieben, in der es vorhero lag, und dieſer Um-
ſtand habe doch zu dem geſammten zureichenden Grun-
de mitgehoͤret. Alſo bleibet die ganze Urſache nicht un-
veraͤndert, wenn das Hinderniß hinzukommt. Man
koͤnnte alſo ſagen, daß, wenn hier die Wirkung fehlen
koͤnne, obgleich die Urſache vorhanden iſt, ſo kom-
me dieß nicht ſowohl daher, weil die Wirkung ſich von
der Urſache und den vorgehabten Umſtaͤnden trennen
ließe, als vielmehr, weil die Urſache oder die Umſtaͤnde,
ob ſie gleich jetzo ſo ſind, ſich veraͤndern laſſen, daß
ſie nicht in der Folge ſo bleiben, wie ſie jetzo ſind. Die
Zufaͤlligkeit, die hier Statt findet, lieget alſo in der Zu-
faͤlligkeit der Urſachen und der Umſtaͤnde, oder
in der Zufaͤlligkeit des vorhandenen, poſitiven, hinrei-
chenden Grundes ſelbſten. Allein aus welchem Geſichts-
punkt man die Sache auch anſieht, ſo iſt ſie immer die-
ſelbige. „Wenn gleich jetzo alles vorhanden iſt, wovon
„die Wirkung abhaͤngt, die ganze Urſache mit allen
„ihren Umſtaͤnden, ſo erfolget die Wirkung nicht, als
„nur unter der Vorausſetzung, daß kein Hinderniß ſich
„eraͤugne, und daß alles auch unveraͤndert und ohne
„Zuſatz beſtehe und bleibe, wie es iſt, bis der Effekt be-
„wirket iſt, und der gegenwaͤrtige Stand der Sachen
„macht nicht fuͤr ſich ſchon dieſe Bedingung unnoͤthig.
Die urſachlichen Verbindungen der wirklichen Din-
ge in der Welt ſind nach Leibnitzen und Wolfen zufaͤl-
lig
[140]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
lig, in dem Verſtande, wie es hier eben beſtimmt iſt.
Man kann in der Phyſik nicht demonſtriren, ſagte
Leibnitz, wie in der Geometrie; von welchem Ausdruck
man nicht allemal den vollen wahren Sinn gefaßt hat.
Die wirkenden Urſachen in der Natur haben unter den
geſetzten Umſtaͤnden ihre Wirkungen; aber deswegen
iſt es kein Widerſpruch, daß die letztern fehlen, wenn
gleich jene mit allen ihren Erfoderniſſen und Umſtaͤnden
vorhanden ſind. Man kann nur alsdenn demonſtriren,
daß die Wirkung erfolge, wenn man außer der Exi-
ſtenz der Urſachen auch noch die Bedingung, daß kein
Hinderniß in den Weg trete, unter die Praͤmiſſen auf-
nimmt; ſonſten aber folget der Schlußſatz, daß die
Wirkung zu Stande komme, nicht aus den Vorderſaͤ-
tzen, worinnen die Urſache und ihre Umſtaͤnde als exi-
ſtirend angenommen werden. Dieß iſt ohne Zweifel ei-
ne vielbedeutende innere Zufaͤlligkeit der Welt, die der
ſpinoziſtiſchen und ſtoiſchen Nothwendigkeit von den ge-
nannten Philoſophen entgegengeſetzt wird.
3.
Der Erfolg dagegen iſt nothwendig an ſeinen zu-
reichenden Grund gebunden, wenn dieſer, einmal ſo an-
genommen, wie er iſt, die zwote Bedingung, daß kein
Hinderniß erfolge, ſo in ſich enthaͤlt, daß dieſe letztere
aus dem erſtern, wie eine Folgerung, hergeleitet werden
kann. Wenn die wirkende Urſache durch nichts um ih-
re Wirkſamkeit waͤhrend der Aktion gebracht, und jene
nicht einmal geſchwaͤcht werden kann; wenn das Objekt
ihr nicht entzogen werden kann; wenn die Urſache un-
widerſtehlich wirket, und die Erfoderniſſe der Aktion
unveraͤnderlich ſind; wenn dieß alles beyſammen iſt: ſo
iſt das Wirklichwerden des Effekts eine nothwendige
Folge von der Wirklichkeit des voͤlligen Grundes. Die
Allmacht wuͤrde allemal nothwendig wirken, wofern
ſie nicht die Allmacht eines freyen Weſens waͤre, das
ſich
[141]und Freyheit.
ſich ſelbſt durch ſeine innere Selbſtmacht verhindern,
und ſeine Allmacht, ſo zu ſagen, auf halten kann.
4.
Von dieſer allgemeinen Zufaͤlligkeit der wirkenden
Verknuͤpfungen in der Welt iſt die innerliche Zufaͤllig-
keit noch ſehr unterſchieden, welche alsdenn Statt fin-
det, wenn die thaͤtige Urſache mit Freyheit wirket.
Wenn der Wind die Wolken treibet, der Blitz einſchlaͤ-
get, und das Waſſer Daͤmme fortreißet, ſo iſt es zwar
moͤglich, daß dieſe Wirkungen auch unter den naͤmli-
chen Umſtaͤnden haͤtten verhindert werden koͤnnen; aber
aus welchem Grunde, und welch eine Urſache haͤtte dieß
Hinderniß verſchaffen muͤſſen? Die Verurſachung der
Wirkungen war zufaͤllig, weil die wirkenden Urſachen
entweder fuͤr ſich zufaͤllig ſind, und, ob ſie gleich da wa-
ren, noch vorher, noch ehe ſie ihren Effekt hatten, auf-
gehaben werden konnten, oder weil ihre Thaͤtigkeit
uͤberwindlich und widerſtehlich war. Allein wenn ein
wirkliches Hinderniß haͤtte erfolgen ſollen, ſo wuͤrde eine
aͤußere Urſache erfordert worden ſeyn, die ſich zu ihnen
geſellen, und ſich in ihre Thaͤtigkeit einmiſchen konnte.
Die Zufaͤlligkeit der Verknuͤpfung ſelbſt iſt zwar, von
Einer Seite betrachtet, eine innere, und hat ihren
Grund in der Beſchaffenheit der Natur der wirkenden
Kraͤfte. Denn die hindernde Urſache mag wirklich da-
zwiſchen kommen oder nicht, ſo iſt doch die Wirkung
mit der angenommenen Urſache in einer ſolchen Ver-
knuͤpfung, die fehlen, geaͤndert und aufgehoben werden
konnte. Allein es enthaͤlt doch dieſe Zufaͤlligkeit zu-
gleich eine Hinſicht auf eine aͤußere Urſache, welche auſ-
ſer derjenigen, die hier wirket, und außer den Umſtaͤn-
den, unter denen ſie wirket, das iſt, außer dem indi-
viduellen zureichenden Grunde, vorhanden ſeyn ſoll.
Wie wir eine Sache fuͤr eine ſolche anſehen, die hervor-
gebracht werden kann, ſo muß nicht nur ihre Entſte-
hung
[142]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
hung von einem innern Widerſpruch frey ſeyn, ſondern
es wird zugleich angenommen, daß eine Kraft wirklich
exiſtire, welche das noͤthige Vermoͤgen, ſie hervorzubrin-
gen, beſitze. Man kann freylich auch wohl jene abſolute
Moͤglichkeit, daß naͤmlich die Sache werden koͤnne,
wenn nur eine Kraft da waͤre, die ſie hervorzubringen
das Vermoͤgen haͤtte, als ihre abſolute Moͤglichkeit zu
werden, oder als ihre innere Machbarkeit anſehen;
allein die naͤhere Moͤglichkeit, daß ſie gemacht und
hervorgebracht werden kann, ſetzet die dazu erfoderliche
Kraft als ſchon exiſtirend voraus. Soll alſo nach die-
ſen Begriffen nur alsdenn die urſachliche Verbindung
fuͤr zufaͤllig gehalten werden, wenn wirkliche Kraͤfte
mit hinreichendem Vermoͤgen vorhanden ſind, die unter
den angenommenen Umſtaͤnden dazwiſchen kommen, und
den Effekt verhindern koͤnnen, ſo iſt diejenige Zufaͤllig-
keit, welche in den Verknuͤpfungen der Koͤrperwelt an-
getroffen wird, nichts mehr als eine aͤußere Zufaͤllig-
keit, die ſich auf eine aͤußere Urſache beziehet, welche an-
derswoher dazwiſchen kommen kann.
Daher iſt auch dieſe Zufaͤlligkeit in der Verknuͤ-
pfung nicht mehr da, wenn dieſe Bedingung nur hin-
zugeſetzt wird, daß von außen nichts in den Weg tre-
te. Wirf den Funken in das trockne Pulver, und
nimm an, es ſey außer dieſen beiden in einander wir-
kenden Dingen und den ſonſtigen gewoͤhnlichen Umſtaͤn-
den nichts weiter vorhanden, was der zuͤndenden Kraft
des Feuers, und dem Feuerfangen und Zerplatzen des
Pulvers ſich entgegenſetze, ſo iſt genug angenommen.
Die Wirkung erfolget, und erfolget nothwendig unter
dieſen Vorausſetzungen.
Dagegen, wenn eine freye Urſache wirket, ſo iſt
es moͤglich, daß die Aktion unterbrochen oder verhindert
werde, wegen des Vermoͤgens zu dem Gegentheil, das
dem handelnden Weſen ſelbſt zukommt. Laß die freye
Urſache wirken, ſo kann die Wirkung ausbleiben, nicht
nur
[143]und Freyheit.
nur weil die Urſache fuͤr ſich gehindert werden kann,
ſondern auch weil ſie durch ihre eigene innere Kraft ih-
re Handlung unterbrechen kann, und dazu das volle
Vermoͤgen hat, ob ſie gleich jene |ihren Weg gehen
laͤßt. Hier iſt alſo in den freyen Handlungen eine in-
nere Zufaͤlligkeit, die das Daſeyn aͤußerer Urſachen
nicht erfodert, und die auch durch keine Gewalt von
außen aufgehoben werden kann, wofern nicht auch zu-
gleich die Handlung erzwungen werden, und eine freye
Handlung zu ſeyn aufhoͤren ſoll.
Um alſo die Wirkung einer frey handelnden Kraft
aus ihrer zureichenden Urſache herzuleiten, iſt es nicht
genug, dieſe letztere mit allen ihren Erfoderniſſen anzu-
nehmen. Es muß hinzugefuͤget werden, daß ſich von
außen kein Hinderniß einmiſche. Und noch nicht ge-
nug; es muß ferner hinzugefuͤget werden, daß ſich von
innen nichts einmiſche, naͤmlich daß die thaͤtige Kraft
ſich ſelbſt nicht zuruͤckhalte, oder ſich anders beſtimme.
Dieſe Verſchiedenheiten aus allgemeinen Begriffen
ſind doch zum mindeſten reelle Verſchiedenheiten, wel-
ches auch der Jndeterminiſt nicht ablaͤugnen wird, we-
nigſtens nicht darf, um ſein Syſtem zu behaupten. Er
laͤugnet nur, daß dieſe Zufaͤlligkeit fuͤr freye Handlun-
gen genuͤge. Aber dieß mußte von neuem zur Frage ge-
ſetzet werden.
Die hier erklaͤrte Zufaͤlligkeit iſt dieſelbige, welche
wir in unſern Erfahrungen bey der Seele antreffen. So
viel, nicht mehr, noch weniger enthaͤlt die Empfindung
unſerer Freyheit, als was in jenem Begriff enthalten
iſt. Vernunft und Erfahrung ſind in Harmonie mit
einander. Jch handle, ſo wie ich handle, nach zurei-
chenden Gruͤnden; aber ich kann anders handeln, durch
mich ſelbſt und aus mir ſelbſt, wenn ich meiner
ſelbſt maͤchtig bin. Jch hoͤre jetzo noch nicht auf zu
ſchreiben; dazu habe ich keinen Grund, und es gefaͤllt
mir
[144]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
mir nicht; aber ich fuͤhle und weiß es, daß ich doch das
ungekraͤnkte Vermoͤgen beſitze, jetzo die Feder wegzu-
legen, und meine thaͤtige Kraft anderswohin zu lenken.
Oder ſoll man nichts thun koͤnnen, was man nicht
wirklich thut? Was nicht anders geſchieht, das ſollte
auch nicht anders geſchehen koͤnnen? Einige haben
wirklich in den metaphyſiſchen Spekulationen ſich dahin
verloren, daß ſie endlich Seyn und Seyn koͤnnen,
Werden und Werden koͤnnen, fuͤr einerley angeſe-
hen, weil ſie die Graͤnzen dieſer beiden ſo auffallend un-
terſchiedenen Grundbegriffe nicht recht feſtzuhalten wuß-
ten. Und ohne Zweifel war die Verwechſelung dieſer
beiden Begriffe, die oft ſowohl in der philoſophiſchen
Sprache, als in dem gemeinen Ausdruck vorkommt,
eine große Veranlaſſung darzu. Was nicht iſt, was
gewiß und ſicher nicht iſt, wird oft ſo ausgedruckt,
daß es nicht ſeyn koͤnne; und von dem, was ge-
wiß iſt, ſagen wir oft: es iſt nothwendig. Um
alle Verwirrung in den Gedanken zu heben, muß ſolche
auch allerdings in der Sprache gehoben werden.
Leibnitz ſagte mit Recht: ohne zureichenden Grund
geſchieht nichts. Aber wer hat die Philoſophen be-
rechtigt zu ſagen: ohne zureichenden Grund koͤnne
nichts geſchehen. So wenig daraus, daß etwas nur
ſeyn kann, gefolgert werden darf, daß es wirklich
ſey; eben ſo wenig darf daraus, daß etwas nicht ge-
ſchieht, geſchloſſen werden, daß es nicht geſchehen
koͤnne. Wenn nun etwas keinen zureichenden Grund
hat, und alſo nicht geſchieht, wie kann man ſchließen,
es koͤnne auch nicht geſchehen. Faͤllt denn mit dem
Grunde der Wirklichkeit auch der Grund der
Moͤglichkeit, mit der wirklichen Anwendung eines
Vermoͤgens auch das Vermoͤgen ſelbſt weg.
Der Jndeterminiſt iſt mit keiner Moͤglichkeit des
Gegentheils, und alſo mit keiner Zufaͤlligkeit der
Sa-
[145]und Freyheit.
Sache ſelbſt zufrieden, ſobald ein voͤllig zureichender
oder beſtimmender Grund von ihr angenommen wird.
Die Zufaͤlligkeit iſt in ſeinen Augen keine wahre voͤllige
Zufaͤlligkeit, wenn nicht mit der vorhergehenden thaͤti-
gen Urſache und mit allen Erfoderniſſen der Handlung,
und ſo gar unter der Bedingung, daß kein Hinderniß
eintrete, es dennoch beſtehen kann, daß die Wirkung
unterbleibe. Jſt dieß das Weſen der Zufaͤlligkeit, ſo
erfodert Zufaͤlligkeit einen blinden Zufall in Hinſicht
deſſen, was geſchieht. Es iſt hier ein Princip der
Vernunft, woruͤber wir von einander abgehen. Aber
ich habe nirgends gefunden, daß man eine noch mehr
enthaltende Zufaͤlligkeit, als die oben erklaͤret iſt, in den
freyen Handlungen aus Beobachtungen erwieſen habe.
Man hat nur geſchloſſen, es muͤſſe ſolche vorhanden ſeyn,
weil ſonſten gar keine da ſey. Aber welche ſoll die wahre
Zufaͤlligkeit ſeyn? Etwan die innere Unbeſtimmt-
heit des ſich ſelbſt entſchließenden Princips in der Seele?
Dieſe iſt allerdings vorhanden, aber ſie beſteht ſehr
wohl mit dem Grundſatze von dem innern zureichenden
Grunde. Jch kann wollen und nicht wollen, und will,
wie mirs gefaͤllt; und wenn es mir gefaͤllt, daß ich will,
ſo behalte ich mein Vermoͤgen nicht zu wollen ſo gut,
als ich es vorher hatte. Aber iſt irgend ein Beyſpiel
vorhanden, daß ich gewollt haͤtte, ohne daß mir dieſe
Selbſtbeſtimmung entweder vorzuͤglich gefallen haͤtte,
oder doch ohne daß in den vorhergehenden Umſtaͤnden
etwas geweſen waͤre, warum ich mehr gewollt, als nicht
gewollt, mehr dieß Objekt als ein anderes gewollt haͤtte?
Soll dieſer Grund darum kein beſtimmender Grund
genennet werden, weil er wirklich die handelnde Kraft
nicht innerlich mehr zur Aktion zureichend macht, als
ſie es vorher war, ſondern nur als ein Objekt der Kraft
ſich darſtellet, ſo wuͤrde ich damit ſehr einig ſeyn, und
wuͤnſchen, daß er nicht beſtimmend genennet werden
IITheil. Kmoͤchte.
[146]XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
moͤchte. Denn was beſtimmet doch die Kugel, die
man eben der elaſtiſchen Feder vorleget, indem dieſe
ausſpringet, die Elaſticitaͤt derſelben und ihre innere
zureichende Kraft? obgleich dieſer Umſtand doch das
Warum enthaͤlt, daß die Kraft auf dieſe Kugel ange-
wendet wird! Warum ſoll dasjenige beſtimmend
heißen, was nicht aktiv beſtimmt? Aber ein Grund
oder ein hinreichender Grund wuͤrde es wohl heißen
muͤſſen. Doch an Worte ſollten ſich wenigſtens Philo-
ſophen nicht ſtoßen.
5.
Die metaphyſiſchen Gemeinbegriffe von dem Noth-
wendigen und Zufaͤlligen beduͤrfen ohne Zweifel ei-
ner ſorgfaͤltigen Pruͤfung. Es ſcheint, ſie haͤtten einen
Anſtrich von dem Jmaginairen an ſich, das die bilden-
de Phantaſie zu dem, was aus reinen Empfindungs-
ideen gezogen worden iſt, hinzuzuſetzen pfleget. Aber
Hr. Hume hat in ſeiner Analyſe des Nothwendigen
zu wenig geſehen. Denn Nothwendig iſt mehr, als
beſtaͤndig auf einerley Art ſeyn. Jndeſſen glaube
ich, da dieſe Begriffe vom Nothwendigen und Zufaͤlli-
gen ſo viele Verwirrung veranlaſſet haben, man thue
wohl, wenn man ſie mit allen uͤbrigen, die ſich auf ſie
beziehen, aus der Philoſophie wegließe, und das Reel-
le, was nun einmal in dieſen beiden Notionen, die
gleichſam zwey große Faͤcher des Verſtandes geworden
ſind, enthalten iſt, zertheilt aufſuche, und in andere
Gemeinbegriffe hineinbringe. Selbſt die gegenwaͤrtige
Unterſuchung uͤber die Natur der Freyheit giebt ein Bey-
ſpiel davon ab, daß Lehren, in denen man ſonſten ſo
oft um dieſe Notionen herumdrehet, eben ſo faßlich und
zuſammenhangend vorgetragen werden koͤnnen, wenn
man ſich gleich der Woͤrter, Nothwendig und Zufaͤllig
mit
[147]und Freyheit.
mit ſammt der Moͤglichkeit des Gegentheils in der phi-
loſophiſchen Sprache gaͤnzlich enthalten wuͤrde.
Jch will damit nicht ſagen, daß man ſich ihrer
nicht mit Nutzen bedienen koͤnne, wenn nur ihre Be-
deutung vorher ſo genau beſtimmt iſt, als ſie es bey all-
gemeinen Begriffen ſeyn muß, die wir zum Grunde
unſerer Schluͤſſe legen wollen.
Die Spekulationen uͤber die gedachten Begriffe
fuͤhren zu Diſtinktionen, die im allgemeinen vorgetra-
gen, fein genug ſind, um als ſachleere Spitzfindigkei-
ten zu erſcheinen, und ſind doch unvermeidlich, ſobald
man bis auf die erſten Gruͤnde zuruͤckgeht, wo die An-
faͤnge des Wahren und des Falſchen oft dicht an einan-
der liegen. Wer ſie vermeiden will, entſage dem Ver-
gnuͤgen aus der deutlichern Einſicht, und bleibe naͤher
bey den Empfindungen, die aber doch ſehr oft, und be-
ſonders hier, das Mikroſkop der Vernunft erfodern, wenn
man recht wiſſen will, was man ſiehet.
„Babuc*) ſprach mit dem Vornehmſten der Drui-
„den in Scythien, der auf den Groß-Lama zu Tibet
„uͤbel zu ſprechen war, weil dieſer ſich fuͤr unfehlbar
„haͤlt. Er verſicherte, die Druiden verdienten mehr
„geſchaͤtzt zu werden, weil ſie es Niemanden uͤbel deu-
„teten, wenn ſie von ihren Fehlern unterrichtet wuͤrden.
„Wie, ſagte der vornehme Geiſtliche, ſind Sie ein
„Unglaͤubiger? Glauben Sie, daß unſere Druiden
„fehlen? Fehlen zu koͤnnen und wirklich zu feh-
K 2„len
[148]XII. Verſuch. Ueb. die Selbſtthaͤtigk. ⁊c.
„len ſind zwey ganz unterſchiedene Dinge. Wir feh-
„len nie, aber wir geben es gerne zu, daß wir fehlen
„koͤnnen. Babuc, ſetzet der Erzaͤhler hinzu, der
„nicht ſcharfſichtig genug war, dieſen Unterſchied zu
„begreifen, ſchwieg und gieng fort.‟
Babuc hatte geſunden Menſchenverſtand. Aber
war die Diſtinktion der Druiden an ſich wohl unrichtig?
Jch kann vielleicht mit uͤberwiegenden Gruͤnden denje-
nigen widerlegen, der mir vorwirft, ich haͤtte in dieſer
oder jener Sache mich geirret. Aber nur ein Wort
dagegen ſagen wollen, daß ich irren koͤnne, wuͤrde Un-
ſinn ſeyn.
Drey-
[149]
Dreyzehnter Berſuch.
Ueber das Seelenweſen im Menſchen.
I.
Vorlaͤufiger Begriff von der thieriſchen Natur
des Menſchen und von dem Seelenweſen in
ihm.
Der Menſch iſt ein Thier, und hat als Thier eine
thieriſche Natur, die keiner ſcharfſinniger un-
terſuchet hat, als Hr. Unzer in ſeiner Phyſiologie
der Thiere. Als Thier beſitzt der Menſch Seelen-
kraͤfte und koͤrperliche Kraͤfte. Zu den letzten gehoͤ-
ren ſowohl die mechaniſchen, die eine Folge des Me-
chanismus des Koͤrpers ſind, als auch die Nerven-
kraͤfte. Dieſe letztern aber ſind gleichfalls koͤrperli-
che Kraͤfte wie die erſtern, und wie jene eine Folge der
Organiſation. Wir kennen ihre Natur nicht, und wiſ-
ſen von ihren Wirkungsgeſetzen noch wenig, aber ſo viel
laͤßt ſich ſagen, daß ihre Wirkungen aus den bekannten
Grundſaͤtzen der Mechanik zur Zeit noch nicht erklaͤret
werden koͤnnen, daher ſie auch durch den Namen der
organiſchen oder Nervenkraͤfte von den mechani-
ſchen ganz fuͤglich unterſchieden werden. Gleichwol
ſcheint es nicht zu bezweifeln zu ſeyn, daß ſie uns nicht
etwas naͤher bekannt werden koͤnnten, wenn eines Theils
nur die Mechanik der fluͤſſigen elaſtiſchen Koͤrper,
des Aethers, des Feuers, der Elektricitaͤt, des Magne-
tismus u. ſ. w. nicht ſo weit zuruͤck waͤre, als ſie
es iſt, und dann zweytens noch genauer aus Beobach-
tungen nach den Grundgeſetzen, wornach ſie wirken,
K 3gefor-
[150]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
geforſchet wuͤrde. Sie ſind indeſſen Kraͤfte materiel-
ler, koͤrperlicher Weſen, und wirken mit den Seelen-
kraͤften in Verbindung in dem Thiere, und zwar in ſo
inniger Verbindung, daß es auch darum, wenn nicht
ganz unmoͤglich, doch lange noch ſchwer ſeyn wird, ihre
Natur und Wirkungsart fuͤr ſich allein beſonders zu be-
trachten. Aus jener Verbindung entſtehet die thieri-
ſche Natur des Menſchen. Das Thier iſt das aus
Seele und organiſirtem Koͤrper beſtehende Ganze.
Der Menſch als ein Weſen, welches empfindet,
Vorſtellungen hat, denkt und will, beſitzet eine geiſti-
ge Natur, oder, wenn man nur auf das Allgemeinere
Ruͤckſicht nimmt, das auch den vernunftloſen Thieren
zukommt, eine Seelennatur. Jſt auch dieſe ein zu-
ſammengeſetztes Eins, und ſind die Kraͤfte und Ver-
moͤgen, die wir der Seele zuſchreiben, und fuͤr See-
lenkraͤfte anſehen, auch etwa nur Kraͤfte des Zuſam-
mengeſetzten, die in einer Verbindung von Kraͤften ei-
nes unkoͤrperlichen einfachen Weſens mit den Kraͤften
eines innern koͤrperlichen Seelenorgans ihren Grund
haben?
Jn dieſer dunkeln Gegend, die zu dem Jnnern
der Menſchheit gehoͤrt, habe ich, mit dem Senkbley der
Beobachtung in der Hand, etwas herumgeforſchet.
Von dem Wege, den ich genommen habe, und von
dem Erfolg meiner Bemuͤhungen will ich in dieſem Ver-
ſuche Nachricht geben. Jch denke nicht einmal auf eine
Entſchuldigung bey dem philoſophiſchen Leſer, auch bey
dem nicht, der am Ende wohl mit gutem Grunde ſagen
mag: „Nichts mehr, als das?‟
Wenn wir unſere Empfindungen, Vorſtellungen,
Gedanken und Neigungen und die dazu gehoͤrigen Thaͤ-
tigkeiten ſo nehmen, wie wir ſie mit unſerm Selbſtge-
fuͤhl faſſen und gewahrnehmen, und dieß alles als See-
lenveraͤnderungen und Seelenwirkungen anſehen, es
unter
[151]im Menſchen.
unter einander vergleichen, aufloͤſen und die einfachen
Grundkraͤfte dazu aufſuchen, ſo ſind wir in einem et-
was bekanntern Welttheile. Hier giebt es Erfahrun-
gen, die uns leiten und zurechtweiſen.
Aber wenn wir nun weiter fragen: was iſt dieß
fuͤr ein Weſen, dieſe Seele, dieſes Subjekt der Vor-
ſtellungen, dieſes thaͤtige, Empfindungen und Vorſtel-
lungen bearbeitende Weſen? Vorausgeſetzt, daß es
ein eigenes beſonderes Weſen in uns giebt, welches un-
ſer Jch ausmacht, und nun im pſychologiſchen Ver-
ſtande die Seele genannt wird. Sind denn die Vor-
ſtellungen in dieſer Seele Beſchaffenheiten ihrer Sub-
ſtanz, oder haben ſie nur ihren Sitz in dem Gehirn,
in einem koͤrperlichen ſenſorio communi, in dem Theile
unſers organiſirten Koͤrpers, der die innern Werkzeuge
der Seele und den koͤrperlichen Theil des Seelenweſens
im Menſchen ausmachet? Wie etwa der Ton, den
ein Jnſtrument angiebt, nicht in den Fingern des Spie-
lers iſt, ob dieſe ihn gleich hervorbringen?
— Dieſe Frage ſetze ich hier an der Spitze der
uͤbrigen; denn es wird ſich bald zeigen, daß hier die
Stelle ſey, wo die Betrachtung hinlaͤuft, und wo ſie
ihr Ende findet. —
Wenn wir dieß und mehreres fragen, was hieher
gehoͤrt, ſind wir denn auch noch in einer Gegend, wo
uns die Erfahrung leitet? Es giebt allerdings einige
Beobachtungen, die uns einigermaßen zurechtweiſen;
aber es ſind ihrer ſo wenige, daß man ſie nur wie eini-
ge Jnſeln anſehen kann, die hie und da auf einem großen
Ocean zerſtreuet, und in weiten Entfernungen ſtehen;
und davon uͤberdieß einige, die auf den Charten der neuern
Philoſophen geſetzet ſind, wirklich nicht ein wahres Land,
ſondern nur Nebelbaͤnke geweſen ſind; Phantaſien, nicht
Beobachtungen.
K 4II. Unſere
[152]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
II.
Unſere Vorſtellungen von der Seele und ihren
Veraͤnderungen ſind eben ſo, wie unſere Jdeen
von dem Koͤrper, nur Scheine.
Wir kennen unſer Empfinden, unſer Vorſtellen
unſer Denken, Wollen und ſo ferner, bis da-
hin, daß wir uns Jdeen von dieſen Operationen
unſers Selbſt machen, ſie mittelſt dieſer Jdeen verglei-
chen und unterſcheiden, auf die naͤmliche Art, wie wir
es mit den Jdeen von den Wirkungen und Kraͤften der
koͤrperlichen Dinge machen. Aber da wir die Jdeen
von jenen wie von dieſen aus den Empfindungen haben,
und da die Koͤrper und ihre Beſchaffenheiten, die der
aͤußere Sinn uns darſtellet, nur Phaͤnomene vor uns
ſind, was werden denn jene Seelenaͤußerungen, davon
der innere Sinn uns die Vorſtellung giebt, vor uns
ſeyn? Sind Empfinden, Denken, Wollen auch nur
Phaͤnomene?
Dieſer unbeſtimmte Ausdruck, den man ſeiner
Kuͤrze und zum Theil auch ſeiner Unbeſtimmtheit wegen
in der Philoſophie ſo oft gebrauchet, will doch, wenn
er deutlich erklaͤrt wird, nichts ſagen, was eigentlich
die Natur der Koͤrper außer uns und ihre Beſchaffen-
heiten angehet. Es iſt die ſubjektiviſche Natur unſerer
Jdeen von ihnen, die ſie vor uns zu Phaͤnomenen ma-
chet; und unſere Vorſtellungen von ihnen ſind Scheine
oder Erſcheinungen, und zwar aus einem zwiefachen
Grunde.
Erſtlich ſind unſere einfachſten Empfindungsvorſtel-
lungen verwirrte Vorſtellungen, die vieles und etwas
mannigfaltiges auf einmal in einander zuſammenlau-
fend uns darſtellen.
Dann ſind zweytens unſere Empfindungsideen von
den Beſchaffenheiten der Koͤrper nur relative Vorſtel-
lungen
[153]im Menſchen.
lungen von den Objekten, das iſt, ſolche Vorſtellungen,
welche nicht allein ſchon durch die Natur des vorſtellen-
den Weſens und deſſen Beziehung auf die Objekte das
ſind, was ſie ſind, ſondern die auch von der Beſchaf-
fenheit der ſinnlichen Organe, und andern außer der
Seele vorhandenen Empfindungserfoderniſſen, und von
der Lage des Objekts gegen die Organe abhangen.
Saunderſons Seele war daſſelbartige Weſen, wie
die unſrige, und dennoch waren ſeine Vorſtellungen von
dem Licht, von den Farben, von dem Raum u. ſ. f. von
den Jdeen, die wir von dieſen Gegenſtaͤnden haben, ſo
unterſchieden, wie es die koͤrperlichen Gefuͤhle der Aus-
dehnung, das Gefuͤhl von einer Linie, und das Ge-
fuͤhl von einer Bewegung, von den Jmpreſſionen ſind,
die in uns von den naͤmlichen Objekten vermittelſt der
Augen entſtehen. Unſere Geſichtsbilder haben etwas
an ſich, das ſie allein von dem Organ des Auges haben,
und Saunderſons Gefuͤhlsbilder hatten etwas an ſich,
das von den Organen des Gefuͤhls abhaͤnget. Abſo-
lute Vorſtellungen dagegen ſollen die ſeyn, welche jed-
wedes aͤhnliche vorſtellende Weſen, auf die naͤmliche Art,
von dem naͤmlichen Gegenſtande haben wuͤrde. Jene
ſind uͤberhaupt Erſcheinungen, und koͤnnen, wie man
leicht ſiehet, ihrer Natur nach nichts mehr, als einſei-
tige Jdeen ſeyn, die ihre Objekte nur von Einer Seite
und aus Einem Geſichtspunkte darſtellen, und alſo bey
weitem die beſtimmten Begriffe nicht ſind, wodurch die
Sachen, ſo wie ſie ſind, ihren innern Beſchaffenheiten
nach, rein und farbenlos abgebildet werden.
Eine von den beiden Urſachen, wodurch unſere
aͤußern Empfindungsideen zu verwirrten und zu einſei-
tigen Jdeen werden, iſt offenbar bey den innern Em-
pfindungsideen vorhanden, und von der andern iſt es
wahrſcheinlich, daß ſie auch da ſey. Was iſt uns alſo
K 5Buͤrge,
[154]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Buͤrge, daß unſere Jdeen vom Denken und Wollen
vollkommnere Jdeen ſind, als die von dem Licht und
von den Toͤnen? Der Eindruck von außen, der von
dem weißen Licht entſtehet, iſt keine einfache Empfin-
dung in dem Sinne, daß er ſelbſt als innerer Eindruck,
als Beſchaffenheit und Modifikation der Seele einfach
ſey; — denn er enthaͤlt wirklich etwas vielfaches, wie
der Lichtbuͤſchel, der durchs Auge gehet; — ſondern
wenn wir ihn fuͤr eine einfache Empfindung halten,
ſo iſt ers nur in ſo weit, als nichts mannigfaltiges in
ihm gewahrgenommen, oder nichts in ihm unterſchie-
den werden kann, weil wir nicht jedwede Elementar-
modifikation der Seele beſonders empfinden, von an-
dern abſondern, und mit einem eigenen Aktus des Em-
pfindens ſie bearbeiten koͤnnen. Nun ſind die innern
Modifikationen, deren Gefuͤhl unſer Selbſtgefuͤhl aus-
machet, darinn von den Jmpreſſionen von außen unter-
ſchieden, daß ſie andere Urſachen haben, die ſie her-
vorbringen. Sie entſtehen von innen und aus der Kraft
der Seele ſelbſt. Dieſe wirket zuruͤck, wenn ſie empfin-
det, iſt| thaͤtig, wenn ſie denket, beſtimmt ſich ſelbſt,
wenn ſie will, und die nachbleibenden Spuren von die-
ſen Aktionen ſind es, aus welchen wir unſere Vorſtel-
lungen von den Seelenaͤußerungen hernehmen. Sind
wir vergewiſſert, ja haben wir nur Einen Grund, es
fuͤr wahrſcheinlich zu halten, da es der Analogie ſo ſehr
entgegen iſt, daß die Aktus des Empfindens, des Den-
kens, des Wollens ſo einfach ſind, als ſie uns vorkom-
men? Jede einzelne individuelle Aktion, jedes Em-
pfinden, Denken, Wollen iſt etwas in Eins fortgehen-
des und erfodert ſeine Zeitlaͤnge, in der es entſtehet,
und hat ſeinen Anfang, ſeine Mitte und ſein Ende.
Vielleicht iſt gar jede beobachtbare Aktion aus heteroge-
nen Aktionen und Paſſionen zuſammengeſetzt, die fuͤr
unſere Abſonderungskraft zu unaufloͤslich und, einzeln
genom-
[155]im Menſchen.
genommen, unbeobachtbar ſind. Wenigſtens haben
wir keine Gruͤnde, dieß Vielleicht wegzulaſſen.
Was die zwote Eigenſchaft eines Phaͤnomens be-
trifft, daß naͤmlich die Jdee der Sache nur eine rela-
tive Jdee von uns ſey, die außer der Natur des vor-
ſtellenden Weſens von gewiſſen Werkzeugen des Vor-
ſtellens und von andern Umſtaͤnden abhaͤnget; ſo ſind
wir, das wenigſte zu ſagen, hieruͤber nicht voͤllig ſicher,
daß unſere Jdeen aus innern Empfindungen nicht eben
ſo wohl zu dieſen Klaſſen gehoͤren, als die Jdeen aus
den aͤußern Sinnen. Das Gegentheil wird vielmehr
wahrſcheinlich, und beynahe voͤllig gewiß, wenn man
auf die Art zuruͤckſiehet, wie ſolche Jdeen entſtehen. *)
Wie lernen wir unſer Gefuͤhl kennen, um nur dieß Eine
zum Beyſpiel hier wieder anzufuͤhren? Wir empfin-
den oder fuͤhlen den Eindruck von aͤußern Gegenſtaͤnden.
Alsdenn gehet etwas in uns vor, und die Seele wirkt
zuruͤck auf das Gehirn, indem ihre Kraft von den Be-
wegungen deſſelben modificirt wird. Nun hinterlaͤßt
der Aktus des Gefuͤhls eine Spur; es ſey unentſchieden,
ob in der Seele oder in dem innern Organ, oder in
beiden, genug daß ſolche in unſerm Seelenweſen zu-
ruͤckbleibet, das iſt, in dem Weſen, welches fuͤhlet;
und dieſe hinterlaſſene Spur muß von neuem gefuͤhlt,
abſonderlich gefuͤhlt und unterſchieden werden, wenn
eine Vorſtellung von dieſem Aktus des Fuͤhlens entſte-
hen ſoll. Um alſo dieſe Vorſtellung von dem Gefuͤhl
zu erhalten, iſt erfoderlich, daß wir den vorhergegan-
genen Aktus des Gefuͤhls in ſeiner fortdaurenden
Wirkung nochmals fuͤhlen und unterſcheiden; und als-
denn fuͤhlen wir uns ſelbſt auf eine aͤhnliche Art, wie
das Auge im Spiegel vermittelſt des reflektirten Lichts
ſich beſehen kann. Da nun der Aktus des Gefuͤhls
eine
[156]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
eine gleichzeitige Veraͤnderung des Gehirns erfodert,
und dieſe Organsbeſchaffenheit auch wiederum vorhan-
den ſeyn muß, wenn wir den Aktus des Fuͤhlens ge-
wahrnehmen ſollen, ſo folgt, daß unſere Vorſtellung
von unſerm Fuͤhlen auch von der Einrichtung des innern
Organs abhange, eben ſo, wie der erſte Aktus des Fuͤh-
lens ſelbſt zum Theil davon abhaͤnget. Ein anderes
Organ wuͤrde alſo eine andere Vorſtellung von dem Aktus
des Fuͤhlens geben.
Dieſe Anmerkung wirft ein undurchdringliches
Dunkel um das Jnnre unſerer Seelenaͤußerungen, un-
ſers Fuͤhlens, Denkens, Wollens u. ſ. f. worinn auch
das ſchaͤrfſte Auge nichts erkennen kann. So wenig
die erſten einfachen Elemente der Koͤrper und ihre ein-
fachen Wirkungen ſich durch die Zergliederung dem An-
ſchauen darſtellen laſſen, und ſo wenig jemals der ſchaͤrf-
ſte Blick des Menſchen in dem weißen Lichtſtrahl die
vereinigten Farbenſtrahlen unterſcheiden wird; eben ſo
wenig iſt zu erwarten, daß ein Beobachter ſeiner ſelbſt
durch die bloße Aufmerkſamkeit auf ſein Gefuͤhl es aus-
machen werde, ob die Seelenaͤußerungen, die vor ihm
einfach ſind, auch wirklich einfach oder zuſammengeſetzt;
und ob ſie aus einerleyartigen oder verſchiedenartigen
Beſtrebungen entſtehen? Das Fuͤhlen, das Denken,
das Selbſtbeſtimmen iſt vor uns etwas einfaches ohne
innere Mannichfaltigkeit; aber da es vor uns ein Phaͤ-
nomen iſt, ſo kann es entweder eine ſolche Empfindung
ſeyn, welche aus unterſchiedenen Theilen zuſammenge-
ſetzt iſt, wie die von dem weißen Lichte iſt, oder ſie kann
aus homogenen Kraftaͤußerungen beſtehen, wie die
Jdeen von den einfachen Grundfarben, von welchen wir
es noch nicht wiſſen, daß ſie heterogene Theile in ſich
enthalten.
Aber ich ſage nur, die Beobachtung allein
koͤnne hier nichts ausrichten, nicht eindringen, und
nichts
[157]im Menſchen.
nichts auseinanderſetzen. Ob denn auch durch andere
Wege, von hinten zu, durch Umwege, oder durch Rai-
ſonnements ſich nichts ausrichten laſſe? das iſt eine an-
dere Frage, die man nicht zugleich mit der erſtern ver-
neinen darf. Newton wußte es doch offenbar zu ma-
chen, daß das weiße Licht eine Vermiſchung verſchie-
denartig faͤrbender Strahlen ſey, obgleich weder das
bloße Auge noch das bewaffnete dieſe Beſtandtheile dar-
inn unterſcheiden konnte. Die chymiſche Aufloͤſung
der Koͤrper leget uns die einfachen Elemente der Koͤrper
nicht dar, und bringet uns in der That nicht einmal
ſo weit, daß wir durch ſie daruͤber gewiß werden, ob
es dergleichen wahre ſubſtanzielle Einheiten gebe, wie
die Philoſophen behaupten, und dennoch glaube ich es
den letztern, daß ſie vorhanden ſind, um ihrer Schluͤſſe
willen, womit ſie dieß erweiſen; und geſetzt, daß ich
es nicht glaubte, ſo wuͤrde ich doch die gaͤnzliche Unmoͤg-
lichkeit, durch die Beobachtung ſie zu erkennen, nicht
einmal unter die Gruͤnde meines Zweifels auffuͤhren.
Am Ende wird es alſo nur darauf ankommen, ob es
nicht andere Gruͤnde gebe, wornach wir die innere Ein-
fachheit oder Zuſammenſetzung unſerer Gefuͤhle einfa-
cher Seelenaͤußerungen beurtheilen koͤnnen.
III. Von
[158]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
III.
Von dem koͤrperlichen Beſtandtheile unſers See-
lenweſens.
- 1) Von dem Antheil des Gehirns an jedweder
Seelenaͤußerung. Von materiellen Jdeen. - 2) Von der Natur des Selbſtgefuͤhls der
Seele. Sie fuͤhlet und empfindet ſich auf
eine aͤhnliche Weiſe, wie das Auge ſich im
Spiegel ſiehet.
1.
Es giebt hier doch zween Saͤtze, die ſich ausmachen
laſſen, und die bey den weiter gehenden Raiſonne-
ments uͤber die Natur der Seele Leichtthuͤrme fuͤr uns
ſeyn muͤſſen. Der erſte iſt mehr ein Erfahrungsſatz;
der andere erfodert mehr Raiſonnement, wenn ſeine Ge-
wißheit einleuchten ſoll. Jndeſſen beſtehen ſie beide in
Begriffen und Urtheilen, die aus Empfindungen gezo-
gen werden.
Der erſte Satz iſt dieſer: „Zu jedweder Seelen-
„aͤußerung wirket ein gewiſſer innerer Theil unſers Koͤr-
„pers bey; wir moͤgen dieſen Theil das Gehirn, das
„ſenſorium commune, Seelenorgan, ſchema per-
„ceptionis, oder wie wir wollen, benennen.‟
Die andere Grundwahrheit iſt folgende: „Es giebt
„außer den gedachten koͤrperlichen Seelenorganen in
„uns ein Weſen, das zwar in Vereinigung mit jenen
„wirkt, aber fuͤr ſich ein eigenes beſtehendes Ding oder
„eine Subſtanz iſt, die wir die Seele in pſychologiſcher
„Bedeutung oder unſer Jch nennen. Und dieß letztere un-
„koͤrperliche Weſen iſt es entweder allein, was das empfin-
„dende, denkende und thaͤtige Seelenweſen im Menſchen
„ausmacht, oder es iſt doch der vornehmſte Theil dieſes
„Ganzen,
[159]im Menſchen.
„Ganzen, die Hauptſubſtanz deſſelben, deren Beſchaf-
„fenheiten und Aktionen das Weſentliche von dem aus-
„machen, was wir Empfinden, Denken und Wollen
„nennen, und der wir daher auch unſere Seelenbe-
„ſchaffenheiten und die Seelenkraͤfte und Seelenaͤuße-
„rungen als dem vornehmſten Weſen nicht unrecht bey-
„legen.‟
Zur Beſtaͤtigung des erſtern Satzes hier etwas
hinzu zu ſetzen, iſt uͤberfluͤßig. Die Phyſiologie und
Pſychologie hat nunmehr ſo viele Fakta geſammelt,
welche dieſe durchgaͤngige Mitveraͤnderung des Gehirns
zu allen Seelenveraͤnderungen offenbar machen, daß ſol-
che als außer Zweifel geſetzt angeſehen werden kann.
Jeder Eindruck von außen, jedes innere Gefuͤhl, jedes
Empfindniß, jede Vorſtellung, jede Jdee, jedes Wol-
len oder Beſtrebung und Thaͤtigkeit, mit einem Wort,
jede Modifikation, jedes Thun und Leiden der Seele
hat eine gewiſſe Modifikation des Gehirns mit ſich ver-
bunden, ohne welche jene nicht vorhanden iſt, oder
doch wenigſtens nicht ſo vorhanden iſt, daß wir ſie ſoll-
ten bemerken und gewahrnehmen koͤnnen. Die Ge-
hirnsveraͤnderungen dauren fort, ſo lange die Seelen-
veraͤnderungen dauren, nehmen mit ihnen zu und ab,
und hoͤren mit ihnen auf. Jhre Verbindung iſt auch
nicht bloß einſeitig, ſondern ſie ziehen einander wechſel-
ſeitig nach ſich. Wenn die Seele mit einem Spieler,
und das Organ mit einem Jnſtrument verglichen wer-
den ſollte, ſo muͤßte man zu dieſem Gleichniſſe hinzu-
ſetzen, daß die Finger des Spielers ununterbrochen
dicht an die Klaves oder an die Saiten des Jnſtru-
ments anliegen; und daß, wie jede Regung und Druck
von den Fingern in die Saiten des Jnſtruments uͤber-
gehet, ſich auch dagegen jede Bewegung, jeder
Schwung, jedes Zittern in den Saiten des Jnſtru-
ments
[160]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ments den Fingern des Spielers mittheile und dieſe zu
uͤbereinſtimmenden Bewegungen beſtimme.
Man hat einer Klaſſe von dieſen Gehirnsveraͤnde-
rungen den Namen der materiellen Jdee gegeben,
denen naͤmlich, die zu unſern Vorſtellungen und Jdeen
gehoͤren. Es kann aber dieſelbige Benennung auf alle
uͤbrige ausgedehnet werden, wie es auch von verſchie-
denen ſchon geſchehen iſt, und dann ſind alle Gehirns-
beſchaffenheiten, die unſere Seelenveraͤnderungen be-
gleiten, materielle Jdeen.
Aber bey dieſem Erfahrungsſatze iſt noch eine Frage
zuruͤck, die von großer Wichtigkeit ſeyn wuͤrde, wenn
wir nur Data haͤtten, ſie zu entſcheiden. Jede Seelen-
veraͤnderung wird von einer Gehirnsveraͤnderung beglei-
tet, und umgekehrt; aber ſind wir verſichert, daß dieſe
naͤmlichen Seelen- und Koͤrperveraͤnderungen einander
beſtaͤndig begleiten, die einmal in Geſellſchaft geweſen
ſind? Muß mit derſelbigen beſtimmten Seelenveraͤn-
derung die naͤmliche Gehirnsveraͤnderung in allen Faͤllen
verbunden ſeyn, die durch jene einmal veranlaſſet worden
iſt, oder auch ſelbſt die Seelenveraͤnderung zuerſt veran-
laſſet hat? Oder kann auch ſtatt dieſer eine andere vor-
handen ſeyn? Diejenigen, welche ſich beſtaͤndig beglei-
ten, ſind eigentlich nur harmoniſche, einander entſpre-
chende und zugehoͤrige Veraͤnderungen.
Gewiſſe Vorſtellungen moͤgen vielleicht mehrere
und verſchiedene Gehirnsbewegungen, und wiederum
dieſelbigen Bewegungen im Gehirn, nach der Verſchie-
denheit der Umſtaͤnde und der Lage der Phantaſie, bald
dieſe bald jene Seelenveraͤnderungen bey ſich fuͤhren,
ohne daß eben jede Veraͤnderung in einem Theile eine
gewiſſe beſtimmte Veraͤnderung in dem andern begleite.
Ein gewiſſer Hypochondriſt, den ich genau kenne, und
der ſeine Krankheit oftmals dazu gebraucht, die ſonder-
baren Wendungen der Einbildungskraft zu beobachten,
empfand
[161]im Menſchen.
empfand einen Magenkrampf, ſo oft ihn etwas lebhaft
ruͤhrte, die Urſachen ſeiner Leidenſchaft, die einzelnen
Vorſtellungen und die beſondere Art der Ruͤhrung moch-
ten ſeyn wie ſie wollten. Aber er empfand in jedem Fall
eine ſolche Verbindung zwiſchen dem Krampf in dem
Magen und der lebhaften Jdee in der Seele, daß er
verſicherte, er wiſſe es aus eigner Empfindung recht
anſchaulich, was jene Frau wohl moͤchte empfunden
haben, welche von ſich ſagte, daß ſie es fuͤhle, wie der
boͤſe Gedanke aus dem Magen in den Kopf hinauffteige.
War die Vorſtellung lebhaft, ſo fuͤhlte er ſeinen Krampf;
und regte ſich der Krampf von neuem, wenn er ſich der
Jdee entſchlagen | hatte, ſo ward auch dieſe letztere wie-
der erwecket. Die Vorſtellungen waren ſehr verſchie-
den |in den verſchiedenen Faͤllen, aber in ſeinen Gefuͤh-
len von den begleitenden Affektionen des Magens konnte
er mit aller Aufmerkſamkeit nicht gewahrnehmen, daß
ſie das eine Mal anders beſchaffen waͤren als die uͤbri-
gen Male. Sollte nicht die Verbindung zwiſchen den
Organsveraͤnderungen und den Seelenveraͤnderungen
auf eine aͤhnliche Art nur ſo unbeſtimmt ſeyn, ſo wie
ſie hier zwiſchen den Modifikationen in dem Kopfe und
in dem Magen waren?
Das angefuͤhrte Beyſpiel ſoll es nur erlaͤutern, wor-
uͤber hier noch Unterſuchungen anzuſtellen ſind, aber
nicht zum Beweiſe gebraucht werden, wie es denn auch
nichts beweiſen kann. Denn nicht zu erwaͤhnen, daß
man es noch fuͤr moͤglich halten kann, daß die Em-
pfindungen in dem Magen, welche das eine Mal einen
Verdruß, das andere Mal ein lebhaftes Verlangen,
und dann wieder eine vorzuͤgliche Freude begleitete, in
dieſen verſchiedenen Umſtaͤnden wirklich auch ſelbſt ver-
ſchiedene Gefuͤhle geweſen ſind, wenn gleich ihre Ver-
ſchiedenheit dem Beobachter unbemerklich blieb: ſo wuͤr-
de doch eine ſolche unbeſtimmte Verbindung zwiſchen
IITheil. LKopfs-
[162]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Kopfs- und Magensveraͤnderungen uns nicht berechti-
gen zu ſchließen, daß die viel innigere Vereinigung
zwiſchen Seelen- und Gehirnsveraͤnderungen nicht mehr
beſtimmt ſeyn muͤſſe. Jndeſſen habe ich dieß nicht un-
erinnert laſſen wollen, weil es Gelegenheit zu weitern
Nachforſchungen geben kann. Denn man ſieht leicht
ein, daß es ganz etwas anders iſt, wenn jedwede See-
lenveraͤnderung nur uͤberhaupt von einer Gehirnsveraͤn-
derung begleitet ſeyn darf, und wenn jedwede von jenen
nur eine beſtimmte von dieſen, und jedwede von dieſen,
nur eine beſtimmte von jenen neben ſich erfodert. Wenn
man die Erfahrungen pruͤfet, die man fuͤr den obigen
Allgemeinſatz anzufuͤhren pfleget, ſo wird man finden,
daß eine große Anzahl von ihnen am Ende doch nichts
mehr beweiſet, als daß uͤberhaupt eine Seelenveraͤnde-
rung mit einer gewiſſen Gehirnsveraͤnderung vergeſell-
ſchaftet ſey, ohne daß es daraus folge, daß die letztere
immer eben dieſelbige ſeyn muͤſſe.
Es faͤllt von ſelbſt auf, und es wird ſich unten noch
mehr zeigen, wie wichtig es fuͤr unſere Kenntniſſe von
der Natur der Seele ſeyn wuͤrde, wenn es ſich naͤher
ausmachen ließe, wie weit nur die eigentliche ſo genannte
Harmonie ſich erſtrecke, und wie weit alſo von dem
Daſeyn beſtimmter Seelenmodifikationen auf das Da-
ſeyn beſtimmter Koͤrperbeſchaffenheiten, und umgekehrt,
geſchloſſen werden koͤnne? Hr. Bonnet hat es ver-
ſucht, daruͤber durch ein Raiſonnement zu entſcheiden,
das ich unten zu pruͤfen mir vorbehalte.
So wie außer Zweifel iſt, daß, ſo oft ich dieß
Buch, welches vor mir lieget, ſehen ſoll, auch auf
der Netzhaut meines Auges daſſelbige Bild von dieſem
Objekt vorhanden ſeyn muß, und auch umgekehrt, ſo
oft dieß Bild auf meiner Netzhaut, die uͤbrigen Er-
foderniſſe vorausgeſetzt, vorhanden iſt, auch in der
Seele die naͤmliche Empfindung vorhanden iſt: ſo muß
auch
[163]im Menſchen.
auch uͤberhaupt wohl zugeſtanden werden, daß jede be-
ſondere Empfindungsvorſtellung in der Seele eine
eigene ihr zugehoͤrige materielle Jdee im Gehirn er-
fodere, ohne welche ſie nicht iſt, und mit der ſie zu-
gleich iſt.
Wenn man noch weiter gehet, ſo kann man daſſel-
bige auch wohl auf alle lebhafte Phantasmen ausdeh-
nen, die den Empfindungen nahe kommen. Jede leb-
hafte Erinnerung an ein geſehenes Ding, an einen Ton,
den man gehoͤret hat, oder an jedes andere empfundene
Objekt, erfodert, daß eine Gehirnsveraͤnderung in dem
naͤmlichen innern Organ vorhanden ſey, das iſt, daß
dieſelbige materielle Jdee wieder vorhanden ſey.
Aber wenn Vorſtellungen aus Einem Sinn an
Vorſtellungen eines andern Sinnes genau aſſociiret ſind,
und durch die letztern auf eine gleiche Art und in gleicher
Schwaͤche wieder erweckt werden, wie wir die Gedan-
ken bey dem Anblicke der Worte erneuern, womit ſie
bezeichnet ſind: ſollte eine ſolche entfernte, mittelbare und
ſchwache Wiedervorſtellung einer empfundenen Sache
nicht in der Seele vorhanden ſeyn koͤnnen, ohne daß
eben die erſte Gehirnsveraͤnderung, bey der die Vor-
ſtellung entſtanden iſt, auch wieder gegenwaͤrtig ſey?
Wenn alle Faſern, die das Organ des Gehirns auch
in dem Jnnern des Gehirns ausmachen, herausgezo-
gen oder unfaͤhig gemacht wuͤrden, ſinnlich veraͤndert
zu werden: wuͤrde daraus folgen, daß zugleich die ganze
Erinnerung der vorhin empfundenen Toͤne wegfallen
muͤßte? Sollten die Gehoͤrsideen nicht den Vorſtel-
lungen des Geſichts ſo innig einverleibet werden koͤnnen,
daß es genug ſey, wenn nur die Fibern des Sehorgans
und etwan auch ihre Nebenfaſern, durch welche ſie mit
den Fibern des Gehoͤrwerkzeuges verbunden ſind, und
die ſinnlichen Bewegungen auf die Gehoͤrsfibern fort-
leiten, im Stande ſind, ihre gewoͤhnlichen Dienſte zu
L 2thun?
[164]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
thun? Wenn es ſich ſo verhaͤlt, ſo wuͤrde es der ehema-
ligen materiellen Jdeen fuͤr die Toͤne in den Faſern des
Gehoͤrs nicht mehr beduͤrfen, und dennoch wuͤrden die
Vorſtellungen von Toͤnen in der Seele vorhanden ſeyn
koͤnnen.
Die Beobachtung verlaͤßt uns hier gaͤnzlich. Denn
wenn gleich das aͤußere Sinnglied Schaden leidet, wenn
Taubheit oder Blindheit entſtehet, und dennoch der
Menſch ſich der ehemaligen Jmpreſſionen aufs Auge
und Ohr erinnern kann: ſo laͤßt ſich, wie man wohl
ſiehet, daraus nicht ſchließen, daß dieß Unvermoͤgen,
ſinnlich beweget zu werden, ſich bis in die innern Theile
des Organs in dem Gehirn erſtrecke, wo die dadurch
erlangten materiellen Jdeen aufbewahret ſind, oder wo
wenigſtens die ſinnlichen Bewegungen nothwendig ſind,
welche die Phantaſien begleiten. Wir haben hier alſo
keine entſcheidende Beobachtungen, und alſo nur die
unſichere Analogie, die uns hieruͤber etwas lehren kann.
Auf der einen Seite iſt es wahrſcheinlich, daß
etwas von der erſten materiellen Jdee eines Tons wieder
erwecket werden muͤſſe, wenn die ihr zugehoͤrige Vor-
ſtellung in der Seele vorhanden iſt. Die materiellen
Geſichtsideen, die mit den materiellen Gehoͤrsideen ver-
bunden ſind, wuͤrden doch allein fuͤr ſich nichts enthal-
ten, was ſie zu materiellen Jdeen der Toͤne machte.
Wenn alſo die Vorſtellungen von Toͤnen dennoch in der
Seele in Geſellſchaft von jenen erneuert wuͤrden, ſo wuͤrde
folgen, daß dieſe Gehoͤrsvorſtellungen in der Seele kei-
ne ihnen insbeſondere entſprechende Organsveraͤnderun-
gen bey ſich haben, welches unwahrſcheinlich iſt. Zum
mindeſten muͤßte man doch annehmen, daß jenen ma-
teriellen Jdeen des Geſichts etwas Charakteriſtiſches
anklebe, was ihrer Verknuͤpfung mit den Vorſtellun-
gen von Toͤnen entſpricht. Dieß iſt der ſonſt bekannten
Analogie gemaͤß.
Hin-
[165]im Menſchen.
Hingegen iſt es auch eben dieſer Analogie nicht zu-
wider, wenn wir annehmen, daß nicht alle beſondere
Arten materieller Jdeen zu den ihnen Anfangs zugehoͤ-
rigen Jdeen in der Seele in gleichem Grade nothwen-
dig ſind. Und da kann es alſo, um die Vorſtellung ei-
nes Tons in Verbindung mit einer Geſichtsidee in der
Seele zu haben, vielleicht genug ſeyn, daß die mate-
rielle Jdee von dem Ton in dem innern Organ nicht
weiter erneuert werde, als ich es vorher geſagt habe.
Vielleicht iſt es genug, daß die aſſociirte Geſichtsidee
allein vorhanden iſt, wenn ſie nur ſo vorhanden iſt, mit
denſelbigen individuellen Beſchaffenheiten, wie ſie mit
der materiellen Jdee von dem Ton vorher aſſociiret war,
dergeſtalt etwan, daß die Bewegung oder Schwingung
in den Geſichtsfaſern ſich auch zugleich in die Zwiſchen-
faſern fortpflanze, wodurch die Geſichtsfibern und die
Gehoͤrsfibern ſonſten verbunden ſind, und ſich einander
zu ſinnlichen Bewegungen erwecken, ſo oft die Jdeen
des einen Sinns die aſſociirten des andern Sinns wie-
der hervorziehen. Wenn es ſich auf dieſe Art verhielte,
ſo wuͤrde man doch ſagen koͤnnen, daß die Jdeen von
Toͤnen in der Seele gegenwaͤrtig ſeyn koͤnnten, ob es
gleich an den Oſcillationen in den Gehoͤrsfibern, welche
das weſentlichſte Stuͤck der materiellen Jdeen von Toͤ-
nen ausmachen, mangelte.
Hieraus wuͤrde alſo folgen, daß die Gegenwart der
materiellen Jdeen in dem Gehirne, zu ihren Vorſtellun-
gen in der Seele, nicht uͤberall in einem gleichen Grade
nothwendig ſey. Dieß fuͤhret zu einer Mannichfaltig-
keit in dem Mehr und Weniger, von dem wir wiſſen,
daß die Natur ſie liebet, und dadurch wird ſie einiger-
maßen wahrſcheinlich. Die Erfahrung iſt nicht dage-
gen. Vielmehr laͤßt ſich aus dem, was wir bey der
Aſſociation der Empfindungsideen aus den uͤbrigen
Sinnen mit den Jdeen aus dem Geſicht antreffen, ei-
L 3ne
[166]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ne Anzeige hernehmen, die ſolches beſtaͤtiget. Vielleicht
iſt dieß eben das Mechaniſche in dem Gehirn, was der
Einverleibung der Jdeen verſchiedener Sinne in ein-
ander in der Seele entſpricht. *) Es ſcheint ſo, als
wenn das Organ des Geſichts am meiſten gebrauchet
wird, wenn der Verſtand arbeitet, und zwar auch als-
denn, wenn wir uns mit Gegenſtaͤnden beſchaͤfftigen,
die nicht ſichtbar ſind. Dieß laͤßt ſich auch an dem
aͤußern Theile deſſelben, an den aͤußern Augen und den
herumliegenden Gefaͤßen gewahrnehmen, welche auf-
laufen, wenn wir nachdenken. Vielleicht hat dieſe Be-
merkung die alte Meinung veranlaſſet, daß der Ver-
ſtand in dem Vordertheil des Kopfes ſitze. Wenn man
annimmt, daß die Aſſociation faſt aller Vorſtellungen
mit den Geſichtsideen nun auch die Folge habe, daß
die Gegenwart der Gedanken in der Seele am meiſten
und faſt allein nur ſinnliche Bewegungen in den Faſern
des Geſichtswerkzeuges erfodere, und daß die Schwin-
gungen oder materiellen Jdeen in dieſem die Stelle der
uͤbrigen zum Theil vertreten koͤnne, ſo haben wir we-
nigſtens einen naͤhern Grund, die erwaͤhnten Bemer-
kungen zu erklaͤren.
Jndeſſen bitte ich, zu glauben, daß ich dieſe letzte
Anmerkung fuͤr nichts mehr angeſehen haben wolle, als
fuͤr das, was ſie nur iſt, naͤmlich fuͤr einen Wink zu
neuen Vermuthungen, und, wenns ſeyn kann, zu
neuen Unterſuchungen.
Jch habe es mehrmalen erklaͤrt, daß dasjenige, was
wir von der Natur der materiellen Jdee wiſſen, nach
meiner Ueberzeugung beynahe ſo viel, als nichts, heiſ-
ſe. Da es Modifikationen und Beſchaffenheiten eines
Koͤrpers ſind, ſo koͤnnen wir zwar ſchließen, daß jede
Gehirnsveraͤnderung aus einer Bewegung entſtehe, und
die
[167]im Menſchen.
die ruhende, materielle Jdee, die von einer Empfindung
zuruͤckgeblieben iſt, entweder ebenfalls in einer Bewe-
gung oder doch in einer gewiſſen neuen Lage der Theile,
oder in einem Zuſatz oder in einer Entziehung gewiſſer
Partikeln, oder in dem einen und dem andern zugleich,
beſtehe; aber dieß alles iſt nur etwas allgemeines und
unbeſtimmtes. Die Erfahrung hat gelehrt, daß es
Nerven ſind, welche die weſentlichen Theile unſerer Em-
pfindungswerkzeuge ausmachen. Daraus iſt es wahr-
ſcheinlich, daß die innern Organe aus Nerven beſtehen,
und vermuthlich iſt es, daß außer dem Theile der Ner-
ven, den wir als einen feſten Theil anſehen, weil der
Zuſammenhang ſeiner Partikeln ihn von fluͤſſigen Din-
gen unterſcheiden laͤſſet, ſo weich ſie ſonſten auch ſind,
noch wol ein anderes fluͤßiges Weſen in ihnen vorhan-
den ſey, das man Nervenſaft und Lebensgeiſter und
Aether genennet hat, und daß dieſe Materie an ihren
ſinnlichen Bewegungen und Schwingungen Antheil ha-
be. Aber was iſt dieß fuͤr eine Materie? und was ſind
es fuͤr Bewegungen, die ſie annimmt? nach welchen
Geſetzen erfolgen ſie? nach den Geſetzen elaſtiſcher Koͤr-
per, des Aethers? Sind es Schwingungen? Wallun-
gen? Elektriſche Bewegungen? Es rathe, wer da
wolle.
Aber was indeſſen die Gehirnsveraͤnderungen oder
materielle Jdeen auch ſind, ſo laͤßt ſich doch ſo viel noch
hinzuſetzen, daß ſie etwas Mannigfaltiges in ſich ent-
halten, und in einer analogiſchen Beziehung ſowohl
auf die aͤußern Objekte ſtehen, von denen die ſinnlichen
Eindruͤcke herruͤhren, als auch auf die aͤußern Eindruͤ-
cke, die auf die aͤußern Theile der Organe gemacht wer-
den, und auch uͤberdieß mit den Seelenveraͤnderungen
ſelbſt in Verhaͤltniß ſtehen. Denn ſo wie die rothe
Farbe nicht die blaue Farbe in den Koͤrpern ſelbſt iſt,
und der Eindruck auf die Augen, ingleichen das Bild
L 4auf
[168]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
auf der Netzhaut von der rothen nicht einerley mit dem
Bild von der blauen iſt, ſo koͤnnen die ihnen zugehoͤri-
gen innern Gehirnsveraͤnderungen, die Fiberſchwingun-
gen, und die von ihnen zuruͤckgebliebenen, ruhenden, ma-
teriellen Jdeen, nicht von beiden die naͤmlichen ſeyn. So
ſind auch die ganzen Empfindungen nicht einerley, und
alſo auch die Beſtimmungen und Modifikationen der
Seele nicht. Die materiellen Jdeen ſind alſo einerley
und verſchieden, wie die Objekte außer uns und die
Seelenveraͤnderungen in uns es ſind, und das Mannich-
faltige in jenen beziehet ſich auf eine aͤhnliche Art auf
einander, wie das Mannichfaltige in den Zeichen und
Bildern auf das Mannichfaltige in den abgebildeten Sa-
chen. Wenn man will, ſo kann man die materiellen
Jdeen dieſer Analogie wegen Bilder der Gegenſtaͤnde
nennen.
Aber man wuͤrde viel zu voreilig ſchließen, wenn
man aus dieſer allgemeinen Analogie folgern wollte, daß
ſie in der Maße Bilder der Objekte ſeyn muͤßten, wie
die bekannten Bilder auf der Netzhaut im Auge es ſind.
So haben einige ſie ſinnreich gnug uns beſchrieben.
Solche Gehirnsveraͤnderungen, wie die materiellen
Jdeen ſind, koͤnnen vielleicht nicht mehr Bilder ſeyn,
als der helle Fleck, den man auf einem Papier ſiehet,
wenn man die durch ein erhabenes Glas fallenden Licht-
ſtrahlen, nicht an dem Ort des Bildes, ſondern naͤher
an dem Glaſe, oder weiter von ihm ab auffaͤngt, ein
Bild des Gegenſtandes iſt. Das verwirrte Licht auf
dieſer Stelle hat zwar ſeine analogiſche Beziehung ſo
wohl auf das Objekt vor dem Glaſe, von dem es ausge-
het, als auf das Bild in dem Vereinigungsort hinter
dem Glaſe, wo die von den einzelnen Punkten ausge-
henden Strahlen wieder in beſondere Punkte vereiniget
werden. Dennoch ſiehet man auf der erwaͤhnten hellen
Stelle nichts, dem man den Namen des Bildes bey-
legen
[169]im Menſchen.
legen wuͤrde, weil die Strahlen nicht wiederum in be-
ſondere Punkte vereiniget ſind. Koͤnnte nicht auf eine
aͤhnliche Art der Ort des Bildes in der Seele ſelbſt
ſeyn, und in dem Gehirn etwan nichts mehr als die
Strahlen, die zwar ihre gewiſſen Lagen und Richtun-
gen haben, aber unauseinandergeſetzt nur durchfahren?
Wo wuͤrde in dieſem Fall das Bildliche in der materiel-
len Jdee ſeyn, und wie viel wuͤrde es ſeyn außer der all-
gemeinen Analogie, die zwiſchen jeder Urſache und ih-
rer Wirkung, zwiſchen der Sache und ihren Zeichen
vorhanden iſt? Nur allein durch dieſe Analogie ſind
die ſogenannten materiellen Jdeen Jdeen, wie es die
Vorſtellungen uͤberhaupt ſind. *)
2.
Aus den beiden angefuͤhrten Grundſaͤtzen von der
Natur der Seele folget, wenn wir den zweeten hier ſchon
fuͤr eben ſo gewiß anſehen, als den erſtern, daß man
auf die Frage: Was iſt das Jch, welches empfindet,
denket, will? zunaͤchſt nichts anders antworten koͤnne,
als dieß: „es iſt ein Menſch, das empfindende, den-
„kende und wollende Ganze, das beſeelte Gehirn.‟
Es iſt weder das Gehirn allein, noch das unkoͤrperliche
Weſen allein, was wir fuͤhlen und uns vorſtellen, wenn
wir unſer Jch fuͤhlen und uns uns ſelbſt vorſtellen.
Man kann auf die Frage, welches iſt das den Ton her-
vorbringende Ding? nicht antworten, daß es der
Spieler allein ſey, noch daß es das Jnſtrument allein
ſey. Aber der Spieler iſt thaͤtig und wirket auf
die Saiten des Jnſtruments, und dieſe wirken auf
die Luft, und bringen eine zitternde Bewegung hervor,
die unſer Ohr empfaͤngt, die wir empfinden, und den
Schall nennen. Auf gleiche Art iſt dasjenige, was in
der Seele vorgehet, mit dem, was in| dem Organ vor-
L 5gehet,
[170]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
gehet, zuſammen genommen, das Empfinden, das
Denken, das Wollen.
Die Vereinigung dieſer beiden Theile mit einander
iſt ſo innig, daß jedes Gleichniß, welches man von an-
dern bekannten Arten von Vereinigungen hernimmt, um
jene zu erlaͤutern, etwas unanpaſſendes hat. Die Or-
gel ſpielet nicht von ſelbſt, und reißt den Finger des
Spielers nicht zu den zugehoͤrigen Bewegungen mit
ſich fort. Aber die Seelenmaſchine geraͤth oft durch
aͤußere Urſachen in Bewegungen, welche das Jch gerne
nicht fuͤhlen und unterdruͤcken moͤchte, aber es nicht
kann. Sollte auch das, was in dem Denken vorge-
het, nur allein aus dieſem Grunde dem Jch zugeſchrie-
ben werden, weil die Bewegung des Denkorgans doch
von der Wirkſamkeit des Jchs abhaͤnget, von dieſem
hervorgebracht, modificirt und unterhalten wird, ſo
muͤßte man es auch alsdenn dem |Gehirn zuſchreiben,
wenn dieſes die erſte Urſache iſt, von der die Thaͤtigkeit
des Jchs abhaͤnget, die das Jch in Aktion ſetzet, und
die Veraͤnderungen in demſelben beſtimmet. Es muß
alſo noch ein anderer Grund vorhanden ſeyn, der uns
berechtigen kann, unſer Jch fuͤr das eigentlich fuͤh-
lende und denkende Weſen zu halten, und das Ge-
hirn fuͤr ein Jnſtrument deſſelben, nicht aber umge-
kehrt unſer Jch fuͤr ein Jnſtrument des Gehirns, wo-
fern wir anders wirklich zu dieſer Vorſtellungsart einen
wahren Grund aus unſern Beobachtungen haben
koͤnnen.
Noch weiter, wenn ich mich ſelbſt und meine Aktio-
nen fuͤhle, was iſt alsdenn das Objekt meines Ge-
fuͤhls? Die reine Beobachtung kann, wie geſagt, nichts
anders antworten, als es ſey das Jch, was ich fuͤhle,
das fuͤhlende, denkende und wollende Ganze, das aus
einem Koͤrper und aus einer einfachen Seele beſtehet,
die eingekoͤrperte Seele, oder wie mans nennen
will
[171]im Menſchen.
will, das beſeelte Organ. Jndem ich mich ſelbſt in
meinen Wirkungen fuͤhle, empfinde ich etwas, das in
mir, dem Menſchen, iſt, und ich ſelbſt, der ichs fuͤhle,
bin ein Menſch. Mehr lehret die Beobachtung unmit-
telbar nicht.
Stellen wir uns das Fuͤhlen und Empfinden
ſo vor, wie es die Erfahrungen wenigſtens erlauben,
als eine Reaktion der Seele auf eine Gehirnsveraͤnde-
rung, ſo laͤſſet ſich die Art und Weiſe, wie das Selbſt-
gefuͤhl ſich aͤußert, noch etwas beſtimmter angeben. Ein
jedes Gefuͤhl iſt naͤmlich ein Aktus der modificirten
Seele, mit dem ſie gegen eine Gehirnsveraͤnderung
thaͤtig iſt. Sie kann dies nun zwar nicht ſeyn, ohne
ſich ſelbſt zu veraͤndern, indem ſie zur Reaktion uͤber-
gehet, und dadurch ihren eigenen Zuſtand veraͤndert;
aber eigentlich iſt doch das naͤchſte Objekt, auf welches
ſie zuruͤckwirket, das Gehirn und die materielle Jdee
in denſelben. Nehmen wir die Vorſtellungsart als die
wahre an, ſo kann die Seele ſich ſelbſt und ihre Aktio-
nen nur auf eine aͤhnliche Art in dem Gehirn empfin-
den, wie das beſeelte Auge ſich ſelbſt durch ein reflectir-
tes Licht im Spiegel ſehen kann. Jeder Aktus der
der Seele hat eine Wirkung im Gehirn nachgelaſſen,
und auch vielleicht in dem Jch oder in der Seele ſelbſt,
von der ich hier vorausſetze, daß ſie ein eigenes von
dem, was wir unter Organ und Gehirn uns vorſtel-
len, verſchiedenes Weſen ſey. Soll ich aber nun einen
ſolchen Aktus fuͤhlen, ſo muß eine Reaktion der Seele
auf jene bleibende Folgen deſſelben im Gehirn vor ſich
gehen. Das heißt, die Seele muß ſich fuͤhlen und ſe-
hen in dem Gehirn; da iſt ihr Spiegel, da ſtehen die
Wirkungen und Folgen ihrer Thaͤtigkeit abgedruckt, die
naͤmlich, auf welche ſie zuruͤckwirken, die ſie fuͤhlen und
gewahrnehmen kann.
Jch
[172]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Jch habe geſagt, die Seele ſehe ſich ſelbſt auf eine
aͤhnliche Art, wie das Auge ſich im Spiegel ſieht; aber
wenn das beſeelte Auge ſich ſelbſt ſiehet, ſo iſt es doch
unmittelbar nur die aͤußere Flaͤche des Auges, die
man nun fuͤr den naͤchſten Gegenſtand des Geſichts an-
nehmen kann; und der Gedanke, daß die Sache, oder
das Objekt, das ich ſehe, das beſeelte Auge eines le-
benden Weſens iſt, entſteht durch ein Raiſonnement,
wobey wir durch die Kunſt des Malers hintergangen
werden koͤnnen. Folglich ſiehet das beſeelte Auge nie-
mals ſich ſelbſt weiter, als an ſeiner aͤußerlichen Flaͤche
und an ſeinen Bewegungen, aber nicht inſofern es be-
ſeelt iſt. Soll alſo die Seele, die ſich ſelbſt fuͤhlt, auf
eine aͤhnliche Art nur das Gehirn fuͤhlen, ſo muß es bloß
eine Wirkung des Raiſonnements ſeyn, daß ſie ſich
ſelbſt zu fuͤhlen glaubt, da ſie nichts weiter als die aͤuſ-
ſern Abdruͤcke ihrer Thaͤtigkeiten aufs Gehirn unmittel-
telbar vor ſich hat. So verhaͤlt es ſich auch wirklich.
Denn wenn wir unſer Jch als das Objekt unſers Ge-
ſichts anſehen, ſo iſt außer dem bloßen Gefuͤhl auch ein
Gedanke da, der außer dem ſimpeln Aktus des Ge-
fuͤhls auch einen Aktus der eigentlichen Denkkraft erfo-
dert, jene Abdruͤcke im Gehirn als Wirkungen auf die
Seele, als ihre Urſache, beziehet, und dadurch dieſe
in jenen und durch jene erkennt. *)
Wenn wir die Ruͤckwirkung der Seele auf das mo-
dificirte Gehirn als das weſentliche Stuͤck in dem Aktus
des Fuͤhlens anſehen, woran wir eben nicht Unrecht ha-
ben, ſo koͤnnen wir zwar nun das Gefuͤhl, inſofern es
in dieſem zuruͤckwirkenden Aktus beſtehet, der Seele al-
lein mit Ausſchließung des Gehirns zuſchreiben, und das
modificirte Gehirn als den gefuͤhlten Gegenſtand anſe-
hen. Und in dieſem Verſtande iſt es weder das Ge-
hirn
[173]im Menſchen.
hirn, welches fuͤhlet, noch das Ganze aus der Seele
und dem Gehirn zuſammengeſetzt, ſondern die Seele
oder das Jch iſt es allein. Aber wir nehmen als-
denn auch unter der Benennung von Fuͤhlen nicht al-
les zufammen, was ſelbſt nach dieſer Vorſtellung wirk-
lich vorhanden iſt. Die Ruͤckwirkung der Seele auf
das Gehirn ſetzet nicht nur eine gewiſſe Modification in
dem Gehirn, ſondern auch eine Aktion des Gehirns auf
die Seele voraus, welche ſo lange beſtehen muß, als
die Reaktion der Seele dauert, und eben ſo unentbehr-
lich iſt, als die letztere, wovon ein Gefuͤhlsaktus ent-
ſtehen ſoll. Folglich iſt das Ganze, was alsdenn wirk-
lich in uns vorgehet, etwas in der Seele und in dem
Gehirn zugleich; und man muß wiederum ſagen, es
ſey der Menſch oder das Seelenweſen, welches fuͤhler,
das iſt, was in dem Aktus des Fuͤhlens wirkſam iſt.
Aber was das unmittelbare Objekt des Gefuͤhls be-
trifft, das wir vor uns haben, wenn wir fuͤhlen, ſo iſt
ſolches zwar eine Gehirnsbeſchaffenheit, allein dieſe iſt
mit einer harmoniſchen Beſchaffenheit der Seele verge-
ſellſchafftet, ohne welche ſie nicht beſtehen wuͤrde. Es
iſt das beſeelte Auge, nicht blos ein todes oder ein
gemaltes, welches von ſich ſelbſt im Spiegel geſehen
wird. Das ganze wirkliche Objekt, was gefuͤhlet wird,
iſt alſo eine Seelenbeſchaffenheit und Gehirnsbeſchaffen-
heit zugleich; oder es iſt der Menſch, der von dem
Menſchen gefuͤhlet wird.
Daraus aber, daß die Seele ſich auf eine aͤhnliche
Art fuͤhlen ſoll, wie das Auge ſich im Spiegel ſiehet,
wird man keine nachtheilige Folge gegen die Zuverlaͤſ-
ſigkeit des Gefuͤhls, oder eigentlich gegen die Zuverlaͤſ-
ſigkeit des aus dem Gefuͤhl entſtehenden Gedankens,
„daß es das Jch ſey, welches von ſich ſelbſt gefuͤhlet
„wird,‟ herleiten. Es kann freylich ein ſolcher Gefuͤhls-
gedanke unrichtig ſeyn, und iſt es vielleicht oftmals,
wenn
[174]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
wenn wir etwas in uns ſelbſt als gegenwaͤrtig empfin-
den, was doch nicht da iſt. Aber ſollte wohl die Schoͤ-
ne, die ſich beſpiegelt, zweifelhaft daruͤber ſeyn duͤrfen,
ob es auch ihr beſeeltes Auge ſey, was ſie jetzo ſiehet?
Obgleich ein fremdes und ein gemaltes Auge denſelbi-
gen Schein erregen kann, und wir es auch an den kleinen
Kindern ſehen, daß ſie Anfangs ſo wenig als ein Be-
wohner des Feuerlandes wiſſen, was ſie aus dem Bil-
de im Spiegel machen ſollen, wenn ſie ſich ſelbſt darin-
nen ſehen: ſo zeigen doch dieſe Erfahrungen nichts mehr,
als daß die Reflexion der Seele uͤber ſich ſelbſt und ins-
beſondere der Gedanke, das bin ich, und das iſt in
mir, und geht in mir vor, ebenfalls zu den Wirkungen
der Denkkraft gehoͤre, wozu dieſe ſich nur nach und nach
entwickelt, und daß eine ſorgfaͤltige Beobachtung ſeiner
ſelbſt vorausſetze, daß man ſchon aus der Kindheit her-
aus ſey. Aber wer wird darum das ſtarke Selbſtge-
fuͤhl in Zweifel ziehen?
Auf dieſen Umſtand, daß die Seele ſich ſelbſt, wie
das Auge im Spiegel, beſchauen koͤnne, muͤſſen die Phi-
loſophen nicht zuruͤckſehen, welche der Seele alle Er-
kenntniß von ſich ſelbſt und von ihrer Natur aus dem
Grunde abſprechen, weil ſie niemals ſich ſelbſt, ſondern
wie das Auge des Koͤrpers, nur aͤußere und fremde Ge-
genſtaͤnde empfinden koͤnne. Mich deucht, das Auge
ſehe ſich ſelbſt mit zuruͤckfallendem Licht ſo gut, als es
jedes andere Objekt mit gerade auffallendem ſehen kann.
Und ſo verhaͤlt ſichs auch bey der Seele. Hierinn
kann alſo kein allgemeiner Grund liegen, der Erkennt-
niß von der Seele eine weſentliche Dunkelheit zuzuſchrei-
ben, die bey unſerer Kenntniß von koͤrverlichen Dingen
nicht angetroffen werden ſollte. Wir kennen die Koͤr-
per und ihre Kraͤfte eben ſo wenig und unmittelbar als
die Seele, und erhalten von ihnen eben ſo, wie von
uns ſelbſt, nur Jdeen aus ihren Eindruͤcken und Wir-
kungen
[175]im Menſchen.
kungen auf uns. Eingeſchraͤnkter, unentwickelter, mehr
in einander laufend und verwickelter kann die eine Gat-
tung von Vorſtellungen und Kenntniſſen vor der andern
wohl ſeyn, und doch muß auch hierbey auf manche Be-
dingungen Ruͤckſicht genommen werden, wenn die Ver-
gleichung richtig gemacht werden ſoll; aber die Gattung
macht nicht mehr noch minder eine Erkenntniß aus, das
heißt, ſie iſt nicht mehr noch minder eine Seelenbeſchaf-
fenheit, die ſich auf ihre Objekte analogiſch beziehet, und
die wir unterſcheiden und bemerken, als die andere.
IV.
Von der Jmmaterialitaͤt unſers Jchs.
- 1) Ueber den Begriff von der Jmmateriali-
taͤt der Seele, und von einer ſubſtantiel-
len Einheit. - 2) Ob in der ſubſtantiellen Einheit eine
Vielfachheit von Beſchaffenheiten ſeyn
koͤnne? und inwiefern ihr eine ideel-
le Ausdehnung zukommen koͤnne? - 3) Wie weit zunaͤchſt aus der beobachteten
Einheit des Jchs auf die ſubſtantielle
Einheit der Seele gefolgert werden koͤnne? - 4) Jn wie weit die Seelenaktus nur kollekti-
ve ſolche Aktus ſeyn koͤnnen. Die kollekti-
ven Kraͤfte und Wirkungen ſetzen eine
ſubſtantielle Einheit voraus, in der die
Kollektion geſchieht, und in Hinſicht auf
welche ſie nur ſolche Kraͤfte und Wirkungen
ſind, als ſie ſind. - 5) Es iſt ein Unterſchied zwiſchen bloß kollek-
tiven
[176]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
tiven Kraͤften und Wirkungen, und zwi-
ſchen abſoluten Kraͤften und | Wirkungen
eines Dinges, die von ſeiner Verbindung
mit andern abhangen. - 6) Die naͤchſte Folge aus dem Vorhergehen-
den iſt, „daß, wenn unſer Jch aus meh-
„rern ſubſtantiellen Einheiten beſtehet, de-
„ren Kraͤfte und Aeußerungen, einzeln ge-
„nommen, von den Seelenaͤußerungen ver-
„ſchieden ſind, ſo muͤſſen jene Kraftaͤuße-
„rungen in jedweden einfachen Theil des
„Ganzen zuſammenlaufen, oder doch in Ei-
„nen von dieſen Theilen.‟ - 7) Ob dieß nicht ſo viel heiße, als: jedweder
Theil dieſes Ganzen muͤſſe ein fuͤhlendes,
denkendes und wollendes Jch ſeyn; oder
nur Einer dieſer Theile muͤſſe es ſeyn? - 8) Beſchluß dieſer Betrachtung. Das bis-
her Bewieſene fuͤhret nicht weiter als auf
eine Vorſtellung, die zwiſchen die gewoͤhn-
liche Vorſtellung der Jmmaterialiſten und
der Materialiſten faͤllt.
1.
Der zweete Grundſatz, ohne den man ſogleich die wei-
tere Unterſuchung uͤber die Natur des Seelenwe-
ſens abbrechen muß, beſteht darinn, daß außer dem
koͤrperlichen Antheil deſſelben ein immaterielles We-
ſen mit jenem verbunden ſey, und daß dieß letztere ei-
gentlich unſer Jch ausmache. Man mag ſich die Art
und Weiſe, wie dieß Jch mit dem materiellen Organ ver-
einiget iſt, vorſtellen, wie man will, es ſich wie eine un-
koͤrper-
[177]im Menſchen.
koͤrperliche Kraft vorbilden, die das Gehirn durchdrin-
get, oder wie ein Weſen, das ſeine eigene Stelle haben
muß, wo es von den koͤrperlichen Werkzeugen umgeben
iſt, und auf dieſe unmittelbar durch eine Art von Be-
ruͤhrung wirken kann. Jm Anfange der Unterſuchung
iſt hieran nichts gelegen, wenn nur das Daſeyn eines
ſolchen immateriellen Weſens beſtaͤtiget iſt. Jſt aber
dieß nicht, ſo faͤllt die neuere mechaniſche Pſycholo-
gie ſo gut dahin, als die alte intellektuelle, und wenn
alsdenn nichts mehr als die koͤrperliche Organiſation
des Materialiſten uͤbrig bliebe, ſo muͤßte man wenig
mit der Beſchaffenheit unſerer bisherigen Kenntniſſe
von organiſirten Weſen bekannt ſeyn, wenn man ſichs
auch nur als moͤglich vorſtellen wollte, daß die Philo-
ſophen uͤber die innere Beſchaffenheit unſers organiſirten
Seelenweſens etwas mehr als dichten und traͤumen
koͤnnten. Man mag immerhin ſagen, daß die Lehre
von der Jmmaterilaitaͤt der Seele wenig praktiſche
Folgen fuͤr unſere Hoffnung auf die Zukunft habe, die
mit dem entgegengeſetzten Materialiſmus nicht auch ver-
bunden werden koͤnnten. Jn einem gewiſſen Verſtande,
nur nicht gaͤnzlich, kann dieſes eingeſtanden werden;
aber hier iſt die Frage von einem theoretiſchen Grund-
ſatz, von dem wenigſtens ſehr vieles in der Erkenntniß
abhaͤngt, und mit dem viele pſychologiſche Raiſonne-
ments wegfallen muͤſſen. Mich deucht, allein in die-
ſer Hinſicht ſey die Jmmaterialitaͤt unſers Jchs der
ſcharfſinnigen Bemuͤhungen werth, die darauf verwen-
det worden ſind. Und wenn es auf der einen Seite ab-
ſchrecken kann, daß ſo viele von den Verſuchen, ſie zu
beweiſen und ins Helle zu bringen, vergeblich geweſen
ſind: ſo iſt es auch auf der andern Seite ein beſonderes
Phaͤnomen, daß ſowol die Beobachter als die freyeſten
und ſtaͤrkſten Raiſonneurs auf die Jdee eines einfachen
Jchs gekommen ſind, und ſich von ſeiner Wahrheit,
IITheil. Mjene
[178]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
jene durch ihr feines Gefuͤhl, dieſe durch ihre entwickel-
ten Demonſtrationen, uͤberzeugt gehalten haben. So
lange der Materialiſt das Spiel der Bilder in der Phan-
taſie aus dem Mechaniſmus der Gehirnfaſern erklaͤrt,
ſcheint es, es laſſen ſich ſeine Erklaͤrungen wol hoͤren;
aber ſobald das Gefuͤhl von unſerm Jch, das klare Be-
wußtſeyn unſer ſelbſt, unſers innern Wohls und Wehs,
unſers Denkens und Wollens und unſerer Freyheit wie-
der lebhaft wird, ſo draͤnget ſich uns auch wiederum der
Gedanke auf: dieß ſey doch mehr als ein Spiel der Faſern,
mehr als ein Zittern vom Aether und als Gehirnsbewe-
gungen, was dahinter ſtecke. Mein Jch iſt ein Eins, nicht
ein Haufen von mehrern Dingen. Vielleicht giebt es hier
einen richtigen Weg von dem Gefuͤhl zu dem Schlußſatz,
und vielleicht mehr als Einen, den der Verſtand inſtinkt-
maͤßig findet, aber nicht ſo auf hellen kann, daß er ſelbſt
den ganzen Gang ſeiner Reflexionen in ihrer Verbin-
dung deutlich und entwickelt ſich darſtellen koͤnne.
Die erſte Vorſtellung, die wir aus dem Selbſtge-
fuͤhl von einem Weſen uns machen, welches fuͤhlen,
denken, ſich bewußt ſeyn und wollen kann, iſt ſo ganz
heterogen von dem Begriff, den wir uns von der Ma-
terie und dem Koͤrper aus unſern aͤußern Empfindun-
gen abſtrahiren, und beyde ſind ſo unvergleichbar mit
einander, daß wir nothwendig Anfangs dieſe beiden Ar-
ten von Weſen als ganz verſchiedene Weſen uns vorzu-
ſtellen genoͤthigt ſind. Der Koͤrper leidet, nimmt auf,
wird modificirt, bewegt und wirkt zuruͤck; aber keine
Spur vom Gefuͤhl, von Apperception, Vergnuͤgen und
Verdruß, vom Wollen, vom Selbſtbeſtimmen liegt in
allen Eindruͤcken, die wir von ihm erhalten. Dieſe
erſte leichte Bemerkung fuͤhrt zugleich zu einer Folge-
rung, die nicht unerheblich iſt. Geſetzt, daß es den
Philoſophen nicht gelingen ſollte, es voͤllig evident zu
machen, daß die Thaͤtigkeiten der Seele durchaus kei-
ne
[179]im Menſchen.
ne Aktionen von Dingen ſeyn koͤnnten, die ſo wie Koͤr-
per aus andern einfachen Subſtanzen vereiniget ſind: ſo
muͤſſen dagegen die Verſuche der Materialiſten noch un-
gluͤcklicher ablaufen, wenn dieſe Denken, Empfinden
und Sichſelbſtbeſtimmen in Wirkungen koͤrperlicher Be-
wegungen aufzuloͤſen bemuͤhet ſind. Eben dieſes iſt
auch bis hieher durch den Erfolg beſtaͤtiget worden.
Denn dasjenige, was bisher zu der Abſicht geſagt iſt,
um Gefuͤhl und Bewußtſeyn aus koͤrperlicher Organiſa-
tion begreiflich zu machen, iſt ſo unbedeutend, daß es
kaum der Aufmerkſamkeit werth iſt. Daher auch die
Scharfſichtigſten unter den Materialiſten ſich lieber an
den aͤußern Gruͤnden halten, deren ganze Kraft, wenn
ſie ſolche beſaͤßen, darinn beſtehen wuͤrde, daß bloß ge-
zeiget wuͤrde, die Seele ſey koͤrperlich, ohne es begreif-
lich zu machen, wie ſie es ſey. Man beruft ſich, z. B.
auf die Analogie der Natur; dieſe ſoll es unwahr-
ſcheinlich machen, daß ein Weſen, wie der Menſch, aus
zwo Gattungen von heterogenen Weſen zuſammenge-
ſetzt ſey; und auf gewiſſe aͤußere Zufaͤlle der Seele, die
Beweiſe ihrer Abhaͤngigkeit von dem Koͤrper ſind. Was
jene betrifft, ſo ſcheint ein Mißverſtand zum Grunde zu
liegen, und wenn dieſer gehoben wird, ſo kann die Ana-
logie mehr gebraucht werden, die Jmmaterialitaͤt der
Seele zu beſtaͤtigen, als ſie zu beſtreiten, wie ich ſchon
anderſwo erinnert habe. Die uͤbrigen Phaͤnomene be-
weiſen am Ende weiter nichts, als daß die Seele ohne
Koͤrper ſich ſo wenig als Seele beweiſen koͤnne, als ein
Virtuoſe ohne Jnſtrument ſich als einen Spieler zeigen
kann; oder doch nur, daß bey organiſirten Koͤrpern auch
Bewegungen ohne Seelenkraͤfte ſich zeigen, dergleichen
die von der Reizbarkeit abhangenden Zuſammenziehun-
gen ſind, die wir nicht kennen, und die denen, welche
in unſerm beſeelten Koͤrper angetroffen werden, und in
dieſem von dem Beſtreben der Seele abhangen, von
außen und in einem gewiſſen Grade aͤhnlich ſind.
M 2Es
[180]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Es iſt alſo, die Sache in ihrer Beziehung auf die
Natur unſerer Kenntniſſe betrachtet, nicht abzuſehen,
wie die Vernunft zu irgend einer feſten Entſcheidung
hieruͤber gelangen koͤnne, wofern nicht den Jmmateria-
liſten endlich der oft verſuchte Beweis gelinget, daß ein
ſolches Weſen wie unſer Jch iſt, unmoͤglich zuſammen-
geſetzt und materiell ſeyn koͤnne. Denn das Gegentheil,
welches Lock bloß nicht fuͤr ganz unmoͤglich hielt, daß
Gott der Materie eine Kraft zu denken beylegen koͤnne,
liegt ſo weit von den bisherigen Graͤnzen unſerer Er-
kenntniß, wie ich wenigſtens meine, entfernt, daß, im
Fall es auch eine Wahrheit enthaͤlt, doch zur Zeit kein
Anſchein vorhanden iſt, wie dieſe in den Umfang un-
ſerer gewiſſen Kenntniſſe hineingebracht werden koͤnne.
Alles wird in Moͤglichkeiten, Vermuthungen und hoͤch-
ſtens in Wahrſcheinlichkeiten beſtehen muͤſſen, wofern
nicht die Vertheidiger der Jmmaterialitaͤt auf ihrer Sei-
te ſich endlich zur Evidenz durcharbeiten. Und da auf
dieſer Seite die Hoffnung am ſtaͤrkſten iſt, ſo will ich
es verſuchen, eine Hand mit anzulegen, indem es zu mei-
ner gegenwaͤrtigen Abſicht eigentlich gehoͤret, das zuſam-
men zu ſuchen, was uͤber die Natur unſers Seelenwe-
ſens ſich mit einiger Gewißheit feſtſetzen laͤßt. Man
wird es alſo fuͤr keine Ausſchweifung halten, wenn ich
hier meine Gedanken ſo weit herſetze, als ich glaube,
daß man feſte Ueberzeugung erlangen koͤnne. *)
Aber
[181]im Menſchen.
Aber es iſt eine Hauptſache, daß man zum Vor-
aus ſich wohl bedenke, was man hier eigentlich unter
der Jdee eines immateriellen Weſens ſich vorzuſtel-
len habe, dergleichen die Seele ſeyn ſoll. Hr. Prieſt-
ley ſcheint ſich daran zu ſtoßen, daß Seele und Koͤrper
ſo ſchlechterdings ungleichartige Weſen ſeyn ſollen, da-
von das Eine Beſchaffenheiten beſitze, die den Be-
ſchaffenheiten des andern gerade entgegengeſetzt ſind,
und haͤlt es darum fuͤr unwahrſcheinlich, daß der
Menſch aus ſo heterogenen Theilen beſtehe. Nun iſt
es zwar wahr, daß immateriell und materiell nach
dem Sinn der Jmmaterialiſten als ſolche einander
entgegengeſtellet werden; aber wenn Hr. Prieſtley
Leibnitzen und Wolfen ſtudieret haͤtte, ſo wuͤrde er
gefunden haben, daß, nach der Meinung mancher Phi-
loſophen, jene Heterogeneitaͤt nur ſo weit gehe, als die
Verſchiedenheit zwiſchen Einem Dinge und zwiſchen
einem Haufen von mehrern, die mit einander
vereinigt ſind. Die Seele iſt nur Ein fuͤr ſich be-
ſtehendes Ding, Eine Kraft; der Koͤrper iſt ein aus
mehrern Einheiten beſtehendes Ganzes, deſſen Theile
mit einander dem Ort nach vereiniget ſind; und Ma-
terie iſt das Aggregat, oder die Menge ſolcher einfachen
Subſtanzen, wenn man ihre beſtimmte Vereinigung zu
M 3Einem
*)
[182]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Einem Ganzen in Gedanken bey Seite ſetzet. Nach
der Jdee dieſer genannten Philoſophen iſt der Koͤrper
ein Jnbegriff ſolcher Einheiten, die einzeln fuͤr ſich ſogar
vorſtellende Weſen ſind, wie es die Seele auch iſt,
und von denen die letztere nichts anders als einen hoͤ-
hern Grad, eine Groͤße und Staͤrke der Vorſtellungs-
kraft voraus hat. Die Seele, als das Jch, verhaͤlt ſich
zu ſeinem Koͤrper, ſo wie der Chef einer Armee ſich zu
dem Haufen der einzelnen Soldaten verhaͤlt, die zu-
ſammen genommen die Armee ausmachen.
Ohne auf das Eigene in dieſen Leibnitziſchen Jdeen
Ruͤckſicht zu nehmen, ſo iſt doch auch, nach der allge-
meinen Meinung der Jmmaterialiſten, die Seele ſelbſt,
eben ſo wohl als die einfachen Elemente des Koͤrpers, ein
einfacher Beſtandtheil des ganzen Menſchen. Nur
wie unter den uͤbrigen Elementen ſelbſt eine große innere
Verſchiedenheit ihrer Kraͤfte und Vermoͤgen, Modifi-
kationen und Wirkungen Statt finden kann; ſo iſt es
ja auch moͤglich, daß das einfache Jch ſeine eigenen
habe. Von jenen haben wir keine Begriffe, weil wir
nur Begriffe haben von dem, was ſie ſind, wenn ſie
zu ganzen Haufen im Koͤrper vereinigt ſind, oder eigent-
lich von dem, was ſie zu ſeyn ſcheinen; aber wenn ſie
uns bekannt waͤren, ſo wuͤrde vielleicht am Ende die
Heterogeneitaͤt der Seele von den uͤbrigen nicht groͤßer
ſeyn, als dieſer ihre unter ſich iſt. Wer es wahr-
ſcheinlich findet, daß der letzte Stoff aller wirklichen
Materie und aller Koͤrper einerley Natur ſey, und daß
alle Verſchiedenheit der Koͤrper nur von der Art der Zu-
ſammenſetzung abhange, wird auch keine Unmoͤglichkeit
in der Leibnitziſchen Hypotheſe finden, daß die Ele-
mente des Koͤrpers mit der Seele gleichartiger, vorſtel-
lender Natur ſind? Mit einem Wort, die Heteroge-
neitaͤt der Seele und des Koͤrpers, worauf alles bey ih-
rer Jmmaterialitaͤt ankommt, iſt keine andere, als die
Hete-
[183]im Menſchen.
Heterogeneitaͤt eines einzigen Waſſertroͤpfchens und ei-
ner Maſſe Waſſers, die aus ſolchen vereinigten Troͤpf-
chen zuſammengeſetzet iſt. Das immaterielle Jch
iſt als ein ſolches nur Ein Ding, und das materielle
Gehirn iſt eine Menge vereinigter Dinge. Und
aus dieſem Unterſcheidungsmerkmal entſpringt die Ent-
gegenſetzung ihrer beiderſeitigen Beſchaffenheiten, Hand-
lungen und Wirkungen. Jenes kann nicht in mehrere
Theile zerlegt werden, da jedes auch ein fuͤr ſich beſte-
hendes Weſen iſt, wie der Koͤrper. Dieſen muß
man ſich als ein aus ſubſtantiellen Einheiten beſte-
hendes Ding vorſtellen, wofern man nicht zu den alten
ariſtoteliſchen Jdeen von der ſubſtantiellen Form zu-
ruͤckgehen will, die man ſich als etwas, das die Mate-
rie durchdringet, ſich in ihr verbreitet, ihr beywohnt,
und mit ihr vereiniget iſt, abbildet. Es iſt leicht ein-
zuſehen, daß dieſe Begriffe aus dem Schein, den wir
von den Koͤrpern erlangen, abſtrahiret ſind. Aber eine
naͤhere Entwickelung dieſer verwirrten ſinnlichen Jdeen
hat es, man kann ſagen, entſchieden, daß die Koͤrper
aus Theilen beſtehen, die von einander wirklich abge-
ſondert ſind, und nicht in einander fortlaufen, wenn
gleich oft dicht an einander anliegen (partes diſcretae);
und daß jene alſo Einheiten in ſich faſſen, die nicht von
neuem aus andern trennbaren Einheiten zuſammen-
geſetzt ſind. Dieß, was ich bisher nur als die Vor-
ſtellungsart der Jmmaterialiſten angefuͤhrt habe, iſt,
meiner Meinung nach, die richtige, wofern nicht etwa
von neuem die Begriffe von Materie und Koͤrper
zweifelhaft gemacht und der philoſophiſche Lehrſatz, daß
es einfache Weſen oder Monaden gebe, und daß
dieſe die letzten Beſtandtheile des Koͤrpers ausmachen,
verworfen werden ſoll. Allein, wer hiebey noch an-
ſtoͤßt, ſollte der auch wol genug vorbereitet ſeyn, um
mit der beſondern Unterſuchung uͤber die Einfachheit der
M 4Seele
[184]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Seele ſich befaſſen zu koͤnnen? Da beide Partheyen,
die in der Pſychologie als Materialiſten und Jmma-
terialiſten ſich entgegen ſind, gewoͤhnlicher Weiſe ſich
uͤber jenen Grundſatz vereinbaret haben, oder es doch
vorher noch thun muͤßten, ehe ſie uͤber die Natur der
Seele beſonders mit einander ſich einlaſſen: ſo deucht
mich, man koͤnne bey dieſem Grundſatz einen feſten
Punkt annehmen, und, ohne weiter in metaphyſiſche
Unterſuchungen hinein zu gehen, vorausſetzen, daß es
ſolche Einheiten gebe, und daß die Seele, auch wenn
ſie Materie und Koͤrper iſt, aus ſolchen beſtehen muͤſſe.
Dieſer Grundbegriff von der ſubſtantiellen Ein-
heit iſt ſehr einfach. Sie iſt ein fuͤr ſich beſtehendes
Ding. Das Materielle iſt etwas, welches mehrere
ſolche Einheiten als ſeine Theile in ſich hat. Alle
Veraͤnderungen in jener ſind Veraͤnderungen in einer
und eben derſelbigen Kraft; in einem und demſelbigen
Dinge; dagegen in der Materie, ſo genau auch ihre
Theile mit einander vereiniget ſind, dennoch jedes einzel-
ne Element ſeine eigne Kraft wie ſein eignes Beſtehen
hat. Einer ihrer Beſtandtheile iſt nicht der andere;
die Kraft der einen Monade iſt nicht die Kraft der an-
dern. Die Veraͤnderung in der Einen iſt nicht die Ver-
aͤnderung in der zwoten, ſo innig ſich dieſe auch einan-
der mittheilen. Dieß iſt eine leicht auffallende Folge-
rung aus dem Vorhergehenden.
2.
Dieß iſt noch nicht alles, was vorher zu thun iſt,
ehe wir die Sache voͤllig im Freyen vor uns haben.
Waͤre es nur etwan um ſolche Erinnerungen zu thun,
die fuͤr den Metaphyſiker brauchbar ſind, wenn er ſeine
Spekulationen uͤber die Subſtanzen mehr berichtigen
und beſtimmen will: ſo wuͤrde ich ſie hier vorbeylaſſen.
Aber da gewoͤhnlicher Menſchenverſtand, der ohne all-
gemeine
[185]im Menſchen.
gemeine Vernunfttheorie uͤber dieſe Sache urtheilet,
ſie durch ſeine verwirrten Gemeinbegriffe, als durch ge-
faͤrbte Glaͤſer, anſiehet; ſo muß auch dieſer daruͤber erin-
nert werden, um zu wiſſen, woran er ſich zu halten
habe, wenn ihn ſeine Scheine verwirren. Es eraͤugnet
ſich hier, was ſich ſo oft eraͤugnet. Nicht ſowohl die Ein-
ſicht der Wahrheit ſelbſt iſt ſchwer, wenn man ſie nur
erſt gerade vor ſich hat; aber ſie iſt mit fremden Geſtal-
ten und ſchwankenden Bildern umgeben. Wenn man
die Sache in der Naͤhe anſieht, ſo findet man das nicht
an ihr, was alles in den verwirrten Bildern enthalten
war, die man in der Ferne hatte, und wird ungewiß,
ob man auch dieſelbige Sache ſehe. Und wenn man
dieſe nun einmal ſcharf gefaßt hat, und es auch weis,
daß man ſie habe, ſo ſchweben uns doch die verwirrten
Bilder von neuem wieder vor, wenn wir nur ein wenig
uns von der Betrachtung entfernen. Alsdenn ſieht
wieder alles dunkel und neblich aus. Ob die Seele ei-
ne immaterielle Subſtanz ſey, oder Materie, wird
ſich, wie ich meine, leicht begreifen laſſen, wenn wir
erſt recht wiſſen, wonach wir fragen, und dann nach-
her nur nicht wieder dadurch irre werden, daß wir nicht
wiſſen, welche Geſtalt und Figur wir ihr beylegen
ſollen.
Es lehrt die Beobachtung, daß die Seele vielerley,
das iſt mehrere und verſchiedene Vermoͤgen beſitze, und
vielerley Arten von Veraͤnderungen annehme. Jn ihr,
was ſie auch iſt, giebt es alſo eine gewiſſe Mannich-
faltigkeit. Kann dergleichen in einer ſubſtanziellen
Einheit ſtatt finden, oder hat dieſe Einheit doch eine
gewiſſe ideelle Ausdehnung? Theile, die von ein-
ander verſchieden ſind, und auch außer einander ſind,
wie die Punkte einer Kugel? und, wenn ſie ſolche hat,
wie kann ſie denn eine einfache Subſtanz ſeyn, die
unzertheilbar und unaufloͤslich iſt?
M 5Was
[186]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Was die ſogenannte unkoͤrperliche Ausdehnung
oder ideelle Extenſion betrift, die einige Philoſo-
phen als eine allgemeine Eigenſchaft aller Subſtanzen
uͤberhaupt anſehen und glauben ſolche nothwendig ei-
ner jeden zuſchreiben zu muͤſſen, ſo iſt es, meiner Mei-
nung nach, nicht zu zweifeln, daß ſolche nicht als ein
anpaſſendes ſinnliches Bild von der Mannichfaltig-
keit der Beſchaffenheiten in einem Dinge ſollte
gebraucht werden koͤnnen (multitudo affectionum in
vno ente phaenomenon.) Denn wenn wir ein Weſen
uns vorſtellen, das von einer gewiſſen Groͤße iſt, und
einen Raum einnimmt, worinnen ſich Theile und
Punkte unterſcheiden laſſen, auf eine aͤhnliche Art, wie
in einem geometriſchen Koͤrper, das iſt, in einer in
Eins fortgehenden Ausdehnung nach allen Di-
menſionen: ſo iſt es klar, daß dieſe Theile nicht eige-
ne, abzuſondernde und fuͤr ſich beſtehende Weſen ſeyn
koͤnnen. Der Geometer theilet ſeinen Raum durch
Flaͤchen, Linien und Punkte; aber die wahre geometri-
ſche Jdee eines Kontinuums oder einer Ausdehnung;
die in Eins fortgehet, bringet es mit ſich, daß jede ſie
durchſchneidende Flaͤche, Linie oder Punkt ſelbſt ein
Stuͤck von ihr ſey, das ſowohl dem einen als dem an-
dern der geſchnittenen Theile gemeinſchaftlich zukommt,
und zugleich das Ende des einen und der Anfang des
folgenden iſt. Alſo werden dadurch die Theile nicht
als beſondere Stuͤcke fuͤr ſich abgeſchnitten, wie die
Theile der wirklichen Koͤrper. Jene machen nur Ein
Ganzes aus. Dieſen Unterſchied zwiſchen dem Kon-
tinuum und dem ſogenannten Diskretum uͤberſah
Sextus Empitikus, als er gegen die Geometer diſpu-
tirte, und ihnen ihre Theilung einer Linie in zween gleich
große Theile ſtreitig machen wollte. Wo zwo phyſi-
ſche Kugeln einander beruͤhren, da hat doch jede fuͤr ſich
ihren eigenen beſondern Umfang, und es giebt alsdenn
zween
[187]im Menſchen.
zween ſich einander beruͤhrende Punkte, die ganz nahe
an einander liegen, die aber nicht in Einen Punkt zu-
ſammenfließen. Zwo geometriſche Kugeln dagegen
fließen in Einen Punkt zuſammen, wenn ſie ſich beruͤh-
ren, ſo daß der Beruͤhrungspunkt ſowohl ein Punkt in
der einen als auch in der andern zugleich iſt, und beiden
zugehoͤret. Der Begriff von dem Kontinuum hebt alſo
die wirkliche Abſonderung und die beſondere Beſteh-
barkeit der Theile ganz auf. Dieſe Theile bleiben nichts
mehr, als Theile, die unterſcheidbar von einander ſind,
und außer einander exiſtiren, die partes extra partes,
nach dem alten Ausdruck, aber nicht von einander
abgeſondert ſind, nicht ſo, daß jeder fuͤr ſich ſein eige-
nes Beſtehen haben koͤnne.
Auf dieſelbige Art verhaͤlt es ſich mit den Be-
ſchaffenheiten, die wir uns in den Subſtanzen vor-
ſtellen, und als in dieſen vorhanden von einander unter-
ſcheiden. Man ſehe auf den Urſprung der Begriffe
von Subſtanzen und Beſchaffenheiten zuruͤck, ſo wie
ſolcher oben angegeben worden iſt.*) Die Jdee von
der Beſchaffenheit iſt eine Jdee von einem Theil oder
von einem Zuge eines unzertrennlichen Ganzen, der
aber fuͤr ſich allein nicht iſt. Wir koͤnnen, wie ſchon
Leibnitz richtig geſagt hatte, die Beſchaffenheit fuͤr
nichts anders anſehen, als fuͤr die ſo beſchaffene Sub-
ſtanz in der Abſtraktion vorgeſtellet, indem wir die
Seite einer Sache als eine eigene Sache anſehen. Die
Bewegung, z. B. iſt der bewegte Koͤrper in dieſem Zu-
ſtande der Bewegung vorgeſtellet, und dann dieſen Zu-
ſtand beſonders in einer eigenen Jdee gefaßt. Es war
eine ungemein leere Fiktion, womit ſich die Scholaſti-
ker quaͤlten, und uͤber die auch neuere Philoſophen ſo
manche unverſtaͤndliche Lehrſaͤtze von Weſen und For-
men
[188]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
men vortragen, wenn man die Subſtanz oder das
Subſtanziale in ihr, dem Jnbegriff aller Beſchaf-
fenheiten entgegenſetzte, und jenes als eine gewiſſe
Grundlage ſich vorſtellte, worauf die Beſchaffenheiten
aufgeklebet, und mit dem insbeſondere das Weſen,
oder die Form, oder die Grundbeſchaffenheiten un-
zertrennlich vereiniget waͤren. Nach der Entſte-
hungsart dieſer Gemeinbegriffe, kann man die Be-
ziehung der abſoluten Beſchaffenheiten in den Sub-
ſtanzen auf die Subſtanz ſelbſt nicht beſſer vorſtellen,
als wenn man ſie fuͤr das anſieht, was die einzelnen un-
terſcheidbaren Punkte eines Kontinuums in dem Ganzen
ſind. Nicht Theile, aus denen das Ganze, wie ein
Koͤrper aus ſeinen Stuͤcken, zuſammengeſetzt iſt oder zu-
ſammengeſetzet werden koͤnnte, ſondern wie ſo etwas,
das zuſammen ein Eins ausmacht, und das einzeln ge-
nommen, nur unterſcheidbare Stellen und Zuͤge in dem
Eins ſind.
Eine ſolche ſubſtanzielle Einheit beſitzet alſo nur Eine
und dieſelbige Kraft; und wenn gleich eine Veraͤnderung
in ihr nicht ebendieſelbe iſt, wie eine andere, ſo ſind
doch beide in demſelbigen Dinge. Jeder Eindruck an
jeder Seite, auf jeden Punkt iſt zugleich ein Eindruck
aufs Ganze, verbreitet ſich durchs Ganze, und iſt nur
zuerſt unmittelbar eine Modifikation an Einer Stelle,
aber zugleich eine Modifikation an allen, die durch alle
Punkte geht, und in einem und demſelbigen Dinge ſich
eraͤugnet.
Jſt dagegen ein Ding aus mehrern ſubſtanziellen
Einheiten zuſammengeſetzt, wie die Koͤrper ſind, ſo zieht
zwar die Vereinigung der Theile unter einander die
Folge nach ſich, daß jeder Eindruck auf einen Theil ſich
durch das Ganze verbreitet; aber da dieſe Theile fuͤr
ſich beſtehende unterſchiedene Weſen ſind: ſo iſt doch
niemals die geſammte Modifikation, die in dem Gan-
zen
[189]im Menſchen.
zen iſt, in Einem Dinge beyſammen. Denn die Eine
Haͤlfte der Beſchaffenheit befindet ſich als eine Beſchaf-
fenheit an der Einen Haͤlfte der einfachen Subſtanzen,
und die andere Haͤlfte von ihr in den uͤbrigen. So
aͤhnlich und gleichartig dieſe Beſtandtheile auch ſeyn
moͤgen, ſo ſind ſie doch nicht Ein und daſſelbige Ding.
Wenn nur dieſes Unterſcheidungsmerkmal deutlicher
entwickelt werden koͤnnte! Denn daß es es nicht kann,
iſt eben die Urſache von der Dunkelheit in ſo vielen der
beſten Beweiſe, die man fuͤr die Jmmaterialitaͤt der
Seele gegeben hat. Wenn jede Veraͤnderung in einem
Theile zugleich eine Veraͤnderung in dem Ganzen iſt,
und in demſelbigen Ganzen: wie unterſcheidet man es,
ob jene Theile nur Beſchaffenheiten einer einfachen
Subſtanz ſind, Seiten von ihr, ſubſtanzielle
Punkte, wenn ſie ſo heißen ſollen; oder ob ſie fuͤr
ſich beſonders beſtehende und trennbare Weſen
ſind? Und wenn man auch erweiſen kann, daß in Ei-
nem und demſelbigen Dinge, worinn ein Theil von ei-
ner Modifikation ſich befindet, auch die geſammte Mo-
difikation begriffen ſey: ſo iſt noch immer die Ausflucht
uͤbrig, daß dieß Eins und daſſelbige Ganze vielleicht
Eins und daſſelbige zuſammengeſetzte, nicht aber Eins
und daſſelbige Einfache, ſeyn koͤnne. Es iſt eine große
Verſchiedenheit zwiſchen dieſen beiden Faͤllen, die wir
klar genug fuͤhlen. Denn da, wo doch etwas zwiſchen
zweyen vertheilet iſt, da iſt nicht das Ganze in Einem
und demſelbigen Dinge, worinn nur die Eine Haͤlfte iſt.
Aber daran fehlt es, daß dieſer Unterſchied nicht ſo deut-
lich gemacht werden kann, daß ſich ſolcher noch anders
als aus dem Gefuͤhl erkennen laͤßt, indem man dieſe
beiden unterſchiedenen Vorſtellungen gegen einander
haͤlt. Dieß Gefuͤhl des Unterſchiedes ſcheim zu ver-
ſchwinden, ſobald wir die Jdeen nicht mehr ſo voͤllig
anſchaulich vor uns haben.
Jſt
[190]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Jſt die ideelle Extenſion ein brauchbares ſinnli-
ches Bild von der Mannichfaltigkeit in der Ein-
heit beider Subſtanzen, und iſt es alſo auch erlaubt, die
immaterielle Seele uns wie ein Weſen von einer gewiſ-
ſen Geſtalt und Form vorzubilden, um dem Verſtande
ihre Betrachtung zu erleichtern, ſo iſt noch dieſes eine
zwote Frage: ob ſie auch etwas mehr als ein ſolches
Bild ſey? Muß das Einfache nothwendig einen Raum
auf eine ſolche Art einnehmen? Dieß wird man wohl
ſchwerlich einraͤumen, wenn man weis, woher und
auf welche Art die Jdee vom Raum in uns entſtehet.
Sie iſt aus den Geſichts- und Gefuͤhlsempfindungen
her.*) Das Ohr empfindet ſowohl mehrere verſchie-
dene Toͤne zugleich, als Einen Ton auf einmal; aber
dieſe Vereinigung in den Gehoͤrseindruͤcken giebt uns
kein ſolches Bild von der Ausdehnung, wie wir aus
dem Geſicht und aus dem Gefuͤhl dadurch erlangen, daß
jeder Eindruck ein gleichzeitiger vereinigter Eindruck von
vielen iſt. Die innern Selbſtgefuͤhle geben uns eben
ſo wenig ein ſolches Bild. Was iſt alſo die Frage:
ob die Seele, vorausgeſetzt daß ſie eine ſubſtanzielle
Einheit ſey, eine Ausdehnung an ſich habe, und von
welcher Figur und Geſtalt ſie ſey? anders, als die Frage
jenes Blinden: welchen Ton die rothe Farbe habe? oder
die Frage eines Gehoͤrloſen: auf welche Art der Ton einer
Trompete gefaͤrbet ſey? Wenn naͤmlich unter der Jdee von
der ideellen Ausdehnung das Beſondere in unſerm
Bilde einbegriffen iſt, und alſo noch etwas naͤher beſtimm-
tes darinnen lieget, als in dem Allgemeinbegriff von Man-
nichfaltigkeit der Beſchaffenheiten in der fuͤr ſich
beſtehenden Einheit: wer kann denn ſagen, daß die
Seele zu der Art von Objekten gehoͤre, die durchs Ge-
ſicht oder durchs aͤußerliche koͤrperliche Gefuͤhl empfun-
den
[191]im Menſchen.
den werden, und alſo einen ſolchen Schein hervorbrin-
gen koͤnnen, als der iſt, den wir von der Ausdehnung
haben? Wenn aber nichts mehr durch die ideelle Aus-
dehnung dem Einfachen beygeleget wird, als uͤberhaupt
Mannichfaltigkeit in Einem: ſo wird dieſe Benennung
in einem tranſcendenten und allgemeinem Verſtande ge-
nommen, in dem man ſo wohl eine Beſchaffenheit der
Seele, als anderer einfachen Subſtanzen, daraus ma-
chen kann.
3.
Wenn wir auch nichts mehr, als dieſe Begriffe zur
Fertigkeit gebracht haben, ſo zeiget ſich unmittelbar
aus den Beobachtungen eine gewiſſe Einheit unſers
Jchs, bey der es zwar noch nicht entſchieden iſt, daß ſie
eine ſubſtanzielle Einheit ſey, die aber doch fuͤr ſich allein
ſchon eine fruchtbare Vorſtellung giebt. Sie verdienet,
fuͤr ſich erwogen zu werden.
Es iſt ein ſo ſehr erwieſener Beobachtungsſatz, als
es ſonſten einer ſeyn kann, „daß das Jch, welches
„ſiehet, das naͤmliche iſt, welches hoͤret, ſchmecket,
„riechet, fuͤhlet, denket, will;‟ wenn wir auch nicht
wiſſen, worinn dieſe Aeußerungen der Seele beſtehen,
und nur ſo verwirrte und relative Vorſtellungen davon
haben, als unſere Scheine von den Koͤrpern ſind. Jch,
der ich fuͤhle, denke, afficirt werde, leide, handle, bin
ſo ſehr Eins und daſſelbige Weſen, Ding oder Kraft,
wie man es nennen will, daß ich keinen Begriff von ei-
ner groͤßern Jdentitaͤt habe, als dieſe Jdentitaͤt meines
Jchs iſt. Jch kann mir nicht vorſtellen, daß A mehr
einerley mit A, oder ein Ding mehr einerley mit ſich
ſelbſt ſeyn koͤnne, als das Jch, welches denket, es
iſt mit dem Jch, welches will.
Es mag wohl ſeyn, daß dieß Jch, wenn ich ſehe,
in Verbindung mit den Augen wirket, das iſt, mit ei-
nem
[192]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
nem gewiſſen unterſchiedenen Theile des Koͤrpers, und,
wenn ich hoͤre, in Verbindung mit einem andern Theile
des Koͤrpers. Jſt es ſo, ſo wird folgen, daß das ganze
Ding, welches veraͤndert wird, wenn ich ſehe, nicht
daſſelbige iſt mit dem Ganzen, welches veraͤndert wird,
wenn ich hoͤre, u. ſ. f. Allein ſo viel iſt offenbar, es iſt
Ein Ding vorhanden, was ich vorzugsweiſe mein Jch
nenne, und dieß iſt in allen den genannten Seelenaͤuße-
rungen immer ebendaſſelbige.
Dieß erſtrecket ſich auf die kleinſten und einfachſten
Handlungen und Leidenheiten, deren ich mir bewußt bin.
Jch bin daſſelbige Jch, welches das ganze Gemaͤlde
uͤberſieht, und welches einen einfachen Strich darauf ge-
wahr wird; daſſelbige, was in ſolchen Faͤllen, wo wir
ſagen, daß wir mit uns ſelbſt uneins ſind, bald zum
Beyfall, dann zur Abſtimmung ſich neiget; jetzt zum
Wollen, und im Augenblick darauf, ehe der Entſchluß
ſich voͤllig entwickelt, wieder zum Nichtwollen gereizet
wird.
Dieß wichtige Datum laͤßt doch zunaͤchſt ſo viel
deutlich einſehen. Wenn auch das Jch ein aus meh-
rern einfachen Weſen beſtehendes Ganze iſt, ſo muß
zwiſchen den ſubſtanziellen Einheiten, woraus es beſteht,
eine durchgaͤngige und einige Vereinigung ſtatt finden.
Jede merkbare Veraͤnderung des Einen Theils muß
ſich durch das Ganze verbreiten, und alle uͤbrigen Be-
ſtandtheile daran Antheil nehmen laſſen. Denn wollte
man ſich vorſtellen, daß etwan Einem der Beſtandtheile
unſers Jchs das Sehen, und einem andern das Hoͤren
ausſchließungsweiſe zukomme; daß alſo die mancherley
Geſchaͤffte der Seele zwiſchen dieſem Weſen ſo vertheilet
ſind, wie die Geſchaͤffte eines Kollegiums zwiſchen meh-
rern Mitgliedern deſſelben, davon jeder fuͤr ſich in ſei-
nem eigenen Fach arbeitet, ohne daß der andere an ſei-
nen meiſten Verrichtungen Antheil nimmt; ſo haben
wir
[193]im Menſchen.
wir eine Jdee, die ſich mit den Beobachtungen ſchlecht-
hin nicht vereinigen laͤßt. Giebt es beſondere Theile,
die zunaͤchſt die Eindruͤcke bey beſondern Empfindun-
gen annehmen: ſo muͤſſen die uͤbrigen davon zugleich
auch mit veraͤndert, und die Veraͤnderung muß eine
Veraͤnderung des Ganzen werden. Und dieß muß ſich
auf jeden einzelnen Aktus des Geſichts, des Denkens
und des Wollens erſtrecken, den wir als eine Aeuſſerung
unſers Jchs gewahrnehmen. Denn in dem entgegen-
geſetzten Fall iſt es unmoͤglich, daß es ebendaſſelbige
Ding ſeyn koͤnne, welches die einen und auch die uͤbri-
gen Wirkungen hervorbringet. Jn der Uhr iſt es die
Feder, welche treibet, und der Zeiger, der auf dem Zif-
ferblatte herumgehet; aber ſo gewiß es iſt, daß jedes
dieſer Stuͤcke der Maſchine ſein eigenes Geſchaͤffte habe,
welches nicht das Geſchaͤffte des andern iſt, ſo gewiß
falſch iſt es auch, daß ebendaſſelbige Weſen, welches
das Uhrwerk treibet, auch dasjenige ſey, welches un-
mittelbar die Stunden anzeiget. Nur ein Wortſpiel
wuͤrde es ſeyn, wenn Jemand darauf beſtehen wollte,
daß doch gleichwol der ganzen Uhr, beides, die Ver-
richtung der Feder und des Zeigers, zugeſchrieben wer-
den koͤnne. Wo wir ſo gewiß verſichert ſind, daß meh-
rere Wirkungen Einer und derſelbigen Kraft zugehoͤren,
als wir es bey den Wirkungen unſers Jchs ſind, da
koͤnnen ſolche zwiſchen mehrern Dingen, die nur neben
einander ſind, nicht vertheilt gedacht werden. Dieſe
Dinge muͤſſen zum mindeſten ſo mit einander vereini-
get ſeyn, daß Jedes-Jedem das Seinige mittheile, und
daß Jedes an den Veraͤnderungen eines Jeden ſo viel
Antheil nehme, als dieſe Veraͤnderungen in Einem und
demſelbigen Dinge ſind.
Es folget ferner, daß unſer Jch ein Weſen ſey,
welches von allem dem, was wir unter der Jdee vom
koͤrperlichen Organ der Seele uns vorſtellen, un-
IITheil. Nter-
[194]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
terſchieden iſt, und daß es auch den ganzen Jnbegriff
unſerer Organe nicht ausmachen koͤnne. Die aͤußern
Werkzeuge der Empfindung, ſo weit wir ſie kennen,
ſind auf ſolche Art mit einander nicht verbunden, daß
nicht jedes ſeine ſinnlichen Modifikationen fuͤr ſich haben
koͤnne. Der Eindruck von dem Licht iſt in dem Auge,
wenn wir ſehen, aber dieſer Eindruck iſt keine Veraͤnde-
rung in den Ohren. Denken wir uns unter dem Be-
griffe von Werkzeugen ſolche Theile des Koͤrpers, die
zu beſondern Arten von Veraͤnderungen ausſchlieſ-
ſungsweiſe gehoͤren, ſo iſt das Jch von allen dieſen
Organen zuſammengenommen, ſo weit unterſchieden,
als das beſeelte Gehirn von den aͤußern Gliedmaßen des
Koͤrpers iſt. Aber freylich kann auch dieſe Jdee von
Seelenwerkzeugen erweitert werden. Denn wir koͤnnen
auch ſolche koͤrperliche Theile darunter verſtehen, die zu
eigenen Arten von Veraͤnderungen nur in ſo weit gehoͤ-
ren, als ſie es ſind, die ſolche unmittelbar aufneh-
men, obgleich ihre Vereinigung ſo innig iſt, daß jeder
ſogleich jedem andern ſich voͤllig kommunicire. Wenn
dieß ſo iſt, ſo koͤnnte das Ganze dieſer Organe, auch
wenn es von dem Jch unterſchieden iſt, als ein allge-
meines Organ, oder als ein ſenſorium commune
gedacht werden. Jm Fall aber dieß Ganze mit dem
geſammten Seelenweſen einerley iſt, ſo muͤßte das,
was wir fuͤr beſondere Organe anſehen, die zu eigenen
Gattungen von Eindruͤcken gehoͤren, mehr fuͤr gewiſſe
Seiten der Seele und beſondere Theile von ihr, als fuͤr
Organe, zu halten ſeyn.
4.
Dieſe Einheit unſers Jchs iſt noch das nicht, was
die Jmmaterialiſten durch ihre Beweiſe darzuthun ge-
ſucht haben. Laßt uns die Seelenaͤußerungen in ihre
einfachen Aktus zerlegen, in welche ſie durch die ſchaͤrf-
ſte
[195]im Menſchen.
ſte Analyſis zerleget werden koͤnnen. Laßt zum Bey-
ſpiel in jedem Urtheil die drey Aktus unterſchieden wer-
den: die Vorſtellung des Subjekts, die Vorſtellung
des Praͤdikats, und den Aktus des Beziehens dieſer
beiden Vorſtellungen auf einander. Nun folget zwar
aus dem Vorhergehenden ſo viel, daß, wenn gleich un-
ſer urtheilendes Jch aus mehrern trennbaren Weſen zu-
ſammengeſetzet ſey, dieſe jene Aktus doch nicht ſo unter
ſich vertheilet haben koͤnnen, daß einige von ihnen allein
die Vorſtellung des Subjekts in ſich haben, andere da-
gegen das Praͤdikat ſich vorſtellen, und wiederum an-
dere den beziehenden Aktus vornehmen, und den Ver-
haͤltnißgedanken oder die Form des Urtheils hervor-
bringen. Man kann ſagen, daß es eben ſo unmoͤglich
ſey, daß es ſich auf dieſe Art verhalte, als ein Zirkel
Ecken haben kann; da es offenbar iſt, daß bey dieſer
Vorausſetzung es nicht Eins und daſſelbige We-
ſen iſt, welches alle dieſe Aktus vornimmt. Aber den-
noch lieget hierinn, wie einige ganz richtig bemerket ha-
ben, noch die groͤßte Schwierigkeit. Wenn gleich jede
einfache Seelenaͤußerung ein Aktus ebendeſſelben zu-
ſammengeſetzten Weſens iſt, dem jede andere Seelen-
aͤußerung auch zukommt, ſo iſt die große Frage zuruͤck:
ob nicht jeder ſimple Aktus ein Aktus mehrerer
Dinge ſeyn koͤnne, und woher man wiſſen koͤnne, daß
ein Ganzes, welches alle Aktus unter alle ſeine Theile
verbreitet, ohne reelle Zuſammenſetzung ſeyn muͤſſe?
Da es eine Vielfachheit in demſelben giebt, iſt denn
dieſe nothwendig nur eine bloße Vielfachheit ſubſtan-
zieller Punkte, die zuſammen nur die ſubſtanzielle
Einheit ausmachen? Man thut, um bey dieſer Unter-
ſuchung recht ſcharf und vorſichtig zu Werke zu gehen,
ſehr wohl, wenn man dieſe zwey Bilder beſtaͤndig ge-
gen einander haͤlt, naͤmlich das Bild von einer ſub-
ſtanziellen Einheit, in der es bloß eine Mannichfaltig-
N 2keit
[196]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
keit von einzeln unbeſtehbaren Punkten giebt, welche
die Beſchaffenheiten des einfachen Weſens vorſtellen;
und auf der andern Seite das Bild von einer zuſam-
mengeſetzten Subſtanz, die aus mehrern reell ver-
ſchiedenen Subſtanzen, welche einzeln fuͤr ſich beſte-
hen, zuſammengeſetzet iſt. Jeder Beweis fuͤr die Jm-
materialitaͤt der Seele aus ihren Kraftaͤußerungen muß
die letztere Vorſtellung aufheben; aber es giebt, ſo viel
ich weis, keine, mit der nicht jene erſtere als eine bild-
liche Vorſtellung der Sache ſich vereinigen laſſe, und
man kann ſichs verſichern, daß irgend etwas in unſern
Raiſonnements erſchlichen ſey, wenn wir auf eine Fol-
gerung gerathen, die das Jch nothwendig von einem
mathemathiſchen Punkt in Hinſicht der Ausdehnung
machen wuͤrde. Denn dieſe Nebenidee iſt in dem Be-
griffe der Einfachheit nicht enthalten, ſobald wir nur die
Mehrheit in einem Kontinuum von einer Mehrheit reell
unterſchiedener und nur dicht an einander liegender phy-
ſiſchen Punkte zu unterſcheiden wiſſen.
Das erſte und vornehmſte, was uns hier aufſtoͤßt,
iſt die Frage: ob fuͤhlen, afficirt werden, gewahrneh-
men, ſich beſtimmen, nur bloß kollektive Hand-
lungen eines zuſammengeſetzten Ganzen ſeyn koͤnnen,
die aus gewiſſen Handlungen der einfachen Subſtanzen
beſtehen, welche einzeln genommen zwar ſeelenartige
Kraftaͤußerungen genannt werden moͤgen, aber von
den eigentlichen Seelenaͤußerungen unterſchieden ſind?
und die vielleicht gar nur in Bewegungen beſtehen, oder
wenigſtens zu einer Art von Wirkungen gehoͤren, wo-
von wir keine Vorſtellungen haben?
Mich deucht, es fehle nichts an der Evidenz in der
Antwort, die verſchiedene Philoſophen, und unter die-
ſen beſonders der vortreffliche Verfaſſer des Phaͤdons
hierauf gegeben haben. Jſt der Aktus des Fuͤhlens
aus einer Menge anderer Kraftaͤußerungen zuſammen-
geſetzt,
[197]im Menſchen.
geſetzt, die einzeln genommen keine Gefuͤhle ſind: ſo
wird aus dieſen letztern nur alsdann erſt ein Gefuͤhls-
aktus, wann ſie vereiniget und zuſammen, das iſt,
kollektive genommen werden. Aber es iſt unmoͤglich,
daß ſie kolligirt werden koͤnnen, wofern ſolches nicht in
Einem Dinge geſchieht, welches eine wahre ſubſtan-
zielle Einheit iſt. Denn wenn die verſchiedenen Be-
ſtandtheile des Aktus durch mehrere verſchiedene Weſen
vertheilet ſind, davon jedes einzeln, nur einen einzelnen
von jenen Aktus hervorbringet: ſo iſt zwar ein Haufen
von Elementen des Gefuͤhls in mehrern Dingen
vertheilt vorhanden; aber nirgends iſt ein Gefuͤhl, nir-
gends das vereinigte Ganze aus ihnen, das nach der
Vorausſetzung, heterogen von ſeinen Elementen, erſt ein
Gefuͤhl wird, wenn jene Elemente zuſammen genom-
men werden; nirgends iſt einmal ein Schein des gan-
zen Gefuͤhls. Wie kann man ſagen, daß es ein fuͤh-
lendes Weſen im Menſchen gebe, ohne ſich vorzuſtellen,
daß jene heterogene Beſtandtheile des Gefuͤhls in irgend
einem Dinge zuſammen kommen, und hier zu einer
Kollektion in Einem werden, wodurch jener Jnbegriff
von Aktionen zu einem Gefuͤhl gemacht wird? Was
bloß kollektive ein Gefuͤhl iſt, muß kolligiret wer-
den, ehe es ein ſolches wird. Es kann als ein unlaͤug-
barer Erfahrungsſatz angeſehen werden, daß unſer Jch
ſich ſelbſt als ein fuͤhlendes und denkendes Weſen er-
ſcheine. Aber ſowohl die Exiſtenz des Gefuͤhls, das nur
durch die Kollektion ein Gefuͤhl iſt, wie hier angenom-
men wird, als auch nur der Schein deſſelben, worinn
dieſer letztere auch beſtehen mag, faͤllt weg, wenn nichts
weiter, als eine Menge von Weſen da iſt, deren jed-
wedes allein fuͤr ſich ganz etwas anders als ein Fuͤhlen
hervorbringet.
Es iſt laͤngſt angezeiget worden, wie wenig anpaſ-
ſend das Gleichniß der Materialiſten ſey, wenn ſie die
N 3Entſte-
[198]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Entſtehungsart der Seelenaͤußerungen aus Bewegun-
gen, durch die Entſtehung der Harmonie aus einzelnen
Schallarten, erklaͤren wollen. Wenn das Ohr, das
die einzelnen harmonirenden Toͤne vereiniget, wegge-
nommen wird, wo bleibet denn die Harmonie, die nur
durch die Vereinigung derſelben in Einem Dinge zur
Harmonie wird? Jede Kraft und jede Wirkung einer
Kraft in den zuſammengeſetzten Dingen kann nicht an-
ders Ein Ganzes ſeyn, als entweder in Hinſicht Ei-
nes andern, das die Wirkungen von den einzelnen
Theilen des Zuſammengeſetzten in ſich aufnimmt, wie
der Druck eines zehn Pfund ſchweren Koͤrpers nur ein
ganzer Druck iſt, in ſo ferne er in einem andern Koͤrper
ſich vereiniget; oder nur in Hinſicht eines vorſtel-
lenden Weſens, das ſich alles Einzelne zuſammen
auf einmal vorſtellet. Jn dem feſten ſchweren Koͤrper
iſt eine gewiſſe Verbindung der Theile mit einander,
welche, als die objektive Vereinigung der Partikeln, der
Grund davon iſt, daß ihre einzelnen Druckungen ſich mit
einander vereinigen. Aber ein zuſammengeſetzter Druck
aus allen einzelnen Preſſionen der Partikeln erfodert ein
anderes Ding, in welchem jene ſich in ihren Wirkun-
gen vereinigen. Die ganze Kollektion dieſer Druckun-
gen iſt nur etwas Subjektiviſches in dieſem leidenden
Weſen. Wenn ein Regiment manoͤvrirt, ſo beſtehet
die Bewegung des Ganzen aus den Bewegungen aller
Jndividuen, die zugleich und uͤbereinſtimmend erfol-
gen; aber fuͤr jeden einfachen Soldaten, der nur auf
ſich ſieht, iſt keine ganze gleichzeitige Bewegung der Ar-
me und der Gewehre in allen vorhanden, ſo wenig als
es irgendwo ein ganzes koͤrperliches Gefuͤhl von dieſen
Bewegungen giebt, das aus der Vereinigung aller einzel-
nen Gefuͤhle beſtuͤnde. Dieß letztere iſt nirgends. Ei-
ne kollektive Bewegung des Ganzen befindet ſich nur
ſubjektive in dem Zuſchauer.
Hier
[199]im Menſchen.
Hier iſt der Unterſcheidungscharakter zwiſchen ei-
nem einfachen Weſen, in welchem man ſich eine
Mehrheit von verſchiedenen ſubſtanziellen Theilen vor-
ſtellt, und zwiſchen einem aus reell unterſchiedenen Sub-
ſtanzen zuſammengeſetztem Ganzen. Wenn gleich eine
Aktion des Einfachen ebenfalls eine Mannichfaltigkeit
in ſich faſſen, und gleichſam als aus ſo vielen Theilen
beſtehend gedacht werden kann, als man ſubſtanzielle
Punkte in dem Ganzen ſich gedenket: ſo iſt doch dieſe
Aktion ein Kontinuum, das nicht aus reell verſchie-
denen Theilen beſtehet, und nur Eine Aktion in Ei-
nem Weſen ausmachet. Die Kollektion der einzelnen.
Theile der Aktion geſchieht in demſelbigen Weſen, und
wird alſo in demſelben zu einer ſolchen Aktion, als ſie iſt.
Jſt dagegen das Ganze ein ſolches, das aus mehrern
Einheiten beſtehet, davon jede ihren unterſchiedenen
Beytrag zu der ganzen Aktion liefert, ſo wird aus die-
ſen Beytraͤgen zuſammen niemals ein Ganzes werden,
wofern nicht alle Beytraͤge in jedwede einzelne Einheit
zuſammengebracht werden, wie z. B. jeder Soldat den
ganzen Knall hoͤret, der durch das gleichzeitige Schieſ-
ſen hervorgebracht wird. Alsdenn aber geſchehen ſo
viele Kollektionen, als es ſolche kolligirende Einheiten
giebt. Jſt aber nur Eine kolligirende Einheit vorhan-
den, ſo iſt es eine wahre ſubſtanzielle Einheit, und das,
was ſie in ſich vereiniget, ſind nichts, als ſubſtanzielle
Theile eines Ganzen.
5.
Man hat die bloß kollektiven Kraͤfte und Aktio-
nen, die das nicht ſind, was ſie ſind, als nur allein in
der Beziehung auf dasjenige Weſen, in welchem ſie
kollektiret werden, mit einer Art von abſoluten Kraͤf-
ten und Kollektionen verwechſelt, die nur in der Ver-
bindung mehrerer Dinge entſpringen, und daher auch
N 4nicht
[200]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
nicht zu den Grundkraͤften, ſondern zu den abgelei-
teten gerechnet werden muͤſſen. Die einzelnen Theile
einer Stahlfeder beweiſen keine Elaſticitaͤt, wenn der
Stahl aufgeloͤſet wird. Dieß Vermoͤgen erlangen ſie
nur in einer gewiſſen Verbindung mit einander. Das
Knallgold verlieret feine ausdehnende und knallende Ei-
genſchaft, wenn das Gold, und der ihm anklebende
fremde Zuſatz von einander wieder getrennet werden.
Dergleichen Beyſpiele giebt es unzaͤhlige in der Koͤrper-
welt, und man hat ſich ihrer bedienet, um begreiflich
zu machen, wie aus nicht denkenden Elementen der
Materie, durch eine gewiſſe Verbindung derſelben, den-
kende Weſen entſtehen koͤnnen.
Allerdings wuͤrde auf dieſe Beyſpiele Ruͤckſicht ge-
nommen werden muͤſſen, wenn davon die Rede waͤre,
ob das denkende Jch ſchon ſeiner erſten Grundkraft
nach ein denkendes Ding ſey? |oder ob nicht vielmehr
die Grundkraft deſſelben noch vorher in Verbindung mit
einem ſchicklichen Gehirn geſetzt werden muͤſſe, auf wel-
ches ſie wirke, und von dem und deſſen Eindruͤcken ſie
erreget und gereizet werde, ehe ſie in den Stand kom-
me, ſolche Aktionen hervorzubringen, wie diejenigen
ſind, welche wir jetzo ein Fuͤhlen, Empfinden, Denken
und Wollen nennen? Jn welcher Maße iſt das koͤr-
perliche Organ der Seele unentbehrlich, nicht nur um
wirkliche Denkaktus hervorzubringen, ſondern um ihre
Denkvermoͤgen zu behalten? Dieſe Frage wird noch
nicht zugleich entſchieden, wenn die Jmmaterialitaͤt der
Seele bewieſen iſt; und darauf gruͤndet ſich, was ver-
ſchiedene geſagt haben, daß von der Jmmaterialitaͤt der
Seele nicht ſehr vieles abhange. Denn wenn es nun
auch ausgemacht wird, daß unſer Jch ein unkoͤrperli-
ches oder einfaches Weſen iſt: ſo wird es dadurch nur
der Zerſtoͤrung entzogen, der es ſonſten als Materie
unterworfen ſeyn wuͤrde; aber es wird dadurch ſeine
Fort-
[201]im Menſchen.
Fortdauer als Seele, als fuͤhlendes und denkendes We-
ſen, nicht außer Zweifel geſetzet. Und ob man nun jenes
wiſſe, wenn man doch das letztere nicht weiß, daran
duͤrfe uns, wie einige meinen, wenig gelegen ſeyn. Jch
habe es vorher ſchon erinnert, es mag viel oder wenig
von einer Wahrheit abhangen, und ſoll man darnach ſo
aͤngſtlich fragen: ſo iſt doch eine jedwede ein Schatz
fuͤr ſich, den der Denker nicht gleichguͤltig weglaͤßt,
wenn er gleich andre noch entbehren muß, die ihm viel
angelegentlicher ſind.
Es iſt ſehr leicht zu begreifen, wenn mehrere ein-
fache Weſen mit einander vereinigt werden, und in ein-
ander wirken, daß dadurch Thaͤtigkeiten und Wirkungs-
arten in ihnen erreget werden, die ſie allein fuͤr ſich
nicht wuͤrden geaͤußert haben. Aber dergleichen Kraft-
aͤußerungen, ob ſie gleich an gewiſſe aͤußere Umſtaͤnde
gebunden ſind, ſind doch dermalen abſolute Kraͤfte und
Wirkungsarten, die eine objektiviſche Exiſtenz in
den Dingen ſelbſt haben. Sie haben zwar ihren
Grund, zum Theil wenigſtens, in gewiſſen Beziehungen
auf andre Dinge, und haͤngen von dieſen Beziehungen
ab, ſie beſtehen nur, ſo lange dieſe dauern, und hoͤren
auf, wenn ihre Verbindungen mit andern wegfallen;
aber ſie ſind das, was ſie ſind, nicht bloß ſubjektiviſch
in andern Dingen, wie die kollektiven Kraͤfte und
Vermoͤgen, deren Exiſtenz nur ſubjektiviſch in dem
kolligirenden Weſen iſt, das ſich ſolche vorſtellet, oder
ihre vereinigten Wirkungen in ſich aufnimmt.
Die Eigenſchaften der Koͤrper und der Kraͤfte, die
wir ihnen zuſchreiben, koͤnnen von uns, wenn wir auf
die Natur unſerer ſinnlichen Vorſtellungen zuruͤckſehen,
fuͤr nichts anders, als fuͤr bloß kollektive Beſchaf-
fenheiten und Kraͤfte gehalten werden. Wir em-
pfinden nicht einzelne Einheiten, ſondern immer nur
ganze Haufen von ihnen auf einmal. Daher ſind wir
N 5auch
[202]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
auch nicht berechtigt, den koͤrperlichen Kraͤften, wie
wir uns ſolche in unſern Bildern von ihnen vorſtellen,
eine objektiviſche Exiſtenz beyzulegen; es ſey denn, daß
wir es aus andern Gruͤnden einſehen, daß eine Kraft
des Ganzen mit den einzelnen Kraͤften der einfachen
Theile gleichartig und nur in der Groͤße davon unter-
ſchieden ſey. So iſt z. B. das Gewicht einer ganzen
Maſſe eine Summe von gleichartigen Druckungen jedes
kleinſten Atoms der Materie; und wenn ein ganzer
Koͤrper mit einer Geſchwindigkeit ſich fortbeweget; ſo
muͤſſen wir dieſe letzte Beſchaffenheit in dem Ganzen
als eine ſolche anſehen, die auch jeder Partikel und je-
dem Element des Koͤrpers fuͤr ſich einzeln genommen zu-
kommt. Es verhaͤlt ſich auch die Sache in die-
ſen und andern Beyſpielen wirklich ſo, inſofern wir
bey der Aufloͤſung des Koͤrpers nicht weiter hinausge-
hen, als es in der Naturlehre geſchieht, das iſt, nicht
weiter als auf die kleinſten koͤrperlichen Theile, die noch
Koͤrper ſind. Aber man nehme einmal an, Leibni-
tzens Hypotheſe, daß die Monaden, als die letzten
Elemente der Koͤrper, eine vorſtellende Kraft beſitzen,
und daß aus den Veraͤnderungen, welche durch dieſe
Kraͤfte entſtehen, wenn jene in einem Haufen von Mo-
naden zuſammengenommen, auf einmal ſinnlich, ver-
wirrt, und von einer Seite vorgeſtellet werden, unſere
ſinnliche Jdee von der Bewegung entſpringe, ſey eine
richtige Muthmaßung: was wird alsdenn die Bewe-
gung, die Geſchwindigkeit und der Druck anders ſeyn,
als die Farben und andere Koͤrperbeſchaffenheiten ſind?
naͤmlich blos kollektive Beſchaffenheiten, die von den
abſoluten, objektiviſchen Kraͤften ſo weit unterſchie-
den ſind, als unſere Jdeen von einer Vorſtellung und
von einer Bewegung es ſind. Aber das Eigene Leib-
nitziſche in dieſer Vermuthung bey Seite geſetzet, ſo iſt
doch das Allgemeine außer Zweifel, daß die koͤrperli-
chen
[203]im Menſchen.
chen Kraͤfte, ſo wie wir ſolche uns vorſtellen, nur blos
als etwas ſubjektiviſches angenommen werden duͤrfen.
So verhaͤlt es ſich in den angefuͤhrten Beyſpielen
mit der Elaſticitaͤt und mit der Eigenſchaft des Knall-
goldes. Es ſind dieß bloß kollektive Beſchaffenhei-
ten, die wir nicht weiter in ihre abſolute Beſtandtheile
aufloͤſen koͤnnen, und die vor uns das Abſolute ſelbſt
ſind. Aber da wir erfahren, daß die ſcheinbaren
Kraͤfte der Dinge ſich bey ihnen veraͤndern, je nachdem
ſie mit andern Dingen in Verbindung kommen, ohne
daß wir glauben koͤnnten, daß dieß nur einer neuen Art
der Kollektion der naͤmlichen objektiviſchen Kraͤfte zuzu-
ſchreiben ſey, die wir in uns ſelbſt vornehmen koͤnnten:
ſo ſchließen wir, daß die Veraͤnderung in dem Schein
ihren Grund in der Veraͤnderung der Objekte, und in ih-
rer veraͤnderten Verbindung mit andern habe. Das
Knallgold wird nur Knallgold dadurch, daß es durch
ein gewiſſes Salz aus ſeiner Solution in Koͤnigswaſſer
niedergeſchlagen wird, und erhaͤlt dieſe Eigenſchaft nicht,
wenn ein anderes Mittel zur Niederſchlagung deſſelben
genommen wird. Sie iſt ein neues Vermoͤgen, wel-
ches in andern Umſtaͤnden dem Golde fehlet. Dieß
neue Vermoͤgen muß alſo der dem Golde beywohnenden
Kraft durch die Einwirkung des mit ihm verbundenen
Koͤrpers beygebracht worden ſeyn, und dieſe Veraͤnde-
rung iſt eine objektiviſche; die neue Eigenſchaft iſt eine
neue abſolute Kraft, die aus der Verbindung entſtan-
den iſt, und alſo eine abgeleitete Kraft, aber keine Kol-
lektion, ſo wie wir ſie naͤmlich kennen. Jedes Element,
jeder einfache Theil kann nun auf eine neue Art wirken,
auf die er ſonſten nicht gewirket hat. Aber dieſe neuen
abgeleiteten Kraͤfte ſind von den bloß kollektiven
Kraͤften weit unterſchieden.
6. Das
[204]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
6.
Das Reſultat aus dieſen Betrachtungen giebt uns
einen Grundſatz, durch den ſchon vieles in dieſer dun-
keln Sache ausgemacht iſt, und der dem Materialiſten
Eine ſeiner gewoͤhnlichſten Erklaͤrungsarten gaͤnzlich
entziehet.
Es ſey naͤmlich die Seele ein Jnbegriff mehrerer
Weſen, die zuſammen wirken; und es ſey das, was je-
des einfache Weſen fuͤr ſich allein wirket, und was in
jedem einzeln genommen vorgeht, wenn das Ganze
fuͤhlet, ein Druck zur Bewegung, oder ſonſt ſo et-
was, wie die Reaktion eines Koͤrpers; nur ſey es kein
Fuͤhlen noch Denken: ſo muͤſſen alle dieſe Aktus, oder
die Folgen und Verbindungen von ihnen, zuſammen-
laufen und ſich irgendwo in Einem Dinge vereinigen,
damit ihre Kollektion ein Fuͤhlen und Denken
werden koͤnne. Entweder giebt es alſo außer dieſem zu-
ſammengeſetzten Jch noch ein andres Jch, worinnen
dieſe Vereinigung vorgehet, wie die Bewegungen der
einzelnen Soldaten eines Regiments in dem Zuſchauer,
der ſie alle zuſammen ſiehet, vereiniget werden; oder
dieſes kollektirende Jch iſt ſelbſt ein Beſtandtheil des
geſammten wirkenden Jchs, wenn es nur ein einziges
dergleichen giebt; oder es iſt jeder einfache Theil
des Ganzen ſelbſt ein ſolches. Das letztere wird viel-
leicht von den Gegnern am erſten zugegeben werden; in-
dem es ohne dieß ſchon eine Folge iſt, die aus der Ver-
einigung mehrerer Subſtanzen zu Einer fließet. Denn
ſo weit die Vereinigung geht, ſo weit wird auch jedwe-
de Veraͤnderung in jeder, und alſo die ganze Menge
von gleichzeitigen Veraͤnderungen in allen, auf jede ein-
zelne, ſo zu ſagen, reflektiret, und in ihren Folgen ver-
einiget.
Dieſe unmittelbare Folgerung hat die vollkommen-
ſte Evidenz. Denn das Fuͤhlen iſt entweder eine ab-
ſolute
[205]im |Menſchen.
ſolute Aktion der einzelnen Theile, die jedes einzeln
fuͤr ſich aͤußert, oder es iſt ein Aggregat derſelben verei-
niget in Einem, oder der Jnbegriff von den abſoluten
Aktionen durch alle vertheilet. Aber das letzte iſt nichts,
als eine Menge von mehrern gleichzeitigen Aeußerun-
gen, die, wofern nicht jedwede einzelne fuͤr ſich ein Ge-
fuͤhl iſt, auch keine Summe von Gefuͤhlen ausmacht.
Denn in dem angenommenen Fall wird die Summe
von den einzelnen Aktionen nur zum Gefuͤhl dadurch,
daß ſie kollektive genommen werden, das iſt, nur dadurch,
daß ſie ihre Wirkungen in Einem Dinge zuſammen-
bringen, und in dieſer einen Schein bewirken. Und
dieß letztere iſt ſo wenig gedenkbar, ohne daß irgendwo
in einem Weſen, als in einem Mittelpunkt, dieſe Kol-
lektion vorgehe, daß auch ſelbſt die Folgerung, daß ei-
ne dreyſeitige Figur drey Winkel haben muß, nicht evi-
denter ſeyn kann.
Wird nun z. B. ein Eindruck von dem vor mir ſte-
henden Menſchen auf das fuͤhlende Jch hervorgebracht,
ſo mag auf der innern zuſammengeſetzten Seele ein ſol-
ches Bild entſtehen, wie auf dem Papier, worauf eine
Zeichnung gebracht wird, oder wie das Bild auf der
Netzhaut iſt, das ſich auf mehrere Nerven verbreitet.
Ein Theil mag den Kopf, ein anderer den Leib, ein
dritter die Arme faſſen, und ein vierter die Eindruͤcke
von den Fuͤßen aufnehmen. Aber ſollen dieſe Eindruͤcke
nun erſt vereiniget das Gefuͤhl und die Vorſtellung
des Ganzen ausmachen, ſo muͤſſen jene Theile in der
innigſten Verbindung mit einander ſtehen, und jeder
ſich jedem mittheilen. Alle Veraͤnderungen in allen
Theilen muͤſſen, ſo zu ſagen, in ihren Wirkungen
durch einander laufen, und entweder in jedem einzelnen
einfachen Weſen ſich vereinigen, oder nur in Einem
von ihnen; oder in einem andern Weſen, das zu die-
ſem Haufen nicht hingehoͤrt.
Eben-
[206]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Ebendaſſelbige wird erfordert, wenn wir den Aktus
des Vergleichens in einem Urtheil betrachten. Die
Vorſtellung der einen Sache, welche verglichen wird,
iſt eine Modifikation des Ganzen, die aber durch die Ver-
einigung entweder in allen und jeden ſubſtanziellen Theilen,
oder in Einem einzigen von ihnen, zu einer Vorſtellung
wird, wenn ſie es nicht ohne dieß ſchon in jedweder
einzeln genommen iſt. Mit der Vorſtellung der zwo-
ten Sache verhaͤlt es ſich auf dieſelbige Art. Nun folgt
die Vergleichung. Laßt dieſe Aktion auf die Jdeen
wiederum eine Aktion des Ganzen ſeyn, ſo ſind entweder
die einzelnen Aktionen jedweder Theile Aktus des Ver-
gleichens, oder ſie ſind es nur kollektive, inſofern ſie in
ihren Folgen und Wirkungen auf ein einfaches ſich ver-
einigen, und in dieſem, wenn es ein vorſtellendes We-
ſen iſt, den ſubjektiviſchen Schein von dem Aktus des
Vergleichens hervorbringen.
7.
Kann man ſagen, daß dieſe Folgerung in andere
Worte uͤberſetzet, ſo viel heiße: „es ſey jedes einfache
„Weſen, woraus das angenommene zuſammengeſetz-
„te Jch beſtehet, ſelbſt ein fuͤhlendes, denkendes und
„wollendes Weſen, ſelbſt die Seele, ſelbſt ein Jch?‟
Laßt uns zur Maxime nehmen, uns ſo nahe bey der
materialiſtiſchen Vorſtellung zu halten, als wir nicht
durch die Vernunft davon abgedraͤnget werden, und
laßt alſo nicht Einen, ſondern alle fuͤr ſich beſtehende
Punkte des Ganzen ſolche Weſen ſeyn, in welchen die
heterogenen Aktus von allen vereiniget werden.
Wir koͤnnen alſo jeden einfachen Aktus der Seele von
einer zweyfachen Seite betrachten, wenn wir auf alles
ſehen, was zu dieſem Aktus gehoͤret; und alsdann koͤn-
nen wir dieſe Vorſtellung durch eine andere erlaͤutern,
die ſchon bekannter iſt. Wenn ein Regiment Solda-
ten
[207]im Menſchen.
ten zugleich Feuer giebt, und ein Schall entſtehet, der
von jedem einzelnen Menſchen gehoͤrt wird, ſo iſt zwar
jeder Soldat fuͤr ſich das hoͤrende Weſen, aber man
kann nicht ſagen, daß jeder allein dieſen hoͤrbaren
Knall wuͤrde hervorgebracht, und ſich die Empfindung
davon verſchafft haben. Jn dieſem Beyſpiel treffen
wir zuerſt etwas objektiviſches an, naͤmlich, die Bewe-
gungen in der Luft, die auf einmal durch alle Schuͤſſe
hervorgebracht werden. Dieſe machen eigentlich das
Objekt aus, das kollektive in jedem einzelnen Gehoͤr ge-
nommen der ganze Knall iſt, der nur ein ſubjektiviſches
Daſeyn in den empfindenden Jndividuen hat.
Kann nicht jedes einfache Gefuͤhl eine ganze Men-
ge anderer Aktus in ſich enthalten, die noch keine Ge-
fuͤhle ſind, die in Reaktionen des zuſammengeſetzten
Seelenweſens auf den Koͤrper beſtehen, und die alſo auch
Aktionen des Koͤrpers auf das Seelenweſen voraus-
ſetzen? Aber dieſe Aktus vereinigen ſich in jedem ein-
fachen Theil des Ganzen. Daher geht ihre Kollektion
in jedem einzelnen einfachen Theil vor ſich, und das
iſt es, was nun dieſe Seelenaͤußerung zu einem Ge-
fuͤhl macht. Allein die letztere Vereinigung kann
nicht Statt finden, wenn nicht die ſich vereinigenden
Aktus des Ganzen vorhanden ſind, das iſt, wenn nicht
alle Theile des Ganzen gewirkt haben.
Nun iſt es zugleich offenbar, da es unter dieſer Vor-
ausſetzung mehrere Weſen geben muß, in denen die
Kollektionen der geſammten Gefuͤhlsaktus vor ſich
gehen, und da jene Kollektion dieſe letztern Aktus erſt
zum Gefuͤhl machet, oder doch zu einem Gefuͤhl ſubjekti-
viſch betrachtet, zu einem Schein des Gefuͤhls; ſo wuͤr-
de es auch eben ſo viele fuͤhlende Weſen geben, als es
hoͤrende Soldaten giebt, die den Knall des ganzen Re-
giments hoͤren. Es iſt nicht nur ein Haufe von We-
ſen vorhanden, die ſolche Gefuͤhlshandlungen her-
vor-
[208]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
vorbringen, und die alsdann, wann wir |empfinden,
auf das modificirte Gehirn zuruͤckwirken, ſondern es iſt
auch ein Haufe von Weſen da, in welchen dieſe Re-
aktionen in ihren Folgen vereiniget werden und in ein
Gefuͤhl uͤbergehen. Nur das Ganze zuſammen, nur
alle Theile in Verbindung moͤgen das Ding ſeyn, wel-
ches die ſich vereinigenden Aktus hervorbringet; aber
dieſe Aktus ſind vor ihrer Vereinigung kein Gefuͤhl; das
Gefuͤhl iſt nur in jedem einzelnen Theil, da wo die
Kollektion geſchieht. Der fuͤhlenden Weſen giebt
es alſo ſo viele, als es ſolche kolligirende ſubſtanzielle
Einheiten giebt. Fuͤhlen, inſofern es eine Kolligiren
anderer uns unbekannter Modifikationen, oder wenn
man will, von Bewegungen iſt, muß dennoch ein
Aktus einer einfachen Subſtanz ſeyn, ſo wie Ge-
wahrnehmen und Wollen. Aber deswegen darf es kein
einfacher Aktus ſeyn. Es iſt erlaubt, ſich ſeinen An-
fang, ſeine Mitte und ſein Ende als unterſcheidbar
vorzuſtellen, und ſogar eine unendliche Mannichfaltig-
keit in demſelben anzunehmen; aber es iſt ein Aktus
einer einfachen, alles dieſes in Einem, das iſt, in
ſich ſelbſt vereinigenden Kraft.
Wird es zugegeben, daß die einzelnen Aktus der
einfachen Weſen bey dem Gefuͤhl, ſelbſt ſchon mit dem
Gefuͤhl homogene Handlungen ſind, ſo bedarf es keiner
weitern Frage, ob es nicht mehrere fuͤhlende Weſen ge-
be? Jn dieſer Vorausſetzung wuͤrde das Fuͤhlen eine
abſolute Aktion ſeyn, die nicht in einer Kollektion meh-
rerer in Einem beſtehet. Alsdann wuͤrde nur noch zu
unterſuchen ſeyn, ob alle dieſe einzelnen Gefuͤhlshand-
lungen gleichermaßen in jeder einzelnen fuͤhlenden Ein-
heit ſich vereinigten, und alſo in jeder ein kollektives
Ganzes ausmachten? Aber wenn irgendwo ein ſubjekti-
viſcher Schein des ganzen zuſammengeſetzten Gefuͤhls
ſeyn ſoll; wenn die einzelnen Gefuͤhlsaktus der Theile
von
[209]im Menſchen.
von dem zuſammengeſetzten kollektiven Gefuͤhl, das
wir von uns ſelbſt erkennen, unterſchieden ſind: ſo iſt es
wiederum außer Zweifel, daß eine Vereinigung aller
Gefuͤhle in Einer Subſtanz, oder in jeder geſchehen muͤſſe,
die ein Theil des Ganzen iſt. Genug, unſer Gefuͤhl,
das, was mein Jch aͤußert, inſofern ichs kenne, iſt
das Gefuͤhl eines einfachen Weſens.
Will man dieſe Vorſtellung vertheidigen, daß un-
ſer Jch aus mehrern fuͤhlenden Weſen beſtehe, de-
ren jedwedes ein Vereinigungspunkt der Veraͤnde-
rung im Ganzen iſt: ſo geſtehe ich zwar, ich weiß nichts,
womit ich beweiſen koͤnne, daß dieß unmoͤglich
ſey. Aber mich deucht, eine Vorausſetzung, die nicht
nur gar nichts fuͤr ſich hat, ſondern auch nimmermehr
durch einen vernuͤnftigen Grund beſtaͤtigt werden koͤnn-
te, wenn ſie wahr waͤre, falle von ſelbſt hinweg. Jn-
dem unſer Jch ſich in ſeinen Wirkungen ſelbſt fuͤhlet,
ſo wuͤrde in dem Fall, daß mehrere Jchs zugleich und
jedes die ganze Menge derſelben erkennte, kein einziges
von ihnen es wiſſen koͤnnen, daß andre neben ihm ſind,
und neben ihm fuͤhlen und denken. Jſt der Schein
von meinem Jch ein Schein von einer Menge, ſo iſt
dieſer Schein auch wiederum in jedem Theil dieſer
Menge, in jedem einzelnen Jch. Daß ein anderes
Ding, als ich ſelbſt bin, naͤmlich ein Koͤrper, an mei-
nen Seelenhandlungen Antheil nimmt, und etwas bey-
wirket, das kann ich auf dieſelbige Art vermuthen, oder
aus Gruͤnden ſchließen, wie der blinde Soldat es wiſ-
ſen kann, daß ſeine Flinte es nicht allein ſey, die den
großen Knall des ganzen Regimentsſchuſſes hervor-
bringt; aber daß es unter den Urſachen, die mit meinem
Jch zugleich wirken, noch mehrere ſolche Jchs gebe, da-
von kann das Eine Jch nichts wiſſen. Man kann
dem Jmmaterialiſten die Widerlegung dieſes Gedan-
kens, daß es eine Menge von Jchs in Einem Men-
IITheil. Oſchen
[210]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſchen gebe, wohl ſchenken. Es iſt zum mindeſten uͤber
alle Maßen unwahrſcheinlich, daß es in mir mehr als
eine einzige, die Modifikationen der uͤbrigen in ſich kol-
lektirende und fuͤhlende, Einheit gebe.
8.
Weiter, als bis zu dieſer Folgerung, „daß in dem
„menſchlichen Seelenweſen, außer dem koͤrperlichen
„Organ, ein einfaches unkoͤrperliches Weſen, eine
„wahre ſubſtantielle Einheit vorhanden ſey, welche ei-
„gentlich das fuͤhlende, denkende und wollende Ding
„iſt,‟ getraue ich mich nicht fortzugehen. Das Licht,
das bis hieher ſcheinet, verliert ſich, wenn man ein
mehreres von dem erweiſen will, was ſonſten die Jm-
materialiſten zu beweiſen ſuchen. Das bisher erwieſene
Reſultat fuͤhret nur auf eine Vorſtellung, die gleichſam
zwiſchen der gewoͤhnlichen Vorſtellung der letztern, und
zwiſchen der entgegengeſetzten des Materialiſten, in der
Mitte lieget. Kann das Jch zu irgend einem Gefuͤhl
eines Gegenſtandes gelangen, ohne Beyhuͤlfe des Koͤr-
pers? kann das Selbſtgefuͤhl ohne dieſe letztere Statt
finden? und iſt unſere Jdee von uns ſelbſt und von un-
ſern Seelenaͤußerungen, die wir aus dem Selbſtgefuͤhl
erhalten, ein Schein in einer andern Bedeutung, als
es unſere Vorſtellungen von den Koͤrpern ſind, obgleich
das Objekt von jener Jdee, naͤmlich die Veraͤnderungen
und Wirkungen unſers Jchs, Beſchaffenheiten einer
einfachen Subſtanz ſind. Jch weiß auf dieſe Frage hier
nichts weiter zu antworten, als dieſes:
Wenn ein Eindruck von einem aͤußern Gegenſtan-
de auf die Seele faͤllt, ſo mag die Aktion des Gehirns
nicht nur dazu noͤthig ſeyn, daß dieſer Eindruck zu der
Seele hingebracht wird, ſondern auch dazu, daß die
Seele auf ihn zuruͤckwirke, und dann, daß dieſe Ruͤck-
wirkung, die eine Reaktion vieler Punkte ſeyn kann, in
dem
[211]im Menſchen.
dem Jch durch die Vereinigung des Mannichfaltigen
zum Gefuͤhl werde. Es iſt anderswo *) eine Jdee
von dem Gefuͤhl angefuͤhret worden, die beſonders bey
den neuern Philoſophen beliebt iſt. Das Fuͤhlen ſoll
eine Art von geiſtiger Reaktion der Seele ſeyn.
Man koͤnnte durch die letzten Verſuchungen veranlaßt
werden zu glauben, daß dieſe Jdee ſehr mangelhaft
ſey, und ſo zu ſagen nur die aͤußern Wirkungen von
dem Aktus des Gefuͤhls angebe. Denn nicht ſowohl die
Reaktion der fuͤhlenden Subſtanz außer ſich auf die
ſie umgebende Materie, ſondern vielmehr die Kollektion
oder Vereinigung der Folgen, die ſowohl aus dieſen
Aktionen des Seelenweſens, als aus der Aktion ande-
rer Dinge entſpringen, und in dem Jch zuſammenlau-
fen, macht das Weſentliche in dem Aktus des Gefuͤhls
aus. Das Gehirn wirket auf die Seele, und die Seele
wirket zuruͤck. Nun kann eine Materie vorhanden
ſeyn, die das fuͤhlende Jch umgiebt, und mit dieſem
zu einer materiellen Subſtanz vereiniget iſt, vielleicht
ſogar auf eine von den naͤmlichen Arten, wie auch in
den Koͤrpern Monaden mit Monaden zu einer Subſtanz
vereiniget ſind. Wenn die Seele aufs Gehirn wirket,
oder auf die innern Organe, ſo mag dieß eine Reaktion
nicht nur des fuͤhlenden Jchs, des Mittelpunkts von
allen, ſondern eine Reaktion des Ganzen, und aller mit
dem Jch vereinigten Weſen ſeyn. Wenn es ſich ſo
verhielte, ſo wuͤrde nicht ſowohl der Aktus des Fuͤhlens
in dieſer vielleicht feinen koͤrperlichen Reaktion auf die
Organe beſtehen, ſondern vielmehr in dem Aktus des
Vereinigens, da die Folgen aus allen dieſen einzelnen
Aktionen in dem Jch, als ihrem Mittelpunkt, zuſam-
mengehen und dadurch zum Fuͤhlen werden. Was
nun dem Jch widerfahren wuͤrde, wenn die gedachte
O 2innere
[212]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
innere Materie aufgeloͤſet wuͤrde, davon es, ſo zu ſagen,
die Grundeinheit iſt; ob es alsdenn mehr als das Ver-
moͤgen unter aͤhnlichen Umſtaͤnden wiederum fuͤhlend
zu werden behalten wuͤrde, kann ich aus den vorherge-
henden Schluͤſſen nicht ſo ausmachen, wie es nach der
gewoͤhnlichen Vorſtellungsart derer, die das Jch als eine
ſubſtanzielle Einheit anſehen, entſchieden ſeyn wuͤrde.
Was endlich die Natur unſers Selbſtgefuͤhls und
der Vorſtellungen betrifft, die wir von unſern eigenen
Wirkungen haben, ſo koͤnnen ſie, nach den hier ange-
ſtellten Raiſonnements, nichts mehr als Schein ſeyn;
ſo wie die unmittelbare Beobachtung uns auch nicht be-
rechtiget, ſie fuͤr etwas mehr anzuſehen, wie ich vorher
(XI, 3.) gezeigt habe. Denn wir empfinden die Aktus
unſers Gefuͤhls, und des Denkens, und des Wollens nur
in ihren Wirkungen, das iſt, in den Veraͤnderungen
und Folgen, die davon in dem geſammten Seelenweſen,
das iſt, in einem zuſammengeſetzten Weſen, abhangen.
Dieſe Empfindung entſtehet alſo auf eine aͤhnliche Art,
wie die Empfindung eines aͤußerlichen koͤrperlichen Ge-
genſtandes, von dem eine Jmpreſſion auf die innern
Organe vorhanden iſt. Jene iſt eine Empfindung in-
nerer Modificationen in der Materie, die aber ihre Ur-
ſache, von der ſie abhaͤngt, und auf die ſie als Wirkung
bezogen wird, in der Aktion des Jchs, das iſt, eines einfa-
chen Weſens, hat, und die auch eine zuſammengeſetzte
Aktion des einfachen Jchs ſelbſt ſeyn kann. Man muß
zum mindeſten einſehen, daß die Pſychologen es bisher
nicht bewieſen haben, daß dieſe Vorſtellung unreimlich
ſey. Und wenn das iſt, ſo iſt es auch offenbar, daß
die zwote Empfindung von der erſten Empfindung eines
aͤußern Objekts, und uͤberhaupt, das Gefuͤhl unſerer
eigenen Gemuͤthsbewegungen, unſerer Denkthaͤtigkeiten
und unſers Willens, und alſo auch die Vorſtellungen
aus dieſen Empfindungen in allen Hinſichten nur Er-
ſchei-
[213]im Menſchen.
ſcheinungen ſind, die unmittelbar von dem koͤrperli-
chen Beſtandtheile der Seele herruͤhren, ſich aber mit-
telbar auf die Beſchaffenheiten, Kraͤfte und Vermoͤgen
des einfachen Jchs beziehen, und in ſo weit Vorſtellun-
gen von dem Einfachen ſind, aber nur verwirrte und re-
lative Vorſtellungen. Vielleicht ſetzen kuͤnftige Unter-
ſuchungen hieruͤber noch etwas mehr ins Licht.
V.
Von dem Sitz der Vorſtellungen.
- 1) Fernere Fragen uͤber die Natur des See-
lenweſens. - 2) Jnſonderheit uͤber den Sitz der Vorſtel-
lungen. Verſchiedene Hypotheſen daruͤber.
1.
Die bisher erwogenen zween Grundſaͤtze zeigen uns
zwo Seiten von der Seelennatur des Menſchen.
Jn jeder Empfindung, Vorſtellung und ſo ferner, iſt
eine Seelenbeſchaffenheit in unſerm Jch enthalten,
eine gewiſſe Modifikation, Beſtimmung oder Ein-
ſchraͤnkung dieſer Kraft, oder wie man ſie nennen und
unter welcher Metapher man ſie ſich vorſtellen will.
Auf der andern Seite iſt eine Organsveraͤnderung da,
und beide ſind zuſammen.
Will man nun tiefer in das Jnnere der Seele
hinein, ſo werden wir freylich bald auf eine Menge von
Fragen ſtoßen; aber, wie ich fuͤrchte, wenig beſtimmte
Antworten aus der Erfahrung darauf erhalten. Zuerſt
die gewoͤhnlichen uͤber die ſogenannten pſychologiſchen
Syſteme.
Jſt zwiſchen der Seelenbeſchaffenheit (idea intelle-
ctualis) und der ihr zugehoͤrigen Modifikation des Ge-
hirns, oder materiellen Jdee, eine wahre urſachliche
O 3Ver-
[214]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Verbindung? bringet jene dieſe, oder dieſe jene, wie
eine Urſache ihre Wirkung, hervor? Oder iſt nichts
mehr als eine harmoniſche Geſellſchaft zwiſchen ihnen?
Nichts als ein beſtaͤndiges Zuſammentreffen der Einen
mit der andern, wie zwiſchen zwo Uhren, oder zwiſchen
zwo Perſonen, die alle Markttage in Einer Stadt, in
Einem Gaſthofe und in Einem Zimmer, zu Einer Ta-
gesſtunde, ohne vorhergenommene Abrede, zuſammen
kommen?
Und wenn es ſich alſo verhaͤlt, iſt es denn ſo, wie
Leibnitz es ſich vorſtellte? bringet die Seele ihre eige-
nen, und das organiſirte Gehirn auch die ſeinigen, durch
ſeine eignen Kraͤfte hervor?
Oder wirket Gott unmittelbar in beiden alles, wie
Malebranche es meinte, nach dem Syſtem der durch-
gaͤngigen Aſſiſtenz.
Oder wirket Gott nur einige Seelenbeſchaffenheiten
unmittelbar, ihre paſſiven Modifikationen naͤmlich,
oder ihre Gefuͤhle; und nur einige in dem Koͤrper, die-
jenigen Bewegungen naͤmlich, welche ſonſten der Thaͤ-
tigkeit der Seele zugeſchrieben werden? So iſt es nach
dem Syſtem der gelegentlichen Urſachen oder
der gelegentlichen Aſſiſtenz. Gott wirket naͤmlich
ſo viel, als zur Erhaltung der allgemeinen Harmonie
erfodert wird. Malebranche entzog der Seele alle
Kraft, alle Selbſtthaͤtigkeit, und dem Koͤrper gleichfalls.
Dieß Syſtem war von der Leibnitziſchen Harmonie nur
allein darinn unterſchieden, daß es die wirkende Urſache
in Gott, Leibnitz aber in der Seele und in dem Koͤrper
ſelbſt, ſetzte. Aber dieß war die Meinung des Des Car-
tes und der Vertheidiger der gelegentlichen Aſſiſtenz
nicht; welche letztere Hypotheſe ganz andere Folgen hat,
als jene, ob ſie gleich von einigen Philoſophen mit jener
verwechſelt worden iſt. Denn nach der letztern waren
es nur die paſſiven Veraͤnderungen, die Gott unmittel-
bar
[215]im Menſchen.
bar bewirkte, und die nach der gewoͤhnlichen Meinung
ihr, wenn ſie empfindet, von dem Koͤrper beygebracht
werden. Nun aber konnte ſie ſelbſt dieſe Empfindungen
bearbeiten, und ſich ſelbſt zur Aktion beſtimmen, und
hatte alſo ihr eigenes Werk. Und wenn mit dieſer
Seelenthaͤtigkeit in dem Gehirn eine harmoniſche Be-
wegung vergeſellſchaftet iſt, ſo war die letztere wiederum
eine Wirkung von Gott, von welcher neue Bewegungen
entſtehen, dem Mechaniſmus des Koͤrpers gemaͤß, die
ihren Grund in dem Koͤrper ſelbſt und in ſeinen organi-
ſchen Kraͤften haben, und wiederum neue Empfin-
dungen in der Seele veranlaſſen. Die Seele ſowohl
als der Koͤrper behielten ihre Spontaneitaͤt, deren ſie
in dem Syſtem der Aſſiſtenz gaͤnzlich beraubet wurden.
Jch erwaͤhne dieſer Fragen hier nicht, um mich auf
ſie weiter einzulaſſen, da ſie ſo ſehr durchgemuthmaßet,
durchvernuͤnftelt und durchgedacht ſind, daß man dieß
Feld fuͤr ganz ausgebaut anſehen kann, das vielleicht
ein halbes Jahrhundert wieder brach liegen muß, ehe
ſich von einer neuen Kultur deſſelben etwas erhebliches
erwarten laͤßt. Das gemeine Syſtem, daß die Seele
mit dem Koͤrper in einer wahren phyſiſchen Verbindung
ſey, iſt das natuͤrliche Syſtem des Menſchenverſtandes.
Nach allen Unterſuchungen hat ſichs gewieſen, daß die
Schwierigkeiten bey demſelben, die man als die Gruͤn-
de vorwandte, warum es noͤthig ſey, ſich um eine an-
dre Vorſtellungsart zu bekuͤmmern, am Ende ſich in
einen Mangel an deutlichen Begriffen uͤber die urſachli-
che Verknuͤpfung aufloͤſen, und in eine Unbekanntſchaft
mit dem Jnnern der Natur, welche in jeder andern Hy-
potheſe nicht geringer iſt. Aber es hat ſich kein einziger
Grund gefunden, der uns noͤthigte, in das gemeine
Raiſonnement des Verſtandes ein Mißtrauen zu ſetzen,
ob es gleich auf nur wahrſcheinlichen Grundſaͤtzen beruhet,
die das Gegentheil nicht voͤllig wie eine Unmoͤglichkeit
O 4aus-
[216]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ausſchließen. Dagegen haben die uͤbrigen Syſteme
nichts fuͤr ſich, als bloß ihre innere Moͤglichkeit, die
wenigſtens bisher noch nicht widerlegt worden iſt. Aber
wie viel bedeuten Hypotheſen und Meinungen von der
Einrichtung der Natur, die nichts weiter fuͤr ſich haben,
als daß vielleicht die Sache ſo ſeyn koͤnne, wie man
ſich ſie vorſtellet, ohne daß naͤhere Anzeigen vorhanden
ſind, welche ihnen eine Wahrſcheinlichkeit geben? Mei-
ne Abſicht iſt hier nur, die Beziehung zu bemerken, in
der dieſe ſogenannten pſychologiſchen Syſteme mit einer
andern Unterſuchung uͤber den Sitz der Vorſtellun-
gen ſtehen, die unter den Philoſophen nicht ſo alt iſt,
daß ſie nicht noch etwas von dem Glanze der Neuheit an
ſich habe, und noch weniger von allen ihren Seiten
bisher erwogen iſt.
Jſt naͤmlich die Leibnitziſche Harmonie oder die Aſ-
ſiſtenz das wahre Syſtem, ſo faͤllt die Frage: in wel-
chem Theile unſerer ganzen Seelenweſen ſich die Vor-
ſtellungen befinden, das iſt, die wiedererweckbaren
Spuren ehemaliger Empfindungen, von ſelbſt weg.
Nach Leibnitz, Malebranche und Des Cartes verſtehet es
ſich von ſelbſt, daß die Vorſtellungen ſowohl als die
Empfindungen Seelenbeſchaffenheiten ſind, und in
der Seele, als in ihrem Subjekt, ihren Sitz haben.
Denn nicht nur die Modifikation, welche die Empfin-
dung ausmacht, iſt in der Seele, ſondern hier iſt es
auch, wo die Spur davon zuruͤckbleibet, und wieder
erwecket wird. Nun bleibt es zwar noch unbeſtimmt, ob
nicht auch in dem Gehirn ſich etwas aͤhnliches eraͤugne; ob
nicht die Veraͤnderung in der organiſirten Maſſe, wel-
che in der Empfindung entſtehet, auch in dem Organ
eine Spur hinterlaſſe, welche durch koͤrperliche Urſachen,
ſie moͤgen in dem Gehirn ſelbſt ſeyn, oder von außen
auf daſſelbige wirken, wieder erneuert werden koͤnne?
oder ob das Gehirn wie ein fluͤſſiges Weſen ſich ver-
haͤlt,
[217]im Menſchen.
haͤlt, welches die harmoniſchen Bewegungen nur allein
aufnimmt, ohne ſie in ſich beſtehen zu laſſen, oder eine
Spur davon zu behalten? Allein wie ſich auch der Har-
moniſt, oder der Vertheidiger der Aſſiſtenz daruͤber er-
klaͤren mag, ſo hat er doch uͤber den weſentlichen Punkt,
naͤmlich uͤber die Exiſtenz der intellektuellen Jdee in
der Seele, ſchon entſchieden. Zum mindeſten iſt es ſo
bey der Leibnitziſchen Harmonie. Denn die Carteſiſche
und Malebranchiſche Hypotheſe koͤnnte noch ſo raffinirt
werden, daß ſie den unterſchiedenen Meinungen uͤber
den Sitz der Vorſtellungen angepaßt wuͤrde.
Allein wenn das Syſtem der urſachlichen Verknuͤ-
pfung zwiſchen dem immateriellen Jch, und zwiſchen
dem Koͤrper vorausgeſetzet wird: ſo iſt allerdings die
letzte Frage uͤber den Sitz der Vorſtellungen als eine der
Hauptfragen anzuſehen, wenn man uͤber die Natur der
Seele philoſophiren will. Da nun der Jnſtinkt den
Philoſophen ſowohl als den Nichtphiloſophen unauf hoͤr-
lich anlieget, ſich fuͤr dieſe Meinung zu erklaͤren, und
die Vernunft nach der ſchaͤrfſten Aufloͤſung der Begriffe
nichts dagegen zu ſagen hat, ſondern vielmehr beyſtim-
met, ſo iſt es endlich unter den neuern Philoſophen ſo
gut als ausgemacht angenommen, daß ſie die wahre
Vorſtellung von der Union ſey, und dadurch iſt zugleich
die Unterſuchung uͤber das Subjekt der Vorſtellungen
außerordentlich intereſſant geworden. Gluͤcklich, wenn
es, wie mans glaubet, wahr iſt, daß hier eine Stelle
gefunden ſey, wo ſich der Schleyer der Natur auf he-
ben laͤßt; ich fuͤrchte, unter dem Schleyer ſey ſie noch
mit einem dichten Mantel bedecket.
2.
Jch ſehe den Mond und empfinde ihn. Es iſt ei-
ne Modifikation in der Seele vorhanden, und eine
gleichzeitige Veraͤnderung im Gehirn.
O 5Jch
[218]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Jch habe jetzo, da ich den Mond zwar nicht ſehe,
aber an ihn denke, eine Vorſtellung von ihm. Es iſt
alſo wiederum eine Modifikation meines Jchs vorhan-
den, eine Beſtimmung oder Einſchraͤnkung der Seelen-
kraft, und eine gleichzeitige Modifikation in meinem
Gehirn. Die Seele iſt alſo ein Ding, worinn etwas
iſt, als eine Beſchaffenheit in einem Subjekt. Aber
hievon iſt eigentlich die Frage nicht.
Die Empfindung hinterlaͤßt eine Spur, auch wenn
ſie bis dahin voruͤbergehet, daß ich von ihr nichts mehr
weiß. Worinn dieſe Spur beſtehe, weiß ich nicht.
Vielleicht iſt es die naͤmliche oder doch eine gleichartige
Modifikation, wie die Empfindung ſelbſt war, nur ge-
ſchwaͤcht, in ſich zuſammengezogen, eingewickelt, ſo
daß ſie nicht mehr als gegenwaͤrtig vorhanden gewahr-
genommen werden kann; aber doch ſo, daß ſie, ohne
eine neue Jmpreſſion von dem aͤußern Objekt, wiederum
verſtaͤrket, ausgebreitet, entfaltet, und dann als ein mir
gegenwaͤrtiges Phantasma gewahrgenommen werden
kann.
Vielleicht iſt es ſo etwas, als man ſich unter dem
Beſtreben oder unter der Tendenz einer Kraft, ſich
in einen gewiſſen Zuſtand zu verſetzen, vorbildet. Aber
was es auch ſey, ſo hat es die Folge, daß eine gewiſſe
Leichtigkeit in uns vorhanden iſt eine gewiſſe, der
ehemaligen Empfindung aͤhnliche Modifikation anzuneh-
men, oder in einen aͤhnlichen Zuſtand verſetzet zu wer-
den, welche Diſpoſition vorher nicht da war, ſondern
aus der Empfindung entſtanden iſt. Solche Leich-
tigkeiten oder eigentlich die Beſchaffenheiten, welche
der Grund von ihnen ſind, machen die ruhenden Vor-
ſtellungen in dem Gedaͤchtniſſe aus; und ſolche
ſind in uns vorhanden, auch wenn wir ſie nicht ge-
brauchen.
Wo
[219]im Menſchen.
Wo ſind dieſe Beſchaffenheiten, dieſe ruhenden,
wieder erweckbaren Spuren ehemaliger Empfindungen?
Sind es gewiſſe Beſchaffenheiten der Seelenkraft, Mo-
difikationen von unſerm Jch? Wenn ſie wirklich re-
produciret werden, ſo ſind Seelenbeſchaffenheiten vor-
handen, und Gehirnsveraͤnderungen. Dieß letztere
iſt nicht zweifelhaft, aber von jenem iſt die Frage naͤm-
lich davon: welches das Subjekt der zuruͤckgebliebenen
Spuren oder der Sitz der Leichtigkeiten ſey, den Zu-
ſtand der Empfindungen auf eine gewiſſe Weiſe zu er-
neuern?
Wenn jene bleibende Spuren nur allein in dem
koͤrperlichen Organ der Seele vorhanden ſind, ſo
wird die Empfindung dennoch eine wahre Modifikation
der Seele und des Gehirns zugleich ſeyn. Die wieder-
erweckte Vorſtellung iſt in der Seele ſelbſt ein wieder
zuruͤckkehrender ehemaliger Zuſtand, eine nochmalige
matte Empfindung oder ein ſchwaches Bild von ihr.
Aber wenn die Seele nun leichter in dieſen Zuſtand ver-
ſetzet werden kann, ſo mag dieß vielleicht daher kom-
men, weil das Gehirn die dazu gehoͤrige, materielle
Jdee leichter aufnimmt; nicht aber daher, weil ſie ſelbſt
in ſich ſo eine Diſpoſition erhalten hatte. Jn dieſem
Fall wuͤrde die Reproduktion nicht in der Seele, ſondern
in dem Organ geſchehen. Jn jener wuͤrde jedes Phan-
tasma ein neuer Zuſtand, eine neue Jmpreſſion ſeyn,
aber keine Ausdehnung oder Erweckung deſſen, was
ſchon wie im Keim, oder wie ein Funke unter der
Aſche, vorher wirklich vorhanden war. Wenn eine ge-
trocknete Blaſe, die mit Luft erfuͤllet iſt, jeden Augen-
blick durch den Druck der Hand eine andere Geſtalt an-
nimmt, aber wieder in ihre erſte Geſtalt ausſpringet,
nachdem der Druck aufgehoͤret hat, ſo lege man ihr
noch außer der Elaſticitaͤt die Beſchaffenheit bey, daß
ſie von jedem ſtarken Druck eine ſolche Lage ihrer Fibern
erhalte,
[220]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
erhalte, die ſie aufgelegt machet, in dieſe Form am
leichteſten wieder verſetzet werden zu koͤnnen, und zwar
durch ein gewiſſes Schuͤtteln, ohne daß es einer aͤhnli-
chen Preſſion mit der Hand beduͤrfe, welche das erſte-
mal nothwendig war. Jhre Biegſamkeit, die ſie, zu-
gleich mit ihrer Elaſticitaͤt und Feſtigkeit vereiniget, zu
dieſem Ende beſitzen muͤßte, wuͤrde ausnehmend groß
ſeyn, und groͤßer als wir ſie bey irgend einem Koͤrper
antreffen. Aber wenn wir denn der Blaſe dieſe Ei-
genſchaften in Gedanken leihen, ſo iſt es begreifllich,
daß ſie von jedweder Veraͤnderung ihrer Geſtalt eine
Spur, oder eine Leichtigkeit dieſe Figur von neuem an-
zunehmen, behalten wuͤrde. So oft ſie ſich bey dieſer
Vorausſetzung veraͤndert, ſo oft veraͤndert ſich auch die
Figur der innern, in ihr verwahrten fluͤßigen Luft.
Denn dieſe aͤndert ihren aͤußern Umfang, wie die Blaſe
und mit ihr zugleich, ohne daß dem ohnerachtet in der
Luft etwas anzutreffen ſey, ſo mit den bleibenden Spu-
ren in der Blaſe zu vergleichen waͤre. Die Luft iſt und
bleibet wie das Waſſer, aller Veraͤnderungen ihrer Form
in dem Gefaͤße ungeachtet, zu jeder Geſtalt gleichguͤl-
tig, und hat fuͤr ſich ſelbſt keine andere, als diejenige,
welche ihr von ihrem Gefaͤße gegeben wird. Man
kann ihr in der Fiktion noch außer ihrer Elaſticitaͤt,
womit ſie gegen die Waͤnde des Gefaͤßes druckt und
auswaͤrts treibet, auch Kraͤfte beylegen gewiſſe ge-
genwaͤrtige Geſtalten des Gefaͤßes zu erhalten, und ge-
wiſſen Abaͤnderungen derſelben zu widerſtehen, ſo daß
ſie nicht ganz gleichguͤltig gegen alle iſt; dennoch wird
ſie keiner bleibenden Spuren in ſich faͤhig, und bleibet
in ihrem Jnnern ſo unbeſtimmt, wie ſie vorher gewe-
ſen iſt.
Hier liegt der Mittelpunkt der Sache. Jſt die
von der Empfindung in dem Seelenweſen zuruͤckgeblie-
bene Spur, eine bleibende Beſchaffenheit der
Seele,
[221]im Menſchen.
Seele, oder des Organs? Hat das Gedaͤchtniß,
dieſes Jdeen aufbewahrende Vermoͤgen, ſeinen Sitz in
der Seele oder in dem Gehirn?
Man kann vier Antworten darauf geben:
1) Die Spuren ſollen allein Seelenbeſchaffen-
heiten ſeyn. Dieß iſt die erſte und gemeinſte Hy-
potheſe von dem Sitz der Vorſtellungen in der
Seele.
2) Sie ſollen allein Beſchaffenheiten des Ge-
hirns ſeyn. Dieß iſt das Bonnetiſche Syſtem
von dem Sitz des Gedaͤchtniſſes im Gehirn.
Oder 3) ſie ſollen Beſchaffenheiten in beiden ſeyn.
Die Seele ſoll die Leichtigkeit in ſich haben, auf die
vorige Art von neuem modificirt zu werden; und das
Gehirn gleichfalls. Jene in der Seele wird alsdenn
das weſentlichſte Stuͤck ſolcher ruhenden Vorſtellung
ausmachen; wenn dieſe gleich nicht wieder erwecket wer-
den kann, ohne daß die Gehirnsbeſchaffenheit zugleich
auch erneuert werde. Dieß iſt die dritte Hypotheſe
von dem Sitz der Vorſtellungskraft in beiden
Theilen des Menſchen. Vielleicht iſt ſie am Ende
die wahrſcheinlichſte, weil ſie in der Mitte lieget.
Oder 4) einige im Gedaͤchtniß ruhende Vorſtellungen
koͤnnen nur allein Seelenbeſchaffenheiten ſeyn, andere
allein Gehirnsbeſchaffenheiten. Vielleicht einige auch
Beſchaffenheiten von beiden.
Jrgendwo ſind dieſe Vorſtellungen vorhanden in
dem innern Menſchen; in dem beſeelten Organ, oder
in der mit dem Organ vereinigten Seele. Dadurch
werden wir verſichert, daß doch auf Einer dieſer vor
uns liegenden Hoͤhen die Wahrheit ſtehen muͤſſe. Zu
welcher fuͤhren uns nun die Beobachtungen hin, oder
zu welcher von ihnen bringen ſie uns doch ſo nahe, daß
wir es ganz helle ſehen, ſie ſey es, die wir ſuchen?
Jch ſage, die Beobachtungen: denn ſonſten haben
auch
[222]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
auch die Metaphyſiker vieles uͤber die Natur der Sub-
ſtanzen aus Begriffen raiſonnirt, das, wenn es hier
ſicher gebrauchet werden koͤnnte, uns die Dienſte der
Teleſkope thun moͤchte. Aber ſo ſcheinet jetzo noch
nichts anders uͤbrig zu ſeyn, als daß man ſich auf den
langen und zum Theil ungebahnten Weg der Erfahrung
zu Fuß begebe, und langſam immer etwas naͤher hinan
zu kommen ſuche.
Hiebey muß ich aber noch folgende Anmerkung hin-
zuſetzen. Wenn gleich die hier aufgezaͤhlten vier Ver-
ſchiedenheiten alle moͤgliche Hypotheſen begreifen, die
man uͤber den Sitz des Gedaͤchtniſſes, inſoferne ſolches den
Jnbegriff der ruhenden Vorſtellungen ausmachet, erſin-
nen kann, ſo ſind ſie es doch nicht alle, die moͤglich ſind,
wenn auch zugleich der Sitz der Wiedervorſtellungs-
kraft oder des Vermoͤgens zu reproduciren beſtim-
met werden ſoll. Die hinterbliebene Spur der Em-
pfindung kann in dem Gehirn, und die Kraft ſie wieder
zu erwecken, in der Seele, oder umgekehrt, das Ver-
moͤgen der Reproduktion in dem Gehirn, und die erweck-
bare Spur in der Seele ſeyn. Die Kraft und ihr
Objekt koͤnnen in demſelbigen Weſen beyſammen, oder
ſie koͤnnen auch getrennet ſeyn. Dieſe moͤgliche Ver-
ſchiedenheit iſt alſo noch mit jener zu verbinden; und
daher kann jede der obigen vier Hypotheſen, in zwo
Nebenhypotheſen auseinander gehen, wie ſich bald erge-
ben wird, wenn man in die Unterſuchung der Sache
ſelbſt etwas hineingehet. Nun iſt ſchon vorher ange-
merket worden, daß unter dem Namen von Vorſtel-
lungen nicht jedwede hinterbliebene Spuren verſtan-
den werden, ſondern eine ſolche, welche durch innere
Urſachen in der Seele auch wieder erwecket werden kann,
wenn gleich die Einwirkung der Urſachen fehlet, welche
die erſten Jmpreſſionen in der Empfindung hervorbrachte.
Es iſt nichts daran gelegen, wenn man den Sitz des
Gedaͤcht-
[223]im Menſchen.
Gedaͤchtniſſes und den Sitz der Vorſtellungen
fuͤr einerley haͤlt; aber alsdenn kann der Sitz der Vor-
ſtellungen von dem Sitz der Einbildungskraft
oder des Wiedererneurungsvermoͤgens verſchieden ſeyn.
Jndeſſen, da es hier meine Abſicht nicht iſt, alle Moͤg-
lichkeiten durchzugehen, ſondern nur die Wahrſchein-
lichkeiten aufzuſuchen, ſo bedarf es auch keine vollſtaͤn-
digere Aufzaͤhlung von jenen, und es iſt genug, auf ſie
eine allgemeine Ruͤckſicht zu nehmen.
VI.
Beurtheilung der erſten Hypotheſe von dem Sitz
des Gedaͤchtniſſes in der Seele.
- 1) Die Erklaͤrungsart bey dieſer Hypotheſe.
Jhr zufolge giebt es keinen unmittelbaren
Uebergang im Gehirn von einer mate-
riellen Jdee zur andern, die mit ihr ver-
knuͤpft iſt. - 2) Auf welche Art viele Schwierigkeiten, die
man dieſer Erklaͤrungsart entgegenſetzet, ge-
hoben werden koͤnnen. Wie gewiſſe har-
moniſche Bewegungen im Gehirn gegen-
waͤrtig ſeyn koͤnnen, ohne daß weder die
Seele, noch die ſonſt gewoͤhnliche Jmpreſ-
ſion von außen, ſie hervorbringe. Jnglei-
chen, wie Jdeen wider den Willen der
Seele in ihr und von ihr reproduciret wer-
den koͤnnen. - 3) Schwierigkeiten, die aus der beobachteten
Abhaͤngigkeit des Gedaͤchtniſſes von
dem Koͤrper und von koͤrperlichen Urſa-
chen
[224]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
chen entſtehen. Wie dieſe gehoben werden
koͤnnen. - 4) Merkwuͤrdiger Unterſchied zwiſchen will-
kuͤrlichen Vorſtellungen, deren Gegen-
wart von einem ſelbſtthaͤtigen Beſtreben
der Seele abhaͤngt, und zwiſchen unwill-
kuͤrlichen, die ſich uns von ſelbſt darzu-
ſtellen ſcheinen. - 5) Einwurf, der aus dieſer Verſchiedenheit
entſpringet, gegen die Meinung, daß die
Wiedervorſtellungskraft allein der Seele
zukomme. Wie ſich hierauf antworten
laſſe.
1.
Die erſte der gedachten Hypotheſen iſt die gewoͤhnlich-
ſte, die man in den Lehrbuͤchern der aͤltern Philo-
ſophen als eine nicht zweifelhafte Vorausſetzung an-
trifft; oder wenigſtens kommt ihr die gewoͤhnlichſte am
naͤchſten, zumal wenn man auf die Anwendung ſieht,
die gemeiniglich von ihr gemacht wird. Jn der Seele
ſoll das Gedaͤchtniß und der aufbewahrte Vorrath von
Vorſtellungen, Jdeen und Gedanken; dagegen in dem Ge-
hirn nichts dahin gehoͤriges ſeyn, wenn die Empfindung
voruͤber iſt, und die Vorſtellung aufgehoͤret gegenwaͤr-
tig uns vorzuſchweben. Da das Gehirn weich, und
der Nervenſaft fluͤßig iſt, ſo kann hier vielleicht ſo wenig
eine Spur von der vorhergegangenen ſinnlichen Bewe-
gung zuruͤckgeblieben ſeyn, als in dem Waſſer die Stelle
kenntlich iſt, wo ein Stein hineingeworfen iſt, ſobald
die wallende Bewegung auf der Flaͤche ſich wiederum
verloren hat, die keine Minute beſtehet.
Wir
[225]im Menſchen.
Wir wollen hiemit auch dieß verbinden, daß nur
allein die Seele eine pſychologiſche Reproduktionskraft
beſitze. Sie ſoll es ſeyn, welche ihre gehabte Vorſtel-
lungen aus ſich wiederum erwecket, die alsdenn in ihr
eigentlich nur Wiedervorſtellungen ſind. Die Bewe-
gungen im Gehirn, welche zu ihnen gehoͤren, ſind je-
desmal neue Bewegungen, obgleich Wiederholungen
anderer vorhergegangenen, denen ſie aͤhnlich ſind. Man
laſſe zum zweytenmal einen Stein auf der naͤmlichen
Stelle ins Waſſer fallen, wenn die Kreiſe, die der
erſte machte, nicht mehr ſichtbar ſind; ſo werden aͤhn-
liche Kreiſe entſtehen; aber es ſind neue Kreiſe, die
eben ſo von dem zweeten fallenden Stein entſtehen, als
die erſtern, und keine Beziehung auf jene haben, welche
vorhergegangen ſind.
Die Seele reproducirt die Jdeen nach dem Geſetz
der Aſſociation: theils nach der Verbindung, die ſie
ſchon in dem Gedaͤchtniß haben, theils nach der Aehn-
lichkeit unter ſich, und mit dem gegenwaͤrtigen Zuſtand
der Seele. Hiebey hat die Seele ſich nicht immer in
ihrer Gewalt. Denn dieß Geſetz iſt ein Geſetz ihrer
Natur, von dem ſie nicht anders abgehen kann, als in
ſo ferne ſie ſelbſt ihren eigenen Zuſtand zu veraͤndern im
Stande iſt. Heget ſie alſo Jdeen wider ihren Willen,
oder faͤllt ſie auf ſie mit Unmuth alle Augenblicke zuruͤck;
iſt ſie von ihnen bezaubert, wie ein Kaninchen von ei-
ner Klapperſchlange, das ſich entfernen will, auch ſich
wirklich etwas entfernet, aber doch gleich wieder zuruͤck-
kehret und, indem es unverwandt dem Verſchlinger in
die funkelnden Augen ſiehet, ſich ihm immer mehr naͤ-
hert, und endlich zur Beute uͤberlaͤßt; wenn ſo etwas
aͤhnliches dem Liebhaber mit der Vorſtellung von ſeiner
Geliebten begegnet, und jedem andern mit ſeinem
Steckenpferde: ſo folget nicht, daß die Seele von dem
Strome des Gehirns getrieben wuͤrde; es folget nur,
IITheil. Pdaß
[226]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
daß ſie nicht allemal das Vermoͤgen habe, die in ihr
feſtgeſetzte Folge von Vorſtellungen ſelbſtthaͤtig abzu-
aͤndern.
Ein weſentlicher Charakter dieſer Hypotheſe, der
nothwendig aus dem vorhergehenden folget, beſtehet
darinn, daß es nur allein in der Seele einen unmit-
telbaren Uebergang von einer reproducirten Vor-
ſtellung zu der andern giebt. Die intellektuelle Jdee
von dem Berge, lieget dicht an der intellektuellen Jdee
von dem Thale. Die dazu gehoͤrigen Gehirnsveraͤnde-
rungen haben unter ſich unmittelbar keine Verbindung,
ſondern ſind nur ſich zur Seite ſtehende Wirkungen Ei-
ner Urſache. Die materielle Jdee von dem Berge im
Gehirn, oder die Gehirnsveraͤnderung wird durch die
intellektuelle Vorſtellung in der Seele hervorgebracht,
und die zwote von dem Thale iſt in dem Gehirn mit
der zwoten Jdee von dem Thale in der Seele verbun-
den. Dieſe beiden Gehirnsbewegungen folgten in der
Empfindung auf einander, als das Auge von dem Ber-
ge zum Thale ſich hinwandte; aber ſie haben dennoch
in der Reproduktion keine ſolche Beziehung auf einan-
der, daß die erſtere Oſcillation im Gehirn die letztere
unmittelbar erwecken koͤnne. Folglich kann keine Ge-
hirnsveraͤnderung wieder zuruͤckkehren, woferne nicht
entweder von außen die naͤmliche Urſache einen Ein-
druck machet, oder nicht von innen die Seelenkraft
auf die naͤmliche oder auf eine aͤhnliche Art dieſelbige
Fiber in Bewegung ſetzet.
Entweder die naͤmliche oder doch eine aͤhnliche
aͤußere Urſache kann die naͤmliche, oder doch eine
aͤhnliche, Gehirnsbewegung hervorbringen. Aeußere
Urſache iſt hier aber eine jede, die, wenn ſie gleich in-
nerhalb des Umfangs des Koͤrpers iſt, doch außer der
Seele und außer ihrem innern Organ ſich befindet, wie
z. B. Funken herausfahren, wenn das Auge ſtark ge-
ſtoßen
[227]im Menſchen.
ſtoßen oder geſchlagen wird. Es entſtehen alſo mate-
rielle Jdeen von Licht und Feuer, ohne daß ein Feuer
außer den Augen vorhanden ſey. Das naͤmliche wird
durch eine Menge von optiſchen Erſcheinungen, be-
ſonders durch die ſo genannten zufaͤlligen Farben,
oder veraͤnderlichen Scheinfarben, die in uns ent-
ſtehen, ohne daß aͤußere Gegenſtaͤnde vor uns ſind, wo-
durch auf die gewoͤhnliche Weiſe die materiellen Bilder
von ſolchen Farben erreget werden koͤnnten, beſtaͤtiget.
Wir haben alſo ſinnliche Bewegungen im Gehirn, wel-
che zu gewiſſen Jdeen in der Seele gehoͤren, und in
dem Gehirn hervorgebracht werden, ohne daß die ge-
woͤhnliche Jmpreſſion von außen vorhanden ſey. Und
auch iſt es die Seele nicht, welche ſie hervorbringet.
2.
Jn dieſem Erfahrungsſatz, daß gewiſſe ſinnliche
Bewegungen im Gehirn durch mehr als Eine Urſache
entſtehen koͤnnen, obgleich zwiſchen dieſen Urſachen we-
nig Aehnlichkeit zu ſeyn ſcheinet, hat man einen Ge-
meinort, aus dem ſich eine Menge von Erklaͤrungen
herholen laſſen, wenn der Vertheidiger der gemeinen
Hypotheſe Schwierigkeiten aufloͤſen ſoll, die ihm aus
gewiſſen Faktis entgegengeſetzt werden. Denn da es
Eindruͤcke im Gehirn giebt, wovon man vielleicht glau-
ben kann, daß ſie durch die Thaͤtigkeit der Seele be-
wirket werden, und die doch auch von einer Reproduk-
tionskraft des Gehirns nicht entſtehen koͤnnen, weil das
Gehirn dergleichen nicht beſitzet, ſo muͤſſen ſie jedesmal,
wenn ſie vorhanden ſind, aͤußerliche Urſachen haben,
wovon ſie herruͤhren. Sind nun die gewoͤhnlichen nicht
da, ſo koͤnnen es andere ſeyn, die jenen zwar in man-
chen Hinſichten unaͤhnlich ſind, aber doch unter gewiſ-
ſen Umſtaͤnden aͤhnliche Bewegungen im Gehirn her-
vorbringen.
P 2So
[228]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
So ein anderer Gemeinort iſt in dem ſchon ange-
fuͤhrten Satz, den man mit dieſer Hypotheſe verbinden
kann, daß naͤmlich die Seele nicht allemal ihre Repro-
duktion in ihrer Gewalt habe, und dem Geſetz der Aſ-
ſociation auch wider ihren Willen unterworfen ſey.
Fraget man z. B. wie Wallungen im Gebluͤt Phanta-
ſien veranlaſſen, wie der Wein angenehme Vorſtellun-
gen erwecke, und die Hitze des Fiebers Raſerey? wie
kann es die Seele ſelbſt thun? ſo laͤßt ſich antworten,
ohne daß man dem Gehirn ruhende, materielle Vorſtel-
lungen, oder ein Vermoͤgen zu reproduciren einraͤume.
Man kann hier nicht annehmen, wie ſonſten in manchen
andern Faͤllen, daß die Bewegungen in dem Gebluͤt
und in den Saͤften die Urſachen ſind, die ſolche Ein-
druͤcke in dem Seelenorgan des Kranken, in ſolcher
Menge und ſo ſchnell hervorzaubern koͤnnen, wozu ſon-
ſten Jahre erfodert werden, ehe ſie nach und nach aus
den Empfindungen geſammlet werden. Es waͤre we-
nigſtens außerordentlich unwahrſcheinlich, die Bilder
des Jrreredenden im Fieber fuͤr Wirkungen von den
Jmpreſſionen der aͤußern Objekte anzuſehen, die gegen-
waͤrtig auf das Gehirn wirken ſollten. Jſt es moͤglich,
ohne Augen und Ohren zu gebrauchen, daß durch ge-
wiſſe innere Bewegungen in dem Gehirn Schwingun-
gen entſtehen, die ſonſten nur vermittelſt der offenen
Sinnglieder hervorkommen? Dieſe Antwort aus dem
erſtern Grundſatz laͤßt ſich hier nicht geben. Die See-
le ſelbſt wird ſich auch ja nicht ſo aus ihrer Faſſung ſe-
tzen, und ſo unordentlich und verwirrt reproduciren, daß
ſie zur andern Zeit ſich dafuͤr ſchaͤmen muͤßte.
Allein aus dem letztern Satze kann man antworten,
ohne die Hypotheſe zu verlaſſen. Es bedarf keiner An-
lagen im Gehirn aus ehemaligen Empfindungen her,
die durch koͤrperliche Urſachen, ohne Zuthun der Seele,
erwecket wuͤrden. Alles kann auf die folgende Art zu-
gehen.
[229]im Menſchen.
gehen. Die Bewegungen in dem Koͤrper, die von
dem Wein, von der Hitze, oder von andern Urſachen
entſtehen, veranlaſſen Empfindungen in der Seele, weil
ſie im Gehirn einen ſinnlichen Eindruck machen, welcher
zu ſolchen Empfindungen gehoͤret. Aber die Seele,
wenn ſie einmal auf dieſe Empfindungen gebracht iſt, uͤber-
laͤßt ſich dem Geſetz der Aſſociation. Der Wein, der
des Menſchen Herz erfreuet, erreget zunaͤchſt ein Ge-
fuͤhl des Wohlſeyns. Dieß Gefuͤhl giebt der Seele
den Ton in ihren Kraftaͤußerungen und Phantaſien;
und es werden Jdeen erwecket, die ſich auf dieſen Zu-
ſtand beziehen, ſchoͤne Ausſichten, Hoffnungen, Freu-
den, nach dem Geſetz der Aſſociation; und dieſe Jdeen
in der Seele bringen ihre zugehoͤrigen Gehirnsbeſchaf-
fenheiten hervor. Jn andern Leidenſchaften und in der
Raſerey iſt die Reihe von Vorſtellungen anders, und
ihre Folgen ſind anders; das Spiel in der Seele iſt
anders, und folglich auch die Reihe der Gehirnstoͤne.
Allein in allen dieſen Faͤllen iſt die Seele der Spieler;
nur daß ſie durch einen oder den andern Ton, den eine
fremde Urſache hervorbrachte, zuerſt in den Schwung
geſetzt worden iſt, bey dem ſie oftmals aus ihrer Faſ-
ſung geſetzet wird.
Ueberhaupt wenn es nur auf das Vertheidigen hier
ankaͤme, wenn ſich vorausſetzen ließe, die Hypotheſe
ſey mehr als eine Hypotheſe, entweder in Faktis voͤl-
lig gegruͤndet, oder doch wegen der Menge und Wich-
tigkeit der Anzeigen, die fuͤr ſie ſind, uͤberwiegend wahr-
ſcheinlich in Vergleichung mit andern, die man ihr zur
Seite ſetzen kann; wenn ſich dieſes ſchon annehmen
ließe, und es alſo nur darum zu thun waͤre, daß man
zeigte, es koͤnnten die ihr entgegengeſtellten Schwierig-
keiten gehoben werden, ohne daß ſie ſchlechthin dadurch
umgeſtoßen werde: ſo ließe ſich wohl Rath ſchaffen.
Moͤchten dann gleich manche Erfahrungen leichter, ein-
P 3facher
[230]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
facher und naͤher aus einer andern Hypotheſe erklaͤret
werden koͤnnen, ſo kann darauf noch kein ſo vielbedeu-
tender Einwurf gegruͤndet werden, da wir doch aus
manchen Beyſpielen in der Naturlehre wiſſen, daß Er-
klaͤrungsarten, die anfangs die einfachſten und leichte-
ſten zu ſeyn ſchienen, nachher bey weitem nicht als die
richtigſten befunden worden ſind. Die Natur iſt zwar
einfach in ihrem Verfahren, aber auch ſo mannichfaltig,
daß die verworrenſten Arten zu wirken, ſo wie ſie uns
naͤmlich vorkommen, oftmals die ſind, welche ſie liebet.
Aber es fehlet noch viel daran, daß es mit unſerer Hy-
potheſe ſchon ſo weit gebracht ſey. Jn wie vielen Faktis
iſt ſie gegruͤndet, ſo daß nicht fuͤr jede der uͤbrigen eben
ſo viele auf die naͤmliche Art angefuͤhrt werden koͤnnten?
Wenn ſie alſo an Glaubwuͤrdigkeit etwas voraus hat,
ſo ſoll dieſer Vorzug erſt aus den vorzuͤglich leichten
und einfachen Erklaͤrungsarten, die aus ihr genommen
werden koͤnnen, hervorleuchten. Sie muß alſo an
Wahrſcheinlichkeit verlieren, wenn ihre Vertheidiger
noch neue Hypotheſen hinzuſetzen muͤſſen, um mit ihr aus-
zureichen; noch mehr aber, wenn dieß ſchon noͤthig iſt,
um ſie zu erhalten, daß ſie durch Fakta nicht umge-
worfen werde.
3.
Zu den vornehmſten Schwierigkeiten, die ſich bey
ihr finden, gehoͤret die bekannte Abhaͤngigkeit des
Gedaͤchtniſſes von dem Gehirn und dem Koͤrper.
Jſt das Gedaͤchtniß, als der Jdeenſitz, allein in der
Seele: wie kann die Krankheit ſolches wegnehmen, wo-
von man Beyſpiele hat, daß es geſchehen iſt? Wie
kann das Alter es ſchwaͤchen? Die Leiden des Koͤrpers
bringen Empfindungen in der Seele hervor, und hin-
dern ihre Vermoͤgen zu wirken; aber koͤnnen ſie auch
die Spuren in dem Jnnern der Seele ausloͤſchen, die
ſich
[231]im Menſchen.
ſich da aus den Empfindungen her ſchon feſtgeſetzt hat-
ten? Koͤnnen ſie dieß nicht, warum werden denn ſo
viele Jdeen durch Zufaͤlle entzogen, oder unerweckbar
gemacht?
Vielleicht hat die koͤrperliche Urſache die Fibern des
Gehirns erſchlaffet oder erſtarret, daß es ihnen nun an
der noͤthigen Feſtigkeit oder Beugſamkeit fehlet, die in-
nern Eindruͤcke von der Seele her anzunehmen. Jch
wuͤrde dieß antworten. Und dann iſt es zugleich be-
greiflich, warum die Seele, ob ſie gleich ihre intel-
lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, ſich auf nichts be-
ſinnen koͤnne. Denn wenn ſie dieſe letztern in ſich wie-
der erneuert: ſo thut ſie das, was ein Spieler thut,
wenn er mit ſeinen Fingern auf die Klaves hin und her
faͤhrt, wie er es ſonſten macht, wenn er ſpielet. Es
erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn-
ſtruments geſchlaffet oder zerſprungen ſind. Auf gleiche
Weiſe koͤnnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom-
men; aber wenn die dazu gehoͤrige Gehirnsveraͤnderung
nicht vorhanden iſt: ſo iſt es auch nicht moͤglich, daß
die Seele ihre wiedererweckte Vorſtellung empfinden,
und von ihr wiſſen koͤnne, daß ſie in ihr ſey. Denn
ein Gefuͤhl von einer gegenwaͤrtigen Vorſtellung erfo-
dert allemal eine gegenwaͤrtige Gehirnsbewegung, auf
welche die Seele zuruͤckwirket, indem ſie die dazu gehoͤ-
rige Vorſtellung fuͤhlet.
Genuͤget dieſe Antwort? Menſchen, deren Ge-
daͤchtniß in hitzigen Krankheiten vergangen iſt, haben
eigentlich am meiſten an dem Jdeenvorrath gelitten,
nicht ſo ſehr an dem Gedaͤchtniß ſelbſt, als Vermoͤgen
betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu-
weilen mehr, zuweilen weniger. Sonſten findet ſich,
wenn ſie wiederum geſund ſind, daß ihr Gedaͤchtniß
auch ſeine Dienſte wiederum leiſtet, Modifikationen
aufbewahrt und reproducirt. Dieß ſcheinet zu beweiſen,
P 4daß
[232]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
daß die Gehirnsfibern ihre Receptivitaͤt ſich ſpannen zu
laſſen nicht verloren haben, wenn nur Vorſtellungen
vorhanden waͤren. Solche Leute muͤſſen von neuem
lernen, weil ihr aufgeſammleter Jdeenvorrath dahin iſt.
Dieſer Umſtand giebt eine neue Schwierigkeit. Wie
iſt dieß zu begreifen, wenn die Jdeen in der Seele ſelbſt
uͤbrig geblieben ſind, wie vorher, und das Gehirn uͤber-
haupt nichts mehr in ſich hat, noch annehmen kann,
als nur die unbeſtimmte Faͤhigkeit, ſich von der Seele
modificiren zu laſſen? Sobald dieſe Staͤrke wiederum
in den Fibern da iſt, ſollten ſich ja auch zugleich alle
vorige Jdeen wieder erneuern laſſen.
Auf dieſe Replik ließe ſich noch wohl dupliciren.
Bey einigen beſondern Faͤllen iſt es noͤthig, ſich ſo ge-
nau in die Gruͤnde fuͤr und wider eine Hypotheſe ein-
zulaſſen, um ihre ganze Staͤrke im Erklaͤren einzuſehen.
Aber auch nur in einigen Faͤllen. Denn wenn man
Muthmaßungen pruͤfet, ſo iſt es ganz ein anders, als
wenn man Wirkungen aus einer bekannten Urſache ab-
leiten will. Bey jenem kommt es mehr auf eine allge-
meine Ueberſicht aller Anzeigen zuſammen und auf die
Uebereinſtimmung der Muthmaßungen mit allen an, als
auf die Art dieſer Uebereinſtimmung mit einigen ein-
zeln fuͤr ſich betrachtet.
Es laͤßt ſich, wie geſagt, noch einmal auf den letz-
ten Einwurf antworten. Koͤnnen nicht die Fibern des
Gehirns durch die Krankheit zu ſchlaff geworden ſeyn,
um durch die Aktion der Seele von innen die noͤthigen
Schwingungen anzunehmen, und durch eine neue An-
wendung bey den Empfindungen dieſen Grad ihrer
Spannkraft, der ihnen fehlet, nur allmaͤhlig wieder er-
halten? Ein Kranker hatte ſeinen Namen vergeſſen;
dieſer wird ihm von neuem vorgeſagt, und er behaͤlt ihn
nun. Vielleicht war die Fiber zu ſchwach, um die
materiellen Jdeen von innen anzunehmen; aber nicht
zu
[233]im Menſchen.
zu ſchwach, um ſie aus der ſtaͤrkern Jmpreſſion, die
von dem aͤußern Schall herkommt, zu erhalten. Und
wenn ſie nun zugleich ihre vorige Elaſticitaͤt wieder em-
pfaͤngt, ſo iſt ſie in den Stand geſetzt, auch von der
zuruͤckgebliebenen Jdee in der Seele modificiret zu wer-
den. Die aͤußern Empfindungen muͤßten nach dieſer
Erklaͤrung zwar die Elaſticitaͤt — oder worinn eigent-
lich die Empfaͤnglichkeit des innern Organs beſtehen
mag — verſtaͤrken, und in ſo weit etwas in dem Or-
gan zuruͤcklaſſen. Allein was ſie zuruͤcklaſſen, iſt eine
bloße Erhoͤhung der Elaſticitaͤt, welche keine Spuren
von beſondern Toͤnen, das iſt, keine materiellen Jdeen
ausmacht. Uebrigens kann man bey dieſer Hypotheſe
es auch gerne zugeben, daß ſich Vorſtellungen ſelbſt
aus der Seele zum Theil und gaͤnzlich verlieren, und
daß dieß Vergeſſen in der Seele ſelbſt in die angefuͤhr-
ten Erfahrungen einen Einfluß habe.
4.
Es giebt eine Menge von Vorſtellungen in uns, bey
denen das Selbſtgefuͤhl es offenbar zu lehren ſcheinet,
daß ihre Reproduktion — die durchaus keiner aͤußern
Urſache zugeſchrieben werden kann — auch keine Wir-
kung der Seele ſey, ſondern eine bloße Leidenheit, wie
die aͤußern Empfindungen, die ihre Urſachen außer der
Seele haben. Soll jede reproducirte Vorſtellung als
eine Wirkung von der Seelenkraft angeſehen werden,
ſo iſt man zuweilen genoͤthiget, auf gut idealiſtiſch oder
harmoniſtiſch zu erklaͤren.
Wir kennen den Unterſchied zwiſchen unwillkuͤrli-
chen Vorſtellungen, die von ſelbſten ſich uns darzubie-
ten ſcheinen, und zwiſchen den willkuͤrlichen, deren
Wiedererweckung nicht ohne eine merkliche Anſtrengung
unſerer Kraft geſchieht, ſehr gut. Die Empfindung
lehret dieſen Unterſchied; und, ohne Ruͤckſicht auf irgend
P 5eine
[234]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
eine Hypotheſe, iſt ſo viel außer Zweifel, daß die eine
Art weniger, als die andere, eine außerordentliche und
ſich auszeichnende Thaͤtigkeit unſers Jchs erfodere, ſie
mag nun von dem Gehirn, oder von dem Jch, oder
von beiden zugleich abhangen. Wir unterſcheiden die
Stunden der Arbeit und des geſchaͤfftigen Beſtrebens
des Geiſtes, im Vorſtellen und im Nachdenken, von
den Stunden der Ruhe und des Genuſſes. Jn jenen
iſt die Reproduktion der Vorſtellungen mehr ein Werk
von uns ſelbſt; dagegen in den letztern die Phantaſien
ſich von ſelbſt darbieten, und uns eine leichte und ab-
wechſelnde Unterhaltung verſchaffen. Jn jenen arbeitet
die Seele, und die Organe verrichten ihre Dienſte mit
Munterkeit; die Vorſtellungen ſind lebhaft, und ſtel-
len ſich zu unſerm Dienſte dar, ohne doch ſich laͤnger
zu verweilen als wir ſie gebrauchen. Die Seele blei-
bet dabey beſinnlich, behaͤlt die Herrſchaft uͤber die
Jdeen, und bringet auch das Organ, wenn ſie will,
wiederum in Ruhe. Dieß fuͤhlen wir, ſo lange die
Staͤrke und Lebhaftigkeit der Jdeen innerhalb einer ge-
wiſſen Grenze bleibet, die der Geometer im Nachden-
ken, und der Dichter in der Begeiſterung, ja nicht zu
uͤberſchreiten hat. Denn ſobald die Vorſtellungen ſo
lebhaft werden, daß ſie in der Seele den Meiſter ſpielen,
ſo ſind ſie ungelenkbar, und verfolgen uns auch wider
ihren Willen. Eine aͤhnliche Graͤnze findet ſich gleich-
falls auch auf der andern Seite in unſern Erholungen
und vernuͤnftigen Vergnuͤgungen, die nicht in gaͤnzli-
cher Unthaͤtigkeit beſtehen. So lange wir innerhalb
derſelben ſind, iſt Beſinnung und Beherrſchung der Vor-
ſtellungen da; aber weiter herunter entſtehet der Traum
und der Schlaf, in welchem die Seele, obgleich aus ei-
nem andern Grunde, naͤmlich aus Mangel an innerer
Selbſtthaͤtigkeit, eben ſo wenig ſich und ihre Vorſtel-
lungen regieren kann.
Es
[235]im Menſchen.
Es verdienet hiebey eine beſondere Bemerkung,
daß es ein großes Beduͤrfniß unſrer Seele ſey, daß ſie
ununterbrochen fort mit ſolchen unwillkuͤrlichen und lei-
dentlichen Vorſtellungen, wie mit Empfindungen, er-
fuͤllet ſey. Fehlet es uns auf dem Boden unſerer See-
le an Jdeen und Gedanken, die ſich uns darſtellen,
und ſich in uns erhalten, ohne daß es der Seele eine be-
merkbare Aeußerung koſte ſich ſolche zu verſchaffen, ſo
iſt die Munterkeit und Geſundheit und, faſt kann man
ſagen, das Leben des Geiſtes dahin. Wenn das ge-
ſchwaͤchte Gehirn uns hierinn ſeine Dienſte verſagt und
nicht immerfort Bilder zur Beſchaͤfftigung uns vor-
haͤlt: — auf einen Augenblick naͤmlich einmal ange-
nommen, daß das Gehirn ſelbſt ſeine Schwingungen er-
neuere: — ſo entſtehet ein ungluͤckſeliger Zuſtand in
dem Menſchen, wovon ich nicht wuͤnſche, daß meine Leſer
anſchaulich aus der Erfahrung ihn kennen moͤgen. Naͤm-
lich es entſtehet ſo ein Lebensverdruß, als das weſent-
liche Stuͤck in dem Spleen der Englaͤnder ſeyn ſoll.
Dieſe Krankheit hat, wie man meint, ihre erſte Urſa-
che zwar im Unterleibe, aber ſie verbreitet ſich ins Ge-
hirn, und machet das Seelenorgan unfaͤhig, die uns
unterhaltenden Vorſtellungen herzugeben, welche die
Gegenſtaͤnde und die Nahrung fuͤr die Wirkſamkeit der
Seele und fuͤr ihr Leben ſind. Alsdenn entſteht ein
ſchreckliches Leeres in uns, das die Seele durch ein
Beſtreben Jdeen zu erwecken, oder auch durch Zer-
ſtreuungen und neue Empfindungen, auszufuͤllen ſucht;
aber ſo, daß ſie zugleich bey dieſen Beſtrebungen ihre
Schwaͤche und Ohnmacht fuͤhlet und muthlos wird. Die
Bilder erfolgen nicht, oder fallen ſogleich wiederum
weg. Es iſt ſehr natuͤrlich, daß daraus ein Unmuth
entſpringe, welcher mehr, als ein Verdruß uͤber
einzelne unangenehme Zufaͤlle, mehr als ein Gefuͤhl
von Schmerzen und Widerwaͤrtigkeit, welches doch die
Seele,
[236]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Seele, ſo lange es nur nicht ganz betaͤubend iſt, in Thaͤ-
tigkeit ſetzet und ſie zugleich mit dem begleitenden Ge-
fuͤhl ihrer Staͤrke aufrichtet, ſondern ein Ueberdruß
des Lebens ſelbſt iſt. Denn das Gefuͤhl der Exi-
ſtenz wird widrig, und alſo Vorſtellen und Denken ei-
ne Laſt, die, wenn ſie anhaͤlt, die Geiſteskraft zu Bo-
den druͤcket.
5.
Aus dieſem Unterſchiede zwiſchen den reproducirten
Vorſtellungen kann eine unſrer gegenwaͤrtigen Hypotheſe
ungemein nachtheilige Folgerung gezogen werden. Da
es in uns eine ununterbrochene Reihe unzaͤhliger Vor-
ſtellungen giebt, die nicht von aͤußern Eindruͤcken ent-
ſtehen, auch keine innern Empfindungen ſind, weder
gewoͤhnliche noch ungewoͤhnliche, weder aͤchte noch un-
aͤchte; ſoll man annehmen, daß unſer Jch ſelbſt ſie her-
vorbringe: ſo kann man aus eben dieſen Gruͤnden an-
nehmen, daß es auch die Eindruͤcke von den Farben
hervorbringet, wenn wir ſehen. Denn das Jch iſt, dem
Gefuͤhl nach, bey jenen Vorſtellungen nicht mehr ſelbſt-
thaͤtig, als bey ſeinen leidentlichen Jmpreſſionen, wenn
wir empfinden.
Und kann nicht offenbar der naͤmliche Schluß bey
der großen Menge von Jdeen angebracht werden, die
uns nicht nur ohne unſern Willen, ſondern auch ge-
gen unſern Willen und gegen unſer Beſtreben ſich auf-
draͤngen, wieder zuruͤckkehren und uns verfolgen, wie die
Schmerzen aus dem Koͤrper? Jn der That finde ich
keinen Unterſchied in dem Gefuͤhl meiner Wirkſamkeit
bey jenen und bey dieſen. Dennoch ſoll das Jch es
ſeyn, was die Vorſtellungen in ſich ſelbſt erweckt, und
alsdann erſt die harmoniſchen Gehirnsveraͤnderungen
hervorbringet. Wenn das Gehirn ſeine materiellen
Jdeen in ſich ſelbſt und aus ſich hervorziehet, und der
Seele
[237]im Menſchen.
Seele ſie vorhaͤlt: ſo ſcheinet dieſe Reproduktion ſo
gut erklaͤrt zu ſeyn, als die Empfindungen, denen ſie
von dieſer Seite ſo ſehr aͤhnlich ſind. Laßt uns die Re-
produktionskraft, ſo viel naͤmlich zu den paſſiven Vor-
ſtellungen erfodert wird, dem Gehirne beylegen, und
alſo auch in dieſem die ruͤhrenden materiellen Jdeen an-
nehmen: ſo haben wir eine Erklaͤrung dieſer Phaͤnome-
ne, die viel natuͤrlicher und leichter iſt, als die gemeine
Hypotheſe ſie geben kann.
Aber daß die letztere nun ſchlechthin damit nicht be-
ſtehen koͤnne: dieß wuͤrde ich nicht zugeben, wenn
ich ihr Vertheidiger ſeyn wollte. Kann die Seele nicht
aufgelegt ſeyn, durch ihre natuͤrliche Wirkſamkeit eine
Menge von Vorſtellungen in ſich zu unterhalten, wo-
fern nur das Gehirn nicht ungeſchickt iſt, ſeine Dienſte
zu thun, ohne daß ſie doch dieſe ihre eigenen Beſtrebun-
gen beſonders fuͤhlen und gewahrnehmen duͤrfe? Wenn
ſie einmal durch Empfindungen in den Stand reger
Wirkſamkeit gebracht iſt, ſo mag ſie ſo leicht und ſo
unmerklich Jdeen reproduciren, als ein Virtuos auf
ſeinem Jnſtrument phantaſiren kann. Dieſer Effekt
koſtet zwar Kraft und Thaͤtigkeit, daher ſie auch
endlich daruͤber ermuͤdet; aber doch keine ſich ausneh-
mende Anſtrengung, die ſie als eine eigene Kraftaͤuße-
rung und als ein beſonderes Beſtreben in ihrer ganzen
Thaͤtigkeit unterſcheiden muͤßte. Wenn aber das Ge-
hirn ſeine Receptivitaͤt dazu verloren hat, dann iſt es
nicht zu verwundern, daß ſeine ſinnlichen Bewegungen
nicht erfolgen, und daß es alsdenn an dem Gefuͤhl der
Vorſtellungen und der Thaͤtigkeit fehle, oder auch, daß
dieß Gefuͤhl ſo ſchmerzhaft werde, als die Anſtrengung
des Kopfes, wenn das Gehirn durch eine hitzige Krank-
heit gelitten hat.
Kann die Seele dieſe oder jene Vorſtellung nicht
unterdruͤcken, wie ſie will, ſo kann dieß darinn ſeinen
Grund
[238]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Grund haben, weil dieſe mit einer Empfindung ver-
knuͤpfet iſt, die von außen her unauf hoͤrlich in uns ver-
neuert wird. Das Gebluͤt behaͤlt noch einige Zeit ſeine
Wallungen, und der Magen kocht noch etwas fort,
wenn gleich der Zorn voruͤber iſt. Jn dieſen Umſtaͤn-
den mag die Seele die Vorſtellung von einer empfange-
nen Beleidigung einen Augenblick unterdruͤcken; und dieß
vermag ſie; aber weil die Bewegungen im Koͤrper noch
immer dieſelbigen dunklen Empfindungen wieder er-
neuern, die in dem ganzen Affekt enthalten waren: ſo
ſtellen ſich auch die Jdeen von dem Beleidiger und von der
Beleidigung, die noch eben vorher ſo innig mit jenen
Jmpreſſionen aſſociirt waren, nach dem Geſetz der Aſ-
ſociation wieder dar, das die Seele nicht auf heben
kann. Auf dieſe Art laſſen ſich die obgedachten Beob-
achtungen noch erklaͤren; und dann ſteht die Meinung,
daß alle Vorſtellungen nur allein in der Seele und von
der Seele reproduciret werden, wo auch allein ihr Sitz
iſt, noch an derſelbigen Stelle, wo ſie vorhero ſtand.
VII.
Von der zwoten Bonnetiſchen Hypotheſe; von
dem Sitz der Vorſtellungen im Gehirn, und
von dem Vermoͤgen des Gehirns ſie zu
reproduciren.
- 1) Auszug der Bonnetiſchen Analyſis.
- 2) Pruͤfung dieſer Hypotheſe. Sie hebt |die
Freyheit der Seele nicht auf. - 3) Pruͤfung des erſten Grundſatzes. Ob es
eine allgemeine Eigenſchaft organiſirter Koͤr-
per ſey, daß Eindruͤcke auf ſie gewiſſe Diſpo-
ſitionen hinterlaſſen, die empfangenen Be-
wegungen nachher leichter anzunehmen?
4) Pruͤ-
[239]im Menſchen.
- 4) Pruͤfung des zweeten Grundſatzes. Ob
jede verſchiedene materielle Jdee ihre eigene
Fiber erfodere? - 5) Pruͤfung dieſes Syſtems, als eine Hypo-
theſe betrachtet, aus der die pſychologiſchen
Erſcheinungen erklaͤrt werden ſollen. Es
hat auf Einer Seite einen Vorzug vor dem
vorhergehenden, da es die Abhaͤngigkeit der
Jdeen von dem Koͤrper leichter erklaͤrt. - 6) Ob irgend eine Vorſtellung ſich jemals
gaͤnzlich verliere? - 7) Von dem Kindiſchwerden der alten Leute.
Wie ſolches nebſt andern aͤhnlichen Wirkun-
gen ſowohl nach der erſten Hypotheſe, als
nach der Bonnetiſchen, zu erklaͤren ſey? - 8) Jn der Bonnetiſchen Hypotheſe iſt eine Luͤ-
cke, da die Jmpreſſionen in dem Gehirn ih-
re bleibenden Spuren haben ſollen, aber die
Jmpreſſionen auf die Seele nicht ſo. Eine
aͤhnliche Luͤcke findet ſich auch in der vorher-
henden Hypotheſe auf der andern Seite. - 9) Beobachtungen, die ſchwerer aus der Bon-
netiſchen Hypotheſe erklaͤret werden.
1.
Nun zur zwoten Hypotheſe, welche das ganze Ge-
daͤchtniß dem Gehirn oder den innern Seelenor-
ganen zuſchreibet! Nach dieſer iſt das Gehirn das
Subjekt und der Sitz der Vorſtellungen, dem auch das
Vermoͤgen, ſie wieder zu erwecken, eigentlich zukommt.
Der
[240]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Der Verfaſſer des bekannten Eſſai de Pſychologie,
wovon man nun weiß, daß es Hr. Bonnet nicht iſt,
hatte dieſelbige Meinung ſchon vorgetragen; aber Hr.
Bonnet hat ſie in ſeinem bekannten Verſuche ſo voͤl-
lig ausgebildet, daß ſie wohl den Namen von ihm fuͤh-
ren kann. Man muß gleich anfangs geſtehen, wie
viel oder wenig man auch dem Fundament und der Fe-
ſtigkeit dieſes neuen pſychologiſchen Gebaͤudes zutrauen
mag: ſo iſt doch ſeine Form und die Zuſammenfuͤgung
ſeiner Theile ein Meiſterſtuͤck der philoſophiſchen Archi-
tektonik. Es iſt mit ausnehmender Vorſichtigkeit und
mit einer Aufmerkſamkeit von dem vortrefflichen Manne
bearbeitet, die beſtaͤndig das Ganze vor ſich hatte, und
in ſeinem Jnnern die lichtvolleſte Ordnung erhalten hat,
die es in allen ſeinen Theilen leicht uͤberſehen laͤſſet. Jch
will zuvoͤrderſt die Grundlage herſetzen.
Der Menſch empfindet. Alsdenn iſt eine Modi-
fikation in dem Gehirn vorhanden, eine uns unbekann-
te Bewegung in ſeinen Fibern, in ihren feſten oder fluͤſ-
ſigen Theilen. Die Seele reagirt auf das Gehirn, und
wird dadurch zugleich modificirt; und dieſer ihre Modi-
fikation iſt es, was wir das Gefuͤhl, die Empfin-
dung, oder die Perception des Objekts nennen.
Hat die Empfindung aufgehoͤrt, ſo iſt — voraus-
geſetzt, daß ſie einen gewiſſen Grad von Staͤrke und
Lebhaftigkeit gehabt habe — in der bewegten Fiber
des Gehirns eine Veraͤnderung vorgegangen. Dieſe
kann nunmehr leichter auf die naͤmliche Art beweget
werden; — vielleicht hat ſie eine gewiſſe Tendenz ſich
ſo zu bewegen bekommen; — ſie kann nunmehr faſt
durch jedwede Urſache, die ſie etwas ſtark erſchuͤttert,
in den vorigen Schwung verſetzet werden, wenn gleich
nicht ſo ſtark, als der Eindruck von außen in der Em-
pfindung es gethan hatte. Die Fiber beſaß dieſe Diſ-
poſition, leichter eine gewiſſe ſinnliche Bewegung an-
zuneh-
[241]im Menſchen.
zunehmen, vorher nicht, als ſie noch unberuͤhrte Jung-
ferfiber (fibre vierge) war. Die aͤußere Empfin-
dung mußte ihr ſolche beybringen, entweder dadurch,
daß ſie ein Hinderniß ſich auf dieſe Art zu bewegen
wegnahm, oder ihr gewiſſe Theile zuſetzte, oder ſie ſtaͤr-
ker ſpannte, oder ihren Theilen eine gewiſſe Lage bey-
brachte, oder auf welche Art man ſichs am beſten ver-
meinet vorſtellen zu koͤnnen. Genug, das Faktum
iſt da, und es iſt eine Folge von dem Mechaniſmus
des Gehirns. Jn dieſem bleiben die Spuren von den
Empfindungen zuruͤck, welche die ruhenden materiellen
Jdeen ausmachen.
Zu jeder verſchiedenen Jmpreſſion von außen,
aus der eine Vorſtellung eines Objekts entſtehet, ge-
hoͤrt auch eine eigene beſondere Fiber. Die naͤm-
liche Fiber kann nicht zu zwoen ſinnlichen Bewegungen
die naͤhern Diſpoſitionen aufnehmen. Die Leichtigkeit
zu der Einen wuͤrde ſich mit der Leichtigkeit zu der an-
dern verwirren und in Eine zuſammenfließen; und
dann koͤnnten die Vorſtellungen ſolcher Dinge nicht un-
terſchiedene Vorſtellungen bleiben. Dieſer Satz und
ſeine Folgen machen eigentlich nur eine Nebenbetrach-
tung aus, die ſich von den uͤbrigen abſondern laͤßt.
Aber Hr. Bonnet haͤlt ſie fuͤr nothwendige Theile des
ganzen Syſtems, ohne welche nicht Licht genug darein
gebracht werden koͤnne.
Die Seele, ein immaterielles, von dem Koͤr-
per und dem Gehirn ganz unterſchiedenes und mit dieſem
unvergleichbares Weſen, — denn Hr. Bonnet konnte
Denken und Bewußtſeyn in dem Koͤrper nicht finden,
weil ſeine Hypotheſe unter den uͤbrigen die naͤch-
ſte bey dem Materialiſmus iſt; — dieſe Seele em-
pfindet und wird auf eine gewiſſe Art modificirt, wenn
in dem Gehirn die ſinnliche Bewegung, z. B. die Jm-
preſſion auf das Werkzeug des Geruchs von der Nelke,
IITheil. Qent-
[242]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
entſtehet. Sie hat eine andere Empfindung, wenn
anſtatt der Nelke der Duft aus der Roſe die Nerven
ruͤhret. Aber ſobald die Empfindung der Nelke aufge-
hoͤrt hat, und nun nichts mehr als eine Leichtigkeit zu
der aͤhnlichen Bewegung in den Gehirnsfibern uͤbrig
iſt, ſo iſt in der Seele keine Spur mehr davon. Dieſe,
als das eigentliche Jch im Menſchen, iſt eine unbeſtimm-
te, das Gehirn bewegende, fuͤhlende Kraft, die nur jedes-
mal eine ſolche Form hat, als ihr von der gegenwaͤrti-
gen Bewegung des Gehirns gegeben wird. Nur als-
denn, wenn die ſinnliche Bewegung in dem Organ wie-
derum erwecket wird, nimmt auch die Seele die vorige
Form wieder an. Die Leibnitziſche Erklaͤrung von der
Seele, daß ihr weſentlicher Charakter in der Vorſtel-
lungskraft beſtehe, iſt nach dieſem Syſtem die allerun-
ſchicklichſte. Der Menſch, das beſeelte Organ, ſtellet
ſich die Welt vor; aber die Seele fuͤhlet nur die gegen-
waͤrtigen ſinnlichen Bewegungen im Gehirn.
Jn der Seele ſelbſt kann keine Vorſtellung die an-
dere unmittelbar wieder erwecken. Jch habe ge-
ſtern einen Menſchen neben einem Eſel, und beyde bey
einer Quelle, geſehen. Wenn durch irgend eine Urſache
die Vorſtellung von dieſem Eſel wieder hervorkommen
ſoll: ſo muß im Gehirn die vorige ſinnliche Bewegung
erneuert werden; und wenn dieſe Jdee die uͤbrigen ver-
geſellſchafteten erwecket: ſo ziehet Eine der Gehirnsbe-
wegungen unmittelbar die zwote hervor, die in der Em-
pfindung an ſie geknuͤpfet ward; und dieſe erreget die
zwote Vorſtellung in der Seele. Darauf gehet das
Gehirn von der zwoten zur dritten Bewegung uͤber; und
die dritte im Gehirn bringet die dritte in der Seele her-
vor. Die Phantaſie, das Vermoͤgen zum Wiedervor-
ſtellen, iſt in den Fibern des Gehirns. Jn dieſem lie-
gen die Jdeenreihen wie Linien, deren Punkte die ma-
teriellen Vorſtellungen ſind. Von jedem dieſer Punkte
gehet
[243]im Menſchen.
gehet zwar aufwaͤrts eine Seitenlinie in der Seele; aber
die Vorſtellungen in der Seele ſind nichts, wenn
ſie nicht gegenwaͤrtig uns vorſchweben. Daher kann
die Seele von der Einen zur Andern nicht uͤbergehen,
als vermittelſt der materiellen Jdeen, die im Gehirn in
Verbindung ſind. Das Gehirn iſt alſo eine wieder-
vorſtellende Maſchine, und die Einbildungskraft
nebſt dem Gedaͤchtniß eine Folge der Organiſation.
So lange eine ſinnliche Bewegung in dem Gehirn
beſtehet, ſo lange dauert auch die gleichzeitige Jdee in
der Seele. Wie aber, wenn die Leichrigkeit zu der
naͤmlichen Bewegung, die im Gehirn zuruͤckbleibet,
nichts anders waͤre, als eine fortdauernde, wahre, ob-
gleich geſchwaͤchte und unbemerkbare Bewegung; wie der
Verfaſſer des Eſſai de Pſychologie ſichs vorſtellete,
und Hr. Bonnet nicht fuͤr ganz unwahrſcheinlich haͤlt?
Wuͤrde denn nicht die entſprechende Seelenbeſchaffenheit
und alſo die ruhende Jdee auch in der Seele fort-
dauernd ſeyn muͤſſen; und alſo die Seele das Subjekt
der Vorſtellungen und der Sitz des Gedaͤchtniſſes ſeyn?
Aber man ſieht leicht, daß dadurch das Eigene dieſer
Erklaͤrung nicht wegfalle. Denn wenn das Jch auch
unaufhoͤrlich ihre Vorſtellungen in ſich behaͤlt, und ſol-
che in einer permanenten Spur von der Empfindung
beſtehet: ſo kann ihr dennoch das Vermoͤgen fehlen, ei-
genmaͤchtig dieſe Spuren in ſich wieder zu entwickeln
und bemerkbar zu machen. Dieß Vermoͤgen der Re-
produktion wuͤrde noch ausſchließungsweiſe eine Eigen-
ſchaft des Organs ſeyn koͤnnen.
So weit gehet der erſte Theil dieſer Pſychologie,
der hier am meiſten zur Unterſuchung kommt; aber
man muß zugleich auf den zweeten ſehen, worinn der
thaͤtige Antheil der Seele an den Vorſtellungen be-
ſtimmt wird, um ſie in ihrem ganzen Umfange zu faſ-
ſen. Die Seele verhaͤlt ſich bey dieſem Spiel des Ge-
Q 2hirns
[244]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
hirns doch nicht ganz unthaͤtig. Sie beſitzet die Kraft,
eine gegenwaͤrtige Vorſtellung zu unterhalten, oder
auf eine andere fortzugehen. Dadurch kann ſie ihren
gegenwaͤrtigen Zuſtand ſelbſtthaͤtig fortſetzen, wenn ſie
die dazu gehoͤrige ſinnliche Gehirnsbewegung unterhaͤlt;
und dieß geſchieht, ſo oft wir die Aufmerkſamkeit auf
eine Vorſtellung verwenden, oder mit andern Worten,
ſo oft die Seele in einem hoͤhern Grade mit ihrer Aktivi-
taͤt auf die in Bewegung gebrachte Fiber zuruͤckwirket.
Eben ſo kann ſie eine Vorſtellung voruͤbergehen laſſen,
wenn ſie ihre Kraft von der bewegten Fiber abziehet,
und auf eine andre anwendet.
Es geſchieht das eine oder das andere, je nachdem
ihre gegenwaͤrtige Modifikation ihr gefaͤllt oder miß-
faͤllt. Dieſe Affektion haͤnget aber von einem gewiſſen
Verhaͤltniß zwiſchen der Groͤße der Bewegung und der
Beſchaffenhenheit der Fiber ab, welche beweget wird.
Jſt das Verhaͤltniß der Bewegung zu der Kraft der
Fiber ſo, daß jene dieſer angemeſſen iſt, oder die Fiber
weder ſtaͤrker noch ſchwaͤcher erſchuͤttert wird, als die
Verbindung ihrer Theile und ihre Nervenkraft es ver-
tragen kann, ohne uͤbermaͤßig geſpannt zu werden: ſo
iſt ſolch eine Bewegung ihr angemeſſen, und die daraus
entſtehende Empfindniß iſt angenehm. Mehr oder
Weniger, als dieſes Maß gehet, macht die Bewe-
gung unangenehm, und verurſachet entweder Schmer-
zen oder Langeweile.
Aber jedwede ſinnliche Bewegung, die durch die
Thaͤtigkeit der Seele unterhalten wird, erreget zugleich
eine Menge von ſinnlichen Bewegungen in andern Fi-
bern; — vorausgeſetzt, daß die Leichtigkeiten dazu ih-
nen ſchon in vorhergegangenen Empfindungen beyge-
bracht ſind, und daß zwiſchen dieſen und jenen mittel-
bar oder unmittelbar eine Verbindung nach dem Geſetz
der Aſſociation zu Stande gebracht iſt. Daher kann
auch
[245]im Menſchen.
auch eine ſinnliche Bewegung, die fuͤr ſich ſelbſt gleich-
guͤltig iſt, wegen ihrer Verbindung mit andern ange-
nehm oder unangenehm ſeyn. Jndem nun aber die
Aufmerkſamkeit bey Einer Vorſtellung verweilet, oder
zu einer andern uͤbergehet: ſo giebt jenes, wie dieſes,
Anlaͤſſe genug zu einer Menge anderer Reproduktionen
im Gehirn und zu Vorſtellungen in der Seele, aus de-
nen ſie wiederum einige auswaͤhlet und andere zuruͤck-
laͤſſet, wie ſie es fuͤr gut befindet.
Die Seele iſt nach dieſer Vorſtellung in Hinſicht
auf ihr Gehirn weniger, als ein Spieler in Hinſicht
auf ſein Klavier; und das Gehirn iſt mehr bey der
Seele, als das Jnſtrument bey dem Spieler. Das
Seelenorgan iſt ein Jnſtrument, worauf die aͤußern
Gegenſtaͤnde zu ſpielen anfangen, die Toͤne anfangs in
den Saiten angeben, und dann die Saiten auf eine
ſolche Art ſpannen, daß ſie um ein vieles gegen die naͤm-
lichen Toͤne empfindlicher gemacht werden, als ſie es
vorhero waren. Und wenn nun dieſes bey allen Saiten
geſchehen iſt, ſo ſpielet das Jnſtrument von ſelbſt, ſo
bald als einige Saiten durch irgend eine Urſache in Be-
wegung gebracht ſind. Die Seele ſitzet in dem Jn-
nern dieſes Automatons; und obgleich dieſes keinen Ton
hervorbringet, ohne daß jene modificirt wird: ſo thut
doch die Seele nichts mehr, als daß ſie das Spiel len-
ket, einzelne Toͤne maͤßiget oder verſtaͤrket, nachdem es
ihr gefaͤllt, und ſo weit ſie kann. Vielleicht wuͤrde
dieſe Beywirkung der Seele zu dem Organ beſſer mit
dem Geſchaͤfft eines Steuermanns zu vergleichen ſeyn,
der dem Schiffe keine Bewegung mittheilet, aber es
fuͤhret und lenket, wenn es von dem Wind und Strom
getrieben wird.
Den naͤmlichen Antheil, nicht mehr oder nicht we-
niger, hat die Seele auch an den Bewegungen des
Koͤrpers, und an der innern Wirkſamkeit, die wir
Q 3der
[246]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
der Seele auf den Koͤrper zuſchreiben. Die Gehirns-
fibern, die ſinnlich beweget werden, wenn Vorſtellungen da
ſind, haben eine Verbindung mit denen, wodurch die
weiter abſtehenden Theile des Koͤrpers in Bewegung ge-
ſetzt werden. Dieß iſt die Verbindung der Vorſtel-
lungsfibern mit den Thaͤtigkeitsfibern. Jndem
alſo die Seele die ſinnlichen Bewegungen der erſtern
verſtaͤrket oder ſchwaͤchet, ſo regiert und lenkt ſie auch
die Thaͤtigkeitsfibern und ihre Wirkungen. Herr Bon-
net haͤtte dieſe Stelle ſeines Syſtems noch mehr ins
Helle ſetzen koͤnnen, wenn er die Natur unſerer Jdeen,
die wir von den Thaͤtigkeiten und Bewegungen des
Koͤrpers haben, genauer unterſuchet haͤtte. Die an-
ſchauliche Vorſtellung einer Aktion iſt ſchon ein
ſchwacher Anfang zur Bewegung in den Thaͤtigkeitsfi-
bern ſelbſt, wie ich anderswo gezeiget habe.*) So oft
man ſich lebhaft vorſtellet, wie man den Arm bewege,
den Kopf umdrehe, gaͤhne u. ſ. w. ſo iſt ſchon eine An-
wandlung in uns da ſolche Bewegungen wirklich vor-
zunehmen, und dieſe geht in eine volle Bewegung uͤber,
wenn das naͤmliche Beſtreben der Seele fortdauert, und
nichts in den Weg kommt, wodurch ihre Kraft anders-
wohin gerichtet wird. Hieraus wuͤrde die Folgerung
gezogen werden koͤnnen, daß die Verbindung der Aktio-
nen mit den Vorſtellungen von derſelbigen Verknuͤpfung
der Gehirnsfibern abhange, woraus die Jdeenaſſocia-
tion uͤberhaupt entſpringet, ohne daß außer dieſer noch
ein eigener Zuſammenhang zwiſchen Denk- und Hand-
lungsfaſern angenommen werden duͤrfe.
Dieß iſt die Jdee des Hrn. Bonnets von der
menſchlichen Seelennatur. Die Vorſtellung, welche
Herr Search und andere Neuere ſich davon machen,
ſcheinet im Grunde dieſelbige zu ſeyn; nur iſt ſie von
kei-
[247]im Menſchen.
keinem andern ſo deutlich und beſtimmt entwickelt wor-
den. Das Gehirn, das innere Seelenorgan, iſt der
Sitz der Vorſtellungen, und die Seele ſelbſt eine unbe-
ſtimmte Kraft, die in ſich und aus ſich nichts reprodu-
ciren kann. Woraus denn folget, daß zwo menſchli-
che Seelen ihre Koͤrper umtauſchen koͤnnten, ohne
die ihnen widerfahrende Veraͤnderung gewahr zu wer-
den; was ſich ſogar auf Thierſeelen erſtrecken muͤßte,
die in ein menſchliches Gehirn verſetzet, hier wie Men-
ſchenſeelen ſich vorſtellen, denken und handeln wuͤrden, oh-
ne zu wiſſen, was ſie vorher geweſen ſind. Denn da
jedwede Seele ein mit Vorſtellungen verſehenes Gehirn
antreffen wuͤrde, von deſſen ſinnlichen Bewegungen es
modificiret wird, und da ſie nicht weniger und nicht
mehr, noch auf eine andre Art afficiret werden kann,
als ihr Vorgaͤnger in derſelbigen Wohnung es gewor-
den waͤre: ſo behaͤlt ſie auch nicht die geringſten Merk-
zeichen, woran ſie wiſſen koͤnnte, daß ſie ehedem an-
derswo ſich aufgehalten und ſich anders befunden habe.
Nach der erſten vorhergepruͤften Hypotheſe iſt dieß un-
moͤglich. Wenn mein Jch in ſich ſelbſt die Spuren von
ſeinen Empfindungen auf behaͤlt, ſo wuͤrde es ein neues
Organ entweder nicht gebrauchen koͤnnen, oder wenn es das
koͤnnte, eine neue Reihe von Empfindungen und ein neues
Leben anfangen. Koͤnnte es in dieſem Fall ſeine vor-
her aufgeſammelten Jdeen reproduciren, ſo wuͤrde es das
Neue ſeines Zuſtandes deutlich erkennen. Wenn es
aber auch ſolches nicht koͤnnte, und alles Vorhergehen-
de gaͤnzlich vergeſſen hatte: ſo wuͤrde es doch in dieſer
neuen Lage ſo wirken, wie ein Weſen, das ehemals
in einer andern geweſen waͤre, und davon die Folgen
empfinden.
2.
Dieſe Bonnetiſche Hypotheſe verdienet um ſo mehr
eine etwas genauere Pruͤfung, da ſie durch die Ueber-
Q 4ſetzung
[248]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſetzung des Eſſai de Pſychologie und des Eſſai analy-
tique des Hrn. Bonnets unter uns bekannt geworden
iſt, und ſchon unter den Philoſophen ihr Gluͤck zu ma-
chen ſcheinet. Sie iſt auch in ſich ſelbſt zuſammenhaͤn-
gend, und nicht nur mit Scharfſinnigkeit, ſondern
auch mit der dem beruͤhmten Bonnet eigenthuͤmlichen ein-
nehmenden Deutlichkeit dargeſtellet, ſo daß es nicht zu
verwundern iſt, wenn ſie bey dem großen Schein, den
ſie hat, von vielen ſeiner Leſer fuͤr etwas mehr als eine
Hypotheſe gehalten wird, wofuͤr ſie doch ihr Lehrer ſelbſt
nur ausgegeben hat. Denn Hr. Bonnet geſteht es,
daß ſie noch nichts mehr als eine Hypotheſe ſey, welche
die Erſcheinungen auf eine ungezwungene Art und voll-
ſtaͤndig erklaͤre, aber dadurch mehr nichts als eine große
Wahrſcheinlichkeit erhalte. Nur was die erſten Grund-
ſaͤtze betrifft, ſo ſieht man ſolche als Erfahrungsſaͤtze
an, die auf Beobachtungen beruhen und durch. Beob-
achtungen beſtaͤtiget werden. Jn Wahrheit, wenn
dieſe mechaniſche Pſychologie wirklich alle diejenigen
Vorzuͤge an ſich haͤtte, die Hr. Bonnet ihr beyleget:
ſo wuͤrde ich ſelbſt unter diejenigen von ſeinen Leſern ge-
hoͤren, welche glauben, der Philoſoph habe nach ſeiner
gewoͤhnlichen Beſcheidenheit weniger von ihrem wahren
Werthe geſagt, als derjenige, der ſie durchdenket, bey
ihr antreffen muß. Jch werde alſo aus mehr als Ei-
nem Grunde mich bey ihrer Pruͤfung etwas verweilen.
Um voͤllig gerecht zu ſeyn, will ich ihr zuvoͤrderſt ei-
nen Vorwurf abnehmen, der ſie bey ſo vielen anſtoͤßig
gemacht hat, naͤmlich, daß ſie die Freyheit der Seele
auf hebe. Mit des Hrn. Bonnets Erklaͤrung von der
Freyheit kann man freylich nicht zufrieden ſeyn, wenn
man dieſe genauer unterſucht hat. Allein was ſein
Syſtem betrifft, ſo meine ich, daß es von dieſem Feh-
ler befreyet werden koͤnne, wie ſolches auch bey dem
Verfaſſer des Eſſai de Pſychologie noch davon wirklich
frey
[249]im Menſchen.
frey war. Hr. Bonnet laͤßt zwar die Seele nach Vor-
ſtellungen handeln, und nach deutlichen Vorſtellungen;
oder eigentlicher zu ſagen, nach ihrem Gefallen oder
Mißfallen an den ſinnlichen Bewegungen des Gehirns,
und an den Objekten, die dieſe Bewegungen verurſa-
chen. Aber er erwaͤhnt nicht einmal der innern Selbſt-
macht der Seele uͤber ſich, nach der ſie unter allen be-
ſtimmenden Umſtaͤnden entweder anders handeln als ſie
wirklich handelt, oder die Handlung unterlaſſen kann;
ſondern er tadelt dieß vielmehr an ſeinem Vorgaͤnger,
daß dieſer ihr ein Vermoͤgen zugeſchrieben hatte, nach
ihrer Willkuͤr eine andere Fiber ſo gut ſpielen zu laſ-
ſen, als diejenige, die ſie wirklich ſpielen laͤßt. Die
ganze Selbſtthaͤtigkeit der Seele richtet ſich alſo nur
nach den ſinnlichen Bewegungen des Gehirns. Denn
in dieſen lieget die Urſache von dem Angenehmen und
dem Unangenehmen in der Empfindung; und nach die-
ſen Gefuͤhlen beſtimmt ſich die Seele, und will, ohne
daß ſie im geringſten eine andre Jdee hervorziehen koͤn-
ne, als diejenige, die unter denen, welche das Gehirn
ihr vorhaͤlt, die gefaͤlligſte iſt.
Nach dem Syſtem ſelbſt kann zwar die Seele kei-
ne Jdee durch ihre Selbſtthaͤtigkeit unmittelbar hervor-
bringen; aber ſie kann doch auf die gegenwaͤrtige Jdee
ihre Aufmerkſamkeit fortſetzen und verſtaͤrken, oder nach-
laſſen und abziehen, und es dadurch ausrichten, daß
entweder die naͤmliche Gehirnsbewegung fortdauere, oder
daß eine andre Fiber mit andern Schwingungen zur
Aktion gelange. Alſo iſt es doch eine Wirkung ihrer
eigenen Selbſtbeſtimmung, wenn ihre Kraft auf eine
Jdee mehr oder weniger verwendet wird. Und da ſelbſt
eifrige Jndeterminiſten die Freyheit auf dieſe Selbſtbe-
ſtimmung zur Aufmerkſamkeit eingeſchraͤnket haben: ſo
kann ſogar die ganze Willkuͤr nach dem Begriff der
Jndeterminiſten mit der Hypotheſe verbunden werden.
Q 5Die
[250]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Die Jdeen werden unterhalten oder weggeſchafft, je
nachdem die Aufmerkſamkeit auf ſie hingewendet oder
von ihnen abgezogen wird. Soll dieß geſchehen, ohne
einen andern Grund in der Seele zu haben, als weil ſie
ſich ſelbſt auf dieſe Art beſtimmt, weil ſie will oder
nicht will, oder in der Sprache der Jndeterminiſten,
ohne beſtimmenden Grund: ſo heißt dieß, in die Bon-
netiſche Sprache uͤberſetzt, ſo viel, daß ſie als die bewe-
gende Kraft des Gehirns, ſich zu einer Aktion aufs
Gehirn beſtimme, und dadurch eine Veraͤnderung in
den ihr vorſchwebenden Vorſtellungen bewirke, und Fi-
bern, die auf koͤrperliche Bewegungen hingehen, in Be-
wegung bringe, ohne daß etwas vorhanden ſey, war-
um ſie auf dieſe Fiber wirke und nicht auf eine andere.
Die Seele bleibet ein ſelbſtthaͤtiges Weſen, iſt die ei-
gentliche Kraft des Gehirns; und alsdenn kann man
ja nur hinzuſetzen, daß ſie ſich zuweilen ohne zureichen-
de Gruͤnde auf gewiſſe Bewegungen anwende.
Sehen wir auf den wahren Begriff von der Frey-
heit, nach welchem Freyheit ſo viel, als ein Vermoͤgen
der erhoͤheten Selbſtthaͤtigkeit iſt, auch noch auf mehre-
re und entgegengeſetzte Arten ſich wirkſam zu aͤußern,
wenn die Seele auf eine gewiſſe Art thaͤtig iſt: ſo iſt
zwar in der Bonnetiſchen Pſychologie nicht abzuſehen,
wie Erhoͤhungen der Seelenvermoͤgen, und alſo auch
der Selbſtthaͤtigkeit, in der immateriellen Seele oder in
dem Jch entſtehen koͤnnten, weil dieſes Jch keine Jdeen ſei-
ner Handlungen in ſich zuruͤckbehaͤlt; aber es laſſen ſich
doch dergleichen in dem beſeelten Organ gedenken, wenn
ſie gleich allein nur auf Entwickelungen der Organe und
auf die Diſpoſitionen derſelben, Jdeenreihen zu repro-
duciren, hinausgehen. Alſo kann doch auch dieſe letztere
Jdee von der Freyheit in die mechaniſche Pſychologie
eingeſchaltet werden, ohne daß es noͤthig ſey, dieſer ihre
Grundtheile zu verruͤcken.
Auch
[251]im Menſchen.
Auch will ichs ihr nicht vorwerfen, daß ſie einen all-
zukuͤnſtlichen Mechanismus im Gehirn erfodere. Vau-
cauſſons Floͤtenſpieler, und faſt noch mehr ſein Kanarien-
vogel, erlaͤutern die Moͤglichkeit ſolcher Maſchinen. Sie
erlaͤutern ſie, ſage ich, denn es iſt allerdings noch im-
mer ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen allen auch
noch ſo kuͤnſtlichen Maſchinen und zwiſchen einem repro-
ducirenden Gehirn zuruͤck, den ich gleich weiter eroͤrtern
will. Die Leibnitziſche Harmonie verlangte noch viel
mehr von dem Mechaniſmus des Koͤrpers; da ſie dieſen
alles thun ließ, was zu der Hervorbringung der mate-
riellen Jdeen und der Bewegungen gehoͤret, Hr. Bon-
net dagegen die Seele dazwiſchen kommen und die Be-
wegungen im Koͤrper durch ſie regieren und lenken
laͤßt. Und dennoch war der Einwurf, den Bayle ge-
gen Leibnitz machte, daß ein ſolcher Mechaniſmus uͤber
die Allweisheit Gottes hinausgehe, nichts als ein leeres
Wortſpiel. Mit einem Wort, gegen die Moͤglichkeit
der Sache weiß ich nichts zu ſagen.
3.
Sie hat aber anderswo zwo Seiten, wo man ihr
beykommen kann. Es werden gewiſſe phyſiſche Grund-
ſaͤtze angenommen, auf die ihre Moͤglichkeit gebauet iſt.
Hier kann man zuerſt fragen, ob dieß wahre Saͤtze, und
ob ſie es alle ſind? Sind ſie zur voͤlligen phyſiſchen Ge-
wißheit gebracht, die Hr. Bonnet in ihnen vorausſetzet,
oder koͤnnen ſie dahin gebracht werden?
Alsdenn ſoll ſie zweytens als Hypotheſe betrachtet,
alles begreiflich machen, was wir bey der Seele beob-
achten. Und da iſt die zwote große Frage: Ob ſie denn
ein ſolcher Gemeinſchluͤſſel ſey, der alles aufſchließet,
was er oͤffnen ſoll? Oder ob ſie nicht vielmehr nur zu
einigen Erfahrungen paſſe, zu andern nicht? und ob
nicht Beobachtungen da ſind, bey denen ſie eben ſo ge-
drehet
[252]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
drehet werden muͤſſe, um ſie anzuwenden, als das vor-
hergehende Syſtem und als jedes andere? Denn wenn
dieß iſt, ſo wird es ſchon ſchwer zu glauben, daß es in
dem denkenden und handelnden Menſchen wirklich alſo
zugehe, als Hr. Bonnet an ſeiner beſeelten Statue es
hat vorſtellig machen wollen.
Der erſte und allgemeinſte Grundſatz, auf den Hr.
Bonnet bauet, iſt folgender: „Jn dem Gehirn ſollen
„die Jmpreſſionen von außen waͤhrend der Empfin-
„dung, gewiſſe permanente Beſchaffenheiten, oder
„Leichtigkeiten auf die naͤmliche ſinnliche Art von
„neuem beweget zu werden, hervorbringen.‟ Dieſe
materiellen Jdeen ſoll das Gehirn vermoͤge ſeiner Or-
ganiſation annehmen.
Wenn man behaupten will, daß dieß wahrſchein-
lich angenommen werden koͤnne, ſo habe ich kein Be-
denken, beyzuſtimmen. Es entſtehen auch in andern
Theilen des Koͤrpers, in den Fingern, in den Fuͤßen,
in den Augen, und faſt in allen Muskeln dergleichen
Leichtigkeiten, oder Diſpoſitionen, wie ſich beſonders
alsdenn gewahrnehmen laͤßt, wenn wir uns koͤrperliche
Kunſtfertigkeiten zu verſchaffen uns bemuͤhen. Wer an ein
anhaltendes Leſen in Buͤchern nicht gewoͤhnt iſt, fuͤhlet
anfangs, daß ihm die Augen wehe thun; und wer auf
einem Jnſtrumente ſpielen lernet, hat im Anfange, bey
einiger Anſtrengung unangenehme Empfindungen. Je-
de ungewohnte Arbeit iſt, wie die Erfahrung lehret,
ſchwer auch fuͤr den Koͤrper, und wird leicht durch
die Uebung. Daher iſt es außer Zweifel, daß die Wie-
derholung einerley Art von Handlungen auch in den
aͤußern Theilen des organiſirten Koͤrpers eine gewiſſe
Geſchwindigkeit hervorbringe, welche ſie aufgelegt
macht, auf eine gewiſſe Art und in einer beſondern Fol-
ge, leichter beweget zu werden, als ſie es vorhero gewe-
ſen ſind. Sollte nun die Analogie nicht etwas aͤhnli-
ches
[253]im Menſchen.
ches in den innern Faſern des Gehirns vermuthen laſ-
ſen, in dem Theile, der von allen organiſchen Kraͤften
unſers Koͤrpers die Quelle und der Hauptſitz zu ſeyn
ſcheinet?
Ohne Zweifel. Kopfarbeiten verurſachen im An-
fange Kopfſchmerzen und andere Uebel, die eine Folge
von einem zu ſtarken Reiz des Gehirns ſind; iſt man
aber jener gewohnt, ſo verlieren ſich dieſe Empfindun-
gen. Hieraus folget doch im Allgemeinen ſo viel, daß
die ſinnlichen Bewegungen im Gehirn gewiſſe Diſpo-
ſitionen hinterlaſſen, die daſelbſt noch fortdauren, wenn
die Bewegungen aufgehoͤret haben.
Vielleicht iſt dieß eine allgemeine Eigenſchaft
aller organiſirten Koͤrper, da man ſogar etwas da-
von in den muſikaliſchen Jnſtrumenten antrifft, und in
den groben Maſchinen, die nichts mehr als Maſchinen
ſind. Die Jnſtrumente geben alsdenn erſt die Toͤne
am reinſten und am hellſten an, wenn ſie eine Zeitlang
gebrauchet und ausgeſpielet worden ſind. Jm Anfange
ſind einige Hinderniſſe da, eine gewiſſe Unbiegſamkeit
und Rauhigkeit, wodurch ſich die Theile an einander
reiben und die Bewegungen gehindert werden, die ſich
in der Folge verlieren.
Es iſt zugleich auch begreiflich, daß die Receptivi-
taͤt zu ſolchen Fertigkeiten unendlich verſchiedene Grade
haben koͤnne. Sie iſt auch wohl nicht in allen Seelen-
organen in dem Menſchen von gleicher Groͤße. Das
Werkzeug des Geſichts, oder der Theil des Gehirns,
wo ſich die Eindruͤcke des Geſichts ablegen, ſcheinet hier-
innen, wie bekannt und niehrmalen ſchon erinnert iſt,
einen merklichen Vorzug zu haben.
Aber dennoch kann dabey einiger Zweifel entſtehen,
ob dieß auch ſo weit gehe, als Hr. Bonnet es zum
Grundſatz machet und machen muß; ſo weit naͤmlich,
daß jedwede unterſcheidbare ſinnliche Bewegung
eine
[254]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
eine eigene unvermiſchte Spur hinterlaſſe? ſo weit,
daß dieſe Spur zu einer Diſpoſition werde, die naͤmliche
Bewegung wieder anzunehmen, ſobald nur eine andere
Bewegung in einer andern Fiber vorhanden iſt, die
ehedem mit jener verknuͤpfet war, oder doch nur etwas
gemeinſchaftliches und aͤhnliches mit ihr hat? Wir
kennen die Natur der Organiſation noch zu wenig, als
daß ſich ohne Erfahrung daruͤber urtheilen ließe. Hr.
Bonnet ſtellet ſich eine gewiſſe wechſelſeitige Einwir-
kung zwiſchen den Fibern vor, die zugleich mit einander
in Bewegung kommen. Allein dieß heißet eine Hypo-
theſe durch eine andere ſtuͤtzen. Jn den Vaucauſſoni-
ſchen Maſchinen ſind es jedesmal dieſelbigen oder doch
aͤhnliche Urſachen, wovon aͤhnliche Bewegungen gewir-
ket werden; welches aber alles nicht hinreichet, die Aſ-
ſociation der Jdeen begreiflich zu machen, wodurch
Jdeen wiederum erneuert werden, auch wenn keine Ur-
ſache von außen wirket, die derjenigen aͤhnlich iſt, wo-
durch ſie das erſtemal erreget iſt, wenn nur bloß eine
andere erneuert iſt, die mit jener ehedem vergeſellſchaf-
tet war. Dazu geſteht man, daß es allein dieſe Ver-
bindung ſey, von der die Aſſociation abhange. Herr
Bonnet hat ſich ſelbſt in Verlegenheit befunden, dieß
aus der bloßen Organiſation begreiflich zu machen.
Enthauptete Thiere und beſonders einige Jnſekten
verrichten ohne Kopf und Gehirn, und — wie man
wohl annehmen kann — ohne Seele, Handlungen,
die denen aͤhnlich ſind, welche ſie vorher verrichtet ha-
ben, da ſie voͤllig lebten. Dieſe Beyſpiele lehren, daß
es Bewegungen in dem thieriſchen Koͤrper gebe, die ohne
Beywirkung der Seele durch die Nervenkraͤfte erfolgen,
obgleich ſonſten gewoͤhnlicher Weiſe das Gehirn und die
Seele — wenn eine da iſt — Antheil daran haben.
Sie beweiſen ferner, daß es auch in dem Koͤrper Aſ-
ſociationen der Bewegungen gebe, welche ich unten
genauer
[255]im Menſchen.
genauer zu betrachten Gelegenheit haben werde. Dieß
ſind ohne Zweifel Fakta, wodurch die Aſſociation der
materiellen Jdeen im Gehirn erlaͤutert wird. Jedoch
will ich hier nur zum voraus erinnern, daß, wenn man
jene mit dieſer naͤher vergleichet, ſo finde ſich eine ſo
weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen ihnen, daß es ſelbſt
daraus unwahrſcheinlich wird, daß ohne Zuthun der
Seele die Jdeenverknuͤpfung in der Phantaſie allein
von der Organiſation des Koͤrpers abhangen koͤnne.
4.
Dieſem erſten Grundſatze hat Hr. Bonnet einen
zweeten zugefuͤgt, den er mit jenem durch ſein ganzes
Syſtem verwebet hat, der ſich aber doch wieder heraus-
ziehen laͤßt, ohne daß darum das Syſtem ſelbſt aus-
einandergehe. „Es ſoll naͤmlich jedwede verſchiedene
„Jmpreſſion, und jedwede verſchiedene materielle
„Jdee ihre eigene Fiber haben, worinn ſie ihren
„Sitz hat.‟ Eine einfache Fiber ſoll nur Eine ſinnli-
che Modifikation aufnehmen. Die rothe Farbe ſoll
ihre Fiber haben, und dieſe ſoll von der Fiber, die zu
der Jdee von der blauen Farbe gehoͤrt, verſchieden ſeyn.
Eine andere ſoll fuͤr den Ton der Violine, eine andere
fuͤr den Ton der Trompete beſtimmt ſeyn.
Dieß kann nun noch auf eine zweyfache Art beſtim-
met werden.
Sollen ſo viele Fibern vorhanden ſeyn, als es ein-
zelne zuſammengeſetzte Empfindungen und Jdeen
einzelner Dinge giebt, davon jede etwas eigenes an
ſich hat? Soll fuͤr jedes einzelne Menſchengeſicht, fuͤr
jedes einzelne gruͤne Blatt, ſobald dieſe Gegenſtaͤnde
und ihre Jmpreſſionen merklich verſchieden ſind, eine
eigene einfache oder zuſammengeſetzte Fiber vorhan-
den ſeyn? eine andere fuͤr die Jdee des Purpurrothen,
und eine andere fuͤr die Jdee des Gelbrothen, und noch
eine
[256]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
eine andere fuͤr das Braunrothe? u. ſ. f. Da die naͤm-
lichen einfachen Bewegungen in mehrern zuſammenge-
ſetzten Jmpreſſionen vorkommen, nur in einer andern
Ordnung und in einem andern Verhaͤltniß: ſo kann
dennoch jedes unterſcheidbare Ganze ſeinen eigenen Fi-
berbuͤſchel haben; und dieß macht die Menge ſolcher be-
ſondern Buͤſchel ſo groß, als die Anzahl der einzelnen
individuellen Jmpreſſionen iſt.
Aber es kann auch vielleicht genuͤgen, daß die Man-
nichfaltigkeit der Fibern ſo groß ſey, als die Mannich-
faltigkeit der einfachen Jmpreſſionen. So hat jede
Saite in dem Jnſtrument ihren eigenen Ton; aber
nicht jedes Stuͤck, was geſpielet wird, hat ſein eigenes
Jnſtrument, ſondern die naͤmlichen Saiten werden in
einer andern Folge und in andern Verbindungen ge-
ruͤhret.
Wenn man das letztere annimmt, ſo darf die Zahl
der unterſchiedenen Fibern nicht groͤßer ſeyn, als es
Mannichfaltigkeit in den einfachen Empfindungen
giebt; und wenn nun dieß wiederum auf die einfach-
ſten Elemente der Empfindungen eingeſchraͤnkt wird;
wer kann denn ſagen, wie gering ihre Anzahl wohl
nicht am Ende nur ſeyn koͤnnte? Denn auf dieſe Art
wuͤrden nicht mehr einfache Fibern noͤthig ſeyn, als es ein-
fache Grundfarben giebt, aus deren Vermiſchung die
uͤbrigen entſtehen; und vielleicht wuͤrde die Zahl von
drey Grundfarben, die man annimmt, noch zu groß
ſeyn, wenn man ſie noch weiter aufzuloͤſen im Stande
waͤre, als man es jetzo iſt.
Dieſe letztere Vorſtellung ſcheinet auf der Einen
Seite die Hypotheſe ungemein einfach zu machen; aber
auf der andern wird ſie dadurch doch nicht minder zuſam-
mengeſetzt. Denn wenn nur ſo wenige Fibern erfodert
werden, um die einfachen Toͤne in der Seele anzugeben:
ſo muß eine jede auf eine vielfache Art mit jedweder
andern
[257]im Menſchen.
andern verknuͤpft ſeyn, um die zuſammengeſetzten
Jdeen in ſo inniger Vereinigung aller ihrer einfachen
Theile, als einzelne Ganze, zu reproduciren. Jn ſo un-
zaͤhlig vielen Jdeen die Vorſtellung von der weißen
Farbe ein Beſtandtheil iſt, ſo viele Verknuͤpfungen muß
die zu ihr gehoͤrige Fiber mit andern haben.
Daher muß man geſtehen, daß ſowohl die letztere
Vorſtellung von der Einrichtung des Gehirns, als die
erſtere auf etwas Unendliches in der Feinheit, Man-
nichfaltigkeit und Verbindung der Fibern hinfuͤhre,
worinn unſere Phantaſie ſich verlieret. Wer die Natur
kennet, wird zwar hierauf keine Einwendung gruͤnden,
da dieß Unuͤberſehbare vielmehr das wahre Gepraͤge von
ihr und von der unendlichen Weisheit ihres Urhebers
iſt; aber es iſt doch auch gewiß, daß eine ſolche ſchein-
bare Unbegreiflichkeit einer Hypotheſe, die noch nichts
mehr iſt, als dieſes, nach den Geſetzen unſers Verſtan-
des ſie nicht empfehlen koͤnne, zumal wenn ſie nur
darum ergriffen wird, um einer andern auszuweichen,
der man auch nichts weiter als eine ſolche Unbegreiflich-
keit vorzuwerfen hat. Hr. Bonnet hat ſich fuͤr das
erſtere erklaͤret, daß naͤmlich jede einzelne verſchiedene
Empfindung ihre eigene Fiber habe, von der die
materielle Jdee aufgenommen werde; aber er hat noch
mehr gethan, er hat es durch ein Raiſonnement aus
Gruͤnden zu erweiſen geſucht, daß es ſich auf dieſe Art
in dem Gehirn verhalten muͤſſe. Dieſer Beweis ver-
dienet eine Pruͤfung. Jch will ſonſten gerne zugeben,
daß manche Schwierigkeiten, die ſich beym erſten An-
blicke zeigen, nachhero ſich heben laſſen, wenn man die
Sache deutlicher entwickelt. Denn da bey ſo vielen ver-
ſchiedenen ſinnlichen Jmpreſſionen ohne Zweifel ihre
ganze Verſchiedenheit nur auf Grade ankommt, auf
eine groͤßere oder geringere Jntenſion des Eindrucks,
der ſonſten an und fuͤr ſich derſelbige ſeyn kann: ſo be-
IITheil. Rdarf
[258]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
darf es fuͤr dieſe Verſchiedenheiten in den Graden auch
keiner verſchiedenen Fibern, ſondern es wuͤrde genug
ſeyn, wenn die naͤmliche Fiber nur in verſchiedenen Gra-
den der Staͤrke ſchwingen kann. Und dadurch koͤnnte
die Zahl der beſondern einzelnen Fibern ſchon um ein
großes heruntergeſetzet werden. Allein der Beweis,
den Hr. Bonnet gefuͤhret hat, iſt entweder nicht rich-
tig, oder er wuͤrde, wenn man ihn nur ein wenig aͤn-
dert, noch mehr beweiſen und eben ſo gut darthun, daß
auch jeder Grad einer Jmpreſſion ihre eigene Fiber
erfodere, als daß jede verſchiedene Jmpreſſion derglei-
chen haben muß. Und uͤberhaupt, wenn man etwas
genauer die Folgen uͤberdenket, die aus dieſem pſycho-
logiſchen Fiberſyſtem entſpringen, man mag es, wie
man will, auf die eine oder die andere Art erklaͤren: ſo
wird man es nicht ſo leicht finden, ſich einen Mecha-
niſmus vorzuſtellen, der zu allen unſern Jdeenaſſocia-
tionen hinreichet.*)
Der Beweis, den Hr. Bonnet fuͤr ſeinen gedachten
Grundſatz gefuͤhret hat, iſt folgender. Eine und die
naͤmliche Fiber, — ſie mag als einfach angeſehen wer-
den! — die den Geruch der Roſe aufgenommen hat,
kann den Eindruck von dem Geruch der Nelke nicht em-
pfangen, ohne daß ihre vorhergegangene Jmpreſſion
von der Roſe in dieſen nachfolgenden Eindruck von der
Nelke einen Einfluß habe. Denn da die erſte ſinnliche
Bewegung von der Roſe eine Leichtigkeit in der Fiber
hinterlaſſen hat erneuert zu werden, ſo muß ja, wenn
nun die naͤmliche Fiber von der Nelke modificirt wird,
jene erſtere mit der letztern wieder hervorkommen. Ei-
ne Fiber, die ſchon eine Tendenz oder eine Leichtigkeit zu
einer ſinnlichen Bewegung empfangen hat, darf nur auf
irgend eine Art ſinnlich beweget werden, und es wird die
ihr
[259]im Menſchen.
ihr gelaͤufige Bewegung erneuert. Die Empfindung
von der Roſe wuͤrde alſo in der Geſtalt eines Phantas-
ma reproduciret werden, wenn der Eindruck von der
Nelke hinzukommt. Aber alsdenn muͤßten ſich dieſe
zwo, zugleich in Einer Fiber vorhandenen, Bewegun-
gen mit einander vermiſchen, und in eine mittlere
Bewegung zuſammenlaufen, die weder eine Bewe-
gung von der Nelke noch von der Roſe iſt, wie das
allgemeine Bewegungsgeſetz von der Vereinigung zwoer
Seitenbewegungen zu einer dritten Diagonalbewegung,
die weder die Eine noch die andere von jenen allein iſt,
es mit ſich bringet. Daraus wuͤrde folgen, daß die
materielle Jdee von dem Geruch der Nelke nicht abge-
ſondert genug von der Vorſtellung, die zu der Roſe ge-
hoͤret, erhalten werden koͤnne, ſondern daß aus beiden
Jmpreſſionen zuſammen nur Eine vermiſchte Jdee von
dem Geruch der Nelke durch den Geruch der Roſe mo-
dificirt zuruͤckbleibe, welches doch wider die Erfahrung
iſt. Wir haben unterſchiedene Jdeen von beiden, und
zwar auf dieſelbige Art, es mag zuerſt die Roſe und
dann die Nelke, oder in umgekehrter Ordnung, gero-
chen worden ſeyn. Es iſt alſo offenbar, daß jede be-
ſondere Empfindung ihre eigene Gehirnsfiber erfodere,
die ſie aufnimmt.
Gewiß hat der ſcharfſinnige Mann hier die Grund-
ſaͤtze der Mechanik nicht vorſichtig genug angewen-
det. Jch will das uͤbergehen, was tiefere Unterſuchun-
gen uͤber die Bewegungen geſpannter Saiten gelehret
haben. Es iſt kein Zweifel, daß nicht mehrere verſchie-
dene Schwingungen zu derſelbigen Zeit in Einer Saite,
ohne einander zu ſtoͤren, und ohne auch in Eine ſich zu
vermiſchen, vorhanden ſeyn koͤnnten. Wenn alſo die
Gehirnsfibern in dieſer Hinſicht mit den Saiten ver-
glichen werden koͤnnen: — welches doch Hr. Bonnet
R 2auch
[260]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
auch zulaͤßt, ohne ſie ſelbſt eben fuͤr ſolche anzuſehen; —
ſo wuͤrde das, was von jener ihren Bewegungen be-
kannt iſt, mehr Gruͤnde als man dazu noͤthig hat an
die Hand geben, um zu zeigen, daß Hr. Bonnet
unrichtig geſchloſſen habe. Jndeſſen darf man ſo weit
nicht gehen, und kann ſich ohne mathematiſche Spe-
kulation aus leichten Beyſpielen erklaͤren, daß die Ver-
miſchung der Jmpreſſionen in Einer Fiber nicht noth-
wendig ſey, wenn ihrer gleich mehrere in derſelbigen
Fiber zugleich ſind. Eine Kugel, die auf einer hori-
zontalen Flaͤche liegt, hat eine Tendenz, herunter zu
fallen, und mit dieſer druͤckt ſie auf die Flaͤche. Hin-
dert dieſer Druck in der Vertikallinie, daß ſie nicht von
jedweder Kraft in der Horizontalrichtung nach jeder
Richtung hin beweget werden koͤnne, und auf dieſelbige
Art beweget werden koͤnne, als wenn ſie ganz ohne Ge-
wicht in der naͤmlichen Ebene ſich befindet? Wenn nun
die materielle Jdee von dem Geruch der Roſe nichts
anders iſt, als eine Tendenz, eine gewiſſe ſinnliche Be-
wegung anzunehmen, warum ſollte dieſe Tendenz nicht
fuͤr ſich beſonders aufbewahret ſeyn koͤnnen, ohne daß
ſie einer neuen ſinnlichen Bewegung ein Hinderniß ſetzet?
Es muß doch nicht eine jedwede Erſchuͤtterung in der
Fiber ohne Unterſchied ihre vorige ſinnliche Bewegung
wiederum erwecken koͤnnen, ſonſt muͤßte dieſe letztere
beſtaͤndig in ihr erwecket ſeyn, weil kein Theil des Ge-
hirns einen Augenblick ohne Bewegung und Druck iſt,
und dann wuͤrden wir nicht viele Sachen ganze Jahre
durch, ohne an ſie zu gedenken, im Gedaͤchtniß haben
koͤnnen. Hr. Bonnet erfodert ſelbſt dazu, daß eine
Bewegung die andere reproducire, und daß ſchon eine
gewiſſe Kommunikation zwiſchen ihnen zu Stande gekom-
men ſey. Warum ſollte alſo ohne Unterſchied jede
neue ſinnliche Bewegung in der Fiber die Tendenz zu
einer vorhergegangenen wieder erwecken, und dieß bis da-
hin,
[261]im Menſchen.
hin, daß ſie als eine gegenwaͤrtige Vorſtellung in der Seele
erſcheine?
Allein man kann auch gerne zugeben, daß die Jm-
preſſion von der Roſe, wenn dieſe empfunden wird, die
ehemalige Jmpreſſion von der Nelke erneuere. Jn dieſem
Fall wuͤrde doch die letztere auf die erſtere eine ſo ſchwa-
che Beziehung haben, als eine Einbildung auf eine
Empfindung iſt. Sollte alſo jene dieſe in etwas modi-
ficiren, wie eine kleine Seitenbewegung in einem Koͤr-
per eine andere ſtaͤrkere abaͤndert, ſo koͤnnte ihr Einfluß
doch nicht groͤßer ſeyn, als es ihre eigene Staͤrke er-
laubet; und alsdenn moͤchte dieſer Einfluß, wenn die
Einbildung von der Roſe nur nicht noch eine wahre
Nachempfindung, oder doch ſehr lebhaft iſt, ſo unbe-
deutend geringe ſeyn, daß man ihn nicht bemerken kann.
Die folgende Empfindung von der Nelke, koͤnnte als
eine ganz reine Empfindung von der Nelke ſich darſtel-
len. So wuͤrde die Jmpreſſion von der Nelke ihre ei-
gene Natur und ihre eigenen Folgen in uns haben, und
ſich wie ein eigener verſchiedener ſinnlicher Eindruck in
derſelbigen Fiber feſtſetzen, in der ſich der Eindruck von
der Roſe ſchon vorher feſtgeſetzet hatte. Jſt aber dieß
einmal geſchehen, warum ſollte nicht eine jede derſelben
auch auf die ihr eigene Art, bey der Abweſenheit der
Objekte erneuret, und als eine beſondere Phantaſie in
uns reproduciret werden koͤnnen, ohne ſich mit der an-
dern zu vermiſchen?
Sehen wir auf das, was wirklich geſchieht, wenn
wir unmittelbar nach der Roſe auch die Nelke vor die
Naſe halten, ſo zeiget ſich eine Wirkung, die der bon-
netiſchen Jdee, daß es zwo verſchiedene Fibern ſind,
welche von dieſen Eindruͤcken geruͤhrt werden, faſt mehr
entgegen iſt, als ſie beſtaͤtiget. Die vorhergegan-
gene Empfindung modificiret die nachfolgende, und
modificiret ſie ſo ſehr, daß der Duft der Nelke nicht ſo
R 3empfun-
[262]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
empfunden werden kann, als ſonſten, wenn er zuerſt
in die Naſe kommt, und daß wir auch nicht voͤllig die
naͤmliche materielle Geruchsidee aus dieſer Empfindung
von ihr erhalten. Daſſelbige zeiget ſich in vielen an-
dern Empfindungen, bey allen Sinnen, am meiſten
aber bey den niedern Sinnen des Geruchs, des Ge-
ſchmacks und des Gefuͤhls. Jede wird etwas geaͤndert
durch die, welche unmittelbar oder doch nicht lange vor-
hergegangen ſind, und von deren Eindruck noch etwas
zuruͤck iſt. Man kann daraus zwar nicht geradezu
ſchließen, daß die Eindruͤcke auf ebendieſelbige Fiber
fallen, weil jener Einfluß derſelben in einander auch aus
ihrer Verbindung wohl begreiflich iſt. Aber dennoch
moͤchte ich, nach dieſen Beobachtungen allein zu urthei-
len, es fuͤr wahrſcheinlicher halten, daß mehrere Ein-
druͤcke auf einerley Fiber kommen, als das Gegentheil.
Hat ſich die Empfindung der Roſe gaͤnzlich verloren,
ſo erhalten wir die Jmpreſſion von der Nelke unver-
miſchter und reiner; allein man weiß auch, wie wenig
die Reproduktion einer Geruchsempfindung zu bedeuten
habe, wenn ſie mit einer Empfindung verglichen wird.
Wenn man die Beyſpiele aus den Geſichtsempfindun-
gen hernimmt, ſo beſtaͤtiget es die Erfahrung mehr als
zu viel, wie leicht die Einbildungen ſich mit den gegen-
waͤrtigen Jmpreſſionen verbinden, und dadurch unreine
Eindruͤcke hervorbringen. Dieß fuͤhret gleichfalls mehr
auf die Vermuthung, daß dieſelbige Fiber mehrere
Jmpreſſionen aufnehme, als daß jede ihre eigene
habe.
5.
Bis hieher gehen die erſten Gruͤnde des bonneti-
ſchen Syſtems, bey deren letztern diejenige Zuverlaͤſ-
ſigkeit nicht mehr iſt, die der ſcharfſinnige Mann ihm
zuſchrieb. Aber nun iſt die Hauptſache noch zuruͤck.
Denn
[263]im Menſchen.
Denn nun iſt die Frage: wie weit ſich die pſychologi-
ſchen Erfahrungen auf Bonnetiſch erklaͤren laſſen? das
iſt, ob dieß Syſtem, als Hypotheſe betrachtet, den
großen innern Vorzug vor andern beſitze, den ihm ſchon
ſo viele als unbezweifelt zuerkennen? ob es naͤmlich
leichter, faßlicher, vollſtaͤndiger erklaͤre, als die gewoͤhn-
liche Meinung von dem Sitz der Vorſtellungen in der
Seele?
Von Einer Seite betrachtet ſcheinet es ſo zu ſeyn.
Die Abhaͤngigkeit der Seelenaͤußerungen von dem Koͤr-
per, und von Urſachen, die auf den Koͤrper wirken,
und die ſich darauf beziehende Fakta; der Verluſt des
Gedaͤchtniſſes durch Krankheiten und Alter; die Schwaͤ-
chung und Verſtaͤrkung der Seelenkraft und der Selbſt-
thaͤtigkeit, welche die Veraͤnderungen in dem Koͤrper
nach ſich ziehen, ſo gar die in den aͤußern Theilen vor-
gehen; und uͤberhaupt dasjenige, was oben bey der er-
ſten Hypotheſe Schwierigkeiten verurſachte: findet hier
in dieſer zwoten ganz leicht ſeine Gruͤnde und Urſachen.
Hat die Seele, als eine an ſich unbeſtimmte und nur
die ſinnlichen Bewegungen des Koͤrpers fuͤhlende und
dann in das Gehirn wirkende Kraft, gar keine Vorſtel-
lungen mehr, wenn ſie an die Gegenſtaͤnde nicht geden-
ket; iſt die Wiederhervorziehung der Jdeen nicht ihr
Werk: was folget natuͤrlicher, als daß ſie aufhoͤre zu
fuͤhlen, zu denken und zu handeln, ſobald das Gehirn
außer Stand geſetzet iſt, ihr die Objekte ihrer Thaͤtig-
keit vorzuhalten? was natuͤrlicher, als daß alle ihre
Jdeen und Gedanken dahin ſind, wenn entweder ein
langer Nichtgebrauch der Fiber, oder eine koͤrperliche
Urſache ihr ihre Leichtigkeiten benommen hat, auf die
erfoderliche Art beweget zu werden? Denn wenn die
Spuren der Empfindungen in dem Organ verloſchen
ſind, ſo kann die Seele es auch nicht wiſſen, daß ſie
ſolche jemals gehabt habe, da ſie nicht das geringſte
R 4Merk-
[264]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Merkmal, woran ſie ſich ihrer erinnern koͤnnte, uͤbrig
hat.
Aber es iſt doch auch wahr, daß ſich eben dieſe Er-
ſcheinungen mit dem erſtern Syſtem vereinigen laſſen.
Dieß iſt vorher ſchon gezeiget worden; allein man kann
noch hinzuſetzen, daß, wenn man ſich hiebey aufs be-
ſondere einlaͤßt, und die bonnetiſchen Erklaͤrungen mit
den vorigen vergleichet, das Uebergewicht von jenen,
das wenigſte zu ſagen, um ein Großes vermindert werde.
Es ſind dieſe Vorfaͤlle fuͤr ſich ſo merkwuͤrdig, daß es
ſich wohl der Muͤhe verlohnet, einige davon als Bey-
ſpiele hier beſonders naͤher zu betrachten.
Was die Staͤrkung des Gedaͤchtniſſes durch ein
fleißiges Ueben, und die Schwaͤchung deſſelben durch
den Nichtgebrauch betrifft, ingleichen das Vergeſſen
ſolcher Jdeen, welche in langen Zeiten unerneuert ge-
blieben ſind, ſo ſehe ich nicht, warum dieſe Wirkungen
nicht eben ſowohl begreiflich ſeyn ſollten, wenn man an-
nimmt, daß die Vorſtellungen Seelenbeſchaffenheiten
ſind, als wenn ſie Gehirnsbeſchaffenheiten ſeyn ſollen.
Soll eine Fiber die einmal empfangene vorzuͤgliche Re-
ceptivitaͤt zu einer ſinnlichen Bewegung verloren haben,
ſo muß entweder die Lage ihrer Theile gegen einander,
oder auch die innre Beſchaffenheit ihrer Theile veraͤn-
dert ſeyn, je nachdem die materielle Jdee von dieſer oder
von jener abhaͤngt. Jſt eine Veraͤnderung in den
einzelnen Elementen der Fiber vorgegangen: wie iſt dieß
mehr begreiflich, als wenn man die Veraͤnderung bey
der Seele ſelbſt annimmt, die doch auch ein einfaches
Weſen iſt, wie es die wahren Elemente der Gehirns-
fibern ſind? Soll der Verluſt einer Vorſtellung in ei-
ner Veraͤnderung der Lage und der Verbindung der
Theile, alſo in einer Veraͤnderung der Art und Weiſe,
wie die Elemente der Fibern in einander wirken, ſeinen
Grund haben: ſo fuͤhret eine ſolche Veraͤnderung wie-
derum
[265]im Menſchen.
derum auf eine Modifikation der Kraͤfte in den einzel-
nen Elementen zuruͤck. Denn wenn ſich die Lage der
Theile aͤndert, ſo aͤndern ſich ja die relativen Vermoͤgen
der Elemente auf einander zu wirken; und wenn nun
gleich die Grundkraͤfte immerfort von der naͤmlichen
Groͤße bleiben, ſo aͤndern ſich doch die abgeleiteten
und relativen Kraͤfte, da die Grundkraͤfte ſich nicht
auf die naͤmliche Art gegen dieſelbigen Elemente thaͤtig
beweiſen koͤnnen, wie vorher. Sollte wohl dieß alles
ſo leicht faßlich in der Fiber ſeyn, und ſo unbegreiflich,
wenn man etwas analogiſches der Seele zuſchreibet?
Ob eine Jdee aus dem Gedaͤchtniß verloren iſt, oder
nicht, das darf die Seelenthaͤtigkeit im Ganzen noch
nicht mindern, und kann zuweilen nur allein daran lie-
gen, daß ihre innern Vorſtellungen in eine andere Be-
ziehung gebracht worden ſind, ſo daß die reproducirende
Kraft einer gewiſſen, in ihr vorhandenen Jdee nur nicht
gehoͤrig beykommen kann. Auf manche Dinge beſin-
nen wir uns nur darum nicht, weil wir ſo viel andere
im Kopfe haben, die ſich uns darſtellen, und jene un-
terdruͤcken, die ſonſten, wenn ſie nicht waͤren von andern
verdecket worden, uns leicht und deutlich genug ſich ge-
zeiget haͤtten. Sollte auch eine Spur einer Vorſtel-
lung gaͤnzlich ausgeloͤſchet worden ſeyn, ſo denke ich nicht,
daß dieſe Ausloͤſchung in der Seele eben ſchwerer zu be-
greifen ſey, als es iſt, wenn ein Koͤrper, und jede Par-
tikel deſſelben, aus der ſchnelleſten Bewegung zur Ruhe
gebracht iſt? Dieſe letztere Veraͤnderung in den Ele-
menten mag beſtehen worinn ſie wolle, ſo iſt ſie eine
ſolche, bey der eine gewiſſe Beſchaffenheit weggehet, die
vorher da war.
Nun wird doch auch die Seele als Gehirnskraft
veraͤndert, da ſie nach des Hrn. Bonnets Vorſtellung
bald ſtaͤrker, bald ſchwaͤcher, auf das Gehirn wirket.
Was wuͤrde denn fuͤr eine beſondere Schwierigkeit dabey
R 5ſeyn,
[266]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſeyn, daß eine gewiſſe Diſpoſition in ihr, und beſon-
ders die Diſpoſition dieſe oder jene Jdee wieder zu
erwecken, einmal entweder gaͤnzlich, oder doch bis da-
hin ſich verloͤre, daß ſie dieſe Vorſtellung, ohne eine
neue Jmpreſſion von auſſen, nicht wieder aus ſich ſelbſt
hervorziehen koͤnnte? Warum kann es nicht eben ſo
wohl ein Seelengeſetz als ein Geſetz der Organiſation
ſeyn, daß eine Diſpoſition zur Thaͤtigkeit, die lange
ungebraucht lieget, ſich verliere und in ein Unvermoͤgen
uͤbergehe?
6.
Sollte aber jemals eine in die Seele gebrachte Vor-
ſtellung ſich ſo gaͤnzlich wieder verlieren, daß auch nichts
mehr von ihr vorhanden ſey, und daß ſie niemals wie-
der erwecket werden koͤnne? Daß einige bis auf einen
gewiſſen Grad erloͤſchen, iſt außer Zweifel, naͤmlich bis
ſo weit, daß man ſolche unter den gewoͤhnlichen Um-
ſtaͤnden in dieſem Leben und bey der gewoͤhnlichen
Anſtrengung der Seelenkraft nicht reproduciren kann.
Aber daß ſie ſich dergeſtalt verlieren ſollten, daß es eben
ſo gut waͤre, als wenn ſie niemals vorhanden geweſen,
wuͤrde ich allein wegen der theoretiſchen Vernunftgruͤnde,
die Leibnitz und Wolf dagegen anfuͤhrten, fuͤr hoͤchſt
unwahrſcheinlich halten. Allein dieß meine ich hier
nicht, ſondern ſehe vielmehr darauf, ob irgend eine
Vorſtellung, welche ſo ſtark in der Seele ſich befeſtigt
hatte, daß ſie von ihrer eigenen Kraft reproduciret wer-
den koͤnnte, bis dahin ſich verliere, daß ſie durchaus
nicht mehr als eine ſolche Vorſtellung reprodu-
cibel ſey; und dann, ob hieruͤber ohne Ruͤckſicht auf
Raiſonnements aus allgemeinen Gruͤnden, bloß aus
Erfahrungen, ſich etwas erkennen laſſe? Man hat
Beyſpiele, daß Perſonen in ihrer zarten Jugend Woͤr-
ter, Spruͤche, gewiſſe Redensarten, aus einer Sprache
gele-
[267]im Menſchen.
gelegentlich aufgefaßt, die ſie in der Folge ſo ganz ver-
geſſen, daß es ihnen kaum einmal erinnerlich geweſen
iſt, jemals dergleichen Unterricht gehabt zu haben.
Nach vielen Jahren ſind jene alten, fuͤr ausgetilget und
erloſchen gehaltene Bilder in einer hitzigen Krankheit
wieder lebhaft erneuert worden, und alsdenn haben ſol-
che Leute, dem Scheine nach, eine Sprache geredet, die
ſie niemals erlernet hatten, und denn zuweilen das
Schickſal gehabt, fuͤr Beſeſſene erklaͤrt zu werden.
Dieſe Beyſpiele beweiſen meiner Meinung nach, was
ſich auch wohl aus andern Beobachtungen, obgleich
nicht ſo auffallend, zeigen laͤßt, daß Vorſtellungen, auf
welche die Seele, in dem ordentlichen geſunden Zuſtande
des Koͤrpers, mit aller Anſtrengung ſich nicht beſinnen
konnte, dennoch das Eigene, was ſie zu ſolchen Vor-
ſtellungen machte, nicht ſo gaͤnzlich verloren hatten, daß
ſie nicht bey außerordentlichen Anlaͤſſen wieder reprodu-
ciret werden konnten. Zu den uͤbrigen Erfahrungen,
die daſſelbige beſtaͤtigen, gehoͤret auch noch die lebhafte
Wiedererinnerung an laͤngſt vergangene Dinge, aus der
Jugend her, die man bey alten Leuten antrifft. Ein
mir bekannter Mann mochte in dreyßig und mehr
Jahren an die Regeln im Donat nicht gedacht haben,
und vor zwanzig Jahren nicht mehr im Stande geweſen
ſeyn, ſie woͤrtlich herzuſagen; aber im Alter, als das
Gedaͤchtniß neuerer Dinge geſchwaͤcht war, wußte er
das in der Jugend auswendig gelernte Schulbuch groͤß-
ſtentheils woͤrtlich herzuſagen. Sind die Spuren aber
ſo unausloͤſchlich, ſo ſehe ich nicht, wie man dieſe Fort-
dauer der Vorſtellungen beſſer begreife, wenn man ih-
nen ihren Sitz in dem Gehirn anweiſet, als wenn ſie in
der Seele als in ihrem Subjekte ſind.
Wir kennen das Geſetz der Organiſation, nach wel-
chem die Koͤrper feſter und unbiegſamer werden, wenn
ſie aufgehoͤrt haben, ihren aͤußern Umfang zu erweitern.
Wenn
[268]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Wenn nun auch das Gehirn, nach dieſem Geſetz, im
Alter ungeſchmeidiger geworden iſt neue Eindruͤcke
anzunehmen, ſoll es denn gelenkſamer geworden ſeyn,
in die lange vorher empfangenen Bewegungen wieder
uͤberzugehen, da es doch vorher ſchon einmal in den mitt-
lern Jahren zu ihrer Erneurung unfaͤhig geweſen iſt?
Mich deucht, man moͤge das Gedaͤchtniß in der Seele,
oder in den Organen ſetzen; ſo bald man deutlich
begreifen will, auf welche Art es dort oder hier ſich be-
finde, um ſo beſondere Wirkungen hervorzubringen:
ſo ſind die Schwierigkeiten eben ſo groß bey der Einen,
als bey der andern Vorausſetzung.
7.
Das Kindiſchwerden der Menſchen in dem
hoͤchſten Alter iſt ein Phaͤnomenon, das vorzuͤglich, und
noch vielleicht mehr als der Verluſt des Verſtandes, fuͤr
die Wahrſcheinlichkeit der bonnetiſchen Gehirnskraft
zu ſtreiten ſcheinet. Es ſind beyde Zufaͤlle ſehr demuͤ-
thigend fuͤr den Menſchen, aber lehrreich fuͤr den von
ſeinem Jch und deſſen Unabhaͤngigkeit zu hoch denken-
den Stoiker, der ſeine Tugend den Goͤttern nicht ver-
danken wollte. Mir iſt das Beyſpiel eines beruͤhmten
Mathematikers bekannt, der dieſe Wiederkehr der Kind-
heit erlebte. Die Erinnerung der vorigen Jdeen fehlte
ſo ſehr, daß, wenn er zuweilen in ſeiner Einſamkeit
fuͤr ſich auf eine Demonſtration von einem der erſten
Saͤtze im Euklides verfallen war: — denn der Hang zur
Beſchaͤftigung mit geometriſchen Figuren und Begrif-
fen war ihm noch uͤbrig geblieben, ein eigener merk-
wuͤrdiger Umſtand! — ſo zeigte er ſolche ſeinem Sohn,
als eine Wirkung ſeiner Erfindungskraft, mit einer
freudigen Selbſtzufriedenheit, die einem Kinde von zehn
Jahren natuͤrlich geweſen ſeyn wuͤrde, hier aber ſeinem
Sohn, der aus ſeines Vaters Schriften ſo viele mathe-
matiſche
[269]im Menſchen.
matiſche Kenntniſſe erlanget hatte, Thraͤnen auspreßte.
Da mit der Kindheit des Verſtandes auch kindiſche
Sorgloſigkeit und kindiſche Freude vergeſellſchaftet iſt:
ſo moͤchte man dieſen Zufall zwar nicht ſo ganz fuͤr ein
Ungluͤck halten; aber wie unſchaͤtzbar war hier bey die-
ſem wuͤrdigen Alten nicht der Verluſt des Gedaͤchtniſ-
ſes, mit dem alle Freuden verloren gehen, die aus der
Wiedererinnerung des ruͤhmlich gefuͤhrten Lebens ent-
ſpringen, und die Luſt, Kraft und Nahrung des Alters
ſeyn ſollten?
Nach der bonnetiſchen Jdee von dem Sitz der
Vorſtellungen im Gehirn, ſind ſolche Phaͤnomene bald
erklaͤret. Da es in der Seele keine bleibende intel-
lektuelle Jdee giebt: ſo ſind alle Vorſtellungen verloren,
wenn die materiellen Jdeen im Gehirn dahin ſind, und
mit den Jdeen faͤllt zugleich die Erinnerungskraft weg.
Denn die Erinnerung haͤngt von der Leichtigkeit ab,
mit der man eine Jdee empfaͤngt oder unterhaͤlt, die
man vorher ſchon gehabt hat, und wozu aus der erſten
Jmpreſſion her eine Diſpoſition zuruͤckgeblieben iſt,
welche die zwote Aufnahme derſelbigen Jdee leichter
macht. Die Seele nimmt ſie das zweytemal mit einer
geringern Anſtrengung bey ihrer Aktion aufs Gehirn
gewahr. Hierinn liegt das Merkzeichen vor uns, daß
wir uns ehemals mit einem ſolchen Objekt ſchon be-
ſchaͤfftiget haben. Zunaͤchſt entſtehet ein gewiſſes dun-
keles Gefuͤhl, daß uns etwas ſchon bekannt ſey, daß wir
es ehemals geſehen oder gehoͤrt haben, und dergleichen,
wobey wir in vielen Faͤllen ſtehen bleiben. Auf dieß
Gefuͤhl erfolget aber eine deutliche Wiedererinnerung,
wenn zugleich eine andere Reihe aſſociirter Vorſtellun-
gen von den Umſtaͤnden, von der Zeit und dem Ort,
wenn und wo wir die Jdeen gehabt haben, wieder er-
wecket wird. Jede dieſer Jdeen hat auch einzeln ge-
nommen den Charakter an ſich, daß ſie eine Phantaſie
aus
[270]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
aus ehemaligen Empfindungen ſey. *) Und wenn wir
auf jede allein, und außer der Verbindung mit den uͤbrigen
zuruͤckſehen, ſo wuͤrden wir außer dem dunkeln Gefuͤhl,
daß es wiedererweckte Jdeen ſind, nichts mehr bey ih-
nen gewahrnehmen. Aber indem wir ihrer mehrere
zugleich haben, die ſich in der Reproduktion eben ſo auf
einander beziehen, als vordem in der Empfindung, ſo
ſehen wir auch jedwede derſelben in ihrer Verbindung
mit andern. Die Reihe von Vorſtellungen, welche
die Jdee der vergangenen Zeit unſers Lebens aus-
macht, iſt nebſt den Bildern von den Oertern, wo wir
geweſen ſind, gleichſam der Grundfaden, auf welchen
wir die uͤbrigen Vorſtellungen von einzelnen Objekten
beziehen, und dadurch das Ganze zu einer Vorſtellung
von dem Vergangenen machen. Es iſt die Verknuͤ-
pfung jeder beſondern Theile deſſelben, vermittelſt welcher
wir ſolche klar und deutlich als Theile von dem Ver-
gangenen erkennen und gewahrnehmen.
Hieraus folget, wie ſchon erinnert iſt, von ſelbſt,
daß wenn die Spuren ehemaliger Vorſtellungen im
Gehirn verloren ſind, man weder es deutlich wiſſen,
noch es dunkel fuͤhlen koͤnne, daß wir jemals auf eine
ſolche Art vorher modificirt geweſen ſind. Dieß iſt
die bonnetiſche Erklaͤrung.
Ueberhaupt aber muß es, unabhaͤngig von jeder Hy-
potheſe, zufolge der Erfahrungen zugeſtanden werden,
daß alle Gefuͤhle, welche die Seele von ihren leidentli-
chen Veraͤnderungen hat, eben ſo, wie jedwede ſonſtige
Kraftaͤußerung eine entſprechende gegenwaͤrtige Gehirns-
veraͤnderung erfodere, in der die Seele ihr Gefuͤhl und
ihre Aktion wie in einem Spiegel erkenne, woferne
ſie ſolche anders in ſich gewahrnehmen ſoll. Jſt alſo
das koͤrperliche Werkzeug nicht aufgelegt, die noͤthigen
ſinnli-
[271]im Menſchen.
ſinnlichen Bewegungen anzunehmen, ſo mag in dem
Jnnern der Seele vorgehen, was da wolle, ſie mag
fuͤhlen, denken, ſich beſtreben, thun: ſie kann dennoch
nichts von allen dieſen wiſſen, und nicht gewahrnehmen,
daß ſie es thue, woferne ſie nicht die begleitende Ge-
hirnsveraͤnderung empfinden kann. Man ſieht leicht,
daß alles, was in dem Kindiſchwerden des Alters, und
in dem Verluſt des Gedaͤchtniſſes durch Zufaͤlle und
Krankheiten vorgehet, nur beſondere Faͤlle ſind, die un-
ter dieſem allgemeinen, aus Faktis abgezogenen Geſetze
begriffen werden.
Wenn man aufs hoͤchſte zugeben wollte, daß eben
dieſes ganze Faktum mit allen ſeinen beſondern Faͤllen
etwas leichter aus der bonnetiſchen Pſychologie zu be-
greifen ſey, als aus derjenigen, welche die Vorſtellun-
gen, und das Vermoͤgen zu reproduciren, der Seele
als ihrem Subjekte zuſchreibet: ſo deucht mich doch,
es enthalte auch die letztere Gruͤnde in ſich, woraus daſ-
ſelbige erklaͤret werden koͤnne. Wenn das Jnſtrument
des Virtuoſen verſtimmt iſt, ſo kann dieſer die Jdeen
von den Toͤnen in ſich erneuern, die zu ſpielende Arie
im Kopf uͤberdenken, auch mit ſeinen Fingern auf die
Klaves hin und her fahren, auf die naͤmliche Art wie
vorher, da das Jnſtrument im vollkommenen Stande
war, und demohnerachtet entſtehet kein Ton, der Spie-
ler vernimmt keinen, und wuͤrde nichts von dem wiſſen,
was er thut, wenn ers nicht aus ſeinen uͤbrigen Gefuͤh-
len erkennte. Laßt uns die Seele in einer aͤhnlichen Be-
ziehung auf ihr Organ uns vorſtellen: ſo werden wir an
jenem ein erlaͤuterndes Beyſpiel haben, das uns die
Sache wenigſtens einigermaßen begreiflich macht. Die
Seele kann in ſich ihre intellektuellen Vorſtellungen re-
produciren, und ſich wirkſam mit ihrer Denkkraft be-
weiſen. Wir wollen hinzuſetzen, daß, wenn ſie dieſe
Aktion und die daraus entſtehende Veraͤnderung in ſich
empfin-
[272]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
empfindet, ſo ſey auch wiederum dieß letztere Gefuͤhl
etwas, das in ihr ſelbſt iſt, wie es auch nach der Vor-
ſtellung des Hrn. Bonnets es iſt: folget denn, daß ſie
nun auch nothwendig ein ſolches Selbſtgefuͤhl haben
muͤſſe, als zum Bewußtwerden, das iſt, um dieſen
Aktus des Gefuͤhls von andern Aeußerungen auszuken-
nen, erfodert wird? Das meine ich nicht. Denn
wenn man auf das angezogene Beyſpiel von dem Spie-
ler wieder zuruͤckſiehet, der von allen ſeinen Aktionen,
die er vornimmt, wenn er ſpielet, nichts weiß, als aus
ihren Wirkungen, theils naͤmlich aus den Gefuͤhlen in
ſeinen Fingern, theils und vornehmlich aber aus den
Toͤnen, die er mittelſt des Jnſtruments hervorbringet:
ſo deucht mich, es laſſe ſich eben ſo gut gedenken, daß
die Seele in ihrem Jnnern mit ihrem Vermoͤgen wir-
ken koͤnne, ohne ſich ſelbſt zu fuͤhlen, als der Spieler
wirken kann, ohne etwas von dieſer Wirkſamkeit zu ver-
nehmen, wenn das Jnſtrument keine Toͤne angiebt,
und er auch der uͤbrigen Gefuͤhle in ſeinen Fingern be-
raubt ſeyn wuͤrde. Wir kommen am Ende zwar zu
dem obigen Satz hin, daß die Seele ſich ſelbſt und ihre
Aktus nicht anders fuͤhle, als nur in den Wirkungen,
die davon in ihren Organen entſtehen: aber es folget
daraus nicht, daß ſie nicht in ihrem Jnnern ihre Kraft
beſtimmen und ſich ſelbſt modificiren koͤnne, wenn gleich
außer ihr das gehoͤrige Objekt fehlet, das ihre Wirkun-
gen aufnimmt, auf ſie zuruͤck wirket, und alsdenn von
ihr gefuͤhlet wird.
Wollte man dennoch glauben, da die Gegenwart
der Vorſtellungen ſo ſehr von dem Organ abhange, ſo
ſey es natuͤrlich, dieſes fuͤr die Stelle anzuſehen, wo ſie
ſitzen: ſo wuͤrde ich antworten, daß, da Hr. Bonnet
ſelbſt die Gegenwart der Vorſtellungen in ſo weit, daß
ſie entweder laͤnger unterhalten werden, oder geſchwin-
der wieder zuruͤckfallen, von der Aktion der Seele
abhaͤngig
[273]im Menſchen.
abhaͤngig macht, es eben ſo natuͤrlich ſey, ſie in die
Seele hin zu ſetzen. Was bedarf es einer Seelenbey-
wirkung, eines gewiſſen Grades ihrer Reaktion auf die
Gehirnsveraͤnderung, um eine Vorſtellung gegenwaͤrtig
zu erhalten? warum einer ſtaͤrkern oder ſchwaͤchern An-
ſtrengung ihrer Kraft, um ſich zu erinnern, daß eine
Vorſtellung ehedem vorhanden geweſen iſt, wenn das
Spiel der Vorſtellungen allein im Gehirn iſt, und es nur
darauf ankommt, daß die entſtandenen Diſpoſitionen zu
gewiſſen ſinnlichen Bewegungen in wirkliche Bewegun-
gen zuruͤckgehen? Warum ſoll denn noch uͤberdieß eine
Aktion der Seele erfodert werden, um die Eine vor der
andern auszuwaͤhlen, und ſolche laͤnger vor ſich zu hal-
ten? Die Seele ſoll das Spiel der Faſern lenken, ab-
aͤndern und die Saiten anziehn. Warum iſt die Seele
nicht ſchlechthin nur eine muͤßige Zuſchauerin? Warum
fuͤhlet ſie nicht bloß das, was im Gehirn iſt, ſo wie es
iſt, ohne bey jedem in gewiſſer Proportion einen thaͤtigen
Antheil zu nehmen? Warum muß ſie denn ſo viel bey-
wirken, als ihr doch zugeſchrieben wird, und auch in
der That nach den Beobachtungen zugeſchrieben werden
muß?
Es bringet die genaue Vereinigung der Seele mit
dem Koͤrper es ſo mit ſich, wird Hr. Bonnet antwor-
ten, und ich habe eine Hypotheſe angeben wollen, welche
das denkende Weſen darſtellet, wie es wirklich iſt, nicht
wie mans ſich phantaſiren moͤchte.
Ganz richtig, wuͤrde ich als Vertheidiger der erſten
Hypotheſe erwiedern, dieß iſt auch zugleich meine Ant-
wort auf die obige Frage: warum die Gehirnsveraͤnde-
rung ſo unentbehrlich iſt, wenn eine Vorſtellung repro-
ducirt werden ſoll. Die Seele fuͤhlet ſich und ihren
Zuſtand nur in ihren Wirkungen im Gehirn. So
bringet es beider Vereinigung mit ſich. Der Frage:
warum iſt die Seele, wenn ſie ſelbſt der Jdeenſitz
IITheil. Siſt,
[274]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
iſt, ſo ſehr an das Organ gebunden? ſetze ich eine an-
dere entgegen: warum iſt die ſinnliche Bewegung des
Organs, die materielle Jdee, und ihre Lebhaftigkeit
und Beſtehen ſo ſehr an die Beywirkung der Seele ge-
bunden, wenn das Gehirn der Sitz derſelben iſt?
Nun waͤge, wer eine philoſophiſche Wage hat, bei-
der Wahrſcheinlichkeiten aus den bisherigen Datis ge-
gen einander ab, und urtheile!
8.
Jndeſſen zeiget das Bisherige noch immer die ſtaͤr-
kere Seite der mechaniſchen Pſychologie, aber ſie hat
eine andere, wo ſie ſchwaͤcher erſcheint.
Zuerſt verdienet es Aufmerkſamkeit, daß ſie in ſich
ſelbſt, inſofern ſie ſo genommen wird, wie Hr. Bonnet
ſie vortraͤgt, eine innere Luͤcke hat. Die Seele, vor-
ausgeſetzt, wie es die Hypotheſe erlaubt, daß ſie eine
unkoͤrperliche Kraft und ein Weſen fuͤr ſich iſt, obgleich
innigſt mit dem koͤrperlichen Organ vereiniget, wird je-
desmal modificirt, wenn eine ſinnliche Bewegung in
dem Gehirn vorhanden iſt; wenn die ſinnliche Bewe-
gung ſtaͤrker iſt, ſo iſt auch die Seelenveraͤnderung, und
die ganze Vorſtellung lebhafter; und wenn jene abnimmt,
ſo wird auch dieſe geſchwaͤchet. Man ſieht die Sonne.
Die ſinnliche Bewegung in dem Organ iſt heftig, und
die Empfindung in der Seele iſt es auch. Das Son-
nenbild bleibt, wenn die Augen weggewendet ſind, noch
eine Weile vor ihnen ſtehen, aber die Bewegung in den
Fibern iſt alsdenn ſchon ſchwaͤcher, und zugleich auch die
Seelenveraͤnderung, die alsdenn noch eine nachbleiben-
de Empfindungsvorſtellung iſt, und immer matter wird,
und ſich endlich in der Seele verliert, wie die Bewe-
gung in den Fibern abnimmt. Giebt es denn nun et-
wan irgendwo eine Graͤnze, wo die Theilnehmung
der
[275]im Menſchen.
der Seele gaͤnzlich aufhoͤret, wenn gleich im Gehirn
noch eine Bewegung vorhanden iſt?
Dieß wuͤrde zum mindeſten der Analogie zuwider
ſeyn. So weit uns die Vereinigung der Seele mit
dem Koͤrper bekannt iſt, ſcheinet die Seelenveraͤnderung
und die ſinnliche Gehirnsveraͤnderung unzertrennlich zu
ſeyn. Zwar iſt die Jnduktion, worauf dieſe durch-
gaͤngige Harmonie beruhet, an ſich noch unvollſtaͤndig,
doch auch ſo groß, daß da wir ohnedieß keine Gruͤnde
haben, Ausnahmen zu vermuthen, die daraus entſte-
hende Wahrſcheinlichkeit bis zu einer moraliſchen Ge-
wißheit gehet. Sollen etwan die Jmpreſſionen von
außen, die wir nicht gewahrwerden, nicht bis zu der
Seele durchgedrungen ſeyn? Es iſt, das Wenigſte zu
ſagen, wahrſcheinlich, daß ſie wirklich bis dahin kom-
men, wenn ſie gleich nicht ſo lebhaft ſind, daß ihre Ge-
genwart erkannt wird, weil die Seele nicht auf ſie ge-
hoͤrig Acht hat. Aber geſetzt, daß ſie nicht bis zur Seele
kommen, ſo iſt es auch wahrſcheinlich, daß ſie nicht bis
zu den innern und naͤchſten Organen dringen, bis zu
dem Theil naͤmlich hin, der als das ſenſorium com-
mune das naͤchſte Werkzeug des Vorſtellens iſt. So
oft dagegen in dieſem eine ſinnliche Bewegung vorhan-
den iſt, ſchwach oder ſtark, ſo iſt es unwahrſcheinlich,
daß nicht zugleich auch eine entſprechende, intellektuelle
Jdee in der Seele vorhanden ſeyn ſollte. Hr. Bon-
net hat ſelbſt dieſe Harmonie nicht eingeſchraͤnkt.
Folget aber nicht hieraus ganz natuͤrlich, daß, wenn
die materielle Jdee im Gehirn, ſo wie ſie eingewi-
ckelt und unaufgeweckt in dem Gedaͤchtniß iſt, in
einer wirklichen geſchwaͤchten oder in ſich zuſammen-
gezogenen ſinnlichen Bewegung der Fibern beſtehet,
wie der Verfaſſer des Verſuchs der Pſychologie,
der Vorgaͤnger des Hrn. Bonnets ſich vorſtellet, auch
zugleich mit dieſen nachgebliebenen ſchwachen Gehirns-
S 2bewe-
[276]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
bewegungen ſchwache nachbleibende Seelenbeſchaffenhei-
ten verbunden ſeyn werden? Das hieße denn ſo viel:
die materiellen Jdeen in dem Organ wuͤrden gleichzeiti-
ge fortdaurende Seelenveraͤnderungen erfodern,
die auf die vorhergegangenen Empfindungen in der Seele
ſich eben ſo beziehen, wie die materielle Jdee im Gehirn
auf die Bewegung in der Empfindung. Auf dieſe Art
wuͤrde doch ein Vorrath von ruhenden, unaufgeweckten
Jdeen in der Seele, und alſo auch inſoweit das Ge-
daͤchtniß in ihr ſeinen Sitz haben, wenn gleich das
Vermoͤgen, ſolche Jdeen unmittelbar zu reproduciren,
nur allein den Fibern des Gehirns zukaͤme.
Herr Bonnet laͤßt nun freylich die ſinnlichen Be-
wegungen im Gehirn gaͤnzlich aufhoͤren, und, was zu-
ruͤckbleibet, nichts mehr als eine Diſpoſition, oder
eine Tendenz, oder eine Leichtigkeit zu der naͤmlichen
Bewegung ſeyn, die von einer wirklichen Bewegung,
ſie mag nun beſtehen worinn ſie wolle, unterſchie-
den iſt.
Allein wenn es ſo iſt, ſollte es denn nun weniger
der Analogie der Erfahrungen zuwider ſeyn, gewiſſe
dieſen organiſchen Diſpoſitionen, Tendenzen oder Leich-
tigkeiten entſprechende Beſchaffenheiten der Seele
ſelbſt abzuſprechen? Sollte ſie nicht vielmehr etwas
aͤhnliches annehmen und behalten, das naͤmlich auf ihre
erſten Modifikationen ſich auf dieſelbige Weiſe beziehet,
und als eine permanente Spur, oder als eine Abbil-
dung von ihnen angeſehen werden kann? Jſt das,
was man in dem Organ Diſpoſition, Leichtigkeit,
Cendenz, zu einer beſtimmten Bewegung nennet, nach
den Begriffen der Naturlehre, die man von wirklichen
Dingen abſtrahiret, etwas anders, als was ſonſten mit
den mathematiſchen Ausdruͤcken, Element der Be-
wegung, unendlichkleine Bewegung, virtuelle,
anfaͤngliche Bewegung benennet wird? Und ſind
dieſe
[277]im Menſchen.
dieſe von ſo heterogener Natur mit den wirklichen Be-
wegungen, daß man, wenn mit jeder von dieſen letzten
eine Modifikation in der Seelenkraft vergeſellſchaftet iſt,
annehmen koͤnne, daß doch die erſten nur allein Ge-
hirnsbeſchaffenheiten ſind, denen nichts in der Seele
entſpraͤche? Kann man dieß annehmen, ohne dem
Geſetz der Kontinuitaͤt, welches doch, bloß als Er-
fahrungsſatz betrachtet, ungemein wahrſcheinlich iſt, zu
nahe zu treten? Die Form der Seele richtet ſich nach
der Form des Organs, wie die Figur des Waſſers in
dem Gefaͤs, nach der Figur des Gefaͤſes. Aber da
nun hier ein Gefaͤs von ſo beſonderer Natur angenom-
men wird, daß es von jeder ſeiner ehemaligen Geſtalten
noch kennbare Spuren aufbehalten hat, und ſolche leicht
von neuem wieder annehmen kann: ſo wuͤrde es doch
etwas unwahrſcheinlich ſeyn, daß nicht auch die einge-
ſchloſſene Seele ſolche Beſchaffenheiten beſitzen ſollte.
Hier iſt eine Luͤcke in der bonnetiſchen Hypotheſe, die,
ſo viel oder ſo wenig ſonſten auch davon abhaͤnget, ſie
doch nicht empfiehlt, ſondern einen Grund gegen ſie ab-
giebt.
Allein derſelbige Vorwurf kann, an dem andern
Ende zugeſpitzet, gegen die erſte Hypotheſe von dem
Sitze der Vorſtellungen in der Seele gebraucht werden.
Wenn die ruhende Vorſtellung im Gedaͤchtniſſe eine
gewiſſe permanente Seelenbeſchaffenheit iſt: ſo wird ſie,
ſo wie ſie durch dieſe modificirt iſt, auf ihr Organ wir-
ken, mit dem ſie ununterbrochen vereiniget iſt; und
dann iſt es doch zum wenigſten wahrſcheinlich, daß auch
in dem Organ ſelbſt eine Beſchaffenheit hervorgebracht
und unterhalten werde, die ſich auf jene Vorſtellung be-
ziehet. Beſteht ſolche z. B. in einem Beſtreben der
Seele, ſich auf gewiſſe Weiſe zu modificiren, ſo wuͤrde
es eine Folge davon ſeyn, daß auch in dem Organ eine
Tendenz zu der entſprechenden Bewegung, das iſt, eine
S 3materielle
[278]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
materielle Jdee vorhanden ſey. Das Gehirn wuͤrde
alſo beſtaͤndig mit Diſpoſitionen und Leichtigkeiten zu
ehemaligen ſinnlichen Bewegungen erfuͤllet ſeyn.
Jndeſſen iſt es klar, daß, wenn man auch in beiden
Hypotheſen dieſe Luͤcke ausfuͤllen, und alſo fowohl ma-
terielle Jdeen dem Gehirn, als intellektuelle, bleibende
Spuren der Seele zuſchreiben wollte: ſo koͤnnten die
Syſteme darinnen noch einander entgegengeſetzet ſeyn,
daß die Kraft zu reproduciren, in dem erſtern aus-
ſchließungsweiſe der Seele, in dem zweiten bonnetiſchen
aber ausſchließungsweiſe dem Gehirn zuerkannt wuͤrde.
Die Frage: welches der Sitz der Phantaſie ſey?
laͤßt ſich von der erſtern, uͤber den Sitz der Jdeen
abſondern.
9.
Am ſchwerſten iſt es, die ſelbſtthaͤtigen Kraft-
aͤußerungen der Seele, die ſie bey den Vorſtellungen be-
weiſet, und die Wirkungen, die hievon abhangen, aus
dieſer zwoten Erklaͤrungsart abzuleiten; und dieß hat
dem Hrn. Bonnet viele Muͤhe gemacht.
Die Seele, das Jch, welches an allen Vorſtellun-
gen Antheil nimmt, iſt ein thaͤtiges Weſen; und es
iſt eine thaͤtige Kraftanwendung deſſelben, wenn wir auf
etwas aufmerkſam ſind, und etwas wollen. Nun wird
der Seele zugeſtanden, daß ſie die ſinnliche Bewegung
in dem Gehirn, welche daſelbſt reproduciret iſt, durch
ihre eigene Selbſtthaͤtigkeit feſtſetzen, und eine Weile
ſich vorhalten koͤnne. Alſo vermag ſie, eine materielle
Jdee, die im naͤchſten Augenblicke ohne ihr Zuthun nicht
mehr gegenwaͤrtig geweſen ſeyn wuͤrde, zu erhalten, und
die Schwingungen einer Fiber, die ſonſten zu ihrer vo-
rigen Ruhe kommen wuͤrde, durch ihre Aktion aufs Ge-
hirn fortzuſetzen. Vermag ſie aber ſo viel: warum ver-
mag ſie denn nicht, eben dieſer Fiber ſolche Bewegungen
beyzu-
[279]im Menſchen.
beyzubringen, wenn entweder ſie ſelbſt, oder die Fiber
ſchon dazu eingerichtet iſt, daß ſie ohne eine neue Jm-
preſſion von außen ihren ehemaligen Zuſtand leichter an-
nimmt? Jſt denn die Fortſetzung der Oſcillation in
der Fiber durch eine innere Kraft nicht eben daſſelbige
Werk, als die erſte Hervorbringung derſelben? Einer
Kraft, die das Eine vermag, ſollte ſo gaͤnzlich das
Vermoͤgen zu dem andern fehlen? Kann die Seele aber
eine ehemals vorhandene ſinnliche Bewegung durch ihre
eigene Kraft wieder hervorbringen: ſo beſitzet ſie ein un-
mittelbares Vermoͤgen zu reproduciren.
Was man aus Beyſpielen an den Koͤrpern hierauf
ſagen koͤnne, weis ich wohl. Die Schwere in dem
Perpendikel kann die Schwingungen unterhalten, aber
nicht anfangen; es muß das Gewicht zuerſt ange-
ſtoßen, oder durch eine andere Urſache beweget werden,
wenn er einmal in Ruhe iſt; und die geſpannte Klavier-
ſaite wird durch ihre elaſtiſche Kraft nicht aus ihrer Ru-
he gebracht, aber in ihrer Schwingung unterhalten,
wenn dieſe ihr einmal beygebracht worden iſt. So et-
was aͤhnliches muͤßte auch im Gehirn geſchehen, wenn
die Seele die Fiberſchwingungen zwar nicht anfangen,
aber wohl fortſetzen kann. Allein wenn man dieſe an-
gefuͤhrten Beyſpiele etwas genauer anſieht, ſo iſt die
Erlaͤuterung, die ſie geben, gar nicht zum Vortheil der
bonnetiſchen Hypotheſe. Denn was iſt es, was in der
That die Schwingungen des Perpentikels und der Sai-
ten zuerſt anfaͤngt? Es iſt dieſelbige Schwere, oder
dieſelbige Elaſticitaͤt, dieſelbige Kraft, die ſie fortſetzet;
nur daß vorher eine andere Urſache wirken muß, die
den Perpendikel und die Saite aus ihrer erſten Lage
bringe, damit die Schwere oder Elaſticitaͤt zur Wirk-
ſamkeit komme. Soll die Aktion der Seele aufs Ge-
hirn nur darinn beſtehen, daß ſie die Schwungskraft
der Fibern zur Thaͤtigkeit bringet, wie der Druck des
S 4Fingers
[280]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Fingers die Elaſticitaͤt der Saiten: warum kann ſie
denn nicht eben ſo gut die ruhenden Fibern anziehen, und
in Schwung bringen? warum nur den aus der Kraft des
Gehirns ſchon entſtandenen Schwingungen Graͤnzen ſe-
tzen, oder ihnen eine laͤngere Fortdauer geben? Denn
thut ſie nichts mehr, als daß ſie die Gehirnskraft in
Thaͤtigkeit ſetzet, ſo muͤßte ſie eigentlich die ſinnlichen
Bewegungen anfangen, aber die Gehirnskraft ſie fort-
ſetzen. Dieß wuͤrde doch die bonnetiſchen Erklaͤrun-
gen *) von der Reproduktion umaͤndern.
Jch wills gerne geſtehen, daß ich keine Gruͤnde aus
Erfahrungen weis, wodurch man es deutlich beweiſen
koͤnne, daß Bonnets Erklaͤrungen falſch ſind. Sie
werden noch lange einen Platz unter den Hypotheſen be-
halten. Aber ſoviel meine ich, zeige ſich doch, daß man
bey ihnen auf eine Anomalie gerathe, die immer eine
Schwierigkeit mehr ausmacht. Jn dem Gehirn ſoll es
koͤrperliche Urſachen geben, die ſowohl die ſinnlichen Be-
wegungen in den Fibern anfangen, als auch ſie unter-
halten koͤnnen, wie es in den unwillkuͤrlichen Phan-
taſien geſchieht, die oft gegen ihr Beſtreben in der Seele
fortgehen. Dagegen ſoll die Seelenkraft nur Eine von
dieſen Wirkungen haben koͤnnen, und auf das Fortſetzen
der Oſcillation eingeſchraͤnkt ſeyn. Dieſe Folge iſt von
der Art, daß eine andere gleichmoͤgliche Hypotheſe vor
dieſer einen innern Vorzug haben muͤßte, wenn ſie zu
einem ſolchen Schlußſatz nicht fuͤhrte.
Aber außer dieſen giebt es noch andere Beobachtun-
gen, die bey dieſer zwoten Hypotheſe deſto mehr Schwie-
rigkeiten verurſachen, je leichter ſie bey der erſten zu er-
klaͤren ſind, davon ich nur einige der vorzuͤglichſten an-
fuͤhren will.
Viele
[281]im Menſchen.
Viele von unſern Vorſtellungen, die vorher in keiner
Verbindung geweſen ſind, werden durch die ſelbſtthaͤtige
Phantaſie alsdenn erſt in der Seele aſſociirt, wenn
ſie durch andere Urſachen erneuert werden, bloß weil ſie
ſich auf einerley Zuſtand in der Seele beziehen. Es iſt
anderswo *) dieſer ſelbſtthaͤtigen Aſſociationen, die
Wirkungen des Genies ſind, erwaͤhnet und zugleich er-
innert worden, wie ferne ſie von den unſelbſtthaͤtigen
Aſſociationen, welche auf der Koexiſtenz der Jdeen in
den Empfindungen, oder auf ihrer Aehnlichkeit beruhen,
verſchieden ſind. Jſt das Herz vergnuͤgt, ſo reihen ſich
viele heitere Jdeen in der Seele zuſammen, die ſonſten
keine Verbindung oder Aehnlichkeit unter ſich haben, als
daß ſie jede fuͤr ſich und zertheilt mit dieſer Gemuͤthsbe-
ſchaffenheit als Urſache, oder Wirkung, oder begleiten-
der Umſtand verbunden waren.
Herr Bonnet hat eine Art angegeben, wie koexi-
ſtirende Eindruͤcke ſich in dem Gehirn ſelbſt verbinden,
und vermittelſt dieſer Verbindung ſich einander wieder-
erwecken koͤnnen. Wenn ſie unter ſich einander aͤhnlich
ſind, ſo laͤßt ſich ſolches wohl begreifen. Aber welche
Schwierigkeiten entſtehen nicht, wenn man ſich geden-
ken ſoll, daß auch in ſolchen Faͤllen, wo das Gelenke,
das die aſſociirten Jdeen verbindet, in der Seele, in
einer fortdaurenden Empfindung lieget, dennoch ihre
Reproduktion ſo erfolgen ſolle, daß eine unmittelbar die
andere hervorziehe, ohne daß die Linie der Reproduktio-
nen durch die Seele ſelbſt gehe. Es ſey eine Jmpreſ-
ſion vorhanden, welche uns traurig oder froͤlich macht:
ſo iſt es dieſes Empfindniß, das auch Hr. Bonnet nicht
dem Gehirn, ſondern der Seele zuſchreibet, wodurch die
ſich darauf beziehenden Jdeen, die ſonſten in dem Gehirn
zerſtreut waren, hervorgezogen, und nun ſo innig an
S 5einan-
[282]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
einander gereihet werden, daß ſie kuͤnftig ſich unmittel-
bar einander erwecken. Muͤßte nicht in dieſen Faͤllen
die Seelenkraft ſelbſt die Jdeen anreihen? Und wenn ſie
das thut, muß ſie denn nicht die zwote Vorſtellung ſich
ſelbſt unmittelbar erwecken, als die erſte vorhanden war,
und ſie der erſtern vorhergehenden anfuͤgen, da ja die
Verbindung der materiellen Jdeen im Gehirn noch nicht
vorhanden war, und alſo die Urſache ihrer Folgen auf-
einander nicht ſeyn konnte? Das heißt: muß man nicht
der Seele das Vermoͤgen zugeſtehen, eine Jdee durch
ihre Selbſtthaͤtigkeit zu erwecken, das ſie doch nach der
Hypotheſe nicht haben ſoll?
Jch will nur ſagen, daß es natuͤrlicher zu ſeyn ſchei-
ne, ſich vorzuſtellen, daß in dieſen Faͤllen die Seele,
indem ſie ſich beſtrebet zu wirken, ihre Kraft auf die
ehemals angenommenen Arten modificire, das iſt, Eine
ihrer intellektuellen Jdeen hervorziehe, und dieſem ge-
maͤß die Saiten des Gehirns ſpanne, und die entſpre-
chenden Schwingungen errege; als wenn man ihre
Wirkſamkeit darauf einſchraͤnket, daß ſie ihren Zuſtand
erhalte, und daß alsdenn das Organ nun ſelbſt ſeine
Toͤne in einer ſolchen Folge angebe, wie ſie ſich zu der
gegenwaͤrtigen Stimmung ſchicken. Am Ende laͤßt ſich
die Sache freylich auch wohl bonnetiſch vorſtellen. So
viel iſt gewiß, wenn die ſelbſtthaͤtige Phantaſie nach ei-
nem Plan gewiſſe Jdeen anreihet und zu einem Ganzen
zuſammenordnet: ſo wirket die in Thaͤtigkeit geſetzte
Seele, dieſer ihrer Thaͤtigkeit und ihrer angenommenen
Richtung gemaͤß, auf das Gehirn, und giebt ſelbigem
eine gewiſſe Spannung. Aber ſoll nun das Gehirn al-
lein die Jdeen reproduciren, ſo muß man die ihm bey-
gebrachte Spannung als den Grund anſehen, warum
auch ſolche Schwingungen und ſolche Jdeen auf einan-
der folgen, die keine weitere Aehnlichkeit haben, als daß
ſie ſich auf dieſelbige Spannung in den Fibern beziehen.
Geſetzt,
[283]im Menſchen.
Geſetzt, es laſſe ſich dieſe Art zu aſſociiren bey dem Ge-
hirn annehmen, wie bey der Seele: ſo iſt man doch in
einer neuen Verlegenheit, wenn man den Unterſchied
zwiſchen bloßen Einfaͤllen, die uns bey ſolchen Be-
trachtungen leidentlich aufſtoßen, und zwiſchen den ſelbſt-
thaͤtigen Verbindungen, bey denen wir es fuͤhlen, daß
ſie von unſern Beſtrebungen abhangen, erklaͤren ſoll;
und dieſer Unterſchied wird lebhaft genug gefuͤhlet und
wahrgenommen.
VIII.
Allgemeine Ueberſicht der verſchiedenen Hypothe-
ſen uͤber den Sitz der Vorſtellungen und der
Phantaſie.
- 1) Vorerinnerung.
- 2) Von der Ordnung und Folge der See-
len- und Gehirnsveraͤnderungen, wenn
Vorſtellungen von mehrern Objekten in der
Empfindung aſſociiret werden. - 3) Was bey der Reproduktion der Vorſtel-
lungen in dieſer Empfindungsordnung ge-
aͤndert werden kann und geaͤndert wird. - 4) Vortrag einer Hypotheſe, zu welcher die
Beobachtungen ſich am beſten zu vereinigen
ſcheinen.
1.
Die beiden vorhergehenden Hypotheſen habe ich darum
etwas ausfuͤhrlicher an ihren verſchiedenen Seiten
betrachten wollen, weil uns dieß uͤberhaupt mit den
verſchiedenen Umſtaͤnden bekannt macht, worauf man
bey dieſen Unterſuchungen zu ſehen hat. Da ſie die
beiden
[284]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
beiden ſind, welche einander am meiſten entgegenſtehen,
indem die Eine ſowohl die bleibenden Spuren, als auch
das Vermoͤgen ſolche unmittelbar wieder zu erwecken,
der Seele, und die andere beides dem Organ zuſchrei-
bet: ſo mußten wir bey ihnen auf die Data in den Er-
fahrungen treffen, ſo ferne es dergleichen giebt, welche
auf die vielleicht zwiſchen ihnen liegende Wahrheit hin-
fuͤhren. Man muß es eingeſtehen, daß die Beobach-
tungen keine von beiden ganz aufheben; aber auch zu-
gleich, daß jede von ihnen nur gewiſſe Erfahrungen voͤl-
lig erklaͤret, und als eine natuͤrliche Folge nachziehet,
andere hingegen hoͤchſtens nur mit ſich zuſammenreimen
laͤßt. Jſt man bey einer Hypotheſe hiemit zufrieden,
(und wie oft muß man es nicht ſeyn!) ſo laͤßt ſich die
Eine ſo gut, als die andere vertheidigen. Ueberdieß
iſt ihre erwaͤhnte Eigenſchaft ein Merkmal, wodurch es
wahrſcheinlich wird, daß jede derſelben von Einer Seite
wenigſtens die Einrichtung unſerer Natur richtig angebe.
Allein wenn wir eine ſolche Vorſtellung ſuchen, die als-
denn nur entſtehet, wenn alle verſchiedenen Seiten der
Sache mit einem Blick umfaſſet werden, nachdem man
ſie einzeln vorher betrachtet hat, und die dazu nicht bloß
mit allen Phaͤnomenen ſich reimen laͤßt, ſondern ſie alle
als nothwendige Folgen der vorausgeſetzten innern Ein-
richtung darſtellet und begreiflich macht; wenn wir nach
einer ſolchen Hypotheſe uns umſehen: ſo werden wir
ſchwerlich durch Eine von den beiden befriediget. Man
findet an ihnen nichts mehr, als einſeitige Jdeen, die
noch ſehr unvollſtaͤndig zu ſeyn ſcheinen, und die doch
fuͤr vollſtaͤndig gehalten werden, und alſo inſofern etwas
irriges mit ſich verbunden haben.
Sollte nun jede andere der uͤbrigen moͤglichen Hy-
potheſen auf dieſelbige Art beurtheilet werden, wie es bey
den vorhergehenden geſchehen iſt: ſo wuͤrden wir in eine
Weitlaͤuftigkeit gerathen, die ich jetzo fuͤr unnoͤthig halte.
Wir
[285]im Menſchen.
Wir kennen nunmehr die beſondern Erfahrungen, auf
welche es am meiſten ankommt. Anſtatt mich alſo bey
den folgenden in das Einzelne einzulaſſen, will ich einen
allgemeinen Geſichtspunkt ſuchen, aus dem die ganze
Verſchiedenheit bey unſern Seelenaͤußerungen, und be-
ſonders bey der Reproduktion der Vorſtellungen zuſam-
mengefaſſet, und mit jeder Jdee, die man ſich von dem
Sitz der Vorſtellungen und des Vermoͤgens zu repro-
duciren machen moͤchte, unmittelbar verglichen werden
kann.
2.
Die Ordnung und Folge, in der die Veraͤnde-
rungen des Organs und der Seele in uns entſtehen,
wenn Jdeen von mehrern Objekten mit einander in der
Empfindung verknuͤpfet werden, iſt das erſte, was in
Betracht gezogen werden muß, und was die Grund-
lage abgiebt zu der Jdee von der Folge, in der dieſe
Veraͤnderungen wieder erneuert werden, wenn die Ob-
jekte abweſend ſind. Wenn man es als einen Grund-
ſatz annehmen koͤnnte, „daß alles das, was bey der
„Empfindung in uns vorgehet, in derſelbigen Ordnung
„bey der Reproduktion wieder zuruͤckkehre:“ ſo ließe
ſich die Frage vielleicht noch entſcheiden, ob es die Seele
oder der Koͤrper ſey, welcher unmittelbar die Eine aſſo-
ciirte Jdee auf der andern erwecket, und alſo die unmit-
telbar reproducirende Kraft beſitze? Aber ſo iſt es nicht,
wie ſich nachher zeigen wird. Jndeſſen laͤßt ſich am be-
ſten uͤberſehen, worinn die Ordnung, in der die Re-
produktionen erfolgen, von der Ordnung in der Empfin-
dung abhaͤngt, wenn die letztere ſelbſt vorher naͤher be-
trachtet iſt.
Man nehme alſo ein Beyſpiel von Empfindungen,
wo mehrere Theile eines Ganzen nach einander uͤberſe-
hen, und dann in der Vorſtellung zu Einer Totalidee
von
[286]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
von dem Ganzen gemacht werden; wenn ich z. E. zu-
erſt den Thurm ſehe, und dann die Kirche, und dieſe
beiden Jmpreſſionen zu einer Vorſtellung von der Kir-
che mit einem Thurme, als von Einem Objekt, verbinde.
Jn allen dieſen Faͤllen iſt zuerſt eine Jmpreſſion
von dem aͤußern Objekt auf unſer Organ vorhan-
den, die von dem Objekt als von ſeiner Urſache ſo ab-
haͤngt, daß ſie ohne dieſe nicht entſtanden ſeyn wuͤrde.
Das erſte alſo, was in uns bewirkt wird, iſt eine Ge-
hirnsveraͤnderung, eine ſinnliche Bewegung in dem
Gehirn, die von außenher kommt.
Auf dieſe folget die Modifikation der Seele,
das intellektuelle Bild, wie die Alten ſagten, und
das Gefuͤhl. Denn es verſteht ſich hier, daß man
die Grundſaͤtze, welche allen dieſen Hypotheſen gemein-
ſchaftlich ſind, annehmen muͤſſe: nemlich, daß die fuͤh-
lende Seele von ihrem koͤrperlichen Organ unterſchieden
iſt, und daß ſie durch die Veraͤnderung des Organs eine
eigene Modifikation ihrer Kraft erhalte, welche als die
phyſiſche Wirkung von jener Gehirnsveraͤnderung ange-
ſehen werden kann.
So entſtehet die Jmpreſſion auf die Seele von dem
Thurm. Nun aber erfolget drittens eine neue Rich-
tung in dem Sinngliede. Wir wenden die Augen
nach der Kirche hin. Und dieſe Wendung des Organs
zu einer neuen Empfindung, die Aufmerkſamkeit im Ge-
fuͤhl, oder das Hinſehen auf das Objekt, iſt eine Wir-
kung, die von innen herausgehet, und ein gewiſſes Be-
ſtreben der Seele zum Grunde hat. Sie iſt nicht bloß
eine Veraͤnderung in der Lage des Organs. Sie iſt
zugleich auch eine Art von Eroͤffnung des Organs, in-
dem wir es dadurch gleichſam geſchickter machen, die
Eindruͤcke von außen anzunehmen. Die Faſern werden,
ſo zu ſagen, geſpannt zu der neuen Jmpreſſion, um ſol-
che beſſer zu faſſen.
Man
[287]im Menſchen.
Man wird hiebey nicht anſtoßen, wenn man nur
ſolche Faͤlle zur naͤhern Erwaͤgung ausſuchet, worinn
man mit Vorſatz und mit Bewußtſeyn von der Be-
ſchauung des Einen zur Beſchauung des Andern uͤber-
gehet. Denn freylich iſt es die meiſten Male eine Wir-
kung von zufaͤlligen Umſtaͤnden, daß uns dieß oder jenes
ins Auge faͤllt, ohne daß es eben eines Beſtrebens der
Seele beduͤrfe, um das Auge zu richten; und auch als-
denn, wenn wir von einem Objekt auf das naheliegende
mit Fleiß hinſehen, findet ſich, daß wir gemeiniglich
ſchon vorher das Ganze vorlaͤufig und fluͤchtig uͤberſehen
haben. Und noch mehr. Wir koͤnnen eigentlich nie-
mals mit Vorſatz die Augen von Einer Sache auf die
andere hinlenken, ohne ſchon eine Vorſtellung von einer
ſolchen Aktion aus unſern vorhergegangenen Empfin-
dungen zu beſitzen. Wir muͤſſen vorher ſchon inſtinkt-
maͤßig dergleichen Wendungen der Sinnglieder zu neuen
Empfindungen unternommen haben. Allein dieß alles
macht es doch im geringſten nicht zweifelhaft, daß es
nicht von einer Selbſtbeſtimmung der Seele abhange,
wenn wir mit dem Sinn auf etwas aufmerkſam ſind,
oder ihn auf ein Objekt anwenden, um es zu betrachten.
Selbſt nach dem organiſchen Syſtem des Hrn. Bon-
nets kommt ein ſolches Beſtreben der Seele dazwiſchen,
ehe auf die erſte Empfindung die zwote erfolget; nur
daß die Art, wie man nach dem letztern ſich dieſe Aktion
vorſtellen kann, etwas eigenes an ſich hat. Denn wenn
die ganze Aktion der Seele auf die Gehirnsfibern dar-
inn begraͤnzet iſt, daß ſie die einmal erregten Schwin-
gungen fortſetzen oder nachlaſſen kann: ſo koͤnnte man
auch ſagen, daß ſie, indem die eine Fiber ſchwinget,
nicht unmittelbar eine andere ſpannen, oder die erſtere
auf eine andere Art ſpannen, und alſo auch die neue
Richtung des Organs nicht zuerſt anfangen koͤnne. Es
ſey aber, daß eine Urſache im Gehirn liege, welche die
neue
[288]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
neue Richtung oder Spannung des Organs anfaͤngt:
ſo bleibet doch noch uͤbrig, daß die Seele mit ihrer Aktion
auf dieſe Fiber dazu komme, um ſolche voͤllig zu Stande
zu bringen, ſo weit naͤmlich, daß die zwote folgende
Jmpreſſion aufs Gehirn, und die intellektuelle Jdee in
der Seele zu einer klaren Empfindung wird. Man
wuͤrde dem innern Gefuͤhl Gewalt anthun, wenn man
glauben wuͤrde, das Auge des Naturforſchers, der die
Fruchttheile einer Pflanze nacheinander durchſucht, wuͤr-
de bloß durch mechaniſche Bewegungen im Gehirn ohne
Selbſtbeſtimmung der Seele auf einen Theil geheftet,
und dann von dieſem zu dem andern fortgeſtoßen.
Jſt nun viertens das Organ auf das Objekt hin-
gerichtet und zur Empfindung vorbereitet, oder iſt nur
jenes allein geſchehen: — denn wenn man auch das
letztere fuͤr keine eigene Wirkung anſehen will, die von
der Wendung des Organs unterſchieden ſey, ſo wird
dieß wenig entſcheiden; — ſo entſtehet von neuem eine
Wirkung von den aͤußern Urſachen, und eine Jmpreſ-
ſion oder ſinnliche Bewegung in dem Organ, und auf
dieſe folget wiederum die dazu gehoͤrige Jmpreſſion in
der Seele.
Die Reihe der Veraͤnderungen in den Empfindun-
gen iſt alſo folgende: Jmpreſſion von außen aufs
Organ, oder materielle Jdee; dann Seelenver-
aͤnderung oder intellektuelle Jdee; darauf Aktion
der Seele aufs Organ; alsdenn die zwote mate-
rielle Jdee in dem Organ; und dann die zwote in-
tellektuelle Jdee in der Seele.
3.
Jn der Empfindung iſt der Einfluß der aͤußern Ur-
ſache unentbehrlich, wenn die Jdee der Kirche mit der
Jdee von dem Thurm aſſociiret werden ſoll. Da dieſes
Zwiſchenglied bey der Reproduktion wegfaͤllt, ſo muß
die
[289]im Menſchen.
die Reihe der innern Veraͤnderungen unter ſich ſelbſt
in eine unmittelbare Verknuͤpfung gebracht worden
ſeyn, in welcher ſie vor der Empfindung nicht geweſen iſt.
Die Frage iſt alſo: iſt dieſe in dem Gehirn oder in der
Seele zu Stande gekommen? Nach der bonnetiſchen
Hypotheſe iſt ſie im Gehirn zwiſchen den materiellen
Jdeen, wo auch nur allein die permanenten Spuren
entſtanden ſind; nach der Erſtern iſt beides in der Seele
geſchehen.
So viel iſt alſo außer Zweifel, daß Veraͤnderun-
gen in uns, welche das erſtemal eine aͤußere Urſache er-
foderten, erneuert werden koͤnnen, ohne eine ſolche zu
haben. Warum ſoll dieſe Beſchaffenheit nur allein der
Seele, und warum nur allein dem Gehirn zukommen?
Muͤßte man annehmen, daß bey der Reproduktion
nur die aͤußern Einwirkungen ausfallen, ſonſten aber
alles in der naͤmlichen Ordnung wieder hervorkomme,
als es waͤhrend der Empfindung bewirket worden: ſo
wuͤrde folgen, daß, wo auch die bleibenden und erweck-
baren Spuren vorhanden ſeyn moͤgen, dennoch das
Vermoͤgen ſolche wieder zu erwecken der Seele
zukomme, welche unmittelbar die ſinnliche Bewe-
gung in dem Gehirn und dadurch mittelbar die intel-
lektuelle Jdee in ſich ſelbſt hervorbringet. Denn da die
zwote ſinnliche Bewegung nicht ehe auf die erſtere folgte,
als bis eine lenkende und ſpannende Aktion der Seele
auf die Fiber dazwiſchen kam: ſo iſt es auch in der Re-
produktion dieſe Spannung, wodurch die Fiber wie-
derum in ihren ehemaligen Schwung gebracht wird.
Es giebt alſo auch keinen unmittelbaren Uebergang im
Gehirn von der erſten Schwingung auf die zwote: ſo
wenig als in der Seele ein ſolcher von der erſten zu der
zwoten intellektuellen Jdee ſtatt findet.
Und bey derſelbigen Vorausſetzung kann die intel-
lektuelle Jdee in der Seele niemals anders in der
IITheil. TSeele
[290]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Seele ſelbſt erneuert werden, als nur wie eine Folge
der materiellen Jdee im Gehirn, die ſchon vorher
erneuert ſeyn muß. Wenn man hiemit nun die Hypo-
theſe verbindet, daß es allein das Gehirn ſey, welches
eigentlich Spuren der ehemaligen Veraͤnderungen auf-
behielte: ſo wuͤrde folgen, „daß zwar das Gehirn
„der Sitz der materiellen Jdeen ſey, aber daß
„dieſe doch nur durch die Kraft der Seele wie-
„dererwecket werden koͤnnen,“ und daß ſie alſo im
Gehirn zwar fuͤr Spuren ehemaliger Jmpreſſionen aber
nicht fuͤr eigentliche Vorſtellungen angeſehen werden
koͤnnten. Denn um Vorſtellungen im Gehirn zu ſeyn,
muͤßten ſie auch durch die Kraft des Gehirns wieder er-
neuert werden koͤnnen.
Es wuͤrde ferner folgen, daß die Reproduktion der
Vorſtellungen ſo ſehr von beiden, von der Seele und
von dem Gehirn, abhange, daß ſie nicht anders, als
durch beider innigſte Vereinigung moͤglich ſey. Wenn
in dem Gehirn die permanenten Spuren der ehemaligen
Jmpreſſionen ſind, ſo erfodern ſie die Aktion der Seele,
um wieder hervorzukommen, und die intellektuelle Jdee
in der Seele erfodert die Reproduktion der Gehirns-
bewegung.
Aber dieſer allgemeine Grundſatz, daß die Folge
der Modifikationen in der Reproduktion dieſelbige ſeyn
ſolle, wie ſie in den Empfindungen geweſen iſt, hat
ſo manche Beobachtungen gegen ſich, daß man ihn zu
einer Grundanlage einer neuen pſychologiſchen Hypo-
theſe nicht wohl gebrauchen kann.
Zuerſt giebt es viele Jdeen, die eine Gemuͤthsbe-
wegung zur Folge gehabt, und ſie als eine Wirkung
nach ſich gezogen haben, welche doch in der Reproduktion
nur dann erſt wiedererweckt werden, wenn ihre Wir-
kung aus andern Urſachen ſchon gegenwaͤrtig iſt. Jhrer
iſt
[291]im Menſchen.
iſt ſchon mehrmalen erwaͤhnet worden. *) Die Freude
und die Traurigkeit, die jetzo durch eine angenehme oder
widrige Nachricht erwecket wird, iſt die Veranlaſſung,
daß wir auch von neuem uns ehemaliger aͤhnlicher Em-
pfindungen erinnern, davon die Vorſtellungen ehedem
dieſelbige Affektion verurſacht haben, nun aber durch die
Aſſociation mit ihrer Wirkung als eine Folge von die-
ſer letztern erneuert werden.
Dieß findet zwar nur in Hinſicht ganzer Vorſtel-
lungen ſtatt, und es ließe ſich dabey wohl erinnern, daß
daraus noch nicht folge, daß die ehemalige Ordnung,
auch in Hinſicht der einfachen dazu erfoderlichen Thaͤ-
tigkeiten in der Seele und in dem Organ, geaͤndert ſeyn
duͤrfe. Aber auch jenes nur genommen, ſo ergiebt ſich
doch ſo viel, daß wir es nicht durchaus als eine allge-
meine Regel feſtſetzen koͤnnen, daß die Reproduktion in
jedem Falle das Vergangene in der ehemaligen Folge
wieder darſtelle. Es ſind freylich viele Beobachtungen,
bey denen dieß Geſetz vorkommt, und es gehoͤrt zu den
ſpeciellen Regeln der Phantaſie, welche die natuͤr-
liche Ordnung bey der Reproduktion beſtimmen, in der
ſie am leichteſten die Theile eines Ganzen darſtellet.
Wenn wir Sprachen leicht verſtehen, die wir doch nicht
ohne viele Muͤhe ſprechen oder ſchreiben, ſo kommt dieß
zum Theil daher, weil die Phantaſie nur gewohnt iſt,
den Gedanken mit dem Ausdruck als eine Folge von
dieſem zu erneuern, aber es nicht gewohnt iſt, von dem
Gedanken zu dem Ausdruck zuruͤckzugehen. Jnglei-
chen findet ſich, daß wir ein Gebaͤude gemeiniglich in
der Ordnung mit der Phantaſie durchgehen, daß wir
von den untern Theilen anfangen, und bey den obern
endigen; wie wir es bey den meiſten erhabenen Gegen-
ſtaͤnden zu thun pflegen, die wir mit den Augen in
T 2dieſer
[292]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
dieſer Ordnung geſehen, oder doch in dieſer Ordnung
genauer betrachtet haben. Allein es iſt auch zugleich
gewiß, daß wenn nur eine Veranlaſſung vorhanden iſt,
die unſere Phantaſie zuerſt auf die obern Theile zuruͤck-
fuͤhret, ſie eben ſo wohl die niedrigern in der Folge auf
die hoͤhern reproducire, als die hoͤhern in der Folge auf
die niedern. Die in der Empfindung entſtandene Ord-
nung kann wenigſtens auf manche Art und durch ver-
ſchiedene Urſachen in der Phantaſie umgekehret und den
Jdeen eine andere Stellung gegeben werden, ohne daß
dazu noͤthig ſey, daß auch die Jmpreſſionen in der Em-
pfindung vorher einmal in der neu gemachten Ordnung
haͤtten vorhanden ſeyn muͤſſen.
Zweytens iſt ja ohnedieß außer Zweifel, daß die
aͤußern Urſachen, die auf uns wirken, bey der Repro-
duktion aus der Reihe der wiedererneuerten Veraͤnde-
rungen ausfallen. Alſo muß in dem Menſchen, es ſey
nun in dem Organ oder in der Seele, eine Urſache vor-
handen ſeyn, welche die Stelle der aͤußern Urſachen
vertreten, und die Jmpreſſionen ohne dieſe erneuern
koͤnne. Jn uns ſelbſt gehen wir alſo von einer Vor-
ſtellung zur andern uͤber, ohne daß die aͤußere, dieſe
Jmpreſſionen auf einander hervorbringende Urſache da
iſt, die in der erſten Empfindung nothwendig dazwi-
ſchen kommen mußte.
Endlich | drittens, wenn wir es wie eine moͤgliche
Hypotheſe annehmen, daß die innern, zu einer Vor-
ſtellung gehoͤrigen Seelen- und Gehirnsveraͤnderungen
dennoch unter ſich in derſelbigen erſtern Folge wieder
kommen, ſo oft die Vorſtellung reproduciret wird: ſo
haben wir eine Hypotheſe, die als ein Mittel zwiſchen
den beiden, welche vorher einzeln unterſucht ſind, alles
und noch mehr eben ſo leicht erklaͤret, wie eine von die-
ſen, und bey der weniger Phaͤnomene uͤbrig bleiben,
die nur mit ihr zur Noth vereiniget werden koͤnnen.
Der
[293]im Menſchen.
Der erſtern der obgedachten Erklaͤrungsarten ſtehet die
große Abhaͤngigkeit der Vorſtellungen von der Organi-
ſation im Wege; dieſer nicht. Mit der letztern von
jenen laͤßt ſich die Selbſtmacht unſers Jchs uͤber die
Vorſtellungen und das Selbſtbeſtreben, wenn wir uns
auf etwas mit Fleiß beſinnen, nicht ohne Muͤhe verei-
nigen; bey dieſer mittlern Hypotheſe iſt ſolches eine
nothwendige Folge. Aber dennoch ſcheinen die unwill-
kuͤrlichen Reproduktionen (VI. 4.), die oft wider das
Beſtreben der Seele vor ſich gehen, ihr noch im Wege
zu ſtehen. Sie koͤnnen zwar mit ihr vereinigt werden,
aber es iſt keine ſo nothwendige Folge von ihr, daß der-
gleichen Beobachtungen da ſeyn muͤßten. Jn dieſen,
unwillkuͤrlich ſich aus dem Gehirn her aſſociirenden Vor-
ſtellungen liegt der vornehmſte Grund der Wahrſchein-
lichkeit fuͤr den Grundſatz in der mechaniſchen Pſycholo-
gie, daß die materiellen Jdeen im Gehirn ſich einander
erneuern, und zwar ohne Dazwiſchenkunft der Seele,
welches bey dieſer letztern Hypotheſe wegfallen muͤßte.
4.
Kann man es als wahrſcheinlich anſehen, daß die
materiellen Jdeen im Gehirn einander unmit-
telbar erregen, und ſich oft dem Beſtreben der Seele
entgegen ihr aufdringen, wenn das Gebluͤt in Wal-
lung iſt und zum Gehirn draͤnget: ſo deucht mich, es
ſey in demſelbigen Grade wahrſcheinlich, daß auch in
der Seele die intellektuellen Modifikationen ſich
einander unmittelbar erwecken, und oftmals das Ge-
hirn, auch wenn es nicht zum beſten dazu aufgelegt iſt,
in die zugehoͤrigen ſinnlichen Bewegungen verſetzen. So
viele Erfahrungen von dem Einfluſſe koͤrperlicher Urſa-
chen in den Schwung der Phantaſie das erſtere glaub-
lich machen; eben ſo viele Erfahrungen hat man von dem
Einfluſſe der ſelbſtthaͤtigen Beſtimmung unſers Jchs
T 3auf
[294]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
auf die Reproduktionen und auf den Zuſtand des Koͤr-
pers, die das letztere beſtaͤtigen. Man hat Beyſpiele,
daß eine ſtarke Seele, die ſich zu faſſen weis, ſo gar
die aus einer Krankheit entſpringenden Unordnungen der
Phantaſie bis auf einen gewiſſen Grad bezaͤhmen und
maͤßigen kann. *) Die Wirkungen, die wir davon er-
fahren, wenn die Seele ſich ſelbſtthaͤtig begreift, und
die Macht, womit ſie alsdenn Jdeen hervorzieht, wel-
che denen entgegen ſind, die das Gehirn ihr darſtellet,
und die Reihen von neuen Vorſtellungen, die wir dar-
um, weil wir ſtandhaft wollen, in uns hervorbringen
und unterhalten: dieß alles ſind eben ſo viele Data, die
uns in gleicher Maße auf den Gedanken fuͤhren, die
Seele muͤſſe ihre einmal empfangenen Modifikationen
aus ſich ſelbſt erneuern und alsdenn die entſprechende,
materielle Jdee durch ihre Aktion aufs Gehirn hervor-
ziehen koͤnnen, als umgekehrt die Macht der Phantaſie
uͤber uns auf eine wiederſchwingende Kraft des Gehirns
hinweiſet. Es gehoͤrt nicht viel Umſuchens dazu, um
jeder Art von Beyſpielen, welche das letztere wahr-
ſchein-
[295]im Menſchen.
ſcheinlich machen, andere entgegenzuſetzen, welche
die Macht der Seele uͤber das Organ darthun. Und
wenn die einzelnen Faͤlle von jenen etwan haͤufiger ſind,
als von dieſen, ſo iſt ſolches leicht zu begreifen, da das
letztere einen hoͤhern Grad der Selbſtthaͤtigkeit der Seele,
das iſt, eine hoͤhere Geiſtesſtaͤrke erfodert, warum ſo
wenig Menſchen ſich mit dem anhaltenden Eifer be-
werben und bewerben koͤnnen, mit dem ſie nur erlanget
werden kann, wenn ſie mehr als Temperament und
Gehirnsſtaͤrke ſeyn ſoll, die nur ihr Analogon iſt.
Hieraus folget, wenn es wahrſcheinlich iſt, daß in dem
Organ eine Aſſociation der ſinnlichen Bewegungen zu
Stande kommt, ſo ſey es auch wahrſcheinlich, daß in der
Seele die intellektuellen Jdeen auf aͤhnliche Weiſe
aſſociirt, und in der Seele wie jene im Gehirn an
einander gefuͤget werden, daß ſie ſich unmittelbar er-
neuern koͤnnen, ohne daß die Aktion des andern Theils
erfodert werde, welche anfangs dazwiſchen kam.
Aber dieß vorausgeſetzt, ſo iſt es nothwendig, daß
ſowol in der Seele ſelbſt, als in dem Gehirn Spuren
von den ehemaligen Modifikationen aufbewahret wer-
den. Wie das Gehirn durch die erſten Jmpreſſionen
in der Empfindung eine Diſpoſition empfangen muß,
leichter auf dieſelbige Art ſich zu bewegen, weil ſonſten
auf eine ſinnliche Bewegung unmittelbar keine andere
folgen koͤnnte, ohne daß aus der Seele her ein Beſtre-
ben oder Antrieb dazwiſchen ſtehe: ſo muß aus dem-
ſelbigen Grunde in der Seele eine permanente Folge
von der erſten Jmpreſſion zuruͤckgeblieben ſeyn, weil es
ſonſten unmoͤglich waͤre, daß dieſe erneuert werden koͤnn-
te, ohne durch die Aktion der wiedererneuerten Fiber-
ſchwingung.
So wenig als die wiedererneuerte Gehirnsbewe-
gung eine Vorſtellung iſt, von der wir wiſſen koͤn-
nen, daß ſie da iſt, wenn nicht auch das Gefuͤhl derſelben,
T 4und
[296]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
und alſo die entſprechende intellektuelle Jdee in der Seele,
erneuert wird; eben ſo wenig kann die Seele es wiſſen,
daß ſie eine Vorſtellung reproducirt habe, wenn nicht
außer der intellektuellen Jdee auch die dazu gehoͤrige
Bewegung im Gehirn vorhanden iſt und gefuͤhlet
wird.
Wenn man aus allen dieſen die Jdee herauszieht,
auf welche die verſchiedenſten Beobachtungen als auf
einen Mittelpunkt zuſammenlaufen: ſo deucht mich, —
jedoch ſey dieß ſo geſagt, wie man es ſagt, wenn man
lebhaft fuͤhlet, wie dunkel alles herum iſt, und wie
leicht man mit der Vermuthung irren koͤnne! — man
komme auf eine Hypotheſe, die ob ſie gleich zuſammen-
geſetzet zu ſeyn ſcheinet, doch in der That einfoͤrmig iſt,
und allen Phaͤnomenen auf die leichteſte Art eine Gnuͤge
thut. Von dieſer will ich die Grundzuͤge herſetzen.
Sowol in der Seele ſelbſt, als in dem Gehirn
oder dem innern Organ der Seele, bleiben Spuren
zuruͤck, theils von den Jmpreſſionen, die wir von
außen erhalten, theils auch von den uͤbrigen Modifika-
tionen, die durch innere Urſachen hervorgebracht werden,
und die wir vermittelſt des Selbſtgefuͤhls erkennen.
Da man dergleichen in dem Gehirn, als einem or-
ganiſirten Koͤrper, ſo leicht zugiebt: was hat es denn fuͤr
beſondere Schwierigkeiten, ſich vorzuſtellen, daß ſie
auch in der Seele ſelbſt ſeyn koͤnnen? Sind ſie in dem
Gehirn, ſo fuͤhren ſie doch am Ende auf gewiſſe Mo-
difikationen der einfachen Weſen zuruͤck, woraus das
Gehirn beſtehet. Wir moͤgen ſie uns wie Diſpoſitio-
nen, Tendenzen oder wirkliche, zuſammengezogene, ge-
ſchwaͤchte Bewegungen vorſtellen, oder wie wir wollen,
ſo iſt eine Luͤcke in dem Syſtem, wenn man nicht an-
nimmt, daß auch unſer Jch dergleichen in ſich habe,
wie oben (VII. 8.) iſt erinnert worden. Jſt die Seele eine
von dem Gehirn unterſchiedene, fuͤr ſich beſtehende,
ſub-
[297]im Menſchen.
ſubſtanzielle Einheit, und dieß iſt hier ein Grundſatz,
ohne den es faſt thoͤricht ſeyn wuͤrde, auf dieſe Erklaͤ-
rungsarten zu denken: warum koͤnnte nicht in ihr und
in ihrer Kraft, als in Einem Subjekt, eine dergleichen
Mannichfaltigkeit von Beſchaffenheiten gedacht werden?
Sie iſt doch nicht bloß die ſubſtanzielle Kraft des Ge-
hirns, wenn ſie ein eigenes fuͤr ſich beſtehendes Weſen
iſt. Wenn es denen, die nicht Metaphyſiker ſind, et-
wan zu ſchwer ankommt, ſich in dem Einfachen eine
Mannichfaltigkeit vorzuſtellen, ſo ſteht es ihnen frey,
dieſem Dinge eine ideelle Ausdehnung beyzulegen,
wodurch die ſinnliche Vorſtellung in der Phantaſie er-
leichtert wird.
„Sowohl in der Seele, als in dem Gehirn,
„kommt eine ſolche Aſſociation der nachgebliebenen
„Spuren zu Stande, daß ſie ſich einander unmittel-
„bar erneuern koͤnnen.“ Die Seele kann von einer
intellektuellen Jdee zu der andern in ihr uͤbergehen, ohne
daß ein Eindruck von dem Gehirn dazwiſchen komme;
und im Gehirn kann eine Schwingung die andere her-
vorziehen, ohne daß die Seele durch ihre Aktion ſie er-
regen duͤrfe.
Wenn eine materielle Jdee im Gehirn erneuert
wird, ſo erfolgt wegen der Vereinigung des Organs
mit der Seele, und ihrer ununterbrochenen Wirkung
und Ruͤckwirkung auf einander die intellektuelle Vor-
ſtellung in der Seele; und alsdann iſt eine ganze Vor-
ſtellung da, die als gegenwaͤrtig gefuͤhlt und gewahr-
genommen werden kann. Aber die Jdee in der Seele
wird mehr oder minder entwickelt, je nachdem die Seele
ſelbſt minder oder mehr ſich der Aktion des Gehirns
uͤberlaͤßt, und ihre Kraft ſelbſtthaͤtig anwendet, die
geiſtige Modifikation ihrer Kraft anzunehmen. Aeuſ-
ſert die Seele dagegen ein Beſtreben, eine andere in-
tellektuelle Jdee hervorzuziehn, und mit dieſer die ihr
T 5entſpre-
[298]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
entſprechende Gehirnsbeſchaffenheit, und hat ſie Staͤrke
genug, dieß Beſtreben zur vollen Aktion zu bringen:
ſo kann die Wirkung der erſtern materiellen Gehirns-
bewegung auf ſie nur ſchwach und unendlich geringe
ſeyn. Wie viele von den Gehirnsſchwingungen moͤgen
nicht wohl wiedererneuert werden, ohne daß ſie zugleich
in der Seele die dazu gehoͤrigen materiellen Jdeen in der
Maße hervorbringen, daß eine klare und beobacht-
bare Vorſtellung zu Stande kommt?
Wiederum, wenn die Seelenbeſchaffenheit in der
Seele ſich entwickelt, ſo erfolget auch durch die ununter-
brochene Aktion der Seele aufs Gehirn die ihr entſpre-
chende ſinnliche Bewegung in dieſem, und es entſteht
eine Vorſtellung, die gewahrgenommen werden kann;
um deſto mehr, deſto leichter und geſchwinder, je mehr
das Gehirn aufgelegt iſt, die dazu gehoͤrigen ſinnlichen
Bewegungen zu erneuern, und je weniger andere Ur-
ſachen andere entgegengeſetzte Schwingungen veranlaſ-
ſen. Wie viele innere Aktionen mag die Seele wohl
bey ſich ſelbſt vornehmen, und wie oft wohl in ihrem
Jnnern wirkſam ſeyn, Jdeen zuſammenſetzen und
trennen, ohne daß wir um dieſe einzelnen Aktionen et-
was wiſſen, weil wir ſie nicht fuͤhlen koͤnnen?
Dieſe Hypotheſe erklaͤrt die Aeußerungen der Seele
von allen Seiten; ſie laͤßt uns des Menſchen Groͤße und
Schwaͤche begreifen; begreifen, wie wenig die Seele
ohne Koͤrper iſt, und wie ſehr ſie von allen Urſachen
abhaͤngt, die in jenen einen Einfluß haben; und auch
auf der andern Seite, wie wenig das Gehirn ohne
Seele iſt, und wie ſehr es von den Urſachen abhaͤngt,
die auf die Seele wirken. Sie macht den Unterſchied
zwiſchen unwillkuͤrlichen Vorſtellungen und zwiſchen
denen, die von unſerer Selbſtbeſtimmung abhangen,
begreiflich; und erklaͤret, wie zwiſchen der Staͤrke des
Gehirns und der Staͤrke der Seele, ſo unentbehrlich
die
[299]im Menſchen.
die eine zu der andern iſt, und ſo innig ſie einander be-
gleiten, dennoch ein Unterſchied vorkomme, der in den
innern Empfindungen ſich unmittelbar bemerklich macht.
Mit einem Wort, dieſe Hypotheſe haͤngt mit allem
dem zuſammen, was uns bisher von der Natur unſers
Seelenweſens aus Beobachtungen bekannt iſt.
Beweiſe, daß dieſe Vermuthung mehr als Ver-
muthung ſey, weiß ich nicht. Aber um doch ſo viel
als moͤglich zu ihrer Beſtaͤtigung aufzuſuchen, habe ich
uͤber die thieriſche Natur bey dem Menſchen eine Be-
trachtung angeſtellet, aus der ein analogiſcher Beweis
fuͤr ſie gefuͤhret werden kann. Dieß hat die folgende
Digreſſion veranlaſſet.
IX.
Verſuch aus der Analogie der Seelennatur des
Menſchen mit ſeiner thieriſchen Natur, die
Einrichtung der erſtern aufzuklaͤren.
Erſte Abtheilung.
- 1) Worinn die Analogie der Seelennatur
und der thieriſchen Natur in dem Men-
ſchen beſtehe? Weſentliche Beſtandtheile
der thieriſchen Natur. - 2) Wie die Seelenkraft mit der Koͤrper-
kraft in der thieriſchen Natur in Vereini-
gung bey den thieriſchen Bewegungen
wirke. Die thieriſchen Bewegungen haben
eine Verbindung mit einander in dem Koͤr-
per, und auch eine vermittelſt der Seele. - 3) Fragen uͤber die beſtimmte Art dieſer Zu-
ſammenwirkung. Wie weit die Seelen-
kraft
[300]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
kraft die Koͤrperkraͤfte und dieſe jene erſe-
tzen koͤnnen? - 4) Von den bloß organiſchen Bewegungs-
reihen. Einige ſind natuͤrlich nothwen-
dig; andere ſind zufaͤllig entſtanden. - 5) Es aſſociiren ſich organiſche Bewegungen
in dem Koͤrper, wie Vorſtellungen in der
Seele. - 6) Charakter der bloß organiſchen Bewe-
gungsreihen. - 7) Wie weit die Seele bey dieſen mitwirke,
und ihre Verbindung von der Seelenkraft
abhange? - 8) Fortſetzung des vorhergehenden.
- 9) Von den willkuͤrlich aſſociirten Bewe-
gungen. - 10) Wie weit es organiſche Aſſociationen
in dem Koͤrper gebe, die zu den willkuͤrli-
chen Reihen gehoͤren; und ob die organi-
ſchen Reihen, ohne Beywirkung der Seele,
durch die Koͤrperkraͤfte hervorgebracht wer-
den koͤnnen? - 11) Wie weit die Aktion der Seele und der
Koͤrperkraͤfte ſich hiebey einander modificiren;
und wie ferne die Bewegungsreihen durch
die letztern allein, oder durch die Seele
allein, erfolgen koͤnnen? - 12) Von den uͤbrigen Bewegungsreihen, die
zum Theil willkuͤrlich, zum Theil bloß or-
ganiſch ſind.
13) Ob
[301]im Menſchen.
- 13) Ob es der Analogie der Natur gemaͤß ſey,
die Jnſekten und andere unvollkommene
Thiere fuͤr ſeelenloſe Weſen zu halten?
Von dem Uebergange von beſeelten zu un-
beſeelten Weſen.
1.
Bey der thieriſchen Natur des Menſchen, die ihm
inſofern zukommt, als er ein aus dem Seelen-
weſen und aus einem organiſirten Koͤrper zuſammenge-
ſetztes Ganze iſt (oben I.), ſind freylich noch ſo manche
Dunkelheiten zuruͤck, daß, wenn wir aus der Analogie
derſelben mit der Natur des Seelenweſens uns die
Einrichtung des letztern begreiflicher zu machen ſuchen,
dieß anfangs den Schein haben kann, als wollte man
in einer unergruͤndlichen Tiefe einen feſten Boden ſuchen,
von dem man in eine andere Tiefe hinabſteigen koͤnne.
Wer kennt die Natur der organiſchen Kraͤfte in dem
Koͤrper, oder der Nervenkraͤfte, und ihre innige
Verbindung mit der Seele, als dem vorſtellenden und
denkenden Weſen? Und da man dieſe nicht kennet:
ſo ſcheint ſolche auch nicht gebraucht werden zu koͤnnen,
um die Art der Verbindung zwiſchen den beiden we-
ſentlichen Beſtandtheilen des Seelenweſens ſich vorſtel-
lig zu machen. Aber dennoch hat der Fleis der ſcharf-
ſinnigen Phyſiologen und Aerzte, (und ich habe ſchon
vorhin geſagt, wie hoch ich beſonders die Bemuͤhun-
gen des Hrn. D. Unzers ſchaͤtze, die er in ſeiner klaſ-
ſiſchen Schrift, der Phyſiologie der thieriſchen
Natur, angewendet hat;) etwas entdecket, das ſo be-
ſchaffen iſt, daß, wenn wir die beiden Seiten des See-
lenweſens nur auf dieſelbige Art zu beobachten Gelegen-
heit| haͤtten, wir wenigſtens uͤber die vorgedachten Hy-
potheſen von dem Sitze der Vorſtellungen und der
Phan-
[302]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Phantaſie zu einiger ziemlichen Wahrſcheinlichkeit ge-
langen wuͤrden, ob gleich immer noch in andern Hin-
ſichten die Vereinigung des Jchs mit ſeinem Organ ein
verſtecktes und vielleicht nie zu enthuͤllendes Geheimniß
bleiben mag. Man hat Gelegenheiten gehabt, die
thieriſche Natur unter Umſtaͤnden zu beobachten, wo es,
wenn nicht voͤllig evident, doch ſehr wahrſcheinlich iſt,
daß nur Einer ihrer weſentlichen Theile bey ihren Aeuſ-
ſerungen wirkſam war. Was die Seele ohne Koͤrper
in Hinſicht ſolcher Wirkungen vermag, die das Zuthun
von beiden erfodern, das konnte man haͤufig genug be-
obachten; nur gab dieß allein nicht Licht genug. Aber
man hat nachher auch Erfahrungen gehabt von dem,
was der Mechanismus des Koͤrpers in Hinſicht derſel-
bigen Wirkungen ausrichtet, wo man gewiß iſt, daß
die vorſtellende und wollende Seele keinen Antheil dar-
an haben, und das Jhrige wie ſonſten nicht beytragen
konnte. Und dieſe Fakta zeigen auf eine naͤhere Art,
wozu jeder der gedachten beiden Beſtandtheile der thie-
riſchen Natur, allein fuͤr ſich, vermoͤgend ſey. Da dieß
es eben iſt, was wir vor der Hand nur bey der Seelen-
natur in Hinſicht der Vorſtellungen aufſuchen, ſo
oͤffnet ſich hier allerdings eine Ausſicht vor uns, wenn
wir glauben, der Analogie nachgehen zu duͤrfen. Viel-
leicht iſt es nur ein matter Schimmer, der durchfaͤllt;
aber auch dieſer iſt doch ein willkommenes Licht, wo es
ſonſten ſtockfinſter iſt.
Die Analogie der Seelennatur und der thieri-
ſchen Natur im Menſchen iſt der Standort, von dem
die Betrachtung ausgehen ſoll. Hiebey aber will ich
in Hinſicht auf dasjenige, was ich von der letztern, als
nunmehr zu einer phyſiſchen Gewißheit gebrachten, und
aus Beobachtungen hoͤchſtwahrſcheinlich gefolgerten Ein-
ſicht anfuͤhren werde, mich uͤberhaupt auf die mehrge-
dachte Unzerſche Phyſiologie, und auf die von
Herrn
[303]im Menſchen.
Herrn Unzern gebrauchte Halleriſche Phyſiologie
beziehen. Wo es auf Beobachtungen ankommt, die
auf Zeugniſſen beruhen, da habe ich mich bemuͤhet, ſo
weit ich gekonnt, zu den erſten Augenzeugen zuruͤckzu-
gehen. Allein ich will hiemit nicht ſagen, daß ich in
dem ganzen Lehrbegriffe mit dem Hrn. Unzer voͤllig
uͤbereinſtimme. Jch gebrauche eigentlich nur ſeine Be-
obachtungen, und die aus dieſen gezogenen Allgemein-
ſaͤtze, die mir als ſolche vorkommen, denen man eine
phyſiſche Gewißheit zuſchreiben koͤnne. Ueberhaupt iſt
zu bedenken, daß nur die erſten Linien in unſrer Wiſ-
ſenſchaft von der thieriſchen Natur gezogen, und dem
Fleiße der kuͤnftigen Beobachter noch das meiſte uͤber-
laſſen ſey; indem theils hie und da die Anzahl der Bey-
ſpiele noch unzulaͤnglich zu ſeyn ſcheint, allgemeine Saͤ-
tze darauf zu bauen; theils auch noch an vielen die ge-
nauern Beſtimmungen fehlen, ohne welche ſie nur Halb-
wahrheiten ſeyn koͤnnen, worauf ich ſelbſt in dem Fol-
genden bey einigen von ihnen aufmerkſam zu machen ſu-
chen werde.
Die Seelennatur der Menſchen beſtehet aus der
Verbindung zweyer Weſen und Kraͤfte; aus der Seele
naͤmlich im pſychologiſchen Verſtande, oder dem unkoͤr-
perlichen Jch, und aus dem Vorſtellungswerkzeuge.
Beide wirken in Vereinigung mit einander, und eine
Seelenaͤußerung, die beobachtet und unterſucht worden,
iſt eine Wirkung des ganzen Seelenweſens, und iſt in
dieſem Ganzen, ſo, daß beide Arten von Kraͤften, die
Kraft der Seele, und die koͤrperlichen Kraͤfte des Organs
oder des Gehirns, das Jhrige dazu beytragen.
Nun iſt die thieriſche Natur des Menſchen auf
eine aͤhnliche Art etwas zuſammengeſetztes, davon die
Seele im phyſiologiſchen Verſtande, das iſt, das
geſammte fuͤhlende, vorſtellende, denkende und wollende
Weſen den Einen, und der organiſirte Koͤrper mit
Nerven-
[304]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Nerven- und Muskelkraͤften, das iſt, der ganze thie-
riſche Koͤrper mit allen ſeinen innern und aͤußern
Theilen, nur das Vorſtellungswerkzeug ausgenommen,
den zweeten weſentlichen Beſtandtheil ausmachet. Der
organiſirte Koͤrper hat vermoͤge der Organiſation ſeine
eignen koͤrperlichen Kraͤfte; und die Seele hat die ihrigen,
die man Vorſtellungskraͤfte, oder mit Hrn. Unzer
Seelenkraͤfte nennen kann, ſo wie jene im Gegenſatz
Nervenkraͤfte; obgleich die eigentlichen Nervenkraͤfte,
die von beſonderer Natur ſind, noch wiederum von den
bloß mechaniſchen Kraͤften, das iſt, von ſolchen,
die wir auch bey unorganiſchen Koͤrpern und Materien
antreffen, unterſchieden werden koͤnnen, und auch in
gewiſſen Hinſichten unterſchieden werden muͤſſen. Zu
jenen gehoͤren die Empfindlichkeit in den Nerven
und die Reizbarkeit in den Muskeln, die uns zur Zeit
noch ſehr unbekannt, und groͤßtentheils bloß Eigenſchaf-
ten der Thiere ſind; obgleich allerdings auch einigen
Pflanzen, und einigen Theilen anderer Pflanzen, ein
gewiſſer Grad davon zuzukommen ſcheinet. *) Die
Wirkungen aller dieſer koͤrperlichen Kraͤfte aber, ſie moͤ-
gen bloß mechaniſche ſeyn, oder aus der Organiſation
entſpringen, oder nur der vollkommnern Organiſation
der thieriſchen Koͤrper eigen ſeyn, beſtehen bey dem
Menſchen uͤberhaupt theils in Bewegungen, die ſie in
dem Koͤrper hervorbringen, und theils in den innern
Jmpreſſionen, die ſie der Seele zufuͤhren, wodurch
dieſe ihrer Natur gemaͤß modificiret und zur Thaͤtig-
keit erreget wird.
Hier
[305]im Menſchen.
Hier haben wir alſo die Analogie der Seelen-
natur mit der thieriſchen. Was in jener die un-
koͤrperliche einfache Seele iſt, das iſt in dieſer das ganze
Seelenweſen; und was in jener das Seelenorgan iſt,
das ſind in dieſer die Kraͤfte des organiſirten Koͤrpers
und beſonders die Nervenkraͤfte. Jn der Seelenna-
tur wirket das Jch mit ſeinem koͤrperlichen Organ in
Verbindung, und die Wirkungen ihrer vereinigten
Kraft ſind theils Seelenveraͤnderungen, theils ſinnliche
Bewegungen in dem Organ; in der thieriſchen Na-
tur wirket das Seelenweſen mit ſeinem organiſirten Koͤr-
per in Verbindung, und die Wirkungen davon ſind
theils Veraͤnderungen des Seelenweſens ſelbſt,
theils thieriſche Bewegungen in dem Koͤrper, und
zu beiden Arten dieſer Wirkungen kommen die beiden
Grundkraͤfte der thieriſchen Natur zuſammen. Beide
wirken, wenn Empfindungen und Triebe in der Seele
entſtehen, und beide wirken vereiniget, wenn thieriſche
Bewegungen in dem Koͤrper erfolgen. Aber da dieſe
Zuſammenwirkung nur von der Seite zu betrachten iſt,
wo ſie uns zu einem analogiſchen Begriffe von dem Kon-
kurs der Seele zu den Veraͤnderungen des Seelenweſens
fuͤhren kann: ſo wird man ſie am meiſten nur von der-
jenigen Seite anzuſehen haben, an der die thieriſchen
Bewegungen in dem Koͤrper von ihr abhangen. Sie
iſt auch an dieſer Seite, wenn nicht uͤberhaupt etwas
mehr bekannt, als an der andern, wo ſie Veraͤnde-
rungen in dem Seelenweſen hervorbringet: doch durch
einige neuern Beobachtungen in ſo ferne etwas bekann-
ter geworden, daß ſich zu unſerer Abſicht aus ihr etwas
folgern laͤſſet. Da Seelenkraͤfte und Nervenkraͤfte ſich
zu thieriſchen Bewegungen vereinigen: ſo hat es ſich ge-
zeigt, daß faſt dieſelbigen oder doch aͤhnliche Wirkun-
gen erfolgen, wo Eine oder die andere Art derſelben ih-
ren gewoͤhnlichen Beytrag nicht geleiſtet hat; und daß
IITheil. Uda,
[306]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
da, wo ſonſten nur Eine allein oder doch vornaͤmlich
zu wirken pfleget, zuweilen die andere jener ihrer Stelle
in etwas erſetzen koͤnne. Dieß iſt es eben, was uns
uͤber die Art ihrer Verbindung etwas naͤheres ſehen, und
wovon ſich der Aehnlichkeit wegen auf eine gleiche Be-
ziehung der Seele auf ihr Organ in der Seelennatur,
etwas wahrſcheinliches folgern laͤßt.
2.
Wenn von aͤußern Gegenſtaͤnden Eindruͤcke auf un-
ſern Koͤrper, es ſey unmittelbar auf die empfindlichen
Nerven oder auf die reizbaren Muskeln gemacht wer-
den; die Reizbarkeit mag von der Empfindlichkeit der
Nerven urſpruͤnglich abhangen, oder eine eigene hetero-
gene Grundkraft ſeyn, wie ſie in den Beobachtungen er-
ſcheint: ſo erfolgen auf die von außen auffallenden Ein-
druͤcke ganze Reihen von Veraͤnderungen und Bewegun-
gen, die innerhalb des Menſchen vor ſich gehen, und
von denen hier beſonders diejenigen in Betracht zu zie-
hen ſind, die ſich mit einer koͤrperlichen Bewegung en-
digen, welche man als das letzte Glied in ſolchen Rei-
hen anſehen kann. Jch ſehe unvermuthet einen Stein
vom Dach auf mich zufallen, und hoͤre dieſen Schall;
ich fahre zuſammen und ſpringe aus dem Wege. Hier
haben wir eine ſolche Reihe von Veraͤnderungen, die
mit einer Jmpreſſion auf die Nerven des Geſichts
und des Gehoͤrs anfieng, und ſich mit der Bewegung
endigte, mit der ich wegſprang. Alsdenn beſinne ich
mich wieder, und es entſtehet eine neue Reihe. Ferner:
eine Arzney kommt in den Magen und wirket; und
es erfolget eine Ausleerung. Dieß iſt wiederum eine
Reihe von Veraͤnderungen, die ſich von der Aktion ei-
ner aͤußern Urſache auf den Koͤrper anfaͤngt, und da-
von das letzte Glied, als ihr Ende, eine Bewegung in
dem Koͤrper iſt.
Solche
[307]im Menſchen.
Solche Reihen von Veraͤnderungen machen gleich-
ſam einen Fluß aus, der an den Stellen in den Koͤrper
hineintritt, wo der erſte Eindruck geſchieht, und da
wiederum herausgehet, wo die letzte Bewegung erfolget,
die ſie beſchließet. Die Nerven ſind die Kanaͤle deſſel-
ben in dem Koͤrper, oder doch die vornehmſten von die-
ſen. Jede unterſchiedene Reihe nimmt ihren eigenen Weg,
der aber den Lauf einer andern Reihe durchſchneiden,
ſich mit der letztern vereinigen, auch nur auf eine Stre-
cke fort mit ihr zuſammenfließen, und ſich nachher wie-
der von ihr trennen kann.
Eine ſolche Reihe kann gaͤnzlich innerhalb des orga-
niſirten Koͤrpers liegen, und alsdenn iſt ſie eine Rethe
bloß koͤrperlicher Veraͤnderungen. Der Eindruck
ſteiget, um auf des Hr. Unzers Art mich auszudru-
cken, in den Nerven hinauf bis an einen oder den andern
Nervenknoten, und wendet ſich von da zu einem andern
Nerven hin, bis in die Theile der Maſchine, worinn die
letzte Bewegung hervorgebracht wird. Solch ein Durch-
gang ſetzet gewiſſe thaͤtige Kraͤfte in den Faſern und Fi-
bern voraus, welche koͤrperliche Kraͤfte ſind. Wie die-
ſe aber beſchaffen ſind, und wie es uͤberhaupt bey dieſer
Mittheilung und Fortpflanzung der Bewegungen zugehe,
und nach welchen Geſetzen ſie erfolgen, da ſie den Geſe-
tzen der gemeinen Mechanik nicht unterworfen ſind, ſo
weit wir ſie bis jetzo kennen, das gehoͤret hier nicht her
weiter zu unterſuchen.
Wenn aber ein Eindruck von außen auch Gefuͤhl
und Empfindung und Kraftbeſtimmung in der Seele
erreget, ſo iſt auch eine Reihe von Veraͤnderungen da,
die bis zum Gehirn hinauf, und durch und uͤber die
Seele gehet. Dieſe kann kuͤrzer und laͤnger ſeyn; aus
einer Jmpreſſion auf die Seele, und aus einer Zuruͤck-
wirkung der Seele auf das Organ beſtehen, worauf
denn ein neuer Druck gegen den Koͤrper folgen muß;
U 2oder
[308]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
oder auch weiter in der Seele herumgehen, naͤmlich zu-
erſt eine Empfindung bewirken, dann die Vorſtellungs-
kraft und das Ueberlegungsvermoͤgen erwecken, und nach
einer Reihe von Ueberlegungen eine Willensaͤußerung her-
vorbringen. Ueberhaupt aber faͤngt jede ſolche Reihe,
ſo weit ſie in der Seele iſt, mit einer Jmpreſſion auf
die Seele an, und muß, woferne ſie von einigem Ein-
fluß auf die nachher im Koͤrper erfolgenden Veraͤnderun-
gen ſeyn ſoll, ſich mit einer Aktion der Seele auf den
Koͤrper endigen, welche in einer Anwendung ihrer thaͤ-
tigen Kraft beſtehet. Denn wenn ſie bloß angenommen
und gefuͤhlet, auch wohl uͤberdacht wird, ohne daß eine
Veraͤnderung im Koͤrper von dem Zuthun der Seele
erfolget: ſo verhaͤlt die Seele ſich bey ihr bloß wie ein
muͤßiger Zuſchauer, auf den nicht zu rechnen iſt, wenn
die phyſiſchen Verknuͤpfungen zu unterſuchen ſind.
Es eraͤugnet ſich oft genug, daß die Seele eine Be-
wegung hervorbringen will, und ſich dazu bemuͤhet, die
dennoch auf ihr Beſtreben nicht erfolget. Aber wir koͤn-
nen dieſe Faͤlle hier uͤbergehen und nur auf ſolche Ruͤck-
ſicht nehmen, wo das geſchieht, wenigſtens zum Theil
geſchieht, was die Seele will, und wohin ſie ihre Kraft
anwendet; und wo alſo der Erfolg zum Theil als eine
Wirkung von ihrer bewegenden Kraft abhanget. Jn
der Seele ſelbſt machen die Jdeenreihen in dieſen Faͤllen
gleichſam die Leiter aus, uͤber und durch welche die
Fortpflanzung geſchieht, wie die Nerven in dem Koͤrper
bey den Bewegungen. Und dieſelbige Jmpreſſion oder
Empfindung in der Seele kann mit demſelbigen Wollen,
oder mit derſelbigen Kraftaͤußerung auf den Koͤrper,
durch mehrere verſchiedene Jdeenreihen verbunden ſeyn,
und auch hier bald uͤber einen laͤngern bald einen kuͤrzern
Weg fortgehen.
Um den allgemeinen Geſichtspunkt, aus dem ich
die Sache vorſtellen will, deſto mehr zu beſtimmen,
wollen
[309]im Menſchen.
wollen wir zunaͤchſt auf ſolche Bewegungen ſehen, die
wir unter dem Namen der thieriſchen unterſcheiden,
weil wir aus dem Gefuͤhl es zu wiſſen glauben, daß ſie
von den vereinigten Seelen- und Koͤrperkraͤften abhan-
gen. Diejenigen, die zuverlaͤßig bloß mechaniſch oder
organiſch mit ihrem erſten Reiz in Verbindung ſtehen,
ſollen nachher vorgenommen werden. Sehen wir alſo
die ganze Reihe der Veraͤnderungen durch, von dem Ein-
drucke an, der ſie zuerſt erreget, bis auf die letzte Bewe-
gung, die ſie beſchließet: ſo muß zwar zwiſchen dieſen
eine Verbindung und Mittheilung ſtatt finden, die uͤber
das Gehirn und durch die Seele gehet; und durch die-
ſen Weg wird ſie gefuͤhrt, ſo oft ſie thieriſch verrichtet,
das iſt, durch den Einfluß der Seele beſtimmt wird.
Aber wir koͤnnen uns als moͤglich vorſtellen, daß
der erſte Theil einer ſolchen Reihe, den man den hin-
eingehenden nennen kann, mit dem folgenden, der
wieder herausgehet, auf eine zweyfache Art verbunden
ſey, und gleichſam durch zween Kanaͤle in den letzten uͤber-
gehen koͤnne, davon Einer ganz allein in dem Koͤrper
lieget, außer der vorftellenden und wollenden Seele,
der andere aber uͤber die Seele gehet. Die beiden Ver-
aͤnderungsreihen moͤgen nun in allen ihren Gliedern, die
zwiſchen dem erſten und dem letzten liegen, von einan-
der unterſchieden ſeyn, oder auch beide ſo weit ſie in den
Koͤrper fallen dieſelbigen ſeyn, ſo daß diejenige, wel-
che uͤber die Seele gehet, nur bey dem Eintritt in die-
ſelbe, das iſt, bey der Empfindung von der zwoten ab-
weichet, und wiederum bey dem Austritt aus der See-
le, das iſt da, wo die Bewegungskraft der Seele ſich
auf den Koͤrper aͤußert, mit ihr ſich vereiniget. Die ſo
gleich anzufuͤhrenden Beobachtungen lehren, daß man
ſich auf dieſe Art die Sache vorſtellen koͤnne, ja faſt vor-
ſtellen muͤſſe. Denn wenn man nur eine Verbindung
allein mittelſt der Seele bey den thieriſchen Reihen an-
U 3nehmen
[310]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
nehmen wollte: ſo wuͤrde dasjenige ſich nicht zeigen koͤn-
nen, was bey verſchiedenen nunmehro außer Zweifel ge-
ſetzet iſt; wenn aber eine ſolche zweyfache Verbindung
angenommen wird: ſo kann die thieriſche Bewegung,
die auf einen Eindruck erfolget, entweder allein mit-
telſt der Seele verbunden ſeyn, oder auch auf beide Ar-
ten zugleich, ſo daß die Mittheilung durch den Weg ge-
het, der gaͤnzlich in dem Koͤrper lieget, und zugleich
auch durch den, der uͤber die Seele gehet, und bey je-
nem von der Aktion der Koͤrperkraͤfte, bey dieſem von
der Seelenkraft abhaͤnget. Jn ſolchen Faͤllen aber, wo
die hineingehende Bewegung, die auf einen aͤußern Ein-
druck erfolget, mit der herausgehenden Bewegung,
nur allein in dem Koͤrper, ohne durch die Seele zu ge-
hen, verbunden iſt, da erfolget ſie bloß organiſch;
und wenn ſie ſonſten eine thieriſche Veraͤnderung iſt,
ſo wird ſie alsdenn doch nicht thieriſch, das iſt, durch
die thieriſche Natur, ſondern allein durch die Organiſa-
tion des Koͤrpers hervorgebracht.
Nun hat man Beobachtungen von Thieren, die
des Kopfs und des Gehirns, und wie man alſo mit
Wahrſcheinlichkeit annehmen kann, auch zugleich der
Seele beraubt geweſen ſind, und demunerachtet auf
gewiſſe ſinnliche Eindruͤcke auf den Koͤrper gewiſſe Be-
wegungen hervorgebracht haben, die ſonſten thieriſch
ſind, oder nach unſern ſonſtigen Erfahrungen dafuͤr ge-
halten werden muͤſſen, ſo daß es, wenn nicht die offen-
bare Beobachtung es lehrte, ſchwer ſeyn wuͤrde zu
glauben, daß ſie anders als mittelſt des Gehirns und
der Seele erfolgen koͤnnten. So kriechet, um nur ein
paar Beyſpiele zur Erlaͤuterung anzufuͤhren, eine
Schildkroͤte noch lange Zeit fort und lebet, nachdem ihr
der Kopf abgeſchnitten worden iſt. Enthauptete Flie-
gen putzen ſich noch mit ihren Vorderfuͤßen, gerade ſo,
als wenn der Kopf noch an ſeiner Stelle ſaͤße, und flie-
gen
[311]im Menſchen.
gen davon. Den Grillen nimmt man den Kopf ab,
und dennoch locken ſie durch das Schwirren ihrer Fluͤ-
gel einander zur Begattung, und gewiſſe Schmetterlin-
ge ſollen ſich ſogar, einer aͤhnlichen Beraubung unerach-
tet, wirklich begatten, wenn ſie nur vorhero, welcher
Umſtand hier wohl zu bemerken iſt, dergleichen ſchon
mehrmalen in dem Leben verrichtet, und alſo dieſer
Handlung gewohnt ſind. Wenn der Kopf des Thiers
fehlt, ſo fehlet auch der Zuſammenhang zwiſchen dem
erſten Eindruck und den herausgehenden Bewegungen,
der in dem Kopfe und in der Seele ſeyn konnte; und da
dennoch die Verbindung nicht gaͤnzlich aufhoͤret, ſo iſt
es offenbar, daß außer dem Gehirn in dem organiſchen
Koͤrper und in den Nerven ein Konduktor vorhanden
ſeyn muͤſſe, durch welchen die Reihe von Eindruͤcken und
Bewegungen fortgepflanzet werden.
Dagegen giebt es eine Menge von Beyſpielen, daß
auf eine lebhafte Einbildung und auf das damit verbun-
dene Wollen der Seele, ohne einen vorhergegangenen
koͤrperlichen Eindruck, ſolche Bewegungen in dem thie-
riſchen Koͤrper erfolgen, die ſonſten nur entſtehen, wenn
ein ſie bewirkender Eindruck von außen vorhanden iſt.
Hieher gehoͤren faſt alle Wirkungen der Einbildungs-
kraft, wovon die Aerzte ſo viele beſondere Erfahrungen
haben. So hat z. B. jemanden getraͤumet, daß er
ein Purgirmittel eingenommen; und es iſt entſtanden,
was ſonſten nur von der Arzney gewirket wird. Ein
anderer hat Brod in Geſtalt der Pillen genommen, wo-
mit ihn der Arzt hintergangen hatte; und es iſt eine
Ausleerung erfolget auf eine ſolche Art, wie wahre Pil-
len ſie hervorgebracht haͤtten. Dieſe letzte Erfahrung
iſt hier noch mehr entſcheidend, als die vorhergehende.
Denn bey jener konnte es etwas zweifelhaft ſeyn, ob die
Vorſtellung im Traume die wahre Urſache von der koͤr-
perlichen Bewegung geweſen, ſondern nicht vielmehr
U 4nur
[312]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
nur eine begleitende Wirkung einer andern koͤrperlichen
Urſache ſey, welche die Phantaſie zu gleicher Zeit in
Bewegung geſetzet, da ſie der Koͤrper zur Ausleerung
reizte. Aber bey der letztern Beobachtung faͤllt dieſer
Zweifel weg. Denn es iſt uͤber die Maße unwahr-
fcheinlich, daß der durch uͤberſilberte Brodkoͤrner zum
Purgiren gebrachte Kranke, ohne den Gebrauch dieſes
Scheinmittels, durch andere Naturkraͤfte eben zu der Zeit
und auf ſolche Art von der Verſtopfung befreyet worden
waͤre.
Dieſe und unzaͤhlig andere Beobachtungen lehren offen-
bar, daß gewiſſe Veraͤnderungsreihen, die ſonſten nur
mechaniſch erfolgen, und nur in dem organiſirten Koͤr-
per ihre Verbindung haben, ſo daß die Seele ſich ſelbſt
nur fuͤr eine Zuſchauerin bey ihnen zu halten pfleget,
dennoch in einer Kommunikation unter einander ſtehen,
die von der Seele abhaͤngt. Denn es zeiget ſich ja,
daß, wenn nur eine Vorſtellung in der Seele hervorge-
bracht werden kann, welche der Empfindung an Lebhaf-
tigkeit und Staͤrke nahe kommt, ſo moͤge der koͤrperli-
che Eindruck von außen und deſſen phyſiſche Folgen, ſo
weit ſie den hineingehenden Theil der ganzen Reihe und
die Urſache der wiederherausgehenden Bewegungen aus-
machen, fehlen, dennoch aus der Seele her die heraus-
gehenden Bewegungen in den Nerven und Muskeln
bewirket werden koͤnnen. Dieß lehret auch nebenher,
was Stahl vielleicht nur zu weit getrieben hatte, daß
ein großer Theil unſerer koͤrperlichen Veraͤnderungen,
die wir fuͤr bloß mechaniſche oder organiſche anzuſehen
pflegen, in der That thieriſche Veraͤnderungen ſind.
3.
Dieſe Beobachtungen geben zwar dem allgemeinen
Begriffe von der thieriſchen Natur, nach welchem ſie aus
einer Vereinigung zwoer ungleichartiger Kraͤfte, naͤm-
lich
[313]im Menſchen.
lich der Seelenkraͤfte und der Nervenkraͤfte beſtehet,
eine naͤhere Beſtimmung, indem ſie uns lehren, daß
bey gewiſſen Wirkungen die Eine Gattung von Kraͤften
die Stelle der andern, bis auf eine gewiſſe Graͤnze hin,
erſetzen und Bewegungen hervorbringen koͤnne, die
ſonſten nur beiden in Verbindung zugehoͤren. Allein
ehe davon eine beſtimmte Anwendung auf die Seelen-
natur gemacht wird, muß die Erfahrung umſtaͤndlicher
noch uͤber folgende Punkte befragt werden.
1) Sollte wohl jedesmal, wo der erſte Eindruck
auf die Empfindungswerkzeuge geſchieht, und dar-
auf eine Bewegung in dem organiſirten Koͤrper des
lebenden Thiers erfolget, eine phyſiſche Verbindung
des erſten Eindrucks mit ihrer Wirkung in dem Koͤr-
per allein vorhanden ſeyn koͤnnen? Und wenn es bey
einigen Arten von Eindruͤcken auf die Sinnglieder,
und unter gewiſſen Umſtaͤnden ſich ſo verhaͤlt, was ſind
dieß fuͤr welche? Oder iſt auch in ſolchen Faͤllen jedes-
mal zugleich eine andere Verbindung da, welche uͤber
die Seele gehet, ſo daß der Eindruck auf die Nerven,
eine Jmpreſſion in der Seele, dieſe eine Kraft-
aͤußerung der Seele, und dieſe wiederum die koͤr-
perliche Bewegung hervorbringe? Sind dieſe bei-
den Verbindungen zugleich ſchon von Natur vorhan-
den, ſind ſie ſchon das erſtemal vorhanden, da auf
einen Eindruck eine Bewegung erfolget? Oder kann
etwan Eine oder die andere von dieſen Verbindungen
mit der Zeit zu Stande kommen, und eine Wirkung
der Uebung und Gewohnheit werden, wenn die naͤm-
liche Reihe von Veraͤnderungen mehrmalen vorhanden
geweſen iſt?
Es verſtehet ſich dabey von ſelbſt, daß unter dem
aͤußern Eindruck auf das Empfindungswerkzeug zugleich
auch ein jeder Reiz begriffen wird, den man dem Or-
gan außer dem Gehirn beybringet, wenn gleich die rei-
U 5zende
[314]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
zende Urſache nicht außer dem Umfange unſers Koͤr-
pers, ſondern innerhalb deſſelben iſt, wie bey den in-
nern koͤrperlichen Gefuͤhlen, bey der Empfindung des
Hungers, des Durſtes, der Kopfſchmerzen, des Wohl-
befindens und des Uebelſeyns, und ſo ferner.
2) Wo beide dieſe Verbindungen nach der Ausſage
der Beobachtungen vorhanden ſind, wie wirken ſie als-
denn in Vereinigung mit einander? und in wie weit
kann der Fluß, der uͤber die Seele gehet, denjenigen,
der in dem Koͤrper ſeinen Weg hat, modificiren, ver-
ſtaͤrken oder aufhalten?
3) Jn wie weit kann die Kommunikation auf dem
Einen Wege allein unterhalten werden, ſo daß die Be-
wegung auf den Eindruck erfolget, wenn gleich der an-
dere Weg zum Theil oder gaͤnzlich verſperret iſt? Unter
welchen Umſtaͤnden und Bedingungen koͤnnen Vorſtel-
lungen und Seelenkraft da, wo der koͤrperliche Ein-
druck und alſo die gewoͤhnlichen wirkenden Nerven-
kraͤfte fehlen, daſſelbige oder das aͤhnliche hervorbrin-
gen? Und wiederum, unter welchen Umſtaͤnden koͤn-
nen allein die Nervenkraͤfte oder die organiſchen
Urſachen, ohne Empfindung in der Seele und ohne Ge-
hirn, den mangelnden Beytrag, der von den Kraͤften
des Seelenweſens abhaͤngt, erſetzen? Es iſt nicht
zweifelhaft, daß dieß uͤberhaupt moͤglich ſey, wie aus
den vorherangefuͤhrten Erfahrungen, und aus einer
Menge anderer, zum Theil auch aus den Unzerſchen
Raiſonnements klar iſt. Aber es iſt um die genauern
Bedingungen zu thun, die man wiſſen muß, wenn wir
uͤber dieſen Beytrag der beiden Arten von Kraͤften zu
einer thieriſchen Verrichtung beſtimmter urtheilen,
und daraus eine analogiſche Jdee von der Vereinigung
des Jchs und des innern Organs der Vorſtellung her-
ausbringen wollen. Vielleicht koͤnnte die Erſetzung der
Seelenkraͤfte durch die Nervenkraͤfte und dieſer durch
jene
[315]im Menſchen.
jene, ob ſie gleich uͤberhaupt vorhanden iſt, dennoch ſo
eingeſchraͤnkt ſeyn, daß ſie ſo gut, als gar nicht vor-
handen angeſehen werden muͤßte. Wer die Unzerſche
Phyſiologie ſtudirt hat, wird auf dieſe Fragen die
Antworten fuͤr viele Faͤlle darinnen angetroffen haben.
Da ich ſolche aber ſelbſt aus den Beobachtungen fuͤr
mich aufgeſucht, ſo ſey es mir auch erlaubt, ſie auf
meine eigene Art herzuſetzen.
4.
Es werden gemeiniglich die koͤrperlichen Bewe-
gungen in zwo Klaſſen gebracht; in die unwillkuͤrli-
chen, mechaniſchen, und in die willkuͤrlichen. Aber
ſobald man nur ein wenig auf die große Mannichfaltig-
keit von beiden aufmerkſam iſt, muß man bemerken,
daß die mehreſten von ihnen, ſowohl von denen, die zu
den unwillkuͤrlichen, als von denen, die zu den willkuͤr-
lichen gerechnet werden, beides, dem Einfluſſe des Wil-
lens, und den Geſetzen der Organiſation unterworfen,
und nur darinn von einander unterſchieden ſind, daß
bey der Einen Gattung die Seele, bey der andern der
Mechanismus des Koͤrpers, die vornehmſte und meiſt
beſtimmende Urſache ſey. Jhr Unterſchied beruhet
alſo auf dem Mehr oder Minder in dem Verhaͤltniſſe,
worinnen die Seelenkraͤfte und Koͤrperkraͤfte in ihrer
Vereinigung gegen einander ſtehen. Daher giebt es
zwiſchen denen, die am meiſten unwillkuͤrlich, und de-
nen die am meiſten willkuͤrlich ſind, unzaͤhlige Mittel-
arten, die zwiſchen den beiden aͤußerſten ſtehen, und bald
der Einen, bald der andern Gattung naͤher ſind. Das
naͤmliche kann von unſern Reihen von Veraͤnderungen
in dem Koͤrper geſagt werden. Aber wenn man die
beiden Gattungen unterſucht, welche die aͤußerſten ſind,
und die am weiteſten von einander abſtehen, ſo iſt es
leichter die Natur der mittlern Arten zu begreifen.
Die
[316]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Die organiſchen Reihen von Veraͤnderungen lie-
gen ganz in dem Koͤrper, ſind eine Folge des Or-
ganismus, und werden durch organiſche Kraͤfte hervor-
gebracht. Einige von ihnen ſind natuͤrlich noth-
wendig. Man reize oder ſteche die Muskel; ſo zieht
ſie ſich zuſammen, und dehnt ſich wieder aus, wechſels-
weiſe. Es falle ein ſtarkes Licht auf die Augen; und
der Stern verenget ſich. Man bringe ein Brech- oder
Purgirmittel in den Magen; und es erfolget auf dieſe
Eindruͤcke eine Ausleerung durch die Naturkraͤfte des
Koͤrpers, ſo nothwendig als eine Wagſchale niederſtei-
get, wenn man ein Uebergewicht in ſie leget, oder als
die Uhr in Bewegung geſetzt wird, wenn man ihre
Feder ſpannet, oder ihr Gewicht aufziehet.
Jn dieſen, die natuͤrlich nothwendig ſind, iſt
der Eindruck die beſtimmende Urſache; und die erfolgte
Bewegung iſt ihre beſtimmte Wirkung. Jener be-
ſtimmt nicht nur die Groͤße der Bewegung, ihre Ge-
ſchwindigkeit und Dauer, ſondern auch das Glied des
Koͤrpers, in welchem ſie hervorgebracht wird. Der
Magen wird durch das Medikament zu einer krampf-
haften Bewegung gereizet, und dieſe Bewegung gehet
weiter in die Gedaͤrme. Das Licht, das auf die Augen
faͤllt, wirket in den Stern des Auges auf eine beſtimm-
te nothwendige Weiſe.
Es giebt andere organiſche aber doch zufaͤllige
Verbindungen, die nicht voͤllig, noch allein, durch die
Natur der Maſchine, ſondern auch durch zufaͤllige aͤuſ-
ſere Umſtaͤnde und durch die dermalige Lage des Koͤr-
pers gegen andere Dinge beſtimmt werden, welche vor-
handen ſind, wenn die erfolgte Bewegung bewirket wird.
Der Schmerz in einem Gliede empoͤrt das ganze Ner-
venſyſtem. Jſt aber der Koͤrper ſo feſt eingewickelt,
wie ein Kind in ſeinen Windeln, und haͤtte er nur al-
lein die Fuͤße frey, ſo wird er mit den Fuͤßen um ſich
ſtoßen,
[317]im Menſchen.
ſtoßen, und es wird eine Bewegung entſtehen, die viel-
leicht nicht erfolgt ſeyn wuͤrde, wenn der Koͤrper ſich in
einer Lage befunden haͤtte, in der er ſeine Glieder mit
voͤlliger Freyheit haͤtte gebrauchen koͤnnen.
Wenn dieſelbige aͤußerliche Veranlaſſung mehrma-
len wiederum vorhanden iſt zu der Zeit, wenn auch eben-
derſelbige Eindruck wiederum auffaͤllt: ſo entſtehet eine
groͤßere Leichtigkeit, eine Bewegung in einem be-
ſtimmten Gliede mit dieſem Eindrucke zu verbinden, die
endlich zur Fertigkeit und Gewohnheit wird. Denn
auf dieſe Art wird eine Aſſociation von zwoen, ihrer Na-
tur nach eben nicht mit einander verknuͤpften, Veraͤnde-
rungen zu Stande gebracht. Dergleichen Gewohnhei-
ten ſetzen ſich ſehr geſchwind in uns feſt, wie man bey
den Kindern gewahrnimmt. Von Natur iſt es wohl
nicht beſtimmt, daß der rechte Fuß zuerſt vorausgeſetzet
werde, wenn wir aufſtehen und fortgehen, ſondern es
iſt groͤßtentheils eine zufaͤllig entſtandene und feſtgeſetzte
Gewohnheit. Ein Kind, das eine Sache haben will,
die man ihm vorhaͤlt, oder zu einer Perſon hinwill, aͤuſ-
ſert anfangs nur ein unbeſtimmtes Beſtreben ſeines
Koͤrpers zur Bewegung; allein man darf nur Ein oder
etliche mal ſeinen Arm nach der Sache hingefuͤhret, und
dieſe ihm in die Hand gegeben haben, ſo wird es in der
Folge bey einem naͤmlichen Beſtreben ſich zu bewegen
die Arme ausſtrecken und mit den Haͤnden faſſen wollen.
5.
Aus dieſen Beyſpielen kann man ſchon vermuthen,
was aus ſo vielen andern offenbar wird, daß es naͤmlich
eine Aſſociation organiſcher Bewegungen in dem
Koͤrper gebe, die darinnen der Aſſociation der Vor-
ſtellungen in der Seele aͤhnlich iſt, daß mehrere Bewe-
gungen, deren eine die andere nicht nothwendig be-
ſtimmt, ſich dennoch in eine Verbindung ſetzen, ſo daß
eine
[318]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
eine die andere wieder erwecken und nach ſich ziehen
kann, ob ſie gleich anfangs zufaͤlliger Weiſe auf einan-
der erfolgt ſind. Wie weit ſich dieſe koͤrperliche Aſ-
ſociation der Bewegungen erſtrecke, ob ſolche eben
ſo weit gehe, als die Aſſociation der Jdeen, und ob
auch hier die nachfolgende Bewegung die vorher-
gehende, eben ſo wie die vorhergehende ihre nachfol-
gende, erwecken koͤnne, wie es bey den aſſociirten Jdeen
geſchieht: das iſt noch naͤher zu unterſuchen. Denn
wenn ein gewiſſer Eindruck einmal eine gewiſſe Wir-
kung gehabt hat, die nicht nothwendig mit ihr verbun-
den war: ſo iſt ſie doch die unbeſtimmte phyſiſche Urſa-
che deſſelben geweſen; und es iſt begreiflich, wenn ſie
mehrmalen nach einander auf einerley Art zu einer be-
ſondern Wirkung, durch gewiſſe begleitende Umſtaͤnde,
gelenket worden iſt, wie ſie nun kuͤnftig, auch wenn die-
ſe Umſtaͤnde fehlen, dieſelbige Richtung nehmen koͤnne.
Die Begierde des Kindes zu einem Objekt, das man
ihm vorhaͤlt und ihm angenehm machet, wirkte an-
fangs nur einen unbeſtimmten Trieb in dem ganzen
Koͤrper ſich zu bewegen, der aber durch zufaͤllige Um-
ſtaͤnde vorzuͤglich in den Arm oder in die Fuͤße geleitet
wurde. Wenn nun nachher ein ſolches Beſtreben wie-
der vorhanden iſt, ſo findet der Trieb denſelbigen Weg
als den leichteſten vor ſich, der ſchon gebahnt iſt; und
die Bewegung erfolget in ihrer Richtung, weil die
Kraft hier die wenigſten Hinderniſſe antrift. Aber
wenn nun eine ſolche Bewegung in den Haͤnden und
Fuͤßen durch andere Urſachen, etwan durch Kraͤmpfe,
oder ſonſten hervorgebracht wird, ſollte dieſe wohl in die
Gefaͤße zuruͤcktreten, aus denen die ehemalige Bewe-
gung hervorgieng, und in dieſen auch die vormaligen
Veraͤnderungen erwecken? Sollte wiederum eine Be-
gierde etwas zu nehmen oder zu faſſen erreget werden;
und noch weiter zuruͤck, in den Werkzeugen des Ge-
ſichts,
[319]im Menſchen.
ſichts, auf welche der Eindruck von dem Gegenſtande
fiel, der vorher die Begierde und den Trieb zur Bewe-
gung der Haͤnde hervorbrachte, etwan aͤhnliche
Schwingungen reproducirt werden? Die Phantaſie
reproduciret doch in der Seele die Jdee von einer Ur-
ſache bey der Jdee von ihrer Wirkung.
Daß es uͤberhaupt eine Aſſociation organiſcher
Bewegungen im Koͤrper gebe, iſt, wie ſchon erin-
nert, außer Zweifel. Um nur einiges zum Beweis an-
zufuͤhren, ſo kann man ſich auf die ganze Menge zufaͤl-
liger koͤrperlicher Gewohnheiten berufen, die jeder
Menſch in ſeinen Minen und Geberden, in der Stel-
lung des Koͤrpers, in dem Gange und in ſeiner Art
ſich zu bewegen und zu handeln annimmt. Man triſt
in ihnen allen gewiſſe angereihete koͤrperliche Bewegun-
gen an, die ihrer Natur nach einander nicht hervorbrin-
gen, noch ſo auf einander folgen. Bacon hat es ſchon
angemerket, daß, wenn einmal das Gebluͤt durch eine
zufaͤllige Urſache, durch eine Empfindung oder Vorſtel-
lung, in eine beſondere Wallung gebracht iſt und ſich
erhitzet hat, man nachhero bey einem aͤhnlichen Zuſtan-
de des Koͤrpers eine Anwandlung von neuem erhitzet
zu werden finde, wenn gleich die ehemalige Vorſtellung
in der Seele nicht da iſt, die das erſtemal das Austre-
ten der Kraͤfte veranlaßte. Gewiſſe Perſonen, die an
einem Tage nach der Mahlzeit eine Veranlaſſung ge-
habt hatten ſich heftig zu erzuͤrnen, wurden den fol-
genden Tag nach der Mahlzeit wiederum von uͤbler Lau-
ne befallen, bey der ſie ihre Anwandlung zum Zorn mit
Muͤhe zuruͤckhielten, ob ſie gleich alsdenn an das Ge-
ſchehene des vorigen Tages nicht gedachten, oder doch
nur nebenher ſichs einfallen ließen. Noch mehr wird
man ſich hiervon uͤberzeugen, wenn man auf die Schwie-
rigkeiten Acht hat, die ein jeder antrift, der ſich von
gewiſſen ſchon eingewurzelten koͤrperlichen Gewohnheiten
losma-
[320]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
losmachen will. Alsdenn erfaͤhret man, daß die Be-
wegungen in dem Koͤrper oft wider das Beſtreben der
Seele, die ſolche zuruͤckhalten will, ihren gewohnten
Gang gehen. Und wenn man gleich hiebey den Ver-
dacht haben wollte, daß dieſe Aſſociation vielleicht nicht
bloß organiſch ſey, ſondern von einer Verbindung der
Vorſtellungen in der Seele abhaͤnge, ſo faͤllt ſolcher
doch weg, wenn man ſolche Beyſpiele betrachtet, der-
gleichen ich nachher anfuͤhren will, wo die Wirkung die-
ſer Aſſociation der Bewegungen auch bey enthaupteten
Thieren vorkommt.
Nun aber deucht mich, duͤrfe man nur auf dieſelbi-
gen Erfahrungen aufmerkſam ſeyn, um zu ſehen, daß
dieſe organiſche Aſſociation auch darinn der Jdeenver-
knuͤpfung in der Phantaſie aͤhnlich ſey, daß die Bewe-
gungen ſich in der umgekehrten Folge erwecken, in der
ſie zuerſt entſtanden ſind. Jch habe oben (VIII. 3.) an-
gefuͤhrt, in wie ferne dieſe Veraͤnderung der Ordnung
in den Reproduktionen auch bey den Vorſtellun-
gen in der Seele ihre Grenzen habe, und daß
die Jdeen allemal leichter und natuͤrlicher der Ord-
nung der Empfindungen folgen, als in einer andern.
So iſt es auch bey den koͤrperlichen Bewegungen. Wie
in den Jdeen die Urſache Wirkung, und dieſe jene
wird, ſo erreget auch in den aſſociirten Bewegungen
die nachfolgende die vorhergehende, oder eigentlich die
Anwandlung zu ihr, wovon eigentlich nur die Rede
iſt. Die wirkliche Bewegung iſt hier, was bey
den Vorſtellungen die Empfindung iſt, und der Anſatz
dazu, der Anfang oder die Anwandlung derſelben
iſt das Parallel von der bloßen Vorſtellung, die ſich
eben ſo auf ihre Empfindung beziehet. Nun erreget
aber die Empfindung von der Wirkung nur die Vor-
ſtellung von der Urſache, nicht ihre Empfindung ſelbſt;
daher kann man auch bey den aſſociirten Bewegungen
nicht
[321]im Menſchen.
nicht mehr erwarten, als daß die Eine, welche gegen-
waͤrtig iſt, die Anwandlungen zu der zwoten hervor-
bringe. Und dieß lehret die Erfahrung. Wer ſich an-
gewoͤhnet hat, gewiſſe Handlungen mit einem Theile
des Koͤrpers mit gewiſſen Bewegungen anderer Theile
zu begleiten, wird die letztern nicht leicht wiederholen,
ohne ein Beſtreben zu empfinden, auch die erſtern vor-
zunehmen, ohnerachtet dieſe vor jenen vorhergegangen
ſind. Der Organiſt hat anfangs mit den Fingern auf
dem Klavier ſpielen gelernet, und nachher auf der Or-
gel die Bewegungen mit den Fuͤßen damit verbunden.
Sobald er ſich auf eine Bank ſetzet, und die Fuͤße ſo
beweget, als wenn er aufs Pedal tritt, ſo wird ſeine Ge-
wohnheit ihn auch reizen, mit den Fingern ſo zu ſchla-
gen, als wenn er die Klaves der Orgel vor ſich haͤtte.
6.
Gehen wir wiederum zuruͤck zu den organiſchen
Reihen, die als eine eigene Gattung hier angenom-
men worden ſind, ſo finden wir bey ihnen einen zweyfa-
chen Charakter. Einmal ſollen ſie ihren Grund allein
in den Kraͤften des organiſchen Koͤrpers haben,
und durch dieſe bey der Lage, worinnen ſich der Koͤrper
befindet, voͤllig beſtimmt werden, ohne daß die Seele
zur Verbindung der Wirkung mit ihrer Urſache etwas
beytrage; oder doch ſo daß, wenn ſie auch dabey thaͤ-
tig iſt, ſie doch keinen weitern Einfluß darinn hat, als
inſofern ſie durch ihre Aktion die wirkſame organiſche
Kraft in dem Koͤrper uͤberhaupt in Thaͤtigkeit erhaͤlt.
Wenn die Arzney in dem Koͤrper wirket, oder das Kind,
durch einen ſtarken Knall erſchuͤttert, zuſammenfaͤhrt
und aͤngſtlich thut: ſo ſind dieß darum und inſoferne or-
ganiſche Veraͤnderungsreihen, weil die Seele entweder
gar keinen Antheil daran hat, und hoͤchſtens nicht mehr
als Zuſchauerin derſelben iſt, oder wenn ſie auch als ein
IITheil. XGlied
[322]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Glied der ganzen Reihe mitwirket, dennoch davon die
Urſache nicht iſt, daß gerade eine ſolche Bewegung auf
einen ſolchen Eindruck erfolget. Dieſe letztere Verbin-
dung haͤngt allein von dem Zuſammenhange der Nerven,
und von der Organiſation ab. Auf dieſe Art ſtellen wir
uns wenigſtens die Verbindung in ſolchen Reihen vor,
die von der Willkuͤr der Seele unabhaͤngig ſind. Daß
es aber in dem Menſchen dergleichen bloß organiſche
Reihen gebe, oder doch ſolche, die ihnen nahe kommen,
wird ſich aus dem folgenden offenbaren.
Jhr zweeter Charakter iſt dieſer: Sie ſind nur be-
ſtimmt in Hinſicht der Art der Bewegung und
der Art und Weiſe der Aktion, welche erfolget, nicht
aber in Hinſicht des aͤußern Gegenſtandes, wor-
auf die Aktion gerichtet wird. Die durch organiſche
Kraͤfte beſtimmten Bewegungen koͤnnen weiter durch
ihre koͤrperlichen Urſachen nicht beſtimmt ſeyn, als nur
inſoferne, daß in gewiſſen Theilen des Koͤrpers ge-
wiſſe Beſtrebungen und Bewegungen erfolgen; nicht
dahin, daß dieſe beſonders auf ein gewiſſes Objekt ge-
richtet ſind. Alle organiſche Handlungen ſind alſo nur
der Form nach beſtimmt, das iſt, in ſo weit ſie in ge-
wiſſen Thaͤtigkeitsarten und Kraftaͤußerungen beſtehen.
Ein hitziger Kopf wird auf der Gaſſe an den Arm ge-
ſtoßen; er faͤhrt auf, und greift nach ſeinem Degen.
Er wuͤrde unter andern Umſtaͤnden einen Stock oder
eine Peitſche ergriffen haben, da ſeine Bewegung nach
dem Degen, als einem beſondern Werkzeuge ſeiner Rache,
durch die entſtandene Leidenſchaft, und die dadurch er-
regte organiſche Aktion des Koͤrpers nicht beſtimmt ſeyn
konnte. Hiezu, daß ſeine Bewegung nach dem Degen
gieng, war eine Jdee in der Seele nothwendig, die
ſich zu dem Hange ſich zu vertheidigen geſellen mußte.
Alſo giebt es in dieſer Handlung eine Reihe von Ver-
aͤnderungen, die nicht gaͤnzlich zu den organiſchen ge-
hoͤren
[323]im Menſchen.
hoͤren kann. Jn der Seele unterſcheidet man die Trie-
be, wohin auch die angebornen, oder die Jnſtinkte
zu rechnen ſind, als bloße Beſtrebungen zu gewiſſen
Thaͤtigkeitsarten, von den Begierden, welche auf be-
ſtimmte Objekte gerichtet ſind. Die bloß organi-
ſchen Vewegungen ſind in dem Koͤrper daſſelbige, was
Trieb und Jnſtinkte in der Seele ſind.
An und fuͤr ſich iſt es doch nicht unmoͤglich, wie die
Liebhaber der mechaniſchen Phyſiologie es ſich vorſtellen,
daß es dergleichen bloß organiſche Folgen von Ver-
aͤnderungen in dem Koͤrper gebe, woran auch in dem
lebenden Thiere die Seele nicht den geringſten Antheil
hat, die ſie nicht fuͤhlet und noch weniger gewahr-
nimmt. Geſetzt aber, man wollte hierinn nach Stahls
Grundſaͤtzen denken, und jede Veraͤnderung in dem Koͤr-
per des lebenden Thiers fuͤr eine wahre thieriſche Ver-
aͤnderung anſehen, woran die Seele als fuͤhlendes, und
der Koͤrper als bewegendes, Weſen einigen Antheil habe:
ſo iſt ſo viel offenbar, daß die Beywirkung der Seele
bey denen Veraͤnderungen, die wir fuͤr die unwillkuͤr-
lichſten halten, ſehr eingeſchraͤnkt und unbedeutend ſeyn
muͤſſe. Man kann alſo den Beytrag der Seele allen-
falls nur als einen ſolchen anſehen, der in der Theorie
zwar als wirklich vorhanden angenommen werden muͤſſe,
aber in der Anwendung fuͤr nichts geachtet werden koͤn-
ne. Die Seele iſt bey ihnen, wenn ſie ſolche fuͤhlt und
erkennet, bloß Zuſchauerin und hoͤchſtens nichts mehr,
als was die Seele in dem Gehirn nach der Bonneti-
ſchen Hypotheſe iſt, die in einigen Faͤllen das Vermoͤ-
gen beſitzet, die ſinnlichen Bewegungen in den Fibern,
welche ſich ſelbſt aneinander reihen, zu verſtaͤrken und
zu ſchwaͤchen. Aber dazu iſt die Seele nicht faͤhig, daß
ſie ſolche von neuem aus ſich bewirken, oder die Ord-
nung, in der ſie nach der Struktur des Koͤrpers erfol-
gen, auf eine andere Art umaͤndern koͤnnte, als inſo-
X 2ferne
[324]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ferne ſie, durch ihre ſtaͤrkere oder ſchwaͤchere Ruͤckwir-
kung auf den Koͤrper, neue Aktionen der organiſchen
Kraͤfte veranlaßte.
Dieſer Unterſcheidungsmerkmale unerachtet iſt es
doch ſchwer in einzelnen Faͤllen es genau zu beſtimmen,
welche Bewegungsreihen und welche Theile in ihnen als
bloß organiſch oder triebartig anzuſehen ſind. Die
Schwierigkeiten werden noch groͤßer, wenn man dieje-
nigen, die allein durch die Organiſation des Koͤrpers,
und zwar nothwendig beſtimmt ſind, von denen, die
anfangs ihren erſten Grund in der zufaͤlligen Lage des
Koͤrpers gehabt, und ſich nachher feſtgeſetzet haben,
das iſt, die natuͤrlich nothwendigen von den hin-
zugekommenen, unterſcheiden will. Daß wir den
rechten Fuß vor dem linken vorausſetzen, und die rechte
Hand mehr und fertiger gebrauchen als die linke, iſt
nicht von Natur nothwendig, gehoͤret aber zu den Hand-
lungsweiſen, woran der Koͤrper ſich ohne Zuthun der
Seele gewoͤhnt hat; und daß ein hungriges Kind nach
einer Sache mit den Haͤnden greift, muß ebenfalls zu
der letzten Art gerechnet werden. Die natuͤrlich noth-
wendigen organiſchen Fertigkeiten machen ohne
Zweifel nur die kleinſte Klaſſe aus. Das Herz zie-
het ſich zuſammen, wenn es gereizet wird, auch noch,
nachdem es von dem Koͤrper getrennet iſt; und die
Muskeln an dem in Stuͤcken zerſchnittenen Fiſche gera-
then noch in krampfhafte Bewegungen. Der Stern
im Auge verenget ſich bey einem ſtarken Lichte. Der
Magen und die Gedaͤrme werden durch die Speiſen zu
ihren wurmfoͤrmigen Bewegungen gereizet und derglei-
chen mehr. Dieß ſind organiſch nothwendige Wir-
kungen.
Dagegen ſind noch jetzo die beruͤhmteſten Phyſiolo-
gen mit ſich daruͤber nicht einig, ob das Athemholen
eine bloß organiſche Wirkung des Koͤrpers ſey? Einige
halten
[325]im Menſchen.
halten die Beywirkung der Seele dazu fuͤr nothwendig.
Wenn dieß nur dahin erklaͤrt wird, daß der Trieb in
der Seele, der aus der Beaͤngſtigung entſtehet, wenn
der Umlauf des Bluts gehindert wird, die allgemeine
Urſache ſey, welche die organiſchen Kraͤfte des Koͤrpers
in Bewegung ſetzet: ſo wuͤrde dieſer Antheil der Seele
nicht hindern, daß die Reihe von Veraͤnderungen, wo-
durch die Bruſtmuskeln auf einen Eindruck des Gebluͤts
in Bewegung kommen, nicht eine bloß organiſche Reihe
ſeyn koͤnnte, in der die Wirkung von der Urſache der
Struktur des Koͤrpers gemaͤß beſtimmt wird. Durch
jenen allgemeinen Einfluß der Seele in die Koͤrper-
kraͤfte, wird ſie nichts mehr, als eine den Koͤrper be-
lebende Kraft, dergleichen die vis vegetativa der Al-
ten war. Sie kann inſoweit als eine mittelbare Koͤr-
perkraft angeſehen werden, die aber den Wirkungen keine
Form noch Richtung giebt. Auf eine aͤhnliche Art
laͤßt ſich auch das Saugen der Kinder erklaͤren. Wenn
man aber der Seele noch mehr von dieſen Wirkungen
zuſchreibet, und ſie die organiſchen Kraͤfte in eine Rich-
tung bringen ſoll, die ſie ſonſten vermoͤge der Struktur
des Koͤrpers und des vorhergegangenen Eindruckes nicht
genommen haben wuͤrden: ſo giebt man Erklaͤrungen,
wodurch das Athemholen und das Saugen unter die
willkuͤrlichen Bewegungen geſetzet wird.
Der zweete Charakter der organiſchen Bewegungen,
daß ſie nur bloß in Hinſicht der Thaͤtigkeitsarten be-
ſtimmt ſind, iſt auch nicht mehr als ein ſo genanntes
verneinendes Merkmal. Jede koͤrperliche Bewegung
zu einem beſtimmten Gegenſtande hin, wie das Greifen
nach dem Degen, den Jemand an der Seite traͤgt,
gehoͤrt bey den Menſchen inſofern zu den willkuͤrlichen
Bewegungen, welche eine Vorſtellung dieſes Gegen-
ſtandes in der Seele vorausſetzen, und die von dieſer
Vorſtellung entweder wirklich regieret werden, oder doch
X 3im
[326]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
im Anfang von ihr gelenket worden ſind, ehe die Ge-
wohnheit ſo zu handeln ſich befeſtiget hatte. Bey dem
Menſchen, ſage ich, verhaͤlt es ſich ſo, wie die Erfah-
rung lehret. Das hungrige Kind ſauget an dem Zucker,
den man ihm in den Mund ſtecket; aber es wird an ei-
nem Steine nagen, wenn man ihm dieſen hingiebt.
Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht
nach dem Steine greift: ſo ruͤhrt dieß nicht daher, weil ſein
Naturtrieb fuͤr ſich auf jenes Objekt geſtimmt iſt, ſon-
dern daher, weil eine Vorſtellung der Seele, die es aus
ſeinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin
lenket.
Es iſt außer Zweifel, je genauer der Natur-
trieb zu gewiſſen Arten von Thaͤtigkeiten beſtimmt
iſt, deſto mehr iſt er auch zugleich auf die ihm angemeſ-
ſenen Gegenſtaͤnde gerichtet; wie ein Koͤrper, der nach
einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur
auf das Objekt trift, das ihm in dieſer einzigen Rich-
tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf
welche die Kraft nicht wirken kann, ſtoßen ſie zuruͤck,
und deſto mehr, je weniger ſchicklich ſie fuͤr ſie ſind; und
eben dadurch fuͤhren ſie ſelbige auf die ſchicklichen Objekte
hin. Dieß iſt ein Grundſatz, der es zum Theil wenig-
ſtens begreiflich macht, wie die Jnſtinkte der Thiere
ihre Gegenſtaͤnde ſo richtig treffen koͤnnen, auch ohne
daß eine Vorſtellung ſie leite. Was bey dem Men-
ſchen Begierde iſt, oder ein Beſtreben auf ein vor-
geſtelltes Objekt zu wirken, das iſt bey den Thieren
oft nur ein blinder Trieb, der nicht ſowohl auf den Ge-
genſtand gerichtet iſt, als nur auf eine gewiſſe Art der
Thaͤtigkeit, und nur darum auf das gehoͤrige Objekt
trift, weil dieß es allein iſt, was ſeinen Trieb befriedi-
gen kann. Das Kind kennet die Speiſe nicht, die ihm
geſund iſt, und wuͤrde den Arſenik ſo gut in den Mund
nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge-
ruch
[327]im Menſchen.
ruch den Hunger leitet, wird durch die Verbindung meh-
rerer Eindruͤcke, die zuſammen auf ſeinen Jnſtinkt wir-
ken, beſtimmter und ſtaͤrker zu der Nahrung geleitet,
die ihm dienlich iſt. Es iſt begreiflich, wie der Jn-
ſtinkt unter der bloßen Leitung des Gefuͤhls ſicherer ge-
hen kann bey den Thieren, als der unbeſtimmtere
Trieb der Menſchen, den die Vorſtellungen lenken ſol-
len. Dahero koͤnnen auch manche Reihen von Eindruͤ-
cken und Bewegungen bey den Thieren bloß organiſch,
oder nur allein der Thaͤtigkeitsart nach, beſtimmt ſeyn,
die nun, wenn das Gefuͤhl dazu kommt, auch deswe-
gen in Hinſicht der Objekte beſtimmt werden, weil ſie
es ſo genau in Hinſicht der Art zu handeln ſind. Man
kann dergleichen alsdenn zwar nicht fuͤr begierdenar-
tig aber doch fuͤr begierdenaͤhnlich anſehen, weil
durch die bloßen Gefuͤhle bey ihnen eben daſſelbige be-
wirket wird, was bey dem Menſchen durch leitende Vor-
ſtellungen ausgerichtet wird.
Aber auch allein bey den Menſchen laͤßt ſich nicht
ſagen, daß alle natuͤrlichen Reihen von ſinnlichen Ein-
druͤcken und Bewegungen, die auf keinen beſondern Ge-
genſtand außer uns hingerichtet ſind, zu den inſtinktar-
tigen Bewegungen zu rechnen ſind. Denn wenn z.
B. der Reuter auf dem Pferde ſitzet; der Fechter einen
Degen in der Hand haͤlt: ſo bringet die Fertigkeit in
dieſen koͤrperlichen Handlungen gewiſſe Arten von Be-
wegungen hervor, die, ob ſie gleich noch auf kein be-
ſonders Objekt beſtimmt ſind, dennoch von gewiſſen
Vorſtellungen gelenket werden, und ſich auf dieſelbige
Art aͤußern, wie die Begierden. Daß der Reuter ſei-
ne Fuͤße und Arme ſo und nicht anders haͤlt, iſt eine
Wirkung der Gewohnheit, und erfolget doch mittelſt ei-
ner Vorſtellung, welche ſeine Bewegungskraft regieret;
zwar mehr vermittelſt einer Vorſtellung von der Hand-
lung ſelbſt, die bey ihm mit Fertigkeit erwecket wird,
X 4als
[328]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
als durch eine Vorſtellung von dem gegenwaͤrtigen Ob-
jekt derſelben; aber doch gleichwohl durch Vorſtellungen,
ſo daß dieſe Aktionen zu den inſtinktartigen organiſchen
nicht gerechnet werden koͤnnen, wenn man auch an-
nimmt, es ſey die Reihe der aſſociirten Bewegungen
ſelbſt in dem Koͤrper zur Fertigkeit geworden. So ei-
ne Aſſociation wuͤrde doch eine Wirkung von der dazwi-
ſchengetretenen vorſtellenden Kraft ſeyn, welche im
Anfange die nachfolgende Bewegung an ihren vorherge-
henden Eindruck geknuͤpfet haͤtte.
7.
Laßt uns nun zuerſt bey dieſer Klaſſe von Bewe-
gungsreihen in dem Koͤrper, die bloß organiſch ſind,
die Antworten auf die obigen Fragen (N. 3.) aus den
Erfahrungen aufſuchen. Wie weit haͤngt die Verknuͤ-
pfung in ihnen von der Seele ab, oder wie weit kann die-
ſe durch ihr Wollen und Beſtreben die organiſchen Kraͤf-
te hierinn erſetzen? Dieß wird uns auf eine Folgerung
fuͤhren, die in dem analogiſchen Schluſſe von der thieri-
ſchen Natur auf die Seelennatur gebraucht werden
kann.
„Es iſt in dieſen Reihen eine Verbindung zwiſchen
„dem verurſachenden Eindrucke und der erfolgten Be-
„wegung, die nur durch den Koͤrper gehet. Aber
„bey einigen von ihnen zum mindeſten iſt doch auch zu-
„gleich eine Verbindung zwiſchen ihnen, die uͤber die
„Seele gehet; ſo daß der erſte Eindruck auf die orga-
„niſchen Kraͤfte des Koͤrpers von einem Gefuͤhl in der
„Seele, und die erfolgende Bewegung von einer be-
„ſtimmten Kraftanwendung oder von einem Wollen
„der Seele, begleitet wird.“
Dieſer Satz wird nach allen ſeinen Theilen durch
die Erfahrungen beſtaͤtiget.
Was
[329]im Menſchen.
Was zuerſt die natuͤrlich nothwendigen Reihen be-
trift, wo auf gewiſſe Eindruͤcke und Reize gewiſſe Be-
wegungen erfolgen, die lediglich nach den Geſetzen der
Organiſation mit jenen verbunden ſind: ſo bedarf es des-
wegen kaum, daß man die Faͤlle nennt, ſo bekannt
ſind ſie. Die Speiſen reizen den Magen. Darauf
erfolget eine wurmfoͤrmige Bewegung der Gedaͤrme,
und darauf eine Ausleerung, der Einrichtung des Koͤr-
pers gemaͤß. Aber die Seele empfaͤngt davon Em-
pfindungen und Vorſtellungen, und verbindet damit ihr
Wollen. Das Herz und einige Muskeln ziehen ſich
nach dem Tode des Menſchen zuſammen, zum Beweis,
daß die Reizbarkeit eine Kraft ſey, welche dem beſeelten
Koͤrper fuͤr ſich zukomme, und daß ſie thaͤtig ſey, auch
wenn ſie des allgemeinen Einfluſſes der Seele, als der
belebenden Kraft, entbehren muß. Bey andern organi-
ſchen Bewegungen kann die Seelenkraft weniger ent-
behrlich ſeyn; aber auch daraus wird nicht folgen, daß
jene nicht deswegen doch allein in dem organiſchen und
belebten Koͤrper bloß durch die Koͤrperkraͤfte bewirket
werden koͤnnen. Sollte dieß letztere einigem Zweifel
unterworfen ſeyn, ſo muͤßte man vielleicht diejenigen
Bewegungsreihen ausnehmen, die nicht allein durch die
Organiſation nothwendig ſind, ſondern anfangs gewiſſe
zufaͤllige Umſtaͤnde erfodert haben, ehe die Aſſociation
ſich feſtgeſetzt hat. Vielleicht moͤchte man ſagen, iſt in
dieſen Faͤllen dieſelbige dunkle Empfindung in der Seele,
und daſſelbige Beſtreben ihrer Kraft, welche zuerſt die
nachfolgende Bewegung veranlaßt hat, auch immer-
fort dieſelbige Zwiſchenurſache, die ſie beſtimmt, ohne
daß wir es gewahrwerden. Allein die nachfolgen-
den Betrachtungen heben alle Zweifel hieruͤber.
Erſtlich iſt ſo viel gewiß, daß alle ſolche Rei-
hen vorher inſtinktartig ſich aſſociirt haben, ehe ſie
auf irgend eine Weiſe mittelſt der vorſtellenden Kraft
X 5der
[330]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
der Seele in Verbindung gebracht, und alſo dem Wil-
len der Seele haben unterworfen werden koͤnnen. Denn
da bey dem Menſchen alle Vorſtellungen, und auch die
Vorſtellungen von den Handlungen unſers Koͤrpers, aus
Empfindungen entſtehen: *) ſo muͤſſen die Bewegungen
der Arme in dem Kinde, das Stoßen und Schlagen,
worinn ſich der Wehrtrieb aͤußert, eben ſo wie die Ver-
aͤnderungen der Minen im Geſichte, vorher von ſelbſt
aus bloßem Jnſtinkt entſtanden ſeyn, ehe davon eine
Vorſtellung gemacht werden, und ehe das Kind nun
nach einer Vorſtellung ſich dazu beſtimmen, das iſt, ſie
wollen koͤnne. Es giebt keine willkuͤrliche Handlung,
die nicht eine unwillkuͤrliche geweſen iſt, oder aus un-
willkuͤrlichen beſtehet, ſo wie es keine Phantaſie giebt,
die nicht aus Empfindungsvorſtellungen herruͤhrt.
Nun iſt dieſer Umſtand freylich noch nicht entſchei-
dend. Denn ohne ein Stahlianer zu ſeyn, hat man
doch immer die Einwendung fuͤr ſich, daß es wohl die
Seele ſeyn koͤnne, welche durch ein inſtinktartiges Be-
ſtreben, wozu ſie in dem Kinde durch die unangenehme
Jmpreſſion der Beleidigung gebracht wird, auf den
Koͤrper wirke, und ihn zu den Bewegungen beſtimme,
die die Vertheidigung erfodert. Auf dieſe Art moͤchte
hier doch die Reihe uͤber die Seele gehen, und alſo ein
urſpruͤngliches Mittelglied, welches den hineingehenden
Eindruck mit der herausgehenden Bewegung verbindet,
in der Seele ſelbſt ſeyn, das niemals in den Koͤrper
uͤbergetragen werden koͤnnte.
Man wird, wenn man auf mehrere ſolche Faͤlle
Acht hat, und auf die ununterbrochene genaue Vereini-
gung der Seele mit ihrem Koͤrper Ruͤckſicht nimmt,
wohl nicht eben geneigt werden zu glauben, daß viele
ſolcher organiſchen Reihen zu ſtande kommen ſollten,
ohne daß ſie auch zugleich uͤber und durch die Seele eine
Ver-
[331]im Menſchen.
Verbindung erlangten, welche in einem Gefuͤhl und in
einer inſtinktartigen Aktion auf den Koͤrper beſtehe.
Aber da die Aktion in der Seele in dieſem Fall doch bloſ-
ſer Jnſtinkt, und ein blindes Beſtreben iſt, das der
Natur der Seele und der Jmpreſſion auf ſie gemaͤß iſt,
ſo wird man es auch wahrſcheinlich finden, daß es eben
ſo wohl eine Folge der bloßen Organiſation ſeyn koͤnne,
wenn ſolche Bewegungen auf ſolche Eindruͤcke erfolgen,
zumal da die Seele ſie oft mit allem ihren Beſtreben
dagegen nicht zuruͤckhalten oder abaͤndern kann.
Aber aller Zweifel uͤber dieſen Punkt verſchwindet,
wenn wir zweytens ſehen, daß ſolche feſtgeſetzte und
zur Gewohnheit gewordene organiſche Reihen auch in
enthaupteten Thieren auf eine aͤhnliche Art erfolgen,
wo man keinen Verdacht haben kann, daß die Seele
die Ordnung und Folge in ihnen beſtimme. Dieſe Er-
fahrungen ſind entſcheidend, wenn ſich gleich nicht aus
allen — ihre hiſtoriſche Richtigkeit in den beſondern
Umſtaͤnden vorausgeſetzt! — daſſelbige mit gleicher
Deutlichkeit ſchließen laͤßt. Wenn enthauptete Thiere
ſich nach dem Verluſt des Kopfes noch mit einander be-
gatten, und die Fliegen ſich putzen, und ſo thun, als
wenn ſie ihre Nahrung aufſammeln, ſo iſt es doch evi-
dent, zumal aus dem erſten Beyſpiel, daß organiſche
Aſſociationen entſtanden ſind, und ſich allein in dem
Koͤrper feſtgeſetzt haben. Da die Begattung der ent-
haupteten Grillen nur alsdenn erfolgt, wenn ſie vorher
in ihrem Leben dieſe Handlung mehrmalen unternom-
men haben, ſo kann auch nicht einmal gedacht werden,
daß hier etwan nichts mehr als eine natuͤrlich noth-
wendige Bewegung erfolge, die von den zufaͤlligen
Umſtaͤnden unabhaͤngig ſey. Es iſt dieſe Bewegungs-
reihe offenbar hinzugekommen, und die Gegenwart des
Objekts und andere zufaͤllige Umſtaͤnde haben anfangs
das Jhrige zu ihrer Verbindung beygetragen. Wenn
ein
[332]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ein enthaupteter Menſch, dem man einen Degen durch
die Bruſt ſtoͤßt, die Arme auf die naͤmliche Art zuſam-
menſchlaͤgt, wie einer, der ſich beklaget: ſo deucht mich,
dieſer Vorfall gehoͤre gleichfalls zu denen, welche die
Wirklichkeit ſolcher Aſſociationen in dem Koͤrper auſ-
ſer Zweifel ſetzen. Aber wenn das Beyſpiel von Karl
dem Zwoͤlften angefuͤhrt wird, der die Hand an den
Degen legte, als die Kugel ihn toͤdtete: ſo kann man
hier wie in manchen andern Faͤllen vermuthen, daß die-
ſe Bewegung des Arms keine bloß organiſche Hand-
lung, ſondern eine wahre Seelenaͤußerung in dem Au-
genblick des Sterbens geweſen ſey. Denn ſo ſchnell
der Tod auch ihn uͤberraſchte, ſo fand doch die Seele
noch Zeit genug, die gewohnte Vorſtellung vom Ver-
theidigen in ſich zu erwecken, und den dazu gehoͤrigen
Druck in den Arm zu bringen.
Dieſe letztere Art der zufaͤlligen organiſchen Verbin-
dungen zeiget alſo auch deutlich, daß in dem Koͤrper
ſelbſt gewiſſe Leichtigkeiten zu handeln aus vorherge-
henden Handlungen entſtehen, und ſich miteinander
verbinden. Bey den natuͤrlich nothwendigen Aktionen
entſteht die nachfolgende Bewegung aus ihrem vorherge-
henden Reize das zweytemal wie das erſtemal, weil ſie
in einer urſachlichen beſtimmten Verknuͤpfung ſind; aber
bey jenen wird etwas erlernet, wie die vorzuͤgliche Ge-
ſchicklichkeit die rechte Hand zu gebrauchen. Anfangs
war in dem linken Arm eben ſowohl ein Weg, wo die
bewegende Kraft hinfließen konnte, als in dem rechten;
aber die oͤftere Uebung mit dem letztern machte ihn fuͤr
den Durchfluß der Lebensgeiſter offener und leichter.
8.
Alſo giebt es hier eine organiſche Reihe von
Bewegungen in dem Koͤrper, die in dem Koͤrper
unter ſich verbunden ſind, aber auch zugleich mittelſt ei-
ner
[333]im Menſchen.
ner begleitenden Reihe von Empfindungen, Vorſtellun-
gen und Wollen in der Seele zuſammenhangen. Daß
nun 2) die letztere Reihe in der Seele in die herausge-
henden Bewegungen einen Einfluß habe, und ſolche
durch ihre Beywirkung verſtaͤrken oder ſchwaͤchen koͤn-
ne, iſt zu ſehr bekannt, als daß ich die Erfahrungs-
beweiſe daruͤber anfuͤhren duͤrfte. Die meiſten Beob-
achtungen von der Macht der Einbildungskraft uͤber den
Koͤrper beweiſen dieſen Einfluß. Vor einigen Jahren
benachrichtigten die oͤffentlichen Blaͤtter von einem Eng-
laͤnder, daß ers in ſeiner Gewalt habe, nach Gefallen
wie tod zur Erde zu fallen, den Athem ſtillſtehend zu
machen, und andre aͤußerliche Zeichen eines Verſtorbe-
nen anzunehmen, und ſich nachher von ſelbſt wieder zu
erwecken. Wir wollen etwas abrechnen fuͤr das Ueber-
triebene der Einbildungskraft in allen Sachen, die in
das Wunderbare gehen, und es bleibet doch genug
uͤbrig, um daraus zuſehen, welche Gewalt die Seele
uͤber ihre unwillkuͤrlichſten Lebensbewegungen ſich ver-
ſchaffen koͤnne.
Ueberdieß bemerket man hiebey, daß die Seele in
ſolchen Faͤllen, wo ſie die natuͤrlichen Bewegungen
aus Eigenmacht und Willkuͤr modificiret, dieſe Wirkung
nicht durch einen unbeſtimmten Trieb hervorbringe, wo-
mit ſie die Kraͤfte des Koͤrpers etwan anſtrenget oder
zuruͤckhaͤlt; ſondern daß ihr Einfluß alsdenn von einem
eigentlichen Wollen abhange. Sie hat alsdenn Vor-
ſtellungen von gewiſſen Bewegungen in ſich, welche den
natuͤrlichen Bewegungen des organiſirten Koͤrpers ent-
gegengeſetzt ſind, und ſie beſtrebet ſich nach dieſen Vor-
ſtellungen zu wirken, das iſt, die Vorſtellungen, als die
erſten innern Anfaͤnge der Aktionen in voͤllige Aktionen
zu entwickeln.
3) Was endlich die dritte Frage betrift: „ob und
„wie ferne die begleitende Beywirkung der Seele und
„ihr
[334]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
„ihr Wollen die Stelle der organiſchen Kraft in dem
„Koͤrper vertreten, und dieſelbigen Bewegungen her-
„vorbringen koͤnne, wenn die Koͤrperkraft dazu nicht
„vorhanden, oder nicht wirkſam genug iſt?“ ſo lehret
eine Menge von Erfahrungen es uͤberzeugend, daß man
daran nicht zweifeln koͤnne. Die Macht der Einbil-
dungskraft uͤber den Koͤrper, am meiſten bey empfind-
lichen, bey hypochondriſchen und hyſteriſchen Perſonen,
und andern, bey denen das Nervenſyſtem in Unord-
nung und die Phantaſie allzu lebhaft iſt, erſtrecket ſich
in der That ſo weit, daß ſie Wirkungen in dem Ner-
venſyſtem und dadurch in dem Koͤrper darſtellet, die ſon-
ſten nur von koͤrperlichen Urſachen zu entſtehen pflegen.
Jndeſſen verdienet doch auch hiebey die Anmerkung
nicht uͤbergangen zu werden, daß ein großer Theil der
Beyſpiele, die man als Beweiſe gemeiniglich dafuͤr an-
fuͤhret, wenn man ſie genauer betrachtet, die Sache
nicht außer Zweifel ſetzen. Es iſt wohl zu unterſchei-
den, ob die Einbildungskraft und das Wollen der Seele
die wahre bewegende Urſache ſey, die als phyſiſche Koͤr-
perkraft wirket, oder ob die Einbildung nur die Aktion
der reizenden Koͤrperkraͤfte begleite; und ob es nicht der
gewoͤhnliche Mißgriff der Urſachen ſey, wenn der letztern
das zugeſchrieben wird, das in der That einer andern
Urſache, die in dem Koͤrper ſelbſt lieget, zukommt?
Ein wolluͤſtiger Juͤngling hat im Traum Phantaſien,
die bey ihm aͤhnliche Ausleerungen verurſachen wie die
aͤhnlichen Empfindungen bey dem Wachenden. Einem an-
dern traumet eine Purganz eingenommen zu haben, und
dieſe Vorſtellung thut ihre Wirkung, als wenn es wirk-
lich geſchehen waͤre. Jch habe es oben ſchon erinnert,
daß in ſolchen Faͤllen wohl ein innerer Reiz in dem Koͤr-
per vorhanden ſeyn moͤge, der organiſch die Theile des
Koͤrpers auf eine aͤhnliche Art in Bewegung ſetzt, wie
der gewoͤhnliche ſinnliche Eindruck, deſſen Gegenwart
man
[335]im Menſchen.
man aber nicht gewahrnimmt, weil die begleitenden
Einbildungen das Gefuͤhl deſſelben vor uns ſelbſt verſte-
cken. Denn es kann ſeyn, daß die Phantaſie ſelbſt nur
durch den koͤrperlichen Reiz erwecket wird, und die See-
le zum Wollen beſtimmet, wodurch vielleicht der Effekt
der koͤrperlichen Urſache verſtaͤrket wird, ohne daß ſie
ſelbſt doch die vornehmſte Urſache der erfolgenden Bewe-
gungen dadurch werde. Ohne Zweifel verhaͤlt es ſich
oft ſo. Und alle dieſe Beyſpiele fallen unter den Be-
weiſen aus, die man fuͤr einen ſolchen Einfluß der
Phantaſie anfuͤhret, als derjenige iſt, von dem hier ge-
redet wird.
Dennoch bleiben ſo viele Fakta uͤbrig, daß die Sa-
che ſelbſt im geringſten dadurch nicht zweifelhaft wird,
wenn man auch nur lauter ſolche Beyſpiele auslieſt,
wobey entweder gar kein Verdacht ſtattfindet, daß auſ-
ſer der Phantaſie keine andere reizende Urſache vorhan-
den ſey, oder wo doch jene offenbar den vornehmſten An-
theil an der entſtandenen Wirkung hat. Aber wenn
man auf dieſe Art die beweiſenden Fakta genau auslieſt,
und dann aus ihnen ein allgemeines Reſultat herauszie-
het, ſo kann man die Erſetzung der koͤrperlichen Kraͤfte
durch Seelenkraͤfte, da wo ſie geſchieht, uͤberhaupt nicht
anders, als fuͤr unvollſtaͤndig und mangelhaft er-
klaͤren. Die Kraft der Seele erſetzet die organiſche
Kraft im Koͤrper, aber nur in einigem Grade. Sie
kann nicht auf die Laͤnge fort, nicht voͤllig ihre Stelle
vertreten; und wenn es Beyſpiele giebt, in denen die
Phantaſie in aller Hinſicht an Lebhaftigkeit, Staͤrke
und Dauer in den Koͤrper ſo wirket, wie koͤrperliche
Eindruͤcke, ſo gehoͤren ſolche zu den außerordentlichen
und ſeltenſten.
Wenn eine Perſon ſich bey dem Anblick einer Spei-
ſe erbricht, in der ſie eine tode Fliege antrift, ſo iſt
nun zwar außer Zweifel, daß dieſe Wirkung einer bloſ-
ſen
[336]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſen Einbildung zugeſchrieben werden muͤſſe. Jnglei-
chen, wenn man einer ekelhaften und empfindſamen Per-
ſon es ſaget, das Fleiſch, welches ſie gegeſſen habe, ſey
Hundefleiſch geweſen, wie es wirklich nicht geweſen iſt:
ſo wird man Anwandlungen von Uebelkeiten bey ihr ſe-
hen, die ihre Urſachen nur in der Phantaſie haben koͤn-
nen. Wenn ein Menſch von Brodkrumen, die man
ihm in der Geſtalt der Pillen gegeben hat, purgirt, und
ein Hund, der vor Kaͤlte zittert, ſich des Abends in den
Mondſchein hinleget, und nun Haut und Glieder ſtille
haͤlt, als ob er die Sonnenwaͤrme empfaͤnde: ſo haben
wir hier ſolche Beobachtungen, die es evident machen,
daß die Kraft der Seele daſſelbige vermoͤge, was ſon-
ſten die organiſche Kraft der Nerven verrichtet. Dieſe
Macht der Einbildungskraft aͤußert ſich am ſtaͤrkſten
bey Perſonen von gar zu großer Lebhaftigkeit, und be-
ſonders bey denen, die mit Nervenkrankheiten behaftet
ſind; daher die Charletans in ihren Wunderkuren bey
dieſen Leuten am gluͤcklichſten ſind, ſo wie uͤberhaupt bey
dem gemeinen Haufen, der ſeiner Phantaſie ſich ohne
Einſchraͤnkung uͤberlaͤßt, wenn ſie einmal aus ihrer na-
tuͤrlichen Graͤnze heraus iſt. Und alsdenn erfahren ſol-
che Perſonen reelle Wirkungen einer wahren phyſiſchen
Kraft, die in der Seele lieget, welche bey andern ſtaͤr-
ker uͤberlegenden Perſonen, die ihre Phantaſie zuruͤckhal-
ten, nicht erfolgen. Der gute Glaube hilft den Kranken,
wie eine Arzeney. Daher man ſich nicht wundern darf,
daß ſie ſich auf ihre Empfindung mit dem ſtaͤrkſten Be-
wußtſeyn berufen. Es giebt ganze Zeitalter und Laͤn-
der, die fuͤr dergleichen Wirkungen der Phantaſie em-
pfaͤnglicher ſind, als andere. Aber genauer alle dieſe
Erfahrungen angeſehen, ſo wird man bey den mehreſten es
bald aus den Folgen unterſcheiden koͤnnen, ob es die na-
tuͤrliche koͤrperliche Urſache oder nur ihre Stellvertre-
terin, die Einbildung, ob eine wahre Arzney oder die
Phan-
[337]im Menſchen.
Phantaſie geheilet habe? Die Beſſerung, welche von
der letztern kommt, iſt, die meiſten Male wenigſtens,
mehr im Anfang nur ſcheinbar, als reell, dauert
ſelten auf die Laͤnge, und erfodert, daß dieſelbige Ueber-
redung in ihrer erſten Staͤrke erhalten werde. Hat
hingegen die Arzney geholfen, ſo erfolget die Vorſtel-
lung, daß man geheilet ſey, von ſelbſt und leicht; aber
es iſt ein anderes, wenn das Gefuͤhl der Einbildung fol-
gen ſoll. Jndeſſen will ich zum Ueberfluß es noch ein-
mal erinnern, daß, wenn ich dieſe Erſetzung der organi-
ſchen Urſachen durch die Phantaſie, oder der Nerven-
kraͤfte durch Seelenkraͤfte, fuͤr unvollſtaͤndig und mangel-
haft erklaͤre, ich nur darauf zuruͤckſehe, was uͤberhaupt
und was die meiſten Male geſchieht, ohne es leugnen
zu wollen, daß in einigen beſondern Faͤllen ſelbige nicht
vollſtaͤndig ſeyn ſollte. Denn wenn gleich allemal eini-
ger Unterſcheid hiebey ſtattfinden muͤßte, wie es die
Erfahrungen im Durchſchnitt auch lehren, ſo folget doch
nicht, daß dieſer Unterſchied jedesmal ſehr merklich ſey.
Er kann dem ſchaͤrfſten Beobachter entwiſchen. Viel-
leicht fuͤhlet ein Kranker, den Gaßner kurirt hat, ſich
eben ſo gut geneſen, als der, dem eine Arzney geholfen
hat; und wenn Mesmer einer Perſon Erſchuͤtterungen
durch den Magnet in der Ferne beybringet, ſo wird
ſie vielleicht eben ſo reell und ſtark beweget, als wenn ſie
einen elektriſchen Stoß empfunden haͤtte. Nicht das
Raiſonnement ſondern die Beobachtungen, aber die
richtigen, wobey der pruͤfende Verſtand, nicht die Ein-
bildungskraft, zuſiehet und vergleichet, muͤſſen es leh-
ren, wie weit und in welchen Faͤllen dieß gehe? und es
darf keine Erfahrung darum gelaͤugnet werden, weil
die Macht der Phantaſie die Graͤnzen des Gewoͤhnli-
chen bey ihr uͤberſchritten haben muͤßte. *) Am oͤfter-
IITheil. Yſten
[338]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſten und gewoͤhnlicherweiſe iſt ſie in Hinſicht der koͤrper-
lichen Bewegungen, was eine elektriſche Erſchuͤtterung
in unſern kuͤnſtlichen Verſuchen gegen ein Erdbeben iſt;
aber zuweilen iſt ſie das, wenigſtens kann ſie es ſeyn,
was die große Elektricitaͤt der Natur bey dem letztern iſt,
und dann wuͤrde ſie fuͤr die Wirkung nicht mehr zu
ſchwach ſeyn.
Wenn die Phantaſie oder Seelenkraft die ſonſten
natuͤrlich nothwendigen Bewegungsreihen hervorbrin-
gen kann, wo die organiſchen Urſachen fehlen: ſo iſt es
noch mehr begreiflich, wie ſie bey der zwoten Art, in
welcher die Verknuͤpfung durch zufaͤllige Umſtaͤnde zu-
erſt veranlaſſet worden iſt, und beſonders in ſolchen, wo
die nachfolgende Bewegung von einer Selbſtbeſtim-
mung der Seele abhaͤnget und fuͤr ſich unſerer Will-
kuͤr unterworfen iſt, den fehlenden koͤrperlichen Ein-
druck erſetzen koͤnne. Es iſt nicht aus Jnſtinkt ſon-
dern aus angenommener Gewohnheit, daß wir die Hand
vorhalten, wenn Jemand uns nach dem Kopf ſchlaͤget;
und dieſe Bewegung mit der Hand iſt willkuͤrlich, da-
her koͤnnen wir ſolche eben ſo gut verrichten, wenn wir
uns nur einbilden, daß Jemand ſchlaͤget, als wenn es
wirklich geſchieht. Wenn hingegen die erfolgende Be-
wegung fuͤr ſich nicht willkuͤrlich oder es doch nicht in der
Maße iſt, wie ſie vorgenommen wird, ſondern ihre ei-
gene Diſpoſition in dem Koͤrper erfodert: ſo kann ſie
mittelſt der Phantaſie nicht ſo leicht, wenigſtens ge-
woͤhnlich nicht, hervorgebracht werden, als wenn der
reizende koͤrperliche Eindruck vorhanden iſt. Mit der
linken Hand kann ich zwar ſchreiben, aber mit aller moͤg-
lichen Anſtrengung der Einbildungskraft und des Wol-
lens weder ſo fertig noch ſo leſerlich, als mit der rechten;
darum, weil die Bewegung mit jener zwar uͤberhaupt
willkuͤrlich iſt, aber nicht ſo die Fertigkeit ſie auf dieſe
oder jene Art zu bewegen, welche außer der Vorſtellung
und
[339]im Menſchen.
und dem Wollen der Seele noch eine gewiſſe Dispoſi-
tion in dem Koͤrper vorausſetzet.
9.
Dieß war die Eine Klaſſe von Reihen koͤrperlicher
Veraͤnderungen, die am mindeſten durch die Seele
verbunden ſind. Laſſet uns nun noch die aͤußerſten auf
der entgegengeſetzten Seite, das iſt, diejenigen, die am
meiſten durch die Seele zuſammenhangen, oder die
willkuͤrlichſten, aus demſelbigen Geſichtspunkte be-
trachten.
Zu den willkuͤrlichen Reihen gehoͤren uͤberhaupt
alle diejenigen, in welchen die Verbindung in ihrer Fol-
ge, ohne Dazwiſchenkunft der Vorſtellungskraft und des
Beſtrebens in der Seele, nicht entſtanden iſt. Der Zu-
ſammenhang zwiſchen der vorhergehenden und nachfol-
genden Bewegung gehet alſo entweder allein durch die
Seele, oder ſie hat doch durch dieſe zuerſt gehen muͤſſen,
ehe eine organiſche Anreihung in dem Koͤrper entſtan-
den iſt. Bey dem Menſchen gehoͤren alle koͤrperliche
Handlungen, worinn ſich Begierden aͤußern, die auf
vorgeſtellte Gegenſtaͤnde gerichtet ſind, zu dieſer Klaſſe,
und, wie ſchon oben erinnert iſt, auch das Greifen nach
dem Degen bey dem Kriegsmann, der unvermuthet
uͤberfallen wird. Aber es giebt auch willkuͤrliche Fer-
tigkeiten, in welchen nicht nur die Vorſtellungen von
den Objekten, worauf ſie gerichtet ſind, zufaͤllig und
willkuͤrlich ſind, ſondern auch die Vorſtellungen von der
Handlungsweiſe in der Seele, wodurch ſie beſtimmet
werden, wie die Fertigkeit zu malen, zu tanzen, zu
ſchreiben, und ſo ferner alle unſere erworbenen Geſchick-
lichkeiten, die ihren Sitz in dem Koͤrper haben.
Zu ihrem Unterſcheidungsmerkmal gehoͤret auch die-
ſes, daß die nachfolgende Bewegung, welche auf den
Eindruck oder auf das Wollen der Seele erfolget, fuͤr
Y 2ſich
[340]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſich allein betrachtet, eine willkuͤrliche Bewegung
ſey, die durch eine Aktion der Seele auf den Koͤrper,
wenn die Vorſtellung von der Bewegung gegenwaͤrtig
iſt, hervorgebracht werden kann. Es hindert aber
nicht, wenn ſie gleich auch ſonſten unter andern Umſtaͤn-
den durch eine bloß im Koͤrper liegende Urſache gewir-
ket wird. Jn konvulſiviſchen Krankheiten erfolgen oft
aͤhnliche Bewegungen des Koͤrpers, der Fuͤße und der
Haͤnde, wie die willkuͤrlichen ſind; aber dennoch haͤngt
das Springen des geſunden Menſchen von der Eigen-
macht und der Willkuͤr der Seele ab.
Einige von ſolchen willkuͤrlichen Bewegungsreihen
haben vielleicht nichts mehr, als Eine oder ein paar ſim-
ple Vorſtellungen in der Seele, zu ihrer Aſſociation erfo-
dert. Der Menſch iſt hungrig; ihm wird eine Speiſe
vorgeſetzt, die ihm ſchmecket. Von dieſer Speiſe em-
pfaͤngt er eine Vorſtellung, und in einem aͤhnlichen Falle
ſtrecket er die Hand nach ihr zuerſt hin. Eine Vorſtel-
lung, die aus der vorigen Empfindung zuruͤckgeblieben
war, ohne eine weitere Selbſtthaͤtigkeit der vorſtellen-
den Kraft, ohne Ueberlegen und Nachdenken, reichet
hin das Gelenk auszumachen, welches die beſondern
Theile der ganzen Reihe zuſammenbringet.
Es giebt andere, in welchen die erſte Anreihung
eine gefliſſentliche Auſmerkſamkeit und eine ſehr merk-
liche Anwendung der Denkkraft erfodert hat. Es ſind
klare und deutliche Vorſtellungen, Vergleichungen, Fol-
gerungen und Raiſonnements erfodert worden, ehe die
Fertigkeiten im Reden, Schreiben, Malen, Tanzen,
Fechten und dergleichen erlanget ſind. Aus dieſen letz-
tern kann man die Beyſpiele nehmen, wenn man ſehen
will, was in ſolchen enthalten iſt, die am meiſten will-
kuͤrlich ſind.
10. Die-
[341]im Menſchen.
10.
Dieſe Fertigkeiten in willkuͤrlichen Bewegungen er-
fodern:
1) Eine Fertigkeit in der Seele, die dazu ge-
hoͤrigen Vorſtellungen zu reproduciren. Dieß iſt das
Geiſtige in ihnen, oder der Antheil der Seele bey ihnen.
Es bedarf dieß keiner weitern Beſtaͤtigung. Der
Spieler kann nicht zunehmen an Geſchicklichkeit, wofern
nicht auch ſeine Fertigkeit in der Seele groͤßer wird, die
Folge der Noten und der Toͤne in der Vorſtellung ſchnell
zu faſſen, und ſchnell die noͤthigen Aktionen der Bewe-
gungskraft hervorzubringen. Die Zauberkraft in der
Hand, die lebloſe Koͤrper beſeelt oder durch Toͤne das
Herz zerſchmelzt, hat ihren innern Sitz in der maͤchti-
gen Phantaſie; und ſelbſt dauert ſie noch fort, wenn
gleich die Hand gelaͤhmet iſt und die entſprechenden
Bewegungen nicht mehr darſtellen kann.
Aber ob denn auch 2) zugleich in dem Koͤrper ei-
ne organiſche Fertigkeit, ſolche Bewegungen auf-
einander folgen zu laſſen, vorhanden ſey, das iſt, ob
auch in dem Koͤrper eine Verbindung der aufeinander
folgenden einzelnen willkuͤrlichen Bewegungen ſtatt-
finde, mittelſt welcher ſie ſich erwecken koͤnnen? Ob
der Ausdruck philoſophiſch richtig ſey, wenn man zuwei-
len von dieſer Art von Handlungen ſaget, daß ſie uns
voͤllig mechaniſch ſind? dieß iſt hier der vornehmſte Punkt.
Es ſcheinet ſolches im Allgemeinen nicht bezweifelt
werden zu koͤnnen, und zwar aus folgenden Gruͤnden.
Um eine Fertigkeit im Schreiben, Tanzen, Spie-
len und ſo weiter zu erlangen, iſt es nicht genug, die
dazu gehoͤrige Reihe von Vorſtellungen in der Seele
ſich ſo bekannt zu machen, daß ihre Reproduktion uns
leicht werde; man muß auch ſelbſt handeln und ſich
uͤben. Theils freylich darum, weil ohne die Handlung
vorzunehmen auch die Vorſtellung von ihr nicht an-
Y 3ſchaulich
[342]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſchaulich genug werden kann, um ein beſtimmtes Be-
ſtreben dazu in der Seele hervorzubringen.*) Eine ſol-
che Jdee ſetzet die wirkliche Verrichtung gewiſſermaßen
voraus; aber es iſt doch nicht allein dieß die Urſache,
welche die Uebung nothwendig machet. Es iſt noch ei-
ne andere da. Ohne Uebung koͤnnen die Glieder des
Koͤrpers die noͤthige Geſchwindigkeit zu den Bewegun-
gen nicht erlangen. Denn da anfangs Arbeiten von der
Art bald ermuͤden und unangenehme Empfindungen
in dem Koͤrper hervorbringen, die ſich verlieren, wenn
die Uebung fortgeſetzet wird, ſo iſt es offenbar, daß auch
in dem Koͤrper eine gewiſſe Dispoſition, ſolche Bewe-
gungen aufeinander anzunehmen, hervorgebracht wer-
de, die eine wahre Aſſociation derſelben iſt.
Solche Beyſpiele zeigen dieß am deutlichſten, in
welchen wir uns der obgedachten Redensart bedienen,
daß uns etwas ſchon mechaniſch ſey. Und je mehr
die Uebung einfoͤrmig und auf einerley Objekt einge-
ſchraͤnket iſt, deſto ehe wird ſie dieſes. Die Finger,
die Fuͤße und auch die Zunge, wenn Jemand ganz
gelaͤufige Formeln herſaget, laufen nicht nur vor der Re-
flexion ſondern zuweilen auch ſo gar vor der Vor-
ſtellung voraus, obgleich nur auf eine geringe Strecke.
Man wird es am beſten gewahr, wenn man einige der-
gleichen willkuͤrliche Fertigkeiten ſich wieder abgewoͤh-
nen will.
Ferner wird dieß in Hinſicht einiger Handlungen
dadurch außer Zweifel geſetzt, daß ſolche auch von ent-
haupteten Menſchen noch vorgenommen worden ſind.
Einige Menſchen haben mit den Armen gezuckt, als
wenn ſie ſich der Bande entledigen und die Haͤnde zum
Gebrauch frey machen wollten; die Hand hat nach et-
was gegriffen, und die Beine haben ſich in die Hoͤhe
richten wollen. Wenn nun gleich dieſe Handlungen
nicht
[343]im Menſchen.
nicht zu denen gehoͤren, die in dem hoͤchſten Grade will-
kuͤrlich ſind und auch nicht lange fortgeſetzet werden,
ſo ſind es doch ſolche, die uͤberhaupt willkuͤrlich waren,
und in denen der Zuſammenhang mittelſt der Vorſtel-
lungskraft der Seele zu Stande gekommen iſt. Dieſe
Reihen ſind von denen, welche zu den Kunſtfertigkeiten
gehoͤren, nicht ihrer Natur nach ſondern nur darinn
unterſchieden, daß ſie aus einer geringern Anzahl von
willkuͤrlich angereiheten Aktionen beſtehen, als dieſe.
Daher iſt man wohl berechtiget, aus den gedachten Er-
fahrungen zu ſchließen, daß, wenn zwey naͤchſte Glie-
der einer ganzen Reihe ihre organiſche Verbindung in
dem Koͤrper haben, die naͤmliche Verbindung auch
wohl durch eine laͤngere Reihe hindurch gehen koͤnne,
obgleich eine groͤßere Uebung erfodert wird, ehe dieſe
laͤngere Reihe ſich feſtſetzet.
Aber die Beyſpiele von dergleichen Handlungen bey
andern enthaupteten Thieren, deren ich ſchon oben ge-
dacht habe, ſind nicht alle ohne Unterſchied geſchickt,
dieß letztere zu beweiſen. Man muß ſie wohl pruͤfen,
eh man ſie zum Grunde leget. Es kann zweifelhaft
ſeyn, ob ſie bey dieſen Thieren jemals willkuͤrliche Hand-
lungen geweſen ſind, wie ſie bey dem Menſchen es ſind,
da bey den Thieren manche Bewegungen organiſch noth-
wendig und Wirkungen des blinden Jnſtinkts ſeyn koͤn-
nen, die bey dem Menſchen die Dazwiſchenkunft der
Vorſtellungen und der Eigenmacht der Seele erfodern.
Gleichwohl ſind viele doch entſcheidende Beweiſe. So
viel erhellet doch aus dem Begatten der ihrer Koͤpfe be-
raubten Schmetterlinge, wenn ſie nur ſolches vorher
bey ihrem Leben mehrmalen verrichtet haben, daß ein
organiſirter Koͤrper auch ſehr zuſammengeſetzte Gewohn-
heiten annehmen koͤnne. Die menſchliche Organiſation
wird alſo auch dazu aufgelegt ſeyn, wenn gleich in ei-
nem mindern Grade.
Y 411.
[344]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
11.
3) Daß die beiden Reihen in der Seele und in dem
Koͤrper einander modificiren, und bey der Anwendung
der Fertigkeiten zu Huͤlfe kommen, iſt außer Zweifel.
Einige ſind, ſo zu ſagen, mehr bloß koͤrperlich, andere
mehr geiſtig; wovon der Unterſchied der freyen und der
mechaniſchen Kuͤnſte abhaͤngt; aber beides iſt in je-
der Geſchicklichkeit eines Virtuoſen zuſammen. Gar-
rik koͤnnte nicht Garrik ſeyn ohne ein feines lebhaftes
und in dem Koͤrper allgegenwaͤrtiges Gefuͤhl; nicht oh-
ne die maͤchtige Phantaſie, die jede fremde Denkungs-
art und Lage anſchaulich und in ihrer individuellen Be-
ſtimmtheit auffaßt, und ſich leicht in ſelbige verſetzet.
Aber eben ſo gewiß iſt es auf der andern Seite, daß je
groͤßer und ſtaͤrker die Uebung mit dem Koͤrper iſt, die
Handlungen deſto mehr mechaniſch werden, ſich im
Koͤrper ſelbſt anreihen und ohne Anſtrengung der Seele
hervorgebracht werden. Die Fertigkeit in dem Koͤr-
per iſt ein weſentliches Stuͤck der ganzen menſchlichen
Fertigkeit, davon das zweyte in der Seele iſt. Daß
dieſe beiden zuweilen getrennt ſind, wenn entweder der
Koͤrper oder der Geiſt nicht in der gehoͤrigen Dispoſi-
tion ſich befindet, lehret die Erfahrung; und daher be-
darf es alſo keiner weitern Beſtaͤtigung, daß nicht Eins
dem andern hinderlich oder foͤderlich ſey, und die Wir-
kung deſſelben erleichtere oder erſchwere.
Aber was endlich 4) die Frage betrift, ob die Aſſo-
ciation der Bewegungen im Koͤrper wohl jemals allein
hinreichend ſeyn koͤnne die Bewegungen hervorzubrin-
gen, und alſo die Beywirkung der Vorſtellungskraft
der Seele durch Koͤrperkraͤfte erſetzet werden koͤnne, oder
dieſe durch jene? ſo habe ich vorher ſchon geſagt, daß
wir hieruͤber aus den Beobachtungen zur Zeit noch nicht
entſcheiden koͤnnen. Aus den mir bekannten Erfahrun-
gen
[345]im Menſchen.
gen weiß ich nichts beſtimmteres herauszubringen, als
folgende Saͤtze.
Die Fertigkeit in der Seele kann nicht voͤllig
den Mangel der Fertigkeit in dem Koͤrper erſetzen.
Ein Genie ſpielet, malet, tanzet zwar das erſtemal beſ-
ſer als der Stuͤmper, der ſich lange Zeit darinn geuͤbt
hat; und der Virtuoſe ſpielet die Aria vom Blatte leich-
ter und richtiger weg, als ein anderer, der ſie vielmal
durchgeſpielt hat. Dieß beweiſet ſo viel, daß es ei-
nen gewiſſen Grad der Fertigkeit gebe, der, ohne eine
Aſſociation der Bewegungen in dem Koͤrper zu erfodern,
von der Jdeenaſſociation in der Seele abhange; aber
dennoch waͤchſet auch die Fertigkeit des Virtuoſen in
Hinſicht einzelner Handlungen durch die Wiederholung
und Uebung, und da giebt es einen gewiſſen Grad der
Fertigkeit in dem, was uns gelaͤufig iſt, der von dem
Koͤrper abhaͤngt und durch die Phantaſie nicht erſetzet
werden kann. So will ich hier nur verſtanden ſeyn.
Denn wer wuͤrde ſonſten laͤugnen, daß Geſchicklichkeiten,
deren Hauptſitz in der Seele iſt, nicht auch in einem ſol-
chen Grade von dieſer letztern allein abhaͤngen, daß
man vergleichungsweiſe allerdings ſagen koͤnne, es han-
ge die Fertigkeit ſelbſt von der Seele ab.
Noch weniger kann die koͤrperliche Aſſocia-
tion in dem Menſchen ſo ſtark werden, daß ſie
den Mangel der Jdeenaſſociation in der Seele
voͤllig erſetzen koͤnnte. Wo iſt ſo eine Erfahrung,
die dieſes erweiſe? Der Virtuoſe muß auch bey den
leichtſten Stuͤcken doch mit ſeinem Geiſte gegenwaͤrtig
ſeyn, ſo wie wir auf dem bekannteſten Spatziergange noch
immer die Augen gebrauchen muͤſſen, um auf dem We-
ge zu bleiben.
Dieß ſind die beiden beſtimmten Saͤtze, die wir
aus den Beobachtungen nehmen koͤnnen. Jm uͤbrigen
aber giebt es allerdings eine etwanige Erſetzung der
Y 5Seelen-
[346]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Seelenkraͤfte durch die Koͤrperkraͤfte, welche bey einigen
weiter gehet, als bey andern, je nachdem die Handlun-
gen beſchaffen ſind und ſich auf die thieriſchen Kraͤfte
beziehen. Jn einigen macht die Fertigkeit im Koͤrper
ſo wenig aus, und kann ſo wenig allein die Bewegungs-
reihen hervorbringen, als die Einbildungskraft Speiſen
verdauen kann. Hingegen richtet ſie alsdenn, wenn
uns etwas mechaniſch geworden iſt, mehr aus, niemals
aber alles allein. Sollte die Reihe von Bewegungen,
welche ein Spieler vornimmt, ſo voͤllig mechaniſch wer-
den koͤnnen, daß er ſo automatiſch wie Vaucanſons Floͤ-
tenſpieler eine Aria hervorbraͤchte? Eben darum, weil
der menſchliche Koͤrper zu ſo mannichfaltigen Bewegun-
gen und Abaͤnderungen aufgelegt iſt, muß es nothwen-
dig ſchwerer werden, daß eine gewiſſe beſtimmte Rei-
he von Bewegungen von einiger Laͤnge, deren einzelne
Theile nur zufaͤllig verknuͤpft ſind, ſich ſo gaͤnzlich ma-
ſchinenmaͤßig fortſetze. Wenn z. B. einmal die Finger
bey dem Spieler in die gehoͤrige Lage gegen ſein Jn-
ſtrument gebracht, und die Koͤrperkraͤfte aufgezo-
gen ſind, ſo muͤßten die nachfolgenden Bewegungen
durch die Organiſation in ihrer beſtimmten Ordnung
hervorkommen. Dieß iſt nicht zu erwarten, da es bey
dem Menſchen ſo leicht moͤglich iſt, aus dieſer Ordnung
herauszukommen, und auf verwandte Bewegungen
auszuſchweifen. Hier ſind, ſo zu ſagen, der Kanaͤle
und Gaͤnge fuͤr die bewegende Kraft zu viele, als daß
ſie eine beſtimmte Richtung treffen ſollte. Es iſt we-
nigſtens unwahrſcheinlich, daß irgend eine unſerer Kunſt-
fertigkeiten bis zu dieſem Grade hin mechaniſch werden
koͤnne.
Wenn nicht von ganzen Reihen ſolcher zufaͤllig aſſo-
ciirten Bewegungen, ſondern nur von einzelnen kleinen
Theilen in ihnen, die Rede iſt, ſo iſt es ein anders;
dieſe moͤgen auch noch aus zufaͤlligen und anfangs will-
kuͤrli-
[347]im Menſchen.
kuͤrlichen Verknuͤpfungen beſtehen: aber es iſt doch leicht
zu begreifen, daß hiebey wenn ſie fuͤr ſich einzeln genom-
men werden, eine voͤllige Erſetzung der Seelenkraͤfte
durch die Koͤrperkraͤfte nicht unmoͤglich ſey. Jn der
That iſt es dieſes, was die vorhin angefuͤhrten Bey-
ſpiele von dem, was in dem enthaupteten Menſchen vor-
gehet, beweiſen. Bey ihnen iſt es, wo die angenom-
mene Gewohnheit zur wahren Natur wird. Weil ſol-
che einzelne Verbindungen ſo oft in den zuſammengeſetz-
tern Reihen als Theile vorkommen: ſo wird ihre Aſſo-
ciation auch vorzuͤglich feſt und unaufloͤslicher. Aber
von dieſen kann man auf die ganzen Reihen nicht ſchlieſ-
ſen, die nach Abſicht und Plan angelegt ſind, derglei-
chen zu den Kunſtfertigkeiten gehoͤren. Denn ob nun
zwar daraus die allgemeine Moͤglichkeit erhellet, daß,
was bey kuͤrzern Reihen geſchieht, auch bey laͤngern an
ſich moͤglich ſey: ſo iſt es doch gewiß, daß das letztere
in der menſchlichen Organiſation ſo viele Hinderniſſe fin-
det, daß es niemals zu Stande kommt. Und von dem,
was wirklich geſchieht, iſt hier nur eigentlich die Frage.
Warum ſollte der organiſirte menſchliche Koͤrper nicht
dazu aufgelegt ſeyn, wozu die Automata geweſen ſind,
die Menſchenwitz erfunden hat? Vielleicht iſt die Or-
ganiſation wirklich bey einigen Thieren ſo wirkſam. Aber
darum kann ich doch die Leibnitziſche Harmonie nicht
fuͤr die wahre Vorſtellung von unſerer Natur halten, ob
ſie gleich nicht unmoͤglich iſt, und der Schoͤpfer wohl ei-
nen Koͤrper haͤtte machen koͤnnen, der ohne Seele eben
das verrichte, was der unſrige nur unter ihrem Einfluß
thun kann.
12.
Es ſcheint mir unnoͤthig zu ſeyn die Bewegungs-
reihen, die zwiſchen den beiden aͤußerſten Arten derſel-
ben fallen, naͤmlich zwiſchen den meiſt willkuͤrlichen und
den
[348]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
den meiſt organiſchen, nun noch beſonders zu betrach-
ten. Man kann aus dem Vorhergehenden leicht uͤber-
ſehn, zu welchen Schlußſaͤtzen man in Hinſicht ihrer ge-
langen wuͤrde. Ueberdieß ſind ſchon vorhero Bemer-
kungen eingeſtreuet, die dieſe letztere Mittelgattung al-
lein betreffen.
Jndeſſen iſt es nicht undienlich, noch einmal die
Mannichfaltigkeit der Bewegungsreihen mit einem Blick
zu uͤberſehen. Es giebt erſtlich Reihen, die urſpruͤnglich
durch die Organiſation in dem Koͤrper beſtimmt werden.
Zu dieſer Verbindung in dem Koͤrper kommt nachher
ein Zuſammenhang mittelſt der Seele. Aber dieſer
letztere bleibet der zweete Theil, der am wenigſten bedeu-
tet, und den Abgang von der organiſchen Verbindung
im Koͤrper nie voͤllig erſetzen kann. Es giebt zweytens
Bewegungen, die offenbar zuerſt durch die Seele an-
einander gereihet worden ſind. Dazu kommt nachher
eine aͤhnliche Aſſociation in dem Koͤrper, welche die Da-
zwiſchenkunft der Seele zum Theil, aber nicht gaͤnzlich,
entbehrlich macht.
Man wird nach der Analogie der Natur von ſelbſt
vermuthen, daß der groͤßte Theil von allen Bewegungs-
reihen, die wir bey dem Menſchen antreffen, zwiſchen
dieſen falle, wie die Erfahrung lehret, daß es wirklich
iſt. Die Verknuͤpfung kann vom Anfang an theils
durch die Seele, theils durch den Koͤrper zugleich, zu
Stande gekommen ſeyn, ſo daß der Antheil beider Art
von Kraͤften mehr in Gleichheit ſtehe. Und dieſe koͤnn-
ten die eigentlich thieriſchen Reihen genennet werden.
Daß aber unter ihnen ſelbſt eine große Mannichfaltig-
keit ſtattfinden werde, da das Verhaͤltniß, worinn See-
len- und Koͤrperkraͤfte bey ihnen wirkſam ſind, auf
unendlich verſchiedene Art beſtimmet ſeyn kann, iſt als-
denn von ſelbſt offenbar. Von dieſen eigentlich thieri-
ſchen Aeußerungen laͤßt es ſich am erſten erwarten, daß
ſie
[349]im Menſchen.
ſie zuweilen von dem Koͤrper ohne Seele verrichtet wer-
den; und auch umgekehrt, daß die Seelenkraft ſie in
ihrer Ordnung hervorbringen koͤnne, wenn gleich die
gewoͤhnliche vorhergehende und beſtimmende Urſache im
Koͤrper nicht vorhanden iſt. Hier haben wir den Grund-
ſtrich in der Jdee von der thieriſchen Natur des Men-
ſchen; von der Seite ſie angeſehen, wo ſie uns auf ei-
nen analogiſchen Grund fuͤhret, uns von dem Seelen-
weſen eine aͤhnliche Vorſtellung zu machen.
13.
Es laͤßt ſich nun auch wohl begreifen, daß eine
Beywirkung der Seele zu den thieriſchen Bewegun-
gen, welche in dem Menſchen die kleinſte iſt, eben ſo
groß ſeyn koͤnne, als ſie bey andern Thieren iſt, wenn
ſie die groͤßte iſt. Vielleicht iſt der Einfluß der Seele
zu unſern bloß organiſchen Bewegungen noch eben ſo
groß, als der Einfluß der Seele bey der Auſter bey
ſolchen Bewegungen iſt, die ſie am meiſten in ihrer Ge-
walt hat, oder die am meiſten von ihrer Seelenkraft
abhangen. Vorzuͤgliche Eigenmacht und Selbſtthaͤtig-
keit in der Seele, und eine vorzuͤgliche relative Groͤße
ihres Einfluſſes in die ganze thieriſche Natur iſt Eine
von den Eigenheiten des Menſchen. Wir finden die-
ſen ſchon nicht ſo groß, auch bey den vollkommenſten
Thieren, die dem Menſchen am naͤchſten zu ſtehen ſchei-
nen. Von welchem Grade mag nun wohl dieſe relative
Wichtigkeit der Seelenkraft (das dominium monadis
dominantis) in den Jnſekten und Gewuͤrmen, und
endlich in den Polypen, in den Stein- und Pflanzen-
thieren ſeyn? Jn den Pflanzen findet ſich nach der
Jdee, die wir von ihnen haben, nichts als bloße koͤr-
perliche Organiſation. Denn wir finden ihre we-
ſentliche Kraft, als das Princip ihres Wachſens und
Lebens, nicht ſo in Einem Theile vereiniget, als bey den
Thie-
[350]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Thieren, wo das Gehirn der Sitz des thieriſchen
Princips iſt. Bey den Pflanzen iſt ſolches mehr
durch die ganze Maſſe des organiſchen Koͤrpers verthei-
let; und da koͤnnen wir auch keine Seele antreffen, wo-
fern wir nicht mehrere Seelen durch den ganzen Koͤrper
zerſtreut annehmen und jedem Zweige fuͤr ſich die ſeinige
beylegen wollten. So ſtellen wir uns wenigſtens die
Sache nach unſern Erfahrungsbegriffen vor.
Muͤſſen wir nun auch auf dieſelbige Art uͤber einige
Thierarten raiſonniren? Hr. D. Unzer haͤlt es fuͤr
wahrſcheinlich, daß es ſich bey vielen von ihnen, die zu
den Jnſekten und Gewuͤrmen gehoͤren, bey den Polypen
und Zoophyten eben ſo verhalte, und daß dieſe weiter
nichts als organiſirte Weſen ohne Seele ſind. Der
ſcharfſinnige Mann meinet, es ſey dieß deſto wahrſcheinli-
cher, je deutlicher es aus ſeinen Betrachtungen uͤber die
thieriſche Natur erhelle, wie alle Handlungen, die von
den erwaͤhnten unvollkommenen Thieren verrichtet wer-
den, durch die bloße Organiſation des Koͤrpers erfolgen
koͤnnen, ohne daß es einer vorſtellenden und wollenden
Seele dazu beduͤrfe. Wenn die Frage von der Moͤg-
lichkeit iſt, ſo habe ich oft bezeugt, daß ſolche nicht ge-
laͤugnet werden kann; aber wenn man auf die uͤbrige
Analogie der Natur Ruͤckſicht nimmt: ſo deucht mich,
es ſey in dieſer Hypotheſe der Punkt der Seelenloſig-
keit in der Stufenlinie der organiſirten Weſen etwas
zu hoch hinaufgeſetzt. Weſen, in denen entweder ein
eigentliches Gehirn iſt, oder wo gewiſſe Theile vorhan-
den ſind, die deſſen Stelle vertreten, ſollten doch auch
noch als ſolche angeſehen werden, denen man eine See-
le, oder ein Seelenweſen zuſchreiben muͤßte. Denn
in dieſem Fall ſind ſie noch organiſche Einheiten, die ir-
gendwo Einen Mittelpunkt der von außen auffallenden
Eindruͤcke, und der von innen herausgehenden Thaͤtig-
keiten in ſich haben. Und dieß ſcheinet noch bey den Poly-
pen
[351]im Menſchen.
pen ſtattzufinden, denen Hr. Bonnet ein Jch zu-
ſchreibet.
Jndeſſen mag es ſich hiemit verhalten, wie es wol-
le: ſo meine ich doch, man muͤſſe es als einen Grund-
ſatz annehmen, daß die Natur auch da keinen
Sprung mache, wo ſie von den Beſeelten zu
den Unbeſeelten heruntergehet. Auch dieſer Ue-
bergang beſtehet in einer Abaͤnderung von Stufen und
Graden. Jch erwehne hier dieſes Satzes insbeſondere,
weil ich meine, daß, wenn man die Betrachtungen
uͤber den Charakter der Menſchheit in dem eilften Ver-
ſuche mit denen vergleichet, die in dem gegenwaͤrtigen
uͤber die Natur des Seelenweſens vorkommen, es nun-
mehro einleuchte, wie wahrſcheinlich dieß ſey, und zu-
gleich wie man ſich ſolches vorſtellen muͤſſe. Je mehr
naͤmlich Eine von den ſubſtanziellen Einheiten,
welche zuſammengenommen das Princip des Lebens und
der Thaͤtigkeit der ganzen Organiſation enthalten, vor
den uͤbrigen hervorſticht, deſto mehr iſt dieſe Sub-
ſtanz ein Jch, oder eine Seele; aber deſto mehr ſie den
uͤbrigen gleich iſt und mit ihnen eine einfoͤrmige Mate-
rie ausmacht, deſto mehr naͤhern ſich die Weſen, denen
eine unkoͤrperliche Seele zukommt, denen, deren Seelen-
weſen nur koͤrperlich iſt. Je mehr aber nun dieſes koͤr-
perliche Seelenweſen zwiſchen die uͤbrigen Theile der or-
ganiſirten Materie vertheilet iſt, und den groͤbern ſicht-
baren Partikeln des Ganzen jeder ein beſonderer Theil des
gedachten Princips beywohnet, und je geringer die Ver-
bindung der Theile unter ſich zu einem wirkſamen Gan-
zen iſt; deſto mehr verliehret ſich die thieriſche Ein-
heit in der Organiſation, und deſto naͤher kommt das
Ganze der ſimpeln unbeſeelten Organiſation, die wir in
den Pflanzen antreffen. Wir koͤnnen alſo folgende
Stufen unterſcheiden: Jchheit, oder die Hervorra-
gung und Herrſchaft einer ſubſtanziellen wahren Einheit;
das
[352]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
das Beſeeltſeyn, wenn das Seelenweſen gleich nur
ein beſonderes koͤrperliches Weſen iſt. Bis hieher ge-
het noch die thieriſche Natur. Ferner, die unbeſeelte
Organiſation; und endlich bloßer Mechanismus;
welcher letztere auch wiederum nur in der geringern
Mannichfaltigkeit der zuſammengeſetzten Theile, und in
der geringern Anzahl ihrer verſchiedenen Beziehungen
aufeinander, von der Organiſation ſelbſt verſchieden
iſt. Organiſation iſt unendlichvielfach zuſammenge-
ſetzter Mechanismus.
Gemeiniglich uͤberſchlagen wir die Mittelſtufe, wel-
che zwiſchen der unbeſeelten Organiſation und zwi-
ſchen der vollkommenen Thierheit, oder Jchheit, lie-
get, indem wir vorausſetzen, daß ein Weſen, welches
nicht bloß organiſirt iſt wie die Pflanzen, nothwendig
auch eine einfache Seele, als ein Jch, in ſich habe, wo-
hin alle Eindruͤcke von außen, als in einen phyſiſchen
Mittelpunkt zuſammengehen. Dieß hat, wenn ich
nicht irre, manche Dunkelheiten in unſern Begriffen
von den Polypen, Pflanzenthieren und andern unvoll-
kommenen Thierarten veranlaſſet. Denn auf einer
Seite finden wir mehr bey ihnen als die bloße Organi-
ſation der Pflanzen; und auf der andern Seite verwi-
ckeln wir uns in Schwierigkeiten, wenn wir ihnen ſol-
che einfache Seelen zuſchreiben, wie die unſrige iſt.
Jch will es den ſcharfſinnigen Betrachtungen des Hr.
Bonnets*) gern einraͤumen, daß ſich dieſe Schwie-
rigkeiten heben laſſen; und noch mehr ſagen: „Es iſt
„ſehr wahrſcheinlich, daß in allen Weſen, in welchen
„wir ein von dem groͤbern Koͤrper unterſchiedenes See-
„lenweſen antreffen, auch wiederum in dieſem letztern ei-
„ne hervorragende einfache Subſtanz, und alſo eine
„Jchheit ſey.“ Allein man bedenke, wie unendlich
die Natur die Verhaͤltniſſe abwechſele. Sollte nicht
wohl
[353]im Menſchen.
wohl das Verhaͤltniß, worinn das Seelenweſen, als
die weſentliche Kraft der thieriſchen Organiſation, gegen
die uͤbrige organiſirte Materie ſtehet, groͤßer ſeyn koͤnnen,
als das Verhaͤltniß des Jchs in dieſem Seelenweſen ge-
gen den koͤrperlichen Beſtandtheil deſſelben? Kann al-
ſo nicht die Jchheit oder die Herrſchaft der einfachen
Seele ſo unbedeutend ſeyn, daß ſie faſt fuͤr nichts zu
achten iſt, wenigſtens nicht merklich iſt, wo doch das
geſamte koͤrperliche Seelenweſen merklich genug als das
Princip des Lebens und der Thaͤtigkeit hervorraget?
Da waͤre denn die angegebene Mittelſtufe.
Daruͤber darf man ſich nicht wundern, wenn es uns
ſo ſchwer oder gar unmoͤglich wird, die wirklichen We-
ſen in der Welt an ihre gehoͤrigen Stellen in der allge-
meinen Stufenleiter hinzuſetzen. Haͤnget etwan die
zwote Stufe der bloß materiellen Seelenweſen da an,
wo wir die ſich ſelbſt aus ihren Stuͤcken wieder voͤllig er-
gaͤnzenden Weſen antreffen? und gehet ſie etwan herunter
bis auf die Pflanzen, und noch etwas in das Natur-
reich hinein? Dieß iſt außerordentlich ſchwer zu be-
ſtimmen, und wir koͤnnen zufrieden ſeyn, wenn wir
nur einigermaßen die Graͤnzen der verſchiedenen Ord-
nungen auffinden. Ohnedieß ſind der Unterſchiede in
den Graden weit mehrere in der Natur, als wir zu be-
merken im Stande ſind. Und hieraus folget die Ver-
muthungsregel, die von einigen großen Naturforſchern
ſchon aus den Erfahrungen gezogen iſt: „daß, wenn
„wir eine Weſensart antreffen, deren Natur von den
„uͤbrigen bekannten ſehr merklich abweichet, ſicher zu
„vermuthen ſey, daß es noch mehrere geben werde, die
„dieſer in ihren Eigenheiten aͤhnlich ſind.“ Denn da
hier die Abweichung in den Graden merklich iſt, ſo
wird es noch andere geben, bey denen ſie geringer iſt,
die wir aber mit der letztern, weil ſie ihr allzu nahe
kommt, fuͤr einerley anſehen muͤſſen.
IITheil. ZWas
[354]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Was insbeſondere die Frage betrifft: ob wir aus
unſern Beobachtungen und nach der Analogie der Na-
tur irgend einer Gattung von Weſen, die wir unter dem
Thierreich begreifen, eine Seele abzuſprechen und ſie
fuͤr unbeſeelte blos organiſirte Koͤrper anzuſehen berechtigt
ſind? ſo will ich, ohne ſolche zu entſcheiden, nur eine
allgemeine Reflexion daruͤber hinzuſetzen.
Die Empfindlichkeit und die Bewegung aus
einer Eigenmacht ſind die beiden aͤußern Charaktere
der Thierheit, die wir haben, und warum wir Poly-
pen und Thierpflanzen fuͤr wahre Thiere anſehen. Es
iſt auch nicht zu zweifeln, daß dieſe beyden Eigenſchaf-
ten nicht in einer gewiſſen Beziehung mit der innern
Einheit des Ganzen, und mit dem Uebergewicht
einer regierenden Subſtanz, in der Organiſation
ſtehen ſollten; nur iſt die Frage, in welcher? Und dieſe
beiden letztern Eigenſchaften haben wahrſcheinlicher wei-
ſe wiederum ein gewiſſes Verhaͤltniß auf die Vollkom-
menheit der Organiſation ſelbſt. Aber da wir keinen
Maasſtab zu der Empfindlichkeit und der Spontaneitaͤt
beſitzen, und auch unſere Jdee von der Vollkommenheit
der Organiſation ſo ſchwankend und unbeſtimmt iſt, ſo
wird alles, was wir hierbey thun koͤnnen, auf eine ohn-
gefaͤhre Schaͤtzung hinausgehen, die aber dennoch in
gleicher Maße, wie andre ohngefaͤhre Ueberſchlaͤge unſe-
re Einſichten auf klaͤren, wenn wir nur aus den Beob-
achtungen alle Data mit moͤglichſtem Fleiße aufſuchen.
Herr Unzer kann alſo Recht haben, daß es den em-
pfindlichen und willkuͤrlich ſich bewegenden Jnſekten
an einer Seele fehle, wenn es erweislich iſt, daß die
Uberwichtigkeit Einer Subſtanz, oder die Ein-
heit in dem Princip des Lebens, ſchneller und in
groͤßern Graden bey den niedriger ſtehenden Weſen ab-
nehme, als jene Eigenſchaften die Empfindlichkeit und
Spontaneitaͤt, und die Vollkommenheit der Organiſa-
tion.
[355]im Menſchen.
tion. Und dieß iſt es, wovon Herr Unzer die Moͤglich-
keit nicht blos angenommen, ſondern aus Erfaͤhrungen
bewieſen hat. Zwar nichts mehr als die Moͤglichkeit;
aber dieſe iſt hier ſo wichtig, daß aus ihr die Folge ge-
zogen werden kann, es ſey die vollkommene Ani-
malitaͤt, — in der eine einfache Seele iſt, — viel we-
niger aus der Groͤße der ſcheinbaren Empfindlich-
keit und der Spontaneitaͤt zu ſchließen, als aus
andern Kennzeichen, z. B. aus der Einheit des or-
ganiſirten Ganzen, und aus der Empfindlichkeit
der Lebenskraͤfte in Einem Gehirn. Wenigſtens
darf man nach jenen erſtern allein nicht urtheilen.
Man hat es bemerket, daß die Vollkommenheit
der Organiſation in den unvollkommenen Thierarten
abnehme. Dieſe Vollkommenheit wird alsdenn aber
theils nach der Menge und Mannichfaltigkeit der Thei-
le, woraus der organiſirte Koͤrper beſteht, theils nach
der Einheit oder der genauen Verbindung dieſer Theile
untereinander, geſchaͤtzet. Die Organiſation des Poly-
pen, die faſt ganz Magen iſt, nach des Hrn. Bon-
nets Ausdruck, iſt unvollkommener und einfoͤrmiger,
als ſie in den vierfuͤßigen Thieren iſt. Und wie iſt ſie
in dem Bandwurm und in allen uͤbrigen Thieren, die
ſich ſelbſt aus Stuͤcken wieder ergaͤnzen? Nun ſcheint
es, wenn wir die vierfuͤßigen Thiere mit den einfoͤrmi-
ger organiſirten vergleichen, auch wahrſcheinlich zu wer-
den, daß auch die Seelenartigkeit mit der Voll-
kommenheit der Organiſation im Verhaͤltniß ſtehe.
Dem Hunde kann man ſein Jch oder ſeine dominirende
Einheit nicht mit ſolcher Wahrſcheinlichkeit abſprechen,
als dem Polypen, in welchem das Princip der Anima-
litaͤt mehr ein in allen Punkten des Koͤrpers verbreite-
tes unter ſich aber vereinigtes Ganze iſt, und wo es
ſchwer iſt, einen Theil zu finden, den man als den
Sitz der vornehmſten und herrſchenden Einheit anſehen
Z 2koͤnne.
[356]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
koͤnne. Aber wenn man nun auch die ſich nicht er-
gaͤnzenden Thiere unter einander vergleicht; und darun-
ter gehoͤren auch viele Jnſekten, welche nach des Herrn
Unzers Hypotheſe bloße Organiſationen ſind: wie aͤn-
dert ſich alsdenn die Jchheit und die thieriſche Einheit
mit der Vollkommenheit in der Zuſammenſetzung der
fuͤhlbaren Materie? Nehmen jene und dieſe mit ein-
ander ab, und in welchem Verhaͤltniſſe? und iſt die
Abnahme an der innern thieriſchen Einheit in den
Jnſekten ſchon ſo groß, daß man dieſe fuͤr bloße Orga-
niſationen anſehen kann? oder, wenn ſie noch Thiere
ſind, doch nur fuͤr unvollkommene, die kein eigentliches
Jch beſitzen, und nur von einer materiellen Lebens-
kraft beſeelt ſind? Vielleicht das letztere; aber viel-
leicht nicht. Wir tappen hier noch im Dunkeln; wir
kennen die Beziehungen der thieriſchen Beſchaffenheiten
auf einander zu wenig, und haben alſo bisher noch zu
unſichere Data, uͤber das Beſeelt- und Unbeſeeltſeyn
der Weſen zu urtheilen. Da ſolches unmittelbar nicht
beobachtet werden kann, ſo laͤßt es ſich nicht anders als
nur mit einiger Wahrſcheinlichkeit aus den Verhaͤltniſ-
ſen deſſelben zu den in die Sinne fallenden Eigenſchaften,
naͤmlich zu der Empfindlichkeit und Spontaneitaͤt und
der aͤußerlichen Vollkommenheit der Organiſation in dem
Koͤrper muthmaßen; und dazu gehoͤren allgemeine
Grundſaͤtze, welche die Analogie der Natur beſtimmen.
Bey den Thieren, welche dem Menſchen am naͤchſten
ſtehn, iſt doch die Herrſchaft der Seele und alſo die Jch-
heit merklich ſchwaͤcher, weil die Groͤße darinn eine der
vornehmſten Eigenheiten des Menſchen ausmacht.
Wenn nun auch die koͤrperliche Struktur der Thiere,
und ihre Organiſation in den groͤbern Theilen in eben
der Maße unvollkommen waͤre, wie es ſonſten geglaubt
ward: ſo haͤtten wir Eine von den allgemeinen Re-
geln, wodurch ein Verhaͤltniß der innern Thierheit und
der
[357]im Menſchen.
der aͤußerlich empfindbaren Eigenſchaften derſelben er-
kannt wuͤrde. Aber Hr. Moſcati hat den Vorzug der
menſchlichen Organiſation zweifelhaft gemacht. Wie
vieles iſt in dem Thierreich noch fuͤr den Philoſophen
zu ſuchen.
Zwote Abtheilung.
- 1) Analogiſcher Schluß von der thieriſchen
Natur des Menſchen auf ſeine Seelennatur. - 2) Eine Folgerung daraus.
1.
Wenn die bonnetiſche Erklaͤrungsart von der Art,
wie die Seele wirket, und von dem Sitze der Vor-
ſtellungen richtig iſt, ſo wird das einfache Jch zu allen
ſinnlichen Bewegungen des Gehirns, oder zu den ma-
teriellen Jdeen, nichts mehr beytragen, als in der thie-
riſchen Natur das Seelenweſen beytraͤgt zu den bloß or-
ganiſchen Bewegungen in dem Koͤrper. Dieſe wer-
den von der Seele gefuͤhlt, wenn ſie gegenwaͤrtig ſind;
und wenn die Seele noch weiter dabey thaͤtig iſt, ſo
verſtaͤrket oder ſchwaͤchet ſie ſolche dadurch, daß ſie ihre
Kraft auf andere ſich ihr darbietende weniger oder mehr
anwendet. Das innere Organ der Seele hingegen,
oder das Gehirn, thut nach eben dieſem Syſtem bey
den Gehirnsveraͤnderungen daſſelbige, was die Koͤrper-
kraͤfte bey den inſtinktartigen Bewegungen in der thie-
riſchen Natur.
Nach der gemeinen Erklaͤrungsart muͤßte die Seele
zu allen ſinnlichen Gehirnsveraͤnderungen ſo beywirken,
wie das Seelenweſen zu den willkuͤrlichſten Bewe-
gungen, die nur durch die von Vorſtellungen beſtimmte
Seelenkraft auf einander folgen. Das Gehirn muͤßte
keinen weitern Antheil daran haben, als daß es ein ge-
Z 3ſchmei-
[358]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſchmeidiges und der Seele unterworfenes Organ iſt, oh-
ne daß es fuͤr ſich allein die materiellen Jdeen anreihe.
Und da es ſolche Jdeen nicht in ſich haben ſoll, ſo kann
es auch zu den Reproduktionen nicht einmal ſo viel bey-
tragen, als die Organiſation des Koͤrpers zu den Kunſt-
fertigkeiten, bey welchen uns die Erfahrung lehret, daß
doch in dem Koͤrper ſelbſt gewiſſe Leichtigkeiten zu den
Bewegungen durch die Uebung erzeugt werden. Wel-
che von dieſen beyden Hypotheſen man alſo waͤhlen mag,
ſo muß man eingeſtehen, daß die Analogie zwiſchen der
aus Erfahrungen etwas bekannten thieriſchen Natur
und der Seelennatur in dem Menſchen wegfalle.
Es iſt die dritte Mittelidee von der Beſchaffen-
heit des Seelenweſens, die ich oben (VIII. 4.) vorge-
tragen habe, welche, wenn ſie die richtige waͤre, dieſe
Analogie in ihrem ganzen Umfange beſtaͤtigen wuͤrde,
und welche wiederum aus der letztern bewieſen ſeyn
wuͤrde, wenn man dieſe vorausſetzet. Ohne noch zu
beſtimmen, wie weit die Wahrſcheinlichkeit einer ſolchen
Analogie uͤberhaupt wohl gehe, wollen wir die Folgen
betrachten, die aus ihr gezogen werden koͤnnen.
1) Es giebt in dem Koͤrper des lebenden Men-
ſchen pur mechaniſche Bewegungen, woran das
Seelenweſen entweder gar keinen oder doch keinen an-
dern Antheil nimmt, als in ſo fern es den Koͤrper und
deſſen Kraͤfte belebet. Und hierunter giebt es einige,
die die Seele nicht einmal fuͤhlet, wenigſtens nicht deut-
lich empfindet, und die ſie alſo auch ſich nicht mit Be-
wußtſeyn vorſtellen und wollen kann. Aber ſolche gehoͤ-
ren auch nicht zu den thieriſchen Bewegungen.
Eben ſo gehen in dem innern Seelen-Organ Be-
wegungen vor ſich, die es als einen Theil des Koͤrpers
ausbilden, ernaͤhren und erhalten, die aber nicht zu den
ſinnlichen Bewegungen gehoͤren, und nicht em-
pfunden noch vorgeſtellet werden. Die Seele hat an
ihnen
[359]im Menſchen.
ihnen keinen andern Antheil, als in ſo fern ſie uͤberhaupt
die belebende Kraft des Koͤrpers entweder ſelbſt iſt,
oder ſie reizet und in Wirkſamkeit ſetzet.
2) Jede thieriſche Bewegung muß eine Wir-
kung der koͤrperlichen Kraft geweſen ſeyn, ehe die
Seele ſich ſolche hat vorſtellen und nach dieſer Vorſtel-
lung wollen koͤnnen.
Eben ſo und auch mit der naͤmlichen Einſchraͤnkung,
die dieſer Satz hat, muß auch jede ſinnliche Bewe-
gung, die in dem Gehirn durch die Kraft der Seele
erwecket werden kann, vorher durch einen Eindruck ir-
gend einer Urſache auf das Organ, der Struktur des
letztern gemaͤß, bewirket worden ſeyn. Alle unſre Vor-
ſtellungen entſtehen aus den Empfindungen; — der
Dichtkraft ihre Gerechtſame ungekraͤnkt. — Von die-
ſem Erfahrungsſatze iſt das, was hier behauptet wird,
eine Folge.
3) Es entſtehen in dem Koͤrper durch die Wiederho-
lung einerley Art von thieriſchen Bewegungen gewiſſe
Leichtigkeiten zu aͤhnlichen Bewegungen, oder gewiſſe
bleibende Spuren vorhergegangener Bewegungen. Sie
entſtehen bey allen Arten ohne Ausnahme; bald erfo-
dern ſie eine ſtaͤrkere Uebung, bald eine ſchwaͤchere, zu-
weilen ſetzen ſie ſich ſchon das erſtemal feſt.
Das Parallel zu dieſen ſind die Leichtigkeiten im
Gehirn zu den einmal empfangenen ſinnlichen Bewe-
gungen, das iſt, die ruhenden materiellen Jdeen.
4) Jn den organiſchen Bewegungsreihen brin-
get der Eindruck auf die Nerven die nachfolgende Be-
wegung organiſch hervor, und beſtimmet die Nerven-
kraft auf dieſe Art und in der Richtung zu wirken. So
oft der naͤmliche Eindruck wieder vorhanden iſt, entſte-
het auch dieſelbige Wirkung, wenn ſonſt nichts in
den Weg kommt, es mag aus den vorhergehenden
Aktionen ſchon eine naͤhere Diſpoſition dazu entſtanden
Z 4ſeyn
[360]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſeyn oder nicht. Aber jedesmal bleibet aus einer ſolchen
Bewegungsreihe eine Spur zuruͤck, und dadurch wird
es moͤglich, daß dieſelbige Bewegung von neuem wie-
der hervorgebracht werden kann, wenn gleich ihre erſte
Urſache fehlet, oder nicht voͤllig ſo, wie vorher, in ih-
rer erſten Beſtimmtheit vorhanden iſt.
Jn dem Gehirn finden ſich Eindruͤcke oder Reize,
woraus gewiſſe ſinnliche Bewegungen organiſch hervor-
gebracht werden. Jede materielle Jdee, die ins Ge-
hirn durch eine Jmpreſſion von außen gebracht wird,
erreget daſelbſt noch andre Bewegungen, und reizet es
zu gewiſſen Thaͤtigkeiten, oder unterdruͤckt ſolche. Dieſe
Folgen der erſtern materiellen Jdeen ſind alsdenn mit
den Jdeen verbunden, und kommen wieder mit ihnen
in der Reproduktion hervor, weil ſie ſelbſt eben ſo wie
die ſie veranlaſſenden Jdeen in dem Gehirn eine Diſpo-
ſition zur leichtern Ruͤckkehr hinterlaſſen.
5) Die Seele vermag ſehr vieles auch uͤber die
bloß organiſchen Bewegungen, und ihre Phantaſie
kann, obgleich auf eine unvollkommene Art, ſie hervor-
bringen, wenn die ſonſtigen Urſachen im Koͤrper nicht
vorhanden ſind? Die Seele erhaͤlt Vorſtellungen von
ihnen, und wirket durch dieſe Vorſtellungen auf den
Koͤrper, und bringet die Bewegungen hervor.
Eben ſo iſt es wahrſcheinlich; daß das immate-
rielle Jch bey allen Arten von Vorſtellungen, auch
bey denen, die es am wenigſten in ſeiner Gewalt hat,
ſelbſt in ſich gewiſſe innere Modifikationen ſeiner Kraft
empfange, und dieſe auch oft aus ſich ſelbſt wieder er-
wecke, und dadurch eben die zugehoͤrige ſinnliche Bewe-
gung im Gehirn hervorbringe.
6) So wie es organiſche Aſſociationen von
thieriſchen Bewegungen aller Arten in dem Koͤrper
giebt, und auch ſolche, die zu den willkuͤrlichſten
Handlungen gehoͤren; welche aber in Hinſicht der Fe-
ſtig-
[361]im Menſchen.
ſtigkeit und Beſtimmtheit, mit der ſie an einander ge-
knuͤpft ſind, verſchieden ſind: ſo verrathen die Beob-
achtungen bey unſern unwillkuͤrlichen Vorſtellungen,
die anfangs willkuͤrlich in uns hineingebracht ſind,
hernach aber wider unſern Willen uns vorſchweben, daß
es mit den ſinnlichen Bewegungen im Gehirn eine aͤhn-
liche Bewandniß habe; daß auch dieſe ſelbſt in dem Ge-
hirn zuſammenhalten, ſo daß eine die andre hervorzieht,
ehe noch die Aktion der Seele dazu kommt, welche an-
fangs die Aſſociation zu Stande gebracht hat.
7) Aber wie bey den willkuͤrlichen Bewegungen,
die zu den Kunſtfertigkeiten gehoͤren, die Vorſtellun-
gen in der Seele und ihre Folge die vornehmſten Ur-
ſachen ſind, wodurch die Folge der koͤrperlichen Bewe-
gungen beſtimmt wird, welche nur auf eine unvollkom-
mene Art durch die organiſche Aſſociation in dem Koͤr-
per erſetzet werden kann: ſo iſt es auch bey der Repro-
duktion der willkuͤrlichen Vorſtellungen vornehmlich
und eigentlich die Folge der intellektuellen Jdeen
in unſerm Jch, wovon die Folge der dazu gehoͤrigen
materiellen Jdeen im Gehirn beſtimmt wird; und die
organiſche Verknuͤpfung dieſer materiellen Jdeen im
Gehirn iſt unfaͤhig, ſie in gleicher Maße und Ordnung
wieder hervorzuziehen, wenn ihre Verbindung nicht von
der Reproduktion der Seelenbeſchaffenheiten, die dieſe
durch ihre Eigenmacht bewerkſtelliget, geleitet und re-
giert wird. Man ſehe nur die Verwirrung, die in
unſern Vorſtellungen herrſchet, wenn die Seele nicht
Herr uͤber ſich ſelbſt iſt!
8) Die Vorſtellungen von einzelnen koͤrperlichen
Handlungen entſtehen anfangs in der Seele ſo, daß
die Veraͤnderung in dem Koͤrper vor der Jdee vorher-
gehet; aber wenn dieſe Vorſtellungen einmal vorhan-
den ſind, ſo werden ſie oͤfters reproducirt, noch ehe je-
Z 5ne
[362]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ne wieder erneuert werden, und alsdenn giebt es in der
Seele einen unmittelbaren Uebergang von der Einen
Vorſtellung zur andern.
Es iſt alſo wahrſcheinlich, daß es ſich mit den in-
tellektuellen Jdeen in unſerm Jch eben ſo verhalte;
daß ſie in einer eigenen Verbindung unter ſich in der
unkoͤrperlichen Seele ſind, und hier eine nach der an-
dern erwecket werden, und alsdenn die ihnen zugehoͤri-
gen materiellen Jdeen in dem Gehirn nach ſich her-
vorziehen, ohnerachtet jede von ihnen, fuͤr ſich ge-
nommen, anfangs nur in der Folge einer materiellen
Gehirnsveraͤnderung in die Seele hineingekommen iſt.
Endlich 9) ſo wie in den Kunſtfertigkeiten, die
ſich das Menſchenthier durch Fleiß und Uebung erwir-
bet, theils eine Fertigkeit in der Seele und ihrer
vorſtellenden und bewegenden Kraft enthalten iſt,
theils auch eine organiſche Fertigkeit in dem Koͤr-
per, davon jene dieſe beſſer, als dieſe jene, erſetzen kann:
ſo wird auch jedwede erlangte Vollkommenheit der
Seele, ihres Verſtandes und ihres Willens theils ei-
ne Erhoͤhung und Vervollkommnung der Kraft
der immateriellen Seele oder der ſubſtantiellen Ein-
heit, das iſt, unſers Jchs ſelbſt ſeyn, theils eine Ein-
richtung des Gehirns und ſeiner Fibern, die es zu
einem beſſern Werkzeuge fuͤr die Seele macht. Unſer
Jch ſammelt alſo ſeine bleibenden intellektuellen Jdeen und
Fertigkeiten auf, verſtaͤrket, erhoͤhet, vervollkommnet
ſeine innere ſubſtanzielle Kraft, und behaͤlt ſolche unab-
haͤngig von ihrem Gehirn, wie die Seele des Spielers
ihre Geſchicklichkeit, Toͤne zu denken, auch wenn ſeine
Finger nicht mehr geſchmeidig genug ſind, um ſie her-
vorzubringen. Und jene Geſchicklichkeit des imma-
teriellen Jch iſt das Vornehmſte in allen See-
lenfertigkeiten, und kann die Fertigkeit des ganzen
Seelenweſens aͤußern, wenn die koͤrperliche Gehirns-
fer-
[363]im Menſchen.
fertigkeit verloſchen iſt, ob ſie gleich den Mangel der
letztern nicht vollkommen erſetzen kann. Ein Tonkuͤnſt-
ler hatte das Gehoͤr im Alter verloren, und ſpielte des-
wegen doch ſo richtig, als wenn er hoͤrte. Dieß that
die innere Geſchicklichkeit ſeiner Vorſtellungskraft, wel-
che die aͤußern Jmpreſſionen zum Theil entbehrlich
machte.
Kann man nicht hieraus noch weiter dieſe Folge
ziehen, daß unſer im Vorſtellen, Denken und Wir-
ken fertig gewordnes Jch auch in dem Fall, wenn ihm
ſein gebrauchtes Organ entzogen und ein andres dafuͤr
gegeben wuͤrde, dem die Diſpoſitionen des erſtern fehlen,
ſonſten aber von eben ſo beugſamer Natur iſt ſie anzu-
nehmen; daß, ſage ich, alsdenn unſer Jch in dieß neue
Organ ſeinen Fertigkeiten gemaͤß wirken und ſich ſolches
bald wiederum, ſo wie das vorige, einrichten wuͤrde? Ein
Menſch ohne Haͤnde wußte durch einen geſchickten Ge-
brauch ſeiner beiden abgeſtumpften Arme, die er nahe
aneinander bringen konnte zierlich zu ſchreiben und ſo
gar Federn zu ſchneiden. Es wuͤrde nicht unmoͤglich
ſeyn, daß ein Virtuos mit den Fuͤßen auf dem Klavier
ſpielen lernte. Dieſe Beyſpiele beſtaͤtigen den obigen
analogiſchen Schluß.
Man konnte bey einer Schwierigkeit anſtoßen.
Der Spieler kann ſich doch immer ſeiner vormals ge-
ſpielten Stuͤcke erinnern, ob er gleich, wenn ihn der
Koͤrper verlaͤßt, nicht ſpielen kann. Muͤßte die Seele,
wenn das Gehirn ihr auch nicht zu Huͤlfe kommt, den-
noch bey ihren eigenen intellektuellen Jdeen nicht daſſel-
bige vornehmen koͤnnen? und erfodert nicht die Analo-
gie, daß ſie es koͤnne? Aber alsdenn koͤnnte das Ge-
daͤchtniß nicht ſo ſehr von dem Koͤrper abhaͤngig ſeyn,
wie die Erfahrung lehrt, daß es wirklich iſt.
Jch antworte zuerſt, die Analogie erfodere dieß
nicht, ſondern vielmehr das Gegentheil. Man muß
die
[364]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
die Vergleichung nur auf die gehoͤrige Art anſtellen.
So wenig ein Spieler, deſſen Finger gelaͤhmt ſind,
Toͤne hoͤren, und ein Maler Werke ſeiner Haͤnde ſehen
kann, wenn dieſe unbrauchbar ſind, ſo wenig kann auch
die Seele von ihren eignen innern Thaͤtigkeiten und in-
tellektuellen Jdeen ein Gefuͤhl haben, wenn die ent-
ſprechenden Gehirnsbewegungen nicht vorhanden ſind.
Denn wenn das Jch gleich intellektuelle Jdeen in ſich
hervorzieht und bearbeitet: ſo kann es doch nichts fuͤh-
len, als nur die Wirkungen deſſelben außer ſich in dem
Gehirn, wo jene ſich abdrucken; und dieſe fehlen, wenn
es an den materiellen Jdeen mangelt. Wenn man ſich
ja vorſtellen will, daß ſie doch auf ſich ſelbſt eine unmit-
telbare Aktion verwenden muͤßte, welche einem Aktus
des Selbſtgefuͤhls aͤhnlich ſey: ſo muͤßte man doch nach
denſelbigen Grundſaͤtzen zugeben, daß dieſe Aktion kein
voͤlliges Selbſtgefuͤhl ſeyn koͤnne, ſondern ſich hoͤchſtens
zu dem wirklichen Gefuͤhl verhalte, wie die Einbildung von
einer Sache ſich zu einer Empfindung verhaͤlt. Haben
wir aber eine Jdee von einer ſolchen Aktion, eine ſolche
Einbildung des Gefuͤhls, die nichts vom Gefuͤhl mit
ſich verbunden hat? Denn jede Art von Einbildung
und Vorſtellung, die wir kennen gelernet haben, iſt von
uns als eine gegenwaͤrtige Modifikation unſerer ſelbſt
empfunden worden. Was wuͤrde ſie fuͤr uns geweſen
ſeyn, wenn ſie nicht empfunden worden waͤre? Noch
eine Einbildung, vielleicht ein Bild in uns, aber ohne
Bewußtſeyn? Wenn das iſt, was haben wir denn
fuͤr einen Grund zu laͤugnen, daß es dergleichen Nach-
hall des Selbſtgefuͤhls nicht wirklich in der Seele gebe,
wenn wir ſolches gleich nicht gewahrnehmen koͤnnen?
Will man gegen dieſes analogiſche Raiſonnement
etwan die Maxime anfuͤhren, auf welche ich ſelbſt in
dem Vorhergehenden bey mehrern Gelegenheiten gewie-
ſen habe: „daß naͤmlich die Aehnlichkeiten in der Na-
„tur
[365]im Menſchen.
„tur jedesmal Unaͤhnlichkeiten in Graden und Stufen
„bey ſich haben:“ ſo koͤnnte man freylich zweifeln, ob
es erlaubt ſey, das Verhaͤltniß des Seelenweſens zu
dem Koͤrper in der thieriſchen Natur in gleicher Maße,
auf die Beziehung des Jchs zu ſeinem materiellen Or-
gan in dem Seelenweſen, zu uͤbertragen? Allein die-
ſer Zweifel wird groͤßtentheils durch folgende Betrach-
tungen gehoben.
Laß nur zunaͤchſt allein von der Analogie ſelbſt die
Rede ſeyn, ſo wuͤrde doch folgen:
1) Daß, wenn nun das angezeigte Verhaͤltniß nicht
von gleicher Groͤße in der Seelennatur wie in der thie-
riſchen iſt, der Einfluß des Jchs in ſein Organ in je-
ner, eben ſo wohl noch groͤßer und ſtaͤrker ſeyn kann,
als der Einfluß des geſamten Seelenweſens in die Orga-
niſation bey den thieriſchen Handlungen iſt, als ſolcher
geringer und ſchwaͤcher ſeyn kann, das iſt: das
wahre Syſtem der Natur, welches zwiſchen der gemei-
nen und der Bonnetiſchen Hypotheſe faͤllet, kann
eben ſo wohl jener naͤher liegen als dieſer.
2) So wuͤrde doch bey dem Unterſchiede in den
Stufen das Verhaͤltniß ſelbſt nach ſeinen Beſchaffen-
heiten das naͤmliche ſeyn, wie die Analogie es mit ſich
bringet; ſo wuͤrden alſo doch Spuren von den Em-
pfindungen in der unkoͤrperlichen Seele zuruͤckbleiben,
und von ihrer Kraft reproducirt werden koͤnnen, wie in
dem Seelenweſen Jdeen von den thieriſchen Handlungen
ſind und wieder erwecket werden. Mit einem Wort,
Vorſtellungen und Phantaſie wuͤrden, es ſey in wel-
chem Grade es wolle, ihren Sitz in unſerm Jch ſelbſt
haben.
Allein
[366]XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Allein, was ferner nicht zwar die Wahrſcheinlichkeit
des analogiſchen Schluſſes, aber doch des Schlußſatzes
ſelbſt, beſtaͤtiget, iſt die oben ſchon angefuͤhrte durchgaͤn-
gige Uebereinſtimmung der Erfahrungen. Jede der
uͤbrigen Hypotheſen ſtieß auf irgend einer Seite bey den
Beobachtungen an; dieſe nirgends bey keiner.
2.
Hat das bisherige Raiſonnement einigen Werth,
den es, wie ich meine, doch wirklich hat, zumal ſo lan-
ge wir noch keine Hypotheſe haben, die beſſer beſtaͤtiget
iſt: ſo ſiehet man von ſelbſt, wie wenig die Meinung
einiger Philoſophen wahrſcheinlich ſey, nach der ſie eine
Thierſeele, in den Koͤrper eines andern verſetzet, die
Seele des Menſchen in den Koͤrper des Hundes, oder
die Hundsſeele in das Gehirn des Menſchen, in ihrer
neuen Wohnung ſo fort eben ſo handeln laſſen, wie ſie
in ihrer vorigen Werkſtatt gehandelt hat. Sie ſoll
nicht einmal ihre Veraͤnderung im geringſten gewahr-
nehmen. Die Bonnetiſche Vorſtellung fuͤhret zu ei-
nem ſolchen Schlußſatze. Aber nach der letztern Hypo-
theſe muͤßte die Seele ihre vorher erlangten Geſchicklich-
keiten und Ungeſchicklichkeiten in ihre neue Wohnung
mitnehmen. Man gebe dem Hunde einen Pinſel zwi-
ſchen ſeine Pfoten, und ſetze ihn vor das Palet hin;
wird er ein Gemaͤlde machen? Eben ſo unvermoͤgend
iſt ſeine Seele auch in dem menſchlichen Gehirn zu den
Verrichtungen, wozu Pinſel und Palet vom Maler ge-
braucht werden.
Doch genug von einer Materie, die noch groͤſten-
theils im Dunkeln liegen bleibet, wenn ich auch glauben
duͤrfte, es ſey das Licht, worinnen ſie hier an Einer ih-
rer Seiten erſcheinet, keine falſche Blendung der Phan-
taſie. Es iſt unnoͤthig, dieſe Unterſuchungen denen
zur
[367]im Menſchen.
zur Fortſetzung zu empfehlen, welche uͤber den Menſchen
nachdenken, da ſie ihrer Wichtigkeit und Fruchtbarkeit
wegen von ſelbſten ihre Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen
wird, wie ſie es jederzeit gethan hat. Welch ein Ge-
winn fuͤr den menſchlichen Verſtand, wenn die letztge-
folgerte Jdee von unſerer Seele zu einer phyſiſchen Ge-
wisheit gebracht werden koͤnnte, ohne bloß Hypotheſe
und nur durch die Analogie beſtaͤtiget zu ſeyn. Sie
iſt eine ſo heilſame Arzney fuͤr Verſtandskrankheiten, daß
es die Muͤhe wohl verlohnt, ihrentwegen Gebuͤſche und
Waͤlder zu durchſtreichen und Felſen zu beklettern,
wenn ſie ſonſt nicht zu finden iſt.
[368]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Vierzehnter Verſuch.
Ueber die Perfektibilitaͤt und Entwickelung
des Menſchen.
Vorerinnerung uͤber die Abſicht dieſes Verſuchs.
Erſter Abſchnitt.
Von der Perfektibilitaͤt der Seelennatur und
ihrer Entwickelung uͤberhaupt.
Zweeter Abſchnitt.
Von der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers.
Dritter Abſchnitt.
Von der Analogie der Entwickelung der Seele
mit der Entwickelung des Koͤrpers.
Vierter Abſchnitt.
Von der Verſchiedenheit der Menſchen in Hinſicht
ihrer Entwickelung.
Fuͤnfter Abſchnitt.
Von den Graͤnzen der Entwickelung und von der
Wiederabnahme der Seelenkraͤfte.
Sechster Abſchnitt.
Von der fortſchreitenden Entwickelung des
menſchlichen Geſchlechts.
Siebenter Abſchnitt.
Von der Beziehung der Vervollkommnung des
Menſchen auf ſeine Gluͤckſeligkeit.
Vor-
[369]und Entwickelung des Menſchen.
Vorerinnerung uͤber die Abſicht dieſes
Verſuchs.
Die Natur des Menſchen entwickelt ſich, waͤchſt
und gedeihet unter den verſchiedenſten Umſtaͤnden,
unter jedem Himmelsſtrich, bey der unterſchiedenſten
Nahrungs- und Lebensart; in etwas auch außer der
Geſellſchaft; in den verſchiedenſten Verfaſſungen der
Geſellſchaft, in der Wildheit, der Barbarey, der Ver-
feinerung und der Auf klaͤrung; mit einem Worte, in den
verſchiedenſten Beziehungen auf die aͤußeren Gegenſtaͤn-
de, auf die Koͤrper, auf die Thiere und auf andre Men-
ſchen. Aber eben ſo mannichfaltig iſt die innere Form,
welche die Natur unter dieſen verſchiedenen Umſtaͤnden
annimmt; verſchieden ſind die Richtungen, worein die
Grundkraͤfte und gemeinſchaftlichen Vermoͤgen gebracht
werden; mannichfaltig die Grade und Stufen der
Staͤrke und Schwaͤche und der Wirkſamkeit in den
Kraͤften, und mannichfaltig die Verhaͤltniſſe und Be-
ziehungen der Kraͤfte auf einander, und die ſogenannten
abgeleiteten Kraͤfte und Fertigkeiten, die von jener Ver-
ſchiedenheit der innern Verhaͤltniſſe abhangen. Von
einem großen Theile dieſer Verſchiedenheiten iſt es offen-
bar, daß ſie in aͤußern Urſachen ihren Grund haben,
wenn ſolcher gleich bey einigen nicht ſo ſehr einleuchtet.
Es gehoͤrt zu der Naturgeſchichte des Men-
ſchen/ dieſe Verſchiedenheiten und zunaͤchſt diejenigen,
die ſich an ſeinem Koͤrper zeigen und in die Sinne fal-
len, aufzuſuchen, zu vergleichen, und aus ihnen die
Eigenheiten ganzer Haufen, Voͤlker, Geſchlechter her-
auszunehmen, und durch dieſe als Unterſcheidungs-
merkmale die Menſchen in Gattungen, Arten und Claſ-
ſen abzutheilen, ſo weit naͤmlich, als hier eine Gattungs-
verſchiedenheit ſtattfindet. Denn ich bin ſehr uͤber-
zeugt, daß ſie alle Eines Geſchlechts ſind, in dem
IITheil. A aSinne
[370]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Sinne des Wortes, worinn die Naturkuͤndiger es mei-
ſtentheils zu nehmen pflegen, und daß die ganze Ver-
ſchiedenheit in den Menſchenarten nichts anders als eine
Abaͤnderung oder Varietaͤt ſey.
Die Geſchichte der Menſchheit hat zur Abſicht,
uns die Veraͤnderungen in dem aͤußern Zuſtande darzu-
ſtellen, welche das ganze Geſchlecht erlitten hat, und wo-
durch es in ſeinen mannichfaltigen Arten das geworden
iſt, was es itzo iſt. Es ſcheint indeſſen, als wenn man
bey dem haͤufigen Gebrauche des Wortes, Geſchichte
der Menſchheit, das ſeit einigen Jahren ein Lieb-
lingswort geworden iſt, ſowol die erſt gedachte natuͤrli-
che Geſchichte der Menſchen, als die Geſchichte der
Menſchheit in der letztern Bedeutung zuſammenfaſſe.
Der vortreffliche Plan einer allgemeinen Geſchichte der
Menſchheit, den Herr Jſelin entworfen, und die erſte
Linie davon mit ſcharfem Beobachtungsgeiſt gezogen hat,
iſt noch mehr eine Philoſophie uͤber die Geſchichte, als
Geſchichte ſelbſt; ſo wie des Herrn Home bekannte
Verſuche nur einzelne aber ſehr wichtige Beytraͤge ent-
halten, die ſowol auf die Naturgeſchichte des Menſchen,
als auf die Geſchichte ſeiner Ausbildung ſich beziehen.
Bisher beſtehet noch alles, was wir hiervon haben, in
Fragmenten, und eine vollſtaͤndige Geſchichte der
Menſchheit iſt auch vor der Hand nicht zu erwarten.
Jndeſſen machen auch die einzelnen Theile derſelben eine
Geſchichte aus, die fuͤr Menſchen, fuͤr Philoſophen,
fuͤr Geſetzgeber, die fruchtbarſte, lehrreichſte und meiſt
pragmatiſche iſt, welche ſeyn kann.
Es waͤre ſehr gut, wenn das eigentliche Hiſtoriſche,
die reinen Beobachtungen, und die Erzaͤhlung der Be-
gebenheiten mehr von den Raiſonnements abgeſondert,
und wenn dann jenes fuͤr ſich mit kritiſcher Sorg-
falt aus der buͤrgerlichen Geſchichte, aus der Geſchich-
te der ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, vorzuͤg-
lich
[371]und Entwickelung des Menſchen.
lich aber aus den Nachrichten der Reiſenden geſammelt
wuͤrde. Unſere Schluͤſſe ſind noch nicht Geſchichte.
Eine Sammlung von den letztern allein waͤre darum zu
wuͤnſchen, weil jetzo viele und große Werke durch-
zuſehen ſind, um die Quelle zu haben, wozu man
doch nothwendig zuruͤck muß, wenn man die Menſch-
heit in ihren Geſtalten mit eigenen, nicht durch fremde
Augen ſehen will.
Meine Abſicht iſt hier einige Betrachtungen uͤber
die entwickelte menſchliche Natur vorzulegen, die entwe-
der aus der Geſchichte der Menſchheit geradezu genom-
men werden koͤnnen, oder wenn ſie aus pſychologiſchen
Gruͤnden haben geſchloſſen werden muͤſſen, doch durch
die Geſchichte beſtaͤtiget werden. Wenn man die ver-
ſchiedenen Formen, die der Menſch annimmt, verglei-
chet, und beſonders ſoll hier nur auf die Formen ſeiner
Seelennatur geſehen werden, ſo muͤſſen uns die Fragen
auffallen: was iſt doch wohl der innere Menſch in al-
len dieſen verſchiedenen Modifikationen? Wie weit geht
ihre Verſchiedenheit? Dringt ſolche bis auf die Natur
und ihre Grundkraͤfte? Was nehmen dieſe an, was
bekommen ſie? Werden ſie erhoͤhet, geſtaͤrkt, verfei-
nert; oder erniedriget, geſchwaͤchet, geſtumpfet? Er-
halten ſie etwas Bleibendes, wenn Fertigkeiten erzeuget
werden; oder iſt alles, was durch die Entwickelung
hinzukommt, nur eine Bekleidung mit einer aͤußern Huͤl-
ſe, die, wenn ſie wiederum abfaͤllt, die Grundkraft
in demſelbigen Zuſtande zuruͤcklaͤßt, wie ſie vorher war?
Sind es bleibende innere Beſchaffenheiten? Beſtehen ſie
denn in Realitaͤten oder in Maͤngeln, in Verbeſſerun-
gen oder Verſchlimmerungen der Natur? Was hat
eine Form hierinn vor der andern voraus? Jſt ſo zu
ſagen weniger Menſchheit in dem Menſchen, der ein
Neuſeelaͤnder iſt, als in dem Jndividuum, das zu den
aufgeklaͤrten Britten gehoͤrt? Und wenn das Wohl
A a 2und
[372]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
und Weh, die Gluͤckſeligkeit und die Ungluͤckſelig-
keit empfindender und denkender Weſen eine Groͤ-
ße hat, die | ſich auf die innere Realitaͤt ihrer Natur
bezieht: wie iſt dieſe Beziehung beſchaffen, und
wie weit kann jene nach dieſer geſchaͤtzet und gemeſſen
werden? Die Unterſuchung uͤber dieſe Fragen muß in
der That uns erſt den wahren Werth zeigen, den man
den unterſchiedenen Geſtalten der entwickelten Menſch-
heit zuſchreiben kann; und alsdenn auch den Werth,
die Wichtigkeit und das Verdienſt der Menſchenfreunde,
die ſich bemuͤhen, Kenntniſſe, Sitten, Vernunft und
Tugend uͤber das Geſchlecht zu verbreiten, zu erheben
und zu befeſtigen. Jch ſage den wahren Werth von
dieſen; denn auch hier hat die Einbildungskraft nur zu
oft etwas Eitles, das bloß Schein iſt, hinzugeſetzt. Es
gehoͤrt dieß zu einem Theil der Anthropologie, aber eigent-
lich liegt es ganz außer der Geſchichte der Menſchheit.
Herr Verdier*) hat in ſeinen Beobachtungen uͤber
die Perfektibilitaͤt des Menſchen die Entwickelung von
einer andern Seite betrachtet, naͤmlich in ſo fern ſie ei-
ne Wirkung von den aͤußern Urſachen und Umſtaͤnden
iſt, die auf den Menſchen wirken. Die Abſicht die-
ſes Schriftſtellers geht auf die praktiſchen Folgen, die
man daraus zu einer vollkommenen Erziehung herleiten
kann. Das Phyſiſche, oder die eigentliche Natur der
Entwickelung des Menſchen iſt zwar hier und da von
ihm beruͤhrt, und man |wird manche vortreffliche Be-
merkungen bey ihm finden, die hieher gehoͤren; aber ei-
gentlich war es ſeine Sache nicht, dieß zu unterſuchen.
Ueber-
[373]und Entwickelung des Menſchen.
Ueberhaupt ſind die allgemeinen Ausſichten dieſes
Mannes ſchoͤn; nur bey den beſondern Ausfuͤhrungen
kommt manches vor, das weit beſtimmter von andern
ſchon geſagt iſt. Allemal aber kann die Frage: was
kann aus dem Menſchen werden, und was und wie
ſoll man es aus ihm machen? nur gruͤndlich und beſtimmt
beantwortet werden, wenn die theoretiſche: was iſt der
Menſch? was wird er und wie wird ers in den Umſtaͤn-
den und unter dem Einfluſſe der moraliſchen und phyſi-
ſchen Urſachen, unter denen er in der Welt ſich befindet?
vorher beſtimmt und deutlich beantwortet iſt. Die Ur-
ſache, warum ſo manche Vorſchrift der Moral und der
Erziehungskunſt entweder zu unbeſtimmt, oder zu ein-
ſeitig, und in der That nur eine Halbwahrheit iſt, iſt
dieſe, daß man die Ausſicht uͤber den Menſchen nicht
genug erweitert, und die Vervollkommnung unſrer Na-
tur nicht an allen ihren Seiten und in allen ihren Thei-
len und Geſtalten aufſucht, wie ſie doch in der wirkli-
chen Welt vorkommt.
Erſter Abſchnitt.
Von der Perfektibilitaͤt der Seelennatur und ih-
rer Entwickelung uͤberhaupt.
I.
Ob der Anwachs des Seelenvermoͤgens al-
lein in einer Vermehrung der Jdeen und
Jdeenreihen beſtehe? Search’s Gedanken
hieruͤber.
Das Seelenweſen im Menſchen beſitzet gewiſſe
Grundkraͤfte, Anlagen und Vermoͤgen, die ihm
zukommen, wenn der Menſch auf die Welt geſetzt wird:
es ſey nun, daß ſie zu ſeiner unveraͤnderlichen Urkraft
gehoͤren, oder waͤhrend der Entwickelung des Koͤrpers
im Mutterleibe erzeuget ſind; und dann moͤgen ſie
A a 3Kraͤfte
[374]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Kraͤfte der einfachen Seele ſeyn, oder von der Organi-
ſation des Gehirns abhangen; man darf hier den Men-
ſchen nur nehmen, wie er Menſch iſt. Unter dieſe
gehoͤrt das Vermoͤgen, ſich veraͤndern zu laſſen und zu
fuͤhlen, nebſt der innern Selbſtthaͤtigkeit, die vervoll-
kommentlich iſt, und ſich vergroͤßern und verſtaͤrken
laͤßt. Es iſt anderswo *) gezeiget worden, wenn
man die Aeußerungen der Naturkraft in der menſchli-
chen Seele ſo weit zerg liedert, als es, meiner Meinung
nach, angehet, ſo komme man auf ein einfaches Prin-
cip, worunter die erſten Grundkraͤfte gebracht werden
koͤnnen; und dieß Princip iſt ein Vermoͤgen zu fuͤhlen
und mit perfektibler Selbſtthaͤtigkeit zuruͤckzuwirken.
Aber hier erfodert es mein Zweck gar nicht, bis ſo weit
zuruͤck zu gehen. Es iſt genug bey den erſten Sproſſen
dieſer Grundkraft, naͤmlich bey dem Gefuͤhl der Denk-
kraft, und der Thaͤtigkeitskraft, oder dem Gefuͤhl,
dem Verſtande und dem Willen, ſtehen zu bleiben,
und dieſe fuͤr die erſten Grundkraͤfte anzunehmen. Alle
uͤbrigen Faͤhigkeiten, die in der entwickelten Seele ge-
funden werden, ſind abgeleitete Vermoͤgen, welche
aus jenen, durch die Erhoͤhung, Verſtaͤrkung unb Ver-
laͤngerung in verſchiedenen Richtungen, und durch neue
Verbindungen unter ihnen entſtanden ſind.
Es ſey indeſſen hier ein fuͤr allemal erinnert, daß,
wenn ich |dieſe vorgenannten Vermoͤgen, das Gefuͤhl,
den Verſtand und den Willen als Grundkraͤfte anfuͤhre,
dieß nicht ſo viel heißen ſolle, als wenn ich meine obige
Analyſe der Seelenvermoͤgen **) hier nun ſchon als un-
bezweifelt richtig vorausſetzen und darauf die folgenden
Betrachtungen bauen wolle! Dieß nicht. Jedem
Pſychologen ſey es vergoͤnnt, ſein eigenes Syſtem zum
Grun-
[375]und Entwickelung des Menſchen.
Grunde zu legen. Nur da ich die Ordnung in meinen
Gedanken einmal jenen Begriffen von den Grundkraͤf-
ten angepaßt habe, ſo muß es mir erlaubt ſeyn, ſolchen
auch hier nachzugehen. Um nicht misverſtanden zu
werden, will ich es wiederholen, daß ich dieſelbigen
Woͤrter, Receptivitaͤt, Gefuͤhl, Verſtand und Willen,
auch hier in demſelbigen Sinne nehme, wie ſie oben in
dem zehnten Verſuche beſtimmt worden ſind. Die Art
und Weiſe, wie die Grundkraͤfte ſich entwickeln, wie
die Moͤglichkeit etwas zu thun oder zu leiden, die bloße
Empfaͤnglichkeit in eine naͤhere Anlage zu etwas, und
dann die Anlage in ein Beſtreben oder Tendenz, und
das Beſtreben in eine Fertigkeit uͤbergehe; ingleichen
wie, umgekehrt, die Fertigkeit wiederum in Anlage und
die Anlage in Receptivitaͤt zuruͤckgehe; das iſt, die Art,
wie die Jntenſion und Umfang in den Kraͤften und
Vermoͤgen veraͤndert, vergroͤßert oder geſchwaͤcht wer-
de, und wie man dadurch zu allgemeinen Geſetzen der
Ausbildung und Entwickelung gelange: das muß zuerſt
aus Beobachtungen uͤber den Menſchen genommen, und
durch Beobachtungen beſtaͤtiget werden. Dieſe Unterſu-
chung iſt unabhaͤng von jedweder Ordnung, worinn die
Vermoͤgen ſich entwickeln, und auch darauf kommt es
nicht an, welche von ihnen man eigentlich fuͤr die erſten
Beſtandtheile des Keims der Seele halten wolle.
Die erſte Frage, die hiebey vorkommt, worinn
naͤmlich der Anwachs eines Vermoͤgens beſtehe, kann,
zumal wenn zufoͤderſt auf die Verſtandesvermoͤgen ge-
ſehen wird, nicht deutlicher ins Licht geſetzet werden, als
wenn ich die Meinung des Herrn Search hieruͤber mit
ſeinen eignen Worten *) anfuͤhre. „Wenn wir unſern Ver-
„ſtand,“ ſagt dieſer Philoſoph, „durchs Studiren ver-
A a 4„beſ-
[376]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
„beſſern und erweitern, ſo thun wir in Abſicht auf un-
„ſer Vermoͤgen nichts. Denn das muͤſſen wir laſſen,
„wie es uns die Natur gab. Kein Fleiß kann unſere
„natuͤrlichen Faͤhigkeiten vergroͤßern oder vermindern;
„wir koͤnnen nur blos einen groͤßern Vorrath von Ma-
„terialien fuͤr ſie ſammeln, damit ſie ſich beſchaͤfftigen
„koͤnnen. So hauet jemand einen Wald nieder, um
„ſeine Ausſichten zu erweitern; er giebt ſeinen Augen
„kein groͤßeres Vermoͤgen zu ſehen, ſondern er oͤffnet
„ihnen nur ein weiteres Feld, uͤber welches ſie aus-
„ſchweifen koͤnnen.“
Sollte es ſich ſo mit unſerm Verſtande verhalten,
ſo koͤnnte man leicht ſchließen, es verhalte ſich aller
Wahrſcheinlichkeit nach auch nicht anders bey dem Ge-
fuͤhl und bey der Thaͤtigkeitskraft, oder dem Willen.
Worinn wuͤrde alsdenn die innere Vervollkommnung
der Seele beſtehen? Die Kraͤfte bleiben dieſelben in
ihrem Jnnern, ſo wie ſie von Natur ſind; dieſelbigen
an Staͤrke und Ausdehnung. Nur dadurch, daß un-
ſere Empfindungen vermehrt werden, und wir mehrere
und mannichfaltigere Vorſtellungen erlangen, und meh-
rere und laͤngere Jdeenreihen ſich feſtſetzen, empfaͤngt
die Kraft eine geraͤumigere und ſtaͤrkere Wirkungsſphaͤ-
re, uͤber welche ſie ſich verbreiten kann. Jhr Zuwachs
an Staͤrke, Umfang und Tiefe, oder wenn wir etwa
noch mehrere Diviſionen in den Seelengroͤßen unterſchei-
den wollen, wuͤrde nicht blos von den Jdeenreihen ab-
hangen, ſondern auch in dieſen beſtehen, und weiter in
der Seele ſelbſt nichts ſeyn.
Nun kann zwar, um Searchen nichts aufzubuͤrden,
was er nicht ſagt, aus ſeinen angefuͤhrten Worten al-
lein noch nicht gefolgert werden, daß er die Jdee, die
er ſich hier von der Vervollkommnung des Verſtandes
macht, fuͤr einen allgemeinen Begriff von der Vervoll-
kommnung aller Seelenkraͤfte gehalten wiſſen wolle.
Denn
[377]und Entwickelung des Menſchen.
Denn der Verſtand iſt bey ihm nur ein leidendes Ver-
moͤgen gewahrzunehmen, und eine Art des Gefuͤhls.
Die thaͤtigen Aeußerungen der Ueberlegungskraft gehoͤ-
ren alleſammt mit der ganzen wirkſamen Kraft der See-
le zu ihrem Willen. Jſt alſo gleich jenes leidentliche
Gefuͤhl von einer unveraͤnderlichen Groͤße, daß es weder
Vermehrung noch Erhoͤhung weiter annimmt, als in
Hinſicht der Objekte, worauf es wirket, ſo kann es ſich
vielleicht bey dem thaͤtigen Vermoͤgen der Seele anders
verhalten. Allein, ohne die Vorſtellung dieſes Philo-
ſophen weiter zu pruͤfen, waͤre es doch ſchon etwas,
wenn ſich die Sache in Hinſicht eines unſerer Vermoͤ-
gen auf dieſe Art verhielte, wovon man mittelſt der Ana-
logie auf die uͤbrigen ſchließen koͤnnte.
Man kann wohl Eins oder das andere unſerer Ver-
moͤgen durch eine Abſonderung im Verſtande, aus den
uͤbrigen ſo herausnehmen, daß es zufolge dieſer Ab-
ſtraktion als eine unveraͤnderliche Einheit angeſehen wer-
den muß, wenn man alle Veraͤnderungen, die ſolches
in Graden und Stufen annimmt, auf andere Vermoͤ-
gen uͤbertraͤgt. So iſt zum Exempel die Seele ein
Weſen, das Eindruͤcke in ſich aufnimmt, ſolche fuͤhlet,
und dann ſelbſtthaͤtig zuruͤckwirket. Wenn nun das
Vermoͤgen des Gefuͤhls, durch eine Abſtraktion, bloß
auf das Vermoͤgen zu reagiren eingeſchraͤnkt und die
wirkſame Seelenkraft nur allein an der Seite angeſehen
wird, wie ſie eine zuruͤckwirkende Kraft iſt, ſo hindert
nichts, bey der Seele eben ſo wie bey dem Koͤrper anzu-
nehmen, daß die Ruͤckwirkung allemal ſo groß ſey, wie
die Wirkung, und daß folglich in dem Vermoͤgen des
Gefuͤhls keine innere Groͤße entſtehen, ſondern ſolches
nur ſtaͤrker oder ſchwaͤcher auf mehrere oder wenigere Ge-
genſtaͤnde angewendet werden koͤnne, je nachdem meh-
rere und ſtaͤrkere Einwirkungen da ſind. Aber iſt denn
darum die Empfaͤnglichkeit der Seele oder ihr Vermoͤ-
A a 5gen
[378]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gen ſich veraͤndern zu laſſen, und zuruͤckzuwirken aller
innern Erhoͤhung unfaͤhig? Wird es nicht nach der Er-
fahrung wirklich vergroͤßert? Waͤchſet nicht auch die
innere Modifikabilitaͤt, die Aufgelegtheit mehrere und
mannichfaltigere Eindruͤcke anzunehmen, und leichter ſie
anzunehmen? Es haͤnget nichts von willkuͤrlichen Ab-
ſtraktionen und darauf gegruͤndeten Vorſtellungsarten
ab, ſondern von Beobachtungen, die allein daruͤber be-
lehren koͤnnen.
II.
Naͤhere Unterſuchung uͤber den Anwachs bey den
thaͤtigen Vermoͤgen.
- 1) Beobachtungen, welche zu beſtaͤtigen ſchei-
nen, daß die Erhoͤhung der Vermoͤgen zu
Fertigkeiten allein in den erworbenen Jdeen-
reihen beſtehe. - 2) Andere Beobachtungen, welche mit dieſer
Hypotheſe nicht ſo gut zu vereinigen ſind. - 3) Wenn ein Vermoͤgen in Fertigkeit uͤber-
geht, ſo empfangen a) die Jdeen von den
Objekten eine Leichtigkeit wiedererweckt zu
werden. b) Die Vorſtellungen von den
Aktionen ſelbſt, die theils eine Reproduk-
tion der die einzelnen Aktionen begleitenden
Empfindungen, theils eine Wiederholung
der ehmaligen Kraftaͤußerungen, in ſich faſ-
ſen, werden leichter erweckbar. - 4) Genaue Vergleichung der Beobachtungen
uͤber den Zuwachs der Vermoͤgen durch die
Uebung. Was in dieſem Zuwachs enthal-
ten ſey.
5) Zwo
[379]und Entwickelung des Menſchen.
- 5) Zwo Folgen aus dem Vorhergehenden.
Von dem vorzuͤglichen Nutzen, den das Le-
ſen der Originalſchriftſteller hat. Von
dem Nutzen der Metaphyſik, als einer Ue-
bung der Verſtandskraͤfte. - 6) Wie weit die Erhoͤhung eines Seelenver-
moͤgens ſich uͤber andere Vermoͤgen aus-
breite! - 7) Von der Schwaͤchung der Vermoͤgen durch
allzu ſtarke Anſtrengung.
1.
Die thaͤtigen Seelenvermoͤgen, die alsdenn beſon-
ders Faͤhigkeiten heißen, wenn ſie vorzuͤglich
groß ſind, werden durch eine angemeſſene Uebung erhoͤ-
het und zu Fertigkeiten gemacht. Man kann die in-
ſtinktartigen Handlungen, wozu uns die Fertigkeiten an-
gedohren zu ſeyn ſcheinen, hier bey Seite ſetzen. Der
Philoſoph, der Mathematiker, der Schachſpieler, der
Maler und ſo weiter, wird das, was er iſt, nicht ohne
vorhergegangene Uebung. Von den Poeten und an-
dern Kuͤnſtlern, und uͤberhaupt von ſolchen Fertigkeiten,
die auf einer vorzuͤglichen Wirkſamkeit der Phantaſie be-
ruhen, iſt man gemeiniglich der Meinung, ſie muͤßten
geboren, nicht gemacht werden. Aber man hat laͤng-
ſtens bemerkt, daß ſich daſſelbige von allen Arten der
vorzugsweiſe ſogenannten Genies, und auch von den
philoſophiſchen und mathematiſchen Genies, behaupten
laſſe. Die Leibnitze, die Newtons, die Euler, die
Bernoullis muͤſſen eben ſowohl geboren werden, als
die Homere und Virgile. Und es iſt eben ſo gewiß,
daß die lebhafte Phantaſie ohne hinzukommende An-
ſtrengung und Uebung keinen ausgebildeten großen Poe-
ten mache, als eine angeborne vorzuͤgliche Ueberlegungs-
kraft
[380]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
kraft den Philoſophen. Jede Fertigkeit hat ihre Ue-
bung erfodert; an allen hat das gefliſſentliche und wie-
derholte Beſtreben, mit dem natuͤrlichen Vermoͤgen zu
wirken, ſeinen Antheil. Sie haben alle, ohne Aus-
nahme, außer dem, was in ihnen natuͤrliche Anlage iſt,
etwas, mehr oder minder, was hinzugekommen und
erworben iſt. Dagegen es auch wiederum keine einzige
Fertigkeit giebt, von ſolchen, die ihrer ausnehmenden
Groͤße wegen ihren Beſitzer zu einem großen Mann
machen, die nicht etwas in ſich habe, was anders wo-
her ruͤhrt, als aus dem, was der Fleiß verſchaffen kann.
Jndeſſen iſt ſo viel nicht zu laͤugnen, daß bey verſchiede-
nen Faͤhigkeiten hierinn nicht einiger Unterſchied den
Graden nach ſtattfinde. Einige Fertigkeiten hangen
allerdings mehr von der natuͤrlichen Anlage, andere
mehr von der Uebung ab, als andere. Es kann naͤm-
lich das Verhaͤltniß, worinn die natuͤrliche Groͤße des
Vermoͤgens zu der erworbenen ſtehet, die es durch Ue-
bung erhaͤlt, verſchieden ſeyn, und iſt es ohne Zweifel.
Und da ſcheint es, als wenn in Hinſicht der ſogenann-
ten hoͤhern Verſtandskraͤfte, Fleiß und Uebung mehr
vermoͤge, um ſie zu ſtaͤrken und zu erhoͤhen, als bey der
ſinnlichen Vorſtellungskraft, und beſonders bey der
Dichtkraft. Man erzaͤhlet von Newton, er habe von
ſich ſelbſt geſagt, „wenn er etwan dieß und jenes tiefer
und beſſer einſaͤhe als andere: ſo ſey die Urſache davon
allein dieſe, daß er muͤhſamer und anhaltender nachge-
forſchet habe.“ Der große Mann verkannte wohl in
etwas ſeine angeborne Vorzuͤglichkeit, wie Genies am
Verſtande gemeiniglich beſcheiden ſind. Aber New-
ton redete doch nach ſeinem Gefuͤhl, und ſein Urtheil
uͤber ſich ſelbſt iſt ein Beweis, daß er mit allen ſeinen
angebornen Talenten ohne unablaͤſſiges Nachdenken
nicht Newton wuͤrde geworden ſeyn.
Wenn
[381]und Entwickelung des Menſchen.
Wenn man dieſe gemeinen Erfahrungen, die man
bey der Erziehung in Menge haben kann, von Fertig-
keiten, welche durch Uebung erzeuget werden, genauer an-
ſiehet: ſo findet ſich dabey doch manches, das wohl in
Betracht zu ziehen iſt, ehe man das Jnnere, was in
dieſer Entſtehungsart liegt, aus ihnen ſchließen kann.
Die Uebung iſt eine Anwendung des Vermoͤgens, das
von Natur, oder wenigſtens vorher vorhanden iſt. Jed-
wede einzelne Handlung von der Art, daß ſie die Wirk-
famkeit deſſelbigen Vermoͤgens oder derſelbigen Kraft
erfodert, kann als ein Theil der ganzen Uebung des
Vermoͤgens angeſehen werden. Aber ſie iſt doch nur
dann in dem eigentlichen Sinn des Worts eine Ue-
bung, wenn ſie auf eine ſolche Art unternommen wird,
daß aus ihr eine Erhoͤhung des Vermoͤgens erfolget,
oder daß der vorher erlangte Grad der Fertigkeit durch
ſie erhoͤhet, oder doch in ihrer Groͤße, die ſie ſchon hat,
erhalten werde. Soll dieß aber eine Folge der Hand-
lung ſeyn, ſo muß auch, wie die Erfahrung lehret, die
Kraft mit einem gewiſſen angemeſſenen Grade der Jn-
tenſion wirken, und weder zu ſchwach noch zu ſtark da-
bey gebraucht werden. Wer ohne eine merkliche An-
ſtrengung oder ohne den gehoͤrigen Grad der Aufmerk-
ſamkeit etwas verrichtet, gewinnt fuͤr ſein Vermoͤgen
ſelbſt wenig oder nichts. Die Anſtrengung muß bis
an eine gewiſſe Graͤnze gehen, wo ſie anfaͤngt unange-
nehm und ſchmerzhaſt zu werden. Und ſo ſehr ſchaͤdlich
iſt es auch nicht, wenigſtens nicht bey einer ſtarken
Kraft, wenn ſie dann und wann einmal etwas daruͤber
hinaus| gehet. Die Kraft, welche geſtaͤrkt und ge-
ſchaͤrfet werden ſoll, muß auch bearbeitet und angegrif-
fen werden. Dagegen kann auch allerdings auf der an-
dern Seite zuviel geſchehen. Eine zu ſtarke, und noch
mehr eine anhaltende Ueberſpannung der Kraͤfte ſchwaͤ-
chet ſie, und ſetzet das Vermoͤgen, das vorher ſchon da
war,
[382]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
war, auf eine Zeitlang, zuweilen auf immer, herunter.
Allzugroßer Fleiß iſt, ſogar fuͤr ein Genie, erſtickend.
Dieß Maaß der angemeſſenen Uebung iſt, wie ſichs von
ſelbſt verſteht, nicht eben daſſelbige fuͤr Alle, und muß
bey jedem Jndividuum nach dem Selbſtgefuͤhl beſtim-
met werden.
Es ſind ferner bekannte Erfahrungen, daß ein Ver-
moͤgen zu einer gewiſſen Art von Handlungen unge-
mein ſtark und maͤchtig gemacht ſeyn kann, ob es gleich
zu einer andern ſchwach und ungeſtaͤrkt geblieben iſt.
Und dieß finden wir ſogar in ſolchen Faͤllen, wo die
Thaͤtigkeiten, in denen das Vermoͤgen ſich aͤußern ſoll,
einander aͤhnlich und nahe verwandt ſind; und noch
mehr auch da, wo die Art der Thaͤtigkeit, und die
Form der Handlungen, gaͤnzlich oder doch beynahe die-
ſelbigen ſind, und ihr Unterſchied allein in den Objekten
liegt, womit die Kraft ſich beſchaͤftiget, oder welches
hier gleichviel iſt, in den Jdeen von dieſen Objekten.
Wenn Newton in der Philoſophie nicht ſo tief noch ſo
ſcharf raiſonnirte, als in der Mathematik; wenn uͤber-
haupt ein mathematiſches und philoſophiſches Genie in
einem Kopf nicht gut vertragbar ſind, obgleich Ver-
ſtand und Vernunft dieſelbigen Seelenfaͤhigkeiten ſind,
die in beiden arbeiten; (eine Bemerkung die jedoch nur
gewiſſermaßen richtig iſt;) wenn Klopſtocks Staͤrke in
der erhabenen Dichkunſt ihm keine gleiche Staͤrke in den
Arbeiten des ſpielenden und beluſtigenden Witzes giebt,
obgleich Phantaſie und Dichtkraft die wirkende Urſache
in beiden iſt, und ſo ferner: ſo ſind wir mit ſolchen Ver-
ſchiedenheiten zu bekannt, als daß ſie uns befremden.
Aber wenn wir ſehen, daß jemand eine große Fertigkeit
in einer Art von Handlungen bey gewiſſen Gegenſtaͤn-
den beſitzet, und dennoch bey andern von neuem lernen
und nur nach und nach ſich die Fertigkeiten erwerben
muß|; ohnerachtet das, was er bey den letztern Sachen
zu
[383]und Entwickelung des Menſchen.
zu thun hat, eben das iſt, was ihm bey andern ſo leicht
und gelaͤufig war: ſo ſcheinen dieß Erfahrungen zu ſeyn,
welche den Gedanken beſtaͤtigen, daß alle Seelenfertig-
keiten bloß in Fertigkeiten beſtehen, Jdeen und Jdeen-
reihen von gewiſſen Sachen zu erwecken. Wenigſtens
ſcheinen jene Erſcheinungen aus dieſer Vorausſetzung
am leichteſten erklaͤrt zu werden. Man bringe den Geo-
meter bey das Schachſpiel, lehre ihn die Grundſaͤtze des
Spiels, und laſſe ihn ziehen: wie viel wird er, ſeiner
Gewohnheit dergleichen Ueberlegungen zu machen ohn-
erachtet, im Anfange kluͤger ziehen, und wie weniger
ſich verſehen, als jedweder Anfaͤnger von gutem natuͤr-
lichen Verſtande? Dagegen es Virtuoſen im Schach-
ſpiele giebt, die in ihren uͤbrigen Handlungen und Ur-
theilen keine hervorragende Verſtandeskraͤfte beweiſen.
Mir iſt das Exempel von einem Menſchen bekannt, der
durch ſeinen anhaltenden Fleiß in der Algeber fortkam,
ob er gleich ſonſten eine ſo mittelmaͤßige Faſſungskraft
beſaß, daß er eher unter die Stumpfkoͤpfe als unter die
Genies haͤtte gezaͤhlt werden muͤſſen.
Haͤufiger ſind die Beyſpiele, wo Fertigkeiten von
andern getrennt ſind, in denen die Wirkungsarten nicht
dieſelbigen, ſondern nur mit einander verwandt ſind;
wo eine etwas unterſchiedene Art der Thaͤtigkeit zu ihnen
erfodert wird, obgleich das in beiden geſchaͤfftige
Grundvermoͤgen der Seele noch eben daſſelbige iſt. Der
Gelehrte kann am Verſtande hervorragen, ohne daß
ſeine Empfindſamkeit in gleichem Maße verfeinert ſey;
und nur zu oft iſt die Bemerkung, die Hume uͤber den
großen Bacon gemacht hat, auch auf andere anpaſſend,
daß ein tief eindringender Verſtand und Staͤrke des
Geiſtes und des Herzens, woraus Muth und Thaͤtig-
keit in aͤußern Handlungen entſpringen, voneinander
getrennet ſind. Der Mann von feinem Verſtande be-
ſitzt noch lange nicht den Geiſt des Mannes in Geſchaͤf-
ten,
[384]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ten, der das Einzelne zu umfaſſen weiß, noch die feſte
Stirn deſſelben. Dagegen ſteht der letztere dem Phi-
loſophen nach an der feinern Scharfſinnigkeit wie dem
Geometer an eindringender Schlußkraft, und dem Dich-
ter an Phantaſie und Witz. Alle dieſe Handlungen
und Fertigkeiten ſind doch Wirkungen derſelbigen
Grundkraft der Seele, und beruhen, die eine wie die
andere, auf einer innern Groͤße dieſer Kraft, welche in
allen wirkſam iſt. Wie kann denn die eine Fertigkeit
fehlen, wo die andere vorhanden iſt, wenn nicht dieſe
Verſchiedenheit anderswo ihre Urſache hat? Der
Schluͤſſel zu dieſen Erſcheinungen, moͤchte Hr. Search
ſagen, liegt darinnen: die verſchiedenen Fertigkeiten
beſtehen in den verſchiedenen Jdeenreihen, welche hin-
zukommen und ſo viele verſchiedene Werkzeuge der
Grundkraft ausmachen, deren ſie ſich bedienen kann.
Jndem ſie ſich dieſe verſchafft und zubereitet, erlangt
ſie ihre Fertigkeiten zu gewiſſen Handlungen, die nach
der Verſchiedenheit der Jnſtrumente verſchieden ſind.
Dieſe Erklaͤrung bekommt einen noch groͤßern
Schein, wenn man ſiehet, wie weit man wirklich mit
ihr ausreichet, um die Entſtehung der Fertigkeiten zu
erklaͤren. Es muß nothwendig, wenn nicht alles, doch
ſehr vieles von den Jdeenreihen abhaͤngen, die, wie
mehrmalen ſchon bemerket worden iſt, in der Seele das
naͤmliche ſind, was die Nerven und Muskeln in dem
Koͤrper. Wer ſich mit einer Art von Geſchaͤfften oder
mit einer Wiſſenſchaft bekannt macht, deſſen Beſtreben
geht dahin, die Begriffe von den Sachen zu faſſen,
und dieſe Begriffe nach ihren Verhaͤltniſſen und Bezie-
hungen auf einander zu verbinden und aneinander zu rei-
hen. Waͤchſet nun die Fertigkeit eine Reihe von Ge-
danken und Schluͤſſen zu uͤberſehen, und geht alſo dieſe
Verrichtung leichter und ſchneller vonſtatten: ſo ſind
es die erworbenen Jdeenreihen, welche ſich leicht und
ſchnell
[385]und Entwickelung des Menſchen.
ſchnell darſtellen, und eben dadurch die Reflexion in den
Stand ſetzen die Verbindungen auch zwiſchen den ent-
fernten Jdeen und ihren Folgen augenblicklich wahrzu-
nehmen, die ein anderer nicht finden kann, dem dieſe
Jdeenreihen fehlen. Der letztere iſt genoͤthigt eine Jdee
nach der andern mit Muͤhe hervorzuziehen, und zu ver-
gleichen; wie es auch wohl dem Manne von großer
Fertigkeit in ſolchen Stunden begegnet, worinn, wie
wir ſagen, der Geiſt traͤge iſt. Die Phantaſie iſt als-
denn nicht aufgelegt, ihr Spiel mit den Jdeenreihen
mit der gewoͤhnlichen Leichtigkeit vorzunehmen.
2.
Aber dennoch wuͤrde es zu uͤbereilt geſchloſſen ſeyn,
wenn man es hiedurch ſchon als entſchieden anſehen woll-
te, daß der Zuwachs unſerer Vermoͤgen in nichts mehr
beſtehe, als in neuen Jdeenreihen, die hinzukommen.
Zum mindeſten muͤßte dieſe Behauptung vorher viel naͤ-
her beſtimmt werden, ehe ſie ſo ſchlechthin angenommen
werden kann. Denn aus den angefuͤhrten Erfahrungen
ergiebt ſich doch nur ſoviel, daß zur Erzeugung einer
Fertigkeit allerdings eine Anreihung von Vorſtellungen
unentbehrlich ſey; aber es zeiget ſich nicht, daß dieſe
letztere alles ausmache, was in der ganzen Fertigkeit
lieget.
Laßt uns nur etwas naͤher die Wirkungen bemer-
ken, welche aus der Uebung der Vermoͤgen in uns
entſtehen. Alsdenn wird es ſich deutlich genug zeigen,
daß ſelbige noch tiefer in die Kraft und in die Vermoͤgen
ſelbſt eindringe, und hier einen innern Zuſatz bewirke,
der etwas anders iſt, als die Fertigkeit Jdeen von den
Gegenſtaͤnden zu erwecken. Man kann zunaͤchſt nur
ſolche Beyſpiele nehmen, die bey der Erhoͤhung der Ver-
ſtandeskraͤfte gefunden werden. Ohnedieß laſſen ſich in
IITheil. B bdieſem
[386]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dieſem die allmaͤligen Fortſchritte und das Mannichfal-
tige, was dabey vorkommt, am leichteſten beobachten.
1) Es iſt ein großer merklicher Unterſchied, den
man auch innerlich fuͤhlet, ob jemand eine geometriſche
Demonſtration nur allein mit dem Gedaͤchtniſſe gefaßt,
oder ſie mit dem Verſtande durchgedacht habe. Die
Wirkungen, welche in beiden Faͤllen entſtehen, und
in dem Verſtandesvermoͤgen aus der Arbeit zuruͤckblei-
ben, ſind ſehr unterſchieden. Jn dem erſtern Fall mag
man ſich die Begriffe und Saͤtze, welche man erlernet
hat, in ihrer Verbindung untereinander noch genauer,
vollſtaͤndiger und tiefer eingepraͤgt haben, als in dem
letztern, aber man wird ſich auch nach der Uebung noch
eben ſo wenig aufgelegt finden, ſelbſt einen Beweis fuͤr
den Lehrſatz aufzuſuchen, als man es vorher war; und
wenn man zu einer folgenden Demonſtration uͤbergehet:
ſo iſt es um nichts leichter geworden, nun dieſe zu be-
greifen. Jm andern Fall hingegen, wenn der Ver-
ſtand mehr im Denken gearbeitet hat, als das Gedaͤcht-
niß in Auffaſſung der Jdeen, zeiget ſich eine viel andere
Wirkung. Wer die erſte Haͤlfte einer Wiſſenſchaft
durchgedacht hat, findet die zwote viel leichter: nicht ſo,
der ſie auswendig lernet; auch wenn jener weniger im
Gedaͤchtniſſe aufbehalten hat, als dieſer, findet er doch,
daß er ſich in Hinſicht des folgenden vorgearbeitet habe.
2) Die Uebung des natuͤrlichen Verſtandes in den
Sprachen, Kuͤnſten und in der Geſchichte ſind, wie
die Erfahrung lehret, eine Vorbereitung deſſelben zu
den hoͤhern Wiſſenſchaften. Nun mag es wohl ſeyn,
daß ein Kopf in einer Erkenntnißart weit fortgehen, und
in einer andern zuruͤckbleiben kann: aber es iſt wider
die Erfahrung zu behaupten, daß die Anwendung des
Verſtandes bey einer Wiſſenſchaft nicht etwas hinterlaſ-
ſe, wodurch die natuͤrliche Faͤhigkeit zu einer andern
verſtaͤrket und erhoͤhet werde, auch da, wo die erſtern
Begrif-
[387]und Entwickelung des Menſchen.
Begriffe in die letztern wenig Einfluß haben. Die |Geo-
metrie ſchaͤrfet die Vernunft, auch fuͤr Wiſſenſchaften,
in denen keine geometriſchen Begriffe vorkommen. Die
Reden des Cicero kann man leſen, wie ſie der Mann
lieſt, der aus ihnen nur Worte und Redensarten in
ſein Gedaͤchtniß eintraͤgt. Allein wer dem großen
Manne nachzudenken und nachzuempfinden weiß, in der
Anordnung und in der Verbindung der Begriffe, in dem
Vergleichen und in dem Bemerken ihrer mannichfaltigen
Beziehungen auf einander, und ihm alſo auch nicht blos
nachgehet, ſondern auch gewiſſermaßen nachzumachen ſich
beſtrebet, der mag den ihm in der Folge ganz gleichguͤl-
tigen Jnhalt ſeiner Schriften vergeſſen, und nur we-
nig Latinitaͤt aus ihm behalten, und wird dennoch nicht
nur ſeine Ueberlegungskraft geſtaͤrket, ſondern auch
uͤberdieß einen Partikel von dem Geiſte dieſes Mannes
in ſich abgeleitet fuͤhlen, das iſt: er wird Regungen, An-
wandlungen, Triebe und Beſtrebungen in ſich fuͤhlen,
Sachen, die ihm vorkommen, auf eine aͤhnliche Art zu
behandeln, ſo ſehr dieſe Sachen auch von denen, womit
Cicero zu thun hatte, verſchieden ſind. Dieſe Ver-
aͤhnlichung mit ſeinem Original iſt zuverlaͤſſig etwas
mehr in der Seele, als eine Aufſammlung von Jdeen
und Jdeenreihen, welche letztern in viel groͤßerer Maße
beydenen zuruͤckgeblieben ſind, die auswendig gelernt ha-
ben. Es gehoͤren unzaͤhlig viel andere Erfahrungen
hieher. Die naͤmliche Denkart und der naͤmliche Geiſt,
den ein Menſch aus ſeiner Kunſt oder aus ſeinem Ge-
werbe annimmt, verbreitet ſich auch uͤber ſeine Spiele
und Zeitvertreibungen und uͤber ſeine geſammte Auf-
fuͤhrung zuweilen mehr, zuweilen weniger.
3) Je naͤher zwo Arten von Geſchaͤfften einander in
Hinſicht der vorzuͤglich dabey thaͤtigen Vermoͤgen und
der Art und Weiſe, wie ſolche wirken, aͤhnlich ſind,
B b 2deſto
[388]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
deſto offenbarer iſt es, daß die in der einen erworbenen
Geſchickllchkeit das Vermoͤgen zu der zwoten zugleich
in etwas geſtaͤrket habe. Jn jeder Uebung des Ver-
ſtandes iſt zugleich eine Uebung der Selbſtthaͤtigkeit der
Seele enthalten. Was hieraus folget, daß naͤmlich
die Erhoͤhung des Verſtandes zugleich auch die Selbſt-
macht der Seele uͤber ſich, und alſo die Beherrſchung
unſerer ſelbſt befoͤrdern muͤſſe, wird wiederum unmittel-
bar durch die Beobachtung beſtaͤtiget. Die Frage,
die man aufgeworfen hat, ob jemals an einem Men-
ſchen ein großer feiner Verſtand und ein laſterhaftes
Herz bey einander geweſen ſey, konnte, da ſie ſehr un-
beſtimmt war, ſowohl bejahend als verneinend beant-
wortet werden. Denn was fuͤr unvertragbare Dinge
ſind nicht oft in einer menſchlichen Seele beyſammen.
Allein ſo viele kluge und einſichtsvolle Boͤſewichter es
auch gegeben haben mag, ſo iſt es doch außer Zweifel,
daß der durch Nachdenken an Verſtand und Urtheils-
kraft erhoͤhte Kopf in unzaͤhligen Faͤllen mehr Gewalt
uͤber ſich und uͤber ſeine lebhaften Vorſtellungen beſitze,
und oft ſeine ſtaͤrkſten Begierden im Zaum halten koͤn-
ne, vielmehr als der ſchwache Kopf, dem jede auf-
fallende Empfindung das Ruder des Gemuͤths aus den
Haͤnden ſtoͤßt. Jener kann ſich, zum mindeſten auf ei-
ne Zeitlang, und unter Umſtaͤnden, die ihn ſonſten ſehr
in Bewegung ſetzen, faſſen; wenn gleich eine tief im
Jnnern liegende Leidenſchaft am Ende ihn ſo gut wie
andre unwiderſtehlich beherrſchet. Daraus aber, daß
ein geuͤbter Verſtand bey gewiſſen Arten von Sachen
ſich ſchwaͤcher beweiſet, als bey andern, und oft weni-
ger ausrichtet, als ein ungeuͤbter, kann ohne große Be-
hutſamkeit nicht geſchloſſen werden, daß ſeine erlangte Fer-
tigkeit an einer Seite ihm keine Geſchicklichkeit, ſich auch auf
dieſer Seite zu zeigen gegeben hat. Und daß er durchaus
nicht groͤßer am innern Verſtandsvermoͤgen geworden
ſey,
[389]und Entwickelung des Menſchen.
ſey, kann ganz und gar aus ſolchen Beyſpielen nicht ge-
folgert werden. Denn es iſt aus vielen andern Gruͤn-
den begreiflich, warum ein Mann vom Verſtande den-
noch zu gewiſſen Arbeiten nicht aufgelegt iſt, die doch
am meiſten auf Verſtand ankommen. Eine geheime
Unluſt ziehet oft die Aufmerkſamkeit eines ſolchen von ei-
ner Sache ab. Zuweilen liegt auch in ſeinen erſten
Grundideen, oder in dem erſten Anfange der Art da-
bey ſich zu benehmen, ein Fehler, der ſeine wirkſame
Kraft in eine falſche Richtung bringet, ohne daß er
ſelbſt es bemerke; und dann faßt und begreift er nicht,
was einem andern leicht und deutlich iſt, deſſen Ver-
ſtand weit ſchwaͤcher iſt, als der ſeinige. Das Genie
macht die meiſtenmale alles nur mittelmaͤßig oder
ſchlecht, wobey es nicht ganz angegriffen wird. Und
der beſte Kopf verwickelt ſich in Zweifel und Knoten,
die er ſich ſelbſt gemacht, und zuweilen aus zu großer
Lebhaftigkeit geſchnuͤret hat. Dieß kann eine Unge-
ſchicklichkeit veranlaſſen, die aber nur bloß dem Scheine
nach aus Unvermoͤgen und Schwaͤche zu entſtehen
ſcheint, wenn ſie nach ihrer aͤußerlich bemerkbaren Wir-
kung beurtheilet wird, die aber wirklich in einer zu gro-
ßen Staͤrke ihren wahren Grund haben kann. Ueber-
dieß iſt es ſehr begreiflich, daß ſelbſt die große Menge
von Vorſtellungen einer Klaſſe, welche ein Menſch be-
ſitzet, ſehr leicht ein Hinderniß werde neue Jdeen von
andern Objekten anzunehmen, die ſich auf jene wenig
oder gar nicht ſo beziehen, wie es erfodert wird, wenn
die Einbildungskraft ſie leicht an die vorhandenen anle-
gen ſoll, die alſo mit mehr Muͤhe gefaßt werden, als es
geſchehen waͤre, wenn die erſtern den Kopf nicht ſchon
eingenommen haͤtten. Auch bringet ſelbſt die uns
ſchon gelaͤufig gewordene Art und Weiſe, zu denken und
zu handeln, eine gewiſſe Lenkung der Kraft nach einer
Seite hervor, ſobald dieſe, durch irgend eine Urſache
B b 3gerei-
[390]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gereizet iſt; und dieſe ihr zu gelaͤufige Richtung macht
es ſchwer, nach einer andern Seite hin ſich zu aͤußern,
wie doch nothwendig iſt, um Geſchaͤffte von einer andern
Gattung zweckmaͤßig zu betreiben. Die meiſtenmale
wird man bey ſich ſelbſt eine oder die andre dieſer Urſa-
chen antreffen, und alsdenn dieſe dem Scheine nach
entgegenſtehenden Erfahrungen in der That zur Beſtaͤ-
tigung des Satzes, daß eine jede Uebung einer Seelen-
kraft bey irgend einer Art von Gegenſtaͤnden eine Staͤr-
ke in ihr hinterlaſſe, die ſich auch bey andern verſchiede-
nen Handlungen beweiſen kann, uͤbereinſtimmend
finden.
Dieſe Beobachtungen ſcheinen mir wenigſtens der
obigen Vorſtellung, daß der Auwachs unſerer Seelen-
vermoͤgen nur in einer Vergroͤßerung ihres Spielraums,
oder in der Vermehrung und Erweiterung ihrer Jdeen
von den Objekten beſtehe, eben ſo ſehr zu widerſtreiten,
als die zuerſt angefuͤhrten ſolche zu beſtaͤtigen ſcheinen.
Die Frage iſt, wenn man beide vergleichet und etwas
genauer aufloͤſet, ob ſich nicht ein beſtimmter Begriff
von der innern Krafterhoͤhung daraus abziehen, oder
wenigſtens durch ſie beſtaͤtigen laſſe?
3.
Jede Fertigkeit im Denken und Handeln, von de-
nen naͤmlich, die wir uns durch Uebung erwerben, ent-
haͤlt zweyerley. Zuerſt eine gewiſſe Leichtigkeit, die
Jdeen von den Gegenſtaͤnden zu erwecken, mit
denen die Kraft ſich beſchaͤfftiget. Dieſe Leichtigkeit
macht, daß die Fertigkeit eine beſondere Fertigkeit
in Hinſicht ſolcher Sachen und Gegenſtaͤnde iſt.
Alsdenn zweytens eine Leichtigkeit die Vorſtel-
lung von der Aktion ſelbſt zu erwecken und zur Em-
pfindung zu machen. Dieß letztere iſt das Jnnere
derſelben, und macht eigentlich die Fertigkeit in Hin-
ſicht
[391]und Entwickelung des Menſchen.
ſicht der Art und Weiſe zu handeln aus. Es iſt dieſes
gewiſſermaßen in dem erſtern verwickelt, indeſſen doch
davon in ſo weit unterſchieden, daß die eine dieſer beiden
Leichtigkeiten ſehr groß ſeyn kann, wo die andere |nur
ſchwach iſt. Wenn der Anwachs der Vermoͤgen in
einer vergroͤßerten Leichtigkeit Jdeenreihen zu erwecken
geſetzt werden ſollte, ſo muͤßte man unter den Jdeen
nicht die Jdeen von den Gegenſtaͤnden der Aktion,
ſondern die Jdeen von den Aktionen ſelbſt, verſte-
hen. Alsdenn wuͤrde man wirklich Einen von den we-
ſentlichen Beſtandtheilen, die in dem Zuwachs des Ver-
moͤgens liegen, angeben. Jndeſſen doch auch noch
nicht Alles. Denn die Fertigkeit erfodert nicht allein,
daß die Vorſtellung von der Aktion leicht wiedererwe-
cket werde; ſie erfodert auch, daß dieſe wiedererweckte
Vorſtellung leicht zu einer vollen Empfindung erhoben
werden kann.
Die Jdee von einer Aktion faßt aber wiederum nicht
nur die Vorſtellung von Gefuͤhlen und Empfindungen
in ſich, die mit der Kraftaͤußerung verbunden ſind, ſol-
che begleiten und auf ſie folgen, ſondern auch eine Wie-
derholung der Aktion ihrem Anfange nach, in ſol-
cher Maße, wie eine Einbildung eine wiederzuruͤckkeh-
rende Empfindung iſt. Eine Fertigkeit die Jdeen der
Aktion zu erwecken, ſetzet alſo auch theils eine Leichtig-
keit voraus, die Empfindungen zu reproduciren, welche
die Anwendung der Kraft begleiten; theils eine andere,
die Kraft ſelbſt in den Zuſtand ihrer ehemaligen Beſtre-
bungen und Wirkſamkeit wieder zuruͤckzuſetzen, in dem
ſie waͤhrend der Aktion ſich befunden hatte, doch nur in
der Maße, wie in einer Einbildung die ehemalige Em-
pfindung wiederum vorhanden iſt. Aber die Fer-
tigkeit ſelbſt enthaͤlt noch etwas mehr. Denn da muß
es nicht allein leicht ſeyn, die Jdeen von der Aktion, das
iſt, ihren erſten Anfang wieder zu erneuern; ſondern
B b 4es
[392]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
es muß auch leicht ſeyn, dieſe Jdeen zur Empfindung
zu machen, und die ganze ehemalige Wirkſamkeit wie-
derum in dem Jnnern hervorzuziehen. Jn den ver-
ſchiedenen Stufen, welche dieſe letztere Leichtigkeit an-
nimmt, und um welche ſie groͤßer wird, beſtehet der ei-
gentliche Zuwachs oder die Erhoͤhung des Vermoͤgens
und der thaͤtigen Kraft. Da ſie vorher nur bloßes
Vermoͤgen war wirken zu koͤnnen, ſo hat ſie eine
Leichtigkeit ſo zu wirken empfangen, das iſt, eine
Vergroͤßerung derſelbigen poſitiven Beſchaffenheit oder
Realitaͤt in ihr, wovon das Vermoͤgen auf eine ſolche
Art wirken zu koͤnnen abhaͤngt. Die Beobachtungen,
woraus man ſieht, daß dieſe angefuͤhrten Beſtandtheile
in unſern Fertigkeiten wirklich enthalten ſind, habe ich
oben in dem zehnten Verſuche beygebracht; *) daher ich
hier nur blos fuͤr noͤthig gehalten habe, die Hauptpunkte
zu wiederholen, ohne die obigen Betrachtungen noch
einmal anzuſtellen.
4.
Nimmt man dieſen Begriff vor ſich, und verglei-
chet alsdann die verſchiedenen Erfahrungen von den
Wirkungen, die aus dem Gebrauch unſerer Vermoͤgen
bey gewiſſen Objekten entſpringen, ſo kommen wir von
ſelbſt auf die folgenden Bemerkungen, die ſowol die Art,
als die Natur der Vervollkommnung der Kraͤfte ange-
ben. Jch will aber auch hier wiederum nur zunaͤchſt
auf die Verſtandesvermoͤgen Ruͤckſicht nehmen, bey de-
nen das Allgemeine am leichteſten bemerket wird,
und davon das Aehnliche bey den uͤbrigen Vermoͤgen
ſich ohne Muͤhe finden oder nach der Analogie anneh-
men laͤßt.
1) „Jede
[393]und Entwickelung des Menſchen.
1) „Jede Uebung einer Verſtandesfaͤhigkeit, bey ir-
„gend einer Art von Objekten, verſchafft uns Jdeen-
„reihen von dieſen Gegenſtaͤnden und von ihren
„Beziehungen auf einander, und eine Leichtigkeit dieſe
„Jdeen zu erwecken.‟ Wir werden mit den Sachen
bekannt; ihre Verknuͤpfungen werden uns gelaͤufig; oh-
ne Anſtrengung haben wir ſie in ihren Folgen und Ver-
bindungen vor uns, und uͤberſehen ihre vorher unbe-
kannten Verhaͤltniſſe gegen einander. Dieſe Jdeenrei-
hen ſind der erſte Antheil, den die Einbildungskraft und
das Gedaͤchtniß an den Fertigkeiten hat, der ſich
aber auch nothwendig wiederum verlieret, ſobald wir
die Sachen vergeſſen haben.
2) Es hinterlaͤßt eine jede Anwendung unſerer
Kraft auch eine Vorſtellung von der Aktion ſelbſt.
Soviel iſt reine Erfahrung. Dieſe Vorſtellung iſt von
den Jdeen, welche wir von den Objekten haben, ver-
ſchieden; und in ſo weit iſt es außer Zweifel, daß et-
was mehr in uns bewirkt werde, als die Leichtigkeit
Jdeen von den Objekten zu erneuern. Die Vorſtellung
von der Aktion iſt aber, wie vorher erinnert worden, eine
ſchwache Anwandelung von der Aktion ſelbſt. Sie iſt
eine Leichtigkeit in dem Vermoͤgen, die ehemalige
Aktion wieder in dem Jnnern anzufangen. Wenn die-
ſe groͤßer wird, ſo geht ſie uͤber in eine Leichtigkeit
die Vorſtellung in Empfindung zu verwandeln; wie
uͤberhaupt in Hinſicht der innern Veraͤnderungen der
Seele, die Vorſtellungen von ihnen als abweſenden Ge-
genſtaͤnden von der wiederholten Empfindung derſelben,
oder die Wiedervorſtellung von der Wiederem-
pfindung, den Graden nach unterſchieden iſt, doch ſo,
daß zu den letztern ein gewiſſes begleitendes Gefuͤhl aus
dem Koͤrper hinzukommt, ohne welches die Wiedervor-
ſtellung noch immer nur in den Graͤnzen einer Vorſtel-
B b 5lung
[394]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
lung bleibet. *) Wenn die Vorſtellung von einer
Aktion mit Bewegungen der innern Gehirnsfibern ver-
bunden iſt, oder gar allein darinn beſtehen ſollte, ſo wuͤr-
de eine Wiederholung derſelbigen Aktion eine ſtaͤrkere
Bewegung derſelbigen Fibern ſeyn, die ſchon anfaͤngt
auswaͤrts herauszugehen, und die aͤußern Theile des
Koͤrpers zu aͤhnlicher Bewegung zu reizen. Entſtehet
aber auch in dieſen diejenige Bewegung, welche zu der
wirklichen Vollziehung der Handlung erfodert wird, ſo
iſt auch die ganze volle Aktion wieder da. Eine Fertig-
keit in einer Aktion erfodert alſo eine Leichtigkeit, dieſe
Bewegungen zu erwecken.
3) Jede Uebung, die zunaͤchſt nur ein beſonderes
Seelenvermoͤgen entwickelt, hinterlaͤßt eine Wirkung,
welche ſich auch uͤber andere Vermoͤgen ausbreitet, und
in einiger Maße wenigſtens uͤber die geſammte Seelen-
kraft. Was den Verſtand ſtaͤrket im Urtheilen, erhoͤht
auch die Vernunft im Schließen. Wer ſeine Leiden-
ſchaften bezaͤhmet, macht auch ſeine Denkkraft maͤchti-
ger. Die Kraft wird aufgelegter, auf andre Arten
und in andern Richtungen hervorzugehen, wenn ſie in
einer Art der Thaͤtigkeit erhoͤher iſt. Man muntere den
Menſchen nur von einer Seite auf; dieß giebt ihm eine
Lebhaftigkeit an allen. Wird das Gedaͤchtniß geſtaͤrket,
ſo bekommt die Einbildungskraft eine groͤßere Faſſung,
und kann, in die gehoͤrige Richtung gelenket, auch als
ſelbſtthaͤtige Dichtkraft ſich beweiſen.
Die große Bekanntſchaft mit den Objekten, und
die Staͤrke in den Jdeen von der Aktion ſelbſt, laſſen
ſich in den Beobachtungen ganz deutlich von einander
unterſcheiden, da ſie bey einerley Art von Uebungen
zwar beide entſtehen, aber in ſehr verſchiedenem Maße
und in ungleichem Verhaͤltniſſe, ſo daß ihr innerer Unter-
ſchied nicht verkannt werden kann. Es kommt hiebey
darauf
[395]und Entwickelung des Menſchen.
darauf an, auf welche Weiſe die Kraft bey einer Aktion
gelenket wird. Die Anwendung des Verſtandes ver-
mehret zuweilen die Einſichten, und ſtaͤrket das Ver-
moͤgen ſelbſt nicht, oder doch nur auf eine unmerkliche
Art: zuweilen verhaͤlt ſichs umgekehrt; der Verſtand
wird geſtaͤrket, aber die durchgedachten Kenntniſſe wer-
den vergeſſen. Man findet Knaben, die es in geome-
triſchen Demonſtrationen weit gebracht haben, und mit
ziemlicher Fertigkeit im Schach ſpielen, und dennoch
ſonſten bey ihren Beſchaͤfftigungen nicht mehr Uebungs-
kraft beweiſen, als andere Kinder. Es war Gedaͤcht-
niß und Jmaginationswerk. Man konnte in einem
Beyſpiele einem Knaben andere Figuren und Zeichen
vorlegen, als er das erſtemal gebraucht hatte, und er
fuͤhrte die Demonſtration dennoch gut aus. Dieß ward
von verſchiedenen Perſonen als ein Beweis angeſehen,
daß es hier wirklich der Verſtand und nicht das Ge-
daͤchtniß ſey, welches bey der Demonſtration wirkte.
Aber wenn mans genauer anſah: ſo wars doch nicht
ganz alſo. Einige Vernunft war darunter; aber das
Meiſte beſtand in einer Fertigkeit der Phantaſie, nach
dem Geſetze der Aehnlichkeit ein Rechnungserempel wie
das andere zu bearbeiten, daß es doch mehr auf eine
ſinnliche Erwartung aͤhnlicher Faͤlle, als auf eine Wir-
kung der Ueberlegungskraft hinauslief. Mancher hat
die Vernunftlehre und die allgemeine Philoſophie ſtu-
dirt, die Begriffe, und auch in ihrer Verbindung, ge-
faßt; und dennoch beſtehet das Meiſte bey ihm mehr in
Jdeen von den Objekten und in Jdeenreihen, als in
aufgeſammelten Jdeen von den Aktionen ſelbſt. Man
nimmt es leicht bey ſich gewahr; wenn man eine Wiſ-
ſenſchaft bloß um der Kenntniſſe der Sachen willen er-
lernet: ſo richtet man die ganze Aufmerkſamkeit auch
faſt allein nach dieſer Seite hin, und wird gelehrter oh-
ne verſtaͤndiger zu werden. Es iſt ganz etwas anders,
die
[396]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die Geometrie zu ſtudiren, um ſich mit ihren Lehrſaͤtzen
bekannt zu machen; etwas anders, ſie zu ſtudiren, um
aus ihr eine anſchauliche Vorſtellung von dem Gange
des menſchlichen Verſtandes in dieſer Wiſſenſchaft zu
bekommen; und endlich ganz ein anders, ſie ſo zu trei-
ben, daß Verſtand und Vernunft durch ſie geſchaͤrfet
werden. Bey der Jugend, meine ich, ſollte man we-
der das Erſte noch das Zweyte, ſondern das Letzte die
Hauptabſicht ſeyn laſſen. Dieſe Vorſchiedenheit in den
Wirkungen haͤngt von der Art und Weiſe ab, wie die
Verſtandeskraft wirket, und von der Verſchiedenheit
der Richtungen, die ſie nimmt; aber dieſe wiederum
von dem Zwecke, den man ſich vorgeſetzt hat, und auf
den man waͤhrend der Aktion am meiſten hinſieht.
Das Letztere verdient eine naͤhere Erlaͤuterung.
Wenn mir eine Demonſtration vorgelegt wird, und es
iſt mir nur allein um das letzte Reſultat zu thun: ſo
mag ich noch immer die Folge der Saͤtze und ihren Zu-
ſammenhang durchgehen, allein ich richte die ganze Auf-
merkſamkeit auf den letztern Satz, bemuͤhe mich dieſen
zu faſſen und ihn ſo zu merken, daß ich mich leicht wie-
der auf ihn beſinnen koͤnne. Die Vernunft, als das
Vermoͤgen den Zuſammenhang einzuſehen, hat wenig
und mit geringer Jntenſion gearbeitet. Daher iſt auch
nur eine ſchwache Spur von ihrer Wirkſamkeit zuruͤck-
geblieben, und der Zuwachs am Vermoͤgen entweder
gar nichts, oder doch von geringer Erheblichkeit.
Wenn es aber die Abſicht iſt, die Demonſtration
ſelbſt zu faſſen, nicht bloß ihren Schlußſatz: ſo kann
doch wiederum der groͤßte Theil der Arbeit dahin gehen,
daß ich die aufeinander folgenden Saͤtze in ihrer Ord-
nung faſſe und bemerke, und ſie dann wie eine Jdeen-
reihe der Phantaſie einpraͤge. Allein man iſt alsdann
wiederum nicht ſehr ſtark mit der Denkkraft wirkſam.
Die Saͤtze werden nicht, einer nach dem andern heraus-
gearbei-
[397]und Entwickelung des Menſchen.
gearbeitet, ſondern die Denkkraft nimmt nur die Folge-
rungen mit ihren Grundſaͤtzen zuſammen, findet jene
von dieſen abhaͤngig, und darinn beſtehet ihre Einſicht;
aber ſie folgert ſelbſt nicht, ſie macht ſelbſt keine Ver-
knuͤpfung, geht nicht mit ihrer Eigenmacht von dem
Grundſatz zum Folgeſatz fort, wie der Mann thun muß-
te, der die Demonſtration zuerſt erfinden ſollte. Es
iſt nur ein Nachfolgen, nicht urſpruͤngliches Selbſtden-
ken; und der Erfolg davon iſt alsdenn auch, daß die
Demonſtration zum Theil nur wie eine Geſchichte im
Gedaͤchtniß verwahret wird. Ohne Zweifel iſt doch die
Jntenſion des Verſtandes, womit der Erfinder die De-
monſtration gedacht hat, ungleich ſtaͤrker geweſen, als
ſie in dem Aktus iſt, womit ein anderer ſie ihm nur
nachdenket. Und dennoch iſt die letztere Arbeit kein bloſ-
ſes Nachbeten; denn es iſt eigene Forſchung, und eigene
Einſicht, was auf ſolche Art erlanget wird; aber es iſt
ſo zu ſagen nicht ſo tief eingehende Einſicht.
Es giebt auch unter den nachdenkenden Philoſophen
und Mathematikern eine gewiſſe Gattung, die man eben
ſo wenig ohne Ungerechtigkeit fuͤr Nachbeter anſehen,
als ihnen die Ehre ſelbſtdenkender originellen Koͤpfe ein-
raͤumen kann. Sie ſind gewiſſermaßen Mitteldinge
zwiſchen beiden. Man wird oft bemerken, daß die letz-
tern, wenn es darauf ankommt die Gedanken anderer
zu faſſen und von andern zu lernen, dem Scheine nach
einen Vorzug vor den ſtaͤrkſten Selbſtdenkern haben.
Denn es iſt aus der Richtung, die ihre Kraft zu neh-
men pflegt, zu begreifen, daß ſie die richtigen Gedan-
ken anderer, die ihnen vorgehen, ſchneller und leichter
durchſehen und faſſen, und ſie wirklich auch einſehen,
und ſich von ihrer Richtigkeit uͤberzeugen koͤnnen, als
ein anderer, der gewohnt iſt mehr ſelbſt zu denken. Der
letztere wird auch da, wo er einem Vorgaͤnger folget,
doch wenigſtens die ganze Aktion des Denkens ihm nach-
machen
[398]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
machen und zuweilen wohl gar mit noch groͤßerer An-
ſtrengung des Geiſtes arbeiten, als der Erfinder gethan
hat. Sein Begreifen iſt aber alsdann auch ein ſelbſt-
thaͤtiges Begreifen des Verſtandes. *)
Bey einzelnen Urtheilen, ſo gar bey einzelnen Jdeen,
treffen wir die naͤmliche Verſchiedenheit an. Eine Ver-
bindung zwoer Jdeen in der Phantaſie, die von andern
zu Stande gebracht iſt, annehmen, und die in ihnen
von andern ſchon kennbar gemachten Beziehungen ge-
wahrnehmen, iſt nur ein Stuͤck von dem ganzen Ge-
ſchaͤffte der Denkkraft, das derjenige gehabt hat, der je-
ne Verhaͤltniſſe zuerſt dachte, und ſie vielleicht nur erſt
nach vielen ſelbſtthaͤtigen Beſtrebungen zu Stande
brachte.
Wer eine Wiſſenſchaft als Logiker oder als Pſycho-
loge ſtudirt, und alſo insbeſondere das Verfahren des
Verſtandes und die Aktus der Denkkraft beobachten und
bemerken will, iſt ohne Zweifel genoͤthiget, ſolche auch
ſelbſt vorzunehmen. Jhm kann es daher auch nicht ge-
nug ſeyn, die uͤbergedachten Sachen in ihrer Verbin-
dung zu faſſen, ſondern er muß ſich auch Jdeen von den
beziehenden Aktus der Reflexion verſchaffen, und des-
wegen die Empfindungen von ihnen zu erlangen ſuchen.
Jndeſſen, da es bey dieſer Abſicht nicht ſo ſehr darauf
ankommt, daß es ihm vorzuͤglich leicht werde die Ak-
tus ſelbſt zu verrichten, ſondern nur darauf, daß er die
Vorſtellungen von ihnen gegenwaͤrtig haben koͤnne: ſo
kann er auch damit abkommen, daß er nur auf die hin-
terbleibenden Spuren der Aktionen in ihm aufmerkſam
ſey, ſolche wohl voneinander unterſcheide, und ſich ei-
nige Leichtigkeit erwerbe, dieſe als die Vorſtellungen von
den Aktionen zu erwecken. Hiebey erlaubet ſeine Ab-
ſicht ſtehen zu bleiben. Der letzte Schritt, naͤmlich der
Uebergang von der Vorſtellung der Aktion zu der Aktion
ſelbſt,
[399]und Entwickelung des Menſchen.
ſelbſt, das iſt, die Erhebung der ſchwachen Anfaͤnge
zur vollen Handlung, enthaͤlt eine Fortſetzung und er-
weiterte Anſtrengung des naͤmlichen Beſtrebens, und
ſetzet auch in dem Koͤrper einen Uebergang der Bewe-
gung aus den innern Fiebern des Gehirns in die aͤußern
Organe voraus, welche zu der Aktion gebraucht werden,
wenn dieſe zu den aͤußern Handlungen gehoͤret. Dieß
iſt es aber, was ſich auch derjenige leicht zu machen ſu-
chet, der ſich Fertigkeiten aus ſeiner Uebung verſchaf-
fen will, und mehr zu dieſem Zwecke, als zu einem an-
dern die Verſtandskraͤfte in den Wiſſenſchaften anwen-
det. Hiezu werden nicht bloß leichter erweckbare Spu-
ren der Handlungen erfodert, ſondern auch vollere, tie-
ſer eingehende und intenſiv ſtaͤrkere, ſolche naͤmlich, wel-
che leicht in Empfindungen uͤbergehen.
Die Erfahrung lehret, daß von dieſen verſchiedenen
Folgen und Wirkungen, die aus der Anwendung unſe-
rer Vermoͤgen entſtehen, bald die eine Art bald die
andere vorzuͤglich vorhanden iſt, und beſtaͤtiget alſo zu-
gleich ihre reelle Verſchiedenheit. Uebrigens kann keine
von ihnen gaͤnzlich fehlen, wo die uͤbrigen ſind. Jede
Uebung des Verſtandes gewaͤhret Einſichten in die Na-
tur der Sachen, die man durchdenket, giebt Kenntniſſe
von der Art des Verfahrens, und hinterlaͤßt eine Fer-
tigkeit in den Kraͤften. Die Verſchiedenheit iſt in dem
Mehr und Weniger.
Wiederum, wenn auch dieſe verſchiedenen Leichtigkei-
ten von einander ſo abhangen, daß im Fall Eine von
ihnen ſich gaͤnzlich verloren haͤtte, die uͤbrigen auf keine
Weiſe ſich weiter zeigen koͤnnten, geſetzt auch daß ſie
wirklich der Kraft noch ankleben: ſo iſt es doch gleich-
falls Erfahrung, daß Eine von ihnen vieles von ihrer
Staͤrke oder Stufe verlieren kann, ohne daß eine
Schwaͤchung in den uͤbrigen bemerkt werde. Die Lehr-
ſaͤtze der Geometrie koͤnnen vergeſſen werden; allein der
Hang
[400]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Hang des Verſtandes zu genau beſtimmten Begriffen
und zum Eindringen in den Zuſammenhang der Kennt-
niſſe kann in ſeiner ganzen Groͤße beſtehen und ſich bey
andern Objekten thaͤtig beweiſen.
5.
Zwo Anmerkungen begegnen mir hier, denen ich
nicht ausweichen will. Da alle Kenntniſſe, die von
den alten und neuern Erfindern zuerſt gelehret ſind, von
ihren Nachfolgern geſammlet, leichter geordnet, faßli-
cher gemacht, und endlich kurz gefaßt in die neuern Lehr-
buͤcher gebracht ſind: ſo kann derjenige, dem es nur um
die Kenntniſſe ſelbſt zu thun iſt, wenig Urſachen haben
zu den erſten Quellen zuruͤckzugehen. Sollte es alſo
nunmehr zu nichts nuͤtzen, die Schriften der erſten Er-
finder ſelbſt zu leſen? Ohne Zweifel iſt ſolches in man-
cher Hinſicht unnoͤthig. Denn warum ſoll ich mit meh-
rerer Muͤhe und Weitlaͤuftigkeit da Kenntniſſe holen,
wo ſie mit Jrrthuͤmern und Vorurtheilen vermiſcht, zer-
ſtreut und in Unordnung liegen, wenn ich ſie anders-
wo beyſammen, gelaͤutert und in einer lichtvollen Ver-
bindung haben kann, wofern es nicht etwa meine Ab-
ſicht iſt die Geſchichte der Kenntniſſe zu ſtudiren?
Aber man wuͤrde ſich gar ſehr irren, wenn man glau-
ben wollte, daß dorten in den aͤltern Schriften nichts
zuruͤckgeblieben ſey, was man nicht von den Neuern
auch erlernen koͤnnte. Der ſpuͤrende Geiſt der Erfin-
der iſt zuruͤckgeblieben. Wer dieſen kennen, etwas da-
von einziehen, oder die natuͤrliche Anlage dazu verſtaͤr-
ken will, muß ſie ſelbſt ſtudiren. Das Eigene in ih-
rer Art die Sachen zu denken, zu verbinden, von dem
einem zum andern uͤberzugehen, dasjenige eben was
es oft ſchwer macht ſie zu verſtehen, noͤthiget den, der
ihnen nachdenket, zu mancherley Verſtandeshaͤtigkei-
ten, die er ſonſten nicht gebraucht haͤtte, und zuweilen
zu
[401]und Entwickelung des Menſchen.
zu Anſtrengungen, welche eben ſo groß ſind, als die Staͤr-
ke, womit die Erfinder dachten. Daher entſtehen Ein-
druͤcke auf die Kraft, wodurch ſie dem Erfindungsgeiſte
aͤhnlich wird, und die man vergebens bey den nachfol-
genden Schriftſtellern ſuchet, von denen nur bloß das
Erfundene geordnet iſt. Es iſt ohne Zweifel unnoͤthig,
um die mathematiſche Kenntniß zu erlangen, die man
aus Archimedes Schriften ſchoͤpfen kann, ihn ſelbſt zu
leſen. Man hat alles das itzo vollſtaͤndiger und leichter
in den neuern Lehrbuͤchern. Aber ich verſpreche dem, der
den Archimedes durchdenkt, einen Zuwachs am geome-
triſchen Geiſte, den ich ihm nicht verſprechen kann, wenn
er die neuern analytiſchen Einkleidungen derſelben Saͤ-
tze durchrechnet. Man ſtudire Newtonsprincipia,
und dann die neuern analytiſchen Demonſtrationen der-
ſelben, und man wird den Unterſchied fuͤhlen. Jn-
deſſen folget daraus keinesweges, daß die Bemuͤhung,
die Wiſſenſchaften leichter und faßlicher zu machen, we-
niger nutzbar ſey, und weniger geſchaͤtzet zu werden ver-
diene. Man muͤßte die Kuͤrze des Lebens, die Schwaͤ-
che der Kraͤfte und die Menge und Weitlaͤuftigkeit der
Wiſſenſchaften nicht wohl uͤberdacht haben, wenn man
jene nicht mit dem waͤrmſten Dank erkennen wollte.
Die zwote Anmerkung iſt dieſe. Die Philoſophen
haben von ihrer allgemeinen Grundwiſſenſchaft ehedem
die Meinung geheget, ſie ſey das letzte Mittel den Ver-
ſtand zu heben und zu ſtaͤrken. Plato ſprach von einer
Organika des Verſtandes, und Ariſtoteles ſuchte ſie in
ſeinen allgemeinen Spekulationen, die nachher den Na-
men der Metaphyſik erhielten. So gaͤnzlich iſt dieſes,
wie mich deucht, kein leerer Wahn. Giebt es ja ein
geiſtiges Mittel, bey unſerm Verſtande ſo etwas zu
leiſten, als das Bewaffnen bey den Magneten iſt: ſo
ſind es gewiß die allgemeinen Fertigkeiten, welche durch
ein wohleingerichtetes Studium der Vernunftlehre und
IITheil. C cder
[402]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Grundwiſſenſchaft, mit einander verbunden, erhal-
ten werden. Denn da die erſtere das Wie, die zwote das
Was, welches bey allen Arten von Sachen und Gegen-
ſtaͤnden gedacht, uͤberlegt und erforſchet werden kann, im
Allgemeinen darſtellet: ſo fuͤhret die Uebung in dieſen all-
gemeinen Asuſichten von ſich ſelbſt auf eine naͤhere Art
zu den beiden Fertigkeiten, worinn die allgemeine Ver-
ſtandesſtaͤrke beſtehet. Zuerſt ſind die in ihnen bearbei-
teten Begriffe allgemeine Notionen des Verſtandes, die
in allen beſondern Arten von Kenntniſſen vorkommen,
und deren Verbindung in der Phantaſie den Verſtand
gleichſam mit allgemeinen Faſern und Formen erfuͤllet,
woran jedwede Gattung von den naͤher beſtimmten
Jdeen ſich leichter und ſchneller anleget, indem dieſe im-
mer einige Elemente enthalten, die in jenen auch ſind,
und alſo ſelbſt mit ihnen zuſammenfallen. Dieß ver-
ſchafft alſo eine Leichtigkeit in der Vorſtellungskraft,
Jdeen und Begriffe zu faſſen. *) Hiezu kommt zwey-
tens, daß eben dieſe Allgemeinheit der Jdeen es nicht
zulaͤßt, daß ſie fuͤr ſich uns intereſſiren; weswegen die
Art der Thaͤtigkeit des Verſtandes, indem man ſie faßt,
uͤberdenkt und verbindet, uns von ſelbſt wichtiger wird,
als die Saͤtze ſelbſt, die man herausbringet. Und dieß
lenket die Denkkraft mehr dahin, daß ſie zu ihrer Ue-
bung und Verſtaͤrkung arbeitet, als fuͤr das Gedaͤcht-
niß. Jndeſſen iſt es gewiß, daß von dieſer letzten Sei-
te betrachtet, das Studium der Mathematik viele Vor-
zuͤge vor der Metaphyſik haben wuͤrde, wenn die An-
wendung der Reflexion in der erſtern nicht einfoͤrmiger
waͤre, als in den philoſophiſchen Wiſſenſchaften. Jn
den letztern muß die hoͤhere Erkenntnißkraft auf alle moͤg-
liche Art wirkſam ſeyn, und jede ihrer Wirkungsarten
kommt mehrmalen vor und ſo, daß ohne eine gewiſſe
Jntenſion der Kraft die Abſicht, die man ſich macht,
nicht
[403]und Entwickelung des Menſchen.
nicht erreicht werden kann. Daraus entſtehet eine
mannichfaltigere und mehrſeitige Fertigkeit, die den
Namen einer allgemeinen Verſtandesſtaͤrke noch mit
groͤßerm Rechte verdient, als die Fertigkeit bloß Groͤſ-
ſen zu vergleichen. Jch breche dieſe Betrachtung hier
ab, meine aber, daß dieß die Grundſaͤtze ſind, wornach
man die weſentliche Ordnung der Kenntniſſe, in Bezie-
hung auf die Vervollkommnung des Verſtandes, feſtſe-
tzen muͤſſe, woruͤber Hr. Verdier verſchiedenes ſehr
gut erinnert hat.
6.
Was endlich die dritte Wirkung betrift, die oben
(N. 4.) als eine Folge von der Vervollkommnung einer
Seelenfaͤhigkeit angefuͤhrt iſt, naͤmlich, daß die an ei-
ner Seite erlangte Staͤrke ſich uͤber den ganzen Um-
fang der Seelenkraͤfte verbreite, und auch die uͤbrigen
erhoͤhe: ſo meine ich, es duͤrfe zu den vorher daruͤber
gemachten Anmerkungen (2.) nur wenig hinzugefuͤgt
werden. Die Erfahrung ſetzet dieß außer Zweifel. Ue-
berhaupt hat man hier ſchon die allgemeine und bekannte
Beobachtung vor ſich, wenn man auf den allmaͤligen
Fortgang der Entwickelung bey Jndividuen ſo wohl,
als bey ganzen Voͤlkern ſieht, die in der bekannten
Sentenz liegt, didiciſſe fideliter artes emollit mores,
nec ſinit eſſe feros. Wo die Kuͤnſte und Wiſſenſchaf-
ten bluͤhen, da iſt der Boden zu der Verfeinerung der
Sitten, zur Erhoͤhung der Empfindſamkeit und zur
Ausbildung des Herzens bearbeitet. Die Ausbildung
an Einer Seite fuͤhret auf andere. Jede Geſchicklich-
keit, die das Kind verraͤth, und wenns auch nur die
Fertigkeit im Laufen und im Springen iſt, giebt dem
verſtaͤndigen Erzieher ein Mittel an die Hand, nicht
nur ſeine Neigungen zu lenken, ſondern auch die An-
wendung anderer Vermoͤgen zu befoͤrdern und zu er-
C c 2leichtern.
[404]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
leichtern. Zuweilen ſtehen einige wilde Fertigkeiten
zwar im Wege andere hinzupflanzen, und da iſt die
Kunſt des Erziehers eine wahre und ſchwere Kunſt.
Aber dennoch laͤßt ſichs thun, und es kommt nur darauf
an, daß die naͤmliche innere Wirkſamkeit, die ſich an
einer Seite von ſelbſt offenbaret, durch Umſtaͤnde gelei-
tet wird, ſich anderswohin auszulaſſen. Und eben
dieß, daß eine jede Fertigkeit durch die geſchickte Wen-
dung zu einer andern werden kann, beweiſet, daß die
Staͤrke der Kraft, welche ſich in jener zeigte, auch zu-
gleich eine Staͤrke der geſammten Grundkraft enthaͤlt.
Daß es ſo viele einzelne Beyſpiele giebt, die dieſer
Behauptung entgegenzuſtehen ſcheinen; daß Leute von
großen Einſichten des Verſtandes wenig oder gar kein
Gefuͤhl von dem haben, was ſchoͤn oder haͤßlich, wohl-
anſtaͤndig oder niedrig iſt; daß es andere giebt, die bey
einer feinen Empfindſamkeit einen ſchwachen Verſtand
beſitzen, und noch ſchwaͤcher ſind, wenn ſie ſich ſelbſt in
ihren Handlungen regieren ſollen; daß bey einigen dieſe
Ungleichheit, die Staͤrke an Einer und die Schwaͤche
an der andern Seite, ſo weit gehet, daß ſie pſychologi-
ſche Paradoxa werden: hebt den allgemeinen Erfah-
rungsſatz nicht auf, ſondern beſtimmt ihn nur naͤher,
und darf uns uͤberhaupt ſo ſehr nicht befremden. Der
Einfluß einer einſeitigen Vervollkommnung in das
Ganze der Seele iſt oft an ſich nur geringe, zuweilen
unbemerkbar, vielleicht ſo ſehr, daß man ihn nur in der
Theorie fuͤr etwas, in der Anwendung aber fuͤr Nichts,
anſehen kann. Es giebt unzaͤhlig viele Urſachen, die
ſeine Wirkung zuruͤckhalten und ſchwaͤchen koͤnnen.
Nicht zu ſagen, daß wirklich zuweilen nur ein Schein
von Unvermoͤgen vorhanden iſt, und daß ſelbſt die zu
große Staͤrke der Kraft einen Grund des Unvermoͤgens
zu gewiſſen Handlungen ausmacht, wie ſchon vorher (3.)
erinnert iſt. Ueberdieß aber iſt es auch wohl begreiflich,
daß
[405]und Entwickelung des Menſchen.
daß die Entwickelung eines einzigen Vermoͤgens, wenn
ſolche uͤber ein gewiſſes Maß gehet, der Entwickelung
und Ausbildung im Ganzen ſchaͤdlich werden koͤnne.
Dieß geſchieht nur zu haͤufig, und verdienet unten noch
etwas naͤher betrachtet zu werden. Es muͤſſen alſo noth-
wendig viele Exempel da ſeyn, daß Perſonen an Einer
Seite ſehr entwickelt ſind, die es an andern wenig oder
gar nicht ſind. Aber deßwegen bleibet es fuͤr ſich und
ohne Ausnahme wahr, daß jede wahre Perfektion der
Seele uͤber ihre ganze Natur ſich ausbreitet. Es geht
den pſychologiſchen Geſetzen wie den Geſetzen der Mecha-
nik. Der erſte Grundſatz, wornach jedweder Koͤrper
ſeine Bewegung, die er hat, immerfort behalten ſoll,
bis eine aͤußere Urſache ſie abaͤndert, iſt voͤllig allge-
mein ohne Ausnahme, obgleich kein einziger Koͤrper,
dem wir Bewegungen beybringen, ſolche unveraͤnder-
lich behaͤlt. Die Ausnahmen haben ihre Urſachen, welche
in der Regel ſelbſt ſtehen, und ſind eigentlich keine Aus-
nahmen.
7.
Wie die Seelenvermoͤgen bey ihrem Gebrauche zu-
nehmen, und durch eine angemeſſene Uebung geſtaͤrket
werden: ſo nehmen ſie wieder ab durch den Nichtge-
brauch, und werden geſchwaͤcht durch einen ſol-
chen Gebrauch, der uͤbertrieben und unmaͤßig iſt.
Was es mit ihrer Abnahme fuͤr eine Bewandniß habe,
welche dem Anwachs entgegenſtehet, und ob ſolche wie
eine Einwickelung anzuſehen ſey, ſoll noch unten beſon-
ders unterſucht werden. Aber die eine Art der Schwaͤ-
chung, welche durch eine uͤbertriebene Anſtrengung ent-
ſtehet, laͤßt ſich hier ſchon am fuͤglichſten erlaͤutern.
Es iſt ein Geſetz in dem Koͤrper und auch in allen
Organen der Seele, daß jede zu ſtarke Spannung eine
Erſchlaffung hinterlaͤßt. Daraus folget ſchon, daß Vor-
C c 3ſtellun-
[406]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſtellungen, die einmal das Organ uͤber die Maße ange-
griffen haben, nachher entweder gar nicht, oder doch
nicht mit derſelbigen Leichtigkeit wiedererwecket werden
koͤnnen. Dieß verurſacht fuͤr die Seele ein Unvermoͤ-
gen, mit ſolchen Jdeen ſich zu beſchaͤfftigen. Es gilt
aber dieſes eben ſo wohl von ſolchen ſinnlichen Bewe-
gungen im Gehirne, die zu den Jdeen von den Ak-
tionen gehoͤren, als von denen, die materielle Jdeen
der Gegenſtaͤnde ſind.
Mit dieſer Erklaͤrung begnuͤgt man ſich gemeini-
glich. Aber ſo wohl der wahrſcheinlichſte Begrif von un-
ſerm Seelenweſen, als auch ſelbſt die Erfahrungen ma-
chen es wenigſtens vermuthlich, daß noch etwas mehre-
res, und zwar etwas Geiſtiges in der Seele ſelbſt, dahin-
ter ſtecke. Die Schwaͤche, welche von einer zu ſtarken
Anſtrengung herruͤhret, erfodert noch ein Mittel mehr,
wenn ſie gehoben werden ſoll, als Ruhe in dem Organ,
wodurch wahrſcheinlich die koͤrperliche Folge die meiſten
Male gehoben wird. Denn es iſt außerdieß erfoder-
lich, daß der unuͤberwindliche Widerwille, den wir ge-
gen eine Handlung gefaßt haben, unter der wir erliegen
muͤßten, durch eine Veraͤnderung in der Jdeenaſſocia-
tion gehoben werde, die ſich feſtſetzte, wo die Ermuͤdung
zu ſtark war.
Die allzuſtarke Anſtrengung kann zuerſt ſchon kei-
nen Zuwachs an Vermoͤgen hervorbringen, weil jede
Aktion, ſobald ſie zu heftig wird, aufhoͤret eine ſelbſt-
thaͤtige Aktion der Seele zu ſeyn. Die Jdeen von
den Objekten moͤgen uns noch vorſchweben, und in ih-
ren Beziehungen auf einander noch gegenwaͤrtig ſeyn,
und ſich verbinden und trennen; aber wenn uns, wie
wir ſagen, der Kopf zu warm wird, und das Gebluͤt
bey der Geiſteswirkung ſich erhitzet: ſo iſt die Bearbei-
tung der Jdeen nun mehr ein Werk des Gehirns und
ein Spiel der aufgebrachten Lebensgeiſter, als eine
Wir-
[407]und Entwickelung des Menſchen.
Wirkung der Eigenmacht der Seele. Dieſe wird alſo
mit ihrer Kraft wenig oder gar nicht mehr angewendet
und geuͤbt.
Dieß iſt es aber nicht alles. Die Uebertreibung iſt
nicht nur unnuͤtz zur Staͤrkung, ſondern auch ſo gar
ſchaͤdlich. Sie hinterlaͤßt nicht bloß eine Unluſt zu der
Sache, ſondern ein Unvermoͤgen, das bisweilen ſo
weit gehet, daß wir nicht einmal an die Arbeit denken,
noch weniger ſie wollen koͤnnen. Es braucht aber bis da-
hin nicht zu gehen, und es iſt doch oft ein Unvermoͤgen
da ſie wirklich zu verrichten.
Es iſt ein anders, wenn wir durch eine zu lang an-
haltende Beſchaͤfftigung uͤber einer Arbeit ermuͤden,
und ihrer uͤberdruͤßig werden, alsdenn von ihr ablaſſen
und ſie nicht wieder vornehmen moͤgen noch koͤnnen, bis
wir uns zerſtreut und erholet haben. Und ein anders
iſt es, wenn wir uͤberhaupt unfaͤhig zu ihr geworden
ſind. Jndeſſen ſind dieſe beiden Wirkungen, nebſt
noch einigen andern, die hiebey vorkommen, nur den
Graden nach unterſchieden. Das Weſentlichſte iſt eben
daſſelbige, naͤmlich eine Erſchoͤpfung der Kraft, oder
ein Unvermoͤgen, welches eine Folge von ihrer zu
ſtarken Anwendung iſt.
Wir ſind zuweilen der Arbeit nur fuͤr jetzo uͤber-
druͤßig.
Jn einem andern Fall haben wir einen anhaltenden
Widerwillen gegen ſie gefaßt.
Dieſer Widerwille iſt zuweilen ſo ſtark, daß wir
nicht einmal lebhaft an ſie denken moͤgen.
Zuweilen koͤnnen wir zwar an ſie denken, nur mit
der lebhaften Vorſtellung von ihr uns nicht lange be-
ſchaͤfftigen, und ſind unvermoͤgend ſie zu verrichten.
Dieſe Verſchiedenheiten entſtehen daher. Das Un-
angenehme hat ſich zuweilen nur durch aͤußere Umſtaͤnde
mit der Handlung verbunden, und klebet ihr als einer
C c 4indivi-
[408]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
individuellen Handlung in der Vorſtellung an, doch ſo,
daß es nur auf einige Zeit bey ihr bleibet, nachher aber
von ſelbſt ſich davon abſondert. Dieß geſchieht in ſol-
chen Faͤllen, wo wir, durch Abwechſelung oder Ruhe er-
friſchet, von neuem mit Munterkeit und Vergnuͤgen zu
ihr zuruͤckkehren.
Ein andermal hat ſich das Unangenehme tiefer ein-
geſogen, und klebet der Vorſtellung von der Aktion
dauerhafter an. Alsdenn wird es auch wieder erneuert,
ſo bald die letztere ſo lebhaft wird, daß ſie anfaͤngt
Nachempfindung oder wiederholte Handlung zu wer-
den. Die Abneigung gegen ſie muß alsdenn fortdau-
ernder ſeyn.
Das Unangenehme kann mit der Handlung ſo tief
und ſo innig verbunden worden ſeyn, daß auch die bloſ-
ſe Vorſtellung von der Aktion, als ein Anſatz zu ihr,
davon durchdrungen iſt. Dieß findet alsdenn Statt,
wenn wir nicht einmal an ſie ohne Widerwillen denken
moͤgen.
Dennoch kann dieſe Abneigung, uns mit ihr auch
nur in der Vorſtellung zu befaſſen, uͤberwindlich ſeyn.
Wenn dieß iſt: ſo fuͤhlen wir noch in uns ein Vermoͤ-
gen uns mit ihr zu beſchaͤfftigen, ob wir ſolches gleich
nicht gebrauchen. Wir moͤgen und wollen ſie nicht,
aber wir koͤnnen ſie wollen, und auch verrichten, wenn
wir wollten. Das, was uns fehlet, iſt nur die Luſt da-
zu, nicht die Kraft.
Dagegen wenn wir uns ganz unvermoͤgend dazu
finden: ſo iſt der Widerwille unuͤberwindlich; und um-
gekehrt, wenn die Abneigung nicht uͤberwunden wer-
den kann: ſo fuͤhlen wir, daß wir nicht vermoͤgend ſind
ſie vorzunehmen. Wir fuͤhlen eine innere Gewalt, die
uns zuruͤckhaͤlt; wir werden geklemmt, gedruckt; und
wenn wir dennoch einen Verſuch machen und uns anſtren-
gen: ſo entftehen Schmerzen, die uns zuruͤcktreiben.
Zuwei-
[409]und Entwickelung des Menſchen.
Zuweilen entſtehen dieſe ſchon, wenn nur der Gedanke
von der Handlung in uns aufſteiget.
Dieſer unuͤberwindliche Widerwille hat noch
dazu die Folge, daß wir die Vorſtellungen in uns zu-
ruͤckhalten und zu unterdruͤcken ſuchen, deren Erweckung
uns zur Thaͤtigkeit reizen moͤchte. Wir wickeln ſolche
ein, ſo viel wir koͤnnen, indem wir die Aufmerkſamkeit
davon abziehen, und dagegen auf andere richten, die uns
jene aus dem Sinne bringen.
Wenn der zum Theil oder gaͤnzlich unuͤberwind-
liche Widerwille als das Weſentliche in dem Un-
vermoͤgen angenommen wird, was aus der zu ſtarken
Anſtrengung der Kraͤfte entſpringet, ſo ferne ſolches in
der Seele ſelbſt iſt: ſo iſt auch zu begreifen, wie ein ſol-
ches Unvermoͤgen und eine ſolche Schwaͤche von dem
Unvermoͤgen einer noch ungeuͤbten und unent-
wickelten Kraft unterſchieden ſey, welchen Unterſchied
das Gefuͤhl uns lehret; ingleichen wie jene von der Ab-
nahme der Kraͤfte verſchieden iſt, die das Alter hervor-
bringet. Wo die Kraft ungeuͤbt und ungeſtaͤrkt iſt, da
fehlet auch die anſchauliche Vorſtellung von der Aktion;
aber da nicht, wo die Ermuͤdung auf die Arbeit folget.
Wenn auch eine Fertigkeit darum, weil ſie lange ohne
Uebung geblieben iſt, etwas geſchwaͤcht worden iſt: ſo
finden wir gleichfalls, daß auch die Jdee von der Aktion
an ihrer Voͤlligkeit und Staͤrke verloren hat. Aber ſo
verhaͤlt ſichs nicht, wenn ein unuͤberwindlicher Wider-
wille ſie in der Seele zuruͤckhaͤlt. Jn dieſem Fall iſt
die Vorſtellung von der Aktion vorhanden, nur kann ſie
nicht hervorgehen, weil wir ſelbſt dagegen ſtreben, ſo
bald ſie durch irgend eine andere Aſſociation von Jdeen
ſich zu regen anfaͤngt.
Jſt nicht alſo eben dieſes, naͤmlich unuͤberwind-
licher Widerwille, das, was die Schwaͤchung
der Kraft aus zu ſtarker Anſtrengung in der
C c 5Seele
[410]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Seele ſelbſt ausmacht? Es ſtimmet wenigſtens die
Beobachtung damit uͤberein, wenn wir auf die Mit-
tel ſehen, wodurch ſie zuweilen gehoben wird.
Hat das koͤrperliche Werkzeug ſeine ehemalige Kraft,
die es durch die zu heftige Spannung verloren hatte,
wieder erlanget, wozu Ruhe und Zerſtreuung die beſten
Mittel ſind: ſo iſt auch kein Schmerz aus dem Koͤrper
mehr damit verbunden, wenn die Aktion von neuem vor-
genommen wird. Alsdenn iſt nur noͤthig, das Unver-
moͤgen in der Seele zu heben. Aber wir finden, daß
alsdenn es auch nur darauf ankomme, daß die ehemali-
ge Jdeenaſſociation, die ſich feſtgeſetzet und die Erin-
nerung von Schmerzen mit der Jdee von der Aktion ver-
einiget hatte, geaͤndert werde; entweder daß die erſte-
re von der letztern getrennet, oder daß eine andere Vor-
ſtellung von uͤberwiegendem Vergnuͤgen hinzugeſetzet
und dadurch jene uͤberzuckert werde, oder daß beides ge-
ſchehe. Aber zugleich erhellet auch daraus, daß dieß
letzterwehnte pſychologiſche Mittel noch erfoderlich iſt,
wenn gleich ſonſten die phyſiſche Schwaͤche in dem Or-
gan gehoben, und daß die letztere nicht alles allein aus-
mache, ſondern außer ihr noch ein ihr entſprechendes
Unvermoͤgen in der Seele vorhanden ſey.
Daß aber eine unuͤberwindliche Abneigung in der
Seele ein wahres phyſiſches Unvermoͤgen ſey etwas zu
verrichten, welches ſo weit gehet, als der Widerwille
unbezwingbar iſt, iſt eine Folge des bekannten Geſetzes
ihrer Natur. Sie fliehet das Widrige und muß es
fliehen, woferne ſie nicht auch das Widrige uͤberwinden
kann. Dieß iſt nicht von ihrem Wollen abhaͤngig, ſon-
dern von ihrem Vermoͤgen, ob ſie gleich ſonſten aller-
dings die phyſiſche Kraft beſitzet, oder das innere wirk-
ſame Princip, das ſich ſelbſtbeſtimmet, wenn man will-
kuͤrlich will oder nicht will. Aber dieſes Princip beſitzet
nicht anders ein Vermoͤgen dieſes oder jenes zu wollen,
als
[411]und Entwickelung des Menſchen.
als wenn es in ſich erweckbare Vorſtellungen hat, auf
die es ſich nur anwenden darf. *) Solche Vorſtellun-
gen ſind zwar da, wenn die Abneigung unuͤberwindlich
iſt; aber die ſich beſtimmende Kraft wird zuruͤckgehalten,
daß ſie ſolche nicht hervorziehen oder doch nach ihnen
ſich nicht eigenmaͤchtig beſtimmen kann, da ſie vielmehr
leidentlich nach der entgegengeſetzten beſtimmt wird.
Wenn die Abneigung gegen die Aktion nicht unuͤber-
windlich iſt: ſo iſt auch dieß aus Ermuͤdung entſtandene
Unvermoͤgen noch nicht als eine voͤllige Ohnmacht anzu-
ſehen. Es kann uns etwas ſehr ſchwer ſeyn, iſt aber
doch moͤglich durch unſere Kraͤfte, ſo wie dieſe derzeit
ſind. Kann alſo jene Abneigung gehoben werden, es
ſey nun, daß die dazu erfoderlichen Vorſtellungen ſchon
vorhanden ſind; oder daß ſie durch eine Bearbeitung der
vorhandenen, die in unſerer Gewalt iſt, gemacht wer-
den koͤnnen; oder daß wir unſern Eigenſinn bis ſo weit
ſtaͤrken koͤnnen: in irgend einem dieſer Faͤlle iſt mehr ein
ſchwaches Vermoͤgen als ein gaͤnzlicher Mangel deſſel-
ben vorhanden.
Giebt man auf die oft ſchleunigen Veraͤnderungen
acht, die ſich in Hinſicht auf die beſondern Vermoͤgen
oder Unvermoͤgen zu gewiſſen beſtimmten Arten von
Handlungen bey den Menſchen eraͤugnen, wenn auf ein-
mal die Jdeenverknuͤpfungen bey ihnen merklich veraͤn-
dert werden: ſo zeiget ſich, daß auch dasjenige Unver-
moͤgen, wovon hier die Rede iſt, zu ſolchen gehoͤre.
Sind nur die phyſiſchen Folgen in dem koͤrperlichen Or-
gan weggeſchaft, welche die Ueberſpannung zuruͤckließ,
damit nicht Schmerzen aus dem Koͤrper entſtehen,
wenn das Organ von neuem gebraucht werden ſoll: ſo
hat man ſich in Hinſicht des Widerwillens ſo viel oder
ſo wenig in ſeiner Gewalt, als man mehr oder minder
uͤber die Jdeenaſſociation und Leidenſchaften Herr iſt.
Aber
[412]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Aber wie es auch iſt, ſo fuͤhret uns doch dasjenige, was
bey dem Unvermoͤgen aus zu ſtarker Anſtrengung be-
merket wird, nicht auf eine Verminderung oder Er-
ſchwaͤchung in dem thaͤtigen Grundprincip der Seele,
ſondern bloß auf ein Hinderniß, welches der Grundkraft
es verwehret auf eine gewiſſe Weiſe zu wirken, das iſt,
in einer gewiſſen Richtung hervorzugehen. Jn dem
koͤrperlichen Organ kann die Elaſticitaͤt ſelbſt durch die
zu ſtarke Spannung geſchwaͤcht ſeyn. Allein dieſe iſt
nur die Kraft des Zuſammengeſetzten, die eine Wir-
kung von den Kraͤften der einfachen Beſtandtheile iſt,
und von der Menge der letztern und ihrer Verbindung
miteinander abhaͤngt. Die abſoluten Kraͤfte der einfa-
chen Theile dagegen bleiben dieſelbigen, und leiden nichts,
wenn gleich die Fiber zerriſſen wuͤrde.
III.
Von der Erhoͤhung der leidenden Vermoͤgen der
Seele, der Receptivitaͤt, des Gefuͤhls und
der Empfindſamkeit.
- 1) Von der Erhoͤhung der aͤußern Sinne.
Was hierinn liegt, iſt auch in der Vervoll-
kommnung der uͤbrigen leidenden Vermoͤgen
der Seele enthalten. - 2) Die erlangten Jdeenreihen von den Objek-
ten machen Zuͤge und Eindruͤcke bemerkbar,
welche es fuͤr ſich weniger oder gar nicht
geweſen ſeyn wuͤrden. - 3) Es entſtehet eine Leichtigkeit dergleichen Ein-
druͤcke anzunehmen und auf ſie zu reagiren,
welche von der Leichtigkeit die Jdeen von
den Gegenſtaͤnden zu erneuern unterſchieden
iſt.
4) Die
[413]und Entwickelung des Menſchen.
- 4) Die Verfeinerung einer Seite unſerer lei-
denden Vermoͤgen verbreitet ſich uͤber alle.
1.
Da jede einzeln beobachtbare Kraftaͤußerung der
Seele aus einem Thun und Leiden zuſammenge-
ſetzt iſt, und alle geiſtige Vollkommenheiten des Men-
ſchen eine gewiſſe Staͤrke ſeiner thaͤtigen und leidenden
Vermoͤgen in ſich halten: ſo erfodert eine deutliche Vor-
ſtellung von der Entwickelung der Seele, daß man die-
ſe auch von ihrer zwoten Seite kennen lerne, und ſehe,
ob und wie ferne die paſſiven Vermoͤgen etwas anzu-
nehmen und ſich modificiren zu laſſen, das iſt, die Re-
ceptivitaͤt der Seele, einer Erhoͤhung und Vergroͤßerung
faͤhig ſeyn. Hiebey koͤnnte vielleicht die obige Erlaͤute-
rung aus dem Search uͤber die Verbeſſerung des Ver-
ſtandes, die er von dem Geſichte hernahm, anpaſſen-
ſender ſcheinen, daß naͤmlich unſere natuͤrliche Vermoͤ-
gen unveraͤndert bleiben wie ſie ſind, und nur die Mit-
tel und Gegenſtaͤnde, wodurch und worauf ſie ſich aͤuſ-
ſern, vervielfaͤltiget und vermehret werden. Aber auch
hier iſt dieſe Vorſtellung nicht voͤllig richtig, wenn wir
nur genauer erwegen, was wirklich geſchieht. So gar
die aͤußern Sinnglieder, beſonders die Augen und Oh-
ren, werden durch die Uebung gewiſſermaßen geſtaͤrket
und vollkommener gemacht. Das Auge bleibet doch
nicht ganz unveraͤndert, wie es uns angeboren iſt.
Selbſt die Uebung, die von der bloßen Natur veranlaſ-
ſet wird, beſſert das Organ bey dem Gebrauch. Das
Auge waͤchſt nicht allein in der Kindheit, ſondern be-
kommt auch eine etwas andere Figur, und wird geſchick-
ter die Bilder von den Gegenſtaͤnden aufzunehmen. *)
Und
[414]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Und was durch unſer eigenes willkuͤrliches Bemuͤhen ſich
hierinn ausrichten laͤßt, weiß man aus bekannten Er-
fahrungen, da die aus Gewohnheiten entſtandenen Ver-
ſchlimmerungen, wenn ſie nur nicht gar zu ſehr einge-
wurzelt ſind, gehoben oder wenigſtens etwas gemildert
werden koͤnnen. Die Verſtaͤrkung des Geſichts in dem
Jaͤger, der weit in die Ferne ſehen lernt, und in dem
Maler, der in der Naͤhe beſſer ſieht, haͤngt doch auch
von der Uebung ab. Allein was die Staͤrke des Sin-
nes betrift, inſoferne dieſer ein Vermoͤgen der Seele
iſt, die mittelſt des Organs entſtandenen Eindruͤcke zu
faſſen, und nach ihrer Verſchiedenheit zu faſſen, zu fuͤh-
len und gewahrzunehmen: ſo iſt ſolche etwas anders,
als die etwanige Verbeſſerung, die in den aͤußern Or-
ganen vor ſich gehen mag. Wenn ein Kenner die klein-
ſten Theile eines Gemaͤldes mit einem Blicke faſſet, da-
von neun Zehntheile einem andern entwiſchen: ſo folget
daraus nicht, daß das Auge des erſtern ſchaͤrfer ſey; ſo
wenig als bey dem Kraͤuterkenner die Vortreflichkeit des
Organs die Urſache davon iſt, daß er die kleinen Merk-
zeichen der Pflanzen ſo leicht gewahr wird, die Andere
nur mit Muͤhe ſehen, wenn ſie von jenem gewieſen wer-
den. Daſſelbige gilt von der Verfeinerung der uͤbrigen
Sinne, des Gehoͤrs, des Geruchs, des Geſchmacks
und des Gefuͤhls.
Beobachtet man dieſe Wirkungen der Uebung bey
den aͤußern Sinnen genauer, ſo kommt man auf aͤhnliche
Bemerkungen, wie oben, da der Anwachs in den thaͤti-
gen Vermoͤgen betrachtet ward. Hat man aber von der
Art der Entwickelung oder Erhoͤhung bey den Sinnen
einen deutlichen Begrif, ſo ergiebt ſich von ſelbſten, daß
man davon auf die uͤbrigen Receptivitaͤten, Gefuͤhlsar-
ten und auf die geſammte Empfindſamkeit eine An-
wendung machen koͤnne. Es verhaͤlt ſich bey der einen
Art der paſſiven Vermoͤgen, wie bey der andern, und
wenn
[415]und Entwickelung des Menſchen.
wenn einiger Unterſchied vorkoͤmmt, ſo kann ſolcher nur
in Graden und Stufen beſtehen.
2.
Durch die Uebung der Sinne bey einer Gattung
von Gegenſtaͤnden werden Jdeenreihen erzeuget; und
dieſe ſind das Mittel Eindruͤcke von außen empfindbar
und beobachtbar zu machen, die fuͤr ſich die Aufmerk-
ſamkeit der Seele nicht auf ſich gezogen haͤtten. Die
Aehnlichkeit der Eindruͤcke, oder Zuͤge, in mehrern
Jmpreſſionen vereiniget ſie, und macht, daß eine ſich
ausnehmende Vorſtellung davon entſtehet. Jſt alſo in ei-
ner gegenwaͤrtigen Jmpreſſion ein Eindruck, der ſchon
mehrmalen vorgekommen iſt, ſo wird auch das Gefuͤhl
der vergangenen aͤhnlichen bey ihm wiedererweckt, und
dadurch der gegenwaͤrtige Eindruck verſtaͤrket. Dieß
ziehet die Aufmerkſamkeit dahin, und die klare Em-
pfindung entſteht leichter und ſchneller. Was der
Spinne die Faden ihres Gewebes ſind, die bis an die
Mitte hin, wo die Spinne ſitzet, erſchuͤttert werden,
wenn eine Fliege die aͤußerſten Theile beruͤhret, das ſind
in der Seele ihre aufgeſammelten Bilder und Jdeenrei-
hen. Ein Blick auf die Bluͤhte, auf die Farbe, Figur,
Laͤnge, Dicke, Breite einer Pflanze, oder eines Blat-
tes, oder nur irgend Eins von dieſen Stuͤcken, erwecket
in der Phantaſie des Botanikers die Jdee des Ganzen,
kommt dem ſchwachen Eindrucke des Lichts auf die Au-
gen zu Huͤlfe, und laͤßt ihn Alles auf einmal deutlich
ſehen. Jn allen aͤhnlichen Faͤllen haͤngt eine ſolche be-
ſondere Scharfſichtigkeit, bey gewiſſen Gattungen von
Sachen, offenbar von den vorhandenen Jdeenreihen ab,
die ſich auf dieſe Sachen beziehen.
3. Doch
[416]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
3.
Doch iſt es dieß nicht allein. Es entſtehet mit ei-
ner Fertigkeit des Sinnes zugleich auch eine Leichtigkeit,
auf die aͤhnliche Art modificirt zu werden; und dieſe
macht eine Erweiterung und Verfeinerung der Empfaͤng-
lichkeit in der Seele aus. Es entſtehet naͤmlich eine
Leichtigkeit, Eindruͤcke ſolcher Art ſchneller anzunehmen
und diejenige Reaktion gegen ſie zu aͤußern, die einige
fuͤr das Fuͤhlen und Empfinden halten. Die Seele
lernt, ſo zu ſagen, ſich gegen ſolche ſie modificirende
Objekte zu oͤffnen, ſich in ſolcher Lage ihnen bloß zu ſtel-
len, daß ſie die Eindruͤcke auf die beſte Weiſe empfaͤngt;
und wenn man dieß letztere etwan ihrer thaͤtigen Kraft
zuſchreiben wollte, ſo wird ſie doch auch ſelbſt als ein lei-
dendes Weſen von dieſer Seite empfindlicher. Die
Art, wie ſie an Empfaͤnglichkeit und an Empfind-
lichkeit zunimmt, iſt uͤberhaupt dieſelbige, wie al-
les, was in ihr Anlage iſt, hervorgeht und erhoͤ-
het wird. Jedwede Empfindung hinterlaͤßt eine
Spur von ſich, auch ſoferne ſie eine Empfindung
oder gefuͤhlte Modifikation in der Seele iſt, nicht bloß
inſofern ſie insbeſondere eine Jmpreſſion von dieſem
oder jenem Gegenſtande iſt, worauf ſie ſich beziehet.
Denn was auch immer in der Seele von einem aͤußern
Eindrucke entſtehen mag, und was auch das Anneh-
men dieſes Eindrucks ſey: ſo wird ſie doch modificirt,
und dieſe Modifikation hat ihre bleibende Spur in ihrem
Zuſtande und in ihren Kraͤften, die nur, inſoferne ſie
ſich auf die erſte Modifikation und deren aͤußere Urſa-
che bildlich beziehet, die Vorſtellung von dem Objekt iſt,
eigentlich aber eine Vorſtellung von dem urſpruͤnglichen
Gefuͤhl ſelbſt ausmacht, und die Anlage modificirt zu
werden vergroͤßert, oder zu einer Leichtigkeit macht.
Dieß iſt die Erhoͤhung des Gefuͤhlsvermoͤgens.
Jn
[417]und Entwickelung des Menſchen.
Jn dem Anwachs der Gefuͤhlsvermoͤgen ſind alſo
zwey Stuͤcke von einander zu unterſcheiden. Die ver-
groͤßerte Leichtigkeit eine beſondere Art von Ein-
druͤcken leichter zu faſſen, und eine vergroͤßerte
Leichtigkeit uͤberhaupt Eindruͤcke aufzunehmen
und auf ſie zuruͤckzuwirken. Jenes iſt die ver-
groͤßerte Empfindlichkeit in Hinſicht auf die mehr-
malen empfundenen Objekte; dieſes iſt die vergroͤßerte
Leichtigkeit zu empfinden, ohne Ruͤckſicht auf dieſe oder
jene beſtimmten Gegenſtaͤnde. Beide beziehen ſich auf
die naͤmliche Art auf einander, wie bey den Fertigkeiten
der thaͤtigen Kraͤfte die Fertigkeit, die Jdeen von den
Gegenſtaͤnden, und die Fertigkeit, die Jdeen von den
Handlungen der Seele zu erwecken. Beide ſind bis
auf eine Graͤnze unzertrennlich. Denn eine vergroͤßerte
Empfindlichkeit in dem Vermoͤgen ſelbſt, als eine Leich-
tigkeit zu empfinden und auf eine aͤhnliche Art zu em-
pfinden, iſt auch eine Leichtigkeit in einen vorigen Zu-
ſtand zuruͤckzukommen. Dieß iſt die vergroͤßerte Em-
pfindlichkeit in Hinſicht gewiſſer Objekte ebenfalls. Aber
ſie iſt doch nur zum Theil einerley. Denn da die letztere
davon abhaͤngt, daß die vorher empfangene Vorſtellung
von einem Objekte leicht erwecket wird und ſich mit dem
gegenwaͤrtigen Eindruck von demſelben verbindet: ſo er-
fodert ſie auch nichts mehr als eine Leichtigkeit eine Vor-
ſtellung zu reproduciren; dagegen die erhoͤhete Empfind-
lichkeit in dem Vermoͤgen erfedert, daß der ganze vor-
malige Zuſtand, die ganze Empfindung, leicht zuruͤck-
kehre. Die Vorſtellung aber iſt nur ein Theil von dem
ehemaligen Zuſtande, und eigentlich mehr eine ſchwache
Anwandlung von einem Theile oder Zuge aus ihm,
als eine wahre Zuruͤckkehr deſſelben. Die Empfindlich-
keit gegen Zorn und Liebe kann daher beſtehen, wenn
gleich die Leichtigkeit, an die ehemaligen Objekte dieſer
Leidenſchaften zu denken, vergangen iſt. Jene iſt eine
IITheil. D dLeichtig-
[418]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Leichtigkeit die individuelle Modification anzunehmen,
nicht ſowohl von der Seite, als ſie den Stof der Vor-
ſtellung von der empfundenen Beleidigung oder dem
Freundſchaftsdienſte hergab, als vielmehr in Hinſicht ih-
rer uͤbrigen Beſchaffenheiten, wodurch ſie eine ſolche
Empfindung ward. So verhaͤlts ſich auch in den uͤbri-
gen Faͤllen.
Wenn man alſo die Erfahrungen, die man von der
Erhoͤhung und Verſtaͤrkung unſerer Gefuͤhlsvermoͤgen
hat, naͤher beleuchtet: ſo findet man die Verſchieden-
heit der gedachten beiden Wirkungen in ihnen ganz deut-
lich. Nicht jedwede Uebung des Gefuͤhls befoͤrdert in
gleichem Maße die Leichtigkeit in den Vorſtellungen,
und den Zuwachs des Vermoͤgens. Es kommt auch
hiebey ſehr auf die verſchiedene Richtung an, in der
die Seele wirket, wenn ſie Eindruͤcke aufnimmt und
fuͤhlet. Der uͤbet ſein Gefuͤhl an den Schoͤnheiten der
Malerey, um ein Kenner der Gegenſtaͤnde zu werden,
die ſchoͤn und haͤ[ß]lich ſind, das iſt, deren Empfindung
Vergnuͤgen oder Unluſt hervorbringet. Ein anderer
kann dieſe Empfindungen als Aeſthetiker oder als Pſy-
cholog aufſuchen; und noch ein anderer kann mehr die
Empfindſamkeit an dem Schoͤnen und den Geſchmack
zu erhoͤhen ſich beſtreben. Bey den moraliſchen Ge-
fuͤhlen zeiget ſich die naͤmliche Verſchiedenheit. Und
dieſe verſchiedenen Wirkungen ſind allerdings mit einan-
der in einem gewiſſen Grade verbunden, — und alle
deſto groͤßer, je mehr man ſich mit der Beſchauung und
Empfindung der Objekte, durch deren Eindruͤcke ſie ent-
ſtehen, beſchaͤfftiger; aber es iſt ſehr gewoͤhnlich, daß
eine oder die andere in Vergleichung mit den uͤbrigen
weit| zuruͤckbleibet. Mancher Mann vom Stande
weiß, was Anſtaͤndigkeit und Feinheit in den Sitten iſt;
und ſehr viele wiſſen, was recht und unrecht, loͤblich
oder tadelhaft iſt, mehr, weil man ſie von Jugend auf
gegen
[419]und| Entwickelung des Menſchen.
gegen ſolche Sachen empfindlich gemacht hat, als weil ihr
Gefuͤhl der Anſtaͤndigkeit und Feinheit uͤberhaupt ſo
ſtark ſey, daß ſie darum von dieſen Eigenſchaften leb-
hafter und ſchneller als andere geruͤhret werden ſollten.
Wer hieruͤber nur ein wenig nachdenken will, wird auf
manche praktiſche Folgerungen kommen, die bey der
Erziehung, und beſonders bey der Ausbildung des Her-
zens der Kinder, wichtig ſind. Jch ſetze noch die Erin-
nerung hinzu, wenn die Leichtigkeit in einen gewiſ-
ſen paſſiven Zuſtand, und alſo auch in eine vormalige
Empfindung, verſetzt zu werden eine Vorſtellung von
der Empfindung genennet wird: ſo laͤßt ſich auch die
Erhoͤhung unſerer leidentlichen Vermoͤgen als eine Folge
betrachten, die von der Aufhaͤufung ſolcher Vorſtellun-
gen entſtehet, und eine Jdeenaſſociation dabey gedenken.
Aber wenn das Wort Vorſtellung nur fuͤr ſolche
Spuren aufbehalten ſeyn ſoll, die aus der Selbſtmacht
der Seele wiedererwecket werden koͤnnen: ſo hat die
Seele nur in ſo weit Vorſtellungen, als ſie ſich in ihren
ehemaligen Zuſtand ſelbſt verſetzen kann, ohne daß die
erſte Urſache, welche ſie in der Empfindung modificir-
te, vorhanden iſt. Die Leichtigkeit, von dem Eindruck
derſelben Urſache eine aͤhnliche Veraͤnderung anzuneh-
men, iſt eine Leichtigkeit von einem kleinern Grade, als
es die iſt, ſich ſelbſt wieder ſo zu veraͤndern, oder we-
nigſtens ſich ohne das Zuthun der erſten oder einer aͤhn-
lichen Urſache, bey einer mehr entfernten Veranlaſſung da-
zu, ſich wieder eben ſo veraͤndern zu laſſen. Daher iſt
es begreiflich, wie die Seele jene Leichtigkeit nur in Hin-
ſicht einiger Zuͤge ihrer erlittenen Veraͤnderung beſitzen
koͤnne, die ihr in Hinſicht der uͤbrigen fehlet. Sie
kann eine Vorſtellung des Objekts aus ſich hervorbrin-
gen, aber die Empfindung nicht, die unendlich mehr in
ſich enthaͤlt.
D d 2Dieſe
[420]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Dieſe Beziehung der Entwickelung der Gefuͤhlsver-
moͤgen auf die vorſtellende Kraft leitet auf manche Fol-
gen, die ich uͤbergehe. Nur Eine will ich beruͤhren.
Unſere gegenwaͤrtigen Eindruͤcke von aͤußern Objekten
hangen, außer allem uͤbrigen, auch von unſerer innern
Empfaͤnglichkeit ab. Es koͤnnen alſo auch dieſe Ein-
druͤcke anfangs in der Kindheit nicht dieſelbigen an Staͤr-
ke und Lebhaftigkeit geweſen ſeyn, wie ſie in der
Folge ſind, wenn wir die Sinne ſchon geſtaͤrket haben.
Wir koͤnnen nicht immer Farben, Toͤne und ſo ferner,
ſo geſehen und gehoͤret haben, als wir ſie nachher em-
pfinden, und auch diejenigen Zuͤge in ſolchen Eindruͤcken
nicht, die nun unſere ſinnlichen Vorſtellungen ſind.
Jeder Eindruck ſtehet in Beziehung auf die vorherge-
hende aͤhnliche, und jede Vorſtellung auf die vorherge-
hende. Jn dieſem Verſtande giebt es keine reinen Em-
pfindungen mehr, die naͤmlich ſchlechthin allein von den
aͤußern Urſachen abhangen ſollten.
4.
Endlich beſtaͤtiget es die Erfahrung hier bey dem
leidenden Vermoͤgen der Seele, was ſie bey dem thaͤti-
gen lehret, daß naͤmlich jede Erhoͤhung, Ausdehnung,
Verfeinerung der Receptivitaͤt der Seele an einer Seite
ſich uͤberhaupt auf ſie ausbreite, und zugleich ihre ganze
Empfaͤnglichkeit vergroͤßere. Dieß iſt die dritte allge-
meine Wirkung, die aus der Uebung unſerer innern
Gefuͤhlsvermoͤgen entſpringet. Der Geſchmack an den
Schoͤnheiten des Gefuͤhls wirkt in den geſammten Ge-
ſchmack des Menſchen auf eine naͤhere oder entferntere
Art, merklich oder unmerklich, und bringt zum minde-
ſten eine ſtaͤrkere Diſpoſition hervor, auch die Schoͤnhei-
ten des Gehoͤrs und anderer Sinne lebhafter zu fuͤhlen.
Ueber die ſcheinbaren Ausnahmen, die hiebey ſtattfin-
den, kann das naͤmliche geſagt werden, was ich vorher
bey
[421]und Entwickelung des Menſchen.
bey dem thaͤtigen Vermoͤgen angefuͤhrt habe, und hier
nicht wiederholen will. Die Weiber auf Otaheite
ſcheuen ſich in Geſellſchaft der Maͤnner zu ſpeiſen, und
ſind in dem uͤbrigen die ſchamloſeſten auf der Welt.
Solche Paradoxien laſſen ſich erklaͤren, ohne das allge-
meine Princip zuruͤckzunehmen.
IV.
Worinn die Entwickelung der menſchlichen Na-
tur beſtehe.
- 1) Allgemeiner Abriß von dem Gange, den die
Entwickelung der Seelenvermoͤgen nimmt. - 2) Unterſchied zwiſchen den abſoluten und rela-
tiven Vermoͤgen, und zwiſchen der Ausbil-
dung an jenen und an dieſen. - 3) Ob und wieferne die Entwickelung der See-
le als eine eigentliche Evolution, oder als
eine Epigeneſis, zu betrachten ſey? - 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Die
Seelenentwickelung nach dem Bonnetiſchen
Syſtem. - 5) Es iſt ſchwer hieruͤber zu entſcheiden, und
nicht anders, als durch die Analogie aus der
Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers. - 6) Wie weit zu den beſondern Faͤhigkeiten an-
geborne Anlagen einzuraͤumen ſind, oder
nicht?
1.
Die vorhergehenden Betrachtungen laſſen uns die ein-
zelnen Schritte in der Entwickelung der Seele et-
was deutlicher ſehen. Den allgemeinen Gang aber,
den die Entwickelung nimmt, und die Ordnung und
D d 3Folgen,
[422]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Folgen, worinn die Vermoͤgen ſich ausbilden, iſt aus
der Geſchichte des Menſchen bekannt. Die Seele nimmt
Eindruͤcke von außen an, wirkt auf ſie zuruͤck, fuͤhlet
ſie| angenehm oder widrig, und wird hiedurch gereizet,
außer ſich heraus zu wirken, und den Koͤrper zu veraͤn-
dern. Dieſe erſten einfachen Folgen machen, ſo zu ſagen,
die Grundfaſern aus. Sie werden verſtaͤrket, verlaͤn-
gert, ausgebreitet und vervielfaͤltiget von allen Seiten
her; dann mit einander auf manche Art verbunden; und
daraus erwaͤchſet der an Gefuͤhl, Empfindſamkeit, Vor-
ſtellungskraft, Vernunft und Thaͤtigkeit ausgebildete
Menſch. Jede Empfindung hinterlaͤßt eine Leichtigkeit
ſie wieder anzunehmen; jeder Eindruck von jedem Ob-
jekt eine Leichtigkeit das Bild von dieſem wiederzuerwe-
cken. Jede Empfindung ſtaͤrkt alſo das Gefuͤhl und
zugleich die Vorſtellungskraft.
Jeder afficirende Eindruck, davon die erſten es
ohne Zweifel nur in einem geringen Grade obgleich kei-
ne voͤllig gleichguͤltige ſind, hinterlaͤßt ein Beduͤrfniß, ihn
von neuem zu haben, wenn er angenehm geweſen iſt,
und ihm zu entgehen, wenn er widrig war. Dieß Be-
duͤrfniß verurſacht Triebe und einen Hang zur Thaͤtig-
keit, welche durch die Handlung ſelbſt geſtaͤrket werden.
Jede Gefuͤhlsaͤußerung, jede Thaͤtigkeit hinterlaͤßt
einen Zuſatz zu der Selbſtthaͤtigkeit der Seele. Denn
wenn das Gefuͤhl eine Leichtigkeit annimmt wiederer-
neuert zu werden: ſo iſt dieß ein Beweis, das die Mo-
difikation nicht oͤhne die Beywirkung des modificirten
Weſens zu Stande gebracht worden iſt; ſie verſchwin-
det daher auch nicht gaͤnzlich, wenn die aͤußere Urſache
zu wirken aufhoͤret, wie etwa das Licht ſich mit der
Sonne entzieht. Die hinterbliebene Spur von der
Veraͤnderung vergroͤßert die Modifikabilitaͤt der See-
le und ihre Empfaͤnglichkeit, und zugleich die Mitwir-
kung ihrer ſelbſtthaͤtigen Kraft.
Hunger
[423]und Entwickelung des Menſchen.
Hunger und Durſt und Schmerzen des Koͤrpers,
die von dem Druck und der Bewegung der aͤußern
Dinge, und von der Einrichtung des Mechanismus ab-
hangen, ſind die erſten Beduͤrfniſſe der Natur. Die
erſten thieriſchen Begierden gehen alſo auch alle dahin,
dieſe abzuwenden. Die Jnſtinkte in dem Koͤrper ſo zu
wirken, daß der Schmerz geſtillet werde, machen die
erſten thieriſchen Triebe zur Erhaltung und Gegenwehr
aus, und aus dieſen werden Begierden, wenn die Ge-
genſtaͤnde bekannt ſind und die Vorſtellungen von dieſen
ſie leiten. Daher werden auch die Vermoͤgen der See-
le zu ſolchen Handlungen, welche auf die Stillung des
Hungers und des Durſtes gerichtet ſind, die erſten Fer-
tigkeiten in dem Willen und die erſten Leidenſchaften.
Wenn der Koͤrper bis zu einem gewiſſen Grad aus-
gewachſen hat, ſo ſtellet ſich ein neues Gefuͤhl, eine neue
Unruhe und ein neuer Trieb ein, oder gehet doch zum
wenigſten alsdenn ſichtbar hervor, naͤmlich der Trieb
zur Fortpflanzung.
Jede Entwickelung des Gefuͤhls iſt mit einer Ent-
wickelung der vorſtellenden Kraft vergeſellſchaftet; und
indem dieſe letztere mehr ſelbſtthaͤtig und frey wird, of-
fenbaret ſich auch die ſelbſtthaͤtige Zuruͤckwirkung auf
die von einander geſonderten Vorſtellungen, das iſt,
die Gewahrnehmung der Verhaͤltniſſe als die Wir-
kung der Denkkraft.
Das Kind, das ſeinen Hunger und Durſt geſtillet
hat, und von keinen koͤrperlichen Schmerzen beunruhi-
get wird, verfaͤllt wieder in Unthaͤtigkeit und ſchlaͤft ein,
ſo lange weder ſeine Empfaͤnglichkeit, noch ſeine Selbſt-
thaͤtigkeit, merkliche Fortſchritte gethan hat. Aber ſo-
bald es an beiden reizbarer geworden iſt, empfindet es
auch die Eindruͤcke der feinern Sinne, beſieht glaͤnzen-
de Koͤrper, und horcht auf den Geſang der Voͤgel; und
ſiehe da, es wird gewahr, daß auch in dieſen Eindruͤ-
D d 4cken
[424]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
cken ein Vergnuͤgen liege. Die im Empfinden geuͤbte
Kraft nimmt die Eindruͤcke ſchon ſtaͤrker auf, und iſt
zugleich empfindlicher in Hinſicht ihrer Uebereinſtim-
mung mit dem innern Zuſtande und der innern Veraͤn-
derungen, die darauf folgen. Aber dieß neue Vergnuͤ-
gen verurſacht auch neue Beduͤrfniſſe und neue Triebe.
Wenn das Kind ſich ſatt gegeſſen hat: ſo nimmt es ſei-
ne Puppe und ſpielet damit. Die Luſt in dieſen Ein-
druͤcken iſt eine andere Empfindung, als die Luſt, die
es in dem Eſſen empfunden hatte; jene klebet zwar an
den Geſichts und Gehoͤrseindruͤcken, weil ſie ſolche beglei-
tet und auf ſie folget, aber gewiß nicht, weil das vo-
rige Vergnuͤgen aus dem Genuß des Eſſens nur vermit-
telſt einer Jdeenaſſociation wiedererweckt wird, noch
weil es von den Empfindungen des Geſchmacks nun auf
die Eindruͤcke des Geſichts und des Gehoͤrs uͤbergetragen
wird. Jndeſſen haben die vorhergegangenen ſtaͤrkern
Empfindungen des Geſchmacks und des Gefuͤhls das
Empfindungsvermoͤgen vorbereitet, und es der feinern
und ſchwaͤchern Eindruͤcke der obern Sinne empfaͤnglich
gemacht, oder wenigſtens die ſchon vorhandene natuͤrli-
che Empfaͤnglichkeit dazu erhoͤhet.
Die Wirkungen dieſer neu entdeckten Vergnuͤgen
aus den feinern Sinnen muͤſſen freilich wieder un-
merklich werden, wenn Schmerzen, Hunger und
Durſt, das iſt, ein andrer thieriſcher Trieb von neuem
ſich einſtellet und den Menſchen einnimmt. Dazu
ſind ſie zu ſchwach, ſich gegen dieſe zu halten.
Elende Voͤlker, die alles thun muͤſſen um nur zu le-
ben, und wenn ſie dieß gethan haben, voͤllig ermuͤdet
ſind, merken nicht auf die Schoͤnheit des Himmels,
noch auf die harmoniſchen Toͤne der Voͤgel. Aber ſo
bald wiederum die Saͤttigung erfolget iſt, und die thaͤ-
tige Kraft nur nicht ſo ganz erſchoͤpft iſt, daß ſie noch
einige Regungen behalten hat, ſo ergreift ſie mit deſto
meh-
[425]und Entwickelung des Menſchen.
mehrerer Staͤrke die uͤbrigen Unterhaltungen, die der
Menſch ſchon entdecket hat; und eine mehrmalige
Wiederholung ihres Genuſſes ſtaͤrkt die Geſchicklich-
keit ſie zu genießen, und vergroͤßert die Begierde
auf ſie.
Der Uebergang zu den innern Gefuͤhlen unſerer
ſelbſt, zu den Gefuͤhlen, die aus den Verhaͤltniſſen
unſrer Veraͤnderungen auf den gegenwaͤrtigen Zuſtand
unſerer Kraͤfte entſpringen, geſchieht nach dem naͤmli-
chen Geſetze auf dieſelbige Weiſe. Aber ein großer
Theil von den letztern kommt nur ſpaͤt hervor, weil
ſchon ein hoͤherer Grad der innern Selbſtthaͤtigkeit da-
zu gehoͤret, mit ſich ſelbſt ſich zu beſchaͤfftigen. Die
Gefuͤhle des Wahren, des Schoͤnen, des Guten,
zeigen ſich daher nur dann erſt, wenn die Beziehun-
gen der Eindruͤcke, die von den Gegenſtaͤnden und
Handlungen abhangen, in uns lebhaft gefuͤhlt werden.
Dieß ſind feinere Gefuͤhle, wozu die Seele ohne vor-
hergegangene Bearbeitung ihres Jnnern wenig Em-
pfaͤnglichkeit hat. Jndeſſen traͤgt doch jedwede vorige Ent-
wickelung des Gefuͤhls etwas dazu bey, auch dieſe zu ha-
ben, indem ſie die Grundkraft aufgelegt macht, unter vor-
theilhaften Umſtaͤnden in neuen Wirkungsarten hervor-
zubrechen, wozu ſie ihrdie Diſpoſition entweder beybringt,
oder ſolche ſo weit erhoͤhet, daß ſie nun als naͤhere An-
lage ſich zeigen kann. Aber das Vergnuͤgen, wie der
Verdruß, das unſern innern Empfindungen beywoh-
net, kommt aus ihnen ſelbſt, und lieget in ihnen, und
wird in ihnen ſelbſt zubereitet, wenn gleich die aͤußere
Empfindung ſolches vermittelſt der Jdeenaſſociation
vergroͤßert, und oft genug auch die Veranlaſſung iſt,
wodurch man auf jene aufmerkſam wird. *)
Nach den eigennuͤtzigen Empfindungen zeigen
ſich die |geſelligen und wohlthaͤtigen, die aus Mitge-
D d 5fuͤhl
[426]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
fuͤhl entſpringen. Wenn das Kind ſich ſatt gegeſſen
hat, ſo liebkoſet es ſeine Geſpielen, trauert und wei-
net mit ihnen, und giebt ihnen von ſeinem Brod ab.
Selbſtgenuͤgſamkeit und Zufriedenheit iſt der Boden,
worauf das Gefuͤhl unſerer ſympathetiſchen Bewegun-
gen fortkommt. So lange eigene Noth den Men-
ſchen preſſet, bekuͤmmert er ſich wenig um andrer
Wohl, wenigſtens nicht weiter als inſoferne dieß ihm
zum Mittel dienet, ſein eigenes zu befoͤrdern. Groß-
muth und Beſorgniß fuͤr andrer Gluͤck bey armen Leu-
ten, die ſelbſt Noth leiden, verraͤth theils eine vor-
zuͤgliche lebhafte Empfindſamkeit, theils eine Staͤrke
und Furchtloſigkeit der Seele, welche derjenigen ihre
uͤbertrifft, die nur alsdenn großmuͤthig ſind und Mit-
leiden beweiſen, wenn ihre eigenen Beduͤrfniſſe im
Ueberfluſſe geſtillt ſind. Aber dennoch ſiehet man,
daß eine gewiſſe Zufriedenheit mit ſich ſelbſt dazu er-
fodert wird; man muß ſeine eigne Noth vergeſſen,
wenn das Herz ſich frey fuͤr andre oͤffnen ſoll. Auf-
geraͤumtes Weſen macht den Menſchen zur Wohlge-
wogenheit gegen andre geneigt. Kein Wunder. Jn
ſolchem Zuſtande der innern Ruhe werden die unei-
gennuͤtzigen ſympathetiſchen Bewegungen, das Gefal-
len an andern, das Mitgefuͤhl mit andrer Leid und
Freude, lebhafter erreget; das Gefuͤhl hat Zeit, darauf
zu achten, und die darinn liegende feine, aber durch-
dringende, Wolluſt zu ſchmecken und zu bemerken. Je
ſtaͤrker das Gefuͤhl, die Phantaſie und die ſelbſttthaͤ-
tige Kraft mehr in den Selbſtempfindungen und in
den Wirkungen der Eigenliebe, die auf uns ſelbſt ge-
het, erwecket iſt, deſto ſtaͤrker wirket auch die nach-
ahmende Kraft, und deſto lebhafter werden ihre innern
Wirkungen empfunden.
Dieß iſt alſo das Geſetz der Ausbildung des Men-
ſchen an ſeiner Seelennatur, und iſt dem aͤhnlich,
wornach
[427]und Entwickelung des Menſchen.
wornach der Koͤrper waͤchſt. Gefuͤhle und Vorſtel-
lungen ſind der Nahrungsſaft, welcher der Grund-
kraft zugefuͤhret wird, ſelbige reizet und in Thaͤtigkeit
ſetzet, wovon anfangs die Wirkung ſich allein nur auf
das Gefuͤhl einſchraͤnkte. Jede thaͤtige Aeußerung
der Kraft ſtaͤrket ſie ſelbſt. Das, was nur Anlage
und Moͤglichkeit war, wird Diſpoſition, Faͤhigkeit,
Trieb, Fertigkeit, ſo wie die Leichtigkeit zu wirken
anwaͤchſet. Der Uebergang von bloßer Fertigkeit
zur naͤhern Anlage oder Diſpoſition beruhet nach
dem gemeinen Begriffe darauf, daß zu der erſten noch
etwas von außen hinzukommen muͤſſe, um in die letz-
tere uͤberzugehen. Die weitern Schritte geſchehen
auf die naͤmliche Art. Nur unterſcheiden ſie ſich dar-
inn, daß nicht immerfort die folgenden Grade der
Leichtigkeit eine Beywirkung von aͤußern Urſachen,
oder doch nicht in dem gleichen Grade, erfodern. Denn
wo ſchon merkliche Faͤhigkeit iſt, da kommt es nur am
meiſten auf das an, was in der Kraft ſelbſt liegt, naͤm-
lich auf die eigenmaͤchtige Aeußerung und Anwen-
dung derſelben, welche wir alsdenn, wenn wir uns
eine Faͤhigkeit vorſtellen, innerlich fuͤr ſo ſtark anſe-
hen, daß ſie ſelbſt ſich beſtimmen und ſich forthelfen,
und ſich die noch zur vollen Fertigkeit fehlenden Stufen
der Leichtigkeit verſchaffen kann. Aber wo noch
nichts mehr vorhanden iſt, als bloßes Vermoͤgen,
bloße Moͤglichkeit, oder bloße und ſchwache Anlage,
da iſt auch noch ein Geburtshelfer noͤthig, der der Faͤ-
higkeit forthelfe, oder eigentlich zu reden, noch eine
aͤußere Urſache, die durch ihren Einfluß uns reize
und erwecke.
Es giebt hierinn eine Stufenleiter von dem
bloßen Vermoͤgen an bis zu der volligſten Fertig-
keit, auf der man einige Grade |durch die erwaͤhnten
Benennungen von Anlagen, Faͤhigkeiten, Geſchick-
lichkei-
[428]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
lichkeiten und Fertigkeiten bemerklich machet. Aber
da ein jeder dieſe Grade nur nach ſeinem eigenen Ge-
fuͤhl beſtimmet, ſo iſt es natuͤrlich, daß es uns bey
dem Gebrauch der erwaͤhnten Woͤrter ſo gehe, wie es
uns gehen wuͤrde, wenn wir ohne Thermometer, blos
aus unſern Empfindungen die Grade der Waͤrme und
Kaͤlte angeben ſollten. Der niedrigſte Punkt iſt das
bloße Vermoͤgen, als Moͤglichkeit zu wirken betrachtet.
Dieſe erfodert ſchlechthin noch etwas, das anderswo-
her zu ihr kommen muß, ehe ſie weiter erhoben werden
kann. Der hoͤchſte Punkt iſt die Fertigkeit; und in
dieſer ſtellen wir uns die Kraft vor, als eine ſolche,
welche nur Veranlaſſungen haben darf, um aus ſich
ſelbſt hervorzuwirken.
Die paſſiven Vermoͤgen der Seele wachſen eben-
falls von Empfaͤnglichkeiten an, bis zu leichtern Di-
ſpoſitionen und zaͤrtlicher Empfindlichkeit; und der
Nahrungsſaft zu dieſen liegt gleichfalls in den Gefuͤh-
len, die der Menſch durch die Einwirkung der aͤußern
Dinge empfaͤngt. Dieſer Saft verbreitet ſich durch
das ganze Naturvermoͤgen mehr oder weniger und die
Leichtigkeit, ſich modificiren zu laſſen und etwas an-
zunehmen, wird vergroͤßert. So waͤchſet die Seele
auf, bis ſie das empfindſame, vorſtellende, denkende,
thaͤtige und freye Weſen wird, das ſich in dem ausge-
bildeten Menſchen darſtellt.
Weiter will ich aber hiebey nicht zuruͤckgehen, als
bis auf die Grundvermoͤgen der Natur, die ihrer An-
lage nach in dem neugebornen Kinde vorhanden ſind.
Sie beſtehen in dem Vermoͤgen zum Fuͤhlen, zum
Vorſtellen, zum Denken und zum Handeln. Dieß
iſt der Keim, von dem die Periode der Entwickelung
anfaͤngt, die ich hier betrachte. Jſt dieſe angeborne
Natur ſchon eine entwickelte Natur; ſind ihre Ver-
moͤgen ſchon gewachſene entwickelte Vermoͤgen: ſo lie-
get
[429]und Entwickelung des Menſchen.
get der entfernte Keim, als der Anfang zu dieſen
außer der Graͤnze, wohin wir durch Erfahrungen kom-
men koͤnnen. Wohin aber Raiſonnements und Muth-
maßungen uns bringen, davon iſt vorher geſagt, wor-
auf ich zuruͤck verweiſe. *) So viel iſt indeſſen ſehr
wahrſcheinlich, daß die embryoniſche Entwickelung
vor der Geburt im Weſentlichen von der nach der Ge-
burt nicht unterſchieden ſey; wohl aber in Graden, und
beſonders darinne, daß bey jener die Beywirkung der
aͤußern Urſachen noch mehr nothwendig ſey, als bey
dieſer. Jch werde gleich eine Frage beruͤhren muͤſſen,
die es veranlaſſen wird, dieß etwas naͤher zu betrach-
ten. Nur noch ein paar ſonſt bekannte Bemerkun-
gen, die ich ihrer genauen Verbindung mit dem Vor-
hergehenden wegen, wieder in Erinnerung brin-
gen will.
Die Vermoͤgen der Seele erfodern auch koͤrperliche
Kraͤfte, Staͤrke, Beugſamkeit, Geſchmeidigkeit und
Spannkraft, und wie ſie heißen, und welche ſie ſeyn
moͤgen, in den Organen der Seele, ſowohl in den in-
nern als aͤußern. Ohne dieſe koͤnnen die Seelenkraͤfte
ſich nicht aͤußern. Da nun auf den Koͤrper koͤrperli-
che Urſachen wirken, ſo haͤngt die Entwickelung der
Seelenfaͤhigkeiten auch von dieſen koͤrperlichen Urſa-
chen mit ab. Die Erfahrungen ſind bekannt, die
dieſes beſtaͤtigen. Ein großer Versmacher in der er-
ſten Haͤlfte dieſes Jahrhunderts, denn Poet war er
nicht und eigentlich nur ein Reimer, erhielt die Reim-
und Versfaͤhigkeit waͤhrend eines Fiebers, das ihn zu
einem Poeten aus dem Stegreif machte. Ueber jede
Materie ſprach er in Verſen, ſobald er ſich in den noͤ-
thigen Enthuſiasmus geſetzt hatte. Perſonen, die
ihm oͤfters zugehoͤrt, haben mich verſichert, er habe
das
[430]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
das Geſicht verzerret und mit dem Munde geſchaͤumet,
ſo oft er ein Gedicht von einiger Laͤnge herdeklamiren
wollen. Nach den Proben zu urtheilen, die mir von
ihm bekannt geworden ſind, war dieſe Geſchicklichkeit
kaum ſo viel, als die Leichtigkeit, ein gereimtes Quod-
libet herzuſagen, die jeder Menſch von einiger Lebhaf-
tigkeit des Geiſtes beſitzet, oder ſich doch erwecken
kann, wenn er ſich uͤben will, und es ihm dann nicht
drauf ankommt, ob das, was er uͤber |eine Sache ſa-
get, Sinn oder Unſinn ſey. Aber bey dieſem Manne
war ſie von einer ausnehmenden Groͤße, und gehoͤrte
zu den ungewoͤhnlichen Wirkungen einer koͤrperlichen
Urſache auf die Seele. Man hat mehrere Beyſpiele,
daß Krankheiten und andre Zufaͤlle die Seelenfaͤhig-
keiten erhoͤhet und geſchwaͤcht haben; und von dem
beruͤhmten Mabillon wird erzaͤhlt, er habe ſich nach
einem Falle auf den Kopf trepaniren laſſen muͤſſen,
ſey aber nach dieſer Operation ein Genie geworden, da
er vorher ein ſtumpfer Kopf geweſen. Gleichwohl iſt
zur Zeit nur wenige Hoffnung da, daß man zuver-
laͤſſige Mittel gegen die Schwaͤche und Krankheiten
der Seelenorgane und zur Verbeſſerung beſonderer
Faͤhigkeiten entdecken werde; außer denen naͤmlich,
die uͤberhaupt dienlich ſind, die Geſundheit und beſon-
ders das Nervenſyſtem zu erhalten. Denn in dieſer
Hinſicht geben die vernuͤnftigen Aerzte Anweiſung, ſo
ſehr auch die Kunſt bey den Nervenkrankheiten ſonſt
noch zuruͤck iſt. Aber vor den Kuͤnſteleyen der Char-
latane, wodurch das Gedaͤchtniß und der Verſtand
geſtaͤrket werden ſoll, warnet man mit vielem Rechte.
Die pſychologiſchen Mittel, naͤmlich eine zweckmaͤßig
eingerichtete Uebung der Vermoͤgen, ſind das einzige, das
wir in unſerer Gewalt haben.
Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß, indem die Seele
ſich entwickelt, auch eine entſprechende Erhoͤhung und
Ent-
[431]und Entwickelung des Menſchen.
Entwickelung in den organiſchen Kraͤften|des Gehirns
vor ſich gehe. Doch laͤßt ſich dieß nicht geradezu aus
den Erfahrungen ſchließen. Der Spieler nimmt an
Geſchicklichkeit zu, nicht ſein Jnſtrument, das ſo blei-
ben kann, wie es einmal iſt, dennoch aber ſein Jn-
ſtrument iſt, ohne deſſen Beytrag kein Ton hervor-
gebracht wird. So koͤnnte es in unſerm Seelenweſen
auch ſeyn. Jndeſſen iſt es nach der wahrſcheinlichſten
Hypotheſe von demſelben eine Folge, daß das Gehirn
als Seelenorgan mit den Kraͤften der Seele ſelbſt ſich
entwickele. Man kann noch weiter nach der Analo-
gie muthmaßen, daß es auch mit dieſer Entwickelung
des Gehirns, aber nur inſofern es Organ der Seele
iſt, im Allgemeinen auf eine aͤhnliche Art zuge-
he, wie mit der Erhoͤhung der Seelenvermoͤ-
gen. Denn wenn es wahrſcheinlich iſt, daß
es ſowohl permanente Spuren der empfangenen ſinnli-
chen Eindruͤcke in dem Gehirn giebt, wie in der See-
le:*) ſo kann auch mittelſt derſelben auf gleiche Weiſe
nicht nur die Leichtigkeit, ſolche Eindruͤcke zu erneuern
und die ehemaligen Bewegungen in etwas wiederzuer-
wecken, erzeuget werden, ſondern auch eine Leichtigkeit,
ſolche das Zweytemal mehr und geſchwinder von außen
anzunehmen, das iſt, jeder Eindruck aufs Organ kann
es empfaͤnglicher gegen andere aͤhnliche machen, und ſeine
wirkſame Nervenkraft erhoͤhen.
2.
Aus dem, was vorher uͤber die Vergroͤßerung der
Seelenvermoͤgen bemerkt iſt, folget von ſelbſt, daß man
einen Unterſcheid zu machen habe, zwiſchen dem Zu-
wachs an Kenntniſſen und Jdeenreihen, wovon die re-
lativen Vermoͤgen abhangen, diejenigen naͤmlich, die
ſich auf die Bearbeitung beſonderer Arten von Gegen-
ſtaͤnden
[432]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſtaͤnden beziehen; und zwiſchen dem Anwachs der ab-
ſoluten Vermoͤgen, in ſo ferne ſie Faͤhigkeiten ſind,
auf gewiſſe Weiſe zu wirken, ihr Objekt ſey welches es
wolle. Die Jdeenreihen ſind eine Armatur des Ver-
moͤgens; ſie geben Fertigkeiten in beſondern Arten von
Kenntniſſen und Handlungen. Jeder Gelehrte urtheilt
am fertigſten uͤber Sachen, die zu ſeinem Fache gehoͤ-
ren, ohne deswegen mehr Verſtand zu beſitzen; und
jeder Handwerker iſt Meiſter in ſeiner Arbeit, obgleich
ſeine Kraͤfte, welche dadurch thaͤtig ſind, nichts vor
ebendenſelbigen Kraͤften in andern Menſchen voraus ha-
ben. Anfangs nimmt mit den Kenntniſſen von den
Objekten das Vermoͤgen, auf ſolche Objekte zu wirken,
und zugleich die abſolute Groͤße der Kraft zu; es waͤch-
ſet das Materielle mit der Form der Handlung. Aber,
wie es ſcheint, nicht in gleicher Maße. Denn die Kin-
desſeele entwickelt in den erſten Jahren die Vermoͤgen
ſtaͤrker, als die Kenntniſſe. Jn der Folge der Jahre
hoͤret aber die Zunahme der Vermoͤgen auf, wenn gleich
die Kenntniſſe im Wachſen noch fortfahren. Die Ein-
ſichten vermehren ſich noch lange in dem Mannsalter,
ohne daß die Verſtandesvermoͤgen ſelbſt an innerer ab-
ſoluten Staͤrke, die ſich zeigen muͤßte, wenn das
Vermoͤgen auf ganz neue Objekte verwendet wuͤrde,
merklich groͤßer werden ſollten. Die Seelenkraͤfte haben
wie die Koͤrperkraͤfte ihre natuͤrlichen Perioden, und er-
reichen ihr Maximum, von dem an ſie wiederum abneh-
men. Das Geſicht und das Gehoͤr wird an ſich nicht
ſtaͤrker, wenn die Jugend zuruͤckgeleget iſt. Die
Phantaſie und die Leidenſchaften erreichen ihre groͤßte
Hoͤhe, ehe die Vernunft voͤllig zur Reife kommt. Und
alsdenn moͤgen die Thaͤtigkeiten fortdauren; man mag
die Kraft uͤben, ſich mit ihren mannichfaltigen Wirkun-
gen bekannter und ſich ſolche gelaͤufiger machen: ſo koͤn-
nen neue relative Fertigkeiten erhalten werden; aber die
innere
[433]und Entwickelung des Menſchen.
innere Jntenſion der Vermoͤgen erhaͤlt keinen
merklichen Anwachs mehr. Newtons natuͤrlicher
Verſtand war vielleicht vor ſeinem dreyßigſten Jahre
eben ſo maͤchtig, anhaltend und eindringend, als nach
ſeinem funfzigſten, obgleich die Einſichten und Arbei-
ten ſich erſtaunlich vermehrt hatten. Sollte das
Feuer der Dichtkraft in Klopſtock nicht wohl eben ſo
ſtark gebrannt haben, zu der Zeit, da er ſeine Meſſia-
de anfieng, als da er ſie endigte? Jn einer gewiſſen
Hinſicht werden die beiden Arten des Zunehmens ein-
ander gar hinderlich, wie die gemeine Erfahrung leh-
ret. Schulwitz erſtickt oft den Mutterwitz, und eine
allzuſtarke Aufhaͤufung der Jdeen im Gedaͤchniß, ſetzet
den natuͤrlichen Verſtand mehr herunter, als ſie ihm
auf hilft.
Wie das zugehe? warum nicht jedwede der fol-
genden Kraftaͤußerungen eben ſowohl eine Spur hinter-
laſſe, wodurch die Leichtigkeit, ſo zu wirken, vergroͤſ-
ſert wird, wie die erſtere, da ſie die Vorſtellungen
von den Objekten vermehret? laͤßt ſich aus dem obi-
gen erklaͤren. Die Spur, welche von einer Seelen-
aͤußerung zuruͤckbleibet, kann immer zwar noch ein
etwas ſeyn, ſo groß die Fertigkeit ſchon iſt, aber des-
wegen doch etwas ſehr geringes, ein unbemerkbares, ein
unendlichkleines. Wenn ſchon eine große Fertigkeit
vorhanden iſt, ſo beſteht die Aeußerung derſelben
mehr in einer paſſiven Reproduktion der Jdeenreihen,
als in einer Anſtrengung der thaͤtigen Kraft ſelbſt.
Daher kann fuͤr ſich der Zuwachs der Fertigkeit nicht
groß ſeyn. Denn Unthaͤtigkeit ſchwaͤcht die erworbe-
nen Fertigkeiten. Es kann alſo in einer Aktion ſo we-
nig Selbſtthaͤtigkeit der Seele enthalten ſeyn, daß
ſolches kaum hinreicht, um nur die vorige Groͤße zu
erhalten. Uebrigens aber kann man auch nicht ſchlieſ-
ſen, daß eine Kraft, die ſo viele und mannichfaltige
IITheil. E ere-
[434]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
relative Fertigkeiten angenommen hat, und nun alſo
in einer oder der andern Richtung etwan nicht mehr
mit der Maͤchtigkeit wirket, wie vorher, deswegen
ſchon im Ganzen abgenommen haben muͤſſe. Jſt die
Kraft des Weinſtocks im Ganzen geringer, wenn ſie
ſich im Sommer durch Blaͤtter, auch neue Zweige und
angeſetzte Trauben verbreitet, als im Fruͤhling, wenn
ſie uͤberfließet und den Saft heraustreibet? Dieß al-
lein kann es verhindern, daß der gereifte Verſtand
nicht ſo ſtark mehr bey einzelnen Sachen ſich beweiſet,
die ihm neu ſind, als er ſich dabey bewieſen haben
wuͤrde, wenn er weniger in die Menge ſeiner Jdeen-
reihen ſich zertheilet haͤtte.
3.
Wenn ein jeder Anwachs der Seele an einer Sei-
te ſich uͤber ſie verbreitet, und ihre Kraft auch in an-
dern Richtungen rege macht, was wirket ſie denn?
Bringet ſie ein neues Vermoͤgen hervor, oder ſtaͤr-
ket und erhaͤlt ſie nur das ſchon in der Natur vorhan-
dene Vermoͤgen dahin, daß es, ſobald ein guͤnſtiger
Umſtand hinzukommt, ſich aͤußern und hervorgehen
kann? Das iſt mit andern Worten die Frage, die
man in Hinſicht des Koͤrpers mit beſonderm Fleiße un-
terſuchet, und in Hinſicht der Seelenentwickelung noch in
ihrem ganzen Umfange nicht einmal aufgeworfen hat:
ob naͤmlich die Ausbildung der Vermoͤgen eine Evo-
lution ſchon vorhandener Naturanlagen, oder eine
Epigeneſis ſey, die neue Vermoͤgen hervorbringt,
wozu vorher nicht mehr als die Empfaͤnglichkeit ſie an-
nehmen zu koͤnnen vorhanden war. Die deutſchen
Philoſophen ſind faſt alle Epigeneſiſten bey der Seele,
wie die deutſchen Phyſiologen Evolutioniſten bey dem
Koͤrper ſind. Hutcheſon, Reid, Beattie, Os-
wald, am meiſten aber Home legen viele angeborne
Grund-
[435]und Entwickelung des Menſchen.
Grundgefuͤhle dem Menſchen bey. Außer dem Ge-
fuͤhl des Schoͤnen und des Haͤßlichen, des Rechten
und Unrechten, des Lobenswuͤrdigen und des Tadel-
haften, findet Oswald noch ein Gefuͤhl vom Daſeyn
Gottes in ihm. Man kann diejenigen, die ſolche be-
ſtimmte Gefuͤhle annehmen, als Vertheidiger der phy-
ſiologiſchen Evolution anſehen. Denn nach ihrer
Vorſtellung muͤſſen die Anlagen zu den verſchiedenen
Arten der Empfindſamkeit oder der Thaͤtigkeit von
Natur, ihren Anfaͤngen nach im Kleinen, in der See-
le ſchon neben einander enthalten ſeyn, wie nach der
Jdee des Herrn Bonnets, in dem befruchteten Ey
und in dem keimenden Samen die Kanaͤle und Gefaͤße
des ganzen Koͤrpers, ihrer Form und den Anlagen
nach gehoͤlet ſind. Und wie nach eben dieſem Evolu-
tionsſyſtem die Ausbildung des Koͤrpers nichts anders
iſt, als eine Vergroͤßerung in der Laͤnge, Breite und
Dicke, eine Ausdehnung und Vermehrung der Maſſe,
ohne daß neue Formen hinzukommen, davon nicht die
Grundzuͤge vorher da ſind: ſo ſind es auch nach jenen
Begriffen die Arten der Thaͤtigkeit, die Gefuͤhle,
und die dazu gehoͤrigen Vermoͤgen in der Seele. Es
iſt eine Folge aus dieſem Syſtem, daß, wenn die Ge-
ſchichte des Menſchen uns lehret, es mangele einigen
Jndividuen an beſondern ſinnlichen und moraliſchen
Gefuͤhlen, welche doch bey andern ſind, wie ſie es von
ganzen Voͤlkern lehret und bey unſern Kindern uns
taͤglich beobachten laͤßt, die Urſache davon dieſe ſey,
daß die natuͤrlichen ſchwachen Anlagen unentwickelt ge-
blieben, durch Hinderniſſe |zuruͤckgehalten, oder durch
die ſtaͤrkeren Gefuͤhle anderer Beduͤrfniſſe unterdruͤ-
cket worden ſind. Nur die Gefuͤhle ſelbſt muͤſſen von
Natur allen Menſchen gemein ſeyn, ohne daß die naͤ-
hern Vermoͤgen dazu, als neue Vermoͤgen, in der Ent-
wickelung hinzugekommen waͤren. Wenn man hie-
E e 2bey
[436]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
bey ſo weit auf die beſondern Gefuͤhle herunter geht,
als Home es gethan hat, ſo muß man auch wohl ge-
ſtehen, daß es wenige oder gar kein Jndividuum ge-
be, bey dem nicht irgend Eines oder das andere von
den feinern Gefuͤhlen zuruͤckbliebe, das doch bey an-
dern ſich ſtark entwickelt.
4.
Nach der Hypotheſe des Herrn Bonnets von der
Natur unſers Seelenweſens hat jeder ſaͤmmtliche Ein-
druck von den einzelnen Gegenſtaͤnden ſeine eigene Fi-
ber, die ihn aufnimmt und eine materielle Vorſtel-
lung davon in ſich behaͤlt, und nur allein das Affici-
rende bey jeder Vorſtellung hat ſeinen Grund in der
Art und Weiſe, in der Staͤrke und Schwaͤche, wie
die Fiber von dem Eindruck geruͤhrt wird. Der
Grund, warum die hellrothe Farbe angenehm iſt,
liegt darinnen, weil die Fiber, welche die rothen
Strahlen aufnimmt, eine Modifikabilitaͤt beſitzet, auf
eine ſchickliche Art von ihnen ſinnlich erſchuͤttert zu
werden. Eine andre Fiber iſt die, welche eine ſolche
Anlage in Hinſicht einer andern Farbe hat. Auf
gleiche Weiſe verhaͤlt ſichs bey den Toͤnen. Die Diſ-
poſition einer Fiber iſt der Grund von dem Gefallen
an den Toͤnen der Trompete; die Diſpoſition einer an-
dern die Urſache von dem Gefallen an dem Schall der
Trommel und ſo ferner. So viele angenehme und
widrige Empfindungen, ſo viele Fibern, auf deren
Anlagen die Diſpoſitionen beruhen, von dieſen Ge-
genſtaͤnden afficirt zu werden. Es iſt alſo die Zahl
der Empfindniſſe in der Seele, als Anlagen und Ver-
moͤgen betrachtet, ſo groß, als die Zahl der afficirenden
Vorſtellungen ſelbſt. Nun iſt ferner nach dem Evo-
lutionsſyſtem eben dieſes Philoſophen, jede Fiber im
Kleinen ſchon in dem erſten Keim des Menſchen ent-
halten,
[437]und Entwickelung des Menſchen.
halten, und alſo noch mehr in dem Koͤrper des gebor-
nen Kindes. Zu welcher unendlichen Anzahl ange-
borner unterſchiedener Gefuͤhle fuͤhret dieſe Vorausſe-
tzung nicht; da ſo gar die bloße Verſchiedenheit der Ob-
jekte ſchon eigene unterſchiedene angeborne Gefuͤhlsver-
moͤgen erfodert?*)
Es koͤnnen zwar, ich rede nach dieſer Hypotheſe,
mehrere Gefuͤhle, am erſten ſolche, bey denen kein
anderer Unterſchied als blos in den Gegenſtaͤnden be-
merklich iſt, z. B. das Gefuͤhl der Muſik und das
Gefallen an hellen glaͤnzenden Sachen, das man bey
allen Nationen ohne Ausnahme antrifft, in Ein allge-
meines Vermoͤgen aufgeloͤſet werden. Dieß einzige
Vermoͤgen iſt dann dasjenige, was an allen dieſen
Empfindungen nur auf verſchiedene Objekte, auch et-
wa durch unterſchiedene Organe und in unterſchiedenen
Richtungen, ſich verſchiedentlich aͤußert. Aber iſt eine
ſolche Reduktion etwas anders als eine Abſtraktion, da
man das Aehnliche mehrerer einzelner Vermoͤgen
heraus nimmt, und aus dieſen ein beſonderes Ver-
moͤgen bildet? Macht die aͤhnliche Beſchaffenheit
mehrerer Fibern Eine Fiber aus? Wenn die naͤmliche
Fiber das rothe Licht und das Blaue aufnaͤhme, und
aus derſelbigen Urſache von dieſer und von jener Far-
be gefaͤllig modificirt wuͤrde: ſo wuͤrde man ſagen koͤn-
nen, es ſey Ein und daſſelbige Vermoͤgen, das in
beiden Empfindungen ſich zeiget, ſo oder anders, nach
dem Unterſchiede der Objekte. Allein ſo verhaͤlt es
ſich nicht bey jener Vorausſetzung. Das Gemeinſchaft-
liche in den Gefuͤhlen iſt nicht die Quelle von allen be-
ſondern Gefuͤhlen, die aus jenen entſpringen, und die-
ſe letztern ſind ſo wenig Verlaͤngerungen von jenen, als
E e 3eine
[438]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
eine Fiber, die neben der andern lieget, dieſelbige
verlaͤngerte Fiber iſt.
Jndeſſen faͤllt darum das Reſultat aus der Aufloͤ-
ſung der Vermoͤgen, worinnen ihre Aeußerungen auf
einige wenige allgemeine Grundkraͤfte gebracht werden,
nicht weg. Alles, was die Seele leidet und thut,
kann zuletzt im Fuͤhlen, Vorſtellen, Denken und Wol-
len beſtehen; alle ihre Vermoͤgen koͤnnen nichts an-
ders, als nur in Hinſicht der Richtungen, die daſſel-
bige Grundprincip nimmt, und in Hinſicht der Gegen-
ſtaͤnde verſchieden ſeyn, und, dieſen Unterſchied abge-
rechnet, der Form und Wirkungsart nach dieſelben
ſeyn. So viel will jene Reduktion nur ſagen. Aber
mehr auch nicht. Sie kann eine andre Frage nicht
entſcheiden, die, wenn man gleich die blos objektivi-
ſche Verſchiedenheit bey Seite ſetzet, noch uͤbrig iſt.
Wohin ſoll man die Verſchiedenheit in den Richtun-
gen und Seiten bringen, an welchen die uͤberall ein-
foͤrmig wirkende Kraft hervorgehet? Jſt das Vermoͤ-
gen, nach einer Richtung zu wirken, nicht eben ſowohl
eine eigene Anlage fuͤr ſich, als jeder Kanal oder jede
Fiber, wodurch dieſe Richtung beſtimmt wird, ein
eigener Kanal oder eine eigene Fiber iſt? Jſt jene
nicht ein eigener Grundzug in der Seele? Wenn es
den Otaheitern von Natur an dem Zuge fehlet, der
zu dem Gefuͤhl der Schamhaftigkeit bey gewiſſen na-
tuͤrlichen Handlungen gehoͤrt, ſo werden ſie bey aller
Aufklaͤrung, die ihnen beygebracht werden moͤchte,
und bey aller Verfeinerung des Gefuͤhls, ſo wenig
von dieſer Schamloſigkeit befreyet werden, als ein
Blinder ſehend wird, wenn er an ſeinen uͤbrigen Sin-
nen und am Verſtande ſchon ein Saunderſon
wuͤrde.
5. Bey
[439]und Entwickelung des Menſchen.
5.
Bey allem dem, was von einigeu deutſchen Philo-
ſophen gegen die angebornen Gefuͤhle mit vieler
Scharfſinnigkeit erinnert worden iſt, hat dennoch dieſe
Sache in ihrem Jnnern viele Dunkelheiten; und ich
halte die voͤllige Entſcheidung daruͤber, ob und wie weit
zu einem beſondern Gefuͤhle etwas eigenes in der
Anlage der Natur nothwendig erfodert werde, in
manchen Faͤllen fuͤr ſehr ſchwer, und in einigen iſt ſie
vielleicht gar nicht zu finden. Soll aber uͤberhaupt
zwiſchen den Vermoͤgen in der entwickelten Mannes-
ſeele, und zwiſchen den erſten Anlagen in der Kindes-
ſeele, eine Vergleichung angeſtellet und dann beſtimmt
werden, ob jene aus dieſen, als aus Anfangslinien,
nur entwickelt, oder auf ſie als hinzugekommene Ver-
moͤgen gewachſen ſind: ſo entſtehet eine Unterſuchung,
die von eben dem Umfang iſt, und auch vielleicht
eben ſo viel vorher erfodert, um ſich von beyden Sei-
ten recht zu verſtehen, als der Streit uͤber die ver-
ſchiedenen Syſteme bey der Generation des Koͤrpers.
Am Ende kann bey der Seele hieruͤber ſchwerlich et-
was anders ausgemacht werden, als durch die Analo-
gie von der Entwickelungsart des Koͤrpers. Jm All-
gemeinen wird man dieſe Schwierigkeit begreifen,
wenn man auf die Gruͤnde, deren ſich die Vertheidi-
ger der beſondern Gefuͤhle bedienen, und auf die Art,
wie ſie dieß thun, zuruͤckſiehet. Man unterſcheide,
was die Beobachtung fuͤr ſich lehret, und was aus der
Analyſe der Seelenvermoͤgen geſchloſſen wird. Wenn
die letztere als dunkel und unerwieſen von den Verthei-
digern der angebornen Gefuͤhle bey der Entſcheidung
nicht zugelaſſen wird, ſo laſſen ſich die bloßen Erfah-
rungen, die ihnen entgegenſtehen, auf eine aͤhnliche
Art erklaͤren, wie Herr Bonnet die Einwendungen
E e 4gegen
[440]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gegen das Evolutionsſyſtem bey den Koͤrpern zu heben
ſucht. Giebt es Gefuͤhle, von denen wir keine Spur
in den Kindern antreffen, die doch durch den Unterricht
in ihnen entſtehen, wie z. B. unſere jungen Kinder ſo
ſchamlos ſind, als die Weiber auf Otaheite: ſo wer-
den ſie ſagen, daß das Gefuͤhl deswegen doch ſeinen erſten,
aber auch unſichtbaren, Anlagen nach vorhanden ſey, wie
die zarten Gefaͤße des Thiers in dem Ey, die nicht eher
in die Augen fallen, als bis die Entwickelung zu einem
gewiſſen Grade gekommen iſt. Wenn die Erfahrung
zeiget, daß es auch erwachſene Menſchen giebt, bey de-
nen dieſes oder jenes leidende oder thaͤtige Vermoͤgen der
Seele zuruͤckgeblieben iſt, weil es ihnen an gewiſſen
Vorſtellungen oder Jdeenverknuͤpfungen fehlt, die an-
dere bekommen haben, ſo iſt wiederum die Antwort bey
der Hand: nicht an den beſondern Anlagen der Natur,
die hiezu gehoͤren, habe es gemangelt, ſondern an der
noͤthigen Nahrung, wodurch die Anlagen haͤtten entwi-
ckelt werden muͤſſen, die in den Jdeenverknuͤpfungen
enthalten ſind. Denn dieſe und alle uͤbrige Eindruͤcke,
die von außen kommen, moͤgen immer das ſeyn, was
die unentbehrliche Nahrung bey dem Koͤrper iſt, ohne
welche er nicht waͤchſet; und dennoch folget nicht, daß
irgend eine neue Form in dem Jnnern der Seele durch
ſie erzeuget werden koͤnne, die nicht ſchon in der Natur
im Kleinen vorhanden war. Vielleicht entſcheidet die
pſychologiſche Analyſe der Vermoͤgen beſſer? Mit der
Erfahrung verbunden wuͤrde ſie ohne Zweifel entſchei-
den, wenn ſie nur tief genug in das Jnnere eindringen,
und vollſtaͤndig deutliche Begriffe von dem, was das
Eigene dieſer oder jener Vermoͤgen ausmacht, geben
koͤnnte. Das Gefuͤhl des Guten, des Schoͤnen, des
Anſtaͤndigen iſt doch nichts, ſagt man, als das allge-
meine Gefuͤhl der Luſt und des Schmerzens; und ihr
Eigenes haͤngt nur davon ab, daß das Grundgefuͤhl
durch
[441]und Entwickelung des Menſchen.
durch gewiſſe Jdeenaſſociationen auf diejenige Art von
Veraͤnderungen, und auf die Seite von ihnen geleitet
werde, die in den beſondern Gefuͤhlen die Gegenſtaͤnde
des Vermoͤgens ſind. Aber, kann man antworten, iſt
nicht auch das Vermoͤgen zu ſehen, daſſelbige Empfin-
dungsvermoͤgen, womit wir hoͤren, nur auf die Eindruͤ-
cke des Lichts auf die Augen angewendet? Und wuͤrden
wir uns nicht deswegen doch irren, wenn wir ſchließen
wollten, ein Weſen, welches fuͤhlen kann, braucht wei-
ter nichts als den Eindruͤcken des Lichts ausgeſetzet zu
ſeyn, um zu ſehen, ohne eine eigene Anlage ſeiner Na-
tur mehr zu haben? Laß Adam im Paradies ohnge-
fehr ſo raiſonnirt haben, als ihn Buͤffon raiſonniren
laͤßt; laß ihn, ohne noch ſich ſelbſt von ſeinen Kraͤften zu
unterſcheiden und die verſchiedenen Organe zu kennen,
ſeine innere menſchliche Empfindungen verglichen, auf-
geloͤſet und zergliedert haben: wird er nicht glauben muͤſ-
ſen, wenn er den Baum ſiehet und den Geſang eines
Vogels hoͤret, daß dieſe Veraͤnderungen nur darinn un-
terſchieden ſind, daß verſchiedene aͤußere Urſachen auf
ihn wirken? Daß, um dieſe zween Eindruͤcke zu em-
pfangen, verſchiedene Einrichtungen in ihm, an ver-
ſchiedenen Seiten, als ſo viele beſondere Gaͤnge zu ſei-
nem Jnnern erfodert werden, wird er vielleicht ſo wenig
vermuthen, als er darauf verfallen kann, daß um eine
Roſe und eine Nelke zu riechen zwo verſchiedene Fi-
bern in feiner Naſe noͤthig ſind, wie Hr. Bonnet be-
hauptet. Man ſieht die Anwendung leicht. Moͤchte
nicht etwan jede der auch nahe verwandten Gefuͤhlsarten
ihre beſondere Einrichtung in der Seele, an unterſchie-
denen Seiten in ihr, erfodern, wodurch allein es moͤg-
lich wird ſolche Eindruͤcke, welche die Gegenſtaͤnde die-
ſer Gefuͤhle ſind, abgeſondert anzunehmen, oder derje-
nigen Jdeenverknuͤpfung faͤhig zu werden, die dazu er-
fodert wird? Und wuͤrden denn dieſe beſondern An-
E e 5lagen
[442]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
lagen nicht die beſondern angebornen Gefuͤhle
und Vermoͤgen ſeyn? Man mag dieſem Einwurf
ſo viel oder ſo wenig Kraft zuſchreiben, als man wolle:
ſo ſiehet man doch den Ausweg, durch den der Verthei-
diger des pſychologiſchen Evolutionsſyſtems ſich aus dem
Gedraͤnge der Beobachtungen und der Zergliederungen
der Seele, die man ihm entgegenſtellet, herauswickeln
kann.
6.
Aber wenn nun gleich hieruͤber das Wenigſte entſchie-
den werden kann, oder nicht anders als aus der Analo-
gie mit der Entwickelungsart der koͤrperlichen Vermoͤ-
gen, von der es auch noch an einem voͤllig beſtimm-
ten Begriffe fehlet: ſo laͤßt ſich doch etwas feſtſetzen,
und zwar ſo viel als zu den praktiſchen Folgerungen hin-
reichet, um deren willen man die Frage beſonders in
Hinſicht der moraliſchen Gefuͤhle: ob Natur oder
Erziehung ſie hervorbringe? ſo ſcharf unterſucht hat.
Denn
1) lehret die Erfahrung ſo viel: worinn auch
das angeborne Gefuͤhl der Schoͤnheit, der Tugend und
des Anſtandes beſtehen mag, ſo kann ſolches doch nicht
zu ſolchen Naturanlagen gerechnet werden, die ſich von
ſelbſt unter allen Umſtaͤnden entwickeln, wo ſich nur
die Menſchheit entwickelt. Die Anlagen zu dem Kopf
und zu den Fuͤßen des Menſchen in dem Embryon ſind
Anlagen, die nicht zuruͤckgehalten werden koͤnnen, wenn
nicht die ganze Entwickelung zuruͤckbleiben ſoll. Und
ſo verhaͤlt es ſich im Durchſchnitt bey den Anlagen zu
den gewoͤhnlichen Sinngliedern, obgleich in Hinſicht
dieſer letztern die Ausnahmen ſchon haͤufiger ſind. Aber
der Menſchenfreſſer und der Otaheite, und ſo viele an-
dere uns bekannt gewordene Voͤlker, ja wir duͤrfen nicht
ſo weit gehen, da wir unſere eigene Kinder vor Augen
haben,
[443]und Entwickelung des Menſchen.
haben, lehren es ſehr deutlich, daß eine Menge von
Begierden und Abneigungen, die wir der Natur zu-
ſchreiben, ihr nicht in der Maße zugehoͤre, daß ſie ſol-
che hervortreiben muͤßte, wenn nicht Jnſtruktion und
Anfuͤhrung hinzukaͤme. Die letztere iſt zum mindeſten
von einem ſo wichtigen Einfluß, daß ohne ſie das na-
tuͤrliche Gefuͤhl ſich nicht offenbaret, aber durch ſie her-
vorgezogen wird, woferne nicht Urſachen dagegen wir-
ken, die ſich in den meiſten Faͤllen entdecken laſſen. Al-
ſo iſt die bildende Kraft der Eindruͤcke, die hinzukom-
men, ſo maͤchtig, und das, was ohne ſie in der Natur
vorhanden iſt, ſo unwirkſam, daß wir nicht einmal aus-
machen koͤnnen, ob das letztere etwas mehr als die bloße
Moͤglichkeit anzunehmen, bloße Empfaͤnglichkeit, oder
ob es ſchon ein beſtimmter Trieb in der Natur ſey nach
einer Seite hin hervorzugehen? Und da nun uͤberdieß
der Urſprung unſerer moraliſchen Gefuͤhle allein aus
dem allgemeinen Gefuͤhl, und aus den Jdeen und Jdeen-
verknuͤpfungen, die der Seele zugefuͤhret werden, er-
klaͤret werden kann, ſo weit wir ſie entwickeln koͤnnen,
wie die Philoſophen in ihren Unterſuchungen daruͤber be-
wieſen haben; ſo iſt man, wenigſtens in der Anwendung,
befugt, die angebornen Anlagen wegzulaſſen. Man
kann ſich vergewiſſern, daß ſolche in jedem vollſtaͤndig
organiſirten Menſchen vorhanden ſind, in der Maße,
wie ſie ſich als Naturtriebe beweiſen. Die Erziehung
und Anfuͤhrung iſt es aber, welche dem Menſchen in
Hinſicht ſeiner moraliſchen Gefuͤhle ſeine Form giebet.
Der Abſcheu vor Menſchen- und Pferdefleiſch iſt eben ſo
wenig natuͤrlich bey uns, als der Abſcheu vor dem Och-
ſenfleiſch bey den Banianen.
2) Es giebt ſo viele beſondere, nur relative Ver-
moͤgen, deren Eigenheit von den Jdeen der Gegenſtaͤn-
de abhaͤnget, und bey denen es alſo ſo unwahrſcheinlich
iſt, daß diejenigen, welche ſolche nicht erlangen, ihrer
nicht
[444]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nicht empfaͤnglich ſeyn ſollten, als es iſt, daß einem Men-
ſchen mit geſunden Augen der Sinn fehlen ſollte fuͤr ſicht-
bare Sachen, die ihm niemals vorkommen. Der Fiſcher
auf Nordſeeland, der nicht den geringſten neubegierigen
Blick auf die vor ihm vorbeyfahrenden Englaͤnder warf,
die ihm freylich neu genug ſeyn mußten, hat doch wohl
einen Sinn dazu gehabt ſie anzugaffen, und das Uner-
wartete dieſes Anblicks zu fuͤhlen, ſo gut wie ſeine Lan-
desleute. Solche Vermoͤgen und Fertigkeiten alſo, de-
ren Eigenes blos objektiviſch iſt, koͤnnen ſchlechthin nicht
als beſondere Naturvermoͤgen angefuͤhret werden, zu-
mal wenn um die dazu gehoͤrigen Objekte zu faſſen, nur
eben ſolche Sinne erfodert werden, als alle andere Men-
ſchen beſitzen. Der Neuſeelaͤnder, der Wurfſpieße,
Kaͤhne und Schnitzwerk verfertigen kann, hat auch das
Vermoͤgen, ein englaͤndiſcher Schifszimmermann,
Buͤchſenmeiſter und ein Bildhauer zu werden. Es iſt
daſſelbige Vermoͤgen, was jenen und dieſen macht, wie
das Ueberlegungsvermoͤgen, das ein Schachſpieler uͤbet,
dieſelbige Faͤhigkeit iſt, womit die Geometrie erlernet
wird.
3) Aus der Geſchichte der Menſchheit kann es als
entſchieden angeſehen werden, daß die obige erſte An-
merkung auf alle beſondre Arten der menſchlichen Ver-
moͤgen, ſogar auf die Vernunftfaͤhigkeit, ausgedehnet
werden muͤſſe. Jſt naͤmlich von ſolchen Anlagen in der
Natur die Rede, die bey allen moͤglichen Verſchieden-
heiten der aͤußern Umſtaͤnde ſich entwickeln, wo der
Menſch mit ſeinen gewoͤhnlichen Sinngliedern aufwaͤch-
ſet: ſo lehren die Beyſpiele von den außer der Geſell-
ſchaft verwilderten Jndividuen, daß auch ſogar die
Denkkraft zuruͤckbleiben kann, und daß nur allein das
Gefuͤhl und die vorſtellende Kraft in der Seele ſo be-
ſtimmt ſind, wie die Anfangspunkte zum Kopf und zu
den Gliedern in dem Embryon, ſo ſtark treibende Keime
naͤmlich,
[445]und Entwickelung des Menſchen.
naͤmlich, daß ſie ſchlechthin hervorgehen, wo der allge-
meine Entwickelungstrieh ſeine Wirkung hat. Noch
beduͤrfen ſie die Eindruͤcke von außen, wie eines Nah-
rungsſaftes. Aber jedwede Nahrung, welche nur uͤber-
haupt die Natur entwickelt, iſt zugleich auch fuͤr ſie eine
ſchickliche Nahrung.
Jndeſſen ſind wir durch nichts berechtiget, daraus,
daß es an ſo ſtarken Anlagen zu den beſondern Thaͤtig-
keitsarten in der Natur mangelt, den Schluß zu ziehen,
daß in Hinſicht dieſer gar nichts mehr als bloße Recep-
tivitaͤten vorhanden ſind. Der Sprung von ſich ſelbſt
hervordraͤngenden Trieben bis zur bloßen Moͤg-
lichkeit, ſich auf gewiſſe Weiſe formen zu laſſen, iſt zu
groß, und hat unendliche Zwiſchenſtufen. Und hiebey
ſcheinen die Erfahrungen von einigen Genies es doch
zum mindeſten wahrſcheinlich, wenn nicht voͤllig gewiß,
zu machen, daß wir in Hinſicht einiger Arten zu fuͤh-
len, zu denken, zu handeln, in der angebornen Natur
gewiſſe Diſpoſitionen annehmen muͤſſen, die naͤhere
Anlagen genannt werden koͤnnen, ob ſie gleich zu ihrer
Entwickelung, wenn dieſe merkbar ſeyn ſoll, beſonderer
Eindruͤcke von außen beduͤrfen. Fontaine hoͤrte eine
Fabel vorleſen, und ward ein Fabeldichter. Dieß wuͤr-
de er ſo wenig durch dieſe Empfindung des Gehoͤrs ge-
worden ſeyn, als Vaucanſon durch das Anſchauen einer
Uhr ein Mechanicker, und als irgend ein anderes Genie
bloß durch ein Muſter, das ihm vorkommt. Jn dem
Jnnern muß der Zunder ſchon gelegen haben, der durch
dieſe Funken von außen in Feuer gerieth.
Ueberhaupt muß es wiederholet werden, daß unſe-
re Jdee von der Grundkraft der Seele, als von
einer ſelbſtthaͤtigen Kraft zu fuͤhlen, nichts als ein allge-
meiner Begrif ſey, der das individuelle Seelenweſen
bey weitem nicht in ſeiner ganzen Beſtimmung darſtellet.
Jede Seele iſt, ſo wie der Menſch geboren iſt, man
mag
[446]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
mag bloß die Organiſation, oder die einfache Subſtanz
mit ihrem Organ zuſammendenken, oder jeden Theil
beſonders nehmen, ein vollſtaͤndig beſtimmtes wirkli-
ches Weſen; und ſeine Kraft zu fuͤhlen und Vorſtellun-
gen zu machen, zu denken, zu handeln iſt desgleichen,
und in Hinſicht aller ihrer Beſchaffenheiten, die ſie haben
kann, durchgaͤngig beſtimmt. Sie iſt nicht bloß Kraft
uͤberhaupt zu fuͤhlen, ſondern Kraft auf dieſe oder jene
individuelle Art zu fuͤhlen, das iſt mit andern Wor-
ten, ſie hat eine Anlage zu dieſen beſondern Arten des
Gefuͤhls. So hat ſie eine unendliche Menge von An-
lagen an allen ihren Seiten, und, ſo zu ſagen, in allen
ihren Punkten, die, wenn ſie mit einander verglichen
werden, alle zuſammen Anlagen zum Fuͤhlen und zur
Wirkſamkeit in dem Koͤrper, aber doch unter ſich von
einander verſchieden ſind, davon jede ihr eigenes hat,
und jede der Art und den Graden nach, mehr oder min-
der, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, beſtimmt iſt, und daher
auch ſchwerer oder leichter zuruͤckgehalten, unterdruͤcket,
veraͤndert werden kann. Hierauf ſind die bloßen
Moͤglichkeiten gegruͤndet, die nur als Vermoͤgen in actu
primo, in potentia remota, remotiori, propiori
und ſo weiter, nach der Sprache der Alten, oder als
Moͤglichkeiten, oder Receptivitaͤten anzuſehen ſind.
Dieß iſt die beſtimmte richtige Jdee von der wirklichen
Natur, worauf Erfahrung und Vernunft hinfuͤhren.
Wenn nun dieſer Saame aufkeimet und hervor-
waͤchſet: welche von ihren Vermoͤgen und Fertigkeiten
ſind denn als Entwickelungen der vorhandenen An-
lagen zu betrachten, und welche ſind fuͤr neu aufge-
wachſene oder hinzugekommene zu halten? Zu
den letztern kann man wohl nicht mehr rechnen, als ſol-
che, in deren Hinſicht in der Natur nichts als bloße
Empfaͤnglichkeit vorhanden war; zu jenen aber ſol-
che, in deren Hinſicht beſtimmtere Anlagen da ſind,
die
[447]und Entwickelung des Menſchen.
die, vergroͤßert, die aufgewachſenen Vermoͤgen ausma-
chen. Aber welche von den beſondern Vermoͤgen der
Menſchheit gehoͤren zu jener, welche zu dieſer Klaſſe?
Das iſt, wie weit war Anlage dazu in der Natur vor-
handen, oder wie weit bloße Moͤglichkeit? Und wenn
die Anlage ſchwach iſt, wie weit kann ſie heruntergeſe-
tzet werden, um in eine bloße Moͤglichkeit uͤberzugehen?
Und wie weit kann bey einem Jndividuum Anlage ſeyn,
was bey dem andern dieſen Namen nicht verdienet?
Jch muß mich ſehr irren, oder es fehlet an der Auf-
raͤumung dieſer Begriffe, wenn man noch in der allge-
meinen Vorſtellungsart von der Bildung und dem Aus-
wachſen der organiſirten Weſen ſo weit von einander ab-
gehet, als es in dem Syſtem der Epigeneſis und der
Evolution geſchieht, da man ſich doch von beiden Sei-
ten die Beobachtungen einraͤumt, wovon der allgemeine
Begrif abſtrahirt werden ſoll. Dazu kommt, daß un-
entwickelte und nicht voͤllig beſtimmte Begriffe Mißver-
ſtaͤndniſſe veranlaſſen, und dann nebenher auch falſche
Zuſaͤtze, die in dem bloßen Erfahrungsbegriffe nicht lie-
gen, ſondern durch Folgerungen aus der Metapher
des Ausdruckes damit verbunden ſind, welches deſto
leichter geſchieht, je mehr die nur einſeitige Vorſtellung
fuͤr eine vollſtaͤndige gehalten wird. Solche Nebenideen,
einmal fuͤr nothwendige Folgen angenommen, verwi-
ckeln die Vernunft in neue Schwierigkeiten. Hievon,
deucht mich, finden ſich viele Spuren bey dem bonneti-
ſchen Entwickelungsſyſtem; und ich haͤtte mir es allein
darum erlaubt, uͤber dieſe Hypotheſe einige Anmerkun-
gen anzufuͤhren, wenn auch die Jdee von der Entwi-
ckelung unſers Koͤrpers weniger mit der Jdee, die man
ſich von der Entwickelung der Seele zu machen hat, in
Verbindung ſtuͤnde, als ſie wirklich ſtehet. Es laͤßt
ſich etwas Aufhellung in dieſer von jener erwarten.
Zwee-
[448]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Zweeter Abſchnitt.
Von der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers.
I.
Vorerinnerung.
Wieferne die Bildung organiſirter Koͤrper unaus-
forſchlich iſt? Abſicht der gegenwaͤrtigen Be-
trachtung.
1.
Ehe ich mich in dieſe Betrachtung uͤber die Entwicke-
lung des Koͤrpers einlaſſe, muß ich zweyerley vor-
her erinnern.
Jch habe die Schwierigkeiten gefuͤhlt, welche bey
einer Unterſuchung vorkommen, wo auf Einer Seite
von Haller und Bonnet den ganzen Umfang der
bisher bekanntgewordenen Erfahrungen vor Augen ver-
glichen, und nach der reifſten Ueberlegung urtheilten, es
ſey der Begrif von einer Entwickelung, der das
Verfahren der Natur darſtelle, und wo auf der andern
Seite Wolf,*) der ſo tief in die Natur der Generation
eindringet, daß es Muͤhe koſtet ihm nachzukommen,
eben dieſelbigen Fakta vor Augen hat, und dennoch den
Ausſpruch thut, es ſey nicht die Evolution, ſondern der
Begrif von der Epigeneſis, die richtige Vorſtellung.
Andere große Maͤnner, Buffon, Needham, haben
ſich nicht ganz zu der einen noch zu der andern Parthey
geſellet, ſondern ſich ſelbſt eine eigene Jdee davon ab-
ſtrahirt. Jch will von der Autoritaͤt anderer, die ſich
entweder fuͤr das eine oder das andere Syſtem erklaͤren,
nichts ſagen. Wo ſolche Maͤnner ſchon erkannt haben
und unter ſich uneinig ſind, da wird man doch nicht vermu-
then,
[449]und Entwickelung des Menſchen.
then, wenigſtens habe ich es nicht vermuthet, daß die
Sache leicht zu entſcheiden ſey. Meine Behutſamkeit,
welche eine Folge von dieſer Ueberzeugung war, iſt noch
dadurch vergroͤßert, daß ich nicht nach eigenen Beobach-
tungen urtheilen kann. Jch habe die Gelegenheit nicht
gehabt, in die innere Werkſtatt der ſich entwickelnden
Natur hineinzuſehen, noch weniger Verſuche zu machen
und die Wirkungen derſelben zu zergliedern, ſondern die-
ſe hoͤchſtens nur von der Außenſeite etwas beobachten
koͤnnen. Das Selbſtſehen hat große Vortheile. Es
enthaͤlt immer einige, wenn gleich nicht allemal deutli-
che Winke fuͤr die Urtheilskraft, die dem entgehen, der
nur aus fremden Zeugniſſen die Fakta kennet, und nach
den von andern aufgenommenen Protokollen urtheilen
ſoll. Jndeſſen habe ich mich damit getroͤſtet, daß der
Philoſoph, der uͤber die Geſchichte der Menſchheit denket,
ſich die meiſtenmale in aͤhnlichen Umſtaͤnden befindet.
Und dazu kommt, daß die Autopſie, ſo wie ſie auf einer
Seite vieles voraus hat um dem Verſtande auf das rech-
te Gleis zu helfen, auf der andern durch ihre Lebhaftig-
keit oft hinderlich wird, alle Seiten der Sache zugleich
zu faſſen und in ſich gegenwaͤrtig zu erhalten. Jch
muß es geſchehen laſſen, wenn man mich dieſes Man-
gels wegen fuͤr keinen gebuͤhrenden Richter erkennet:
aber fuͤr mich ſelbſt geſtehe ich, daß ich dadurch zwar
aͤußerſt behutſam aber nicht furchtſam gemacht ſey.
Das zweyte, was ich vorher zu ſagen habe, iſt, daß
man ſich beſtaͤndig an den Zweck erinnere, den man ha-
ben kann, wenn man uͤber die Natur der Bildung und
der Entwickelung nachforſchet. Dieſe Wirkung der
Natur, iſt von einer Seite betrachtet, was das Beſondere
betrift, unerforſchlich und ein Geheimniß, und wird
es vielleicht auch immer bleiben. Ein Haller ſiehet
etwas mehr, naͤher, deutlicher als ein anderer; aber
hat der große Mann irgend die Entſtehung auch nur ei-
IITheil. F fnes
[450]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nes Theils an unſerm Koͤrper, nur der Haare, der Naͤ-
gel, ſo deutlich gemacht, daß wir ihm nicht mit ſeinen ei-
genen Worten zurufen koͤnnten:
Wenn Hr. Bonnet ſelbſt ſo oft dieſelbige Erinne-
rung einſchaͤrfet, und dennoch es weitlaͤuftig zu behau-
pten ſucht, daß alle Erzeugung nur eine Entwickelung des
vorhandenen Keims ſey: ſo muß er unter dieſer letztern
etwas geſucht haben, das ſich entdecken laͤßt, wenn auch
das Geheimniß der Erzeugung nicht enthuͤllet wird. Es
iſt naͤmlich nur um einen allgemeinen Begriff zu thun,
um einen allgemeinen Begriff von der Art, wie die Na-
tur bey den organiſirten Koͤrpern fortgehet, wenn ſie ſol-
che aus dem Keim hervorzieht und in ihrer ſichtbaren
Groͤße darſtellet? Was ſind das fuͤr Weſen, fuͤr Kraͤf-
te in dem Keim? Welche Wirkungsgeſetze befolgen ſie?
Nach welchen Richtungen, und auf welche Weiſe wirken
ſie, im Anfange und in jedem andern Moment des
Wachſens? Wer kennt ſie dazu genug, um weiter et-
was ſagen zu koͤnnen, als daß es dergleichen wirklich
gebe, die zuſammengenommen den organiſirten Keim
ausmachen? Die innern Theile deſſelben ſind uns ſo
wenig bekannt, daß wir nur allein aus der Verſchieden-
heit eines Menſchen und eines Pferdes ſchließen, daß
auch der befruchtete und ſich entwickelnde Keim zu bei-
den unterſchieden ſey, ohne beſtimmter in den Keimen
ſelbſt dieſe Unterſchiede angeben zu koͤnnen. Nicht davon
iſt die Rede, wie in dem Ey die Subſtanzen, die ſol-
ches ausmachen, auf einander wirken, ihren Kraͤften
und Lagen gemaͤß, wenn das Huhn entwickelt wird;
wer kann ſolche angeben? ſondern nur davon, inwiefern
ſie, was ſie auch ſind, da ſind, und wieferne ſie in der
Lage bey einander ſind, welche dieſe auch ſey, die eine
Bezie-
[451]und Entwickelung des Menſchen.
Beziehung auf die Lage der groͤßern Theile in dem ent-
wickelten Huhn hat? Die Urſachen in dem Keim moͤ-
gen unbekannt ſeyn, ihre Wirkungen desgleichen, wie
ihre Wirkungsgeſetze: aber in welcher Beziehung
ſtehen jene innern Urſachen der Bildung auf die
Bildung, welche hervorgebracht wird? Wir
wollen uns gerne mit einer allgemeinen Jdee von der
Organiſation, von der Erzeugung, dem Wachsthum
und der Fortpflanzung behelfen, ohne das Beſondere
zu ergruͤnden. Man darf kein Uhrmacher ſeyn, und
kann doch einen Begriff von dem Mechanismus haben,
wenn dieß gleich noch der beſondere Begriff von dem Me-
chanismus einer Uhr nicht iſt. Nur die Außenlinien
von dem Plan der Natur ſollen gezogen werden. Macht
die Natur, wenn ſie organiſirte Weſen hervorbringet,
neue organiſirte Theile, durch eine Zuſammenſetzung
aus einer Materie, die nicht organiſirt war; mittelſt
eines vorhandenen organiſirten Koͤrpers, der die Form
hergab, oder ohne dieſen? oder entſtehen nirgends neue
organiſirte Maſſen; ſondern ſind ſolche, welche zu ent-
ſtehen ſcheinen, nichts anders als dieſelbigen, die ſchon
im Kleinen und unſichtbar vorhanden waren, und die
nur verlaͤngert, verdickt, verfeſtiget, ſichtbar geworden
ſind? Wenn aus dem Saamen eine Pflanze, und in
dieſer wiederum ein neuer Saamen erzeuget wird, iſt
denn dieſer letztere Saamen von neuem gemacht worden?
oder war er ein Theil des erſten Keims, der vergroͤßert
und hervorgezogen nun den neuen Saamen ausmacht,
in welchem aͤhnliche Theile eingewickelt liegen, die auf
eine aͤhnliche Weiſe entwickelt werden? Oder wie ge-
ſchieht es ſonſten, daß organiſirte Weſen ihres Gleichen
hervorbringen? Dieß iſt es nur, was man zu erken-
nen ſucht. Es iſt „die Beziehung, welche die Keime
„zu den entwickelten Koͤrpern haben, ob und in wie weit
„die letztern den erſtern aͤhnlich oder unaͤhnlich ſind, oder
F f 2„wie
[452]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
„wie weit die Bildung und Form in dieſen von der Or-
„ganiſation in jenen abhange?‟ Dieß Allgemeine
ſoll wenigſtens hier mein Ziel ſeyn, da ich das Naͤhere,
ſowohl was die Ordnung der Theile betrift, die ſich ent-
wickeln, als auch die Art und Weiſe, wie ſie aus ihren
Anlagen hervorgehen, den großen Maͤnnern uͤberlaſſe,
die ſich mehr mit dem innern Bau der organiſirten We-
ſen bekannt zu machen Gelegenheit gehabt haben.
II.
Von dem Princip der Bildung in organiſirten
Koͤrpern und von Keimen.
- 1) Allgemeiner Grundſatz.
- 2) Verſchiedene Perioden in der Entwickelung
organiſirter Weſen. - 3) Die vornehmſte bildende Urſache bey den
organiſirten Weſen liegt in dem Keim. Be-
griff vom Keim nach dem Hr. Bonnet. - 4) Begriff vom Keim nach dem Hr. Wolf.
- 5) Erinnerung uͤber die weſentlichen Bildungs-
gruͤnde nach dem Hr. Wolf. - 6) Von Modellen, Patronen, Formen in dem
buͤffoniſchen Syſtem. Von unvollſtaͤndi-
gen Keimen. - 7) Von der organiſchen Konkretion.
- 8) Von der generatione æquivoca, wie weit
ſolche unvernuͤnftig iſt. - 9) Von den unorganiſchen Konkretionen und
der Bildung uͤberhaupt.
1.
Es ſind zween Grundſaͤtze, von welchen alle Neuern, die
uͤber die Generation der organiſirten Weſen philo-
ſophirt haben, ausgegangen ſind; diejenigen naͤm-
lich,
[453]und Entwickelung des Menſchen.
lich, die ſich nicht geradezu auf eine bildende
Naturkraft berufen, von der ſie weiter nichts
wiſſen, als daß ſie bilde, ohne auch nur das Gering-
ſte von der Art dieſer Bildung daraus erklaͤren zu
koͤnnen.
Der erſte von dieſen Grundſaͤtzen iſt das Axiom
des Verſtandes, „daß ohne Grund und Urſache Nichts
„entſtehet.‟ Denn wenn dieſes Princip auf die organi-
ſchen Koͤrper angewendet wird, ſo heißt es ſo viel:
„der Saame, der befeuchtete Keim und die Nahrung, die
„ihm nach und nach zugefuͤhrt, an den beſtimmten Ort
„und auf die beſtimmte Weiſe zugeſuͤhrt und mit ihm
„vereiniget wird; oder, wenn wirs unter dieſe zwey Stuͤ-
„cke bringen, der Keim nach ſeinen innerlichen und
„aͤußerlichen Beſchaffenheiten, und das, was zu ihm
„hinzukommt, enthaͤlt zuſammen den voͤllig hinrei-
„chenden Grund von der Entwickelung, und be-
„ſtimmt die innere Form, Groͤße und Bildung des
„Koͤrpers, der erzeuget wird.‟
2.
Die ganze Geſchichte der Entwickelung eines or-
ganiſirten Weſens kann in drey Perioden getheilt
werden. Die erſte geht bis auf die Keimung, den
Anfang der Entwickelung des befruchteten Saamens.
Wie wird der Keim gebildet, und wie wird er be-
fruchtet? Die zwote faßt die Erzeugung und
Bildung in ſich, in welcher die Form des Dinges
nach ſeinen unveraͤnderlichen Theilen feſtgeſetzet und
kennbar feſtgeſetzet wird, ſo daß es die verlangte Ge-
ſtalt in der ganzen Folge ſeines Daſeyns beybehaͤlt;
ſo weit wenigſtens, daß die weitere Entwickelung
nur eine Vergroͤßerung iſt. Dieß iſt bey dem Men-
ſchen und dem Huhn die embryoniſche Periode, bis
zur Geburt. Auf dieſe folget die dritte Periode des
F f 3Aus-
[454]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Auswachſens, welche ihren naͤchſten Abſatz da hat,
wo in dem organiſirten Weſen wiederum reife Saamen
und Keime zu ſeines Gleichen geformet ſind, und
von hier an ſich bis ans Ende des Lebens erſtrecket.
Dieſe Abtheilung wuͤrde vielleicht weniger zweck-
maͤßig ſeyn, wenn von den Jnſekten, Polypen und
vielen Pflanzenarten die Rede iſt. Sie iſt zunaͤchſt
nur bey den Menſchen und den Thieren zu gebrauchen.
Gleichwohl enthaͤlt ſie ſo viel Allgemeines, als ihre
jetzige Abſicht erfodert, naͤmlich die Schritte in dem
Fortgange der Bildung zu unterſcheiden, deren einzelne
Betrachtung uns am leichteſten zu dem Allgemeinbe-
griffe von der organiſchen Entwickelung fuͤhren kann.
Dieſe Perioden hangen ohne dieß genau aneinander,
und machen eine Reihe von Begebenheiten aus, die in
einander fließen, und bey aller ſcheinbaren Verſchie-
denheit, die wir in der Art des Fortgangs anzutreffen
glauben, dennoch ſo ſehr einander aͤhnlich ſind, daß,
wenn man die Art der Entwickelung in Einer derſelben
voͤllig und deutlich faſſet, allein ſchon die Analogie es
wahrſcheinlich machen wuͤrde, daß ſolche dem Weſent-
lichen nach ebendieſelbige in allen uͤbrigen ſey. Aber zu-
gleich kann die ſcheinbare Verſchiedenheit, welche man,
von außen die Sache betrachtet, zwiſchen der erſten
Zubereitung des Keims, zwiſchen der Erzeugung oder
Bildung und zwiſchen dem Auswachſen gewahr wird,
auch ſchon auf die Vermuthung fuͤhren, daß in der,
dem Weſentlichen nach, ſich immer gleichen Wirkungs-
art der Natur eine Verſchiedenheit an Graden und
Stufen vorkommen muͤſſe, und daß hierinn wohl die
Urſache zu der Verſchiedenheit ſeyn koͤnne, die man
aͤußerlich gewahr nimmt.
3.
Der zweete allgemeine Grundſatz, den ſowohl Hr.
Wolf als Hr. Bonnet einraͤumet, ſo ſehr verſchie-
dener
[455]und Entwickelung des Menſchen.
dener Meinung ſie auch ſind, wenn ſie ihn naͤher be-
ſtimmen, iſt dieſer: „Ein organiſirtes Weſen entſte-
„het aus einem Keim. Und ein Keim iſt, nach ei-
„nem allgemeinen Begriffe, der ſich mit der Epigene-
„ſis ſo gut wie mit der Evolution vertraͤgt, ſo ein
„Koͤrper, worinn das bildende Princip, das iſt, der
„Grund der nachſolgenden Bildung, ganz oder doch
„vornehmlich enthalten iſt, und der zugleich ſelbſt zu
„der Subſtanz des organiſirten Weſens gehoͤret, das
„aus ihm entwickelt wird.‟ Es iſt nothwendig, auf
die Beſtandtheile dieſes Begriffs zu achten, wenn
man ſelbſt Misverſtaͤndniſſe vermeiden und es bey
andern ſehen will, wie weit ſolche bey ihren Streitig-
keiten Einfluß haben.
Herr Bonnet hat ſich daruͤber mehrmalen er-
klaͤrt: „der Keim, ſagt man,‟ (dieß ſind ſeine eigenen
Worte) „iſt der Grundriß und das Modell von dem
„organiſirten Koͤrper. Ein Begriff, der nicht ge-
„nau genug kann beſtimmet werden. Entweder muß
„man es auf ſich nehmen, die Bildung der Organen
„mechaniſch zu erklaͤren, welches uͤber die Kraͤfte der
„geſunden Philoſophie gehet; oder man muß anneh-
„men, es enthalte der Keim ſchon wirklich im Klei-
„nen alle weſentlichen Theile der Pflanze oder |des
„Thiers in ſich, das er vorſtellet.‟*)
Nach dieſer Erklaͤrung legte Herr Bonnet keine
andern Theile der Pflanze und des Thiers in den
Keim, als nur die weſentlichen, das iſt, nach ſei-
nen uͤbrigen Erlaͤuterungen, diejenigen, wovon die
Form, die Art der Zuſammenſetzung und Verbindung
in der organiſirten Materie abhaͤngt. Er nennt dieſe
Verbindungsarten Formen, Maſchen, vergleichet
ſie mit dem Aufzug eines gewebten Zeuges; die
Nahrungstheile, welche hinzukommen, machen die
F f 4Ma-
[456]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Materie aus, fuͤllen die Maſchen aus, und ſind
das, was der Einſchlag bey dem Weber iſt. *) Der
Keim iſt organiſirt und enthaͤlt alle Formen des ganzen
organiſirten Koͤrpers in ſich. Die Nahrung formet
nicht. Die Theile, welche hervorgehen, haben zwar
Verhaͤltniſſe und Beziehungen gegen einander, die in
ſo weit von der Maſſe oder von der Anhaͤufung der
Materie abhangen, wodurch Groͤße, Feſtigkeit und
Figur beſtimmt wird, als es dabey auf die Groͤße
der Theile ankommt; aber wenn man abſondert, was
eigentlich Verhaͤltniſſe der Maſſen ſind, ſo muß in
Hinſicht aller uͤbrigen Beziehungen der Keim den
Grund zu ihnen enthalten, und in deſſen Elementen
eine verhaͤltnißmaͤßige Verſchiedenheit liegen, welche
in den Verhaͤltniſſen der entwickelten Theile nur
ſichtbar wird und hervorgeht.
Herr Bonnet will dennoch nicht, daß man ſich
im Keime den Abriß des Thiers oder der Pflanze
im Kleinen vorſtellen ſolle. Er erklaͤrt dieſe Jdee
fuͤr unrichtig, und laͤugnet, daß er dieß habe ſa-
gen wollen. Seine letztere Erklaͤrung von einem
Keim, die er in der Vorrede zu ſeinem vortrefflichen
Buch uͤber die organiſirten Koͤrper gegeben hat, be-
ſtimmet nichts weiter, als daß der Grund der Bil-
dung voͤllig in dem Keim liege, oder daß die Bil-
dung des Ganzen ſchon in der Bildung des Keims
enthalten ſey. „Durch den Keim‟, ſagt er, „verſtehe
„ich jegliche Vorherverordnung, jegliche Vorherbil-
„dung der Theile, die durch ſich ſelbſt vermoͤgend iſt,
„das Daſeyn einer Pflanze oder eines Thieres zu be-
„ſtimmen. Jch behaupte aber deßhalb nicht, daß
„die Knoͤpfchen an den Ausſchoͤßlingen der Armpoly-
„pen ſchon an ſich ſelbſt Polypen im Kleinen, und
„unter der Haut der Mutter verſteckt ſind, ſondern
„daß
[457]und Entwickelung des Menſchen.
„daß darinn gewiſſe ſolchergeſtalt praͤorganiſirte Par-
„tikeln vorhanden ſind, aus deren Entwickelung ein
„Polyp entſtehen kann.‟
Aber wie? wenn die ganze Form des entwickelten
Koͤrpers ſchon in dem Keim enthalten iſt; wenn die
Entwickelung nichts anders als eine Erweiterung, eine
Ausdehnung der Fibern iſt, die ſchon da ſind, nur ei-
ne Vergroͤßerung derſelben durch die Nahrung, die die
Maſſe vermehret, ohne neue Formen hineinzubringen:
warum ſollte man denn nach dieſer Vorſtellungsart
nicht berechtigt ſeyn zu ſagen, der Keim enthielte das
ganze Thier und die ganze Pflanze mit ihren Theilen
im Kleinen in ſich?
Die Antwort gab Herr Bonnet dadurch: *) Jn-
dem die Theile vergroͤßert werden, bekommen ſie Ver-
haͤltniſſe ihrer Groͤße nach, die ſie vorher nicht hatten.
Die Ausfuͤllung von der Nahrung geht nicht in allen
Maſchen oder Formen in gleichem Verhaͤltniß vor ſich;
einige werden mehr, andre weniger am Umfang und
an Soliditaͤt vergroͤßert. Der Grund hiezu liegt zwar
in ihnen ſelbſt, aber doch auch in dem Ueberfluß oder
in dem Mangel der Saͤfte, die ſich fuͤr ſolche Maſchen
ſchicken; einige davon koͤnnen ſich ſo zuſammenziehen,
daß ſie ſich zu verlieren ſcheinen. Nun entſteht zwar
das ausgebildete Weſen durch die bloße Vergroͤße-
rung der Formen in dem Keim, und jeder Theil in
jenem hat ſeinen Anfangspunkt und ſeine erſte An-
lage in dem Keim; allein da doch die Verhaͤltniſſe der
Theile ihren Groͤßen nach ſich aͤndern, ſo konnte man
darum das Thier im Kleinen in dem Keim nicht ſu-
chen, weil dieſer Ausdruck nicht nur die Anfaͤnge der
Theile, ſondern auch daſſelbige Verhaͤltniß der Groͤße
und Geſtalt zwiſchen den Anfaͤngen und zwiſchen den
Theilen ſelbſt zu enthalten ſcheinet.
F f 5Herr
[458]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Herr Bonnet hat ſich nirgend auf eine deut-
liche Auseinanderſetzung der Begriffe von Form, Aus-
dehnung und Vergroͤßerung eingelaſſen, noch darauf
wie die Ausdehnung ohne Vermehrung der Formen,
das iſt, wie ſeine Evolution von einer Ausdehnung
mit Vermehrung der Formen unterſchieden ſey. Was
ſind weſentliche Theile einer Pflanze und eines
Thiers? Wie unterſcheidet man dieſe von dem, was
bloße Maſſe und Groͤße iſt? Dieſe Fragen hat er nir-
gends beantwortet; und es iſt auch darum ſchon kein
Wunder, daß in dem allgemeinen Begriffe von ſeiner
Entwickelung ſo viele dunkle Stellen bleiben mußten,
die doch in den Folgerungen aus ſeiner Hypotheſe
uͤberſehen wurden.
So viel iſt indeſſen gewiß, daß das Eigene dieſer
Hypotheſe nicht ſowohl darauf beruhet, daß der Grund
der Ausbildung allein in dem Keim liege, als auf
dem Grundſatz, daß alle Formen in dem Keim ſchon
enthalten ſind, und alſo alles, was zur Bildung des
Thiers und der Pflanze gehoͤret, nur das ausgenom-
men, was von der Menge der Materie und den außern
Umſtaͤnden abhaͤngt. Dieſe beiden Saͤtze ſind nicht
ſo deutlich unterſchieden worden, als es geſchehen
muß Der Saame des Eſels iſt eine mitwirkende Urſache
von der Geſtalt des Mauleſels. Daher erhaͤlt er auch
einen Grund der Bildung. Aber was er dazu bey-
traͤgt, beſtehet nicht darinnen, daß er neue Formen
hervorbringet, ſondern darinn, daß er die vorhande-
nen Formen oder Maſchen auf eine andre Art und in
einem andern Verhaͤltniſſe ausbildet, als der Saame
von dem Hengſte es gethan haben wuͤrde. Jn dem
Keime ſind alle Formen vorhanden, und auch ſelbſt
die Beziehung, in der ſie ausgebildet werden, hat
groͤßtentheils ihren Grund in dem Keim. Dennoch
iſt dieſe Beziehung nicht ſo voͤllig in und durch den
Keim
[459]und Entwickelung des Menſchen.
Keim beſtimmt, daß nicht die hinzukommende Mate-
rie, je nachdem ſie mehr oder weniger fuͤr beſondere
Formen ſich ſchickende Partikeln enthaͤlt, daran etwas
abaͤndern koͤnnte.
4.
Herr Wolf legt gleichfalls in die Keime der
Pflanzen und der Thiere die weſentliche Kraft, wel-
che zwar nicht allein aber doch einen Theil des weſent-
lichen Princips der Vegetation und der Ausbildung
des organiſirten Koͤrpers ausmacht. Die weſentli-
che Kraft (vis eſſentialis) iſt die unbekannte, dem
Saamen, dem Ey, aus jeder erſten Anlage des Thiers
und der Pflanze beywohnende Kraft die Nahrungs-
ſaͤfte anzunehmen, zu ſammlen und durch die Theile
und Partikeln des Keims gehoͤrig zu verbreiten, hie
und da in dem Jnnern deſſelben abzuſetzen und heraus-
zutreiben. *)
Alſo iſt auch hier in dem Keim ein weſentlicher
Bildungsgrund; nur daß dieſer es nicht allein iſt, der
die ganze Bildung beſtimmt. Denn es iſt ein zweytes
weſentliches Princip in der Gerinnbarkeit (Solide-
ſcibilitaͤt) der Saͤfte, die im Anfang fluͤſſig ſind, aber
leichter oder ſchwerer, geſchwinder oder langſamer,
mehr und weniger, gerinnen, ſich verdicken und ver-
feſtigen. Dieſe beiden Stuͤcke, die weſentliche
Kraft in dem Keim und die Solideſcibilitaͤt in
den Saͤften, nennet Herr Wolf die weſentlichen
Bildungsgruͤnde, und ſieht ſie als die erſtern Ur-
gruͤnde an, die den zureichenden Grund der erfolgen-
den Bildungen enthalten ſollen. Hiezu kommen
nun noch andere Gruͤnde, welche er acceſſoria nennet.
Die Waͤrme und die Luft, welche von auſſen wirken,
ſieht
[460]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſieht er als einen zufaͤlligen aͤußerlichen Grund an (ac-
ceſſorium accidentale;) die Struktur der Gefaͤße, die
blaſenartige Struktur derſelben in den Pflanzen, und
der Mechanismus des reizbaren Herzens und der Puls-
adern, mit der davon abhangenden Bewegung der fluͤſ-
ſigen Theile in den Thieren, wird als ein hinzukom-
mender doch weſentlicher Bildungsgrund betrach-
tet. Aber ſo weſentlich dieſer letztere auch iſt, ſo ſoll
ſolcher doch ſelbſt nichts weiter als eine Folge von jenen
erſtern ſeyn. Denn die weſentliche Kraft in dem Keim
und die Beſchaffenheit der Saͤfte, die ihm zugefuͤhret
werden, machen die beſtimmende Grundkraft aus, wo-
von in den Pflanzen das blaſige Weſen, und in den
Thieren der erſte Mechanismus hervorgebracht wird.
5.
Ueber die Ordnung der Bildungsgruͤnde, die Hr.
Wolf hier annimmt, laͤßt ſich, wie ich meine, eine
wohlgegruͤndete Erinnerung machen, ehe man ſich auf
die Beobachtungen einlaſſen darf, da die Sache noch
mehr und faſt allein auf Raiſonnement beruhet. Es
mag die Beſchaffenheit der Nahrungsſaͤfte ſo vieles von
dem geſammten Bildungsgrunde ausmachen, und ſo
vielen Einfluß in die Form des zu bildenden Koͤrpers
haben, als man wolle: ſo iſt es doch nicht nur natuͤrli-
cher ſich vorzuſtellen, daß die ſchickliche Vertheilung der
Saͤfte von einer vorherbeſtimmten Struktur des
Keims abhange, als die erſte Struktur von der Ver-
theilung der Saͤfte herzuleiten; ſondern es iſt jenes auch
nothwendig. Die Beobachtungen, ſo ferne ſie etwas
entſcheiden, ſind fuͤr das erſtere, und die Vernunftgruͤn-
de ſind ganz dafuͤr; dafuͤr naͤmlich, daß die Vorherbil-
dung des Keims, das iſt eine gewiſſe Organiſation in
demſelben, oder eine Lage ſeiner Theile unter einander der
Grund
[461]und Entwickelung des Menſchen.
Grund ſey, warum die Saͤfte ſo und nicht anders ver-
theilet werden.
Hr. Wolf haͤlt die weſentliche Kraft und die Be-
ſchaffenheit der Saͤfte fuͤr den zureichenden Grund der
Bildung und glaubt, daß auch die erſte Anlage zur
Organiſation eine Wirkung ſey, die davon abhaͤnge,
daß Saͤfte, die in einem gewiſſen Grade gerinnbar ſind,
von einem Wachstriebe bearbeitet werden, der einen ge-
wiſſen Grad der Staͤrke und des Anhaltens beſitzet.
Allein hierinn ſcheinet der forſchende Mann ſich offenbar
geirret zu haben. Nicht zu ſagen, daß ſelbſt die ver-
ſchiedenen Grade in der weſentlichen Kraft ſich von neuem
auf eine gewiſſe Verbindung der Partikeln in der Maſ-
ſe, der ſie beywohnet, beziehen muͤſſen, ſo bald man ſich
einen verſtaͤndlichen Begriff davon machen will: ſo iſt
auch die angegebene Urſache zu unbeſtimmt, in Hinſicht
auf ihre Wirkung, die ſie hervorbringen ſoll. Hr.
Wolf*) haͤlt das Problem fuͤr aufloͤslich: „Aus der
„gegebenen Groͤße oder Staͤrke der vertheilenden und
„treibenden Kraft in einer Pflanze, und aus dem gege-
„benen Grade der Gerinnbarkeit in den Saͤften, die
„Figur der Pflanzen zu beſtimmen.‟ Allein, genauer
betrachtet, kann keine beſtimmte Aufloͤſung auf dieſe Art
erwartet werden, da die data unzureichend und zu unbe-
ſtimmt ſind. Denn wenn man ſelbſt die von ihm ſo ſcharf
beobachteten Beyſpiele der Vegetation des weißen Kohls
und der Blaͤtter der Kaſtanie anſieht: ſo zeiget ſich ja
ſogleich bey dem Anfange der Vegetation eine Verſchie-
denheit in der Struktur des neuen Anwuchſes, in den
Richtungen, welche die aus dem Vegetationspunkte her-
vordringenden Saͤfte nehmen, und in der Lage, die ſie
bekommen, wenn ſie gerinnen. Beides ſetzet nothwen-
dig eine eigene Beſchaffenheit und Lage der Partikeln
gegen einander auf der Flaͤche voraus, wo ſie hervor-
dringen.
[462]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dringen. Wenn der Wachstrieb in einem Keim zwey-
mal ſo groß iſt als in einem andern: ſo begreife ich,
wie dieſelbigen Saͤfte zweymal ſo ſtark und auch weiter
herausgetrieben werden, ehe ſie zur Gerinnung gelan-
gen; und wiederum, wenn die Saͤfte in dem einen
ſchwerer zu bewegen ſind und doppelt ſo leicht gerinnen:
ſo begreife ich, wie bey einem gleich großen Triebe in
der Lebenskraft dennoch die Pflanze mehr in der Dicke
als in der Laͤnge wachſen muͤſſe; und endlich, wenn bei-
de, die Kraft und die Gerinnbarkeit der Saͤfte, ver-
ſchieden ſind, wie davon nothwendig ein geſchwinderes
oder langſameres Wachſen, entweder mehr in der Weite
als in der Laͤnge, oder umgekehrt, abhange, und alſo
auch Mannichfaltigkeiten in der Form der hervorgetrie-
benen Theile erzeuget werden koͤnnen und muͤſſen. So
weit hat Hr. Wolf, aus dieſen beiden Stuͤcken, viele
Verſchiedenheiten in den Figuren der Pflanzen ganz
wohl begreiflich gemacht. Denn wie ſollte ſich nicht
aus ſolchen zween wichtigen Beſtandtheilen der ganzen zu-
reichenden Urſache ſehr vieles in ihrer Wirkung erklaͤ-
ren laſſen! Allein, wenn nun die Saͤfte aus dem Ve-
getationspunkt in einer Pflanze mehr nach der einen
Seite hin, mehr in einer Richtung, als in einer andern
hervorgehen, mehr Neigung haben ſich auf dieſe Art zu-
ſammenzulegen, als auf eine andere? Woher die-
ſes, und warum ſind dieſe Richtungen, die der Wachs-
trieb nimmt, nicht bey allen Pflanzen dieſelbigen? Ent-
weder iſt davon der Grund in den aͤußern Dingen, die
den Keim umgeben, in ſeiner Lage gegen andere Koͤrper,
die dem Ergießen der Saͤfte in einer Richtung mehr
widerſtehen als in einer andern, wie z. B. die Pflan-
zen ſich von den Gegenden abwenden, wo ihnen der freye
Zugang der Luft und des Lichts verwehret iſt; *) oder
man muß zu der Figur des Vegetationspunktes, aus dem
der
[463]und Entwickelung des Menſchen.
der Saft hervordringet, mit einem Wort, zu einer La-
ge der Theile in dem Keim, das iſt, zu einer gewiſſen
Vorherbildung im Keim zuruͤckgehen, um den beſtim-
menden Grund dieſer verſchiedenen Richtungen aufzufin-
den. Zu dem erſtern ſo zufaͤlligen Umſtande wird Hr.
Wolf ſeine Zuflucht nicht nehmen, um eine ſo beſtaͤn-
dige Beſchaffenheit, als die Figur der Pflanzen und ih-
rer Blaͤtter iſt, daraus zu erklaͤren. Wenn das aber
nicht angeht, ſo werden wir wiederum zu einer innern
Vorherbildung, der Organiſation des Keims gefuͤhret,
die eben ſo nothwendig und ſo weſentlich zu dem erſten
beſtimmenden Princip der Bildung gerechnet werden
muß, als die weſentliche Kraft und die Gerinnbarkeit
der Saͤfte.
Jch will nichts von dem Ausſpruch der Beobach-
tungen ſagen. Denn es kommt darauf an, was man
daraus ſchließet, da ſie uͤber dieſe, nur durch Vernunft
zu erforſchende Sache unmittelbar nicht zeugen koͤnnen.
So viel iſt indeſſen außer Zweifel, daß ſie alle auf das
Reſultat hinfuͤhren, es muͤſſe die Beſchaffenheit und die
Menge der Saͤfte die ein organiſirter Koͤrper zu ſeinem
Wachſen gebraucht, mehr von ſeiner Struktur und
von den ihm beywohnenden Kraͤften abhangen, und durch
dieſe zu einer dienlichen Nahrung zubereitet werden,
als daß umgekehrt die Struktur des Koͤrpers von der
angemeſſenen Nahrung abhangen ſollte. Verſchiedene
Pflanzen ziehen verſchiedene Saͤfte aus einerley Boden
und aus einerley Waſſer. Jch ſage damit nicht, daß
nicht auch die Beſchaffenheit der Saͤfte die Figur modi-
ficire. Dieß geſchieht wirklich, und man kann zugeben,
daß, da die erſte Nahrung des Keims ſchon voͤllig zube-
reitet in dem Kern des Saamens vorhanden iſt, auch
vielleicht die Organiſation des Keims, welche in dem er-
ſten Anfange der Vegetation vorhanden iſt, noch nicht
ſo ſtark befeſtiget ſey, daß ein roher Saft durch ſie die
gehoͤri-
[464]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gehoͤrige Zubereitung erlangen koͤnne: doch koͤnnte dieß
auch eben ſo wohl an der Schwaͤche der weſentlichen
Kraft liegen, als an der Schwaͤche in der Organiſation.
Man gebe aber zu, daß allerdings in dem Anfange die
zubereiteten Saͤfte mehr auf die erſte Form des Keims
wirken, und ihn mehr beſtimmen, als nachher, wenn
ſich die Form des Koͤrpers ſchon verfeſtiget hat: dennoch
deucht mich, werde man durch keine Gruͤnde dahin kom-
men, die ganze Struktur bloß fuͤr eine Wirkung von
der Kraft und der Beſchaffenheit der Saͤfte zu halten,
woferne nicht ſchon eine beſondere Anlage zu dieſer
Struktur vorher da iſt; ſie ſey nun in dem Keim, oder
in dem, was wir die erſte Nahrung in dem Kern nen-
nen. Daraus haͤtte Hr. Wolf ſchließen ſollen, ent-
weder daß außer der weſentlichen Kraft und der Gerinn-
barkeit der Saͤfte noch eine gewiſſe Vorherbildung der
Partikeln in dem Keim zu dem erſten weſentlichen
Bildungsgrunde gehoͤre, oder wenn er nur zween da-
von fuͤr die erſten Gruͤnde anerkennen wollte, daß viel-
mehr die Beſchaffenheit der Saͤfte als die Anlage zur
Struktur fuͤr ein principium acceſſorium zu hal-
ten ſey.
6.
Nach dem vorher gegebenen Begriffe von einem
Keim, ſoll dieſer ſelbſt ein Beſtandtheil desjenigen Koͤr-
pers werden, der durch ſeine Ausbildung hervorgehet.
Ein Modell alſo, eine Patrone, oder eine Form,
welche zum Grunde lieget, und worinn oder wornach
der organiſirte Koͤrper gebildet werden moͤchte, koͤnnte
nicht mit dem Namen eines Keims zu dieſem Koͤrper
belegt werden. Die Formen des Hr. von Buffon
ſind in ſo weit keine Keime. Aber wenn ein gewiſſer
Anfangspunkt angenommen wird, der in etwas ſchon
vorher gebildet iſt, und in ſo fern Einen von den Gruͤn-
den
[465]und Entwickelung des Menſchen.
den der nachfolgenden Bildung in ſich haͤlt: ſo kann
man ihm den Namen des Keims beylegen, wenn man
zwiſchen vollſtaͤndigen und unvollſtaͤndigen Keimen
unterſcheiden, und den Begrif von einem Keim auch
noch auf dieſe ausdehnen will. Denn wenn dieſer An-
fangspunkt, als die Grundanlage des organiſirten Koͤr-
pers, nun gleich erſt durch den Zufluß der Saͤfte aus
dem organiſchen Koͤrper, wovon jene Anlage ein Theil
iſt, ausgebildet werden muß; und wenn dieß auch auf
eine ſolche Art vor ſich gehet, als Hr. von Buffon es
angegeben hat, naͤmlich daß jedes Glied und jeder Theil
des ganzen Koͤrpers etwas von Saͤften und Nahrung
nach der Anlage hinſendet, daſelbſt ſeiner eigenen Struk-
tur gemaͤß abſetzet, und ſie erſt zu einem vollſtaͤndigen
Keim in Hinſicht der nachfolgenden Bildung machen
muß: ſo wuͤrde doch die erwehnte erſte Grundanlage,
oder der erſte Anfangspunkt, zwo weſentliche Eigenſchaf-
ten eines Keims beſitzen. Naͤmlich er wuͤrde ein Prin-
cip der Bildung enthalten, wenn gleich nicht das vor-
nehmſte, und noch weniger das vollſtaͤndige, und auch
ſelbſt zu der Subſtanz des aus ihm entwickelten Koͤrpers
gehoͤren. Solche Keime kann man fuͤglich unvoll-
ſtaͤndige Keime nennen. Das Evolutionsſyſtem ſchlieſ-
ſet alle unvollſtaͤndige Keime und alle Modelle, die
nichts mehr als dieß ſind, aus. Wenn jedwede Bil-
dung eine Entwickelung der in der Anlage ſchon vorhan-
denen Formen iſt: ſo muß auch jeder organiſirte Koͤr-
per, der entſtehet, einen Keim haben, in welchem der
voͤllig beſtimmende Grund der Bildung enthalten
iſt. Dieß ſind aber weder die Modelle, noch die un-
vollſtaͤndigen Keime. Allein was die einzelnen Erklaͤ-
rungen betrift, die Hr. Bonnet aus ſeiner Evolutions-
hypotheſe, von den Pfropfreiſern in den Pflanzen und
Thieren, von dem Zuſammenwachſen des Sporns mit
dem Hahnenkamm und von einigen thieriſchen Erzeu-
IITheil. G ggungen
[466]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gungen gegeben hat: ſo iſt es eine andere Frage, ob
ſolche ſich mit der Hypotheſe von unvollſtaͤndigen Keimen
nicht vereinigen ließen? ob Hr. Bonnet das, was die
Natur hier wirket, und was er richtig bemerkt und rich-
tig beſchrieben hat, auch ſo richtig auf ſeine Jdee von
der Evolution aus einem vollſtaͤndigen Keim bezogen,
und uͤberall eine gleichartige Entwickelung gefunden ha-
be? und ob nicht dieſe Phaͤnomene auf die Jdee von
unvollſtaͤndigen Keimen oder bloßen Modellen
zuruͤckfuͤhren? Davon unten mehr. Die Faͤlle, wo un-
vollſtaͤndige Keime vorkommen, moͤgen vielleicht in der
Natur wirklich vorhanden ſeyn.
7.
Wenn ein organiſcher Koͤrper auf eine aͤhnliche Art
durch eine organiſche Konkretion entſtehen koͤnnte,
wie die Kryſtallen der Salze, der philoſophiſche Baum
und andere Bildungen im Mineralreich: ſo wuͤrden die
obigen Begriffe von Keimen, wie die von Modellen
und Patronen, hiebey wegfallen. Wenigſtens wuͤrden
die Keime nicht nothwendig ſeyn, ob man ſie gleich noch
gewiſſermaßen damit verbinden koͤnnte. Nach der buf-
foniſchen Hypotheſe von der Erzeugung der Keime ſoll
nach der Stelle hin, wo die Erzeugung geſchieht, eine
Wirkung von allen weſentlichen Theilen des ganzen or-
ganiſirten Koͤrpers ſich ergießen, ſo daß jedes Glied et-
was ſich auf ſeine Struktur beziehendes dahin ſchicke
und ablege. Hieraus ſoll eine Zuſammenſetzung entſte-
hen, welche der Natur des Ganzen, deſſen Theile in
ihrer Lage und Beziehung auf einander dazu ihren Bey-
trag liefern, angemeſſen und alſo ein Extrakt der gan-
zen Organiſation iſt. Man kann es eine organiſche
Abformung nennen, weil das, was gebildet wird, da
es ein auf alle weſentliche Theile des bildenden Koͤr-
pers ſich beziehender Extrakt deſſelben iſt, auch eine Art
von
[467]und Entwickelung des Menſchen.
von Abbildung deſſelben ausmacht. Auch Hr. Bon-
net ſtellet ſich die Saamenfeuchtigkeit als eine Vermi-
ſchung vor, die Theile enthaͤlt, welche ſich auf alle Thei-
le des ganzen Koͤrpers beziehen. Jn dieſem Fall wuͤr-
de vielleicht nicht einmal eine gewiſſe Form oder Patro-
ne, worein dieſer Extrakt eingegoſſen wird, nothwen-
dig ſeyn. Nur irgend ein ſchicklicher Ort, der ihn faſ-
ſen und erhalten kann, wie es noͤthig iſt um die orga-
niſch zuſammengefuͤgten Partikeln nicht aus ihrer Lage
kommen zu laſſen, dieß waͤre genug, ohne daß die
Struktur dieſes Gefaͤßes zugleich etwas in der Bildung
beſtimmte. Die Patrone, worein das ungebildete fluͤſ-
ſige Metall gegoſſen wird, beſtimmt die Figur der Sta-
tue; aber ein ſchon gebildeter obgleich noch weicher Thon
kann in der Luft gedoͤrrt oder im Feuer gebrannt wer-
den, ohne daß die ihn umgebenden Koͤrper und die Stelle,
wo er hingeſetzet wird, etwas weiter an ſeiner Figur ab-
aͤndern. Jn der buffoniſchen Hypotheſe, die ſich
hieruͤber nicht deutlich genug erklaͤret, koͤnnte ſo wohl
die erwaͤhnte Zuſammenſetzung in der Miſchung der
fluͤßigen Saamen, als eine gewiſſe Feſtigkeit in dem
Gefaͤße, worinn das Gemiſche entſtehet, erfodert wer-
den, weil das letztere fuͤr ſich allein zu fluͤßig iſt, um
in ſeiner Verbindung ſich zu erhalten. Hr. Bonnet
hat dieſe organiſche Konkretion des Hr. von Buffon
mit vielen Gruͤnden beſtritten. Einige davon wuͤrden
es nothwendig machen, daß die Hypotheſe noch naͤher
beſtimmt werde, wenn ſie bey allen Erzeugungen an-
wendbar ſeyn ſollte; und einige beweiſen, daß ſie wahr-
ſcheinlich den Fehler habe, den vielleicht die uͤbrigen
auch haben, daß ſie naͤmlich zu einſeitig iſt. *) Z. B.
woher kommen in der Frucht Theile, die weder bey dem
Vater noch bey der Mutter ſind, wie in den Baſtarten
G g 2der
[468]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Bienen? Mich deucht, dieß iſt erklaͤrt, ſobald
Hr. von Buffon hinzuſetzet, was ein Vertheidiger ſei-
ner Meinung als eine Folge anſehen koͤnnte, die aus
ſeinen Grundſaͤtzen von ſelbſt fließet, daß eben dieſe neuen
Theile aus einer Verbindung von einem Theile des Va-
ters und einem Theile der Mutter entſtehen, welche die-
ſen letztern, einzeln genommen, nicht aͤhnlich, ſondern
ein mittleres Ganzes ſind, ſo etwas, als die Diagonalbe-
wegung in Beziehung auf die Seitenbewegungen iſt,
woraus ſie entſtehet.
Doch hierauf will ich mich nicht einlaſſen. Nur ei-
nen Vorwurf muß ich beruͤhren, weil der Begriff von
der organiſchen Konkretion dadurch aufgeklaͤret
wird. Wie kann naͤmlich in die Miſchung der Saa-
men, nach der buffoniſchen Jdee, ein Extrakt von
einem Theil des Koͤrpers hinkommen, der dem organi-
ſirten Ganzen fehlet? Wie kann der Hottentott Kin-
der mit zwo Hoden erzeugen? und Eltern, denen Ar-
me und Beine fehlen, ein Kind mit vollſtaͤndigen Glied-
maßen?
Die Antwort hierauf ergiebet ſich, ſo bald man den
Unterſchied zwiſchen dem unmittelbaren und mittel-
baren Einfluſſe macht. Jeder Theil im Koͤrper wir-
ket auf die Theile zu, die nach dem Mittelpunkt hinge-
hen, wo die abgeſonderten und bildenden Saͤfte zuſammen-
kommen. Dieſer Mittelpunkt iſt in den Organen der
Zeugung. Aber nicht jeder Theil des Koͤrpers wirket
auf dieſe Stelle unmittelbar. Jſt alſo die Organiſation
in den Zeugungstheilen einmal feſtgeſetzt; laufen die
Fibern aus den uͤbrigen Theilen des Koͤrpers auf eine ge-
wiſſe Weiſe dahin zuſammen, und fuͤhren ſie in einer ge-
wiſſen Richtung die Saͤfte dahin: ſo kann die Lage die-
ſer innern unmittelbar bildenden Theile wohl dieſelbige
bleiben, wenn gleich ihre aͤußerlichen Enden abgeſchnitten
ſind. Fehlet der Fuß: ſo wird dadurch in den Zeu-
gungs-
[469]und Entwickelung des Menſchen.
gungstheilen keine Veraͤnderung entſtehen, ſo lange die
Lage der Gefaͤße von der aͤußerſten Stelle an, wo der
Fuß abgenommen iſt, bis in die Zeugungsglieder hin
dieſelbe iſt. Wenn nur dieſe letztern innern Theile bey
der Zeugung eben ſo mit Saͤften erfuͤllet werden,
eben ſo ſich ergießen und wirken wie vorher: ſo wirkt die
zunaͤchſt formende Maſchine noch auf dieſelbige Weiſe,
wie ſie ſich auf die ganze Struktur des vollſtaͤndigen
Koͤrpers bezieht. Hr. Bonnet nennet die Zeugungs-
theile Urbilder der vornehmſten Eingeweide des
Thiers. *) Dieß koͤnnen ſie nach der buffoniſchen
Vorausſetzung ebenfalls ſeyn. Es folget alſo aus dem
gedachten Einwurfe, ſo wie aus den bekannten uͤbrigen
Erfahrungen, die wir von der Fortpflanzung gewiſſer
zufaͤllig entſtandener Beſchaffenheiten haben, nichts
mehr als ſo viel, daß eine naͤhere Beſtimmung zu der
erwaͤhnten Hypotheſe zugeſetzt werden muͤſſe. Nicht je-
der Theil darf nothwendig eine Partikel, die in ihm
ſelbſt zubereitet iſt, nach dem Erzeugungsorte hinſenden;
es iſt genug, wenn jeder Theil mittelſt anderer Zwiſchen-
gefaͤße alſo wirket, daß eine dieſer Wirkung entſpre-
chende Partikel nach dem Mittelpunkte geleitet wird. Und
wenn nun ein aͤußerer Theil fehlet: ſo kann ſeine Wir-
kung wohl durch eine andere Urſache erſetzt werden, die
auf die Zeugungstheile auf eine aͤhnliche Weiſe wirket.
Mit einem Wort, dieſe Jdee von einer organiſchen Zu-
ſammenſetzung iſt, wenn ſie ein Traum iſt, wie Hr.
Bonnet ſie nennet, **) ein wohl zuſammenhangender
Traum, der die Ueberlegung eines Wachenden erfodert.
8.
Der needhamiſche Begriff von der Erzeugung ent-
haͤlt wie der buffoniſche eine organiſche Konkre-
G g 3tion.
[470]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
tion. Nur wird dieſe ſchon etwas weiter ausgedehnet,
oder doch ſo unbeſtimmt vorgetragen, daß hiebey nicht
ſo ausdruͤcklich, wie bey der buffoniſchen, eine vorexiſti-
rende Organiſation zu der Bildung einer neuen erfodert
wird. Jch ſage, nicht ſo deutlich ſey dieſes beſtimmt.
Denn Hr. Needham hat ſich wirklich ſo unbeſtimmt
ausgedruckt, daß er ſelbſt Schuld daran iſt, wenn man
ihm den Vorwurf, die alte verworfene generationem
æquivocam wieder einfuͤhren zu wollen, gemacht hat. *)
Jndeſſen iſt es doch auch vorher auszumachen, was
und wie viel in dieſem letztern Vorwurf enthalten ſey?
Soll die ungleichartige Erzeugung (generatio
æquivoca) eine Erzeugung organiſcher Weſen aus un-
organiſirter Materie ſeyn, ohne daß eine vorhergebildete
organiſirte Urſache ſolche zuſammenbringe? Sollen
Jnſekten aus der Vermoderung entſtehen, das iſt, We-
ſen, die organiſirt ſind, zuſammengeſetzt werden aus ei-
ner Materie, die es nicht iſt, und die regellos oder
doch nicht nach den Geſetzen einer Organiſation beweget
wird? Dieß hieße ſo viel als, Ordnung ſoll aus Un-
ordnung entſtehen, Regelmaͤßigkeit aus Regelloſigkeit,
im Grunde, ein Etwas aus Nichts. Bis ſo weit iſt
die ungleichartige Erzeugung ein Unding vor der Ver-
nunft.
[471]und Entwickelung des Menſchen.
nunft. Denn auch da, wo nur eine Maſchine theil-
weiſe aus Stuͤcken, die einzeln fuͤr ſich keine Maſchi-
nen ſind, zuſammenkommt, wird doch erfodert, daß
die Urſachen, welche die Theile an einander fuͤgen, nach
gewiſſen Geſetzen neben und aufeinander wirken, und
daß in dieſer Art zu wirken und in ihrer Lage und Ver-
bindung ein Grund von der Ordnung in der Wirkung
vorhanden ſey. Es mag Eine Menſchenhand die Ma-
ſchine verfertigen oder mehrere, ſo muͤſſen in den Be-
wegungen, welche dieſe Haͤnde nehmen, und welche zu-
ſammen als die naͤchſte vollſtaͤndige Urſache der Zuſam-
menfuͤgung der Maſchine zu betrachten ſind, gewiſſe
Verhaͤltniſſe und Beziehungen vorkommen, die der La-
ge und Ordnung der Theile in der Maſchine entſprechen
und eben ſo viele Regelmaͤßigkeit in ſich faſſen, als in
der Wirkung enthalten iſt. Organiſation erfodert alſo
entweder organiſche Urſachen, oder nach den Geſetzen der
Organiſation vereinigt wirkende Urſachen.
Allein bis hieher geht auch nur das Widerſprechen-
de in der generatione æquivoca, was ſie ſchlechthin vor
der Vernunft verwerflich macht. Die letztere wuͤrde
die Grenzen ihrer Gerichtsbarkeit uͤberſchreiten, wenn
ſie ſich weiter wagen und wahre moͤgliche Erzeugungs-
arten, die dieſer ungereimten vielleicht etwas aͤhnlich ſe-
hen koͤnnen, mit ihr verwechſeln und eben ſo beurtheilen
wollte. Da wo nur die Frage iſt, ob eine Hypotheſe
ein Traum oder eine phyſiſche Wahrheit iſt, eine Vor-
ſtellung von der wirklichen Natur oder von bloßen
Moͤglichkeiten, da faͤngt die Gerichtsbarkeit der Beob-
achtungen an.
Wer eine organiſche Konkretion behauptet, es
ſey nun, daß er gewiſſe Modelle oder Formen annimmt,
in deren Bildung der Grund von der Art der Zuſam-
menfuͤgung lieget; oder ſich als moͤglich vorſtellet, es
werde ein ganzer Haufe von Urſachen, deren jede fuͤr
G g 4ſich
[472]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſich allein wie eine unorganiſche Bewegungskraft han-
delt, in einer ſolchen Lage und Ordnung mit einander
vereiniget, daß ein Ganzes und ein ſo regelmaͤßiges
Ganzes daraus werde, wie die organiſirten Koͤrper ſind,
wenn ihre Wirkungen auf einer Stelle als in einem Mit-
telpunkt vereiniget werden: wer dieſe Jdee behauptet,
ſaget nichts, das fuͤr ſich widerſprechend iſt. Buffons
Meinung kann ich keines Widerſpruchs beſchuldigen.
Unorganiſch ſind zwar die bewegten Kuͤgelchen, woraus
nach ſeiner Jdee das organiſirte Ganze entſtehet; aber
die Art ihrer Verbindung iſt organiſch; ſie wird durch
das organiſche Modell und die vorhergehenden Formen
beſtimmt. Man muß eingeſtehen, das jedes organi-
ſirte Weſen zuletzt aus nicht organiſirter Materie beſte-
het, wofern man nicht mit der Organiſation, wie mit
der Zuſammenſetzung der Materie, ins Unendliche fort-
gehen will, wie man ſonſten wohl in einer gewiſſen Hin-
ſicht thun koͤnnte. Aber man kommt jederzeit, wenn
das Organiſche in das Unorganiſche aufgeloͤſet wird, auf
dieſe wichtige Folge zuruͤck, daß nicht mehr in der Wir-
kung enthalten ſeyn kann, als in der Urſache, und alſo
eine Organiſation in dieſer vorausgeſetzt werde, wo eine
ſolche in der Wirkung iſt. Und ſo ſieht man, daß al-
lerdings aus eben den Vernunftgruͤnden, wodurch die
ungleichartige Erzeugung ein Unding wird, folge, „daß
„jede neue Organiſation in der Natur eine ihr entſpre-
„chende gleich große Organiſation vorher erfodere,‟ die
Faͤlle naͤmlich ausgeſchloſſen, wenn ein verſtaͤndiges
Weſen unmittelbar die Materie formen und organiſiren
wuͤrde. Es kann ſich aber die vorher vorhandene Orga-
niſation in Einem der bildenden Principe allein befin-
den, oder in mehrern, oder in allen zuſammen; ſie
kann in einem oder in mehrern vorzuͤglich, oder in
allen in gleichem Grade verbreitet ſeyn. Nur muß nir-
gends Organiſation entſtehen, wo keine vorhanden iſt,
und
[473]und Entwickelung des Menſchen.
und nicht etwan unkoͤrperliche Weſen nach deutlichen
Einſichten oder nach einem dunkeln, in ihren Vorſtel-
lungen liegenden Plane, wie Maupertuis ſichs von
der Seele vorſtellete, die ihren Koͤrper bilden ſollte, die
Organiſation der Materie unmittelbar ertheilen.
9.
Die Bildungen in dem Mineralreich ſind, wie die
Zuſammenſetzung bey den kuͤnſtlichen Maſchinen, in ſo
weit von den organiſchen Konkretionen unterſchie-
den, als ihre Wirkungen, die ſie hervorbringen, das
iſt: ſo weit als Salze, Steine, Metalle und Maſchi-
nen von organiſirten Koͤrpern es ſind. Gleichwohl giebt
es doch einen Allgemeinbegriff von der Bildung
und ein allgemeines Geſetz der Bildung, das von
ihnen allen abſtrahirt und als die Vorſtellung von
dem Gemeinſchaftlichen und Aehnlichen in allen angeſehen
werden kann, und durch die naͤhere Beſtimmung deſſen,
was dabey auf eine Groͤße und auf eine Vielheit an-
kommt, in das beſondere Geſetz der organiſchen Bil-
dung uͤbergehet. Wenn man ſich auf eine plaſtiſche Na-
tur berief, ſo hieß dieß offenbar nichts mehr, als man
gab an, daß eine Urſache der Bildungen in der Natur
vorhanden ſey, die man nicht kenne. Was das ſchlimm-
ſte war, denn ſonſten wuͤrde dieſe Art zu philoſophiren
eben nicht fehlerhaft geweſen ſeyn, man glaubte etwas
erklaͤret zu haben und bis auf den erſten Urgrund ge-
kommen zu ſeyn, und ſchnitt alles weitere Forſchen nach
einer deutlichen Vorſtellung von der Entſtehungsart die-
ſer Konkretionen dem Verſtande ab. Dieß hatte die
gewoͤhnliche Folge, daß man an einem verwirrten
Schein nagte, ohne einmal den Verſuch zu machen ihn
aufzuloͤſen, und uͤber ſelbigen und ſeine Beſchaffenheiten
raiſonnirte, die nichts objektiviſches und reelles waren,
ſondern allein in der Undeutlichkeit des Meteors im Ver-
G g 5ſtande
[474]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſtande ihren Grund hatten. Die Unwiſſenheit zu ge-
ſtehen, wo man nichts weiß, und nicht weiter in die
Aufforſchung der erſten Urſachen ſich einzulaſſen, als
Erfahrung und Vernunft noch leuchten oder ſchimmern,
und gegen Vermuthungen mistrauiſch zu ſeyn, das ſind
ſonſten Pflichten eines bedachtſamen Naturforſchers.
Alle dieſe Bildungen ſind „Zuſammenfuͤgungen ge-
„wiſſer Theile zu Einem Ganzen, welche nach gewiſſen
„Regeln und in einer gewiſſen Ordnung erfolgen.‟
Es iſt ein Princip dieſer Bildung vorhanden, welches
in den zuſammengehenden Theilen der Materie und in
ihrer Lage gegen einander, die ſie vorher hatten, ehe ſie
vereiniget wurden, enthalten war, oder auch weiter zu-
ruͤck lag in den Urſachen und Kraͤften, wovon ihre Be-
wegungen zu Einer Stelle hin abhangen. Da die
Salztheilchen in Kryſtallen anſchießen, wenn das Waſ-
ſer, worinn ſie aufgeloͤſt ſind, abdampfet: ſo muß dieß
nothwendig in ihren innern Anziehungskraͤften und in
der Lage, in der ſie aufgeloͤſet in dem Menſtruum bey
einander liegen, ſeinen Grund haben. Jhre Kraͤfte,
womit ſie auf einander wirken, ſtehen alſo in ſolchen
Stellungen und Beziehungen gegen einander, daß da-
rinn der Grund von der Richtung lieget, die ſie bey ih-
rer Vereinigung nehmen, das iſt, der Grund von der
Art und von der Ordnung, worinn ſie zuſammenkom-
men. Hier iſt alſo der geſammte Grund der Bildung
zertheilet durch alle Partikeln, die in ihrer Lage bey ein-
ander als ein geordnetes Ganzes zu betrachten ſind.
Denn aus der Verwirrung als aus einem Chaos die
Regelmaͤßigkeit erklaͤren wollen hieße ſo viel, als Et-
was aus Nichts begreiflich machen.
Wird nun dieſer Allgemeinbegriff von dem Bil-
dungsgrunde naͤher beſtimmt, ſo kann ſolches erſt-
lich in Hinſicht der Groͤße der Ordnung und der
Regelmaͤßigkeit geſchehen. Jn den organiſchen Koͤr-
pern
[475]und Entwickelung des Menſchen.
pern iſt die Mannichfaltigkeit der Theile, die verbunden
werden, und der Arten, wie ſie es werden, unendlich groß
in Vergleichung mit der, die in den Kunſtmaſchinen
und in den mineraliſchen Koͤrpern vorkommt; unend-
lich groß, wenigſtens in Ruͤckſicht auf unſern Verſtand,
der das Verhaͤltniß der Mannichfaltigkeit und Regel-
maͤßigkeit, welches in den groͤßten Kunſtwerken des
menſchlichen Witzes, ingleichen in den Salzen und mi-
neraliſchen Konkretionen vorhanden iſt, zu derjenigen,
die in einem einfachen Theil einer Pflanze lieget, nicht
ausmeſſen kann. Die Organiſation iſt ein unend-
lich zuſammengeſetzter Mechanismus. Allein
dieſer Unterſchied, ſo unendlich groß er iſt, kann doch
als ein Unterſchied an Groͤße und Vielheit betrachtet
werden.
Ferner kann der Allgemeinbegriff der Bildung da-
durch naͤher beſtimmt werden, daß eine Ungleichheit
zwiſchen den bildenden Urſachen in Ruͤckſicht ihres Bei-
trages zu der Form vorhanden iſt. Vielleicht haben
alle Salztheilchen in ihrer Lage einen gleichen Antheil
an der Figur der Kryſtalle, die aus ihrer Verbindung
entſtehen; vielleicht beſtimmt Eins dieſe Figur mehr, als
das andere, entweder ſeiner innern Beſchaffenheiten,
oder nur ſeiner Lage wegen. Laß Eins von dieſen Thei-
len vor den uͤbrigen einen Vorzug als Miturſache ha-
ben; laß dieſen Vorzug in dem Jnnern, in den Kraͤf-
ten, in der Maſſe, oder in der Verbindung des erſten
Grundſtoffs in ihm, oder ſonſten wo, gegruͤndet ſeyn:
ſo iſt es ſchon ein vorzuͤgliches Princip der Bil-
dung, eine Form oder ein Keim, wenn dieſer
Theil zugleich ein Beſtandtheil desjenigen wird, was in
der Bildung hervorkommt. Je mehr der Vorzug als
Bildungsgrund in einer der zur Bildung beywirkenden
Urſachen zunimmt, und je geringer der Antheil iſt, den
die uͤbrigen daran haben, deſto mehr paſſet auf jene der
Begriff
[476]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Begriff von einem Keim. Dieſer Keim iſt ein voll-
ſtaͤndiger Keim, und ein Keim zu einem organiſir-
ten Koͤrper, wenn der vornehmſte oder voͤllige Grund
der Form in ihm iſt, und zwar zu einer Form, welche
ſelbſt eine Organiſation iſt. Dieß Verhaͤltniß in den
beywirkenden Urſachen hat unendlich viele Grade, wo-
von die Stufen in der Stufenleiter der Bildungen ab-
hangen. Dieſe Leiter faͤngt von den einfachſten Anzie-
hungen an, und geht bis zu der hoͤchſten Evolution nach
der bonnetiſchen Vorſtellung hinauf, nach welcher
alle Formen des Gebildeten in dem Keime liegen, und
alles uͤbrige, was mit dem Keim verbunden wird, nur
die Maſſe vergroͤßert, aber nicht die geringſte neue
Form hervorbringet.
III.
Von den verſchiedenen Arten, wie Formen in or-
ganiſirten Koͤrpern entſtehen koͤnnen.
- 1) Was hier Formen heißen, wenn neue
Formen entſtehen? und wenn die ſchon vor-
handenen nur veraͤndert werden? Wie die
Vergroͤßerung eines organiſirten Koͤrpers
ohne Vermehrung ſeiner Formen moͤglich
ſey? - 2) Das Eigene in der bonnetiſchen Evolution
haͤngt von dem Grundſatze ab, daß keine
neuen Formen entſtehen, und faͤllt mit
dieſem Grundſatze weg. - 3) Fortſetzung des Vorhergehenden.
- 4) Unter welchen Bedingungen mit der Ver-
mehrung der Maſſe neue Formen entſtehen
muͤſſen. - 5) Wenn neue Formen entſtehen koͤnnen, ſo
giebt
[477]und Entwickelung des Menſchen.
giebt es mehrere Arten, wie ſie entſtehen
koͤnnen. Von der Epigeneſis, von der Ap-
poſition der Theile, und von der nicht durch-
gaͤngigen Evolution. Unterſchied zwiſchen
den Perioden der Bildung, des Auswach-
ſens und der Fortdauer.
1.
Hr. Bonnet wiederholet es ohne Unterlaß, „die Nah-
rung forme nicht, vergroͤßere nur, und es entſte-
hen keine neuen Formen.‟ Aber was heißt denn for-
men, und nur allein formen, und worinn iſt die
Form von der Maſſe unterſchieden? Hier iſt ein
Punkt der aufzuhellen iſt, und den Hr. Bonnet haͤtte
aufhellen ſollen, ehe er allgemeine Folgerungen aus ſei-
nem Syſtem zog. Die witzige Vergleichung der Form
mit den Maſchen giebt einiges Licht, aber keinen deut-
lichen und beſtimmten Begriff von der Sache. Was
gehoͤrt zur Form der Knochen, welche ſchon in dem Keim
liegen ſollen? was zu ihrer Materie, die durch die Nah-
rung hinzukommt? Formt denn nicht der Saame des
Eſels den Keim der Stute? Nein, ſagt Hr. Bonnet,
die Theilchen in der Saamenfeuchtigkeit des Eſels ent-
halten nur mehr von den Elementen, woraus die Ohren
beſtehen, als der Saame des Hengſtes. Jn dem
Keim der Stute war ſchon die Anlage, oder gleichſam
ein Strich zu den Ohren des Pferdes, eine gewiſſe Ma-
ſche, die dazu gehoͤrte. Dieſer Strich wird nur ſtaͤrker
aufgetragen, wird mehr ausgebildet, bekommt einen
hoͤhern Grad des Entwickelungstriebes und mehr Ma-
terie. Die Maſche wird ſtaͤrker gedehnet. Es wach-
ſen alſo in dem Mauleſel laͤngere Ohren hervor; dage-
gen die Maſchen, die zu der Bildung des Schwan-
zes gehoͤren, vertrocknen, weil ſie zu wenig gedehnet
werden.
[478]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
werden. *) Es liegt zwar in dem Saamen des Eſels
der Grund von einer Bildung, die ſonſten bey der Ent-
wickelung des Keims nicht entſtanden ſeyn wuͤrde,
wenn der Saame des Hengſtes ſtatt ſeiner den Keim
befeuchtet haͤtte; aber dieſe abweichende Bildung iſt von
der natuͤrlichen nicht der Form nach, ſondern der Groͤße
nach, unterſchieden.
Die Form der organiſirten Materie kann nur in der
Art und Weiſe, wie die Partikeln mit einander ver-
bunden ſind, wie ſie auf einander wirken, wie ſie gegen
einander liegen, alſo in ihrer Lage, Ordnung und Ver-
knuͤpfung geſucht werden.
Ferner muß jeder Koͤrper zuletzt aus Materie beſte-
hen, deren einzelne Partikeln fuͤr ſich betrachtet nichts
mehr als Materie ſind, das iſt, ohne Organiſation, als
welche nur auf ihrer Verbindung beruhet. Es mag die
Materie ins Unendliche theilbar ſeyn, wie ſie es ohne
Zweifel in einem gewiſſen Verſtande iſt, wenigſtens in
Hinſicht auf unſere menſchliche Faſſungskraft; und es
mag alſo auch die Menge ihrer letzten Beſtandtheile
groͤßer ſeyn, als wir auf irgend eine Art beſtimmen,
oder durch irgend eine Zahl ausdruͤcken koͤnnen, und
aus dem naͤmlichen Grunde die Organiſation ſo weit
gehen, als man will, und ins Unendliche: ſo muß doch
ein organiſirter Koͤrper als ein ſolcher vorgeſtellet wer-
den, in welchem einzelne unorganiſche Partikeln auf eine
gewiſſe Art mit einander verbunden ſind. Und die be-
ſtimmte Art ihrer Verbindung macht ihre Organiſa-
tion aus.
Wenn nun die Maſſe oder Materie in einem ſolchen
Koͤrper vermehret wird, ſo werden die hinzukommenden
Partikeln mit den vorhandenen verbunden; und da die
letzten Elemente wenigſtens undurchdringlich ſind, ſo
muͤſſen
[479]und Entwickelung des Menſchen.
muͤſſen die neuen Partikeln ſich zwiſchen den vorhande-
nen anſetzen und alſo die Zwiſchenraͤume zwiſchen jenen
einnehmen. Eine Linie, eine Faſer, wir koͤnnen uns
die einfachſte, die moͤglich iſt, vorſtellen, wird verlaͤn-
gert oder verdicket: ſo iſt es ja nothwendig, daß, wo-
ferne dieſe Vergroͤßerung nicht allein an ihrem aͤußern
Umfang durch eine aͤußerliche Appoſition der neuen
Materie an die vorhandene geſchieht, die neuen Partikeln
zwiſchen die Partikeln der vorhandenen Fiber gebracht
werden, und daſelbſt die vorhandenen leeren Stellen
einnehmen, oder doch, wenn alles dicht bey einander
war, ſich zwiſchen ihnen eindraͤngen muͤſſen.
Wenn eine ſolche Faſer nur aus drey unorganiſchen
Partikeln beſtehet, aus einem Anfangs- Mittel- und
Endpunkte, ſo wird ſie durch die Einverleibung einer
oder zwoer Partikeln aus vier oder mehrern beſtehen.
Jſt nun hiedurch zugleich eine neue Form entſtanden,
da die neue Partikel mit den vorhandenen auf eine ge-
wiſſe Art verbunden worden? Auf welche Art kann ei-
ne Jntusſuſception geſchehen ſeyn, ohne eine Vermeh-
rung der Formen, und wie kann die Veraͤnderung bloß
in Ausdehnung und Vergroͤßerung der Maſſe beſtehen?
Dieß wird deutlich, wenn der Begriff von der
Form beſtimmt iſt. Jn der Jdee von einer Maſche
lieget dieſer Allgemeinbegriff, daß die Form „eine ſol-
„che Art der Verbindung unorganiſcher Materie ſey,
„welche ein Gefaͤs, oder ein Organon, ein Werkzeug, ein
„Jnſtrument ausmache, das iſt: ſo ein Ganzes, durch
„deſſen Zuſammenſetzung und Struktur gewiſſe Arten
„von Bewegungen moͤglich werden, die es ſonſten nicht
„ſind.‟
Die unorganiſchen Partikeln moͤgen immer noch
wie Sandkoͤrner, wie Salz, Erd-Waſſer-Luft- und
Feuerelemente, aus vielen andern Theilen beſtehen
und durch deren Vereinigung ein Ganzes ausmachen:
ſo
[480]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſo iſt zwar, wo etwas Zuſammengeſetztes iſt, auch
eine gewiſſe Art der Zuſammenſetzung; aber wenn
dieſe Art der Verbindung nichts mehr iſt, als eine Ver-
einigung zu einem Ganzen, zu einem Stuͤck, oder einer
Maſſe, die dadurch weder einer andern innern Bewe-
gung in ihren Theilen mehr faͤhig wird, als ſie vorher
war, noch einer andern aͤußern Bewegung, welche ih-
rer Figur wegen ihr beygebracht oder durch die Figur
bewirket werden kann: ſo iſt dieſe gleichfoͤrmige Verei-
nigung mehrerer Theile zu einem Klumpen nichts, als
eine Vergroͤßerung der Maſſe, aber keine Zubereitung
des vergroͤßerten Ganzen zu einer neuen Bewegung, die
durch ſelbiges moͤglich wird, und es vorher nicht war.
Es kann ein vergroͤßertes Ganzes jetzo mit mehr Maſſe
wirken, und alſo mehr Quantitaͤt der Bewegung anneh-
men; aber es kann keine neuen Bewegungen in andern
Richtungen annehmen, als wozu es vorher aufgelegt
war. Solche Arten gleichfoͤrmiger Verbindungen
der Materie, die nur groͤßere Partikeln ausmachen,
ſind keine organiſche Formen; und man nennet ſie
auch beſſer bloße Vereinigungen, als Zuſammenſe-
tzungen. Organiſche Formen ſind ſolche Verbin-
dungsarten der unorganiſchen Partikeln, wodurch Be-
wegungen moͤglich werden, die es ſonſten durch die bloße
Vereinigung der Materie nicht ſind.
Mehr iſt hier nicht noͤthig, als die Verbindungs-
arten, welche eigentlich Formen heißen koͤnnen, von
den Verbindungsarten der Materie mit Materie uͤber-
haupt zu unterſcheiden, und das Unterſcheidungsmerk-
mal feſtzuſetzen. Es iſt alſo unnoͤthig die Entwickelung
dieſes Begriffs weiter zu treiben, als dieſe Abſicht es er-
fodert. Sonſten weiß ich wohl, wie viel noch zur voͤl-
ligen Eroͤrterung deſſelben zu thun iſt. Die Begriffe
von dem Mechanismus und von dem Jnſtrument,
werden von den Philoſophen ſo verſchiedentlich erklaͤrt,
daß
[481]und Entwickelung des Menſchen.
daß es dem einen eben ſo leicht iſt zu beweiſen, jeder
Koͤrper ſey eine Maſchine, als es dem andern iſt ſol-
ches zu laͤugnen. Man nimmt auch nicht allemal auf
das Mehr oder Weniger Ruͤckſicht; und was die Haupt-
ſache iſt, unterſcheidet nicht genau genug, ob von den
wirklichen Koͤrpern in der Welt die Rede iſt, oder von
allen Arten derſelben, wovon wir uns in der Metaphy-
ſik Begriffe machen. Denn wenn Leibnitz ſagt, daß
jeder Koͤrper nicht nur eine Maſchine, ſondern auch ein
organiſirtes Ganzes ſey: ſo iſt das eine Behauptung,
woruͤber man aus Beobachtungen mehr als aus Be-
griffen urtheilen muß. Es genuͤget hier, die Organi-
ſation fuͤr einen unendlich zuſammengeſetzten Mechaͤnis-
mus zu halten, die das Princip ihrer Bewegungen in
ſich hat; und alſo darf auch eine organiſche Form
von einer Art der Zuſammenſetzung der Theile in der
Maſchine, welche gleichfalls die Wirkung hat, daß da-
durch Bewegungen, der Figur der Theile gemaͤß, moͤg-
lich werden, welche bloß durch die Maſſe von beiden
Theilen es nicht ſind, nicht weiter unterſchieden werden,
als daß die organiſche Form ſich beſonders auf den
organiſirten Koͤrper beziehe. Die einfachſte organiſche
Form wuͤrde nichts mehr ſeyn, als eine einfache mecha-
niſche Form.
Dieß vorausgeſetzt iſt es begreiflich, wie ein orga-
niſirter Koͤrper mehr Materie in ſich aufnehmen und
wachſen koͤnne, ohne daß neue Formen in ihm entſte-
hen. Denn wenn die Materie, welche als ſeine Nah-
rung hinzukommt, bloß ſeine vorhandenen unorgani-
ſchen Theile vergroͤßert, aber ihre Anzahl nicht ver-
mehret: ſo koͤnnen auch nicht mehr Formen entſtehen,
als ſchon vorhanden ſind. Die einfachſte Elementarfi-
ber habe zwiſchen ihren drey Partikeln, woraus ſie beſte-
he, zwey Zwiſchenraͤumchen, die als Fugen oder Ma-
ſchen anzuſehen ſind, wohin Materie geſetzt werden kann;
IITheil. H hund
[482]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
und ſie laſſe ſich an dieſen zwo Stellen erweitern.
Kommt nun eine fremde | Materie dazwiſchen; — denn
am Ende muß doch das Hinzugekommene ſich zwiſchen
den Partikeln ſetzen, die ſchon da ſind wie vorher ſchon
erinnert iſt, weil die einfachſten Theile undurchdring-
lich ſind: ſo kann daraus in einem Fall weiter nichts
entſtehen, als daß jene erſtern drey Partikeln, oder ei-
nige von ihnen an Maſſe vergroͤßert werden, wenn ſich
die fremde Materie mit ihnen zu groͤßern Beſtandthei-
len vereiniget. Jn dieſem Fall wird auch die Zahl der
Fugen nicht vermehret; es ſind nur noch zwo vorhan-
den, wie vorher, obgleich die einzelnen Theile vergroͤßert
worden ſind. Alſo iſt auch die Zahl der Formen noch
dieſelbige. Eben ſo kann ſich, nach Hr. Bonnets Aus-
druͤcken, fremde Materie in die Maſchen oder Fugen
ſetzen, ſolche anfuͤllen, ihre Seiten ausdehnen und das
Ganze vergroͤßern, ohne die Zahl der Fugen zu vermeh-
ren. Die hineingetretene Materie mag als eine Maſſe
angeſehen werden, die von den Fibern der Maſche, wel-
che jene umfaſſet, unterſchieden iſt. Allein da ſie doch
mit dieſen Fibern, eben ſo wie unter ſich, nur nach den
Geſetzen der Kohaͤſion, des Anziehens, der Elaſtici-
taͤt und andern, denen die Atome der Materie als Ma-
terie unterworfen ſind, verbunden wird; nicht aber auf
eine ſolche Art, wie die Fibern der Maſche es unter ſich
ſind: ſo bringet jene Materie keine neue Fuge oder
Form, ſondern nur eine Vergroͤßerung der vorhandenen
Maſche, hervor. Denn die Verbindungsart ihrer Par-
tikeln unter ſich und mit den Fibern der Maſche iſt ſo,
daß durch dieſe neue Zuſammenſetzung keine neue Be-
wegung moͤglich wird, die von der Art und Weiſe der
Verbindung abhaͤngt.
Allein es giebt einen zweeten Fall. Nehmen wir
wiederum die einfachſte Fiber zum Beyſpiel, die zwi-
ſchen ihren Beſtandtheilen a, b, c, zwo Fugen haben
mag,
[483]und Entwickelung des Menſchen.
mag, welche von fremder Materie ausgefuͤllet werden,
ſo daß die Fiber verlaͤngert wird: ſo koͤnnen die fremden
Partikeln d, e, die ſich zwiſchen a und b und zwiſchen b
und c einſetzen, nicht allein die unorganiſchen Beſtand-
theile der Fibern vergroͤßern, ſondern auch die Anzahl
ſolcher Theile vermehren, aus deren Verbindungsart or-
ganiſche Formen erzeuget werden. Laß d mit den bei-
den a und b, wozwiſchen jene Partikel zu liegen kommt,
auf eine aͤhnliche Art verbunden werden, wie a und b vorher
ſind: ſo entſtehet zwiſchen a und d und zwiſchen d und
b eine aͤhnliche Fuge, es ſey ein ringfoͤrmiger Zwiſchen-
raum, oder eine jede andere, von jedweder Figur.
Dieß wird eine Raute oder eine Maſche ſeyn,
eben ſo wie die zwiſchen a und b urſpruͤnglich vorhan-
dene es war. Und die Zahl der Fugen und der Formen
iſt nur in der Fiber um Eins vermehret. Sollte die
ganze Fiber, die hier vorausgeſetzt wird, bloß als ein un-
organiſcher Beſtandtheil des organiſchen Koͤrpers ange-
ſehen werden: ſo wuͤrden denn freylich die Arten, wie ih-
re anfaͤnglichen Theile bey einander ſind, keine organi-
ſchen Formen, keine Fugen und Maſchen ſeyn; und
denn wuͤrden auch die neuen Verbindungen der hinzuge-
kommenen Theile dergleichen nicht ſeyn; und ſo wuͤrde
durch die aͤhnlichen Verbindungen nur die Zahl der Zwi-
ſchenraͤumchen in den unorganiſirten Fibern vermehret
worden ſeyn. Allein wenn man die erſte Fiber mit ih-
ren drey Partikeln anſieht als eine organiſirte Fiber, und
ſich ihre Zwiſchenraͤumchen wie Fugen oder Maſchen
vorſtellet: ſo wird auch durch die aͤhnliche Anſetzung der
in ſie eindringenden Materie die Zahl dieſer Maſchen
vermehret ſeyn. Es ſind alſo neue Maſchen entſtanden,
die den vorhandenen aͤhnlich ſind. Da haben wir alſo ei-
ne Art, wie neue Formen entſtehen: wenn naͤmlich die
Materie welche hinzukommt, auf eine aͤhnliche Art mit
derjenigen verbunden wird, welche da iſt, als dieſe es
H h 2unter
[484]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
unter ſich war, wo ſie durch ihre Verbindung Fugen,
Maſchen oder Formen ausmacht. Die neue Verbin-
dung darf auch nicht ganz der vorhandenen aͤhnlich ſeyn;
ſie muß nur ſich auf ſie beziehen, gleiche Mannichfaltig-
keit in ſich faſſen, von gleichen Kraͤften abhangen, und
von der vorhergehenden Form, in ſo ferne dieſe eine or-
ganiſche Form iſt, beſtimmt werden. So viel wird
erfodert, daß durch die Art, wie die hinzukommende
Partikel mit vorhandenen Partikeln verbunden wird, ein
Ganzes entſtehet, deſſen Verbindungsart es aufgelegt
macht gewiſſe Bewegungen anzunehmen oder hervorzu-
bringen, die von ſeiner Maſſe allein nicht abhangen.
Man koͤnnte ſchon ſagen, daß neue Formen
entſtehen, wenn nur die vorhandenen veraͤndert wer-
den. Aber es wird die Zahl der Formen dadurch nicht
vermehret. Und da die Umaͤnderung der Formen zum
Theil wenigſtens in der vorhandenen Form gegruͤndet
iſt: ſo muß die Redensart, daß neue Formen entſtehen,
fuͤr dieſe Metamorphoſen nicht gebraucht werden.
2.
Die bonnetiſche Hypotheſe von der Entwicke-
lung, die man zum Unterſchiede von einer andern etwas
eingeſchraͤnkteren Entwickelung, welche unten vorkommen
wird, die durchgaͤngige Entwickelung nennen
kann, beruhet in Hinſicht deſſen, was ihr eigen iſt, auf
dieſem Grundſatz, daß keine neuen Formen entſte-
hen. Wenn jede Erzeugung ſo wohl einzelner organi-
ſcher Theile als ganzer organiſirter Koͤrper nichts iſt, als
eine Entwickelung, das iſt, als eine Vergroͤßerung der
Maſſe, mit etwaniger Veraͤnderung der Formen und
der Figur: ſo kann dasjenige, was als naͤhrende Mate-
rie in den Keim gebracht und ſeinen Theilen aſſimilirt
wird, nur allein die Groͤße der vorhandenen unorgani-
ſchen und auf gewiſſe Arten zuſammengeſetzten Parti-
keln
[485]und Entwickelung des Menſchen.
keln veraͤndern, aber ſie kann nicht mehrere ſolcher Par-
tikeln machen. So erklaͤret ſich auch Hr. Bonnet:
„Die Elemente der Fibern ſind der Boden, der die
„Partikeln des Nahrungsſaftes annimmt. Die Gleich-
„artigkeit dieſer Partikeln mit den Elementen macht ſie
„geſchickt, mit ſelbigen vereiniget zu werden. *)‟ Alsdenn
ſind alle Fugen, Maſchen und Zuſammenſetzungsarten
urſpruͤnglich, obgleich in unſichtbarer Geſtalt, in dem er-
ſten Keime vorhanden. Die Nahrung durchdringet die-
ſen Keim; ſeine Elemente vergroͤßern ſich, es ſey von
innen oder von außen; die leeren Raͤume werden ausge-
fuͤllt, und der Umfang des Ganzen erweitert. Das
gewachſene Element iſt aber, ſo wie es da iſt, nicht mehr
als Ein unorganiſches Element des Ganzen. Denn die
innere Art der Zuſammenſetzung ſeiner Theile, und die
Verbindung der Nahrungspartikeln in ihm, macht kei-
ne organiſche Form aus.
Es folget hieraus, daß die Keime, welche aus ei-
nem Keim hervorgehen, ihren Formen und Anlagen
nach, alle in dem erſten Keim ſchon geſteckt haben muͤſ-
ſen, aus dem ſie hervorgehen. Denn auch bey jedem
einzelnen Keim iſt die Erzeugung nichts mehr, als eine
Vergroͤßerung der Grundelemente. Jeder Keim iſt al-
ſo ſeiner Anlage nach ſchon unmittelbar in dem erſtern
Keim enthalten. Der Anlage nach, denn nicht nur al-
le organiſche Formen ſind vorhanden geweſen, ſondern
auch die ſo geformten Partikeln. Und wenn gleich die
erſten urſpruͤnglichen Elemente waͤhrend der Erzeugung
herausgehen, und die Vergroͤßerung von einem groͤßern
Zufluß als Abfluß herruͤhret, ohne daß auch nur Ein
Element der Materie beſtaͤndig darinnen bliebe: ſo iſt
doch das Ganze ſeiner Form nach immer daſſelbe. Es
iſt kein organiſcher Theil im Ganzen, keine Fiber ſo
H h 3klein,
[486]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
klein, die nicht ſchon in ihren erſten Anfaͤngen mit ih-
rer beſtimmten Form in dem Keim exiſtirt habe. Was
hinzugekommen iſt, beſteht in unorganiſcher Materie,
die ſich fuͤr die Partikeln des Keims ſchicket, oder ſich
auf ſie ſo bezieht, daß ſie mit ihnen zu groͤßern unorga-
niſchen Beſtandtheilen des Ganzen vereiniget werden
kann.
Dieß gilt nicht nur von allen ſolchen Theilen, die
zugleich entwickelt werden; es muß auch von allen uͤbri-
gen gelten, die nach und nach aus dem Keim hervorge-
hen. Nicht nur die Blaͤtter, Zweige, Bluͤhten, Saa-
men, welche zugleich an dem Baum ſind, haben ihre
Anlagen in dem Saamen gehabt; ſondern auch, wenn
jene abfallen, oder durch Gewalt davon getrennet wer-
den, und dann neue ſich entwickeln, ſo haben dieſe letz-
tern ihre beſondern Anlagen in demſelbigen Saamen
gehabt. Die erſten Anlagen ſind herausgegangen und
verloren; es entwickeln ſich neue, die aus andern auf
eine aͤhnliche Art vereinigten Partikeln beſtehn.
Die bonnetiſche Hypotheſe iſt eine einfache Hypo-
theſe. Sie kann die Einbildungskraft erſchrecken, weil
ſie eine ins Unendliche gehende Theilbarkeit der Materie,
eine unendliche Menge von unorganiſchen Partikeln,
und eine unendliche Menge von Zuſammenſetzungsarten,
von Fugen und Zwiſchenraͤumchen vorausſetzet; eine un-
endliche, in dem Verſtande wie eine Groͤße es iſt, die
von uns nicht umfaſſet, noch durch unſere endliche Zah-
len beſtimmt werden kann. Aber dieß macht ſie nicht
unwahrſcheinlich, wenigſtens bewieſe es ihre Unrichtig-
keit nicht. Naturæ vis atque maieſtas in omnibus mo-
mentis fide caret, ſi quis modo partes eius, ac non
totam complectatur animo.*) Die Vernunft muß
es zugeben, daß es in dem Werke des Unendlichen, ſol-
che
[487]und Entwickelung des Menſchen.
che Unendlichkeiten gebe; und auch die Einbildungskraft
gewoͤhnt ſich, wenn wir mit der Natur bekannt werden,
an Vorſtellungen, die ſich ins Unendliche verlieren, und
findet nachher da, wo ſie anfangs anſtoͤßt, einen Grund
mehr fuͤr die Wahrſcheinlichkeit des Gedankens.
3.
Hingegen faͤllt die ganze Folgerung von dem Ein-
ſtecken der Keime in einander weg, nebſt mehrern,
die aus der durchgaͤngigen Entwickelung fließen, ſo bald
man einraͤumt, daß auf irgend eine Art, durch die Ver-
einigung der naͤhrenden Materie mit dem Keim, neue
Formen in dieſem entſtehen koͤnnen. Entſtehen neue
Formen, ſo mag man noch einen Unterſchied zwiſchen
weſentlichen oder urſpruͤnglichen Formen machen,
die in dem Keim ſchon enthalten ſind, und zwiſchen den
folgenden, die aus dieſem mittelſt der hinzukom-
menden Materie erzeuget werden; man mag noch im-
mer behaupten, es liege der Grund der folgenden neuen
Formen in den erſten urſpruͤnglichen, und der Keim
enthalte das Princip der Bildung, wovon es abhaͤngt,
daß die naͤhrende Materie auf die beſtimmte Art aufge-
nommen, vereiniget und veraͤhnlichet wird: ſo wird doch
auch etwas von dieſem Grunde der Bildung in die Na-
tur der Nahrung gelegt, die ſich vereinigen und veraͤhn-
lichen laͤßt. Es iſt nicht mehr alles durchgehends eine
Entwickelung der Formen und Vergroͤßerung der Maſſe.
Alsdenn koͤnnen zu den erzeugten und hinzugekommenen
Formen, die nur mittelbar in den erſten weſentlichen
gegruͤndet ſind, auch diejenigen gerechnet werden, die
in den neuen Keimen ſind. Nach der vorhergehenden
Hypotheſe muß die Zahl der Formen und die Zahl der
unorganiſchen Partikeln, welche in einem reif geworde-
nen Saamenkorn enthalten iſt, ſo unendlich groß ſolche
noch ſeyn mag, dennoch ein faſt unendlich kleiner Theil
H h 4von
[488]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
von den Formen und von der Menge der unorganiſchen
Beſtandtheile der Organiſation, die in dem erſten Saa-
men war, ausmachen, aus dem der neue Saame ent-
wickelt iſt. Der neue Saame und der erſte Saame
koͤnnen an Materie gleich ſeyn; aber jener hat nicht mehr
Formen und nicht mehr organiſirte Partikeln, (wenn
gleich dieſe letztern groͤßer an Maſſe ſind,) als der Theil
von dem erſten Saamen in ſich faßte, welcher der Keim
zu dem zweeken war. Und dieß war nur ein unendlich
kleiner Theil des Ganzen. Dagegen wenn neue For-
men entſtehen, ſo ſind auch die neuen Keime eben ſo
reichhaltig an Formen, und haben eben ſo viele organiſch
verbundene Beſtandtheile, als der iſt, aus deſſen Ent-
wickelung ſie entſtanden ſind.
Nicht das Unendliche, wozu Bonnets Hypotheſe
fuͤhret, iſt, wie ich ſchon erinnert habe, ein wichtiger
Grund gegen ihre Wahrſcheinlichkeit; fuͤr mich wenig-
ſtens nicht. Aber hier iſt einer, der mir wichtig ſcheint.
Jhr zufolge ſoll man glauben, der reife Saame einer
Pflanze ſey, an Menge von Formen und von organiſch
verbundenen Partikeln, demjenigen unendlich ungleich,
aus dem er gewachſen iſt. Jn der Natur ſoll eine un-
endliche Menge von Formen alle Augenblicke auſgeho-
ben und vernichtet werden. Denn dieß geſchieht, wenn
die ſchon entwickelten Formen durch die Faͤulniß ausein-
ander gehen; und es ſollen keine neuen wieder erzeuget
werden. Dieß macht die Hypotheſe unwahrſcheinlich,
und deswegen fodre ich Beweiſe aus der Beobachtung,
wenn ich ſie nur fuͤr wahrſcheinlich halten ſoll. Und die-
ſe Beweiſe finde ich nicht. Denn die Data der Erfah-
rung, welche fuͤr die Evolution ſind, und von Hr. Bon-
net erklaͤret werden, beweiſen zwar eine Entwickelung,
aber nicht eine ſolche, worauf dieſer Philoſoph ſeine all-
gemeinen Raiſonnemens und ſeine Folgerungen bauet.
Dieß will ich nachher deutlicher zeigen.
Man
[489]und Entwickelung des Menſchen.
Man muß von dieſer durchgaͤngigen Entwicke-
lung ſchon abweichen, ſobald man zugiebt, daß mit
der Vergroͤßerung der Maſſe zugleich eine Vermeh-
rung derſelbigen Formen, oder eine Erzeugung aͤhn-
licher Formen, verbunden ſey. Jch will nur einen
Theil von der oben ſchon angeſtellten Betrachtung wie-
derholen. Laß eine Fiber ausgedehnet werden nur in
der Laͤnge. Die Verbindung ihrer urſpruͤnglichen Ele-
mente laͤßt alſo Zwiſchenraͤume, oder nimmt doch eine
Ausdehnung an. Dieſe Zwiſchenſtelle laß als eine ge-
wiſſe Fuge oder Maſche betrachtet werden. Nimmt
man nun an, daß zwiſchen zwey zunaͤchſt an einander
liegende Elemente, a und b, eine fremde Partikel aus
dem Nahrungsſaft gebracht, und auf dieſelbige Weiſe
mit a und b verbunden werde, und nun in ſie auf eine
aͤhnliche Art wirke, als dieſe Elemente vor ihrer Abſon-
derung auf einander wirkten: ſo ſind aus einer Fuge
zwo geworden. Die Verbindung von c mit a giebt
Eine, und c mit b die zwote. Es iſt nicht ſchwer zu
begreifen, wenn die urſpruͤngliche Fuge zwiſchen a und b
eine gewiſſe Figur gehabt hat, die zum Exempel ring-
foͤrmig geweſen iſt, und alſo einen Raum umſchloſſen
hat, wodurch ſie der ſinnlichen Jdee von einer Maſche
noch naͤher gekommen iſt: ſo habe die darzwiſchen ge-
brachte Partikel c nur gleichfalls eine aͤhnliche Maſche
gemacht, wofern ſie anders nun eine Partikel von eben
der Art iſt, wie die Elemente a und b und auf dieſelbige
Art mit a und b verbunden worden iſt, als dieſe |es un-
ter ſich waren. Es iſt offenbar, wenn nur eine ſolche
Vermehrung aͤhnlicher Verbindungsarten der fuͤr ſich
unorganiſchen Theile zugegeben wird, ſo wird die Zahl
dieſer Theile und auch zugleich der Formen in dem Koͤr-
per vermehret. Wo wuͤrden denn die Schluͤſſe bleiben,
die aus der Jdee der durchgaͤngigen Evolution gezogen
ſind? Wenn neue Formen in der Erzeugung entſte-
H h 5hen,
[490]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
hen, auch nur durch eine Vermehrung der ur-
ſpruͤnglichen, ſo kann man natuͤrlich fragen, wie viele
von den Formen in dem entwickelten Koͤrper ſind, die
zu dieſen erzeugten gerechnet werden muͤſſen? Wie
viele ſind urſpruͤnglich verſchiedene Formen? wie viele
nur, die einer vorhergehenden aͤhnlich, die nur eine Ver-
mehrung derſelbigen Form ſind? Nicht jede von die-
ſen iſt fuͤr ſich urſpruͤnglich in dem Keim, ſondern die
ganze Menge deſſelben zuſammen hat nur Eine, die
in dem Keim exiſtiren darf. Sind nicht alle Blaͤtter
eines Baums, alle Zweige, alle Bluͤhten, alle Fruͤch-
te und Keime, die zugleich hervorwachſen und die auf
einander folgen, aͤhnliche Formen, welche in dem Keim
nicht mehr als Eine Anlage zu Einem Zweig, Eine
zu Einem Blatt, Eine zu Einer Bluͤhte, und ſo wei-
ter vorhererfodern? Und dann ferner, wenn die For-
men in den Zweigen mit denen in den Blaͤttern, und
dieſe letztern mit denen in den Bluͤhten, und dieſe wie-
derum mit denen in der Furcht verglichen werden, und
alle aͤhnliche Formen nur als Erzeugungen aus Einer
urſpruͤnglichen weſentlichen Form betrachtet werden:
wie viele Formen bleiben uͤbrig, die man in dem Keim
als urſpruͤngliche und verſchieden annehmen muß?
Nicht Eine mehr, als in dem neuen erzeugten Keime eben
ſo enthalten ſind, wie ſie in dem erſtern waren. Der
Begriff von den weſentlichen Theilen einer Pflanze
oder eines Thiers wird derſelbige ſeyn mit dem Be-
griffe von dieſen urſpruͤnglichen Formen, oder Grund-
formen.
4.
Es kann die Maſſe eines organiſirten Koͤrpers ver-
groͤßert werden, ohne Vermehrung der Formen; aber
jene ziehet unter gewiſſer Bedingung doch dieſe als eine
nothwendige Folge nach ſich. Jch will es hier nur erin-
nern,
[491]und Entwickelung des Menſchen.
nern, aber es wird unten bey der Anwendung auffal-
lend, daß es eines der wichtigſten Momente in der Hy-
potheſe der Evolution aufklaͤrt, wenn man noch naͤher
die Bedingungen und Saͤtze aufſucht, auf die man ge-
bracht wird, wenn die Vergroͤßerung der Maſſe auf ei-
ner Seite ohne Vermehrung der Formen, auf der an-
dern die Vermehrung der Formen als eine Folge von
der Vermehrung der Maſſe, ſoll gedacht werden.
Soll eine Vergroͤßerung der Maſſe keine neuen
Formen hervorbringen: ſo muß ſie entweder nur die un-
organiſchen Beſtandtheile vergroͤßern, es ſey nun durch
ein Einſaugen und eine Ausdehnung, oder durch ein An-
ſetzen von außen, oder wenn auch die Zahl ſolcher Be-
ſtandtheile vergroͤßert wird: ſo muͤſſen dieſe weder unter
ſich, noch mit den urſpruͤnglichen Elementen, anders
zuſammengehen, als wie Materie ſich an Materie den
Geſetzen der Materie gemaͤß anleget. Wenn ein
Schwamm ſich voll Waſſer ſauget, oder ein haͤnfener
Strick von Duͤnſten durchnaͤßt wird, oder verſchiedene
Haarroͤhrchen eine fluͤſſige Materie einnehmen: ſo haben
wir Beyſpiele von ſolchen Anfuͤllungen, ohne daß dadurch
die Zahl der geformten Gefaͤße vermehrt werde. Hier-
aus ergiebt ſich zugleich auch der Begriff, den man ſich
von der Aſſimilation der Nahrung in den Pflanzen und
Thieren zu machen hat. Daß die Saͤfte aufgenommen,
zubereitet, vertheilet und an ihre gehoͤrigen Oerter und
Gefaͤße gebracht werden, haͤngt von der Form des gan-
zen Koͤrpers ab; aber wenn dieß geſchehen iſt, und die
Nahrungspartikeln ſich nun einſaugen, die Fugen aus-
fuͤllen, oder die Seiten der Fugen verlaͤngern: ſo ver-
binden ſie ſich und hangen zuſammen mit der Materie
der geformten Theile, worinn ſie aufgenommen ſind und
unter ſich ſelbſt, und machen nur unorganiſche Verbindun-
gen. Die Veraͤhnlichung der Nahrung mit den ur-
ſpruͤnglichen Elementen geht alsdenn nicht weiter als
dahin,
[492]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dahin, daß dieſe Elemente ſich vergroͤßern, wie ein
Tropfen Waſſer, der ſich mit einem andern vereiniget,
und dadurch zu einem groͤßern Tropfen wird.
Dennoch muß doch die Form eines Gefaͤßes, einer
Fiber, einer Maſche, einer Raute; — man kann dieſe
Bilder gebrauchen, um den beſtimmten Begriff von der
Form feſt zu halten! — in die Art, wie die fremden
hinzukommenden Partikeln ſich anlegen, einen Einfluß
haben. Die Geſtalt der Roͤhren beſtimmet die Geſtalt
des Fluͤßigen, das in ſie hineintritt, und die Figur der
Zwiſchenraͤume in dem Schwamme die Figur des
Waſſers, das in dieſen Raͤumen haͤnget, wenn der
Schwamm damit erfuͤllet iſt. Laß das Waſſer in die-
ſen Raͤumen erſtarren, und dann wieder herausgebracht
werden: ſo haben wir eine geformte Maſſe, welche
durch die Form der Raͤume gemacht iſt, wie die gegoſ-
ſene erkaltete Statue aus Metall durch die Patrone,
worinn ſie gegoſſen iſt. Die Erzeugung neuer Formen
in organiſchen Koͤrpern, fuͤhret alſo zu gewiſſen Voraus-
ſetzungen, die, wenn ſie als Bedingungen angenommen
werden, die Folge nach ſich ziehen, daß nothwendig
neue organiſche Formen entſtehen muͤſſen. Man neh-
me an, daß die naͤhrenden Partikeln von eben der Art
ſind, wie die in dem Koͤrper ſchon geformten Elemente,
das iſt, daß ſie dieſelbigen Kraͤfte beſitzen, ſich auf die-
ſelbige Art vereinigen koͤnnen unter einander, wie dieje-
nigen, woraus die vorhandenen organiſchen Theile be-
ſtehen; und dieß iſt nichts mehr, als was auch in der
Hypotheſe von der Evolution eingeraͤumet wird: folget
nun nicht nothwendig, daß dieſe neuen Partikeln durch
die Form eines Gefaͤßes in eine aͤhnliche Lage gegen ein-
ander kommen, wie die vorhergeformten Partikeln in
dem Gefaͤße es ſelbſt ſind, oder doch in eine ſolche Lage,
in der ſie vereiniget ein anderes Gefaͤs von einer aͤhnli-
chen innern Zuſammenſetzung ausmachen? Jſt dieß
nur
[493]und Entwickelung des Menſchen.
nur moͤglich, ſo koͤnnen neue Formen entſtehen. Die-
ſe moͤgen den vorhandenen ſo aͤhnlich ſeyn, daß man den
Zuwachs nur als eine Vervielfaͤltigung der letztern an-
ſehen kann, oder auch ſo von den vorhandenen abweichen,
daß ſie neue und verſchiedene Gefaͤße ſind. Laß z. B.
eine vorhandene Maſche oder Form ringfoͤrmig ſeyn,
und laß innerhalb eines ſolchen Ringes Materie gebracht
werden, die ſich, eben ſo wie die Elemente des Ringes,
verbinde, und entweder in die Runde oder in einer an-
dern Lage ſetze: ſo haben wir eine neue Fuge, die eben
ſo wohl eine Form iſt, wie die erſtere es war. Ein
Tropfen Queckſilber vereiniget ſich mit einem andern
Tropfen, und es entſtehet ein groͤßerer Tropfen, der
mit dem Druck des Fingers wiederum in zwey zerthei-
let werden kann. Laß die unorganiſchen Beſtandtheile
der einfachen Fibern ſelbſt noch keine Maſchen in ſich
haben, ſondern etwan die Seitenlinien der Maſchen
ausmachen; ſo nehme man nur an, daß ſie die Nah-
rungspartikeln ſo mit ſich vereinigen, wie ein Tropfen
den andern, und daß alſo ein Druck oder Stoß ſie der
Laͤnge nach ſpalten koͤnne: ſo haben wir eine Moͤglichkeit,
wie aus einer Fiber zwo werden von einer aͤhnlichen Be-
ſchaffenheit. „So muß ja die Vermehrung an unor-
„ganiſchen Theilen, wenn ſolche der Form der vor-
„handenen Organiſation gemaͤß geſchieht, noth-
„wendig gewiſſe Verbindungsarten nach ſich ziehen,
„welche ſelbſt wiederum organiſche Formen ſind.‟
Es iſt freylich nicht einmal die Wahrſcheinlichkeit,
vielweniger die Wahrheit eines phyſiſchen Syſtems,
bloß auf der metaphyſiſchen Moͤglichkeit der Sache ge-
nugſam gegruͤndet. Allein die Moͤglichkeit muß doch
vorausgeſetzt werden koͤnnen. Und in dem gegenwaͤr-
tigen Fall verdienet ſie deſto mehr Aufmerkſamkeit, da
der Vertheidiger der durchgaͤngigen Evolution, welche
die Erzeugung neuer Formen ablaͤugnet, ſo oft ge-
noͤthiget
[494]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
noͤthiget iſt, zu dieſem Aeußerſten ſeine Zuflucht zu neh-
men, daß die Erzeugung neuer Formen unerklaͤrlich
und unmoͤglich ſey. Hr. Bonnet hat ſich dieſes Grun-
des oͤfters bedienet; die Entſtehung eines organiſirten
Koͤrpers auf eine andere Art, als durch die Evolution,
ſey unbegreiflich und ungereimt. Es verhaͤlt ſich bey-
nahe hiemit, wie mit der leibnitziſchen Harmonie,
und dem berkeleyiſchen Jdealismus, die ihre großen
Erfinder mit dem ſtaͤrkſten Argument zu befeſtigen ſuch-
ten, wenn ſie demonſtrirten, Leibnitz, daß die Ein-
wirkung, Berkeley, daß die Exiſtenz der Materie un-
moͤglich ſey. Beide Syſteme halten ſich nicht, wenn
dieſe Demonſtration wegfaͤllt. Jch zweifele ob die bon-
netiſche ſich halten koͤnne, wenn ſein Grundſatz weg-
faͤllt, daß keine andere Hypotheſe außer der ſeinigen
moͤglich iſt.
5.
Wenn einmal die Erzeugung neuer Formen als
moͤglich angenommen wird: ſo giebt es auch mehrere
verſchiedene Arten dieſer Erzeugung. Daraus entſtehen
die naͤhern Beſtimmungen, die man den Hypotheſen
von der Generation hinzuſetzen kann. Selbſt |die orga-
niſche Konkretion iſt alsdenn nicht ganz ausgeſchloſſen.
Aber zugleich wuͤrde es bey jener Vorausſetzung unwahr-
ſcheinlich ſeyn, daß die Natur ſich nur einer von dieſen
verſchiedenen Arten, neue Formen zu bilden, allein bedie-
nen ſollte. Einige von ihnen will ich noch beruͤhren, die
naͤmlich, welche man vorzuͤglich zur Erklaͤrung der Ge-
neration gebraucht hat; doch nur ſolche, |welche als-
denn noch vorkommen, wenn ſchon ein organiſirter
Keim vorhanden iſt, der ſich entwickelt. Von den Ent-
ſtehungsarten neuer Keime iſt oben genug angefuͤhret.
Die naͤhrende, vergroͤßernde, entwickelnde Mate-
rie geht in das Jnnere des Keims hinein (per intusſuſ-
ceptio-
[495]und Entwickelung des Menſchen.
ceptionem), und wird von innen wieder herausgebracht,
wenn eine neue Form entſtehet, und das Ganze vergroͤſ-
ſert wird. Die aͤußere Figur kann entweder zugleich
veraͤndert werden, oder dieſelbige bleiben. Daß die
Erzeugung der Thiere und Pflanzen die Jutusſuſce-
ption der Nahrung erfodere, und von innen heraus ge-
ſchehe, behauptet ſowohl Hr. Wolf als Hr. Bonnet.
Es giebt auch keine Beobachtung bey organiſchen Er-
zeugungen aus einem Keim, die auf ein bloßes Anſe-
tzen von außen, oder eine bloße Juxtapoſition der
naͤhrenden Partikeln zu den geformten, hinfuͤhret.
Jn dem Jnnern muͤſſen freylich die naͤhrenden Par-
tikeln ſich an die daſelbſt vorhandenen anſetzen. Das
Eindringen der Nahrung in die Elemente des Keims
kann nicht weiter gehen, als dieſe letztern Zwiſchenraͤum-
chen haben. Sind ſie bis ins Unendliche hin locker, ſo
kann die Einſaugung ins Unendliche gehen. Die letz-
ten Elemente der Materie ſind undurchdringlich, und
ihre Verbindung beſtehet in einer Nebenanſetzung, die
mit wechſelſeitiger Wirkung auf einander verbunden iſt.
Jn den Keimen, als ſchon geformten Ganzen, gehen
die neuen Theile, die aͤußerlich ſichtbar werden, von
innen heraus. Dieß iſt ein allgemeiner Erfahrungsſatz.
Von der Entſtehung der Formen durch das aͤußere
Anſetzen haben wir Beyſpiele, in dem Anſchießen der
Kryſtalle und in andern unorganiſchen Bildungen, aber
keine bey den organiſirten Koͤrpern. Aber dennoch leh-
ret uns auch hier das Zuſammenwachſen der Wunden
in den Thieren und Baͤumen, ingleichen die organiſchen
Pfropfungen in den Pflanzen, das Aufſetzen des Hah-
nenſporns auf ſeinem Kamm und dergleichen, daß zween
organiſche Koͤrper zuerſt von außen mit einander zuſam-
menkleben und anhaͤngen, dann ſich jeder von innen her
entwickeln, und darauf eigentlich zuſammenwachſen und
Ein organiſches Ganze ausmachen, davon ein Theil als
ein
[496]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ein neuer Anſatz zu dem andern angeſehen werden kann.
Dieſe Beyſpiele ſind zugleich die Beyſpiele von organi-
ſchen Konkretionen. Allein hier iſt nur eigentlich
die Rede von der Ausbildung ſchon geformter Keime.
Es kann aber auch die vergroͤßernde Materie ſich
von außen um den Keim anlegen, und alsdenn von in-
nen her mittelſt eines aus dem Keim hervordringenden
Saftes geformet werden, ſo daß jene vorher bloß um-
gebende Materie nachher ein Theil des organiſirten Gan-
zen wird.
Hr. Wolf hat ſeine Epigeneſis, bey verſchiede-
nen Theilen des menſchlichen Koͤrpers, die dem Em-
bryon zuwachſen, nach dieſer Jdee angewendet. Es
treten Saͤfte durch die weſentliche Kraft des Keims ge-
trieben, aus ihm heraus, und durchdringen, in gewiſ-
ſen Richtungen, eine fluͤſſige aber nicht organiſche Sub-
ſtanz, die den Keim umgiebt. Daraus entſtehen Ka-
naͤle, deren Waͤnde durch die Gerinnbarkeit der Saͤfte
befeſtiget werden. Dieß giebt Gefaͤße, die alſo aus ei-
ner Materie beſtehen, welche zum Theil ſchon vorher um
den Keim herumlag. *) Allein eben dieſe Materie,
welche um den organiſirten Punkt herumliegt, wird ſchon
als ein Theil des ganzen Keims von Hrn. Wolf an-
geſehen; ſie iſt vorher ſchon aus dem Keim ſelbſt hervor-
gedrungen, da ſie ſich an ihm anlegte. Vielleicht will
Hr. Wolf dieß auch von der allererſten Nahrung ver-
ſtanden haben: daß naͤmlich dieſe nicht eher, als bis
ſie vorher in den Keim hineingebracht und wiederum aus
ihm herausgetrieben worden iſt, geſchickt ſey, ſich mit
Kanaͤlen durchziehen und organiſiren zu laſſen.
Weiter, wenn die neuen Formen von innen
herauswachſen, ſo kann dieß wiederum auf eine zwey-
fache Art geſchehen.
Die
[497]und Entwickelung des Menſchen.
Die hervortretenden Saͤfte moͤgen nun ſchon zu-
gleich die neuen Formen ſelbſt ſeyn, da ſie in beſtimm-
ten Richtungen, in beſtimmter Menge und mit der Ge-
ſchwindigkeit heraustreten, wies die Form des Keims,
die Figur und Bildung an der Stelle, wo ſie ſich als
an einer Baſis| anlegen, das iſt, die Figur und Bil-
dung des Vegetationspunkts, ingleichen die Kraft
des Keims und die Beſchaffenheit der Saͤfte ſelbſt mit
ſich bringt; oder ſie moͤgen anfangs excernirt, und dar-
auf erſt organiſirt werden: ſo kann beides auf eine ſol-
che Art geſchehen, daß der vorige Umfang des praͤexi-
ſtirenden Keims nicht ausgedehnet und erweitert wird.
Alsdenn findet eine Appoſition Statt. So ſtellte
ſich Wolf zuerſt das Anwachſen in dem Embryon und
die Excretion der Saͤfte in den neuen Blaͤttern zum
Theil vor. Er aͤnderte aber nachher ſeine Meinung. *)
Der große daͤniſche Naturkuͤndiger Hr. Etatsrath
Muͤller behauptet, daß der Anwachs der Schnecken-
haͤuſer auf dieſe Art geſchehe. **)
Der weſentliche Grundſatz, der das Syſtem der
Evolution und der Epigeneſis unterſcheidet, iſt die
Entſtehung neuer Formen, die in jenem gelaͤugnet, in
dieſem behauptet wird. Es giebt eine andere Jdee von
der Evolution, die einige fuͤr die allgemeine Evolution
angeſehen haben, welche ſich ſehr wohl mit der Epige-
neſis vereinigen laͤßt.
Wenn die neue Form, der neue Sproß, der Theil,
oder das Gefaͤs, in dem Jnnern des Keims, unter der
Oberflaͤche deſſelben bereitet wird, und nicht heraustritt,
ohne dieſe Oberflaͤche zu dehnen und mit ſich zu neh-
IITheil. J imen,
[498]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
men, ſo geſchieht eine Ausdehnung des aͤußern Umfangs
von innen her. Jeder neue Theil, der hervorſprieſſet,
hat in ſeinem Umfange Partikeln mitgenommen, die zu
dem Umfange des ſich entwickelnden Koͤrpers in dem
vorhergehenden Zuſtande vor der neuen Excretion des
Theils gehoͤrten. Dieß iſt eine Evolution von in-
nen, die mit der Epigeneſis beſtehen kann. Und
nur dieſe kann unmittelbar aus den Beobachtungen, ſo
wohl in den Pflanzen als thieriſchen Koͤrpern, bewieſen
werden. Aber wenn daſſelbige bey allen innern Veraͤn-
derungen und Bildungen, bey jedem neuen Anwachs,
auf die aͤhnliche Weiſe vorkommt, und alle hinzukom-
mende Nahrung in ſchon vorhandene Partikeln und
Fibern hineindringet, ſie erweitert und vergroͤßert: ſo
kann eine ſolche durchgehends ſich erſtreckende Evolution
auf Bonnetiſch erklaͤret werden, ſo naͤmlich, daß kei-
ne neuen Formen dadurch entſtehen.
Endlich, damit ich noch dieſes beruͤhre, kann die
Vergroͤßerung durch die Evolution in der Maſſe vor ſich
gehen, daß die Verhaͤltniſſe der Theile und Glieder des
organiſirten Koͤrpers, in ihrer Laͤnge, Breite, und Di-
cke, beſtaͤndig dieſelbigen bleiben. Jn dieſem Fall iſt
das entwickelte ſich immer aͤhnlich. Aendert ſich
dagegen das Verhaͤltniß der einzelnen Theile, nehmen
einige Fibern mehr in der Laͤnge, andere mehr in der
Breite zu, dehnen ſich einige weniger aus, andere mehr,
gehen einige Faͤcher ganz zuſammen und verlieren ſich:
ſo iſt nicht zu verwundern, daß eine ſo große Umaͤnde-
rung der aͤußern Geſtalt herauskommt, als man wirk-
lich bey dem allmaͤligen Auswachſen des Embryons ge-
wahr wird.
Herr Bonnet will nicht, daß man den Keim,| als
das Thier oder die Pflanze im Kleinen, nach allen
ihren Theilen anſehen ſolle; darum nicht, weil ſich
das Verhaͤltniß der urſpruͤnglichen Formen veraͤndert.
Dennoch
[499]und Entwickelung des Menſchen.
Dennoch hat dieſe Abaͤnderung, nach ſeiner eigenen
Erklaͤrung, ihren vornehmſten Grund in einer vorher
ſchon vorhandenen Beziehung der urſpruͤnglichen Thei-
le des Keims auf einander, obgleich die Nahrung
hierinn Einfluß hat, indem ſie einige Formen vorzuͤg-
lich vor andern vergroͤßern kann. Die Elementarfi-
bern der Knochen z. B. muͤſſen ſchon urſpruͤnglich mehr
Feſtigkeit beſitzen, oder doch zum wenigſten mehr So-
lideſcibilitaͤt, und unfaͤhiger ſeyn gedehnt zu werden,
als die Elemente der Haͤute der Gefaͤße. *)
Die Perioden der Bildung, des Auswachſens
und der Fortdauer unterſcheiden ſich bey den Thieren
und Pflanzen aͤußerlich am meiſten an den verſchiede-
nen Graden, worinn die ſich entwickelnden Koͤrper ſich
aͤhnlich bleiben oder unaͤhnlich werden. Jn dem em-
bryoniſchen Zuſtande geht die groͤßte Veraͤnderung in
der Figur und Geſtalt vor; waͤhrend des Auswach-
ſens von der Kindheit bis zur Mannheit bleibet ſich
das Ganze mehr aͤhnlich. Es kommen wenige ganz
neue Theile mehr hervor, doch noch einige, und ihre
relativen Groͤßen veraͤndern ſich in etwas, immer we-
niger, je naͤher die Entwickelung an ihre hoͤchſte Stu-
fe kommt. Jſt endlich der Koͤrper voͤllig ausgewach-
ſen, ſo bleibet das Ganze wie es iſt, und auch die
Vergroͤßerung hoͤrt auf. Die Fortdauer in dieſem
Beharrungsſtande iſt eine ununterbrochene gleichfoͤr-
mige Verminderung und Vermehrung der Materie,
die ſo weggehet und ſich ſo wieder anſetzet, daß die
Verhaͤltniſſe an Groͤße und Figur in allen Theilen die-
ſelbigen bleiben. Die Entwickelung geht indeſſen ih-
ren Gang fort, und wir wiſſen es zu gut, daß es kei-
nen voͤlligen Stillſtand in irgend einer Form gebe, und
daß es nur die ſchwaͤchere, in kurzer Zeit nicht zu be-
J i 2merken-
[500]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
merkende Veraͤnderung iſt, welche wir fuͤr die Beſtaͤn-
digkeit anſehen.
IV.
Einige allgemeine Anmerkungen uͤber die verſchie-
denen Entſtehungsarten organiſirter Koͤr-
per, beſonders uͤber das Evolutionsſyſtem.
- 1) Es ſind zween verſchiedene Saͤtze; der erſte:
„Es entſtehen keine neue Formen, die nicht
„ſchon in dem Keim enthalten ſind;‟ der
zweete: „Der Keim beſtimmt allein die
„Bildung, und beſtimmt ſie voͤllig.‟ - 2) Die bonnetiſche Hypotheſe hat eine dunkle
Stelle. Es iſt ſchwer, ein beſtimmtes Un-
terſcheidungsmerkmal zwiſchen einer orga-
niſchen Form anzugeben, und zwiſchen den
unorganiſchen Verbindungsarten, die
nothwendig entſtehen muͤſſen, wenn mehr
Materie hinzukommt. - 3) Dieſe Hypotheſe kann nie durch die Erfah-
rungen voͤllig bewieſen werden. - 4) Erfahrungen, welche zeigen, daß neue For-
men durch die Verbindung anderer For-
men entſtehen. - 5) Die Entſtehung neuer organiſcher For-
men ſetzet eine Entwickelung ſchon vor-
handener Formen voraus, und eine Ver-
bindung derſelben. Dieſe Epigeneſis
durch Evolution ſcheinet die allgemeine
Entſtehungsart organiſirter Weſen zu ſeyn.
Sie muß auch bey den organiſchen Kon-
kretionen ſtattfinden.
1. Es
[501]und Entwickelung des Menſchen.
1.
Es iſt hier weder nothwendig, noch thunlich, ſich in
das Beſondere jeder dieſer Erzeugungsarten, oder
vielmehr der Hypotheſen daruͤber einzulaſſen, und ſolche
mit den Beobachtungen zu vergleichen. Aber einige all-
gemeine Anmerkungen will ich anfuͤgen, woraus ich fuͤr
den Philoſophen, der nur das Allgemeine in der Phy-
ſiologie der organiſirten Koͤrper ſuchet, faſt denſelbigen
Nutzen erwarte. Am meiſten wird es darauf ankom-
men, wie groß die Wahrſcheinlichkeit des Evolutions-
ſyſtems ſey? Wenn einmal angenommen wird, daß
neue Formen erzeuget werden: wer wird alsdenn dar-
uͤber zweifeln, ob ſolche nicht auf mehr als Eine Art ent-
ſtehen, da die verſchiedenen Entſtehungsarten im Grunde
nur in Graden von einander abgehen, wobey eher Man-
nichfaltigkeit als Einfoͤrmigkeit zu vermuthen iſt. Viel-
leicht geht es andern bey der Leſung der bonnetiſchen
Schrift, eben ſo wie mir. Sehe ich auf die Menge von
Erfahrungen bey allen Thieren und Pflanzen, deren
Ausformung von ihrem Keim an man beobachtet hat:
ſo ſehe ich Fakta, die nicht nur durch die Evolution er-
klaͤret werden, ſondern faſt nothwendig auf ſie hinfuͤhren.
Die Hypotheſe wird mir ſo ſehr wahrſcheinlich, als ich
den Scharfſinn ihres Urhebers bewundere. Bonnet
iſt, ſo viel ich weiß, der erſte, der den unterſcheidenden
Grundſatz der Evolution in ſeinem ganzen Umfange uͤber-
ſehen, und mit den Beobachtungen verglichen hat.
Sehe ich dagegen auf die Folgen, wozu dieſe Hypotheſe
hinleitet, und dann auf die uͤbrigen Erſcheinungen, auf
die Wiederergaͤnzungen abgeſchnittener Glieder, auf das
Wiederauswachſen der Stuͤcke von Polypen und Wuͤr-
mern zu ganzen Thieren, auf die Vereinigung aufge-
pfropfter Zweige mit dem Baum, auf das Zuſammen-
wachſen der Wunden in Thieren und Pflanzen, auf die
thieriſchen Pfropfungen, u. ſ. f. ſo deucht mich, die Hy-
J i 3potheſe
[502]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
potheſe von den Keimen und deren Entwickelung ſey all-
zuſchwer anzubringen. Was Hr. Bonnet und andere
geſehen haben, nehme ich ohne die geringſte Bedenklich-
keit fuͤr richtige Beobachtungen an; aber was er in die-
ſen Beobachtungen mit dem Verſtande geleſen hat, finde
ich nicht darinn. Es iſt vielleicht jetzo noch nicht moͤg-
lich, alle verſchiedene Erfahrungen auf Einen Grundſatz
zu bringen. Wer weiß, wie viel mehrere und noch mehr
von einander abweichende kuͤnftig noch entdeckt werden
moͤgen?
Das alſo, was bey dem Evolutionsſyſtem vor-
kommt, wenn man es ſcharf zu pruͤfen ſich vornimmt,
iſt, daß man dieſe beiden Saͤtze wohl unterſcheide:
Es entſtehen keine neue Formen, ſondern die For-
men, welche in dem Keim ſind, werden entwickelt;
und der zweete Satz: Der Keim beſtimmet die Bil-
dung des organiſchen Koͤrpers voͤllig, und beſtim-
met ſie allein. Hr. Bonnet hat nicht immer beide
genau unterſchieden, wie oben (II. 1.) erinnert worden
iſt. Der Keim des Pferdes in der Stute beſtimmet
doch nicht allein die Bildung des Mauleſels, auch nach
ſeiner Jdee, weil die in jenem enthaltenen Formen zum
Pferde ſich in einem andern Verhaͤltniſſe auswickeln,
wenn ein Mauleſel erzeuget wird, obgleich alle Formen
des Mauleſels in dem Pferdekeim, in der Stute, nach
dieſer Hypotheſe, enthalten ſind. Daſſelbige findet ſtatt
bey allen Baſtarten; und ohne Zweifel iſt dieß auch
die Urſache mancher Mißgeburten.
2.
Es ſollen nach dieſer Hypotheſe keine neue organi-
ſche Formen entſtehen. Allein wenn nun neue Ma-
terie hinzukommt, die das Ganze nicht bloß am Um-
fange ſondern auch an Maſſe vergroͤßert, ſo iſt es doch
nothwendig, daß auch Verbindungen entſtehen. Wie,
wann
[503]und Entwickelung des Menſchen.
wann und warum ſind dieſe neuen Verbindungsarten,
dieſe Formen, die Oeffnungen oder Zwiſchenraͤumchen,
wie wir ſie nennen, welche zwiſchen den Partikeln der
Nahrung unter ſich, oder zwiſchen dieſen und den Ele-
menten des Keims entſtehen, keine organiſche For-
men, keine Netze, Ringe, Maſchen, denen aͤhnlich, die
ſchon da ſind, oder unaͤhnlich? Jch verweiſe auf das,
was ich um dieſen Unterſchied zwiſchen neuen organiſchen
Formen, und zwiſchen bloß unorganiſchen Zuſammenſe-
tzungen der Elemente, oben (III. 1. u. 4.) geſagt habe,
da Hr. Bonnet hieruͤber nicht anders als in Gleichniſ-
ſen geredet hat. Beym erſten Anblick ſcheinet es leicht
begreiflich zu ſeyn, daß die urſpruͤnglichen Netze und
Maſchen ſich anfuͤllen koͤnnen, ohne daß neue Maſchen
hinzukommen; und wann die Elementarfibern mit ihren
Maſchen nach einer andern Vergleichung dieſes Man-
nes, der ſeine Begriffe ſo ſchoͤn zu bezeichnen weis, der
Aufzug oder die Kette (Chaine) zu dem Gewebe ſind: *)
ſo ſcheint es, man koͤnne die Nahrungstheilchen, die ſich
in dieſe Maſchen ſetzen, ſehr faßlich als den Einſchlag
zum Zeuge betrachten. Allein wenn man die Sache
naͤher anſieht und bedenket, daß die Aufnahme und Ver-
bindung der naͤhrenden Partikeln, der Form der Maſche
gemaͤß geſchehe und, wegen der durchgaͤngigen Ver-
knuͤpfung aller Theile eines organiſirten Koͤrpers, der
Struktur des Ganzen gemaͤß ſeyn muͤſſe: ſo iſt es ſchwer
zu begreifen, wie ſich eine Maſche anfuͤlle, ohne daß
in ihr die Materie ſich maſchenfoͤrmig verbinde; im-
gleichen wie eine Fiber ſich verlaͤngere, ohne daß aͤhn-
liche Theile zwiſchen ihren vorigen Stuͤcken auf eine aͤhn-
liche Art eingeſchaltet werden, und wie ſie ſich verdicke,
ohne daß ihre einfachen Zaſern vermehret werden. Dieſe
Vergroͤßerung ſcheint ſo natuͤrlich eine Vermehrung der
J i 4Formen
[504]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Formen nach ſich zu ziehen, als in einem Waſſertropfen,
wenn ein naheliegender kleiner Tropfen ſich damit ver-
einiget, nun zugleich auch die Summe aͤhnlicher Zwi-
ſchenraͤumchen und aͤhnlicher Lagen der in- und auf ein-
ander wirkenden Partikeln vermehrt ſeyn muß. Der
Einſchlag muß hier zugleich die Kette vergroͤßern. Das
mindeſte zu ſagen, ſo iſt in dem Evolutionsſyſtem hier
eine ſehr dunkle Stelle; und dennoch iſt es dieſe, wor-
auf alles Eigene deſſelben beruhet, und worauf die wich-
tigen Folgerungen ſich gruͤnden, die man daraus gezo-
gen hat.
3.
Dieſe Evolutionshypotheſe kann niemals vollſtaͤn-
dig aus Beobachtungen bewieſen werden. Hr. Bonnet
hat alles gethan, was ein ſcharfſinniger Mann, der ſie
einmal angenommen hatte, thun konnte, da er die große
Menge von Erzeugungen, die ihr entgegen zu ſeyn ſchie-
nen, ſo zu erklaͤren geſucht, daß ſie ſich mit ihr wenig-
ſtens zuſammenbringen laſſen. Ob das Anwachſen
neuer Theile von innen heraus geſchehe; ob es ſo
geſchehe, daß jedesmal eine Verlaͤngerung, Erweite-
rung und Verdickung ſchon vorhandener Theile dabey
vorgehe; oder ob auch irgendwo ein Theil durch eine
bloße Appoſition der von innen hervorgetriebenen Saͤfte,
die nachher geformet werden, entſpringe: das iſt wor-
uͤber die Beobachtung entſcheiden kann, und in vielen
Faͤllen entſchieden hat. Aber dieß wuͤrde nur eine Ent-
ſcheidung uͤber diejenige Evolution geben, die mit der
Epigeneſis beſtehen kann. (III. 5.) Kommen deswe-
gen nicht neue Formen in dem Jnnern hervor? und iſt
nicht das Hervorſtoßen neuer Zweige und die Ausdeh-
nung der Oberhaut vielmehr eine Folge von den, in dem
Jnnern aufgehaͤuften, und hier ſchon geformten Mate-
rien, die ſich in ſolche Lagen geſetzt haben, die ſich Raum
zu
[505]und Entwickelung des Menſchen.
zu machen ſuchen? Es verhalte ſich damit wie es wolle,
unſer Auge kann ſchwerlich jemals ſo tief eindringen,
wenigſtens iſt es nicht ſo tief gedrungen, um aus dem,
was es nicht ſieht, geradezu ſchließen zu koͤnnen, daß es
nicht da ſey.
4.
Es ſcheinen einige Beobachtungen doch ſchlechthin
auf den Satz zu fuͤhren, daß neue Formen entſtehen,
und zwar dadurch, daß mehrere, ſich entwickelnde, ver-
ſchiedene Formen zuſammengehen, und eben durch dieſe
ihre Verbindung neue Formen machen.
Hierzu rechne ich die Beyſpiele von dem Zuſammen-
wachſen der gepfropften thieriſchen und Pflanzentheile mit
ihren Staͤmmen. Es waͤchſt der Sporn eines Hahns
auf ſeinem Kamm und wird zum Horn, und die Wun-
den an Thieren und Baͤumen wachſen zuſammen. Die
Erklaͤrungen, welche Hr. Bonnet uͤber dieſe Erſcheinun-
gen gegeben hat, *) halte ich fuͤr richtig, nur nicht fuͤr
vollſtaͤndig. Der Wulſt an dem Pfropfreis, der Cal-
lus und das Horn, das aus dem Sporn entſtehet,
ſind nichts als Entwickelungen von Fibern, die ſchon
da ſind; und wenn wir der Deutlichkeit wegen nur bey
dem letztern Beyſpiele ſtehen bleiben, ſo iſt das Horn
eben daſſelbige mit dem auf eine etwas andere Art entwi-
ckelten Sporn, der, von ſeiner natuͤrlichen Stelle abge-
ſchnitten und auf den Kamm des Hahns gepfropft, hier
gleichſam in einen neuen Boden verſetzt iſt, wo er an-
dere Saͤfte antrifft, die nun den Sporn zu einem Horn
entwickeln. Jngleichen wenn das eingeſenkte Pfropf-
reis in den Stamm hineinwaͤchſt, ſo geſchieht ſolches
durch eine Entwickelung ſeiner Fibern.
J i 5Aber
[506]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Aber iſt es dieß alles, was hier vorgehet? Kommt
das neue Horn auf dem Kamm des Hahns nicht in eine
Verbindung mit den Gefaͤßen des Kamms, und dadurch
mit dem Kopf und mit dem ganzen Koͤrper des Hahns?
und kommt es nicht in eine naͤhere Verbindung damit,
als die Verbindung iſt, worinn eine Pflanze mit dem
Boden ſtehet, aus dem ſie ihre Nahrung ziehet? Ge-
hen nicht in jenem Fall die ſich entwickelnden Faſern in
dem Sporn, mit den ſich entwickelnden Gefaͤßen in dem
Kamm in ein Ganzes zuſammen? und machen nicht
alſo dieſe ſich einander begegnenden und ſich vereinigenden
Fibern ein neues organiſches Ganzes aus? Jſt nicht da-
durch eine neue, aus ihrer Vereinigung entſtandene Form
geworden? Vereiniget ſich nicht auf eine aͤhnliche Weiſe
der gepfropfte Zweig mit dem Stamm zu Einem orga-
niſchen Ganzen, zu einem Baum? Und wie iſt dieſes
begreiflich oder moͤglich, wenn nicht die Netze, Maſchen
und Rauten aus dem Stamme und aus dem Pfropfreis
ſich ineinander ſchlingen, ſich vereinigen und dadurch
neue Formen und Gefaͤße machen, durch welche die Saͤfte
nachher uͤbergehen, die ſich Stamm und Zweig einander
mittheilen? Dieſe Zwiſchennetze oder Canaͤle koͤnnen
doch nicht durch die Entwickelung allein entſtanden ſeyn,
ſondern erfodern nothwendig außer dieſer eine Verbin-
dungsart der Gefaͤße, die ſich entwickeln, und dann zu-
ſammengehen und vereinigen. Soll etwan die genaue
Vereinigung der zuſammengewachſenen Koͤrper gelaͤug-
net, oder ſoll ſie fuͤr nichts mehr als eine ſolche Verbin-
dung gehalten werden, worinn die Erde, welche die
Wurzeln eines Baums umgiebt, mit dieſen Wurzeln
ſtehet? Hier iſt kein Aneinanderwachſen. Die Erde
und die Wurzeln machen kein organiſches zuſammenge-
wachſenes Ganzes aus. Kann es gelaͤugnet werden, daß
jenes mehr ſey?
Die
[507]und Entwickelung des Menſchen.
Die Erfahrung lehret, daß die Verbindung zwi-
ſchen zuſammengewachſenen Theilen an den Stellen, wo
ſie ſich vereiniget haben, oftmals ſtaͤrker iſt, als ſelbſt die
Theile, welche zuſammengewachſen ſind, an ſich waren.
Die Stelle des Bruchs an dem Knochen, wo die getrenn-
ten Theile wieder zuſammengebracht ſind, iſt ſo ſtark
und ſtaͤrker, als der Knochen vor dem Bruch an eben der
Stelle war. So wenig ein Zweig, der nicht gepfropfet
iſt, von dem Stamm abgeſondert werden kann, ohne
Zerreißung einiger Faſern, ſo wenig laͤßt ſich dieſes mit
dem gepfropften auch thun. Das Wenigſte alſo, was
man aus den angefuͤhrten Beobachtungen ſchließen kann,
iſt, daß neue organiſche Ganze durch die Vereinigung
organiſcher Theile entſtehen koͤnnen, indem dieſe, jeder
fuͤr ſich allein, ſich entwickeln und dann zuſammengehen.
Es giebt alſo eine Art, wie organiſche Formen erzeuget
werden, die ihr Daſeyn der Vereinigung mehrerer Fi-
bern verdanken, und vorher nicht exiſtirt haben.
Dieſe angefuͤhrten Fakta ſind ſolche, welche zu der
Jdee, daß neue Formen entſtehen, nothwendig hinfuͤh-
ren. Die Menge der uͤbrigen, worauf große Natur-
kuͤndiger ihren Begriff von der Epigeneſis gebauet ha-
ben, ſind faſt alle von der Art, daß ſie zur Beſtaͤtigung
deſſelbigen Begriffs zu gebrauchen ſind. Es mehret ſich
die Anzahl der Falten, der Faͤcher und Abtheilungen in
den Blaͤttern, wenn ſie auswachſen, und der Ringe an
den Wuͤrmern, deren abgeſchnittene Enden wieder an-
wachſen. *) Dieß wird zwar alles von Hr. Bonnet
fuͤr nichts anders als fuͤr eine neue Entwickelung von
Ringen angeſehen, wozu die Grundformen ſchon vor-
handen waren; aber es iſt nirgends von ihm auf dieſe
Art vollſtaͤndig erklaͤrt worden. Man begreift ihre
Entſte-
[508]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Entſtehung gewiß leichter, wenn man annimmt, daß
auch zugleich neue Formen entſtehen, indem die Maſſe
des organiſirten Koͤrpers vergroͤßert wird.
5.
Die Natur ſcheinet uns alſo Eine Entſtehungsart
neuer Formen offenbar genug vor Augen zu legen. Jn
den angefuͤhrten Beyſpielen ſind es aͤußere und ganz zu-
faͤllige Umſtaͤnde, die ihre Erzeugung veranlaſſen. Jſt
dieſe Entſtehungsart neuer Formen, naͤmlich durch die
Entwickelung der vorhandenen Formen und durch ihre
Verbindung, wirklich vorhanden: ſo hat man ſchon ge-
nug, um den unwahrſcheinlichen Folgerungen, beſon-
ders von dem Einſtecken der Keime in einander, auszu-
weichen, die mit dem Syſtem der durchgaͤngigen Evo-
lution verbunden ſind. Zugleich macht dieſe Entſte-
hungsart es begreiflich, wie neue Gefaͤße und Abaͤnde-
rungen in der Strucktur auch durch aͤußere Umſtaͤnde
veranlaßt werden koͤnnen, die durch die Vorherbildung
im Keim zwar moͤglich waren, aber nicht durch ſie be-
ſtimmt ſind. Dieß iſt ein ſehr wichtiger Unterſchied.
Ob dieß die einzige Art ſey, wie neue Formen ent-
ſtehen, oder nicht, iſt eine neue ſchwere Frage. Kann
nicht auch eine neue Bildung, in dieſem oder jenem Thei-
le eines Thiers oder einer Pflanze, durch die oben er-
klaͤrte Appoſition entſtehen, wie der Hr. Etatsrath
Muͤller die Erzeugung der Schneckenhaͤuſer erklaͤret,
und, was ich dem Urtheil dieſes großen Mannes zu-
traue, richtig erklaͤret? Hr. Wolf, der auf dieſelbige
Art manche Gefaͤße in dem menſchlichen Koͤrper entſte-
hen ließ, hat, wie oben erinnert worden iſt, ſeine Mei-
nung in etwas geaͤndert. Soll ich indeſſen eine Muth-
maßung wagen, die ſich mir von ſelbſt dargeboten hat,
da ich die verſchiedenen Beobachtungen uͤber die Erzeu-
gung organiſirter Koͤrper geleſen und uͤberdacht habe: ſo
geſtehe
[509]und Entwickelung des Menſchen.
geſtehe ich, daß mir kein Beyſpiel von ſolchen neuen
Gefaͤßen, die mit der vorhergehenden Organi-
ſation ein neues organiſirtes Ganzes ausmachen,
erinnerlich ſey, wo nicht zugleich auch eine Entwicke-
lung vorgegangen, und wo die neue Form nicht bloß
aus einer Verbindung mehrerer ſich entwickeln-
der Theile, die an einander gebracht ſind, entſtanden
ſeyn koͤnne. Jch will dieß deutlicher erklaͤren. Man
unterſcheide zween Faͤlle. Wenn bloß eine gewiſſe Ma-
terie, auf eine gewiſſe Art, oder in einer gewiſſen Form
und Ordnung, aus dem organiſchen Koͤrper hervorge-
het, abgeſetzet wird und dann in dieſer Form erhaͤrtet,
wie bey den Schalen der Schnecken, bey den Naͤgeln
und bey den Hoͤrnern der Thiere, und ſonſten: ſo kann
man dieſen neuen Anwachs faſt fuͤr nichts anſehen, als
fuͤr eine bloße geformte Materie, die zwar mit dem Koͤr-
per vereiniget iſt und in ſo weit durch Gefaͤße mit ihm
zuſammenhaͤngt, aber fuͤr ſich innerlich kein organiſirter
Koͤrper mehr iſt, noch als ein neues Gefaͤs in demſelben
zu betrachten. Es iſt wahrſcheinlich, daß ſolche Theile
durch eine Appoſition entſtehen, oder durch eine Excre-
tion gewiſſer Saͤfte nach einer Stelle hin, welche da-
ſelbſt gerinnen und verhaͤrten, und allmaͤlich, wie die
Naͤgel, weiter hervorgeſchoben werden. Dieß kann
nun, von einer Seite betrachtet, eine Evolution ſeyn,
naͤmlich in demjenigen Gefaͤße, welches die Beſtand-
theile dieſer unorganiſchen Theile hervortreibet. Viel-
leicht aber iſt es auch nicht einmal eine eigentliche Evo-
lution in dieſem Gefaͤße, ſondern eine bloße Excretion
der Saͤfte; wiewohl in den meiſten Faͤllen eine Evolu-
tion vorkommt.
Allein dagegen wird man vielleicht kein Beyſpiel
„eines eigentlichen Gefaͤßes in den Thieren oder Pflan-
„zen finden, welches nicht eine Evolution ſchon vorhan-
„dener Gefaͤße erfodere, und wenn es neu entſtanden
„iſt,
[510]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
„iſt, anders als durch die Verbindung mehrerer ſolcher
„ſich entwickelnder Theile entſtanden ſey.‟ Dieß iſt,
meiner Meinung nach, der große Satz, den man aus
allen Beobachtungen, die Hr. Bonnet geſammlet hat,
und aus ſeinen ſpeciellen Erklaͤrungen abſtrahiren kann.
Es lieget das alles bey weitem nicht darinnen, was die-
ſer Philoſoph in ſeiner Jdee von der Evolution zuſam-
mennimmt; aber es zeiget ſich die große Wichtigkeit
des Begriffs von der Evolution, und lehret, daß die
Natur, wenn ſie organiſirte Weſen oder Gefaͤße for-
met, uͤberall eine Entwickelung vorhandener Gefaͤße ver-
anſtalte, wenn gleich noch etwas mehreres hinzukommt,
um die ganze Arbeit zu vollenden.
Es iſt faſt nicht moͤglich irgend eine organiſche
Konkretion (II. 9.) ſich vorzuſtellen, eine ſolche naͤmlich,
wodurch eine Organiſation entſteht, und nicht bloß eine
unorganiſche Materie geformet wird, wenn man nicht
die organiſirenden Urſachen, die ſich zu der neuen organi-
ſchen Form vereinigen, als ſich entwickelnde Urſachen
gedenket, die ſich vereinigen, indem ſie ſich entwickeln.
Denn wenn jede dieſer Urſachen nur bloße unorganiſche
Materie abſetzet, und dieſe Materie geordnet und verei-
niget wird: ſo entſtehen zwar Excretionen, dergleichen
die Steine in den thieriſchen Koͤrpern ſind, aber keine
organiſchen Gefaͤße; wenigſtens iſt es ſchwer zu begrei-
fen, wie ſie dazu werden koͤnnten.
Hr. Bonnet hat es oft wiederholt, es ſey unmoͤg-
lich das Entſtehen organiſirter Koͤrper, und auch der
einfachſten Formen oder Maſchen, mechaniſch zu erklaͤ-
ren. Jn manchen Hinſichten kann man dieſe Berner-
kung fuͤr richtig halten. Die mechaniſche Zuſam-
menfuͤgung iſt unendlich einfach, in Vergleichung mit je-
der organiſchen, und kann daher die Mannichfaltig-
keit in der Verbindung nicht hervorbringen, welche in
der letztern enthalten iſt. Aber man koͤnnte ihm noch in
einer
[511]und Entwickelung des Menſchen.
einer weitern Bedeutung Recht geben. Wenn eine neue
Form, eine neue Fiber oder eine neue Raute bey derje-
nigen oder innerhalb derjenigen entſtehen ſoll, die ſchon
vorhanden iſt: ſo folget aus den obigen Betrachtungen
(III. 1. 4.) daß dieſes allerdings geſchehen koͤnne und ge-
ſchehen muͤſſe, wenn die hinzugekommene Materie auf
eine ſolche Art aneinander gebracht wird, wie es der Na-
tur der ganzen formenden Organiſation gemaͤß iſt. Denn
in dieſem Fall muß ihre Verbindung unendlich mannich-
faltig und organiſch ſeyn. Wenn ferner die hiebey vor-
kommende Wirkungsart naͤher betrachtet wird, ſo kom-
men wir auch auf mehrere naͤhere Beſtimmungen, die
hiebey moͤglich ſind. Die zuſammengebrachte Materie
kann von den formenden Gefaͤßen ſo nebeneinander ge-
legt werden, es koͤnnen z. E. die Saͤfte aus allen Poris
einer Fiber abgeſondert und dann ſo vereiniget werden, daß
ſie nun ſelbſt eine neue Fiber ausmachen, wie die Ap-
poſition es erklaͤret. Und wenn das naͤmliche an allen
Seiten einer Maſche oder Raute geſchieht, ſo wird eine
neue Maſche oder Raute gebildet ſeyn. Wenn es ſo iſt,
ſo geht hier nichts vor, als eine Vereinigung der auf
eine ſchickliche Art abgeſonderten Saͤfte, ohne eine Ent-
wickelung der Formen oder Fibern, welche da waren
und formten. Allein wenn man nun zugleich auf den
vorher gemachten Unterſchied zwiſchen einer bloß un-
organiſchen Excretion, und zwiſchen einer neuen
organiſchen Form, Ruͤckſicht nimmt: ſo wird man
es doch nicht ſo leicht begreiflich finden, wie die
letztere auf die erwehnte Weiſe erzeuget werde?
Dagegen wenn die vorhandenen Fibern ſich entwi-
ckeln, die Materie inwendig in ſich aufnehmen, ſich
veraͤhnlichen, dann ſich ausdehnen und hie und da Sproſ-
ſen hervortreiben, die, indem ſie hervorgehen, mit ein-
ander zuſammenkommen, ſich fuͤgen und zu einer Fiber,
Raute, Maſche, ſich verbinden: ſo iſt es leichter zu be-
greifen
[512]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
greifen, wie daraus eine neue Maſche entſtehen koͤnne.
Jch ſage nicht, es ſey unmoͤglich, daß neue Formen
ohne Entwickelung der vorhandenen durch eine Appoſi-
tion entſtehen; aber ich ſage, es ſey begreiflicher, wenn
man jene zu Huͤlfe nimmt. Je einfacher die neuen or-
ganiſchen Formen ſind, deſto mehr mag ihre Erzeugung
eine bloße Appoſition ſeyn, und deſto weniger von einer
Entwickelung enthalten; ſo wie bey andern umgekehrt
das meiſte eine Evolution ſeyn kann. Aber ich meine,
die Hypotheſe von der Epigeneſis durch Evolution ſey
ſo allgemein, daß auch da, wo die ſimpelſte organiſche
Form gemacht, wo nur zwiſchen den vorhandenen Rin-
gen oder Gliedern, in der einfachſten organiſirten Fiber,
ein neuer Ring, oder ein neues Glied, eingeſtecket wer-
den ſoll, die Evolution nicht ausgeſchloſſen werden muͤſſe.
Und dieß iſt es, was durch die Beobachtungen wahr-
ſcheinlich wird. Es iſt naͤmlich ſo gut als erwieſen, daß
in einigen Faͤllen, wo organiſche Koͤrper zu einem Gan-
zen zuſammenwachſen, (4.) eine Evolution der vorhan-
denen Fibern geſchehe, und daß dieſe in ihren verlaͤngerten,
hervorgetriebenen und entwickelten Sproſſen ſich vereini-
gen, und dadurch die neuen Formen hervorbringen.
Daher iſt es nun der Analogie der Natur gemaͤß, daß
beide dieſe Wirkungsarten, in verſchiedenen Graden und
Verhaͤltniſſen, aber doch beide zuſammen in jeder Erzeu-
gung neuer Theile, ſie moͤgen den vorhergehenden formen-
den aͤhnlich oder unaͤhnlich ſeyn, vorkommen werden.
V. Naͤhere
[513]und Entwickelung des Menſchen.
V.
Naͤhere Betrachtung der letzterwehnten Hypothe-
ſe von der Epigeneſis durch die Evolution.
- 1) Dieſe Hypotheſe vertraͤgt ſich mit allen Be-
obachtungen. - 2) Sie laͤßt eine Erzeugung neuer Theile zu,
ohne daß eigene Keime zu ſolchen vorhan-
den ſind. Von Wiederergaͤnzungen. - 3) Sie laͤßt zu, daß Keime erzeuget werden.
- 4) Wie ferne die neuentſtehenden Formen ſich
auf den Keim beziehen, aus deſſen Entwi-
ckelung ſie hervorgehen. Jn Hinſicht eini-
ger Formen beſitzet der Keim nichts mehr
als bloße Empfaͤnglichkeit. - 5) Was Anlage, Hang, Tendenz und Trieb
zu etwas ſey. Was weſentliche oder un-
abaͤnderliche Naturtriebe und Formen ſind. - 6) Wie die weſentlichen Formen in dem Keim
beſtimmt ſind, nach der Hypotheſe der Evo-
lution und nach der Epigeneſis. - 7) Wie bloße Vermoͤgen in naͤhere Anlagen,
und dieſe in Tendenzen uͤbergehen. - 8) Allgemeine natuͤrliche Geſchichte der Er-
zeugung und Entwickelung organiſirter
Weſen.
1.
Laßt uns den letztern Begriff von einer Epigeneſis
durch die Evolution, oder von der Evolution,
welche durch neue Verbindungen neue Formen hervor-
bringet, eine Weile vor uns ſtellen. Ohne daß ich den
geringſten Hang haͤtte, die Zahl der Hypotheſen uͤber
IITheil. K kdie
[514]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die Entſtehung organiſirter Koͤrper zu vermehren, bietet
ſich mir dieſe doch bey der Vergleichung der Beobach-
tungen von ſelbſt ſo natuͤrlich dar, wie ſich jemals eine
andere ihrem Erfinder dargeboten hat. Jch habe es
alſo der Muͤhe werth gehalten, ſie etwas naͤher zu be-
leuchten, und von mehrern Seiten zu betrachten. Nach
meinem lebhaften Gefuͤhl von der Schwaͤche menſchli-
cher Kraͤfte, wenn es darauf ankommt, die Natur zu
entziffern, auch nur ſo weit, daß uns ihre groͤbſten
Buchſtaben, nur ihre allgemeinen Aufſchriften leſerlich
werden, bin ich darauf gefaßt zu erfahren, daß Maͤn-
ner von ausgebreiteter Einſicht entdecken, es ſey auch
dieſe Jdee ſo einſeitig und unvollſtaͤndig wie alle uͤbri-
gen, wenn nicht ganz ein Jrrthum.
Daß es irgends eine neue Form in einem organiſirten
Koͤrper, die ſelbſt Organiſation enthaͤlt, geben ſollte,
welche auf eine andre Art, als durch die Entwickelung
vorhergehender und in neue Verbindungen gebrachter
Formen entſtanden ſey, iſt nach dem, was in dem letz-
tern Abſatz davon geſagt worden, unwahrſcheinlich. Jch
wiederhole zum Theil die letzten Gedanken. Es entſte-
het etwas in den organiſirten Koͤrpern durch die bloße
Ausfuͤhrung gewiſſer Saͤfte aus gewiſſen Gefaͤßen, in-
dem ſolche Saͤfte ſich anſetzen und verdicken. Aber was
durch dieſe bloße Appoſition erzeuget wird, kann ſchwer-
lich fuͤr ſich etwas Organiſirtes ſeyn. Denn es iſt ja
nicht jeder Theil eines organifirten Koͤrpers ſelbſt etwas
Organiſirtes. Die Erfahrung zeiget, ſo viel ich weiß,
kein einziges Beyſpiel vor, das dagegen waͤre. So fern
ſelbſt in den Auswuͤchſen organiſirter Koͤrper eine Orga-
niſation vorhanden iſt, wie bey den Naͤgeln, und bey
den Schalen, Hoͤrnern und ſo weiter vorkommen
mag, in ſo fern findet ſich auch, daß ſie aus einer Ent-
wickelung vorhandener Theile entſtehen. Bis dahin
geht das Wahre in der bonnetiſchen Hypotheſe. Da-
gegen
[515]und Entwickelung des Menſchen.
gegen moͤgen unorganiſche Ableger, fremde Konkretio-
nen in den Thieren und Pflanzen durch die Appoſition
der von innen hervorgetretenen Theile erwachſen. Und
noch mehr, es moͤgen dergleichen vorkommen, die ſo-
gar in einer Juxtapoſition gewiſſer Partikeln von außen
an die Gefaͤße ſelbſt, oder an die von innen hervorgetre-
tenen Saͤfte, ihren Urſprung haben. Dieß kann mit
dem Vorhergehenden beſtehen. Aber entſtehen auch
neue ſelbſt organiſirte Theile anders, als durch die Ent-
wickelung und Verbindung der ſich entwickelnden Ge-
faͤße?
Es iſt wahrſcheinlich, daß es keinen einzigen unor-
ganiſchen Anſatz in einem organiſirten Koͤrper gebe, wo-
bey nicht mehrere Wirkungsarten zuſammenkommen.
Giebt es ein Geſchwuͤr, ein Gewaͤchs oder irgend eine
Konkretion in dem menſchlichen Koͤrper, welche nicht
zum Theil eine Ausdehnung irgend eines Gefaͤßes erfo-
dere, und zugleich auch durch das Anſetzen der Saͤfte
von innen, und gewiſſer Partikeln von außen, erzeuget
werde? Jn dieſem Falle muß ihre Entſtehungsart zu
der Evolution oder zu der Appoſition gerechnet werden,
je nachdem das meiſte und vornehmſte von der einen
oder der andern abhaͤnget. Jndeſſen darf doch keine von
dieſen Wirkungsarten fuͤr die alleinige gehalten werden,
wenn man ſich einen vollſtaͤndigen Begriff von der Er-
zeugung eines ſolchen Theils machen will.
2.
Dieſe Hypotheſe von der Erzeugung neuer Formen
laͤßt zu, „daß Theile in einem organiſirten Koͤrper ent-
„ſtehen, wozu kein beſonderer Keim vorhanden war.‟
Jn ſo weit nimmt ſie die Fakta auf, die fuͤr die Epige-
neſis ſtreiten. Ein Keim iſt nicht da, wenn nicht ſchon
ein gewiſſer organiſirter Koͤrper da iſt, der ein Beſtand-
theil des ſich entwickelnden Ganzen wird, und in ſich
K k 2das
[516]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
das Princip der Bildung concentrirt hat, oder wenig-
ſtens den vorzuͤglichſten Theil deſſelben beſitzet. Wozu
aber ſolche Keime in den Polypen, woraus abgeſchnit-
tene Schwaͤnze und Koͤpfe wieder entwickelt werden?
wozu beſondere Keime zu den abgeriſſenen Scheeren der
Krebſe, zu den Ringen in den Wuͤmern, die das Meſ-
ſer weggenommen hat, und zu den Fuͤßen in dem Sa-
lamander? Dieſe ſcharfſinnige Metaphyſik des Hrn.
Bonnets uͤber die Urſachen, warum aus dem Keim in
Polypen dann nur das Kopfende entwickelt wird, dann
das Schwanzende, wenn jenes oder dieſes abgeſchnitten
iſt, kann ganz wegfallen. Es bedarf der ſich ergaͤnzen-
de Kopf keinen Keim, ſo wenig als der Schwanz.
Wollte man ja hier ſich des Ausdrucks von Keim be-
dienen, ſo muͤßte man ſagen, der zuruͤckgebliebene
Schwanz des Polypen ſey der Keim, woraus der Kopf
hervorwaͤchſet; und der zuruͤckgebliebene Kopf ſey der
Keim zu dem Schwanz, ſo wie der ganze verſtuͤmmelte
Salamander der Keim zu dem abgeſchnittenen und wie-
deranwachſenden Fuß iſt. Denn an der Stelle, wo
der Schnitt geſchehen iſt, vereinigen ſich die Enden der
Gefaͤße zu einem Ganzen, und dieß Ganze wird, indem
jene ſich entwickeln und verlaͤngern und ihre Theile von
neuem ſich in gewiſſen Lagen vereinigen, zu dem neuen
Fuß ausgewickelt.
3.
Dieſe Hypotheſe laͤßt zu, „daß die neuen Saamen
„und Keime, welche in den Pflanzen und Thieren er-
„zeuget werden, neu hervorgebrachte organiſirte Koͤrper
„ſind, von eben der Art, wie diejenigen, aus denen ſie
„entſtanden, und daß ſie eben ſo voll von Formen und
„Materie ſind, wie jene.‟ Es iſt auch eben ſo wenig
durch die Erfahrung bewieſen, als es eine nothwendige
Folge dieſes Begriffs iſt, was Hr. Bonnet nach ſeiner
Hypothe-
[517]und Entwickelung des Menſchen.
Hypotheſe als einen Grundſatz anſehen mußte, daß naͤm-
lich jedes organiſirte Ganze, und jeder Theil, auf ein-
mal nach allen ſeinen Formen, Netzen, Maſchen vor-
handen ſeyn und hervorgebracht werden muͤſſe. Der
Einſchlag zu der Kette kann in dem Gewebe der Natur
zugleich auch wiederum Kette werden; und die Ausdeh-
nung der einzelnen Rauten in den Netzen die Rauten
ſelbſt vermehren, ſo wie das Netz im Ganzen vergroͤſ-
ſert wird.
Es gehoͤret zu der Naturlehre es naͤher aus Beob-
achtungen zu beſtimmen, wie ferne die Anlage des thie-
riſchen Koͤrpers in den Eyern enthalten ſey? und wie
viel der maͤnnliche Saame zu dem vollſtaͤndigen frucht-
baren und ſich entwickelnden Keim beytrage? Es ſcheint
auf einer Seite entſchieden zu ſeyn, daß das Thier im
Ey (pullus in ovo) *) enthalten iſt. Aber ob es eben
ſo entſchieden iſt, daß der ganze befruchtete Keim mit
allen ſeinen Formen dem Weibchen allein zugehoͤre? ob
der Saame des Maͤnnchens nichts weiter hinzuthue,
als den Reiz, und die Kraft zur Entwickelung, und
die erſte zubereitetſte Nahrung zum Wachſen? dieß iſt
eine andere Frage. So viel lehret die Erfahrung bey
den Baſtarten und bey den Abweichungen in der
Struktur des Koͤrpers, die in gewiſſen Familien, ſo
wohl von dem Vater als von der Mutter, auf die Kin-
der gehen, daß auch in demjenigen, was von dem Man-
ne hinzukommt, etwas enthalten ſeyn muͤſſe, woraus
Formen werden, die ſonſten nicht entſtanden ſeyn wuͤr-
den. Hr. Bonnet erklaͤret dieß aus der Verſchieden-
heit der Verhaͤltniſſe, worinn die vorhandenen Formen
ſich entwickeln. Aber wenn einmal angenommen wird,
daß neue Formen entſtehen, ſo kann eben ſo wohl die
Vereinigung der Saamenfeuchtigkeit mit dem Ey in
K k 3den
[518]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
den Formen des letzten Modifikationen hervorbringen,
die wie neue Formen zu betrachten ſind.
Das Syſtem des Hrn. Grafen von Buffon ging
dahin, daß die Erzeugung der Thiere von verſchiedenen
Geſchlechten durch eine organiſche Konkretion ge-
ſchehe. Die Feuchtigkeiten aus beyden Geſchlechten,
die jede aus belebten Atomen beſtehen, ſollten ſich verei-
nigen. Aus dieſer Vereinigung ſollte die organiſirte
Anlage zum Thier werden, die nach der Befruchtung
den Anfang des Embryons ausmacht. Jch glaube, daß
die Beobachtungen, welche Hr. Bonnet dagegen ange-
fuͤhret hat, hinreichen, die Unrichtigkeit, oder wenig-
ſtens die Unwahrſcheinlichkeit, dieſer Jdee zu beweiſen.
Denn das Ey enthaͤlt ſchon den Abriß von den Theilen
des Hahns, auch vor der Befruchtung. Aber wenn
von Moͤglichkeiten aus den Begriffen die Rede iſt, ſo
getraue ich mir nicht, dieſe Meinung ſo weit wegzuwer-
fen, als Hrn. Bonnet es gethan hat. Es kommt ſehr
darauf an, wie ſie naͤher beſtimmt wird. Sollte die
Saamenfeuchtigkeit im Maͤnnchen, welche, auch nach
des Hr. Bonnets Erklaͤrung, als ein Extrakt ſeines
ganzen Koͤrpers anzuſehen iſt, *) und ſo vielerley Arten
von Elementen enthaͤlt, als ſich im Keime befinden,
nicht etwan ein organiſirter Auswurf desjenigen Koͤr-
pers ſeyn, wovon er entſtehet? kann er nicht in dem
Moment der Erzeugung entwickelt, nach der Entwicke-
lung von ihm abgeſondert, und mit dem organiſirten
Ey zu einem neuen Ganzen verbunden werden? Soll-
te nicht das Ey in demſelbigen Augenblick durch eine
ſtarke Aktion des organiſirten Koͤrpers eine Entwickelung
annehmen? Auf dieſe Art ließe die Erzeugung ſich
noch immer, als eine neue Produktion einer gewiſſen
Form durch die Vereinigung mehrerer ſich entwickeln-
der
[519]und Entwickelung des Menſchen.
der Theile, anſehen. Jch halte es nicht fuͤr wahrſchein-
lich, daß es voͤllig ſo ſey. Es naͤhert ſich dieſe Entſte-
hungsart zu ſehr der bloßen Appoſition, und es ſcheinet
das große Werk der Erzeugung bey den Thieren mehr
in einer Evolution zu beſtehen, die in dem Keim in dem
Weibchen anfaͤngt. Eine andere Entſtehungsart neuer
Organiſationen anzunehmen, als dadurch, daß ſich ent-
wickelnde Theile auf eine neue Art vereiniget werden, da-
zu fehlet es gaͤnzlich an Gruͤnden. Daher die buffo-
niſche Meinung hoͤchſtens eine Meinung iſt, die et-
was moͤgliches vorausſetzet. Man ſieht aber doch, wie
nahe die eine Art zu erklaͤren der andern gebracht werden
koͤnne, wenn man ſie genauer entwickelt. Die Excre-
tionen unorganiſcher Materien aus organiſirten Koͤrpern
bringen keine Organiſation hervor. Allein wenn das,
was auf beyden Seiten in dem einen und in dem andern
Geſchlecht abgeſondert wird, nichts anders als entwi-
ckelte und organiſirte Theile ſeyn ſollten, ſo koͤnnte ihre
Verbindung unter einander eine neue Organiſation aus-
machen, die von jedem einzeln nimmermehr haͤtte bewir-
ket werden koͤnnen.
Dasjenige, was Keim des Thiers iſt, es befinde
ſich in dem Maͤnnchen oder in dem Weibchen, hat durch
eine Vereinigung mehrerer nach einem gewiſſen Punkte
gerichteter organiſcher Fibern, die ſich, indem ſie ent-
wickelt wurden, ſo zu ſagen, dahin zuſammenbogen,
entſtehen koͤnnen. Jſt der Saame oder das Ey die
Grundlage, welche die Anfangspunkte zu allen ſich ent-
wickelnden Fibern, auf eine gewiſſe Weiſe neben einander
liegend, in ſich faßt, ſo koͤnnen dieſe Fibern, wenn ſie
ſich bey der Ausbildung des Thiers oder der Pflanze
vergroͤßern und verlaͤngern, auseinander gehen und
in unzaͤhligen Richtungen divergiren, aber dennoch eine
urſpruͤnglich ihnen anklebende Tendenz beybehalten, nach
Einem ſolchen Vereinigungspunkte wieder zuſammenzu-
K k 4laufen.
[520]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
laufen. Der Keim, der ſich entwickelt, iſt die Stelle
wo ſie ausgehen; und die Punkte am Eyerſtock ſind
vielleicht die Stellen, wohin ſie wieder zuſammenlaufen.
Jn dieſen Zeugungstheilen iſt gleichſam der Mittelpunkt
der ganzen Organiſation. Sie ſelbſt, als die Werkzeu-
ge, welche zunaͤchſt zu dieſem Mittelpunkte hinfuͤhren,
ſind ohnedieß mit ſo bewundernswuͤrdiger Kunſt einge-
richtet, daß man ſie nach Hrn. Bonnets Ausdruck als
Urbilder*) der vornehmſten Eingeweide des Thiers
anſehen kann. Wenn das iſt, ſo wird die obige Vor-
ſtellung von dem Keim, als von einem Brennpunkte der
Organiſation, beſtaͤtiget.
4.
Nach der bonnetiſchen Evolutionshypotheſe ent-
haͤlt der Keim alle weſentlichen Theile des ganzen Koͤr-
pers. Dieß heißt in der That eben ſo viel, als alle
Formen, die in demſelben vorkommen, nur |die Materie
nicht. Es erlaubet zwar dieſer Begriff, daß die Figu-
ren, die bey der Ausbildung entſtehen, bey den Baſtar-
ten und Mißgeburten von der Nahrung und von aͤußern
Umſtaͤnden beſtimmet werden, zum Theil wenigſtens;
aber dieſe neuen Abaͤnderungen der Organiſation haben
allein ihren Urſprung in den verſchiedenen Verhaͤltniſſen,
in welchen die urſpruͤnglichen Formen im Keime ſich
ausdehnen. Damit muß doch ſo viel auch eingeraͤumet
werden, daß der Keim in Hinſicht einiger Geſtalten des
organiſirten Koͤrpers, welche abgeaͤndert werden koͤnnen,
ſich nicht voͤllig ſo verhalte, als in Hinſicht anderer, die
nur auf Eine Art vorhanden ſeyn, und ohne Zerſtoͤrung
des ganzen Keims keine Veraͤnderung leiden koͤnnen.
Solche Verſchiedenheiten unter den Bildungen be-
ſonderer Theile, davon einige durch den Keim voͤllig
und
[521]und Entwickelung des Menſchen.
und einfoͤrmig beſtimmt ſind, andere weniger, in Hin-
ſicht deren der Keim bloß ein Vermoͤgen beſitzet ſie an-
zunehmen, finden ebenfalls ſtatt, wenn die Epigeneſis
durch die Entwickelung zum Grunde geleget wird; und
in dieſer letztern Hypotheſe in derſelbigen Maße, nicht
mehr oder weniger als in der erſten; nur mit dem
Unterſchiede, daß bey der letztern die Abaͤnderungen der-
geſtalt als neue hinzugekommene Formen angeſehen wer-
den, da ſie in dem Evolutionsſyſtem nur Abaͤnderungen
der Verhaͤltniſſe ſind, worinn die urſpruͤnglichen For-
men ſich entwickeln. Diejenigen Formen, welche durch
die Organiſation des Keims voͤllig und auf dieſelbige
Art beſtimmt ſind, machen die weſentlichen und un-
veraͤnderlichen Formen der Organiſation aus; die
uͤbrigen ſind zufaͤllige, außerweſentliche, veraͤn-
derliche.
Dieſe Unterſcheidung, und ihre genauere Beſtim-
mung, verbreitet ſo viel Licht uͤber unſern Begriff von
der Generation, daß man in jeder Hypotheſe, die man
annimmt, dabey nothwendig verweilen und ſie ſo deut-
lich als moͤglich auseinanderſetzen muß. Der Keim iſt
als ein wirkliches Ding in aller Hinſicht beſtimmt,
und in ſo ferne gegen keine einzige von den Modifikatio-
nen voͤllig gleichguͤltig und unbeſtimmt, die in dem
naͤchſtfolgenden Augenblick der Entwickelung durch ſeine
innere Struktur, und durch den Einfluß der Nahrung
und der uͤbrigen aͤußern Umſtaͤnde, in ihm hervorge-
bracht werden. Jedwede noch ſo zufaͤllige Veraͤnderung
hat mehr oder minder Beziehung auf ſeine dermalige
Einrichtung; iſt ihr mehr oder minder gemaͤß, oder mit
andern Worten: die bildenden aͤußern Urſachen, welche
dazu beywirken, aͤndern die ſchon vorhandene Richtung
der innern Lebens-und Entwickelungskraͤfte, und die
dadurch beſtimmte Lage der Theile, mehr oder weniger.
Woraus folget, daß, ſo indifferent auch die hinzukom-
K k 5mende
[522]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
mende Modificirung in Hinſicht der innern Vermoͤgen
und Anlagen im Keim ſcheinen mag, ſie es dennoch nicht
ganz vollkommen iſt. Man muß ſich vorſtellen, es ſey
entweder eine Anlage dazu in dem Keim, oder ein
Hang, vorhanden geweſen, wenn ſie ihm gemaͤß iſt; oder
wenn ſie ihm nicht gemaͤß iſt, eine Keluktanz dagegen,
welche uͤberwunden worden iſt. Der Keim beſitzet alſo
zu jeder neuen Form, oder zu jeder neuen Entwickelung
ſeiner Formen, entweder eine Anlage oder ein Unvermoͤ-
gen. Beides aber faßt mehr in ſich, als eine bloße
Receptivitaͤt, ſolche von fremden Urſachen anzu-
nehmen.
Gleichwohl hindert dieß nicht, in der Anwendung
dieſer allgemeinen Betrachtung auf die Erfahrungen,
den Keim mit allen ſeinen Anlagen in Hinſicht man-
cher neuen Modifikationen, die ihm in dem naͤchſtfolgen-
den Moment beygebracht werden, als gleichguͤltig an-
zuſehen. Seine naͤhere Beſtimmtheit zu der Einen,
oder zu der entgegengeſetzten, kann ſo unendlich geringe
ſeyn, daß ſolche mit allen ihren Folgen niemals bedeu-
tend genug wird, um beobachtet werden zu koͤnnen. Sie
gehoͤret alſo zu ſolchen Dingen, die zwar in der Theorie,
wie andre individuelle Verſchiedenheiten, nicht ganz ein
Nichts ſind, in der Anwendung aber und bey der Be-
obachtung aus der Acht gelaſſen werden moͤgen. Dieſe
Bemerkung berechtiget uns, eine eigene Art von Mo-
dificirungen des Keims als eine ſolche anzuſehen, in
Hinſicht derer nichts mehr als bloße Empfaͤnglich-
keit, bloßes leidendes Vermoͤgen ſie anzunehmen, und
Vermoͤgen ſie zu entbehren, in ihm und in ſeinen ur-
ſpruͤnglichen Formen vorhanden iſt.
5.
Aber was nun die uͤbrigen betrifft, zu welchen in
ihm ſchon eine naͤhere Anlage vorhanden iſt, oder eine
mehr
[523]und Entwickelung des Menſchen.
mehr beſtimmte Unfaͤhigkeit: wie unendlich verſchie-
den an Graden und Stufen kann die Beſtimmtheit da-
zu nicht ſeyn?
Jede naͤhere Beſtimmtheit kann ſchon eine Anlage
genannt werden, und dieſe eine Faͤhigkeit, inſoferne
ſie beſonders in den wirkſamen Kraͤften geſetzt wird.
Eine noch ſtaͤrkere Anlage iſt ein Hang, wenn
uͤberhaupt die innern Beſtimmungen, die Lage der Theile
und die Beziehung der Kraͤfte auf einander mehr da-
hin gehen, daß dieſe als eine andere Form entwickelt wird.
Dieſer Hang wird Tendenz, wenn es beſonders auf
die Richtung der thaͤtigen Kraͤfte dabey ankommt. Ein
noch hoͤherer Grad der Tendenz wird Naturtrieb, Jn-
ſtinkt.
Je hoͤher dieſe Grade der Beſtimmtheit zu einer
Form ſind, deſto weniger laͤßt ſich ſolche durch den Ein-
fluß der aͤußern mitbildenden Urſachen abaͤndern. Der
Keim muß eine deſto groͤßere Gewalt leiden, je ſtaͤrker
ſeiner Anlage entgegengearbeitet wird. Wenn die Be-
obachtungen an den Baſtarten und Mißgeburten, und
die wir von den auf die Kinder fortgepflanzten Beſchaf-
fenheiten der Eltern haben, uns nicht lehrten, daß es
wiederum unter dieſen, durch den Keim beſtimmten
Formen, noch eine große Verſchiedenheit gebe: ſo moͤchte
man ſich vielleicht berechtiget halten, die naͤhern Be-
ſtimmungen dieſer Unterſchiede fuͤr leere metaphyſiſche
Subtilitaͤten zu halten. So aber ſind die Beobachtun-
gen fuͤr uns unverſtaͤndlich, wenn man an dieſe Subti-
litaͤten nicht will.
Entweder laͤßt die Naturanlage ſich abaͤndern, ohne
daß der Keim geſtoͤret und ſeine Entwickelungskraft
vernichtet werde, oder ſie iſt ſo unabaͤnderlich, daß Hin-
derniſſe, welche die Entwickelung in einer gewiſſen Form
unmoͤglich machen, zugleich auch die ganze Entwickelung
aufheben. Die Formen von der letztern Art gehoͤren
vor
[524]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
vor allen uͤbrigen zu den weſentlichen Formen und
zu denen, welche allein und vollkommen durch die Orga-
niſation des Keims beſtimmt ſind. Theile, die keinem
menſchlichen Weſen, auch den Mißgeburten nicht, ge-
fehlet haben und fehlen koͤnnen, ſind ohne Widerrede
weſentliche Formen. Welche Theile gehoͤren aber
hieher in dem menſchlichen Koͤrper? Dieß wuͤrde durch
die Vergleichung zu beſtimmen ſeyn. Das Herz und
deſſen Trieb iſt nach dem Urtheil des groͤßten Koͤrper-
kenners, des Hrn. von Haller,*) ſchlechthin unentbehr-
lich zur Entwickelung der Frucht. Das Herz gehoͤrt
alſo zu den erſten weſentlichen Formen des Keims vom
menſchlichen Koͤrper.
Allein nach einer neuern Beobachtung einer ſieben-
monatlichen Mißgeburt, **) welche zu Halle im Jenner
1775 ohne Hals, Bruſt, Arme, Herz, Luftroͤhre,
Lunge, Zwerchfell, Leber, Milz, Nieren, zur Welt
gekommen iſt, ſcheinet es, als wenn auch nicht einmal
ein Herz, ſo wenig als irgend einer dieſer Theile, ſo
ſchlechterdings nothwendig in dem Jnnern des Keims
beſtimmt ſey, daß keine Entwickelung ohne in ſolche For-
men ſtatt finden koͤnne. Eine vollkommene Entwicke-
lung kann nicht ohne ſie ſeyn.
Man
[525]und Entwickelung des Menſchen.
Man kann noch weiter gehen. Formen die noth-
wendig ſind, wenn der Keim bis zur lebendigen Ge-
burt entwickelt werden ſoll, ſind dennoch entbehrlich,
wenn die Entwickelung noch unvollkommener, und
doch noch eine Art von Entwickelung bleiben ſoll. Soll-
ten nicht in den ſogenannten Mondkaͤlbern Beweiſe
liegen, daß ein Anfang von Entwickelung vorgehen
koͤnne, obgleich ſolche bald in Unordnung gerathe und
endlich in eine bloße Appoſition, aus der nur ein unor-
ganiſches Gewaͤchs entſtehet, ſo weit noch etwas entſte-
het, veraͤndert werde? Hieraus folget nun zwar ſo viel,
daß ſelbſt die zur vollſtaͤndigen Frucht unentbehrlichen For-
men dieß nur in einer gewiſſen Beziehung ſind, und daß
ſolche durch den Keim nur in einer gewiſſen Maße be-
ſtimmt ſind. Einige ſind es ſo ſtark, daß jene ſich ohne
ſie gar nicht entwickeln kann; andere ſind es ſo weit, daß
keine lebendige Frucht in den Thieren ohne ſie erzeu-
get wird; andere in der Maße, daß ohne ſie keine le-
bendige Frucht entſteht, die ſich zu erhalten im Stande
iſt; noch andere ſo weit, daß ohne ſie keine vollſtaͤn-
dige Frucht, mit Zeugungsvermoͤgen begabt, entſtehen
kann. Ein großer Theil der Mißgeburten iſt unfaͤhig,
ſich zu erhalten. Aber die Baſtarte beſtehen, ohne Ver-
moͤgen ihr Geſchlecht fortzupflanzen. Jndeſſen kann
man hiebey die letztere Nothwendigkeit, naͤmlich zu ei-
ner vollſtaͤndigen Frucht, mit Recht als eine gewiſſe
Einheit anſehen. Formen, die dazu unentbehrlich ſind,
muͤſſen fuͤr weſentliche Formen, und ihre Beſtimmung
durch die Organiſation im Keim als eine weſentliche
und hinreichende Beſtimmung derſelben betrach-
tet werden. Alsdenn werden im Gegentheil alle
uͤbrige, ohne welche das Thier und die Pflan-
ze ein vollſtaͤndiges, ſich und ſeine Art fortpflanzen-
des, Weſen ſeyn kann, unter die zufaͤlligen und auſ-
ſerweſentlichen Formen gehoͤren, die zwar mehr oder
minder
[526]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
minder durch den Keim beſtimmt ſind, aber doch nicht
in ſolcher Maße, daß die vollſtaͤndige Ausbildung ver-
hindert wird, wenn aͤußere Urſachen ſie abaͤndern.
6.
Solche Verſchiedenheiten in den Formen muß das
Evolutionsſyſtem eben ſowohl anerkennen, als die Epi-
geneſis, obgleich jene nur neue Verhaͤltniſſe in der Aus-
dehnung der urſpruͤnglichen Formen des Keims findet,
wo die letztere neu entſtandene Formen annimmt. Aber
in der Art und Weiſe, wie die weſentlichen Formen in
dem Keim beſtimmt ſind, weichen beide von einander
ab. Jede Form, welche entwickelt wird, iſt nach der
Evolution ſchon vorhanden, und wird nur vergroͤßert an
Maſſe. Der Grund, warum ſie ſo ſtark oder ſo ſchwach
entwickelt wird, lieget auch in der Beſchaffenheit der Fi-
bern, und in ihren urſpruͤnglichen Beziehungen auf ein-
ander, aber ſo, daß dieſer Grund durch den Einfluß
aͤußerer Urſachen veraͤndert werden kann. Die Fibern,
welche zu Knochen werden ſollen, haben urſpruͤnglich ei-
ne groͤßere Verbindungskraft, als die zu Muſkelfibern
beſtimmt ſind. Die Anfangspunkte zu dem Schwanze
und den Ohren in dem Keim des Pferdes ſtehen, in
Hinſicht ihrer Entwickelungskraft, in einem innern Ver-
haͤltniſſe zu einander. Das Verhaͤltniß in den letztern
wird veraͤndert, wenn die Befruchtung des Keims von
dem Eſel geſchieht; und in Hinſicht jener giebt es eben-
falls zufaͤllige Urſachen, welche die groͤßere Solideſcibi-
litaͤt in den urſpruͤnglichen Knochenfibern in der Folge
der Entwickelung aufheben koͤnnen.
Nach dem Begriffe von der Epigeneſis erfodern die
weſentlich beſtimmten Formen gleichfalls gewiſſe Anla-
gen in dem Keim ſo eingerichtet, daß, wenn Nahrung
hinzu-
[527]und Entwickelung des Menſchen.
hinzukommt und die vorhandenen Fibern ſich entwi-
ckeln, dann aus einander gehen, oder zuſammenſchlagen
und neue Formen machen, ſolches auch in der Richtung
und in der Maße geſchehen muͤſſe, als es wirklich ge-
ſchieht. Wenn nun die weſentlichen Fibern im Keim,
bey dem Auswachſen, ſich in verſchiedene Richtungen
ausdehnen, von einander abgehen und dem Umfang
des Koͤrpers mancherley Geſtalten geben: ſo haben ſie
dennoch eine Tendenz mit ihren Enden wiederum an
den Stellen, wo die neuen Keime und Saamen zu-
bereitet werden, als zu ſo vielen Sammlungspunkten
zuſammenzugehen, und durch ihre Vereinigung neue
Keime und Saamen daſelbſt anzulegen. Dieſe Ten-
denz iſt zum Theil ſchon in der urſpruͤnglichen Bezie-
hung gegruͤndet, welche die erſten Anfaͤnge der Fibern
in dem Keim gegeneinander haben; theils wird ſie durch
andere zwiſchen ihnen liegende Materien und Partikeln,
wodurch jene verbunden ſind, beſtimmet. Jn ſo weit
giebt es eine gewiſſe urſpruͤngliche Form, welche der
Grund von derjenigen iſt, die durch ſie beſtimmt wird.
Aber kann dieſe Grundeinrichtung in dem Keim,
vermoͤge deren ſeine ſich entwickelnden Theile wiederum
in einem aͤhnlichen Keime zuſammengehen, ein Keim
zu dem neuen Keim heißen? eine beſondere Anlage,
woraus bloß durch die Entwickelung wiederum ein neuer
Keim wird? Dieß letztere iſt ein Zuſatz des Witzes
und der Einbildungskraft, wodurch die Evolutionshypo-
theſe ihr Unterſcheidungsmerkmal empfangen hat. Viel-
leicht moͤchte Herr Bonnet, da er die Ausdruͤcke:
durch die Bildung des Keims beſtimmt ſeyn,
und, der Form nach ſelbſt in dem Keim exiſti-
ren, mit einander ſo abwechſelt, daß es ſcheint, als
wenn beide ſeinen Sinn auf gleiche Weiſe ausdruͤckten,
mit der obigen deutlichen Erklaͤrung, wie die weſentli-
chen Formen nothwendig durch die Organiſation im
Keim
[528]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Keim beſtimmt ſind, zufrieden geweſen ſeyn, und ſol-
ches fuͤr eben das gehalten haben, was er nur mit an-
dern Worten ſagte und von einer andern Seite vor-
ſtellte. Jſt der urſpruͤngliche Grund von der Tendenz
der Fibern, ſich weiter zu Keimen zu vereinigen, ſich
an mehrern Stellen zugleich zu mehrern Keimen zu
vereinigen, nicht ſelbſt eine gewiſſe urſpruͤngliche Ten-
denz gegeneinander? oder ſind es nicht mehrere ſolche
Tendenzen, wenn mehrere Vereinigungen in der Folge
geſchehen? und ſind jene urſpruͤngliche Tendenzen nicht
urſpruͤngliche Formen, und im Kleinen das, was nach-
her im Großen entſtehet? und alſo Anlagen zu den neuen
Keimen? Man koͤnnte hinzuſetzen, daß nach der allge-
meinen Analogie zwiſchen einem beſtimmten Grunde und
zwiſchen dem, das durch ihn beſtimmt wird, das letztere
als eine Abbildung von dem erſtern, und das erſtere
als ein Anfang von dem letztern, und als ein Grund-
riß von ihm angeſehen werden muͤſſe. *) Allein wenn
man, ſo wie es ſeyn muß, die Begriffe deutlich zu be-
ſtimmen ſucht, ſo wird man finden, die Phantaſie habe
etwas von dem Bilde des Ausdrucks dem Eigentlichen
der Sache beygemiſchet.
Denn wenn in dem Keim nichts mehr iſt, als der
beſtimmende Grund zu einem neuen Keim, oder zu
jedwedem andern Gliede, Theil oder Form des entwi-
ckelten Koͤrpers, ſo heißt dieß weiter nichts, als ſo viel:
„wenn der ſo gebildete Keim die gehoͤrige Nahrung ein-
„ziehet und unter die aͤußern Umſtaͤnde geſetzet iſt,
„ohne welche ſeine Entwickelung nicht vor ſich geht, ſo
„wird ſeine innere Einrichtung die Folge haben, daß
„die ſich entwickelnden Fibern in Richtungen kommen,
„die zu dem neuen Theil noͤthig ſind.‟ Der neue Keim
iſt alſo in dem alten beſtimmt, in ſo ferne die aus dem
alten
[529]und Entwickelung des Menſchen.
alten herausgehenden Fibern beſtimmt ſind, auf dieſel-
bige Art und in eine aͤhnliche Lage wieder zuſammen-
zulaufen, als diejenige war, die ſie in der Grundlage
hatten, aus der ſie hervorgingen. Der Keim enthaͤlt
das Princip der Bildung in ſich, nicht aber die Bil-
dung ſelbſt. Ueberdieß iſt das Bildungsprincip in ihm
von der Art, daß um ſeine Folgen zu haben, auch eine
ihm anpaſſende Nahrung zugefuͤhret werden, und es
ſelbſt in einer ſolchen Lage ſeyn muß, die ihm Freyheit
laͤßt ſeiner innern Wirkſamkeit gemaͤß ſich auszudehnen.
Denn, ohne einen Einfluß der aͤußern Urſachen, iſt jenes
ſo wenig hinreichend ſich auf die beſtimmte Art zu ent-
wickeln, als der Saame zu einer Pflanze aufkeimen
kann, wenn er nicht in ein ſchickliches Erdreich gebracht
wird. Wie uͤberhaupt die Natur des Menſchen nir-
gends allein iſt, und nirgends abgeſondert von dem Ein-
fluß aͤußerer Dinge, ſondern nur immer in der Verbin-
dung mit andern das wirkt, was ſie wirkt: ſo verhaͤlt es
ſich auch mit dem innern Prircip der Bildung in dem
Keim. Wenn ſolches fuͤr den beſtimmenden Grund der
Bildung angeſehen wird, wie es iſt, ſo kann es dennoch
in keinem andern Sinn es ſeyn, als ſo ferne es den in-
nern und den vornehmſten Grund enthaͤlt, aus dem
das Weſentliche bey der Bildung begreiflich iſt; nicht
aber, weil es der alleinige Grund iſt, der alles er-
klaͤret.
Das innere Bildungsprincip zu der Organiſation ſe-
tzet außer Zweifel eine gewiſſe Organiſation in ſich ſelbſt
voraus. Aber wie viel anders iſt es: „die beſtimmte
„Form oder Verbindungsart der Partikeln ſchon ſelbſt
„in ſich haben,‟ und: „eine ſolche Verbindung in ſich
„haben, die jene hervorbringet, wenn ſie ſich entwickelt?‟
Wo das letztere ſtattfindet, da koͤnnen neue Formen hin-
zukommen zu den erſten, welche da ſind, und dieſen
aͤhnlich oder unaͤhnlich ſeyn. Eine Form kann, indem
IITheil. L lMaterie
[530]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Materie hinzukommt, dieſe Materie auf eine aͤhnliche
Art anſetzen und ſich verdoppeln. Alsdenn iſt die
Grundform A von der bewirkten Form A unterſchieden
der Zahl nach, wenn wir das Uebrige bey Seite ſetzen;
und es ſind alſo zwo Formen da, an ſtatt Einer. Und
dieſe Zahl aͤhnlicher Formen kann weiter anwachſen,
weil die bildenden Kraͤfte in der erſtern und nun auch in
der zwoten Form fortdauern und fortwirken, wenn es
nur an Materie nicht fehlet. Bey den unaͤhnlichen
Formen, die ſich erzeugen, kann es ſich eben ſo verhal-
ten. Tauſend Blaͤtter und tauſend Saamenkoͤrner
werden, auf dieſelbige Art, aus derſelbigen Pflanze her-
vorgetrieben, wie Ein Blatt und Ein Korn. Es iſt
nur die fortdaurende Wirkſamkeit derſelbigen Kraft zu
wachſen, und der fortdaurende Zufluß von Nahrung,
wovon dieſe Mehrheit aͤhnlicher Formen abhaͤngt, und
wodurch in den warmen Laͤndern die Baͤume mehrmalen
im Jahr Blaͤtter und Fruͤchte treiben, wenn ihnen die
verdorrende Hitze der Sonne die vorhergehenden entzo-
gen hat. Aber dieſe Mehrheit der Produkte fuͤhret auf
keine Mehrheit der ſich entwickelnden Grundformen, wie
es nach der bonnetiſchen Hypotheſe ſeyn muͤßte, ſon-
dern nur auf eine wiederholte Entwickelung derſelbigen
Formen. Jſt die Form B, welche aus der erſtern Form
A erzeuget wird, von dieſer unterſchieden, ſo beſitzet die
letztere zwar die hervorbringende Kraft zu der Form B,
aber ſie enthaͤlt nicht die Form B ſelbſt in ſich. Die ent-
wickelnde Kraft der Form A, welche den Partikeln, wor-
aus A beſtehet, beywohnet, hat ihren Grund theils von
den Kraͤften dieſer Partikeln, am meiſten aber von ihrer
organiſchen Verbindung unter einander. Wenn nun
neue Materie hinzukommt, deren Partikeln, fuͤr ſich
einzeln genommen, mit wirkenden Kraͤften, wie jene,
begabet ſind: ſo muß, indem dieſe vereiniget werden zu
der Form B, auch eine treibende entwickelnde Kraft in
der
[531]und Entwickelung des Menſchen.
der letztern Form B entſtehen, aus der von neuem An-
waͤchſe hervorgehen koͤnnen. Es iſt hieraus klar, daß
die weſentlichen Theile eines Thiers und einer Pflan-
ze, naͤmlich diejenigen, von deren Vorherbildung die
Art der Entwickelung am meiſten abhaͤngt, in dem
Keim enthalten ſind. Und was die Grundzuͤge jeder
einzelnen Theile des entwickelten Koͤrpers betrift, z. E.
die Grundzuͤge des Kopfs, der Haͤnde, der Fuͤße u. ſ.
w. ſo ſind ſolche gleichfalls in Hinſicht der Gruͤnde, wo-
durch ſie beſtimmet werden, in dem Keim enthalten;
nur ſie ſelbſt ſind nicht darinnen. Will man ſich von
dem Keim des Ausdrucks bedienen, daß ſolcher ein Jn-
begriff aller weſentlichen Theile des organiſchen Koͤrpers
ſey, ſo muß dieß nur ſo viel heißen: „er faſſe ſolche,
„ihren Beſtimmungsgruͤnden nach, in ſich;‟ daß iſt,
er habe ſie auf eine ſolche Art in ſich, wie etwas im Keim
enthalten iſt.
Hr. Bonnet hat einige Beobachtungen, die es
deutlich zu zeigen ſcheinen, daß jeder organiſche Theil
eines Koͤrpers, der hinzu waͤchſt, ſogleich ganz mit al-
len ſeinen weſentlichen Zuͤgen vorhanden ſey, und auf
dieſe Art ſich ſehen laſſe, ſo bald der Theil ſelbſt ſichtbar
wird, als einen ſeiner wichtigſten Gruͤnde angeſehen, die
er der Epigeneſis entgegenſetzen koͤnnte. Sollte ein or-
ganiſirter Koͤrper allmaͤlich wachſen, durch die Ver-
mehrung ſeiner neuen Formen: warum findet ſich denn
nicht einmal der Koͤrper des Schmetterlings ſchon gebil-
det, ohne daß es ſeine Fluͤgel auch ſind? Es geht dieß
ſogar auf die Bildungen im Mineralreich uͤber. Denn
es iſt nicht wahrſcheinlich, daß die Kryſtalle nur allmaͤ-
lig, Stuͤck nach Stuͤck, ſich aneinander ſetzen; ſondern
man muß nach den Beobachtungen ſagen, daß jede un-
terſchiedene Figur auf einmal ganz zu Stande kommt,
durch ein einziges Zuſammenſchieben ſeiner Theile. Es
iſt alſo ein wahrſcheinlicher analogiſcher Grund bey den
L l 2organi-
[532]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
organiſchen Koͤrpern da, zu ſchließen, daß, ſo wie alle
weſentliche Formen eines Theils auf einmal zugleich
ſichtbar werden, wenn das Ganze es wird, ſo werden
ſie auch in unſichtbarer Geſtalt jederzeit alle neben ein-
ander vorhanden geweſen ſeyn.
Jch habe oben ſchon erinnert, wenn man bloß
bey dem Beobachteten ſtehen bleibt, ſo laſſe ſich nicht
ſagen, daß alle Formen in dem ausgebildeten Theile
ſchon in dem erſten Anſatze darzu bemerkbar ſind. An
dem wiederauswachſenden Fuſſe des Salamanders ſieht
man zwar, da wo er hervorgeht, auch bald die Stelle,
wo die Zehen herausgehen wollen; doch ſind dieß nur die
erſten Anſaͤtze zu den Zehen, und nicht die Zehen ſelbſt.
Allein, wenn man auch jenem analogiſchen Schluſſe die
ganze Guͤltigkeit einraͤumt, ſo deucht mich, es duͤrfe
nicht mehr eingeraͤumet werden, als daß in dieſen erſten
ſichtbaren Anſaͤtzen der organiſirten Theile auch zugleich
die weſentlichſten Zuͤge dieſer Theile enthalten ſind,
die das Uebrige in dem Ganzen mittelbar oder unmittel-
bar beſtimmen. Es ſind doch immer nur die Anlagen
zu den Theilen in der Anlage zu dem Ganzen enthal-
ten. Und dieſe Anlagen ſind Formen, die nicht unmit-
telbar ſchon die Anfangspunkte aller nachfolgenden For-
men ſind, ſondern von vielen Formen nur die mittelba-
ren Gruͤnde enthalten. Die Anlagen zu allen beſon-
dern Formen des Ganzen ſollen unmittelbar in dem
Keim ſeyn, nach der bonnetiſchen Evolution. Aber
es giebt auch Anlagen, wenn jeder die Form beſtim-
mender Grund eine Anlage zu dieſer Form heißen ſoll,
die es nur mittelbar ſind, die naͤmlich zunaͤchſt Anla-
gen zu gewiſſen Formen ſind, welche, wenn ſie hervor-
gehen, wiederum die naͤchſten Anlagen zu andern wer-
den. Mich deucht alſo, die Beobachtungen an den
Zwiebelgewaͤchſen, *) wo man Zwiebel in Zwiebel bis
auf
[533]und Entwickelung des Menſchen.
auf die dritte und vierte Generation antrift, lehren zwar
eine gewiſſe Evolution der Theile, die aber eben ſo
wenig die durchgaͤngige Evolution als ihre Folgen be-
weiſet, die man in Hinſicht der Einſchließung der Kei-
me aus ihr gezogen hat.
7.
Es hat weniger Schwierigkeiten, die Entſtehungs-
art ſolcher Formen zu begreifen, welche nicht ſo beſtimmt,
wie die weſentlichen Formen, in der Vorherbildung des
Keims gegruͤndet ſind. Jch meine naͤmlich, es laſſe ſich
ſolches im Allgemeinen begreifen, und weiß wohl, daß
dieß Metaphyſiſche in der Sache nur unendlich wenig
von dem individuellen Phyſiſchen iſt, welches letztere
ſich nicht erſchoͤpfen laͤßt. Jſt der Grund zu einer Bil-
dung im Keim nicht ſo ſtark beſtimmend, oder iſt gar
in jenem, in Hinſicht auf eine beſtimmte Form, nichts
mehr als eine bloße Empfaͤnglichkeit vorhanden: ſo wird
dieſe Empfaͤnglichkeit in eine Diſpoſition oder in eine
Anlage, und die Anlage in eine naͤhere Anlage und
in Tendenz, und die Tendenz in eine Fertigkeit uͤber-
gehen, und die letztere zur zwoten, feſten und unveraͤn-
derlichen Natur werden, wenn die hinzukommende Nah-
rung, die den Keim entwickelt, mit ſeinen Partikeln ſich
vereiniget, die Kraͤfte derſelben durch aͤhnliche Kraͤfte
vermehret und dadurch die Kraft des Ganzen verſtaͤr-
ket und ſie in den Richtungen, worinn ſie wirken, und
in ihren gleichmaͤßigen Verhaͤltniſſen gegen einander
befeſtiget. So viel die Nahrungstheile, welche hinzu-
kommen und in die vorhandenen geformten Partikeln wir-
ken, gleichmaͤßig mit jenen wirken, und in uͤbereinſtim-
mender Richtung wirken, in ſo ferne entſtehen keine neue
Formen, ſondern nur Evolutionen, Vergroͤßerungen,
Befeſtigungen der vorhandenen Formen. Jede Mehr-
heit des Aehnlichen macht Groͤßen aus, in der Koͤrper-
L l 3welt
[534]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
welt wie in der Geiſterwelt, in der Phyſiologie wie in
der Pſychologie. Darinn beſteht der Uebergang von
ſchwachen Anlagen zu ſtaͤrker beſtimmten Trieben.
Jn ſo fern dagegen die neuen, in der ſich vereinigenden
Materie enthaltenen Kraͤfte weniger mit den vorhandenen
Kraͤften uͤbereinſtimmen, und vielmehr ihre Richtungen
abaͤndern, was theils durch die innere Staͤrke der neuen
Kraͤfte, theils durch ihre Menge geſchehen kann: ſo
muß auch daraus die Folge entſtehen, daß zunaͤchſt und
unmittelbar das Verhaͤltniß der urſpruͤnglichen Fibern
veraͤndert werde, daß einige in groͤßer Maße befeſtiget,
verlaͤngert und verdichtet werden, und andere in einer
geringern, als es den innern Kohaͤſionskraͤften der vor-
handenen Fibern gemaͤs war; und endlich, daß, wenn
nun dieſe ſich entwickelnden Formen auf ihre Art zuſam-
mengehen und neue Formen machen, dieſe letztern als
neue Formen anders ausfallen, als es zufolge der Be-
ziehung der Kraͤfte in der anfaͤnglichen Organiſation ge-
ſchehen ſeyn wuͤrde.
8.
Die vorhergehenden Betrachtungen vereinigen ſich
zu dem folgenden allgemeinen Begriffe von der Naturge-
ſchichte der organiſirten Koͤrper, von denen wir wiſſen,
daß ſie aus Saamen oder Eyern gebildet werden. Es
leiden aber die beſondern Theile dieſes Abriſſes noch ver-
ſchiedene naͤhere Beſtimmungen; und wenn man dieſe
auf die gehoͤrige Weiſe abaͤndert, ſo laͤßt ſich die allge-
meine Jdee auch auf die uͤbrigen organiſchen Weſen an-
wenden, bey welchen entweder die naͤmlichen Perioden
nicht vorkommen, oder doch nicht ſo merklich unterſchie-
den ſind. Etliche Hauptveraͤnderungen fallen bey gewiſ-
ſen beſondern Arten organiſcher Koͤrper nahe zuſammen
und in einander, oder erfolgen gar zu gleicher Zeit, die
bey
[535]und Entwickelung des Menſchen.
bey andern Gattungen durch eine merkbare Zeitfolge ge-
trennet ſind.
Zuerſt wird ein Keim, oder eine Anlage, bereitet,
die aber unvollſtaͤndig iſt. Dieß iſt der unbefruchte-
te Keim oder Saame, von dem die Naturforſcher es aus-
machen moͤgen, ob er in dem Weibchen oder in dem
Maͤnnchen vorhanden ſey? Jenes haben ſie durch eine
große Jnduktion wahrſcheinlich gemacht.
Die erſte Anlage entſtehet durch die Vereinigung
der ſich entwickelnden und dazu vorher gebildeten Fibern,
Theile, Gefaͤße, in einem entwickelten organiſchen Koͤr-
per. Wenn es Eyer in Eyern wie Zwiebeln in Zwie-
beln giebt, ſo ſieht man, daß eine voͤllige Entwicke-
lung eines Koͤrpers nicht noͤthig ſey, um in ſich eine
Anlage zu einem neuen Keim zu bilden. Es braucht
keines beſondern Keims zu dieſer erſten Anlage des
neuen Keims. Was in der Reproduktion, als wel-
che eine neue Erzeugung iſt, vorgeht, kann uns zum
Beyſpiel fuͤr die uͤbrigen dienen. Da naͤmlich, wo ein
Theil abgeſchnitten iſt, vereinigen ſich die Gefaͤße, es
entſtehet ein Wulſt, ein Huͤbelchen, ein Knoͤpfchen, wie
Hr. Bonnet es deutlich und genau geſehen und beſchrie-
ben hat. *) Dieſer Wulſt, dieß Huͤbelchen iſt mehr als
eine bloße Ausdehnung und Entwickelung vorherda-
ſeyender Fibern. Es enthaͤlt ſchon eine neue Verbindung
derſelben, und iſt in ſo fern eine neue Form. Der
ganze Grund zur Bildung dieſes Anfangs iſt vertheilt
durch alle Fibern, Saftdruͤſen, Gefaͤße, welche dieſe
Vereinigung bewirken. Aber einige von den ſich verei-
nigenden Gefaͤßen haben ohne Zweifel mehr als andere
Antheil an dem ganzen formenden Grunde. Hr. Bon-
net hat richtig bemerkt, daß die neuen Anwuͤchſe keine
Verlaͤngerungen des abgeſchnittenen Strunks ſind, ſon-
L l 4dern
[536]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dern aus der Mitte der Narben oder des Wulſtes
hervorgehen, und alſo innerlich ſchon in ihren erſten
Knoͤpfen ſich gebildet, oder wie er ſagt, ihren Keim
gehabt haben.
Die erſte Hervorbringung des Keims koͤnnte alſo
als eine Art von organiſcher Konkretion angeſe-
hen werden. Wenigſtens kommt ſie dieſer Entſtehungs-
art am naͤchſten, unter allen den nachfolgenden Arten des
Wachſens bey organiſirten Weſen. Es beſtehet naͤm-
lich die Erzeugung des Keims, wie jede andere, aus
Entwickelung und Vereinigung. Aber weil die letztere
es iſt, wovon hier das Vornehmſte abhaͤngt, ſo koͤnnte
man das Ganze von dieſer Seite als eine organiſche Kon-
kretion anſehen. Denn es iſt oben erinnert worden (IV.
5.) daß auch dieſe eine Entwickelung vorausſetze, ob ſie
gleich weſentlich| und ihrem Begriff nach, eine Verbin-
dung des Entwickelten enthaͤlt. Weg aber mit aller
generatione æquivoca, in ſo fern ſolche eine Organiſa-
tion aus Nichtorganiſation entſtehen laͤßt. (II. 8. 9. IV. 5.)
Dieß iſt die erſte Periode. Die zwote faßt die
Befruchtung oder die Vervollſtaͤndigung des
Keims in ſich. Sie iſt bey allen Thieren die kuͤrzeſte,
und auch eigentlich nur der Anfang und die Begruͤn-
dung der nachfolgenden Entwickelung.
Ein unvollſtaͤndiger Keim, der wenigſtens es
in ſo weit iſt, als ihm Kraft oder Reiz zur neuen Ent-
wickelung fehlet, empfaͤngt die nothwendige Entwicke-
lungskraft. Dieſer Zuſatz kann mehr oder weniger ent-
halten; kann bloß Reiz zur Thaͤtigkeit ſeyn, der die
vorher ſchon in dem Keim vorhandene Kraft aufweckt
und wirkſam macht. Es kann neue Kraft ſelbſt ſeyn,
was hinzukommt. Es iſt mehr als zu wahrſcheinlich,
daß zugleich auch eine naͤhrende Materie hinzu gebracht
wird; und nicht nur dieß, ſondern daß auch durch dieſe
Nahrung das in dem Keim vorhandene Bildungsprincip
naͤher
[537]und Entwickelung des Menſchen.
naͤher beſtimmt, modificirt und zum Theil abgeaͤndert
wird. Bey allen Thieren von zwey verſchiedenen Ge-
ſchlechtern ſcheinet der Beytrag des einen Geſchlechts,
zu dem Keim in dem andern, den letzterwehnten Ein-
fluß zu haben. Sollte auch dieſer Schritt noch auf die
aͤhnliche Art, wie der vorhergehende, als eine organiſche
Konkretion vorgeſtellet werden koͤnnen, wie Hr. v. Buf-
fon und andere behaupten? Sollte nicht der Zuſatz zu
dem formenden Princip, der von dem Saamen des
Mannes herruͤhrt, die Haͤlfte des ganzen Bildungsgrun-
des ausmachen? Dennoch iſt hier ſchon weniger Ver-
bindung als Entwickelung, worauf es ankommt. Die
Befruchtung iſt wahrſcheinlich nur eine Ergaͤnzung des
Keims, wobey es am meiſten auf die vorherdaſeyende
Bildung deſſelben ankommt. Sie iſt die naͤchſt groͤßte
Veraͤnderung des Keims nach ſeinem erſten Entſtehen.
Hierauf erfolget die Bildung des organiſchen
Koͤrpers nach ſeinen Haupttheilen in dem embryo-
niſchen Zuſtande. Das formende Princip liegt nun
noch mehr in dem Keim. Dieſer beſtimmet die Bil-
dung, und zwar deſto ſtaͤrker, nothwendiger, feſter, je
mehr die entſtehenden Theile und Formen zu den we-
ſentlichen gehoͤren. Die beiden großen Operationen der
Natur, welche die allgemeinen Beſtandtheile ihrer orga-
niſirenden Wirkſamkeit ſind, Entwickelung und Ver-
bindung zu neuen Formen, das iſt, Entwickelung und
Epigeneſis, ſtehen, ſo zu ſagen, noch in einer Gleich-
heit gegen einander, und kommen gleich oft und gleich
ſtark vor. Die vorhandenen Fibern vergroͤßern ſich in
ihren Beziehungen auf einander, und ihre verlaͤngerten,
verdickten und verfeſtigten Theile ſetzen ſich in neue La-
gen gegen einander.
Auf die Bildung folget die Periode des voͤlligen
Auswachſens bis dahin, daß in einem Geſchlechte
neue Keime geformet ſind, denen nichts mehr als die
L l 5Befruch-
[538]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Befruchtung fehlet, und daß in dem andern Geſchlech-
te das Vermoͤgen zu befruchten zur Reife gelanget iſt.
Sie gehet naͤmlich bis zur Mannbarkeit. Jn dieſer Pe-
riode trift man zwar noch beides an, Entwickelung und
Epigeneſis; aber der Zuſaͤtze von neuen Formen werden
weniger, und das meiſte beſtehet in der Vergroͤßerung
der ſchon vorhandenen. Von hier an geht faſt alles wei-
ter durch bloße Entwickelung.
Niemals hoͤret indeſſen das Zuwachſen neuer For-
men ganz und gar auf, ſo wenig als die Entwickelung.
Aber wenn die Organiſation ihr Groͤßtes erreichet hat,
und nun eine Zeitlang in dieſern Zuſtande beharret, ſo
wirken die Kraͤfte, welche vergroͤßern und verbinden,
nicht ſtaͤrker, als die ihnen entgegenſtehenden Urſachen,
die beide Wirkungen aufheben.
Es iſt die letzte Periode des Einſchrumpfens und
der Trennung noch uͤbrig, welche ſich mit dem Tode
endiget, die ich hier aber uͤbergehen will, weil davon
unten noch etwas vorkommen muß.
Dritter
[539]und Entwickelung des Menſchen.
Dritter Abſchnitt.
Von der Analogie der Entwickelung der Seele
mit der Entwickelung des Koͤrpers.
I.
Das koͤrperliche Werkzeug der Seele entwickelt
ſich auf dieſelbige Art, wie der organiſirte
Koͤrper. Und die Seele ſelbſt entwickelt
ſich auf eine analoge Art.
Es giebt hier wiederum einen Weg uͤber den Koͤrper
zu der Seele, und es wird deſto mehr hey der ge-
genwaͤrtigen Betrachtung erlaubt ſeyn denſelben zu be-
treten, da ein Theil unſers Seelenweſens zugleich ein
Theil des organiſirten Koͤrpers iſt, von dem wir mit
groͤßter Wahrſcheinlichkeit annehmen koͤnnen, daß er in
derſelbigen Folge und nach denſelbigen Geſetzen gebildet
und entwickelt werde, wie der uͤbrige Koͤrper. Was die
ſubſtanzielle Einheit betrifft, das immaterielle Weſen,
was unſer Jch ausmacht, ſo iſt es widerſinnig, inner-
halb deſſelben ſich eine Entwickelung einer Organiſation
vorſtellen zu wollen, dergleichen bey dem Koͤrper vor-
kommt; eben ſo widerſinnig als es ſeyn wuͤrde, die Aus-
bildung des organiſirten Gehirns mit den Veraͤnde-
rungen zu verwechſeln, die alsdenn in den Kraͤften der
einfachen Beſtandtheile des Gehirns vorgehen. Bey
den letztern faͤllt, mit der koͤrperlichen Groͤße und Zuſam-
menſetzung, auch die Jdee von koͤrperlicher Vergroͤſſe-
rung und Ausdehnung weg, wofern wir uns nicht et-
wan dieſer Ausdruͤcke bloß metaphoriſch bedienen, oder
ihnen allgemeine tranſcendente Begriffe unterlegen, die
ſich ſowohl auf die Entwickelung der immateriellen Kraͤfte
als auf die Entwickelung der Koͤrper erſtrecken. Jndeſ-
ſen da die Veraͤnderung in der Verbindung der einfa-
chen
[540]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
chen Beſtandtheile eine Modifikation in den Kraͤften
und Vermoͤgen des Einfachen nach ſich ziehet, und dieſe
Kraͤfte und Beſchaffenheiten in dem Jnnern der Sub-
ſtanzen, in Hinſicht ihrer intenſiven Groͤßen und ihrer
innern Beziehungen aufeinander, eben ſowohl einer
Veraͤnderung faͤhig ſind, als die zuſammengeſetzten or-
ganiſirten Koͤrper: *) ſo laͤßt ſich in der unkoͤrperlichen
Seele nicht nur eine gewiſſe Ausbildung in dem Jnnern,
ſondern auch eine gewiſſe Aehnlichkeit in der Folge und
in den Geſetzen dieſer Ausbildung gedenken, die auf die
Entwickelung des Gehirns in einer beſtaͤndigen Bezie-
hung ſtehet.
Dieß iſt der Grund, und auch zugleich die Graͤnze,
der Analogie zwiſchen der Entwickelung der Seele und
des Koͤrpers. Schluͤſſe und Folgerungen die hierauf,
aber nur nicht auf etwas, das außerhalb dieſer Graͤnze
liegt, gebauet werden, muͤſſen zu Vermuthungen fuͤh-
ren, welche, wenn ſie mit den Folgen uͤbereinſtimmen,
die man aus der Beobachtung ziehen kann, dieſe letztern
beſtaͤtigen und wiederum durch dieſe beſtaͤtiget werden.
Jene gewinnen eine Wahrſcheinlichkeit, nicht nur ſo
ferne ſie bloß eben daſſelbige lehren, was die Erfahrung
lehret, ſondern auch da, wo ſie weiter gehen und uns
noch einen Schritt naͤher zu dem Jnnern der Natur
hinbringen.
II.
Von dem Seelenweſen im Keim. Die imma-
terielle Seele kann nicht entſtehen wie der Koͤr-
per. Aber der Keim des menſchlichen Seelen-
weſens kann entſtehen.
Der Keim des Menſchen und des menſchlichen See-
lenweſens entſtehet, und kann entſtehen, durch eine
Vereinigung der ſich entwickelnden Gefaͤße in dem or-
ganiſchen
[541]und Entwickelung des Menſchen.
ganiſchen Koͤrper, die auf Eine Stelle, als auf einen
Endpunkt der ganzen Organiſation hingehen, wie ſie ih-
rer Vorherbildung gemaͤß beſtimmet ſind. Die erſte
Anlage zum Keim waͤchſt aus durch die Einnahme
mehrerer Materien, durch ihre Vertheilung und durch
neue Vereinigungen der ſich ausdehnenden Partikeln.
So entſtehet das einfache Weſen nicht; ſo kann es nicht
entſtehen. Allein da jene Bildung des Keims auch die
Folge nach ſich ziehen kann, daß Eins oder das andere
von den einfachen Weſen, die ſeine Beſtandtheile ſind,
derjenigen Lage in Hinſicht der uͤbrigen naͤher geruͤckt
werde, wo es Raum gewinnt ſeine innern Kraͤfte aus-
zudehnen, und zur herrſchenden Subſtanz in dem
Kreiſe von Weſen zu werden, unter denen es vorher als
eines ihres gleichen verwickelt war: ſo laͤßt ſich inſofern
eine Erhebung unſers Jchs zu einer menſchlichen
Seele gedenken. Und dieſe Erhebung wuͤrde denn
darinn beſtehen, daß theils eine Wirkungsſphaͤre fuͤr die
Subſtanz zubereitet, theils auch durch die ihr daſelbſt
gegebenen Eindruͤcke ihre Grundkraft vorzuͤglich zur
Wirkſamkeit gereizet werde.
Die Befruchtung des Keims iſt eine Vervollſtaͤn-
digung deſſelben, beſonders in Hinſicht ſeiner neuen Ent-
wickelungskraft, die ihm entweder durch ſie beygebracht,
oder da ſie vorher nur bloßes Vermoͤgen war, durch eine
maͤchtige Reizung wirkſam und thaͤtig gemacht wird.
Es iſt dieſe Veraͤnderung naͤchſt der erſten Zubereitung
der Anlage die wichtigſte, die den Keim betrifft. Kann
ſie nicht zugleich eine entſprechende wichtige Erweckung,
oder Aufmunterung, in der Kraft des einfachen Weſens
mit ſich verbunden haben? Muß ſie es nicht? Oder
geht etwan gar die Seele von dem Vater in den Keim
des Weibchens uͤber, und ſetzet ſich hieſelbſt in die fuͤr
ſie zubereitete Lage? Wer will hier den Weg der Na-
tur zu errathen ſich getrauen? Aber vielleicht mag man
doch
[542]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
doch mehr geneigt ſeyn zu glauben, daß die Befruch-
tung des Keims nur eine vorzuͤgliche Erweckung der in-
nern Kraft der Seele zur Folge habe, und daß ihre La-
ge und ihr Wirkungskreis vorher in dem Keim ihr ſchon
bereitet geweſen ſey.
Wenn in Hinſicht des Koͤrpers dem maͤnnlichen
Saamen nichts weiter zukommt, als daß er die Anlage
in dem Weibchen anfachet, belebet und ihm die erſte
Nahrung zur Ausbildung giebet: ſo wuͤrde man auch der
Befruchtung in Hinſicht der Seele nichts mehr zuſchrei-
ben muͤſſen, als daß die Grundkraft derſelben gereizet
und erwecket werde. Man kann ihr aber mehr beylegen,
wenn man will. Man kann annehmen, daß, beſon-
ders in Hinſicht des Seelenweſens, die Befruchtung
mehr oder minder modificire, nachdem das erzeugte Jn-
dividuum dem Vater oder der Mutter am Geſchlechte
aͤhnlich wird. Jn keinem Falle folget daraus etwas,
was nur ein wahrſcheinlicher Grund gegen die Jmma-
terialitaͤt der Seele ſeyn wuͤrde.
III.
Jdee von der angebornen Seelennatur. Vermoͤ-
gen, Anlagen, Jnſtinkte in derſelben.
Jn dem embryoniſchen Zuſtande des Menſchen, in
welchem der Koͤrper ſeine voͤllige Bildung empfaͤngt,
wird ohne Zweifel das Werkzeug der Seele und mit die-
ſem die Urkraft der Seele ſelbſt eine aͤhnliche erhalten.
Die Wirkung hievon fuͤhret endlich zu dem Zuſtande
der Seele hin, worinn ſie ſich bey der Geburt befindet.
Und dieſer Zuſtand ihrer leidenden und thaͤtigen Vermoͤ-
gen und Kraͤfte macht die angeborne Seelennatur
aus.
Dieſe Natur, ſo modifikabel ſie auch iſt, hat inſo-
fern ihre feſtgeſetzten Kraͤfte, Triebe und Emrichtun-
gen,
[543]und Entwickelung des Menſchen.
gen, die zu gewiſſen weſentlichen Formen bey ihrer
weitern Entwickelung hinfuͤhren, und ſolche nothwendig
beſtimmen. Sie kann entweder gar nicht, oder ſie muß
auf ſolche Art, wie es dieſen weſentlichen Anlagen gemaͤß
iſt, entwickelt werden. Denn daß die Kinderſeele ſollte
Baͤr- oder Schafſeele werden koͤnnen, iſt eben ſo we-
nig moͤglich, als daß ſein Koͤrper vier Fuͤße und Wolle
bekommen kann, wenn gleich manche Aehnlichkeiten
von Baͤren und Schafen, der Seele wie dem Koͤrper,
unter ſolchen ungluͤcklichen Umſtaͤnden, worunter einige
Jndividuen geweſen ſind, aufgedruckt werden moͤchten.
Und wenn wir noch weiter zuruͤckgehen, bis zu der
Einrichtung der Seele in dem Anfang der Entwickelung
des Embryons, ſo deucht mich, man koͤnne der Analo-
gie auch hier folgen, und ſich eine in gleicher Maße be-
ſtimmte Natur in der Seele vorſtellen, wie man in dem
befruchteten Keim des Koͤrpers annehmen muß. Aus
dieſem letztern wird entweder nichts, wenigſtens nichts
Beſtehendes, oder es wird ein menſchlicher Koͤrper dar-
aus, wenn er gleich monſtroͤs ſeyn mag. Auf gleiche
Weiſe iſt die derzeitige Anlage der Seele ſo weit be-
ſtimmt, daß ſie entweder gar nicht erweitert und entwi-
ckelt wird, oder zu einer fuͤhlenden, vorſtellenden und
ſelbſtthaͤtigen Menſchenſeele entwickelt werden muß.
Das Seelenweſen und in demſelben das unkoͤrper-
liche Jch muß, woferne wir eine wirkliche Subſtanz
nicht mit einer Abſtraktion verwechſeln, voͤllig und in
aller Hinſicht beſtimmt ſeyn, wie es die Organiſation
des Koͤrpers iſt. Aber ſo wie dieſe Beſtimmtheit,
auch nur in Hinſicht auf die Modifikationen betrachtet,
welche der Koͤrper zunaͤchſt und unmittelbar annehmen
kann, bey ihm in verſchiedenen Graden mehr oder
minder veraͤnderlich iſt; in Hinſicht auf einige nur in ei-
ner bloß paſſiven Empfaͤnglichkeit beſtehet, in Hinſicht
auf andere in ſchwachen Anlagen, bey andern in naͤ-
hern
[544]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
hern Diſpoſitionen, bey einigen in feſtbeſtimmten Trie-
ben, und bey einigen in unveraͤnderlichen Richtungen;
und wie alſo die mancherley Veraͤnderungen, welche hin-
zukommen, mehr oder weniger von der Wirkung der
aͤußern Urſachen abhangen: ſo muͤſſen auch in der Seele
die individuellen Beſchaffenheiten, und die Anlagen zu
neuen Beſchaffenheiten, mehr oder weniger veraͤnderlich,
und alſo mehr oder weniger dem Einfluß der aͤußern Ur-
ſachen unterworfen ſeyn. Die innern Principe im Koͤr-
per beduͤrfen uͤberhaupt zu ihrer Thaͤtigkeit des Einfluſ-
ſes der Dinge von außen; und hierinn giebt es keine
Ausnahme. Aber wenn es auf die Art und Staͤrke
ankommt, wie und womit ſie wirke: ſo ſind ſie es mehr
oder minder ſelbſt, die ſich beſtimmen; oder ſie werden
mehr oder minder von aͤußern Urſachen fortgeholfen und
geleitet. Es ſtimmen die Beobachtungen mit den
Schluͤſſen aus der Analogie uͤberein, um eben daſſelbige
von den Seelenkraͤften anzunehmen.
Jn dem Koͤrper des Kindes iſt die ganze Anlage zu
dem Manne, in Hinſicht der verſchiedenen Glieder und
deren Verhaͤltniſſe unter einander, deutlich vorhanden;
ſo manches auch hierinn, noch bey dem Auswachſen,
auf eine andere Weiſe modificiret werden kann. Sollte
in der Seele der Kinder nicht eben ſo viel von der Seele
des Mannes enthalten ſeyn, ob es gleich aͤußerlich nicht
ſo deutlich auffaͤllt, auch vielleicht nur darum nicht be-
merkt wird, weil wir es nicht ſo genau beobachten? Hie-
bey wuͤrde ich aus andern Gruͤnden nicht abgeneigt ſeyn,
zu glauben, „daß die Modifikabilitaͤt der Kinder in
„Hinſicht der Seele noch um einen Grad groͤßer ſey,
„als ſie es bey dem Koͤrper iſt.‟ Nicht alle Theile des
Koͤrpers beſitzen eine gleiche Beugſamkeit und ohne
Zweifel iſt das Organ der Seele das allerbeugſamſte.
Und vielleicht iſt es alſo die Seele ſelbſt noch mehr.
Die
[545]und Entwickelung des Menſchen.
Die ariſtoteliſche Vorſtellung von der Seele, daß
ſie wie eine tabula raſa ſey, mochte Locke gegen Leib-
nitzen inſoweit vertheidigen koͤnnen, als noch keine von den
beſondern Arten der Empfindungen und Eindruͤcke auf
ſie geſchrieben ſind, die ſie nach der Geburt erſt durch
die aͤußern Sinne empfaͤngt. Aber ſchwerlich laͤßt ſich
behaupten, daß ſie nicht ſollte eben ſo voͤllig beſtimmt
und modificirt ſeyn vor der Geburt, als ſie nachher
iſt, und daß ſie nicht ſchon Spuren von der Einwirkung
der aͤußern Urſachen in ſich aufbehalten habe, wie ſie
nachher aufnimmt. Wie weit aber ihre vorhergegan-
genen embryoniſchen Gefuͤhle oder Modifikationen und
Beſtimmungen eine Beziehung auf die nachfolgenden
Empfindungen von Farben, Toͤnen, Geruchs-Ge-
ſchmacks- und Gefuͤhlsarten haben? wie aͤhnlich oder
unaͤhnlich jene dieſen ſind? und ob und wie viel etwan
die Seele, mittelſt ihrer innern, ihr angebornen Modi-
fikationen, von der noch noͤthigen Einwirkung der aͤußern
Urſachen auf die Sinnglieder entbehren und ſolches
aus ſich erſetzen koͤnne? ob und wieferne die vorzuͤglichen
Anlagen zu einer oder der andern Gattung von Eindruͤ-
cken und Empfindungen, von der Beziehung der em-
bryoniſchen Veraͤnderungen auf die nachherigen, abhange?
dieß ſind andere Fragen. Sie waren die wichtigſten
in dem alten Streit uͤber angeborne Jdeen, und ſind
doch am wenigſten eroͤrtert worden. Endlich ſcheinen
die von beiden Seiten angefuͤhrten Erfahrungen ſo viel
in Gewißheit zu ſetzen, daß, wenn gleich die aͤußern Em-
pfindungen ſchlechthin einen Einfluß der aͤußern Objekte
erfodern, und alſo inſoweit keinesweges angeboren
ſind, doch die Natur mittelſt der vorhergehenden Mo-
difikationen zu jenen vorbereitet und dazu aufgelegt ge-
macht ſey: imgleichen, daß die Verſchiedenheit in den
natuͤrlichen Anlagen in jenen embryoniſchen Eindruͤcken
zum Theil ihren Grund habe.
IITheil. M mWas
[546]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an-
gebornen Natur der Menſchen befaſſet werden muͤſſe,
kann bey der Seele nicht anders als bey dem Koͤrper,
naͤmlich aus Beobachtungen und durch die Aufloͤſung
und Vergleichung derſelben, entſchieden werden. Hier
ſchließet ſich alſo die gegenwaͤrtige Betrachtung an die
Unterſuchungen, die ich hieruͤber in dem eilften Verſuche
angeſtellt habe. Die Kindesſeele in dem Kindeskoͤrper
iſt ein Weſen, welches gewiſſe Arten von Veraͤnderun-
gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil ſelbſtthaͤtig
bewirken kann. Wenn die Philoſophen ihre Natur-
kraft als eine empfindende, vorſtellende, ausdenkende
Kraft anſehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen
Aufloͤſung ihre Kraft als eine perfektible, ſelbſtthaͤtige
und fuͤhlende Kraft betrachten, und auf dieſe Grundbe-
ſchaffenheiten ihre Vermoͤgen zum Fuͤhlen, zum Vor-
ſtellen, zum Denken und zum Handeln zuruͤckfuͤhren:
ſo iſt doch gewiß, daß dieſe Jdee von der Natur noch
weiter nichts als das Formelle, naͤmlich die Art zu wir-
ken und die Richtung in der innern Kraft dieſes Weſens,
darſtellet. Nun aber hat ſie auch gewiſſe Modifikatio-
nen, und iſt aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch
die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des
Koͤrpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be-
ſtehet das Materielle dieſer ihrer Beſchaffenheiten, die
ſie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein-
druͤcken, die ſie nun ſo empfangen kann, daß ſie ſolche
fuͤhlet, ſich vorſtellet und abſondert? Sie iſt z. B. auf-
gelegt Eindruͤcke von dem Lichte durch die Augen, von
Toͤnen durch die Ohren, und ſo ferner, zu empfangen.
Sollte ſie nicht auch wohl zu den Eindruͤcken des ſechſten
Sinnes in gleicher Maße geſchickt ſeyn, wenn ſie nur
mit Werkzeugen verſehen waͤre, die ſich darauf beziehen?
Jm Grunde haben wir von dem materiellen angebornen
Zuſtande, oder von ihren derzeitigen Beſchaffenheiten
ſchlech-
[547]und Entwickelung des Menſchen.
ſchlechterdings keine Vorſtellung, da wir keinen Sinn
haben, durch welchen wir ſolche erhalten koͤnnten. Was
unſere Vermoͤgen betrifft, die wir in uns ſelbſt uns vor-
ſtellen, ſo ſind die Jdeen davon Abſtraktionen aus den
innern Empfindungen der Thaͤtigkeiten, die wir alsdenn
verrichten, wenn wir uns ſelbſt zu beobachten im Stande
ſind. Dieſe moͤgen vielleicht von ſolchen Abſtraktio-
nen, als wir von den Seelenthaͤtigkeiten erlangen wuͤr-
den, wenn wir die erſten Kraftaͤußerungen der Kindes-
ſeele beobachteten, beynahe, wenn nicht voͤllig, ſo ſehr
verſchieden ſeyn, als es die jetzigen Empfindungen von
den embryoniſchen Eindruͤcken vor der Geburt ſind.
Die aͤußern Empfindungen durch die Sinnglieder wer-
den das, was ſie jetzo fuͤr uns ſind, naͤmlich ſolche Ein-
druͤcke auf ſolche Art gefuͤhlet, erſt durch die Wiederho-
lung. Der erſte Eindruck von dem, was wir Roth
nennen, moͤchte vielleicht, wenn wir ihn ganz allein in
uns haben koͤnnten, ſo wie er auf die friſchen Sinnglie-
der faͤllt, die durch keine vorhergehende Eindruͤcke be-
arbeitet und vorbereitet ſind, fuͤr nichts weniger als fuͤr
Roth erkannt werden koͤnnen. Die ſchon empfind-
lich gemachten Fibern im Auge nehmen nun den Ein-
druck des rothen Lichts ihrer Empfindlichkeit gemaͤß auf;
und dieſer Eindruck iſt es, den wir den Eindruck des
rothen Lichts nennen. Was iſt ſolcher in dem neuge-
bornen Kinde?
M m 2IV. Die
[548]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
IV.
Die Ausbildung der Seele beſtehet in einer Epi-
geneſis durch Evolution. Die Art, wie der
Koͤrper ſich entwickelt, wird aus der Entwi-
ckelung der Seele erlaͤutert.
Was endlich bey der Entwickelung des Koͤrpers die
Nahrung iſt, das ſind bey der Seele die Em-
pfindungen. So wie jene in den Koͤrper aufgenommen,
durch ihn vertheilet und mit ihm vereiniget wird, und
dann die Fibern ausdehnet und vergroͤßert: ſo werden
die Eindruͤcke von außen, und von innen, in die Seele
aufgenommen und den ſchon vorhandenen Beſtimmun-
gen ihrer Natur einverleibet. Die entwickelten Fibern
im Koͤrper dehnen ſich in gewiſſe Richtungen, die ver-
ſchieden ſind, je nachdem ſie in verſchiedenen Verhaͤlt-
niſſen, in der Laͤnge, Breite und Dicke zunehmen.
Daraus entſtehen Veraͤnderungen in der Lage derſelben
gegeneinander, welche neue Verbindungen und Formen
veranlaſſen. Das Aehnliche davon nehmen wir in der
Seele bey ihren Vorſtellungen und Handlungen gewahr.
Jede neue Empfindung, und jede neue Vorſtellung, ver-
bindet ſich mit den vorhergehenden und wird nach dem
Geſetz der Aehnlichkeit und der Coexiſtenz an ſie gereihet.
Daraus entſtehet eine Vergroͤßerung, und zwar eine
Verſtaͤrkung oder Vergroͤßerung an Jntenſion, inſo-
weit die hinzukommenden Empfindungen den vorhan-
denen aͤhnlich ſind, weil ſie inſoferne zuſammenfallen.
Es wird eine Erweiterung oder Ausdehnung daraus,
inſoferne die neuen zum Theil von den aͤltern verſchie-
den ſind, ſich zwiſchen dieſen ſetzen und die Vorſtel-
lungsreihen verlaͤngern. Aber dieſe Ausdehnungen
geben zugleich Gelegenheit zu neuen und mehrfachen
Verbindungen der Reihen unter einander. Hieraus
werden
[549]und Entwickelung des Menſchen.
werden neue Verknuͤpfungen, die durch jene leidentli-
chen Verbindungen der Jdeen in der Phantaſie veran-
laſſet, und durch die ſelbſtthaͤtige Dichtkraft befeſtiget,
auch zum Theil durch die letztere ſelbſt gemacht wer-
den.*)
Die leidentlichen Eindruͤcke reizen die Kraft der
Seele zur Thaͤtigkeit; und aus dieſen Grundwirkun-
gen erwachſen die naͤhern Anlagen und endlich die Fer-
tigkeiten in der Kraft. Eigentlich ſind es die leident-
lichen Empfindungen fuͤr ſich allein, welche die Nah-
rung unſerer Vorſtellungen, in Hinſicht ihres Stoffs
oder ihrer Materie, hergeben. Dagegen die darauf
folgenden Kraftaͤußerungen, welche durch ſie veranlaſſet
werden, dasjenige ſind, was die thaͤtigen Vermoͤgen
der Seele zum Denken und zum Handeln wachſen
macht. Bey der Ausbildung der Seele laͤßt ſich eher
gewahrnehmen, daß ſie in einer Epigeneſis beſtehe, die
durch die Evolution veranlaſſet wird, als bey der Aus-
bildung des Koͤrpers. Und ohne Zweifel iſt dieß die
Urſache, warum die Pſychologen faſt alle Epigeneſiſten
geblieben ſind, da man in der Phyſiologie die Evolu-
tion angenommen hat.
Aber wie die Entwickelung des Koͤrpers die Ent-
wickelungsart der Seele, wenigſtens in etwas, aufklaͤrt:
ſo finden wir hingegen bey der letztern einen Umſtand,
der, wenn wir ihn analogiſch gebrauchen, uns wiederum
zur Vergeltung einiges bey der Entwickelung des Koͤr-
pers deutlicher zeigen kann. Die Art, naͤmlich wie die
Seelenvermoͤgen wachſen, iſt folgende. Jede Empfin-
dung hinterlaͤßt eine Spur von ſich, welche eine Leich-
tigkeit auf die vorige Art ſich nachmals entweder mo-
dificiren zu laſſen, oder ſelbſt zu modificiren, zur Folge
hat, oder auch in dieſer Leichtigkeit ſelbſt beſtehet. Die
M m 3aͤhnli-
[550]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
aͤhnlichen Empfindungen und ihre aͤhnlichen Spuren
vermehren die intenſive Groͤße oder Staͤrke eines
und deſſelbigen Vermoͤgens; die verſchiedenen aber, bey
denen die Aehnlichkeit noch merklich iſt, verbinden ſich
mit einander, und machen alsdenn die extenſive Groͤße
oder die Ausdehnung der Kraͤfte aus. Heterogene
Jdeen hingegen, wobey die Verſchiedenheit groß iſt
und die Aehnlichkeit unmerkbar, erzeugen verſchiedene
Faͤhigkeiten, und entgegenſtehende ſuchen ſich ein-
ander aufzuheben.
Wenn daſſelbige Geſetz des Wachſens auch
in Hinſicht des organiſirten Koͤrpers zum Grunde gele-
get wird, ſo giebt uns ſolches einen etwas mehr be-
ſtimmten Begriff von der Art, wie die Gefaͤße im Koͤr-
per verlaͤngert, erweitert, verdichtet und feſter und haͤr-
ter werden, und von der Aſſimilation der Saͤfte.
Die Nahrungstheilchen, welche ſich fuͤr jedes Gefaͤß
ſchicken, ſind in den Speiſen enthalten. Gewiß wohl
nicht ſo, wie es nach der Homoiomorie des Anaxa-
goras ſeyn ſollte, wenn man anders die Meinung die-
ſes Philoſophen richtig gefaßt hat, daß naͤmlich die
Knochen durch kleine Knochen, die Adern durch kleine
Adern, und das Blut durch kleine Blutkuͤgelchen, ver-
groͤßert werden, die in den Speiſen ſchon zubereitet ge-
weſen ſind, und durch die Verdauungskraͤfte nur herausge-
zogen werden. Aber doch ſo, daß die Speiſen Ele-
mente enthalten, die den Elementen der Gefaͤße aͤhnlich
und chemiſch mit ihnen verwandt ſind. Durch dieſe,
welche es voͤllig ſind und daher mit jenen zu groͤßern
Partikeln vereiniget werden, wachſen die Gefaͤße an
Staͤrke. Durch andere, die ſich zwar auch mit ihnen
verbinden, aber nicht ſo innig und ſtark vereinigen, wer-
den ſie verlaͤngert und erweitert. Diejenigen dagegen,
welche den vorhandenen mehr unaͤhnlich ſind, geben
Gelegenheit zur Ausbreitung und Zerſtreuung nach ent-
gegen-
[551]und Entwickelung des Menſchen.
gegengeſetzten Richtungen. So weit laͤßt ſich die Ent-
wickelung der vorhandenen Formen, und die der Ver-
mehrung aͤhnlicher Formen, begreiflich machen.
Ferner treffen wir in der Art, wie neue Jdeen-
aſſociationen in der Phantaſie entſtehen, einen Grund
an, die Entſtehung neuer Formen in den Fibern
des Gehirns, und uͤberhaupt in dem organiſchen Koͤr-
per, uns auf eine aͤhnliche Weiſe vorzuſtellen. Die
neuen Aſſociationen und die ſelbſt geſchaffenen Jdeen
entſtehen durch Trennung und Aufloͤſung, und dann
durch Verbindung und Vermiſchung. Die erſtern
Arbeiten ſind nur die Vorbereitungen, indem das Neue
in den Formen eigentlich durch die neuen Verbindun-
gen, Vereinigungen und Vermiſchungen hervorkommt.
Dieſe neuen Verbindungen entſtehen, ſo oft zwo
Vorſtellungen zugleich gegenwaͤrtig ſind, oder zunaͤchſt
[auf einander] folgen und bearbeitet werden. Die gleich-
zeitige Bearbeitung derſelben verurſacht ihre Verbin-
dung. Man kann, wenn es um ein allgemeines Prin-
cip zu thun iſt, alle neuen Jdeenverbindungen ſich vor-
ſtellen, als wenn ſie eine Folge von einer Coexiſtenz der
Jdeen in uns ſind. *) Daſſelbige Geſetz finden wir
wieder bey den organiſchen Aſſociationen der Bewegun-
gen in dem Koͤrper. Sinnglieder und Bewegungs-
glieder, die zugleich gebraucht werden, aſſociiren ſich,
ſo daß die Bewegungen in dem einen die in dem andern
wiedererwecken. **) Daraus laͤßt ſich das allgemeine
Geſetz fuͤr die Koͤrper, wie fuͤr die Seele, folgern: „daß
„Gefaͤße, die ſich zugleich entwickeln und aneinander
„liegen, ſich auch miteinander zu verbinden, zu ver-
„miſchen, zu vereinigen und gleichſam zu anaſtomiſi-
„ren geneigt werden.‟ Jedes Gefaͤß dehnet ſich fuͤr
M m 4ſich
[552]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſich ſelbſt aus und waͤchſt. Es kann nicht fehlen, daß
bey dieſem Beſtreben nicht mehrere Faſern ſeitwaͤrts
einander begegnen ſollten. Anfangs begegnen ſich bloß
die innern Bewegungen in ihnen, wodurch ihre Theile
erſchuͤttert und in der Lage etwas geaͤndert werden.
Dieß iſt nothwendig, auch da wo nur eine Vergroͤße-
rung ſtatt finden ſoll, indem die eindringenden Nah-
rungspartikeln Platz haben muͤſſen, wo ſie abgeſetzet
werden koͤnnen. Haben ſich nun dieſe Erſchuͤtterungen
zwoer benachbarten Fibern, wie zween Kreiſe auf dem
Waſſer, einander beruͤhret und endlich gar bey wieder-
holter Wallung einander durchkreuzet: ſo iſt zugleich
auch, indem eine Spur dieſer Bewegungen zuruͤckbleibt,
der Anfang zu einer Zwiſchenfiber gemacht, welche von
der einen zur andern gezogen wird, dann| beyde verbin-
det, und nun eine neue Maſche oder eine neue Raute in
dem Netz zwiſchen ihnen macht.
Die wachſende Kraft in dem Koͤrper, die ani-
ma vegetativa des Ariſtoteles, oder die weſentliche
Kraft bey dem Hr. Wolf, zeiget ſich alſo als ein
Analogon von der vorſtellenden, aſſociirenden und dich-
tenden Kraft der Seele. Wir nennen die letztere eine
Vorſtellungskraft: aber man muß ſich beſcheiden, daß
dieſer Name nichts mehr als eine allgemeine und unbe-
ſtimmte Wirkungsart von ihr angebe, nichts mehr als
einen allgemeinen Zug, der etwan ſo viel ſagen will, als
wir von der Entwickelungskraft des Koͤrpers wiſſen, daß
auch dieß eine Kraft ſey die Nahrung aufzunehmen,
zu vertheilen, mit ſich zu vereinigen und ſich dadurch zu
erweitern, zu vergroͤßern und neue Theile anzuſetzen.
Wie unendlich viel mehr beſtimmtes iſt in der menſch-
lichen Entwickelungskraft vorhanden, wovon wir keine
Vorſtellung haben, oder ſie doch wenigſtens durch den
erwehnten Charakter nicht angeben?
V. Vom
[553]und Entwickelung des Menſchen.
V.
Vom Unterſchiede der Grundvermoͤgen und der
abgeleiteten Vermoͤgen.
Grundvermoͤgen und abgeleitete Vermoͤgen in
der Seele beziehen ſich auf eine aͤhnliche Art auf
einander, wie die Grundformen in dem Keim des Koͤr-
pers auf die hinzukommenden Formen in dem ausgebil-
deten Koͤrper. Zu den abgeleiteten gehoͤret zuerſt al-
les, was ſein Unterſcheidungsmerkmal nur von Graden
und Stufen hat, oder wobey es auf ein Mehr oder We-
niger ankommt; aber ferner auch alle Vermoͤgen, wo-
bey ſich findet, wenn man ſie aufloͤſet, daß ſie aus an-
dern einfachern zuſammengeſetzt ſind, und daß dieſe Zu-
ſammenſetzung eine Folge von der Vergroͤßerung in den
einfachen iſt, die ſich vereinigen. Denn wo es ſo iſt,
da moͤgen zwar die unterſchiedenen Vermoͤgen, nicht
bloß der Objekte wegen, ſondern auch in Hinſicht den
Art und Weiſe zu wirken, etwas Eigenes an ſich ha-
ben: ſo ſind ſie dennoch nur mittelbare Folgen von der
erſten Anlage der Seele, weil eine Entwickelung von
dieſer vorhergehen muß, ehe ſie auf jene neue Weiſe zu-
ſammenwachſen und das neue Vermoͤgen hervortrei-
ben kann. Wenn nur diejenigen abgeleiteten Vermoͤ-
gen fuͤr verſchiedene gehalten werden, die mehr als
bloß den Graden nach von einander verſchieden ſind, ſo
koͤnnen wir die letzterwehnten fuͤr neu erzeugte Vermoͤ-
gen anſehen, dagegen diejenigen als entwickelte betrach-
ten, die allein durch die Vergroͤßerung der erſten Anla-
gen entſtehen. Die abgeleiteten Vermoͤgen, muͤſſen
alsdenn insbeſondere als hinzugekommene angeſehen
werden, wenn ſie, außer der innern Einrichtung der
Seele und den Naturanlagen, noch den Einfluß der aͤuſ-
ſern Urſachen zu ihrer Beſtimmung erfodern. Denn
daferne ſie ſtark genug, wenn gleich nur mittelbar, durch
M m 5die
[554]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die angeborne Konſtitution der Seele beſtimmt ſind ſo
und nicht anders hervorzugehen: ſo gehoͤren ſie zu den
abgeleiteten zwar, aber doch zu den natuͤrlichen.
Es entſcheidet alſo nunmehr die Analogie uͤber den
Punkt, der oben (erſter Abſchnitt IV. 3-6.) bis hieher
ausgeſetzet worden iſt: naͤmlich ob man abgeleitete Ver-
moͤgen in der Seele zugeben muͤſſe, wozu weiter keine
beſondern Anlagen in der angebornen Natur vorhanden
ſind, als hoͤchſtens nur die Receptivitaͤt dazu? Auch
die Empfaͤnglichkeit zu einem gewiſſen Vermoͤgen kann
erzeuget ſeyn, wie ſie in Hinſicht ſolcher entferntern Ver-
moͤgen iſt, wozu der Menſch nur alsdenn erſt aufgelegt
wird, wenn er andere vorher empfangen hat. Es be-
ſtehet folglich nicht alle Ausbildung der Seele in einer
Entwickelung ſchon vorhandener Formen.
Vierter
[555]und Entwickelung des Menſchen.
Vierter Abſchnitt.
Von der Verſchiedenheit der Menſchen in Hinſicht
ihrer Entwickelung.
I.
Ueber die angeborne Verſchiedenheit der Menſchen.
- 1) Einige Verſchiedenheiten in der Natur giebt
es auch in Hinſicht der Seelenkraͤfte. Ge-
gen Helvetius. - 2) Wie weit die Verſchiedenheit in den Men-
ſchengattungen ein Unterſchied in der Art
oder nur eine Varietaͤt ſey? Von der Ver-
ſchiedenheit der Abſtammung. Princip der
Specifikation. - 3) Von den Urſachen, welche die Natur mo-
dificiren. Wie gewiſſe Eigenſchaften des
Koͤrpers und der Seele ſich fortpflanzen. - 4) Fortſetzung des vorhergehenden. Von dem
Einfluß, den die Einbildungskraft in die
Fortpflanzung der Nationalcharaktere hat.
1.
Wenn man einen Blick auf die mannichfaltigen For-
men wirft, worinn die Menſchheit in verſchiede-
nen Laͤndern und zu verſchiedenen Zeiten, und um uns
herum, in verſchiedenen Umſtaͤnden, ſich darſtellet: ſo
wird es bey einer nur etwas aufmerkſamen Verglei-
chung, nicht ſchwer ſeyn die Urſachen zu entdecken,
von deren Einfluß dieſe Abweichungen, in Hinſicht
der Vermoͤgen und Kraͤfte und Seiten, abhangen.
Allein deſto mehrere Schwierigkeiten wird man an-
treffen, wenn dieſe Verſchiedenheiten ihrer Groͤße nach
geſchaͤtzet, gewuͤrdiget, und die Verhaͤltniſſe der
ſie
[556]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſie bewirkenden Urſachen nach | der Staͤrke ihres Ein-
fluſſes beſtimmt werden ſollen. Denn ſobald man
durch die aͤußern Geſtalten, welche die Huͤlle der innern
Kraͤfte ſind, hindurchſieht: ſo ſcheinet es, man finde den
einen Menſchen ſo wie den andern, und ihre Aehnlich-
keit komme uns groͤßer vor als ihre Unaͤhnlichkeit, oder
dieſe ſey groͤßer als jene, je nachdem man die eine oder die
andere am lebhafteſten ſich vorſtellet, oder auch, je nach-
dem man die Seite auswaͤhlt, von der man die Menſch-
heit anſieht. Jndeſſen koͤmmt es doch hiebey am mei-
ſten auf Groͤßen an, wenn man philoſophiſch uͤber den
relativen Werth der Menſchen und ihre Vervollkomm-
nung, wie uͤber die Wichtigkeit der Mittel und Vorkeh-
rungen zu dieſer letztern urtheilen und, weil kein eigent-
liches Meſſen moͤglich iſt, zu einer vernuͤnftigen Schaͤ-
tzung gelangen will. Die unendlich weitlaͤuſtige Mate-
rie uͤber die wirklichen Verſchiedenheiten in der Menſch-
heit, die uns die Geſchichte derſelben ſehen laͤßt, will ich
hier nicht von neuem vornehmen. Meine Abſicht iſt nur
gewiſſe beſtimmte Grundſaͤtze aufzuſuchen, die, wie ich
glaube, einigermaßen zur Richtſchnur dienen koͤnnen,
wenn die Vergleichung zugleich mit einer vernuͤnftigen
Wuͤrdigung verbunden ſeyn ſoll.
Aber hiebey iſt doch die alte, oft unterſuchte, oft ſchon
bejahete und oft wieder verneinte oder in Zweifel gezoge-
ne, Frage nicht vorbeyzugehen: ob es eine angeborne
Naturverſchiedenheit gebe? ob es angeborne National-
charaktere, und bey den Jndividuen eines Volks indi-
viduelle Charaktere gebe? welche Verſchiedenheiten in
der Naturanlage ſind, wenn man naͤmlich allein auf die
Seelennatur Ruͤckſicht nimmt? Denn in Hinſicht des
Koͤrpers muͤßte man der Erfahrung zu offenbar wider-
ſprechen, wenn man dem Mohrenkinde die angeborne
Anlage zur ſchwarzen Farbe ablaͤugnen wollte. Jn
Hinſicht der Seele aber und ihrer Faͤhigkeiten hat Hel-
vetius
[557]und Entwickelung des Menſchen.
vetius mit verſchiedenen andern eine vollkommene na-
tuͤrliche Gleichheit zu beweiſen geſucht. Auch Hr. Ver-
dier tadelt es, als einen Misbrauch des Worts Natur,
wenn man ſich auf ſie beruft, die Abweichungen unter
den Menſchen zu erklaͤren. Der letztere redet ſo, als
wenn er die ganze Ausbildung, am Koͤrper wie an der
Seele, bloß fuͤr eine Wirkung von den aͤußern Urſachen
anſaͤhe. *) Was beide dieſe Schriftſteller hieruͤber ge-
ſagt haben, und beſonders die beſtreitenden Gruͤnde des
Helvetius, koͤnnen am Ende uns zwar zur Warnung
dienen, die angeborne Verſchiedenheit nicht zu groß zu
ſchaͤtzen; aber ſie erweiſen nichts weniger, als daß ganz
und gar keine vorhanden ſey. Viele haben ſie unſtrei-
tig uͤbertrieben, und der Natur zur Laſt gelegt, was der
mangelhaften und fehlervollen Erziehung zuzuſchreiben
iſt. Und darum lobe ich den paradoxen Verfaſſer, der,
indem er die der gemeinen Meinung entgegengeſetzte
Seite der Sache ergriffen und auch dieſe uͤbertrieben
hat, andern Gelegenheit giebt, die Mitte, wo die
Wahrheit liegt, deſto leichter und deutlicher zu ſehen.
Jeder Menſch, vorausgeſetzt daß er voͤllig organiſirt
iſt, — dieß iſt das immer wiederzuruͤckkehrende Rai-
ſonnement des Helvetius; — kann eben daſſelbige er-
lernen, was andere erlernet haben, wenn man nur die
Kunſt verſteht, ſeinen Verſtand durch alle noͤthige Mit-
telbegriffe auf die letztern Schlußſaͤtze hinzufuͤhren. Je-
de Einſicht loͤſet ſich in eine Reihe unmittelbarer Urtheile
auf. Und ſolche unmittelbare Vergleichungen der Jdeen
zu faſſen, iſt der Kopf des Einfaͤltigen ſo gut aufgelegt,
als das Genie eines Leibnitz. Der einzige von Hel-
vetius in der Rechnung uͤberſehene Umſtand iſt, wie
ich anderswo ſchon bemerket habe, dieſer: daß nicht je-
der
[558]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Kopf jedes unmittelbare Urtheil gleich geſchwind
faßt. Und wenn nun zwar bey einzelnen Urtheilen die-
ſer Zeitunterſchied unmerklich iſt, ſo offenbaret er ſich ge-
nug bey einer laͤngern Reihe derſelben. Man konnte
auf eine aͤhnliche Art beweiſen, daß die Schnecke und
der Laͤufer eine gleiche Geſchwindigkeit beſitzen muͤſſen.
Den Unterſchied am Verſtande leitet Helvetius aus
dem Unterſchied an Leidenſchaften her, und ſetzet von
neuem voraus, daß alle Menſchen von Natur gleich ſtar-
ker Leidenſchaften faͤhig ſind; daß alſo nur die Leiden-
ſchaft des Einfaͤltigen haͤtte auf Verſtandesthaͤtigkeiten,
durch aͤußere Veranlaſſungen, in demſelbigen Grade er-
reget werden duͤrfen, wie bey den philoſophiſchen Genies,
die den innern Trieb zum Nachdenken fuͤhlen, um einen
großen Denker aus dem gemacht zu haben der nun ein
Dummkopf iſt. Dieß heißet eine Wirkung aus einer an-
dern erklaͤren, die ihr aͤhnlich iſt und denſelbigen Grund
hat. Denn dieß, daß in dem Einfaͤltigen die Begier-
de zu Verſtandesbeſchaͤftigungen ſo ſchwach iſt, und
durch die ganze Kunſt der Anweiſung nicht bey ihm er-
reget werden kann, die doch bey andern von ſelbſt her-
vorbricht, iſt, eben ſo wie der ſchwache Gebrauch der
Kraͤfte ſelbſt, eine Folge von ihrer natuͤrlichen Schwaͤ-
che, die alle Anſtrengung muͤhſam und verdruͤslich
macht. Helvetius Beweis iſt wenigſtens noch ſo man-
gelhaft, als er vorher war. Er ſetzet voraus, daß die
Empfaͤnglichkeit der Menſchen, in Hinſicht der Luſt und
Liebe zu den verſchiedenen Seelenaͤußerungen, von Na-
tur bey allen gleich ſey. Eine eben ſo unwahrſcheinli-
che Vorausſetzung, als daß die angebornen Vermoͤgen
gleich ſind.
Die angeborne Verſchiedenheit beſtehet freylich nur
in einem Unterſchied an Stufen und Graden, nicht da-
rinn, daß Eins von dem Grundvermoͤgen der Seele in
irgend einem voͤllig organiſirten Menſchen fehlen ſollte.
So
[559]und Entwickelung des Menſchen.
So viel muß zugegeben werden, und wird zugegeben,
und ſo viel beweiſen die Gruͤnde aus der Erfahrung.
Man koͤnnte noch wohl etwas mehr einraͤumen, naͤmlich,
daß der angeborne Unterſchied der Seelen vielleicht un-
ter den wilden und unkultivirten Voͤlkern etwas gerin-
ger ſey, als unter den polizirten, wie die Farben der
wilden Thiere von Einem Geſchlecht einander aͤhnlich
ſind, wenn die zahmen hierinn ſehr von einander abwei-
chen. Aber dennoch fuͤhret die Erfahrung dahin, daß
es bey jenen wie bey dieſen Jndividuen gebe, die der
Anlage nach Dummkoͤpfe, Gecken und Schurken ſind,
wie natuͤrliche Klugkoͤpfe und Rechtſchaffene. Wie
weit dieſe natuͤrlichen Anlagen gehen, iſt eine andere
Frage? Nur wenn man nichts mehr behauptet, als
daß es uͤberhaupt eine ſolche Verſchiedenheit gebe, daß
ſolche merklich ſey und einen merklichen Einfluß in
die Ausbildung des Menſchen habe, ſo deucht mich,
dieß ſey nicht bloß wahrſcheinlich, ſondern auch gewiß.
Denn ſo iſt erſtlich die Analogie von der Verſchie-
denheit des Koͤrpers ein ungemein wichtiger Grund, ei-
ne aͤhnliche, wenn gleich etwas mindere, Ver-
ſchiedenheit bey der Seele zu vermuthen.
Zweytens beſtaͤtigen die Erfahrungen aller derer,
die ſich mit der Erziehung und Ausbildung der Kinder
beſchaͤftigen, daſſelbige. Vielleicht iſt kein einziger un-
ter ihnen, der ſich nicht hievon uͤberzeuget habe. Jch
will mich nur auf die geſchickten und eifrigen Erzieher
berufen, die es ſich recht angelegen ſeyn laſſen, die be-
ſten Huͤlfsmittel der Erziehungskunſt anzuwenden.
Die Schwierigkeiten, die ſie bey einzelnen Kindern an-
treffen, gewiſſe Gefuͤhle, Thaͤtigkeiten und Geſinnun-
gen aufzuwecken und zu ſtaͤrken, welche doch bey andern
von ſelbſt hervorbrechen, dringet ihnen die Ueberzeu-
gung ab, daß auf der natuͤrlichen Anlage vieles beruhe;
daß Naturell kein leeres Wort ſey, ſondern eine reele
Beſchaf-
[560]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Beſchaffenheit, deren Beytritt oder Widerſtrebung ſie
bey ihren Arbeiten an den Kindern mehr als zu viel em-
pfinden. Man mag immerhin ſagen, jedes Jndivi-
duum habe dieſelbigen Faͤhigkeiten des Gefuͤhls, des Ver-
ſtandes und Herzens; es koͤnne alſo an eben der Seite
ausgebildet werden, wie ein anderes. Das wohl: aber
beſitzet es dieſe Anlagen in gleichem Grade der Lebhaftig-
keit und Staͤrke? Man wird leicht bemerken, wenn
man die Werke der Genies vergleichet, daß die Fein-
heit des Geſchmacks an Werken des Witzes und der
Kunſt, die zaͤrtliche Neigung zu dem, was wahr, was
gerecht und anſtaͤndig iſt und dergleichen, etwas mehr in
der Seele zum Grunde habe als ein gemeines Gefuͤhl
fuͤr ſolche Verhaͤltniſſe, das allen Menſchen zukommt,
oder durch Erziehung in alle gebracht werden kann.
Nicht jeder, der aufgelegt iſt Verſe zu machen, hat
die Anlage zum epiſchen Dichter; nicht jeder, der ſo viel
Ueberlegungskraft beſitzet als zu dem gemeinen Men-
ſchenverſtand erfodert wird, iſt aufgelegt ein Vaucan-
ſon, ein Newton oder ein Leibnitz zu werden. Wer
kann ſich hier den großen Beytrag der angebornen
Staͤrke der innern Natur wegraiſonniren laſſen? Ein
anders aber iſt es, der Natur alles zuſchreiben.
Jn Hinſicht der Nationalcharaktere mag es viel
ſchwerer ſeyn, ſolche Erfahrungen beyzubringen, aus
welchen die angeborne Verſchiedenheit ſo offenbar erhelle.
Wie wuͤrden ſich z. E. die Kinder der Paraguayer ver-
halten, wenn ſie, von ihrer erſten Geburt an, in Eu-
ropa erzogen und europaͤiſch unterrichtet wuͤrden? Soll-
ten nicht die kleinern Eigenheiten, die ihrem Naturell
ankleben, unkenntlich werden muͤſſen? Es iſt zu glau-
ben, daß ſie es wuͤrden; aber wenn man dabey acht haͤt-
te, auf die Schwierigkeiten, die ein Erzieher bey dieſen
mehr als bey europaͤiſchen Kindern antrift, um ſie wie
dieſe zu bilden: ſo muͤßte ſich die Wirkung ihres Na-
turells
[561]und Entwickelung des Menſchen.
turells gar ſehr bemerken laſſen. Die Meinung des Hr.
Paw, daß die Stupiditaͤt der Amerikaner, auch noch
in ihren Nachkommen, als ein Erbfehler ſich offenbare,
iſt eine wahrſcheinliche Vermuthung; aber es iſt doch
ſchwer, durch Erfahrungen dieß voͤllig zu beweiſen.
Charlevoix*) bezeuget ſonſten von den Jndianern in
Paraguay, daß, ob ſie gleich geſchickt genug waͤren nach-
zumachen, was man ihnen vorzeiget, ſie doch keine Faͤ-
higkeit ſpuͤren laſſen etwas neues zu erfinden, die er
ſonſten wohl nicht unangemerkt gelaſſen haben wuͤrde,
da er ihren Verſtand fuͤr eine uͤbernatuͤrliche Wirkung
ſeiner Religion anſah.
2.
Jn Hinſicht der Naturverſchiedenheit unter den
Menſchen iſt die erſte hier vorkommende Frage: ob ſol-
che ſo weit gehe, daß ſie verſchiedene Menſchenarten
hervorbringe? Denn wenn der Unterſchied, den man
in allen mannichfaltigen Gattungen von Menſchen auf
der Welt antrift, nur allein eine Wirkung von dem Ein-
fluß aͤußerer Urſachen und Umſtaͤnde iſt: ſo faͤllt es von
ſelbſt weg, daß ſolche fuͤr eine Geſchlechtsverſchie-
denheit oder Verſchiedenartigkeit gehalten werden
kann. Aber wenn die Unterſcheidungsmerkmale aus
der Natur ſelbſt entſpringen, ſo muß eine Verſchieden-
heit an der Art zugegeben werden. Daher giebt es
einen Weg, die angeborne Verſchiedenheit zu beſtim-
men, wenn es ausgemacht werden kann, wie weit die
Verſchiedenheit in den Menſchengattungen gehe, die wir
unter ihnen antreffen?
Alle Menſchen ohne Ausnahme ſind Weſen Einer
Natur und Eines Geſchlechts, Eines Bluts.
Dieß kann eben ſo ſehr von ihnen in Hinſicht ihrer See-
IITheil. N nlennatur
[562]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
lennatur behauptet werden, als es in Ruͤckſicht auf ih-
ren Koͤrper erwieſen iſt. Allein dennoch bleiben andere
Fragen uͤber die Grenzen dieſer Verſchiedenheit zuruͤck,
und beſonders daruͤber, wie ſolche eine Wirkung aͤußerer
Urſachen ſeyn koͤnne? Sind es nur Spielarten oder
Varietaͤten, was heißet dieß? Home hat, ohne den
Begriff von der Art zu beſtimmen, den er ſeiner Ge-
wohnheit nach fuͤr einen einfachen natuͤrlichen Begriff
haͤlt, deſſen naͤhere Entwickelung unnoͤthig ſey, eine
Verſchiedenartigkeit zwiſchen ihnen zu behaupten geſucht,
die ſo weit gehet, daß ſie unmoͤglich von Einem und
demſelbigen Paar abſtammen koͤnnen. *) Das Unbe-
ſtimmte und Dunkle in dieſem Begriff von den Arten
und Spielarten iſt es eben, was ihn ſo ſchwankend
macht, was die Verwirrung unterhaͤlt und uns nicht
einmal deutlich ſehen laͤßt, wie viel oder wie wenig aus
den Erfahrungen ſich ſchließen laſſe? Mancher Grund
wird gebraucht, der richtig genug iſt, um zu erweiſen,
daß die Menſchenarten nichts mehr als Spielarten ſind,
der aber nicht beweiſet, daß ſie zu Einer Abſtammung
gehoͤren, oder nur gehoͤren koͤnnten? Denn ob ſie
wirklich aus Einem Paar abſtammen, iſt eine Thatſa-
che die aus der Geſchichte bewieſen werden muß. Hr.
Home hat allerdings Gruͤnde beygebracht, die das letz-
tere etwas zweifelhaft machen koͤnnten, bis ſie naͤher un-
terſucht ſind. Aber zugleich hat er geglaubt, durch
eben dieſe Gruͤnde auch ihre Verſchiedenheit in der Gat-
tung
[563]und Entwickelung des Menſchen.
tung oder in der Art bewieſen zu haben. Dieſe Unbe-
ſtimmtheit in den Gemeinbegriffen von Arten und Gat-
tungen der natuͤrlichen Dinge, oder in der Sprache
der Metaphyſiker, der Mangel an einem beſtimmten
Princip der Specifikation, wozu doch ſchon der
Grund geleget iſt, macht hier einige vorlaͤufige Erklaͤ-
rungen nothwendig. Man mag ſie anfangs nur als
Worterklaͤrungen anſehen. Wenn man aber die Erfah-
rungen damit vergleicht, ſo zeiget ſich bald, daß ſie wah-
re Unterſchiede wirklicher Dinge ſind. Es wird aber
der Menſch hier nach ſeiner ganzen zuſammengeſetzten
Natur betrachtet, als ein Weſen, das aus Seele und
Koͤrper beſtehet. Denn dasjenige, was ſich von ſeiner
Verſchiedenartigkeit in Hinſicht der Seelennatur ſagen
laͤßt, muß groͤßtentheils aus der Analogie gefolgert wer-
den, wenn gleich nachher in den Faktis noch einiges,
das beſonders zur Beſtaͤtigung der letztern dienet, gefun-
den wird. Ueberhaupt ſehen wir bey dem Begriff der
Einartigkeit und Verſchiedenartigkeit, in ſo ferne
von wirklichen Gegenſtaͤnden die Rede iſt, darauf: „ob
„und auf welche Weiſe die Dinge, die wir anfangs in
„verſchiedene Klaſſen bringen und vergleichen, in Din-
„ge derſelbigen Klaſſe uͤbergehen und veraͤndert wer-
„den koͤnnen.‟ *)
Menſchen, deren Verſchiedenheit allein von aͤuſ-
ſern Urſachen abhaͤngt, von denen ihre angeborne
Natur modificirt wird, machen nur Eine Art aus.
Denn wenn dieß iſt, ſo laſſe man den Menſchen von ei-
ner Klaſſe mit ſeiner angebornen Natur demſelbigen
Einfluß der naͤmlichen aͤußern Urſachen, von der Ge-
burt an, ausgeſetzet werden: und er wird umgeformet
zu einem Menſchen einer andern Klaſſe. Jn dieſem
Fall kann der Unterſchied zwiſchen ihnen nichts mehr als
N n 2eine
[564]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
eine zufaͤllige Verſchiedenheit, keine Verſchiedenheit
an der Art, ſeyn.
Geht dieß bey jedem einzelnen Jndividuum an, ſo
iſt nicht einmal eine Naturverſchiedenheit da. Dieß
iſt die eigentliche zufaͤllige Verſchiedenheit. Man
kann ſie nicht einmal Varietaͤt nennen.
Aber wenn eine ſolche Umaͤnderung von aͤußern Ur-
ſachen bey einzelnen Jndividuen nicht moͤglich iſt;
wie z. B. das Kind eines Negern, unter weiße Men-
ſchen gebracht, und wie ein anderes Kind in den Nord-
laͤndern erzogen, dennoch die ſchwarze Farbe nicht ver-
lieret: ſo faͤngt hier ſchon eine Naturverſchiedenheit
an, eine Verſchiedenheit naͤmlich, die ihren Grund in
angebornen Beſchaffenheiten hat.
Deswegen iſt es doch moͤglich, daß das Geſchlecht
in ſeinen folgenden Generationen, durch den fortwaͤhren-
den Einfluß der aͤußern Urſachen von Kindern auf
Enkel und Urenkel, ſeine vorigen Eigenheiten verliere.
Vielleicht wird das erſte Paar von Negerkindern, in
Norden verſetzt und großgemacht, nur etwas gebleicht;
aber wenn es ſich unter demſelbigen Klima fortpflanzet,
ſo werden ihre Kinder ſchon weißer, und die dritte, vier-
te oder eine der folgenden Generationen mag vielleicht
endlich alle Spuren der erſten Abſtammung verlieren.
Dieß iſt eine Naturverſchiedenheit, die aber
noch dieſelbige Abſtammung zulaͤßt. Es iſt Ab-
artung, die entweder eine Ausartung oder eine Ver-
edelung iſt, nachdem die Veraͤnderung vom Beſſern
zum Schlimmern geſchieht, oder von dieſem zu jenem.
Es iſt zufaͤllige Geſchlechts- oder Familienver-
ſchiedenheit. Die weißen, ſchwarzen, rothen, brau-
nen Farben und die uͤbrigen Verſchiedenheiten in der
Natur koͤnnen zu dieſer Klaſſe gehoͤren. Und es iſt
aus manchen Gruͤnden wahrſcheinlich, ohne Ruͤckſicht
auf die Geſchichte, daß ſie zufaͤllig entſtanden ſind.
Wenn
[565]und Entwickelung des Menſchen.
Wenn es dagegen unmoͤglich iſt, daß eine ſolche
Veraͤnderung eines Geſchlechtes in ein anderes durch
aͤußere Urſachen allein bewirket werden kann; wenn
eine Vermiſchung der Jndividuen der Einen Klaſſe
mit den Jndividuen der andern hinzukommen muß: ſo
haben wir ſchon eine groͤßere Verſchiedenheit, die ſie als
Menſchen von verſchiedenen Arten anſehen laͤſſet.
Und dann ſind es Spielarten, Varietaͤten, nach
der in der Naturgeſchichte ſchon ziemlich feſtgeſetzten
Bedeutung dieſer Woͤrter. Vorausgeſetzt, wie hier ge-
ſchieht, daß die Vermiſchung der Arten fruchtbare Kin-
der gebe, die ſich wiederum ſo wohl unter ſich, als mit
denen von der Vater- und Muttergattung, fruchtbar
verbinden koͤnnen.
Dieſe Verſchiedenheit muß mit der naͤchſtvorherge-
henden nicht verwechſelt werden. Wenn die Afrikaner
und Europaͤer ſolche Spielarten ſind und einander nicht
naͤher kommen, ſo koͤnnen ſie unmoͤglich dieſelbigen
Stammeltern haben. Denn wenn ſie dieſe gehabt ha-
ben, ſo iſt ihre Verſchiedenheit eine Wirkung der aͤußern
Urſachen, die auf die Reihe der Generationen nach und
nach gewirkt, und die jetzigen Charaktere in ihnen be-
ſeſtiget haben. Der Einfluß dieſer Urſachen iſt aber
durch die Laͤnge der Zeit ſo ſtark geworden und hat ihre
Wirkung ſo tief der Natur eingepraͤgt, daß, wenn die
ſchon modificirten Jndividuen den entgegengeſetzten Ur-
ſachen bloß geſtellet werden, das Eigene von ihnen nicht
anders als mit der Zeit, in der Folge der Generatio-
nen gehoben werden kann. Dagegen wenn der Unter-
ſchied durchaus nicht ohne Vermiſchung der Saamen zu
heben iſt, ſo kann ſolcher auch nicht entſtanden ſeyn, oh-
ne eine urſpruͤngliche Verſchiedenheit der Saamen und
der Stammeltern.
Hier hoͤrt die Einartigkeit auf, und hier iſt auch
die Grenze der Verſchiedenheit der wirklichen Menſchen-
N n 3gattun-
[566]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gattungen auf der Erde. Weiße und Schwarze, Weiße
und Rothe, haben allenthalben fruchtbare Nachkommen
erzielet, die entweder ihr eigenes Geſchlecht als Mulat-
ten und Kreolen fortgepflanzet, oder ſich wiederum in
Eines von den erſten urſpruͤnglichen Geſchlechtern verlo-
ren haben. Jndeſſen kann man aus dieſem Grunde
Homes Meinung, von einer Verſchiedenheit an Abſtam-
mung, nicht widerlegen. Dazu gehoͤret eine Unterſu-
chung, die mit mehrern Schwierigkeiten verbunden iſt.
Wenn man die weitern Grade der Verſchiedenartig-
keit beſtimmen will, muß man die Beyſpiele aus dem
uͤbrigen Thierreiche vor Augen haben. Das Naͤmliche,
was hier von dem Unterſchiede der Menſchen geſagt iſt,
kann allgemeiner geſagt und auf das Thierreich uͤber-
haupt, ſo weit als eine Fortpflanzung durch die Verbin-
dung zweyer Geſchlechter vor ſich geht, und auch gewiſ-
ſermaßen auf die Pflanzen, uͤbergetragen werden. Aber
ich erinnere nur beylaͤufig, weil es meine Abſicht nicht
iſt, das Princip der Specifikation in ſeiner ganzen
Allgemeinheit und in allen ſeinen Anwendungen aufzu-
ſuchen, daß man bey den uͤbrigen Weſen des animali-
ſchen Reiches, und bey den Pflanzen, andere Beſtim-
mungsgruͤnde der Verſchiedenheit und der Affinitaͤten
in den Arten und Geſchlechtern habe und gebrauchen
muͤſſe.
Wenn eine Verſchiedenartigkeit vorhanden iſt,
ſo wird aus der Vermiſchung keine Frucht erzielet; die
das Princip der Fortpflanzung vollſtaͤndig in ſich
habe. Jnzwiſchen kann ſolches auf eine unvollkommene
Weiſe vorhanden ſeyn.
Die Frucht kann ſich nicht fruchtbar vermiſchen
mit ihres Gleichen, aber doch mit Jndividuen, die zu
der Art des Vaters oder der Mutter gehoͤren. Dieß
iſt eine Stufe der Baſtarten. Sie ſetzet in den
zeugenden Aeltern eine Verſchiedenheit an der Art vor-
aus,
[567]und Entwickelung des Menſchen.
aus, aber auch eine Verwandſchaft, und kann alſo
noch mit ihr zu Einer Gattung gerechnet werden,
wenn die Bedeutung dieſes Worts nicht ſchon anders
beſtimmet iſt. Weſen von Einer Gattung, und
von nahe verwandter Art wuͤrden alſo ſolche ſeyn,
„die nicht ganz unfruchtbare Baſtartarten durch ihre
„Vermiſchung erzielen wuͤrden.‟
Eine Baſtartart, die ſich unter ſich, mit ihres
Gleichen nicht fortpflanzen kann, aber es doch kann,
wenn ſie ſich mit einer von den Arten verbindet, durch
deren Vermiſchung ſie entſtanden iſt, offenbaret dadurch
eine Schwaͤche der Zeugungskraft, welche dennoch
kein gaͤnzliches Unvermoͤgen iſt. Jn jedem Jndivi-
duum iſt dieſe Kraft geſchwaͤcht; ſolche ſchwache Kraͤf-
te zuſammen geben keine Frucht; aber wenn die ge-
ſchwaͤchte Baſtartkraft mit der ungeſchwaͤchten in der
natuͤrlichen Art ſich vereiniget, ſo iſt noch Zeugungs-
kraft vorhanden, welche fortpflanzen kann. Die neue
Halbbaſtartart wuͤrde endlich zu der vollkommenen Gat-
tung wiederzuruͤckgebracht werden koͤnnen. Ob es welche
von dieſer Gattung von Weſen gebe? ob das Maulthier
mit der Stute, und der Bardot mit der Eſelin, ſich
fruchtbar vermiſchen koͤnnen? iſt bisher noch ungewiß,
da man an den beruͤchteten Jumars, bey der genauern
Unterſuchung, nichts anders als wahre Bardots, die
Frucht aus einem Pferde und einer Eſelin, gefunden
hat. *) Gleichwohl mag Buffon nicht Unrecht haben,
wenn er eine ſolche Vermiſchung fuͤr moͤglich haͤlt. Es
iſt dieß die erſte Stufe in der Verſchiedenartigkeit, und
wuͤrde die naͤchſte Verwandſchaft der verſchiedenen
Arten ausmachen.
Aber wenn die erzeugte Frucht gar kein Vermoͤgen
der Zeugung beſitzet, wie bey den meiſten Baſtarten,
N n 4ſo
[568]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſo ſind die zeugenden Weſen als verſchiedenartig oder
als am Geſchlecht verſchieden zu betrachten. Jndeſ-
ſen da dieſe ſich noch mit Wirkung begatten, ſo koͤnnen
ſie als Weſen Einer Gattung angeſehen werden,
oder als ſolche, deren Geſchlechter verwandt ſind.
Unſere Beobachtungen reichen noch lange nicht hin,
auch in dem groͤßern Thierreich, dasjenige ſchon fuͤr na-
tuͤrlich unmoͤglich zu erklaͤren, wovon bisher noch kein
Beyſpiel vorgekommen iſt oder durch kuͤnſtliche Verſu-
che hat erhalten werden koͤnnen. Zwiſchenſtufen laſſen
ſich uͤberall vermuthen. Daher muß wenigſtens in ei-
ner allgemeinen Betrachtung, wie die gegenwaͤrtige iſt,
der Grad von Geſchlechtsaffinitaͤt bemerket werden, der
noch ſchwaͤcher iſt, als zwiſchen denen, die lebendige
Baſtarte durch ihre Vermiſchung bewirken. Dieß
iſt ſie, wenn die Vermiſchung nicht ganz unwirkſam iſt
und etwas organiſches beſchaffet, aber ſo daß dieß nur
empfangen, nicht zur Vollkommenheit entwickelt werden
kann. Ariſtoteles bezeuget ſolches von der Mauleſelin.
Allein dieſe iſt ſchon ſelbſt eine Baſtartart, uͤber deren
Affinitaͤt nicht aus ihrer Frucht ſondern aus ihrem Ur-
ſprung geurtheilet werden muß. Die natuͤrlichen Ge-
ſchlechte ſind noch in etwas verwandte Geſchlechte, wenn
Eins des Andern auch nur bis ſo weit empfaͤnglich iſt.
Von hier an hoͤrt auch die Verwandtſchaft auf. Die
fruchtloſen Belegungen, *) die bloß durch die aͤußere
Struktur der Zeugungstheile moͤglich gemacht werden,
koͤnnen keinen Grund abgeben, darauf eine Verwandſchaft
der thieriſchen Naturen zu gruͤnden waͤre. Jedoch ich
breche die allgemeine Betrachtung hier ab, die ſchon
weiter fortgefuͤhret iſt, als meine Abſicht es erfoderte,
und kehre zuruͤck zu der Verſchiedenheit in dem Men-
ſchengeſchlechte.
3. Die-
[569]und Entwickelung des Menſchen.
3.
Dieſer Verſchiedenheit ſind die Grenzen ſchon an-
gewieſen, zwiſchen denen ſie faͤllt. Es iſt Ein und
daſſelbige Geſchlecht, und die Menſchenarten
ſind nur Spielarten. Auf der andern Seite iſt ihre
Verſchiedenheit eine wahre Naturverſchiedenheit, die bey
einzelnen Jndividuen durch den Einfluß der aͤußern Ur-
ſachen nicht gehoben werden kann. So weit entſcheidet
die Erfahrung, ſo daß kein Zweifel uͤbrig iſt.
Aber hier liegt uns die Natur dieſer Verſchiedenheit
noch nicht ganz im Hellen. Ein anders iſt es, wenn
man fragt, ob die Varietaͤt unter den Menſchen eine
Verſchiedenheit in der Abſtammung erfodere,
oder ob ſolche bey Einer Abſtammung von demſelbigen
Paar habe entſtehen koͤnnen?
Dieß voͤllig aufzuklaͤren wuͤrde erfodert:
- 1) Daß die vorhandenen Abweichungen an Farbe,
Groͤße, Statur und Bildung des ganzen Koͤrpers und
gewiſſer einzelner Theile geſammelt wuͤrden. Dieß iſt
von den obengenannten Geſchichtſchreibern des Men-
ſchen ſo weit geſchehen, als es zu dieſer Abſicht ge-
nug iſt. - 2) Daß von allen dieſen Abweichungen aus der Er-
fahrung gezeiget werde, nicht nur daß ſolche bey ein-
zelnen Jndividuen durch aͤußere Urſachen zufaͤllig entſte-
hen, ſondern auch daß ſolche mit der Fortpflanzung
uͤbergehen, ſich in den Nachkommen immer mehr feſt-
ſetzen und ſtaͤrker werden koͤnnen. - Und 3) daß dieſe Umaͤnderung einer Varietaͤt in die
andere moͤglich ſey, ohne Vermiſchung der Jndivi-
duen von der einen mit den Jndividuen von der andern.
Die Data, welche die Erfahrung bis jetzo gegeben
hat, ſcheinen mir doch hinlaͤnglich zu ſeyn, wenigſtens
mit einer uͤberwiegenden Wahrſcheinlichkeit zu entſchei-
N n 5den,
[570]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
den, daß die Verſchiedenheit der Menſchen mit der Ab-
ſtammung von Einem Geſchlecht beſtehen, daß ihre er-
ſte Veranlaſſung bey den Jndividuen aus dem Ein-
fluß der aͤußern Urſachen, und die Fortpflanzung derſel-
ben aus den bey der Zeugung wirkſamen natuͤrlichen
Kraͤften, voͤllig erklaͤret werden koͤnne. Es kommt wohl
am meiſten nur darauf an, wie man die ſchon bewaͤhr-
ten Fakta gebrauchet, wenn man Schluͤſſe daraus ziehen
will. Jndeſſen hat man allerdings noch Gruͤnde ge-
nug, mehrere Erfahrungen aufzuſuchen, um die Sache
vollkommen zu beſtaͤtigen. Dieſe Unterſuchung wuͤrde
eine eigene Abhandlung erfodern, wenn ſie ausfuͤhrlich
vorgenommen werden ſollte. Jndeſſen da das Meiſte
daruͤber ſchon von den einſichtsvollen Maͤnnern geſagt
iſt, die ich vorher genannt habe, und beſonders von
dem Hrn. Profeſſor Blumenbach, und da ohnedieß
meine Abſicht mich einſchraͤnkt: ſo will ich nur eine Art
von Nachleſe in einigen kurzen Anmerkungen halten, und
auch dieß nicht einmal, ſondern vielmehr nur eine An-
zeige geben, wo und wie ſolche angeſtellet werden koͤnne.
Zunaͤchſt aber macht die Art, wie manche den Ein-
fluß der aͤußern Urſachen zu beſtimmen ſuchen, eine all-
gemeine Erinnerung noͤthig. Das Klima und die Lebens-
art modificiren ſonder Zweifel den menſchlichen Koͤrper,
und ſeine Farbe und Groͤße. Wenn nun einige die
Schwaͤrze der Neger der Hitze des Klima zuſchreiben,
wovon die Haut wirklich gefaͤrbet wird, ſo glaubet Ho-
me berechtiget zu ſeyn dieſen Einfluß zu laͤugnen, weil
die Neger ihre Farben von Geſchlecht zu Geſchlecht,
auch unter dem gemaͤßigten Himmel in Nordamerika,
behalten. Die Braminen und die Banianen, die ſich
nicht mit andern Nationen vermiſchen, haben und be-
halten ihre weiße Farbe, ohnerachtet ſie unter einem
Himmelsſtrich leben, der eben ſo heiß iſt, als das Kli-
ma an der malabariſchen Kuͤſte und in andern Neger-
laͤndern
[571]und Entwickelung des Menſchen.
laͤndern in Afrika. *) Solcher Jnſtanzen fuͤhret man
mehrere an. Sind dieß Beweiſe, daß die Hitze nicht
eine von den Urſachen, und zwar eine der vornehmſten,
von der Farbe der Neger ſeyn koͤnne? Daß ſie ent-
weder nicht die alleinige ſey, oder daß ihre Wirkungen
ſich ſchwaͤchen oder aufheben laſſen, iſt nur, was
aus dieſen entgegenſtehenden Beyſpielen erhellet. Es
iſt, wie man aus andern Gruͤnden vermuthen kann,
auch nicht ſowohl der groͤßte Grad der Waͤrme einer rei-
nen Luft, ſondern vielmehr die Hitze einer Luft, die mit
Duͤnſten verſchiedener Art und beſonders mit oͤligen
und fetten Duͤnſten erfuͤllet iſt, welche zu der Schwaͤrze
der Haut am meiſten beytraͤgt. Ohne Zweifel wird
durch die Reinlichkeit und durch oͤſteres Baden, bey ei-
nigen Voͤlkern, ihr Einfluß auf die Farbe geſchwaͤcht.
Ueberhaupt aber erinnert man ſich nicht genug daran,
daß man eben ſo wenig ſchließen koͤnne, es muͤſſe an der
Urſache fehlen, weil ihre Wirkung nicht da iſt, als man
unbedingt auf die Wirkung folgern kann, wenn die Ur-
ſache vorhanden iſt. Denn die Urſache kann beſtehen
und wirken, und dennoch durch viele ihr entgegengeſetzte
Kraͤfte gehindert werden, ihren Einfluß merklich zu ma-
chen. Dieß iſt ein Grund mehr vorſichtig zu ſeyn, ehe
man mit Sicherheit eine urſachliche Verbindung zwi-
ſchen Phaͤnomenen, die einander begleiten oder auf
einander folgen, feſtſetzen kann. Eine Erfahrung allein,
ſo umſtaͤndlich ſie auch ſeyn mag, iſt dazu nicht hinrei-
chend. Es werden in jedem Falle Vergleichungen meh-
rerer Faͤlle hiezu erfodert. Jn der Arzneywiſſenſchaft
iſt man uͤberzeugt, wie ſchwer es ſey, ſich vor dem
Mißgreifen der Urſachen zu huͤten. Jch meine nicht,
daß es ein Paradoxon ſey, wenn man behauptet, daß
ſolches
[572]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſolches in der Wiſſenſchaft vom Menſchen, die man aus
der Erfahrung nimmt, eben ſo ſchwer ſey, es mag von
den Urſachen die Rede ſeyn, die auf ſeinen Koͤrper, oder
von denen, die auf ſeine Seele wirken.
Dieß vorausgeſetzt, ſo meine ich, wir haben wirk-
lich ſchon ſo viele bewaͤhrte Beobachtungen von den vor-
kommenden Abweichungen der Menſchen, daß folgen-
der Erfahrungsſatz daraus erhelle.
„Es giebt keine Abweichung verſchiedener Voͤlker
„von einander, an Farben, an Bildung. an Groͤße, die
„nicht einzeln auch bey Jndividuen ſolcher Gattungen,
„deren Unterſcheidungsmerkmal ſie nicht iſt, durch zu-
„faͤllige Urſachen hervorgebracht ſey, oder durch Kunſt
„hervorgebracht werden koͤnne.‟ Es kann hinzuge-
ſetzet werden, daß es noch mehrere Abweichungen bey
den Jndividuen gebe, als jemals bey ganzen Voͤlkern
allgemein zu Nationalcharakteren geworden ſind.
Wir haben unter den Europaͤern Beyſpiele von den
platten Naſen und aufgeworfenen Lippen der Neger;
ſchwarze Kinder von weißen, kleine Kinder von großen
Eltern, und umgekehrt, langgewachſene rieſenfoͤrmige
Kinder von Eltern, deren Groͤße kaum an die mittlere
Laͤnge reichet. Wir kennen vielleicht noch nicht die Ur-
ſachen alle, wodurch ſolche Abweichungen entſtehen. So
gewiß auch das Klima, die Nahrung und die Lebensart
darunter gehoͤren, ſo gewiß ſcheinet es doch auch zu ſeyn,
daß die Frucht ſchon im Mutterleibe gewiſſen zufaͤlligen
Veraͤnderungen unterworfen iſt, wovon wir die wirken-
den oder veranlaſſenden Urſachen zur Zeit noch nicht ken-
nen. Die Familien mit ſechs Fingern, mit laͤnglichen
Pupillen, *) und hundert aͤhnliche beſtaͤtigen dieſes.
Daß ſolche zufaͤllig entſtandene Abweichungen ſich
zuweilen fortpflanzen und auf eine ganze Familie ſich
verbrei-
[573]und Entwickelung des Menſchen.
verbreiten, iſt ebenfalls offenbar. Und man kann wie-
derum ſagen, daß viel wichtigere Abweichungen bey ein-
zelnen Familien erblich werden, als unter den groͤßern
Gattungen von Menſchen vorkommen. Denn ſogar
beſondere Krankheiten, oder naͤhere Anlagen dazu, wer-
den fortgepflanzet.
Aber weil dieſe Beſonderheiten ſich doch in den fol-
genden Generationen wieder zu verlieren pflegen, ſo iſt
die allgemeine und beſtaͤndige Verſchiedenheit zwiſchen
den Menſchengattungen dadurch noch nicht begreiflich
gemacht. Hiezu werden erſtlich allgemeine Urſachen
erfodert, die auf alle Jndividuen von einer Race wirken;
und zweytens beſtaͤndig wirkende Urſachen, um die
Eigenheiten fortzupflanzen. Und hier iſt es auch, wo
man gemeiniglich mit den Beweiſen fuͤr den zufaͤlligen
Urſprung der Abweichungen etwas zu kurz kommt.
Wenn die Luft, der Boden, die Nahrung, die Lebens-
art oder auch die Kunſt, die die Koͤpfe bey einigen Voͤl-
kern platt macht, die Ohren verlaͤngert, die Haut taͤt-
towirt, bey den Chineſern die Fuͤße der Frauenzimmer
verkleinert und die Hottentotten einer Hode beraubet;
wenn dieß die alleinigen und entſcheidenden Urſachen von
der Farbe, Groͤße und Bildung eines Volkes ſind: ſo
wuͤrden wir freylich begreifen, warum alle Jndividuen,
die dem Einfluſſe dieſer Urſachen ausgeſetzet ſind, ihre
Wirkungen erfahren. Die Wirkung muͤßte ja ſo all-
gemein ſeyn, als die Urſachen. Aber nicht zu ſagen,
daß es daraus noch nicht begriffen wird, warum dieſel-
ben Eigenſchaften erblich werden: ſo wiſſen wir doch aus
ſo vielen Beyſpielen, daß die angefuͤhrten Urſachen, das
Klima naͤmlich und die Nahrung, veraͤndert werden koͤn-
nen, ohne daß ſich die ihnen zugeſchriebenen Wirkungen
verlieren; imgleichen daß jene Urſachen oͤfters eine ſol-
che Wirkung nicht hervorbringen; woraus, wie vorher
erinnert iſt, doch ſo viel geſchloſſen werden kann, daß
ſie
[574]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſie es nicht ſind, welche allein wirken, ſondern daß noch
eine andere vorhanden ſey, die ſich mit ihnen vereinige.
Vielleicht iſt alsdenn dieſe letztere, die zu jenen nicht ge-
hoͤrt, eine von den vornehmſten, wovon die Beſtaͤndig-
keit und Allgemeinheit in den Nationalcharakteren ab-
haͤngt.
Vergleichen wir die Fakta in Hinſicht der National-
charaktere, ſo finden wir vielleicht keinen einzigen Un-
terſchied, bey dem nicht die aͤußern allgemeinen Urſa-
chen, Klima, Nahrung, Lebensart und auch gewiſſe
angefuͤhrte Gewohnheiten, die Koͤrper zu bilden einen
Einfluß haben ſollten, und zwar einen ſo merklichen,
daß ſie ſolche entweder zuerſt veranlaſſen oder doch un-
terhalten koͤnnen, wenn ſie einmal bey den Stammel-
tern durch beſondere Zufaͤlle hervorgebracht ſind. Dieß
iſt von der Farbe, von der Groͤße, von der Feſtigkeit
gewiſſer Theile entſchieden. Es wird auch dadurch auſ-
ſer Zweifel geſetzet, weil dieſelbigen Urſachen bey den
Thieren in ſolchen Gegenden, und zum Theil auch bey
den Pflanzen, aͤhnliche Veraͤnderungen hervorbringen.
Es muß vermuthet werden, daß da, wo es an einer
allgemeinen Urſache fehlet, wodurch die zufaͤlligen indi-
viduellen Abweichungen unterſtuͤtzet werden, dieſe letztern
ſich auch bald wieder verlieren, ohne zu allgemeinen
Nationalcharakteren zu werden. Denn ſo geht es bey
den Beſonderheiten unter uns, die ſich nur hoͤchſtens
auf einige Generationen in einigen Familien erhalten.
Dieſe Vermuthung wird durch die Erfahrung beſtaͤtiget.
Es iſt außer Zweifel, daß da, wo der Einfluß ſolcher
allgemeinen Urſachen, welche ihre Wirkſamkeit uͤber al-
le Jndividuen erſtrecken, aufhoͤret, auch die Wirkun-
gen zum Theil ſich verlieren; ich beziehe mich auf die
Beyſpiele, die Hr. Blumenbach hieruͤber geſamm-
let hat.
Jndeſ-
[575]und Entwickelung des Menſchen.
Jndeſſen wuͤrde es dennoch nicht ganz unerklaͤrbar
ſeyn, wenn etwa auf einer abgeſonderten Jnſel oder
in einem Lande, deſſen Bewohner ſich nie mit andern
vermiſcht haben, eine Eigenheit bey den Bewohnern
gefunden werden ſollte, die von keiner der allgemeinen
aͤußern Urſachen abhaͤnget. Was man z. B. von den
geſchwaͤrzten Menſchen, auf der Jnſel Formoſa und an-
derswo, erzaͤhlet, mag uͤbertrieben ſeyn, wofuͤr ichs hal-
te; aber mich deucht doch, man habe keine Gruͤnde, die-
ſe Nachrichten insgeſammt fuͤr Fabeln zu erklaͤren. *)
Es iſt ganz wohl moͤglich, daß eine ungewoͤhnliche Ver-
laͤngerung des hintern Knochens in einer Familie durch
einen Zufall, wie ſechs Finger an den Haͤnden, entſtan-
den ſey, und daß eine ſolche Abweichung ſich verbreitet
und erhalten habe, wenn dieſe Familie ohne Vermi-
ſchung mit andern zu einem kleinen Volke gewachſen iſt.
Sie haͤtte ſich durch eine Verbindung mit fremden all-
maͤlig wieder verlieren muͤſſen. Ueberhaupt machen
ſolche Beyſpiele keine große Ausnahme von der obigen
Regel, daß Abweichungen, die national werden, in
allgemeinen aͤußern Urſachen einen Grund haben muͤſſen,
die ſolche befoͤrdern und erhalten.
Es iſt nicht ſchwer aus dieſen aͤußern Urſachen zu
erklaͤren, wie die Verſchiedenheiten zuerſt entſtanden
ſind, noch auch, wie ſie von Geſchlecht zu Geſchlecht
fortgehen, wenn die erſten Urſachen fortwirken. Aber
eine Schwierigkeit iſt uͤbrig. Wie, wenn die Urſachen
weggenommen werden? Wenn die Familie, bey de-
nen ſie entſtanden ſind, in ein anderes Klima und in ei-
ne andere Lebensart verſetzet, und ihre Koſt veraͤndert
wird? Man koͤnnte ſich vielleicht darauf berufen, daß
ſolche Eigenheiten nicht ſo leicht vergehen als entſtehen;
daß
[576]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
daß nur die ſchwarze Farbe der Neger in dem noͤrdli-
chen Amerika zur Zeit noch fortwaͤhre, aber ſich doch
von ſelbſt in den folgenden Generationen verlieren muͤſſe.
Allein dieſe Antwort wird ſchwerlich gnuͤgen. Es ſind
der Beyſpiele zu viel, welche es beſtaͤtigen, daß Eigen-
ſchaften ſich fortpflanzen und erhalten, wo man keine
Wirkung von den aͤußern Urſachen mehr finden kann.
Wenn auch etwas darauf gerechnet wird, daß ihre Wir-
kung, die ſie ehemals gehabt haben, noch fortbeſtehe;
ſo muͤßte doch ſolche nicht ſo unausloͤſchlich der Natur
aufgedruckt ſeyn, daß ſie gegen den Einfluß ſolcher Ur-
ſachen, die ihr entgegenwirken, ſo ſtark und ohne Ver-
aͤnderung aushalten koͤnnte, als die Erfahrung lehret,
daß ſie wirklich aushaͤlt. Sie muß alſo anderswoher
unterſtuͤtzt werden. Mich deucht, man wird nicht nur
darauf gefuͤhret, ſondern faſt gezwungen anzunehmen,
es gebe, außer jenen Eindruͤcken von dem Klima, der
Nahrung, der Lebensart und den uͤbrigen aͤußern Urſa-
chen noch eine andere, die in dem Menſchen ſelbſt ſey,
die nicht nur zu jenen hinzukomme, ſondern auch insbe-
ſondere bey der Fortpflanzung wirke, und ſo maͤchtig
wirke, daß ſie fuͤr ſich allein denſelbigen Effekt auf die
Natur entweder hervorbringen oder ſolchen doch erhalten
koͤnne, wenn er ſich einmal feſtgeſetzet hat.
4.
Eine ſolche Urſache finden wir wirklich in dem Men-
ſchen ſelbſt. Es iſt ſeine Nachbildungskraft, oder
Einbildungskraft, welche letztere doch eigentlich nur
ein Theil von ihr iſt. Die, Art wie dieſe wirket und
wie ſie den Menſchen an Seele und Koͤrper modificirt,
iſt anderswo erklaͤret. *) Daß ſie bey der Erzeugung
maͤchtig ſey und auf die erſte Bildung des Embryons
wirke,
[577]und Entwickelung des Menſchen.
wirke, iſt, wie ich meine, nicht zweifelhaft. Ob ſie
auch in der Folge nach der Empfaͤngniß, in den erſten
Monaten der Schwangerſchaft, etwas vermoͤge, und
insbeſondere ob ſie die Urſache der ſogenannten Mutter-
maͤler ſey, iſt wohl etwas zweifelhafter; obgleich auch
hier die Wahrheit in der Mitte zu liegen ſcheinet.
Wenn es nur allein auf das Wie hierbey ankaͤme,
wobey doch die mehreſten Aerzte den meiſten Anſtoß ge-
funden haben: ſo deucht mich, die obige Analyſis wuͤrde
zureichen die Moͤglichkeit im Allgemeinen zu begreifen.
Aber wieweit dieſe maͤchtige Bildungsurſache im Men-
ſchen wirklich gehe, wie groß ihre Kraft, oder wo ſie
begraͤnzet iſt? das muͤſſen die Fakta beſtimmen. Gleich-
wohl wird man doch ihren Einfluß bey der erſten Zeu-
gung des Kindes nicht verkennen. Und hiebey wuͤrde
das, was in Hinſicht der Pferde fuͤr unbezweifelt ge-
halten wird, einen analogiſchen Beſtaͤtigungsgrund ab-
geben.
Man wird in dieſer Meinung, „daß die Einbil-
„dungskraft der Eltern bey der Zeugung einen Einfluß
„in die Bildung des Kindes, wenn nicht allemal habe,
„doch haben koͤnne, und die meiſtenmale wirklich hat,‟
noch mehr beſtaͤrkt, wenn man die verſchiedenen koͤrper-
lichen Beſchaffenheiten, die am gewoͤhnlichſten auf die
Kinder uͤbergehen, naͤher betrachtet, und mit den be-
kannten Geſetzen der Einbildungskraft vergleichet.
Denn eben ſolche Beſchaffenheiten, welche am leichte-
ſten uͤbergehen, ſind es auch, die am lebhafteſten em-
pfunden und am lebhafteſten reproducirt werden.
Was am oͤfterſten und am leichteſten erblich wird, iſt
die Geſichtsbildung und andere aͤußere Geſtalten, die
in die Augen fallen. Hiernaͤchſt ſind es auch Fehler in
der Ausſprache, wie in einigen Familien das Unvermoͤ-
gen den Buchſtaben R auszuſprechen; bey welchem letz-
tern denn nun freylich auch die Nachahmung in der er-
IITheil. O oſten
[578]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſten Jugend vieles beytraͤgt. Ferner gehen Gebrechen
und Krankheiten uͤber, die dem Gefuͤhl am meiſten ge-
genwaͤrtig ſind und ſolches waͤhrend der Zeugung leb-
haft ruͤhren. Dagegen andere Beſonderheiten der El-
tern, deren Wirkungen nicht ausnehmend empfunden,
oder lebhaft eingebildet werden, ſich ſeltener fortpflanzen.
Hawkesworth hat, in der Geſchichte der
neueſten Reiſen nach der Suͤdſee,*) eine Bemer-
kung gemacht, die, da ſie ohne Zweifel eine richtige Be-
obachtung iſt, die Mitwirkung der Einbildungskraft
ungemein beſtaͤtiget. Wenn zween Englaͤnder in ihrem
Vaterlande ſich verheyrathen, und alsdenn nach den
Kolonien nach Weſtindien ziehen, ſo findet man an ih-
ren dorten erzeugten und gebornen Nachkommen die
charakteriſtiſche Farbe und Geſichtsbildung der Kreolen.
Kehren die Eltern in der Folge wieder nach ihrem Va-
terlande zuruͤck, ſo wird man jene Merkmale bey den
Kindern, die ſie hier zeugen, nicht antreffen. Und
dennoch iſt gemeiniglich die Lebensart ſolcher Leute, zu
Hauſe und in der Fremde, dieſelbige, daß faſt nichts
mehr als der Unterſchied der Luft, des Waſſers und der
Lebensmittel, welche letztern doch auch groͤßtentheils von
derſelbigen Art bleiben, uͤbrig iſt, worinn man die Ur-
ſache dieſer Verſchiedenheit an den Kindern ſuchen koͤnn-
te, und ſie ſchwerlich finden wird. Man erwaͤge hie-
bey, wie ſo oft in der phyſiſchen Lage der Eltern eine
viel groͤßere Verſchiedenheit vorgehe als dieſe, ohne daß
ſich davon in den Kindern eine Wirkung offenbare: ſo
kann man es ſchwerlich in Abrede ſeyn, daß die er-
waͤhnten Unterſcheidungsmerkmale in den Kindern den
aͤußern phyſiſchen Urſachen allein nicht zuzuſchreiben ſind.
Sollte es wohl zweifelhaft ſeyn, daß der taͤgliche An-
blick gewiſſer Menſchengeſtalten der Phantaſie Bilder
eindruͤcke,
[579]und Entwickelung des Menſchen.
eindruͤcke, die ihr waͤhrend der Zeugung gegenwaͤrtig
ſind und die alsdenn thaͤtige Koͤrperkraft ſo beſtimmen,
daß davon Folgen in der Frucht entſtehen? Ein ge-
ſchickter Naturforſcher hat, aus der Mitwirkung der
thieriſchen Einbildungskraft, bey den Hunden die große
Verſchiedenheit, die ſich in dieſer Thiergattung findet,
zu erklaͤren geſucht.*) Vielleicht iſt dieß zu viel. Viel-
leicht thut die Einbildungskraft nur etwas, nicht alles.
Aber wenn die Beobachtung richtig iſt, daß ſo gar die
gewaltſame Verkuͤrzung der Ohren und des Schwanzes
erblich wird: ſo wuͤrden die uͤbrigen Gruͤnde, deren ſich
Hr. Friſchen bedienet hat, worunter dieſer einer der
vornehmſten iſt, daß der Sinn des Geſichts von den
Hunden vorzuͤglich gebraucht wird Dinge zu unterſchei-
den, und daß die Abweichungen, welche in der Farbe,
in den Haaren und in der Bildung entſtehen, faſt alle
in die aͤußern Sinne fallen, ungemein beſtaͤrket wer-
den. Man kann dieſen Thieren eine vorzuͤgliche Leb-
haftigkeit der Einbildungskraft nicht abſprechen; und
was noch hinzugeſetzt werden muß, ihre Natur iſt fuͤr
ſich ausnehmend biegſam und geſchickt mancherley Ab-
aͤnderungen anzunehmen. Jnzwiſchen mag es ſich bey
den Thieren verhalten, wie es wolle, ſo iſt bey dem
Menſchen dieſer Einfluß ſchwerlich gegen die vielen Be-
obachtungen, wozu die innere Moͤglichkeit aus der Na-
tur der Nachbildungskraft kommt, in Zweifel zu zie-
hen. Man kann es fuͤr keine Einwendung von Erheb-
lichkeit anſehen, daß der Einfluß der Einbildungskraft
nicht bey allen gleich groß noch bey allen merklich iſt.
Auch kann man ſich darauf nicht berufen, daß ſie ſo
O o 2viel
[580]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
viel nicht vermag, wenn wir mit Vorſatz und Fleiß ſie
anſtrengen. Wenn die Phantaſie ſo thieriſch wirkt,
als ſie im Nachbilden wirkt, ſo wird ſie gewiß nicht
von Willkuͤr regiert. Sie iſt alsdenn Jnſtinkt, und
wirket wie die Kraft der Nerven von ſelbſt, auf welche
Ueberlegung und Eigenwille nicht anders als nur in der
Ferne und ſehr mittelbar etwas ausrichten kann.
Aus dem Einfluſſe dieſer innern Urſache werden
wiederum andere Phaͤnomenen in der Geſchichte der
Menſchheit begreiflich. Warum erhalten ſich dieſelbi-
gen Charaktere eines Volks, welche zuerſt durch aͤußere
phyſiſche Urſachen entſtanden ſind, unter Umſtaͤnden, die
jenen Urſachen entgegenwirken? Home ſchloß ſo:
da die Negern in dem kaͤltern Nordamerika ihre Farbe
behalten, ſo muͤſſen ſie ein eigenes verſchiedenes Men-
ſchengeſchlecht ſeyn. Aber nicht zu ſagen, daß aller-
dings die einmal feſtgeſetzte Schwaͤrze fuͤr ſich ſelbſt
ſchon, einige Generationen durch, der Natur noch an-
kleben muß, ſo iſt es ein großer Unterſchied, ob eine
Menge von Schwarzen untereinander bleiben, oder ob
ſie bey einzelnen Paaren unter lauter Weiße zerſtreuet
werden? Sie koͤnnen viele Jahrhunderte durch unver-
aͤndert ſich erhalten, wann ſie beyſammen ſind; dage-
gen wenn jedes Paar abgeſondert wuͤrde, und jedes neue
Paar Kinder, die vom neuen verbunden werden ſollten,
von Geburt an nur lauter Europaͤer um ſich ſaͤhen;
und waͤre ein ſolcher Verſuch durch mehrere Generatio-
nen fortgeſetzt worden: ſo waͤre die Frage, ob ſie nicht
faſt eben ſo geſchwind in vollkommene Europaͤer in
der fuͤnften oder ſechſten Generation uͤbergehen moͤchten,
als es geſchieht, wenn die Samenvermiſchung mit den
Europaͤern dazu kommt? Daß die Samenvermiſchung
hiezu ganz unentbehrlich ſey, hat Hr. Home nicht be-
wieſen. Und doch iſt es begreiflich, wie die Farbe
ohne ſelbige ſich ſo lange unter den Negern in Nordame-
rika
[581]und Entwickelung des Menſchen.
rika erhalten koͤnne? Der einzelne Menſch modificirt
ſich leicht nach dem Volk, unter dem er lebet. Dagegen
eine ganze Geſellſchaft, die unter ſich zuſammenhaͤngt,
eine Kolonie ausmacht, die ihren urſpruͤnglichen Cha-
rakter, den ſie aus dem Vaterlande mitbringet, ſo bald
und ſo leicht nicht ableget.*)
Jch habe nur die Data von dem obgedachten Bewei-
ſe angeben wollen. Wer ihn vollſtaͤndig ausfuͤhren will,
wird beſtaͤtigende Beyſpiele in großer Menge antreffen.
Das Reſultat davon iſt: die Verſchiedenheit unter den
Menſchen liegt nun zwar bey den Jndividuen in der an-
gebornen Natur; aber ſie iſt doch nicht ſo groß, daß ſie
uns noͤthige, das Zeugniß der aͤlteſten und ehrwuͤrdig-
ſten Geſchichte in Zweifel zu ziehen, welche ſagt, daß
alle Menſchen von denſelben Ureltern abſtammen.
O o 3II. Von
[582]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
II.
Von den Urſachen, welche die menſchliche Natur
ausbilden, und deren Verhaͤltniß gegen-
einander.
- 1) Die Bildungsgruͤnde bey den Menſchen
ſind die Naturanlage, die phyſiſchen Um-
ſtaͤnde, das Beyſpiel und die eigentliche Er-
ziehung. - 2) Wie ſtark der Einfluß der Natur ſey in
Vergleichung mit den hinzukommenden aͤuſ-
ſern Urſachen? - 3) Von der Macht der vollkommenſten Er-
ziehung. - 4) Wichtigkeit der aͤußern Umſtaͤnde. Vom
Geiſt der Staͤnde. - 5) Wie weit die Entwickelung der Seelen-
kraͤfte der eigentlichen Erziehung zuzuſchrei-
ben ſey?
1.
Die neuern Schriftſteller haben es eingefuͤhrt, alle
aͤußere, phyſiſche und moraliſche Urſachen, welche
die natuͤrliche Anlage durch ihren Einfluß ausbilden
und ihr diejenige Form geben, die in dem ausgebildeten
Menſchen vorkommt, unter dem Namen der Erzie-
hung zu begreifen. Natur und Erziehung machen
alsdenn den Menſchen zu dem, was er iſt. Aber wenn
gleich ohne Verwirrung ſo verſchiedene Dinge, als
die eigentliche Erziehung und die Umſtaͤnde ſind, gleiche
Namen haben koͤnnen: ſo iſt es dennoch in mehr als ei-
ner Hinſicht noͤthig, die mancherley Urſachen, die man
dadurch in Einer großen Klaſſe zuſammennimmt, von
einander zu unterſcheiden und jede beſonders zu erwe-
gen.
[583]und Entwickelung des Menſchen.
gen. Einige von ihnen ſind in unſerer Gewalt, andere
nicht; die meiſten ſind es zum Theil. Um alſo auf
eine beſtimmtere Weiſe einzuſehen, was und wie viel
durch menſchlichen Fleiß und durch die willkuͤrlichen
Veranſtaltungen zur Erziehung auszurichten ſey, iſt die
verhaͤltnißmaͤßige Staͤrke dieſer verſchiedenen Urſachen
gegen einander zu erwaͤgen.
1) Erſtlich gehoͤren zu dieſen aͤußern Urſachen die
zufaͤlligen Umſtaͤnde. Hierunter ſind alle Ver-
haͤltniſſe und Beziehungen auf die aͤußere Welt begrif-
fen, worunter der Menſch ſich von der Geburt an be-
findet. Die koͤrperlichen Gegenſtaͤnde, die Luft, die
Waͤrme, die Nahrung, von der Milch der Mutter an,
wirken auf die reizbaren Muskeln des Koͤrpers und
auf die empfindlichen Nerven, und erregen Bewegun-
gen, und Empfindungen, und Leidenſchaften und Triebe.
Aber auch die moraliſchen und politiſchen Beziehungen
des Menſchen auf Menſchen, und die hievon entſprin-
genden Beziehungen auf die lebloſen und beſeelten Ob-
jekte, gehoͤren hieher; die rechtlichen Vermoͤgen, Reich-
thum und Armuth, Herrſchaft und Knechtſchaft, Frey-
heit und Sklaverey und dergleichen. Helvetius hat
den Einfluß aller dieſer Umſtaͤnde auf die Ausbildung
des Menſchen die Erziehung des Zufalls genannt.
Jndeſſen wirket doch der Menſch auf den Menſchen
noch auf eine eigene Art, auf die in gleicher Maße
kein anders Weſen in der Welt, weder Thiere noch un-
beſeelte Koͤrper, auf ihn wirken koͤnnen. Der Menſch
iſt ein Muſter fuͤr Menſchen zur Nachahmung. Alles
uͤbrige macht nur gewiſſe phyſiſche Eindruͤcke auf die
Muskeln und Sinnglieder, und ruͤhret dadurch die in-
nere Kraft der Seele; aber der Anblick des Menſchen
wirket außer dieſem auf das Nachbildungsvermoͤgen
mit einer ſich auszeichnenden Staͤrke. Er bringt eine
Form und Nachbildung hervor, ohne daß weder der,
O o 4welcher
[584]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
welcher vorgeht, noch der andere, der ihm nachmacht,
ſolches wiſſe oder wolle. Dieſes innere ſympathetiſche
Band zwiſchen Menſchen und Menſchen iſt bey der
Ausbildung des Kindes, und in der Entwickelung ſeiner
Vermoͤgen, ſo maͤchtig, daß der Einfluß davon, ohner-
achtet er unter dem allgemeinen Einfluß der aͤußern Um-
ſtaͤnde begriffen iſt, beſonders als die Ausbildung
durch Beyſpiele bemerket zu werden verdienet.
2) Die zwote Klaſſe der ausbildenden Urſachen
kann unter dem Namen der Erziehung begriffen wer-
den, wenn man damit uͤberhaupt alle gefliſſentlich zur
Ausbildung der menſchlichen Natur in der Jugend ver-
anſtaltete Einrichtungen bezeichnet. Sie iſt die phy-
ſiſche Erziehung, inſoferne ihre Abſicht auf die Kraͤfte
des Koͤrpers, auf die mechaniſchen Kraͤfte, und auf
die thieriſchen Vollkommenheiten in den Werkzeugen
des Empfindens und der willkuͤrlichen Bewegung, ge-
richtet iſt, und inſoferne koͤrperliche Mittel hiezu ge-
braucht werden. Sie iſt die geiſtige, die morali-
ſche und intellektuelle, inſoferne ſie unmittelbar die
Bildung der Seelennatur mittelſt der Vorſtellungen
zum Zweck hat. Sie iſt Anfuͤhrung, Unterricht.
Jenes, wenn der Menſch unter Umftaͤnde geſetzet wird,
die ihm zur Anwendung ſeiner Vermoͤgen Gelegenheit
geben, wenn dieſe Vermoͤgen alsdenn zur Thaͤtigkeit
mittelſt ſinnlicher Vorſtellungen gereizet werden, und
wenn man ihm alsdenn die Handlung vormacht. Sie
iſt Unterricht, Jnſtruktion, inſoferne man den
Weg uͤber den Verſtand nimmt und Kenntniſſe und
Regeln, die von der Ueberlegungskraft gefaßt werden,
beybringet. Sie wird aber naͤhere Anweiſung,
wenn Anfuͤhrung zur Ausuͤbung mit Unterricht verbun-
den wird. Sonſt faßt auch wohl die Anweiſung
uͤberhaupt nichts mehr in ſich, als daß man dem An-
zuweiſenden die Gegenſtaͤnde ſeiner Thaͤtigkeit vor-
ſtellet.
[585]und Entwickelung des Menſchen.
ſtellet. Jn dieſem Fall iſt ſie weniger als die An-
fuͤhrung.
Jn einer engern Bedeutung wird das Wort Er-
ziehung genommen, wenn man von einzelnen Perſo-
nen ſagt, daß ſie ohne Erziehung ſind; [od]er von ganzen
Voͤlkern, daß ſie ihre Kinder ohne Erziehung laſſen, ob
ſie ſolche gleich zu ihrer Lebensart und zu ihren Gewer-
ben und Kuͤnſten anfuͤhren. Jn dieſen Redensarten
ſchraͤnkt man das Wort Erziehung ein, auf die zur
Entwickelung der hoͤhern Erkenntnißkraͤfte und zu
einem hoͤhern Grade der Verfeinerung abzielen-
den Einrichtungen.
Ueberhaupt aber iſt die Erziehung ein Werk der
Kunſt, nach Plan und Abſicht eingerichtet. Jnſoweit
wird ſie der Ausbildung der Natur, oder der Erziehung
der Natur entgegengeſetzt, die zwar nach der Abſicht
des Schoͤpfers bey der Welt auf den Menſchen wirket,
ſeine Natur entwickelt und ihn ausbildet, aber von der
Abſicht und dem Fleiße der Menſchen nicht abhaͤngt.
Es laufen dieſe beiden Urſachen, Kunſt und Natur, oft
ſo in einander, daß es unmoͤglich wird, ihre Graͤnzen
genau zu beſtimmen, und zu ſagen, welcher von beiden
eine Wirkung zuzuſchreiben ſey?
Die Wirkung, welche die aͤußern Urſachen in Ver-
bindung mit der innern Naturkraft hervorbringen, be-
ſtehet in der Entwickelung des Menſchen, oder in
ſeiner Ausbildung. Dieſe letztere iſt eine Kultipi-
rung des Menſchen, wenn ſie die Entwickelung der hoͤ-
hern Verſtandskraͤfte, wodurch Menſchen von den Thie-
ren unterſchieden ſind, und die davon abhaͤngende Erhe-
bung und Verfeinerung ſeiner Sinne und Neigungen
hervorbringet. Die wilden Voͤlker, die wir von den
kultivirten Nationen unterſcheiden, entwickeln ihre koͤr-
perlichen und thieriſchen Kraͤfte, das Vermoͤgen |zum
Laufen, Schwimmen, Springen, und zum Theil auch
O o 5ihre
[586]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ihre Sinnglieder, in einem hohen Grade. Aber kul-
tivirt iſt eine Nation nur, inſoferne ſie Einrichtungen
beſitzet, die einen hoͤhern Gebrauch der Ueberlegungs-
kraft und des Nachdenkens vorausſetzen. Ein hoͤhe-
rer Grad der Kultur iſt Polizirung. Denn was zu
der Einrichtung der buͤrgerlichen Staatsverfaſſung und
Polizey gehoͤret; kann nur alsdenn eingefuͤhret werden,
wenn der Menſch ſich als Menſch, als ein vernuͤnftiges
und nach Ueberlegung handelndes Weſen, in einem
merkbaren Grade thaͤtig beweiſet. Den barbariſchen
Voͤlkern ſpricht man zwar nicht die Kultur, aber doch
die Polizirung ab. Noch iſt die Aufklaͤrung bey
einem Volke, und bey den Jndividuen, als ein hoͤhe-
rer Grad der Entwickelung des Verſtandes durch Kuͤn-
ſte und Wiſſenſchaften, als ein hoͤher ſtehender Punkt
auf dem Stufenmeſſer der Menſchheit, zu bemerken.
Aber wo iſt hier das Jnſtrument, das uns dieſe Grade
angiebt, und ſie genau angiebt? Denn wenn wir keine
Genauigkeit verlangen, ſo weiß der aufgeklaͤrte Men-
ſchenverſtand ohngefehr die Vergleichung zu machen.
Er unterſcheidet ſtark genug den polizirten Europaͤer von
dem Barbaren an der afrikaniſchen Kuͤſte, und dieſen
auch wiederum von dem Wilden in Nordamerika und
Neuſeeland.
Die innere Natur alſo, die aͤußern Umſtaͤnde, das
Beyſpiel und die Erziehung ſind die Urſachen, von
deren vereinigten Wirkungen es abhaͤngt, daß jedes
Jndividuum das wird, was es wirklich iſt. Allein da
die Wirkungen dieſer verſchiedenen Urſachen ſo ſehr in
einander laufen, zuweilen mit einander zuſammentreffen,
und ſich vereinigen und verſtaͤrken, zuweilen ſich einan-
der entgegenarbeiten, ſich hindern und unterdruͤcken;
da an derſelbigen Wirkung bald die eine, bald die an-
dere, den groͤßten Antheil hat, und eine den Mangel
der andern erſetzen kann: ſo darf es uns nicht| wundern,
wenn
[587]und Entwickelung des Menſchen.
wenn ſo oft falſch raiſoniret, die wahre Urſache verfehlet,
oder doch die Groͤße ihres Einfluſſes verkannt wird. Dieß
wird ſo oͤfterer geſchehen, wo man die Gruͤnde der Den-
kungsarten, der Staatsverfaſſungen, der Geſetze, der
Sitten, bey ganzen Voͤlkern zu beſtimmen geſucht und
allgemeine Ausſpruͤche daruͤber gewagt hat. Montes-
quieu fand die Urſachen von allen dieſen in dem Klima,
und glaubte ſie darinn faſt allein zu finden. Andere ſu-
chen den Grund von der Denkungsart und den Sitten
in der Staatsverfaſſung. Einige ſchreiben mehr der
Anlage der Natur zu. Andere leiten alles von den Um-
ſtaͤnden und der Erziehung ab. Eine Nation ſoll ta-
pfer von Natur ſeyn, die andere feig; und dieß ſoll
man finden, wenn man Wilde gegen Wilde, oder unpoli-
zirte oder halb polizirte gegen aͤhnliche haͤlt, z. B. die
Bewohner einer Suͤdſeeinſel gegen die Bewohner einer
andern. Eine Nation hat einen unuͤberwindlichen Hang
zur Unabhaͤngigkeit; die andere beugt gerne ihren Na-
cken ins Joch: Bey dieſer findet ſich eine uneingeſchraͤnk-
te Gaſtfreyheit, bey der andern toͤdtender Haß gegen
Fremde, als ein Nationalcharakter, oder wird vielmehr
dafuͤr von einigen gehalten. Home findet darinn eine
angeborne Verſchiedenheit.*) Wie unrichtig wird nicht
oft
[588]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
oft von einer aͤhnlichen Wirkung auf die naͤmliche Urfa-
che geſchloſſen, und wiederum dieſelbige Wirkung er-
wartet, wo dieſelbige Urſache vorhanden iſt? da doch
zu dem letztern noch ein Umſtand mehr erfodert wird,
naͤmlich daß auch dieſelbige Urſache ohne Hinderniß in
einem Falle ſich aͤußern koͤnne, wie in dem andern. Und
nicht einmal zu ſagen, daß ſo manches fuͤr Urfache und
Wirkung angeſehen wird, was bloß durch einen Zufall
bey einander iſt. Daraus entſtehen alsdenn unrichtige
Gemeinſaͤtze, die man fuͤr Erfahrungsſaͤtze haͤlt. Man
hat in der Politik die Frage aufgeworfen, ob ſie ihre
Maximen aus dem Lauf der Welt hernehmen, oder ſie
auf vernuͤnftige Einſicht gruͤnden ſolle? Wer weder
ein blinder Empiriker, noch ein romanhafter Projekt-
macher ſeyn will, muß nothwendig zugleich ſehen und
uͤberlegen, die Beobachtungen mit Vernunft pruͤfen,
aus den gepruͤften Erfahrungen einfache Grundſaͤtze ab-
ziehen und ſo die Wirkungen jeder bildenden Urſache ein-
zeln aus Erfahrungen beſtimmen, und alsdenn ihre Staͤr-
ke und Groͤße und ihre Beziehungen auf einander, wie
ferne ſie ſich unterſtuͤtzen und zuruͤckhalten, befoͤrdern
oder hindern, zu ſchaͤtzen ſuchen; und wenn dieß geſche-
hen iſt, die Grundſaͤtze wiederum auf die Beobachtun-
gen anwenden. Wenn dieſe Vergleichung der allge-
meinen Grundſaͤtze und der einzelnen Faͤlle fortgeſetzet
wird, ſo kommt man auf den wahren Weg zu ſichern
Erfahrungserkenntniſſen, das iſt zu ſolchen, worinnen
jedweder Gemeinſatz ſeine gehoͤrigen Beſtimmungen und
ſeinen wahren Umfang hat.
2. Wenn
[589]und Entwickelung des Menſchen.
2.
Wenn man die verſchiedenen formenden Urſachen mit
einander vergleichet, ſo iſt die erſte wichtige Frage dieſe:
Wie viel vermag die Natur? was und wie viel
muß dieſer beygelegt werden?
Die Seelennatur in dem neugebornen Kinde mag
vielleicht keine voͤllig ſo ſtark beſtimmte Anlage zu der
Seele des Erwachſenen ſeyn, als ſein Koͤrper es iſt in
Hinſicht des ausgebildeten Koͤrpers. Dennoch hat jene
in ihren weſentlichen Trieben, Jnſtinkten und Vermoͤ-
gen ihre unveraͤnderlichen Eigenſchaften, ohne welche
die Seele ſich gar nicht entwickeln kann; ihre ſtarken
Anlagen, ohne welche ſie ſich gewoͤhnlicherweiße nicht
entwickelt, und die ſie unter jeden Umſtaͤnden aͤußert;
und endlich ihre bloßen Moͤglichkeiten, die leichter veraͤn-
dert werden, aber doch auch ſchon auf ihre Art be-
ſtimmt ſind.
Hr. Verdier legt dem neugebornen Kinde keine
Seelenfaͤhigkeit mehr bey als dieſe, daß es ſaugen und
einſchlucken kann. Dieß beides hat das Kind ſeiner
Meinung nach ſchon im Mutterleibe erlernet. Er be-
merkte, daß die Urſache, warum ein zu fruͤh gebornes
Kind nicht erhalten werden konnte, dieſe war, weil es
die Geſchicklichkeit nicht hatte, zu ſaugen und ſeine Mus-
keln zum Hinunterſchlucken zuſammenzuziehen. Der
phyſiſche Reiz, den die Milch auf die innern Theile des
Mundes und des Gaumens macht, iſt fuͤr ſich allein
nicht ſtark genug die Muskeln zu dieſen Bewegungen
zu bringen. Dazu gehoͤret ſeiner Meinung nach ſchon
eine Art von Uebung, welche das Kind im Uterus ge-
habt habe. So wuͤrde denn doch ein angebornes Ver-
moͤgen, und wenn auch nur Eins dergleichen, da ſeyn,
das in dem Embryonenſtande ſchon zur Fertigkeit ge-
worden iſt. Jſt dieß, ſo fuͤhrt uns die Analogie in
Hinſicht
[590]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt
Hinſicht der uͤbrigen Vermoͤgen auf eine aͤhnliche Folge-
rung. Auch dieſe muͤſſen erhoͤhet worden ſeyn, wenn
ſchon in einem mindern Grade? Sind ſie in dem neu-
gebornen Kinde nicht ſo weit gekommen als das Vermoͤ-
gen zu Saugen, ſo werden doch andere Aeußerungen
von ihnen vorhanden ſeyn, auch wenn ſie zu ſchwach
ſind, um von uns bey den Kindern bemerkt zu werden.
Wenn wir mehrere Gelegenheiten haͤtten den Men-
ſchen kennen zu lernen, wie er außer der Geſellſchaft
mit ſeines Gleichen entwickelt wird, wie wir, die
wenigen, auch nicht einmal ſcharf genug beobachteten,
Faͤlle von den unter Thieren wild gewordenen Kindern
ausgenommen, nicht haben: ſo wuͤrden wir aus der
Erfahrung es beſſer geradezu beurtheilen koͤnnen, was
und wie viel ſeine Natur fuͤr ſich allein vermoͤge. Denn
in dieſen Umſtaͤnden fallen die Wirkungen des Beyſpiels
von andern Menſchen und der Erziehung gaͤnzlich weg;
und bloß die Wirkungen der Natur und des phyſiſchen
Einfluſſes der aͤußern Dinge bleiben uͤbrig. Jndeſſen
koͤnnen die genauen Beobachtungen der Taubſtummen,
denen man eine Sprache beybringet, mit den uͤbrigen
Faktis, die man hat, zuſammengenommen, einigermaſ-
ſen dieſen Mangel erſetzen. Und wenn alsdenn noch von
demjenigen Gebrauch gemacht wird, was die Verglei-
chung und Aufloͤſung der menſchlichen Naturkraͤfte leh-
ret: ſo iſt es außer Zweifel, daß die Grundvermoͤgen, das
Gefuͤhl, die Vorſtellungskraft und die Denkkraft, wie
auch die Triebe zur Erhaltung, der Wehrtrieb, der Ver-
mehrungstrieb und der Hang zur Geſelligkeit fuͤr bloße
Wirkungen der Natur zu halten ſind, die keine Kunſt
und keine Erziehung einpfropfen wuͤrde, wenn ſie nicht
aus dem innern Princip von ſelbſt hervorſproͤſſen. Sie
ſind Naturtriebe, die zwar durch den Einfluß der aͤußern
Umſtaͤnde mehr oder minder gedruͤcket, |zuruͤckgehalten
oder befoͤrdert, und geſchwinder zur Ausbildung ge-
bracht,
[591]und Entwickelung des Menſchen.
bracht, und auf verſchiedene Arten gelenket und beſtim-
met werden, aber durch alle aͤußere Urſachen nicht haͤt-
ten hineingelegt werden koͤnnen, wenn ſie nicht von Na-
tur vorhanden waͤren.
Die Schwierigkeit aber, die Grade und Stufen
der innern Beſtimmtheit der Natur in Hinſicht der ver-
ſchiedenen Vermoͤgen und Neigungen anzugeben, blei-
bet wie ſie iſt. Denn davon haͤngt es ab, ob und in
welcher Maße, und durch welchen Grad von aͤußerer
Einwirkung, das innere Angeborne veraͤnderlich ſey.
Als man vor einigen Jahren die Veraͤnderlichkeit der na-
tuͤrlichen Neigungen, durch die Veranlaſſung, welche
die Preisfrage der berliner Akademie gab, unterſuchte,
ward dieſe Materie mit vielem Scharfſinn und Fleiß
behandelt. Das Allgemeine hiebey iſt damals ſchoͤn und
vollſtaͤndig auseinander geſetzt worden.*) Einige Neigun-
gen ſind unausloͤſchlicher, als andere. Einige ſind es
bey einzelnen Perſonen mehr, als andere. Aber welche
es uͤberhaupt bey allen ſind, und in welchen verſchiede-
nen Graden ſie es ſind, und wie weit ſie von Umſtaͤnden
und Erziehung abhangen, daruͤber iſt in jedem Fall
ſchwerer etwas zu entſcheiden, ſobald man auf die beſon-
dern Unterſcheidungsmerkmale der Koͤpfe und der Gemuͤ-
ther Ruͤckſicht nimmt. Es kann nicht das Objektiviſche
in den Faͤhigkeiten und Vermoͤgen ſeyn, wovon die Re-
de iſt, ſondern nur das Subjektiviſche. Die Jdeen
von den Gegenſtaͤnden und Kenntniſſen ſind nicht ange-
boren; aber es iſt das Formelle in der Art der Thaͤtig-
keit der Kraͤfte, in der Groͤße, Lebhaftigkeit, Staͤrke,
Dauer, womit fie wirken und die erſten Gefuͤhle bear-
beiten,
[592]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
beiten, angeboren, woraus die verſchiedenen Verhaͤltniſſe
in der Empfindſamkeit, in der Einbildungskraft, in dem
Verſtande, in dem Mitgefuͤhl und in den Thaͤtigkeitstrie-
ben und ihren Beziehungen auf einander entſpringen.
Mehr als nur gewiſſe Stufen und Grade in den Ver-
moͤgen kann man nicht fuͤr Natur halten. Der Tatar
iſt kein geborner Reuter, der Britte kein geborner See-
fahrer, und der Wilde kein geborner Schwimmer oder
Jaͤger, und kein Genie iſt es von Natur in einer an-
dern Hinſicht, als der vorzuͤglichen Aufgelegtheit wegen
ſo etwas zu werden.
So viel glaube ich, koͤnne man aus der Geſchichte
der Menſchheit jetzo als voͤllig beſtaͤtiget abziehen. Wenn
gleich der natuͤrliche Charakter ſowohl in Hinſicht des
Gemeinſchaftlichen, das zum Charakter des Volks ge-
hoͤret, als auch in Hinſicht der individuellen Eigenhei-
ten, bey einigen Jndividuen ohne Zweifel ſtaͤrker und
feſter gezeichnet iſt als bey andern: ſo iſt doch „die
„Naturanlage nie ſo ſtark und ſo hervordringend und in-
„ſtinktartig, daß ſie nicht durch die vereinigte Wirkung
„der phyſiſchen Umſtaͤnde, der Beyſpiele und der Er-
„ziehung geaͤndert und wenigſtens bis zum Unbemerk-
„baren heruntergeſetzt werden koͤnne, wenn naͤmlich
„alle dieſe aͤußern Urſachen der natuͤrlichen Diſpoſition
„entgegen ſind.‟ Es giebt wohl keinen Menſchen von
einem ſo hohen Muthe, der nicht ein Feiger und Nie-
dertraͤchtiger haͤtte werden koͤnnen, wenn er von der
Kindheit an ein Negerſklave geweſen, und mit Krank-
heiten des Koͤrpers geplaget, unter Mangel und Elend
in der Geſellſchaft von gleich Elenden, ſein Daſeyn haͤt-
te fortſchleppen muͤſſen? Karl des zwoͤlften unbezwing-
baren Sinn brach ein Wundfieber auf ſeiner Flucht
nach Bender. Was wuͤrde aus einem Keime des
Leibnitz geworden ſeyn, wenn er in der Einſamkeit auf
einer Jnſel, wie Selkirk, erwachſen waͤre? Wenn
man
[593]und Entwickelung des Menſchen.
man es in ſeiner Gewalt haͤtte, alle Veranlaſſungen, die
das Genie reizen, ihm zu entziehen, und dagegen ſolche,
die andere von Natur ſchwaͤchere Seelenvermoͤgen bey
ihm reizen, verſchaffen koͤnnte; und zugleich mit Unter-
richt und Beyſpiel der vorzuͤglichen Geiſteskraft entge-
genarbeiten wuͤrde: ſollte dann die natuͤrliche Anlage
nicht nachgeben muͤſſen? Ein Kind aus den wildeſten
Voͤlkern, und ein Kind von der beſten Anlage, aus
der menſchlichen Geſellſchaft verſtoßen und eingekerkert,
was wuͤrde es werden? Der Menſch iſt das geſchmei-
digſte Weſen, und ſeine modifikable Natur iſt weicher
wie Wachs. Die Faͤhigkeiten bleiben zuruͤck, die
Grundkraft gewoͤhnet ſich nach einer andern Richtung
hin, und verſtopfet ſich ſelbſt den Ausbruch nach der
erſtern, die ihm ſonſt am leichteſten war. Die Ge-
ſchichte der Menſchheit beſtaͤtiget es, daß unſere Natur
alle Formen annimmt, die ihr durch die aͤußern Urſa-
chen gegeben werden.
Aber kann das Morenkind weiß werden? Haͤtte
jeder Dummkopf eine kluge, jeder Unmenſch eine em-
pfindſame Seele, und jeder Boͤſewicht ein Rechtſchaffe-
ner, werden koͤnnen, unter andern Umſtaͤnden? Jch
antworte, wenn alle aͤußere Umſtaͤnde zuſammen ihren
Einfluß zu dieſer entgegengeſetzten Form vereiniget haͤt-
ten, ſo wuͤrde daran kein Zweifel ſeyn. Nur ſo viel
ſcheinet aus den Erfahrungen gefolgert werden zu koͤn-
nen, die man dagegen anfuͤhrt: „daß wenn die Natur-
„anlage nur einige guͤnſtige aͤußere Umſtaͤnde auf ihrer
„Seite hat, und ihr nur allein die eigentliche Erzie-
„hung entgegenſtehet, ſo werde ſie bey manchen Jndi-
„viduen noch ſtark genug ſeyn, um ſich mit einem un-
„ausloͤſchlichen Merkzeichen zu offenbaren.‟ Und
wenn gar das Beyſpiel andrer Menſchen hinzukommt,
ſo iſt die entgegengeſetzte kuͤnſtliche Anfuͤhrung vollends
zu ſchwach, um ſie ganz zuruͤckzuhalten. Aber ich ſuche
IITheil. P phier
[594]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
hier zuerſt einen feſten Punkt. Das iſt dieſer: wenn
ſich die aͤußern Urſachen alle zuſammen gegen die Na-
tur vereinigen, ſo muß ſie unterliegen. Die Krank-
heit, wie die Geſundheit, eines Kindes von Jugend auf
gehoͤret ebenfalls dahin. Krankheiten koͤnnen auch die
Moren weiß machen. Wenn die Natur der Seele ſo
ſtark in ihren Eigenheiten beſtimmt iſt, als die Farbe
der Haut, ſo will ich nicht laͤugnen, daß, um ſie zu ver-
aͤndern, nicht zuweilen beſondere Urſachen wirken muͤß-
ten. Sie iſt in Hinſicht ihrer Formen, die ſie annimmt,
was die Diſpoſition der Oberflaͤche der Koͤrper in Hin-
ſicht ihrer verſchiedenen Farben iſt, womit ſie erſchei-
nen. Jn dem bloß rothen Lichte iſt jeder Koͤrper roth,
in dem blauen blau, nur nicht in gleichem Grade der
Lebhaftigkeit und Staͤrke. Aber wenn das Licht aller
Arten zugleich auffaͤllt, ſo wirft der Scharlach die ro-
then, und der Jndigo die blauen Stralen ſo vorzuͤg-
lich zuruͤck, daß man nur allein dieſe gewahr wird.
Eben ſo verhaͤlt ſich die Menſchheit in dem Kinde in
Hinſicht der aͤußern Umſtaͤnde.
Da haben wir zugleich die Urſachen, warum der
angeborne Charakter ſo ſelten, oder faſt niemals, un-
kenntlich gemacht wird, beſonders in denen, wo er ſich
an Staͤrke ausnimmt. Die phyſiſchen Umſtaͤnde, wel-
che auf die Naturkraft wirken, ſind faſt uͤberall, was
das zuſammengeſetzte Sonnenlicht fuͤr die gefaͤrbten
Koͤrper iſt, das alle Arten von Stralen enthaͤlt. Der
bloße Gebrauch der Sinne, in der Geſellſchaft mit Men-
ſchen, giebt Nahrungsſaͤfte fuͤr faſt alle angeborne See-
lenvermoͤgen, und gewaͤhrt dem einen wie dem andern
eine Gelegenheit zu wirken, ſich zu uͤben und zu ſtaͤr-
ken. Das Genie bricht hervor bey den mindeſten Ver-
anlaſſungen; bey jedem Volke unter jedem Himmels-
ſtriche auf eine eigene Art. Nun mag die Anfuͤhrung
und das Beyſpiel anderer, die man ihm zum Muſter
vorhaͤlt,
[595]und Entwickelung des Menſchen.
vorhaͤlt, dagegen arbeiten: es wird zwar etwas ausge-
richtet; aber alle beide ſind zu ohnmaͤchtig uͤber die Na-
tur, die durch die phyſiſchen Beziehungen geſtaͤrket wird,
Herr zu werden. Wenn die Erziehung der Umſtaͤnde,
daferne ſie hier einmal ſo darf genennet werden, mit dem
Unterrichte und dem Beyſpiele uͤbereinſtimmt, ſo ſind
ſie zuſammen allmaͤchtig; aber „Eins von den letztern
„allein kann zwar etwas die Wirkung der uͤbrigen, die
„mit der Natur uͤbereinſtimmen, ſchwaͤchen, allein den
„Ausbruch der Natur nie ganz zuruͤckhalten.‟ Der
Anfang des Sprechens iſt ein Werk der Natur, unter
gewiſſen Umſtaͤnden, welche faſt nirgends fehlen, wo
Menſchen mit Menſchen in Geſellſchaft ſind. Aber ein
weiterer Fortgang der Sprache erfodert, daß die erſten
Anfaͤnge durch Beyſpiel und Anfuͤhrung ſich feſtſetzen
und verbreiten, und daß der neue Zuſatz an Worten von
andern aufgefangen und unterhalten wird. Es verhaͤlt
ſich gleichermaßen mit den uͤbrigen Naturfaͤhigkeiten.
3.
Hieraus laͤßt ſich eine Folgerung ziehen, die Hr.
Verdier zum Grundſatz, in ſeinem Vorſchlag der voll-
kommenſten Erziehung, genommen hat. Hat man
bey dem Kinde von der Geburt an die aͤußern Urſachen,
die auf den Koͤrper und die Sinne wirken, in ſeiner
Gewalt; kann man ihren Eindruck verſtaͤrken oder maͤßi-
gen, mindern oder vermehren; kann man die Reiz-
barkeit in den Muskeln und die Empfindlichkeit in den
Nerven, wie die Abſicht es mit ſich bringet, durch phy-
ſiſche Mittel erhoͤhen oder ſchwaͤchen; und kann, wie es
in einiger Maße wohl moͤglich iſt, dieſe phyſiſche Er-
ziehung ſchon vor der Geburt, vielleicht von der Erzeu-
gung ſchon anfangen, und in der Folge eine moraliſche
und intellektuelle Erziehung hinzukommen, welche Bey-
ſpiele und Unterricht jedesmal in der Maße anbringt
P p 2und
[596]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
und ſo auf die Seele des Kindes in jedem Grade wirk-
ſam macht, wie man es haben will: ſo kann freylich
die Erziehung Herr uͤber die Natur werden, welche der
vereinigten Macht aller dieſer Urſachen nachgeben muß.
Sie wird ſich dennoch darinn beweiſen, daß ſie die Ar-
beit hier oder dorten durch ihre Widerſetzlichkeit ſchwe-
rer macht. Aber iſt eine ſolche kuͤnſtliche Zuſammen-
ordnung aller aͤußern Urſachen moͤglich? Kann die
Kunſt auch jemals Herr uͤber die Zufaͤlle werden, die
den Sinnen taͤglich vorkommen und die Muskeln rei-
zen? Wie will man verwehren, daß ein Kind nichts
mehr und nichts weniger und nichts anders ſieht, hoͤ-
ret u. ſ. w. als die Kunſt es will. Lobenswerth iſt die
Abſicht des Hrn. Verdier und anderer, die daran ar-
beiten. Es iſt außer Zweifel, daß ſehr vieles geſchehen
kann. Nur iſt zu bedenken, daß auf der andern Seite
auch die Kunſt in eine ſchaͤdliche Kuͤnſteley uͤbertrieben
werden kann. Es giebt hiebey ein vielleicht ſchwer zu
findendes Maß. Und wir haben bey allen unſern Pla-
nen, die wir entwerfen, einen zu großen Hang zum Ein-
ſeitigen. Wir erreichen vielleicht unſere Abſicht, und
wir erreichen etwas gutes; aber wir verfehlen auch wich-
tigere Vortheile auf der andern Seite. Jndeſſen wuͤr-
den wir hieruͤber beſtimmtere Einſichten erlangen, wenn
wir die Wirkſamkeit der bildenden aͤußern Urſachen naͤ-
her, und jedweder fuͤr ſich, zu beſtimmen im Stande
waͤren.
4.
Da die individuellen Naturen der Kinder unter-
ſchieden ſind, einige empfindlicher und beugſamer, an-
dere traͤger und ungelenkſamer ſind: ſo kann auch die
Wirkung, welche die Umſtaͤnde, das Beyſpiel und der
Unterricht haben, nicht bey allen von gleicher Staͤrke
ſeyn. Jndeſſen ließe ſich doch ein gewiſſes mittleres
Maß
[597]und Entwickelung des Menſchen.
Maß fuͤr ihre Wirkſamkeit feſtſetzen, wenn man dieje-
nigen Naturen, die ſich beſonders auszeichnen, uͤbergeht,
und nur den Eindruck, den ſie auf den uͤbrigen großen
Haufen der Menſchen, auf das Volk und die Nation im
Ganzen, machen, in Betracht ziehet. Oder, wenn
auch hiezu die Beobachtungen nicht einmal hinreichen,
ſo kann doch vielleicht die verhaͤltnißmaͤßige Staͤrke der
einen, in Vergleichung mit der andern, im Allgemeinen
angegeben werden; wie ſolches vorher bey der Verglei-
chung der Natur und der aͤußern Umſtaͤnde zuſammen
geſchehen iſt. Solche Saͤtze wuͤrden in der Philoſophie
uͤber die Menſchheit Grundſaͤtze ſeyn. Jch werde dieſe
Materie nur obenhin beruͤhren. Das Klima hat fuͤr
ſich einen ungezweifelten Einfluß auf den Koͤrper, und
durch dieſen auf die Seele, auf den Charakter, auf das
Genie. Die Lebensart und die Nahrungsmittel haben
den ihrigen. Die Regierungsform iſt in mancher Hin-
ſicht maͤchtiger, als jene. Aber in welcher und wie groß
iſt das Uebergewicht im Durchſchnitt? Anders wirkt
der Stand der Wildheit, anders der Stand der Bar-
barey, auf die Natur; anders die Verhaͤltniſſe in den
polizirten Staaten; auf eine andere Art die Freyheit,
auf eine andere die Sklaverey. Reichthum, Armuth,
Gewalt, Herrſchaft, Schwaͤche, Unterwuͤrfigkeit,
Dummheit und Aufklaͤrung, der Regierſtand, der Lehr-
der Wehr- und Naͤhrſtand u. ſ. f. Jeder dieſer Um-
ſtaͤnde hat ſeinen eigenen Geiſt. Das, was von der
bloßen Nachahmung abhaͤngt, mag hiebey eingeſchloſ-
ſen oder abgeſondert werden. Jeder Zuſtand iſt ein ei-
genes Nahrungsmittel zur Ausbildung gewiſſer Seiten
und Vermoͤgen der Natur, und bringet eine eigene Form
in ihr hervor. Es giebt kein Jndividuum, in deſſen
Charakter nicht einige Zuͤge ſeyn ſollten, die von dem
ununterbrochenen und unvermerkten Einfluſſe des aͤußern
Zuſtandes abhangen. Ein hoͤheres ſelbſtthaͤtiges Genie
P p 3kann
[598]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
kann ſich uͤber ſeine Zeiten und uͤber ſeine Nation in
mancher Hinſicht erheben. Dieß iſt ſchon etwas ſelte-
nes. Aber wo iſt der Menſch, der nicht manches eigene
von dem Charakter ſeiner Zeit, ſeines Volks und ſeines
Standes behalten haͤtte, auch wo er deſſen Fehler eingeſe-
hen und ſich davon zu befreyen geſucht hatte? Die Nach-
bildungskraft wirket unwiderſtehlich, und hat ihre kennt-
lichen Wirkungen.
Noch mehr. „Jeder Zuſtand hat auch ſeinen ihm
„eigenen Geiſt, der auf einer oder der andern Seite
„eine Ausbildung wirket, die in der Maße in keinem
„andern gewirket wird.‟ Denn da jeder verſchiedene
Zuſtand auch ſeine verſchiedenen Gefuͤhle und Empfin-
dungen verurſachet, ſo fuͤhret er auch eigene Jdeen,
Kenntniſſe und Vorurtheile mit ſich, locket die Seelen-
faͤhigkeiten auf eine eigene Art hervor, und beſchaͤfftiget
ſie in einer eigenen beſtimmten Beziehung auf einander.
Daher entſtehen Beduͤrfniſſe, Geſinnungen und Be-
gehrungen in einem beſtimmten Verhaͤltniſſe auf ein-
ander, das der Beziehung und Verbindung der Ein-
druͤcke auf die innern und aͤußern Sinne angemeſſen
iſt. Dadurch bekoͤmmt die modifikable Natur die un-
terſchiedenen Formen, davon jede ſowohl eine Realitaͤt
als einen Mangel enthaͤlt, die in den andern Formen
entweder fehlen oder doch in der naͤmlichen Maße in
dieſen nicht vorhanden ſind. Dieß, ſage ich, gilt ſowohl
von Vollkommenheiten als Maͤngeln. Die Unerſchro-
ckenheit in Leib- und Lebensgefahren findet ihren beſten
Boden in der Schiffahrt und in dem Soldatenſtande.
Der hohe edle Sinn, die Großmuth und Wohlthaͤtig-
keit wird in dem Beſitz von Vermoͤgen, von Macht
und Unabhaͤngigkeit am leichteſten gezogen. Die Ener-
gie des Verſtandes und des Willens waͤchſet in der
Freyheit und beym Widerſtande am ſchnelleſten. Und
ohne Zweifel iſt Armuth und Sklaverey eine gute Schule
fuͤr
[599]und Entwickelung des Menſchen.
fuͤr die Demuth, die Beſcheidenheit, die Begreifung
ſeiner ſelbſt, und uͤberhaupt fuͤr diejenige Beugſamkeit
in der Denkungsart, dem Willen und den Sitten, die
fuͤr ſich eine Realitaͤt der menſchlichen Natur iſt. Der
Mann von Geſchaͤfften hat weniger Anlaß, der hoͤhern
Verſtandeskraft diejenige Feinheit und den Umfang zu
geben, wohin das beſtaͤndige Nachdenken in den Wiſ-
ſenſchaften ſie bey den Gelehrten bringen kann. Da-
gegen findet der letztere in ſeinen Geſchaͤfften auch weit
ſeltner die Gelegenheiten, den Muth und die Entſchloſ-
ſenheit des Herzens zu erhoͤhen. Bey den unkultivir-
ten Voͤlkern ſind es mehr die koͤrperlichen Kraͤfte, als die
Geiſtesfaͤhigkeiten, die entwickelt werden. Aber da
doch auch jene nicht koͤnnen erhoͤhet werden, ohne daß
ihre Empfindungskraft an irgend einer Seite in gleicher
Maße ſtark wuͤrde: ſo meyne ich, man koͤnne behaupten,
was die Geſchichte der Menſchheit beſtaͤtiget, „daß es
„nirgends ein Volk gebe, ſo wild und elend es im Gan-
„zen auch ſeyn mag, ſelbſt die Bewohner des Feuer-
„landes und die Neuhollaͤnder nicht ausgenommen, aus
„deren Verfaſſung nicht an irgend einer Seite eine
„Ausbildung der Seelennatur entſtehe, welche bey an-
„dern Voͤlkern nicht iſt, oder doch in dem Grade der
„Staͤrke und Groͤße nicht iſt, und die doch fuͤr ſich zu
„den menſchlichen Vollkommenheiten gehoͤret.‟ Wer
in den polizirten Staaten das Jnnere der verſchiedenen
Staͤnde betrachtet, wird gleichfalls in jedem derſelben
eine beſondere Entwickelung der Menſchheit antreffen,
die er in andern vermiſſet. Man kann dieſe Anmer-
kung fortſetzen auf jedes einzelne Jndividuum. Nur
daß der eigene Vorzug oft unmerklich wird. Es iſt
mit der Ausbildung des Menſchen, wie mit ſeinem Wohl.
Beides findet ſich in allen Staͤnden nur auf unterſchie-
dene Arten modificirt. Es iſt nichts als Standes-
ſtolz, aus einſeitigen Begriffen, wenn der Gelehrte
P p 4ſich
[600]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſich, ſeiner vorzuͤglichen Erhoͤhung der Erkenntnißkraft
wegen, auf die oberſte Staffel der Menſchen ſetzt. Wir
moͤgen Stufenfolgen unter den Menſchen annehmen,
die durch die Groͤße der Menſchheit charakteriſirt| wer-
den; aber jede Klaſſe behaͤlt doch etwas eigenes auch an
Vollkommenheit. Die hoͤhern faſſen eine groͤßere
Summe von menſchlichen Realitaͤten in ſich. Nur
keine hat alles Gute beyſammen, was die niedrigern
beſitzen.
Welch ein Projekt wuͤrde es ſeyn, der innern Menſch-
heit durch alle ihre abſtechende aͤußere Zuſtaͤnde nachzu-
gehen, und die Empfindungen, Geiſteserhoͤhungen, Ge-
muͤthsfaͤhigkeiten und Willenskraͤfte aufzuſuchen, die
in jedem derſelben vorzuͤglich entwickelt werden; und
dann bey jeder das Unterſcheidende in den Graden der
Jntenſion, der Ausdehnung und Dauer der Vermoͤ-
gen, der leidentlichen und thaͤtigen, und in ihren dar-
aus entſpringenden Beziehungen auf einander zu beob-
achten. Die Zukunft kann vielleicht eine ſo reizende voll-
ſtaͤndige Geſchichte der Menſchheit erwarten, und eine
Moral, die auf dieſe gegruͤndet iſt; wenn nicht etwan
der jetzige Eifer in der Unterſuchung des Menſchen nach-
laſſen ſollte. Wer ſteht dafuͤr, daß nicht auch das
Studium des Menſchen das Schickſal der Modeſtudien
haben werde? Der Verfaſſer des philoſophiſchen
Bauers und des philoſophiſchen Kaufmanns
hat zwar nicht die Abſicht gehabt, den Geiſt dieſer bei-
den Staͤnde, davon Cicero den erſtern fuͤr die beſte
Schule der Weisheit, naͤchſt dem Studium der Philo-
ſophie, erklaͤrte, zu zeichnen; aber er hat ſehr viele von
den wichtigſten Grundzuͤgen deſſelben ſcharf genug beob-
achtet. So ein Unternehmen iſt nicht leicht. Wer
nicht, außer einem feinen Beobachtungsgeiſt, Menſchen-
kenntniß und philoſophiſchen Scharfſinn beſitzet, und in
einer Lage iſt, worinn ihm das Jnnere eines Standes
vor
[601]und Entwickelung des Menſchen.
vor Augen lieget, der halte ſich nicht berufen darzu, von
dem Charakter deſſelben, und insbeſondere von ſeinem
Einfluß auf die Seelennatur, etwas mehr als hoͤchſtens
einen Schattenriß zu machen.
5.
Wird die natuͤrliche Entwickelung der kuͤnſtli-
chen, oder der Schulentwickelung, ſo entgegengeſetzt,
daß unter jener alles begriffen wird, was durch die aͤuſ-
ſern phyſiſchen Umſtaͤnde und durch die von ſelbſt wirken-
de Nachbildungskraft, in der Geſellſchaft und im Um-
gang mit Menſchen, bewirkt wird, die letztere dagegen
nur die Wirkungen des Unterrichts und der gefliſſent-
lichen Uebung in ſich faſſet: ſo laſſen ſich uͤber das Ver-
haͤltniß dieſer beiden manche Vemerkungen machen, die
erwogen zu werden verdienen. Davon will ich nur eine
anfuͤhren. Aber ich verſtehe, wie geſagt, alsdenn unter
der Erziehung nichts mehr, als was gemeiniglich darun-
ter begriffen wird. Wenn dieſe bis auf die phyſiſche
Erziehung ausgedehnet wird, und ſich nach den Vor-
ſchriften des Hrn. Verdier aller aͤußern Urſachen bemei-
ſtern und ſie nach Abſicht und Plan zur Wirkſamkeit
bringen kann, ſo wird auch ihre Wirkung vergroͤßert.
„Die abſolute Groͤße, zu der die Seelenvermoͤ-
„gen gelangen, iſt mehr die Wirkung von der natuͤrli-
„chen Ausbildung, als von dem Unterricht und der re-
„gelmaͤßigen Uebung. Dagegen die relativen Ver-
„moͤgen und Fertigkeiten, die Kraft auf dieſe oder je-
„ne Gegenſtaͤnde ſchicklich anzuwenden, mehr eine Wir-
„kung des Fleißes und der eigentlichen Erziehung ſind.‟
Die Sinne erreichen ihre Staͤrke und ihren Umfang bey
den Kindern von ſelbſt durch eine eigenmaͤchtige, faſt ab-
ſichtsloſe, Anwendung der innern Vermoͤgen auf die em-
pfundenen Gegenſtaͤnde. Der Maler ſiehet zwar ein
Gemaͤlde ſchaͤrfer an, und ein Tonkuͤnſtler hoͤret und
P p 5bemerket
[602]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
bemerket ſchneller die Toͤne. Das Geſicht des Erſtern
und das Gehoͤr des letztern gewinnet dabey wohl im Gan-
zen auch etwas an groͤßerer abſoluter Staͤrke, aber doch
keine ſo beſondern Grade, die vorzuͤglich zu bemerken
waͤren. Auf die naͤmliche Art ſproſſen die allgemeinen
menſchlichen Leidenſchaften in den Jndividuen, ohne ei-
nen eigen darauf verwandten Fleiß, von ſelbſt hervor,
und kommen zu ihrer innern Staͤrke. Die Erziehung
bearbeitet und lenket ſie auf dieſe oder jene Objekte;
aber an ihrer innern abſoluten Staͤrke, mit der ſie her-
vorbrechen, wird dadurch, wenn etwas, doch nur das
wenigſte hinzugeſetzt. Es verhaͤlt ſich auf gleiche Art
bey der Vorſtellungskraft, der Phantaſie, dem Ver-
ſtande, der Empfindſamkeit und der Thaͤtigkeit zum Han-
deln. Der Schulwitz und der Mutterwitz werden in
der gemeinen Sprache einander entgegengeſetzt. Der
Mutterwitz iſt nicht das bloße angeborne Vermoͤgen,
ſondern das ſo ausgebildete Vermoͤgen, wie es durch
den Jnſtinkt und durch die Umſtaͤnde von ſelbſt gewor-
den iſt. Unter dem Schulwitz begreift man das, was
die Erziehung hinzuſetzet. Man ſtelle die Vergleichung
an zwiſchen denen, bey welchen die Vermoͤgen durch den
Unterricht kultivirt ſind, und andern, die ſich ſelbſt un-
ter den Umſtaͤnden und durch ihr eigenes Nachbilden ent-
wickelt haben. Die witzigen Einfaͤlle der letztern, ihre
geſcheuten Urtheile und Raiſonnements, ihre ſtarke und
feine Empfindſamkeit, verrathen ſich ſo deutlich, daß
man nicht lange zweifelhaft bleiben kann, es fehle dem
Diamant nichts mehr als die aͤußere Politur, um ſich
in einem gleichen Glanze zu zeigen. Denn dieſe Poli-
tur iſt es nur, was die kuͤnſtliche *) Erziehung hinzufuͤ-
get. Aber freylich iſt dieß ein Zuſatz von großer Wich-
tigkeit.
Die
[603]und Entwickelung des Menſchen.
Die Urſache hievon darf nicht weit gefucht werden.
Die Erhoͤhung der Faͤhigkeiten an ihrer abſoluten Groͤße
haͤnget mehr von den dunkeln, innern und aͤußern, Ge-
fuͤhlen ab, und von den unaufgeloͤſten Vorſtellungen,
die den Gefuͤhlen nahe kommen, als von entwickelten
Jdeen der Gegenſtaͤnde, die der Unterricht beybringet.
Jedes Menſchenkind, das innerlich und aͤußerlich voll-
ſtaͤndig organiſirt iſt, empfaͤngt auch alle Arten von
Eindruͤcken und Empfindungen. Und wenn die Geſell-
ſchaft, in der es lebet, die naͤmliche iſt, ſo hat es auch
die naͤmlichen Muſter vor Augen. Dieſe Empfindun-
gen reizen ſeine innere Kraft zur Thaͤtigkeit, und hin-
terlaſſen Spuren von den Aktionen, welche ſich eindruͤ-
cken und ſo uͤber die ganze Kraft ausbreiten, daß ſie
neue Diſpoſitionen und Vermoͤgen machen. Dagegen
die entwickelten Kenntniſſe, welche der Unterricht ge-
waͤhret, mehr nur in der Anhaͤufung von beſondern Vor-
ſtellungen beſtehen, die die Aufmerkſamkeit und das
Beſtreben der Seele auf ſich ziehen, wie die Kanaͤle
den Strom. Die gefliſſentliche Uebung iſt uͤberdieß in
den meiſten Faͤllen nur allein und einzig auf beſondere
Geſchicklichkeiten eingerichtet. Die Uebung im Tanzen
und im Reiten gehet am meiſten dahin, daß der Koͤr-
per zu beſondern Stellungen und Bewegungen geſchickt
werde. Damit iſt nun zwar zugleich eine Staͤrkung in
allen koͤrperlichen Kraͤften uͤberhaupt verbunden, aber
dieſe letzterwehnte Wirkung von ihr iſt ſo allgemein, daß
ſie auch durch jede andere Uebung der Koͤrperkraft, durchs
Gehen, Laufen, Springen, Tragen, erhalten werden
kann, die von Zeit und Umſtaͤnden veranlaßt werden
und die man unternimmt, ohne Abſicht eine beſondere
Fertigkeit zu erwerben. Es ſoll dadurch nichts weniger
als der Werth der kuͤnſtlichen Erziehung, und ihre
Macht auch auf die Entwickelung der abſoluten Kraͤfte,
vermindert werden. Jndem ſie den Geiſt auf gewiſſe
Gegen-
[604]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Gegenſtaͤnde leitet, durch dieſe ihn beſonders reizet und
uͤbet, ſo giebt ſie ja auch Veranlaſſungen, ſein Vermoͤ-
gen hervorzuziehen und vorzuͤglich zu entwickeln. Al-
lein ſo wie ſie jetzo gemeiniglich noch iſt, lehret die Er-
fahrung, daß ſie keine Genies aus ſchwachen Koͤpfen
machen kann, noch thaͤtige Seelen aus traͤgen Gemuͤ-
thern. Jede Perſon vom Verſtande, von Lebhaftigkeit
und Geiſtesſtaͤrke, hat allemal mehr ſich ſelbſt durch die
ihr vorgekommenen Veranlaſſungen ausgebildet, als
von der regelmaͤßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten.
Aber man ſcheinet auch in unſern Schulen zur Zeit darauf
abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man
ihr geben will, nicht aber ſo ſehr, daß ſie ſelbſt an ihren
Kraͤften erhoͤhet werde.
Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebeſſert wer-
den, wozu auch der Anfang ſchon gemacht wird. Wenn
die phyſiſche Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt,
ſo wird ſie maͤchtiger werden; allein dennoch nicht ſo
allmaͤchtig, als Hr. Verdier zu glauben ſcheinet. Die
Kunſt hat ihre engen Grenzen bey einem Weſen, bey
dem die Natur ſo wichtig iſt, als der Menſch iſt. Die
vollkommenſte Erziehung wird nie aus ihm einen Engel
machen, ſo wie er bey der ſchlechteſten nie zum Thier
herunterſinket. Und es iſt auch hier wohl moͤglich, daß
die Kunſt ſich zu viel eindringe und ſchaͤdlich werde. Auf
einer Seite iſt es freylich außer Zweifel, wie ſchon geſagt
iſt, daß wenn die Erziehung ſich aller aͤußern Urſachen,
die auf den Koͤrper und auf die Sinne wirken von der
Geburt an bemaͤchtigen koͤnnte, ſo wuͤrde ſie die Na-
tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der
Natur, was aber auch ihr aͤußerſtes iſt, unkenntlich
machen. Allein auf der andern Seite beſtehet auch ih-
re groͤßte Staͤrke faſt allein nur darinn, daß ſie relative
Geſchicklichkeiten bildet. Die abſoluten Vermoͤgen muͤſ-
ſen ſich groͤßtentheils von ſelbſt entwickeln; und da kann
die
[605]und Entwickelung des Menſchen.
die Kunſt, wenn ſie nach einer Seite hin die Natur
uͤbertreibet, ſchaͤdlich werden. Man ſehe ihre Wirkung
nur etwas naͤher an. Das Geſicht kann allerdings
durch eine ſchickliche Uebung etwas beſſer gewoͤhnet wer-
den, in der Ferne und in der Naͤhe zu ſehen, auch die
Sachen leichter und beſſer zu faſſen. Das Gehoͤr kann
etwas zaͤrter gemacht werden, und ſo die uͤbrigen Sinne;
auch die Einbildungskraft, der Verſtand und die Thaͤtig-
keitskraft. So viel iſt gewiß. Aber wie viel ſollte nun
wohl die Kunſt hinzuſetzen, wenn z. B. das Gefuͤhl,
wie Hr. Verdier vorſchlaͤgt, mittelſt gewiſſer Jnſtru-
mente noch naͤher auf das Unterſcheiden der Farben, das
Gehoͤr mittelſt eines Monochords auf die Verſchieden-
heit der Toͤne, gefuͤhret wird? Sollte ſie die Seelenver-
moͤgen weit uͤber die Grenzen bringen, zu der dieſe von
ſelbſt, ohne beſondere Lenkung, inſtinktartig gelan-
gen, wenn ihnen nur dieſelbigen Gelegenheiten gelaſ-
ſen werden? Nun kommt dazu, daß jedwede Richtung,
die man der thaͤtigen Kraft an einer Seite giebt, ſie
von andern Seiten und Aeußerungen abziehet; daß man,
um die Kraͤfte auf die beſte Art zu ſtaͤrken, ſie nicht
uͤbertreiben duͤrfe, und ſie alſo doch nicht viel mehr durch
Zwang bey einer Beſchaͤftigung feſſeln muͤſſe, als ſie fuͤr
ſich ſelbſt aus innerer Neigung ſich damit unterhalten
mag. Deßwegen kann auch die Kunſt nicht ſo ſehr viel
mehr, als daß ſie den Kraͤften die angemeſſenen Objekte
verſchaffet und ihnen ſolche vorhaͤlt. Wenn Ruhe noͤ-
thig ſey und Abwechſelung, und in welchem Grade die
Kraft angeſpornet und in welcher Beziehung ein Ver-
moͤgen gegen das andere geuͤbt werden muͤſſe, um die
beſte Entwickelung in der geſammten Natur zu veran-
ſtalten: das kann in jedem Jndividuum, zumal bey den
Kindern, mehr das innere Selbſtgefuͤhl, als es von ir-
gend einem Erzieher, bey der groͤßten Aufmerkſamkeit
auf die Untergebenen, ſollte genau aus den aͤußern An-
zeigen
[606]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
zeigen geſchloſſen werden koͤnnen. Wie ſchwer wuͤrde
alſo hiebey das Maß zu treffen ſeyn, wenn man nicht
der Natur ſelbſt vieles uͤberlaſſen wollte? Jſt es nur
um einſeitige Geſchicklichkeiten zu thun, ſo iſt es ein an-
ders; aber ſoll die ganze Naturkraft erhoͤhet werden, ſo
entſtehen ſo oft Kolliſionen zwiſchen den beſondern Ge-
ſchicklichkeiten und relativen Fertigkeiten, daß es eben ſo
uͤbertrieben ſeyn wuͤrde zu behaupten, die Kunſt wiſſe
allemal den beſten Ausweg zu treffen, als ihr alles hie-
bey abzuſprechen. Die menſchliche Natur iſt biegſam,
aber auch vielſeitig. Das erſte macht, daß die Erzie-
hung ſo vieles kann; das letztere iſt der Grund, daß ſie
ohne große Vorſichtigkeit leicht ſchaͤdlich wird.
Es iſt ſchwer, beſtimmter hieruͤber zu urtheilen.
Jndeſſen deucht mich, wenn man die Beobachtungen
mit dem vergleicht, was man von der Natur des Men-
ſchen weiß, ſo laſſe ſich dieß noch hinzuſetzen. Die Kunſt
kann zweyerley. Erſtlich, den Naturkraͤften die Gegen-
ſtaͤnde vorlegen, wodurch ſie gereizet werden und wir-
ken. Dann noch zweytens, beſonders die Vermoͤgen der
Seele auf dieſe oder jene Art reizen und, durch eine ge-
ſchickte Verſtaͤrkung der natuͤrlichen Eindruͤcke von den
Objekten, ſie auf ſolche hinlenken. Dieß iſt die Len-
kung der Kraͤfte. „Durch beides vermag ſie etwas,
„aber mehr durch das letztere, als durch das erſtere.
„Sie vermag etwas uͤber die abſoluten Kraͤfte, ſie ver-
„mag etwas uͤber ihre Beziehung auf einander, wovon
„die Form abhaͤngt, welche der Menſch annimmt. Sie
„vermag mehr in Hinſicht der letztern als der erſtern.‟
Dieß wird durch folgende Betrachtungen beſtaͤtiget.
Wenn man Kinder von Jugend auf in dunkle Oer-
ter einſperrte, daß ſie nichts ſaͤhen und nichts hoͤrten, ſo
blieben ſie zuruͤck. Wenn ſie in der einfoͤrmigſten Le-
bensart, und in ſolcher Seelenunthaͤtigkeit wie die Cali-
fornier aufwachſen, ſo werden ſie auch bey dem Mangel
an
[607]und Entwickelung des Menſchen.
an Eindruͤcken, die ihre Kraͤfte reizen, Kinder an der
Seele bleiben, wenn gleich ihre Koͤrper auswachſen.
So ſind auch die Californier. Sie bleiben unter dem
polizirten Europaͤer zuruͤck, nicht nur in beſondern Kuͤn-
ſten und Geſchicklichkeiten, die von der Einbildungs-
kraft und von dem Verſtande abhangen; ſondern ſie ſind
auch in ihrer ganzen Denkungsart mehr Kinder, in Ver-
gleichung mit jenen. Sie ſind alſo weniger erhoͤhet an
abſoluten Seelenkraͤften, an Empfindſamkeit, an Vor-
ſtellungskraft, an Thaͤtigkeit. Da iſt alſo auch offen-
bar, daß die Erziehung, indem ſie mehrere und man-
nichfaltigere Gegenſtaͤnde verſchaffet, vieles zur Entwi-
ckelung beytrage. Gleichwohl hat ſich doch auch bey der
erwehnten Voͤlkerſchaft gezeigt, daß ihre Erniederung
unter den Europaͤern doch nicht ſo groß ſey, wenn man
auf den natuͤrlichen Verſtand ſiehet und auf die Staͤrke
der Neigungen, als wenn man auf die relativen Ver-
moͤgen und auf die Kuͤnſte ſiehet, die von allgemeinen
Kenntniſſen abhangen.
Dennoch kann auch die Kunſt von dieſer Seite zu
viel thun. Die Mannichfaltigkeit der Gegenſtaͤnde und
Sachen, die man ſo zu ſagen auf die aͤußern Sinne
und dadurch auf das innere Gefuͤhl ſpielen laͤßt, muß in
einer gewiſſen Graͤnze bleiben, wenn nicht mehr eine
ſchaͤdliche Zerſtreuung als Aufweckung des Kopfs ent-
ſtehen ſoll. Wird die Mannichfaltigkeit der Eindruͤcke
zu groß, ſo erhalten die einzelnen Kraͤfte ihre gehoͤrige
intenſive Staͤrke nicht. Es ſollen zu viel Vermoͤgen
auf einmal angebauet werden. Die Erfahrung lehret
nicht, daß ein Menſch, der mehr geſehen und gehoͤret,
der mehr geleſen hat als ein anderer, auch in gleicher
Maße an natuͤrlichem Verſtande und an Ueberlegungs-
kraft Vorzuͤge bekommen habe. Er kann zu viel Ab-
wechſelung in den Empfindungen haben, um die ein-
zelnen ſtark genug zu faſſen und daruͤber zu denken.
Die
[608]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Die Natur iſt reich genug, ſelbſt in Californien und in
Neuholland, um die zur Auswickelung aller Seelen-
vermoͤgen noͤthigen Nahrungsſaͤfte herzugeben, wenn
gleich nicht ſo uͤberfluͤßig damit verſehen, als in den
polizirten Staͤdten. Die Hauptſtaͤrke der kuͤnſtlichen Er-
ziehung wird immer darinn beſtehen, daß die Naturkraͤf-
te auf beſondere Arten und in gewiſſer Ordnung gerei-
zet werden, und daß zu dem Ende der Eindruck, den
die aͤußern Objekte von ſelbſt machen, durch die Kunſt
verſtaͤrket werde, wie es noͤthig iſt, um die Traͤgheit
zu uͤberwinden. Hierauf beruhet das meiſte von dem,
was ſie in der Erhoͤhung der abſoluten Kraͤfte ausrichtet.
Daher iſt auch dieß die Hauptſache. Denn ſind einmal
die Anlagen aufgewecket, und die Kraͤfte thaͤtig: ſo wird,
was ihre Leitung auf beſondere Objekte zu beſondern
Geſchicklichkeiten betrift, ſo wird das allermeiſte darinn
beſtehen, daß man ſolche der Natur in der gehoͤrigen
Stellung vorhalte, und dann es ihr uͤberlaſſe, ſich mit
denen und ſo weit zu befaſſen, wie ſie fuͤr ſich es am an-
gemeſſenſten findet. Jch ſage das allermeiſte. Denn
es verſteht ſich, theils daß, da Luſt zur Thaͤtigkeit zu
erwecken iſt, man auch da, wo man keinen vorzuͤglichen
Hang zu einer Art von Gegenſtaͤnden mehr als zu an-
dern gewahrnimmt, die Kraͤfte doch zu einigen reizen
muͤſſe, wie man im Anfang bey allen Kindern thun
muß; theils auch daß nicht ganz alles dem Eigenwillen,
oder Selbſttriebe, zu uͤberlaſſen ſey. Nur iſt zu bemer-
ken, daß hiebey die Kuͤnſteley zu ſtark werden, und ſo
gut das Genie unterdruͤcken, als ihm aufhelfen kann. Das
mehreſte aber, was man durch die Lenkung der Vermoͤ-
gen allein ausrichtet, beſtehet in den erhoͤheten Kunſtge-
ſchicklichkeiten, nicht ſo wohl in der Erhoͤhung der Kraͤfte.
Man kann dieß durch die Erfahrung beſtaͤtiget fin-
den, wenn man die gut und ſchlecht angefuͤhrten Bauer-
kinder auf dem Lande mit den unerzogenen und wohler-
zogenen
[609]und Entwickelung des Menſchen.
zogenen in der Stadt, und dann jene und dieſe unter ſich,
in Vergleichung ſetzet. Aber da der natuͤrliche Unter-
ſchied der Koͤpfe hierinn einen großen Einfluß hat, ſo
iſt es noͤthig eine Menge von einzelnen Faͤllen zuſammen-
zunehmen, um die Vergleichung nach einem mittlern
Durchſchnitt machen zu koͤnnen. Es giebt ſo gut unter
den aufs beſte angefuͤhrten, als unter den gar nicht erzo-
genen, verſchlagene, verſtaͤndige und witzloſe und einfaͤl-
tige. Die unerzogenen Koͤpfe auf dem Lande ſind mehr
in Unthaͤtigkeit und Einfoͤrmigkeit aufgewachſen, und
dahero auch gemeiniglich mehr noch an Kraͤften des Gei-
ſtes uͤberhaupt, als an beſondern Geſchicklichkeiten, zu-
ruͤck. Die ſchlechterzogenen Gaſſenjungen in den Staͤd-
ten dagegen ſind verſchlagen und witzig genug, weil die
Gegenſtaͤnde von außen und das Treiben der Aeltern ſie
gezwungen haben thaͤtig zu werden. Eben ſo ſehlet
den guten angefuͤhrten Knaben vom Lande die Lebhaftig-
keit und ſchnelle Faſſungskraft, und die Geſchmeidig-
keit der Seele wie des Koͤrpers, die bey denen in der
Stadt eine Wirkung von der Mannichfaltigkeit der ſinn-
lichen Eindruͤcke iſt. Dagegen ſie an geſetztem Weſen
und feſter Ueberlegungskraft, und uͤberhaupt an aus-
dauernder Staͤrke der Vermoͤgen etwas voraus haben.
Hiebey zeiget ſichs, was die Kunſt durch die Verman-
nichfaltigung der wirkenden Gegenſtaͤnde thun kann.
Haͤlt man die unerzogenen Stadtbewohner gegen die gut
erzogenen, ſo zeiget ſich die Wirkung von der gefliſſentli-
chen Leitung der Kraͤfte mehr abgeſondert, und man fin-
det auch, daß die Vorzuͤge der erzogenen groͤßtentheils
in der Form und in den kuͤnſtlichen Geſchicklichkeiten be-
ſtehen. Jch wiederhole es, daß ich durch dieſe Bemer-
kung nichts mehr wolle, als nur der uͤbergroßen Kuͤnſte-
ley bey der Erziehung vorbeugen, die vielleicht im Gan-
zen, wenigſtens ſo bald, nicht zu beſorgen iſt, weil es
zur Zeit an nuͤtzlicher Sorgfalt und Kunſt nur allzu ſehr
IITheil. Q qnoch
[610]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
noch mangelt. Der Werth der Erziehung ſoll nicht her.
untergeſetzt werden, die ſo viel zur Vervollkommnung
der Menſchheit ausrichtet, davon jeder kleinſte Zuwachs
einen unſchaͤtzbaren Werth hat.
III.
Von den verſchiedenen Formen der Menſchheit.
- 1) Stand der Wildheit, der Barbarey und
der Verfeinerung. - 2) Wie weit diefe als Stufen der Menſchheit
zu betrachten ſind? - 3) Wie ſich dieſe Zuſtaͤnde auf einander be-
ziehen.
1.
Gehen wir von der Betrachtung der Urſachen, die die
Natur bilden, zu ihren Wirkungen ſelbſt uͤber, ſo
finden wir dieſe in den mannichfaltigen Formen, in denen
die Menſchheit in ihren unterſchiedenen Zuſtaͤnden ſich
uns darſtellet. Aber da meine Abſicht nicht weiter ge-
het, als auf allgemeine Grundſaͤtze und auf allgemeine
Vergleichungen, ſo will ich aus der bekannten Geſchich-
te der Menſchheit nur einige beſonders ſich auszeichnende
Verſchiedenheiten der Formen ausheben. Und hier
ſtellt ſich zuerſt die Verſchiedenheit dar, die man im
Stande der Wildheit, der Barbarey und der Kul-
tur antrift. Zwar ſind dieſe Abtheilungen und Stufen
eigentlich mehr Verſchiedenheiten und Stufen in der Ge-
ſellſchaft, als Verſchiedenheiten in den Naturen der
einzelnen Menſchen. Allein jener ihre Verſchiedenheit
verbreitet eine ihr entſprechende Verſchiedenheit uͤber dieſe.
Der Wilde iſt es in Hinſicht der Nationalcharaktere ſo-
wohl fuͤr ſeine Perſon, als er es iſt als Mitglied ſeiner
Geſellſchaft; und der Barbar iſt ſowohl als ein einzel-
ner
[611]und Entwickelung des Menſchen.
ner Menſch ein Barbar, als er es iſt wie Buͤrger ſeines
Staats. Dieß hat freylich viele Ausnahmen. Es giebt
unter den Wilden einzelne Perſonen, deren Verſtand
und Geiſteserhabenheit den kultivirten Europaͤer be-
ſchaͤmet, und die, zum Theil auch in Sitten, viel Fein-
heit und Anſtaͤndigkeit beweiſen; und unter den Bar-
baren hat man die ſanfteſten und zaͤrtlichſten Gefuͤhle
angetroffen. Dennoch aber hat der groͤßte Haufe das
Gepraͤge der Nation.
Jndeſſen moͤchte es hiemit ſeyn, wie ihm wolle, ſo
kann doch die Wildheit, die Barbarey und die Verfei-
nerung des Charakters bey den Jndividuen auf dieſel-
bige Weiſe unterſchieden werden, wie bey den ganzen
Geſellſchaften. Und in dieſer Hinſicht kommen ſie hier
am meiſten in Betracht.
Jn dem Stande der Wildheit ſind es die aͤußern
Sinne und die koͤrperlichen Kraͤfte, die am meiſten
geſtaͤrkt und entwickelt werden. Die hoͤhern Kraͤfte
der Seele bleiben verhaͤltnißmaͤßig dagegen zuruͤck. Man
findet faſt bey allen Wilden eine Geſchicklichkeit im Lau-
fen, Schwimmen, im Laſtentragen und dergleichen.
Oder man bewundert ihr ſcharfes Geſicht, ihr weit
reichendes Gehoͤr, oder ihren ſpuͤrenden Geruch. Viele
beſitzen mehr koͤrperliche Staͤrke als die Europaͤer, die
gegen jene verlieren wuͤrden, wenn ſie, ohne ihre beſſern
Waffen, Mann fuͤr Mann mit ihnen kaͤmpfen ſollten.
Aber am Verſtande ſind die Wilden Kinder, unter de-
nen ein kultivirter Europaͤer das iſt, was ein kluger
Mann unter einem Haufen unerfahrner Juͤnglinge. Die
Wildheit hat indeſſen ihre Stufen, in denen das Haupt-
merkmal derſelben, naͤmlich, Kindheit in der Seele
bey der ſtaͤrkſten Mannheit am Koͤrper, auf un-
zaͤhlich mannichfaltige Art modificirt iſt.
Von dem ganz ungeſellſchaftlichen Stande der
Menſchen und der Form, die ſeine Natur in dieſem an-
Q q 2nimmt,
[612]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nimmt, laͤßt ſich nicht viel ſagen. Nach den wenigen
Datis zu urtheilen, die man hat, ſo muͤßte in den mei-
ſten Faͤllen eine von den aͤußerſten Stufen der Wildheit
herauskommen. Die Seele kann ſich wenig entwickeln,
wenn der Menſch der Beyſpiele an ſeines Gleichen be-
raubet iſt. Es koͤnnten ſogar die koͤrperlichen Vermoͤ-
gen zuruͤckbleiben, wenn die aͤußern Umſtaͤnde darnach
ſeyn wuͤrden. Hat die Natur ſelbſt fuͤr Speiſe und
Trank geſorgt, und macht die Waͤrme der Luft die Be-
deckung unnoͤthig: welche Triebfedern wuͤrden denn uͤbrig
bleiben, ſich auch nur im Laufen und Springen, Kaͤm-
pfen und Vertheidigen zu uͤben, wenn nicht etwan die
wilden Thiere ſolches nothwendig machten? Dagegen
wo die Nahrung ſo muͤhſam geſucht werden muß, als
von Shelkirk auf der Jnſel Juan Fernandenz, da muß
der Koͤrper gebraucht werden. Das außer aller menſch-
lichen Geſellſchaft aufwachſende Kind koͤnnte nie Thier-
pflanze, oder ein Baͤr-ein Schaf-ein Waldmenſch wer-
den, wie es in einigen Beyſpielen geworden iſt. Es
iſt bey einigen der ganz verwilderten Kinder bemerket,
daß ſie wahnſinnig geweſen und alſo zu den vollſtaͤndig
organiſirten Jndividuen nicht haben gerechnet werden
koͤnnen. Daher, koͤnnte man glauben, laſſe ſich aus ſol-
chen Beyſpielen nicht ſchließen, daß die vollkommene
Anlage zum vernuͤnftigen Menſchen ſoweit ausarten
koͤnne. Jch will bey allen Exempeln, die man gehabt
hat, dieſen Zweifel guͤltig ſeyn laſſen. Dennoch giebt
weder die Erfahrung, noch die Vernunft, einen Grund
an die Hand zu vermuthen, daß das innere Princip der
Seele bloß aus angeborner Thaͤtigkeit ſo weit hervordrin-
gen ſollte, daß es ſich bis zur hohen Verſtandeskraft
und zum Nachdenken erheben koͤnnte. Dieſe Moͤglich-
keit ſcheinet auch bey den vorzuͤglichſten Jndividuen eine
Erdichtung zu ſeyn.
Als
[613]und Entwickelung des Menſchen.
Als die naͤchſte Hauptſtufe, die auf die Wildheit
folgt, kann man die Barbarey anſehen. Sie enthaͤlt
eine Entwickelung der ſinnlichen Vorſtellungskraft
und der Begierden und Leidenſchaften, die davon ab-
hangen. Aber die hoͤhere Ueberlegungskraft iſt zuruͤck.
Sie iſt die Seelennatur in ihrem Juͤnglingsſtande, wo-
bey der Menſch von Seiten der koͤrperlichen Kraͤfte voͤl-
lich zum Mann wird. Zu den bloß thieriſchen Jnſtink-
ten, worauf der Wilde eingeſchraͤnkt iſt, geſellen ſich
bey den Barbaren alle Begierden, die durch die Phanta-
ſie erreget werden. Jn dieſem Zuſtande muß auch die
hoͤhere Denkkraft ſchon merklich ſich offenbaren; nur die
Sinnlichkeit iſt zu ſtark und zu herrſchend, als daß die
Ueberlegung und Vernunft den Willen regieren koͤnne.
Es iſt eine natuͤrlichn Folge hievon, daß auch unter kul-
tivirten Voͤlkern der groͤßte Theil der Einzelnen Barba-
ren ſeyn wuͤrden, wenn nicht ſelbſt die Einrichtung der
Geſellſchaft, die Geſetze und Sitten gewiſſe Vorurthei-
le und Gewohnheiten auf ſie verbreiteten, wodurch die
Sinnlichkeit gemaͤßiget und der vernuͤnftigen Ueberle-
gung ein ſtaͤrkerer Einfluß in die Denkungsart, und
noch mehr in die aͤußern Handlungen, verſtattet wuͤrde.
Denn was den Poͤbel bey den aufgeklaͤrteſten Voͤlkern
von den Barbaren unterſcheidet, iſt nicht ſo ſehr die in-
nere Einrichtung der Erkenntnißkraͤfte und des Willens,
obgleich in etwas, als vielmehr die aͤußern Modifika-
tionen, welche den Leidenſchaften von außen durch die
Sitten aufgedruckt werden, indem jene hervorgehen.
Die Handlungen ſind milder, gerechter, menſchlicher,
wenn es die Herzen nicht ſind. Und auch dieſe letztern
ſind und werden es doch einigermaßen durch die Ruͤck-
wirkung aus den Handlungen.
Wenn die Entwickelung der hoͤhern Verſtandes-
kraͤfte den Grad erreicht, wo ſie deutliche und vernuͤnf-
tige Ueberlegung wird, und als ſolche die Geſinnungen
Q q 3und
[614]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
und den Willen regieret, da iſt die Menſchheit in dem
kultivirten Zuſtande. Dieſe Erhoͤhung und Verfeine-
rung der Vernunft iſt mit einer gleichmaͤßigen Ver-
feinerung der Empfindungen und der Sitten verbunden,
und erzeuget die innere Freyheit und Selbſtbeherrſchung
des Willens. Die unzaͤhligen Stufen und Nuͤancen,
die zwiſchen dieſen und den vorhergehenden Zuſtaͤnden
fallen, nebſt denen, die in jeder Abtheilung wiederum
vorkommen, uͤbergehe ich; nur meyne ich, der eigent-
liche Grund der gemachten Abtheilung muͤſſe in dem
angegebenen Unterſcheidungsmerkmal geſucht werden.
Jn dem kultivirten Zuſtande iſt die Seelennatur der
Menſchen in dem Mannsalter. Jn der kultivirten
Menſchheit koͤnnen leicht einige Unterabtheilungen be-
merkt werden, die als hervorragende Modifikationen
derſelben ſich unterſcheiden und ſo viele verſchiedene
Zweige von ihr ſind. Es iſt nicht undienlich darauf einen
Blick zuwerfen, um der ſo gewoͤhnlichen, partheiſchen und
ungerechten Wuͤrdigung derſelben, wenn ſie mit einander
verglichen werden, vorzubeugen. Wenn die geſtaͤrkte
ſelbſtthaͤtige Denkkraft der Seele ſich am innigſten mit dem
Gefuͤhl verbindet, und mehr in dieſem Grundvermoͤgen
als in einem andern ſich ausbreitet: ſo entſtehet daraus
eine Form der Menſchheit, die man ihres vorzuͤglichen
Beſtandtheils wegen die Empfindſamkeit nennen |kann,
worunter Perſonen von Geſchmack oder feinem Ge-
ſchmack zu rechnen ſind. Eben dieſelbige kann ſich am mei-
ſten in der vorſtellenden Kraft, und beſonders in der dich-
tenden Phanlaſie, ausbreiten. Alsdenn erzeuget ſie die
Form, die man die Feinheit der Phantaſie, oder die
Lebhaftigkeit in einem vorzuͤglichen Grade, nennen kann.
Wenn ſie ſich in der Urtheilskraft und in dem Schluß-
vermoͤgen am ſtaͤrkſten offenharet, ſo entſtehet daraus
die Form, die vorzugsweiſe Verſtaͤndigkeit iſt. End-
lich wenn man der Abtheilung der Grundvermoͤgen wei-
ter
[615]und Entwickelung des Menſchen.
ter nachgeht, kann ſie ſich am vorzuͤglichſten mit der
Thaͤtigkeitskraft oder der ſich ſelbſt modificirenden See-
lenkraft, das iſt, mit dem Willen in der Bedeutung,
worinn dieſer dem Gefuͤhl und der Erkenntnißkraft ent-
gegengeſetzt wird, vereinigen. Alsdenn gebieret ſie
die Staͤrke und Thaͤtigkeit in Handlungen, die man
thaͤtigen Perſonen zuſchreibet. Die Empfindſam-
keit, die Lebhaftigkeit, die Verſtaͤndigkeit und die
uͤberlegende Thaͤtigkeit ſind gleichſam die Kardinal-
punkte in der kultivirten Menſchheit.
2.
Von dieſer Seite die Menſchheit betrachtet, inſo-
ferne auf die Groͤße der hoͤhern Seelenkraͤfte Ruͤckſicht
genommen wird, giebt es eine gewiſſe Stufenleiter in
ihr. Der bloß auf Empfindungen eingeſchraͤnkte
Menſch ſtehet auf der niedrigſten Staffel. Er iſt der
ſinnlichſte Menſch, bey dem der natuͤrliche Vorzug der
menſchlichen Natur am wenigſten entwickelt iſt. Da-
gegen die erhabenen Menſchen, deren Gefuͤhl verfeinert,
deren vorſtellende, denkende und handelnde Kraft lebhaft
wirkſam iſt, und die dennoch Seelengroͤße beſitzen ſich
ſelbſt und ihre Leidenſchaften zu beherrſchen, die oberſte
Stufe einnehmen. Das Eigene der Menſchheit beſtehet
in Selbſtthaͤtigkeit der Seele, die in der feinen Ver-
nunft und in der Selbſtmacht uͤber ſich am ſtaͤrkſten
entwickelt iſt. Gleichwohl verhaͤlt es ſich mit dieſer
Stufenleiter, wie mit den Stufenleitern der natuͤrlichen
Dinge uͤberhaupt. Es iſt ein Verhaͤltniß der Dinge
aufeinander, das nur bloß inſofern fuͤr eine Unterord-
nung gehalten werden kann, als man die Objekte von
einer Seite und in einer gewiſſen Ruͤckſicht betrachtet.
Macht man die Stufen nach dem Mehr oder Weni-
ger an Selbſtthaͤtigkeit der Seele, und ſoll die
Groͤße dieſer Selbſtthaͤtigkeit das Maß der menſchlichen
Q q 4Vollkom-
[616]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt
Vollkommenheit ſeyn, ſo iſt die angegebene Beziehung
eine Rangordnung, in der die von einer hoͤhern Klaſſe
auch groͤßer ſind an innerer menſchlichen Realitaͤt, als
die von der niedrigern. Aber wenn man den Geſichts-
punkt veraͤndert, bleibt alsdenn noch dieſelbige Ordnung?
oder kann ſie etwan ſich gar umkehren, daß dasjenige,
was oben ſtand, unten hinkommt? Jſt der Menſch ganz
ſelbſtthaͤtige Seele? und ſind alle ſeine reellen Kraͤfte,
Vermoͤgen, Vollkommenheiten, nur Grade in der
Selbſtthaͤtigkeit? Sind ſie alle Seelenrealitaͤten?
Dieß iſt wenigſtens eine Frage, die man nicht ſo gerade
hin beantworten kann. Nimmt man die ganze Summe
aller geiſtigen und koͤrperlichen Vermoͤgen, aller thieri-
ſchen und vernuͤnftigen Kraͤfte, im Gefuͤhl, in der Vor-
ſtellungs-und Denkkraft und in dem Willen, nebſt der
Bewegungskraft, die in die Glieder des Koͤrpers wirket;
und ſieht man dieſen ganzen Jnbegriff von Kraͤften
und Vermoͤgen als die ganze Realitaͤt der menſchlichen
Natur an: ſo wird auch der Wilde und der Barbar
vielleicht nicht mehr ſo niedrig unter den Kultivirten
heruntergeſetzt werden muͤſſen, als vorher, da die Groͤße
der Menſchheit allein nach der Groͤße der ſelbſtthaͤtigen
Denkkraft geſchaͤtzet ward. Sollte die koͤrperliche Kraft
der Organiſation und die aͤußere Sinnlichkeit zum Maß-
ſtab genommen werden, ſo muͤßte im Durchſchnitt der
Kultivirte dem Barbaren und unter dem Wilden nach-
ſtehen. Dieß wird noch eine Betrachtung uͤber den
verhaͤltnißmaͤßigen Werth der menſchlichen Realitaͤten
erfodern. Aber vorher will ich noch einmal auf die
Beziehung der obgedachten Stufen und auf die Art,
wie Jndividuen von einer zu der andern ſich erheben,
einen Blick werfen.
3.
Jn der niedrigſten Stufe der Sinnlichkeit werden
weniger Triebe und weniger Denkvermoͤgen entwickelt.
Aber
[617]und Entwickelung des Menſchen.
Aber deſto groͤßer iſt oft die Staͤrke und Heftigkeit, mit
der ſie ſich aͤußern. Der Wilde riechet oft feiner als
ein Spuͤrhund, ſiehet mit ſeinem Auge wie ein Luchs,
und kommt an Geſchicklichkeit zu ſchwimmen den Fi-
ſchen gleich. Die Seele, die ſich nur an Einer oder an
wenigen Seiten entwickelt, kann ihre ganze Macht in
dieſer Richtung anwenden. Vielleicht giebt es keinen
aͤußern Sinn, woran der Menſch nicht die Thiere, die
ſonſt am beſten damit verſehen ſind, uͤbertreffen koͤnnte,
wenn ſeine Seele mit nichts anders als mit den Ein-
druͤcken auf einzelne Sinnglieder beſchaͤfftiget wuͤrde.
Es iſt die Groͤße des Umfangs und die Mannichfaltig-
keit der menſchlichen Wirkſamkeit, was die thaͤtige
Kraft verbreitet und ihre intenſive Staͤrke bey einzelnen
Aeußerungen ſchwaͤchet. Die Mittel, die den Men-
ſchen von der groben Sinnlichkeit zu der feinern erhe-
ben, und ihn aus einem bloß empfindenden zu einem
ſiunlich imaginirenden Weſen machen, beſtehen am
Ende darinn, daß die zu heftigen und, ſo zu ſagen, zu
ſehr verdichteten Gefuͤhle und Triebe an Staͤrke ge-
ſchwaͤcht, und an Ausdehnung vergroͤßert und verman-
nichfaltiget werden. Das letztere geſchieht, indem ſie
aufgeloͤſet, entwickelt und auf mancherley Art von Ge-
genſtaͤnden und Handlungen geleitet werden. Aber es
iſt nothwendig, daß eine Art von gewaltſamer Einſchraͤn-
kung vorhergehe und die Wildheit baͤndige, oder ihr
einen Zaum anwerfe. Die neuern Erfahrungen des
edelmuͤthigen Cooks, auf ſeiner Reiſe nach der Suͤd-
ſee, haben es beſtaͤtiget, was die Alten ſchon gelehret
hatten, und nur durch gewiſſe Scheingruͤnde zweifelhaft
gemacht worden war, daß es nothwendig ſey, zuerſt den
Wilden Furcht beyzubringen, ehe ſich etwas mit ihnen
anfangen laſſe. Die Furcht kultivirt ſie nicht, ſie iſt
auch nicht in einem hoͤhern Grade noͤthig, als nur hin-
reichet, die wilden Ausbruͤche der Naturtriebe, die mit
Q q 5der
[618]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Geſellſchaft unbeſtehbar ſind, aufzuhalten. Denn
wenn ſie ſtaͤrker wird als dieſe Abſicht erfodert, ſo un-
terdruͤckt ſie die Kraft und den Muth der Natur. Wei-
ter beſſert ſie auch nicht; denn ſie erreget keine Luſt zur
Thaͤtigkeit. Alsdenn muß das ſinnliche Vergnuͤgen
gebraucht werden, um die Kraͤfte zu reizen, das iſt,
man muß den Menſchen mit mehrern und feinern Ar-
ten der Vergnuͤgungen bekannt machen, als ſein bloß
thieriſcher Jnſtinkt vorher ausſuchte. Man gewoͤhne
den in Reſpekt geſetzten Wilden an die Ergoͤzungen der
Muſik. Man lehre ihn mehrere Mannichfaltigkeit in
dem Geſchmack an Speiſen. Beſonders ſuche man ihn
auf die Schoͤnheiten der Malerey aufmerkſam zu ma-
chen. Und warum ſollte der Sinn des Geruchs zu-
ruͤckbleiben? Dieſe neuen Empfindungen werden neue
Beduͤrfniſſe, und dieſe neue Begierden, hervorbringen.
Dadurch wird die Phantaſie an mehrern Seiten gerei-
zet, und alſo zertheilt. Alsdenn kann eine Begierde
gebraucht werden, um die andere im Zaum zu halten.
Hiedurch wird der Menſch nun freylich noch nichts
mehr, als ein etwas feineres ſinnliches Weſen. Soll
er von dieſer Stufe, welche die zwote iſt, von der erſten
rohen Wildheit an weiter zu der hoͤhern, zur Freyheit
und Vernunft, gebracht werden, ſo ſind Maßregeln er-
fo derlich, die man auf folgende reduciren kann. Den
heftigen Leidenſchaften muͤſſen aͤußere Hinderniſſe ent-
gegengeſetzt werden, die ſie aufhalten, wenn ſie in Be-
wegung ſind, und die Veranlaſſungen ſie zu reizen ent-
zogen werden. Dann muß die Leidenſchaft in mehrere
einfache zertheilet werden, dadurch daß man ihre Gegen-
ſtaͤnde vervielfaͤltiget. Jndem dieß geſchieht, gewinnt
die Ueberlegungskraft Zeit dazwiſchen zu kommen, und
ſich bey den lenkſamer gewordenen Trieben ſelbſtthaͤtig
zu beſchaͤftigen. Hiezu kommt der Unterricht, durch den
man unmittelbar auf die Ueberlegungskraft wirket, ſie
reizet,
[619]und Entwickelung des Menſchen.
reizet und mittelſt entwickelter und vernuͤnftiger Jdeen-
reihen ſtaͤrket. So mit dem Menſchen verfahren, und
beſonders mit dem Kinde bey der Erziehung: ſo muͤßte
die Abſicht, die man hat, ſeltener verfehlet werden.
Aber die Kunſt beſteht darinn, das rechte Maß bey je-
dem Mittel zu treffen und ſie alle zu vereinigen. Ge-
meiniglich wird auf Eins davon alles geſetzt, mit Ver-
nachlaͤßigung der uͤbrigen. Oder man laͤßt ſie gar ge-
gen einander und gegen die Abſicht wirken. Die Aus-
bildung des Menſchen beſtehet in zwo Operationen.
Man reize ſeine Naturkraͤfte zu mannichfaltigen Thaͤ-
tigkeiten, und ordne ſie. Aber da es unter dieſen Kraͤf-
ten einige natuͤrliche Jnſtinkte giebt, die von ſelbſt ſo
ſtark ſind, als ſie in Verbindung mit den uͤbrigen ſeyn
muͤſſen, und die zu leicht ein Uebergewicht bekommen
und die Vollkommenheit des vernuͤnftigen Weſens zer-
ſtoͤren: ſo muß bey dieſen auch mehr die Abſicht dahin
gehen, daß ſie gemaͤßiget als daß ſie geſtaͤrket werden.
Gleichwohl ſind dieſe Triebe die wichtigſten im Men-
ſchen, der nicht Menſch noch Geiſt ſeyn kann, ohne
Thier zu ſeyn. Es iſt ein falſcher Grundſatz, ſeine
geiſtige Natur auf die Zerſtoͤrung oder Schwaͤchung der
thieriſchen bauen zu wollen. Aber es iſt eben ſo gewiß,
daß das Thieriſche und Sinnliche gemaͤßiget werden muß,
wenn das Vernuͤnftige empor kommen ſoll. Sonſten
waͤchſt der Menſch wie die Baͤume zu ſtark ins Holz,
und treibet keine Fruchtzweige.
Hiebey kommt in dem Praktiſchen das große Pro-
blem vor; „wie maͤßiget man die thieriſchen Jnſtinkte,
„ohne ſie zu ſchwaͤchen?‟ Das iſt ein beſonderer Fall
von der allgemeinen Aufgabe: „wie regiert man den
„Menſchen, ohne ſeinen Muth zu ſchwaͤchen? wie
„wird ihm Demuth beygebracht, ohne ihn niedertraͤch-
„tig zu machen? wie macht man ihn bedachtſam, ohne
„ihn ſchuͤchtern werden zu laſſen?‟ Sollte es nicht auch
in
[620]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
in Hinſicht der bloß thieriſchen Jnſtinkte ein Mit-
tel geben ſie zu verfeinern, ohne ſie zu ſchwaͤchen? Es
giebt Begierden in dem Menſchen, die nicht ſo ſehr
zuruͤckgehalten werden koͤnnen, daß ſie nicht wie aufge-
ſchwollene Stroͤme uͤbertreten und verheeren. Sollte
man dieſen nicht, durch gewiſſe Reihen von Jdeen und
Empfindungen, Nebencanaͤle graben koͤnnen, in welche
ſie in ſolchem Falle ſich zertheilen und ſchwaͤchen muͤßten?
Wer unſere witzreichen, ſchluͤpfrigen Schriftſteller vor
dem Richterſtuhl der Vernunft und der Tugend zu ver-
theidigen oder zu entſchuldigen haͤtte, muͤßte, wie mich
deucht, an dieſen Punkt ſich halten. Wenn dieſe eben
zu der gedachten Abſicht gearbeitet haͤtten, oder doch
obgleich unvollkommene Verſuche gemacht, die Jn-
ſtinkte durchs Zertheilen zu verfeinern? moͤchte ich
ihre Rechtfertigung nicht auf mich nehmen. Aber ſo
viel will ich nur erinnern, daß es eine Seite giebt, von
der die ſtrengen Beurtheiler anakreontiſcher Lieder, ko-
miſcher Erzaͤhlungen, eines großen Theils in dem vor-
treflichen Agathon, mancher Stellen in Sternes empfind-
ſamen Reiſen, und dergleichen Schriften, die Sache
nicht angeſehen haben und doch haͤtten anſehen ſollen.
Es iſt eine unlaͤugbare Erfahrung, daß „die mannich-
„faltig modificirte Begierde mehr in der Gewalt der
„Vernunft iſt, als der rohe unentwickelte Naturtrieb.‟
Die Leckermaͤuler bey den Speiſen ſind gemeiniglich maͤſ-
ſiger im Eſſen als andere, denen ohne Unterſchied alles
ſchmeckt. Und auch wenn der Hunger ihre Delikateſſe
uͤberwaͤltiget, ſo halten ſie ſich doch laͤnger zuruͤck von
Speiſen, die nicht nach ihrem ſonſtigen Geſchmack ſind,
als die letztern. Das Naͤmliche nimmt man bey der
Liebe und bey andern Leidenſchaften wahr. Giebt es ei-
ne Menge von Bildern in der Phantaſie, die mit der
Begierde verbunden ſind, die ſich ihr darſtellen, ſo bald
ſie ſich reget, und ſie dann nach verſchiedenen Seiten
auf
[621]und Entwicklung des Menſchen.
auf verſchiedene Gegenſtaͤnde leiten: ſo iſt zwar ſo viel
gewiß, daß ſie auf einer Seite dadurch reizbarer gewor-
den iſt; aber auf der andern auch biegſamer, ſo daß die
Vernunft ſie leichter zerſtreuen, andere Begierden ihr
entgegenſtellen und eher ihren Ausbruch hindern kann.
Wir haben ferner die bekannte Erfahrung, daß man ei-
ner in Affekt geſetzten Perſon am leichteſten beykomme,
wenn man mit ihr in denſelben Affekt bis auf eine ge-
wiſſe Weite hinein gehet, dem Schein nach wenigſtens,
und ihr dadurch ſchmeichelt. So macht man ſie auf
uns aufmerkſam, und locket die Ueberlegungskraft her-
vor, die der geliebkoſeten Neigung, wie einem wildge-
wordenen Thier, endlich den Zuͤgel uͤber den Kopf wirft
und ſie baͤndiget. Sollte nicht eine ſolche Kunſt bey
den ſtarken Trieben des Menſchen moͤglich ſeyn? bey
ſolchen, die man nicht unterdruͤcken noch ſchwaͤchen darf
noch kann, und deren gewaltſame Ausbruͤche eine der
ſtaͤrkſten Quellen von dem Ungluͤck der Menſchheit ſind?
Man wird von ſelbſt begreifen, daß es ganz ein anders
ſey, durch grobe ſinnliche Vorſtellungen die Begierde
ohne Noth zu reizen und ihre Wut zu vergroͤßern;
und ein ganz anders, durch gewiſſe feinere und ſanftere
Wallungen im Herzen, die man veranlaſſet, ſie dem
Schein nach zu liebkoſen und zu unterhalten, wenn ſie
von ſelbſt ſich reget, aber zugleich ſie mit ſo vielen leb-
haften, feinern Phantaſien und vernuͤnftigen Reflexio-
nen zu durchweben und zu umgeben, daß ſie darinn
verwickelt und vertheilet wird. Jch beruͤhre dieſe Ma-
terie hier nur im Vorbeygehen. Aber gewiß iſt es doch
auch, daß, zum Beyſpiel, die Romanen des Richard-
ſons die Liebe auf eine ſolche Art bearbeiten, die keinen
Schaden bringen kann, wenn ſie gleich auf der andern
Seite auch nicht mit ſolcher pſychologiſchen Staͤrke auf
dieſen Naturtrieb wirken, als man von einer noch et-
was ſtaͤrkern Art ſie zu behandeln vielleicht erwarten
koͤnnte.
[622]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
koͤnnte. Jndeſſen iſt es eben ſo gewiß, daß niemand,
der nicht mit großer und inniger Kenntniß des menſchli-
chen Herzens die waͤrmeſte Rechtſchaffenheit verbindet,
die unverruͤckt der Tugend getreu bleibet, wenn ſie gleich
zuweilen den Schein annimmt, als gehe ſie zu ihren
Feinden uͤber, ſich fuͤr berufen halten duͤrfe auf dieſe
Art an dem Menſchen zu arbeiten, wie Sterne und
Wieland es zuweilen gethan haben. Man iſt denen,
die ſich an ein ſo ſchweres Unternehmen wagen und,
ob ſchon wider ihre Abſicht, mehr Schaden als Vortheil
ſtiften, wenig Nachſicht ſchuldig, noch weniger als
den mittelmaͤßigen Dichtern. Der Arzt der mit heroi-
ſchen Arzneyen nur unvorſichtig umgehet, verdient den
ſchaͤrfſten Tadel. Doch muß man auch ſo billig ſeyn
und den Schaden oder den Nutzen, den ſie ſtiften, nicht
nach der Einbildung ſolcher Leute ſchaͤtzen, die nach ih-
ren einſeitigen und engen Begriffen urtheilen.
IV.
Von| der einſeitigen Vervollkommnung des Men-
ſchen.
- 1) Zu weit getriebene Vervollkommnung an ei-
ner Seite kann der Vollkommenheit der Na-
tur im Ganzen ſchaͤdlich werden. - 2) Wie das Maß der Vervollkommnung an
einer Seite zu beſtimmen ſey, wo dieſe in
Ruͤckſicht auf die Vollkommenheit des Gan-
zen ein Groͤßtes iſt?
1.
Um den Werth der innern Menſchheit in den verſchie-
denen Formen, in denen ſie vor uns lieget, nur ei-
nigermaßen mit Vernunft zu ſchaͤtzen, muß auf alle ver-
ſchiedene Seiten, an denen der Menſch vervollkommnet
werden
[623]und Entwickelung des Menſchen.
werden kann, Ruͤckſicht genommen werden. Das erſte,
was hiebey in Betracht zu ziehen, iſt die einſeitige
Perficirung und der Werth derſelben in Hinſicht auf
das Ganze im Menſchen. Obgleich die Grundvermoͤ-
gen der Seele, das Gefuͤhl, die Denkkraft und der
Wille in der genaueſten Verbindung ſtehen und wech-
ſelſeitig einander erheben, ſo daß keines von ihnen er-
weitert oder verſtaͤrket wird, ohne daß die uͤbrigen An-
theil daran nehmen: ſo iſt doch nichts gewiſſer, als daß
die Entwickelung der Vermoͤgen nicht bey zwey Jndi-
viduen in demſelbigen Verhaͤltniß vor ſich gehe. Hier
waͤchſet eine Faͤhigkeit zu einer außerordentlichen Hoͤhe,
da andere unter der Stufe zuruͤckbleiben, wozu ſie in
dem gemeinen Menſchenverſtande gebracht ſind. Bey
den beſondern Vermoͤgen kann dieſe Verſchiedenheit ſo
weit gehen, wie an den Baͤumen, bey denen ein Zweig
ganz abſtirbt, indem ein anderer deſto ſtaͤrker treibet.
Ohne Zweifel iſt in der Anlage der Natur ſchon der er-
ſte Grund zu dieſen verſchiedenen Verhaͤltniſſen, worun-
ter einige ſolche Mißverhaͤltniſſe | ſeyn koͤnnen, daß man
ſie fuͤr geiſtige Mißgeburten halten kann. Groͤßten-
theils aber haͤngt dieß von den aͤußern hinzukommenden
Urſachen bey der Entwickelung ab. Wie bey den Koͤr-
pern das Gebluͤt und die Nahrungsſaͤfte zu heftig nach
einem Theil hingetrieben und dadurch eine Mißgeſtalt
veranlaßt werden kann, ſo koͤnnen auch die aͤußern
Urſachen auf eine Kraft der Seele ſo ſtark wirken, daß
andere zu ſehr zuruͤckbleiben. Alsdenn moͤgen an ei-
ner Seite glaͤnzende Vorzuͤge entſtehen, aber an der an-
dern ſind ſo viele Maͤngel und Schwachheiten damit ver-
bunden, daß infelix operis ſumma daraus wird. Dieß
ſind einſeitige Perficirungen. Fontaine, der naive Fa-
beldichter, iſt, wenn ſeine Biographen nichts uͤbertreiben,
im gemeinen Leben ein einfaͤltiger Menſch geweſen. Der
Mann vom groͤßten Verſtande, der große Staatsmann,
der
[624]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Held, aufgelegt zu heroiſchen Thaten, der Mann
von dem richtigſten und feinſten Geſchmack und vom
zaͤrteſten|moraliſchen Gefuͤhl, iſt mit dieſen einzelnen Voll-
kommenheiten noch kein großer Menſch in aller Hinſicht.
„Die Seelenvermoͤgen unterſtuͤtzen ſich und helfen
„ſich nur fort bis zu einer gewiſſen Grenze.‟ Alsdenn
hindern ſie ſich und unterdruͤcken einander. Jede na-
tuͤrliche Anlage will auch unmittelbar gereizet ſeyn,
um entwickelt zu werden. Eine zu ſtarke Beſchaͤftigung
des Einen Vermoͤgens muß alſo fuͤr ſich dem andern
ſchon dadurch hinderlich werden, daß es ihm die Zeit
und Gelegenheit entziehet, thaͤtig zu werden. Wird
die Liebe fuͤr eine beſondere Art von Beſchaͤftigungen zur
Leidenſchaft, ſo feſſelt ſie die Kraͤfte in Hinſicht auf an-
dere. Das Herz bleibet oft unbearbeitet, wo alles Be-
ſtreben auf die Anfuͤllung des Kopfs und des Gedaͤcht-
niſſes hingehet. Jſt nun vollends ein Vermoͤgen ſchon
zur Fertigkeit geworden, und ſind andere dagegen in ihrer
natuͤrlichen Schwaͤche geblieben, ſo wird jenes ſich noch
mehr bey allen Gelegenheiten hervordringen, die uͤbri-
gen zuruͤckhalten, und alſo die Ungleichheit zwiſchen ih-
nen vergroͤßern. Es waͤchſet auch die Unluſt an Arbei-
ten, wozu wir weniger geſchickt ſind. Die Aeußerun-
gen mit der vorzuͤglichen Kraft ſind mehr angenehm, und
ziehen auch mehr die neuen hinzukommenden Jdeen wie
einen Nahrungsſaft an ſich, und entwenden ſie den uͤbri-
gen, die hiedurch ſo gar auch den Grad von Staͤrke, den
ſie durch die ſich allgemein verbreitende Kraft der Seele
und durch vorhergegangene zufaͤllige Urſachen erlangt
hatten, wieder verlieren koͤnnen. Sie werden wie
mit Roſt uͤberzogen, und ſtumpf. Jndeſſen kommt es
hiebey wiederum auf ein gewiſſes Maß an. Es brin-
get noch der Geſundheit des ganzen Koͤrpers keinen
Schaden, wenn beſondere Glieder mehr gebraucht wer-
den und dadurch mehr Feſtigkeit und Staͤrke erhalten,
als
[625]und Entwickelung des Menſchen.
als andere. Dieß iſt vielmehr oft dem Ganzen nuͤtzlich.
Eben ſo kann auch die vorzuͤgliche Kultur einzelner See-
lenvermoͤgen der ganzen Natur zum Vortheil gereichen.
Oder doch wenigſtens vermindert dieß nicht nothwendig,
noch allemal, die Groͤße der Vollkommenheit im Ganzen.
Das Gebluͤt dringet bey der Anſtrengung des Kopfs
ſtaͤrker zum Gehirn. Dieß iſt fuͤr ſich noch keine Krank-
heit, wenn es nicht in dem Uebermaße geſchieht, daß
andern Theilen die nothduͤrftige Nahrung entzogen und
das, zum Leben und zur Geſundheit erfoderliche, Ebenmaß
der Bewegungen in der Maſchine geſtoͤret wird. Aber
uͤber dieſe Grenze hinaus wird es ſchaͤdlich und toͤdtend.
Daſſelbige gilt bey der Seele. Die vorzuͤglichſten Na-
turanlagen moͤgen am meiſten kultiviret werden, wenn
nur die uͤbrigen auch ſo viel Uebung haben, als ihrem
Verhaͤltniſſe gemaͤß iſt.
Man hat uͤber die Politeſſe die Anmerkung gemacht,
daß ſie nur bis auf eine gewiſſe Grenze eine wahre
Vollkommenheit ſey. Dieß iſt eine allgemeine Ei-
genſchaft aller beſondern menſchlichen Geſchicklichkeiten,
Fertigkeiten und Tugenden. Es giebt keine einzige
Naturanlage in dem Menſchen, auch nicht in der See-
le, keine Faͤhigkeit der Einbildungskraft und des Ver-
ſtandes, keine Art des Gefuͤhls und der Empfindſam-
keit, keine Wirkungsart des thaͤtigen Willens, in de-
ren Perficirung es nicht ein gewiſſes Maß gebe, das
ohne Schaden des Ganzen, und ohne ſich ſelbſt wieder-
um zu ſchwaͤchen, nicht uͤberſchritten werden darf. Auch
die Weisheit hat ihr Maß; und Horazens Ausſpruch:
Inſani ſapiens nomen ferat, æquus iniqui,
Vltra, quam ſatis eſt, virtutem ſi petat ipſam.
enthaͤlt einen pſychologiſchen Lehrſatz. Wird z. E. die
Denkkraft uͤberſpannet, ſo entſtehet in der Empfindſam-
keit und in der thaͤtigen Kraft des Willens eine Schwaͤ-
II.Theil. R rche
[626]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
che und eine Unordnung, die dem Gelehrten leider nur
allzu bekannt iſt. Und dieſe iſt nicht nur ein Mangel
einer großen Vollkommenheit, ſondern wird auch wie-
derum ſelbſt dem Vermoͤgen zum Nachdenken ſchaͤdlich.
„Jede uͤbertriebene Kraft verdirbt ſich ſelbſt.‟ Wer
zu viel lieſet, — es iſt dieß eine bekannte Erfahrung, —
und mehr Bilder und Begriffe ins Gedaͤchtniß haͤufet,
als die Ueberlegungskraft in Ordnung ſetzen kann, brin-
get in dem Gehirn einen Zuſtand hervor, den man in
dem Koͤrper Ueberladung nennet. Die uͤbermaͤßige Be-
ſchaͤfftigung der Einbildungskraft iſt, weder fuͤr den Ver-
ſtand, noch fuͤr das Gedaͤchtniß vortheilhaft, noch we-
niger fuͤr die Einſichten. Hat man bey beſondern Ver-
anlaſſungen einmal zu viel und zu anhaltend geleſen, ſo
iſt man genoͤthiget eine Zeit nachher gar nichts zu leſen,
bis man fuͤhlet, daß der gehoͤrige Ton des Gehirns wie-
der hergeſtellet ſey.
Die uͤbertriebene einſeitige Vervollkommnung des
Gefuͤhls und der Empfindſamkeit iſt nicht minder
ſchaͤdlich. Wer kann dieß ſchoͤner und richtiger ſagen,
als es Hr. Sulzer geſagt hat?*) Allzu empfindliche
Perſonen laſſen ſich von jedem Verdruß und von jeder
Freude zu lebhaft erſchuͤttern, und verrathen ſowohl eine
Schwaͤche am Verſtande, als an Thaͤtigkeit des Willens.
Auch die Triebe und Begierden der Seele zu Handlun-
gen koͤnnen unproportionirlich ſtark geſpannt ſeyn? Gemei-
niglich ſieht man die Neigungen, die Entſchluͤſſe und Hand-
lungen als Wirkungen des Gefallens oder des Misfal-
lens an, oder als Wirkungen der Bewegungsgruͤnde,
die den letztern als ihren Urſachen entſprechen, und ſich
alſo in ihrer Staͤrke nach den vorhergehenden Gemuͤths-
bewegungen richten ſollen. Allein man hat aus vielen
Gruͤn-
[627]und Entwickelung des Menſchen.
Gruͤnden gezweifelt, ob es ſo ſey. Wenn alles uͤbrige
gleich iſt, ſo entſpricht auch ohne Zweifel die Groͤße der
Kraftbeſtimmung zur Thaͤtigkeit und der Aktion der
Groͤße des Eindrucks, den die Motiven machen. Aber
wie ein Koͤrper, der ein Princip der Bewegung in ſich
hat, durch einen ſchwaͤchern Stoß von außen in eine
weit heftigere Bewegung gebracht werden kann, als ein
anderer, deſſen innere Kraft ſchwaͤcher iſt: ſo kann auch
wohl die wirkſame Seelenkraft bey einem durch ein
ſchwaches Motiv lebhafter bewegt werden, als bey einem
andern durch ein ſtaͤrkeres. Die Bewegungsgruͤnde
ſind doch nur veranlaſſende Gruͤnde, keine wirkende Ur-
ſachen. Die Kraft, welche wirket, iſt in der Seele, und
iſt von dem Bewegungsgrunde nur modificirt. Der
letztere wirket nicht wie das Gewicht an der Wage, ſon-
dern allenfalls nur wie ein Schlag auf eine elaſtiſche
Saite, oder wie der Funke auf das Pulver. Die Groͤſ-
ſe der Aktion haͤngt ſo wohl von der vorhergehenden
Spannung des thaͤtigen Princips ab, ehe dieß von dem
Motiv beſtimmet wird, als von der Groͤße des Ein-
drucks, der durch das Motiv hinzukommt und die Kraft
lebendig macht, oder ſie nur lenket. Es kann auch in
der Thaͤtigkeitskraft der Seele ein Misverhaͤltniß mit
ihrer vorſtellenden Kraft und mit dem Gefuͤhle ſtatt-
finden, wie ſich auch oft genug in den Handlungen zei-
get. Vorſtellungen und Empfindungen, die in Ver-
gleichung mit andern ungemein ſtumpf und kraftlos
ſind, ſetzen bey einigen die ſtaͤrker geſpannten Begierden
in Bewegung, und wirken feſte Entſchluͤſſe und ein hart-
naͤckiges Anhalten, die zuweilen in der Seele das ſind,
was die konvulſivifchen Bewegungen in den zu ſtark ge-
ſpannten Muſkeln. Bey eben dieſen eigenſinnigen Per-
ſonen zeiget ſich oftmals ein ſtumpfes Gefuͤhl, und ei-
ne nicht viel auf einmal umfaſſende Phantaſie, die beide
nicht vermoͤgend waͤren, durch die vorzuͤgliche Lebhaftig-
R r 2keit
[628]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
keit des Antriebes die Kraft ſo ſtark auf das Objekt zu
richten, wenn dieſe nicht innerlich vorzuͤglich darnach ge-
ſtimmt waͤre. Aber die innere Diſpoſition ſo ſich zu
aͤußern, als es bey einem ſolchen Gegenſtande geſchieht,
macht, daß auch die mattere Reizung hinreichet die
Kraft zur Anwendung zu bringen. Hiezu kommt nun,
daß eben derſelbigen Urſachen wegen die Kraft, wenn
ſie einmal in eine Richtung gebracht iſt, ſich hartnaͤckig
in derſelben erhaͤlt. Denn das ſtumpfere Gefuͤhl und
die traͤgere Vorſtellungskraft kann nicht ſo leicht entge-
gengeſetzte Gefuͤhle und Vorſtelluͤngen herbeyfuͤhren, die
als ein Gegengewicht den Eindruck von den gegenwaͤr-
tigen ſchwaͤchen und die hervorgehenden Triebe aufhal-
ten koͤnnten.
2.
Eine ſchwere Frage iſt es, wie die Grenze zu finden
ſey, bis wohin die Perficirung eines Vermoͤgens gehen
duͤrfe, ohne das Ebenmaß in der Entwickelung aller zu
ſtoͤren, das zur beſten Vervollkommnung des ganzen
Menſchen und zur laͤngſten Erhaltung deſſelben erfodert
wird? Die Vollkommenheit an einer Seite wird als-
denn ein Groͤßtes, in Hinſicht der Vollkommenheit
des Ganzen. Denn bis hieher erhoͤhet ſie die letztere;
aber daruͤber hinaus mindert ſie ſie. Hierauf laͤßt ſich
ſchwerlich eine beſtimmte Antwort geben, die zugleich
allgemein auf alle einzelne Perſonen paßte. Das gehoͤ-
rige Maß kann ſo wenig bey allen Jndividuen daſſelbi-
ge ſeyn, als es das Maß im Eſſen, Trinken, im Laufen
und in andern koͤrperlichen Uebungen iſt. Doch giebt uns
gemeiniglich das Selbſtgefuͤhl, ſowohl bey dem Ge-
brauch der Seelenkraͤfte als des Koͤrpers, einen Wink,
wenn es Zeit ſey mit der Wirkſamkeit einzuhalten. Die
Beſchaͤftigung wird alsdann unangenehm. Auf dieſe
Stimme muß man merken, mit eben der bekannten
Ein-
[629]und Entwickelung des Menſchen.
Einſchraͤnkung bey den Uebungen des Geiſtes, als des
Koͤrpers; daß naͤmlich auch die natuͤrliche Traͤgheit nicht
geſtaͤrket wird.
Man kann ſicher ſeyn, daß man alsdenn ſchon uͤber
die gehoͤrige Graͤnze hinaus ſey, „wenn der Hang zu ei-
„ner beſondern Art von Thaͤtigkeit zu einer Leidenſchaft
„wird,‟ die uns wider Willen fortreißet, auch dann,
wenn wir mit andern Kraͤften wirken wollen.
Die Vernunft und Ueberlegung muß das Uebrige
thun. Selbſtkenntniß fuͤhret auch hierinn zur Weisheit.
Je mehr wir den Menſchen unterſuchen, je mehr ſehen
wir den innern Werth deſſelben und ſeine Beziehung
auf die aͤußere Welt, und deſto mehr die menſchliche
Gluͤckſeligkeit und das beſte Maß von Ausbildung, das
uns in unſrer Lage zu Theil werden kann. Dieß muß
die Zwecke beſtimmen, die wir uns ſetzen. Mehr laͤßt
ſich im Allgemeinen hieruͤber nicht ſagen. Der Menſch
iſt an vielen Seiten perfektibel. „Seine ganze Voll-
„kommenheit wird groͤßer, wenn man ihn von mehre-
„ren Seiten bearbeitet, als wenn alles nur auf die Er-
„hoͤhung einer oder der andern beſondern Faͤhigkeit ge-
„richtet wird.‟ Hr. Home hat die Anmerkung ge-
macht,*) daß die Menſchen in ſolchen Laͤndern kluͤger
und verſtaͤndiger ſind, wo jedes Jndividuum mehrere
und verſchiedene Geſchaͤfte und Kuͤnſte betreibet, als in
ſolchen, wo jeder ſich mit Einer Art von Arbeiten allein
beſchaͤfftiget. Die Urſache davon iſt offenbar. Der
letztere arbeitet gedankenlos, wenn die einzelne Fertigkeit
einmal erworben iſt. Der erſtere aber wird genoͤthiget,
auf mehrere Art nachzuſinnen und zu uͤberlegen. So
verhaͤlt es ſich mit der ganzen Perficirung des Menſchen.
Die Einſeitige iſt den Naturanlagen weniger gemaͤß,
als die mehrſeitige, bey der die Vermoͤgen in demje-
R r 3nigen
[630]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nigen Ebenmaß erhoͤhet werden, wodurch der Einfluß
von jedem einzeln auf das Ganze der Seelenkraft am
groͤßten wird. Es iſt nie zu vergeſſen, was der Menſch
iſt. Er iſt nicht bloß ein empfindendes Weſen; nicht
bloß ein phantaſirendes Weſen; nicht bloß ein nachden-
kendes, nicht bloß ein aͤußerlich thaͤtiges Weſen; nicht
Geiſt allein, nicht Thier, noch weniger Koͤrper allein:
ſondern ein Menſch.
Dagegen wuͤrde die kuͤnſtliche Erziehung auch auf
der andern Seite zu viel thun, wenn aus dem Grund-
ſatze, daß der Menſch an allen Seiten gleichfoͤrmig aus-
gebildet werden muͤſſe, die Abſicht dahin gerichtet wuͤr-
de, ihm alle Arten von Geſchicklichkeiten in gleichem
Grade zu verſchaffen und ihn zuruͤckzuhalten, wenn
man faͤnde, daß er Eine derſelbigen ſich vorzuͤglich zu er-
werben geneigt ſey. Man kann es nicht tadeln, ſon-
dern muß es als eine Verbeſſerung der Erziehung anſe-
hen, daß man nicht bloß die Seele und den Verſtand,
ſondern auch die Sinne und den Koͤrper, bey der Ju-
gend zu bilden ſucht. Es iſt ohne Zweifel ein richtigerer
Grundſatz, daß man ſie von allen Seiten angreifen und
bearbeiten muͤſſe, als wenn lauter Crichtons*) aus ih-
nen gemacht werden ſollten. Aber nachher iſt es nicht
mehr
[631]und Entwickelung des Menſchen.
mehr moͤglich, alle Arten von Anlagen in gleichem Maß
zu befoͤrdern, ohne ſie alle zuruͤckzulaſſen. Wer eines
oder das andere Vermoͤgen vorzuͤglich ausgebildet hat,
beſitzet zugleich an der Jdee, die er von der Art zu han-
deln in dieſem ſeinem Fache hat, ein Jdeal, das ihm in
Hinſicht der uͤbrigen Vermoͤgen eine Richtſchnur iſt,
wenn er auch dieſe zu kultiviren ſucht, und wornach er
wirklich jedesmal zu handeln ſich beſtrebet, ſo oft die
Gelegenheit und Umſtaͤnde ihn dazu bringen. Allein
auch dieß bey Seite geſetzt: „ſo enthaͤlt die vorzuͤgliche
„Staͤrke eines Vermoͤgens ſchon eine hoͤhere Anſtren-
„gung der ganzen Naturkraft in ſich,‟ beſonders in
denen Vermoͤgen, die mit der Meiſterfaͤhigkeit in naher
Verbindung ſtehen, „als ſonſten da ſeyn kann, wo kei-
„ne Kraft mit mehr als mittelmaͤßiger Jntenſion zu
„wirken gewohnt iſt.‟ Dahero ſind auch die beſondern
Genies, einige Faͤlle ausgenommen, die ſich aus dem
Vorhergehenden begreifen laſſen, zwar nicht zu allen Ar-
ten von Geiſtesgeſchaͤfften gleich aufgelegt, aber doch zu
den meiſten uͤbrigen in einem groͤßern Maße, als es die
kleinen allgemeinen Geiſter ſind, die zu allem et-
was, aber zu keinem vorzuͤglich, geſchickt ſind. Einer
vorzuͤglichen Faͤhigkeit zu Einer Art von Handlungen
fehlet gemeiniglich nichts mehr, als die Richtung auf an-
dere Gegenſtaͤnde, um ſich auch von einer andern Seite
ſo vorzuͤglich zu zeigen. Der Menſch kann als Menſch
von allen Seiten entwickelt werden, aber nur nach den
Geſetzen eines endlichen Weſens, das, um vollkommener
zu werden, theilweiſe es werden muß, und das eben ſo
wenig alles auf einmal werden, als alles auf einmal
ſeyn, kann.
R r 4V. Wie
[632]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
V.
Wie die innere Groͤße der Menſchheit in ihren
verſchiedenen Formen zu ſchaͤtzen ſey.
- 1) Die abſolute phyſiſche Vollkommenheit des
Menſchen. Jnnere Groͤße und Werth der
Menſchheit in dem Menſchen. - 2) Wie ferne die koͤrperlichen Vollkommenhei-
ten Beſtandtheile der geſammten menſchli-
chen Vollkommenheit ſind. - 3) Die Vollkommenheit der menſchlichen Na-
tur haͤngt von der Vollkommenheit der See-
le ab. - 4) Der Werth der koͤrperlichen Kunſtfertig-
keiten haͤngt von der Groͤße der Selbthaͤtig-
keit ab, die in ihnen wirket. - 5) Die Groͤße in den Seelenkraͤften haͤngt von
der Groͤße der innern Selbſtthaͤtigkeit ab. - 6) Der innere Werth des Genies und des
Charakters haͤngt gleichfalls von der Selbſt-
thaͤtigkeit der Seele ab. Von dem innern
Werth der Tugend. - 7) Eine Folge hieraus, wenn Genies von ver-
ſchiedener Gattung mit einander verglichen
werden. - 8) Von dem Werth der Wahrheit im Ver-
ſtande. - 9) Fortſetzung des Vorhergehenden.
1.
Jch komme zu einer Betrachtung, die, ſo kalt und ab-
ſtrakt auch das Reſultat davon iſt, das ich hier und
dazu auszugsweiſe vorlege, dennoch nur allzuſehr auf-
gelegt
[633]und Entwickelung des Menſchen.
gelegt iſt, das Herz mit Empfindungen zu erfuͤllen.
Wer kann, nach Popes ſtarker Erinnerung, die Sce-
nen der Menſchheit durchwandern und bey dieſer er-
ſtaunlichen Mannichfaltigkeit der Geſtalten und Formen,
in welchen die menſchliche Natur in den wirklichen Men-
ſchen geleitet, gelocket, getrieben oder gezwungen iſt,
den Blick ſo feſthalten, daß die Ueberlegung nicht durch
die allenthalben her ſich aufdringenden Empfindungen ir-
re werde? Wenn man in dieſer großen Sphaͤre auf-
ſuchen will, was hoch und niedrig, gerade und ſchief,
Schein und Wahrheit, hochachtungswuͤrdig und ver-
aͤchtlich, des Wuͤnſchens und Verwuͤnſchens werth iſt,
und Menſchen mit Menſchen in dieſer Hinſicht vergleicht:
ſo wird man ihre Unterſchiede groß oder klein, wichtig
oder unwichtig finden, je nachdem der Standort niedri-
ger oder hoͤher iſt, aus dem man ſie uͤberſiehet. An-
fangs ſcheinet der Vorzug des Menſchen vor dem Men-
ſchen unuͤberſehlich, ſo lange die Ausſicht noch ſehr ein-
geſchraͤnkt iſt. Nehmen wir die Stellung hoͤher, ſo wird
er geringer; und noch weiter hinauf, ſo iſt das ganze
Geſchlecht ein Jnſektenhaufe, den man in der Ferne
ſieht, wo die Vorzuͤge und Unterſchiede der Jndividuen
verſchwinden. Es giebt endlich eine mittlere Stelle,
wo dieſe Verhaͤltniſſe uns ſo vorkommen, wie ſie
muͤſſen, wenn unſere Wuͤnſche und Beſtrebungen in
dem Grade der Staͤrke und Thaͤtigkeit erhalten werden
ſollen, die unſere Beſtimmung erfodert. Es iſt uͤber-
fluͤßig zu erinnern, wie verſchieden der Maßſtab, die
Wage und die Glaͤßer ſind, wornach hiebey geurthei-
let werden kann. Welches ſind denn die richtigen?
Denn mit ſolchen ſollte doch die uͤberlegende Vernunft
verſehen ſeyn. Der kuͤhnen Einbildungskraft des Dich-
ters, im Pope und im Antipope, mag man es erlauben,
nach dem bloßen Gefuͤhl zu urtheilen. Koͤnnen wir den
beſtimmten Maßſtab zu menſchlichen Vollkommenheiten
R r 5nicht
[634]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nicht finden, ſo laͤßt ſich doch wohl einſehen, was noͤthig
iſt um einen ſolchen zu haben. Und auch dieß giebt
ſchon eine Anleitung zum vorſichtigen Vergleichen. Es
wird hieruͤber nur etwas von dem Weſentlichſten der
Sache beruͤhret werden.
Der wirkliche Menſch hat als ein wirkliches reelles
Weſen einen abſoluten Jnbegriff von reellen Be-
ſchaffenheiten, Kraͤften, Vermoͤgen, Faͤhigkeiten
und Geſchicklichkeiten in ſich, die ſeine abſolute phyſi-
ſche Realitaͤt ausmachen. Das, was man in der
Sprache der Metaphyſik ein Etwas, oder etwas Re-
elles etwas Poſitives nennt, wird ſonſten durch das
Wort Vollkommenheit oder Gut ausgedrucket. Die
Groͤße ſeiner abſoluten phyſiſchen Realitaͤt macht
ſeinen innern abſoluten phyſiſchen Werth aus.
Wenn alle Kraͤfte und Vermoͤgen der Seele und des Lei-
bes aufgezaͤhlet, und die Groͤße von jeden beſtimmt
wuͤrde, ſo halte man an dieſe Summe von Realitaͤten
das Maß von dem abſoluten Werth des Menſchen.
Solch eine abſolute phyſiſche Realitaͤt kommt auch
jedem Thier, jedem empfindungsloſen Koͤrper, jedem
Elemente, jedem wirklichen Dinge, zu. Aber wenn das
Weſen, was ſie beſitzet, ohne Gefuͤhl und Empfindung
iſt, ſo iſt auch ſeine Realitaͤt nicht fuͤr ihn eine Realitaͤt,
die naͤmlich von ihm ſelbſt genoſſen wuͤrde. Sie iſt eine
bloß phyſiſche Realitaͤt in ihm und an ihm, und kann
eine relative Vollkommenheit in Hinſicht auf andere
Weſen ſeyn; aber in Hinſicht auf ſich ſelbſt iſt ſie nichts
mehr als die Vollkommenheit des Metalls, das zu einer
Repetiruhr zuſammengeſetzt iſt. Die ſich ſelbſt nicht
fuͤhlende Kraft kann an ſich groͤßer oder kleiner ſeyn
und werden; und in ſo weit iſt der Zuſtand, in dem ſie
ſich befindet, in Hinſicht auf die innere Groͤße ihrer Na-
tur nicht gleichguͤltig. Allein fuͤr ſich ſelbſt iſt es ihr
gleichguͤltig, ob ſie groͤßer oder kleiner iſt, weil ſie kein
Jntereſſe
[635]und Entwickelung des Menſchen.
Jntereſſe dabey hat, wenn ſie erhoͤhet oder geſchwaͤcht
wird.
Jn dem empfindenden Weſen, wie der Menſch
iſt, werden die phyſiſchen Realitaͤten zu Gegenſtaͤnden
des Gefuͤhls, und alſo zu Vollkommenheiten fuͤr das
Weſen ſelbſt, zu Quellen ſeines Wohls und ſeines Wehs,
und alſo Guͤter oder Uebel in einer beſtimmtern Bedeu-
tung. Es iſt nicht zu zweifeln, daß nicht jede phyſiſche
Realitaͤt, wie jedweder ihnen entgegengeſetzte Mangel,
in dem fuͤhlenden Weſen, mittelbar oder unmittelbar
dem Gefuͤhl vorkommen, und alſo angenehme oder un-
angenehme Empfindungen veranlaſſen werde. Daher
auch die phyſiſchen Beſchaffenheiten, von dieſer Seite be-
trachtet, inſoferne ſie in das Wohl oder Weh, in die
Gluͤckſeligkeit oder Ungluͤckſeligkeit, einen Einfluß haben,
auch eine reſpective Groͤße und einen reſpectiven
Werth, oder eigentlich, eine innere Nutzbarkeit er-
halten, den man im Anfang von jenem abſoluten phyſi-
ſchen Werthe unterſcheiden muß. Denn wenn gleich
die Betrachtung uͤber den Menſchen zuletzt auf das Re-
ſultat fuͤhrt, daß jede ſeiner phyſiſchen Realitaͤten in dem
Grade genoſſen wird, der ihrer phyſiſchen Groͤße ent-
ſpricht: ſo ſind doch der Umſtaͤnde zu viele, unter wel-
chen eine phyſiſche Realitaͤt Schmerzen, und ein wah-
rer Mangel Vergnuͤgen, wenigſtens auf eine Zeitlang,
durch eine Blendung der Einbildungskraft hervorbrin-
gen kann, daß man zuerſt jene fuͤr ſich und ihre Groͤße
zu betrachten hat, ehe man auf ihre Genießbarkeit hin-
ſiehet. Wenn das Mannichfaltige bey einer Sache ſo
groß iſt wie hier, ſo werden die Begriffe leicht ſchwan-
kend. Es iſt um Verwirrung zu verhuͤten noͤthig, im
Anfang einen einzigen feſten Geſichtspunkt zu ſuchen,
aus dem ſie ſich am einfachſten und leichteſten uͤberſehen
laͤßt. Und hiezu dienen uns die angefuͤhrten Abſtrak-
tionen. Hernach koͤnnen ſolche einſeitige Betrachtun-
gen
[636]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gen (denn mehr ſind ſie nicht, wenn ſie bloß auf abge-
ſonderten Begriffen beruhen,) verglichen, verbunden und
aus ihnen ein mehr vollſtaͤndiger Begriff von dem Gan-
zen gemacht werden.
Der innere Werth der einzelnen Menſchen, und
jeder menſchlichen Realitaͤt, iſt auch von dem aͤußern
oder relativen Werth derſelben unterſchieden. Wie
nuͤtzlich iſt eine phyſiſche Realitaͤt im Menſchen fuͤr an-
dere Weſen, und beſonders fuͤr andere Menſchen, mit
denen er in Verbindung ſtehet? Wie weit befoͤrdert ſie
anderer phyſiſche Vollkommenheiten, oder anderer
Wohl? wie weit unmittelbar oder mittelbar, wie weit
nothwendig oder zufaͤllig? Das Verdienſt um die Men-
ſchen und um die Welt hat ein anderes Maß, als die
innere Vollkommenheit des Menſchen. Von dieſem
relativen Werth kann hier die Rede noch nicht ſeyn.
Ueber jene abſolute Groͤße der Menſchheit aber will ich
einige Anmerkungen hinzuſetzen.
2.
Die phyſiſchen Realitaͤten des Koͤrpers, Geſund-
heit, Staͤrke und Geſchmeidigkeit, und andere, gehoͤ-
ren zu den menſchlichen Realitaͤten, da ſie, theils unent-
behrlich, theils reiche Quellen von angenehmen Gefuͤhlen
ſind. Sie haben alſo auch ihren innern reſpektiven
Werth fuͤr jedes einzelne Jndividuum, das ſie beſitzet.
Ueberdieß ſind die erworbenen koͤrperlichen Geſchicklich-
keiten im Laufen, Springen, Reiten, Schwimmen
und ſo weiter, von vermiſchter Art, nicht bloß Fertig-
keiten im Koͤrper, ſondern auch Realitaͤten der Seele,
Fertigkeiten und Staͤrke in ihrer vorſtellenden und han-
delnden Kraft. Aber wenn auch dieſes letztere bey Seite
geſetzt wird, ſo muß man doch, aus dem ſchon angefuͤhr-
ten Grunde, auch die bloß koͤrperlichen Vollkommenhei-
ten in Anſchlag bringen, wenn die innere Groͤße des
Men-
[637]und Entwickelung des Menſchen.
Menſchen geſchaͤtzet werden ſoll. Sie ſind als Be-
ſtandtheile ſeiner phyſiſchen Realitaͤt anzuſehen. Sie
ſind Werkzeuge und Mittel, die Kraͤfte der Seele in
Thaͤtigkeit zu ſetzen und ihre Vergroͤßerung zu befoͤr-
dern. Sie haben einen reſpektiven Werth wegen ihres
Einfluſſes auf die Empfindungen. Und uͤberdieß iſt der
Koͤrper ſelbſt ein Beſtandtheil des Menſchen. Auch
der gemeine Verſtand ſchaͤtzet ſie fuͤr ſich betrachtet. Koͤr-
perliche Staͤrke und Groͤße erreget Achtung fuͤr den der
ſie beſitzet, und der Verluſt der Gliedmaßen wird fuͤr
eine Verſtuͤmmelung des Menſchen angeſehen, wie auch
der Kaſtrate nach den gemeinen Begriffen kein voͤlliger
Menſch mehr iſt.
Soll alſo Menſch mit Menſch, und die Groͤße der
Menſchheit in einem Subjekt mit der Groͤße der
Menſchheit in dem andern, verglichen werden: ſo wird
das Urtheil zwar falſch ſeyn, wenn man, wie ein Skla-
venhaͤndler oder wie Soldatenwerber, nur Koͤrper ge-
gen Koͤrper haͤlt. Aber es wird gleichfalls auf der an-
dern Seite einſeitig ſeyn, wenn nur allein auf Seelen-
kraͤfte gerechnet wird. Sollten die koͤrperlichen Vorzuͤ-
ge, welche die Wilden gemeiniglich vor den Polizirten
voraus haben, fuͤr nichts gelten, wenn man ſie mit die-
ſen zur Vergleichung bringet. Das waͤre ſogar gegen
das Gefuͤhl der vernuͤnftigen Reiſenden. Man moͤchte
ſich jener ihre koͤrperliche Staͤrke und Geſchwindigkeit
wuͤnſchen, wenn ſie nur ohne Nachtheil anderer Voll-
kommenheiten zu erlangen waͤre.
Da iſt alſo der Grundſatz, bey dem man in der
Anthropometrie anfangen muß. Es giebt Realitaͤ-
ten in der Seele, es giebt Realitaͤten am Koͤr-
per; die Summe von beiden zuſammen macht
die ganze Groͤße der Menſchheit aus. Aber dieſe
beiden Arten von Perfektionen ſind ſo verſchiedener Na-
tur, als es die Seele und der Koͤrper ſelbſt ſind. Dar-
um
[638]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
um iſt es unmoͤglich zu beiden eine gemeinſchaftliche Ein-
heit zu finden, ſo lange man ſie fuͤr ſich betrachtet. Des-
wegen laͤßt ſich auch die ganze Menſchheit in Einem
gegen die ganze Menſchheit in dem andern niemals rich-
tig ſchaͤtzen, wenn nicht etwan die Groͤße der angeneh-
men und unangenehmen Empfindungen, die mit ihrem
Beſitz oder mit ihrem Mangel verbunden ſind, zum
gemeinſchaftlichen Maß zu gebrauchen iſt. Jndeſſen
iſt es doch noͤthig, ſich hieruͤber beſtimmtere Begriffe zu
machen. Denn wenn es freylich auf einer Seite ein
Fehler iſt die koͤrperlichen Vollkommenheiten zu ſehr her-
unterzuſetzen, ſo wuͤrde es doch auch auf der andern Sei-
te eine Erniedrigung der Menſchheit ſeyn, ſie in Ver-
gleichung mit den Seelenvollkommenheiten zu ſehr zu er-
heben. Die Betrachtung des Menſchen von ſeinen bei-
den Seiten kann uns doch nahe an der Mitte halten, wo
die wahre Grenze zwiſchen dem Zuviel und Zuwenig iſt.
Die Organiſation der Materie im Koͤrper, die Ue-
bereinſtimmung aller Theile zum Ganzen, die Wunder in
den Werkzeugen der Sinne; der Mechanismus, die
Groͤße, die Veſtigkeit, die Beugſamkeit in den Werk-
zeugen der Bewegung; dieß ganze Meiſterſtuͤck der
Schoͤpfung mag, fuͤr ſich allein betrachtet, einen unend-
lich großen Jnbegriff von phyſiſchen Realitaͤten ausma-
chen: ſo kann doch das Mehr oder Weniger hierinnen
dasjenige nicht ſeyn, wodurch der Menſch mehr oder
weniger ein Menſch wird. Dadurch wird nicht einmal
das Thier mehr oder weniger ein Thier. Die Voll-
kommenheit der Maſchine iſt nur eine Vollkommenheit
in Hinſicht auf ihren Gebrauch und auf den Zweck, wo-
zu ſie gebraucht werden kann. Wenn das Auge bey
einer geringern Groͤße und bey einer einfachern Struktur
uns eben die Dienſte leiſten koͤnnte, die es leiſtet, ſo
wuͤrden wir in der unendlichen Mannichfaltigkeit und
Feinheit ſeiner Theile ehe eine unnuͤtze Kuͤnſteley an-
treffen,
[639]und Entwickelung des Menſchen.
treffen, als eine wahre Vollkommenheit. So verhaͤlt
ſichs mit allen uͤbrigen Beſchaffenheiten des Koͤrpers.
Seine phyſiſche Realitaͤt beſtehet in der Verbindung der
Theile und in ihrer Uebereinſtimmung zu der Einheit
des Thiers, als welches ſein Endzweck iſt. Sie iſt de-
ſto groͤßer, je mehrere und mannichfaltigere Abſichten
dadurch erreicht werden koͤnnen.
Die Vollkommenheiten des Koͤrpers koͤnnen alſo in
keiner andern Hinſicht fuͤr menſchliche Vollkommenheiten
geachtet werden, als in ihrer Beziehung auf die empfin-
dende Seele. Dadurch werden ſie Beſtandtheile des
empfindenden Thieres. Sie ſind theils Mittel und Ur-
ſachen der Luſt oder Unluſt, theils Mittel und Werkzeu-
ge, wodurch die Seelenvermoͤgen ſich aͤußern und ent-
wickelt werden. Aus dieſer Beziehung muß ihr Werth
beſtimmet werden.
Es iſt dieß eine zweyfache Beziehung, welche die
Realitaͤt der Organiſation auf die Realitaͤt des Thieres
hat. Erſtlich iſt jene eine Quelle von Empfindungen,
ſie iſt genießbar fuͤr die Seele; dann aber auch zweytens
brauchbar fuͤr ſie, zur Vermehrung ihrer abſoluten Rea-
litaͤten. Sehen wir allein auf das erſte, und nennen
bloß davon das, was eine phyſiſche Realitaͤt iſt, eine
Vollkommenheit: ſo muͤſſen mit dieſer Benennung eben
ſo wohl die koͤrperlichen Realitaͤten in der Organiſation,
als ſelbſt die Realitaͤten der Seele, belegt werden. Das
Wohlſeyn des Koͤrpers wird unmittelbar genoſſen, be-
ſonders wenn von dem Wohlſeyn der innern Organe der
Seele, die doch auch zu dem Koͤrper gehoͤren, die Rede
iſt. Und geſetzt auch, woruͤber hier nichts entſchieden
werden darf, es ſey allemal der Zuſtand der Seele, was
zunaͤchſt und mittelbar gefuͤhlet wird: ſo haͤngt doch die-
ſer ſo unmittelbar von dem Zuſtande der innern Organe
ab, daß es auf Eins hinaus laufen wuͤrde, ob man das
Koͤrperliche fuͤr ein Mittel zu genießbaren Modifikatio-
nen,
[640]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nen, oder fuͤr ſolche ſelbſt, halten wollte. Man koͤnnte
ſagen, auch die Seelenkraͤfte, die nur in ihren Wir-
kungen empfunden werden, waͤren auch nur mittelbar zu
genießen, in demſelbigen Sinn, wie die gute Beſchaf-
fenheit der innern Organe. Warum ſollte denn dieſe
mehr eine bloß relative Vollkommenheit heißen, als je-
ne? Wenn man bloß aus dieſem Geſichtspunkt die Sa-
che anſieht, ſo iſt kein Grund dazu vorhanden. Sie
ſind beide genießbar. Den Graden nach moͤchten denn
die koͤrperlichen nur immer unter den unkoͤrperlichen ſtehen.
Sieht man hingegen auf die zwote Beziehung, ſo
koͤnnen wir die Realitaͤten des Koͤrpers fuͤr nichts anders
anſehen, als fuͤr ſo etwas, das bloß einen aͤußern
Werth hat, und nur allein in Relation auf die Seele
eine Vollkommenheit iſt. Wir ſetzen es in der Jdee
vom Thiere ſchon voraus, daß die Seele der Mittelpunkt
deſſelben ſey, auf den ſich das Uebrige des Ganzen beziehe.
Das Reelle, das bloß phyſiſch Reelle, ohne Ruͤckſicht
auf die Genießbarkeit, die phyſiſche Staͤrke und Men-
ge der Kraͤfte und Vermoͤgen in der Seele, wird als
die abſolute Realitaͤt oder Vollkommenheit in dem Thier
betrachtet. Daher iſt die Organiſation nur gut oder
ſchlecht, vollſtaͤndig oder mangelhaft, beſitzet Realitaͤt
oder Negation, Vollkommenheit oder Unvollkommen-
heit, je nachdem ſie Urſache und Mittel iſt, die See-
lenkraͤfte zu entwickeln und das innere phyſiſche Reelle
in unſerm Jch zu vergroͤßern, oder das Gegentheil zu
veranlaſſen. Nur ſo weit iſt das zum ſcharfen Sehen
eingerichtete Auge etwas Gutes fuͤr das Thier, inſofern
es mit dem Sinn in der Seele uͤbereinſtimmet, und den
Seelenvermoͤgen zu wirken angemeſſen iſt; nur ſo weit,
ſind Arme und Haͤnde, ohne Ruͤckſicht auf die Gefuͤhle
von ihnen und durch ſie, Realitaͤten im Menſchen, als
ſie Werkzeuge ſind, wodurch die wollende und handeln-
de Kraft hervorgehen und ſich auf eine gewiſſe Art, nach
einer
[641]und Entwickelung des Menſchen.
einer beſtimmten Seite hin, entwickeln kann, was ohne
dieſe Werkzeuge nicht moͤglich waͤre.
Wenn die Einrichtungen der Organiſation nicht dazu
dienen, daß die durch ſie und in ihnen wirkende Seele
ein wirkſameres und ſo zu ſagen groͤßeres Weſen iſt, als
ohne ſie: ſo moͤgen ſie noch genießbar ſeyn, wie die aͤuſ-
ſern Gegenſtaͤnde, und in ſo weit Guͤter und Vollkom-
menheiten fuͤr das empfindende Weſen; allein phyſiſche
abſolute Realitaͤten des Thiers ſind ſie nicht. Wenn
der Menſch mit Fluͤgeln und Federn verſehen waͤre und
mit dem Vermoͤgen ohne Reſpiration zu leben, wie das
Kind vor der Geburt und der Fiſch unterm Waſſer:
ſo moͤchte dieß eine Vollkommenheit in der menſchli-
chen Organiſation mehr geweſen ſeyn, die uns zu Erd-
und Waſſer-und Luftthieren zugleich gemacht haͤtte.
Allein es iſt eine andere Frage, ob es einen Zuwachs
an Menſchheit ausgemacht haben wuͤrde? Gewiß nicht,
wenn die Seele keine Vermoͤgen hat, die ſich zu dieſer
Maſchine gepaßt haͤtten, wodurch ſie ſolche zu ihrer Er-
haltung, oder zu ihrer Vervollkommnung, haͤtte gebrau-
chen koͤnnen. Das Menſchengeſchoͤpf moͤchte viel-
leicht vollkommener dadurch ſeyn, aber der Menſch nicht,
nicht einmal das Thier.
Jch ſage das Geſchoͤpf, welches Menſch iſt, moͤch-
te ein vollkommneres Ding ſeyn, wenn es auch fliegen
und im Waſſer leben koͤnnte. Man kann auf den Ge-
danken kommen, daß es an einem thieriſchen Koͤrper
Theile und Einrichtungen gebe, die nicht zum Gebrauch
des Thieres ſelbſt gemacht ſind, wenigſtens nicht haupt-
ſaͤchlich dazu, ſondern vielmehr fuͤr andere Weſen, fuͤr
Mitgeſchoͤpfe. Jedes Thier beſitzet Theile, die nicht
ſowohl fuͤr das Jndividuum als vornehmlich fuͤr das
ganze Geſchlecht ſind. Die wir davon kennen, gerei-
chen freilich auch alle zugleich zur Vollkommenheit, oder
zum Wohl der Einzelnen ſelbſt. Aber es kann doch
IITheil. S sſolche
[642]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſolche geben, die fuͤr die Jndividuen, ſo wohl in Hin-
ſicht ihrer Vervollkommnung als ihres Wohls, gleich-
guͤltig ſind, und nur ihre Beziehung auf die Gattung
haben. Wer weiß, ob nicht viele ſich gar nur auf ent-
ferntere Gattungen von Weſen beziehen? Die unend-
liche Verkettung der Mittel und Zwecke in der Schoͤp-
fung laͤßt dieß ſehr vermuthen. Jeder Theil des Gan-
zen iſt Mittel und Zweck zugleich; und beides in Hin-
ſicht aller uͤbrigen Dinge, bey denen ein Zweck ſtattfin-
den kann. Solche Realitaͤten oder Vollkommenheiten
in dem organiſirten Koͤrper wuͤrden doch zu der Thier-
heit nicht gehoͤren, ob ſie gleich noch immer als Voll-
kommenheiten in dem Dinge, was Thier iſt, betrachtet
werden koͤnnen.
3.
Bey dem, was Seelenvollkommenheit bey dem
Menſchen iſt, kann und muß doch wiederum dasjenige,
was der unkoͤrperlichen Seele fuͤr ſich zukommt, von
demjenigen, was ihr in ihrer Vereinigung mit dem
menſchlichen Koͤrper gehoͤrt, inſoferne ſie ein durch die-
ſen und in dieſem fuͤhlendes und thaͤtiges Weſen iſt, un-
terſchieden werden. Man muß ſolche allgemeine Be-
trachtungen von allen Seiten faſſen, ſo viel man kann.
Wenn z. B. ein hoͤherer Geiſt in ein menſchliches Ge-
hirn geſetzt wuͤrde, das fuͤr ihn ein unſchickliches Denk-
gefaͤß ſeyn muͤßte, ſo moͤchte er als Seele eines menſch-
lichen Koͤrpers vielleicht eine ſchlechte Figur machen.
Bey ſeiner groͤßern innern Vollkommenheit koͤnnte ein
ſolches Weſen ein ſchwacher Menſch ſeyn. Laͤßt ſich
doch von einigen Menſchen mit Grund in einem gewiſſen
Verſtande ſagen, daß ſie zu viel Geiſt ſind, um recht
gute Menſchen zu ſeyn. Die Menſchheit, als Menſch-
heit, iſt doch nur deſto groͤßer und vollkommener, je groͤſ-
ſer
[643]und Entwickelung des Menſchen.
ſer die Realitaͤt der Seele iſt, die ſich in ihrer Verbin-
dung mit dem menſchlichen Koͤrper aͤußern kann.
Dieß haͤngt nur zwar wiederum zum Theil von der
Organiſation ab. Aber da doch dieſer fuͤr ſich allein
keine abſolute Vollkommenheit zugeſchrieben werden kann,
ſondern ſie nur gut iſt wie ein Jnſtrument, in Ruͤckſicht
auf das Weſen, dem ſie brauchbar ſeyn ſoll: ſo kom-
men wir wiederum zu dem Grundſatz, „daß endlich alle
„innere abſolute Realitaͤt der menſchlichen Natur in der
„unkoͤrperlichen Einheit, in der Seele, in der Groͤße
„und Staͤrke ihrer Kraͤfte und Vermoͤgen, die ſich durch
„den Koͤrper aͤußern koͤnnen, zu ſuchen ſey.‟ Je mehr
und je groͤßere entwickelte Gefuͤhlsvermoͤgen dieſe beſitzet;
je groͤßer, lebhafter und vielſeitiger ihre Vorſtellungskraft
und ihre Reflexion iſt; je groͤßer und mannichfaltiger ih-
re aͤußere Thaͤtigkeit, und je groͤßer ihre Selbſtmacht
uͤber ſich: deſto reeller, deſto vollkommener fuͤr ſich, iſt
die Menſchheit in dem Menſchen.
Jn der Seele als in einer einfachen Subſtanz ſind
ihre wirklichen Kraͤfte, und deren Grade und Stufen, et-
was Abſolutes und Reeles. Sind nun dieſe Grade
veraͤnderlich, ſo laͤßt ſich in ihr eine Vermehrung oder
Vergroͤßerung dieſes Poſitiven und Reelen den-
ken, das alsdenn in einer Vergroͤßerung ihrer Sub-
ſtanz beſtehet.
Dem Zuſammengeſetzten kann fuͤr ſich, als einem
ſolchen, keine abſolute Vollkommenheit oder nur Reali-
taͤt zukommen. Denn es iſt nichts Abſolutes fuͤr ſich.
Sehen wir auf Maſchinen und auf die ganze Koͤrper-
welt, ſo kann dieſen, wenn wir von der Brauchbarkeit
fuͤr empfindende Weſen abſtrahiren, keine Realitaͤt, auch
keine phyſiſche, beygelegt werden, die nicht in den einfa-
chen Subſtanzen ſey, aus denen das Zuſammengeſetzte
beſtehet. Sind dieſe von einer unveraͤnderlichen Groͤße,
ſo iſt es gleichviel in Hinſicht ihrer, ob ſie in Ordnung
S s 2verbun-
[644]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
verbunden ſind, oder verwirrt und zerſtreuet liegen.
Jſt dieß nicht ſo gleichguͤltig in Hinſicht ihrer, ſo muß
die eine Art der Verbindung mehr zur Vergroͤßerung
der innern Staͤrke der Grundkraͤfte in den Subſtanzen
beytragen, als die andere. Alsdenn muͤſſen aber die
Grundkraͤfte ſelbſt veraͤnderlich an innern Groͤßen ſeyn.
Es iſt offenbar, wenn eine Maſchine mit einer andern,
und eine Organiſation mit einer andern, verglichen und
dabey keine Ruͤckſicht auf ein anderes Weſen genommen
wird, das von ihr unterſchieden und in ſo weit außer
ihr iſt, ſo koͤnne der einen vor der andern kein Vorzug
an innern Realitaͤten zugeſchrieben werden, als in dieſen
zweyen Hinſichten. Die eine iſt groͤßer an Materie,
an der Menge von Subſtanzen und von poſitiven
Kraͤften und Vermoͤgen; die andere enthaͤlt weniger.
Die eine befoͤrdert, durch die Ordnung und Harmonie in
der Lage der Subſtanzen, die Erhoͤhung ihrer veraͤnder-
lichen Groͤßen an ſubſtanziellen Kraͤften und abſoluten
Beſchaffenheiten; die andere dagegen nicht. Sind die
Groͤßen in den einfachen Weſen unveraͤnderlich, ſo faͤllt
die letztere Verſchiedenheit weg.
Ob und wie ferne der Koͤrperwelt ohne Ruͤckſicht auf
empfindende Weſen eine Vollkommenheit oder Realitaͤt
zugeſchrieben werden koͤnne? ob ſich dieſe fuͤr ſich als
ein Zweck des Schoͤpfers vorſtellen laſſe? ſind Fragen,
worauf ich mich hier nicht einlaſſen kann, deren Beant-
wortung indeſſen jene allgemeine Betrachtung vorausſe-
tzet. Jch fuͤrchte, die mehreſten, die hieruͤber entſchie-
den, haben die analogiſche Vorſtellungsart von der Ver-
bindung der Zwecke und der Mittel in dem goͤttlichen
Verſtande, die wir aus der unſrigen nehmen, etwas
zu weit getrieben. Jch will lieber eine Anwendung des
Obigen auf die Beurtheilung der menſchlichen Natur
machen.
Die
[645]und Entwickelung des Menſchen.
Die Organiſation des Menſchen wird ausgebildet
und vervollkommnet mit ſeiner Seele. Was kann ihr
aber widerfahren, als daß ſie mehrere Beſtandtheile be-
kommt, und eine andere Lage und Ordnung der Theile.
Beides kann nicht anders, als nur ſo ferne es ein Mit-
tel zur Vervollkommnung der Seele iſt, fuͤr eine Ver-
vollkommnung der menſchlichen Natur gehalten werden.
Wenn man nicht etwan dieſe fuͤr reeller darum halten
wollte, weil ſie an Maſſe zunimmt; in welchem Fall
die Vergroͤßerung der Realitaͤt, die aus dem Wachſen
der groͤbern Theile des Koͤrpers entſpringt, mehr auf ſich
haben wuͤrde, als die Entwickelung der feinen Gefaͤße
im Gehirn. Sollte die Seele nicht einer innern Ver-
mehrung ihrer abſoluten Kraͤfte und Vermoͤgen faͤhig
ſeyn, in welchem Fall man in den Beſtandtheilen des
Gehirns dergleichen noch weniger ſuchen wuͤrde: ſo koͤnn-
te nirgends eine wahre Vergroͤßerung an abſoluten Rea-
litaͤten ſtattfinden. Was wuͤrde denn die Vervollkomm-
nung ſeyn? Nichts als eine ſolche Einrichtung der
Organiſation, vielleicht auch der innern Seelenkraͤfte,
die mehr angenehme Empfindungen hervorbraͤchte. Auſ-
ſer dieſer geſchieht nichts, als etwan dieß, daß mehr
wirkſame Materie in dem Gehirn, oder in dem Ganzen,
was man den Menſchen nennet, aufgehaͤufet wird.
Nach dem pſychologiſchen Syſtem des Hrn. Bon-
nets, des Hrn. Storchs und anderer, wo die Seele
eine zwar unkoͤrperliche, aber bloß empfindende und
das Gehirn belebende, Kraft iſt, kann keine andere Vor-
ſtellung von der Vervollkommnung der menſchlichen Na-
tur gemacht werden, als die zuletzt angefuͤhrte. Die
Vergroͤßerung der Realitaͤten iſt bloß eine Vergroͤße-
rung |an Kraͤften in der Organiſation. Die Seele iſt
an ihrer Urkraft, und an Graden der Selbſtthaͤtigkeit
unveraͤnderlich. Wie ſollten es die einfachen Weſen
nicht ſeyn, die das innere Organ ausmachen? Kann
S s 3alſo
[646]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
alſo die Kraft der Natur erhoͤhet werden, ſo iſt dieß
nur durch eine Vermehrung wirkſamer Weſen moͤglich,
die ſich mit den anfaͤnglichen Beſtandtheilen des Organs
verbinden, und nun das ganze Seelenweſen zu einem
groͤßern Jnbegriff wirkſamer Weſen machen. Dieß
wuͤrde die Erhoͤhung unſerer Selbſtthaͤtigkeit, des Ver-
ſtandes, der Empfindſamkeit und ſo ferner, ausmachen.
Wenn dieſe Philoſophen nun zugleich dieß ihr Seelen-
weſen zu einem unaufloͤslichen Ganzen machen, das ſo
wenig jemals wirklich aufgeloͤſet wird, als die einfache
Subſtanz es werden kann, ſo fließen aus ihrer Hypo-
theſe in Hinſicht der Zukunft dieſelbigen Folgen, wie
aus einer andern. Alsdenn beſteht der ganze Unter-
ſchied zwiſchen ihrer Jdee von der Vervollkommnung
der menſchlichen Natur, und derjenigen, die ich hier
feſtzuſetzen geſucht habe, darinn, daß ſie das zu perfici-
rende Weſen, worinnen zuletzt die Vergroͤßerung des
Reellen, der Kraͤfte und Vermoͤgen geſetzet wird, als
etwas Zuſammengeſetztes ſich vorſtellen, und die Stufen-
erhoͤhung der Vermoͤgen als eine innere Vermehrung an
Materie oder an Theilen, die außer einander und fuͤr
ſich beſtehbare Weſen ſind, erklaͤren; dagegen bey der
andern Vorausſetzung ſolche eine Vergroͤßerung einer
unkoͤrperlichen Groͤße in der Subſtanz der Seele ſelbſt
iſt. Jm uͤbrigen koͤnnen ſie eben ſo von der Vollkom-
menheit der menſchlichen Natur in ihrem Jnnern reden,
und die Vervollkommnung der Seele (des beſeelten Or-
gans) von den Vollkommenheiten im Koͤrper unterſchei-
den, und dieſe auf jene eben ſo beziehen, als nach der
gewoͤhnlichen Jdee von der Seele.
4.
Jener Taͤnzer, der von ſich geſagt haben ſoll, die
Welt habe nur Einen Alexander und nur Einen Veſtris,
dachte etwas zu hoch von der Wichtigkeit ſeiner Kunſt.
Der
[647]und Entwickelung des Menſchen.
Der große Schwimmer auf Otaheite, den die Englaͤn-
der bewunderten, haͤtte wohl ſo etwas aͤhnliches von ſich
denken koͤnnen. Gleichwohl iſt doch auch eine außeror-
dentliche Schaͤtzung außerordentlicher Geſchicklichkeiten
nicht unbeſtimmt zu tadeln, wenn es gleich nur koͤrper-
liche Geſchicklichkeiten find, und zunaͤchſt und faſt allein
nur zum Vergnuͤgen dienen. Unter beſondern Umſtaͤn-
den mag es richtige Empfindung ſeyn, wenn man die
Summen bedauert, die Saͤngern und Taͤnzern gegeben
werden. Aber iſt es deßwegen ſo unangemeſſen, wenn
ein Regent oder die Nation die Geſchicklichkeiten ſeiner
Veſtris, ſeiner Gabrielis, wie ſeiner Garriks, hoch ſchaͤ-
tzet, und hoch bezahlet? Und iſt es wohl allein die
Seltenheit ſolcher Kuͤnſte, die den innern Werth davon,
wenn gleich den Preis, machet? Es verhalte ſich in Hin-
ſicht des letztern, wie es wolle, ſo muß man immer ge-
ſtehen, auch in den koͤrperlichen Fertigkeiten, liege ein
innerer Vorzug an geiſtiger Vollkommenheit, die einen
innern vorzuͤglichen Werth hat. Dieſer ſchaͤtzet das na-
tuͤrliche Gefuͤhl. Die Fertigkeiten durch den Koͤrper zu
wirken ſind zum Theil Fertigkeiten in der Seele, im
Gefuͤhl, in der Einbildungskraft, auch in dem Verſtan-
de, inſoferne große Gegenwart des Geiſtes dazu erfo-
dert wird. Dieß iſt ſo gar von denen wahr, die man
ſonſten zu den ſchoͤnen Kuͤnſten nicht rechnet, weil man
ſie mehr fuͤr koͤrperlich haͤlt. Es iſt eine Regel ohne
Ausnahme: „daß ohne Genie niemand ein Virtuoſe
„wird,‟ es ſey worinn es wolle. Das Mittelmaͤßige
erfodert im Spielen, Tanzen, Fechten, Schwimmen,
Springen, Malen u. ſ. w. eben keinen großen Kopf;
aber hervorragende Fertigkeit iſt nicht moͤglich, wo es
am lebhaften Gefuͤhl und an feuriger Jmagination feh-
let. Es ſollen lange Reihen von Jdeen ſchnell uͤberſe-
hen, lange Reihen kleiner, aber unzaͤhlig mannichfalti-
ger, organiſcher Bewegungen in angemeſſener Staͤrke
S s 4und
[648]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
und Richtung erhalten werden, willkuͤrlich, durch die
Kraft der Seele, die zu ſolchen Wirkungen gewiß nicht
geſchickt ſeyn kann ohne beſondere innere Staͤrke und
Selbſtmacht uͤber ſich, um ſich in ſich ſelbſt zu faſſen
und außer ſich in dem Koͤrper uͤberall gegenwaͤrtig zu
ſeyn. Jn dieſer innern Groͤße an Seelenvermoͤgen be-
ſteht die innere Realitaͤt der Kuͤnſte. Einige ſind frey-
lich mehr koͤrperlich, mehr bloß organiſch, die aber den-
noch, wie erinnert worden, Seelenfertigkeiten erfodern.
Aber in andern, die als Kuͤnſte und ſchoͤne Kuͤnſte
von den mechaniſchen unterſchieden werden, iſt die
große Feinheit und Deutlichkeit der Jdeen ein wichtiger
weſentlicher Beſtandtheil. Die Fertigkeit des Seiltaͤn-
zers und des Schwimmers enthaͤlt beides, eine organi-
ſche Aſſociation von koͤrperlichen Bewegungen und Jdeen-
reihen. Nur ſind die letztern weder ſo lebhaft, noch ſo
auseinandergeſetzt, als diejenigen, die der Virtuoſe in
der Muſik gegenwaͤrtig haben und behalten muß. Dar-
aus folget auch, daß wenn eine Rangordnung in den
Kuͤnſten gemacht werden ſollte, die ihrem innern Ver-
haͤltniſſe entſpraͤche, ſo muͤßte auf die Groͤße des gei-
ſtigen Antheils in ihnen geſehen werden. Je mehr
der Geſchmack aufgeklaͤrt iſt, deſto mehr richtet ſich auch
das Vergnuͤgen, das man aus ihnen hat, nach eben
dieſer Groͤße der Seelenthaͤtigkeit in ihnen. Und dann
wird auch das Urtheil von ihrem Werth dieſem ange-
meſſener. Es ſollte es wenigſtens ſeyn, wenn nicht auf
andere Umſtaͤnde geſehen werden muß. Die Seltenheit
es zu haben, erhoͤhet den Werth des an ſich mindern
Vergnuͤgens. Und bey den mechaniſchen Kuͤnſten
giebt ihre Nothwendigkeit ihnen einen Werth, der ſie,
im Ganzen betrachtet, weit wichtiger macht als die
ſchoͤnen.
5. Aber
[649]und Entwickelung des Menſchen.
5.
Aber wenn es nun Seelenvermoͤgen ſind, die man
mit einander vergleichen will: wo iſt denn das Maß,
die Grade der Vollkommenheit zu beſtimmen, die in ih-
nen liegt? Wonach kann die Groͤße der Seelennatur, wel-
che in einer Form enthalten iſt, mit der in einer andern
verglichen werden? Wir haben zwar eine allgemeine
Regel, daß die Vollkommenheit der Seele deſto groͤßer
ſey, je groͤßer die Summe der Realitaͤten iſt, welche
herauskommt, wenn man die Kraͤfte und Vermoͤgen,
jede einzelnen nach ihrer intenſiven, extenſiven und pro-
tenſiven Groͤße geſchaͤtzet, zuſammennimmt. Was
nutzet aber eine ſolche unbeſtimmte Regel, wenn ver-
ſchiedenartige Kraͤfte, die Empfindſamkeit, die Vor-
ſtellungskraft, die Denkkraft und die Wirkſamkeit in
ſich und außer ſich, eine im Verhaͤltniß zu der andern,
zu wuͤrdigen ſind? Wo iſt z. E. mehr Seelengroͤße,
in dem Dichtungsvermoͤgen, in dem Gedaͤchtniß, oder
in der Ueberlegungskraft? Wenn alle dieſe Kraͤfte zu-
gleich in einem Jndividuum groͤßer ſind als in einem an-
dern, ſo iſt auch ohne Zweifel in jenem eine groͤßere
Menſchheit; aber wie ſoll die Ausgleichung gemacht
werden, wenn einer an dieſer, ein anderer an einer an-
dern, Seite Vorzuͤge hat? Wie wenn Vorzuͤge an Ver-
ſtandeskraft mit Vorzuͤgen am Herzen zu vergleichen
ſind? Welches iſt alsdenn mehr oder weniger ſchaͤtz-
bar? nach welchem Maßſtab, und aus welchem Grunde?
Bis zu einer genauen Vergleichung wird es hierinn nie-
mals kommen. Aber dennoch iſt es fuͤr unſere prakti-
ſchen Urtheile wichtig, daß man den Grund aufſuche,
wornach auch das gemeine Gefuͤhl in ſolchen Faͤllen zu
ſchaͤtzen pfleget. Jſt die Tugend und Rechtſchaffenheit
nicht eine ſchaͤtzbarere Eigenſchaft, als Witz? Jſt der
geſunde Verſtand nicht mehr werth, als ein ſchoͤner Ver-
ſtand? Sollte dieß Urtheil des gemeinen Gefuͤhls und
S s 5der
[650]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt
der Moral wohl unrichtig ſeyn? Und wenn es es nicht
iſt, worauf beruhet es?
„Die groͤßere Modifikabilitaͤt und groͤßere Selbſt-
„thaͤtigkeit der Seele iſt das Unterſcheidungsmerkmal
„der Menſchheit.‟ Jene beſtehet in dem Vermoͤgen
Veraͤnderungen anzunehmen. Je leichter, je mehrere,
je mannichfaltigere, je feſter die Seele ſolche in ſich auf-
nehmen kann, deſto groͤßer iſt extenſive und intenſive
ihre Receptivitaͤt, die hier Empfindſamkeit heißen
mag. Setzen wir dieſe, als ein Vermoͤgen zu beiden,
der Selbſtthaͤtigkeit, als einem Vermoͤgen zu wirken,
entgegen: ſo ſind ſie ſo heterogener Natur, daß keine Ver-
gleichung zwiſchen ihnen ſtattfindet. Allein in| diefer
Abſtraktion kann auch jene nicht einmal fuͤr etwas Poſi-
tives oder fuͤr eine Realitaͤt gehalten werden, woferne
nicht darauf geſehen wird, daß ſie eine Folge von poſi-
tiven und reellen Beſchaffenheiten iſt. Die Vermoͤgen
ſich modiſiciren zu laſſen ſind ſo, wie ſie bey der Seele
ſind, mitwirkende Vermoͤgen und gruͤnden ſich in den
thaͤtigen. Sie gehoͤren alſo zu der Selbſtthaͤtigkeit
der Seele. Wenn man ſie alſo nur nicht bloß in ihrer
formellen Abſtraktion nimmt, ſondern beide ſo nimmt,
wie ſie in concreto in der Seele ſind, ſo laſſen ſie ſich
unter einen gemeinſchaftlichen Begriff von Graden und
Stufen in dem reellen ſelbſtthaͤtigen Princip brin-
gen. Und alsdenn kommt man zu einem allgemeinen
fruchtbaren Grundſatz, der aus der Natur des Men-
ſchen fließet: „Je groͤßer die Selbſtthaͤtigkeit der Seele
„iſt, in deſto groͤßerm Maße iſt das Eigene der Menſch-
„heit vorhanden.‟ Von allen Vorſchriften der Mo-
ral, die ſich auf die Tugend beziehen, iſt dieß am Ende
der Geiſt und die Hauptſumme: Menſch erhoͤhe
deine innere Selbſtthaͤtigkeit.
Jn dem heftigſten Affekt iſt ohne Zweifel, ſowohl
in den Bewegungen der Seele als in den Bewegun-
gen
[651]und Entwickelung des Menſchen.
gen des Koͤrpers, ein hoͤherer Grad der Thaͤtigkeit und
der Bewegung, als bey ſolchen Handlungen, die aus
ruhiger Ueberlegung vollzogen werden. Wenn der
Loͤwe in Wut iſt, und in Wut zerreißet, ſo wirket
eine groͤßere Kraft, als wenn ein Menſch mit voller Ge-
genwart des Geiſtes von ſeinen Armen und Beinen Ge-
brauch machet. Die Groͤße der Thaͤtigkeit iſt fuͤr ſich
nicht das Maß der Selbſtthaͤtigkeit in der Rede.*)
Jn dem Affekt iſt die Bewegung in den Vorſtellungen
heftig, aber ſie kommt mehr aus dem Gehirn als aus
der Selbſtbeſtimmung der Seele, die hier mehr leidet
als thut. Und die Staͤrke des Koͤrpers iſt keine innere
Staͤrke der Seele. Man koͤnnte auch hier noch einmal,
wie oben, den Menſchen von drey verſchiedenen Seiten
betrachten, naͤmlich als Menſchengeſchoͤpf, als Thier
und als Menſch. Jn der Groͤße des Menſchengeſchoͤpfs
koͤmmt auch ſein Koͤrper und deſſen Vollkommenheit in
Betracht. Als Thier beſtehet ſeine Vollkommenheit in
den Vermoͤgen und Kraͤften, die aus der Vereinigung
der beiden Beſtandtheile entſpringen. Allein als Menſch
beſtehet ſeine Groͤße in dem Grade der Empfindlichkeit
und in dem Grade der Selbſtmacht, womit ſeine Seele
aus ihrem eigenen innern Princip etwas zu wirken ver-
mag. „Je mehr alſo ſelbſtthaͤtige Wirkungskraft
„in der Seele iſt, und je mehr die Einrichtung und
„die Kraͤfte der Organiſation zu dieſem Zwecke ſich ver-
„einigen, deſto groͤßer iſt die Menſchheit im Men-
„ſchen.‟
Dieß iſt auch das Maß, deſſen ſich ſowohl der ge-
meine Menſchenverſtand, der nur dem Gefuͤhl folget,
als die entwickelte Vernunft bedienet, und das fuͤr das
richtige erkannt wird, wenn man den Menſchen un-
terſucht.
6. Nach
[652]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
6.
Nach dieſem allgemeinen Grunde ſollte auch als-
denn unſer Urtheil ſich richten, wenn der Werth der be-
beſondern Vollkommenheiten des Geiſtes, des Ver-
ſtandes und des Willens geſchaͤtzet wird. So geſchieht
es auch die meiſten Male in den Ausſpruͤchen des unver-
dorbenen Verſtandes, der ohne Raiſonnement aus ent-
wickelten Grundſaͤtzen, bloß nach Anleitung eines feinen
Gefuͤhls, denket; wenn naͤmlich von dem innern und
abſoluten Werth ſolcher Eigenſchaften die Rede iſt.
Denn was ihren relativen Werth unter gewiſſen Um-
ſtaͤnden und in Hinſicht auf uns ſelbſt betrifft, ſo haͤngt
ſolcher von aͤußern und zufaͤlligen Urſachen ab, wie bey
allen andern Sachen, denen wir einen Werth beylegen.
Dieſen ſetze man hier bey Seite, und ſehe auf das Jn-
nere der Sachen. Warum iſt die hohe Dichtungskraft
eine Vollkommenheit, die wir wie etwas Goͤttliches
ſchaͤtzen? Was giebt ihr ihre innere Wuͤrde, die uns
mit Bewunderung gegen den Mann erfuͤllet, der eine ſol-
che Welt von Jdeen hat ſchaffen und ordnen koͤnnen? Es
iſt offenbar die große innere Staͤrke der Vorſtellungs-
kraft in der Seele. Die Menge und die Groͤße der
Bilder, welche die Phantaſie mit Leichtigkeit gegenwaͤr-
tig haͤlt und bearbeitet, beweiſen die Staͤrke der vor-
ſtellenden Kraft. Aber wenn dieſe nicht als ſelbſtthaͤ-
tiges Seelenvermoͤgen wirket, und durch ihre eigene
Wirkſamkeit Ordnung und Uebereinſtimmung zu einem
Zweck in die Bilder bringet, ſo iſt die Gegenwart der
Bilder, die aus andern Urſachen herruͤhrt, nichts als
eine Art von Raſerey, und das Vermoͤgen ſolche zu
haben nichts weiter, als eine Kraft des Gehirns, oder
des zum Gehirn hindringenden Gebluͤts, wodurch die
Bilder empfundener Gegenſtaͤnde erneuert und unter
einander geworfen werden. Die Vorſtellungen in der
Meßiade, einzeln herausgenommen, in ihre Elemente
aufge-
[653]und Entwickelung des Menſchen.
aufgeloͤſt und dann unter einander in ein Chaos ge-
miſcht, oder nur hie und da in der Ordnung der Em-
pfindung, in der ſie ehedem theilweiſe in die Phantaſie
hineingebracht worden ſind, in kleinere Haufen ver-
ſammlet: was wuͤrde dieß fuͤr ein Ganzes ſeyn, und
welch eine Vollkommenheit ſolchen Unſinn zu traͤumen?
Ein großer Verſtand iſt ein weſentlicher Beſtandtheil
eines großen Genies. Dieß iſt mit andern Worten ſo
viel, als: die thaͤtige Vorſtellungskraft muß aus Ei-
genmacht der Seele ſeyn. Nur dadurch, daß ſie viele,
mannichfaltige, lebhafte und ſtarke Vorſtellungen ſelbſt-
thaͤtig erwecken, aufloͤſen, vermiſchen, nach Abſicht
und Plan ſolche ſtellen und verbinden und ordnen kann,
zeiget ſie ſich als die Schoͤpferkraft, die wahre Seelen-
groͤße iſt. Je mehr dieſe Selbſtthaͤtigkeit in ihrer Wir-
kung ſich offenbaret, deſto lebendiger iſt das Gefuͤhl ih-
rer Groͤße, das uns die Bewunderung und Verehrung
fuͤr das Genie abzwinget.
Eben ſo iſt es Selbſtthaͤtigkeit der Seele und eine
ausnehmende Groͤße derſelben, welche das Weſen der
Tugend ausmacht. Haben die Moraliſten Recht,
wenn ſie die Wuͤrde der Tugend, die Rechtſchaffenheit
des Charakters, als die hoͤchſte menſchliche Vollkom-
menheit ausgeben, und ſie uͤber die Staͤrke des Ver-
ſtandes und uͤber die Lebhaftigkeit der Dichtkraft erhe-
ben: „ſo muß ſie als eine phyſiſche Realitaͤt des Men-
„ſchen betrachtet, ſo groß ſeyn und groͤßer, als die uͤbri-
„gen.‟ So iſt es. Eine genauere Entwickelung ih-
rer Natur lehret, daß ſie in Vergleichung mit andern
den hoͤchſten Grad der innern Selbſtthaͤtigkeit
erfodere. Sie enthaͤlt, man mag die Erklaͤrung der
Tugend einrichten wie man will, zweyerley. Gutar-
tigkeit und Rechtſchaffenheit in den Geſinnungen, unt
Herrſchaft der Seele uͤber ſich ſelbſt. Jenes iſt die
Richtung auf das Gute und Beſte der Menſchheit, das
iſt,
[654]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
iſt, auf das Wohl unſerer ſelbſt und anderer, wozu als
zu einem Brennpunkt die verſchiedenen Selbſtbeſtimmun-
gen des Willens in dem Tugendhaften zuſammenlaufen.
Die letztere beſtehet in dem ſelbſtthaͤtigen Vermoͤgen, die
Kraͤfte, Triebe und Beſtrebungen mit innerer Freyheit
zu dieſem Ziel zu lenken und anzuwenden. Wenn der
Dichter vielbefaſſende Vorſtellungen bearbeitet, der Be-
obachter Gefuͤhle und Empfindungen, und der Denker
allgemeine Begriffe: ſo wirkt in allen dieſen Thaͤtigkeiten
die innere Selbſtmacht der Seele. Aber die Vorſtel-
lungen bey dieſen letzterwaͤhnten Arbeiten, die das Objekt
der wirkſamen Kraft ſind, moͤgen immer ihre Staͤrke
und Lebhaftigkeit haben und in ſo weit eine ſtarke Kraft
erfodern, die ſie ſtellen und regieren ſoll: ſo kommen ſie
doch in dieſem Stuͤck denen nicht gleich, welche bey der
Ausuͤbung der Tugend uns vorliegen. Hier ſind es
mehr intereſſante Vorſtellungen, die ſich auf uns ſelbſt
beziehen, auf das Gemuͤth wirken und uns bewegen.
Die ideelle Welt des Dichters beſteht in Dichtungen,
von denen er weiß, daß ſie ſeine Geſchoͤpfe ſind; fuͤr
ſich ſind es Sachen, die ihn nichts angehen. Desglei-
chen ſind auch die Gegenſtaͤnde des Beobachters und des
Denkers Dinge, die ihm fuͤr ſich gleichguͤltig ſind, und
deren Verhaͤltniſſe und Beziehungen man ſo nimmt,
wie man ſie findet, die auch anders ſeyn moͤchten, als
ſie ſind, ohne uns unmittelbar zu ruͤhren. So bald
ſie unſere Eigenliebe erregen, uns afficiren und auf un-
ſere Triebe wirken, ſo gehoͤret die Kraft, die ſie maͤßi-
get und leitet, zu der Selbſtthaͤtigkeit, welche Tugend
iſt. Die Kraft des Dichters regieret große Vorſtellun-
gen; aber die Selbſtmacht des Tugendhaften beherr-
ſchet Empfindungen und dunkele ſinnliche Vorſtellun-
gen, die faſt durchaus in Ruͤhrungen beſtehen, den Wil-
len motiviren und zu Affekten hervordraͤngen. Laß in
einzelnen Faͤllen die Dichtkraft eben ſo ſtarke Arbeit ha-
ben
[655]und Entwickelung des Menſchen.
ben als die ſelbſtthaͤtige Tugend, ſo iſt es doch außer
Zweifel, daß die letztere im Ganzen einen ſo viel groͤßern
Grad an Selbſtmacht der Seele enthalte, als mehr da-
zu erfodert wird, anſchauliche Jdeenreihen von intereſſi-
renden Objekten zu erwecken und, wie es dienlich iſt, zu
verdunkeln, und dann die aufſteigenden Triebe der thaͤti-
gen Kraft einzuſchraͤnken, zuruͤckzuhalten und zu unter-
druͤcken, nachdem erkannte Pflicht und Rechtſchaffen-
heit es heiſchet, als zu den Beſchaͤftigungen des Dich-
ters und den Spekulationen des Philoſophen nicht noͤthig
iſt. Die gemeine Sentenz: wer ſich ſelbſt bezwingen
koͤnne, ſey ſtaͤrker als der, der Voͤlker uͤberwindet und
Veſtungen erobert, enthaͤlt eine große pſychologiſche
Wahrheit.
Die Kunſt ſich zu verſtellen, die in der Ge-
ſchicklichkeit beſtehet, die Ausbruͤche der innern Geſin-
nungen und Begierden in Worten, in Mienen, Augen-
bewegungen und Geberden zuruͤckzuhalten, erſodert
alsdenn, wenn der Affekt in dem Jnnern ſchnell entſteht,
ohne Zweifel eine vorzuͤgliche Gegenwart des Geiſtes.
Es ſoll ein Strom in ſeinem Lauf gehemmet werden, der
ſich mit Heftigkeit ergießet. Jn ſo weit iſt die Ver-
ſtellungskunſt eine große Kunſt. Eine Unwahrheit in
Worten zu ſagen iſt leicht; aber die Augen und das
Geſicht etwas anders ſagen laſſen, als in der Seele ge-
genwaͤrtig iſt, erfodert zugleich eine Gewalt uͤber die
Vorſtellungen, deren Gegenwart verhindert werden muß.
Aber dennoch haͤngt die ganze innere Groͤße dieſer Kunſt
bloß von der Gewalt uͤber ſich ſelbſt ab, welche ſie erfo-
dert. So ferne iſt ſie der Tugend aͤhnlich. Aber dieſe
Aehnlichkeit liegt auch nur oben auf, und iſt nichts mehr
als eine Larvenaͤhnlichkeit. Die Gewalt uͤber die aͤußern
Ausbruͤche der Leidenſchaften iſt das Wenigſte von der
Gewalt uͤber die Leidenſchaften ſelbſt. Sie hat die Tiefe
und Staͤrke der letztern nicht, und iſt ſo ſchwer nicht zu
erler-
[656]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
erlernen, da ſie ſelbſt durch eine innere Leidenſchaft un-
terſtuͤtzet wird. Sie kann mit der Seelenſtaͤrke in der
Tugend nicht anders verglichen werden, als die Maske
mit der Perſon. Die Tugend beſteht nicht allein dar-
inn, daß eine Leidenſchaft durch eine andere gebaͤndiget
wird; denn dieß iſt nur eine Nothhuͤlfe der noch unge-
ſtaͤrkten Tugend: ſondern darinn, daß die Seele, bloß
durch die Vorſtellung von dem, was Recht und Pflicht
iſt, geſtaͤrkt, ſchon in ſich ſelbſt die Kraft beſitze, ihre
Jdeenreihen und Bewegungen im Jnnern zu ſtaͤrken,
zu ſchwaͤchen und zu lenken.
Dieſe innere Selbſtmacht der Seele uͤber ihre Em-
pfindniſſe und Triebe, dieß Vermoͤgen nach deutlichen
Jdeen ſie zu regieren, iſt das Weſen und der wahre Geiſt
der Tugend. Wenn man ihr dieſe entzieht, ſo bleibet
zwar noch die Gutartigkeit der Triebe und Begierden,
ihre Harmonie unter ſich, und mit der Zufriedenheit
des Menſchen und mit dem Wohl der Geſellſchaft,
uͤbrig, und beſitzet einen großen, beſonders relativen,
Werth, und es iſt auch deswegen als das zweyte weſent-
liche Stuͤck der Tugend zu betrachten. Aber dennoch iſt
dieß letztere fuͤr ſich allein nur der Koͤrper, nur das Ve-
hiculum der Tugend. Wo es allein iſt, da macht es
nur Temperaments-und Gewohnheitstugend aus, die
ein Gluͤck fuͤr ihren Beſitzer iſt, nur das Gut des ſelbſt-
thaͤtigen Weſens nicht iſt, was in der wahren Tugend
liegt. Dieſe muß, ſo unvollkommen auch menſchliche
Tugenden ſeyn moͤgen, doch wenigſtens in einigem
Grade, das Vermoͤgen nach Vernunftideen von dem,
was gut iſt, ſich zu beſtimmen enthalten. Und nach
dieſem Grade richtet ſich ihr innerer, abſoluter Werth
am meiſten. Wenn man alles herausziehen wuͤrde,
was hiezu gehoͤret, ſo koͤnnte nichts uͤbrig bleiben, als
eine gewiſſe Beziehung der natuͤrlichen Empfindniſſe, der
Jdeen und der ihnen entſprechenden Diſpoſitionen der
thaͤtigen
[657]und Entwickelung des Menſchen.
thaͤtigen Kraft auf die Zufriedenheit und auf das Wohl
der Menſchen. Eine ſolche natuͤrliche oder erworbene
Stimmung in dem Jnnern iſt und bleibet, fuͤr ſich ſelbſt
betrachtet, eine Vollkommenheit, iſt eine Urſache ange-
nehmer Empfindungen, und alſo in mehr als einer Hin-
ſicht eine Realitaͤt des Menſchen. Jſt ſie erworben,
mehr als bloßes natuͤrliches Verhaͤltniß, ſo iſt ſie eine
Wirkung erhoͤheter Selbſtthaͤtigkeit, und enthaͤlt alſo
auch das erſte Stuͤck der Tugend. Fehlet ſie, ſo iſt
dieß ein ſichrer Beweis, daß die Leidenſchaft regieret
und der Geiſt ſchwach iſt. Denn auch die großen klu-
gen Boͤſewichter ſind im Jnnern zerruͤttet, und an der
vornehmſten Seite der Seele Ohnmaͤchtige, phyſiſch
Schwache. Bosheit iſt wahre Schwaͤche an Selbſt-
thaͤtigkeit. Und dennoch macht dieſe Gutartigkeit das
Reelle der Tugend nicht aus. Es kann ſogar, wo ſie
allein ohne Selbſtthaͤtigkeit iſt, eine Quelle von Unvoll-
kommenheiten und Uebeln ſeyn. Jſt natuͤrliche Gutar-
tigkeit da, ſo iſt ein beſſerer Boden da fuͤr die Tugend.
Wo von Natur ein feineres Gefuͤhl iſt, da ſprießt auch
die natuͤrliche Humanitaͤt hervor, die den Menſchen zu
vielen Tugendfertigkeiten naͤher aufgelegt macht, als an-
dere es ihrer natuͤrlichen oder von Jugend auf ihnen ein-
gepflanzten Hartherzigkeit wegen nicht ſind. Man kann
dieſelbige Erinnerung bey allen beſondern Tugenden, bey
dem Muth, der Gerechtigkeit, der Maͤßigkeit u. ſ. f.
wiederholen. So eine gluͤckliche Sache die naͤher da-
hin fuͤhrenden Anlagen der Natur ſind, ſo ſind dieſe fuͤr
ſich doch nur gewiſſe Formen des Kopfs und des Her-
zens, die auf gewiſſen feſtgeſetzten Jdeenaſſociationen
beruhen, wie die Gewohnheiten. Und inſoferne ſie nur
dieß ſind, gehoͤren ſie eben ſo viel zu der Organiſation,
als zu der Seele ſelbſt, die dadurch noch keine innere
vorzuͤgliche Groͤße an Selbſtmacht beſitzet. Jch rede
nicht von der Schwaͤche der menſchlichen Tugend, ſon-
IIBand. T tdern
[658]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dern von ihrer Natur. Die eine Nation iſt gaſtfrey,
leutſelig, dienſtfertig; die andere zeichnet ſich durch ih-
ren Haß gegen Fremde aus. Man kann daraus allein
nicht ſchließen, daß jene groͤßere Menſchen ſind, als dieſe.
Nur ſoferne dieſe Tugenden wahre Tugenden ſind, und
in groͤßerer Staͤrke des Gefuͤhls und der Selbſtthaͤtig-
keit der Seele beſtehen, das iſt, ſoferne ſie Wirkun-
gen der Vernunft ſind, beweiſen ſie auch, daß ihre
Beſitzer innerlich groͤßere und vollkommnere Menſchen
ſind. Das zahm gemachte, abgerichtete, thaͤtige Men-
ſchenthier iſt von dem ſich ſelbſt bezaͤhmenden, regie-
renden und aus Eigenmacht der Seele wirkſamen, Men-
ſchen ſehr unterſchieden. Nur die innere Geiſtesgroͤße
iſt es, die den Weiſen zu dem erhabenſten und hochach-
tungswuͤrdigſten der ſichtbaren Geſchoͤpfe Gottes macht.
7.
Es giebt noch einen andern Geſichtspunkt, woraus
die Tugend, der Verſtand und die ſtarke Vorſtellungs-
kraft mit einander verglichen werden koͤnnen. Herr
Wieland hielt den Geiſt des Shakeſpear fuͤr groͤßer
als den Geiſt des Newton. Aber welch eine Wage und
welche Gewichte gehoͤren dazu, zween ſolche Geiſter gegen
einander abzuwaͤgen. Hat Hr. Wieland Newtons
eindringende Vernunft ſo anſchaulich gekannt, als die
vordringende Phantaſie des Shakeſpear? Jch
glaube, er habe den Ausſpruch des gemeinen Verſtan-
des gegen ſich. Ein tiefer Verſtand erreget, ich meyne,
wenigſtens bey den meiſten, einen hoͤhern Grad der
Hochachtung als eine vielſeitige und ſtarke Vorſtellungs-
kraft; ſo wie hohe Tugend noch uͤber den hohen Ver-
ſtand geachtet wird. Alle Seelenvermoͤgen haͤngen zum
Theil von der Organiſation des Koͤrpers ab, und ſind
von dieſer Seite betrachtet koͤrperlich; aber ſie ſcheinen
es doch nicht alle in gleicher Maße zu ſeyn. Die Leb-
haftig-
[659]und Entwickelung des Menſchen.
haftigkeit und Staͤrke der ſinnlichen Vorſtellungskraft
beruhet noch in einem Grade mehr auf der Beywirkung
des Gehirns, als der hoͤhere Verſtand und als die Tu-
gend. Es iſt ſchwer und faſt unmoͤglich, den Antheil
von jedem beſtimmt anzugeben. Allein ſo viel iſt doch
gewiß, daß deutliche Jdeen mehr eine Wirkung von
dem innern ſelbſtthaͤtigen Princip der Seele ſind, als
undeutliche und verwirrte; und daß uͤberhaupt Jdeen
und Begriffe, inſoferne ſie Gedanken ſind, mehr von
der Eigenmacht der Seele herruͤhren, als inſoferne ſie
in bildlichen Vorſtellungen beſtehen. Das Hauptge-
ſchaͤffte der Vernunft iſt dieß, daß ſie Beziehungen und
Verhaͤltniſſe macht, und Deutlichkeit bewirket. Da-
durch bearbeitet ſie die Empfindungen und die Bilder.
Dagegen iſt das Hauptgeſchaͤffte der Phantaſie und der
Dichtkraft, daß ſie Bilder aufnimmt, erwecket, trennet,
aufloͤſet, verbindet und zuſammenſetzet. Zu dieſem iſt
der Beytrag des Organs groͤßer, als zu den Aktionen der
eigentlichen Denkkraft, worinn die Wirkungen des Ver-
ſtandes und der Vernunft beſtehen. Jndeſſen reichet
dieſes noch nicht weiter, als daß man nur uͤberhaupt
den Verſtand mehr als die Dichtkraft, und die Tugend
mehr als den Verſtand, fuͤr eine eigentliche Wirkung der
Selbſtthaͤtigkeit anſehen koͤnne. Es iſt aber lange nicht
genug, um in einzelnen Faͤllen uͤber verſchiedenartige
Genies, wie Shakeſpear und Newton, zu urtheilen.
Dieß wird ſich noch deutlicher zeigen, wenn vorher auch
die innere Groͤße der Seele, die in der Empfindſam-
keit — nicht Ueberſpannung, welche Schwaͤche iſt, —
lieget, nach demſelben allgemeinen Grundſatz vergli-
chen iſt.
Die Vermoͤgen, welche wir als bloße Empfaͤng-
lichkeiten anſehen, wie das Gefuͤhl und die Empfind-
ſamkeit, halten wir, wie oben erinnert iſt, nicht wei-
ter fuͤr innere Realitaͤten der Seele, als inſoferne ſie
T t 2ſelbſt
[660]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſelbſt in thaͤtigen Vermoͤgen etwas zu wirken beſtehen,
oder darinn ihren Grund haben. Denn daß z. B. die
Seele von den Eindruͤcken des Lichts modificirt werden
kann, hat ſeine Urſache in den Werkzeugen des Geſichts,
wenigſtens ſo ſehr, daß, was nun außer dieſem in der
innern Modifikabilitaͤt an poſitiver Beſchaffenheit enthal-
ten iſt, ein thaͤtiges Vermoͤgen ſeyn muß, gegen ſolche
Eindruͤcke zuruͤckzuwirken und ſie aufzunehmen. So
ſehen wir uͤberhaupt die groͤßere oder ſchwaͤchere Modi-
fikabilitaͤt der Seele mehr als eine Folge von der Orga-
niſation an, als von einer groͤßern oder geringern Quan-
titaͤt in der Urkraft der Seele; und inſoferne wir auf
dieſe letztere zuruͤckgehen, ſo iſt es die Groͤße der Selbſt-
thaͤtigkeit, die auch hier der Empfaͤnglichkeit ihre Rea-
litaͤt giebt.
Da nun aber dieſe Modifikabilitaͤt, und das davon
abhaͤngende Gefuͤhl, und die Empfindſamkeit doch mehr
von der Bey[w]irkung des Koͤrpers in ihren Aeußerungen
abzuhangen, und alſo nicht in gleicher Maße ſelbſtthaͤti-
ge Seelenwirkungen zu ſeyn ſcheinen, als es die thaͤtige
Vorſtellungskraft, die Vernunft und die Freyheit im
Handeln iſt: ſo iſt ein richtiger Grund vorhanden zu der
Rangordnung der menſchlichen Vollkommenheiten, die
der gemeine Verſtand macht, der die Fertigkeiten zu fuͤh-
len und zu empfinden im Durchſchnitt unter den uͤbrigen
ſetzt. Es iſt dieſelbige Grundkraft der Seele, welche
ſich als Gefuͤhl oder Empfindungskraft, als Vorſtel-
lungskraft, als Denkkraft und als thaͤtiger Wille von
verſchiedenen Seiten beweiſet; allenthalben in Verei-
nigung mit dem Koͤrper und durch deſſen Beywirkung,
aber doch ſo, daß dieſelbige Grundkraft in der Seele
einen ſtaͤrkern Antheil an der ganzen Aktion in dem ei-
nen Fall als in dem andern hat. „Von dieſer Seite
„machen wir alle Vollkommenheiten gleichartig, indem
„wir
[661]und Entwickelung des Menſchen.
„wir ſie als verſchiedene Grade oder Stufen einer und
„derſelbigen abſoluten Realitaͤt betrachten.‟
Dieß reichet bey weitem nicht hin verſchiedenartige
Genies zu vergleichen, wie in den erwaͤhnten Faͤllen.
Jn jedem Genie wirken alle Kraͤfte der Seele zuſam-
men. Die Grundkraft iſt uͤberall beſchaͤfftiget, nur daß
die Seiten verſchieden ſind, an denen ſie hervorgehet.
Sie wirket hier in groͤßerer Ausdehnung, dort mit
groͤßerer Staͤrke, dort haͤlt ſie laͤnger an. Wenn Sha-
keſpear eine Welt von Bildern, und von weitbefaſ-
ſenden Bildern bearbeiten, und nicht bloß mit der Vor-
ſtellungskraft bearbeiten, ſondern auch mit der Reflexion
Licht und Deutlichkeit in ſie bringen, und ihre entfern-
teſten und verſteckten Aehnlichkeiten mit einem Blick
gewahrnehmen ſoll: ſo muß Newtons Geiſt die zwar
feinern, aber auch einfachern, Begriffe des Verſtandes
anhaltend und mit großer intenſiver Staͤrke auseinan-
derloͤſen. Wo iſt hier ein Maßſtab, die Groͤße der Wirk-
ſamkeit in beiden zu meſſen und zu ſagen, wo mehr oder
weniger iſt? Nur wenn die ganze Wirkſamkeit im
menſchlichen Seelenweſen in beiden gleich waͤre, ſo
koͤnnte man hinzuſetzen, es ſey die Selbſtthaͤtigkeit der
unkoͤrperlichen Seele in dem letztern groͤßer als in dem
erſtern. Wenn man |dem feinen Gefuͤhl und dem
großen Beobachtungsgeiſt, ingleichen dem Vorzug am
Gedaͤchtniß, Gerechtigkeit widerfahren laſſen will: ſo
muß auf eine aͤhnliche Art auf alle Dimenſionen, wor-
innen die Grundkraft ſich dabey beweiſet, geſehen wer-
den. Ueberhaupt erhellet hieraus, daß es noch wohl
angehe, ein Genie einer Art mit einem Genie derſelbigen
Art zu vergleichen; das Empfindſame mit dem Empfind-
ſamen; ein Dichtergenie mit einem andern; ein philo-
phiſches mit einem philoſophiſchen, und ein thaͤtiges mit
einem thaͤtigen. Dieſe Vollkommenheiten ſind homogen.
Aber ungleichartige Vorzuͤge koͤnnen nicht anders gegen-
T t 3einander
[662]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
einander geſchaͤtzet werden, als durch eine Reduktion auf ein
allgemeines Maß, das wir nicht anwenden koͤnnen. Wenn
uns dieſe Betrachtung nicht lehret den Menſchen gegen
den Menſchen zu meſſen: ſo wird ſie doch zur Beſcheiden-
heit und Demuth fuͤhren koͤnnen, wenn es unſerer Eigen-
liebe einfaͤllt uns, einiger Vorzuͤge an Einer Seite we-
gen, ſo hoch uͤber andere Menſchen wegzuſetzen.
8.
Es iſt faſt nicht moͤglich, wenn man die Menſchheit
in ihren mannichfaltigen Formen uͤberſieht, und beſonders,
wenn die Abſicht dabey iſt pragmatiſche Folgerungen
uͤber das, was wahres Gut in ihr iſt, aus der Betrach-
tung abzuziehen, daß uns nicht die Frage aufſtoßen ſoll-
te: worinn eigentlich der Werth unſers Wiſſens
und der Erkenntniß, und was hier noch mehr zu-
ruͤck iſt, der Wahrheit beſtehe? und nach welchen
Grundſaͤtzen ſolcher zu ſchaͤtzen ſey? Allein es iſt ſchon
genug hieruͤber geſagt, und die Sache faſt ſo voͤllig eroͤr-
tert, daß ich nur einiges, ſo viel mein gegenwaͤrtiger
Zweck nothwendig macht, davon ausziehen darf. Die
Wahrheit iſt von einem unendlichen Werthe fuͤr uns.
Dieß kann nicht genug geſagt werden, um der Gleich-
guͤltigkeit willen gegen ſie. Aber dennoch iſt ſie es nur
in gewiſſen Hinſichten, und mit Einſchraͤnkungen. Dieß
kann auch nicht genug geſagt werden, um des Fanatis-
mus willen.
Jede Kenntniß, jede Jdee, jede Vorſtellung macht,
als eine Form der Seele, fuͤr ſich die Vorſtellungskraft
aufgelegter andere zu faſſen, die mit ihr Aehnlichkeit
haben und ſich auf ſie beziehen. Jn ſoweit iſt ſie eine
Verſtaͤrkung der Seelenvermoͤgen. Jede Jdee erreget
auch Empfindungen, die theils unmittelbar angenehm
oder widrig, oder auch einen Einfluß auf das Herz ha-
ben, und alſo Bewegungsgruͤnde zu weitern Thaͤtigkei-
ten
[663]und Entwickelung des Menſchen.
ten und Faßungen des Gemuͤths werden. Die Kennt-
niß hat alſo, außer ihrem theoretiſchen Nutzen, den ſie
darinn leiſtet, daß ſie zur Einſicht anderer Dinge dien-
lich iſt, auch noch die unmittelbare praktiſche Wir-
kung, daß ſie die Summe des Vergnuͤgens oder des
Verdruſſes vermehret; und dann die mittelbare, daß,
da ſie Furcht oder Hoffnung, Muth oder Niederſchla-
genheit, giebet, zur Wirkſamkeit reizet und die innere
Vervollkommnung der Seele befoͤrdert.
Ein Theil von dieſen Wirkungen und Folgen be-
ruhet darauf, daß die Kenntniß eine Kenntniß von be-
ſtimmten Sachen iſt. Ein anderer aber, und beſon-
ders ihr Einfluß auf die Ausbildung der Verſtandeskraͤf-
te, hat nicht ſowohl darinnen ſeinen Grund, daß wir
uns gewiſſe Gegenſtaͤnde vorſtellen, als vielmehr in den
zugleich erhaltenen Vorſtellungen von den Denkarten
und Denkthaͤtigkeiten, wodurch die Vermoͤgen der Ver-
ſtandskraft zu Fertigkeiten erhoben werden. Daher iſt
es leicht zu erklaͤren, wie die Erhoͤhung und Ausbildung
des Verſtandes, und die Vermehrung und Aufhaͤu-
fung von Gelehrſamkeit, zwey unterſchiedene Dinge
ſind, die nicht oͤfters in einem gleichen Verhaͤltniſſe ne-
ben einander gehen. Es giebt eine Grenze, uͤber wel-
che hinaus der Kopf mit gelehrter Kenntniß uͤberladen
wird. Alsdenn leidet der natuͤrliche Menſchenverſtand
durch die zu große Aufſammlung von Jdeen im Ge-
daͤchtniß, und wird mehr davon geſchwaͤcht als geſtaͤr-
ket. Die Menge der Vorſtellungen ſchadet der Deut-
lichkeit und Ordnung, und die uͤbertriebene Begierde
nach Sachkenntniſſen wird eine Veranlaſſung, daß die
zuruͤckbleibenden Spuren von den Denkarten, das iſt,
die Vorſtellungen von den Aktionen der Kraͤfte, weniger
bearbeitet, und alſo die Kraͤfte ſelbſt weniger entwickelt
und geſtaͤrket werden. Schulwitz kann den Mutterwitz
ſchwaͤchen.
T t 4Wenn
[664]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Wenn dieß uͤberhaupt die Wirkung der Kenntniß
auf den Menſchen iſt, was hat denn die wahre vor der
falſchen voraus? Was hat der Verſtand oder das
Herz der neuern Aſtronomen, die ſich das Weltgebaͤude
nach dem richtigern kopernikaniſchen Syſtem vorſtellen,
vor dem Kopf und dem Herzen der Alten voraus, die
noch die Erde zum Mittelpunkt machten, und die Son-
ne um jene laufen ließen? Jn dem Verſtande des ei-
nen iſt eine Modifikation, wie in dem Verſtande des an-
dern. Jſt dieſer Unterſchied aber mehr als eine Ver-
ſchiedenheit in dem Gepraͤge zwoer Muͤnzen, deren
innerer Werth dadurch weder groͤßer noch kleiner wird?
Jſt der innere Umfang, die Staͤrke, die Deutlich-
keit, die Lebhaftigkeit, die Tiefe, bey einer wahren und
falſchen Jdee, bey einem richtigen und unrichtigen Ur-
theil, von gleicher Groͤße: ſo hat doch der wahre Ge-
danke, bloß in Ruͤckſicht auf den Verſtand betrachtet, an
ſich ſo viel vor dem falſchen voraus, daß er den kuͤnfti-
gen Anwachs wahrer Einſichten erleichtert, und dadurch
zu einer Quelle von angenehmen Empfindungen wird,
die aus der Uebereinſtimmung der Vorſtellungen ent-
ſpringet. Jndeſſen kann im uͤbrigen der eine ſo viele
Beſchaͤfftigung und Nahrung fuͤr den Verſtand erhal-
ten, als der andere. Der Vorzug iſt, alles uͤbrige auf
beiden Seiten gleich genommen, und den Einfluß aufs
Herz und auf die Handlungen bey Seite geſetzet, ohne
Zweifel auf der Seite der Wahrheit. Wenn auch
gleich ein Jrrthum zu neuen Jrrthuͤmern, alſo zu neuen
Gedanken, leitet, wie eine Wahrheit zu neuen Wahrhei-
ten: ſo iſt es doch am Ende ein unabaͤnderliches Schick-
ſal des Jrrthums, daß er in Widerſpruͤche mit ſich ſelbſt
geraͤth, wenn anders der Verſtand in ſeinen Kenntniſ-
ſen fortgehet. Dieß verurſachet Verdruß, der mit der
Wahrnehmung des Widerſpruchs und mit dem Be-
wußtſeyn, daß man ſich geirret habe, verbunden iſt.
Jndeſſen
[665]und Entwickelung des Menſchen.
Jndeſſen kann auch auf der andern Seite die falſche
Vorſtellung, eben weil ſie falſch iſt und ſich mit an-
dern Kenntniſſen, die nach und nach hinzukommen,
nicht vertraͤgt, ein deſto groͤßerer Reiz fuͤr die Reflexion
ſeyn ſich ſtaͤrker anzuſtrengen, um aus ihrer Verlegen-
heit herauszukommen. Aber dieß iſt doch nur ein zu-
faͤlliger Vortheil, den die Wahrheit in groͤßerer Maße
auch leiſten kann. Es bleibet doch immer die wahre
Vorſtellung ein fruchtbarer Saamen, der nuͤtzliche
Fruͤchte traͤgt, die man ſuchet; dagegen die falſche,
wenn ſie fruchtbar iſt, Unkraut im Verſtande hervor-
bringet. Allein, ſo wie man nicht ſagen kann, daß das
Unkraut an ſich ein unvollkommneres Gewaͤchſe iſt, als
das Kraut, wenn man nicht auf den Nutzen fuͤr Men-
ſchen ſiehet, ſo kann man auch nichts mehr uͤber den
Vorzug der Wahrheit vor dem Jrrthum ſagen, von der
Seite betrachtet, wie beide auf den Verſtand wirken,
als daß jene kuͤnftig ein Vergnuͤgen mehr gewaͤhren wer-
de als dieſer, oder doch uns einen Verdruß erſparen,
den wir bey dem Jrrthume uͤber kurz oder lang empfin-
den muͤſſen; vorausgeſetzt, daß der Jrrende bey ſei-
nem Jrrthume ſich der Sache eben ſo gewiß haͤlt, als
der die wahre Kenntniß hat. Wahrheit oder Einbil-
dung, Glaube oder Aberglaube, richtige oder falſche
Vorurtheile, wenn man nicht auf die Folgen ſieht, die
ſie auf das Gemuͤth und aufs Herz haben, ſo iſt dasje-
nige, wovon ihr abſoluter Werth beſtimmt werden kann,
mehr ihre innere Form, die ſie als Kenntniß haben, als
das Unterſcheidende, was ſie als Wahrheit haben. Wie
viel mehr oder weniger ſind ſie Modifikationen der Er-
kenntnißkraͤfte? Wie reichhaltiger, voller, ſtaͤrker ſind
ſies, und wie viel mehr oder weniger beſchaͤfftigen,
uͤben und erhoͤhen ſie die phyſiſchen Kraͤfte des Verſtan-
des, die unmittelbar bey ihrer Bearbeitung wirken?
So weit entwickeln und erhoͤhen ſie den Menſchen von
T t 5dieſer
[666]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dieſer Seite. Jſt die innere Groͤße, der Umfang und
der Jnhalt, die Deutlichkeit und Ordnung der Vorſtel-
lungen und Gedanken dieſelbige, ſo wird, in dieſer Ab-
ſtraktion betrachtet, ein Jrrthum ſo viel Realitaͤt enthal-
ten koͤnnen, als eine Wahrheit.
Es iſt gar nicht unnuͤtz, beide einmal in dieſer Ab-
ſtraktion zu vergleichen. Hat gleich jede Kenntniß in
jedem Jndividuum, außer ihrem innern Gehalt, auch
ihre Folgen auf die Empfindungen, auf das Gemuͤth
und auf die thaͤtigen Kraͤfte mittelbar oder unmittelbar,
und iſt alſo auch jedesmal mehr oder minder, auf eine
naͤhere oder entferntere Art, pragmatiſch: ſo giebt es
doch viele wichtige Faͤlle in der Geſchichte der Menſch-
heit, wo der obige Grundſatz gebraucht werden kann,
und gebraucht werden muß, wenn man richtig urthei-
len will. Es koͤnnen Kenntniſſe gleichguͤltig ſeyn, wenn
ſchon nicht im genaueſten Verſtande, doch ſo weit, daß
ihr Unterſchied unerheblich iſt; und die eine iſt richtig,
die andere unrichtig. Da iſt jener Grundſatz, der
ihren innern Werth beſtimmt. Es koͤnnen ferner wich-
tige pragmatiſche Kenntniſſe, ſo gar ſolche, die, wegen
ihres vorzuͤglichen und nahen Einfluſſes auf die Empfin-
dungen und auf die Einrichtung des Menſchen, im
Verſtande und Willen, auf einzelne Perſonen und
auf die Geſellſchaft, vorzuͤglich pragmatiſche heißen
muͤſſen, in dieſen ihren Wirkungen einander gleich ſeyn,
obſchon wiederum die eine eine Wahrheit, und die andere
ein Jrrthum iſt. Vergleichen wir denn hier den Werth der
Wahrheit mit dem Werth des Jrrthums, ſo wuͤrde,
dieſes letztern Einfluß gleich geſetzet, der Vorzug der er-
ſtern darinn beſtehen, daß ſie nicht veraͤndert werden
duͤrfte, dagegen bey dem Jrrthum der Traum nicht
ewig dauern kann. Jm uͤbrigen aber wird, unter derſel-
bigen Vorausſetzung, der obige Grundſatz zur Beſtim-
mung ihrer innern Realitaͤt gebraucht| werden muͤſſen.
Als-
[667]und Entwickelung des Menſchen.
Alsdenn laͤßt ſich, nach dem ſchon erwehnten Gleichniß,
die Eine wie die andere, als eine Form, oder ein Ge-
praͤge des Verſtandes anſehen, wovon der Werth des
Metalls zu unterſcheiden iſt. Nur zuweilen iſt jenes,
wegen ſeiner relativen Vollkommenheit, mehr als die
Materie ſelbſt werth.
Nun koͤnnen wir zwar, wenn wir die Kenntniſſe der
Menſchen ſo nehmen, wie ſie ſind, ſelten ſolche Faͤlle
finden, wo man annehmen duͤrfte, daß die Folgen und
Wirkungen auf ihre Vervollkommnung nicht beſſer und
nicht ſchlechter geweſen waͤren, wenn ſtatt der wahren
Jdee eine falſche, und umgekehrt, im Verſtande gele-
gen haͤtte. Aber dagegen ſind die Faͤlle deſto haͤufiger,
und man kann ſagen, es iſt allgemein: „daß ſo wohl
„die Gluͤckſeligkeit, als die Vervollkommnung, mit ihrem
„Gegentheil in einem ganz andern Verhaͤltniſſe ſtehe,
„als die Wahrheit und Falſchheit in den Kenntniſſen.‟
Und dieß nicht bloß zufaͤllig, weil ſie ſolche nicht anwen-
den, wie ſie doch koͤnnten, ſondern auch da, wo ſo viele
Folgen und Vortheile aus ihnen gezogen werden, als
es naͤmlich nach der Beſchaffenheit des Verſtandes und
der uͤbrigen innern und aͤußern Umſtaͤnde angeht. Denn
davon, was an und fuͤr ſich wohl moͤglich waͤre, kann
nicht die Rede ſeyn. Man ſehe zum Beyſpiel nur dar-
auf, was die wahre und falſchen Religionen auf den groͤß-
ten Haufen der Menſchen fuͤr Wirkungen haben, und
natuͤrlicher Weiſe, wenn man auf ihren Zuſtand Ruͤck-
ſicht nimmt, haben koͤnnen. Man wird finden, keine
iſt durchaus unfruchtbar; es ſind dieß die allerangele-
gentlichſten Kenntniſſe; und die Faͤlle, wo ſie ſo viel
wie faſt nichts wirken, wollen wir nicht in Anſchlag brin-
gen. Aber findet man, daß der innere Vorzug an
Menſchheit da ſo viel groͤßer iſt, wo die Vorſtellungs-
kraft von richtigen, als da, wo ſie von falſchen, Formen
beſetzet iſt? Wie viele macht die wahre Kenntniß, in
ſoferne
[668]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſoferne ſie wahr iſt, neugieriger und nachforſchender,
oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, weiſer, kluͤger,
gerechter, maͤßiger, gefaͤlliger, freundſchaftlicher? Es
iſt der unausloͤſchliche Vorzug der Wahrheit, daß ſie
zu dieſen gluͤcklichen Wirkungen die Urſache enthalte;
aber ſo ſie genommen, wie ſie in den meiſten Menſchen
iſt, hat ſie dieſe Folgen nicht ſo, daß der Jrrthum ſie
auch nicht haben koͤnnte.
Worinnen beſtehet nun, wo es ſo iſt, ihre Vorzuͤg-
lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die ſie
an ſich haben kann, kuͤnftig haben wird, aber gegen-
waͤrtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal
eine voͤllige Berichtigung des Verſtandes bewirkt wer-
den ſoll, die wahre Einſicht ungeaͤndert bleibet, die fal-
ſche aber weggeſchafft werden muß. Sonſten haͤngt alles
davon ab, wie weit beide Erkenntniſſe vielbefaſſende
Modifikationen der Seele ſind, oder ſich auf groͤßere
oder ſchwaͤchere Kraͤfte beziehen.
Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten iſt, der
dem Menſchen aus dem Beſitz der Wahrheit erwaͤchſet,
ſo iſt zwar davon die Rede nicht, ob ſie nicht auch zu-
weilen unter zufaͤlligen Umſtaͤnden weniger nuͤtzlich wer-
den koͤnne, als der Jrrthum, und ſogar ſchaͤdlicher;
allein dennoch muß dieſe Betrachtung nicht ganz uͤber-
gangen werden, wenn man ſich genugſam gegen die einſei-
tigen Urtheile derer verwahren will, die den Jrrthum
im Verſtande fuͤr eine weit groͤßere Unvollkommenheit
halten, als die Schwaͤche der Kraͤfte, und als, bis
wohin einige wirklich gegangen ſind, die Verſtimmung
des Herzens und der Begierden. Die Geſchichte leh-
ret es, daß die fruchtbarſten Wahrheiten durch beyge-
miſchte Jrrthuͤmer und durch aͤußere Umſtaͤnde, die die
Seele beſtimmen, erſticken, verderben und ſchaͤdlich
werden, und ſo oft bey ganzen Voͤlkern es geworden
ſind. Hingegen haben Jrrthuͤmer, Vorurtheile und
Aber-
[669]und Entwickelung des Menſchen.
Aberglauben durch zufaͤllige Verbindungen eine hoͤhere
Entwickelung der Seele und Geiſteserhebung und Zu-
friedenheit hervorgebracht. Es giebt troſtreiche Jrrthuͤ-
mer, in der Maße, wie es die Wahrheit an ihrer Stel-
le nicht geweſen waͤre. Jch fuͤrchte nicht, daß ein nach-
denkender Leſer dieß, was ich hieruͤber geſagt habe, miß-
deuten werde. Der Werth der Wahrheit iſt unſchaͤtz-
bar, und bey einigen unendlich groß. Aber ſie beſitzet
fuͤr ſich allein keine magiſche Kraft, den Menſchen beſ-
ſer oder gluͤcklicher zu machen. Was ſie thut, wirket
ſie durch ihre Folgen. Sie kann ihn gluͤcklicher machen,
ohne ihn beſſer zu machen. Spinoza war kein unvoll-
kommnerer Menſch durch ſeinen Jrrthum, als ſeine
Gegner, die ihn widerlegten. Allein er war ein un-
gluͤcklicher Menſch, inſofern er der Zufriedenheit, des
Troſtes und der erhabenen Freude beraubt war, die
aus dem erſten, groͤßten und gewiſſeſten Grundſatz der
Religion entſpringet. Ohne dieſe kann der Nachden-
kende nicht gluͤcklich ſeyn. Die Wuͤrde der Wahrheit
muß ſo wenig heruntergeſetzet werden, daß vielmehr die
kleinſte Berichtigung der Kenntniſſe zu ſchaͤtzen iſt,
weil die an ſich unerheblich ſcheinende Wahrheit in Ver-
bindung mit großen Entdeckungen oft ſehr nahe ſtehet.
Aber es muß die Wahrheit, inſofern ſie Erkenntniß iſt,
von der Wahrheit, ſo fern ſie eine richtige Erkennt-
niß iſt, unterſchieden werden. Die Fruchtbarkeit der
Erkenntniß und ihre Brauchbarkeit kann ſie haben, in
ſofern ſie in Vorſtellungen und Gedanken beſtehet, wenn
ſolche gleich unrichtig ſind. Als Wahrheit hat ſie et-
was, das ſie brauchbar macht, was ſie als Jrrthum
nicht hat. Dieß, aber auch dieß nur, macht ihren
abſoluten Vorzug vor dem Jrrthum aus. Das iſt es,
was ich hier behaupte. Da wo ſie nicht gebraucht wird,
wie in traͤgen oder einfaͤltigen Menſchen, die nicht uͤber-
legen noch vergleichen, was uͤber die rohen ſinnlichen
Jdeen
[670]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Jdeen hinausgehet, da kann der ganze Werth der
Wahrheit nicht anders als nach den Folgen beurtheilet
werden, welche die Jdeen als Jdeen, ohne Ruͤckſicht
darauf, ob ſie richtig oder unrichtig ſind, in dem Her-
zen und in den Handlungen hervorbringen. Bey ſol-
chen Perſonen iſt Wahrheit und Jrrthum von gleichem
Werthe, wenn ſie das Herz mit gleich guten Geſinnun-
gen und Empfindungen anfuͤllen. Nur allein in Hin-
ſicht der Folge, wenn die Vervollkommnung weiter geht,
bleibet der oben angefuͤhrte Vorzug der Wahrheit eigen,
wenn dieſe gleich gegenwaͤrtig ſo abgeſondert im Ver-
ſtande, oder eigentlicher im Gedaͤchtniſſe, liegt, daß ſie
den Menſchen weder beſſer noch gluͤcklicher macht.
10.
Dieſe Anmerkung kann dem wohlthaͤtigen Beſtre-
ben, unſere Mitmenſchen, die im Finſterniß und Aber-
glauben ſind, zu dem Licht der Religion zu bringen,
nicht das geringſte von ſeinem wahren Werthe beneh-
men. Nur den falſchen Glanz nimmt ſie weg, womit
die Phantaſie unvernuͤnftiger Zeloten das Proſelyten ma-
chen uͤbertuͤncht hat. Wo nichts weiter auszurichten
iſt, als daß die Jdeen in dem Kopf mit andern Jdeen,
Bilder mit Bildern, getauſcht werden, die den Verſtand
nicht mehr aufklaͤren und das Herz nicht beſſer machen,
als beides vorher war, die den Menſchen im Leben nicht
zufriedener, und im Sterben nicht ruhiger und hoff-
nungsvoller machen, als er es bey ſeinen Vorurtheilen
vorhero war: da iſt die Abſicht, welche erreicht wird,
zu unwichtig fuͤr die Mittel, die auf ihn zu verwenden
ſind. So iſt es unſtreitig in manchen Faͤllen geweſen.
Der Verſuch, die Religionsideen eines Menſchen zu
aͤndern, iſt ein an ſich mißlicher und bey Leuten, die
nicht ſelbſt denken koͤnnen, gefaͤhrlicher Verſuch. Man
verwundert ſich im Jnnerſten, wenn man dieſe Begriffe
angreift,
[671]und Entwickelung des Menſchen.
angreift, und kann nicht ſicher ſeyn, daß man die Wun-
de wieder heilen werde. Bey dem allergroͤßten Theil derer,
die von den Europaͤern zur Annahme ihrer Religion ge-
bracht und zu oft mit Verleugnung der Menſchlichkeit
gezwungen worden ſind, iſt nicht mehr erreicht worden,
als ſo eine unfruchtbare Umaͤnderung einiger Vorſtellun-
gen. Bey manchen iſt im Anfang die ganze Bekeh-
rung nicht einmal ſo weit gegangen, und ſchlechthin
nur auf die Umaͤnderung aͤußerer Ceremonien einge-
ſchraͤnkt geweſen. Dieß iſt der klare Ausſpruch der
Geſchichte. *) Jſt es denn ſo ſehr zu bedauern, wenn
der
[672]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Miſſionseifer heut zu Tage etwas erkaltet? Gleich-
wohl muß auch die andere Seite ſolcher Bekehrungen
nicht uͤberſehen werden, an der ſie wohlthaͤtiger und
fruchtbarer erſcheinen. Wenn auch die neue Wahrheit
in tauſenden wie auf einen Felſen faͤllt, oder wie am We-
ge: ſo werden dieſe doch bloß dadurch, daß ſie wahre
Jdeen ſtatt falſcher erhalten, nicht ſchlechter noch un-
gluͤcklicher. Und einige einzelne Perſonen giebt es
doch, bey denen der Saame einen guten Boden antrift.
Die Hauptſache iſt aber dieſe, daß, indem die Religions-
meynungen gebeſſert werden, zugleich auch das groͤßte
Hinderniß gehoben wird, das der weitern Kultur und Auf-
klaͤrung im Wege ſtehet. Dummheit und Aberglaube iſt
die maͤchtigſte Schutzgoͤttin der falſchen Religionen, und
zugleich ein Riegel gegen die Entwickelung der Menſch-
heit. Das erſte, obgleich verunſtaltete Chriſtenthum
hat doch bey den rohen Voͤlkern in Norden den Weg
zur Aufklaͤrung gemacht. Noch mehr iſt die neuere Re-
ligionsveraͤnderung zum wahren Fortkommen des geſun-
den Verſtandes in Europa ein Werkzeug geweſen. So
iſt es bey jedem Volke, das in der Kultur fortruͤcket.
Soll die Aufklaͤrung feſten Grund faſſen, ſo muß das
Nachdenken ſich auf Religionsgrundſaͤtze erſtrecken koͤn-
nen. Sonſten wird es ſchwerlich [la]nge und ſtark intereſ-
ſiren, daß Reiz und Aufmunterung genug dazu vorhan-
den ſey. Die Wiſſenſchaften bey den Saracenen muß-
ten nothwendig unterliegen, da ſie mit dem Grundſatze
des Aberglaubens zu kaͤmpfen hatten, was nicht im Ko-
ran ſtehe, ſey zu wiſſen unnuͤtz oder ſchaͤdlich, und da
dieſer Grund ſtehen blieb. Noch weniger iſt zu erwar-
ten, daß rohere Voͤlker weit kommen koͤnnten, ehe nicht
ihre Religionsbegriffe gereiniget ſind.
Es ſcheinet auch wirklich in den meiſten Faͤllen der
kuͤrzeſte Weg zu ſeyn, wenn die Kultur der Wilden und
Barbaren bey der Religion zuerſt angefangen wird.
Es
[673]und Entwickelung des Menſchen.
Es iſt recht gut, wenn man ſagt, es ſey doch ſchickli-
cher, ſie vorher zu guten und vernuͤnftigen Menſchen zu
machen, ehe man ſie zu Chriſten zu erheben ſuchet;
wenn jenes nur nicht unmoͤglich waͤre, ohne dieſes, we-
nigſtens ohne ihnen die aͤußere Form von Chriſten zu
geben. Die meiſten ſind der Lebensart, den Sitten
und dem Zwang der Geſetze bey geſitteten Voͤlkern eben
ſo abgeneigt, als ihren Religionslehren. Jene macht in
ihren Augen eine Sklaverey aus. Jſt nun ihre Reli-
gion etwas verbeſſert, ſo iſt doch ihre moraliſche Seite
in etwas rege gemacht, und es entſtehen Empfindungen
und Ueberlegungen, die neue Arten von Beduͤrfniſſen, von
Begierden und ihrer Befriedigung verurſachen, wodurch
der Geſchmack an der mehr zuſammengeſetzten Lebensart
und an den moraliſchen Beziehungen der Buͤrger in po-
lizirten Geſellſchaften vorbereitet wird. Ohne Zweifel
kann die Kultur in umgekehrter Ordnung geſchehen.
Waͤren ſie vorher an Sitten, Verfaſſungen, Gewerbe
und Kenntniſſe der polizirten Voͤlker gewoͤhnt, ſo waͤ-
re auch der Weg geoͤfnet zur Berichtigung der Religions-
begriffe. Nur iſt die Frage, ob der Plan, nach der
erſtern oder nach der letztern Ordnung, beſonders die
Wilden, zu bearbeiten, der leichteſte und der zuverlaͤſſig-
ſte ſey? Vielleicht in den meiſten Faͤllen nach der erſtern.
Es muß in Wahrheit ſchwer ſeyn, den rohen und freyen
Wilden, der wenig Beduͤrfniſſe fuͤhlet und dieſen leicht
abhilft, der ſich durch ſeine Muſik, und ſeine Taͤnze, und
durch ſein Schmauchen zu ergoͤtzen weiß, aus ſeiner traͤ-
gen Unabhaͤngigkeit herauszuziehen, und ihn durch die
Vergnuͤgungen, die man ſeinen Sinnen und ſeiner Ein-
bildungskraft in polizirten Verfaſſungen verſchaffen kann,
maͤchtig genug zu ruͤhren, um dieſe mit ihren Unbe-
quemlichkeiten fuͤr die ſeinigen zu vertauſchen. *) Da iſt
IITheil. U unoch
[674]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
noch wohl eine Umaͤnderung der Religion ehe und leich-
ter zu hoffen.
Aber ſind die Umſtaͤnde nicht uͤberall die naͤmlichen?
Es bleiben Faͤlle genug uͤbrig, wo die Kultur nicht un-
mittelbar bey der Religion anfangen darf, ſondern eine
andere Richtung nehmen kann, wie ſie in vielen Laͤn-
dern Europens, wie ſie ſelbſt bey den Griechen und Roͤ-
mern und andern etwas aufgeklaͤrten Voͤlkern des Al-
terthums, wirklich genommen hat, die ihrer falſchen
Religion ohnerachtet aufgeklaͤrter geweſen ſind, als die
meiſten chriſtlichen Nationen nicht ſind. Doch muß
man hiebey nicht vergeſſen, daß die erſten Lehrer dieſer
Voͤlker allemal den Anfang bey den Religionsbegriffen
gemacht haben. Und dazu faͤllt uns auch die Anmer-
kung auf, daß in jedem Fall eine Freyheit der Vernunft
im Denken uͤber Religionslehren, und eine Toleranz,
bis zu einer gewiſſen Stufe unentbehrlich geweſen ſey,
wenn ein Volk zu einer allſeitigen Aufklaͤrung gelanget
iſt; wenn wir naͤmlich die Erhebung des vernuͤnftigen
Theils im Menſchen, der ſich in freyen und großen
Unterſuchungen uͤber den Menſchen und deſſen Bezie-
hungen auf Gott und die Welt beweiſet, hinzurechnen,
und die Kultur nicht bloß auf eine gewiſſe Seite des
Menſchen, auf eine oder die andere Kunſt, auf Fein-
heit der Sitten und Lebensart, und auf Politik ein-
ſchraͤnken. Jene zur Aufklaͤrung nothwendige Freyheit
vertraͤgt ſich aber durchaus mit keiner falſchen, auf bloße
Autoritaͤt ſich ſtuͤtzenden Religion, die immer etwas
von ihr zu befuͤrchten hat, ſondern nur mit derjenigen,
die alle Unterſuchung aushaͤlt. Die Aufklaͤrung der
Griechen
*)
[675]und Entwickelung des Menſchen.
Griechen und Roͤmer that doch ihrer Goͤtterlehre Ab-
bruch. Haͤtten dieſe Landesreligionen mit ihrer ganzen
Staͤrke gewirket, und waͤren nicht dem Princip des Fa-
natismus, das, wie Sokrates Beyſpiel lehret, in ihnen
lag, durch eine Verwickelung mancher Umſtaͤnde und
durch die Vernunft der Obrigkeiten Schranken geſetzt
worden, ſo wuͤrde die Aufklaͤrung nie ſo weit gekommen
ſeyn.
Dagegen lehrt auch die Geſchichte, daß bey ſolchen
Voͤlkern, wo die Kultur zuerſt bey andern Sachen, bey
Kuͤnſten, bey der Handlung, den Geſetzen und Sitten
angefangen, und von da weiter auf die tiefer liegenden
Vorurtheile der Religion ſich verbreitet hat, der Weg
zum Ziel zwar laͤnger geweſen und langſamer dahin gefuͤhrt,
aber auch nicht ſo mit Blut gefaͤrbt, ſondern ruhiger und
ſanfter geweſen ſey, ohne Unordnung und Zerruͤttung
des Staats. Dorten iſt auch die Kultur mehr unter
dem Volke ausgebreitet worden. Eine Wahrheit, die
den Bekehrungseifer nicht aufheben, ſondern nur maͤſ-
ſigen und vernuͤnftig machen kann. Das richtige Maß
zeiget ſich dem wahren Menſchenfreunde von ſelbſt,
wenn es ihm nur nicht darum zu thun iſt, die Menſch-
heit in gewiſſe Formen gepreßt zu ſehen, ſondern dar-
um, daß ſie beſſer und gluͤcklicher werde.
U u 2V.Von
[676]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
V.
Von der Gleichheit der Menſchen in Hinſicht ih-
rer innern Vollkommenheit.
- 1) Es giebt eine gewiſſe Gleichheit unter den
entwickelten Menſchen. - 2) Naͤhere Beſtimmung, wie weit dieſe Gleich-
heit gehe. - 3) Wie weit ſie ſich auf Bloͤdſinnige erſtrecke?
- 4) Grenzen der allgemeinen Gleichheit der
Menſchen, und Folgen derſelben.
1.
Die vorhergehenden Betrachtungen uͤber die Realitaͤ-
ten der menſchlichen Natur ſind zwar, ſo wie ſie
da liegen, zu allgemein und unbeſtimmt, um auf die
Geſchichte der Menſchheit auf eine naͤhere Art zur Wuͤr-
digung von dieſer angewendet zu werden. Aber wenn doch
einmal der Grundſatz befeſtiget iſt, daß die wahre Groͤße
der Menſchheit in den Jndividuen von der Groͤße der
Selbſtthaͤtigkeit der Seelen abhange: ſo laͤßt ſich jene
in ihren vornehmſten Verſchiedenheiten nicht mit ma-
thematiſcher Genauigkeit abwaͤgen, aber doch einiger-
maßen vergleichen; ſo weit wenigſtens, als es zu ei-
nigen wichtigen praktiſchen Folgerungen hinreichet, die
man aus einer ſolchen Vergleichung ziehen kann. Man
nehme jenen Grundſatz als einen Maßſtab in die Hand,
und richte nun den Blick auf das Ganze der Menſchheit,
auf die Mannichfaltigkeit der Gattungen, der Voͤlker
und der Jndividuen. Welch ein unuͤberſehbares Feld,
das kaum die begeiſtertſte Einbildungskraft umfaſſet!
Verſchiedene vortrefliche Philoſophen haben ſchon Ver-
gleichungen zwiſchen Menſchen und Menſchen angeſtel-
let, da ſie uͤber die Geſchichte der Menſchheit gedacht
haben. Aber wenn wird hier noch der Stoff fehlen zu
großen
[677]und Entwickelung des Menſchen.
großen und fruchtbaren Betrachtungen? Jch kann mei-
ne Abſicht nicht weiter ausdehnen, als dahin, daß ich
nur bey einigen ſich auszeichnenden Stellen mich etwas
verweile, die es vor andern verdienen wiederholt und
aufmerkſam unterſucht zu werden. Es faͤllt zuerſt auf,
daß es unter den Menſchen, aller ihrer Verſchiedenheit
ohngeachtet, eine gewiſſe allgemeine Gleichheit an
innerer menſchlichen Realitaͤt gebe. Dieß iſt nicht
bloß die angeborne Gleichheit der Natur, ſondern
ſie iſt auch noch da, wenn man ſie in ihrer Ausbildung
gegen einander haͤlt. Um deſto leichter zu ſehen, was
dieſe Gleichheit auf ſich habe, laßt uns ſolche Jndivi-
duen auswaͤhlen, bey welchen die Verſchiedenheit am
groͤßten iſt, die alſo am ſtaͤrkſten von einander abſte-
chen. Man ſetze einen Patagonier, oder einen Be-
wohner des Feuerlandes, einen Neuſeelaͤnder oder Neu-
hollaͤnder auf einer Seite, auf der andern einen Cook,
oder Banks, oder Seelaͤnder; auf einer Seite den
kindereinfaͤltigen Kalifornier, und auf der andern
den Abbe Chappe d’Auteroche, der den Durchgang der
Venus durch die Sonne bey ihnen beobachtete; Conda-
mine gegen einen Jndianer am Amazonenfluß; Frank-
lin gegen einen Huronen; Maupertuis gegen einen
Lappen. Und in der That brauchen wir ſoweit die
Beyſpiele nicht zu ſuchen. Wir haben aͤhnliche in der
Naͤhe. Mit einem Wort: man vergleiche den Aufge-
klaͤrteſten mit dem Wildeſten, nur mit dieſer Bedin-
gung, daß der letztere mit allen geſunden Sinnen verſe-
hen ſey und ſie ſo zu brauchen gelernet habe, als es in
der roheſten Geſellſchaft moͤglich iſt. Nur die wenigen
einzelnen ungluͤcklichen Menſchengeſchoͤpfe, die ganz auſ-
ſer aller menſchlichen Geſellſchaft unter Thieren entwi-
ckelt waren, muß man hier weglaſſen. Einige von ih-
nen ſind wahnſinnig geweſen, und koͤnnen alſo zu den
vollſtaͤndig organiſirten nicht gerechnet werden. Die
U u 3uͤbrigen,
[678]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
uͤbrigen, wenn nicht gar bey allen ein innerer verborge-
ner Fehler in der Organiſation geweſen iſt, lehren zwar,
wie weit die Naturanlage zur Menſchheit zuruͤckbleiben
kann; aber ihrer ſind ſo wenige, und dieſe gehoͤren zu
ſehr zu den außerordentlichen, als daß man auf ſie Be-
tracht nehmen duͤrfe, wenn von der wirklichen Menſch-
heit die Rede iſt.
2.
Es iſt unmoͤglich, daß auch der roheſte Menſch zu
einem fertigen Gebrauch ſeiner Sinne gelangen kann,
ohne zugleich ſein Ueberlegungsvermoͤgen zu uͤben und
zu ſtaͤrken. Bey den Thieren geht dieß wohl an; aber
bey dem Menſchen iſt es eine Folge ſeiner Natur, daß
man auf einen guten Menſchenverſtand ſchließen muß,
wo man ihn ſeine Sinne richtig gebrauchen ſieht. Die-
ſe Fertigkeit, nach den Eindruͤcken auf die Sinne uͤber
die Objekte zu urtheilen, kann nicht erlanget werden, oh-
ne daß Jdeen angereihet, verglichen, auf einander be-
zogen und wahrgenommen ſind. Nun ſind die Wilden
in dieſem Stuͤck ſo wenig unter den Kultivirten, daß
ihnen vielmehr faſt durchgehends ein Vorzug vor dieſen,
an der einen oder der andern Seite der Sinnlichkeit, zu-
geſchrieben wird. Sie reichen weit mit den Augen,
ſie ſehen ſcharf und hoͤren genau. Viele von ihnen be-
ſitzen einen weit ſpuͤrenden Geruch. Dazu trift man
bey allen dieſelbigen Gemuͤthsbewegungen und Leiden-
ſchaften an wie bey uns, von allen Gattungen, Liebe,
Haß, Freundſchaft, Feindſchaft, Furcht und Hoff-
nung, Niedergeſchlagenheit und Muth. Sie beſitzen
auch ihren Grad von Ehr- und Ruhmliebe. Jhre Lei-
denſchaften wirken mit der heftigſten Jntenſion, aber
freylich weniger auseinandergeſetzt und eingeſchraͤnkter
am Umfang, weil die kleine Anzahl der Objekte, die ſie
in
[679]und Entwickelung des Menſchen.
in Bewegung ſetzen, geringe und, wie ihre Beduͤrfniſſe,
einfacher ſind.
Und auch die thaͤtige Kraft der Seele, wodurch
die Bewegungen des Koͤrpers regiert werden, muß bey
ihnen keine geringere Staͤrke haben, als bey den kulti-
virteſten Menſchen. Beweiſe davon ſind ihre unnach-
ahmlichen Fertigkeiten im Laufen, Springen, Schwim-
men, Werfen und dergleichen. Es iſt alſo offenbar,
daß kein Grundvermoͤgen der Seele bey ihnen unentwi-
ckelt geblieben ſey. Jedes derſelben iſt zu einem Gra-
de von Umfang und Staͤrke gelanget. So zeigt ſichs
bey ihrem Gefuͤhl, bey ihrer vorſtellenden Kraft, ihrer
Denkkraft, ihrem thaͤtigen Vermoͤgen zu handeln. Al-
les iſt entwickelt und gewachſen. Eben ſo wenig fehlet
ihnen Aufmerkſamkeit auf ſinnliche Sachen, die ſie be-
arbeiten, und auf ihre Geſchaͤfte. Alſo auch das Ver-
moͤgen nicht, die Reflexion bey Sachen laͤnger und
anhaltender zu beſchaͤfftigen.
Unter den aͤußern Sinnen der Menſchen ſcheinen in-
deſſen der Geſchmack und das koͤrperliche Gefuͤhl bey
den Wilden und Barbaren am ſchwaͤchſten zu ſeyn. Man
hat ſie gegen die grauſamſten Qualen unempfindlich ge-
funden. Dieß mag eine Staͤrke im Koͤrper zum Grunde
haben; aber es iſt doch eine allzugroße Abhaͤrtung, wel-
che nothwendig das Selbſtgefuͤhl der Seele verhindern
muß die noͤthige Feinheit zu erlangen, wodurch es die hoͤ-
hern Seelenkraͤfte zur Thaͤtigkeit reizet. Die zu große
Empfindlichkeit des Koͤrpers iſt zwar auf der einen Sei-
te auch ein Hinderniß, das die Seele nicht ſtark werden
laͤßt; aber auf der andern vertraͤgt ſich eine große Unem-
pfindlichkeit eben ſo wenig mit der Ausbreitung der Ver-
nunft. Soll das innere Gefuͤhl, und beſonders dasjeni-
ge Gefuͤhl der Vorſtellungen und der Verhaͤltniſſe, wel-
ches das Unterſcheidungsvermoͤgen und die hoͤhere Denk-
kraft erwecket, zu einiger Lebhaſtigkeit kommen, ſo iſt
U u 4ein
[680]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ein gewiſſer Grad von Empfindlichkeit in dem Nerven-
ſyſtem erfoderlich, der die zu große Abhaͤrtung der
Muſkeln im Wege ſteht. Jndeſſen kann man auch aus
der Gefuͤhlloſigkeit des Koͤrpers in Hinſicht gewiſſer Ar-
ten von Eindruͤcken, wie man z. B. bey den Bewoh-
nern des Feuerlandes antrift, die halb nacket Froſt und
Schnee ausſtehen, noch nicht ſchließen, daß ſie allge-
mein ſey. Dieſelbigen Menſchen koͤnnen vielleicht ein
ſcharfes Gefuͤhl in den Fingern haben. Man hat noch
keine Unterſuchungen daruͤber angeſtellt, wie gut ſie
ſich im Dunkeln in ihrem Lande und Wohnungen durch
das Gefuͤhl in den Haͤnden fortzuhelfen wiſſen.
Die Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt und auf ihre ei-
genen Vorſtellungen iſt es, woran es in dieſem Stande
der Sinnlichkeit und der Dummheit am meiſten fehlt.
Sie fuͤhlen ihre innern Veraͤnderungen, ihre Gemuͤths-
bewegungen, was ihnen behaglich oder unbehaglich iſt,
wie wir. Aber dieß Jnnere zu vergleichen, wie Sa-
chen, die den aͤußern Sinnen vorliegen, das iſt eine
Arbeit, von der der rohe Menſch am wenigſten zu wiſ-
ſen ſcheint. Gleichwohl iſt es doch nicht ſo ſehr eine
Schwaͤche an Vorſtellungskraft, oder am Bewußtſeyn,
oder Schwaͤche einer ſelbſtthaͤtigen Phantaſie. Sie
beweiſen ein vortrefliches Gedaͤchtniß in einigen Sachen,
und eine Erfindungskraft an ihren Bogen, Pfeilen,
Kaͤhnen, Stricken, die ſie mit den ſchlechteſten Jnſtru-
menten verfertigen, und davon einige einen Witz zeigen, der
dem Witz eines europaͤiſchen Baumeiſters gleich kommt.
Der gedachte Mangel an Reflexion uͤber ſich ſelbſt liegt
mehr in der Richtung, die die vorſtellende und fuͤhlende
Kraft erhaͤlt, indem ſie faſt niemals auf die Bemerkung
des Jnnern gefuͤhrt wird. Eben dieſes hindert auch die
Anwendung der hoͤhern Verſtandeskraͤfte. Es laͤßt ſich
ein aͤhnlicher Grund von dem Mangel der innern Selbſt-
thaͤtigkeit angeben. Die wahre Freyheit der Seele, die
uͤber
[681]und Entwickelung des Menſchen.
uͤber ſich und ihre Leidenſchaften gebieten kann, muß da
fehlen, wo die Sinnlichkeit herrſchet und wo die Ver-
nunft nur ſchwach iſt. Der rohe Menſch vergißt ſich
ſelbſt bey jeder Anwandelung von Affekt. Jede Leiden-
ſchaft ſteiget in ihnen auf, wie ein zuſammengehaltenes
Feuer, weil es ihr an Gelegenheit fehlt ſich auszubreiten
und zu ſchwaͤchen. Daher wiſſen ſie ſo wenig von der
aͤußern Zuruͤckhaltung ihrer Begierden. Jndeſſen ſieht
man doch aus vielen Beyſpielen, wie weit ihre Verſtel-
lungskunſt und Falſchheit gehe; und dieß iſt wiederum
ein Beweis, daß ihre Selbſtthaͤtigkeit nicht ſo ganz un-
vermoͤgend ſey, ſich zu zwingen und zu regieren. Viel-
mehr da ihre Leidenſchaften fuͤr ſich ſo wuͤtend ſind, ſo
koͤnnte man ſchließen, daß jene ziemlich groß ſeyn muͤſſe,
wenn ſie den aͤußern Ausbruch zuruͤckzuhalten vermag.
Aber ſie vermag dieß nur, wo ſie von einer noch ſtaͤr-
kern Leidenſchaft unterſtuͤtzet wird, wo z. B. Furcht und
Rachſucht ſie beſelet. Daher auch dieſes etwanige Ver-
moͤgen ſich zu regieren von der hoͤhern Selbſtmacht der
Seele uͤber ſich weit entfernt iſt. Es verſteht ſich, daß
dieß nicht ſo viel heiße, daß die Grundkraft der Tugend
ganz und gar bey ihnen unwirkſam ſey. Wenn man
erwaͤgt, wie viel Schwaͤche dieſe bey den kultivirteſten
Menſchen noch hat, ſo wird man wiederum den Abſtand
zwiſchen dieſen und jenen merklich vermindert finden.
Jm Ganzen aber die Vergleichung gemacht, hat der
kultivirte Menſch eine innere Welt fuͤr ſich, die weit ein-
geſchraͤnkter in dem Wilden iſt.
Wenn man dieß geſagte zuſammennimmt, ſo ſchei-
net es doch, es laſſe ſich daraus eine Folge ziehen, die
von großer Erheblichkeit iſt, naͤmlich: „daß der Grad
„der Entwickelung und Erhoͤhung in der Seele, |von
„der Geburt an bis ſo weit, als ſolche in |einem| der
„niedrigſten aber ſonſt voͤllig aufgewachſenen Wilden
„vorhanden iſt, gerechnet, einen groͤßern Fortgang |in
U u 5„der
[682]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt
„der Vervollkommnung der Menſchheit ausmache, als
„derjenige iſt, der noch uͤbrig ſeyn wuͤrde, wenn die in-
„nere Vollkommenheit in dem Wilden von dieſer Stu-
„fe an zu ihrer Stufe in dem beſten Menſchen ge-
„bracht werden ſollte.‟ Jch meine dieß ohne Beden-
ken behaupten zu koͤnnen, ob es gleich auf Groͤßen und
auf eine Schaͤtzung dabey ankoͤmmt. So viele Vor-
ſtellungen und Kraftaͤußerungen noch fehlen, ehe die
letzterwehnte Fortruͤckung beſchaffet wuͤrde; und mags
auch ſeyn, daß ſie bey den meiſten Jndividuen in dieſem
Leben nicht mehr moͤglich iſt: ſo muß man doch auch ge-
ſtehen, daß dem neugebornen Kinde noch viel mehr feh-
let, ehe es zu einem Neuhollaͤnder werden kann. Wie
groß, wie lang, wie wichtig iſt nicht dieſer Schritt von
der Kindheit bis zum Mannsalter. Sollte dieſer, wenn
er nicht ſchon in dem dreyßigſten Jahr des Lebens unter
der Anweiſung der Natur vollendet waͤre, wohl noch
einmal im Leben des Menſchen vorgenommen werden
koͤnnen? Wo es aber unmoͤglich iſt bey einzelnen Jndi-
viduen, daß ein Wilder die Kultur noch annehme, da
hat ſolches zum Theil auch darinn ſeinen Grund, weil
ihm gewiſſe Eigenſchaften an einer Seite genommen
werden muͤßten, die den neuen hinderlich ſind, und die
nicht alle fuͤr Maͤngel und Unvollkommenheiten koͤnnen
geachtet werden. Jede Form hat ihre Unvollkommen-
heiten. Jſt der Charakter des Wilden nicht mehr ge-
ſchmeidig genug, um ein Europaͤer zu werden, ſo mag
es daran liegen, weil er ſtarke Thaͤtigkeiten an einer
Seite hat, die in Hinſicht auf die uͤbrigen zu groß und
eben deßwegen nicht zu bezaͤhmen ſind.
Man iſt alſo berechtiget, dieſen Grundſatz anzuneh-
men: Die Ausbildung der Menſchheit in allen
ihren unterſchiedenen Formen, worinnen ſie in
vollorganiſirten und erwachſenen Jndividuen
ſich zeigt, iſt bis auf einen Grad hin allenthal-
ben
[683]und Entwickelung des Menſchen.
ben von gleicher Groͤße; und dieſe Gleichheit
an ausgebildeter menſchlicher Realitaͤt iſt groͤſ-
ſer als die Ungleichheit, die bey denen, welche
auf der niedrigſten Stufe ſtehen, und denen, die
zu der hoͤchſten gelangt ſind, uͤbrig bleibet. Das
Menſchengeſchlecht iſt als ein Wald aus Baͤumen anzu-
ſehen, die von gleicher Gattung und von gleichem Alter
ſind. Sie ſind an Hoͤhe und Dicke ungleich, aber nur
ſo, daß einige mit ihrem Gipfel einige Fuß hervorra-
gen, da ſie bis auf zehnmal ſoviel gleich ſind. Es iſt
keine Waldung von Baͤumen und Geſtraͤuchen verſchie-
dener Gattungen, deren einige wie Cedern ihr Haupt
erheben, andere wie niedrige Gebuͤſche an der Erde krie-
chen. Wenigſtens iſt jenes erſtere Gleichniß paſſender,
als dieß letztere.
3.
Bey den vollſtaͤndig organifirten Kindern iſt die
Gleichheit der Natur, im Verhaͤltniß auf die zufaͤl-
lige Ungleichheit, noch groͤßer, als die Gleichheit bey
den Entwickelten im Verhaͤltniß auf die Ungleich-
heit iſt. Jene Gleichheit faͤllt aber weg, wenn Fehler
in der Organiſation bey gewiſſen Jndividuen vorhanden
ſind. Dadurch leidet die Gleichheit eben noch nicht ſo
ſehr, wenn es etwa einem Jndividuum an einem oder
dem andern von den aͤußern Sinnen fehlet. Dieſer
Mangel auf der andern Seite kann durch eine groͤßere
Schaͤrfe in einem andern Sinne erſetzet ſeyn. Der
Blind - oder Taubgeborne iſt von einer Seite weniger
Menſch als ein anderer, der alle Sinne hat. Den-
noch bewies der junge Englaͤnder, den Chelſeden heilte,
einen ſo feinen natuͤrlichen Verſtand, daß man ihm viel-
leicht manche menſchliche Realitaͤten zugeſtehen mußte,
die vielen Sehenden von ſeinem Alter fehlten. Dage-
gen iſt Wahnſinn, Verruͤckung, Verſtandloſigkeit, ein
mehr
[684]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
mehr weſentlicher Mangel an Menſchheit. Jhre Groͤſ-
ſe haͤngt von der Groͤße der Realitaͤt in dem Seelenwe-
ſen ab. Jſt nun die Organiſation des Koͤrpers, inſo-
fern ſie das Werkzeug der Seele ausmacht, fehlerhaft,
ſo giebt es einen gewiſſen Grad dieſes Mangels, der vor
andern verdienet bemerket und, ſo viel moͤglich, feſt
beſtimmet zu werden. Das iſt dieſer, wo die Organi-
ſation bis dahin fehlerhaft iſt, daß die Seele ihre Selbſt-
thaͤtigkeit — dieſe Eigenſchaft der Menſchheit — nicht
anwenden und daher nicht ausbilden kann. Solche
elende Perſonen koͤnnen nicht aus der Klaſſe der Men-
ſchen ausgeſtrichen werden. Dieß ſind und bleiben ſie.
Aber ſie gehoͤren nicht mehr zu der Klaſſe der ausgebil-
deten Menſchen; nicht zu der Klaſſe derer, bey wel-
chen die Selbſtthaͤtigkeit und Freyheit ſich weiter entwi-
ckelt haͤtte, als ſie von Natur war. Sie iſt in ihrem
Keim als Anlage geblieben. Solche Perſonen koͤnnen
nicht als freyhandelnde betrachtet werden. Jeder ande-
re Fehler im Koͤrper, der die Folge nicht hat, daß er
den Menſchen um ſeine Selbſtſtaͤndigkeit bringt, kann
ihm auch den Rang eines freyen ſelbſtthaͤtigen Weſens
nicht benehmen, noch die Rechte und Befugniſſe, die
ſeine gleichen Nebengeſchoͤpfe ihm, als einem ſolchem, zu-
geſtehen muͤſſen.
4.
„Daß alle Menſchen von Natur einander gleich
„ſind,‟ iſt eine große, lang verkannte und noch itzo nur
dem kleinſten Theil der Menſchen einleuchtende Wahr-
heit. Es gehoͤret zu den Vorzuͤgen unſers Jahrhun-
derts, daß die erhabenſten unter den Menſchen, Jo-
ſeph und Catharina, die Richtigkeit derſelben bezeuget
haben. Allein dieſe Gleichheit von Natur iſt doch mit
derjenigen nicht zu verwechſeln, welche zwiſchen den aus-
gebildeten Menſchen ſtattfindet. Die letztere iſt, als
Gleich-
[685]und Entwickelung des Menſchen.
Gleichheit, nicht mehr ſo groß als jene. Die Menſchen
zeigen ſich wie die Pflanzen deſto mehr von einander ver-
ſchieden, je weiter jeder auf ſeine Art in der Ausbildung
kommt. Aber wie weit die letztere gehe und wie begren-
zet ſie ſey, erhellet zugleich aus demſelbigen Grundſatz,
der die Gleichheit ſelbſt beſtimmet. Wenn alle voͤllig
organiſirte und erwachſene Menſchen zu einer und derſel-
bigen Klaſſe ſelbſtthaͤtighandelnder gehoͤren, ſo giebt es
doch eine Stufenverſchiedenheit, die ihre großen Folgen
hat, wie die Gleichheit ſelbſt. Die phyſiſchen Verhaͤlt-
niſſe der Dinge ſind die erſten urſpruͤnglichen Gruͤnde zu
den moraliſchen und rechtlichen Verhaͤltniſſen. Aber ſo
wie die phyſiſche Gleichheit der Menſchen eine
Gleichheit der Rechte zur Folge hat: ſo muß auch
eine phyſiſche Ungleichheit in den Graden eine Ein-
ſchraͤnkung der moraliſchen und rechtlichen Gleichheit nach
ſich ziehen. Wenn die Gleichheit der Menſchen ver-
kannt wird, ſo wird Stolz, Menſchenverachtung, Un-
terdruͤckungsgeiſt und Tyranney genaͤhrt. Allein Miß-
kenntniß der Grenzen dieſer Gleichheit kann einen gewiſ-
ſen menſchenfeindlichen Fanatismus erzeugen, der in
ſeinen Folgen vielleicht eben ſo ſchaͤdlich werden moͤchte,
als jene entgegengeſetzten Fehler geworden ſind; wenns
nur moͤglich waͤre, daß er eben ſo leicht und ſo weit ſich
ausbreiten koͤnnte. Zum Gluͤck iſt dieß letztere nicht ſehr
zu beſorgen. Der ſtolze Gedanke, daß andere Men-
ſchen weniger werth ſind, als wir und die, welche uns
am naͤchſten und aͤhnlichſten ſind, findet im Ganzen
viel leichter und mehr Beyfall, als der Gedanke, daß
wir auch die Verachteteſten als unſers Gleichen zu be-
trachten haben. Und darum kann die alles unparthey-
iſch beurtheilende Vernunft geruhig daruͤber ſeyn, daß
man die Einſchraͤnkungen der Gleichheit nicht finden ſoll-
te, da die Eigenliebe ſolche mit Eifer aufſuchet. Jn-
deſſen erfodert es die gerechte Wahrheit, ohne welche
die
[686]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die Menſchenliebe Schwaͤrmerey iſt, daß die Ungleich-
heit ſowohl geſchaͤtzet werde, als die Gleichheit. Die
Ungleichheit in den Stufen iſt nicht unerheblich. Der
Vorzug des Verſtaͤndigen vor dem Einfaͤltigen, des
Aufgeklaͤrten vor dem dummen Barbaren, des Geſitte-
ten vor dem Ungeſitteten, des Tapfern vor dem Feigen,
und, welcher Unterſchied in ſeinen Folgen der allerwich-
tigſte iſt, des Rechtſchaffenen vor dem Boͤſewicht, iſt
unſchaͤtzbar und alles unſers Verlangens und Beſtre-
bens wuͤrdig. Der Brittiſche Matroſe, der eben noch
nicht hoch in der Klaſſe der kultivirten Menſchen ſtehet,
iſt auf Neuſeeland oder am Feuerlande ein großer her-
vorragender Mann, von innerer Wuͤrde. Es iſt der
auffallendſte Beweis von dem natuͤrlichen Vorzuge des
Menſchen vor den Thieren, wie Buffon ſagt, daß
jener dieſe ſich unterwuͤrfig machen kann, die Thiere
aber den Menſchen nicht. So groß iſt zwar der Vor-
zug des Kultivirten vor dem Wilden nicht; aber etwas
davon iſt vorhanden. Er weiß doch, ſeiner ſchwaͤchern
Kraͤfte des Koͤrpers ohnerachtet, die Wilden zu zwin-
gen, zu regieren und nach ſeinen Abſichten zu lenken,
wie der Wilde bey den Thieren es vermag. Die kulti-
virten Voͤlker haben in allen Welttheilen mit einer Hand-
voll Menſchen unzaͤhliche Haufen von unkultivirten un-
ters Joch gebracht. *) Man kann alſo zwar ganz rich-
tig
[687]und Entwickelung des Menſchen.
tig behaupten, daß die Menſchen an innerer Wuͤrde
und Groͤße, in ihrem ausgebildeten Zuſtande, einander
gleich ſind. Nur daß es eine ungemeine Ausſchwei-
fung der Phantaſie ſeyn wuͤrde, wie der Verfaſſer des
Alfreds erinnert, wenn jemand aus jener allgemeinen
Gleichheit der einzelnen Perſonen, die zu einer Geſell-
ſchaft verbunden ſind, ſchließen wollte, ſie muͤßten auch
alle gleiche Rechte und Befugniſſe auf andere in den
Geſellſchaften haben, und daß der Unterſchied der Staͤn-
de ſeiner Natur nach eine Ungerechtigkeit enthalte.
Aber ferner, wenn man die Verſchiedenheit der
Menſchen und den Abſtand an der innern Entwickelung
des Geiſtes, wovon einige in dieſem Leben zuruͤckblei-
ben, mit denjenigen Guͤtern vergleichet, welche die Vor-
ſehung
*)
[688]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſehung durch die Einlenkung der Begebenheiten in der
Welt gewaͤhren kann, und hiebey auf die Abſicht und
Beſtimmung des Menſchengeſchlechts Ruͤckſicht nimmt:
ſo giebt die gedachte Gleichheit in der Ausbildung an
den weſentlichſten Stuͤcken einen Grund zu glauben,
„daß die Abſicht der Vorſehung bey allen in ſolcher
„Maße erreichet werde, daß das, was zuruͤckbleibet,
„keinen Zweifel gegen die goͤttliche Fuͤrſorge auch fuͤr
„die Elendſten der Erden gruͤnden kann.‟ Hier iſt es
ein merkwuͤrdiger Satz: „was wirklich bey allen errei-
„chet wird, iſt das weſentlichſte, und groͤßer und wich-
„tiger, als das, was nicht erreichet wird, und was ehe
„noch und leichter hinzukommen kann, als das erſtere,
„was bewirket iſt.‟ Hieraus koͤnnen freylich nicht alle
Fragen beantwortet werden, die man bey der allgemei-
nen Vorſehung aufgeworfen hat. Aber laßt uns anneh-
men, was man annehmen muß, daß die innere Ver-
vollkommnung des Geiſtes Einer der Hauptzwecke ſey,
warum Gott die menſchliche Seele in die gegenwaͤrtige
Verknuͤpfung geſetzt! Dieſer Zweck wird bey allen Jn-
dividuen in ſeinen weſentlichſten Stuͤcken erhalten.
Selbſt in dem Boͤſewicht erfolgt einige Entwickelung
der Naturkraͤfte, obgleich mit einer Zerruͤttung im Jn-
nern. Dieß fuͤhret doch zu einigen Folgen, die in der
Theodicee von Wichtigkeit ſind. Die groͤßte Stufen-
verſchiedenheit unter den Menſchen iſt nun kein Grund
mehr zu ſchließen, daß der guͤtige Vater der Menſchen
lieber ſie gar nicht haͤtte werden, als ſo haͤtte werden laſ-
ſen ſollen, wie ſie zum Theil ſind. Eben dieſelbige iſt
nicht mehr ſo wichtig, daß man es mit dem Begriff
von ſeiner Guͤte unvereinbar finden ſollte, daß nicht
mehrere und kraͤftigere Mittel von der Vorſehung veran-
ſtaltet worden, als es wirklich in der Welt geſchehen iſt,
um dieſe Verſchiedenheit zu heben.
Auch
[689]und Entwickelung des Menſchen.
Auch drittens folget aus der vorherbeſtimmten Gleich-
heit ſo viel, daß man nicht glauben kann, es ſey irgend
ein Menſch blos als Mittel zu der Gluͤckſeligkeit eines
andern, als zu einem Zwecke, in die Welt geſetzt. Je-
des Jndividuum iſt ſelbſt fuͤr ſich Zweck und Abſicht,
und berechtiget ſein eigenes Wohl als einen Theil des
Ganzen anzuſehen, und das Wohl eines andern eben
ſo, ohne daß jenes dieſem untergeordnet ſey. Kein
Menſch iſt ſo ganz um des andern willen vorhanden, ſo
wenig als er blos um eines andern willen entwickelt
wird.
Auch die rechtliche Gleichheit zwiſchen entwickelten
Menſchen iſt eine Folge der phyſiſchen Gleichheit.
Jeder erwachſene voͤllig organiſirte Menſch beſitzt
nicht nur innere Selbſtthaͤtigkeit und Unabhaͤn-
gigkeit, ſondern auch eine aͤußere in ſeinen Handlun-
gen. Dieſe iſt ſein Eigenthum, und kann ohne Ge-
waltthaͤtigkeit, weder ihm gaͤnzlich entzogen, noch weiter
eingeſchraͤnkt werden, als die Natur und die Abſicht der
geſellſchaftlichen Verbindung oder das allgemeine Be-
ſte es nothwendig machen. Es war eine ungeheure
Verletzung der Menſchlichkeit, da die Europaͤer ſich fuͤr
berechtigt hielten, die wilden und barbariſchen Bewoh-
ner der entdeckten Laͤnder zu berauben, aus ihrem Be-
ſitze zu verjagen, zu Sklaven zu machen, zu ihrer Re-
ligion zu zwingen und ſie ganz zu ihrem Eigennutz zu
gebrauchen. So mag der Menſch mit den wilden Och-
ſen in den Ebenen von Paraguay umgehen. Denn da-
zu berechtiget ihn, im Fall er ihre Haͤute oder ihr Fleiſch
gebrauchen kann, ſeine natuͤrliche Beziehung auf die
Thiere. Aber gegen Menſchen ſtehet der Menſch in an-
dern Verhaͤltniſſen. Wenn es Voͤlker gegeben haͤtte,
die wirklich ſolche Thiere in menſchlicher Geſtalt gewe-
ſen, wofuͤr man die Einwohner auf Domingo ausgab,
oder wenn es noch ſolche giebt, die ſchlechthin nicht an-
IITheil. X xders
[690]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ders als unmuͤndige Kinder anzuſehen ſind: ſo mag
man einige Befugniſſe in Hinſicht auf ſie mehr haben,
als man bey andern haben wuͤrde, die an Selbſtthaͤtig-
keit der Seele uns gleich ſind. Aber wie weit geht denn
dieſe Befugniß? Man kann ſie aus Menſchenliebe,
ohne ihren Willen und auch wohl mit Gewalt, bezaͤhmen
und zu Menſchen, das iſt, zu ſelbſtthaͤtigen Weſen, ma-
chen, wenn ſie es nicht ſind. Denn wenn ſie dieß
ſchon ſind, ſo wuͤrde es eine Ungerechtigkeit ſeyn, ihnen
etwas als eine Wohlthat mit Gewalt aufzudringen, die
ſie dafuͤr nicht erkennen koͤnnen. Aber wenn ſie nun ſo
weit gebracht ſind, daß ſie ſich ſelbſtthaͤtig nach Vorſtel-
lungen beſtimmen und regieren: worauf iſt denn das
Recht der Europaͤer gegruͤndet, wenn dieſe ſich anmaſ-
ſen, fuͤr die auf ſie verwandte Bemuͤhung ſie auf im-
mer als Sklaven zu behalten? Jſt man dazu mehr
befugt, als der Vater es iſt ſeinen Sohn, den er, bis
er volljaͤhrig ward, unter ſeiner Gewalt gehabt, auf
Zeitlebens unumſchraͤnkt zu beherrſchen? Wenn die
Vernunft es billiget, daß man Voͤlker, die ganz ohne
Geſetze und wild, ohne buͤrgerliche Regierung, leben,
durch gelinde Mittel vereinigen, in eine Staatsver-
faſſung bringen und dann dafuͤr zur Belohnung auf
immer die Oberherrſchaft uͤber ſie behaupten will: ſo iſt
doch gewiß, daß dieſe Befugniß weder zu weit ausge-
dehnt, noch die Beherrſchung zu einem ewigen Deſpo-
tismus gemacht werden darf, wenn die Grenzen nicht
uͤberſchritten werden ſollen. Wie erſtaunlich iſt aber
nicht oft die Wuͤrde der Menſchheit verkannt, wo ſie in
einer Farbe und unter Geſtalten ſich zeigte, worinn der
Europaͤer nicht gewohnt war ſie zu ſehen? Jndeſſen
wird wohl das Recht des Staͤrkern noch lange das Ge-
ſetz bleiben, wornach entſchieden wird. Es iſt der
Grundſatz der unaufgeklaͤrten Begierden. Die Schiff-
leute auf dem Endeavour unter dem Oberbefehl des Hr.
Cook
[691]und Entwickelung des Menſchen.
Cook glaubten, daß es gerecht ſey auf einen Jndia-
ner zu ſchießen, der ihnen ihre Sachen entwenden wollte;
aber darinn ſahen ſie auch keine Ungerechtigkeit, wenn
ſie die Gaͤrten dieſer Leute pluͤnderten. Jhr menſchen-
freundlicher Befehlhaber belehrte ſie durch Strafen ei-
nes andern. Nach welchen Grundſaͤtzen konnte aber
eben dieſer einſichtsvolle Mann es fuͤr gerecht halten, ein
Land im Namen ſeines Herrn in Beſitz zu nehmen, das
ſeine Einwohner hatte, die nicht von ſelbſt geneigt wa-
ren ſich einer fremden Herrſchaft zu unterwerfen, und
entweder in Freyheit lebten, oder doch in einer wilden
Verfaſſung, in der ſie zufrieden waren. Ein anderes iſt
es, wenn man bloſes Erdreich und wuͤſtes Land antrift.
Vielleicht ſollen dergleichen feyerliche Beſitznehmungen
nichts mehr als Ceremonien ſeyn, die eine Nation der
andern nachmacht. Nicht eben in der Abſicht, ſich da-
durch einen rechtmaͤßigen Titel zur Beherrſchung des ent-
deckten Volks zu erwerben, ſondern nur um zu erklaͤ-
ren, daß man keinem andern in Zukunft mehr Recht
darauf einraͤume, als man ſelbſt verlanget, wenn gleich
die Anſpruͤche von allen gleich ungegruͤndet ſind. Ue-
berhaupt muß das, was ſich uͤber die Rechtmaͤßigkeit
des europaͤiſchen Verfahrens in Hinſicht der Voͤlker in
den uͤbrigen Welttheilen ſagen laͤßt, ſich auf die phyſi-
ſchen Verhaͤltniſſe gruͤnden, wenn dieſe richtig beſtimmt
ſind. Dabey iſt nicht zu laͤugnen, daß in einzelnen Faͤl-
len ſo manche verwickelte Umſtaͤnde vorkommen, daß ſo
wohl der Grund, als ſeine Folgen, ſchwer zu beurthei-
len ſind.
X x 2VII. Von
[692]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
VII.
Von dem Werth des aͤußern Zuſtandes in
Hinſicht auf die Vervollkommnung des
Menſchen.
- 1) Die aͤußern Umſtaͤnde haben einen relati-
ven Werth, inſofern ſie Mittel ſind, die
Vervollkommnung der Menſchheit zu befoͤr-
dern. - 2) Wie fern die aͤußern Umſtaͤnde in Hinſicht
auf die innere Vervollkommnung gleichguͤl-
tig ſind. - 3) Fortſetzung. Allgemeine Anmerkung uͤber
die Vorzuͤglichkeit gewiſſer Verfaſſungen. - 4) Die Vervollkommnung des Menſchen geht
weiter in polizirten Staten, als in der Bar-
barey und Wildheit.
1.
Dieſelbigen Bemerkungen, worauf die obige Verglei-
chung der Menſchen in Hinſicht ihrer innern Ent-
wickelung fuͤhret, ſtoßen uns vom neuen auf, wenn man
auf ihre aͤußere Verſchiedenheit, auf die Beziehungen
auf andere Menſchen und die Koͤrperwelt, einen Blick
wirft. Auch dieſe aͤußern Zuſtaͤnde und ihr Werth koͤn-
nen aus einem zweyfachen Geſichtspunkte betrachtet wer-
den. Jſt die Frage, ob der Zuſtand eines Deutſchen
beſſer ſey, als der Zuſtand eines Neuhollaͤnders oder ei-
nes Negers, und warum und wiefern er es ſey: ſo kann
man entweder auf den Einfluß ſehen, den er auf ſein
Wohl hat, auf die Maße von Zufriedenheit und ange-
nehmen Empfindungen, die er bewirket, oder auch auf
ſeinen Einfluß in die Ausbildung und Vervollkommnung
der Natur. Das iſt mit andern Worten: man kann
das
[693]und Entwickelung des Menſchen.
das Aeußere betrachten, inſofern es den Menſchen gluͤck-
licher, oder inſofern es ihn beſſer, macht. Denn ich
ſehe dieſe beiden Geſichtspunkte hier noch als verſchieden
an, und ich glaube, daß ſie zunaͤchſt ſo angeſehen wer-
den muͤſſen; wenigſtens ſo lange, bis ſich aus der
Beziehung der Gluͤckſeligkeit auf die Vervollkommnung
ergeben moͤchte, daß beides entweder einerley oder doch
unzertrennlich beyſammen iſt.
Die Naturanlage und die aͤußern Umſtaͤnde ma-
chen beide zuſammen die volle Urſache aus, welche die
Entwickelung in den Jndividuen beſtimmt. Es wird
aus den obigen Betrachtungen *) wahrſcheinlich, daß
jene bey den hervorragenden Menſchen die vornehmſte
ſey, von der am meiſten abhaͤngt.
Die aͤußern Umſtaͤnde koͤnnen, fuͤr ſich betrachtet,
durchaus keinen Werth haben. Nur allein ihre Rela-
tion auf das Jnnere, und inſofern ſie Mittel ſind die-
ſes vollkommner zu machen oder zu verſchlimmern, wenn
noch auf die Gluͤckſeligkeit nicht geſehn wird, macht ih-
ren Werth oder Unwerth aus. Aber wenn nun aus der
Geſchichte und Erfahrung ihr Werth zu wuͤrdigen iſt,
ſo muß man die Beywirkung der natuͤrlichen Anlage bey
Seite ſetzen, den Einfluß von dieſer, ſo viel moͤglich iſt,
abſondern, und dann fragen, wie viel mehr oder weni-
ger dieſer oder jener aͤußere Zuſtand die Entwickelung
der Natur befoͤrdern oder hindern koͤnne? Es giebt
große Seelen unter den Wilden und an der Kuͤſte von
Afrika, und kleine niedrige Geiſter in den aufgeklaͤrteſten
Laͤndern. Dieß berechtiget uns nicht zu ſchließen, daß
es fuͤr die Vervollkommnung der Menſchheit gleichguͤltig
ſey, in welcher Verfaſſung ſie leben. Epiktet war ein
ſo großer Mann in der Sklaverey, als Antonin auf
X x 3dem
[694]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dem Thron. Wer wird daraus folgern, daß die Skla-
verey eben ſo gut geſchickt ſey, die menſchlichen Geiſtes-
vermoͤgen zu entwickeln, als der Stand eines Regenten?
Jn das Beſondere kann ich mich hiebey nicht einlaſ-
ſen, wenigſtens nicht ausfuͤhrlich. Dieſe Arbeit iſt zu
groß, und zu meinen jetzigen Abſichten nicht erfoderlich.
Nur bey allgemeinen Anmerkungen muß ich ſtehen blei-
ben, auf die man, als auf Grundſaͤtze, zuruͤckzuſehen
hat, wenn auf der einen Seite die wahren Vortheile der
aͤußern Umſtaͤnde erkannt, und auf der andern auch der
uͤbertriebenen Einbildung von ihrem Werth und dem
verachtenden Stolz, womit man gern auf andere her-
abſieht, die nicht ſo vortheilhaft geſetzt ſind, vorgebeugt
werden ſoll.
2.
Jn allen Umſtaͤnden, unter denen Menſchen auf
der Erde leben, entwickeln ſich die natuͤrlichen Vermoͤ-
gen bis dahin, daß der Menſch auf die Stufe eines
ſelbſtthaͤtigen Weſens kommt, unter den Polen, unter
dem Aequator, im Jaͤger - und Fiſcherſtande, beym
Eigenthum und Landbau, in Staaten- und Familienge-
ſellſchaften, in Duͤrftigkeit und im Ueberfluß, in der
Freyheit oder in der Sklaverey. Allenthalben giebt es
Empfindungen, Beduͤrfniſſe und Reize fuͤr die Kraͤfte
der Seele, wodurch ſie thaͤtig werden. Jſt der Menſch
zu dem maͤnnlichen Alter gelangt, ſo iſt ein Schritt in
der Entwickelung der Seele vollendet, der der groͤßte
und ſchwerſte von denen iſt, die in dieſem Leben auf der
Erde zu thun ſind. Jnſofern ſind auch alle aͤußere Zu-
ſtaͤnde einander gleich, bey aller ihrer ſonſtigen Verſchie-
denheit. Es liegt, ſo zu ſagen, ein Grad von Entwi-
ckelungskraft in allen, der groͤßer iſt, als der Ueber-
ſchuß derſelben, wo ſie am groͤßten iſt, vor derjenigen,
wo ſie am kleinſten iſt. Man kann ebenfalls auch hier
die
[695]und Entwickelung des Menſchen.
die Anmerkung wiederholen, die oben uͤber den Geiſt
der Staͤnde gemacht iſt, *) daß naͤmlich „jeder Zuſtand
„etwas Eigenes in ſeinem Einfluß auf die Entwicke-
„lung habe, was man als einen Vorzug bey ihm an-
„ſehen muß.‟ Jeder fuͤr ſich enthaͤlt Veranlaſſungen,
Eines oder das andere von den menſchlichen Vermoͤgen
mehr und vorzuͤglicher zu entwickeln, als die uͤbrigen.
Aber auch daraus folgt nichts weniger, als daß ſie alle
gleich gut ſind. Es kann eine blos thieriſche Voll-
kommenheit, oder gar nur eine mechaniſche Fertigkeit
im Koͤrper ſeyn, die in der wilden Lebensart ausneh-
mend erhoͤhet wird, deren Werth in Vergleichung mit
der innern Seelengroͤße, am Gefuͤhl und Vernunft, ge-
ringe iſt.
Wenn man den Werth der aͤußern Zuſtaͤnde blos
nach den Veranlaſſungen und Gelegenheiten ſchaͤtzen will,
die ſie dem Entwickelungstriebe der Seele geben, und
nicht auch das mitrechnen will, daß ſolche Veranlaſſun-
gen in dem einem Fall mehr thaͤtig und wirkſam ſind, fuͤr
ſich ſtaͤrker eindringen und bewegen, als in dem andern:
ſo vergleicht man ſie von einer Seite, wo ſie mehr einan-
der gleich ſind. Jn jedem Zuſtande, in jeder Beſchaͤff-
tigung und Lebensart wirken die aͤußern Objekte auf die
Sinne, mit unzaͤhligen Eindruͤcken, welche die menſch-
lichen Kraͤfte beſchaͤfftigen, wenn ſie nur die Aufmerk-
ſamkeit auf ſich ziehen, und wahrgenommen werden.
Der Fuhrmann ſieht eine Mannichfaltigkeit in den Be-
wegungen ſeiner Pferde, worauf er ſeine Augen geheftet
hat, davon der Reiſende in dem Wagen nichts weiß.
Waͤre jener ſo lebhaft, wie der Tanzmeiſter, der bey
dem Anſchaun eines ſchoͤnen Schritts im Tanzen aus-
rief: Wie viel Wunder in einem Pas? vielleicht ge-
rieth er auch zuweilen in Entzuͤckung uͤber die ſchoͤnen
Schritte ſeiner Pferde.
X x 4Es
[696]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Es giebt keine aͤußere Empfindung, die nicht ein
unendlich vielfaches enthaͤlt. Es kommt nur auf einen
Geiſt an, der ſich ſtark und lebhaft faßt, und auf Um-
ſtaͤnde, die ſeine Kraft auf ſie hinlenken. Aber es iſt
dennoch ein ganz anders ſich bey einer Sache unter-
halten zu koͤnnen, wenn die innere Kraft ſtark genug iſt,
ſich die in ihr liegenden kleinen Veranlaſſungen dazu zu
Nutz zu machen; und ein anderes ſo von ihr geruͤhrt
zu werden, daß man aufmerkſam werden und ſich mit
ihnen beſchaͤfftigen muß. Jn dieſem letztern liegt die
lebendige Kraft, womit das Aeußere auf das Jnnere
wirket. Jenes bietet ſich nicht blos ihr dar, ſondern
dringet ſich auf, und noͤthiget den Geiſt zur Ruͤckwir-
kung und Thaͤtigkeit. Jn dieſem Umſtande hat eben
die groͤßte Verſchiedenheit der aͤußern Verfaſſungen ih-
ren Grund.
Man kann, was die aͤußern Situationen des Gei-
ſtes betrifft, noch dieß hinzuſetzen. Es giebt eine große
Verſchiedenheit unter ihnen, die nichts mehr iſt als eine
bloße Verſchiedenheit, und die nichts mehr als nur eine
Verſchiedenheit in der Ausbildung zur Folge hat, ohne
daß die eine von der andern an innerer Realitaͤt etwas
voraushabe. Wer kann ſagen, wie viel mehr oder
weniger die Geſchaͤffte des Staatsmanns, die Kaufmann-
ſchaft, der Soldatenſtand, der Landbau, die Schiff-
fahrt, das Studiren, die Kuͤnſte, und ſo mehrere,
welche alle Seelenthaͤtigkeiten erfodern, im Ganzen den
Menſchen, nach allen Seiten betrachtet, auswickeln?
Jede von ihnen bringet ihre eigene Form hervor, und
befoͤrdert eine Entwickelung, die, von einer Seite den
Menſchen betrachtet, einen Vorzug ausmacht. Aber
zum wenigſten iſt es ſchwer, wenn man den Einfluß die-
ſer Staͤnde von allen Seiten uͤberſehen und das ganze
Maß von Entwickelung, das jeder auf gleich kraͤftige
Art hervorbringet, unpartheyiſch beurtheilen will, dar-
uͤber
[697]und Entwickelung des Menſchen.
uͤber zu entſcheiden, wie viel vorzuͤglicher die Wirkung
des Einen vor dem andern ſey? Es iſt dieß vielleicht
unmoͤglich. Der zufaͤlligen Beſchaffenheiten, die hin-
zukommen, und doch zu dem eigentlichen Geiſt der
Staͤnde nicht gehoͤren, ſind zu viele. Dieſe muͤſſen doch
abgeſondert werden, wenn man ihren innern Werth be-
ſtimmen will.
3.
Dieß iſt genug, um den Standesſtoltz zu unterdruͤ-
cken. Aber es wuͤrde uͤbertrieben ſeyn, hieraus zu fol-
gern, die innere Vervollkommnung laſſe ſich in jedem
aͤußern Zuſtande, in gleicher Maße, und gleich leicht
erlangen; eben ſo uͤbertrieben, als die Behauptung des
Zeno und des Epikurs von ihrem Weiſen war, der eben
ſo gluͤcklich ſeyn ſollte im Elend als im Ueberfluß, im
Gefaͤngniß als in der Freyheit, in dem Ochſen des
Phalaris, als auf dem weichſten Lager. Das Gefuͤhl
widerſpricht ſolchen uͤberſpannten Grundſaͤtzen zu laut.
Es gieng ein Rechnungsfehler hiebey vor. Der An-
theil, den die Eindruͤcke der aͤußern Sinne an dem
Wohl und Weh des Menſchen haben, ſo lange er in
dieſer Welt lebt, war zu niedrig angeſchlagen. Eben
ſo wuͤrde es auch ſeyn, wenn man es zum Grundſatz
machen wollte: die Entwickelung der Menſchheit gehe
gleich gut von ſtatten, bey jedweden aͤußern Beziehun-
gen, daferne nur der innere Trieb in allen von der naͤm-
lichen Staͤrke ſey. So viel auf das angeborne Genie
auch ankommt, ſo kann doch daruͤber kein Zweifel mehr
ſeyn, daß die aͤußern Umſtaͤnde den Geiſt zuruͤckhalten
und unterdruͤcken, oder hervorziehen und aufmuntern.
Vielleicht wenn ſchon ein Anfang in der Entwickelung
nach einer Richtung hin gemacht iſt, und alſo nicht mehr
die bloße Natur ſondern geſtaͤrkte Diſpoſition vorhan-
den iſt: ſo moͤgen die aͤußern Beziehungen in Hinſicht
X x 5auf
[698]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
auf das weitere Fortſchreiten weniger bedeuten, aber
niemals ſind ſie ganz gleichguͤltig. Wenn der Baum
ſchon im Schuß iſt, ſo kommt er auch in einem Boden
fort, worinn er im Anfange ſeines Wachſens erſtickt
ſeyn wuͤrde. Und dennoch iſt ihm niemals die Beſchaf-
fenheit des Bodens gleichguͤltig. Jn einigen Faͤllen iſt
dieſer Einfluß des Aeußern auf das Jnnere auffallend.
Es iſt gewiß, daß die Seele zuruͤckbleibet, wo das
thieriſche Leben allzu muͤhſelig iſt. Wenn der Menſch
alles Beſtreben anwenden muß um ſich Nahrung zu
verſchaffen, wie ſollte er Zeit haben die hoͤhere Denk-
kraft zu uͤben? Jn der elenden Verfaſſung der Be-
wohner des Feuerlandes ſind zwar Beduͤrfniſſe genug,
die zur Thaͤtigkeit treiben, aber ſie ſind zu dringend und
zu hinreißend, als daß auch die ſchwaͤchern ſollten bemerkt
werden. Der Jaͤger, der Fiſcher, der alle Tage darauf
ſinnen muß, um nicht zu verhungern, kann auf die an-
genehmen Eindruͤcke nicht achten, die aus den ſchoͤnen,
weiten, abwechſelnden und erhabenen Ausſichten der
Natur entſtehen, noch ſich an dem Geſang der Voͤgel
ergoͤtzen. Die feinere Empfindſamkeit wird alſo weni-
ger entwickelt. Daher auch die Vorſtellungskraft nicht,
und noch weniger die Denkkraft. Die Erfahrung be-
ſtaͤtigt dieſes. Jagende und fiſchende Voͤlker, die ſich
nur kuͤmmerlich ernaͤhren, bleiben ungemein an innerer
Selbſtthaͤtigkeit der Seele, an Empfindſamkeit und an
Vernunft zuruͤck. Nur die Koͤrperkraͤfte werden geuͤbt
und entwickelt. Als Shelkirk auf Juan Fernandez
Ziegen greifen mußte, um zu eſſen, erwarb er ſich die
Geſchicklichkeit, wie eine Ziege zu ſpringen und auf
Felſen zu klettern; aber er verlor dagegen den groͤßten
Theil ſeiner Sprache und der Vernunft.
Dagegen wuͤrde der gaͤnzliche Mangel an koͤrperli-
chen Beduͤrfniſſen, oder ein Ueberfluß an Sachen, wo-
mit man ihnen abhilft, noch ehe man ſie fuͤhlet, viel-
leicht
[699]und Entwickelung des Menſchen.
leicht eine Wirkung haben, die noch ſchlimmer waͤre.
Woher ſollte hier Reiz und Trieb zur Wirkſamkeit ent-
ſtehen? Es kommt zwar weniger auf Beduͤrfniſſe des
Koͤrpers als auf Beduͤrfniſſe des Geiſtes an, bey der
Entwickelung der hoͤhern Vermoͤgen. Die letztern
koͤnnen nicht wohl ehe lebhaft genug empfunden werden,
ehe nicht die erſtern zum Theil ſchon gehoben ſind.
Sollen die Triebe der Großmuth ſich entfalten, ſo muß
die Sorge fuͤr ſich das Herz nicht zu ſehr beſchaͤftigen.
Allein dennoch ſind jene im Anfange nothwendig. Die
geiſtigen Beduͤrfniſſe, die aus Sympathie entſtehen
oder aus Begierde nach Ehre und Ruhm, ſind es, die
mehr unmittelbar die Seelenkraͤfte ſpannen; aber ehe ſie
ſtark genug zu dieſer Abſicht gefuͤhlet werden, muͤſſen
die thieriſchen Triebe ruhen. Wenn dagegen dieſe
letztern nicht den erſten Anſtoß zur Thaͤtigkeit gegeben
haben, und die Seele nicht durch das Gefuͤhl koͤrperlicher
Unbehaglichkeit gereizet worden iſt, in den erſten Em-
pfindungen ihre Gefuͤhlskraft auszudehnen und zu ſtaͤr-
ken: wie ſoll dieſe ſich bis zu dem Selbſtgefuͤhl jener in-
nern Beduͤrfniſſe der Phantaſie und des Herzens erhe-
ben? Zu allen Leidenſchaften die durch Beyſpiel und
Anfuͤhrung erzeuget werden, und weder aus dem Hun-
ger und Durſt noch aus dem Vermehrungstrieb ent-
ſpringen, liegen die erſten Antriebe in den erwaͤhnten
koͤrperlichen Beduͤrfniſſen, und in denen, die zunaͤchſt
an dieſe letztern angraͤnzen. Bey den wenigſten Men-
ſchen wuͤrde nicht einmal ein Ehrgeiz entſtehen, wenn
niemals ein Mangel an den erſten ſinnlichen Ergoͤtzun-
gen gefuͤhlt worden waͤre. Home ſagt: *) „Jn dem
„wilden Stande iſt der Menſch beynahe nur ganz Koͤr-
„per, und hat einen gar geringen Gebrauch ſeiner
„Seele. — — Jn dem Stande der Verderbniß
„durch
[700]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
„durch Schwelgerey und Wolluſt hat er weder Leib
„noch Seele.‟
„Ueberhaupt iſt jedes Aeußerſte, in irgend einer
„Sache, das Groͤßte und das Kleinſte, der Vervollkomm-
„nung des Menſchen hinderlich.‟ Die ſtarke Hitze, wie
der Froſt, wenn man ihren Eindruͤcken nicht entgehen
oder ſie nicht mildern kann, halten beide die Wirkſam-
keit der Seele zuruͤck. So in allen Stuͤcken.
Unter dem Aberglauben kann die Menſchheit nicht
gedeihen. Die Furcht feſſelt die edelſten Triebe der
hoͤhern Ueberlegungskraft und des Herzens. Er be-
nimmt dem Menſchen die Zuverſicht zu ſich ſelbſt, ohne
welche doch die Eigenmacht der Seele ſich nie mit ihrer
ganzen Staͤrke aͤußern kann. Dazu zwingen ſeine Ge-
ſetze den Willen, und heben die eigene Macht auf bey
Handlungen, woran der Menſch am meiſten ſeine Ueber-
legung und ſeine Freyheit uͤben und ſtaͤrken ſollte. Ohne
Glauben dagegen und ohne Religion, was wuͤrde als-
denn aus dem Menſchen? Wo die Religionsideen feh-
len oder unwirkſam ſind, da fehlen die maͤchtigſten Trieb-
federn der Seele, und zwar die Triebfedern zu Beſtre-
bungen, wovon die groͤßten und erhabenſten Vollkom-
menheiten im Verſtande und im Herzen abhangen.
Die Sklaverey ſetzt den Menſchen herunter, und
wenn ſie mit dem Aberglauben verbunden iſt, machet
ſie ihn zu einem ſo niedrigen Weſen, als er werden kann.
Der Deſpotismus wirket auf die Selbſtthaͤtigkeit in
aͤußerlichen Handlungen; der Aberglaube auf die Thaͤ-
tigkeit in den innern. Beide alſo vereiniget, gehen ge-
rade dem weſentlichen Vorzuge der Menſchheit entgegen.
Jſt Furcht das herrſchende Princip in der Seele, ſo
kann weder die innere Geiſtesſtaͤrke noch die Gluͤckſelig-
keit vorzuͤglich etwas werth ſeyn. Dieß iſt aber die Wir-
kung des Deſpotismus, und die Folge der Sklaverey.
Alles, was jene noch zulaͤßt, beſteht in dem aͤußern ſinn-
lichen
[701]und Entwickelung des Menſchen.
lichen Vergnuͤgen, das dem Sklaven zu Theil werden
kann, und ihn, wenns hoch kommt, zu einem gluͤcklichen
Thiere, nie aber zu einem gluͤcklichen ſelbſtthaͤtigen Men-
ſchen macht.
Die gaͤnzliche Unabhaͤngigkeit dagegen kann eben
ſo wenig mit der menſchlichen Vervollkommnung be-
ſtehen. Ohne einigen Zwang von außen kann wenig-
ſtens der Menſch im Anfange ſeiner Ausbildung nicht
gluͤcklich ſeyn. Und ehe er dahin kommt, daß er ſich
ſelbſt regieren lernet, wuͤrden Traͤgheit und Sinnlichkeit
die Kraͤfte der Natur ſchon zu ſehr geſchwaͤcht und
verdorben haben, als daß ſie einen vorzuͤglichen Grad
von einer Staͤrke und Vollkommenheit mehr annehmen
koͤnnten. Die einzelnen Ausnahmen ſind allzu ſelten, als
daß ſie in Anſchlag gebracht werden koͤnnten. Wie viele
wuͤrden aber auch im Beſitze der erlangten Geiſtesguͤter
bleiben, wenn alle Einſchraͤnkung der Begierden von
außen gehoben wuͤrde? Voͤlker ohne Geſetze und ohne
Obrigkeit, wozu doch auch die Familienregierung zu
rechnen iſt, muͤſſen durchaus nur einfache Begierden
haben, und alſo auch nur auf eine einfache und niedrige
Art ſich ausbilden, wie die Geſchichte beſtaͤtiget. Es
iſt allenthalben das ſchwer zu treffende Mittel, das uns
zu unſerm Beſten am anpaſſendſten iſt.
Jndeſſen iſt es uͤberhaupt richtig, daß der Menſch
nur da, wo er unabhaͤngig von andern und ohne Zwang
handelt, nur inſofern als ein ſelbſtthaͤtiges Weſen
handele. Die innere Unabhaͤngigkeit von Leidenſchaften
und Hinderniſſen der Begierden iſt unendlich wichtiger,
als die aͤußere Freyheit. So ſehr iſt kein Menſch Skla-
ve von einem andern, daß nicht auch ſogar in ſeinen
aͤußern Handlungen beſondere Beſtimmungen und Ein-
richtungen genug auf ſeine Willkuͤr ankommen ſollten;
deſto mehr, je groͤßer ſeine innere Freyheit des Geiſtes
iſt. Uebrigens iſt das Beduͤrfniß ſelbſtthaͤtig handeln
zu
[702]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
zu koͤnnen, ein feineres Seelenbeduͤrfniß, das nicht alle
gleich ſtark und lebhaft fuͤhlen, weil dieß Gefuͤhl ent-
wickelte Empfindſamkeit oder vorzuͤgliche innere Selbſt-
thaͤtigkeit vorausſetzet. Es iſt ohne Ausnahme bey al-
len Menſchen ſchwaͤcher, als das Gefuͤhl der thieriſchen
Beduͤrfniſſe. Bey den mehreſten iſt es auch nicht ein-
mal ſo ſtark, als die Beduͤrfniſſe der Sinnlichkeit und
der Phantaſie. Der ſtarke Hang zur Unabhaͤngigkeit,
den man bey wilden Voͤlkern antrifft, iſt groͤßtentheils
nur eine Folge ihrer Traͤgheit und Unbiegſamkeit, und
der daraus entſtehenden Abneigung gegen jedes Unge-
wohnte, was ſie noͤthiget ſich etwas Gewalt anzuthun.
Dieſe laͤßt ſie jedwede Einſchraͤnkung, die eine Umaͤn-
derung in ihren Arten zu denken und zu handeln nach
ſich ziehet, als einen Verluſt ihrer Freyheit anſehen.
Es iſt Widerwille gegen Arbeitſamkeit, Ordnung und
zweckmaͤßige Ausbildung. Bey andern iſt die vorgege-
bene Freyheitsliebe mehr ein Hang ſich Anſehen, Macht,
Vergnuͤgen und Vorzuͤge zu verſchaffen. Bey vielen kom-
men mehrere Urſachen zuſammen. Es ſind ſehr wenige,
die Freyheit und Unabhaͤngigkeit aus wahrer Geiſtes-
groͤße ſchaͤtzen, weil ſie ein Beduͤrfniß fuͤhlen, wo ſie ge-
zwungen ſind anders als ſelbſtthaͤtige Weſen, ohne oder
wider eigene Einſicht zu handeln. Dieſe ſind es auch nur,
die der Freyheit ihren wahren Werth beylegen. Unbiegſa-
me Wilde, die ſie nicht entbehren koͤnnen, entſagen ihr
zwar auch nicht, ohne durch ſtarke thieriſche Beduͤrfniſſe
dazu gezwungen zu ſeyn. Aber wo auch nur eine Noth
ſie dringet, oder eine ſtaͤrkere Begierde ſich des Herzens
auf einen Augenblick bemaͤchtiget, da geben ſie ſie leicht
weg, oder ſetzen ſie aufs Spiel, wie der alte Deutſche
that. Ein großer Theil der Menſchen moͤchte ſie ſo
wohlfeil, wie Eſau ſeine Erſtgeburt, verkaufen. Von
den allermeiſten laͤßt ſie ſich erhandeln, wenn nur Ver-
gnuͤgen, Ehre, Macht und Reichthum mehr oder we-
niger
[703]und Entwickelung des Menſchen.
niger dafuͤr geboten werden kann. Denn es gehoͤret
Verſtand, Empfindſamkeit und Geiſtesgroͤße dazu, leb-
haft zu begreifen, wozu ſie eigentlich genutzet werden
koͤnne. Eine andere Frage iſt es, ob es wohl gethan
ſey ſie zu kaufen, wenn man kann, und ob man auch
die freywillige ſklaviſche Unterwerfung eines Menſchen
annehmen muͤſſe? wie weit und ob man ſie laͤnger be-
halten ſolle, als ihr eigenes Wohl es heiſchet? Wer
den Menſchen zu einer Abſicht zwinget, wozu es genug
geweſen waͤre ihm zu rathen, der beraubet ihn einer
Gelegenheit ſeine Selbſtthaͤtigkeit zu uͤben. Es iſt ein
allgemein anerkanntes Princip der Moral, daß man
das Wohl der Menſchen nach Moͤglichkeit befoͤrdern
ſolle. Aber es iſt nicht minder ein allgemeines wahres,
obgleich minder erkanntes Princip, „daß man ſich moͤg-
„lichſt beſtreben muͤſſe, ſie zu ſelbſtthaͤtigen Menſchen
„zu machen.‟
Dieſe Anerkennungen ſind nichts mehr, als einige
hie und da geſteckte Grenzpfaͤhle in der weitlaͤuftigen
Unterſuchung uͤber die beſte Lage des Menſchen zu ſeiner
Entwickelung. Sie ſollen auch nichts mehr ſeyn. Jm
Allgemeinen laͤßt ſich leicht ſagen, wie der aͤußere Zuſtand
des Menſchen in dieſer Hinſicht ſeyn muͤßte. Laß ihn
Beduͤrfniſſe haben und ſie fuͤhlen, aber ſolche, deren er
ſich durch ſeine eigene Thaͤtigkeit erledigen kann; man
bringe ihm Muth und Zuverſicht zu ſich ſelbſt bey, zum
mindeſten die Hoffnung durch ſein Selbſtbeſtreben ſich
gluͤcklich zu machen. Dieß ſind die Erfoderniſſe, wenn
der Entwickelungstrieb gereizet werden ſoll. Je meh-
rere und je mannigfaltiger die gefuͤhlten Beduͤrfniſſe ſind,
und je mehr es Beduͤrfniſſe ſind, welchen abzuhelfen
die innern und hoͤhern ſelbſtthaͤtigen Kraͤfte wirken muͤſ-
ſen, je mehr ſie naͤmlich Seelen- und Geiſtesbeduͤrf-
niſſe ſind, auf deren Gefuͤhl die koͤrperlichen Beduͤrf-
niſſe hinleiten; und je mehr ſolche in einer angemeſſenen
Bezie-
[704]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Beziehung auf ſeine Kraͤfte und Vermoͤgen ſtehen: de-
ſto ſtaͤrker und ausgebreiteter wird die Menſchheit ſich
entwickeln. Allein ſobald es zur naͤhern Beſtimmung
dieſer allgemeinen Regel kommt, und nun auf die indi-
viduellen Verhaͤltniſſe der Menſchen in der Welt und in
der Geſellſchaft geſehen werden muß, ſo iſt alles voller
Schwierigkeiten. Das Gefuͤhl der Beduͤrfniſſe und
das Gefuͤhl der Kraͤfte ſoll in einem gewiſſen Verhaͤlt-
niſſe zu einander ſtehen, wo leicht auf der einen oder
der andern Seite zu viel oder zu wenig ſeyn kann. Auch
die verſchiedenen Arten von Beduͤrfniſſen muͤſſen unter
ſich ein ſchickliches Verhaͤltniß haben. Koͤrperliche Be-
duͤrfniſſe ſollen da ſeyn, aber nicht in der Maße, daß
der Menſch keine andern kennen lerne; nicht ſo dringen-
de, daß ſie die thaͤtige Kraft immer und gaͤnzlich auf
ſich ziehen und ſie verzehren, daß dieſe auf andere
Dinge ſich nicht einlaſſen kann. Beduͤrfniſſe muͤſſen
da ſeyn; aber auch Muth und Zuverſicht in dem Men-
ſchen zu ſich ſelbſt. Werden jene allzu leicht gehoben,
ſo geben ſie nicht Anſtrengung genug fuͤr die Selbſtthaͤ-
tigkeit. Sind ſie allzu druͤckend, ſo verurſachen ſie
Muthloſigkeit und Verzweiflung. Alsdenn laͤßt der
Menſch mit ſich anfangen und machen was man will,
und verliert auch den Reſt von innerer Selbſtmacht,
den er noch beſaß. Die ſinnlichen Vergnuͤgungen koͤn-
nen ſehr leicht uͤber ihr Maß gehen und ſchaͤdlich wer-
den. Und dennoch bedarf der Menſch ihrer zu ſeiner
Erquickung, und um Zutrauen zu ſich ſelbſt und zu ſeinen
Kraͤften zu erlangen. Gleich ferne von Noth und Ue-
berfluß war der Wunſch des Weiſen. Zwiſchen jedem
Aeußerſten lieget die Mittelmaͤßigkeit, die den meiſten
am angemeſſenſten iſt. Allein wie ſchwer iſt es hier,
die Stufen und Grade zu beſtimmen? Wenn gleich
die Grenze zwiſchen dem Zuviel und Zuwenig eine ge-
wiſſe Breite hat, ſo daß es auf etwas mehr oder weni-
ger
[705]und Entwickelung des Menſchen.
ger nicht ankommt: ſo iſt es dennoch auch ſchwer genug,
und in einzelnen Faͤllen faſt unmoͤglich, nur das Aeuſ-
ſerſte in dieſen Grenzen anzugeben. Gleichwohl wuͤrde
ich es fuͤr einen vortreflichen Beytrag zu der Philoſophie
uͤber den Menſchen anſehen, wenn man nach Anleitung
des obigen allgemeinen Grundſatzes weiter gehen, ſeine
Folgen entwickeln, und ſie mit der Geſchichte der Menſch-
heit und mit der Geſchichte der Erziehung vergleichen
wuͤrde.
Waͤren die natuͤrlichen Anlagen der Menſchen alle
einander gleich, ſo wuͤrden auch dieſelbigen Umſtaͤnde,
worunter das eine Jndividuum am vollkommenſten ent-
wickelt wird, die ſchicklichſten fuͤr alle ſeyn. Aber dieſe
Folge iſt, wie der Grundſatz, der Erfahrung entgegen.
Es offenbaret ſich in ſo vielen Beyſpielen, daß die Er-
ziehungsart und Umſtaͤnde, unter denen einige Koͤpfe
ſo gut gedeihen als ſie koͤnnen, bey andern ein großes
Hinderniß ſind das zu werden, was ſonſten aus ihnen
werden konnte, und unter andern Umſtaͤnden vielleicht
geworden ſeyn moͤchte. Schon deßwegen kann es keine
allgemeine Erziehungsart geben, die nicht bey einigen
Kindern ihres Zwecks verfehlen muͤßte, ſobald ſolche ge-
nauer beſtimmt iſt. Man muß nur diejenige als eine
allgemein gute anſehen, die ſich zu den mehreſten ſchicket.
4.
Noch eine Anmerkung, mit der ich ſchließe. Hr.
Rouſſeau hat unſern polizirten Geſellſchaften viel Boͤ-
ſes nachgeſagt. Sie machen den Menſchen ſeiner Mei-
nung nach ungluͤcklicher, als er es von Natur ſeyn wuͤr-
de. Haͤtte dieſer Philoſoph auf die phyſiſche Entwicke-
lung uͤberall Ruͤckſicht genommen, wie er zuweilen that,
ſo moͤchte er zwar auf der einen Seite manches aus der
Liſte der Ungluͤckſeligkeiten weggeſtrichen, aber auf der
andern vielleicht auch einen neuen fruchtbaren Gemeinort
IITheil. Y yzu
[706]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
zu Rednergruͤnden gefunden haben, wenn er, wie er ver-
ſuchte, den kultivirten Europaͤer gegen den Hottentotten
herunterſetzen wollte. Wie viel hat der erſtere an
menſchlichen innern Realitaͤten vor dem letztern voraus?
Jndeſſen wuͤrde am Ende nichts als eine ſchoͤne Dekla-
mation herausgekommen ſeyn, wie es die iſt, da er die
Vergleichung mehr in Ruͤckſicht auf ihre Gluͤckſeligkeit
angeſtellet. Jch ſchaͤtze den ſcharfſehenden Mann, und
glaube, man muͤſſe ihm Dank wiſſen fuͤr ſeine Arbeit.
Er hat den Menſchen und ſeine Verhaͤltniſſe von einer
Seite dargeſtellt, wo die Vorurtheile hinderten ihn zu
betrachten, und die Eigenliebe der mehreſten ihn nicht
einmal gern ſieht. Allein womit wuͤrde Rouſſeau
beweiſen, daß Wildheit und Barbarey den Menſchen
und ſeine Kraͤfte eben ſo vortheilhaft fuͤr ſeine innere
menſchliche Groͤße entwickeln, als die Kultur durch Kuͤn-
ſte und Wiſſenſchaften? Sein Waldmenſch, geſetzt
auch, er konnte das ſeyn und bleiben, was er ihn ſeyn
laͤßt, ſtehr doch wohl an innerer Vollkommenheit ſehr
weit unter dem Menſchen in eingerichteten und polizirten
Geſellſchaften zuruͤck? Die Wilden auf Nordholland
und ihres gleichen, die doch um einen guten Grad wei-
ter ſind als jener, ſind in Vergleichung mit den Kul-
tivirten offenbar nichts mehr als Kinder, in Vergleichung
mit Maͤnnern. Es iſt doch der niedrigſte Haufe un-
ter uns, zu dem doch immer etwas von der Aufklaͤrung
im Ganzen hinkommt, geſcheuter, uͤberlegender und,
wenns darauf ankommt, eben ſo voller Entſchloſſenheit
und Muth, als die Wilden uͤberhaupt alle ſind. Zum
wenigſten haben die polizirten Geſellſchaften doch ihre
hervorragenden Mitglieder voraus. So lehren es vor-
her ſchon gedachte (VI. 4.) Fakta aus der Geſchichte.
Ob es nicht auch ein gewiſſes Aeußerſtes auf der
andern Seite gebe? Ob nicht die Verfeinerung in der
Geſellſchaft, die Vervielfaͤltigung der Beziehungen der
Men-
[707]und Entwickelung des Menſchen.
Menſchen auf einander und ihrer Beziehungen auf die
Koͤrperwelt, eine Grenze habe, uͤber welche hinaus ſie
die Vervollkommnung der Natur verhindern und viel-
leicht auch den Menſchen ungluͤcklicher machen koͤnne,
das iſt eine Frage, die im Allgemeinen bejahet werden
muß. Die ſchaͤdlichen Wirkungen zu weit getriebener
Bequemlichkeiten ſind die Beweiſe davon. Allein wer
beſtimmt die Grenzen?
So viel iſt außer Zweifel. Jn eingerichteten Ge-
ſellſchaften und in den durch Kuͤnſte und Wiſſenſchaften
verfeinerten Nationen ſind die Empfindungen mannich-
faltiger, und geben dem Verſtande und dem Herzen ei-
ne Ausdehnung, die der Barbar und der Wilde nicht
hat. Dieſe kann, wie nicht zu laͤugnen iſt, der Erhoͤ-
hung der Kraͤfte an Jntenſion hinderlich werden. Da-
von liegt der Erfolg vor Augen. Alles, ohne Ausnah-
me, hat in menſchlichen Dingen ſein Maß. Auch
die Perfektibilitaͤt hat ihre Grenzen. Wie ſie zu ſehr
zerſtreuet wird in mancherley Vermoͤgen, ſo muß die
Staͤrke in einzelnen Kraͤften nothwendig etwas zuruͤck-
bleiben. Die Nachkommen der alten Kaledonier moͤ-
gen mehrere Kenntniſſe und Kuͤnſte beſitzen, als ihre
Vaͤter, und in ihrer ruhigern Verfaſſung mannichfaltige-
re Empfindungen und Faͤhigkeiten entwickeln als jene:
aber der Geiſt der Alten, der ſich in Oſſians Gedichten
zeiget, — ein beſondres Phaͤnomen in der Geſchichte
der Menſchheit, — dieſer erhabene unuͤberwindliche Hel-
denmuth, darf der Nachkommenſchaft zwar nicht fehlen,
kann aber bey ihr ſeltener werden.
Die meiſten Voͤlker, die wir jetzo als kultivirte an-
ſehen, ſcheinen noch ſehr weit von dem Punkt in der
Kultur des Geiſtes entfernt zu ſeyn, wo dieſe anfangen
konnte ſchaͤdlich|zu werden. Sie kann ohne dieß nur in-
ſofern ſchaͤdlich werden, als ſie nach Einer Seite hin
geht und mehr in den aͤußern Empfindungen ſtehen blei-
Y y 2bet,
[708]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
bet, wenn die innere Kultur des Verſtandes, die Auf-
klaͤrung des Menſchen uͤber ſich ſelbſt und uͤber ſeine
Pflichten, verhindert wird; wenn die Wirkungen der
Wiſſenſchaften und Kuͤnſte mehr ausſchließungsweiſe
auf die Bequemlichkeit und Verſchoͤnerung des aͤußern
Lebens, auf Speiſe, Kleidung und Wohnungen gelenket
werden. Der innere Anbau der Seele, Einſichten des
Verſtandes, Richtigkeit des Herzens und Herrſchaft
uͤber ſich ſelbſt ſind Vollkommenheiten, davon nimmer-
mehr in irgend einem Staat ein Uebermaß zu befuͤrch-
ten iſt.
Jn der Wildheit und Barbarey ſind die Menſchen
faſt alle einander gleich, die wenigen einzelnen ausgenom-
men, die durch ihre hervorſtehenden Naturanlagen ſich
auszeichnen. Je mehr die Geſellſchaft in der Kultur
fortgeht, deſto ſtaͤrker wird die Verſchiedenheit zwiſchen
den Jndividuen, weil der Einfluß der entwickelnden Ur-
ſachen vorzuͤglich auf beſondere Staͤnde geleitet wird.
Aber je mehr die Kenntniſſe und Kultur unter der Na-
tion gemeiner werden, deſto mehr naͤhern ſich auch die
Einzelnen wiederum einander. Die Lekture iſt das wirk-
ſamſte Mittel zu dieſem Zweck, wenn ſie recht genutzt
wird. Hierinn ſind die aͤußerſte Wildheit und die aͤuſ-
ſerſte Kultur einander aͤhnlich. Unter den Wilden kann
jederman Fuͤrſt und Anfuͤhrer ſeyn, der nur geſunde
Glieder hat, und hoͤchſtens ein bischen Mutterwitz oder
Munterkeit vor andern voraus. Eben ſo wuͤrde man,
wenn die Aufklaͤrung des Verſtandes ſich allgemein ver-
breitete, wiederum wie ehemals Generals von den
Dreſchdielen, Dictators vom Pfluge und Staatsmaͤn-
ner aus den Werkſtaͤten holen koͤnnen.
Fuͤnfter
[709]und Entwickelung des Menſchen.
Fuͤnfter Abſchnitt.
Von den Grenzen der Entwickelung und von
der Wiederabnahme der Kraͤfte.
I.
Von dem Aeußerſten in der Entwickelung der
Seelenvermoͤgen.
- 1) Vorerinnerung.
- 2) Der Sinn, die Vorſtellungskraft und
der Verſtand kommen in Hinſicht ihrer
innern abſoluten Groͤße zu einer aͤußer-
ſten Stufe, wo die weitere Entwicke-
lung aufhoͤrt. Erfahrungen hieruͤber. - 3) Die Art, wie die Seelenvermoͤgen ihr
Groͤßtes erlangen. - 4) Ob die Grenze der Entwickelung in den
Seelenvermoͤgen weiter hinausgeruͤckt
werden koͤnne? - 5) Von der Grenze der Perfektibilitaͤt in
dem Menſchen, und von der Grenze der-
ſelben in der Seele. - 6) Erinnerung uͤber das Maximum in den
relativen Fertigkeiten.
1.
Der Menſch, von der Seite betrachtet, wie ſeine Na-
tur ſich entwickelt und von der Schwaͤche des
Kindes bis zur Staͤrke des Mannes ſich emporarbeitet,
iſt ein ungemein ergoͤtzender Gegenſtand fuͤr die Betrach-
tung. Wir finden darinn Gruͤnde, die uns Muth und
Zutrauen einfloͤßen und uns froh daruͤber machen, daß
wir Menſchen ſind. Allein wenn wir ihn nun bis uͤber
den Mittag des Lebens hinaus begleiten, alsdann die
Y y 3Abnahme
[710]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Abnahme ſeiner Kraͤfte und die immer wachſende
Schwaͤchung an Seele und Koͤrper anſehen, die ſich zu-
letzt mit der Zerſtoͤrung der Natur endiget; die tauſen-
derley Arten von unangenehmen Empfindungen und
Schmerzen, die ihm inzwiſchen aufſtoßen und ſeiner
letztern Periode beſonders ankleben, nicht einmal mitge-
rechnet: ſo wird die Betrachtung ſo traurig und nie-
derſchlagend, daß wir Urſache haben nach Hoffnungs-
gruͤnden auf die Zukunft uns umzuſehen.
Wenn der Menſch ganz aus Koͤrper beſteht, ſo iſt
dieß ſeine Naturgeſchichte. Er waͤchſet auf, entwickelt
ſich, kommt zum Stillſtand, geht zuruͤck, und wird
zerſtoͤrt. Und wenn es dieß alles iſt, ſo wuͤßte ich nicht,
ob es nicht mehr Weisheit waͤre, hievon die Augen et-
was leichtſinnig wegzuwenden, oder doch nur oben dar-
uͤber hinzuſehen, als ſich um eine zu deutliche und an-
ſchauliche Vorſtellung davon zu bemuͤhen. Macht uns
das Nichtwiſſen dumm: ſo kann uns auch das For-
ſchen nur Verdruß machen, wie Haller ſagt. Wie oft
wuͤrde nicht ein anderer Ausſpruch von ihm wahr werden:
Aber da der Menſch in ſeinem Koͤrper ein unkoͤrper-
liches Weſen von hoͤherer Art beſitzt, ſo verhaͤlt ſich die
Sache anders. Man ſuche nur durch den aͤußern
Schein, ſo viel man kann, das Jnnere zu ſehen: und
ich hoffe, man werde finden, daß eben der Menſch, der
in ſeinem Aufbluͤhen liebenswuͤrdig und in ſeiner Reife
das hochachtungswuͤrdigſte unter den ſichtbaren Weſen
iſt, noch in der letzten Periode ſeiner Abnahme als das
ehrwuͤrdigſte erſcheinen werde.
2. Um
[711]und Entwickelung des Menſchen.
2.
Um die Betrachtung einfach zu machen, iſt es im
Anfang genug, nur eine Seite des Menſchen, nur al-
lein ſeine vorſtellende und denkende Kraft, vorzu-
nehmen. Denn was man hiebey antrift, indem ſie ab-
nimmt, und die Art und Weiſe, wie ſolches ge-
ſchieht, und wiefern es geſchieht, das laͤßt ſich nach-
her leichter auf die uͤbrigen Seelenvermoͤgen anwenden.
Vor allen iſt hier wiederum auf den Unterſchied zwi-
ſchen der abſoluten Staͤrke der Vermoͤgen und ihrer
relativen Fertigkeiten, ſich auf dieſe oder jene Arten
von Gegenſtaͤnden zu verwenden, Ruͤckſicht zu nehmen.
Die letztern ſind deſto groͤßer, je mehr Jdeenreihen vor-
handen ſind, die ſich auf die Gegenſtaͤnde beziehen. Je-
ne beſtehen mehr in der innern Groͤße der thaͤtigen Kraft
ſelbſt. Der Stoff der Vorſtellungen iſt aus den Em-
pfindungen. Die ruhenden Vorſtellungen im Gedaͤcht-
niſſe ſind gewiſſe Diſpoſitionen in dem Seelenweſen, auf
gewiſſe Arten leicht modificirt zu werden. Die Groͤße
in dem Vermoͤgen dieſe letztern Diſpoſitionen anzuneh-
men und dann, wenn ſie einmal angenommen ſind,
wiederzuerwecken, das iſt, von der Diſpoſition zu der
wirklichen Aktion uͤberzugehen, dann die reproducirten
Jdeen zu bearbeiten: die Groͤße hierinn macht die ab-
ſolute Groͤße der Vorſtellungskraft aus. Setzet
man voraus, dieſe Diſpoſitionen waͤren von einer glei-
chen Anzahl und von einer gleichen Voͤlligkeit in zween
Koͤpfen vorhanden, auch daß ſie, als Diſpoſitionen be-
trachtet, mit gleicher Leichtigkeit, von einer gleichen Kraft
reproducirt werden koͤnnten: ſo wird die Groͤße der ab-
ſoluten Vermoͤgen nun hievon abhangen. Je ge-
ſchwinder ſie die Vorſtellungen wiedererwecken kann;
je voͤlliger ſie dieß kann; bey je mehrern, wozu ſonſten
die Diſpoſitionen in ihr gleich ſind, ſie dieß zugleich
Y y 4kann;
[712]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
kann; je anhaltender ſie dieſe Aktion fortſetzen, und je
mehr ſie neue Vorſtellungen und neue Verbindungen der
Vorſtellungen aus einem gleichen Vorrath von Ma-
terien dazu herausziehen, je ſchneller und je anhalten-
der ſie ſolche ſchaffen kann: deſto groͤßer iſt die vorſtel-
lende Kraft an ihrem innern abſoluten Vermoͤgen. Da
die Art, wie die Vermoͤgen, ſowohl die abſoluten als die
beſondern Geſchicklichkeiten, geſtaͤrket werden, in dem
erſten Abſchnitt ausfuͤhrlich gezeiget worden iſt, ſo lege
ich das Obengeſagte hier wieder zum Grunde.
Die Sinne, die Einbildungskraft, der Ver-
ſtand, haben bekanntlich ihre natuͤrlichen Perioden in
dem Menſchen, in denen ſie hervorgehen, auswachſen
und ihre voͤllige Staͤrke erreichen, bey der ſie ſtehen
bleiben, wie die Kraͤfte des Koͤrpers. Da man dieſe
Bemerkung gemacht, hat man auf die abſoluten Ver-
moͤgen geſehen. Die Sinne koͤnnen noch immer von
neuen Objekten neue Eindruͤcke empfangen, ob ſie gleich
ſelbſt an ſich weder ſchaͤrfer noch feiner werden. Die
Phantaſie kann noch lange fort neue Reihen von Bil-
dern anlegen, und der Verſtand neue Einſichten und Fer-
tigkeiten in Wiſſenſchaften erlangen, wenn gleich kein
Anwachs, wenigſtens kein merklicher Anwachs, in den
Kraͤften mehr erfolget, wenn beide vielmehr ſchon uͤber
den Zeitpunkt hinaus ſind, in dem ſie mit ihrer groͤßten
Jntenſion gewirket haben.
Es iſt eben ſo bekannt, woran ich nur darum erin-
nere, weil es hier gebraucht wird, daß der Zeitpunkt
des Maximum in den Seelenvermoͤgen, ſo wenig als
in den Kraͤften des Koͤrpers, bey allen Menſchen in
daſſelbige Jahr des Alters falle. Die Augen erhalten
ihre groͤßte Vollkommenheit im Durchſchnitt vor dem
zwoͤlften; die Phantaſie ihre groͤßte Lebhaftigkeit vor dem
dreyßigſten; und die Vernunft vor dem vierzigſten.
Hiebey finden ſich aber manche Abweichungen, ſo wohl
bey
[713]und Entwickelung des Menſchen.
bey ganzen Voͤlkern, als bey Jndividuen. Die Ent-
wickelung geht bey einigen geſchwinder, bey andern lang-
ſamer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der
Stillſtand fruͤher oder ſpaͤter. Jndeſſen findet ſich doch
auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch
wiederum auf die allgemeine Geſchlechtsgleichheit zuruͤck-
fuͤhret. Aber es giebt auch Verſchiedenheit genug, die
ſchon in der angebornen Natur, oder in den aͤußern Um-
ſtaͤnden, oder in beiden, ihren Grund hat. Die fruͤh-
zeitige Anfuͤhrung der Jugend thut hierzu ſehr viel, wie
die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs-
kraft, durch die beſtaͤndige Uebung, in Kindern, die faſt
allein in dem Umgang der ſchon geſetzten Erwachſenen
gebildet werden, und beſchleuniget daher die natuͤrliche
Muͤndigkeit einigermaßen. Dennoch aber iſt ihr Ein-
fluß in Hinſicht der abſoluten Vermoͤgen nicht ſo groß,
als in Hinſicht der beſondern Geſchicklichkeiten.
Dieß iſt freylich nur noch etwas ſehr Allgemeines
und Unbeſtimmtes. Und viel mehr Beſtimmtes laͤßt
ſich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun-
gen angeben. Dieſe ſind ſelbſt noch ſo unvollſtaͤndig,
beſonders in Hinſicht der Grade und Stufen in den
Wirkungen, worauf doch ſo vieles ankommt. Viel-
leicht iſt zu hoffen, die Geſchichte der Erziehung, dieſer
wichtige Beytrag zur Experimentalphyſik der Seele, mit
der kaum ein Anfang gemacht iſt, werde uns kuͤnftig
ſorgfaͤltigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl
gar Verſuche, hieruͤber liefern. *)
Y y 53. Die
[714]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
3.
Die Art, wie die abſoluten Seelenvermoͤgen ihr
Maximum erreichen, uͤber welches hinaus ſie nicht wach-
ſen, laͤßt ſich zwar einſehen aus der Art, wie ſie ſich
entwickeln; aber es hat dennoch dieſe Sache ihre
Schwierigkeiten, die es noͤthig machen ſie etwas deutli-
cher vorzuſtellen.
Die Groͤße der abſoluten Vermoͤgen haͤngt von
der Groͤße der Diſpoſitionen ab, auf gewiſſe Weiſe zu
wirken und ſich zu aͤußern. Die Fertigkeiten in ihnen
ſo hervorzugehen, ſind durch die Wiederholung derſelbi-
gen Kraftaͤußerungen entſtanden, indem die einzelnen
Handlungen, jede ihre Spur, als eine Nachbildung oder
Vorſtellung von ſich, zuruͤckließen, und dieſe ſich an-
haͤuften und zu einer Groͤße, oder zu einer ſtarken,
reich-
*)
wahr
[715]und Entwickelung des Menſchen.
reichhaltigen Spur vereinigten. Es iſt hier naͤmlich
die Rede von ſolchen Fertigkeiten, die nach und nach
gewachſen ſind. Jn der That giebt es keine andern in
der Seele. Selbſt das Athemholen und das Saugen
iſt, nach einer oben ſchon angefuͤhrten Bemerkung des
Hrn. Verdier,*) nach und nach, obgleich vor der Ge-
burt, erlernet. Und was die Fertigkeiten in den will-
kuͤrlichen Bewegungen der Glieder betrifft, ſo iſt es jetzo
durch die Beobachtung an den Kindern außer Zweifel
geſetzt, daß ſie allmaͤlig erlanget werden. Jndeſſen
wenn jemand eine oder die andere fuͤr ſo natuͤrlich anſe-
hen wollte, daß ſie von den [e]rworbenen abgeſondert wer-
den muͤßte, ſo wuͤrde ſolche auch in der gegenwaͤrtigen
Betrachtung bey Seite zu ſetzen ſeyn.
Jedwede
[716]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Jedwede Fertigkeit, die durch Uebung entſtanden
oder vergroͤßert iſt, nimmt wiederum ab, wird ge-
ſchwaͤcht und verlieret ſich endlich, wenigſtens dem
Scheine nach, wenn ſie einige Zeit nicht angewendet
wird. Je groͤßer ſie iſt, deſto laͤnger erhaͤlt ſie ſich,
auch wenn ſie nicht gebraucht wird. Aber wo ſie noch
ſchwach iſt, da geht ſie deſto geſchwinder zuruͤck, wenn
ſie nicht weiter kommt, oder man ſie nicht wenigſtens
da zu halten ſucht, wo ſie iſt. Je ſeltener ein Ver-
moͤgen gebraucht, und je weniger es mit Anſtrengung
gebraucht wird, deſto geringer wird der Zuwachs, oder
es erfolget gar eine Abnahme. Wo der Gebrauch es
noch ſo ſehr vergroͤßert, als der Nichtgebrauch es ver-
mindert, da ſind die Wirkungen von beiden einander
gleich. Jſt eine groͤßere Zunahme nicht mehr moͤglich,
ſo iſt die hoͤchſte Stufe da, welche die Kraft oder
das Vermoͤgen erreichen kann.
Es iſt ferner ſehr begreiflich, „daß der Zuwachs
„des Vermoͤgens, der aus den einzelnen Handlungen
„entſpringet, deſto geringer ſeyn muͤſſe, je groͤßer die
„Fertigkeit ſelbſt ſchon iſt.‟ Das erſtemal erreget der
Eindruck einer Sache eine ſtarke lebhafte Vorſtellung,
die ſich feſt und tief eindruͤcket: das zweytemal wird die
Vorſtellung voͤlliger, und auch das dritte und viertemal
bekommt ſie noch einen merklichen Zuwachs. Aber
wenn ſie oͤfters auf einerley Art wiederholet wird, verlie-
ret ſie ihre Neuheit, und zieht die Aufmerkſamkeit nicht
auf ſich wie vorher. Sie wird alſo nicht mehr mit glei-
cher Anſtrengung der Kraft aufgenommen. Laß ſie nun
zwar jedesmal ſich etwas tiefer eindruͤcken, ſo iſt doch ſo
viel gewiß, daß die folgenden Zuſaͤtze nicht alle von glei-
cher Groͤße ſind, und daß die Zunahme des Ganzen
nicht in demſelbigen Verhaͤltniß fortgehe, wie die Sum-
me der aͤhnlichen wiederholten Empfindungen. Wie es
aber bey den Eindruͤcken von außen und ihren Spuren
iſt,
[717]und Entwickelung des Menſchen.
iſt, ſo verhaͤlt es ſich mit unſern Vorſtellungen von den
Aktionen ſelbſt. Die Aktion, das erſtemal unternom-
men, hinterlaͤßt eine ſehr lebhafte und ſtarke Spur in
dem Gefuͤhl, und die erſtern Wiederholungen haben die-
ſelbige Wirkung bis dahin, daß jene anfaͤngt uns voͤl-
lig bekannt und gelaͤufig zu werden. Es iſt die Repro-
ducibilitaͤt dieſer Vorſtellungen, worinn die Fertigkeit
beſtehet. Wenn alſo gleich dieſe noch immer um etwas
anwaͤchſt, ſo oft die Handlung wiederholet wird, ſo muß
dieſer Anwachs zugleich ſo wenig betraͤchtlich werden,
daß leicht eben ſo viel wiederum abgehen kann, wenn
die Kraft eine Weile nicht gebraucht wird.
„Jede veraͤnderliche Fertigkeit verlieret, wenn ſie zu
„einer gewiſſen Groͤße gebracht iſt, ſchon dadurch, daß
„ſie nicht jedesmal mit ihrer vollen Jntenſion gebrau-
„chet wird.‟ Der ungebrauchte Theil hat geruhet,
und wird geſchwaͤcht, mehr oder minder. Daher iſt es
auch zur Erhaltung dieſer Fertigkeiten noͤthig, ſo mit
ihnen zu arbeiten, als wenn ſie noch immer erhoͤhet wer-
den ſollten. Wenn dieß nicht geſchieht, ſo kann das
Vermoͤgen abnehmen, ob man gleich fortfaͤhret es anzu-
wenden.
So wie die Kraft der Seele dieſe oder jene Vorſtel-
lungen von Aktionen eigenmaͤchtig zu reproduciren zu-
nimmt, ſo waͤchſet auch in den Vorſtellungen von
den Objekten die Leichtigkeit ſich reproduciren zu laſſen.
Aber je leichter die Jdeen fuͤr ſich zu reproduciren ſind,
deſto weniger erfodern ſie das Beſtreben der Eigenmacht
der Seele. Sie ſtellen ſich auf den erſten Wink von
ſelbſt dar. Von dieſer leichtern Reproducibilitaͤt der
Vorſtellungen von den Objekten haͤngt die Groͤße in un-
ſern relativen Vermoͤgen ab, die ſich auf die beſondern
Gegenſtaͤnde beziehen. Je groͤßer alſo dieſe werden, je
mehr werden die Veranlaſſungen vermindert, fuͤr die
abſo-
[718]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
abſoluten Kraͤfte oder Vermoͤgen, ſich anzuſtrengen
und zu ſtaͤrken.
Man nehme dieß zuſammen, ſo zeiget ſich ſelbſt in
der Natur des Anwachſens eine innere Urſache, wel-
che nicht zulaͤßt, daß die Kraͤfte ins Unendliche fortwach-
ſen, ohne noch darauf zu ſehen, wie weit das koͤrperliche
Organ der Seele und deſſen Einrichtung ihnen Grenzen
ſetzt. Denn je groͤßer ein Vermoͤgen wird, deſto leich-
ter wird es ſich zu aͤußern; und je leichter dieß iſt,
deſto weniger wird es dabey angeſtrenget, und deſto
mehr mindert ſich die durch vorhergehende Uebung ſchon
erlangte Staͤrke deſſelben.
So iſt alſo, uͤberhaupt die Sache betrachtet, ein
Stillſtand im Wachſen in dem Seelenweſen
und deſſen Kraͤften nothwendig. Theilen wir aber dieſe
Betrachtung, und ſehen die Vermoͤgen zuerſt von der
Seite an, wie ſie in dem koͤrperlichen Organ ihren
Sitz haben, und alsdenn von der andern, ſo ferne ſie
Beſchaffenheiten der einfachen Seele ſind: ſo ergiebt
ſich wiederum in beiden Hinſichten die Folge, daß in
dem Menſchen jede Fertigkeit ihre hoͤchſte Stufe er-
reichen muͤſſe, uͤber welche hinaus ein weiteres Wachſen
unmoͤglich iſt. Jch rede naͤmlich nach der vorher ange-
nommenen Hypotheſe von der Verbindung des Organs
mit der Seele. Denn wenn die gewoͤhnliche Jdee von
dem alleinigen Sitz der Vorſtellungskraft in der Seele
vorausgeſetzt wird, ſo iſt es unnoͤthig zu dem, was
ſchon geſagt iſt, noch etwas hinzuzufuͤgen.
Sehen wir auf den Grad der Leichtigkeit ſinnlich auf
eine beſtimmte Art bewegt zu werden, welcher ſich in
den Fibern des Organs befindet und zu der Fertigkeit
in dem Menſchen gehoͤret: ſo verſteht es ſich von ſelbſt,
daß es dabey eine Grenze geben muͤſſe, uͤber welche die
Leichtigkeit nicht hinaus gehen kann. Sie mag beſte-
hen, worinnen ſie wolle, je mehr ſie zunimmt, deſto
mehr
[719]und Entwickelung des Menſchen.
mehr wird auch in der Fiber etwas gehaͤuft, was zu ei-
ner koͤrperlichen Groͤße werden muß. Die Fiber wird
alſo in dieſer Hinſicht wachſen, ſtaͤrker und feſter, und
alſo auch unbiegſamer und unbeweglicher werden.
Betrachten wir das koͤrperliche Werkzeug in Ver-
bindung mit der unkoͤrperlichen Seele, ſo wird die paſ-
ſive Leichtigkeit in den Fibern ſich ſinnlich bewegen
zu laſſen, oder die Leichtigkeit, womit die materiellen
Jdeen hervorgehen, fuͤr ſich, wie vorher erinnert wor-
den iſt, ein Hinderniß werden fuͤr die hoͤhere Anſtren-
gung der Seelenkraft. Je leichter die materielle Jdee
ſich darſtellet, und je leichter insbeſondere die Fibern
ſind, welche zu den willkuͤrlichen Thaͤtigkeiten gehoͤren,
deſto weniger iſt die Handlung eine Aeußerung von der
Eigenmacht der Seele. Der Antheil des Organs an
den Aktionen wird groͤßer. Aber auch deſto geringer
der Reiz und die Nothwendigkeit fuͤr die Seele, ihr in-
neres Princip dabey anzuſtrengen.
Vielleicht kommt aber ein anderes Reſultat heraus,
wenn man die Vermoͤgen und ihre Fertigkeiten betrach-
tet, inſofern ſolche in der Seele ſelbſt ſind? Davon
nachher etwas mehr. Allein wie dem auch ſeyn mag,
ſo iſt aus dem Vorhergehenden ſo viel offenbar, daß die
innere Perfektibilitaͤt im Menſchen ihre natuͤrliche
Grenze haben muͤſſe, wie die Entwickelung die ihrige
haben muß. Wenn dieß von jeder Kraft und von je-
dem Vermoͤgen beſonders betrachtet außer Zweifel iſt,
ſo muß es auch bey allen und bey der geſamten Kraft
der menſchlichen Natur ſtattfinden.
4.
„Sollte aber die Grenze, wo das non plus ultra
„der menſchlichen Vermoͤgen iſt, nicht durch gewiſſe
„Mittel weiter hinausgeruͤckt werden koͤnnen?‟ Zu
dieſer Frage wird man veranlaſſet, wenn man auf die
Urſachen
[720]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Urſachen ſieht, die jene feſtſetzen. Wenn die allzu
große Leichtigkeit in den Jdeen bey der Vorſtel-
lungskraft ein Grund wird, warum es dieſer an einer
ſtaͤrkern Anſtrengung fehlet, wodurch ſie noch weiter er-
hoͤhet wuͤrde: ſo ſcheint es ja, daß man den vorhande-
nen Jdeenvorrath nur immer mit neuen Reihen zu ver-
mehren trachten duͤrfe, um dem Vermoͤgen immer gleich
ſtarke Beſchaͤfftigungen zu geben. Und daſſelbige ließe
ſich auch bey den uͤbrigen anbringen. Man fuͤhre die
Phantaſie auf neue Gegenſtaͤnde, die ſo wenig Bezie-
hung auf die ihr ſchon gelaͤufigen haben, als es ſeyn
kann; man lerne neue Sprachen um das Gedaͤchtniß
zu ſchaͤrfen, und ſtudire neue Wiſſenſchaften fuͤr den
Verſtand: allerdings laͤßt ſich auf dieſe Art etwas aus-
richten. Hat man auf die einzelnen Faͤlle Acht, die
man bey ſolchen Leuten antrift, welche noch in einem
ziemlichen Alter manche ihnen neue Kenntniſſe ſich er-
werben und auch Sprachen erlernen: ſo zeiget ſich,
daß ſie zum mindeſten ihre Kraͤfte laͤnger in ihrer groͤß-
ten Thaͤtigkeit erhalten, und auch wohl wirklich etwas
weiter hinaufbringen, als es ſonſten geſchehen waͤre.
Aber dennoch iſt auch die Wirkung davon nicht groͤßer,
als man ſchon aus der Natur der Sache, ſo wie ſie in
dem Vorhergehenden angegeben iſt, erwarten kann. Die
Entwickelung der Kraͤfte kann nicht ins Unendliche ge-
hen. Das Moment des Stillſtehens ruͤckt heran; und
der Grund davon liegt in der Natur der koͤrperlichen
Werkzeuge. Je mehr die Faſern des Gehirns ſchon
geſtaͤrket ſind, deſto feſter, haͤrter, unbiegſamer und
deſto ungeſchickter, neue Eindruͤcke anzunehmen, muͤſſen
ſie werden. Und hiemit vergroͤßert ſich die Schwierig-
keit zu reproduciren. Beides verurſacht eine natuͤrliche
unuͤberwindliche Unluſt an ganz neuen Geiſtesarbeiten.
Sprachen und Geſchichte wollen nicht mehr ſo gut in
den Kopf hinein, wenn das Juͤnglingsalter voruͤber iſt.
Faſt
[721]und Entwickelung des Menſchen.
Faſt alle Gedaͤchtnißſachen erfodern, daß ſchon in der
Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch
aͤhnliche alsdenn erlernet ſind, wovon der Uebergang zu
den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter iſt, wenn
naͤmlich eine ſich auszeichnende Fertigkeit darinn errei-
chet werden ſoll. Jſt jemand uͤber das dreyßigſte Jahr,
ſo gehoͤrt ſchon mehr als gemeine Geſchmeidigkeit des
Verſtandes dazu, neue Wiſſenſchaften mit Fortgang
zu ſtudiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt-
niſſen die Samen ſchon enthalten ſind. Hr. Tiſſot hat
ein warnendes Beyſpiel angefuͤhrt, wie ſehr ein Menſch
der Natur Gewalt anthun muͤſſen, der in ſeinem vierzig-
ſten Jahr anfing ſich auf Philoſophie und Mathematik
zu legen. Wir ſammlen zwar von ſelbſt, ſo lange wir
leben, immer neue Empfindungen auf, und machen
immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns:
aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen
wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck-
bar, daß, wenn allein auf die erweckbaren Jdeenrei-
hen geſehen wird, an deren Bearbeitung die Vorſtel-
lungskraft ſich uͤben kann, ſolche weder an Menge, noch
an Staͤrke, noch an Laͤnge, um ein merkliches mehr zu-
nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre hoͤchſte
Stufe erhalten hat.
5.
Die Urſachen, welche die Perfektibilitaͤt der See-
lenvermoͤgen innerlich und natuͤrlich begrenzen, koͤnnen
auf dieſe zwey, auf den Mangel an Gelegenheiten
die Kraͤfte zu einer hoͤhern Anſtrengung zu bringen, und
auf den Nichtgebrauch derſelben, gebracht werden.
Alle uͤbrige Zufaͤlle bey Seite geſetzt, ſo muͤſſen dieſe
allein nothwendig die Perfektibilitaͤt des Menſchen ein-
ſchraͤnken. Jndeſſen iſt doch die Perfektibilitaͤt des
Menſchen nicht die Perfektibilitaͤt der Seele, des
IITheil. Z zunkoͤrper-
[722]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
unkoͤrperlichen Beſtandtheils ſeines Weſens; und die
Ungleichartigkeit dieſer letztern und des koͤrperlichen Or-
gans kann | uns wenigſtens ehe auf die Vermuthung
fuͤhren, es werde bey der Seele, fuͤr ſich allein betrachtet,
ſich anders verhalten, als in dem ganzen Menſchen, als
daß in beider Hinſicht daſſelbige ſtattfinde. Zumal
wenn man bemerket, daß die vornehmſten Hinderniſſe
des Fortgangs in dem koͤrperlichen Theil ihren Sitz ha-
ben. Allein koͤnnen nicht auch aͤhnliche und gleiche in
der Seele ſelbſt vorhanden ſeyn?
Daß Fertigkeiten, welche einmal erworben ſind,
durch die unterlaſſene Uebung geſchwaͤcht werden, iſt auſ-
ſer allem Zweifel bey dem Menſchen. Aber es iſt
nicht ſo leicht auszumachen, ob ſolches auch ſtattfinde,
inſoferne ſie Beſchaffenheiten in der Kraft der Seele
ſind? und wenn es hier auch etwas giebt, was eine
Schwaͤchung zu ſeyn ſcheint, oder ihr entſpricht, ob es
ſo etwas in dem Jnnern wirklich ſey, und was es hier
ſey? Die Schuld davon kann allein an dem Organ
liegen, und eine Folge von der Zuſammenſetzung ſeyn,
die es mit ſich bringt, daß ein gewiſſer Grad der Be-
wegbarkeit nicht lange in einer Fiber beſteht, wenn dieſe
eine Zeit lang in Ruhe bleibt. Vielleicht ſetzen ſich, in-
dem die Fiber ruhet, fremde neue Partikeln zwiſchen
den vorhandenen an, und machen ſie ſteifer, oder doch
wenigſtens durch dieſe Veraͤnderung in der Lage unge-
ſchickter, in den vorigen Richtungen und mit derſelbigen
Maße einander zu ſtoßen und zu erſchuͤttern. Wie,
wenn es dagegen von der Seele wahrſcheinlich gemacht
werden koͤnnte, daß ſie nie etwas von einer innern Rea-
litaͤt verliere, die ſie einmal erhalten hat: ſo ließe ſich
auch die Schwaͤche in ihren Vermoͤgen als eine bloß re-
ſpektive Schwaͤche erklaͤren, die von der Beziehung
eines Vermoͤgens auf andere abhaͤngt, deren uͤberwie-
gende Staͤrke jenes ſich zu aͤußern nur hindert.
Was
[723]und Entwickelung des Menſchen.
Was die zwote Urſache betrift, warum die Seelen-
fertigkeiten nicht erhoͤhet werden koͤnnen, naͤmlich weil
ihnen wegen der leichten Reproducibilitaͤt der empfange-
nen Jdeen, und wegen der Ungeſchicklichkeit neue anzu-
nehmen, die Gelegenheit entzogen wird ſich mit einer
ſolchen Anſtrengung zu aͤußern, wie es die weitere Er-
hoͤhung der Kraft erfodern wuͤrde: ſo kann auch dieſe
nur bloß den menſchlichen Fertigkeiten an fernerem Wach-
ſen hinderlich ſeyn, ohne in der Seele eine ſolche Wir-
kung zu haben. Es wuͤrde das erſtere allein, daß naͤm-
lich die ſchon empfangenen Vorſtellungen zu leicht von
ſelbſt wieder ſich darſtelleten, nicht hindern, daß die
Kraͤfte ſich an andern ſchaͤrfen koͤnnten, wenn das zwey-
te nicht hinzukaͤme, naͤmlich die Ungeſchicklichkeit neue
Eindruͤcke anzunehmen, und den Kraͤften friſche Rei-
zungen zu verſchaffen. Aber muß dieſe Steifigkeit
oder Unfaͤhigkeit auch der unkoͤrperlichen Einheit zukom-
men, wenn ſie gleich in den Fibern des Gehirns eine
nothwendige Folge ihrer Einrichtung und ihres Gebrauchs
iſt? Und wenn etwas entſprechendes, ein Analogon
von der koͤrperlichen Steifigkeit, in der Seele ange-
nommen werden muß: ſo darf dieſes in dieſer eben kein
reelles Unvermoͤgen zu neuen Eindruͤcken, oder eine Ver-
minderung an Empfaͤnglichkeit ſeyn, ſondern kann, wie
vorhero, wiederum als ein bloß reſpektives Unver-
moͤgen erklaͤret werden, das daher entſpringet, weil
die Seele auf andere Arten in einem hoͤhern Grade thaͤ-
tig iſt.
Wenn die erſte Urſache, warum die Vergroͤßerung
der Vermoͤgen aufhoͤren und in eine Abnahme uͤberge-
hen muß, in der vergroͤßerten Feſtigkeit und Unbieg-
ſamkeit der Fibern des Organs liegt: ſo ließe ſich ſo gar
begreifen, daß die Kraͤfte in der Seele, als Seelen-
beſchaffenheiten, noch fortwachſen koͤnnen, indem die
Kraͤfte im Menſchen ſtillſtehen oder ſchon abnehmen.
Z z 2Wird
[724]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Wird die Reproduktion der harmoniſchen Bewegungen
in dem Koͤrper erſchweret, ſo wird auch die Erweckung
der menſchlichen Vorſtellungen und der menſchlichen
Seelenthaͤtigkeiten erſchweret. Denn dieſe letztern erfol-
gen nicht, woferne nicht jene vorhanden ſind; und ohne
das Gefuͤhl der begleitenden koͤrperlichen Bewegungen
fuͤhlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht.
Der Menſch wird alſo langſamer und minder lebhaft
denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele
nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Dienſten iſt.
Allein eben dieſe Schwierigkeit, das Organ gehoͤrig zu
lenken, kann eine Veranlaſſung ſeyn, die Kraft des un-
koͤrperlichen Jchs anzuſtrengen, zu uͤben und zu ſtaͤr-
ken. Mag die ganze menſchliche Thaͤtigkeit gerin-
ger ſeyn, als vorhero, ſo kann die Seelenthaͤtigkeit,
als der immaterielle Antheil derſelben, groͤßer ſeyn. Es
iſt alſo wenigſtens nicht ganz unmoͤglich, und mehr be-
haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn
das Feuer im Denken und Handeln nachlaͤßt und zu
verloͤſchen anfaͤngt, die Staͤrke der innern Seelenkraft
nicht nur dieſelbige bleibe, ſondern noch fortfahre erhoͤ-
het zu werden.
6.
Die relativen Vermoͤgen, oder beſondere Ge-
ſchicklichkeiten, muͤſſen gleichfalls im Menſchen ihr Ma-
ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung
von allen Virtuoſen lehret. Doch iſt dieſer Punkt von
dem Punkt des Groͤßten in den abſoluten Kraͤften unter-
ſchieden. Die letztern haben oft genug ihre hoͤchſte Stu-
fe ſchon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewiſſen be-
ſtimmten Arten zu handeln nicht nur ſich vervielfaͤltigen
und alſo an Ausdehnung zunehmen, ſondern auch an
innerer Staͤrke und Geſchwindigkeit noch fortwachſen.
Dieſer Wachsthum kann weit in die Periode der Ab-
nahme
[725]und Entwickelung des Menſchen.
nahme der abſoluten Kraͤfte hineingehen. Es hangen
die beſondern Geſchicklichkeiten von der Leichtigkeit ab,
beſondere Jdeenreihen zu erwecken, und die erweckten
Vorſtellungen von Aktionen in Empfindungen zu ver-
wandeln, oder doch ſo voll und lebhaft zu erwecken, daß
ſie leicht bey jeder Veranlaſſung in Empfindungen uͤber-
gehen. Da man gemeiniglich alsdenn, wenn eine Ge-
ſchicklichkeit an ihrer innern Jntenſion, an Staͤrke und
Geſchwindigkeit bis zu einem gewiſſen Grad gebracht iſt,
anfaͤngt, ſie mehr zu vermannichfaltigen als innerlich zu
verſtaͤrken: ſo hat man auch ſelten Erfahrungen, wor-
aus ſich ſehen ließe, wie weit ſie, in Hinſicht der Jnten-
ſion, an ſich wohl getrieben werden koͤnnten, wenn je-
mand ſich allein darauf legte, ſie von dieſer Seite zu
vergroͤßern. Der Spieler ſucht mehrere neue Stuͤcke
zu erlernen, wenn er mit einigen fertig iſt; und der
Mann von Verſtande ſucht neue Kenntniſſe und Ein-
ſichten. Dieß vereinzelt die allgemeine Geſchicklichkeit,
und bringt ſie auf mehrere Gegenſtaͤnde, wodurch ſie
als in ſo viele beſondere Kanaͤle geleitet und zertheilet
wird. Es wird unangenehm, minder nuͤtzlich, ſo gar
ſchaͤdlich, indem es ein Mißverhaͤltniß in der Seele her-
vorbringt, wenn ein Menſch mit einem ewigen Einerley
in der Vorſtellung und in dem Willen ſich befaſſen, und
die Leichtigkeit, eine einzelne oder einige wenige |Fibern
auf dieſelbige Art zu bewegen, aufs aͤußerſte treiben
will. Jndeſſen muͤßte doch auch hierinn endlich eine
Grenze ſeyn. Die Reizbarkeit und ſinnliche Beweg-
lichkeit der Fibern hat ihre Grenze, woruͤber auch die
Schnelligkeit im Oſcilliren, oder was fuͤr eine Art der
Bewegung es auch iſt, nicht vergroͤßert werden kann.
Z z 3II. Von
[726]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
II.
Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen
uͤberhaupt.
- 1) Vorerinnerung.
- 2) Jn welchem Verſtande die Wiederabnah-
me der Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwi-
ckelung der Seele ſeyn kann.
1.
Die Periode der Wiederabnahme in den Seelenver-
moͤgen kann man faſt von demſelbigen Punkt an-
nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er-
langet iſt. Jndeſſen giebt es doch in der Seele wie in
dem Koͤrper einen gewiſſen Stillſtand von einiger Zeit,
der als ein Beharrungsſtand anzuſehen iſt, worinn
die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch
nicht merklich ungleich ſind, die, wie es ſich bey allen
fortſchreitenden und wiederabnehmenden Weſen verhaͤlt,
ſchnell und in den kleinſten Graden mit einander ab-
wechſeln. Dieß iſt des Menſchen Mittag. Die Kraͤf-
te der Seele und des Koͤrpers erfahren ihre Fluth und
Ebbe. Sie ſind an dem Morgen jeden Tages ſtaͤrker
und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr
Abwechſelung, wenn der Menſch krank und wieder ge-
ſund wird. Allein ſo lange der Stillſtand in dem Leben
dauert, ſetzet ſich alles wieder ſo ziemlich in den Gleich-
ſtand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk-
lich wird.
Die Abnahme in den Kraͤften des Koͤrpers,
und die in den Seelenkraͤften, gehen gewiſſermaßen
nebeneinander. Es lehret auch bey dieſer wie bey jener
die Erfahrung, „daß die Abnahme deſto zeitiger ein-
„tritt, je ſchneller die Entwickelung bis zu ihrem Groͤß-
„ten gegangen iſt.‟ Dieß geſchieht gemeiniglich, ob-
gleich
[727]und Entwickelung des Menſchen.
gleich Ausnahmen vorkommen. Dieſe und dergleichen
Bemerkungen mehr, nebſt ihren Abweichungen und
Verſchiedenheiten in den verſchiedenen Menſchenarten,
gehoͤren zu der Naturgeſchichte des Menſchen, die ich
hier uͤbergehe. Aber was die Art und Weiſe des Ab-
nehmens an Seelenkraͤften betrift, und welchen Begriff
man aus der Erfahrung ſich davon zu machen habe?
ob es in einem Verluſt beſtehe, oder in einer Wieder-
einwickelung? worinnen es beſtehe, inſofern es in
dem Organ der Seele vor ſich geht? und was es in
der Seele ſelbſt ſey? dieß ſind Hauptſtuͤcke in der
Philoſophie uͤber den Menſchen, woruͤber ich wuͤnſchte,
einiges Licht verbreiten zu koͤnnen.
2.
Die Abnahme der Seelenkraͤfte iſt eben ſo wenig
eine Wiedereinwickelung der Vermoͤgen, als die
Ahnahme des Koͤrpers ſo etwas iſt, wenn man ſich eine
Ruͤckkehr in den ehemaligen Zuſtand der Jugend dar-
unter vorſtellet, das iſt, in den Zuſtand, worinn die
Seele vor der Entwickelung ihrer Vermoͤgen war, da
ſie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen
Vermoͤgen beſaß. Sonſten kann ſie anderer Beſchaf-
fenheiten wegen, von gewiſſen Seiten betrachtet, wohl
eine Einwickelung genennet werden. Man ſehe nur
zuerſt auf das, was in dem Koͤrper geſchieht, wenn der
Menſch alt wird. Es folgt keine Verjuͤngerung. Die
entwickelte Form behaͤlt, den weſentlichen Stuͤcken nach,
ihre einmal erlangte Groͤße, ihren Umfang und ihre
Maſſe, und die Theile bleiben unter ſich in derſelbigen
Lage und Ordnung, behalten dieſelbigen Verhaͤltniſſe auf-
einander, wie ſie ſolche angenommen haben. Die we-
nigen Veraͤnderungen in der Laͤnge und Groͤße, die Ver-
kuͤrzungen der Faſern, ihre Verduͤnnung, und was man
mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift und
Z z 4eine
[728]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
eine Folge von der Verhaͤrtung iſt, koͤnnen hiebey uͤber-
ſehen werden. Jn dieſer vergroͤßerten Rigiditaͤt, oder
in der verminderten Geſchmeidigkeit und Bewegbarkeit
der Theile, beſtehet eben das Weſentliche des koͤrperli-
chen Alterns. Dieſe iſt es, welche nicht zulaͤßt, daß
die noch thaͤtige und treibende Lebenskraft mit der ehema-
ligen Leichtigkeit die willkuͤrlichen Bewegungen hervor-
bringen kann. Die uͤbrigen Symptome des Altwer-
dens ſind Folgen von dieſer wachſenden Unbewegbarkeit.
Dieſe hindert die Abſonderungen der Saͤfte und beſon-
ders der Lebensgeiſter, welche wiederum eine Urſache
wird, die die Rigiditaͤt vergroͤßert. Die Abnahme je-
ner wirkſamen Materie macht, daß alle Bewegungen in
der Maſchine ermatten, und die ſchon etwas ſtarrer ge-
wordenen Theile durch das Anſetzen neuer feſter Parti-
keln noch mehr ſich verhaͤrten. Beides nimmt alſo ab:
die bewegende Kraft, und die Bewegbarkeit der
Glieder. Ohne Zweifel die letztere zuerſt. Denn ſie
iſt eine nothwendige Folge von dem Wachſen und ſelbſt
von den Beſtrebungen und Wirkungen, die waͤhrend des
Stillſtandes in den Fibern vor ſich gehen, wenn noch
kein Grund vorhanden iſt, warum die Kraft verringert
ſeyn ſollte. Aber bey welcher von beiden auch die Ab-
nahme anfaͤngt, ſo hat die eine Urſache die andere zur
Wirkung, die wiederum jene, wie in einem Kreiſe von
Urſachen und Wirkungen, befoͤrdert.
Eben ſo wenig kann die Abnahme in den See-
lenkraͤften, die naͤmlich das Alter mit ſich bringet, als
eine Wiedereinwickelung in dieſem Verſtande vor-
geſtellet werden. An dem Ausdrucke iſt nichts gelegen,
wenn nur keine unrichtige Jdee durch ihn veranlaſſet wird.
Keine Fertigkeit, kein Vermoͤgen, geht in die erſten
Anlagen zuruͤck. Es giebt eine andere Abnahme der
Vermoͤgen, die aus dem Nichtgebrauch entſtehet, auf
welche die Jdee von einer Einwickelung mehr paſſet.
Aber
[729]und Entwickelung des Menſchen.
Aber die Abnahme des Alters iſt von jener weſentlich
unterſchieden, wie beide noch wiederum von derjenigen
Schwaͤchung der Vermoͤgen verſchieden ſind, die aus
Ermuͤdung oder aus andern zufaͤlligen Urſachen entſte-
het. Wenn man jede dieſer Arten beſonders anſieht, ſo
wird ſich zugleich manches bey der erſtern deutlicher be-
merken laſſen.
III.
Von der Abnahme der Kraͤfte, welche aus ihrem
Nichtgebrauch entſpringet.
- 1) Ob der Verluſt ehemals gehabter Kenntniſſe
als eine Einwickelung angeſehen werden
koͤnne? - 2) Verluſt der Vermoͤgen aus dem Nichtge-
brauch. - 3) Was die Zuruͤckſetzung der Seele in den
Zuſtand der Kindheit in ſich faſſe?
1.
Wir vergeſſen und verlernen ſchon manches in den Jah-
ren, wo das Vermoͤgen ſich an etwas zu erinnern
und zu handeln noch in ſeiner vollen Staͤrke iſt, und
vielleicht noch groͤßer iſt, als es zu der Zeit war, da wir
uns das Vergeſſene und Verlernte zum erſtenmal ein-
praͤgten. Es iſt eine gemeine Erfahrung, daß Vorſtel-
lungen, die in langer Zeit nicht erneuert werden, zu-
mal wenn in dieſer Zwiſchenzeit eine Menge anderer hin-
zukommen, die uns mehr intereſſiren, bis dahin in uns
verloͤſchen koͤnnen, daß wir unvermoͤgend ſind, auch durch
Anſtrengung des Gedaͤchtniſſes ſie wiederum zum Be-
wußtſeyn zu erwecken. Dieß trifft alle Gattungen von
Vorſtellungen, Jdeen und Gedanken; zunaͤchſt die
Jdeen von den Gegenſtaͤnden; dann die Vorſtellungen
Z z 5von
[730]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
von unſern Handlungen. Davon haͤngt die Schwaͤ-
chung in den Vermoͤgen ab, die zunaͤchſt in den beſon-
dern Geſchicklichkeiten, und dann in den abſoluten Kraͤf-
ten, ſich offenbaret.
Die ruhenden Jdeen im Gedaͤchtniſſe beſtehen in
gewiſſen Leichtigkeiten, auf ſolche Arten modificirt zu
werden und gewiſſe Formen anzunehmen. Oder dieſe
Leichtigkeit iſt eine Folge von jenen. Sie werden nicht
wahrgenommen, ſo lange ſie nicht reproducirt werden;
aber ſie ſind doch wahre Formen, Zuͤge, Beſchaffen-
heiten der Seele, wenn ſie gleich auf ihrem tiefſten Bo-
den, verſteckt, unterdruͤckt und unbemerkt ſich befinden
moͤgen. Von dieſen ruhenden Jdeen kann man in ei-
nem gewiſſen Verſtande ſagen, wie anderswo gezeiget
worden iſt, *) daß ſie wiedereingewickelte Vorſtel-
lungen ſind.
Wenn die Reproducibilitaͤt der Vorſtellungen,
welche an Groͤße unendlich verſchieden ſeyn kann, ſo weit
heruntergeſetzt iſt, daß wir unvermoͤgend ſind die Jdeen
uns wieder gegenwaͤrtig zu machen; wenn wir dieß we-
nigſtens nicht koͤnnen unter den gewoͤhnlichen Umſtaͤnden,
unter welchen der Menſch ſich auf etwas beſinnet, ſo ſe-
hen wir die Vorſtellung fuͤr verloſchen oder verloren an.
Dieß eraͤuget ſich am meiſten bey den erſten Eindruͤcken
in der Kindheit, und nachher bey allen denen, die wir zu
fluͤchtig aufnehmen. Denn ſo wie jeder Eindruck auf
jeden Sinn eine Zeitlaͤnge erfodert, in der er den Sinn
ruͤhren muß, um empfindbarer fuͤr uns zu werden: ſo
iſt auch fuͤr jede Art von Vorſtellungen noͤthig, daß un-
ſer Perceptionsvermoͤgen ſich eine Weile damit beſchaͤff-
tige, wenn ſie ſo gefaßt werden ſollen, daß ſie nachher
von innen wiedererweckbar ſind.
Wenn
[731]und Entwickelung des Menſchen.
Wenn Jdeen verloͤſchen, ſo iſt die Leichtigkeit ſie zu
reproduciren heruntergeſetzt, und zwar dahin, daß die
Seele unvermoͤgend iſt, aus innerer Kraft ſie wieder ſo
zu erwecken, daß ſie ſich ihrer bewußt werde.
Dieſes Verloͤſchen koͤnnen wir alſo anſehen als eine
Veraͤnderung, die derjenigen aͤhnlich aber nur ein hoͤ-
herer Grad von ihr iſt, welche die Vorſtellungen erfah-
ren, wenn wir ſie, da ſie uns gegenwaͤrtig klar vorſchwe-
ben, zuruͤcklegen und verdunkeln, indem wir uns ſie aus
dem Sinne ſchlagen, und Aufmerkſamkeit und Bewußt-
ſeyn von ihnen abwenden. Ziehen wir ſie wieder aus
dem Gedaͤchtniſſe hervor, ſo geſchieht etwas, das man
eine Entwickelung nennen kann. Es war etwas in
der Seele zuruͤckgeblieben, was durch ihre innere Kraft
nur durfte vergroͤßert, verlaͤngert, verſtaͤrket und ausge-
dehnt, das iſt, entwickelt werden, und ſeiner Form nach
ſchon ganz darinnen enthalten war. Daher auch die
entgegengeſetzte Veraͤnderung allerdings eine Einwicke-
lung ſeyn muß, das iſt, eine Zuruͤckverſetzung in einen
Zuſtand, in dem der Form nach alles liegt, was in dem
vorhergehenden war, und nur Vergroͤßerung von der
Kraft bedarf, um ihn wiederherzuſtellen. *) Jſt nun
alſo das gaͤnzliche Vergeſſen nicht ein hoͤherer
Grad der Einwickelung? Und da daſſelbige, was
bey dem Vergeſſen der Vorſtellungen von Sachen vor-
geht, daſſelbige oder doch das aͤhnliche von dem iſt, was
in dem Verlernen gewiſſer Handlungen enthalten iſt:
ſo kann das letztere, von dieſer Seite betrachtet, wie eine
Einwickelung der Vermoͤgen angeſehen werden.
Sieht man das gaͤnzliche Vergeſſen und Verlernen
an, als wenn alle Spuren der vorhergehenden Vor-
ſtellungen und Fertigkeiten weggenommen wuͤrden, wie
von der Tafel die Zuͤge, welche ſo voͤllig ausgeloͤſchet
werden,
[732]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
werden, daß jene ſo rein und leer iſt, als vorher: ſo
wuͤrde nun die Seele in Hinſicht ſolcher Vorſtellungen
auf ihren erſten Zuſtand zuruͤckgebracht ſeyn, in dem ſie
war, ehe ſie ſolche empfangen hatte. Sie wuͤrde nichts
mehr als die Receptivitaͤt beſitzen ſie anzunehmen, keine
naͤhere Diſpoſition, keine Anlage, die ſie durch ihre in-
nere Kraft ausarbeiten koͤnnte, naͤmlich in Hinſicht auf
ſolche, die ſie ohne Eindruͤcke von aͤußern Urſachen nicht
bekommen konnte. Allein dieſe Veraͤnderung duͤrfte
denn auch nicht weiter fuͤr eine Einwickelung gehalten
werden, als vorher die Erlangung ſolcher Jdeen eine
Entwickelung geweſen iſt. Wenn eine im Gedaͤchtniß
ruhende Vorſtellung hervorgezogen wird, ſo iſt dieß eine
Entwickelung; und daher iſt es auch Wiedereinwicke-
lung, wenn ſie aus einer gegenwaͤrtigen in eine ruhende,
aus der Region der klaren in die Region der dunkeln,
verſetzet wird. Aber wenn eine neue Jdee durch die
aͤußere Empfindung, oder uͤberhaupt durch den Einfluß
aͤußerer Urſachen, hat bewirket werden muͤſſen: ſo iſt ein
neuer Zuſatz in der Seele entſtanden, wenigſtens inſo-
ferne, daß die Empfindung als eine Nahrung und als
die Materie der Vorſtellung hinzugekommen iſt, die
dann von innen zur Vorſtellung bearbeitet worden. Das
alles zuſammen iſt denn doch mehr, als eine bloße Ent-
wickelung deſſen, was ſchon vorhanden war. Wenn
es aber ſich ſo mit der Erlangung der neuen Jdeen ver-
haͤlt, ſo muß in dem gaͤnzlichen Verluſt derſelben auch
ebenfalls etwas ſeyn, was noch mehr iſt als eine bloße
Einwickelung.
Allein die Vorausſetzung, daß alle Spuren von dem,
was wir vergeſſen und verlernet haben, verloſchen
ſind, iſt gewiß unrichtig. Es ſind anderswo *) ſchon
Erfahrungen angefuͤhrt, die es wahrſcheinlich machen,
daß
[733]und Entwickelung des Menſchen.
daß ſich keine Vorſtellung auch nur ſo weit verliere, daß
nicht ihre Spur durch die Eigenmacht der Seele unter
gewiſſen Umſtaͤnden wiedererweckt werden koͤnne, wenn
ſie gleich dieß gewoͤhnlich nicht kann, und ſo oft und un-
ter ſolchen Umſtaͤnden nicht kann, unter denen wir uns
gemeiniglich auf etwas beſinnen, ſo daß wir ſie fuͤr ganz
vergeſſen anzuſehen Urſach haben. Es ſtoßen uns noch
mehrere Beobachtungen auf, die daſſelbige beſtaͤtigen.
Die Alten erinnern ſich in ihren hohen Jahren oͤfters ſol-
cher Dinge aus ihrer Kindheit, die ſie in ihrem mitt-
lern Alter vergeſſen hatten, wenigſtens ſo, daß ſie da-
mals ſich ihrer nicht zu erinnern wußten. Jndeſſen
kann man gerne zugeben, daß der angefuͤhrte Grad der
Vergeſſenheit wirklich ſtattfinde. Es moͤgen viele
Vorſtellungen auf immer, das ganze Leben durch, un-
erweckbar geworden ſeyn. Allein dennoch wuͤrde es wi-
der die Analogie der Natur ſeyn, zu glauben, daß gar
keine Spur, Wirkung oder Folge von ihnen mehr uͤbrig
ſeyn ſollte. Die erſten Eindruͤcke der Jugend, und
was wir in der Folge zu obenhin auffaſſen, um es fuͤr
ſich ausgezeichnet und kennbar reproduciren zu koͤnnen,
hat ſich gleichwohl in uns geſetzt, hat ſich mit andern
nachfolgenden Eindruͤcken vereiniget, und dieſe befoͤrdert
und ſtaͤrker gemacht. Wenn es nicht wiedererweckt
werden kann, ſo iſt es nur zu ſehr mit andern verwickelt
und| eingehuͤllet, um genug wieder abgeſondert und her-
ausgehoben werden zu koͤnnen. Etwas davon iſt doch
in uns zuruͤckgeblieben. Alsdenn wird das Vergeſſen
und Verlernen in einer zuſtarken Einwickelung be-
ſtehen, welche die Folge hat, daß die Kraft zu reprodu-
ciren nicht mehr hinreichet, das Eingewickelte wie-
der auszuwickeln, und es von den uͤbrigen abzuſon-
dern; oder daß ſie die Hinderniſſe nicht uͤberwinden kann,
die dieſer Wirkung im Wege ſtehen.
Es
[734]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Es iſt fuͤr ſich klar, daß, was den Jdeen von Objekten
im Gedaͤchtniſſe begegnet, auch den Vorſtellungen von
Aktionen, und den erworbenen Fertigkeiten ſelbſt, be-
gegnen koͤnne. So lehrt es ja auch die Erfahrung, daß
beſondere Vermoͤgen, wenn ſie lange ohne Uebung
geblieben ſind, wie die Kraft des Magneten, geſchwaͤcht
werden, und dann noch nicht ſogleich wieder in ihrer vorigen
Staͤrke da ſind, wenn man ſchon die erfoderlichen Jdeen-
reihen von den Objekten erneuert hat. Die Ruhe iſt
eine Erholung fuͤr die angeſtrengte Kraft; aber die laͤn-
gere Unthaͤtigkeit ſchwaͤchet ſie.
Wenn eine ſolche Schwaͤche aus Unthaͤtigkeit in
den beſondern Vermoͤgen entſtehet, ſo muß auch davon
eine ſchwaͤchende Wirkung auf die uͤbrigen und auf ihre
ganze Grundkraft ſich ausbreiten, aus einem aͤhnlichen
Grunde, warum die Verſtaͤrkung eines Vermoͤgens die
ganze Grundkraft verſtaͤrket, und auch in eben der
Maße. *) Jndeſſen kann dieſer Wirkung dadurch, daß
ein anderes Vermoͤgen deſto mehr geſchaͤrfet und erhoͤhet
wird, vorgebogen werden, und zwar ſo, daß die Grund-
kraft der Seele im Ganzen noch immer an Staͤrke zu-
nimmt. Jſt die Schwaͤchung in den Vermoͤgen nur
nicht allgemein, ſo mag wohl die aͤußere Empfindlichkeit
geringer werden, das Gedaͤchtniß und die Phantaſie
leiden; aber es folget nicht, daß die Seelenkraft im
Ganzen herunterkomme.
Ueberhaupt aber iſt es aus der Natur der Sache
ſelbſt ſo leicht zu begreifen, als durch die Erfahrung zu
beſtaͤtigen, daß die Vorſtellungen von den Aktionen und
die Fertigkeiten zu handeln feſter ſitzen, als die Vorſtel-
lungen von beſondern Objekten dieſer Thaͤtigkeiten.
Habitus ſunt difficulter mobiles. Jene ſind viel oͤfte-
rer, auch bey andern Gegenſtaͤnden als den vergeſſenen,
wieder-
[735]und Entwickelung des Menſchen.
wiederholet und erneuert worden, und haben daher aus
mehrern Vorſtellungen Nahrung und Staͤrkung gezo-
gen, durch welche ſie auch alsdenn noch erhalten werden
koͤnnen, wenn die Vorſtellungen von den vorzuͤglichſten
Gegenſtaͤnden der Thaͤtigkeit verloren ſind. Je allge-
meiner die Wirkungsarten ſind, in je mehrern beſondern
Kraftaͤußerungen der Seele ſie vorkommen, deſto weni-
ger koͤnnen ſie verlernet werden.
3.
Sollte die menſchliche Seele in den Zuſtand der
erſtern Kindheit vor ihrer Ausbildung zuruͤckgeſetzt wer-
den: ſo muͤßten nicht nur die Spuren von ihren erwor-
benen Vorſtellungen und Fertigkeiten weggehen, ſondern
es muͤßte auch ihre ehemalige Receptivitaͤt wieder er-
neuert werden. Dadurch, daß ſie nach und nach mit
vielen beſondern Jdeenreihen erfuͤllet ward, verlor ſich
etwas von ihrer anfaͤnglichen Leichtigkeit anzunehmen, in
Hinſicht gewiſſer Arten von Veraͤnderungen. Sie ward
feſter, ſtaͤrker, ungelenkſamer, je mehr ſie an verſchie-
denen Seiten entwickelt ward. Jede Form, die ſie
empfaͤngt, oder die ſich feſter ſetzet, wird ein Hinderniß
zu einer andern entgegengeſetzten Form. Jene große
Geſchmeidigkeit aber iſt ein weſentliches Stuͤck der Ver-
juͤngerung, wenn eine ſolche ſtattfinden koͤnnte. Wir
finden ſie in der Abnahme des Alters nicht, nicht ein-
mal in der ſogenannten Kindheit des Alters. Aber man
trift etwas davon in dem Vergeſſen und Verlernen
an. Wenn man viele Jdeen der Vergeſſenheit uͤber-
giebt und ſie nicht mehr bearbeitet, ſo ſcheinet es, als
wenn man Raum im Gedaͤchtniſſe zu andern mache.
Gleichwohl haben jene immer etwas zuruͤckgelaſſen, das
noch ſeine Stelle einnimmt, und doch ein merkliches Hin-
derniß iſt, wenn neue hinzugeſetzt werden ſollen.
IV. Von
[736]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
IV.
Von der Ermuͤdung der Seelenkraͤfte und ihrer
Schwaͤchung aus andern zufaͤlligen Urſa-
chen.
- 1) Von der Ermuͤdung der Kraͤfte.
- 2) Von ihrer Schwaͤchung aus andern Ur-
ſachen.
1.
Die Ermuͤdung der Kraͤfte, welche aus einer zu
ſtarken oder zu lang anhaltenden Anwendung der-
ſelben entſtehet, iſt ebenfalls eine Art von Schwaͤche, aber
verſchieden von der vorhergehenden, die aus Unthaͤtig-
keit kommt. Wenn man zuerſt auf das ſieht, was die
Ermuͤdung in dem Koͤrper ausmacht, ſo hat man eine
naͤhere Anleitung das Weſentliche bey der Ermuͤdung der
Seele zu bemerken. Der ermuͤdete Tagloͤhner legt ſich
aufs Bett zur Ruhe, und iſt ſo wenig im Stande zu
arbeiten, als ein Kind. Dennoch aber iſt er kein Kind.
Er hat nicht mehr Luſt zur Arbeit, und will ſie nicht,
weil er fuͤhlet, daß, wenn er auch wollen wuͤrde, ſein
Wollen hoͤchſtens ein vergebliches Beſtreben ſeyn wuͤrde.
Die Muskeln, als Werkzeuge der Bewegung, haben
weder an Groͤße noch Staͤrke abgenommen, und es feh-
let weder an den Vorſtellungen von den Handlungen,
noch an dem Vermoͤgen innerlich ſolche zu reproduciren,
lebhaft zu machen und die Handlung von neuem zu
wollen, welches alles dem ſchwachen Kinde mangelt.
Aber es fehlet an Vollbringungskraft, an der leben-
digen Kraft, wodurch die Glieder ohne widrige Em-
pfindungen beweget werden. Jſt es blos reine ſanfte
Ermuͤdung, ſo iſt dieſer Mangel an thaͤtiger Kraft
dasjenige, was ſie ausmacht. Allein gemeiniglich iſt ſie
mit einer Steifigkeit in den gebrauchten Gliedern
verbun-
[737]und Entwickelung des Menſchen.
verbunden. Und dieſe letztere iſt beſonders alsdenn das
weſentliche Stuͤck, wenn die Ermuͤdung nur partial iſt,
wie in dem, der ſo lange geſchrieben hat, daß ihm die
Finger ſtarr ſind, und nun noch bewegende Kraft genug
beſitzet, um zu gehen und zu ſpringen.
Die Steifigkeit iſt eine Folge des zu ſtarken oder
zu lange anhaltenden Gebrauchs der Glieder auf eine ein-
foͤrmige Art. Das Gebluͤt und die Saͤfte dringen zu
haͤufig in die geſpannten Fibern, ſetzen ſich zwiſchen ih-
nen, und benehmen ihnen die vorige Geſchmeidigkeit und
Schnellkraft. Dieß kann nicht geſchehen ohne einen
Aufwand von Kraͤften. Daher auch jede partiale Er-
muͤdung etwas zu der Ermuͤdung im Ganzen beytraͤgt.
Denn obgleich eine Abwechſelung mit der Arbeit in ei-
nem ſolchen Falle eine wahre Erholung iſt, die uns ge-
ſchickt macht, nachher die erſtere vom neuen zu verrichten:
ſo iſt doch gewiß, daß woferne nicht inzwiſchen der ganze
Koͤrper ſeine Ruhe gehabt und neue Kraft geſammlet
hat, die zwote Wiederholung der erſtern Arbeit nicht
mehr mit der gleichen Munterkeit geſchehen koͤnne, wo-
mit dieſe das erſtemal verrichtet ward.
Auf eine aͤhnliche Art verhaͤlt es ſich mit der Er-
muͤdung der Geiſteskraͤfte. Jſt ſolche nur in ei-
nigen Vermoͤgen, ſo iſt ſie mehr eine Ungeſchicklichkeit,
gewiſſe Vorſtellungsreihen und Thaͤtigkeiten auf die er-
foderliche Art hervorzuziehen und mit einander zu ver-
binden, die in den zu erweckenden Jdeen ſelbſt liegt,
als daß es an dem wirkſamen thaͤtigen Princip mangeln
ſollte, wodurch die Seele ſich zu ihren Handlungen be-
ſtimmet. Denn wenn ſie mit ihren Beſchaͤftigungen
nur abwechſelt, ſo findet ſie ſich noch thaͤtig genug zu
vielen andern, wenn ſie gleich auch etwas an Munter-
keit durch die erſte Beſchaͤfftigung, die ſie ermuͤdete,
verloren hat. Allein wenn die Ermuͤdung, nachdem
man vorher mehrmalen und auf vielerley Art abgewechſelt
IITheil. A a ahat,
[738]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
hat, allgemein geworden iſt, ſo iſt ſie freylich auch mit
einer Art von Steifigkeit in den beſondern Vermoͤgen
verbunden: aber ſie beſtehet alsdenn uͤberhaupt doch
mehr in dem Mangel an derjenigen wirkſamen Kraft,
die die Aktionen nicht nur vorſtellen und wollen, ſondern
auch wirklich verrichten muß. Jſt naͤmlich die Ermuͤ-
dung nicht allzugroß, und iſt ſie weniger eine Erſchoͤ-
pfung aus einer einfoͤrmigen Handlungsart, worauf die
ganze Kraft verbraucht iſt, als eine Wirkung von man-
nichfaltigen Thaͤtigkeiten, die nach und nach verrichtet
ſind und die Kraft verbraucht haben, durch ihre Ver-
ſchiedenheit aber veranlaßten, daß ein Vermoͤgen faſt
ganz in Ruhe war, waͤhrend daß das andere wirkte: ſo
hat ſich die erſtere Wirkung, die aus der zu lange anhal-
tenden einfoͤrmigen Thaͤtigkeit entſpringet, groͤßtentheils
wieder verloren. Und dann iſt nicht mehr die Unbieg-
ſamkeit vorhanden, ſondern eine Erſchlaffung, die in
einem Mangel an wirkſamer Kraft beſtehet. Was in
den koͤrperlichen Gliedern die Steifigkeit und Er-
ſchlaffung iſt, die Folge von einem zu ſtarken Zufluß
der Saͤfte nach demſelben Theil, und dem darauf erfolg-
ten zu ſtarken Ruͤckfluß, das iſt in der Seele die zu
ſtarke Anhaͤufung der Vorſtellungen nach einer
Hauptidee, und die darauf folgende zu ſchwere
Reproducibilitaͤt derſelben. Es werden der Neben-
vorſtellungen zu viele, die ſich mit der Hauptvorſtellung
verbinden; alle beſondere Zuͤge der letztern werden um-
geben mit kleinern zum Theil ſehr dunklen Vorſtellungen,
die man inzwiſchen reproducirt, und mit neuen, die aus
der Empfindung hinzukommen. Das Ganze wird da-
durch ſo voll und mit andern ruhenden Vorſtellungen ſo
ſtark verbunden, daß die Einbildungskraft unvermoͤgend
iſt, ſie nach dem Gefallen der Seele darzuſtellen und zu
wenden. Wenn hierauf die Ruhe folget, ſo muß die
Wirkung dieſe ſeyn, daß die wiederverdunkelten Neben-
ideen
[739]und Entwickelung des Menſchen.
ideen, wegen ihrer genauen Verbindung mit den Theilen
der Hauptidee, viele von dieſen letztern zuruͤckhalten, ſo
lange ſie nicht ſelbſt mit erwecket werden. Daher koͤn-
nen zwar noch immer einige Theile der Hauptvorſtellung
erneuert werden, aber nur wenige, die ſich ſo zu ſagen
losreißen. Allein die Hauptidee kann nicht in ihrer Voͤl-
ligkeit und Staͤrke gegenwaͤrtig gemacht werden, wenn
nicht vom neuen alle uͤbrige zu ihr geſammlete auch her-
vorgerufen wuͤrden, wozu die Kraft zu ſchwach iſt. Dieß
iſt die Erſchlaffung in der Jdee, eine Unfaͤhigkeit an-
ders, als nur mit gewiſſen mattausgedruckten Merkma-
len, reproducirt zu werden.
Bey der Ermuͤdung werden alſo zwar inſoweit die
Vorſtellungen und Vermoͤgen eingewickelt, als es ge-
ſchieht, wenn eine Jdee im Gedaͤchtniß verwahret wird:
aber nicht weiter; nicht in dem Grade, wie alsdenn,
wenn etwas vergeſſen oder verlernet wird. Dazu iſt
dieß Einwickeln nicht das Weſentliche der Ermuͤdung.
Alle Spuren und alle Formen, Vorſtellungen von Ge-
genſtaͤnden, Vorſtellungen von Handlungen, ſind noch
vorhanden und erweckbar. Nur die thaͤtige Kraft feh-
let, die jene wirklich erwecken und ſoweit erwecken ſollte,
als die Abſicht es erfodert, und ſie nicht nur erwecken,
ſondern auch bis zu Empfindungen ſie hervorziehen ſollte.
Sobald dieſe Kraft ſich wieder eingeſtellet hat, ſo bedarf
es keiner neuen Vorſtellungen und keiner neuen Uebung,
um die vorigen Fertigkeiten aͤußern zu koͤnnen.
Die Kraftloſigkeit hat ihre verſchiedenen Grade,
und kann daher mehr oder weniger in die Vermoͤgen ein-
dringen, und von laͤngerer oder kuͤrzerer Dauer ſeyn.
Aber wenn nach wiederhergeſtellter Munterkeit der Seele
die Schwaͤche in dieſem oder jenem Vermoͤgen, das all-
zuſtark angeſtrenget iſt, noch fortdauert: ſo iſt dieß ein
Beweis, daß außer der bloßen Entziehung der wirkſa-
men Kraft in dieſem Vermoͤgen eine beſondere Veraͤn-
A a a 2derung
[740]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
derung vorgegangen ſey, und zwar in der Jdeenaſſocia-
tion, inſoferne ſie in der Seele ſelbſt iſt, wie oben (Er-
ſter Abſchnitt II. 7.) erklaͤret worden. Wie ferne aber
die Ermuͤdung des menſchlichen Seelenweſens in der
Seele ſelbſt oder in ihrem koͤrperlichen Organ ſeinen
Sitz habe, iſt eine andere Frage, die noch unten beruͤh-
ret werden ſoll.
2.
Außer den angefuͤhrten Urſachen von der Abnahme
und dem Verluſte der Fertigkeiten, Vermoͤgen und
Kraͤfte der Seele, giebt es noch eine Menge anderer,
die zufaͤllig ſind, und theils nur eine voruͤbergehende,
theils eine zeitlebens beſtehende, Schwaͤchung hervorbrin-
gen. Ohne dieſe einzeln zu betrachten, wird es genug
ſeyn ſie zuſammen unter einen allgemeinen Geſichts-
punkt zu bringen, und dann nur diejenige, die mit dem
Alter, als eine Folge der menſchlichen Natur herbeyge-
fuͤhrt wird, beſonders zu erwaͤgen.
Jede Abnahme an erworbenen Fertigkeiten kann
als eine verminderte Leichtigkeit, oder als eine
Schwierigkeit Vorſtellungen zu reproduciren,
betrachtet werden. Denn obgleich die hinzugekomme-
nen Grade in den Vermoͤgen etwas in der Kraft ſelbſt
ſind, wie mehrmalen erinnert iſt, naͤmlich gewiſſe in
Leichtigkeiten uͤbergegangene Anlagen, die von der Leich-
tigkeit die Jdeen von den Objekten zu erwecken unter-
ſchieden und ſo gar noch etwas mehr ſind, als die Leich-
tigkeiten Vorſtellungen von den Aktionen zu reprodu-
ciren: ſo beſtehen ſie doch am Ende in Leichtigkeiten
ſich in einen ehemaligen Zuſtand wieder zu ver-
ſetzen, das iſt, diejenige Modifikation, Veraͤnderung,
Richtung, Einſchraͤnkung oder Beſtimmung der Kraft
anzunehmen, welche vorher da war. Da nun dieß
letztere geſchieht, dadurch daß die aus der vorhergegan-
genen
[741]und Entwickelung des Menſchen.
genen Aktion hinterbliebene Spur erwecket und vom
neuen bis zur Empfindung erhoben wird: ſo erhellet
deutlich genug, daß, ſo mancherley die Urſachen ſind,
welche die Reproduktion der Vorſtellungen uͤberhaupt
verhindern, erſchweren oder unmoͤglich machen, ſo viele
gebe es auch, wodurch die Vermoͤgen und Fertigkeiten
auf gewiſſe Arten zu handeln gehindert oder weggenom-
men werden koͤnnen.
Was die blos natuͤrlichen Anlagen, zum Thun und
zum Leiden, das iſt, die blos natuͤrlichen Vermoͤgen,
betrifft, ſo iſt es klar, daß ſie denſelbigen Veraͤnderun-
gen in gleicher Maße unterworfen ſind, wie die erwor-
benen Fertigkeiten. Jene koͤnnen beſtehen, wo dieſe
wegfallen. Aber ſie leiden, auch als Vermoͤgen in dem
menſchlichen Seelenweſen betrachtet, durch alle Urſachen,
welche eine Unfaͤhigkeit nicht mit einer Fertigkeit zu
handeln, ſondern eine Unfaͤhigkeit ſolche anzunehmen,
hervorbringen.
Wenn die erworbenen Fertigkeiten gelitten haben,
ſo kann ſolches an den zu reproducirenden Vorſtellun-
gen liegen, und alſo auch an den Werkzeugen und Mit-
teln, die zu der Reproduktion erfodert werden. Die
Vorſtellungen ſind entweder zu ſehr verloſchen oder zu
ſehr unter andern verſteckt, oder ſie ſind auch ſelbſt fuͤr
ſich zu ſteif und unbeweglich geworden, inſoferne ſie von
den materiellen Jdeen in dem Gehirn abhangen. Die
koͤrperlichen Organe zu den Jdeen koͤnnen entweder alle
Spur des ehemaligen ſinnlichen Eindrucks verloren ha-
ben, oder zu ſehr durch die vordringende leichtere Be-
weglichkeit anderer Organe verhindert werden in Be-
wegung zu kommen, oder ſie ſind zu ſteif geworden,
oder auch, was man hiezu noch rechnen kann, ſie ſind
zu ſehr erſchlaffet. Genug, ſie ſind außer Stand geſetzt,
auf die vorige Art modificirt zu werden.
A a a 3Aber
[742]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Aber auch kann die Schuld nicht an den Vorſtellun-
gen und Organen, ſondern an der thaͤtigen Kraft des
Seelenweſens, liegen, welche ſie nicht mit der erfoderli-
chen Staͤrke in Bewegung ſetzen kann. Und in dieſem
Fall kann wiederum die Schwaͤche der Kraft ſo weit ge-
hen, daß nicht einmal die Vorſtellung von der Aktion,
als ihr erſter ſchwacher Anfang in dem Jnnern, und
alſo noch weniger ein Beſtreben zur Thaͤtigkeit, oder ei-
ne Selbſtbeſtimmung des Willens, bewirket wird. So
lange der Menſch noch etwas wollen, das iſt, eine
Handlung ſich vorſtellen und ſich innerlich zu ihr be-
ſtimmen kann, ſo lange beſitzt er auch noch einiges Ver-
moͤgen dazu. Jſt es eine aͤußere Handlung mit dem
Koͤrper, ſo fehlt nichts mehr, vorausgeſetzt daß die
Selbſtbeſtimmung in der Seele ſtark und anhaltend ge-
nug iſt, als das Aeußere in der Organiſation, was zur
Ausfuͤhrung erfodert wird. Der Geiſt wirket alsdenn
noch frey, wenn gleich nicht mehr in ungekraͤnkten Glie-
dern. Jſt aber die Handlung eine innere Aktion der
Seele im Vorſtellen und Denken, ſo iſt ebenfalls jenes
uͤbrig gebliebene wirkſame Wollen eine Anzeige, daß
das Vermoͤgen dazu als Vermoͤgen vorhanden iſt, ob
es gleich an den Fibern des Organs fehlen mag, deren
Bewegung jene Thaͤtigkeiten begleiten muß. Hat je-
mand noch Neigung, und zwar innere Neigung mit an-
ſchaulicher Vorſtellung der Sache, eine Reihe von
Wahrheiten zu uͤberdenken, oder ſich auf Umſtaͤnde zu
beſinnen, oder ſonſten Vorſtellungen und Gedanken zu
erneuern und zu verbinden: ſo zeigt ſich, daß nicht das
Vermoͤgen zum Nachdenken, oder die Einbildungskraft,
oder die Phantaſie, zu ſchwach iſt, wenn gleich ihr Be-
ſtreben den Effekt nicht hat. Hier liegt es an Hinder-
niſſen, die in den zu erweckenden Vorſtellungen ſind.
Allein wie weit auch die Erſchwaͤchung der Seelen-
vermoͤgen eindringt, ſo iſt es eine Folge aus der Natur
des
[743]und Entwickelung des Menſchen.
des menſchlichen Seelenweſens, daß jene den Menſchen
treffen koͤnne, ohne das unkoͤrperliche Jch ſelbſt herunter-
zuſetzen. Wenigſtens wuͤrde dieſes letztere ein Schluß
ſeyn, uͤber deſſen Wahrſcheinlichkeit oder Unwahrſchein-
lichkeit vorher aus analogiſchen Gruͤnden geurtheilt wer-
den muß. Die Krankheit bringt den Menſchen um ſein
Gedaͤchtniß, aber darum auch den Geiſt um das Ver-
moͤgen, die Spuren ſeiner ehemaligen Veraͤnderungen
aus ſich ſelbſt zu erneuern?
V.
Von der natuͤrlichen Abnahme der Seelenvermoͤ-
gen im Alter.
- 1) Die Abnahme der Seele im Alter kann nicht
nach dem Grad ihrer aͤußern Wirkſamkeit
mittelſt des Koͤrpers beurtheilet werden. - 2) Von der Abnahme der koͤrperlichen Fertig-
keiten, und der aͤußern Sinne. - 3) Die Abnahme der Seele im Alter kommt
nicht von dem Verluſt ihrer Vorſtellungen,
ſondern von der erſchwerten Reproducibili-
taͤt derſelben. - 4) Warum die Alten ſich der Zeiten ihrer Ju-
gend beſſer erinnern, als der neuern Bege-
benheiten. Vergeſſene Vorſtellungen ſind
ſolche, die unter andern Vorſtellungen ver-
huͤllet ſind. - 5) Die in dem Alter vorhandenen ruhenden Vor-
ſtellungen ſind etwas reelles. Ehrwuͤrdig-
keit des Alters. Kindheit des Alters. - 6) Die Abnahme an Lebhaftigkeit des Geiſtes.
Von der zunehmenden Unerweckbarkeit der
Vorſtellungen.
A a a 47) Ob
[744]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
- 7) Ob man aus der Abnahme an Thaͤtigkeit
auf die Abnahme an Kraͤften und Vermoͤ-
gen ſchließen koͤnne? - 8) Wie weit die Abnahme des Seelenweſens
eine Abnahme der unkoͤrperlichen Seele ſey?
Was die Analogie hievon lehre, und wie
ferne die Erfahrungen damit uͤbereinſtim-
men?
1.
Die Seelenvermoͤgen nehmen in derſelbigen Ordnung
in dem Menſchen wieder ab, in der ſie entwickelt
ſind: zuerſt die Sinne, dann die Einbildungskraft,
dann der Verſtand, mit ihnen die davon abhangenden
aͤußern Thaͤtigkeiten. Zufaͤllige Urſachen aͤndern frey-
lich hiebey manches; aber doch iſt jenes der natuͤrliche
Gang der Natur zum Alter und zum Tode, den die Zu-
faͤlle verkuͤrzen, und etwas verdrehen, aber bey keinem
Jndividuum unkenntlich machen.
Dieſe Abnahme muß nun zwar zuerſt von der Seite
betrachtet werden, wo ſie ſich aͤußerlich in den Alten zei-
get. Aber dieß iſt doch nicht, wobey man ſtillſtehen
muß. Was geht in dem Jnnern des Seelenweſens
vor? Auf welche Art, und in welchen Stufen ſteigen
hier die Kraͤfte allmaͤlich herunter? Davon ſey hier
die Rede. Die Seele des Alten macht ſich gewiſſermaſ-
ſen von der aͤußern Welt los, und zieht ſich mehr in
ſich ſelbſt zuſammen. Man wuͤrde ſich uͤbereilen, wenn
man ſchließen wollte, ſie ſey ſo ſchwach und unthaͤtig in
ihrem Jnnern geworden, als es nach dem ſchwachen
Einfluß in die aͤußern Dinge mittelſt des Koͤrpers ſchei-
nen moͤchte.
2.
Die Abnahme an den koͤrperlichen Geſchicklichkeiten,
im Tanzen, Fechten, Reiten, Spielen, Malen und
ſo
[745]und Entwickelung des Menſchen.
ſo ferner, faͤllt uns mit der, die ſich in den aͤußern Sin-
nen, im Gehoͤr und Geſicht, offenbaret, zuerſt auf. Und
wenn man dasjenige zergliedert, was hiebey vorgeht, ſo
kommt man auf die Spur zu dem, was in Hinſicht der
uͤbrigen Vermoͤgen geſchieht, oder wenigſtens doch zu
analogiſchen Vermuthungen.
Die Werkzeuge der Bewegungen und die Sinnglie-
der, die leicht und ſchnell bewegbar ſeyn mußten, wenn
die koͤrperlichen Geſchicklichkeiten beſtehen und die Sin-
ne ihre Staͤrke und Lebhaftigkeit behalten ſollten, wer-
den feſter, ungeſchmeidiger und ſteifer. Bey den Or-
ganen der willkuͤrlichen Bewegungen iſt dieß am deut-
lichſten, wenn man auch bey den Ohren und Augen et-
wan daran zweifeln moͤchte, bey denen die Veraͤnde-
rung weniger aͤußerlich merklich iſt. So bringt es be-
kanntermaßen die Natur der Fibern in dem thieriſchen
Koͤrper mit ſich. Nach denſelben Geſetzen, wornach
der Koͤrper waͤchſet, wornach faſt ganz fluͤßige Saͤfte in
weiche gallertartige, die gallertartigen in faſernartige,
einige in knorpelartige und Knorpel in feſte Knochen uͤber-
gehen, geht auch die nie ſtillſtehende Natur weiter.
Durch die unaufhoͤrliche Aktion auf die Theile treibet ſie
die Partikeln naͤher an einander, und verbindet ſie durch
die dazwiſchen gebrachten neuen Nahrungstheile, und
bringt dadurch das Verdicken, das Verfeſtigen und Ver-
trocknen, in allen Theilen, endlich uͤber die Grenze hin-
aus, wo Staͤrke und Biegſamkeit in dem vollkommen-
ſten Verhaͤltniſſe ſich befanden.
Dieſe Steifigkeit iſt der Fehler, der in den Gliedern
entſteht. Jm uͤbrigen behalten ſie ihre vorigen Geſtal-
ten, Groͤße, Formen beynahe; auch beynahe dieſelbige
Lage und Beziehungen auf einander, die ſie bey der Aus-
bildung durch Natur und Kunſt erlanget haben. Die
Spuren der vorigen koͤrperlichen Bewegungen, und der
organiſchen Aſſociationen derſelben, gehen nicht weg.
A a a 5Man
[746]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Man kann auch den ſteifen Alten es oft genug anſehen,
wie ſie ihren Koͤrper in den juͤngern Jahren geuͤbt ha-
ben. Und ohne Zweifel liegen eben ſo wohl Zeichen und
Merkmale von der Geſchicklichkeit im Spielen, Tanzen
und Fechten, in ihren Fingern, Fuͤßen und Armen,
wenn wir hierinn nur Phyſiognomiſten ſeyn koͤnnten, als
die Abdruͤcke ihrer Denkarten und Leidenſchaften in ih-
rem Geſicht; wenn auch gleich dorten die Zuͤge etwas
undeutlicher und unleſerlicher fuͤr uns ſeyn moͤgen, als
die letztern.
Es hat ſich gemeiniglich dieſe Abnahme an Beweg-
barkeit in dem Koͤrper ſchon zeitiger eingeſtellt, als noch
irgend eine Abnahme an den Fertigkeiten der Seele, die
den innern Theil der menſchlichen, auch der koͤrperlichen,
Fertigkeiten ausmachen, *) verſpuͤret wird. Der Menſch
muß es erſt aus dem Gefuͤhl erlernen, daß ſein Koͤrper
nicht mehr ſo fort will, wie man ſich in der gemeinen
Sprache ausdruͤckt, oder eigentlich, nicht mehr ſo gelenk-
ſam und leicht beweglich iſt, als vorher, und als es der
Vorſtellung, dem Wollen und Beſtreben der Seele ge-
maͤß iſt. Er aͤußert alſo vorher dieſelbigen Beſtrebun-
gen zu handeln, und merkt innerlich ſo wenig eine
Schwaͤche, daß er im Anfang ſich durch ſeine Reflexion
davon uͤberzeugen kann, die Schwaͤche liege nicht an ſei-
ner Seele, welche noch nichts vergeſſen noch verlernet
hat, ſondern an der Steifigkeit in den Gliedern. Ehe
der Alte es gewiß wird, daß ein wahres Unvermoͤgen
eingetreten, glaubt er eine Weile, es moͤchten nur zu-
faͤllige Hinderniſſe da ſeyn. Er verſucht es ſchaͤrfer zu-
zuſehen und aufmerkſamer zuzuhoͤren, wenn ſchon das
Auge und Ohr gelitten hat, in der Meinung, es fehle
an ſeiner Aufmerkſamkeit, daß die Empfindungen nicht
mehr ſo lebhaft und deutlich ſind. Dieß laͤßt ſchließen,
daß
[747]und Entwickelung des Menſchen.
daß, ſo viel die Vermoͤgen in der Seele betrift die Ak-
tionen ſich vorzuſtellen, ſich dazu zu beſtimmen, inner-
lich dieſe Vorſtellungen zur Empfindung zu erheben, die
Sinnglieder zu lenken und auf die Eindruͤcke von auſ-
ſen aufmerkſam zu ſeyn, ſolche noch in ihrer voͤlligen er-
worbenen Staͤrke beſtehen muͤſſen; wenigſtens ſo viel
ſich aus dem innern Gefuͤhl erkennen laͤßt. Und daraus
folgt ferner, daß die Seelenvermoͤgen, die zu den Kunſt-
ſertigkeiten des Koͤrpers gehoͤren, nicht nur noch einige
Zeit ungeſchwaͤcht bleiben koͤnnen, wenn ſchon die Or-
gane ihre vorigen Dienſte verſagen, ſondern noch wohl
gar im Anfang etwas zunehmen, weil ſie gereizet wer-
den mit einer groͤßern Jntenſion zu wirken, um das zu
erſetzen, was von der Seite des Koͤrpers abzugehen
anfaͤngt.
Aber wenn nun das Gefuͤhl es mehrmalen gelehrt
hat, daß es vergeblich ſey, mit der Staͤrke und Lebhaf-
tigkeit der juͤngern Zeit, und mit gleichem Erfolg, em-
pfinden und wirken zu wollen, ſo faͤngt auch die wollen-
de Seelenkraft an ſich einzuziehen. Es ermattet auch
die Neigung zu dergleichen Kraftaͤußerungen. Da iſt
dann auch das Ende der weitern Vervollkommnung der
innern Geſchicklichkeit in der Seele.
Noch mehr. Die innere Fertigkeit in der Seele,
die gehoͤrigen Vorſtellungen zu erwecken und zu wollen,
iſt zuweilen in alten Leuten noch faſt in derſelbigen Staͤr-
ke, wenn gleich der Koͤrper nicht erſt nun, ſondern ſchon
lange und in einem hohen Grade, zur Ausfuͤhrung des
Willens unfaͤhig geworden iſt. Ein alter Mann redet
oͤfters von ſeinen Geſchicklichkeiten, die er in juͤngern
Jahren erlernet hatte, mit einer Lebhaftigkeit, die es
nicht zweifelhaft laͤßt, daß ſeine Vorſtellung davon noch
anſchaulich, ſtark voͤllig, und lebhaft ſey; und ſeine Mie-
nen drucken die Staͤrke ſeines Willens aus. Er wuͤrde
daſſelbige noch jetzo verrichten, was er ehedem verrichtet
hat,
[748]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
hat, wenn die Unbiegſamkeit ſeiner Glieder und ihre
Schwaͤche es nicht unmoͤglich machte. Jndeſſen muß
doch auch in etwas die Fertigkeit in der Seele gemin-
dert ſeyn, weil ſie lange ohne Uebung geblieben iſt. Und
wir wuͤrden ohne Zweifel ſeine Vorſtellung von der Hand-
lung, wenn man unmittelbar in ſie hineinſehen koͤnnte,
nicht mehr ganz ſo voll, ſtark und lebendig in allen ihren
Zuͤgen finden, als ſie ehedem geweſen iſt. Wenn man
einen Maler, dem ein Zufall die Hand auf einige Zeit
ſteif gemacht, mit einem andern, dem ſie vor Alter
ſchon zittert, vergleichen koͤnnte, die beide gleich große
Meiſter in ihrer Kunſt waͤren, ſo muͤßte ſich doch zei-
gen, daß der erſtere nicht nur oͤftere Luſt zum Malen be-
kaͤme, ſondern auch genauer und lebhafter die kleinen
Wendungen mit der Hand und dem Pinſel ſich vorſtelle,
als der zweete.
3.
Geht man auf dieſelbige Art den uͤbrigen Fertigkei-
ten nach, und beſonders denen, die man mehr der See-
le allein zuſchreibt, die in den innern Aeußerungen ihrer
denkenden und wollenden Kraft beſtehen: ſo laͤßt ſich
ebenfalls bemerken, daß ihre Abnahme von einer ſolchen
erſchwerten Reproducibilitaͤt der Vorſtellungen
anfange, die man mit einer Steifigkeit in den Jdeen
vergleichen kann, wo auch ihr Sitz ſeyn mag, und daß
dieſe wiederum die Verminderung an thaͤtiger Kraft zu
reproduciren veranlaſſe, welche in der Folge hinzukommt.
Die Abnahme der Vermoͤgen kann, wie vorher (IV. 2.)
erinnert worden iſt, als eine ſchwergemachte Erweckbar-
keit der Vorſtellungen betrachtet werden. Aber dieſe
Schwierigkeit kann mehrere Urſachen haben. Sie ruͤh-
ret entweder daher, weil die Kraft ſie zu erwecken zu
ſchwach geworden, oder weil die Spuren ſich zu ſehr
verloren haben, wie bey vergeſſenen und verlernten Sa-
chen,
[749]und Entwickelung des Menſchen.
chen, oder auch aus einer innern Beſchaffenheit der vor-
handenen Spuren, die in ihnen etwas aͤhnliches iſt von
Erſtarrung oder Steifigkeit in den Fibern und die, ſo
wie vorher (IV. 1.) geſagt worden iſt, pſychologiſch er-
klaͤrt werden kann. Die thaͤtige Kraft kann ihre Mun-
terkeit und Staͤrke behalten, und die Vorſtellungen fuͤr
ſich ſo unterſcheidbar vorhanden ſeyn, als die Formen in
dem Koͤrper, aber dennoch ihrer innern Beſchaffenheit
wegen ſchwerer zu erwecken.
Dieß iſt in der Seele, wie in dem Koͤrper, der An-
fang von der Abnahme der Kraͤfte. Wenn jene, der
vorhergegebenen Erklaͤrung zufolge, als eine Wir-
kung der zu ſtark in gewiſſen Hauptzuͤgen aufgehaͤuften
und zu ſtark vereinigten dunklen Vorſtellungen angeſe-
hen wird: ſo iſt ſie auch, wie die Steifigkeit in den Fi-
bern des Koͤrpers, eine Folge von eben derſelbigen Wir-
kungsart der Kraͤfte, wodurch die Vermoͤgen ſich entwi-
ckeln. Sie wirken uͤber die Grenzen hinaus, wo die
Reproducibilitaͤt der Jdeen ihr Maximum hat. So
etwas iſt die Abnahme in dem Menſchen, und in dem
menſchlichen Seelenweſen. Was ſie in der Seele ſelbſt
iſt, davon nachher.
Die erſte Folge von dieſer Erſteifung der Vor-
ſtellungen iſt, daß die Empfaͤnglichkeit der Seele
zu neuen Eindruͤcken ſchwaͤcher oder ſtumpfer wird.
Die neuen Modifikationen koͤnnen nicht mehr ſo leicht
und ſo lebhaft aufgenommen werden, eben weil die vor-
handenen Jdeen, an welche ſie gereihet werden muͤſſen,
ſich nicht ſo leicht darſtellen, noch ſich an ſie anlegen, ſie
anziehen und dadurch gleichſam in Empfang nehmen.
Die Alten vergeſſen allein aus dieſer Urſache ſo leicht
dasjenige, was ihnen begegnet, und dieß um deſto mehr,
je weiter ſie in der Periode des Abnehmens fortgehen.
Das Gedaͤchtniß wird ſchwach, inſofern es das Ver-
moͤgen iſt die empfangenen Vorſtellungen ſo aufzube-
wahren,
[750]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
wahren, daß ſie erwecket werden koͤnnen. Empfindun-
gen ſind da, und die vorſtellende und denkende Kraft
macht ſie zu Vorſtellungen und Gedanken. Aber dieſe
Vorſtellungen und Gedanken fallen auf die Seele, wie
der Same auf einen Felſen, wo er ſich nicht einwur-
zeln kann. Denn weil ſolche neue Jdeen mit den uͤbri-
gen vorhandenen nicht verbunden werden, ſo fallen die
Mittel weg ſie zu erwecken; und wenn man ſie wieder
zuruͤckbringt, ſo fehlt das vornehmſte Merkzeichen, wor-
an die Seele ſich erinnern koͤnne, ſie gehabt zu haben.
Man kann aber deswegen nicht ſchließen, wenn man
der Analogie der Natur folgen will, daß dieſe letzthin-
zugekommenen Jdeen gar keine Spur zuruͤcklaſſen.
Wenn ein Stein auf einen Stein faͤllt, ſo bleibt ein
Merkzeichen davon zuruͤck, obgleich jener in dieſen nicht
eindringt. Der Menſch kann alſo noch im hoͤchſten Al-
ter den Vorrath ſeiner ruhenden Vorſtellungen vermeh-
ren, wenn gleich nicht die Summe derer, die erweck-
bar ſind. Und hiemit ſtimmt die Erfahrung uͤberein.
Die Alten befeſtigen ſich noch immerfort in gewiſſen
Meynungen und Denkungsarten, und Gewohnheiten,
wie die alten Baͤume fortfahren jaͤhrlich Ringe anzuſe-
tzen, wenn gleich dieſer Zuwachs kaum mehr kenntlich
und unterſcheidbar iſt.
4.
Es laͤßt ſich hieraus erklaͤren, warum die Alten ſich
beſſer der vergangenen Zeiten ihrer Jugend erinnern,
je leichter ſie vergeſſen, was ihnen gegenwaͤrtig iſt. Die
Jdeen aus der Jugend haben ihre innere Reproducibi-
litaͤt behalten, welche den neuen, die im Alter hinzu-
kommen, fehlt. Weil nun die letztern die Seele nicht
mehr ſo ſtark beſchaͤfftigen, daß jene dadurch verdunkelt
wuͤrden, ſo hat ſie Anlaß in ihre innere Vorrathskam-
mer zuruͤckzugehen, und ſich mit den alten zu thun zu
machen. Dieſe Erfahrung kann hier wiederum zum
Beweiſe
[751]und Entwickelung des Menſchen.
Beweiſe dienen, wie wenig Grund man habe daraus,
daß dieſe oder jene Vorſtellungen unter gewiſſen Um-
ſtaͤnden nicht reproducibel ſind, zu ſchließen, ſie koͤnn-
ten niemals wieder erwecket werden. Jn dem mittlern
Alter ſind uns unzaͤhlige Dinge aus der Jugend her
entfallen, an die wir nicht nur nicht gedenken, ſondern
auf die wir uns auch nicht beſinnen koͤnnen. Die Seele
iſt alsdenn zu ſehr auf das Gegenwaͤrtige und Kuͤnftige
gerichtet, und kann ihre Kraft zur Wiedererweckung
des ſo wenig intereſſanten Vergangenen nicht verwen-
den. Aber im Alter kommt ſie wiederum darauf zu-
ruͤck. Einem gewiſſen Gelehrten von einigen ſiebenzig
Jahren fielen die Regeln aus ſeinem Donat von ſelbſt
ein, an die er in funfzig Jahren wohl dann und wann
gedacht, aber die er ſchwerlich nach ihrem ganzen Jn-
halt wiederholt hatte, oder auch nur wiederholen koͤnnen.
Allein eben dieſe Bemerkung bey dem Alter fuͤhret
noch zu einer andern Folge, oder beſtaͤtiget ſolche doch
und macht ſie ſehr wahrſcheinlich; zu dieſer naͤmlich:
Jede Vorſtellung laͤßt nicht nur irgend eine Spur oder
Folge von ſich in der Seele zuruͤck, ſondern „jedwede,
„die einmal ſo weit eingepraͤgt iſt, daß ſie abgeſondert
„erweckbar geworden, behaͤlt auch dieſe ihre abgeſon-
„derte Erweckbarkeit und abſolute Erkennbarkeit auf
„immer,“ wenn gleich die Erinnerungskraft in einem
gewiſſen Zuſtande unvermoͤgend iſt, ſowohl ſie zu erwe-
cken, als ſie wieder zu erkennen. Wahrſcheinlich iſt es
alſo, daß bloß vergeſſene Vorſtellungen, die nicht we-
gen einer innern Steifigkeit in den Fibern unerweckbar
ſind, es aus keiner andern Urſache ſeyn moͤgen, als weil
ſie zu ſehr von andern klaͤrern verhuͤllt ſind, die ſie ein-
faſſen und verdunkeln. Das Vergeſſene und Verlernte
wuͤrde alſo wiederhergeſtellt werden, ſobald an der ſie
zuruͤckhaltenden oder ſie unkenntlich machenden Jdeen-
aſſociation etwas veraͤndert wuͤrde; vorausgeſetzt, daß
die
[752]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die wiedererweckende und darſtellende Kraft in der See-
le fuͤr ſich ihre ehemalige Staͤrke und Munterkeit be-
halten habe.
5.
Die Spuren ehemaliger Groͤße, Staͤrke und
Wirkſamkeit in der Seele, welche im Alter, und an
ſich kenntlich genug, zuruͤckgeblieben, obgleich nicht
mehr erweckbar ſind, muͤſſen doch ohne Zweifel etwas
Reelles in dem Menſchen ſeyn, wie es die entſpre-
chenden Formen in den erſteiften und erſtarrten Glie-
dern des Koͤrpers ſind. Jene ſind Erhoͤhungen, Er-
weiterungen, reelle Zuſaͤtze der Grundvermoͤgen und
Kraͤfte, alſo Zuſaͤtze an innerer Menſchheit. Jſt dieß
nicht der natuͤrliche Grund der phyſiſchen Ehrwuͤr-
digkeit der Alten, und auch der nicht mehr brauchba-
ren Alten, die das gemeine Gefuͤhl bey allen nicht ganz
barbariſchen Voͤlkern in ihnen antrifft? Dieß Gefuͤhl
iſt bey polizirten Nationen durch die Erziehung erhoͤhet,
ſonſt von Natur fuͤr ſich allein ſo ſtark und hervordrin-
gend nicht, daß nicht ſtaͤrkere Triebe ſolches eben ſowohl
als andere natuͤrliche Gefuͤhle, z. B. die Liebe zu den
Kindern, unterdruͤcken koͤnnten. Aber es iſt deswegen
doch natuͤrlich. Die vorigen Empfindungen, Beſtre-
bungen und Thaten haben Zuͤge in dem innern Seelen-
weſen gegraben, die noch uͤbrig ſind, auch in dem Al-
ten, der nur muͤhſam ſeinen Koͤrper von der Stelle
bringt. Jene ſind nicht mehr ſo brauchbar fuͤr die aͤuſ-
ſere Welt, oder gar nicht, weil ſie nicht reproducibel
ſind; aber dennoch nicht ganz und gar ohne Folgen und
Wirkungen. Die alte ehrwuͤrdige Eiche, obgleich in-
wendig ſchon zum Theil vermodert, iſt doch noch mehr
Baum, wenigſtens mehr Holz, als das Reis, das aus
der Erde hervorſchießt. Der Saft fließt nicht mehr ſo
lebhaft in ſeinen Gefaͤßen, und dringt nicht mehr ſo voll
ein in ſeine angeſetzten Ringe. Sind dieſe Ringe, die
Merk-
[753]und Entwickelung des Menſchen.
Merkmale ſeines Alters, deswegen nicht phyſiſche Thei-
le ſeines koͤrperlichen Ganzen? Wir koͤnnen dieſe Aehn-
lichkeit fortſetzen. So wenig der alte Baum wiederum
zu einem Reis eingewickelt wird, ſo wenig paßt ſich auch
dieſe Metapher auf das Altwerden des Menſchen. Die
entwickelte Menſchheit wird nie wieder Kindheit.
Denn was die zwote Kindheit im hoͤchſten Al-
ter betrifft, die auch durch andere Urſachen beſchleuni-
get werden kann, ſo iſt der Unterſchied zwiſchen dieſer
und der eigentlichen Kindheit in Hinſicht der Seele
eben ſo groß, als ſie in Hinſicht des aͤußern Koͤrpers iſt.
Man darf ſich uͤber die aͤußerliche Aehnlichkeit zwiſchen
beiden nicht wundern, welche die Veranlaſſung gege-
ben hat, jenen Zuſtand des Alters eine Kindheit zu
nennen. Wenn die Steifigkeit in den Vorſtellungen ſich
auch uͤber die Spuren von den ehemals ſtaͤrkern Thaͤ-
tigkeiten, und beſonders von den Aktionen der Vernunft,
die ſonſten am laͤngſten ihre Erweckbarkeit behalten,
ausgebreitet hat: ſo wird es unmoͤglich, daß der Menſch
ſich ſeiner erworbenen Jdeen bedienen, oder nur ſeines
vorigen Zuſtandes ſich bewußt ſeyn koͤnne. Jſt nun die
innere ſelbſtthaͤtige Kraft der Seele wirkſam, ſo iſt ſie
doch ſo unvermoͤgend nach ihren erworbenen Vorſtellun-
gen ſich zu aͤußern, als es das Kind iſt, das noch kei-
ne Vorſtellungen hat. Dieß iſt eine Aehnlichkeit zwi-
ſchen beiden, die nothwendig eine aͤhnliche Unvorſichtig-
keit und Mangel an Ueberlegung und Klugheit in den
Handlungen zur Folge haben muß. Sonſten iſt in dem
Kinde keine entwickelte Kraft, keine erworbene Fertig-
keit. Dieſe iſt in dem kindiſchen Alten; nur kann ſie
nicht gebraucht werden. Dagegen iſt die Receptivitaͤt
des Kindes und ſeine Faſſungskraft viel groͤßer, we-
nigſtens an Extenſion. Denn man findet ſonſten auch
bey den Alten, daß ſie noch immerfort neue Jdeen an-
nehmen, die ſie aber gleich wiederum vergeſſen und die
IITheil. B b bſie
[754]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſie ſo ſchwer und ungeſchickt annehmen, in Vergleichung
mit der Leichtigkeit, womit das Kind etwas erlernt, als
es die Steifigkeit ihrer Organen erwarten laͤßt. We-
nigſtens iſt dieß ſo im Ganzen, obgleich bey einigen be-
ſondern Vorſtellungen ſichs anders verhaͤlt und verhal-
ten muß, weil das innere thaͤtige Princip in dem Alten,
ſo weit es noch wirken kann, mit mehrerer Staͤrke und
Feſtigkeit wirkt.
6.
Jndem die Unerweckbarkeit der Vorſtellun-
gen zunimmt, muͤſſen auch die Reizungen zur Thaͤ-
tigkeit von außen ſchwaͤcher werden. Die ſinnlichen
Eindruͤcke fallen nicht mehr auf ſo bewegliche und reiz-
bare Werkzeuge. Dadurch wird das Gefuͤhl des Koͤr-
pers ſtumpfer, und dieß geht allmaͤlig weiter bis auf
das Selbſtgefuͤhl der Seele. Denn je mehr der Kreis
der erweckbaren Vorſtellungen eingeſchraͤnkt wird, deſto
weniger und ſchwaͤcher ſind auch die innern Empfindun-
gen. Es folgt hieraus von ſelbſt eine Abnahme an al-
len empfindbaren Kraftaͤußerungen, oder eine Schwaͤ-
che an der Kraft, inſoferne ſolche naͤmlich außer ſich
hervorgeht und in ihren Wirkungen gefuͤhlt und wahr-
genommen werden kann. So zeigt es die Erfahrung.
Die Seele wird im Alter mehr von der Welt abgeſon-
dert. Eine Menge von den kleinen Faͤden, wodurch ſie
ſo zu ſagen herausgezogen ward, verdorren und loͤſen
ſich. Dann zieht ſie ſich in ſich ſelbſt zuruͤck, und ſucht
ihre Beſchaͤfftigung in dem Andenken voriger Zeiten
und voriger Thaten. Aber auch endlich ermattet das
Selbſtgefuͤhl, da ſeine Nahrung, die Empfindungen von
außen, ihm entzogen werden. Dennoch muß auch hie-
bey die obige Bemerkung nicht aus der Acht gelaſſen
werden. Es iſt dieſe Verengerung des Kreiſes der
Wirkſamkeit, oder dieß Einkriechen des Alters an der
Seele, kein Verluſt der Vorſtellungen und keine Ver-
minde-
[755]und Entwickelung des Menſchen.
minderung in dem Umfang deſſen, was ſie an Spuren
ehemaliger Fertigkeiten geſammlet hat. Es iſt nur eine
Einſchraͤnkung des Kreiſes, den die Kraft mit merkba-
rer Wirkſamkeit durchdringen kann. Die Thaͤtigkeit,
welche ſie ſelbſt empfinden und worinn ſie ſich und ihr
Daſeyn fuͤhlen kann, iſt es, welche abnimmt. Daß ſie
deswegen minder thaͤtig ſey in ihren innern unempfind-
baren Wirkungen, kann hieraus noch geradezu nicht ge-
ſchloſſen werden.
7.
Zuerſt verdient noch dieß eine genauere Erwaͤgung,
wie weit ſich von der Abnahme an wirklicher Thaͤ-
tigkeit oder wirkender Kraft auf eine Abnahme
an Beſtrebungen, worinnen die Kraft gleichfalls
wirkſam iſt, und an Vermoͤgen gefolgert werden koͤn-
ne. *) Wenn ſie nichts mehr ausrichtet, ſo will ſie
doch vielleicht noch; und wenn ſie nicht mehr will, ſo
kann ſie vielleicht doch wollen. Die lebendige, das
Gehirn bewegende, die Vorſtellungen erweckende und
wirklich etwas ausrichtende Kraft wird vermindert.
Dieß kann allein ſeinen Grund in einem Widerſtande
von außen haben, der nicht zu uͤberwaͤltigen iſt. Aber
auch kann die treibende Kraft ſelbſt geſchwaͤcht ſeyn.
Und in dieſem letztern Fall iſt noch beides moͤglich, ſo-
wohl daß ſie auch als bloßes Vermoͤgen zu wirken und
zur Wirkſamkeit ſich zu beſtimmen vermindert iſt, als
auch daß ſie von dieſer Seite ihre vorige Beſchaffenheit
behaͤlt. Das Gewicht in einer Wagſchale und die Ela-
ſticitaͤt einer Stahlfeder bringen keine Bewegung her-
vor, wenn jenem eine groͤßere Laſt entgegengeſetzt und
dieſe zu ſtark geſpannt wird. Aber dennoch behaͤlt bei-
des die vorige Kraft zu drucken und zu bewegen, und
faͤhrt auch fort wie todte Kraft zur Bewegung zu ſtre-
ben. Die Selbſtbeſtimmung der Seele zur Thaͤtigkeit,
B b b 2das
[756]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
das Wollen, kann als eine ſolche Preſſion betrachtet
werden, welche eine wahre Aktion und Thaͤtigkeit iſt,
obgleich ein Widerſtand von außen ihre Wirkung, die
ſie haben wuͤrde, zuruͤckhaͤlt. Aber wenn nun ferner
die Feder losgelaſſen und abgeſpannt wird, und alſo auch
nicht einmal mehr druckt, ſo beſitzt ſie doch ihre vorige
Elaſticitaͤt, als Vermoͤgen wiederum geſpannt zu wer-
den und dann wiederum zu drucken. Wenn das Ge-
wicht von dem Boden unterſtuͤtzt wird, ſo aͤußert es kei-
nen Niſus mehr, eine Laſt an der andern Seite in die
Hoͤhe zu heben. Und gleichwohl hat ſich in ſeinem in-
nern Vermoͤgen nichts geaͤndert. Aehnliche Moͤglich-
keiten muͤſſen bey der Seele nicht uͤberſehen werden.
Sie kann ihr Vermoͤgen zum Wollen beybehalten, wenn
ſie gleich nicht mehr will. Sie kann wollen und Ten-
denzen aͤußern, wenn ſie gleich nichts mehr hervor-
bringt.
Die Frage iſt nur, was ſich aus den Erſcheinungen
von der Abnahme der Seele im Alter als muthmaßlich
herausbringen laſſe? Die Hinderniſſe, welche in der Re-
produktion der Vorſtellungen entſtehen, muͤſſen auch all-
maͤlig die Begierde, oder das Beſtreben ſie zu erwecken,
vermindern. Aber wie eine Leidenſchaft, welche ſelten
Veranlaſſungen hat auszubrechen, und alſo auch ſelten
ausbricht, dennoch im Herzen in großer Staͤrke lange
beſtehen kann, und wenn ſie auch mit der Zeit geſchwaͤcht
wird, dennoch bey weitem nicht innerlich in demſelbigen
Verhaͤltniſſe abnimmt, wie ihre Ausbruͤche ſeltener wer-
den: ſo koͤnnen auch die erworbenen Fertigkeiten zu re-
produciren lange noch in ihrer Staͤrke vorhanden ſeyn,
wenn gleich die Begierden ſie zu aͤußern ſeltener werden.
Allein ſo deutlich ſich dieſer Unterſchied zwiſchen dem
Mangel an wirklichen Kraftaͤußerungen, und dem
Verluſt an Kraͤften und Vermoͤgen, fuͤr ſich auch
zeigt, ſo kommt es doch nun vornehmlich auf ſichere
An-
[757]und Entwickelung des Menſchen.
Anzeigen aus Beobachtungen an, wenn man von dem,
was in der Seele zuruͤckbleibt, mehr wiſſen will, als
daß es ſo ſeyn koͤnne. So lange noch das Wollen da
iſt, aͤußern ſich auch noch die Kraͤfte. Aber wenn auch
kein Wollen mehr vorhanden iſt, wie erkennen wir denn
das Daſeyn der Vermoͤgen, die ſich nicht mehr offen-
baren und alſo nicht beobachten laſſen? Jch glaube al-
lerdings, daß man ſich von den letztern auf eine aͤhnli-
che Weiſe aus Beobachtungen uͤberzeugen koͤnne, wie
man die Freyheit der Seele, inſoferne ſie ein Vermoͤ-
gen iſt das Gegentheil von dem zu thun, was man thut,
aus der Erfahrung beweiſen kann. *) Es iſt ein ge-
wiſſes dunkles Gefuͤhl vorhanden, das, gehoͤrig gebraucht,
uns lehren kann, daß wir Vermoͤgen zum Wollen ha-
ben, wenn wir gleich wirklich nicht mehr wollen, dar-
um, weil wir das Gewollte nur vergebens wollen wuͤr-
den. Und dieß Gefuͤhl iſt bey der Abnahme der See-
lenkraͤfte nicht ſelten. Allein ich meine, es ſey nicht noͤ-
thig uns hier noch einmal auf dieſe etwas weitlaͤuftige
Beweisart einzulaſſen. Wenn man zuſammennimmt,
was die Natur der Sache und die Analogie nach dem
wirklich aus Erfahrung Bewieſenen mit ſich bringt, ſo
wird ſichs deutlich genug zeigen, daß dasjenige, was zu-
ruͤckbleibt, wenn alle merkbare Thaͤtigkeit aufhoͤret,
noch den Namen eines reellen Vermoͤgens verdiene,
ob es gleich, von der andern Seite betrachtet, Unvermoͤ-
gen heißen kann: „ſo etwas naͤmlich, dem nichts
„fehlet an innerer Beſchaffenheit, um ſich als das vori-
„ge wirkſame Princip zu beweiſen, als daß es durch
„lebhafte Eindruͤcke von außen gehoͤrig geſpannt, und
„dann von keinem Widerſtande, der aus der Steifig-
„keit der Vorſtellungen entſpringt, gehindert werde.“
Was außer dieſen beiden Umſtaͤnden als ein innerer
B b b 3Grund
[758]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Grund der Thaͤtigkeit zu einer lebendigen wirkenden
Kraft erfodert wird, iſt vorhanden.
Dieß, ſage ich, iſt es, was die Analogie in Hinſicht
des Seelenweſens wahrſcheinlich macht. Die Schwierig-
keit Vorſtellungen zu erwecken entſteht zunaͤchſt nicht
aus einer Schwaͤche der reproducirenden Kraft, ſondern
aus objektiviſchen Hinderniſſen, die in den Vorſtellun-
gen ſelbſt liegen, und in den Werkzeugen, deren Bewe-
gung zur Reproduktion nothwendig iſt. Und wenn her-
nach die Kraft ſelbſt abzunehmen ſcheint, ſo finden wir
die Urſache davon in der abnehmenden Lebhaftigkeit der
koͤrperlichen Gefuͤhle, wodurch ſie gereizet werden muß,
und ohne welche ſie nichts mehr iſt als die ungeſpannte
elaſtiſche Saite, deren Spannkraft ſich nicht eher aͤuſ-
ſert, als bis ſie angezogen wird. Die ganze Natur des
Abnehmens und die Symptome deſſelben fuͤhren bis da-
hin, und auf nichts mehr. Wir haben alſo zum wenig-
ſten keinen Grund, einen innern Verluſt am Vermoͤgen,
durch ſtarke lebhafte Eindruͤcke gereizet thaͤtig zu wer-
den und die ruhenden Vorſtellungen, wenn nur ihre in-
nere Unerweckbarkeit gehoben waͤre, auf die vorige Art
zu bearbeiten, anzunehmen. Waͤre die Seele bloß or-
ganiſirtes Gehirn, ſo wird doch dieſer Theil des Koͤrpers
eben ſowohl ſeine innern Formen behalten haben, als
die aͤußerlichen ſichtbaren. Und in dieſen Formen wuͤr-
de doch ſo viel liegen, daß, wenn nur Lebensgeiſter ge-
nug hineinfloͤſſen, die den Reiz vermehrten, und dann die
fremden hinzugeſetzten Partikeln, wodurch die Fibern
ſteif geworden, auf die entgegengeſetzte Art wieder weg-
geſchafft und dieſe wieder erweichet wuͤrden, das ehemali-
ge lebhafte Spiel der Faſern von neuem von ſtatten gehen
muͤßte, ohne daß neue Anſaͤtze und neue Auswickelungen
dazu erfodert wuͤrden. Dieß waͤre doch das wenigſte. Soll-
ten aber Vermoͤgen aufhoͤren wichtige und wahre Rea-
litaͤten zu ſeyn, und eigene Beſchaffenheiten in der
Kraft,
[759]und Entwickelung des Menſchen.
Kraft, die einer andern nicht zukommen, wenn ſie gleich
ſich nicht in Thaͤtigkeiten aͤußern? Das laͤßt ſich doch
von menſchlichen Vermoͤgen uͤberhaupt nicht ſagen. So-
krates und Caͤſar, im Schlafe und in der Ohnmacht,
wirken weniger als ein wachendes Kind. Aber ſind des-
wegen nicht in ſolchen ſchlafenden und in Ohnmacht lie-
genden Menſchen andere und mehrere Realitaͤten, als in
einem ſchlafenden Kinde? Und iſt, was bey jenen Weis-
heit und wirkſame Kraft genennet wird, waͤhrend des
thaͤtigkeitsloſen Zuſtandes, in ihnen nichts, was man
nicht etwan einer Auſterſeele auch zuſchreiben koͤnnte?
Wenn die Vermoͤgen nichts ſind, ſobald als aͤußere Um-
ſtaͤnde es unmoͤglich machen damit zu wirken, ſo muͤß-
ten in dem Menſchen, der aus einem tiefen Schlaf er-
wachet, oder aus einer Ohnmacht zuruͤckkommt, und
auch bey den gewoͤhnlichen Abwechſelungen im Wachen,
Spruͤnge vorgehen; da er faſt in einem Augenblick aus
einem verſtandloſen ein vernuͤnftiger Mann, aus dem
ſchwaͤchſten der ſtaͤrkſte, und aus dem witzloſeſten ein
Genie wird. Es iſt eine gar zu ſtarke Erfahrung, daß
es viele Zeit und Muͤhe koſtet, auch Vermoͤgen zu er-
langen, die alsdenn, wenn ſie unwirkſam ruhen, nichts
anders ſind, als innere Beſchaffenheiten der Seele, da-
von wir keine andere Begriffe haben, als daß ſie dadurch,
wenn ſie rege gemacht und gereizet wird, auf beſtimmte
Weiſe ſich aͤußert. Dieß muß ein wahres Etwas ſeyn.
8.
Dieß waͤre die Abnahme des Menſchen, als Men-
ſchen, in ſeinem geſammten Seelenweſen. Das innere
thaͤtige Princip bleibt, ſo lange der Menſch lebet, mit
allen ſeinen Formen und Zuſaͤtzen, die es aufgenommen
und unabhaͤngig von dem, was es von außen haben
muß um thaͤtig zu ſeyn, behalten kann. Aber dennoch
wird es in ſich ſelbſt ungeſchmeidig, ſich auf die vorige
Art zu veraͤndern, naͤmlich ſo, daß es dieſe Veraͤnderun-
B b b 4gen
[760]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gen fuͤhle und ſich ihrer bewußt werde. Der aͤußere Ein-
fluß entzieht ſich, womit der Reiz weggeht, ohne den
es im Leben nicht thaͤtig iſt.
Jn dem koͤrperlichen Beſtandtheile des Menſchen
beſtehen die Formen nicht laͤnger, als bis er aufgeloͤſet
wird und zergehet. Alsdenn fallen alle Spuren, und was
von den ehemaligen Veraͤnderungen uͤbrig iſt, von ſelbſt
weg. Und wir finden nicht, wenigſtens in den beob-
achtbaren Theilen des Seelenorgans nicht, daß vor die-
ſer Zerſtoͤrung noch einmal eine Erneuerung ihrer vori-
gen Biegſamkeit vor ſich gehe. Die Fibern werden nicht
von neuem mit einer Lebenskraft durchdrungen, und
wieder zum geſchmeidigen Organ gemacht. Wuͤrde nun
daſſelbige Schickſal das unkoͤrperliche Weſen treffen, ſo
wuͤrde alles das, was an Vorſtellungen und Vermoͤgen
ſich in dem Menſchen erhalten hat, ſo gut als auf immer
fuͤr ihn verloren ſeyn. So fruchtbar alſo der Begriff
von den aufbewahrten Vermoͤgen, auf den die vorherge-
hende Betrachtung gefuͤhret hat, auch ſeyn mag: ſo bringt
uns ſolcher doch nur zu der aͤußerſten Pforte der Ein-
ſicht, die noch zu ſuchen iſt, naͤmlich wie weit dieſelbige
Unbiegfamkeit und Schwaͤche in das Jnnere des See-
lenweſens eindringe, und ob und wie ferne unſer Jch
ſelbſt davon leiden muͤſſe? Die Fackel der Beobachtung
verloͤſcht hier, oder wirft doch nur einen ſchwachen
Schimmer fuͤr die weiter gehende Vernunft, die ſich am
Ende an die Analogie halten muß. Dieß iſt die Analo-
gie, davon vorher ſchon Gebrauch gemacht worden iſt:
die Analogie von der thieriſchen Natur im Menſchen
auf die Natur ſeines Seelenweſens. Jſt die Seele nichts
mehr, als ſie nach der Vorſtellung des Herrn Bon-
nets iſt, naͤmlich die fuͤhlende und thaͤtige Gehirnskraft:
ſo behaͤlt ſie keine Spuren ehemaliger Veraͤnderungen,
und ſteht, wenn das ganze Organ aufgeloͤſet iſt, welches
denn doch nach der bonnetiſchen Hypotheſe nicht geſehe-
hen
[761]und Entwickelung des Menſchen.
hen wird, eben ſo bloß von allen erworbenen Fertigkei-
ten und Vermoͤgen da, als ſie vor der Entwickelung war.
Kann ſie dagegen, als ein Weſen fuͤr ſich, Spuren ihrer
Modifikationen in ſich ſelbſt, wie gewiſſe bleibende Be-
ſchaffenheiten, behalten; oder iſt ihr inneres Organ un-
zerſtoͤrbar, worinn ihre Vorſtellungen geſammlet ſind:
ſo kann ſie auch ihrer unbrauchbar gewordenen Kraͤfte,
Vermoͤgen und Vorſtellungen wiederum bewußt wer-
den, und damit wirken, wenn nur die Hinderniſſe weg-
fallen, die der Reproduktion der Vorſtellungen im We-
ge ſtehen.
Nach den vorher *) dafuͤr angefuͤhrten Gruͤnden, die
ich nicht wiederholen will, glaube ich hier annehmen zu
koͤnnen, daß die ruhenden Vorſtellungen eben ſowohl
Beſchaffenheiten der Seele ſind, als des Organs. Aus
dem letztern faͤllt alles weg, wenn es aufgeloͤſet wird.
Allein Aufloͤſung trifft die Seele nicht. Vielleicht auch
nicht ganz den Koͤrper, nicht das innerſte, naͤchſte, un-
mittelbare Werkzeug der Seele. Aber dieß letztere da-
hin geſtellet, was kann unter der gedachten Vorausſe-
tzung die Abnahme an Kraͤften im Alter in dem Jnnern
der Seele ſelbſt ſeyn? Und wie weit wird das, wozu je-
ne Vorſtellung leitet, durch die Erfahrungen beſtaͤtiget?
Erſtlich, die Abnahme an thaͤtiger Wirkungskraft
kann das innere Princip der Seele nicht treffen. Die
Kraft zu reproduciren und zu wirken bleibt dieſelbige
wie ſie iſt, wenn ſie gleich nicht mehr als lebendige Kraft
wirket, weil ſie nicht mehr von außen gereizet wird.
Zweytens, „dieſelbige Grundkraft kann auch als
„lebendige Kraft fortfahren eben ſo thaͤtig in ſich ſelbſt
„zu ſeyn, als vorher. Sie kann die intellektuellen Vor-
„ſtellungen in der Seele erneuern, bearbeiten, ſich nach
„ihnen beſtimmen, wollen und ſich veraͤndern, mit glei-
B b b 5cher
[762]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
„cher Staͤrke und Lebhaftigkeit, ſogar mit groͤßerer Jn-
„tenſion, und alſo noch fortfahren innerlich ſich zu er-
„hoͤhen und vollkommener zu machen.“ Nur das klare
Gefuͤhl und Bewußtſeyn dieſer Arbeiten fehlet, weil dazu
eine Ruͤckwirkung des von ihr modificirten Gehirns er-
fodert wird. Nur dieſe Ruͤckwirkung iſt geſchwaͤchet,
oder doch nicht ſo auseinandergeſetzt, als ſie ſeyn muͤßte
um ein deutliches Gefuͤhl zu verurſachen; und dieß da-
her, weil das Organ ungeſchickt geworden iſt, die ſinnli-
chen Bewegungen zu erneuern, und alſo nur ſo wie ein
unbiegſamer Koͤrper mit einer zwar noch gleich ſtarken
aber unentwickelten Aktion der Einwirkung der Seelen-
kraft widerſtehet, und ſich nur unentwickelt dem Gefuͤhle
darſtellet.
Drittens, was die Unerweckbarkeit der Vorſtel-
lungen betrifft, die aus der Steifigkeit der Fibern des
Organs entſtehet, ſo kann ſolche in der Seele entweder
gar nicht ſeyn; oder wenn etwas Analoges dazu in ihr
angenommen wird, um nirgends in der Harmonie eine
Luͤcke zu laſſen: ſo muß ſie doch auch hier aus einer ana-
logen Urſache entſtehen, wie in dem Organ, naͤmlich
aus der zu ſtarken Aufhaͤufung der aſſociirten Nebenzuͤ-
ge bey den Vorſtellungen. Es iſt alſo eine zu große
Staͤrke in dem, was reproduciret werden ſoll, zu groß
naͤmlich fuͤr die Kraft, welche erwecken ſoll. Dieſe be-
darf groͤßere Reize von außen, um in ſtaͤrkere Thaͤtig-
keit zu kommen, oder auch neue Veranlaſſungen zu an-
dern Vorſtellungen, die ſie zwiſchen den aufgeſammle-
ten, wie ein erweichendes oder aufloͤſendes Mittel, brin-
gen und ſolche dadurch, um denſelbigen Ausdruck zu be-
halten, wieder geſchmeidig machen kann. Jn den aͤuſ-
ſern Theilen des Gehirns und dem uͤbrigen Koͤrper en-
diget ſich die aus Alter entſtandene Steifigkeit mit der
Zerſtoͤrung. Wenn hier eine neue Lebenskraft in die Fi-
bern geleitet, das Erſteifte oder Verhaͤrtete davon durch-
drun-
[763]und Entwickelung des Menſchen.
drungen, erweicht und biegſamer gemacht wuͤrde, ſo
haͤtten wir eine Veraͤnderung, die derjenigen entſpricht,
welche in der Seele immer moͤglich iſt, die niemals ei-
ner ſolchen Wiederauflebung unfaͤhig wird. Und nur
andere Beziehungen auf aͤußere Gegenſtaͤnde ſind noth-
wendig, um ſie wirklich wieder aufzuleben.
Viertens, worinn aber auch die Unbiegſamkeit
in der Seele beſtehen mag, ſo kann ſie den Graden nach
nicht ſo groß ſeyn, als ſie bey den materiellen Vorſtel-
lungen im Gehirn iſt. „Denn ſo zeiget ſich, daß je
„mehr die Theile an dem menſchlichen Koͤrper ſo zu ſa-
„gen zu den aͤußern gehoͤren, deſto merklicher wird
„die Verhaͤrtung an ihnen, und deſto eher ſtellet ſie ſich
„ein.“ Der Menſch nach ſeiner thieriſchen Natur
nimmt gewoͤhnlicher Weiſe, wenn nicht beſondere Zu-
faͤlle dazwiſchen kommen, ſchleuniger ab, und in groͤßerm
Verhaͤltniſſe, als an ſeinem innern Seelenweſen. Nach
der Analogie wird alſo die Abnahme langſamer und ge-
ringer ſeyn in der unkoͤrperlichen Einheit, dem wahren
Mittelpunkt ſeiner Natur, als in den Fibern des ihn
umgebenden Organs.
Fuͤnftens, dieſelbige Bemerkung laͤßt ſich bey der
Abnahme an innerer Wirkſamkeit wiederholen. Dieſe
kann in dem Geiſte nicht mit demſelbigen Schritte fort-
gehen, wie in dem Menſchen, wie in dem koͤrperlichen
Werkzeuge und in dem groͤbern Koͤrper. Wie die Er-
fahrung lehret, daß die Seele noch lange ihre Feuer-
kraft behaͤlt, und ſolches im Wollen und Verlangen be-
weiſet, wenn ſchon der Koͤrper zum Ausfuͤhren nicht
mehr ſo brauchbar iſt: ſo kann man nach der Analogie
vermuthen, daß, wenn gleich allmaͤlig die Flamme aus-
loͤſcht, der innere Funke im Mittelpunkte am laͤngſten
ſeinen Schein, ſeine Waͤrme und ſeine Thaͤtigkeit behal-
ten muͤſſe.
Ohne
[764]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Ohne mich weiter auf die Folgen einzulaſſen, die
hieraus mittelſt des Raiſonnements aus den Allgemein-
begriffen von einfachen Weſen, von Kraͤften und Ver-
moͤgen gezogen werden koͤnnen, will ich nur eine anfuͤh-
ren, die naͤher bey dem bleibt, was aus Beobachtun-
gen genommen wird. So lange der Menſch lebt, haͤngt
die Thaͤtigkeit der Seele, ſo weit ſie naͤmlich fuͤhlbar
und apperceptibel iſt, von dem Gefuͤhl aus dem Koͤrper
ab, wodurch ſie gereizet werden muß. Und es ſcheint
nicht, daß ſie vor dem Tode dieſer Abhaͤngigkeit ſich ent-
laden koͤnne. Sollte ſich bey einer fortdauernden, ob-
gleich unfuͤhlbaren, Wirkſamkeit der Seele in dem Jn-
nern ihre Selbſtthaͤtigkeit nicht endlich ſo weit ſtaͤrken,
daß ſie des Einfluſſes von außen nicht mehr bedarf?
und wird ſie nicht ſchon immer geſtaͤrket, je mehr die
Seele im Alter genoͤthigt wird, ſich in ſich ſelbſt zuruͤck-
zuziehen? Es zeiget ſich doch die Moͤglichkeit hievon
und die Art, wie ſolches, des aͤußern Scheins der zuneh-
menden Schwaͤche ohnerachtet, geſchehen koͤnne. Und
mehr will ich hier nicht behaupten. Denn wenn ſie
auch wirklich an Wirkſamkeit und innerm Leben abnimmt,
ſo kann ſie doch nie ihre Vermoͤgen noch ihre Vorſtel-
lungen verlieren. Sie kann alſo aufs Aeußerſte nie wei-
ter zuruͤckkommen, als bis an den Zuſtand, in welchem
ſie zwar nicht lebendig thaͤtig iſt, wie vorher, aber doch
auch nichts mehr als aͤußere Reize bedarf, um nicht nur
wiederum zu wirken, ſondern auch mit ihrer vollen ent-
wickelten Staͤrke und ihren erworbenen Fertigkeiten zu
wirken. Es darf kein neues thaͤtiges Princip in ſie hin-
eingebracht, ſondern die innere Kraft nur ſtark genug
gereizt werden, um wieder zu ihrem vollen vorigen Le-
ben erweckt zu werden. Es iſt unwahrſcheinlich, daß
es zu einer voͤlligen innern Unwirkſamkeit jemals komme.
Erfahrungen hat man, wie ich mehrmalen einge-
ſtanden habe, nicht, woraus ſich dieſe Vorſtellung voͤl-
lig
[765]und Entwickelung des Menſchen.
lig erweiſen ließe. Aber je genauer man auf die Aeuſ-
ſerungen des innern Lebens in den abnehmenden Jahren
acht hat, deſto mehr trifft man Beobachtungen an, die
mit ihr uͤbereinſtimmen und ſie unterſtuͤtzen, und keine,
die ihr entgegen ſind. So weit iſt es wohl nie mit der
Erſteifung der weichern Theile im Koͤrper gegangen,
daß nicht das Gehirn, oder doch der innere Theil deſſel-
ben, weich und fließend genug, um ſich auf mancherley
Arten modificiren zu laſſen, geblieben waͤre. Laß es
der Analogie gemaͤß ſeyn, daß ſich die Verfeſtigung
durch die ganze Natur ziehe: ſo iſt es doch eben ſo ſehr
ihr gemaͤß anzunehmen, daß die Austrocknung an der
Quelle der Saͤfte am wenigſten und am ſpaͤteſten be-
merkbar werden muͤſſe.
Man findet nicht nur, was vorher ſchon angefuͤhrt
iſt, daß die Alten noch lange Beſtrebungen durch den
Koͤrper aͤußern, wenn ſie nicht mehr wirken koͤnnen,
und nur erſt aus wiederholten Erfahrungen lernen muͤſ-
ſen, daß ihr Wollen vergeblich ſey, ehe ſie davon ab-
laſſen; ſondern auch daß, wenn ſie ſchon ſich in ſich
ſelbſt zuruͤckziehen, „ſie dennoch lebhaft ihr Jch, deſſen
„Wollen und Beſtreben, und ſo gar das Unvermoͤgen,
„fuͤhlen und gewahrnehmen, und wohl eben ſo ſtark, als
„ehemals ihre munterſten Kraftaͤußerungen.“ Der
Unterſchied dieſer Selbſtgefuͤhle ruͤhret nicht ſo wohl von
dem verſchiedenen Grade der Jntenſion, als von der
Ausdehnung und Deutlichkeit her, die von dem
Unterſchiede der gefuͤhlten Objekte abhaͤngt. Dieß ſind
in einem Fall lebhafte, allſeitige, mannichfaltige Kraftaͤuſ-
ſerungen, und ihre zugehoͤrigen Wirkungen in dem Ge-
hirn; und in dem andern bloße Beſtrebungen, die we-
gen der Unbiegſamkeit des Organs keine ſo deutlich fuͤhl-
baren Abdruͤcke von ſich hervorbringen. Und wenn das
innere Gefuͤhl ſelbſt ſtumpf wird, ſo laͤßt ſich auch dieſe
Veraͤn-
[766]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Veraͤnderung ſo deutlich aus der Schwierigkeit vielbe-
faſſende Vorſtellungen zu erwecken erklaͤren, daß man
faſt nothwendig darauf gefuͤhrt wird anzunehmen, es
ſey damit ſo, wie mit dem Gefuͤhl des Spielers, der es
an der Schwaͤche der Toͤne und an ihrem Mißklang ge-
wahrwird, daß ſein Jnſtrument nicht mehr fort will,
aber doch auch dieſe Verſtimmung und den Widerſtand
gegen ſeine Finger eben ſo ſtark fuͤhlt, als er vorher hoͤrte,
daß es vortreflich ſey. Gehoͤr und Urtheilskraft in ihm ſind
eben ſo thaͤtig bey dem letztern Gewahrnehmen, als bey
dem erſtern. Auch bey den kindiſch gewordenen Alten,
die ihren vorhergehenden Zuſtand mit dem gegenwaͤrti-
gen nicht vergleichen koͤnnen, werden doch manche
Ausbruͤche des innern thaͤtigen Princips bemerkt. Bey
einigen hat man Anwandlungen von jugendlichem
Muthwillen wahrgenommen; und der alte Mathema-
tiker, deſſen ich ſonſten erwehnt habe, erfand noch in
ſeiner zwoten Kindheit Demonſtrationen der euclidi-
ſchen Lehrſaͤtze.
Sechster
[767]und Entwickelung des Menſchen.
Sechster Abſchnitt.
Von der fortſchreitenden Entwickelung des menſch-
lichen Geſchlechts.
- 1) Vorerinnerung. Es iſt ſchwer auszuma-
chen, ob es eine fortſchreitende Vervoll-
kommnung des ganzen Geſchlechts gebe. - 2) Ob eine Verbeſſerung der Naturanlagen
zu erwarten ſey? - 3) Die Vervollkommnung im Geſchlecht kann
nur wachſen durch die Verbeſſerung der aͤuſ-
ſern Mittel, welche die Entwickelung be-
foͤrdern. - 4) Einige Anmerkungen uͤber dieſe Vervoll-
kommnungsmittel. - 5) Welche Arten von Kenntniſſen am meiſten
die hoͤhern Seelenvermoͤgen in Thaͤtigkeit
ſetzen? - 6) Welche Vortheile ſich von den jetzo vorhan-
denen Vervollkommnungsmitteln fuͤr das
allgemeine Beſte der Menſchheit erwarten
laſſen? - 7) Urſachen, welche dieſe Erwartungen ſchwaͤ-
chen.
1.
Die erheiternden Ausſichten in die Zukunft, womit
Hr. Jſelin ſeine Geſchichte der Menſchheit be-
ſchließt, und die ſchoͤnen Erwartungen, die der Verfaſ-
ſer des Jahrs 2240 gemacht hat, davon jene auf eine
immer groͤßere Vervollkommnung der Menſchheit, dieſe
auf eine Aufklaͤrung und Veredelung derſelben in einigen
beſondern Laͤndern, ausgehen, ſtechen ungemein gegen
die
[768]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die duͤſtern Ahndungen vieler andern ab, die vielleicht
noch jetzo nicht den kleinſten Theil der Stimmgebenden
ausmachen, welche dem Poeten nachſagen:
Soll man das eine hoffen, oder das andere fuͤrchten?
Man wird es deſto leichter thun, je mehr man nur von
einer Seite den gegenwaͤrtigen Zuſtand der Menſchheit
uͤberſieht. Richtet man das Auge auf beides, auf die
Vervollkommnungsmittel, welche da ſind, auf die
Wirkſamkeit der Urſachen und Kraͤfte, von denen ſie ge-
trieben werden, und dann auch auf die Hinderniſſe und
Gegenkraͤfte, welche in der Natur des Menſchen eine
nie verſiegende Quelle haben und, wenn gleich mit jedem
Zeitalter uͤberwunden, doch in jedem folgenden vom neuen
wieder da ſind und wirken; haͤlt man beides gegen ein-
ander: ſo wird mans ſchwer finden, zu entſcheiden, wel-
che Erwartung die gegruͤndetſte ſey, und noch ſchwe-
rer die Groͤße ihrer Wahrſcheinlichkeit zu beſtimmen.
Sollte es eine fortſchreitende Aufhellung, Entwicke-
lung und Vervollkommnung in dem menſchlichen Ge-
ſchlecht geben, und einen zur Seite gehenden Fortſchritt
an Wohlfahrt und Gluͤckſeligkeit im Ganzen? Die letz-
tere will ich hier noch abſondern. Mag denn dieſe Ver-
edelung nur langſam fortgehen; mag es Perioden des
Stillſtehens in ihr geben, oder gar ſolche, worinn ſie
etwas zuruͤckgeht, die aber durch andere, in denen ſie
ſchneller wieder fortwaͤchſt, erſetzt werden? Oder ſoll-
te die Summe der menſchlichen Vollkommenheit und
Gluͤckſeligkeit im Ganzen vielleicht eine beſtaͤndige
Groͤße ſeyn, oder doch nur eine ſo wenig veraͤnderliche,
daß hierauf nicht zu rechnen waͤre? Moͤchte denn gleich
in beſondern Laͤndern und Gegenden eine Abwechſelung
ſeyn,
[769]und Entwickelung des Menſchen.
ſeyn, wie die Ebbe und Fluth im Waſſer, deſſen Men-
ge in der Welt darum wenigſtens nicht ab oder zunimmt?
So viel kann man wohl ſagen, weil die Geſchichte
hieruͤber deutlich ſpricht, daß es particulaͤre Verbeſ-
ſerungen der Menſchheit in beſondern Laͤndern gebe,
wie auch wiederum particulaͤre Verſchlimmerun-
gen. Wo Staaten polizirt worden ſind, da hat die
Menſchheit durch das wohlthaͤtige Licht der Kenntniſſe
gewonnen, ſo viel auch noch Reſte von Barbarey und
Wildheit zuruͤck ſind. Wie man die Vergleichung auch
anſtellen mag, ſo haben wir keine Urſachen den Zuſtand
unſers lieben Teutſchlandes zu den Zeiten des Tacitus
zuruͤckzuwuͤnſchen: ſo viele kriegeriſche, große und heroi-
ſche Seelen es damals auch gehabt haben, und ſo groß
die Gluͤckſeligkeit in der damaligen barbariſchen Verfaſ-
ſung der Geſellſchaften auch geweſen ſeyn mag. Nicht
zu ſagen, und dieß iſt doch eine Hauptſache, daß die
Menſchenmenge in unſerm Vaterlande jetzo groͤßer iſt:
ſo glaube ich auch, ohne unſere Zeiten zu uͤberheben, laſſe
ſich behaupten, daß es gegenwaͤrtig mehr wahren Hel-
denmuth auch in koͤrperlichen Gefahren gebe, als vor-
mals; wenn anders dieſe Tugend nach ihrem innern
Werth, als eine Selbſtthaͤtigkeit der Seele, geſchaͤtzet
und von Tollkuͤhnheit und Wut unterſchieden wird. Eben
ſo gewiß hat auf der andern Seite die Menſchheit ſich in
vielen Laͤndern verſchlimmert. Laß die Schluͤſſe truͤgen,
die man von einzelnen hervorragenden Perſonen auf das
Ganze eines Volks macht. Etwas wahres iſt doch
darinn. Wo mehr Lichter ſind, und je ſtaͤrker ſie leuch-
ten, deſto groͤßer iſt auch die Erhellung allenthalben, auf
allen Stellen; der Raum der Erleuchtung mag ſo groß
ſeyn als er wolle. Allein wenn man mit der Menge
großer Leute, die das alte aufgeklaͤrte Griechenland auf-
ſtellete, die Einrichtung der Staatsverfaſſung, die
Geſetze, die Form der Erziehung und die Lebensart,
IITheil. C c cwodurch
[770]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
wodurch die Menſchheit ausgebildet ward, zuſammen-
nimmt: ſo kann ſein großer Vorzug vor dem jetzigen,
das in Sklaverey und Unwiſſenheit verſenkt iſt, eben ſo
wenig zweifelhaft ſeyn, als das Uebergewicht am aͤußern
Wohlſtande, an Bequemlichkeit und an Vergnuͤgen der
damaligen Zeiten und der jetzigen es iſt.
Laͤßt ſich nicht etwas aͤhnliches in Hinſicht des gan-
zen Geſchlechts behaupten? Die Geſchichte zeiget uns
daſſelbige in den aͤlteſten Zeiten in einem Zuſtande, den
wir, mit dem gegenwaͤrtigen verglichen, die Kindheit
der Welt nennen koͤnnen. Man hat daruͤber geſtritten,
ob die Bevoͤlkerung vor zwey tauſend Jahren groͤßer ge-
weſen ſey, als jetzo; und die Reſultate derer, die mit
vieler Gelehrſamkeit hieruͤber Berechnungen gemacht,
ſind verſchiedentlich ausgefallen. Aber wenn wir noch
weiter zuruͤckgehen, ſo treffen wir doch nach Ausſage der
glaubwuͤrdigſten Geſchichte auf Zeiten, worinn die Erde
weit leerer an Menſchen hat geweſen ſeyn muͤſſen, als
ſie nun iſt. Zwiſchen den beſſern aͤltern Zeiten und den
jetzigen hat es eine mittlere Zeit der Finſterniß und der
Barbarey gegeben, die faſt die ganze alte Welt bedecket
und, das Vortheilhafte, was ſie hatte, nicht uͤberſehen,
doch als ein Beyſpiel von Verſchlimmerung der Menſch-
heit im Ganzen angefuͤhret werden kann. Es ſcheinet
doch wenigſtens, als wenn die Geſchichte den erſtern
Begriff von einer wachſenden Vervollkommnung der
Menſchheit, die aber langſam zunimmt, auch wohl ihre
Epochen hat, in denen ſie abnimmt und dennoch im Gan-
zen groͤßer wird, mehr beſtaͤtige, als den zweeten von
einer beſtaͤndigen Gleichheit des Ganzen. Sollten auch
die kuͤnftigen Revolutionen ſo groß ſeyn, daß auf die
Periode des Wachſens eine gleich große im Zuruͤckgehen
folgen und einmal die erſte Kindheit der Welt wieder
zuruͤckkehren muͤßte, wie es nach einigen kosmologiſchen
Hypotheſen alter Philoſophen zu erwarten waͤre: ſo iſt
wieder-
[771]und Entwickelung des Menſchen.
wiederum ſo viel gewiß, daß unſer gegenwaͤrtiges Zeit-
alter zu der erſtern wachſenden Periode, die ſich mit un-
ſerer Geſchichte anfaͤngt und noch ihr Ende nicht errei-
chet hat, gerechnet werden muͤſſe, und daß daher auch
noch ein fernerer Fortſchritt in der Vervollkommnung
zu erwarten ſey.
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften ſind zwar ein Mittel, wo-
durch die Vervollkommnung befoͤrdert wird; allein
man wuͤrde ſich uͤbereilen, wenn man nach dem Grade
der Erweiterung und Verbeſſerung derſelben die Grade
der Vollkommenheit der Menſchen ſchaͤtzen wollte. Wenn
dieß angienge, ſo ließe ſich der Vorzug unſrer Zeiten vor
dem Alterthum, auch gegen Hr. Dutens behaupten.
Wir ſind zum wenigſten in den Kenntniſſen, wobey voͤl-
lige Gewißheit ſtattfindet, weiter gekommen, als die
Griechen und Roͤmer waren. Dieß macht allein die
Sache nicht aus. Es kommt dazu, daß der Fortgang
in den Wiſſenſchaften und die Erweiterung derſelben et-
was anders iſt, als die Verbreitung der Kenntniſſe un-
ter den Jndividuen. Das Licht der Wiſſenſchaften giebt
unſerm Jahrhundert eine glaͤnzende Seite. Dieſe iſt
eben diejenige, wobey die Vervollkommnung anfangen
muß. Allein dieſe eine Seite muß uns nicht blenden
und abhalten weiter nachzuforſchen, wie tief die entwi-
ckelnde Waͤrme eingedrungen, und wie weit ſie an allen
Seiten hin ausgebreitet ſey?
2.
Waͤre es moͤglich, wozu einige uns Hoffnung ge-
macht haben, daß die Naturanlagen in unſern Kin-
dern verbeſſert werden koͤnnten: ſo ließe ſich ungemein viel
zur Veredelung des kuͤnftigen Geſchlechts ausrichten.
Jedes Jndividuum muß immer von demſelbigen Punkt
anfangen, und hat dieſelbigen Stufen ſeiner Entwicke-
lung vor ſich, die es von der unterſten an durchgehen
C c c 2muß,
[772]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
muß, ohne daß der Vater das Kind bey der Geburt ſo-
gleich auf eine gewiſſe Hoͤhe hinſtellen koͤnnte. Gleiche
Unwiſſenheit, gleiche Traͤgheit, gleich ſtarker natuͤrlicher
Hang in den erſten Entwickelungen der Sinnlichkeit ſich
zu verlieren, iſt in allen Kinderſeelen, bey den Nach-
kommen ſowohl als bey den Voraͤltern. Koͤnnten nun
die Kraͤfte und Vermoͤgen ſtaͤrker, lebendiger und trei-
bender gemacht werden, ſo wuͤrden die ſo begluͤckten
Nachkommen geſchwinder und weiter fortkommen. Die
Sinne wuͤrden feiner und ſchaͤrfer ſeyn, beſonders das
innere Gefuͤhl. Und dieß koͤnnte ohne eine Verfeinerung
und Staͤrke in der innern Organiſation nicht ſtattfinden.
Die Erfahrung legt uns einige Beyſpiele von einer
ſolchen Verbeſſerung der menſchlichen Natur vor, die,
wenigſtens von einer Seite betrachtet, eine Veredelung
heißen kann. Ganze Voͤlker werden durch die Vermi-
ſchung mit andern, wie die Perſer durch ihre Verbin-
dung mit den cirkaſſiſchen Weibern, groͤßer, ſtaͤrker und
wohlgebildeter am Koͤrper. Viele Jndianer moͤgen von
den kultivirten Europaͤern eine muntrere, geſchmeidigere
und kluͤgere Nachkommenſchaft erhalten haben. Viel-
leicht iſt die Wirkung an den Seelen der Kreolen eben
ſo merklich, als an ihrer Farbe. Es giebt auch einzelne
Beyſpiele, welche lehren, daß Vorzuͤge der Aeltern wie
Gebrechen auf die Kinder uͤbergehen. Man hat ſich
noch mehr durch die Analogie von den Thieren und Pflan-
zen hierinn beſtaͤtiget. Man wende alle Sorgfalt auf
die phyſiſche Erziehung der Kinder, die ſie verdienet,
ſo wie man ſie hie und da bey Pflanzen und zahmen
Thierarten verwendet. Und man muß es mit Vergnuͤ-
gen bemerken, daß es jetzo anfaͤngt wirklich zu geſche-
hen, was noch allgemeiner werden wird, je mehr die
philantropiniſche Erziehung ſich ausbreitet. Man fange
damit ſchon an vor der Geburt, von der Erzeugung,
wie von vielen vorgeſchlagen iſt. Es iſt zu hoffen, daß
die
[773]und Entwickelung des Menſchen.
die heilſamen Wirkungen davon ſich bald merklich ma-
chen werden. Die Aerzte ſagen es mit Gruͤnden, daß
auf dem willkuͤrlichen Benehmen der Eltern, auf ihrer
Lebensart, ihren Denkarten und Sitten vieles beruhe,
wenn die Kinder ſchwach und kraͤnklich ſind. Ohne
Zweifel liegt hier eine verſteckte und verkannte Quelle
von unzaͤhligen Plagen der Menſchheit, die verſtopft
werden koͤnnte, wenn jene Erinnerungen mehr Gehoͤr
faͤnden. Kann aber die Natur der Nachkommen durch
die Auffuͤhrung der Eltern verſchlimmert werden, ſo
wird ſie in gleicher Maße auf der andern Seite durch
eine entgegengeſetzte ſich verbeſſern laſſen.
Allein ſo viele Aufmerkſamkeit auch alle hieher gehoͤ-
rigen wohluͤberlegten Vorſchlaͤge verdienen, und ſo viel
gutes ſich von den Urſachen erwarten laͤßt, die man je-
tzo anfaͤngt in Thaͤtigkeit zu ſetzen: ſo liegt doch ſelbſt in
der Natur des Menſchen ein Grund, der die guten Er-
wartungen davon ſchwaͤchen muß. Das nicht zu ſagen,
daß eine ſolche Veredelung der Naturen bald ihre Gren-
ze erreichen muͤſſe, zu der ſie kommen kann. Sie iſt
keiner immer ſteigenden Progreſſion faͤhig. Denn wer
wird hoffen, daß unſer Geſchlecht jemals zu einem Rie-
ſengeſchlecht am Koͤrper und einem Engelgeſchlecht am
Geiſte werden kann? Es kann jedwede Verbeſſerung
der Art wohl nichts mehr als eine einſeitige Verbeſſe-
rung ſeyn, die gar zu leicht eine Verſchlimmerung auf
einer andern Seite entweder ſchon bey ſich fuͤhren, oder
nach ſich ziehen muß. Geſetzt, unſere Kinder werden
durch eine haͤrtere Erziehung geſuͤndere und ſtaͤrkere Maͤn-
ner, und erzielen eine noch mehr herkuliſche Nachkom-
menſchaft: iſt es zu erwarten, daß dieſe Koͤrperſtaͤrke
mit einem gleichen Grade von Staͤrke der Vernunft be-
gleitet ſey? Man wird nicht leicht zu viel ausrichten;
darum darf daruͤber zur Zeit noch nichts erinnert wer-
den. Allein geſetzt man erreichte die Abſicht in der
C c c 3Maße,
[774]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Maße, wie einige ſichs vorſtellen: wuͤrde nicht dieſe
große Koͤrperkraft einen naͤhern Hang zur Sinnlichkeit
und Wildheit annehmen, wenn ſie ganz allgemein wuͤr-
de? und koͤnnte ſie nicht die Menſchheit nach einigen
Generationen wieder tief in den rohen Zuſtand der Bar-
barey und der Wildheit zuruͤckbringen? Das Ganze
der Menſchheit gewinnt nur durch ein gewiſſes Eben-
maß in den Kraͤften. Wir hoffen gar zu leicht zu viel,
wenn wir dieß von unſern Beſtrebungen erwarten, die
nur auf die eine oder andere Seite der Natur gerich-
tet ſind.
Noch erheblicher aber iſt dieſes. Wenn wir nach
der Analogie erwarten, daß eine Verbeſſerung in dem
Menſchengeſchlecht moͤglich ſey, wie ſie es bey Thieren
und Pflanzen iſt: ſo erinnert man ſich nicht, daß in
dem Menſchen das, was er durch die Ausbildung wird,
weit weniger in ſeinen Naturanlagen beſtimmt ſey, als
bey den uͤbrigen organiſirten Weſen. Und nicht nur
das, was er werden, ſondern auch das, was er wirken
und wieder zeugen ſoll, haͤngt weit mehr von dem Zu-
fall und von aͤußern Umſtaͤnden ab, die nicht in ſeiner
Gewalt ſind. Daher muß es weit minder wahrſchein-
lich ſeyn, daß ſtarke, geſunde, muntere und verſtaͤndige
Eltern Kinder haben werden, die ihnen aͤhnlich ſind,
als bey den Thier- und Pflanzenarten, daß vorzuͤgliche
Saamen auch vorzuͤgliche Fruͤchte geben. Es waͤre un-
gemein viel gewonnen, wenn die Naturanlagen in un-
ſern Kindern verbeſſert wuͤrden; aber darauf ließe ſich
doch nicht Rechnung machen, daß die ganze Wirkung
davon ſich lange erhalten, und nicht ſchon in den naͤch-
ſten Generationen wieder verloͤſchen wuͤrde. Jndeſſen
hoͤrt auch die kleinſte Verbeſſerung in den Naturen nicht
auf unſchaͤtzbar zu ſeyn.
3. Das
[775]und Entwickelung des Menſchen.
3.
Das Wirkſamſte, was zur Verbeſſerung der
Menſchheit in dem nachfolgenden Geſchlechte geſchehen
kann, beruhet auf der Einrichtung und Feſtſetzung der
aͤußern Urſachen, durch deren Einfluß die Natur-
kraft am leichteſten und am vollkommenſten entwickelt
wird. Die Schulanſtalten in der Welt, alle ausbil-
dende Urſachen naͤmlich hierunter begriffen, koͤnnen ohne
Zweifel etwas vortheilhafter fuͤr die Nachkommenſchaft
gemacht werden. Das iſt es, wobey ſich das meiſte
thun laͤßt, und wovon auch das meiſte zu hoffen iſt.
Aber es verſteht ſich, daß hier nicht allein von der ei-
gentlichen Erziehung die Rede ſey, ſo wichtig dieſe iſt,
und ſo ſehr ſie als die Hauptſache angeſehen werden
kann. Es gehoͤren auch ſolche Verfaſſungen und Ein-
richtungen der Geſellſchaft, des Lebens und uͤberhaupt
der aͤußern Umſtaͤnde dahin, deren Wirkung die Erzie-
hung der Natur ausmacht. Dieſe ſind von einer
ungemein großen Mannichfaltigkeit, und von ſolchem
Umfang, daß alle Bemuͤhungen der Menſchenfreunde
Raum genug finden daran zu arbeiten. Sollte die Ver-
vollkommnung in dem ganzen Geſchlechte ſteigen, ſo
muͤßte dieß am meiſten von der |Vortreflichkeit und von
der Ausbreitung dieſer aͤußern Einrichtungen zu erwar-
ten ſeyn. Hieruͤber will ich nur ein paar allgemeine
Anmerkungen anfuͤgen. Sie werden wenigſtens als
Winke dienen, wenn man einen Blick auf unſer Zeital-
ter wirft, und dem naͤchſtfolgenden entweder Gluͤck wuͤn-
ſchen oder es durch unſer zuvorkommendes Bedauren
warnen will. Vielleicht findet man am Ende, eben ſo
wenig ſehr uͤberwiegende Gruͤnde, eine goldene Zeit zu
erwarten, als eine eiſerne. Dieß kann indeſſen den Ei-
fer der Rechtſchaffenen um die Erhebung der Menſchheit
nicht mindern. Sie mag im Ganzen nichts beſſer wer-
den, als ſie gegenwaͤrtig iſt, ſo iſt Kraft und Thaͤtig-
C c c 4keit
[776]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
keit genug noͤthig, um nur zu verhindern, daß ſie nicht
ſchlimmer werde. Und dieß, meine ich, ſey Belohnung
genug fuͤr die Tugend, zu fuͤhlen, daß man beygewirkt
habe die gute Verfaſſung zu erhalten.
4.
Die Einrichtungen, wovon die Entwickelung der
Menſchheit abhaͤngt, koͤnnen uͤberhaupt in dieſe zwo
Klaſſen gebracht werden. Einige gehen zunaͤchſt auf
die Erhaltung und Vermehrung des Geſchlechts, und
auf die Erleichterung des thieriſchen Lebens; andere ha-
ben einen naͤhern und unmittelbaren Einfluß in die Ent-
wickelung der Seelenkraͤfte. Man mag die erſtern als
eigentliche Vervollkommnungsmittel, oder nur als vor-
hergehende Erfoderniſſe, betrachten: in beider Hinſicht
ſind ſie in einem gewiſſen Grade unentbehrlich, wenn
der Menſch, als Menſch, und als vernuͤnftiger Menſch,
ausgebildet und an Kraͤften und Vermoͤgen erhoͤhet wer-
den ſoll. Wo das Leben ſo muͤhſelig iſt, und alle, oder
die meiſten erſchoͤpfenden Beſtrebungen noͤthig ſind, um
Hunger und Durſt zu ſtillen, ſich |gegen Gewalt und
Schmerzen des Koͤrpers zu ſchuͤtzen, da kann der Geiſt
ſich nicht erheben, den die dringendſten Beduͤrfniſſe der
Natur unaufhoͤrlich von jedem hoͤhern Schwung zur Er-
de zuruͤckziehen. Ruhe, Erholung und ſorgenloſe Stun-
den, worinn das Herz ſich frey ausdehnen kann, ſind
dem Menſchen unentbehrlich, um ſich als Menſch zu
fuͤhlen, Muth zu faſſen, und ſeine Kraft auf noch an-
dere Seiten hin und bey mehrern Gegenſtaͤnden zu ver-
ſuchen, als bey den wenigen, worauf der bloße Unter-
halt des Lebens ſie nothwendig hinzieht. Jn der That
muͤſſen die dahin gehoͤrigen Veranſtaltungen, wenn
auch ihre ganze Wirkung auf das eingeſchraͤnkt waͤre,
wie es doch nicht iſt, was man zunaͤchſt und eigentlich
bey ihnen zur Abſicht hat, naͤmlich das thieriſche Leben
beque-
[777]und Entwickelung des Menſchen.
bequemer und angenehmer zu machen, gewiſſermaßen
allen uͤbrigen, die naͤher auf die Erziehung, die Anfuͤh-
rung und den Unterricht abzielen, vorgehen. Man biete
keinem Volk den Unterricht und die Schulen an, ſo lan-
ge nicht dafuͤr geſorgt iſt, daß es ſich ihrer bedienen kann,
ohne dafuͤr zu hungern, nackt zu gehen, oder in Skla-
verey zu ſchmachten. Jndeſſen giebt es auch auf der
andern Seite hierinn ein Aeußerſtes. Die koͤrperlichen
Beduͤrfniſſe muͤſſen nicht ganz fehlen. Sie ſind der
erſte, und bey den meiſten auch in der Folge noch, der
maͤchtigſte Reiz der Natur gegen die Traͤgheit. Jm
Ganzen iſt die vortheilhafteſte Lage der Menſchheit da,
wo die Erde gebauet ſeyn will im Schweiß des Ange-
ſichts, aber die Arbeit auch mit noch etwas mehr belohnt,
als mit dem blos Nothwendigen; beſſer als da, wo ſie
kaum das Noͤthigſte ſich abzwingen laͤßt; und auch als
da, wo ſie freywillig ohne Muͤhe alles hergiebt.
5.
Wenn das thieriſche Leben beſorget iſt, ſo folgen die
Beduͤrfniſſe der Vorſtellungskraft und des Verſtandes.
Dieſe entwickeln ſich aus den erſten ſinnlichen und thie-
riſchen. Wenn der Menſch ſatt und ruhig iſt, will er
auch innerlich unterhalten ſeyn. Aber da er im Anfange
die Beſchaͤfftigungen des Selbſtgefuͤhls, der Vorſtel-
lungskraft und des Denkens mehr fuͤr etwas anſieht,
das zu ſeinen thieriſchen Abſichten nothwendig iſt, als
was fuͤr ſich ſelbſt einen Werth haben und ihm ein be-
ſonderes Leben und Wohl gewaͤhren koͤnne; und da der
Geſchmack bey dem groͤßten Haufen, in dem nicht we-
nigſtens Ehr- und Ruhmſucht angefachet wird, faſt be-
ſtaͤndig dieſen uͤberwiegenden Hang zu dem Vergnuͤgen
der groͤbern Sinne behaͤlt: ſo gehoͤren zu den Mitteln
der Entwickelung diejenigen, die in ihm die feinern Be-
duͤrfniſſe der Empfindſamkeit, der Phantaſie und des
Verſtandes erregen, und ihm ſolche zu wichtigen Ange-
C c c 5legen-
[778]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
legenheiten machen koͤnnen. Dieß thun ſie aber, indem
ſie durch ihren Einfluß ihn neue Ergoͤtzungen kennen
lehren. Hier iſt zuerſt die Stelle der Kuͤnſte, am mei-
ſten der ſchoͤnen, aber auch der mechaniſchen, inſoferne
ſie die Einbildungskraft reizen, wenn gleich ihre Ein-
druͤcke noch mehr ſtark und verwirrt, als fein und ent-
wickelt ſind. So erfolgt der Uebergang, von dem Ge-
ſchmack an dem bloß thieriſchen Wohl, zum Geſchmack
an den Guͤtern der Einbildungskraft und der feinern
Empfindſamkeit. Dieſer iſt fuͤr ſich ſchon wichtig, und
auch natuͤrlich. Viele Jndividuen kommen bis dahin;
und die daraus entſpringende Ausbildung kann bey ei-
nem Volke ſehr allgemein werden, obgleich ſelten in ſol-
cher Maße, als es zu der Zeit in Griechenland war,
da auch der Poͤbel die Schoͤnheiten der Redekunſt zu
beurtheilen wußte. Jeder Menſch von geſundem natuͤr-
lichem Verſtande iſt der angenehmen Empfindungen faͤ-
hig, welche Ordnung, Zierlichkeit, Schoͤnheit der Na-
tur, die Harmonie der Toͤne, der Anblick der Gemaͤlde
und Statuen, und die uͤbrigen Wirkungen der ſchoͤnen
Kuͤnſte hervorbringen. Es verfolge ihn nur die Sorge
fuͤr ſeinen und der Seinigen Unterhalt nicht; man laſſe
ſeinem Geiſt einige ſorgenfreye Muße; und halte ihm
dann Gegenſtaͤnde vor, die ihn ruͤhren, beſonders ſol-
che, die, indem ſie beluſtigen, zugleich auch von einer
Seite ihm als nuͤtzlich zum bequemern Leben ſich darſtel-
len, und ihm auch darum intereſſant werden: ſo wird
ſich die Neubegierde aͤußern, es wird ein Beduͤrfniß
werden mehr zu erfahren, mehr zu lernen und mehr zu
wiſſen, und Geſchichte und Kuͤnſte werden Lieblings-
kenntniſſe ſeyn. Wenn der niedrige Haufe des Volks
einigen ſo ſtumpf am Verſtande, ſo unbiegſam und ſo
empfindungslos bey allem, was nicht den thieriſchen
Sinn ruͤhret, vorgekommen iſt, daß es ihnen geſchie-
nen, als wenn ſich weiter nichts mit ihm anfangen laſſe,
als
[779]und Entwickelung des Menſchen.
als daß man ihn zu zahmen, und wenns aufs Beſte iſt,
zu zufriedenen Menſchenthieren mache: ſo hat man ihm
wohl nicht Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Ein an-
deres iſt es, wenn darum keine hoͤhere Abſicht bey ihnen
erreichet wird, auch vielleicht nicht werden koͤnnte, weil
in der aͤußern Verfaſſung der Welt keine Mittel ſind,
mehr zu erreichen. Davon will ich nachher ſagen: nur
daß man nicht glaube, es liege in der Natur des Poͤ-
bels und in ſeinen nothwendigen koͤrperlichen Verrich-
tungen die Unmoͤglichkeit beſſer gebildet zu werden.
Was endlich die Kultur der hoͤhern Verſtandeskraͤf-
te und der ſich darauf beziehenden erhabenern Denkar-
ten, Geſinnungen und Thaͤtigkeiten des Herzens, das
iſt, die Entwickelung des innern geiſtigen Lebens betrifft,
ſo ſind die Wiſſenſchaften die Mittel, wodurch ſelbige
betrieben und ausgebreitet wird unter die Jndividuen.
Allein wofern ihre Wirkung nicht ungemein einge-
ſchraͤnket ſeyn ſoll, ſo iſt es noͤthig, daß beſonders die
am allgemeinſten und am ſtaͤrkſten intereſſirenden Kennt-
niſſe, die Religion und Moral, zu Gegenſtaͤnden einer
freyen Unterſuchung fuͤr alle, die Verſtand beſitzen, ge-
macht werden. Wo man dem Verſtande es wehret uͤber
Sachen nachzudenken, die ſich auf die Religion, auf
die innere Gluͤckſeligkeit, auf die Natur und Verhaͤlt-
niſſe des Menſchen in der Welt, auf Geſetze und Ge-
ſellſchaft beziehen, da nimmt man allen ihren uͤbrigen
Unterſuchungen Geiſt und Leben; da iſt an keine Auf-
klaͤrung des Volks zu gedenken. Die Geſchichte hat kein
Beyſpiel, daß ſich die uͤbrigen Wiſſenſchaften, die ſich
mit der koͤrperlichen Natur beſchaͤfftigen, lange erhalten
und ſich weit uͤber die Nation verbreitet, und Licht im
Verſtande und Moralitaͤt im Herzen allgemeiner ge-
macht haben, wo Denken und Raiſonniren uͤber die Re-
ligion, die Politik und Moral eine Suͤnde, und anders
denken, als die einmal feſtgeſetzte Vorſchrift will, ein
Ver-
[780]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Verbrechen war. Solche Gegenſtaͤnde ſind es eben,
wobey es dem Menſchen am fuͤhlbarſten wird, daß Ue-
berlegen, Denken und Wiſſen fuͤr ſich ſelbſt eine Gluͤck-
feligkeit ſey, und daß es ein inneres thatvolles Leben
gebe, wozu die Kraͤfte in der Einſicht des Verſtandes
liegen. Jn den alten Freyſtaaten, wie in einigen neu-
ern, war es das Denken, Sprechen und Schreiben uͤber
die Geſetze, und uͤber die Staatsverfaſſung und die dar-
aus entſpringende lebhafte politiſche Geſchaͤfftigkeit, was
bey dem groͤßten Theil der Buͤrger ihre vorzuͤgliche Ent-
wickelung am Verſtande und Geiſt hervorbrachte.
Aber im Ganzen iſt keines, was zu dieſer Abſicht ſo
wirkſam ſeiner Natur nach iſt, und mit ſo großem Er-
folg gebraucht werden kann, als die Religion. Sie iſt
fuͤr jeden Stand und fuͤr jedwede Art von Umſtaͤnden.
Sie greift den Menſchen von allen Seiten an, und wir-
ket am ſtaͤrkſten auf ſeine edelſten Kraͤfte.
6.
An Mitteln und Urſachen fehlt es alſo in der Welt
nicht, wodurch die Menſchheit vervollkommnet werden
koͤnnte, wenn dieſe in Thaͤtigkeit geſetzt und jene auf die
gehoͤrige Art gebraucht wuͤrden. Was waͤre nicht wohl
moͤglich? Kann es nicht allenthalben dahin kommen,
wohin der wohlthaͤtige Heinrich der Vierte in ſeinem
Frankreich es zu bringen ſuchte, daß jeder Bauer am
Sonntage ſein Huhn im Topf habe? Sollte ſichs nicht
machen laſſen, daß auch der niedrigſte Menſch mit neun
bis zehn Stunden Arbeit an jedem Tage ſo viel ver-
diene, als er braucht, um ſich und die Seinigen ohne
Sorgen zu ernaͤhren? Wenn dieß waͤre, ſo blieben ihm
noch ſieben Stunden zu ſeinem Schlaf und ſieben zu
ſeiner Erholung uͤbrig, in denen Witz und Verſtand be-
ſchaͤfftiget und das Herz in edlen Trieben erweitert wer-
den koͤnnte. Laͤßt ſich nicht etwas in dieſer Hinſicht von
der Zukunft hoffen? Sollten nicht die edlen Bemuͤhun-
gen,
[781]und Entwickelung des Menſchen.
gen, die auf die Bevoͤlkerung und auf die Vergroͤßerung
des allgemeinen Wohlſtandes gerichtet ſind, ſich immer
mehr uͤber die Erde ausbreiten und fruchtbarer werden?
Noch mehr. Was laͤßt ſich nicht erwarten, wenn
man mit dem Eifer fuͤr die Erziehung der Jugend, der
jetzo ſo rege gemacht iſt, fortfaͤhret? wenn die Verſu-
che fortgeſetzt werden, die einige vortreffliche Maͤnner
gemacht haben, die gemeinnuͤtzigen Kenntniſſe aller Art,
beſonders aber die Wahrheiten der Religion und Mo-
ral, ſo allgemein faßlich und intereſſant vorzutragen,
daß ſie nicht nur dem gewoͤhnlichſten Menſchenverſtande
auffallen, ſondern ihn zugleich zum weitern Nachden-
ken erwecken? Man koͤnnte jetzo faſt ſchon eine Bauern-
bibliothek zuſammenbringen, die zu ihrem Zweck ziem-
lich vollſtaͤndig ſey. Die Hauptſache wird freylich dar-
auf ankommen, daß der Menſch aufgemuntert werde,
ſich als ein ſelbſtthaͤtiges und vernuͤnftiges Weſen zu
fuͤhlen, und als ein ſolches zu handeln. Es muß ihm
als eine Lehre ſeines Katechismus eingeſchaͤrfet werden,
daß jeder nicht nur berechtiget, ſondern auch verpflichtet
ſey, nach dem Maße ſeiner Zeit und Kraͤfte uͤber das,
was er gelehret wird, zu denken, ſo gut er kann es
zu unterſuchen, und durch Unterredungen mit andern
ſich daruͤber zu belehren. Dabey muͤßte ihm geſagt wer-
den, daß es nicht ſchaͤdlich oder gefaͤhrlich ſey, wenn er
auch bey dieſem Verfahren auf einen Jrrthum gerathen
ſollte, wofern er nur ſonſten redlich zu Werke gehe.
Und da dieſe Denkungsart nicht allgemein werden, noch
ſich lange erhalten kann, ohne daß die Freyheit des Gei-
ſtes allgemein werde, die ſich im Reden und Schriften
offenbaret: ſo iſt es von ſelbſt klar, in welcher Bezie-
hung die letztere auf die Entwickelung und Aufklaͤrung
der Menſchheit ſtehe. Daß unſere Zeiten auch hierinn ei-
nen Vorzug haben, iſt nicht zu laͤugnen; ſo viele Urſa-
chen noch zuruͤck ſeyn moͤgen, mit Tacitus Worten zu
ſagen:
[782]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſagen: rara temporum felicitas, in quibus ſentire
quae velis, et quae ſentias dicere, licet.*) Jn vielen
Laͤndern Europens wird doch die Vorſicht befolget, wel-
che die große Monarchin Rußlands gegeben hat. „Man
„treibet die Unterſuchung bey freyen und anzuͤglichen
„Schriften nicht zu weit, und ſieht wohl ein, daß der
„Verſtand dadurch Zwang und Unterdruͤckung leide,
„und nichts als Unwiſſenheit entſtehe, die Gaben des
„menſchlichen Verſtandes vernichtet und die Luſt zum
„Schreiben benommen werde.“ **) Mehrere Regenten
und Regierungen verfahren nach dieſem Grundſatz. Nur
die Grenzen jener Freyheit ſcheinen vielen noch zu ſchwer
zu finden zu ſeyn. Denn man ſieht ein, daß die ganz
uneingeſchraͤnkte Preßfreyheit zwar ein ſtarkes wirkſa-
mes Mittel zur Aufklaͤrung und Vervollkommnung iſt;
aber auch daß ſie ein heroiſches Mittel iſt, das die Bos-
heit der Menſchen zu einem allgemeinen Gift machen
kann. Dieſe Beſorgung hindert es ohne Zweifel in
vielen Laͤndern bloß, daß man die alten Geſetze der Un-
terdruͤckung lieber bey der Anwendung in einzelnen Faͤl-
len maͤßiget, als ſie im Allgemeinen aufhebet. Allein
eben dieß laͤßt hoffen, es werde der durch Philoſophie
aufgeweckte und durch Geſchichte genaͤhrte Geiſt der
eigenen und freyen Unterſuchung ſeinen Kreis erwei-
tern,
[783]und Entwickelung des Menſchen.
tern, und immer mehr Licht und Aufklaͤrung uͤber die
Menſchheit bringen.
Allein es giebt noch ein Haupterfoderniß mehr.
Es erfuͤllet die Beſtimmung des Menſchen nicht, wenn
man ihn zu einem gutgezogenen und gluͤcklichen Thiere
macht. Er ſollte ein gluͤckliches ſelbſtthaͤtiges Weſen
werden. Dieſer Zweck erfodert, daß ihm auch ſo viele
aͤußere Unabhaͤngigkeit und Freyheit in ſeinen Handlun-
gen gelaſſen werde, als das allgemeine Wohl erlauben
will. Ohne dieſe aͤußerliche Buͤrgerfreyheit erſtickt auch
die Freyheit des Verſtandes im Denken, welche ohnedieß
nur bey wenigen der Weg iſt, der zu Erhoͤhung der
Selbſtthaͤtigkeit der Seele genommen werden kann. Fuͤr
ſich iſt es freylich moͤglich, daß die Menſchheit ſich auch
in der Sklaverey entwickele. Aber Seelen, wie des
Epiktets, ſind ſelten. Bey den meiſten faͤllt die Frey-
heit des Geiſtes von ſelbſt weg, wenn der aͤußere Menſch
gefeſſelt iſt. Man mag die Vortheile, die der Geiſt aus
der Unterdruͤckung ziehen kann, berechnen wie man
will, ſo entſtehet endlich das Reſultat, worauf Stern
durch den Staar, der aus dem Bauer heraus wollte,
gefuͤhret ward. Sklaverey unterdruͤcket Muth und
Thaͤtigkeit. Aber wenn man glaubet, es gebe nur in
Republiken das Klima, wo dieſe fruchtbare Witterung
fuͤr die Menſchheit gefunden werde, ſo hat man zu-
verlaͤßig die Sache zu einſeitig beurtheilet. Mag es
ſeyn, daß gewiſſe Regierungsformen fuͤr ſich ſchaͤdlich
ſind, wie es der Deſpotismus unlaͤugbar iſt; daß an-
dere beſtimmten Staaten, Laͤndern, Voͤlkern, nach
ihrer jezigen Denkungsart nicht angemeſſen ſind;
der Unterſcheid wuͤrde zuletzt davon abhangen, wie viel
leichter und natuͤrlicher die Menſchheit in der einen als
in der andern erniedriget und verſchlimmert werde: ſo
iſt es doch ein durch die Geſchichte beſtaͤtigter Grundſatz,
daß es nicht ſo wohl die Form der Regierung als die
Art
[784]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Art ſey, wie ſie verwaltet wird, wovon ihr Gutes und
ihr Schlimmes abhaͤngt. Es hat Deſpotismus genug
in Freyſtaaten gegeben, der die natuͤrliche Freyheit und
das Eigenthum des Buͤrgers wenig geachtet. Dage-
gen hat der Unterthan in Monarchien wahre Freyheit
genoſſen, und genieſſet ſie noch, unter der Regierung
der Geſetze, und was die Hauptſache iſt, (denn ſonſten
giebt es auch eine Sklaverey unter Geſetzen) unter der
Regierung ſolcher Geſetze, welche die natuͤrlichen Rechte,
Beſitzungen und Freyheiten des Buͤrgers als ein Heilig-
thum anſehen, worinn, das abgerechnet, was zu dem
gemeinen Beſten aufgeopfert werden muß und wobey
doch die Einzelnen am Ende gewinnen, außer dem Noth-
fall kein Eingriff geſchehen darf. Je mehr die Auf-
klaͤrung des Verſtandes und die Freyheit des Geiſtes zu-
nimmt, deſto mehr, laͤßt ſich auch hoffen, werde dieſe Mil-
de der Regierungen allgemeiner werden.
7.
Dieß ſind ſchoͤne Moͤglichkeiten. Das Bild von
dem kuͤnftigen Zuſtande der Menſchheit, das ſie uns
zeigen, wuͤrde ungemein reizend ſeyn, wenn jemand Luſt
haͤtte es auszumalen. Viele Menſchenfreunde haben
hierauf ihre Vorherſagung gegruͤndet, die Kultur der
Menſchheit werde noch groͤßer und allgemeiner werden,
als ſie jemalen auf der Erde geweſen iſt. Aber ſollte ihr
edles Herz, welches vor andern ſo leicht das Gute hoffet,
das es ſelbſt zu leiſten willig iſt, ihre Aufmerkſamkeit
nicht zu weit von den großen Hinderniſſen abgezogen
haben, die jenen wirkenden Urſachen entgegenſtehen?
Wozu kann ein einzelner Menſch gemacht werden? Wel-
cher Entwickelung iſt er faͤhig; welcher Aufklaͤrung und
welches Wohls fuͤr ſich allein genommen? Dieß iſt eine
andre Frage, als die folgende: was kann aus der gan-
zen Menſchheit, aus dem ganzen Jnbegriff aller Jndivi-
duen werden, die nebeneinander auf der Erde zu ver-
voll-
[785]und Entwickelung des Menſchen.
vollkommnen und zu begluͤcken ſind! Es hat Europa, wie
Herr Jſelin richtig bemerket, ſeinen geſitteten Zuſtand
wenigen erleuchteten Einwohnern zu danken, die nicht
den hundertſten, wer weiß welchen geringen, Theil al-
ler Menſchenſeelen ausmachen. Sollte etwan die Na-
tur unſers Geſchlechts es mit ſich bringen, daß es auf
immer ſo bleiben muͤßte; daß die Summe der vorzuͤglich
entwickelten und aufgeklaͤrten in Vergleichung derer, die
da bleiben, wo der gemeine Haufe jetzo ſtehet, nur ſehr
geringe ſey; und daß dieß Verhaͤltniß zum Vortheil des
Ganzen wenig veraͤndert werden koͤnne?
Sehen wir auf die Menſchen, wie ſie von Natur
ſind, ſo muͤſſen wir nach dem, was bis hieher die Ge-
ſchichte und die taͤgliche Beobachtung gezeiget hat, glau-
ben, daß unter ganzen Haufen immer nur ſehr wenige
Jndividuen ſind, bey denen der ſelbſtthaͤtige Naturtrieb
in der Seele vorzuͤglich ſtark ſey. Die groͤßte Menge
beſteht aus ſolchen, deren Schwaͤche, Traͤgheit und
Hang zu dem Sinnlichen verhaͤltnißmaͤßig zu groß iſt,
fuͤr den Entwickelungstrieb in den hoͤhern Geiſteskraͤf-
ten. *) Dieſe Klaſſe kann ſich nicht weit erheben. Nur
ſtarke thieriſche Beduͤrfniſſe bringen ſie in Bewegung.
Und wenn die Kraͤfte auch erwecket ſind, ſo werden ſie doch
von dem Hang zu dem unthaͤtigen Vergnuͤgen der Sinne
aufgehalten. Bey andern von lebhaftern Trieben, de-
ren Anzahl ſchon kleiner iſt, erfolget eine etwas groͤßere
Entwickelung in den feinern Vermoͤgen. Die koͤrperlichen
Ergoͤtzungen der Sinne erfuͤllen ſie nicht; ſie ſuchen Guͤter
der Einbildungskraft, und beſonders die Ehre. Aber
dennoch wird das uͤberwiegende Gefuͤhl eigener Schwaͤ-
che und Beduͤrfniſſe den Eigennutz unendlich mehr ſtaͤr-
ken, als das Mitgefuͤhl fuͤr andere. Wenn ſich das
IITheil. D d dletztere
[786]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
letztere auch aͤußert, wird es doch von Eitelkeit und Stolz
durchwebet ſeyn, die beide entſtehen, indem man das in-
nere Leere an wahren Empfindungen durch Einbildungen
zu fuͤllen ſucht. Es ſind endlich ſehr wenige, bey denen
der Entwickelungstrieb in den hoͤhern Seelenkraͤften uͤber-
wiegend iſt. So ein Boden muß aber da ſeyn, wenn
die uneigennuͤtzige Luſt an anderer Wohl, und der Hang
ſelbſtthaͤtige Menſchen um ſich zu haben und ſolche zu
bilden, grundfeſt werden ſoll. Die wahre Großmuth
ſetzet ein Gefuͤhl innerer Staͤrke und Sicherheit voraus.
Wenn die Menſchenliebe nicht aus dieſer Quelle entſprin-
get, ſo iſt ſie anfangs ein Ausfluß des Eigennutzes, der
ſehr unrein iſt, doch aber durch Aufklaͤrung des Ver-
ſtandes zu einer reinen Tugend gemacht werden kann.
Bey den meiſten, vielleicht bey allen, mehr oder weniger,
iſt nur erſt auf dieſe Weiſe dazu gemacht worden.
Will man auch hier ſagen, daß in Hinſicht der Na-
turanlagen unter den Jndividuen kein Unterſchied ſey:
ſo thut dieß wenig zur Sache. Es ſind doch, wie die
Geſchichte aller Zeiten bisher gezeiget hat, Urſachen in
der Welt vorhanden, welche eine gleiche Entwickelung in
allen unmoͤglich machen; ſie moͤgen nun in den Natu-
ren ſelbſt liegen, oder in den Umſtaͤnden und unvermeid-
lichen Einſchraͤnkungen, die alsdenn entſtehen, wenn vie-
le zugleich zu vervollkommnen ſind.
Wenn man auf den erſten Grund der Stufenver-
ſchiedenheit, die ſich in der Entwickelung der Jndividuen
findet, zuruͤckgeht, und ihn in dem Verhaͤltniß der
Sinnlichkeit zu den hoͤhern vernuͤnftigen See-
lentrieben aufſuchet, und dieß Verhaͤltniß ſo nimmt,
wie es in dem ganzen Geſchlechte vorhanden iſt, ſo kann
man kaum einmal wuͤnſchen, daß es gar zu ſehr veraͤn-
dert werde. Noch weniger findet man Urſache, der
Vorſehung daruͤber Vorwuͤrfe zu machen, daß es ſo ſey,
wie es von Natur iſt. So lange der Menſch das iſt,
was
[787]und Entwickelung des Menſchen.
was er iſt, naͤmlich ein thieriſches, obgleich ein vernuͤnfti-
ges Weſen, und in einer Welt wie dieſe, die ihm we-
der ſeinen Unterhalt, noch die Mittel zur hoͤhern Ent-
wickelung giebt, ohne koͤrperliche Arbeit: ſo lange wird
auch der Theil ſeines Wohls, der durch ſinnliche und
thieriſche Kraͤfte beſchaffet werden muß, zu demjenigen,
wozu hoͤhere ſelbſtthaͤtige Geiſtesvermoͤgen gehoͤren, ſich
ſo verhalten, daß es zum Beſten des Ganzen immer
nothwendig bleibet, daß jener mehrere ſind, daß ſie oͤf-
terer und ſtaͤrkerer wirken, und daß alſo die Veranlaſſun-
gen ſie zu entwickeln haͤufiger vorhanden ſind, als in Hin-
ſicht der letztern. Es koͤnnte im Ganzen wohl des gei-
ſtigen Weſens zu viel werden. Zum Gluͤck iſt dieß
nun eben nicht leicht zu beſorgen; und gewiß nimmer-
mehr ſo ſehr, daß die auf Aufklaͤrung der Vernunft und
Verbreitung der Tugend abzielenden Beſtrebungen der
Rechtſchaffenen uͤberfluͤßig werden koͤnnten.
Wenn man mit dieſer natuͤrlichen Ungleichheit der
Menſchen verbindet, daß jedes Jndividuum ſeine Ver-
vollkommnung von derſelbigen niedrigſten Stufe anfan-
gen muß: ſo zeiget ſich eine unangenehme Ausſicht,
welche die Hoffnung auf eine allgemeine Aufklaͤrung der
Menſchheit verdunkelt. Hierzu kommt noch mehr, wenn
man auf die Mittel ſelbſt ſieht, wodurch jene erhalten
werden ſoll.
Die Vervollkommnungsmittel moͤgen einmal alle
zur Anwendung gebracht ſeyn: ſo iſt es auch noͤthig,
daß ſie immerfort in derſelbigen Staͤrke, und in derſel-
bigen Richtung auf ihren Zweck erhalten werden. Son-
ſten verlieren ſie ihre Wirkſamkeit gar bald. Jſt z. B.
die Erziehung in einer Generation gut eingerichtet, ſo
ſind es nicht allein Zufaͤlle, Landplagen, Verherungen,
die ſie wiederum zuruͤckſetzen und zerſtoͤren koͤnnen; es
iſt genug um ſie unwirkſam zu machen, daß ihr der Geiſt
entzogen werde, der anfangs in den Anſtalten wirkte.
D d d 2Alle
[788]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Alle Vorſchriften und Einrichtungen im Schul- und Er-
ziehungsweſen, ſo vortrefflich ſie ſeyn moͤgen, arten in
ein mechaniſches, pedantiſches Weſen aus, das nur ge-
wiſſe Formen aufdruͤcket, hoͤchſtens eine einſeitige Ent-
wickelung ſchaffet, die nicht mehr den Werth der Ver-
vollkommnung hat, worauf die erſte Einrichtung hin-
zielte. Dann mag noch immer das Gedaͤchtniß mit ge-
lehrten Kenntniſſen, das Herz mit kuͤnſtlichen Empfin-
dungen, mit Standes- und Modenneigungen erfuͤllet
werden: ſo kann die Vervollkommnung der Natur im
Ganzen oftmals zuruͤckbleiben, wenn Geſchicklichkeiten,
die Stand und Lebensart erfodern, andere verdraͤngen,
die dem Menſchen, obſchon nicht dem Buͤrger, nuͤtzli-
cher und wichtiger ſind.
So iſt es in allen uͤbrigen Einrichtungen zur Ver-
beſſerung der Menſchheit. Dieſelbige Denkungsart, die
ſich ihrer als Mittel zu dieſem Zweck bedienet, muß
auch in ihnen fortwirken, wenn ſie bey aller ihrer gegen-
waͤrtigen Guͤte nicht leicht und bald, obgleich einige fe-
ſter ſind als andere, eine falſche Richtung nehmen
ſollen. Nun aber iſt jenes die Denkungsart des klein-
ſten Theils. Der groͤßere hat kein Jntereſſe an der
Vervollkommnung der Menſchheit. Manche wuͤrden
gar in einer Welt nicht leben moͤgen, wo alles herum
kluͤger, tugendhafter und weiſer waͤre, als ſie ſelbſt ſind.
Es iſt ein Gluͤck, daß ſolche ſo oft, ohne ihr Wiſſen und
Willen, die Abſicht der Edelgeſinnten befoͤrdern helfen
muͤſſen. Jm Ganzen dauert der Krieg ewig zwiſchen
Vernunft und Unvernunft, zwiſchen Einſicht und
Dummheit, zwiſchen Eigennutz und Wohlwollen, zwi-
ſchen Weisheit und Thorheit, zwiſchen Tugend und
Bosheit, zwiſchen Menſchenliebe und Unterdruͤckungs-
geiſt; und die Zahl der Streiter auf beiden Seiten iſt
gar ſehr ungleich.
So
[789]und Entwickelung des Menſchen.
So kommt es auch bey jedem Vervollkommnungs-
mittel auf ein gewiſſes Maß an, unter und uͤber dem
es mehr ſchadet als frommet. Jſt das thieriſche Leben
verſorget, ſo hat nun der Geiſt Muße ſeine uͤbrigen
Vermoͤgen zu entfalten. Aber iſt das Noͤthige fuͤr den
Koͤrper zu leicht erhalten, ſo kann der geſaͤttigte Menſch
ſo leicht ſich der Traͤgheit ergeben oder auf niedre Wol-
luſt gerathen, als ſich zu edlern Unterhaltungen erhe-
ben. Hat er ſich jenes durch anhaltenden Fleiß ver-
ſchaffet, und kann es auch nur durch die Fortſetzung der
Arbeit erhalten werden: wie leicht iſt es, daß er bloß
ein fleißiges, arbeitſames und genießendes Thier wird,
aber auch nicht mehr, als das? Und hat er Ueberfluß
und Muße: wie viel Unkraut ſchießt nicht auf, wodurch
die Entwickelung der hoͤhern und feinern Vermoͤgen zu-
ruͤckgehalten oder erſticket wird? Es giebt eine gewiſſe
Grenze des Wohlſtandes, welche die angemeſſenſte iſt.
Sie hat aber doch eine ziemliche Breite, ſo daß es auf
einige Grade mehr oder weniger nicht ankommt, je
nachdem die uͤbrigen moraliſchen Umſtaͤnde beſchaffen
ſind. Gleichwohl lehret die Geſchichte, wie geſchwind
ein Volk uͤber die gedachte Grenze wegſchreitet, und
wie ſchnell die ſchaͤdlichen Wirkungen des Ueberfluſſes
eintreten, ſo bald die Hinderniſſe der Entwickelungen,
die aus Mangel und Armuth entſtehen, gehoben ſind.
Am laͤngſten ſind noch diejenigen Voͤlker vor der mora-
liſchen Verderbniß bewahret worden, deren aͤußerer
Wohlſtand oͤfters kleinere Abwechſelungen erlitte, die
ſeinen Gleichſtand nicht zu ſehr veraͤnderten.
Daſſelbige laͤßt ſich bey allen uͤbrigen Vervollkomm-
nungsmitteln anmerken. Daher man leicht zu viel Gu-
tes von der Zukunft hoffen kann. Aber warum denn
auch duͤſtere Ahndungen? Dennoch iſt der Trieb zur
Entwickelung an allen Seiten jetzo ſehr ſtark, wenig-
ſtens ſo ſtark, als in einem andern Zeitalter; und ich
D d d 3meine,
[790]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
meine, man ſey berechtiget, das unſrige vergleichungs-
weiſe das philoſophiſche zu nennen. Die Empfind-
ſamkeit, die Phantaſie, der Verſtand und die vernuͤnf-
tige Thaͤtigkeit werden vorzuͤglich erwecket, gereizet und
erhoͤhet; zunaͤchſt in dem ſchreibenden und leſenden Pu-
blikum, und von da aus weiter in dem uͤbrigen Haufen.
Jedes fuͤr ſich allein kann uͤbertrieben und im Ganzen
ſchaͤdlich werden. Dieß offenbaret ſich haͤufig genug.
Jndeſſen wird es am meiſten darauf ankommen, „daß
„keine von den beſondern einſeitigen Denkungsarten,
„die jetzo unter und durcheinander gaͤhren, zu ſehr herr-
„ſchend werde, und daß richtige Kenntniſſe von des
„Menſchen Natur und Beziehungen ſich mehr ausbrei-
„ten und feſtſetzen.“
Siebenter Abſchnitt.
Von der Beziehung der Vervollkommnung des
Menſchen auf ſeine Gluͤckſeligkeit.
- 1) Die Vervollkommnung des Menſchen und
ſeine Gluͤckſeligkeit ſind in Verbindung, aber
doch unterſchieden. - 2) Die Gluͤckſeligkeit kann nicht allein nach der
Zufriedenheit geſchaͤtzet werden. - 3) Ob die Entwickelung der Menſchheit zu
weit gehen koͤnne fuͤr ihre Gluͤckſeligkeit? - 4) Gedanken einiger Neuern uͤber die Grenze
der Vervollkommnung, wenn dieſe der
Gluͤckſeligkeit nicht ſchaͤdlich werden ſoll. - 5) Die Gluͤckſeligkeit der Menſchen beſtehet
nicht ganz in dem unthaͤtigen Genuß ſinnli-
cher Vergnuͤgungen.
6) Von
[791]und Entwickelung des Menſchen.
- 6) Von dem Vergnuͤgen aus der thaͤtigen An-
wendung der Kraͤfte. Es iſt am groͤßten,
wenn die Kraͤfte in der Maße angewendet
werden, wie ſie zugleich am meiſten vervoll-
kommnet werden. - 7) Von dem Grundgeſetz der angenehmen Ge-
fuͤhle. - 8) Die Vervollkommnung des Menſchen macht
ihn der Gluͤckſeligkeit empfaͤnglicher und ge-
waͤhret ſolche ſelbſt. - 9) Die geſammte menſchliche Gluͤckſeligkeit
kann nicht nach dem Grade innerer Voll-
kommenheit geſchaͤtzet werden. Sie iſt zum
Theil abhaͤngig von aͤußern Urſachen. - 10) Allgemeines Wohl der Menſchheit.
- 11) Wieferne der Naturtrieb des Menſchen als
ein Trieb zur Entwickelung zur Vollkom-
menheit und zur Gluͤckſeligkeit anzuſehen iſt. - 12) Von dem Gefuͤhl der Vollkommenheiten,
ohne Ruͤckſicht auf ihren Gebrauch.
1.
Die Gluͤckſeligkeit des Menſchen entſpringet aus
ſeinen angenehmen Gefuͤhlen, und die Gefuͤhle inne-
rer Vollkommenheiten ſind angenehm. So ſehr es da-
her auffaͤllt, daß die erſtere von den letztern abhaͤngt, ſo iſt
dieß doch nicht genug, um beyde fuͤr einerley zu halten,
oder auch nur die Groͤße der einen nach der Groͤße der an-
dern zu beſtimmen. Es giebt manche Vollkommenheiten,
die man dafuͤr anſieht, als blieben ſie bey einzelnen Perſonen
ohne Genuß, und die man, unter gewiſſen Vorausſetzun-
gen, dafuͤr anzuſehen berechtiget ſeyn wuͤrde. Und auf der
andern Seite kann die Einbildung ſo oft, ſo ſtark und ſo
D d d 4lan-
[792]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
lange das wahre Gefuͤhl wirklich vorhandener Realitaͤten
erſetzen, daß wenn nicht endlich der Unterſchied zwiſchen
Schein und Wahrheit auch ſeine großen Folgen auf das
Gefuͤhl haben muͤßte, das ertraͤumte Wohl fuͤr den
Menſchen oft einen gleichen Werth haben muͤßte mit dem
wahren, und zuweilen einen noch groͤßern. Dann
wuͤrden die Menſchheit vervollkommnen, welches am
Ende ſo viel iſt, als ihre Vermoͤgen und Kraͤfte erhoͤ-
hen, und ſie begluͤcken, ſehr unterſchiedene Dinge
ſeyn. Von einer Seite dieſe Beziehung zwiſchen Ver-
vollkommnung und Gluͤckſeligkeit betrachtet, iſt ſie leicht
erkannt. Aber wenn man den Menſchen und ſein Gluͤck
ſo ganz nimmt, wie es wirklich iſt und dem uneinge-
nommenen Beobachter ſich zeiget: ſo muß es auch ſo leicht
nicht ſeyn, jenes Verhaͤltniß zu beſtimmen, da es ſelbſt
in den Syſtemen der Philoſophen verſchiedentlich ange-
geben iſt.
2.
Zufriedenheit iſt zur Gluͤckſeligkeit unentbehrlich.
Aber wenn es behauptet wird, daß ſie mit ihr einerley
ſey, ſo mag dieß vielleicht richtig ſeyn nach dem Begriff,
den man alsdenn von ihr zum Grunde leget. Nur da,
wo man Beyſpiele anfuͤhrt und Anwendungen davon
macht, zeiget ſichs, daß man entweder von dem erſten
Begriff abgehe, oder die angefuͤhrten Beyſpiele ſehr un-
vollſtaͤndig betrachtet habe. Zufriedenheit, wie auch
das Thier ihrer faͤhig iſt, „iſt ein Ebenmaß zwiſchen
„den Begierden und ihrer Befriedigung, worinn kein
„Mangel empfunden wird.“ Und dann kann ſie mehr
Abweſenheit des Schmerzens, als poſitive Gluͤck-
ſeligkeit ſeyn, weil ſie eben ſo wohl aus der Schwaͤche
der Begierden entſpringen kann, als aus der Befriedi-
gung derſelben. Die unausgebildeten Kinder ſind in
dieſem Sinne zufriedener als die vollkommenſten Men-
ſchen. Der Neuhollaͤnder iſt es mehr als der Britte,
der
[793]und Entwickelung des Menſchen.
der ihn beſuchte, und Rouſſeaus Waldmenſch mehr als
der polizirte.
Waͤre Unempfindlichkeit und Mangel an regen Trieben
ohne Beduͤrfniß und ohne Gefuͤhl derſelben, das Maß
der Gluͤckſeligkeit: was verdienen die Freunde der Menſch-
heit, die an ihrer Kultur arbeiten, und was hat ſelbſt
Herr Rouſſeau verdienet, der durch ſeine Deklama-
tion gegen die Kenntniſſe und Entwickelung etwas bey-
getragen hat, dieß Uebel zu vergroͤßern. Anders iſt es
freylich, wenn man mehr in die Jdee von Zufriedenheit
hineinleget, und nicht bloß die Abweſenheit unbefriedigter
Neigungen, ſondern die voͤllige Saͤttigung wirkſamer
Triebe im Sinne hat, mit der daraus entſpringenden
ſtaͤrkern Reizbarkeit gegen alle angenehme Eindruͤcke von
außen, die Haller mit den Worten beſchreibet:
Jſt aber dieß letztere die Zufriedenheit der Thiere, der
Kinder, der Wilden, und aller derer, deren Geiſteskraͤfte
in Unwiſſenheit ſchlummern? Bey dem entwickelten Men-
ſchen ſind freylich die Augenblicke einer uneingeſchraͤnk-
ten Befriedigung ſehr ſelten. Die innere Thaͤtigkeit
erzeuget aus ſich ſelbſt neue Begierden, ſo bald die vorher-
gehende geſtillet iſt. Je mehr er Vorſtellungen und Ge-
danken zuſammenhaͤufet, deſto weniger kann es an un-
angenehmen Erinnerungen oder an traurigen Vorher-
ſehungen fehlen, die ſich den Gefuͤhlen beymiſchen, und
ihnen zum mindeſten einen Anſtrich vom Unangeneh-
men geben. Allein deswegen koͤnnen dieſe doch nur un-
erhebliche Diſſonanzen ſeyn, die das Gefuͤhl der Har-
monie erhoͤhen. Und geſetzt, daß ſie auch mehr ſind,
wie ſies nur zu oft ſind: ſo bleibet noch Uebergewicht
des Vergnuͤgens genug da, um ſelbſt den Augenblick,
D d d 5in
[794]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
in dem die Reflexion gemacht wird, wie gluͤcklich ein
zufriedenes Kind iſt, uns ſelbſt ſchaͤtzbarer zu machen,
als die Gluͤckſeligkeit in dem Kinde iſt, die wir bewun-
dern. Wir wuͤnſchen die Ruhe und Sorgloſigkeit der
Kinder und der Wilden; aber wir wollen unſere maͤnn-
lichen Kraͤfte, unſere Kenntniſſe und unſer Leben des
Verſtandes behalten. Wir wuͤnſchen nicht wiederum
Kinder zu werden, noch zu dem Stande der Wildheit
zuruͤck. Und wenn uns ſo ein Wunſch einmal im Ernſte
entfaͤhrt, ſo iſt er ein Ausbruch einer Leidenſchaft, in
der wir das, was wir wuͤnſchen, nur von einer Seite
anſehen. Haller beſang die Gluͤckſeligkeit der Alpen-
bewohner. Aber wie groß muͤßte wohl nicht der Theil
der ganzen unbegrenzten Zufriedenheit und des Ver-
gnuͤgens ſeyn, was dieſe Soͤhne der Natur genießen,
wofuͤr der Dichter die Wolluſt, ſie beſungen zu haben,
haͤtte vertauſchen ſollen, auch ohne ihren Werth durch
Einbildung zu vergroͤßern? Es iſt ein Grundſatz, „daß
„es nicht die Ruhe, die Schmerzenloſigkeit, oder ein
„Gleichmaß der Kraͤfte und ihrer Wirkungen ſey, ſon-
„dern die poſitive Groͤße, Staͤrke und Menge der Em-
„pfindungen, die nach dem Abzuge der unangenehmen
„Gefuͤhle uͤbrig bleiben, wornach die Groͤße und die
„Stufen der menſchlichen Wohlfahrt zu ſchaͤtzen ſind.“
3.
Wenn das Maß der menſchlichen Vollkom-
menheit zugleich das Maß der Gluͤckſeligkeit waͤre,
ſo fiele die Frage von ſelbſt weg, ob auch die Menſch-
heit zu ſehr vervollkommnet werden koͤnne, um gluͤcklich
zu ſeyn? Es iſt behauptet worden, *) ein gewiſſer Grad
der Entwickelung ſey der Menſchheit nuͤtzlich, aber es
gebe
[795]und Entwickelung des Menſchen.
gebe auch eine Grenze, wo jene ſtehen bleiben muͤſſe,
wenn ſie dieſe nicht mehr ungluͤcklich als gluͤcklich ma-
chen ſolle. Dieß iſt eine Marime, die, ſo unbeſtimmt
hingeworfen, ſich wohl erklaͤren laͤßt, die aber, in ei-
nem andern Verſtande genommen, auf ſehr falſche
Schluͤſſe leiten kann. Von welcher Entwickelung des
Menſchen iſt die Rede? Von der Entwickelung des
Verſtandes, und der Aufklaͤrung ſeiner Kenntniſſe?
Von der Verfeinerung des Gefuͤhls und der Empfind-
ſamkeit? Oder gar nur von einer Verfeinerung der aͤuſ-
ſerlichen Sinnlichkeit und des geſellſchaftlichen Zuſtan-
des, der Sitten, der Lebensart, der Kleidung, Nah-
rung? So bald von der Entwickelung an Einer Seite
allein die Rede iſt, ſo muß man eingeſtehen, wie oben
erinnert iſt, daß ſolche ihre Grenze habe, uͤber welche
hinaus ſie ſchaͤdlich wird, wenn ſie nicht zugleich an den
uͤbrigen fortſchreittet. Wird ſie aber ſchaͤdlich, ſo muß
ſie auch, es ſey im gleichen oder ungleichen Verhaͤltniſ-
ſe, ungluͤcklicher machen.
Will man ſo viel ſagen, es gebe eine natuͤrliche
Grenze der Vervollkommnung in dem Geſchlechte,
wie in den Jndividuen, die eben darum von dem Urhe-
ber der Natur geſetzt ſey, weil ein groͤßeres Maß dem
Menſchen ſchaͤdlich werde, ſo iſt hiebey nichts zu erin-
nern. Jn dem Menſchen giebt es ein Aeußerſtes, und
weiter wird er nicht entwickelt. Vielleicht konnte er
nicht weiter gebracht werden als Menſch. Vielleicht
war es nicht gut ihn weiter zu treiben, um ihm auch
Zeit zu laſſen, zu genießen. Vielleicht mußte der
Menſch irgendwo ſtehen bleiben, damit die Seele in
ihm weiter komme, oder die erlangte Bildung tiefer
ſich einpraͤgen koͤnne. Wie ihm ſey, ſo iſt dieß Ziel
uns doch nirgend andersher bekannt, als aus der Em-
pfindung, daß wirs nicht uͤberſchreiten koͤnnen. So
lange daher noch eine Verbeſſerung moͤglich iſt, ſo lange
muß
[796]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
muß auch nach ihr geſtrebet werden. Es giebt ein na-
tuͤrliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu
fuͤrchten haben, ſolches zu uͤberſchreiten.
4.
Nach den Grundſaͤtzen des Hr. Rouſſeau wuͤrde
die Entwickelung, wobey der Menſch am gluͤcklichſten
waͤre, wohl aufhoͤren muͤſſen, wenn die thieriſchen
Kraͤfte und die Sinnlichkeit ſo weit ſind, daß er, ſich zu
erhalten, als Waldbewohner leben und ſein Geſchlecht
fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. Wieland die
Grenze der gluͤcklichſten Ausbildung nicht geſetzt. Der
Menſch kann und muß mehr ſeyn, als ein gluͤckliches
Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche
Schriftſteller, es gebe doch ein gewiſſes Maß der in-
nern Entwickelung, wenn dieſe ſo ſeyn ſoll, wie ſie zu
der hoͤchſten Gluͤckſeligkeit, der die menſchliche Natur
faͤhig iſt, am beſten paßt. Die hoͤchſte Gluͤckſelig-
keit, zu der alle Triebe der Natur, alle Beſtrebungen,
und auch die Wuͤnſche des Herzens, zuſammenlaufen,
beſtehe in dem reinen unthaͤtigen Genuß der ſinnli-
chen Vergnuͤgungen, den weder Sorgen noch Schmer-
zen unterbrechen. Dieſe Jdee liege in dem Menſchen,
und ſey tief in der Einrichtung ſeiner Natur gegruͤndet.
Was ein entſcheidender Beweis davon ſey, ſo duͤrfe
man ſich nur erinnern, daß die aufgeklaͤrteſten Voͤlker
ihre elyſeiſche Felder, ihre Paradieſe und ihre Himmel
als einen ſolchen Zuſtand vorgebildet haben.
Jſt es ſo, iſt Sybarit zu ſeyn die hoͤchſte Gluͤckſe-
ligkeit des Menſchen: ſo wird es auch moͤglich ſeyn, daß
er allzu weiſe und allzu tugendhaft werde, um jener
theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der
rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlſeyn im
Koͤrper muß beſorget, die Gegenſtaͤnde des Vergnuͤ-
gens herbeygeſchaffet und der Sinn zum Genuß deſſel-
ben
[797]und Entwickelung des Menſchen.
ben geſchaͤrfet werden. Dieß erfodert Kenntniſſe, Witz,
Vernunft und Thaͤtigkeit. Und deſto mehr, je dauer-
hafter die Seligkeit gemacht werden ſoll. Aber mehr
Kultur, als dazu erfodert wird, iſt unnoͤthig, iſt uͤber-
fluͤßig und wird ſchaͤdlich. Mehr zu ſuchen, und unbe-
grenzet an der Vervollkommnung der Seelenkraͤfte
zu arbeiten, um etwan noch kluͤger und rechtſchaffener
zu werden, koͤnnte nicht beſſer ſeyn, als die Thorheit
des alten Geizhalſes, der ſeine Kraͤfte verzehret um
Schaͤtze zu haͤufen, die er nach aller Wahrſcheinlichkeit
nie genießen wird.
5.
Allein es iſt nicht ſo. Jenes iſt nicht der Begriff
von der Gluͤckſeligkeit, der im Herzen liegt, und auf
den die Natur leitet. Jch will nichts ſagen von den
Begriffen, die von den Philoſophen gelehrt ſind, die
man hier vielleicht entweder als Fiktionen, die nicht aus
der Natur, oder als ſolche, die nur aus der verkuͤnſtel-
ten und mißgebildeten Natur abſtrahirt ſind, anſehen
moͤchte. Man ſehe bloß auf die Aeußerungen und Wir-
kungen der Naturtriebe bey dem gemeinen Haufen, in
dem Ganzen der Menſchheit. Sollte wohl unthaͤtiger
Genuß ſinnlicher Vergnuͤgungen das Ziel, und zwar
das von der Natur geſteckte Ziel aller, ſeyn? Es kann
es nicht ſeyn bey denen, die mit einer vorzuͤglichen An-
lage zu Geiſtesthaͤtigkeiten oder zu Geſchaͤften verſehen
ſind. Dieſe wuͤrden unbefriediget und ungeſaͤttiget blei-
ben bey allem ſinnlichen Genuß, der ſo wenig ihre ganze
Seligkeit ausmachen koͤnnte, als die platoniſche Speku-
lation oder die ſtoiſche Aktivitaͤt dem Epikurer anpaſſet.
Man kann etwas einraͤumen. Laß die Beobachtungen
gezaͤhlet werden, und es dann ſeyn, daß neunzigen von
hundert die Verfaſſung des Agathons in dem Garten
der Danae, oder die Lebensart des Sir Mammon Epi-
kurs
[798]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
kurs bey dem Johnſon, den Hr. Wieland anfuͤhrt,
Himmel und Paradies zu ſeyn ſcheinen: ſo weiß der
Menſch oft ſelbſt nicht, was er will und wuͤnſcht; und
dennoch wuͤrden noch immer zehn uͤbrig bleiben, die ei-
nen ſolchen Zuſtand auf immer unausſtehlich finden
wuͤrden. Gegen die ſogenannten Dokumente aus der
Geſchichte des Herzens laͤßt ſich manches erinnern. Dem
erſchlafften Einwohner heißer Laͤnder gefaͤllt ein Paradies,
das nichts als Sinnenwolluſt enthaͤlt, in aller Abſicht.
Der Aſiater von hoͤherer Einbildungskraft ſetzet noch
Beſchaͤfftigungen fuͤr die Phantaſie hinzu. Der Grie-
che dichtete, dachte und raiſonnirte in ſeinem Elyſium.
Der kriegeriſche Nordlaͤnder gieng im Vallhall auf die
Jagd, und ſetzte den hieſigen Krieg mit Menſchen dor-
ten mit den Thieren fort. Der Himmel iſt nicht bey
allen Voͤlkern derſelbige, nur Schmerz und Kummer,
und Mißvergnuͤgen aus Widerſtand und Einſchraͤn-
kung, ſind uͤberall daraus verbannet; nicht ſo die ge-
miſchten Empfindungen, nicht die Freudenthraͤnen, nicht
einmal das Mitleid.
Die Beobachtung des Horaz*) uͤber das allgemei-
ne Beſtreben der Menſchen nach Ruhe und Muße
iſt nicht unrichtig. Aber dieſe Muße iſt nicht Unthaͤtig-
keit, nicht gaͤnzliche Ruhe, ſondern der leichte, ungehin-
derte, ſchmerzenloſe Gebrauch der Kraͤfte. Die Men-
ſchen wollen leben und des Lebens genießen; ſich beſchaͤf-
tigen
[799]und Entwickelung des Menſchen.
tigen koͤnnen ohne Muͤhe, wenn die Kraͤfte munter ſind;
und ruhen koͤnnen, wenn ſie muͤde ſind. Es iſt nicht
zu verwundern, daß ſie waͤhrend der Anſtrengung und
Unruhe glauben, alles was ſie wuͤnſchen, werde erhal-
ten ſeyn, ſo bald ſie Ruhe haben und die Mittel beſi-
tzen ohne Sorgen zu leben. Daß ſie Leben und thaͤtige
Kraͤfte behalten, ſetzen ſie voraus, oder denken vielmehr
nicht daran, daß ſie ſtumpf werden, und alsdenn, ob-
gleich von Schmerzen frey, dennoch minder gluͤcklich
ſeyn koͤnnen, als vorher. Die Empfindung der gegen-
waͤrtigen Noth haͤlt den Gedanken ab, daß ihnen dann
noch etwas fehlen koͤnne, wenn dieſe nur gehoben ſey,
wie es uns uͤberhaupt geht, wenn wir mit Eifer nach ei-
nem Ziele trachten. Wie oft haben ſich nicht auf eine
aͤhnliche Art die Regenten verrechnet, die ſich ihrer Re-
gierung entſagt, und nachher, von Langeweile gequaͤlet,
mit Sehnſucht auf den verlaßnen Thron zuruͤckgeblickt.
Warum denn? Die Mittel zu den Vergnuͤgungen der
aͤußern Sinne, ſo viel ſie derſelben faͤhig waren, behiel-
ten ſie in ihren Haͤnden. Aber es entſtand eine Leere in
ihrem Herzen, und in ihrem Willen. Sie konnten nicht
mehr in ſo großen Handlungen wirken, nicht mehr den
Trieben und Neigungen nachgehen, nicht mehr in ſol-
cher Staͤrke ſich zeigen, und ihre noch regen Kraͤfte ge-
nießen wie vorher. Nichts iſt ein auffallenderer Beweis,
daß der geſunde und muntere Menſch mit ſeinen Ver-
moͤgen wirken und durch Thaͤtigkeit unterhalten werden
muͤſſe, um gluͤcklich zu ſeyn, als die verſchiedenen Arten
von Zeitvertreib, Spielen, Geſellſchaften, die man er-
funden hat, um ſich freywillig gewiſſe Angelegenheiten
zu machen, die vor der Langeweile ſchuͤtzen und weder
durch eine zu heftige Anſtrengung, noch durch die Furcht
vor Mangel, oder durch den Schmerz uͤber fehlgeſchla-
gene Erwartungen, beſchwerlich ſind.
6. Wenn
[800]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
6.
Wenn man den Menſchen durch eine Abſtraktion
nur blos von der Seite betrachtet, ſo fern er ein thaͤti-
ges Weſen iſt, ſo wird man bald finden, daß ihn
vervollkommnen eben ſo viel iſt, als ihn gluͤckſelig ma-
chen; oder eigentlich, daß nur dadurch der Genuß
ſeiner Thaͤtigkeit, oder ſein Vergnuͤgen aus der-
ſelben, am groͤßten wird, wenn er ſeine Kraͤfte in
der Maße anwendet, in der ſie am meiſten vervollkomm-
net werden. So ein blos thaͤtiges Weſen iſt der
Menſch zwar nicht. Er hat auch ſeine leidentlichen Ver-
aͤnderungen, und iſt einer Gluͤckſeligkeit aus den letztern
faͤhig, wie die aus den Eindruͤcken auf die Sinne iſt.
Aber dennoch verdienet dieß als ein Grundſatz bemerkt
zu werden, daß er, von einer Seite genommen, nicht
gluͤckſeliger werden kann, als nach dem Maße, wie er
vollkommner wird.
Der Genuß einer Thaͤtigkeit beſteht in einer ange-
nehmen Empfindung derſelben. Wir empfinden nur
leidentliche Veraͤnderungen, welche die Folgen von
den vorhergegangenen Beſtrebungen ſind. *) Daher
die bekannte Erfahrung, acti labores iucundi. Nicht
ſo wohl die Arbeit, indem wir thaͤtig ſind, als ihre
Nachempfindung und die Wiedervorſtellung von dem,
was gethan iſt, bringt das angenehme Empfindniß her-
vor, welches ein unthaͤtiger Genuß iſt. Die Arbeit fuͤr
ſich allein iſt oft voller Muͤhe und voll Verdruß.
Dieß iſt zwar richtig. Allein es folget hieraus doch
hoͤchſtens nicht mehr, „als daß uͤberhaupt die Thaͤtigkeit
„dem Genuß der Thaͤtigkeit hinderlich werden koͤnne.“
Nur muß ſie es nicht allemal nothwendig ſeyn. Zuerſt ſind
die Nachempfindungen unſerer Aktionen mit den Aktio-
nen
[801]und Entwickelung des Menſchen.
nen ſelbſt innigſt vereiniget, ſo daß die Thaͤtigkeit von
dem Gefuͤhle derſelben unzertrennlich iſt. Die Nach-
empfindung faͤllt bald weg, wenn die Thaͤtigkeit ſelbſt
auf hoͤret.
Was ferner den Genuß vergangener Thaͤtigkeiten
in der Wiedervorſtellung betrifft, ſo iſt ſolcher al-
lerdings oft groͤßer, als das Vergnuͤgen waͤhrend der
Aktion ſelbſt war, weil dieſe Vorſtellung die vorherigen
Empfindungen, mehr vereiniget und reiner von den be-
gleitenden unangenehmen Empfindniſſen abgeſondert,
obgleich jede derſelben einzeln genommen nur im ſchwaͤ-
chern Grade, enthaͤlt, auch einige neue angenehme zu
ihnen hinzuſetzet. *) Daher wuͤrde eine ununterbro-
chen fortgeſetzte Thaͤtigkeit, die keine Ruhepunkte ver-
ſtattete, in denen der Menſch auf das Verrichtete zu-
ruͤckſehen koͤnnte, den Genuß von ihr ſchwaͤchen und ver-
draͤngen koͤnnen. Allein man wird doch finden, daß nur
alsdenn der geſammte Genuß an Umfang, an Staͤrke
und Dauerhaftigkeit am groͤßten ſey, wenn jene Ruhe-
punkte da vorkommen, wo ſie den wirkſamen Kraͤften
am angemeſſenſten ſind, und wo dieſe durch ſie eben am
meiſten geſtaͤrket werden. Das Kind, welches gehen
lernet, mag, wenn es zwey oder drey Schritte gethan
hat, ſtill ſtehen, und laͤchelnd ſich umſehen, wie weit es
gekommen ſey; dann wieder ein paar Schritte thun, und
ſich von neuem umſehen und freuen. Fuͤr den ſtarken
und muntern Mann hingegen iſt dieß nicht. Dieſer legt
ſeinen langen Weg zuruͤck, und dann erneuert er allen-
falls die Vorſtellung des Ganzen auf einmal. Sollte in
der Vorſtellung des letztern, die voͤlliger und ſtaͤrker iſt,
und in ſeinen Nachempfindungen von den einzelnen Thei-
len waͤhrend der Aktion zuſammen nicht mehr Genuß
enthalten ſeyn, als in den zertheilten und ſchwaͤchern
IITheil. E e eEm-
[802]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Empfindniſſen, Nachempfindungen und Vorſtellungen
des Kindes? und uͤberhaupt das Vergnuͤgen nicht groͤſ-
ſer ſeyn, wo mehr anhaltende Thaͤtigkeit iſt, als wo ſie
oͤfterer ohne Noth unterbrochen wird? vorausgeſetzt daß
die Phantaſie nichts hinzu dichte und dadurch eitle Em-
pfindniſſe verurſache. So lange der innere Trieb zur
Wirkſamkeit fortdauert, wuͤrden die dazwiſchen fallen-
den Empfindniſſe nur unangenehm ſeyn. Nur wenn die
Kraft anfaͤngt matter zu werden, und die Fortſetzung
der Aktion widrig wird, ſo iſt die Unterbrechung will-
kommen, die der Seele Zeit laͤßt zuruͤckzuſehen und zu
genießen. Jm Alter muß das beſte Vergnuͤgen aus dem
Andenken verrichteter Thaten geſchoͤpfet werden. Aber
ſo lange die Kraͤfte innerlich noch ſelbſtthaͤtig ſind, liegt
in den begleitenden einzelnen Gefuͤhlen der Wirkſamkeit
eine Luſt, die in Vergleichung mit derjenigen, welche die
Erinnerung allein gewaͤhret, ſich ſo verhaͤlt, wie eine Em-
pfindung zu einer Einbildung. Es wird auch durch das
Anhalten der Thaͤtigkeit der Genuß aus der Wieder-
vorſtellung nicht aufgehoben, ſondern nur etwas ausge-
ſetzet, um in der Folge deſto ſtaͤrker zu werden.
Nun iſt aber eine ſolche Anwendung der Kraͤfte eben-
dieſelbige, wodurch dieſe am beſten entwickelt werden.
Sobald die Thaͤtigkeit ſchwaͤcher oder ſtaͤrker iſt, als es
mit der dermaligen Beſchaffenheit der Kraft uͤberein-
ſtimmt, uͤbet ſich die letztere nicht in der gehoͤrigen Ma-
ße. *) Es iſt zwar zuweilen dienlich, daß die Anſtren-
gung bis zur Ermuͤdung und etwas uͤber die Grenze
hinaus gehe, wo ſie anfaͤngt unangenehm zu werden,
wenn man naͤmlich zum Zweck hat, daß die Kraft ge-
ſtaͤrket werden ſoll. Aber dennoch giebt es auch hiebey
eine Grenze, die wiederum dieſelbige iſt, als ſie da iſt,
wo man auf den groͤßten Genuß Ruͤckſicht nimmt. Die
erſtern kleinern Unbehaglichkeiten, die ſich zeigen, wenn
eine
[803]und Entwickelung des Menſchen.
eine Thaͤtigkeit anfaͤngt widrig zu werden, ſind nichts
mehr als die Diſſonanzen in der Muſik, welche das Ge-
fuͤhl der Harmonie erhoͤhen. Es gewinnt alſo noch das
Vergnuͤgen, wie die Kraft ſelbſt, wenn die Aktion fort-
geſetzt wird. Dagegen ſobald die Unluſt und der Ver-
druß an ihr uͤberwiegend wird, ſo muß ſie aufhoͤren,
wenn ſie das Vermoͤgen ſelbſt nicht mehr ſchwaͤchen als
ſtaͤrken ſoll.
Wenn die Arbeit muͤhſelig und laͤſtig wird, ſo iſt es
gewiß nicht allemal die Thaͤtigkeit ſelbſt, die dieß wird.
Das Beduͤrfniß, welches man durch die Arbeit abwen-
den will, die Furcht die Abſicht zu verfehlen, die zu gro-
ße Sehnſucht nach ihr, der Zwang, dann auch die aͤuſ-
ſern Hinderniſſe, die nicht zu uͤberwinden ſind und ein
Gefuͤhl von Schwaͤche verurſachen, die Ueberſpannung
der Kraͤfte und andere begleitende aͤußere und innere
Empfindniſſe, die mehr von den Vorſtellungen der Ge-
genſtaͤnde, mit denen man zu thun hat, als von dem Ge-
fuͤhl der Aktion ſelbſt abhangen: dieß ſind die Urſachen,
welche die Arbeit zum Uebel machen, die ohne ſie Luſt
und Vergnuͤgen ſeyn wuͤrde, und deſto mehr dieß letzte-
re ſeyn wuͤrde, je mehr ſie in der Maße vorgenommen
wird, wie ſie zur Vervollkommnung der Kraͤfte gereichet.
Eine Einwendung bliebe vielleicht uͤbrig. Jede Thaͤ-
tigkeit wird der Seele anfangs durch das Gefuͤhl eines
Beduͤrfniſſes, welches widrig iſt, es entſtehe aus einer
innern oder aͤußern zu ſtarken Spannung, abgenoͤthiget.
Daraus moͤchte man folgern, jene ſey ihrer Natur nach
jedesmal unangenehm, ſo daß nur die leidentlichen
Veraͤnderungen allein fuͤr ſich angenehme Empfindniſſe
gewaͤhren koͤnnten. Man kann antworten. Erſtlich iſt es
nur im Anfang noͤthig, daß die natuͤrliche Traͤgheit durch
ein widriges Gefuͤhl erwecket werde; nicht mehr ſo, wenn
einmal das Angenehme in der Thaͤtigkeit und der Aus-
fuͤhrung ſelbſt geſchmecket iſt, und man dieſe fuͤr ſich
E e e 2ſelbſt
[804]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſelbſt lieb gewonnen hat. *) Und dann zweytens, wenn
es auch immer ſo waͤre, daß Thaͤtigkeit unmittelbar eine
Folge einer unangenehmen Empfindung ſey: ſo iſt nun
einmal die Natur eines Menſchen ſo, daß ohne thaͤtigen
Gebrauch ſeiner Kraͤfte der allergroͤßte Theil ſeiner
angenehmen Gefuͤhle, nicht nur derer, die unmittelbar
auf Thaͤtigkeit folgen, ſondern auch der uͤbrigen, wegfal-
len muͤßte. Die Thaͤtigkeit wuͤrde alſo angenehm ſeyn,
wie alles iſt, was Schmerzen wegnimmt; und dieß im-
mer in der Maße, wie die Kraft ſelbſt durch ihre An-
wendung entweder geſtaͤrket oder erhalten wird.
7.
Die beſten Philoſophen haben geſagt, es ſey das
Gefuͤhl der Vollkommenheit, oder das Gefuͤhl
ungehinderter Thaͤtigkeit, die Quelle alles Vergnuͤ-
gens. Hiebey iſt aber jede Unterhaltung der Seele,
auch wenn ſie ſinnlich angenehme Empfindungen hat,
als eine thaͤtige Beſchaͤfftigung von ihr im Gefuͤhl an-
geſehen, oder man hat auch jede leidentliche Modifi-
kation nach den Begriffen, worauf die Analyſis der Ver-
moͤgen fuͤhret, in eine wirkſame Anwendung der
Grundkraft aufgeloͤſet, ſo daß man den gemeinen Un-
terſchied zwiſchen thaͤtigen und leidentlichen Veraͤn-
derungen beyſeite geſetzet. Jch wuͤrde dieſe letztern lieber
beybehalten. Denn wenn auch das Gefuͤhl von jeder
Veraͤnderung keine wahre Aktion iſt: ſo ſind doch die
uͤbrigen unterſcheidungsweiſe ſogenannten Aktionen des
Vorſtellens, des Denkens, des Wollens und des Bewe-
gens noch weiter hervorgehende Aktionen, und alſo Thaͤ-
tigkeiten in einem vollern Sinn, als es das bloße Fuͤh-
len und Empfinden iſt. **) Aber geſetzt auch, daß dieſer
Unterſchied aufgegeben werde: ſo ſtoͤßt man doch bey den
menſch-
[805]und Entwickelung des Menſchen.
menſchlichen Vergnuͤgungen auf einen andern, der eben
dieſelbigen Folgen hat. Einige Vergnuͤgen naͤmlich er-
fodern durchaus die Einwirkung oder das Zuthun aͤuße-
rer Weſen, und hangen von den Beziehungen des Men-
ſchen auf aͤußere Dinge ab. Andere verſchaffet er ſich
ſelbſt aus ſeiner innern Quelle, durch ſeine eigene Thaͤ-
tigkeit. Dieß habe ich nur erinnert um Mißverſtaͤndniſ-
ſen vorzubeugen. Denn ſonſten mag immer jede Unter-
haltung der Seele und ihrer Kraͤfte eine Thaͤtigkeit ge-
nennet werden.
Daruͤber ſind die Philoſophen unter ſich und mit dem
gemeinen Verſtande einig, daß die Gluͤckſeligkeit des
Menſchen aus der Summe ſeiner angenehmen Empfin-
dungen entſpringe, die alsdann aber nur erſt ſo heißen
kann, wenn ſie die Summe der entgegenſtehenden uͤber-
wieget; und die als Gluͤckſeligkeit nur nach der Groͤße
dieſes Uebergewichts geſchaͤtzet werden muß. Aber uͤber
zwey Punkte gehen ſie von einander ab. Der erſtere da-
von gehoͤret zur Seelenlehre: „Was iſt die eigentliche
„Quelle des Vergnuͤgens? oder was iſt in jedem ange-
„nehmen Gefuͤhl die angenehm ruͤhrende, die ver-
„gnuͤgende Kraft, die Kauſalitaͤt des Vergnuͤgens,
„nach der Sprache der Alten?“ Der zweete gehoͤret
zur Moral: „Wie groß iſt der Antheil an dem geſamm-
„ten Wohl, den die verſchiedenen Arten der angeneh-
„men Empfindungen, welche durch die Sinne, die Ein-
„dildungskraft, den Verſtand und die aͤußere Thaͤtig-
„keit erhalten werden, dazu hergeben? Wie wichtig ſind
„dieſe Beſtandtheile, gegen einander verglichen?“ Jede
Empfindung hat ihre innere Groͤße, ihre Laͤnge, Breite,
Staͤrke, Dauer; jede befoͤrdert andere aͤhnliche, oder hin-
dert ſie. Wie hoch ſoll jedwede Gattung geſchaͤtzet wer-
den? Hier iſt der Maßſtab, den man in den verſchiede-
nen Syſtemen gebraucht hat, ſehr verſchieden, welches
zum Theil ſchon davon abhaͤngt, wie man die erſtere
E e e 3pſycho-
[806]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
pſychologiſche Frage, uͤber die Urſache des Vergnuͤgens,
beantwortet. Anders ſchaͤtzte ſie der Stoiker, anders der
Epikuraͤer, zwiſchen welchen die Peripatetiker und
nach ihnen Cicero das Mittel fand. *) Sollte man
nicht darinn ſchon einen Fehler begangen haben, „daß
„man daſſelbige Verhaͤltniß bey allen Menſchen ohne
„Ausnahme als das ſchicklichſte feſtſetzen wollen?“ Bey
den verſchiedenen Gattungen empfindender Weſen muß
es doch verſchieden ſeyn. Denn fuͤr die Thierſeele gehoͤ-
ret das Vergnuͤgen des Denkens nicht. Sollte nicht auch,
obgleich in einem mindern Grade, darauf Ruͤckſicht bey
den Menſchen genommen werden muͤſſen, ſo viel naͤmlich
in der zufaͤlligen Verſchiedenheit ihrer individuellen Natu-
ren gegruͤndet iſt? Damit faͤllt es nicht weg, daß es nicht
eine allgemeine Moral gebe. Die weſentliche Aehnlich-
keit ihrer Naturen giebt auch ihrer Gluͤckſeligkeit dieſel-
bigen weſentlichen Beſchaffenheiten, und hat die allge-
meine Aehnlichkeit ihrer Pflichten zur Folge.
Was aber die allgemeine Quelle des Vergnuͤgens
und der Gluͤckſeligkeit betrifft, ſo will ich nur blos einige
Anmerkungen herſetzen, die hierzu gehoͤren, ohne mich
weder auf eine naͤhere Unterſuchung der Sache ſelbſt,
noch auf eine Pruͤfung der verſchiedenen Gedanken der
Philoſophen daruͤber, einzulaſſen. Jene ſollen nur allein
die Abſicht haben, den zu einſeitigen Begriffen vorzu-
beugen, zu welchen man auch hier, bey dem allgemei-
nen Princip des Vergnuͤgens, das den gemeinſchaftli-
chen Charakter aller angenehmen Gefuͤhle angeben ſoll,
verleitet wird, ſo bald man nicht auf die ganze Vielſei-
tigkeit unſerer Natur ſiehet.
1) Erſtlich hat jedes Gefuͤhl nur abſolute gegenwaͤr-
tige Beſchaffenheiten der Seele zum Objekt, und noch
naͤhere Veraͤnderungen unſers Zuſtandes. Denn
die bleibenden Beſchaffenheiten, die Kraͤfte und Ver-
moͤgen
[807]und Entwickelung des Menſchen.
moͤgen muͤſſen thaͤtig ſeyn, wenn man ſie empfinden
ſoll. Sie werden nur empfunden, oder wenigſtens
mit Bewußtſeyn nur empfunden, aus den Folgen und
Wirkungen, die von ihnen in den Organen und von die-
ſen zuruͤck in der Seele entſtehen Die ruhenden Ver-
moͤgen, die wir in uns fuͤhlen, ohne daß wir ſie noch als
thaͤtig empfinden, fuͤhlen wir dennoch in den erſten An-
wandlungen zur Thaͤtigkeit, oder in ihren Elementarak-
tionen. Jede Fortdauer eines Zuſtandes, inſofern ſol-
che ein Objekt unſers Gefuͤhls ſeyn ſoll, enthaͤlt eine
Reihe von Thaͤtigkeiten und Wirkungen, die vor un-
ſerm Gefuͤhl wie ein Strom hinfließen, deren einzelne
Theile auf einander folgen, entſtehen und vergehen. *)
Aus dieſen Erfahrungsſaͤtzen geht von ſelbſt die Folge
heraus, „daß angenehme Gefuͤhle Gefuͤhle von Ver-
„aͤnderungen ſind.“ Auf dieſen Begriff laſſen ſich
alle Objekte des Gefuͤhls bringen, wenn man gleich
es oft bequemer finden kann, die bleibenden Beſchaf-
fenheiten und die wirklichen Abaͤnderungen als
verſchiedene Gegenſtaͤnde deſſelben aufzuzaͤhlen.
2) Es hat ein feiner und ſcharfſinniger Philoſoph **)
bemerket, daß ſo wohl das ſtoiſche Princip, nach wel-
chem alles Vergnuͤgen in Gefuͤhlen unſerer geiſtigen
Vollkommenheiten beſtehen oder doch aus ſolchen ent-
ſpringen ſoll, als auch das entgegengeſetzte epikuraͤiſche,
welches alle angenehme Gefuͤhle fuͤr Gefuͤhle von dem
Wohlſeyn der Organiſation erklaͤrt, oder daraus ablei-
tet, die wahre Quelle derſelben nur von einer Seite an-
gebe. Er nennet dieſe Grundſaͤtze ſtoiſche und epiku-
raͤiſche, nicht in dem Sinne, als wenn ſie in dieſer
Beſtimmtheit Lehrſaͤtze der Stoiker und Epikuraͤer ge-
E e e 4weſen
*)
[808]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
weſen waͤren. Es wuͤrde wenigſtens ein verfeinerter Stoi-
cismus, oder Epikuraͤismus heißen muͤſſen, wenn ſie
in dieſer Bedeutung zum Grunde geleget wuͤrden. Der
Menſch iſt Menſch, nicht bloß Seele, noch bloß Koͤr-
per. Woraus folget, daß, ſo wie man mit den Voll-
kommenheiten der Seele die Vollkommenheiten der
Organiſation zuſammennehmen muß, um die ganze
Vollkommenheit des Menſchen zu haben, ſo muß man
auch ſowohl die Gefuͤhle aus dem Wohlſtande des Koͤr-
pers anfuͤhren, als die aus dem Wohlſtande der Seele,
wenn man nicht Eine, ſondern alle erſten Quellen der
angenehmern Empfindniſſe haben will.
Jndeſſen hat die Aufloͤſung einiger Arten von ſinn-
lichen Vergnuͤgungen ſo viel außer Zweifel geſetzt, daß
mit den angenehmen Gefuͤhlen aus der Organiſation eine
gewiſſe Thaͤtigkeit, oder wenn ſie nicht Thaͤtigkeit heiſ-
ſen ſoll, eine volle, uͤbereinſtimmende Unterhaltung der
Seele, von der Seite ihres Gefuͤhls, verbunden ſey.
Bey den Ergoͤtzungen des Gehoͤrs und des Geſichts iſt in
den Gegenſtaͤnden Mannichfaltigkeit und Einheit, und in
dem Sinne der Seele mannichfaltige und leichte Beſchaͤff-
tigung. Nach der Analogie kann man annehmen, daß
auch in den uͤbrigen angenehmen Gefuͤhlen aus dem Koͤr-
per eine entſprechende leichte und mannichfaltige Unter-
haltung der Seele vorhanden ſey. Wir wollen immer
eingeſtehen, daß gewiſſe Modifikationen des Koͤrpers
unmittelbar angenehm ſind; naͤmlich daß das Gefuͤhl
davon fuͤr ſich allein ein angenehmes Gefuͤhl ſey, ohne
daß andere Gefuͤhle von Seelenvollkommenheiten
hinzukommen, und es dazu machen muͤßten. Aber
deßwegen faͤllt die Wahrſcheinlichkeit nicht weg, daß
ſolche Gefuͤhle in der Seele ſelbſt eine Mannichfaltig-
keit und Einheit enthalten, welche fuͤr ihre fuͤhlende Kraft
eben das iſt, was die gefuͤhlten Bewegungen in dem Koͤr-
per in Hinſicht auf die Organiſation ſind, naͤmlich Fol-
gen
[809]und Entwickelung des Menſchen.
gen und Wirkungen ihres Wohlbefindens, und Beweiſe
davon. Mag eine angenehme Empfindung der Voll-
kommenheit der Seele im Ganzen ſchaͤdlich, und eine
Folge von Schwaͤche und Unvollkommenheit ſeyn: ſo iſt
ſie ihr es doch nicht in Hinſicht ihrer fuͤhlenden Kraft,
noch eine Wirkung von ihrer Schwaͤche an dieſer Seite.
Es verhaͤlt ſich mit dem Wohlſtande der Organiſation
auf dieſelbige Weiſe. Es laͤßt ſich alſo das Gefuͤhl aus
dem Wohlſeyn des Koͤrpers, auf die Seele zuruͤckge-
fuͤhrt, anſehen als ein Gefuͤhl aus ihrem eigenen Wohl-
ſeyn, oder als ein Gefuͤhl eines Zuſtandes in ihr, welcher
eine Folge von der Unterhaltung der Gefuͤhlskraft iſt.
3) Kommt man nun zu der Frage, was das Un-
terſcheidungsmerkmal der angenehmen und unange-
nehmen Veraͤnderungen, oder vielmehr der Gefuͤhle von
dieſen uͤberhaupt ſey: ſo iſt es nicht ſchwer, die verſchie-
denen Begriffe der Philoſophen davon mit einander zu
vereinigen, und mit dem einen oder dem andern Princip
zur Noth auszukommen, wenn die Beobachtungen er-
klaͤrt werden ſollen. Aber auf der andern Seite iſt es
nicht nur ſchwer, ſondern vielleicht unmoͤglich, ein ſol-
ches Princip anzugeben, das nicht etwas zu einſeitig
ſey, und dem nicht einige Unzulaͤnglichkeit bei der An-
wendung auf alle Arten der ſinnlichen, intellektuellen
und moraliſchen Empfindungen vorgeworfen werden
koͤnnte, auch ohne nach Art der ſeichten Zaͤnker nur
ſchikaniren zu wollen. Vielfache leichte Unterhaltung iſt
angenehm. Leichte Thaͤtigkeit der Kraͤfte, vielbefaſſen-
de Beſchaͤftigung des Sinnes, giebt Vergnuͤgen. Je
voller, mannichfaltiger, ausgedehnter, intenſiv ſtaͤrker
die Modifikation iſt, die auf einmal gefuͤhlet wird, deſto
groͤßer iſt, ſo zu ſagen, das gegenwaͤrtige Seyn der
Seele, die, indem ſie ihre Veraͤnderungen fuͤhlt, ihr
Daſeyn, oder ſich ſelbſt, fuͤhlt. Unthaͤtigkeit, Mangel
an fuͤhlbaren Veraͤnderungen, giebt kein Gefuͤhl, iſt eine
E e e 5Null.
[810]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Null. Erſchwerte Thaͤtigkeit, Gefuͤhl des Widerſtan-
des und der Schwaͤche, Zertheilung, Entziehung der
Veraͤnderung, Verwirrung, geht uͤberhaupt dahin, das
gleichzeitige Gefuͤhl zu mindern, zu ſchwaͤchen. Es iſt
unangenehm. Man kann ſich mit andern ſcharfſinni-
gen Philoſophen vorſtellen, der Schmerz entſtehe aus
zu großer Spannung. Eingeſchloſſene Wirkſamkeit
verurſacht Unruhe. Sie iſt Spannung von innen.
Zu ſtarke Spannung von außen erweckt den eigent-
lich ſogenannten Schmerz. Die Nachlaſſung, oder
Entſpannung, dagegen ſey angenehm in der Seele,
wie in dem Koͤrper. Sie entſtehet, wo die Kraft in
Thaͤtigkeit ſich aͤußern kann, oder wo ſie von außen
zur Ruhe kommt. Dieſe Jdee iſt fruchtbar. Es
kommt auch darauf an, welche Vorſtellung von der
Grundkraft man vorausſetzet. Hr. Cochius*) ſahe
ſie fuͤr eine Ausdehnungskraft an, die ſich zu erweitern
beſtrebet, wornach alles, was mit dieſem Triebe uͤber-
einſtimmt, angenehm, was ihr widerſtrebet und ſie
einſchraͤnken will, widrig ſeyn muß.
Alle dieſe und noch andere Begriffe von der vergnuͤ-
genden Kraft unſerer Veraͤnderungen, die ich hier nicht
weiter vergleichen will, fuͤhren doch endlich zu dieſer all-
gemeinen Folgerung, oder muͤſſen dazu fuͤhren, wenn
ſie nicht offenbar der Beobachtung zuwider ſeyn ſollen:
„daß es in jedem Fall nicht ganz allein von der abſoluten
„Beſchaffenheit der Veraͤnderung, die gefuͤhlet wird, ab-
„hange, daß ſie angenehm oder widrig iſt, ſondern daß es
„hiebey gleichfalls auf ihre Beziehung, auf den dermaligen
„Zuſtand der Seele ankomme, und folglich zum Theil
„auf dem letztern beruhe.‟ Laß das aͤußere Objekt
ſeine Mannichfaltigkeit und Einheit behalten, die es
vorher hatte, da es ergoͤtzte, und laß es dieſelbigen Ein-
druͤcke
[811]und Entwickelung des Menſchen.
druͤcke machen: es wird unangenehm ſeyn, nicht nur
wenn angenehmere Gefuͤhle dadurch verdraͤngt werden,
ſondern auch wenn die Kraft der Seele nicht darnach
geſtimmt iſt, den Eindruck leicht aufzunehmen. Das
gemaͤßigte Licht macht Schmerzen, wenn die Augen
ſchwach ſind. Jſt ein Reiz zur Wirkſamkeit vorhan-
den, und erfolget ein Beſtreben, das der Kraft abge-
noͤthiget wird, ſo kommt es doch darauf an, in welchem
Zuſtande dieſe ſich befindet. Sie wird Vergnuͤgen em-
pfinden ſich zu aͤußern, wenn ſie rege und munter iſt:
aber ihre eigene Thaͤtigkeit wird ihr zuwider ſeyn, nicht
nur wenn ſie deßwegen einen ſtaͤrkern Trieb nach einer
andern Seite hin zuruͤckhalten muß, ſondern auch
wenn die innere Kraft ſo ſchwach iſt, daß ſie die Muͤhe
ihres Beſtrebens fuͤhlet. Man mag dieſe Relation
Uebereinſtimmung und Widerſpruch oder ſonſten
nennen wie man will, ſo liegt in ihr der Grund, warum
die gefuͤhlte Veraͤnderung angenehm oder unangenehm
gefuͤhlet wird. Jn vielen Beobachtungen zeiget ſichs
offenbar, daß, wenn die Veraͤnderung dem dermaligen
Zuſtande der Seele, ihren Kraͤften und Vermoͤgen und
ihren uͤbrigen Beſchaffenheiten angemeſſen iſt, ſie ſich
mit ihnen vereinige, und die Maſſe des Abſoluten in
ihr groͤßer mache, wodurch die Wirklichkeit der Seele
groͤßer und ſie ſelbſt vollkommner wird. Jn dem ent-
gegengeſetzten Falle aber wird der Umfang der Gefuͤhle
vermindert *).
4) Wenn die Seele des Menſchen in dem Zuſtande
der regen Wirkſamkeit ſich befindet, ſo iſt ſie ein
Weſen, das ſich mit ſeinen Kraͤften und Vermoͤgen be-
ſtrebet zu wirken und unterhalten zu werden. Die
Kraͤfte ſtreben auf gewiſſe Arten thaͤtig zu ſeyn. Die
Seele will wirken als Geiſt, als vorſtellendes,
als
[812]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
als den Koͤrper beſeelendes Weſen. Sie will ſich
auch ſo fuͤhlen; oder ihr Selbſtgefuͤhl ſucht ſeine Unter-
haltungen aus den Folgen ihrer Thaͤtigkeiten und aus
andern leidentlichen Veraͤnderungen. Dieſe einzelnen
Beſtrebungen, jede in ihrer dermaligen Richtung und
Groͤße, geben, ſo zu ſagen, ein gewiſſes mittleres Be-
ſtreben nach einer mittlern Richtung von einer beſtimm-
ten Staͤrke. Wenn man nun ſagen wollte, „es ſey
„eine hinzugekommene Veraͤnderung angenehm oder un-
„angenehm, je nachdem ſie mit dieſer Hauptbeſtrebung
„der Seele mehr uͤbereinſtimmet, oder ihr mehr ent-
„gegen iſt, das iſt, mehr oder minder ſich zu ihr paſſet:“
ſo wuͤrde ich gegen dieſen Grundſatz, in ſofern er bloß
ein allgemeines Princip ſeyn ſoll, und noch keine ge-
nauere und deutlichere Beſtimmung dieſer Beziehung
verlanget wird, nichts zu erinnern haben. Dennoch
findet ſich ein Umſtand, worauf beſonders geſehen wer-
den muß, wenn auch dieſes noch unbeſtimmte Merkmal
nicht bloß einſeitig charakteriſiren ſoll.
Jn welchem Zuſtande befindet ſich die Seelenkraft,
wenn ſie ermuͤdet und matt iſt? Jſt dieß bloße
Schwaͤche, bloßer Mangel an Wirkſamkeit und Beſtre-
ben, ſo iſt die Suͤßigkeit der Ruhe fuͤr den Muͤden
nichts mehr als eine Entweichung der Schmerzen; aber
kein poſitives Vergnuͤgen, da weiter nichts geſchieht, als
daß die aus zu ſtarker Anſtrengung entſtandenen widrigen
Gefuͤhle der Hinderniſſe und der Ohnmacht gehoben
werden. Dieß ſcheint mir, obgleich große Philoſophen
die Sache ſo erklaͤret haben, der Empfindung, die wir
taͤglich beobachten koͤnnen, keine Gnuͤge zu thun. Jn
dem Menſchen iſt die Traͤgheit zu einer Verrichtung
mehr als die ſogenannte Kraft der Traͤgheit der Materie.
Jene iſt eine wirkſame Abneigung gegen Arbeit, und
mehr als ein bloßer Mangel an Wollen und an Wirk-
ſamkeit; mehr als eine Gleichguͤltigkeit, zu der nur ein
Reiz
[813]und Entwickelung des Menſchen.
Reiz fehlt, um in wirkliches Beſtreben uͤberzugehen.
Jnsbeſondere findet ſich in der unangenehmen Traͤgheit,
die mit der Ermuͤdung verbunden iſt, ein Beſtreben
alles zu entfernen, was die Kraft reizen und rege ma-
chen kann. Es ſcheint alſo der Hang zur Ruhe ein
poſitiver Hang der Seele zu ſeyn, ſich aus dem
Stande der Thaͤtigkeit und des Bewußtſeyns ihrer
ſelbſt herauszuſetzen. Sie will nicht mehr fuͤhlen noch
empfinden, oder unterhalten ſeyn, weil dieß alles ſie
zu ſtark angreift. Jſt nun alles das ein poſitives Ver-
gnuͤgen, was mit ihren dermaligen Beſtrebungen uͤber-
einſtimmt, ſo wird auch dieſes dahin zu rechnen ſeyn,
was ſie empfindet, wenn die aͤußern Eindruͤcke und die
innern Bewegungen weggehen, die ihre Kraft zur Thaͤ-
tigkeit reizen und ihre Entſpannung aufhalten. So
ſcheint es mir wirklich ſich zu verhalten, obgleich die
Richtung der Kraft alsdenn dahin gehet, ſich unthaͤtig
zu machen, und, ſo zu ſagen, abzulaufen. Es iſt
wenigſtens ſo, ſofern man ſich ſelbſt fuͤhlet. Denn ſonſt
mag die Grundkraft immer nur ihre Richtung veraͤn-
dern, wie die Pſychologen es erklaͤren, die die Seele
im tiefſten Schlaf eben ſo ſtark beſchaͤftiget ſeyn laſſen, als
im Wachen, nur daß ſie alsdenn mehr mit dem ganzen
Jnbegrif ihrer dunkeln Vorſtellungen zu thun hat, als
mit den hervorſtechenden klaren und deutlichen Gedanken,
die ſie im Wachen bearbeitet. Eine Jdee, die ſelbſt
nach den Anzeigen, welche man in den Beobachtungen
findet, nicht unwahrſcheinlich, und gewiß nicht ganz und
gar falſch iſt.
Jn Hinſicht des Koͤrpers iſt es nicht ſchwer ſich vor-
zuſtellen, wie in ihm ein Trieb entſtehen koͤnne zu Ver-
aͤnderungen, die ſeine Fibern entſpannen und ihn unthaͤ-
tig machen. Die Kraͤfte der Organiſation erſchoͤpfen
ſich, und es haͤufen ſich die Hinderniſſe gegen ihre wei-
tere Wirkſamkeit. Dieß aͤndert durch eine Ruͤckwir-
kung
[814]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
kung den Lauf der Saͤfte und der Geiſter, die ſich als-
denn von den Theilen entziehen, welche nur durch ſie ihre
bewegende Kraft haben. Daher entſteht der Trieb,
wovon die Ruhe und Erſchlaffung eine Folge iſt. Aber
auch in der Seele laͤßt der Trieb, ſich unthaͤtig zu ma-
chen, ſich erklaͤren. Sie fuͤhlt die Schwaͤche und Er-
ſtarrung ihres Koͤrpers, und die Schmerzen, wenn ſie
ihre Beſtrebungen fortſetzen will. Sie muß alſo noth-
wendig in eine andere Richtung ſich zu bringen ſuchen,
wo ſie jenen Gefuͤhlen ausweicht. Dadurch kommt ſie
von ſelbſt in diejenige, in der ſie den Koͤrper zur Ruhe
bringt. Hat nun dieß neue Beſtreben ſeine Wirkung,
entziehen ſich die Reizungen der Sinne und der Phanta-
ſie: ſo fuͤhlt ſie dieſen Erfolg in ſich, und in ihrem Koͤr-
per den neuen Zuſtand, der zu ſeinem Wohlbefinden
gehoͤret und mit einer innigen Luſt verbunden iſt, ob-
gleich waͤhrend der Empfindung die Empfindung ſelbſt
an Staͤrke abnimmt und ausloͤſcht. Ohne Zweifel kom-
men nun die aſſociirten Jdeen von der Erholung, und
der darauf folgenden groͤßern Munterkeit hinzu, und
verſtaͤrken die Sehnſucht nach der Ruhe. Aber die
Ruhe iſt doch von Natur ſchon angenehm, und wird es
nicht blos durch die Verknuͤpfung mit neuen Erwar-
tungen.
8.
Ohne Ruͤckſicht auf das allgemeine Princip des
Vergnuͤgens kann die Beziehung der Vervollkommnung
des Menſchen auf ſeine Gluͤckſeligkeit beſtimmt werden,
wenn ſolches bey den verſchiedenen Arten der angeneh-
men Empfindungen, die als Beſtandtheile des geſamm-
ten menſchlichen Wohls zu betrachten ſind, einzeln ge-
ſchieht. Wenn nicht alle Vergnuͤgungen in gleicher
Maße von der Vollkommenheit abhangen, ſo muß der
verhaͤltnißmaͤßige Werth derer, die naͤher ſich auf ſie
beziehen, gegen andere feſtgeſetzt werden. Dieß iſt ein
weſentli-
[815]und Entwickelung des Menſchen.
weſentliches Geſchaͤft in der Moral, davon ich hier nur
etwas, das unmittelbar aus der allgemeinen Betrach-
tung der menſchlichen Natur fließt, anfuͤhren will.
Es iſt fuͤr ſich ein Grundſatz, deſſen Richtigkeit auf-
faͤllt, „daß je mehr der Menſch vervollkommnet wird,
„einer deſto groͤßern Gluͤckſeligkeit werde er faͤhig.“
Seine Beſtrebungen werden vervielfaͤltiget und ver-
ſtaͤrket, wie ſeine thaͤtigen Kraͤfte wachſen; und der
Umfang und die Staͤrke ſeiner Empfindungen waͤch-
ſet mit der Erhoͤhung ſeiner Empfindſamkeit, die wie-
derum von der Ausbildung am Verſtande abhaͤngt.
So gar die groͤbſten ſinnlichen Vergnuͤgungen, die ſich
am meiſten nach den Eindruͤcken von aͤußern Urſachen
richten, ſind bey Menſchen von ſtumpfem Geiſt und Ge-
fuͤhl bey weitem das nicht, was ſie bey andern ſind.
Eben ſo klar iſt es, daß jede Erhoͤhung der Voll-
kommenheiten der Natur eine Vermehrung eines innern
Schatzes ſey, aus deſſen Beſitz die edelſten und feinſten
Vergnuͤgungen entſtehen, die am tiefſten eindringen und
am dauerhafteſten und unabhaͤngigſten von aͤußern Zufaͤl-
len ſind. Jeder Zuwachs an innerer Menſchengroͤße
macht die Quelle der Gluͤckſeligkeit groͤßer, und die letz-
tere ſelbſt, weil die Quelle, wenn nicht immer gleich
ſtark, doch in einiger Maße, ſich ergießen und genoſſen
werden muß. „Jn einem ſich ſelbſt fuͤhlenden Weſen,
„kann es keine nahe phyſiſche Realitaͤt geben,
„die, (ich will nicht ſagen, auf ewig verſteckt und un-
„gefuͤhlt in ihm bleibe, man moͤchte nur auf das gegen-
„waͤrtige Leben ſehen wollen, ſondern) ſo lange ſie da
„iſt, nicht unmittelbar und abgeſondert fuͤr ſich, oder
„doch mittelbar und in Verbindung mit andern, nicht
„als etwas angenehmes ſollte empfunden werden.“
Sie wird zum wenigſten ihren Einfluß in andere Ge-
fuͤhle haben, und entweder Schmerzen lindern, die aus
andern Unvollkommenheiten entſpringen, oder die Maſſe
der
[816]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der angenehmen Gefuͤhle fuͤr ſich vergroͤßern. Und das
alles mehr oder weniger, nachdem ſie ſelbſt eine groͤßere
oder geringere Realitaͤt iſt.
9.
Waͤre die Gluͤckſeligkeit des Menſchen von aͤußern
Urſachen unabhaͤngig, ſo wuͤrde ſie blos nach der Groͤße
der innern Vollkommenheit zu ſchaͤtzen, und Vervoll-
kommnung und Begluͤckung einerley, ſeyn. Dieß iſt ſie
nun zwar in Hinſicht ihrer ſchaͤtzbarſten Theile in großer
Maße; aber ſie iſt es nicht in Hinſicht aller, und iſt
es nicht gaͤnzlich in Hinſicht eines einzigen. Auch hie-
rinnen giebt es unendlich verſchiedene Stufen des menſch-
lichen Wohls, ſo wie ſichs bey den einzelnen Perſonen
findet. Wie viel ſelbſtſtaͤndiger war die Seligkeit des
ſtoiſchen Weiſen, als das faſt ganz auf aͤußern Eindruͤ-
cken beruhende Gluͤck des Sybariten? Und dazwiſchen
liegen viele mittlere Stufen. Eine vollkommene Un-
abhaͤngigkeit von außen iſt aber keine moͤgliche Eigen-
ſchaft des Menſchen, wenigſtens in dieſer Welt nicht.
Die Vermoͤgen der Seele, als bloße Vermoͤgen be-
trachtet, ſind das einzige, was unſerm Jch ſo eigen iſt,
daß außer der Allmacht, die in das Jnnerſte dringt,
nichts ihm ſolche entziehen kann. Sollen aber dieſe Ver-
moͤgen lebendige Kraͤfte ſeyn und in Thaͤtigkeiten ſich
offenbaren, welche gefuͤhlt und genoſſen werden: ſo muͤſ-
ſen ſchon Reizungen von aͤußern Urſachen hinzukommen,
oder doch Veranlaſſungen und ſchickliche Objekte der
Kraft vorliegen. „Der Beſitz der Vermoͤgen fuͤr ſich
„macht den Menſchen nicht gluͤcklich, ſondern ihre freye
„und ungehinderte Anwendung.“ Wo die letztere fehlt,
da kann nur ein Beſtreben zu wirken vorhanden ſeyn.
Wenn dieß iſt, ſo iſt freylich auch ein angenehmes Ge-
fuͤhl von Staͤrke da, deſto lebhafter, je ſtaͤrker das Be-
ſtreben iſt; aber es wird uͤberwogen von dem beglei-
tenden Gefuͤhl des Widerſtands und des Unvermoͤgens.
Und
[817]und Entwickelung des Menſchen.
Und obgleich das erſtere immer beſtehende angenehme
Gefuͤhl das letztere unangenehme in etwas mindert, und
nicht, was ſonſten einer ſchwaͤchern Empfindung wider-
faͤhrt, zu einem Mittel wird, das entgegengeſetzte zu
verſtaͤrken, ſo kann doch die ganze zuſammengeſetzte Em-
pfindung eine wahre Quaal ſeyn. Eine große Kraft
kann ſich in einer raſtloſen Leidenſchaft verzehren, ohne
durch Gefuͤhle gluͤcklicher Erfolge erquickt zu werden.
Dieſe Verſchiedenheit der angenehmen Empfindun-
gen, in Hinſicht ihrer Abhaͤngigkeit von der innern
Verfaſſung des Menſchen und von aͤußern Umſtaͤnden,
hindert es, daß man den Menſchen nicht in der gleichen
Maße fuͤr gluͤckſelig halten kann, wie er innerlich voll-
kommen iſt. Es kommt freylich nur noch darauf an,
wie hoch wir die eine Gattung in Vergleichung mit der
andern ſchaͤtzen? ob alles, was zu dem abhaͤngigen
Wohl gehoͤrt, als etwas aͤußeres uns nichts angehen-
des, oder doch als wenig bedeutendes, zu betrachten iſt?
Nimmt man den Menſchen wie er iſt, ſo iſt die Selbſt-
genuͤgſamkeit der Stoiker offenbar etwas uͤbertriebe-
nes. Selbſt Verſtand und Tugend, als menſchliche
Kraͤfte koͤnnen durch aͤußere Zufaͤlle zerſtoͤret werden,
wenn ſie gleich als Vermoͤgen in der einfachen Seele un-
gekraͤnkt bleiben. Wie wichtig ſind nicht Furcht und
Hoffnung, die ein Menſch heget, fuͤr ſeine Gluͤckſelig-
keit. Und dennoch haͤngen beide nicht blos von den Gra-
den der Vollkommenheit in der Vorſtellungskraft, dem
Verſtande und dem Herzen ab, ſondern auch von der
Beſchaffenheit der Kenntniſſe, die uns durch die Umſtaͤnde
und durch den Unterricht von den Sachen zugeſuͤhrt
werden. Nicht gaͤnzlich, ſage ich; denn ſonſten ſtehen
allerdings die Erwartungen der Zukunft mit der innern
Vollkommenheit der Kraͤfte in Verbindung, und beru-
hen auf dieſer, mehr als gemeiniglich geglaubt wird.
Jnneres Gefuͤhl von Guͤte und Groͤße, zumal in den
IITheil. F f fGe-
[818]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Geſinnungen, iſt eine natuͤrliche Quelle der Hoffnung;
und das Gefuͤhl von Schwaͤche erzeuget Furcht und
Bosheit. Furcht und Hoffnung wirken wiederum auf
die Vermoͤgen zuruͤck, und machen ſie lebendig. Aber
wie viel haͤngt nicht ab von den zufaͤlligen Kenntniſſen,
Ueberredungen, Einſichten, die durch eine gluͤckliche An-
fuͤhrung eingefloͤßet ſind, und in einem andern Verhaͤlt-
niſſe ihre ſeligen oder unſeligen Wirkungen aͤußern, als
worinn die Verſtandeskraͤfte ſtehen, bey dem Glauben-
den, dem Zweifler und dem, der ſich von dem Gegentheil
uͤberzeugt haͤlt? Den Spinoza mußte doch bey allem
ſeinen Verſtande ſein troſtloſes Syſtem um alle Freu-
den bringen, welche die Ausſicht in die Zukunft giebt.
Und den aufgeklaͤrteſten Weiſen des Alterthums, ſelbſt
dem Sokrates, konnte die wankende Hoffnung, und
das Dilemmatiſche: Entweder gluͤcklich oder nichts! die
innige das ganze Herz ausfuͤllende Seligkeit nicht ver-
ſchaffen, die durch die lebhaftere Ueberzeugung von der
Ewigkeit auch bey weit ſchwaͤchern Seelen bewirkt wird.
Ruhe und Gleichmuͤthigkeit war das hoͤchſte, was jenen
ihr Bewußtſeyn innerer Guͤte geben konnte, das aber
die hoͤchſte Stufe der Gluͤckſeligkeit nicht iſt. Ob man
gleich ſonſten wohl behaupten kann, daß die poſitiven
Vergnuͤgungen, die in lebhaftern Aufwallungen beſte-
hen, der kurzen Dauer wegen, im Ganzen fuͤr den
Menſchen in dieſem Leben von einem geringern Werthe
ſind, als die ſich immer mehr gleichen ſanftern ruhigen
Empfindungen.
Wir moͤgen die Sache von ſo vielen Seiten anſehen,
als wir wollen, ſo zeigt ſich immer derſelbige Ausgang.
So lange allein auf die Gluͤckſeligkeit geſehen wird, de-
ren unſere Natur in dieſem Leben faͤhig iſt, ſind Gluͤck-
ſeligkeit und die innere Vollkommenheit des Menſchen
zwey verſchiedene Sachen. Nur die Hinſicht auf eine
Zukunft kann uns berechtigen, beide fuͤr einerley zu hal-
ten.
[819]und Entwickelung des Menſchen.
ten. Nach der erſten Beziehung zu urtheilen, wuͤrde
ein ununterbrochener Fortgang in der innern Vervoll-
kommnung den Menſchen nicht gluͤcklich machen, ſo wie
noch weniger umgekehrt ein ununterbrochenes Vergnuͤ-
gen ihn vollkommener macht. Wenn die Vervollkomm-
nung des Menſchen als die vornehmſte Abſicht bey
ihm angenommen wird, (denn auch der Genuß kann
nicht ausgeſchloſſen werden,) ſo iſt das Ungluͤck, oder
uͤberwiegender Schmerz, nicht blos des Leibes ſondern
auch der Seele, ungemein nuͤtzlich. Es ſtrenget die
Kraͤfte außerordentlich an, da ſie gegen Hinderniſſe
kaͤmpfen, und entwickelt ſie, wenn ſie nur nicht ganz un-
terliegen, das iſt, wenn der Menſch nur nicht zur
Verzweifelung gebracht wird. Dieſer Fall iſt ausge-
nommen. Und dennoch, wenn wir weiter zuruͤckgehen
zu den Folgen der Anſtrengung, die in der unkoͤrper-
lichen Seele bleiben, und dieſe von denen unterſchei-
den, welche in dem Menſchen entſtehen: ſo kann auch
die unter dem Leiden erliegende und verzweifelnde Seele,
nachdem ihre ganze Kraft erſchoͤpfet oder zerſprenget iſt,
von dieſer ſie ganz durchdringenden Erſchuͤtterung reelle
Folgen, und wahre Erhoͤhungen der Vermoͤgen, em-
pfangen haben, die aus ihrer Grundkraft nie ſich verlie-
ren. Denn das eine Geiſteskraft ſich in dem Geiſte
ſelbſt durch Thaͤtigkeit verzehren und aufloͤſen koͤnne, wie
das Schickſal der organiſchen Kraͤfte im Koͤrper iſt,
wird, das mindeſte zu ſagen, ſehr unwahrſcheinlich,
wenn man darauf zuruͤckſieht, was es fuͤr eine Beſchaf-
fenheit mit der Schwaͤchung der Seelenkraft habe, die
aus Ueberſpannung entſteht. *)
Dieſe Beziehung der Vervollkommnung auf das
Wohl des Menſchen macht es ſo oft nothwendig, daß
Schmerz gebrauchet werden muß um ihm wohl zu thun.
Bey Beurtheilung der Vorſehung darf dieß nicht ver-
F f f 2geſſen
[820]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
geſſen werden. Aber daß ja die Menſchenfeindſchaft,
die Bosheit und die Tyranney ſich nicht damit bedecke.
Der offene Verſtand entreiſſet ihr dieſen Schleier.
Schmerz ohne eine wahre Nothwendigkeit einem em-
pfindenden Menſchen verurſachen, heißt ihn erbittern, ſo
bald ers gewahr wird, daß mans thue, niemals ihn
beſſern. Schmerz von außen kann uͤberhaupt nur Boͤſes,
nur Hinderniſſe des Guten zuruͤckhalten, hoͤchſtens auch
die traͤgen Kraͤfte zuerſt aufwecken und ihnen den erſten
Stoß geben. Aber die Neigung zum Guten und die
Luſt an Thaͤtigkeit erfodert, daß dieſe fuͤr ſich ſelbſt an-
genehm werde und gefalle, der Gefuͤhle wegen, die mit
ihr ſelbſt verbunden ſind. Wer den Menſchen vervoll-
kommnen will, muß machen, daß ihm ſelbſt ſein eigenes
Beſtreben darnach angenehm werde.
10.
Es hat die menſchliche Gluͤckſeligkeit in den verſchie-
denen Jndividuen und in den verſchiedenen Voͤlkern,
ſo wie ſie wirklich in der Welt iſt, eben ſo verſchiedene
Geſtalten als die Menſchheit ſelbſt. Und wenn man
ſie der Groͤße nach, die ſie in dieſen Formen hat, mit
einander vergleichet, ſo findet man auch hier im Großen,
was nachher geſagt iſt, daß ſie zwar nicht voͤllig, aber
doch beinahe in demſelbigen Verhaͤltniß ſtehe, wie die
innere Auswickelung und Vollkommenheit, zu der die
Menſchheit gekommen iſt. Auch wird man leicht be-
merken, daß es eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in
Hinſicht ihres Wohls gebe, die einigermaßen das Pa-
rallel zu ihrer Gleichheit an Vervollkommnung iſt. Sollte
man nicht uͤberdieß noch den gemeinſchaftlichen Grad der
Menſchengluͤckſeligkeit fuͤr groͤßer und wichtiger halten
muͤſſen, als den Stufenunterſchied bey den Jndividuen?
Jch glaube, es laſſe ſich dieß eben ſo gut behaupten, als
in Hinſicht der Entwickelung; wobey aber auch hier ſo
wohl in Hinſicht einiger vorzuͤglich Elenden eine Aus-
nahme
[821]und Entwickelung des Menſchen.
nahme zu machen iſt, wie bey der Entwickelung in Hin-
ſicht derer, die nicht vollſtaͤndig organiſirt ſind. Es
kommt auf eine Schaͤtzung an, wozu es uns an dem
beſtimmten Maßſtab fehlet, und an dem Mittel ihn
anzubringen. Daher mag auch das Reſultat bey meh-
rern, die hieruͤber urtheilen, ſehr verſchieden ausfallen.
Vorurtheile und Leidenſchaft und Phantaſie machen ei-
ne genaue Vergleichung faſt unmoͤglich. Jndeſſen fin-
det man, daß die Gefuͤhle des Lebens, der Wirkſamkeit,
der Ruhe und des koͤrperlichen Wohlſeyns, welche die er-
ſten Grundlagen aller Freuden ausmachen, durch die
ganze Menſchheit verbreitet ſind, zu denen ſich auch
Glaube und Hoffnung faſt allenthalben geſellet hat.
Wenn man die Wirkungen hievon ſich etwas anſchauli-
cher vorſtellet, und dann mit der Geſchichte vergleichet:
ſo wird man ſich geneigt fuͤhlen, andern mehr Gleichheit
mit uns einzuraͤumen, als die Einbildung beym erſten
Blick fuͤr moͤglich haͤlt; ſo wichtig, alles unſers Be-
muͤhens und Anſtrengens wuͤrdig und wuͤnſchenswerth
auch dasjenige immer bleibet, was ein Volk vor dem
andern und mehr noch Einzelne vor andern einzelnen
voraus haben. Jſt es nicht moͤglich, Voͤlker aus ver-
ſchiedenen Welttheilen, Geſittete und Wilde, genau ge-
nug zu vergleichen, und ſich hiervon zu uͤberzeugen: ſo ſehe
man nur auf die Verſchiedenheit, die man in der Naͤhe
um ſich hat. Man wird dieſelbigen Reſultate finden,
wenn man ohne Vorurtheil beobachtet. Jch breche von
dieſer Materie hier ab, und ſchließe mit zwo Anmer-
kungen, die ſich von ſelbſt darbieten, wenn man noch-
mals auf den Menſchen in ſeinem Beſtreben nach Gluͤck-
ſeligkeit und Vollkommenheit und auf die Wirkung deſ-
ſelben einen Blick wirft.
11.
Man leget den Menſchen einen Naturtrieb zur
Gluͤckſeligkeit, zu ſeiner Erhaltung, Vervoll-
F f f 3komm-
[822]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
kommnung und Ausdehnung bey, ob man gleich bey
allen ohne Ausnahme ſieht, daß die Natur, indem ſie
dieſem Triebe nachgehet, eingeſchraͤnkt, heruntergeſetzt
und ihrer angenehmen Gefuͤhle beraubet wird, und end-
lich, wenn von den Menſchen die Rede iſt, untergehet.
Jene Ausdruͤcke laſſen ſich wohl erklaͤren. Allein es ſcheint
doch, als wenn man nicht allemal genug auf den ei-
gentlichen urſpruͤnglichen Sinn derſelben zuruͤckſehe, und
durch das Figuͤrliche in ihnen verleitet werde Neben-
ideen hinzuzulegen, wozu man wenigſtens alsdenn kei-
nen Grund findet, wenn man dieſe Saͤtze als unmittel-
bare Grundſaͤtze der Erfahrung annimmt. Ein anders
iſt es, wenn die erwaͤhnten Triebe nur allein der unkoͤr-
perlichen Seele zukommen ſollen und als ſolche angege-
ben werden, auf welche die Aufloͤſung der Seelenkraͤfte
im Syſtem als auf ein letztes Princip hinfuͤhret.
Der Naturtrieb des Menſchen geht urſpruͤnglich auf
Aeußerungen hinaus, die man nicht viel naͤher charak-
teriſiren kann, als daß es menſchliche, der innern Be-
ſchaffenheit der Natur und ihren Kraͤften angemeſſene,
Thaͤtigkeiten ſind. Faſt jede beſtimmtere Erklaͤrung
giebt ſie nur von einer Seite an. *) Der Menſch aͤuſ-
ſert keine Beſtrebungen eines Vogels zum Fliegen, noch
eines Fiſches zum Schwimmen, ſondern Beſtrebungen
der Organiſation gemaͤß zu wirken, zu fuͤhlen, ſich et-
was vorzuſtellen, zu denken und ſich ſonſten zu veraͤn-
dern. Die Richtungen aber, welche dieſe Naturkraͤfte
nehmen und behalten, die Objekte, auf welche ſie ſich
lenken, oder wovon ſie ſich entfernen, werden durch Em-
pfindniſſe beſtimmet, durch Schmerz und Vergnuͤgen.
Sie neigen ſich, oder werden gezogen, zu dem hin, was
angenehme Gefuͤhle giebt. Aus dieſen Gefuͤhlen ent-
ſpringen die Vorſtellungen, wodurch wir die Gegenſtaͤn-
de, die uns angenehm ſind, kennen lernen; und durch
die
[823]und Entwickelung des Menſchen.
die Verbindung dieſer Jdeen wird aus dem bloßen Jn-
ſtinkt zur Thaͤtigkeit eine Neigung und Begierde zu
den Objekten. Die von den Jdeen auf die Objekte ge-
leiteten Triebe ſind Neigungen. Es entſtehen allgemeine
Neigungen, die Neigung zum Vergnuͤgen uͤberhaupt,
die Neigung zu dem, was uns erhaͤlt, was uns ſtaͤrket
und vollkommener macht. Die letztern erfodern eine
Verknuͤpfung von Jdeen. Was ſolche Wirkungen auf
uns hat, iſt angenehm fuͤr ſich oder in ſeinen Folgen.
Dieß macht es zum Objekt unſers von Jdeen geleiteten
Triebes. Dennoch iſt Neigung und Trieb unterſchie-
den, und oft leitet die Jdee zu einem Gegenſtande hin,
wovon das ungeleitete, bloß durch dunkle Gefuͤhle be-
ſtimmte, Beſtreben ſich abwendet.
Dieß Geſetz, welches die Richtung des Natur-
triebes beſtimmt, berechtiget uns ihn einen Trieb zur
Gluͤckſeligkeit zu nennen. Aber wenn durch dieſe Be-
nennung eine noch naͤhere Beziehung der Objekte auf
die Natur des Menſchen, als daß ſie angenehme Ge-
fuͤhle in ihr verurſachen, ausgedruckt werden ſoll, ſo iſt
es leicht mehr hineinzulegen, als nach der Erfahrung
geſchehen kann. Macht das, worauf der Trieb geht,
weil es angenehm iſt, wirklich gluͤcklich? Das doch
nicht. Der Tod iſt oft in den Toͤpfen, aus denen wir
begierig eſſen. Erweitert es auch nur unmittelbar in ſei-
nen Folgen den Umfang unſerer angenehmen Gefuͤhle?
Auch dieß oft nicht. Wir wollen zuweilen aller klaren
Gefuͤhle uns entledigen, wenn wir muͤde ſind; und auch
dieſer Erfolg iſt angenehm. Wir verlangen ihn, ob wir
gleich vorher wiſſen, daß wir im Schlafe nichts empfin-
den, und aller ſinnlichen Exgoͤtzungen beraubet ſeyn wer-
den. Wir lieben den Schlaf, und ſuchen ihn aus einem
Naturtriebe. Angenehm iſt freylich die Veraͤnderung,
die wir zu bewirken uns beſtreben, in jedem Fall. Aber
ſie iſt es zuweilen nur dermalen, nur von Einer Seite,
F f f 4nur
[824]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nur bey einer ſolchen beſtimmten Verfaſſung unſerer
Kraft. So weit, kann man ſagen, ſey ſie auch der Na-
tur angemeſſen. Aber nicht weiter. Nicht ſo, als
wenn ſie es zu ihrer Erhaltung, zur Fortſetzung ihrer
Wirkſamkeit, zu ihrem wahren dauernden Wohl ſey,
oder ein wahres Mittel, die Summe ihrer angeneh-
men Empfindungen im Ganzen ſo groß zu machen, als
dieſe ſeyn kann. Oft iſt es ſo, und wenn der Menſch
durch Ueberlegung ſeinen Naturtrieb regieret und ſtim-
met, wird die Uebereinſtimmung des gegenwaͤrtigen
Gefuͤhls mit dem, was wirklich nutzet, groͤßer, und
ſein Trieb mehr ein Trieb zu ſeiner Gluͤckſeligkeit. Al-
lein der blinde Naturtrieb geht in uns fuͤr ſich nicht ſo
richtig und ſo ſicher, als der Jnſtinkt im Thiere, der
doch in ſeinem natuͤrlichen Gang ebenfalls auf Schmer-
zen und Tod hinfuͤhret, wie bey dem Menſchen.
Dennoch iſt darum der Ausdruck, der Natur-
trieb gehe auf Gluͤckſeligkeit, das iſt, dahin, ſich
immer die moͤglich angenehmſten Empfindungen zu ver-
ſchaffen, nicht unrichtig. Die Feder beſitzet ein Be-
ſtreben ſich auszudehnen, obgleich dieß Beſtreben deſto
mehr geſchwaͤchet wird, je weiter die Feder ſich aus-
dehnet, und endlich ganz aufhoͤret. Das Gewicht hat
einen Hang zu fallen, und behaͤlt ihn, auch wenn es
den Boden erreichet und ſtille liegt, auch wenn es zu-
ruͤckſpringet und in die Hoͤhe ſteiget.
Weiter geht aber das Figuͤrliche im Ausdruck, wenn
einige den Naturtrieb als einen Trieb zur Ausdeh-
nung und Vervollkommnung ſich vorgeſtellet, und
ihn ſo genennet haben. Soll jeder Trieb, als Trieb zu
einer Thaͤtigkeit, zu einer Kraftaͤußerung, ein Ent-
wickelungstrieb heißen: ſo muͤßten alle wirkſamen Kraͤfte
mit dieſem Namen beleget werden; der Trieb ſich zu-
ſammenzuziehen in einer geſpannten Darmſaite, eben ſo
wohl als der Ausdehnungstrieb in der Feder, die mit
Gewalt
[825]und Entwickelung des Menſchen.
Gewalt zuſammengedruckt wird. Soll aber etwas cha-
rakteriſtiſches des menſchlichen Naturtriebes angegeben
werden, und zwar ſo ferne ſolcher ein Trieb des menſch-
lichen Seelenweſens iſt; — denn wenn von dem Trie-
be des unkoͤrperlichen Beſtandtheils die Rede iſt, ſo ge-
hoͤret viel Raiſonnement dazu, daruͤber zu urtheilen,
wenn man nicht eine Hypotheſe annehmen will: was
iſt denn dieſer Naturtrieb bey dem herannahenden Alter
und in der Ermuͤdung? Der Menſch ſucht das, was
ihn erhaͤlt und was ihn entwickelt, darum weil es ihm
angenehm iſt; aber dann nicht mehr, wenn es aufhoͤret
dieß zu ſeyn. Kann ein Weſen, das nicht zur Ewigkeit
beſtimmt iſt, das ſich entwickeln, wachſen, ſtille ſtehen,
dann wieder abnehmen und untergehen ſoll, kann dieß
ſeiner Naturanlage gemaͤß ſo eingerichtet ſeyn, daß es
unaufhoͤrlich fortfahre ſich zu entwickeln, auszudehnen
und groͤßer zu machen? Nur im Anfang iſt der Trieb
der Pflanzen ein ſich entwickelnder Trieb. Er aͤndert
ſeine Richtung und wird ein Trieb ſich einzuwickeln.
Des Menſchen Trieb leidet eine aͤhnliche Veraͤnderung.
Wollte man auch hier den Ausdruck aus einem aͤhnli-
chen Grunde rechtfertigen, wie den vorhergehenden: ſo
muͤßte man ſagen koͤnnen, es ſey der Naturtrieb doch
immer ein ſich entwickelnder Trieb, nur daß er ſich,
wie die Elaſticitaͤt der Feder, im Entwickeln verzehre,
auch oft auf aͤußere Dinge anſtoße, die durch ihre ſtaͤr-
kere Ruͤckwirkung ihn einſchraͤnken. Aber dieß hieße ſo
viel, als die ſcheinbare Veraͤnderung des Triebes, der
aus einem Entwickelungstrieb in einen Trieb ſich einzu-
ziehen uͤbergeht, als eine Veraͤnderung in der Richtung
deſſelben anſehen, die bloß von aͤußern Urſachen und de-
ren Einfluß abhaͤngt, ohne den Trieb ſelbſt zu aͤndern.
Der Trieb der Feder bleibt immer ein Ausdehnungs-
trieb, auch wenn ſie von einem Gewicht enger zuſam-
mengedruckt wird. Jſt das genug? iſt es ein Erfah-
F f f 5rungs-
[826]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
rungsſatz, daß es ſich ſo verhalte? Jſt nicht vielmehr
die Sehnſucht zur Ruhe in dem Ermuͤdeten, und der
Hang im zunehmenden Alter den Wirkungskreis zu
verengern, die Empfindungen zu mindern, der Ge-
ſchaͤffte ſich zu entſchlagen, ein poſitiver Hang ſich in ei-
nen Zuſtand minderer Thaͤtigkeit zu ſetzen? Dieſelbige
Feder, die ſich auszudehnen beſtrebet, wenn ſie zuſam-
mengedruckt iſt, aͤußert auch ein Beſtreben ſich zuſam-
menzuziehen, wenn ſie naͤmlich vorher voͤllig entſpan-
net iſt, und dann wie eine Klavierſaite uͤber dieſe Gren-
ze noch weiter herausgezogen wird. Es iſt dieſelbige Ela-
ſticitaͤt in ihr der Grund von beiden Beſtrebungen; aber
ohne die Sache einſeitig anzuſehen, kann die letzter-
waͤhnte Aeußerung der Elaſticitaͤt, das Beſtreben ſich
zuſammenzuziehen kein Ausdehnungstrieb genennet wer-
den; oder — denn was kommt es auf den Namen an?
nicht in demſelbigen Sinn, mit Ruͤckſicht auf dieſelbige
Art hervorzugehen, und nicht mit mehrerm Grunde,
als er auch ein Zuſammenziehungstrieb heißen kann.
Noch weniger, meine ich, gehe dieß bey dem menſchli-
chen Naturtriebe an. Es iſt derſelbige, der ſich anfangs
als Entwickelungstrieb, dann auf die entgegengeſetzte
Weiſe offenbaret. Er hat daſſelbige Princip in der Na-
tur zum Grunde, und es moͤgen auch beide Aeußerun-
gen auf einen gemeinſchaftlichen generiſchen Begriff ge-
bracht werden koͤnnen. Aber der Begriff von Entwi-
ckelung wird alsdenn zu beſtimmt und zu einſeitig ſeyn.
12.
So gewiß es iſt, daß Kraͤfte und Vermoͤgen nur
in ihren Wirkungen empfunden werden, ſo gewiß iſt es
doch auch, daß ſie als in uns vorhanden, auch wenn
man ſie nicht in der Maße anwendet, wie es ſeyn muß,
wenn wir ſagen, daß ſie thaͤtig ſind und wirken, gefuͤh-
let
[827]und Entwickelung des Menſchen.
let, und ihr Beſitz, ohne Ruͤckſicht auf den Nutzen,
den ſie durch ihren Gebrauch gewaͤhren, angenehm ge-
fuͤhlet werde. Dieß geſchieht, ſo bald nur Vorſtel-
lungen von ihnen und von ihrem Werth erlanget ſind.
Jnſofern iſt die Tugend, die groͤßte und edelſte aller
Seelenvermoͤgen, fuͤr ſich ſelbſt ein Gut, das blos durch
ſeinen Beſitz gluͤcklich macht, den man fuͤhlet und deſſen
man ſich bewußt iſt. Und eben daſſelbige laͤßt ſich in
ſeiner Maße von jeder Kunſt und Geſchicklichkeit ſagen,
ſogar von koͤrperlichen Eigenſchaften, wie von Schoͤn-
heit, Geſundheit und Staͤrke. So weit Eitelkeit,
Stolz und Selbſtzufriedenheit reichet, das iſt, durch die
ganze Menſchheit, zeiget ſichs, welch ſuͤßes, Geiſt und
Muth erhebendes, Gefuͤhl in dem Bewußtſeyn liege, daß
man dieſe oder jene ſcheinbare oder wahre Vollkom-
menheit beſitze, wenn ſolche gleich nichts mehr iſt, als
eine Macht, die man nicht gebrauchet, ſondern nur ge-
brauchen kann.
Es darf nicht gelaͤugnet werden, was Helvetius und
andere zu beweiſen geſucht, daß der erſte Grund von die-
ſem angenehmen Gefuͤhl aus dem Beſitz eines Vermoͤ-
gens in der Ruͤckſicht auf die Vortheile liege, die mit
dem Gebrauch der Vermoͤgen verbunden ſind. Die
Vorſtellung von dem Nutzen iſt mit dem Gefuͤhl des
Vermoͤgens ſelbſt vereiniget. Aber dennoch macht jene
dieß letztere nicht ganz aus. Die Jdeenaſſociation macht
uns nur auf das Gefuͤhl der Kraͤfte aufmerkſam. So
bald wir aber mit dieſem Gefuͤhl ſelbſt bekannter ſind,
und ſolches etwas mehr verſtaͤrket und verfeinert haben,
gewaͤhret es unmittelbar freudige Empfindungen, die
das Herz erwaͤrmen, oft es entzuͤnden und zuweilen ver-
brennen. Gemeiniglich nimmt der Menſch in Hinſicht
ſeiner Vollkommenheiten die Denkungsart des Geizigen
an,
[828]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
an, der im Anfang das Geld ſuchet, um es zu gebrau-
chen, nachher aber um es zu beſitzen. Sie iſt un-
gemein natuͤrlich *). Der Geiz iſt etwas unvernuͤnfti-
ges, nur wegen des Objekts, worauf die Neigung faͤllt,
und wegen des Uebermaßes; nicht deswegen, weil es
unnatuͤrlich oder thoͤricht uͤberhaupt iſt, das Vergnuͤgen
in den Urſachen und Mitteln zu finden, was man an-
fangs nur in ihren letzten Wirkungen ſuchte.
Die Vorſtellung von einem Vermoͤgen, deſſen
wir uns als des unſrigen bewußt ſind, enthaͤlt einen
Auszug von allen den angenehmen Gefuͤhlen, die den
Gebrauch deſſelben begleiten, und die wir entweder ſelbſt
wirklich gehabt haben, oder uns durch eine Zuſammen-
ſetzung aus Gefuͤhlen erdichten. Eine ſolche Vorſtellung
iſt ſehr vielbefaſſend und maͤchtig, obgleich dunkel und
unentwickelt. Fuͤhlen wir den Beſitz eines Vermoͤgens
in uns, ſo iſt mit der Vorſtellung davon auch ein An-
fang von Thaͤtigkeit verbunden, und zwar einer ſol-
chen, die wir fuͤr die Wirkung und fuͤr das Merkmal
der vorhandenen Kraft erkennen. Und dieſen Anfang
fuͤhlen wir. Aus dieſem Gefuͤhl unſrer gegenwaͤrtigen
Beſchaffenheit, vermiſcht mit der Vorſtellung von dem
Vermoͤgen, entſpringet die angenehme Empfindung, die
in dem Bewußtſeyn, als einem gegenwaͤrtigen klaren
Gefuͤhl der Vollkommenheit, liegt. Dieſe Empfindung
fehlet, wenn wir uns nur eine fremde Vollkommenheit
vorſtellen, naͤmlich als eine ſolche, welche uns mangelt.
Sonſten iſt jedwede Vorſtellung von einer Vollkommen-
heit fuͤr ſich mit einem Vergnuͤgen verbunden, und dieß
iſt deſto lebhafter, je anſchaulicher die Vorſtellung iſt.
Denn
[829]und Entwickelung des Menſchen.
Denn eine ſolche Vorſtellung enthaͤlt angenehme wieder-
erweckte Empfindungen. Allein dagegen iſt ſie auch theils
fuͤr ſich allein, als Vorſtellung, ein nur mattes Bild, in
Vergleichung mit der wirklich gefuͤhlten Thaͤtigkeit; theils
wird das aus ihr entſtehende angenehme Empfindniß
durch entgegengeſetzte unterdruͤcket. Laß ſie eine Vor-
ſtellung von einer Thaͤtigkeit zum Objekt haben, und
alſo eine Nachbildung von Thaͤtigkeit oder einen Anſatz
dazu enthalten: ſo iſt ſelbſt dieſer Anſatz ſo ſchwach in
Vergleichung mit dem ſtaͤrkern, den man fuͤhlet, wenn
man in ſich ſelbſt die Thaͤtigkeit erneuert, wie es eine
ſchwache Einbildung in Vergleichung mit ihrer Empfin-
dung iſt. Wenn die vorgeſtellte Kraft oder Thaͤtigkeit
uns nicht zukommt, ſo offenbaret ſich dieß ſogleich, in-
dem wir nur den Verſuch machen, die Vorſtellung zur
Empfindung zu erheben. Wir fuͤhlen Widerſtand, und
Unvermoͤgen; und dieß Gefuͤhl des Mangels muß noth-
wendig alsdenn ſtaͤrker ſeyn, als das angenehme Em-
pfindniß aus der Vorſtellung fuͤr ſich iſt. Eben ſo ver-
haͤlt es ſich bey allen unſern Vorſtellungen von Guͤtern
und Vorzuͤgen, die wir uns als fremde, andern, nicht
uns ſelbſt, zukommende gedenken.
Wir ſehen hieraus zugleich, wie es zugehe, daß uns
die Vergnuͤgungen aus dem Beſitz der Kraͤfte und
Vermoͤgen viel wichtiger ſind, als die einzelnen Ver-
gnuͤgen, die uns ihre Anwendung in beſondern Faͤllen
gewaͤhren kann. Jene entſpringen aus dem Gefuͤhl
eines Ganzen; die letztern aus den Gefuͤhlen von einzel-
nen Theilen, die aber alsdenn freilich mehr entwickelt und
voller ſind, als dorten in dem Ganzen, und daher auch
zuweilen eben ſo ſtark den Sinn beſchaͤftigen, als zur
andern Zeit die ganze Vorſtellung von dem Vermoͤgen
es thut. Dem Durſtigen kann ein einziger Trunk
Waſſers,
[830]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Waſſers, der ihn labet, derzeit wichtiger ſeyn, als der
Beſitz einer Quelle. Aber im Durchſchnitt die Sache
genommen, koͤnnen wir den einzelnen Genuß eines Ver-
moͤgens nicht hoͤher ſchaͤtzen, als den Trunk, den wir
genießen; dagegen das Vermoͤgen ſelbſt fuͤr uns den
Werth einer ganzen Quelle hat, aus der man immer
ſchoͤpfen kann. Man muß außerordentlich durſtig ſeyn,
um dieſe fuͤr jenen hinzugeben. Das Gefuͤhl aus dem
Beſitz iſt ein anhaltendes Gefuͤhl einer innern vielſeitigen
Wirkſamkeit, wenn die letztere gleich nicht deutlich wahr-
genommen wird. Das Gefuͤhl aus der einzelnen An-
wendung iſt ein Gefuͤhl aus einer zwar ſtaͤrkern aber
einſeitigen Kraftaͤußerung. Jenes tragen wir allent-
halben mit uns herum, und wiſſen es, daß es nicht ſo
von Zufaͤllen abhaͤngt, wie das letztere. Es hat ſich
tief in uns feſtgeſetzet, und iſt zum Mittelpunkt von
unzaͤhlig vielen Jdeenreihen geworden, die bey jeder
Gelegenheit darauf zuruͤckfuͤhren und es erneuern.
Dieſe Empfindung ſeines eigenen Werths
iſt bey dem Menſchen eine Folge ſeines ſeinern Selbſtge-
fuͤhls, ſeiner Thaͤtigkeit und ſeines Bewußtſeyns. Man
kann ein Analogon davon einigen Thieren zuſchreiben,
die ein gewiſſes Zutrauen auf ſich und ihre Kraͤfte,
Muth, Stolz und Eitelkeit auf eine aͤhnliche Art durch
Geberden anzeigen, als der Menſch. Aber dazu iſt ihr
Gefuͤhl zu koͤrperlich, zu grob und zu ſehr nur bloß Ge-
fuͤhl der einzelnen Wirkungen ihrer Kraͤfte, als daß es,
wie bey dem Menſchen, abgeſondert und in ein allge-
meines Bild von dem Beſitz eines Vermoͤgens vereini-
get werden koͤnnte. Daher iſt es auch nicht moͤglich,
daß es bey dem Thier zu einem eigentlichen vorgeſtell-
ten Zweck werde, ſich Vermoͤgen zu erwerben. Jn
dem Menſchen wird es dazu leicht und natuͤrlich. Wir
koͤn-
[831]und Entwickelung des Menſchen.
koͤnnen dieß Gefuͤhl von dem Beſitz der Vollkommen-
heit nicht entbehren, oder es fehlt uns die Zufriedenheit
mit uns ſelbſt. Es entſteht ein Gefuͤhl des Leeren und
des Mangels, das uns faſt zwinget, da wo es an wah-
ren Empfindungen fehlet, den Raum des Herzens mit
Einbildungen auszufuͤllen.
— — Opinion — —Each want of happineß by Hope ſupply’d,And each vacuity of ſenſe by Pride.
Pope.
Dennoch darf man ſich nicht wundern, wenn man
ſieht, daß die Vorſtellung von dem Werth auch wahrer
gefuͤhlter Vollkommenheit nicht bey allen Menſchen
denſelbigen Grad der Staͤrke erlanget. Es ſind unend-
lich viele Veranlaſſungen, die den Trieb der Natur mehr
auf die einzelnen Empfindungen hinziehen, und es ver-
hindern, daß die Vorſtellung von einer Seelenkraft und
von dem Werthe derſelben lebhaft werde und ſich feſt-
ſetze. Was bekuͤmmert ſich der weiche Wolluͤſtling um
innere Geiſtesſtaͤrke, da er nur Freuden kennet, die von
aͤußern Eindruͤcken kommen, und von der innern Quelle
hoͤherer Guͤter weniger gefuͤhlet hat? Hat aber das
Gefuͤhl an innerer Vollkommenheit ſich einmal feſtge-
ſetzet: ſo laͤßt es ſich bis dahin erhoͤhen, daß die Be-
gierde nach derſelben auch nicht einmal von dem Gedan-
ken, wir werden vielleicht nie einen erheblichen Gebrauch
von ihr machen, voͤllig vernichtet wird. Etwas muß
ſie freilich dadurch geſchwaͤchet werden. So viel muß
man zugeben, wenn man jemanden voͤllig uͤberzeugte,
dieſe oder jene Geſchicklichkeit ſey ihm auf die Zukunft
ganz unnuͤtz, und wenn man ihm dieſen Gedanken oͤf-
ters
[832]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ters wiederholet: ſo muͤſſe ſich endlich auch das vorige
Gefuͤhl ihres Werths verlieren, wofern es nicht von Zeit
zu Zeit durch andere Urſachen erneuert wird. Dieſen
Erfolg wird man dennoch ſehr ſelten antreffen, wie man
bey den Alten ſieht, die nach Ruhm und Gelde geizen,
und oft genug von ihrer Vernunft erinnert ſind, daß ſie
keinen Gebrauch davon machen koͤnnen. Die Tugend
iſt ihr eigener Lohn, weil ſie unaufhoͤrlich im Jnnern
genutzet werden kann. Aber ob ſie nach den ſtoiſchen
Grundſaͤtzen ihr genugſamer Lohn ſey, ob ſie es bey allen
Menſchen ſeyn koͤnne, iſt eine andere Frage? Sollte
man wohl in allen Jndividuen ein ſolches Verhaͤltniß
der leidenden und thaͤtigen Vermoͤgen, der niedern und
der hoͤhern Kraͤfte, annehmen duͤrfen, als dazu erfodert
wird, wenn das innere Gefuͤhl aus der Staͤrke und
Richtigkeit der Neigungen und aus der Selbſtmacht der
Seele uͤber ſich, ſtaͤrkere und lebhaftere Vergnuͤgungen
gewaͤhren ſoll, als die leidentlichen Eindruͤcke auf die
Sinne, und als die Bilder der Einbildungskraft aus
aͤußern Empfindungen? Die ſtoiſche Moral war auch
von dieſer Seite nur eine Moral fuͤr ſehr wenige. Bey
den meiſten Menſchen iſt es durchaus noͤthig, daß eine
Erwartung kuͤnftiger ſinnlicher Freuden, als das Ge-
folge der Tugend, hinzukomme, wenn die letztere ihre
Achtung behalten ſoll. Wo bliebe dieſe letztere, wenn
die Tugend nicht die Verheißungen der Zukunft bey ſich
fuͤhrte? Aber der Mann von edler und ſtarker Geiſtes-
thaͤtigkeit vertauſchet demnach ſeine Tugend, Recht-
ſchaffenheit und Weisheit mit keinem Paradies. Und
dieß darf keine Wirkung von uͤberſpannten Begriffen
ſeyn. Er kann nach der ruhigſten Abwaͤgung ſeiner
Gefuͤhle ſo urtheilen. Jſt er voͤllig uͤberzeugt, ſie ſey
nach dem Tode unnuͤtz, ſo koͤnnte es vielleicht vernuͤnf-
tig ſeyn, um der Verlaͤngerung des Lebens willen, von
ihr
[833]und Entwickelung des Menſchen.
ihr in einem oder dem andern Fall abzuweichen, das iſt,
ſie ſo einmal aufzuopfern, daß er ſie nur in dieſem Au-
genblick verloͤre, in dem folgenden aber ſie wieder an-
naͤhme, wenn dieß moͤglich waͤre. Aber ſie ganz auf be-
ſtaͤndig mit allen ihren Folgen aufzugeben: was
wuͤrde ihm dieſen Verluſt auch in dem laͤngſten Leben
erſetzen koͤnnen? Geſetzt indeſſen, es ſey nach kalter
Ueberlegung ſein Vortheil, ſie ganz fahren zu laſſen,
wenn er uͤberzeuget iſt, daß ſie ihm zu nichts mehr nuͤtz-
lich werde, wenn er ſie nicht fahren laſſen wolle: ſo
laſſe man ihn dagegen nur hieruͤber bloß zweifelhaft ſeyn,
nicht gewiß es wiſſen, daß er ſie in Zukunft genießen
werde! kann ihm denn wohl die kaͤlteſte Vernunft ra-
then, ſie fuͤr irgend ein Gut der Erde hinzugeben?
Wohin zielt dieſe Einrichtung unſerer Natur?
Der Trieb geht dem Vergnuͤgen nach, und wird auf
dieſem Wege zur Entwickelung und Erhoͤhung der Kraͤf-
te geleitet. Der Menſch gewinnt die letztere lieb, an-
fangs ihrer angenehmen Folgen wegen in den aͤußern
Gefuͤhlen, nachher ihrer ſelbſt wegen, und macht ſich ei-
ne Abſicht aus ſeiner Vervollkommnung, als aus einer
Aufſammlung von Schaͤtzen fuͤr die Zukunft. Die Be-
gierde dieſe Schaͤtze zu beſitzen wird Leidenſchaft, und
bleibet es, wenn gleich die Ausſicht auf die Zukunft ſich
verdunkeit. Dieſe Richtung in unſern Trieben iſt ohne
Zweifel durch Erziehung und Unterricht befoͤrdert. Aber
auch ſelbſt in der Anlage der Natur findet ſich eine Be-
ziehung der Vermoͤgen, die ſie einer ſolchen Lenkung
nicht nur empfaͤnglich macht, ſondern von ſelbſt dahin
treibt. Erfolget dieſelbe, ſo iſt dieß blos eine Entwi-
ckelung der natuͤrlichen Einrichtung. Denn ſo viel iſt
doch bey den Menſchen allgemein, und auch da, wo der
Unterricht am wenigſten bedeutet. Jeder ſucht ſich das
IITheil. G g gLeben
[834]XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ⁊c.
Leben angenehm zu machen, und verſchaft ſich dazu Ver-
moͤgen und Kraͤfte, wovon ein großer Theil zwar nicht
ganz ungenuͤtzet bleibet, aber doch, wenn ihr Gebrauch
ſich mit dem Leben endiget, bey weitem ſo nicht genutzet
wird, als er genutzet werden kann. Viele bleiben Mit-
tel ohne Zweck. Mich deucht, es ſey auffallend, daß
es auch hier in unſerer Natur Kraͤfte und Beſtrebungen
gebe, die nach Punkten hingehen, welche jenſeits des
Grabes liegen.
Ende.
Druck-[[835]]
Appendix A Druckfehler und Verbeſſerungen zum
erſten Theil.
- Vorrede S. XXXIII. Zeile 18. ſtatt Steife ließ Streifen
- S. 10. Z. 24. ſtatt Gewicht l. Geſicht
- S. 13. Z. 34. ſtatt Bezeichungen l. Beziehungen
- S. 35. Z. 28. ſtatt eben l. nicht eben
- S. 62. Z. 7. ſtatt nicht ſo l. ſo
- S. 112. Z. 21. ſtatt iſt, l. iſt, erklaͤret werde
- S. 116. Z. 8. ſtatt Gewalt l. Geſtalt
- S. 134. Z. 10. ſtatt eine als die l. eine oder die
- S. 140. Z. 2. ſtatt und l. haben, die
- S. 155. Z. 29. ſtatt aus Einer l. in Einer
- S. 170. Z. 22. ſtatt mit einander l. mit andern
- S. 176. Z. 7. ſtatt Gehoͤre l. Gehirn
- S. 185. Z. 28. ſtatt Gemuthlich l. Gemuͤthlich
- S. 194. Z. 23. ſtatt aber iſt l. aber das letztere
iſt - S. 237. Z. 26. ſtatt auf ſich l. aus ſich
- S. 272. Z. 10. 11. ſtatt dem man noch die l. den
man noch der - S. 303. Z. 23. ſtatt ſubjektiviſchen l. ſubjektivi-
ſches - S. 303. Z. 25. ſtatt Denkung l. Denkkraft
- S. 309. Z. 14. ſtatt darſtellet l. darſtellen
- S. 309. Z. 15. ſtatt iſt l. ſind
- S. 362. Z. 4. ſtatt mehrere beſondere l. mehrern
beſondern - S. 366. Z. 3. ſtatt Form l. Formen
- S. 370. Z. 32. ſtatt erfolgen l. erfolget
- S. 379. Z. 14. ſtatt ohne l. als
- S. 382. Z. 2 von unten, ſtatt haben l. hat
- S. 387. Z. 28. ſtatt auch l. ſich auch
- S. 396. Z. 2. ſtatt irgendwie l. irgendwenn
- S. 450. Z. 21. ſtatt Bewendung l. Anwendung
- S. 460. Z. 24. ſtatt Beziehung l. Bezeichnung
S. 471.
[[836]]
- S. 471. Z. 25. ſtatt Befoderniſſe l. Erfoderniſſe
- S. 472. Z. 1. ſtatt denkende l. deckende
- S. 499. Z. 18. ſtatt jenes l. jene
- S. 526. Z. 4. ſtatt beachten l. trachten
- S. 543. Z. 18. ſtatt Figur l. Fiber
- S. 555. Z. 32. ſtatt eine l. keine
- S. 591. Z. 30. ſtatt ſo muß l. muß
- S. 612. Z. 21. ſtatt Gegenſtaͤnden l. Gegen-
ſtaͤnde - S. 634. Z. 12. ſtatt etwas iſt l. etwas ſtark iſt
- S. 656. letzte Zeile, ſtatt koͤnne l. kann
- S. 661. Z. 2. ſtatt appoſita l. oppoſita
- S. 694. Z. 14. ſtatt ſie den l. in den
- S. 701. Z. 1. ſtatt lebendige l. lebhafte
- S. 718. Z. 29. ſtatt hindenken l. hinlenken
- S. 721. Z. 22. ſtatt und die l. die
- S. 728. Z. 25. ſtatt vereinigen l. zerſtreuen
- S. 734. Z. 28. ſtatt bey der l. leyder
- S. 754. Z. 6. ſtatt jede durch ihre l. jedes durch
ſeine - S. 754. Z. 9. ſtatt in der l. in denen
- S. 763. Z. 16. ſtatt ſchon l. ſchoͤn
- S. 767. Z. 22. ſtatt eher l. ihn eher
- S. 767. Z. 34. ſtatt und l. aus
- S. 769. Z. 16. ſtatt Sinnorgans l. Stimmor-
gans - S. 783. Z. 6. ſtatt Urfaͤhigkeit l. Unfaͤhigkeit
[][][][]
Fuͤnfter Verſuch VII.
Schrift des ehemaligen daͤniſchen Profeſſors Schnee-
dorf: Babuc, oder: die Welt, wie ſie iſt. Eine
Art von Nachahmung von dem Voltairiſchen Zadic.
1761. ins Deutſche uͤberſetzt.
keit der Seele gefuͤhrten Beweiſe hat Hr. Hennings
in ſeiner Geſchichte der Seele beurtheilet. Dieß iſt
mit vielem metaphyſiſchen Scharfſinne geſchehen;
aber doch ließen ſich manche Einwuͤrfe gegen dieſe
oder jene Beweiſe aus den Beweiſen ſelbſt heben.
Was das eigne Raiſonnement des Hrn. Hennings
aus der Willkuͤr betrifft, ſo iſt es wohl außer Zwei-
fel, daß in dieſem Vermoͤgen der Seele ſowohl, als in den
uͤbri-
durchſcheinen werde. Aber um dieß deutlich zu ſehen,
wuͤrde wol ein mehr entwickelter Begriff von der Spon-
taneitaͤt erfodert werden, als Herr Hennings vorausſe-
tzet, der auf den Jndeterminiſmus bauet. Und dann,
deucht mich, ſey dieſer Beweisgrund es am wenigſten,
der uns den kuͤrzeſten Weg fuͤhre. Evidenz iſt zum
mindeſten der Vorzug der Henningſchen Demonſtration
nicht, die mehr als ein Glied hat, bey dem ich die Ver-
bindung nicht begreife; ob es an mir liege, oder an der
Sache, mag hier, da ich nicht kritiſiren will, dahin
geſtellet bleiben.
mit gefaͤhrlichen Blattern befallen, in welcher Krank-
heit ſein Vater das Leben verloren hatte. Der Prinz
uͤberſtand ſie, und man ſchrieb dieß beſonders ſeiner
Standhaftigkeit und Geiſtesſtaͤrke zu, wodurch er die
Verirrung des Verſtandes abhielt, die in dieſer, wie
vielleicht in allen andern Krankheiten, ſehr viel ſchlim-
me Folgen hat. (Toze Geſchichte der vereinigten
Niederlande; 10. B. S. 891.) An ſich iſt die Sache
nicht unmoͤglich; und da derſelbige Prinz bey andern
Gelegenheiten eine ſo große Selbſtmacht uͤber ſich bewie-
ſen hat, ſo iſt es wahrſcheinlich, daß dieß Lob der Ge-
ſchichte keine Schmeicheley ſey. Ueberhaupt hat das
Haus Oranien eine ganze Reihe von Fuͤrſten hervorge-
bracht, die ſich als Menſchen durch eine bewunderns-
wuͤrdige Seelengroͤße auszeichneten.
Pflanzen ſich zu begatten, in der Hiſt. et Comment.
Acad. Theodoro-Palatinae Vol. III. S. 116. Jnglei-
chen die Rede des Grafen Joh. Baptiſt von Corolo,
uͤber die Reizbarkeit einiger Blumen, uͤberſetzt in dem
Naturforſcher, 6. Stuͤck S. 216. ff.
fectibilité de l’homme par les agens phyſiques \&
par Mr. Verdier. Paris 1772 - 1775. Ob nach den
ſechs Sammlungen, die ich geleſen, noch mehrere her-
ausgekommen ſind, iſt mir nicht bekannt.
ſetzung.
12. 15.
des Hrn. Etatsr. Muͤllers uͤber die Entſtehungsart der
Jnfuſionsthierchen, in der Vorrede zu der Hiſtoria ver-
mium p. 1. ſich dieſer naͤhere oder nicht, will ich hier
nicht unterſuchen. Es iſt meine Meinung nicht, ein
kritiſches Verzeichniß der verſchiedenen Hypotheſen uͤber
die Zeugung zu liefern, ſondern die Reihe der allgemei-
nen Vernunftbegriffe vorzulegen, wornach dieſe Mei-
nungen uͤberſehen, verglichen, und wenn man die Fak-
ta aus der Naturgeſchichte damit verbindet, beurthei-
let werden muͤſſen. Denn es wird ſich bald zeigen, daß
letzteres faſt allein, etwas weniges ausgenommen, nur
mittelſt der Erfahrung geſchehen koͤnne.
1774.
terr. S. XXV.
uͤberſetzt S. 196.
welche 1776 zu Leipzig bey Boͤhmen herausgekommen
iſt, meinet, daß ſie vielleicht noch wohl habe leben
koͤnnen. Dieß iſt ſchwer zu glauben. Er zieht auch
noch andere Folgen daraus gegen das Evolutions-
ſyſtem, die damit eben ſo vereiniget werden koͤnnen,
wie die uͤbrigen Erfahrungen von Mißgeburten. Man
wird freylich der Epigeneſis geneigt, wenn man dieſe
betrachtet: aber dennoch kann die letztere nicht voͤllig
dadurch bewieſen werden. Hr. Bonnet weis auch die
Mißgeburten aus der Evolution zu erklaͤren.
perfectibilité de l’ homme. p. 1-38.
tur, beſonders bey Buffon, von der Verſchiedenheit der
Menſchengattungen vorkommt, und in einem kernhaf-
ten Auszug, mit kritiſcher Auswahl, in der Beſchrei-
bung der Thiere des Hr. Hofr. Schrebers ſich findet,
verdient die kleine Schrift des Hr. Prof. Blumenbachs,
de generis humani varietate nativa liber ſingularis,
hier beſonders angefuͤhret zu werden.
te d. Natur 7 Th 2. B. S. 204. u. ſ. f.
S. 450.
Zeugniſſe darunter von Gewicht.
lung von den Urſachen der vielerley Bildungen und
Groͤßen der Hunde, in dem Naturforſcher 7tes St.
S. 52.
auf der Jnſel Savu antrafen, hatte ſich mit einer Jn-
dianerinn verheirathet, und war faſt in nichts mehr ein
Europaͤer als in der Kleidung, welche er Amtshalber
beybehalten mußte. Den Sitten, der Denkungsart
und Lebensart, zum Theil auch den Farben nach, war
er ganz Jndianer. Dagegen behalten die Eingebornen
von den Jnſeln um Java herum zu Batavia ihren Na-
tionalcharakter, ihre Sprache und Bildung, ſo weit ſie
auch von ihrem Vaterland entfernet ſind, und ſo ſehr
ihr Stand und Lebensart veraͤndert iſt. (Neueſte Rei-
ſen nach der Suͤdſee zter Th. S. 361.) Dergleichen
Exempel giebt es viele.
des englaͤndiſchen Schiffes, aus Furchtſamkeit in der
Ferne; andere naͤherten ſich und fingen ſogleich Feind-
ſeligkeiten an, ſobald ſie die Fremden anſichtig wurden.
Ein anderer wandte nicht die geringſte Aufmerkſamkeit
auf ſie. Dagegen kamen andere ohne Einladung mit
der vertrauteſten und freundſchaftlichſten Miene an Bord.
Solche verſchiedene Begegnung widerfuhr den Englaͤn-
dern auch an andern Kuͤſten. (Neueſte Seereiſen zter
Theil.) Dieſe einzige Beobachtung iſt hinreichend zu
zeigen, wie wenig Hr. Home berechtiget geweſen, aus
dem Betragen verſchiedener Wilden gegen Fremde ei-
nen
ſem wiederum auf ihre verſchiedene Abſtammungen zu
machen, und inſonderheit Gaſtfreyheit und Haß gegen
Fremde fuͤr angeborne Unterſchiede der Wilden anzuſehen.
natuͤrlichen Neigungen, nebſt den vortreflichen Unterſu-
chungen, welche das Acceſſit erhielten und jenen zugefuͤ-
get ſind.
ſamkeit.
laͤnder, war ein außerordentliches Wunder von menſchli-
cher Vollkommenheit, im ſechszehnten Jahrhundert;
ein allgemeines Genie, nicht nur in Hinſicht aller See-
lenfaͤhigkeiten, ſondern auch in allen koͤrperlichen Ge-
ſchicklichkeiten, im Fechten, Reiten, Tanzen; und faſt
ein realiſirtes Jdeal des vollkommenſten Menſchen. Man
ſehe die Dedikation des Aldus Manutius von ſeiner Aus-
gabe der Paradoxen des Cicero; imgleichen Moreri in ſ.
Woͤrterbuch. Ohne Zweifel iſt in der Erzaͤhlung etwas
uͤbertrieben. Jndeſſen erhellet ſoviel, daß Crichton ein
außerordentlicher und an allen Seiten ausgebildeter
Menſch geweſen ſey.
des Fuͤrſten Gagarin getauft worden war, hatten vor
ihrer Bekehrung einen Goͤtzen, der auf einem Baume
hieng, vor dem ſie niederfielen, die Augen gen Him-
mel aufhuben und mit lauter Stimme heulten, ohne
zu wiſſen, was ſie durch dieß Heulen verſtunden, nur
daß ein jeder auf ſeine Art heulete. Nach ihrer Be-
kehrung hoben ſie gleichfalls ihre Augen gen Himmel.
Aber als ſie gefragt wurden: ob ſie dabey wuͤßten, daß
daſelbſt ein Gott ſey, der alle Handlungen und ſogar
die Gedanken des Menſchen ſiehet: ſo antworteten ſie
ſchlechtweg, daß der Himmel zu weit uͤber ihnen ſey,
um zu wiſſen, ob daſelbſt ein Gott ſey oder nicht, und
daß ſie keine ande[re] Sorge haͤtten als ſich Eſſen und
Trinken anzuſchaffen. Man fragte ſie, ob ſie jetzt nicht
mehr Zufriedenheit in dem Dienſte des lebendigen Got-
tes empfaͤnden, als ſie ehemals in der Finſterniß der
Abgoͤtterey gehabt? Sie antworteten, daß ſie eben
keinen großen Unterſchied ſaͤhen, und ſich nicht viel um
ſolche Sachen bekuͤmmerten. Home (Geſchichte der
Menſchheit; Erſter Th. 3 B. 3 V. S. 213. der deut-
ſchen Ueberſ.) erzaͤhlet dieſes aus Lorenz Langens Be-
ſchreibung ſeiner Reiſe von Petersburg nach Pekin im
Jahr 1715. Was wuͤrden Tauſende der von den Spa-
niern bekehrten Amerikaner, und wenn wir nicht ſo weit
gehen, von den alten Sachſen, die zur Taufe in die
Fluͤſſe durch Soldaten gejagt wurden, auf aͤhnliche
Fragen viel beſſers haben antworten koͤnnen?
der
phia an die Jndianer auf der Grenze von Penſylvanien
geſchickt ward. Siehe das Tagebuch ſeiner zween-
monatlichen Reiſe, uͤberſetzt 1771.
Americains als einen Hauptgrund der vorzuͤglichen na-
tuͤrlichen Dummheit der Amerikaner angegeben, daß
Reiche, als Mexico und Peru, von einer ſehr gerin-
gen Anzahl von Spaniern erobert worden ſind. Aber
man vergleiche die Nachrichten von den erſten Erobe-
rungen der Portugieſen an der oͤſtlichen Kuͤſte von
Afrika und in Oſtindien, ſo findet man Beyſpiele von
Siegen, die den ſpaniſchen in Amerika gleich ſind.
Man koͤnnte auf eine aͤhnliche Art hieraus folgern, die
Einwoh-
artet geweſen, als die Jndianer, die ſich von den Por-
tugieſen bezwingen ließen. Beides beweiſet nichts
mehr, als das gewoͤhnliche große Uebergewicht der po-
lizirten Voͤlker und diſciplinirter Armeen uͤber Barbaren
und Wilde, beſondere Nebenurſachen bey Seite geſetzt.
Dazu beſaßen die Oſtindianer ſchon den Gebrauch des
Feuergewehrs, da die Mexikaner und Peruaner außer der
Volksmenge nichts anders als Pfeile, Bogen und Aexte
den Spaniern entgegen zu ſtellen hatten. Sonſten iſt es
wohl aus verſchiedenen Begebenheiten zu erſehen und
auch leicht zu begreifen, daß die Wildheit in der Neuen
Welt im Ganzen ausgebreiteter, und da, wo ſie am
ſtaͤrkſten war, noch ſtaͤrker geweſen iſt, als bey den
unkultivirten Voͤlkern in der alten Welt. Jene hatten
viele Jahrhunderte durch, vor der ſpaniſchen Entde-
ckung, mit keinem polizirten Staate in einer Verbin-
dung geſtanden. Selbſt die Peruaner und Mexikaner,
die kultivirteſten unter ihnen, hatten es doch damals
ſo ſehr hoch in der Kultur nicht gebracht. Jn der al-
ten Welt war mehr Licht und mehrere Verbindung der
Voͤlker, daß auch die entfernteſten einige Lichtſtra-
len erhielten, die die Geiſtesfinſterniß auch da, wo ſie
am groͤßten war, doch etwas mildern mußten.
ſuch, IV.
Amerika, was auch andere ſchon vor ihm bemerkt ha-
ben, daß ihr Verſtand ſich ausnehmend zeitig entwickle.
Jhre Kinder von zwey Jahren ſprechen und handeln ver-
nuͤnftiger, als ſie es anderswo von vier und fuͤnf Jah-
ren thun. Jene beſitzen uͤberhaupt eine ſchnelle Faſ-
ſungs-
der Kultur des Verſtandes, bis zum fuͤnf und zwanzig-
ſten Jahr und daruͤber bis ans dreyßigſte. Aber von
dieſem Alter an ſoll auch wiederum der Verſtand, wie
der Fleiß, den ſie anwenden, ganz merklich abnehmen.
Der genannte ſcharfſinnige Beobachter iſt der Meinung,
dieſe Abnahme habe mehr ihren Grund in politiſchen
und moraliſchen Urſachen, als in einer wahren Schwaͤ-
che der Natur. Daſſelbige hatte ein anderer Spanier
Benedictus Freyjoo vor ihm gleichfalls daruͤber ge-
dacht. Allg. Geſch. der Reiſen B. 9. S. 28. Wenn
die erwachſenen Amerikaner nichts haben, was ihren
Fleiß unterhalten, und ſie reizen kann ihre Ueberle-
gungskraft anzuſtrengen, ſo bleibet dieſe, da wo ſie iſt,
und nimmt ab. Kommt nun noch hinzu, was wohl
das wichtigſte iſt, daß ſie ſich Ausſchweifungen uͤberlaſ-
ſen, die die Nerven ſchwaͤchen, ſo iſt es kein Wunder,
daß ſie bald wieder ſtumpf werden. Bey einigen ein-
zelnen Perſonen, wo dieſe moraliſchen Urſachen nicht
waren, hat ſich auch die Staͤrke des Verſtandes bis ins
Alter erhalten. Hr. Ulloa iſt ein Augenzeuge, und
urtheilet mit Scharfſinn. Beides giebt ſeinen Gedan-
ken ein großes Gewicht. Gleichwohl wenn das auch
Kinder bezeuget, ſo kann es doch keine ganz ungegruͤn-
dete Vermuthung ſeyn, daß Klima, Naturanlage und
Nahrung, nebſt andern nicht moraliſchen Urſachen, zu
der vorzeitigen Wiederabnahme des Verſtandes beytra-
gen. Es iſt doch ſehr wahrſcheinlich, daß die zeitige
Entwickelung des Nervenſyſtems und der Seele von
phyſiſchen Urſachen abhange. Sollte dieſen nicht etwas
aͤhnliches bey der fruͤhern Abnahme zuzuſchreiben ſeyn?
Der Trieb der Saͤfte, der anfangs ſtaͤrker zum Gehirn
gieng, als bey andern Menſchen, kann nachher weni-
ger dahin gehen. Dann wird Thaͤtigkeit und Munter-
keit am Geiſte abnehmen. Wir haben auch unter uns
Beyſpiele von fruͤhzeitigen Koͤpfen, die mit den Jahren
wieder ſtumpf werden, obgleich bey manchen, wozu
Grotius gehoͤrte, dieß nicht erfolget. Es iſt von den
natuͤrlich fruͤhzeitigen die Rede. Wo dieß nicht ein
Werk der Natur iſt, ſondern aus einer einſeitigen uͤber-
triebenen Entwickelung des Verſtandes in der Erziehung
herruͤhret, da wird man oͤfters des Hrn. Tiſſot Aus-
ſpruch wahr finden, daß Kinder, die im zwoͤlften Jahr
Maͤnner ſind, in dem vier und zwanzigſten wieder Kin-
der werden.
eines neuen Geſetzbuches. 483. Dieſe Schrift iſt ſo-
wohl ihres Jnhalts wegen, als weil ſie eine Stimme
vom Thron enthaͤlt, eines der groͤßten Ehrendenkmaͤ-
ler, welches ſich der Geiſt unſers Jahrhunderts errichtet
hat. Daß ſo ein Buch, eine feſtliche Unterhaltung des
Menſchenfreundes, von einer Souveraine hat koͤnnen
geſchrieben werden, beweiſet mehr, daß die Menſch-
heit ſich verbeſſere, als man daraus, daß die Leſung
deſſelben in einigen Laͤndern verboten iſt, ſchließen
kann, daß ſie ſich verſchlimmere.
land Beytraͤge zur geheimen Geſchichte des Herzens.
Prenſus Aegæo, — — —
Otium bello furioſa Thrace,
Otium Medi pharetra decori. ad Grosphum.’ ()
‘Ille, grauem duro terram qui vertit aratro,
Perfidus hic caupo, nautæque, per omne
Audaces mare qui currunt: hac mente laborem
Seſe ferre, ſenes ut in otia tuta recedant,
Aiunt. — — Serm. lib. I.’ ()
Zwoͤlfter Verſuch X. 4.
XII. 3.
dreyzehnter Band, Erſtes Stuͤck.
II. 4.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpvs.0