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PSYCHE

Seelencult und Unsterblichkeitsglaube
der
Griechen.


[figure]
Freiburg i. B. und Leipzig: 1894.
Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck).

[[II]]

Druck von C. A. Wagner in Freiburg i. Br.


[[III]]

Vorwort.


Dieses Buch will, indem es die Meinungen der Griechen
von dem Leben der menschlichen Seele nach dem Tode darlegt,
einen Beitrag zu einer Geschichte griechischer Religion geben.
Ein solches Unternehmen hat in besonderem Maasse mit den
Schwierigkeiten zu kämpfen, die einer jeden Untersuchung des
religiösen Gedankenlebens der Griechen sich entgegenstellen. Die
griechische Religion, als eine gewordene, nicht gestiftete Reli-
gion, hat den Gedanken und Gefühlen, die sie von innen be-
stimmen und nach aussen gestalten, niemals begrifflichen Aus-
druck gegeben. In religiösen Handlungen allein stellte sie sich
dar; sie hat keine Religionsbücher, aus denen der tiefste Sinn
und der Zusammenhang der Gedanken, in denen der Grieche zu
den göttlichen Mächten, die sein Glaube ihm schuf, in Beziehung
trat, sich ablesen liesse. Gedanken und Phantasie griechischer
Dichter umspielen den, trotz des Mangels begrifflicher Entwick-
lung, oder vielleicht eben deswegen, wunderbar sicher bei seiner
ursprünglichen Art verharrenden Kern griechischer Volksreligion.
Dichter und Philosophen bieten in dem, was von ihren Schriften
auf unsere Zeit gekommen ist, die einzigen Urkunden griechi-
schen religiösen Gedankenlebens dar. Sie mussten auch bei der
hier unternommenen Forschung auf lange Strecken die Führer
sein. Aber wenn auch, in griechischen Lebensverhältnissen, die
religiösen Anschauungen der Dichter und Philosophen schon an
und für sich einen wichtigen Theil griechischer Religion über-
haupt darstellen, so lassen sie doch immer nur die Stellung er-
kennen, die der Einzelne, in voller Freiheit der Entscheidung,
[IV] zu der Religion der Väter sich gab. Wohl konnte dieser, so-
weit es der Gang seiner eigenen Gedanken zuliess, mit der
schlichten Empfindung, die den Volksglauben und die Hand-
lungen volksthümlicher εὐσέβεια gestaltet hatte und bestimmte,
sich durchdringen. Und in der That, wie wenig wüssten wir
von den religiösen Gedanken, die dem gläubigen Griechen das
Herz bewegten, ohne die Aussagen der Philosophen und Dichter
(dazu noch einiger attischer Redner), in denen diese sorst in
stummem Gefühl verschlossenen Gedanken Stimme gewinnen.
Aber der würde ja stark im Irrthum sein und zu wunderlichen
Ergebnissen kommen, der aus dem, was in griechischer Litte-
ratur an religiösen Gedanken hervortritt, ohne Umstände eine
„Theologie des griechischen Volksglaubens“ herausziehen zu
können vermeinte. Wo litterarische Aussagen und Andeutungen
uns im Stich lassen, stehen wir der griechischen Religion und
ihren innersten Motiven nur ahnend gegenüber. Es fehlt ja
nicht an Solchen, die aus dem eigenen wackeren Herzen und
dienstwilliger Phantasie uns allen gewünschten Aufschluss herauf-
holen zu können sicher sind; oder die dem alten Götterglauben
zu rechter Verdeutlichung die Regungen christlicher Frömmigkeit
mehr oder weniger harmlos unterschieben. Hiebei wird beiden
Religionsweisen Unrecht gethan, und ein Erfassen des inneren
Sinnes griechischer Gläubigkeit nach seiner selbständigen Art
vollends unmöglich gemacht. Besonders an dem, mehr selbst
als er verdiente von der Aufmerksamkeit der Religionsforschung
bevorzugten Punkte einer Verschmelzung der Götterverehrung und
des Seelenglaubens, den Eleusinischen Mysterien, hat sich die
vollkommene Unerspriesslichkeit der Unterschiebung wechselnder
Gedanken oder Stimmungen moderner Welt und Cultur für die
Aufhellung des inneren Lebenstriebes dieser bedeutungsvollen Cult-
handlungen wieder und wieder gezeigt. Besonders an diesem Punkte
hat die gegenwärtige Darstellung darauf verzichtet, durch Hinein-
stellung eines selbstgegossenen Lichtleins über das ehrwürdige
Dunkel einen zweideutigen Flackerglanz zu verbreiten. Es wird
nicht geleugnet, dass es hier, und so in antiker εὐσέβεια an vielen
[V] Stellen, ein Tiefstes und Bestes gab, das unserer Erkenntniss
sich entzieht. Aber das aufklärende Wort, niemals aufgezeich-
net, ist uns verloren. Besser als in modernen Schlagworten ein
Surrogat zu suchen, ist die schichte Hinstellung der uns be-
kannten äusseren Erscheinungen griechischer Frömmigkeit in der
scheinbaren Kälte ihrer Thatsächlichkeit. Es wird hierbei an
Anregung zu eigenen Gedanken und Vermuthungen, die nicht
immer sich hervorzudrängen brauchen, nicht fehlen. Die That-
sachen des griechischen Seelencultes und des, auch nur theilweise
seinen innersten Impulsen nach unserem nachempfindenden Ver-
ständniss zugänglichen Unsterblichkeitsglaubens deutlich heraus-
zustellen, nach Ursprung und Entwicklung, Wandlung und Ver-
schwisterung mit verwandten Gedankenrichtungen zu bestimmter
Anschauung zu bringen, war die eigentliche Aufgabe. Die ein-
zelnen Fäden sehr verschiedener Gedankenläufe aus der wirren
Verhedderung, in der sie in mancher Vorstellung (und Darstel-
lung) sich ineinander verwickeln, herauszulösen und reinlich
nebeneinander laufen zu lassen, schien besonders erforderlich.
Warum diesen Aufgaben nicht überall mit gleichen Mitteln, bald
in knapperer Zusammenfassung des Wesentlichen, bald in aus-
führlicher Darlegung und weiter ausgedehnter, bisweilen scheinbar
selbst fernhin abschweifender Verfolgung aller Zusammenhänge
nachgegangen worden ist, wird Kennern des Gegenstandes leicht
verständlich sein. Wo einmal tiefer in die überfliessende Fülle
der Einzelthatsachen eingegangen worden war, bot sich in den
„Nachträgen“ (S. 692 ff.) Gelegenheit, die (freilich immer nur
relative) Vollständigkeit der Darstellung zu ergänzen. Hierzu
gab die lange Frist, die zwischen der Veröffentlichung der zwei
Abtheilungen dieses Buches lag, die Möglichkeit. Die erste
Hälfte (bis S. 294) ist schon im Frühjahr 1890 ausgegeben
worden, die Vollendung des Uebrigen hat sich, unter ungünstigen
Umständen, bis heute hinausgezogen. Die beiden Theile liessen
sich, so wie geschehen, gesondert halten: ihre Themen gehen in
der Hauptsache nach den zwei, im Titel des Buches bezeich-
neten Seiten des „Seelencultes“ und des „Unsterblichkeits-
[VI] glaubens“ auseinander. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube
verschlingen sich wohl zuletzt an einzelnen Stellen; aber sie
nehmen ihren Ausgang von verschiedenen Punkten und gehen
zumeist gesonderte Wege. Der Unsterblichkeitsgedanke ins-
besondere geht aus von einer begeisterten Anschauung, der die
Seele des Menschen als den ewigen Göttern verwandtschaftlich
nahestehend, ja wesensgleich sich offenbart, und gleichzeitig die
Götter als der Seele gleich, d. h. als freie, des Körperlichen
und Sichtbaren nicht bedürftige Geister (diese Vergeistigung des
Götterglaubens, nicht eigentlich, wie Aristoteles in jenen merk-
würdigen Ausführungen bei Sext. Empir. adv. math. III 20 ff.
annimmt, der Götterglaube überhaupt, hat seinen Ursprung in
dem, was die Seele καϑ̕ ἑαυτήν, frei geworden vom Leibe,
in ἐνϑουσιασμοί und μαντεῖαι von ihrer Gottnatur selbst erfährt).
Das führt weit ab von den Vorstellungen, die dem Seelencult
zu Grunde liegen.


Einen Uebelstand, den ich die günstigen Leser (deren die
erste Hälfte des Buches, wie ich dankbar anzuerkennen habe,
eine grosse Zahl gefunden hat) entschuldigend hinzunehmen bitte,
hat die Ausgabe des Buches in zwei Hälften nach sich gezogen.
Die sechzehn Excurse des Anhangs, die in der ersten Hälfte
angekündigt sind, haben, als in der zweiten Häfte der Umfang
des Buches über Vermuthen angewachsen war und das μέτρον
αὔταρκες fast schon überschritten hatte, nicht mehr ausgeführt
werden können. Das Buch vertrug keine weitere Belastung.
Die Excurse werden, soweit sie noch ein selbständiges Interesse
darbieten, an anderer Stelle eine Unterkunft finden. Das Ver-
ständniss des Buches selbst wird durch das Fehlen dieser, als
wahre Abschweifungen gedachten Ausführungen nirgends be-
einträchtigt.


Heidelberg, 1. Nov. 1893.


Erwin Rohde.


[[VII]]

Inhalt.


  • Seite
  • Seelenglaube und Seelencult in den homerischen Gedichten 1
  • Entrückung. Inseln der Seligen 63
  • Höhlengötter. Bergentrückung 104
  • Die Heroen 137
  • Der Seelencult 187
  • I. Cultus der chthonischen Götter 190
  • II. Pflege und Verehrung der Todten 200
  • III. Elemente des Seelencultes in der Blutrache und Mordsühne 236
  • Die Mysterien von Eleusis 256
  • Vorstellungen von dem Leben im Jenseits 277
  • Ursprünge des Unsterblichkeitsglaubens. Der thrakische Dionysos-
    dienst 295
  • Dionysische Religion in Griechenland. Ihre Einigung mit apollinischer
    Religion. Ekstatische Mantik. Kathartik und Geisterzwang.
    Askese 327
  • Die Orphiker 395
  • Philosophie 429
  • Die Laien (Lyrik. Pindar. Die Tragiker) 490
  • Plato 555
  • Die Spätzeit des Griechenthums.
  • I. Die Philosophie 587
  • II. Volksglaube 626
  • Das Ende 683
  • Nachträge 692
  • Register 704

[[VIII]]

Seelenglaube und Seelencult
in den homerischen Gedichten.


I.


Der unmittelbaren Empfindung des Menschen scheint nichts
so wenig einer Erklärung oder eines Beweises bedürftig, nichts
so selbstverständlich wie die Erscheinung des Lebens, die That-
sache seines eigenen Lebens. Dagegen das Aufhören dieses
so selbstverständlichen Daseins erregt, wo immer es ihm vor
Augen tritt, immer aufs Neue sein Erstaunen. Es giebt Völker-
stämme, denen jeder Todesfall als eine willkürliche Verkürzung
des Lebens erscheint, wenn nicht durch offene Gewalt, so durch
versteckte Zaubermacht herbeigeführt. So unfassbar bleibt ihnen,
dass dieser Zustand des Lebens und Selbstbewusstseins von
selbst aufhören könne.


Ist einmal das Nachdenken über so bedenkliche Dinge er-
wacht, so findet es bald das Leben, eben weil es schon an
der Schwelle aller Empfindung und Erfahrung steht, nicht
weniger räthselhaft als den Tod, bis in dessen Bereich keine
Erfahrung führt. Es kann begegnen, dass bei allzu langem
Hinblicken Licht und Dunkel ihre Stellen zu tauschen scheinen.
Ein griechischer Dichter war es, dem die Frage aufstieg:


Wer weiss denn, ob das Leben nicht ein Sterben ist,

und, was wir Sterben nennen, drunten Leben heisst? —

Von solcher müden Weisheit und ihren Zweifeln finden wir
das Griechenthum noch weit entfernt da, wo es zuerst, aber
schon auf einem der Höhepuncte seiner Entwicklung, zu uns
redet: in den homerischen Gedichten. Mit Lebhaftigkeit redet
der Dichter, reden seine Helden von den Schmerzen und Sorgen
Rohde, Seelencult. 1
[2] des Lebens in seinen einzelnen Wechselfällen, ja nach seiner
gesammten Anlage, denn so haben es ja die Götter beschieden
den armen Menschen, in Mühsal und Leid zu leben, sie selber
aber sind frei von Kummer. Aber von dem Leben im Ganzen
sich abzuwenden, kommt keinem homerischen Menschen in den
Sinn. Von dem Glück und der Freudigkeit des Lebens wird
nur darum nicht ausdrücklich geredet, weil sich das von selbst
versteht bei einem rüstigen, in aufwärts steigender Bewegung
begriffenen Volke, in wenig verschlungenen Verhältnissen, in
denen die Bedingungen des Glückes in Thätigkeit und Genuss
dem Starken leicht zufallen. Und freilich, nur für die Starken,
Klugen und Mächtigen ist diese homerische Welt eingerichtet.
Leben und Dasein auf dieser Erde ist ihnen so gewiss ein
Gut, als es zur Erreichung aller einzelnen Güter unentbehrliche
Bedingung ist. Denn der Tod, der Zustand, der nach dem
Leben folgen mag, — es ist keine Gefahr, dass man ihn mit
dem Leben verwechsle. „Wolle mir doch den Tod nicht weg-
reden“, so würde, wie Achill im Hades dem Odysseus, der home-
rische Mensch jenem grübelnden Dichter antworten, wenn er
ihm den Zustand nach Ablauf des Erdenlebens als das wahre
Leben vorspiegeln wollte. Nichts ist dem Menschen so ver-
hasst wie der Tod und die Thore des Hades. Denn eben das
Leben, dieses liebe Leben im Sonnenlichte, ist sicher dahin mit
dem Tode, mag nun folgen was will.


2.


Aber was folgt nun? Was geschieht, wenn das Leben
für immer aus dem entseelten Leibe entweicht?


Befremdlich ist es, dass neuerdings hat behauptet werden
können 1), es zeige sich auf irgend einer Stufe der Entwicklung
homerischer Dichtung der Glaube, dass mit dem Augenblick
des Todes Alles zu Ende sei, nichts den Tod überdaure. Keine
Aussage in den beiden homerischen Gedichten (etwa in deren
ältesten Theilen, wie man meint), auch nicht ein beredtes Still-
[3] schweigen berechtigt uns, dem Dichter und seinem Zeitalter
eine solche Vorstellung zuzuschreiben. Immer wieder wird ja,
wo von eingetretenem Tode berichtet worden ist, erzählt, wie
der, noch immer mit seinem Namen bezeichnete Todte, oder
wie dessen „Psyche“ enteile in das Haus des Aïdes, in das
Reich des Aïdes und der grausen Persephoneia, in die unter-
irdische Finsterniss, den Erebos, oder, unbestimmter, in die
Erde versinke. Ein Nichts ist es jedenfalls nicht, was in
die finstre Tiefe eingehen kann, über ein Nichts kann, sollte
man denken, das Götterpaar drunten nicht herrschen.


Aber wie hat man sich diese „Psyche“ zu denken, die,
bei Leibesleben unbemerkt geblieben, nun erst wenn sie „ge-
löst“ ist, kenntlich geworden, zu unzähligen ihresgleichen ver-
sammelt im dumpfigen Reiche des „Unsichtbaren“ (Aïdes)
schwebt? Ihr Name bezeichnet sie, wie in den Sprachen vieler
andrer Völker die Benennungen der „Seele“, als ein Luft-
artiges, Hauchartiges, im Athem des Lebenden sich kund
Gebendes. Sie entweicht aus dem Munde, auch wohl aus der
klaffenden Wunde des Sterbenden — und nun wird sie, frei
geworden, auch wohl genannt „Abbild“ (εἴδωλον). Am Rande
des Hades sieht Odysseus schweben „die Abbilder derer, die
sich (im Leben) gemüht haben“. Diese Abbilder, körperlos,
dem Griffe des Lebenden sich entziehend, wie ein Rauch (Il. 23,
100), wie ein Schatten (Od. 11, 207. 10, 495), müssen wohl
die Umrisse des einst Lebenden kenntlich wiedergeben: ohne
Weiteres erkennt Odysseus in solchen Schattenbildern seine
Mutter Antikleia, den jüngst verstorbenen Elpenor, die voran-
gegangenen Gefährten aus dem troischen Kriege wieder. Die
Psyche des Patroklos, dem Achilleus nächtlich erscheinend,
gleicht dem Verstorbenen völlig an Grösse und Gestalt und
am Blicke der Augen. Die Art dieses schattenhaften Eben-
bildes des Menschen, das im Tode sich von diesem ablöst und
schwebend enteilt, wird man am ersten verstehen, wenn man
sich klar macht, welche Eigenschaften ihm nicht zukommen.
Die Psyche nach homerischer Vorstellung ist nichts, was dem
1*
[4] irgendwie ähnlich wäre, was wir, im Gegensatz zum Körper,
„Geist“ zu nennen pflegen. Alle Functionen des menschlichen
„Geistes“ im weitesten Sinne, für welche es dem Dichter an
mannichfachen Benennungen nicht fehlt, sind in Thätigkeit, ja
sind vorhanden, nur so lange der Mensch im Leben steht.
Tritt der Tod ein, so ist der volle Mensch nicht länger bei-
sammen: der Leib, d. i. der Leichnam, nun „unempfindliche
Erde“ geworden, zerfällt, die Psyche bleibt unversehrt. Aber
sie ist nun nicht etwa Bergerin des „Geistes“ und seiner Kräfte,
nicht mehr als der Leichnam. Sie heisst besinnungslos, vom Geist
und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens, Em-
pfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des
Menschen in seine Bestandtheile. Man kann so wenig der Psyche
die Eigenschaften des „Geistes“ zuschreiben, dass man viel
eher von einem Gegensatz zwischen Geist und Psyche des
Menschen reden könnte. Der Mensch ist lebendig, seiner selbst
bewusst, geistig thätig nur so lange die Psyche in ihm ver-
weilt, aber nicht sie ist es, die durch Mittheilung ihrer eigenen
Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkennt-
nissvermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des
lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des
Lebens und der Thätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen
Functionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann
der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese
und alle seine Thätigkeiten nicht aus durch oder vermittelst
der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche
Thätigkeit im lebendigen Menschen zu; sie wird überhaupt erst
genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevor-
steht oder geschehen ist: als sein Schattenbild überdauert sie
ihn und alle seine Lebenskräfte.


Fragt man nun (wie es bei unseren homerischen Psycho-
logen üblich ist), welches, bei dieser räthselhaften Vereinigung
eines lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der
„eigentliche Mensch“ sei, so giebt Homer freilich widerspruchs-
volle Antworten. Nicht selten (und gleich in den ersten Versen
[5] der Ilias) wird die sichtbare Leiblichkeit des Menschen als „Er
selbst“ der Psyche (welche darnach jedenfalls kein Organ, kein
Theil dieser Leiblichkeit sein kann) entgegengesetzt 1). Andrer-
seits wird auch wohl der im Tode zum Reiche des Hades
Forteilende mit dem Eigennamen des Lebenden, als „er selbst“,
bezeichnet 2), dem Schattenbild der Psyche also — denn dieses
allein geht doch in den Hades ein — Name und Werth der
vollen Persönlichkeit, des „Selbst“ des Menschen zugestanden.
Wenn man aber aus solchen Bezeichnungen geschlossen hat,
entweder dass „der Leib“, oder dass vielmehr die Psyche der
„eigentliche Mensch“ sei 3), so hat man in jedem Falle die
eine Hälfte der Aussagen unbeachtet oder unerklärt gelassen.
Unbefangen angehört, lehren jene, einander scheinbar wider-
sprechenden Ausdrucksweisen, dass sowohl der sichtbare Mensch
(der Leib und die in ihm wirksamen Lebenskräfte) als die
diesem innewohnende Psyche als das „Selbst“ des Menschen be-
zeichnet werden können. Der Mensch ist nach homerischer
Auffassung zweimal da, in seiner wahrnehmbaren Erscheinung
und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei wird erst im
Tode. Dies und nichts anderes ist seine Psyche.


Eine solche Vorstellung, nach welcher in dem lebendigen,
voll beseelten Menschen, wie ein fremder Gast, ein schwächerer
Doppelgänger, sein anderes Ich, als seine „Psyche“ wohnt,
will uns freilich sehr fremdartig erscheinen. Aber genau dieses
[6] ist der Glaube der sogenannten „Naturvölker“ der ganzen Erde 1),
wie ihn mit eindringlicher Schärfe namentlich Herbert Spencer
ergründet hat. Es hat nichts Auffallendes, auch die Griechen
eine Vorstellungsart theilen zu sehen, die dem Sinne uranfäng-
licher Menschheit so nahe liegt. Die Beobachtungen, welche
auf dem Wege einer phantastischen Logik zu der Annahme
des Doppellebens im Menschen führten, können der Vorzeit,
welche den Griechen Homers ihren Glauben überlieferte, nicht
ferner gelegen haben als anderen Völkern. Nicht aus den Er-
scheinungen des Empfindens, Wollens, Wahrnehmens und
Denkens im wachen und bewussten Menschen, sondern aus den
Erfahrungen eines scheinbaren Doppellebens im Traum, in der
Ohnmacht und Ekstase ist der Schluss auf das Dasein eines
zwiefachen Lebendigen im Menschen, auf die Existenz eines
selbständig ablösbaren „Zweiten Ich“ in dem Innern des täg-
lich sichtbaren Ich gewonnen worden. Man höre nur die Worte
eines griechischen Zeugen, der, in viel späterer Zeit, klarer als
Homer irgendwo, das Wesen der Psyche ausspricht und zu-
gleich die Herkunft des Glaubens an solches Wesen erkennen
lässt. Pindar (fr. 131) lehrt: der Leib folgt dem Tode, dem
allgewaltigen. Lebendig aber bleibt das Abbild des Lebenden
(„denn dieses allein stammt von den Göttern“: das ist freilich
nicht homerischer Glaube), es schläft aber (dieses Eidolon)
wenn die Glieder thätig sind, aber dem Schlafenden oft im
Traume zeigt es Zukünftiges. — Deutlicher kann nicht gesagt
werden, dass an der Thätigkeit des wachen und vollbewussten
Menschen sein Seelenabbild keinen Theil hat. Dessen Reich
ist die Traumwelt; wenn das andre Ich, seiner selbst unbewusst,
im Schlafe liegt, wirkt und wacht der Doppelgänger. In der
That, während der Leib des Schlafenden unbeweglich verharrt,
sieht und erlebt Er selbst, im Traume, Vieles und Seltsames —
[7] Er selbst (daran kann er nicht zweifeln) und doch nicht sein,
ihm und Anderen wohlbekanntes sichtbares Ich, denn dieses lag
ja wie todt, allen Eindrücken unzugänglich. Es lebt also in
ihm ein zweites Ich, das im Traume thätig ist. Dass die
Traumerlebnisse thatsächliche Vorgänge sind, nicht leere Ein-
bildungen, steht auch für Homer noch fest. Nie heisst es bei
ihm, wie doch oft bei späteren Dichtern, dass der Träumende
dies und jenes zu sehen „meinte“: was er im Traume wahr-
nimmt, sind wirkliche Gestalten, der Götter selbst oder eines
Traumdämons, den sie absenden, oder eines flüchtigen „Ab-
bildes“ (Eidolon), das sie für den Augenblick entstehen lassen;
wie das Sehen des Träumenden ein realer Vorgang ist, so das,
was er sieht, ein realer Gegenstand. So ist es auch ein Wirk-
liches, was dem Träumenden erscheint als Gestalt eines jüngst
Verstorbenen. Kann diese Gestalt dem Träumenden sich zeigen,
so muss sie eben auch noch vorhanden sein: sie überdauert
also den Tod, aber freilich nur als ein luftartiges Abbild, so
wie wir wohl unser eignes Bild im Wasserspiegel 1) gesehen
haben. Denn greifen und halten, wie einst das sichtbare Ich,
lässt sich dieses Luftwesen nicht, darum eben heisst es „Psyche“.
Den uralten Schluss auf das Dasein solches Doppelgängers
im Menschen wiederholt, als der todte Freund ihm im Traume
erschienen und wieder entschwunden ist, Achilleus (Il. 23, 103 f.):
ihr Götter, so bleibt denn wirklich auch noch in des Hades
Behausung eine Psyche und ein Schattenbild (des Menschen),
doch es fehlt ihm das Zwerchfell (und damit alle Kräfte, die
den sichtbaren Menschen am Leben erhalten).


Der Träumende also und was er im Traume sieht, be-
stätigt das Dasein eines für sich existirenden zweiten Ich 2).
[8] Der Mensch macht aber auch die Erfahrung, dass sein Leib
todesähnlicher Erstarrung verfallen kann, ohne dass Traum-
erlebnisse das zweite Selbst beschäftigten. In solcher „Ohn-
macht“ hat nach griechischer Vorstellung und homerischem
Ausdruck „die Psyche den Leib verlassen“ 1). Wo war sie?
Man weiss es nicht. Aber sie kommt für dieses Mal noch
wieder, und mit ihr wird „der Geist in das Zwerchfell wieder
versammelt“. Wird sie einst, im Tode, sich für immer von dem
sichtbaren Leibe trennen, so wird also diesem der „Geist“
niemals wiederkehren 2); sie selbst, wie sie damals, zeitweise
vom Leibe getrennt, nicht unterging, wird auch dann nicht in
Nichts zerfliessen.


3.


Soweit gehen die Erfahrungen, aus denen eine Urweltlogik
überall die gleichen Folgerungen gewonnen hat. Nun aber:
wohin entfliegt die frei gewordene Psyche? was wird mit ihr?
Hier beginnt the undiscovered country, und es kann scheinen,
als liefen an ihrem Eingang die Wege völlig auseinander.


Die „Naturvölker“ pflegen den vom Leibe getrennten „See-
len“ eine gewaltige, unsichtbar zwar, aber um so schrecklicher
wirkende Macht zuzuschreiben, ja sie leiten zum Theil alle
unsichtbare Gewalt von den „Seelen“ ab, und sind angstvoll
bedacht, durch möglichst reiche Gaben das Wohlwollen dieser
mächtigen Geisterwesen sich zu sichern. Homer dagegen kennt
2)
[9]keine Wirkung der Psychen auf das Reich des Sichtbaren,
daher auch kaum irgend einen Cult derselben. Wie sollten
auch die Seelen (wie ich nunmehr wohl, ohne Missverständniss
zu befürchten, sagen darf) wirken? Sie sind alle versammelt
im Reiche des Aïdes, fern von den lebenden Menschen, Okeanos,
Acheron trennt sie von ihnen, der Gott selbst, der unerbittliche,
unbezwingliche Thorhüter, hält sie fest. Kaum dass einmal
ein Märchenheld, wie Odysseus, lebend bis an den Eingang
des grausigen Reiches gelangt; sie selbst, die Seelen, sobald
sie den Fluss überschritten haben, kommen nie mehr zurück:
so versichert die Seele des Patroklos dem Freunde. Wie
gelangen sie dahin? Die Voraussetzung scheint zu sein, dass
die Seele beim Verlassen des Leibes, wiewohl ungern, „ihr
Geschick bejammernd“, doch ohne alle Umstände zum Hades
entschwebt, nach Vernichtung des Leibes durch Feuer für
immer in den Tiefen des Erebos verschwindet. Ein später
Dichter erst, der der Odyssee ihren letzten Abschluss gab,
bedurfte des Hermes, des „Seelengeleiters“. Ob das eine
Erfindung jenes Dichters oder (was viel wahrscheinlicher ist)
nur eine Entlehnung aus altem Volksglauben einer einzelnen
Gegend Griechenlands ist: gegenüber Homers festgeschlos-
senem Vorstellungskreise ist es eine Neuerung, und eine be-
deutungsvolle. Schon beginnt man, scheint es, an der Noth-
wendigkeit des Hinabschwebens aller Seelen in das Haus
der Unsichtbarkeit zu zweifeln, weist ihnen einen göttlichen
Geleitsmann an, der sie durch magisch zwingenden „Abruf“
(Od. 24, 1) und die Kraft seines Zauberstabes ihm zu folgen
nöthigt 1).


[10]

Drunten, im dumpfigen Höhlenbereich, schweben sie nun,
bewusstlos, oder höchstens in dämmerndem Halbbewusstsein,
mit halber Stimme begabt, schwach, gleichgültig: natürlich, denn
Fleisch, Knochen und Sehnen 1), das Zwerchfell, der Sitz aller
Geistes- und Willenskräfte — alles dieses ist dahin; es war
an den jetzt vernichteten, einst sichtbaren Doppelgänger der
Psyche gebunden. Von einem „unsterblichen Leben“ dieser
Seelen zu reden, mit alten und neueren Gelehrten, ist unrichtig.
Sie leben ja kaum mehr als das Bild des Lebenden im Spiegel;
und dass sie ihr schattenhaftes Abbilddasein auch nur ewig
fortführen werden, wo stünde das bei Homer? Ueberdauert
die Psyche ihren sichtbaren Genossen, so ist sie doch kraft-
los ohne ihn: kann man sich vorstellen, dass ein sinnlich empfin-
dendes Volk sich die ewig gedacht habe, denen, wenn einmal
die Bestattung beendigt ist, weiter keinerlei Nahrung (im
Cultus oder sonst) zukommt und zukommen kann? —


So ist die homerische helle Welt befreit von Nacht-
gespenstern (denn selbst im Traume zeigt sich die Psyche nach
der Verbrennung des Leibes nicht mehr), von jenen unbegreif-
1)
[11] lich spukhaft wirkenden Seelengeistern, vor deren unheimlichem
Treiben der Aberglaube aller Zeiten zittert. Der Lebende
hat Ruhe vor den Todten. Es herrschen in der Welt nur die
Götter, keine blassen Gespenster, sondern leibhaft fest gegründete
Gestalten, durch alle Weiten wirkend, wohnhaft auf heiterer
Berghöhe „und hell läuft drüber der Glanz hin“. Keine dämo-
nische Macht ist neben ihnen, ihnen zuwider, wirksam; auch
die Nacht giebt die entflogenen Seelen der Verstorbenen nicht
frei. Man erschrickt unwillkürlich, und spürt schon die Witte-
rung einer andern Zeit, wenn man in einer, von später Hand
eingedichteten Partie des 20. Buches der Odyssee erzählt findet,
wie kurz vor dem Ende der Freier der hellsichtige Wahrsager
in Halle und Vorhof schweben sieht in Schaaren die Seelen-
gestalten (Eidola), die hinabstreben in das Dunkel unter der
Erde; die Sonne erlischt am Himmel und schlimmes Dunkel
schleicht herauf. Das Grauen einer tragischen Vorahnung hat
dieser Spätling sehr wirksam hervorzurufen verstanden, aber
solches Grauen vor gespenstischem Geistertreiben ist nicht mehr
homerisch.


4.


Waren die Griechen von jeher so frei von aller Beängsti-
gung durch die Seelen der Verstorbenen? Haben sie nie den
abgeschiedenen Seelen einen Cultus gewidmet, wie ihn die
„Naturvölker“ der ganzen Erde kennen, wie er aber auch den
Urverwandten des Griechenvolkes, den Indern, den Persern,
wohl vertraut war? Die Frage und ihre Beantwortung hat
ein allgemeineres Interesse. In späterer Zeit, lange nach Homer,
finden wir auch in Griechenland einen lebhaften Ahnencult, ein
allgemeiner Seelencult ist in Uebung. Wenn sich beweisen
liesse — was man meist ohne Beweis annimmt — dass so
spät erst unter Griechen eine religiöse Verehrung der Seelen
sich zum ersten Mal entwickelt habe, so könnte man hier eine
starke Unterstützung der oft geäusserten Meinung, nach welcher
Seelencult erst aus dem Verfall ursprünglichen Göttercultes
[12] entstehen soll, zu finden hoffen. Die Ethnographen pflegen
dieser Meinung zu widersprechen, den Seelencult als eines der
ersten und ältesten Elemente (wo nicht gar als das ursprüng-
lich allein vorhandene) einer Verehrung unsichtbarer Mächte
zu betrachten. Aber die „Naturvölker“, aus deren Zuständen
und Vorstellungen sie ihre Ansichten herzuleiten pflegen, haben
zwar eine lange Vergangenheit, aber keine Geschichte: es kann
der reinen Vermuthung oder theoretischen Construction nicht
verwehrt werden, entsprechend jener eben berührten, vielen
Religionshistorikern fast zu einer Art von Orthodoxie gewor-
denen Voraussetzung, auch in die gänzlich dunklen Uranfänge
der „Naturvölker“ einen, später erst zum Seelencult entarteten
Göttercultus zu verlegen. Dagegen können wir die Entwicklung
der griechischen Religion von Homer an auf lange Strecken
verfolgen; und da bleibt denn freilich die beachtenswerthe That-
sache bestehen, dass ein Seelencult, dem Homer unbekannt,
erst bei weiterer lebhafter Fortbildung der religiösen Vor-
stellungen sich herausbildet oder jedenfalls deutlicher hervor-
tritt, wenn auch — was doch sehr zu beherzigen ist — nicht
als Niederschlag einer Zersetzung des Götterglaubens und
Götterdienstes, vielmehr als Nebenschössling gerade der auf’s
Höchste entwickelten Verehrung der Götter.


Soll man also wirklich glauben, dass dem vorhomerischen
Griechenthum ein Cult der abgeschiedenen Seelen fremd war?


Dies so unbedingt anzunehmen, verbieten uns, bei ge-
nauerer Betrachtung, die homerischen Gedichte selbst.


Es ist wahr, die homerischen Gedichte bezeichnen für
uns den frühesten, deutlicher Kunde erreichbaren Punct grie-
chischer Culturentwicklung. Aber sie stehen ja keineswegs
am ersten Beginn dieser Entwicklung überhaupt. Selbst am
Anfang griechischer Heldendichtung, soweit diese der Nach-
welt bekannt geworden ist, stehen sie nur darum, weil sie zu-
erst, wegen ihrer inneren Herrlichkeit und Volksbeliebtheit, der
dauernden Aufbewahrung durch die Schrift gewürdigt worden
sind. Ihr Dasein schon und die Höhe ihrer künstlerischen
[13] Vollendung nöthigen uns anzunehmen, dass ihnen eine lange
und lebhafte Entwicklung poetischer Sage und Sagendichtung
voranliege; die Zustände, welche sie als bestehend darstellen
und voraussetzen, zeigen den langen Weg vom Wanderleben zur
städtischen Ansiedelung, vom patriarchalischen Regiment zum
Organismus der griechischen Polis als völlig durchmessen, und
wie die Reife der äusseren Entwicklung, so beweist die Reife
und Milde der Bildung, die Tiefe zugleich und Freiheit der
Weltvorstellung, die Klarheit und Einfachheit der Gedanken-
welt, die diese Gedichte widerspiegeln, dass vor Homer, um
bis zu Homer zu gelangen, das Griechenthum viel gedacht und
gelernt, mehr noch überwunden und abgethan haben muss.
Wie in der Kunst so in aller Cultur ist das einfach Angemessene
und wahrhaft Treffende nicht das Uranfängliche, sondern der
Gewinn langer Mühe. Es ist von vorne herein undenkbar,
dass auf dem langen Wege griechischer Entwicklung vor Homer
einzig die Religion, das Verhältniss des Menschen zu unsicht-
baren Gewalten, stets auf Einem Puncte beharrt sein sollte.
Nicht aus Vergleichung der Glaubensentwicklung bei stamm-
verwandten Völkern, auch nicht aus der Beachtung uralter-
thümlich scheinender Vorstellungen und Gebräuche des religiösen
Lebens griechischer Stämme, die uns in späterer Zeit begegnen,
wollen wir Aufschlüsse über die Cultgebräuche jener ältesten
griechischen Vorzeit zu gewinnen suchen, in welche eben Homers
Gedichte, sich mächtig vorschiebend, uns den Einblick ver-
sperren. Solche Hülfsmittel, an sich unverächtlich, dürfen nur
zur Unterstützung einer aus weniger trüglichen Betrachtungen
gewonnenen Einsicht verwendet werden. Unsere einzige zuver-
lässige Quelle der Kenntniss des vorhomerischen Griechenthums
ist Homer selbst. Wir dürfen, ja wir müssen auf eine Wand-
lung der Vorstellungen und Sitten schliessen, wenn in der sonst
so einheitlich abgeschlossenen homerischen Welt einzelne Vor-
gänge, Sitten, Redewendungen uns begegnen, die ihre zureichende
Erklärung nicht aus der im Homer sonst herrschenden, sondern
allein aus einer wesentlich anders gearteten, bei Homer sonst
[14] zurückgedrängten Allgemeinansicht gewinnen können. Es gilt
nur, die Augen nicht, in vorgefasster Meinung, zu verschliessen
vor diesen „Rudimenten“ (survivals nennen sie deutlicher eng-
lische Gelehrte) einer abgethanen Culturstufe mitten im Homer.


5.


Es fehlt in den homerischen Gedichten nicht an Rudi-
menten eines einst sehr lebhaften Seelencultes. Vor Allem ist
hier dessen zu gedenken, was die Ilias von der Behandlung
der Leiche des Patroklos erzählt. Man führe sich nur die
Hauptzüge dieser Erzählung vor das Gedächtniss. Am Abend
des Tages, an dem Hektor erschlagen ist, stimmt Achill mit
seinen Myrmidonen die Todtenklage um den Freund an; drei-
mal umfahren sie die Leiche, Achill, dem Patroklos die „mör-
derischen Hände“ auf die Brust legend, ruft ihm zu: „Gruss
dir, mein Patroklos, noch an des Aïdes Wohnung“; was ich
dir zuvor gelobt, das wird jetzt alles vollbracht. Hektor liegt
erschlagen als Beute der Hunde, und zwölf edle Troerjüng-
linge werde ich an deinem Todtenfeuer enthaupten. Nach Ab-
legung der Waffen rüstet er den Seinen das Todtenmahl,
Stiere, Schafe, Ziegen und Schweine werden geschlachtet, „und
rings strömte, mit Bechern zu schöpfen, das Blut um den
Leichnam“. — In der Nacht erscheint dem Achill im Traume
die Seele des Patroklos, zu eiliger Bestattung mahnend. Am
Morgen zieht das Myrmidonenheer in Waffen aus, die Leiche
in der Mitte führend; die Krieger streuen ihr abgeschnittenes
Haupthaar auf die Leiche, zuletzt legt Achill sein eignes Haar
dem Freunde in die Hand: einst war es vom Vater dem Fluss-
gott Spercheios gelobt, nun soll, da Heimkehr dem Achill doch
nicht bescheert ist, es Patroklos mit sich nehmen. Der Scheiter-
haufen wird geschichtet, viele Schafe und Rinder geschlachtet,
mit deren Fett wird der Leichnam umhüllt, ihre Leiber werden
umher gelegt, Krüge voll Honig und Oel um die Leiche ge-
stellt. Nun schlachtet man vier Pferde, zwei dem Patroklos
gehörige Hunde, zuletzt zwölf, von Achill zu diesem Zwecke
[15] lebendig gefangene troische Jünglinge; Alles wird mit dem
Leichnam verbrannt; die ganze Nacht hindurch giesst Achill
dunklen Wein auf die Erde, die Psyche des Patroklos herbei-
rufend. Erst am Morgen löscht man mit Wein das Feuer,
die Gebeine des Patroklos werden gesammelt, in einen goldenen
Krug gelegt und im Hügel beigesetzt.


Hier hat man die Schilderung einer Fürstenbestattung vor
sich, die schon durch die Feierlichkeit und Umständlichkeit
ihrer mannichfachen Begehungen gegen die bei Homer sonst
hervortretenden Vorstellungen von der Nichtigkeit der aus dem
Leibe geschiedenen Seele seltsam absticht. Hier werden einer
solchen Seele volle und reiche Opfer dargebracht. Unverständ-
lich sind diese Darbringungen, wenn die Seele, nach ihrer Tren-
nung vom Leibe, alsbald bewusstlos, kraftlos und ohnmächtig
davon flattert, also auch keinen Genuss vom Opfer haben kann.
Und so ist es ja begreiflich, dass eine den Homer möglichst
isolirende und in dem deutlich bestimmten Kreise seiner Vor-
stellungen festhaltende Betrachtungsweise sich zu sträuben pflegt,
den Opfercharakter der hier dargebrachten Gaben anzuerkennen 1).
Man fragt aber vergebens, was denn anders als ein Opfer, d. h.
eine beabsichtigte Labung des Gefeierten, hier der Psyche, sein
könne das Umrieseln der Leiche mit Blut, das Abschlachten
und Verbrennen der Rinder und Schafe, Pferde und Hunde
und zuletzt der zwölf troischen Gefangenen an und auf dem
Scheiterhaufen? Von der Erweisung reiner Pietätspflichten,
wie man sonst wohl bei Erörterung mancher Gräuelbilder
griechischen Opferrituals zu thun liebt, wird man uns hier ja
nicht reden wollen. Homer kennt allerdings manche Begehungen
reiner Pietät an der Leiche, aber die zeigen ein ganz andres
Gesicht. Und nicht etwa zur Stillung der Rachbegier des
Achill werden hier, das Grausigste, Menschen geschlachtet:
zweimal ruft Achill der Seele des Patroklos zu, ihr bringe
er dar, was er vordem ihr gelobt habe. (Il. 23, 20 ff. 180 ff.) 2).
[16] Die ganze Reihe dieser Opfer ist völlig von der Art, die man
für die älteste Art der Opferung halten darf, und die uns
später in griechischem Ritual vielfach im Cult der Unterirdischen
begegnet. Nur dem Dämon, nicht der Gemeinde, gleich an-
deren Opfern, zum Genuss, wird das Opferthier völlig verbrannt.
Sieht man in solchen Holokausten für die chthonischen und
manche olympische Gottheiten Opfergaben, so hat man kein Recht,
den Begehungen am Scheiterhaufen des Patroklos einen anderen
Sinn unterzuschieben. Die Darbringungen von Wein, Oel und
Honig sind ebenfalls späterem Opferritus geläufig. Selbst das
abgeschnittene Haar, dem Todten auf den Leib gestreut, in
die starre Hand gelegt, ist eine Opfergabe, hier so gut wie in
späterem griechischen Cultus und in dem Cultus vieler Völker 1).
Ja ganz besonders diese Gabe, als symbolische Vertretung
werthvollen Opfers durch einen an sich nutzlosen Gegenstand
(bei dessen Darbringung einzig der gute Wille geschätzt sein
will) lässt, wie alle solche symbolische Opfergaben, auf eine
lange Dauer und Entwicklung des Cultes, dem sie eingefügt ist,
hier also des Seelencultes in vorhomerischer Zeit schliessen.


Der ganzen Erzählung liegt die Vorstellung zu Grunde,
2)
[17] dass durch Ausgiessung fliessenden Blutes, durch Weinspenden
und Verbrennung menschlicher und thierischer Leichen die
Psyche eines jüngst Verstorbenen erquickt werden könne.
Jedenfalls wird sie hierbei als menschlichem Gebete noch er-
reichbar, als in der Nähe der Opfer verweilend gedacht. Das
widerspricht sonstiger homerischer Darstellung, und eben um
eine solche, seinen Hörern schon nicht mehr geläufige Vor-
stellung sinnfällig und im einzelnen Falle annehmbar zu machen,
hat wohl — wozu sonst durch den Verlauf der Erzählung
keine Veranlassung gegeben war 1) — der Dichter die Psyche
des Patroklos Nachts dem Achilleus erscheinen lassen. So ruft
denn auch bis zum Ende der ganzen Begehung Achill der
Seele des Patroklos, wie einer anwesenden, seinen Gruss wieder-
holt zu 2). Es scheint freilich in der Art, wie Homer diese,
von seiner sonstigen Auffassung sich entfernenden Handlungen
durchführt, eine gewisse Unklarheit über die eigentlich zu
Grunde liegenden, alterthümlich rohen Vorstellungen durch,
eine gewisse Zaghaftigkeit des Dichters lässt sich in der,
sonstiger homerischer Art gar nicht entsprechenden Kürze
spüren, mit der das Grässlichste, die Hinschlachtung der Men-
schen sammt den Pferden und Hunden erzählt wird. Man
merkt überall: er ist es wahrlich nicht, der so grausige Vor-
gänge zum ersten Mal aus seiner Phantasie erzeugt; übernom-
men (woher auch immer 3), nicht erfunden hat Homer diese
Rohde, Seelencult. 2
[18] Bilder heroischen Seelencultes. Sie müssen ihm dienen, um
jene Reihe von Scenen wild aufgestachelter Leidenschaft, die
mit dem tragischen Tode des Patroklos begann, mit dem Fall
und der Schleifung des troischen Vorkämpfers endigte, in einem
letzten Fortissimo zum Schluss zu bringen. Nach so heftiger
Erregung aller Empfindungen sollten die überspannten Kräfte
nicht auf einmal zusammensinken; noch ein letzter Rest des
übermenschlichen Pathos, mit dem Achill unter den Feinden
gewüthet hat, lebt sich in der Ausrichtung dieses gräuelvollen
Opfermahles für die Seele des Freundes aus. Es ist als ob
uralte, längst gebändigte Rohheit ein letztes Mal hervorbräche.
Nun erst, nachdem Alles vollendet ist, sinkt Achills Seele zu
wehmüthiger Ergebung herab; in gleichmüthigerer Stimmung
heisst er nun die Achäer „in weitem Ringe“ niedersitzen; es
folgen jene herrlichen Wettkämpfe, deren belebte Schilderung
das Entzücken jedes erfahrenen Agonisten — und wer war
das unter Griechen nicht? — erregen musste. Gewiss stehen
in dem homerischen Gedichte diese Wettkämpfe wesentlich um
des zugleich künstlerischen und stofflichen Interesses, das ihre
Darstellung gewährte; dass als Abschluss der Bestattungsfeier
solche Kampfspiele vorgenommen werden, ist gleichwohl nur
verständlich als Rudiment eines alten lebhafteren Seelencultes.
Solche Wettspiele zu Ehren jüngst verstorbener Fürsten wer-
den bei Homer noch mehrmals erwähnt 1), ja Homer kennt als
Gelegenheiten zu wetteifernder Bemühung um ausgesetzte
Preise nur Leichenspiele 2). Die Sitte ist nie völlig abgekom-
3)
[19] men, und es hat sich in nachhomerischer Zeit die Sitte, Feste
der Heroen, dann erst solche der Götter mit Wettspielen,
die allmählich in regelmässiger Wiederholung gefeiert wurden,
zu begehen, hervorgebildet eben aus dem Herkommen, mit
Kampfspielen die Bestattungsfeier vornehmer Männer zu be-
schliessen. Dass nun der Agon am Heroen- oder Götterfest
einen Theil des Cultus des Gottes oder Heros ausmachte, ist
unbezweifelt; man sollte vernünftiger Weise es ebenso unzweifel-
haft finden, dass die nur einmal begangenen Leichenspiele bei
der Bestattung eines fürstlichen Todten zum Cultus des Ver-
storbenen gehörten, und dass man solchen Cultus eingesetzt
haben kann nur zu einer Zeit, wo man der Seele, welcher
die Feier galt, einen sinnlichen Mitgenuss an den Spielen zu-
schrieb. Noch Homer hat das deutliche Bewusstsein, dass
nicht reiner Ergötzlichkeit der Lebenden, sondern dem Todten
die Spiele, wie andere Darbringungen auch, geweiht sind 1);
wir dürfen uns der Meinung des Varro 2) anschliessen, dass Ver-
storbene, denen man Leichenspiele widmete, damit ursprünglich
wenn nicht als göttlich doch als gottähnlich gedacht bezeichnet
sind. Allerdings konnte dieser Theil des alten Seelencultes seines
wahren Sinnes am leichtesten entkleidet werden: er gefiel auch
ohne das Bewusstsein seines religiösen Grundes; ebendarum
blieb er länger als andere Begehungen in allgemeiner Uebung 3).


Nun aber, die ganze Reihe der zu Ehren der Seele des
Patroklos vorgenommenen Begehungen überblickend, schliesse
man aus all diesen gewaltigen Anstalten zur Befriedigung der
2*
[20] abgeschiedenen Seele zurück auf die Mächtigkeit der ur-
sprünglichen Vorstellung von kräftig gebliebener Empfindung,
von Macht und Furchtbarkeit der Psyche, der ein solcher Cult
gewidmet wurde. Für den Cult der Seele gilt, wie für allen
Opfergebrauch, dass seine Ausübung sich nur aus der Hoffnung,
Schädigung von Seiten der Unsichtbaren abzuwenden, Nutzen
zu gewinnen, erklärt 1). Eine Zeit, die keinen Nutzen und
Schaden mehr von der „Seele“ erwartete, konnte aus freier
Pietät dem entseelten Leibe allerlei letzte Dienste erweisen,
dem Verstorbenen gewisse herkömmliche „Ehren“ bezeigen,
mehr den Schmerz der Hinterbliebenen als eine Verehrung des
Abgeschiedenen bezeichnend 2). Und so geschieht es bei Homer
zumeist. Nicht aus dem, was wir Pietät nennen, sondern aus
Angst vor einem, durch sein Abscheiden vom Leibe mächtiger
gewordenen „Geiste“ erklären sich so überschwängliche Leichen-
spenden, wie sie beim Begräbniss des Patroklos aufgewendet
werden. Aus der dem Homer sonst geläufigen Vorstellungs-
art erklären sie sich auf keine Weise. Dass dieser Vorstellung
freilich die Angst vor den unsichtbaren Seelen völlig fremd
geworden war, zeigt sich besonders noch daran, dass auch die
Verehrung eines so hochgefeierten Todten wie Patroklos auf
die einzige Gelegenheit seiner Bestattung beschränkt ist. Nach
vollendeter Verbrennung des Leibes, so verkündigt die Psyche
des Patroklos selbst dem Achill, wird diese Psyche in den
Hades abscheiden, um nie wiederzukehren 3). Man begreift
wohl, dass zu einem fortgesetzten Cultus der Seele (wie ihn
[21] das spätere Griechenthum eifrig übte) auf diesem Standpunkte
alle Veranlassung fehlte. Man bemerke aber auch, dass die
überreiche Labung der Seele des Patroklos beim Leichen-
begängniss keinen vollen Sinn mehr hat, wenn das Wohlwollen
der Seele, das hierdurch gesichert werden soll, später gar keine
Gelegenheit sich zu bethätigen hat. Aus der Incongruenz der
homerischen Glaubenswelt mit diesen eindrucksvollen Vorgängen
ist mit Bestimmtheit zu entnehmen, dass die herkömmliche
Meinung, nach welcher die Darstellung des Seelencultes am
Scheiterhaufen des Patroklos Ansätzen zu neuen und leben-
digeren Vorstellungen vom Leben der abgeschiedenen Seele
entsprechen soll, unmöglich richtig sein kann. Wo neu hervor-
drängende Ahnungen, Wünsche und Meinungen sich einen
Ausdruck in äusseren Formen suchen, da pflegen die neuen
Gedanken unvollständiger in den unfertigen äusseren Formen,
klarer und bewusster, mit einem gewissen Ueberschuss, in den
schneller voraneilenden Worten und Aeusserungen der Menschen
sich darzustellen. Hier ist es umgekehrt: einem reich ent-
wickelten Ceremoniell widersprechen alle Aussagen des Dichters
über die Verhältnisse, deren Ausdruck die Ceremonie sein
müsste, nirgends — oder wo etwa? — tritt ein Zug nach der
Richtung des Glaubens hervor, den das Ceremoniell vertritt,
die Tendenz ist eher eine entschieden und mit Bewusstsein
entgegengesetzte. Es kann nicht der geringste Zweifel darüber
bestehen, dass in der Bestattungsfeier für Patroklos nicht ein
Keim neuer Bildungen, sondern ein „Rudiment“ des lebhafteren
Seelencultes einer vergangenen Zeit zu erkennen ist, eines Cultus,
der einst der völlig entsprechende Ausdruck für den Glauben
an grosse und dauernde Macht der abgeschiedenen Seelen
gewesen sein muss, nun aber in einer Zeit sich unversehrt
erhalten hat, die, aus anders gewordenem Glauben heraus, den
Sinn solcher Culthandlungen nur halb oder auch gar nicht
mehr versteht. So pflegt ja überall der Brauch die Stim-
mung und den Glauben, die ihn entstehen liessen, zu über-
leben.


[22]

6.


Die beiden Gedichte enthalten nichts, was als Rudiment
alten Seelencultes den Scenen bei der Bestattung des Patroklos
an Mächtigkeit verglichen werden könnte. Gänzlich fehlen
solche Rudimente auch unter den Vorgängen der gewöhnlichen
Todtenbestattung nicht. Man schliesst dem Verstorbenen Augen
und Mund 1), bettet ihn, nachdem er gewaschen und gesalbt,
in ein reines Leintuch gehüllt ist, auf dem Lager 2), und es
[23] beginnt die Todtenklage 1). In diesen Gebräuchen, wie in den
auf die Verbrennung folgenden sehr einfachen Beisetzungs-
sitten (die Gebeine werden in einen Krug oder einen Kasten
gesammelt und in einem Hügel vergraben, den ein Mal als
Grabhügel bezeichnet 2]) wird man kaum einen leisesten Nach-
klang an ehemals lebhafteren Cultus der Seele verspüren
können. Wenn aber mit dem Elpenor, wie dessen Seele
den Odysseus geheissen hat (Od. 11, 74), seine Waffen ver-
brannt werden (Od. 12, 13), wenn auch Achill mit dem er-
legten Feinde zugleich dessen Waffen auf dem Scheiterhaufen
verbrennt (Il. 6, 418), so lässt sich wiederum das Rudiment
alten Glaubens nicht verkennen, nach welchem die Seele in
irgend einer geheimnissvollen Weise noch Gebrauch von dem
gleich ihrer Leibeshülle verbrannten Geräth machen kann.
Niemand zweifelt daran, dass, wo gleiche Sitte bei anderen
Völkern sich findet, eben dies der Grund der Sitte sei; auch
bei den Griechen hatte sie einst einen völlig zureichenden
Grund, den sie freilich im homerischen Seelenglauben nicht
mehr finden kann. Der Brauch, in diesen einzelnen Fällen
genauer bezeichnet, stand übrigens in allgemeiner Uebung;
mehrfach ist davon die Rede, wie zu einem vollständigen Be-
gräbniss das Verbrennen der Habe des Todten gehöre 3). Wie
2)
[24] weit die ursprünglich ohne Zweifel wörtlich genommene Ver-
pflichtung, dem Todten seinen gesammten beweglichen Besitz
mitzugeben, in homerischer Zeit schon zu symbolischer Be-
deutung (deren unterste Stufe die später übliche Mitgebung
eines Obols „für den Todtenfährmann“ war) herabgemindert
war, wissen wir nicht. Endlich wird das Leichenmahl,
welches nach beendigtem Begräbniss eines Fürsten (Il. 24,
802. 665) oder auch vor der Verbrennung der Leiche (Il. 23,
29 ff.) dem leidtragenden Volke von dem König ausgerichtet
wird, seinen vollen Sinn wohl nur aus alten Vorstellungen,
welche der Seele des also Geehrten einen Antheil an dem
Mahle zuschrieben, genommen haben. An dem Mahl zu
Patroklos’ Ehren nimmt ersichtlich der Todte, dessen Leib mit
dem Blut der geschlachteten Thiere umrieselt wird (Il. 23, 34),
seinen Theil. Aehnlich den Leichenspielen scheint dieses Todten-
mahl bestimmt zu sein, die Seele des Verstorbenen freundlich
zu stimmen: daher selbst Orest, nachdem er den Aegisthos,
seines Vaters Mörder, erschlagen hat, das Leichenmahl aus-
richtet (Od. 3, 309), sicherlich doch nicht aus harmloser „Pie-
tät“. Die Sitte solcher Volksspeisungen bei fürstlichen Be-
gräbnissen begegnet in späterer Zeit nicht mehr; sie ist den
später üblichen Leichenmahlen der Familie des Verstorbenen
(περίδειπνα) weniger ähnlich als den, neben den silicernia in
Rom vorkommenden grossen cenae ferales, zu denen Ver-
wandte vornehmer Verstorbener das ganze Volk luden 1). Im
Grunde ist die hierbei vorausgesetzte Betheiligung der Seele
an dem Leichenmahle des Volkes nicht schwerer zu verstehen
als die vorausgesetzte Theilnahme des Gottes an einem grossen
Opfermahle, das, von den Menschen genossen, doch „das Mahl
der Götter“ (Od. 3, 336) heisst und sein soll.


3)


[25]

So weit reichen die Rudimente alten Seelencultes inmitten
der homerischen Welt. Länger, über die Bestattung hinaus fort-
gesetzte Sorge um die Seelen der Verstorbenen schneidet die
tief eingeprägte Vorstellung ab, dass nach der Verbrennung des
Leibes die Psyche aufgenommen sei in eine unerreichbare Welt
der Unsichtbarkeit, aus der keine Rückkehr ist. Für dieses
völlige Abscheiden der Seele ist allerdings die Verbrennung
des Leibes unerlässliche Voraussetzung. Wenn in Ilias oder
Odyssee bisweilen gesagt wird, unmittelbar nachdem der Tod
eingetreten und noch ehe der Leib verbrannt ist: „und die
Psyche ging zum Hades“ 1), so darf man hierin einen nicht
ganz genauen Ausdruck erkennen: nach dem Hades zu ent-
fliegt allerdings die Seele sofort, aber sie schwebt nun zwischen
dem Reiche der Lebenden und dem der Todten, bis dieses sie
zu endgiltigem Verschluss aufnimmt nach Verbrennung des
Leibes. So sagt es die Psyche des Patroklos, als sie nächtens
dem Achill erscheint: sie fleht um schnelle Bestattung, damit
sie durch das Thor des Hades eingehen könne; noch wehren
die anderen Schattenbilder ihr den Eingang, den Uebergang
über den Fluss, unstätt irre sie um das weitthorige Haus des
Aïs (Il. 23, 71 ff.). Nur dieses Enteilen nach dem Hades zu
bedeutete es also, wenn auch von Patroklos erzählt wurde: als
er starb, entflog die Psyche aus den Gliedern zum Hause des
Hades (Il. 16, 856). Ganz ebenso heisst es von Elpenor, dem
Genossen des Odysseus, dass seine Seele „zum Hades hinab-
ging“ (Od. 10, 560), sie begegnet aber nachher dem Freunde
am Eingang des Schattenreiches, noch nicht ihres Bewusstseins,
[26] gleich den Bewohnern des finstern Hauses selbst, beraubt, und
bedarf noch der Vernichtung ihres leiblichen Doppelgängers,
ehe sie im Hades Ruhe finden kann. Erst durch das Feuer
werden die Todten „besänftigt“ (Il. 7, 410); so lange die
Psyche ein „Erdenrest“ festhält, hat sie also noch eine Em-
pfindung, ein Bewusstsein von den Vorgängen unter den Le-
benden 1).


Nun endlich ist der Leib vernichtet im Feuer, die Psyche
ist in den Hades gebannt, keine Rückkehr zur Oberwelt ist
ihr gestattet, kein Hauch der Oberwelt dringt zu ihr; sie kann
selbst nicht hinauf mit ihren Gedanken, sie denkt ja nicht mehr,
sie weiss nichts mehr vom Jenseits. Und der Lebende ver-
gisst die so völlig von ihm getrennte (Il. 22, 389). Wie sollte
er durch einen Cult im ferneren Leben eine Verbindung mit
ihr herstellen zu wollen sich vermessen?


7.


Vielleicht giebt eben die Sitte des Verbrennens der Leiche
ein letztes Zeugniss dafür, dass einst die Vorstellung eines
dauernden Haftens der Seele am Reiche der Lebenden, einer
Einwirkung derselben auf die Ueberlebenden unter den Griechen
in Kraft stand. Homer weiss von keiner anderen Art der Be-
stattung als der durch Feuer. Mit feierlichen Begehungen
wird der todte König oder Fürst, mit weniger Umständlichkeit
die Masse der im Kriege Gefallenen verbrannt; begraben wird
Niemand. Man darf sich wohl fragen: woher stammt dieser
Gebrauch, welchen Sinn hatte er für die Griechen des home-
rischen Zeitalters? Nicht von vorne herein die nächstliegende ist
diese Art, die Leiche zu beseitigen; einfacher zu bewerkstelligen,
weniger kostspielig ist doch das Eingraben in die Erde.
[27] Man hat vermuthet, das Brennen, wie es Perser, Germanen,
Slaven u. a. Volksstämme übten, stamme aus einer Zeit des
Nomadenlebens. Die wandernde Horde hat keine bleibende
Wohnstätte, in welcher oder bei welcher die Leiche des geliebten
Todten eingegraben, seiner Seele dauernde Nahrung geboten
werden könnte; sollte nicht, nach der Art einiger Nomaden-
stämme, der todte Leib den Lüften und Thieren preisgegeben
werden, so konnte man wohl darauf verfallen, ihn zu Asche zu ver-
brennen und im leichten Krug die Reste auf die weitere Wanderung
mitzunehmen 1). Ob solche Zweckmässigkeitsgründe gerade auf
diesem Gebiet, das zumeist einer, aller Zweckmässigkeit spottenden
Phantastik preisgegeben ist, sonderlich viel ausgerichtet haben
mögen, lasse ich unerörtert. Wollte man unter Griechen die
Sitte des Leichenbrandes aus ehemaligem Nomadenleben ableiten,
so würde man doch in allzu entlegene Zeitfernen zurückgreifen
müssen, um eine Sitte zu erklären, die, ehedem unter Griechen
keineswegs ausschliesslich herrschend, uns, als allein in Uebung
stehend, in Zeiten längst befestigter Sesshaftigkeit begegnet.
Die asiatischen Griechen, die Jonier zumal, deren Volksglauben
und Sitten, im zusammenfassenden und verallgemeinernden Bilde
allerdings, Homers Gedichte wiederspiegeln, waren aus einem
sesshaften Leben aufgebrochen, um sich in neuer Heimath ein
nicht minder sesshaftes Leben zu begründen. Und doch muss
[28] die Sitte des Leichenbrandes ihnen so ausschliesslich geläufig
gewesen sein, dass eine andere Weise der Bestattung ihnen
gar nicht in den Sinn kam. In den homerischen Gedichten
werden nicht nur die Griechen vor Troja, nicht nur Elpenor
fern der Heimath, nach dem Tode verbrannt; auch den Eetion
bestattet in dessen Vaterstadt Achill durch Feuer (Il. 6, 418),
auch Hektor wird ja mitten in Troja durch Feuer bestattet,
auch die Troer überhaupt verbrennen ja, im eigenen Lande,
ihre Todten (Il. 7). Die Lade oder Urne, welche die ver-
brannten Gebeine enthält, wird im Hügel geborgen, in der Fremde
ruht die Asche des Patroklos, des Achill, des Antilochos, des
Ajas (Od. 3, 109 ff.; 24, 76 ff.), Agamemnon denkt nicht daran,
dass, wenn sein Bruder Menelaos vor Ilios sterbe, dessen Grab
anderswo sein könne, als in Troja (Il. 4, 174 ff.). Es besteht
also nicht die Absicht, die Reste des Leichnams nach der
Heimath mitzunehmen 1), nicht dies kann der Grund des Brennens
sein. Man wird sich nach einem anderen, alterthümlicher
Empfindungsweise näher als die Rücksicht auf einfache Zweck-
mässigkeit liegenden Grunde umsehen müssen. Jakob Grimm 2)
hat die Vermuthung ausgesprochen, dass der Brand der Leiche
eine Opferung des Gestorbenen für den Gott bedeute. In
Griechenland könnte dies nur ein Opfer für die Unterirdischen
sein; aber nichts weist in griechischem Glauben und Brauch
auf eine so grausige Vorstellung hin 3). Den wahren Zweck
des Leichenverbrennens wird man nicht so weit zu suchen
haben. Wenn als Folge der Vernichtung des Leibes durch
[29] Feuer die gänzliche Abtrennung der Seele vom Lande der
Lebenden gedacht wird 1), so muss man doch annehmen, dass
eben dieser Erfolg von den Ueberlebenden, die ihn selbst her-
beiführen, gewollt werde, dass also diese gänzliche Verbannung
der Psyche in den Hades der Zweck, die Absicht, dies zu
erreichen, der Entstehungsgrund des Leichenverbrennens war.
Vereinzelte Aussagen aus der Mitte solcher Völker, welche
an Verbrennung der Leichen gewöhnt waren, bezeichnen als
die hiebei verfolgte Absicht geradezu die schnelle und völlige
Scheidung der Seele vom Leibe 2). Je nach dem Stande des
Seelenglaubens färbt sich diese Absicht verschieden. Als die
Inder von der Sitte des Begrabens zu der der Verbrennung
des Leichnams übergingen, scheinen sie von der Vorstellung
geleitet worden zu sein, dass die Seele, vom Leibe und dessen
Mängeln schnell und völlig befreit, um so leichter zu der jen-
seitigen Welt der Frommen getragen werde 3). Von einer
„reinigenden“ Kraft des Feuers, wie sie hier vorausgesetzt
wird, weiss in Griechenland erst späterer Glaube 4); die
[30] Griechen des homerischen Zeitalters, denen ähnliche kathar-
tische Gedanken noch sehr ferne lagen, denken nur an die ver-
nichtende Gewalt des Elementes, dem sie den todten Leib an-
vertrauen. Schneller als Feuer kann nichts den sichtbaren
Doppelgänger der Psyche verzehren: ist dies geschehen, und
sind auch die liebsten Besitzthümer des Verstorbenen im Feuer
vernichtet, so hält kein Haft die Seele mehr im Diesseits fest.


So sorgt man durch Verbrennung des Leibes für die
Todten, die nun nicht mehr rastlos umherschweifen, mehr noch
für die Lebenden, denen die Seelen, in die Erdtiefe verbannt,
nie mehr begegnen können. Homers Griechen, seit Langem
an die Leichenverbrennung gewöhnt, sind aller Furcht vor „um-
gehenden“ Geistern ledig. Aber als man sich zuerst der Feuer-
bestattung zuwandte, da muss man das, was die Vernichtung des
Leibes in Zukunft verhüten sollte, doch wohl gefürchtet
haben 1). Die man so eifrig nach dem unsichtbaren Jenseits
abdrängte, die Seelen, muss man als unheimliche Mitbewohner
der Oberwelt gefürchtet haben. Und somit enthält auch die
Sitte des Leichenbrandes (mag sie woher auch immer den
Griechen zugekommen sein) 2), eine Bestätigung der Meinung,
dass einst ein Glaube an Macht und Einwirkung der Seelen
auf die Lebenden — mehr Furcht als Verehrung — unter
Griechen lebendig gewesen sein muss, von dem in den homeri-
schen Gedichten nur wenige Rudimente noch Zeugniss geben.


4)


[31]

8.


Und Zeugnisse dieses alten Glaubens können wir jetzt mit
Augen sehen und mit Händen greifen. Durch unschätzbare
Glücksfügungen ist es uns verstattet, in eine ferne Vorzeit des
Griechenthums einen Blick zu thun, auf deren Hintergrund
Homer, nun nicht mehr der früheste Zeuge von griechischem
Leben und Glauben, uns plötzlich viel näher als bisher,
vielleicht trügerisch nahe gerückt erscheint. Das letzte Jahr-
zehent hat auf der Burg und in der Unterstadt Mykenae, an
anderen Orten des Peloponnes, in Attika und bis nach
Thessalien hinauf Gräber erschlossen, Schachte, Kammern und
kunstreiche Gewölbe, die in der Zeit vor der dorischen Wande-
rung gebaut und zugemauert sind. Diese Gräber lehren uns,
dass (worauf selbst in Homers Gedichten einzelne Spuren
führen) 1) dem homerischen „Brennalter“ auch bei den Griechen 2)
eine Zeit voranging, in der, wie einst auch bei Persern, Indern,
Deutschen, die Todten unversehrt begraben wurden. Begraben
sind die Fürsten und Frauen der goldreichen Mykene, nicht
minder (in den Gräbern bei Nauplia, in Attika u. s. w.) geringeres
Volk. Den Fürsten ist reicher Vorrath an kostbarem Geräth
und Schmuck mitgegeben, unverbrannt, wie ihre eigenen Leichen
nicht verbrannt worden sind; sie ruhen auf Kieseln, und sind
mit einer Lehmschicht und Kiesellage bedeckt 3); Spuren von
Rauch, Reste von Asche und Kohlen weisen darauf hin, dass
man die Körper gebettet hat auf die Brandstelle der Todten-
opfer
, die man in dem Grabraume vorher dargebracht hatte 4).
Dies mag uralter Bestattungsgebrauch sein. In den ältesten
unserer „Hünengräber“, deren Schätze noch keinerlei Metall
zeigen, und die man darum für vorgermanisch halten will, hat
man gleiche Anlage gefunden. Auf dem Boden, bisweilen auf
einer gelegten Schicht von Feuersteinen ist der Opferbrand ent-
[32] zündet worden, und dann auf den verloschenen Brand der Opfer-
stelle die Leiche gebettet und mit Sand, Lehm und Steinen zu-
gedeckt worden 1). Reste von verbrannten Opferthieren (Schafen
und Ziegen) sind auch in den Gräbern bei Nauplia und anders-
wo gefunden worden 2). Es entsprach also dem verschiedenen
Bestattungsgebrauch auch eine von der homerischen ver-
schiedene Vorstellung von dem Wesen und Wirken der abge-
schiedenen Seelen. Ein Todtenopfer bei der Bestattung, wie es
bei Homer nur noch bei seltenster Gelegenheit nach veraltetem,
unverstandenem Gebrauche vereinzelt dargebracht wird, tritt
uns hier, in prunkvollen wie in armen Gräbern als herrschende
Sitte entgegen. Wie sollte aber ein Volk, das seinen Todten
Opfer darbrachte, nicht an deren Macht geglaubt haben? Und
wie sollte man Gold und Geschmeide, und Kunstgeräthe aller
Art, in erstaunlicher Menge den Lebenden entzogen, den
Todten mit in’s Grab gegeben haben, wenn man nicht geglaubt
hätte, dass an seinem alten Besitz noch in der Grabeshöhle
der Todte sich freuen könne? Wo der Leib unaufgelöst ruht,
dahin kann auch das zweite Ich wenigstens zeitweise wieder-
kehren; dass es nicht auf der Oberwelt ungerufen erscheine,
verhütet die Mitbeisetzung seiner besten Schätze in der Gruft 3).


Kann aber die Seele zurückkehren, wohin es sie zieht, so
wird man auch den Seelencult nicht auf die Begehungen bei
der Bestattung beschränkt haben. Und wirklich, wovon wir bei
[33] Homer bisher nicht einmal ein Rudiment gefunden haben, von
einem Seelencult nach beendigter Bestattung, auch hiervon
hat, wie mir scheint, das vorhomerische Mykenae uns eine
Spur bewahrt. Ueber der Mitte des vierten der auf der Burg
gefundenen Schachtgräber hat sich ein Altar gefunden, der
dort erst aufgerichtet sein kann, als das Grab zugeschüttet
und geschlossen war 1). Es ist ein runder Altar, hohl in der
Mitte, auch im untersten Grunde nicht durch eine Platte ab-
geschlossen. Also eine Art Röhre, direct auf der Erde auf-
stehend. Liess man etwa das Blut des Opferthieres, die ge-
mischte Flüssigkeit des Trankopfers in diese Röhre hineinfliessen,
so rieselte das Nass direct in die Erde hinein, hinunter zu
den Todten, die drunten gebettet waren. Dies ist kein Altar
(βωμός) für die Götter, sondern ein Opferheerd (ἐσχάρα) für
die Unterirdischen: genau entspricht dies Bauwerk den Be-
schreibungen solcher Heerde, an denen man die „Heroen“,
d. h. die verklärten Seelen später zu verehren pflegte 2). Wir
sehen hier also eine Einrichtung für dauernden und wieder-
holten Seelencult vor uns; denn nur solchem Dienste kann
diese Stätte bestimmt gewesen sein; das Todtenopfer bei der
Bestattung war ja bereits im Inneren des Grabes vollzogen.
Und so scheint auch in den Kuppelgräbern der gewölbte Haupt-
raum, neben dem die Leichen in kleinerer Kammer ruhten,
zur Darbringung der Todtenopfer, und sicherlich nicht nur ein-
maliger, bestimmt gewesen zu sein. Wenigstens dient anderswo
in Gräbern mit doppelter Kammer der Vorderraum solchem
Rohde, Seelencult. 3
[34] Zwecke. Durch den Augenschein bestätigt sich also, was aus
Homers Gedichten nur mühsam erschlossen werden konnte: es
gab eine Zeit, in der auch die Griechen glaubten, dass nach
der Trennung vom Leibe die Psyche nicht gänzlich abscheide
von allem Verkehr mit der Oberwelt, in der solcher Glaube
auch bei ihnen einen Seelencult, auch über die Zeit der Bestattung
des Leibes hinaus, hervorrief, der freilich in homerischer Zeit,
bei veränderter Glaubensansicht, sinnlos geworden war.


II.


Die homerische Dichtung macht Ernst mit der Ueber-
zeugung von dem Abscheiden der Seelen in ein bewusstloses
Halbleben im unerreichbaren Todtenlande. Ohne helles Be-
wusstsein, daher auch ohne Streben und Wollen, ohne Einfluss
auf das Leben der Oberwelt, daher auch der Verehrung der
Lebenden nicht länger theilhaftig, sind die Todten der Angst
wie der Liebe gleich ferne gerückt. Es giebt kein Mittel, sie
herbei zu zwingen oder zu locken, von Todtenbeschwörungen,
Todtenorakeln 1), den späteren Griechen so wohl bekannt, ver-
räth Homer keine Kenntniss. Auch in die Dichtung selbst,
die Führung der poetischen Handlung, greifen wohl die Götter
ein, die Seelen der Abgeschiedenen niemals. Gleich die nächsten
Fortsetzer der homerischen Heldendichtung halten es hierin
ganz anders. Für Homer hat die Seele, einmal gebannt in
den Hades, keine Bedeutung mehr.


Bedenkt man, wie es in vorhomerischer Zeit anders ge-
wesen sein muss, wie es nach Homer so ganz anders wurde,
so wird man wenigstens der Verwunderung Ausdruck geben
[35] müssen, dass in dieser Frühzeit griechischer Bildung eine
solche Freiheit von ängstlichem Wahn auf dem Gebiete, in dem
der Wahn seine festesten Wurzeln zu haben pflegt, erreicht
werden konnte. Die Frage nach den Entstehungsgründen so
freier Ansichten wird man nur sehr vorsichtig berühren dürfen;
eine ausreichende Antwort ist ja nicht zu erwarten. Vor Allem
muss man sich vorhalten, dass uns in diesen Dichtungen zu-
nächst und unmittelbar doch eben nur der Dichter und seine
Genossen entgegentreten. „Volksdichtung“ ist das homerische
Epos nur darum zu nennen, weil es so geartet ist, dass das
Volk, das gesammte Volk griechischer Zunge es willig aufnahm
und in sein Eigenthum verwandeln konnte, nicht, weil in irgend
einer mystischen Weise das „Volk“ bei seiner Hervorbringung
betheiligt gewesen wäre. Viele Hände sind an den beiden
Gedichten thätig gewesen, alle aber in der Richtung und dem
Sinne, die ihnen angab nicht das „Volk“ oder „die Sage“, wie
man wohl versichern hört, sondern die Gewalt des grössten
Dichtergenius der Griechen und wohl der Menschheit, und die
Ueberlieferung des festen Verbandes von Meistern und Schülern,
der sein Werk bewahrte, verbreitete, fortführte und nachahmte.
Wenn nun, bei manchen Abirrungen im Einzelnen, im Ganzen
doch Ein Bild von Göttern, Mensch und Welt, Leben und
Tod aus beiden Dichtungen uns entgegenscheint, so ist dies das
Bild, wie es sich im Geiste Homers gestaltet, in seinem Gedichte
ausgeprägt hatte und von den Homeriden festgehalten wurde.
Es versteht sich eigentlich von selbst, dass die Freiheit,
fast Freigeistigkeit, mit der in diesen Dichtungen alle Dinge
und Verhältnisse der Welt aufgefasst werden, nicht Eigenthum
eines ganzen Volkes oder Volksstammes gewesen sein kann.
Aber nicht nur der beseelende Geist, auch die äussere Ge-
staltung der idealen Welt, welche das Menschenwesen umschliesst
und über ihm waltet, ist, wie sie in den Gedichten sich dar-
stellt, das Werk des Dichters. Keine Priesterlehre hatte ihm
seine „Theologie“ vorgebildet, der Volksglaube, sich selbst
überlassen, muss damals, nach Landschaften, Kantonen, Städten,
3*
[36] in widerspruchsvolle Einzelvorstellungen sich noch mehr zer-
splittert haben als später, wo einzelne allgemein hellenische
Institute Vereinigungspuncte abgaben. Nur des Dichters Werk
kann die Ausbildung und consequente Durchführung des Bildes
eines geordneten Götterstaates sein, aus einer beschränkten
Anzahl scharf charakterisirter Götter gebildet, in fester Grup-
pirung aufgebaut, um Einen überirdischen Wohnplatz versam-
melt. Es ist, wenn man nur dem Homer vertrauen wollte, als
ob die zahllosen Localculte Griechenlands, mit ihren local ge-
bundenen Göttern kaum existirt hätten: Homer ignorirt sie fast
völlig. Seine Götter sind panhellenische, olympische. So hat
er die eigentlich dichterische That, die Vereinfachung und Aus-
gleichung des Verworrenen und Ueberreichen, auf der aller
Idealismus der griechischen Kunst beruht, am Bilde der Götter-
welt am Grossartigsten durchgeführt. Und in seinem Spiegel
scheint Griechenland einig und einheitlich im Götterglauben,
wie im Dialekt, in Verfassungszuständen, in Sitte und Sitt-
lichkeit. In Wirklichkeit kann — das darf man kühn be-
haupten — diese Einheit nicht vorhanden gewesen sein; die
Grundzüge des panhellenischen Wesens waren zweifellos vor-
handen, aber gesammelt und verschmolzen zu einem nur vor-
gestellten Ganzen hat sie einzig der Genius des Dichters. Das
Landschaftliche als solches kümmert ihn nicht. Wenn er nun
auf dem Gebiet, das unsere Betrachtung in’s Auge fasst, nur
Ein Reich der Unterwelt von Einem Götterpaar beherrscht,
als Sammelplatz aller Seelen, kennt, und dieses Reich von den
Menschen und ihren Städten so weit abrückt wie nach der an-
deren Seite die olympischen Wohnungen der Seligen — wer
will bestimmen, wie weit er darin naivem Volksglauben folgt?
Dort der Olymp als Versammlungsort aller im Lichte walten-
den Götter 1), — hier das Reich des Hades, das alle unsicht-
[37] baren Geister, die aus dem Leben geschieden sind, umfasst:
die Parallele ist zu sichtlich, als dass nicht eine gleiche ord-
nende und constituirende Thätigkeit hier wie dort angenommen
werden sollte.


2.


Man würde gleichwohl die Stellung der homerischen Dich-
tung zum Volksglauben völlig missverstehen, wenn man sie sich
als einen Gegensatz dächte, wenn man auch nur annähme, dass
sie der Stellung des Pindar oder der athenischen Tragiker zu
den Volksmeinungen ihrer Zeit gleiche. Jene späteren Dichter
lassen bewussten Gegensatz ihres geläuterten Denkens zu ver-
breiteten Vorstellungen oft genug deutlich merken; Homer
dagegen zeigt von Polemik so wenig eine Spur wie von Dog-
matik. Wie er seine Vorstellungen von Gott, Welt und
Schicksal nicht wie sein besonderes Eigenthum giebt, so wird
man auch glauben dürfen, dass in ihnen sein Publicum die
eigenen Ansichten wiedererkannte. Nicht Alles, was das Volk
glaubte, hat der Dichter sich angeeignet, aber was er vor-
bringt, muss auch zum Volksglauben gehört haben: die Aus-
wahl, die Zusammenfügung zum übereinstimmenden Ganzen
wird des Dichters Werk sein. Wäre nicht der homerische
Glaube so geartet, dass er, in seinen wesentlichen Zügen, Volks-
glaube seiner Zeit war oder sein konnte, so wäre auch, trotz
aller Schulüberlieferung, die Uebereinstimmung der vielen, an
den zwei Gedichten thätigen Dichter fast unerklärlich. In
diesem eingeschränkten Sinne kann man sagen, dass Homers
Gedichte uns den Volksglauben wiedererkennen lassen, wie er
zu der Zeit der Gedichte sich gestaltet hatte — nicht überall
1)
[38] im vielgestaltigen Griechenland, aber doch gewiss in den
ionischen Städten der kleinasiatischen Küste und Inselwelt,
in denen Dichter und Dichtung zu Hause sind. Mit ähnlicher
Einschränkung darf man in den Bildern der äusseren Cultur-
verhältnisse, wie sie Ilias und Odyssee zeigen, ein Abbild des
damaligen griechischen, speciell des ionischen Lebens erkennen.
Dieses Leben muss sich in vielen Beziehungen von der „myke-
näischen Cultur“ unterschieden haben. Man kann nicht im
Zweifel darüber sein, dass die Gründe für diesen Unterschied
zu suchen sind in den langanhaltenden Bewegungen der Jahr-
hunderte, die Homer von jener mykenäischen Periode trennen,
insbesondere der griechischen Völkerwanderung, in dem was sie
zerstörte und was sie neu schuf. Der gewaltsame Einbruch
nordgriechischer Stämme in Mittelgriechenland und den Pelo-
ponnes, die Zerstörung der alten Reiche und ihrer Cultur-
bedingungen, die Neubegründung dorischer Staaten auf Grund
des Eroberungsrechtes, die grosse Auswanderung nach den
asiatischen Küsten und Begründung eines neuen Lebens auf
fremdem Boden — diese Umwälzung aller Lebensverhältnisse
musste den gesammten Bildungszustand in heftiges Schwanken
bringen. Sehen wir nun, dass der Seelencult und ohne Zweifel
auch die diesen Cult bestimmenden Vorstellungen vom Schicksal
der abgeschiedenen Seelen in den ionischen Ländern, deren
Glauben die homerischen Gedichte wiederspiegeln, nicht mehr
dieselben geblieben sind, wie einst in der Blüthezeit der „myke-
näischen Cultur“, so darf man wohl fragen, ob nicht auch zu
dieser Veränderung, wie zu anderen, die Kämpfe und Wan-
derungen der Zwischenzeit einigen Anlass gegeben haben. Der
freie, über die Grenzen des Götterkreises und Göttercultes der
Stadt, ja des Stammes weit hinaus dringende Blick des Homer
wäre doch schwerlich denkbar ohne die freiere Bewegung
ausserhalb der alten Landesgrenzen, die Berührung mit Genossen
anderer Stämme, die Erweiterung der Kenntniss fremder Zu-
stände auf allen Gebieten, wie sie die Völkerverschiebungen
und Wanderungen mit sich gebracht haben müssen. Haben
[39] auch die Jonier Kleinasiens nachweislich manchen Götterdienst
ihrer alten Heimath in das neue Land verpflanzt, so muss doch
diese Auswanderung (die ja überhaupt die Bande zwischen
dem alten und dem neuen Lande keineswegs so eng bestehen
liess, wie Colonieführungen späterer Zeit) viele locale Culte
zugleich mit der Preisgebung des Locals, an das sie gebunden
waren, abgerissen haben. Ein Localcult, an die Grabstätten
der Vorfahren gebunden, war aber vor Allem der Ahnen-
cult
. Verpflanzen liess sich wohl das Andenken der Ahnen,
aber nicht der religiöse Dienst, der nur an dem Orte ihnen
gewidmet werden konnte, der ihre Leiber barg, und den man
zurückgelassen hatte im Feindesland. Die Thaten der Vor-
fahren lebten im Gesange weiter, aber sie selbst verfielen nun
eben der Poesie, die Phantasie schmückte ihr irdisches Leben,
aber der Verehrung ihrer abgeschiedenen Seelen entwöhnte sich
eine Welt, die durch keine regelmässig wiederholten Begehungen
mehr an deren Macht erinnert wurde. Und wenn so die ge-
steigerte Art des Seelencultes, die Ahnenverehrung, abstarb, so
wird für die Erhaltung und kräftigere Ausbildung des allgemeinen
Seelencultes, des Cultes der Seelen der drüben im neuen Lande
gestorbenen und begrabenen Geschlechter, das stärkste Hinder-
niss in der Gewöhnung an die Verbrennung der Leichen gelegen
haben. Wenn wahrscheinlich der Grund der Einführung dieser
Art der Bestattung, wie oben ausgeführt ist, in dem Wunsche
lag, die Seelen völlig und schnell aus dem Bereiche der Leben-
den abzudrängen, so ist ganz zweifellos die Folge dieser Sitte
diese gewesen, dass der Glaube an die Nähe der abgeschie-
denen Seelen, an die Verpflichtung zu deren religiöser Ver-
ehrung keinen Halt mehr fand und abwelkte.


3.


So lässt sich wenigstens ahnend verstehen, wie durch die
eigenen Erlebnisse, durch die veränderte Sitte der Bestattung
das ionische Volk des homerischen Zeitalters zu derjenigen
Ansicht vom Seelenwesen gelangen konnte, die wir aus den
[40] Gedichten seiner Sänger als die seinige herauslesen, und die von
dem alten Seelencult nur wenige Rudimente bewahren mochte.
Den eigentlichen Grund der Veränderung in Glauben und
Brauch würden wir dennoch erst erfassen können, wenn wir
Kenntniss und Verständniss von den geistigen Bewegungen
hätten, die zu der Ausbildung der homerischen Weltauffassung
geführt haben, in deren Rahmen auch der Seelenglaube sich
fügt. Hier geziemt es sich völlig zu entsagen. Wir sehen
einzig die Ergebnisse dieser Bewegungen vor uns. Und da
können wir so viel immerhin wahrnehmen, dass die religiöse
Phantasie der Griechen, in deren Mitte Homer dichtet, eine
Richtung genommen hatte, die dem Geister- und Seelenglauben
wenig Spielraum bot. Der Grieche Homers fühlt im tiefsten
Herzen seine Bedingtheit, seine Abhängigkeit von Mächten,
die ausser ihm walten; sich dessen zu erinnern, sich zu be-
scheiden in sein Loos, das ist seine Frömmigkeit. Ueber ihm
walten die Götter, mit Zaubers Kraft, oft nach unweisem
Gutdünken, aber die Vorstellung einer allgemeinen Weltord-
nung, einer Fügung der sich durchkreuzenden Ereignisse des
Lebens der Einzelnen und der Gesammtheit nach zubemessenem
Theile (μοῖρα) ist erwacht, die Willkür des einzelnen Dämons
ist doch beschränkt, beschränkt auch durch den Willen des
höchsten der Götter. Es kündigt sich der Glaube an, dass
die Welt ein Kosmos sei, eine Wohlordnung, wie sie die
Staaten der Menschen einzurichten suchen. Neben solchen
Vorstellungen konnte der Glaube an wirres Gespenstertreiben
nicht gedeihen, welches, im Gegensatz zum ächten Götterwesen,
stets daran kenntlich ist, dass es ausserhalb jeder zum Ganzen
sich zusammenschliessenden Thätigkeit steht, dem Gelüste, der
Bosheit des einzelnen unsichtbaren Mächtigen allen Spielraum
lässt. Das Irrationelle, Unerklärliche ist das Element des
Seelen- und Geisterglaubens, hierauf beruht das eigenthümlich
Schauerliche dieses Gebietes des Glaubens oder Wahns, und
auf dem unstät Schwankenden seiner Gestaltungen. Die home-
rische Religion lebt im Rationellen, ihre Götter sind völlig be-
[41] greiflich griechischem Sinn, in Gestalt und Gebahren völlig
deutlich und hell erkennbar griechischer Phantasie. Je greif-
barer sie sich gestalteten, um so mehr schwanden die Seelen-
bilder zu leeren Schatten zusammen. Es war auch Niemand
da, der ein Interesse an der Erhaltung und Vermehrung
religiöser Wahnvorstellungen gehabt hätte, es fehlte völlig ein
lehrender oder durch Alleinbesitz der Kenntniss ritualen Formel-
wesens und Geisterzwanges mächtiger Priesterstand. Wenn es
einen Lehrstand gab, so war es, in diesem Zeitalter, in dem
noch alle höchsten Geisteskräfte ihren gesammelten Ausdruck
in der Poesie fanden, der Stand der Dichter und Sänger. Und
dieser zeigt eine durchaus „weltliche“ Richtung, auch im
Religiösen. Ja diese hellsten Köpfe desjenigen griechischen
Stammes, der in späteren Jahrhunderten die Naturwissenschaft
und Philosophie „erfand“ (wie man hier einmal sagen darf)
lassen bereits eine Vorstellungsart erkennen, die von Weitem
eine Gefährdung der ganzen Welt plastischer Gestaltungen
geistiger Kräfte droht, welche das höhere Alterthum aufge-
baut hatte.


Die ursprüngliche Auffassung des „Naturmenschen“ weiss
die Regungen des Willens, Gemüthes, Verstandes nur als Hand-
lungen eines innerhalb des sichtbaren Menschen Wollenden,
den sie in irgend einem Organ des menschlichen Leibes ver-
körpert sieht, zu verstehen. Auch die homerischen Gedichte
benennen noch mit dem Namen des „Zwerchfelles“ (φρήν,
φρένες) geradezu die Mehrzahl der Willens- und Gemüths-
regungen, auch wohl die Verstandesthätigkeit; das „Herz“ (ἦτορ,
κῆρ) ist auch der Name der Gemüthsbewegungen, den man in
ihm localisirt denkt, eigentlich mit ihm identificirt. Aber
schon wird diese Bezeichnung eine formelhafte, sie ist oft nicht
eigentlich zu verstehen, die Worte des Dichters lassen erkennen,
dass er in der That sich die, immer noch nach Körpertheilen
benannten Triebe und Regungen körperfrei dachte 1). Und so
[42] findet man neben dem „Zwerchfell“, mit ihm oft in engster
Vereinigung genannt den ϑυμός, dessen Name, von keinem
Körpertheil hergenommen, schon eine rein geistige Function
bezeichnet. So bezeichnen mancherlei andere Worte (νόος, —
νοεῖν, νόημα — βουλή, μένος, μῆτις) Fähigkeiten und Thätigkeiten
des Wollens, des Sinnes und Sinnens mit Namen, die deren frei
und körperlos wirkende Art anerkennen. Der Dichter hängt
noch mit Einem Faden an der Anschauungsweise und Aus-
drucksweise der Vorzeit, aber schon ist er in das Reich rein
geistiger Vorgänge entdeckend weit vorgedrungen. Während
bei geringer ausgerüsteten Völkern die Wahrnehmung der ein-
zelnen Functionen des Willens und Intellects nur dazu führt,
diese Functionen in der Vorstellung zu eigenen körperhaften
Wesen zu verdichten, und so dem schattenhaften Doppelgänger
des Menschen, seinem andern Ich, noch weitere „Seelen“ in
Gestalt etwa des Gewissens, des Willens zu gesellen 1), bewegt
sich die Auffassung der homerischen Sänger bereits in ent-
gegengesetzter Richtung: die Mythologie des innern Menschen
schwindet zusammen. Sie hätten nur wenig auf dem gleichen
Wege weiter gehen dürfen, um auch die Psyche entbehr-
lich zu finden. Der Glaube an die Psyche war die älteste
Urhypothese, durch die man die Erscheinungen des Traumes,
der Ohnmacht, der ekstatischen Vision vermittelst der Annahme
eines besonderen körperhaften Acteurs in diesen dunklen Hand-
lungen erklärte. Homer hat für das Ahnungsvolle und gar
das Ekstatische wenig Interesse und gar keine eigene Neigung,
er kann also die Beweise für das Dasein der Psyche im leben-
digen Menschen sich nicht oft einleuchtend gemacht haben.
[43] Der letzte Beweis dafür, dass eine Psyche im Lebenden ge-
haust haben muss, ist der, dass sie im Tode Abschied nimmt.
Der Mensch stirbt, wenn er den letzten Athem verhaucht:
eben dieser Hauch, ein Luftwesen, nicht ein Nichts (so wenig
wie etwa die Winde, seine Verwandten), sondern ein gestalteter,
wenn auch wachen Augen unsichtbarer Körper ist die Psyche,
deren Art, als Abbild des Menschen, man ja aus dem Traum-
gesicht kennt. Wer nun aber schon gewöhnt ist, körperfrei
wirkende Kräfte im Inneren des Menschen anzuerkennen, der
wird auch bei dieser letzten Gelegenheit, bei der Kräfte im
Menschen sich regen, leicht zu der Annahme geführt werden,
dass, was den Tod des Menschen herbeiführe, nicht ein körper-
liches Wesen sei, das aus ihm entweiche, sondern eine Kraft,
eine Qualität, die zu wirken aufhöre: keine andere als eben
„das Leben“. Einem nackten Begriff wie „Leben“ ein selb-
ständiges Dasein nach der Auflösung des Leibes zuzuschreiben,
daran könnte er natürlich nicht denken. So weit ist nun der
homerische Dichter nicht vorgeschritten: allermeist ist und
bleibt ihm die Psyche ein reales Wesen, des Menschen zweites
Ich. Aber dass er den gefährlichen Weg, bei dessen Verfol-
gung sich die Seele zu einer Abstraction, zum Lebensbegriff
verflüchtigt, doch schon angefangen hat zu beschreiten, das
zeigt sich daran, dass er bisweilen ganz unverkennbar „Psyche“
sagt, wo wir „Leben“ sagen würden 1). Es ist im Grunde die
[44] gleiche Vorstellungsart, die ihn veranlasst hatte, hier und da
„Zwerchfell“ (φρένες) zu sagen, wo er nicht mehr das körper-
liche Zwerchfell, sondern den abstracten Begriff des Wollens
oder Denkens dachte. Wer statt „Leben“ Psyche sagt, wird
darum noch nicht sofort auch statt Psyche „Leben“ sagen
(und der Dichter thut es nicht), aber offenbar ist ihm, auf
dem Wege der Entkörperung der Begriffe, auch das einst so
höchst inhaltvolle Gebilde der Psyche schon stark verblasst und
verflüchtigt. —


Die Trennung vom Lande der Vorfahren, die Gewöhnung
an die Sitte des Leichenbrandes, die Richtung der religiösen
Vorstellungen, die Neigung, die einst körperlich vorgestellten
Principien des inneren Lebens des Menschen in Abstracta zu
verwandeln, haben beigetragen, den Glauben an inhaltvolles,
machtvolles Leben der abgeschiedenen Seelen, an ihre Ver-
bindung mit den Vorgängen der diesseitigen Welt zu schwächen,
den Seelencult zu beschränken. So viel, glaube ich, dürfen wir
behaupten. Die innersten und stärksten Gründe für diese Ab-
schwächung des Glaubens und des Cultus mögen sich unserer
Kenntniss entziehen, wie es sich unserer Kenntniss entzieht,
wie weit im Einzelnen die homerische Dichtung den Glauben des
Volkes, das ihr zuerst lauschte, darstellt, wo die freie Thätig-
keit des Dichters beginnt. Dass die Zusammenordnung der
einzelnen Elemente des Glaubens zu einem Ganzen, das man, wie-
wohl es von dem Charakter eines streng geschlossenen Systems
weit genug entfernt ist, nicht unpassend die homerische Theologie
nennt, des Dichters eigenes Werk ist, darf man als sehr wahr-
scheinlich ansehen. Seine Gesammtansicht von göttlichen Dingen
kann sich mit grosser Unbefangenheit darstellen, sie gerieth mit
keiner Volksansicht in Streit, denn die Religion des Volkes,
damals ohne Zweifel ebenso wie stets in Griechenland in der
rechten Verehrung der Landesgötter, nicht im Dogma sich
vollendend, wird schwerlich eine geordnete Gesammtvorstellung
von Göttern und Göttlichem gehabt haben, mit der der Dichter
sich hätte auseinandersetzen müssen oder können. Dass seiner-
[45] seits das Gesammtbild der unsichtbaren Welt, wie es die home-
rische Dichtung aufgebaut hatte, der Vorstellung des Volkes sich
tief einprägte, zeigt alle kommende Entwicklung griechischer
Cultur und Religion. Wenn sich abweichende Vorstellungen da-
neben erhielten, so zogen diese ihre Kraft nicht sowohl aus einer
anders gestalteten Dogmatik als aus den Voraussetzungen des
durch keine Dichterphantasie beeinflussten Cultus. Sie vor-
nehmlich konnten auch wohl einmal dahin wirken, dass inmitten
der Dichtung das dichterische Bild vom Reiche und Leben der
Unsichtbaren eine Trübung erfuhr.


III.


Eine Probe auf die Geschlossenheit und dauerhafte Zu-
sammenfügung der in homerischer Dichtung ausgebildeten Vor-
stellungen von Wesen und Zuständen der abgeschiedenen Seelen
wird noch innerhalb des Rahmens dieser Dichtung gemacht
mit der Erzählung von der Hadesfahrt des Odysseus. Eine
gefährliche Probe, sollte man denken. Wie mag sich bei einer
Schilderung des Verkehrs des lebenden Helden mit den Be-
wohnern des Schattenreichs das Wesenlose, Traumartige der
homerischen Seelenbilder festhalten lassen, das sich entschlossener
Berührung zu entziehen, jedes thätige Verhältniss zu Anderen
auszuschliessen schien? Kaum versteht man, wie es einen
Dichter reizen konnte, mit der Fackel der Phantasie in dieses
Höhlenreich ohnmächtiger Schatten hineinzuleuchten. Man be-
greift das leichter, wenn man sich deutlich macht, wie die Er-
zählung entstanden, wie sie allmählich durch Zusätze von fremder
Hand sich selber unähnlich geworden ist 1).


1.


Es darf als eines der wenigen sicheren Ergebnisse einer
kritischen Analyse der homerischen Gedichte betrachtet werden,
[46] dass die Erzählung von der Fahrt des Odysseus in die Unter-
welt im Zusammenhang der Odyssee ursprünglich nicht vor-
handen war. Kirke heisst den Odysseus zum Hades fahren,
damit ihm dort Tiresias „den Weg und die Maasse der Rück-
kehr weise, und wie er heimgelangen könne über das fisch-
reiche Meer“ (Od. 10, 539 f.). Tiresias, im Schattenreiche
aufgesucht, erfüllt diese Bitte nur ganz unvollständig und oben-
hin; dem Zurückgekehrten giebt dann Kirke selbst eine voll-
ständigere und in dem Einen auch von Tiresias berührten Puncte
deutlichere Auskunft über die Gefahren, die auf der Rück-
kehr noch bevorstehen 1). Die Fahrt in’s Todtenreich war also
unnöthig; es ist kein Zweifel, dass sie ursprünglich ganz fehlte.
Es ist aber auch klar, dass der Dichter dieser Abenteuer sich
der (überflüssigen) Erkundung bei Tiresias nur als eines lockeren
Vorwandes bediente, um doch irgend einen äusseren Anlass zu
haben, seine Erzählung in das Ganze der Odyssee einzuhängen.
Der wahre Zweck des Dichters, die eigentliche Veranlassung
der Dichtung muss anderswo gesucht werden als in der Weis-
sagung des Tiresias, die denn auch auffallend kurz und nüch-
tern abgemacht wird. Es läge ja nahe anzunehmen, dass die
Absicht des Dichters gewesen sei, der Phantasie einen Ein-
blick in die Wunder und Schrecken des dunkeln Reiches, in
das alle Menschen eingehen müssen, zu eröffnen. Eine solche
Absicht, wie bei mittelalterlichen, so bei griechischen Höllen-
poeten späterer Zeit (deren es eine erhebliche Zahl gab) 2)
sehr begreiflich, wäre nur eben bei einem Dichter homerischer
Schule schwer verständlich: ihm konnte ja das Seelenreich und
seine Bewohner kaum ein Gegenstand irgend welcher Schilde-
rung sein. Und in der That hat der Dichter der Hadesfahrt
[47] des Odysseus einen ganz anderen Zweck verfolgt; er war nichts
weniger als ein antiker Dante. Man erkennt die Absicht, die
ihn bestimmte, sobald man seine Dichtung von den Zusätzen
mancherlei Art säubert, mit denen spätere Zeiten sie umbaut
haben. Es bleibt dann als ursprünglicher Kern des Gedichtes
nichts übrig als eine Reihe von Gesprächen des Odysseus mit
Seelen solcher Verstorbenen, zu denen er in enger persönlicher
Beziehung gestanden hat; ausser mit Tiresias redet er mit
seinem eben aus dem Leben geschiedenen Schiffsgenossen Elpe-
nor, mit seiner Mutter Antikleia, mit Agamemnon und Achill, und
versucht vergeblich mit dem grollenden Ajas ein versöhnendes
Gespräch anzuknüpfen. Diese Unterredungen im Todtenreiche
sind für die Bewegung und Bestimmung der Handlung des Ge-
sammtgedichtes von Odysseus’ Fahrt und Heimkehr in keiner
Weise nothwendig, sie dienen aber auch nur in ganz geringem
Maasse und nur nebenbei einer Aufklärung über die Zustände
und Stimmungen im räthselhaften Jenseits; denn Fragen und
Antworten beziehen sich durchweg auf Angelegenheiten der
oberen Welt. Sie bringen den Odysseus, der nun schon so
lange fern von den Reichen der thätigen Menschheit einsam
umirrt, in geistige Verbindung mit den Kreisen der Wirklich-
keit, zu denen seine Gedanken streben, in denen er einst selbst
wirksam gewesen ist und bald wieder kraftvoll thätig sein wird.
Die Mutter berichtet ihm von den zerstörten Lebensverhält-
nissen auf Ithaka, Agamemnon von der frevelhaften That des
Aegisth und der Beihülfe der Klytaemnestra, Odysseus selbst
kann dem Achill Tröstliches sagen von den Heldenthaten des
Sohnes, der noch droben im Lichte ist; den auch im Hades
grollenden Ajas vermag er nicht zu versöhnen. So klingt das
Thema des zweiten Theils der Odyssee bereits vor, von den
grossen Thaten des troischen Krieges, den Abenteuern der
Rückkehr, die damals aller Sänger Sinne beschäftigte, tönt
ein Nachhall bis zu den Schatten hinunter. Die Ausführung
dieser, im Gespräch der betheiligten Personen mitgetheilten
Erzählungen ist dem Dichter eigentlich die Hauptsache. Der
[48] lebhafte Trieb, den Sagenkreis, in dessen Mittelpunct die
Abenteuer der Ilias lagen, nach allen Richtungen auszuführen
und mit anderen Sagenkreisen zu verschlingen, hat sich später
in besonderen Dichtungen, den Heldengedichten des epischen
Cyklus, genug gethan. Als die Odyssee entstand, waren diese
Sagen bereits in strömend vordringender Bewegung; noch hatten
sie kein eigenes Bette gefunden, aber sie drangen in einzelnen
Ergiessungen in die ausgeführte Erzählung von der Heimkehr
des zuletzt allein noch umirrenden Helden (der sie, ihren Gegen-
ständen nach, alle zeitlich voran lagen) ein. Ein Hauptzweck
der Erzählung von der Fahrt des Telemachos zu Nestor und
Menelaos (im dritten und vierten Buch der Odyssee) ist ersicht-
lich der, den Sohn in Berührung mit alten Kriegsgenossen des
Vaters zu bringen, und so zu mannichfachen Erzählungen Ge-
legenheit zu schaffen, in denen von den zwischen Ilias und
Odyssee liegenden Abenteuern einzelne bereits deutlichere Ge-
stalt gewinnen. Demodokos, der Sänger bei den Phäaken, muss
zwei Ereignisse des Feldzugs in Andeutungen vorführen. Auch
wo solche Berichte nicht unmittelbar von den Thaten und der
Sinnesart des Odysseus melden, dienen sie doch, an den grossen
Hintergrund zu mahnen, vor dem die Abenteuer des zuletzt
auf seinen Irrfahrten völlig vereinzelten Dulders stehen, diese in
den idealen Zusammenhang zu rücken, in dem sie erst ihre
rechte Bedeutung gewinnen 1). Auch den Dichter der Hades-
fahrt nun bewegt dieser quellende Sagenbildungstrieb. Auch
er sieht die Abenteuer des Odysseus nicht vereinzelt, sondern
im lebendigen Zusammenhang aller von Troja ausgehenden
Abenteuer; er fasste den Gedanken, den Helden in Rath und
Kampf noch einmal, ein letztes Mal, zu Rede und Gegenrede
zusammenzuführen mit dem mächtigsten Könige, dem hehrsten
[49] Helden jener Kriegszüge, und dazu musste er ihn freilich in
das Reich der Schatten führen, das jene längst umschloss, er
durfte einem Ton der Wehmuth nicht wehren, der aus diesen
Gesprächen am Rande des Reiches der Nichtigkeit klingt, zu
der alle Lust und Macht des Lebens zusammensinken muss.
Die Befragung des Tiresias ist ihm, wie gesagt, nur ein Vor-
wand, um diesen Verkehr des Odysseus mit der Mutter und
den alten Genossen, auf den es ihm einzig ankam, herbeizu-
führen. Vielleicht ist gerade diese Wendung ihm eingegeben
worden durch Erinnerung an die Erzählung des Menelaos
(Od. 4, 351 ff.), von seinem Verkehr mit Proteus dem Meer-
greis 1): auch da wird ja die Befragung des der Zukunft Kun-
digen über die Mittel zur Heimkehr nur als flüchtige Einleitung
zu Berichten über Heimkehrabenteuer des Ajas, des Agamemnon
und Odysseus verwendet.


2.


Gewiss kann die Absicht dieses Dichters nicht gewesen
sein, eine Darstellung der Unterwelt um ihrer selbst willen zu
geben. Selbst die Scenerie dieser fremdartigen Vorgänge, die
am ersten noch seine Phantasie reizen mochte, wird nur in
kurzen Andeutungen bezeichnet. Ueber den Okeanos fährt
das Schiff bis zu dem Volke der Kimmerier 2), das nie die
Sonne sieht, und gelangt bis zu der „rauhen Küste“ und dem
Hain der Persephone aus Schwarzpappeln und Weiden. Odysseus
mit zwei Gefährten dringt vor bis zum Eingang in den Erebos,
wo Pyriphlegethon und Kokytos, der Styx Abfluss, in den Acheron
münden. Dort gräbt er seine Opfergrube, zu der die Seelen
aus des Erebos Tiefe über die Asphodeloswiese heranschweben.
Rohde, Seelencult. 4
[50] Es ist dasselbe Reich der Erdtiefe, das auch die Ilias als den
Aufenthalt der Seelen voraussetzt, nur genauer vorgestellt und
vergegenwärtigt 1). Die einzelnen Züge des Bildes werden so
flüchtig erwähnt, dass man fast glauben möchte, auch sie habe
der Dichter bereits in älterer Sagendichtung vorgefunden. Jeden-
falls hat er ja die, auch der Ilias wohlbekannte Styx über-
nommen und so vermuthlich auch die anderen Flüsse, die vom
Feuerbrande (der Leichen? 2), von Wehklagen und Leid leicht
verständliche Namen haben 3). Der Dichter selbst, auf das
Ethische allein sein Augenmerk richtend, ist dem Reiz des leer
Phantastischen geradezu abgeneigt; er begnügt sich mit spar-
samster Zeichnung. So giebt er denn auch von den Bewohnern
des Erebos keine verweilende Schilderung; was er von ihnen
sagt, hält sich völlig in den Grenzen des homerischen Glaubens.
Die Seelen sind Schatten- und Traumbildern gleich, dem Griff
des Lebenden unfassbar 4); sie nahen bewusstlos; einzig Elpenor,
dessen Leib noch unverbrannt liegt, hat eben darum das Be-
wusstsein bewahrt, ja er zeigt eine Art von erhöhetem Bewusst-
sein, das der Prophetengabe nahekommt, nicht anders als
[51] Patroklos und Hektor im Augenblick der Loslösung der Psyche
vom Leibe 1). Alles dieses wird auch ihn verlassen, sobald sein
Leib vernichtet ist. Tiresias allein, der Seher, den die Theba-
nische Sage berühmt vor allen gemacht hatte, hat Bewusst-
sein und sogar Sehergabe auch unter den Schatten, durch
Gnade der Persephone, bewahrt; aber das ist eine Ausnahme,
welche die Regel nur bestätigt. Fast wie absichtliche Bekräf-
tigung orthodox homerischer Ansicht nimmt sich aus, was
Antikleia dem Sohne von der Kraft- und Wesenlosigkeit der
Seele nach Verbrennung des Leibes sagt 2). Alles in der Dar-
stellung dieses Dichters bestätigt die Wahrheit dieses Glaubens;
und wenn die Lebenden freilich Ruhe haben vor den macht-
los in’s Dunkle gebannten Seelen, so tönt hier aus dem Erebos
selbst in dumpfem Klange uns das Traurige dieser Vorstellung
entgegen, in der Klage des Achill, mit der er den Trost-
zuspruch des Freundes abweist — Jeder kennt die unvergess-
lichen Worte.


3.


Dennoch wagt der Dichter einen bedeutsamen Schritt über
Homer hinaus zu thun. Was er von dem Zuständlichen im
Reiche des Hades mehr andeutet als sagt, streitet ja in keinem
Puncte mit der homerischen Darstellung. Aber neu ist doch,
dass dieser Zustand, wenn auch nur auf eine kurze Weile, unter-
brochen werden kann. Der Bluttrunk giebt den Seelen momen-
tanes Bewusstsein zurück, es strömt das Andenken an die obere
Welt ihnen wieder zu; ihr Bewusstsein ist also, müssen wir
4*
[52] glauben, für gewöhnlich nicht todt, es schläft nur. Zweifellos
wollte der Dichter, der solche Fiction für seine Dichtung nicht
entbehren konnte, damit nicht ein neues Dogma aufgerichtet
haben. Aber um seinen rein dichterischen Zweck zu erreichen,
muss er in seine Erzählung einzelne Züge verflechten, die, aus
seinem eigenen Glauben nicht erklärlich, hinüber oder eigentlich
zurück leiten in alten, ganz anders gearteten Glauben und auf
diesem errichteten Brauch. Er lässt den Odysseus, nach An-
weisung der Kirke, am Eingang des Hades eine Grube graben,
einen Weiheguss „für alle Todten“ herumgiessen, zuerst eine
Mischung von Milch und Honig, dann Wein, Wasser, darauf
wird weisses Mehl gestreut. Nachher schlachtet er einen Widder
und ein schwarzes Mutterschaf, ihre Köpfe in die Grube
drückend 1); die Leiber der Thiere werden verbrannt, um das
Blut versammeln sich die heranschwebenden Seelen, die des Odys-
seus Schwert fern zu halten vermag 2), bis Tiresias als erster
getrunken hat. — Hier ist der Weiheguss ganz unzweifelhaft
eine Opfergabe, den Seelen zur Labung ausgegossen. Die
Schlachtung der Thiere will der Dichter allerdings nicht als
Opfer angesehen wissen, der Genuss des Blutes soll nur den
Seelen das Bewusstsein (dem Tiresias, dessen Bewusstsein un-
verletzt ist, die Gabe des vorausschauenden Seherblickes) wieder-
geben. Aber man sieht wohl, dass dies eben nur eine Fiction
des Dichters ist; was er darstellt, ist bis in alle Einzelheiten
hinein ein Todtenopfer, wie es uns unverhohlen als solches in
[53] Berichten späterer Zeit oft genug begegnet. Die Witterung
des Blutes zieht die Seelen an, die „Blutsättigung“ (αίμακουρία)
ist der eigentliche Zweck solcher Darbringungen, wie sie dem
Dichter als Vorbild vorschweben. Erfunden hat er in dieser
Darstellung nichts, aber auch nicht etwa, wie man wohl an-
nimmt, neuen, zu der Annahme energischeren Lebens der ab-
geschiedenen Seelen vorgedrungenen Vorstellungen seine Opfer-
ceremonien angepasst. Denn hier wie bei der Schilderung des
Opfercultes bei der Bestattung des Patroklos ist ja die Vor-
stellung des Dichters von dem Seelenleben durchaus nicht der
Art, dass sie neuen kräftigeren Brauch begründen könnte,
sie steht vielmehr mit den Resten eines Cultus, die sie vor-
führt, im Widerspruch. Auch hier also sehen wir versteinerte,
sinnlos gewordene Rudimente eines einstmals im Glauben voll
begründeten Brauches vor uns, vom Dichter um dichterischer
Zwecke willen hervorgezogen und nicht nach ihrem ursprüng-
lichen Sinne verwendet. Die Opferhandlung, durch welche
hier die Seelen herangelockt werden, gleicht auffallend den Ge-
bräuchen, mit denen man später an solchen Stellen, an denen
man einen Zugang zum Seelenreiche im Inneren der Erde zu
haben glaubte, Todtenbeschwörung übte. Es ist an sich durchaus
nicht undenkbar, dass auch zu der Zeit des Dichters der Hades-
fahrt in irgend einem Winkel Griechenlands solche Beschwö-
rungen, als Reste alten Glaubens, sich erhalten hätten. Sollte
aber auch der Dichter von solchem localen Todtencult Kunde
gehabt und hiernach seine Darstellung gebildet haben 1), so
[54] wäre nur um so bemerkenswerther, wie er, den Ursprung seiner
Schilderung verwischend, als correcter Homeriker jeden Ge-
danken an die Möglichkeit, die Seelen der Verstorbenen, als
wären sie den Wohnungen der Lebenden noch nahe, herauf
an’s Licht der Sonne zu locken, streng fern hält 1). Er weiss
nur von Einem allgemeinen Reiche der Todten, fern im dunklen
Westen, jenseits der Meere und des Oceans, der Held des
Märchens kann wohl bis an seinen Eingang dringen, aber eben
nur dort kann er mit den Seelen in Verkehr treten, denn nie-
mals giebt das Haus des Hades seine Bewohner frei.


Hiermit ist nun freilich unverträglich das Opfer, das der
Dichter, man kann kaum anders sagen als gedankenlos, den
Odysseus allen Todten und dem Tiresias im Besonderen ge-
loben lässt, wenn er nach Hause zurückgekehrt sein werde
(Od. 10, 521—526; 11, 29—33). Was soll den Todten das
Opfer einer unfruchtbaren Kuh und die Verbrennung von
„Gutem“ auf einem Scheiterhaufen, dem Tiresias die Schlach-
tung eines schwarzen Schafes, fern in Ithaka, wenn sie doch
in den Erebos gebannt sind, und der Genuss des Opfers ihnen
unmöglich ist? Hier haben wir das merkwürdigste und be-
deutendste aller Rudimente alten Seelencultes vor uns, welches
ganz unwidersprechlich beweist, dass in vorhomerischer Zeit der
Glaube bestand, dass auch nach der Bestattung des Leibes die
Seele nicht für ewig verbannt sei in ein unerreichbares Schatten-
reich, sondern dem Opfernden sich nahen, am Opfer sich laben
könne, so gut wie die Götter. Eine einzige dunkle Hindeutung
in der Ilias 2) lässt uns erkennen, was hier viel deutlicher
1)
[55] und mit unbedachter Naivetät hervortritt, dass auch zu der
Zeit der Herrschaft des homerischen Glaubens an völlige
Nichtigkeit der für ewig abgeschiedenen Seelen die Darbringung
von Todtenopfern lange nach der Bestattung (wenigstens ausser-
ordentlicher, wenn auch nicht regelmässig wiederholter) nicht
ganz in Vergessenheit gerathen war.


4.


Zeigt sich an den Inconsequenzen, zu welchen den Dichter
die Darstellung der Einleitung eines Verkehrs des Lebenden
mit den Todten verleitet, dass sein Unternehmen für einen
Homeriker strenger Observanz ein Wagniss war, so ist er
doch in dem, was ihm die Hauptsache war, der Schilderung
der Begegnung des Odysseus mit Mutter und Genossen, kaum
merklich von der homerischen Bahn abgewichen. Hier nun aber
hatte er dichterisch begabten Lesern oder Hörern seines Ge-
dichts nicht genug gethan. Was ihm selbst, der auf den im
Mittelpunct stehenden lebenden Helden alles bezog und nur
solche Seelen herantreten liess, die zu diesem in innerlich be-
gründetem Verhältniss stehen, gleichgültig war, eine Musterung
des wirren Getümmels der Unterirdischen in ihrer Masse, das
eben meinten Spätere nicht entbehren zu können. Sein Gedicht
weiter ausführend, liessen sie theils Todte jeden Alters her-
anschweben, die Krieger darunter noch mit sichtbarer Wunde,
in blutiger Rüstung 1), theils führen sie, mehr hesiodisch auf-
zählend für die Erinnerung als homerisch für die Anschauung
belebend, eine Schaar von Heldenmüttern grosser Geschlechter
2)
[56] an Odysseus vorüber, die doch nicht mehr Recht als andere
auf seine Theilnahme hatten und die man auch mit ihm in
irgend einen Zusammenhang zu setzen nur schwache Versuche
machte 1). Schien hiermit die Masse der Todten, in aus-
erwählten Vertretern, besser vergegenwärtigt, so sollten nun
auch die Zustände dort unten wenigstens in Beispielen dar-
gestellt werden. Odysseus thut einen Blick in das Innere des
Todtenreiches (was ihm eigentlich bei seiner Stellung am
äussersten Eingange unmöglich war 2) und erblickt da solche
Heldengestalten, welche die Thätigkeit ihres einstigen Lebens,
als rechte „Abbilder“ (εἴδωλα) der Lebendigen, fortsetzen:
Minos richtend unter den Seelen, Orion jagend, Herakles immer
noch den Bogen in der Hand, den Pfeil auf der Sehne einem
„stets Abschnellenden ähnlich“. Das ist nicht Herakles, der
„Heros-Gott“, wie ihn die Späteren kennen; der Dichter weiss
noch nichts von der Erhöhung des Zeussohnes über das Loos
aller Sterblichen, so wenig wie der erste Dichter der Hades-
fahrt von einer Entrückung des Achill aus dem Hades etwas
weiss. Späteren Lesern musste freilich dies ein Versäumniss
dünken. Solche haben denn auch mit kecker Hand drei Verse
eingelegt, in denen berichtet wird, wie „er selbst“, der wahre
Herakles, unter den Göttern wohne; was Odysseus im Hades
sah, sei nur sein „Abbild“. Der dies schrieb, trieb Theologie
auf eigene Hand: von einem solchen Gegensatz zwischen einem
volllebendigen, also Leib und Seele des Menschen vereinigt
enthaltenden „Selbst“ und einem, in den Hades gebannten
leeren „Abbild“, welches aber nicht die Psyche sein kann,
weiss weder Homer etwas noch das Griechenthum späterer
Zeit 3). Es ist eine Verlegenheitsauskunft ältester Harmonistik.
[57] Den Herakles sucht der Dichter mit Odysseus durch ein Ge-
spräch in Verbindung zu setzen, in Nachahmung der Gespräche
des Odysseus mit Agamemnon und Achill: man merkt aber
bald, dass diese zwei einander nichts zu sagen haben (wie denn
auch Odysseus schweigt); es besteht keine Beziehung zwischen
ihnen, höchstens eine Analogie, insofern auch Herakles einst
lebendig in den Hades eingedrungen ist. Es scheint, dass einzig
diese Analogie den Dichter veranlasst hat, den Herakles hier
einzuschieben 1).


Es bleiben noch (zwischen Minos und Orion und Herakles
gestellt und vermuthlich von derselben Hand gebildet, die auch
jene beiden gezeichnet hat) die jedem Leser unvergesslichen
Gestalten der drei „Büsser“, des Tityos, dessen Riesenleib
zwei Geier zerhacken, des Tantalos, der mitten im Teich ver-
schmachtet und die überhangenden Zweige der Obstbäume
nicht erreichen kann, des Sisyphos, der den immer wieder ab-
wärts rollenden Stein immer wieder in die Höhe wälzen muss.
In diesen Schilderungen ist die Grenze der homerischen Vor-
stellungen, mit denen sich die Bilder des Minos, Orion und
Herakles immer noch ausgleichen liessen, entschieden über-
schritten. Den Seelen dieser drei Unglücklichen wird volles
und dauerndes Bewusstsein zugetraut, ohne welches ja die
Strafe nicht empfunden werden könnte und also nicht ausgeübt
werden würde. Und wenn man die ausserordentlich sichere,
knappe, den Grund der Strafe nur bei Tityos andeutende, sonst
einfach als bekannt voraussetzende Darstellung beachtet, wird
man den Eindruck haben, als ob diese Beispiele der Strafen
im Jenseits nicht zum ersten Male von dem Dichter dieser
Verse gebildet, den überraschten Hörern als kühne Neuerung
dargeboten, sondern mehr diesen nur in’s Gedächtniss zurück-
gerufen, vielleicht aus einer grösseren Anzahl solcher Bilder ge-
rade diese drei ausgewählt seien. Hatten also bereits ältere
Dichter (die immer noch jünger sein konnten als der Dichter
[58] des ältesten Theils der Hadesfahrt) den Boden homerischen
Seelenglaubens kühn verlassen?


Gleichwohl dürfen wir dies festhalten, dass die Strafen
der drei „Büsser“ nicht etwa die homerische Vorstellung von
der Bewusstlosigkeit und Nichtigkeit der Schatten überhaupt
umstossen sollten: sie stünden sonst ja auch nicht so friedlich
inmitten des Gedichtes, welches diese Vorstellungen zur Vor-
aussetzung hat. Sie lassen die Regel bestehen, da sie selbst
nur eine Ausnahme darstellen und darstellen wollen. Das
könnten sie freilich nicht, wenn man ein Recht hätte, die
dichterische Schilderung so auszulegen, dass die drei Unglück-
lichen typische Vertreter einzelner Laster und Classen von
Lasterhaften sein sollten, etwa „zügelloser Begierde (Tityos),
unersättlicher Schwelgerei (Tantalos), und des Hochmuths des
Verstandes (Sisyphos)“ 1). Dann würde ja an ihnen eine Ver-
geltung nur exemplificirt, die man sich eigentlich auf die un-
übersehbaren Schaaren der mit gleichen Lastern befleckten
Seelen ausgedehnt denken müsste. Nichts aber in den Schil-
derungen selbst spricht für eine solche theologisirende Aus-
legung, und von vorne herein etwa eine solche Forderung aus-
gleichender Vergeltung im Jenseits, die dem Homer vollständig
fremd ist und in griechischen Glauben, soweit sie sich über-
haupt jemals in ihn eingedrängt hat, erst von grübelnder Mystik
spät hineingetragen ist, gerade diesem Dichter aufzudrängen,
haben wir kein Recht und keinen Anlass. Allmacht der Gott-
heit, das soll uns diese Schilderung offenbar sagen, kann in
einzelnen Fällen dem Seelenbild die Besinnung erhalten, wie dem
Tiresias zum Lohne, so jenen drei den Göttern Verhassten,
damit sie der Strafempfindung zugänglich bleiben. Was eigent-
lich an ihnen bestraft wird, lässt sich nach der eigenen An-
gabe des Dichters für Tityos leicht vermuthen: es ist ein be-
sonderes Vergehen, das jeder von ihnen dereinst gegen Götter
begangen hat. Was dem Tantalos zur Last fällt, lässt sich
nach sonstiger Ueberlieferung errathen; weniger bestimmt sind
[59] die Angaben über die Verfehlung, die an dem schlauen Sisyphos
geahndet wird 1). Auf jeden Fall wird an allen Dreien Rache
genommen für Verletzungen der Götter selbst, deren Menschen
späterer Zeit gar nicht schuldig werden können; eben darum
haben ihre Thaten so gut wie ihre Strafen nichts Vorbildliches
und Typisches, beide stellen vielmehr völlig vereinzelte Aus-
nahmen dar, gerade dadurch sind sie dem Dichter merkwürdig.


Von irgend einer ganzen Classe von Lasterhaften, die im
Hades bestraft würden, weiss die Dichtung von der Hades-
fahrt des Odysseus nichts, auch nicht in ihren jüngsten Theilen.
Sie hätte sich sogar noch an ächt homerische Andeutungen
halten können, wenn sie wenigstens die unterweltlichen Strafen
der Meineidigen erwähnt hätte. Zweimal werden in der
Ilias bei feierlichen Eidschwüren neben Göttern der Oberwelt
[60] auch die Erinyen angerufen, welche unter der Erde diejenigen
strafen, die einen Meineid schwören 1). Nicht mit Unrecht hat
man in diesen Stellen einen Beweis dafür gefunden, „dass die
homerische Vorstellung von einem gespenstischen Scheinleben
der Seelen in der Unterwelt ohne Empfindung und Bewusstsein
nicht allgemeiner Volksglaube war“ 2). Man muss aber wohl
hinzusetzen, dass im Glauben der homerischen Zeit der Ge-
danke einer Bestrafung der Meineidigen im Schattenreiche
kaum noch recht lebendig gewesen sein kann, da er den Sieg
jener, mit ihm unverträglichen Vorstellung von empfindungs-
loser Nichtigkeit der abgeschiedenen Seelen nicht hat hindern
können. In einer feierlichen Schwurformel hat sich (wie denn
in Formeln sich überall manches Alterthum, unlebendig, lange
fortschleppt) eine Anspielung auf jenen, homerischer Zeit fremd
gewordenen Glauben erhalten, auch ein Rudiment verschollener
Vorstellungsweise. Selbst damals übrigens, als man an eine
Bestrafung des Meineids im Jenseits noch wirklich und wört-
lich glaubte, mag man wohl Bewusstsein allen Seelen im Hades
zugestanden haben, keinenfalls aber hat man an eine Vergel-
tung irdischer Verfehlungen im Hades ganz im Allgemeinen
geglaubt, von denen etwa der Meineid nur ein einzelnes Bei-
spiel wäre. Denn an dem Meineidigen wird nicht etwa eine
besonders anstössige sittliche Verfehlung bestraft — man darf
zweifeln, ob die Griechen eine solche in dem Meineid über-
haupt fanden und empfanden —, sondern er, und nicht irgend
ein anderer Frevler, verfällt den unterirdischen Quälgeistern
einfach darum, weil er im Schwur, um seinen Abscheu vor
Trug auf’s Fürchterlichste zu bekräftigen, sich das Grässlichste,
die Peinigung im Reiche des Hades, aus dem kein Entrinnen ist,
selber angewünscht hat, wenn er falsch schwöre 3). Denen er
[61] sich gelobt hat, den Höllengeistern verfällt er, wenn er Meineid
schwört. Glaube an die bindende Zauberkraft solcher Ver-
wünschungen, nicht absonderliche sittliche Hochhaltung der
Wahrheit, die dem höheren Alterthum ganz fremd ist, gab
dem Eid seine Furchtbarkeit.


5.


Ein letztes Anzeichen der Zähigkeit, mit welcher die Sitte
den sie begründenden Glauben überlebt, bieten die homerischen
Gedichte in der Erzählung des Odysseus, wie er, von dem
Kikonenland fliehend, nicht eher abgefahren sei, als bis er die
im Kampf mit den Kikonen erschlagenen Gefährten dreimal
gerufen habe (Od. 9, 65. 66). Der Sinn solcher Anrufung
der Todten wird aus einzelnen Anspielungen auf die gleiche
Sitte in späterer Litteratur deutlich. Die Seele der in der
Fremde Gefallenen soll abgerufen werden 1), richtig vollzogen
zwingt sie der Ruf des Freundes ihm zu folgen nach der
Heimath, wo ein „leeres Grabmal“ sie erwartet, wie es auch
bei Homer regelmässig den Freunden errichtet wird, deren
Leichen zu richtiger Bestattung zu erreichen unmöglich ist 2).
3)
[62] Abrufung der Seele und Errichtung solches leeren Gehäuses
— für wen anders als die Seele, die dann der Verehrung ihrer
Angehörigen erreichbar bleibt — hat einen Sinn für diejenigen,
die an die Möglichkeit der Ansiedelung einer „Seele“ in der
Nähe der lebenden Freunde glauben, nicht aber für Anhänger
des homerischen Glaubens. Wir sehen zum letzten Male ein
bedeutsames Rudiment ältesten Glaubens in einem in veränderter
Zeit noch nicht ganz abgestorbenen Brauche vor uns. Todt war
auch hier der Glaube, der den Brauch einst hervorgerufen
hatte. Fragt man den homerischen Dichter, zu welchem
Zwecke dem Todten ein Grabhügel aufgeschüttet, ein Merk-
zeichen darauf errichtet werde, so antwortet er: damit sein
Ruhm unter den Menschen unvergänglich bleibe; damit auch
künftige Geschlechter von ihm Kunde haben 1). Das ist echt
homerischer Klang. Mit dem Tode entflieht die Seele in ein
Reich dämmernden Traumlebens, der Leib, der sichtbare
Mensch, zerfällt; was lebendig bleibt, ist im Grunde nichts
als der grosse Name. Von ihm redet der Nachwelt noch das
ehrenvolle Denkzeichen auf dem Grabhügel — und das Lied
des Sängers. Es ist begreiflich, dass ein Dichter zu solchen
Vorstellungen neigen konnte.


2)


[[63]]

Entrückung. Inseln der Seligen.


I.


Die homerische Vorstellung vom Schattenleben der abge-
schiedenen Seelen ist das Werk der Resignation, nicht des
Wunsches. Der Wunsch würde nicht diese Zustände sich als
thatsächlich vorhanden vorgespiegelt haben, in denen es für
den Menschen nach dem Tode weder ein Fortwirken giebt,
noch ein Ausruhen von den Mühen des Lebens, sondern ein
unruhiges, zweckloses Flattern und Schweben, ein Dasein zwar,
aber ohne jeden Inhalt, der es erst zum Leben machen
könnte.


Regte sich gar kein Wunsch nach tröstlicherer Gestaltung
der jenseitigen Welt? verzehrte die starke Lebensenergie jener
Zeiten wirklich ihr Feuer so völlig im Reiche des Zeus, dass
nicht einmal ein Flammenschein der Hoffnung bis in das Haus
des Hades fiel? Wir müssten es glauben — wenn nicht ein
einziger flüchtiger Ausblick uns von ferne ein seliges Wunsch-
land zeigte, wie es das noch unter dem Banne des homerischen
Weltbildes stehende Griechenthum sich erträumte.


Als Proteus, der in die Zukunft schauende Meergott, dem
Menelaos am Strande Aegyptens von den Bedingungen seiner
Heimkehr in’s Vaterland und von den Schicksalen seiner
liebsten Genossen berichtet hat, fügt er, — so erzählt Mene-
laos selbst im vierten Buche der Odyssee (v. 560 ff.) dem
Telemach — die weissagenden Worte hinzu:


Nicht ist Dir es beschieden, erhabener Fürst Menelaos,

Im rossweidenden Argos den Tod und das Schicksal zu dulden;

Nein, fernab zur Elysischen Flur, zu den Grenzen der Erde,

[64]
Senden die Götter Dich einst, die unsterblichen; wo Rhadamanthys

Wohnet, der blonde, und leichtestes Leben den Menschen bescheert ist,

(Nie ist da Schnee, nie Winter und Sturm noch strömender Regen,

Sondern es lässt aufsteigen des Wests leicht athmenden Anhauch

Immer Okeanos dort, dass er Kühlung bringe den Menschen),

Weil Du Helena hast, und Eidam ihnen des Zeus bist.

Diese Verse lassen einen Blick thun in ein Reich, von
dem die homerischen Gedichte sonst keinerlei Kunde geben.
Am Ende der Erde, am Okeanos liegt das „Elysische Ge-
filde“, ein Land unter ewig heiterem Himmel, gleich dem
Götterlande 1). Dort wohnt der Held Rhadamanthys, nicht
allein, darf man denken: es ist ja von Menschen in der Mehr-
zahl die Rede (V. 565. 568). Dorthin werden dereinst die
Götter „senden“ den Menelaos: er wird nicht sterben (V. 562),
d. h. er wird lebendig dorthin gelangen, auch dort den Tod
nicht erleiden. Wohin er entrückt werden soll, das ist nicht
etwa ein Theil des Reiches des Hades, sondern ein Land auf
der Oberfläche der Erde, zum Aufenthalt bestimmt nicht ab-
geschiedenen Seelen, sondern Menschen, deren Seelen sich von
ihrem sichtbaren Ich nicht getrennt haben: denn nur so können
sie eben Gefühl und Genuss des Lebens (v. 565) haben.
Es ist das volle Gegentheil von einer seligen Unsterblichkeit
der Seele in ihrem Sonderdasein, was hier die Phantasie sich
ausmalt; eben weil eine solche homerischen Sängern völlig
undenkbar blieb, sucht und findet der Wunsch einen Ausgang
aus dem Reiche der Schatten, das alle Lebensenergie ver-
schlingt. Er ersieht sich ein Land am Ende der Welt, aber
doch noch von dieser Welt, in das einzelne Günstlinge der
Götter entrückt werden, ohne dass ihre Psyche vom Leibe
sich trennte und dem Erebos verfiele.


Die Hindeutung auf solche wunderbare Entrückung steht
in den homerischen Gedichten vereinzelt, und scheint auch in
die Odyssee erst von nachdichtender Hand eingelegt zu sein 2).
[65] Aber die Bedingungen für ein solches Wunder sind alle in
homerischen Vorstellungen gegeben. Menelaos wird durch
Göttermacht entrafft, und führt fern von der Welt der Sterb-
lichen ein ewiges Leben. Dass ein Gott seinen sterblichen
Schützling den Blicken der Menschen plötzlich entziehen und
ungesehen durch die Luft davon führen könne, ist ein Glaube,
der in nicht wenigen Vorgängen der Schlachten der Ilias seine
Anwendung findet 1). Die Götter können aber auch einen
Sterblichen auf lange Zeit „unsichtbar machen“. Da Odysseus
den Seinen so lange schon entschwunden ist, vermuthen
sie, dass die Götter ihn „unsichtbar gemacht“ haben (Od. 1,
235 ff.); er ist, meinen sie, nicht gestorben (v. 236), sondern
„die Harpyien haben ihn entrafft“, und so ist er aller Kunde
entrückt (Od. 1, 241 f.; 14, 371). Penelope in ihrem Jammer
wünscht sich entweder schnellen Tod durch die Geschosse
der Artemis, oder dass sie emporgerissen ein Sturmwind ent-
2)
Rohde, Seelencult. 5
[66] führe auf dunklen Pfaden und sie hinwerfe an den Mündungen
des Okeanos, d. h. am Eingang in’s Todtenreich (Od. 20, 61—65;
79 ff.) 1). Sie beruft sich zur Erläuterung dieses Wunsches
auf ein Märchen, von der Art, wie sie wohl in den Weiber-
gemächern oft erzählt werden mochten: von den Töchtern des
Pandareos, die nach dem gewaltsamen Tode der Eltern von
Aphrodite lieblich aufgenährt, von Hera, Artemis und Athene
mit allen Gaben und Kunstfertigkeiten ausgestattet, einst, da
Aphrodite in den Olymp gegangen war, um ihnen von Zeus
einen Ehebund zu erbitten, von den Harpyien entrafft und den
verhassten Erinyen zum Dienste gegeben worden seien 2). Diese
volksthümliche Erzählung lässt, deutlicher als sonst die ho-
merische Kunstdichtung, den Glauben erkennen, dass der
Mensch, auch ohne zu sterben, dauernd dem Bereiche der le-
benden Menschen entführt werden und an anderem Wohn-
platze weiter leben könne. Denn lebendig werden die Töchter
des Pandareos entrückt — freilich in das Reich der Todten,
denn dorthin gelangen sie, wenn sie den Erinyen, den Höllen-
geistern, dienen müssen 3). Dorthin wünscht auch Penelope,
[67] ohne doch zu sterben, entrückt zu werden aus dem Lande der
Lebendigen, das ihr unleidlich geworden ist. Die solche Ent-
führung bewirken, sind die „Harpyien“ oder der „Sturmwind“,
das ist dasselbe; denn nichts anderes als Windgeister einer
besonders unheimlichen Art sind die Harpyien, der Teufels-
braut oder „Windsbraut“ vergleichbar, die nach deutschem
Volksglauben im Wirbelwind daherfährt, auch wohl Menschen
mit sich entführt 1). Die Harpyien und was hier von ihnen
erzählt wird, gehören der bei Homer selten einmal durch-
blickenden „niederen Mythologie“ an, die von vielen Dingen
zwischen Himmel und Erde wissen mochte, von denen das
vornehme Epos keine Notiz nimmt. Bei Homer sind sie nicht
aus eigener Macht thätig; nur als Dienerinnen der Götter
oder eines Gottes entraffen sie Sterbliche dahin, wohin keine
menschliche Kunde und Macht dringt 2).


Nur ein weiteres Beispiel solcher Entrückung durch
Willen und Macht der Götter ist auch die dem Menelaos
vorausverkündigte Entsendung nach dem elysischen Gefilde
am Ende der Erde. Selbst dass ihm dauernder Aufenthalt
in jenem, lebendigen Menschen sonst unzugänglichen Wunsch-
lande zugesagt wird, unterscheidet sein Geschick noch nicht
wesentlich von dem der Töchter des Pandareos und dem ähn-
lichen, das Penelope sich selbst wünscht. Aber freilich nicht
im Hades oder an dessen Eingang, sondern an einem be-
sonderen Wohnplatze der Seligkeit wird dem Menelaos ewiges
3)
5*
[68] Leben verheissen, wie in einem anderen Götterreiche. Er soll
zum Gotte werden: denn wie den homerischen Dichtern „Gott“
und „Unsterblicher“ Wechselbegriffe sind, so wird ihnen auch
der Mensch, wenn ihm Unsterblichkeit verliehen ist (d. h. wenn
seine Psyche von seinem sichtbaren Ich sich niemals trennt),
zum Gotte.


Es ist homerischer Glaube, dass Götter auch Sterbliche
in ihr Reich, zur Unsterblichkeit erheben können. Kalypso
will den Odysseus, damit er ewig bei ihr bleibe, „unsterblich
und unalternd für alle Zeit“ machen (Od. 5, 135 f., 209 f.;
23, 335 f.), d. h. zu einem Gotte, wie sie selbst göttlich ist.
Die Unsterblichkeit der Götter ist durch den Genuss der
Zauberspeise, der Ambrosia und des Nektar, bedingt 1); auch
den Menschen macht der dauernde Genuss der Götterspeise
zum ewigen Gott. Was Odysseus, den Treue und Pflicht nach
der irdischen Heimath zurückziehen, verschmäht, ist anderen
Sterblichen zu Theil geworden. Die homerischen Gedichte
wissen von mehr als einer Erhebung eines Menschen zu un-
sterblichem Leben zu berichten.


Mitten im tosenden Meere erscheint dem Odysseus als
Retterin Ino Leukothea, einst des Kadmos Tochter, „die vor-
dem ein sterbliches Weib war, jetzt aber in der Meeresfluth
Theil hat an der Ehre der Götter“ (Od. 5, 333 ff.) 2). Hat
sie ein Gott des Meeres entrückt und in sein Element ewig
[69] gebannt? Es besteht der Glaube, dass auch wohl zu sterb-
lichen Mädchen ein Gott vom Himmel herabkommen und sie
für alle Zeit als seine Gattin sich holen könne (Od. 6, 280 f.) 1).


Ganymed, den schönsten der sterblichen Menschen, haben
die Götter in den Olymp entrückt 2), damit er als Mundschenk
des Zeus unter den Unsterblichen wohne (Il. 20, 232 ff.). Er
war ein Sprosse des alten troischen Königsgeschlechtes; eben
diesem gehört auch Tithonos an, den schon Ilias und Odyssee
als den Gatten der Eos kennen: von seiner Seite erhebt sich
die Göttin morgens, um das Licht des Tages Göttern und
Menschen zu bringen 3). Es scheint, dass sie den Geliebten
entrückt hat, nicht in den Olymp, sondern zu den fernen
Wohnplätzen am Okeanos, von wo sie morgens auffährt 4).
Eos auch war es, die einst den schönen Orion geraubt hatte,
und trotz des Neides der übrigen Götter sich seiner Liebe
erfreute, bis Artemis ihn „auf Ortygie“ mit gelindem Geschoss
tödtete (Od. 5, 122 ff.). Alte Sternsagen mögen hier zu
Grunde liegen, die eigentlich Vorgänge am Morgenhimmel
mythisch wiederspiegeln. Aber wie in solchen Sagen die Ele-
mente, die Himmelserscheinungen belebt und nach menschlicher
[70] Art beseelt gedacht waren, so sind, dem allgemeinen Zuge der
Sagenentwicklung folgend, dem homerischen Dichter die Stern-
geister längst zu irdischen Helden und Jünglingen herabge-
sunken: wenn die Göttin den Orion in ihr Reich erhebt, so
kann, nach dem Glauben der Zeit (und hierauf allein kommt
es hier an) dasselbe durch Gunst eines Gottes jedem Sterb-
lichen begegnen. Schon eine einfache Nachbildung der gleichen
Sage im rein und ursprünglich menschlichen Gebiete ist die
Erzählung von Kleitos, einem Jüngling aus dem Geschlechte
des Sehers Melampus, den Eos entrafft hat, um seiner Schön-
heit willen, damit er unter den Göttern wohne (Od. 15, 249 f.) 1).


2.


Wenn also Menelaos lebendig entrückt wird nach einem
fernen Lande an den Grenzen der Erde, um dort in ewiger Selig-
keit zu leben, so ist das zwar ein Wunder, aber ein solches, das in
homerischem Glauben seine Rechtfertigung und seine Vorbilder
findet. Neu ist nur, dass ihm ein Aufenthalt bestimmt wird, nicht
im Götterlande, dem rechten Reiche der Ewigkeit, auch nicht
(wie dem Tithonos, nach Kalypsos Wunsch dem Odysseus) in der
Umgebung eines Gottes, sondern in einem besonderen Wohn-
platz, eigens den Entrückten bestimmt, dem elysischen Gefilde.
Auch dies scheint keine Erfindung des Dichters jener Zeilen
zu sein. Das „Land der Hingegangenen“ 2) und dessen Lieb-
[71] lichkeit erwähnt er nur so kurz, dass man glauben muss, nicht
er habe zum ersten Male eine so lockende Vision gehabt 1).
Er mag nur in Menelaos den Seligen einen neuen Genossen
zugeführt haben. Dass Rhadamanthys, der Gerechte, dort
wohne, muss ihm wohl als aus älterer Sage bekannt gelten,
denn er will offenbar nur daran erinnern, und hat eben nicht
für nöthig gehalten, diese Auszeichnung des Bruders des Minos
zu begründen 2). Man könnte glauben, zu Gunsten des Rhada-
manthys sei von Dichtern älterer Zeit die Vorstellung eines sol-
chen Wunschlandes erfunden und ausgeschmückt worden. Neu ist
nur, dass diese Vorstellung nun auch in den Kreis homerischer
2)
[72] Dichtung eingeführt, ein Held des troischen Kreises den nach
jenem Lande ewig ungetrübten Glückes Entrückten gesellt
wird. Die Verse sind, wie gesagt, in die Prophezeiung des
Proteus später eingelegt, und man wird wohl glauben müssen,
dass die ganze Vorstellung homerischen Sängern bis dahin
fern lag: schwerlich wäre doch die Blüthe der Heldenschaft,
selbst Achilleus, dem öden Schattenreich verfallen, in dem wir
sie, in der Nekyia der Odyssee, schweben sehen, wenn ein Aus-
weg in ein Leben frei vom Tode der Phantasie sich gezeigt
hätte schon damals, als die Sage von dem Ende der meisten
Helden durch die Dichtung festgestellt wurde. Den Menelaos,
über dessen Ende die Dichtung vom troischen Kriege und den
Abenteuern der Heimkehr noch nicht verfügt hatte, konnte
eben darum ein späterer Poet nach dem mittlerweile „ent-
deckten“ Lande der Hinkunft entrücken lassen. Es ist sehr
wahrscheinlich, dass selbst damals, als die Hadesfahrt des
Odysseus gedichtet wurde, diese, für die Entwicklung des grie-
chischen Unsterblichkeitsglaubens später so bedeutend gewor-
dene Phantasie eines verborgenen Aufenthaltes lebendig Ent-
rückter noch gar nicht ausgebildet war. Sie schliesst sich dem
in den homerischen Gedichten herrschenden Glauben ohne Zwang
an, aber sie wird durch diesen Glauben nicht mit Nothwendig-
keit gefordert. Man könnte daher wohl meinen, sie sei von
aussen her in den Bereich homerischer Dichtung hineingetragen
worden. Und wenn man sich der babylonischen Sage von Hasi-
sadra, der hebräischen von Henoch erinnert, die, ohne den Tod
zu schmecken, in ein Reich des ewigen Lebens, in den Himmel
oder „an das Ende der Ströme“ zu den Göttern entrückt
werden 1), so könnte man wohl gar, einer gegenwärtig hie und
[73] da herrschenden Neigung nachgebend, an Entlehnung dieser
ältesten griechischen Entrückungssagen aus semitischer Ueber-
lieferung glauben wollen. Gewonnen wäre mit einer solchen
mechanischen Herleitung wenig; es bliebe hier, wie in allen
ähnlichen Fällen, die Hauptsache, der Grund, aus welchem der
griechische Genius die bestimmte Vorstellung zu einer bestimmten
Zeit den Fremden entlehnen mochte, unaufgeklärt. Es spricht
aber auch im vorliegenden Falle nichts dafür, dass der Ent-
rückungsglaube von einem Volke dem anderen überliefert und
nicht vielmehr bei den verschiedenen Völkern aus gleichem Be-
dürfniss frei und selbständig entstanden sei. Die Grundvoraus-
setzungen, auf denen diese, den homerischen Seelenglauben
nicht aufhebende, sondern vielmehr voraussetzende und sanft
ergänzende neue Vorstellung sich aufbaut, waren, wie wir ge-
sehen haben, in einheimisch griechischem Glauben gegeben. Es
bedurfte durchaus keiner Anregung aus der Fremde, damit
aus diesen Elementen sich die allerdings neue und eigenthüm-
lich anziehende Vorstellung bilde, von der die Weissagung des
Proteus uns die erste Kunde bringt.


3.


Je wichtiger die neue Schöpfung für die spätere Entwick-
lung griechischen Glaubens geworden ist, desto nothwendiger
ist es, sich klar zu machen, was eigentlich hier neu geschaffen
ist. Ist es ein Paradies für Fromme und Gerechte? eine Art
griechischer Walhall für die tapfersten Helden? oder soll eine
Ausgleichung von Tugend und Glück, wie sie das Leben nicht
1)
[74] kennt, in einem Lande der Verheissung der Hoffnung gezeigt
werden? Nichts derartiges kündigen jene Verse an. Mene-
laos, in keiner der Tugenden, die das homerische Zeitalter am
höchsten schätzt, sonderlich ausgezeichnet 1), soll nur darum
in’s Elysium entrückt werden, weil er Helena zur Gattin hat
und des Zeus Eidam ist: so verkündigt Proteus es ihm. Warum
Rhadamanthys an den Ort der Seligkeit gelangt ist, erfahren
wir nicht, auch nicht durch ein Beiwort, das ihn etwa, wie es
bei späteren Dichtern fast üblich ist, als den „Gerechten“ be-
zeichnete. Wir dürfen uns aber erinnern, dass er, als Bruder
des Minos, ein Sohn des Zeus ist 2). Nicht Tugend und Ver-
dienst geben ein Anrecht auf die zukünftige Seligkeit; von
einem Anrecht ist überhaupt keine Spur: wie die Erhaltung
der Psyche beim Leibe und damit die Abwendung des Todes
nur durch ein Wunder, einen Zauber, also nur in einem Aus-
nahmefall, geschehen kann, so bleibt die Entrückung in das
„Land des Hingangs“ ein Privilegium einzelner von der Gott-
heit besonders Begnadeter, aus dem man durchaus keinen Glau-
benssatz von allgemeiner Gültigkeit ableiten darf. Am ersten
liesse die, Einzelnen gewährte wunderbare Erhaltung des Lebens
im Lande seliger Ruhe sich vergleichen mit der ebenso wunder-
baren Erhaltung des Bewusstseins jener drei Götterfeinde im
Hades, von denen die Nekyia erzählt. Die Büsser im Erebos,
die Seligen im Elysium entsprechen einander; beide stellen
Ausnahmen dar, welche die Regel nicht aufheben, den homeri-
schen Glauben im Ganzen nicht beeinträchtigen. Die Allmacht
der Götter hat dort wie hier das Gesetz durchbrochen. Die
aber, welche besondere Göttergunst dem Tode enthebt und
in’s Elysium entrückt, sind nahe Verwandte der Götter; hierin
allein scheint die Gnade ihren Grund zu haben 3). Wenn irgend
[75] eine allgemeinere Begründung, über launenhafte Begünstigung
Einzelner durch einen Gott hinaus, den Entrückungen zukommt,
so könnte es allenfalls der Glaube sein, dass ein naher Zu-
sammenhang mit der Gottheit, d. h. eben der höchste Adel
der Abkunft vor dem Versinken in das allgemeine Reich der
trostlosen Nichtigkeit nach der Trennung der Psyche vom Leibe
schütze. So lässt der Glaube mancher „Naturvölker“ den ge-
meinen Mann nach dem Tode, wenn er nicht etwa ganz ver-
nichtet wird, in ein unerfreuliches Todtenreich, die Abkömm-
linge der Götter und Könige, d. h. den Adel, in ein Reich
ewiger Lust eingehen 1). Aber in der Verheissung, die dem
Menelaos zu Theil wird, scheint ein ähnlicher Wahn doch
höchstens ganz dunkel durch. Von einem allgemeinen Ge-
setz, aus dem der einzelne Fall abzuleiten wäre, ist nicht die
Rede. —


4.


Die Einzelnen nun, denen in dem elysischen Lande am
Ende der Erde ein ewiges Leben geschenkt wird, sind von den
Wohnplätzen der Sterblichen viel zu weit abgerückt, als dass
man glauben könnte, dass ihnen irgend eine Einwirkung auf
die Menschenwelt gestattet wäre 2). Sie gleichen den Göttern nur
3)
[76] in der auch ihnen verliehenen Endlosigkeit bewussten Lebens;
aber von göttlicher Macht ist ihnen nichts verliehen 1), ihnen
nicht mehr als den Bewohnern des Erebos, deren Loos im
Uebrigen von dem ihrigen so verschieden ist. Man darf daher
auch nicht etwa glauben, dass der Grund für die Sagen von
Erhöhung einzelner Helden über ihre Genossen durch die Ver-
setzung in ein fernes Wonneland durch einen Cult gegeben
worden sei, der diesen Einzelnen an ihren ehemaligen irdischen
Wohnplätzen gewidmet worden wäre. Jeder Cult ist die Ver-
ehrung eines Wirksamen; die als wirksam verehrten Landes-
heroen hätte kein Volksglaube, keine Dichterphantasie in un-
erreichbarer Ferne angesiedelt.


Es ist freie Dichterthätigkeit, die diese letzte Zufluchts-
stätte menschlicher Hoffnung auf der elysischen Flur geschaffen
und ausgeschmückt hat, und poetische, nicht religiöse Bedürf-
nisse sind es, denen diese Schöpfung zunächst genügen sollte.


Das jüngere der zwei homerischen Epen steht dem heroi-
schen, nur in rastloser Bethätigung lebendiger Kraft sich ge-
nügenden Sinne der Ilias schon ferner. Anders mag die Stim-
mung der Eroberer eines neuen Heimathlandes an der asiatischen
Küste gewesen sein, anders die der zu ruhigem Besitze und
ungestörtem Genusse des Errungenen Gelangten: es ist als ob
die Odyssee die Sinnesart und die Wünsche der ionischen Stadt-
bürger dieser späteren Zeit wiederspiegelte. Ein ruheseliger
Geist zieht wie in einer Unterströmung durch das ganze Ge-
dicht, und hat sich inmitten der bewegten Handlung überall
seine Erholungsstätten geschaffen. Wo die Wünsche des Dichters
rechte Gestalt gewinnen, da zeigen sie uns Bilder idyllisch sich
im Genuss der Gegenwart genügender Zustände, glänzender
im Phäakenlande, froh beschränkter auf dem Hofe des Eumäos,
Scenen friedsamen Ausruhens nach den nur noch in behaglicher
2)
[77] Erinnerung lebenden Kämpfen der vergangenen Zeit, wie in
Nestors Hause, im Pallast des Menelaos und der wieder-
gewonnenen Helena. Oder Schilderung einer freiwillig milden
Natur, wie auf der Insel Syrie, der Jugendheimath des Eu-
mäos, auf der in reichem Besitze an Heerden, Wein und Korn ein
Volk lebt, frei von Noth und Krankheit bis zum hohen Alter,
wo dann Apollo und Artemis mit sanften Geschossen plötz-
lichen Tod bringen (Od. 15, 403 ff.). Fragst Du freilich, wo
diese glückliche Insel liege, so antwortet Dir der Dichter: sie
liegt über Ortygie, dort wo die Sonne sich wendet. Aber wo
ist Ortygie 1) und wer kann die Stelle zeigen wo, fern im
Westen, die Sonne sich zur Rückfahrt wendet? Das Land
idyllischen Genügens liegt fast schon ausserhalb der Welt.
Phönicische Händler wohl, die überall hinkommen, gelangen
auch dorthin (V. 415 ff.), und ionische Schiffer mochten wohl,
in dieser Zeit frühester griechischer Colonieführungen, in welche
die Odyssee noch hineinreicht, fern draussen im Meere solche
gedeihliche Wohnstätten neuen Lebens finden zu können hoffen.


So gleicht auch Land und Leben der Phäaken dem
Idealbilde einer ionischen Neugründung, fern von der Unruhe,
dem aufregenden Wettbewerb, frei von aller Beschränkung der
bekannten Griechenländer. Aber dieses Traumbild, schatten-
los, in eitel Licht getaucht, ist in unerreichbare Weite hinaus-
gerückt; nur durch Zufall wird einmal ein fremdes Schiff dort-
[78] hin verschlagen, und alsbald tragen die beseelten Schiffe der
Phäaken den Fremden durch Nacht und Nebel in seine Heimath
zurück. Zwar hat es keinen Grund, wenn man in den Phäaken
ein Volk von Todtenschiffern, dem elysischen Lande benach-
bart, gesehen hat; aber in der That steht wenigstens die dich-
terische Stimmung, die das Phäakenland geschaffen hat, der-
jenigen nahe genug, aus der die Vorstellung eines elysischen
Gefildes jenseits der bewohnten Erde entsprungen ist. Lässt
sich ein Leben ungestörten Glückes nur denken im entlegensten
Winkel der Erde, eifersüchtig behütet vor fremden Eindring-
lingen, so führt ein einziger Schritt weiter zu der Annahme,
dass solches Glück nur zu finden sei da, wohin keinen Menschen
weder Zufall noch eigener Entschluss tragen kann, ferner ab-
gelegen noch als die Phäaken, als das Land der gottgeliebten
Aethiopier oder die Abier im Norden, von denen schon die
Ilias weiss, — jenseits aller Wirklichkeit des Lebens. Es ist
ein idyllischer Wunsch, der sich in der Phantasie des elysischen
Landes befriedigt. Das Glück der zu ewigem Leben Entrückten
schien nur dann völlig gesichert, wenn ihr Wohnplatz aller For-
schung, aller vordringenden Erfahrung auf ewig entrückt war.
Dieses Glück ist gedacht als ein Zustand des Genusses unter
mildestem Himmel; mühelos, leicht ist dort, sagt der Dichter,
das Leben der Menschen, hierin dem Götterleben ähnlich, aber
freilich ohne Streben, ohne That. Es ist zweifelhaft, ob dem
Dichter der Ilias solche Zukunft seiner Helden würdig, solches
Glück als ein Glück erschienen wäre.


5.


Wir mussten annehmen, dass der Dichter, der jene unbe-
schreiblich sanft fliessenden Verse in die Odyssee eingelegt hat,
nicht der erste Erfinder oder Entdecker des elysischen Wunsch-
landes jenseits der Sterblichkeit war. Aber folgte er auch anderen:
dadurch dass er in die homerischen Gedichte eine Hindeutung
auf den neuen Glauben einflocht, hat er erst dieser Vorstellung
in griechischer Phantasie eine dauernde Stelle gegeben. Andere
[79] Gedichte mochten verschwinden; was in Ilias und Odyssee stand,
war ewigem Gedächtniss anvertraut. Von da an liess die
Phantasie der griechischen Dichter und des griechischen Volkes
die schmeichelnde Vorstellung eines fernen Landes der Selig-
keit, in das einzelne Sterbliche durch Göttergunst entrückt
werden, nicht wieder los. Selbst die dürftigen Notizen, die
uns von dem Inhalt der Heldengedichte berichten, welche die
zwei homerischen Epen, vorbereitend, weiterführend, verknüpfend
in den vollen Kreis der thebanischen und troischen Heldensage
einschlossen, lassen uns erkennen, wie diese nachhomerische
Dichtung sich in der Ausführung weiterer Beispiele von Ent-
rückungen gefiel.


Die Kypria zuerst erzählten, wie Agamemnon, als das
Heer der Achäer zum zweiten Male in Aulis lag und durch
widrige Winde, die Artemis schickte, festgehalten wurde, auf
Geheiss des Kalchas der Göttin die eigene Tochter Iphigenia
opfern wollte. Artemis aber entraffte die Jungfrau und ent-
rückte sie in’s Land der Taurier und machte sie dort un-
sterblich 1).


Die Aethiopis, die Ilias fortsetzend, erzählte von der Hülfe,
die Penthesilea mit ihren Amazonen, nach deren Tod Memnon,
der Aethiopenfürst, ein phantastischer Vertreter der Königs-
macht östlicher Reiche im inneren Asien, den Troern brachte.
Im Kampfe fällt Antilochos, nach Patroklos’ Tode der neue Lieb-
ling des Achill; aber Achill erlegt den Memnon selbst: da
erbittet Eos, die Mutter des Memnon (und als solche schon
der Odyssee bekannt) den Zeus und gewährt dem Sohne Un-
sterblichkeit 2). Man darf annehmen, dass der Dichter erzählte,
was man auf Vasenbildern mehrfach dargestellt sieht: wie die
Mutter durch die Luft den Leichnam des Sohnes entführte.
[80] Aber wenn, nach einer Erzählung der Ilias, einst Apollo durch
Schlaf und Tod, die Zwillingsbrüder, den Leichnam des von
Achill erschlagenen Sarpedon, Sohnes des Zeus, nach seiner
lykischen Heimath tragen liess, nur damit er in der Heimath
bestattet werde, so überbietet der Dichter der Aethiopis jene
eindrucksvolle Erzählung der Ilias, die ihm offenbar das Vor-
bild zu seiner Schilderung wurde 1), indem er Eos den Todten,
mit Zeus’ Bewilligung, nicht nur nach der Heimath fern im
Osten entrücken, sondern dort zu ewigem Leben neu er-
wecken liess.


Bald nach Memnons Tode ereilt auch den Achill das Ge-
schick. Als aber sein, nach hartem Kampfe von den Freunden ge-
sicherter Leichnam auf dem Todtenbette ausgestellt ist, kommt
Thetis, die Mutter des Helden, mit den Musen und den anderen
Meergöttinnen, und stimmt die Leichenklage an. So berichtet
schon die Odyssee im letzten Buche (Od. 24, 47 ff.). Aber
während dort weiter erzählt wird, wie die Leiche verbrannt,
die Gebeine gesammelt und im Hügel beigesetzt worden seien,
die Psyche des Achill aber in das Haus des Hades eingegangen
ist — ihr selbst wird in der Unterwelt das alles von Aga-
memnons Psyche mitgetheilt — wagte der Dichter der Aethiopis,
[81] überhaupt besonders kühn in freier Weiterbildung der Sage,
eine bedeutende Neuerung. Aus dem Scheiterhaufen, erzählte
er, entrafft Thetis den Leichnam des Sohnes und bringt ihn
nach Leuke 1). Dass sie ihn dort neu belebt und unsterblich
gemacht habe, sagt der uns zufällig erhaltene dürre Auszug
nicht; ohne Frage aber erzählte so der Dichter; alle späteren
Berichte setzen das hinzu.


In deutlich erkennbarer Parallele sind die beiden Gegner,
Memnon und Achill, durch ihre göttlichen Mütter dem Loose
der Sterblichkeit enthoben; im wiederbeseelten Leibe leben sie
weiter, nicht unter den Menschen, auch nicht im Reiche der
Götter, sondern in einem fernen Wunderlande, Memnon im
Osten, Achill auf der „weissen Insel“, die der Dichter sich
schwerlich schon im Pontos Euxeinos liegend dachte, wo frei-
lich später griechische Schiffer das eigentlich rein sagenhafte
Local auffanden.


Der Entrückung des Menelaos tritt noch näher, was die
Telegonie, das letzte und auch wohl jüngste der Gedichte des
epischen Cyklus, von den Geschicken der Familie des Odysseus
berichtete. Nachdem Telegonos, der Sohn des Odysseus und
der Kirke, seinen Vater, ohne ihn zu kennen, erschlagen hat,
Rohde, Seelencult. 6
[82] wird er seinen Irrthum gewahr; er bringt darauf den Leich-
nam des Odysseus, sowie die Penelope und den Telemachos
zu seiner Mutter Kirke. Diese macht sie unsterblich, und es
wohnt nun (auf der Insel Aeaea, fern im Meere, muss man
denken) Penelope als Gattin mit Telegonos, Kirke mit Tele-
machos zusammen 1).


6.


Ueberraschen kann, dass nirgends von Entrückung nach
einem allgemeinen Sammelpuncte der Entrückten, wie die
elysische Flur einer zu sein schien, berichtet wird. Man muss
eben darum dahingestellt sein lassen, wie weit gerade die Verse
der Odyssee, die von Menelaos’ Entrückung in’s Elysium er-
zählen, auf die Ausbildung der Entrückungssagen der nach-
homerischen Epen eingewirkt haben mögen. Wahrscheinlich
bleibt solche Einwirkung in hohem Maasse 2); und jedenfalls
ist dieselbe Richtung der Phantasie, welche das Elysium er-
schuf, auch in diesen Erzählungen von der Entrückung einzelner
Helden zu einsamem Weiterleben an verborgenen Wohnplätzen
der Unsterblichkeit thätig. Nicht mehr zu den Göttern erhebt
Eos den dem Hades entrissenen Sohn, wie doch einst den
Kleitos und andere Lieblinge: Memnon tritt in ein eigenes
Dasein ein, das ihn von den übrigen Menschen so gut wie
von den Göttern absondert; und ebenso Achill und die anderen
Entrückten. So bereichert die Dichtung die Zahl der Ange-
hörigen eines eigenen Zwischenreiches sterblich Geborener und
zur Unsterblichkeit, ausserhalb des olympischen Reiches, Er-
[83] korener. Immer bleiben es einzelne Begünstigte, die in dieses
Reich eingehen; es bleibt poetischer Wunsch, in dichterischer
Freiheit schaltend, der eine immer grössere Zahl der Licht-
gestalten der Sage in der Verklärung ewigen Lebens festzuhalten
trieb. Religiöse Verehrung kann bei der Ausbildung dieser
Sagen nicht mehr Einfluss gehabt haben als bei der Erzählung
von der Entrückung des Menelaos; wenn in späteren Zeiten z. B.
dem Achill auf einer, für Leuke erklärten Insel an den Donau-
mündungen ein Cult dargebracht wurde, so war der Cult eben
Folge, nicht Anlass und Ursache der Dichtung. Iphigenia
allerdings war der Beiname einer Mondgöttin; aber der Dichter,
der von der Entrückung der gleichnamigen Tochter Agamem-
nons erzählte, ahnte jedenfalls nichts von deren Identität mit
einer Göttin — sonst würde er sie eben nicht für Agamem-
nons Tochter gehalten haben — und ist keinenfalls durch
einen irgendwo angetroffenen Cult der göttlichen Iphigenia
veranlasst worden (wie man sich wohl denkt), seine sterbliche
Iphigenia jure postliminii durch den Entrückungsapparat wieder
unsterblich zu machen. Das gerade war ihm und seinen Zeit-
genossen das Bedeutende, der eigentliche Kern seiner, sei es
frei erfundenen oder aus vorhandenen Motiven zusammenge-
fügten Erzählung, dass sie Kunde gab von der Erhebung eines
sterblichen Mädchens, der Tochter sterblicher Eltern, zu un-
sterblichem Leben, — nicht zu religiöser Verehrung, die der,
in’s ferne Taurierland Gebannten sich auf keine Weise hätte
bemerklich machen können 1).


Wie weit übrigens die geschäftige Sagenausspinnung der
schliesslich in genealogische Poesie sich verlaufenden Helden-
dichtung das Motiv der Entrückung und Verklärung ausgenutzt
haben mag, können wir, bei unseren ganz ungenügenden Hülfs-
mitteln, nicht mehr ermessen. Wenn schon so leere Gestalten
wie Telegonos der Verewigung für würdig gehalten wurden,
so sollte man meinen, dass in der Vorstellung der Dichter
allen Helden der Sage fast ein Anspruch auf diese Art
6*
[84] von unsterblichem Weiterleben erwachsen war, der für die
Bedeutenderen erst recht nicht unbefriedigt bleiben konnte.
Wenigstens für die nicht, über deren Ende die homerischen
Gedichte nicht selbst andere Angaben gemacht hatten. Das
Gedicht von der Rückkehr der Helden von Troja mochte vor
anderen Raum bieten zu manchen Entrückungssagen 1). Man
könnte z. B. fragen, ob nicht mindestens den Diomedes,
von dessen Unsterblichkeit spätere Sagen oft berichten, bereits
die an Homer angeschlossene epische Dichtung in die Zahl
der ewig fortlebenden Helden aufgenommen hatte. Ein attisches
volksthümliches Lied des 5. Jahrhunderts weiss gerade von
Diomedes zu sagen, dass er nicht gestorben sei, sondern auf
den „Inseln der Seligen“ lebe 2). Und dass von den Helden
des troischen Krieges eine grössere Schaar, als wir aus den
zufällig uns erhaltenen Angaben über den Inhalt der nach-
homerischen Epen zusammenrechnen können, auf seligen Ei-
landen draussen im Meere bereits durch die Heldendichtung
homerischen Styles versammelt worden sein muss, haben wir
zu schliessen aus Versen eines hesiodischen Gedichtes, welche
über ältesten griechischen Seelencult und Unsterblichkeits-
glauben die merkwürdigsten Aufschlüsse geben und darum einer
genaueren Betrachtung zu unterziehen sind.


II.


In dem aus mancherlei selbständigen Abschnitten belehren-
den und erzählenden Inhalts lose zusammengeschobenen hesiodi-
schen Gedichte der „Werke und Tage“ steht, nicht weit vom
Anfang, mit dem Vorausgehenden und Folgenden nur durch
einen kaum sichtbaren Faden des Gedankenzusammenhanges
[85] verbunden, der Form nach ganz für sich, die Erzählung
von den fünf Menschengeschlechtern
(v. 109—201).


Im Anfang, heisst es da, schufen die Götter des Olymps
das goldene Geschlecht, dessen Angehörige wie die Götter
lebten, ohne Sorge, Krankheit und Altersmühe, im Genuss
reichen Besitzes. Nach ihrem Tode, der ihnen nahete wie
der Schlaf dem Müden, sind sie nach Zeus’ Willen zu Dä-
monen und Wächtern der Menschen geworden. Es folgte das
silberne Geschlecht, viel geringer als das erste, diesem weder
leiblich noch geistig gleich. Nach langer, hundert Jahre
währenden Kindheit folgte bei den Menschen dieses Ge-
schlechts eine kurze Jugend, in der sie durch Uebermuth gegen
einander und gegen die Götter sich viel Leiden schufen. Weil
sie den Göttern die schuldige Verehrung versagten, vertilgte
sie Zeus; nun sind sie unterirdische Dämonen, geehrt, wenn
auch weniger als die Dämonen des goldenen Geschlechts.
Zeus schuf ein drittes Geschlecht, das eherne, harten Sinnes
und von gewaltiger Kraft; der Krieg war ihre Lust; durch
ihre eigenen Hände bezwungen gingen sie unter, ruhmlos ge-
langten sie in das dumpfige Haus des Hades. Darnach er-
schuf Zeus ein viertes Geschlecht, das gerechter und besser
war, das Geschlecht der Heroen, die da „Halbgötter“ genannt
werden. Sie kämpften um Theben und Troja, einige starben,
andere siedelte Zeus an den Enden der Erde, auf den Inseln
der Seligen am Okeanos an, wo ihnen dreimal im Jahre die
Erde Frucht bringt. „Möchte ich doch nicht gehören zum
fünften Geschlecht; wäre ich lieber vorher gestorben oder später
erst geboren“ sagt der Dichter. „Denn jetzt ist das eiserne
Zeitalter“, wo Mühe und Sorge den Menschen nicht los lassen,
Feindschaft aller gegen alle herrscht, Gewalt das Recht beugt,
schadenfroher, übelredender, hässlich blickender Wettbewerb alle
antreibt. Nun entschweben Scham und die Göttin der Ver-
geltung, Nemesis, zu den Göttern, alle Uebel verbleiben den
Menschen, und es giebt keine Abwehr des Unheils. —


Es sind die Ergebnisse trüben Nachsinnens über Werden
[86] und Wachsen des Uebels in der Menschenwelt, die uns der
Dichter vorlegt. Von der Höhe göttergleichen Glückes sieht
er die Menschheit stufenweise zu tiefstem Elend und äusserster
Verworfenheit absteigen. Er folgt populären Vorstellungen.
In die Vorzeit den Zustand irdischer Vollkommenheit zu ver-
legen, ist allen Völkern natürlich, mindestens so lange nicht
scharfe geschichtliche Erinnerung, sondern freundliche Mär-
chen und glänzende Träume der Dichter ihnen von jener
Vorzeit berichten und die Neigung der Phantasie, nur die
angenehmen Züge der Vergangenheit dem Gedächtniss einzu-
prägen, unterstützen. Vom goldenen Zeitalter und wie all-
mählich die Menschheit sich hiervon immer weiter entfernt
habe, wissen manche Völker zu sagen; es ist nicht einmal ver-
wunderlich, dass phantastische Speculation, von dem gleichen
Ausgangspuncte in gleicher Richtung weitergehend, bei mehr
als einem Volke, ohne alle Einwirkung irgend welches geschicht-
lichen Zusammenhanges, zu Ausdichtungen des durch mehrere
Geschlechter abwärts steigenden Entwicklungsgangs zum Schlim-
meren geführt worden ist, die unter einander und mit der
hesiodischen Dichtung von den fünf Weltaltern die auffallendste
Aehnlichkeit zeigen. Selbst den Homer überfällt wohl einmal
eine Stimmung, wie sie solchen, die Vorzeit idealisirenden
Dichtungen zu Grunde liegt, wenn er mitten in der Schilderung
des heroischen Lebens daran denkt, „wie jetzt die Menschen
sind“, und „wie doch nur wenige Söhne den Vätern gleich sind
an Tugend; schlimmer die meisten, ganz wenige nur besser
sind als der Vater“ (Od. 2, 276 f.). Aber der epische Dichter
hält sich in der Höhe der heroischen Vergangenheit und der
dichterischen Phantasie gleichsam schwebend, nur flüchtig fällt
einmal sein Blick abwärts in die Niederungen des wirklichen
Lebens. Der Dichter der „Werke und Tage“ lebt mit allen
seinen Gedanken in eben diesen Niederungen der Wirklichkeit
und der Gegenwart; der Blick, den er einmal aufwärts richtet
auf die Gipfel gefabelter Vorzeit, ist der schmerzlichere.


Was er von dem Urzustande der Menschheit und dem
[87] Stufengange der Verschlimmerung zu erzählen weiss, giebt er
nicht als abstracte Darlegung dessen, was im nothwendigen
Verlauf der Dinge kommen musste, sondern, wie er selbst es
ohne Zweifel wahrzunehmen glaubte, als Ueberlieferung eines
thatsächlich Geschehenen, als Geschichte. Von geschichtlicher
Ueberlieferung ist gleichwohl, wenn man von einzelnen unbe-
stimmten Erinnerungen absieht, nichts enthalten in dem, was
er von der Art und den Thaten der früheren Geschlechter
sagt. Es bleibt ein Gedankenbild, was er uns giebt. Und
eben darum hat die Entwicklung, wie er sie zeichnet, einen
aus dem Gedanken einer stufenweise absteigenden Verschlim-
merung deutlich bestimmten und darnach geregelten Verlauf.
Auf die stille Seligkeit des ersten Geschlechts, das keine
Laster kennt und keine Tugend, folgt im zweiten Geschlecht,
nach langer Unmündigkeit, Uebermuth und Vernachlässigung
der Götter; im dritten, ehernen Geschlecht bricht active Un-
tugend hervor, mit Krieg und Mord; das letzte Geschlecht,
in dessen Anfang sich der Dichter selbst zu stehen scheint,
zeigt gänzliche Zerrüttung aller sittlichen Bande. Das vierte
Geschlecht, dem die Heroen des thebanischen und troischen
Krieges angehören, allein unter den übrigen nach keinem Me-
tall benannt und gewerthet, steht fremd inmitten dieser Ent-
wicklung; das Absteigen zum Schlimmen wird im vierten Ge-
schlecht gehemmt, und doch geht es im fünften Geschlecht so
weiter, als ob es nirgends unterbrochen wäre. Man sieht also
nicht ein, zu welchem Zwecke es unterbrochen worden ist.
Erkennt man aber (mit den meisten Auslegern) in der Erzäh-
lung vom vierten Geschlecht ein, der Dichtung von den Welt-
altern ursprünglich fremdes Stück, von Hesiod in diese Dich-
tung, die er ihrem wesentlichen Bestande nach älteren Dichtern
entlehnen mochte, selbständig eingelegt, so muss man freilich
fragen, was den Dichter zu einer solchen Störung und Zer-
störung des klaren Verlaufs jener speculativen Dichtung be-
wegen konnte. Es würde nicht genügen, zu sagen, dass der
Dichter, in homerischer Poesie aufgenährt, es unmöglich fand
[88] in einer Aufzählung der Geschlechter früherer Menschen die
Gestalten der heroischen Dichtung zu übergehen, die durch
die Macht des Gesanges für die Phantasie der Griechen mehr
Realität angenommen hatten als die Erscheinungen der derbsten
Wirklichkeit; oder dass er einer finsteren Abbildung der he-
roischen Periode, wie sie in der Schilderung des ehernen Ge-
schlechts von einem anderen Standpuncte, als dem des adels-
freundlichen Epos entworfen war, jenes verklärte Bild eben
jener Periode an die Seite stellen wollte, wie es ihm vor der
Seele schwebte. Bezieht sich wirklich die Schilderung des
ehernen Zeitalters auf die Heroenzeit, gleichsam deren Kehr-
seite darstellend 1), so scheint doch Hesiod das nicht gemerkt
zu haben. Er hat stärkere Gründe als die angeführten für
die Einschiebung seiner Schilderung gehabt. Er kann nicht
übersehen haben, dass er den folgerechten Gang der moralischen
Entartung durch Einschiebung des heroischen Geschlechts
unterbrach; wenn er diese Einschiebung doch für nothwendig
oder zulässig hielt, so muss er mit seiner Erzählung noch
einen anderen Zweck als die Darlegung der moralischen Ent-
artung verfolgt haben, den er durch Einschiebung dieses neuen
Abschnittes zu fördern meinte. Diesen Zweck wird man er-
kennen, wenn man zusieht, was eigentlich an dem heroischen
Geschlechte den Dichter interessirt. Es ist nicht seine, im
Verlaufe der moralisch immer tiefer absteigenden Geschlechter-
folge nur störende höhere Moralität: sonst würde er diese
nicht mit zwei Worten, die eben nur zur äusserlichen Ein-
fügung dieses Berichtes in die moralische Geschichtsentwicklung
genügen, abgethan haben. Es sind auch nicht die Kämpfe
und Thaten um Theben und Troja, von deren Herrlichkeit er
nichts sagt, während er gleich ankündigt, dass der schlimme
Krieg und das grause Getümmel die Helden vernichtete. Dies
[89] wiederum unterscheidet die Heroen nicht von den Menschen
des ehernen Geschlechts, die ebenfalls durch ihre eigenen Hände
bezwungen in den Hades eingehen mussten. Was das heroische
Zeitalter vor den anderen auszeichnet, ist die Art, wie einige
der Heroen, ohne zu sterben, aus dem Leben scheiden. Dies
ist es, was den Dichter interessirt, und dies auch wird ihn
hauptsächlich bewogen haben, den Bericht von diesem vierten
Geschlecht hier einzulegen. Deutlich genug verbindet er mit
dem Hauptzweck einer Darstellung des zunehmenden moralischen
Verfalls der Menschheit die Nebenabsicht, zu berichten, was
den Angehörigen der einander folgenden Geschlechter nach
dem Tode geschehen sei; bei der Einlegung des heroischen
Geschlechts ist diese Nebenabsicht zur Hauptabsicht, ihre
Ausführung zum rechtfertigenden Grunde der sonst vielmehr
störenden Einfügung geworden. Und eben um dieser Absicht
willen ist für unsere gegenwärtige Betrachtung die Erzählung
des Hesiod wichtig.


2.


Die Menschen des goldenen Geschlechts sind, nachdem
sie wie vom Schlafe bezwungen gestorben und in die Erde ge-
legt sind, nach dem Willen des Zeus zu Dämonen geworden,
und zwar zu Dämonen auf der Erde, zu Wächtern der Menschen,
die in Wolken gehüllt über die Erde wandeln, Recht und Un-
recht beobachtend 1), Reichthum spendend wie Könige. Diese
Menschen der ältesten Zeit sind also zu wirksamen, nicht in’s
unerreichbare Jenseits abgeschiedenen, sondern auf der Erde,
in der Nähe der Menschen waltenden Wesen geworden. Hesiod
nennt sie in diesem erhöheten Zustande „Dämonen“, er be-
zeichnet sie also mit dem Namen, der sonst bei ihm so gut
[90] wie bei Homer die unsterblichen Götter bezeichnet. Der Name,
so verwendet, soll an und für sich keineswegs eine besondere
Gattung von Unsterblichen bezeichnen, etwa von Mittelwesen
zwischen Gott und Mensch, wie sie allerdings spätere Specu-
lation mit dem Namen der „Dämonen“ zu benennen pflegt 1).
Jene Mittelwesen werden, ebenso wie die Götter, als Wesen
ursprünglich unsterblicher Natur und als verweilend in einem
Zwischenreich gedacht; diese hesiodischen Dämonen sind einst
Menschen gewesen und zu unsichtbar 2) um die Erde schwe-
benden Unsterblichen erst nach ihrem Tode geworden. Wenn
sie „Dämonen“ genannt werden, so soll damit gewiss nichts
weiter ausgesagt werden, als eben dies, dass sie nun an dem
unsichtbaren Walten und ewigen Leben der Götter Theil
nehmen, insofern also selbst „Götter“ genannt werden können,
so gut wie etwa Ino Leukothea, die nach Homer aus einer
Sterblichen eine Göttin geworden ist, oder wie Phaethon, der
nach der hesiodischen Theogonie von Aphrodite dem Reich
der Sterblichen enthoben ist und nun „göttlicher Dämon“ heisst
(Theog. v. 99). Zur deutlichen Unterscheidung indess von den
ewigen Göttern, „welche die olympischen Wohnungen inne-
haben“, heissen diese unsterblich gewordenen Menschen „Dä-
monen, die auf der Erde walten“ 3). Und wenn sie auch mit
[91] dem aus Homer Jedermann geläufigen Namen die „Dämonen“,
d. i. Götter, genannt werden, so bilden sie doch eine Classe
von Wesen, die dem Homer gänzlich unbekannt ist. Homer
weiss von einzelnen Menschen, die, an Leib und Seele zugleich,
zu unsterblichem Leben erhöhet oder entrückt sind, das spätere
Epos auch von solchen, die (wie Memnon, Achill), nach dem
Tode neu belebt, nun weiterleben in untrennbarer Gemeinschaft
von Leib und Seele. Dass die Seele, allein für sich, ausser-
halb des Erebos ein bewusstes Leben weiterführen und auf die
lebenden Menschen einwirken könne, davon redet Homer nie.
Eben dieses aber ist nach der hesiodischen Dichtung geschehen.
Die Menschen des goldenen Zeitalters sind gestorben und leben
nun ausserhalb des Leibes weiter, unsichtbar, Göttern ähnlich,
daher mit dem Götternamen benannt; wie nach Homer die
Götter selbst, mannichfache Gestalt annehmend, die Städte
durchstreifen, der Menschen Frevel und Frömmigkeit beauf-
sichtigend 1), ähnlich hier die Seelen der Verstorbenen. Denn
Seelen sind es ja, die hier, nach ihrer Trennung vom Leibe,
zu „Dämonen“ geworden sind, d. h. auf jeden Fall in ein
höheres, mächtigeres Dasein eingetreten sind als sie während
ihrer Vereinigung mit dem Leibe hatten. Und dies ist eine
Vorstellung, die uns in den homerischen Gedichten nirgends
entgegengetreten ist.


Nun ist es völlig undenkbar, dass diese merkwürdige Vor-
stellung von dem böotischen Dichter frei und für den Augen-
blick erfunden wäre. Er kommt im weiteren Verlaufe seines
Gedichtes noch einmal zurück auf denselben Glauben. Dreissig-
tausend (d. h. unzählige) unsterbliche Wächter der sterblichen
3)
[92] Menschen wandeln im Dienste des Zeus unsichtbar über die
Erde, Recht und Frevel beachtend (W. u. T. 252 ff.). Die
Vorstellung ist ihm aus sittlichen Gründen wichtig; will er sich
auf sie stützen, so darf er sie nicht selbst beliebig erdichtet
haben; und in der That hat dieser ernsthafte Poet nichts er-
dichtet, was in den Bereich des Glaubens, des Cultus, auch
der niederen Superstition fällt. Die böotische Dichterschule,
der er angehört, steht der erfindsamen Freiheit schweifender
Phantasie, mit der die homerische Dichtung „viele Lügen vor-
zubringen weiss, so dass sie wie Wahrheit erscheinen“ (Theog. 27)
fern, ja feindlich gegenüber. Wie sie nicht frei ergötzen, sondern
in irgend einem Sinne stets belehren will, so erfindet sie selbst
im Gebiete des rein Mythischen nichts, sondern sie ordnet und
verbindet oder registrirt auch nur, was sie als Ueberlieferung
vorfindet. Im Religiösen vollends liegt ihr alle Erfindung fern,
wiewohl keineswegs selbständige Speculation über das Ueber-
lieferte. Was also Hesiod von Menschen der Vorzeit erzählt,
deren Seelen nach dem Tode zu „Dämonen“ geworden seien,
ist ihm aus der Ueberlieferung zugekommen. Man könnte immer
noch sagen: diese Vorstellung mag älter sein als Hesiod, sie kann
aber darum doch jünger als Homer und das Ergebniss nach-
homerischer Speculation sein. Es ist nicht nöthig, die Gründe,
welche eine solche Annahme unhaltbar machen, zu entwickeln.
Denn wir dürfen nach dem Verlauf unserer bisherigen Betrach-
tung mit aller Bestimmtheit behaupten, dass in dem, was Hesiod
hier berichtet, sich ein Stück uralten, weit über Homers Ge-
dichte hinaufreichenden Glaubens in dem weltfernen böotischen
Bauernlande erhalten hat. Wir haben ja aus Homers Gedichten
selbst Rudimente des Seelencultes genug hervorgezogen, die
uns anzunehmen zwangen, dass einst, in ferner Vorzeit, die
Griechen, gleich den meisten anderen Völkern, an ein bewusstes,
machtvoll auf die Menschenwelt einwirkendes Weiterleben der
vom Leibe getrennten Psyche geglaubt, und aus diesem Glauben
heraus den abgeschiedenen Seelen Verehrung von mancherlei
Art gewidmet haben. In Hesiods Bericht haben wir lediglich
[93] eine urkundliche Bestätigung dessen, was aus Homers Gedichten
mühsam zu erschliessen war. Hier begegnet uns noch lebendig
der Glaube an die Erhebung abgeschiedener Seelen zu höherem
Leben. Es sind — und das ist genau zu beachten — die
Seelen längst dahingeschiedener Geschlechter der Menschen,
von denen dies geglaubt wird; schon lange also wird der Glaube
an deren göttliches Weiterleben bestehen, und noch besteht
eine Verehrung dieser als mächtig Wirkenden gedachten. Denn
wenn von den Seelen des zweiten Geschlechts gesagt wird:
„Verehrung 1) folgt auch ihnen“ (v. 142), so liegt ja hierin
ausgesprochen, dass den Dämonen des ersten, goldenen Ge-
schlechts erst recht Verehrung zu Theil werde.


Die Menschen des silbernen Geschlechts, wegen Unehr-
erbietigkeit gegen die Olympier von Zeus in der Erde „ge-
borgen“, werden nun genannt „unterirdische sterbliche Selige,
die zweiten im Range, doch folgt auch ihnen Verehrung“ (v. 141.
142). Der Dichter weiss also von Seelen Verstorbener einer eben-
falls längst entschwundenen Zeit, die im Inneren der Erde hausen,
verehrt und also ohne Zweifel ebenfalls als mächtig gedacht
werden. Die Art ihrer Einwirkung auf die Oberwelt hat der
Dichter nicht genauer bezeichnet. Zwar nennt er die Geister
dieses zweiten Geschlechts nicht ausdrücklich „trefflich“, wie
die des ersten (v. 122), er leitet sie ja auch her aus dem weniger
vollkommenen silbernen Zeitalter und scheint ihnen einen ge-
ringeren Rang anzuweisen. Daraus folgt noch nicht, dass er,
viel späterer Speculation vorgreifend, sich die Geister des
zweiten Geschlechts als eine Classe böser und ihrer Natur
nach Schlimmes wirkender Dämonen gedacht habe 2). Nur zu
[94] den olympischen Göttern scheinen sie in einem loseren Ver-
hältniss, wenn nicht einer Art von Gegensatz zu stehen. Wie
sie einst den Göttern keine fromme Verehrung bezeugten, so
heissen sie jetzt nicht, gleich den Seelen des ersten Geschlechts,
Dämonen, nach Zeus’ Willen zu Wächtern der Menschen be-
stellt. Der Dichter nennt sie mit einer auffallenden Bezeich-
nung: „sterbliche Selige“, d. h. sterbliche Götter. Diese ganz
singuläre Benennung, deren zwei Bestandtheile eigentlich ein-
ander gegenseitig aufheben, lässt eine gewisse Verlegenheit er-
kennen, diese dem Homer nicht bekannte Classe der Wesen
mit einem dem homerischen Sprachvorrath, auf den sich der
Dichter angewiesen sah, entlehnten Ausdruck treffend und deut-
lich zu bezeichnen 1). Die Seelengeister aus dem ersten Ge-
schlecht hatte er kurzweg „Dämonen“ genannt. Aber diese
Benennung, welche jenen erst aus der Sterblichkeit zur Ewig-
keit übergegangenen Wesen mit den ewigen Göttern gemein-
sam war, liess den Wesensunterschied beider Classen der Un-
sterblichen unbezeichnet. Eben darum hat sie die spätere Zeit
niemals wieder in der gleichen Art wie hier Hesiod ver-
2)
[95] wendet 1). Man nannte später solche gewordene Unsterbliche
„Heroen“. Hesiod, der dies Wort in diesem Sinne noch nicht
verwenden konnte, nennt sie mit kühnem Oxymoron: sterbliche
Selige, menschliche Götter. Den Göttern ähnlich sind sie in
ihrem neuen Dasein als ewige Geister; sterblich ist ihre Natur,
da ja doch ihr Leib sterben musste, und hierin liegt der Unter-
schied dieser Geister von den ewigen Göttern 2).


Der Name also scheint keinen Wesensunterschied zwischen
diesen Seelengeistern des silbernen Geschlechts und den „Dä-
monen“ aus dem goldenen Zeitalter andeuten zu sollen. Ver-
schieden ist der Aufenthalt beider Classen von Geistern: die
Dämonen des silbernen Geschlechts hausen in den Tiefen der
Erde. Der Ausdruck „unterirdische“, von ihnen gebraucht,
ist unbestimmt, nur genügend, um den Gegensatz zu den „ober-
irdischen“ Geistern des ersten Geschlechts auszudrücken. Jeden-
falls ist aber als Aufenthalt der Seelen des silbernen Geschlechts
nicht der ferne Sammelplatz der bewusstlos vegetirenden Seelen-
schatten, das Haus des Hades, gedacht: die dort schwebenden
„Abbilder“ können nicht Dämonen oder „sterbliche Götter“
genannt werden; auch folgt ihnen keinerlei „Verehrung“.


3.


Auch das silberne Geschlecht gehört einer längst ver-
sunkenen Vorzeit an 3). Die Recken des ehernen Geschlechts,
[96] von ihren eigenen Händen bezwungen, heisst es, gingen in das
dumpfige Haus des schauerlichen Hades ein, namenlos; der
Tod, der schwarze, ergriff sie, so furchtbar sie waren, und sie
verliessen das helle Licht der Sonne.


Wäre nicht der Zusatz „namenlos“, man könnte hier in
der That das Schicksal der Seelen der homerischen Helden
beschrieben glauben. Vielleicht soll aber mit jenem Worte 1)
gesagt sein, dass kein ehrender und bezeichnender Beiname,
wie doch den Seelen des ersten und zweiten und auch des
vierten Geschlechtes, diesen spurlos in die Nichtigkeit des
Schattenreiches versunkenen und selbst nichtig gewordenen
Seelen gegeben werde und werden könne.


Es folgt „der Heroen göttliches Geschlecht, die Halb-
götter genannt werden“. Sie verdarb der Krieg um Theben
und der um Troja. Einen Theil von ihnen „verhüllte des Todes
Erfüllung“; anderen gewährte, fern von den Menschen, Leben
und Aufenthalt Zeus der Kronide, und liess sie wohnen an
den Enden der Erde. Dort wohnen sie, sorgenfrei, auf den
Inseln der Seligen, am strömenden Okeanos, die beglückten
Heroen, denen süsse Frucht dreimal im Jahre (von selbst) die
Erde schenkt.


Hier zuerst sind wir herabgestiegen in einen deutlich be-
stimmbaren Abschnitt der Sagengeschichte. Von den Helden,
deren Abenteuer Thebaïs und Ilias und die hieran ange-
schlossenen Gedichte erzählten, will der Dichter berichten
Auffallend tritt hervor, wie geschichtlos noch das Griechen-
3)
[97] thum war: unmittelbar nach dem Abscheiden der Heroen hebt
dem Dichter das Zeitalter an, in dem er selbst leben muss; wo
das Reich der Dichtung aufhört, hört auch jede weitere Ueber-
lieferung auf, es folgt ein leerer Raum, so dass der Schein
entsteht, als schliesse sich die unmittelbare Gegenwart sogleich
an. Man versteht also wohl, warum das heroische Geschlecht
das letzte ist vor dem fünften, dem der Dichter selbst ange-
hört, warum es nicht etwa dem (zeitlosen) ehernen Geschlecht
voraufgeht. Es schliesst sich dem ehernen Geschlechte auch
durchaus passend an in dem, was von einem Theil seiner Ange-
hörigen zu melden war in Bezug auf das, was hier den Dichter
vornehmlich interessirt, das Schicksal der Abgeschiedenen.
Ein Theil der gefallenen Heroen stirbt einfach, d. h. ohne
Zweifel, er geht in das Reich des Hades ein, wie die Ange-
hörigen des ehernen Geschlechts, wie die Helden der Ilias.
Wenn nun von denen, die „der Tod ergriff“, andere unter-
schieden
werden, die zu den „Inseln der Seligen“ gelangen, so
lässt sich nicht anders denken, als dass diese letzteren eben
nicht den Tod, d. h. Scheidung der Psyche vom sichtbaren Ich,
erlitten haben, sondern bei Leibes Leben entrückt worden sind.
Der Dichter denkt also an solche Beispiele, wie sie uns be-
gegnet sind in der Erzählung der Odyssee von Menelaos, der
Telegonie von Penelope, Telemachos und Telegonos. Diese
wenigen Ausnahmefälle würden ihm schwerlich so tiefen Eindruck
gemacht haben, dass er um ihretwillen eine ganze Classe von Ent-
rückten den einfach Gestorbenen entgegenstellen zu müssen ge-
meint hätte. Ohne allen Zweifel hatte er noch mehr Beispiele
derselben wunderbaren Art des Abscheidens aus dem Reiche der
Menschen, aber nicht aus dem Leben, vor Augen. Wir haben
gesehen, dass schon die Verse der Odyssee, in denen die Ent-
rückung des Menelaos vorausgesagt wird, auf andere, ältere
Dichtungen gleicher Art hinwiesen, und nach den in den Resten
der cyklischen Epen uns vorgekommenen Anzeichen glauben wir
ohne Schwierigkeit, dass die spätere Heldendichtung den Kreis der
Entrückten und Verklärten weit und weiter ausgedehnt haben mag.


Rohde, Seelencult. 7
[98]

Nur aus solcher Dichtung kann Hesiod die Vorstellung
eines allgemeinen Sammelplatzes, an dem die Entrückten ewig
ein müheloses Leben führen, gewonnen haben. Er nennt ihn
die „Inseln der Seligen“: sie liegen, fern von der Menschenwelt,
am Okeanos, an den Grenzen der Erde, also da, wo nach der
Odyssee auch die elysische Flur liegt, ein anderer Sammel-
platz lebendig Entrückter oder vielmehr derselbe, nur anders
benannt. Die „elysische Flur“ uns als eine Insel zu denken,
nöthigt der Name nicht, er verbietet es aber auch nicht.
So nennt Homer das Land der Phäaken nirgends deutlich
eine Insel 1), dennoch wird die Phantasie der meisten Leser
sich Scheria als eine Insel vorstellen, und ebenso thaten es,
vielleicht schon seit den Dichtern der hesiodischen Schule, die
Griechen. Ebenso mag ein Dichter das, in der Odyssee
flüchtig berührte „Land der Hinkunft“ sich als eine Insel oder
eine Gruppe von Inseln gedacht haben: nur eine Insel, rings
vom Meere umgeben, giebt das Bild eines völlig von der Welt
getrennten, Unberufenen unzugänglichen Zufluchtsortes. Eben
darum haben die Sagen vieler Völker, zumal solcher, die am
Meere wohnen, den Seelen der Abgeschiedenen ferne Inseln
als Wohnplatz angewiesen.


Die völlige Abgeschiedenheit ist das Wesentliche dieser
ganzen Entrückungsvorstellung, Hesiod hebt das auch deutlich
genug hervor. Ein Nachdichter hat formell nicht eben ge-
schickt 2) noch einen Vers eingelegt, der die Abgeschiedenheit
noch schärfen sollte: darnach wohnen diese Seligen nicht nur
[99] „ferne von den Menschen“ (v. 167), sondern auch (v. 169)
fern von den Unsterblichen, und Kronos herrscht über sie. Der
Dichter dieses Verses folgt einer schönen, aber erst nach
Hesiod ausgebildeten Sage, nach der Zeus den greisen Kronos
mit den anderen Titanen aus dem Tartaros frei gab 1), und
der alte Götterkönig, unter dessen Herrschaft einst das goldene
Zeitalter des Friedens und Glückes auf Erden bestanden hatte,
nun über die Seligen im Elysium wie in einem zweiten, ewigen
goldenen Zeitalter waltet, er selbst ein Bild der sorgenfreien
Beschaulichkeit, fern von der lärmenden Welt, deren Herr-
schaft ihm Zeus entrissen hat. Hesiod selbst hat zu dieser
Herüberziehung des Kronos aus dem goldenen Zeitalter in das
Land der Entrückten einen Anlass gegeben, indem er in den
wenigen Zeilen, in denen er das Leben der Seligen berührt,
deutlich einen Anklang an die Schilderung des mühelosen Da-
seins im goldenen Zeitalter vernehmen lässt. Beide Vorstel-
lungen, jene ein verlorenes Kindheitsparadies in der Vergangen-
heit, diese den Auserwählten ein vollkommenes Glück in der
Zukunft zeigend, sind einander nahe verwandt: es ist schwer
zu sagen, welche von ihnen die andere beeinflusst haben mag 2),
7*
[100] denn ganz von selber mussten die Farben ihrer Ausmalungen
zusammenfliessen: die reine Idylle ist ihrer Natur nach eintönig.


4.


Von irgend einer Wirkung und Einwirkung der auf die
Inseln der Seligen Entrückten auf das Diesseits sagt Hesiod
nichts, wie doch bei den Dämonen des goldenen Geschlechts,
nichts auch von einer „Verehrung“, die eine Wirksamkeit
voraussetzen würde, wie bei den unterirdischen Geistern des
silbernen Zeitalters. Jeder Zusammenhang mit der Menschen-
welt ist abgebrochen; jede Wirkung zu ihr hinüber würde dem
Begriffe dieser selig Abgeschiedenen widersprechen. Hesiod
giebt getreulich das Bild der Entrückten wieder, wie es dich-
terische Phantasie ohne alle Einwirkung des Cultus und darauf
gegründeten Volksglaubens frei ausgebildet hatte.


Folgt er hier homerischer und nachhomerischer Dichtung,
woher hat er die Vorstellung von den Dämonen und Geistern
aus dem goldenen und silbernen Zeitalter entnommen, die er
aus homerischer und homerisirender Poesie nicht entnommen
hat, nicht entnommen haben kann, weil sie, anders als die Ent-
rückungsidee, den homerischen Seelenglauben nicht ergänzt,
sondern ihm widerspricht? Wir dürfen mit Bestimmtheit sagen:
aus dem Cultus. Es bestand, mindestens in den Gegenden
Mittelgriechenlands, in denen die hesiodische Poesie zu Hause
war, eine religiöse Verehrung der Seelen vergangener Menschen-
geschlechter fort, trotz Homer, und der Cultus erhielt, wenigstens
als dunkle Kunde, einen Glauben lebendig, den Homer verhüllt
und verdrängt hatte. Nur wie aus der Ferne dringt er noch
zu dem böotischen Dichter, dessen eigene Vorstellungen doch
ganz in dem Boden homerischen Glaubens wurzeln. Schon
seit dem ehernen Geschlecht, berichtet er ja, schluckt der
schaurige Hades die Seelen der Verstorbenen ein, das gilt
(mit wenigen wunderbaren Ausnahmen) auch für das heroische
Geschlecht; und dass dem Dichter am Ausgang des Lebens
im eisernen Geschlecht, dem er selbst angehört, nichts anderes
[101] steht als die Auflösung in die Nichtigkeit des Erebos, lässt
sein Stillschweigen über das, was diesem Geschlecht nach dem
Tode bevorsteht, erkennen, ein um so drückenderes Still-
schweigen, als das finstere Bild des Elends und der immer
noch zunehmenden Verworfenheit des wirklichen und gegen-
wärtigen Lebens, das er entwirft, ein lichteres Gegenbild aus-
gleichender Hoffnungen zu fordern scheint, um nur erträglich
zu werden. Aber er schweigt von solcher Ausgleichung; er
hat keine zu bieten. Wenn nach einer anderen Stelle des Ge-
dichtes von allen Gütern besserer Vergangenheit allein die Hoff-
nung
bei den Menschen zurückgeblieben ist, so erhellt die
Hoffnung jedenfalls nicht mehr mit ihrem Strahle das Jenseits.
Der Dichter, der doch, von der gemeinen Wirklichkeit des
Lebens enger bedrängt, solche Hoffnungen keineswegs so ge-
trost entbehren kann wie der in den Zauberkreis der Dichtung
eingeschlossene Sänger der Heldenlieder, sieht Tröstliches nur
in dem, was Dichtung oder Cultussage ihm von längst ver-
gangener Zeit berichten. Dass das Wunder der lebendigen
Entrückung sich nach der heroischen Zeit, in der nüchternen
Gegenwart, wiederholen könne, liegt ihm fern zu glauben; und
die Zeit, in der nach einem, jetzt (wie es scheint) ausser Gel-
tung gekommenen Naturgesetz die Seelen der Verstorbenen
zu Dämonen auf und unter der Erde erhöhet wurden, liegt weit
ab in der Vergangenheit. Ein anderes Gesetz gilt jetzt; wohl
verehrt noch die Gegenwart die ewigen Geister des goldenen
und silbernen Geschlechts, aber sie selber vermehrt die Schaar
dieser verklärten und erhöheten Seelen nicht.


5.


So giebt die hesiodische Erzählung von den fünf Welt-
altern uns die bedeutendsten Aufschlüsse über die Entwicklung
griechischen Seelenglaubens. Was sie uns von den Geistern
aus dem goldenen und silbernen Geschlecht berichtet, bezeugt,
dass aus grauer Vorzeit ein Ahnencult bis in die Gegenwart
des Dichters sich erhalten hatte, der auf dem einst lebendigen
[102] Glauben an eine Erhöhung abgeschiedener Seelen, in ihrem
Sonderdasein, zu mächtigen, bewusst wirkenden Geistern be-
gründet war. Aber die Schaaren dieser Geister gewinnen
keinen Zuwachs mehr aus der Gegenwart. Seit Langem ver-
fallen die Seelen der Todten dem Hades und seinem nichtigen
Schattenreiche. Der Seelencult stockt, er bezieht sich nur
noch auf die vor langer Zeit Verstorbenen, er vermehrt die
Gegenstände seiner Verehrung nicht. Das macht, der Glaube
hat sich verändert: es herrscht die in den homerischen
Gedichten ausgeprägte, durch sie bestätigte und gleichsam
sanctionirte Vorstellung, dass der einmal vom Leibe getrennten
Psyche Kraft und Bewusstsein entschwinde, ein fernes Höhlen-
reich die machtlosen Schatten aufnehme, denen keine Wirk-
samkeit, kein Hinüberwirken in das Reich der Lebenden mög-
lich ist, und darum auch kein Cultus gewidmet werden kann.
Nur am äussersten Horizont schimmern die Inseln der
Seligen
, aber der Kreis der dorthin, nach dichterisch phan-
tastischer Vision, lebendig Entrückten ist abgeschlossen, wie
der Kreis der Heldendichtung abgeschlossen ist. Die Gegen-
wart sieht solche Wunder nicht mehr.


Es ist nichts, was dem aus den homerischen Gedichten
von uns Erschlossenen widerspräche in dieser, aus der hesiodi-
schen Darstellung deutlicher abzunehmenden Entwicklungsreihe.
Nur dieses Eine ist neu und vor Allem bedeutsam: dass eine
Erinnerung davon, wie einst doch die Seelen verstorbener
Geschlechter der Menschen höheres, ewiges Leben erlangt haben,
sich erhalten hat. Im Praesens redet Hesiod von ihrem Da-
sein und Wirken, und von der Ehre, die ihnen folge: glaubt
man sie unsterblich, so wird man sie natürlich auch fort-
während weiter verehren. Und umgekehrt: dauerte die Ver-
ehrung nicht noch in der Gegenwart fort, so würde man sie
nicht für unvergänglich und ewig wirksam halten.


Wir sind im alten, im festländischen Griechenland, im
Lande der böotischen Bauern und Ackerbürger, in abge-
schlossenen Lebenskreisen, die von der Seefahrt, die in die
[103] Fremde lockt und Fremdes heranbringt, wenig wissen und
wissen wollen. Hier im Binnenlande hatten sich Reste von
Brauch und Glauben erhalten, die in den Seestädten der neuen
Griechenländer an Asiens Küsten vergessen waren. Soweit hat
doch die neue Aufklärung auch hier eingewirkt, dass die Ge-
bilde des alten Glaubens, in die Vergangenheit zurückgeschoben,
nur noch wie eine halb verklungene Sage, mit Phantasieen über
die Uranfänge der Menschheit verflochten, im Gedächtniss
weiter leben. Aber der Seelencult ist doch noch nicht ganz
todt; die Möglichkeit besteht, dass er sich erneuere und sich
fortsetze, wenn einmal der Zauber homerischer Weltvorstellung
gebrochen sein sollte.


[[104]]

Höhlengötter. Bergentrückung.


Die Geschichte der griechischen Cultur und Religion kennt
keinen Sprung, keinen Bruch in ihrem Fortgange. Weder hat
das Griechenthum jemals aus sich selbst eine Bewegung er-
regt, die es zu gewaltsamer Umkehr auf dem eingeschlagenen
Wege zwang, noch ist es zu irgend einer Zeit durch ein mit
Uebermacht hereinbrechendes Fremdes aus der natürlichen Bahn
seiner Entwicklung geworfen worden. Wohl hat dies gedanken-
reichste der Völker aus eigenem Sinn und Sinnen die wich-
tigsten der Gedanken hervorgebracht, von denen die Jahr-
hunderte zehren; sie haben der ganzen Menschheit vorgedacht;
die tiefsten und kühnsten, die frömmsten und die frechsten
Gedanken über Götter, Welt und Menschenwesen haben ihren
Ursprung in Griechenland. Aber in dieser überschwänglichen
Mannichfaltigkeit hielten die sich gegenseitig einschränkenden
oder aufhebenden Einzelerscheinungen einander im Gleich-
gewicht; die gewaltsamen Stösse und plötzlichen Umschwünge
im Culturleben gehen von den Völkern aus, die nur Einen
Gedanken festhalten und in der Beschränktheit des Fanatismus
alles Andere über den Haufen rennen.


Wohl stand das Griechenthum der Einwirkung fremder
Cultur und selbst Uncultur weit offen. Ununterbrochen drangen
namentlich von Osten her in sanfter Einströmung und Ueber-
strömung breite Wellen fremden Wesens über Griechenland;
an Einer Stelle wenigstens brach auch (in dem Aufregungs-
cult der thrakischen Dionysosdiener) in dunkler Vorzeit eine
heftige Springfluth durch alle Deiche. Viele fremde Elemente
mögen leicht wieder ausgeschieden worden sein aus griechischem
Wesen; manches gewann eine dauernde Stelle und tiefe Wir-
[105] kung in griechischer Cultur. Aber nirgends hat das Fremde
in Griechenland eine Uebermacht gewonnen, vergleichbar etwa
der umstürzenden und neubildenden Gewalt, die der Buddhis-
mus, das Christenthum, der Islam unter den Völkern ausgeübt
haben, die sie vordringend ergriffen. Inmitten aller fremden
Einwirkungen behauptete das griechische Wesen, gleich zäh wie
geschmeidig, in aller Gelassenheit seine eigene Natur und seine
geniale Naivetät. Fremdes und in eigener Bewegung erzeugtes
Neues wird aufgenommen und angepasst, aber das Alte tritt
darum nicht ab; langsam verschmilzt es mit dem Neuen, viel
wird neu gelernt, nichts ganz vergessen. In gelindem Weiter-
strömen bleibt es immer derselbe Fluss. Nec manet ut fuerat
nec formas servat easdem: sed tamen ipse idem est


So kennt denn die griechische Culturgeschichte keine schroff
abgesetzten Zeiträume, keine scharf niederfahrenden Epochen-
jahre, mit denen ein Altes völlig abgethan wäre, ein ganz
Neues begönne. Zwar die tiefsten Umwälzungen griechischer
Geschichte, Cultur und Religion liegen ohne Frage vor der
Zeit des homerischen Epos, und in dieser Urzeit mögen heftigere
und stossweis eintretende Erschütterungen das griechische Volk
zu dem gemacht haben, als was wir es kennen. Uns beginnt
das Griechenthum wirklich kenntlich zu werden erst mit Homer.
Die einheitliche Geschlossenheit, die das in den homerischen
Gedichten abgespiegelte Griechenthum erlangt zu haben scheint,
löst sich freilich in der fortschreitenden Bewegung der fol-
genden Zeiten auf. Neue Triebe drängen empor, unter der
sich zersetzenden Decke der epischen, breit alles überziehenden
Vorstellungsart tritt manches Alte wieder an’s Licht heraus;
aus Aeltestem und Neuem bilden sich Erscheinungen, von
denen das Epos noch nichts ahnen liess. Aber es findet nirgends
in den nächsten heftig bewegten Jahrhunderten nach Homer
ein Bruch mit dem Epos und seiner Vorstellungswelt statt;
erst seit dem sechsten Jahrhundert sucht die Speculation ein-
zelner kühnen Geister mit Ungeduld aus der Atmosphäre der
homerischen Dichtung, in der ganz Griechenland immer noch
[106] athmete, herauszuspringen. Die volksthümliche Entwicklung
weiss nichts von einem Gegensatz zu Homer und seiner Welt.
Unmerklich vollzog sich die Verdrängung der homerischen Ethik
und Religion aus der Alleinherrschaft, niemals aber ist der
Zusammenhang mit dieser gewaltsam abgerissen worden.


So können auch wir, indem wir, Homer und das Epos
hinter uns lassend, in die vielverschlungenen Wege der weiteren
Entwicklung des Seelencultes und des Unsterblichkeitsglaubens
eindringen, noch eine Zeitlang uns an dem Ariadnefaden des
Epos leiten lassen. Auch hier reicht eine Verbindung aus der
epischen Zeit in die kommende Periode herunter. Bald freilich
lockert sich der Faden, und wir müssen in neues Gebiet selb-
ständig vorschreiten. —


1.


Unter den Fürsten, die, von Adrast geführt, zu Gunsten
des Polyneikes Theben zu belagern kamen, ragt Amphiaraos
hervor, der argivische Held und Seher aus dem Geschlecht des
räthselhaften Priesters und Wahrsagers Melampus. Gezwungen
war er in den Krieg gezogen, dessen unglückliches Ende er
voraus wusste; und als in der Entscheidungsschlacht, nach dem
Wechselmord der feindlichen Brüder, das argivische Heer in’s
Weichen kam, da floh auch Amphiaraos; doch bevor Peri-
klymenos, der ihn verfolgte, ihm den Speer in den Rücken
stossen konnte, zerspaltete Zeus vor ihm durch einen Blitz-
strahl die Erde, und sammt Rossen und Wagen und Wagen-
lenker fuhr Amphiaraos in die Tiefe, wo ihn Zeus unsterb-
lich
machte. — So lautet die Sage vom Ende des Amphiaraos,
wie sie von Pindar an uns zahlreiche Zeugen berichten 1); man
[107] darf mit Zuversicht annehmen, dass so schon erzählt war in
der Thebaïs, dem alten Heldengedicht vom Kriege der Sieben
gegen Theben, das in den epischen Cyklus aufgenommen war 1).


Bei Theben lebte nun Amphiaraos in der Erde ewig fort. —
Weiter nördlich im böotischen Lande, bei Lebadea, wusste man
von einem ähnlichen Wunder zu berichten. In einer Höhle
der Bergschlucht, vor der Lebadea liegt, lebte unsterblich
Trophonios. Die Sagen, welche sein wunderbares Höhlen-
leben erklären sollen, stimmen wenig mit einander überein, wie
es bei solchen Gestalten zu geschehen pflegt, die nicht von
1)
[108] der Dichtung früh ergriffen und in den weiten Zusammenhang
der Heldenabenteuer fest eingefügt sind. Aber alle Berichte
(deren älteste Wurzeln vielleicht noch in der „Telegonie“ lagen)
laufen darauf hinaus, dass auch Trophonios, wie Amphiaraos,
einst ein Mensch gewesen sei, ein berühmter Baumeister, der,
vor seinen Feinden fliehend, bei Lebadea in die Erde geschlüpft
sei, und nun in der Tiefe ewig lebe, denen, die ihn zu befragen
hinabfahren, die Zukunft verkündigend 1).


Diese Sagen wissen also von Menschen zu berichten, die
lebend von der Erde verschlungen sind, und dort, wo sie in die
Tiefe eingefahren sind, an ganz bestimmten Stellen griechischen
Landes, unsterblich weiterleben.


Es fehlt nicht völlig an anderen Sagen ähnlichen Inhalts.
Einer der wilden Recken des Lapithenvolkes in Thessalien,
Kaineus, von Poseidon, der ihn einst aus einem Weibe in
einen Mann verwandelt hatte, unverwundbar gemacht, wurde
von den Kentauren im Kampfe mit Baumstämmen zugedeckt;
unverwundet spaltet er „mit geradem Fusse“ (d. h. aufrecht
stehend, lebend, nicht hingestreckt wie ein Todter oder Tod-
wunder) die Erde und fährt lebendig in die Tiefe 2). — Auf
Rhodos verehrte man den Althaimenes als „Gründer“ der
[109] griechischen Städte der Insel: er war nicht gestorben, sondern
in einem Erdschlund verschwunden 1). — Wie von Amphiaraos,
so scheint auch von seinem Sohne Amphilochos, dem Erben
seiner Wahrsagekunst, die Sage gegangen zu sein, dass er (in
Akarnanien oder in Kilikien) noch lebendig in der Erde hause 2).
— Es liessen sich wohl noch einige Beispiele ähnlicher Art
beibringen. Aber die Zahl solcher Sagen bleibt eine kleine,
und nur wie zufällig tauchen sie hie und da in der Ueber-
lieferung auf. Die epische Dichtung, ohne deren Mitwirkung
locale Sagen selten verbreiteten und dauernden Ruhm erlangten,
liess, mit wenigen Ausnahmen, solche Geschichten bei Seite
liegen. Sie treten eben aus dem Vorstellungskreise homerischer
Dichtung heraus. Zwar der Glaube, dass Unsterblichkeit,
einzelnen Menschen durch Göttergnade wunderbar verliehen,
nur darin bestehen könne, dass der Tod, d. h. Scheidung der
Psyche vom sichtbaren Menschen, gar nicht eintrete, bestimmt
die Gestaltung auch dieser Sagen. Von einem unsterblichen
Leben der vom Leibe geschiedenen Seele für sich allein wissen
sie nichts. Insofern wurzeln sie fest im Boden epischen Glaubens.


Aber den Helden dieser Sagen wird ewiges Weiterleben zu
Theil an eigenen Wohnplätzen im Inneren der Erde, in unter-
irdischen Gemächern 3), nicht am allgemeinen Versammlungs-
[110] ort der Abgeschiedenen. Sie haben ihr Reich für sich, fern
vom Hause des Aïdoneus. Solche Absonderung einzelner Unter-
irdischen passt nicht zu homerischen Vorstellungen. Fast scheint
es, als ob ein leiser Nachklang der Sagen von lebend und mit
unversehrtem Bewusstsein entrückten Sehern, wie Amphiaraos,
Amphilochos, hörbar werde in der Erzählung der homerischen
Nekyia von Tiresias, dem thebanischen Seher, dem allein
unter den Schatten Persephone Bewusstsein und Verstand
(also eigentlich die Lebenskräfte) gelassen hatte 1). Aber auch
ihn hält das allgemeine Todtenreich des Erebos fest, von aller
Verbindung mit der Oberwelt ist er abgeschnitten: so will es
homerische Weltordnung. Amphiaraos dagegen und Trophonios
sind dem Hades entzogen; wie sie nicht gestorben sind, so
sind sie auch nicht in das Reich der kraftlosen Seelen einge-
gangen. Auch sie sind dem Leben (aber auch dem Hades)
entrückt. Aber diese Höhlenentrückung ist in ihrem
Wesen wie in ihrem Glaubensursprung sehr verschieden von
der Inselentrückung, von der wir im vorigen Abschnitt geredet
haben. Jene, einzeln oder in Gesellschaft auf seligen Eilanden
[111] fern im Meere wohnenden Helden sind vom menschlichen Leben
weit abgerückt, auch menschlichen Bitten und Wünschen un-
erreichbar, keine Einwirkung auf das Diesseits ist ihnen ge-
stattet, und so wird ihnen kein Cult gewidmet: nie hat ein
Cult der Bewohner des Elysiums als solcher bestanden.
Sie schweben in der Ferne wie Bilder dichterischer Phantasie,
von denen Niemand ein thätiges Eingreifen in die Wirklich-
keit erwartet. Anders diese Höhlenentrückten. Sie hausen ja
lebendig unter der Erdoberfläche, nicht im unerreichbaren Nebel-
reiche des Hades, sondern mitten in Griechenland; Fragen und
Bitten werden zu ihnen hinab, ihre Hülfe wird zu den Bitten-
den herauf dringen können. Ihnen widmet man denn auch,
als mächtigen und wirksamen Geistern, einen Cult.


Wir wissen Genaueres über die Art, in der man den
Amphiaraos verehrte, namentlich aus der späteren Zeit, als
neben dem Orte bei Theben, an welchem die Sage von seiner
Niederfahrt ursprünglich heimisch war, auch, und mit über-
wiegendem Erfolg, Oropos, der Grenzort von Böotien und Attika,
eine Stelle seines Gebietes als den Ort der Erdentrückung
des Amphiaraos bezeichnete 1). Von dem Cult des Trophonios
haben wir ebenfalls aus späterer Zeit einige Kunde. Unter
der im Laufe der Zeit angesammelten Mannichfaltigkeit der
Begehungen treten einige besonders charakteristisch hervor,
aus denen sich die zu Grunde liegende religiöse Vorstellung
erkennen lässt. Man brachte dem Amphiaraos und dem
Trophonios solche Opfer dar, wie sonst den chthonischen,
d. h. in der Erdtiefe wohnenden Göttern 2). Man erwartete
[112] von ihnen nicht etwa Hülfe im täglichen Leben des Einzelnen
oder des Staates; nur an der Stätte ihrer Niederfahrt waren
sie wirksam, und auch da nur, indem sie die Zukunft enthüllten.
Unter den berühmtesten Orakelgöttern 1) liess schon Kroesos,
nachher Mardonios den Amphiaraos an seiner alten Orakel-
stätte bei Theben, den Trophonios bei Lebadea befragen.
Von Amphiaraos glaubte man, er verkündige durch Traum-
gesichte die Zukunft denen, die sich, nach dargebrachten Opfern,
in seinem Tempel zum Schlafe niederlegten. Um Trophonios
zu befragen, fuhr man durch einen engen Schlund in seine
Höhle ein. Drinnen erwartete man, den Trophonios in Person
zu erblicken oder doch seine Weisungen zu hören 2). Er
2)
[113] wohnte eben, wie ein an den Ort seines zauberhaften Daseins
gefesselter Geist, körperlich in der Tiefe jener Höhle. Aber
auch die Incubation, der Tempelschlaf, durch den man Am-
phiaraos befragte (wie noch viele Dämonen und Heroen) be-
ruht eigentlich auf dem Glauben, dass der Dämon, der freilich
menschlichem Auge nur in der Seelenerhöhung des Traumes
sichtbar wird, seinen dauernden Wohnplatz an der Stelle des
Orakels habe 1). Eben darum kann nur an dieser Stelle und
2)
Rohde, Seelencult. 8
[114] nirgends sonst seine Erscheinung erwartet werden. Und ur-
sprünglich sind es ausschliesslich Bewohner der Erdtiefe, welche
Solchen, die sich über der Stelle ihres unterirdischen Wohn-
platzes zum Tempelschlafe niederlegen, im Traume sichtbar
werden können. Homer weiss nichts von Göttern oder Dä-
monen, die unter bestimmten Stellen der bewohnten Erde
dauernd hausen, nahe den Menschen; eben darum verräth er
auch keine Kenntniss von Incubationsorakeln 1). Es giebt Gründe
für die Meinung, dass diese Art, mit der Geisterwelt, der die
prophetische Kraft innewohnt, sich in Verbindung zu setzen,
zu den ältesten Weisen griechischer Orakelkunst gehört, jeden-
falls nicht jünger ist als die apollinische Inspirationsmantik.
Und gerade die Sage von Amphiaraos, wie wir sie schon in
der cyklischen Thebaïs erzählt glauben dürfen, beweist, dass
bereits zur Zeit des noch blühenden Epos homerischen Styls
1)
[115] der Glaube an höhlenhausende Unsterbliche und deren mantische
Kraft und Bethätigung lebendig war.


Denn das ist ja offenbar, dass der Cult des Amphiaraos
und der Glaube an seinen Aufenthalt in der Erdtiefe nicht
durch Einwirkung des Epos entstanden, sondern dass umgekehrt
die Erzählung des Epos durch den bereits vorher vorhandenen
Cult eines also vorgestellten dämonischen Wesens veranlasst
worden ist. Die epische Dichtung fand den lebendigen Cult
eines in der Erde hausenden mantischen Dämons bei Theben
vor. Sie macht sich diese Thatsache verständlich, indem sie
sie (und dies ist überhaupt vielfach das Verhältniss epischer
Dichtung zu den Thatsachen des religiösen Lebens) ableitet aus
einer Begebenheit der Sagengeschichte und so mit ihrem Vor-
stellungskreis in Verbindung bringt. Von Göttern, die so an
ein irdisches Local gebunden wären, weiss sie nichts; der im
Cultus Verehrte wurde ihrer Phantasie zum Helden und Seher,
der nicht von jeher in jener Erdtiefe hauste, sondern dorthin
erst versetzt worden ist durch einen wunderbaren Willensact
des höchsten Gottes, der dem Entrückten zugleich ewiges Leben
in der Tiefe verliehen hat 1).


Wir dürfen aus neuerer Sagenkunde ein Beispiel zur Er-
läuterung heranziehen. Unserer einheimischen Volkssage ist
die Vorstellung solcher, in Berghöhlen und unterirdischen Ge-
mächern ewig oder bis zum jüngsten Tage hausenden Helden
sehr geläufig. Karl der Grosse, oder auch Karl der Fünfte, sitzt
im Odenberg oder im Unterberg bei Salzburg, Friedrich II.
(in jüngerer Wendung der Sage Friedrich I. Rothbart) im Kyff-
häuser, Heinrich der Vogelsteller im Sudemerberg bei Goslar;
8*
[116] so haust auch König Artus, Holger Danske und noch manche
Lieblingsgestalt der Volkserinnerung in unterirdischen Höhlen 1).
Hie und da schimmert noch deutlich durch, wie es eigentlich
alte, nach heidnischem Glauben in hohlen Bergen hausende
Götter sind, an deren Stelle jene „bergentrückten Helden“
getreten sind 2). Auch die griechische Ueberlieferung lässt uns
noch wohl erkennen, dass jene höhlenentrückten Menschen der
Vorzeit, Amphiaraos und Trophonios, nur sagenhaft umgebildet
sind aus alten Göttergestalten, denen unsterbliches Leben und
ewiger Aufenthalt in der Erdtiefe nicht erst durch eine Gnaden-
that verliehen wurde, sondern von jeher eigen war. Wenigstens
am Orte der Verehrung wusste man, dass der die Zukunft ver-
kündende Höhlenbewohner ein Gott war: Zeus Trophonios
oder Trephonios nennen den Einen ausser gelehrten Zeugnissen
auch Inschriften aus Lebadea 3); auch Amphiaraos wird einmal
[117]Zeus Amphiaraos und öfter ein Gott genannt 1). In den Ent-
wicklungssagen christlich gewordener Völker haben sich den alten
Göttern Helden untergeschoben, weil die Götter selbst in Ver-
gessenheit gerathen, abgeschafft sind. Nicht ganz unähnlich
ist der Grund für die Heroisirung jener alten Götter auf griechi-
schem Boden.


Ueber der unendlichen Zersplitterung griechischen Götter-
wesens hatte in der Phantasie der epischen Dichter sich ein
Gesammtbild eines Götterstaates erhoben, in jenen Zeiten der
einzige Versuch, ein panhellenisches Göttersystem aufzubauen,
und darum von grösstem Einfluss auf die Vorstellungsart der
Griechen aller Stämme: denn an alle wendet sich der epische
Dichter. Er steht wie auf einer Höhe über den einengenden
Thälern, den engumschlossenen Gauen, der weiteste Gesichts-
kreis öffnet sich ihm und er sieht über die zahllosen, einander
widerstreitenden und aufhebenden Sonderbildungen des localen
Glaubens und Cultus hinweg in’s Allgemeine. Zersplitterte
sich der Name und Begriff des Zeus, des Apollo, Hermes,
der Athene und aller Götter in Sage und Religionsübung der
Städte und Stämme in unzählige einzelne Gestalten und ge-
sonderte Personen, nach örtlicher Wirkung und Art verschieden:
dem epischen Dichter schwebte Ein Zeus, Apollo u. s. w., in
3)
[118] einheitlicher Persönlichkeit geschlossen, vor. Und wie er über
die Götterzersplitterung der Localdienste hinwegsieht, so bindet
er auch seine Götter nicht an einzelne Wohnplätze und Wir-
kungsstätten in griechischen Landschaften: sie gehören dem einen
Local nicht mehr an als dem anderen. Sie walten und wirken
wohl auf der Erde, aber sie sind dennoch ortsfrei, sie wohnen
und versammeln sich auf den Gipfeln des Olympos, des pieri-
schen Götterberges, der aber schon dem Homer, von aller Orts-
bestimmtheit frei, stark in’s rein Ideale zu verschwimmen be-
ginnt. So ist das weite Meer der Wohnplatz des Poseidon,
ein einzelner Ort fesselt ihn nicht; und auch die Herrscher im
Reiche der Seelen, Aïdes und Persephoneia hausen, fern frei-
lich vom Olymp, aber nicht hier oder dort unter der Ober-
fläche des griechischen Landes, sondern in einem Ideallande
auch sie, an keinen einzelnen Ort im Lande der Wirklichkeit
gebunden. Wem sich so, bei dem grossen Werke der Ver-
einfachung und Idealisirung des unbegrenzt Mannichfaltigen,
aus all den ungezählten Einzelgestaltungen des Namens Zeus,
welche die einzelnen Gemeinschaften griechischer Länder, eine
jede nur in ihrem engbegrenzten Umkreis, verehrte, die Eine
übermächtige Gestalt des Zeus, Vaters der Götter und Men-
schen, erhoben hatte, dem konnte freilich ein Sonderzeus, der
sich Zeus Trophonios nannte und in einer Höhle bei Lebadea
sein unsterbliches Dasein verbrachte und nur dort seine Wir-
kungen ausüben konnte, kaum noch vorstellbar sein.


Dem Anwohner der heiligen Stätte freilich liess sich der
Glaube an das Dasein und die Anwesenheit des Gottes seiner
Heimath nicht rauben. Mochte er im Uebrigen, und fremdem
Localcultus gegenüber, noch so sehr nach homerischer Dar-
stellung seine Gesammtvorstellung vom Götterwesen regeln: die
Wirklichkeit und Heiligkeit seines, wenn auch der olympischen
Götterfamilie des Epos völlig fremden Heimathgottes stand
ihm unerschütterlich fest. Der Cultus in seinem ungestörten,
unveränderten Fortbestehen verbürgte ihm die Gegenständlich-
keit seines Glaubens. So erhielt sich, in engbeschränkter
[119] Geltung freilich, eine grosse Schaar von Localgöttern im
Glauben ihrer Verehrer lebendig; nicht mit zu den Höhen des
Olymps emporgehoben, haften sie treu im heimathlichen Boden 1),
Zeugen einer fernen Vergangenheit, in welcher die auf eigenem
Gebiet streng abgesonderte Ortsgemeinde auch ihren Gott in
die Enge der Heimath, über die ihre Gedanken nicht hinaus-
schweiften, einschloss. Wir werden sehen, wie in den nach-
homerischen Zeiten gar manche solche Erdgottheiten, d. h. in
der Erde wohnend gedachte Gottheiten des ältesten Glaubens
zu neuer, z. Th. auch zu verbreiteter Geltung gelangten. Dem
Epos in seiner Blüthezeit blieben diese erdhausenden Götter
fremd. Wo es nicht über sie hinwegsieht, verwandeln sie sich
ihm in entrückte Helden, und, ausserhalb des localen Cultus,
blieb in solchen Fällen dies die allen Griechen geläufige Vor-
stellung.


2.


Und doch finden sich im Epos selbst, das ja auf folge-
rechte und ausnahmefreie Durchführung eines aus der Re-
flexion geborenen Systems keineswegs bedacht ist, wenigstens
einige dunkle Erinnerungen an den alten Glauben, dass in
Berghöhlen Götter dauernd wohnen können.


Die Odyssee (19, 178 f.) nennt Minos, des Zeus Sohn
(vgl. Il. 13, 450; 14, 322; Od. 11, 568), der in Knossos, der
kretischen Stadt, herrschte, „des grossen Zeus Gesprächs-
genossen“ 2). Sehr wahrscheinlich hat der Dichter selbst mit
[120] diesen Worten das andeuten wollen, was man später allgemein
aus ihnen herauslas: dass Minos mit Zeus persönlich verkehrt
habe, auf Erden natürlich, und zwar in der Höhle, die unweit
von Knossos im Idagebirge als „Höhle des Zeus“ verehrt
wurde 1). Auf Kreta, der früh von Griechen in Besitz ge-
nommenen Insel, die in ihrer abgesonderten Lage viel Uraltes
in Glauben und Sage bewahrte, wusste man, bald im Ida-, bald
im Diktegebirge (im Osten der Insel) eine heilige Höhle zu
zeigen, in der Zeus (wie schon Hesiod berichtet) geboren
worden sei 2). Nach heimischer Sage, die wohl schon dem
Dichter jener Verse der Odyssee vorschwebte, hauste aber auch
noch der voll erwachsene Gott in seinem unterirdischen Höhlen-
gemache, einzelnen Sterblichen zugänglich: wie einst Minos, so
war auch Epimenides dort der Weissagungen des Gottes theil-
haftig geworden 3). Dem im Ida hausenden Zeus war ein
[121] mystischer Cultus geweiht 1); alljährlich wurde ihm dort ein
„Thronsitz gebreitet“, d. h. wohl ein „Göttermahl“ (Theoxenion),
wie anderen, vornehmlich chthonischen Göttern gefeiert; in
schwarzen Wollenkleidern fuhren die Geweihten in die Höhle
ein und verweilten darinnen dreimal neun Tage 2). Alles weist
3)
[122] auf ganz ähnliche Vorstellungen hin, wie die sind, die wir im
Cult des Zeus Trophonios bei Lebadea wirksam fanden. Zeus,
als in der Tiefe der Höhle körperlich anwesend, kann den,
nach den gehörigen Weihen, in die Höhle Eindringenden in
eigener Person erscheinen.


Nun taucht seit dem vierten Jahrhundert v. Chr., ver-
muthlich durch Euhemeros hervorgezogen, der seltsame Bericht
auf, den in späterer Zeit Spötter wie Lucian und christliche
Gegner der alten Religion mit Vergnügen wiederholen, dass im
Ida Zeus begraben liege 1). Was hier das Grab des Gottes
heisst, ist nichts anderes als die Höhle, die man sonst als
seinen dauernden Sitz betrachtete 2). Diese, den Griechen stets
befremdliche 3) Annahme, dass ein Gott begraben liege an
irgend einer Stelle der Erde, für ewig oder auch wohl nur für
2)
[123] eine bestimmte Zeitdauer des Lebens beraubt, begegnet öfter
in Ueberlieferungen semitischer, auch bisweilen anderer nicht-
griechischer Völker 1). Was im Glauben dieser Völker solche
Sagen für einen tieferen, etwa allegorischen Sinn haben mögen,
bleibt hier dahingestellt: es ist kein Grund vorhanden, an Ein-
fluss derartiger fremdländischer Berichte auf griechische Sagen-
bildung zu denken. Auf griechischem Boden giebt die Ueber-
lieferung keinerlei Anlass zu der, neueren Mythologen geläufigen
Auslegung, wonach Tod und Begräbniss der Götter „das Ab-
sterben der Natur“ symbolisiren soll. Vor Augen liegt zu-
nächst, dass in der Sage vom Grabe des kretischen Zeus
das „Grab“, welches einfach an die Stelle der Höhle als
ewigen Aufenthaltes des ewig lebendigen Gottes tritt, in para-
doxem Ausdruck die unlösliche Gebundenheit an den Ort be-
zeichnet. Man erinnert sich leicht der nicht minder paradoxen
Berichte von dem Grabe eines Gottes in Delphi. Unter dem
Nabelstein (Omphalos) der Erdgöttin, einem kuppelförmigen,
an die Gestalt der uralten Kuppelgräber erinnernden Bauwerk
im Tempel des Apollo 2) lag ein göttliches Wesen begraben,
als welches gelehrtere Zeugen den Python, den Gegner des
Apollo, nur ein ganz unglaubwürdiger den Dionys nennen 3).
[124] Hier hat also Ein Gott über dem Grabe des anderen seinen
Tempelsitz aufgeschlagen. Ueber dem Erdgeist Python, dem
Sohne der Erdgöttin Gaia, thront Apollo, der Wahrsagegott.
Da uns alte und höchst glaubwürdige Ueberlieferungen sagen,
dass in Delphi einst ein altes Erdorakel bestand, an dessen
Stelle sich erst später Apollo und seine Art der Mantik setzte,
so darf man glauben, dass es eben diese religionsgeschichtliche
Thatsache sei, die ihren Ausdruck in der Sage findet, dass
Apollos Tempel und Orakelsitz sich über der Stelle erhebe,
an welcher der alte, abgeschaffte Orakeldämon „begraben“ lag 1).
3)
[125] So lange das alterthümliche Erdorakel in Kraft stand, wird
auch dessen Hüter nicht todt und begraben unter dem Om-
phalos der Erdgöttin gelegen, sondern lebendig dort gehaust
haben, in der Erdtiefe, wie Amphiaraos, wie Trophonios, wie
Zeus im Ida.


3.


Das „Grab“ unter dem Omphalos bedeutet in dem Falle
des Python die Ueberwindung des in der Erdtiefe hausenden,
chthonischen Dämons durch den Apollinischen Cult. Das „Grab“
des Zeus, welches sich der älteren Sage vom Aufenthalt des
Zeus in der Berghöhle untergeschoben hatte, drückt dieselbe
Vorstellung wie diese Sage aus, in einer Form, welche der
späteren Zeit, die von vielen „Heroen“ wusste, die nach
ihrem Tode und aus ihrem Grabe hervor höheres Leben und
mächtige Wirksamkeit spüren lassen, geläufig war. Der ge-
storbene und begrabene Zeus ist ein zum Heros herabgesetzter
Gott 1); wunderlich und paradox ist einzig, dass dieser heroi-
1)
[126] sirte Zeus nicht, wie Zeus Amphiaraos, Zeus Trophonios
(auch Zeus Asklepios) in der gewöhnlichen Vorstellung, seinen
Gottesnamen abgelegt hat, der seiner Heroisirung laut wider-
spricht. Vermuthlich ist auf diesen, somit nur halb heroisirten
Höhlenzeus eine Vorstellung nur, nach Analogie, übertragen,
die auf andere, nach alter, unverständlich gewordener Vor-
stellung in der Erdtiefe hausende Götter mit besserem Rechte
angewandt war, seit man sie völlig zu Heroen verwandelt hatte.


Von Heroen, die in Göttertempeln begraben, z. Th. mit
dem höheren Gott, dem der Tempel geweiht war, in Cult-
gemeinschaft gesetzt waren, wird uns mancherlei berichtet.
Wie solche Sagen entstehen konnten, lehrt besonders deutlich
das Beispiel des Erechtheus.


Von Erechtheus erzählt der Schiffskatalog der Ilias
(Il. 2, 546 ff.), dass die Erde ihn geboren habe, Athene
aber ihn aufnährte und ihn „niedersetzte in ihrem reichen
Tempel“ 1), wo ihn die Athener alljährlich mit Opfern von
1)
[127] Schafen und Stieren ehren 1). Offenbar ist hier Erechtheus
als fortlebend gedacht: Todte durch solche, alljährlich wieder-
holte, von der ganzen Stadtgemeinde dargebrachte Opfer zu
ehren, ist ein den homerischen Gedichten völlig unbekannter
Gebrauch. Erechtheus ist also gedacht als lebendig hausend
in dem Tempel, in welchem Athene ihn niedergesetzt hat,
d. h. in dem alten Heiligthum der Akropolis, welches einge-
schlossen war in dem „festen Hause des Erechtheus“, nach
welchem die Odyssee (7, 81) die Athene als nach ihrer Be-
hausung sich begeben lässt. Herrschersitz und Heiligthum der
Göttin waren vereinigt in der alten Königsburg, deren Grund-
mauern man kürzlich aufgefunden hat an der Stelle, an der
später im „Erechtheion“ Athene und Erechtheus gemeinsame
Ehre genossen 2). Erechtheus wohnt in der Tiefe, in einer
Krypta jenes Tempels 3), gleich anderen Erdgeistern in Schlangen-
gestalt, ewig lebendig; er ist nicht todt, sondern, wie noch
Euripides, bei sonst anders gewendeter Sage, berichtet, „ein
Erdspalt verbirgt ihn“ 4), d. h. er lebt als in die Erdtiefe
Entrückter weiter. Die Verwandlung eines alten, von jeher
in einer Höhle des Burgfelsens hausend gedachten Localgottes 5)
in den dorthin, zu ewigem Leben, erst versetzten Heros liegt,
nach den bisher betrachteten Analogien, deutlich genug vor
Augen. Der Heroenglaube späterer Zeit suchte an der Stelle,
[128] an welche das Weiterleben und Wirken eines „Heros“ gebannt
war, dessen Grab: in ganz folgerechter Entwicklung verwandelt
sich auch der lebendig entrückte und verewigte Heros Erech-
theus in einen begrabenen. Den Erichthonios, den sie
ausdrücklich mit dem homerischen Erechtheus identificiren,
lassen Spätere in dem Tempel der Polias, d. i. eben jenem
ältesten Athenetempel der Burg, begraben sein 1). Völlig
klar liegt der Stufengang der Verwandlung vor uns, durch
welchen der alte, in der Tiefe hausende Stammgott, der Sohn
der Erde, zum sterblichen, aber zu ewigem Leben entrückten
Helden gemacht, in den Schutz der mächtiger gewordenen
olympischen Göttin gestellt, mitsammt seinem Höhlensitz in
deren Tempelbereich hineingezogen, endlich gar zu einem Heros
wie andere auch herabgedrückt wird, der gestorben und im
Frieden des Tempels der Burggöttin begraben sei.


Nach diesem Vorbilde wird man einige Berichte deuten
dürfen, in denen uns nur der letzte Punct der Entwicklung,
das Heroengrab im Tempel eines Gottes, unmittelbar gegeben
ist. Ein einziges Beispiel möge noch betrachtet werden.


Zu Amyklae unweit von Sparta, in dem heiligsten Tempel
des lakonischen Landes, stand das alterthümliche Erzbild des
Apollo über einem Untersatz in Altarform, in welchem, berichtete
die Sage, Hyakinthos begraben lag. Durch eine eherne Thüre
an der Seite des Altars sandte man alljährlich an den Hya-
kinthien dem „Begrabenen“ Todtenopfer hinab 2). Der so Ge-
[129] ehrte hatte keine Aehnlichkeit mit dem zarten Jüngling, von
dessen Liebesbund mit Apollo, Tod durch einen Diskoswurf
des Gottes und Verwandlung in eine Blume Dichter der helle-
nistischen Zeit eine, aus lauter geläufigen Motiven zusammen-
gesetzte, fast aller localen Beziehungen baare Fabel erzählen 1).
Die Bildwerke an jenem Altare stellten unter mancherlei
Göttern und Heroen den Hyakinthos dar, wie er sammt seiner
Schwester Polyboia in den Himmel hinaufgetragen wurde (wo-
mit die Verwandlungsfabel nicht stimmen will), und zwar war
er bärtig dargestellt, also nicht als jener geliebte Knabe des
Apoll, sondern als reifer Mann (von dessen Töchtern zudem
andere Sagen berichten 2]). Von der ächten Sage von diesem
2)
Rohde, Seelencult. 9
[130] Hyakinthos hat sich kaum eine Spur erhalten; es schimmern
aber dennoch durch die Berichte von jenem Denkmal und von
dem alljährlich zu Ehren des Hyakinthos begangenen Feste
Züge durch, welche vielleicht den wahren Charakter des in
Amyklae mit und, wie ausdrücklich berichtet wird, vor Apollo 1)
geehrten Dämons erkennen lassen. Man brachte dem Hya-
kinthos Opfer von der Art derer, die sonst den in der Unterwelt
waltenden Gottheiten gewidmet wurden 2) und sandte die Opfer-
gaben unmittelbar in die Tiefe hinab, in der man also den
Hyakinthos selbst sich hausend dachte. Das grosse Fest der
Hyakinthien zeigte in der Art, wie abwechselnd an ihm Hya-
kinthos (nach dem, als der Hauptperson, das Fest benannt
war) und Apollo verehrt wurden, deutlich die nicht zu rechter
Verschmelzung gediehene Vereinigung zweier ursprünglich ganz
verschiedener Culte, und liess in der schmucklos ernsten, fast
düsteren Feier der dem Hyakinthos geweiheten Tage, im Gegen-
satz zu der heiteren Verehrung des Apoll am mittleren Fest-
tag 3), den Charakter des Hyakinthos als eines den unterirdi-
2]
[131] schen Göttern verwandten Dämons deutlich hervortreten. Auf
den Bildwerken des Altars war denn auch als seine Schwester
dargestellt Polyboia, eine der Persephone ähnliche unterweltliche
Gottheit 1). Hyakinthos war ein alter, unter der Erde hausender
Localgott der Amykläischen Landschaft, sein Dienst in Amyklae
älter als der des Apollo. Aber seine Gestalt ist verblasst, der
olympische Gott, der sich (vielleicht erst nach der dorischen
Eroberung des achäischen Landes) neben und über dem alten
Erdgeiste festgesetzt hat, überstrahlt ihn, ohne doch seine Ver-
ehrung ganz zu verdrängen; sein göttliches Leben in der Tiefe
kann sich die spätere Zeit nur wie das Fortleben der Psyche
eines sterblichen und gestorbenen Heros denken, dessen Leib
im „Grabe“ ruht unter dem Bilde des Gottes, den, um die
enge Cultgemeinschaft zu erklären, Dichtersage zu seinem Lieb-
haber macht, wie sie denselben Gott aus ganz ähnlichem Grunde
zum Liebhaber der Daphne gemacht hat 2).


3)


9*
[132]

4.


So mag unter der Gestalt noch manches Heros, dessen
Grab man in dem Tempel eines Gottes zeigte, ein alter Local-
gott sich verbergen, dessen Wohnung im Inneren der Erde zum
„Grabe“ umgedeutet wurde, seit er selbst aus einem göttlichen
Wesen höheren Ranges zum sterblichen Helden herabgesetzt
war 1). Von besonderen Umständen hing es ab, ob die Ent-
götterung eine vollständige wurde, ob etwa eine (im Localcult
erhaltene) Erinnerung an die alte Gottnatur eine nachträgliche
Wiedererhebung in’s Götterreich 2), wohl gar zu den, dem alten
Erddämon ursprünglich fremden olympischen Göttern bewirkt
hat. In der auffälligsten Weise spielen die nach örtlichen und
zeitlichen Verhältnissen wechselnden Auffassungen durcheinander
in den Vorstellungen von Asklepios. Dem Homer und den
Dichtern überhaupt gilt er als sterblicher Held, der die Heil-
kunst von Chiron erlernt habe. Im Cultus wird er zumeist
den oberen Göttern gleichgestellt. In Wahrheit ist ursprüng-
lich auch er ein in der Erde hausender thessalischer Ortsdämon
gewesen, der aus der Tiefe, wie viele solche Erdgeister, Heilung
von Krankheiten, Kenntniss der Zukunft 3) (beides in alter Zeit
eng verbunden) heraufsandte. Auch er hat den Uebergang zum
Heros leicht gemacht. Den Heros Asklepios trifft des Zeus
Blitzstrahl, der hier wie in manchen anderen Sagen nicht das
Leben völlig vernichtet, sondern den Getroffenen zu erhöhetem
Dasein aus der sichtbaren Welt entrückt 4). Wir verstehen
[133] jetzt leicht, was es heissen will, wenn dann auch dieser alte
Erdgott „begraben“ heisst: man zeigte sein Grab an verschie-
denen Orten 1). Den ursprünglichen Charakter des Asklepios
als eines im Erdinneren hausenden Gottes lassen noch manche
Eigenthümlichkeiten des ihm dargebrachten Cultus erkennen 2).
4)
[134] Es fehlt ihm freilich eine wesentliche Eigenschaft solcher Erd-
geister: die Gebundenheit an die bestimmte Stätte. Eine unter-
nehmende Priesterschaft hatte seinen Dienst weit verbreitet und
damit den Asklepios selbst an vielen Orten heimisch gemacht.


Ihm, dem Zeus Asklepios, auf’s Innigste verwandt, aber
ihrem ursprünglichen Charakter treuer geblieben sind jene böoti-
schen Erdgeister, von denen unsere Betrachtung ausging. Tro-
phonios, aber auch Amphiaraos, könnte man einen am Boden
und in seiner alten Höhlenbehausung haften gebliebenen As-
klepios nennen 1). Auch sie, Amphiaraos und Trophonios, sind
zu sterblichen Menschen der Vorzeit geworden in der Phantasie
einer Zeit, welche die wahre Art solcher Höhlengeister nicht
mehr fasste; aber man hat nie von ihren „Gräbern“ geredet,
weil die Zeit, die sie heroisirte, noch nichts wusste von mensch-
lichen Helden, die, gestorben und begraben, dennoch lebendig
und wirksam geblieben wären. Der Glaube aber an die ununter-
brochene Wirksamkeit war es, der jene seltsamen Höhlengötter
im Gedächtniss der Menschen erhielt. Sie gelten der epischen
und vom Epos inspirirten Sage als menschliche Wesen, nicht
gestorben, sondern ohne Trennung von Leib und Seele in die
2)
[135] Erdtiefe zu ewigem Leben entrückt. Und aller Zukunft haben
sie, auch wo man ihnen nicht nur ewiges Leben zusprach,
sondern sie geradezu Götter nannte, als Menschen gegolten,
die unsterblich oder gar den Göttern gleich erst geworden
seien 1). Und sie sind Vorbilder geworden eines Zustandes,
zu dem auch andere Sterbliche wohl erhöhet werden könnten.
In der Elektra des Sophokles (v. 836 ff.) beruft sich der
Chor, um die Hoffnung auf Fortdauer des Lebens der Ab-
geschiedenen zu bekräftigen, ausdrücklich auf das Beispiel des
Amphiaraos, der noch jetzt unter der Erde mit vollen Seelen-
kräften walte. Darum eben sind diese und andere, von der
alten Sage und Dichtung dargebotenen Beispiele von „Höhlen-
entrückung“ einzelner Helden auch für unsere Betrachtung
wichtig: in ihnen, wie nach anderer Richtung in den Sagen von
der Inselentrückung, weist das Epos selbst hinaus über seine
trübe und resignirte Vorstellung vom Dasein nach dem Tode
auf ein erhöhetes Leben nach dem Abscheiden aus dem Reiche
des Sichtbaren. Indem es einzelne unter den einst zahlreich
in griechischen Landschaften verehrten Höhlengöttern ihrer
ursprünglichen Göttlichkeit entkleidete, zu menschlicher Natur
herabzog und in die Heldensage verflocht, ihr übermenschliches
Weiterleben und (besonders mantisches) Wirken aber, wie es
Glaube und Cult der Landesbewohner behauptete, nicht auf-
hob, schuf es eine Classe von menschlichen Helden, die zu
göttlichem Leben erhöhet, von der Oberwelt zwar geschieden,
aber nicht dem allgemeinen Seelenreich zugetheilt waren, son-
[136] dern in unterirdischen Wohnungen an einer ganz bestimmten
Stelle einer griechischen Landschaft hausten, menschlichem
Leben hülfreich nahe. Die Herabziehung des Göttlichen in’s
Menschlich-Heroische schlug, da die Eigenschaft des ewigen
Fortlebens nicht abgestreift wurde, in eine Steigerung des
Menschlichen und Heroischen in das Göttliche um. So leitet
uns die epische Dichtung nahe heran an ein Reich von Vor-
stellungen, das sie selbst freilich, als wäre es nicht vorhanden,
nie betritt, und das nun plötzlich vor uns auftaucht.


[[137]]

Die Heroen.


Als um das Jahr 620 Drakon zu Athen das Gewohnheits-
recht seiner Vaterstadt zum ersten Mal in schriftlicher Auf-
zeichnung zusammenfasste, gab er auch die Weisung, die
Götter und die vaterländischen Heroen gemeinsam zu verehren
nach dem Brauch der Väter 1).


Hier zum ersten Mal begegnen uns als Wesen höherer
Art, neben den Göttern genannt, und gleich diesen durch regel-
mässige Opfer zu verehren, die Heroen. Ihr Cult, ebenso
wie der Göttercult, wird als längst bestehend vorausgesetzt; er
soll nicht neu eingerichtet werden, sondern nur erhalten bleiben,
wie ihn väterliche Satzungen gestaltet haben. Wir sehen hier,
an einem wichtigen Wendepunkte griechischer Religionsent-
wicklung, wie mangelhaft unsere Kenntniss der Geschichte
religiöser Ideen in Griechenlands älterer Zeit ist. Dieses
früheste, uns zufällig erhaltene Zeugniss von griechischem
Heroencult weist über sich selbst hinaus und zurück auf eine
lange Vorzeit der Verehrung solcher Landesschutzgeister; aber
wir haben kaum irgend eine Kunde hiervon aus älterer Zeit 2).
[138] Wir würden auch aus den geringen Resten der so bedeuten-
den Litteratur, namentlich der lyrischen Dichtung des 7. und
beginnenden 6. Jahrhunderts kaum eine Ahnung von dem
Vorhandensein dieses, dem Epos ganz fremden Elementes des
religiösen Lebens der Griechen gewinnen 1). Wo endlich der
Strom der bis auf unsere Zeit gelangten Litteratur breiter fluthet,
ist freilich auch von Heroen oft die Rede. Pindars Siegeslieder
und Herodots Geschichtswerk vertreten die Generationen, welche
die Perserkriege und die nächsten fünfzig Jahre durchlebten.
Sie lassen mit überraschender Bestimmtheit erkennen, wie
lebendig damals der Glaube an Dasein und Wirksamkeit der
Heroen auch bei gebildeten, aber von der neumodischen Auf-
klärung wenig berührten Männern war. Im Glauben des
Volkes, in der Religionsübung der Stämme und Städte haben
die heimischen Heroen neben den Göttern ihre unbestrittene
feste Stelle. Bei den Göttern und den Heroen des Landes
schwören die Vertreter der Staaten ihre Eide 2); die Götter
und Heroen Griechenlands sind es, denen frommer Sinn den
Sieg über die Barbaren zuschreibt 3). So anerkannt war die
Gültigkeit des griechischen Heroenglaubens, dass selbst die
persischen Magier im Heere des Xerxes in Troas den dort
begrabenen Heroen nächtliche Trankopfer darbrachten 4).


2)


[139]

2.


Fragt man nach Art und Natur dieser dem Epos noch
unbekannten Gattung höherer Wesen, so giebt uns hierüber
Auskunft zwar keine ausdrückliche Wesensbestimmung aus
alter Zeit, wohl aber Vieles, was uns von einzelnen Heroen
erzählt wird, und vor Allem das, was uns von der besonderen
Weise der religiösen Verehrung der Heroen bekannt ist.
Die Heroen wurden mit Opfern verehrt, so gut wie die
Götter; aber diese Opfer waren sehr verschieden von den
Gaben, die man den Olympiern darbrachte 1). Zeit, Ort und
Art sind andere. Man opferte den Göttern am hellen Tage,
den Heroen gegen Abend oder Nachts 2); nicht auf hohem
Altar, sondern auf niedrigem, dem Erdboden nahen, bisweilen
hohlen Opferheerd 3). Schwarzfarbige Thiere männlichen Ge-
schlechts schlachtete man ihnen 4), denen man nicht, wie den
für Götter bestimmten Opferthieren, den Kopf nach oben, zum
Himmel wendet, sondern auf den Boden drückt 5). Das Blut
der Thiere lässt man auf den Boden oder auf den Opferheerd
rieseln, den Heroen zur „Blutsättigung“ 6); der Leib wird
völlig verbrannt, kein lebender Mensch soll davon geniessen 7).
[140] Diese besondere Art der Heroenverehrung wird denn auch,
wo genau geredet wird, nicht mit demselben Worte wie die
Opfer für Götter bezeichnet 1). Bei besonderen Gelegenheiten
wird den Heroen ein Opfermahl aus gekochten Speisen hin-
gestellt, zu dem man sie zu Gaste ladet 2); sie sind in Erden-
nähe, nicht braucht man ihnen, wie den Olympiern, den Duft
der Opfergaben im Dampf nach oben zu schicken.


Dieses Opferritual ist gerade da, wo es von dem bei Ver-
ehrung der olympischen Götter üblichen verschieden ist, fast
völlig identisch mit der Weise, in der man die im Inneren der
Erde wohnenden Gottheiten und in späterer Zeit auch die
Seelen verstorbener Menschen verehrte; es wird voll verständ-
lich, wenn wir die Heroen als nahe verwandt den chthonischen
Göttern einerseits, den Todten andererseits erkennen. In der
That sind sie nichts anderes als die Geister verstorbener
Menschen, die im Inneren der Erde wohnen, ewig leben gleich
den Göttern da drunten und diesen an Macht nahe kommen.
Deutlich bezeichnet ihre Natur als verstorbener, aber der Em-
pfindung nicht beraubter Helden der Vorzeit eine Art der
Verehrung, die ihnen und ursprünglich nur ihnen dargebracht
wurde, die in regelmässiger Wiederkehr alljährlich gefeierten
Leichenspiele.


Wettkämpfe der Fürsten beim Begräbniss eines vornehmen
Todten kennt Homer: wir haben sie unter den, in epischer
Darstellung erhaltenen Ueberresten alten gewaltigen Seelen-
7)
[141] cultes erwähnt 1). Aber Homer weiss nichts von einer
Wiederholung, und gar einer alljährlich wiederholten Feier
solcher Leichenspiele 2). Regelmässig nach Ablauf einer be-
stimmten Frist neu begangene Festagone gab es in Griechen-
land erst, seit der Heroencult in Blüthe stand. Viele dieser
Wettspiele waren für immer mit den Jahresfesten einzelner
Heroen verbunden und bestimmt, deren Andenken zu feiern 3).
Noch in geschichtlich erkennbaren Zeiten sind, meist auf Ge-
heiss des delphischen Orakels, zu Ehren von Heroen jährliche
Kampfspiele eingerichtet worden 4). Es war die besondere Art
der Verehrung, die den Heroen zukam, und man wusste ganz
gut, dass man in solchen Spielen die Leichenfeier eines Ver-
storbenen wiederholte 5). Im Heroencult hat die für griechisches
Leben so eigen charakteristische, als Schule des Individualismus,
der Griechenland gross gemacht hat, bedeutende Einrichtung
des „Agon“ seine erste Wurzel; nicht sinnlos war es, dass
nachmals viele der Sieger an den grossen Agonen selbst durch
den Volksglauben in die Schaar der Heroen emporgehoben
wurden. Die höchsten, ganz Griechenland versammelnden
Agone der Pythien, Olympien, Nemeen, Isthmien sind in hi-
storisch bekannten Zeiten allerdings Göttern zu Ehren gefeiert
[142] worden; dass aber auch sie ursprünglich als Leichenspiele für
Heroen eingesetzt und erst nachträglich höheren Schutzherren
geweiht worden seien, war wenigstens im Alterthum allgemeine
Ueberzeugung 1).


3.


Die Heroen sind also Geister Verstorbener, nicht etwa
eine Art Untergötter oder „Halbgötter“ 2), ganz verschieden
[143] von den „Dämonen“, wie sie spätere Speculation und dann
auch wohl der Volksglaube kennt. Diese sind göttliche Wesen
niederer Ordnung, aber von jeher des Todes überhoben, weil
sie nie in das endliche Leben der Menschen eingeschlossen
waren. Die Heroen dagegen haben einst als Menschen gelebt,
aus Menschen sind sie Heroen geworden, erst nach ihrem
Tode 1). Nunmehr sind sie in ein erhöhetes Leben eingetreten,
als eine besondere Classe der Wesen, die neben Göttern und
Menschen genannt wird 2). In ihnen treffen wir an, was den
homerischen Gedichten ganz fremd war, Seelen, die nach
dem Tode und der Trennung vom Leibe ein höheres, ewiges
Leben haben.


Aber wenn die Heroen aus Menschen geworden sind, so
werden doch nicht alle Menschen nach dem Tode zu Heroen.
Vielmehr, wenn auch die Schaar der Heroen nicht eine fest
begrenzte ist, wenn sie auch stetig ihre Reihen vermehrt —
die Heroen bilden eine Ausnahme, eine auserwählte Minder-
2)
[144] heit, die eben darum den Menschen schlechtweg entgegen-
gesetzt werden kann. Die Hauptgestalten, man kann sagen,
die vorbildlichen Vertreter dieser Heroenschaar sind Menschen,
deren Leben Sage oder Geschichte in ferne Vorzeit setzte,
Vorväter der später Lebenden. Nicht also Seelencult ist der
Heroendienst, sondern, in engerer Begrenzung, ein Ahnen-
cult
. Ihr Name schon, so scheint es, bezeichnet die „Heroen“
als Menschen der Vorzeit. In Ilias und Odyssee ist „Heros“
ehrenvolle Benennung der Fürsten, auch freier Männer über-
haupt 1). Die Poesie späterer Jahrhunderte, soweit sie sich
in der Erzählung von Ereignissen der sagenhaften Vorzeit
bewegt, führt auch das Wort Heros in diesem Sinne in ihrem
Sprachgebrauch weiter. Stellt sich aber, in nachhomerischer
Zeit, der Redende, Dichter oder Prosaiker, auf den Standpunct
seiner eigenen Gegenwart, so sind ihm Heroen, soweit er
lebende Menschen mit diesem Namen bezeichnet, Menschen
jener Zeiten, in denen, nach Ausweis der homerischen Ge-
dichte, dieser Ehrentitel unter Lebenden noch üblich gewesen
zu sein schien, d. h. Menschen der von den Dichtern gefeierten
Vergangenheit2). In der hesiodischen Erzählung von den
[145] fünf Geschlechtern der Menschheit ist die Verwendung des
Heroennamens eingeschränkt auf die Helden der Kämpfe um
Theben und Troja: wie mit ihrem besonderen Namen werden
diese als „der Heroen göttliches Geschlecht“ bezeichnet 1).
Dem Hesiod sind „Heroen“ noch keineswegs verklärte Todte
der Vergangenheit 2). Er weiss wohl von solchen verklärten
Todten noch fernerer Vorzeit, aber diese nennt er „Dämonen“.
Wenn man nun in der folgenden Zeit jene begünstigten Ein-
zelnen, denen nach dem Tode erhöhetes Leben zu Theil wird,
„Heroen“ zu nennen sich gewöhnt, so soll dieser Name, in
welchem an sich eine Bezeichnung der höheren Natur solcher
abgeschiedenen Geister nicht liegt, wahrscheinlich ausdrücken,
dass man die Zeit des Lebens der nach dem Tode also Pri-
vilegirten in eine sagenhafte Vergangenheit legte. Wie sie einst
im Leben „Heroen“ hiessen, die Menschen der Vergangenheit,
so nennt man sie jetzt auch nach ihrem Tode. Aber der
Begriff des Wortes „Heros“ ist geändert, die Vorstellung un-
sterblichen, erhöheten Lebens hineingelegt. Als etwas Neues,
als eine Form des Glaubens und Cultus, von der wenigstens
die homerischen Gedichte keine Ahnung geben, tritt die Heroen-
verehrung hervor, und es muss wohl die Vorstellung solcher,
zu höherem Dasein verklärten Ahnenseelen etwas Neues an
sich gehabt haben, wenn man doch zu ihrer Bezeichnung kein
eigenes Wort alter Prägung vorfand, sondern ein längst vor-
handenes Wort des epischen Sprachschatzes in einem neuen
Sinne verwenden musste.


Woher entsprang dieses Neue? Sollte man es aus einer
ungehemmten Weiterentwicklung homerischer Weltvorstellung
ableiten, so würde man sehr in Verlegenheit um die Nach-
Rohde, Seelencult. 10
[146] weisung eines Bindegliedes zwischen zwei so weit getrennten
Vorstellungsweisen sein. Es würde nichts helfen, wenn man
sagte, der Glanz der epischen Dichtung habe die von diesen
Gefeierten so herrlich und ehrwürdig erscheinen lassen, dass
sie ganz natürlich in der Phantasie der späteren Geschlechter
sich zu Halbgöttern erhöhet hätten und als solche verehrt
worden seien. Die homerische Dichtung, alle Vorstellungen
von wahrem, bewusstem und thatkräftigem Leben der Seele
nach dem Tode streng abschneidend, konnte wahrlich nicht auf-
fordern, gerade ihre Helden, die ja todt und fernab zum Reiche
des Hades entschwunden sein sollten, als fortlebend und aus
ihren Gräbern heraus wirkend sich zu denken. Auch ist es
durchaus unwahrscheinlich, dass in der geschichtlichen Ent-
wicklung es gerade die Helden der epischen Dichtung gewesen
seien, von deren Verehrung der Heroencultus ausging: im
Cultus wenigstens haben (mit geringen Ausnahmen) diese keines-
wegs besonders tiefe Wurzeln geschlagen. Und dass ein Cultus
überhaupt aus den Anregungen der Phantasie, wie das Epos
sie bot, zuerst habe entstehen können, ist an sich schon wenig
einleuchtend. Der Cultus aber ist es, auf welchem der Heroen-
glaube eigentlich beruht.


Deutlich ist vielmehr, nach allem bisher Ausgeführten,
der Gegensatz des Heroenglaubens zu homerischen Vor-
stellungen. Der phantastische Gedanke der Inselentrückung,
auch der Höhlenentrückung einzelner Menschen, vertrug sich
noch mit den Voraussetzungen homerischer Eschatologie; bei
der wunderbaren Erhaltung gottgeliebter Menschen in ewigem
Leben trat mit der Bedingung der Trennung von Seele und
Leib auch deren Folge nicht ein. Anders das, was man von
den Heroen glaubte: eine Fortsetzung des bewussten Daseins,
in der Nähe der Lebendigen, nach dem Tode, nach und trotz
dem Abscheiden der Psyche vom sichtbaren Menschen. Dies
widerstritt geradezu homerischer Psychologie. Wir müssten
gänzlich darauf verzichten, diesen neuen Glauben mit der
früheren Entwicklung in irgend einen inneren Zusammenhang
[147] zu bringen — wenn wir uns nicht dessen erinnerten, was uns
unsere bisherige Betrachtung gelehrt hat. In den homerischen
Gedichten selbst, von den sonst in diesen herrschenden Vor-
stellungen von der Nichtigkeit der abgeschiedenen Seelen auf-
fallend abstechend, waren uns Rudimente eines einst sehr leben-
digen Seelencultes entgegengetreten, die einen entsprechenden
Glauben an bewusstes Fortleben der Seele, an deren nicht
völliges Abscheiden aus der Nähe der Lebenden voraussetzten.
Aus der Betrachtung der hesiodischen Schilderung der fünf
Geschlechter der Menschen ergab sich, dass in der That Reste
eines alten Glaubens an erhöhetes Weiterleben Verstorbener,
von dem Homer keine deutliche Spur mehr zeigte, sich min-
destens in einzelnen Gegenden des binnenländischen Griechen-
lands erhalten hatten. Aber nur die Verstorbenen sagenhafter
Urzeit galten dem Hesiod als erhöhet zu „Dämonen“; aus
späterer Zeit und gar aus seiner eigenen Gegenwart weiss der
Dichter nichts von solchen Wundern zu berichten. Spuren
also eines Ahnencultes begegneten uns hier; ein allgemeiner
Seelencult, sonst die natürliche Fortsetzung des Ahnencultes,
fehlte. Ein allgemeiner Seelencult ist es denn auch nicht,
sondern ein Ahnencult, der uns in der Heroenverehrung ent-
gegentritt. Und so dürfen wir es aussprechen: in dem Heroen-
wesen sind die noch glimmenden Funken alten Glaubens zur
neuen Flamme angefacht; nicht ein völlig und unbedingt Neues
und Fremdes tritt hervor, sondern ein längst Vorhandenes,
halb Vergessenes ist wieder belebt worden. Jene „Dämonen“,
aus Menschen früherer Geschlechter, des goldenen und silbernen,
entstanden, deren Lebenszeit die hesiodische Dichtung in graues
Alterthum zurückgeschoben hatte, was sind sie anders als die
„Heroen“, welche die spätere Zeit verehrte, nur unter einem
anderen Namen und an die eigene Gegenwart näher herangezogen?


4.


Wie es nun freilich kam, dass der Ahnencult aus halber
und mehr als halber Vergessenheit zu neuer und dauernder
10*
[148] Bedeutung sich wieder erhob, das können wir nicht sagen.
Eine eigentliche, den Grund und Gang dieses wichtigen
Processes im griechischen Religionsleben nachweisende Erklä-
rung ist uns unmöglich. Wir kennen weder Zeit noch Ort des
ersten stärkeren Hervortretens des neu belebten alten Cultus,
nicht die Art und den Weg seiner Ausbreitung in jener dunklen
Zeit des 8. und 7. Jahrhunderts. Wir können aber wenig-
stens die Thatsache der Neubelebung des Ahnencultes in Eine
Reihe stellen mit anderen Thatsachen, die uns lehren, dass
in jenen Zeiten aus der Tiefe des Volksglaubens und eines
nie völlig verdrängten alten Götterdienstes manche bis dahin
verborgene oder verdunkelte Vorstellung über Götter- und
Menschenloos die herrschenden homerischen Anschauungen zwar
nicht verdrängte — denn das ist nie geschehen — aber doch
ihnen sich an die Seite stellte. Jene grosse Bewegung, von
der im nächsten Abschnitt einiges zu sagen ist, trug auch den
Heroenglauben empor. Mancherlei begünstigende Umstände
mögen im Besonderen diesen Glauben neu gestärkt haben. Das
Epos selbst war wenigstens an Einem Puncte nahe an die im
Heroenglauben neu auflebenden Vorstellungen heran gekommen.
Die Herabziehung vieler, durch die grossen Gottheiten des
allgemein hellenischen Glaubens verdunkelten Localgötter in
Menschenthum und heroische Abenteuer hatte in einigen Fällen,
in Folge einer Art Compromisses mit dem localen Cult solcher
Götter, die Dichtersage zur Erschaffung eigenthümlicher Ge-
stalten geführt, in denen Mensch und Gott wunderbar gemischt
war: einst Menschen unter Menschen sollten nun, nach ihrem
Abscheiden, diese alten Helden und Seher ewig leben und
wirken, wie die Götter. Man sieht wohl die grosse Aehnlich-
keit solcher Gestalten wie Amphiaraos und Trophonios mit den
Heroen des späteren Glaubens; in der That werden beide, wo
sie nicht Götter heissen, vielfach zu diesen Heroen gerechnet.
Und so mag noch manche der, von den Dichtern herab in’s
Menschliche gezogenen alten Göttergestalten später in der
Schaar der „Heroen“ eine Stelle gefunden haben. Aber man
[149] würde sehr irren, wenn man meinte, aus diesen von Dichtern
und der von den Dichtern geleiteten Phantasie des Volkes
depotenzirten Göttern sei die Heroenwelt erwachsen. Die
meisten der also ihrer Göttlichkeit entkleideten Götter waren
zu Menschen gemacht, denen auch nach dem Tode bewusstes
Geisterleben und Wirksamkeit nicht zukam, aus deren Art
also gerade das, was das Wesen der „Heroen“ ausmacht, sich
nicht erzeugen konnte. Jene zu ewig fortlebenden Helden um-
gewandelten alten Erdgötter aber, deren Hauptvertreter Am-
phiaraos ist, sind doch nur unächte „Heroen“; Vorbilder für
die wahren Heroen können auch sie nicht geworden sein. Sie
sind ja lebendig entrückt, und leben weiter, eben weil sie den
Tod nicht geschmeckt haben. Sie, mit den Inselentrückten zu-
sammen, zeigen die Unsterblichkeit in der Form, die homerische
Dichtung allein kennt. Die Heroen des neuen Glaubens da-
gegen sind völlig gestorben; des Leibes ledig, leben sie dennoch
fort. Von den Entrückten der epischen Sage sind sie von
Grund aus verschieden. Aus undeutlich dämmernder Erinne-
rung treten sie als etwas, der vom Epos beeinflussten Vor-
stellung Fremdes, ja ihr Entgegengesetztes hervor.


Nicht aus dichterischen Bildern und Geschichten hat sich
das Heroenwesen entwickelt, sondern aus den Resten eines
alten, vorhomerischen Glaubens, die der locale Cultus lebendig
erhalten hatte.


5.


Ueberall knüpft sich die Verehrung eines Heros an die
Stätte seines Grabes. Das ist die allgemeine Regel, die sich
in ungezählten einzelnen Fällen bestätigt. Darum ist, wo ein
Heros besonders hoher Verehrung geniesst, sein Grab, als der
Mittelpunct dieser Verehrung, an ausgezeichneter und auszeich-
nender Stelle errichtet, auf dem Marktplatz der Stadt, im
Prytaneum 1), oder, wie das Grab des Pelops in der Altis zu
[150] Olympia, recht inmitten des heiligen Bezirks und seines Fest-
verkehrs 1). Oder man legte das Grab des Heros, der Stadt
und Land schützt, in das Thor der Stadt, oder an die äusserste
Grenze des Landes 2). Wo das Grab ist, da hält man den
Heros selbst fest, das Grab ist sein Aufenthalt 3): diese Vor-
stellung gilt überall, wenn sie sich auch nicht überall so derben
Ausdruck gab wie in Tronis im Phokerlande, wo man dem
Heros das Opferblut durch eine Röhre unmittelbar in seinen
Grabhügel hineingoss 4). Die Voraussetzung ist dabei in der
Regel diese, dass das Heroengrab die Gebeine des Heros ent-
halte. Die Gebeine, jeder Rest seiner Leiblichkeit, fesseln
den Heros an das Grab. Daher, wenn es galt, einen Heros
und seine schützende Macht an die Stadt zu binden, man viel-
fach, auf Geheiss des Orakels, die Gebeine des Heros oder
1)
[151] was man dafür nahm, aus der Ferne holte und in der Heimath
beisetzte. Manche Berichte erzählen uns von solchen Reliquien-
versetzungen 1). Die meisten fallen in dunkle Vorzeit; aber im
hellsten Licht der Geschichte liess ja, im Jahre 476, das auf-
geklärte Athen die Gebeine des Theseus von Skyros einholen 2),
[152] und erst als diese im Theseion beigesetzt waren, war auch
Theseus völlig an Athen gefesselt.


Weil der Besitz der körperlichen Ueberreste 1) eines Heros
auch den Besitz des Heros selbst verbürgte, schützten sich die
Städte vielfach vor Fremden, die ihnen die kostbaren Gebeine
entführen konnten, durch Geheimhaltung der Grabstätte 2). Ein
Grab ist immer nöthig, um den Heros an der bestimmten Stelle
festzuhalten, zum mindesten ein „leeres Grabmal“, mit dem
2)
[153] man sich bisweilen begnügen musste 1). In solchen Fällen dachte
man ihn sich vielleicht durch einen Zauber an jene Stelle
gebunden 2). Sonst ist es der Rest seines ehemaligen Leibes,
der ihn gebannt hält. Auch dieser Rest ist noch ein Stück
des Heros selbst; wenn auch todt und eine Mumie, heisst es
einmal 3), wirkt und handelt er immer noch; seine Psyche, sein
unsichtbarer Doppelgänger schwebt nahe der Leiche und dem
Grabe.


Dies sind durchweg sehr uranfängliche Vorstellungen, wie
sie sich sonst bei Völkern erhalten haben, die bei unentwickelter
Bildung auf niedrigem Standpunct stehen geblieben sind 4).
Finden wir solche unter Griechen der nachhomerischen Zeit
wirksam, so werden wir nicht glauben wollen, dass sie damals,
die Helligkeit und Freiheit der Menschen jener homerischen
Welt ablösend, sich ganz neu und zum ersten Mal entwickelt
hätten. Sie sind nur unter dem homerischen Rationalismus,
der sie früher verdeckte, neu hervorgedrungen. Man möchte
meinen, so, wie eben die dem Heroenglauben zu Grunde liegen-
den Vorstellungen gezeichnet sind, habe schon der Wahnglaube
der Griechen jener Urzeit ausgesehen, die in Mykenae und
anderswo die Leichen ihrer Fürsten so eifrig (wie es scheint,
sogar durch Einbalsamirung 5]) der Vernichtung zu entziehen
[154] bemüht war, ihnen Schmuck und Geräthe in’s Grab mitgab,
wie zu künftigem Gebrauch und Genuss. Es ist oben aus-
geführt worden, wie in den Zeiten, deren Abbild uns Homers
Gedichte geben, nächst dem Umschlag der Gesinnung, auch
die Gewöhnung an die völlige Vernichtung des Leichnams durch
Feuer den Glauben an das Haften der Seele im Diesseits, an
den Ueberresten der Leiblichkeit schwächen musste. Völlig
abgestorben ist dieser Glaube dennoch nicht. Er erhielt sich,
vielleicht eine Zeit lang nur in engeren Kreisen, lebendig da,
wo ein Gräbercult sich erhielt, der zwar nicht auf Verstorbene
neuerer Zeit sich ausdehnte, aber die längst bestehende Ver-
ehrung grosser Todten der Vergangenheit nicht völlig erlöschen
liess. Ueber den Königsgräbern auf der Burg zu Mykenae
stand ein Opferheerd 1), der von der Fortsetzung alten Cultes
der dort Begrabenen Zeugniss giebt. Der homerische Schiffs-
katalog erwähnt des „Grabes des Aepytos“, eines alten arkadi-
schen Landeskönigs, wie eines Mittelpunctes der Landschaft 2):
lässt das nicht an Heilighaltung jenes Grabes denken? Man
zeigte und verehrte allerdings an vielen Orten Gräber solcher
Heroen, die ihr Dasein nur dichterischer Phantasie verdankten,
oder wohl gar nur leere Personificationen waren, abstrahirt
aus den Namen von Orten und Ländern, deren Urväter sie
sein sollten. In solchen Fällen war der Heroendienst zum
Symbol, vielleicht vielfach zu einer kahlen Formalität geworden.
Aber von solchen Fictionen eines Ahnencultes kann der Heroen-
gräberdienst nicht ausgegangen sein, sie selbst sind nur Nach-
ahmungen eines lebensvolleren Dienstes, eines Cultus wirklicher
Ahnen. Hätte ein solcher Cult nicht in thatsächlicher Aus-
übung vor Augen gestanden, so bliebe unbegreiflich, wie man
auf die Nachbildung eines Ahnencultes in der Verehrung blosser
[155] Gedankengeschöpfe verfallen konnte. Die Nachbildung lässt
ein Urbild, das Symbol das gleichzeitige oder frühere Vor-
handensein der entsprechenden Wirklichkeit voraussetzen. Wir
wüssten gewiss mehr von dem Ahnencult in alten Königs-
geschlechtern, wenn nicht in fast allen griechischen Staaten das
Königthum frühzeitig verdrängt und seine Spuren verwischt
worden wären. Einzig Sparta mag uns eine Vorstellung geben
von dem, was einst an allen Sitzen königlicher Herrschaft her-
kömmlich sein mochte. Starb dort ein König, so wurde seine
Leichenfeier mit ausschweifendem Prunke begangen, sein Leich-
nam (den man, selbst wenn der Tod in der Fremde eingetreten
war, einbalsamirte und nach Sparta brachte) bei den Todten
seines Geschlechts beigesetzt, und Ehren dem Verstorbenen
erwiesen, nach Xenophons Worten, nicht wie einem Menschen,
sondern als einem Heros1). Hier haben wir, in einem unfrag-
lich aus hoher Vorzeit fortgepflanzten Brauch, die Grundlage
für die Heroisirung der Todten fürstlicher Familien. Auch die
[156] Angehörigen adlicher Geschlechter (die z. Th., wie die atheni-
schen Eupatriden, ihre Stammbäume auf alte Könige zurück-
führten 1]) werden einen Ahnencult aus alter Zeit erhalten
haben. Wie von allem nichtstaatlichen Culte, erfahren wir von
dem Culte der alten durch Verwandtschaft und Verschwägerung
verknüpften Geschlechtsverbände (γένη, πάτραι) wenig. Aber,
wie aus ihrem Zusammenwachsen die Dorfgemeinde und end-
lich der Organismus der griechischen Polis entstanden ist, so
hat auch der Cult, den sie den Ahnen ihrer Geschlechtsgemein-
schaft widmeten, für die mannichfachen Verbände, in welche
der voll entwickelte Staat zerfiel, ein Vorbild abgegeben 2).


[157]

6.


Was uns in Athen und in anderen griechischen Staaten
als „Geschlechter“ entgegentritt, sind allermeist Vereinigungen,
für deren Mitglieder ein nachweislicher verwandtschaftlicher
Zusammenhang nicht mehr Bedingung ist. Die meisten solcher
staatlich anerkannten, in sich geschlossenen Geschlechter
schaaren sich um die gemeinsame Verehrung bestimmter Götter,
viele verehren daneben auch einen Heros, nach dem sich, in
solchem Falle, das Geschlecht benennt. Verehrten die Eteo-
butaden zu Athen den Butes, die Alkmeoniden den Alkmeon,
die Buzygen den Buzyges, in Sparta und Argos die Talthy-
biaden den Talthybios u. s. w., so galt ihnen, wie ja auch der
Name des Geschlechts selbst ausdrückt, der gemeinsam ver-
ehrte Heros als Ahn des Geschlechts 1). Und dieser Ahnen-
cult und der von dem, wenn auch nur fictiven, Ahnen her-
geleitete gemeinsame Name unterscheidet die Geschlechter von
den Cultgenossenschaften anderer Art, die seit Kleisthenes mit
den Geschlechtern in den Phratrien in rechtlich gleicher Stellung
2)
[158] vereinigt sind. Den Genossen dieser Verbände (Orgeonen) fehlte
der gemeinsame Name, der denn doch für die Angehörigen
eines Geschlechts einen engeren Zusammenhang bezeichnet als
den Zusammenhalt einer beliebig gewählten (nicht durch die
Geburt angewiesenen) Cultvereinigung.


Ueberall wird in solchen Geschlechtern die Form eines
Ahnencultes festgehalten. Und diese Form muss auch hier
einst einen vollen Sinn gehabt haben. Wie immer die vom
Staate anerkannten Geschlechter sich zu der ihnen eigenthüm-
lichen Gestalt entwickelt haben mögen, ihrem ersten Ursprung
nach müssen sie (nicht anders als die römischen gentes) auf
Geschlechtsverbände zurückgehen, die aus der, im Mannesstamm
erweiterten Familie hervorgewachsen und durch wirkliche Ver-
wandtschaft zusammengehalten waren. Auch der nur symbo-
lische Ahnencult der „Geschlechter“ späterer Zeit, von denen
wohl nicht eines den Grad seiner Abstammung von dem vor-
ausgesetzten Ahnherrn nachweisen konnte, muss entsprungen
sein aus dem ächten Ahnencult wirklicher Geschlechtsverbände.
Das Nachbild weist auch hier auf das einstige Dasein des Vor-
bildes hin.


Auch die grösseren Gruppen, in welche seit der Reform
des Kleisthenes der athenische Staat zerfiel, konnten nun der
Vereinigung um den Cult eines gemeinsam verehrten Heros
nicht entbehren; die Heroen der neu angeordneten Phylen 1)
hatten ihre Tempel, Landbesitz, Priester, Standbilder und
geregelten Cult, nicht minder die Heroen der kleineren, rein
localen Abtheilungen, der Demen. Die Fiction eines Ahnen-
cultes wurde auch hier festgehalten: die Namen der Phylen,
durchweg patronymisch gebildet, bezeichnen die Angehörigen
jeder Phyle als Nachkommen des Heros Eponymos oder
Archegetes der Phyle 2). Die Demen tragen zum Theil eben-
[159] falls patronymische Bezeichnungen, grösstentheils solche, die
wir auch als Namen adlicher Geschlechter kennen 1). Der (wirk-
liche oder auch bereits fingirte) Archeget des Geschlechts muss
dann doch wohl auch als Archeget des Demos gegolten haben,
und hier sieht man, wie der Cult eines Geschlechtsahnen, her-
übergenommen in den Cult einer grösseren Gemeinde, sich
erhalten und ausbreiten konnte; an Innigkeit wird freilich sein
Cult bei dieser politischen Ausweitung nicht gewonnen haben.


Ueberall zeigt der Heroencult die Form eines Ahnencultes;
mindestens die wichtigeren, von grösseren Gemeinschaften ver-
ehrten Heroen galten überall als Vorfahren und Stammväter
der Landes-, Stadt- und Geschlechtsgemeinden, die sie ver-
ehrten. Dass die Personen gerade dieser Urheroen fast ohne
Ausnahme nur in der Dichtung oder der Phantasie ein Dasein
hatten, lässt darauf schliessen, dass, als der Ahnencult im
Heroendienst sich neu belebte, das Gedächtniss der wahren
Archegeten des Landes, der Ahnen der herrschenden Familien
und Geschlechter, mit ihrem Cult in Vergessenheit gerathen
war. Man setzte einen grossen oder bedeutsamen Namen ein,
2)
[160] wo man den richtigen nicht mehr kannte, und widmete seine
Verehrung dem Scheinbild, oft nur dem Symbol eines Ahnen.
Immer hielt man an der Nachbildung eines wirklichen Ahnen-
cultes fest, die Ueberreste eines wirklichen Ahnendienstes gaben
das Vorbild, sie sind die wahre Wurzel, aus welcher der
Heroenglaube und Heroencult hervorsprossen.


7.


Wie sich dann Ausbildung und Verbreitung des Heroen-
wesens im Einzelnen vollzog, können wir nicht mehr verfolgen.
Die uns erhaltenen Berichte zeigen uns den Zustand der vollen
Entwicklung, nicht die Stufen, die zu dieser Entwicklung führten.
Von der Menge der in Griechenlands blühendsten Zeiten vor-
handenen Heroendienste giebt am ersten eine Ahnung die
immer noch sehr grosse Zahl von Heroengräbern und Heroen-
culten, die Pausanias in dem Bericht über seine Wanderung
durch die wichtigsten Landschaften des alternden und in Trümmer
fallenden Griechenlands der Antoninenzeit nennt. Als Heroen
verehrt wurden fast alle durch die Heldendichtung verklärten
Gestalten der Sage, sowohl in ihrer Heimath (wie Achill in
Thessalien, Aias auf Salamis u. s. w.) als an anderen Orten,
die sich etwa rühmten, ihre Gräber zu besitzen (wie die Delpher
das des Neoptolemos, die Sybariten das des Philoktet u. s. w.)
oder durch genealogischen Zusammenhang vornehmer Ge-
schlechter der Stadt mit ihnen (wie z. B. Athen mit Aias und
dessen Söhnen) verbunden zu sein. In Colonien namentlich
mochten mit den Bestandtheilen der Bevölkerung auch die
Heroenculte sich oft bunt genug mischen: so verehrte man in
Tarent in gemeinsamem Heroencult die Atriden, Tydiden,
Aeakiden, Laërtiaden, im Besonderen noch die Agamemnoniden,
auch Achill hatte einen besonderen Tempel 1). Neben den
grossen Namen, denen in der Hauptsache doch der alte dich-
terische Ruhm in den Zeiten verbreiteten Heroendienstes zu
einer nachträglichen Heroisirung verholfen haben mag, begegnen
[161] zahlreiche dunkle Gestalten, deren Andenken einzig der Cult
lebendig erhalten haben kann, den seit Urväterzeit eine be-
schränkte Gau- oder Stadtgemeinde ihnen widmete. Dies sind
die wahren „Landesheroen“, von deren Verehrung schon Drakon
redet; als wahre Stammväter und rechte Ahnen ihrer Land-
schaft heissen sie auch „Archegeten“ 1). Von sieben „Arche-
geten“ von Plataeae, welche vor der Schlacht bei jener Stadt
zu verehren Aristides vom delphischen Orakel angewiesen wurde,
erfahren wir die Namen: keiner von ihnen ist sonst bekannt 2).
Es konnte vorkommen, dass der Name eines Heros, dem seit
alter Zeit Verehrung gewidmet wurde, den Anwohnern seines
Grabes selbst nicht mehr bekannt war. In Elis auf dem
Markte stand ein kleiner Tempel, von Holzsäulen getragen;
dass dies eine Grabcapelle sei, wusste man, den Namen aber
des dort beigesetzten Heros konnte man nicht angeben 3). Auf
dem Markte zu Heraklea am Pontus war ein Grabmal eines
Heros, von wilden Oelbäumen beschattet, es barg den Leichnam
desjenigen Heros, welchen einst das delphische Orakel die
Gründer von Heraklea zu „versöhnen“ geheissen hatte; über
seinen Namen waren die Gelehrten uneinig, die Einwohner von
Heraklea nannten ihn einfach „den heimischen Heros“ 4). Im
Hippodrom zu Olympia stand ein runder Altar, vor dem die
Rennpferde zu scheuen pflegten. Welcher Heros hier begraben
Rohde, Seelencult. 11
[162] liege, war streitig; das Volk nannte ihn kurzweg, weil er die
Pferde scheu machte, den Taraxippos 1). So wurden noch
manche Heroen, statt mit Eigennamen, mit Beinamen benannt,
die ihre Art, ihre Wirksamkeit, ein äusseres Merkmal ihrer
Erscheinung bezeichneten. In Athen verehrte man einen Heros
Arzt, einen Heros Feldherr, einen Heros Kranzträger 2).
Mancher Heros mag der Nachbarschaft, die ihn verehrte, ein-
fach als „der Heros“ bekannt gewesen sein 3). In solchen
[163] Fällen hat ersichtlich nur das Grab und der Cultus am Grabe
des Heros dessen Andenken erhalten; es mochten wohl Le-
genden von seinem Thun und Treiben als „Geist“ umlaufen, aber
was ihn einst im Leben ausgezeichnet und zur Heroenwürde
hatte gelangen lassen, war vergessen. Gewiss sind gerade dies
sehr alte Heroenculte gewesen. Und wie man in den ange-
führten Fällen zu Elis, Heraklea, Olympia unter dem namen-
losen Grabstein bald diesen, bald jenen Helden der Vorzeit
vermuthungsweise begraben sein liess, so mag man oft genug
sich nicht auf Vermuthungen beschränkt, sondern willkürlich
aber erfolgreich irgend einen glänzenden Namen aus der Helden-
sage zum Inhaber eines solchen herrenlos gewordenen alten
Grabheiligthums gemacht haben.


3)


11*
[164]

8.


Im Ganzen war man um grosse oder bedeutungsvolle
Namen nicht verlegen, wenn es galt, die Stadtheroen zu be-
nennen. Namentlich der Begründer der Stadt und ihrer Götter-
dienste und des ganzen geheiligten Kreises, der das Leben
der Bürger umschloss, genoss regelmässig als Heros Archegetes
hoher Verehrung 1). Natürlich waren es meist mythische, auch
wohl willkürlich fingirte Gestalten, welche die Städte und
Städtchen Griechenlands und auch die Pflanzstädte in der
Fremde als ihre „Begründer“ verehrten. Seit man aber nach
überlegtem Plane Colonien unter einem, meist mit Beirath des
Orakels bestimmten, weite Machtvollkommenheit geniessen-
den 2) Führer aussandte und anlegte, rückten auch diese wirk-
lichen Oikisten nach dem Tode regelmässig in den Rang der
Heroen ein. Von dem Ehrengrab des heroisirten Gründers von
Kyrene auf dem Marktplatz der Stadt redet Pindar 3); die
Bewohner des thracischen Chersones opferten dem Miltiades,
Sohn des Kypselos als ihrem Oikisten, „wie es Sitte ist“, und
feierten ihm jährliche Wettspiele 4); in Katana auf Sicilien lag
Hieron von Syrakus begraben und wurde als Gründer der Stadt
mit heroischen Ehren gefeiert 5). In Abdera setzten die Teïer,
als sie die Stadt neu gründeten, den alten Gründer Timesios
auf’s Neue in die Ehren des Heros ein 6). Dagegen konnte
auch einmal der alte und wahre Oikistes von der, der Mutter-
stadt feindlich gewordenen Bevölkerung einer Colonie seiner
Ehren entsetzt, statt seiner ein anderer in die höchsten Heroen-
ehren, als nachträglich erwählter „Gründer“ eingesetzt werden:
[165] wie es im Jahr 422 mit Hagnon und Brasidas in Amphipolis
geschah 1).


Hier sieht man die Heroisirung schon aus dem heiligen
Dunkel der Vorzeit in die nächste Gegenwart herübergezogen
und bemerkt die Profanirung des Glaubens und Cultes durch
politische Nebengedanken. Der Name „Heros“, ursprünglich
einen Verklärten aus längst vergangener Zeit bezeichnend,
musste schon den allgemeineren Sinn eines auch nach dem
Tode höherer Natur und Lebenskraft Geniessenden ange-
nommen haben, wenn solche Heroisirung jüngst Verstorbener
möglich wurde. Wirklich schien zuletzt jede Art von Aus-
zeichnung im Leben eine Anwartschaft auf die Heroenwürde
nach dem Tode zu geben. Als Heroen galten nun grosse
Könige, wie Gelon von Syrakus, Gesetzgeber wie Lykurg von
Sparta 2), auch die Genien der Dichtkunst, von Homer bis
Aeschylus und Sophokles 3), nicht weniger die hervorragendsten
unter den Siegern in Wettkämpfen der Körperkraft. Einem
der Sieger zu Olympia, dem Philippos von Kroton, dem
schönsten Manne Griechenlands zu seiner Zeit, errichteten, wie
Herodot (5, 47) erzählt, die Egestäer auf Sicilien einen Heroen-
tempel über seinem Grabe, eben seiner grossen Schönheit
wegen, und verehrten ihn mit Heroenopfern.


Religiöse oder superstitiöse Motive fehlten dennoch nicht
immer. Sie waren vorzugsweise im Spiel in den zahlreichen
Fällen, in denen die Heroenwelt einen Zuwachs gewann durch
[166] die Weisungen des delphischen Orakels. Seit aus dunkeln An-
fängen der delphische Priesterstaat sich zu der Würde einer
anerkannten höchsten Autorität in allen Angelegenheiten des
geistlichen Rechtes emporgeschwungen hatte, wurde das Orakel,
wie bei allen Begebenheiten, die auf Zusammenhang mit einem
Reiche unsichtbarer Mächte hinzuweisen schienen, so namentlich
auch bei dauernder Unfruchtbarkeit und Dürre des Bodens
und bei pestartigen Krankheiten, die eine Landschaft betroffen
hatten, um die Ursache des Unglücks befragt. Sehr häufig
lautete die Antwort dahin, dass Grund des Leidens der Zorn
eines Heros sei, den man durch Opfer und Stiftung eines
dauernden Dienstes zu versöhnen habe; oder es wurde empfohlen,
zur Abwendung des Unheils die Gebeine eines Heros aus der
Fremde zu holen, daheim beizusetzen, und dem Heros eine
geregelte Verehrung zu widmen 1). Zahlreiche Heroenculte
sind auf diese Weise gestiftet worden: die Beispiele gehören
nicht nur einer halb sagenhaften Vorzeit an. Als nach dem
Tode des Kimon auf Cypern Pest und Unfruchtbarkeit aus-
brach, befahl das Orakel den Bewohnern von Kition, den
Kimon „nicht zu vernachlässigen“, sondern ihn als einen
„Höheren“, d. h. als Heros zu verehren 2). Auch wenn ängstliche
Religiosität das Orakel wegen wunderbarer Gesichte, die Je-
mand gehabt hatte, oder etwa wegen seltsamer Erscheinungen
an der Leiche eines jüngst Verstorbenen 3) um Auskunft fragte,
deutete die Antwort auf die Thätigkeit eines Heros, dem nun
[167] ein geregelter Cultus zu stiften sei. Standen wichtige Unter-
nehmungen eines Staates bevor, Eroberung fremden Landes,
Entscheidungsschlachten im Kriege, so hiess das Orakel die
Anfragenden, die Heroen des Landes, dem die Eroberung
galt oder in dem die Schlacht geschlagen werden sollte, vorher
zu versöhnen 1). Selbst ohne besonderen Anlass hiess bisweilen
das Orakel einen Verstorbenen als Heros ehren 2).


Eigenthümlich ist der Fall des Kleomedes von Asty-
palaea. Dieser hatte bei der 71. Olympienfeier (496) seinen
Gegner im Faustkampf getödtet, und war, von den Hellanodiken
seines Siegeskranzes für verlustig erklärt, tief gekränkt nach
Astypalaea zurückgekehrt. Dort riss er die Säule ein, welche
die Decke einer Knabenschule stützte, und floh, wegen des
Mordes der Knaben verfolgt, in den Athenetempel, wo er sich
in eine Kiste verbarg. Vergebens suchte man den Deckel
der Kiste zu öffnen, endlich erbrach man mit Gewalt die
Kiste, fand aber den Kleomedes nicht darin, weder lebend noch
als Leiche. Den Gesandten, welche die Stadt an das Orakel
schickte, wurde geantwortet, Kleomedes sei ein Heros ge-
worden, man solle ihn mit Opfern ehren, da er nicht mehr
sterblich sei 3). Und somit verehrten die Einwohner von Asty-
palaea den Kleomedes als Heros. Hier mischt sich in die
reine Vorstellung von Heroen als nach dem Tode zu gött-
lichem Leben Erhöheten der alte, von der Blüthezeit des Epos
[168] her unvergessene Glaube an die Entrückung einzelner
Menschen, die ohne zu sterben aus der Sichtbarkeit verschwin-
den, um mit Leib und Seele zu ewigem Leben einzugehen.
Mit Kleomedes schien ein solches Wunder sich wieder einmal
begeben zu haben, er war „verschwunden“, „entrafft“ 1); ein
„Heros“ konnte er gleichwohl nur darum heissen, weil man
für Entrückte, die nicht mehr sterbliche Menschen und doch
nicht Götter waren, keinen allgemeinen Namen hatte. Das
Orakel nennt den Kleomedes „den letzten der Heroen“; es
schien wohl an der Zeit, den übermässig weit gedehnten Kreis
der Heroisirten endlich zu schliessen. Das delphische Orakel 2)
selbst hatte mit Bedacht dazu beigetragen, ihre Zahl zu ver-
grössern; auch hielt es den Vorsatz, nun ein Ende zu machen,
keineswegs 3).


Auf welchen Voraussetzungen der Glaube an die unbe-
dingte Autorität beruhte, welche die Griechen aller Stämme
dem Orakel in Gegenständen, die mit dem Heroenwesen zu-
sammenhingen, einräumten, ist verständlich genug. Der Gott
erfindet nicht neue Heroen, er vermehrt nicht aus eigener Macht
und Willkür die Schaar der Ortsheiligen, er findet sie da, wo
[169] sie menschliche Augen nicht sehen können, er, der alles durch-
schaut, erkennt als Geist die Geister und sieht sie thätig, wo
der Mensch nur die Folgen ihrer Thätigkeit empfindet. So
leitet er die Fragenden an, den wahren Grund ihrer Leiden
zu heben, übernatürliche Ereignisse zu verstehen durch Aner-
kennung und Verehrung der Macht eines der Unsichtbaren.
Er ist dem Gläubigen, hier wie auf allen Gebieten religiösen
Lebens, der „wahre Ausleger“ 1), er deutet nur das wirklich
Vorhandene, er schafft nichts Neues, wenn auch den Menschen
die durch ihn ihnen zukommende Kunde völlig neu ist. Wir
freilich werden fragen dürfen, welches Motiv die kluge delphi-
sche Priesterschaft zu der Erschaffung und Erneuerung so vieler
Heroendienste bewogen haben mag. In ihrer Begünstigung
des Heroenglaubens ist unverkennbar System, wie durchweg
in der Thätigkeit des Orakels auf religions-politischem Gebiete.
War es Priesterpolitik, die sie hier, wie an so vielen anderen
Stellen, möglichst viele Objecte des Glaubens und des Cultus
aufzufinden und auszudenken bewog? Auf der immer weiteren
Ausbreitung, dem immer tieferen Eindringen einer ängstlichen
Scheu vor überall unsichtbar wirkenden Geistermächten, einer
Superstition, wie sie Homers Zeitalter noch nicht kannte, be-
ruhte zu einem grossen Theil die Macht des in diesem Wirr-
sal dämonischer Wirkungen einzig leitenden Orakels, und man
kann nicht verkennen, dass das Orakel diese Deisidämonie be-
günstigt und an seinem Theil gross gezogen hat. Unzweifel-
haft waren aber die Priester des Orakels selbst in dem Glauben
ihrer Zeit befangen, auch den Heroenglauben theilten sie jeden-
falls. Es wird ihnen ganz natürlich erschienen sein, wenn sie
die in den ängstlichen Anfragen wegen der Ursachen von Pest
und Dürre schon halb vorausgesetzte Herleitung des Unheils
von der Thätigkeit eines zürnenden Heros mehr bestätigten
als zu erdenken brauchten. Sie werden nur in den einzelnen
[170] Fällen (und allerdings mit freier Erfindung der besonderen
Einzelumstände) ausgeführt haben, was der verbreitete Volks-
glaube ihrer Zeit im Allgemeinen vorschrieb. Es kommt aber
hinzu, dass das Orakel Alles, was den Seelencult fördern und
stärken konnte, in seinen Schutz nahm; soweit man von einer
„delphischen Theologie“ reden kann, darf man den Unsterb-
lichkeitsglauben in seinen populären Formen und den Cult der
unsterblichen Seelen zu den wichtigsten Bestandtheilen dieser
Theologie rechnen. Wir haben hiervon später noch einiges
zu sagen. Lebten die Priester in solchen Vorstellungen, so
lag es ihnen sehr nahe, bei seltsamen Vorfällen, bei Noth und
schwerer Zeit, als wahre Urheber des Unheils die Geister ver-
storbener Helden der Sage, auch wohl Mächtiger der letzten
Zeiten thätig zu denken und in diesem Sinne die Gläubigen
zu bescheiden. So wurde der delphische Gott der Patron
des Heroenwesens, wie er als ein Patron der Heroen diese all-
jährlich am Theoxenienfeste zum Mahl in seinen Tempel zu-
sammenrief 1).


9.


Von allen Seiten begünstigt, vermehrte der Heroenglaube
die Gegenstände seiner Anbetung in’s Unübersehbare. Nach
den grossen, alle heiligsten Gefühle der Griechen tief aufregen-
den Freiheitskämpfen gegen die Perser schien es nicht zu viel,
wenn selbst ganze Schaaren der für die Freiheit Gefallenen
zu Heroen erhöhet würden; bis in späte Zeit fand alljährlich
der feierliche Zug zu Ehren der bei Plataeae gebliebenen
Griechen statt und das Opfer, bei dem der Archon der Stadt
die Seelen „der wackeren Männer, die für Griechenland ge-
storben waren“, zum Mahl und Blutsättigung herbeirief 2). Auch
[171] bei Marathon verehrte man die dort einst im Kampfe Gefallenen
und Begrabenen als Heroen 1).


Aus der übergrossen Menge der Heroisirten schied sich
eine Aristokratie von Heroen höheren Ranges aus, vornehm-
lich solche Gestorbene, die, seit Alters durch Sage und Dich-
tung verherrlicht, über ganz Hellas hin einen Ruhm hatten,
etwa die, welche Pindar 2) einmal zusammen nennt: die Nach-
kommen des Oeneus in Aetolien, Iolaos in Theben, Perseus in
Argos, die Dioskuren in Sparta, das weitverzweigte Helden-
geschlecht der Aeakiden in Aegina, Salamis und an vielen
anderen Orten. Ja, von höherem Glanze umstrahlt, schienen
manche der grossen Heroen von der Menge der anderen Heroen
sogar dem Wesen nach verschieden zu werden. Zu den Göttern
erhob nun der Glaube den Herakles, den Homer noch nicht
einmal als „Heros“ in neuerem Sinne kannte, den manche Orte
auch ferner noch als „Heros“ verehrten 3). Asklepios galt bald
als Heros, bald als Gott, was er von Anbeginn an gewesen
war 4). Und noch manchem Heroisirten begann man „als einem
2)
[172] Gotte“ zu opfern 1), wohl nicht ohne Einfluss des delphischen
Orakels, das wenigstens bei Lykurg den Uebergang von heroi-
scher zu göttlicher Verehrung selbst angebahnt zu haben scheint 2).
Die Grenzen zwischen Heros und Gott fingen an, fliessend zu
werden, nicht selten wird ein Heros von beschränktester Local-
geltung als „Gott“ bezeichnet 3), ohne dass wir darum an eine
förmliche Erhöhung zum Götterrang und hiermit verbundene
Veränderung des Opferritus zu denken hätten. Die Heroen-
würde schien offenbar etwas entwerthet zu sein, wenn auch die
Zeit noch nicht eingetreten war, in der die Benennung eines
Verstorbenen als Heros kaum noch etwas diesen vor anderen
Todten Auszeichnendes bedeutete.


10.


Bei aller Ausdehnung, ja Verflüchtigung des Heroen-
begriffes behielt im Volke der Heroenglaube lange Geltung
und kernhaften Inhalt. Wenig stand diese Art des Geister-
glaubens dem Glauben an die hohen Götter selbst an Bedeu-
tung nach. War der Kreis der Geltung der einzelnen Stadt-
heroen ein enger begrenzter, so standen ihren Verehrern diese
Ahnengeister, die ihnen und der Heimath allein gehörten,
näher und waren ihnen vertrauter als andere Unsichtbare
höheren Ranges. Ewig wie die Götter, stehen die Heroen
diesen in der Achtung nicht allzu fern, „nur dass sie ihnen
4)
[173] an Macht nicht gleich kommen“ 1). Denn sie sind auf einen
engeren Wirkungskreis beschränkt, auf ihre Heimath und den
begrenzten Kreis ihrer Verehrer. Sie sind local gebunden, wie
die olympischen Götter längst nicht mehr (ein Heros, der vom
Localen losgelöst ist, strebt schon in’s Göttliche hinüber).
Local gebunden sind ja sicherlich diejenigen Heroen, die aus
der Tiefe, in der sie wohnen, Hülfe in Krankheiten oder Ver-
kündigung der Zukunft heraufsenden. Nur an ihrem Grabe
kann man solche Wirkungen von ihnen erhoffen, denn nur da
ist ihr Aufenthalt. In ihnen tritt die Verwandtschaft des Heroen-
glaubens mit dem Glauben an jene in der Erde hausenden
Götter, von denen einiges im vorigen Abschnitt gesagt ist, be-
sonders deutlich hervor; ja, was die völlig an das Local ge-
bundene Wirksamkeit und deren Beschränkung auf die Iatro-
mantik betrifft, fallen beide Art von Geistern völlig zusammen.


Hülfe in Krankheiten erwartete man namentlich, wie von
Asklepios selbst, so von den Asklepiaden, Machaon, der
ein Grab und Heiligthum bei Gerenia an der Küste La-
koniens hatte, und Podalirios. Dieser war in Apulien, in der
Nähe des Berges Garganus, begraben. Hülfesuchende legten
sich auf dem Felle des als Opfer geschlachteten Widders im
Heroon des Podalirios zum Schlaf nieder und empfingen von
dem Heros sowohl andere Offenbarungen als Heilmittel für
Krankheiten von Mensch und Vieh 2). Auch der Sohn des
[174] Machaon, Polemokrates, heilte in seinem Heiligthum zu Eua
in Argolis 1). In Attika gab es einen Heros Iatros in der
Stadt, dessen Hülfe in Krankheiten zahlreiche, in sein Heilig-
thum gestiftete silberne Nachbildungen geheilter Gliedmassen
dankbar bezeugten 2). Ein anderer Heros Iatros, dessen Name
Aristomachos gewesen sein soll, hatte in Marathon ein Heil-
orakel 3). — Selten gewährten Heilung von Krankheiten andere
als diese Asklepiadischen Heroen. Traumweissagungen anderer
Art spendeten aus ihren Gräbern heraus vor Allem solche
Heroen, die einst im Leben Wahrsager gewesen waren, wie
Mopsos und Amphilochos zu Mallos in Kilikien, Amphilochos
auch in Akarnanien, Tiresias zu Orchomenos, Kalchas in
Apulien, in der Nähe des eben erwähnten Heroon des Poda-
lirios 4). Aber auch Odysseus hatte ein Traumorakel bei den
2)
[175] Eurytanen in Aetolien1), Protesilaos an seinem Grabmal bei
Elaius auf dem thracischen Chersones2), Sarpedon in Kilikien,
angeblich auch in Troas3), Menestheus, der athenische Heer-
4)
[176] führer, fern in Spanien1), Autolykos in Sinope2), vielleicht
auch Anios auf Delos3). Eine Heroïne, Hemithea genannt,
hatte ein Traumorakel, in dem sie auch Heilung von Krank-
heiten spendete, zu Kastabos in Karien4); Pasiphaë weissagte
in Träumen zu Thalamae an der lakonischen Küste5). — Da
für keinen dieser Heroen ein besonderer Grund in der Sage
3)
[177] gegeben war, der gerade von ihm mantische Thätigkeit erwarten
liess, so wird man glauben müssen, dass Kenntniss der Zukunft
und Vermittlung solcher Kenntniss an die noch Lebenden den
zum Geisterdasein erhobenen Seelen der Heroen überhaupt zu-
kam. Die uns zufällig erhaltenen Nachrichten lehren uns einige
völlig und dauernd eingerichtete Heroenorakel kennen; es mag
deren noch manche gegeben haben, von denen wir nichts hören,
und vereinzelte und gelegentlich ausgeübte mantische Thätig-
keit mag auch anderen Heroen nicht verwehrt gewesen sein1).


11.


Sind die Orakelheroen durchaus an die Stätte ihres Grabes
gebunden, so zeigt auch, was uns an Legenden, die von Er-
scheinungen einzelner Heroen oder ihrem unsichtbaren Thun
erzählen, erhalten ist, diese Heroen, wie in unsern Volkssagen
die Geister alter Burgen und Höhlen, in die Grenzen ihrer
Heimath, in die Nähe ihrer Grab- und ihrer Cultstätten ge-
bannt. Es sind meist schmucklose Geschichten von dem Groll
eines Heros, wenn dessen Rechte gekränkt oder sein Cult ver-
nachlässigt war. In Tanagra2) war ein Heros Eunostos, der,
durch trügerische List eines Weibes um’s Leben gekommen,
Rohde, Seelencult. 12
[178] kein Weib in seinem Haine und an seinem Grabe duldete1);
kam doch eine von dem verhassten Geschlechte dorthin, so war
Erdbeben oder Dürre zu befürchten, oder man sah den Heros
zum Meere (das alle Befleckungen abwäscht) hinabgehen, sich
zu reinigen. In Orchomenos ging ein Geist „mit einem Steine“
um und verwüstete die Gegend. Es war Aktäon, dessen sterb-
liche Reste darauf, nach Geheiss des Orakels, feierlich bei-
gesetzt wurden; auch stiftete man ihm ein ehernes Bild, das
mit Ketten an einen Felsen angefesselt wurde, und beging all-
jährlich ein Todtenfest2). Von dem Groll des Minos gegen
die Kreter, weil sie seinen gewaltsamen Tod nicht gerächt,
dagegen dem Menelaos zu Hülfe gezogen waren, erzählt mit
ernstem Gesicht Herodot3). Schon ein tieferer Sinn liegt in
der ebenfalls von Herodot überlieferten Legende vom Heros
Talthybios, der, nicht eigene Unbill sondern ein Vergehen gegen
Recht und sittliche Satzung rächend, die Spartaner wegen der
Ermordung persischer Gesandten, selbst der Hort der Boten
und Gesandten, strafte4). Das furchtbarste Beispiel von der
Rache eines Heros hatte man an der Sage des Ortsheros der
attischen Gemeinde Anagyros. Einem Landmann, der seinen
heiligen Hain umgehauen hatte5), liess der Heros erst die Frau
[179] sterben, gab dann der neuen Gattin des Mannes eine sträfliche
Leidenschaft zu dessen Sohne, ihrem Stiefsohne, ein; dieser
widersteht ihrem Verlangen, wird von der Stiefmutter beim
Vater verklagt, von diesem geblendet und auf einer einsamen
Insel ausgesetzt: der Vater, aller Welt verhasst geworden,
erhängt sich selbst, die Stiefmutter stürzt sich in einen
Brunnen1).


An dieser Erzählung, die auch dadurch merkwürdig ist,
weil in ihr dem Heros, wie sonst wohl den Göttern, eine Ein-
wirkung auf das Innere des Menschen, seine Stimmung und
seine Entschlüsse zugetraut wird, mag ein an Poesie höheren
Styls gewöhnter Geschmack manches abgerundet haben2). Im
Allgemeinen tragen die Heroenlegenden einen völlig volksthüm-
lichen Charakter. Es ist eine Art von niederer Mythologie,
die in ihnen noch neue Schösslinge trieb, als die Götter- und
Heldensage nur noch in der Ueberlieferung sich erhielt, Dichtern
zu unerschöpflicher Combination überlassen, aber nicht mehr
aus dem Volksmunde frisch nachquellend. Die Götter schienen
zu fern gerückt, ihr sichtbares Eingreifen in das Menschenleben
schien nur in alten Sagen aus der Vorzeit glaublich. Die
Heroengeister schwebten näher den Lebenden, in Glück und
Unglück spürte man ihre Macht; in Märchen und Sagen des
Volkes, die sich an Ereignissen der eigenen Gegenwart erzeugen
konnten, bilden sie nun das übernatürliche Element, ohne dessen
Hereinspielen Leben und Geschichte für eine naive Auffassung
keinen Reiz und keine Bedeutung haben.


Wie solche Heroenmärchen aussehen mochten, kann statt
12*
[180] vieler, die wohl einst umliefen, ein uns zufällig erhaltenes Bei-
spiel lehren. Bei Temesa in Lucanien ging einst ein Heros
um, und erwürgte, wen er von den Einwohnern ergreifen
konnte. Die Bewohner von Temesa, welche schon an Aus-
wanderung aus Italien dachten, wandten sich in ihrer Noth an
das delphische Orakel, und erfuhren da, dass das Gespenst
der Geist eines einst von Einwohnern des Landes wegen Schän-
dung einer Jungfrau erschlagenen Fremden sei1); man solle ihm
einen heiligen Bezirk weihen, einen Tempel bauen und zum
Opfer ihm alljährlich die schönste der Jungfrauen von Temesa
preisgeben. So thaten die Bürger von Temesa, der Geist liess
ihnen im Uebrigen Ruhe, aber alljährlich fiel ihm das gräss-
liche Opfer. Da kam, in der 77. Olympiade, ein berühmter
Faustkämpfer, Euthymos aus Lokri, von Olympia sieggekränzt
nach Italien zurück; er hörte zu Temesa von dem eben bevor-
stehenden Opfer, drang in den Tempel ein, wo die auserlesene
Jungfrau auf den Heros wartete, Mitleid und Liebe ergriff
ihn. Und als der Heros nun herankam, liess der schon in so
vielen Zweikämpfen Siegreiche sich in einen Kampf mit ihm
ein, trieb ihn schliesslich in’s Meer, und befreite die Landschaft
von dem Ungethüm. Es ist wie in unsern Märchen von dem
Jungen, der auszog, das Gruseln zu lernen2); und natürlich,
[181] da nun das Land erlöst ist, feiert der Ritter „Wohlgemuth“
glänzende Hochzeit mit der befreiten Schönen. Er lebte bis
in das höchste Alter, da aber stirbt er nicht, sondern wird
lebend entrückt und ist nun selbst ein Heros1). —


Solche Helden der panhellenischen Kampfspiele wie Eu-
thymos einer war, sind Lieblingsgestalten der Volkssage, so-
wohl im Leben als in ihrem Geisterdasein als Heroen. Gleich
von dem Zeitgenossen des Euthymos, Theagenes von Thasos,
einem der gefeiertsten Sieger in allen grossen Wettkämpfen,
lief eine Geschichte um, wie nach seinem Tode ein Gegner sein
ehernes Standbild nächtlich gepeitscht habe, bis einst das Bild
auf ihn fiel und ihn erschlug, wie dann die Thasier das mörde-
rische Bild in’s Meer versenkten, aber nun (in Folge des Zornes
des Heros) durch Unfruchtbarkeit geplagt wurden, bis sie, auf
mehrmals wiederholte Anweisung des delphischen Orakels, das
versenkte Standbild wieder auffischten, neu aufrichteten, und
ihm „wie einem Gotte“ opferten2). — Merkwürdig ist diese Ge-
2)
[182] schichte auch dadurch, dass hier, im Gefolge des Heroenglaubens,
die alterthümlich rohe, bei allen der Idololatrie ergebenen Völ-
kern vorkommende Vorstellung, dass die Macht eines „Geistes“
in seinem Abbilde wohne, so unbefangen wie selten hervortritt.
Sie liegt noch manchen Sagen von der Rache stummer Bilder
an ihren Beleidigern zu Grunde1). Die Standbilder des Thea-
genes übrigens heilten noch in späten Zeiten Fieberkranke2),
ebenso die eines anderen berühmten Faustkämpfers, des Poly-
damas von Skotussa3). Ein achäischer Olympionike, Oibotas
von Dyme, hatte durch einen Fluch Jahrhunderte lang4) Siege
der Achäer im Wettkampf verhindert; als er versöhnt war,
knüpfte an sein Standbild sich die Verehrung der Achäer, die
in Olympia sich zu einem Wettkampf anschickten5).


12.


Der Heroenglaube nahm doch auch einen höheren Schwung.
Nicht nur in freien Kampfspielen, auch in wahrer Noth, in den
Kämpfen um alle höchsten Güter, um Freiheit und Bestand
des Vaterlandes waren die Heroen den Griechen zur Seite.
Nirgends tritt uns so deutlich entgegen, wie wahr und lebendig
damals unter den Griechen der Heroenglaube war, als in dem
was uns von Anrufung der Heroen und ihrer Einwirkung in den
[183] Perserkriegen erzählt wird. Bei Marathon sahen viele, wie eine
Erscheinung des Theseus in voller Rüstung den Kämpfern voran
gegen die Barbaren stürmte1). In dem Gemälde des Panainos
(Bruders des Phidias) in der bunten Halle zu Athen trat
unter den Marathonkämpfern ein Heros Echetlos hervor, von
dessen Erscheinung in der Schlacht eine eigene Legende er-
zählt wurde2). In dem Kriege gegen Xerxes wurde Delphi
durch zwei der einheimischen Heroen gegen einen persischen
Streifzug vertheidigt3). Am Morgen vor Beginn der Seeschlacht
bei Salamis beteten die Griechen zu den Göttern, die Heroen
aber riefen sie unmittelbar zu thätlicher Hülfe: den Aias und
Telamon rief man von Salamis herbei, um Aeakos und die
anderen Aeakiden wurde ein Schiff nach Aegina ausgeschickt4).
So wenig waren den Griechen diese Heroengeister nur Symbole
oder grosse Namen; man erwartete ihr körperliches Eingreifen
in der Entscheidungsstunde. Und sie kamen und halfen5): nach
gewonnener Schlacht wurde, wie den Göttern, so auch dem
Heros Aias ein Dreiruderer aus der Kriegsbeute als Dankes-
opfer gewidmet6). Ein Salaminischer Localheros, Kychreus,
war den Griechen zu Hülfe gekommen, in Schlangengestalt,
in welcher die Heroen, wie die Erdgötter, oft erschienen7).
[184] Mit Ueberzeugung bekannte man nach der Schlacht, der Sieg
sei Göttern und Heroen zu verdanken1). Die Heroen und ihre
Hülfe sind es, wie Xenophon ausspricht, die im Kampfe gegen
die Barbaren „Griechenland unbesiegbar machten“2). Seltener
hören wir von thätigem Eintreten der Landesheroen bei Kämpfen
griechischer Staaten unter einander3).


Auch in das engste Leben der Einzelnen greifen, störend
oder fördernd, die Heroen ein, wie einst in der Fabelzeit die
Götter. Man wird sich an bekannte Göttersagen erinnert
fühlen, und doch den Abstand vom Erhabenen zum Idyllischen
ermessen, wenn man bei Herodot treuherzig und umständlich
erzählt findet, wie einst Helena, in eigener Gestalt einer
Amme begegnend, die an ihrem Grabe zu Therapne um
Schönheit für ihr hässliches Pflegekind gebetet hatte, das Kind
durch Bestreichen zum schönsten Mädchen in Sparta machte4);
oder wie der Heros Astrabakos in der Gestalt des Ariston,
Königs von Sparta, zu dessen Gemahlin schleicht und sie zur
Mutter des Demaratos macht5). Das Heroon dieses Astrabakos
[185] lag gleich vor der Thüre des Hauses des Ariston1); so legte man
oft gleich neben der Hausthür das Heiligthum eines Heroen an,
der dann wohl ein besonderer Beschützer seines Nachbarn wurde2).


In allen Lagen des Lebens, in Glück und Noth, sind die
Heroen den Menschen nahe, dem Einzelnen wie der Stadt.
Von dem Heros, den eine Stadt verehrt, wird jetzt oft (wie
sonst von den Stadtgöttern) gesagt, dass er sie beherrsche,
innehabe, über ihr walte3); er ist ihr rechter Schirmherr.
Es mochte wohl in mancher Stadt so sein, wie es von einigen
erzählt wird, dass der Glaube an den Stadtheros in ihnen
lebendiger war, als der an die allen gemeinsamen Götter4).
Das Verhältniss zu den Heroen ist ein näheres als das zu der
Majestät der oberen Götter, in anderer und innigerer Weise
5)
[186] verknüpft der Heroenglaube die Menschheit mit einer höheren
Geisterwelt. Von einem Ahnencult war der Heroenglaube
ausgegangen, ein Ahnencult war der Heroendienst in seinem
Kerne geblieben, aber er hatte sich ausgedehnt zu einem Cult
grosser und durch eigenthümliche Kräfte mannichfacher (und
keineswegs vorzugsweise sittlicher) Art über die Menge sich er-
hebender Seelen von Menschen auch späterer, ja der nächst-
vergangenen Zeiten. Hierin liegt seine eigentliche Bedeutung.
Die Geisterwelt ist nicht verschlossen, lehrt er; wieder und
wieder steigen einzelne Menschen nach Vollendung des irdischen
Lebens in ihre höheren Kreise empor. Der Tod endigt nicht
alles bewusste Leben, nicht alle Kraft schlingt die Dumpfheit
des Hades ein.


Dennoch ist es nicht der Heroenglaube, aus dem sich der
Glaube an eine, allen menschlichen Seelen ihrer Natur nach
zukommende Unsterblichkeit entwickelt hat. Dies konnte auch
seine Wirkung nicht sein. Wie von Anbeginn unter den
Schaaren der Seelen, die zum Hades strömen, die Heroen,
denen ein anderes Loos fiel, nur eine Minderheit von Aus-
erwählten bildeten, so blieb es. Mochte die Zahl der Heroi-
sirten noch so sehr anwachsen, in jedem einzelnen Falle des
Uebertrittes einer menschlichen Seele in die Heroenwürde be-
gab sich auf’s Neue ein Wunder, aus dessen noch so häufiger
Wiederholung eine Regel, ein für Alle gültiges Gesetz sich
nicht ergeben konnte.


Der Heroenglaube, wie er sich allmählich entwickelt und
ausgebreitet hatte, führt unstreitig weit ab von den Bahnen
homerischer Gedanken über die Dinge nach dem Tode; er
treibt nach der entgegengesetzten Richtung. Aber ein Glaube
an die, in ihrem Wesen begründete Unsterblichkeit der mensch-
lichen Seele, ein allgemeiner Seelencult waren mit dem Heroen-
glauben noch nicht gegeben. Damit diese, nach aber nicht
aus dem Heroenglauben, hervortreten und dann neben dem un-
geminderten Heroenglauben sich erhalten konnten, war eine Be-
wegung nöthig, die aus anderen Tiefen hervorströmte.


[[187]]

Der Seelencult.


Die griechische Bildung tritt uns in den homerischen Ge-
dichten so allseitig entwickelt und in sich gerundet entgegen,
dass, wer keine weiter reichende Kunde hätte, meinen könnte,
hier sei die unter den gegebenen Bedingungen des eigenen
Volkswesens und der äusseren Verhältnisse den Griechen er-
reichbare Höhe eigenthümlicher Cultur endgültig erreicht. In
Wahrheit stehen die homerischen Dichtungen auf der Grenz-
scheide einer älteren, zu vollkommener Reife gelangten Ent-
wickelung und einer neuen, vielfach nach anderem Maasse be-
stimmten Ordnung der Dinge. Sie selbst spiegeln in einem
idealen Bilde die Vergangenheit ab, die im Begriff stand,
Abschied zu nehmen. Die tiefe Bewegung der darnach folgen-
den Zeiten können wir wohl an ihren endlichen Ergebnissen
ermessen, die in ihr wirksamen Kräfte an einzelnen Symptomen
errathen, in der Hauptsache aber gestattet die trümmerhafte
Ueberlieferung aus dieser Zeit der Umwandlungen uns kaum
mehr als das Vorhandensein aller Bedingungen einer gründ-
lichen Umgestaltung des griechischen Lebens deutlich zu er-
kennen. Wir sehen, wie bis dahin mehr zurückstehende
griechische Stämme in den Vordergrund der Geschichte treten,
auf den Trümmern des Alten neue Reiche, nach dem Rechte
der Eroberung gestaltet, errichten, ihre besondere Art der
Lebensstimmung zur Geltung bringen; wie in weit verbreiteten
Colonien das Griechenthum sich ausdehnt, in den Colonien,
wie es zu geschehen pflegt, den Stufengang der Culturentwicke-
lung in schnellerer Bewegung durchmisst. Handel und Gewerb-
thätigkeit blühen auf, gesteigerte Bedürfnisse hervorrufend und
befriedigend; neue Schichten der Bevölkerung dringen nach
[188] oben; das Regiment der Städte kommt in’s Wanken, die alten
Königsherrschaften werden abgelöst durch Aristokratie, Tyrannis,
Volksherrschaft; in friedlichen und (namentlich im Osten) feind-
lichen Berührungen tritt den Griechen fremdes Volksthum, auf
allen Stufen der Culturentwicklung stehend, näher als bisher
und übt mannichfachen Einfluss.


Inmitten dieser grossen Bewegung mussten auch dem
geistigen Leben neue Triebe zuwachsen. Dass man in der
That begann, von dem Herkömmlichen, der Ueberlieferung
der, in dem Abbild der homerischen Gedichte scheinbar so
fest auf sich selbst beruhenden alten Cultur sich abzulösen,
zeigt sich am deutlichsten eben auf dem Gebiete der Poesie.
Die Dichtung befreit sich von der Alleinherrschaft der epischen
Form. Sie lässt ab von dem fest geregelten Rhythmus des
epischen Verses; wie sie damit zugleich den gegebenen Vorrath
geprägter Worte, Formeln und Bilder aufgiebt, so verändert
und erweitert sich ihr nothwendig auch der Kreis der An-
schauungen. Der Dichter wendet nicht mehr den Blick ab von
der eigenen Zeit und der eigenen Person. Er selbst tritt in
den Mittelpunkt seiner Dichtung, und für den Ausdruck der
Schwingungen des eigenen Gemüthes findet er sich den eigen-
sten Rhythmus, im engen Bunde mit der Musik, die erst in
dieser Zeit ein wichtiges und selbständiges Element griechischen
Lebens wird. Es ist, als entdeckten die Griechen nun erst den
vollen Umfang ihrer Fähigkeiten, und wagten sich ihrer frei
zu bedienen. Die Hand gewinnt im Laufe der Jahrhunderte
immer voller die Macht, in jeder Art der Plastik jene Welt
der Schönheit aus der Phantasie in die Sichtbarkeit überzu-
führen, aus deren Trümmern noch uns sinnfälliger und ohne
vermittelnde Reflexion deutlicher als aus irgend welchen literari-
schen Leistungen das ewig Gültige griechischer Kunst ver-
ständlich wird.


Die Religion konnte nicht, allein unberührt von dem
allgemeinen Umschwung, im alten Zustande verharren. Noch
mehr freilich als auf anderen Gebieten ist uns hier das Innere
[189] der Bewegung verborgen. Wir sehen manche äussere Ver-
änderung, aber von dem treibenden Leben, das sie hervorrief,
schlagen kaum einzelne abgerissene Laute an unser Ohr. Leicht
erkennt man, bei einer Vergleichung der späteren Religions-
zustände mit den homerischen, wie sich die Objecte des
Cultus ungemein vermehrt haben, wie der Cultus sich reicher
und feierlicher gestaltet, im Bunde mit den musischen Künsten
das religiöse Festleben der griechischen Städte und Stämme
sich schön und vielgestaltig entwickelt. Tempel und Bildwerke
geben von der erhöheten Macht und Bedeutung der Religion
anschauliches Zeugniss. Dass im Inneren, im religiösen Glauben
und Denken, sich vieles neu gestaltete, müsste schon der weit-
hin sichtbare Glanz des jetzt erst zu voller Wirkung gelan-
genden Orakels zu Delphi mit allen aus diesem geistigen
Centrum bestimmten Neubildungen des griechischen Religions-
lebens vermuthen lassen. In dieser Zeit bildete sich, unter
dem Einfluss der vertieften moralischen Empfindung, jene Um-
bildung auch der religiösen Welterklärung aus, die uns dann
bei Aeschylus und Pindar vollendet entgegentritt. Die Zeit war
entschieden „religiöser“ als die, in deren Mitte Homer steht.
Es ist als ob die Griechen damals eine Periode durchlebt hätten,
wie sie Culturvölkern immer einmal wiederkehren, wie auch die
Griechen sie später wiederholt erlebten: in welchen der Sinn
aus einer wenigstens halb errungenen Freiheit von Beängstigung
und Beschränkung durch geglaubte unsichtbare Gewalten sich,
unter dem Einflusse schwerer Erlebnisse, zurücksehnt nach
einer Einhüllung in tröstliche, den Menschengeist mancher
eigenen Verantwortung entlastende Wahnvorstellungen.


Das Dunkel dieser Entwicklungszeiten verbirgt uns auch
das Werden und Wachsen eines von dem homerischen wesent-
lich verschiedenen Seelenglaubens. Die Ergebnisse der Ent-
wicklung liegen uns klar genug vor Augen; und wir können
noch unterscheiden, wie ein geregelter Seelencult und zuletzt
ein in vollem Sinne so zu nennender Unsterblichkeitsglaube
sich ausbilden im Gefolge von Erscheinungen, die theils das
[190] Emporkommen alter, in der vorigen Periode unterdrückter
Elemente des religiösen Lebens bedeuten, theils den Eintritt
ganz neuer Kräfte, die im Verein mit dem neugewordenen
Alten ein Drittes aus sich hervorgehen lassen.


I.
Cultus der chthonischen Götter.


Was der vergleichenden Betrachtung in der nachhomeri-
schen Religionsentwicklung wie ein neuer Bestandtheil entgegen-
tritt, ist vornehmlich der Cult der chthonischen, d. h. im
Inneren der Erde hausenden Götter. Und doch kann man
nicht daran zweifeln, dass diese Gottheiten zum ältesten Besitze
des griechischen Glaubens gehören, schon darum nicht, weil
sie, an den Boden der Landschaft, die sie verehrt, gebunden,
die ächtesten Localgötter, die wahren Heimathsgötter sind.
Es sind Gottheiten, die auch Homer kennt; aber die Dichtung
hat sie, aller landschaftlichen Beschränkung entkleidet, in ein
fernes, lebenden Menschen unzugängliches Höhlenreich jenseits
des Okeanos entrückt. Dort walten Aïdes und die schreck-
liche Persephoneia als Hüter der Seelen; auf das Leben und
Thun der Menschen auf Erden können sie aus jener unerreich-
baren Ferne keinen Einfluss üben. Der Cultus kennt auch
diese Gottheiten nur nach ihren besonderen Beziehungen auf
die einzelnen Landschaften, die einzelnen Cultusgemeinden. Von
diesen verehrt eine jede, unbekümmert um ausgleichende Vor-
stellungen von einem geschlossenen Götterreiche (wie sie das
Epos nährte), unbekümmert um gleiche, concurrirende An-
sprüche der Nachbargemeinden, die Unterirdischen als nur
ihrem Boden, ihrer Landschaft Angehörige; und erst in diesem
localen Cultus zeigen die chthonischen Götter ihr wahres Ge-
sicht, wie es der Glaube ihrer Verehrer schaute. Sie sind
Götter einer sesshaften, ackerbauenden, binnenländischen Be-
[191] völkerung; unter dem Erdboden wohnend, gewähren sie den
Bewohnern des Landes, das sie verehrt, ein Doppeltes: den
Lebenden segnen sie den Anbau des Ackers, die Zucht der
Feldfrüchte, und nehmen die Seelen der Todten auf in ihre
Tiefe1). An einzelnen Orten senden sie auch Wahrsagungen
von zukünftigen Dingen aus dem Geisterreiche empor.


Als der erhabenste Name unter diesen Unterirdischen be-
gegnet uns der des Zeus Chthonios. Dies ist zugleich die all-
gemeinste und exclusivste Bezeichnung des unterirdischen Gottes
schlechtweg: denn diesen generellen Sinn der Bezeichnung des
„Gottes“ überhaupt hat, in Verbindung mit näher bestimmenden
Beiwörtern, der Name „Zeus“ in vielen Localculten bewahrt.
Auch die Ilias nennt einmal den „unterirdischen Zeus“; aber
ihr ist er nichts anderes als der Herr im fernen Todtenreiche,
Hades, der auch in der hesiodischen Theogonie einmal „Zeus der
Chthonische“ heisst2). Aber das Ackerbaugedicht des Hesiod
heisst den böotischen Landmann bei der Bestellung des Ackers
um Segen beten zum chthonischen Zeus; „für die Feldfrucht“
opferte man dem Zeus Chthonios auf Mykonos3).


[192]

Häufiger als unter diesem allgemeinsten und erhabensten
Namen1) begegnet uns dieser Gott der Lebenden und Todten
unter mancherlei Verhüllungen. Man nannte die Gottheiten
der Erdtiefe am liebsten mit freundlichen Schmeichelnamen,
die zu Gunsten des Erhabenen oder des Segensreichen ihres
Waltens das Grauen, das die andere Seite ihres Wesens er-
regte, mit begütigendem Euphemismus verschleierten2). So hatte
Hades viele wohlklingende Benennungen und Beinamen3); so
verehrte man den unterirdischen Zeus an vielen Orten unter
dem Namen des Zeus Eubuleus, Buleus4), anderswo, besonders
3)
[193] in Hermione, als Klymenos1). Zeus Amphiaraos, Zeus Tro-
phonios, die wir vorhin in ihrer heroisirten Gestalt betrachtet
haben, sind nichts anderes als solche, mit ehrenvollen Beinamen
benannte Erdgötter, die von ihrer Würde als vollgültige Götter
einiges eingebüsst2) und nur die mantische Kraft desto stärker
entwickelt haben. Auch Hades, der Herrscher im entlegenen
Dunkelreiche, tritt in die Reihe dieser, je nach dem Orte
ihrer Verehrung verschieden benannten Gestaltungen des Zeus
Chthonios. Als dem Könige über die Schatten im Erebos,
wie ihn Homer kennt, sind ihm Altäre und Opfer nicht ge-
widmet3), wohl aber als dem Localgotte einzelner Landschaften.
Im Peloponnes hatte man Cultstätten des Hades in Elis, in
Triphylien4), Sitzen einer sehr alten Cultur; und es ist glaub-
lich genug, dass aus jenen Gegenden auswandernde Stämme
und Geschlechter zur Verbreitung des bei ihnen heimischen
Dienstes des chthonischen Gottes über andere griechische
4)
Rohde, Seelencult. 13
[194] Länder beigetragen haben1). Auch Hades wird seinen pelo-
ponnesischen Verehrern ein Gott des Erdsegens nicht minder
als der Todten gewesen sein2), sogut wie er Herr der Seelen
auch da ist, wo man, „aus Scheu vor dem Namen Hades“3),
ihn nur nach seiner segenspendenden Kraft benannte als Pluton,
Pluteus, Zeus Pluteus.


Die Sorge für die Lebenden und die Todten theilt die
weibliche Gottheit der Erdtiefe, mit dem Namen der Erde
selbst, Gaia, Ge, benannt. Wo sie verehrt wurde, hoffte man
von ihr Segen des Landbaues, aber auch die Herrschaft über
die Seelen stand ihr zu, mit denen gemeinsam man sie anrief
und ihr opferte4). Ihre Heiligthümer blieben in Ehren, nament-
lich zu Athen und an dem Stammsitze uralter Götterdienste,
zu Olympia5). Aber ihre Gestalt scheint aus der riesenhaften
Unbestimmtheit der Götter ältester Vorzeit nicht völlig zu
festerer Deutlichkeit umgebildet worden zu sein, Erdgöttinnen
jüngerer und klarerer Bildung verdrängen sie; am längsten hält
sie die mantische Kraft fest, die sie aus der Erdtiefe, dem Sitze
[195] der Geister und Seelen, an alten Orakelstätten heraufsendet,
aber auch hierin räumt sie Orakelgöttern anderer Art, wie
Zeus und Apollo, vielfach den Platz. Ein Dichter nennt sie
wohl einmal neben dem grossen Herrn der Unterwelt1); im
lebendigen Cultus begegnet sie selten in den Gruppen männ-
licher und weiblicher Gottheiten chthonischen Charakters, die
an vielen Orten gemeinsam verehrt wurden. Vor Allem in
Hermione blühte seit Alters ein heiliger Dienst der unterirdi-
schen Demeter, in Verbindung mit dem des unterirdischen Zeus
unter dem Namen Klymenos und der Kore2). An anderen
Orten verehrte man Pluton und dieselben zwei Göttinnen, oder
Zeus Eubuleus und die gleichen u. s. w.3). Die Benennungen
13*
[196] des unterirdischen Gottes wechseln und schwanken, unwandel-
bar kehren die Namen der Demeter und ihrer göttlichen Tochter
wieder. Einzeln oder zusammen, und im Verein mit anderen
verwandten Gottheiten verehrt, nehmen diese zwei Göttinnen bei
weitem die erste Stelle im Cult der Unterirdischen ein. Der
Glanz und die weite und dichte Verbreitung ihres Cultes über alle
griechischen Städte des Mutterlandes und der Colonien beweist
mehr als irgend etwas anderes, dass seit homerischer Zeit eine
Wandlung auf dem Gebiete des religiösen Gefühls und des
Gottesdienstes vorgegangen sein muss. Homer giebt weder
von der Art noch der Bedeutung des späteren Cultes der
Demeter und Persephone eine Ahnung. Ihm ist Persephone
einzig die ernste, unnahbare Königin im Todtenreiche, Demeter
durchaus nur eine Göttin des Ackersegens1), gesondert vom
Kreise der Olympier, aber auch von engerer Gemeinschaft mit
der Tochter fehlt jede Andeutung2). Jetzt treten, in bewegtem
3)
[197] Hin und Wieder, die beiden Göttinnen in nächste Verbindung,
und es ist als tauschten sie gegenseitig etwas von ihren früher
gesonderten Eigenschaften aus: beide sind nun chthonische Gott-
heiten, des Ackersegens und der Obhut der Seelen gemeinsam
waltend. Wie sich im Einzelnen die Wandlung vollzogen hat,
können wir nicht mehr erkennen. Von einzelnen Mittelpuncten
des Cultus der zwei Göttinnen, der namentlich im Peloponnes
seit uralter Zeit bestand1), mag sich in dem Jahrhundert der
grossen Völkerverschiebungen ein von dem homerisch-ionischen
wesentlich verschiedener Glaube verbreitet haben, wie denn in
späterer Zeit die besondere Gestaltung des in Eleusis gepflegten
Cultus der eng verbundenen Göttinnen sich durch förmliche
Missionen weithin ausgebreitet hat. Es scheint auch, dass
Demeter, in deren Namen schon man eine zweite „Mutter
Erde“ wiedererkennen wollte, sich hier und da im Cultus an die
Stelle der Gaia setzte und damit in innigere Beziehung zu
dem Reiche der Seelen in der Erdtiefe trat.


2.


Wie sich die Zahl der Unterirdischen vermehrte, ihr Cult
sich hob und ausdehnte, gewannen diese Gottheiten eine ganz
2)
[198] andere Bedeutung für die Lebenden als einst für die Griechen
des homerischen Zeitalters. Oberwelt und Unterwelt sind
einander näher gerückt, das Reich der Lebenden grenzt an
jenes jenseitige Land, dessen die chthonischen Götter walten.
Der alte Glaube, dass in Erdhöhlen der eigenen Landschaft,
die man bewohnt und bebaut, der Gott, nicht unerreichbar,
hause, bricht hier und da hervor, nicht mehr völlig durch den
dichterischen Glanz der allein herrschenden olympischen Götter-
welt verschüchtert. Wir haben in einem früheren Abschnitt
von Amphiaraos bei Theben, von Trophonios in der Höhle
bei Lebadea, von dem Zeus in der idäischen Höhle geredet,
auch von jenem Zeus, den Hinabsteigende in einer Höhle in
Epirus thronen sahen. Dies sind Rudimente desselben Glaubens,
der ursprünglich allem localen Cultus der Unterirdischen zu
Grunde liegt. Das Reich der chthonischen Götter, der Geister
und Seelen schien in der Nähe zu sein. „Plutonien“, d. h.
directe Eingänge zur Unterwelt hatte man an manchen Stellen1),
[199] Psychopompeia, Felsschluchten, durch welche die Seelen herauf
an’s Licht gelangen konnten. Inmitten der Stadt Athen galt
die Schlucht am Areopag als Sitz der Unterirdischen1). Am
deutlichsten war die, in den homerischen Gedichten voraus-
gesetzte Trennung der Lebenden von den Unterirdischen auf-
gehoben in Hermione. Dort lag hinter dem Tempel der
Chthonia ein heiliger Bezirk des Pluton, des Klymenos mit
einer Schlucht, durch die einst Herakles den Kerberos herauf-
geholt hatte, und ein „Acherusischer See“2). So nahe schien
das Reich der Seelen, dass ihren Todten die Hermionenser
den üblichen Fährgroschen für Charon, den Fergen der Unter-
welt, nicht mitgaben3): für sie, denen der Acheron im eigenen
1)
[200] Lande lag, gab es kein trennendes Gewässer zwischen der
Heimath der Lebenden und der Abgeschiedenen.


Wichtiger als diese Näherrückung des dunklen Reiches
(dessen örtliche Fixirung doch zumeist der Phantasie überlassen
geblieben sein wird) ist, dass die Unterirdischen der Empfindung
wieder näher traten. Die Gedanken wenden, an so vielen Festen
und Gedenktagen, sich häufiger in’s Jenseits hinüber; die Götter,
die dort herrschen, verlangen und lohnen die Verehrung des
Einzelnen wie der Stadt. Und im Gefolge der chthonischen
Götter, stets nahe mit ihnen verbunden, finden die Seelen der
Todten einen Cult, der in Vielem über die Sitte der homeri-
schen Zeit hinausgeht.


II.
Pflege und Verehrung der Todten.


Die nächste Verpflichtung der Ueberlebenden gegen den
Verstorbenen ist die, den Leib auf die übliche Weise zu be-
statten. Diese Zeit nimmt es hiermit ernster als die home-
rische: während bei Homer es vorkommt, dass im Kriege ge-
fallenen Feinden das Begräbniss versagt wird, gilt es jetzt als
eine religiöse Pflicht, die selten verletzt wird, die Leichen der
3)
[201] Feinde zur Bestattung auszuliefern. Vollends Angehörige der
eigenen Stadt der Grabesehren zu berauben, ist äusserster
Frevel; man weiss, wie furchtbar an den Feldherrn in der
Arginusenschlacht das aufgeregte Volk von Athen eine solche
Vernachlässigung rächte. Nichts entbindet den Sohn von der
Verpflichtung, den Vater zu bestatten und ihm die Grabes-
spenden zu widmen1). Entziehen sich dennoch die Angehörigen
dieser Pflicht, so gebietet in Athen dem Demarchen das Ge-
setz, für die Bestattung der Mitglieder seines Demos zu sorgen2).
Ueber das Gesetz hinaus reicht die religiöse Anforderung. Bei
dem heiligen Ackerfeste der Demeter rief der Buzyges zu
Athen einen Fluch aus über die, welche einen Leichnam un-
bestattet liegen liessen3). Was die chthonischen Götter so in
ihren Schutz stellten, ist nicht eine Maassregel der Gesundheits-
polizei; nicht dieser, sondern einzig den „ungeschriebenen
Satzungen“ der Religion genügt Antigone, wenn sie die Leiche
des Bruders mit leichtem Staube bedeckt: schon die symbo-
lische
Bestattung wendet den „Greuel“ (ἄγος) ab. Regungen
reiner Pietät mögen sich angeschlossen haben; aber die eigent-
lich bestimmende Vorstellung war jene schon in der Ilias be-
gegnende4), dass die Seele des Unbestatteten im Jenseits keine
Ruhe finde. Sie geht als Gespenst um, ihr Zorn trifft das
Land, in dem sie widerwillig festgehalten ist, so dass die Ver-
hinderung des Begräbnisses „schlimmer wird für die Hindernden
als für die des Begräbnisses nicht theilhaftig Gewordenen“5).
Hingerichtete Verbrecher wirft der Staat wohl unbestattet in
eine Grube6), Vaterlandsverräthern und Tempelräubern versagt
[202] er die Bestattung in der Heimatherde1), und das ist eine furcht-
bare Strafe: denn, wird auch der Verbannte in der Fremde
bestattet2), so fehlt doch seiner Seele dort die dauernde Pflege,
wie sie, im Seelencult, nur die Familie ihren verstorbenen An-
gehörigen daheim widmet und nur an der Stelle, wo deren
Ueberreste ruhen, widmen kann3).


6)


[203]

Was uns von einzelnen Gebräuchen der Bestattung be-
kannt ist, weicht in den Grundzügen von dem, was sich im
homerischen Zeitalter als durch den Glauben nicht mehr völlig
erklärte Sitte erhalten hatte, nicht wesentlich ab. Was uns
als Neues entgegentritt, mag zumeist auch nur neubelebter ur-
alter Gebrauch sein. In einzelnen Zügen macht sich die Heilig-
keit des Actes deutlicher bemerkbar.


Der Leichnam wird, nachdem Auge und Mund von der
Hand des nächsten Verwandten geschlossen sind, von den Frauen
aus der Verwandtschaft gewaschen und gesalbt, in reine Ge-
wänder gekleidet und zu feierlicher Ausstellung im Inneren
des Hauses auf dem Lager gebettet. In Athen breitete man,
wohl aus irgend einem superstitiösen Grunde, der Leiche Ori-
ganon und vier gebrochene Weinreben unter1), stellte unter
das Lager Salbgefässe jener schlanken Bildung, wie sie die
Gräber so zahlreich zurückgegeben haben, an die Thüre des
Gemaches zur Reinigung der durch die Annäherung an den
Leichnam religiös Befleckten, wenn sie das Haus wieder ver-
lassen, ein Wassergefäss voll reinen, aus fremdem Hause ent-
lehnten Wassers2). Cypressenzweige, an der Hausthür befestigt,
deuten von Aussen Aengstlichen an, dass eine Leiche drinnen
[204] ruhe1). Das Haupt des Todten pflegte man nach einer, dem
Homer noch unbekannten Sitte mit Kränzen und Binden zu
schmücken, wie es scheint zum Zeichen der Ehrfurcht vor der
höheren Weihe des nun Geschiedenen2).


Die Ausstellung der Leiche, einen ganzen Tag dauernd,
hatte gewiss nicht ursprünglich den Zweck einer öffentlichen
Leichenschau in polizeilichem Interesse, den ihr spätere Schrift-
steller zuschreiben3). An der aufgebahrten Leiche fand die
Todtenklage statt, und dieser Raum zu geben war der
Zweck der Ausstellung. Die Solonische Gesetzgebung musste
die Neigung, diese Klagefeier ungebührlich auszudehnen, ein-
schränken. Nur die Weiber aus der nächsten Verwandt-
schaft, der allein der Seelencult als Pflicht oblag, sollten
theilnehmen4), die gewaltsamen Ausbrüche des Schmerzes, das
[205] Kratzen der Wangen, das Schlagen der Brust und des Hauptes,
wurden untersagt1), ebenso das Anstimmen von „Gedichten“2),
d. h. wohl förmlichen Leichengesängen, dergleichen Homer an
Hektors Bahre die Weiber vortragen lässt. Alte Sitte war
es, noch im Hause, vor dem Hinaustragen der Leiche zur
Bestattung, Opferthiere zu schlachten: es scheint, dass auch
dies Solon verbot3). So hatte auch in anderen Staaten
die Gesetzgebung die Neigung zu ausschweifender Heftigkeit
der Todtenklage einzudämmen4), die im alten Griechenland so
4)
[206] gut wie bei so vielen „Naturvölkern“, bei denen sie sich in
voller Gewaltsamkeit austobt, nicht schlichter Pietät und
einfach menschlicher, zu Lärm und Ungestüm nie sonderlich
aufgelegter Trauer entsprang, sondern dem alten Glauben, dass
der unsichtbar anwesenden Seele des Geschiedenen die heftigsten
Aeusserungen des Schmerzes um seinen Verlust die liebsten
seien1). Die heftige Klage gehört bereits zum Cult der ab-
geschiedenen Seele. Die Einschränkung des herkömmlichen
Jammergeschreies mag sich ihrerseits — wenigstens soweit sie
wirksam wurde — auch nicht allein auf rationelle Erwägungen
(die in solchen Angelegenheiten wenig fruchten), sondern eben-
falls auf superstitiös-religiöse Gründe gestützt haben2).


Die Ausstellung der Leiche scheint durchweg nur einen
Tag gedauert zu haben3). Am frühen Morgen des dritten
4)
[207] Tages1) nach dem Tode wurde die Leiche mitsammt dem
Lager, auf dem sie gebettet war, aus dem Hause getragen.
Zu grossem Prunke der Ausstattung des Leichenzuges mussten
hier und da die Gesetze steuern2). Wie feierlich und glanz-
voll in älterer Zeit auch dieser Theil des Todtencultus sich
gestaltete, kann uns, wenn sie nur irgend der Wirklichkeit
entspricht, die Darstellung eines Leichenzuges auf einer der
hochalterthümlichen „Dipylonvasen“3) lehren. Hier ist die
Leiche auf einem von zwei Pferden gezogenen Wagen hoch
aufgebahrt, Männer mit Schwertern an der Seite, eine ganze
Schaar wehklagend das Haupt schlagender Weiber folgt. In
Athen beschränkte das Gesetz wenigstens für Weiber die
Leichenfolge auf die Nächstverwandten (bis in’s dritte Glied);
Männer, den Weibern vorangehend, scheinen ohne solche Ein-
schränkung zugelassen worden zu sein4). In Athen scheint
ein Gefolge gemietheter karischer Weiber und Männer, die
ihre heimischen Trauerweisen anstimmten, nicht verboten ge-
3)
[208] wesen zu sein 1). Auf Keos schreibt das Gesetz schweigenden
Zug zum Grabe vor 2). Im Ganzen war, in der Beschränkung
eng bürgerlichen Lebens, „das Wilde, Barbarische“ 3) der
Trauerbezeigungen, das in früheren Zeiten vorgeherrscht haben
soll, zu einer mässigen Symbolik abgedämpft.


Ueber die Einzelheiten der Bestattung sind wir ungenügend
unterrichtet. Gelegentliche Aussagen der Schriftsteller lassen
erkennen, was auch die Gräberfunde in griechischen Land-
schaften bestätigen, dass neben der in homerischer Zeit allein
üblichen Verbrennung auch die ältere Sitte, die Leichen un-
verbrannt beizusetzen, in Uebung blieb 4). Der Leib sollte
nicht spurlos vernichtet werden. Aus der Asche des Scheiter-
haufens sammelt der Sohn sorgfältig die Reste der Gebeine
4)
[209] des Vaters 1), um sie in einer Urne oder Kiste beizusetzen;
bleibt der Leib unverbrannt, so wird er nach einer, deutlich
als aus der Fremde herübergenommen sich verrathenden Sitte
in Särgen aus Thon oder Holz geborgen 2) oder auch wohl
(und das wird der ältere Brauch sein) ohne Sarg in die Erde
versenkt und auf eine Blätterlage gebettet 3), oder, wo es die
Bodenbeschaffenheit zuliess, in Felskammern frei auf ein steiner-
nes Lager gelegt 4).


Der frei gewordenen Seele bleibt ein Haft an dem Reste
des Leibes, den sie einst bewohnt; ihr zum Gebrauch und zur
Ergötzung sind die vielfachen Geschirre und Geräthe den
Leichen beigegeben, die uns geöffnete Gräber wiedergeschenkt
Rohde, Seelencult. 14
[210] haben. Aber auf eine Ewigkeit solches Schattenlebens dachten
die Griechen nicht hinaus. Aengstliche Veranstaltungen zur
dauernden Erhaltung der Leichen, durch Einbalsamirung und
ähnliche Mittel, wie sie an einzelnen Leichen der mykenäischen
Schachtgräber angewendet worden sind 1), waren in diesen
späteren Zeiten nur noch, als eine Alterthümlichkeit, bei der
Beerdigung der spartanischen Könige üblich.


2.


Ist der Leib bestattet, so ist die Psyche des Verstorbenen
in die Schaar der unsichtbaren Wesen, der „besseren und
höheren“ 2) eingetreten. Dieser Glaube, der dem Aristoteles
seit undenklicher Vorzeit unter den Griechen lebendig zu sein
schien, tritt in dem Cult dieser nachhomerischen Jahrhunderte
aus der Trübung, die ihn in homerischer Zeit verhüllt hatte,
völlig deutlich hervor. Die Seele des Verstorbenen hat ihre
besondere Cultgemeinde, die sich naturgemäss aus dessen
Nachkommen und Familie zusammensetzt und auf diese sich
beschränkt. Es hatte sich die Erinnerung an eine älteste Zeit
erhalten, in welcher der Todte im Inneren seines Hauses, der
nächsten Stätte seines Cultes, beigesetzt wurde 3). Das muss
[211] einer Zeit ganz natürlich erschienen sein, die von dem später
bis zur Peinlichkeit ausgebildeten Begriff der ritualen „Rein-
heit“ noch nichts wusste: denn dass etwa der Grieche, wie es
viele „Naturvölker“, bei denen die gleiche Sitte des Begräbnisses
der Todten in der eigenen Hütte herrscht, machen, das un-
heimlich gewordene Haus nun geräumt und dem Geiste des
darin Begrabenen zu ausschliesslichem Besitz überlassen hätte 1),
haben wir keinen Grund zu glauben. Wenigstens innerhalb
der Stadt die Todten zu begraben, fand man auch später in
einigen dorischen Städten unbedenklich 2). Auch wo aus reli-
giöser Bedenklichkeit und aus Gründen bürgerlicher Zweck-
mässigkeit die Gräber vor die Mauern der Stadt verwiesen
waren, hielt die Familie ihre Gräber beisammen, oft in weit-
läufigen, ummauerten Bezirken 3); wo ein ländliches Grundstück
Familienbesitz war, umschloss dieses auch die Gräber der
Vorfahren 4).


14*
[212]

Wo es auch lag, das Grab war heilig, als die Stätte, an
der die Nachkommen den Seelen der vorangegangenen Familien-
mitglieder Pflege und Verehrung widmeten. Die Grabsäule
bezeichnete die Heiligkeit des Ortes; Baumpflanzungen, bis-
weilen ganze Haine, die das Grab (gleich so vielen Altären und
Tempeln der Götter) umgaben 1), sollten den Seelchen als
Lustort dienen 2).


Die Opfergaben begannen wohl meistens gleich bei der
Bestattung. Hierbei Spendegüsse aus Wein, Oel und Honig
darzubringen, mag allgemein üblich gewesen sein 3). Blutige
Opfer, wie sie bei Homer am Scheiterhaufen des Patroklos,
auch des Achill, dargebracht werden, können nicht ungewöhn-
lich gewesen sein. Solon verbot ausdrücklich, ein Rind am
Grabe zu opfern 4), in Keos wird ebenso ausdrücklich durch
das Gesetz gestattet, bei der Bestattung „ein Voropfer darzu-
bringen, nach Vätersitte“ 5). Von der Bestattungsfeier zurück-
gekehrt, begehen die Familienangehörigen, nachdem sie sich
einer religiösen Reinigung 6) unterzogen haben, bekränzt (während
sie vorher der Bekränzung sich enthalten hatten 7]), das Leichen-
4)
[213] mahl 1). Auch dies war ein Theil des Seelencultes. Die Seele
des Verstorbenen galt als anwesend, ja als der Gastgeber 2);
Scheu vor dem unsichtbar Theilnehmenden war es, welche die
Sitte eingab, nur lobpreisend seiner bei dem Mahle zu gedenken 3).
Das Leichenmahl war eine Mahlzeit für die überlebenden An-
gehörigen, im Hause des Todten ausgerichtet. Dem Todten
allein wurde an seinem Grabe 4) eine Mahlzeit aufgetragen am
dritten und neunten Tage nach der Bestattung 5). Am neunten
scheint nach alter Sitte die eigentliche Trauerzeit ein Ende
gefunden zu haben 6). Wo diese länger ausgedehnt wurde, er-
streckte sich auch die Reihe der ersten Todtenspenden auf eine
[214] weitere Zeit. Sparta hatte eine Trauerzeit von elf Tagen 1);
in Athen schloss sich bisweilen dem Opfer am dritten und
neunten ein Opfermahl am dreissigsten Tage an 2); dieses Mahl
scheint auch mehrmals wiederholt worden zu sein 3).


War die Reihe der an das Begräbniss sich anschliessenden
Begehungen gänzlich vollendet, so lag die Pflege der Grab-
[215] stätte, aber nicht minder die Seelenpflege des vorangegangenen
Familienmitgliedes den Angehörigen ob; zumal der Sohn und
Erbe hatte keine heiligere Pflicht als die, der Seele des Vaters
„das Uebliche“ (τὰ νόμιμα) darzubringen. Ueblich waren zunächst
Todtenspenden an gewissen regelmässig wiederkehrenden Todten-
feiertagen. Am 30. des Monats fand herkömmlich ein Fest
der Todten statt 1). Regelmässig wird in jedem Jahre, an
den „Genesia“, die Wiederkehr des Geburtstages des Ver-
storbenen mit Opfern gefeiert 2). Der Tag, an dem er einst
in’s Leben eingetreten war, hat noch für die Psyche des nun
Verstorbenen Bedeutung. Man sieht wohl, dass zwischen Leben
und Tod keine unüberschreitbare Kluft liegt; es ist als wäre
das Leben gar nicht unterbrochen durch den Tod.


Neben diesen wechselnden Genesien der einzelnen Familien
bestand in Athen ein ebenfalls Genesia genanntes, von allen
[216] Bürgern zugleich den Seelen ihrer Angehörigen am 5. Boë-
dromion begangenes Fest 1). Wir hören noch von Nemesia als
einem (wohl zur Abwendung des stets gefürchteten Zornes
dieser Geister bestimmten) Fest der Seelen zu Athen 2), auch
von mancherlei Seelenfesten in anderen Staaten 3). In Athen
fiel das Hauptfest aller Seelen in den Schluss des dionysischen
Anthesterienfestes im Frühjahr, von dem es einen Theil bildete.
Es war die Zeit, zu der die Todten herauf kamen in das Reich
der Lebendigen, wie in Rom an den Tagen, an denen „mun-
dus patet“, wie in den Zwölfen, nach dem Glauben unseres
Volkes. Die Tage gehörten den Seelen (und ihrem Herrn,
[217] Dionysos) an, es waren „unreine Tage“ 1), zu bürgerlichen
Geschäften ungeeignet; die Tempel der Götter blieben da ge-
schlossen 2). Zum Schutz gegen die unsichtbar umgehenden
Geister wandte man allerlei erprobte Mittel an: man kaute
beim Morgenausgang Blätter von Weissdorn, man bestrich die
Thürpfosten mit Pech: so hielt man die Unheimlichen fern 3).
Den eigenen Todten brachte die Familie Gaben dar, den
Seelenopfern ähnlich, die an Seelentagen noch bis in unsere
3)
[218] Zeiten bei vielen Völkern den Verstorbenen gespendet wurden.
Man brachte Weihegüsse den Todten dar 1); am letzten Tage
des Festes, den Chytren, der keinem der Olympier, nur dem
unterirdischen Hermes dem Seelengeleiter geweiht war, stellte
man diesem Gott, aber „für die Todten“ in Töpfen (nach
denen der Tag benannt war) gekochte Erdfrüchte und Säme-
reien hin 2). Vielleicht warf man auch, als Seelenopfer, Honig-
kuchen in einen Erdschlund im Tempel der Ge Olympia 3).
Auch im Hause wird man die hereinschwärmenden Seelen
bewirthet haben; zuletzt wurden die nicht für die Dauer will-
kommenen Gäste ausgetrieben, ganz wie es am Schluss der
Seelenfeste bei Völkern alter und neuerer Zeiten zu geschehen
[219] pflegt 1). „Hinaus, ihr Keren, die Anthesterien sind zu Ende“
rief man den Seelchen zu, wobei man bemerkenswerther Weise
ihnen den uralten Namen gab, dessen ersten Sinn schon Homer
vergessen hat, nicht aber attische Volkssprache 2).


[220]

Der Einzelne mag noch viele Gelegenheiten gefunden
haben, seinen Todten Gaben darzubringen und Verehrung zu
bezeigen. Der Cult, den die Familie den Seelen ihrer Vor-
fahren widmet, unterscheidet sich von der Verehrung der unter-
irdischen Götter und der Heroen kaum durch etwas anderes
als die viel engere Begrenzung der Cultgemeinde. Die Natur
selbst verband hier die Opfernden und Verehrenden, und nur
sie, mit dem Gegenstand ihrer Andacht. Wie sich, unter dem
Einflusse einer alles Erhabene mehr und mehr zum Idyllischen
einebnenden Civilisation, der Seelencult zu einer eigenen Trau-
lichkeit ausbilden konnte, davon empfinden wir einiges bei dem
Anblick bildlicher Darstellungen solchen Cultes auf den,
freilich meist erst dem vierten Jahrhundert angehörigen Salb-
gefässen, wie sie in Attika bei der Bestattung gebraucht und
dann dem Todten in’s Grab mitgegeben wurden. Ein Hauch
schlichter Gemüthlichkeit liegt auf diesen skizzenhaften Bild-
chen. Man sieht die Trauernden mit Bändern und Gewinden
das Grabmal schmücken; die Verehrer nahen mit der Geberde
der Anbetung, sie bringen mancherlei Gegenstände des täg-
lichen Gebrauches, Spiegel, Fächer, Schwerter u. dgl. dem
Todten zur Ergötzung 1). Bisweilen sucht ein Lebender die
Seele durch Musik zu erfreuen 2). Auch Opfergaben, Kuchen,
Früchte, Wein werden dargebracht; es fehlen blutige Opfer 3).
Von einer erhabeneren Auffassung geben in der feierlichen
Haltung ihrer Darstellungen die viel älteren Reliefbilder Kunde,
die sich auf Grabstätten in Sparta gefunden haben. Dem thro-
nenden Elternpaar nähern sich, in kleinerer Bildung, die an-
betenden Familienmitglieder; sie bringen Blumen, Granatäpfel,
aber auch wohl ein Opferthier, einen Hahn, ein Schwein, einen
[221] Widder. Andere, jüngere Typen solcher „Todtenmahle“ zeigen
die Verstorbenen stehend (neben einem Pferde nicht selten)
oder auf einem Ruhebette liegend, und die Trankspende
der Ueberlebenden entgegennehmend 1). Diese Bildwerke lassen
uns den Abstand wahrnehmen, in welchen die abgeschiedenen
[222] Geister von den Lebenden gerückt schienen; die Todten er-
scheinen hier in der That wie „bessere und mächtigere“ Wesen;
bis zu ihrem Eintritt in heroische Würde ist der Weg nicht
mehr weit. Trankspenden, wie sie hier die Abgeschiedenen
empfangen, aus Honig, Wasser, Milch, auch Wein und anderen
Flüssigkeiten gemischt, nach einem genau geregelten Ritual
dargebracht, bildeten einen wesentlichen Theil der Todtenopfer 1).
Sonst auch blutige Opfer, namentlich Schafe (seltener Rinder)
schwarzer Farbe, die, den Seelen zum alleinigen Genuss, ganz
verbrannt werden mussten, wie das bei allen Opfern für unter-
irdische Geister geschah 2).


Dieser ganze Cult, sinnlich wie er war, beruht auf der
Voraussetzung, die auch bisweilen laut wird, dass die Seele
des Todten sinnlichen Genusses der dargebrachten Gaben fähig
und bedürftig sei 3). Sie ist auch sinnlicher Wahrnehmung
[223] nicht beraubt. Aus dem Grabe hervor hat sie noch Empfin-
dung von den Vorgängen in dessen Nähe 1), es ist nicht gut,
ihre Aufmerksamkeit zu erregen, besser thut man, schweigend
an Gräbern vorüber zu gehen 2). Um die Gräber, die Stätte
ihres Cultus, dachte sich das Volk, nach einem bekannten
Worte des Platon, die Seelen der Verstorbenen flattern und
schweben 3); die Bilder der attischen Salbgefässe illustriren
diesen Glauben, indem sie die Seelen der Todten um das
Grabmal fliegend darstellen, durch das winzige Maass dieser
Flügelgestalten aber zugleich deren etwas widerspruchsvolle
unkörperliche Körperlichkeit und ihre Unsichtbarkeit für ir-
dische Augen andeuten 4). Bisweilen werden auch die Seelen
sichtbar, am liebsten, gleich den unterirdischen Göttern und
den Heroen, in Schlangengestalt 5). Sie sind auch nicht unbe-
3)
[224] dingt an die Umgebung des Grabes gefesselt. Bisweilen kehren
sie in ihre alten Wohnstätten, unter die Lebenden zurück, auch
ausser jenen Seelentagen im Anthesterion. Auch die Griechen
kannten den Brauch, zu Boden Gefallenes nicht aufzuheben,
sondern es den im Hause umirrenden Seelen zum Raub zu
überlassen1). Ist sie unsichtbar den Lebenden nahe, so ver-
nimmt die Seele auch, was etwa Jemand Uebles von ihr redet;
sei es um ihrer Machtlosigkeit zu Hülfe zu kommen, oder um-
gekehrt um vor der Rache der unsichtbar Mächtigen zu warnen,
verbot ein Solonisches Gesetz das Schmähen eines Todten.
Das ist der wahre und im Volksglauben begründete Sinn des:
de mortuis nil nisi bene. Den Verleumder eines Todten haben
dessen Nachkommen gerichtlich zu verfolgen2). Auch dies
gehört zu ihren religiösen Pflichten gegen die Seele des Todten.


5)


[225]

3.


Wie aller Cult hat es der Seelencult mehr zu thun mit
dem Verhältniss des Dämons zu den Lebenden als mit dessen
Natur und Wesen, wie sie etwa an und für sich betrachtet
sich darstellen mögen. Eine dogmatische Bestimmung dieses
Wesens fordert er nicht und bietet er nicht. Doch liegt eine
allgemeine Vorstellung von der Natur der abgeschiedenen Seele,
die sich nur genauer Formulirung entzieht, dem Cult zu Grunde.
Man bringt den Seelen Opfer, wie den Göttern1) und Heroen
auch, weil man in ihnen unsichtbar Mächtige2) sieht, eine be-
sondere Art der „Seligen“, wie man schon im 5. Jahrhundert
die Verstorbenen nannte. Man will sie gnädig stimmen3), oder
auch ihren leicht gereizten Zorn4) abwenden. Man hofft auf
2)
Rohde, Seelencult. 15
[226] ihre Hülfe in aller Noth; ganz besonders aber, glaubt man,
können sie, ähnlich den chthonischen Göttern, in deren Reich
sie eingegangen sind, dem Ackerbau Segen bringen1), und bei
dem Eintritt einer neuen Seele in das Leben förderlich sein.
Daher den Seelen der Vorfahren bei der Hochzeit Trankopfer
dargebracht werden2). Auch die Tritopatoren, zu denen man
in Attika bei Gründung einer Ehe um Kindersegen flehte3),
sind nichts anderes als die Seelen der Ahnen4); wenn sie uns
4)
[227] zugleich als Windgeister bezeichnet werden1), so zeigt oder
verbirgt sich hier ein vereinzeltes Stück ältesten Volksglaubens:
die abgeschiedenen Seelen werden zu Geistern der Luft, die
im Winde fahrenden Geister sind frei gewordene Seelen. —


4.


Aber wenn es im eigenen Interesse gut und gerathen ist,
diese unsichtbaren Seelenmächte sich durch Opfer geneigt zu
machen und wohlwollend zu erhalten, so ist doch in viel höherem
4)
15*
[228] Maasse ihre Verehrung eingegeben durch ein Gefühl der Pietät,
das nicht mehr auf eigenen Vortheil, sondern auf Ehre und
Nutzen der verehrten Todten bedacht ist, und diese freilich
eigenthümlich gefärbte Pietät giebt dem Seelencult und den
ihm zu Grunde liegenden Vorstellungen erst ihre besondere
Art. Die Seelen sind abhängig von dem Culte der noch im
Leben stehenden Mitglieder ihrer Familie, ihr Loos bestimmt
sich nach der Art dieses Cultes1). Völlig verschieden ist der
Glaube, in dem dieser Seelencult wurzelt, von der Vorstellungs-
weise der homerischen Gedichte, nach der die Seelen, fern
in das Reich des Hades gebannt, aller Pflege und Sorge der
Lebenden auf ewig entzogen sind; völlig verschieden auch von
dem Glauben, den die Mysterien ihren Gläubigen einpflanzten.
Denn nicht nach ihrem (religiösen oder moralischen) Ver-
dienste
empfängt hier die abgeschiedene Seele Vergeltung
im Jenseits. In geschiedenem Bette fliessen diese Glaubens-
richtungen neben einander her. Am nächsten berührt sich
ohne Frage der Seelencult und sein Glaubenskreis mit dem
Heroencult, aber der Unterschied ist dennoch ein grosser. Hier
ist nicht mehr von irgend einem, durch göttliches Wunder ver-
liehenen Privilegium einzelner Bevorzugter die Rede; jede Seele
hat Anspruch auf die sorgende Pflege der Ihrigen, einer jeden
wird ihr Loos bestimmt nicht nach ihrem besonderen Wesen
und ihrem Thun bei Leibesleben, sondern je nach dem Ver-
halten der Ueberlebenden zu ihr. Darum denkt beim Heran-
nahen des Todes ein jeder an sein „Seelenheil“, das heisst aber,
an den Cult, den er seiner, vom Leibe geschiedenen Seele
sichern möchte. Bisweilen bestimmt er zu diesem Zwecke eine
[229] eigene, testamentarisch festgesetzte Stiftung1). Wenn er einen
Sohn hinterlässt, so wird für die Pflege seiner Seele hinreichend
gesorgt sein; bis zu der Mündigkeit des Sohnes wird dessen
Vormund die geziemenden Gaben darbringen2). Auch Sclaven,
die er freigelassen hat, werden sich dem Culte des einstigen
Herrn nicht entziehen3). Wer sterbend keinen Sohn hinter-
lässt, der denkt vor Allem daran, den Sohn einer anderen
Familie in die seinige aufzunehmen, dem mit seinem Vermögen
vor allem die Verpflichtung zufällt, dem Adoptivvater und
dessen Vorfahren dauernden und regelmässigen Cult zu widmen,
und so für deren Seelen Sorge zu tragen. Dies ist der wahre
und ursprüngliche Sinn aller Adoption; und wie ernstlich man
solche Sorge um die rechte Pflege der abgeschiedenen Seele
[230] nahm, das lässt am deutlichsten Isaeos erkennen in jenen Erb-
schaftsreden, in denen er mit vollendeter, fast unmerklicher
Kunst den einfachen und ächten Empfindungen schlichter,
von keiner Aufklärung bei dem Glauben der Väter gestörter
athenischer Bürgersleute Ausdruck giebt1).


[231]

Aller Cult, alle Aussicht auf volles Leben und — so darf
man die naive Vorstellung aussprechen — auf Wohlsein der
Seele beruht auf dem Zusammenhalt der Familie; für die
Familie sind die Seelen der vorangegangenen Eltern, in einem
eingeschränkten Sinne freilich, Götter — ihre Götter1). Man
kann kaum daran zweifeln, dass wir hier auf die Wurzeln alles
Seelenglaubens getroffen sind, und mag selbst geneigt sein, als
einer richtigen Ahnung der Meinung derjenigen Raum zu geben,
die in diesem ältesten Familien-Seelencult den Vorläufer alles
Cultes weiterer Cultgenossenschaften, der Verehrung der Götter
des Staates und der Volksgemeinde, auch der Heroen, als der
Seelen der Ahnherren weiterer Verbände des Volkes, erkennen.
Die Familie ist älter als der Staat2), und bei allen Völkern,
die über die Familienbildung nicht fortgeschritten sind bis zur
Staatenbildung, finden wir unfehlbar diese Gestaltung des Seelen-
glaubens wieder. Er hat sich bei den Griechen, die so viel
1)
[232] Neues im Verlauf der Geschichte aufgenommen haben, ohne
das Aeltere darum aufzugeben, im Schatten der grossen Götter
und ihres Cultes, mitten in der übermächtigen Ausbreitung
der Macht und der Ordnungen des Staates erhalten. Aber
er ist durch diese grösseren und weiterreichenden Gewalten
eingeschränkt und in seiner Entwicklung gehemmt worden. Bei
freierer Ausbildung wären wohl die Seelen der Hausväter zu
der Würde mächtig waltender Geister des Hauses, unter dessem
Heerde sie ehemals zur Ruhe bestattet wurden, gesteigert
worden. Aber die Griechen haben nichts, was dem italischen
Lar familiaris völlig entspräche1). Am nächsten kommt diesem
noch der „gute Dämon“, den das griechische Haus verehrte.
Seine ursprüngliche Natur als einer zum guten Geist seines
Hauses gewordenen Seele eines Hausvaters ist bei genauerem
Zusehen noch erkennbar: aber die Griechen hatten dies ver-
gessen2).


[233]

5.


Wir können nicht mehr deutlich erkennen, wie der Seelen-
cult in nachhomerischer Zeit sich neu belebt und in auf- oder
absteigender Richtung entwickelt hat. Einzelne Thatsachen
2)
[234] treten immerhin deutlich hervor. An einzelnen, bereits bemerk-
lich gemachten Anzeichen können wir abnehmen, dass der Cult
der Todten in früheren Zeiten mit grösserem Aufwand und
lebhafterer Inbrunst betrieben wurde als in den Jahrhunderten,
über die unsere Kenntniss wenig hinaus reicht, dem sechsten
und fünften. Und wir müssen auf einen, der grösseren Stärke
des Cultus entsprechenden, lebhafteren Glauben an Kraft und
Würde der Seelen in jenen früheren Zeiten schliessen. Mit
grosser Macht scheint damals der alte Glaube und Brauch durch
die Verdunklung, die Gleichgültigkeit der in den homerischen
Gedichten zu uns redenden Zeit hervorgebrochen zu sein. Einem
einzelnen der griechischen Stämme hierbei eine besonders ein-
greifende Thätigkeit zuzuschreiben, haben wir keine Veran-
lassung. Je nach der Sinnesart und der Culturentwicklung der
Bewohner der einzelnen Landschaften zeigt freilich auch ihr
Seelencult wechselnde Züge. In Attika ist die Grundstimmung
die einer pietätvollen Vertraulichkeit; in Lakonien, in Böotien1)
treten uns höher gesteigerte Vorstellungen vom Dasein der
Abgeschiedenen entgegen. Anderswo, wie in Lokris, auf der
Insel Keos2), scheint nur eine sehr abgeschwächte Weise des
[235] Seelencultes sich erhalten zu haben. Seit vorrückende Cultur
den Einzelnen von der Ueberlieferung seines Volkes unab-
hängiger machte, werden auch innerhalb eines jeden Stammes
und Staates die Stimmungen und Meinungen der Einzelnen
mannigfach abgestuft gewesen sein. Homerische, aus der
Dichtung Jedermann geläufige Vorstellungen mögen sich trübend
eingeschoben haben: selbst wo mit voller Innigkeit der Seelen-
cult betrieben wird, bricht doch einmal unwillkürlich die, im
Grunde mit solchem Cult unverträgliche Meinung durch, dass
die Seele des also Geehrten „im Hades“ sei1). Schon in
früher Zeit wird die, noch über Homer hinausgehende Annahme
laut, dass den Tod überhaupt nichts überdaure; auch attische
Redner dürfen ihrem Publicum von der Hoffnung auf fort-
dauerndes Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit nach dem
Tode mit einem Ausdruck des Zweifels reden. Aber solche
Zweifel beziehen sich auf die theoretische Ansicht von der Un-
sterblichkeit der Seele. Der Cult der Seelen bestand in den
Familien fort. Selbst ein Ungläubiger, wenn er sonst ein treuer
Sohn seiner Stadt und eingewurzelt in ihren alten Sitten war,
konnte in seinem letzten Willen ernstlich Sorge für den dauern-
den Cult seiner Seele und der Seelen seiner Angehörigen tragen:
wie es, zur Verwunderung der Späteren2), Epikur in seinem
[236] Testament macht. Selbst der Unglaube hielt sich eben an
den Cult, wie an anderes Herkömmliche, und der Cult er-
zeugte doch immer wieder bei Vielen den Glauben, der ihn
allein rechtfertigte.


III.
Elemente des Seelencultes in der Blutrache und
Mordsühne.


Auf die Neubelebung und Ausbildung des Seelencultes
hat auch jene priesterliche Genossenschaft, welcher bei der
Ordnung der Verehrung unsichtbarer Mächte die griechischen
Staaten höchste Entscheidung zugestanden, die Priesterschaft
des delphischen Orakels, ihren Einfluss geübt. Auf Anfrage des
Staates bei bedrohlichen Himmelserscheinungen gab wohl der
Gott die Anweisung, neben den Opfern für Götter und Heroen
auch „den Todten an den richtigen Tagen durch ihre An-
gehörigen opfern zu lassen nach Brauch und Herkommen“1).
Was im einzelnen Falle bei Verehrung einer abgeschiedenen
Seele das heilige Recht fordere, lehrte zu Athen den Zweifeln-
den einer der „Exegeten“, vermuthlich aus demjenigen Exegeten-
collegium, das unter dem Einflusse des delphischen Orakels
eingesetzt war2). Auch das Recht der Todten schirmte der
2)
[237] Gott; dass seine Wahrsprüche die Heiligkeit des Seelencultes
bestätigten, musste zu dessen Erhaltung und Geltung in der
Ehrfurcht der Lebenden wirksam beitragen.


Tiefer haben die delphischen Satzungen eingegriffen, wo
es sich handelte um den Cult nicht eines friedlich Verstorbenen,
sondern eines durch Gewaltthat dem Leben Entrissenen. In
der Behandlung solcher Fälle zeigt sich die Wandlung, welche
in nachhomerischer Zeit der Seelenglaube durchgemacht hat,
in auffälliger Bestimmtheit.


Die homerischen Gedichte kennen bei der Tödtung eines
freien Mannes keinerlei Betheiligung des Staates an der Ver-
folgung des Mörders. Die nächsten Verwandten oder Freunde
des Erschlagenen1) haben die Pflicht, an dem Thäter Blut-
rache
zu nehmen. In der Regel entzieht dieser sich der
Vergeltung durch die Flucht in ein fremdes, gegen seine That
gleichgültiges Land; von einem Unterschied in der Behandlung
2)
[238] vorbedachten Mordes, unfreiwilliger oder gar gerechtfertigter
Tödtung hört man nichts1), und es wurde vermuthlich, da
damals noch keine geordnete Untersuchung die besondere Art
des vorliegenden Falles feststellte, die Verschiedenheit der
einzelnen Arten des Todtschlages von den Verwandten des Er-
schlagenen gar nicht beachtet. Kann sich der Mörder den zur
Blutrache Berufenen durch die Flucht entziehen, so können
diese ihrerseits auf die rächende Vergeltung, die eigentlich den
Tod des Mörders forderte, verzichten, indem sie sich durch eine
Busse, die der Thäter erlegt, abfinden lassen, und dieser bleibt
dann ungestört daheim2). Es besteht also im Grundsatz die
Forderung der Blutrache, aber der vergeltende Mord des
Mörders kann abgekauft werden. Diese starke Abschwächung
des alten Blutrachegedankens kann nur entsprungen sein aus
ebenso starker Abschwächung des Glaubens an fortdauerndes
Bewusstsein, Macht und Recht der abgeschiedenen Seele des
Ermordeten, auf dem eben die Blutracheforderung begründet
war. Die Seele des Todten ist machtlos, ihre Ansprüche sind
leicht abzufinden mit einem Wergelde, das den Lebenden ent-
richtet wird. Im Grunde ist die abgeschiedene Seele bei
dieser Abfindung gar nicht mehr betheiligt, es bleibt nur ein
Geschäft unter Lebenden3). Bei der Verflüchtigung des Seelen-
[239] glaubens fast zu völliger Nichtigkeit, wie sie die homerischen Ge-
dichte überall zeigen, ist diese Abschwächung des Glaubens an
einem einzelnen Puncte nicht überraschend. Es tritt aber auch
hier, wie bei einer Betrachtung des homerischen Seelenglaubens
überall, hervor, dass die Vorstellung von Machtlosigkeit und
schattenhafter Schwäche der Seelen nicht die ursprüngliche ist,
sondern einer älteren, die den Seelen dauerndes Bewusstsein
und Einfluss auf die Zustände unter den Lebendigen zutraut,
erst im Laufe der Zeit sich untergeschoben hat. Von jener
älteren Vorstellung giebt die auch noch im homerischen
Griechenland unvergessene Verpflichtung zur Blutrache nach-
drücklich Zeugniss.


In späterer Zeit ist die Verfolgung und Bestrafung des
Todtschlags nach wesentlich anderen Grundsätzen geordnet.
Der Staat erkannte sein Interesse an der Ahndung des
Friedensbruches an; wir dürfen annehmen, dass in griechischen
Städten überall der Staat in seinen Gerichtshöfen an der ge-
regelten Untersuchung und Bestrafung des Mordes sich be-
theiligte1). Deutlicheren Einblick haben wir auch hier nur in
3)
[240] die athenischen Verhältnisse. In Athen haben nach altem, seit
der gesetzlichen Festsetzung durch Drakon niemals ausser
Geltung gekommenen Rechte zur gerichtlichen Verfolgung des
Mörders die nächsten Verwandten des Ermordeten (oder unter
Umständen die Genossen der Phratria, der er angehört hatte)
das ausschliessliche Recht, aber auch die unerlässliche Ver-
pflichtung. Offenbar hat sich in dieser Anklagepflicht der
Verwandten ein, nach den Anforderungen des Staatswohls um-
gestalteter Rest der alten Blutrachepflicht erhalten. Es ist
der gleiche, zu enger sacraler Gemeinschaft verbundene Kreis
der Verwandten bis in das dritte Glied, denen die Erbberech-
tigung zusteht zugleich mit der Pflicht des Seelencultes, die
hier dem durch Gewalt um’s Leben Gekommenen zu „helfen“
berufen sind. Der Grund dieser, aus der alten Blutrache ab-
geleiteten Verpflichtung versteht sich leicht: auch dies ist ein
Theil des, jenen Verwandtenkreisen obliegenden Seelencultes.
Nicht ein abstractes „Recht“, sondern die ganz persönlichen
Ansprüche des Verstorbenen haben seine Hinterbliebenen zu
vertreten. In voller Kraft lebte noch im fünften und vierten
Jahrhundert in Athen der Glaube, dass die Seele des gewaltsam
Getödteten, bevor das ihm geschehene Unrecht an dem Thäter
gerächt sei, unstät umirre 1), zürnend über den Frevel, zürnend
auch den zur Rache Berufenen, wenn sie ihre Pflicht ver-
säumen. Sie selber wird zum „Rachegeist“; ihr Groll kann auf
ganze Generationen hinaus furchtbar wirken 2). Für sie, als
1)
[241] ihre Vertreter und Vollstrecker ihres Wunsches, die Rache ohne
Säumen einzutreiben ist heilige Pflicht der zur Pflege der Seele
überhaupt Berufenen. Selbsthilfe verbietet diesen der Staat,
aber er fordert sie zur gerichtlichen Klage auf; er selbst über-
nimmt das Urtheil und die Bestrafung, so jedoch, dass er bei
der Ausführung den Verwandten des Erschlagenen einen ge-
wissen Einfluss gewährt. In genau geregeltem Rechtsverfahren
wird an den hierzu bestellten Gerichtshöfen entschieden, ob die
That sich als überlegter Mord, unfreiwilliger Todtschlag, oder
gerechtfertigte Tödtung darstelle. Mit dieser Unterscheidung
2)
Rohde, Seelencult. 16
[242] greift der Staat tief in das alte, lediglich der Familie des Ge-
tödteten anheimgestellte Blutracherecht ein, in welchem, wie
man aus Homer schliessen muss, einzig die Thatsache des
gewaltsam herbeigeführten Todes des Verwandten, nicht aber
die Art und die Motive der Tödtung in Betracht gezogen
wurden. Den Mörder trifft Todesstrafe, der er sich vor Fällung
des Urtheils durch Flucht, von der keine Rückkehr gestattet ist,
entziehen kann. Er weicht aus dem Lande; an der Grenze
des Staates hört dessen Macht auf; aber auch die Macht der
zürnenden Seele, beschränkt auf ihre Heimath, wie die aller
an das Local ihrer Verehrung gefesselten Geister, reicht über
die Landesgrenze nicht hinaus. Wenn durch Flucht über die
Grenze „der Thäter sich dem von ihm Verletzten — d. h. der
zürnenden Seele des Todten — entzieht“ 1), so ist er gerettet,
wenn auch nicht gerechtfertigt: dies allein ist der Sinn solcher
Erlaubniss freiwilliger Verbannung. Unfreiwillige Tödtung 2)
wird mit Verbannung auf eine begrenzte Zeit bestraft, nach
deren Ablauf die Verwandten des Erschlagenen dem Thäter,
bei seiner Rückkehr in’s Vaterland, Verzeihung zu gewähren
haben 3), die sie ihm nach einstimmig zu fassendem Beschluss 4)
sogar vor Antritt der Verbannung, so dass diese ganz er-
[243] lassen bleibt, gewähren können. Ohne Zweifel haben sie die
Verzeihung zugleich im Namen des Todten, dessen Recht sie
vertreten, auszusprechen: wie denn der tödtlich Getroffene vor
seinem Tode dem Thäter verzeihen konnte, selbst bei über-
legtem Mord, und damit den Verwandten die Pflicht zur An-
klage erlassen war 1). So sehr hatte man selbst im geordneten
Rechtsstaat bei Mordprocessen einzig und allein das Rache-
gefühl der beleidigten Seele im Auge, und gar nicht die, das
Recht verletzende That des Mörders als solche. Wo kein
Racheverlangen des Ermordeten zu stillen ist, bleibt der Mörder
straffrei; wird er bestraft, so geschieht dies, um der Seele des
Getödteten Genugthuung zu gewähren. Nicht mehr als Opfer
wird er ihr geschlachtet, aber wenn die Anverwandten des
Gemordeten von ihm die Rache in den staatlich vorgeschriebenen
Grenzen eintreiben, so ist auch dies ein Theil des dem Todten
gewidmeten Seelencultes.


2.


Der Staat weist wohl die von den Verwandten des Ge-
tödteten geforderte Blutrache in gesetzliche, den Ordnungen des
Gemeinwohles nicht zuwiderlaufende Bahnen, aber er will keines-
wegs die Grundgedanken der alten Familienrache austilgen.
Eine Neuerstarkung der, mit dem Seelencult eng verbundenen
Vorstellungen von der gerechten Racheforderung des gewalt-
sam um das Leben Gebrachten erkennt auch der Staat an,
indem er jene, in homerischer Zeit übliche Abkaufung der
Blutschuld durch eine den Verwandten des Todten zu ent-
richtende Busse verbietet 2). Er hebt den religiösen Charakter
16*
[244] des ganzen Vorganges nicht auf, sondern übernimmt die reli-
giösen Forderungen auf seine Organe: ebendarum ist der Ge-
richtsvorsteher aller Blutgerichte der Archon König, der staat-
liche Verwalter der aus dem alten Königthum herübergenom-
menen religiösen Obliegenheiten. Deutlich ist besonders die
religiöse Grundlage des ältesten der athenischen Blutgerichte.
Es hat seinen Sitz auf dem Areopag, dem Hügel der Fluch-
göttinnen, über der heiligen Schlucht, in der sie selbst, die
„Ehrwürdigen“ hausen. Mit ihrem Dienst ist sein Richteramt
eng verbunden 1). Bei den Erinyen schwuren bei Beginn eines
Processes beide Parteien 2). Jeder der drei Tage am Monats-
2)
[245] ende, an dem hier Processe stattfanden 1), war je einer der
drei Göttinnen geweiht 2). Ihnen opferte, wer am Areopag
freigesprochen war 3): denn sie sind es, welche ihn freigeben,
wie sie es sind, die Bestrafung des Mörders heischen, stets,
2)
[246] wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem
sie die Klägerinnen waren 1). In diesem athenischen Dienst
hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch
nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes
schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver-
allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art,
bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie
sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der
sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf-
beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher
sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an
dem, der eben den erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls
ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn
den Vater oder die Mutter erschlagen, — wer soll da die
Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge-
tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder
selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung
werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die
aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An
seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend,
vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus 2); er ist ihr verfallen
als Opferthier 3). Und noch im geordneten Rechtsstaate sind
es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen
[247] den Mörder. Ihre Machtvollkommenheit erstreckt sich, in er-
weitertem Umfang, auf alle Mörder, auch ausserhalb der eigenen
Familie. Nur philosophisch-dichterische Reflexion hat sie zu
Helfern alles Rechtes in Himmel und auf Erden umgebildet.
Im Cultus und begrenzten Glauben der einzelnen Stadt bleiben
sie Beistände der Seelen Ermordeter. Aus altem Seelencult
ist diese Vorstellung so grässlicher Dämonen erwachsen; in Be-
rührung mit dem lebendig gebliebenen Seelencult hat sie selbst
sich lebendig erhalten. Und sieht man genau hin, so schimmert
noch durch die getrübte Ueberlieferung eine Spur davon durch,
dass die Erinys eines Ermordeten nichts anderes war als seine
eigene zürnende, sich selbst ihre Rache holende Seele, die erst
in späterer Umbildung zu einem, den Zorn der Seele vertre-
tenden Höllengeist geworden ist 1).


3.


Das ganze Verfahren bei Mordprocessen diente mehr noch
als dem Staate und seinen lebenden Bürgern der Befriedigung
unsichtbarer Gewalten, der beleidigten Seelen und ihrer dämoni-
schen Anwalte. Es war seiner Grundbedeutung nach ein reli-
giöser Act. So war auch mit der Ausführung des weltlichen
Urtheilsspruchs keineswegs Alles zu Ende. Bei seiner Rück-
kehr in’s Vaterland bedurfte, nach der Verzeihung von Seiten
der Verwandten des Todten, der wegen unfreiwilligen Todt-
schlags Verurtheilte noch eines Zwiefachen: der Reinigung
und der Sühnung 2). Die Reinigung vom Blute des Er-
schlagenen, deren auch der sonst straflose Thäter einer gesetz-
lich erlaubten Tödtung bedarf 3), giebt den bis dahin als „unrein“
Betrachteten der sacralen Gemeinschaft in Staat und Familie
[248] zurück, der ein Unreiner nicht nahen kann, ohne auch sie
zu beflecken. Die homerischen Gedichte wissen von einer
solchen religiösen Reinigung Blutbefleckter nichts 1). Sie er-
klärt sich aus den Vorstellungen einer späteren Zeit. Eher
könnte man glauben, dass die Gebräuche der Sühnung, in
hohem Alterthum entstanden, in homerischer Zeit nur ver-
dunkelt seien. Sie dienen, durch feierliche Opfer die zürnende
Seele und die Götter, die über ihr walten, zu versöhnen.


Die Handlungen der Reinigung und der Sühnung, jene
im Interesse des Staates und seiner Gottesdienste, diese als
letzte Beschwichtigung der gekränkten Unsichtbaren ausgeführt,
werden, wie sie in der Ausübung meist verbunden waren, so
in der Ueberlieferung vielfach vermischt; so dass eine ganz
strenge Scheidung sich nicht durchführen lässt. So viel wird
dennoch klar, dass die Gebräuche der nach Mordthaten noth-
wendigen Sühnung durchweg von derselben Art waren, wie
die im Cult der Unterirdischen üblichen 2). Und in der That
[249] gehören die Gottheiten, die man bei Sühnungen anrief, Zeus
Meilichios, Zeus Apotropaios u. A. zum Kreise der Unter-
weltsgötter 1). Ihnen wird, statt des Mörders selbst, ein Opfer-
thier geschlachtet, damit der Zorn sich sänftige, den sie als
Hüter der abgeschiedenen Seelen hegen. Auch den Erinyen
2)
[250] wird bei Sühnungen geopfert 1). Alles bezieht sich hier auf
das Seelenreich und seine Bewohner.


Das delphische Orakel aber war es, das über der Aus-
führung der Reinigung und Sühnung bei Mordfällen wachte.
Die Nothwendigkeit solcher Begehungen wurde eingeprägt durch
die vorbildliche Sage von Flucht und Reinigung des Apollo
selbst nach der Tödtung des Erdgeistes zu Pytho, die eben-
dort in geregelter Wiederkehr alle acht Jahre in symbolischem
Spiele dargestellt wurde 2). In Delphi reinigt auch, nach der
Dichtung des Aeschylos, Apollo selbst den Orest vom Mutter-
morde 3). In Athen war eine der ältesten Sühnungsstätten
nach einem Beinamen des Apollo benannt, das Delphinion 4).
Oft mag auf Anfragen das Orakel befohlen haben, wie die
Heroenseelen so auch die zürnenden Seelen ermordeter, nicht
heroisirter Männer zu versöhnen durch heilige Sühnopfer: wie es
dazu die Mörder des Archilochos, des spartanischen Königs Pau-
sanias anwies 5). — Die Sühnungsgebräuche gehören nicht dem
apollinischen Culte als Eigenbesitz an, sie sind anderen, zumeist
chthonischen Göttern geweiht; aber das apollinische Orakel be-
stätigte ihre Heiligkeit. In Athen waren die unter Mitwirkung
des delphischen Orakels bestellten Exegeten die Verwalter
[251] dieses Sühnungswesens 1); gewiss nach dem Brauche griechi-
scher Städte bestimmt Plato in den „Gesetzen“, dass die
Satzungen über Reinigung und Sühnung sein Staat aus Delphi
holen solle 2).


4.


Dadurch nun, dass das Orakel des allwissenden Gottes
die Mordsühne heiligte und empfahl, der Staat die Verfolgung
des Mordes auf der Grundlage alter Familienblutrache regelte,
gewannen die Vorstellungen, auf denen diese Veranstaltungen
des Staates und der Religion begründet waren, die Ueber-
zeugung von dem bewussten Weiterleben der Seele des Er-
mordeten, ihrem Wissen um die Vorgänge unter den Ueber-
lebenden, ihrem Zorn und ihrer Macht, etwas von der Kraft
eines Glaubenssatzes. Die Sicherheit dieses Glaubens tritt uns
noch entgegen in den Reden bei Mordprocessen, in denen
Antiphon, der Sinnesart seines (wirklichen oder fingirten)
Publicums sich anpassend, mit der Anrufung der zürnenden
Seele des Todten und der dämonischen Rachegeister als mit
unbezweifelten Realitäten Schauer erregt 3). Um die Seelen
[252] Ermordeter, die man sich in besonders unruhiger Bewegung
dachte, bildete sich eine eigene Art unheimlicher Mythologie,
3)
[253] von der uns später einige Proben begegnen werden. Wie derb
der Glaube sich gestalten konnte, zeigen zur Ueberraschung
deutlich gelegentliche Erwähnungen gewisser, in solchem Glauben
wurzelnder, völlig kannibalischer Gebräuche 1), die unter dem
[254] Griechenthum dieser gebildeten Jahrhunderte unmöglich neu
entstanden sein können, sondern entweder aus urweltlicher Roh-
heit der griechischen Vorzeit jetzt neu aufgetaucht, oder von
barbarischen Nachbarn allzu willig entlehnt sind, immer aber
die sinnlichsten Vorstellungen von der Lebenskraft und Rache-
gewalt der Seelen Ermordeter voraussetzen lassen.


Und welche Bedeutung für die Ausbildung eines volks-
thümlich gestalteten allgemeineren Glaubens an die Unsterblich-
keit der freigewordenen Seele das, was man von den Seelen Er-
mordeter zu wissen glaubte, gewinnen konnte, das mag man
ermessen, wenn man beachtet, wie Xenophon seinen sterbenden
Kyros, zum stärksten Beweis für die Hoffnung auf das un-
sterbliche Weiterleben aller Seelen nach ihrer Trennung vom
Leibe, sich berufen lässt auf eben jene unbezweifelten That-
sachen, die das Fortleben der Seelen „derer, die Unrecht er-
litten haben“, zugestandener Maassen bewiesen. Daneben ist
ihm ein wichtiges Argument dieses, dass doch den Todten
nicht noch bis auf diesen Tag ihre Ehren unversehrt er-
halten geblieben wären, wenn ihre Seelen aller Wirkung
und Macht beraubt wären 1). Hier sieht man, wie der Cult
1)
[255] der Seelen es war, in dem der Glaube an ihr Fortleben
wurzelte.


1)


[[256]]

Die Mysterien von Eleusis.


Durch den Seelencult in seinem ungestörten Betrieb wurden
Vorstellungen von Lebendigkeit, Bewusstsein, Macht der, von
ihren alten irdischen Wohnplätzen nicht für immer abgeschie-
denen Seelen unterhalten und genährt, die den Griechen,
mindestens den ionischen Griechen homerischer Zeit fremd
geworden waren.


Aber deutliche Glaubensbilder von der Art des Lebens
der Verstorbenen konnten aus diesem Cult nicht hergeleitet
werden und sind daraus nicht hergeleitet worden. Alles bezog
sich hier auf das Verhältniss der Todten zu den Lebenden.
Durch Opfer und religiöse Begehungen sorgte die Familie für
die Seelen ihrer Todten; aber wie schon dieser Cult vorwiegend
ein abwehrender (apotropäischer) war, so hielt man auch die
Gedanken von forschender Ergründung der Art und des Zu-
standes der Todten, ausserhalb ihrer Berührung mit den
Lebenden, eher absichtlich fern.


Auf diesem Standpuncte ist bei vielen der geschichtslosen,
sogen. Naturvölkern der Seelencult und der Seelenglaube stehen
geblieben. Es kann kaum bezweifelt werden, dass er auch in
Griechenland bis zu diesem Puncte bereits vor Homer aus-
gebildet war. Trotz vorübergehender Trübung erhielt er sich
in Kraft: er hatte zähe Wurzeln in dem Zusammenhalte der
Familien und ihren altherkömmlichen Gebräuchen.


Es ist aber auch wohl verständlich, wie solche, so be-
gründete Vorstellungen, die dem Dasein der Seelen keinerlei
deutlichen Inhalt geben, sie fast nur vom Ufer der Lebenden
aus, und soweit sie diesem zugekehrt sind, betrachten, sich
leicht und ohne vielen Widerstand völlig verflüchtigen und
[257] verblassen konnten, wenn etwa die Empfindung der Einwirkung
der Todten auf die Lebenden sich abstumpfte und, aus welchem
Grunde immer, der Cult der Seelen an Lebhaftigkeit und
Stätigkeit verlor. Entzogen die Lebenden der abgeschiedenen
Seele ihre Beachtung und Sorge, so blieb der Vorstellung
kaum noch irgend ein Bild von ihr übrig; sie wurde zum
huschenden Schatten, wenig mehr als ein Nichts. Und so war
es geschehen in dem Zeitraum ionischer Bildung, in dessen
Mitte Homer steht.


Die Dichtung jener Zeit hatte aber aus sich selbst her-
vor auch den Wunsch erzeugt nach einem inhaltreicheren,
ausgefüllten Dasein in der langen, unabsehbaren Zukunft im
jenseitigen Lande. Und sie hatte dem Wunsche Gestalt gegeben
in den Bildern von der Entrückung einzelner Sterblichen
nach Elysion, nach den Inseln der Seligen.


Aber das war und blieb Poesie, nicht Glaubenssache.
Und selbst die Dichtung stellte den Menschen der lebenden
Geschlechter nicht in Aussicht, was einst Gnade der Götter
auserwählten Helden wunderreicher Vorzeit gewährt hatte. Aus
anderen Quellen musste, falls er erwachte, der Wunsch nach
hoffnungsvoller Aussicht über das Grab hinaus, über die leere
Existenz der im Cult der Familie verehrten Ahnen hinaus,
seinen Durst stillen. Solche Wünsche erwachten bei Vielen.
Die Triebe die sie entstehen liessen, die inneren Bewegungen
die sie emporhoben, verhüllt uns das Dunkel, das über der
wichtigsten Periode griechischer Entwicklung, dem achten und
siebenten Jahrhundert, liegt, und es hilft uns nicht, wenn
man aus eigener Eingebung die Lücke unserer Kenntniss
mit Banalitäten und unfruchtbaren Phantasieen zustopft. Dass
der Wunsch sich regte, dass er Macht gewann, zeigt die
Thatsache dass er sich eine (allerdings eigenthümlich ein-
geschränkte) Befriedigung zu verschaffen vermocht hat in einer
Einrichtung, deren, sobald von Unsterblichkeitsglauben der
Griechen die Rede ist, Jeder sich sofort erinnert, den eleusini-
schen Mysterien.


Rohde, Seelencult. 17
[258]

2.


Wo immer der Cult der Gottheiten der Erde und der
Unterwelt, insonderheit der Demeter und ihrer Tochter, in
Blüthe stand, mögen für die Theilnehmer an solchem Gottes-
dienst leicht Hoffnungen auf ein besseres Loos im unterirdischen
Seelenreiche sich angeknüpft haben. Ansätze zu einer inner-
lichen Verbindung solcher Hoffnungen mit dem Gottesdienste
selbst mögen an manchen Orten gemacht worden sein. Zu
einer fest geordneten Institution sehen wir diese Verbindung
einzig in Eleusis (und den, wohl sämmtlich jungen Filialen der
eleusinischen Anstalt) ausgebildet. Wir können wenigstens in
einigen Hauptlinien das allmähliche Wachsthum der eleusinischen
gottesdienstlichen Einrichtungen wahrnehmen. Der Homerische
Hymnus auf die Demeter berichtet uns von den Ursprüngen
des Cultes nach einheimisch eleusinischer Sage. Im Lande der
Eleusinier war die von Aïdoneus in die Unterwelt entraffte gött-
liche Tochter der Demeter wieder an’s Licht der Sonne ge-
kommen und der Mutter wiedergegeben worden. Bevor sie, nach
dem Wunsche des Zeus, zum Olymp und den anderen Unsterb-
lichen sich aufschwang, stiftete Demeter, wie sie es verheissen
hatte, als die Eleusinier ihr den Tempel vor der Stadt,
über der Quelle Kallichoros, erbauten 1), den heiligen Dienst,
nach dessen Ordnungen man sie in Zukunft verehren sollte.
Sie selbst lehrte die Fürsten des Landes „die Begehung des
Cultes und gab ihnen die hehren Orgien an“, welche Anderen
mitzutheilen die Scheu vor der Gottheit verbietet. — Dieser
alteleusinische Demetercult ist also der Gottesdienst einer eng
geschlossenen Gemeinde, die Kunde der geheiligten Begehungen
und damit das Priesterthum der Göttinnen ist beschränkt auf
[259] die Nachkommen der vier eleusinischen Fürsten, denen einst
Demeter ihre Satzungen, zu erblichem Besitze mitgetheilt hat.
Der Cult ist demnach ein „geheimer“, nicht geheimer freilich als
der so vieler, gegen alle Unberechtigten streng abgeschlossener
Cultgenossenschaften Griechenlands 1). Eigenthümlich aber ist
die feierliche Verheissung, die sich an die Theilnahme an
solchem Dienst knüpft. „Selig der Mensch, der diese heiligen
Handlungen geschaut hat; wer aber uneingeweiht ist und un-
theilhaftig der heiligen Begehungen, der wird nicht gleiches
Loos haben nach seinem Tode, im dumpfigen Dunkel des
Hades“. Den Theilnehmern an dem eleusinischen Gottesdienst
wird also ein bevorzugtes Schicksal nach dem Tode verheissen;
aber schon im Leben, heisst es weiter 2), ist hoch beglückt,
wen die beiden Göttinnen lieben, sie schicken ihm Plutos, den
Reichthumspender, in’s Haus, als lieben Heerdgenossen. Da-
gegen wer Kore, die Herrin der Unterwelt, nicht ehrt durch
Opfer und Gaben, der wird allezeit Busse zu leisten haben
(V. 368 ff.).


Der enge Kreis derer, denen so Hohes verheissen war, er-
weiterte sich, seit Eleusis mit Athen vereinigt war (was etwa im
siebenten Jahrhundert geschehen sein mag) und der eleusinische
Cult zum athenischen Staatscult erhoben wurde. Nicht für
Attika allein, für ganz Griechenland gewann die eleusinische
Feier Bedeutung, seit Athen in den Mittelpunct griechischen
Lebens überhaupt trat. Ein feierlich angesagter Gottesfriede,
der den ungestörten Verlauf der heiligen Handlungen sicherte,
bezeichnete die Eleusinien, gleich den grossen Spielen und
Messen zu Olympia, auf dem Isthmus u. s. w., als eine pan-
hellenische Feier. Als zur Zeit des höchsten Glanzes athenischer
Macht (um 440) ein Volksbeschluss gefasst wurde, die jährliche
Spende der Erstlingsgaben von der Feldfrucht an den eleu-
17*
[260] sinischen Tempel von Athenern und Bundesgenossen zu fordern,
von allen griechischen Staaten zu erbitten, konnte man sich
bereits berufen auf alte Vätersitte und einen Spruch des delphi-
schen Gottes, der diese bestätigte 1). Von der inneren Ge-
schichte der Entwicklung des eleusinischen Festes ist wenig
bekannt. Die heilige Handlung behielt ihren Schauplatz in
Eleusis; eleusinische Adelsgeschlechter blieben betheiligt 2) an
dem, übrigens vom athenischen Staate geordneten Gottesdienst;
dennoch muss vieles geneuert worden sein. Jener oben er-
wähnte Volksbeschluss lehrt uns, als damals in Eleusis verehrt,
[261] zwei Triaden von je zwei Gottheiten und einem Heros kennen:
neben Demeter und Kore Triptolemos, dazu „der Gott, die
Göttin und Eubuleus“ 1). Weder von der dem Triptolemos
hier (und in zahlreichen anderen Berichten, auch auf bildlichen
Darstellungen) angewiesenen eigenthümlich bedeutenden Stellung
noch von der sonstigen Erweiterung des eleusinischen Götter-
kreises weiss der Homerische Hymnus. Es sind offenbar im
Laufe der Zeiten mit dem alten Dienst der zwei Göttinnen
mancherlei andere, aus localen Culten übernommene Gestalten
und Weisen der Verehrung verschmolzen worden, in denen
sich der Eine Typus der chthonischen Gottheit immer neu
differenzirte. Ihre Zahl ist mit den genannten Sechs noch
nicht erschöpft 2). Vor Allem ist zu dem Kreise eleusinischer
Gottheiten getreten Iakchos, der Sohn des Zeus (chthonios)
und der Persephone, ein Gott der Unterwelt auch er, von
dem Dionysos, wie ihn sonst attischer Cult auffasste, völlig
verschieden, wiewohl dennoch häufig diesem gleichgesetzt. Es
[262] ist eine sehr wahrscheinliche Vermuthung, dass diesen Gott,
der bald fast für die Hauptfigur jenes Götterkreises galt 1),
erst Athen dem Bunde der in Eleusis verehrten Götter zu-
geführt habe. Sein Tempelsitz war in Athen, nicht in Eleusis 2),
in der athenischen Vorstadt Agrae wurden ihm im Frühjahr
die „kleinen Mysterien“, als „Vorweihe“ der grossen, gefeiert;
an den Eleusinien selbst bildete der Festzug, in dem man das
Bild des jugendlichen Gottes von Athen nach Eleusis trug,
das Band zwischen den in Athen gefeierten und den in Eleusis
zu feiernden Abschnitten des Festes. Durch die Einfügung
des Iakchos in die eleusinische Feier ist nicht nur der Kreis
der an ihr betheiligten Götter äusserlich erweitert, sondern die
heilige Geschichte, deren Darstellung Ziel und Höhe des Festes
war, um einen Act ausgedehnt 3), und allem Vermuthen nach
doch auch innerlich bereichert und ausgestaltet worden. Uns
ist es freilich schlechterdings versagt, über den Sinn und Geist
der Wandlung, die im Laufe der Zeit die also erweiterte Feier
durchgemacht hat, auch nur eine bestimmte Vermuthung uns
zu bilden. Nur so viel dürfen wir behaupten, dass zu der
oft vorgebrachten Annahme, die Privatmysterien der orphi-
schen
Conventikel hätten auf die Mysterienfeier des athenischen
Staates einen umgestaltenden Einfluss geübt, keinerlei Anlass
[263] besteht. Wer sich an feierlich nichtssagendem Gemunkel über
Orphiker und Verwandtes nicht genügen lässt, sondern die sehr
kenntlichen und bestimmten Unterscheidungslehren der Orphiker
über Götter und Menschenseelen in’s Auge fasst, wird leicht
erkennen, dass alles dagegen spricht, dass von diesen auch nur
irgend eine in den Kreis der zu Eleusis gepflegten Vorstellungen
eingedrungen sei 1).


Wuchs die Feier aus sich selbst heraus, an innerem
Gehalt und äusserer Würde der Darbietungen, so wuchs nicht
minder die Gemeinde der Festtheilnehmer. Ursprünglich war
das verheissungsreiche Fest nur den Bürgern von Eleusis, viel-
leicht sogar nur den Angehörigen einzelner priesterlicher Adels-
geschlechter in Eleusis zugänglich gewesen, und mochte eben
in dieser Abgeschlossenheit den Theilnehmern als eine besondere
Begnadigung erschienen sein. Es verwandelte sich hierin völlig.
Zugelassen wurden nicht nur Bürger Athens, sondern jeder
Grieche ohne Unterschied des Staates und Stammes, Männer
und Frauen (auch Hetären, die doch z. B. von dem Demeterfest
der athenischen Weiber an den Thesmophorien ausgeschlossen
blieben), selbst Kinder und Sklaven 2). Die athenische Liberalität,
[264] so rühmte man, wollte das Heil, das dieses Fest ohne Gleichen
den Theilnehmern verhiess, allen Griechen zugänglich machen 1).
Und nun hatte, im vollen Gegensatz zu den geschlossenen Cult-
vereinen, in die man, als Bürger einer Stadt, als Mitglied einer
Phratria, eines Geschlechts, einer Familie, hineingeboren sein
musste um an ihren Segnungen theilnehmen zu dürfen, die
einst ebenso eng umgrenzte Gemeinde der eleusinischen Ge-
heimfeier ihre Schranken so weit aufgethan, dass gerade die fast
unbedingte Zugänglichkeit die auszeichnende Besonderheit dieser
Feier wurde, und ein starker Reiz zur Betheiligung eben darin
lag, dass es rein freiwilliger Entschluss war, der den Einzelnen
bestimmte, durch ein Mitglied der beiden Geschlechter, denen
die höchsten Priesterthümer des Festes anvertraut waren 2),
sich der weiten Gemeinde zuführen zu lassen. Einzige Voraus-
setzung für die Aufnahme war rituale Reinheit; weil diese
Mördern fehlte, waren solche, aber auch einer Blutthat nur
2)
[265] Angeklagte, von den Mysterien ausgeschlossen, nicht anders
freilich als von allen gottesdienstlichen Handlungen des Staates 1).
Religiöse Reinigungen der Theilnehmer gingen dem Feste
voraus und begleiteten es; man darf annehmen, dass Manchen
unter den Gläubigen die ganze Feier vornehmlich als eine
grosse Reinigung und Weihe von besonderer Kraft erschien,
welche die Festgenossen (die „Reinen“ 2] nannten sie sich
selbst) der Gnade der Göttinnen würdig machen sollte.


3.


Von den einzelnen Vorgängen und Handlungen bei dem
langgedehnten Feste kennen wir kaum das Aeusserlichste, und
auch dies nur sehr unvollständig. Ueber das, was im Inneren
des grossen Weihetempels vor sich ging, das eigentliche Myste-
rium, geben uns kaum einige Andeutungen später, nicht immer
zuverlässiger Schriftsteller dürftigen Bericht. Das Geheimniss,
welches den Mysten und Epopten auferlegt wurde 3), ist gut
[266] gewahrt worden. Dies wäre, bei der grossen Zahl wahllos zu-
gelassener Theilnehmer, ein wahres Wunder, wenn das geheim
zu Haltende die Form einer in Begriffe und Worte gefassten
und in Worten weiter mittheilbaren Belehrung gehabt hätte.
Seit Lobecks, in dem Wust der Meinungen gewaltig auf-
räumender Arbeit nimmt kein Verständiger dies mehr an. Es
war nicht leicht, das „Mysterium“ auszuplaudern, denn eigent-
lich auszuplaudern gab es nichts. Die Profanirung konnte nur
geschehen durch Handlungen, dadurch dass man „die Mysterien
agirte“ 1), wie es im J. 415 im Hause des Pulytion geschah.
Das Mysterium war eine dramatische Handlung, genauer ein
religiöser Pantomimus, begleitet von heiligen Gesängen 2) und
formelhaften Sprüchen, eine Darstellung, wie uns christliche
Autoren verrathen, der heiligen Geschichte vom Raub der
Kore, den Irren der Demeter, der Wiedervereinigung der
Göttinnen. Dies wäre an sich nichts Singuläres, eine derartige
dramatische Vergegenwärtigung der Göttererlebnisse, die zur
Stiftung der gerade begangenen Feier geführt hatten, war eine
sehr verbreitete Art griechischer Cultübung: solche kannten
auch Feste des Zeus, der Hera, des Apollo, der Artemis, des
Dionys, vor Allem auch andere Feiern zu Ehren der Demeter
selbst. Aber von allen ähnlichen Begehungen, auch den ebenso
geheim gehaltenen Demeterfesten der Thesmophorien und Ha-
loën, unterschied das eleusinische Fest sich durch die Hoff-
nungen, die es den an ihm Geweiheten eröffnete. Nach dem
3)
[267] Hymnus auf Demeter, hörten wir, darf der fromme Verehrer
der Göttinnen von Eleusis hoffen auf Reichthum im Leben
und besseres Loos nach dem Tode. Auch spätere Zeugen
reden noch von dem Glück im Leben, auf das die Weihe in
Eleusis gegründete Hoffnung mache. Weit nachdrücklicher
wird uns aber, von Pindar und Sophokles an, von zahlreichen
Zeugen verkündet, wie nur die, welche in diese Geheimnisse
eingeweiht seien, frohe Hoffnungen für das Leben im Jenseits
haben dürfen, nur ihnen sei verliehen, im Hades wahrhaft zu
„leben“, den Anderen stehe dort nur Uebles zu erwarten 1).


Diese Verheissungen einer seligen Unsterblichkeit sind es
gewesen, welche durch die Jahrhunderte so viele Theilnehmer
zu dem eleusinischen Feste zogen, nirgends so bestimmt, so
glaubhaft verbürgt konnten sie gewonnen werden. Die Forde-
rung der Geheimhaltung der Mysterien, die sich offenbar auf
ganz andere Dinge richtete, kann sich nicht auf diesen zu er-
hoffenden höchsten Ertrag der Weihe zu Eleusis bezogen haben.
Jeder redet laut und unbefangen davon; zugleich aber lauten
alle Aussagen so bestimmt und stimmen so völlig und ohne
Andeutung irgend eines Zweifels mit einander überein, dass
man annehmen muss, aus den geheim gehaltenen Begehungen
habe sich für die Gläubigen diese Verheissung, nicht als Ahnung
oder Vermuthung des Einzelnen, sondern als festes, aller Deu-
tung überhobenes Erträgniss herausgestellt.


Wie das bewirkt wurde, ist freilich räthselhaft. Seit die
alte „Symbolik“ im Creuzerschen Sinne abgethan ist, halten
manche neuere Mythologen und Religionshistoriker um so
[268] mehr daran fest, dass in den Darbietungen der eleusinischen
Mysterien die von ihnen entdeckte griechische „Naturreligion“
ihre wahren Orgien gefeiert habe. Demeter sei die Erde, Kora-
Persephone, ihre Tochter, das Saatkorn; Raub und Wieder-
kehr der Kore bedeute die Versenkung des Samenkorns in die
Erde und das Aufkeimen der Saat aus der Tiefe, oder, in
weiterer Fassung, „den jährlichen Untergang und die Erneue-
rung der Vegetation“. Irgendwie muss nun den Mysten der
eigentliche Sinn der „natursymbolischen“, mythisch eingekleideten
Handlung zu verstehen gegeben worden sein: denn sie sollen
durch deren Anschauung zu der Einsicht gefördert worden sein,
dass das Schicksal des, in Persephone personificirten Samen-
korns, sein Verschwinden in der Erde und Wiederaufkeimen,
ein Vorbild des Schicksals der menschlichen Seele sei, die eben-
falls verschwinde um wieder aufzuleben. Und dies wäre denn
der wahre Inhalt dieser heiligen Geheimnisse.


Nun steht überhaupt noch zu beweisen, dass in solcher
sinnbildlichen Vermummung einzelner Erscheinungen und Vor-
gänge in der Natur unter der Hülle menschenähnlicher Gott-
heiten die Griechen 1) irgend etwas Religiöses oder gar ihre
[269] eigene Religion wiedererkannt haben würden. Im Besonderen
würde — auch die Berechtigung zu solchen Umdeutungen im
Allgemeinen für einen Augenblick zugestanden — die Gleich-
setzung der Kore und ihres Geschicks mit dem Samenkorn,
sobald man über die unbestimmteste Allgemeinheit hinaus-
geht, nur zu den unleidlichsten Absurditäten führen. Wie
aber vollends (was hier die Hauptsache wäre) aus der Ana-
logie der Seele mit dem Samenkorn sich ein Unsterblichkeits-
glaube, der sich, wie es scheinen muss, auf directem Wege
nicht hervorbringen liess, habe entwickeln können, ist schwer
zu begreifen. Welchen Eindruck konnte eine entfernte, will-
kürlich herbeigezogene Aehnlichkeit zwischen den Erscheinungen
zweier völlig von einander getrennten Gebiete des Lebens
machen, wo zu einem leidlich haltbaren Schluss von dem Wahr-
nehmbaren und Gewissen (den Zuständen des Saatkorns) auf
das Unsichtbare und Unbekannte (den Zustand der Seelen nach
dem Tode) mindestens doch erforderlich gewesen wäre, dass ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem und jenem nach-
gewiesen würde. Solche Worte mögen trocken scheinen, wo
es sich um die sublimsten Ahnungen des Gemüths handeln
soll. Ich wüsste aber nicht, dass man die Griechen so leicht
mit nebelhaften Ahnungen von dem Wege logischer Klarheit
habe ablocken, und damit gar noch besonders „beseligen“ können.


Zuletzt trifft ja die (nichts beweisende) Analogie gar nicht
einmal zu. Sie wäre nur vorhanden, wenn der Seele, wie dem
Samenkorn, nach vorübergehendem Eingehen in die Erdtiefe,
ein neues Dasein auf der Erde, also eine Palingenesie, ver-
heissen worden wäre. Dass aber dies nicht der in den von
Staatswegen begangenen Mysterien Athens genährte Glaube
war, giebt jetzt Jedermann zu.


1)


[270]

Nicht haltbarer ist die Vorstellung, dass die dramatische
Vergegenwärtigung des Raubes und der Wiederkehr der Kore
(diese als göttliche Person, nicht als personificirtes Samenkorn
gefasst) in den Mysterien die Hoffnung auf analoges Schicksal
der menschlichen Seele erweckt habe, vermöge einer mystischen
Ineinssetzung des Lebens des Menschen mit dem Leben der
Gottheit der er huldigt 1). Diese Art mystischer Empfindung
ist allerdings dem Culte des Dionysos, und somit griechischer
Religionsweise nicht fremd; damit sie wirksam werde, ist aber
eine ekstatische Erregung und Ueberspannung des Gefühls
nöthig, wie sie dem dionysischen Cultus eigenthümlich, der
eleusinischen Feier aber ganz fremd war. Und auch hier
würde die durch die vorbildlichen Schicksale der Kore genährte
Hoffnung nur auf Palingenesie des Menschen, nicht (was doch
der eleusinische Glaube war und blieb) auf ein bevorzugtes
Loos im unterirdischen Bereiche haben führen können.


4.


Man ist auf falscher Fährte, wenn man dem tieferen Sinne
nachspürt, welchen die mimische Darstellung der Göttersage zu
Eleusis gehabt haben müsse, damit aus ihr die Hoffnung auf
Unsterblichkeit der menschlichen Seele gewonnen werden konnte.
Ueberzeugung von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele
als solcher, ihrer eigensten Natur nach, wurde in Eleusis gar
nicht gewonnen: schon darum ist es nichts mit jenen Analogie-
spielen zwischen Saatkorn oder Göttin des Erdelebens und
menschlicher Seele, aus denen, wenn irgend etwas, doch höchstens
die in allem Wechsel erhaltene Unvergänglichkeit des Lebens der
Menschenseelen, aller Menschenseelen erschlossen werden konnte.
[271] Nicht diese aber lehrte Eleusis. Das bewusste Fortleben der
Seele nach ihrer Trennung vom Leibe wird hier nicht gelehrt,
sondern vorausgesetzt; es konnte vorausgesetzt werden, da eben
dieser Glaube dem allgemein verbreiteten Seelencult zu Grunde
lag 1). Was die in Eleusis Geweiheten gewannen, war eine leb-
haftere Vorstellung von dem Inhalte dieser, in den, den Seelen-
cult begründenden Vorstellungen leer gelassenen Existenz der
abgeschiedenen Seelen. Wir hören es ja: nur die in Eleusis
Geweiheten werden im Jenseits ein wirkliches „Leben“ haben,
„den Anderen“ wird es schlimm ergehen 2). Nicht dass die
des Leibes ledige Seele lebe, wie sie leben werde, erfuhr man
in Eleusis. Mit der unbeirrten Zuversicht, die allen fest um-
schriebenen Religionsvereinen eigen ist, zerlegt die eleusinische
Gemeinde die Menschheit in zwei Classen, die Reinen, in Eleusis
Geweiheten, und die unermessliche Mehrheit der nicht Ge-
weiheten. Nur den Mitgliedern der Mysteriengemeinde ist das
Heil in Aussicht gestellt. Sie haben sichere Anwartschaft
darauf, aber das ist ein Privilegium, das man sich nicht anders
als durch Theilnahme an dem, von Athen verwalteten gnaden-
reichen Feste und seinen Begehungen erwerben kann. Im Laufe
der Zeit werden, bei der liberalen Weitherzigkeit in der Zu-
lassung zur Weihe, eine sehr grosse Zahl von Hellenen (und
Römern, in späterer Zeit) sich dieses Privilegium erworben
haben; niemals aber versteht sich die Aussicht auf ein seliges
Leben im Jenseits von selber; nicht als Mensch, auch nicht
[272] als tugendhafter und frommer Mensch hat man Anwartschaft
darauf, sondern einzig als Mitglied der eleusinischen Cult-
gemeinde und Theilnehmer an dem geheimen Dienste der
Göttinnen 1).


Durch welche Veranstaltungen aber diese Hoffnung, die
sichere Erwartung vielmehr, seligen Looses im Hades unter den
Mysten lebendig gemacht wurde? Wir müssen gestehen, hier-
über nichts leidlich Sicheres sagen zu können. Nur, dass diese
Hoffnungen auf symbolische Darstellungen irgend welcher
Art begründet waren, darf man bestimmt in Abrede stellen.
Und doch ist dies die verbreitete Meinung. „Symbole“ mögen
bei der dramatischen oder pantomimischen Vorführung der
Sage vom Raub und der Rückkehr der Kore manche gedient
haben 2), aber kaum in einem anderen Sinne denn als sinn-
bildliche, den Theil statt des Ganzen setzende, in dem Theil
auf das Ganze hinweisende Abkürzungen der, unmöglich in
voller Ausdehnung zu vergegenwärtigenden Scenen. Im Laufe
der Jahrhunderte ist zweifellos, bei dem Mangel einer schrift-
lich festgehaltenen Aufklärung über Sinn und inneren Zusammen-
hang des Rituals, von solchen Symbolen manches unverständ-
lich geworden, wie übrigens in allen Theilen des griechischen
Cultus. Wenn nun seit dem Beginn selbständiger Reflexion
über religiöse Dinge vielfach allegorische oder symbolische Deu-
tungen auf Vorgänge bei den Mysterienaufführungen angewendet
worden sind, folgt daraus, dass die Mysterien der Erdgottheiten,
[273] wie Manche zu glauben geneigt sind, von vorneherein einen
symbolischen oder allegorischen Charakter trugen, und eben
hiermit von anderem griechischen Gottesdienst sich unterschie-
den? 1) Aehnliche Deutungen haben griechische Philosophen
und Halbphilosophen auch den Götterfabeln Homers und der
Volkssage angedeihen lassen; von einem Vorrang der Mysterien
in dieser Beziehung ist gerade den Liebhabern der Mythen-
ausdeutung im Alterthum wenig bewusst. Wenn man den
eleusinischen Darstellungen mit einer gewissen Vorliebe einen
„tieferen Sinn“ unterschob, so folgt daraus im Grunde nichts
als dass Vieles an diesen Darstellungen unverständlich geworden
war oder dem Geiste der philosophirenden Jahrhunderte, eigent-
lich verstanden, nicht mehr zusagte, zugleich aber dass man
diesem, mit beispiellosem Glanz, unter der, ehrfürchtige Er-
wartung weckenden Hülle der Nacht und des gebotenen Ge-
heimnisses 2), nach alterthümlichem, in stufenweisem Fortschritt
der Weihungen aufsteigendem Ritual, unter Betheiligung von
ganz Griechenland begangenem Feste und dem, was es dem
Auge und Ohr darbot, ungewöhnlich guten Willen entgegen-
Rohde, Seelencult. 18
[274] brachte, und einen befriedigenden Sinn aus seinen Bildern und
Klängen zu gewinnen sich ernstlich bemühete. Und es ist
schliesslich glaublich genug, dass Vielen der von ihnen selbst,
nach eigenmächtiger Deutung, hineingelegte „Sinn“ die Mysterien
werthvoll machte. Insofern liesse sich sagen, dass zuletzt die
Symbolik ein historischer Factor in dem Mysterienwesen ge-
worden ist.


Wäre aber auch wirklich in den Darstellungen der ge-
heimen Feier manches von den Veranstaltern des Festes selbst
mit Plan und Absicht symbolischer Ausdeutung, und damit
der Möglichkeit einer immer gesteigerten Sublimirung des Ver-
ständnisses, dargeboten worden: auf die den Mysten eröffnete
Hoffnung seliger Unsterblichkeit kann sich dies nicht erstreckt
haben. Die symbolisch-allegorische Deutung, dem Einzelnen
überlassen, musste stets schwankend und wechselnd sein 1).
Ueber das, den Geweiheten bevorstehende selige Loos im Jen-
seits reden die Zeugen verschiedenster Zeiten viel zu bestimmt,
zu übereinstimmend, als dass wir glauben könnten, hier die
Ergebnisse irgend welcher Ausdeutung vieldeutiger Vorgänge,
etwa die umdeutende Uebertragung einer aus der Anschauung
der Erlebnisse der Gottheit gewonnenen Ahnung auf ein ganz
anderes Gebiet, das des menschlichen Seelenlebens, vor uns zu
haben. Es muss ganz unumwunden, ganz handgreiflich das,
was jene Zeugen schlicht und ohne sonderliches „Mysterium“
mittheilen: die Aussicht auf jenseitiges Glück, den Theilnehmern
an den Mysterien dargeboten worden sein. Am Ersten liesse sich
wohl denken, dass die Darstellung des „mystischen Dramas“
eben auch die Schlussscene, wie sie in dem homerischen Hymnus
angedeutet wird, umfasste: die Stiftung des eleusinischen Festes
durch die Göttin selbst, und dass, wie einst der kleinen Stadt-
[275] gemeinde, so nun den grossen Schaaren der in die eleusinische
Festgemeinde Aufgenommenen, als höchster Gewinn der Be-
theiligung an diesem Cultacte sonder Gleichen, verkündigt
wurde 1), was der Hymnus als solchen geradezu bezeichnet:
die besondere Gnade der Unterweltsgötter und ein zukünftiges
seliges Leben in ihrem Reiche. Die Standbilder der Göttinnen
wurden in strahlendem Lichte sichtbar 2); der Gläubige ahnte,
an diesem Gnadenfeste der Erinnerung an ihre Leiden, ihr
Glück und ihre Wohlthaten, ihre unsichtbare Gegenwart. Die
Verheissungen zukünftiger Seligkeit schienen von ihnen selbst
verbürgt zu sein.


5.


Wir haben, trotz mancher hyperbolischen Angaben aus dem
Alterthum, keine Mittel zu beurtheilen, wie weit in Wahrheit
sich die Theilnahme an den eleusinischen Mysterien (in Eleusis
selbst und späterhin auch in den zahlreichen Filialen von Eleusis)
ausgebreitet haben mag. Immerhin ist es glaublich, dass grosse
Schaaren von Athenern nicht allein, sondern von Griechen aller
Stämme in den zu Eleusis verheissenen Gnadenstand zu treten
sich beeiferten, und so die belebtere Vorstellung von dem Da-
sein der Seelen im Jenseits allmählich fast zu einem Gemein-
besitz griechischer Phantasie wurde.


Im Uebrigen wird man sich hüten müssen, von der Wir-
kung dieser Mysterien eine zu grosse Meinung zu fassen. Von
einer sittlichen Wirkung wird kaum zu reden sein; die Alten
selbst, bei aller Ueberschwänglichkeit im Preise der Mysterien
und ihres Werthes, wissen davon so gut wie nichts 3), und man
18*
[276] sieht auch nicht, wo in dem Mysterienwesen die Organe zu
einer sittlichen Einwirkung gewesen sein könnten. Ein festes
Dogma in religiösem Gebiet dienten die Mysterien herzustellen
sowenig wie irgend ein anderer griechischer Götterdienst. Auch
hatte der Mysteriencult nichts Ausschliessendes, neben und
nach ihm nahmen die Mysten an anderem Götterdienst theil,
nach der Weise ihrer Heimath. Und es blieb nach vollendetem
Feste kein Stachel im Herzen der Geweiheten. Keine Auf-
forderung zu veränderter Lebensführung, keine neue und eigene
Bestimmung der Gesinnung trug man von dannen, keine von
der herkömmlichen abweichende Schätzung der Werthe des
Lebens hatte man gelernt; es fehlte gänzlich das, was (wenn
man das Wort richtig verstehen will) religiösen Sectenlehren
erst Wirkung und Macht giebt: das Paradoxe. Auch was
dem Geweiheten an jenseitigem Glück in Aussicht gestellt
wurde, riss ihn nicht aus seinen gewohnten Bahnen. Es war
ein sanfter Ausblick, keine an sich ziehende, aus dem Leben
ziehende Aufforderung. So hell strahlte das Licht von drüben
nicht, dass vor seinem Glanz das irdische Dasein trübe und
gering erschienen wäre. Wenn seit den Zeiten der Ueberreife
griechischer Bildung auch unter dem Volke Homers der lebens-
feindliche Gedanke auftauchte und nicht geringe Macht ge-
wann, dass Sterben besser sei als Leben, dass dieses Leben,
das einzige, dessen wir gewiss sind, nur eine Vorbereitung sei,
ein Durchgang zu einem höheren Leben in einer unsichtbaren
Welt: — die Mysterien von Eleusis sind daran unschuldig.
Nicht sie, nicht die aus ihren Bildern und Darstellungen ge-
wonnenen Ahnungen und Stimmungen sind es gewesen, die
„jenseitstrunkenen“ Schwärmern dieses irdische Dasein ent-
werthet und sie den lebendigen Instincten des alten, un-
gebrochenen Griechenthums entfremdet haben.


3)


[[277]]

Vorstellungen von dem Leben im
Jenseits.


Nach einzelnen Andeutungen bei Plutarch und Lucian 1)
muss man annehmen, dass in dem „mystischen Drama“ zu
Eleusis auch eine anschauliche Darstellung der Unterwelt und
ihrer seligen oder unseligen Bewohner vorgeführt wurde. Aber
diese Zeitgenossen einer letzten üppigen Nachblüthe alles Myste-
rienwesens können gültiges Zeugniss nur für ihre eigene Zeit
ablegen, in der die eleusinische Feier, vielleicht im Wettbewerb
mit den in die griechisch-römische Welt immer zahlreicher
eindringenden anderen Geheimweihen, manche Aenderung und
Erweiterung ihrer altüberlieferten Gestaltung erfahren zu haben
scheint. Man darf bezweifeln, dass in früherer, classischer Zeit
die Eleusinien mit einer, stets kleinlichen Beschränkung der
Phantasie das jenseits aller Erfahrung Liegende in enge Formen
haben zwingen wollen. Aber durch die feierliche Verheissung
zukünftiger Seligkeit wird das mystische Fest allerdings die
Phantasie der Theilnehmer angeregt, ihrem freien Spiel in Aus-
malung des Lebens im Jenseits bestimmtere Richtung gewiesen
haben. Unverkennbar haben die in Eleusis genährten Vor-
stellungen dazu beigetragen, dass das Bild des Hades Farbe
und deutlichere Umrisse gewann. Aber auch ohne solche An-
regung wirkte der allem Griechischen eingeborene Trieb, auch
das Gestaltlose zu gestalten, in derselben Richtung. Was inner-
halb der Grenzen homerischer Glaubensvorstellungen ein, in
der Hadesfahrt der Odyssee vorsichtig unternommenes Wagniss
gewesen war, eine phantasievolle Vergegenwärtigung des unsicht-
[278] baren Reiches der Schatten, das wurde zu einer ganz unver-
fänglich scheinenden Beschäftigung dichterischer Laune, seit sich
der Glaube an bewusstes Weiterleben der abgeschiedenen Seelen
neu befestigt hatte.


Der Hadesfahrt des Odysseus und ihrer Ausdichtung im
Sinne allmählich lebhafter werdender Vorstellungen vom jen-
seitigen Leben waren in epischer Dichtung frühzeitig Erzäh-
lungen von ähnlichen Fahrten anderer Helden gefolgt. Ein
hesiodisches Gedicht schilderte des Theseus und Peirithoos
Gang in die Unterwelt 1). Eine Nekyia (unbekannten Inhalts)
kam in dem Gedichte von der Rückkehr der Helden von Troja
vor. In dem „Minyas“ benannten Epos scheint eine Hades-
fahrt einen breiten Raum eingenommen zu haben 2). Bei solcher
[279] wiederholten und wetteifernden Darstellung des Gegenstandes
muss sich allmählich ein immer grösserer Reichthum der Ge-
stalten und Erscheinungen im Hades angesammelt haben. Wir
wissen zufällig von der sonst wenig bekannten Minyas, wie sie
den Vorrath vermehrte. Wie weit hier volksthümliche Phan-
tasie und Sage, wie weit dichterische Erfindung thätig war,
würde man vergeblich fragen. Vermuthlich war es, wie in
griechischer Sagenbildung zumeist, ein Hin und Wieder, in
welchem doch das Uebergewicht der Erfindsamkeit auf Seiten
der Poesie war. Rein dichterische Bilder oder Visionen, wie
die von der Entrückung lebender Helden nach Elysion oder
nach den Inseln der Seligen, konnten sich allmählich popu-
lärem Glauben einschmeicheln. „Liebster Harmodios,“ sagt
das athenische Skolion, „du bist wohl nicht gestorben, sondern
auf den Inseln der Seligen, sagt man, seist du.“ Dogmatisch
festgesetzt war damit nichts: in der Leichenrede des Hyperides
wird ausgemalt, wie die Tyrannenmörder, Harmodios und
Aristogeiton, dem Leosthenes und seinen Kampfgenossen unter
anderen grossen Todten drunten im Hades begegnen 1).


Manches, was von einzelnen Dichtern zur Ausfüllung oder
Ausstattung des öden Reiches erfunden sein mochte, prägte
sich der Vorstellung so fest ein, dass es zuletzt wie ein Er-
2)
[280] zeugniss des volksthümlichen Gemeinglaubens erschien. Der
Hüter der Pforte des Pluton, der schlimme Hund des Hades,
der Jedermann einlässt und Keinen wieder hinaus, aus dem
Abenteuer des Herakles altbekannt, schon von Hesiod „Ker-
beros“ benannt, war Jedermann vertraut 1). Wie das Thor
[281] und den Thorhüter, so die Gewässer, die den Erebos abtrennen
von der Welt der Lebenden, kennt schon Homer; jetzt hatte
man auch einen Fährmann, den grämlichen greisen Charon,
der, wie ein zweiter Kerberos, alle sicher hinübergeleitet, aber
Niemand zurückkehren lässt 1). Die Minyas zuerst erwähnte
ihn; dass er wirklich eine Gottheit des Volksglaubens wurde
(wie er es ja, wenn auch in veränderter Bedeutung, bis heute
in Griechenland ist), lassen die Bilder auf attischen, den Todten
in’s Grab mitgegebenen Gefässen erkennen, auf denen die Seele
dargestellt ist, wie sie am schilfigen Ufer auf den Fährmann
trifft, der sie hinüberfahren soll, von wo Niemand wiederkehrt 2).
Auch erklärte man sich die Sitte, dem Todten eine kleine
Münze, zwischen die Zähne geklemmt, mit in’s Grab zu geben,
aus der Fürsorge für das dem Charon zu entrichtende Fähr-
geld 3).


1)


[282]

2.


War die Seele am jenseitigen Ufer angelangt, am Kerberos
vorbeigekommen, was wartete ihrer dort? Nun, die in die
Mysterien Eingeweiheten durften auf ein heiteres Fortleben, wie
es eben ihre Wünsche sich ausmalen mochten, rechnen. Im
Grunde war dieses selige Loos, das die Gnade der drunten
3)
[283] waltenden Gottheiten verlieh, leicht zu erringen. So Viele
waren geweiht und göttlicher Gunst empfohlen, dass der einst
so trübe Hades sich freundlicher färbte. Früh schon be-
gegnet der allgemeine Name der „Seligkeit“ als Bezeichnung
des Jenseits; die Todten ohne viel Unterschied heissen die
„Seligen“ 1).


Wer freilich die Weihen thöricht versäumt oder verschmäht
hatte, hat „nicht gleiches Loos“ da drunten, wie der Demeter-
hymnus sich gelassen ausdrückt. Nur die Geweiheten haben
Leben, sagt Sophokles; die Ungeweiheten, denen es dort unten
übel geht, wird man sich kaum anders gedacht haben, denn
schwebend in dem dämmernden Halbleben der Schatten des
homerischen Erebos. Wohlmeinende moderne Ethisirung des
Griechenthums wünscht, einen recht kräftigen Glauben an unter-
weltliches Gericht und Vergeltung für Thaten und Charakter
des nun Verstorbenen auch bei den Griechen als Volksüber-
zeugung anzutreffen. Homer zeigt kaum die schwächsten An-
klänge an einen solchen Glauben. Einzig die Meineidigen ver-
fallen bei ihm der Strafe der Unterweltsgötter, denen sie sich
selbst, im Eidschwur, gelobt hatten. Auch die „Büsser“ und
[284] ihre Strafen, deren Schilderung spätere Nachdichtung dem
Gedichte von der Hadesfahrt des Odysseus eingefügt hat, dienen,
unbefangen betrachtet, nicht, die Meinung, dass homerische
Dichtung den Vergeltungsglauben kenne, zu stärken. Nur
diesem Vorbilde folgten spätere Dichter, wenn sie noch einige
andere Götterfeinde im Hades ewige Strafen erleiden liessen,
etwa den Thamyris, den Amphion (wie die Minyas erzählte),
später namentlich den Ixion 1). Zu einer Illustrirung eines
allgemeinen Vergeltungsglaubens liegt hierin nicht einmal ein
Ansatz. — Von dem Gericht, das im Hades „Einer“ halte,
redet allerdings Pindar (Ol. 2, 45) aber im Zusammenhang
einer Schilderung der letzten Dinge, die er den Lehren mysti-
scher Separatisten entlehnt. Von einem Gericht des Hades
selbst weiss Aeschylus 2); aber seine Gedanken über göttliche
Strafgerechtigkeit entnimmt er seinem eigenen, von dem Popular-
glauben streng abgekehrten Geiste. Vollends die drei Hades-
richter, Minos, Rhadamanthys und Aeakos, die über das im
Leben auf Erden Begangene drunten Gericht halten, begegnen
zuerst bei Platon, in einer Ausmalung jenseitiger Dinge, die
alles eher als den Volksglauben seiner Zeit wiedergiebt 3).
[285] Später ist, wie auch andere Züge der Platonischen eschato-
logischen Mythen, das Bild der Hadesrichter (denen man auch
3)
[286] Triptolemos gesellte 1]) auch populärer Phantasie vertraut ge-
worden, wie Anspielungen in später Literatur, vielleicht auch
Darstellungen der Unterwelt auf Bildern unteritalischer Vasen
merken lassen. Aber dass in der Blüthezeit griechischer Bildung
der Glaube an Richter und Gericht über die im Leben auf
Erden begangenen Thaten, das im Hades über Alle gehalten
werde, im Volke Wurzeln geschlagen habe, ist unbewiesen,
und liesse sich durch einen Beweis ex silentio als völlig irrig
nachweisen. Wo aber keine Richter sind, da findet auch kein
Gericht statt.


Man kann wohl oft versichert sehen, der Glaube an eine
jenseitige Vergeltung guter und böser Thaten sei den Griechen
aus den eleusinischen Mysterien zugeflossen. Es ist aber im
Gegentheil zu sagen: wenn und soweit die Griechen solchen
Vergeltungsglauben gehabt und gehegt haben, sind die Myste-
3)
[287] rien von Eleusis daran gänzlich unbetheiligt gewesen. Man
bedenke doch: Eleusis weiht, mit einziger Ausnahme der
Mordbefleckten, Griechen aller Arten, ohne ihre Thaten, ihr
Leben oder gar ihren Charakter zu prüfen. Den Geweiheten
war seliges Leben im Jenseits verheissen, den Ungeweiheten
trübes Loos in Aussicht gestellt. Die Scheidung wurde nicht
nach Gut und Böse gemacht: „Pataekion der Dieb wird nach
seinem Tode ein besseres Loos haben, weil er in Eleusis ge-
weiht ist als Agesilaos und Epaminondas“ höhnte Diogenes der
Cyniker. Nicht das bürgerliche oder moralische, das „geist-
liche“ Verdienst allein entscheidet. Man wird sich darüber
nicht sehr verwundern: die meisten Religionen halten es so.
Jedenfalls aber: einem Gericht über Tugend und Laster im
Hades war durch die in den Mysterien nach ganz anderen Ge-
sichtspuncten ausgetheilten unterirdischen Belohnungen und
Strafen vorgegriffen. Wo die Mysterien ernst und wichtig ge-
nommen wurden, da konnten sie den Gedanken einer Vergeltung
guter und böser Thaten im Hades, falls er sich regen wollte,
eher zu unterdrücken beitragen: in ihnen ist nichts, was ihn
beförderte.


Nun schliesst sich freilich die religiöse Moral, unter geistig
beweglichen Völkern, gern und leicht der bürgerlichen Moral
und deren selbständiger Entwicklung an; nur so kann sie die
Leitung behalten. Und so mag sich in der Vorstellung
vieler Griechen an den Begriff der religiösen Rechtfertigung
(durch die Weihen) derjenige der bürgerlichen Rechtschaffen-
heit angelehnt, und neben die Schaaren Unseliger, die mit den
heiligen Weihen auch das Heil im Jenseits versäumt hatten,
sich die nicht geringe Anzahl solcher Menschen gestellt haben,
denen Verletzung des Rechtes der Götter, der Familie und der
bürgerlichen Gesellschaft im Hades schlimmen Lohn einbringt.
Solche die falsch geschworen, den eigenen Vater geschlagen, das
Gastrecht verletzt haben, lässt (in den „Fröschen“) Aristophanes
dort unten „im Schlamm liegen“, eine Strafandrohung, die
ursprünglich orphische Privatmysterien den Ungeweiheten in
[288] Aussicht stellten, auf moralische Verschuldung übertragend 1).
— Den Conflict, in den solche Annahmen mit den Verheis-
sungen der Mysterien gerathen mussten, wird man eben darum
weniger empfunden haben, weil man dem Gedanken einer Ver-
geltung nach moralischer Würdigung gar nicht ernstlich und
anhaltend nachging, sondern sich mit leichten Andeutungen be-
gnügte. In wirklicher Noth hat Niemanden in Griechenland
diese Vorstellung aufrecht erhalten. Auf Erden erwartete
man die Gerechtigkeit der Götter ausgleichend walten zu
sehn; wem daran die Erfahrung den Glauben wanken machte,
[289] den hat eine Anweisung auf ein besseres Jenseits nicht getroster
gemacht. Man kennt ja den typischen Fall des Diagoras des
„Gottesläugners“ 1).


3.


Die Ausmalung des Jenseits, so ängstlich sie die An-
hänger gewisser mystischer Secten betreiben mochten, blieb
für Dichter und Publicum von Athen im fünften Jahrhundert
doch wenig mehr als eine Beschäftigung spielender Phantasie,
an der man sich mit aller Freiheit des Geistes ergötzen konnte.
Als Einrahmung einer burlesken Handlung schien den Komödien-
dichtern, von Pherekrates an, eine Fahrt in das unbekannte
Land eben recht 2). Ein Schlaraffenland, fabelten sie, wie es
einst, als Kronos noch, im goldenen Zeitalter, regierte, auf
Erden war, erwartet die „Seligen“ da unten 3), eine „Stadt der
Glückseligkeit“ 4), wie man sie sonst wohl am Ende der Welt
und noch auf dieser Oberwelt anzutreffen hoffte. Eine Komödie
ist es, die „Frösche“ des Aristophanes, in der wir, bei Gelegen-
heit der Hadesfahrt des athenischen Spiessbürgers, der diesmal
Rohde, Seelencult. 19
[290] den Dionysos vorstellt, die Geographie der Unterwelt in deut-
licheren Umrissen kennen lernen. Hinter dem acherusischen
See mit seinem grämlichen Fährmann lagern sich allerlei
Schlangen und Unthiere. An dem, im Finstern modernden
Schlammpfuhle vorbei, in dem die Meineidigen liegen und die
gegen Vater oder Fremdling sich vergangen haben, führt der
Weg zum Pallaste des Pluton, in dessen Nähe der Chor der in den
Mysterien Geweiheten wohnt. Ihnen spendet auch dort unten
im Hades die Sonne heiteres Licht, in Myrtenhainen tanzen
sie und singen zum Flötenschall Lieder zum Preise der unter-
weltlichen Götter 1). Eine Scheidung der Unterweltbewohner
in zwei Schaaren, wie sie die Mysterien lehrten, ist durch-
geführt, helles Bewusstsein wenigstens bei den Mysten voraus-
gesetzt, und hieran merkt man wohl den Umschwung seit der
Nekyia der Odyssee. Es giebt noch andere Oertlichkeiten im
Hades als die Wohnplätze der Geweiheten und der Unfrommen.
Auf das Gefilde der Lethe wird angespielt 2); auf die Stelle,
wo Oknos sein Seil flicht, das ihm sofort seine Eselin wieder
[291] zernagt. Dies ist eine Parodie, halb scherzhaft, halb weh-
müthig, auf jene homerischen Gestalten des Sisyphos und
Tantalos, ein kleinbürgerliches Gegenstück zu jener homerischen
Aristokratie der Götterfeinde, deren Strafen nach Goethes
Bemerkung Abbildungen ewig fruchtlosen Bemühens sind.
Aber was hat der gute Oknos begangen, dass auch ihn dieses
Schicksal ewig zielloser Mühen trifft? Er ist ein Mensch wie
andere. „Der bildet ab das menschliche Bestreben“. Dass
man solche Gestalten eines harmlos sinnreichen Witzes in den
Hades versetzen mochte, zeigt, wie weit man von schwerem
theologischen Ernst entfernt war.


4.


Anschaulich müsste die Wandlung der Vorstellungen vom
jenseitigen Leben seit Homers Zeiten uns entgegentreten in
dem Bilde der Unterwelt, mit dem Polygnot von Thasos die
eine Wand der Halle der Knidier zu Delphi geschmückt
hatte. Den Inhalt dieser malerischen Schilderung kennen wir
ja genau aus dem Berichte des Pausanias. Da ist nun über-
raschend wahrzunehmen, wie schwach in dieser Zeit, um die
Mitte des fünften Jahrhunderts, die Höllenmythologie entwickelt
war. Dargestellt war die Befragung des Tiresias durch Odysseus;
die Schaaren der Heroen und Heroïnen der Dichtung nahmen
daher den breitesten Raum ein. Die Strafgerechtigkeit der
Götter illustrirten die Gestalten der homerischen „Büsser“,
Tityos, Tantalos, Sisyphos. Aus der heroischen Gesellschaft
heraus führt Oknos mit seiner Eselin. Nun aber der Lohn
der Tugend, die Strafe der Uebelthaten? Die schlimmsten
Vergehungen, gegen Götter und Eltern, werden geahndet an
einem Tempelräuber, dem eine Zauberin Gift zu trinken giebt 1),
und einem pietätlosen Sohne, den der eigne Vater würgt 2).
19*
[292] Von solchen Verbrechern geschieden sind die „Ungeweiheten“,
welche die eleusinischen Mysterien gering geachtet haben.
Weil sie die „Vollendung“ der Weihen versäumt haben, müssen
sie nun, Männer und Weiber, in zerbrochenen Scherben Wasser
in ein (durchlöchertes) Fass schöpfen, in nie zu vollendender
Mühe 1). Im Uebrigen sieht man keine Richter, welche die
Seelen in zwei Schaaren zu scheiden hätten, von den Schreck-
[293] nissen der Unterwelt nichts als den leichenfressenden Dämon
Eurynomos, der dem Maler wohl aus irgend einer localen
Sage bekannt geworden war 1). Von Belohnung der „Guten“
zeigt sich keine Spur; selbst die Hoffnungen der in den
Mysterien Geweiheten sind nur bescheiden angedeutet in dem
Kästchen, welches Kleoboia, mit Tellis in Charons Kahn eben
heranfahrend, auf den Knieen hält 2). Das ist ein Symbol der
heiligen Weihen der Demeter, welche Kleoboia einst von Paros
nach Thasos, der Heimath des Polygnot, gebracht hatte.


Von dieser, den homerischen Hades nur leise umgestalten-
den Bilderreihe 3) blicke man hinüber etwa auf die Marterscenen
etruskischer Unterweltbilder, oder auf die Pedanterien vom
[294] Todtengerichte am Tage der Rechtfertigung u. s. w., wie sie
die Aegypter in Bild und Schrift breit ausgeführt haben. Vor
der trüben Ernsthaftigkeit, mit der dort ein phantasiearmes
Volk aus einmal mit Anstrengung ergriffenen Speculationen
und Visionen sich ein starres, lastendes Dogma geschmiedet
hat, waren die Griechen durch ihren Genius bewahrt. Ihre
Phantasie ist eine geflügelte Gottheit, deren Art es ist,
schwebend die Dinge zu berühren, nicht wuchtig niederzu-
fallen und mit bleierner Schwere liegen zu bleiben. Auch
waren sie für die Infectionskrankheit des „Sündenbewusstseins“
in ihren guten Jahrhunderten sehr wenig empfänglich. Was
sollten ihnen Bilder unterweltlicher Reinigung und Peinigung
von Sündern aller erdenklichen Arten und Abstufungen, wie
in Dantes grauser Hölle? Wahr ist es, dass selbst solche
gräuliche christliche Höllenphantasien sich zum Theil aus
griechischen Quellen speisen. Aber es war der Wahn einzelner
sich absondernder Secten, der Bilder dieser Art hervorrief, und
sich einer philosophischen Speculation zu empfehlen vermochte,
die in ihren trübsten Stunden allen Grundtrieben griechischer
Cultur zürnend absagte. Das griechische Volk, seine Religion,
und auch die Mysterien, die der Staat verwaltete und heilig
hielt, darf man von solchen Abirrungen freisprechen.


3)


[[295]]

Ursprünge des Unsterblichkeits-
glaubens.


Der thrakische Dionysosdienst.


Die volksthümlichen Vorstellungen von Fortdauer der
Seelen der Gestorbenen, auf den Seelencult begründet, mit
einigen, dem Seelencult im Grunde widersprechenden, aber als
solche nicht empfundenen Annahmen der homerischen Seelen-
kunde verwachsen, bleiben im Wesentlichen unverändert in Kraft
durch alle kommenden Jahrhunderte griechischen Lebens. Sie
enthielten in sich keinen Keim weiterer Ausbildung, keine Auf-
forderung zur Vertiefung in das Dasein und die Zustände der
nach ihrer Trennung vom Leibe selbständig gewordenen Seele,
insbesondere nichts, was den Glauben an selbständige Fort-
dauer der Seelen hätte steigern können zu der Vorstellung eines
unsterblichen, endlos ewigen Lebens. Ein endloses Weiterleben
der Seele wird auf diesem Standpunkte weder behauptet noch
geleugnet; dieser Gedanke fällt hier überhaupt gar nicht in
den Kreis der Betrachtung. Auf das Verhältniss der jedesmal
Lebenden zu den Seelen der vorangegangenen, zumeist der nächst-
vorhergehenden Geschlechter bedacht und den Blick darauf
einschränkend, hat der Cult der Seelen gar keine Veranlassung,
auf eine unbegrenzte Zukunft hinaus zu denken. Der Begriff
der Ewigkeit zudem, aus keiner Erfahrung zu gewinnen, gehört
der Speculation an oder der Vision: Vision aber und Specu-
lation liegen diesen Volkskreisen gleich fern.


Dennoch tritt seit einer gewissen Zeit in Griechenland der
Gedanke der Unsterblichkeit der Seele hervor, um von da
an, bejaht oder bestritten, nicht wieder aus dem Gedankenkreise
der von griechischen Anregungen (wenn auch oft unbewusst) be-
[296] stimmten Menschheit zu verschwinden. Es ist wichtig, gleich von
Anfang an sich klar zu machen, was, nach griechischer Vor-
stellungsweise, mit dem Satze, dass die Seele des Menschen
unsterblich sei, eigentlich behauptet wurde. Wer der Seele ewige
Dauer zusprach, der liess sie theilhaben an dem Vorrecht der
Götter, der ewig lebendigen. „Unsterblich“ und „göttlich“
sind Wechselbegriffe; das wesentliche Prädicat des Gottes und
nur des Gottes ist eben die Unsterblichkeit. Ueberträgt man
dieses Prädicat auf die Seele des Menschen, so erklärt man
diese damit für einen Gott (ϑεός, δαίμων) oder doch für ein
göttliches Wesen (ϑεῖον). Die Vorstellungen der Unsterblich-
keit und der Gottnatur der Seele waren untrennbar von An-
fang an, und sie sind es in Wahrheit geblieben auch unter
den mannichfachen Umhüllungen und Umbildungen, welche
theologisch-philosophische Speculation dem Unsterblichkeits-
glauben gegeben hat.


Die Unsterblichkeit ist nicht eine für sich stehende Eigen-
schaft der Seele; wo sie unter Griechen geglaubt wird, folgt
sie einfach aus dem Glauben an die göttliche Natur der Seele.
Ein Glaube, der sich auf göttliche Naturen bezieht, kann in
seinen Anfängen nur ein religiöser gewesen sein. Und so tritt
uns in der That die erste Spur der Vorstellung von unsterb-
lich-göttlichem Leben der Menschenseele als ein eigenthümlich
eingekleideter religiöser Glaubenssatz entgegen. Es war nicht
der Seelencult der Familien und Städte, nicht die öffentliche und
allgemeine Religion des Staates, die diesen Glauben erzeugten,
wie nicht sie es waren, die ihn nährten und lebendig erhielten.
Er taucht auf inmitten einer durch die Religion des Staates nicht
befriedigten, nach eigenen Satzungen das Leben religiös gestalten-
den Secte, die sich im Culte des Dionysos vereinigte.


Es gilt zu begreifen und begreiflich zu machen, wie in der
Verehrung gerade dieses Gottes, der im griechischen Olymp
erst spät eine Stelle fand, die Keime zur Entwicklung des
Glaubens an Göttlichkeit und Unvergänglichkeit der mensch-
lichen Seele gelegen waren.


[297]

2.


Im Geistesleben der Menschen und Völker ist es nicht
eben das Ausschweifende, in irgend einem Sinne Abnorme, zu
dem das nachempfindende Verständniss am schwersten den
Zugang fände. Man macht, in einer herkömmlichen, zu engen
Formulirung griechischen Wesens befangen, es sich nicht immer
deutlich, aber, wenn man sich recht darauf besonnen hat, so
versteht man es im Grunde mit mässiger Mühe, wie in griechi-
scher Religion, zur Zeit ihrer vollsten Entwicklung, der
„Wahnsinn“ (μανία), eine zeitweilige Störung des psychischen
Gleichgewichtes, ein Zustand der Ueberwältigung des selbst-
bewussten Geistes, der „Besessenheit“ durch fremde Gewalten
(wie er uns beschrieben wird) als religiöse Erscheinung weit-
reichende Bedeutung habe gewinnen können. Tief wirkende
Bethätigung fand in Mantik und Telestik dieser Wahnsinn, der
„nicht durch menschliche Krankheiten, sondern durch gött-
liches Hinausversetzen aus den gewohnten Zuständen ent-
steht“ 1). Seine Wirkungen waren so häufig und anerkannt,
dass als eine Erfahrungsthatsache Wirklichkeit und Wirksam-
keit eines solchen, von körperlicher Krankheit völlig zu unter-
scheidenden religiösen Wahnsinns nicht nur von Philosophen,
sondern selbst von Aerzten 2) behandelt wird. Uns bleibt eigent-
lich nur die Einordnung solcher „göttlichen Manie“ in den
regelmässig arbeitenden Betrieb des religiösen Lebens räthsel-
haft; die diesem ganzen Wesen zu Grunde liegenden Em-
pfindungen und Erfahrungen sind uns nach zahlreichen Ana-
loga durchsichtig genug. Wollen wir die Wahrheit gestehen,
so ist unserem innerlichen Mitempfinden schwerer fast als
solches Ueberwallen der Empfindung und alles ihm Verwandte
der entgegengesetzte Pol griechischen religiösen Lebens zu-
gänglich, die in ruhiges Maass gefasste Gelassenheit, mit der
[298] Herz und Blick sich zu den Vorbildern alles Lebens, den
Göttern, und ihrer, wie der Aether unbewegt leuchtenden
Heiterkeit erhebt.


Aber wie vertrug sich in Einem Volke der Ueber-
schwang der Erregung mit dem in feste Schranken gefügten
Gleichmaass der Stimmung und Haltung? Diese Gegensätze
sind nicht aus Einer Wurzel erwachsen; sie waren nicht von
jeher in Griechenland verbunden. Die homerischen Gedichte
geben von einer Ueberspannung religiöser Gefühle, wie sie die
Griechen späterer Zeit als gottgesandten Wahnsinn kannten
und verehrten, noch kaum eine Ahnung. Sie breitete sich
unter Griechen aus in Folge einer religiösen Bewegung, man
könnte fast sagen Umwälzung, zu der bei Homer höchstens
die ersten Ansätze sich fühlbar machen. Sie stammt ihrem
Ursprunge nach aus der Dionysosreligion, und tritt mit dieser
als ein Fremdes und Neues in griechisches Leben.


Die homerischen Gedichte kennen Dionysos nicht als zu den
Göttern des Olymp gehörig. Aber sie wissen von ihm. Zwar
als den in heiterer Feier verehrten Weingott nennen sie ihn
nirgends deutlich 1); wohl aber liest man (in der Erzählung
von der Begegnung des Glaukos und Diomedes) von dem
„rasenden“ Dionys und seinen „Wärterinnen“, die Lykurgos
der Thraker überfiel 2); die Mainas, das im Cult des Dionysos
[299] „rasende“ Weib, ist eine bekannte Erscheinung, der Vorstellung
so vertraut, dass sie in einer Vergleichung zur Verdeutlichung
gebraucht werden kann 1). In dieser Gestalt trat der Cultus des
Gottes den Griechen zuerst vor Augen; dies war die Wurzel aller
anderen, später so mannichfaltig entwickelten Dionysosfeiern 2).
Den Dionysos Bakcheios „der die Menschen rasend macht“ 3)
lernten sie kennen, wie er in seiner Heimath verehrt wurde.


Dass die Heimath des Dionysoscultes Thrakien war, sein
Cult, wie bei anderen thrakischen Völkerschaften 4), so ins-
2)
[300] besondere blühte bei den, den Griechen am besten bekannten
südlichsten der zahlreichen thrakischen Stämme, die von der
Mündung des Hebros bis zu der des Axios an der Meeres-
küste und in den darüber liegenden Berglandschaften wohnten,
das haben die Griechen selbst oft und vielfach bezeugt 1). Der
Gott, den die Griechen mit graecisirtem Namen Dionysos
nannten, hatte, wie es scheint, bei den vielen gesonderten
Stämmen der Thraker wechselnde Benennungen, unter denen
Sabos, Sabazios, den Griechen die geläufigsten wurden 2). Wesen
[301] und Dienst des Gottes muss den Griechen früh bekannt und
auffallend geworden sein, sei es nun in thrakischen Landen
selbst, die sie, in ihre spätere Heimath wandernd, durchzogen
haben müssen und mit denen sie seit alter Zeit in vielfachem
Verkehr standen, sei es auf griechischem Boden, durch thra-
kische Stämme oder Haufen, denen in Urzeiten dauernde Sitze
in manchen Gegenden Mittelgriechenlands zugeschrieben wurden
in vereinzelten Sagen, deren ethnographische Voraussetzungen
die grossen Geschichtsschreiber des fünften und vierten Jahr-
hunderts als thatsächlich begründet nahmen 1).


Der Cult dieser thrakischen Gottheit, in allen Punkten
heftig abweichend von dem was wir etwa aus Homer als
griechischen Götterdienst kennen, dagegen aufs nächste ver-
wandt dem Culte, in welchem das, mit den Thrakern fast
identische Volk der Phrygier seine Bergmutter Kybele verehrte,
trug völlig orgiastischen Charakter. Die Feier ging auf Berg-
höhen vor sich, in dunkler Nacht, beim unsteten Licht der
2)
[302] Fackelbrände. Lärmende Musik erscholl, der schmetternde
Schall eherner Becken, der dumpfe Donner grosser Hand-
pauken und dazwischen hinein der „zum Wahnsinn lockende
Einklang“ der tieftönenden Flöten 1), deren Seele erst phry-
gische Auleten erweckt hatten. Von dieser wilden Musik erregt,
tanzt mit gellendem Jauchzen 2) die Schaar der Feiernden.
Wir hören nichts von Gesängen 3): zu solchen liess die Gewalt
des Tanzes keinen Athem. Denn dies war nicht der gemessen
bewegte Tanzschritt, in dem etwa Homers Griechen im Paean
sich vorwärts schwingen. Sondern im wüthenden, wirbelnden.
stürzenden Rundtanz 4) eilt die Schaar der Begeisterten über
die Berghalden dahin. Meist waren es Weiber, die bis zur
Erschöpfung 5) in diesen Wirbeltänzen sich umschwangen; selt-
sam verkleidet: sie trugen „Bassaren“, lang wallende Gewänder,
wie es scheint, aus Fuchspelzen genäht 6); sonst über dem Ge-
wande Rehfelle 7), auch wohl Hörner 8) auf dem Haupte. Wild
[303] flattern die Haare 1), Schlangen, dem Sabazios heilig 2), halten
die Hände, sie schwingen Dolche, oder Thyrsosstäbe, die unter
dem Epheu die Lanzenspitze verbergen 3). So toben sie bis
zur äussersten Aufregung aller Gefühle, und im „heiligen
Wahnsinn“ stürzen sie sich auf die zum Opfer erkorenen
Thiere, packen und zerreissen die eingeholte Beute 4), und
reissen mit den Zähnen das blutige Fleisch ab, das sie roh
verschlingen.


Man kann nach dichterischen Schilderungen und bildlichen
Darstellungen sich die Vorgänge dieser fanatischen Nachtfeiern
leicht weiter ausmalen. Aber welchen Sinn hatte das Alles?
Man wird ihm am ehesten nahekommen, wenn man, alle aus
fremdartigen Gedankenkreisen hineingetragenen Theorieen mög-
lichst fernhaltend, einzig das bei den Theilnehmern an der
Feier sich herausstellende Ergebniss als ein gewolltes, absicht-
lich herbeigeführtes und also als den Zweck, mindestens als
einen der Zwecke dieser auffallenden Begehungen anerkennt.
Die Theilnehmer an diesen Tanzfeiern versetzten sich selbst
in eine Art von Manie, eine ungeheure Ueberspannung ihres
8)
[304] Wesens; eine Verzückung ergriff sie, in der sie „rasend, be-
sessen“, sich und Anderen erschienen 1). Diese Ueberreizung der
Empfindung bis zu visionären Zuständen 2) bewirkten, bei hiefür
Empfänglichen, der rasende Tanzwirbel, die Musik, das Dunkel,
alle die Veranstaltungen dieses Aufregungscultes 3). Diese
äusserste Erregung war der Zweck, den man erreichen wollte.
Einen religiösen Sinn hatte die gewaltsam herbeigeführte Steige-
rung des Gefühls darin, dass nur durch solche Ueberspannung
und Ausweitung seines Wesens der Mensch in Verbindung und
Berührung treten zu können schien mit Wesen einer höheren
Ordnung, mit dem Gotte und seinen Geisterschaaren. Der
Gott ist unsichtbar anwesend unter seinen begeisterten Ver-
ehrern, oder er ist doch nahe, und das Getöse des Festes
dient, den Nahenden ganz heranzuziehen 4). Es gehen eigene
[305] Sagen von dem Verschwinden des Gottes in eine andere Welt
und seiner Wiederkehr zu den Menschen 1). Jedes zweite Jahr
4)
Rohde, Seelencult. 20
[306] feiert man seine Wiederkehr; eben diese seine Ankunft, seine
„Epiphanie“ ist Grund und Anlass des Festes. Der Stiergott,
wie ihn sich die rohe Alterthümlichkeit des Glaubens vorstellte,
erscheint mitten unter den Tanzenden 1); oder es liessen ver-
steckte „Mimen des Schreckens“ durch nachgeahmtes Stier-
gebrüll die Anwesenheit des Unsichtbaren spüren 2). Und die
Feiernden selbst, im wüthenden Ueberschwang der Begeisterung,
1)
[307] streben ihm zu, zur Vereinigung mit ihm; sie sprengen die
enge Leibeshaft ihrer Seele; Verzauberung packt sie, und sie
selbst fühlen sich, ihrem alltäglichen Dasein enthoben, als
Geister aus dem Schwarm, der den Gott umtost 1). Ja, sie
haben Theil an dem Leben des Gottes selbst: nichts anderes
kann es bedeuten, wenn sich die verzückten Diener des Gottes
mit dem Namen des Gottes benennen. Der mit dem Gotte
in der Begeisterung eins gewordene heisst nun selbst Sabos,
Sabazios 2). Uebermenschliches und Unmenschliches mischt
sich nun auch in ihnen: gleich dem wilden Gotte selbst 3)
stürzen sie sich auf das Opferthier, um es roh zu ver-
20*
[308] schlingen. Um solche Verwandlung ihres Wesens nach aussen
kenntlich zu machen, haben sich die Theilnehmer an dem
Taumelfeste verkleidet: sie gleichen in ihrem Aufzuge den
Genossen des schwärmenden Thiasos des Gottes 1); die Hörner,
die sie aufsetzen, erinnern an den hörnertragenden, stier-
gestalteten Gott selber 2) u. s. w. Das Ganze könnte man ein
religiöses Schauspiel nennen, denn mit Absicht sind die Mittel
zur Vergegenwärtigung der fremdartigen Gestalten aus dem
Geisterreiche vorbereitet. Zugleich aber ist es mehr als ein
Schauspiel: denn man kann nicht daran zweifeln, dass die
Schauspieler selbst von der Illusion des Lebens in einer fremden
Person ergriffen waren. Die Schauer der Nacht, die Musik,
namentlich jene phrygischen Flöten, deren Klängen die Griechen
die Kraft zuschrieben, die Hörer „des Gottes voll“ zu machen 3),
[309] der wirbelnde Tanz, dies alles konnte in geeigneten Naturen 1)
wirklich einen Zustand visionärer Ueberreizung hervorbringen,
in dem die Begeisterten alles ausser sich sahen was sie in sich
dachten und vorstellten. Berauschende Getränke, deren Ge-
nusse die Thraker sehr ergeben waren, mochten die Erregung
erhöhen 2), vielleicht auch der Rauch gewisser Samenkörner,
durch den sie, wie die Skythen und Massageten, sich zu be-
rauschen wussten 3). Man weiss ja, wie noch jetzt im Orient
3)
[310] der Haschischrausch Visionäre macht und religiöse Verzückungen
erregt 1). Die ganze Natur ist dem Verzückten verwandelt.
„Nur in der Besessenheit schöpfen die Bakchen aus den Flüssen
Milch und Honig, nicht aber wenn sie wieder bei sich sind“,
sagt Plato 2). Honig und Wein strömt ihnen die Erde; Syriens
Wohlgerüche umduften sie 3). Zu der Hallucination gesellt
sich ein Zustand des Gefühls, dem selbst der Schmerz nur ein
Reiz der Empfindung ist, oder eine Empfindungslosigkeit gegen
den Schmerz, wie sie bisweilen solche überspannte Zustände
begleitet 4).


3)


[311]

Alles stellt uns eine gewaltsame Erregung des ganzen
Wesens vor Augen, bei der die Bedingungen des normalen
Lebens aufgehoben schienen. Man erläuterte sich diese aus
allen Bahnen des Gewohnten schweifenden Erscheinungen durch
die Annahme, dass die Seele dieser „Besessenen 1)“ nicht „bei
sich“ 2) sei, sondern „ausgetreten“ aus ihrem Leibe. Wörtlich
so verstand es der Grieche ursprünglich, wenn er von der
Ekstasis“ der Seele in solchen orgiastischen Reizzuständen
sprach 3). Diese Ekstasis ist „ein vorübergehender Wahnsinn“,
4)
[312] wie der Wahnsinn eine dauernde Ekstasis ist 1). Aber die
Ekstasis, die zeitweilige alienatio mentis im dionysischen Cult
gilt nicht als ein flatterndes Umirren der Seele in Gebieten eines
leeren Wahnes, sondern als eine Hieromanie 2), ein heiliger
Wahnsinn, in welchem die Seele, dem Leibe entflogen, sich
mit der Gottheit vereinigt 3). Sie ist nun bei und in dem
Gotte, im Zustand des „Enthusiasmos“; die von diesem Er-
griffenen sind ἔνϑεοι, sie leben und sind in dem Gotte 4).


In der Ekstasis, der Befreiung der Seele aus der beengen-
den Haft des Leibes, ihrer Gemeinschaft mit dem Gotte,
wachsen ihr Kräfte zu, von denen sie im Tagesleben und
durch den Leib gehemmt nichts weiss. Wie sie jetzt frei als
3)
[313] Geist mit Geistern verkehrt, so vermag sie auch, von der Zeit-
lichkeit befreit, zu sehen was nur Geisteraugen erkennen, das
zeitlich und örtlich Entfernte. Aus dem enthusiastischen Cult
der thrakischen Dionysosdiener stammt die Begeisterungs-
mantik 1), jene Art der Weissagung, die nicht (wie die Wahr-
sager bei Homer durchweg) auf zufällig eintretende und von
aussen herantretende, mannichfach deutbare Zeichen des Götter-
willens warten muss, sondern sich unmittelbar, im Enthusias-
mus, mit der Götter- und Geisterwelt in Verbindung setzt und
so, in erhöhetem Geisteszustand, die Zukunft schaut und ver-
kündigt. Das gelingt dem Menschen nur in der Ekstasis, im
religiösen Wahnsinn, wenn „der Gott in den Menschen fährt“.
Mänaden sind die berufenen Trägerinnen der Begeisterungs-
mantik 2). Es ist gewiss und leicht verständlich, dass der
thrakische Dionysoscult, wie er durchweg eine Veranstaltung
zur Erregung eines gewaltsam überspannten Zustandes der
Menschen war, zum Zweck eines directen Verkehrs mit der
Geisterwelt, so auch die Wahrsagung verzückter, im Wahnsinn
hellsehender Propheten nährte. Bei den Satrern in Thrakien
[314] gab es Propheten aus dem Stamme der Bessen, welcher das
auf einem hohen Berge gelegene Orakel des Dionysos ver-
waltete. Die Prophetin jenes Tempels war eine Frau, welche
wahrsagte in derselben Weise, wie die Pythia in Delphi, d. h.
also in rasender Verzückung. So erzählt Herodot 1), und wir
hören noch manches von thrakischer Mantik und deren un-
mittelbarem Zusammenhang mit dem Orgiasmus des Dionysos-
cultes 2).


3.


Griechischer Religionsweise ist, vielleicht von Hause aus,
jedenfalls auf der frühesten unserer Wahrnehmung erreich-
baren Stufe ihrer Entwicklung, derjenigen auf welcher wir sie
in den homerischen Gedichten stehn sehen, alles fremd, was
einem Aufregungscult nach der Art der dionysischen Orgien
der Thraker ähnlich sähe. Wie etwas barbarisch Wunderliches
[315] und nur durch den Reiz des Unerhörten Anziehendes müsste
dem homerischen Griechen dieses ganze Treiben, wo es ihm zu-
gänglich wurde, entgegengetreten sein. Dennoch — man weiss
es ja — weckten die enthusiastischen Klänge dieses Gottes-
dienstes im Herzen vieler Griechen einen aus tiefem Innern ant-
wortenden Widerhall; aus allem Fremdartigen muss ihnen doch
ein verwandter Ton entgegengeschlagen sein, der, noch so selt-
sam modulirt, zu allgemein menschlicher Empfindung sprechen
konnte.


In der That war jener thrakische Begeisterungscult nur
eine nach nationaler Besonderheit eigenthümlich gestaltete
Kundgebung eines religiösen Triebes, der über die ganze Erde
hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Cultur-
entwicklung, hervorbricht, und sonach wohl einem tief be-
gründeten Bedürfniss menschlicher Natur, physischer und psy-
chischer Anlage des Menschen, entstammen muss. Der mehr
als menschlichen Lebensmacht, die er um und über sich walten
und bis in sein eigenes persönliches Leben hinein sich aus-
breiten fühlt, möchte in Stunden höchster Erhebung der Mensch
nicht, wie sonst wohl, scheu anbetend, in sein eigenes Sonder-
dasein eingeschlossen, sich gegenüberstellen, sondern in in-
brünstigem Ueberschwang, alle Schranken durchbrechend, zu
voller Vereinigung sich ans Herz werfen. Die Menschheit
brauchte nicht zu warten, bis das Wunderkind des Gedankens
und der Phantasie, der Pantheismus, ihr heranwuchs, um diesen
Drang, auf Momente das eigene Leben in dem der Gottheit
zu verlieren, empfinden zu können. Es giebt ganze Völker-
stämme die, sonst in keiner Weise zu den bevorzugten Mit-
gliedern der Menschenfamilie gehörig, in besonderem Maasse
die Neigung und die Gabe einer Steigerung des Bewusstseins
ins Ueberpersönliche haben, einen Hang und Drang zu Ver-
zückungen und visionären Zuständen, deren reizvolle und
schreckliche Einbildungen sie als thatsächliche reale Erfah-
rungen aus einer anderen Welt nehmen, in welche ihre „Seelen“
auf kurze Zeit versetzt worden seien. Und es fehlt in allen
[316] Theilen der Erde nicht an Völkern, die solche ekstatische
Ueberspannungen als den eigentlich religiösen Vorgang, den
einzigen Weg zu einem Verkehr des Menschen mit einer
Geisterwelt ansehen, und ihre religiösen Handlungen daher
vornehmlich auf solche Veranstaltungen begründen, die erfah-
rungsgemäss Ekstase und Visionen herbeizuführen geeignet
sind. Ueberall dient bei solchen Völkern der Tanz, ein heftig
erregter Tanz, zur Nachtzeit bei dem Toben lärmender In-
strumente bis zur Erschöpfung aufgeführt, der gewollten Her-
beiführung äusserster Spannung und Ueberreizung der Em-
pfindung. Bald sind es ganze Schaaren des Volkes, die sich
durch wüthenden Tanz in religiöse Begeisterung hineintreiben 1),
häufiger noch einzelne Auserwählte, die ihre von allen Wal-
lungen leichter fortgerissene Seele durch Tanz, Musik und Er-
regungsmittel aller Art zum Ausfahren in die Welt der Geister
und Götter zwingen 2). Die ganze Erde hat solche „Zauberer“
[317] und Priester, die sich mit den Geistern in directe Seelen-
gemeinschaft setzen können: die Schamanen Asiens, die
„Medicinmänner“ Nordamerikas, die Angekoks der Grönländer,
die Butios der Antillenvölker, die Piajen der Karaïben sind
nur einzelne Typen der überall vertretenen, im wesentlichen
gleichen Gattung; auch Afrika und Australien und die Welt
der Inseln des stillen Oceans entbehrt ihrer nicht; sie gehören
sammt dem ihrem Thun zu Grunde liegenden Vorstellungskreise
zu den mit der Regelmässigkeit eines Naturvorganges sich
geltend machenden und insofern nicht abnorm zu nennenden
Erscheinungen menschlichen Religionswesens. Gedankenlose
Uebung des Ueberlieferten, auch Ersetzung ächter Empfindung
durch täuschende Mimik bleibt dieser Weise religiöser Ge-
fühlsbethätigung natürlich am wenigsten fremd. Die ruhigsten
Beobachter bestätigen gleichwohl 1), dass bei der gewaltsamen
Aufstachelung ihres ganzen Wesens solche „Zauberer“ oft,
sogar der Regel nach, in ungeheuchelte Verzückungszustände
2)
[318] gerathen. Je nach Gehalt und Inhalt der ihnen geläufigen
Glaubensbilder gestalten sich die Hallucinationen, von denen
die Zauberer überfallen werden, im Einzelnen verschieden.
Durchweg aber versetzt sie ihr Wahn in unmittelbaren Ver-
kehr, vielfach in völlige Wesensgemeinschaft mit den Göttern.
Nur so erklärt es sich, dass, wie die begeisterten Bakchen
Thrakiens, so die Zauberer und Priester vieler Völker mit
dem Namen der Gottheit benannt werden, zu der ihr Be-
geisterungscult sie emporhebt 1). Das Streben nach der Ver-
einigung mit Gott, dem Untergang des Individuums in der
Gottheit, ist es auch, was alle Mystik hoch begabter und ge-
bildeter Völker in der Wurzel zusammenbindet mit dem Auf-
regungscult der Naturvölker. Selbst der äusseren Mittel der
Erregung und Begeisterung mag diese Mystik nicht immer
entrathen 2), und stets sind es dieselben, die wir aus den reli-
giösen Orgien jener Völker kennen: Musik, wirbelnder Tanz,
narkotische Reizmittel. So schwingen sich, (um von vielen Bei-
spielen das auffallendste zu nehmen) zum „Schall der Trom-
mel, Hall der Flöte“ die Derwische des Orients im Wir-
beltanz herum bis zu äusserster Erregung und Erschöpfung;
[319] wozu das alles diene, verkündet im geistigsten Ausdruck der
furchtloseste der Mystiker, Dschelaleddin Rumi: „Wer die
Kraft des Reigens kennet, wohnt in Gott; denn er weiss wie
Liebe tödte. Allah hu!“ —


Ueberall nun, wo in Volksstämmen oder in Religions-
vereinen ein solcher Cultus Wurzel geschlagen hat, dessen Sinn
und Ziel die Herbeiführung ekstatischer Entzückungen ist, ver-
bindet sich mit ihm, sei es als Grund oder Folge oder beides,
ein besonders energischer Glaube an Leben und Kraft der vom
Leibe getrennten Seele des Menschen. Bei den thrakischen
Stämmen, deren dem „Dionysos“ gewidmeter Aufregungscult
sich der vergleichenden Uebersicht als eine einzelne Spielart
der mehr als der Hälfte der Menschheit vertrauten Weise, im
religiösen Enthusiasmus sich der Gottheit zu nähern, darstellt,
müsste man von vornherein erwarten, einen stark und eigen-
thümlich entwickelten Seelenglauben anzutreffen. In der That
erzählt ja Herodot von dem thrakischen Stamme der Geten,
deren Glaube „die Menschen unsterblich machte“ 1). Sie
hatten nur Einen Gott 2), Zalmoxis genannt; zu ihm, der in
[320] einem hohlen Berge sitzt, meinten sie, würden einst zu ewigem
Leben die Verstorbenen ihres Stammes gelangen 1). Den
gleichen Glauben hatten auch andere thrakische Stämme 2).
Dieser Glaube scheint eine „Umsiedlung“ 3) der Gestorbenen
zu einem seligen Leben im Jenseits verheissen zu haben.
Vielleicht aber sollte diese Umsiedlung keine endgültige sein.
Man hört, dass der Glaube bestand, der Todte werde aus dem
Jenseits „wiederkehren“ 4), und diesen Glauben setzt (dem Er-
zähler freilich nicht deutlich bewusst) als auch bei den Geten
bestehend die absurde pragmatisirende Fabel von Zalmoxis
voraus, die dem Herodot griechische Anwohner des Hellespont
und des Pontus mittheilten 5). Hier heisst (wie dann in späteren
2)
[321] Berichten oft) Zalmoxis bereits ein Sklave und Schüler
des Pythagoras von Samos. Wer auch immer dieses Märchen
5)
Rohde, Seelencult. 21
[322] ersonnen haben mag, er ist darauf geführt worden durch die
Wahrnehmung der nahen Verwandtschaft der Pythagoreischen
Seelenlehre mit dem thrakischen Seelenglauben; ebenso wie
durch dieselbe Wahrnehmung andere verführt worden sind, um-
gekehrt den Pythagoras zum Schüler der Thraker zu machen 1).
Es kann hiernach nicht zweifelhaft sein, dass man die, dem
Pythagoras eigene Lehre von der Seelenwanderung in
Thrakien wiedergefunden hatte, und dass der Glaube an die
„Wiederkehr“ der Seele so zu verstehen ist (wie er auch allein,
ohne durch den Augenschein widerlegt zu werden, sich be-
haupten konnte), dass die Seelen der Todten in immer neuen
Verkörperungen wiederkehrend ihr Leben auf Erden fortsetzen,
und insofern „unsterblich“ seien. Wirklich scheint auch eine
Andeutung des Euripides den Glauben an wiederholte Ein-
körperung der Seele als thrakischen bezeichnen zu wollen 2).


Es wäre eine gerechte Erwartung, dass zwischen diesem,
griechischen Berichterstattern sehr auffallenden Unsterblich-
5)
[323] keitsglauben der Thraker und deren Religion und enthusiasti-
schem Gottesdienst sich ein innerer Zusammenhang auffinden
lasse. Einige Spuren weisen auch auf eine engere Verbindung
des thrakischen Dionysoscultes und Seelencultes hin 1). Warum
aber an die Religion des thrakischen Dionysos ein Glaube an
das unvergängliche, selbständige und nicht auf die Dauer des
Aufenthalts in diesem Leibe, der sie gegenwärtig umschliesst,
beschränkte Leben der Seele sich anschloss, das werden wir
nicht sowohl aus der (uns zudem ungenügend bekannten) Natur
des Gottes, dem jener Cult gewidmet war, verstehen wollen
als aus der Art des Cultus selbst. Das Ziel, man kann sagen
die Aufgabe dieses Cultes war es, die Erregung der an ihm
Theilnehmenden bis zur „Ekstasis“ zu treiben, ihre „Seelen“
dem gewohnten Kreise ihres menschlich beschränkten Daseins
zu entreissen und als freie Geister in die Gemeinschaft des
Gottes und seines Geisterschwarms zu erheben. Die Ent-
zückungen dieser Orgiasmen schlossen denen die als wahre
„Bakchen“ 2) wirklich in den Zustand heiligen Wahnsinns ge-
21*
[324] riethen, ein Gebiet der Erfahrung auf, von dem ihnen ihr Da-
sein im vollbesonnenen Tagesleben keine Kunde geben konnte.
Denn als Erfahrungen gegenständlichen Inhalts mussten sie
die Empfindungen und Gesichte, die ihnen in der „Ekstasis“
zu Theil geworden waren, auffassen 1). Wenn nun der Glaube
an das Dasein und Leben eines von dem Leibe zu unter-
scheidenden und von ihm abtrennbaren zweiten Ich der Men-
schen schon durch die „Erfahrungen“ von dessen Sonderdasein
und selbständigem Handeln in Traum und Ohnmacht genährt
werden konnte 2), um wie viel mehr musste sich dieser Glaube
befestigen und erhöhen bei denjenigen, die in dem Rausch
jener Tanzorgien an sich selber „erfahren“ hatten, wie die
Seele, frei vom Leibe, an den Wonnen und Schrecken des
Götterdaseins theilhaben könne, sie aber allein, die Seele, das
unsichtbar im Menschen lebende Geisterwesen, nicht der
ganze, aus Leib und Seele gebildete Mensch. Das Gefühl ihrer
Göttlichkeit, ihrer Ewigkeit, das in der Ekstasis sich blitzartig
ihr selbst offenbart hatte, musste der Seele sich bald zu der
bleibenden Ueberzeugung fortbilden, dass sie göttlicher Natur
sei, zu göttlichem Leben berufen, sobald der Leib sie freilasse,
wie damals auf kurze Zeit, so dereinst für immer. Welche
Vernunftgründe könnten stärker einen solchen Spiritualismus
befestigen als die eigenste Erfahrung, die schon hier einen
2)
[325] Vorschmack gewährt hatte von dem, was einst für immer sein
werde?


Wo sich auf dem angedeuteten Wege die Ueberzeugung
von der selbständigen Fortdauer der Seele nach dem Tode
ihres Leibes zu dem Glauben an Göttlichkeit und Unsterb-
lichkeit der Seele steigert, da bildet sich aus der allen naiven
Völkern und Menschen naheliegenden Unterscheidung zwischen
„Leib“ und „Seele“ leicht ein Gegensatz zwischen diesen
beiden heraus. Allzu jäh war der Sturz von der Höhe tief-
erregter Lust der in der Ekstase frei gewordenen Seele hinab in
das nüchterne Dasein im leibumschlossenen Leben, als dass nicht
der Leib ein Hemmniss und eine Beschwerung, fast ein Feind
der gottentstammten Seele scheinen sollte. Entwerthung des
alltäglichen Lebens, Abwendung von diesem Leben wird die
Folge eines so gesteigerten Spiritualismus sein, auch schon da
wo solcher, weit entfernt von aller speculativen Begründung, den
Untergrund der religiösen Stimmung eines von den abstracten
Gedanken einer auf Wissenschaft begründeten Bildung noch
ungeplagten Volkes bildet. Eine Spur solcher Herabsetzung
des irdischen Lebens gegen das Glück eines freien Geister-
daseins zeigt sich in dem was Herodot und andere Erzähler
von einzelnen thrakischen Stämmen berichten 1), bei denen der
[326] Neugeborene von seinen Angehörigen mit Klagen empfangen,
der Verstorbene mit Freudenbezeugungen begraben wurde,
weil er nun, allem Leid entronnen, „in voller Glückseligkeit“
lebe 1). Aus der Ueberzeugung der Thraker, dass der Tod
nur der Uebergang zu einem erhöhten Leben der Seele sei,
leitete man die Freudigkeit ab, mit der diese im Kampf dem
Tode entgegen gingen 2). Ja, man schrieb ihnen ein wahres
Todesverlangen zu, weil ihnen „das Sterben schön zu sein
scheine“ 3).


1)


[[327]]

Dionysische Religion in Griechenland. Ihre
Einigung mit apollinischer Religion. Ekstatische
Mantik. Kathartik und Geisterzwang. Askese.


Die Griechen haben, wie vielleicht Gestalt und Verehrung
des Ares, der Musen, von den Thrakern auch den Cult des
Dionysos übernommen und sich zu eigen gemacht. Alle
näheren Umstände der Aneignung entziehen sich unserer
Kunde: sie vollzog sich in jener Zeit jenseits der Schwelle
geschichtlicher Erinnerung, in welcher die Fülle eigener Triebe
und Gedanken, mit entlehnten Gestaltungen fremden Glaubens
unbefangen gemischt, zur griechischen Religion sich zusammen-
schloss.


Der fanatische Dionysosdienst ist schon dem Homer be-
kannt; schon bei ihm trägt der Gott den Namen, durch den
erst griechische Verehrer den Fremden sich vertraut gemacht
haben 1). Dennoch erscheint Dionysos im Epos kaum einige
Male flüchtig im Hintergrund. Er ist nicht der Spender
des Weintrunkes; er gehört nicht zu der Tafelrunde der im
Olymp versammelten grossen Götter; er greift auch in der
[328] Erzählung beider homerischen Gedichte in das Leben und die
Schicksale der Menschen nirgends ein. Es ist nicht nöthig,
für das Zurücktreten des Dionysos in der homerischen Dich-
tung weither geholte Gründe beizubringen. Homers Schweigen
sagt es deutlich genug, dass zu jener Zeit der thrakische Gott
im griechischen Leben und Glauben eine über local be-
schränkten Cult hinausgehende Bedeutung noch nicht ge-
wonnen hatte. Das ist leicht verständlich. Denn nur all-
mählich hat sich in Griechenland der Dienst des Dionysos
Geltung errungen. Von Kämpfen und Widerstand gegen
den fremden und fremdartigen Cult berichten mancherlei Sagen.
Es wird erzählt, wie dionysische Raserei, die Ekstase der dionysi-
schen Tanzfeste, das gesammte Weibervolk mancher Land-
schaften in Mittelgriechenland und dem Peloponnes ergriffen
habe 1). Einzelne Frauen weigern sich, den auf den Berghöhen
in bakchischer Raserei herumschweifenden Genossinnen sich an-
zuschliessen, hier und da widersetzt sich der König des Landes
dem Eindringen dieses tobenden Gottesdienstes. Was uns von
dem Widerstand der Töchter des Minyas in Orchomenos, des
Proitos in Tiryns, der Könige Pentheus von Theben, Perseus
von Argos 2) gegen die eindringende dionysische Cultweise er-
[329] zählt wird, hat freilich, in Wahrheit zeitlos, nur durch die
trügerischen Anordnungskünste der Mythengeschichtschreiber
gelehrter Zeit den Anschein zeitlich bestimmbarer Ereignisse
gewonnen. Und was den Ausgang und die Spitze der meisten
jener Erzählungen bildet: wie die Widerstrebenden selbst, von
um so wilderer Manie überfallen, in bakchischem Wahnsinn
statt des Opferthiers die eigenen Kinder erwürgen und zer-
reissen, oder (wie Pentheus) selbst den rasenden Weibern als
Opferthier gelten und von ihnen zerrissen werden — das sind
Sagen von der Art der vorbildlichen Mythen, durch welche
einzelne Vorgänge des Gottesdienstes, sei es in der Erinne-
rung lebende oder gar noch in der Wirklichkeit übliche Opfer
eines Menschen an dionysischen Festen, ein Vorbild und recht-
fertigende Erklärung an einem für geschichtlich wahr genom-
menen Vorgang der Sagenzeit gewinnen sollen 1). Dennoch liegt
ein Kern geschichtlicher Wahrheit in diesen Erzählungen. In
ihnen allen ist die Voraussetzung, dass der dionysische Cult
aus der Fremde und als ein Fremdes in Griechenland ein-
gedrungen sei. Wie diese Voraussetzung offenkundig dem
thatsächlichen Verlauf der Ereignisse entspricht, so kann es
auch nicht leere Erdichtung sein, was die Sage, hieran un-
mittelbar anschliessend, von dem heftigen Widerstand, den
dieser und eben nur dieser Cult an mehreren Stellen Griechen-
2)
[330] lands 1) gefunden habe, berichtet. Wir müssen anerkennen,
dass in solchen Sagen sich geschichtliche Erinnerungen er-
halten haben, in die Form gekleidet welche alle älteste grie-
chische Ueberlieferung annimmt, die mythische, die alle
Ereignisse der Wirklichkeit und ihre Zufälligkeiten zu Typen
von vorbildlicher Allgemeingiltigkeit verdichtet.


Nicht ohne Widerstand also scheint sich, von Norden her
nach Böotien, von Böotien nach dem Peloponnes vordringend,
der dionysische Cult ausgebreitet zu haben. In Wahrheit
müsste man, auch wenn keinerlei Berichte uns hiervon redeten,
voraussetzen, dass unter Griechen ein tief gewurzelter Wider-
wille sich gegen den verwirrenden Taumel des thrakischen
Cultes gewehrt, die Abneigung ursprünglichsten Instinctes sich
gesträubt haben werde, in diesen überschwänglichen Erregungen
sich ins Grenzenlose der Empfindung zu verlieren. Was
thrakischen Weibern anstehn mochte, das zügellose Herum-
schweifen in nächtlichen Bergfeiern, dem konnte, als einem
Bruche aller Sitte und Sittsamkeit, griechisches Bürgerthum
nicht ohne Kampf nachgeben 2). Die Weiber waren es, die
der neu eindringende Cult in einem wahren Taumel der Be-
geisterung fortgerissen zu haben scheint 3), ihnen zunächst mag
er seine Einführung zu verdanken gehabt haben. Was uns
von der Unwiderstehlichkeit und der allgemeinen Ausbreitung 4)
der bakchischen Tanzfeste und ihrer Aufregungen berichtet
wird, lässt an die Erscheinungen solcher religiösen Epidemien
denken, deren manche auch in neueren Zeiten bisweilen ganze
Länder überfluthet hat. Man mag sich namentlich der Be-
[331] richte von der gewaltsam sich verbreitenden Tanzwuth erinnern,
die bald nach den schweren körperlichen und seelischen Er-
schütterungen, mit denen der „schwarze Tod“ im 14. Jahr-
hundert Europa heimgesucht hatte, am Rhein ausbrach und
Jahrhunderte lang sich nicht ganz beschwichtigen liess. Ein
unwiderstehliches Verlangen trieb die von der Sucht Ergriffenen
zum Tanzen. Die Umstehenden wurden durch einen krankhaften
Zwang der Mitempfindung und Nachahmung ebenfalls in die
Wirbel des Tanzes gerissen. So breitete sich das Leiden
epidemisch aus; und es zogen grosse Schwärme der Tanzen-
den, Männer, Weiber und Mädchen, durch das Land. Un-
verkennbar lassen auch die erhaltenen dürftigen Berichte noch
den religiösen Charakter dieser Tanzerregung erkennen, welche
auch der Geistlichkeit als „eine Ketzerei“ galt. Die Tänzer
riefen den Namen des heiligen Johannes, oder auch die
Namen „gewisser Dämonen“ an; Hallucinationen und Visionen
religiöser Art begleiteten ihre Entzückungen 1). War es eine
ähnliche religiöse Volkskrankheit, die in Griechenland, vielleicht
im Gefolge der tiefen Beunruhigung des seelischen Gleich-
gewichts, welche die zerstörende Völkerwanderung, die man die
dorische nennt, mit sich bringen musste, die Gemüther für
die Aufnahme des thrakischen Dionysos und seiner enthusia-
stischen Tanzfeiern empfänglich machte? Auf jeden Fall brach
sich, anders als jene mittelalterliche Bewegung, diese Erregung
nicht an einer schon befestigten und abgeschlossenen, anders
gearteten Religion und Kirche. Das Eindringen und Vor-
schreiten der Dionysosreligion in Griechenland wird uns in dem
täuschenden Helldunkel des Mythus nur halb erkennbar. Das
aber liegt ja klar vor Augen, dass der bakchische Cult, wenn
[332] auch wohl nach Ueberwindung manches Hemmnisses, sich be-
festigte in Hellas, sich siegreich über Festland und Inseln
ausbreitete, und im Laufe der Zeit jene weit und tiefreichende
Bedeutung im griechischen Leben gewann, von der die home-
rischen Gedichte noch keine Vorstellung geben konnten.


2.


Es war nicht mehr ganz der altthrakische Dionysos, der
den übrigen grossen Göttern des griechischen Olymps, als
einer ihresgleichen, zur Seite trat. Sein Wesen hellenisirt und
humanisirt sich. Städte und Staaten feiern ihm Jahresfeste,
in denen er als Spender des begeisternden Trankes der Rebe,
als dämonischer Schützer und Förderer alles Wachsthums und
Gedeihens im Pflanzenreiche und der ganzen Natur, als gött-
liche Verkörperung des ganzen Umfanges und Reichthums
natürlicher Lebensfülle, als Vorbild gesteigerter Lebensfreude
gefeiert wird. Die Kunst, als höchste Blüthe alles Muthes
und Uebermuthes zum Leben, gewinnt ins Unermessliche An-
schauung und Anregung aus dem dionysischen Cult. Der
letzte Gipfel griechischer Dichtung, das Drama, steigt aus den
Chören dionysischer Feste empor.


Wie aber die Kunst des Schauspielers, in einen fremden
Charakter einzugehn und aus diesem heraus zu reden und zu
handeln, immer noch in dunkler Tiefe zusammenhängt mit
ihrer letzten Wurzel, jener Verwandlung des eigenen Wesens,
die, in der Ekstasis, der wahrhaft begeisterte Theilnehmer an
den nächtlichen Tanzfesten des Dionysos an sich vorgehen fühlt:
so haben sich in allen Wandlungen und Umbildungen seines
ursprünglichen Wesens die Grundlinien des Dionysos, wie er
aus der Fremde zu den Griechen gekommen war, nicht völlig
verwischt. Es blieben, abseits von dem heiteren Getümmel der
dionysischen Tagesfeste, wie sie namentlich Athen beging,
Reste des alten enthusiastischen Cultes bestehen, der nächtlich
durch die thrakischen Berge tobte. An vielen Orten erhielten
[333] sich trieterische Feste 1), an denen in periodischer Wiederkehr
die „Epiphanie“ des Dionysos, seine Erscheinung auf der Ober-
welt, sein Aufsteigen aus dem unterweltlichen Reiche, bei
nächtlicher Weile gefeiert wurde. An die uranfängliche Art
des Dionysos, des Herrn der Geister und Seelen, der freilich
ein ganz anderes Gesicht zeigte, als der weiche und zärtliche
Weingott jüngerer Zeit, gemahnte noch mancher Zug dionysi-
scher Feste, besonders in Delphi, aber auch in Athen 2). Die
ekstatische Unbändigkeit, die finstere Wildheit der alten
Dionysosfeste verschwand nicht überall, an den trieterischen
Festen, an den Agrionien und Nyktelien die man an manchen
orten dem Gotte zu Ehren beging 3), hielten sich kenntliche
[334] Spuren davon, inmitten aller Feinheit griechischer Civilisation.
Hier fielen selbst Menschenopfer dem furchtbaren Gotte 1).
Die äusseren Zeichen der Verzücktheit, das Rohessen, das
Würgen und Zerreisen von Schlangen durch die Bakchen ver-
schwanden nicht 2). Und der bakchische Wahnsinn, durch
den die Feiernden sich in die Gemeinschaft des Gottes und
seiner Schaaren emporschwangen, verschwand so wenig vor
dem sanfteren Zauber des freundlichen Weingottes und seiner
Feste, dass nunmehr das Rasen und „Besessensein“ im Cult
des Dionysos fremden Völkern für eine eigenthümlich helleni-
sche
Form des Gottesdienstes gelten konnte 3).


3)


[335]

So verschwand auch Empfindung und Verständniss für den
Orgiasmus und seine zwingende Gewalt nicht. Noch schlägt
uns aus den „Bakchen“ des Euripides der Zauberdunst enthu-
siastischer Erregung entgegen, wie er sinnverwirrend, Bewusst-
sein und Willen bindend, Jeden umfing, der sich in den Macht-
bereich dionysischer Wirkung verirrte. Wie ein wüthender
Wirbel im Strome den Schwimmenden, wie die räthselhafte
Eigenmacht des Traumes den Schlafenden, so packt ihn der
Geisterzwang, der von der Gegenwart des Gottes ausgeht und
treibt ihn wie er will. Alles verwandelt sich ihm, er selbst
scheint sich verwandelt. Jede einzelne Gestalt des Dramas
verfällt, wie sie in diesen Bannkreis tritt, dem heiligen Wahn-
sinn; noch heute lebt in den Blättern des Gedichtes etwas von
der Macht der Seelenüberwältigung dionysischer Orgien und
lässt eine Ahnung von diesen fremdartigen Zuständen in den
Leser übergehn.


Wohl als eine Nachwirkung der tiefen bakchantischen Er-
regung, die einst als Epidemie Griechenland durchflammt hatte
und noch immer in periodischer Wiederkehr in dionysischen
Nachtfeiern aufzuckte, verblieb dem griechischen Naturell eine
morbide Anlage, eine Neigung zu plötzlich kommenden und
wieder gehenden Störungen des normalen Vermögens der Wahr-
nehmung und Empfindung. Vereinzelte Nachrichten reden
uns von epidemisch ganze Städte ergreifenden Anfällen solches
vorübergehenden Wahnsinns 1). Eine den Aerzten und Psycho-
logen ganz geläufige Erscheinung war jene, nach den dämoni-
schen Begleitern der phrygischen Bergmutter benannte, religiös
gefärbte 2) Wahnsinnsform des Korybantiasmus, in der ohne
äusseren Anlass der Leidende Gestalten seltsamer Art sah,
[336] Flötenklang hörte, in heftigste Aufregung gerieth und von un-
widerstehlicher Tanzwuth ergriffen wurde 1). Solchem enthusia-
stischen Drange zur Entladung und damit zur Heilung und
„Reinigung“ dienten die mit Tanz und Musik, vornehmlich den,
in empfänglichen Seelen Begeisterung weckenden Flötenweisen
der altphrygischen Meister, begangenen Weihefeste der phry-
gischen Gottheiten 2). Das Ekstatische soll in diesem Ver-
[337] fahren nicht unterdrückt und ausgerottet werden; es wird nur
in eine priesterlich-ärztliche Zucht genommen und wie ein be-
lebender Trieb dem Gottesdienste eingefügt.


2)


Rohde, Seelencult. 22
[338]

In gleichem Sinne fand in Griechenlands hellster Zeit der
dionysische Enthusiasmus Duldung und Pflege. Auch die
schwärmerischen Nachtfeiern des thrakischen Gottes, den phry-
gischen Festen innerlich verwandt und bis zu vielfacher gegen-
seitiger Vermischung nahestehend, dienen der „Reinigung“ der
ekstatisch aufgeregten Seele. Der Theilnehmer an solchen
Festen „weiht, durch die Berge bakchisch rasend, seine Seele
in die Schaaren des Gottes ein, mit heiligen Reinigungen“ 1).
Die Reinigung geschieht auch hier durch Aufstachelung der
Seele zum Uebermaass religiöser Erregung; als „Bakcheus“
weckt Dionysos den heiligen Wahnsinn, den er selbst durch
dessen höchste Steigerung zuletzt, als Lysios, Meilichios, der
Lösung und Besänftigung zuführt 2). Dies ist eine auf griechi-
schem Boden und aus griechischer Sinnesweise heraus voll-
zogene Fortbildung des altthrakischen Aufregungscultes. Die
Sage setzt, in vorbildlich bedeutender Erzählung, diese voll-
endende Ausbildung des dionysischen Dienstes in fernste Vor-
zeit. Schon hesiodische Gedichte 3) erzählten, wie die Töchter
des Königs Proitos von Tiryns in dionysischem Wahnsinn 4)
2)
[339] durch die Gebirge des Peloponnes schweiften, zuletzt aber,
sammt den zahlreichen Weibern die sich ihnen angeschlossen
hatten, geheilt und „gereinigt“ wurden durch Melampus, den
sagenberühmten pythischen Seher 1). Die Heilung geschah durch
eine Steigerung der dionysischen Erregung „mit Jauchzen
und begeisternden Tänzen“ 2) und Anwendung gewisser kathar-
tischer Mittel 3). Melampus hebt den dionysischen Dienst und
4)
22*
[340] seinen Enthusiasmus nicht auf, er regelt und vollendet ihn
vielmehr; darum kann er dem Herodot als Begründer des
dionysischen Cultes in Griechenland gelten 1). Dabei kennt die
Sage diesen „Begründer“ der dionysischen Feste durchaus als
einen Anhänger apollinischer Religionsweise; „dem Apoll
besonders lieb“ hat er von Apoll die Sehergabe empfangen,
die sich in seinem Geschlechte vererbte 2). In ihm stellt die
Sage, typisch gestaltet, eine Versöhnung des Apollinischen
und Dionysischen dar, die als Thatsache völlig der Geschichte,
wenn auch nicht der Geschichte uralter Zeit, angehört.


Denn Apollo trat, wohl nach längerem Widerstreben, in
engen Bund mit dem so verschieden gearteten göttlichen Bruder,
3)
[341] dem griechisch gewordenen Dionysos. In Delphi muss der
Bund geschlossen sein. Dort ja, auf den Höhen des Parnass,
an der korykischen Höhle, fand zur Zeit der Wintersonnen-
wende jedes zweiten Jahres die trieterische Nachtfeier des
Dionysos statt, in der Nähe des über Delphi herrschenden
Apollo; ja, in dessen eigenem Tempel zeigte man das „Grab“
des Dionys 1), an dem, während die Thyiaden auf den Bergen
schwärmten, apollinische Priester eine geheime Feier begingen 2).
Das delphische Festjahr war, zu ungleichen Theilen zwar,
zwischen Apoll und Dionys getheilt 3). Dionysos hatte festen
Fuss in Delphi gefasst 4); so eng war die Gemeinschaft der
Götter, dass die Giebelfelder des Tempels, wie vorn den
Apoll, so hinten den Dionys, und zwar den Dionys der ek-
statischen nächtlichen Bergfeiern zeigten. Selbst an dem
trieterischen Feste hatte Apollo Antheil 5); Beiworte und Attri-
bute tauschen Beide aus; zuletzt schien gar alle Verschieden-
heit zwischen ihnen aufgehoben 6).


Es war im Alterthum unvergessen, dass in Delphi, dem
strahlenden Mittelpunkt seines Cultus, Apollo ein Eindringling
[342] war; unter den älteren Göttergewalten, die er dort zurückdrängte,
wird auch Dionysos genannt 1). Aber die delphische Priester-
schaft lernte die Nachbarschaft des ihrem Gotte ursprünglich
so fremdartigen ekstatischen Cultes des thrakischen Gottes
ertragen; er mag zu lebenskräftig gewesen sein, um, gleich
der Verehrung der im Traume Weissagung spendenden Erdgott-
heit, sich beseitigen zu lassen. Apoll wird der „Herr in
Delphi“, aber die Priesterschaft des delphischen Apollo nimmt,
ganz gemäss dem Streben nach religiöser Universalität das un-
verkennbar in ihr lebendig war, den dionysischen Cult in ihren
Schutz. Das delphische Orakel ist es gewesen, das den Cult
des Dionysos in Landschaften eingeführt hat, denen er bis
dahin fremd gewesen war, nirgends erfolgreicher und folgen-
reicher als in Attika 2). Diese Förderung der dionysischen
[343] Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen
mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere
beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver-
breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen
zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von
dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen,
nichts spüren liessen.


Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber-
schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten
Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle
ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des
Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst
ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult
zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten
Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im
Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos-
cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht-
feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi-
schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen
Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch-
delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her-
kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals
aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme-
rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb 1).


2)


[344]

3.


Bei aller Zähmung und Mässigung seines äusseren Ge-
bahrens blieb dem dionysischen Culte, als unterster Grund
seines Wesens, ein oft drohend oder lockend hervorscheinen-
der Zug ins ekstatisch Ueberschwängliche. Und so mächtig
war noch bei der Verschmelzung apollinischer und dionysischer
Religion, wie sie in Delphi sich vollzog, der ekstatische Trieb
in dem dionysischen Wesen, dass von ihm etwas in den, ur-
sprünglich aller Ekstase urfremden apollinischen Cult hinüber-
floss.


Die Begeisterungsmantik, welche durch Steigerung der
Seele des Menschen ins Göttliche dieser Kenntniss des Ver-
borgenen verleiht, ist nicht von jeher griechischer Religion eigen
gewesen. Homer kennt wohl die „kunstmässige“ Weissagung,
in der eigens geschulte Seher aus der Deutung frei erschei-
nender oder von Menschen absichtlich ins Spiel gebrachter
Zeichen den Willen der Götter in der Gegenwart und für die
Zukunft zu erforschen wissen. Und dies ist die Art der
Weissagung, die Apoll den Sehern verleiht 1). Aber die aus
momentaner Begeisterung kommende, „kunstlose und unlehr-
bare“ Wahrsagung 2) ist den homerischen Gedichten nicht
bekannt 3). Neben den selbständig thätigen zünftigen Wahr-
1)
[345] sagern kennt die Odyssee und wohl auch schon die Ilias auch
die geschlossenen, durch den Namen des Gottes, mit dessen
Dienst sie verbunden waren, die Bedeutung und Glaubhaftig-
keit ihrer Sprüche verbürgenden Orakelinstitute am Heilig-
thum des Zeus zu Dodona, am Tempel des Apollo zu Pytho 1).
Erst in der Odyssee wird einmal dem apollinischen Orakel ein
Einfluss auf die grossen Angelegenheiten des Völkerlebens zu-
getraut. Aber ob damals bereits in Delphi eine inspirirte
Prophetin weissagte, lassen die Gedichte nicht erkennen. Es
muss dort in alter Zeit ein Loosorakel unter dem Schutze des
Apollo bestanden haben 2); an dieses wird man wohl eher
denken wollen bei der Erwähnung des Orakels in einer Dich-
tung, die von den auffallenden Erscheinungen ekstatischer
Mantik nirgends 3) Kenntniss zeigt 4).


Auf jeden Fall ist dem apollinischen Cult das, was, in
überlegtester Ausbildung, dem delphischen Orakel später eine
3)
[346] so einzig wirksame Kraft gab, die Inspirationsmantik erst im
Laufe der Zeit zugewachsen. Einst hatte zu Pytho, über dem
Felsspalt, aus dem der erregende Erddunst aufstieg, ein Orakel
der Gaia bestanden, in dem vermuthlich die Rathsuchenden
durch nächtliche Wahrträume belehrt wurden 1). Apollo setzte
sich an die Stelle der Erdgöttin, hier wie an anderen Orakel-
stätten 2). Die Triftigkeit der Ueberlieferung, die dies berichtet,
bekräftigt die delphische Tempellegende selbst in dem, was sie
von der Erlegung des Erdorakelgeistes Python durch Apoll
erzählt 3). Der Wechsel mag sich allmählich vollzogen haben;
zuletzt weissagte, wo einst die Erdgottheit unmittelbar zu der
Seele des Träumenden geredet hatte, ebenfalls in unmittel-
barer, nicht hinter Zeichen versteckter Mittheilung Apollo den
Menschen, die ihn wachen Sinnes befragten, indem er selbst
aus dem Munde der ekstatisch erregten Priesterin sprach.


[347]

Diese delphische Inspirationsmantik steht von der alten
apollinischen Zeichendeutungskunst eben so weit ab, wie sie
der Weise der Mantik, die wir mit dem thrakischen Dionysos-
cult seit Alters verbunden fanden 1), nahekommt. In Griechen-
land hat Dionysos, wie es scheint, kaum hie und da eine
Priesterschaft gefunden, die ein bleibend an einen bestimmten
Ort und Tempel gebundenes Weissagungsinstitut errichtet und
unterhalten hätte. An dem einzigen dionysischen Orakel in
Griechenland aber, von dem wir sicher wissen, weissagte im
Enthusiasmus ein von dem Gotte „besessener“ Priester 2).
Enthusiasmus und Ekstase sind überall die erregenden Mächte,
wie aller religiösen Empfindung in dionysischem Cult, so auch
der Weissagung aus Dionysos. Wenn wir nun den Apollo
gerade in Delphi, an der Stätte seiner innigsten Verbindung
mit Dionys, seiner alten Art der Wahrsagung durch Zeichen-
deutung untreu geworden, sich der Weissagung in der Ek-
stase zuwenden sehen, so werden wir nicht im Zweifel darüber
sein, woher Apollo diese ihm neue Weise entlehnt hat 3).


Mit der mantischen Ekstase nimmt Apollo selbst in seine
Religion ein dionysisches Element auf. Von nun an kann er,
[348] der sonst so gehaltene, stolze und spröde, mit Beinamen be-
zeichnet werden, die bakchische Erregung und Selbstvergessen-
heit ausdrücken. Er heisst der Schwärmende, der Bakchische;
bezeichnend nennt ihn Aeschylus „den epheugeschmückten
Apollo, den bakchisch Erregten, den Wahrsager“ (fr. 341).
Nun ist es Apollo, der vor anderen Göttern die „Raserei“ in
menschlichen Seelen hervorruft 1), die sie hellsichtig macht
und das Verborgene erkennen lässt. An nicht wenigen Orten
gründen sich Orakelstätten, an denen Priester oder Prie-
sterinnen in rasender Verzückung verkünden, was ihnen Apollo
eingiebt. Vorbild blieb doch das pythische Orakel. Dort
wahrsagte die Pythia, eine jungfräuliche Priesterin, durch den
berauschenden Aushauch der Erdspalte, über der sie auf dem
Dreifuss sass, erregt, und von dem Gotte selbst und seinem
Geiste erfüllt 2). Der Gott, so war der Glaube, fährt in den
irdischen Leib, oder die Seele der Priesterin, von ihrem Leibe
„gelöst“, vernimmt mit Geistersinn die göttlichen Offenbarun-
gen 3). Was sie dann „mit rasendem Munde“ verkündigt, das
[349] spricht aus ihr der Gott; wo sie „ich“ sagt, da redet Apollo
von sich und dem was ihn betrifft 1). Was in ihr lebt, denkt
und redet, so lange sie rast, das ist der Gott selbst.


4.


Aus unerforschten Tiefen muss die Bewegung religiösen
Verlangens mit Macht hervorgebrochen sein, die mitten im
Herzen griechischer Religion in der ekstatischen Weissagung
der delphischen Seherin einen mystischen Keim einpflanzen
konnte. Die Einführung der Ekstase in den geordneten Be-
3)
[350] stand des delphischen Religionswesens ist selbst nur ein Sym-
ptom einer solchen Bewegung, nicht ihre Ursache. Nun aber,
bestätigt durch den Gott selbst und die Erfahrungen, welche
die delphische Mantik vor Augen zu rücken schien, musste,
wie längst in dionysischem Glauben und Cult, auch in ächt
und ursprünglich griechischer Religion, der dieser von Anfang
an fremde Glaube sich vollends befestigen, dass ein Zustand
der aufs höchste angespannten Empfindung den Menschen über
den eingeschränkten Horizont seines gewöhnlichen Bewusstseins
zu der Höhe unbegrenzten Schauens und Wissens emporreissen
könne, dass menschlichen Seelen die Kraft, auf Momente,
wirklich und ohne Wahn mit dem Leben der Gottheit zu leben,
nicht versagt sei. Dieser Glaube ist der Quellpunkt aller
Mystik. Wie er in jenen Zeiten sich wirkend ausbreitete, lässt
die Ueberlieferung noch in einzelnen dunklen Spuren erkennen.


Zwar der öffentliche Gottesdienst griechischer Staaten hielt
sich, wo er nicht etwa durch fremdländische Einflüsse bestimmt
war, nach wie vor in engeren Schranken des Maasses und der
Klarheit. Wir hören wenig von dem Eindringen ekstatischer
Aufregung in altgriechischen Göttercult 1). Ein über jene
Schranken hinausstrebender religiöser Drang fand auf anderen
Wegen sein Genüge. Es standen Leute auf, die aus eigener
Bewegung unternahmen zwischen der Gottheit und dem be-
dürftigen einzelnen Menschen zu vermitteln, Naturen, muss
[351] man denken, von einer zum Schwärmerischen gesteigerten Er-
regbarkeit, einem heftigen Zug und Schwung aufwärts ins
Unerreichbare. Nichts in griechischer Religionsverfassung hin-
derte solche Männer oder Frauen, eine religiöse Wirksamkeit,
die ihnen nicht durch die Autorität der Religionsgemeinde des
Staates zugestanden war, einzig auf die Beglaubigung durch
ihr eigenes Bewusstsein, durch ihre eigene Erfahrung von gött-
licher Begnadung 1), von innigerem Zusammenhang mit gött-
lichen Mächten, zu begründen.


In dem Dunkel dieser gährenden Werdezeit vom achten
bis ins sechste Jahrhundert sehen wir schattenhaft sich manche
Gestalten solcher Art bewegen, die sich jenen, rein durch
unmittelbar göttliche Gnadengabe (χάρισμα) zu ihrem Werke
bestellten, ohne Anschluss an die bestehenden Gemeinden durch
die Länder wandernden Propheten, Asketen und Exorcisten
der ersten Werdezeiten des Christenthums vergleichen lassen.
Was uns von Sibyllen und Bakiden, einzeln und ohne
Auftrag bestehender Orakelinstitute wirkenden, aller Zukunft
kundigen, weissagend die Länder durchwandernden Weibern
und Männern berichtet wird, sind freilich nur Sagen, aber
solche die einen in voller Wirklichkeit bestehenden Zustand,
zu einzelnen Bildern verdichtet, festhalten. Die Benennungen
selbst: Sibyllen, Bakiden, nicht Eigennamen, sondern Bezeich-
nungen je einer ganzen Gattung ekstatischer Propheten 2),
[352] verbürgen uns das einstige Vorhandensein eben der mit diesen
Namen zu bezeichnenden Gattungen. Das Auftreten solcher,
von der Gottheit inspirirten Propheten in manchen Landschaften
des griechischen Kleinasiens und des alten Griechenlands ge-
hört zu den bezeichnenden Erscheinungen des Religionslebens
einer wohl bestimmbaren Zeit, jener verheissungsvollen Zeit,
welche dem philosophischen Zeitalter der Griechen unmittelbar
2)
[353] voranliegt. Die spätere, von philosophischem Aufklärungstriebe
beherrschte Zeit machte auf das Fortwirken der göttlichen
Begnadung, die einst die Sibylle und den Bakis zu ihren
Weisheitsblicken befähigt hatte, in der eigenen Gegenwart so
wenig Anspruch, dass sich Propheten aus zweiter Hand, wie
sie damals in Massen aufstanden, zu begnügen pflegten, ge-
schriebene Orakelsprüche, in denen die Vorhersagungen der
alten gottbegeisterten Seher festgehalten sein sollten, hervor
zu ziehen und bei nüchternen Sinnen auszulegen 1). Das Zeit-
alter der enthusiastischen Propheten lag also damals ab-
geschlossen in der Vergangenheit. Eben jene damals auf-
tauchende Litteratur der sibyllinisch-bakidischen Wahrsprüche,
die ja unendlichen Anwachsens fähig war, hat dann freilich
beigetragen, die Gestalten der Träger jener verschollenen Pro-
phetengabe vollends im mythischen Nebel zu verflüchtigen.
Immer höher schob sich hier die Reihe der Ereignisse hinauf,
die sie vorausgesagt haben sollten, und immer mehr wich die,
vor den frühesten vorausgesagten Ereignissen anzusetzende
Lebenszeit der Propheten in urälteste Vergangenheit zurück 2).
Rohde, Seelencult. 23
[354] Dennoch fand die wissenschaftliche Chronologie des Alterthums,
unbeirrt durch die trügerischen Anzeichen der prophetischen
Dichtungen, Anlass, die Lebenszeit einzelner Sibyllen, d. h.
für unsere Auffassung, das Zeitalter der griechischen Propheten
im Ganzen, auf voll geschichtliche Zeit, das achte und siebente
Jahrhundert, festzusetzen 1).


2)


[355]

Wir dürfen in dem, was uns von der Art dieser Pro-
pheten berichtet wird, Schattenbilder einer einst sehr leben-
digen Wirklichkeit erkennen, Erinnerungen an sehr auffallende
und eben darum nie ganz dem Gedächtniss entschwundene
Erscheinungen des Religionslebens der Griechen. Die Bakiden
und Sibyllen sind einzelne, nicht ausserhalb alles Zusammen-
hanges mit geordnetem Göttercult stehende, aber an keinen
Tempelsitz gebundene, nach Bedürfniss den Rathsuchenden zu-
1)
23*
[356] wandernde Wahrsager, insoweit den homerischen Zeichendeutern
gleich 1) und Fortsetzer ihrer Thätigkeit. Aber sie sind von
diesen völlig verschieden in der Art ihrer Weissagung. Wie
der Gott sie ergreift, im ekstatischen Hellsehen, verkünden sie
alles Verborgene. Nicht zunftgerechtes Wissen lehrt sie An-
zeichen, die Jeder sehn kann, nach ihrer Bedeutung auslegen;
sie sehen was nur der Gott sieht und die Seele des Menschen,
die der Gott ausfüllt 2). In rauhen Tönen, in wilden Worten 3)
stösst, in göttlichem Wahnsinn, die Sibylle hervor, was nicht
eigene Willkür, sondern der Zwang der göttlichen Uebermacht
sie sagen lässt, der sie in Besitz genommen hat. Noch belebt
sich die Ahnung solches dämonischen Seelenzwanges in seiner,
für die von ihm Gepackten vollkommen wirklichen Furchtbar-
keit an den erschütternden Klängen, die im „Agamemnon“
Aeschylos seiner Kassandra geliehen hat, dem Urbild einer
[357] Sibylle, das die Dichtung der Zeitgenossen jenes griechischen
Prophetenzeitalters in sagenhafte Vorwelt zurückgespiegelt
hatte 1).


5.


Die Thätigkeit des Sehers war nicht auf die Voraussicht
und Vorausverkündigung der Zukunft beschränkt. Von einem
Bakis wird erzählt, wie er in Sparta die Weiber von einer
epidemisch unter ihnen verbreiteten Raserei „gereinigt“ und
befreit habe 2). Aus jenem Prophetenzeitalter schreibt es sich
her, wenn auch später es zu den Obliegenheiten des „Sehers“
gehörte, bei Krankheiten, vornehmlich des Geistes, zur Heilung
mitzuwirken 3), Schaden aller Art durch seltsame Mittel ab-
zuwenden, namentlich bei „Reinigungen“ religiöser Art Rath
[358] und Hilfe zu bieten 1). Die Gabe oder Kunst der Wahrsagung,
der Reinigung des ‚Befleckten‘, der Heilung von Krankheiten
schien aus Einer Quelle zu fliessen. Man wird nicht lange im
Zweifel darüber sein, welches der einheitliche Grund der Be-
fähigung zu dieser dreifachen Thätigkeit ist. Die Welt un-
sichtbar den Menschen umschwebender Geister, den Gewöhn-
lichen nur in ihren Wirkungen empfindlich, ist dem ekstatisch
wahrsagenden Mantis, dem Geisterseher, vertraut und zugäng-
lich. Als Geisterbanner wirkt er da, wo er Krankheiten zu
heilen unternimmt 2). Abwehrung gefährlicher Wirkungen
aus dem Reiche der Geister ist ihrem Ursprung und Wesen
nach auch die Kathartik.


Die Ausbildung und wuchernde Ausbreitung der, in den
homerischen Gedichten kaum in den ersten leichten Andeu-
tungen 3) sich ankündigenden Vorstellungen von überall drohen-
[359] der „Befleckung“ und deren Beseitigung durch die Mittel einer
religiösen Reinigungskunst, ist ein Hauptkennzeichen der angst-
beflissenen, über die Heilsmittel des von den Vätern ererbten
Cultes hinausgreifenden Frömmigkeit nachhomerischer Zeit.
Denkt man vorzugsweise daran, dass nun auch solche Hand-
lungen eine Reinigung fordern, die, wie Mord und Blutver-
giessen, eine moralische Bedrückung des Thäters voraussetzen
lassen 1), so ist man leicht versucht, in der Entwicklung der
Kathartik ein Stück der Geschichte der griechischen Moral zu
sehen, als ihren Grund sich eine zartere und tiefere Ausbildung
des „Gewissens“ zu denken, das von den Flecken der „Sünde“
durch religiöse Hülfe rein zu werden sich gesehnt habe. Aber
eine solche (sehr beliebte) Auslegung der Kathartik verschliesst
sich selbst die Einsicht in deren wahren Sinn und wirkliches
Wesen. Mit einer selbständig entwickelten, auf den bleibenden
Forderungen eines über allem persönlichen Wollen und Be-
lieben, auch der dämonischen Machthaber, stehenden Sitten-
gesetzes begründeten Moral ist, in späteren Zeiten, die Ka-
thartik wohl in Wettstreit und Widerstreit, sehr selten in
förderlichen Einklang getreten. Ihrem Ursprung und Wesen
nach steht sie zur Sittlichkeit und dem, was wir die Stimme
des Gewissens nennen würden, in keiner Beziehung. Es be-
gleitet und fordert ihre Ausübung kein Gefühl der Schuld, der
eigenen inneren Verschuldung, der eigenen Verantwortlichkeit.
Alles, was uns von kathartischen Uebungen begegnet, lässt
dies erkennen und verstehen.


Ceremonien der „Reinigung“ begleiten das menschliche
Leben in seinem ganzen Verlauf. „Unrein“ ist die Wöchnerin
3)
[360] und wer sie berührt hat, unrein auch das neugeborene Kind 1);
die Hochzeit umgiebt eine Reihe von Reinigungsriten; unrein
ist der Todte und alles was ihm nahegekommen ist. Ein sitt-
licher Makel ist ja gewiss bei diesen verbreitetsten und all-
täglichen Reinigungsacten nicht abzuwischen, nicht einmal
symbolisch. Ebensowenig wenn man nach einem schlimmen
Traumgesicht 2), beim Eintreten von Prodigien 3), nach Ueber-
stehung einer Krankheit, nach Berührung von Opfern für die
Unterirdischen, oder von Denkmälern der Todten, oder wenn
[361] man für Haus und Heerde 1), für Wasser und Feuer 2), im
heiligen oder profanen Gebrauch, rituale Reinigungen für nöthig
hielt. Die Reinigung dessen, der Blut vergossen hat, steht
völlig auf derselben Linie. Sie war auch dem unerlässlich, der
im rechtmässigen Streit oder ohne Absicht und Vorwissen einen
Menschen erschlagen hatte; die sittliche Seite des Geschehenen,
sittliche Schuld oder Nichtschuld des Thäters blieb ganz un-
beachtet oder unbemerkt: auch wo überlegter Mord vorliegt,
wird doch Reue des Mörders oder sein „Wille sich zu be-
kehren“ 3) niemals zum vollen Gelingen der „Reinigung“ ge-
fordert.


[362]

Es konnte auch nicht anders sein. Denn die „Befleckung“,
welche hier mit religiösen, unbegreiflich wirksamen Mitteln
beseitigt werden soll, ist gar nicht „Menschen im Herzen“; sie
haftet dem Menschen als ein Fremdes und von aussen Kom-
mendes an, und kann sich von ihm wie der Gifthauch einer an-
steckenden Krankheit verbreiten. Darum ist auch die Reinigung
vollkommen zu bewirken durch die nach dem heiligen Brauch
richtig angewandten Mittel einer äusseren Abwaschung (durch
Wasser aus fliessenden Quellen, Flüssen oder dem Meere 1)) und
3)
[363] Abreibung 1), Austilgung des Schädlichen (durch Feuer oder
auch nur durch Räucherung), Aufsaugung (durch Wolle, Thier-
vliesse, Eier 2) u. s. w.


[364]

Ein Feindliches, dem Menschen Schädliches wird so ge-
tilgt: es muss, da es nur durch religiöse Mittel getroffen werden
kann, dem Dämonenreiche, auf welches allein die Religion und
ihre Heilwirkungen sich beziehen, angehören. Es giebt ein
Geistervolk, dessen Nähe und Berührung schon den Menschen
verunreinigt, indem sie ihn den Unheimlichen zu eigen giebt 1).
Wer ihre Wohnstätten, ihre Opfer berührt, ist ihnen verfallen,
sie können ihm Krankheit, Wahnsinn und Uebel aller Art an-
thun. Wie ein Geisterbanner wirkt der Reinigungspriester,
der von der Macht der umschweifenden Unholden den Leiden-
den befreit. Ganz deutlich wirkt er als solcher, wo er Krank-
heiten, d. h. die Krankheit sendenden Geister durch seine
Handhabung abwendet 2); wo er zu seinen Reinigungsvornahmen
2)
[365] Epoden, Beschwörungsformeln singt, die stets ein angeredetes
und hörendes unsichtbares Wesen voraussetzen 1); wo er Erz-
klang dazu ertönen lässt, dessen Kraft es ist, Gespenster zu
verscheuchen 2). Wo vergossenes Menschenblut eine „Reini-
gung“ nöthig macht, vollzieht diese der Reinigungspriester
2)
[366] „durch Mord den Mord vertreibend“1), indem er das Blut eines
Thieres dem Befleckten über die Hände rinnen lässt. Hier
ist der Reinigung deutlich der Charakter eines stellvertretenden
Opfers (des Thieres statt des menschlichen Thäters) erhalten2).
Damit wird der Groll des Todten abgespült, und dieser Groll
eben ist die Befleckung, die zu tilgen ist3). Opfer, bestimmt
von dem Zorn der Unsichtbaren, und eben damit von einer
„Befleckung“ eine ganze Stadtgemeinde zu befreien, waren auch
jene Sündenböcke, elende Menschen, die man, „zur Reinigung
der Stadt“, am Thargelienfeste oder auch bei ausserordent-
lichen Veranlassungen in ionischen Städten, auch in Athen,
in alter Zeit schlachtete oder steinigte, und verbrannte 4). Aber
2)
[367] dass auch die Reinigungsmittel, mit denen im Privatleben der
Einzelne und sein Haus von den Ansprüchen unsichtbarer
Mächte gelöst werden sollte, als Opfer für diese Mächte ge-
dacht wurden, lässt deutlich genug die Sitte erkennen, diese
Mittel, nachdem sie der „Reinigung“ gedient hatten, auf die
Dreiwege zu tragen, und den unheimlichen Geistern, die dort
ihr Wesen treiben, zu überlassen. So verwendete Reinigungs-
mittel sind geradezu identisch mit Seelenopfern, oder auch mit
den „Hekatemahlzeiten“ 1). Hieran ganz besonders lässt sich
4)
[368] merken, welche Einwirkungen eigentlich die Kathartik ab-
zuwenden strebt. Nicht einem im Herzen sich regenden Schuld-
bewusstsein, einer empfindlicher gewordenen Sittlichkeit hatte
sie genug zu thun; vielmehr war es abergläubische Angst vor
einer unheimlich die Menschen umschwebenden und mit tau-
send Händen drohend aus dem Dunkel nach ihnen langenden
Geisterwelt, die den Reiniger und Sühnepriester um Hilfe und
Abwehr der eigenen Phantasieschreckbilder anrief.


6.


Es sind die „Unholden“ der Dämonenwelt griechischen
Glaubens, deren Eingriffe in menschliches Leben der hell-
sichtige Mantis durch seine „Reinigungen“ abwehren will.
Unter ihnen wird besonders kenntlich Hekate mit ihrem
Schwarm. Eine alte Schöpfung religiöser Phantasie, ohne
Zweifel, gleichwohl in den homerischen Gedichten nie erwähnt,
spät erst von örtlich beschränkter Verehrung zu allgemeiner
Anerkennung, nur an einzelnen Orten über häuslichen und
privaten Cult zu der Feier im öffentlichen Gottesdienst der
Städte vorgedrungen 1). Ihr Dienst scheut das Licht, wie der
ganze Wust unheimlicher Wahnvorstellungen, der ihn umrankt.
1)
[369] Hekate ist eine chthonische Göttin1), in der Unterwelt ist ihre
Stelle. Aber sie findet leichter als andere Unterirdische den
Weg zu den lebenden Menschen. Wo eine Seele sich mit
dem Leibe verbindet, bei Geburt und Wochenbett ist sie nahe2);
wo eine Seele sich vom Leibe scheidet, bei Leichenbegäng-
nissen, ist sie zur Stelle; unter den Wohnplätzen der Ab-
geschiedenen, inmitten der Grabsteine und dem Graus des
Todtencultes, vor dem die Himmlischen zurückscheuen, ist ihr
wohl3). Sie ist die Herrin der noch an die Oberwelt gebun-
Rohde, Seelencult. 24
[370] denen Seelen. Im Zusammenhang mit uraltem Seelencult am
Heerde des Hauses1) steht es, wenn Hekate selbst „in der
Tiefe des Heerdes“ wohnend gedacht2), und mit dem unter-
weltlichen Hermes, ihrem männlichen Gegenbilde, unter den
Hausgöttern, „die von den Vorfahren hinterlassen worden
waren“, verehrt wird3).


Dieser häusliche Cult mag ein Vermächtniss aus ältester Zeit
sein, in der man im traulichen Verkehr mit den Unterirdischen
noch nicht eine „Befleckung“ davon zu tragen fürchtete4). Spä-
teren Zeiten war Hekate Führerin und Anstifterin alles Spuks
und gespenstischen Gräuels. Sie begegnet dem Menschen oft
plötzlich zu seinem Schaden nachts oder in der träumenden
Oede blendender Mittagsgluth in schreckerregenden Gestalten,
3)
[371] die wie Traumerscheinungen unstät wechseln und wanken1).
Die Namen vieler weiblicher Höllengeister, von denen das Volk
zu erzählen wusste: Gorgyra (Gorgo), Mormo, Lamia, Gello
oder Empusa, das Mittagsgespenst, bezeichnen im Grunde nur
wechselnde Verwandlungen und Erscheinungen der Hekate2).
24*
[372] Am liebsten erscheint sie in der Nacht, beim halben Lichte
des Mondes, auf den Kreuzwegen; nicht allein: sie hat ihren
„Schwarm“, ihre Dienerinnen, die sie begleiten. Das sind die
Seelen derer, die der Bestattung und ihrer heiligen Gebräuche
nicht theilhaftig geworden sind, oder die mit Gewalt um das
2)
[373] Leben gebracht oder „vor der Zeit“ gestorben sind1). Solche
Seelen finden nach dem Tode keine Ruhe; sie fahren nun im
2)
[374] Winde daher mit der Hekate und ihren dämonischen Hun-
1)
[375] den1). Nicht ohne Grund fühlt man sich bei solchen Vorstellungen
an Sagen vom wilden Jäger und dem wüthenden Heere er-
innert2), wie sie in neueren Zeiten bei manchen Völkern um-
liefen. Gleicher Glaube hat hier wie dort die gleichen Bilder
hervorgerufen, die sich gegenseitig erläutern. Vielleicht fehlt
auch ein historischer Zusammenhang nicht3). Diese nächtlich
[376] umherschweifenden Seelengeister bringen allen denen sie be-
gegnen, oder die sie überfallen, „Befleckung“ und Unheil, angst-
volle Träume, Alpdrücken, nächtliche Schreckgesichte, Wahn-
sinn und Epilepsie1). Ihnen, den unruhigen Seelen und ihrer
Herrin Hekate, stellt man am letzten Monatstage die „Hekate-
mahle“ an die Kreuzwege2), ihnen wirft man, mit abgewen-
detem Gesicht, die Ueberreste der Reinigungsopfer hin3), um
3)
[377] sie abzuhalten von menschlichen Wohnungen; sowie man der
Hekate, zur „Reinigung“ und daher als „abwehrendes“ Opfer,
junge Hunde schlachtet.


Gräuelhafte Vorstellungen aller Art knüpfen sich hier
leicht an: dies ist eine der Quellen, aus denen, durch andere
griechische und zahlreiche fremdländische Wahngebilde an-
geschwellt, ein trüber Strom ängstigenden Aberglaubens durch
das ganze spätere Alterthum, und durch das Mittelalter bis
tief in neuere Zeiten sich ergossen hat.


3)


[378]

Schutz und Abwehr suchte man bei den Sehern und
Reinigungspriestern, die, ausser mit Reinigungsceremonien und
Beschwörungen, mit mancherlei seltsamen Vorschriften und
Satzungen Hilfe brachten, die, ursprünglich nach der eigen-
thümlichen Logik des Aberglaubens ganz wohl begründet, auch
da noch, wo man ihren Sinn längst vergessen hatte, gläubig
festgehalten und weiter überliefert wurden, wie Zauberformeln.
Andere trieb schauernde Neugier, das Reich naheschwebender
Geister, von deren Treiben so manche Sage Wunderliches be-
richtete1), noch näher heranzuziehen. Durch Beschwörungs-
künste zwingen sie die irrenden Seelen und Hekate selbst zu
erscheinen2); die Macht des Zaubers soll sie nöthigen, den
Gelüsten des Beschwörers zu dienen, oder seinen Feinden zu
schaden3). Diese Gestalten aus dem Seelenreiche sind es,
[379] welche abzuhalten oder magisch heranzuziehen, die Zauberer
und Geisterbanner verhiessen. Der Glaube kam ihnen ent-
gegen; doch ist nicht denkbar, dass sie bei Durchführung ihrer
Verheissungen Betrug und Frevel fernhalten konnten.


7.


Wir kennen die mantische und kathartische Bewegung
und was sich aus ihr entwickelte kaum anders als im Zustand
3)
[380] der Entartung. Auch in die hier versuchte andeutende Dar-
stellung dieser merkwürdigen Seitentriebe griechischer Religion
mussten Züge aus den Bildern aufgenommen werden, die von
diesem ganzen Wesen eine spätere, längst über Mantik und
Kathartik hinausgewachsene Zeit uns hinterlassen hat. Neben
einer, auf die wirklichen, von innen treibenden Gründe des
Werdens und Geschehens in der weiten Welt und dem be-
schränkten Menschendasein ernstlich den Blick richtenden
Wissenschaft; neben einer, nüchtern und vorsichtig den Be-
dingungen menschlichen Leibeslebens in Gesundheit und Krank-
heit nachforschenden Heilkunde, war die Kathartik, die Mantik
und die ganze aus ihnen hervorgequollene Fülle der Wahn-
ideen stehn geblieben, wie ein Erbstück überwundener Vor-
stellungsweise, immer noch in weiten Kreisen ungestört alt-
gläubigen Volkes lebendig und wirksam, aber von den Gebildeten
und frei Gewordenen als ein anstössiger Zaubertrödel und
Bettelpfaffenunfug verachtet.


So kann dieses Gebilde religiösen Triebes nicht von jeher
ausgesehen haben, so kann es nicht angesehen worden sein,
als es zuerst wirksam hervortrat. Eine Bewegung, deren sich
das delphische Orakel eifrig annahm, der griechische Staaten
vielfach Einfluss auf die Gestaltung ihrer Culteinrichtungen
gewährten, muss eine Zeit gehabt haben, in der sie volles
Recht zum Dasein hatte. Sie muss den Bedürfnissen einer
Zeit entsprochen haben, in der eine bereits erwachte Ahnung
tief verschlungener Zusammenhänge alles Seins und Werdens
sich noch an einer religiösen Deutung aller Geheimnisse ge-
nügen liess, und ein Eindringen in die, dunkel alles umwogende
Geisterwelt einzelnen Auserwählten ernsthaft gläubig zugestand.
Jede Zeit hat ihr eigenes Ideal der „Weisheit“. Es gab eine
Zeit, der das Vorbild des „Weisen“, des aus eigener Kraft
zu beherrschender Einsicht und Geistesmacht aufgestiegenen
Menschen sich verkörperte in einzelnen grossen Gestalten, in
denen die höchste Vorstellung von Wissen und Wirken des
ekstatischen Sehers und Reinigungspriesters sich vollendet dar-
[381] zustellen schien. In halb sagenhaften Berichten, in denen
spätere Zeit die Erinnerung an jene, der philosophischen
Naturergründung voranliegende Periode festgehalten hat, ist uns
von grossen Meistern geheimnissvoller Weisheit Kunde erhalten,
denen zwar mehr ein zauberhaftes Können als ein rein denkendes
Erfassen des dunklen Naturgrundes zugeschrieben wird, denen
aber doch, wie selbst die uns zugekommene dürftige Ueber-
lieferung noch erkennen lässt, aus ihrem Werk und Wirken
bereits Ansätze zu einer theoretisch rechtfertigenden Betrach-
tung erwuchsen. Man kann sie nicht Philosophen nennen,
auch nicht Vorläufer griechischer Philosophie, vielmehr geht
ihr Blick nach einer Richtung von der sich kräftig abzuwen-
den wichtigste und mit Bewusstsein, wenn auch nicht ohne
Schwanken und Rückfälle durchgeführte Aufgabe der philo-
sophischen Selbstbefreiung des Geistes wurde. Sie stellen sich
zu den Zauberern und Geisterbannern, die in der Lichtdäm-
merung der Geistesgeschichte der Culturvölker, als wunderliche
erste Typen des forschenden Menschen, dem Philosophen vor-
auszugehen pflegen. Alle gehören sie dem Kreise der eksta-
tischen Seher und Reinigungspriester an.


Von den Hyperboreern, aus dem fernen Wunderlande, in
das Apollo im Winter verschwindet, kam, der Sage nach,
Abaris, vom Gotte gesandt, nach Griechenland; ein heiliger
Mann, keiner menschlichen Nahrung bedürftig. Den goldenen
Pfeil, das Wahrzeichen seiner apollinischen Art, in der Hand,
zog er durch die Länder, Krankheiten abwendend durch Zauber-
opfer, Erdbeben und andere Noth voraussagend. Man las noch
in später Zeit Weissagungen und „Reinigungen“ unter seinem
Namen 1). — Wie seiner, so des Aristeas hatte schon Pindar
[382] gedacht 1). Aristeas, in seiner Vaterstadt Prokonnesos ein an-
gesehener Mann, hatte die Zaubergabe der lang andauernden
1)
[383] Ekstase. Wenn seine Seele „von Phoebos ergriffen“ seinen
Leib verliess, so erschien sie, als sein anderes Ich, sichtbar
an fernen Orten 1). So war er, als Gefolgsmann des Apollo,
1)
[384] mit diesem einst in Metapont erschienen; ein dauerndes Denk-
mal seiner Anwesenheit und des Erstaunens, das seine be-
geisterten Verkündigungen erweckt hatten, blieb ein ehernes
Standbild auf dem Markte der Stadt 1). — Ueber andere Ge-
1)
[385] stalten von verwandtem Typus 1) ragt hervor Hermotimos
von Klazomenae, dessen Seele „auf viele Jahre“ den Leib
1)
Rohde, Seelencult. 25
[386] verlassen konnte, und, zurückgekehrt von ihren ekstatischen
Fahrten, mantische Kunde des Zukünftigen mitbrachte. Zu-
letzt verbrannten Feinde den seelenlos daliegenden Leib des
Hermotimos, und seine Seele kehrte niemals wieder 1).


1)


[387]

Als Grossmeister unter diesen zauberhaft begabten Män-
nern erscheint in der Ueberlieferung Epimenides, von Kreta,
einem alten Sitze kathartischer Weisheit 1) stammend, in dem
Culte des unterirdischen Zeus 2) in eben dieser Weisheit be-
festigt. In märchenhafter Einkleidung wird berichtet von seinem
langen Aufenthalt in der geheimnissvollen Höhle des Zeus auf
dem Ida, seinem Verkehr mit den Geistern des Dunkels, seinem
harten Fasten 3), den langen Ekstasen seiner Seele 4), und wie
1)
25*
[388] er dann, voll bewandert in „enthusiastischer Weisheit“ 1), aus
seiner Einsamkeit wieder ans Licht kam. Nun zog er durch
die Länder mit seiner heilbringenden Kunst, als ekstatischer
Seher Zukünftiges verkündend 2), verborgenen Sinn des Ver-
gangenen aufhellend, und als Reinigungspriester aus besonders
dunklen Frevelthaten erwachsenes dämönisches Unheil bannend.
Man wusste von kathartischer Thätigkeit des Epimenides auf
Delos und in anderen Städten 3). Unvergessen blieb nament-
lich, wie er, am Ende des siebenten Jahrhunderts, in Athen
den Abschluss der Sühnung des gottlosen Mordes der An-
[389] hänger des Kylon geleitet hatte 1). Mit wirksamen Ceremonien,
wie nur ihn geheime Weisheit sie kennen gelehrt hatte, mit
[390] Opfern von Thieren und Menschen, beschwichtigte er den
Groll der verletzten und mit diesem Groll die Stadt „be-
fleckenden“ und schädigenden Geister der Tiefe 1). —


Nicht sinnlos bringt spätere Ueberlieferung, um die chrono-
logische Möglichkeit unbekümmert, alle hier genannten Männer
in Verbindung mit Pythagoras oder seinen Anhängern 2), wie
sie denn den jüngsten aus dieser Reihe, Pherekydes von Syros,
geradezu zum Lehrer des Pythagoras zu machen pflegt. Nicht
zwar die Philosophie, wohl aber die Praxis der pythagoreischen
Secte wurzelt in den Vorstellungen dieser Männer und der
1)
[391] Zeit, die sie als Weise verehrte, in dem was man ihre Lehre
nennen kann. Noch lassen vereinzelte Spuren erkennen, dass
die Vorstellungen, die ihre Thätigkeit und ihr Leben bestimm-
ten, in den Köpfen dieser Visionäre, die doch mehr als nur
Praktiker eines zauberhaften Religionswesens waren, sich zu
einer Einheit zusammenzuschliessen strebten. Wie weit die
Phantasiebilder vom Werden der Welt und der Götter, die
Epimenides 1) und Pherekydes ausführten, mit dem Thun und
Wirken dieser Männer zusammenhängen mochten, wissen wir
nicht 2). Wenn aber von Hermotimos berichtet wird, dass er,
ähnlich wie später sein Landsmann Anaxagoras, eine Scheidung
zwischen dem reinen „Geiste“ und dem Stofflichen angenommen
habe 3), so sieht man deutlich, wie diese Theorie aus seinen
„Erfahrungen“ hervorging. Die Ekstasen der Seele, von denen
Hermotimos selbst und dies ganze Zeitalter der verzückten
Seher so vielfache Erfahrung machte, wiesen als auf eine stark
bezeugte Thatsache hin auf die Trennbarkeit der „Seele“ vom
Leibe, auf höheres Dasein der Seele in ihrem Sonderdasein 4).
[392] Leicht musste der Leib, in Gegensatz zu der nach Freiheit
strebenden Seele gestellt, als das Hindernde, Fesselnde, Ab-
zuthuende erscheinen. Die Vorstellungen der überall drohenden
4)
[393] „Befleckung“ und Verunreinigung, durch Lehre und Thätigkeit
eben der zahlreichen Sühnpriester, als deren höchsten Meister
wir Epimenides kennen, genährt, hatten allmählich selbst den
öffentlichen Cult so mit Reinigungsceremonien durchsetzt, dass
es den Anschein haben könnte, als sei die griechische Religion
auf dem Wege gewesen, sich zu einer Reinheitsreligion, einem
westlichen Brahmanismus oder Zoroastrismus zu entwickeln.
Wem einmal der Gegensatz zwischen Leib und Seele geläufig
geworden war, der musste, zumal wenn er selbst in kathar-
tischen Ideen und deren praktischer Ausübung lebte, fast noth-
wendig der Gedenke kommen, dass auch die Seele zu „reini-
gen“ sei vom Leibe als einem befleckenden Hemmniss. Fast
populär geworden, begegnet uns diese Vorstellung in einzelnen
Sagen und Redewendungen, in denen die Vernichtung des
Leibes im Feuer als eine „Reinigung“ des Menschen aufgefasst
und bezeichnet wird 1). Wo sich dieser Gedanke, das volle
Widerspiel zu der homerischen Auffassung des Verhältnisses
von Leib und Seelenabbild, tiefer einbohrte, musste er zu einer
Aufforderung werden, schon bei Leibesleben die Reinigung der
Seele vorzubereiten durch Verleugnung und Verwerfung des
Leibes und seiner Triebe. Zu einer rein negativen, nicht auf
innerer Umbildung des Willens, sondern allein auf Abwehr
des von aussen herantretenden störenden und befleckenden
Uebels von der Seele des Menschen bedachten Moral, einer
theologisch-asketischen Moral, wie sie später für eine wichtige
Geistesbewegung des Griechenthums bezeichnend wurde, ist
hier der Anstoss gegeben. So dürftig und abgerissen auch
[394] die Berichte über die Weisen dieser vorphilosophischen Zeit
sind, es schimmert doch noch hindurch, dass zur Askese
(wie sie in der Nahrungsenthaltung des Abaris und Epimenides
deutlich exemplificirt ist 1)) sie ihre Geistesrichtung geführt
hatte. Wie weit sie auf diesem Wege vorgeschritten waren,
ist freilich nicht zu sagen.


Das asketische Ideal fehlt auch Griechenland nicht. Aber
es bleibt, so mächtig es an einzelnen Stellen eingreift, unter
Griechen stets ein Fremdes, unter spiritualistischen Schwärmern
eingenistet, der allgemein herrschenden Lebensstimmung gegen-
über eine Paradoxie, fast eine Ketzerei. Die öffentliche Re-
ligion entbehrt nicht aller Keime einer asketischen Moral; aber
ihre volle Entwicklung aus einer religiösen Gesammtansicht hat
die Askese in Griechenland nur unter Minoritäten gefunden,
die sich in geschlossenen Conventikeln theologischer oder philo-
sophischer Richtung absonderten. Jene „Weisen“, deren Ideal-
bilder die Sagen von Abaris, Epimenides u. s. w. darstellen,
standen als Einzelne asketischen Idealen nicht fern. Bald
regte sich auch der Versuch, auf dem Boden dieser Ideale
eine Gemeinde zu gründen.


[[395]]

Die Orphiker.


Von orphischen Secten und ihren Gebräuchen redet uns
kein älteres Zeugniss als das des Herodot (2, 81), der die
Uebereinstimmung ägyptischer Priester in gewissen priesterlich
asketischen Vorschriften mit den „orphischen und bakchischen“
Geheimdiensten hervorhebt, die in Wahrheit ägyptisch und
pythagoreisch, d. h. nach ägyptischem Vorbilde von Pythagoras
oder Pythagoreern eingerichtet seien, und somit, nach der
Meinung des Historikers, nicht vor den letzten Jahrzehnten
des sechsten Jahrhunderts begründet sein konnten. Herodot
hat also, sei es in Athen oder anderswo auf seinen Reisen,
von geschlossenen Gemeinden vernommen, die durch ihre Be-
nennung nach Orpheus, dem sagengepriesenen Vorbild thra-
kischer Sangeskunst, selbst die Herkunft ihres eigenthümlichen
Cultus und Glaubens aus Thrakiens Bergen bekannten, und
Bakchos, den thrakischen Gott, verehrten. Dass in der
That die griechischen Orphiker vor allen anderen Göttern dem
Dionysos, dem Herrn des Lebens und des Todes, ergeben
waren, bezeugen deutlich die Reste der, aus ihrer Mitte her-
vorgegangenen theologischen Dichtung. Orpheus selbst, als
Stifter der orphischen Secte gedacht, heisst der Begründer
dionysischer Weihen 1).


[396]

Was sich nun in Orpheus Namen zu einem eigenthüm-
lich gestalteten Cult des Dionysos zusammenthat, das waren
Secten, die in abgeschlossener Gemeinschaft einen Cultus
begingen, den der öffentliche Götterdienst des Staates nicht
kannte oder verschmähte. Es gab solcher, inmitten der Städte
und ihres geordneten Religionswesens abgesondert sich halten-
der, vom Staate geduldeter 1) Gemeinden viele und mannich-
faltige. Zumeist waren es „fremdländische Götter“ 2), denen
hier, wenn auch Einheimische nicht ausschliessend, Fremde
nach der Weise ihrer Heimath Verehrung darbrachten. Dio-
nysos nun, der Gott der orphischen Secten, war in griechi-
schen Ländern längst kein Fremder mehr; aus Thrakien ein-
gewandert, war er im Laufe der Zeit, geläutert und gereift
an der Sonne griechischer Menschlichkeit, ein griechischer Gott
geworden, ein würdiger Genosse des griechischen Olymps.
Aber in dieser Umwandlung mochte den Verehrern des alt-
thrakischen Dionysos der Gott sich selbst entfremdet scheinen,
[397] dem sie eben darum, vom öffentlichen Cult abgesondert, einen
eigenen Dienst zu widmen sich zusammenschlossen, in dem alle
Gedanken der heimischen Religion sich ungeschwächt ausprägen
konnten. Eine nachströmende Welle brachte noch einmal aus
Norden zu dem längst hellenisirten Dionysos den thrakischen
Gott nach Griechenland, den jetzt der öffentliche Cult noch-
mals sich zu assimiliren nicht die Kraft oder den Willen hatte.
So suchte er seine Verehrung in Secten, die nach eigenem
Gesetz die Gottheit ehrten. Ob es Thraker waren, die,
gleich dem ungemilderten Culte der Bendis 1), der Kotytto, so
auch ihren altheimischen Dionysoscult mitten in griechischen
Ländern aufs Neue aufrichteten, wissen wir nicht. Aber für
griechisches Leben hätte dieser Sondercult keine Bedeutung
gewonnen, wenn nicht griechische Männer, in den Gedanken-
kreisen griechischer Frömmigkeit heimisch, sich ihm angeschlos-
sen und unter dem Namen der „Orphiker“ doch wieder, wenn
auch auf andere Weise als vordem griechischer Staatscult, den
thrakischen Gott griechischer Empfindungsweise angeeignet
hätten. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass orphische
Secten in griechischen Ländern sich gebildet haben vor der
zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts 2), vor jener Wende-
zeit, in der an mehr als Einer Stelle aus der mythischen Vor-
stellungsweise sich eine Theosophie hervorbildete, die zur Philo-
[398] sophie zu werden strebte. Auch die orphische Religionsdich-
tung ist merklich von diesem Bestreben erfüllt; aber im Be-
streben erstarrt sie, und gelangt nicht zu ihrem Ziele.


Der Punct des Hervorspringens dieser religiös-theosophi-
schen Bewegung, Gang und Art ihrer Ausbreitung bleiben uns
verborgen. Athen bildete einen Mittelpunct orphischen Wesens;
entstanden muss es nicht nothwendig dort sein, so wenig wie
vielfache Bestrebung und Thätigkeit in Kunst, Dichtung und
Wissenschaft, die seit der gleichen Zeit, wie durch einen gei-
stigen Zwang angezogen, nach Athen als dem gemeinsamen
Mittelpunct zu strömen begann. Onomakritos, heisst es, der
Orakelverkünder am Hofe des Peisistratos, habe „dem Dionysos
Geheimdienste gestiftet“ 1). Hiemit scheint die erste Begrün-
dung einer orphischen Secte in Athen bezeichnet zu sein.
Onomakritos begegnet auch unter den Verfassern orphischer
Gedichte. Aber deren Mehrzahl wird, als den wahren Ver-
fassern, Männern zugeschrieben, deren Heimath in Unteritalien
und Sicilien lag, und deren Verbindung mit den Kreisen des,
in jenen Gegenden in den letzten Jahrzehnten des sechsten,
den ersten des fünften Jahrhunderts blühenden Pythagoreer-
thums mehr oder weniger deutlich wird 2). Es scheint gewiss,
[399] dass in Unteritalien schon damals orphische Gemeinden bestan-
den: für wen anders könnten jene Männer ihre „orphischen“
Gedichte bestimmt haben? Man muss jedenfalls festhalten, dass
das Zusammentreffen orphischer und pythagoreischer Lehren auf
dem Gebiete der Seelenkunde nicht ein zufälliges sein kann. Fand
etwa Pythagoras, als er (um 532) nach Italien kam, orphische
Gemeinden in Kroton und Metapont bereits vor und trat in
deren Gedankenkreise ein? Oder verdanken (wie Herodot es
sich vorstellte 1)) die nach Orpheus benannten Sectirer ihre
Gedanken erst dem Pythagoras und dessen Schülern? 2) Wir
können nicht mehr mit voller Deutlichkeit unterscheiden, wie
hier die Fäden hin und wieder liefen. Wenn aber wirklich die
Pythagoreer allein die Gebenden gewesen wären, so würde
ohne Zweifel die gesammte orphische Lehre mit solchen Vor-
stellungen durchsetzt sein, die zu dem eigenthümlichen Besitz
der pythagoreischen Schule gehören. Jetzt finden wir in den
Trümmern orphischer Gedichte ausser geringfügigen Spuren
pythagoreischer Zahlenmystik 3) nichts, was nothwendiger Weise
[400] erst aus pythagoreischer Quelle den Orphikern zugeflossen sein
müsste 1). Die Seelenwanderungslehre und deren Ausführung
braucht am wenigsten solchen Ursprung zu haben. Es mag
also selbständig ausgebildete orphische Lehre auf Pythagoras
und seine Anhänger in Unteritalien gewirkt haben, wie es viel-
leicht aus Unteritalien hinübergebrachte, fertig entwickelte
orphische Lehren waren, in die (etwa zur gleichen Zeit wie
Pythagoras in Kroton) Onomakritos, der Stifter orphischen
Sectenwesens zu Athen, eintrat. Anders kann man doch kaum
das Verhältniss der Orphiker hüben und drüben zu einander
sich deuten, wenn man erfährt, dass am Hofe der Pisi-
stratiden neben Onomakritos zwei aus Unteritalien herbei-
3)
[401] gezogene Männer thätig waren, die als Urheber orphischer Ge-
dichte galten 1).


2.


Die Orphiker, wo immer sie in griechischen Ländern auf-
traten, sind uns nur als Angehörige geschlossener Cultus-
gemeinden bekannt, die ein eigenthümlich begründeter und
geregelter Gottesdienst zusammenhielt. Der altthrakische Dio-
nysoscult, ins Grenzenlose strebend, schwärmte unter der Weite
des Nachthimmels durch Gebirg und Wald, fern von aller
Civilisation, in reiner Nähe unbezwungener Natur. Wie dieser
Cult sich in die enggezogenen Schranken bürgerlichen Wesens
fügen mochte, ist schwer vorzustellen 2), wenn sich auch denken
lässt, dass vieles ausschweifend Thatsächliche der nordischen
Nachtfeste hier nur in symbolisirender Nachbildung zusammen-
gefasst wurde. Etwas deutlicher tritt diejenige Seite religiös
praktischer Thätigkeit hervor, mit der, ausserhalb ihrer ge-
schlossenen Conventikel, die Orphiker sich der profanen Welt
zuwandten. Wie Orpheus selbst, als Vorbild der Seinen, in
Rohde, Seelencult. 26
[402] der Ueberlieferung nicht nur als gottbegeisterter Sänger, son-
dern auch als Seher, zauberhaft wirkender Arzt und Reini-
gungspriester erscheint 1), so waren die Orphiker auf allen
diesen Gebieten thätig 2). Mit dem altthrakischen Dionysos-
cult traten bei den griechischen Orphikern die, auf heimischem
Boden entwickelten kathartischen Vorstellungen in einen nicht
unnatürlichen Bund. Die orphischen Reinigungspriester wurden
von manchen Gläubigen anderen ihresgleichen vorgezogen 3).
Im Innern der orphischen Kreise aber hatten sich aus der
nicht vernachlässigten priesterlichen Thätigkeit der Reinigung
und Abwehr dämonischer Hemmnisse weiter und tiefer drin-
gende Ideen der Reinheit, der Ablösung vom irdisch Ver-
gänglichen, der Askese entwickelt, die, mit den Grundvorstel-
lungen der thrakischen Dionysosreligion verschmolzen, dem
Glauben und der Lebensstimmung der Anhänger dieser Secten
den besonderen Klang, ihrer Lebensführung die eigene Rich-
tung gaben.


Die orphische Secte hatte eine bestimmt festgestellte Lehre.
Hierdurch unterscheidet sie sich, wie vom staatlichen Religions-
wesen, so von den übrigen Cultgenossenschaften jener Zeit.
Die Eingrenzung des Glaubens in bestimmte Lehrsätze mag,
mehr als anderes, der orphischen Religionsweise eine Ge-
meinde
von Glaubensbedürftigen zugeführt haben, wie sie
[403] freilich andere Theologen der Zeit, Epimenides, Pherekydes
u. A. nicht gefunden hatten. Ohne diese religiösen Grund-
lehren ist ein Orphikerthum in Griechenland nicht vorstellbar;
schon der Begründer der orphischen Secte in Athen, Onoma-
kritos, war es, der nach Aristoteles „die Lehren“ des Orpheus
in dichterischer Form dargestellt hatte 1). Wie weit die Thätig-
keit des Onomakritos bei der Ausbildung oder Zusammenord-
nung orphischer Lehrgedichte sich erstreckte, lassen unklare
Angaben später Berichterstatter nicht deutlich erkennen 2).
Bedeutsam ist, dass er mit Bestimmtheit der Verfasser des
Gedichtes der „Weihen“ genannt wird 3). Dieses Gedicht muss
zu den im engeren Sinne religiösen Grundschriften der
Secte gehört haben; in einer Schrift dieses Charakters kann
die Sage von der Zerreissung des Gottes durch die Titanen,
26*
[404] von der Onomakritos gedichtet haben soll, sehr wohl einen
Mittelpunkt gebildet haben 1).


Glaube und religiöser Gebrauch der Secte war auf den
Ausführungen sehr zahlreicher Schriften ritualen und theolo-
gischen Inhalts begründet, die, auf das Ansehen göttlicher
Offenbarungen Anspruch machend 2), sämmtlich als Werke des
Sängers thrakischer Vorzeit, des Orpheus selbst gelten wollten.
Die Hülle, welche die wahren Verfasser jener Dichtungen ver-
barg, muss nicht sehr dicht gewesen sein: noch gegen Ende
des vierten Jahrhunderts meinte man mit Bestimmtheit die
Urheber der einzelnen Gedichte nennen zu können. Eigent-
lich kanonisches Ansehen, vor dem jede abweichende Anschau-
ung und Darstellung zum Schweigen gekommen wäre, scheint
keine dieser Schriften genossen zu haben; insbesondere der
theogonischen Dichtungen, in denen sich die Grundvorstel-
lungen orphischer religiöser Speculation zu gestalten versuchten,
gab es manche 3), die bei aller Uebereinstimmung in der Haupt-
[405] richtung doch in der Ausführung weit auseinanderliefen. Dies
waren in immer neuer Steigerung wiederholte Versuche, die
orphische Lehre im Zusammenhang aufzubauen. In unver-
kennbarem Hinblick auf jene älteste griechische Theologie, die
sich in dem hesiodischen Gedichte niedergeschlagen hatte,
schilderten diese orphischen Theogonien Werden und Entwick-
lung der Welt aus dunklen Urtrieben zu der klar umschrie-
benen Mannichfaltigkeit des einheitlich geordneten Kosmos, als
die Geschichte einer langen Reihe göttlicher Mächte und Ge-
stalten, die aus einander hervorgehen, eine die andere über-
winden, in Weltbildung und Weltregierung ablösen, in sich
das All zurückschlingen, um es, aus Einem Geiste beseelt,
und in aller unendlichen Vielheit Eines, wieder aus sich heraus-
zusetzen. Diese Götter sind freilich nicht mehr Götter von
altgriechischem Typus. Nicht nur die von orphischer Phan-
tastik neu erschaffenen, unter symbolisch bedeutendem Beiwerk
deutlicher sinnlicher Vorstellung fast entzogenen Götterwesen,
auch die aus griechischer Götterwelt entlehnten Gestalten sind
hier wenig mehr als personificirte Begriffe. Wer könnte den
Gott Homers wiedererkennen in dem orphischen Zeus, der,
nachdem er den Allgott verschlungen und „in sich gefasst hat
die Kraft des Erikapaios“ 1) nun selbst das All der Welt ist:
„Anfang Zeus, Zeus Mitte, in Zeus ist Alles vollendet“ 2).
3)
[406] Der Begriff erweitert hier die Person so sehr, dass er sie zu zer-
sprengen droht; er löst die Umrisse der einzelnen Gestalten auf
und lässt sie in bewusster „Göttermischung“ zusammenfliessen 1).


Dennoch ist die mythische Schaale nicht abgeworfen.
Diese Dichter konnten sie nicht völlig abwerfen; ihre Götter
sehnen sich wohl zu reinen Begriffen zu werden, aber es ge-
lingt ihnen nicht ganz, alle Reste der Individualität und sinn-
lich begrenzten Gestaltung abzustreifen, es gelingt dem Begriff
noch nicht ganz unter den Schleiern des Mythus hervorzu-
brechen. Das halb Geschaute, halb Gedachte zugleich der
Phantasie und dem begrifflichen Denken gegenständlich zu
machen, mühten sich, einer den anderen in wechselnder Ein-
kleidung der gleichen Grundvorstellungen ablösend und über-
bietend, die Dichter der verschiedenen orphischen Theogonien
ab, bis als letztes, wie es scheint, das uns aus den Anführungen
der Neoplatoniker allein seinem Gehalte nach genauer bekannte
theogonische Gedicht der vierundzwanzig Rhapsodien einen
Abschluss brachte, in welchem die aufgespeicherten Motive
mythisch symbolischer Lehre bis zur Ueberladung vollständig
aufgenommen und endgiltig zusammengeordnet wurden 2).


2)


[407]

3.


Die Verbindung von Religion und einer halb philosophi-
schen Speculation war eine kennzeichnende Eigenthümlichkeit
2)
[408] der Orphiker und ihrer Schriftstellerei. In ihrer theogonischen
Dichtung war Religion nur insoweit die ethischen Persönlich-
2)
[409] keiten der Götter, von denen sie berichtete, nicht ganz zu
durchsichtigen allegorischen Schemen zergangen waren 1). In der
Hauptsache herrschte hier die Speculation, ohne Rücksicht auf
die Religion, und eben darum unbeschränkt im freien Wechsel
ihrer Gedankengebilde.


Aber die speculative Dichtung lief aus in eine religiöse,
für Glauben und Cult der Secte unmittelbar bedeutende Er-
zählung. Am Ende der genealogisch sich entwickelnden Götter-
reihe stand der Sohn des Zeus und der Persephone, Dionysos,
mit dem Namen des Unterweltgottes Zagreus benannt 2), dem
2)
[410] in kindlichem Alter schon Zeus die Herrschaft der Welt an-
vertraute. Ihm nahen, von Hera angestiftet, in trüglicher Ver-
kleidung die bösen Titanen, die Feinde des Zeus, die früher
schon Uranos überwunden 1), aber Zeus, so scheint es, aus der
Haft des Tartaros wieder frei gegeben hatte. Durch Geschenke
machen sie ihn zutraulich; als er im Spiegel, den sie ihm ge-
schenkt, den Widerschein seiner Gestalt betrachtet 2), über-
fallen sie ihn. Er entzieht sich ihnen in wechselnden Ver-
wandlungen; zuletzt wird er, unter der Gestalt eines Stieres 3),
überwältigt und in Stücke zerrissen, welche die wilden Feinde
verschlingen. Nur das Herz rettet Athene; sie bringt es dem
Zeus, der es verschlingt. Aus ihm entspringt der „neue Dio-
2)
[411] nysos“, des Zeus und der Semele Sohn, in dem Zagreus wieder
auflebt.


Die Sage von der Zerreissung des Zagreus durch die
Titanen hatte schon Onomakritos dichterisch dargestellt 1); sie
blieb der Zielpunkt auf den die orphischen Lehrdichtungen
ausliefen; nicht allein in den Rhapsodien 2), sondern auch in
älteren, von diesen ganz unabhängigen Ausbildungen orphischer
Sage kam sie vor 3). Dies ist eine im engeren Sinne religiöse
Sage. Deutlich tritt ihr aetiologischer Charakter hervor 4), ihre
Bestimmung, die heilige Handlung der Zerreissung des Gott-
stieres in den nächtlichen Bakchosfeiern aus der Legende von
den Leiden des Dionysos-Zagreus nach ihrer religiösen Be-
deutung zu erläutern.


Wurzelt aber hiernach die Sage in altthrakisch rohem
Opferbrauche 5), so steht sie mit ihrer Ausführung ganz in
[412] hellenischen Gedankenkreisen; und in dieser Verbindung erst
ist sie orphisch. Die schlimmen Titanen gehören ächt griechi-
scher Mythologie an 1). Hier zu Mördern des Gottes geworden,
stellen sie die Urkraft des Bösen vor 2). Sie zerreissen den
Einen in viele Theile: durch Frevel verliert sich das Eine
Gotteswesen in die Vielheit der Gestalten dieser Welt 3). Es
ersteht als Einheit wieder in dem neu aus Zeus entsprossenen
Dionysos. Die Titanen aber — so lautete die Sage weiter, —
welche die Glieder des Gottes verschlungen hatten, zerschmet-
tert Zeus durch seinen Blitzstrahl; aus ihrer Asche entsteht
das Geschlecht der Menschen, in denen nun, ihrem Ursprung
5)
[413] gemäss, das Gute, das aus Dionysos-Zagreus stammte, bei-
gemischt ist dem bösen, titanischen Elemente 1).


Mit der Herrschaft des neu erzeugten Dionysos und der
Entstehung der Menschen kam die Reihe der mythischen Be-
gebenheiten in orphischer Dichtung zu Ende 2). Wo der Mensch
[414] eintritt in die Schöpfung 1), da beginnt die gegenwärtige Welt-
periode; die Zeit der Weltrevolutionen ist abgeschlossen. Die
Dichtung wendet sich nun dem Menschen zu, ihm sein Loos,
seine Pflicht und sein Ziel offenbarend.


4.


Dem Menschen ist nach der Mischung der Bestandtheile,
aus denen das Ganze seines Wesens zusammengesetzt ist, der
Weg vorgeschrieben, den sein Streben zu gehen hat. Er soll
sich befreien von dem titanischen Elemente, und rein zurück-
kehren zu dem Gotte, von dem in ihm ein Theil lebendig ist 2).
2)
[415] Die Unterscheidung des Titanischen und Dionysischen im Men-
schen drückt die volksthümliche Unterscheidung zwischen Leib
und Seele in allegorischer Einkleidung aus, die zugleich eine
tief begründete Werthabstufung dieser zwei Seiten mensch-
lichen Wesens bezeichnen will. Der Mensch soll, nach orphi-
scher Lehre, sich frei machen von den Banden des Körpers,
in denen die Seele liegt wie der Gefangene im Kerker 1). Sie
hat aber einen langen Weg bis zu ihrer Befreiung zu vollen-
den. Sie darf nicht selbst ihre Bande gewaltsam lösen 2); und
der natürliche Tod löst sie nur für kurze Zeit. Denn die Seele
muss aufs Neue sich in einen Körper verschliessen lassen. Wie
sie, ausgetreten aus ihrem Leibe, frei im Winde schwebt, wird
sie im Hauche des Athems in einen neuen Körper hinein-
gezogen 3); und so durchwandert sie, wechselnd zwischen fessel-
2)
[416] losem Sonderleben und immer neuer Einkörperung, den weiten
„Kreis der Nothwendigkeit“, als Lebensgenossin vieler Leiber
von Menschen und Thieren. Hoffnungslos scheint sich das
„Rad der Geburten“ 1) in sich selbst zurückzudrehen; in orphi-
scher Dichtung (und dort vielleicht zuerst) taucht der trost-
lose Gedanke einer, beim Zusammentreffen gleicher Bedin-
gungen immer gleichen Wiederholung aller schon durchlebten
Lebenszustände auf 2), eines auch den Menschen in den Wirbel
3)
[417] seiner ziellosen Selbstumkreisung ziehenden, ewig zum Anfang
zurückkehrenden Naturlaufes.


Aber es giebt für die Seele eine Möglichkeit, diesem Ge-
fängnisse der ewigen Wiederkunft aller Dinge zu entspringen;
sie hat die Hoffnung „aus dem Kreise zu scheiden und auf-
zuathmen vom Elend“ 1). Zu freier Seligkeit geschaffen, kann
sie den ihrer unwürdigen Daseinsformen auf Erden zuletzt sich
entschwingen. Es giebt eine „Lösung“; aber die Menschen,
blind und unbedacht, können sich selbst nicht helfen, kaum,
wenn das Heil zur Hand ist, sich ihm zuwenden 2).


Das Heil bringt Orpheus und seine bakchischen Weihen;
Dionysos selbst wird seine Verehrer aus dem Unheil und dem
2)
Rohde, Seelencult. 27
[418] endlosen Qualenweg erlösen. Nicht eigener Kraft, der Gnade
„erlösender Götter“ soll der Mensch seine Befreiung ver-
danken 1). Der Selbstverlass des alten Griechenthums ist hier
gebrochen; schwachmüthig sieht der Fromme nach fremder
Hilfe aus; es bedarf der Offenbarungen und Vermittlungen
„Orpheus des Gebieters“ 2), um den Weg zum Heil zu finden,
und ängstlicher Beachtung seiner Heilsordnung, damit man ihn
gehen könne.


Nicht die heiligen Orgien allein, wie sie Orpheus geordnet
hat, bereiten die Erlösung vor, ein ganzes „orphisches Leben“ 3)
muss sich aus ihnen entwickeln. Die Askese ist die Grund-
bedingung des frommen Lebens. Sie fordert nicht Uebung
bürgerlicher Tugenden, nicht Zucht und sittliche Umbildung
des Charakters ist nothwendig; die Summe der Moral ist hier
Hinwendung zum Gotte 4), Abkehr von allem, was in die Sterb-
lichkeit und das Leibesleben verstrickt. Der grimmige Ernst
freilich, mit dem die Büsser Indiens den eigenen Willen vom
Leben abreissen, an das er mit klammernden Organen sich
festhält, fand unter Griechen, dem Volke des Lebens, auch
bei weltverneinenden Asketen keine Stelle. Die Verschmähung
der Fleischnahrung war die stärkste und auffallendste Enthal-
tung der orphischen Asketen 5). Im Uebrigen hielten sie sich
im wesentlichen rein von solchen Dingen und Verhältnissen,
die das Hangen an der Welt des Todes und der Vergänglich-
[419] keit mehr in religiöser Symbolik vorstellten, als thatsächlich
in sich fassten. Die längst ausgebildeten Vorschriften des
priesterlichen Reinheitsrituals wurden hier ergriffen und ver-
mehrt 1); aber sie gewannen eine erweiterte Bedeutung. Nicht
von dämonischen Berührungen sollen sie den Menschen be-
freien und reinigen; sie machen die Seele selbst rein 2), rein
von dem Leibe und seiner befleckenden Gemeinschaft, rein
vom Tode und dem Gräuel seiner Herrschaft. Zur Busse
einer „Schuld“ ist die Seele in den Leib gebannt 3), der Sünde
Sold ist hier das Leben auf Erden, welches der Seele Tod ist.
Die ganze Mannichfaltigkeit des Daseins, der Unschuld ihrer
Folge von Ursache und Wirkung entkleidet, erscheint diesen
Eiferern unter der einförmigen Vorstellung einer Verknüpfung
von Schuld und Busse, Befleckung und Reinigung.


Und die Orphiker sind es, die sich allein oder vor An-
deren mit dem Namen der „Reinen“ grüssen dürfen 4). Den
27*
[420] nächsten Lohn seiner Frömmigkeit erntet der in den orphi-
schen Weihen Geheiligte in dem Zwischenreich, in das die
Menschen nach dem irdischen Tode einzugehn haben. Wenn
der Mensch gestorben ist, führt „die unsterbliche Seele“ Her-
mes in die Unterwelt 1). Schrecken und Wonnen des unter-
irdischen Reiches offenbarten eigene Dichtungen des orphischen
Kreises 2); was von diesen Verborgenheiten die orphischen
Weihepriester verkündigten, in grober Handgreiflichkeit die
Verheissungen der eleusinischen Mysterien überbietend, mag
der populärste, wenn auch nicht der originellste Theil der
orphischen Lehre gewesen sein 3). Im Hades wartet der Seele
ein Gericht: nicht volksthümlicher Vorstellung, sondern „hei-
liger Lehre“ 4) dieser Sectirer verdankt der Gedanke einer
ausgleichenden Gerechtigkeit im Seelenreiche seine Begründung
und Ausführung. Dem Frevler wird Strafe und Reinigung im
tiefsten Tartarus 5); die in orphischen Orgien nicht Gereinigten
[421] liegen im Schlammpfuhl 1); „Schreckliches erwartet“ 2) den
Verächter des heiligen Dienstes. Nach einer, in antiker Reli-
gion ganz vereinzelt stehenden Vorstellung können „Reinigung
und Lösung“ von Frevelthaten und den Strafen, die diesen
im Jenseits folgen, auch für vorangegangene Verwandte durch
Betheiligung der Nachkommen an orphischem Dienst von den
Göttern erlangt werden 3). Das aber ist der Lohn der eigenen
Theilnahme an den orphischen Weihen, dass wer in ihnen
nicht nur Narthexschwinger, sondern wahrer Bakchos 4) ge-
worden ist, „sanfteres Loos“ hat im Reiche der Unterirdischen,
die er verehrt hat auf Erden, „auf der schönen Wiese am
tiefströmenden Acheron“ 5). Die selige Zuflucht liegt nun, da
sie nur frei gewordene Seelen aufnimmt, nicht mehr, wie das
homerische Elysion, auf der Erde, sondern drunten im Reiche
der Seelen. Dort wird der Geweihete und Gereinigte in Ge-
meinschaft mit den Göttern der Tiefe wohnen 6). Man meint
nicht griechiche, sondern thrakische Idealvorstellungen zu ver-
nehmen, wenn man hört von dem „Mahl der Reinen“ und
der ununterbrochenen Trunkenheit, derer sie geniessen 7).


[422]

Aber die Tiefe giebt zuletzt die Seele dem Lichte zurück,
drunten ist ihres Bleibens nicht. Dort lebt sie nur in der
Zwischenzeit, die den Tod von der nächsten Wiedergeburt
trennt. Den Verworfenen ist dies eine Zeit der Läuterung
und Strafe; mit dem grässlich lastenden Gedanken ewiger
Höllenstrafen können die Orphiker ihre Gläubigen noch nicht
beschwert haben. Denn wieder und wieder steigt die Seele ans
Licht hinauf, um in immer neuen Verkörperungen den Kreis
der Geburten zu vollenden. Nach ihren Thaten im früheren
Leben wird ihr im nächsten Leben vergolten werden; was er
damals Anderen gethan, genau dieses wird der Mensch jetzt
erleiden müssen 1). So erst zahlt er volle Busse für alte Schuld;
der „dreimal alte Spruch“: was du gethan, erleide, bewahr-
heitet sich an ihm noch in ganz anderer Lebendigkeit als durch
alle Qualen im Schattenreiche geschehen könnte. So wird
sicherlich auch dem Reinen durch steigendes Glück in künf-
tigen Geburten gelohnt. Wie sich die Stufenleiter des Glückes
phantastisch aufbaute, entgeht unserer Kenntniss 2).


Die Seele ist unsterblich; auch der Sünder und Unerlöste
kann nicht untergehn, Hades und Erdenleben hält sie in
ewigem Kreislauf gebannt, und das ist ihre Strafe. Aber der
7)
[423] geheiligten Seele kann nicht Hades, nicht Erdenleben den höch-
sten Kranz bieten. Ist sie in orphischen Weihen und orphi-
schem Leben aller Flecken ledig geworden, so wird sie, von
Wiedergeburt befreit, aus dem Kreise des Werdens und Ver-
gehens ausscheiden. Nicht um ins Nichts zu vergehen in end-
gültigem Tode, denn nun erst lebt sie wahrhaft, im Leibe war
sie eingesenkt wie der Leichnam im Grabe 1). Das war ihr
Tod, wenn sie in den irdischen Leib eintrat. Nun ist sie frei
und wird nie mehr den Tod erleiden, sie lebt ewig wie Gott,
die sie selbst vom Gotte stammt. Ob die Phantasie dieser
Theosophen es wagte, sich in bestimmter Vergegenwärtigung
bis in die Höhen seligen Gottlebens zu verlieren, wissen wir
nicht 2). Wir hören in den Resten ihrer Erdichtungen von
Sternen und Mond als anderen Welten 3), vielleicht als Wohn-
plätzen der verklärten Geister 4). Vielleicht auch entliess der
Dichter die aus ihrer letzten Lebenshaft entfliehende Seele ohne
ihr nachblicken zu wollen in den ungebrochenen Glanz, den
kein irdisches Auge verträgt.


[424]

5.


Dies ist im Aufbau der orphischen Religion der alles zu-
sammenhaltende Schlussstein: der Glaube an die göttlich un-
sterbliche Lebenskraft der Seele, der die Verbindung mit dem
Leibe und seinen Trieben eine hemmende Fessel, eine Strafe
ist, deren sie, zu vollem Verständniss ihrer selbst erweckt, ledig
zu werden strebt, um in freier Kraft ganz sich selbst anzu-
gehören. Deutlich ist der volle Gegensatz dieses Glaubens zu
den Vorstellungen homerischer Welt, die der von den Kräften
des Leibes verlassenen Seele nur ein schwaches Schattenleben
bei halbem Bewusstsein zutraute, und eine Ewigkeit götter-
gleich vollkräftigen Lebens nur da sich denken konnte, wo
Leib und Seele, das zwiefache Ich des Menschen in unlösbarer
Gemeinschaft dem Reiche der Sterblichkeit entrückt wäre.
Grund und Ursprung des so ganz anders gearteten orphischen
Seelenglaubens lehren die orphischen Sagen von der Entstehung
des Menschengeschlechts uns nicht kennen: denn sie zeigen
nur den Weg — einen von mehreren Wegen 1) — auf dem
[425] die schon feststehende Ueberzeugung von der Göttlichkeit der
Seele sich aus dem, was man die älteste Geschichte der Mensch-
heit nennen könnte, ableiten und mit der orphischen Götter-
sage in Zusammenhang bringen liess. Diese Ueberzeugung,
dass im Menschen ein Gott lebe, der frei erst wird, wenn er
die Fesseln des Leibes sprengen kann, war im Dionysoscult
und seinen Ekstasen tief begründet; man darf nicht zweifeln,
dass sie mit dem schwärmerischen Dienste des Gottes fertig und
ausgebildet von den orphischen Frommen übernommen worden
ist. Schon in der thrakischen Heimath des Dionysoscultes
haben wir Spuren dieses Glaubens angetroffen. Auch Spuren
einer asketischen Lebensrichtung, wie sie aus solchem Glauben
sich leicht und natürlich entwickelt, fehlen nicht ganz in dem
was uns von thrakischer Religionsübung berichtet wird 1).
1)
[426] Schon in jenen Nordländern fanden wir mit der Dionysosreligion
den Glauben an Seelenwanderung verknüpft, der, wo er naiv
auftritt, zu wesentlicher Voraussetzung die Vorstellung hat,
dass die Seele, um volles und den Tod im Leibe überdauern-
des Leben zu haben, die Verbindung mit einem neuen Leibe
nicht entbehren könne. Den Orphikern ist eben diese Vor-
aussetzung ganz fremd. Sie halten gleichwohl die Lehre von
der Seelenwanderung fest, und verknüpfen sie in eigenthüm-
licher Weise mit ihrem Glauben an die Göttlichkeit der Seele
und deren Berufung zu reiner Freiheit des Lebens. Aber dass
sie jene Lehre selbst erdacht haben, ist offenbar nicht wahr-
scheinlich: ihre Grundvorstellungen führten nicht mit Noth-
wendigkeit zu ihr hin. Herodot 1) behauptet bestimmt, dass
die Seelenwanderungslehre aus Aegypten nach Griechenland
gekommen, und also auch den Orphikern aus ägyptischer Ueber-
lieferung zugekommen sei. Diese Behauptung, um nichts gil-
tiger als so viele Aussagen des Herodot über ägyptische Her-
kunft griechischer Meinungen und Sagen, darf uns um so
1)
[427] weniger beirren, als es keineswegs gewiss und nicht einmal
wahrscheinlich ist, dass in Aegypten ein Seelenwanderungsglaube
überhaupt bestanden hat 1). Dieser Glaube hat sich an vielen
Stellen der Erde selbständig und ohne Ueberlieferung von Ort
zu Ort gebildet 2); er konnte überall leicht von selber ent-
stehen, wo die Vorstellung herrschte, dass die „Seele“ in ihrem
Leibe hause, wie ein fremder Gast in einer Herberge, mit der
ihn keine innere Nothwendigkeit dauernd verbinde. Das ist
aber die Vorstellung der Popularpsychologie aller Völker der
Erde 3). Wenn es gleichwohl wahrscheinlicher ist, dass den
Orphikern die Vorstellung einer Wanderung der Seele durch
viele Leiber nicht spontan entstanden, sondern aus fremder
Ueberlieferung zugekommen ist, so besteht gar kein Grund, der
[428] nächstliegenden Annahme auszuweichen, dass auch diese Vor-
stellung eine der Glaubenslehren war, die mit dem Dionysos-
cult die Orphiker aus Thrakien übernommen haben. Wie
andere Mystiker 1), so haben die orphischen Theologen den
Seelenwanderungsglauben aus populärer Ueberlieferung ange-
[nommen] und ihn dem Gebäude ihrer Lehre als ein dienen-
des Glied eingefügt 2). Er diente ihnen, um dem Gedanken
einer unauflöslichen Verkettung von Schuld und Busse, Be-
fleckung und läuternder Strafe, Frömmigkeit und seliger Zu-
kunft, an dem ihre ganze religiöse Moral hing, eindrucksvolle
sinnliche Gestaltung zu geben, wie sie zu gleichem Dienste
den altgriechischen Glauben an ein Seelenreich in der Tiefe
beibehielten und ausgestalteten.


Aber der Seelenwanderungsglaube behält hier nicht das
letzte Wort. Es giebt ein Reich der ewig freien göttlich leben-
digen Seelen, zu dem die Lebensläufe in irdischen Leibern nur
Durchgangsthore sind: zu ihm weist die Heilslehre orphischer
Mysterien, die Reinigung und Heiligung orphischer Askese den
Weg.


[[429]]

Philosophie.


Die orphische Lehre, in der eine religiöse Bewegung, die
seit Langem Griechenland erregt hatte, sich einen zusammen-
gefassten Ausdruck gab, könnte fast wie ein Spätling erschei-
nen, hervorgetreten zu einer Zeit in der für religiöse Deutung
der Welt und des Menschenthums kaum noch eine Stelle war.
Denn schon war im Osten, an Ioniens Küsten, eine Weltbe-
trachtung aufgegangen, die, sich selber mündig sprechend, ohne
die Leitung altüberkommenen Glaubens ihr Ziel erreichen
wollte. Was in den ionischen Seestädten, den Sammelpunkten
alles Erfahrungswissens der Menschen, an Kunde und Kennt-
niss, fremder und selbsterworbener, der „Natur“, der Erde
und der Himmelskörper, der grossen Lebenserscheinungen in
dieser Welt erhabener Betrachtung zusammenströmte, das
strebte in den, ewiger Verehrung würdigen Geistern, in denen
sich damals die Naturwissenschaft und jede Wissenschaft über-
haupt zuerst begründete, nach Einheit und Gliederung, nach
Ordnung zu einem allumfassenden Ganzen. Aus Beobachtung
und ordnender Betrachtung wagte ein phantasievolles Denken
ein Bild der Welt und der gesammten Wirklichkeit sich auf-
zubauen. Und wie nun in dieser Welt nirgends ein für immer
Starres und Todtes angetroffen wurde, so drang der Gedanke
vor bis zu dem ewig Lebendigen, das dieses All erfüllt und
bewegt und immer neu erbaut, bis zu den Gesetzen, nach
denen es wirkt und wirken muss.


Hier schritt der Geist dieser ersten Pfadfinder der Welt-
weisheit voran, in voller Freiheit von aller Befangenheit in
mythisch-religiöser Vorstellungsweise. Wo der Mythus und
eine aus ihm erwachsene Theologie eine Geschichte höchster
Weltbegebenheiten sah, die sich in einzelnen und einmaligen
[430] Handlungen der bewussten Willkür göttlicher Persönlichkeiten
vollzog, da erkannte der Denker ein Spiel ewiger Kräfte, in
die einzelnen Acte einer historischen Handlung nicht zerlegbar,
weil es, anfangslos und endlos, von jeher in Bewegung war
und rastlos immer gleich sich abrollt nach unveränderlichem
Gesetze. Hier schien kein Raum zu bleiben für Göttergestalten,
die der Mensch nach seinem eigenen Bilde geschaffen hatte
und als lenkende Weltmächte verehrte. Und in der That wurde
hier der Anfang gemacht zu jener grossen Arbeit der freien
Forschung, der es endlich gelang, aus eigener Fülle neue Ge-
dankenwelten zu erbauen, in denen wohnen konnte, wer, da die
alte Religion, die eben damals auf der glänzendsten Höhe äus-
serer Entwicklung innerlich ins Wanken kam, ihm abgethan
und versunken war, doch nicht ins Nichts fallen mochte.


Dennoch hat eine grundsätzliche Auseinandersetzung und
vollbewusste Scheidung zwischen Religion und Wissenschaft in
Griechenland niemals stattgefunden. In wenigen einzelnen
Fällen drängte sich der Religion des Staates die Wahrnehmung
ihrer Unvereinbarkeit mit laut geäusserten Meinungen einzel-
ner Philosophen auf, und sie machte ihre Ansprüche auf Allein-
herrschaft gewaltsam geltend; zumeist flossen durch Jahrhun-
derte beide Strömungen in gesonderten Betten neben einander
her, ohne einander feindlich zu begegnen. Der Philosophie
fehlte von Anbeginn der propagandistische Zug (und auch wo
er spät, wie bei den Cynikern, hervortrat, that er der Herr-
schaft der Staatsreligion kaum erheblichen Eintrag); die Religion
wurde durch keine priesterliche Kaste vertreten, die mit dem
Glauben zugleich ihr eigenstes Interesse verfochten hätte.
Theoretische Gegensätze konnten um so leichter verhüllt und
unbeachtet bleiben, weil die Religion auf ein festes Dogma,
ein weltumspannendes Ganzes von Meinungen und Lehren sich
keineswegs stützte, Theologie, wo solche um die Götterver-
ehrung (εὐσέβεια), als den Kern der Religion, sich schlang, so
gut wie die Philosophie die Sache Einzelner und der An-
hänger war, welche diese ausserhalb des Bereiches der Staats-
[431] religion um sich sammeln mochten. Die Philosophie hat (von
einzelnen besonders gearteten Fällen abgesehen) den offenen
Kampf mit der Religion nicht gesucht, auch nicht etwa die
überwundene Religion in den Ueberzeugungen grosser Massen
abgelöst. Ja, das Nebeneinander von Philosophie und Religion,
selbst Theologie, erstreckte sich in manchen Fällen aus dem
thatsächlichen äusseren Leben bis in die abgeschlossene Ge-
dankenwelt des einzelnen Forschers. Es konnte scheinen, dass
Philosophie und religiöser Glaube Verschiedenes zwar, aber
eben auch aus verschiedenen Reichen des Daseins berichteten;
und auch ernstlich philosophisch Gesinnte konnten in aller
Ehrlichkeit glauben, der Philosophie nicht untreu zu werden,
wenn sie aus dem Glauben der Väter einzelne, selbst grund-
legende Vorstellungen entlehnten, um sie friedlich neben den
philosophischen Eigenmeinungen anzupflanzen.


2.


Was die ionischen Philosophen im Zusammenhang ihrer
kosmologischen Betrachtungen über die menschliche Seele zu
sagen hatten, brachte sie, so neu und erstaunlich es auch war,
nicht unmittelbar in Gegensatz und Streit mit der religiösen Mei-
nung. Mit denselben Worten bezeichneten philosophische und
religiöse Ansicht ganz verschiedene Begriffe; es war nur natür-
lich, wenn von dem Verschiedenen Verschiedenes ausgesagt wurde.


Die volksthümliche Vorstellung, der die homerische Dich-
tung Ausdruck giebt, und mit welcher, bei allem Unterschied
in der Werthabschätzung von Seele und Leib, auch die religiöse
Theorie der Orphiker und anderer Theologen übereinstimmt,
kannte und bezeichnete als „Psyche“ ein geistig-körperliches
Eigenwesen das, woher immer gekommen, im Inneren des
lebendigen Menschen Wohnung genommen hatte, dort als
dessen zweites Ich sein besonderes Leben führte, von dem es
Kunde gab, wenn dem sichtbaren Ich das Bewusstsein ge-
schwunden war, im Traum, in der Ohnmacht, in der Ekstase 1).
[432] So werden Mond und Sterne sichtbar, wenn das hellere Licht
der Sonne sie nicht mehr verdunkelt. Dass dieser Doppel-
gänger des Menschen, von diesem zeitweilig getrennt, ein Son-
derdasein haben könne, war mit seinem Begriff schon gegeben;
dass er im Tode, welcher eben die dauernde Trennung des
sichtbaren Menschen vom unsichtbaren ist, nicht untergehe,
sondern nur frei werde, um allein für sich weiterzuleben, war
naheliegender Glaube.


Auf dieses Geisterwesen und die dunklen Kundgebungen
seiner Anwesenheit im lebendigen Menschen richtete die Philo-
sophie der Ionier ihre Aufmerksamkeit nicht. Sie lebt mit
ihren Gedanken im All der Welt; sie sucht nach den „Ur-
sprüngen“ (ἀρχαί) alles Gewordenen und Werdenden, nach den
einfachen Urbestandtheilen der vielgestaltigen Erscheinung, und
nach der Kraft, die aus dem Einfachen das Mannigfaltige bil-
det, indem sie die Urstoffe durchwaltet, bewegt und belebt.
Die Lebenskraft, die Kraft, sich selbst und anderes, das für
sich allein starr und regungslos wäre, zu bewegen, ist allem
Dasein verschmolzen; wo sie, im geschlossenen Einzelwesen,
sich am kenntlichsten darstellt, ist sie es, was diese Philosophen
„Psyche“ nennen.


So aufgefasst ist die Psyche etwas ganz anderes als jene
Psyche des Volksglaubens, die den Lebensäusserungen ihres
Leibes wie ein Fremdes müssig zusieht, und auf sich selbst
concentrirt ihr verborgenes Einzelleben führt. Der Name dieser
sehr verschiedenen Begriffe bleibt gleichwohl derselbe. Die
Kraft, die den sichtbaren Leib bewegt und belebt, die Lebens-
kraft des Menschen, seine „Psyche“ zu nennen, konnte die
Philosophen ein Sprachgebrauch veranlassen, der, wiewohl
homerischen Vorstellungen, genau genommen, widersprechend,
schon in den homerischen Gedichten bisweilen bemerklich ist
und später immer geläufiger geworden zu sein scheint 1). Ge-
[433] nauer betrachtet ist die „Psyche“ dieser Philosophen eine zu-
sammenfassende Benennung jener Kräfte des Sinnens, Stre-
bens, Wollens (νόος, μένος, μῆτις, βουλή), zu oberst des mit einem
Worte anderer Sprachen nicht zu bezeichnenden ϑυμός, die
nach homerisch-volksthümlicher Zutheilung ganz dem Bereiche
des sichtbaren Menschen und seines Leibes zufallen 1), Aeus-
1)
Rohde, Seelencult. 28
[434] serungen seiner, freilich erst durch den Zutritt der „Psyche“
zu wirklichem Leben erwachenden eigenen Lebenskraft, der
„Psyche“ des homerischen Sprachgebrauchs fast entgegenge-
setzt, im Tode vergehend, wenn die Psyche zu abgesondertem
Schattenleben von dannen schwebt.


Aber die Seele hat nach der Vorstellung der Physiologen
ein ganz anderes Verhältniss zu der Gesammtheit des Lebens
und des Lebendigen, als der homerische ϑυμός oder die home-
rische „Psyche“ haben konnten. Dieselbe Kraft, die in der
Psyche des Menschen, wie in einer örtlichen Anhäufung, be-
sonders bemerklich wird, wirkt und waltet in allem Stofflichen,
als das Eine Lebendige, das die Welt bildet und erhält. Die
Psyche verliert ihre unterscheidende Eigenthümlichkeit, die sie
von allen übrigen Dingen und Wesenheiten der Welt absonderte
und unvergleichbar machte. Mit Unrecht finden späte Bericht-
erstatter schon bei diesen ionischen Denkern, denen Lebens-
kraft und Stoff unmittelbar und unlöslich vereint erschienen,
die Vorstellung einer für sich bestehenden Weltseele. Nicht
als Ausstrahlung der Einen Seele der Welt erschien ihnen die
einzelne Menschenseele, aber auch nicht als ein schlechthin
für sich bestehendes, einzigartiges und mit nichts Anderem
vergleichbares Wesen. Was in ihr sich darstellt, das ist die
Eine Kraft, die überall, in allen Erscheinungen der Welt,
Leben wirkt und selbst das Leben ist. Dem Urgrund der
1)
[435] Dinge selbst seelische Eigenschaften leihend, konnte die Physio-
logie den „Hylozoisten“, zwischen ihm und der „Seele“ eine
gegensätzliche Unterscheidung nicht festhalten. So ihrer Son-
derung enthoben, gewinnt die Seele eine neue Würde; in einem
andern Sinne als bei den Mystikern und Theologen, kann sie
auch hier, als theilhabend an der Einen Kraft, die das Welt-
all baut und lenkt, als ein göttliches gedacht werden. Nicht
ein einzelner Dämon lebt in ihr, aber Gottnatur ist in ihr
lebendig.


Je inniger sie mit dem All zusammenhängt, desto weniger
wird freilich die Seele ihr Sonderdasein, das sie, solange sie
den Leib belebt und bewegt, nur zu Lehen trägt, bewahren
können, wenn der Leib, der Träger dieses Sonderdaseins, vom
Tode ereilt wird. Diese ältesten Philosophen, deren Blick
durchaus auf das grosse Gesammtleben der Natur gerichtet
blieb, werden es kaum als in ihrer Aufgabe gelegen betrachtet
haben, über die Schicksale der kleinen Einzelseele bei und nach
dem Tode des Leibes eine Lehrmeinung zu entwickeln. Keinen-
falls können sie von Unsterblichkeit der Seele in dem Sinne
geredet haben wie die Mystiker, welche der Psyche, von der
sie redeten, einem in die Leiblichkeit von aussen eingetretenen
und von dieser rein abtrennbaren Geisteswesen, eine Fähigkeit
gesonderten Weiterlebens zusprechen konnten, die sich einer
völlig dem Stoffe und dessen Bildungen inhaftenden Kraft der
Bewegung und Empfindung, welche den Physiologen Seele hiess,
unmöglich zuschreiben liess.


Dennoch behauptet alte Ueberlieferung, Thales von Milet,
dessen Geist zuerst den Weg philosophirender Naturbetrach-
tung betrat, habe als Erster „die Seelen (der Menschen) un-
sterblich genannt“ 1). In Wahrheit kann er, der „Seele“ auch
im Magneten, in der Pflanze erkannte 2), Stoff und Kraft der
28*
[436] „Seele“ die ihn bewegt, unzertrennlich dachte, von einer „Un-
sterblichkeit“ der menschlichen Seele in keinem anderen Sinne
geredet haben, als er auch von Unsterblichkeit aller Seelen-
kräfte der Natur hätte reden können. Wie der Urstoff, der
aus eigener Lebendigkeit wirkt und schafft, so ist die All-
kraft, die ihn erfüllt 1), unvergänglich, unverlierbar, wie sie un-
geworden ist. Sie ist ganz Leben, und kann niemals „ge-
storben“ sein.


Von dem „Unbestimmten“, aus dem alle Dinge sich durch
Ausscheidung entwickelt haben, das alles umfasst und lenkt,
sagt Anaximander, dass es nicht altere, unsterblich sei und
unvergänglich 2). Von der menschlichen Seele als Sonderwesen
kann dies nicht gelten sollen; denn wie alle Einzelbildungen
aus dem „Unbestimmten“ muss „nach der Ordnung der Zeit“
auch sie das „Unrecht“ ihres Einzeldaseins büssen 3) und in
dem Einen Urstoff sich wieder verlieren.


Nicht in anderem Sinne als Thales hätte der Dritte in
dieser Reihe, Anaximenes von Milet, die Seele „unsterblich“
nennen können, die ihm wesensgleich ist 4) mit dem göttlichen 5),
ewig bewegten, alles aus sich erzeugenden Urelement der Luft.


[437]

3.


In der Lehre des Heraklit von Ephesus tritt stärker
als bei den älteren Ioniern in der unlöslich gedachten Ver-
bindung von Stoff und Bewegungskraft die lebendige Kraft des
Urwesens hervor, des All und Einen 1), aus dem durch Ver-
wandlung das Viele und Einzelne entsteht. Jenen gilt der
Stoff, bestimmt benannt oder nicht nach einer einzelnen Quali-
tät bestimmt, wie selbstverständlich zugleich als belebt und be-
wegt. Bei Heraklit ist der Urgrund aller Mannichfaltigkeit
der Bildungen die absolute Lebendigkeit, die Kraft des Wer-
dens selbst, die zugleich als ein bestimmter Stoff, oder einem
der bekannten Stoffe analog gedacht ist. Das Lebendige und
so auch diejenige Form des Lebendigen, die im Menschen er-
scheint, müssen ihm wichtiger werden als seinen Vorgängern.


Der Träger der nie ruhenden, anfanglosen und nie enden-
den Werdekraft und Werdethätigkeit ist das Heisse, Trockene,
benannt mit dem Namen des Elementarzustandes, der ohne
Bewegung nicht gedacht werden kann, des Feuers. Das stets
lebendige (ἀείζωον) Feuer, das periodisch sich entzündet und
periodisch erlischt (fr. 20), ist ganz Bewegung und Lebendig-
keit. Leben ist alles, Leben aber ist Werden, sich Wandeln,
anders werden ohne Rast. Jede Erscheinung treibt schon in
dem Moment ihres Hervortretens ihr Gegentheil aus sich her-
vor; Geburt, Leben und Tod und neue Geburt schlagen, wie
in den Gebilden des Blitzes (fr. 28), in Einem flammenden
Augenblick zusammen.


Was so in ewiger Lebendigkeit sich regt, im Werden allein
sein Sein hat, sich wandelt, und in „zurückstrebender Span-
nung“ sich selbst wiederfindet, ist ein vernunftbegabtes, nach
Vernunft und „Kunst“ bildendes, die Vernunft (λόγος) selbst.
Es verliert sich in der Weltbildung an die Elemente; sein
„Tod“ (fr. 66. 67) ist es, wenn es im „Wege abwärts“ zu
Wasser, zu Erde wird (fr. 21). Es giebt eine Werthabstufung
[438] in den Elementen, die sich nach ihrem Abstande von dem
bewegten und aus sich selbst lebendigen Feuer bestimmt. Was
in der Mannichfaltigkeit der Welterscheinungen seine Gottnatur,
die feurige noch bewahrt, das heisst dem Heraklit „Psyche“.
Psyche ist Feuer 1). Feuer und Psyche sind Wechselbegriffe 2).
Und so ist auch die Psyche des Menschen Feuer, ein Theil
der allgemeinen feurigen Lebensfülle, die sie umfangen hält,
durch deren „Einathmung“ sie sich selbst lebendig erhält 3),
der Weltvernunft, an der theilnehmend sie selbst vernünftig ist.
Im Menschen lebt der Gott 4). Nicht, wie nach der Lehre der
Theologen, senkt er sich als geschlossene Individualität in die
Hülle des einzelnen menschlich Lebendigen hernieder; als Ein-
heit umfluthet er den Menschen und reicht wie mit feurigen
Zungen in ihn hinein. Seiner Allweisheit ein Theil 5) lebt in
der Seele des Menschen; je „trockener“, feuriger, dem Allfeuer
näher, den unlebendigeren Elementen ferner geblieben diese ist,
um so weiser wird sie sein (fr. 74. 75. 76). Sich absondernd
von der Allvernunft wäre die Menschenseele nichts, sie soll,
im Denken wie im Handeln und sittlichen Thun, sich hingeben
dem Einen Lebendigen, das sie „ernährt“ und das Vernunft
und Gesetz der Welt ist (fr. 91. 92. 100. 103).


Aber auch die Seele ist ein solcher Theil des Allfeuers,
der bereits in den Wechsel der Daseinsformen hineingezogen
[439] ist, vom Leibe umfangen, in die Leiblichkeit verflochten. Es
besteht hier nicht der starre unvermittelbare Gegensatz zwischen
„Leib“ und „Seele“, wie er auf dem Standpunkt der theolo-
gischen Betrachtung erscheint. Die Elemente des Leibes,
Wasser und Erde, sind ja entstanden und entstehen fortwäh-
rend aus dem Feuer, das sich gegen alles umtauscht und gegen
alles eingetauscht wird (fr. 22). So ist es die „Seele“, das
bildende Feuer, die sich selbst den Körper baut. „Seele“,
d. i. Feuer, wandelt sich unaufhörlich in die niederen Elemente;
es findet nicht ein Gegensatz zwischen jenen und diesen, son-
dern ein fliessender Uebergang statt.


Auch im Leibe gefangen ist die „Seele“ in rastloser Um-
wandlung begriffen. Sie nicht minder als alles andere. Kein
Ding in der Welt kann sich auch nur einen Augenblick in dem
Bestand seiner Theile unverändert erhalten; an der stetigen
Bewegung und Wandlung seines Wesens hat es sein Leben.
Die Sonne selbst, der grösste Feuerkörper, wird jeden Tag
eine andere (fr. 32). So ist auch die Seele zwar, vom Leibe
unterschieden, eine für sich bestehende Substanz, aber eine
solche, die sich selbst niemals gleich bleibt. In unaufhörlichem
Stoffwechsel verändert, verschiebt sich immerfort ihr Bestand.
Sie verliert ihr Lebensfeuer an die niederen Elemente; sie
gewinnt neues Feuer hinzu aus dem lebendigen Feuer des Alls,
das sie umfängt. Von bleibender Identität der Seele, der see-
lischen Person mit sich selbst kann nicht die Rede sein. Was
in dem ununterbrochenen Process des Ab- und Zuströmens
wie Eine Person sich zu erhalten scheint, ist in Wahrheit eine
Reihe von Personen und Seelen, die sich ablösen, eine der
anderen sich nach und nach unterschieben.


So stirbt die Seele schon im Leben fortwährend, um
immer wieder neu aufzuleben, das abgehende Seelenleben durch
neues zu ergänzen, zu ersetzen. So lange sie sich aus dem
umgebenden Weltfeuer ergänzen kann, lebt das Individuum.
Absonderung von dem Quell alles Lebens, dem lebendigen All-
feuer der Welt, wäre sein Tod. Zeitweilig verliert die Einzel-
[440] seele den lebengebenden Zusammenhang mit der „gemein-
samen Welt“: im Schlaf und Traume, der sie in ihre eigene
Welt einschliesst (fr. 94. 95), und schon ein halber Tod ist.
Zeitweilig auch neigt die Seele zu einer nicht wieder durch
neues Feuer ersetzten Umbildung in Feuchtigkeit: der Trun-
kene hat eine „feuchte Seele“ (fr. 73). Und es kommt der
Augenblick, in dem die Seele des Menschen nicht mehr er-
setzen kann, was bei der Umwandlung der Stoffe ihr an Lebens-
feuer entzogen wird. Dann stirbt sie. Die letzte der An-
sammlungen lebendigen Feuers, die in ihrer Aufeinanderfolge
die menschliche „Seele“ darstellten, ereilt der Tod 1).


Einen Tod in absoluter Bedeutung, ein Ende, dem kein
Anfang wieder folgte, einen unbedingten Abschluss des Werdens
giebt es in Heraklit’s Welt nirgends. „Tod“ ist ihm nur der
[441] Punkt, an welchem ein Zustand in einen anderen umschlägt,
ein relatives Nichtsein, Tod des Einen, aber gleichzeitig Ge-
burt und Leben des Andern (fr. 25. [64]. 66. 67). Tod so-
gut wie Leben ist ihm ein positiver Zustand. „Es lebt das
Feuer der Erde Tod, und die Luft lebt des Feuers Tod; das
Wasser lebt den Tod der Luft, die Erde den Tod des Wassers“
(fr. 25). Das Eine, das in allem ist, ist zugleich todt und
lebendig (fr. 78), unsterblich und sterblich (fr. 67), ein ewiges
„Stirb und Werde“ bewegt es. Auch der „Tod“ des Men-
schen muss ein Uebertritt aus dem positiven Zustand seines
Lebens in einen anderen positiven Zustand sein. Der Tod
ist für den Menschen da, wenn die „Seele“ nicht mehr in ihm
ist. Es bleibt nur der Leib übrig, allein für sich nicht besser
als Dünger (fr. 85). Die Seele — wo blieb sie? Sie muss
sich gewandelt haben; Feuer war sie, nun hat sie „den Weg
abwärts“ beschritten, ist Wasser geworden, um dann Erde zu
werden. So muss es ja allem Feuer geschehn. Im Tode
„erlischt“ (fr. 77) das Feuer im Menschen. „Den Seelen ist
es Tod, Wasser zu werden“, sagt Heraklit bestimmt genug
(fr. 68) 1). Die Seele muss zuletzt diesen Weg beschreiten und
beschreitet ihn willig; der Wechsel ist ihr Lust und Erholung
(fr. 83). Die Seele hat sich also in die Elemente des Leibes
verwandelt, sich an den Leib verloren.


Aber sie kann auch in dieser Umwandlung nicht beharren.
„Den Seelen ist es Tod, Wasser zu werden; dem Wasser ist
es Tod, Erde zu werden. Aus Erde aber wird Wasser, aus
Wasser Seele“ (fr. 68). So stellt sich in dem rastlosen Ab
und Auf des Werdens, auf dem „Wege aufwärts“, aus den
niederen Elementen „Seele“ wieder her. Aber nicht die Seele,
die einst den bestimmten Menschen belebt hatte, von deren
[442] geschlossener Selbstgleichheit in dem Ab- und Zuströmen des
Feuergeistes schon im Leibesleben nicht geredet werden konnte.
Die Frage nach einer individuellen Unsterblichkeit oder auch
nur Fortdauer der Einzelseele hat für Heraklit kaum einen
Sinn. Auch unter der Form der „Seelenwanderung“ kann er
sie nicht bejaht haben 1). Dass Heraklit ein unverändertes
Bestehen der Seele des einzelnen Menschen, mitten in dem
nie gehemmten Strome des Werdens, in dem jedes Beharren
nur ein Sinnentrug ist, nicht ausdrücklich behauptet haben
kann, ist gewiss. Aber auch dass er, seiner eigensten Grund-
vorstellung zum Trotz, diese populäre Annahme, mit einer
Lässlichkeit, die seiner Art gar nicht entspricht, wenigstens
zugelassen habe, ist nicht glaublich 2). Was hätte ihn dazu
[443] verleiten können? Man beruft sich wohl auf die Mysterien,
aus denen er diese Meinung, als eine ihrer wichtigsten Lehren,
2)
[444] entlehnt habe 1). Aber auf die Mysterien, und das was man
ihre „Lehre“ nennen könnte, wirft (wie auch auf andere stark
hervortretende Erscheinungen des erregten religiösen Lebens
seiner Zeit 2) Heraklit nur vereinzelte Blicke, um sie mit seiner
eigenen Lehre, mehr unterlegend als auslegend, in Verbindung
zu setzen. Er zeigt, dass sie mit seiner Lehre, die ihm alle
Erscheinungen der Welt erklären zu können schien, sich in
Einklang setzen liessen 3); dass er umgekehrt seine Lehre mit
2)
[445] den Mysterien in Einklang zu setzen versucht, dass diese ihm
die Richtung seines Denkens gewiesen oder gar ihn verleitet
hätten, von seiner selbstgefundenen Strasse abzuweichen, davon
zeigt sich nirgends eine Spur.


Das Individuum in seiner Absonderung hat für Heraklit
keinen Werth und keine Bedeutung; ein Beharren in dieser
Absonderung (wenn es möglich wäre) würde ihm als Frevel er-
schienen sein 1). Unsterblich, unverlierbar ist ihm das Feuer als
Ganzes; nicht seine Absonderung in einzelnen Partikeln, sondern
allein der Eine Allgeist, der sich in Alles verwandelt, und alles
in sich zurücknimmt. Die Seele des Menschen hat nur als eine
Ausstrahlung dieser Allvernunft an deren Unvergänglichkeit
Antheil; auch sie, wenn sie sich an die Elemente verloren hat,
findet sich immer wieder. In „Bedürfniss“ und „Sättigung“
(fr. 24. 36) wechselt ewig dieser Process des Werdens. Einst
wird das Feuer alles „ereilen“ (fr. 26); der Gott wird dann
ganz bei sich sein. Aber das ist nicht das Ziel der Welt;
Verwandlung, Werden und Vergehen werden nie zum Ende
kommen. Und sie sollen es nicht; „der Streit“ (fr. 43), der die
Welt geschaffen hat und immer neu umgestaltet, ist das innerste
Wesen des Alllebendigen, das er bewegt in unersättlicher Werde-
lust. Denn eine Lust, eine Erholung ist allen Dingen der
Wechsel (fr. 72. 83), das Kommen und Gehen im Spiel des
Werdens.


Es ist das Gegentheil einer quietistischen Stimmung, was
aus der gesammten Lehre des Heraklit, aus dem in lauter
[446] starken Accenten fortschreitenden Posaunenklang seiner Rede
ertönt, in der er machtvoll gehobenen Geistes wie ein Pro-
phet das letzte Wort der Weisheit verkündigt. Er weiss wohl,
wie nur Mühe die Erquickung der Ruhe, Hunger die Sätti-
gung, Krankheit die Lust der Gesundheit hervorrufen kann
(fr. 104); das ist das Gesetz der Welt, welches die Gegen-
sätze, einen aus dem anderen erzeugend, innig und nothwendig
verknüpft. Ihm beugt er sich, ihm stimmt er zu; und so wäre
auch ein Beharren der Seele in that- und wandelloser Selig-
keit, selbst wenn es denkbar wäre 1), ihm nicht einmal ein Ziel
seiner Wünsche.


4.


Von Ioniens Küsten war, schon vor der Zeit des Hera-
klit, das Licht philosophischer Betrachtung nach dem Westen
getragen worden durch Xenophanes von Kolophon, den ein
unstätes Leben nach Unteritalien und Sicilien verschlagen
hatte. Seinem feurigen Geiste wurde die abgezogenste Be-
trachtung zu Leben und Erlebniss, der Eine bleibende Grund
des Seins, auf den er unverwandt den Blick richtete, zur All-
gottheit, die ganz Wahrnehmen und Denken ist, ohne Ermü-
dung durch das Denken ihres Geistes alles umschwingt, ohne
Anfang und Ende, unverändert sich gleich bleibt. Was er
von dem Gotte, der ihm mit der Welt eines ist, aussagt, wird
die Grundlage für die ausgebildete Lehre der Philosophen von
Elea, die, im ausgesprochenen Gegensatz zu Heraklit 2), alle
Bewegung, Werden, Veränderung, Eingehn in die Vielheit von
dem Einen, ohne Rest den Raum füllenden Seienden aus-
schliessen, das, aller zeitlichen und räumlichen Entwicklung
enthoben, selbstgenugsam in sich geschlossen verharrt.


[447]

Dieser Vorstellung gilt die ganze Mannichfaltigkeit der
Dinge, die sich der Sinneswahrnehmung aufdrängt, als eine
Illusion. Illusion ist auch das Bestehen einer Vielheit beseelter
Wesen, wie die ganze Natur ein Trugbild ist. Nicht von der
„Natur“, von dem Inhalte der thatsächlichen Erfahrung, ging
die Philosophie des Parmenides aus. Ohne alle Hilfe der
Erfahrung, lediglich durch Schlussfolgerungen aus einem ein-
zigen zu Grunde gelegten, nur im Denken zu erfassenden Be-
griff (des „Seins“) will sie die ganze Fülle der Erkenntniss
gewinnen. Den philosophischen Naturforschern Ioniens war
auch die Seele ein Theil der Natur, die Seelenkunde ein
Theil der Naturkunde gewesen: und dieses Eintauchen des
Seelischen in das Physische war in ihrer Seelenlehre das
Eigenthümliche, das sie von volksthümlicher Psychologie wesent-
lich unterschied. Galt nun die ganze Natur nicht mehr als
Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss, so musste auch die
Herleitung der Psychologie aus der Physiologie dahinfallen.
Im Grunde konnte es bei diesen „Aphysikern“ 1) eine Seelen-
lehre überhaupt nicht geben.


Mit einer, neben der unerschrockenen Folgerichtigkeit
ihrer rein auf die übersinnliche Verstandeserkenntniss begrün-
deten Betrachtungsweise überraschenden Nachgiebigkeit räumten
gleichwohl die Eleaten dem Augenschein und dem Zwang sinn-
licher Wahrnehmung so viel ein, dass sie eine Theorie physi-
kalischer Entwicklung der Vielheit der Erscheinungen zwar aus
ihren eigenen Grundsätzen nicht ableiteten, aber doch, unver-
mittelt und unvermittelbar, neben ihre starre Seinslehre stellten.
Schon Xenophanes hatte eine, solchermaassen nur bedingt
giltige Physik entworfen. Parmenides entwickelte im zweiten
Theil seines Lehrgedichtes, in „trüglichem Schmucke der
Worte“, nicht verlässliche Rede über das wahre Wesen der
Dinge, sondern „menschliche Meinungen“ von dem Werden
[448] und Bilden in der Welt der Vielheit. Nicht anders können
die physiologischen Meinungen verstanden werden, die selbst
Zeno von Elea, der verwegenste dialektische Vorkämpfer der
Lehre vom unbewegten AllEinen, vorbrachte. Im Zusam-
menhang solcher Physiologie, aber auch unter dem gleichen
Vorbehalt, unter dem diese vorgetragen wurde, haben die ele-
atischen Philosophen von Wesen und Herkunft der Seele ge-
redet. Und wie sie ihre Physik ganz nach dem Vorbilde
älterer Naturphilosophie ausgestalten, so sehen sie auch das
Verhältniss des Seelischen zum Körperlichen ganz aus dem
Standpunkte dieser ihrer Vorgänger an. Dem Parmenides
(v. 146 ff. Mull.) ist der Geist (νόος) des Menschen abhängig
von der Mischung der zwei Bestandtheile, aus denen alles,
und auch sein Leib, sich zusammensetzt, dem „Licht“ und
der „Nacht“ (dem Warmen und Kalten, Feuer und Erde).
Denn das was geistig thätig ist, ist eben für den Menschen
die „Natur seiner Glieder“; die Art der Gedanken wird be-
stimmt durch den in dem einzelnen Menschen überwiegenden
der zwei Grundbestandtheile. Selbst der Todte hat noch (wie
er noch einen Leib hat) Empfindung und Wahrnehmung, aber,
verlassen von dem Warmen und Feurigen, nur noch des Kalten,
des Dunklen und des „Schweigens“. Alles Seiende hat einige
Erkenntnissfähigkeit 1). Man kann nicht völliger die „Seele“
in die Leiblichkeit verstricken, als hier der kühne Vernunft-
denker thut, der doch die Wahrnehmung durch die Sinne des
Leibes so bedingungslos verwarf. Die „Seele“ ist ihm hier
offenbar nicht mehr eine eigene Substanz, sondern nur ein
Ergebniss materieller Mischung, ein Thätigkeitszustand der ver-
bundenen Elemente. Nicht anders dem Zeno, dem „Seele“
eine gleichmässige Mischung aus den vier Grundeigenschaften
der Stoffe, dem Warmen, Kalten, Trockenen und Feuchten
hiess 2).


[449]

Neben solchen Ausführungen überrascht es, zu vernehmen,
dass Parmenides von der „Seele“ auch dieses ausgesagt habe,
dass die weltregierende Gottheit sie „bald aus dem Sichtbaren
in das Unsichtbare sende, bald umgekehrt“ 1). Hier wird die
Seele nicht mehr als ein Mischungsverhältniss der Stoffe ge-
dacht, sondern als ein selbständiges Wesen, dem eine Prae-
existenz vor seinem Eintritt in das „Sichtbare“, d. h. vor dem
Leben im Leibe zugetraut wird, und eine Fortdauer nach dem
Abscheiden aus dem Reiche der Sichtbarkeit, ja ein mehrmals
wechselnder Aufenthalt hier und dort. Unterscheidet Parme-
nides diese selbständig existirende Seele von dem, was in der
Mischung der Elemente wahrnimmt und als Geist (νόος) denkt,
an die Elemente und ihre Zusammenfügung zum Leibe aber
auch, mit seiner Existenz, gebunden ist? Offenbar ist jeden-
falls, dass von der, wechselnd im Sichtbaren und im Unsicht-
baren lebenden Psyche Parmenides nicht als Physiologe redet,
sondern wie ein Anhänger orphisch-pythagoreischer Theosophie.
Er konnte, indem er sein Wissen um die „Wahrheit“, das un-
veränderliche Sein, sich selbst vorbehielt, unter den „Meinungen
der Menschen“ da, wo er nur hypothetisch redete, eine beliebige
Auswahl treffen; wo er als Praktiker in ethisch gerichtetem Sinne
redete, mochte er sich den Vorstellungen der Pythagoreer an-
schliessen, mit denen er in engem Zusammenhang lebte 2).


2)


Rohde, Seelencult. 29
[450]

5.


Die ionische Physiologie, den Blick auf das Ganze der
Natur und die Erscheinungen des Lebens in allen Tiefen und
Fernen des Weltalls gerichtet, hatte den Menschen, eine kleine
Welle in diesem Ocean des Werdens und Gestaltens, fast aus
dem Auge verloren. Eine Philosophie, welche Erkenntniss des
Wesens menschlicher Natur zu einer ihrer Hauptaufgaben
machen, und mehr als dieses, dem Menschen aus der Ein-
gebung ihrer Weisheit Gang und Ziel des Lebens bestimmen
wollte, musste andere Wege einschlagen.


So that es Pythagoras von Samos. Was dieser seine
„Philosophie“ nannte 1), hatte im Wesentlichen ein praktisches
Ziel. Weil er einen bestimmten Weg der Lebensführung
wies, darum wurde Pythagoras so ausnehmend verehrt, sagt
Plato 2). Eine eigenthümliche Gestaltung des Lebens, auf
ethisch-religiöser Grundlage, bildete er aus. Wie weit seine
„Vielwisserei“ 3), die ohne Zweifel den Keim pythagoreischer
2)
[451] Wissenschaft bereits enthielt, sich in seinen eigenen Händen
systematisch entfaltet haben mag, ist unbestimmbar. Fest
steht, dass er in Kroton einen Bund stiftete, der in der Folge
sich und die strengen Formen, nach denen er die Lebensweise
seiner Mitglieder bestimmte, weit über die achäischen und dori-
schen Städte des italischen „Grossgriechenlandes“ ausbreitete.
In diesem Bunde gewann eine tiefbedachte Auffassung des
Menschenlebens und seiner Aufgaben eine sichtbare Bethäti-
gung ihrer Grundsätze; und dies ausgerichtet zu haben muss
als die That und das eigenthümliche Verdienst des Pythagoras
gelten. Die Grundlagen dieser Lebensauffassung, soweit sie
nicht etwa von Anfang an in mystischer Zahlenweisheit wurzelte,
waren keineswegs von Pythagoras zum ersten Mal gelegt; neu
und wirksam war die Macht der Persönlichkeit, die dem Ideal
Leben und Körper zu geben vermochte. Was verwandten
Bestrebungen im alten Griechenlande gefehlt haben muss, hier
fand es sich in einem hohen Menschen, der den Seinen Vor-
bild, Beispiel, zum Anschluss und zur Nacheiferung zwingen-
der Führer wurde. Eine centrale Persönlichkeit, um die sich
der Kreis einer Gemeinde wie durch innere Nöthigung zog.
Frühzeitig erschien dieser Gemeindestifter der Verehrung wie
ein Uebermensch, einzig und Niemanden vergleichbar. Verse
des Empedokles 1), der doch selbst zur pythagoreischen Ge-
meinde nicht gehörte, geben davon Kunde. Und den Anhängern
gar wurde Pythagoras in der Erinnerung zum Heiligen, ja zum
Gott in Menschengestalt, von dessen Wunderthaten die Legende
erzählte. Uns ist es schwer gemacht, unter dem Flimmer des
3)
29*
[452] Heiligenscheins die wirklichen Züge des Menschen noch einiger-
maassen zu erkennen.


Seine Lehre, kraft deren er freilich seine Anhänger zu
einer viel vollständigeren und engeren Lebensgemeinschaft zu-
sammenband als irgend eine orphische Secte, muss in allem
Wesentlichen übereingekommen sein mit dem, was in orphischer
Theologie unmittelbare Beziehung auf religiöses Leben hatte.
Auch er wies den Weg zum Heil der Seele; in der Seelen-
lehre also hat seine Weisheit vornehmlich ihre Wurzeln.


Soweit unsere dürftige und unsichere Kunde reicht, lässt
sich als Kern der pythagoreischen Seelenlehre Folgendes fest-
halten.


Die Seele des Menschen, hier wieder ganz als der
Doppelgänger des sichtbaren Leibes und seiner Kräfte gefasst,
ist ein dämonisch unsterbliches Wesen 1), aus Götterhöhe einst
herabgestürzt, und zur Strafe in die „Haft“ des Leibes ein-
[453] geschlossen 1). Sie hat zum Leibe keine innere Beziehung, ist
nicht das, was man die Persönlichkeit dieses einzelnen sicht-
baren Menschen nennen könnte: in einem beliebigen Leibe
wohnt eine beliebige Seele 2). Scheidet sie der Tod vom Leibe,
so muss sie nach einer Zeit der Läuterung im Hades 3) auf
die Oberwelt zurückkehren. Unsichtbar schweben die Seelen-
bilder um die Lebenden 4); in den Sonnenstäubchen und ihrer
zitternden Bewegung sahen Pythagoreer schwebende „Seelen“ 5).
Die ganze Luft ist voll von Seelen 6). — Auf Erden aber muss
die Seele einen neuen Leib aufsuchen, und das zu vielen
[454] Malen. So wandert sie durch Menschen- und Thierleiber einen
langen Weg 1). Wie Pythagoras selbst an die früheren Ver-
körperungen seiner Seele die Erinnerung bewahrt hatte (und
davon zu Lehr und Mahnung der Gläubigen Kunde gab), be-
richteten alte Legenden 2). Die Seelenwanderungslehre nahm
[455] auch hier eine Richtung auf religiös-sittliche Erweckung. Nach
den Thaten des früheren Lebens werden die Bedingungen der
2)
[456] neuen Verkörperung und der Inhalt des neuen Lebenslaufes
2)
[457] bestimmt. Was sie damals gethan, das muss sie nun, als
Mensch wiedergeboren, an sich erleiden 1).


Es ist daher für das gegenwärtige Leben und die künf-
tigen Lebensgestaltungen von höchstem Werthe, die Heilsord-
nung zu kennen und zu befolgen, die Pythagoras den Seinen
weist. In Reinigungen und Weihen, in einer ganz nach diesem
Zwecke geordneten „Pythagoreischen Lebensweise“ 2) „dem
Gotte zu folgen“ 3), leitet der Bund seine Getreuen an. Viel
von der altgeheiligten ritualen Symbolik muss in dieser pytha-
goreischen Askese eine Stelle gefunden haben 4). Die asketisch
[458] theologische Moral, ihrer Natur nach wesentlich negativ, war
auch hier auf eine Abwehr des von aussen her die Seele um-
strickenden und befleckenden Bösen eingeschränkt 1). Es gilt
nur, die Seele rein zu bewahren; nicht sie sittlich umzubilden,
nur sie von fremdem Uebel zu befreien. Unveränderlich steht
die Thatsache ihrer Unsterblichkeit, ihrer Ewigkeit fest: wie
sie von jeher war, so wird sie für immer sein und leben 2).
Sie aus diesem Erdenleben endlich ganz herauszuheben und
einem göttlich freien Dasein zurückzugeben, war jedenfalls
letztes Ziel 3). —


4)


[459]

Die praktische Weisheit des Pythagoreerthums ist begrün-
det auf einer Vorstellung, welche die „Seele“ von der „Natur“
3)
[460] durchaus unterschieden, ja dieser entgegengesetzt sieht. Sie
ist in das natürliche Leben verstrickt, aber als in eine ihr
fremde Welt, in welcher sie sich als geschlossenes Einzelwesen
unvermindert erhält, aus der sie für sich allein sich ablöst, um
neue und immer neue Verbindungen einzugehen. Wie sie über-
weltlichen Ursprungs ist, so wird sie auch, aus den Banden
des Naturlebens befreit, zu einem übernatürlichen Geisterdasein
einst zurückkehren können.


Von allen diesen Vorstellungen ist keine auf dem Wege
wissenschaftlichen Denkens gewonnen. Die Physiologie, die
Wissenschaft von der Welt und allen ihren Erscheinungen,
konnte niemals zu dem Gedanken einer Lostrennung der Seele
von der Natur und ihrem Leben führen. Nicht aus griechi-
scher Wissenschaft, aber auch nicht, wie antike Ueberlieferung
uns will glauben machen, aus der Fremde hat Pythagoras
seine Glaubenssätze von der, aus überweltlicher Höhe in die
irdische Natur gesunkenen, durch viele Leiber ihre Pilgerschaft
vollendenden, zuletzt durch Reinigungen und Weihen zu be-
freienden Seele entlehnt. Er mag seinen Reisen manches zu ver-
danken gehabt haben, einem ägyptischen Aufenthalt etwa (wie
später Demokrit) mathematische Anregungen und sonst vieles
von der „Gelehrsamkeit“, die ihm Heraklit zuschreibt. Seine
Seelenlehre dagegen giebt in ihren wesentlichen Zügen nur die
Phantasmen alter volksthümlicher Psychologie wieder, in der
3)
[461] Steigerung und umgestaltenden Ausführung, die sie durch die
Theologen und Reinigungspriester, zuletzt durch die Orphiker
erfahren hatte. In diese Reihe stellt den Pythagoras mit rich-
tiger Schätzung die Ueberlieferung, wenn sie ihn zum Schüler
des Pherekydes von Syros, des Theologen, macht1).


[462]

Man kann nicht daran zweifeln, dass schon Pythagoras
den Grund auch zu der pythagoreischen Wissenschaft gelegt,
die Lehre vom Bau des Weltalls, auch wohl die Erklärung
alles Seins und Werdens in der Welt aus den Zahlen und
ihren Verhältnissen, als dem wesenhaften Untergrund der Dinge,
mindestens in den ersten Zügen seinen Anhängern vorgezeichnet
habe. Dann bewegte sich das lange nur in loser Fühlung
neben einander, die Lebensleitung nach mystisch-religiöser
Weisheit, die freilich ein weiteres Wachsthum kaum erfahren
konnte, und die Wissenschaft, die sich zu einem ansehnlichen
System auswuchs, je mehr, nach dem Zusammenbruch des
pythagoreischen Bundes und seiner Verzweigungen am Anfang
des fünften Jahrhunderts, die verstreuten Mitglieder des Ver-
eins, mit den wissenschaftlichen Bestrebungen anderer Kreise
in Berührung gebracht, von der, nur auf dem Boden der Ge-
meinde auszuübenden Verwirklichung des praktischen Ideals
pythagoreischen Lebens zu einsamer wissenschaftlicher Betrach-
tung abgedrängt wurden. Die pythagoreische Wissenschaft, ein
Bild der ganzen Welt aufbauend, zog, nicht anders als die
ionische Physiologie, die Seele aus der Vereinzelung, ja
gegensätzlichen Stellung gegenüber der Natur, in der sie pytha-
goreische Theologie festgehalten hatte. Mit einer, der mathema-
tisch-musikalischen Theorie entsprechenden Auffassung nannte
Philolaos die Seele die Harmonie der zum Körper vereinig-
ten entgegengesetzten Bestandtheile 1). Aber, wenn die Seele
1)
[463] nur die Bindung der Gegensätze zum Einklang und zur Ein-
heit ist, so wird sie mit der Lösung der zusammengebundenen
Elemente, im Tode, verschwunden und vergangen sein 1). Es
ist schwer verständlich, wie mit dieser Vorstellung der alt-
pythagoreische Glaubenssatz von der als selbständiges Wesen
im Leibe wohnenden und diesen überdauernden, ja ewig leben-
den Seele vereinigt werden konnte. Waren die zwei Vorstel-
lungen ursprünglich gar nicht bestimmt, mit einander vereinigt
zu werden, aber auch nicht, sich auszuschliessen? Alte Ueber-
lieferungen reden von geschiedenen Classen der Anhänger des
Pythagoras, die auch verschiedene Gegenstände, Weisen und
Ziele der Betrachtung hatten; und man kann geneigt sein,
diesen Ueberlieferungen nicht allen Glauben zu versagen, wenn
man beachtet, wie wenig in der That pythagoreische Wissen-
schaft und pythagoreischer Glaube zusammen hängen 2).


1)


[464]

Aber freilich, derselbe Philolaos, der die Seele als Har-
monie ihres Körpers kennt, redet auch von den Seelen als
selbständigen und unvergänglichen Wesen. Man kann im Zwei-
fel sein, ob sich diese unvereinbaren Aussagen eines und des-
selben Mannes [überhaupt] auf den gleichen Gegenstand be-
ziehen. Der konnte ja von der Einen Seele sehr mannich-
faltig reden, der innerhalb der Seele verschiedene Theile, von
denen verschiedenes galt, unterschied: wie das zuerst in der
pythagoreischen Schule geschehen ist 1).


2)


[465]

6.


Empedokles von Akragas gehörte nicht zur pythagorei-
schen Schule (deren äusserer Verband zu seinen Lebzeiten
gelöst war); er kommt aber in seinen Meinungen und Lehren
von der Seele des Menschen, ihren Schicksalen und Aufgaben,
pythagoreischen Dogmen so nahe, dass an deren Einfluss auf
die Ausbildung dieses Theils seiner Ueberzeugungen nicht ge-
zweifelt werden kann. Er umfasste in seinem vielseitigen Be-
streben auch die Naturforschung, und hat die Studien der
ionischen Physiologen mit Eifer und einem ausgesprochenen
Sinn für Beobachtung und Combinirung der Naturerscheinun-
gen fortgesetzt. Aber die Wurzeln seiner eigenthümlichen Art,
des Pathos, das ihn hob und trug, lagen in einer, von wissen-
schaftlicher Naturergründung ganz abgewendeten Praxis, in der
er wie in einem glänzenden Nachspiel das Thun des Mantis,
Reinigungspriesters und Wunderarztes des sechsten Jahrhun-
derts in einer schon sehr veränderten Zeit darstellt. Wie er,
mit Kränzen und Binden geschmückt, von Stadt zu Stadt
zog, wie ein Gott geehrt, von Tausenden befragt, „wo doch
1)
Rohde, Seelencult. 30
[466] zum Heile die Strasse“, schildert der Eingang seiner „Reini-
gungen“ 1); seinen Jünger Pausanias will er, nach eigensten
Erfahrungen, lehren alle Heilmittel und ihre Kräfte, und die
Künste, Winde zu stillen und zu erregen, Trockenheit und
Regen zu bewirken, aus dem Hades die schon Verstorbenen
heraufzuführen 2). Er rühmt sich selbst, ein Zauberer zu sein,
und „zaubern“ sah ihn sein Schüler Gorgias 3). In ihm ge-
winnen jene Bestrebungen der Katharten, Sühnpriester und
Seher, die eine schon zur Vergangenheit versinkende Zeit als
höchste Weisheit verehrt hatte, Stimme und litterarischen Aus-
druck, den Ausdruck vollster persönlicher Ueberzeugung von
der Thatsächlichkeit ihrer die Natur überwältigenden Kräfte
und von der Gottähnlichkeit des zu dieser fast übermensch-
lichen Gewalt des Naturzwanges Aufgestiegenen. Als ein
Gott, ein unsterblicher, dem Tod nicht mehr drohe, ziehe er
durch das Land, so versichert Empedokles selbst 4). Er mag
vielerorten Glauben gefunden haben. Zwar eine geregelte Ge-
nossenschaft von Jüngern und Anhängern, eine Secte, hat er
nicht versammelt; dies scheint auch nicht in seiner Absicht
gelegen zu haben. Aber er, als Einzelner und Unvergleich-
licher, in der Wucht und Würde seiner selbstvertrauenden
Persönlichkeit, der als Mystiker und Politiker in die irdische
Gegenwart seiner Zeitgenossen regelnd eingriff, und über alle
Zeit und Zeitlichkeit hinaus in ein seliges Gottesdasein als
Ziel des Menschenlebens hinüberwies, muss einen tiefen Ein-
[467] druck gemacht haben auf die Menschen, unter denen er lebte 1),
und aus deren Mitte er freilich, wie ein Komet entschwindend,
schied, ohne dauernde Nachwirkung. Manche Legenden geben
noch Kunde von der Verwunderung, die seine Erscheinung
begleitete, zumal jene Sagen die, in wechselnder Gestalt, von
seinem Ende berichten 2). Alle wollen ausdrücken, dass er,
wie seine eigenen Verse es verkündet hatten, bei seinem Ab-
scheiden nicht mehr den Tod erlitten habe; er sei verschwun-
den, mit Leib und Seele zugleich entrückt worden zu gött-
lich ewigem Leben, wie einst Menelaos und so manche Helden
des Alterthums, wie einzelne Heroen auch jüngerer Zeit 3).
Wieder einmal zeigt sich in dieser Sage die alte Vorstellung
30*
[468] als immer noch lebendig, nach welcher unsterbliches Leben
nur bei nie gelöster Vereinigung der Psyche mit ihrem Leibe
gewonnen werden kann. Dem Sinne des Empedokles thaten
solche Sagen schwerlich genug. Wenn er sich selbst als einen
Gott pries, der nicht mehr sterben werde, so meinte er jeden-
falls nicht, dass seine Psyche ewig an seinen Leib gebunden
bleiben werde, sondern gerade im Gegentheil, dass sie, im
„Tode“, wie es die Menschen nennen 1), befreit von diesem
ihrem letzten Leibesgewande 2), niemals wieder in einen Leib
eingehen müsse, sondern in freier Göttlichkeit ewig leben werde.
Seine Vorstellung von dem bewussten Weiterleben der Psyche
war von der homerischen, auf der jene Entrückungssagen be-
ruhten, so verschieden wie nur möglich.


Empedokles vereinigt in sich in eigenthümlicher Weise
die nüchternsten Bestrebungen einer nach Kräften rationellen
Naturforschung mit ganz irrationalem Glauben und theologischer
Speculation. Bisweilen wirkt ein wissenschaftlicher Trieb auch
bis in den Bereich seines Glaubens hinüber 3). Zumeist aber
stehen in seiner Vorstellungswelt Theologie und Naturwissen-
schaft unverbunden neben einander. Als Physiolog der Erbe
einer schon reich und nach vielen Richtungen entwickelten
Gedankenarbeit der älteren Generationen von Forschern und
Denkern, weiss er Anregungen von den verschiedensten Seiten
zu einem, ihm selbst genugthuenden Ganzen selbständig zu
verknüpfen. Ein Werden und Vergehen, eine qualitative Ver-
änderung leugnet mit den Eleaten auch er, aber das behar-
rende Seiende ist ihm nicht ein untheilbar Eines. Es giebt
vier „Wurzeln“ der Dinge, die vier Massen der Elemente, die
in dieser Abgränzung er zuerst bestimmt unterschied. Mi-
schung und Trennung der, ihrer Art nach unveränderlichen
[469] Elementartheile sind es, die den Schein des Werdens und Ver-
gehens hervorrufen; beide werden bewirkt durch zwei, von den
Elementen sich bestimmt absondernde Kräfte der Anziehung
und Abstossung, Liebe und Hass, die in dem Werdeprozess
sich bekämpfen und besiegen, so dass zuletzt, bei völliger
Ueberwindung der einen der beiden Kräfte, entweder Alles
vereinigt oder Alles getrennt, in beiden Fällen eine gegliederte
Welt nicht vorhanden ist. Der gegenwärtige Weltzustand ist
ein solcher, in dem die „Liebe“, der Zug zur Verschmelzung
alles Geschiedenen, überwiegt; an seinem Ende steht eine völ-
lige Vereinigung alles Getrennten bevor, die Empedokles, auch
als Naturkundiger ein Quietist, als das wünschenswertheste
Ziel preist.


In dieser, nur mechanisch bewegten und veränderten Welt,
aus deren Entwicklung Empedokles durch eine geniale Wen-
dung jeden Gedanken an Zwecksetzung fern zu halten weiss,
giebt es auch Seelen, oder vielmehr seelische Kräfte, die ganz
in ihr wurzeln. Ausdrücklich unterscheidet Empedokles die
sinnliche Wahrnehmung von der Denkkraft 1). Jene kommt
zustande, indem von den Elementen, aus deren Mischung das
wahrnehmende Wesen gebildet ist, ein jedes mit dem gleichen
Elemente in den Gegenständen der Wahrnehmung durch die
„Wege“, die das Innere des Leibes mit dem Aeusseren ver-
binden, in Berührung tritt und seiner so gewahr wird 2). Das
„Denken“ hat seinen Sitz im Herzblute, in welchem die Ele-
[470] mente und ihre Kräfte am gleichmässigsten gemischt sind.
Vielmehr, eben dieses Blut ist das Denken und die Denk-
kraft 1); der Stoff und seine vitalen Functionen fallen auch
dem Empedokles noch völlig zusammen. Unter dem Denken-
den oder dem „Geiste“ ist hier ersichtlich nichts gedacht was
einer substantiell bestehenden „Seele“ gliche, sondern ein die
einzelnen Sinnesthätigkeiten zusammenfassendes und einigendes
Vermögen 2), das nicht minder als die einzelnen Kräfte der
Wahrnehmung an die Elemente, die Sinne, den Körper ge-
bunden ist 3). Mit der Beschaffenheit des Körpers wechseln
auch sie 4). Beide, Wahrnehmung und Denken, sind, als Lebens-
äusserungen der in den organischen Wesen gemischten Stoffe,
in allen Organismen vorhanden, im Menschen, in den Thieren
und selbst in den Pflanzen 5).


Benennt man die Summe solcher geistigen Kräfte mit
dem Namen der „Seele“ 6), der sonst einem gemeinsamen blei-
[471] benden Substrat der wechselnden seelischen Bethätigungen
vorbehalten bleibt, so kann man, in Verfolgung des Gedanken-
ganges des Philosophen, die „Seele“ nur für vergänglich er-
klären. Mit dem Tode und der Vernichtung eines Einzeldinges
lösen sich die Elementarbestandtheile aus der Verbindung, die
sie bisher zusammenhielt, und die „Seele“, die hier nichts als
ein oberstes Ergebniss jener Verbindung wäre, muss mit deren
Auflösung auch verschwinden, wie sie mit der Vereinigung der
Elemente einst entstanden war 1).


Es könnte scheinen, als ob Empedokles selbst weit ent-
fernt gewesen sei, solche Folgerungen aus seinen eigenen Vor-
aussetzungen zu ziehen. Niemand redet eindringlicher und
bestimmter von den, im Menschen und auch in anderen Ge-
bilden der Natur wohnenden seelischen Eigenwesen. Sie gel-
ten ihm als Dämonen, die, in die Körperwelt gesunken, viele
Lebensformen zu durchwandern haben, bis sie endlich auf Er-
lösung hoffen dürfen.


In der Einleitung seines Gedichtes von der Natur berich-
tete er, nach eigenen Erfahrungen und nach den Belehrungen
der Dämonen, die einst seine Seele in dieses irdische Jammer-
thal 2) herabgeleitet hatten, wie nach altem Götterschluss und
6)
[472] dem Zwang der Nothwendigkeit ein jeder Dämon, der sich
durch Blutvergiessen und Genuss des Fleisches lebender Wesen
„verunreinigt“ 1) oder einen Meineid geschworen hat 2), auf
lange Zeit 3) aus dem Kreise der Seligen verbannt werde. Er
stürzt herab auf die „Wiese des Unheils“, in das Reich der
Widersprüche 4), die Höhle des Elends auf dieser Erde, und
muss nun viele „beschwerliche Wege des Lebens“ 5) durch-
2)
[473] wandern in wechselnden Verkörperungen. „Und so war ich
selbst schon ein Knabe, so war ich ein Mädchen, war ein
Gesträuch und ein Vogel, ein sprachloser Fisch in der Salz-
fluth (V. 11. 12).“ Dieser Dämon, der zur Strafe seines
Frevels durch die Gestalten von Menschen und Thiere und
selbst Pflanzen wandern muss, ist offenbar nichts anderes als
was der Volksmund und auch die Theologen die „Psyche“
nennen, der Seelengeist 1). Was von dessen göttlichem Ur-
sprung, Verfehlung und Strafverbannung in irdische Leiber
die Anhänger der Seelenwanderungslehre längst zu berichten
wussten, wird von Empedokles in allem wesentlichen nur, wie-
wohl in deutlicherer Fassung, wiederholt 2). Auch wo er, als
Lehrer des Heils, die Mittel angiebt, durch die in der Reihen-
folge der Geburten günstigere Lebensformen und Lebensbedin-
gungen erlangt und zuletzt Befreiung von Wiedergeburt er-
reicht werden könne 3), folgt Empedokles dem Vorbild der
Reinigungspriester und Theologen älterer Zeit. Es gilt, den
Dämon in uns rein zu erhalten von Befleckungen, die ihn an
das irdische Leben fester binden. Hierzu dienen vor allem die
religiösen Reinheitsmittel, die Empedokles nicht anders als
jene alten Katharten verehrt. Es gilt, von jeder Art der
[474] „Sünde“ 1) den inneren Dämon fern zu halten, ganz besonders
von Blutvergiessen und dem Genuss von Fleischnahrung, dem
ein Mord verwandter Dämonen, die in den geschlachteten
Thieren wohnen, vorausgegangen sein müsste 2). Durch Rein-
heit und Askese (die auch hier eine positiv den Menschen
umbildende Moral unnöthig machen) wird ein Stufengang zu
reineren und besseren Geburten bereitet 3); zuletzt werden die
also Geheiligten wiedergeboren als Seher, Dichter, Aerzte, als
Führer unter den Menschen 4), und nach Ueberwindung auch
dieser obersten Stufen des Erdenlebens kehren sie zurück zu
[475] den anderen Unsterblichen, selbst Götter, von menschlichen
Leiden entbunden, vom Tode frei und unvergänglich 1). Sich
selbst sieht Empedokles auf der letzten Stufe schon angekom-
men; anderen weist er den Weg da hinauf.


Zwischen dem, was hier der Mystiker von den schon vor-
her in göttlichem Dasein lebendigen, in die Welt der Elemente
hineingeworfenen, aber an sie nicht für immer gebundenen
Seelen sagt, und dem was der Physiolog von den, den Ele-
menten innewohnenden, an den, aus Elementen aufgebauten
Körper gebundenen und mit dessen Auflösung vergehenden
Seelenkräften lehrte, scheint ein unlöslicher Widerspruch zu
zu bestehen. Man darf auch, um die ganze und wahre Mei-
nung des Empedokles zu fassen, weder einen Theil seiner Aus-
sagen bei Seite setzen 2), noch durch begütigende Auslegung
eine Einstimmigkeit des Philosophen mit sich selbst herstellen
wollen 3), wo doch deutlich zwei Stimmen laut werden. Die
zwei Stimmen sagen nicht dasselbe; dennoch besteht, im Sinne
des Empedokles, kein Widerspruch zwischen ihren Aussagen:
denn diese beziehen sich auf ganz verschiedene Gegenstände.
Die seelischen Kräfte und Vermögen des Empfindens und
Wahrnehmens, welche Functionen des Stoffes sind, in diesem
erzeugt und nach ihm bestimmt, das Denken, welches nichts
anderes ist als das Herzblut des Menschen, weder bilden sie
zusammen das Wesen und den Inhalt jenes Seelengeistes, der
in Mensch, Thier und Pflanze wohnt, noch sind sie dessen
Thätigkeitsäusserungen. Sie sind ganz an die Elemente und
deren Mischung, im Menschen an den Leib und seine Organe
gebunden, Kräfte und Vermögen dieses Leibes, nicht eines
eigenen unsichtbaren Seelenwesens. Der Seelendämon ist nicht
aus den Elementen erzeugt, nicht ewig an sie gefesselt. Er
[476] fällt in diese Welt, in der als bleibende Bestandtheile nur die
drei Elemente und die zwei Kräfte der Liebe und des Hasses
anzutreffen sind 1), herein aus einer andern Welt, der Welt der
Geister und Götter, zu seinem Unheil, als in ein Fremdes;
die Elemente werfen ihn einander zu, „und hassen ihn alle“
(V. 35). Wohl tritt diese, mitten in feindlich fremder Um-
gebung für sich allein lebende Seele nur in solche irdische
Gebilde ein, die selbst schon Sinne, Empfindung und Wahr-
nehmung, auch Verstand oder Denkkraft als Blüthe ihrer ma-
teriellen Zusammenfügung haben; aber sie ist mit diesen seeli-
schen Kräften so wenig identisch wie mit den Stoffmischungen
und im besonderen, im Menschen, mit dem Herzblut. Sie be-
steht unvermischt und unvermischbar neben dem Leibe und
seinen Kräften, die allerdings erst mit ihr vereint Leben haben
„was man so Leben nennt“ (V. 117), von ihr getrennt der
Vernichtung verfallen, aber nicht auch sie, die zu anderen
Wohnplätzen weiter wandert, in die Vernichtung reissen.


In dieser eigenthümlich dualistischen Lehre spiegelt sich
die zwiefache Sinnesrichtung des Empedokles wieder; er meinte
wohl, in dieser Weise die Einsichten des Physiologen und
des Theologen vereinigen zu können. Unter Griechen mag der
Gedanke einer solcher Zwiespältigkeit des inneren Lebens
weniger befremdlich erschienen sein als er uns erscheinen muss.
Die Vorstellung einer „Seele“, die als selbständiges, einheit-
lich geschlossenes Geisteswesen in dem Leibe wohnt, der die
geistigen Thätigkeiten des Wahrnehmens, Empfindens, Wol-
lens und Denkens nicht von ihr empfängt, sondern durch seine
eigene Kraft verrichtet — diese Vorstellung stimmt ja im
Grunde überein mit den Annahmen volksthümlicher Seelen-
kunde, die in Homers Gedichten überall dargelegt oder voraus-
gesetzt werden 2). Nur dass diese dichterisch-volksthümliche
Ansicht nach den Eingebungen theologisch-philosophischer Spe-
[477] culation näher bestimmt und gestaltet ist. Wie tief griechi-
schem Geiste jene im letzten Grunde aus Homer ererbte An-
schauungsweise eingeprägt war, zeigt sich daran, dass eine der
empedokleischen nahe verwandte Vorstellung von dem zwie-
fachen Ursprung, Wesen und Wirkungskreis seelischer Thätig-
keit auch in geläuterter Philosophie immer wieder auftaucht,
nicht nur bei Plato, sondern sogar bei Aristoteles, welcher
neben der, in der leiblich-organischen Natur des Menschen
waltenden und sich darstellenden „Seele“ noch einen, aus gött-
lichem Geschlecht stammenden, in den Menschen „von aussen“
hineingetretenen, von der Seele und dem Leibe trennbarem
„Geist“ (νοῦς) anerkennt, der allein auch den Tod des Menschen,
dem er zuertheilt war, überdauern soll 1). Auch bei Empe-
dokles ist es ein fremder Gast aus fernem Götterland, der in
den Menschen eintritt, ihn zu beseelen. Er steht dem „Geist“
des Aristoteles weit nach an philosophischer Würde; dennoch
hat auch in der Einführung dieses Fremdlings in die aus den
Elementen und deren Lebenskräften aufgebaute Welt ein Ge-
fühl von der völligen Unvergleichbarkeit des Geistes mit allem
Materiellen, seiner wesenhaften Verschiedenheit von diesem sich
einen, wenn auch theologisch eingeschränkten Ausdruck ge-
geben.


In dem Lichte theologischer Betrachtung erscheint freilich
dem Empedokles die Seele wesentlich verschieden auch von
ihrem Urbilde, der homerischen Psyche, die nach der Trennung
vom Leibe nur noch ein schattenhaftes Traumdasein verdäm-
mert. Sie ist ihm göttlichen Geschlechts, zu edel für diese Welt
der Sichtbarkeit, aus der geschieden sie erst volles und wirk-
liches Leben haben wird. In den Leib gebannt, hat sie darin
ihr abgesondertes Wesen; nicht die alltägliche Wahrnehmung
und Empfindung fällt ihr zu, auch nicht das Denken, das ja
nichts anderes ist als das Herzblut; allenfalls in der „höheren“
[478] Erkenntnissweise der ekstatischen Erregung ist sie thätig 1),
ihr allein ist wohl auch der philosophische Tiefblick eigen, der,
über die sinnliche Auffassung eines beschränkten Erfahrungs-
gebietes hinausdringend, die Gesammtheit des Weltwesens nach
seiner wahren Beschaffenheit erkennt 2). Auf sie allein be-
ziehen sich alle Forderungen sittlich-religiöser Art; Pflichten
in diesem höheren Sinne hat nur sie; sie hat etwas von der
Natur des „Gewissens“. Ihre oberste Pflicht ist, sich selbst
zu erlösen aus der unseligen Vereinigung mit dem Leibe und
[479] den Elementen dieser Welt; die Vorschriften der Reinigung
und Askese gelten nur ihr.


Zwischen diesem Seelendämon, der nach seiner Götter-
heimath zurückstrebt, und der Welt der Elemente besteht kein
inneres und nothwendiges Band; dennoch aber, da sie einmal
mit einander verflochten sind, ein gewisser Parallelismus der
Bestimmung und des Schicksals. Auch in der mechanisch be-
wegten Naturwelt streben die gesonderten Einzelerscheinungen
zurück zu ihrem Ursprung, zu der innig verschmolzenen Einheit,
von der sie einst ausgegangen sind. Einst wird, nach Ver-
drängung alles Streites, volle „Liebe“ herrschen, und das ist
dem Dichter, dem sich auch in die Schilderung dieser Welt
mechanischer Anziehung und Abstossung, ethische Untergedan-
ken einschleichen 1), der Zustand voller Güte und Seligkeit.
Giebt es einst keine Welt mehr, so wird, bis sich aufs neue
eine solche bildet, auch kein Seelendämon mehr an die Einzel-
organismen einer Welt gefesselt sein können. Sind sie dann
alle zurückgekehrt zu der seligen Gemeinschaft der ewigen
Götter? Es scheint, dass auch die Götter und Dämonen (und
demnach auch die in die Welt als „Seelen“ eingeschlossenen
Geister) dem Empedokles nicht ein ewiges Leben haben sollen:
„lang lebend“ nennt er sie wiederholt, Ewigkeit schreibt er
ihnen mit Bestimmtheit nirgends zu 2). Auch sie sollen eine
[480] Zeit lang „tiefsten Ruhens Glück“ geniessen, indem, wie die
Elemente und Kräfte zu der Einheit des Sphairos, sie in der
Einheit des göttlichen Allgeistes zusammengehen, um erst bei
einer neuen Weltbildung auch ihrerseits aufs neue zu indivi-
duellem Sonderdasein hervorzutreten 1).


7.


Aus dem Versuche des Empedokles, ein vollentwickeltes
hylozoistisches System (das indessen, in der Einfügung der
treibenden Mächte des Streites und der Liebe, selbst schon
einen dualistischen Keim aufgenommen hatte) mit einem aus-
schweifenden Spiritualismus zu verschwistern, lässt sich sehr
2)
[481] deutlich die Wahrnehmung erläutern, dass eine philosophirende
Naturwissenschaft für sich allein zu einer Bekräftigung des
Axioms der Fortdauer oder gar Unvergänglichkeit der indivi-
duellen „Seele“ nach ihrer Trennung vom Leibe nicht führen
konnte. Wem die Behauptung dieses Axioms ein Bedürfniss
blieb, der konnte ihm eine Stütze nur dadurch geben, dass er
die Physiologie durch theologische Speculation verdrängte,
oder, wie es Empedokles versuchte, ergänzte.


Dieser Versuch, das Unvereinbare zu vereinigen, der auch
in den Kreisen, die einer wissenschaftlichen Betrachtung zu-
gänglich waren, wenig Anhänger gefunden haben kann, war
nicht geeignet, die physiologische Philosophie von ihren bis
dahin verfolgten Bahnen abzulenken. Bald nach Empedokles,
und in den Grundgedanken kaum beeinflusst durch ihn, ent-
wickelten Anaxagoras und Demokrit ihre Lehrsysteme, in denen
die selbständige ionische Denkarbeit ihre letzten Blüthen trieb.
Demokrit, der Begründer und Vollender der Atomenlehre,
nach der es „in Wirklichkeit“ nur die untheilbaren kleinsten,
qualitativ nicht gesonderten, aber nach Gestalt, Lage und Ord-
nung im Raume, auch nach Grösse und Gewicht verschiede-
nen materiellen Körper, und den leeren Raum giebt, musste
auch die „Seele“, die gerade dem Materialisten leicht als ein sub-
stantiell für sich bestehendes Eigending erscheinen mag, unter
jenen kleinsten Körpern suchen, aus denen sich alle Gebilde der
Erscheinungswelt zusammensetzen. Die Seele ist das, was den
aus eigener Kraft nicht bewegbaren Körpermassen die Bewegung
verleiht. Sie besteht aus den runden und glatten Atomen,
welche in der allgemeinen Unruhe, die alle Atome umtreibt,
die beweglichsten, weil der Ortsveränderung den wenigsten
Widerstand entgegensetzenden, überall am leichtesten eindrin-
genden sind. Diese Atome bilden das Feuer und die Seele.
Zwischen je zwei andere Atome eingeschaltet 1), ist es das
Seelenatom, welches diesen seine Bewegung mittheilt; und so
Rohde, Seelencult. 31
[482] geht von den gesammten, durch den Leib gleichmässig ver-
theilten seelischen Atomen die Bewegung des Körpers aus,
zugleich aber (in einer freilich unfassbaren Weise) die ebenfalls
auf einer Bewegung beruhende Wahrnehmung und das darauf
begründete Denken eben dieses Körpers. Bei Leibesleben er-
hält sich der Bestand der Seelenatome durch die Athmung,
welche die, durch den Druck der umgebenden Atmosphäre
fortwährend aus dem Ganzen des Atomencomplexes hinausge-
pressten glatten Seelentheile ersetzt, indem sie aus der Luft,
die von schwebenden Seelenatomen erfüllt ist, immer neuen
Seelenstoff einzieht und dem Körper zuführt. Einmal aber
genügt der Athem diesem Dienste nicht mehr. Dann tritt der
Tod ein, welcher eben eine Folge der mangelnden Zuführung
der bewegenden und beseelenden Atome ist 1). Mit dem Tode
löst sich die Verbindung der Atome, deren Vereinigung diesen
einzelnen lebenden Organismus bildete. Die Seelenatome, nicht
anders als alle übrigen Atome, vergehen nicht, sie wandeln
ihre Art nicht, aber aus der lockeren Anhäufung, in der sie,
auch im lebendigen Leibe, kaum eine geschlossene, unter Einem
Gesammtnamen zusammenzufassende Einheit bildeten, lösen
sie sich nun gänzlich. Es ist, bei dieser Vorstellung von dem
Wesen des Seelischen und Lebengebenden, schwer begreiflich,
wie, als eine Resultante von lauter selbständigen Einzelwir-
kungen unverbundener Einzelkörper, die Einheit des lebendi-
gen Organismus und des seelischen Wesens entstehen könne;
[483] um so einleuchtender ist es, dass eine einheitliche „Seele“ sich
nach der Lösung der zum Organismus vereinigten Atome,
die der Tod bringt, unmöglich erhalten könne. Die Seelen-
atome zerstreuen sich 1), sie treten zurück in die schwebende
Masse der Weltenstoffe. Der Mensch vergeht nach dieser Be-
trachtungsweise im Tode gänzlich 2). Die Stoffe, aus denen er
31*
[484] gebildet und gebaut war, sind unvergänglich und neuen Bil-
dungen vorbehalten, seine Persönlichkeit aber, wie seine sicht-
bare so seine unsichtbare, seine „Seele“, hat nur ein einmaliges,
zeitlich begrenztes Dasein. Eine Fortdauer der Seele nach
dem Tode, eine Unsterblichkeit, in welchem Sinne man sie
auch verstehen mag, wird hier zum ersten Male in der Ge-
schichte des griechischen Denkens ausdrücklich geleugnet; der
Atomist zieht mit der ehrlichen Bestimmtheit, die ihn aus-
zeichnet, die Consequenzen seiner Voraussetzungen.


Anaxagoras schlägt dieser materialistischen Lehre fast
entgegengesetzte Wege ein. Als erster entschiedener und be-
wusster Dualist unter den griechischen Denkern, setzt er dem
materiellen Untergrund des Seins, der unendlichen Menge der
nach ihren Eigenschaften bestimmten und von einander ver-
schiedenen, ununterscheidbar aber durch einander gemischten
„Saamen“ der Dinge eine Kraft gegenüber, die er offenbar aus
ihnen nicht abzuleiten wusste, benannt wie sonst das Denk-
vermögen des einzelnen Menschen, und jedenfalls nach Analogie
dieses Vermögens vorgestellt 1). Dieser „Geist“, einfach, un-
vermischt und unveränderlich, wird mit solchen Beiwörtern be-
2)
[485] schrieben, dass man das Bestreben des Anaxagoras, ihn von
allem Materiellen verschieden, selbst immateriell und unkörper-
lich zu denken, nicht verkennen kann 1). Er ist zugleich Denk-
vermögen und Willenskraft; von ihm ist bei der Weltbildung
die erste wirbelnde Bewegung der an sich bewegungslosen
Masse der Stoffe mitgetheilt, und die Bildung bestimmter Ge-
stalten nach bewusster Zweckmässigkeit begonnen, deren Durch-
führung dann freilich nach rein mechanischen Gesetzen, ohne
Zuthun des „Geistes“ sich vollziehen soll. Dieser, die Welt
nicht schaffende aber planvoll ordnende „Geist“, der nach der
bewussten Einsicht seiner Allweisheit 2) die Stoffe beeinflusst,
selbst von ihnen unbeeinflusst bleibt, sie bewegt ohne selbst
bewegt zu sein 3), der Vielheit der Dinge als untheilbar Einer
gegenübersteht 4), „mit nichts ausser ihm etwas gemein hat“ 5),
sondern sich allein für sich hält 6) — wie soll man ihn sich
anders denken denn als eine, fast persönlich vorgestellte,
ausserweltliche Gotteskraft, der Welt des Stofflichen fremd
entgegenstehend, von aussen (magisch, nicht mechanisch) sie
beherrschend?


Aber dieser Jenseitige ist zugleich ein völlig Diesseitiger.
1)
[486] Wo in dieser Welt sich Leben und selbständige Bewegung
zeigt, da muss der Geist, als deren Ursache, thätig sein. „Alles
was Seele hat, beherrscht der Geist“, sagt Anaxagoras 1). Hier-
mit ist noch nicht die Anwesenheit des „Geistes“ in dem be-
seelten Wesen behauptet, auch nicht Wesensgleichheit von
Seele und Geist. Aber wenn es heisst, dass der Geist „durch
alles hindurchgehe“ 2), dass in jedem Dinge ein Theil von allen
Dingen sei, ausser vom Geiste, in einigen aber auch Geist
sei 3), so wird damit doch eine Durchdringung mancher Stoff-
verbindungen durch den, hier kaum noch körperlos zu denken-
den „Geist“ behauptet, bei der dessen Jenseitigkeit aufgehoben
scheint. Als solche Verbindungen, in denen „Geist“ ist, sind
jedenfalls die lebenden, beseelten Wesen gedacht. Sie sind es,
in denen der „Geist“ stets in gleicher Beschaffenheit aber in
verschiedenen Mengen 4) anwesend ist, ja der Geist ist oder
[487] bildet wohl eben das, was man die „Seele“ eines Lebewesens
nennt 1). Solche Lebewesen, deren es, wie auf der Erde, auch auf
dem Monde giebt 2), sind nicht nur Menschen und Thiere, son-
dern auch die Pflanzen 3). In allen diesen ist der „Geist“ wirk-
sam, ihnen ist er, ohne selbst seine Reinheit und Einheitlichkeit
zu verlieren, beigemischt 4). Wie man es sich vorzustellen habe,
dass der weltbeherrschende Geist, dessen Einheitlichkeit und
Fürsichbleiben so nachdrücklich eingeprägt wird, dennoch gleich-
zeitig in die Unendlichkeit der Individuation eingehe, das bleibt
undeutlich. Gewiss ist aber, dass bei dieser Ableitung aller Be-
seelung aus dem Einen Weltgeiste Anaxagoras von der Fort-
[488] dauer individuell für sich bestehender Seelen nach dem Zer-
fall der stofflichen Bildungen, in denen bewegende und belebende
Seelenkraft gewohnt hatte, nicht reden konnte. Es wird ihm
ausdrücklich die Meinung zugeschrieben, dass die Scheidung
vom Leibe auch „der Seele Tod“ sei 1). Zwar es vergeht nichts
von den Bestandtheilen des Alls, es verwandelt auch nichts
seine Natur, und so erhält sich der „Geist“, dessen Erschei-
nungsform die „Seele“ war, unverändert und unvermindert,
aber nach der Scheidung des Vereinigten, die „den Hellenen“
als dessen Vernichtung erscheint 2), bleiben wohl die Bestand-
theile des Einzelwesens, aber nicht mehr diese Mischung in der
das besondere Wesen des Einzelnen lag; es bleibt der „Geist“,
aber nicht die Seele. —


Die erste bestimmte Abtrennung eines Geistigen, Denken-
den von der Materie, mit der es nicht verschmolzen, noch
weniger identisch sein, dem es vielmehr selbständig und be-
herrschend gegenüberstehen soll, führte nicht zur Anerkennung
der Unvergänglichkeit des individuellen Geistes.


Ob dem Materiellen und Körperlichen gegenübergestellt,
[489] oder ihm untrennbar eingesenkt, das Geistige, Selbstbewegte,
Lebengebende ist dem Physiologen durchaus ein Allgemeines,
das wahrhaft Seiende ein Unpersönliches. Das Individuelle,
die ihrer selbst und des Aeusseren bewusste Persönlichkeit,
kann ihnen nur eine Erscheinungsform des Allgemeinen sein,
sei dieses ein ruhendes, oder ein lebendig processirendes, sich
unablässig entwickelndes, zersetzendes und zu immer neuen Ge-
bilden zusammenfügendes. Bleibend, unvergänglich ist nur das
Allgemeine, das in allem Einzelnen erscheint, aus ihm hervor-
tönt, in Wahrheit in ihm allein wirkt [und] lebt. Die einzelne
Menschenseele hat ihre Unvergänglichkeit nur an der Wesens-
gleicheit mit dem Allgemeinen, das in ihr sich darstellt. Die
einzelne Erscheinungsform, in sich unselbständig, kann sich
dauernd nicht erhalten.


Zu der Annahme eines unvergänglichen Lebens der Einzel-
seele konnte nur eine Vorstellung leiten, die die Realität des
Individualgeistes (dessen Erscheinen und Verschwinden inmitten
des grossen Alllebens des Einen im Grunde für die Physio-
logen das wahre, begrifflich nicht aufzulösende Wunder blieb)
als eine Thatsache hinnahm und festhielt. Einen Individualis-
mus dieser Art, den Glauben an selbständig seiende, unge-
wordene und darum auch unvergängliche individuelle Substan-
zen, brachte, wenn auch in noch so phantastischer Gestaltung,
die Reflexion der Theologen heran. Ihnen reicht die innere
Ewigkeit, die Kraft der zeitlich unbegrenzten substantiellen
Dauer bis in die Individualität hinein. Die einzelne Seele ist
ihnen ein, in sich bestehendes einzelnes göttliches Wesen, un-
vergänglich, weil es göttlich ist.


Je nachdem griechische Philosophie, in den mannichfaltigen
Wendungen, die ihre Betrachtung in den folgenden Zeiten sich
gab, an theologischen Elementen mehr oder weniger in sich
aufnahm oder solche ganz verschmähte, hat sie eine Unsterb-
lichkeit der Einzelseelen grundsätzlich bekräftigt, oder halb und
zögernd zugelassen, oder gänzlich abgelehnt.


[[490]]

Die Laien.


Theologie und Philosophie, jede in ihrer Weise hinaus-
strebend über einen nicht befriedigenden Volksglauben, konn-
ten ihrerseits nur langsam, jenseits der engen Genossenschaf-
ten, an deren Theilnahme sie sich zunächst wandten, einen
Einfluss auf solche Kreise gewinnen, deren Vorstellungen in
eben jenem Volksglauben wurzelten. Während der ersten
Blüthezeit der theologischen und philosophischen Bestrebungen
wird kaum hier und da einmal eine Stimme laut, welche die Er-
wartung wecken könnte, dass der Glaube an Unvergänglichkeit
und göttliche Natur der Menschenseele oder an die Einwurze-
lung alles Seelischen in einem unvergänglichen Urgrunde, aus
einer Erkenntniss der Weisen und Erleuchteten eine Ueber-
zeugung des Volkes und der Ungelehrten werden möge. „Es
bleibt nach dem Tode des Leibes lebendig des Lebens Abbild:
denn das allein stammt von den Göttern“ verkündet Pindar.
Aber so sicher und wie keines Widerspruches gewärtig er hier
die Annahme der Unsterblichkeit der Seele hinstellt und aus
ihrer Gottnatur begründet: damals kann dies nur eine Ueber-
zeugung abgesonderter, eigens so belehrter Vereinigungen ge-
wesen sein. Es kann nicht Zufall sein 1), dass in den auf uns
gekommenen Bruchstücken der lyrischen und halblyrischen (ele-
[491] gisch-iambischen) Dichtung, die, für ein weites und unge-
sichtetes Publikum bestimmt, dem Fühlen und Sinnen einen,
Allen verständlichen Ausdruck giebt, kaum jemals jene ge-
steigerte Vorstellung von Würde und Bestimmung der Seele
sich ausspricht. Die Betrachtung verweilt nicht auf diesem
dunklen Gebiete; wo sie dennoch ein flüchtiges Licht dorthin
wirft, da zeigen sich noch immer Umrisse der Gestaltungen
einer Geisterwelt, so wie homerische Phantasie sie gebildet
hatte. —


Leben und Licht ist nur auf dieser Welt 1); der Tod, dem
wir alle uns schuldig sind 2), führt die Seelen in ein Reich der
Nichtigkeit 3). Sprachlos, lautlos wie ein Steinbild liegt der
Todte im Grabe 4). Auf Erden, nicht in einem schattenhaften
Jenseits, vollzieht die göttliche Gerechtigkeit ihr Gericht 5), an
dem Frevler selbst oder seinen Nachkommen, in denen von
ihm etwas fortlebt, deren entbehren zu müssen der kinderlos
aus dem Leben Scheidende als tiefsten Schmerz mit sich in den
Hades nimmt 6).


[492]

Lauter und schmerzlicher tönt in diesen Zeiten unter dem
Drucke einer, alle Empfindung schärfer eingrabenden Steige-
rung der Cultur, die Klage um Mühsal und Noth des Lebens,
die Dunkelheit seiner Wege und die Ungewissheit seiner Er-
folge 1). Silen, der hellsichtige Waldgeist, so ging alte Sage,
hatte vom König Midas, der ihn in seinen Rosengärten am
Bermios fing, sich gelöst mit dem Wahrspruch schwermüthiger
Weisheit, den man in wechselnder Gestaltung sich einzuprägen
nicht müde wurde: nicht geboren zu werden, sei dem Menschen
das Beste, und sei er geboren, so müsse er wünschen, so
bald als möglich in das Reich der Nacht 2) und des Hades
wiedereinzugehn 3). Die Freudigkeit des Lebens im Lichte ist
nicht mehr, in naiver Zuversicht, ihrer selbst so gewiss wie
einst; dennoch wird kein Ersatz, keine Ausgleichung gesucht
in einem jenseitigen Reiche der Gerechtigkeit und des mühe-
losen Glücks. Eher klingt eine Stimmung vor, der die Ruhe
das beste scheint von allem Glück der Welt: und Ruhe bringt
der Tod. Aber noch bedarf es kaum der Tröstungen; ein
starkes männliches Lebensgefühl, das auch das Böse und
Schwere im Gleichmuth der Gesundheit trägt und austrägt,
6)
[493] steht in Kraft, und blickt uns ohne Prahlen an vielen Stellen
dieses dichterischen Nachlasses entgegen. Nicht durch Ver-
schleiern der Härte und Grausamkeit des Lebens sucht man
sich zu helfen. Gering ist des Menschen Kraft, seine Sorge
erreicht nicht ihr Ziel, in kurzem Leben häufet sich Noth auf
Noth; und allen gleichmässig ist der unentfliehbare Tod ver-
hängt. Alles gelangt zuletzt zu dem grässlichen Schlunde, die
hohe Tugend und die Macht der Welt 1). Aber das Leben
ist doch gut, und der Tod ein Uebel: wäre er dies nicht, wa-
rum stürben die seligen Götter nicht? fragt frauenhaft naiv
Sappho 2), die der Lebensgang doch durch tiefe Schattenthäler
des Leids geführt hatte. Selbst der Todte, wenn er wünscht,
dass sein Dasein nicht ganz ausgelöscht sein möge, ist auf die
Welt der Lebenden, als das einzige Reich der Wirklichkeit
angewiesen: einzig der Ruhm seiner Tugenden und seiner Tha-
ten überdauert seinen Tod 3). Vielleicht steigt eine Empfindung
hievon bis zu den Todten hinab 4). Sie selbst sind für die
Lebenden so gut wie ins Nichts versunken: man sollte, meint
ein Dichter, ihrer nach geschehener Bestattung nicht weiter
gedenken 5).


[494]

Selbst die Herkömmlichkeiten des Seelencultes scheinen
hier unmuthig verworfen zu werden. Im Uebrigen hat die
freier umblickende Betrachtung der Dichter selten Veranlas-
sung, des Seelencults, den die engeren Genossenschaften der
Familie und der bürgerlichen Gemeinde ihren Verstorbenen
widmen, und der auf ihn begründeten Vorstellungen vom
Fortleben ihrer Abgeschiedenen zu gedenken. Hier treten er-
gänzend die attischen Redner des fünften und vierten Jahr-
hunderts ein mit dem, was sie von den jenseitigen Dingen sa-
gen und verschweigen. Die Blüthe der lyrischen Dichtung war
damals schon abgewelkt, aber noch immer konnte, wer als
Redner vor einer Bürgerversammlung allgemeinem Verständniss
und Empfinden entgegenkommen wollte, von seliger Unsterb-
lichkeit, von Ewigkeit und Göttlichkeit der Seele nicht reden.
Ueber die Vorstellungen von Fortdauer, Macht und Recht
der abgeschiedenen Seelen, wie sie der Seelencult hervorrief
und lebendig erhielt, gehen die Gedanken der Redner nicht
hinaus 1). Nicht ein Fortleben der Seelen im Jenseits wird in
Frage gestellt, wohl aber wird die Annahme, dass den Seelen
Bewusstsein und Empfindung von den Vorgängen auf dieser
Erde bleibe, nur mit vorsichtiger Unbestimmtheit ausge-
sprochen 2). Was den Todten, abgesehen von den Opfergaben
5)
[495] seiner Angehörigen, mit dem Leben auf Erden noch verbindet,
ist nicht viel mehr als der Nachruhm unter den Ueberlebenden 1).
Selbst in der gehobenen Sprache feierlicher Grabreden fehlt
unter den Trostgründen für die Hinterbliebenen jede Hinwei-
sung auf einen erhöheten Zustand, ein ewiges Leben in voll-
empfundener Seligkeit, das die ruhmreich Verstorbenen aufge-
nommen habe 2). Das Volk hatte, scheint es, nach solchen ver-
klärenden Ausblicken, für die Seinigen und für sich selbst,
noch damals so wenig ein gemüthliches Bedürfniss wie einst zur
Zeit der grossen Freiheitskämpfe 3). Den theuren Todten, die
in diesen Kämpfen für das Vaterland gefallen sind, auch vielen
Anderen, die der Tod ereilt hat, widmet Simonides, der Meister
[496] sinnreich zusammenfassender Aufschriften, seine Epigramme.
Aber niemals findet er ein Wort das in ein Land seliger Un-
vergänglichkeit den Geschiedenen hinüberwiese. Ganz im Dies-
seits wurzelt die Unsterblichkeit der Todten: nur das Ge-
dächtniss und der grosse Name bei der Nachwelt giebt ihnen
Dauer. —


Es trifft wie ein Klang aus einer andern Welt, wenn (um
die Mitte des fünften Jahrhunderts) Melanippides, der Dithy-
rambendichter, einen Gott anruft: „höre mich Vater, Staunen
der Sterblichen, der du der ewig lebendigen Seele waltest“.
Der Anruf galt jedenfalls dem Dionysos 1). Wer in den Zauber-
kreis seiner Nachtfeste trat, dem belebten sich die Gesichte
von der Unvergänglichkeit der Menschenseele und ihrer Gottes-
kraft. Die Tagesansicht derer, die nicht in den Gedanken
theologischer oder philosophirender Sondergemeinden lebten,
brachte solcher Weisheit nur halbe Theilnahme entgegen.


2.


Eine eigene Stellung nimmt Pindar ein. Zwei, einander
entgegengesetzte Vorstellungen von Wesen, Herkunft und Be-
stimmung der Seele scheinen mit dem Anspruch auf gleiche
Geltung bei ihm aufzutreten.


In den Siegesliedern überwiegen Andeutungen, die auf
eine mit dem volksthümlichen, auf Dichterworten und den
Voraussetzungen des Seelencults und des Heroendienstes be-
ruhenden Glauben übereinstimmende Ansicht schliessen lassen.
Die Seele verschwindet nach ihrer Trennung vom Leibe in
der Unterwelt 2). Es bleibt wohl Pietät und treues Angeden-
[497] ken den Nachkommen, als ein Band zwischen dem Todten
und den Lebenden 1); ob die Seele selbst dort unten noch
von einem Zusammenhang mit dem Reiche der Lebenden
wisse, scheint nicht ganz sicher 2). Ihre Kraft ist dahin; es
ist sicherlich kein Zustand seligen Glücks, in den sie eingetreten
ist. Einzig der grosse Name, der Ruhm im Gesange ist nach
dem Tode der Lohn der Tugend und grosser Thaten 3).


Ein erhöhetes Dasein wird nach dem Abscheiden von der
Erde allein den Heroen zu Theil. Der Glaube an Dasein,
Würde und Macht solcher verklärter Geister steht in voller
Kraft 4); er spricht überall in gleicher Lebendigkeit aus Wor-
ten und Erzählungen des Dichters. Auch die, durch den
Heroenglauben im Grunde ausser Wirkung gesetzte alte Vor-
stellung, nach der volles Leben nur in ungetrennter Vereini-
gung von Leib und Seele denkbar ist, scheint noch durch in
einzelnen Anspielungen auf Entrückungssagen, die diese Vor-
stellung zur Voraussetzung haben. Der erlauchteste der zu
ewigem Leben Entrückten, Amphiaraos, dem thebanischen
Sänger besonders theuer, wird mehr als einmal in dem Tone
unverfälschten Glaubens an solche Wunder gepriesen 5). Aber
Rohde, Seelencult. 32
[498] auch nachdem der Tod dazwischen getreten ist, bleibt Erhö-
hung zu ewigem Leben, selbst über heroisches Dasein hinaus,
möglich. Semele lebt für immer unter den Olympiern, da
sie doch gestorben ist unter dem Krachen des Blitzstrahls 1).
Nicht unvereinbar geschieden sind Menschen und Götter; an
hohem Sinne, auch der Tüchtigkeit des Leibes nach können
wir den Unsterblichen von ferne ähnlich werden 2). Eine
Mutter gebar beide Geschlechter, aber freilich tief bleibt die
Kluft zwischen ihnen: der Mensch ist ein Nichts, eines Schattens
Traumerscheinung; jenen bleibt immer als unerschütterter Sitz
der eherne Himmel 3). Nur ein Wunder, ein göttlicher Eingriff
in den gesetzlichen Naturverlauf hebt einzelne Seelen zum ewi-
gen Leben der Heroen und Götter empor. —


In solchen Anschauungen konnte sich auch ergehn, wer
vollständig auf dem Boden volksthümlichen Glaubens blieb.
Ihnen stehen aber bei Pindar Darlegungen ganz andrer Art
entgegen, die in breiter Ausführung, mit dogmatischer Be-
stimmtheit vorgetragen, sich wie der Inbegriff einer festgepräg-
ten Lehre von Natur, Bestimmung und Schicksal der Seele
geben, und in der That, trotz einiger poetischen Freiheit in der
wechselnden Ausbildung einzelner Züge des Bildes, in der
Hauptsache sich zu einem wohlverbundenen Ganzen zusammen-
schliessen.


Die Seele, das „Abbild des Lebens“, das andere Ich des
lebenden und sichtbaren Menschen, „schläft“, während die
Glieder des Menschen thätig sind; dem Schlafenden zeigt sie
5)
[499] in Traumbildern das Zukünftige 1). Diese Psyche 2), die bei
wachem Bewusstsein des Menschen selbst im Dunkel des Un-
bewussten liegt, ist jedenfalls nicht die, zu einem einheitlichen
Wesen oder doch Begriff zusammengefasste Gesammtheit geisti-
ger Kräfte, die unter dem Namen der „Psyche“ der Philosoph
und auch schon der alltägliche Sprachgebrauch jener Zeit ver-
steht. Der Name bezeichnet auch hier noch den, im lebendigen
Menschen hausenden Doppelgänger, von dem uralter Volks-
glaube und die homerische Dichtung weiss. Aber ein theologi-
scher Gedanke hat sich eingedrängt. Dieses „Abbild“ des Men-
schen, heisst es, „stammt allein von den Göttern“, und hierin
wird der Grund dafür gefunden, dass nach der Vernichtung
des Leibes durch den Tod das Seelenbild lebendig bleibt 3).


Von den Göttern stammend und somit der Vernichtung
für immer entzogen, ewig, unsterblich, ist aber die Seele in
die Endlichkeit verstrickt; sie wohnt im sterblichen Leibe des
32*
[500] Menschen, das ist die Folge der „alten Schuld“ von der, ganz
im Sinne der theologischen Dichtung, auch Pindar redet 1).
Nach dem Tode des Leibes erwartet sie im Hades das Gericht,
in dem „Einer“ den strengen Spruch spricht über die Thaten
ihres Lebens 2). Die Verdammten erwartet „unanschaubare
[501] Mühsal“ 1) im tiefen Tartaros, „wo endlos Finsterniss ausspeien
die trägen Flüsse der dunklen Nacht“, und Vergessenheit die
Gestraften umfängt 2). Die Frommen gehen zu den unterirdi-
2)
[502] schen Sitzen der Wonne ein, wo die Sonne ihnen leuchtet,
wenn sie für die Erde untergegangen ist 1), und sie auf blumen-
reichen Wiesen ein Dasein edler Muse geniessen, wie es nur
griechische Phantasie, an Bildern griechischer Lebenskunst ge-
nährt, ausmalen konnte, ohne ins Nichtige und Leere zu ver-
fallen.


Aber die Seele hat dort ihre letzte Ruhestätte noch
nicht gefunden. Sie muss aufs Neue einen Körper beleben,
und erst nach einem dritten, auf Erden ohne Fehl vollbrachten
Leben kann sie auf ein Ende ihrer irdischen Laufbahn hoffen 2).
Die Bedingungen jeder neuen Erdenlebenszeit bestimmen sich
nach dem Grade der Reinheit, den die Seele im vorangehen-
den Lebenslaufe erreicht hat: wenn endlich die Herrin der
2)
[503] Unterwelt die „alte Schuld“ für gesühnt hält, so entlässt sie,
im neunten Jahre 1) nach ihrer letzten Ankunft im Hades, die
Seelen noch einmal auf die Oberwelt, zu glücklichem Loose:
sie vollbringen dort noch einen Lebenslauf als Könige, als
Helden in Körperkraft, und als Weise 2). Dann aber scheiden
[504] sie aus dem Zwang irdischer Wiedergeburten. Sie werden als
„Heroen“ unter den Menschen verehrt 1), sie sind also in ein
höheres Geisterleben eingetreten, wie es zu Pindars Zeit der
Volksglaube nicht nur den Seelen hoher Ahnen der Vorzeit,
sondern auch schon vielen nach einem thatenreichen und ver-
dienstvollen Leben in jüngster Zeit Verstorbenen zugestand 2).
Dem Hades sind sie nun ebenso wie dem Bereich des Men-
schenlebens enthoben. Der Glaube sucht sie auf der „Insel
der Seligen“, fern im Okeanos; dorthin, zur „Burg des Kro-
2)
[505] nos“ ziehen sie den „Weg des Zeus“ 1) und führen dort, in
Gemeinschaft mit den Helden der Vorzeit, unter der Obhut
des Kronos 2) und seines Beisitzers Rhadamanthys, ein nie mehr
gestörtes seliges Leben.


[506]

Diese Gedanken von der Abstammung, den Schicksalen
und der endlichen Bestimmung der Seele müssen, je weiter sie
2)
[507] von den im Volke verbreiteten Ansichten abweichen, um so ge-
wisser als der eignen und wahren Ueberzeugung des Dichters
angehörig gelten. Der Dichter, sonst, bei flüchtiger Berührung
der jenseitigen Dinge, sich den herkömmlichen Vorstellungen
anbequemend, giebt sich solchen Ahnungen und Hoffnungen
hin, wo der Gegenstand seines Liedes zur Vertiefung in die
Geheimnisse jenseitigen Lebens einlud, in Trauergesängen um
Verstorbene vornehmlich. Er mochte dabei Rücksicht nehmen
auf die Sinnesart derer, denen sein Lied zuerst erklingen sollte.
Theron, der Herr von Akragas, dem das zweite, in Seligkeits-
hoffnungen sich ergehende olympische Siegeslied gewidmet ist,
war ein greiser Mann, dem Gedanken an das Leben nach
dem Tode naheliegen mochten1). Auch lässt sich in diesem
Falle vielleicht besondere Neigung des Gefeierten, auf diese,
vom gemeingültigen Seelenglauben fernabführenden Gedanken
einzugehn, voraussetzen2). Nur dass Pindar, der stolze, eigen-
richtige, sehr bewusster Weisheit frohe, mit dem Vortrage sol-
cher, populärem Bewusstsein so fremdartiger Lehren sich ledig-
lich fremden Wünschen gefügt, fremdem Glauben gefällig sollte
Ausdruck gegeben haben, das ist undenkbar. Es ist der In-
2)
[508] halt eigner Ueberzeugung, selbsterrungener Einsicht, in die er
gleichgesinnten Freunden, in geweiheter Stunde, einen Blick
eröffnet.


Die Bestandtheile, aus denen Pindar seine Ansicht zu-
sammengefügt hat, sind leicht zu scheiden. Er folgt theologi-
schen Lehren in dem was er von der göttlichen Herkunft der
Seele, ihren Wanderungen durch mehr als einen Leib, von dem
Gericht im Hades, dem Ort der Gottlosen und dem der From-
men in der Unterwelt berichtet. Aber es ist Laientheologie
die er vorträgt; sie bindet sich nicht an eine unabänderliche
Formel und lässt überall spüren, dass ihr Vertreter ein Dichter
ist. In seiner gesammten dichterischen Thätigkeit übt Pindar
das Amt des Sängers zugleich wie ein Lehramt aus, besonders
wo er von den Dingen einer unsichtbaren, göttlichen Welt zu
reden hat. Aber er bleibt bei aller Lehrhaftigkeit ein Dichter,
der, als Wahrer und Walter des Mythus, die Ueberlieferung
in Sage und Glauben nicht fortzuwerfen hat, sondern das
Ueberlieferte reinigen, vertiefen, auch wohl ergänzen und mit
all’ diesem rechtfertigen will. So schlingt sich selbst in seine
theologisirende Seelenlehre ihm Dichtersage und Volksglaube
hinein: die Insel der Seligen, die Erhebung des Menschen zum
Heros hat er nicht aufgeben mögen.


Von welcher Seite dem Pindar die theologischen Anre-
gungen gekommen sein mögen, lässt sich nicht sicher bestimmen.
Orphische sowohl wie pythagoreische Doctrinen können ihm in
Sicilien entgegengetreten sein, wo er seit 477 zu wiederholten
Malen sich aufgehalten hat1). Für beide Secten waren jene
Gegenden der wahre Nährboden.


[509]

Vielleicht traf der Dichter dort auch schon solche Spiel-
arten der mystischen Lehre an, in denen orphische Theologie,
ähnlich wie dann in seiner eigenen Auffassung, mit Bestand-
theilen der verbreiteten Mythologie versetzt war. Proben
eines solchen, mit fremden Elementen vermischten orphischen
Mysticismus bieten die Versreihen, die, auf goldenen Täfelchen
eingegraben, vor nicht langer Zeit in Gräbern nahe dem alten
Sybaris gefunden worden sind1). In dreien dieser Gedichte
kehren zu Anfang gleiche Wendungen, die gleichen Grund-
darstellungen aussprechend, wieder; im Fortgang treten sie
nach zwei verschiedenen Richtungen auseinander. Die Seele des
Todten2) redet die Königin der Unterirdischen und die andern
Götter der Tiefe an: ich nahe mich euch, rein, von Reinen ge-
boren3). Sie gehört also einem Sterblichen an, der selbst,
wie schon seine Eltern, in den heiligen Weihen einer Cult-
genossenschaft „gereinigt“ war4). Sie rühmt sich selbst, aus
[510] dem seligen Geschlecht der unterirdischen Götter zu stammen1).
Blitzstrahl, sagt sie in der einen Fassung der Verse, raubte
mir das Leben2). „Und so entflog ich dem Kreise, dem schmerz-
lichen, kummerbeschwerten.“ Hier herrscht rein orphischer
Glaube: aus dem „Kreise der Geburten“3) ist die Seele nun
endlich ausgeschieden: sie tritt, wie sie sagt, „mit hurtigen
Füssen in den ersehnten Bezirk“4); und schmiegt sich in den
[511] Schooss der Herrin der Unterwelt. Vermuthlich diese ist es,
die zuletzt die erlöste Seele mit den Worten begrüsst: Glück-
liche, Seligzupreisende du, nun wirst du statt eines Sterblichen
ein Gott sein.


Viel weniger hoch fliegen die Hoffnungen in den zwei an-
deren, wesentlich einander gleichen Fassungen der mystischen
Urkunde. Die Seele versichert dort, Busse gezahlt zu haben
für ungerechte Werke; nun komme sie flehend zur hehren
Persephoneia, dass diese sie gnädig sende zu den Wohnplätzen
der Reinen und Heiligen1).


Wie soll man diese Unterschiede verstehn? Möglich
wäre ja, dass die bescheidenere Fassung den Glauben einer
weniger kühn der eigenen Gottnatur und der Nothwendigkeit
endlicher Rückkehr der Seele zu freiem Gottesdasein ver-
trauenden Secte ausspräche. Viel wahrscheinlicher ist aber
doch, — da zumal die Voraussetzung göttlicher Natur der
Seele und ihrer Gottesverwandtschaft in beiden Fällen die
4)
[512] gleiche ist und mit gleichen Worten ausgesprochen wird —
dass wir überall in dem Glaubenskreise einer und derselben
Secte festgehalten werden, und die zu verschiedenen Höhen
der Seligkeit aufstrebenden Hoffnungen verschiedenen Stufen
des Erlösungsganges entsprechen. Wer, durch seine Theilnahme
an den heiligen Weihen, die alte Schuld gesühnt hat, den kann
die Göttin zu dem Lustorte der Reinen im Inneren des Hades zu-
lassen. Aber er muss in nachfolgenden Geburten auf der Erde
erst den Kreis völlig durchmessen haben, ehe er gänzlich von
Wiedergeburt befreit wird und nun ganz wieder ist, was er von
Anbeginn war, ein Gott. Der Todte der ersten Tafel ist an dem
Ziel seiner Wallfahrt angekommen, die der zwei andern Tafeln
erst auf einer Zwischenstation1). Eine andere Inschrift, in
einem Grabe derselben Gegend gefunden2), giebt sich schon
durch Wiederholung einer, auch der ersten Fassung jener Vers-
gruppen angehängten mystischen Formel3) als eine Glaubens-
äusserung aus gleicher Secte wie jene zu erkennen. Sie enthält,
unter allerlei unzusammenhängend und ohne Ordnung durch-
einander geworfenen Anweisungen und Anrufungen an den
Todten4), abermals die Versicherung: ein Gott bist du nun
[513] geworden aus einem Menschen. Dies blieb die Krone der Heils-
verheissungen der Secte.


In dem Cult und Glauben dieser Secte, die in abgerissenen
Lauten aus jenen Versen zu uns redet, war mit der Verehrung
4)
Rohde, Seelencult. 33
[514] der altgriechischen Gottheiten der Unterwelt (unter denen
hier Dionysos nicht erscheint) der kühnste Gedanke der or-
phischen Dionysosmysterien, die Zuversicht auf die, durch alle
irdische Trübung zuletzt rein und siegreich durchbrechende
Gottesnatur der Seele, verschmolzen. Pindar hat in andrer,
aber nicht unähnlicher Weise die gleichen Elemente verbunden.
Man möchte wohl die Wirkung ermessen können, die seine,
ihm selbst innig am Herzen liegenden Lehren unter Hörern
und Lesern seiner Gedichte gehabt haben mögen. Er war
zugleich mehr und weniger als ein theologischer Lehrer. Nie-
mals wieder ist unter Griechen von dem Wonnedasein der ge-
heiligten Seele mit solcher Majestät und in solcher Fülle des
Wohllauts gerecht werden, wie sie sich aus diesem reichen
Dichterherzen ergiesst. Aber, rührt der Dichter auch das Ge-
müth des Hörers, zwingt er auch dessen Phantasie, sich Bil-
der zu gestalten nach seinen Eingebungen, dennoch wird nicht
leicht, und fast je mehr ihm sein Zauberwerk gelingt um so
weniger, der goldene Schein seiner Dichtung mit dem Sonnen-
licht der Wirklichkeit verwechselt werden. Man könnte wohl
zweifeln, ob die Gedichte in denen Pindar seine Seligkeits-
träume erzählt, viele Hörer gefunden haben, denen sie nicht nur
ein ästhetisches Wohlgefallen, sondern den Glauben an den
thatsächlichen Grund solcher Lehren, an die Wirklichkeit der
mit so schimmerndem Lichte umkleideten Gesichte erweckten.


3.


Aber vielleicht wird mit dem Ausdruck solcher Bedenken
die Wirkung unterschätzt, die ein griechischer Dichter auf
Ansichten und Gesinnung seiner Hörer ausüben konnte. Grie-
chische Volksmeinung war sehr geneigt, dem Dichter eine
Stellung einzuräumen, die in unsrer Zeit der Dichter kaum
wünschen möchte einzunehmen, jedenfalls nicht erreichen kann.
Der rein künstlerischen Würde und Bedeutung eines Gedich-
tes schien nichts abgebrochen zu werden, wenn man zugleich
[515] eine lehrende, erziehende Einwirkung von ihm erwartete. Der
Dichter sollte der Lehrer des Volkes sein, zu dem, in griechi-
schen Lebensverhältnissen, Niemand sonst als Lehrer sprach.
Im höchsten Sinne sollte er belehren, wo seine Rede, in er-
habener Poesie, auf die Fragen und Gewissheiten der Reli-
gion
deutete, und auf das Verhältniss der Sittlichkeit zur
Religion. Hier konnte er durch die Betrachtung seines tief-
blickenden Geistes ergänzen, was der Mangel eines religiös
bestätigten Grundbuches der Volksmoral vermissen liess. Den
Gemeinbesitz sittlicher Gedanken, der sich im bürgerlichen
Leben herausgebildet hat, begründet der Dichter fester, indem
er ihm fasslichen, unvergesslichen Ausdruck, festere Zusammen-
fügung zum Ganzen giebt. Er kann auch die Gedanken der
Volksmoral weiterführen und vertiefen, in dem Feuer strenge-
ren Sinnes härten, aus dem Geiste eines erhabeneren Gottes-
verständnisses läutern und erläutern. Und was er dann, mit
dem Stempel seiner ganz persönlichen Art und Meinung ge-
prägt, dem Volke zurückgiebt, das wird nicht flüchtige Ansicht
eines Einzelnen bleiben, sondern in empfänglichen Gemüthern
Wurzel schlagen und von Vielen zu dauerndem Besitze in den
Schatz ihrer Ueberzeugungen aufgenommen werden.


Erst die voll ausgewachsene, zu einer alles umfassenden
Lebensdeutung entwickelte Philosophie einer späteren Zeit
hat die Dichtung in diesem Amte einer Lehrmeisterin der
Strebenden im Volke abgelöst1). Von jeher zwar, niemals aber
so nachdrücklich und mit so voll bewusster Absicht hat die
Dichtung dieses Amtes walten wollen, wie in der Zeit des
Ueberganges — an deren Anfang schon Pindar steht — des
Ueberganges von unbefangenem Vertrauen auf die überlieferte
33*
[516] Auffassung aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge zu einer,
auf dem Boden philosophischen Bekenntnisses neugewonnenen
Beruhigung der Ueberzeugung. Ein Bedürfniss der Berichti-
gung oder der Bestätigung der von den Vätern überlieferten
Meinungen war lebhaft erwacht; noch war es allein die Dich-
tung, die das Licht ihrer Belehrung weit genug warf, um die
Gedanken breiter Volksschaaren erhellen zu können. Ihre Ein-
wirkung musste in dem Maasse zunehmen als die Kreise der
Theilnehmenden sich weiter ausdehnten, an die, nach der be-
sonderen Art ihrer Darbietungen, sie sich wenden konnte.
Darf man schon den Einfluss, den auch als Lehrer des Volks
Pindar, der panhellenische Festdichter, ausüben konnte, nicht
gering anschlagen, so war vollends, bei geringerer räumlicher
Ausbreitung, in der um so vieles grösseren, an einem Orte
zusammengeströmten Volksmenge, vor der die attischen Tra-
giker
ihre Dichtungen sich entwickeln lassen durften, der
Aussaat fruchtbarer Gedanken das breiteste Feld geboten.
Sie selbst lassen vielfach merken, wie sehr sie sich als Lehrer
dieser Volksschaaren fühlen; das Volk liess sie als solche gel-
ten, ja, es erwartete und forderte von dem Dichterworte Be-
lehrung, die höchste von der erhabensten Dichtung1). Wir
werden nicht irren, wenn wir annehmen, dass Ansichten und
Einsichten, denen Aeschylos, Sophokles und nicht am wenigsten
Euripides [in]/choice\> ihren tragischen Festspielen Worte leihen, nicht
alleiniges Eigenthum des Einzelnen blieben, in dessen Geiste
sie entstanden waren.


4.


Die attische Tragödie des fünften Jahrhunderts musste
sich, selbst wenn dichterische Absicht sie nicht dahin gelenkt
hätte, entwickeln zu einem Kunstwerk psychologischen Gehal-
[517] tes. Der eigentliche Schauplatz ihrer Handlungen konnte nur
das Innere ihrer Helden sein.


Der Bühnendichter wagt etwas bis dahin Unerhörtes. Er
lässt die, vor den Lesern und Hörern aller früheren Dichtung
nur in den Nebelbildern ihrer eigenen, mannigfach beschränkten
und bedingten Phantasie vorüberziehenden Gestalten und Ereig-
nisse der alten Sagen und Geschichten in sichtbarer Leiblich-
keit allen Zuschauern gleichmässig deutlich vor Augen treten.
Was der Phantasie nur wie ein Traumbild, von ihr selbst er-
schaffen, sich zeigte, wird nun dem Auge ein unabänderlich
bestimmter, unabhängig von der Vorstellungskraft des Schauen-
den dastehender und sich bewegender Gegenstand der Wahr-
nehmung wacher Sinne. So zu greifbarer, voll lebendiger Ge-
stalt erweckt, tritt der Mythus in ein ganz neues Licht. Was
an ihm nur Ereigniss ist, verliert an Interesse gegen den
sichtbar sich vor uns bewegenden Träger des Ereignisses, dessen
Bedeutung und Gehalt nicht mit dieser einen That erschöpft
ist. In der räumlichen und zeitlichen Ausbreitung der zum
Bühnenspiel gewordenen alten Sage füllt schon äusserlich die,
in einzelnen Thatmomenten sich entladende Handlung den
geringsten Raum aus. Die Reden und Widerreden des Hel-
den und sämmtlicher an der Handlung Betheiligten müssen
die Breite des zeitlichen Verlaufes einnehmen. Die Motive
der Handlung, in den Reden ausgesprochen, bestritten und
durchgekämpft, werden wichtiger als ihr letztes Ergebniss in
leidenschaftlicher That und tödlichem Leid. Und bei höherer
Entwicklung des Kunstvermögens sucht der Blick des Geistes
die bleibenden Linien des Charakters zu erfassen, den im ein-
zelnen Falle solche Motive zu solcher That bestimmen konn-
ten. So führt die volle Verleiblichung des Mythus zu dessen
höchster Vergeistigung. Der Blick und Sinn des Zuschauers
wird gelenkt weniger auf das äussere Geschehen (dessen Ablauf
zudem, aus alter Sagenüberlieferung bekannt, ohne viel Span-
nung erwartet werden kann), als auf den inneren Sinn dessen,
was der Held thut und erleidet.


[518]

Hier nun erwuchs dem Dichter die eigenthümlichste Auf-
gabe. Was in seinem Drama zu geschehen habe, steht ohne
sein Zuthun fest durch den Verlauf der alten Sage (in wenigen
Fällen, des geschichtlichen Ereignisses), der ihm den Gang
seiner Dichtung vorzeichnet. Die Beseelung der handelnden
Gestalten, die Motivirung und Rechtfertigung des Geschehen-
den muss sein eigenes Werk sein. Hierbei aber hat er ganz
aus dem Eigensten zu schöpfen. Könnte er auch, er dürfte
nicht die inneren Beweggründe der Handlung aus der Sinnes-
art und dem Vorstellungskreise jener längst entschwundenen
Zeit ableiten, die einst den Mythus selbst gestaltet hatte: sie
würden den Zuschauern unverständlich bleiben, und sein Werk
wäre todtgeboren. Wie aber wird es ihm gelingen, Handlungen,
die aus den Voraussetzungen und Forderungen der Sitte und
Sittlichkeit einer seit langem überholten Vorzeit entsprungen
sind, aus den umgewandelten und anders gewordenen Gedan-
ken und Empfindungen der eigenen Zeit glaublich abzuleiten
und zu rechtfertigen? Er kann (wenn er nicht überhaupt eine
leblose Historie vorbeiziehen lassen will, die ganz im Stofflichen
ihrer Vorgänge aufgeht) die, durch den Mythus festgesetzte
That und den mit dem Herzen eines Menschen neuerer Zeit
empfindenden Thäter, auf dessen Seele jene That gelegt ist,
zu einander in das Verhältniss eines unversöhnten Gegensatzes
bringen, und so den feinsten und schmerzlichsten tragischen
Conflict hervorrufen. Die Regel kann dieses Auseinandertreten
von Gesinnung und Handlung, das den Helden — einen an-
deren Hamlet — und den Dichter in eine polemische Stellung
zu dem thatsächlichen Inhalte des Mythus drängt, nicht werden.
Der Dichter hat den Geist, der diese harten und finstern
Sagen der Vorzeit hervortrieb, so weit er es vermag, in sich
aufzunehmen, ohne doch die Sinnesweise der eigenen Zeit
zu verleugnen. Es muss ihm gelingen, den vollen ursprüng-
lichen Sinn des mythischen Vorgangs bestehen zu lassen, ihn
durch die Vermählung mit dem Geiste einer neueren Zeit
nicht aufzuheben sondern zu vertiefen. Er ist auf eine
[519] Ausgleichung zwischen der Denkweise alter und neuer Zeit
angewiesen.


Dem Aeschylos gelingt ein solcher Ausgleich am leich-
testen zu eigener Befriedigung. In dem Athen der Zeit vor
den Perserkriegen aufgewachsen, hat er selbst noch Wurzeln
in dem Boden altüberlieferter Denkweise. Er bildet diese nach
den Antrieben eigenen Denkens und Empfindens zu einem
höheren Ganzen weiter; und was sich ihm so ergab als Gesetz
der sittlichen Welt, in vorbildlichen Beispielen an den Mythen
die er mit tiefem Bedacht zum Gegenstand seiner Bühnen-
dichtung erwählt, zu bestätigen, ist ihm ein Hauptanliegen seiner
Kunst. Auf die Handlung und ihren sittlichen, ja religiösen
Sinn sind alle seine Gedanken gerichtet; die Charaktere der
Handelnden werden nur von diesem Brennpunkte des Interes-
ses aus einseitig beleuchtet; die selbständige Bedeutung ihres
vollen Wesens ausserhalb der Handlung von der sie umfangen
sind, soll den Blick nicht auf sich ziehen. Er giebt uns selbst
das Recht, bei der Betrachtung seiner Dramen von der an-
schaulichen Gestaltung des Einzelnen und Besonderen, und
damit von dem eigentlich künstlerischen Gehalt, zeitweilig ab-
zusehen, um die Unterströmung allgemeiner Gedanken, das was
man die Ethik und Theologie des Dichters nennen kann, zu
ergründen.


Aeschylos lässt unter dem verzweigten Geäder seiner
dichterischen Gestaltungen das Grundgerüste ethisch-theologi-
scher Anschauungen zumeist in derben Linien, leicht erkenn-
bar, hervortreten. Er verschmilzt gegebene Grundbestandtheile
mit dem, was er aus eigenem Geiste herzubringt. Gegeben ist
ihm in den Sagen, die er mit Vorliebe dramatisch gestaltet,
und am liebsten in trilogischem, hier der Natur des Gegen-
standes unvergleichlich angemessenem Aufbau sich voll ent-
wickeln lässt, eine Geschichte, die von dem Fortwirken des
Unheils und Leides in mehreren Generationen eines Hauses,
in einer Reihe von Vater, Sohn und Enkel berichtet. Gege-
ben ist ihm auch der Glaube an solche Verkettung mensch-
[520] licher Geschicke. Dass der Frevel des Ahnen an seinen Nach-
kommen hier auf der Erde bestraft werde, war alte, in Attika
besonders tief eingewurzelte Glaubensmeinung1). Was aber
Aeschylos selbst hinzubringt, ist die unbeirrte Ueberzeugung,
dass auch im Sohn und Enkel des Frevlers deren eigene Schuld
gestraft werde. Leid ist Strafe2); es würde den Oedipus, den
Sohn des Oedipus nicht treffen, wenn Laïos allein der Frev-
ler wäre, nicht eigene Schuld an ihnen zu strafen wäre.


Aber es steht gar nicht in ihrer Wahl, ob sie schuldig
werden wollen; sie konnten der Frevelthat gar nicht aus-
weichen. Wie nun eine Frevelthat zugleich nothwendig, dem
Frevler durch höhere Macht und Satzung aufgezwungen, und
doch, als wäre sie nach freier Wahl begangen, der Verant-
wortung und Strafe unterstellt sein kann, das ist eine Frage,
deren drohender Ernst dem Dichter keineswegs verborgen ge-
blieben ist. Hinter dem Nebel mythischer Verhüllung ist ihm
die Frage nach Freiheit oder Gebundenheit des menschlichen
Willens, der sich, bei höherer Entwicklung der Cultur und des
geistigen Lebens, in jedem Fall für seine Entscheidung mora-
[521] lisch verantwortlich fühlt, entgegengetreten. Er hilft sich da-
mit, dass er annimmt, nicht nur die böse That, sondern auch
der bewusste Entschluss zur bösen That entstehe mit Noth-
wendigkeit in dem Erben alten Familienfrevels. Mit dem be-
wusst, wenn auch nothwendig gefassten Entschluss schien die
eigene Schuld und Verantwortlichkeit des Thäters völlig nach-
gewiesen1). Die Wolke des Unheils, in der That des Ahnen
aufgegangen, hängt auch über dem Gemüthe des Sohnes und
Enkels. Nicht aus seinem eigenen Sinn und Charakter stammt
der Wille zur Frevelthat. Der Edle, Reine und Feste, Eteo-
kles, das Bild besonnener Mannhaftigkeit, der Hort und treue
Schutz der Seinen, erliegt im entscheidenden Augenblick dem
drohenden Geschick; sein heller Geist verfinstert sich, er giebt
sich selbst, sein besseres Selbst, verloren2), und stürzt dem gräss-
lichen Entschlusse zu. „Die von den Vorfahren herstammenden
Verfehlungen“3) treiben ihn dahin. So erst ist volle Busse für
den Frevel des Ahnen eingebracht4); die Nachkommen haften
auch für sein Vergehen, um des Ahnen willen werden sie
schuldig und leiden nun für seine und ihre Schuld die Strafe.
Die Gottheit selbst, oder ein von ihr gesandter Rachegeist
treibt die mit erblichem Frevelsinn Belasteten zur bösen That;
nicht, wie alter, fest haftender Glaube des Volkes war, aus
persönlichem Rachgefühl, Zorn oder Bosheit5), sondern aus
[522] Gerechtigkeit, mit „gerechtem Trug“1), damit das Maass des
Frevels voll werde, und die göttliche Strafgerechtigkeit eine
Handhabe finde zu voller Befriedigung. Der böse Geist des
Hauses half der Klytaemnestra, den Gedanken des Gatten-
mordes zu fassen2); die Gottheit selbst mahnt und zwingt den
Orest zum Muttermorde, den er in vollbewusstem Entschlusse
vorbereitet und ausführt, — einen Frevel, der zugleich eine
Pflicht ist. Denn dem Dichter sind die uralten Gedanken der
Blutrachepflicht noch voll lebendig. Das Recht der Seelen auf
Cult und Verehrung, ihr Anspruch auf Rache, wenn sie ge-
waltsam aus dem Leben gedrängt sind, ihr geisterhaftes
Herüberwirken aus dem Dunkel in das Leben und Schicksal
ihrer Nächstverwandten, denen die Rachepflicht aufliegt: —
dies alles sind ihm nicht überwundene Einbildungen der Vor-
zeit, sondern furchtbar reale Thatsachen3). Ganze Dramen,
5)
[523] wie die Choëphoren und die Eumeniden, wären ein nichtiges
Schattenspiel, wenn ihnen nicht ungebrochener Glaube an Recht
und Macht der Seelen, an Wirklichkeit und Wirksamkeit der
dämonischen Anwalte der ermordeten Mutter, der Erinyen 1),
Leben und Bedeutung gäbe. Hier erhellt sich jedoch zuletzt
der finster hereinhängende Wolkenhimmel grausigen Wahns.
Wo Pflicht und Frevel sich unentwirrbar verstrickt haben,
findet die Gottheit eine Lösung in ihrer Gnade, die doch dem
Rechte nichts vergiebt.


3)


[524]

Alles dieses aber, Conflict und Lösung, Frevelthat und
deren Sühnung in immer erneuetem Frevel und daraus ent-
sprungenem Leiden, vollzieht sich hier in dieser Welt. Alle
Schuld rächt sich auf Erden. Das Jenseits ist in der Kette
dieser Vorstellungen und Bilder nicht ein unentbehrliches Glied.
Selten fällt des Dichters Blick dorthin. Speculationen über das
Dasein der Seele nach dem Tode, ein seliges Leben im Geister-
reiche 1), liegen ihm ganz fern. Nur das, was moralischer Er-
weckung und Kräftigung dienen kann an den eschatologischen
Phantasien der Theologen, fand des tragischen Dichters Theil-
nahme. Auf das Gericht, das im Jenseits ein anderer Zeus
halte über die Thaten des Erdenlebens, wird bisweilen hinge-
deutet 2). Aber es bleibt bei dunklen Andeutungen. Es wird
nicht aufgehellt, in welcher Beziehung dieses Hadesgericht zu
der vollen Ausgleichung von Schuld und Schicksal stehen könne,
die schon hier auf Erden Zeus und die Moira bewirken an
dem Thäter selbst und, über seinen Tod hinaus, an seinen
Nachkommen. Und neben den Hindeutungen auf Rechtspre-
chung in der Unterwelt, die ein volles Empfinden des Todten
voraussetzen, stehen Aussprüche, die Vorstellungen von einem
gefühllosen Dämmerleben der Seele im Hades hervorrufen, nicht
anders als Homer es schildert 3). Der Dichter, dem alle in
[525] dem Seelencult wurzelnden, auf das Verhältniss der abgeschie-
denen Seelen zu der Welt der Erdenbewohner bezüglichen Ge-
danken höchst lebendig gegenwärtig sind, hat auf die Art und
Zustände der Verstorbenen in ihrer jenseitigen Abgeschieden-
heit den Blick nicht anhaltend richten wollen. Die Versitt-
lichung und Vertiefung alten Volksglaubens, die er sich ange-
legen sein liess, erwächst ihm doch völlig aus dem Boden dieses
Volksglaubens selbst, nicht anders als die streng erhabene
Gottesidee, die im Hintergrunde seines Weltbildes steht. In
dieser Generation der Männer, die bei Marathon gekämpft
hatten, bedurfte ein tiefer, ja herber Ernst der Betrachtung
von Welt und Schicksal noch kaum der Unterstützung durch
theologische Sectenmeinungen, die aus den Härten und Dunkel-
heiten dieser ungenügenden Wirklichkeit sich nur durch die
Flucht der Gedanken in ein geahntes Jenseits zu retten ver-
mochten.


5.


Zu den Grundproblemen einer Philosophie des Dramas,
den dunklen Fragen nach Freiheit und Gebundenheit des Wil-
lens, Schuld und Schicksal des Menschen, hat Sophokles
eine wesentlich andere Stellung als sein grosser Vorgänger.
Reifere, gelassener sich hingebende Beobachtung des Lebens
und seiner Irrgänge macht ihm einfache, schematische Auf-
lösungen der Verwicklungen weniger leicht, lässt ihn andere
und mannichfaltigere Wege des Verständnisses aufsuchen. Der
3)
[526] einzelne Mensch in der nur ihm allein eigenen Prägung seines
Wesens löst sich ihm freier ab von dem Hintergrunde über-
persönlich allgemeiner Weltmächte und Weltsatzungen; er findet
in sich selbst das Gesetz seiner Handlungen, den Grund seiner
Erfolge oder seines heroischen Unterganges. Es sind nicht
egoistische Absichten, die Antigone zu ihrer That bewegen,
oder Elektren: sie genügen altem, ungeschriebenem Göttergebot.
Aber ihm zu genügen zwingt sie einzig der Zug und Trieb
ihres eigenen Inneren; kein Anderer konnte ihre Thaten ver-
richten, ihr Leid erleiden; wir verstehen die Nothwendigkeit
und innere Berechtigung dessen was sie thun und leiden, rein
aus dem Einblick in die Kräfte und Beschränkungen ihres
Einzelwesens, wie es die Bühnenhandlung vor uns entwickelt.
Bis zum Auffallenden sind in der „Elektra“ die Motive zurück-
gedrängt, die aus allgemein verbindlichen Satzungen, der Blut-
rachepflicht, dem Recht der beleidigten Seelen zu gewinnen
waren: dieser einzelne Fall soll seine Rechtfertigung ganz in
sich selbst tragen, und rechtfertigt sich in der That aus Ge-
sinnung und Gebahren der leidend und thätig an der Hand-
lung betheiligten Menschen so vollständig, dass, anders als bei
Aeschylos, keine Qual des Zweifels während der That, keine
Seelenangst nach dem Morde der ruchlosen Mörderin den Orest
zu überfallen braucht. Wieder, wie einst in der homerischen
Erzählung, ist mit der „gerechten Blutthat“ 1) des Orestes der
Kreis des Unheils geschlossen; keine Erinys steigt auf, auch
seinen Untergang zu fordern 2).


[527]

Auch wo Leid und Unheil dem Sterblichen nicht aus
eigenem bewussten Entschluss und Willen, sondern durch dunkle
Schicksalsmacht entsteht, ist es doch der besondere Charakter
des Helden, der, wie seine Entfaltung unseren Antheil vor-
wiegend fordert, so den Verlauf der Ereignisse allein bestimmt
und genügend erklärt. Das gleiche Missgeschick könnte Andere
treffen, aber seine innere und äussere Wirkung würde nicht
dieselbe sein wie für Oedipus und Aias. Nur tragisch unbe-
dingte Charaktere können tragisches Geschick haben.


Und doch entspringt in diesen und anderen Tragödien
das, was der Handlung Anstoss und Richtung giebt, nicht aus
Willen und Sinnesart der Helden. Aias hat in Unfreiheit des
Geistes die That vollbracht, die ihn in den Tod treibt. Oedi-
pus, Deianira rächen an sich selber die Gräuelthaten die sie
begangen haben ohne zu wissen was sie thun. So völlig im
„Philoktet“ das Interesse auf dem lebendigen Widerspiel der
kräftig von einander sich abhebenden Charaktere des Philoktet,
Neoptolemos und Odysseus beruht: die Situation, die sie im
Widerstreit zusammenführt, ist durch ein Ereigniss gestaltet,
das zu bewirken oder zu verhindern in keines Menschen Ab-
sicht oder Macht lag. Eine dunkle Gewalt stürzt den Menschen
in Leiden, treibt ihn zu Thaten, vor deren Anblick das schnell
bereite Urtheil über seine „Schuld“ oder den Zusammenhang
von Leid und Verschuldung verstummt. Es ist nicht altver-
erbter Familienfrevel, der hier Sohn und Enkel des Frevlers
Thaten begehen lässt, die kaum seine eigenen heissen können.
Der Dichter weiss von dieser, in der Dichtung des Aeschylos
so wirksamen Vorstellung 1), aber sie ist ihm nur wie eine
historische Ueberlieferung, nicht lebendiges Motiv seiner Dich-
tung. Auch nicht irrationaler Zufall, nicht unpersönlich, will-
kürlos nothwendig wirkendes Schicksal ist es, was dem unfreien
Thäter Gedanken und Hand zwingt. Heller oder dunkler scheint
im Hintergrund des Geschehenden der bewusste Wille einer
[528] Gottesmacht durch, der, unentfliehbar wie das Schicksal 1), die
Thaten und Geschicke der Menschen nach seinen Zwecken
lenkt.


Die Gottheit bringt einen Plan zur Ausführung, in dem
der einzelne Mensch und sein Geschick ihr nur als Werkzeug
dient. Damit das Vorbedachte in dieser planmässigen Leitung
der menschlichen Dinge bemerklich werde, wird mit Voraus-
sagungen der Zukunft, göttlichen Orakelsprüchen und den Ver-
kündigungen der Seher so oft und nachdrücklich in die Hand-
lung eingegriffen. Liegt nun in dem Plan der Gottheit die
verhängnissvolle That, das unverschuldete Leiden des Einzelnen,
so erfüllt sich der Plan, mag dabei des Menschen Glück in
Trümmer gehn, Schmerz, Frevel, Seelenqual und Tod über ihn
hereinbrechen. Das Wohlergehen der Einzelnen kommt nicht in
Betracht, wo die Absicht der über sein kleines Dasein weit
hinaus blickenden Gottheit erfüllt werden soll. Ein reiner
guter naiver Mensch, ohne Falsch und Fehl, wie Philoktet,
wird lange Jahre hindurch allen Qualen preisgegeben, damit
er mit den Wunderwaffen, die er besitzt, nicht vorzeitig in den
Gang der Entwicklung des Krieges um Troja eingreifen
könne 2). Er ist ein unfreiwilliger Märtyrer für das Wohl der
Gesammtheit. Damit in dem, von der Gottheit festgesetzten
Zeitpunkte Herakles aus dem irdischen Leben gelöst werde 3),
muss Deianira, die innigste Frauenseele, die Athens Bühne be-
schritten hat, aus liebendem Herzen dem Geliebten unwissend
furchtbare Todesnoth bereiten und selbst in den Tod gehen.
[529] Einfach weil es so der Wille der Gottheit war 1), musste
Oedipus, unbewusst und schuldlos, den Vater erschlagen, die
Mutter zum Weib nehmen, sich selbst in tiefstes Elend
stürzen.


So leitet aus dem Verborgenen die stärkere Hand der
Gottheit das menschliche Schicksal, Willen und Thun der
Menschen nach ihren Absichten. Das Problematische des
Menschenlebens, das Missverhältniss zwischen persönlicher
Schuld und Leiden, das tägliche Erfahrung vor Augen stellt,
schien dem Dichter durch diese Vorstellung begreiflicher zu
werden. Er lehrt diese Fügungen einer höheren Gewalt mit
Ergebung hinzunehmen. Er selbst ist von den specifisch
Frommen 2), denen die Wahrnehmung des Götterwillens genügt,
um ihre Verehrung aufzurufen, eine Rechtfertigung dieses
mächtigen Willens nach menschlichen Begriffen von Sittlichkeit
und Güte nicht Bedürfniss ist 3). Die Heiligkeit dieses gött-
lichen Wollens mag vorausgesetzt werden, aber es bedarf nicht
ihres Nachweises für menschliche Prüfung; ja auch wo in der
Wahrung ihrer Vorrechte vor den Menschen, deren erste
Pflicht Anerkennung der Schranken ihres Dürfens und Kön-
nens ist, Grausamkeit und kalte Rachsucht der Gottheit offen
hervortritt (wie in dem Verhalten der Athene im „Aias“ 4),
Rohde, Seelencult. 34
[530] findet sich die Frömmigkeit nicht gestört in ihrer Verehrung
der Mächtigen. Das giebt der Kunst und der Lebensstim-
mung des Sophokles ihren ganz persönlich eigenthümlichen,
rationell nicht aufzulösenden Charakter, wie hier Auffassung
und Darstellung der freien Individualität und ihrer Berechti-
gung mit ehrfürchtigster religiöser Gebundenheit des Sinnes
zusammenbestehen kann. Selten einmal reisst sich ein anklagen-
der Schrei aus der Brust der, um ihnen fremder Zwecke willen
fühllos Gequälten los 1). Zumeist scheut sich Blick und Ur-
theil bis zu den letzten Gründen göttlichen Willens vordringen
zu wollen; aus künstlerischer Absicht, aber auch in religiöser
Behutsamkeit lässt der Dichter ein halbes Dunkel bestehen 2).
Durchaus bleibt die Majestät göttlichen Waltens im Hinter-
grund, mischt sich nicht vertraulich und derb eingreifend in
die menschlichen Geschicke 3).


Aber der Einzelne, der mit seinem Leiden Zwecken dienen
muss, die nicht seine eigenen sind, die Menschheit, die unter so
hartem Gesetze lebt, — wie könnte der Anblick ihrer Geschicke
erhebende und tröstliche Gefühle erwecken! Der Dichter setzt
4)
[531] alle Mittel seiner herzbewegenden Kunst ein, um das unver-
schuldete Leiden, den Wahn wohlmeinender aber beschränkter
Einsicht, die seitab vom erstrebten Ziele irren muss, mitleiden-
der Empfindung des Hörers tief einzuprägen. „Das bist du“
empfindet selbst der Feind, wenn er den Edlen in verstörtem
Sinne irren und freveln sieht 1). Was hier die Starken, die
Weisen, die Guten und Freundlichen ohne ihre Schuld betrifft,
das kann auf jeden aus menschlischem Geschlecht herabfahren.
So sind der Menschheit die Loose geworfen. Um die Nichtig-
keit und das Leid des Lebens, um sein kurzes Glück und die
Unsicherheit seines Friedens erhebt sich in unvergesslichen
Versen die Klage 2). Sie tönt in einem Klang der Entsagung
aus, der die Grundstimmung des Dichters anschlägt. Aber es
bleibt ein herber Geschmack zurück.


Es liesse sich denken, dass einer Sinnesweise, die auf
einen Ausgleich zwischen Werth und Thaten des Menschen
und seinem Schicksal im irdischen Leben verzichtet, es um-
somehr Bedürfniss gewesen sein möge, die Hoffnung auf eine
alles gut machende Gerechtigkeit in einem zukünftigen Da-
sein bei sich und anderen zu kräftigen. Aber der Dichter
lässt wenig von einem solchen Bedürfniss verspüren. Der Ge-
danke an das, was nach dem Tode kommen könne, ist in ihm
nicht von besonderer Lebhaftigkeit. Den Handelnden und
Leidenden in seinen Dramen wird er nirgends zum bestimmen-
den Motiv ihres Verhaltens 3).


34*
[532]

Wo dennoch ein Seitenblick auf das unbekannte Land
jenseits des Grabes fällt, da zeigen sich der Phantasie kaum
andere Bilder, als einst den Gedanken homerischer Sänger.
Der Abgeschiedenen wartet der Hades 1), das unerfreuliche,
öde Todtenland 2), in dem die Seele kraftlos, schattengleich,
wenig mehr als ein Nichts 3), dahin dämmert, freudlos, aber
auch leidlos 4) in einem Zustande der Empfindungslosigkeit,
den der im Leben Geplagte oft als ersehnten Hafen der Ruhe
herbeiwünscht 5). Pluton, Persephone, alle Götter der Erd-
tiefe 6) walten der dorthin Abgeschiedenen. Aber nicht Gnade,
nicht Gunst gelten dort, nur Recht, gleiches Recht für Alle
[533] fordert Hades 1). Die fromme Verehrung der Götter bleibt
auch im Jenseits unvergessen 2); im übrigen hört man nichts
von Lohn oder Strafe, einer nachträglichen Ergänzung der auf
Erden nicht voll ausgetragenen vergeltenden Gerechtigkeit im
Lande der Seelen.


Abgeschieden in den Hades hat aber der Todte doch
noch Ansprüche an die Oberwelt und die dort Lebenden. Mit
den homerischen Unterweltsbildern verbindet sich der Seelen-
cult und was sich aus ihm an Vorstellungen vom Nachleben
der Todten ergab. Die Nächstverwandten schulden dem Ver-
storbenen die feierliche Bestattung, als erste Erweisung from-
mer Pflege seines Seelenheils 3). Zweimal, im „Aias“ und in
der „Antigone“, muss Liebe und Treue der Nachgebliebenen,
dieses Recht der Todten in schwerem Widerstreit gegen irdi-
sche Gewalt, und selbst mit Preisgebung des eigenen Lebens
erkämpfend, es erhärten, dass nicht eine bedeutungslose Her-
kömmlichkeit hier vertheidigt und durchgesetzt werde. — Auch
die vollendete Bestattung schneidet den Todten nicht völlig
von dem Zusammenhang mit der Oberwelt ab. Auch später
noch vermögen ihm Opfergaben an seinem Grabe 4) wohlzuthun;
[534] Kunde von irdischen Ereignissen kann bis zu ihm hinab-
dringen 1); er selbst kann, im Schutz der unterirdischen Götter
und ihrer Beisitzerin, Dike, die seine Ansprüche wahrnehmen 2),
in das Leben herübergreifen, als „Fluchgeist“ für solche die
seinen Willen gering achten 3), in Sendung schwerer Traum-
gesichte für seine Feinde 4), als Helfer und unsichtbar wirken-
der Kampfgenoss der Seinigen in höchster Noth 5).


Von einer Ewigkeit seligen Lebens, das der Seele, des
Gottes im Menschen, nach ihrer völligen Lösung aus Leibes-
banden warte, weiss der Dichter nichts, so wenig wie von
ewiger Verdammniss der Unfrommen. Nur des ganz beson-
deren Gnadenstandes, in den der in den Weihen der Göt-
tinnen zu Eleusis Gereinigte in dem unterirdischen Nachleben
eintreten werde, thut er Erwähnung 6), wie er denn dieser Krone
4)
[535] attischer Götterverehrung in patriotischem Hochgefühl gerne
gedenkt 1). Aber nur einer Minderheit der Frommen gewährt
hiemit die Gnade der Göttinnen ein bevorzugtes „Leben“ im
Schattenreiche. Nur einen Einzigen enthebt die Gnade der
Gottheit dem Loose menschlicher Vergänglichkeit, wenn sie
den schwergeprüften Oedipus im Haine der Erinyen ohne Tod
dem irdischen Leben entrückt 2). So lebendig war in dem alt-
gläubigen Dichter die Ueberzeugung von der Thatsächlichkeit
göttlicher Entrückungswunder 3), dass er einem ganzen Drama
diesen unbegreiflichen Vorgang zum alleinigen Ziel geben
mochte, dessen Erreichung alle übrigen Scenen nicht einmal
vorzubereiten, sondern lediglich zu verzögern und der Erwar-
tung um so dringlicher erwünscht zu machen dienen. Es ist
nicht gesteigerte Tugend, die dem Oedipus die Unsterblichkeit
erringt und sie etwa auch anderen, ähnlich Tugendhaften er-
ringen könnte. Er zeigt sich uns zwar als schuldlos Leiden-
der 4), aber als verhärtet in seiner reizbar jähen Gemüthsart,
[536] rachgierig, starr und eigensüchtig, durch sein Unglück nicht
geläutert, sondern verwildert 1). Dennoch erhöht ihn die Gott-
heit zum ewig lebendigen Heros, minder fast ihm selbst zu
seliger Genugthuung als zum Heil des attischen Landes, des
Landes der Menschlichkeit, das den Unglücklichen schützt und
aufnimmt 2), und für immer seine Segenskraft festhalten wird 3).
Wie es einst der Gottheit gefallen hat, den Schuldlosen in
Frevel und Leiden zu verstricken, so gefällt es ihr nun, den
Leidgeschlagenen, ohne neues und hohes Verdienst von seiner
Seite, zu übermenschlichem Glückesloose zu erhöhen 4). An
ihm geschieht ein göttliches Wunder, dessen innerer Veran-
anlassung nachzuforschen nicht frommt.


4)


[537]

Nichts liegt in allem, was uns Sophokles von seiner Auf-
fassung eines jenseitigen Daseins wahrnehmen lässt, was von
dem Glauben derer, die nach der Väter Weise das Leben
verstanden und die Götter verehrten, sich unterschiede. Der
grosse Dichter menschlicher Trauergeschicke, der tief sinnende
Betrachter göttlichen Waltens auf der dunklen Erde, wollte
dieser dennoch ein helleres Gegenbild in einem Gedanken-
reiche des Geisterlebens nicht tröstlich zur Seite stellen. Er
bescheidet sich auch hierin; er weiss von diesen Geheimnissen
nichts mehr und nichts anderes als „irgend ein anderer
wackerer Bürger von Athen“ 1).


8.


Sophokles konnte in langem Lebensgange zum vollendeten
Meister der Kunst, zum ganzen Mann und Menschen sich aus-
bilden, ohne die Leitung und Hilfe theologischer oder philo-
sophischer Reflexion. Die Theologie suchte er in ihrem Ver-
steck, im Dunkel abgesonderter Secten, nicht auf; die Philo-
sophie war in der Zeit seiner bildsamen Jugend nach Athen
kaum vorgedrungen; in reiferen Jahren konnte der erhabenen
Einfalt seiner Sinnesweise keine, aus dem Gedanken geborene
Weisheit oder Thorheit der jüngeren Geschlechter förderlich
oder gefährlich werden. Unberührt schreitet er mitten durch
das Gedränge und den Streit des Marktes.


Der Trieb und Zug, der seit dem Ausgange des sechsten
Jahrhunderts alle geistigen Kräfte griechischer Landschaften
nach Athen zu einer letzten und höchsten Steigerung ihres
Vermögens zusammenführte, ergriff, wie vorlängst die musischen
Künste, um die Mitte des fünften Jahrhunderts auch die Philo-
sophie. Athen sah die letzten Vertreter ionischer Physio-
logie in seinen Mauern, dauernd niedergelassen, und den vor-
nehmsten Geistern tiefe Spuren ihrer Lehre einprägend, wie
Anaxagoras, oder zu kürzerem Aufenthalt anwesend, wie jene
[538] Männer die, in bewusstem Gegensatz zu neueren Gedanken-
richtungen, die alten Grundsätze des philosophischen Monis-
mus und Hylozoismus aufrecht erhielten, Diogenes aus Apol-
lonia, auch Hippon von Samos, oder eine Vermittelung alter
und neuer ionischer Lehre versuchten, wie Archelaos. Dann
wurde für die Wanderlehrer neuester Weisheit, die Sophisten,
Athen ein Hauptquartier. Nirgends fand die Kühnheit un-
beschränkter Discussion kunstgerechteres Verständniss als
hier, nirgends so begierige Aufnahme das dialektische Spiel,
das sich selbst Zweck zu sein schien, und doch aller eigenen
athenischen Philosophie fruchtbarster Nährboden werden sollte.
Alle Ueberlieferung in Glauben und Sitte, nicht aus der Re-
flexion geboren und nicht aus ihr zu rechtfertigen, war schon
verloren, sobald sie, wie alles herkömmlich Feststehende in
Welt und Leben, der kalte Blick dieser selbstherrlichen Dia-
lektik des Schutzes selbstverständlicher Giltigkeit entkleidete.
Und wie nun die Sophisten, diese Plänkler einer neuen, noch
unerkennbaren Philosophie, auch die alten Truppen positiver
philosophischer Lehren zerstreut und zurückgeworfen hatten,
so boten sie dem Einzelnen, den sie ganz auf seine eigene
Einsicht anwiesen, zwar Anregungen zum Nachdenken in Fülle,
aber nichts in dem Hin und Her der Meinungen Standhalten-
des. Es würde sich doch nur aus dem obersten Grundsatze
der Grundsatzlosigkeit rechtfertigen, wenn vielleicht diese So-
phistik auch einmal erbaulich reden und z. B. einzelnen Sätzen
einer positiveren Lehre vom Wesen und Leben der Seele den
Schutz ihrer Wohlredenheit hätte leihen wollen 1).


[539]

Ist Sophokles dieser ganzen Bewegung, die in Athen ihre
höchsten Wellen schlug, ferngeblieben, so hat sie den Euri-
pides
völlig in ihre Wirbel gezogen. Philosophen und So-
phisten hat er persönlich und in ihren Schriften aufgesucht;
sein nach Wahrheit drängender Geist folgt jedem sich dar-
bietenden Führer zu Wahrheit und Weisheit eine Strecke. Aber
er vermag nicht, Eine Richtung einzuhalten; in der Rastlosig-
keit und Rathlosigkeit des Suchens und Versuchens ist er der
rechte Sohn seiner Zeit.


Er ist soweit in Philosophie und Sophistik eingewurzelt,
dass ihm in Glauben und Herkommen seines Volkes nichts
ohne Prüfung giltig scheint. So weit es in den Schranken
dramatischer Kunst irgend möglich ist, übt er, unbedenklich
1)
[540] und kühn, an dem Bestehenden eine Kritik, mit der er der
Empfindung und dem Witze der Vorfahren sich unbedingt
überlegen fühlt. Aber er thut sich niemals genug. Er kann in
der Negative nicht beharren, weil jede Einseitigkeit ihm gegen
die Natur ist. Der grossen Ehrlichkeit seines Geistes ist jener
Zusatz von Frivolität versagt, der die Sophistik und das freie
Spiel dialektischer Zernichtung alles Festen so einfach und er-
götzlich, und daneben fast harmlos macht. Er seinerseits
kann nichts leicht nehmen; und so wird er seiner Sophistik
selbst nicht froh. Er muss neben und nach ihr auch allen
möglichen anderen Stimmen wieder Gehör geben; er hat selbst
Stunden, in denen er in der Beschränkung altüberlieferter
Frömmigkeit auszuruhen sich sehnt. Aber ein Beharren in
dauernden Gedanken ist ihm nicht gegeben; alle seine Ueber-
zeugungen sind nur vorläufig, wie zum Versuch, festgestellt;
auf schwankender Fläche lässt er von jedem Winde gemüth-
licher Regung oder künstlerischen Bedürfnisses sich hin und
her treiben.


Wo alle Ueberzeugungen in gleitende Bewegung gerathen
sind, werden die Vorstellungen von Sein und Wesen der
menschlichen Seele und ihrem Verhältniss zu den Mächten des
Lebens und des Todes nicht allein in dogmatischer Bestimmt-
heit verharren können.


Der Dichter kann, wo dies Inhalt und Sinn der zum
Gegenstande seines Dramas erwählten Fabel erfordern, treu-
herzig auf volksthümliche Annahmen über Bestimmung und
Schicksal der abgeschiedenen Seelen, deren Macht und An-
sprüche auf Verehrung durch die Nachgebliebenen eingehen.
In dem Märchenspiele der „Alkestis“ muss der ganze Apparat
des Volksglaubens mitwirken; vom Todesgotte und seinem
schrecklichen Amte, von dem Aufenthalt der Todten in der
Unterwelt ist wie von Thatsachen und Gestalten der Erfahrung
und Wirklichkeit die Rede 1); der den Todten schuldige Trauer-
[541] cult wird mit Ernst und Nachdruck behandelt 1). Ein ganzes
Drama, die Schutzflehenden, kann die geheiligte Bedeutung
eines ritualen Begräbnisses zum wesentlichen Anlass oder doch
zum Vorwand seiner Handlung haben 2); an einzelnen Aus-
sprüchen, in denen die Wichtigkeit der Bestattung und der
Ehrung des Grabes hervorgehoben wird, fehlt es nicht 3). Die
1)
[542] Nachgebliebenen erfreuen den Todten durch Grabspenden 1);
so gewinnen sie sein Wohlwollen und Hoffnung auf seinen
Beistand 2). Denn Macht und Ehre geniessen nicht nur die zu
höherem Dasein entrückten Helden der Vorzeit 3); nicht nur die
„Heroen“ können aus dem Grabe herüberwirken in das irdische
Leben 4); auch von der Seele des erschlagenen Vaters erwartet
der Sohn Hilfe und Rettung in der Noth. Und für die er-
mordete Mutter treiben die furchtbaren Gestalten alten Glau-
bens, die Erinyen, die Rache ein 5).


Aber an diesem Punkte bricht es doch durch, dass in
3)
[543] diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur
willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich
und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die
Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der
That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des
seelisch Kranken vorhanden sind, wird im „Orestes“ geradezu
ausgesprochen 1). Und die ganze Kette dieser Vorstellungen
und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht
immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden
Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten,
den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das
„Thierische und Bluttriefende“ dieser alten Glaubensbilder er-
regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder
Sitte, seinen Abscheu 2). Er glaubt nicht an solches Blutrecht
der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm
ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an
diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm
fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte-
risch zu gestalten. — So wird denn auch die Verpflichtung
der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid-
men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge-
fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese:
dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab
[544] nichts liege, in denen allein die Eitelkeit der Ueberlebenden
sich gefalle 1); dass Ehre oder Unehre den Todten nicht mehr
kümmere 2). Wie sollte das auch geschehen, wenn doch der
Verstorbene Schmerz und Lust nicht mehr empfindet, ein
Nichts ist, wie das sogar mitten in der „Alkestis“ wiederholt
ausgesprochen wird 3).


Es ist klar, dass nur aus einem willkürlich eingenommenen
Standpunkte gesehen, dem Dichter die Bilder des volksthüm-
lichen Seelenglaubens und Seelencultes den Schein der Wirk-
lichkeit hatten, sonst aber ihm wie Traumbilder leicht zer-
flatterten 4). Die Lehren der Theologen gewähren ihm keinen
[545] Ersatz, sie geben ihm höchstens flüchtige Anregung. Zwar
seiner Aufmerksamkeit waren auch diese Erscheinungen des
geistigen Lebens der Zeit nicht entgangen. Es finden sich
Anspielungen auf orphische Dichtung, auf die Askese der Or-
phiker, die er der spröden Tugend seines Hippolytos leiht 1).
Der Gedanke, dass die Seele aus einem höheren Dasein herab-
gesunken, in diesem Leibe eingeschlossen sei wie der Todte im
Sarge, nimmt einen Augenblick seine Phantasie gefangen.
„Wer weiss denn, ob das Leben nicht ein Sterben ist“, und
im Tode die Seele zu ihrem wahren Leben erwache? 2) Die
trübe Ansicht vom Menschenschicksal in diesem irdischen Leben,
4)
Rohde, Seelencult. 35
[546] die der Dichter so oft kundgiebt, könnte nach einem Trost in
einem voller befriedigenden Jenseits zu winken scheinen. Aber
nach dem Trost, den die Theologen darboten, hat ihn nicht
verlangt. Unter den mannichfach gewendeten Gedanken des
Dichters über ein Dasein das hinter dem Vorhang des Todes
sich aufthun könnte, tritt doch nie die, allen theologischen Ver-
heissungen zu Grunde liegende Vorstellung hervor, dass dem
seelischen Einzelwesen unvergängliches Leben gewiss sei, weil
es in seiner Individualität göttlicher Natur und selbst ein Gott
sei 1). Wohl ist er es, der das kühne, in späterer Zeit so oft
wiederholte und variirte Wort ausspricht, dass Gott nichts
andres sei als der in jedem Menschen wohnende Geist 2). Aber
hier ist keineswegs an die nach theologischer Lehre in das
Menschenleben verbannte Vielheit einzelner Götter oder Dä-
monen gedacht, sondern es wird hingedeutet auf eine halb
philosophische Seelenlehre, in der man am ersten eine bleibende
Ueberzeugung des Dichters ausgesprochen finden kann.


Mitten in ganz fremdartigen Zusammenhängen lässt Euri-
pides zuweilen Hindeutungen auf eine philosophische Ansicht
von Welt und Menschheit durchbrechen, die um so gewisser
als eigene Bekenntnisse des Dichters gelten müssen, weil sie
der Art der im Drama redenden Person kaum entsprechen,
aus ihrer Lage nicht hervorgehen. Aus Erde und dem „Aether
des Zeus“ sind alle Dinge der Welt hervorgegangen; jene ist
der Mutterschoss, aus dem der Aether alles erzeugt 3). Beide
Grundbestandtheile treten zusammen zur Mannichfaltigkeit der
Erscheinungen; sie verschmelzen nicht miteinander, sie sind
nicht aus einem gemeinsamen Urelemente abzuleiten 4), sie
[547] bleiben dualistisch neben einander bestehen 1). Der Dualismus
in dieser Weltbildungsphantasie war es wohl, der die Alten an
Anaxagoras erinnerte. Aber einfach als eine Poetisirung der
Lehre des Anaxagoras können diese Aussprüche nicht gelten 2),
4)
35*
[548] nach denen aus dem einfachen Element der „Erde“ die Viel-
heit der Stoffe und Dinge nicht anders als durch Wandlung
und Umbildung entstanden gedacht werden kann, während aus
der „Samenmischung“ des Anaxagoras die in sich unveränder-
lichen „Samen“ aller Dinge sich nur ausscheiden und durch
mechanische Neuverbindungen alle wahrnehmbaren Gestaltungen
der Welt entstehen lassen. Der „Aether“ ist in dieser Ver-
bindung mit der „Erde“, wie das thätige, so das geistige und
beseelte Element. Die Aussonderung eines solchen von der
übrigen Materie erinnert ja allerdings an den Vorgang des
Anaxagoras. Aber der Aether ist dem Dichter doch immer
ein Element, wenn auch ein beseeltes, geisterfülltes, nicht ein
allem Elementaren in wesenhafter Verschiedenheit gegenüber-
stehendes Geistiges, wie jener Nûs des Anaxagoras. Dass es
das Element des Aethers, d. h. der trockenen und heissen
Luft ist, dem das Denkende innewohnen soll, mag man als
eine Entlehnung von Diogenes aus Apollonia, dem in Athen
damals vielbeachteten, auch dem Euripides wohlbekannten 1)
Denker betrachten, in dessen Lehre die Luft (die freilich,
ganz anders als bei Euripides, alles Uebrige allein aus sich
hervorbringt) ausdrücklich auch der „Seele“ gleichgesetzt, und
selbst als „Verstand habend“ bezeichnet wird 2).


2)


[549]

Diese, aus philosophischen Anregungen schwer vereinbarer
Art gebildete Ansicht von den Urkräften und Urbestandtheilen
des Alls, in der zuletzt doch der dualistische Zug stark über-
wiegt, schwebt dem Dichter vor, wo er in gehobener Stimmung
von der endlichen Bestimmung der Seele des Menschen redet.
Dem „Aether“ wird sich die vom Leibe getrennte Seele ge-
sellen. Es ist indessen nicht immer die philosophisch-dichte-
rische Phantasie, die sich in solchen Ausblicken ergeht. Bis-
weilen gesellt sich ihr und vertritt sie, nur äusserlich ähnlich,
aber zu gleichem Ziele führend, eine volksthümlichere An-
schauung. Wenn hie und da der Aether, der lichte Luftraum
oberhalb der Wolken, nur als Aufenthaltsort der abgeschiedenen
Seelen bezeichnet wird 1), scheint die mehr theologische als
philosophische Vorstellung vorzuwalten, dass nach dem Tode
die frei gewordene Seele zu dem Sitze der Götter 2), den man
längst nicht mehr auf dem Olymp, sondern im „Himmel“ oder
eben im Aether suchte, aufschweben werde. In keinem andern
Sinne wird in einem der, unter Epicharms, des philosophie-
kundigen sicilischen Komikers Namen überlieferten Sprüche
dem Frommen verheissen, dass er im Tode kein Uebel erleiden
werde, denn sein „Geist“ werde dauernd „im Himmel“ ver-
weilen 3). Frühzeitig muss diese, in den Grabgedichten späterer
Zeit so häufig hervortretende Vorstellung in Athen volksthüm-
liche Verbreitung gefunden haben, wenn doch bereits ein, vom
Staate selbst den, im Jahre 432 vor Potidäa gefallenen Athe-
nern gewidmetes Grabepigramm die Ueberzeugung, dass die
Seelen dieser Tapferen „der Aether“ aufgenommen habe, wie
die Erde ihre Leiber, wie eine allgemein zugestandene Meinung
[550] gelassen aussprechen kann 1). Auch die Grundbegriffe popu-
lärer Seelenkunde konnten zu gleichen Gedanken führen. Von
jeher hatte dem Volksglauben die Psyche, vom Hauch und
Athem benannt, als nahe verwandt den Winden, der bewegten
Luft und ihren Geistern gegolten. Leicht mochte sich die
Vorstellung einstellen, dass sie, wenn sie frei über sich ver-
fügen konnte, den verwandten Elementargeistern sich gesellen
werde. Vielleicht nichts anderes will Epicharm sagen, wenn
er ein anderes Mal ausspricht, dass im Tode, bei der Sonde-
rung des Vereinigten, ein jedes zurückkehre, woher es gekom-
men, der Leib zur Erde, nach oben aber, zur Höhe die Seele,
die er, ihre Natur bestimmter andeutend, nach dem Vorgang
des Xenophanes mit einem, später sehr üblich gewordenen
Namen als Hauch oder Wind (πνεῦμα) bezeichnet 2).


Vielleicht aber liegt eben in dieser Benennung eine An-
deutung, dass auch diesem Dichter schon die Menschenseele
zu dem Aether, der sie nach ihrer Befreiung vom Leibe auf-
zunehmen bestimmt ist, in innerlicher Beziehung und Verwandt-
schaft stehe. Und auch von dieser Seite könnte — wie anderer-
seits von der eben betrachteten volksthümlicheren Vorstellung
[551] — Euripides angeregt worden sein 1), der physiologischen Theorie
des Diogenes die eigenthümliche Gestaltung zu geben, die wir
bei ihm antreffen. Die Seele hat ihm Theil an der Natur des
Aethers. Mehr noch aber bedeutet es, dass der Aether Theil
hat an der Natur und wahren Wesenheit der Seele, an Leben,
Bewusstsein, Denkkraft. Beide sind Eines Geschlechts. Der
Aether wird dem Dichter — und hier ist der Einfluss der
durch Diogenes erneuten Speculation des Anaximenes nicht
zu verkennen 2) — zu einer wahren Lebensluft, einem alles
umfluthenden Seelenelement, nicht nur zum Träger des „Geistes“,
sondern zum Allgeist selber. Die Vorstellung von ihm ver-
dichtet sich zu halbpersönlicher Gestaltung; er wird mit dem
Namen der höchsten Gotteskraft Zeus benannt 3), wie von
[552] einem persönlichen Gotte redend, nennt ihn der Dichter „un-
sterblich“ 1). Und der Menschengeist, wesensgleich dem All-
gotte und Allgeist, erscheint, wie es bei Diogenes ausgesprochen
war 2), als ein Theil dieses Gottes und Allverstandes. Gott ist
der Geist, und der Geist und Verstand in uns, so spricht es
der Dichter deutlich aus, ist Gott 3). Im Tode wird, nach der
Trennung von den irdischen Elementen, der Geist, das Pneuma
des Menschen zwar „nicht leben“, in der Weise, wie es in
dem Sonderdasein des Einzelmenschen gelebt hatte, aber es
wird „unsterbliches Bewusstsein behalten“, indem es in den
unsterblichen Aether eingeht, mit dem Alllebendigen und All-
vernünftigen sich verschmilzt 4). Keiner der Physiologen, denen
die gleiche Vorstellung einer die persönliche Unsterblichkeit
des Einzelnen ausschliessenden Unvergänglichkeit des im Men-
3)
[553] schen lebendigen Allgemeinen vorschwebte, hat seine Meinung
so bestimmt ausgesprochen wie dieser philosophische Laie.


Auf der Höhe dieser pantheistischen Erhabenheit der An-
schauung sich zu erhalten, mag der Wunsch des Dichters ge-
wesen sein. Er musste doch im eignen, vieles umfassenden,
nichts in dauernder Umarmung festhaltenden Geiste die Wahr-
heit des Protagoreischen Satzes, dass jede Behauptung ihr gleich-
berechtigtes Gegentheil aufrufe 1), zu oft erfahren, um irgend
einer Meinung zu jeder Zeit anhängen zu können. Vom Tode
und dem was hinter ihm sich aufthun mag, hat doch Niemand
eine Erfahrung 2). Es mag sein, dass völliges Versinken ins
Nichts erfolgt, der Todte ganz zunichte wird 3). In der Un-
vergänglichkeit des Menschengeschlechtes mag der grosse Name,
der Nachruhm grosser Thaten unsterblich fortbestehen 4). Ob
sonst noch, in einer Geisterwelt, sich ein Rest des Lebens er-
hält, wer weiss es? Kaum sollte man es wünschen 5). Das ist
ja das Tröstliche am Tode, dass er aller Empfindung, und so
[554] auch allem Leid und Kummer ein Ende macht. Wir dürfen
uns nicht beklagen, wenn, den Ernten gleich die sich im Laufe
der Jahre folgen, ein Geschlecht der Menschen nach dem an-
deren aufblüht, welkt und dahingerafft wird. So ist der Lauf
der Natur geordnet, und nichts darf uns schrecken, was ihre
Gesetze nothwendig machen 1).


[[555]]

Plato.


Der Unsterblichkeitsgedanke, in theologischer oder in
philosophischer Fassung, war in jenen Zeiten kaum hie und
da einzeln in Laienkreise eingedrungen. Sokrates selbst, der
auf solche Fragen nach dem Unerforschlichen sich keiner an-
deren Antwort rühmen wollte, als die Mehrzahl seiner Mit-
bürger aus Urväterweisheit bereit hielt, weiss da, wo er bei
Plato sich in seiner unverstellten schlichten Tüchtigkeit geben
darf, in der „Apologie“, wenig von einer Hoffnung auf ewiges
Leben der Seele zu sagen. Entweder, meint er, bringe der
Tod dem Menschen volle Bewusstlosigkeit, wie ein traum-
loser Schlaf, oder einen Uebergang der Seele in ein anderes
Leben, in dem Seelenreiche, das nach seinen Andeutungen mit
dem homerischen Hades weit mehr Aehnlichkeit zu haben
scheint als mit den schimmernden Phantasieländern der Theo-
logen und theologisirenden Dichter 1). Beide Möglichkeiten
nimmt er getrost hin, auf die Gerechtigkeit der waltenden
Götter bauend 2), und blickt nicht nach weiterem aus. Wie
sollte er sicher wissen, was Niemand weiss? 3)


Mit gleicher Gelassenheit mag die Mehrzahl auch der Ge-
bildeten (die damals aus der Menge sich auszusondern anfingen)
das Unbekannte haben dahingestellt sein lassen 4). Plato ver-
[556] sichert, es sei zu seiner Zeit eine verbreitete Volksmeinung
gewesen, dass der ausfahrende Seelenhauch des Sterbenden
vom Winde, besonders wenn er gerade im Sturme daherfuhr,
ergriffen, zerstreut, in’s Nichts zerblasen werde 1). Sonst
schwebt dem Altgläubigen wohl, wenn sein Ende herannaht,
der Gedanke an das vor, was jenseits der Schwelle des Todes
seiner Seele warten könnte 2). Aber der Gedanke an ein ewiges,
endloses wie anfangsloses Leben seines Seelengeistes kam ihm
gewiss nicht. Plato selbst lässt uns erkennen, wie fremd eine
derartige Vorstellung auch solchen Männern war, die philo-
sophischen Untersuchungen mit Verständniss folgen konnten.
Gegen Ende der langen Unterredung über den besten Staat
fragt sein Sokrates ziemlich unvermittelt den Glaukon: ist dir
nicht bewusst, dass unsere Seele unsterblich ist und nie zu
Grunde geht? Da, heisst es, blickte ihn Glaukon verwundert
an und sagte: nein, wahrhaftig, das ist mir nicht bewusst;
kannst denn Du dergleichen behaupten? 3)


Ein paradoxer Einfall scheint dem, theologischer Seelen-
lehre Fernstehenden die Annahme, dass die Seele des Men-
4)
[557] schen ewig und unvergänglich sein möge. Wenn in späteren
Zeiten das anders wurde, so hat dazu Niemand stärker und
dauernder gewirkt als der grosse Denker und Dichter, der den
theologischen Gedanken der persönlichen Unsterblichkeit mitten
im Herzen der Philosophie anpflanzte, und, wenn er ihn so
den Philosophen vertraut machte, den Theologen tiefer be-
gründet zurückgab, ihn zugleich weit über die Schranken der
Schule oder der Secte hinaustrug, so weit wie seine nie ver-
altenden Schriften wirkten, die nicht der Schulstube, sondern
der höchsten Litteratur des Griechenthums und der Mensch-
heit angehören. Es ist unberechenbar, wie viel, seit sie ent-
standen sind, Plato’s Dialoge zur Kräftigung, Verbreitung und
bestimmenden Ausgestaltung des Unsterblichkeitsglaubens, wech-
selnd im Laufe der Jahrhunderte, aber ununterbrochen bis in
unsere Zeit, gewirkt haben.


2.


Plato hat nicht von jeher den Unsterblichkeitsgedanken
bei sich gehegt. Mindestens sehr im Hintergrunde seines
Denkens und Glaubens muss dieser Gedanke gestanden haben,
solange er selbst die Welt aus dem Gesichtspunkte eines wenig
weitergebildeten Sokratismus betrachtete. Nicht nur seinen
Sokrates lässt er damals (in der Apologie) ohne jeden Anklang
an eine Ueberzeugung von unvergänglicher Lebenskraft seiner
Seele in den Tod gehn; auch in dem ersten, noch in dem
Boden sokratischer Lebensweisheit wurzelnden Entwurfe seines
Staatsideals wird der Unsterblichkeitsglaube nicht zugelassen,
ja ausgeschlossen 1).


[558]

Es scheint, dass die höchste Vorstellung von Wesen und
Würde, Herkunft und über alles Zeitmaass hinaus sich in die
1)
[559] Ewigkeit erstreckender Bestimmung der Seele Plato erst ge-
wann, als die grosse Wendung seiner Philosophie sich vollendete.
Ueber der Welt der, im Ab- und Zuströmen des Werdens
schwankenden, sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen, deren
unfassbare Wesenlosigkeit er dem Heraklit preisgab, erhob
sich ihm, was sein eigenstes Verlangen forderte und die so-
kratische Forderung nach begrifflichem Wissen als ihren realen
Gegenstand bereits vorauszusetzen schien, — eine Welt des
unentstandenen, unvergänglichen, unveränderlichen Seins, aus
der alle Erscheinung dieser unteren Welt, was sie an Sein in
sich hat, zu Lehen trägt. Selbst bleibt das Sein, die Ge-
sammtheit der Ideen, unvermischt mit dem Werdenden und
1)
[560] Vergehenden, wie ein höchstes Ziel, ein oberster Zweck über
jenem schwebend, das ihm zustrebt, nach der vollen un-
bedingten Fülle des Seins sich emporsehnt 1). Nicht in dem
Flusse der Erscheinungen, ausserhalb dessen es sich erhält,
ist dieses ewige Sein zu ergreifen; nicht der trügerischen, un-
stät wechselnden Wahrnehmung der Sinne stellt es sich dar,
noch der „Meinung“, die sich auf ihr begründet; einzig von
der Vernunfterkenntniss, ohne alle Mitwirkung der Sinne,
kann es erfasst werden 2). Ausserhalb des Denkens und Wis-
sens der Seele besteht diese Welt ewig gleich sich bleibender
Wesenheiten; aber sie entdeckt sich dem Menschen doch erst
in der Thätigkeit seines Denkens 3), und zugleich entdeckt sich
ihm eine höchste Kraft seiner Seele, das Vermögen, nicht nur
wesenlose Allgemeinbegriffe aus der Vielheit der Erscheinungen
bei sich abstrahirend zu bilden, sondern über alle Erfahrung
hinaus mit unfehlbarem Wissen 4) in ein jenseitiges Reich blei-
benden, allerrealsten Seins selbständig sich aufzuschwingen. Die
höchste Kraft des Menschen, die Seele seiner Seele, ist nicht
eingeschlossen in diese Welt, die unstät die Sinne umfluthet.
Wie die letzten Ziele ihrer Betrachtung ist die Seele selbst
[561] nun erhöhet, erst drüben kann sie die würdige Bethätigung
ihrer Lebenskraft finden. Sie gewinnt eine neue Würde, eine
priesterliche Hoheit, als die Mittlerin zwischen den zwei Welten,
denen beiden sie angehört.


Die Seele ist ein rein geistiges Wesen; von dem Materiellen,
als dem „Orte“, in dem das Werdende zu trüben Nachbildern
des Seins ausgeprägt wird, ist nichts in ihr 1). Körperlos ist
sie; sie gehört dem Reiche des „unsichtbaren“ an, das in dieser
immaterialistischen Lehre als das allerrealste gilt, realer als
die wuchtigste Materie 2). Sie ist nicht eine der Ideen, viel-
mehr hat sie, scheint es, an einer Idee, der Idee des Lebens,
nicht anders theil 3), als sonst die Erscheinungen an ihren Ideen.
Aber sie steht dem gesammten Reiche der ewigen Ideen näher
als irgend sonst etwas, was nicht selbst Idee ist, sie ist der
Idee unter den Dingen der Welt am „ähnlichsten“ 4).


Aber sie hat auch am Werdenden theil. Sie kann nicht,
gleich den Ideen, in unveränderter Jenseitigkeit verharren. Auch
sie stammt aus jenem Lande jenseits der Erscheinung. Sie war
von jeher, ungeworden 5), gleich den Ideen, gleich der allge-
Rohde, Seelencult. 36
[562] meinen Seele der Welt, der sie verwandt ist 1). Sie ist „älter
als der Leib“ 2), mit dem sie sich verbinden muss, mit dessen
Entstehung sie nicht etwa gleichzeitig selbst entsteht, sondern
nur aus ihrem Geisterdasein in das Reich der Materie und des
Werdens gezogen wird. Im „Phaedros“ erscheint dieser „Sturz
in die Geburt“ als die nothwendige Folge eines intellectuellen
Sündenfalles, der sich in der Seele selbst vollzieht 3). Im
„Timaeos“ muss, in der Betrachtung des Gesammtlebens im
Organismus der Welt, auch die Beseelung der lebenden Wesen
aus dem Plane, nicht aus einem Abfall von dem Plane des
Weltbildners erklärt werden 4). Die Seele erscheint dort von
[563] Anfang an als dazu bestimmt, einen Leib zu beleben. Sie ist
nicht nur das Erkennende und Denkende mitten in der Welt
des Unbeseelten, sie ist auch die Quelle aller Bewegung. Selbst
von jeher bewegt, theilt sie dem Leibe, dem sie gesellt ist, die
Bewegungskraft mit; ohne sie wäre in der Welt keine Bewegung
und also kein Leben 1).


Sie ist aber in den Leib nur eingeschlossen wie ein frem-
des Wesen. Sie ihrerseits ist des Leibes nicht bedürftig und
nicht durch ihn bedingt. Sie steht als ein Selbständiges neben
ihm, als seine Herrin und Lenkerin 2). Auch in ihrem Zu-
sammenwohnen bleibt Seele und alles Unbeseelte durch eine
tiefe Kluft geschieden 3); nie verschmelzen Leib und Seele, die
doch mit einander eng verklammert sind. Gleichwohl hat der
Leib und seine Triebe die Macht, auf das in ihm wohnende
Ewige einen starken Einfluss zu üben. Durch die Vereinigung
mit dem Leibe kann die Seele verunreinigt werden; Krank-
4)
36*
[564] heiten, wie Unverstand, wilde Leidenschaft, kommen ihr vom
Leibe 1). Sie ist nicht unveränderlich, wie die Ideen, denen
sie nur verwandt, nicht gleichartig ist; vielmehr kann sie völlig
entarten. In ihr Inneres dringen die bösen Einflüsse des
Leibes ein; sie selbst, das ewige, immaterielle Geisteswesen,
kann etwas „körperartiges“ annehmen 2) durch so schlimme
Nachbarschaft.


Sie ist an den Leib gebunden durch Triebe einer niede-
ren Art, die sich zu der ihr allein eigenen Erkenntnisskraft
gesellen. In den Anfängen seiner Speculation waren Plato die
sich von einander unterscheidenden und wechselnd einander
bekämpfenden oder unterstützenden Kräfte der Seele, ähnlich
wie vor ihm anderen Denkern 3), als Theile ungleichen Ranges
und Werthes, in der Seele des Menschen mit einander ver-
bunden, erschienen 4). Schon im Vorleben der Seele im Jen-
seits sieht der „Phaedros“ die Denkkraft in ihr verkoppelt mit
„Muth“ und „Begierde“: diese eben sind es, welche die Seele
in das Reich der Sinnlichkeit herunterziehen; untrennbar bleiben
die drei Theile auch in dem ewigen Leben vereinigt, das der
Seele nach ihrer Lösung vom Leibe wartet.


[565]

Je höher aber der Philosoph seine Vorstellung von der
Seele steigert, je leuchtender ihm die Erkenntniss ihrer Be-
stimmung zu ewig seligem Leben im Reiche des unveränder-
lichen Seins aufgeht, um so undenkbarer wird ihm, dass die
zu unsterblichem Dasein im Reich der ewigen Gestalten Be-
rufene ein Zusammengesetztes, und also der Theilung und Auf-
lösung Ausgesetztes sein könne 1), dass der erkennenden Kraft
der Seele für immer Streben und Begierde gesellt sein können,
die sie in die Sinnlichkeit immer wieder hinabzuziehen drohen.
Die Seele in ihrem reinen und ursprünglichen Wesen gilt ihm
nun als einfach und untheilbar 2). Erst bei ihrer Einschliessung
in den Leib wachsen der ewigen, auf Ewiges gerichteten,
denkenden Seele Triebe und Begierden an 3), die aus dem Leibe
[566] stammen, dem Leibe eigen sind 1), nur während des irdischen
Lebens der Seele anhaften, mit ihrem Ausscheiden aber von
der Unsterblichen, selber sterblich und mit dem Leibe vergäng-
lich, abfallen werden.


Die Seele, an die sinnliche Wahrnehmung 2), Empfindung,
Affecte, Begehren nur von aussen herantreten, ist ihrem eigenen,
unvergänglichen Wesen nach nur reine Kraft des Denkens und
Erkennens, mit welchem freilich das Wollen des im Wissen
Ergriffenen unmittelbar auch gesetzt zu sein schien. Sie ist
auf das Jenseits, auf die Erkenntnis und getreue Wieder-
spiegelung der körperlosen Wesenheiten in ihrem Bewusstsein
angelegt. Hienieden aber, in den ruhelosen Wechsel des Wer-
dens gebannt, und von den unreinen Mächten des Leibeslebens
nicht unbeeinflusst, durchlebt sie ein kurzes Dasein 3). Nicht
unbeschädigt verlässt sie im Tode ihren ungleichen Genossen,
den Leib 4). Sie geht in ein Zwischenreich körperlosen Da-
seins über, in dem sie von den Verfehlungen ihres Erdenlebens
durch Busse sich zu lösen hat 5). Abermals wird sie in einen
[567] Leib gezwungen, in einen neuen Zustand irdischen Lebens ver-
setzt, den sie nach eigener Wahl, entsprechend dem besonderen
Wesen, das sie in dem früheren Erdendasein sich erworben
hat, ergreift 1). Nicht ein organischer Zusammenhang, aber
5)
[568] doch ein „Ebenmaass“ 1) besteht nun zwischen der einzelnen
Seele und dem ihr verliehenen Leibe.


So durchlebt die Seele eine Reihe von irdischen Lebens-
läufen 2) verschiedenster Art: bis zum Thier hinab kann sie
sinken in ihren Verkörperungen 3). Von ihren eigenen Ver-
1)
[569] diensten, ihrem erfolgreichen Kampfe gegen Leidenschaften und
Begierden des Leibes wird es abhängen, ob ihre Lebensläufe
sie aufwärts führen zu edleren Daseinsformen. Sie hat ein
gewiesenes Ziel: lösen soll sie sich von dem unreinen Ge-
fährten, der sinnlichen Lust, der Verdunkelung der Erkenntniss-
kraft. Wenn sie das vermag, so wird sie allmählich den „Auf-
weg“ 1) wieder finden, der sie zuletzt zur völligen Freiheit von
dem Zwange einer neuen Einschliessung in einen Leib führt,
und sie heimgeleitet in das Reich des ewig ungetrübten Seins.


3.


Es ist offenbar, wie Plato in seiner philosophischen Dich-
tung von Art, Herkunft, Schicksal und Bestimmung der Seele,
die zeitlos und doch in die Zeitlichkeit gestellt, unräumlich
und doch die Ursache aller Bewegung im Raume sein soll,
den Spuren der Theologen älterer Zeit folgt. Nicht in der
Lehre der Physiologen, nur in Dichtung und Speculation der
Theologen fand er Vorstellungen, ganz in der Richtung der
auch er folgt phantasievoll ausgeführt, von einer Vielheit
3)
[570] selbständig seit Ewigkeit lebendiger, nicht in der Welt der
Sinnlichkeit bei der Bildung eines lebenden Wesens erst ent-
stehender Seelen, die in die Leiblichkeit wie in ein fremdes,
feindliches Element verschlossen, diese Gemeinschaft mit dem
Leibe überleben, viele Leiber durchwandern, immer aber nach
dem Zerfall eines jeden Leibes unversehrt sich erhalten, ewig,
endlos, wie sie anfangslos 1) und seit Ewigkeit lebendig sind.
Und zwar lebendig als geschlossene, untheilbare, persönlich be-
stimmte Einzelwesen, nicht als unselbständige Ausstrahlungen
eines einzigen allgemeinsamen Lebendigen.


Die Lehre von der Ewigkeit und Unvergänglichkeit der
individuellen Seelen, von der persönlichen Unsterblichkeit der
Seelen ist mit Platos eigenster Speculation, mit der Ideenlehre,
schwer in Einklang zu bringen 2). Gleichwohl ist unbestreitbar,
dass er diese Lehre, seit er sie, und gerade in Verbindung
[571] mit der Ideenphilosophie, in den Kreis seiner Gedanken auf-
genommen hatte, unverbrüchlich und in ihrem eigentlichsten
Sinne festgehalten hat. Der Weg, auf dem er zu ihr gelangt
ist, ist nicht zu erkennen aus den „Beweisen“, mit denen er
im „Phaedon“ die bei ihm selbst damals bereits feststehende
Annahme der Unsterblichkeit der Seele zu stützen sucht.
Wenn diese Beweise das, was sie beweisen sollen (und was als
eine gegebene Thatsache nicht nachweisbar, als eine nothwendig
zu denkende Wahrheit niemals erweisbar ist) nicht wirklich
beweisen, so können sie es auch nicht sein, die den Philo-
sophen selbst zu seiner Ueberzeugung geführt haben. Er hat
in Wahrheit diesen Glaubenssatz entlehnt von den Glaubens-
lehrern, die ihn fertig darboten. Er selbst verhehlt das kaum.
Für die Hauptzüge der Geschichte der Seele, wie er sie aus-
führt, beruft er sich, fast entschuldigend und wie zum Ersatz
für eine philosophische Begründung, vielfach auf die Autorität
der Theologen und Mysterienpriester 1). Er selbst wird völlig
und unverstellt zum theologischen Dichter, wo er, nach dem
Vorbild der erbaulichen Dichtung, die Erlebnisse der Seele
zwischen zwei Stationen der irdischen Wallfahrt ausmalt, oder
die Stufengänge irdischer Lebensläufe beschreibt 2), die bis zum
Thier die Seele hinunterführen.


Für solche sagenhafte Ausführungen des Unsagbaren
nimmt der Philosoph selbst keine andere als symbolische Wahr-
[572] heit in Anspruch 1). Völlig ernst ist es ihm mit der Grund-
anschauung von der Seele als einer selbständigen Substanz,
die aus dem Raumlosen jenseits der sinnlich wahrnehmbaren
Welt eintritt in diesen Raum und diese Zeitlichkeit, mit dem
Leibe nicht in organischem Zusammenhang, sondern nur in
äusserlicher Verbindung steht, als immaterielles Geisteswesen
inmitten der Flucht und Vergänglichkeit des Sinnlichen sich
erhält, gleichwohl eine Trübung und Verdunklung ihres reinen
Lichtes in dieser Verbindung erfährt, von der sie aber sich
reinigen soll und sich befreien kann 2), bis zu völligem Aus-
scheiden aus der Umklammerung des Stofflichen und Wahr-
nehmbaren. Er entlehnt das Wesentliche dieser Grundanschau-
ungen den Theologen; aber er bringt sie in nahe Beziehung
zu seiner eigensten Philosophie, die durch die Ueberzeugung
von dem schroffen Gegensatz zwischen Werden und Sein, der
Zwiespältigkeit der Welt nach Geist und Materie, die sich
auch in dem Verhältniss der Seele zum Leibe und zu dem
ganzen Bereiche der Erscheinung ausprägt, völlig bestimmt ist.
Die Seele, in der Mitte stehend zwischen dem einheitlichen,
unveränderlichen Sein und der schwankenden Vielheit des
Körperlichen, hat im Gebiete des Getheilten und Unbeständigen,
in das sie zeitweilig gebannt ist, allein die Fähigkeit, die
„Ideen“ ungetrübt und rein für sich in ihrem Bewusstsein
wieder abzuspiegeln und darzustellen. Sie allein, ohne alle
Mitwirkung der sinnlichen Wahrnehmung und darauf erbauten
Vorstellung, kann der „Jagd nach dem Seienden“ 3) nachgehen.
Der Leib, mit dem sie verkoppelt ist, ist ihr dabei nur ein
Hinderniss, und ein mächtiges. Mit seinen Trieben, so fremd
sie ihr gegenüberstehen, hat sie hart zu ringen. Wie in der
[573] Weltbildung der Stoff nicht zwar die Ursache, aber eine Mit-
ursache ist, durch deren Zwang und Nöthigung der „Geist“,
der die Welt bildet und ordnet, mannichfach gehemmt wird 1),
so ist dem Seelengeiste diese vergängliche, ewig schwankende,
wie in trüber Gährung wallende Stofflichkeit ein schweres
Hemmniss bei seinem eigensten Thun. Sie ist das Böse oder
doch die Ursache des Bösen 2), das überwunden werden muss,
damit der Geist zu seiner Freiheit gelangen, in das Reich des
reinen Seins sich völlig retten könne. Oft redet Plato von der
„Katharsis“, der Reinigung, nach der der Mensch zu trachten
habe 3). Er nimmt auch hier Wort und Begriff von den Theo-
logen an; aber er steigert sie zu einer erhöheten Bedeutung,
in der indessen immer noch die Analogie zu der Katharsis der
Theologen und Weihepriester deutlich hervortritt. Nicht die
Befleckung, die von der Berührung unheimlicher Dämonen und
dessen, was ihr Eigen ist, droht, gilt es zu verhüten; sondern
die Trübung der Erkenntnisskraft und des damit als gleich-
zeitig gesetzt gedachten Wollens des Erkannten, durch die
Sinnenwelt und ihre wilden Triebe 4). Statt nach ritualer Rein-
heit ist zu streben nach der Reinhaltung der Erkenntniss des
[574] Ewigen von der Verdunkelung durch täuschenden Sinnentrug,
nach der Sammlung, dem Zusammenziehen der Seele auf sich
selbst 1), ihrer Zurückhaltung von der Berührung des Vergäng-
lichen als des Unreinen und Herabziehenden.


Auch in dieser philosophischen Umdeutung der ritualen
Enthaltung zu geistiger Ablösung und Erlösung behält das
Streben nach „Reinheit“ einen religiösen Sinn. Denn das
Reich der Ideen, das Reich des reinen Seins, an das nur die
reine Seele rühren kann 2), ist das Reich des Göttlichen. Das
„Gute“, als die oberste Idee, das höchste Vorbild, der letzte
Zweck, dem alles Sein und Werden zustrebt, zugleich mehr
als alle Ideen, der erste Grund alles Seins und alles Wissens,
ist die Gottheit selbst 3). Die Seele, der in ihrem sehnsüch-
tigen Trachten nach dem vollen Sein der Idee zuletzt die Er-
kenntniss des „Guten“ die „höchste Wissenschaft“ 4) wird,
tritt eben hiemit in die innerlichste Gemeinschaft mit Gott.
Die „Umwendung“ der Seele vom farbigen Abglanz zur Sonne
der höchsten Idee selber 5), ist eine Hinwendung zur Gottheit,
zu der Lichtquelle alles Seins und alles Erkennens.


Auf dieser Höhe wird die philosophische Forschung zum
[575] Enthusiasmus 1). Den Weg, der hinaufführt von den Niede-
rungen des Werdenden zum Sein, weist die Dialektik, welche
die zerfahrene, rastlos fliessende Vielheit der Erscheinung „zu-
sammenschaut“ 2) zum ewig Bleibenden, Einheitlichen der Idee,
die jene abbildet, von der einzelnen Idee zur stufenweise sich
übereinander erhebenden Gesammtheit der Ideen, zur letzten,
allgemeinsten der Ideen aufsteigt, in strenger logischer Arbeit
den ganzen Aufbau der höchsten Begriffe aufsteigend durch-
misst 3). Plato ist der scharfsinnigste, ja spitzfindigste, eifrig
allen Verschlingungen der Logik, auch des Paralogismus nach-
spürende Dialektiker. Aber, wie sich in seiner Natur die Be-
sonnenheit und Kälte des Logikers in einer unvergleichlichen
Art mit dem enthusiastischen Aufschwung des Sehers und
Propheten verbindet, so reisst auch seine Dialektik selbst sich
über das mühselige, stufenweis fortschreitende Aufwärtsstreben
von Begriff zu Begriff zuletzt empor an ihr Ziel in einem
einzigen mächtigen Schwunge, der das sehnsüchtig erstrebte
Ideenreich auf einmal und unmittelbar vor ihr aufleuchten
lässt. So wird in der Ekstasis dem Bakchen die Gottheit in
plötzlicher Vision offenbar, so in den Mysteriennächten dem
Epopten das Bild der hohen Göttinnen im Fackelglanz von
Eleusis 4).


[576]

Die Dialektik, zu diesem höchsten Gipfel führend, der den
Ausblick auf das, sinnlicher Wahrnehmung unerreichbare, „farb-
lose und gestaltlose und der Berührung unzugängliche Sein“
eröffnet, wird zum Heilswege, auf dem die Seele ihre eigene
Göttlichkeit und ihre göttliche Heimath wiederfindet. Denn
sie ist dem Göttlichen nächstverwandt und ähnlich 1); sie ist
selbst ein Göttliches. Göttlich ist an ihr die Vernunft 2), die
das ewige Sein unmittelbar denkend ergreift. Wär’ nicht das
Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken 3); wäre
nicht der Geist dem Guten, der höchsten Idee im Wesen ver-
wandt 4), nie könnte er das Gute, das Schöne, alles Vollkom-
mene und Ewige umfassen. In ihrer Fähigkeit, das Ewige zu
erkennen, trägt die Seele die sicherste Gewähr in sich, selbst
ewig zu sein 5).


4)


[577]

Die „Reinigung“, durch welche die Seele sich löst 1) von
der Entstellung, die in diesem irdischen Leben sich ihr an-
geheftet hat, stellt das Göttliche im Menschen in seinem
reinen Lichte wieder her. Schon auf Erden macht sie den
wahren Philosophen unsterblich und göttlich 2); so lange er
sich in reiner Vernunfterkenntniss und Umfassung des Ewigen
erhalten kann, lebt er schon hier „auf den Inseln der Seligen“ 3).
Mehr und mehr soll er durch Abstreifen des Vergänglichen
und Sterblichen in sich und an sich, „dem Gotte ähnlich wer-
den“ 4), um nach der letzten Lösung seiner Seele aus dem
irdischen Dasein einzugehn zu dem Göttlichen, Unsichtbaren,
dem Reinen, immer sich selbst Gleichen, und als körperfreier
Geist ewig bei dem ihm Verwandten zu sein 5). Hier versagt
Rohde, Seelencult. 37
[578] die Sprache, die nur in sinnlichen Bildern reden kann, ihre
Hilfe 1). Ein Ziel ist der Seele gewiesen, das ausser aller
Sinnlichkeit liegt, ausser Raum und Zeitverlauf, ohne Ver-
gangenheit und Zukunft ein ewiges Jetzt 2).


Die einzelne Seele kann aus Zeit und Raum sich retten
in die Ewigkeit, ohne doch ihr Selbst an das über Zeit und
Raum erhabene Allgemeine zu verlieren. Man darf hierbei
nicht fragen, was denn in der Einzelseele, wenn sie Streben
und Begierde, sinnliche Wahrnehmung, und alles, was sie zu
der Welt des Veränderlichen und Mannichfaltigen in Bezieh-
ung setzt, abgestreift hat, wiederum ganz Spiegel des Ewigen
geworden ist, noch Persönliches und individuell Bestimmtes
sich erhalten haben könne; wie ein über Raum und Zeit und
alle Vielheit der Sinnlichkeit erhabener und dennoch persön-
licher, in seiner Persönlichkeit sich absondernder Geist sich
denken lasse 3). Als Sonderwesen ihres Selbst sich bewusst,
5)
[579] wie sie von Anbeginn gelebt haben, leben nach Plato die
Seelen in endloser Zeit und ausser aller Zeit. Er lehrt eine
persönliche Unsterblichkeit.


4.


Ein weltflüchtiger Sinn spricht aus dieser Philosophie und
ihrer Seelenlehre. Fern jenseits der Welt, in die das Leben
den Menschen gestellt hat, liegt das Reich des wahren Seins,
des Guten und ungetrübt Vollkommenen; in jenes Reich hin-
überzustreben, von der Unruhe und dem Trug der Sinne den
Geist frei zu machen, von den Begierden und Affecten, die
ihn hier unten „annageln“ 1) wollen, sich zu lösen, sich abzu-
scheiden 2) von dem Leibe und dem Leibesleben, das ist die
höchste Aufgabe der Seele. Sie ist in diese Welt nur gebannt,
um desto gründlicher von ihr sich abzuwenden. Zu sterben,
innerlich allem Sichtbaren, sinnlich Materiellen abzusterben,
3)
37*
[580] das ist das Ziel, die Frucht der Philosophie 1). „Reif sein
zum Sterben“, ist das Kennzeichen des vollendeten Philosophen.
Ihm ist die Philosophie die Erlöserin, die ihn vom Leibe für
alle Zeit befreit 2), von seinen Begierden, seiner Hast und
wilden Erregung 3), und ihn ganz dem Ewigen und seiner Stille
zurückgiebt.


Rein werden, sich ablösen von dem Uebel, sterben schon
in dieser Zeitlichkeit, das sind die immer wiederholten Mah-
nungen, die der Philosoph an die unsterbliche Seele richtet;
ein durchaus negirendes Verhalten fordert auch hier, ihrem
innersten Wesen entsprechend, die asketische Moral von ihr.
Zwar soll diese Verneinung der Welt nur hinüberleiten zu
höchst positivem Verhalten. Die Katharsis eröffnet nur
den Zugang zur Philosophie selbst, die das allein Positive,
allein unbedingt und in wahrer Bedeutung Seiende, allein in
völlig hellem Verständniss als bleibendes Gut von der Ver-
nunft zu Ergreifende zu erreichen, mit ihm ganz zu verschmel-
zen 4) lehrt. Nach dem Seienden hinüber sehnt sich die Seele
des Denkers 5); der Tod ist ihr nicht nur eine Vernichtung
der Leibesbande, die sie hemmten, sondern sehr positiv „Ge-
winn der Vernunfterkenntniss“ 6), auf die sie, ihrem blei-
benden Wesen nach, angelegt ist, also Erfüllung ihrer wahren
Aufgabe. So ist die Abwendung vom Sinnlichen und Ver-
gänglichen zugleich und ohne Uebergang eine Hinwendung zum
Ewigen und Göttlichen. Die Flucht vor dem Diesseits ist in
sich schon ein Ergreifen des Jenseitigen, ein Aehnlichwerden
mit dem Göttlichen 7).


[581]

Aber die wahren Wesenheiten sind nicht in dieser Welt
zu finden. Um sie denkend rein zu erfassen, um ungetrübtes
Geistesauge wieder zu werden, muss die Seele der Angst und
Verwirrung des Irdischen sich ganz entschlagen. Für diese,
die Sinne umgaukelnde Erdenwelt hat der Philosoph nur Ver-
neinung. Wahrer Erkenntniss nicht standhaltend, hat das ganze
Gebiet des Werdens für seine Wissenschaft keine selbständige
Bedeutung. Nur als Anreiz und Aufforderung, zu dem Ab-
soluten vorzudringen, dient die Wahrnehmung des immer nur
Relativen, gleichzeitig entgegengesetzte Eigenschaften an sich
Zeigenden 1). Nur dunkle Erinnerungszeichen an das, was sie
einst hell erschaut hatte, findet die Seele in diesem Reiche
trüber Schatten wieder. Die Schönheit dieser Sinnenwelt, von
dem edelsten Sinne, dem Auge, aufgefasst, dient wohl, das
Schöne an und für sich, das hier in entstelltem Abbild sicht-
bar wird, der Seele in’s Gedächtniss zu rufen, ihren eigensten
Besitz, den sie aus einem früheren Leben ausserhalb aller
Leiblichkeit fertig herübergebracht hat, ihr selber aufzudecken 2).
Aber die Wahrnehmung der Schönheit hienieden muss alsbald
über sich selbst hinausführen, hoch über die Welt der Er-
scheinung hinaus, zu den reinen Formen des Ideenlandes. Der
Process des Werdens lehrt nichts kennen von dem Seienden,
das in ihm nicht ist, nichts lernt der Denker aus ihm, er ge-
winnt überhaupt in diesem Leben nichts Neues an Wissen und
Weisheit, er kann nur herauffördern, was er vordem besass
und, in latentem Zustand, immer besessen hat 3). Aber dieser
[582] Besitz liegt im Jenseits. Von den Schattenbildern an der
Wand der Höhle dieser Welt soll er den Blick abwenden, ihn
umwenden zu der Sonne des Ewigen 1). In das Reich des
Veränderlichen gestellt, hierauf zunächst mit Sinnen und Vor-
stellung angewiesen, soll er Alles, was sich hier ihm darbietet,
verschmähen, überspringen, überfliegen, sich unmittelbar dem
Unsichtbaren ganz hingeben, fliehen von hier dort hinüber, wo
er, Gott ähnlich werdend, gerecht und rein sein wird durch
Kraft seiner Erkenntniss 2).


Das irdische Leben, wie es ist, wird ihm fremd und un-
heimlich bleiben, er selbst ein Fremder sein auf Erden, in
irdischen Geschäften unbewandert 3), als ein Thor geachtet von
der hierin so gewandten Menge der Menschen 4). Er hat für
Höheres zu sorgen, für das Heil seiner Seele; nicht der Ge-
sammtheit, sich selbst und seinen Aufgaben wird er leben 5).
Das menschliche Treiben scheint ihm grossen Ernstes nicht
werth 6), das Staatswesen heillos verdorben, auf Wahn und
3)
[583] Begierde und Unrecht begründet. Er allein freilich wäre der
wahre Staatsmann 1), der die Bürger zu ihrem Heil anleiten
könnte, nicht als ein Diener ihrer Gelüste, sondern wie ein
Arzt, der Kranken hilft 2). Nicht „Häfen und Schiffshäuser
und Mauern und Steuern und andere solche Nichtigkeiten“ 3)
würde er der Stadt zuwege bringen, sondern Gerechtigkeit und
Heiligkeit und alles was nach diesem Leben vor dem strengen
Gericht im Jenseits bestehen kann 4). Das wäre die beste Art
der Lebensführung 5), zu der Er anleiten könnte; alle Macht
und Herrlichkeit der Welt verhilft zu ihr nicht; alle die gros-
sen Staatsmänner der Vergangenheit, Themistokles und Kimon
und Perikles verstanden hievon nichts, ihr Treiben war eine
einzige lange Verirrung 6).


Auf der Höhe seines Lebens und Denkens vollendete Plato
ein Idealbild des Staates nach den Grundsätzen und Forde-
rungen seiner Weisheit. Ueber dem breiten Unterbau eines
streng nach Ständen gegliederten Volksthumes, das in sich und
den Einrichtungen seines Lebens die Tugend der Gerechtig-
keit in weithin leuchtender Erscheinung darstellen sollte, und
einst dem Philosophen den ganzen Umkreis des besten Staates
voll auszufüllen geschienen hatte, erhebt sich ihm jetzt, in
überirdischen Aether hinaufweisend, eine oberste Bekrönung,
der alles Untere nur als Träger und zur Ermöglichung ihres
Daseins in luftiger Höhe dient. Ein kleiner Ausschuss der
[584] Bürger, die Philosophen, bilden diese letzte Spitze der Staats-
pyramide. Hier, in diesem, nach den Zwecken der Sittlich-
keit geordneten Staate, werden auch sie, nicht freudig zwar,
aber um der Pflicht willen, am Regiment theilnehmen 1); so-
bald die Pflicht sie entlässt, werden sie eilen, zurückzukehren
zu der überirdischen Contemplation, die Zweck und Inhalt ihrer
Lebensthätigkeit ist. Um diesen Contemplativen eine Stätte
zu bereiten, um die Möglichkeit zu bieten, sie zu ihrem, dem
höchsten Beruf heranzubilden, um die Dialektik als eine
Lebensform, als Ziel des menschlichen Bestrebens 2) in den
Betrieb des irdischen Culturlebens einfügen zu können, ist im
Grunde der ganze Idealstaat stufenweise aufgebaut. Die bürger-
lichen, gesellschaftlichen Tugenden, um deren fester Begrün-
dung in rechtem Ineinandergreifen willen der ganze Staatsbau
von unten auf errichtet zu sein schien, haben auf dieser Höhe
keine selbständige Geltung mehr. „Die sogenannten Tugenden“
treten alle in Schatten vor der höchsten Kraft der Seele, der
mystischen Anschauung des Ewigen 3). Der vollendete Weise
hat nicht mehr die oberste Bestimmung, den Andern, draussen
Stehenden, Pflichten zu erweisen; sein eigenes inneres Leben
reif machen zur Selbsterlösung, das ist seine wahre und nächste
Pflicht. Der guten Werke braucht’s nicht mehr, wo der Geist
[585] mit dem Gebiet irdischen Thuns und Handelns keinen Zu-
sammenhang mehr hat. Soll es sich dennoch um wirkendes
Gestalten der Welt handeln, so werden dem Weisen, der das
Höhere hat, die „Tugenden“ von selbst zufallen 1).


Wenigen ist diese Höhe des Daseins zugänglich. Gott
allein und von den Sterblichen eine kleine Schaar 2) vermag in
reinem Denken das ewig Seiende, den einzigen Gegenstand
sicheren, hellen, unveränderlichen Wissens zu berühren. Nie
kann die Menge der Menschen zu Philosophen werden 3). Den
Philosophen allein aber reicht diese Lehre die Krone des
Lebens. Hier ist nicht eine Religion für die Armen im Geiste;
die Wissenschaft, das höchste Wissen um das wahrhaft
Seiende ist Bedingung der Erlösung. Gott erkennen ist gött-
lich werden 4). Es ist verständlich, warum diese Heilsverkün-
dung eine weite Gemeinde um sich nicht sammeln konnte. Sie
durfte es nicht, ohne sich selbst ungetreu zu werden. Seltenen
hohen Menschen reicht sie den Preis, der von jenseits winkt.
Der Preis ist die Befreiung vom Leben im vergänglichen Leibe,
die Vereinigung mit dem wahrhaft Seienden für immer, die
Rückkehr zu allem Ewigen und Göttlichen. Ein Symbol dessen,
was der Philosoph nach seinem Tode erreicht haben wird, wird
die Gemeinde darin aufrichten, dass sie den Abgeschiedenen
unter den Dämonen verehrt 5).


So sieht das Idealbild einer Cultur aus, in der mit dem
Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und ihrer Berufung
zu ewigem Leben im Götterreiche ein tiefer und schwärme-
rischer Ernst gemacht würde. Der Unsterblichkeitsglaube wird
[586] hier der Schlussstein in einem Aufbau des Lebens, dessen
Baumeister alles Irdische, als nur für einstweilen gültig, tief
entwerthet sieht, da ihm allein der Himmel der geistigen Welt
der ewig bleibenden Gesetze und Vorbilder dauernd im Ge-
müthe steht. Ueber das Griechenthum, wie es sich in Staat
und Gesellschaft, in Lebenssitte und Kunst, einer Kunst, die
ewig ist soweit die Menschheit ewig sein mag, entwickelt hatte,
wird hier achtlos hinausgeschritten; eine Aristokratie wird hier
gefordert, nach einem Maassstab dessen, was das „Beste“ sei,
angelegt, dem keine unter Menschen denkbare Culturform, und
wäre sie so tief in aristokratischen Gedanken eingewurzelt,
wie die griechische allezeit war, genug thun könnte. Und das
letzte Wunschziel dieser Organisation des irdischen Lebens
wäre die Aufhebung alles Lebens auf Erden. —


Platos in Geben und Empfangen gleich reicher Geist,
nicht dazu angethan, in einem einzigen mystischen Tiefblick zu
erstarren, hat auch nach Vollendung der Bücher vom Staate
nicht abgelassen, das System seiner Gedanken mannichfach
weiterbildend umzugestalten, einzelne Probleme in erneuerter
Forschung und hin- und hergehenden Versuchen auszuführen;
selbst einen zweiten Aufriss eines Staatsgebäudes hat er hinter-
lassen, in dem er, die höchsten Aufgaben menschlichen Be-
strebens fast ausser Augen lassend, die Lebensführung der
Vielen, denen das Reich der ewigen Gestalten stets verschlos-
sen bleiben wird, durch feste Satzungen zum erreichbaren
Besseren zu leiten für seine Pflicht hielt. Er hatte in vielen
Stücken Entsagung gelernt. Aber der tiefe Grund seiner Ge-
danken blieb unbewegt der gleiche, die Forderungen, die er
an Welt und Menschengeist stellt, sind in ihrem innersten
Sinne unverändert geblieben. Mit richtigem Verständniss hat
die Nachwelt sein Bild festgehalten, als das des priesterlichen
Weisen, der mit mahnender Hand dem unsterblichen Menschen-
geiste aufwärts den Weg weisen will, von dieser armen Erde
hinauf zum ewigen Lichte.


[[587]]

Die Spätzeit des Griechenthums.


I. Die Philosophie.


Plato und seine Verkündigung von Wesen, Herkunft und
Bestimmung der Seele bildet einen Abschluss, den Abschluss
jener spiritualistischen, theologischen Bewegung, von deren
Tiefe und Mächtigkeit nichts eine bedeutendere Vorstellung er-
weckt, als dass sie einen solchen Abschluss sich geben konnte.
Sie kommt dann zur Ruhe. Wenigstens zieht sie sich von der
Oberfläche griechischen Lebens zurück; gleich einem jener
Ströme Asiens, von denen die Alten wussten, verschwindet ihr
Lauf für lange in unterirdischen Klüften, um fern von seinem
Ursprung um so erstaunlicher wieder ans Licht zu kommen.
Selbst Platos Schule wendete, bald nachdem der gebietende
Geist des Meisters geschieden war, sich nach ganz anderen
Richtungen als Jener ihr gewiesen hatte 1). Sie hätte, an
[588] Platos Sinnesart festhaltend, gar zu einsam gestanden in einer
veränderten Zeit, einsamer noch als er selbst schon in der
seinigen stand.


Das Griechenthum trat in einen neuen, den letzten Ab-
schnitt seiner Entwicklung. Der griechischen Volkskraft, die
bei dem drohenden Zusammensturz der alten politischen Ge-
bilde am Ende des vierten Jahrhunderts schon nahezu ge-
brochen scheinen konnte, wuchsen nach der Eroberung des
Orients durch Makedonier und Griechen neue Aufgaben zu, und
mit den Aufgaben neue Fähigkeiten. Die Polis zwar, der
ächteste Ausdruck organisirenden Vermögens des Griechen-
thums, liess sich nicht neu beleben. Was von den alten, eng
geschlossenen Stadtrepubliken nicht in stürmischem Anprall
zusammenbrach, siechte in faulem Frieden dahin. Selten sind
die Ausnahmen, in denen sich (wie namentlich auf Rhodus)
ein kräftigeres Leben selbständig erhielt. Die neuen Grossstädte
der makedonischen Reiche, mit ihrer aus vielerlei Volk zu-
sammengemischten Bevölkerung, boten keinen Ersatz für das
Verlorene; die Bünde, in denen Griechenland eine eigene
Staatsform von weiterer Spannung begründen zu wollen schien,
erlagen frühzeitig innerer Verderbniss und äusserer Gewalt.
Auch im innerlichen Wesen liess die schrankenlose Ausbrei-
tung griechischen Lebens nach Osten und Westen den alten
Nationalgeist, der in der Begrenzung des Eigenen seine
Stärke hatte, nicht unbeschädigt. Immer blieb es ein unver-
gleichlicher Vorzug, ein Grieche zu sein; aber Grieche war
1)
[589] nun, wer an dem Einzigen theil hatte, was die Griechen
in unterscheidender Eigenthümlichkeit zusammenhielt, der
griechischen Bildung; und diese war eine national abgeschlos-
sene nicht mehr. Es war nicht Schuld dieser griechischen
Humanität, wenn von ganzen Völkerschaften im Osten keine
einzige, im Westen zuletzt allein die römische diese aller Welt
dargebotene Bildung zu einem Bestandtheil ihres eigenen
Wesens machte und dort zu Griechen wurden, soviele zu
freien Menschen werden konnten. Aber aus allen Stämmen
und Völkern traten ungezählte Einzelne in die Gemeinschaft
dieses erweiterten Griechenthums ein. Allen wäre der Zugang
möglich gewesen, die eine nationale Bestimmtheit des Lebens
und der Empfindung entbehren konnten: denn die Cultur, die
jetzt Griechen und Griechengenossen vereinigte, beruhte auf
der Wissenschaft, die keine nationale Einschränkung kennt.


Es musste eine in sich zur Ruhe, wenn auch nicht zum
letzten Abschluss gekommene Wissenschaft sein, die sich der
mannichfach gemischten Schaar der Gebildeten zur Führerin
anbieten durfte. Nach dem Drang und Streben der vergangenen
Jahrhunderte war sie zu einer genügsameren Befriedigung in
sich selbst gelangt; sie meinte, nach langem und unruhigem
Suchen nun gefunden zu haben. In der Philosophie zumal liess
mehr und mehr der nie befriedigte Trieb der kühnen Einzelnen
nach, auf immer neue Fragen Antwort zu erzwingen, für die
alten Fragen immer neue Lösungen zu suchen. Wenige grosse Ge-
bäude, nach den festgesetzten Formeln der Schulen aufgerichtet,
boten den nach Gewissheit und Stätigkeit der Erkenntniss Ver-
langenden Obdach; für Jahrhunderte hielten sie, ohne erheb-
liche Umbauten, vor, bis auch sie zuletzt aus den Fugen gingen.
Selbständiger wechselnd war die Bewegung in den Einzel-
wissenschaften, die, von der Philosophie jetzt erst völlig los-
gerungen, nach eigenen Gesetzen sich reich entwickelten. Die
Kunst, an Geist und Anmuth auch jetzt nicht arm, selbst
nach den übermächtigen Leistungen der Vergangenheit nicht
durchaus zu nachbildendem Epigonenthum eingeschüchtert, war
[590] doch nicht mehr, im Bunde mit Sitte und Lebensart des
Volkes, Erzieherin zu Weisheit und Welterkenntniss. Sie wird
ein spielendes Nebenher; Gehalt und Form der Bildung be-
stimmt die Wissenschaft. Und diese, auf verbreiteter Wissen-
schaft beruhende Bildung nimmt von dem Wesen aller Wissen-
schaft an. Die Wissenschaft hält im Leben fest; sie giebt im
Diesseitigen dem Geiste zu thun; sie fühlt geringen Drang,
über den Kreis des Erkennbaren, nie genügend Erkannten,
hinaus in das Unfassbare, der Forschung Unzugängliche zu
streben. Ein gelassener Rationalismus, ein heiteres Beharren
im vernünftig Denkbaren, ohne Sehnsucht nach den Schauern
einer geheimnissvollen Hinterwelt — eine solche Stimmung be-
herrscht Wissenschaft und Bildung der hellenistischen Zeit
mehr als die irgend eines andern Abschnittes griechischer
Culturentwicklung. Was an Mystik lebendig und triebkräftig
blieb in dieser Zeit, hielt sich scheu im Hintergrunde; in deut-
lichem Lichte nimmt man eher ihr volles Gegentheil wahr, die
unerfreulichen Ergebnisse des herrschenden Rationalismus, eine
kahle Verständigkeit, einen altklugen und nüchternen Sinn, wie
er aus der Geschichtserzählung des Polybius uns matten Auges
entgegenblickt, als die Seelenstimmung des Erzählers selbst und
derer von denen er erzählt. Das war nicht eine Zeit der
Heroën und des Heroismus. Das schwächer und feiner ge-
wordene Geschlecht hängt am Leben. Wie nie zuvor hatte
der Einzelne, bei dem Niedergang des politischen Lebens und
seiner Pflichtforderungen, nun Freiheit, sich selbst zu leben 1).
Und er geniesst seiner Freiheit, seiner Bildung, der Schätze
einer durch allen Schmuck und Reiz einer vollendeten Cultur
bereicherten Innerlichkeit. Alle Vorzeit hat für ihn gedacht
und gearbeitet; nicht müssig, aber ohne Hast beschäftigt, ruht
er aus auf seinem Erbe, im halb verkühlten Sonnenscheine des
lang hinausgesponnenen Herbstes des Griechenthums. Noch
[591] grämt ihn wenig, zu wissen, was denn sein möge, wenn alle
Farben und Töne dieser reich entfalteten Welt ihm entschwun-
den sein werden. Diese Welt ist ihm alles. Die Hoffnung oder
Furcht der Unsterblichkeit hat wenig Macht unter den Gebil-
deten dieser Zeit 1). Die Philosophie, der in irgend einer Ge-
stalt sie alle, inniger oder loser, anhangen, lehrt sie, je nach-
dem, diese Hoffnung ehren oder kühl bei Seite setzen: in
keiner der verbreiteten Secten hat die Lehre von der Ewig-
keit und Unvergänglichkeit der Seele im Mittelpunkt des
Systems eine bestimmende Bedeutung. Die Physik hat in
ihnen überall die Führung; die Theologie steht im Hintergrund,
und kann ihre Verkündigung von göttlicher Herkunft und
ewigem Leben der Seelen nur undeutlich oder gar nicht zu
Gehör bringen.


2.


Am Eingang dieser Zeit, weit in sie hinein das Licht
seines Geistes werfend, steht Aristoteles. In dem was dieser
Lehrer di color’ che sanno von der Seele, ihrem Wesen und
ihrem Schicksal zu sagen weiss, werden neben einander zwei
Stimmen vernehmlich. Die Seele, lehrt er, ist in einem leben-
digen, organischen Naturkörper das die Möglichkeit des Lebens
zur Verwirklichung Bringende, die Form in dem Stofflichen
[592] seines Leibes, die Vollendung der, in diesem Leibe angelegten
Fähigkeit selbständigen Lebens. Sie ist, selbst völlig körperlos
und stofflos, nicht das Ergebniss der Mischung stofflicher Be-
standtheile des Leibes; sie ist der Grund, nicht das Resultat
der Lebensfunctionen ihres Leibes, der um ihretwillen da ist,
als ihr „Werkzeug“ 1). Selbst unbewegt, bewegt sie, einem
Naturorganismus innewohnend, diesen als die Kraft des Wachs-
thums und der Ernährung, der Begehrung und der Ortsbewe-
gung, der Empfindung und Anschauung, in den obersten Or-
ganismen als die Zusammenfassung aller dieser Kräfte. Sie
ist von dem Leibe, von ihrem Leibe getrennt so wenig zu
denken, wie die Sehkraft vom Auge, wie die Form vom ge-
formten Wachsbilde 2). Man kann wohl begrifflich unterschei-
den zwischen Leib und Seele, aber thatsächlich scheiden kann
man im belebten Organismus beide nicht. Stirbt das Lebe-
wesen, so verliert der Stoff seine Bestimmtheit zum zweck-
mässigen Organismus, der sein Leben war, ohne den er ein
selbständiges „Wesen“ (οὐσία) nicht ist 3); die Form, die
Functionskraft dieses einst belebten Organismus, seine „Seele“
ist für sich allein nichts mehr.


So redet Aristoteles der Physiolog und innerhalb der
naturwissenschaftlichen Lehre, der die Betrachtung der Seele
zufällt, „soweit sie nicht ohne den Stoff vorkommt“ 4). Ari-
[593] stoteles der Metaphysiker führt uns weiter. In der Seele des
Menschen ist über den Lebenskräften des Organismus noch
ein Geisteswesen lebendig, von übernatürlicher Art und Her-
kunft, der „Geist“, das was „in uns denkt und meint“ 1).
Dieser denkende Geist ist nicht an den Leib und dessen Leben
gebunden 2). Er ist nicht mit dem menschlichen Organismus,
den sein Hinzutreten vollendet, entstanden. Ungeworden, un-
erschaffen, war er von je 3); „von aussen“ tritt er bei der Bil-
dung der Menschen in diesen ein 4). Er bleibt, auch im Leibe
wohnend, unvermischt mit dem Leibe und seinen Kräften, un-
beeinflusst von ihm 5); er führt, in sich verschlossen, ein Son-
derdasein, von der „Seele“, von der er doch ein „Theil“ ge-
nannt wird 6), als ein ganz anderes, wie durch eine Kluft ge-
trennt. Dem Gotte der Aristotelischen Welt vergleichbar, ist
er, wie man sagen könnte, seiner kleinen Welt 7), dem leben-
digen Organismus des Menschen, transcendent; einwirkend auf
sie, ohne eine Gegenwirkung zu erfahren. Dem Gotte ist er
nächstverwandt; er heisst „das Göttliche“ im Menschen 8).
Rohde, Seelencult. 38
[594] Seine Thätigkeit ist die des Gottes 1). Gott, die reine Wesen-
heit, die unbedingte, oberste, ewige Wirklichkeit, ist absolute
stets wirkliche Denkthätigkeit 2). Jede wirkende Thätigkeit,
Thun und Erschaffen bleibt ihm fern 3). So ist auch der „Geist“
ganz im Denken beschäftigt (wiewohl zwischen Möglichkeit und
Verwirklichung bei ihm noch eine Abwechslung stattfindet) 4).
Er ergreift in unfehlbar richtiger, intellectueller Anschauung 5),
das „Unvermittelte“, die ersten und höchsten, nicht aus höhe-
ren Obersätzen abzuleitenden unmittelbar gewissen Begriffe und
Grundsätze, aus denen alles Wissen und alle Philosophie sich
herleitet 6).


In der Vereinigung mit dem Leibe und dessen „Seele“
lebt diese denkende Vernunft als „das Herrschende“ 7) über
beides, doch nicht als die „Verwirklichung“ dieses besonderen,
einzelnen Lebewesens. Der Geist heisst zwar das, was der
einzelne Mensch „ist“ 8), und ohne sein Hinzutreten wäre dieser
[595] Mensch nicht; aber das persönlich Bestimmte des Einzelnen
kann nicht in diesem Vernunftgeiste gefunden werden 1), der,
absondernder Qualitäten überhaupt baar, überall wo er er-
scheint, sich selbst gleich, dem Sonderwesen der einzelnen
Menschen, denen er beigegeben ist, gleichmässig fremd ist, und
kaum wie ein selbständiges Besitzthum des Einzelnen erscheint.


Wenn nun der Tod eintritt, so wird der denkende „Geist“
in den Untergang des menschlichen Organismus, dem er bei-
gesellt war, nicht hineingerissen. Ihn trifft der Tod nicht.
Wie alles Ungewordene ist auch er unvergänglich 2). Er ge-
winnt sein Sonderdasein wieder; wie der grosse Weltgeist, die
Gottheit, neben ihr, nicht aus ihr fliessend, noch in sie zurück-
fliessend, erhält sich der Individualgeist des Menschen in ewigem
Leben 3). Er entschwindet nun in undurchdringliches Dunkel.
Unserer Wahrnehmung nicht nur, auch unserer Vorstellung ent-
zieht sich dieses Sonderleben des Geistes völlig: für sich allein
8)
38*
[596] verharrend, hat der Geist keine Denkthätigkeit, keine Erinne-
rung, ja kein Bewusstsein; es ist nicht zu sagen, was ihm,
ausser dem Prädicat der Lebendigkeit, des Seins, noch für eine
Eigenschaft oder Thätigkeit zugeschrieben werden könne 1).


In der Lehre von diesem Denkgeist, der „von aussen“ zu
der Menschenseele hinzutritt, ohne mit ihr zu verschmelzen,
seiner Praeexistenz von Ewigkeit her, seiner Gottverwandtschaft
und seinem unvergänglichen Leben nach der Trennung von
dem menschlichen Organismus, hat Aristoteles ein mythologi-
sches Element aus Platonischer Dogmatik bewahrt.


Einst war er gerade in der Seelenkunde voller Platoniker
gewesen. In jungen Jahren hatte auch er, gleich anderen
Mitgliedern der Akademie, dem Reize nachgegeben 2), in künst-
lerisch gebildeter Rede schimmernde Phantasien von Herkunft,
Art und Schicksal der Seele, dem göttlichen Dämon 3) in sterb-
licher Hülle, auszuführen. Später schien ihm die Vorstellung,
dass „in einem beliebigen Leibe eine beliebige Seele“ wohne,
undenkbar 4); er konnte die „Seele“ des einzelnen Menschen
[597] nur verstehn als eine Verwirklichung des Lebens dieses ganz
bestimmten leiblichen Organismus, diesem untrennbar verbun-
den, wie Zweck und Gestalt dem bestimmten Werkzeug; alle
Lebenskräfte, auch Begierde, Wahrnehmung, Gedächtniss, reflek-
tirendes Denken schienen ihm nur Wirkungsweisen des beseel-
ten, von seiner „Seele“ nicht getrennt denkbaren Leibes. Aber
es blieb ihm doch ein Rest der alten dualistischen Entgegen-
setzung des Leibes und der, als besondere Substanz gedachten
Seele, derselbe im Grunde, an dem in der späteren Zeit seines
Denkerlebens Plato allein festhielt: der betrachtende, in in-
tellectueller Anschauung die obersten Wahrheiten ergreifende
„Geist“, den er nicht in die „Seele“ hineinziehen, sondern als
ein eigenes, aus göttlicher Höhe herabgestiegenes Wesen von
ihr trennen, und ihr nur äusserlich und für eine engbegrenzte
Lebenszeit anfügen wollte. Der Ursprung dieser Vorstellung
einer Seelenverdoppelung aus Platonischen Erinnerungen, und
weiterhin aus theologischen Lehren, die zuletzt nur eine ver-
geistigende Umdeutung altvolksthümlicher Phantasien von dem
Dasein der Psyche im belebten Leibe darboten, ist deutlich.
Aber der Sinn, in dem die Theologie diese Lehre ausgeführt,
die Folgerungen und Mahnungen, zu denen sie von ihr aus
gelangt war, sind nicht mit übernommen. Von einer „Reini-
gung“ des göttlichen Geistes im Menschen ist nicht mehr die
Rede. Er trägt nichts Unreines und Böses in sich, auch von
aussen kann kein verunreinigender Hauch ihn treffen. Der
Drang ins reine Jenseits hinüber, die Verleugnung und Ver-
werfung des irdischen Genossen, des belebten Leibes, ist dem
„Geiste“ des Aristoteles fremd 1); er hat keinen Trieb zur
4)
[598] „Erlösung“, zur Selbstbefreiung; er kennt keine dahinweisende
Aufgabe. Nur eine festgestellte Thatsache ist die Anwesen-
heit dieses „abtrennbaren“ Geistes im lebendigen Menschen;
es folgt für die Ziele des Lebens nichts aus ihr. Die That-
sache schien sich darin kundzugeben, dass dem Menschen ein
springendes Ergreifen eines unbeweisbaren obersten Erkennt-
nissinhaltes möglich ist, nicht infolge der denkenden Thätig-
keit seiner „Seele“, der dieses Ergreifen schon vorausliegt,
also nur durch Kraft eines höheren Geistesvermögens, eines
eigenen Geisteswesens, dessen Sein und Dasein im Menschen
sich eben hiermit anzukündigen schien. Eine erkenntnisstheo-
retische, nicht eine theologische Betrachtung führte zu der
Unterscheidung des „Geistes“ von der „Seele“. Aber was
sich so neu bestätigte, war im Grunde doch die alte theolo-
gische Lehre. Ein gottverwandtes Wesen schien auch dieser
„Geist“ dem Denker zu sein. Ihm gilt das rein betrachtende
Verhalten, ein Leben in der Betrachtung der letzten Gegen-
stände der Einsicht als ein Vorrecht der Gottheit und gött-
licher Wesen, als das wahre Ziel der Bethätigung lebendiger
Kraft, in dessen Schilderung die nüchterne Kargheit seines
Lehrvortrags von dem Glanz und der Wärme einer ächten und
ganz persönlichen Empfindung des Höchsten überstrahlt und
wie verklärt wird 1). Diese, in sich selbst ihr Ziel und ihre
1)
[599] tiefste Lust findende rein betrachtende Thätigkeit fällt dem
Göttlichen im Menschen, dem Geiste zu; sein ganzes Leben
liegt in ihr. Aber diese Thätigkeit vollendet in Wahrheit der
Geist in diesem Leben, in der Vereinigung mit dem Leibe und
dessen „Seele“. Es bleibt nichts übrig was als Inhalt des
Lebens und Thuns des Geistes in seinem Sonderdasein, nach
vollendetem irdischen Lebenslaufe, sich denken liesse. Der
Geist, und der Mensch dem er zugesellt ist, kann nicht wohl
einen lebhaften Drang nach Erlangung jener, für unsere Vor-
stellung inhaltlos gelassenen jenseitigen Freiheit haben; der
Unsterblichkeitsgedanke, so gestaltet, kann für den Menschen
keinen inneren Werth, keine ethische Bedeutung haben 1). Er
1)
[600] entspringt einer logischen Folgerung, metaphysischen Erwä-
gungen, nicht einer Forderung des Gemüthes. Es fehlt ihm, wie
an sinnfälliger, die Phantasie bestimmender Deutlichkeit, so an
der Kraft (aber auch an der Absicht), auf Haltung und Rich-
tung des irdischen Lebens lenkend einzuwirken. Kein Antrieb
geht von dieser Lehre aus, keiner selbst für die Philosophen,
von denen und deren Thun und Streben in der Schilderung
und begeisterten Lobpreisung des „Geistes“, dieses Philosophen
im Menschen, im Grunde allein die Rede war.


Man konnte an Aristotelischer, ganz auf Erfassung und
Deutung diesseitiger Wirklichkeit gerichteter Philosophie fest-
halten, und doch das Aussenwerk der Lehre von dem, aus
göttlichem Jenseits herabgestiegenen und zu ewig göttlichem
Leben, aber kaum zur Fortsetzung individuellen Daseins nach
dem Tode des Menschen wieder ausscheidenden „Geiste“
preisgeben. An diesem Punkte am meisten erhielt sich in der
Schule freie Discussion der Lehre des Meisters; es waren nicht
die Geringsten unter den Nachfolgern des Aristoteles, die
eine Unsterblichkeit, in welcher Gestalt immer, leugneten 1).


1)


[601]

3.


Was die Dogmatiker der stoischen Schule von der mensch-
lichen Seele zu sagen wussten, hängt aufs innigste zusammen
1)
[602] mit dem materialistischen Pantheismus, der ihnen alle Erschei-
nungen des Lebens, des Seins und Werdens in der Welt er-
klärt. Die Gottheit ist das All und nichts ausserhalb des zur
Welt entfalteten Alls; das Weltall ist die Gottheit. Die Gott-
heit ist so Stoff als Form, Leben und Kraft der Welt. Sie
ist der Urstoff, das ätherische Feuer, der feurige „Hauch“,
der sich erhält oder wandelt, in tausend Gestalten zur Welt
sich bildet. Sie ist auch die zwecksetzende und nach Zwecken
wirkende Kraft, die Vernunft und das Gesetz in dieser Welt.
Stoff, Geist und Formprincip zugleich entlässt, in wechselnden
Perioden, die Gottheit aus sich die Mannichfaltigkeit der Er-
scheinungen und nimmt alles Vielfache und Unterschiedene zu
der Einheit ihres feurigen Lebenshauches wieder zurück. So
ist denn in allem Gestalteten, in allem Lebendigen und Beweg-
ten Inhalt und einheitgebende Form der Gott; er ist und wirkt
als „Verhältniss“ im Unorganischen, als „Natur“ in den Pflan-
zen, als „unvernünftige Seele“ in den übrigen Lebewesen, als
vernünftige und denkende Seele in den Menschen 1).


Die vernunftbegabte Menschenseele ist ein abgetrenntes
Stück der Gottheit 2), göttlich wie alles in der Welt, aber in
1)
[603] einem reineren Sinne als anderes; sie ist dem ersten und ur-
sprünglichen Wesen der Gottheit, als eines „bildenden Feuers“
(πῦρ τεχνικόν), näher geblieben 1) als der irdische Feuerhauch,
der an Reinheit und Feinheit viel verloren hat; als die niedere
Materie auf ihren, durch Nachlassen der im Urfeuer lebendig
wirkenden Spannkraft (τόνος) von diesem sich weiter und weiter
entfernenden Wandlungsstufen; als die Stoffe des eigenen Leibes,
in dem sie wohnt und waltet. Als ein wesentlich Unterschiedenes
also entsteht inmitten der Elemente ihres Leibes die einzelne
Seele bei der Zeugung; sie entwickelt sich zu ihrem vollen Wesen
nach der Geburt des Menschen 2). Immer ist sie, auch in
ihrem individuell abgesonderten Dasein, von dem Alllebendigen,
das in ihr gegenwärtig ist, nicht völlig freigegeben, dem „all-
gemeinsamen Gesetz“ der Welt, welches die Gottheit ist,
unterworfen, vom „Schicksal“, dem „Verhängniss“ (πεπρωμένη,
εἱμαρμένη), das der Gesammtheit des Lebens und damit allem
einzelnen Lebenden den Verlauf ihres Daseins bestimmt, um-
fangen und gelenkt 3). Dennoch hat sie die Gabe und Aufgabe
der freien Selbstbestimmung, die Verantwortlichkeit für die
eigenen Entschlüsse und Thaten; sie hat auch, wiewohl reiner,
mit keinem vernunftlosen Bestandtheil verbundenen Ausfluss
2)
[604] der Allvernunft 1), die Möglichkeit der unvernünftigen Wahl
und der Entscheidung für das Böse. Sehr verschieden sind
nach Art, Einsicht und Willensrichtung die doch der einen
und gleichen Urquelle entflossenen Seelenindividuen. Unver-
nunft im Verstehen, Wollen und Handeln ist verbreitet im
Menschenwesen; wenig sind der wirklich Einsichtigen, ja, der
Weise, der den eigenen Willen in völliger Uebereinstimmung
mit dem allgemeinen und göttlichen Gesetze der Welt hielte,
ist nur ein Idealbild, naturae humanae exemplar, in der Wirk-
lichkeit niemals völlig rein dargestellt.


Es besteht ein Widerspruch zwischen der, im ethischen
Interesse geforderten Freiheit und Selbständigkeit der sitt-
lichen Einzelperson und ihres Willens, der nur in Selbstüber-
windung und Niederkämpfung unsittlicher Triebe den Forde-
rungen der Pflicht genügen kann, und der pantheistischen
Grundlehre stoischer Metaphysik, der die Welt (und die Seele
in ihr) nur die nothwendige Selbstentfaltung eines einzigen,
alle absondernde Mannichfaltigkeit ausschliessenden, absoluten
Wesens ist; die neben der reinen Gotteskraft ein widerver-
nünftiges, Böses bewirkendes und zu Bösem lockendes, den
Einzelnen zum eigenmächtigen Ausweichen aus den Bahnen
der allumfangenden Weltsatzung fähig und bereit machendes
Princip nicht kennt. Vergeblich müht sich der Scharfsinn der
Dogmatiker der Stoa, hier einen Ausgleich zu finden.


Zwei Strömungen flossen von Anbeginn der Schule in
ihren, von sehr verschiedenen Seiten her zusammengekommenen
[605] Dogmen neben einander her. Die kynische Ethik, der die
Stoa ihre stärksten praktischen Grundtriebe verdankte, wies,
den Einzelnen ganz auf sich stellend und alles von seiner eigen-
sten Willensbestimmung fordernd, in die Bahn des abgeschlos-
sensten Individualismus, eines ethischen Atomismus. Die hera-
klitische Physik, das Individuum in dem All-Einen, seiner All-
macht und Allgegenwart völlig untertauchend, forderte auch
eine Ethik, die dieser Stellung des Einzelnen zu dem allgemein-
samen Logos der Welt Ausdruck gäbe in einem Leben völlig
ex ductu rationis, in unbedingter Hingebung des Einzelwillens
an die Allvernunft, welche die Welt und die Gottheit ist 1).
Thatsächlich gab auf dem ethischen Gebiete der Cynismus die
stärkeren Impulse. Die weltweite Ordnung und Gesetzmässig-
keit des Alls, auch für das Individuum oberste Norm seines
sittlichen Wollens, vermochte in seinen allzuweit gezogenen
Schranken dem engen Dasein des Einzelnen sich nicht dicht
genug anzuschmiegen; keine praktische Ethik konnte in einer
Kette geregelter Selbstthätigkeit den Menschen mit diesem
letzten und fernsten Ziele verbinden. Das vermittelnde Glied
zwischen dem All und seinen Gesetzen und dem Einzelnen in
seiner Willkür, die griechische Polis mit ihrer Satzung und
Sitte, hatte für diese Söhne eines kosmopolitischen Zeitalters,
[606] die Stoiker sogut wie schon die Cyniker, kaum noch erziehende
Kraft. Der Einzelne sah sich auf sich selbst und seine eigene
Einsicht zurückgewiesen; nach eigenem Maass und Gesetz musste
er leben. Den Individualismus, der diese Zeit, mehr noch als
alle frühere griechische Cultur, bestimmt, gewinnt auch in
diesem pantheistischen System Boden; in dem „Weisen“, der
in völliger Freiheit sich aus sich selber bestimmt 1), allein mit
den ihm Gleichen sich verbunden fühlt 2), erreicht er seinen
Gipfel.


Die Seele aber, die in diesem Einen so Hohes vermochte,
was ihren ungezählten Schwestern nur unvollkommen oder gar
nicht erreichbar war, gewann mehr und mehr das Ansehen,
doch noch etwas anderes zu sein als ein unselbständiger Aus-
fluss der Einen, überall gleichen Gotteskraft. Als ein selb-
ständiges, in eigenem Wesen geschlossenes Göttliches wird sie
vorgestellt, wo sie, ähnlich wie einst bei den Theologen, auch
in stoischen Schriften ein „Dämon“ heisst, der in diesem be-
sonderen Menschen wohnende, ihm zugesellte Dämon 3). Und
[607] im Tode, der auch dieser monistisch angelegten Lehre doch
wieder, nach einer, eigentlich nur einem naiven oder bewussten
3)
[608] Spiritualismus anstehenden Auffassung, als eine Scheidung der
Seele von ihrem Leibe gilt 1), soll dieses, während des Lebens
so selbständig gestellte Seelenwesen nicht mit dem Leibe ver-
gehen, nicht in das All, aus dem es einst entflossen ist, sich
wieder auflösen. Eine Unendlichkeit des Sonderlebens steht
den einzelnen Seelen nicht zu; unvergänglich in Ewigkeit ist
nur die Eine Seele des Weltalls, die Gottheit 2). Aber die
Seelen, die sich aus der Einen, allverbreiteten Gottheit einst
abgesondert haben, überdauern den Zerfall ihres Leibes; bis
zur Auflösung im Feuer, welche die gegenwärtige Periode der
Weltbildung abschliessen wird, erhalten sie sich in ihrem ge-
sonderten Dasein, entweder alle (wie die ältere Lehre der
Schule war), oder doch, wie Chrysipp, der Meister des ortho-
doxen Lehrgebäudes der Stoa bestimmte, die Seelen der
„Weisen“, während die anderen sich schon vorher in das All-
3)
[609] lebendige verlieren 1). Die stärkere ethische Persönlichkeit hält
sich länger in sich selbst zusammen 2).


Von der physisch-materialistischen Seite aus betrachtet 3),
schien es undenkbar, dass die, aus reinem Feuerhauch gebil-
dete Seele, die schon zu Lebzeiten nicht vom Leibe zusammen-
gehalten wurde, sondern ihrerseits den Leib zusammenhielt 4),
nach Auflösung dieses Leibes alsbald vergehen sollte: wie einst
den Leib, so hält sie nun, und um so mehr, sich selbst zur
Einheit zusammen. Ihre Leichtigkeit führt sie aufwärts in die
reinere Luft unter dem Monde, wo der von unten aufsteigende
Hauch sie nährt und nichts ist, was sie zerstören könnte 5).
Eine „Unterwelt“, wie sie das Volk und die Theologen glaubten,
leugnet der Stoiker ausdrücklich 6). Eher konnte er seine
Rohde, Seelencult. 39
[610] Phantasie in einer Ausdenkung des Lebens im Aether, der ihm
nun das Seelenreich geworden war, spielen lassen 1). Es scheint
6)
[611] aber, dass man sich von solchen Erdichtungen zumeist doch
zurückhielt. Das jenseitige Leben der Seelen, der weisen und
der unweisen, blieb inhaltlos 1) in der Vorstellung der noch auf
Erden Zurückgehaltenen.


Und die Lehre von der Fortdauer der Seelenpersönlich-
keit (die zu der Annahme einer persönlichen Unsterblichkeit
ohnehin niemals fortgebildet wurde) — wie sie durch die meta-
physischen Grundvoraussetzungen der Schule, mit denen sie
doch in Verbindung gesetzt wurde, in Wahrheit nicht gefordert
war, ja kaum neben ihnen bestehen konnte, so hatte sie für
den Sinn und Zusammenhalt stoischer Doctrin keine wesent-
lich bestimmende Bedeutung, am wenigsten für die Ethik und
Lebensführung. Die Weisheit der Stoa ist Betrachtung des
Lebens, nicht des Todes. Im irdischen Leben und allein in
ihm kann, im Kampfe mit widerstrebenden Trieben, das Ziel
des menschlichen Bestrebens, die Wiedererzeugung göttlicher
1)
39*
[612] Weisheit und Tugend im menschlichen Geiste, erreicht werden,
soweit dies dem vereinzelt abgerissenen Bruchstück der Gott-
heit 1) überhaupt möglich ist.


Die Tugend aber ist sich selbst genug zur Erringung der
Glückseligkeit, und dieser Glückseligkeit wird durch Kürze ihrer
Dauer nichts abgebrochen, durch längere Dauer nichts zu-
gesetzt 2). Es ist nichts in stoischer Lehre, was den Menschen,
den Weisen, auf Vollendung seines Wesens und seiner Auf-
gaben in einem Leben ausserhalb des Leibes und des irdischen
Pflichtenbereiches hinwiese.


4.


Der nicht aus dem innersten Kern stoischer Lehre er-
wachsene, bedingte Unsterblichkeitsglaube kam ins Wanken, als
auch die starre Dogmatik dieser Schule dem Schicksale erlag,
in allzu naher Berührung mit der Kritik und den Lehrbehaup-
tungen anderer Schulen an ihrer Alleingiltigkeit irre zu werden.
Die streng gezogenen Grenzlinien der Sectenlehren wurden
flüssig, hin und her fand ein Austausch, fast eine Ausgleichung
statt. Panaetius, der erste Schriftsteller unter den stoischen
Schulpedanten, auf weitere Wirkung seiner Schriften bedacht,
der Lehrer und Freund namentlich jener edelsten Römer seiner
Zeit, denen griechische Philosophie den Keim einer Humanität
ins Herz pflanzte, die Roms harter Boden aus sich nicht her-
vorbringen konnte, stand in mehr als einem Punkte von der
Rechtgläubigkeit altstoischer Lehre ab. Die Menschenseele ist
ihm aus zwei Elementen gestaltet 3); sie ist nicht einheitlich,
[613] sondern aus „Natur“ und „Seele“ im engeren Sinne zusammen-
gesetzt 1); im Tode trennen sich ihre Elemente und wandeln sich
zu anderen Gebilden. Die Seele, wie sie einst in der Zeit ent-
standen ist, stirbt und vergeht in der Zeit; wie sie leidensfähig
und zerstörender Schmerzempfindung unterworfen ist, so erliegt
sie endlich ihrem letzten Schmerze. Panaetius lehrte, inmitten
der stoischen Schule, die Vergänglichkeit der Seele, ihren Tod
und Untergang gleichzeitig mit dem Tode des Leibes 2).


Sein Schüler Posidonius, als Schriftsteller noch mehr als
jener wirksam in den Kreisen frei, und nicht schulmässig be-
schränkt Gebildeter, kehrt zu der altstoischen Annahme der
Einheitlichkeit der Seele als feurigen Hauches zurück. Er
3)
[614] unterscheidet wohl drei Kräfte, aber nicht verschiedene Bestand-
theile in der menschlichen Seele; er hatte somit auch keinen
Anlass mehr, an eine Auflösung der Seele in ihre Bestand-
theile im Tode zu glauben. Auch die Entstehung der einzelnen
Seele in der Zeit, aus der ihre Vergänglichkeit in der Zeit zu
folgen schien, leugnete er; er griff zurück auf die alttheologische
Vorstellung einer Praeexistenz der Seele, ihres Lebens seit An-
beginn der Weltbildung, und konnte so auch ihre Fortdauer,
mindestens bis zur nächsten Weltvernichtung im allbeherrschen-
den Feuer, weiter behaupten 1).


[615]

Nicht eigener innerer Drang trieb zu diesen Umgestaltungen
der alten Schullehre. Zweifeln und Einwendungen, die gegen
diese Lehre von aussen her, aus fremder Skepsis, erhoben waren,
wurde hier nachgegeben, indem man entweder die Partie ver-
loren gab, oder die Figuren des dialektischen Spiels verschob
1)
[616] und durch Herbeiziehung anderer Figuren Deckung suchte 1).
Mit gleicher Kälte konnte hierbei die Unsterblichkeit aufgegeben
oder neu bestätigt werden. Die platonisirende und poetisirende
Ausführung des Posidonius mag weiter verbreiteten Anklang
gefunden haben unter der Mehrzahl der Leser in einer hoch-
gebildeten Gesellschaft, denen der Gedanke der Seelenfortdauer
ein Bedürfniss mehr der Phantasie als des Gemüthes und
tieferen Sinnes war. Cicero, als beredtester Vertreter des hel-
lenisirten Römerthums der Zeit, mag uns die künstlerisch ästhe-
tische Vorliebe, mit der man diesem Gedanken nachhing, ver-
gegenwärtigen in den Ausführungen, die er, wesentlich nach
Posidonius, dem Glauben an ein Fortleben im göttlichen Ele-
ment des Aethers giebt, im Traum des Scipio, und im ersten
Buche der Tusculanen 2). —


5.


Der Stoicismus blieb lange Zeit lebendig. Mehr als je-
mals zuvor hat er während des ersten und zweiten Jahrhunderts
unserer Zeitrechnung seiner wahren Aufgabe genügt, als eine
Lebensweisheit, nicht als todte Gelehrsamkeit zu wirken, in
[617] Bedrängniss und Mangel, und erst recht in des Lebens Ueber-
fluss seinen Anhängern die Freiheit und Selbstbestimmung des
auf der eigenen Tugend ruhenden Geistes zu bewahren. Es
war nicht immer nur die Nachahmung einer litterarischen Mode
oder die Lust an der Prahlerei tugendhafter Paradoxien, was
die Edelsten der hohen römischen Gesellschaft der stoischen
Lehre zuführte. Nicht wenige haben nach deren Grundsätzen
gelebt, und sind für ihre Ueberzeugung gestorben. Nicht ganz
„ohne tragisches Pathos“, wie der stoische Kaiser es wünscht,
aber mit überlegtem Entschluss, nicht in verblendeter Hart-
näckigkeit 1) gingen diese Blutzeugen des Stoicismus in den Tod.
Es war nicht die unbeirrte Gewissheit des Fortlebens in höherer
Daseinsform, was ihnen leicht machte, das irdische Leben preis-
zugeben 2). Noch reden zu uns, ein jeder in den besonderen
Tönen, die ihnen Temperament und Lebenslage eingaben, die
Vertreter dieses römischen Stoicismus, Seneca, der Philosoph
für die Welt und Mark Aurel der Kaiser, und die Lehrer und
Vorbilder hochstrebender römischer Jugend, Musonius und
Epiktet. Aber die ernstlich anhaltende Bemühung dieser Weisen
um Selbsterziehung zu Ruhe, Freiheit und Frieden, Reinheit
und Güte des Sinnes, die sie uns alle (und nicht am wenigsten
Seneca, dem die Schulung zur Weisheit ein steter Kriegsgang
mit seiner eigenen Natur und allzu empfänglichen Phantasie
sein musste) so ehrwürdig macht, — wie sie nicht nach einem
überirdischen Helfer und Erlöser ausspäht, sondern aus der
Kraft des eigenen Geistes das Vertrauen auf die Erreichung
[618] des Ziels gewinnt, so bedarf sie auch der Anweisung auf eine
Vollendung des Strebens in jenseitigem Leben des Geistes
nicht. In dieser Welt liegt der ganze Umfang ihrer Aufgaben.
Der alte stoische Glaube an die Fortdauer der Einzelseele bis
zu der Vernichtung aller Einzelgebilde im Weltbrande 1) gilt
höchstens als eine Vermuthung neben anderen 2); vielleicht ist
dies nur ein „schöner Traum“ 3). Mag nun der Tod ein Ueber-
gang sein zu einem anderen Dasein, oder ein letztes Ende des
persönlichen Lebens: dem Weisen ist er gleich willkommen,
der nicht nach der Dauer, sondern nach der Fülle des Inhalts
seines Lebens Werth ermisst. Im Grunde neigt Seneca doch
zu der Ansicht, dass der Tod dem Menschen ein Ende bringe,
nach dem der „ewige Friede“ den unruhigen Geist erwarte 4).


[619]

Dem stoischen Kaiser steht nicht fest, ob der Tod (wie
die Atomisten meinen) eine Zerstreuung der Seelentheile sei,
oder ob der Geist sich erhalte, sei es bewusstlos oder in einem
bewussten Dasein, das doch bald in das Leben des Alls ver-
fliesse. Alles ist in ewigem Wechsel, so will es das Gesetz
der Welt; auch die Person des Menschen wird sich nicht un-
gewandelt erhalten können; — mag denn der Tod ein „Er-
löschen“ dieser kleinen Seelenflamme des Einzelnen sein, er
schreckt den Weisen nicht, dem in der Schwermuth, die den
Grundton seiner in zarter Reinheit hochgestimmten Seele bildet,
der Tod, der Vernichter, wie ein Freund zu winken scheint 1).


4)


[620]

Der derbere Lebensmuth des phrygischen Sklaven und
Freigelassenen bedarf der Annahme einer persönlichen Fort-
dauer nicht, um mit Tapferkeit und Fassung den Kampf des
irdischen Lebens zu bestehn. Das Gewordene muss vergehn;
ohne Zögern und Bedauern ergiebt der Weise sich dem Gesetz
des vernunftbestimmten Weltalls, in dem das Gegenwärtige dem
Kommenden Platz machen muss, nicht um in nichts zu ver-
schwinden, aber um sich zu wandeln und an andere Bildungen
des lebendigen Stoffes sein besonderes Wesen, sein kleines Ich
zu verlieren. Das All erhält sich, aber seine Theile wandeln
sich und tauschen sich unter einander aus 1). Die pantheistische
Grundvorstellung der Schule, von Heraklit übernommen, der
die dauernde Aussonderung kleiner Lebensfunken zu selbst-
ständigem Dasein ausserhalb des feurig fluthenden Alllebens
der Welt undenkbar blieb, war zur Ueberzeugung, das Pathos
1)
[621] der Hingebung des eigenen kurzlebigen Ich an das ewige All
und Eine zur Gesinnung geworden. Der Gedanke der Ver-
gänglichkeit des Einzellebens nach kurzer Dauer schien nicht
mehr unerträglich. Man konnte ein Stoiker bleiben, und doch,
wie Cornutus (der Lehrer des Persius), bestimmt aussprechen,
dass mit ihrem Leibe zugleich die Einzelseele sterbe und ver-
gehe 1).


6.


Der in Epikurs Lehre erneuerte Atomismus wies seine
Anhänger nachdrücklichst an, auf Unvergänglichkeit persön-
lichen Lebens zu verzichten.


Die Seele ist ihm ein Körperliches, zusammengesetzt aus
den beweglichsten Atomen, aus denen sich die dehnbaren Ele-
mente, Luft und Feuerhauch, bilden, durch den ganzen Leib
erstreckt, von ihm zusammengeschlossen, dennoch von dem
Leibe in wesentlicher Verschiedenheit sich erhaltend 2). Auch
Epikur redet von der „Seele“ als einer im Leibe, den sie re-
giert, beharrenden, eigenen Substanz, einem „Theile“ der Leib-
lichkeit, nicht nur der „Harmonie“ der Bestandtheile des
Leibes 3). Ja, von zwei Theilen oder Erscheinungsweisen der
„Seele“, dem Vernunftlosen, das den ganzen Leib durchwalte,
als dessen Lebenskraft, und dem Vernünftigen in der Brust,
dem Träger des Verstandes und Willens, dem eigentlich letzten
Kern des Lebens im Lebendigen, ohne dessen ungetheilte An-
wesenheit der Tod eintrete 4). Anima und animus (wie Lucrez
[622] sie nennt), verschieden von einander, aber untrennbar vereint 1),
entstehen im Lebenskeime des Menschen erst bei der Zeugung;
sie wachsen, altern und nehmen ab mit dem Leibe 2); tritt der
Tod ein, so bedeutet dies eine Scheidung der im Leibe ver-
einten Atome, ein Ausscheiden der Seelenatome; noch vor dem
Zerfall des Leibes vergeht die aus ihm geschiedene „Seele“,
im Windhauch wird die vom Leibe nicht mehr zusammen-
gehaltene zerblasen, sie verfliegt „wie ein Rauch“ an der Luft 3).
Die Seele, diese Seele des einzelnen Menschen, ist nun nicht
mehr 4). Ihre Stofftheile sind unvergänglich; vielleicht dass sie
mit Leibesstoffen einst zu völlig gleicher Verbindung wie ehe-
mals in dem lebendigen Menschen wieder zusammentreten, und
aufs neue Leben und Bewusstsein erzeugen. Aber das wäre
ein neues Wesen, das so entstünde; der frühere Mensch ist im
Tode endgiltig vernichtet, es schlingt sich kein Band zusammen-
hängend erhaltenen Bewusstseins von ihm zu dem neuen Ge-
bilde herüber 5). Die Lebenskräfte der Welt erhalten sich, un-
vermindert, unzerstörbar, aber zur Bildung des einzelnen Lebe-
wesens leihen sie sich nur einmal her, für eine kurze Zeit, um
sich ihm dann für immer wieder zu entziehen. Vitaque man-
cipio nulli datur, omnibus usu.


Den Einzelnen berührt nach seinem Tode so wenig wie
das Schicksal seines entseelten Leibes 6) der Gedanke an das,
4)
[623] was etwa mit den Atomen seiner Seele geschehen mag. Der
Tod betrifft ihn nicht; denn Er ist nur so lange als der Tod
nicht da ist; wo der Tod ist, ist Er nicht länger 1). Empfin-
dung und Bewusstsein sind ihm bei Lösung von Leib und Seele
erloschen; was ihm keine Empfindung erregt, betrifft ihn nicht.
Immer wieder schärfen Epikureische Lehrsprüche dieses: Der
Tod bezieht sich nicht auf uns, ein 2) Von allen Seiten be-
weist, aus abstracten Sätzen und aus den Erfahrungen im Ge-
biet der Lebendigen, Lucrez diesen Satz 3), mit nicht minderem
Eifer als andere Philosophen dessen Gegentheil beweisen. Die
Naturkunde hat keinen wichtigeren Nutzen, als dass sie zu
dieser Einsicht führe 4). Hat Epikurs Weisheit überhaupt kein
anderes Ziel, als dem Menschen, dem schmerzfähigsten Wesen,
Schmerz und Qual fernzuhalten — und selbst ihre „Lust“ ist
nur aufgehobener Schmerz — so dient sie vornehmlich mit der
Vernichtung der Angst vor dem Tode, der Sehnsucht nach
einem endlosen Fortleben, diesem endlichen Leben 5), das ein-
mal nur, nicht vielfach uns vergönnt ist 6). Wenn der Mensch
6)
[624] klar erkannt hat, dass er mit dem Augenblick des eintretenden
Todes aufhören wird zu sein, so kann ihm weder der Schauder
vor drohender Empfindungslosigkeit, noch das Beben vor den
Schrecken der Ewigkeit 1) oder den gefabelten Ungeheuern einer
Seelenwelt in der Tiefe 2) das Leben verfinstern, alles mit dem
Dunkel des Todes überschattend 3). Er wird dem Leben sich
getrost zuwenden, den Tod nicht fürchtend noch ihn suchend 4).


Das Leben wird er allein, der epikureische Weise als der
wahre Lebenskünstler 5), recht zu fassen wissen, nicht in Zaudern
und Vorbereitungen die Zeit vergehen lassen 6), in den Moment
alle Lebensfülle zusammendrängend, so dass ihm das kurze
Leben allen Inhalt eines langen gewinne. Und ein langes
Leben, selbst ein unaufhörliches Leben würde ihn nicht glück-
licher, nicht reicher machen. Was das Leben ihm gewähren
kann, hat es bald gewährt; es könnte sich fortan nur wieder-
holen. eadem sunt omnia semper7). Auf eine Ewigkeit gar
des Lebens hinauszublicken, hat der Weise keinen Grund 8).
Er trägt in seiner Persönlichkeit und dem was ihr Gegenwart
ist, alle Bedingungen des Glückes; je vergänglicher auch dieses
[625] höchste Glück der Menschenkinder ist, um so werthvoller wird
es ihm. Der Ausbildung, der Befriedigung dieses ihm allein
Eigenen darf er sich ganz widmen. Auch im Ethischen gilt
der Atomismus: es giebt nur Einzelne, eine im Wesen der
Dinge gegründete Gemeinsamkeit der Menschen und gar der
Menschheit kennt die Natur nicht 1). In frei gewählter Ge-
nossenhaft mag der Einzelne sich dem Einzelnen, als Freund,
eng anschliessen; die Staatsgemeinschaften, wie sie die Men-
schen erdacht und eingerichtet haben, verpflichten den Weisen
nicht. Der Mittelpunkt und eigentlich der ganze Umkreis der
Welt, die ihn angeht, liegt in ihm selbst. Staat und Gesell-
schaft sind gut und sind vorhanden, um durch ihre schützende
Umfassung den freien Eigenwuchs des Einzelnen zu ermög-
lichen 2), aber der Einzelne ist nicht für Staat und Gesellschaft
da, sondern für sich selbst. „Nicht mehr gilt es, die Hellenen
zu retten und zu bewahren, noch im Weisheitswettkampf Kränze
von ihnen zu erringen“ 3). So redet, mit befreiendem Seufzer,
die grosse Müdigkeit, von der eine am Ziel ihrer Entwicklung
angelangte Cultur überfallen wird, die sich neue Aufgaben nicht
mehr stellt, und es sich leicht macht, wie das Alter darf. Und
diese Müdigkeit hat nicht mehr die Hoffnung, aber in aller
Aufrichtigkeit auch den Wunsch nicht mehr nach einer Ver-
längerung des bewussten Daseins über dieses irdische Leben
hinaus. Ruhig heiter sieht sie das Leben, so lieb es war, ent-
schwinden, wenn es Abschied nimmt, und lässt sich sinken ins
Nichts.


Rohde, Seelencult. 40
[[626]]

II. Volksglaube.


Philosophische Lehren und Lebensanschauungen blieben
in jenen Zeiten nicht ausschliesslich Besitz eng gezogener Schul-
kreise. Niemals wieder in dem Maasse und Umfang wie in dieser
hellenistischen Periode hat Philosophie in irgend einer Gestalt
zur Grundlage und zum einheitgebendem Zusammenhalt einer
allgemeinen Bildung gedient, deren in freierer Lebensstellung
Niemand entbehren mochte. Was an zusammenhängenden und
in fester Formel abgeschlossenen Gedanken über Gebiete des
Seins und Lebens, die sich unmittelbarer Wahrnehmung ent-
ziehen, unter den Gebildeten der Zeit in Umlauf war, war
philosophischer Lehre entlehnt. In einem gewissen Maasse gilt
dies auch von den verbreiteten Vorstellungen über Wesen und
Schicksal der menschlichen Seele. Aber auf dem Gebiet des
Unerforschlichen kann es der Philosophie nie gelingen, den
Glauben, einen irrationalen Glauben, der aber hier auf seinem
wahren Mutterboden steht, völlig zu ersetzen oder zu ver-
drängen, selbst bei den philosophisch Gebildeten nicht, und gar
nicht bei den Vielen, denen ein Streben nach uninteressirter
Erkenntniss allezeit unverständlich bleibt. Auch in dieser
Blüthezeit philosophischer Allerweltsbildung erhielt sich der
Seelenglaube des Volkes, unberührt durch philosophische Be-
trachtung und Belehrung.


Er hatte seine Wurzeln nicht in irgendwelcher Speculation,
sondern in den thatsächlichen Vorgängen des Seelencults. Der
Seelencult aber, wie er für eine frühere Zeit griechischen Lebens
oben geschildert ist 1), blieb ungeschwächt und unverändert in
[627] Uebung. Man darf dies behaupten, auch ohne aus den Resten
der Litteratur dieser späteren Periode erhebliche Zeugnisse hie-
für beibringen zu können, dergleichen, nach Inhalt und Art
dieser Litteratur, man dort anzutreffen kaum erwarten kann.
Zu einem grossen Theil gelten übrigens, nach der Art, wie sie
abgegeben werden, die litterarischen Zeugnisse, aus denen der
Seelencult älterer Zeit sich erläutern liess, ohne Weiteres auch
für unsere Periode. Noch an ihrem letzten Ausgang zeugt
Lucians Schrift „Von der Trauer“ ausdrücklich für das Fort-
bestehen der altgeheiligten Gebräuche in ihrem vollen Umfange,
von der Waschung, Salbung, Bekränzung der Leiche und ihrer
feierlichen Ausstellung auf dem Todtenbette, der ausschweifend
heftigen Klage an der Leiche und ihren im Brauche fest-
stehenden Herkömmlichkeiten, bis zur feierlichen Bestattung,
den im Brande dem Todten mitgegebenen oder mit ihm in die
Gruft versenkten Prunkstücken aus seinem Besitz, an denen
er auch nach dem Tode noch sich erfreuen soll, der Nährung
der hilflosen Seele durch Weingüsse und Brandopfer, dem
rituellen Fasten der Angehörigen, das erst nach drei Tagen
durch das Todtenmahl gebrochen wird 1).


Nichts von allem „Gebräuchlichen“ (νόμιμα) darf dem
Todten vorenthalten werden; nur so ist für sein Heil voll ge-
sorgt 2). Das Wichtigste ist die feierliche Beisetzung der Leiche;
40*
[628] für sie sorgt nicht nur die Familie, sondern vielfach auch die
Genossenschaft, der etwa der Verstorbene angehört hatte 1).
Verdienten Bürgern wird in diesen Zeiten, in denen die Städte
für den Mangel grosser Lebensinteressen in einer oft rührenden
Fürsorge für das Nächstliegende und Beschränkte Ersatz suchen,
nicht selten feierliches Grabgeleite und Begräbniss durch die
Bürgerschaft zuerkannt 2); die Hinterbliebenen, beschliessen dann
wohl die Väter der Stadt, sollen durch bestellte Trostredner
der Theilnahme an ihrem Verlust versichert und über den
Schmerz hinweggeleitet werden 3).


2)


[629]

Das rituale Begräbniss, für das man so eifrig sorgte, schien
nichts weniger als eine gleichgiltige Sache, wie es die Philo-
sophen darzustellen lieben 1). Auch die Heiligkeit der Ruhe-
stätte des Todten ist für diesen und für die Familie, die in
abgesondertem Grabbezirke (meistens ausserhalb der Stadt, sehr
selten drinnen 2), bisweilen vielleicht selbst jetzt noch im Inneren
3)
[630] der Häuser) 1), noch im Geisterleben beisammen sein will, von
tiefer Bedeutung. Gegen Profanirung dieses Familienheilig-
thums, durch Einbettung fremder Leichen, oder durch Berau-
bung des Grabgewölbes, wie sie im sinkenden Alterthum immer
häufiger vorkam 2), suchen sich die Berechtigten zu sichern durch
religiöse und bürgerlich rechtliche Schutzmittel. Zahlreich sind
die Aufschriften der Gräber, die nach altem Gesetz der Stadt
den Verletzern der Grabruhe eine Geldstrafe androhen, die an
eine öffentliche Kasse zu zahlen ist 3). Nicht weniger häufig
2)
[631] finden sich Aufschriften, die das Grab und seinen Frieden unter
den Schutz der unterirdischen Götter stellen, dem Schänder
des Grabheiligthums in furchtbarer Verfluchung alle zeitlichen
und ewigen Plagen anwünschen 1). Besonders die Bewohner
[632] einiger nothdürftig hellenisirten Landschaften Kleinasiens er-
gehen sich in Anhäufungen solcher gräulichen Drohungen; dort
mag finsterer Wahn des altheimischen Götter- und Geister-
glaubens auch die Hellenen angeweht haben: wie denn unter
diesen starren Barbarenbevölkerungen vielfach eher die Griechen
zu Barbaren als die Barbaren zu Griechen geworden sind 1).
1)
[633] Doch finden auch in Ländern einer reiner griechisch gehaltenen
Bevölkerung sich hie und da auf Inschriften ähnliche Grabes-
flüche.


Auf jede Weise suchte man die jetzt stärker gefährdete
Heiligkeit und Ruhe des Grabes zu schützen. Das Grab ist
nicht eine leere Moderhöhle; die Seelen der Todten wohnen
in ihm 1); darum ist es ein Heiligthum, ganz geheiligt erst, wenn
es das letzte Mitglied der Familie aufgenommen hat und nun
für immer geschlossen ist 2). Die Familie bringt, so lange sie
besteht, ihren Vorfahren regelmässigen Seelencult am Grabe
dar 3); bisweilen sichern eigene Stiftungen den Seelen den Cult,
dessen sie bedürftig sind 4), für alle Zukunft 5).


1)


[634]

Die Voraussetzung alles Seelencultes, dass an der Stätte
ihrer letzten Wohnung die Seele wenigstens in dumpfem Grabes-
leben fortdauere, ist durchaus verbreitet. Sie spricht, mit an-
tiker Naivetät, zu uns noch aus der ungezählten Menge der
Grabsteine, auf denen der Todte, als menschlichen Laut noch
vernehmend und verstehend, mit dem üblichen Worte des
Grusses angeredet wird 1). Aber auch ihm selbst wird bis-
weilen ein ähnlicher Gruss an die Vorbeigehenden in den Mund
gelegt 2). Und es entspinnt sich wohl zwischen ihm, der hier
festgebannt ist, und den noch im Lichte Wandelnden ein Zwie-
gespräch 3). Noch ist dem Todten nicht aller Zusammenhang
mit der Oberwelt abgeschnitten. Es ist ihm eine Erquickung,
wenn ihm sein Name, den er einst im Leben führte, den jetzt
nur sein Leichenstein noch dem Gedächtniss aufbewahrt, zu-
gerufen wird. Die Mitbürger rufen wohl bei der Bestattung
ihm dreimal den Namen nach 4). Aber auch im Grabe ver-
5)
[635] nimmt er noch den theuren Klang. Auf einem athenischen
Grabsteine 1) fordert der Todte die Genossen der Schauspieler-
zunft, der er angehört, die ihn bestattet hatte, auf, beim Vor-
überwandeln an seinem Grabe im Chor seinen Namen auszu-
rufen und ihn (wie er es im Leben gewohnt war) durch Hände-
klatschen zu erfreuen. Sonst wirft wohl der Vorübergehende
dem Todten eine Kusshand zu 2); das ist eine Gebärde, die
Verehrung eines Höheren ausdrückt 3). Nicht nur lebendig ist
die Seele; sie gehört nun, wie der uralte Glaube es aussprach,
zu den Höheren und Mächtigeren 4). Vielleicht, dass diese
Steigerung ihrer Würde und Macht sich ausdrücken will in der
Benennung der Todten als der Guten, Wackeren (χρηστοί), die
schon in alter Zeit üblich gewesen sein muss 5), erst in diesen
späteren Zeiten aber im Anruf des Verstorbenen auf Grab-
steinen sehr gewöhnlich zu dem schlichten Grussworte hinzu-
tritt, nicht überall gleich häufig: seltener in Attika (wenigstens
auf Grabsteinen dort Eingeborener); in Böotien, Thessalien, in
kleinasiatischen Landschaften sehr oft und fast regelmässig 6).
Es liegt in der That nahe, anzunehmen 7), dass diese ursprüng-
4)
[636] lich wohl euphemistisch gemeinte Anrufung des Seelengeistes,
der seine Macht auch benutzen könnte, um das Gegentheil der
ihm hiemit zugetrauten Güte auszuüben, eben die Macht des
also Angeredeten, als eines nun in eine höhere Natur Hinauf-
gehobenen, scheu verehrend bezeichnend soll 1).


2.


Deutlicher und bewusster spricht sich die Vorstellung einer
Erhebung des abgeschiedenen Geistes zu höherer Würde und
Macht aus, wo der Verstorbene ein Heros genannt wird.


Jenes Reich der Zwischennaturen, auf die Grenze der
Menschheit und der Gottheit gestellt, die Welt der Heroen,
entschwand auch in dieser Periode griechischem Glauben keines-
wegs. Die Vorstellungsweise, die einzelne, aus dem sichtbaren
Leben ausgeschiedene Seelen in ein bevorzugtes Geisterdasein
erhoben denken konnte, erhielt sich in Kraft, selbst in fort-
zeugender Kraft.


Seinem wahren und urprünglichen Sinne nach bezeichnet
der Name eines „Heros“ niemals einen einzeln für sich stehen-
den Geist. „Archegetes“, der Anführer, der Anfänger, ist
seine eigentlich kennzeichnende Benennung. Der Heros steht
an der Spitze einer mit ihm anhebenden Reihe von Sterblichen,
die er führt, als ihr „Ahn.“ Ahnen einer Familie, eines Ge-
schlechts, wirkliche oder nur gedachte, sind die ächten Heroen;
Archegeten der Gemeinden, der Stämme, ja ganzer Völker, wenn
auch nur postulirte, verehren in den „Heroen“, nach denen
7)
[637] sie benannt sein wollen, die Angehörigen solcher Gemein-
schaften. Immer sind es mächtig hervorragende, vor anderen
ausgezeichnete Gestorbene, die nach dem Tode in heroisches
Leben eingegangen gedacht werden. Auch Heroen einer
jüngeren Prägung sind, wiewohl nicht mehr die Führer ihnen
angeschlossener Reihen von Nachkommen, doch aus der Masse
des Volkes, das sie verehrt, durch hohe Tugend und Trefflich-
keit ausgesondert. Heros zu werden nach dem Tode war ein
Vorrecht grosser und seltener Naturen, die schon zu Lebzeiten
nicht mit der Menge der Menschen verwechselt werden konnten.


Die Schaaren dieser alten auserlesenen Heroen verfielen
nicht der Vergessenheit, die ihr zweiter und wahrer Tod ge-
wesen wäre. Die Liebe zu Vaterland und Vaterstadt, unver-
welklich unter Griechen, fasste sich in verehrendem Gedächt-
niss der verklärten Helden zusammen, die jene einst befestigt
und beschirmt hatten. Als Messene im vierten Jahrhundert
neu gegründet wurde, wurden die Landesheroen feierlich herbei-
gerufen, dass sie wieder Mitbewohner der Stadt würden, vor
allen anderen Aristomenes, der unvergessliche Vorkämpfer
messenischer Freiheit 1). Noch bei Leuktra war er im Schlacht-
getümmel, den Thebanern vorstreitend, erschienen 2). Vor der
Schlacht hatte Epaminondes Heroinen des Ortes, die Töchter
des Skedasos, durch Gebet und Opfer sich gewonnen 3). Dies
war noch im letzten Heldenalter des Griechenthums. Aber
viel tiefer herunter erhielt sich Andenken und Cult der Landes-
heroen. Bis in späte Zeit verehrten die Bewohner von Sparta
ihren Leonidas 4). Die Helden der Perserkriege, die Erretter
[638] von Hellas, genossen heroische Ehren noch bei späten Nach-
kommen 1). Noch in der Kaiserzeit verehrten die Bewohner
der Insel Kos die, bei der Vertheidigung ihrer Freiheit vor
Jahrhunderten Gefallenen 2). An einzelnen Beispielen ersehen
wir, was allgemein gilt, dass Andenken und Cult der Heroen
so lange in Kraft blieb als die Gemeinde bestand, die ihren
Dienst zu pflegen hatte. Selbst die Heroen — eine eigene
Classe — die nur aus der Kraft alter Dichtung ihr ewiges
Leben gewonnen hatten 3), blieben im Cultus unvergessen.
Hektors heroische Gestalt behielt für seine Verehrer in Troas
und in Theben ihre lebendige Wirklichkeit 4). Noch im dritten
Jahrhundert unserer Zeitrechnung bewahrte die troische Land-
schaft und die benachbarten Küsten Europas Cult und Anden-
ken der Heroen der epischen Gesänge 5). Von Achill, dem
4)
[639] ein besonderes Loos gefallen war, muss in einem anderen Zu-
sammenhang geredet werden 1).


5)


[640]

Auch unscheinbarere Gestalten verschwinden nicht aus dem
Gedächtniss ihrer enger beschränkten Gemeinde. Autolykos,
der Begründer von Sinope, forderte noch zu Luculls Zeiten
seine Verehrung 1). An die Reliquien der besonders populären
Heroen der panhellenischen Wettspiele knüpfte noch spät sich
mannichfacher Aberglaube 2), der ihre dauernde Macht bestä-
tigt. Heilkräftige Heroen blieben wirksam und verehrt; ihre
Zahl vermehrte sich noch 3). Harmlose Localgeister, die sogar
ihre Namen verloren hatten, verloren nichts von der Verehrung
ihrer wohlthätigen Wunderkraft: wie jener Philopregmon bei
Potidaea, den noch ein Dichter späterer Zeit feiert 4), oder der
Heros Euodos, der zu Apollinopolis in Aegypten den im Vor-
beiwandeln an seinem Denkmal ihn Verehrenden „guten Weg“
verlieh 5).


[641]

Noch verfielen nicht alle Heroen solcher beiläufigen Be-
grüssung durch gelegentlich Vorüberziehende. Die geordneten
Opferfeste auch für Heroen erhielten sich vieler Orten 1); selbst
Menschenopfer fielen bisweilen solchen Geistern, die man wohl
besonderer Machtbethätigung für fähig hielt 2). Das Heroen-
fest ist hie und da das höchste der Jahresfeste einer Stadt 3).
Bei den Heroen nicht minder als bei den Göttern beschwören,
so lange sie selbständig über sich verfügen können, griechische
Städte ihre Verträge 4). Göttern und Heroen gemeinsam
werden Stiftungen geweiht 5). Cultvereine nennen sich nach
den Heroen, die sie gemeinsam verehren 6). Eigene Priester
bestimmter Heroen werden regelmässig bestellt 7). Und noch
im zweiten Jahrhundert weiss uns, in seinem Wanderbuche,
Rohde, Seelencult. 41
[642] Pausanias von nicht wenigen Heroen zu melden, denen, wie
er ausdrücklich sagt, bis zu seinen Tagen die Städte den alten
Cult ununterbrochen darbrachten 1). In vollem Glanze erhielt
sich die alljährlich wiederholte Feier der bei Plataeae gefalle-
nen Heroen bis in die Zeit des Plutarch, der sie mit allen
Umständen ihrer alterthümlichen Festlichkeit beschreibt 2). Noch
beging man damals alljährlich in Sikyon die heroische Feier
für Arat, den Begründer des achäischen Bundes, wenn auch
die Jahrhunderte hier manche Zier des Festes hatten abfallen
lassen 3).


In allen solchen Begehungen widmete man seine Andacht
ganz bestimmten einzelnen Geisterwesen; einem jeden wurde
[643] der Cult dargebracht der ihm gebührte nach den besonderen
Festsetzungen alter heiliger Stiftung. Man war weit entfernt
von der verwaschenen Vorstellung, die einzelne Litteraten aus-
sprechen, dass als „Heroen“ ohne weiteres zu gelten haben
alle wackeren Männer der Vorzeit, oder alle bedeutenden
Menschen irgend einer Zeit 1). Denn die Vorstellung erhielt
sich im Bewusstsein, dass das Aufsteigen zu heroischer Würde
nicht ein Vorgang sei, der sich für irgend eine Klasse von
Menschen ganz von selbst verstehe, sondern jedesmal, wo er
eintrete, Bestätigung ganz besonderer schon im Leben bethä-
tigter Kraft und Tugend sei. Aus dieser Vorstellung heraus hat
man noch in hellenistischer Zeit die Schaaren der Heroen ver-
mehrt um die Helden der eigenen Gegenwart. Wie nicht lange
zuvor Pelopidas, Timoleon, so stiegen nun in die Heroenglorie
empor die Gestalten des Leosthenes, Kleomenes, Philopoemen 2).
Selbst dem Arat, der Fleisch gewordenen Nüchternheit einer
überverständigen Zeit, traute, nach dem Ende seines, dem
Vaterlande innig, wenn auch ohne dauernden Erfolg gewid-
meten Lebens, sein Volk geheimnissvollen Uebergang in heroische
Halbgöttlichkeit zu 3).


Wie hier ganze Volksstämme, so haben auch wohl engere
und selbst gering geachtete Kreise noch in dieser rationalisti-
schen Zeit ihre Helfer und Schützer zu Heroen erhoben und als
41*
[644] solche verehrt. So die Sklaven auf Chios ihren ehemaligen
Genossen und Hauptmann Drimakos 1); anderswo gab es einen
Heros, der alle zu ihm Flüchtenden schützte 2); in Ephesos
einen Heros, der einst ein einfacher Schafhirt gewesen war 3).
Einen Wohlthäter der Stadt, Athenodor den Philosophen,
hat noch zur Zeit des Augustus seine dankbare Vaterstadt
Tarsos nach seinem Tode heroisirt 4). Es kommt vor, dass
einem Heros ferner Vorzeit die Gegenwart aus seinen Nach-
kommen einen ihm gleichnamigen unterschiebt und statt des
Ahnen weiter verehrt 5).


So weit also war man entfernt, dem Gedankenkreise des
[645] Heroencultes entwachsen zu sein, dass man, an immer gestei-
gerten Ueberschwang der Verehrung Mächtiger und Gütiger
überhaupt gewöhnt, die Zahl der Heroen aus den Menschen
des gegenwärtigen Lebens zu vermehren lebhaft geneigt blieb.
Selbst der Tod des Gefeierten wird nicht immer abgewartet,
um ihn als „Heros“ zu begrüssen; schon bei Lebzeiten sollte
er einen Vorschmack der Verehrung geniessen, die ihm nach
seinem Abscheiden bestimmt war. So war schon Lysander einst
von den Griechen, die er von Athens Uebermacht erlöst hatte,
nach seinem Siege als Heros gefeiert worden; so in hellenisti-
scher Zeit mancher glückliche Heerführer und mächtige König,
von Römern zuerst der Griechenfreund Flamininus 1). Dieser
Missbrauch des, auf Lebende angewendeten Heroencultes dehnt
sich weiter aus 2). Bisweilen mag wirkliche Verehrung hoher
Verdienste dem beweglichen Sinne griechischen Volkes den
Antrieb gegeben haben. Zuletzt aber wurde es eine fast ge-
dankenlos geübte Gewöhnung, selbst Privatpersonen bei Leb-
zeiten mit dem Heroentitel auszuzeichnen 3), heroische Ehren,
wohl gar die Stiftung jährlich zu wiederholender Wettspiele,
Lebenden zu widmen 4).


[646]

Wo es vollends einen Sterblichen zu ehren galt, den Liebe
und Schmerz eines Königs alsbald nach seinem Tode als Heros
ausrufen liess, konnte die Zeit in himmelhoher Aufthürmung
des Pompes und Ehrenschwalles sich kaum genug thun. Die
Todtenfeier für Hephaestion giebt davon ein gigantisches Bei-
spiel 1).


Wenn hier die Grenzen zwischen der Verehrung eines
Heros und der Anbetung eines Gottes fast schon überschritten
sind, so hat sich von einzelnen Fällen die Kunde erhalten, in
denen geliebten Todten, die doch den Heroen nicht angereiht
werden sollten, von den Hinterbliebenen ein Gedächtnisscult
gewidmet wurde, den auch eigentliche Heroenverehrung nicht
höher hätte treiben können 2). Nicht allein an solchen Bei-
4)
[647] spielen lässt sich eine Neigung erkennen, den Seelencult über-
haupt zu steigern, und der Ahnenverehrung im alten Heroen-
dienst anzunähern. Sie spricht sich, für die Nachwelt nur in
wortkarger Andeutung, aber deutlich genug in der grossen
Anzahl von Grabinschriften aus, auf denen Mitglieder schlich-
ter Bürgerfamilien mit dem Namen eines „Heros“ begrüsst
werden. Ein Hinaufheben des Verstorbenen zu höherer Würde
und Bedeutung soll es jedenfalls bedeuten, wenn auf dem
Leichenstein ausdrücklich gemeldet wird, dass die Stadt einen
einzelnen Mitbürger nach seinem Tode „heroisirt“ habe; wie
dies auf Thera frühzeitig, später auch an anderen Orten nicht
selten geschieht 1). Oder wenn eine Genossenschaft ein ver-
storbenes Mitglied zum „Heros“ erklärt 2); auf förmlichen An-
trag eines Einzelnen ein Todter von der Gemeinde als „Heros“
anerkannt wird 3). Auch die Familie nennt jetzt häufig einen
der Ihrigen, der den Uebrigen vorangegangen ist, einen Heros;
in ausdrücklicher Erklärung nennt oder ernennt der Sohn den
Vater, die Eltern den Sohn, die Gattin den Gatten u. s. w.
zum Heros 4). Ein höheres, mächtigeres Fortleben nach dem
2)
[648] Tode soll doch wohl anerkannt werden, wo so nachdrücklich
der Verstorbene von Todten im gewöhnlichen Sinne unter-
schieden wird, ganz gewiss ja da, wo etwa der Todte, in my-
stische Gemeinschaft mit höheren Lebensgestaltungen gesetzt,
seinen Namen verliert, und den Namen eines seit langem ver-
ehrten Heros, oder gar eines Gottes annimmt 1).


In allen uns erkennbaren Fällen scheint jetzt die Heroi-
sirung eines Verstorbenen, durch die Stadt, oder die Genossen-
schaft oder die Familie, der er angehört hat, aus eigener
Machtvollkommenheit vollzogen zu werden: das delphische
Orakel, ohne dessen Wahrspruch ehemals nicht leicht ein neuer
Heros zu der Schaar der Auserwählten Zutritt fand 2), wird
in diesen Zeiten, in denen sein Ansehen auf allen Gebieten
tief gesunken war, nicht mehr um seine Bestätigung ange-
gangen. Es konnte nicht ausbleiben, dass, so auf sich selbst
gestellt, das Belieben der Corporationen und der Familien die
Schranken der Heroenwelt immer weiter hinausschob. Zuletzt
4)
[649] werden sie ganz niedergelegt. Es gab Städte und Landschaf-
ten, in denen es zur Gewohnheit wurde, den ehrenden Bei-
namen eines „Heros“ den Verstorbenen schlechthin beizulegen.
In Böotien 1) scheint am frühesten die Heroisirung Verstor-
bener diese Ausdehnung gewonnen zu haben, auch hier nicht
überall geichmässig: Thespiae macht eine Ausnahme 2). Thes-
salien bietet auf seinen Grabsteinen die zahlreichsten Bei-
spiele für die Heroisirung der Todten jeden Standes und Alters.
Aber über alle, von Griechen bevölkerten Länder dehnt die
Sitte sich aus 3); einzig Athen ist sparsamer 4) in der Ausspen-
dung des Heroennamens an Todte, die von der, dort vermuth-
lich der Vorstellung fester eingeprägten Art eines Heros im
alten und ächten Sinne nichts an sich haben, als dass eben
auch sie todt sind 5).


Noch so freigiebig ausgetheilt, behält der Name „Heros“
dennoch etwas von einem Ehrenbeinamen. Eine Ehre freilich,
die jedermann ohne Unterschied zugesprochen wird, steht in
Gefahr, das Gegentheil einer Ehre zu werden. Aber es spricht
sich doch noch in vereinzelten Aeusserungen naiv volksthüm-
licher Empfindung aus, dass immer noch ein Unterschied zwischen
dem „Heros“ und dem, nicht mit diesem Beinamen geehrten
[650] Todten zu spüren war 1). Von dem Glanze, den der alte Be-
griff des „Heros“ verlieren musste, damit der Heroenname
nun nicht mehr in Ausnahmefällen, sondern der Regel nach,
jeden Verstorbenen bezeichnen konnte, muss der Verstorbene
etwas für sich gewonnen haben, um mit dem „Heros“ auf einer
mittleren Grenzlinie zusammentreffen zu können. Es liegt doch
auch in der Vergeudung des Heroennamens und seiner allzu
bereitwilligen Austheilung an Verstorbene aller Art noch ein
Anzeichen dafür, dass im sinkenden Alterthum die Vorstellung
von Macht und Würde der abgeschiedenen Seelen nicht ge-
sunken war, sondern sich gesteigert hatte.


3.


Ihre Lebendigkeit und Kraft beweisen die abgeschiedenen
Seelen besonders in ihrer Einwirkung auf das Leben und die
Lebendigen. Der Seelencult denkt sie sich als festgehalten im
Bereich der bewohnten Erde, im Grabe oder in dessen Nähe
dauernd oder zeitweilig sich aufhaltend, und darum den Gaben
und Bitten der Ihrigen erreichbar. Es kann nicht zweifelhaft
sein, dass ein tröstlicher Zusammenhang der Familie mit den
vorangegangenen Geistern der Verwandtschaft, ein Austausch
von Todtenspenden seitens der Lebenden und Segnungen der
Unsichtbaren, wie seit Urzeiten, so auch in dieser späten Zeit
im Glauben feststand. Ausdrückliche Zeugnisse freilich geben
von diesem still gemüthlichen Familienglauben an das Fort-
[651] leben der Abgeschiedenen und dessen Bethätigung in dem
regelmässigen Ablauf der Alltäglichkeit nur spärlich Kunde.


Es giebt auch eine unheimlichere Weise des Verkehrs mit
den Seelengeistern. Sie können ungerufen den Lebenden er-
scheinen; sie können durch Zaubers Gewalt gezwungen werden,
im Dienst der Lebendigen ihre Macht zu brauchen. Beides
gilt vornehmlich von den unruhigen Seelen, die durch das
Schicksal oder durch eigene Gewaltthat dem Leben vorzeitig
entrissen sind, oder nicht in feierlicher Bestattung dem Frie-
den des Grabes anvertraut sind 1). An Gespenster, umirrende
Seelen, die um die Stätte ihres Unglücks schweben, sich den
Lebenden unliebsam bemerklich machen, will zwar die Auf-
klärung der Zeit nicht glauben 2). Aber das Volk hat solchen
Berichten, in denen sich das Dasein einer Geisterwelt, die bis-
weilen in das Leben der Lebendigen hinübergreift, unheimlich
offenbar zu machen schien, volles Vertrauen geschenkt, auch
in diesen erleuchteten Zeiten. Aus dem Volksmunde sind uns
einzelne Geschichten von Spukgeistern, umgehenden unseligen
Seelen, vampyrartigen Grabgespenstern 3), erhalten, zumeist
solche, an denen eine verirrte Philosophie, die insaniens sa-
pientia
einer müden Zeit, ihre Ahnungen von einer unsicht-
baren Welt zwischen Himmel und Erde bestätigt fand. In
Lucians „Lügenfreund“ setzen graubärtige Weisheitslehrer mit
wichtiger Miene einander solche Nachrichten aus dem Geister-
[652] reiche vor 1). Plutarch ist ernstlich von der Thatsächlichkeit
einzelner Gespenstererscheinungen überzeugt 2); die zu Plato
zurücklenkende Philosophie findet, in ihrer Dämonenlehre, das
Mittel, jedes Ammenmärchen als denkbar und glaublich be-
stehen zu lassen.


[653]

Es kommt die Zeit, in der selbst das eigenmächtig ge-
waltsame Eingreifen in die unsichtbare Welt, der Geisterzwang,
ein Theil gläubiger Philosophie wird. Der griechische Volks-
glaube brauchte nicht auf die Belehrungen barbarischer Syste-
matisirung des Unsinns zu warten, um ein gewaltsames Heran-
ziehen der Geister der Tiefe für möglich zu halten. Solches
Zauberwerk ist uralt in Griechenland 1). Aber in der Ver-
einigung und Vermischung griechischen und barbarischen Lebens,
in der sich, in diesen hellenistischen Jahrhunderten, verwandte
Wahnvorstellungen aus allen Weltenden zusammenfanden und
gegenseitig steigerten, ist auch, aus fremdländischen noch mehr
als aus einheimischen Quellen gespeist, das Unwesen der Gei-
sterbannung und Seelenbeschwörung, die Praxis zu einer phan-
tastischen Theorie von Sein und Leben der körperfreien Seele,
zu einem trüben Strome angeschwollen. Die hohe Götterwelt
des alten Griechenlandes begann dem getrübten Blick zu ver-
schwimmen; mehr und mehr drängte sich statt ihrer ein Ge-
tümmel fremder Götzen und niedrig schwebender dämonischer
Mächte vor. Und in dem Wirrsal dieses griechisch-barbarischen
Pandämoniums fanden auch die Schaaren unruhiger Seelen-
geister ihre Stelle. Das Gespenst war unter Verwandten, wo
die Götter selbst zu Gespenstern wurden. Wo jetzt Götter
und Geister gerufen werden, fehlt auch das Seelengespenst
selten 2). Wir haben Ueberreste der Theorie des Geisterzwanges
vor uns, in den griechisch-ägyptischen Zauberbüchern. Proben
der praktischen Ausübung dieses Aberwitzes treten uns vor
Augen in den Zauberformeln und Bannflüchen, die, auf bleierne
oder goldene Täfelchen geritzt, in Gräbern, denen sie, als den
Sitzen der angerufenen Unheimlichen, anvertraut waren, sich
zahlreich vorgefunden haben. Regelmässig werden da unter
den zur Rache, zur Bestrafung und Beschädigung des Feindes
Beschworenen auch die unruhigen Seelen der Todten genannt.
[654] Es wird diesen Macht und Willen, in das Leben hemmend und
schädigend einzugreifen, nicht weniger zugetraut als den an-
deren Geistermächten Himmels und der Hölle, in deren Ge-
sellschaft man sie aufruft 1).


4.


Vorstellungen von einem Dasein, das den Seelen der Ab-
geschiedenen für sich und, abgesehen von ihren Verhältnissen
zu den Ueberlebenden beschieden sein könne, bot der Seelen-
cult mit all seinen Auswüchsen keine Handhabe. Wer sich
hierüber Gedanken machte und nach Auskunft umsah, war,
wenn nicht auf die Lehre der Theologen und Philosophen,
angewiesen auf Bilder und Geschichten alter Dichtung und
Sagen.


Der Gedanke eines fern entlegenen Seelenreiches, das die
ohnmächtigen Schatten der aus dem Leben Entschwundenen
aufnehme, blieb, so übel er sich mit den Voraussetzungen der
im Cult üblichen Verehrung und Nährung der im Grabe ver-
[655] schlossenen Seelen vereinigen wollte 1), auch in dieser späteren
Zeit volksthümlicher Phantasie eingeprägt; dies muss die ver-
breitete Vorstellung gewesen sein, so gewiss die homerischen
Gedichte, nach deren Schilderungen sie sich gebildet und ent-
wickelt hatte, die ersten Lehr- und Lesebücher der Jugend und
die belehrende Ergötzung jedes Lebensalters blieben. Die
zornige Erregung, mit der die Philosophen so stoischer wie
epikureischer Observanz sich gegen diesen, auf homerischem
Boden erwachsenen Glauben wenden, wäre ganz gegenstandlos,
wenn nicht die Menge der philosophisch nicht Belehrten an
ihm und seinen Gebilden festgehalten hätten. Aeusserungen
späterer Schriftsteller lassen in der That die alten Hadesvor-
stellungen als keineswegs abgethan, vielmehr unter dem Volke
durchaus lebendig geblieben erkennen 2).


Wie es dort in der Tiefe aussehn und zugehen möge,
bemühten sich theologische und halbphilosophische Dichtungen,
je nach ihren Voraussetzungen und Absichten, wetteifernd aus-
zumalen 3). Aber diese Ausmalungen des Zuständlichen im
[656] Seelenreiche, aus denen schliesslich Virgil ein überreiches, wohl-
abgestuftes Gesammtgemälde aufbaut, blieben Uebungen eines
sinnreichen Spieles, und gaben sich zumeist auch nur als solche.
Einen festgeprägten, genauer bestimmten Volksglauben kann
es auf diesem Gebiet kaum gegeben haben, von dem die Reli-
gion des Staates sich mit dogmatischen Festsetzungen gänzlich
fern hielt.


Eher könnte man sich denken, dass, an die Annahme einer
Vereinigung der Seelen im Reiche der Unterweltsgötter ange-
schlossen, ein Glaube an ausgleichende Gerechtigkeit in diesem
Nachleben der Todten sich zu volksthümlicher Geltung ent-
wickelt habe. Gar zu gern denkt sich der Gedrückte und im
Genuss des Lebens Beschränkte, dass doch irgendwo einmal
auch ihm ein Glück reifen werde, das auf Erden statt seiner
nur Andere pflücken durften; und läge dieses Irgendwo auch
jenseits aller Erfahrung und Wirklichkeit. Die fromme Ver-
ehrung der Gottheit erwartet den Lohn, der auf Erden so oft
ausbleibt, im Reiche der Geister bestimmt zu erlangen. Wenn
eine solche Zuversicht auf eine ausgleichende Gerechtigkeit 1),
die Belohnung der Frommen, Bestrafung der Gottlosen im
Jenseits, in diesen Zeiten sich mehr als früher ausgebreitet
und befestigt haben mag 2), so wird hiezu der Cult der unter-
[657] irdischen Gottheiten, wie ihn die Mysterien des Staates und
einzelner religiösen Genossenschaften pflegten, erheblich mit-
gewirkt haben; sowie andererseits die Ueberzeugung, dass auch
noch im Jenseits die strafende und lohnende Gewalt der Gott-
heit empfunden werde, diesen Mysterien, die eben für das Leben
im Jenseits ihre Hilfe und Vermittlung anboten, ununterbrochen
Theilnehmer zuführte. Das Genauere von diesen, aller Er-
fahrung entzogenen Geheimnissen können nur diejenigen zu
wissen überzeugt gewesen sein, die sich der Dogmatik einer
geschlossenen Secte gefangen geben mochten. Ob die gräu-
lichen Phantasieen von einem Straforte im Hades, seinen ewigen
Qualen im lodernden Feuer und was sonst an ähnlichen Vor-
stellungen bei späteren Autoren bisweilen auftaucht, jemals
mehr als Wahngebilde, mit denen enge Conventikel ihre An-
gehörigen schreckten, gewesen sind, darf man bezweifeln 1). Die
2)
Rohde, Seelencult. 42
[658] freundlichen Bilder von einem „Orte der Hinkunft“, zu dem
die geplagten Menschenkinder der Tod entsende, mögen weiter
verbreiteten Glauben gefunden haben. Homer, der Lehrer
Aller, hatte sie dem Gedächtniss eingeprägt. Dem Dichter
hatte die elysische Flur als ein Ort auf der Oberfläche der
Erde gegolten, an den seltene Göttergunst bei Leibesleben
einzelne Lieblinge entrücken konnte, damit sie dort ohne Tod
ein ewiges Glück genössen 1). In seinem Sinne hatte die Dich-
tung der folgenden Zeiten den zu selig verborgenem Leben im
Elysion oder auf den Inseln der Seligen Entrückten noch
manchen Helden und manche Heldenfrau der alten Sage zu-
geführt 2). Wem das Elysion als der Ort der Verheissung
1)
[659] erschien, zu dem alle Menschen, die ihr Leben gottgefällig ver-
bracht hatten, nach dem Tode gewiesen würden 1), der dachte
sich Elysion oder auch die Inseln der Seligen im Innern der
Unterwelt gelegen, nur körperfreien Seelen zugänglich. Dies
war in späterer Zeit die übliche Ansicht. Aber die Vorstellung
blieb schwankend. Auf der Oberfläche der Erde, wenn auch
in fernen unentdeckten Weiten, muss die Phantasie doch auch
wieder die seligen Inseln, den Wohnplatz bevorzugter Geister
gesucht haben, wenn sie doch den Versuch machen konnte,
den Weg dorthin zu erkunden und lebendigen Menschen zu
weisen. Nur der bekannteste solcher Versuche ist der dem
Sertorius zugeschriebene 2). Warum auch sollten auf dem
2)
42*
[660] Erdenrund, das den Entdeckungen noch so vielen Raum bot,
diese Geisterinseln für immer unbekannt und unzugänglich
bleiben, da man doch, mitten im schwarzen Meer, von lebenden
Menschen oft aufgesucht, die Insel kannte, auf der Achill, das
hehrste Beispiel wunderbarer Entrückung, ewig lebte und seiner
Jugendkraft sich erfreute. Jahrhunderte lang ist Leuke, als
ein Sonderelysion für Achill und wenige auserwählte Helden,
von Verehrern scheu betreten und betrachtet worden 1). Hier
2)
[661] spürte man in unmittelbarer Wahrnehmung und sinnfälliger
Berührung etwas von dem geheimnissvollen Dasein seliger Geister.
1)
[662] Der Glaube an die Möglichkeit wunderbarer Entrückung zu
ewigem Beisammensein von Leib und Seele konnte, wo er sich
so handgreiflich und augenscheinlich bestätigt fand, auch in
prosaischer Zeit nicht ganz ersterben. Der Bildung zwar war
dieser Glaube so fremd und unverständlich geworden, dass sie,
auch wo von Entrückungssagen alter Zeit die Rede ist, nicht
einmal richtig zu beschreiben weiss was eigentlich das Alter-
thum sich als den Vorgang bei solchen Wunderereignissen ge-
dacht hatte 1). Aber das Volk, dem nichts leichter fällt, als
das Unmögliche zu glauben, liess auch hier das Wunder un-
befangen bestehn. Von Höhlenentrückung standen die Bei-
spiele des Amphiaraos und Trophonios vor Aller Augen, denen,
als ewig in ihren Erdschlüften Fortlebenden, Cult und Ver-
ehrung bis in späte Zeit dargebracht wurde 2). Von Entrückung
1)
[663] schöner Jünglinge zu ewigem Leben im Reiche der Nymphen
und Geister erzählte manche Volkssage 1). Und noch der gegen-
wärtigen Zeit schien das Wunder der Entrückung nicht ganz
versagt zu sein. Seit den Königen und Königsfrauen der make-
donischen Reiche des Ostens, nach dem Vorbilde des grossen
Alexander selbst, göttliche Ehren gezollt wurden, wagte sich
auch die Fabel hervor, dass der göttliche Herrscher am Ende
seines irdischen Daseins nicht gestorben sei, sondern, nur „ent-
rafft“ von der Gottheit, weiterlebe 2). Dem Gotte ist es, wie
2)
[664] noch Plato es deutlich ausspricht 1), eigen, in untrennbarer Ver-
einigung Leibes und der Seele ewig zu leben. Höfische Theo-
logie konnte wohl den Unterthanen den Glauben an solche
Wunder um so eher zumuthen, weil, wie im semitischen Orient,
so vielleicht auch in Aegypten die Vorstellung der Entrückung
gottgeliebter, göttlicher Natur näher stehender Menschen zu
unvergänglichem Leben einheimischer Sage vertraut war 2), wie
2)
[665] sie italischer Sage, wenn auch wohl erst unter griechischem
Einfluss, vertraut wurde 1). Dass unter Griechen und Halb-
griechen, auch ohne höfische Liebedienerei, volksthümlicher
Glaube dem Gedanken, dass Lieblinge ihrer Träume, wie Ale-
xander der Grosse, nicht dem Tode verfallen, sondern in ein
Reich unverlierbaren Leibeslebens entschwunden seien, nicht
widerstrebte 2), zeigte sich, als im Anfang des dritten Jahr-
hunderts nach Chr. ein Alexander in Moesien wieder erstand,
mit einem Gefolge von Bakchen die Länder durchzog und
überall Glauben an seine Identität mit dem grossen König
fand 3), nicht anders als früher der nicht gestorbene, sondern
nur verschwundene und wieder auf Erden erschienene Kaiser
Nero 4). Als Antinoos, der jugendschöne Geliebte des Hadrian,
in seinem Wellengrabe verschwunden war, galt der nun als
[666] Gott Verehrte als nicht gestorben, sondern entrückt 1). In
aller Feierlichkeit wird das Mirakel der Entrückung des Apol-
lonius von Tyana erzählt 2); es hat gewiss, wie die übrigen
Wunderthaten und Wundererlebnisse dieser problematischen
Prophetengestalt, Gläubige genug gefunden 3).


Die ununterbrochene Fortdauer des auf Erden begonnenen
leiblich-seelischen Lebens an einem verborgenen Aufenthalt der
Seligkeit, die älteste Gestaltung, in welcher die Vorstellung der
Unsterblichkeit des Menschen griechischem Gedanken aufge-
gangen war, gestand der Glaube allezeit nur wenigen Einzelnen,
wunderbar Begnadigten und Begabten, zu. Eine Unsterblich-
keit der Menschenseele als solcher, vermöge ihrer eigenen
Natur und Beschaffenheit, als der unvergänglichen Gotteskraft
[667] im sterblichen Leibe, ist niemals ein Gegenstand griechischen
Volksglaubens geworden. Wenn sich hie und da auch wo
volksthümliche Denkweise sich Ausdruck giebt, Anklänge an
solchen Glauben finden, so ist in den einzelnen Fällen aus den
Lehren der Theologen oder der allverbreiteten Philosophie bis
in die unteren Schichten ungelehrten Volkes ein Tropfen hinab-
gesickert. Der Theologie und der Philosophie blieb der Ge-
danke der Unsterblichkeit der Seele allein wirklich eigen. So
ist auch bei dem Zusammentreffen griechischer und fremd-
ländischer Bildung im hellenisirten Osten nicht aus griechischer
Volksüberlieferung, sondern einzig aus den Anregungen grie-
chischer, auch ausserhalb des nationalen Bodens leichter ver-
breiteter Philosophie der erstaunliche Gedanke göttlich unver-
gänglicher Lebendigkeit der Menschenseele Fremden zugekom-
men, und hat wenigstens unter dem bildsamen Volke der Juden
tiefere Wurzeln getrieben 1).


3.


In der Vorstellungswelt des griechischen Volkes stand in
der Spätzeit seiner Reife der Glaube an das Fortleben der
menschlichen Seele nach dem Tode des Leibes auf allen Stufen
der Entwicklung und Ausgestaltung, die er im Laufe der Zeit
erreicht hatte, zugleich und nebeneinander in Geltung. Keine
formulirte Religionssatzung hatte, abschliessend und ausschlies-
[668] send, einer Vorstellung auf Kosten der anderen zum Sieg ver-
holfen.


Wie sich gleichwohl unter den mannichfachen Formen des
Glaubens und der Erwartung oder Hoffnung, die möglich und
Niemanden verwehrt blieben, die eine mehr und stärker als die
andere der Gemüther bemächtigt habe, möchte man wohl von
den zahlreichen Aufschriften griechischer Grabsteine, in denen,
vornehmlich in diesen späteren Zeiten, der Glaube des Volkes
sich ganz nach eigener Einsicht unbefangen ausspricht, ablesen
zu können glauben. Doch lässt nicht ohne vorsichtige Er-
wägung aus dieser Quelle sich zuverlässige Kunde schöpfen.


Wandeln wir in Gedanken durch die langen Reihen grie-
chischer Gräberstrassen, und lesen die Inschriften der Grab-
steine, die von diesen in unsere Schatzkammern griechischer
Epigraphik übergegangen sind, so muss uns zunächst auffallen,
wie vollständig schweigsam die übergrosse Mehrzahl dieser In-
schriften in Bezug auf jegliche, wie immer gestaltete Hoffnung
oder Erwartung eines Lebens der Seele nach dem Tode ist.
Sie begnügen sich mit Nennung des Namens, Vaternamens
und (wo sie in der Ferne liegt) der Heimath des Verstorbenen.
Kaum dass der Brauch einzelner Landschaften noch ein „Lebe
wohl“ hinzufügt. Es würde nicht genügen, zur Erklärung dieses
hartnäckigen Schweigens sich allein auf die Sparsamkeit der
Hinterbliebenen des Bestatteten (der hier und da wohl gar das
Gesetz der Stadt in einem Verbot wortreicher Grabschriften
zu Hilfe kam) 1), zu berufen. Das Schweigen dieser, in Prosa
und Versen redefrohesten Menschen hat seine eigene Beredt-
samkeit. Die tröstenden Hoffnungen, die ihnen auszusprechen
kein Bedürfniss war, können ihnen nicht wohl die Bedeutung
einer lebendig gegenwärtigen Ueberzeugung gehabt haben. Sie
entreissen der Vergänglichkeit allein was einst ihr ausschliess-
lich Eigenes war, den Namen, der sie von allen Anderen unter-
schied, jetzt die leerste Hülle der vordem lebendigen Persön-
[669] lichkeit. Die Inschriften, in denen bestimmte Hoffnungen auf
ein Fortleben im Jenseits sich aussprechen, machen von der
gesammten Menge der Grabschriften einen sehr kleinen Theil
aus. Und unter ihnen wiederum sind wenige in Prosa abge-
fasst. Nicht in der schlichten Fassung thatsächlich verbürgter
Mittheilung, sondern in der künstlicheren Gestalt, in der dich-
terische Phantasie und Aufschwung des Gemüthes ausserhalb
des Bereiches einer kahlen Wirklichkeit ihre Eingebungen hin-
stellen, treten Ansichten und Verkündigungen von einem ge-
hofften Jenseits hervor. Das ist gewiss bedeutsam. Auch
unter den poetischen Grabschriften überwiegen solche, die, auf
das vergangene Leben des nun Verstorbenen, seine Art, sein
Glück, seine Thaten zurückblickend, den Schmerz und die An-
hänglichkeit der Hinterbliebenen, oft in innigster Wahrhaftig-
keit, aussprechend, ganz im Diesseitigen die Gedanken fest-
halten. Wo sie doch in das Jenseits hinüberschweifen, da geht
der Zug am liebsten gleich in ein schimmerndes Land der Ver-
heissung, weit über alle Erfahrung und nüchterne Ueberlegung
hinaus. Wer so hochfliegende Gedanken hegte, musste vor
Anderen das Bedürfniss fühlen, ihnen im Verse gesteigerten
Ausdruck zu geben. Aber dass unter den Zeitgenossen ins-
gesammt solche Gedanken vorgeherrscht haben, würde man aus
ihrem Ueberwiegen unter den metrisch gefassten Grabschriften
nur auf die Gefahr, sich stark zu verrechnen, schliessen dürfen.


Schlicht alterthümliche, in homerischer Denkweise be-
harrende Auffassung, die, ohne weiteren Wunsch und Klage,
die Seele des Verstorbenen in den Erebos entschwunden sieht,
spricht sich am seltensten in diesen Grabgedichten aus 1).
Häufiger wird, in herkömmlicher Formel, der Wunsch: „Ruhe
sanft“ vernommen 2), eigentlich dem in das Grab gebetteten
[670] Todten geltend, doch aber auch auf die zum Hades entflohene
„Seele“ hinüberspielend 1). Denn die Vorstellung bleibt in
Geltung, dass ein Seelenreich die Abgeschiedenen aufnehme,
der Hades, als die Welt der unterirdischen Götter, der Saal
der Persephone, der Sitz der uralten Nacht 2). Einen Zustand
halben Lebens denkt man sich dort, im Banne der „Vergessen-
heit“, deren Trunk 3) der Seele das Bewusstsein verdunkelt.
Dort sind „die Meisten“ 4) versammelt; tröstlich schwebt dem
Verstorbenen vor, wie er dort auch Vorangegangene von den
Seinigen wieder begrüssen werde 5).


Strengere Vorstellungen treten hinzu. Ein Gericht wird
bisweilen angedeutet 6), das dort unten die Seelen scheide, nach
[671] ihren irdischen Verdiensten in zwei, wohl auch in drei Schaaren
sie sondere 1). Auf der Unseligkeit der Verworfenen, die theo-
logisirende Dichtung auszumalen liebte, verweilt der Gedanke
nicht 2). Harmloserer Sinn bedurfte nicht der pharisäischen
Erquickung an dem Elend der Sünder, um sich des Lohnes
eigener Vortrefflichkeit im Bewusstsein zu versichern. Von
Zerknirschung und Angst um sich selber ist nichts zu spüren.
Die Seele hofft, zu ihrem Rechte zu kommen 3), zu den „Seli-
gen“, auf die Inseln oder die Insel der Seligen zu gelangen,
in das Elysion, den Aufenthalt der Heroen, der Halbgötter 4).
Sehr häufig werden solche Hoffnungen ausgesprochen, aller-
meist nur mit einem kurzen verheissungsvollen Worte. Selten
begegnet wohlgefällig ausgeführte Schilderung des Aufenthaltes
der Seligen 5), der in diesen Andeutungen und Ausführungen
[672] zumeist wohl im Umkreis des unterweltlichen Seelenreiches ge-
sucht wird 1), gleich dem „Orte der Frommen“, den in mannich-
fachen Wendungen die Hoffnung sich als Wohnplatz zukünftigen
Lebens verspricht 2).


Es begegnet aber auch die Vorstellung, dass die Schaar
der Frommen dem unterirdischen Dunkel ganz enthoben sei 3).
Und dem einzelnen Verstorbenen wird in so vielfacher Wieder-
holung der Aufenthalt im Himmel, im leuchtenden Aether, in
der Sternenwelt gewünscht und verkündigt, dass dieser Glaube
an die Erhebung der körperfreien Seele in überirdische Regio-
nen wohl als der in späteren Zeiten unter solchen, die sich
bestimmteren Vorstellungen über ein jenseitiges Dasein hin-
5)
[673] geben mochten, am weitesten verbreitete gelten muss 1). Dieser
Glaube, der die Seele in die Nähe, ja in die Gemeinschaft der
himmlischen Götter erhebt 2), hat sowohl in religiösen Ahnungen
als in philosophischen Speculationen seine Wurzeln, die, tief
in die Vergangenheit zurückgreifend 3), in diesen späteren Zeiten
sich wesentlich, darf man glauben, unter dem Einfluss volks-
thümlicher Ausführungen stoischer Schriftsteller von dem
lebendigen „Hauch“ der Menschenseele und dessen Aufstreben
in obere Regionen ausbreiteten und kräftigten 4).


Rohde, Seelencult. 43
[674]

Ueber den, in vielen Fällen schon merklich zu einer nicht
mehr nach ihrer lebendigen Bedeutung voll empfundenen Redens-
art gewordenen Ausdruck dieser Hoffnung des Aufsteigens der
Seele zu himmlischen Höhen geht der Aufschwung der Be-
trachtung selten hinaus. Kaum dass hie und da in der Be-
zeichnung der Seele als einer „unsterblichen“ 1) (auch im Tode
nur schlafenden) 2), ein philosophisch-theologischer Gedanke
durchblickt. Die Inschriften sind bald gezählt, in denen der
Lehre der Theologen und theologisirenden Philosophen von der
göttlichen Natur der Seele, ihrer kurzen Wallfahrt durch
irdisches Leibesleben, und ihrer Bestimmung zur Heimkehr in
körperfreies Götterdasein Worte gegeben werden 3). Glaube
4)
[675] an eine Seelenwanderung tritt deutlich nirgends hervor 1). Von
einer Einwirkung Platonischer Lehre im besonderen findet sich
kaum eine Spur 2).


Nicht philosophischer Belehrung, sondern den Gedanken
volksthümlicher Religionsübung gehen diejenigen nach, die
einem seligen Leben nach dem Tode zugeführt zu werden
hoffen durch die eigene Fürsorge eines Gottes, vermuthlich
dessen, dem sie bei Lebzeiten besonders hingebende Verehrung
gewidmet haben. Er wird sie, so vertrauen sie, an seiner
eigenen Hand in das Land der Wonne und Reinheit einführen.
Wer so „einen Gott zum Führer erlangt hat“ 3), kann getrost
3)
43*
[676] der Zukunft warten. Nicht allein, aber nächst Hermes, dem
Boten der Persephoneia 1), am häufigsten wird unter den Ge-
leitsgöttern der Todten Persephone selbst genannt 2). Hier
kann man vielleicht einen Nachklang der in eleusinischen und
3)
[677] verwandten Mysterien erweckten und gepflegten Hoffnungen
vernehmen wollen 1), deren sonst auffallend selten in diesen
Grabschriften gedacht wird. Einen Hierophanten von Eleusis,
der „zu den Unsterblichen ging“, lässt seine Grabschrift —
allerdings in sehr später Zeit — als von den Göttern offen-
bartes Mysterium die alte, vor Zeiten in Sagen wie der von
Kleobis und Biton 2) zum Beispiel gewordene Weisheit preisen,
„dass nicht alleine Tod kein Uebel den Sterblichen bringt,
nein, dass er ein Glück ist“ 3). Eine trübsinnige Philosophie
hat sich in diesen letzten Zeiten des alten Götterglaubens
der, ihrem ursprünglichen Sinne nach so Lebensfeindliches
nicht anzudeuten bestimmten Mysterien bemächtigt 4). — Einen
geheimnissvollen Klang hat es, wenn dem Todten gewünscht
oder verheissen wird, dass ihm im Seelenreich das Wasser der
Vergessenheit zu trinken erspart bleiben, der Gott der Unter-
welt das kalte Wasser reichen werde, dass ihn die Quelle der
Mnemosyne, das Bad der Unsterblichkeit erquicken werde, die
Gedächtniss und Bewusstsein, die erste Bedingung vollen und
seligen Lebens, unversehrt erhalten 5). Es scheint, dass hier
[678] auf Verheissungen besonderer Geheimculte, durch die der Ver-
storbene sich den Mächten des Lebens und des Todes eigens
empfohlen hatte, angespielt werden soll; deutlich ist dies, wo,
statt des griechischen Aïdoneus, genannt wird Osiris, der
ägyptische Herr der Seelen. „Möge dir Osiris das kalte Was-
ser reichen“, ist auf Grabschriften später Zeit gern wieder-
holte vielsagende Wunschformel 1). — Von den zahlreichen,
5)
[679] selige Unsterblichkeit ihren Theilnehmern verheissenden Ge-
heimculten dieser letzten Zeiten wird im übrigen sehr selten
eine Andeutung in den Grabschriften gemacht; allenfalls wird
einmal auf die, auch nach dem Tode werthvollen Gnaden an-
gespielt, die der in den Mysterien des Mithras Eingeweihte
erreichen konnte 1).


Nicht an dunklen Verheissungen, an thatsächlichen Er-
fahrungen stärkt sich der Glaube der Hinterbliebenen, denen
eine Traumerscheinung des Vorangegangenen deutlich bewiesen
hat, dass dessen „Seele“ im Tode nicht vernichtet worden ist 2).
1)
[680] Der älteste Beweis für den Glauben an die Fortdauer der
Seele behält am längsten überzeugende Kraft. Höheres er-
wartet der Schüler von seinem im Tode entschwundenen
Meister, zu dem er betet, dass er, wie einst im Leben, auch
jetzt noch ihm in seiner ärztlichen Thätigkeit helfend zur Seite
stehe: du kannst es, denn jetzt hast du ja göttlicheres Lebens-
loos 1). —


Hoffnungen, mannichfach gestaltete, auf ein energisches
Fortleben der abgeschiedenen Seele sind verbreitet. Eine ein-
heitliche, dogmatisch festbestimmte Gestalt haben sie nicht
gewonnen. Und Niemanden ist es verwehrt, seinen ab-
weichenden Gedanken bei sich Gehör und auf seinem Leichen-
steine Stimme zu geben, wenn sie auch zu dem vollen Gegen-
pol jener Hoffnungen führen sollten 2).


Ein zweifelndes „Wenn —“ schiebt sich in den Grab-
schriften häufig vor den Ausdruck der Erwartung bewussten
Lebens, vollen Empfindens der Todten, Belohnung der Seelen
nach ihren Thaten; „wenn dort unten noch irgend etwas ist“
— ähnliches liest man oft 3). Auch der Zweifel wird bei Seite
2)
[681] geschoben, wo bestimmt ausgesprochen wird, dass nach dem
Tode nichts mehr lebendig bleibe an dem Menschen. Was
von dem Hades und seinen Schrecken und Tröstungen gesagt
wird, ist Dichterfabel; Dunkel und Nichtigkeit ist alles, was
uns drunten erwartet 1). Der Todte wird zu Asche oder zu
Erde 2); die Elemente, aus denen er gebildet war, nehmen das
Ihrige wieder an sich 3); das Leben war dem Menschen nur
geliehen, im Tode stattet er es zurück 4); er kann es nicht
dauernd besitzen. Mit dem Tode zahlt er den Zoll an die
Natur 5). Schmerzliche Anklagen der Nachgebliebenen an den
Tod, den wilden, lieblosen, der gefühllos, wie ein Raubthier,
das Liebste ihnen entrissen hat, lassen keinen Hoffnungs-
schimmer auf Erhaltung des entwichenen Lebens erkennen 6).
3)
[682] Aber die Klage, sagen uns Andere, ist nutzlos, für den
Todten wie für die Lebenden; Niemand kehrt wieder; der
Tod zwingt zu endgiltigem Abschied 1). Nur die Ergebung
bleibt übrig 2). Sei getrost, Kindlein, Niemand ist unsterblich,
lautet die volksthümliche Formel, die Mancher dem Entschwun-
denen auf’s Grab schreibt 3). Einst war ich noch nicht, dann
bin ich gewesen, nun bin ich nicht mehr: was ist’s weiter?
sagt den Lebenden, die bald das gleiche Loos treffen wird, der
Todte auf mehr als einem Leichenstein 4). „Lebe“, ruft er
dem Lesenden zu, „denn süsseres ist uns Sterblichen nimmer
beschieden, als dies Leben im Licht“ 5). Ein letzter Gedanke
wendet sich zurück zum irdischen Leben. Der Leib stirbt,
die Persönlichkeit entschwindet, es bleibt nichts lebendig als
[683] auf Erden ein Andenken an Tugend und Thaten des Ver-
blichenen 1). Kräftiger als im leeren Klang des Ruhmes lebt
in Anderen fort, wem Kinder und Kindeskinder auf Erden
zurückbleiben. An diesem Segen richtet, ächt antiken Sinnes,
auch in später Zeit Mancher sich auf, und bedarf keines
anderen Trostes für die eigene Vergänglichkeit 2).


4.


Aber die antike Sinnesart zuckt nur noch selten einmal
auf. Die antike Cultur, deren Wurzel und Triebkraft sie ge-
wesen war, geht zu Grabe. Mit der Wende des dritten zum
vierten Jahrhundert tritt sie in ihre Agonie. Ein allgemeiner
Verfall der Kräfte, der Marasmus des Greisenalters, hatte sich
längst angekündigt unter den lose verbundenen Schaaren der
Bevölkerung des weiten hellenisch-römischen Culturkreises, in
der das edle Blut des ächten und unverfälschten griechischen
[684] und römischen Stammes nur noch sparsam floss. Jetzt bricht
die Entartung unaufhaltsam hervor. Die innere Entkräftung
war es, die den äusseren Ansturm fremder Gewalten für die
alte Welt so verhängnissvoll machte. Gründlicher und schneller
brach, zum Vortheil für neue Entwicklungen, das Abgelebte
im Westen zusammen, als im hellenisirten Osten. Nicht weil
hier das Alte weniger morsch gewesen wäre. Die ermattende
Hand, der sinkende Geist fühlt sich aus allen Aeusserungen
letzter Lebensgluth heraus, in denen Kunst und Litteratur des
absterbenden Griechenthums noch zu uns reden. Und die
Verarmung der Lebenskräfte, aus denen einst Griechenland die
Blüthe seines eigensten Wesens gezogen hatte, spricht sich in
der veränderten Stellung aus, die jetzt der Einzelne zum
Leben, die Gesammtheit des sichtbaren Lebens zu einem Reiche
unsichtbar geahnter Mächte sich giebt. Der Individualismus
hat seine Zeit gehabt. Nicht mehr der Befreiung des Ein-
zelnen, seiner ethischen Wappnung gegen alles, was nicht er
selbst ist und nicht im Bereich seines freien Entschlusses liegt,
gilt das Streben. Er ist nicht mehr stark genug, soll nicht
mehr stark genug sein, der eigenen selbstbewussten Vernunft
zu vertrauen; die Autorität, eine Autorität die allen das
Gleiche auferlegt, soll ihn leiten. Der Rationalismus ist todt.
Seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts macht sich eine
religiöse Reaction stärker geltend; sie schiebt sich in den
folgenden Zeiten immer weiter vor. Auch die Philosophie
wird zuletzt eine Religion, aus dem Quell der Ahnung und
Offenbarung gespeist. Die unsichtbare Welt gewinnt es über
das durch einschränkende und mässigende Erfahrung be-
grenzte Reich diesseitigen Lebens. Nicht mehr frohgemuth
und gelassen sieht die Seele hinaus auf das, was hinter der
Wolke des Todes sich verbergen möge. Das Leben schien
eine Ergänzung zu fordern. Wie welk und greis war es ge-
worden 1); eine Verjüngung auf dieser Erde schien ihm nicht
[685] mehr beschieden. Um so heftiger wirft mit geschlossenen
Augen Wunsch und Sehnsucht sich hinüber in ein neues Da-
sein, und läge es jenseits der bekannten und erkennbaren Welt
der Lebendigen. Hoffnung und Verlangen, aber auch Angst
vor dem Ungewissen schrecklicher Geheimnisse erfüllt die
Seele. Niemals ist während des Verlaufs der alten Geschichte
und Cultur der Glaube an unsterbliches Leben der Seele nach
dem Tode so inbrünstig und ängstlich umklammert worden
wie in diesen letzten Zeiten, da diese antike Culturwelt selbst
sich anschickte, ihren letzten Seufzer zu verhauchen.


Weit im Volke verbreitete, mehr im Glauben als im
Denken wurzelnde Unsterblichkeitshoffnungen suchten ihre Be-
friedigung in religiösen Veranstaltungen, die weit dringender
noch als der alltäglich geübte Cult der Stadt den Göttern die zu
geheimer Feier Vereinigten empfehlen, und mehr als alles ein
seliges Leben im Jenseits ihren frommen Theilnehmern ver-
bürgen sollten. In diesen Zeiten leben die altgeheiligten Ge-
heimfeiern zu Eleusis noch einmal auf; sie erhalten sich bis
in späte Zeit lebendig 1). Orphische Conventikel müssen lange
1)
[686] Zeit Gläubige versammelt haben 1). Mannichfache Orgien ver-
wandter Art kannte der hellenisirte Osten.


Mehr als altgriechischer Götterdienst zogen, in der Völker-
mischung des Orients, die fremdländischen Religionen auch
Griechen an. Des Verpflichtenden, in Dogmen und Satzungen
Bindenden, das schwache suchende Individuum fest Umfangen-
den war weit mehr als im griechischen Glauben in diesen
fremden Götterdiensten zu finden, denen das starre Beharren
in uralten Vorstellungen und Cultübungen die Gewähr heiliger
Gewissheit zu geben schien. Alle forderten sie unbedingte Hin-
gebung an den Gott und seine Priester, Abwendung von der,
dualistisch dem Göttlichen entgegengesetzten Welt und ihrer
Lust, ceremonielle Reinigung und Heiligung, Sühnung und
Askese. So bereiteten sie den Gläubigen vor auf das Höchste,
was sie der Frömmigkeit in Aussicht stellen konnten, ein ewiges
seliges Leben fern von dieser unreinen Welt im Reiche der
Heiligen und Gottgeweihten. Dem Glauben an eine selige Un-
sterblichkeit boten auch diese fremdländischen Mysterien er-
sehnte Nahrung; um so eifriger drängte zu ihren Heilsverkün-
digungen sich das Volk, je mehr die bunten und vielsagenden,
von der Schlichtheit altgriechischen Gottesdienstes lebhaft ab-
stechenden Ceremonien und symbolischen Handlungen dieser
ausländischen Culte auf unklare Geheimnisse, auf die Macht
der von solchem Cult umstrahlten Götter, auch das Unglaub-
liche und Unerhörte zauberhaft bewirken zu können, hinzu-
deuten schienen. Seit Langem war der Cult der ägyptischen
1)
[687] Gottheiten in Osten und Westen verbreitet; er erhielt sich
und breitete sich immer weiter aus bis in die letzten Zeiten
des alten Glaubens. Die syrischen Gottheiten, der phrygisch-
thrakische Cult des Sabazios, des Atthis und der Kybele, der
persische Mithrascult, traten später hinzu, wurzelten dann aber
nicht minder tief ein und erstreckten sich überall durch das
weite Reich 1).


Die höhere Bildung dieser letzten Zeiten, gläubig und
wundersüchtig geworden, verschmähte die Theilnahme an diesen,
früher doch zumeist den niederen Schichten des Volkes über-
lassenen, Heilsübungen und Heiligungen keineswegs. Die
Höchstgebildeten der Zeit wussten sich, eben aus ihrer Bil-
dung, alles Mysteriöse und Unbegreifliche, selbst in sinnlichster
[688] Einkleidung, zu rechtfertigen. Den neu erwachten religiösen
Drang des Volkes hatte eine Rückwendung der Philosophie zu
Plato und seiner in das Religiöse hinüberleitenden Weisheit
begleitet. Platonismus war an einzelnen Stellen vielfach in
die Lehren fremder Schulen eingedrungen, er hatte sich auch
bereits eine eigene Stätte neu bereitetet in der Akademie, wo
vorher eine unplatonische Skepsis die alten Dogmen ver-
drängt hatte. Jetzt bricht, alles andere Weisheitsstreben über-
wältigend, ein erneuerter Platonismus hervor, die Lehre des
Aristoteles und Chrysipp, den er mit Plato versöhnen zu können
meinte, aufsaugend, mit der eigenen Lehre verschlingend, und
Alles zu einem subtil und weitläufig ausgesponnenen Gedanken-
system verwebend. Diese neoplatonische Speculation, in der
auch das müde Alter des Griechenthums noch viel Tiefsinn,
Geist und Scharfblick (neben einer wuchernden Fülle von
scholastischem Aberwitz) aufwandte, füllt die letzten Jahr-
hunderte griechischen Gedankenlebens. Auch ihr Grundzug
geht auf eine Abwendung vom natürlichen Leben, ein gewalt-
sames Hinüberdrängen in eine jenseitige rein geistige Welt;
eben hiemit that sie der Sehnsucht ihrer Zeit genug. Wie von
dem, über alles Sein und Denken hinausliegenden, in schöpfe-
rischen Ausstrahlungen dennoch unberührt und unvermindert
sich ewig jenseits erhaltenden Einen und Ersten Urwesen sich,
in ununterbrochener Kette, die Welten des Denkens und der
in ihr enthaltenen Ideen und reinen Gedanken, des Seelischen,
und des Materiellen entwickeln, dann aber wieder, im Zug der
Sehnsucht 1), alles Gewordene sich zurückwendet zum Urquell
des Seins: das zu schildern ist das in vielfachen Variationen
immer gleiche Thema dieser Philosophie. In Beharren des
Verursachten in seiner Ursache, Hervorgang aus ihr und Rück-
wendung zu ihr vollzieht sich alles Geschehen im Spiel von
[689] Ursache und Folge. Was im Laufe der Naturentwicklung,
von dem Einen ausstrahlend, ihm immer ferner tritt, bis zur
Dunkelheit und Verderbtheit der Materie, das wendet sich,
im Menschenwesen angelangt, in Ethik und Religion mit Be-
wusstsein wieder zurück zu dem Einen, unverlierbar Reinen
und Ewigen. Das Göttliche steigt nicht hernieder; der Mensch
muss zu göttlicher Höhe und Ferne hinaufstreben, um sich zu
vereinigen mit dem Einen vor aller Vielheit. Die Vereinigung
kann erreicht werden im reinen Denken des Menschengeistes,
und darüber hinaus in dem geheimnissvollen Zusammenklang
des Einzellebendigen mit dem Ersten, dem Uebervernünftigen,
in der Ekstase, die höher ist als alle Vernunft. Sie kann er-
reicht werden nach Ablauf der Kette der Wiedergeburten, an
deren Ende die reine Seele, das Göttliche im Menschen, ein-
tritt in die Göttlichkeit des All 1).


Flucht aus der Welt, nicht ein, das Bessere schaffendes
Wirken in der Welt lehrt und fordert diese letzte griechische
Philosophie. Aus allem getheilten, einzeln bestimmten Sein strebt
die Seele hinaus, hinüber zu dem ungebrochenen Lichte gött-
licher Lebenseinheit. Die Welt, diese sichtbare Körperwelt,
ist schön, sagt uns Plotin, denn sie ist das Werk und Abbild
des in ihr nach seiner Wirkung anwesenden höchsten Gött-
lichen. Ein letzter Sonnenblick des untergehenden Griechen-
sinnes bricht in den Worten hervor, mit denen er den christ-
lich-gnostischen Welthass abweist 2). Das Hässliche, sagt Plo-
tin, ist so Gott wie der Natur fremd und zuwider 3). Aber
im Reiche gestalteter Schönheit mag doch die Seele nicht mehr
verweilen 4). Sie ist sich ihrer Herkunft aus dem Uebersinn-
Rohde, Seelencult. 44
[690] lichen, ihrer Göttlichkeit und Ewigkeit so tief bewusst, dass sie,
über alles Gestaltete hinaus, nur trachten kann nach dem
Einen, das vor der Welt war und ausser ihr besteht 1). —


Diese Philosophie, so unbedingt sie sich innerlich von
altgriechischen Lebenstrieben, von dem weltfreudigen Sinn des
alten Griechenthums abwendet, meinte dennoch, in dem Kampfe
gegen die neue, unaufhaltsam heranfluthende Religionsströmung,
zum Schutz des alten Glaubens und der alten Cultur, mit der
jener unlöslich verbunden war, berufen zu sein. Die entschie-
densten ihrer Anhänger, voran der letzte altgläubige Kaiser
selbst, zogen am eifrigsten in den Kampf, vor ihnen her der
Genius des alten Griechenthums und Griechenglaubens. Aber
als die Schlacht geschlagen und verloren war, da wurde aller
Welt offenbar, dass es ein Leichnam gewesen war, was, auf
das Ross gebunden, den begeisterten Streitern vorangezogen
war, wie der todte Cid Campeador den Seinen im Mauren-
kampfe. Die alte Religion, mit ihr die ganze Cultur der
Griechenwelt, sank dahin und konnte nicht wieder belebt werden.
Ein neuer Glaube, ganz anders als alle ältere Religion mit der
Kraft begabt, das schwerbeladene Herz zu zerknirschen und in
Hingebung aufwärts, dem göttlichen Erbarmen entgegenzu-
tragen, blieb auf dem Plan. Seiner bedurfte die neu sich bil-
dende Welt. —


Und doch, — war das Griechenthum ganz abgethan, todt
für alle Zeit? Vieles, allzu vieles von der Weisheit seines
Greisenalters lebte weiter in den speculativen Ausgestaltungen
des Christenglaubens. Und in aller modernen Cultur, die sich
aus dem Christenthum und neben ihm her gebildet hat, in
jeder Wissenschaft und Kunst, ist vieles lebendig aus griechi-
4)
[691] scher Seelenkraft und griechischer Gedankenfülle. Die äussere
Gestalt des Griechenthums ist dahin; sein Geist ist unver-
gänglich. Was je im Gedankenleben der Menschen ganz
lebendig geworden ist, kann nie mehr zunichte werden; es lebt
ein Geisterdasein weiter; in das Geistesleben der Menschheit
eingegangen, hat es seine eigene Art der Unsterblichkeit. Nicht
immer in gleicher Stärke, nicht stets an derselben Stelle tritt
im Menschheitsleben der Quell griechischer Gedanken zutage.
Aber niemals versiegt er; er verschwindet um wiederzu-
kehren; er verbirgt sich, um wieder aufzutauchen. Desinunt
ista, non pereunt.



[[692]]

Nachträge.


S. 22. Entweichen der „Seele“ aus dem Munde, aus der
Pupille des Sterbenden. Der Glaube scheint noch durch in Ver-
sen wie dem auf dem Grabmal der Pomptilla, Kaibel. Ep. lap.
547 (I. Gr. Sic. et It. 607, e), V. 9. 10: στᾶσα λιποψυχοῦντος ὑπὲρ γα-
μέτου Πώμπτιλλα τὴν κείνου ζωὴν ἀντέλαβεν ϑανάτου. Babrius 95, 35:
ψυχαὶ δ̕ ἐν ὀφϑαλμοῖσι τῶν τελευτώντων (s. Crusius, Rhein. Mus.
46, 319). Plinius n. h. 28, 64: augurium ex homine ipso est
non timendi mortem in aegritudine quamdiu oculorum pupillac
imaginem reddant.


S. 30. A. 1. Den Leib eines als Vampyr umgehenden Tod-
ten verbrennt man: dann ist die Seele gebannt und kann nicht
wiederkommen. S. die Berichte (nach Tournefort Voy. au Levant
1, 52 ff. u. A.) bei Meiners, Allgem. Gesch. d. Relig. 2, 788 f.;
C. Meyer, D. Abergl. des M. A. 346 f.


S. 66, Anm. 1. Entführung durch die Sturmgeister, sprich-
wörtlich. Il. Z 345 ff.: ὥς μ̕ ὄφελ̕ ἤματι τῷ ὅτε με πρῶτον τέκε
μήτηρ οἴχεσϑαι προφέρουσα κακὴ ἀνέμοιο ϑύελλα εἰς ὄρος ἢ εἰς
κῦμα πολυφλοίσβοιο ϑαλάσσης (d. h. in die Einöde. Orph. hymn.
19, 19; 36, 16; 71, 11). Entführung durch die Luft entgegen-
gesetzt dem Tode und Hadesaufenthalt: Soph. Trach. 953 ff.;
Ai. 1193 ff. (Phil. 1092 ff.?). Vgl. Eurip. Hippol. 1279 ff.,
Ion. 805 f.


S. 68, A, 1, Vgl. Aristot. Metaph. 1000 a, 12 ff.


S. 106 Anm. Den Amphiaraos ἐδέξατο ῥαγεῖσα Θηβαία κόνις
αὐτοῖσιν ὅπλοις καὶ τετραόρῳ δίφρῳ Sophocl. fr. 873. ἥρπασεν
χάρυβδις οἰωνοσκόπον, τέϑριππον ἅρμα περιβαλοῦσα χάσματι Eurip.
Suppl. 501 f.


[693]

S. 111, A. 2. Anrufen der χϑόνιοι, indem man auf die Erde
schlägt, unter deren Decke sie hausen. S. Nägelsbach, Nach-
homer. Theol.
102, 214. Skedasos in Sparta γῆν τύπτων ἀνεκα-
λεῖτο τὰς Ἐρινύας · Plut. amat. narr. 3 p. 774 B. In der Trauer
um seine gestorbene Tochter wirft sich Herodes Atticus zu
Boden, τὴν γῆν παίων καὶ βοῶν · τί σοι ϑύγατερ καϑαγίσι; τί σοι
ξυνϑάψω; Philostr. V. Soph. 2, 1, 10. Pythagoras ὅταν βροντήσῃ,
τῆς γῆς ἅψασϑαι παρήγγειλεν. Jamblich. V. Pyth. 156. — Am-
phiaraos gehört eben auch zu den χϑόνιοι. Ἀμφιάραε χϑόνιε wird
er, neben anderen χϑόνιοι, angerufen noch in dem Pariser Zauber-
buch, Z. 1446 f. (p. 81 Wess.).


S. 112, A. 2. Bei Ampelius 8, 3 stellt Jovis templum Ty-
phonis
(statt hyphonis) her A. Dieterich, De hymn. Orph.
47. Aber dass Zeus irgendwo den Namen seines Feindes als
Beinamen getragen habe, müsste doch erst nachgewiesen wer-
den (bei der Beschaffenheit der Ueberlieferung des Ampelius
läge von hyphonis selbst: chthonii oder: hypochthonii nicht zu
weit ab).


S. 116, A. 3. Ins. beim Tempel des Apollon Ptoos gefunden
(Bull. corr. hell. 1890 p. 21): Καλλικλίδας Λοκρὸς — καταβὰς
ἐν Τρεφώνιον. — ὁ (ἱερεὺς) τοῦ Διὸς τοῦ Τροφωοίου in Lebadea:
I. Gr. sept. I n. 3077 (s. I/II nach Chr.).


S. 117, A. 1. Amphiaraos benannt ὁ ϑεὸς in Oropos, Saec. II,
I vor Chr.: I. Gr. sept. I 3498; 412. C. I. Gr. 1570 A, 25. 30.
52. Cic. de divin. 1, 88: Amphiaraum sic honoravit fama
Graeciae, deus ut haberetur.


S. 121, A. 2 (Z. 8 ff. v. u.). κλίνην στρῶσαι τῷ Πλούτινι: C.
I. A.
II 948. 949. 950. Für Attis: C. I. A. II 622. Für Herakles
beim ξενισμός: Inscr. of Cos 36 b, 22. στρωννύειν ϑρόνους δύο
(wie hier einen ϑρόνος für Zeus χϑόνιος) für eine Göttin: C. I. A.
II 624, 9. 10. (So neben lectisternium auch, zumal für weib-
liche Gottheiten, sellisternium in Rom: Comment. lud. Saecul.
[Monum. ant. dell’ Acad. dei Lincei I] Z. 71; 101; 138
u. sonst.).


S. 123, A. 2. Der ὀμφαλός einem ϑόλος gleich: sowie die
ὀμφαλοί (an φίαλαι) καὶ τῶν βαλανείων οἱ ϑόλοι παρόμοιοι sind.
Athen. 11, 501 D. E. (Hesych. s. βαλανειομφάλους. Bekk. anecd.
225, 6).


[694]

S. 129. Dass Hyakinthos, auf dem amykläischen Altar
bärtig dargestellt (Paus. 3, 19, 4), nicht als der Geliebte des
Apollo gedacht werden könne, leugnet F. Hauser, Philol. 52,
218. Auch Apollo werde ja zuweilen bärtig dargestellt. Dabei
ist nur übersehen, dass, was dem ἐραστής wohl ansteht, bei den
παιδικά unmöglich ist. Wer hat je von παιδικά, φϑονεροῖς φρίσ-
σοντα γενείοις gehört? Wie oft beklagt τὴν ὥρην ἐκ τριχὸς ὀλλυμ-
ένην die Μοῦσα παιδική des Straton. — Wenn aber die ältere
Kunst und Sage von dem Liebesverhältniss des Apollo zu Hya-
kinthos nichts weiss, so auch nichts von dessen frühem Tode
u. s. w., mag diese, nach einem auch sonst verwendeten Schema
das nahe Verhältniss des Apoll zu Hyakinthos aus einem Liebes-
verhältniss erklärende Sage auch schon im 5. Jahrhundert sich
der älteren Sage an die Seite gestellt haben (wiewohl die von
Hauser auf die Geschichte von Hyakinthos, Zephyros und Apollo
gedeuteten bildlichen Darstellungen aus dem 5. Jahrhundert
keinerlei sichere Handhabe für eben diese Deutung bieten).


S. 135 Anm. Unter denen, qui immortales ex hominibus
facti sunt,
nennt Varro bei Serv. Aen. 8, 275 auch den Amphia-
raos (quem Thebani colunt). [Ueberraschend ist, dass nach
Varro auch den Tyndareos die Lacedaemonii als Gott ver-
ehren. Vgl. Wide, Lakon. Culte 10. 11]. Vgl. auch Apuleius,
de deo Socr. 15 extr.


S. 137, A. 2. Ed. Meyer, Forsch. z. alten Gesch. (1892) 1,
222 besteht darauf, dass das durch Oenomaus bei Euseb. praep.
ev.
5, 28, 3 p. 223 B erhaltene Orakel auf Ephorus zurückgehe.
Denn in anderen Fällen lasse Uebereinstimmung des Oenomaus
mit Diodor darauf schliessen, dass die von Oen. benutzte Orakel-
sammlung einiges dem Ephorus verdanke. Eben dieses (oben-
drein ganz unsichere) Kriterium versagt aber hier, wo Oenomaus
mit Diodor nicht übereinstimmt. Die ihm vorliegende Samm-
lung war aus sehr verschiedenen Quellen zusammengekommen
(und schöpfte z. B. [Euseb.] V 27, 4 p. 221 D ersichtlich aus
einer ganz anderen Erzählung als der bei Diodor 8, 6 Dind. be-
nutzten, die ein mit Pausan. 4, 9, 4 inhaltlich übereinkommen-
des Orakel einschloss). Gerade auf Ephorus das in 5, 28, 3 er-
haltene Orakel zurückzuführen, giebt nichts uns Anlass und
Recht.


[695]

S. 151, A. 1. extr. Vgl. Philostrat. Heroic. p. 138, 6 —
19. Kays.


S. 151 f., A. 2. μνημεῖον τοῦ Ῥήσου in Amphipolis: Marsyas
ὁ νεώτερος in Schol. Rhes. 347 (p. 30, 3 Dind.).


S. 158, A. 1. Aus hundert ihr vorgeschlagenen Namen von
ἀρχηγέται erwählt die Pythia zehn als die der ἐπώνυμοι der
kleisthenischen Phylen: Aristot. Ἀϑ. πολ. 21, 6 (ἐκ πολλῶν ὀνο-
μάτων ἑλομένου τοῦ Πυϑίου. Poll. 8, 110).


S. 159, Z. 1. Benennung der δῆμοι durch Kleisthenes nach
den τόποι, nur subsidiär nach den κτίσαντες: Aristot. Ἀϑ. πολ.
21, 5. Aus dem Ortsnamen wurde dann eine möglichst zu einer
wirklichen Person erhobene Benennung eines Heros abstrahirt
(Vgl. Wachsmuth, Stadt Athen II 1, 248 ff.).


S. 159, Z. 15 ff. Die Tendenz war, den Heros ἀρχηγέτης
möglichst hoch hinaufzuschieben und so göttlichem Ursprung
möglichst nahe zu rücken. Darüber wurde, zu Gunsten eines
fictiven Urvaters, der Name des wirklichen Ahnen der Familie
bisweilen zurückgesetzt. Die Nachkommen des Bakchis in Ko-
rinth führen sich auf Aletes zurück (Diodor, 7, 9, 4; Paus. 2,
4, 3), die Nachkommen des Aepytos in Messenien auf Kresphontes
(Paus. 4, 3, 8); die Nachkommen des Agis und Eurypon in
Sparta auf Eurysthenes und Prokles. Die wahren Ahnen waren
in diesen Fällen wohlbekannt, liessen sich auch (als im Cult zu
fest eingewurzelt) nicht völlig verdunkeln: nach wie vor hiessen
jene Geschlechter Βακχίδαι, Αἰπυτίδαι, nicht Ἡρακλεῖδαι (Diod.
a. O.; Paus. 4, 3, 8), die spartanischen Königsfamilien Agiden,
Eurypontiden; und die fictiven Ahnen, Eurysthenes und Prokles,
brachten es nicht zu dem vollen Ansehen von ἀρχηγέται: Ephorus
bei Strabo 8, 366. In anderen Fällen mag aber doch der fingirte
Ahn den früher wohlbekannten wirklichen Stammvater ganz
aus dem Gedächtniss verdrängt haben.


S. 162, A. 2. Heroen nur durch Beinamen bezeichnet. Vgl.
noch S. 640, 4. 5. In Athen der ἥρως ὁ ἐπὶ βλαύτῃ: Pollux 7,
87. In Epidauros auf einem Architrav die Inschrift: ἥρωος
κλαϊκοφόρου (Fouilles d’ Épid. I n. 245.).


S. 163, Z. 13 v. u. Aus Scheu vor dem Furchtbaren nennt
man die Erinyen τὰς ἀνωνύμους ϑεάς. Eurip. I. T. 919 (ἃς τρέ-
μομεν λέγειν Soph. O. C. 129. So ἄῤῥητος κόρη öfter die Perse-
[696] phone.). Vielleicht darum auch ἀιώνυμοι die Seelengeister (auf
den kyprischen Defixionen: p. 654, 1).


S. 185, A. 2. Der durch seinen Blitztod heroisirte Ka-
paneus wird vor der Thüre des königlichen Hauses beigesetzt;
dort ist sein ἱερὸς τύμβος. Eurip. Suppl. 940. 984. Beisetzung
vor der Hausthüre ist Privileg der Heroen. Offenbar als solchen
werden auch den vom Blitz erschlagenen Tarentinern πρὸ
τῶν ϑυρῶν ihrer Häuser στῆλαι errichtet (und an ihren Ge-
dächtnisstagen keine Todtenklage und keine χοαί gewidmet):
Klearch. bei Athen. 12, 522 F.


S. 192, A. 2. Μελιτώδης, Μελίβοια Beinamen der Persephone,
Μειλινόη der Hekate (Orph. hymn. 71.). “Μελινδία“, Gattin des
Hades: Malalas p. 62, 10 (wohl: Μελίνοια). Ἀρίστη χϑονία; Pa-
riser Zauberbuch 1450.


S. 192 f. Dass Zeus Eubuleus erst nachträglich, als seine
„ursprüngliche Bedeutung vergessen“ war, zu einem χϑόνιος ge-
worden, mit Hades identificirt worden sei, nimmt doch wohl
mit Unrecht an O. Kern, Athen. Mittheil. 1891 p. 12. Nichts
weist darauf hin, dass Zeus Eubuleus jemals ein οὐράνιος gewesen
sei; eine solche völlige μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, eines οὐράνιος
zu der Classe der χϑόνιοι, wäre auch ohne Beispiel. Ist also
der neben anderen χϑόνιοι, Persephone, Demeter u. A. (auch auf
Delos: Bull. corr. hell. 14, 505 A. 4) verehrte Zeus Eubuleus
(oder Buleus) durchaus und zu jeder Zeit der Herr der Unter-
welt, so kann der gemeinsam mit Pluton in Eleusis verehrte
Eubuleus nicht wohl (wie Kern annimmt) ein Zeus Eubuleus sein:
das wäre Pluton noch einmal. Es ist keineswegs so bedeutungs-
los, wie Kern p. 11 meint, dass der eleusinische Εὐβουλεύς stets
ohne den vorgesetzten Namen Ζεύς erscheint. Er ist eben eine
von dem Ζεὺς Εὐβουλεύς abgetrennte, zum Heros herabgesetzte
Gestalt, die so erst neben Pluton stehen kann. Den Heros
Eubuleus kennt nicht nur die orphische Fabel, sondern auch
die ächte athenische Legende, wie sie in Schol. Luc., Rhein.
Mus.
25, 549 und bei Clem. Al. protr. 11 C/D erhalten ist.
(Hieraus ist also gegen die Deutung des unbärtigen Jünglings-
kopfes aus Eleusis auf den Eubuleus des Praxiteles ein Argu-
ment nicht zu entnehmen, freilich auch noch keines dafür.)


S. 196 Anm. Unter ὁ ϑεός und ἡ ϑεά in Eleusis versteht
[697] Kern, Athen. Mittheil. 1891 p. 5. 6, Pluton und Persephone.
Lakrateides nennt sich einen Priester ϑεοῦ καὶ ϑεᾶς καὶ Εὐβου-
λέως (C. I. A. 2, 1620 c); auf dem Reliefbild, über dem seine
Weiheinschrift steht, sind, nach den Beischriften, dargestellt Πλού-
των, ϑεά, Τριπτόλεμος. Unter der Voraussetzung, dass das Relief
diejenigen numina darstelle, deren ἱερεύς Lakr. war, könnte ja,
wie Kern annimmt, der Πλούτων des Reliefs = dem ϑεός und dann
wahrscheinlich ἡ ϑεά keine andere als Persephone sein. Aber
die Voraussetzung ist unhaltbar. Das Relief zeigte ja den Tri-
ptolemos, dessen Priester L. nicht war, zeigt aber keine Spur
von Eubuleus, dessen Priester er war. Dazu heisst es oben, dass
Lak. sein χαριστήριον ἀνέϑηκε Δήμητρι καὶ κόρ[ῃ — — —: also
keinesfalls allein den Gottheiten, deren Priester er war (unter
denen nur Eine ϑεά ist). Da sich demnach die Gestalten des
Reliefs keineswegs mit denen, deren Priester L. war, decken,
spricht nichts dafür, das ὁ ϑεός = Πλούτων war, und dann
auch nichts dafür, dass ἡ ϑεά = Κόρη war. Kommt nun
hinzu, dass auf der Eleusinischen Inschrift, C. I. A. 4, 27 b (Dit-
tenb. Syll. 13), neben einander erwähnt und von einander unter-
schieden werden τοῖν ϑεοῖν ἑκατέρα (Demeter und Kore), Tripto-
lemos, ὁ ϑεός und ἡ ϑεά und Eubuleus: so bleibt es doch geradezu
unmöglich, unter ἡ ϑεά die Kore zu verstehn (was ja ohnehin,
da Kore nicht isolirt steht, sondern mit der Mutter zusammen
unter der Bezeichnung τὼ ϑεώ ganz regelmässig zusammengefasst
wird, kaum thunlich wäre). Es wird nicht möglich sein, der
ϑεά und dem ϑεός einen bestimmten Namen zu geben.


S. 202, A. 2. Vgl. noch Philodem. π. ϑανάτου p. 33 f.
Mekl.


S. 203, A. 1. Origanon (Doste, weisser Thymian) wird
doch wohl als apotropäisch, Geister verscheuchend, der Leiche
beigelegt. Die Alten wussten von der Kraft dieser Pflanze, Un-
geziefer, Ameisen, Schlangen abzuhalten (s. noch Aristot. h. an.
4, 8 p. 534 b, 22 [Plin. n. h. 10, 195]; Theophrast. Caus. Plant.
6, 5, 4; Geopon. 12, 19, 7). Neuerer Aberglaube verwendet sie,
um Wichtel und Nixen, Hexen und Gespenster fernzuhalten
(Grimm D. Myth.4 p. 1015; III p. 471, n. 980). Legt man
Doste und Tarant den Wöchnerinnen bei, so können ihnen die
Volande und Gespenster nichts thun „weil solche Kräuter diesen
[698] zuwider“. (J. Chr. Männlingen bei Alwin Schultz, Alltagsleben
einer d. Frau im 18. Jahrh.
p. 195 f.). Beide Wirkungen hängen
zusammen. Durch scharfen Geruch von Kräutern und verbrann-
ten Stoffen werden so Schlangen wie nocentes spiritus, monstra
noxia
verscheucht: Pallad. de re rust. 1, 35 (p. 45 Bip.). Die
monstra noxia wohl eben, sofern sie in Gestalt von Schlangen
oder Insekten der Leiche sich nähern möchten (wie jenes Leichen-
gespenst bei Apuleius Met. 2, 24 sich als Wiesel gestaltet heran-
macht, und dort die den Leichen gefährlichen versipelles et aves
et rursum canes et mures, immo vero etiam muscas indu-
unt:
cap. 22). So ist auch das Origanon an der Leiche ein
kathartisches, d. h. unterirdische Geister verscheuchendes Mittel
(als Zauberkraut jedenfalls ist Origanon auch eines der Symbole
in Mysterien der Themis: Clem. Al. Protrept. p. 14 B.). — Wein-
reben, auf die man, nach Aristophanes, die Leiche bei der πρόϑεσις
bettete, dienten auch der Leiche im Grabe als Lager: wie sich
in einzelnen der neuerdings vor dem Dipylon in Athen aufgedeck-
ten Gräbern gezeigt hat (Athen. Mittheil. 1893 p. 165. 184).
Ein superstitiöser Grund auch dieser Sitte muss wohl voraus-
gesetzt werden (wie entschieden bei der Lagerung der Leiche
auf Olivenblättern: p. 209, 3; 360, 1). Nachzuweisen wüsste ich
ihn nicht.


S. 208 A. 4. Die jüngst vor dem Dipylon aufgedeckten
Gräber zeigen die Todten aus ältester Zeit (auf, nicht in deren
Gräbern die grossen sog. Dipylongefässe ihre Stelle hatten) durch-
weg begraben (ohne Sarg); nur in Einem Falle ist die Leiche
verbrannt; die folgenden Zeiten verbrannten (bis in’s 6. Jahr-
hundert) zumeist ihre Todten; später scheint Begraben häufiger
geworden zu sein. (S. den genauen Bericht über Anlage und
Inhalt dieser Gräber verschiedenster Zeiten von Brückner und
Pernice in den Athen. Mittheil. 1893 p. 73—191).


S. 211, 3. 4. Den Timarchos bittet seine Mutter, τὸ Ἀλω-
πέκῃσι χωρίον, (11—12 Stadien vor der Stadtmauer gelegen) ἐν-
ταφῆναι
ὑπολιπεῖν αὐτῇ (dennoch verkauft er es): Aeschines,
g. Tim. § 99. — Beispiele ländlicher ummauerter Familiengräber
mit vielen Grabstellen sind in Ostattika erhalten (s. Belger, die
mykenische Localsage von den Gräbern Agamemnons u. d. Seinen
[Progr., Berlin 1893] p. 40. 42).


[699]

S. 212, A. 2. Das Grab in einem von Vögeln belebten Hain
(ὄφρα καὶ εἰν Ἀΐδῃ τερπνὸν ἔχοιμι τόπον): Kaib. ep. lapid. 546, 5—14.


S. 213, A. 3. Wohl auf das Umtrinken und dabei statt-
findende Lobpreisen des Verstorbenen beim περίδειπνον bezieht
sich, was vom πίνειν und λέγειν ἐπιδέξια ἐπὶ τεϑνηκότι sagt Ana-
xandridas bei Athen. 11, 464 A.


S. 214. In Argos gleich nach eingetretenem Todesfalle ein
Opfer an Apollo, dreissig Tage nachher eines an Hermes. Plut.
Q. Graec. 24.


S. 215, A. 2. Jährliches Gedenkfest für einen Verstorbenen
an dessen Geburtstag; s. noch p. 634 Anm.; 640, 3. Zwei-
mal jährlich, an einem besonders wichtigen Gedenktage und an
seinem Geburtstage wird in Sikyon dem Arat geopfert. S. p. 642, 3.
So zweimal jährlich dem Könige Antiochos von Komagene, am
Tage seines Regierungsantrittes und an seinem Geburtstage: Ins.
von Nemrud-Dagh II b, 10 ff. (Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1883).
— Allmonatlich wiederholte Gedenkfeiern für Verstorbene
begegnen öfter. Eine Freigelassene soll ihres ehemaligen Herrn
Bildniss zweimal monatlich, an der νουμηνία und am siebenten,
bekränzen: Collitz, Dialektins. 1801, 6. 7. (Delphi: Gedächt-
nissfeiern, ἀλλαϑεάδες, für den verstorbenen Herrn: ibid. 1731,
13; 1775, 29; 1796, 6). Allmonatliche Feier der εἰκάδες für
Epikur, nach seinem Testamente, Laert. 10, 18 (Cic. Fin. 2, 101.
Plin. n. h. 35, 5). κατὰ μῆνα Opfer für vergötterte Ptolemäer:
C. I. Gr. 4697, 48. — Ganz nach heidnischem Ritus feiern die
Kephallenier dem Epiphanes, Sohn des Karpokrates, κατὰ νουμη-
οίαν, γενέϑλιον ἀποϑέωσιν. Clem. Strom. III p. 428 B. C.


S. 216, Anm. 2. Νεμέσεια, Todtenfest. Φϑιμένων ὠκυτάτη
νέμεσις. Kaib. ep. lap. 119 (vgl. 195). ἔστι γὰρ ἐν φϑιμένοις Νέ-
μεσις μέγα ib. 367, 9.


S. 217, Anm. 3. Weissdorn, wie Gespenster verscheuchend,
so auch giftige Thiere abhaltend. φασὶ δέ, ὅτι περίαπτον ἐξ αὐτοῦ
ϑηρία διώκει Dioscor. mat. med. 3, 12. Dieselbe Verbindung wie
beim Origanon (oben p. 697 f.), übrigens auch bei der σκίλλα
(s. p. 363, 1) und sonst.


S. 221, Z. 15 v. u. Der Hahn wird bei Zauberwerk und
sacrificia magica häufig als Opferthier verwendet. S. Dieterich,
Papyr. magica p. 785 A. 3.


[700]

S. 224, A. 2. In einem besonderen Falle ἐν νόμῳ γράψας
ὁ δῆμος ἀπεῖπεν μήτε λέγειν ἐξεῖναι μηδενὶ κακῶς Ἁρμόδιον καὶ
Ἀριστογείτονα μήτ̕ ᾆσαι ἐπὶ τὰ κακίονα. „Hyperides“ κατὰ Φιλιπ-
πίδου (?) p. 47 (Kenyon).


S. 226 f. τριτοπάτορες könnten, der sprachlichen Form nach,
vielleicht auch sein: die dritte Väter Habenden. Etwa wie ὁμο-
πάτορες sind οἱ ἐκ τοῦ αὐτοῦ πατρός, εὐπάτορες die, welche edle
Väter haben. Aber dass die von Aristoteles (bei Pollux 3, 17)
u. A. vertretene Erklärung, nach der τριτοπάτορες sind οἱ τρίτοι
ἀπὸ τοῦ πατρός, ὅπερ ἐστὶ πρόπαπποι (Bekk. anecd. 307, 16),
sprachwidrig sei (wie behauptet wird; nur natürlich nicht von
Lobeck: s. dessen Agl. 760. 763; Prol. Path. 51), ist nicht
richtig. Wie μητροπάτωρ ist ὁ μητρὸς πατήρ, πατροπάτωρ ὁ πατρὸς
πατὴρ (προπάτωρ der Vorvater, ψευδοπάτωρ = ψευδὴς πατήρ), völlig
so ist ὁ τριτοπάτωρ der dritte Vorvater, der Vater des πατρο-
πάτωρ, der πρόπαππος. Die τριτοπάτορες sind die τρίτοι πατέρες
(sowie die τριτέγγονοι die τρίτοι ἔγγονοι, die ἔγγονοι in dritter Ge-
neration), d. h. dann aber (s. Lobeck Agl. 763) Urahnen über-
haupt, προπάτορες.


S. 229, A. 1. extr. καρποῦν = ὁλοκαυτοῦν. So auch auf
dem Opferkalender von Kos, Inscr. of Cos 37, Z. 35. Vgl.
Stengel, Hermes 27, 161 f.


S. 229, A. 3. τὰ ὥρια, von Todtenopfern gesagt (Collitz,
Dialektins. 1545. 1546; ὡραίων τυχεῖν Eurip. Suppl. 177) be-
deutet nicht unmittelbar die νομιζόμενα, sondern die καϑ̕ ὥραν
συντελούμενα ἱερά (Hesych. s. ὡραῖα), die in regelmässiger Wieder-
kehr (ταῖς ἱκνουμέναις ἡμέραις: s. p. 236, 1) zu begehenden Opfer.
(So τελεταὶ ὥριαι Pind. Pyth. 9, 98.) Gemeint sind wohl im
Besonderen die ἐνιαύσια ἱερά (s. p. 215, 2; 216, 3; 230 Anm.).
Bekränzung des Grabmals κατ̕ ἐνιαυτὸν ταῖς ὡρίοις (sc. ἁμέραις)
Collitz 1775, 21; κατ̕ ἐνιαυτὸν ὡραῖα ἱερὰ ἀπετέλουν (den Heroen)
Plat. Critias 116 C.


S. 230, A., Z. 5 f. Eurip. Med. 1019. Medea zu ihren
Kindern: εἶχον ἐλπίδας πολλὰς ἐν ἡμῖν γηροβοσκήσειν τ̕ ἐμὲ καὶ
κατϑανοῦσαν χερσὶν εὖ περιστελεῖν, ζηλωτὸν ἀνϑρώποισιν. Plat. Hipp.
mai.
291 D. E: κάλλιστον ist es dem Menschen — — ἀφικομένῳ
ἐς γῆρας, τοὺς αὑτοῦ γονέας τελευτήσαντας καλῶς περιστείλαντι
ὑπὸ τῶν αὑτοῦ ἐκγόνων καλῶς καὶ μεγαλοπρεπῶς ταφῆναι. Die Be-
[701] deutung des ritualen, den Familiencult sichernden Begräbnisses
durch die eigenen ἔκγονοι wird in dieser populären Definition des
Wünschenswerthesten mit besonderer Kraft ausgesprochen.


S. 232, A. 1. extr. οἱ Ἀλεξάνδρου δαίμονες u. ä. S. Lobeck
Agl. 769 Anm.


S. 233, A. Z. 2. Auf die Schlange an einem Zauber-
bild schreibt man τὸ ὄνομα τοῦ ἀγαϑοῦ δαίμονος. Pariser Zauber-
buch 2427 ff. — Z. 10 v. u. Δαιμόνων ἀγαϑῶν Εἰσιδότου u. ä.:
Inss. aus Mylasa, Athen. Mitth. 15 (1890) p. 276. 277 (n. 23.
24. 25. 27.). Selten der Singular. Δαίμονος ἀγαϑοῦ Ἀριστέου
τοῦ Δράκοντος κτλ. Bull. corr. hell. 1890 p. 628. (Karien). —
Auf einer Ins. aus dem Mylasa benachbarten Olymos, die
man auf die Wende des 2. Jahrhunderts vor Christus setzt:
Φαῖδρος Μοσχίωνος ἱερεὺς Δαιμόνων ἀγαϑῶν (Athen. Mittheil. 1889
p. 370; u. ö.: s. ebenda p. 394).


S. 237, Z. 1—3. So beruft sich Plutarch, de ser. num.
vind.
17 p. 560 C. D. ausdrücklich auf die Orakel des delphi-
schen Gottes, in denen ἱλασμοί, γέρα μεγάλα und τιμαί für Ver-
storbene verordnet würden, als ein starkes Argument dafür, dass
die Seelen der Verstorbenen im Tode nicht untergehen. Der
Gott selbst giebt dafür Zeugniss. ἄχρι τοῦ πολλὰ τοιαῦτα προ-
ϑεσπίζεσϑαι, οὐχ ὅσιόν ἐστι τῆς ψυχῆς καταγνῶναι ϑάνατον.


S. 245, A., Z. 17 v. u. Recht deutlich tritt das Neben-
einander der sofort eintretenden ζημία aus menschlichem Gericht
und die παρὰ τῶν ϑεῶν τιμωρία der ἐπίορκοι hervor in den
Worten des Isokrates, or. 18, 3. (ὃς γὰρ ἂν ὑμᾶς λάϑῃ, τοῦτον
ἀφίετε τοῖς ϑεοῖς κολάζειν: Demosth. de f. leg. 71. Vgl. 239. 240.
Lycurg. Leocr. 79.) — Obligater, vor der Verhandlung das Ma-
terielle ihrer Behauptungen bekräftigender Eid für beide Parteien
stellt allemal die Bestrafung des Frevlers der Gottheit anheim.
So im Mittelalter hie und da; auf Ceylon u. a. Meiners, All-
gem. Gesch. d. Relig.
2, 296. 297.


S. 249, A. 1. Die ϑεοὶ μειλίχιοι stets χϑόνιοι. Gegensatz
zwischen δαίμοσι μειλιχίοις und μακάρεσσιν οὐρανίοις in den Sibyllen-
versen bei Phlegon, Macrob. 4 (p. 204, 13 West.). — deis mi-
licheis
Comm. de lud. saecul. Tavol. A, Z. 11.


S. 254, A. Aussaugen und Fortspeien von Blut des Er-
schlagenen durch den Mörder: Aeschylus fr. 354. Es ist ein
[702] kathartischer Act (ἀποπτύσαι δεῖ καὶ καϑήρασϑαι στόμα Aesch.)
Die verunreinigenden Rachegeister werden damit abgewiesen.
Plin. n. h. 28, 35: despuimus comitiales morbos, hoc est con-
tagia regerimus.


S. 262, A. 3, Z. 6 ff. v. u. Eine ähnliche Nachricht bei
Servius zur Aen. 6, 661.


S. 263, A. 2, Z. 4 v. u. Einweihung von δημόσιοι auch
C. I. A 2, 834 c, 24 (p. 531).


S. 275, A. 3. Auch bei Andocides de myst. 31 ist von mora-
lischer Verpflichtung der μεμυημένοι nichts gesagt: das ἵνα τι-
μωρήσητε κτλ. gehört nicht sowohl zu dem nur dazwischen-
geschobenen μεμύησϑε κτλ. als zu dem: οἵτινες ὅρκους μεγάλους
ὀμόσαντες κτλ., καὶ ἀρασάμενοι κτλ.


S. 280 Anm., Z. 22 v. u. Honigkuchen als Opfer für die
χϑόνιοι verkörpernden Schlangen. So für die Asklepiosschlange:
Herondas 4, 90. 91. Jedenfalls auch ein Opfer für unterirdische
(schlangengestaltete) Geister ist es, wenn man, das πάνακες ἀσκλη-
πίειον schneidend, nach der Lehre der ῥιζοτόμοι, zum Entgelt soll
ἀντεμβάλλειν τῇ γῇ παγκαρπίαν μελιτοῦτταν (d. h. den παγκ. ge-
nannten Honigkuchen: Ath. 14, 648 B); wenn man, die ξίρις (eine
Lilienart) ausgrabend, τριμήνου (aus Sommerweizen) μελιτούττας
ἐμβάλλει μισϑόν: Theophrast. Hist. plant. 9, 8, 7.


S. 282 Anm. Der Charongroschen ein Symbol des Ab-
kaufens der ursprünglich dem verstorbenen Hausherrn unverkürzt
mitzugebenden Gesammthabe des Hauses (ohne alle Symbolik wird
diese bei manchen „Naturvölkern“ dem Todten mitgegeben: so
gaben die Albaner im Kaukasus dem Todten alle seine Habe mit,
καὶ διὰ τοῦτο πένητες ζῶσιν, οὐδὲν ἔχοντες πατρῷον. Strabo 11, 503).
Deutlich redet noch J. Chr. Männlingen, Albertäten 353 (mir
nur im Auszug bei A. Schultz, Alltagsleben e. d. Frau p. 232 f.
zugänglich): „also haben unter den Christen diejenigen die Nach-
ahmung [der griechisch-römischen Todtenbestattung] gelernet,
welche den Verstorbenen einen Groschen mit in den Sarg geben,
welches soll seyn, dem Todten die Wirth-
schafft abkauffen
, — wovor sie in ihrem Leben gut Glück
zu haben ihnen einbilden“. Hier hat sich einmal mit der Sitte
zugleich die Kunde von deren erster und tiefster Bedeutung,
von der antike Schriftsteller kaum irgend etwas andeuten, in
[703] volksthümlicher Ueberlieferung aus dem Alterthum in christliches
Volksleben herübergerettet und durch lange Jahrhunderte im
Bewusstsein erhalten.


S. 285, Anm., Z. 13 v. u. Pariser Zauberbuch Z. 1464 ff.:
Αἴακε πυλωρὲ κλείϑρων τῶν ἀειδίων κτλ.; Z. 1403 der Trimeter:
κλειδοῦχε Περσέφασσα, Ταρτάρου κόρη.


S. 292, Anm., Z. 14 ff. v. u. Das Unglück der ohne Kinder
Sterbenden beruht darauf, dass ihnen nach dem Tode kein Seelen-
cult gewidmet werden wird. Eurip. Troad. 382 ff.: χῆραί τ̕
ἔϑνησκον, οἱ δ̕ ἄπαιδες, ἐν δόμοις ἄλλως τέκν̕ ἐκϑρέψαντες, οὐδὲ
πρὸς τάψοις ἔσϑ̕ ὅστις αὐτοῖς αἷμα γῇ δωρήσεται. Die Kinder
haben den Eltern das Grab zu bereiten. Entschuldigung ist
nöthig, wenn, beim Mangel von Kindern, die Mutter dem Ver-
storbenen das Grabmal errichtet. Δαμοτίμοι τόδε σᾶμα φίλα Ϝερ-
γάσατο μάτερ Ἀνφιδάμα · οὐ γὰρ παῖδες ἐνὶ μεγάροις ἐγένοντο.
Bustrophedoninschr. aus Troezen, Bull. corr. hell. 1893 p. 85.


S. 365, A. 1. Die Gnostiker versprechen durch ἐπαοιδαί,
μέλη, ἦχοι u. dgl. Kranke zu heilen und καϑαίρεσϑαι νόσων, ὑπο-
στησάμενοι τὰς νόσους δαιμόνια εἶναι, καὶ ταῦτα ἐξαιρεῖν λόγῳ
φάσκοντες δύνασϑαι. Plotin. 30, 14 Kh. Hier tritt der wahre
Sinn der Anwendung von Epoden, als Beschwörung dämonischer
Wesen, deutlich hervor (sonst auch πῶς φωναῖς τὰ ἀσώματα
[ὑπακούει];); auch des καϑαίρεσϑαι als Geisterverscheuchung.


S. 629, A. 2. Den Herodes Atticus trösteten die Athener
beim Tode seiner Tochter Panathenaïs ἐν ἄστει τε αὐτὴν ϑά-
ψαντες καὶ ψηφισάμενοι τὴν ἡμέραν, ἐφ̕ ἧς ἀπέϑανεν, ἐξαιρεῖν τοῦ
ἔτους. Philostr. V. Soph. II 1, 10.


S. 650, A. 1. ἡ πόλις ἡ Τροιζηνίων (τὸν δεῖνα) ἀρετῆς ἕνεκεν
ἀφηρώισεν. Bull. corr. hell. 17, 98.

Appendix A

S. 559, Z. 7: statt: Forderung nach begrifflichem Wissen:
lies: Forschung n. b. W. — Andere Druckfehler werden den
Leser kaum aufhalten: sie mögen unverzeichnet bleiben.


[[704]]

Appendix B Register.


  • Abaris 381 f.
  • Abrufen der Seele 61, 1.
  • Abwenden von Geisteranblick 376, 3.
  • Achill entrückt 80 f.; auf Leuke 658, 2.
    660662.
  • Achill Heros; Gott: 171, 4.
  • Adoption 229 f. In Mysterien 511 A.
  • Aeakos 285 A.
  • Aeschylos 519 ff.
  • Aethalides 461, 1.
  • Aether, Seelenelement 548 ff.
  • Agathos Daimon 232, 2.
  • Agriania 333, 2. 3.
  • Ahnencult 101 f. (Hesiod); im Heroen-
    dienst 147; der γένη 157; der Phy-
    len, Demen 152 f.
  • Aiaia 69, 4.
  • Ἅιδης ‗ ϑάνατος 491, 3; ‗ Grab
    673, 1. Hades und Grab verwechselt
    655, 1. εἰς Ἀίδαο 27, 2. 25, 1.
  • αἱμαϰουϱία 139, 6.
  • Akademie (Seelenlehre) 587, 1.
  • Alabandus 185, 4.
  • ἀλάστωϱ 372, 1. 374.
  • Alexander d. Gr., Entrückung 663, 2;
    Wiederkehr 665, 3.
  • ἄλιμον des Epimenides 387,
  • ἀλιτήϱιος 252 A.
  • Alkmaeon 177, 1.
  • Alkmaeon, der Arzt 464, 1.
  • Alp 376, 1. 651, 3.
  • Althaemenes 109, 1.
  • ἀμεταστϱεπτί 376, 3.
  • Amphiaraos entrückt 106 f. 113. 115.
    1. 692. Gott 117, 1. 134, 1. 693.
    Gott geworden 135, 1. 694.
  • ἀμφιδϱόμια 360, 1.
  • Amphilytos 353, 1.
  • Anagyros, Heros 178 f.
  • Anaxagoras 484 ff.
  • Anaximander 436.
  • Anaximenes 436.
  • ἀνιέναι (τὰ ϰαλά u. ä.) 226, 1.
  • Anios 176, 3.
  • Anthesterien 216 ff.
  • Antiphon 251 f.
  • ἄωϱοι umgehend; im Schwarm der
    Hekate 373, 1; kommen wieder
    680 A.
  • Apollon und Dionysos 340 ff. Ἀπόλ-
    λων Ἀτύμνιος etc. 176 A.
  • ἀπόνιμμα 367, 1.
  • ἀποφϱάδες ἡμέϱαι 215, 1. 245, 2.
  • ἀποπομπή 249, 1.
  • ἀποτϱόπαιοι (ϑεοί) 249, 1.
  • ἀϱαῖος (νέϰυς, δαίμων), 241 A. 534, 3.
  • Arat, Heros 642, 3. 643, 3.
  • ἀϱχηγοί, ἀϱχηγέται 158, 2. 161.
  • Areopag 244.
  • Aristeas 382385.
  • Aristoteles 591 ff.
  • Aristoxenos 463 A. 601 A.
  • Askese 394. 418; thrakische 425, 1;
    pythagoreische 457, 5.
  • Asklepios, chthonisch, mantisch 132 f.
  • ἄταφοι gehen um 201. 374. Vgl. 26.
  • ἀτέλεστοι im Schlamm 288, 1.
  • Athen und Eleusis 259 f.
  • Aufschieben des Geschicks durch die
    Gottheit 390 A.
  • M. Aurel. 619.
  • Ausspeien, apotropäisch. 254 A. 701 f.
  • Austreibung der Seelen 219, 1.
  • Autolykos 176, 2. 640, 1.
  • Bakis 351 ff. 356, 2. 357, 2.
  • Bάϰχος 300, 2.
  • βάϰχοι 307, 2. 323, 2.
  • Bασσαϱεύς 300, 2.
  • Baubo 371, 2.
  • Bäume um das Grab 23, 2. 212. 699.
  • Begeisterungsmantik, in Thrakien
    313 ff.; in Griechenland 344349.
  • Begraben, älteste Sitte 31. Begraben
    ohne Sarg 209, 2. 3. 4. Begraben
    und Verbrennen in Attika 208. 698.
  • Begräbniss im Hause 210, 3. 630, 1;
    in der Stadt 210, 2. 629, 2. 703.
  • Bekränzung der Leiche 204, 2.
  • Bendideen in Athen 397, 1.
  • Bestattung bei Homer 22 ff.; in spä-
    terer Zeit 200 ff., 627 ff.; der Könige
    in Sparta, Korinth, Kreta 155, 1;
    B. verweigert 201, 6. 202, 1.
  • Bιαιοϑάνατοι (βιοϑάνατοι, βίαιοι) gehen
    um 240, 1. 374. 652, 1.
  • Blitztod heiligt 132, 4. 510, 2. 679, 2. 696.
  • Blutgericht des Staates 239, 1.
  • Blutrache, Kreis der dazu Verpflich-
    teten bei Homer 237, 1. Abgekauft
    bei Homer 238. Dies später ver-
    boten 243, 2.
  • Bουϰόλοι, dionysische 308, 2.
  • C. χαῖϱε auf Grabsteinen 634, 1. 2. 3.
  • Charon 281.
  • Charongroschen 281 f. Anm. 702.
  • χοαί für Todte 222, 1.
  • χϱηστοί die Todten 635 f.
  • Chthonische Götter 191 ff. Gruppen
    von χϑόνιοι 195, 3. χϑόνιοι bei Ehe
    und Geburt angerufen 369, 2.
  • Chytrenfest 218.
  • Cicero 616, 2. 646, 2. 657 A.
  • Cypresse am Leichenhause 204, 1.
  • Daeira in Eleusis 261, 2.
  • Daemonen, von Heroen verschieden
    143, 2; Daemonen bei Hesiod 89 ff.;
    bei Empedokles 471 ff., 479, 2; den
    Stoikern 606608.
  • δαίμων, Personaldämon 607. δαίμων ‗
    πότμος 497, 4. 607. δαίμων ἀγαϑός
    232 f., 701. δαίμονες der Todten:
    232, 1. 701. δαίμων ϑνητός 95, 2.
  • Danaïden 292, 1.
  • Daphne 131. 346, 2.
  • δάφνη 217, 3. 346, 1. 474, 2.
  • Defixionen 379 A. 654, 1.
  • Delphisches Orakel, regelt das Sühne-
    wesen 250 f. Autorität im Heroen-
    cult 166170. Bekräftigt den Seelen-
    cult 236 f. 701; führt Dionysoscult
    ein 342. Entwicklung des Orakel-
    wesens in D. 345 ff. Grab des Python
    in Delphi 123 ff.
  • Demetercult 197.
  • δῆμοι nach γένη benannt 159, 1.
  • Demokrit 481 ff.; D. πεϱὶ τῶν ἐν Ἅιδου
    483, 2. Fragm. moralia 484 A.
  • Dexikreon 385, 1.
  • Diagoras von Melos 289.
  • Diana im Mittelalter 375, 2.
  • Dikaearch 455 A. 463 A. 601 A.
  • Dionysos, thrakisch 298 ff., 315 ff.;
    griechischer Gott 327 ff., orphisch
    395. 407 ff. Διόνυσος μαινόμενος 299 A.
    D. Herr der Seelen 306 A. 333, 2.
    Dionys in Delphi 124. 341 f. Orakel
    des Dionysos 313 f. 347. Dionys
    als Stier 302, 8. 308, 2. 411, 5; als
    βουϰόλος 308, 2.
  • Doppeleid, obligatorischer 245. 701.
  • Δύαλος 301 A.
  • Echidna 199 A.
  • ἐγχυτϱίστϱιαι 212, 6.
  • Eid 60. 345. 701.
  • ἐϰφοϱά der Leiche 207. 209, 2.
  • ἔϰστασις (ἐνϑουσιασμός, ϰατοχή) 304, 1.
    307314. 318. 323/4. 334/5. 336/7.
    339. 343. 346/7. 348/9. 350 ff. 356/7.
    383. 386/7. 478, 1. 575, 4.
  • Eleusinien 258 f. Geheimniss 266.
    Werth, Verheissungen 267 ff. 271/2.
    Neuere Deutungen 269/70. Sym-
    bolik 272. Spät 677. 685.
  • ἑλλέβοϱος, kathartisch 339, 3. 361, 1.
  • Elysion 63 ff. 70 ff. 658, 2. 671, 4. 5.
  • Empedokles 465 ff.
  • Empedotimos 385 f.
  • Empusa 372.
  • ἐναετηϱίς bei Mordsühne 503, 1.
  • ἔνατα 213, 5. 6.
  • ἐνϑύμιον 252 A.
  • Entrückung. Bei Homer 6470.
    73. Höhlenentrückung 106 ff. Entr.
    bei Pindar 497, 5; bei Euripides
    542, 3. Semitisch 72. 664, 2. Deutsch
    116, 1. Italisch 665, 1. E. nach den
    Inseln der Seligen 658, 2. E. durch
    Nymphen 663, 1; in einen Fluss 666, 1.
    — Entrückung des Achill 80 f.;
    der Alkmene 659 A; des Althae-
    menes 109, 1; Amphiaraos 106/7;
    Amphilochos 109; Antinoos 666, 1;
    Apollonius von Tyana 666, 2;
    Aristeas? 383, 1; der Berenike; ver-
    götterter Fürsten 663/4; des Dio-
    medes 84. 658, 2. 661 A; Empedo-
    kles 467, 2; Erechtheus 126128;
    Euthymos 181; Hamilkar 664, 2;
    der Helena 74, 3. 659 A; des Hera-
    klides Pont. 467, 2; der Iphigenia
    79. 659 A; des Kleomedes 167/8;
    Memnon 79 f.; Menelaos 63; Oedi-
    pus 535 f.; Phaethon 126, 1; Rhada-
    Rohde, Seelencult. 45
    [706] manthys 71, 2; des Telegonos und
    der Penelope 81/2; des Trophonios
    107/8. — Entrückung später nicht
    mehr verstanden 662, 1.
  • ἐπαγωγή 378, 2. 3.
  • Epicharm 551, 1.
  • Epikteta, ihr Testament 229, 1. 633, 5.
  • Epikur 621 ff. Stiftung für Todtencult
    229, 1. 235, 2.
  • Epimenides 387390. Theogonie des
    E. 391, 1.
  • ἐπιφάνεια des Dionysos 304 f. 333.
  • ἐπιπομπαί 249, 1. 379 A.
  • ἐπῳδαί 365, 1. 703.
  • Erde geschlagen bei Anrufung von
    χϑόνιοι 111, 2. 693.
  • Erinyen 66, 2. 244 ff. 523, 1.
  • ἐσχάϱα 33, 2.
  • εὐαγής 511, 1.
  • Eὐάπαν 376, 1.
  • Eubuleus, Eubulos 192, 4. 696.
  • Euklos 352 A.
  • Euphemistische Benennung der χϑόνιοι
    192. 696.
  • Euripides 539 ff.
  • Eurynomos 293, 1. 369, 3.
  • εὐσεβῶν χῶϱος 288, 1. 672, 2.
  • Euthykles 181, 2.
  • Euthymos 180/1.
  • Exegeten, in Sachen des Seelencultes
    befragt 236, 2.
  • Familiengräber auf dem Lande 211.
    698.
  • Feige kathartisch 363, 2.
  • Flüche auf Grabschänder 631/2.
  • Freigelassene, zum Seelencult der
    Herren verpflichtet 229, 3. 699.
  • Fustel de Coulange 156, 2. 231, 2.
  • Gaia 194 f. 346.
  • Geburtstag als Todtengedenktag
    215, 2. 699.
  • Gefallenes gehört den Heroen 224, 1.
  • Geisterkampf, nächtlicher 171, 1.
    638, 1.
  • Geisterzwang 379 A.
  • Gello 372 A. 373, 1.
  • γένη 157 ff.
  • Γενέσια, private und öffentliche
    215, 2. 216, 1.
  • Gericht im Hades 284 f. 657. 670, 6.
    420 f. (orphisch) 500 ff. (Pindar)
    566 f. (Plato).
  • Gespenstergeschichten 651 ff.
  • Gestirne, bewohnt 487, 2. Wohnort
    der Seelen 423, 4.
  • Γίγων 301 A.
  • Goldenes Zeitalter 85. 99, 2. 289, 3.
  • Ein Gott als Geleitsmann in die
    Unterwelt 675/6; als Liebhaber
    184, 5.
  • Gräber der Götter 122 ff. 125, 1.
  • Grab des Asklepios 133; Erechtheus
    128; des Hyakinthos 128 ff.; des
    Kekrops 128, 1; des Pluton 125, 1;
    des Python 124; des Zeus 122 ff.
  • Gräber der Heroen 149 ff.
  • Grab und Hades verwechselt 655, 1.
  • Grabgenossenschaften 628, 1.
  • Grabinschriften 668 ff.
  • Grabräuber 630.
  • Haaropfer 16, 1.
  • Hadescult 193 f.; Hadeseingänge
    198 f. A.; Hadesfahrten 45 ff. 48, 1
    (homerisch), 278 (epische), 289
    (komische), 456 (Pythag.), 420, 2
    (orph.).
  • Hahn, den Unterird. geopfert 221, 1.
    699.
  • ἁϱμονία: die Seele ἁ. 462, 1.
  • Harpyien 66, 67. 692.
  • Haschisch 309 f.
  • Hasisadra 72, 1.
  • Häuslicher Seelencult 232.
  • Hekate 368377; Schwarm der He-
    kate 372 ff.
  • Hekatemahlzeiten 367, 1. 376, 2.
  • Hektor, Heros 151, 1. 638, 4. 639 A
    (Hektor noch um die Mitte des
    4. Jahrhunderts in Troas mit
    Opfern verehrt: Julian. epist. 78,
    p. 603/4 Hertl.).
  • Helena entrückt 74, 3.
  • Hemithea 176, 4.
  • ἡμίϑεος 142, 2.
  • Henoch 72, 1.
  • Hephaestion 646.
  • Herakles in der Nekyia 56. Heros-
    Gott 171.
  • Heraklides Ponticus 352 A. 353, 2
    (Sibyllen), 382 (Abaris), 386 (Em-
    pedotimos), 454, 2 (Pythag.), 461
    (Pythag.), 467, 2 (Empedokles),
    610/11 (Seelen in der Luft).
  • Heraklit 437 ff.
  • Hermione, Cult der χϑόνιοι 195, 2.
    199, 3.
  • Hermotimos 385 f.
  • Heroen. Heroen bei Homer 144, 1;
    bei Hesiod 96, 1. 145. In nach-
    homerischer Zeit 137 ff., 695. Bei
    Pindar 497. In später Zeit 636
    [707]650. ἥϱως ‗ Verstorbener 234.
    647 ff. ἥϱως bei Lebzeiten 645.
    Namenlose H. 161163. 695. ἥϱως
    ἱατϱός 174. Heroengräber 149 ff.
    Translation von Heroengebeinen
    151, 1. 152, 1. Heroisirte Könige
    und Gesetzgeber 165; Könige von
    Sparta, Korinth, Kreta 155, 1.
    Heilheroen 173 ff. 640, 3. H. als
    Kriegshelfer 183/4. Wettkampf-
    spiele für Heroen 140 ff. Heroen
    zu Göttern geworden 171/2. He-
    roenopfer, am Abend dargebracht
    139, 2. Heroenlegenden 184 f.
    ἥϱωες δυσόϱγητοι 225, 4. ἡϱῷα an
    der Thür 185, 2. 696. ἡϱῷΐς, He-
    roenfest 333, 2. ἡϱωϊϰά 641, 3.
    ἡϱωϊσταί 641, 6.
  • Hesiod. Mythus von den Menschen-
    geschlechtern 85 ff.
  • ἱλασμός 248. 250.
  • Hierophant εὐνουχισμένος 262, 3. 702.
  • Hippokrates, Cult des 640, 3.
  • Hippolytos 152, 2.
  • Höhlengötter 104 ff.
  • Höhle des Zeus auf Kreta 120 ff.
  • Höllenstrafen 5759. 284288. 291 f.
    420. 500 ff. 657, 1.
  • Homer 35 f.
  • Honigkuchen für Unterirdische 218, 3.
    280, 1. 702.
  • ὥϱια, ὥϱαῖα, Todtenopfer 229, 3. 700.
  • Hunde der Hekate 363, 1. 367, 1.
    375.
  • Hunde auf Grabreliefs 221, 1.
  • Hyakinthia 130 f.
  • Hyakinthides 129, 2.
  • Hyakinthos 128131. 132. 694.
  • Hydrophoria 218, 3.
  • Iakchos 261 f.
  • Idäische Höhle 120 f.
  • Incubation 113 ff.; heroische Incu-
    bationsorakel 174 f.
  • Ino Leukothea 68, 2. 176, 5.
  • Inseln der Seligen 98 (Hesiod). 504 f.
    (Pindar). Entrückung der Helden
    dahin 658, 1. Aufenthalt aller From-
    men 659, 1. 671. Aufgefunden 659, 2.
    Mit Leuke identisch 658, 2. 662 A.
  • Isismysterien 687, 1.
  • Jüdisch - hellenistische Seelenlehre
    667, 1.
  • Jüdische Fälschung eines Pindari-
    schen Gedichts 506 A.
  • Ixion 284.
  • Kaineus 108.
  • Kalchas 174, 4.
  • Kαϱϰώ 372.
  • Kαϱποῦν 229, 1. 700.
  • Kατάδεσμοι 378 f.
  • Kαϑάϱματα den Geistern preisgegeben
    367, 1.
  • Kathartik 348 ff. 374. Kάϑαϱσις μανίας
    336. 337 A. Musikalische Katharsis
    337. Musikalische Kath. der Pytha-
    goreer 474, 2. Katharsis durch Me-
    lampus 339 f.; durch Bakis 357, 2. K.
    orphisch 402. 419. K. des Empe-
    dokles 474, 2. K. bei Plato 573 ff.
  • Kαϑέδϱαι, Seelenfeste 214, 3.
  • Kenotaph 61, 2. 81, 1.
  • Kerberos 280, 1.
  • Kῆϱες 9, 1. 219, 1. 2. 370 A.
  • Klage stört die Todten 206, 2.
  • Kλειδοῦχοι ϑεοί 285 A., 703.
  • Kleomedes 167 f.
  • Klymenos 193, 1.
  • Kωλύματα 365 A.
  • Korybantiasmus 336 ff.
  • Krankheit kommt von dämonischer
    Einwirkung 358, 2. 364, 2.
  • Kreta: Zeuscult 120 ff. 387, 2. Mantik,
    Kathartik auf Kr. 387, 1.
  • Kτέϱεα ϰτεϱεΐζειν 19, 1. 23, 3.
  • Lamia 372 A.
  • Leichenfressende Daemonen: Euryno-
    mos u. A. 293, 1. Hekate 369, 3.
  • Leichenklage 204/5.
  • Leichenmahl, beiHomer 24. In späterer
    Zeit (πεϱίδειπνον) 213 f.
  • Leichenspiele, bei Homer 18; für
    Heroen 141/2.
  • Leichenzug 207.
  • Lerna 305, 1. 368 A.
  • Lethe 290, 2. 670, 5.
  • Lethe- und Mnemosynequell 678.
  • Leuke, Achills Insel 80 f. 660662.
  • Lob des Verstorbenen beim πεϱί-
    δειπνον 213, 3. 699.
  • Lorbeer scheucht Gespenster 217, 3
    (s. δάφνη).
  • λουτϱοφόϱοι 292, 1.
  • Lucian. de luctu 627. Philops. 371, 1.
    652, 1.
  • Lüge, gerechte, erlaubt 522, 1.
  • Lykas, Lykos 180, 1.
  • λύσιος Διόνυσος 338, 1. λύσιοι ϑεοί 418, 1.
  • λύσις der Seele 420, 3. 421, 3. 577, 1.
  • Machaon und Podalirios 173, 2.
  • μαινάς 299.
  • μαϰαϱίτης 283, 1.
  • μανία, göttliche 297. 334. μανία im
    Dionysoscult 328 f.
  • μάντις 345 A.
  • μάντεις als Zauberer 357, 8.
  • μασχαλισμός 253, 1.
  • μέγαϱα 109, 3.
  • μειλίχιοι ϑεοί 249, 1. 701. Διόνυσος
    μειλίχιος 338, 2.
  • Meineid, im Hades bestraft 5961. 245.
  • Melampus 339 ff.
  • Melesagoras 352 A.
  • Menestheus 176, 1.
  • Metallklang verscheucht Gespenster
    52, 2. 365, 2.
  • μίασμα 251, 3. 364/5. 366, 3.
  • Michael, der Erzengel 175 A.
  • Milchstrasse, Sitz der Seelen 386 A.
  • Minos und Zeus 119 ff.
  • Minos, Richter im Hades 285 A.
  • Minyas 278, 2.
  • Mithrasmysterien 679, 1. 687, 1.
  • Mittagsgespenst 371, 1. 372/3. 639 A.
  • Mörder vom Gottesdienst ausgeschlos-
    sen 265, 1.
  • Mordklage, ihr religiöser Sinn 251/2.
  • Mοϱμολύϰη, Mοϱμώ 371 f.
  • Musik heilt korybantischen Wahnsinn
    u. a. Krankheiten 336338.
  • μυεῖν 264, 2.
  • μύχιοι ϑεοί 126, 1.
  • Mykene 31 ff. 153.
  • Namenlose Heroen 157163. 640.
    N. Götter 163 A; 695.
  • „Naturreligion“ 268.
  • νεϰϱομαντεῖα 53, 1, 198, 1.
  • Nekyia der Odyssee 45 ff. Andere
    epische Nekyien 278 (s. Hades-
    fahrten).
  • νεϰύσια 216, 3.
  • νεμέσεια 216, 2. 699.
  • Neoplatoniker 688 ff.
  • νοῦς bei Anaxagoras 485 ff.; bei Ari-
    stoteles 593 ff.
  • νυμφόληπτος 356, 2.
  • ἐϰ νυμφῶν ϰάτοχος 352 A.
  • Nymphenentrückung 663, 1.
  • Odyssee 4561. 76 ff. Zweite Nekyia
    48, 1.
  • Odysseus Ende 82, 1. Orakel des Od.
    175, 1.
  • Ohnmacht, λιποψυχία 8.
  • Olive, kathartisch 209, 3. 360, 1.
  • ὀμφαλός in Delphi 123, 2. 3. 693.
  • Onomakritos 403/4.
  • Opfer am Grabe 212. 221, 1. 222.
  • Opfer für Heroen vor Göttern 130, 1.
  • Orgiastische Culte in Griechenland
    350, 1.
  • Origanon 203, 1. 697 f.
  • Orpheus, ϰατάβασις εἰς Ἅιδου 278, 2.
    420, 2.
  • Orphisch-Pythagoreischer Hymnus auf
    die Zahl 400 A.
  • Orphiker 395 ff.
  • Orphischer Bakchoscult 395, 1. Or-
    phische Dichtungen; Verfasser:
    398, 2.
  • Orphiker und Pythagoreer 399 ff.
  • Orphische Kathartik 402. Theogonien
    404, 3. Rhapsodische Theogonie
    407/8.
  • Orphische Dichtung: Menschenent-
    stehung 413/4. 425 A. Sechs Welt-
    herrscher 413, 2.
  • Orphische Askese 418/9. Hadesbilder
    420/1. Wiedergeburten; Seelen-
    wanderung 422. 426 f.
  • Orphisirende Grabschriften 509 ff.
  • Ὀϱτυγίη 77, 1.
  • ὅσιοι, die Reinen 265. 418, 4.
  • Osiris 678, 2.
  • Oξυϑύμια 252 A. 367, 1.
  • οὐϰ ἤμην, γενόμην ϰτλ. 682, 4.
  • P. παλαμναῖος 255 A.
  • παλιγγενεσία 416, 2. 428, 2. 546, 1.
    615 A. 618, 4.
  • Panaetius 612.
  • Pandareos’ Töchter 66.
  • Parmenides 448 f.
  • Pasiphaë 176, 5.
  • πάτϱαι auf Rhodos 159, 1.
  • Pausanias 160. 642, 1.
  • Pech kathartisch 217, 3. 360, 1.
  • πεϱίδειπνον 213. 699.
  • πεϱιμάττειν 363, 1.
  • Peripatetiker 600, 1.
  • Persephone 196 f. 269 f.
  • Perseus und die Mänaden 328, 2.
  • Phanes 408/9.
  • φαϱμαϰοί 366, 4.
  • Pherekydes 461, 1.
  • Philolaos 462 ff.
  • Philostratus: Heroicus 638/9. Vit.
    Apoll. 666, 2.
  • Phormion von Sparta 385, 1.
  • Pindar 496 ff.
  • πίϑος τετϱημένος 292, 1. 420, 3.
  • Plato 557 ff. Schichten seiner IIολι-
    τεία 557, 1.
  • οἱ πλείους 670.
  • Plotinus 688/9.
  • IIλουτώνια 198, 1.
  • Plutarch 651/2.
  • ποινή für Todtschlag, homerisch 238,
    verboten 243, 2.
  • Polemokrates 174, 1.
  • Polyaratos 385, 1.
  • Polygnots Hadesgemälde 291 ff.
  • Posidonius 613 ff. 464, 1. 425, 1.
  • Prodikos 538, 1.
  • Proetiden 338 f.
  • πϱοσφάγιον 205, 3.
  • πϱοςτϱόπαιος 241 A. 252 A.
  • Protesilaos 175, 2. 639.
  • πϱόϑεσις 204. Dauer der πϱ. 206, 3.
  • ψυχή bei Homer 3 ff. 41 ff. 433, 1.
    ψ. ‗ alter ego 5. ψ. bei Philo-
    sophen 431 ff. ψ. im Auge; im Munde
    22, 1. 692. ψ. ‗ Leben 43, 1.
    432, 1. ψ. bei Pindar 499, 2.
  • ψυχαγωγοί 378, 2.
  • Psychologie, homerische 41 ff.
  • Pythagoras 450 ff. P. und Zalmoxis
    321 f. P. und Abaris 382. 390 f.
    Vorgeburten des P. 454, 2.
  • Pythia 345, 4. 348/9.
  • Python 124, 1.
  • Räucherung in Tempeln 309 f. A.
    337 A.
  • Rechts und links im Hades 513, 1.
  • Reinigung (s. Karthasis); nach der
    Bestattung 212, 6; [nach Erblickung
    einer Leiche: Julian epist. 77 p.
    601, 20 f.] durch die ἐξηγηταί 237 A.;
    des Mörders 247. 360; diese nicht
    homerisch 248, 1. R., rituale, im
    täglichen Leben 360/1. R. der Neu-
    geborenen 360. R. durch Blut 366;
    durch Feuer 29, 4. 393, 1.
  • Rhadamanthys 71, 2. 75, 2. 285 A.
    672, 1.
  • ῥάμνος, kathartisch 217, 3. 699.
  • Rhesos 151, 2. 639 A. 695.
  • Ruhm folgt dem Verstorbenen 62.
    493. 497, 3. 683.
  • Sabazios 300, 2.
  • σάβοι, σαβάζιος 307, 2.
  • Σαβάζια in Athen 401, 2.
  • Sabaziosmysterien 687, 1.
  • Sarpedon 80, 1. 173.
  • Scheria 98, 1.
  • Schlaf und Tod 80, 1. Tod nur ein
    Schlaf 674, 2.
  • Schlangen, Erscheinungsform von
    χϑόνιοι 125 A. 133, 2. 183, 7. 223, 5.
    233 A. 249, 1.
  • Schlaraffenland im Hades 289, 3.
  • Schmähung Verstorbener verboten
    224, 2. 700.
  • Schwarze Gegenstände den χϑόνιοι
    geweiht und darum kathartisch
    365 A.; vgl. 339, 3. 363, 2.
  • Schweigend an Gräbern vorüber 223, 2.
  • Seelen werden zu Daemonen (Hesiod)
    91 ff. Uebergang von S. zu Dae-
    monen 233 A. 241 A. 247. 252 A. S.
    um das Grab fliegend 223. S.
    fördern den Ackerbau 226, 1. S.
    bei der Hochzeit angerufen 226, 2.
    S. erscheinen 378, 1. 651/2.
  • Seelenreich in der Luft, im Aether,
    im Himmel 415/6. 452, 1. 453.
    549 f. 609 f. (stoisch). 672, 3.
  • Seelentheile 464, 1. 564 ff.
  • Seele vom Wind zerblasen 556, 1.
    Vgl. 483, 1. 609, 3. 622, 3.
  • Seelencitirung 198 A. 378, 2. 652, 1.
    653, 2.
  • Seelencult nach der Bestattung 33
    (Mykenae) 210 ff. (Athen u. a.). 522, 3.
    533. 541/2. 633.
  • Seelenwanderung. Bezeichnungen
    428, 1. S. thrakisch 320. 322;
    orphisch 422. 426 ff.; pythagoreisch
    454 ff. 459/60; bei Pindar 502 ff.;
    Empedokles 472 ff.; Plato 566 ff.;
    Posidonius? 615 A.
  • σέλινον 204, 2. 222, 2.
  • Selbstmord verboten (orphisch) 415, 2.
  • Selbstmörder nicht begraben 202, 1.
  • Σελλοί 114, 1.
  • Seneca 618.
  • Sibyllen 351357.
  • Sirenen 373 A.
  • Sisyphos 59, 1.
  • Sitzen beim Todtenmahl 214, 3.
  • σϰίλλα kathartisch 363, 1. 2.
  • Sklaven in die Mysterien eingeweiht
    263, 2. 702.
  • Sokrates 555.
  • Solon, Archon 592/1: 389.
  • Sophokles 525 ff. S. Heros 165, 3.
  • σωτήϱ (ἥϱως) 542, 5.
  • Sparta. Dionysoscult 333/4.
  • Standbilder der Heroen, wunder-
    thätig 182.
  • Stoiker 601 ff.
  • Sühnung nach Mord 248 ff.
  • Sühngötter, chthonisch 249, 1.
  • Sühnopfer, für χϑόνιοι 248, 2.
  • Sybaris (Lamia) 181.
  • Taraxippos 162, 1.
  • Temesa, Heros von 180/81.
  • Tenes 185, 4.
  • Thales 435 f.
  • Thanatos 540, 1. Th. und Hypnos
    80, 1.
  • Theagenes, Heros 181. 184, 5.
  • Theokrasie 406, 1.
  • ὁ ϑεός, ἡ ϑεά in Eleusis 196 A. 697.
  • Theophrast, Testament 236 A. Seelen-
    lehre 600, 1.
  • ϑίασος dionysischer, thrakisch 307, 1.
  • Thraker 301. Ihr Dionysoscult 299 ff.;
    Unsterblichkeitsglaube 319 ff. 325/6;
    Seelenwanderung 320. 322. Askese
    425, 1.
  • ϑϱόνον στϱωννύναι 121, 2. 693.
  • ϑυμός und ψυχή 42. 433, 1.
  • Tiresias 110, 1.
  • Titanen (orphisch) 410. 412.
  • Tod besser als Leben 677.
  • Todtenmahlzeiten 213. 218, 1.
  • Todtenmahlreliefs 221.
  • Todtenopfer, Odyss. λ.: 52. 54. T. für
    Patroklos 14 ff.; in mykenäischen
    Gräbern 31/2.
  • Todtenrichter 285 A.
  • Todte; zwei, drei Schaaren der T.
    392, 1. 403, 1. 671, 1.
  • Tϱάλεις 326, 2.
  • Trauerzeit 213/4.
  • Traumerscheinung Verstorbener, Be-
    weis für Fortleben der ψυχή 7.
    679, 2.
  • Traumorakel, nicht bei Homer 34, 1.
    (S. Wahrsagung).
  • τϱιαϰάδες 214, 2. 215, 1. 633, 3.
  • Trieterische Feier der Dionysien 304 ff.
  • Triptolemos, Hadesrichter 226/7.
  • τϱίτα 213, 5.
  • Tritopatoren 226/7. 700.
  • Trophonios 107/8. 112/3. 193, 2. Zeus
    Trophonios 116, 3. 693.
  • Trostredner, amtlich bestellte, 628, 3.
  • Unsichtbarwerden (homerisch) 65.
  • Unsterblich ‗ Gott werden, bei
    Homer 68.
  • Unsterblich ‗ Gott sein 296.
  • Unterweltbilder auf Vasen 293, 3.
  • Verbannung 202. V. als Mordsühne
    503, 1.
  • Verbrennen des Besitzes des Todten 23.
    702.
  • Verbrennung der Leiche 25. 26 ff.
    152, 2.
  • Verbrennen und Begraben, in späterer
    Zeit 208, 4. 698.
  • Verdoppelung der Person 392.
  • Vergeltung auf Erden (an den Nach-
    kommen) 520, 1. Gleiches für Glei-
    ches 422, 1. 457, 1.
  • Vergeltung im Hades 566 (Plato),
    656.
  • Verwandlung 427, 3.
  • Vibia 676 A. 687, 1.
  • Wahrsagung Sterbender 51, 1. W.
    durch Incubation (Traumorakel)
    110. 112114. 346. W. der Heroen
    174 ff. W. im thrakischen Dionysos-
    cult 313/314. Zwei Arten der Man-
    tik, τεχνιϰή und ἄτεχνος 344 f. Be-
    geisterungswahrsagung 344349.
    W. in Delphi 345 ff. Dionysosman-
    tik in Griechenland 347. W. wan-
    dernder Propheten 351 ff. Loos-
    orakel in Delphi 345; auf Leuke
    661.
  • Wasser, verunreinigt durch Nähe eines
    Todten 203, 2. 361, 2. W. fliessen-
    des, in der Kathartik verwendet
    362, 1. W. kaltes, in der Unter-
    welt 678 A.
  • Wege, zwei, drei, in die Unterwelt
    513 A.
  • Weinreben, der Leiche untergelegt
    203, 1. 698.
  • Wettkämpfe, ursprünglich Leichen-
    spiele 141/2.
  • Wiederkehr aller Dinge 416, 2. 618, 4.
  • Wüthendes Heer 375.
  • X. ξενιϰοὶ ϑεοί 396, 2.
  • Zagreus 306 A. 409 ff. Zerreissung
    des Z. 424, 1.
  • Zalmoxis 300, 2. 319 ff.
  • Zauberer bei Naturvölkern 316 f.
    griechische 358, 1. 364 f. 379.
  • Zeus auf Kreta 120 ff.
  • Zεὺς Ἀμφιάϱαος 117, 1. χϑόνιος 191/2.
    Eὐβουλεύς, Bουλεύς 192 f. 696. μειλί-
    χιος 249, 1. Σαβάζιος 300, 2. Tϱοφώ-
    νιος 116, 3. 693.
  • Ampelius lib. mem. 8, 3: 112, 2. 693.
  • Anaxagoras, fr. 6: 485, 6. 487, 4.
  • Aristot. de an. 408 b, 18 ff.: 596, 1.
  • Athen. 15, 670 B: 664, 1.
  • Ausonius p. 252 Sch.: 682, 4.
  • Empedokles 460: 475, 1.
  • Epigr. lapid. 594, 8: 674, 3.
  • Heraklit. fr. 38: 443.
  • Hesiod. Ἔϱγ. 124 f.: 89, 1.
  • 141: 94, 1.
  • Hymn. in Hecat. v. 11: 374 A.
  • Jamblich. V. Pyth. 173: 326, 2.
  • I. Gr. Sic. et Ital. 641: 509 ff.
  • 642: 512 f.
  • Origen. c. Cels. 3, 80: 600 A.
  • Orph. fr. 120: 405, 1.
  • — fr. 226: 417, 1.
  • Pausan. 4, 23, 1: 632 A.
  • Pindar. ol. 2, 57 ff.: 500/1.
  • — ol. 2, 61 f.: 502, 1.
  • — Pyth. 8, 57: 177, 1.
  • — fr. 129. 130: 501, 2. 513 A.
  • Poet. anon. ap. Serv. ad Aen. 6, 324
    472, 2.
  • Schol. Arist. Vesp. 1038: 376, 1.
  • Sophocl. O. C. 1583 f.: 535, 2.
  • Stob. ecl. I 49, 46: 673, 4.
  • Strabo VII p. 296: 425, 1.

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Notes
1).
E. Kammer, Die Einheit der Odyssee, S. 510 ff.
1).
Beispielsweise Il. 1, 3: πολλὰς δ̕ἰφϑίμους ψυχὰς (κεφαλάς, nach
Il. 11, 55, vorschnell Apollonius Rhod.) Ἄϊδι προίαψεν ἡρώων αὐτοὺς δὲ
πελώρια τεῦχε κύνεσσι. Il. 23, 165: παννυχίη γάρ μοι Πατροκλῆος δειλοῖο
ψυχὴ ἐφεστήκει, — — ἔϊκτο δὲ ϑέσκελον αὐτῷ (vgl. 62).
2).
Beispielsweise Il. 11, 262: ἔνϑ̕ Ἀντήνορος υἷες ὑπ̕ Ἀτρείδῃ βασιλῆι
πότμον ἀναπλήσαντες ἔδυν δόμον Ἄϊδος εἴσω. Die ψυχή des Elpenor,
dann des Tiresias, seiner Mutter, des Agamemnon u. s. w. redet in der
Nekyia Odysseus ohne Weiteres an als: Ἐλπῆνορ, Τειρεσίη, μῆτερ ἐμή
u. s. w. Weiter vgl. Wendungen, wie Il. 11, 244: εἰς ὅκεν αὐτὸς ἐγὼ
Ἄϊδι κεύϑωμαι, Il. 15, 251 καὶ δὴ ἔγωγ̕ ἐφάμην νέκυας καὶ δῶμ̕ Ἀΐδαο
ἤματι τῷδ̕ ἵξεσϑαι —, auch Il. 14, 456 f. u. s. w.
3).
Die erste Meinung ist diejenige Nägelsbachs, die andere vertritt
Grotemeyer.
1).
Auch der civilisirten Völker. Nichts anderes als ein solches, das
sichtbare Ich des Menschen wiederholendes εἴδωλον und zweites Ich ist,
in seiner ursprünglichen Bedeutung, der genius der Römer, die Frava-
schi
der Perser, das Ka der Aegypter.
1).
ὑποτίϑεται (scil. Homer) τὰς ψυχὰς τοῖς εἰδώλοις τοῖς ἐν τοῖς κατ-
όπτροις
φαινομένοις ὁμοίας καὶ τοῖς διὰ τῶν ὑδάτων συνισταμένοις, ἅ
καϑάπαξ ἡμῖν ἐξείκασται καὶ τὰς κινήσεις μιμεῖται, στερεμνώδη δὲ ὑπόστασιν
οὐδεμίαν ἔχει εἰς ἀντίληψιν καὶ ἁφήν. Apollodor. π. ϑεῶν bei Stobäus,
Ecl. I, p. 420 W.
2).
Vgl. Cicero, de divin. I, § 63: iacet corpus dormientis ut mortui,
viget autem et vivit animus. quod multo magis faciet post mortem, cum
1).
τὸν δ̕ ἔλιπε ψυχή — — αὖϑις δ̕ ἀμπνύνϑη Il. 5, 696 f. τήν δὲ κατ̕
ὀφϑαλμῶν ἐρεβεννὴ νὺξ ἐκάλυψεν, ἤριπε δ̕ ἐξοπίσω, ἀπὸ δὲ ψυχὴν ἐκάπυσσεν
— ἐπεὶ οὖν ἄμπνυτο καὶ ἐς φρένα ϑυμὸς ἀγέρϑη —. Il. 22, 466 ff. 475.
Sehr merkwürdig Il. 5, 696 ff. Od. 24, 348: ἀποψύχοντα.
2).
Von dem suspirium (= λειποψυχία) redend, sagt Seneca, epist. 54, 2:
medici hanc „meditationem mortis“ vocant. faciet enim aliquando spiritus
ille, quod saepe conatus est
.
2).
omnino corpore excesserit. Tuscul. I, § 29: visis quibusdam saepe move-
bantur eisque maxime nocturnis, ut viderentur ei qui vita excesserant
vivere
. Hier findet man durch einen antiken Zeugen das subjective und
das objective Element des Traumes in seiner Bedeutung für die Ent-
stehung des Seelenglaubens treffend bezeichnet.
1).
Eine eigenthümliche Vorstellung schimmert durch in einer Wen-
dung wie Od. 14, 207: ἀλλ̕ ἤτοι τὸν Κῆρες ἔβαν ϑανάτοιο φέρουσαι εἰς
Ἀΐδαο δόμους. Vgl. Il. 2, 302. Die Keren bringen sonst dem Menschen
den Tod; hier geleiten sie (wie nach späterer Dichtung Thanatos selbst)
den Todten in das Reich des Hades. Sie sind Hadesdämonen, nach ur-
sprünglicher Bedeutung selbst dem Leben entrissene „Seelen“ (s. unten);
es ist eine wohlverständliche Vorstellung, dass solche Seelengeister,
herumschwebend, ausfahrende Seelen eben gestorbener Menschen mit sich
1).
Von den Todten Od. 11, 219: οὐ γὰρ ἔτι σάρκας τε καὶ ὀστέα
ἶνες ἔχουσιν. Die Worte liessen sich ja, rein der Ausdrucksform nach,
auch dahin verstehen, dass den Todten zwar Sehnen, ἶνες, blieben, aber
keine Fleischtheile und Knochen, welche die Sehnen zusammenhalten
könnten. Wirklich fasst so die homerischen Worte Nauck auf, Mél.
Grécorom
. IV, p. 718. Aber eine Vorstellung von solchen „Schatten“,
die zwar Sehnen, aber keinen aus Fleisch und Knochen gebildeten Leib
haben, wird sich Niemand machen können; um uns zu überzeugen, dass
Aeschylus aus den homerischen Worten eine so unfassbare Vorstellung
gewonnen habe, genügen die verderbt und ausserhalb ihres Zusammen-
hanges überlieferten Worte des Fragm. 229 keinenfalls. Dass der Dichter
jenes Verses der Nekyia nichts andres sagen wollte, als: Fleisch, Knochen
und Sehnen, die diese zusammenhalten könnten — Alles ist vernichtet,
zeigt hinreichend die Fortsetzung: ἀλλὰ τὰ μέν τε πυρὸς κρατερὸν μένος
αἰϑομένοιο δαμνᾷ, ἐπεί κε πρῶτα λίπῃ λεύκ̕ ὀστέα ϑυμός, ψυχὴ δ̕ ἠΰτ̕ ὄνειρος
ἀποπταμένη πεπότηται. Wie sollte denn das Feuer die Sehnen nicht mit
verzehrt haben?
1).
fortraffen zum Seelenreiche. Aber bei Homer ist von einer solchen Vor-
stellung nur in einer festgeprägten Redensart eine blasse Erinnerung er-
halten.
1).
S. Anhang 1.
2).
Dass die Weinspende, die Achill in der Nacht ausgiesst und zu
1).
Ueber griechische Haaropfer s. Wieseler, Philol. 9, 711 ff., der
diese Opfer sicherlich mit Recht als stellvertretende Gaben statt alter
Menschenopfer auffasst. Ebenso erklären sich Haaropfer bei anderen
Völkern: vgl. Tylor, Primitive cult. 2, 364. — Karischer Sitte ent-
sprungen sind wohl die eigenthümlichen Haaropfer für Zeus Panemerios,
von denen Inss. und Ueberreste aus Stratonikea in Karien Kunde geben.
S. Bull. de corresp. hellén. 1887 p. 390 f.; 1888 p. 487 ff.
2).
der er die Psyche des Patroklos ausdrücklich herbeiruft (Il. 23, 218—222),
ein Opfer ist, so gut wie alle ähnlichen χοαί, ist ja unleugbar. Der
Wein, mit welchem (v. 257) der Brand des Scheiterhaufens gelöscht wird
(vgl. 24, 791), mag nur zu diesem Zweck dienen sollen, als Opfer nicht
zu gelten haben. Aber die Krüge mit Honig und Oel, die Achill auf den
Scheiterhaufen stellen lässt (v. 170; vgl. Od. 24, 67. 68), können nicht
wohl anders denn als ein Opfer betrachtet werden (mit Bergk, Opusc. II,
675); nach Stengel, Jahrb. f. Philol, 1887, p. 649, dienen sie nur, die
Flamme anzufachen: aber Honig wenigstens wäre dafür ein seltsames
Mittel. Für Opferspenden am rogus oder am Grabe sind ja Oel und
Honig stets verwendet worden (s. Stengel selbst, a. a. O. und Philol. 39,
378 ff.).
1).
Die Aufforderung des Patroklos, ihn schleunig zu bestatten (v. 69 ff.),
giebt kein ausreichendes Motiv: denn Achill hatte ja ohnehin für den
nächsten Tag die Bestattung schon angeordnet, v. 49 ff. (vgl. 94 f.).
2).
v. 19. 179. Noch in der Nacht, welche auf die Errichtung des
Scheiterhaufens folgt, ruft Achill, während die Leiche im Brande liegt,
die Seele des Patroklos: ψυχὴν κικλήσκων Πατροκλῆος δειλοῖο, v. 222. Die
Vorstellung ist offenbar, dass die Gerufene noch in der Nähe verweile.
Die Formel: χαῖρε — καὶ εἰν Ἀΐδαο δόμοισιν (19. 179) spricht nicht dagegen,
v. 19 mindestens können diese Worte unmöglich bedeuten: im Hades,
denn noch ist die Seele ja ausserhalb des Hades, wie sie v. 71 ff. selbst
mittheilt. Also nur: am, vor dem H. des Hades (so ἐν ποταμῷ am
Flusse u. s. w.). So bedeutet εἰς Ἀΐδαο δόμον oft nur: hin zum H. des
Hades (Ameis zu κ. 512).
3).
Ob aus Schilderungen älterer Dichtung? oder hatte sich wenig-
1).
Leichenspiele für Amarynkeus: Il. 23, 630 ff., für Achill: Od. 24,
85 ff. Als ganz gewöhnliche Sitte werden solche Spiele bezeichnet Od. 24,
87 f. Die spätere Dichtung ist reich an Schilderungen solcher ἀγῶνες
ὲπιτάφιοι der Heroenzeit.
2).
Nach Aristarchs Beobachtung. S. Rhein. Mus. 36, 544 f. —
Anderer Art sind die jedenfalls sehr alten Brautwettkämpfe (Sagen von
Pelops, Danaos, Ikarios u. a.).
3).
stens bei der Bestattung von Fürsten ähnlicher Brauch bis in die Zeit
des Dichters erhalten? Besonders feierlich blieb z. B. die Bestattung der
spartanischen Könige, wie es scheint auch der kretischen Könige (so
lange es solche gab): vgl. Aristot. fr. 476, p. 1556 a, 37 ff.
1).
Vgl. Il. 23, 274: εἰ μὲν νῦν ἐπὶ ἄλλῳ ἀεϑλεύοιμεν Ἀχαιοί. Also:
zu Ehren des Patroklos. 646: σὸν ἑταῖρον ἀέϑλοισι κτερεΐζε. κτερεΐζειν
heisst, dem Todten seine κτέρεα, d. h. seine ehemaligen Besitzthümer
(durch Verbrennung) mitgeben: die Leichenspiele werden also auf die
gleiche Stufe gestellt wie die Verbrennung der einstigen Habe, an der
die Seele des Verstorbenen auch ferner Genuss haben soll.
2).
Augustin, Civ. Dei 8, 26: Varro dicit omnes mortuos existimari
manes deos, et probat per ea sacra, quae omnibus fere mortuis exhibentur,
ubi et ludos commemorat funebres, tanquam hoc sit maximum divinitatis
indicium, quod non soleant ludi nisi numinibus celebrari.
3).
S. Anhang 2.
1).
Quae pietas ei debetur, a quo nihil acceperis? aut quid omnino
cuius nullum meritum sit, ei deberi potest? — (dei) quamobrem colendi
sint non intellego nullo nec accepto ab eis nec sperato bono.
Cicero de nat.
deor.
I, § 116. Vgl. Plat. Euthyphr. So redet Homer von der ἀμοιβὴ
ἀγακλςιτῆς έκατόμβης, Od. 3, 58. 59 (ἀμοιβὰς τῶν ϑυσιῶν von Seiten der
Götter, Plat. Symp. 202 E).
2).
τοῦτό νυ καὶ γέρας οἶον ὀϊζυροῖσι βροτοῖσιν, κείρασϑαί τε κόμην,
βαλέειν τ̕ ἀπὸ δάκρυ παρειῶν. Odyss. 4, 197 f. Vgl. 24, 188 f., 294 f.
3).
οὐ γὰρ ἔτ̕ αὖτις νίσομαι ὲξ Ἀΐδαο, ἐπήν με πυρὸς λελάχητε.
Il. 23, 75 f.
1).
— ἰόντι εἰς Ἀΐδαο χερσὶ κατ̕ ὀφϑαλμοὺς έλέειν σύν τε στόμ̕ ἐρεῖσαι.
Odyss. 11, 426. Vgl. Il. 11, 453, Od. 24, 296. Dies zu thun, ist Pflicht
der nächsten Angehörigen, der Mutter, der Gattin. Das Bedürfniss, das
blicklose Auge, den stummen Mund des Gestorbenen zu schliessen, ver-
steht man auch ohne jeden superstitiösen Nebengedanken leicht genug.
Dennoch schimmert ein solcher Nebengedanke durch in einer Rede-
wendung wie ἄχρις ὅτου ψυχήν μου μητρὸς χέρες εἰλαν ἀπ̕ ὄσσων, epigr.
Kaib. 314, 24. Ward ursprünglich an eine Freimachung der „Seele“
durch diese Vornahmen gedacht? (Sitz der Seele in der κόρη des Auges
kommt als griechischer Glaube sonst wohl nicht vor, bei anderen Völkern
weist manches auf solche Annahmen hin. Vgl. Grimm, D. Myth.4, p. 898.
903. 988). Sicher eine solche Bedeutung hatte das Auffangen des letzten
Hauches aus dem Munde des Sterbenden. Cic. Verr. 5, § 118 (von
Griechen sprechend), Virgil, Aen. 4, 684 f.: extremus si quis super halitus
errat ore legam
] muliebriter, tanquam possit animam sororis excipere et
in se transferre.
Servius. Die ψυχή entweicht ja durch den Mund:
Il. 9, 409 („Among the Seminoles of Florida, when a woman died in
childbirth, the infant was held over her face to receive her parting spirit,
and thus acquire strength and knowledge for its future use“.
Tylor, prim.
cult.
1, 391).
2).
Und zwar ἀνἀ πρόϑυρον τετραμμένος Il. 19, 212, d. h. die Füsse
nach dem Ausgang zugekehrt. Der Grund dieser Sitte, die auch anders-
wo bestand und besteht, ist schwerlich nur in dem ritus naturae (wie
Plinius n. h. VII, § 46 meint) zu suchen, der auf die Feststellung der
Gebräuche bei den grossen und feierlichen Angelegenheiten des Lebens
wenig Einfluss zu haben pflegt. Mit naiver Deutlichkeit spricht sich der
Sinn dieses Brauches aus in einem Bericht über die Sitten der Pehu-
enchen in Südamerika, bei Pöppig, Reise in Chile, Peru u. s. w. I, p. 393:
auch dort schafft man den Verstorbenen mit den Füssen voran aus der
Hütte, „denn würde der Leichnam in anderer Stellung hinausgetragen,
so könnte sein irrendes Gespenst dahin zurückkehren“. Für
den (in homerischer Zeit freilich wohl längst nur zum Symbol gewordenen)
griechischen Brauch muss man die gleiche Furcht vor Rückkehr der
„Seele“ als ursprünglich bestimmend voraussetzen. Der Glaube an nicht
1).
Zusammengefasst sind die einzelnen Handlungen bis zur Klage,
Il. 18, 343—355.
2].
τύμβος und στήλη: Il. 16, 457. 675; 17, 434; 11, 371; Od. 12, 14.
Ein aufgeschüttetes σῆμα als Grabstätte des Eetion, um welches die
Nymphen Ulmen pflanzen: Il. 6, 419 ff. Eine Spur der auch später in
Uebung gebliebenen Sitte, Bäume, bisweilen ganze Haine um das Grab
zu pflanzen.
3).
κτέρεα κτερεΐζειν, in der Formel: σῆμά τέ οἱ χεῦαι καὶ ἐπὶ κτέρεα
κτερεΐζειν, Od. 1, 291; 2, 222. Hier folgt das κτερεΐζειν erst nach der
Aufschüttung des Grabhügels, vermuthlich sollen also die κτέρεα auf oder
an dem Grabhügel verbrannt werden. Falsch ist gleichwohl die aus die-
sen Stellen gewonnene Regel der Schol. B. Il. T 212: προὐτίϑεσαν, εἶτα
ἔϑαπτον, εἶτα ἐτυμβοχόουν, εἶτα ἐκτερέϊζον. Jene Stellen beziehen sich
ja auf die Feier an einem leeren Grabe. Wo die Leiche zur Hand
2).
völliges Abscheiden der „Seelen“ aus unserer Welt hat auch diese Sitte
vorgeschrieben.
1).
Die Beispiele bei O. Jahn, Persius, p. 219 extr.
3).
war, werden die Verwandten oder Freunde die κτέρεα gleich mit dem
Leichnam verbrannt haben. So geschieht es bei Ection und bei Elpenor,
und so wird man auch die enge Verbindung: ἐν πυρὶ κήαιεν καὶ ἐπὶ
κτέρεα κτερίσαιεν (Il. 24, 38), ὄφρ̕ ἔταρον ϑάπτοι καὶ ἐπὶ κτέρεα κτερίσειεν
(Od. 3, 285) verstehen müssen.
1).
ψυχὴ δ̕ ἐκ ῥεϑέων πταμένη Ἄϊδόσδε βεβήκει, ὃν πότμον γοόωσα,
λιποῦσ̕ ἀνδροτῆτα καὶ ἥβην, Il. 16, 856; 22, 362; vgl. 20, 294; 13, 415.
ψυχὴ δ̕ Ἄϊδόσδε κατῆλϑεν Od. 10, 560; 11, 65. Das völlige Eingehen
in die Tiefe des Reiches des Hades bezeichnen deutlicher Worte wie:
βαίην δόμον Ἄϊδος εἴσω, Il. 24, 246, κίον Ἄϊδος εἴσω 6, 422 u. ä. So
heisst es in der Odyssee 11, 150 von der Seele des Tiresias, die, mit Odysseus
sich unterredend, doch auch im Hades im weiteren Sinne, genauer aber
nur an dessen äusserem Rande gewesen ist: ψυχὴ μὲν ἔβη δόμον Ἄϊδος
εἴσω: nun erst geht sie wieder in das Innere des Hadesbereiches.
1).
Aristonicus zu Il. ψ 104: ἡ διπλῆ ὅτι τὰς τῶν ἀτάφων φυχἀς Ὅμηρος
ἔτι σωζούσας τὴν φρόνησιν ὑποτίϑεται. (Etwas zu systematisch Porphyrius in
Stob. Ecl. I p. 422 ff. 425, 25 ff. Wachsm.) — Wenn Achill den todten
Hektor misshandelt, so setzt er voraus, dass der noch Unbestattete dies
empfinde; lacerari eum et sentire, credo, putat: Cicero Tuscul. I § 105.
1).
Aus der Gefahr, dass in Kriegen und Aufruhr die begrabenen
Leiber wieder ihrer Ruhe entrissen werden könnten, leitet den Ueber-
gang vom Begraben zum Verbrennen des Leichnams bei den Römern
Plinius ab, n. h. 7 § 187. Wer auf Reisen oder im Kriege (also in einem
vorübergehenden Nomadenzustande) starb, dessen Leib verbrannte man,
schnitt aber ein Glied (bisweilen den Kopf) ab, um dieses nach Hause
mitzunehmen und dort zu begraben, ad quod servatum justa fierent (Pau-
lus Festi p. 148, 11; Varro L. L. 5 § 23; Cic. Leg. 2 § 55, § 60).
Aehnlich hielten es deutsche Stämme: s. Weinhold, Sitzungsber. d.
Wiener Akad., phil. hist. Cl.
29, 156; 30, 208. Selbst bei Negern aus
Guinea, bei südamerikanischen Indianern bestand, bei Todesfällen in der
Fremde, im Kriege, eine der Ceremonie des os resectum der Römer ver-
wandte Sitte (vgl. Klemm, Culturgesch. 3, 297; 2, 98 f.). Allemal ist
begraben als die altherkömmliche und aus religiösen Gründen eigentlich
erforderliche Bestattungsart vorausgesetzt.
1).
Ein einziges Mal ist davon die Rede, dass man die Gebeine der
Verbrannten mit nach Hause nehmen könne: Il. 7, 334 f. Mit Recht
erkannte Aristarch hierin einen Verstoss gegen Gesinnung und thatsäch-
liche Sitte im übrigen Homer, und hielt die Verse für die Erfindung
eines Nachdichters (s. Schol. A Il. H 334. Δ 174. Schol. E M Q Odyss.
γ 109). Die Verse könnten eingeschoben sein, um das Fehlen so enor-
mer Leichenhügel, wie die Beisetzung der Asche beider Heere hätte
hervorbringen müssen, in Troas zu erklären.
2).
Kleine Schriften II 216. 220.
3).
Näher läge sie römischem Glauben. Vgl. Virgil, Aen. 4, 698. 699.
Aber auch das ist doch anders gemeint.
1).
S. namentlich Il. 23, 75. 76; Od. 11, 218—222.
2).
Servius zur Aen. III 68: Aegyptii condita diutius servant cada-
vera, scilicet ut anima multo tempore perduret, et corpori sit obnoxia, nec
cito ad aliud transeat. Romani contra faciebant, comburentes cadavera, ut
statim anima in generalitatem i. e. in suam naturam rediret
(die pan-
theistische Färbung darf man abziehen). — Vgl. den Bericht des Ibn
Foslan über die Begräbnisssitte der heidnischen Russen (nach Frähn an-
geführt von J. Grimm, Kl. Schr. II 292), wonach der Verbrennung die
Vorstellung zu Grunde lag, dass durch Begraben des unversehrten Leibes
weniger schnell als durch Zerstörung des Leibes im Feuer die Seele frei
werde und in’s Paradies eile.
3).
Vgl. in dem Hymnus des Rigveda (10, 16), der zur Leichenver-
brennung zu sprechen ist, namentlich Str. 2. 9 (bei Zimmer, Altind.
Leben
S. 402 f.), s. auch Rigv. 10, 14, 8 (Zimmer S. 409). — Wiederkehr
der Todten in die Welt der Lebenden wollen auch die Inder verhüten.
Man legt dem Leichnam eine Fussfessel an, damit er nicht wiederkommen
könne (Zimmer S. 402).
4).
Er liegt zu Grunde den Sagen von Demeter und Demophoon (oder
Triptolemos), Thetis und Achill, und wie die Göttin, das sterbliche Kind
in’s Feuer legend, diesem περιῄρει τὰς ϑνητὰς σάρκας, ἔφϑειρεν ὅ ἦν αὐτῷ
ϑνητόν, um es unsterblich zu machen (vgl. Preller, Demeter und Perseph. 112).
1).
Wozu der Uebergang vom Beisetzen der Leiche zum Verbrennen
gut sein konnte, mag man sich beiläufig durch solche Beispiele erläutern,
wie eine isländische Saga eines überliefert: ein Mann wird auf seinen
Wunsch vor der Thür seines Wohnhauses begraben, „weil er aber wieder-
kommt und viel Schaden anrichtet, gräbt man ihn aus, verbrennt ihn
und streut die Asche in’s Meer“ (Weinhold, Altnord. Leben S. 499).
2).
Leicht denkt man ja an asiatische Einflüsse. Man hat kürzlich
auch Leichenbrandstätten in Babylonien gefunden.
4).
Auch dem Gebrauche, an gewissen Festen (der Hekate? vgl. Bergk, Poet.
Lyr.
4 III 682) Feuer auf der Strasse anzuzünden und mit den Kin-
dern durch die Flammen zu springen: s. Grimm, D. Myth.4 520. Vgl.
Cicero, de div. I § 47: o praeclarum discessum cum, ut Herculi contigit.
mortali corpore cremato in lucem animus excessit!
Ovid. Met. 9, 250 ff.
Lucian Hermot. 7. Quint. Smyrn. 5, 640 ff.
1).
S. Helbig, D. homer. Epos a. d. Denkm. erl. p. 42 f.
2).
S. Anhang 3.
3).
S. Schliemann, Mykenae S. 181; 192; 247; 248.
4).
S. Helbig, D. homer. Epos2 p. 52.
1).
Vgl. K. Weinhold, Sitzungsber. d. Wiener Akad. v. 1858, Phil.
hist. Cl
. 29, S. 121. 125. 141. Die merkwürdige Uebereinstimmung
zwischen der Mykenäischen und dieser nordeuropäischen Bestattungsweise
scheint noch nirgends beachtet zu sein. (Der Grund dieser Lagerung und
Bedeckung mag in der Absicht zu suchen sein, den Leichnam länger vor
Verfall, namentlich vor dem Einfluss der Feuchtigkeit zu bewahren.)
2).
Auch in dem Kuppelgrab bei Dimini: Mitth. d. arch. Inst. zu
Athen
XII 138.
3).
Die Seele des Todten, dem ein Lieblingsbesitz vorenthalten ist
(gleichviel ob der Leib und so auch der Besitz des Todten verbrannt
oder eingegraben ist), kehrt wieder. Völlig den Volksglauben spricht die
Geschichte bei Lucian, Philops. 27 von der Frau des Eukrates aus (vgl.
Herodot 5, 92 f.).
1).
Schliemann, Mykenae S. 246. 247. Abbildung auf Plan F.
2).
ἐσχάρα eigentlich ἐφ̕ ἧς τοῖς ἤρωσιν ἀποϑύομεν. Pollux I 8. Vgl.
Neanthes bei Ammon, diff. voc. p. 34 Valck. Eine solche ἐσχάρα steht,
ohne Stufenuntersatz, direct auf dem Erdboden (μὴ ἔχουσα ὕψος, ἀλλ̕ ἐπὶ
γῆς ἱδρυμένη), sie ist rund (στρογγυλοειδής) und hohl (κοίλη). S. nament-
lich Harpocration p. 87, 15 ff., Photius Lex. s. ἐσχάρα (zwei Glossen),
Bekker, anecd. 256, 32; Etym. M. 384, 12 ff.; Schol. Od. ζ 56; Eustath.
Od. ψ 71; Schol. Eurip. Phoeniss. 284. Die ἐσχάρα steht offenbar von der
Opfergrube des Todtencultes nicht weit ab; daher sie auch wohl geradezu
βόϑρος genannt wird: Schol. Eurip. Ph. 274. (σκαπτή Steph. Byz. p. 191,
7 Mein.)
1).
Schwerlich kennt Homer auch nur Traumorakel (die den Todten-
orakeln sehr nahe stehen würden). Dass Il. A 63 die ἐγκοίμησις „wenig-
stens angedeutet“ werde (wie Nägelsbach, Nachhom. Theol. 172 meint),
ist nicht ganz gewiss. Der ὀνειροπόλος wird nicht sein ein absichtlich zum
mantischen Schlaf sich hinlegender Priester, der ὑπὲρ ἑτέρων ὀνείρους ὁρᾷ,
sondern eher ein ὀνειροκρίτης, ein Ausleger fremder, ungesucht gekommener
Traumgesichte.
1).
Selbst die sonst an ihren irdischen Wohnplatz gebundenen Dä-
monen, die Flussgötter und Nymphen, werden doch zur ἀγορά aller
Götter in den Olymp mitberufen: Il. 20, 4 ff. Diese an dem Local ihrer
Verehrung haften gebliebenen Gottheiten sind, eben weil sie nicht mit
1).
zu der Idealhöhe des Olympos erhoben sind, schwächer als die dort oben
wohnenden Götter. Kalypso spricht das resignirt aus, Od. 5, 169 f.: αἴ
κε ϑεοί γ̕ ἐϑέλωσι, τοὶ οὐρανὸν εὐρὺν ἔχουσιν, οἴ μευ φέρτεροί εἰσι νοῆσαί τε
κρῆναί τε. Sie sind zu Gottheiten zweiten Ranges geworden; als unab-
hängig für sich, frei neben dem Reiche des Zeus und der anderen Olym-
pier, zu dem sie nur einen Anhang bilden, stehend, sind sie nirgends
gedacht.
1).
Die Beispiele bei Nägelsbach, Homer Theol.2 p. 387 f. (φρένες),
W. Schrader, Jahrb. f. Philol. 1885 S. 163 f. (ἦτορ).
1).
Der Glaube an mehrere Seelen im einzelnen Menschen ist sehr
verbreitet. Vgl. J. G. Müller, Amerikan. Urrelig. 66. 207 f. Tylor, Pri-
mit. Cult
. I 392 f. Im Grunde kommt auch die Unterscheidung der
fünf, im Menschen wohnenden seelischen Kräfte im Avesta (vgl. Geiger,
Ostiran. Cultur 298 ff.) auf dasselbe hinaus. — Aus vergröberndem Miss-
verständniss Platonischer Lehre geräth völlig in die Wege ältester Volks-
psychologie Claudian, wenn er, IV. cons. Honor. 228—237, dem Menschen
drei „Seelen“ zuschreibt.
1).
περὶ ψυχῆς ϑέον Il. 22, 161; περὶ ψυχέων ἐμάχοντο Od. 22, 245;
ψυχὴν παραβαλλόμενος Il. 9, 322; ψυχὰς παρϑέμενοι Od. 3, 74; 9, 255; ψυχῆς
ἀντάξιον Il. 9, 401. Namentlich vgl. Od. 9, 523; αἲ γὰρ δὴ ψυχῆς τε καὶ
αἰῶνός σε δυναίμην εὖνιν ποιήσας πέμψαι δόμον Ἄϊδος εἴσω. Der ψυχή im
eigentlichen Sinn beraubt kann Niemand in den Hades eingehen, denn
eben die ψυχή ist es ja, die allein in den Hades eingeht. Ψυχή steht also
hier besonders deutlich = Leben, wie denn dies das erklärend hinzu-
tretende καὶ αἰῶνος noch besonders bestätigt. Zweifelhafter ist schon, ob
ψυχῆς ὄλεϑρος Il. 22, 325 hierher zu ziehen ist, oder: ψυχὴν ὀλέσαντες
Il. 13, 763; 24, 168. Andere Stellen, die Nägelsbach, Hom. Theol.2 p. 381,
und Schrader, Jahrb. f. Phil. 1885 S. 167 anführen, lassen eine sinnliche
Deutung von ψυχή zu oder fordern sie (so Il. 5, 696 ff.; 8, 123; Od. 18, 91
u. s. w.).
1).
S. Anhang 4.
1).
Die auf Thrinakia, und die Heerden des Helios bezüglichen Mit-
theilungen des Tiresias, 11, 107 ff. scheinen eben darum so kurz und un-
genügend ausgeführt zu sein, weil der genauere Bericht der Kirke, 12,
127 ff. dem Dichter schon bekannt war und er diesen nicht vollständig
wiederholen mochte.
2).
S. einstweilen die Aufzählung in meinem Griech. Roman S. 260 f.
Ich komme weiter unten auf den Gegenstand zurück.
1).
Eine letzte Fortsetzung solcher, den Hintergrund der Odyssee
ausmalenden Darstellungen, bietet das Zwiegespräch des Achill und Aga-
memnon in der „zweiten Nekyia“, Od. 24, 19 ff., deren Verfasser den
Sinn und Zweck der ursprünglichen Nekyia im 11. Buche, der er nach-
ahmt, ganz richtig erfasst hat und (freilich sehr ungeschickt) fortsetzend
zu fördern versucht.
1).
Od. 10, 539/40 sind entlehnt aus 4, 389/90. 470. — An Nach-
ahmung jener Scene des 4. Buches in der Nekyia denkt, wie ich nach-
träglich bemerke, schon Kammer, Einheit d. Od. p. 494 f.
2).
Auffallend ist (und mag wohl auf eigene Art zu erklären sein),
dass in der Anweisung der Kirke die Kimmerier nicht erwähnt werden.
Verständlicher, warum die genaue Schilderung des Oertlichen aus Kirkes
Bericht, 10, 509—515 nachher nicht wiederholt, sondern mit kurzen Wor-
ten (11, 21/22) nur wieder in’s Gedächtniss gerufen wird.
1).
Einen wesentlichen Unterschied zwischen der Vorstellung von
der Lage des Todtenreiches, wie sie die Ilias andeutet und derjenigen,
welche die Nekyia der Odyssee ausführt, kann ich nicht anerkennen.
J. H. Voss und Nitzsch haben hier das Richtige getroffen. Auch was die
zweite Nekyia (Od. 24) an weiteren Einzelheiten hinzubringt, „contrastirt“
nicht eigentlich (wie Teuffel, Stud. u. Charakt. p. 43 meint) mit der
Schilderung der ersten Nekyia, es hält sich nur nicht ängstlich an diese,
beruht aber auf gleichen Grundvorstellungen.
2).
Schol. H. Q. Odyss κ 514: Πυριφλεγέϑων, ἤτοι τὸ πῦρ τὸ ἀφανί-
ζον τὸ σάρκινον τῶν βροτῶν. Apollodor. π. ϑεῶν ap. Stob. Ecl. I p. 420, 9:
Πυριφλεγέϑων εἴρηται ἀπὸ τοῦ πυρὶ φλέγεσϑαι τοὺς τελευτῶντας.
3).
Auch der Acheron scheint als Fluss gedacht. Wenn die Seele
des unbestatteten Patroklos, die doch schon ἀν̕ εὐρυπυλὲς Ἄϊδος δῶ
schwebt, also über den Okeanos hinüber gedrungen ist, die anderen Seelen
nicht „über den Fluss“ lassen (Il. 23, 73 f.), so wird man doch jedenfalls unter
dem „Flusse“ nicht den Okeanos verstehen, sondern eben den Acheron
(so auch Porphyrius bei Stob. Ecl. I p. 422 f. 426 W.). Aus Od. 10,
515 folgt keineswegs, dass der Acheron nicht auch als Fluss gelte, son-
dern als See, wie Bergk, Opusc. II 695 meint.
4).
Vgl. 11, 206 ff. 209, 393 ff. 475.
1).
S. Il. 16, 851 ff. (Patroklos), 22, 358 ff. (Hektor), Od. 11, 69 ff.
Zu Grunde liegt der alte Glaube, dass die Seele, im Begriff frei zu
werden, in einen Zustand erhöheten Lebens, an Sinneswahrnehmung nicht
gebundener Erkenntnissfähigkeit zurückkehre (vgl. Artemon in Schol. Il.
II 854, Aristotel. fr. 12 R.); sonst ist es (bei Homer) nur der Gott, ja
eigentlich nur Zeus, der Alles voraussieht. Mit Bewusstsein ist aber die
Darstellung soweit herabgemindert, dass eine unbestimmte Mitte zwischen
eigentlicher Prophezeiung und blossem στοχάζεσϑαι eingehalten wird (vgl.
Schol. B. V. Il. X 359); höchstens Il. 22, 359 geht darüber hinaus.
2).
11, 218—224.
1).
ὄϊν ἀρνειὸν ῥέζειν, ϑῆλύν τε μέλαιναν, εὶς Ἔρεβος στρέψας. 10, 527 f.
Aus dem μέλαιναν wird auch zu ὄϊν ἀρνειόν die genauere Bestimmung
„schwarz“ ἀπὸ κοινοῦ zu verstehen sein (ebenso 572); stets ist der den
Unterirdischen (Göttern wie Seelen) zu opfernde Widder schwarz. — εἰς
Ἔρεβος στρέψας, d. h. nach unten (nicht nach Westen) hin den Kopf
drehend (= ἐς βόϑρον 11, 36), wie Nitzsch richtig erklärt. Alles wie
später stets bei den ἔντομα für Unterirdische (vgl. Stengel, Ztsch. f. Gymn.
Wesen
1880 p. 743 f.).
2).
κοινή τις παρἀ ἀνϑρώποις ἐστιν ὑπόληψις ὅτι νεκροὶ καὶ δαίμονες
σίδηρον φοβοῦνται. Schol. Q. λ 48. Eigentlich ging der Glaube dahin,
dass der Schall von Erz oder Eisen die Gespenster verjage: Lucian,
Philops. 15 (vgl. O. Jahn, Abergl. d. bösen Blicks p. 79).
1).
Speciell an das Thesprotische νεκυομαντεῖον am Flusse Acheron
als Vorbild der homerischen Darstellung denkt Pausanias 1, 17, 5 und
mit ihm K. O. Müller, Proleg. z. e. wissenschaftl. Mythol. 363 und dann
viele Andere. Im Grunde hat man hierzu kaum mehr Veranlassung als
zu einer Fixirung des homerischen Hadeseingangs bei Cumae, bei Hera-
klea Pont. (vgl. Rhein. Mus. 36, 555 ff.) oder an anderen Stätten alten
Todtendienstes (z. B. bei Pylos), an denen sich dann auch die herkömm-
lichen Namen des Acheron, Kokytos, Pyriphlegethon leicht genug ein-
stellten — aus Homer entnommen, nicht von dorther in den Homer ein-
gedrungen. Dass uns das Todtenorakel im Thesproterlande gerade
1).
So liesse sich etwa Lobecks Leugnung jeder Kenntniss von
Seelenbeschwörung in den homerischen Gedichten (Agl. 316) modificiren
und modificirt festhalten.
2).
Il. 24, 592 ff. Achill, den todten Patroklos anredend: | μή μοι,
Πάτροκλε, σκυδμαινέμεν, αἴ κε πύϑηαι | εἰν Ἄϊδός περ ἐὼν ὅτι Ἕκτορα δῖον
ἔλυσα | πατρὶ φίλῳ, ἐπεὶ οὔ μοι ἀεικέα δῶκεν ἄποινα. | σοὶ δ̕ αὖ ἐγὼ καὶ τῶνδ̕
ἀποδάσσομαι ὅσσ̕ ἐπέοικεν. | Die Möglichkeit, dass der Todte im Hades noch
1).
in Herodots bekanntem Berichte zuerst entgegentritt, beweist noch keines-
wegs, dass dieses nun eben das älteste solcher Orakel gewesen sei.
1).
v. 40, 41. Dies nicht unhomerisch: vgl. namentlich Il. 14, 456 f.
(So sieht man auf Vasenbildern die Psyche eines erschlagenen Kriegers
nicht selten in voller Rüstung, wiewohl — die Unsichtbarkeit andeutend
— in sehr kleiner Gestalt über dem Leichnam schweben.)
2).
vernehme, was auf der Oberwelt geschieht, wird nur hypothetisch (αἴ κε)
hingestellt, nicht so die Absicht, dem Verstorbenen von den Gaben des
Priamus etwas zuzutheilen (δι̕ ἐπιταφίων εἰς αὐτὸν ἀγώνων, meint Schol. B.
V. zu 594). Eben das Ungewöhnliche solchen Versprechens scheint einen
der Gründe abgegeben zu haben, aus denen Aristarch (jedenfalls mit
Unrecht) v. 594 und 595 athetirte.
1).
Eigentlich soll Odysseus mit den einzelnen Weibern in Zwiege-
spräch treten und eine jede ihr Geschick ihm berichten: v. 231—234; es
heisst denn auch noch hie und da: φάτο 236, φῆ 237, εὔχετο 261, φάσκε
306. Aber durchweg hat das Ganze den Charakter einer einfachen Auf-
zählung, Odysseus steht unbetheiligt daneben.
2).
S. Anhang 5.
3).
S. Anhang 6.
1).
Vgl. v. 623 ff.
1).
So Welcker, Gr. Götterl. 1, 818 und darnach Andere.
1).
Als Grund der Strafe des Sisyphos geben Apollod. bibl. 1, 9, 3, 2;
Schol. Il. A 180 (p. 18 b, 23 ff. Bekk.) an, dass er dem Asopos den
Raub seiner Tochter Aegina durch Zeus verrathen habe. Auf sicherer
Sagenüberlieferung beruht dies nicht: eine andere Erzählung knüpft an
jenen Verrath das Märchen von der Ueberlistung des Todes, dann des
Hades selbst durch Sisyphos, und lässt dann erst den wieder dem Hades
verfallenen Sisyphos mit der Aufgabe des fruchtlosen Steinwälzens be-
straft werden. So Schol. Il. Z 153 mit Berufung auf Pherekydes. Dies
Märchen von der zwiefachen Ueberlistung der Todesmächte ist (so gut
wie das entsprechende Märchen vom Spielhansel: Grimm, K. M. 82 mit
den Anm. III p. 131 ff.) offenbar scherzhaft gemeint (und, wie es scheint,
scherzhaft behandelt von Aeschylus in dem Satyrdrama Σίσυφος δραπέτης):
wenn hieran die Steinwälzung angeknüpft wird, so sollte schon dies war-
nen, dieser einen allzu bitterlich ernsthaften und erbaulichen Sinn, mit
Welcker und Anhängern, anzudichten. Dass Sisyphos seines listigen
Sinnes wegen zu Nutz und Lehr der Schlauen wie der Braven bestraft
werde, ist ein ganz unantiker Gedanke. Dass er Il. 6, 153 κέρδιστος ἀν-
δρῶν heisst, ist ein Lob, nicht ein Tadel: wie Aristarch sehr richtig,
und mit deutlicher ἀναφορά auf den Vers der Nekyia, feststellte (s. Schol.
Il. Z 153, K 44 [Lehrs, Arist.3 p. 117] und Od. λ 593); dass dies Bei-
wort τὸ κακότροπον des Sis. bezeichne, ist nur ein Missverständniss des
Porphyrius, Schol. λ 385. Wie wenig man, auch mit der homerischen
Schilderung im Kopfe, den Sisyphos als einen Verworfenen dachte, zeigt
der Platonische Sokrates, der sich (Apol. 41 C) darauf freut, im Hades
u. A. auch den Sisyphos anzutreffen. Einer erwecklichen Auslegung des
Abschnittes von den drei „Büssern“, an die der Dichter selbst gar nicht
gedacht hat, macht Sisyphos die grössten Schwierigkeiten.
1).
Il. 3, 279; 19, 260. Vergeblich sucht Nitzsch, Anm. zur Odyssee
III p. 184 f., beide Stellen durch Künste der Erklärung und Kritik nicht
das aussagen zu lassen, was sie doch deutlich sagen.
2).
K. O. Müller, Aeschyl. Eumenid. p. 167.
3).
Man bedenke auch, dass eine gesetzliche Strafe auf dem Meineid
1).
Ganz richtig Eustath. zu Od. 9, 65 p. 1614/5. Er erinnert an
Pindar, Pyth. 4, 159: κέλεται γὰρ έὰν ψυχὰν κομίξαι Φρίξος ἐλϑόντας πρὸς
Αἰήτα ϑαλάμους, zu welcher Stelle der Scholiast wieder die homerische
vergleicht. In der That ist der vorausgesetzte Glaube an beiden Stellen
der gleiche: τῶν ἀπολομένων ἐν ξένῃ γῇ τὰς ψυχὰς εὐχαῖς τισιν ἐπεκαλοῦντο
ἀποπλέοντες οἱ φίλοι εἰς τὴν ἐκείνων πατρίδα καὶ ἐδόκουν κατάγειν αὐτοὺς πρὸς
τοὺς οἰκείους (Schol. Od. 9, 65 f. Schol. H. zu 9, 62). Ganz vergeblich
sträubt sich Nitzsch, Anm. III p. 17/18, in dieser Begehung die Erfüllung
einer religiösen Pflicht zu erkennen; Odysseus genüge nur einem „Bedürf-
niss des Herzens“ u. s. w. So verschlämmt man durch „sittliche“ Aus-
deutung den eigentlichen Sinn ritualer Handlungen.
2).
Als allgemeine Sitte setzt die Errichtung eines Kenotaphs für in
der Fremde gestorbene und den Angehörigen unerreichbare Verwandte
3).
nicht stand, in Griechenland so wenig wie in Rom. Sie war nicht nöthig,
da man unmittelbare Bestrafung durch die Gottheit, welcher der Schwö-
rende sich selbst gelobt hatte, erwartete (lehrreich sind die Worte des
Agamemnon bei dem Treubruch der Troer, Il. 4, 158 ff.), im Leben, und
auch da schon durch die Höllengeister, die Erinyen (Hesiod E. 802 ff.),
oder nach dem Tode.
1).
Od. 4, 584: χεῦ̕ Ἀγαμέμνονι τύμβον, ἵν̕ ἄσβεστον κλέος εἴη. 11, 75 f.:
σῆμα δέ μοι χεῦαι πολυῆς ἐπὶ ϑινὶ ϑαλάσσης, ἀνδρὸς δυστήνοιο, καὶ ἐσσο-
μένοισι πυϑέσϑαι. Dem Agamemnon wünscht Achill, in der zweiten Nekyia,
Od. 24, 30 ff.: wärest du doch vor Troja gefallen, dann hätten die Achäer
dir ein Grabmal errichtet und καὶ σῷ παιδὶ μέγα κλέος ἤρα̕ ὀπίσσω. (Und
im Gegensatz hierzu v. 93 ff. Agamemnon zu Achill: ὧς σὺ μὲν οὐδὲ ϑανὼν
ὂνομ̕ ὤλεσας, ἀλλά τοι αἰεὶ πάντας ἐπ̕ ἀνϑρώπους κλέος ἔσσεται ἐσϑλόν,
Ἀχιλλεῦ.) Wie das σῆμα ἐπὶ πλατεῖ Ἑλλησπόντῳ dazu dient, den vorbei-
fahrenden Schiffer zu erinnern: ἀνδρὸς μὲν τόδε σῆμα πάλαι κατατεϑνηῶτος
u. s. w.; und wie dies sein einziger Zweck zu sein scheint, zeigen die Worte
des Hektor Il. 7, 84 ff. — Des Gegensatzes wegen vgl. man, was von den
Bewohnern der Philippinen berichtet wird: „sie legten ihre vornehmen
Todten in eine Kiste und stellten sie auf einen erhabenen Ort oder einen
Felsen am Ufer eines Flusses, damit sie von den Frommen verehrt
wurden“ (Lippert, Seelencult p. 22).
2).
voraus die Mahnung der Athene an Telemach, Od. 1, 291. Menelaos
errichtet dem Agamemnon ein leeres Grab in Aegypten, Od. 4, 584.
1).
Nicht umsonst erinnert, was von dem Klima, so zu sagen, des
Elysischen Landes gesagt wird, Od. 4, 566—568 stark an die Schilderung
des Göttersitzes auf dem Olymp, Od. 6, 43—45.
2).
Die Verkündigung des Endschicksals des Menelaos hängt aller-
1).
Unsichtbarmachung (durch Verhüllung in einer Wolke) und Ent-
raffung (die nicht überall ausdrücklich hervorgehoben wird, aber wohl über-
all hinzuzudenken ist): des Paris durch Aphrodite, Il. Γ 380 ff.; des Ae-
neas durch Apollo, E 344 f.; des Idaios, Sohnes des Hephaestospriesters
Dares, durch Hephaestos E 23; des Hektor durch Apollo, ϒ 443 f.;
des Aeneas durch Poseidon ϒ 325 ff.; des Antenor durch Apollo, Φ
596 ff. (diese letzte, wie es scheint, die Originalscene, die in den Schil-
derungen dieses selben Schlachttages in den vorher genannten Aus-
führungen des gleichen Motivs, ϒ 325 ff.; 443 f. noch zweimal von
späteren Dichtern nachgeahmt worden ist). Auffallend ist (weil sich kaum
ein besonderer Grund hierfür denken lässt), dass alle diese Beispiele der
Entrückung auf Helden der troischen Seite treffen. Sonst noch, aber
nur in Wiedergabe eines längst vergangenen Abenteuers: Entrückung
der Aktorionen durch ihren Vater Poseidon: Λ 750 ff. Endlich könnte
(was über die angeführten Fälle nur wenig hinausginge) Zeus seinen Sohn
Sarpedon lebendig aus der Schlacht entraffen und nach seiner Heimath
Lykien versetzen: II 436 ff.; er steht aber auf die Mahnungen der Here
(440 ff.) von solchem Vorsatz ab.
2).
dings über, sie ist weder durch die erste Bitte des Menelaos (468 ff.),
noch durch dessen weitere Fragen (486 ff.; 551 ff.) nothwendig gemacht
oder auch nur gerechtfertigt. — Schon Nitzsch hielt die Verse 561—568
für eine spätere Einlage: Anm. zur Odyssee III p. 352, freilich mit einer
Begründung, die ich nicht für beweiskräftig halten kann. Dann Andere
ebenso.
1).
Ausdrücklich wird der Wunsch schnell zu sterben entgegen-
gesetzt
dem Wunsche, durch die Harpyien entführt zu werden:
63 ἢ ἔπειτα — „oder sonst“, d. h. wenn mir schneller Tod nicht be-
scheert ist. Nochmals 79. 80: ὧς ἔμ̕ ἀϊστώσειαν Ὀλύμπια δώματ̕
ἔχοντες ὴέ μ̕ ἐϋπλόκαμος βάλοι Ἄρτεμις. Die Harpyien = (ϑύελλα 63)
bringen hier also nicht Tod, sondern entraffen Lebende (ἀναρπάξασα
οἴχοιτο 63 f., ἅρπυιαι ἀνηρείψαντο 77 = ἀνέλοντο ϑύελλαι 66 und tragen
sie κατ̕ ἠερόεντα κέλευϑα 64 zu den προχοαὶ ἀψορρόου Ὠκεανοῖο 65 ἔδοσαν
στυγερῇσιν Ἐρινύσιν ἀμφιπολεύειν 78). An der „Einmündung des Okeanos“
(in’s Meer) ist der Eingang in’s Todtenreich: κ 508 ff. λ 13 ff.
2).
Man möchte mehr von diesem eigenthümlichen Märchen erfahren;
aber was uns sonst von Pandareos und seinen Töchtern berichtet wird
(Schol. υ 66. 67; τ 518; Anton. Lib. 36) trägt zur Aufklärung der
homerischen Erzählung nichts bei und gehört wohl z. Th. in ganz andere
Zusammenhänge. Pandareos, Vater der Aëdon (τ 518 ff.) scheint ein an-
derer zu sein. Auch die eigenthümliche Darstellung der zwei Pandareos-
töchter auf Polygnots Unterweltgemälde (Paus. 10, 30, 2) hellt die Fabel
nicht auf.
3).
Die Erinyen haben ihren dauernden Aufenthalt im Erebos: wie
namentlich aus Il. 9, 571 f.; 19, 259 erhellt. Wenn sie freilich auch Ver-
1).
„Wenn die Windsbraut daher fährt, soll man sich auf den Boden
legen, wie beim Muodisheere (vgl. hierüber Grimm, D. M.4 789), weil
sie sonst einen mitnimmt.“ Birlinger, Volksthüml. a. Schwaben I 192.
„Sie ist die Teufelsbraut“ ibid. (über die „Windsbraut“ vgl. Grimm,
D. Myth.4 I S. 525 ff. III 179). Solche Windgeister stehen in einem
unheimlichen Zusammenhang mit dem „wilden Heere“, d. h. den Nachts
durch die Luft fahrenden unruhigen „Seelen“.
2).
S. Anhang 7.
3).
gehungen Einzelner gegen Familienrecht schon im Leben bestrafen:
z. B. Il. 9, 454; Od. 11, 278, so muss man sie — da eine Wirkung in
die Ferne unglaublich ist — sich wohl auch gelegentlich als auf Erden
umgehend denken, wie bei Hesiod. W. u. T. 803 f.
1).
S. Nägelsbach, Homer. Theol. p. 42, 43 und, gegen Bergks Ein-
wendungen (Opusc. II 669), Roscher, Nektar und Ambrosia S. 51 ff.
2).
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Ino Leukothea ursprüng-
lich eine Göttin war, die aber heroisirt (mit der Tochter des Kadmos aus
einem uns nicht mehr erkennbaren Grunde identificirt) und nur nach-
träglich wieder als Göttin anerkannt wurde. Aber dem homerischen
Zeitalter gilt sie als eine ursprünglich Sterbliche, die zur Göttin erst ge-
worden
ist; aus demselben Grunde, eben weil sie als Beispiel solcher
Vergöttlichung Sterblicher galt, blieb sie den Späteren interessant (vgl.,
ausser bekannten Stellen des Pindar u. A., Cicero, Tusc. I § 28), und
nur auf die thatsächliche Vorstellung des Volkes und seiner Dichter, nicht
auf das, was sich als letzter Hintergrund dieser Vorstellung allenfalls
vermuthen lässt, kommt es mir hier, und in vielen ähnlichen Fällen, an.
1).
Nur zeitweilige Entrückung (ἀνήρπασε) der Marpessa durch
Apollo: Il. 9, 564.
2).
Den Ganymedes ἀνήρπασε ϑέσπις ἄελλα, hymn. Ven. 208, sowie
die ϑύελλα (= Ἅρπυια) die Töchter des Pandareos. Den Adler setzte
erst spätere Dichtung ein.
3).
Il. 11, 1. Od. 5, 1.
4).
Ἠὼς — ἀπ̕ Ὠκεανοῖο ῥοάων ὤρνυϑ̕, ἵν̕ ἀϑανάτοισι φόως φέροι ὴδὲ
βροτοῖσιν, Il. 19, 1 f.; vgl. Od. 23, 244 (h. Mercur. 184 f). So denn hymn.
Ven. 225 ff. von Tithonos: Ἠοῖ τερπόμενος χρυσοϑρόνῳ ὴριγενείῃ ναῖε παρ̕
Ὠκεανοῖο ῥοῇς ἐπὶ πείρασι γαίης, völlig homerisch. Es scheint, dass das
Wundereiland Aiaia für den Wohnplatz der Eos (und des Tithonos) galt:
Od. 12, 3: — νῆσόν τ̕ Αἰαίην, ὅϑι τ̕ Ἠοῦς ὴριγενείης οἰκία καὶ χοροί εἰσι
καὶ ἀντολαὶ ἠελίοιο. Wie man die schon im Alterthum vielverhandelte
Schwierigkeit lösen könne, diesen Vers mit der, in der Odyssee zweifellos
angenommenen westlichen Lage von Aiaia in Einklang zu bringen, unter-
suche ich hier nicht: gewiss ist nur, dass der erste Dichter dieses Verses
Aiaia im Osten suchte; nur mit schlimmsten Auslegerkünsten kann man
den Ort des „Aufgangs der Sonne“ und der „Wohnung der Morgen-
röthe“ in den Westen schieben.
1).
Vgl. Anhang 8.
2).
Unter allerlei misslungenen Versuchen der Alten das Wort
Ἠλύσιον etymologisch abzuleiten (Schol. Od. δ 563, Eustath. ibid. Hesych.
s. v., u. s. w.; auch Celsus ap. Orig. adv. Cels. VII 28 p. 43 L.) doch
auch die richtige: Et. M. 428, 36: παρὰ τὴν ἔλευσιν, ἔνϑα οἱ εὐσεβεῖς παρα-
γίνονται. — Streitig scheint unter Grammatikern gewesen zu sein, ob
Menelaos im Elysium ewig leben werde. Dass er lebendig, ohne Tren-
nung der Psyche vom Leibe, dahin gelange, gaben alle zu, aber Ueber-
weise meinten, dort werde dann eben auch er sterben, nur dass er nicht
in Argos sterben werde, sei ihm verkündigt, nicht dass er überhaupt
nicht sterben solle: so namentlich Etym. Gud. 242, 2 ff. Und ähnlich
doch wohl diejenigen, die Ἠλύσιον ableiteten davon, dass dort die ψυχαὶ
λελυμέναι τῶν σωμάτων διάγουσιν: Eustath. 1509, 29. Etym. M. etc.
1).
οὐ μὴν φαίνεταί γε (ὁ ποιητὴς) προαγαγὼν τὸν λόγον ἐς πλέον ὡς
εὕρημα ἄν τις οἰκεῖον, προςαψάμενος δὲ αὐτοῦ μόνον ἅτε ἐς ἅπαν ἤδη δια-
βεβοημένου τὸ Ἑλληνικόν, um mich der Worte des Pausanias (10, 31, 4) in
einem ähnlichen Falle zu bedienen.
2).
Uns ist der Grund jener Begnadung des Rhadamanthys so un-
bekannt, wie er es offenbar den Griechen späterer Zeit auch war: was
sie in ganz allgemeinen Ausdrücken von der „Gerechtigkeit“ des Rhad.
sagen, beruht nur auf eigenen Annahmen und ersetzt nicht die bestimmte
Sage, die seine Entrückung rechtfertigen müsste. Dass er einst eine
ausgebildete Sage hatte, lässt auch die Andeutung Odyss. 7, 323 ff. ahnen,
die uns freilich ganz dunkel bleibt. Jedenfalls folgt aus ihr weder, dass
Rhad. als Bewohner des Elysiums Nachbar der Phäaken war, wie Welcker
meint, noch vollends, dass er von jeher im Elysium wohnhaft, nicht
dorthin erst versetzt worden sei, wie Preller annimmt. Bei jener Stelle
an Elysium als Aufenthalt des Rhad. zu denken, veranlasst nichts; bei
der anderen Erwähnung, Od. 4, 564, wird man jedenfalls an Entrückung
des Rhad. so gut wie des Menelaos in das Elysium denken müssen (und
so versteht den Dichter z. B. Pausanias, 8, 53, 5: πρότερον δὲ ἔτι Ῥαδά-
μανϑυν ἐνταῦϑα ἥκειν). Es fehlt uns nur die Sage, die seine Entrückung
berichtete; seine Gestalt war isolirt geblieben, nicht in die grossen
Sagenkreise verflochten und so auch ihre Sagenumhüllung bald abgefallen.
2).
Die Etymologie ist so dumm wie die Erklärung der Verse. Diese blieb
doch auch im Alterthum ein Curiosum; vernünftige Leser verstanden die
Prophezeiung ganz richtig als eine Ankündigung der Entrückung zu
ewigem Leben, ohne Trennung der ψυχή vom Leibe: z. B. Porphyrius
bei Stobaeus Ecl. I p. 422, 8 ff. Wachsm. Und so auch die, welche
ihrer sachlich richtigen Auffassung Ausdruck gaben durch die freilich
auch nicht eben weise Etymologie: Ἠλύσιον οὐλύσιον, ὅτι οὐ διαλύονται
ἀπὸ τῶν σωμάτων αἱ ψυχαί. Hesych. (vgl. Etym. M. 428, 34/35; Schol. δ
563; Proclus zu Hesiod Ἔργ. 169).
1).
Hasisadras Entrückung: s. die Uebersetzung des babylonischen
Berichts bei Paul Haupt, Der keilinschriftl. Sintfluthbericht (L. 1881)
S. 17. 18. Die Ausdrücke der griechisch schreibenden Berichterstatter
sind völlig gleich den bei griechischen Entrückungssagen üblichen: γενέσ-
ϑαι ἀφανῆ (τὸν Ξίσουϑρον) μετὰ τῶν ϑεῶν οἰκήσοντα Berossus bei Syncell.
p. 55, 6. 11. Dind.; ϑεοί μιν ἐξ ἀνϑρώπων ἀφανίζουσιν Abydenus bei
Syncell. p. 70, 13. Von Henoch: οὐχ εὑρίσκετο, ὅτι μετέϑηκεν αὐτὸν ὁ
1).
ϑεός 1. Mos. 5, 24 (μετετέϑη Sirac. 44, 16. Hebr. 11, 5); ἀνελήφϑη ἀπὸ
τῆς γῆς Sirac. 49, 14; ἀνεχώρησε πρὸς τὸ ϑεῖον, Joseph. antiq. I 3, 4
(von Moses ἀφανίζεται Joseph. antiq. IV 8, 48). — Auch Henoch ist dem
Schicksal nicht entgangen, von der vergleichenden Mythologie als die
Sonne gedeutet zu werden. Sei’s um Henoch, wenn die Orientalisten
nichts dagegen haben; aber dass nur nicht, nach dem beliebten Analogie-
verfahren, auch die nach griechischer Sage Entrückten von Menelaos
bis zu Apollonius von Tyana, uns unter den Händen in mythologische
Sonnen (oder Morgenröthen, feuchte Wiesen, Gewitterwolken u. dgl.)
verzaubert werden!
1).
— μαλϑακὸς αἰχμητής Il. 17, 588.
2).
Il. 14, 321. 322.
3).
Man könnte sogar den Verdacht hegen, dass Menelaos zu ewigem
Leben entrückt werde, nicht nur weil er Helena, des Zeus Tochter zur
Gattin hat: οὕνεκ̕ ἔχεις Ἑλένην, wie ihm Proteus sagt, sondern auch erst
1).
Vgl. Tylor, Primitive Culture 2, 78; J. G. Müller, Gesch. d.
amerikan. Urrelig
. 660 f.; Waitz, Anthropologie V 2, 144; VI 302; 307.
2).
Die Erzählung, dass Rhadamanthys einst von den Phäaken nach
Euböa geleitet worden sei, ἐποψόμενος Τιτυὸν Γαιήϊον υἱόν (Od. 7, 321 ff.)
dahin zu ergänzen, dass dies geschehen sei als Rh. bereits im Elysium
wohnte, haben wir keinen Grund und kein Recht. Denn dass die Phäaken
3).
in Nachahmung einer in der Sage vorher schon festgestellten Ueber-
lieferung, welche Helena entrückt und unsterblich gemacht werden
liess. Von Helenens Tode berichtet keine Ueberlieferung des Alter-
thums, ausser den albernen Erfindungen des Ptolemaeus Chennus (Phot.
bibl
. p. 149 a, 37; 42; 149 b, 1 ff.) und der nicht viel besseren aetiolo-
gischen Sage bei Pausan. 3, 19, 10. Desto häufiger ist von ihrer Ver-
götterung, Leben auf der Insel Leuke oder auch der Insel der Seligen
die Rede. Die Sage mag das dämonischeste der Weiber früh dem ge-
wöhnlichen Menschenloose entrissen haben, Menelaos wird eher ihr hierin
gefolgt sein (wie Isokrates Helen. § 62 geradezu behauptet) als sie ihm.
1).
Wer ἀϑανασία hat, besitzt darum noch nicht nothwendig auch
δύναμιν ἰσόϑεον (Isokrates 10, 61).
2).
als „Fährleute des Todes“ mit Elysium in irgend einer Verbindung ge-
standen hätten, ist nichts als eine haltlose Phantasie.
1).
Ὀρτυγίη Od. 15, 404 mit Delos, und Συρίη mit der Insel Syros
zu identificiren (mit den alten Erklärern, und K. O. Müller, Dorier 1, 381)
ist unmöglich, schon wegen des Zusatzes: ὅϑι τροπαὶ ὴελίοιο, der die Insel
Syrie weit fort in den fabelhaften Westen verweist, wohin allein auch
solches Wunderland passen will. Ortygie ist offenbar ursprünglich ein
rein mythisches Land, der Artemis heilig, nicht deutlicher fixirt als das
dionysische Nysa und eben darum überall wiedergefunden, wo der Ar-
temiscult besonders blühte, in Aetolien, bei Syrakus, bei Ephesus, auf
Delos. Delos wird von Ortygie bestimmt unterschieden, h. Apoll. 16;
mit Ortygie identificirt erst nachträglich (Delos galt als der ältere
Name: O. Schneider, Nicandr., p. 22 Anm.), seit Artemis mit Apollo in
engste Gemeinschaft gesetzt wurde, aber auch dann nicht allgemein: wie
denn bei Homer Ortygie nirgends deutlich = Delos steht.
1).
Ἄρτεμις δὲ αὐτὴν ἐξαρπάξασα εἰς Ταύρους μετακομίζει (vgl. das
μετέϑηκεν αὐτὸν ὁ ϑεός von Henoch, 1. Mos. 5, 24) καὶ ἀϑάνατον ποιεῖ,
ἔλαφον δὲ ἀντὶ τῆς κόρης παρίστησι τῷ βωμῷ, Proclus (p. 19 Kink).
2).
— τούτῳ (τῷ Μέμνονι) Ἠὼς παρὰ Διὸς αἰτησαμένη ἀϑανασίαν δίδωσι,
sagt, allzu kurz, Proclus (p. 33 K.).
1).
Dass die Erzählung in Iliad. II von Sarpedons Tod und Ent-
raffung seines Leichnams, auch wenn sie (was mir keineswegs ausgemacht
scheint) nicht zu den Theilen der alten Ilias gehören sollte, doch älter
als die Aethiopis und Vorbild für deren Erzählung von Memnons Ende
ist, kann (trotz Meier, Annali dell’ inst. archeol. 1883 p. 217 ff.) nicht be-
zweifelt werden (vgl. auch Christ, Zur Chronol. d. altgr. Epos p. 25). —
Warum übrigens den Leichnam des Sarpedon Hypnos und Thanatos
entführen (statt, wie in ähnlichen Fällen, die ϑύελλα, ἄελλα, Ἅρπυια, und
auch den Memnon die Winde, nach Quint. Sm. 2, 550 ff.)? Wenn auf
attischen Lekythen diese zwei den Leichnam tragen (s. Robert, Thana-
tos
19), so soll vielleicht etwas Aehnliches tröstlich angedeutet werden,
wie in Grabepigrammen: ὕπνος ἔχει σε, μάκαρ — — καὶ νέκυς οὐκ ἐγένου. Der
homerische Dichter denkt schwerlich an etwas dergleichen, sondern im-
provisirt zum Thanatos den unentbehrlichen zweiten Träger hinzu, mit
sinnreicher, aber auf keinem religiösen Grunde ruhender Erfindung. Hyp-
nos als Bruder des Thanatos findet man auch in der Διὸς ἀπάτη,
Il. 14, 231.
1).
ἐκ τῆς πυρᾶς ἡ Θέτις ἀναρπάσασα τὸν παῖδα εἰς τὴν Λευκὴν νῆσον
διακομίζει. Proclus (p. 34 K.) — Dann übrigens weiter: οἱ δὲ Ἀχαιοὶ
τὸν τάφον χώσαντες ἀγῶνα τιϑέασιν. Also ein Grabhügel wird errichtet,
obwohl der Leib des Achill entrückt ist. Offenbar eine Concession an
die ältere, von der Entrückung noch nichts wissende, aber den Grabhügel
stark hervorhebende Erzählung, Od. 24, 80—84. Dazu mochte der in
Troas, am Meeresufer gezeigte Tumulus des Achill seine Erklärung for-
dern; der Dichter lässt also ein Kenotaph errichtet werden — und nun
trifft es sich wunderlich (aber doch wohl nur zufällig), dass jener Tumu-
lus, wie auch die nach Patroklos und Antilochos benannten Hügel wirk-
lich leer sind, vielleicht alte, mit den berühmten Namen der homerischen
Gedichte früh in Verbindung gebrachte Kenotaphe (vgl. Schliemann,
Troja [1884] p. 277. 297. 284). Kenotaphe nicht nur solchen zu er-
richten, deren Leichname unerreichbar waren (s. oben S. 61), sondern auch
Heroen, deren Leib entrückt war, galt nicht als widersinnig: so wird dem
Herakles, als er im Blitztode aufwärts entrafft ist, wiewohl man keinen
Knochen auf der πυρά fand, ein χῶμα errichtet: Diodor. 4, 38, 5; 39, 1.
1).
Was wird aus Odysseus? Proclus sagt es nicht, und wir können
es nicht errathen. Nach Hygin. fab. 127 wird er auf Aeaea begraben;
aber wenn weiter nichts mit seinem Leibe geschehen sollte, warum wird
er dann überhaupt nach Aeaea gebracht? Nach Schol. Lycophr. 805 wird
er durch Kirke zu neuem Leben erweckt. Aber was geschieht weiter
mit ihm?
2).
Die Aethiopis ist jünger als die Hadesscene in Odyss. ω, also
erst recht als die Nekyia in Od. λ. Die Prophezeiung von der Ent-
rückung des Menelaos in δ ist ebenfalls jünger als die Nekyia, aber aller
Wahrscheinlichkeit nach älter als die Aethiopis.
1).
S. Anhang 9.
1).
Der Auszug der Νόστοι bei Proclus ist besonders dürftig und
giebt offenbar von dem nach vielen Richtungen auseinander gehenden
Inhalt des Gedichts keine volle Vorstellung: daher auch die anderweit
erhaltenen Notizen über Einzelheiten seines Inhalts (insbesondere über
die Nekyia, die darin vorkam) sich in dem von Proclus gegebenen Rahmen
nicht unterbringen lassen.
2).
Vgl. Anhang 10.
1).
Der Gedanke, dass das eherne Zeitalter eigentlich mit dem heroi-
schen identisch sei (so z. B. Steitz, Die W. und T. des Hesiod, p. 61)
hat etwas Frappirendes; man bemerkt aber bald, dass er sich bei ge-
nauerer Betrachtung nicht festhalten und durchführen lässt.
1).
Es scheint mir nicht unbedingt nothwendig, die Verse 124 f.
(οἵ ῥα φυλάσσουσίν τε δίκας καὶ σχέτλια ἔργα, ἠέρα ἑσσάμενοι πάντη φοιτῶντες
ἐπ̕ αἶαν) zu streichen. Sie werden wiederholt v. 254 f., aber das ist eine
passende Wiederholung. Proclus commentirt sie nicht; daraus folgt noch
nicht, dass er sie nicht las; und Plutarch def. orac. 38 p. 431 B scheint
auf v. 125 in seinem gegenwärtigen Zusammenhang anzuspielen.
1).
Solche Mittelwesen findet gleichwohl, mit handgreiflichem Irrthum,
in Hesiods δαίμονες Plutarch, def. orac. 10 p. 415 B; er meint, Hesiod
scheide vier Classen τῶν λογικῶν, ϑεοί, δαίμονες, ἥρωες, ἄνϑρωποι: in dieser
platonisirenden Eintheilung würden vielmehr die ἥρωες das bedeuten, was
Hesiod unter den δαίμονες des ersten Geschlechts versteht. (Aus Plutarchs
Hesiodcommentar wohl wörtlich entnommen ist, was Proclus, den Aus-
führungen jener Stelle des Buchs de def. orac. sehr ähnlich, vorbringt
zu Hesiod Op. 121, p. 101 Gaisf.) Neuere haben den Unterschied der
hesiodischen δαίμονες von den Platonischen oft verfehlt. Plato selbst hält
den Unterschied sehr wohl fest (Cratyl. 397 E—398 C).
2).
ἠέρα ἑσσάμενοι 125 (vgl. 223, Il. 14, 282) ist ein naiver Ausdruck
für „unsichtbar“, wie Tzetzes ganz richtig erklärt. So ist es auch bei
Homer stets zu verstehen, wo von Umhüllen mit einer Wolke und dgl.
geredet wird.
3).
ἐπιχϑόνιοι heissen diese Dämonen zunächst im Gegensatze (nicht
zu den ὑποχϑόνιοι v. 141, sondern) zu den ϑεοὶ ἐπουράνιοι, wie Proclus
1).
Odyss. 17, 485 ff. Alt sind daher die Sagen von Einkehr ein-
zelner Götter in menschlichen Wohnungen: vgl. meinen Griech. Roman
p. 506 ff. Insbesondere Zeus Philios kehrt gern bei Menschen ein:
Diodor. com. Ἐπίκληρος, Mein. Com. fr. III p. 543 f. v. 7 ff.
3).
zu 122 richtig bemerkt. So ja ἐπιχϑόνιοι bei Homer stets als Beiwort
oder, alleinstehend, als Bezeichnung der Menschen im Gegensatz zu den
Göttern. Die ὑποχϑόνιοι 141 bilden dann erst nachträglich wieder einen
Gegensatz zu den ἐπιχϑόνιοι.
1).
τιμὴ καὶ τοῖσιν ὀπηδεῖ 142. τιμή im Sinne nicht einer einfachen
Werthschätzung, sondern als thätige Verehrung, wie bei Homer so oft,
z. B. in Wendungen wie: τιμὴ καὶ κῦδος ὀπηδεῖ, P 251, τιμῆς ἀπονήμενος
ω 30; τιμὴν δὲ λελόγχασιν ἶσα ϑεοῖσιν λ 304; ἔχει τιμήν λ 495 u. s. w.
Ebenso ja v. 138: οὕνεκα τιμὰς οὐκ ἐδίδουν μακάρεσσι ϑεοῖς.
2).
Lichte und finstere, d. i. gute und böse Dämonen findet in den
hesiodischen Dämonen aus dem goldenen und silbernen Geschlechte unter-
schieden Roth, Myth. v. d. Weltaltern (1860) S. 16. 17. Eine solche
1).
V. 141: τοὶ μὲν ὑποχϑόνιοι (ἐπιχϑόνιοι ausser einigen Hss. —
s. Köchlys Apparat — auch Tzetzes) μάκαρες ϑνητοὶ καλέονται. — φύλακες
ϑνητοί las und erklärt Proclus. Dies ersichtlich falsch; φύλακες ϑνητῶν
(wie 123) corrigiren Hagen und Welcker. Aber damit überträgt man vom
ersten auf das zweite Geschlecht einen Begriff, von dem man nicht weiss,
ob Hesiod ihn dahin übertragen wissen will, man corrigirt also nicht
nur den Wortlaut, sondern den Gedankeninhalt, ohne Recht. Das μάκαρες
sieht gar nicht wie eine Fälschung aus; vielmehr wird ϑύλακες eine Ver-
legenheitsänderung sein. ὑπ. μάκαρες ϑνητοῖς καλέονται schreibt der
neueste Herausgeber: hiebei ist der Zusatz ϑνητοῖς mindestens über-
flüssig. Man wird versuchen müssen, das Ueberlieferte zu erklären und
zu begreifen, woher der wunderliche Ausdruck dem Dichter gekommen ist.
2).
Scheidung tritt aber bei Hesiod nicht hervor, auch ist es kaum glaublich,
dass Götter oder Geister des griechischen Volksglaubens, auf welche die
Kategorien gut und böse überhaupt nicht recht anwendbar sind, in
naiver Zeit nach eben diesen Kategorien in Classen getheilt worden
seien. Jedenfalls fanden griechische Leser bei Hesiod nichts dergleichen
ausgesprochen; die Annahme böser Dämonen wird stets nur aus Philo-
sophen erhärtet (z. B. bei Plut. def. orac. 17), und sie ist auch gewiss nicht
älter als die älteste philosophische Reflexion.
1).
Wenn Philosophen und philosophische Dichter späterer Zeit die
vom Leibe wieder frei gewordene Seele bisweilen δαίμων nennen, so hat
das einen ganz anderen Sinn.
2).
Mit ähnlichem, wiewohl ja freilich viel weniger kühnem Oxy-
moron redet z. B. Isokrates, Euag. § 72 von einem δαίμων ϑνητός. Um
einen aus einem Sterblichen erst gewordenen Dämon zu bezeichnen,
hat man später das kühne Compositum (welches dem hesiodischen μάκαρ
ϑνητός ungefähr entspricht) ἀνϑρωποδαίμων gebildet: Rhes. 964; Procop.
Anecd. 12 p. 79, 17 Dind. (νεκυδαίμων auf einer Defixio aus Karthago:
Bull. d. corr. hellén. 12, 299).
3).
Das silberne Geschlecht wird durch die Götter des Olymps ge-
schaffen, wie das goldene (v. 110; 128), erst das dritte (v. 143) und dann
das vierte Geschlecht (v. 158) allein durch Zeus. Darnach könnte man
1).
νώνυμνοι 154 kann ja ebensowohl „namenlos“ d. h. ohne specielle
Benennung heissen, als „ruhmlos“ (so allerdings bei Homer meistens,
wenn nicht immer).
3).
meinen, das silberne Geschlecht falle, gleich dem goldenen, noch in die
Zeit vor Zeus’ Herrschaft, ἐπὶ Κρόνου ὅτ̕ οὐρανῷ ἐμβασίλευεν (v. 111); und
so verstand den Hesiod wohl „Orpheus“, wenn er τοῦ ἀργυροῦ γένους
βασιλεύειν φησὶ τὸν Κρόνον (Procl. zu v. 126). Aber damit liesse sich
doch v. 138 Ζεὺς Κρονίδης κτλ. nur sehr gezwungen vereinigen. Hesiod
mag also das silberne Geschlecht bereits in die Zeit setzen als sub Jore
mundus erat
(so ausdrücklich Ovid, Met. 1, 113 f.); es fällt ihm den-
noch in frühe, vorgeschichtliche Vergangenheit.
1).
S. Welcker, Kl. Schriften 2, 6, der aber, um nur ja alle Mög-
lichkeit einer Identificirung von Scheria mit Korkyra fernzuhalten, allzu
bestimmt Scheria für ein Festland erklärt. Mindestens Od. 6, 204 (ver-
glichen mit 4, 354) legt doch den Gedanken an eine Insel sehr nahe.
Aber deutlich allerdings wird Scheria nirgends Insel genannt.
2).
Die formellen Anstösse in v. 169 hebt Steitz, Hesiods W. u. T.
p. 69 hervor. Der Vers fehlt in den meisten Hss., er wurde (freilich
zusammen mit dem ganz unverdächtigen folgenden) von alten Kritikern
verworfen (Proclus zu v. 158). Die neueren Herausgeber sind einig in
seiner Tilgung. Alt ist aber die Einschiebung jedenfalls; wahrscheinlich
las schon Pindar (Olymp. 2, 70) den Vers an dieser Stelle.
1).
λῦσε δὲ Ζεὺς ἄφϑιτος Τιτᾶνας Pindar (P. 4, 291), zu dessen Zeit
aber dies schon eine verbreitete Sagenwendung ist, auf die er nur, exem-
plificirend, anspielt. Die hesiodische Theogonie weiss noch nichts davon.
2).
So gut die Sage vom goldenen, saturnischen Zeitalter wie eine
ausgeführtere Phantasie des Lebens auf seligen Inseln begegnen uns
nicht vor Hesiod, aber die epische Dichtung hatte, wie wir gesehen
haben, ihm einzelne Beispiele der Entrückung an einen Ort der Selig-
keit bereits dargeboten, er vereinigt diese nur zu einer Gesammtvor-
stellung eines solchen Ortes. Insofern tritt uns der Glaube an ein seliges
Leben im Jenseits früher entgegen als die Sagen vom goldenen Zeit-
alter. Aber wie wir nicht den entferntesten Grund haben, anzunehmen,
dass jener Glaube bei den Griechen „von vorn herein existirt“ habe (so
meint allerdings Milchhöfer, Anf. d. Kunst p. 230), so kann es anderer-
seits Zufall sein, dass vom goldenen Zeitalter kein älterer Zeuge als
Hesiod berichtet, die Sage selbst kann viel älter sein. Nach Hesiod ist
sie oft ausgeschmückt worden, übrigens nicht zuerst von Empedokles,
wie Graf, ad aureae aetatis fab. symb. (Leipz. Stud. VIII) p. 15 meint,
sondern bereits in der epischen Ἀλκμεωνίς: s. Philodem. π. εὐσεβ. p. 51 Gomp.
1).
Pindar N. 9, 24 ff. 10, 8 f. Apollodor. bibl. III 6, 8, 4 (σὺν
τῷ ἅρματι καὶ τῷ ἡνιόχῳ Βάτωνι ἐκρύφϑη καὶ Ζεὺς ἀϑάνατον αὐτὸν ἐποί-
ησεν) u. s. w. Beachtenswerth sind die Ausdrücke, mit denen die Ent-
rückung
des Amphiaraos und sein vollbewusstes Weiterleben bezeichnet
werden: κατὰ γαῖ̕ αὐτόν τέ νιν καὶ φαιδίμους ἴππους ἔμαρψεν Pind. Ol. 6, 14.
Ζεύς κρύψεν ἅμ̕ ἵπποις Pind. N. 9, 25. γαῖα ὑπέδεκτο μάντιν Οἰκλείδαν.
Pindar N. 10, 8. μάντις κεκευϑὼς πολεμίας ὑπὸ χϑονός Aesch. Sept. 588.
1).
Dass die Entrückung des Amphiaraos, sowie sie später (offenbar
nach einem bedeutenden und einflussreichen Vorbild) immer wieder er-
zählt wird, bereits in der Thebaïs des ep. Cyklus erzählt worden sei,
nimmt Welcker, Ep. Cykl. 2, 362. 366 ohne Weiteres an, und es ist in
der That von vorn herein sehr wahrscheinlich. Die Annahme lässt sich
aber auch sicherer begründen. Pindar berichtet Ol. 6, 12—17: nachdem
den Amphiaraos mit seinem Gespann die Erde verschlungen hatte, sprach
Adrastos beim Brande der sieben Scheiterhaufen (welche die Leichen der
im Kampfe gefallenen Argiver verzehrten): ποϑέω στρατιᾶς ὀφϑαλμὸν ἐμᾶς
κτλ. Dass dieses berühmte Klagewort ἐκ τῆς κυκλικῆς Θηβαΐδος ent-
nommen sei, bezeugt Asklepiades (Schol. 26). Demnach war auch in der
Thebaïs Amphiaraos nach beendigter Schlacht weder unter den Ueber-
lebenden noch unter den Gefallenen zu finden, — also jedenfalls entrückt.
Pindar wird nicht nur das Klagewort des Adrast, sondern die ganze dies
Wort motivirende Situation, wie er sie schildert, der Thebaïs entlehnt
haben. — In der Odyssee heisst es von Amphiaraos ὄλετ̕ ἐν Θήβῃσι 15, 247.
ϑάνεν Ἀμφιάραος 253. Der Ausdruck sei „natürlich nur als Ver-
schwinden
von der Erde zu verstehen“, meint Welcker, Ep. C. 2, 366.
Man kann wohl nur sagen, dass der Ausdruck nicht verhindere,
die Sage vom „Verschwinden“ des A. auch als dem Dichter dieser Verse
bekannt vorauszusetzen. So sagt bei Sophokles im Oed. Col. Antigone
wiederholt (v. 1706. 1714), dass Oedipus ἔϑανε, während er doch,
ähnlich wie Amphiaraos lebend entrückt ist (ἄσκοποι πλάκες ἔμαρ-
ψαν
1681).
1).
ϑεοὶ ζῶντ̕ ἀναρπάσαντες ἐς μυχοὺς χϑονὸς αὐτοῖς τεϑρίπποις εὐλο-
γοῦσιν ἐμφανῶς Eurip. Suppl. 928 f. (Eriphyle) Ἀμφιάραον ἔκρυψ̕ ὑπὸ
γῆν αὐτοῖσι σὺν ἵπποις Orakel aus Ephorus, bei Ath. 6, 232 F. Ἀμφιαράου
ζῶντος τὸ σῶμα καταδέξασϑαι τὴν γῆν Agatharchides de m. r. (Geogr. gr.
min.
I) p. 115, 21. ἐπεσπάσατο ἡ γῆ ζῶντα Philostrat. V. Ap.
p. 79, 18 Kays. ἀφανισμός des A. Steph. Byz. s. Ἅρπυια. — πάμψυχος
ἀνάσσει Soph. El. 841 ἀεὶ ζῶν τιμᾶται Xenoph. Cyneg. 1, 8.
1).
S. Anhang 11.
2).
Pindar fr. 167. Apoll. Rhod. 1, 57—64 (ζωός περ ἔτι … ὲδύσετο
νειόϑι γαίης). Orph. Argon. 171—175 (φασὶν — ζωόντ̕ ἐν φϑιμένοισι μο-
λεῖν ὑπὸ κεύϑεσι γαίης). Agatharchid. de m. r. p. 114, 39—43 (εἰς τὴν γῆν
καταδῦναι, ὀρϑόν τε καὶ ζῶντα). Schol. und Eustath. Il. A 264. — Bei
Ovid. met. 12, 514 ff. wird aus der Entrückung eine Verwandlung
(in einen Vogel): so ist oft an Stelle einer alten Entrückungssage eine
Metamorphose in späterer Sagenbildung getreten. — Die zusammen-
hängende Sage von Kaineus ist verloren, nur einige Bruchstücke bei
Schol. Ap. Rh. 1, 57; Schol. Il. A 264 (am bekanntesten die Geschlechts-
verwandlung [vgl. auch Meineke, h. crit. com. 345], deren Sinn unklar
ist. Aehnliche Geschichten von Tiresias, von Sithon [Ovid. met. 4, 280],
von Iphis und Ianthe, diese auffallend an eine Erzählung des Mahâb-
hârata erinnernd. Dann oft in Mirakelerzählungen, heidnischen und
christlichen, denen man gewiss zu viel Ehre anthut, wenn man dunkle
Erinnerungen an mannweibliche Gottheiten unter ihrer Hülle sucht).
Von Cult des Kaineus fehlt jede Spur.
1).
Althaimenes, Sohn des Katreus (vgl. Rhein. Mus. 36, 432 f.),
εὐξάμενος ὑπὸ χάσματος ἐκρύβη Apollodor. III 2, 2, 3. Rationalisirter
Bericht des Zeno von Rhodus bei Diodor. 5, 59, 4. Aber da: ὕστερον
κατὰ χρησμόν τινα τιμὰς ἔσχε παρὰ Ῥοδίοις ἡρωϊκάς, und in der That lehrt
die Inschrift bei Newton, Greek inscr. II 352 eine Volksabtheilung
(Ktoina?) auf Rhodos kennen des Namens Ἀλϑαιμενίς, deren ἥρως ἐπώνυμος
Althaimenes sein muss.
2).
S. Anhang 12.
3).
Der eigentliche Ausdruck für diese Wohnplätze im Erdinnern ist:
μέγαρα. Lex. rhetor. bei Eustath. Od. 1387, 17 f. Daher auch die Opfer-
gruben, in welche man die Gaben für die Unterirdischen versenkte,
μέγαρα heissen (Lobeck Agl. 830; μέγαρα = χάσματα Schol. Lucian.
Rhein. Mus. 25, 549, 7. 8): man gedenkt eben durch die Versenkung das
Opfer unmittelbar an den Aufenthalt der in der Erde wohnenden Geister
befördern zu können; der Opferschlund selbst ist das „Gemach“ μέγαρον,
in dem jene lebendig (in Schlangengestalt) hausen.
1).
Od. κ. 492 ff. ψυχῇ χρησόμενος Θηβαίου Τειρεσίαο, μάντηος ἀλαοῦ,
τοῦ τε φρένες ἔμπεδοί εἰσιν · τῷ καὶ τεϑνηῶτι νόον πόρε Περσεφόνεια, οἴῳ πεπνῦσ-
ϑαι · τοὶ δὲ σκιαὶ ἀΐσσουσιν. Wenn seine φρένες unversehrt sind, so fehlt
eigentlich das wesentlichste Merkmal des Gestorbenseins. Freilich ist sein
Leib aufgelöst, darum heisst er auch τεϑνηώς wie alle anderen Hades-
bewohner; es ist nur unfassbar, wie ohne den Leib die φρένες bestehen
können. Höchst wahrscheinlich ist die Vorstellung von dem Fortbestehen
des Bewusstseins des, aus der thebanischen Sage berühmten Sehers dem
Dichter aus einer volksthümlichen Ueberlieferung entstanden, nach welcher
Tiresias die Helligkeit seines Geistes auch nach seinem Abscheiden noch
durch Orakel bewährte, die er aus der Erde heraufsandte. In Orcho-
menos bestand (woran schon Nitzsch, Anm. zur Od. III p. 151 erinnert)
ein χρηστήριον Τειρεσίου: Plut. def. orac. 44, p. 434 C., und zwar nach
dem Zusammenhang, in welchem Plutarch von ihm redet, zu schliessen,
offenbar ein Erdorakel, d. h. ein Incubationsorakel. Dort mag man von
Tiresias und seinem Fortleben Aehnliches erzählt haben wie bei Theben
von Amphiaraos. Eine derartige Kunde könnte dann der Dichter der
Nekyia für seine Zwecke umgebildet und verwendet haben. Nicht ohne
Grund stellt jene von Tiresias handelnden Verse mit der Sage von Am-
phiaraos und Trophonios zusammen Strabo XVI p. 762.
1).
S. Anhang 13.
2).
Dem Trophonios opfert man, vor der Hinabfahrt, nachts, in eine
Grube (βόϑρος) einen Widder: Paus. 9, 39, 6; dem Amphiaraos, nach
längerem Fasten (Philostr. v. Ap. 2, 37, p. 79, 19 ff.) und nach Darbringung
eines καϑάρσιον, einen Widder, auf dessen Fell sich dann der das Orakel
Befragende zum Schlaf niederlegt (Paus. 1, 34, 5). — Cleanthem, cum pede
terram percussisset
, versum ex Epigonis
(wohl des Sophokles) ferunt
dixisse: Audisne haec Amphiaraë, sub terram abdite?
Cic. Tusc. II § 60.
Auch der Gestus wird der betreffenden Scene der Ἐπίγονοι entlehnt sein.
Man schlug also auf die Erde, wenn man den Amphiaraos anrief, wie bei
1).
Viel ältere Wirksamkeit des Traumorakels des Trophonios setzt
die Geschichte von dessen Befragung durch die Βοιωτοὶ ἁλόντες ὑπὸ Θρᾳκῶν
bei Photius (Suid.) s. λύσιοι τελεταί voraus.
2).
Trophonios selbst ist es, den man in der Höhle bei Lebadea zu
sehen erwartete. Der Hinabfahrende ist δεόμενος συγγενέσϑαι τῷ δαι-
μονίῳ (Max. Tyr. diss. 14, 2, p. 249 R.); man erforscht aus Opferzeichen,
εἰ δὴ τὸν κατιόντα εὐμενὴς καὶ ἵλεως δέξεται (Trophonios): Paus. 9, 39, 6.
Saon, der Entdecker des Orakels und Stifter des Cultes hat, in das μαν-
τεῖον eingedrungen, offenbar dort den Trophonios in Person angetroffen:
τὴν ἱερουργίαν — διδαχϑῆναι παρὰ τοῦ Τροφωνίου φασί (Paus. 9, 40, 2).
Er wohnt, wird gesehen in der Orakelhöhle: Origen. c. Cels. 3, 34 p. 293/4
(Lomm.); 7, 35 p. 53; Aristid. I p. 78 Dind. Selbst der ungesalzene
rationalisirende Bericht über Trophonios in Schol. Ar. Nub. 508 p. 105b,
15 (Dübn.), Schol. Luc. d. mort. 3., Cosm. ad Greg. Naz. (Eudoc. Viol.
p. 682, 8) setzt noch körperliche Anwesenheit eines ἐγκατοικῆσαν δαιμόνιον
in der Trophonioshöhle voraus; ebenso lässt dies als die verbreitete An-
sicht erkennen Lucian dial. mort. 3, 2 durch die seltsame spöttische Fiction,
dass τὸ ϑεῖον ἡμίτομον des Trophonios, der selbst im Hades (zu dem nach
Lucian Necyom. 22 die Trophonioshöhle nur ein Eingang ist) ist, χρᾷ ἐν
Βοιωτίᾳ. Man dachte also drunten dem Trophonios in seiner göttlichen Ge-
stalt zu begegnen, ganz so wie es mit naiver Deutlichkeit in einem ähnlichen
Fall Ampelius, l. mem. 8, 3 ausspricht: ibi (Argis in Epiro) Jovis templum
hyphonis
(unheilbar entstellt; Trophonii, ganz verkehrt, Duker), unde est ad
inferos descensus ad tollendas sortes: in quo loco dicuntur ii qui descenderunt
Jovem ipsum videre.
Oder man liess den Tr. in der Höhle in Schlangen-
gestalt wohnen, wie sie den Erdgöttern gewöhnlich ist. Nicht nur sind
ihm Schlangen ebenso wie dem Asklepios heilig (Paus. 9, 39, 3), wohnen
2).
Anrufung anderer καταχϑόνιοι man auf die Erde schlägt: Il. 9, 568; vgl.
Paus. 8, 15, 3.
1).
Von Zamolxis bei den Geten (vgl. Strabo 7, 297 f.; 16, 762;
Herodot. 4, 95. 96. Etym. M. s. Ζάλμ.), Mopsos in Kilikien, Amphi-
lochos in Akarnanien, Amphiaraos und Trophonios, also lauter Dämonen
von Incubationsorakeln redend, sagt Origenes c. Cels. 3, 34 (p. 293/4
Lomm.): ihnen kommen Tempel und ἀγάλματα zu als δαιμονίοις οὐκ οἶδ̕
ὅπως ἱδρυμένοις ἔν τινι τόπῳ, ὃν — — οἰκοῦσιν. Sie haben diesen ἕνα
κεκληρωμένον τόπον inne: Orig. 7, 35 (p. 53. 54) vgl. 3, 35 g. Ende. Dort
und nur dort sind solche Dämonen daher auch sichtbar. Celsus bei
Origenes c. Cels. 7, 35 (p. 53) von den Heiligthümern des Amphiaraos,
Trophonios, Mopsos: ἔνϑα φησὶν ἀνϑρωποειδεῖς ϑεωρεῖσϑαι ϑεοὺς καὶ οὐ
ψευδομένους ἀλλἀ καὶ ἐναργεῖς. — ὄψεταί τις αὐτοὺς οὐχ ἅπαξ παραρρυέντας —
ἀλλ̕ ἀεὶ τοῖς βουλομένοις ὁμιλοῦντας (also immer sind sie dort anwesend).
Aristid. I p. 78 Dind.: Ἀμφιάραος καὶ Τροφώνιος ἐν Βοιωτίᾳ καὶ Ἀμφί-
λοχος ἐν Αἰτωλίᾳ χρησμῳδοῦσι καὶ φαίνονται. Wenn der Cult eines solchen
durch Incubation befragten Gottes sich ausbreitete, so lockerte sich natür-
lich seine Ortsgebundenheit. Entweder wurde es streitig, wo sein dauernder
Erdsitz sei (so bei Amphiaraos), oder der Gott wird allmählich ortsfrei,
an bestimmte einzelne Orte nur soweit gebunden, dass er eben ausschliess-
lich an ihnen, nicht beliebig überall erscheinen kann. So ist es mit Asklepios,
so mit einigen anderen, ebenfalls ursprünglich an Ein Local gebundenen
Dämonen, die dann ἐπιφαίνονται, ἐπιφοιτῶσιν auch in bestimmten anderen
Tempeln (vgl. beispielsweise den Bericht über die ἐπιφάνειαι des Machaon
und Podalirius in Adrotta bei Marinus, v. Procli 32; coll. Suid. s. Εὐστέφιος
[aus Damascius, v. Isid.]). Stets aber muss zu dem durch Incubation ihn
Befragenden der Gott in Person kommen: ist er abwesend, so kann auch
kein Orakel zu Stande kommen. S. die Geschichte von Amphiaraos bei
2).
Schlangen in seiner Höhle, zu deren Besänftigung man Honigkuchen mit
hinabnahm: er selbst ist in Schlangengestalt anwesend: ὄφις ἦν ὁ μαντευ-
όμενος (Schol. Ar. Nub. 508 p. 105b, 32); vgl. Suidas s. Τροφώνιος. —
Diese persönliche unvermittelte Zusammenkunft des Orakelsuchenden mit
dem Gotte war es, was das Trophoniosorakel vor anderen auszeichnete,
μόνον ἐκεῖνο (τὸ μαντεῖον) δι̕ αὐτοῦ χρᾷ τοῦ χρωμένου. Philostr. V. Apoll.
8, 19, p. 335, 30. Manche hörten freilich nur, ohne zu sehen: — τις
καὶ εἶδεν καὶ ἄλλος ἤκουσεν. Paus. 9, 39, 11. Aber sie hörten den Gott.
1).
Die ὑποφῆται des dodonäischen Zeus, die Σελλοί, ἀνιπτόποδες χαμαι-
εῦναι Il. 16, 234 f. dachten schon im Alterthum Einige sich als Priester
eines Incubationsorakels (Eustath. Il. p. 1057, 64 ff.), mit ihnen Welcker,
Kl. Schr. 3, 90 f. Diese Auslegung ist ausschliesslich begründet auf das
Beiwort χαμαιεῦναι, aber dieses ist von dem ἀνιπτόποδες nicht zu trennen,
und da ἀνιπτόποδες keinen Bezug auf Incubation haben kann, so hat solchen
auch χαμαιεῦναι nicht; beide Epitheta bezeichnen offenbar eine eigenthüm-
liche Rauheit und Schmucklosigkeit der Lebensweise der Σελλοί, deren
(ritualen) Grund wir freilich nicht kennen und nicht errathen können.
1).
Plutarch. def. or. 5 p. 412 A. In den zu Epidauros aufgefundenen Hei-
lungsmirakelberichten kommt stets zu dem im ἄδυτον Schlafenden der
Gott selbst (auch wohl als Schlange, Ἐφημ. ἀρχαιολ. 1883. Z. 113—119),
bisweilen von seinen ὑπηρέται (den Asklepiaden) begleitet (z. B. Ἐφημ.
ἀρχ. 1885 p. 17 ff. Z. 38 ff. 111 f.). In dem alten, schon von Hippys
von Rhegion (woran zu zweifeln gar kein Grund ist) aufgezeichneten
Mirakel der Aristagora aus Troezen (Ἐφημ. 1885 p. 15 f. Z. 10 ff.)
erscheinen der Kranken in Troezen zuerst nur „die Söhne des Gottes“
οὐκ ἐπιδαμοῦντος αὐτοῦ ἀλλ̕ ἐν Ἐπιδαύρῳ ἐόντος. Erst in der nächsten
Nacht erscheint ihr Asklepios selbst ἱκὼν ἐξ Ἐπιδαύρου. Ueberall ist
Grundvoraussetzung, dass Traumheilung nur stattfinde durch persönliches
Eingreifen des Gottes (vgl. Aristoph. Plut.), später wenigstens durch Heil-
weisungen des persönlich erscheinenden Gottes (s. Zacher, Hermes 21,
472 f.) und diese Voraussetzung erklärt sich daraus, dass ursprünglich
Incubation nur an dem Orte stattfand, an dem ein Gott (oder Heros)
seinen dauernden Aufenthalt hatte.
1).
Wodurch die Dichtung veranlasst wurde, gerade den argivischen
(nach Paus. 2, 13, 7; vgl. Geopon. 2, 35 p. 182; schon bei Lebzeiten der
Incubationsmantik besonders kundigen) Seher Amphiaraos in dem böotischen
Höhlendämon wiederzuerkennen, oder den heroisirten Gott Amphiaraos zum
Argiver und Mitglied des, den böotischen Sehern sonst eher feindlichen
Sehergeschlechts des Melampus zu machen, nach Böotien als Landesfeind
gelangen zu lassen und dann im Inneren des feindlichen Landes für immer
anzusiedeln — das bleibt freilich dunkel.
1).
Heinrich der Vogelsteller im Sudemerberge: Kuhn und Schwartz,
Nordd. Sagen p. 185. Die anderen Beispiele in J. Grimms D. Myth.
Kap. 32. — G. Voigt, in Sybels histor. Zeitschrift 26 (1871) p. 131—187
führt in lichtvoller Darstellung aus, wie ursprünglich nicht Friedrich
Barbarossa, sondern Friedrich II. der Sage als nicht gestorben, sondern
als „verloren“ galt und auf ihn sich die Hoffnung bezog, dass er einst
wiederkommen werde. Seit dem 15. Jahrhundert taucht die Sage
auf, dass er im Kyffhäuser (oder auch in einer Felshöhle bei Kaisers-
lautern) sitze; erst seit dem 16. Jahrh. schiebt sich allmählich Friedrich
Rothbart unter. Aber wie es kam, dass man seit einer gewissen Zeit
den entrückten Kaiser in einem hohlen Berge fortlebend dachte, wird
doch aus der kritischen Betrachtung der Sagenentwicklung in den schrift-
lich erhaltenen Berichten allein nicht klar: plötzlich und unvermittelt
tritt diese Gestaltung der Sage hervor, und es lässt sich kaum anders
denken, als dass sie entstanden ist aus einer Verschmelzung der Friedrichs-
sage mit bereits vorhandenen Sagen von entrückten Helden oder Göttern
(wie auch Voigt p. 160 andeutet).
2).
Grimm, D. Mythol.4 p. 782 f., 795 f., Simrock, D. Mythol.3
p. 144. — Wie leicht sich ohne alle Ueberlieferung von einem Volke
zum anderen bei verschiedenen Völkern gleiche Sagen bilden, zeigt sich
daran, dass. die Sage von bergentrückten Helden wiederkehrt nicht nur
in Griechenland, sondern auch im fernen Mexiko; s. Müller, Gesch. der
amerikan. Urrelig.
582.
3).
Διὶ Τρεφωνίοι Ins. aus Lebadea, Meister, böot. Ins. 423 (Collitz
griech. Dialektins. I p. 163); sonst nur Τρεφωνίοι (n. 407. 414) Τροφωνίῳ
1).
Διὸς Ἀμφιαράου ἱερόν (bei Oropos) Pseudodicaearch. descr. Gr. I
§ 6 (Geogr. gr. min. I 100). Schon bei Hyperides, in der Rede für
Euxenippos, wird Amphiaraos in Oropos durchweg als ϑεός bezeichnet.
Liv. 45, 27, 10 (in Oropos) pro deo rates antiquus colitur. Auch den
Amphiaraos bei Theben nennt Plutarch (von der Gesandtschaft des Mar-
donios an das alte thebanische Orakel redend) ϑεός: de def. orac. 5.
Nach Pausanias 1, 34, 2 wäre freilich Amphiaraos erst in Oropos als Gott
verehrt worden.
3).
(n. 413); und neben einander τῦ Δὶ τῦ Βασιλεῖι κὴ τῦ Τρεφωνίυ u. ä.
(n. 425. 429. 430). Διονύσω εὐσταφύλω κατὰ χρησμὸν Διὸς Τροφωνίου Ins.
aus Lebadea bei Stephani, Reise durch einige Geg. des nördl. Griechen-
lands
No. 47. — Strabo 9, p. 414: Λεβάδεια ὅπου Διὸς Τροφωνίου μαντεῖον
ἵδρυται. Livius 45, 27, 8 Lebadiae templum Jovis Trophonii adiit. Jul.
Obseq. prod. cap. 110 (Lebadiae Eutychides in templum Jovis Trophonii
digressus
—). Διὸς μαντεῖον heisst das Trophoniosorakel auch bei Phot. und
Hesych. s. Λεβάδεια.
1).
In seiner Art des Ausdrucks zwar, aber sachlich ganz richtig
setzt solche im Lande haftende Localgötter den olympischen Gottheiten
entgegen Origenes c. Cels. 3, 35 g. Ende: — μοχϑηρῶν δαιμόνων καὶ τόπους
ἐπὶ γῆς προκατειληφότων, ἐπεὶ τῆς καϑαρωτέρας οὐ δύνανται ἐφάψασϑαι χώρας
καὶ ϑειότητος. Von Asklepios derselbe 5, 2 (p. 169 Lomm.): ϑεὸς μὲν ἂν
εἴη, ἀεὶ δέ λαχὼν οἰκεῖν τὴν γῆν καὶ ώσπερεὶ φυγὰς τοῦ τόπου τῶν ϑεῶν.
2).
Διὸς μεγάλου ὀαριστής. Das Wort bezeichnet sowohl im Besonderen
das vertrauliche Reden, als im Allgemeinen den vertrauten Verkehr mit
Zeus. — Das dunkle ἐννέωρος braucht hier nicht berücksichtigt zu werden;
wie man es auch deute, es ist jedenfalls mit βασίλευε, neben dem es steht,
zu verbinden, nicht (wie freilich schon Alte vielfach gethan haben) mit
Διὸς μ. ὀαριστής.
1).
Verkehr des Minos mit Zeus in der Höhle: Pseudoplato Min.
319 E (daraus Strabo 16, 762), Ephorus bei Strabo 10, 476 (aus
Ephorus, Nicol. Damasc. bei Stob. flor. 44, 41, II 189, 6 ff. Mein.)
Valer. Max. 1, 2 ext. 1. Hier wird überall die Lage der Höhle nicht
genauer bestimmt. Gemeint ist wohl die idäische und diese nennt be-
stimmt als den Ort, an dem M. mit Zeus zusammenkam, Max. Tyr. diss.
38, 2 (p. 221 R.).
2).
Geburt des Zeus in der Höhle: Αἰγαίῳ ἐν ὄρει Hesiod. Th. 481 ff.
Dort trägt ihn die Mutter ἐς Λύκτον 482 (cf. 477), das wäre unweit vom
Ida. ἐς Δίκτην corrigirt Schömann. Und allerdings galt als Ort der Ge-
burt
des Gottes zumeist die Höhle im Diktegebirge: Apollod. 1, 1, 6;
Diodor 5, 70, 6; Pompon. Mela 2, 113; Dionys. Hal. antiq. 2, 61 (der
dorthin auch Minos zum Zeus gehen lässt). Bei Praisos τὸ τοῦ Δικταίου Διὸς
ἱερόν: Strabo 10, 475. 478. Andere nennen freilich als Geburtsort die
Höhle im Ida: Diodor 5, 70, 2. 4; Apoll. Rh. 3, 134. Und so machen
die beiden heiligen Höhlen sich durchweg Concurrenz. Es scheint aber
doch, dass die Sage von der Geburt des Zeus sich vorzugsweise an die
diktäische, die von seinem dauernden Aufenthalt vornehmlich an die
idäische Höhle geknüpft habe.
3).
Max. Tyr. Diss. 16, 1 (vgl. diss. 38, 3; [wohl nur aus Maximus
Tyr. Theod. Metochita misc. c. 90, p. 580 Müller]). Vgl. Rhein. Mus.
35, 161 f. Maximus spricht von der Höhle des diktäischen Zeus, vielleicht
nur nachlässig und ungenau. Ueber Knossos, der Heimath des Epime-
nides, lag ja vielmehr der Ida und seine Höhle, dorthin also wird ihn
die Sage haben pilgern lassen. Und so Laert. Diog. 8, 3, vom Pytha-
1).
Schol. Plat. Leg. I introd. (p. 372 Herm.) und Leg. 625 B.
S. Lobeck Agl. 1121. (Διὸς Ἰδαίου μύστης Eurip. Cret. fr. 472, 10). — Vor
Kurzem ist die idäische Zeushöhle wieder aufgefunden worden, hoch im
Gebirge, eine Tagereise von Knossos entfernt. (Fabricius, Mitth. d. arch.
Inst.
10, 59 ff.). Ueberreste von Weihegeschenken aus älterer Zeit fanden
sich nur vor dem Eingang der Höhle, ἐν τῷ στομίῳ τοῦ ἄντρου, wo der-
gleichen schon Theophrast erwähnt (H. plant. 3, 3, 4); im Inneren der
(wie ein Grabgewölbe aus zwei Kammern bestehenden) Höhle fanden sich
nur Spuren des Cultes aus römischer Zeit. Es scheint darnach, dass der
Opfercult in älterer Zeit nicht bis in das Innere der Höhle vorgedrungen
ist, sondern sich draussen hielt (wie auch an dem Heiligthum des Tro-
phonios zu Lebadea), das Innere der Höhle aber, als Sitz des Gottes
selbst, nur von den Mysten und Priestern betreten wurde (die Geburts-
höhle galt als unbetretbar: Boios bei Anton. Lib. 19).
2).
Porphyr. v. Pyth. 17: εἰς δὲ τὸ Ἰδαῖον καλούμενον ἄντρον καταβὰς
ἔρια ἔχων μέλανα τὰς νομιζομένας τρὶς ἐννέα [vgl. Nauck zu Soph. O. C.
483] ἡμέρας ἐκεῖ διέτριψεν καὶ καϑήγισεν τῶ Διί, τόν τε στορνύμενον αὐτῷ
κατ̕ ἔτος ϑρόνον ἐϑεάσατο. Man kann den historischen Gehalt des Be-
richtes von dieser Höhlenfahrt des Pythagoras dahingestellt sein lassen
und wird doch festhalten dürfen, dass die Angaben über das Ritual des
Zeuscultes in der Höhle und das übliche Ceremoniell der Höhlenfahrt
vollen Glauben verdienen. (Die Erzählung stammt aus relativ guter Quelle:
Griech. Roman. p. 254). — Das lange Verweilen in der Höhle (wohl in
der weiten und hohen vorderen Kammer) hat seine Seitenstücke in dem,
was Strabo 14, 649 von dem Χαρώνιον bei Acharaka, Plutarch de gen.
Socr.
21 von der Trophonioshöhle erzählt. Auch in dem οἴκημα Δαίμονος
ἀγαϑοῦ καὶ Τύχης bei Lebadea musste man als Vorbereitung für die
Höhlenfahrt eine Anzahl von Tagen zubringen: Paus. 9, 39, 5. Der
dem Zeus στορνύμενος κατ̕ ἔτος ϑρόνος hat nicht etwa mit einer Ceremonie
wie der des korybantischen ϑρονισμός (s. Hiller, Hermes 21, 365) etwas
zu thun. Gemeint ist jedenfalls ein lectisternium: so pflegte man in Athen
κλίνην στρῶσαι τῷ Πλούτωνι (Inschr. Hermes 6, 106), dem Asklepios (C. I.
A. 2, 453 b, 11) u. s. w. Der ϑρόνος statt der κλίνη wohl nach altem
Ritus, so wie auf den sogen. Todtenmahlen der älteren Zeit der Heros
thronend, auf späteren Darstellungen auf der κλίνη liegend dargestellt ist.
(Θεοδαίσια, neben Βελχάνια, d. h. einem Feste zu Ehren des, auch in
3).
goras: ἐν Κρήτῃ σὺν Ἐπιμενίδῃ κατῆλϑεν εἰς τὸ Ἰδαῖον ἄντρον. Pythagoras
in der idäischen Höhle: Porphyr. v. Pyth. 17.
1).
Von dem Grabe des Zeus redete Euhemeros nach Ennius bei Lac-
tant. 1, 11, und bei Minuc. Fel. 21, 2. Kallimachus, h. Jov. 8. 9 pole-
misirt bereits gegen das Gerücht von dem kretischen Zeusgrabe. Es
scheint mir sehr glaublich, dass Euhemeros die Sage, als zu seinem kläg-
lichen Mythenpragmatismus scheinbar trefflich passend, hervorgezogen
und in die Litteratur eingeführt habe; er wäre es denn, gegen den sich
Kallimachus a. a. O. wendet, wie er es ja auch sonst mit dem γέρων ἀλα-
ζών und dessen ἄδικα βιβλία zu thun hat (fr. 86).
2).
Von dem Zeusgrabe auf Kreta reden ohne genauere Ortsangabe
Kallimachus a. a. O., Cicero de nat. d. 3, § 53; Diodor 3, 61, 2;
Pomp. Mela 2, 112; Lucian, Timon. 6. Jupp. trag. 45 de sacrif. 10,
deor. concil. 6; Minuc. Fel. 21, 8; Firmic. Matern. de err. prof. rel. 7, 6.
Von Dictaei Jovis sepulcrum spricht Euhemeros bei Min. Fel. 21, 2,
offenbar ungenau, denn nach Lactant. 1, 11 wäre das Grab gewesen in
oppido Cnosso
, weit vom Diktegebirge. Gemeint ist auch dort nicht in,
sondern bei Knossos, d. h. auf dem Ida. Denn auf dem Ida lag das
Grab nach dem Zeugniss des Varro de litoralibus bei Solin. p. 81, 12—15
Momms. Endlich, dass das Grab innerhalb der idäischen Höhle lag, geht
deutlich aus Porphyr. V. Pyth. 17 hervor.
3).
Daher man die Sage vom Grabe des Zeus (wenn man nicht, wie
Kallimachus, sie einfach leugnete) allegorisch sich zurechtlegte: auf
τροπικὰς ὑπονοίας deutete Celsus hin: Origen. c. Cels. 3, 43 (p. 307
Lomm.). Vgl. Philostrat. V. Soph. p. 76, 15 ff. Ks.
2).
Phaestos verehrten Ζεὺς Βελχανός [vgl. Head, hist. num. Fig. 255, p. 401],
werden erwähnt auf einer Inschr. aus Lyttos, Bull. de corresp. hellén.
1889, p. 61).
1).
Vgl. Anhang 14.
2).
Varro L. L. VII, p. 304 vergleicht die Gestalt des Omphalos
mit einem thesaurus, also einem jener gewölbten Bauten, die man als
Schatzhäuser zu bezeichnen pflegte, die aber, wie jetzt ja zweifellos fest-
steht, in Wahrheit Grabgewölbe waren. In kleinerem Maassstabe hatte also
(wie auch Vasenbilder erkennen lassen) der ὀμφαλός die Gestalt, die man
den Behausungen der erdhausenden Geister Abgeschiedener, aber auch
der Wohnstätte anderer Erdgeister zu geben pflegte: auch das χάσμα
γῆς über der Höhle des Trophonios hatte diese Form: Paus. 9, 39, 10.
Ob solcher Kuppelbau vorzugsweise den mantischen unter den Erdgeistern
bestimmt war? — Der delphische „Omphalos“ bezeichnet eigentlich, mit
technischem Ausdruck, eben diese Tholosform; ὀμφαλὸς Γῆς heisst er, weil
der Erdgöttin geheiligt. Zum „Nabel“ d. h. Mittelpunkt der Erde haben
ihn erst Missverständniss und daraus hervorgesponnene Fabeln gemacht.
3).
Neuere nehmen z. Th. an, dass unter dem Omphalos das Grab
des Dionys liege: z. B. Enmann, Kypros u. d. Urspr. des Aphroditecultus
(Petersb. 1886) p. 47 ff. Aber bei genauerem Zusehen zeigt sich nur dies als
1).
Dass die von Apoll getödtete Schlange Hüterin des alten μαντεῖον
χϑόνιον war, berichtet unverächtliche Ueberlieferung (die Zeugnisse ge-
sammelt von Th. Schreiber, Apollo Pythoktonos p. 3): voran Euripides,
Iph. Taur. 1245 ff.; Kallimachus, fr. 364; ποιηταί nach Paus. 10, 6, 6, welche
berichteten (τὸν Πύϑωνα) ἐπὶ τῷ μαντείῳ φύλακα ὑπὸ Γῆς τετάχϑαι u. s. w.
Kurz und deutlich bezeichnet, dass der Kampf um das Orakel ging,
3).
gut bezeugt, dass der ὀμφαλός Pythonis tumulus sei (Varro L. L. VII p. 304
Sp.), τάφος τοῦ Πύϑωνος (Hesych. s. Τοξίου βουνός), Dionys dagegen in
Delphi begraben liege παρὰ τὸν Ἀπόλλωνα τὸν χρυσοῦν (Philochorus bei
Syncell. 307, 4 ff. Dind.; Euseb. Arm. Hieron. p. 44, 45 Sch.; Malalas
p. 45, 7 Dind., aus Africanus nach Gelzer, Afric. I 132 f.), d. h. im ἄδυτον
(vgl. Paus. 10, 24, 5) oder, was dasselbe besagt, παρὰ τὸ χρηστήριον (Plut.
Is. et Osir. 35), παρὰ τὸν τρίποδα (Callimach. bei Tzetz. Lyc. 208; vgl.
Etym. M. s. Δελφοί). Der Dreifuss stand im Adyton (Diodor 16, 26; Strabo
9, 419). Ob der ὀμφαλός auch im Adyton stand (oder etwa, wie Manche
annehmen, in der Cella des Tempels) ist nicht auszumachen, so wahr-
scheinlich es auch ist. Aber unter dem Omphalos lässt den Dionys
Niemand begraben sein als Tatian adv. Gr. 8 p. 40 Otto: ὁ ὀμφαλὸς
τάφος ἐστὶ Διονύσου. Die Aussage dieses sehr flüchtigen Pamphletisten
kommt aber gar nicht in Betracht neben dem Zeugniss des Varro u. s. w.;
ganz offenbar hat Tatian die zwei „Gräber“ mit einander verwechselt,
so gut wie umgekehrt Hygin. fub. 140 und Servius (zur Aen. 3, 92; 3,
360; 6, 347), die im Dreifuss den Python begraben sein lassen. Die ächte
Tradition kannte ausser dem Grabe des Dionys am Dreifuss das Grab des
Python im Omphalos seiner Mutter Gaia. Dies ist ihm ernstlich nicht
bestritten worden; eher könnte man glauben, dass Zweifel darüber be-
standen, wer denn im Dreifuss beigesetzt sei. Porphyrius V. Pyth. 16
nennt als solchen den Apoll selbst, resp. einen Apoll, den Sohn des
Silen. Diese Albernheit scheint auf Euhemeros zurückzugehen (vgl. Minuc.
Fel. 21, 1; werthlos Fulgentius expos. p. 769 Stav.) und mag nichts als
leichtfertige Spielerei sein. (Zu viel Ehre thut dieser Ueberlieferung an
K. O. Müller, Proleg. p. 307).
1).
Hierzu eine lehrreiche Parallele. In den Clementin. Homilien 5, 22
p. 70, 32 Lag. wird erwähnt ein Grab des Pluton ἐν τῇ Ἀχερουσίᾳ
λίμνῃ. Dies wird sich so verstehen lassen. Zu Hermione wurde Hades
unter dem Namen Klymenos neben Demeter χϑονία und Kore verehrt
(C. I. Gr. 1197. 1199). Pausanias weiss wohl, dass Klymenos ein Bei-
name (ἐπίκλησις) des Hades ist (2, 35, 9), aber seine Abweisung der Be-
hauptung, dass Klymenos ein Mann aus Argos sei, der nach Hermione
(wohl als Stifter des chthonischen Cultus) gekommen sei, beweist, dass
eben das die geläufige Ansicht gewesen sein muss. Hinter dem Tempel
1).
Apollodor. 1, 4, 1, 3: ὡς δὲ ὁ φρουρῶν τὸ μαντεῖον Πύϑων ὄφις ἐκώλυεν
αὐτὸν (Ἀπόλλωνα) παρελϑεῖν ἐπὶ τὸ χάσμα (den Orakelschlund), τοῦτον ἀνε-
λὼν τὸ μαντεῖον παραλαμβάνει. Die Schlangengestalt ist den Erdgeistern
eigen, und weil Erdgeister durchweg mantische Kraft haben, den Orakel-
geistern. Trophonios erschien als Schlange, auch Asklepios. Der del-
phische δράκων ist wohl ohne Zweifel eigentlich eine Verkörperung des
vorapollinischen Orakeldämons. So sagt Hesych. geradezu: Πύϑων δαιμόνιον
μαντικόν (ausgeschmückt Hygin. fab. 140). Vgl. Act. Ap. 16, 16. — Anhänger
der Lehre von der griechischen „Naturreligion“ finden auch in der Sage
von Apolls Kampf mit der Schlange eine allegorische Einkleidung eines
physikalischen, in’s Ethische hinüberschillernden Satzes wieder. Für das
Ursprüngliche kann ich solche Allegorie nicht halten.
1).
κὰδ δ̕ ἐν Ἀϑήνῃσ̕ εἷσεν, ἑῷ ἐνὶ πίονι νηῷ. Dieser Worte wird man
sich erinnern dürfen bei der Erklärung der räthselhaften Erzählung in
Hesiods Theog. 987 ff., vom Phaëthon, den Aphrodite ὦρτ̕ ἀνερειφαμένη
καί μιν ζαϑέοις ἐνὶ νηοῖς νηοπόλον μύχιον ποιήσατο, δαίμονα δῖον. Aphrodite
entrückt also den Phaëthon lebendig und verleiht ihm ewiges Leben —
im Inneren ihres Tempels, ganz wie Athene dem Erechtheus thut. Viel-
leicht ist auch Phaëthon in die Erdtiefe unter dem Tempel entrückt: das
Beiwort μύχιον könnte dies ausdrücken. ϑεοὶ μύχιοι sind die über den
μυχός eines Hauses waltenden, z. B. über den ϑάλαμος als das innerste
Gemach: so Ἀφροδίτη μυχία (Aelian. h. an. 10, 34). Λητὼ μυχία (Plu-
tarch bei Euseb. praep. ev. III 1, 3. p. 84 c.). Aber als μύχιοι können
auch bezeichnet werden die im Erdinneren Wohnenden (μυχῷ χϑονὸς
εὐρυοδείης Hesiod. Th. 119; häufiger μυχοὶ χϑονός: s. Markland zu Eurip.
Suppl. 545. Vgl. Ἄϊδος μυχός anth. Pal. 7, 213, 6; auch μυχὸς εὐσεβέων,
ἀϑανάτων unter der Erde: Kaibel epigr. 241 a, 18; 658 a [Rhein. Mus. 34,
192]). So von den Erinyen Orph. hymn. 69, 3: μύχιαι, ὑπὸ κεύϑεσιν οἰκί̕
ἔχουσαι ἄντρῳ ἐν ἠερόεντι Phot. lex. 274, 18: μυχόπεδον· γῆς βάϑος, Ἅιδης.
1).
der Chthonia lagen χωρία ἃ καλοῦσιν Ἑρμιονεῖς τὸ μὲν Κλυμένου, τὸ δὲ
Πλούτωνος, τὸ τρίτον δὲ αὐτῶν λίμνην Ἀχερουσίαν. An dieser λίμνη
Ἀχερουσία wird vermuthlich ein Grab des zum Heros Klymenos herab-
gesetzten Hades gezeigt worden sein, den Clemens, statt Klymenos oder
Hades, ungenau mit dem Späteren geläufigeren Namen Pluton nennt.
1).
Dass das μίν v. 550 sich auf Erechtheus bezieht, nicht auf Athene,
lehrt der Zusammenhang; Schol. B. L. bestätigen es noch ausdrücklich;
an Athene kann bei den Opfern von Stieren und Schafen nicht gedacht
werden, denn ϑήλεα τῇ Ἀϑηνᾷ ϑύουσιν. In der That opferte man der
Athene Kühe, nicht Stiere: vgl. P. Stengel, quaest. sacrific. (Berl. 1879),
p. 4. 5.
2).
S. Wachsmuth, Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss. 1887, p. 399 ff.
3).
So war an dem Tempel des Palaemon auf dem Isthmus ein
Ἄδυτον καλούμενον, κάϑοδος δὲ ἐς αὐτὸ ὐπόγεως, ἔνϑα δὴ τὸν Παλαίμονα
κεκρύφϑαι (also nicht todt und begraben) φασίν. Pausan. 2, 2, 1.
4).
χάσμα κρύπτει χϑονός Eurip. Ion. 292. — Erechtheus ab Jove Nep-
tuni rogatu fulmine est ictus.
, Hygin. fab. 46. Das ist nur eine andere
Art der Entrückung.
5).
Ueber den Zusammenhang des Erechtheus mit Poseidon ist hier
nicht zu reden.
1).
Clemens Al. protrept. 29 B. (sammt seinen Ausschreibern, Arno-
bius u. A.); Apollodor. bibl. 3, 14, 7, 1. — Clemens (aus Antiochus von
Syrakus) erwähnt auch ein Grab des Kekrops auf der Burg. Es ist un-
klar, in welchem Verhältniss dieses stand zu dem auf Inschriften erwähnten
Κεκρόπιον (C. I. Att. I, 322), τὸ τοῦ Κέκροπος ἱερόν auf der Burg (Lob-
dekret für die Epheben der Kekropis des Jahres 333: Bull. de corresp.
hellén.
1889. p. 257. Z. 10).
2).
῾ϒακινϑίοις πρὸ τῆς τοῦ Ἀπόλλωνος ϑυσίας ἐς τοῦτον ῾ϒακίνϑῳ τὸν
βωμὸν διὰ ϑύρας χαλκῆς ἐναγίζουσιν · ἐν ἀριστερᾷ δέ ἐστιν ἡ ϑύρα τοῦ βωμοῦ.
Pausan. 3, 19, 3. Aehnliches wird uns später bei der Betrachtung der
Heroenopfer begegnen. Stets setzt dieser naive Opferbrauch körperliche
Anwesenheit des Gottes oder „Geistes“ an dem Orte in der Erdtiefe
1).
Die Hyakinthossage in der geläufigen Form findet sich bei
Dichtern hellenistischer Zeit und ihren Nachahmern: Nikander, Bion, Ovid
u. s. w.; schon Simmias und Euphorion hatten sie erzählt (S. Welcker,
Kl. Schr. 1, 24 ff.; vgl. G. Knaack, Anal. Alexandrino-romana p. 60 ff.).
Sie mag wohl in frühere Zeit hinaufreichen: vom Tode des H. durch
Apolls Diskoswurf redet schon Eurip. Hel. 1472 ff., wenn auch noch
nicht von der Liebe des Apoll zum H. So wie sie gewöhnlich erzählt
wird, und wohl schon von Nikias vorausgesetzt wurde, hat die Sage keine
Localfarbe und wohl auch keinen Localsagengehalt, selbst ätiologisch ist
sie nicht, da sie nur im Allgemeinsten den traurigen Charakter des Hya-
kinthosfestes motiviren könnte, nicht deren besondere Gebräuche. Es ist
eine erotische Sage, in eine Verwandlung auslaufend, wie so viele andere,
im Gehalt allerdings mit den Sagen von Linos u. a. verwandt, mit denen
man sie zu vergleichen (und, nach beliebtem Schema, als allegorische Dar-
stellung der Vernichtung der Frühlingsblüthe durch die Sonnengluth zu
deuten) pflegt. Es ist eben eine geläufige Sagenwendung (der Tod durch
Diskoswurf auch z. B. in der Geschichte des Akrisios, des Kanobos).
Unbekannt ist, wie weit die Blume Hyakinthos wirklich eine Beziehung
auf den amykläischen Hyakinthos hatte (vgl. Hemsterhus. Lucian. Bip. 2,
p. 291), vielleicht gar keine (man verwandte keine Hyacinthen an den
Hyakinthien); die Namensgleichheit konnte den hellenistischen Dichtern
zur Ausschmückung ihrer Verwandlungssage genügen.
2].
Die ῾ϒακινϑίδες in Athen galten für Töchter des (seltsamer Weise
nach Athen gekommenen) Hyakinthos „des Lakedämoniers“, d. h. eben des
in Amyklae begrabenen. S. Steph. Byz. s. Λουσία; Harpocrat. s. ῾ϒακινϑίδες;
Apollod. 3, 15, 8, 5. 6; Hygin. fab. 238 (Phanodem. bei Suidas s. Παρϑένοι
setzt willkürlich die ῾ϒακινϑίδες den ῾ϒάδες oder Töchtern des Erechtheus
2).
voraus, zu dem man die Gaben hinabgiesst oder wirft (wie in die μέγαρα
der Demeter und Kore u. s. w.).
1).
πρὸ τῆς τοῦ Ἀπόλλωνος ϑυσίας Paus. 3, 19, 3. Mehrfach wird
erwähnt, dass einem Heros bei gewissen Festen vor einem Gotte ge-
opfert wurde (vgl. Wassner de heroum ap. Gr. cultu p. 48 ff.). Vielleicht
hat das überall seinen Grund darin, dass der Cult des „Heros“ (oder
heroisirten Gottes) an jener Stelle älter war als der des erst später
ebendort in den Cult aufgenommenen Gottes. So wurde zu Plataeae an
den Daedalen der Leto vor der Hera geopfert (προϑύεσϑαι): Plut. bei
Euseb. Praep. ev. 3, 84 C: ganz ersichtlich ist dort Hera die später in
den Cult aufgenommene.
2).
῾ϒακίνϑῳ ἐναγίζουσιν Paus. 3, 19, 3.
3).
Der zweite Tag des Festes war dem Apoll, nicht dem Hyakinthos
geweiht: τὸν ϑεὸν ᾄδουσιν Athen. 4, 139 E (hierher zieht man mit Recht
2].
gleich. Ebenso Pseudodemosth. Epitaph. 27). Diese Annahme setzt eine
Sage voraus, nach welcher Hyak. nicht als Knabe oder halberwachsener
Jüngling starb, wie in der Verwandlungssage. — Die Bärtigkeit des Hya-
kinthos auf dem Bildwerke des Altars bringt Paus. 3, 19, 4 ausdrücklich
in Gegensatz zu der zarten Jugendlichkeit des Hyakinth, wie Nikias
(2. Hälfte des 4. Jahrh.) auf seinem berühmten Bilde sie dargestellt hatte
und die Liebesfabel sie voraussetzte (πρωϑήβην ῾ϒάκινϑον Nic. Ther. 905).
Pausanias deutet § 5 einen Zweifel an der Richtigkeit der überlieferten
Fabel vom Tod des H. überhaupt an.
1).
Hesych. Πολύβοια · ϑεός τις ὑπ̕ ἐνίων μὲν Ἄρτεμις, ὑπὸ δὲ ἄλλων
Κόρη. Vgl. K. O. Müller, Dorier 1, 358 (Ἄρτεμις wohl als Hekate).
2).
Eine andere Deutung des in Amyklae vereinigten Cultus des
Apoll und des Hyakinthos giebt Enmann, Kypros u. s. w. p. 35, hier und
anderswo von gewissen, aus H. D. Müllers mythologischen Schriften
übernommenen Anschauungen ausgehend, die man im Allgemeinen für
richtig halten müsste, um ihre Anwendung auf einzelne Fälle einleuchtend
zu finden.
3).
den παιάν, von dem Xenophon Hell. 4, 5, 11 redet). Den heiteren
Charakter der Festbegehungen an diesem zweiten Tage kann man unmög-
lich mit Ungar, Philol. 37, 30, in der Beschreibung des Polykrates bei
Athen. 139 E. F. verkennen. Allerdings redet Didymus (dessen Worte
Athenaeus ausschreibt) am Anfang (139 D) so, dass man zu dem Glauben
verführt werden könnte, alle drei Tage der τῶν ῾ϒακινϑίων ϑυσία seien,
διὰ τὸ πένϑος τὸ γενόμενον (γινόμενον?) περὶ τὸν ῾ϒάκινϑον, ohne Lustbar-
keit, ohne Kränze, reicheres Mahl, ohne Päan u. s. w. verflossen. Aber
er widerlegt sich eben selber in der Schilderung des zweiten Tages, an
dem nicht nur bei den Aufführungen, sondern auch bei den Opfern und
Mahlen (139 F) Lust herrscht. Man wird also glauben müssen, dass sein
Ausdruck am Anfang ungenau ist, und er verstanden wissen will, dass,
was er von der Ernsthaftigkeit „wegen der Trauer um Hyakinthos“
sagt, sich, wie jene Trauer selbst, auf den ersten Tag des Festes
beschränke.
1).
Vgl. Anhang 15.
2).
Wie sie auch dem Hyakinthos, nach den Darstellungen des amy-
kläischen Altars (Paus. 3, 19) zu Theil wurde. Für seine ursprüngliche
Natur folgt hieraus nichts.
3).
Die mantische Thätigkeit des Askl. tritt in den gewöhnlichen Be-
richten hinter seiner Heilkraft stark zurück; von Anbeginn waren beide
Wirkungen (wie bei den Erdgeistern oft) eng verbunden. Ganz aus-
drücklich Apollodor περὶ ϑεῶν bei Macrob. Sat. 1, 20, 4 scribit, quod
Aesculapius divinationibus et auguriis praesit.
Celsus nannte den Askle-
pios εὐεργετοῦντα καὶ τὰ μέλλοντα προλέγοντα ὅλαις πόλεσιν ἀνακειμέναις
ἑαυτῷ (Origen. c. Cels. 3, 3, p. 255/6. Lomm.).
4).
Man denke an Semele, welche ζώει ἐν Ὀλυμπίοις ἀποϑανοῦσα
1).
Cicero, nach den pragmatisirenden „theologi“, nat. d. 3, § 57:
Aesculapius (der zweite) fulmine percussus dicitur humatus esse Cynosuris
(dem spartanischen Gau? aus gleicher Quelle Clemens Al. protr. p. 18 D;
Lyd. de mens. 4, 90 p. 288 R.); von dem dritten Askl. Cic. § 57: cuius
in Arcadia non longe a Lusio flumine sepulcrum et lucus ostenditur.

Auch den Sitz des Askl. in Epidauros fassten Manche als sein Grab,
wenn den Clementin. Homil. 5, 21, Recognit. 10, 24 (sepulcrum demonstra-
tur in Epidauro Aesculapii
) zu trauen ist.
2).
Die chthonische Natur des Asklepios zeigt sich namentlich darin,
dass die Schlange ihm nicht nur heilig und beigegeben ist, sondern
dass er selbst geradezu in Schlangengestalt gedacht wird (vgl. Welcker,
Götterl. 2, 734). ὄφις, Γῆς παῖς (Herodot 1, 78); in Schlangengestalt er-
scheinen Gottheiten, die im Erdinnern hausen, dann auch die „Heroen“
späterer Auffassung, als χϑόνιοι. Weil solche Erdgeister meist mantische
Kraft haben, ist die Schlange auch Orakelthier; aber das ist erst secun-
där. — Auf chthonischen Charakter des A. weist wohl auch das Hahn-
4).
βρόμῳ κεραυνοῦ (Pind.), an Herakles und sein Verschwinden von dem
durch den Blitz des Zeus entzündeten Holzstoss (s. namentlich Diodor. 4,
38, 4. 5), an die Parallelberichte über Entrückung oder Blitztod des
Erechtheus. Den Volksglauben spricht sehr deutlich aus Charax bei Anon.
de incredib. 16. p. 325, 5 ff. West., bei Gelegenheit der Semele: —
κεραυνοῦ κατασκήφαντος ἠφανίσϑη · ἐκείνην μὲν οὖν, ὁποῖα ἐπὶ τοῖς διο-
βλήτοις λέγεται, ϑείας μοίρας λαχεῖν
ᾠήϑησαν. Daher denn der
κεραυνωϑεὶς ὡς ϑεὸς τιμᾶται (Artemidor. onirocr. p. 94, 26 H), als ein ὑπὸ
Διὸς τετιμημένος (ibid. 93, 24). Der Blitzstrahl fährt in das Grab des Ly-
kurg (wie später des Euripides) als des ϑεοφιλέστατος καὶ ὁσιώτατος (Plut.
Lycurg. 31). Heroisirung des Olympiasiegers Euthymos bezeichnete es,
als in seine Standbilder zu Lokri und Olympia der Blitz fuhr: Plin. n.
h.
7, 152. Der Leichnam des vom Blitz Erschlagenen bleibt unverwes-
lich, Hunde und Raubvögel wagen sich nicht daran: Plut. Symp. 4, 2,
3; an der Stelle, wo ihn der Blitz traf, muss er beerdigt werden (Ar-
temidor. p. 95, 6; vgl. Festus p. 178 b, 21 ff. Plin. n. h. 2, 145). Ueber-
all tritt hervor, wie der διόβλητος als geheiligt gilt. Das hindert nicht,
dass andere Male der Blitztod — vielleicht bisweilen durch Missverständ-
niss der Berichterstatter — als Strafe eines Frevels gilt. Vgl. z. B.
(ausser dem Tode des Kapaneus u. A.) Athen. 12, 522 F, aus Klearch;
Pausan. 9, 30, 5. — Von Asklepios ganz richtig Minucius Felix 22, 7: Aes-
culapius, ut in deum surgat, fulminatur.
1).
Verwandtschaft des Amphiaraos mit Asklepios zeigt sich auch
darin, dass man Iaso, eine der um Asklepios gruppirten allegorischen
Gestalten, wie gewöhnlich zur Tochter des Asklepios (u. A. Etym. M.
434, 17: Ἰασώ mit Sylburg), so auch wohl zur Tochter des Amphiaraos
machte: Schol. Arist. Plut. 701. Hesych. s. v. (Ihr Bild in seinem
Tempel zu Oropos: Paus. 1, 24, 3.) So ist auch Ἄλκανδρος, der Sohn
des Trophonios (Charax. Schol. Ar. Nub. 508) wohl nicht verschieden
von Ἄλκων, dem Asklepiadischen Dämon, dessen Priester Sophokles war.
Die Bilder des Trophonios hatten den Typus der Asklepiosstatuen: Paus. 9,
39, 3. 4. Troph., Sohn des Valens = Ischys und der Koronis, Bruder des
Asklepios: Cic. n. d. 3, § 56 nach den theologi. Mit Grund, eben der
innerlichen Verwandtschaft wegen, nennt neben einander Trophonios, Am-
phiaraos, Amphilochos und die Asklepiaden Aristides orat. I p. 78
Dindf.
2).
opfer, das ihm (von Sokrates vor seinem Abscheiden in die Unterwelt)
dargebracht wird, wie sonst den Heroen. So sind auch ἡρῷα in Athen
von Asklepiospriestern begangen worden (C. I. Att. 2, 453 b): vgl. Köhler,
Mitth. d. arch. Inst. 2, 245 f. (Opfergrube, βόϑρος für chthonischen Dienst
im Asklepieion zu Athen? s. Köhler, ebend. 254).
1).
Den Amphiaraos hatte Sulla zu den „Göttern“ gerechnet (und
darum das seinem Tempel zugewiesene Gebiet von Oropos von der Ver-
pachtung der Abgaben an die römischen publicani ausgeschlossen); der
römische Senat lässt es dabei bewenden (Ins. aus Oropos, Ἐφημ. ἀρχαιολ.
1884 p. 101 ff.; Hermes 20, 268 ff.); die publicani hatten geleugnet, im-
mortales esse ullos, qui aliquando homines fuissent
(Cicero n. deor. 3,
§ 49). Nur dies, dass Amphiaraos jetzt Gott sei, war also von der
anderen Seite behauptet, dass er aber ehedem Mensch gewesen sei,
nicht geleugnet worden. — Unter den ϑεοί, welche ἐγίνοντο ἐξ ἀνϑρώπων
nennt den Amphiaraos noch Pausanias 8, 2, 4.
1).
Porphyr. de abstin. 4, 22.
2).
Nicht ganz deutlich ist, ob man in dem, was Pausanias 2, 2. 2
nach Eumelus über die Gräber des Neleus und Sisyphos berichtet, eine
erste Spur eines Heroenreliquiencultus erkennen dürfe, mit Lobeck, Agl. 284.
— Die Orakelverse aus Oenomaos bei Euseb. pr. ev. 5, 28 p. 223 B,
in denen Lykurg ermahnt wird, zu ehren Μενέλαν τε καὶ ἄλλους ἀϑανά-
τους ἥρωας, οἳ ἐν Λακεδαίμονι δίῃ, sind wohl recht jung, jünger als die
schon dem Herodot bekannten: ἥκεις, ὦ Λυκόοργε — wiewohl älter als
das 2. Jahrhundert (vgl. Isyllos [Collitz 3342] v. 26). Oenomaos ent-
lehnt sie (wie alle Orakel, die er in seiner Γοήτων φώρα verarbeitet)
einer Sammlung von Orakelsprüchen, gewiss nicht dem Ephorus, wie
E. Meyer, Rhein. Mus. 41, 570 ff. annimmt (um von dem König Pau-
1).
Einen Daites, ἥρωα τιμώμενον παρὰ τοῖς Τρωσίν erwähnte Mim-
nermus, fr. 18. Früher schon scheint auf heroischen Cult des Achill hin-
zuweisen Alcaeus fr. 48 b: Ἀχίλλευ, ὂ γᾶς Σκυϑίκας μέδεις (s. Wassner, de
heroum cultu
p. 33).
2).
ϑεοὶ ὅσοι γῆν τὴν Πλαταιΐδα ἔχετε καὶ ἥρωες, ξυνίστορές ἐστε —
Thucyd. 2, 74, 2; μάρτυρας ϑεοὺς καὶ ἥρωας ἐγχωρίους ποιήσομαι —
Thuc. 4, 87, 2: vgl. Thuc. 5, 30, 2. 5.
3).
Herodot 8, 109: τάδε γὰρ οὐο ἡμεῖς κατεργασάμεϑα, ἀλλὰ ϑεοί τε
καὶ ἥρωες.
4).
Herod. 7, 43.
2).
sanias ganz zu schweigen). — Alt war freilich der Cult der Helena und
des Menelaos in Therapne: s. Ross, Arch. Aufs. 2, 341 ff. Man knüpfte in
Sparta begierig an die vordorische legitime Königsherrschaft an: daher
man auch die Gebeine des Orest, des Tisamenos nach Sparta gebracht
hatte und beide dort heroisch verehrte. Mit der Entrückung des Mene-
laos nach Elysion (Odyss. δ) hat sein Cult in Therapne nichts zu thun.
1).
ϑεῶν ἄλλοις ἄλλαι τιμαὶ πρόσκεινται καὶ ἥρωσιν ἄλλαι, καὶ αὗται
ἀποκεκριμέναι τοῦ ϑείου. Arrian. anab. 4, 11, 3.
2).
Heroenopfer ἐν δυϑμαῖσιν αὐγᾶν und die ganze Nacht hindurch:
Pindar Isthm. 3, 83 ff. ὑπὸ κνέφας Apollon. Rhod. 1, 587 (= περὶ ἡλίου
δυσμάς Schol.) τῷ μὲν (Ἀλεξάνορι) ὡς ἥρωϊ μετὰ ἥλιον δύναντα ὲναγίζουσιν,
Εὐαμερίωνι δὲ ὡς ϑεῷ ϑύουσιν Paus. 2, 11, 7. Dem Myrtilos νύκτωρ
κατὰ ἔτος ἐναγίζουσιν (die Pheneaten) Paus. 8, 14, 11. Nachts opfert
Solon den Salaminischen Heroen: Plut. Sol. 9. — ἀπὸ μέσου ἡμέρας soll
man den Heroen opfern: Laert. Diog. 8, 33 (τοῖς κατοιχομένοις ἀπὸ μεσημ-
βρίας. Etym. M. 468, 34; vgl. Eustath. Il. Θ 65).
3).
ἐσχάρα. S. oben S. 33.
4).
Vgl. Stengel, Jahrb. f. Philol. 1886 p. 322. 329.
5).
Schol. Apoll. Rh. 1, 587. ἐντέμνειν. S. Stengel, Ztschr. f. d.
Gymnasialw.
1880 p. 743 ff.
6).
αἱμακουρία, Pind. Ol. 1, 90. Plut. Aristid. 21. Das Wort soll
böotisch sein, nach Schol. Pind. Ol. 1, 146 (daraus Gregor. Corinth.
p. 215).
7).
Mit Recht hält (gegen Welcker) Wassner, de heroum ap. Graec.
1).
ἐναγίζειν für Heroen, ϑύειν für Götter. Genau ist im Sprachge-
brauch namentlich Pausanias, aber auch er, und selbst Herodot, sagt wohl
einmal ϑύειν, wo ἐναγίζειν das Richtigere wäre (z. B. Her. 7, 117: τῷ
Ἀρταχαίῃ ϑύουσι Ἀκάνϑιοι ὡς ἥρωι). Andere setzen vielfach ϑύειν statt
ἐναγίζειν, welches als der speciellere Begriff unter ϑύειν als allgemeinere
Bezeichnung des Opferns überhaupt subsumirt werden kann.
2).
Vgl. Deneken, de theoxeniis (Berl. 1881), cap. I; Wassner a. a. O.
p. 12. — Den solcher Art des Opfers zu Grunde liegenden Gedanken
lassen Aeusserungen naiver Völker erkennen. Vgl. Réville, les rel. des
peuples non-civilisés
1, 73.
7).
cultu p. 6 daran fest, dass die ἐναγίσματα für Heroen ὁλοκαυτώματα ge-
wesen seien.
1).
Oben S. 18 f. — ἐπὶ Ἀζᾶνι τῷ Ἀρκάδι τελευτήσαντι ἆϑλα ἐτέϑη
πρῶτον · εὶ μὲν καὶ ἄλλα, οὐκ οἶδα, ἱπποδρομίας δὲ ἐτέϑη. Pausan. 8, 4. 5.
2).
Auf dasselbe kommt die Aristarchische Beobachtung, dass Homer
keinen ἱερὸς καὶ στεφανίτης ἀγών kenne, hinaus. S. Rhein. Mus. 36, 544 f.
(Wegen der dort angeführten Beobachtung, dass Homer überhaupt Wort
und Gebrauch von στέφανος nicht kenne, vgl. noch Schol. Pind. Nem.
introd.
p. 7, 8 ff. Abel. S. auch Merkel, Apoll. Rhod. proleg. p. CXXVI. —
ἐϋστέφανος von στεφάνη, nicht von στέφανος: Schol. Φ 511).
3).
Viele solcher Heroenagone nennt namentlich Pindar.
4).
Z. B., auf Geheiss des Orakels gestiftet, ein ἀγὼν γυμνικὸς καὶ
ἱππικός zu Ehren der getödteten Phokäer in Agylla: Herod. 1, 167. Agon
für Miltiades, Herod. 6, 38; für Brasidas, Thucyd. 5, 11; für Leonidas in
Sparta: Pausan. 3, 14, 1.
5).
An den Iolaïen zu Theben μυρσίνης στεφάνοις στεφανοῦνται οἱ
νικῶντες · μυρσίνη δὲ στεφανοῦνται διὰ τὸ εἶναι τῶν νεκρῶν στέφος. Schol.
Pind. Isthm. 3, 117. (Die Myrte τοῖς χϑονίοις ἀφιέρωτο: Apollodor. in
Schol. Ar. Ran. 330. Myrte als Grabschmuck: Eurip. El. 324. 511).
1).
Im Allgemeinen: ἐτελοῦντο οἱ παλαιοὶ πάντες ὰγῶνες ἐπί τισι τετε-
λευτηκόσιν. Schol. Pind. Isthm. p. 349 Ab. Die Nemeen ein ἀγὼν ἐπι-
τάφιος für Archemoros: Schol. P. Nem. p. 7. 8 Ab.; später erst von
Herakles dem Zeus geweiht: ibid. p. 11, 8 ff.; 12, 14—13, 4 (vgl. Welcker,
Ep. Cycl. 2, 350 ff.). Siegeskranz seit den Perserkriegen aus Eppich,
ἐπί τιμῇ τῶν κατοιχομένων: ibid. p. 10 (Eppich als Gräberschmuck: Schnei-
dewin zu Diogenian. 8, 57. S. unten. σελίνου στέφανος πένϑιμος — —
Δοῦρις ἐν τῷ περὶ ἀγώνων Photius lex. 506, 5). Schwarzes Gewand der
Kampfrichter: ibid. p. 11, 8 ff. Schol. Argum. Nem IV. V. — Die
Isthmien als ἐπιτάφιος ἀγών für Melikertes, dann für Sinis oder Skiron.
Plut. Thes. 25. Schol. Pind. Isthm. p. 350—352 Ab. Siegeskranz Eppich
oder Fichte, beide als Trauerzeichen. Paus. 8, 48, 2 u. A. (s. Meineke,
Anal. Al. 80 ff.). — Die Pythien sollen ein ἀγὼν ἐπιτάφιος für Python ge-
wesen sein; die Olympien für Oenomaos, oder für Pelops (Phlegon,
F. H. G. 3, 603; vgl. P. Knapp, Correspondenzbl. d. Württemb. Gelehrtensch.
1881 p. 9 ff.). — Nicht Alles wird Speculation an diesen Nachrichten sein.
Thatsächlich sind z. B. die Leichenspiele für Tlepolemos auf Rhodos, die
Pindar kennt, Ol. 7, 77 ff., später auf Helios (vgl. Schol Pind. Ol. 7, 36.
146. 147 übertragen worden (s. Böckh zu V. 77).
2).
„Halbgötter“, ἡμίϑεοι, ist nicht, wie man hie und da angegeben
findet, eine Bezeichnung der Heroen als Geisterwesen, die damit als eine
Classe von Mittelwesen zwischen Gott und Mensch bezeichnet würden.
Nicht sie nennt man ἡμίϑεοι, sondern die Helden und Könige der Sagen-
zeit, besonders der Kriege um Theben und Troja (Hesiod. Op. 160; Il.
M. 23, hymn. Hom. 31, 19; 32, 13. Callim. fr. 1, 19 und so später oft),
diese aber als Lebende, nicht als verklärte Geister. Die ἡμίϑεοι sind
eine Gattung der Menschen, nicht der Geister oder Dämonen, es sind die
οἳ πρότερόν ποτ̕ ἐπέλοντο, ϑεῶν δ̛ ἐξ ἀνάκτων ἐγένονϑ̛ ὗιες ἡμίϑεοι (Simonid.
fr. 36; vgl. Plato Cratyl. 398 D), die Söhne von Göttern und sterblichen
Weibern, dann auch (a potiori benannt) deren Genossen. Auch dass man
etwa jene ἡμίϑεοι genannten Menschen der Vorzeit zu „Heroen“ nach ihrem
Tode habe werden lassen, weil ihre angeborene halbgöttliche Natur auch
dann noch ein besonderes Loos zu verdienen schien, lässt sich aus alter
Zeit wohl nicht belegen. Erst bei Cicero (de nat. deor. 3, § 45) scheint
etwas wie eine solche Meinung durch. Dass in Griechenlands lebendiger
1).
μάκαρ μὲν ἀνδρῶν μέτα, ἥρως δ̛ ἔπειτα λαοσεβής Pind. P. 5, 88 f.
2).
τίνα ϑεόν, τίν̕ ἥρωα, τίνα δ̛ ἄνδρα; Pind. Ol. 2 init. οὔτε ϑεοὺς
οὔτε ἥρωας οὔτ̕ ἀνϑρώπους αἰσχυνϑεῖσα Antiphon. 1, 27. Mit Einschiebung
der „Dämonen“: Götter, Dämonen, Heroen, Menschen: Plato Rep. 3,
392 A; 4, 427 B; Leg. 4, 717 A/B. — Von Identificirung der Heroen
mit den Dämonen (die Nägelsbach, Nachhom. Theol. 104 behauptet) kann
nicht die Rede sein. Wenn Philosophen Verstorbene „Dämonen“ nennen,
so fällt das unter einen ganz anderen Gesichtspunkt. Speciell Plutarchische
Speculation ist es, wenn ein Uebergang von Menschen zu Heroen, von
diesen zu Dämonen angenommen, die Heroen also wie eine Art niederer
Dämonen angesehen werden (def. orac. 10. Rom. 28). — Gar nicht un-
richtig bringt ein Scholion zu Eurip. Hecub. 165 Götter und Dämonen,
Heroen und Menschen in Parallele. Götter sind ὑψηλότερόν τι τάγμα τῶν
δαιμόνων, und so verhalten sich auch οἱ ἥρωες πρὸς τούς λοιποὺς ἀνϑρώ-
πους, ὑψηλότεροί τινες δοκοῦντες καὶ ὑπερέχοντες.
2).
Zeit halbgöttliche Abstammung nicht eine Bedingung der Heroisirung
war, zeigt einfach die Thatsache, dass man von der grossen Mehrzahl der
„Heroen“ Abstammung von einem Gotte gar nicht behauptete. Immer-
hin dichtete man, um die Würde eines Heros zu erhöhen, ihm gerne
einen göttlichen Vater an (vgl. Pausan. 6, 11, 2); Bedingung war dies
nicht für Heroisirung (eher für Erhebung aus dem Heroenthum zur
Götterwürde).
1).
Aristarchs Beobachtung, dass als ἥρωες bei Homer nicht allein
die Könige, sondern πάντες κοινῶς bezeichnet werden, war gegen die
irrige Begrenzung des Namens durch Ister gerichtet: s. Lehrs, Aristarch.s
p. 101. Vor Aristarch scheint aber die irrthümliche Vorstellung, dass οἱ
ἡγεμόνες τῶν ἀρχαίων μόνοι ἦσαν ἥρωες, οἱ δὲ λαοὶ ἄνϑρωποι allgemein ver-
breitet gewesen zu sein; sie wird geäussert in den Aristotelischen Pro-
blem.
19, 48 p. 922 b, 18, auch Rhianos theilte sie: s. Schol. T 41 (May-
hoff, de Rhiani stud. Homer. p. 46). — Dass ἥρως in den angeblich
„jüngeren“ Theilen der Odyssee nicht mehr den freien Mann überhaupt,
sondern allein den Adlichen bezeichne (Fanta, Der Staat in Il. und Od.
17 f.), trifft nicht zu. δ 268, ϑ 242, ξ 97 ist ἥρωες ehrende Bezeichnung
freier Männer vornehmen Standes, aber eine Beschränkung der An-
wendung dieser Benennung nur auf solche ist mit nichts angedeutet.
Zudem kommt ἥρως in weiterer Bedeutung in eben solchen angeblich und
wirklich jüngeren Theilen des Gedichtes ganz unleugbar vor (α 272;
ϑ 483; ω 68 u. s. w.).
2).
So z. B. überall, wo Pausanias von den καλούμενοι ἥρωες redet:
5, 6, 2; 6, 5, 1; 7, 17, 1; 8, 12, 2; 10, 10, 1 u. s. w.
1).
ἀνδρῶν ἡρώων ϑεῖον γένος Hesiod. Op. 159.
2).
Von den „Heroen“ seines vierten Geschlechts sind dem Hesiod
ja die grosse Mehrzahl vor Theben und Troja gefallen und todt ohne alle
Verklärung, die wenigen nach den Inseln der Seligen Entrückten dagegen
sind wohl verklärt, aber nicht gestorben. Sie für die Vorbilder und
Vorgänger der später verehrten Heroen auszugeben (wie vielfach geschieht),
ist unzulässig.
1).
Grab auf dem Markte: Battos in Kyrene (Pind. P. 5, 87 ff.)
und öfter. Im Prytaneum zu Megara Heroengräber: Paus. 1, 43, 2. 3.
1).
τύμβον ἀμφίπολον ἔχων πολυξενωτάτῳ παρὰ βωμῷ. Pind. Ol. 1, 93,
d. h. neben dem grossen Aschenaltar des Zeus. Die Ausgrabungen haben
die Pindarische Schilderung wieder vor Augen geführt (vgl. Paus. 5,
13, 1. 2).
2).
Grab im Thorgebäude: ἐν αὐτῇ τῇ πύλῃ zu Elis war Aetolos,
Sohn des Oxylos begraben: Paus. 5, 4, 4; vgl. Lobeck, Aglaoph. 281, u.
Grab auf der Landesgrenze: Koroibos, der erste Olympiasieger, war
begraben Ἠλείας ἐπὶ τῷ πέρατι, wie die Inschrift besagte. Paus. 8, 26, 4.
Grab des Koroibos, Sohnes des Mygdon ἐν ὅροις Φρυγῶν Στεκτορηνῶν.
Paus. 10, 27, 1.
3).
Auf eine eigenthümliche Weise wird das Grab als Aufenthalt der
Heroen angedeutet, wenn die Phliusier vor dem der Demeter geweihten
Feste den Heros Aras und seine Söhne καλοῦσιν ἐπὶ τὰς σπονδάς, indem
sie hinblicken nach den Grabstätten dieser Heroen. Paus. 2, 12, 5.
4).
Jener Heros (Xanthippos oder Phokos) ἔχει ἐπὶ ἡμέρᾳ τε πάσῃ
τιμάς, καὶ ἄγοντες ἱερεῖα οἱ Φωκεῖς τὸ μὲν αἷμα δι̕ ὀπῆς ὲγχέουσιν ἐς τὸν
τάφον κτλ. Paus. 10, 4, 10. Aehnlich am Grabe des Hyakinthos zu
Amyklae: Paus. 3, 19, 3. Der Sinn solcher Opfer ist in Griechenland
kein anderer als in gleichem Falle bei irgend einem „Naturvolke“. Bei
Tylor, Primitive Cult. 2, 28 liest man: In the Congo district the custom
has been described of making a channel into the tomb to the head or mouth
of the corpse, to send down mouth by mouth the offerings of food and drink.
1).
Adrast war auf dem Markt zu Sikyon begraben. Kleisthenes, um ihm
einen Possen zu spielen, holte aus Theben den (Leichnam des) im Leben
dem Adrast so verhassten Melanippos und setzte ihn bei ἐν τῷ πρυτα-
νείῳ καί μιν ἵδρυσε ἐνϑαῦτα ἐν τῷ ἰσχυροτάτῳ. Herodot 5, 67.
1).
Die meisten Beispiele nennt Lobeck, Aglaoph. 281 u. Dort fehlt
der merkwürdigste Fall, der von Herodot 1, 67. 68 ausführlich erzählte von
der Versetzung der Gebeine des Orestes von Tegea nach Sparta (vgl.
Pausan. 3, 3, 6; 11, 10; 8, 54, 4. Der Grund liegt auf der Hand: vgl.
Müller, Dorier 1, 66). Sonst: Versetzung der Gebeine des Hektor aus
Ilion nach Theben (Paus. 9, 18, 5. Schol. und Tzetz. Lycophr. 1190. 1204);
des Arkas aus Mainalos nach Mantinea (Paus. 8, 9, 3; vgl. 8, 36, 8);
des Hesiod von Naupaktos nach Orchomenos (Paus. 9, 38, 3); der Hippo-
damia aus Midea in Argolis nach Olympia (Paus. 6, 20, 7); des Tisamenos
von Helike nach Sparta (Paus. 7, 1, 8); des Aristomenes aus Rhodos
nach Messene (Paus. 4, 32, 3). Seltsame Geschichte von dem Schulter-
knochen des Pelops, Paus. 5, 13, 4—6. In allen diesen Fällen erfolgte
die Versetzung auf Geheiss des Orakels (vgl. auch Paus. 9, 30, 9—11).
Thatsächlichen Anlass mögen gelegentlich irgendwo aus alten Gräbern
ausgegrabene Gebeine von ungewöhnlicher Grösse gegeben haben; von
solchen Auffindungen wird oft geredet, und stets war man überzeugt, in
solchen Riesenknochen Ueberreste eines τῶν καλουμένων ἡρώων (Paus. 6,
5, 1) vor sich zu haben (vgl. auch Paus. 1, 35, 5 ff.; 3, 22, 9). Sache
der Orakels mochte es sein, den Namen des betreffenden Heros festzu-
stellen und für ehrenvolle Beisetzung der Ueberreste zu sorgen. (Ein
Beispiel, allerdings aus späterer Zeit. Als man im Bette des abgelassenen
Orontes einen thönernen Sarg von 11 Ellen Länge und darin eine Leiche
fand, erklärte das um Auskunft gefragte Orakel des klarischen Apollo,
Ὀρόντην εἶναι, γένους δὲ αὐτὸν εἶναι τοῦ Ἰνδῶν. Paus. 8, 29, 4.)
2).
Plut. Cimon 8. Thes. 36. Paus. 3, 3, 7. — Aus dem Jahre 437/6
hört man von einer Versetzung, auf Geheiss des Orakels, der Gebeine
des Rhesos von Troas nach Amphipolis durch Hagnon und seine Athener:
Polyaen. 6, 53. Die Gegend am Ausfluss des Strymon, am Westabhange
des Pangaeos, ist die alte Heimath des Rhesos: schon die Dolonie nennt ihn
einen Sohn des Eïoneus, Spätere, was dasselbe sagen will (s. Konon narr. 4),
des Strymon und (gleich Orpheus) einer Nymphe. Im Pangaeos lebt er
als weissagender Gott: dies muss Volksglaube jener Gegenden gewesen
sein, den der Dichter des „Rhesos“ sich nach griechischer Weise motivirt
(v. 955—966). Er ist ein Stammgott der Edoner von demselben Typus
wie der Zalmoxis der Geten, der Sabos, Sabazios anderer thracischer
Stämme. Für griechische Vorstellung ist er seit der Dichtung der Do-
lonie, von seinem Cultsitze ganz abgetrennt, zu einem sterblichen Helden
geworden, mit dem die Fabel frei schaltete (vgl. Parthen. 36); die Zu-
1).
Bisweilen auch nur einzelner Körpertheile: wie des Schulterblattes
des Pelops in Olympia (Paus. 5, 13). In Argos, auf dem Wege zur
Akropolis, waren in dem μνῆμα τῶν Αἰγύπτου παίδων deren Köpfe be-
stattet, der Rest ihrer Leiber in Lerne. Paus. 2, 24, 2.
2).
S. Lobeck, Aglaoph. 281, u. — Ein eigener Fall ist der des Hippo-
lytos in Troezene: ἀποϑανεῖν αὐτὸν οὐκ ἐϑέλουσι (οἱ Τροιζήνιοι) συρέντα
ύπὸ τῶν ἵππων, οὐδὲ τὸν τάφον ἀποφαίνουυσιν εἰδότες · τὸν δὲ ἐν οὐρανῷ καλού-
μενον ἡνίοχον, τοῦτον εἶναι νομίζουσιν ἐκεῖνον (ἐκεῖνοι?) Ἱππόλυτον, τιμὴν παρὰ
ϑεῶν ταύτην ἔχοντα. Paus. 2, 32, 1. Hier scheint das Grab nicht ge-
zeigt zu werden, weil man den Hippolytos überhaupt nicht als gestorben
und also auch nicht als begraben gelten, sondern entrückt und unter
die Sterne versetzt sein liess. Ein Grab war aber vorhanden, die Ent-
rückungsfabel also nachträglich ausgedacht. (Vom Tode des H. reden ja
die Dichter deutlich genug: aber was geschah mit ihm, nachdem ihn
Asklepios auf’s Neue zum Leben erweckt hatte? Die italische Virbius-
sage scheint in Griechenland wenig verbreitet gewesen zu sein. Pausanias 2,
27, 4 kennt sie aus Aricia her.) — Selten einmal wird Besitz der Heroen-
reliquien gesichert durch Verbrennung der Gebeine und Aussaat der
Asche auf dem Markt der Stadt. So Phalantus in Tarent: Justin. 2, 4,
13 ff., Solon auf Salamis (Laert. Diog. 1, 62. Plut. Solon. 32.) Sonst
dient Zerstreuung der Asche anderen Zwecken. Vgl. Plut. Lycurg 31
extr., Nicol. Damasc. παραδ. 16, p. 170 West.
2).
rückversetzung seiner Gebeine nach der Gegend des unteren Strymon
und der ohne Zweifel hieran geknüpfte, ihm gewidmete heroische Cult
mag eine Art von Legitimirung durch die Griechen der in jenen Gegenden
von den athenischen Colonisten angetroffenen Verehrung des Rhesos be-
deuten. An der Geschichtlichkeit jenes Vorganges zu zweifeln, finde ich
keinen Grund, mögen auch die einzelnen Umstände, wie sie Polyaen be-
richtet, fabelhaft ausgeschmückt sein. — Cicero behauptet freilich von
Rhesos: nusquam colitur (de n. d. 3, § 45), und das mag für die Ciceronische
Zeit richtig sein; für ältere Zeiten lässt einen göttlichen Cult des Rhesos
der Schluss der Tragoedie, einen heroischen die Erzählung des Polyaen
bestimmt vermuthen.
1).
Einige Beispiele: κενὸν σῆμα des Tiresias zu Theben: Paus. 9,
18, 4; des Achill zu Elis: Paus. 6, 23, 3; der am Krieg gegen Troja
betheiligten Argiver zu Argos: Paus. 2, 20, 6; des Iolaos zu Theben:
Paus. 9, 23, 1; Schol. Pind. N. 4, 32 (im Grabmal des Amphitryon?
Pind. P. 9, 81), des Odysseus zu Sparta: Plut. Q. Gr. 48; des Kalchas
in Apulien: Lycophr. 1047 f.
2).
Etwa durch ἀνάκλησις der ψυχή? S. oben S. 61 f. (bei der Grün-
dung von Messene ἐπεκαλοῦντο ἐν κοινῷ καὶ ἥρωάς σφισιν ἐπανήκειν συνοί-
κους. Paus. 4, 27, 6).
3).
Καὶ τεϑνεὼς καὶ τάριχος ἐὼν δύναμιν πρὸς ϑεῶν ἔχει τὸν ἀδικέοντα
τίνεσϑαι. Herod. 9, 120.
4).
Hiefür bedarf es keiner Belege im Einzelnen. Nur dieses: das
Bestreben, die Gräber versteckt zu halten, begegnet oft und aus den-
selben Gründen, wie im griechischen Heroencult, bei sog. Naturvölkern.
Vgl. hierüber Herbert Spencer, Princ. d. Sociol. (d. Uebers.) p. 199.
5].
S. Helbig, d. homer. Epos aus d. Denkm. erl., p. 41 (1. Ausg.).
1).
S. oben S. 33.
2).
Il. B. 603: Οἳ δ̛ ἔχον Ἀρκαδίην ὐπὸ Κυλλήνης ὄρος αἰπύ, Αἰπυτίου
παρὰ τύμβον. — Vgl. Paus. 8, 16, 2. 3. — In der Troas sind ähnliche
Denkmäler das mehrmals erwähnte Ἴλου σῆμα, das σῆμα πολυσκάρϑμοιο
Μυρίνης, das „die Menschen“ Βατίαια nennen.
1).
Die feierliche Ansage des Todesfalles, das καταμιαίνεσϑαι der dazu
Berufenen, die Versammlung von Spartiaten, Periöken und Heloten (vgl.
Tyrtacus fr. 7) mit ihren Weibern zu Tausenden, die gewaltige Leichen-
klage und die Lobpreisung des Todten, die Trauer (10 Tage lang kein
Marktverkehr u. s. w.): dies Alles schildert Herodot 6, 58. Er vergleicht
diese so grossartige Leichenfeier mit dem, bei Bestattung eines asiatischen
(persischen) Königs üblichen Prunk. Οὐχ ὡς ἀνϑρώπους ἀλλ̛ ὡς ἥρωας τοὺς
Λακεδαιμονίων βασιλεῖς προτετιμήκασιν (die lykurgischen νόμοι durch diese
Leichenfeier): Xen. resp. Lac. 15, 9. König Agis I. ἔτυχε σεμνοτέρας ἢ
κατ̕ ἄνϑρωπον ταφῆς. Xen. Hell. 3, 3, 1. — Eine besondere Vornahme
beim Begräbniss eines spartanischen Königs erwähnt Apollodor fr. 36. —
Einbalsamirung der Leichen der in der Fremde gestorbenen Könige:
Xen. Hell. 5, 3, 19; Diodor. 15, 93, 6; Nepos Ages. 8; Plut. Ages. 40. —
Grabstätte der (noch im Tode weit von einander getrennten) Königshäuser
der Agiaden und Eurypontiden: Paus. 3, 12, 8; 14, 2 (vgl. Bursian, Geogr.
2, 126). — Uebrigens lässt auch bei Leichenfeiern für die heraklidischen
Könige in Korinth in alter Zeit Betheiligung des ganzen Volkes ver-
muthen, was von dem Zwang für die, Korinth unterworfenen Megarer,
zur Leichenfeier für einen König aus dem Geschlechte der Bakchiaden
nach Korinth zu kommen, erzählt wird. Schol. Pind. N. 7, 155 (vgl.
Bekk. Anecd. 281, 27 ff. Zenob. 5, 8; Diogenian. 6, 34). — Auf Kreta
τῶν βασιλέων κηδευομένων προηγεῖτο πυρριχίζων ὁ στρατός (wie an Patroklos’
Leichenfeier, Il. 23, 131 ff.): Aristoteles in Schol. Vict. Il. Ψ 130.
1].
Εὐπατρίδαι, οἱ — μετέχοντες τοῦ βασιλικοῦ γένους. Etym. M. 395, 50.
— So die Bakchiaden in Korinth Nachkommen des königlichen Geschlechts
aus dem Hause des Bakchis. Die Βασιλίδαι, oligarchisch regierende Adels-
familien in Ephesos (Aelian fr. 48), Erythrae (Aristot. Polit. 1305 b, 19),
vielleicht auch in Chios (s. Gilbert, Gr. Alt. 2, 153) haben wohl auch
ihren Stammbaum auf die alten Könige in jenen ionischen Städten zurück-
geführt. Ehren der ἐκ τοῦ γένους des Androklos Stammenden zu Ephesos:
Strabo 14, 633. — Der Aegide Admetos, Priester des Apollon Karneios
auf Thera, stammt Λακεδαίμονος ἐκ βασιλήων. Kaibel, epigr. 191. 192.
2).
Hier wäre des geist- und gedankenreichen Buches von Fustel
de Coulanges
, La cité antique, zu gedenken, in welchem der Versuch
gemacht wird, den Ahnencult, la religion du foyer et des ancêtres, als die
Wurzel aller höheren Religionsformen (bei den Griechen: nur dieser Theil
des Buches geht uns hier an) nachzuweisen und zu zeigen, wie aus den
Ahnencultgenossenschaften, von der Familie angefangen, in weiter und
weiter gedehnten Kreisen sich umfassendere Gemeinschaften und aus diesen
zuletzt die πόλις entwickelt habe, als höchster und weitester Staatsverband
und Cultverein zugleich. Der Beweis seiner Vorstellung liegt dem Ver-
fasser jenes Buches wohl eigentlich in der schlichten Folgerichtigkeit, mit
der sich die Einrichtungen und, soweit sie bekannt ist, die Entwicklung
des Privatrechts und auch des öffentlichen Rechts aus den von ihm zu-
nächst als Postulate aufgestellten Anfangssätzen ableiten liessen. Ein
wirklich historischer Beweis, der nicht von den Folgen auf die Ursachen
schliessen müsste, sondern aus bekannten Anfängen zu thatsächlich vor-
liegenden Entwicklungsstufen fortschreiten könnte, war freilich nicht zu
führen. Die ganze Entwicklung müsste ja schon abgeschlossen sein, wo
unsere Kenntniss erst anfängt: denn Homer zeigt sowohl die πόλις sammt
ihren Unterabtheilungen (κρῖν̕ ἄνδρας κατἀ φῦλα κατἀ φρήτρας, Ἀγάμεμ-
νον) als die Götterreligion völlig gereift und ausgebildet. Es thut der
Anerkennung der fruchtbaren Gedanken des Buches keinen Eintrag, wenn
1).
Die von einem γένος Verehrten gelten als dessen Vorfahren, γονεῖς.
Bekker, Anecd. 240, 31: (τὰ ϑύματα δίδωσιν) εἰς τὰ γονέων (ἱερὰ) τὰ γένη. —
Physische Verwandtschaft, ursprünglich wohl wirklich vorhanden, dann
nur noch theilweise nachweisbar, der γεννῆται unter einander bezeichnet
der alte Name ὁμογάλακτες für die Angehörigen desselben Geschlechts
(Philochorus fr. 91—94), eigentlich = παῖδες καὶ παίδων παῖδες (Aristot.,
Polit. 1252 b, 18).
2).
man eingesteht, dass sein Grundgedanke — was das Griechenthum be-
trifft — nicht über den Stand einer Intuition sich hat erheben lassen,
die richtig und wahr sein könnte, aber unbeweisbar bleibt. Hat es eine
Zeit gegeben, in der griechische Religion nur im Ahnencult bestand, so
tragen doch unsere Blicke nicht in jene dunkle Urzeit lange vor aller
Ueberlieferung, in die, von der mächtig alles beherrschenden Götterreli-
gion gleich der ältesten Urkunde griechischen Geistes, selbst der schmale
und schlüpfrige Pfad der Schlüsse und Combinationen nicht zurückzu-
führen scheint. Ich habe daher in dem vorliegenden Werke, so nahe
dies, seinem Gegenstande nach, zu liegen scheinen könnte, auf die Ver-
suche, alle griechische Religion aus einem anfangs allein vorhandenen
Ahnenculte abzuleiten (wie sie, ausser F. de Coulanges, in England und
Deutschland noch manche Gelehrte gemacht haben) keine Rücksicht
genommen.
1).
Deren Namen nach Bestimmung des delphischen Orakels fest-
gesetzt wurden. Paus. 10, 10, 1.
2).
Statt der kahlen ἐπώνυμοι findet sich auch als Benennung der
Phylenheroen das Wort ἀρχηγέται: Aristoph. Γῆρας bei Bekker, Anecd.
1).
So kennen wir δῆμος und γένος der Ioniden, Philaiden, Butaden
(über die absichtliche Unterscheidung der Eteobutaden s. Meier, p. 39),
Kephaliden, Perithoiden u. s. w. S. Meier de gentilit. Attica p. 35.
An anderen Orten bestanden ganz ähnliche Verhältnisse. In Teos
gleiche Namen der πύργοι (= δῆμοι) und der συμμορίαι (= γένη), z. B.
Κολωτίων τοῦ Ἀλκίμου πύργου Ἀλκιμίδης (daneben auch abweichende
Namen: Ναίων, τοῦ Μηράδου πύργου, Βρυσκίδης) C. I. Gr. 3064 (s. dazu
Böckh II, p. 651.). Auf Rhodos heisst sowohl eine πάτρα als deren
weitere Oberabtheilung (κτοίνα?) Ἀμφινεῖς: Newton, Anc. Greek Inscr.
352 b, 12. 14. (II. p. 128): Ἀμφινέων πάτραι · Εὐτελίδαι, Ἀμφινεῖς u. s. w.
(Ahnencult, προγονικὰ ἱερά, in den rhodischen κτοῖναι bezeugt Hesychius
s. κτύναι, s. Martha, bull. de corr. hell. 4, 144).
2).
449, 14; Plato Lys. 205 D; vgl. C. I. Att. 2, 1191. Noch deutlicher tritt
hervor, dass der Heros als Ahn seiner φύλη gilt, wenn er deren ἀρχηγός
heisst: wie Oineus der ἀρχηγός der Oineiden, Kekrops ἀρχηγός der Ke-
kropiden, Hippothoon ἀρχηγός der Hippothoontiden, bei Pseudodemosth.
Epitaph. § 30. 31. Der ἀρχηγὸς τοῦ γένους ist dessen Stammvater: so
Apollo ὁ ἀρχηγὸς τοῦ γένους der Seleuciden, C. I. Gr. 3595. Z. 26; vgl.
Isocrat. Philipp. 32. So heissen denn auch die Angehörigen einer Phyle
geradezu συγγενεῖς ihres Heros eponymos: Pseudodemosth. Epitaph. § 28.
1).
Ps. Aristot. mirab. 106.
1).
Z. B. Paus. 10, 4, 10. In dem Orakel bei Plut. Sol. 9: ἀρχηγοὺς
χώρας ϑυσίαις ἥρωας ἐνοίκους ἵλασο.
2).
Plut. Aristid. 11 nennt sieben ἀρχηγέται Πλαταιέων, Clemens
protr. 26 A vier von diesen (Κυκλαῖος scheint verschrieben). Androkrates
scheint der hervorragendste zu sein: sein τέμενος erwähnt Herodot 9, 25;
sein ἡρῷον Thucyd. 3, 24, 1. Es stand in einem dichten Haine: Plut.
a. a. O.
3).
Paus. 6, 24, 9. 10.
4).
Apoll. Rhod. Argon. 2, 835—850 erklärt, jener Heros sei Idmon
der Seher, andere nannten ihn Agamestor. Schol. 845: λέγει δὲ καὶ
Προμαϑίδας, ὅτι διὰ τὸ ἀγνοεῖν ὅστις εἴη ἐπιχώριον ἥρωα καλοῦσιν οἱ
Ἡρακλεῶται. Es war der vor Gründung der Colonie verehrte Local-
dämon, dessen Cult die Colonisten sich aneignen. Vgl. den Fall des
Rhesos, oben S. 151.
1).
Paus. 6, 20, 15—19. Es war ein runder Altar, nach Manchen
τάφος ἀνδρὸς αὐτόχϑονος καὶ ἀγαϑοῦ τὰ ὲς ἱππικήν (Grab und Altar eines,
wie Grab und Altar des Aeakos auf Aegina: Paus. 2, 29, 8), Namens Olenios.
Nach anderen Grab des Dameon, Sohnes des Phlius, und seines Pferdes;
oder κενὸν ἠρίον des Myrtilos, von Pelops ihm errichtet; oder des Oenomaos;
oder des Alkathoos, S. des Porthaon, eines der Freier der Hippodamia (um
von der Weisheit des ἀνὴρ Αἰγύπτιος, deren Pausanias an letzter Stelle ge-
denkt, zu schweigen). Nach Hesych. s. ταράξιππος gar des Pelops selbst;
nach Lycophron 42 f. eines Giganten Ischenos (s. Schol. und Tzetz.).
Uebrigens schien ein ταράξιππος fast nothwendig zu den Hippodromen der
grossen Wettkampfstätten zu gehören. Auch der Isthmus und Nemea
hatten die ihrigen (Paus. a. a. O. § 19); dass die Rennbahn in Delphi keinen
ταράξιππος habe, wird als etwas besonderes von Paus. 10, 37, 4 hervor-
gehoben.
2).
Ἥρως ἰατρός in Athen. C. I. A. II 403. 404. S. unten. — Einen
ἥρως στρατηγός zu Athen nennt eine (späte) Inschrift, Ἐφημ. ἀρχαιολογ.
1884, p. 170. Z. 53. — Das Στεφανηφόρου ἡρῷον kam bei Antiphon vor,
den στεφανηφόρος ἥρως nannte Hellanicus, man kannte seinen Namen
nicht. Harpocrat. Phot. Suid. s. v.; Bekker. anecd. 301, 19 ff. Vgl.
Böckh, Staatsh. 2, 362, C. I. Gr. I, p. 168. — Man könnte noch
hierher rechnen den Heros πάνοψ in Athen, von dessen Tempel, ἄγαλμα,
und Quelle Hesych. s. v. redet (vgl. Phot. s. v.) die Πάνοπος κρήνη aus
Plato, Lys. im Anfang bekannt. (Ein Ἑρμῆς πάνοψ auf einer Vase
C. I. Gr. 7603. Ob der „Heros“ eigentlich ein Hermes gewesen war?
So kommt ein Pan εὔοδος C. I. Gr. 4838 u. ö. vor, daneben — an derselben
Stelle — ein ἥρως εὔοδος C. I. Gr. 4838 b. Vgl. Welcker Rhein. Mus. N.
F. 7, 618. Es könnte auch umgekehrt gegangen, der Heros durch den
Gott verdrängt sein.)
3).
In Phaleron ein Altar, καλεῖται δὲ „ἥρωος“: Gelehrte erklärten
ihn für einen Altar des Androgeos, Sohnes des Minos: Paus. 1, 1, 4. Ders.
10, 33, 6: Χαραδραίοις (zu Charadra in Phokis) Ἡρώων καλουμένων (also,
man nannte sie „die Heroen“) εἰσὶν ἐν τῆ ἀγορᾷ βωμοί, καὶ αὐτοὺς οἱ μὲν
Διοσκούρων, οἱ δὲ ὲπιχωρίων φασὶν εἶναι ἡρώων. — Beschluss, eine Urkunde
3).
aufzustellen im Piraeeus παρὰ τὸν ἥρω: Dittenberger, Syll. inscr. 440, 26.
C. I. A. II. 1546. 1547: ἥρῳ ἀνέϑηκεν ὁ δεῖνα. Roehl, I. G. Ant. 29:
(Mykenae) τοῦ ἥρωός ἠμι. ibid. 323: — ἀνέϑηκαν τῷ ἥρωι (Lokris). —
Auf den verschiedenen über einander gelegten Stuckschichten der ἐσχάρα
in dem sogen. Heroon westlich von der Altis in Olympia stand die In-
schrift: Ἥρωος, Ἥρωορ, einmal auch Ἡρώων. Es scheint mir kein Grund
vorzuliegen, unter diesem namenlos gelassenen Heros gerade Iamos, den
Stammvater der Iamiden zu verstehen (mit Curtius, die Altäre von Olympia
[Abh. d. Berl. Akad. 1881] p. 25). Warum sollte der, keineswegs in
Vergessenheit gerathene Name dieses hochangesehenen mantischen Heros
verschwiegen sein? Man nannte den Namen des Heros nicht mehr, weil
man ihn eben nicht zu nennen wusste. (Namenlose ἥρωες ἐπιχώριοι, die
nach Einigen den grossen Brandaltar des Zeus in Olympia errichtet
hatten, erwähnt Paus. 5, 13, 8). In einzelnen Fällen erklärt sich die
Namenlosigkeit eines Heros aus der Scheu vor dem Aussprechen furcht-
barer Namen, die auch sonst bei Unterirdischen gern verschwiegen oder
umschrieben wurden. Vgl. z. B. Antonin. Lib. p. 214, 19. West. Um-
gekehrt war es eine besondere Ehrung, wenn man beim Opfer für einen
Heros dessen Namen ausrief. Τῷ Ἀρταχαίῃ ϑύουσι Ἀκάνϑιοι ἐκ ϑεοπροπίου
ὡς ἥρωϊ, ἐπουνομάζοντες τὸ οὔνομα Herodot. 7, 117. ῞ϒλᾳ ϑύουσιν, καὶ
αὐτὸν ἐξ ὀνόματος εἰς τρὶς ὁ ἱερεὺς φωνεῖ κτλ. Anton. Lib. 26 extr. Vgl. Paus.
8, 26, 7. (ἐπικαλούμενοι τὸν Μυίαγρον). — Die völlige Analogie mit dem
Göttercult springt in die Augen. Man verehrte ja auch an manchen
Orten Griechenlands namenlose (oder nur mit einem Epitheton be-
nannte) Götter, ἄγνωστοι ϑεοί, wie in Olympia (Paus. 5, 14, 8) und sonst.
In Phaleron βωμοὶ ϑεῶν τε ὀνομαζομένων ἀγνώστων καὶ ἡρώων (scil. ἀγνώσ-
των?). Paus. 1, 1, 4.
1).
Τλαπολέμῳ ἀρχαγέτᾳ Pind. Ol. 7, 78; vgl. P. 5, 56. Die Regel
bezeichnet Ephorus bei Strabo 8, p. 366: — οὐδ̕ ἀρχηγέτας νομισϑῆναι ·
ὅπερ πᾶσιν ἀποδίδοται οἰκισταῖς.
2).
Δημοκλείδην δὲ καταστῆσαι τὴν ἀποικίαν αὐτοκράτορα. Volks-
beschluss über Brea: C. I. Att. I 31.
3).
Pind. P. 5, 87 ff.
4).
Herodot. 6, 38.
5).
Diodor. 11, 66, 4.
6).
Herodot. 1, 168.
1).
Thucyd. 5, 11. — Aehnlich im 4. Jahrhundert zu Sikyon, wo den
von Männern der Gegenpartei ermordeten Euphron, den Führer des
Demos, οἱ πολῖται αὐτοῦ ὡς ἄνδρα ἀγαϑὸν κομισάμενοι ἔϑαψάν τε ἐν τῇ ἀγορᾷ
καὶ ὡς ἀρχηγέτην τῆς πόλεως σέβονται. Xenoph. Hell. 7, 4, 12.
2).
Heroische Verehrung der Gesetzgeber von Tegea: Paus. 8, 48, 1.
3).
Bei Sophokles hatte die Heroisirung noch einen besonderen super-
stitiösen Grund: er hatte den Asklepios einst in seinem Hause als Gast
aufgenommen (und ihm einen Dienst gestiftet), galt darum als besonders
gottbegünstigt, und wurde nach seinem Tode als Heros Δεξίων verehrt.
Etym. M. 256, 7—13. So sind noch manche Sterbliche, bei denen Götter
als Gäste eingekehrt waren, heroisirt worden; vgl. Deneken, De theo-
xeniis,
cap. II.
1).
In sämmtlichen oben S. 151 aufgezählten Beispielen war die Ver-
setzung der Heroengebeine durch das delphische Orakel anempfohlen.
Typische Beispiele für die Stiftung heroischer Jahresfeste auf Befehl des
Orakels: Herodot 1, 167. Pausan. 8, 23, 7; 9, 38, 5.
2).
Plut. Cimon 19. Gewährsmann ist Nausikrates ὁ ῥήτωρ, der Schüler
des Isokrates. Der Gott befiehlt μὴ ἀμελεῖν Κίμωνος: Kimons Geist rächte
sich also durch die Pest und γῆς ἀφορία wegen „Vernachlässigung“, er
verlangte einen Cult.
3).
Erscheinung in der Schlacht bei Marathon, Befehl des Orakels
τιμᾶν Ἐχετλαῖον ἥρωα. Paus. 1, 32, 5. — Bienenschwarm in dem abge-
schnittenen Kopfe des Onesilos zu Amathus; das Orakel befiehlt den Kopf
zu bestatten, Ὀνησίλῳ δὲ ϑύειν ὡς ἥρωι ἀνὰ πᾶν ἔτος. Herodot 5, 114.
1).
Vor der Schlacht bei Plataeae: Plut. Aristid. 11. Vor der Ein-
nahme von Salamis befiehlt das Orakel dem Solon ἀρχηγοὺς ἥρωας ἵλασο.
Plut. Sol. 9.
2).
Dem Perser Artachaies, aus Achämenidischem Geschlecht, den
Xerxes, als er gestorben war, sehr feierlich bei Akanthos bestatten
liess, ϑύουσι Ἀκάνϑιοι ἐκ ϑεοπροπίου ὠς ἥρωϊ, ἐπουνομάζοντες τὸ οὔνομα.
Herodot 7, 117 (der Ἀρταχαίου τάφος blieb eine bekannte Oertlichkeit:
Aelian h. an. 13, 20). Schwerlich war der Grund seiner Heroisirung
durch das Orakel seine ungewöhnliche Leibesgrösse, von der Herodot
redet.
3).
Paus. 6, 9, 6. 7. Plutarch Romul. 28. Oenomaus cyn. bei Euseb.
praep. evang. 5, 34. Auch Celsus κ. χριστιανῶν spielt auf das Mirakel an:
Origen. c. Cels. 3, 33 p. 292. Lomm. vgl. 3, 3 p. 256; 3, 25 p. 280.
1).
Kleomedes μοίρᾳ τινὶ δαιμονίᾳ διέπτη ἀπὸ τῆς κιβωτοῦ Cels. bei
Orig. c. Cels. 3, 33 p. 293. Oenomaus bei Euseb. pr. ev. 5, 34, 6 p. 265,
3 ff. Dind.: οἱ ϑεοὶ ἀνηρείψαντό σε, ὥσπερ οἱ τοῦ Ὁμήρου τὸν Γανυμήδην.
Dadurch haben die Götter (nach der, von Oen. verhöhnten Volksmeinung)
dem Kleom. Unsterblichkeit gegeben, ἀϑανασίαν ἔδωκαν p. 265, 29.
2).
Selten hört man von anderen Orakeln, die zur Heroenverehrung
anleiten. So aber Xenagoras bei Macrob. Sat. 5, 18, 30: bei Miss-
wachs auf Sicilien ἔϑυσαν Πεδιοκράτῃ τινὶ ἥρωϊ προστάξαντος αὐτοῖς τοῦ ἐκ
Παλικῶν χρηστηρίου (derselbe Heros wohl ist Pediakrates, einer der von
Herakles getödteten sechs sicilischen στρατηγοί, welche μέχρι τοῦ νῦν ἡρωϊ-
κῆς τιμῆς τυγχάνουσιν. Diod. 4, 23, 5).
3).
Die Verse jenes Orakels über Kleomedes: ἔσχατος ἡρώων κτλ.
mögen recht alt sein, eben weil ihre Behauptung sich nicht bestätigt hat.
Wenn Orakel, deren Inhalt eintrifft, mit Recht für später gemacht gelten
als die Ereignisse, welche sie angeblich voraussagen, so wird man billig
solche Orakel, deren Verkündigungen durch Vorfälle späterer Zeit als
unrichtig erwiesen werden, für älter als diese Vorfälle, die ihren Inhalt
widerlegen, halten müssen.
1).
οὗτος γὰρ ὁ ϑεὸς περὶ τὰ τοιαῦτα πᾶσιν ἀνϑρώποις πάτριος ἐξηγητὴς
ἐν μέσῳ τῆς γῆς ἐπὶ τοῦ ὀμφάλου καϑήμενος ἐξηγεῖται, nach dem Worte
des Plato, Rep. 4, 427 C.
1).
γίνεται ἐν Δελφοῖς ἥρωσι ξένια, ἐν οἷς δοκεῖ ὁ ϑεὸς ἐπὶ ξένια καλεῖν
τοὺς ἥρωας Schol. Pind. N. 7, 68.
2).
Plut. Aristid. 21. — Grab der im Perserkriege gefallenen Mega-
renser auf dem Markte der Stadt: C. I. Gr. 1051 (= Simonid. fr. 107
Bgk.), Paus. 1, 43, 3. Von heroischen Ehren für diese erfährt man nichts,
sie sind aber wohl vorauszusetzen. — So hatte man in Phigalia auf dem
1).
Paus. 1, 32, 4: σέβονται δὲ οἱ Μαραϑώνιοι τούτους, οἳ παρὰ τὴν
μάχην ἀπέϑανον, ἥρωας ὀνομάζοντες. Sie lagen auf dem Schlachtfeld
begraben: Paus. 1, 29, 4; 32, 3. Allnächtlich hörte man auf dem Schlacht-
felde Gewieher der Rosse und Kampfeslärm. Wer dem Geistertreiben
zuzusehen versuchte, dem bekam es schlecht (Paus. ebend.). Anblick der
Geister macht blind oder tödtet. Von Göttern ist das ohnehin bekannt
(χαλεποὶ δέ ϑεοὶ φαίνεσϑαι ἐναργῶς). Wegen der Folgen des Erblickens
eines Heros vgl. die Erzählung des Herodot 6, 117.
2).
Pind. I. 4, 26 ff. (vgl. N. 4, 46 ff.).
3).
Herodot (2, 44) hilft sich mit der Unterscheidung eines Gottes
Herakles von dem Heros Herakles, Sohn des Amphitryon: καὶ δοκέουσι
δέ μοι οὗτοι ὀρϑότατα Ἑλλήνων ποιέειν, οἳ διξὰ Ἡράκλεια ἱδρυσάμενοι ἔκτην-
ται καὶ τῷ μὲν ὡς ἀϑανάτῳ Ὀλυμπίῳ δὲ ἐπωνυμίην ϑύουσι, τῷ δ̕ ἑτέρῳ ὡς
ἥρωϊ ἐναγίζουσι. Verbindung von ϑύειν und ἐναγίζειν für Herakles in
Einem Opfer, zu Sikyon: Paus. 2, 10, 1. Herakles ἥρως ϑεός: Pindar
N. 3, 22 (spät ist ϑεοῖς ἥρωσι dasselbe wie sonst ϑεοῖς καταχϑονίοις =
dis Manibus. C. I. Gr. 6653—6661).
4).
Wechsel zwischen heroischer und göttlicher Verehrung, z. B. auch
2).
Markte ein Massengrab der hundert, einst für Phigalia im Kampfe
gefallenen Oresthasier, καὶ ὡς ἥρωσιν αὐτοῖς ἐναγίζουσιν ἀνὰ πᾶν ἔτος.
Paus. 8, 41, 1.
1).
Ich will keine Beispiele häufen, vgl. nur etwa Plut. mul. virtut.
p. 255 E: τῇ Λαμψάκῃ πρότερον ἡρωϊκὰς τιμὰς ἀποδιδόντες, ὕστερον ὡς ϑεῷ
ϑύειν ἐψηφίσαντο.
2).
In den bekannten Versen: ἥκεις, ὦ Λυκόοργε κτλ. Herodot 1, 65.
3).
So nennt Eupolis den Heros Akademos, Sophokles den Heros
Kolonos einen ϑεός u. dgl. m. S. Nauck zu Soph. O. C. 65.
4).
bei Achill. Gott war er z. B. in Epirus (als Ἄσπετος angerufen Plut.
Pyrrh. 1), auf Astypalaea (Cic. nat. d. 3, § 45), in Erythrae (Inschr. aus
dem 3. Jahrhundert: Dittenberger syll. inscr. 370, 50. 75) u. s. w. Als
Heros wurde er verehrt in Elis, wo ihm ἐκ μαντείας ein leeres Grab
errichtet war und an seinem Jahresfeste die Weiber ihn, bei Sonnen-
untergang, κόπτεσϑαι νομίζουσιν, also wie einen Gestorbenen beklagen.
Paus. 6, 23, 3.
1).
[οἱ ἥρωες καὶ αἱ ἡρωίδες τοῖς ϑεοῖς τὸν αὐτὸν ἔχουσι λόγον (nämlich
für die Traumdeutung)], πλὴν ὅσα δυνάμεως ἀπολείπονται. Artemidor.
onirocr. 4, 78. — Paus. 10, 31, 11: die Alten hielten die Eleusinische
Weihe τοσοῦτον ἐντιμότερον als alle anderen Religionsübungen ὅσῳ καὶ
ϑεοὺς ἐπίπροσϑεν ἡρώων.
2).
Machaons μνῆμα und ἱερὸν ἅγιον bei Gerenia: Paus. 3, 26, 9.
Seine Gebeine hatte Nestor aus Troja mitgebracht: § 10. Vgl. Schol.
Marc. und Tzetz. Lycophr. 1048. Zuerst opferte ihm Glaukos, Sohn des
Aepytos: Paus. 4, 3, 9. — Podalirios. Sein ἡρῷον lag am Fusse des
λόφος Δρίον beim Berge Garganus, 100 Stadien vom Meere entfernt. Ῥεῖ
δ̕ ἐξ αὐτοῦ ποτάμιον πάνακες πρὸς τὰς τῶν ϑρεμμάτων νόσους: Strabo 6,
p. 284. Die im Texte angegebene Art der Incubation beschreibt Lyco-
phron v. 1047—1055. Auch er redet von einem (vom Heilen so benannten)
1).
Paus. 2, 38, 6. — Der Bruder des Polemokrates, Alexanor, hatte
ein Heroon zu Titane im Gebiete von Sikyon: Paus. 2, 11, 7; 23, 4,
aber (obwohl schon sein Name dergleichen vermuthen liesse) von Hilfe
in Krankheit wird nichts gemeldet.
2).
Heiligthum des Ἥρως ἰατρός, in der Nähe des Theseion: Demosth.
de falsa leg. 249; de cor. 129; Apollon. vit. Aesch. p. 265, 5 f. West.
Beschlüsse wegen Einschmelzung silberner Weihgeschenke (3. u 2. Jahrh.).
C. I. Att. 2, 403. 404.
3).
C. I. A. 2, 404 bezeichnet den Heros, auf den sich der Beschluss
bezieht, als den ἥρως ἰατρὸς ὁ ἐν ἄστει. Hiermit ist bereits ein anderer
ἥρως ἰατρός ausserhalb Athens vorausgesetzt. Wenn nun das rhetor.
Lexicon bei Bekker anecd. 262, 16 f. (vgl. Schol. Demosth. p. 437, 20. 21.
Dind.) von einem ἥρως ἰατρός des Namens Aristomachos, ὃς ἐτάφη ἐν
Μαραϑῶνι παρὰ τὸ Διονύσιον redet, so ist damit zwar der von Demosthenes
gemeinte ἥρως ἰατρός unrichtig beschrieben (denn der ist ὁ ἐν ἄστει),
aber der ausserhalb des ἄστυ in Attika verehrte Heros Arzt richtig be-
zeichnet. S. L. v. Sybel, Hermes 20, 43.
4).
Kenotaph des Kalchas (dessen Leib in Kolophon bestattet sein
sollte: Νόστοι; Tzetz. Lyc. 427; Schol. Dionys. Perieg. 850) in Apulien,
nahe dem Heroon des Podalirios: Lycophr. 1047 ff. Ἐγκοίμησις an seinem
Heroon, Schlaf auf dem Fell des geopferten schwarzen Widders: Strabo 6,
p. 284. Also ebenso wie nach Lykophron in dem Heiligthum des Poda-
2).
Flusse Ἄλϑαινος (vgl. Etym. M. 63, 3, aus Schol. Lyc.), der zur Heilung
mitwirke, wenn man sich mit seinem Wasser besprenge. Aus Timaeus?
vgl. Tzetzes zu 1050. (Man vergleiche übrigens die Quelle bei dem Am-
phiaraïum zu Oropos: Paus. 1, 34, 4.)
1).
Lycophr. 799 f. Gab es eine Sage, die dort den Odysseus ge-
storben sein liess? Lykophron selbst berichtet freilich alsbald (805 ff.)
ganz anderes, zur Verwunderung seiner Scholiasten; vielleicht denkt er
(wie bei Kalchas) 799 f. nur an ein κενὸν σῆμα des Odysseus in Aetolien.
2).
Grabmal des Prot.: Herodot 9, 116 ff. Lycophr. 532 ff. ἱερὸν
τοῦ Πρωτεσιλάου Thucyd. 8, 102, 3. Orakel: Philostrat. Heroic., nament-
lich p. 146 f. Kays. Besonders war es auch Heilorakel: Philostrat.
p. 147, 30 f.
3).
Ein Orakel „Sarpedonis in Troade“ erwähnt, in einer flüchtigen
Aufzählung von Orakelstätten, Tertullian de anima 46. Es wäre schwer
zu sagen, wie der homerische Sarpedon (nur an diesen könnte man hier
denken), dessen Leib ja feierlich nach Lykien gebracht ist, in Troas ein
Orakel haben konnte. Es mag ein Schreibfehler des Tertullian vor-
liegen. — Bei Seleucia in Kilikien ein Orakel des Apollon Sarpedonios:
Diodor. 32, 10, 2; Zosimus 1, 57. Schon Wesseling zu Diodor vol. 2,
p. 519 verwies auf den genaueren Bericht in der vita S. Theclae des
Basilius, Bischof von Seleucia. S. die Auszüge daraus bei R. Köhler,
Rhein. Mus. 14, 472 ff. Dort wird das Orakel als ein Traumorakel des
Sarpedon selbst, an seinem Grabe bei Seleucia befragt, beschrieben. Und
zwar ist, wie Köhler hervorhebt, von Sarpedon, dem Sohne der Europa,
dem Bruder des Minos, die Rede (dieser kretische Sarpedon kam zuerst
bei Hesiod vor, von dem homerischen ist er ganz verschieden: Aristonic.
zu Z 199. Ja, Homer kennt überhaupt neben Rhadamanthys keinen
anderen Bruder des Minos: Il. 14, 322. Manche setzten ihn dennoch
dem homerischen Sarpedon, dem Lykier, gleich; er habe drei γενεαί durch-
lebt: Apollodor. 3, 2, 4; vgl. Schol. V. Il. Z 199. Ein Kunststück im
Geschmack des Hellanicus. Andere machten den kretischen S. zum
Grossvater des lykischen: Diodor. 5, 79, 3). Das Orakel war eigentlich
dem Sarpedon geheiligt, Apollo scheint sich auch hier an die Stelle des
4).
lirios. Man könnte fast an eine Verwechslung des Strabo oder des
Lykophron glauben; aber der Ritus kann in beiden Heiligthümern der-
selbe gewesen sein: wie er sich denn ebenso in Oropos im Traumorakel
des Amphiaraos findet (Paus. 1, 34, 5). — Heutzutage verehrt man bei
Monte Sant’ Angelo, unter dem Garganus, den Erzengel Michael, der im
5. Jahrhundert dort erschien und zwar in einer Höhle, die man vielleicht
mit Recht als den ehemaligen Sitz des Incubations-Orakels des Kalchas
ansieht (Lenormant, à travers l’Apulie et la Lucanie [Paris 1883] I, p. 61).
Michael hat auch sonst das Amt (das meist wohl den heil. Kosmas und
Damian zugefallen ist), alte Incubationsmantik in christlicher Verkleidung
fortzusetzen (so in dem Michaëlion bei Constantinopel, dem alten Σωσ-
ϑένιον: s. Malal. p. 78. 79. Bonn.; Sozom. h. eccl. 2, 3).
1).
Die Einwohner von Gadeira opfern dem M.: Philostr. V. Apoll.
5, 4. p. 167, 10. Τὸ Μενεσϑέως μαντεῖον am Baetis erwähnt Strabo 3.
p. 140. Wie er dahin kam, ist unbekannt.
2).
Strabo 12, p. 546. Aut. kam dorthin als Theilnehmer am Ama-
zonenzug des Herakles und am Argonautenzuge. Apoll. Rhod. 2, 955
—961. Plut. Lucull. 23.
3).
Den Anios (vgl. Meineke, Anal. Alex. 16. 17) lehrt Apollo die
Mantik und verleiht ihm grosse τιμάς: Diodor 5, 62, 2. Als μάντις
nennt ihn auch Clemens Al. Strom. I, p. 334 D. Vermuthlich galt er
also als mantischer Heros in dem Cult, den man ihm auf Delos widmete
(δαίμονας ἐπιχωρίους aufzählend nennt Clemens Al. protr. 26 A auch:
παρὰ δ̕ Ἠλείοις Ἄνιον: παρὰ Δηλίοις corrigirte schon Sylburg). Priester
des Anios, ἱερεὺς Ἀνίου auf Delos: C. I. Att. 2, 985 D, 10; E 4. 53.
4).
Diodor. 5, 63, 2. Dort wird sie identificirt mit Molpadia, Tochter
des Staphylos. Dann wäre ἡμιϑέα wohl eigentlich eine appellativische
Bezeichnung der Heroine, deren Eigenname zweifelhaft war, wie der
Name der oben S. 161 f. genannten Heroen. (Ganz verschieden ist von
dieser H. die gleichnamige Tochter des Kyknos.)
5).
Plut. Agis 9; vgl. Cic. de divin. 1, 43. Da zu Thalamae ein
Traumorakel der Ino erwähnt wird, vor deren Tempel ein Bild der
Pasiphaë stand (Paus. 3, 26, 1), so ist vielleicht, mit Welcker, Kl. Schr.
3, 92, anzunehmen, dass dasselbe Orakel einst der P., dann der Ino ge-
heiligt war. (Nur daran, dass Pasiphaë = Ino wäre, ist natürlich nicht
zu denken, wie denn auch W. das wohl nicht meint. Ino mag sich an
Stelle der P. eingeschoben haben). Μαντεῖον τῆς Πασιφίλης auch erwähnt
bei Apollon. mirab. 49: s dazu Müller, Fr. hist. 2, 288.
3).
„Heros“ geschoben zu haben, wie an die Stelle des Hyakinthos in Amyklae.
Dass Sarpedon darüber nicht ganz vergessen wurde, zeigt jener christ-
liche Bericht. Vielleicht galt Apollo nur als Patron des Orakels, dessen
eigentlicher Hüter doch Sarpedon blieb. Gemeinsamkeit des Cultus be-
deutet es wahrscheinlich, wenn Apoll dort Ἀπόλλων Σαρπηδόνιος hiess:
so gab es in Tarent, wohl aus Sparta und Amyklae übertragen, einen
τάφος παρὰ μέν τισιν ῾ϒακίνϑου προςαγορευόμενος, παρὰ δέ τισιν Ἀπόλλωνος
῾ϒακίνϑου (woran nichts zu ändern ist): Polyb. 8, 30, 2; in Gortyn einen
Cult des Atymnos (Solin. p. 82, 2 ff.), des Geliebten des Apollo (oder
des Sarpedon), der auch als Apollon Atymnios (Nonnus Dion.) ver-
ehrt wurde.
1).
Etwas derartiges scheint angedeutet zu werden bei Pindar Pyth. 8,
57: ich preise den Alkmaeon, γείτων ὅτι μοι καὶ κτεάνων φύλαξ ἐμῶν ὑπάν-
τασέ τ̕ ἰόντι γᾶς ὀμφαλὸν παρ̕ ἀοίδιμον μαντευμάτων τ̕ ἐφάψατο συγγόνοισι
τέχναις. Die vielbesprochenen Worte kann ich nur so verstehen. Alk-
mäon hatte ein ἡρῷον neben Pindars Hause („Hüter seines Besitzes“ kann
er genannt werden entweder nur als Schutzgeist seiner Nachbarn, oder weil
Pindar Gelder in seinem Heiligthum deponirt hatte, nach bekannter Sitte
[s. Büchsenschütz, Besitz u. Erwerb im cl. Alt. p. 508 ff.]); als einst P.
nach Delphi zu gehen im Begriff stand, „machte sich Alkmäon an die in
seinem Geschlechte üblichen Wahrsagekünste“ (τέχναις zu verb. mit ἐφάψ.
nach Pindarischer Constructionsweise), d. h. er gab ihm im Traum eine
Weissagung (worauf bezüglich, deutet P. nicht an), wie das im Geschlecht
der Amythaoniden üblich war, nur gerade sonst nicht Sache des Alkmäon,
der, anders als sein Bruder Amphilochos, nirgends ein eigentliches Traum-
orakel gehabt zu haben scheint (nur ein Flüchtigkeitsversehen wird es
sein, wenn Clemens Al. Strom. I p. 334 D dem Alkmäon, statt des Amphi-
lochos, das Orakel in Akarnanien zuertheilt).
2).
Plutarch. Q. Gr. 40:
1).
So darf zu dem Heroon des Okridion auf Rhodos kein Herold
kommen: Plut. Q. Gr. 27, kein Flötenbläser kommen zu, der Name des
Achill nicht genannt werden an dem Heroon des Tenes auf Tenedos:
ibid. 28. Wie alter Groll eines Heros auch in seinem Geisterleben fort-
dauert, davon ein lehrreiches Beispiel bei Herodot 5, 67.
2).
Paus. 9, 38, 5. Die Fesseln sollen jedenfalls das Bild (als Sitz
des Heros selbst) an den Ort seiner Verehrung binden. So hatte man in
Sparta ein ἄγαλμα ἀρχαῖον des Enyalios in Fesseln, wo eben die γνώμη
Αακεδαιμονίων war, οὔποτε τὸν Ἐνυάλιον φεύγοντα οἰχήσεσϑαί σφισιν ἐνεχό-
μενον ταῖς πέδαις. Paus. 3, 15, 7. Aehnlich anderwärts: s. Lobeck,
Aglaoph. 275 (vgl. noch Paus. 8, 41, 6). Aus dem auffallenden Anblick
des Bildes am Felsen wird dann wohl die (aetiologische) Legende von
dem πέτραν ἔχον εἴδωλον entstanden sein.
3).
Her. 7, 169. 170.
4).
Herod. 7, 134—137.
5).
Heiligkeit der einem Heros gewidmeten Bäume und Haine: vgl.
Aelian. var. hist. 5, 17; Paus. 2, 28, 7, namentlich aber Paus. 8, 24, 7.
1).
Die Geschichte von der Rache des Heros Anagyros erzählen, mit
einigen Varianten in Nebendingen, Hieronym. bei Suidas s. Ἀνάγυρ.
δαίμων = Apostol. prov. 9, 79; Diogenian. prov. 3, 31 (im cod. Coisl.: I,
p. 219 f. Gotting.). Vgl. Zenob. 2, 55 = Diog. 1, 25. — Aehnliche Sagen
von einem δαίμων Κιλίκιος, Αἴνειος lässt voraussetzen, lehrt aber nicht
kennen Macarius prov. 3, 18 (II, p. 155. Gott.).
2).
Die Erzählung bei Suidas geht auf den Bericht des Hieronymus
Rhod. περὶ τραγῳδιοποιῶν (Hier. fr. 4. Hill.) zurück, der die Sage mit
dem Thema des Euripideischen Phoinix in Vergleichung brachte.
1).
Nach Pausanias wird der Geist als der eines Gefährten des
Odysseus erklärt. Strabo nennt genauer den Polites, einen der Genossen
des Odysseus. Aber die Copie eines alten Gemäldes, welches das Aben-
teuer darstellte, nannte den Dämon vielmehr Lykas, und zeigte ihn
schwarz, in furchtbarer Bildung und mit einem Wolfsfell bekleidet.
Letzteres wohl nur andeutend statt völliger Wolfsgestalt, wie sie der
athenische Heros Lykos zeigte (Harpocrat. s. δεκάζων). Wolfsgestalt für
einen todbringenden Geist der Unterwelt, wie noch öfter. Dies wird die
ältere Sagengestalt sein. Erst nachträglich mag der Dämon heroisirt
worden sein.
2).
Im Uebrigen klingt die Geschichte ja vornehmlich an an griechische
Märchen, in denen von ähnlichen Befreiungsthaten erzählt wird; nicht
nur an die Sagen von Perseus und Andromeda, Herakles und Hesione,
sondern auch an den Kampf des Herakles mit Thanatos um Alkestis bei
Euripides, des Koroibos mit der Ποίνη in Argos, wird man sich erinnert
fühlen. Bis in Einzelheiten stimmt aber die Sage von Euthymos und dem
1).
Paus. 6, 6, 7—11 (der Hauptbericht); Strabo 6, p. 255; Aelian.
v. h. 8, 18; Zenob. 2, 31. Suidas s. Εὔϑυμος. Die Entrückung bei Paus.
Ael. und Suidas. Nach Aelian geht er zum Flusse Kaikinos bei seiner
Vaterstadt Lokri und verschwindet (ἀφανισϑῆναι). Warum das an jenem
Flusse geschieht, weiss ich nicht zu deuten. Vermuthlich wird aber in
dessen Nähe das Heroon des Euthymos gewesen sein. Auf eine Blitzent-
rückung des E. (vgl. oben S. 132, 4) scheinen die unklaren Worte des
Plinius, n. h. 7, 152 anzuspielen. — Unterschrift des Standbildes des
Euthymos zu Olympia: Archäol. Zeitung, 1878 p. 82.
2).
Paus. 6, 11, 2—9. Dio Chrys. or. 31, p. 618, 619 R. Vgl. auch
Oenomaus bei Euseb. praep. ev. 5, 34, 9—15. Oenomaus spielt § 16 auf
eine sehr ähnliche Legende von einem Pentathlos Euthykles in Lokri und
seinem Standbilde an.
2).
Heros von Temesa überein mit der entlegenen Fabel von dem Unthier
Lamia oder Sybaris, das Eurybatos bezwingt, wie sie, nach Nikanders
Ἑτεροιούμενα, Antoninus Liberalis cap. 8 erzählt. Es wird gleichwohl
nicht nöthig sein, Nachahmung der einen Erzählung in der anderen an-
zunehmen, beide geben, unabhängig von einander, den gleichen (übrigens
bei allen Völkern verbreiteten) Märchentypus wieder. Das von dem Helden
bezwungene Ungeheuer ist stets ein chthonisches Wesen, eine Ausgeburt der
Hölle: Thanatos, Poine, Lamia (dies der Artname, Σύβαρις scheint der Special-
name dieser bestimmten Lamia zu sein), der gespenstische „Heros“ zu Temesa.
1).
Bekannt ist, aus Aristoteles Poet. 9, p. 1452 a, 7 ff. (mirab. ausc.
158), die Geschichte von Mitys (oder Bitys) in Argos. Noch einige solche
Legenden verzeichnet Wyttenbach, Plut. Moral. VII, p. 361 (Oxon.); vgl.
noch Theocrit. idyll. 23. — Wie in der Geschichte vom Theagenes das
Standbild als des Mordes schuldig bestraft wird, so liegt in der That die
Vorstellung von fetischartiger Beseelung lebloser Körper dem alten Brauch
des athenischen Blutrechts, im Prytaneion zu richten περὶ τῶν ἀψύχων τῶν
ἐμπεσόντων τινὶ καὶ ἀποκτεινάντων (Poll. 8, 120 nach Demosth. Aristocr. 76),
zu Grunde. Von Anfang an nur symbolisch kann ja solches Gericht nicht
gemeint gewesen sein.
2).
Lucian deor. concil. 12. Paus. 6, 11, 9.
3).
Lucian a. a. O. Ueber Polydamas s. Paus. 6, 5 und, ausser vielen
anderen, Euseb. Olympionic. Ol. 93, p. 204 Sch.
4).
Sein Sieg war in Ol. 6 (s. auch Euseb. Olympionic. Ol. 6, p. 196)
errungen, das Standbild wurde ihm erst Ol. 80 gesetzt: Paus. 7, 17, 6.
5).
Paus. 7, 17, 13. 14.
1).
Plut. Thes. 35.
2).
Paus. 1, 13, 3; 32, 5.
3).
Herodot 8, 38. 39.
4).
Herodot 8, 64. Man bemerke den Unterschied: εὔξασϑαι τοῖσι
ϑεοῖσι καὶ ἐπικαλέσασϑαι τοὺς Αἰακίδας συμμάχους. So heisst es bei
Herodot 5, 75, dass in’s Feld den Spartanern beide Tyndariden ἐπίκλητοι
εἵποντο. (Die Aegineten schicken die Aeakiden den Thebanern zu Hülfe,
die Thebaner aber, da die Hülfe nichts fruchtete, τοὺς Αἰακίδας ἀπεδίδοσαν.
Herod. 5, 80. 81.)
5).
Plut. Themist. 15.
6).
Herodot. 8, 121.
7).
Kychreus: Paus. 1, 36, 1. Der Heros selbst erscheint als Schlange
(wie z. B. auch Sosipolis in Elis, vor der Schlacht: Paus. 6, 20, 4. 5;
Erichthonios: Paus. 1, 24, 7), wie denn οἱ παλαιοὶ μάλιστα τῶν ζώων τὸν
δράκοντα τοῖς ἥρωσι συνῳκείωσαν (Plut. Cleom. 39). Der Heros selbst ohne
allen Zweifel war die in Eleusis gehaltene Tempelschlange, der Κυχρείδης
ὄφις, den nach der rationalisirenden Erzählung des Strabo 9, p. 393/4
Kychreus nur aufgenährt hätte.
1).
Themistokles bei Herodot 8, 109.
2).
Xenophon Cyneg. 1, 17.
3).
Die Dioskuren halfen den Spartanern im Kriege: Herodot 5, 75;
der lokrische Aias den Lokrern in Italien: Paus. 1, 29, 12. 13. Konon 18
(ausgeschmückte, nicht mehr naive Legende, von beiden aus gleicher
Quelle entnommen).
4).
Herodot 6, 61 (aus Herodot Paus. 3, 7, 7). Zu Therapne das
Grab der Helena: Paus. 3, 19, 8.
5).
Herodot 6, 69. So galt auf Thasos der vorhin genannte Theagenes
nicht als Sohn des Timosthenes, τοῦ Θεαγένους δὲ τῇ μητρὶ Ἡρακλέους
συγγενέσϑαι φάσμα ἐοικὸς Τιμοσϑένει. Paus. 6, 11, 2. — An die Fabel von
Zeus und Alkmene erinnert man sich ohnehin. Man beachte aber, wie
nahe solche Geschichten, wie die bei Herodot so treuherzig erzählte an
bedenkliche Novellen streifen, in denen irgend ein profaner Sterblicher
bei einer arglosen Frau, in Verkleidung, die Rolle eines göttlichen oder
dämonischen Liebhabers spielt. Dass auch in Griechenland derartige
Geschichten umliefen, lässt sich vielleicht aus Eurip. Ion. 1530 ff. schliessen.
Ovid, Met. 3, 281 sagt geradezu: multi nomine divorum thalamos iniere
pudicos.
Ein Abenteuer dieser Art erzählt der Verfasser der Briefe des
Aeschines N. 10 und er weiss gleich noch zwei ähnliche Beispiele beizu-
bringen (§ 8. 9), die er gewiss nicht selbst erfunden hat. — In neueren
1).
ἐκ τοῦ ἡρωίου τοῦ παρὰ τῇσι ϑύρῃσι τῇσι αὐλείῃσι ἱδρυμένου. Herod.
2).
Der Heros ἐπὶ προϑύρῳ: Callimach. epigr. 26; ein Heros πρὸ πύ-
λαις, πρὸ δόμοισιν: spätes Epigramm aus Thracien: Kaibel epigr. 841;
ἥρωας πλησίον τῆς τοῦ ἰδόντος οἰκίας ἱδρυμένους: Artemidor. onirocr. p. 248, 9.
Herch. So ist auch Pindars Wort von dem Heros Alkmaeon als seinem
γείτων zu verstehen, Pyth. 8, 57. S. oben S. 177. Eine Aesopische
Fabel (161 Halm) von dem Verhältniss eines Mannes zu seinem Nachbar-
heros handelnd, beginnt: ἥρωά τις ἐπὶ τῆς οἰκίας ἔχων τούτῳ πολυτελῶς
ἔϑυεν. Vgl. auch Babrius, fab. 63. — Verwandt ist es, wenn der Sohn
dem Vater ein Grabmal an der Thüre seines Hauses errichtet: s. die
schönen Verse des Euripides, Hel. 1165 ff.
3).
Κύπρῳ ἔνϑα Τεῦκρος ἀπάρχει. Salamis ἔχει Aias, Achill seine
Insel im Pontus, Θέτις δὲ κρατεῖ Φϑίᾳ, und so Neoptolemos in Epeiros:
Pindar. N. 4, 46—51; ἀμφέπει vom Heros: Pyth. 9, 70; τοῖς ϑεοῖς καὶ ἥρωσι
τοῖς κατέχουσι τὴν πόλιν καὶ τὴν χώραν τὴν Ἀϑηναίων: Demosth. cor. 184.
4).
Alabandus, den die Bewohner von Alabanda „sanctius colunt quam
quemquam nobilium deorum“:
Cicero nat. d. 3, § 50 (bei Gelegenheit einer
im 4. Jahrhundert spielenden Anekdote). — Tenem, qui apud Tenedios
sanctissimus deus habetur
: Cicero Verr. II 1 § 49.
5).
Zeiten haben sich Orient und Occident an solchen Geschichten vergnügt:
orientalische Mustererzählung ist die „vom Weber als Vischnu“ im
Pantschatantra (s. Benfey, Pantsch. I, § 56), occidentalische die Novelle
des Boccaccio von dem Alberto von Imola als Engel Gabriel, Decam.
4, 2. — Recht nachdenklich stimmt auch der Bericht von einem in Epi-
dauros geschehenen Mirakel: eine unfruchtbare Frau kommt in das Heilig-
thum des Asklepios, um in der ἐγκοίμησις Rath zu suchen. Ein grosser
δράκων nähert sich ihr und sie bekommt ein Kind. Ἐφημ. ἀρχαιολογ. 1885,
p. 21. 22, Z. 129 ff.
1).
Diese doppelte Wirksamkeit der χϑόνιοι erklärt sich aus ihrer
Natur als Geister der Erdtiefe auf das Natürlichste. Es ist gar keine
Veranlassung, anzunehmen, dass die Einwirkung auf den Segen der Felder
diesen Gottheiten erst nachträglich zugewachsen sei (mit Preller, Dem. u.
Perseph.
188 ff., dem Manche gefolgt sind). Noch weniger Grund haben
wir, die Hut der Seelen und die Sorge für die Feldfrucht in eine Art
von allegorisirender Parallele zu setzen (Seele = Samenkorn), wie seit
K. O. Müller ganz gewöhnlich geschieht.
2).
Ζεὺς καταχϑόνιος Il. 9, 457. ϑεοῦ χϑονίου — — ἰφϑίμου Ἀΐδεω
Hes. Th. 767 f. Ersichtlich besteht hier kein Unterschied zwischen
καταχϑόνιος und χϑόνιος, wie ihn Preller, Dem. u. Pers. 187 statuiren
möchte.
3).
Hesiod. Op. 465 εὔχεσϑαι δὲ Διὶ χϑονίῳ Δημήτερί ϑ̕ ἁγνῇ κτλ.
Es ist unzulässig, diesen Ζεὺς χϑόνιος durch gewundene Erklärung (wie
sie Lehrs, Popul. Aufs.2, p. 298 f. vorträgt) zu etwas anderem als eben
einem unterirdischen Zeus umzuwandeln. Der Gott der Unterwelt, von
dem olympischen Zeus völlig verschieden (Ζεὺς ἄλλος Aeschyl.), ist hier
ein Segenspender für den Landmann. In der Opferordnung von Mykonos
(Dittenberger, Syll. inscr. 373, 26) wird vorgeschrieben zu opfern: ὑπὲρ
καρπῶν (καμπῶν der Stein) Διὶ Χϑονίῳ Γῇ Χϑονίῃ ΔΕΡΤΑ μέλανα ἐτήσια·
1).
Ζεὺς χϑόνιος zu Korinth: Paus. 2, 2, 8; zu Olympia: Paus. 5,
14, 8.
2).
So heisst Persephone Ἁγνή, Δέσποινα u. s. w. (Lehrs, Popul. Aufs.
288), Hekate Καλλίστη, Εὐκολίνη (κατ̕ ἀντίφρασιν, ἡ μἠ οὖσα εὔκολος Et.
M.), die Erinyen Σεμναί, Εὐμενίδες; ihre Mutter Εὐωνύμη (= Γῆ): Ister
in Schol. Soph. O. C. 42 (aus gleicher Quelle Schol. Aeschin. 1, 188)
u. s. w. Vgl. Bücheler, Rhein. Mus. 33, 16. 17.
3).
Πολυδέκτης, Πολυδέγμων, Ἀγησίλαος (Kaibel, ep. gr. 195; s. Preller,
Dem. u. Pers. 192; Welcker, Götterl. 2, 482), Εὐκλῆς (s. Bücheler, Rhein.
Mus.
36, 332 f.) — Εὔκολος (entsprechend jenem Εὐκολίνη) fällt als Bei-
name des Hades fort, wenn Köhler, C. I. A. II 3, 1529 richtig umschreibt
Ἡδύλος — Εὐκόλου.
4).
Cult des Ζεὺς Εὐβουλεύς auf Amorgos, Paros (Inss. cit. von Fon-
cart, bull. de corresp. hell. 7, 402), des Ζεὺς Βουλεύς auf Mykonos
(Dittenb., Syll. 373, 18), des Εὔβουλος (ursprünglich Beiname des Hades:
Orph. Hymn. 18, 12) in Eleusis (neben ὁ ϑεός, ἡ ϑεά): Dittenb., Syll.
3).
ξένῳ οὐ ϑέμις (ὑπὲρ καρπῶν gehört zu Διὶ etc., wie der auf dem Stein vor
ὑπὲρ angebrachte Trennungsstrich beweist: s. Bull. de corresp. hellén.
1888, p. 460 f.). — Zeugnisse dieser Art lassen am deutlichsten erkennen,
wie unrichtig es wäre, aus dem „Begriffe des Chthonischen“ alle Segens-
kräfte auszuschliessen und das Chthonische lediglich als eine Macht des
Todes und der Vernichtung in Natur- und Menschenwelt aufzufassen, mit
H. D. Müller (dem denn auch jene Stelle der Ἔργα böse Schwierigkeiten
macht: Mythol. d. griech. St. 2, 40). Nach einem abstract zu formulirenden
Begriff des Chthonischen wird man überhaupt nicht zu suchen haben;
fällt aber die segnende und belebende Thätigkeit auch noch in die Natur
der χϑόνιοι als solcher, so fällt freilich H. D. Müllers scharfsinnig er-
sonnene und verfochtene Theorie dahin, nach welcher das Chthonische
nur Eine Seite des Wesens gewisser Gottheiten ausmachen soll, welche
daneben noch eine andere, positiv schaffende und segnende, olympische
Seite haben.
1).
Lasos, fr. 1 (Bergk, lyr.4 3, 376) u. s. w. — Weihung dem Κλύ-
μενος aus Athen: C. I. Gr. 409. — Hesych. Περικλύμενος· ὁ Πλούτων
(nicht zufällig heisst auch der zauberhaft begabte Sohn des Neleus Peri-
klymenos).
2).
Der Name Τρεφώνιος, Τροφώνιος deutet noch darauf hin, wie man
einst eine Förderung der Nährkraft der Erde von diesem Ζεὺς χϑόνιος
erhoffte. In dem Trophonioscult der späteren Zeit hat sich keine Spur
solches Glaubens erhalten.
3).
ἐν οὐδεμιᾷ πόλει Ἅιδου βωμός ἐστιν. Αἰσχύλος φησίν · μόνος ϑεῶν
γὰρ Θάνατος οὐ δώρων ἐρᾷ κτλ. (fr. 161 N.): Schol. A B. Il. I 158.
4).
In Elis ἱερὸς τοῦ Ἅιδου περίβολός τε καὶ ναός Paus. 6, 25, 2.
Cult der Demeter und Kore und des Hades in dem sehr fruchtbaren Tri-
phylien: Strabo 8, 344.
4).
13, 39. C. I. A. 2, 1620 c. d. (Zum menschlichen Hirten macht den
Eubuleus die athenische Legende: Clemens Alex. Protr. p. 14 P; Schol.
Luc., Rhein. Mus. 25, 549). Εὐβουλεύς einfach = Hades: Nicand. Al. 14;
Grabschrift aus Syros Kaibel, ep. 272, 9 u. ö. So wird auch der in Ky-
rene verehrte Ζεὺς Εὐβουλεύς (Hesych. s. Εὐβ.) ein Ζεὺς χϑόνιος gewesen
sein. Eubuleus ist auch Beiname des Dionysos als Zagreus (Iakchos),
d. h. des unterweltlichen Dionys. — Uebrigens woher diese Bezeichnung
des Unterweltgottes als „gut Berathender?“ Vermuthlich doch wegen
seiner Eigenschaft als Orakelgott. (So heisst Daphne, die alte Erdorakel-
göttin, Σωφρόνη.)
1).
Kaukonen aus Pylos, an ihrer Spitze Neliden, kommen nach
Attika; Zusammenhang mit dem Cult der χϑόνιοι in Phlya, in Eleusis.
S. K. O. Müller, Kl. Schr. 2, 258. Einige geschichtliche Grundlage mögen
solche Berichte haben. Die ausgeführten Darstellungen von H. D. Müller,
Mythol. d. Gr. St. 1, cap. 6; O. Crusius in Ersch u. Grubers Eneyklop.
u. „Kaukones“ rechnen freilich mit zu vielen unsicheren Factoren, als
dass die Resultate irgendwelche Sicherheit haben könnten.
2).
Ἅιδης — τοῖς ἐνϑάδε τοσαῦτα ἀγαϑὰ ἀνίησιν: Plato Cratyl. 403
E. Ὁ Ἅιδης οὐ μόνον τὰς ψυχὰς συνέχει, ἀλλὰ καὶ τοῖς καρποῖς αἴτιός ἐστιν
ἀναπνοῆς καὶ ἀναδόσεως καὶ αὐξήσεως: Schol. B L. Il. O 188.
3).
Οἱ πολλοὶ φοβούμενοι τὸ ὄνομα Πλούτωνα καλοῦσιν αὐτόν (τὸν Ἅιδην)
Plato Cratyl. 403 A.
4).
An den Genesia (Nekysia) Opfer für Ge und die Todten: Hesych.
s. Γενέσια. — χοαὶ Γῇ τε καὶ φϑιτοῖς, Aeschyl. Pers. 220; bei Seelen-
beschwörung Anrufung des Hermes, der Ge und des Aïdoneus: Aesch.
Pers. 628 ff., 640 ff.; vgl. Choëph. 124 ff. — Auf Defixionen Anrufung
des Hermes und der Γῆ κάτοχος: C. I. Gr. 528. 529.
5).
Γαῖος in Olympia: Paus. 5, 14, 10; vgl. E. Curtius, Die Altäre
v. Olympia
, p. 15. — Auf Kos hätte man angeblich einst die Ge μόνην
ϑεῶν verehrt: Anton. Lib. 14 (nach Boios). Neben Ζεὺς Χϑόνιος wird
Γῆ χϑονίη verehrt auf Mykonos: Dittenb. Syll. 373, 26.
1).
πότνια Γῆ Ζαγρεῦ τε, ϑεῶν πανυπέρτατε πάντων, Alkmaeonis fr. 3
(Kink).
2).
Cult des Klymenos und der Demeter Χϑονία (ihr Fest Χϑόνεια:
s. auch Aelian, h. an. 11, 4) in Hermione: Paus. 2, 35, 4 ff. (Von Her-
mione, meint Paus. 3, 14, 5, sei der Dienst der Dem. Χϑονία nach Sparta
übertragen, was richtig sein könnte). Auch die Kora, als Μελίβοια, nennt
daneben Lasos von Hermione, fr. 1 (p. 376 Bgk.). Weiheinschriften (C. I.
Gr.
1194—1200) nennen neben der Demeter Chthonia auch wohl den
Klymenos und die Kora. Einmal (Bull. de corresp. hellén. 1889, p. 198,
N. 24) nur Δάματρι, Κλυμένῳ. Demeter war offenbar die Hauptgöttin:
vgl. C. I. Gr. 1193. — Da die Verehrung der Damater Chthonia den
Hermionensern und den Asinäern gemeinsam war (C. I. 1193), so wird
man glauben dürfen, dass dieser Cult dem Stamme der in Hermione
mit Doriern vermischten, aus dem argolischen Asine von den Doriern
vertriebenen Dryoper ursprünglich angehörte. An das Wahngebilde
irgend welcher, von den dryopischen Einwanderern einst verdrängten
„Pelasger“ die Ursprünge des Demetercultes jener Gegenden anzuknüpfen,
ist gar keine Veranlassung.
3).
Man verehrte gemeinsam: Zeus Eubuleus, Demeter, Kore auf
Amorgos; Zeus Eubuleus, Demeter thesmophoros, Kore, Here, Babo auf
Paros; Pluton, Demeter, Kore, Epimachos, Hermes in Knidos; Pluton und
Kore in Karien. S. die Nachweise bei Foucart, bull. de corresp. hell. 7,
402 (von dessen eignen Ausführungen ich mir nichts aneignen kann).
Ebenso in Korinth Pluton, Demeter und Kore: Paus. 2, 18, 3; Hades,
Demeter und Kore in Triphylien: Strabo 8, 344. Man beachte auch den
Götterkreis zu Lebadea im Trophonioscult: Paus. 9, 39. — In Eleusis
verehrte man neben Demeter und Kore auch den Pluton: C. I. A. 2,
834 b. Es gab aber eben dort noch andere Gruppen gemeinsam ver-
ehrter χϑόνιοι: abermals τὼ ϑεώ, mit Triptolemos verbunden, und eine
1).
Vgl. Mannhardt, Mythol. Forschungen (1884), p. 225 ff.
2).
Dass aber schon dem Homer Persephone Tochter der Demeter
3).
zweite Trias: ὁ ϑεός, ἡ ϑεά und Eubuleus. C. I. A. 4, 27 b; 2, 1620 b c;
3, 1108. 1109. Die unbestimmt bezeichneten ϑεός und ϑεά mit den
Namen bestimmter chthonischer Gottheiten benennen zu wollen, ist ein
fruchtloses Bemühen. Nach Löschcke, Die Enneakrunosepis. bei Paus.,
p. 15. 16 (dem sich Busolt, Griech. Gesch. 1, 421 ohne Einschränkung
anschliesst) wären jene eleusinischen Gottheiten nach Athen übertragen,
an der Eumenidenschlucht angesiedelt und statt ὁ ϑεός, ἡ ϑεά und Eu-
buleus genannt worden Hermes, Ge und Pluton. Aber diese dort nach
Paus. 1, 28, 6 zugleich mit den Σεμναί verehrten Gottheiten mit dem
eleusinischen Götterkreis in Verbindung zu setzen, veranlasst im Grunde
nichts weiter als die Identificirung der Σεμναί mit Demeter und Kore,
und diese beruht auf nichts anderem als einem Einfall K. O. Müllers
(Aesch. Eumen., p. 176), der auch dann noch in der Luft schweben
würde, wenn die Combinationen über „Demeter Erinys“, mit denen er in
Verbindung gebracht ist, nicht auf gar so unsicherem Fundamente ruhten.
(Den eleusinisch-athenischen Eubuleus mit Pluton zu identificiren, ist schon
darum unthunlich, weil in dem chthonischen Cult jener Orte Εὐβουλεύς,
ursprünglich wirklich ein Beiname des unterirdischen Gottes, sich zu
dem Namen eines Heros entwickelt hat, der nunmehr neben den
chthonischen Göttern steht.) — Mit der scheuen Bezeichnung ὁ ϑεός, ἡ
ϑεά lässt sich vergleichen die Anrufung auf einer defixio aus Athen,
C. I. Gr. 1034: δαίμονι χϑονίῳ καὶ τῇ χϑονίᾳ καὶ τοῖς χϑονίοις πᾶσι κτλ.
1).
Alt ist der Demetercult auch in Phthiotis (— Πύρασον, Δήμητρος
τέμενος, Il. B 695 f. — ἔχουσαι Ἀντρῶνα πετρήεντα hymn. Cer. 490), auf
Paros, auf Kreta. Dass sich der Gang der Ausbreitung des Demetercultes
im Einzelnen nachweisen lasse (wie mehrfach versucht worden ist), ist
eine der auf diesen Gebieten gewöhnlichen Illusionen, die ich nicht
theilen kann.
2).
und des Zeus ist, lässt sich nicht leugnen. Mit Verweisung auf Il. Ξ 326,
Od. λ 217 hatte Prellers Zweifel schon K. O. Müller, Kl. Schr. 2, 91
kurz und treffend abgewiesen; gleichwohl hält H. D. Müller in seiner
Reconstruction des Demetermythus daran fest, dass die vom Hades ent-
führte Göttin erst nachträglich zur Tochter der Demeter gemacht worden
sei. — Die homerischen Gedichte scheinen die Sage vom Raube der
Persephone durch Aïdoneus zu kennen, aber noch nicht (was in dem
eleusinischen Glaubenskreise das Wichtigste wurde) die Geschichte von
der periodischen Wiederkehr der Geraubten auf die Oberwelt Voll-
kommen überzeugend redet über die vielverhandelte Frage Lehrs, Popul.
Aufs.
2, p. 277 f.
1).
Aornon und νεκυομαντεῖον (ψυχοπομπεῖον Phot. s. Θεοὶ Μολοττικοί;
vgl. Append. prov. 3, 18. Eustath. Od. κ. 514) zu Ephyre am Fl.
Acheron in Thesprotien, aus Herodots Erzählung von Periander bekannt
(Her. 5, 92). Dort war die Einfahrt des Orpheus in die Unterwelt locali-
sirt. Paus. 9, 30, 6 (vgl. auch Hygin. fab. 88, p. 84, 19. 20 Schm.) —
Eingang zum Hades am Taenaron, durch den Herakles den Kerberos
heraufgeschleppt hatte (Schol. Dion. Per. 791 etc.), mit ψυχομαντεῖον: vgl.
Plut. ser. num. vind. 17 p. 560 E (sonst Stat. Theb. 2, 32 ff., 48 f. u. s. w.).
— Aehnlicher Hadeseingang zu Hermione: s. unten; καταβάσιον ᾅδου bei
Aigialos (= Sikyon): Callimach. fr. 110. — Bei Phigalia in Arkadien ein
ψυχομαντεῖον, befragt vom König Pausanias: Paus. 3, 17, 9. Berühmter
ist das ψυχομαντεῖον bei Heraklea Pont.: s. Rhein. Mus. 36, 556. Dort-
hin wendete sich Pausanias nach Plutarch ser. num. vind. 10; Cimon. 6.
— Altberühmt das Πλουτώνιον und ψυχομαντεῖον bei Cumae in Italien:
vgl. Rhein. Mus. 36, 555 (ein italischer Grieche wendet sich an τι ψυχο-
μαντεῖον. Plut. Consol. Apoll. 14 p. 109 C). — Dann die asiatischen
Πλουτώνια und Χαρώνεια: bei Acharaka in Karien (Strabo 14 p. 649. 650),
bei Magnesia am Mäander (ἄορνον σπήλαιον ἱερόν, Χαρώνιον λεγόμενον
Strabo 14, 636), bei Myus (Strabo 12, 579. Dies wird τὸ ἐν Λάτμῳ ὄρυγμα
sein, dessen unter andern Χαρώνια gedenkt Antig. Caryst. mirab. 123;
der daneben genannte Κίμβρος καλούμενος ὁ περὶ Φρυγίαν βόϑυνος mag
wohl, wie Keller z. Antig. vermuthet, der von Alkman bei Strabo 12, 580
erwähnte βόϑυνος Κερβήσιος ἔχων ὀλεϑρίους ἀποφοράς in Phrygien sein.
1).
Die Σεμναί wohnen dort in dem χάσμα χϑονός (Eurip. El. 1266 f.)
am Ostabhang des Hügels.
2).
Paus. 2, 35, 10. — Den Kerberos bringt Herakles zu Hermione
an’s Licht: Eurip. Herc. fur. 615. Einen Acheron, auch wohl eine Ἀχε-
ρουσιὰς λίμνη, hatte man auch in Thesprotien, Triphylien, bei Heraklea am
Pontos, bei Cumae, bei Cosentia in Bruttium. Alles Stätten alten Hades-
cultes und grosser Nähe der Unterwelt.
3).
Strabo 8, 373 (das Gleiche berichtet Kallimachos fr. 110 von den
1).
Vielleicht ist dieser — nach den Korybanten genannt? s. Bergk zu Alc-
man fr. 82 — nicht verschieden von der Höhle in Hierapolis); vor Allem
die Orakelhöhle im Πλουτώνιον zu Hierapolis in Phrygien (in welche, ohne
von den ausströmenden Dünsten getödtet zu werden, sich nur die Galli
der Grossen Mutter, der Matris Magnae Sacerdos, wagen konnten: Strabo
13, 629. 630. Plin. n. h. 2, § 208). Sie befand sich unter einem Tempel
des Apollo, ein richtiges καταβάσιον ᾅδου, gläubigen τετελεσμένοι allenfalls
zugänglich: s. den sehr merkwürdigen Bericht des Damascius, V. Isid.
p. 344b 35—345a, 27 Bk. (In Hierapolis Cult der Echidna: s. Gutschmid,
Rhein. Mus. 19, 398 ff. Auch dies ist ein chthonischer Cult: νέρτερος
Ἔχιδνα Eurip. Phoen. 1023; Echidna unter den Schrecken des Hades:
Aristoph. Ran. 473.) — Dies sind die mortifera in Asia Plutonia, quae
vidimus
: Cic. de divin. 1, § 79 (vgl. Galen. 3, 540; 17, 1, 10). — Hades-
eingänge hatte man aber auch überall da, wo man die Höhle zeigte, durch
welche Aïdoneus, als er die Kore raubte, herauffuhr oder hinabfuhr. So
bei Eleusis (τόϑι περ πύλαι εἰσ̕ Ἀΐδαο h. Orph. 18, 15): Paus. 1, 38, 5;
bei Kolonos (Schol. Soph. O. C. 1590. 1593), bei Lerna (Paus. 2, 36, 7),
bei Pheneos (ein χάσμα ἐν Κυλλήνῃ: Conon narrat. 15), wohl auch auf
Kreta (vgl. Bacchyl. bei Schol. Hes. Theog. 914); bei Enna auf Sicilien
(ein χάσμα κατάγειον: Diodor 5, 3, 3; Cic. Verr. 4, § 107), bei Syracus
an der Quelle Kyane (Diod. 5, 4, 2); bei Kyzikos (Propert. 4, 22, 4).
3).
Einwohnern von Αἰγιαλός [wohl = Sikyon; dort Demetercult: Paus. 2,
11, 2. 3; vgl. 2, 5, 8. Hesych. ἐπωπίς · Δημήτηρ παρὰ Σικυωνίοις], wo
ebenfalls ein καταβάσιον ᾅδου war). — „Hermione“ scheint eine Art von
appellativer Bedeutung gewonnen zu haben. Phot. lex. s. Ἑρμιόνη·
χωρίον ἄσυλον u. s. w. In den Orphischen Argonautica wird in den
fabelhaften Nordwesten Europas, in die Nähe des goldenströmenden
Acheron eine Stadt Hermioneia verlegt, in der (wie stets an den Rändern
der οἰκουμένη) wohnen γένη δικαιοτάτων ἀνϑρώπων, οἱσιν ἀποφϑιμένοις ἄνεσις
ναύλοιο τέτυκται u. s. w. (1135—1147). Hier liegt also Hermione un-
mittelbar an dem Lande der Seelen und der Seligkeit, das den alten
Einwohnern der peloponnesischen Stadt eben im Bereich ihrer eigenen
Heimath zu liegen schien. — Seltsam Hesych. Ἑρμιόνη · καὶ ἡ Δημήτηρ
καὶ ἡ Κόρη ἐν Συρακούσαις. Gab es auch dort einen Ort Hermione? s.
Lobeck, Paralip. 299.
1).
Der Sohn hat gegen den Vater, wenn dieser ihn zur Unzucht ver-
miethet, nicht mehr die Pflicht der Ernährung und Beherbergung im
Leben: ἀποϑανόντα δ̕ αὐτὸν ϑαπτέτω καὶ τἆλλα ποιείτω τἀ νομιζόμενα. Solon.
Gesetz bei Aeschines, Timarch 13.
2).
Demosthenes 43, 57. 58.
3).
Schol. Soph. Antig. 255. Philo bei Euseb. pr. ev. 8, 358 D. 359 A.
S. Bernays Berichte der Berl. Akad. 1876, p. 604, 606 f.
4).
Il. 23, 71 ff.
5).
Isokrates 14, 55.
6).
Das βάραϑρον in Athen, den Καιάδας in Sparta. Doch wurde
1).
Athenisches Gesetz: Xen. Hell. 1, 7, 22; allgemein griechisches
Recht wenigstens in Bezug auf Tempelräuber: Diodor. 16, 25. Beispiele
der Handhabung dieses Gesetzes aus dem 5. und 4. Jahrhundert bespricht
W. Vischer, Rhein. Mus. 20, 446 ff. — Selbstmördern wurden an einigen
Orten die Grabesehren vorenthalten (in Theben, auf Cypern), auch in
Athen bestand der Brauch, die Hand des Selbstmörders abzuhauen und
für sich zu bestatten (Aesch. Ktes. 244. Dies Strafe der αὐτόχειρες. Er-
hungerung schien leidlicher und kam vielleicht darum so oft als Selbst-
mordart vor). S. Thalheim, Gr. Rechtsalt. p. 44 f. Vielleicht dass also
doch die, von den Aufgeklärten späterer Zeit durchaus nicht getheilten
religiösen Bedenken der Pythagoreer (und Platoniker) gegen die Selbst-
befreiung aus einem unerträglich gewordenen Leben auf populärer Empfin-
dung und Glaubensweise beruhten. (Dass aber der Leiche des Selbstmörders
nur Begräbniss, nicht Verbrennung zugestanden werden dürfe, lässt sich
als alter Glaube nirgends nachweisen. Aias wurde nach der Ἰλιὰς μικρά
nach seinem Selbstmord begraben, nicht verbrannt διὰ τὴν ὀργὴν τοῦ βασι-
λέως [fr. 3]: die Fabelei des Philostratus [Heroic. p. 188, 30 ff. Kays.],
dass Kalchas das Verbrennen von Selbstmördern für nicht ὅσιον erklärt
habe, aus dem alten Gedicht abzuleiten [mit Welcker, Kl. Schr. 2, 291],
haben wir gar keine Veranlassung.)
2).
Vgl. die Worte des Teles περὶ φυγῆς bei Stob. Flor. 40, 8 (III
p. 69, 5 ff. Mein.). Beachtenswerth ist übrigens, dass im 3. Jahrhundert
eine Widerlegung der Meinung: ὅμως δὲ τὸ ἐπὶ ξένης ταφῆναι ὄνειδος noch
nothwendig war. Später, als der von den Cynikern (und nach ihrem Vor-
bild von Teles) gepredigte Kosmopolitismus wirklich Gemeingut geworden
war, schienen auch in Schriften περὶ φυγῆς besondere Trostgründe gegen
den Schmerz der Beerdigung in der Fremde nicht mehr nöthig zu sein,
weder dem stoisirenden Musonius noch dem platonisirenden Plutarch.
3).
Dies ist der Grund, warum so vielfach die Gebeine oder die Asche
eines in der Fremde Gestorbenen von den Angehörigen eingeholt und
daheim beigesetzt worden sind. Beispiele bei Westermann zu Demosthen.
gegen Eubul. § 70 (vgl. noch Plutarch Phoc. 37).
6).
oft die Leiche den Angehörigen ausgeliefert zur Bestattung, und über-
haupt sollte die Versagung der Bestattung jedenfalls nur eine temporäre
sein; es ist undenkbar, dass man die Leichen in freier Luft habe ver-
faulen lassen wollen.
1).
Aristoph., Eccl. 1030 f. Der Grund ist unklar. Möglich wäre,
dass wenigstens das scharf duftende Origanon dem ganz rationellen Zweck,
Ungeziefer fern zu halten, dienen sollte. Nach altem Glauben vertreibt
dies Kraut Ameisen (s. Niclas zu Geopon. 13, 10, 5), auch sagt Dios-
corides (mat. med. 3, 29, I p. 375 Spr.) ὑποστρωννυμένη ἡ πόα (Orig.)
ἑρπετὰ διώκει.
2).
λήκυϑοι, τοὔστρακον: Arist. Eccl. 1032 f.; χέρνιψ ἐπὶ φϑιτῶν πύλαις:
Eurip. Alcest. 98 ff. Das Gefäss hiess ἀρδάνιον: Schol. Arist. Eccl. 1030;
Poll. 8, 65 (vgl. Phot. 346, 1: ὀρδάνιον). Es enthielt Wasser, aus einem
anderen Hause entliehen: Hesych. s. ὄστρακον (offenbar, weil das Wasser
des Hauses, in dem die Leiche ruht, für unrein galt. So wird z. B., wo
das Feuer „verunreinigt“ ist, von fernher anderes geholt: Plut. Quaest.
Gr.
24; Aristid. 20). Es reinigten sich damit die das Haus wieder Ver-
lassenden: Hesych. s. ἀρδάνια, s. πηγαῖον, πηγαῖον ὕδωρ. Ein Lorbeer-
zweig (als Sprengwedel, wie gewöhnlich bei Lustrationen) lag darin: Schol.
Eurip. Alcest. 98.
1).
Serv. Aen. 3, 681: apud Atticos funestae domus huius (cupressi)
fronde velantur.
Der Zweck mag gewesen sein, Abergläubische vor An-
näherung an das „unreine“ Haus zu warnen (Art des δεισιδαίμων ist es
οὔτε ἐπιβῆναι μνήματι, οὔτε ἐπὶ νεκρὸν οὔτ̕ ἐπὶ λεχὼ ἐλϑεῖν ἐϑελῆσαι
Theophr. char. 16). Wenigstens wird dies als Grund für gleiche Sitte in
Rom angegeben: Serv. Aen. 3. 64; 4, 507.
2).
Bekränzung des Todten, später gewöhnliche Sitte, wird wohl zu-
erst erwähnt in der (freilich zeitlich unbestimmbaren) epischen Ἀλκμαιωνίς,
fr. 2 (p. 76 Kink.). Auf der Archemorosvase ist es ein Myrtenkranz,
den eine Frau dem Archemoros auf das Haupt zu setzen im Begriffe ist.
Die Myrte ist den χϑόνιοι heilig und daher sowohl den Mysten der De-
meter als den Todten der Myrtenkranz eigenthümlich (S. Apollodor. in
Schol. Arist. Ran. 330; Ister in Schol. Soph. O. C. 681. Auch Grabmale
bekränzte, bepflanzte man vorzugsweise mit Myrten. Eurip. El. 324. 512;
vgl. Theophrast. h. plant. 5, 8, 3; Virg. Aen. 3, 23. Nicht die Todten,
sondern ebenfalls die Gräber bekränzte man gern mit σέλινον, Eppich.
Plut. Timol. 26; Symp. 5, 3, 2; Diogenian. 8, 57 u. a.) Die Bekränzung
bedeutet stets eine Art der Heiligung irgend einem Gotte. Nach Ter-
tullian (de corona militis 10) werden die Todten bekränzt, quoniam et
ipsi idola statim fiunt habitu et cultu consecrationis.
(Dies trifft den
wahren Sinn jedenfalls eher als die Meinung des Schol. Ar. Lys. 601:
στέφανος ἐδίδοτο τοῖς νεκροῖς ὡς τὸν βίον διηγωνισμένοις.)
3).
Plato Leg. 12, 959 A. Poll. 8, 65. Noch um einen seltsamen
Grund vermehrt bei Photius s. πρόϑεσις.
4).
Zulassung zur πρόϑεσις der Leiche (und Leichenklage) wie zum
Leichenzug (der ἐκφορά) nur der Weiber aus der Verwandtschaft μέχρι
1).
ἀμυχὰς κοπτομένων ἀφεῖλεν. Plut. Solon. 21. — Befolgt mögen in
griechischen Städten solche Leichenordnungen nicht strenger worden sein
als die vielfachen, alles peinlich regelnden Leichenordnungen, wie sie die
Magistrate deutscher Städte, zur Einschränkung ausschweifender Trauer-
schaustellungen, im 16. und 17. Jahrhundert erliessen. Schlagen des
Hauptes bei der Leichenklage wird auf attischen Vasen (s. g. Prothesis-
vasen) gern abgebildet: z. B. Monum. dell’ instit. VIII 4. 5; III 60 u. a.
(s. Benndorf, Griech. u. Sicil. Vasenb. 6).
2).
τὸ ϑρηνεῖν πεποιημένα Plut. Solon 21. Damit werden gemeint sein
vorbereitete, nicht improvisirte und wie unwillkürlich ausbrechende Klage-
lieder. — Plut. fährt fort: καὶ τὸ κωκύειν ἄλλον ἐν ταφαῖς ἑτέρων ἀφεῖλεν.
Es ist wohl zu schreiben: καὶ τὸ κωκύειν ἐν τ. ἀλλοτρίων ἀφεῖλεν.
3).
In alter Zeit war es in Athen Sitte ἱερεῖα προσφάττειν πρὸ τῆς
ἐκφορᾶς, also noch im Hause des Todten: [Plat.] Minos 315 C. Ein
solches Opfer vor der ἐκφορά (die erst v. 1261 ff. beschrieben wird) setzt
auch bei der Bestattung der im Meer Verstorbenen voraus Euripides,
Hel. 1255: προσφάζεται μὲν αἷμα πρῶτα νερτέροις — (mit ungenauem Aus-
druck — denn das πρό wird dann sinnlos — heisst προσφάγιον dann auch
das Opfer am Grabe: so auf der Keischen Ins. Dittenb. 468, 12; πρόσφαγμα
so: Eurip. Hecub. 41). Plut. (Sol. 21) von Solon: ἐναγίζειν δὲ βοῦν οὐκ
εἴασεν. Vermuthlich verbot Solon das Stieropfer vor der ἐκφορά: denn
auf ein solches Verbot scheint ja der Verf. des Platon. Minos anspielen
zu wollen.
4).
Die Solonischen Einschränkungen, sagt Plutarch (Sol. 21) seien
grössten Theils auch in „unsere“ (die böotischen) νόμοι aufgenommen.
4).
ἀνεψιότητος: Gesetz bei Demosth. 43, 62. 63, d. h. innerhalb der ἀγχιστεία,
welcher überhaupt allein der Seelencult jeder Art oblag. Nur diese
Weiber der Verwandtschaft sind durch den Todesfall μιαινόμεναι: dies
der Grund der Beschränkung nach der Leichenordnung von Keos (Dittenb.
Syll. 468, 25 ff.), welche sogar innerhalb des Kreises der Frauen der ἀγχιστεία
noch eine engere Auswahl vorschreibt. (Das Gesetz redet von Z. 22: μὴ
ὑποτιϑέναι etc. von der πρόϑεσις, obwohl im Anfang nur von der ἐκφορά
die Rede gewesen war).
1).
Ganz naiv äussert sich die solchen gewaltsamen Klagen, Selbst-
verletzungen und anderen heftigen Schmerzensäusserungen an der Leiche
zu Grunde liegende Vorstellung, wenn z. B. auf Tahiti die, welche sich
bei der Trauer selbst verwundeten, dabei „die Seele des Verstorbenen
anriefen, damit sie ihre Anhänglichkeit sehe“ (Ratzel, Völkerkunde 2, 337 f).
— Vgl. Waitz-Gerland, Anthropol. 6, 402.
2).
Es ist eine sehr alte, bei vielen Völkern verbreitete Vorstellung,
dass allzu heftige Klage um einen Todten dessen Ruhe störe, so dass er
wiederkehrt. S. Mannhardt, German. Mythen (1858) p. 290 (für Deutsch-
land im besondern vgl. Wuttke, Deutsch. Volksabergl.2, § 728, p. 431;
Rochholz, D. Glaube u. Brauch 1, 207). Aehnlicher griechischer Volks-
glaube wird angedeutet bei Lucian, de luctu 24 (wobei die späte Zeit des
Zeugen nicht gegen das Alter des Glaubens spricht). Zu den allzu lange
klagenden Hinterbliebenen wird gesagt: μέχρι τίνος ὀδυρόμεϑα; ἔασον ἀνα-
παύσασϑαι τοὺς τοῦ μακαρίου δαίμονας. — Bei Plato, Menex. 248 E sagen
die Todten: δεόμεϑα πατέρων καὶ μητέρων εἰδέναι ὅτι οὐ ϑρηνοῦντες οὐδὲ
ὀλοφυρόμενοι ἡμᾶς ἡμῖν μάλιστα χαριοῦνται (also dem Todten wollte man,
nach gewöhnlicher Ansicht auch in Griechenland, mit der heftigen Klage
eine Liebe thun: s. d. vorhergehende Anmerkung), ἀλλὰ — — οὕτως
ἀχάριστοι εἶεν ᾂν μάλιστα. Denn, nach „Charondas“, Stob. flor. 44, 40
(p. 183, 15) ἀχαριστία ἐστὶ πρὸς δαίμονας χϑονίους λύπη ὑπὲρ τὸ
μέτρον γιγνομένη.
3).
ἐκφέρειν τὸν ἀποϑανόντα τῇ ὑστεραίᾳ ᾗ ἂν προϑῶνται, πρὶν ἥλιον
4).
Einschränkung der Trauerfeierlichkeiten in Sparta: Plut. Lyc. 27 (daraus
Instit. Lacon. 238 D), in Syrakus durch Gelon: Diodor. 11, 38, 12; vgl.
„Charondas“, Stob. Flor. 44, 40 (II p. 183, 13 ff. Mein.).
1).
Vor Sonnenaufgang: Demosth. 43, 62 (ausdrücklich eingeschärft
durch Gesetz des Demetrius Phal.: Cic. leg. 2, 66). Dagegen galt es als
schimpflich, noch während der Nacht begraben zu werden: ἦ κακὸς κακῶς
ταφήσῃ, νυκτὸς οὐκ ἐν ἡμέρᾳ Eurip. Troad. 448.
2).
So namentlich die Leichenordnung von Keos, Dittenb. Syll. 468;
vgl. Plut. Sol. 21; Bergk, Rhein. Mus. 15, 468.
3).
Abgebildet Monum. d. inst. IX 39.
4).
Das Gesetz bei Demosth. 43, 62 (vgl. 64) giebt Beschränkungen
bei der Leichenfolge nur für Weiber (und auch da nur für solche unter
60 Jahren) an; Männer scheinen demnach promiscue zugelassen worden
zu sein. Es heisst auch bei Plut. Sol. 21, bei der ἐκκομιδή habe Solon
nicht verboten ἐπ̕ ἀλλότρια μνήματα βαδίζειν — nämlich den Männern,
muss man denken. Die Männer gingen im Zuge voran, die Weiber
3).
ἐξέχειν: Solon. Gesetz bei Demosth. 43, 62; vgl. Antiph. de chor. 34.
Klearch bei Proclus ad Plat. Remp., p. 63, 6 Sch.: Kleonymos in Athen
τεϑνάναι δόξας τρίτης ἡμέρας οὔσης κατὰ τὸν νόμον προὐτέϑη, d. h. es war am
Morgen des 3. Tages, unmittelbar vor der ἐκφορά, die πρόϑεσις hatte den
2. Tag ausgefüllt. Ebenso in der analogen Geschichte von Thespesios von
Soli, Plutarch de sera num vind. 22 p. 563 D: τριταῖος, ἤδη περὶ τὰς
ταφὰς αὐτάς, ἀνήνεγκε. Gleiche Sitte wird für die Griechen auf Cypern
vorausgesetzt bei Anton. Lib. 39, p. 235, 21 West: ἡμέρᾳ τρίτῃ τὸ σῶμα
προήνεγκαν εἰς ἐμφανές (εἰς τοὐμφανές?) οἱ προσήκοντες. Auch nach Platons
Bestimmung Leg. 12, 959 A soll stattfinden τριταία πρὸς τὸ μνῆμα ἐκφορά.
1).
Als bestehende Sitte erwähnt dies Plato Leg. 7, 800 E. Vgl.
dort die Schol., Hesych. s. Καρῖναι. Menander Καρίνη, Com. Mein. 4, p. 144
(Karisch-phrygische Trauerflöten: Ath. 4, 174 F; Pollux 4, 75. 79).
2).
τὸν ϑανόντα δὲ φέρεν κατακεκαλυμμένον σιωπῇ μέχρι ἐπὶ τὸ σῆμα.
Dittenb. Syll. 468, 11.
3).
Solon milderte (angeblich unter dem Einfluss des Epimenides)
bei den Leichenfeiern τὸ σκληρὸν καὶ τὸ βαρβαρικὸν ᾧ συνείχοντο πρότερον
αἱ πλεῖσται γυναῖκες. Plut. Sol. 12.
4).
Unter den, von Becker, Charikles2 3, 98 ff. besprochenen Aus-
sagen einzelner Schriftsteller seit dem 5. Jahrhundert sprechen für Be-
graben
als herrschende Sitte wesentlich nur Plut. Sol. 21: οὐκ εἴασεν
(Solon) συντιϑέναι πλέον ἱματίων τριῶν, Plut. Lycurg. 27: συνϑάπτειν
οὐδὲν εἴασεν (Lykurg), ἀλλὰ ἐν φοινικίδι καὶ φύλλοις ἐλαίας ϑέντες τὸ σῶμα
περιέστελλον; vgl. Thucyd. 1, 134, 4. Verbrennen als das Ueblichere
setzt dagegen für Athen (im 4. Jahrh.) voraus Isaeus 4, 19: οὔτ̕ ἔκαυσεν
οὔτ̕ ὠστολόγησεν, ebenso (im 3. Jahrh.) das Testament des Peripatetikers
Lykon (Laert. 5, 70): περὶ δὲ τῆς ἐκφορᾶς καὶ καύσεως ὲπιμεληϑήτωσαν
κτλ. (vgl. auch Teles bei Stob. flor. 40, 8; II p. 69, 24: τί διαφέρει ὑπὸ
πυρὸς κατακαυϑῆναι — dies wird hier als griechische Bestattungsweise
vorausgesetzt). Welche Bestattungsweise wirklich vorwog, könnte nur eine
genaue Statistik der Gräberfunde in griechischen Ländern lehren, welche
bis dahin fehlt. (L. Ross, seiner Zeit der genaueste Kenner dieser Dinge,
versichert, in Attika sei Bestattung unverbrannter Leichen das vor-
herrschende gewesen: Archäol. Aufs. 1, 23.)
4).
folgten: Demosth. 43, 62. Ebenso offenbar in Keos: Dittenb. 468, 19. 20.
— Pittakos (als Aesymnet in Mitylene) verbot völlig accedere quemquam
in funus aliorum
. Cic. de leg. 2, § 65.
1).
ὠστολόγησεν, Isaeus 4, 19.
2).
Die Sitte der ἐκφορά auf offner κλίνη reimt sich nicht mit der
Absicht, den Leib des Todten in einen Sarg zu legen, sondern hat offen-
bar zur Voraussetzung, dass man draussen den Leichnam entweder un-
verkapselt in die Erde legen oder ihn verbrennen werde. Die (wohl aus
dem Orient entlehnte) Sitte der Einsargung hat sich dann angeschlossen,
ist aber mit den altüberlieferten Sitten bei der ἐκφορά nie recht in’s
Gleiche gesetzt worden.
3).
Eingrabung ohne Sarg war üblich in den Gräbern der „myke-
näischen“ Periode. Und nur Beibehaltung dieser alten Sitte war es, wenn
die Spartaner ἐν φοινικίδι καὶ φύλλοις ϑέντες τὸ σῶμα περιέστελλον (be-
statteten): Plut. Lycurg. 27. Die Pythagoreer (welche den Leichnam nicht
verbrannt wissen wollten: Iamblich. V. Pyth. 154) bestatteten, offenbar
nach überlieferter Sitte, ihre Todten in myrti et oleae et populi nigrae
foliis
(Plin. n. h. 35, 160). Auch in Athen muss diese Sitte sich gehalten
haben. Fauvel (im Excerpt bei Ross, Arch. Aufs. 1, 31) berichtet von
den Gräbern vor dem melitischen Thore: j’ai trouvé le squelette couché
sur un lit épais de feuilles d’olivier encore en état de brûler
.
4).
So wird es beschrieben in dem Briefe des Hipparch bei Phlegon
mirab. 1, ähnlich Xenoph. Ephes. 3, 7, 4 (S. meinen Griech. Roman,
p. 391 A. 2). Beisetzung auf solchen steinernen κλῖναι verlangt auch Plato
für seine Euthynen (Leg. 12, 947 D). Und in dieser Weise wurden wohl
die Leichen gebettet in den mit einzelnen Lagern versehenen Felsgrab-
kammern, wie sie z. B. auf Rhodos, auf Kos gefunden sind (s. Ross,
Arch. Aufs. 2, 384 ff., 392). Vgl. namentlich die Beschreibungen von
Heuzey, Mission archéol. de Macédoine (Texte), p. 257 ff. (1876). Es ist
die in Etrurien (nach griechischem Vorbild?) üblich gewordene Art der
Bestattung: dort hat man mehrfach Skelette frei auf gemauerten Betten
liegend gefunden.
1).
Helbig, D. Hom. Epos 41.
2).
βελτίονες καὶ κρείττονες. Aristoteles im Dial. Eudemus, bei Plut.
cons. ad Apoll. 27.
3).
[Plato] Minos 315 D. Hieran zu zweifeln ist leere Willkür, man
kann nicht einmal vorbringen, was gegen die gleiche auf Rom bezügliche
Nachricht (bei Servius ad Aen. 5, 64; 6, 162) eingewendet zu werden pflegt:
dass mit dieser Erzählung nur das Entstehen des häuslichen Larendienstes
erklärt werden solle. Denn eben dieser Dienst fehlte den Griechen, oder
war doch so verdunkelt, dass um seinetwillen sicherlich keine hypothetische
Begründung erfunden wurde. — Neben dem Heerde und Altar der Hestia
wird die älteste Ruhestätte des Familienhauptes gewesen sein. Als die
Gattin des Phokion dessen Leib in der Fremde hatte verbrennen lassen,
ἐνϑεμένη τῷ κόλπῳ τὰ ὀστᾶ καὶ κομίσασα νύκτωρ εἰς τὴν οἰκίαν κατώρυξε
παρὰ τὴν ἑστίαν. Plut. Phoc. 37. — Irrig glaubte man in den merk-
würdigen Felsgräbern im Gebiet der Pnyx zu Athen solche, im Inneren
der Häuser liegende Gräber aufgefunden zu haben. S. Milchhöfer, in
Baumeisters Denkm. 153 b.
1).
So machen es die Einwohner von Neuseeland, die Eskimos u. s. w.
(vgl. Lubbock, Prehistoric times p. 465; 511 etc.).
2).
So in Sparta und Tarent. S. Becker, Charikles2 3, 105. Die
von B. auch erwähnten Gräber auf dem Markt zu Megara werden Heroen-
gräber gewesen sein. S. oben S. 170, 2. In der Anlegung von Heroen-
gräbern in Mitten der Städte, auf dem Marktplatz u. s. w. (vgl. S. 149 f.)
zeigt sich recht handreiflich der Wesensunterschied, den man zwischen
Heroen und Todten gewöhnlicher Art festsetzte.
3).
Das μνῆμα κοινὸν πᾶσι τοῖς ἀπὸ Βουσέλου γενομένοις war ein πολὺς
τόπος περιβεβλημένος, ὥσπερ οἱ ἀρχαῖοι ἐνόμιζον. Demosth. 43, 79. Die
Buseliden bildeten nicht etwa ein γένος, sondern eine Gruppe von fünf
durch nachweisliche Verwandtschaft verbundenen οἶκοι. Grabgemeinschaft
der Genossen eines γένος im staatsrechtlichen Sinne bestand nicht mehr
(s. Meier, de gentil. Att. 33; Dittenberger, Hermes 20, 4). Familiengräber
waren auch die Κιμώνεια μνήματα (Plut. Cim. 4. Marcellin. v. Thuc. 17,
Plut. X orat. p. 838 B). Man hielt aus den verständlichsten Gründen
darauf, dass kein der Familie Fremder in dem Familengrabe Aufnahme
fand: aber, wie später auf Grabschriften so häufig Strafbestimmungen
das Beisetzen Fremder verhindern sollen, so musste schon Solon in Bezug
auf die Gräber verordnen, ne quis alienum inferat. Cic. de leg. 2, § 64.
4).
Der bei Demosthenes 55, 13 ff. Redende spricht von παλαιὰ μνή-
ματα der πρόγονοι der früheren Besitzer seines χωρίον (Landgutes). Und
diese Sitte, auf dem eigenen Besitz die Todten der Familie zu begraben
καὶ τοῖς ἄλλοις χωρίοις συμβέβηκε. Es war dies also allgemeiner Gebrauch,
1).
Vgl. Curtius, Zur Gesch. des Wegebaus bei d. Gr. p. 262.
2).
Nemora aptabant sepulcris, ut in amoenitate animae forent post
vitam
. Serv. Virg. Aen. 5, 760. In lucis habitant manes piorum. Id.
Aen. 3, 302; vgl. dens. zu Aen. 1, 441; 6, 673.
3).
Vgl. die Ins. von Keos, Dittenb. 468, 8. 9. Eurip. Iph. Taur. 633 ff.
4).
ἐναγίζειν δὲ βοῦν οὐκ εἴασεν. Plut. Sol. 21.
5).
προσφαγίῳ (bei der Bestattung) χρῆσϑαι κατὰ τὰ πάτρια. Dittenb.
Syll. 468, 13.
6).
S. namentlich die Ins. von Keos, Z. 15 ff., 30. Die nach alt-
athenischer Sitte zugezogenen ἐγχυτρίστριαι ([Plat.] Minos 315 C) scheinen
Weiber gewesen zu sein, die mit dem in Töpfen aufgefangenen Blut der
Opferthiere die μιαινόμενοι reinigten. Der Name selbst lässt dies ver-
muthen, auch kommt unter anderen, sicher verkehrten Erklärungen bei
den Scholiasten zu Min. 1. 1. auch eine auf diesen Sinn führende vor
(anders Schol. Ar. Vesp. 289).
7].
περὶ τὰ πένϑη — ὁμοπαϑείᾳ τοῦ κεκμηκότος κολοβοῦμεν ἡμᾶς αὐ-
τοὺς τῇ τε κουρᾷ τῶν τριχῶν καὶ τῇ τῶν στεφάνων ἀφαιρέσει. Aristot. fr. 98
4).
der an die älteste Sitte, den Hausherrn im eigenen Hause zu begraben,
nahe genug heran kommt. — Bei Plut. Aristid. 1. erwähnt Demetrius
Phal. ein in Phaleron gelegenes Ἀριστείδου χωρίον, ἐν ᾧ τέϑαπται.
1).
περίδειπνον. Ein solches als überall üblich vorausgesetzt bei
Aeneas Tact. 10, 5. Dies Mahl der Angehörigen (nur sie sind zu-
gelassen: Demosth. 43, 62) meint auch wohl Heracl. Pont. polit. 30, 2:
παρὰ τοῖς Λόκροις ὀδύρεσϑαι οὐκ ἔστιν ἐπὶ τοῖς τελευτήσασιν, ἀλλ̕ ἐπειδὰν
ἐκκομίσωσιν εὐωχοῦνται.
2).
ἡ ὑποδοχὴ γίνεται ὑπὸ τοῦ ἀποϑανόντος Artemidor. onirocr. p. 271,
10 H.
3).
Cic. de leg. 2, § 63. Dort freilich: mentiri nefas erat. Dagegen:
εἰώϑεσαν οἱ παλαιοὶ ἐν τοῖς περιδείπνοις τὸν τετελευτηκότα ἐπαινεῖν, καὶ εἰ
φαῦλος ἦν. Zenob. 5, 28 u. a. Paroemiogr.
4).
Am Grabe selbst fanden diese Todtenmahlzeiten statt: vgl. Arist.
Lysistr. 612 f. ἥξει σοι —; Isaeus 9, 39 τὰ ἔνατα ἐπήνεγκα.
5).
Die τρίτα und ἔνατα fanden statt jedenfalls am 3. und 9. Tage
nicht nach dem eingetretenen Tode, sondern nach der Bestattung. Die
Erwähnungen dieser Opfer bei Aristoph. Lys. 612 ff., Isaeus u. a. geben
freilich keine deutliche Vorstellung. Aber, wenn die τρίτα am 3. Tage
nach dem Todestage stattgefunden hätten, so wären sie ja auf den Tag
der ἐκφορά selbst gefallen, und dem widerspricht alles. Auch fiel das,
offenbar griechischer Sitte nachgebildete römische novemdial auf den
9. Tag nach der Bestattung, nach dem unzweideutigen Zeugniss des Por-
phyrio zu Hor. epod. 17, 48 (nona die qua sepultus est). Dasselbe er-
giebt sich aus Virgil Aen. 5, 46 ff. und 105. (Vgl. Apulei. metam. 9, 31;
p. 173, 28 Eyss.).
6).
Für Rom ist dies als Grund der Novemdialienfeier deutlich be-
zeugt; für Griechenland ist dasselbe mindestens sehr wahrscheinlich (vgl.
K. O. Müller, Aesch. Eum. p. 143, Leist, Graecoitalische Rechtsgesch.
p. 34). — Neun ist, wie leicht zu bemerken, namentlich bei Homer runde
Zahl, d. h. eine Abtheilung zeitlicher Abschnitte nach Gruppen von
Neunern war in alter Zeit sehr üblich und geläufig.
1).
χρόνος πένϑους von elf Tagen, dann Abschluss der Trauer mit
einem Opfer an die Demeter. Plut. Lycurg. 27. Vgl. Herod. 6, 58 extr.
2).
Die Lexicographen (Harpocrat. Phot. u. a.) reden über τριακάς
so, dass man nicht deutlich sieht, ob das Opfer am 30. Tage nach dem
Begräbniss (ἡ τριακοστὴ ἡμέρα διὰ ϑανάτου Harp. Phot. μετὰ ϑάνατον
corrig. Schömann zu Isaeus p. 219, zu gewaltsam und ohne Gewähr) oder
das am 30. Monatstage den Todten herkömmlich dargebrachte Opfer
gemeint ist. Aber deutlich ist bei Lysias 1, 14 die Vorstellung aus-
gesprochen, dass die Trauer bis zum 30. Tage dauern sollte (s. Becker,
Charikl.2 3, 117), und somit wird man die τριακάδες, wo sie in einer Reihe
mit τρίτα und ἔνατα stehen, auf den 30. Tag nach der Bestattung be-
ziehen müssen. So auch die Inschr. von Keos, Dittenb. 468, 21: ἐπὶ τῷ
ϑανόντι τριηκόστια μὴ ποιεῖν. Ueber Argos, Plut. Qu. Graec. 24, p. 296 F.
Die τριακάδες waren offenbar in Athen (wenigstens im 4. Jahrhundert)
nicht so fest in der Sitte begründet, wie die τρίτα und ἔνατα: nur diese
pflegt z. B. Isaeus als unerlässliche νομιζόμενα zu erwähnen: 2, 36. 37;
8, 39. Wie es scheint, darf man die τριακάδες auch gar nicht (wie meistens
geschieht) kurzweg den τρ. und ἔνατα, als gleichartig, anreihen: diese
waren Opfer für den Todten. die τριακάδες, scheint es, Gedächnissmahle
der Verwandten.
3).
Lex. rhet. Bekk. Anecd. 268, 19 ff.; etwas abweichend Photius
lex. s. καϑέδρα · τῇ τριακοστῇ (πρώτῃ Phot. A statt Λ) ἡμέρᾳ τοῦ ἀποϑανόν-
τος οἱ προςήκοντες συνελϑόντες κοινῇ ἐδείπνουν ἐπὶ τῷ ἀποϑανόντι — καὶ
τοῦτο καϑέδρα ἐκαλεῖτο (Phot. add.: ὅτι καϑεζόμενοι ἐδείπνουν καὶ τὰ νομιζό-
μενα ἐπλήρουν·). ἦσαν δὲ καϑέδραι τέσσαρες. (Der letzte Satz fehlt bei Phot.)
Also ein Mahl der Anverwandten des Verstorbenen, diesem zu Ehren,
gefeiert „am 30. Tage“: vermuthlich doch nichts anderes als die sonst öfter
genannten τριακάδες. Die Schmausenden sassen dabei, nach alter, bei
Homer herrschender, für Weiber überall, für Männer späterhin nur in
Kreta beibehaltener Sitte (s. Müller, Dorier 2, 270). Vielleicht ebenfalls
diese im Cultus festgehaltene alte Sitte ist in den sitzenden Figuren
der spartanischen Reliefs mit Darstellungen von „Todtenmahlen“ beibe-
halten. Solche καϑέδραι fanden viere statt. Damit wäre die Trauer
auf vier Monate ausgedehnt: so wird für Gambreion vorgeschrieben
(Dittenberg. Syll. 470, 11 ff.), dass die Trauer höchstens drei, für Frauen
vier Monate dauern dürfe.
1).
τὰ νεκύσια τῇ τριακάδι ἄγεται: Plutarch. prov. Alex. 8, p. 6, 10
Crus. (App. prov. Vatic. in Schneidewins krit. Apparat zu Diogenian 8,
39). Die drei letzten Tage des Monats sind in Athen den Unterirdischen
heilig und darum ἀποφράδες: Etym. M. 131, 13 ff. Etym. Gud. 70, 3 ff.
(vgl. Lysias bei Athen. 12, 551 F). An diesen Tagen wurden Mahlzeiten
(auf den Dreiwegen und sonst) hingestellt der Hekate (Ath. 7, 325 A),
der Hekate καὶ τοῖς ἀποτροπαίοις (Plutarch. Sympos. 7, 6. p. 709 A); auch
die Seelen der Todten wurden bedacht. Schol. Plat. Leg. 7, 800 D:
ἀποφράδες ἡμέραι, ἐν αἷς τοῖς κατοιχομένοις χοὰς ἐπιφέρουσιν.
2).
Der Sohn dem verstorbenen Vater ἐναγίζει καϑ̕ ἕκαστον ἐνιαυτόν:
Isaeus 2, 46. Dieses alljährlich einmal dargebrachte Todtenopfer (ϑυσία
ἐπέτειος, welche παῖς πατρί darbringt) ist, nach Herodot. 4, 26, das bei
den Hellenen (überall, so scheint es) gefeierte Fest der Γενέσια. Wie der
Name sagt, fiel diese Feier auf den wiederkehrenden Tag der Geburt
(nicht des Todes, wie unrichtig angiebt Ammonius p. 34. 35 Valck.) des
verehrten Vorfahren (vgl. Schol. Plat. Alcib. 121 C). So ordnet Epikur
im Testament (bei Laert. D. 10, 18) alljährliche Feier seines Geburtstages
an. Eine ähnliche Stiftung C. I. Gr. 3417. (Auch Heroenfeiern fallen
auf den Geburtstag des gefeierten Heros: Plut. Arat. 53. Und so fallen
Fest und Geburtstag der Götter zusammen: des Hermes auf den 4. Monats-
tag, der Artemis auf den 6., des Apoll auf den 7. u. s. w. Dies sind
allmonatlich wiederholte Geburtstagsfeiern. Wohl nach solchen Vor-
bildern beging man in Sestos im 2. Jahrhundert τὰ γενέϑλια τοῦ βασιλέως,
d. h. eines unter die Götter versetzten Attaliden, καϑ̕ ἕκαστον μῆνα:
Dittenb. Syll. 246, 36.)
1).
Dieses Staatsfest meint Phrynichus, ecl. p. 103 Lob., wenn er,
zum Unterschied von der (erst spät üblich gewordenen) Geburtstagsfeier
Lebender (γενέϑλια), die Γενέσια bezeichnet als Ἀϑήνησιν ἑορτή [πένϑιμος
add. Meursius; vgl. Hesych. s. γενέσια, Bekk. anecd. 231, 19]. Der Antiatti-
kistes, übrigens thöricht gegen Phrynichus polemisirend (p. 86, 20 ff.),
fügt noch die deutlichere Angabe (aus Solons ἄξονες und Philochorus)
hinzu, dass die ἑορτὴ δημοτελής der Γενέσια zu Athen am 5. Boëdromion
begangen worden sei. An der Richtigkeit dieser Nachricht zu zweifeln
(wie geschehen ist), haben wir nicht den entferntesten Grund. Neben
den vielen wechselnden parentalia der Familien gab es ebenso in Rom ein
gemeinsames, öffentliches Jahresfest der Parentalia (im Februar).
2).
Die Νεμέσεια erwähnt Demosth. 41, 11; nach dem Zusammenhang
ist an eine Feier, welche die Tochter dem verstorbenen Vater weiht, zu
denken. Dass also die Nemeseia ein Todtenfest sein mögen, ist eine ganz
richtige Vermuthung (μήποτε —) der Lexikographen (s. Harpocrat. s.
v., Bekk. anecd. 282, 32 f., beide Glossen vereint bei Phot. Suid. s.
νεμέσια). Weiter wussten sie offenbar nichts von diesem Feste. Die
Nemeseia seien „ohne Zweifel“ identisch mit den Γενέσια, behauptet Mommsen,
Heortol. 209. Dies anzunehmen sehe ich durchaus keinen Grund. —
Der Name νεμέσεια bezeichnet das Fest als ein dem „Groll“ der Todten,
der νέμεσις τῶν ϑανόντων (Sophocl. El. 792) — die leicht zur personi-
ficirten Νέμεσις wird — geweihtes. Der Cult der Seelen, wie der Unter-
irdischen überhaupt, ist stets vorwiegend ein apotropäischer (placantur
sacrificiis, ne noceant
Serv. Aen. 3, 63): die Nemeseia sollten eben
auch apotropäisch wirken.
3).
In Apollonia auf Chalkidike pflegte man alljährlich τὰ νόμιμα
συντελεῖν τοῖς τετελευτηκόσιν, früher im Elaphebolion, später im Anthe-
sterion: Hegesander bei Athen. 8, 334 F. — ἐνιαύσια als jährliches Seelen-
fest (wohl eher als sacra privata zu denken) auf Keos: Dittenb. Syll. 469.
— Nach einem Todtenfeste (νεκύσια, wie sie als geläufigen Begriff neben
1).
Hesych. s. μιαραὶ ἡμέραι. Phot. lex. s. μιαρὰ ἡμέρα.
2).
συγκλεισϑῆναι τὰ ἱερά an den Choën: Phanodem. Athen. 10, 437 C.
3).
Ph. s. μιαρὰ ἡμέρα · ἐν τοῖς Χουσὶν Ἀνϑεστηριῶνος μηνός, ἐν ᾧ
(ὲν οἷς?) δοκοῦσιν αἱ ψυχαὶ τῶν τελευτησάντων ἀνιέναι, ῥάμνον ἕωϑεν ἐμα-
σῶντο καὶ πίττῃ τὰς ϑύρας ἔχριον. Derselbe s. ῥάμνος · φυτὸν ὃ ἐν τοῖς Χουσὶν
ὡς ἀλεξιφάρμακον ἐμασῶντο ἕωϑεν · καὶ πίττῃ ἐχρίοντο τὰ σώματα (schr. δώματα) ·
ἀμίαντος γὰρ αὕτη · διὸ καὶ ἐν ταῖς γενέσεσι τῶν παιδίων χρίουσι τὰς οἰκίας
εἰς ἀπέλασιν τῶν δαιμόνων. — Von der abwehrenden, böse Geister ver-
treibenden Natur des Pechs und seiner Verwendung in griechischem
Aberglauben erinnere ich mich nicht anderswo noch gelesen zu haben.
Bekannter ist die Zauber abwehrende Kraft des ῥάμνος. Er hilft gegen
φάρμακα und φαντάσματα; daher man ihn ἐν τοῖς ἐναγίσμασι vor die
Thüre hängt: Schol. Nic. Ther. 860 (Euphorion und Sophron hatten auf
diesen Aberglauben angespielt). Vgl. Anon. de virib. herbar. 9—13; 20 ff.
und die Schol. (p. 486 ed. Haupt, Opusc. 2); auch Dioscorides, mat. med. 1,
119 extr. In Rom ist es speciell der Weissdorn, spina alba, dem diese
reinigende Kraft zugeschrieben wird. Ovid. F. 6, 131 (beim Hochzeits-
zuge wird eine Fackel aus spina alba gebraucht [Fest. 245 a, 3], und
zwar purgationis causa: Varro ap. Charis. p. 144, 22 K). An den
Choën kaut man ῥάμνος (seine Blätter oder Spitzen), um dessen Kraft
auf den eigenen Leib zu übertragen. So nimmt (gleich der Pythia) der
Abergläubische (ebenfalls an den Choën?) Lorbeerblätter in den Mund
καὶ οὕτω τὴν ἡμέραν περιπατεῖ. Theophrast char. 16. Auch der Lorbeer
hat unter vielen andern wunderbaren Eigenschaften die Kraft, Geister zu
erscheuchen: ἔνϑα ἂν ᾖ δάφνη, ἐκποδὼν δαίμονες Geopon. 11, 2, 5. 7.
3).
περίδειπνα nennt Artemidor onirocr. 4, 81) benannt ist der knossische
(nach Hemerol. Flor. allgemein kretische) Monat Νεκύσιος (Vertrag kret.
Städte, Bull. de corresp. hellén. 3, 294, Z. 56 f.). — Einen Monat Ἀγριώ-
νιος, Ἀγριάνιος hatte man in Böotien, ferner zu Byzanz, Kalymna,
Kos, Rhodos. Hesych. Ἀγριάνια · νεκύσια παρὰ Ἀργείοις, καὶ ἀγῶνες ἐν
Θήβαις (wegen des Agon der Agr. s. die Ins. aus Theben. Athen. Mit-
theil
. 7, 349). — ἐτελεῖτο δὲ καὶ ϑυσία τοῖς νεκροῖς ἐν Κορίνϑῳ, δἰ ἣν τῆς
πόλεως ἐν τοῖς μνήμασιν οὔσης ἐπέρχεται ὁ Ἀλήτης κτλ. Schol. Pind.
Nem. 7, 155.
1).
Schol. Arist. Acharn. 961 p. 26, 8 ff. Dübn. — Zu den νεκρῶν
δεῖπνα riefen die προςήκοντες die Seelen der verstorbenen Familienmit-
glieder herbei (mit einziger Ausnahme derer, die sich erhängt hatten):
Artemidor, onirocr. p. 11, 10 f. Hch. (Vgl. was von den νεκύσια in
Bithynien Arrian bei Eustath. zu Od. ι 65 erzählt.) So wohl auch an
den Anthesterien.
2).
Die χύτραν πανσπερμίας stellte man auf dem Hermes, ἱλασκόμενοι
τὸν Ἑρμῆν καὶ περὶ τῶν ἀποϑανόντων. Schol. Ar. Ach. 1076 (Didymus aus
Theopomp.) — τοὺς τότε παραγενομένους (schr. περιγινομένους, nämlich aus
der Fluth) ὑπὲρ τῶν ἀποϑανόντων ίλάσασϑαι τὸν Ἑρμῆν. Schol. Ar. Ran.
218 (nach Theopomp). Es war ein nur hingestelltes, nicht in Brand und
Rauch zum Himmel geschicktes Opfer, wie es bei Theoxenien (vornehm-
lich zu Ehren chthonischer Götter) üblich war, und bei Heroenopfern.
Aehnlich die Ἑκάτης δεῖπνα, und namentlich die Opfer für die Erinyen:
τὰ πεμπόμενα αὐταῖς ἱερὰ πόπανα καὶ γάλα ἐν ἄγγεσι κεραμείοις. Schol.
Aeschin. 1, 188.
3).
Etym. M. 774, 56: ῾ϒδροφόρια · ἑορτὴ Ἀϑήνησι πένϑιμος (soweit
auch Hesych. s. v.) ἐπὶ ποῖς ἐν τῷ κατακλυσμῷ ἀπολομένοις. Erinnerungs-
fest an die Deukalionische Fluth sollte auch das Chytrenfest sein; die
Fluth sollte sich in den Erdschlund im Tempel der Γῆ Ὀλυμπία ver-
laufen haben: Paus. 1, 18, 7; und wenn nun Pausanias hinzufügt: ἐς-
βάλλουσιν ἐς αὐτὸ (den Schlund) ἀνὰ πᾶν ἔτος ἄλφιτα πυρῶν μέλιτι μάξαν-
τες, so liegt es allerdings nahe, mit Preller, Dem. u. Perseph. 229 Anm.,
in den Hydrophorien einen mit den Chytren verbundenen Festgebrauch,
von dem Pausanias einen Theil beschreibt, wiederzuerkennen. Verbindung
der Todten und der Γῆ auch an den Γενέσια (Hesych. s v.) — ῾ϒδροφόρια
ein Apollofest auf Aegina: Schol. Pind. N. 5, 81 (worüber phantasievoll
K. O. Müller, Aesch. Eum. p. 141).
1).
Die grösste Aehnlichkeit mit dem athenischen Brauch hat das,
was Ovid, Fast. 5. von den Lemurien zu Rom erzählt. Zuletzt Aus-
treibung der Seelen: Manes exite paterni! (442). Aehnlich an Seelen-
festen vieler Orten. Vgl. z. B. den esthnischen Brauch: Grimm, D. Mythol.4
3, 489, 42. Von den alten Preussen berichtet (nach Joh. Meletius,
1551) Christ. Hartknoch, Alt und Neues Preussen (1684) p. 187. 188:
am 3. 6. 9. und 40. Tage „nach der Leichenbegängnüss“ fand ein Mahl
der Anverwandten des Verstorbenen statt, dessen Seele auch herein-
gerufen und (gleichwie noch andere Seelen) bewirthet wurde. „Wenn
die Mahlzeit verrichtet war, stund der Priester von dem Tische auff,
fegte das Hauss auss, und jagte die Seelen der Verstorbenen, nicht an-
ders als die Flöhe, herauss mit diesen Worten: Ihr habt gegessen und
getrunken, o ihr Selgen, geht herauss, geht herauss“. Am Schluss des
den Todten geweiheten Laternenfestes zu Nangasaki (Japan) wird, nach
beendigter Bewirthung der Seelen, grosser Lärm im ganzen Hause verführt
„damit ja kein Seelchen zurückbleibe und Spuk treibe — sie müssen ohne
Gnade hinaus“: Preuss. Expedition nach Ostasien 2, 22. Andere Bei-
spiele von Seelenaustreiben bei Tylor, Primit. cult. 2, 181. 182. (Die
Geister werden, ganz materiell gedacht, durch Keulenschläge in die Luft,
durch geschwungene Fackeln u. dgl. vertrieben. Man vergleiche einmal
hiemit was, aus altem Aberglauben schöpfend wie oft, die Orphischen
Hymnen von Herakles erflehen: ἐλϑὲ μάκαρ — ἐξέλασον δὲ κακὰς ἄτας,
κλάδον ἐν χερὶ πάλλων
, πτηνοῖς τ̕ ἰοβόλοις κῆρας χαλεπὰς ἀπόπεμπε
(12, 15. 16), und man wird gewahr werden, wie nahe noch solche per-
sonificirte ἆται und κῆρες den zürnenden „Seelen“ stehen, aus denen sie
auch wirklich entstanden sind. Vgl. übrigens hymn. Orph. 11, 23; 14, 14;
36, 16; 71, 11. — κῆρας ἀποδιοπομπεῖσϑαι Plut. Lys. 17).
2).
ϑύραζε Κῆρες, οὐκ ἔτ̕ Ἀνϑεστήρια. So die richtige Form des
Sprüchworts (Κᾶρες die später verbreitetste und mit falschem Scharfsinn
erklärte Gestaltung), richtig erklärt von Photius lex. s. v.: ὡς κατὰ τὴν πόλιν
τοῖς Ἀνϑεστηρίοις τῶν ψυχῶν περιερχομένων. — Κῆρες ist eine, offenbar
uralte Bezeichnung für ψυχαί, bei Homer schon fast völlig verdunkelt
(noch durchscheinend Il. B 302, Od. ξ 207, wo die Κῆρες genannt werden
als die andere ψυχαί zum Hades entraffen), dem Aeschylus (wohl aus
attischem Sprachgebrauch) noch vertraut, wenn er den Keren der Schick-
salswägung bei Homer kurzweg ψυχαί substituirte und aus der Kerostasie
eine Ψυχοστασία machte (worüber sich Schol. A. Il. Θ 70, AB. Il. X 209
verwundern). S. O. Crusius, in Ersch und Grubers Encycl. „Keren“
(2, 35, 265—267).
1).
Vgl. die Zusammenstellungen bei Pottier, les lécythes blancs atti-
ques à représ. funér
., p. 57. 70 ff.
2).
Nicht alle, aber doch einzelne der Scenen, auf denen Leierspiel
am Grabe auf den Lekythen dargestellt wird, sind so zu verstehen, dass
Lebende dem Todten zur Ergötzung Musik machen. S. Furtwängler, zu
Sammlung Saburoff. I, Taf. LX.
3).
S. Benndorf, Sicil. u. unterital. Vasenb., p. 33.
1).
Die Reliefbilder eines einzeln oder neben einer Frau thronenden,
den Kantharos zum Empfang der Spende vorstreckenden Mannes, dem
sich meist eine Gruppe kleiner gebildeter Adoranten nähert, deren älteste,
bei Sparta gefundene Exemplare in das 6. Jahrhundert zurückgehen,
deutet man jetzt (namentlich nach Milchhöfers Forschungen) wohl all-
gemein als Darstellungen des Familienseelencultes. Sie sind die Vor-
läufer der Darstellungen ähnlicher Spendescenen, auf denen (nach jüngerer
Sitte) der Heros auf der Kline gelagert die Anbetenden empfängt.
Gleiche Bedeutung haben die namentlich in Böotien gefundenen Reliefs,
auf denen der Verehrte auf einem Pferde sitzend oder ein Pferd führend
die Spende empfängt (Uebersicht bei Wolters, Archäol. Zeitung 1882
p. 299 ff., vgl. auch Gardner, Journal of hellenic studies 1884 p. 107—
142; Furtwängler, Sammlung Sabouroff I p. 23 ff.). Die Verehrer bringen
Granaten, einen Hahn (z. B. Athen. Mittheil. II, Taf. 20. 22), ein Schwein
(Hahn und Schwein: Thebanisches Relief, Athen. Mittheil. III 377; Schwein:
Böotisches Relief, Mitth. IV, Taf. 17, 2), einen Widder (Relief aus Patras:
Mittheil. IV 125 f. Vgl. den Widderkopf auf einem Grabmal aus dem
Gebiet von Argos, Mittheil. VIII 141). Dies sind Gaben, wie sie für Unter-
irdische sich ziemen. Den Granatapfel kennt man ja als Speise der χϑόνιοι
aus dem Demeterhymnus; Schwein und Widder sind die als Opfer den
χϑόνιοι verbrannten Hauptbestandtheile bei kathartischen und hilastischen
Gebräuchen. Der Hahn kommt natürlich hier nicht vor, weil er dem
Helios und der Selene heilig war (vgl. Laert. Diog. 8, 35; Iamblich.
V. Pyth. 84), sondern als Opferthier der χϑόνιοι (und daher auch des As-
klepios); als solches war er den Mysten der Demeter in Eleusis als Speise
verboten: Porphyr. de abstin. 4, 16 p. 255, 5 N. Schol. Lucian. im
Rhein. Mus. 25, 558, 26. Wer von der Speise der Unterirdischen ge-
niesst, ist ihnen verfallen. — Andererseits sind die thronenden oder
liegenden Seelengeister jener Reliefs in Verbindung gebracht theils mit
einer Schlange (Mitth. II, T. 20. 22; VIII, T. 18, 1 u. s. w.), einem Hunde,
einem Pferde (bisweilen sieht man nur einen Pferdekopf). Die Schlange
ist das wohlbekannte Symbol des Heros; Hund und Pferd bedeuten
sicherlich nicht Opfergaben (wie Gardner p. 131 meint), ihren wirk-
lichen Sinn hat man noch nicht enträthseln können. Das Pferd, glaube
ich, ist ebenfalls ein Symbol des nun in das Geisterreich eingetretenen
Verstorbenen, wie die Schlange auch (anders Grimm, D. Myth.4 p. 701 f.,
704). Ueber den Hund habe ich keine Meinung; genrehafte Bedeutung
hat er schwerlich, so wenig wie irgend etwas auf diesen Bildwerken.
1).
Die χοαί, ἅπερ νεκροῖσι μειλικτήρια, aus Wein, Honig, Wasser,
Oel, wie sie in der Tragödie am Grabe des Vaters von den Kindern
dargebracht werden (Aesch. Pers. 609 ff. Cho. 84 ff. Eurip. Iph. T. 159 ff.)
sind den im wirklichen Leben üblichen Todtenspenden nachgebildet.
Honig und Wasser (μελίκρατον) bildete stets den Hauptbestandtheil (vgl.
Stengel, Philolog. 39, 378 ff., Jahrb. f. Philol. 1887 p. 653). Das Ritual
bei der Darbringung eines ἀπόνιμμα, eigentlich eines kathartischen Spende-
opfers, das aber auch εἰς τιμὴν τοῖς νεκροῖς dargebracht wird, beschreibt
(unvollständig ausgezogen) Kleidemos ἐν τῷ Ἐξηγητικῷ Ath. 9, 409 E f.
Dasselbe sind wohl die χϑόνια λουτρὰ τοῖς νεκροῖς ἐπιφερόμενα (Zenob. 6,
45 u. a.). Mit den ῾ϒδροφόρια (wie man gemeint hat) haben diese nichts
gemein.
2).
Das gewöhnlich bei ἐναγίσματα für Todte als Opfer dienende Thier
ist ein Schaaf, andere Thiere werden seltener verwendet. Schwarze
Farbe ist Regel. Das Opfer wird ganz verbrannt. Vgl. die Zusammen-
stellungen von Stengel, Ztschr. f. Gymnas. W. 1880 p. 743 f., Jahrb. f.
Philol
. 1882 p. 322 f., 1883 p. 375. — Phot. καυστόν · καρπωτόν, ὃ ἐναγί-
ζεται τοῖς τετελευτηκόσιν (vgl. Hesych. καυτόν). — Speise der Todten doch
wohl, an den τρίτα und sonstigen Todtenmahlzeiten, und nicht der
Lebenden am περίδειπνον war das σέλινον (Todtenpflanze: s. oben S. 204, 2),
daher es zu Mahlzeiten Lebender nicht verwendet werden durfte: Plin.
n. h. 20, 113 nach Chrysipp und Dionysius.
3).
Die Opfergaben das Mahl des Todten: Aeschyl. Choëph. 483 ff.
(vgl. Lucian de luctu 9; Charon 22). Der Todte angerufen zu kommen.
um die Spende zu trinken (ἐλϑὲ δ̛ ὡς πίῃς —): Eurip. Hec. 535 ff. Die
1).
Sie empfindet es, wenn Freunde oder Feinde ihrem Grabe nahen.
S. Isaeus 9, 4. 19.
2).
Schol. Ar. Av. 1490 (mit Berufung auf die Τιτανόπανες des Myrtilos,
Dichters der alten Komödie). Phot. lex. s. κρείττονες (Hesych. s. κρείττονας) ·
οἱ ἥρωες · δοκοῦσι δὲ κακωτικοὶ εἶναι · δι̕ ὃ καὶ οἱ τὰ ἡρῷα παριόντες σιωπῶσιν.
(ἥρωες, ἡρῷα hier nach dem, in später Zeit allgemein üblichen Sprach-
gebrauch einfach = τετελευτηκότες und μνήματα gewöhnlicher Art). —
Da auch der Heros höherer Art im Grabe wohnt, so geht man auch
z. B. an dem Grabmal des Narkissos, ἥρως Σιγηλός, schweigend vorbei:
Strabo 9, 404 (wie an Hain und Schlucht zu Kolonos, wo die Erinyen
hausen: Soph. O. C. 130 ff.). Die zu Grunde liegende Empfindung ist
begreiflich und daher die Sitte weit verbreitet: z. B. bei Negern in
Westafrika: Réville, relig. des peuples non civil. 1, 73. Deutscher Aber-
glaube (Grimm, D. Myth.4 3, 463, No. 830): „man soll dem Todten keinen
Namen zurufen; sonst wird er aufgeschrieen“.
3).
Plato Phaed. 81 C. D. Die ψυχή — ὥσπερ λέγεται, περὶ τὰ μνή-
ματά τε καὶ τοὺς τάφους κυλινδομένη · περὶ ἃ δὴ καὶ ὤφϑη ἄττα ψυχῶν
σκιοειδῆ φαντάσματα, κτλ.
4).
S. O. Jahn, Archäol. Beitr. 128 ff. Benndorf, Griech. u. sicil.
Vasenb
. p. 33 f., p. 65 (zu Taf. 14. 32); auch Pottier, les lécythes blancs
p. 65, 2 (der, p. 76 ff., eine bedenkliche Theorie von einem angeblichen
Éros funèbre anknüpft).
5).
In Schlangengestalt sieht man den Bewohner eines Grabes nicht
3).
gewöhnliche Meinung war, dass ὁ νεκρὸς πίεται von den Trankspenden
(Anth. Palat. 11, 8. Kaibel, epigr. 646, 12), αἱ γὰρ χοαὶ παραψυχή τις εἰς-
εφέρετο τοῖς εἰδώλοις τῶν τετελευτηκότων κτλ. Lyd. de mens. p. 182 R.
1).
Das auf die Erde Gefallene gehört den ἥρωες (= Seelen Ver-
storbener): Aristoph. Ἥρωες, fr. 291 Dind. τοῖς τετελευτηκόσι τῶν φίλων
ἀπένεμον τὰ πίπτοντα τῆς τροφῆς ἀπὸ τῶν τραπεζῶν (worauf Euripides im
Bellerophontes anspiele): Athen. 10, 427 E. Daher Pythagoreisches σύμ-
βολον (wie meist, auf alten Seelenglauben begründet): τὰ πεσόντα ἀπὸ τρα-
πέζης μὴ ἀναιρεῖσϑαι. (Laert. Diog. 8, 34. Suid. s. Πυϑαγόρα τὰ σύμβολα).
Auf diesen Aberglauben bezieht sich auch das angeblich in Kroton gül-
tige Gesetz τὸ πεσὸν ἐπὶ τὴν γῆν κωλύων ἀναιρεῖσϑαι: Iamblich. V. Pyth. 126.
Aehnlicher Glaube und Brauch in Rom: Plin. n. h. 28, § 27. Bei den
alten Preussen galt die Regel, beim Mahl auf die Erde gefallene Bissen
nicht aufzuheben, sondern für arme Seelen, die keine Blutsverwandte und
Freunde, welche für sie sorgen müssten, auf der Welt haben, liegen zu
lassen. S. Chr. Hartknoch, Alt und Neues Preussen p. 188. Aehnlich
anderwärts: s. Spencer, Princ. d. Sociol. (Uebers.) I p. 318.
2).
Solonisches Gesetz: Demosth. 20, 104; 40, 49. Plut. Sol. 21: —
Σόλωνος ὁ κωλύων νόμος τὸν τεϑνηκότα κακῶς ἀγορεύειν. καὶ γὰρ ὅσιον, τοὺς
μεϑεστηκότας ἱεροὺς νομίζειν. Dies erinnert an die Worte aus dem Εὔδημος
des Aristoteles bei Plut. cons. ad Apoll. 27: τὸ ψεύσασϑαί τι κατὰ τῶν
τετελευτηκότων καὶ τὸ βλασφημεῖν οὐχ ὅσιον ὡς κατὰ βελτιόνων καὶ κρειττό-
5).
selten auf Vasenbildern dargestellt, am Fusse seines Grabhügels u. s. w.
z. B. auf der Prothesisvase, Monum. d. Inst. VIII 4. 5 u. ö: s. Luckenbach,
Jahrb. f. Philol. Suppl. 11, 500. — Schlangen als Verkörperungen von
χϑόνιοι aller Art, Göttern der Erdtiefe, Heroen und einfachen Todten
sind uns schon mehrfach begegnet und werden uns noch öfter vorkommen.
Hier sei nur hingewiesen auf Photius lex. s. ἥρως ποικίλος · — διὰ τὸ τοὺς
ὄφεις ποικίλους ὄντας ἥρωας καλεῖσϑαι.
1).
Von den Todten sagt Aristoph. Tagenist. fr. 1, 12 Bgk: καὶ ϑύο-
μέν γ᾽ αὐτοῖσι τοῖς ἐναγίσμασιν, ὥσπερ ϑεοῖσι κτλ.
2).
κρείττονες: Hesych. Phot. s. v. Aristoteles bei Plut. cons. ad
Apoll.
27.
3).
ἵλεως ἔχειν (τοὺς τελευτήσαντας): Plato Rep. 4, 427 B.
4).
Dass die ἥρωες δυσόργητοι καὶ χαλεποὶ τοῖς
ἐμπελάζουσι γίγνονται
(Schol. Arist. Av. 1490) gilt, wie von den eigentlich so genannten „Heroen“
(s. oben S. 178 ff. die Legenden vom Heros Anagyros, dem Heros zu Temesa
u. s. w.), auch von den in ungenauer, später allgemein üblich gewordener Be-
zeichnung „Heroen“ genannten Seelen der Todten überhaupt — χαλεποὺς
καὶ πλήκτας τοὺς ἥρωας νομίζουσι, καὶ μᾶλλον νύκτωρ ἢ μεϑ̕ ἡμέραν: Cha-
maeleon bei Athen. 11, 461 C (daher die Vorkehrung gegen nächtlich be-
gegnende Gespenster: Athen. 4, 149 C). Vgl. Zenob. 5, 60. Hesych.
Phot. s. κρείττονες. — Dass die ἥρωες nur Schlimmes thun und senden
können, nichts Gutes (Schol. Ar. Av. 1490; Babrius fab. 63) ist später
Glaube; weder für Heroen noch für gewöhnliche Todte gilt dies im Glau-
ben älterer Zeiten. Die Vorstellung von der schadenfrohen, gewaltthätigen
Natur der Unsichtbaren, ursprünglich auf „Götter“ so gut bezüglich wie
auf Heroen und Seelen, ist mehr und mehr auf die unteren Klassen der
κρείττονες beschränkt worden, und haftet zuletzt an diesen so ausschliess-
lich, dass sie als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen ihnen
2).
νων ἤδη γεγονότων. (Chilon Stob. flor. 125, 15: τὸν τετελευτηκότα μὴ κακο-
λόγει, ἀλλὰ μακάριζε). Ein ganz besonders schlimmer Frevel ist es, ψεύ-
σασϑαι κατὰ τοῦ τελευτήσαντος: Isaeus 9, 6. 23. 26. Der Erbe des Ver-
storbenen hat, wie ihm der Seelencult für jenen überhaupt Pflicht ist, den
Verleumder desselben gerichtlich zu verfolgen (s. Meier und Schömann, Att.
Process
2 p. 630).
1).
Aristoph. Tagenist. 1, 13: — καὶ χοάς γε χεόμενοι (den Todten)
αὶτούμεϑ̕ αὐτοὺς τὰ καλὰ δεῦρ̕ ἀνιέναι (angebl. παροιμία, nach einem
Tragiker jedenfalls, Anrede an eine Todte: ἐκεῖ βλέπουσα, δεῦρ̕ ἀνίει
τἀγαϑά Schol. Arist. Ran. 1462; von dem Interpolator des Aristophanes
an jener Stelle nachgeahmt). Dies „Heraufsenden des Guten“ ist zwar auch
im weitesten Sinne verstehbar (vgl. Aesch. Pers. 222); aber man wird
sich doch im Besonderen bei solcher Bitte um ἀνιέναι τἀγαϑά erinnert
fühlen an Demeter ἀνησιδώρα (Paus. 1, 31, 4; Plut. Sympos. 9, 14, 4), an
Γῆ ἀνησιδώρα · διὰ τὸ καρποὺς ἀνιέναι (Hesych.). Soph. O. C. 262: εὔχομαι
ϑεούς μήτ̕ ἄροτον αὐτοῖς γῆς ἀνιέναι τινά —. Und dass man wirklich För-
derung des Ackerbaues von den Todten, die in der Erde wohnen, erwarten
konnte, mag namentlich eine sehr beachtenswerthe Bemerkung in der
hippokrateischen Schrift περὶ ἐνυπνίων (II p. 14 Kühn; VI p. 658 Littré
[π. διαίτης 4, 92]) lehren. Sieht man im Traume ἀποϑανόντας, weiss-
gekleidet, etwas gebend, so ist das ein gutes Vorzeichen: ἀπὸ γὰρ τῶν
ἀποϑανόντων αἱ τροφαὶ καὶ αὐξήσιες καὶ σπέρματα γίνονται. In Athen bestand
die Sitte, auf das frische Grab alle Arten von Samen zu streuen: Isigon.
mirab. 67; Cicero de leg. 2, 63. Der (jedenfalls religiöse) Grund wird
verschieden angegeben (eine dritte, nicht glaublichere Erklärung bietet
K. O. Müller, Kl. Schr. 2, 302 f.). Am nächsten liegt doch wohl anzu-
nehmen, dass die Saat der Erde unter den Schutz der nun selbst zu erd-
bewohnenden Geistern gewordenen Seelen der Todten gestellt werden
sollte.
2).
Elektra bei Aeschyl. Choeph. 486 ff. gelobt der Seele ihres Vaters:
κἀγὼ χοάς σοι τῆς ἐμῆς παγκληρίας οἴσω πατρῴων ἐκ δόμων γαμηλίους ·
πάντων δὲ πρῶτον τὸνδε πρεσβεύσω τάφον.
3).
Φανόδημός φησιν ὅτι μόνοι Ἀϑηναῖοι ϑύουσιν καὶ εὔχονται αὐτοῖς
ὑπὲρ γενέσεως παίδων, ὅταν γαμεῖν μέλλωσιν Phot. Suid. s. τριτοπάτορες.
4).
τριτοπάτορες bedeutet schon dem Namen nach nichts anderes als
πρόπαπποι (Pollux 3, 17), Vorfahren. S. Lobeck, Agl. 763. So auch Hesych.
s. πριτοπάτορας · οἱ δὲ τοὺς προπάτορας; Bekk. anecd. 307, 16 τριτοπάτορας ·
4).
und den Göttern gelten kann (was sie keineswegs von Anfang an war),
dergestalt, dass Bosheit aus dem Wesen der Götter und umgekehrt Güte
aus dem der Heroen und Seelen ausgeschlossen scheint.
1).
Mit grosser Bestimmtheit werden die Tritopatoren bezeichnet als
ἄνεμοι (Demon bei Phot. Suid. s. τριτοπάτορες), δεσπόται ἀνέμων (Phot. s.
τριτοπάτωρ; Tzetzes Lycophr. 738). Orphische Dichtung machte ϑυρωροὺς
καὶ φύλακας τῶν ἀνέμων aus ihnen. Dies ist schon freie Ausdeutung; der
attische Glaube, den Demon ausspricht, weiss davon nichts. Zweifellos
nur Speculation und Fiction ist es, wenn man ihre Zahl (ähnlich wie die
ursprünglich ebenfalls unbegrenzte der Horen, der Erinyen u. s. w.) auf
drei beschränkte, und sie nun mit bestimmten Namen benannte (Amal-
keides u. s. w., Orpheus), oder mit den drei Hekatoncheiren gleichsetzte
(Kleidemos im Ἐξηγητικόν). In Wahrheit und nach ächtem, noch deutlich
durch alle Trübungen von Missverständniss und Missdeutung durch-
scheinendem Glauben sind die τριτοπάτορες Ahnenseelen, die zugleich
Windgeister sind. Man fleht zu diesen Geistern um Kindersegen: mit
Recht bringt Lobeck, Agl. 755 ff. mit diesem Gebrauch die Orphische
Lehre in Zusammenhang, dass die Menschenseele mit dem Wind von
aussen in den Menschen hineinkomme. Nur ist auch dies schon eine
speculirende Ausschmückung des Volksglaubens von den Tritopatoren (den
die Orphiker unmöglich, wie Welcker, Götterl. 3, 71 meint, „erfunden“
haben können: sie deuten ihn sich ja auf ihre Art, fanden ihn also vor).
Entschlagen wir uns aller Speculation, so erkennen wir in den Tritopa-
toren Ahnenseelen, die zu Windgeistern geworden sind und mit anderen
ψυχαί (die ja auch vom Windhauche benannt sind) im Winde fahren, von
denen ihre Nachkommen Hülfe erhoffen, wenn es sich um Lebendigwerden
einer neuen ψυχή handelt. Seelen als Windgeister sind sehr wohl ver-
ständlich; bei den Griechen ist diese Vorstellung nur vereinzelt erhalten
und ebendarum werden solche vereinzelt im Glauben lebendig gebliebene
Windseelen zu besonderen Dämonen, die Tritopatoren nicht anders als
die Harpyien. S. Anhang 7.
4).
τοὺς πρώτους ἀρχηγέτας, d. i. Ahnen. Auf dieselbe Deutung kommt es
hinaus, wenn Philochorus (Phot. Suid. s. τριτοπ.) diese „Drittväter“ als
erste (Menschen) nach Uranos und Ge, Helios und Selene erklärt (so ist
Phil. zu verstehen: s. Welcker, Götterl. 3, 72; vgl. namentlich Phot. s.
τριτοπάτωρ 605, 9 ff.). Auch ihm sind sie die ἄρξαντες τῆς γενέσεως.
1).
Ganz naiv spricht sich der Glaube aus in den Worten des Orestes
bei Aeschyl. Choeph. 483 ff. Er ruft der Seele des Vaters zu: οὕτω (wenn
du mir beistehst) γὰρ ἄν σοι δαῖτες ἔννομοι βροτῶν κτιζοίατ̕ · εἰ δὲ μὴ, παρ̕
εὐδείπνοις ἔσει ἄτιμος ὲμπύροισι κνισωτοῖς χϑονός. Und so gilt auch für alte
Zeit der von Lucian, de luctu 9 verhöhnte Glaube: τρέφονται δὲ ἄρα (die
Todten) ταῖς παρ̕ ἡμῖν χοαῖς καὶ τοῖς καϑαγιζομένοις ἐπὶ τῶν τάφων · ὡς εἴ
τῳ μὴ εἴη καταλελειμμένος ὑπὲρ γῆς φίλος ἢ συγγενής, ἄσιτος οὗτος νεκρὸς
καὶ λιμώττων ἐν αὐτοῖς πολιτεύεται.
1).
Epikur bestimmt in seinem Testamente gewisse πρόσοδοι zu den
alljährlich seinen Eltern, seinen Brüdern und ihm selbst darzubringenden
ἐναγίσματα: Laert. Diog. 10, 18. — Noch dem 3. Jahrhundert mag an-
gehören das „Testament der Epikteta“, d. h. die Inschrift, welche die
Stiftung der Epikteta (auf Thera?) für die jährliche Begehung eines drei-
tägigen Opferfestes für die Musen und „die Heroen“, d. h. für ihren
Mann, sich selbst und ihre Söhne, durch ein hiefür eigens gestiftetes κοινὸν
τοῦ ἀνδρείου τῶν συγγενῶν (sammt Weibern der Verwandtschaft) enthält,
und dazu die Satzungen dieser Opfergenossenschaft (C. I. Gr. 2448). —
Die Opfer für die Todten bestehen dort (VI 6 ff.) aus einem ἱερεῖον (d. h.
Schaf) und ἱερά, nämlich ἐλλύται von fünf Chöniken Weizenmehl und einem
Stater dürren Käse (ἐλλ. sind eine Art Opferkuchen, speziell den Unter-
irdischen dargebracht: wie dem Trophonios zu Lebadea: s. Collitz, Dia-
lektins.
413, und dazu die Anm. p. 393), dazu Kränze. Geopfert werden
sollen die üblichen Theile des Opferthieres, ein ἐλλύτης, ein Brod, ein
πάραξ (?) und einige ὀψάρια. Das Uebrige verzehrt wohl die Festgemeinde;
jene Stücke, heisst es, καρπωσεῖ der das Opfer Ausrichtende, d. h. er soll
es den Heroen aufopfern, vermuthlich ganz verbrennen. Vgl. Photius
καυστόν · καρπωτόν, ὃ ἐναγίζεται τοῖς τετελευτηκόσιν (καρπῶσαι, κάρπωμα,
ὁλοκάρπωσις etc. häufig in der Septuaginta). Vgl. Photius s. ὁλοκαρπού-
μενον, s. ὁλοκαυτισμός.
2).
S. Isaeus 1, 10.
3).
In Freilassungsurkunden wird bisweilen bestimmt, dass die Frei-
gelassenen Beim Tode der Herren ϑαψάντω καὶ τὰ ὥρια (= τὰ νομιζόμενα)
αὐτῶν ποιησάτωσαν: so auf der Inschr. aus Phokis, Dittenb. Syll. inscr. 445.
Häufig sind derartige Bestimmungen namentlich auf den delphischen Frei-
lassungsurkunden. S. Büchsenschütz, Besitz u. Erw. im gr. Alt. 178,
Anm. 3. 4.
1).
Hier die in den Reden des Isaeus vorkommenden Aussagen,
welche das oben Gesagte besonders deutlich erkennen lassen. Der kinder-
lose Menekles ἐσκόπει ὅπως μὴ ἔσοιτο ἄπαις, ἀλλ̕ ἔσοιτο αὐτῷ ὅςτις ζῶντα
γηροτροφήσοι καὶ τελευτήσαντα ϑάψοι αὐτὸν καὶ εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον τὰ
νομιζόμενα αὐτῷ ποιήσοι 2, 10. Pflege im Alter, Begräbniss und fernere
Sorge für die Seele des Todten bilden Ein Continuum. Um nun dieser
Seelenpflege theilhaftig zu werden, muss der Todte einen Sohn hinter-
lassen: diesem allein liegt sie als heilige Pflicht ob. Daher nimmt, wer
keinen Sohn hinterlässt, den erwählten Erben seines Vermögens, durch
Adoption in seine Familie auf. Erbschaft und Adoption fallen in
solchen Fällen stets zusammen (auch in der 1. Rede, wo zwar von Adop-
tion nicht ausdrücklich geredet, diese aber doch wohl vorausgesetzt wird).
Mit grösster Deutlichkeit wird als Motiv der Adoption die Sorge um
regelrechte Pflege der eigenen Seele des Adoptirenden durch den Adoptiv-
sohn ausgesprochen: 2, 25; 46; 6, 51; 65; 7, 30; 9, 7; 36. Eng und noth-
wendig verbunden ist daher das εἶναι κληρονόμον καὶ ὲπὶ τὰ μνήματα ἰέναι,
χεόμενον καὶ ἐναγιοῦντα (6, 51). Kennzeichen des Erben ist τὰ νομιζόμενα
ποιεῖν, ἐναγίζειν, χεῖσϑαι (6, 65). Vgl. auch Demosth. 43, 65. Diese Pflichten
gegen die Seele des Verstorbenen bestehen darin, dass der Erbe und
Sohn für ein feierliches Begräbniss, ein schönes Grabmal sorgt, die τρίτα
καὶ ἔνατα darbringt, καὶ τἆλλα τὰ περὶ τὴν ταφήν: 2, 36. 37; 4, 19; 9, 4.
Dann aber hat er den Cult regelmässig fortzusetzen, dem Verstorbenen
zu opfern, ἐναγίζεσϑαι καϑ̕ ἕκαστον ἐνιαυτόν (2, 46), überhaupt ihm καὶ
εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον τὰ νομιζόμενα ποιεῖν (2, 10). Und wie er für den
Verstorbenen dessen häuslichen Cultus fortsetzt, seine ἱερὰ πατρῷα 2, 46
(z. B. für den Zeus Ktesios: 8, 16), so muss er auch, wie einst Jener, den
πρόγονοι des Hauses regelmässige Opfer darbringen: 9, 7. So pflanzt
sich der Cult der Familienahnen fort. — Alles erinnert hier auf das
Stärkste an die Art, wie für die fortgesetzte Seelenpflege, namentlich auch
durch Adoption, gesorgt wird in dem Lande des blühendsten Ahnen-
cultes, China. Die Sorge um Erhaltung des Familiennamens, welche
bei uns wohl das Hauptmotiv zu Adoptionen männlicher Nachkommen
bildet, konnte in Griechenland, wo nur Individualnamen üblich waren,
nicht in gleicher Weise wirksam sein. Gleichwohl kommt auch dies als
Anregung zur Adoption eines Sohnes vor: ἵνα μὴ ἀνώνυμος ὁ οἶκος αὐτοῦ
γενήται 2, 36; 46; vgl. Isocrat. 19, 35 (auch Philodem π. ϑαν. p. 28, 9 ff.
Mekl.). Der οἶκος nennt sich eben doch nach einem seiner Vorfahren (wie
jene Βουσελίδαι, von denen Demosthenes redet), und dieser Gesammtname
1).
Unter Berufung auf φῆμαι, πολλαὶ καὶ σφόδρα παλαιαί, hält Plato,
Leg. 11, 927 A, fest: ὡς ἄρα αἱ τῶν τελευτησάντων ψυχαί δύναμιν ἔχουσί
τινα τελευτήσασαι, ᾗ τῶν κατ̕ ἀνϑρώπους πραγμάτων ἐπιμελοῦνται. Daher
die ἐπίτροποι verwaister Kinder πρῶτον μὲν τοὺς ἄνω ϑεοὺς φοβείσϑων ‒ ‒,
εἶτα τὰς τῶν κεκμηκότων ψυχάς, αἷς ἐστὶν ἐν τῇ φύσει τῶν αὑτῶν ἐκγόνων
κήδεσϑαι διαφερόντως
, καὶ τιμῶσί τε αὐτοὺς εὐμενεῖς καὶ ἀτιμάζουσι
δυσμενεῖς. Beschränkt ist hier eigentlich nur der Kreis der Wirkung (und
entsprechend der Verehrung) der ψυχαί, nicht die Kraft dieser Wirkung.
2).
Mindestens unter Griechen, wie schon antike Speculation wahr-
nahm (Aristot. Polit. 1, 2; Dikaearch bei Steph. Byz. s. πάτρα [der sich
die πάτρα, wie es scheint, durch „endogamische“ Ehen zusammengehalten
denkt]). Und soviel wird man jedenfalls den Auseinandersetzungen
Fustel de Coulanges’ (La cité antique) zugestehen müssen, dass Alles in
der Entwicklung des griechischen Rechts und Staatslebens zu der An-
nahme führe, dass am Anfang griechischen Lebens die Sonderung nach
den kleinsten Gruppen stand, aus deren Zusammenwachsen später der
griechische Staat entstand, die Trennung nach Familien und Sippen, nicht
(wie es anderswo vorkommt) das Gemeinschaftsleben in Stamm oder
Horde. Wie soll man sich aber griechische Götter denken ohne die
Stammgenossenschaft, die sie verehrt?
1).
verschwindet, wenn der οἶκος keine männlichen Fortsetzer hat. Ausserdem
wird sich der Adoptirte den Sohn des Adoptirenden nennen, und insofern
dessen Namen erhalten, den er etwa auch, nach bekannter Sitte, dem
ältesten (Demosth. 39, 27) seiner eigenen Söhne beilegen wird.
1).
Der Begriff des Lar familiaris lässt sich mit griechischen Worten
nicht unpassend umschreiben als ὁ κατ̕ οἰκίαν ἥρως, ἥρως οἰκουρός, wie
Dionys von Halikarnass und Plutarch in ihrer Wiedergabe der Sage von
der Ocrisia thun (ant. 4, 2, 3; de fort. Roman. 323 C.). Aber das ist kein
den Griechen geläufiger Begriff. Nahe kommt dem latein. genius generis =
lar familiaris
(Laberius 54 Rib.) der merkwürdige Ausdruck ἥρως συγγε-
νείας C. I. Att. 3, 1460. Der Grieche verehrt im Hause, am häuslichen
Heerde (in dessen μυχοί „wohnt“ die Hekate: Eurip. Med. 397) nicht mehr
die Geister der Vorfahren, sondern die ϑεοὶ πατρῷοι, κτήσιοι, μύχιοι, ἑρ-
κεῖοι, die man mit den römischen Penaten verglich (Dionys. ant. 1, 67, 3;
vgl. Hygin bei Macrob. Sat. 3, 4, 13); aber ihre Verwandtschaft mit den
Geistern des Hauses und der Familie ist viel weniger durchsichtig als
bei den Penaten der Fall ist. (Wohl nach römischen Vorbildern: δαίμονες
πατρῷοι καὶ μητρῷοι, von dem sterbenden Peregrinus angerufen: Luc.
Peregr.
36. Στέφανος τοῖς τοῦ πατρὸς αὑτοῦ δαίμοσιν, Ins. aus Lykien,
C. I. Gr. 4232.)
2).
Der ἀγαϑὸς δαίμων, von dem namentlich attische Schriftsteller oft
reden, hat sehr unbestimmte Züge; man verband kaum noch deutliche
Vorstellungen von einem göttlichen Wesen genau fassbarer Art und Ge-
stalt mit diesem, an sich zu allzu allgemeiner Auffassung einladenden
Namen. Dass seine ursprüngliche Art die eines Dämons des Ackersegens
sei (wie Neuere versichern), ist ebenso wenig Grund zu glauben, als dass
er identisch sei mit Dionysos, wie im Zusammenhang einer albernen,
selbsterfundenen Fabel der Arzt Philonides bei Athen. 15, 675 B behauptet.
2).
Auf Verwandtschaft des ἀγαϑὸς δαίμων mit chthonischen Mächten weist
Mancherlei. Er erscheint als Schlange (Gerhardt, Akad. Abh. 2, 24), wie
alle χϑόνιοι. Eine bestimmte Art giftfreier Schlangen (beschrieben nach
Archigenes bei dem von mir hervorgezogenen Vaticanischen Iologen:
Rhein. Mus. 28, 278. Vgl. Phot. lex. s. παρεῖαι ὄφεις, und namentlich s.
ὄφεις παρείας 364, 1) nannte man ἀγαϑοδαίμονες; in Alexandria opferte
man diesen am 25. Tybi als τοῖς ἀγαϑοῖς δαίμοσι τοῖς προνοουμένοις
τῶν οἰκιῶν
: Pseudocallisth. 1, 32 (cod. A), als „penates dei“, wie Jul.
Valer. p. 38, 29 ff. (Kuebl.) übersetzt. Hier ist der ἀγ. δ. deutlich ein
haushütender guter Geist. Nur wenn man ihn so fasst, versteht man, wie
man ἀγαϑῷ δαίμονι sein Haus „weihen“ konnte: wie Timoleon zu Syrakus
that (ἀγαϑῷ δαίμονι Plut. de se ips. laud. 11 p. 542 E; τὴν οἰκίαν ἰερῷ
δαίμονι καϑιέρωσεν Plut. Timol. 36 ist offenbar alter Schreibfehler). Vgl.
das Wort des Xeniades, Laert. D. 6, 74. Solche haushütende Geister
kennt ja auch unser Volksglaube sehr wohl, da aber „lässt sich der
Uebergang der Seelen in gutmüthige Hausgeister oder Kobolde noch
nachweisen“ (Grimm, D. Myth.4 p. 761). Nach dem häuslichen Mahle
gebührt der erste Schluck ungemischten Weines als Spende (σπεῖσον ἀγα-
ϑοῦ δαίμονος Aristoph.) dem ἀγαϑὸς δαίμων (s. Hug, Plat. Sympos.2
p. 23). Dann folgt die Spende an Zeus Soter. Aber man liess auch,
statt des ἀγ. δ., dem Zeus Soter vorangehen die „Heroen“ (Schol. Pind.
Isthm. 5, 10. S. Gerhardt p. 39): diese treten also an die Stelle des
ἀγ. δ., worin sich Wesensverwandtschaft des ἀγ. δ. mit diesen Seelen-
geistern verräth. In dieselbe Richtung weist, dass im Trophoniosheilig-
thum bei Lebadea ἀγαϑὸς δαίμων unter vielen anderen Gottheiten chtho-
nischen Charakters verehrt wird (Paus. 9, 39, 4), dort neben Tyche, mit
der er auch auf Grabinschriften bisweilen zusammen genannt wird (z. B.
C. I. Gr. 2465, f.), sowie Tyche ihrerseits neben chthonischen Gottheiten,
Despoina, Pluton, Persephone erscheint (C. I. Gr. 1464, Sparta). Auf
Grabschriften tritt bisweilen: δαιμόνων ἀγαϑῶν vollständig = Dis Manibus
ein: z. B. Δαιμόνων ἀγαϑῶν Ποτίου C. I. Gr. 2700 b. c (Mylasa); δαιμόνων
ἀγαϑῶν Ἀρτέμωνος καὶ Τίτου Mittheil. Athen. 1889 p. 110 (Mylasa) (δαί-
μοσιν ἑαυτοῦ τε κἁὶ Λαιτιτίας τῆς γυναικὸς αὐτοῦ = Dis Manibus suis et
Laetitiae uxoris
, zweisprachige Ins. [Berroea] C. I. Gr. 4452; cfr. 4232;
auch 5827). Dies unter römischem Einfluss; aber es bleibt nicht minder
beachtenswerth, dass man eben δαίμων ἀγαϑός und Di Manes gleichsetzte,
den δαίμων ἀγαϑός also als einen aus einer abgeschiedenen Menschenseele
gewordenen Dämon fasste. — Der Gegenstand liesse sich genauer aus-
führen als hier am Platze ist.
1).
In Böotien (wie sonst namentlich in Thessalien) ist die Bezeich-
nung des Todten als ἥρως, welche immer eine höhere Auffassung seines
Geisterdaseins ausdrückt, besonders häufig auf Grabsteinen anzutreffen.
Hiervon Genaueres weiter unten. Die Inschriften sind meist jungen
Datums. Aber schon im 5. Jahrhundert (allenfalls Anfang des 4.) war
Heroisirung gewöhnlicher Todten in Theben verbreitete Sitte, auf die
Platon der Komiker im „Menelaos“ anspielte: τί οὐκ ἀπήγξω, ἵνα Θήβησιν
ἥρως γένῃ; (Zenob. 6, 17 u. a. Mit der thebanischen Sitte, Selbstmördern
die Todtenehren zu verweigern, bringen die Paroemiographen Platons
Wort unpassend und gegen dessen Absicht in Verbindung. Treffend ur-
theilt Keil, Syll. inscr. Boeot. p. 153.)
2).
Bei den epizephyrischen Lokrern ὀδύρεσϑαι οὐκ ἔστιν ἐπὶ τοῖς τελευ-
τήσασιν, ἀλλ̕ ἐπειδὰν ἐκκομίσωσιν, ἐυωχοῦνται. Ps. heraclid. polit. 30, 2. Bei
den Einwohnern von Keos legen die Männer keine Trauerzeichen an;
die Frauen freilich trauern um einen jung gestorbenen Sohn ein Jahr
lang. Ders. 9, 4 (s. Welcker, Kl. Schr. 2, 502). Die nach athenischem Muster
erlassene Leichenordnung von Iulis lässt allerdings bei dem Volke eher
eine Neigung zu ausschweifender Trauerbezeigung voraussetzen.
1).
Z. B. Isaeus 2, 47: βοηϑήσατε καὶ ἡμῖν καὶ ἐκείνῳ τῷ ἐν Ἅιδου
ὄντι
. Genau genommen kann dem zum Hades Abgeschiedenen Niemand
mehr βοηϑεῖν. Solche Widersprüche zwischen einem Todtencult im Hause
oder am Grabe und der Vorstellung des Abscheidens der Seelen in ein
unzugängliches Jenseits bleiben wenigen Völkern erspart: sie entstehen
aus dem Nebeneinanderbestehen von Vorstellungen verschiedener Phan-
tasierichtungen (und eigentlich verschiedener Culturstufen) über diese
dunkelen Gebiete. Eine naive Volkstheologie hilft sich wohl aus solchem
Widerspruch, indem sie dem Menschen zwei Seelen zuschreibt, eine, die
zum Hades geht, während die andere bei dem entseelten Leibe bleibt
und die Opfer der Familie geniesst (so nordamerikan. Indianer: Müller,
Gesch. d. amerikan. Urrel. 66; vgl. Tylor, Primit. cult. 1, 392). Diese
zwei Seelen sind Geschöpfe zweier in Wahrheit einander aufhebender
Vorstellungskreise.
2).
idne testamento cavebit is, qui nobis quasi oraculum ediderit,
nihil post mortem ad nos pertinere?
Cicero de finib. 2, 102. — Uebrigens
1).
Orakel bei Demosth. 43, 66 (vgl. 67): τοῖς ἀποφϑιμένοις ἐν ἱκνου-
μένᾳ ἁμέρᾳ (ἐν ταῖς καϑηκούσαις ἡμέραις § 67) τελεῖν τοὺς καϑήκοντας καττἀ
ἁγημένα. — τὰ ἁγημένα = τὰ νομιζόμενα „das Gebräuchliche“ (Buttmann,
Ausf. Gramm. § 113 A. 7, 2 p. 84 Lob.).
2).
Befragung, bei Todtenopfern, des ἐξηγητής: Isaeus 8, 39; der
2).
scheint auch Theophrast eine Bestimmung über regelmässige Feier seines
Gedächtnisses (durch die Genossen des Peripatos?) getroffen zu haben.
Harpocr. 139, 4 ff: μήποτε δὲ ὕστερον νενόμισται τὸ ἐπὶ τιμῇ τινὰς τῶν ἀπο-
ϑανόντων
συνιέναι καὶ ὀργεῶνας ὁμοίως ὠνομάσϑαι · ὡς ἔστι συνιδεῖν ἐκ
τῶν
Θεοφράστου διαϑηκῶν. Das bei Laert. Diog. erhaltene Testament des
Th. schweigt hiervon.
1).
Dass schon bei Homer der Kreis der ἀγχιστεῖς (im Sinne des
attischen Gesetzes) zur Blutrache berufen ist, mag aus inneren Gründen
glaublich sein, nachweisen lässt es sich aus homerischen Beispielen nicht.
Nicht ganz genau sind Leists Zusammenstellungen, Graecoital. Rechts-
gesch.
p. 42. Es kommt vor: der Vater als berufener Rächer des Sohnes,
der Sohn als Rächer des Vaters, der Bruder als der des Bruders (Od.
3, 307; Il. 9, 632 f.; Od. 24, 434), einmal sind Bluträcher κρσίγνητοί τε
ἔται τε des Erschlagenen: Od. 15, 273. ἔται ist ein sehr weiter Begriff,
nicht einmal auf Verwandtschaft beschränkt, jedenfalls nicht = Vettern
(ἔται καὶ ἀνεψιοί neben einander Il. 9, 464).
2).
ἐξηγηταί (die genaue Anweisung und Rath geben): [Demosth.] 47, 68 ff.
Harpocrat. s. ἐξηγητής · ἔστι δὲ καὶ ἃ (viell. ὅτε τὰ) πρὸς τοὺς κατοιχο-
μένους νομιζόμενα ἐξηγοῦντο τοῖς δεομένοις. Timaeus lex. Plat. ἐξηγηταί ·
τρεῖς γίνονται πυϑόχρηστοι (dies anders als wörtlich, dahin also, dass das
Collegium der πυϑόχρ. ἐξηγ. aus drei Mitgliedern bestand, zu verstehen,
ist kein Grund: s. R. Schöll, Hermes 22, 564), οἷς μέλει καϑαίρειν τοὺς
ἄγει τινὶ ἐνισχηϑέντας. Die Reinigung der ἐναγεῖς berührt sich nahe mit
dem eigentlichen Seelencult. Freilich kamen Vorschriften zu solchen
Reinigungen auch ἐν τοῖς τῶν Εὐπατριδῶν (so Müller, Aesch. Eum. 163,
A. 20) πατρίοις vor: Ath. 9, 410 A, und so mag auch das Collegium der
ἐξ Εὐπατριδῶν ἐξηγηταί in solchen Fällen Bescheid gegeben haben: das
hindert nicht, die Angabe des Timäos in Betreff der ἐξεγ. πυϑόχρηστοι
für richtig zu halten. (Sühnungen sind nicht allein, wiewohl vorzüglich,
dem Apollinischen Cult eigen.)
1).
Flucht und zwar ἀειφυγία, wegen φόνος ἀκούσιος: Il. 23, 85 ff. (der
Fliehende wird ϑεράπων des ihn in der Fremde Aufnehmenden: v. 90;
vgl. 15, 431 f.; das wird die Regel gewesen sein). — Flucht wegen φόνος
ἑκούσιος (λοχησάμενος 268) Od. 13, 259 ff. Und so öfter.
2).
Il. 9, 632 ff.: καὶ μέν τίς τε κασιγνήτοιο φονῆος ποινὴν ἢ οὗ παιδὸς
ἐδέξατο τεϑνηῶτος · καί ῥ̕ ὁ μὲν ἐν δήμῳ μένει αὐτοῦ πόλλ̕ ἀποτίσας, τοῦ δὲ
τ̕ ἐρητύεται κραδίη καί ϑυμὸς ἀγήνωρ ποινὴν δεξαμένου. Hier ist sehr
deutlich ausgesprochen, dass es nur darauf ankommt, des Empfängers der
ποινή „Herz und Gemüth“ zu beschwichtigen; von dem Erschlagenen ist
nicht die Rede.
3).
Sehr wohl denkbar ist, dass die ποινή (wie K. O. Müller, Aesch.
Eum.
145 andeutet) entstanden sein möge aus einer Substituirung eines
stellvertretenden Opferthieres an Stelle des eigentlich dem Todten als
Opfer verfallenen Mörders: wie so vielfach alte Menschenopfer durch
Thieropfer ersetzt worden sind. Dann gieng ursprünglich auch die ποινή
noch den Ermordeten an. Aber in homerischer Zeit wird nur noch an
1).
Wir wissen sehr wenig Einzelnes hiervon. In Sparta οἱ γέροντες
(δικάζουσι) τἀς φονικὰς (δίκας) Aristot. Polit. 3, 1 p. 1275b, 10 (ebenso in
Korinth: Diod. 16, 65, 6 ff.). Auf unfreiwilligem Todtschlag stand Ver-
bannung, und zwar (strenger als in Athen), wie es scheint, auf immer.
Der Spartiate Drakontios, im Heere der Zehntausend dienend, ἔφυγε παῖς
ὢν οἴκοϑεν παῖδα ἄκων κατακανὼν (also wie Patroklos, Il. 23) ξυήλῃ πατάξας.
Xen. Anab. 4, 8, 25. Zeitweilige Verbannung musste längst abgelaufen
sein. — In Kyme Spuren von gerichtlicher Verfolgung des Mordes
(mit Zeugen): Aristot. Pol. 2, 8, p. 1269 a, 1 ff. — In Chalkis ἐπὶ Θράκῃ
galten Gesetze des Androdamas aus Rhegion περί τε τὰ φονικὰ καὶ τὰς
ἐπικλήρους, Aristot. Polit. 2, 12, p. 1274 b, 23 ff. — In Lokri Gesetze
3).
die Abfindung des lebenden Rächers gedacht. — Auf keinen Fall ist in
der Möglichkeit, Blutrache abzukaufen, die Folge einer Milderung alter
Wildheit der Rache durch den Staat zu erkennen. Der Staat hat hier
nichts gemildert, denn er kümmert sich bei Homer überhaupt um die
Behandlung von Mordfällen gar nicht. Ob die stipulirte ποινή entrichtet
worden ist oder nicht, darüber kann ein Gericht stattfinden (Il. 18,
497 ff.), so gut wie über jedes συμβόλαιον; die Verfolgung der Mörder
und ihre Modalitäten bleiben völlig der Familie des Ermordeten über-
lassen.
1).
Von dem Umirren der βιαιοϑάνατοι ist weiter unten genauer zu
reden. Einstweilen sei verwiesen auf Aeschylus, Eumen. 98, wo die noch
ungerächte Seele der erschlagenen Klytaemnestra klagt: αἰσχρῶς ἀλῶμαι.
Und altem Glauben entsprechend sagt ein später Zeuge (Porphyr. abst. 2,
47): τῶν ἀνϑρώπων αἱ τῶν βίᾳ ἀποϑανόντων (ψυχαὶ) κατέχονται πρὸς τῷ σώ-
ματι, gleich den Seelen der ἄταφοι.
2).
In homerischer Zeit wird der gekränkte Todte dem Uebelthäter
ein ϑεῶν μήνιμα (Il. 22, 358, Od. 11, 73); nach dem Glauben der späteren
Zeit zürnt die Seele des Ermordeten selbst, ängstigt und verfolgt den
1).
des Zaleukos, angeschlossen an kretische, spartanische und Areopagitische
Satzungen: das letztere doch ohne Zweifel im Blutrecht, das also staatlich
geregelt war. (Strabo 6, 260, nach Ephorus.)
2).
Mörder und drängt ihn aus ihrem Bereich: ὁ ϑανατωϑεὶς ϑυμοῦται τῷ δρά-
σαντι κτλ. Plato Leg. 9, 865 D. E., mit Berufung auf παλαιόν τινα τῶν
ἀρχαίων μύϑων λεγόμενον. Vgl. Xenoph. Cyrop. 8, 7, 18. Aeschyl. Choeph.
39 ff. 323 ff. Entzieht sich der zur Rache berufene nächste Verwandte
des Ermordeten seiner Pflicht, so wendet sich gegen diesen der Groll des
Todten: Plato Leg. 9, 866 B: — τοῦ παϑόντος προςτρεπομένου τὴν πάϑην.
Die zürnende Seele wird zum προςτρόπαιος. προςτρόπαιος heisst wohl
nur abgeleiteter Weise ein, des Todten sich annehmender δαίμων (im be-
sondern Ζεὺς προςτρόπαιος); eigentlich ist dies die Bezeichnung der Rache
heischenden Seele selbst. So bei Antiphon Tetral. 1 γ, 10: ἡμῖν δὲ
προςτρόπαιος ὁ ἀποϑανὼν οὐκ ἔσται; 3 δ, 10: ὁ ἀποκτείνας (vielmehr ὁ
τεϑνηκὼς) τοῖς αἰτίοις προςτρόπαιος ἔσται. So auch Aeschyl. Choeph. 287:
ἐκ προςτροπαίων ἐν γένει πεπτωκότων. Etym. M. 42, 7: Ἠριγόνην, ἀναρτή-
σασαν ἑαυτήν, προςτρόπαιον τοῖς Ἀϑηναίοις γενέσϑαι. Man kann aber hier
besonders deutlich wahrnehmen, wie leicht der Uebergang von einer, in
einem besonderen Zustande gedachten Seele zu einem dieser ähnlichen
dämonischen Wesen, das sich ihr unterschiebt, sich vollzieht. Der-
selbe Antiphon redet auch von οἱ τῶν ἀποϑανόντων προςτρόπαιοι, ὁ προς-
τρόπαιος τοῦ ἀποϑανόντος als von einem, von den Todten selbst ver-
schiedenen Wesen (Tetr. 3 α, 4; 3 β, 8); ό Μυρτίλου προςτρόπαιος
Paus. 2, 18, 2 u. s. w. Vgl. Zacher, Dissertat. philol. Halens. III p. 228.
Auch zum ἀραῖος wird der beleidigte Todte selbst: Soph. Trach. 1201 ff.
(vgl. Eurip. I. T. 778. Med. 608), dann an seiner Stelle δαίμονες ἀραῖοι.
— Welche grässliche Plagen die von den dazu Berufenen ungerächte
Seele verhängen kann, malt Aeschylus Choeph. 278 ff. (oder, wie man
meint, ein alter Interpolator des Aeschylus) aus. Auf Geschlechter hinaus
können Krankheiten und Beschwerden schicken solche παλαιὰ μηνίματα
der Todten: Plato Phaedr. 244 D. (s. Lobecks Ausführungen, Aglaoph.
636 f.). Altem Glauben getreu fleht ein Orphischer Hymnus zu den
Titanen: μῆνιν χαλεπὴν ἀποπέμπειν, εἴ τις ἀπὸ χϑονίων προγόνω
οἴκοισι πελάσϑη. (h. 37, 7 f. Vgl. 39, 9. 10).
1).
χρεών ἐστιν ὑπεξελϑεῖν τῷ παϑόντι τὸν δράσαντα τὰς ὥρας
πάσας τοῦ ἐνιαυτοῦ, καὶ ἐρημῶσαι πάντας τοὺς οἰκείους τόπους ξυμπάσης τῆς
πατρίδος. Plato Leg. 9, 865 E. Das Gesetz gebietet den des Mordes
schuldig Erkannten εἴργειν μὲν τῆς τοῦ παϑόντος πατρίδος, κτείνειν δὲ οὐχ
ὅσιον ἁπανταχοῦ Demosth. 23, 38.
2).
Eines Bürgers; ebenso beabsichtigter Mord eines Nichtbürgers.
S. M. und Sch. Att. Proc.2 p. 379 A. 520. — Wo das Bürgerthum einer
Stadt auf Eroberung beruhte, mochte das Leben der unterworfenen alten
Landesbewohner noch geringer im Preise stehen. In Tralles (Karien)
konnte der Mord eines Lelegers durch einen der (argivischen) Vollbürger
durch Entrichtung eines Scheffels Erbsen (also eine rein symbolische
ποινή) an die Verwandten des Ermordeten abgekauft werden. Plut. Q.
Gr. 46.
3).
Nach Ablauf der gesetzlich bestimmten Frist der Verbannung
scheinen die Verwandten des Getödteten αἴδεσις nicht versagen gedurft
zu haben. S. Philippi, Areop. u. Epheten 115 f.
4).
Gesetz bei Demosth. 43, 57.
1).
Demosth. 37, 59. S. Philippi a. O. p. 144 ff. — Vgl. Eurip.
Hippol. 1429 f.; 1436; 1443 ff.
2).
Ein solches Verbot, ποινή von einem Mörder zu nehmen, spricht
das Gesetz bei Demosth. Aristocrat. 28 aus: τοὺς δ̕ ἀνδροφόνους ἐξεῖναι
ἀποκτείνειν — — λυμαίνεσϑαι δὲ μή, μηδὲ ἀποινᾶν (vgl. § 33: τὸ δὲ μηδ̕
ἀποινᾶν · μὴ χρήματα πράττειν, τὰ γὰρ ἄποινα χρήματα ὠνόμαζον οἱ παλαιοί).
Dass dennoch Todtschlag mit Geld abgekauft werden durfte, schlossen
Meier u. A. ganz mit Unrecht aus dem bei Pseudodemosth. g. Theocrin. 29
1).
Dass freilich die ἱεροποιοὶ ταῖς Σεμναῖς ϑεαῖς (drei aus allen Athenern
gewählte: Demosth. 21, 115; andremale zehn: Dinarch bei Et. M. 469,
12 ff., unbestimmter Zahl: Phot. s. ἱεροποιοί) aus allen Athenern von
dem areopagitischen Rathe erwählt worden seien, ist der geringen Au-
torität der Schol. Demosth. p. 607, 16 ff. nicht zu glauben. Nach allen
Analogien wird man glauben müssen, dass diese Wahl durch die Volks-
versammlung vollzogen wurde.
2).
αἱ διωμοσίαι καὶ τὰ τόμια: Antiphon caed. Herod. 88. Genauer
Demosth. Aristocr. 67. 68. Die Schwörenden riefen die Σεμναὶ ϑεαί und
andere Götter an: Dinarch. adv. Demosth. 47. Beide Parteien hatten in
2).
erwähnten gesetzwidrigen Vorgang, der eher das Gegentheil beweist (s.
Philippi Ar. u. Eph. 148). Etwas mehr Schein hat es, wenn sie sich
berufen auf Harpocration (Phot.; Suid.; Etym. M. 784, 26; Bekk. anecd.
313, 5 ff.) s. ὑποφόνια · τὰ ἐπὶ φόνῳ διδόμενα χρήματα τοῖς οἰκείοις τοῦ
φονευϑέντος, ἵνα μὴ ἐπεξίωσιν. Hieraus entnimmt Hermann, Gr. Staats-
alt.
5 104, 6: „dass auch vorsätzlicher Todtschlag fortwährend abgekauft
werden konnte“. Von φόνος ἑκούσιος im besonderen wird nichts gesagt;
und ob die bei Todtschlag vorkommenden ὑποφόνια gesetzlich zuge-
lassen
waren, davon erfahren wir ebenfalls nichts, es bleibt ebenso mög-
lich und ist der Sachlage nach viel wahrscheinlicher, dass Dinarch und
Theophrast an den bei Harpocr. angeführten Stellen der ὑποφόνια als im
Gesetz verbotener, wiewohl dennoch vielleicht einzeln thatsächlich
angewendeter Praktiken erwähnt hatten. Hätten wir nur die Glosse des
Suidas ἄποινα · λύτρα, ἃ δίδωσί τις ὑπὲρ φόνου ἢ σώματος. οὕτως Σόλων
ἐν νόμοις, so könnte man mit gleichem Rechte, wie aus Harp. s. ὑπο-
φόνια, schliessen, dass solches Abkaufgeld bei Mordthaten in Athen er-
laubt, in Solons Gesetzen als erlaubt erwähnt war. Dass die Gesetze der
ἄποινα und des ἀποινᾶν als verboten erwähnten, ersehen wir aus der
angeführten Stelle des Demosthenes, 23, 28. 33, aus welcher die Glosse
wohl hergeleitet ist.
1).
Pollux 8, 117: καϑ̕ ἕκαστον δὲ μὴνα τριῶν ἡμερῶν ἐδίκαζον (die
Richter am Areopag) ἐφεξῆς, τετάρτῃ φϑίνοντος, τρίτῃ, δευτέρᾳ.
2).
οἱ Ἀρεοπαγῖται τρεῖς που τοῦ μηνὸς ἡμέρας τὰς φονικὰς δίκας ἐδί-
καζον, ἑκάστῃ τῶν ϑεῶν μίαν ἡμέραν ἀπονέμοντες: Schol. Aeschin. 1, 188
p. 282 Sch. Wobei freilich vorausgesetzt wird, dass die (zuerst bei
Eurip. nachweisbare, von diesem aber jedenfalls nicht frei erdachte) Be-
grenzung der Zahl der Erinyen auf drei (und nicht etwa zwei) im öffent-
lichen Cultus der Stadt gegolten habe. — Weil jene drei Tage den Eu-
meniden, als Hadesgewalten, heilig waren, galten sie als ἀποφράδες ἡμέραι:
Etym. M. 131, 16 f. Etym. Gud. 70, 5.
3).
Paus. 1, 28, 6.
2).
Bezug auf das Materielle der Streitfrage die Richtigkeit ihrer Behauptung
zu beschwören (s. Philippi, Areop. u. Ephet. p. 87—95). Als Beweis-
mittel
konnte ein solcher obligatorischer Doppeleid freilich nicht die-
nen, bei welchem nothwendiger Weise eine Partei meineidig gewesen
sein musste. Dies kann auch den Athenern nicht entgangen sein, und
man thut ihnen sicherlich Unrecht, wenn man diese singuläre Art vor-
gängiger Vereidigung einfach damit nicht erklärt, sondern abthut, dass
man sich darauf beruft, die Athener seien eben „kein Rechtsvolk“ ge-
wesen (so Philippi 88). Es ist vielmehr zu vermuthen, dass diesem, mit
ungewöhnlicher Feierlichkeit umgebenen Doppeleid gar kein juristischer,
sondern lediglich ein religiöser Werth beigemessen wurde. Der Schwörende
gelobt, in furchtbarer Selbstverfluchung, falls er meineidig werde, αὑτὸν
καὶ γένος καὶ οἰκίαν τὴν αὑτοῦ (Antiph. c. Her. 11) den Fluchgöttinnen,
den Ἀραί oder Ἐρινύες, αἵϑ̕ ὑπὸ γαῖαν ἀνϑρώπους τίνυνται, ὅτις κ̕ ἐπίορκον
ὀμόσσῃ (Il. 19, 259 f.) und den Göttern, die seine Kinder und sein ganzes
Geschlecht auf Erden strafen sollen (Lycurg. Leokr. 79). Findet das Ge-
richt den Meineidigen aus, so trifft ihn zu der Strafe wegen seiner That
(oder, ist er der Kläger, dem Misslingen seines Vorhabens) noch oben-
drein das göttliche Gericht wegen seines Meineides (vgl. Demosth.
Aristocr. 68). Aber das Gericht kann ja auch irren, den Meineid nicht
entdecken, — dann bleibt immer noch der Meineidige den Göttern ver-
fallen, denen er sich gelobt hat. Sie irren nicht. So steht der Doppel-
eid neben der gerichtlichen Untersuchung, die göttliche Strafe neben
der menschlichen, mit der sie zusammenfallen kann, aber nicht noth-
wendig muss; und die Strafe trifft dann jedenfalls auch den Schuldigen.
Der Eid bildet (als Berufung an einen höheren Richter) eine Ergänzung
des menschlichen Gerichts, oder das Gericht eine Ergänzung des Eides:
denn in dieser Vereinigung dürfte der Eid der ältere Bestandtheil sein.
1).
Die Erinyen sind die Anklägerinnen des Orestes nicht nur in der
Dichtung des Aeschylus (und darnach bei Euripides, Iph. Taur. 940 ff.),
sondern auch nach der, aus anderen Quellen geflossenen Darstellung
(in der die 12 Götter als Richter gelten) bei Demosthenes, Aristocrat. 66
(vgl. 74, und Dinarch. adv. Demosth. 87).
2).
Es ist Art der Erinyen ἀπὸ ζῶντος ῥοφεῖν ἐρυϑρὸν ἐκ μελέων πέ-
λανον Aesch. Eum. 264 f., vgl. 183 f.; 302; 305. Sie gleichen hierin völlig
den „Vampyrn“, von denen Sagen namentlich slavischer Völker erzählen,
den Tii der Polynesier u. s. w. Aber dies sind aus dem Grabe wieder-
kehrende, blutsaugende Seelen.
3).
Die Erinyen zu Orestes: ἐμοὶ τραφείς τε καὶ καϑιερωμένος. καὶ ζῶν
με δαίσεις οὐδὲ πρὸς βωμῷ σφαγείς. Aesch. Eum. 304 f. Der Mutter-
mörder ist divis parentum (d. h. ihren Manes) sacer, ihr Opferthier (ϑῦμα
καταχϑονίου Διός Dionys. ant. 2, 10, 3), auch nach altgriechischem Glauben.
1).
S. Anhang 16.
2).
Dass bei φόνος ἀκούσιος, nach geschehener αἴδεσις der Verwandten
des Todten, der Thäter sowohl der Reinigung als der Sühnung (des καϑαρ-
μός und des ἱλασμός) bedurfte, deutet Demosthenes, Aristocr. 72. 73
durch den Doppelausdruck ϑῦσαι καὶ καϑαρϑῆναι, ὁσιοῦν καὶ καϑαίρεσϑαι
an. (Vgl. Müller, Aesch. Eum. p. 144).
3).
S. Philippi, Areop. u. Eph. 62.
1).
Es fehlen in Ilias und Odyssee nicht nur alle Beispiele von Mord-
reinigung, sondern auch die Voraussetzungen für eine solche. Der Mör-
der verkehrt frei, und ohne dass von ihm ausgehendes μίασμα befürchtet
wird, unter den Menschen. So namentlich in dem Falle des Theokly-
menos, Od. 15, 571—287. Dies hebt mit Recht Lobeck hervor, Agla-
oph.
301. K. O. Müllers Versuche, Mordreinigung dennoch als Sitte
homerischer Zeit nachzuweisen, sind misslungen. S. Nägelsbach, Hom.
Theol.
2 p. 293. — Aelteste Beispiele von Mordreinigung in der Litteratur
(s. Lobeck 309): Reinigung des Achill vom Blute des Thersites in der
Αἰϑιοπίς p. 33 Kink.; Weigerung des Neleus, den Herakles vom Morde
des Iphitos zu reinigen: Hesiod ἐν καταλόγοις, Schol. Il. B 336. — My-
thische Beispiele von Mordreinigung in späteren Berichten: Lobeck, Agl.
968. 969.
2).
Z. B. Darbringung von Kuchen, Opferguss einer weinlosen Spende,
Verbrennung der Opfergabe: so bei dem (dort vom καϑαρμός deutlich
unterschiedenen) ἱλασμός in der Schilderung des Apoll. Rhod. Arg. 4,
712 ff. Aehnlich (weinlose Spende u. s. w.) in dem, uneigentlich καϑαρ-
μός (466) genannten ἱλασμός der Eumeniden zu Kolonos, den der Chor
dem Oedipus anräth, Soph. O. C. 469 ff. Von den Sühnopfern darf
Niemand essen: Porphyr. abst. 2, 44. Sie werden ganz verbrannt: s.
Stengel, Jahrb. f. Phil. 1883 p. 369 ff. — Erzklang wird angewendet
πρὸς πᾶσαν ἀφοσίωσιν καὶ ἀποκάϑαρσιν: Apollodor. fr. 36 (so auch bei
Hekateopfern: Theokrit. 2, 36; zur Abwehr von Gespenstern: Lucian,
1).
Ueber den chthonischen Charakter der Sühnegötter s. im All-
gemeinen K. O. Müller, Aesch. Eum. p. 139 ff. Voran steht hier Ζεὺς
μειλίχιος, der ganz unverkennbar ein χϑόνιος ist. Daher, gleich allen
χϑόνιοι, man ihn als Schlange gestaltet darstellte, so auf den im Piraeus
gefundenen Weihetafeln an Z. μειλ. (sicher den athenischen, und nicht
irgend einen fremden, mit dem allen Athenern aus dem Diasienfeste wohl-
bekannten Zeus Meilichios identificirten Gott): bull. de corresp. hellén. 7,
507 ff.; C. I. A. 2, 1578 ff. Verbunden mit der chthonischen Hekate auf
einer Weihung aus Larisa: Διὶ Μειλιχίῳ καὶ Ἐνοδίᾳ. Bull. 13, 392. Andere
ϑεοὶ μειλίχιοι in Lokris mit nächtlichen Opfern verehrt (wie stets die
Unterirdischen): Paus. 10, 38, 8. Dann die ἀποτρόπαιοι: welcher Art diese
sind, lässt sich schon darnach vermuthen, dass sie mit den Todten und
der Hekate zusammen am 30. Monatstag verehrt wurden; s. oben S. 215.
Nach einem bösen Traum opfert man den ἀποτρόπαιοι, der Ge und den
Heroen: Hippocrat. de insomn. II p. 10 K. Ein χϑόνιος wird auch Ζεὺς
ἀποτρόπαιος sein, neben dem freilich eine Ἀϑηνᾶ ἀποτροπαία (wie sonst
Apollon ἀποτρ.) erscheint (Ins. von Erythrä, Dittenb. Syll. 370, 69. 115):
die Competenzen der Ολύμπιοι und die der χϑόνιοι werden nicht immer
streng getrennt gehalten. — Alt und erblich war der Dienst der Sühn-
götter in dem attischen Geschlecht der Phytaliden, die einst den Theseus
vom Morde des Skiron u. A. reinigten und entsühnten (ἁγνίσαντες καὶ μει-
λίχια ϑύσαντες): Plut. Thes. 12. Die Götter, denen dieses Geschlecht
opferte, waren χϑόνιοι, Demeter und Zeus Meilichios: Paus. 1, 37, 2. 4.
— Eine deutliche Unterscheidung zwischen den ϑεοὶ Ὀλύμπιοι und den
Göttern, denen man nur einen abwehrenden Cult, ἀποπομπάς, widmet, und
das sind eben die Sühnegötter (ἀποδιοπομπεῖσϑαι bei Sühnungen; ἀπο-
πομπαῖοι ϑεοί: Apollodor bei Harpocr. s. ἀποπομπάς), macht Isokrates 5,
117 (ἀποπομπή böser Dämonen, im Gegensatz zu ἐπιπομπή eben solcher:
Anon. de virib. herb. 22. 165. S. Hemsterhus. Lucian. Bipont. II p. 255)
2).
Philops. 15; Schol. Theocr. 2, 36; Tzetz. Lyc. 77. Apotropaïscher Sinn
des Erzgetönes auch im Tanz der Kureten u. s. w.). — Die Sühn-
gebräuche waren vielfach beeinflusst durch fremde Superstition, phrygische,
lydische. Ihre eigentliche Wurzel hatten sie im kretischen Dienst des
(chthonischen) Zeus. Von dort scheinen sie sich, unter Mitwirkung
des delphischen Apollonorakels, über Griechenland verbreitet zu haben.
Daher auch das Opferthier des Ζεὺς χϑόνιος, der Widder, das vor-
nehmste Sühnopfer bildet, sein Fell als Διὸς κώδιον die Sühnungsmittel
aufnimmt u. s. w.
1).
So in der Schilderung des ἱλασμός der Medea durch Kirke bei
Apollon. Rhod. Argon. 4, 712 ff.
2).
K. O. Müller, Dorier 1, 204. 322. — Derselbe alte Brauch
neunjähriger Flucht und Busse für Menschentödtung in der Legende
und dem Cult des Zeus Lykaios: vgl. H. D. Müller, Mythol. d. gr.
St.
2, 105.
3).
Choeph. 1055 — 1060. Eumen. 237 ff. 281 ff. 445 ff. 470.
4).
Das Delphinion, die Gerichtsstätte für φόνος δίκαιος, der alte
Wohnplatz des Aegeus (Plut. Thes. 12) war zugleich (und wohl ursprüng-
lich) eine Entsühnungsstätte: Theseus liess sich dort von seinen Blut-
thaten an den Pallantiden und den Wegelagerern entsühnen (ἀφοσιούμενος
τὸ ἄγος Pollux 8, 119).
5).
Plutarch. de sera num. vind. 17 p. 560 E. F. Man beachte die
Ausdrücke: ἱλάσασϑαι τὴν τοῦ Ἀρχιλόχου ψυχήν, ἱλάσασϑαι τὴν Παυ-
σανίου ψυχήν. Suidas s. Ἀρχίλοχος, aus Aelian: μειλίξασϑαι τὴν τοῦ
Τελεσικλείου παιδὸς ψυχήν, καὶ πραῧναι χοαῖς.
1).
Die drei ἐξηγηταὶ πυϑόχρηστοι, οἷς μέλει καϑαίρειν τοὺς ἄγει τινὶ
ἐνισχηϑέντας Timaeus lex. Pl. p. 109 R.
2).
Plato Leg. 9, 865 B: der Thäter eines φόνος ἀκούσιος (besonderer
Art) καϑαρϑεὶς κατὰ τὸν ἐκ Δελφῶν κομισϑέντα περὶ τούτων νόμον ἔστω
καϑαρός.
3).
Ich stelle aus den Reden und (ihrer Aechtheit nach völlig unver-
dächtigen) Tetralogien des Antiphon die Aussagen zusammen, die über
die bei Mordprocessen zu Grunde liegenden religiösen Vorstellungen Licht
geben. — Betheiligt an der Verfolgung der Mörder sind: ὁ τεϑνεώς, οἱ
νόμοι und ϑεοὶ οἱ κάτω: or. 1, 31. Daher heisst die Anstrengung des Pro-
cesses von Seiten der Verwandten des Todten βοηϑεῖν τῷ τεϑνεῶτι:
1, 31. Tetr. 1 β, 13. Die Verurtheilung des Mörders ist τιμωρία τῷ ἀδι-
κηϑέντι, ganz eigentlich Rache: or. 5, 58 = 6, 6. Die klagenden Ver-
wandten stehen vor Gericht als Vertreter des Todten, ἀντὶ τοῦ παϑόντος
ἐπισκήπτομεν ὑμῖν — sagen sie zu den Richtern, Tetr. 3 γ, 7. Auf ihnen
lastet mit der Pflicht der Klage das ἀσέβημα der Blutthat, bis sie gesühnt
ist: Tetr. 1 α, 3. Aber das μίασμα der Blutthat befleckt die ganze Stadt,
der Mörder verunreinigt durch seine blosse Gegenwart alle, die mit ihm
an Einem Tische sitzen, unter Einem Dache leben, die Heiligthümer, die
3).
er betritt; daher kommen ἀφορίαι und δυστυχεῖς πράξεις über die Stadt.
Die Richter haben das dringendste Interesse, durch sühnendes Gericht
diese Befleckung abzuwenden. S. Tetr. 1 α, 10. Orat. 5, 11. 82. Tetr.
1 α, 3; 1 γ, 9. 11; 3 γ, 6. 7. Es kommt aber darauf an, den wirklichen
Thäter auszufinden und zu bestrafen. Wird von Seiten der Verwandten
des Ermordeten ein anderer als der Thäter gerichtlich verfolgt, so trifft
sie, nicht die etwa den Unrechten verurtheilenden Richter der Groll des
Todten und der Rachegeister: Tetr. 1 α, 3; 3 α, 4; 3 δ, 10; denn dem
Ermordeten ist auf diese Weise seine τιμωρία nicht zu Theil geworden:
Tetr. 3 α, 4. Auf ungerechte Zeugen und Richter fällt aber doch auch
ein μίασμα, welches sie dann in ihre eigenen Häuser einschleppen: Tetr.
3 α, 3; wenigstens bei falscher Verurtheilung, nicht bei falscher Frei-
sprechung (vgl. or. 5, 91) des Angeklagten trifft sie nach Tetr. 3 β, 8 τὸ
μήνιμα τῶν ἀλιτηρίων — nämlich des ungerecht Verurtheilten (während
der Ermordete sich immer noch an seine Verwandten hält). Bei wissent-
lich
ungerechter Freisprechung des Mörders wird der Ermordete dem
Richter, nicht seinen Verwandten, ἐνϑύμιος. Tetr. 1 γ, 10. — Als der-
jenige, von welchem der Groll ausgeht, wird bezeichnet der Todte selbst:
προςτρόπαιος ὁ ἀποϑανών. Tetr. 1 γ, 10; ebenso 3 δ, 10. Dort steht diesem
parallel: τὸ μήνιμα τῶν ἀλιτηρίων. Der Gemordete hinterlässt τὴν τῶν
ἀλιτηρίων δυσμένειαν (und diese — nicht, wie Neuere bisweilen sich vor-
stellen, irgend eine „sittliche“ Befleckung ist, wie dort ganz deutlich
gesagt wird, das μίασμα: τὴν τῶν ἀλ. δυσμένειαν, ἣν — — μίασμα — εἰςά-
γονται): Tetr. 3 α, 3. Vgl. noch 3 β, 8; 3 γ, 7. Hier schieben sich statt
der Seele des Todten selbst Rachegeister unter (ebenso, wenn von einem
προςτρόπαιος τοῦ ἀποϑανόντος die Rede ist: s. oben S. 241). Die προςτρό-
παιοι τῶν ἀποϑανόντων werden selbst zu δεινοὶ ἀλιτήριοι der säumigen Ver-
wandten: Tetr. 3 α, 4. Zwischen beiden ist kein wesentlicher Unterschied
(vgl. Pollux 5, 131). Anderswo ist doch wieder von τὸ προςτρόπαιον, als
Eigenschaft, Stimmung des Ermordeten selbst, die Rede: Tetr. 2 δ, 9
So wechselt auch: ἐνϑύμιος ὁ ἀποϑανών (1 γ, 10) und τὸ ἐνϑύμιον (2 α, 2;
2 δ, 9). In diesem Vorstellungskreis bedeutet offenbar ἐνϑύμιον (als fest-
geprägter Ausdruck für solche Superstitionen) das zürnende Gedenken,
das Racheverlangen des Ermordeten. (— ἐνϑύμιον ἔστω Δάματρος καὶ Κούρας.
Collitz, Dialektins. 3541, 8.) Man wird sich dieses Wortes erinnern, um
zu erklären, inwiefern die den Todten und der Hekate hingestellten Mahle,
auch die (hiermit fast identischen) Reinigungsopfer, die man nach ge-
schehener religiöser Reinigung des Hauses auf die Dreiwege warf, ὀξυϑύμια
hiessen (Harpocrat. s. v. Phot. s. ὀξυϑ. Art. 1. 2. 3. Bekk. anecd. 287,
24; 288, 7; Etym. M. 626, 44 ff.). Sie sind bestimmt, den leicht ge-
neigten Zorn der Seelen (und ihrer Herrin Hekate), ihr ὀξύϑυμον, eine
Steigerung des ἐνϑύμιον, durch apotropäische Opfer zu beschwichtigen.
1).
Der Mörder schneidet dem Ermordeten einzelne Glieder ab und
hängt sie sich (so die besseren Quellen; nicht: dem Ermordeten) um den
Nacken, an einer Schnur aufgereiht, die er unter den Achseln durchzieht:
daher man das Ganze μασχαλίζειν nennt. Der grässliche Brauch muss
gewöhnlich und allbekannt gewesen sein, sonst hätten die Zuschauer nicht
das kurze: ἐμασχαλίσϑη verstanden, mit dem Aeschylus sich begnügt, um
eine solche Vornahme der Klytämnestra an dem ermordeten Agamemnon
anzudeuten: Choeph. 439. Darnach denn dasselbe bei Sophokles, El. 445
(vgl. Soph. ἐν Τρωίλῳ [fr. 566 N.], bei Suid. s. ἐμασχαλίσϑη. Bei Suid.
wird zu schreiben sein: πλήρη μασχαλισμάτων εἴρηκε τὸν τράχηλον
[μασχαλισμόν, mit begreiflichem Versehen, die Hss.]). Genauere Beschrei-
bungen des μασχαλισμός geben Schol. Soph. El. 445, Aristoph. Byz.
bei Phot. (Suid.) s. μασχαλίσματα. Bei Apollon. Rhod. Argon. 4, 477
heisst es von Iason, der den Apsyrtos getödtet hat: ἀπάργματα τάμνε
ϑανόντος (ἀπάργματα ist ein, von der Analogie der Opferthiere genommenes,
Wort für diese μασχαλίσματα; auch ἀκρωτηριάσματα. S. Schol. Apoll.;
vollständiger im Etym. M. 118, 22 ff. Ein dritter Name war τόμια: Hesych.
s. v.). Der Zweck der Verstümmelung des Todten kann kein anderer
gewesen sein, als der, ihn auf diese Weise ἀσϑενῆ πρὸς τὸ ἀντιτίσασϑαι τὸν
φονέα zu machen, wie Schol. Soph. El. 445 angiebt (ὑπὲρ τοῦ τὴν μῆνιν
τοῦ ϑανόντος ἐκκλίνειν, sagt zweideutig Aristoph.). Verstümmelungen des
Leibes übertragen sich auf die ausfahrende ψυχή: das ist eine auch dem
Homer nicht fremde Vorstellung (vgl. z. B. Od. 11, 40 ff.). Der grie-
chische Mörder calculirt also nicht anders als der Australneger, der dem
getödteten Feind den Daumen der rechten Hand abschneidet, damit seine
Seele den Speer nicht mehr fassen könne (Spencer, Princ. d. Sociol.
p. 239). In Athen trug man beim Begräbniss eines Ermordeten, dem
ein Rächer aus der Verwandtschaft fehlte, einen Speer der Leiche voran,
und pflanzte diesen dann auf das Grab ([Demosth.] 47, 69. Eurip. Troad.
1137 f. Poll. 8, 65. Ister bei Etym. M. 354, 33 ff. Bekk. anecd. 237, 30 f.).
Der Zweck kann kaum ein anderer gewesen sein, als der, den Ermor-
deten selbst (da Niemand ihm βοηϑεῖ) aufzufordern, mit der Waffe sich
zu rächen. So pflanzte man bei den Tasmaniern einen Speer dem Todten
auf das Grab, damit er eine Waffe im Kampfe habe (Quatrefages, Hommes
fossiles et h. sauv.
p. 346). — Das Umhängen des eigenen Nackens mit
einer Kette abgeschnittener Glieder erinnert an das im Alterthum sehr
übliche Behängen des Nackens der Kinder mit apotropäisch wirkenden
Gegenständen. Sollte die ψυχή des Ermordeten zurückgeschreckt werden
durch solche von seinem eigenen Leibe genommene προβασκάνια? — Bei Soph.
1).
Xenoph. Cyrop. 8, 7, 17 ff.: οὐ γὰρ δήπου τοῦτό γε σαφῶς δοκεῖτς
εἰδέναι, ὡς οὐδέν εἰμι ἐγὼ ἔτι, ἐπειδὰν τοῦ ἀνϑρωπίνου βίου τελευτήσω · οὐδὲ
γὰρ νῦν τοι τήν γ̕ ἐμὴν ψυχὴν ἑωρᾶτε — — — τὰς δὲ τῶν ἄδικα παϑόντων
1).
El. 446 wischt die Mörderin auch das blutige Mordinstrument an dem
Haupte des Gemordeten ab; Mörder thaten das, ὥσπερ ἀποτροπιαζόμενοι τὸ
μύσος τὸ ἐν τῷ φόνῳ (Schol.). Auf die Sitte spielen Stellen der Odyssee, des
Herodot und Demosthenes an (s. Nauck zu Soph.); ihr Sinn wird doch wohl
gleichkommen einem: εἰς κεφαλὴν σοί, das Blut wird dem Gemordeten
selbst aufgebürdet. Aehnlichen Zweck hat es, wenn bei Apollon. Rhod.
Arg. 4, 477 f. Iason dreimal dem Apsyrtos Blut aussaugt und dieses
dreimal von sich speit — ἣ ϑέμις αὐϑέντῃσι δολοκτασίας ἱλέασϑαι. Drei-
maliges Ausspeien gehört stets zum Zauber und Gegenzauber; hier wird
das Blut des Ermordeten und damit die dämonische Wirkung des aus
dem Blute aufsteigenden Fluches durch das Fortspeien abgewendet. —
Aber welches „Naturvolk“ hat primitivere Vorstellungen und handgreif-
lichere Symbolik als in diesen Fällen der griechische Pöbel, und vielleicht
nicht allein der Pöbel, des fünften (und dann auch des dritten) Jahr-
hunderts!
1).
ψυχὰς οὔπω κατενοήσατε, οἵους μὲν φόβους τοῖς μιαιφόνοις ἐμβάλλουσιν, οἵους
δὲ παλαμναίους (bedeutet den Frevler, dann aber auch, und so hier, den
Frevel rächenden Strafgeist, ganz wie προςτρόπαιος, ἀλιτήριος, ἀλάστωρ,
μιάστωρ. S. K. Zacher, Dissert. philol. Halens. 3, 232 ff.) τοῖς ἀνοσίοις
ἐπιπέμπουσι; τοῖς δὲ φϑιμένοις τὰς τιμὰς διαμένειν ἔτι ἂν δοκεῖτε, εἰ μηδενὸς
αὺτῶν αἱ ψυχαὶ κύριαι ἦσαν; οὔτοι ἔγωγε, ὦ παῖδες, οὐδὲ τοῦτο πώποτε ἐπείσ-
ϑην, ὡς ἡ ψυχή, ἕως μὲν ἂν ἐν ϑνητῷ σώματι ἦ, ζῇ, ὅταν δὲ τούτου ἀπαλ-
λαγῇ, τέϑνηκεν. Es folgen noch andere populäre Argumente für die An-
nahme der Unsterblichkeit der Seele.
1).
V. 271 ff. (Demeter spricht:) ἀλλ̕ ἄγε μοι νηόν τε μέγαν καὶ βωμὸν
ὑπ̕ αὐτῷ τευχόντων πᾶς δῆμος ὑπαὶ πόλιν αἰπύ τε τεῖχος, Καλλιχόρου
καϑύπερϑεν, ἐπὶ προὔχοντι κολωνῷ . ὄργια δ̛ αὐτὴ ἐγὼν ὑποϑήσομαι,
ὡς ἂν ἔπειτα εὐαγέως ἔρδοντες ἐμὸν μένος ἱλάσκησϑε. Die Erbauung des
Tempels: 298 ff., und darnach die Anweisung zur δρησμοσύνη ἱερῶν und
den ὄργια durch die Göttin 474 ff.
1).
S. Lobeck, Aglaoph. 272 ff.
2).
V. 487 ff. — Mit der Zurückweisung der mannichfachen Athetesen,
mit denen man diese Schlusspartie des Hymnus heimgesucht hat, halte
ich mich nicht auf. Keine von allen scheint mir berechtigt.
1).
κατὰ τὰ πάτρια καὶ τὴν μαντείαν τὴν ἐκ Δελφῶν: Z. 5; 26 f.; 35
(Dittenberger, Syll. inscr. gr. 13). — In Sicilien schon zur Zeit des
Epicharm die Eleusinien allbekannt: Epich. ἐν Ὀδυσσεῖ αὐτομόλῳ bei
Athen. 9, 374 D. Etym. M. 255, 2. Vgl. K. O. Müller, Kl. Schr. 2, 259.
2).
Bestimmt behaupten können wir dies eigentlich nur von den Eu-
molpiden, die den Hierophanten und die Hierophantin stellten: bei allem
Schwanken des, von genealogischer Combination und Fiction arg mitge-
nommenen Stammbaumes dieses Geschlechts kann doch an seinem eleu-
sinischen
Ursprung kein Zweifel sein. Dagegen ist auffallend, dass von
den im hymn. Cer. 475. 6 neben Eumolpos als Theilnehmer an der von
der Göttin selbst gespendeten Belehrung genannten eleusinischen Fürsten:
Triptolemos, Diokles, Keleos sich keine γένη ableiteten, deren Betheiligung
an der Verwaltung der eleus. Mysterien gewiss wäre. Von Triptolemos
leiteten sich zwar die Krokoniden und die Koironiden her, aber deren
Betheiligung an dem Weihefest ist dunkel und zweifelhaft (s. K. O. Müller,
Kl. Schr. 2, 255 f.). Die Keryken (in deren Geschlecht die Würden des
Daduchen, des Mysterienherolds, des Priesters ἐπὶ βωμῷ u. a. erblich
waren) bringt nur eine von dem Geschlecht selbst abgewiesene apokryphe
Genealogie mit Eumolpos in Verbindung (Paus. 1, 38, 3), sie selbst leiten
ihren Ursprung von Hermes und Herse, der Tochter des Kekrops ab
(s. Dittenberger, Hermes 20, 2), wollen also offenbar ein athenisches
Geschlecht sein. Wir wissen von der Entwicklung dieser Verhältnisse viel
zu wenig, um die Richtigkeit dieser Behauptung leugnen zu dürfen (wozu
Müller a. O. 250 f. geneigt ist). Nichts hindert zu glauben, dass bei und
nach der Vereinigung von Eleusis und seinen Götterdiensten mit Athen,
wie ersichtlich sonst Vieles, auch dies geneuert wurde, dass zu den alt-
eleusinischen Priestergeschlechtern das athenische Geschlecht der Keryken
trat und an der δρησμοσύνη ἱερῶν regelmässig betheiligt wurde. Dies
wäre dann ein Theil des Compromisses (συνϑῆκαι, Paus. 2, 14, 2)
zwischen Eleusis und Athen, auf dem ja das ganze Verhältniss beider
Staaten und ihrer Culte zu einander beruhte.
1).
S. oben S. 195, 3.
2).
Unklar ist, in welcher Weise die Göttin Daeira an den Eleu-
sinien betheiligt war: dass sie es war, muss man namentlich daraus
schliessen, dass unter den priesterlichen Beamten des Festes ausdrücklich
der δαειρίτης mit aufgezählt wird (Poll. 1, 35). Sie stand in einem
gewissen Gegensatz zur Demeter; wenn sie trotzdem von Aeschylus u. A.
der Persephone gleichgesetzt wird (s. K. O. Müller, Kl. Schr. 2, 288), so
darf man dem wohl nichts weiter entnehmen, als dass auch sie eine
chthonische Gottheit war. Und dafür sprechen alle Anzeichen. Nach den,
bei Eustath. zu Il. Z 378 aus Lexicographen zusammengeschriebenen
Notizen machte sie Pherekydes zur Schwester der Styx (nicht Pherek.,
sondern der deutelnde Gelehrte, dem Eust. seine Notiz verdankt, meint,
die Daeira bedeute den Alten die ύγρά φύσις, ebenso nach οἱ περὶ τελετὰς
καὶ μυστήρια Ael. Dionys. im Lexicon, Eust. 648, 41. Das ist eine werth-
lose allegorische Auslegung) — eben darum Einige zur Tochter des Okeanos
(s. Müller, a. O. 244. 288) — τινὲς δὲ φύλακα Περσεφόνης ὑπὸ Πλούτωνος
ἀποδειχϑῆναί φασι τὴν Δάειραν (648, 40). Darnach ein Hadesdämon, dem
Aïdoneus die Gattin bewachend (vgl. die bewachenden Κωκυτοῦ περίδρομοι
κύνες bei Arist. Ran. 472, nach Euripides). Hiernach begriffe man die Feind-
schaft der Demeter. Kam diese Daeira auch als Figur in dem eleusinischen
δρᾶμα μυστικόν vor? — Zur Hekate, die in hymn. Cer. (und auf Vasen-
bildern) der Demeter vielmehr behülflich ist, macht sie Apoll. Rhod.
1).
Ἴακχος (dort von Διόνυσος deutlich unterschieden), τῆς Δήμητρος δαί-
μων, heisst ὁ ἀρχηγέτης τῶν μυστηρίων bei Strabo 10, 468 (vgl. Ar. Ran. 398 f.).
2).
Das Ἰακχεῖον (Plut. Aristid. 27. Alciphron. epist. 3, 59, 1).
3).
Kam in den Mysterienaufführungen auch die Geburt des Iakchos
vor? Man könnte es vermuthen nach dem, was Hippolyt. ref. haeres. 5, 8
p. 115 Mill. mittheilt: dass der Hierophant νυκτὸς ἐν Ἐλευσῖνι ὑπὸ πολλῷ
πυρὶ τελῶν τὰ μυστήρια βοᾷ καὶ κέκραγε λέγων · ἱερὸν ἔτεκε πότνια κοῦρον Βριμὼ
βριμόν. Freilich ist aber diese, wie die meisten der, aus Nachrichten
älterer Zeit nicht zu bestätigenden Mittheilungen christlicher Schriftsteller
über Mysterienwesen höchstens als für die Zeit des Berichterstatters
gültig zuzulassen. (Gleich daneben steht bei Hippolytus die wunderliche
Angabe, dass der Hierophant εὐνουχισμένος διὰ κωνείου sei. Hiervon weiss
z. B. Epictet. dissert. 3, 21, 16 nichts, sondern nur von der [wohl auf die
Zeit des Festes und seiner Vorbereitung beschränkten] ἁγνεία des Hiero-
phanten. Wohl aber redet von dem cicutae sorbitione castrari des Hiero-
phanten Hieronymus adv. Jovin. 1, 49 p. 320 C Vall.)
1).
Ueber die Orphische Lehre ist weiter unten zu reden Gelegenheit.
Hier will ich nur dies beiläufig hervorheben, dass selbst die Vorstellung
der Alten nicht dahin ging, dass Orpheus, der Grossmeister aller mög-
lichen Mystik, mit den Eleusinien im Besonderen etwas zu schaffen habe:
wie Lobeck, Aglaoph. 239 ff. nachweist.
2).
An der Zulassung von Sklaven zu den eleusinischen Weihen
zweifelte, im Gegensatz zu Lobeck (Agl. 19), K. O. Müller, Kl. Schr.
2, 56, wesentlich deswegen, weil auf der grossen, auf die Ordnung der
Eleusinien bezüglichen Inschrift (jetzt C. I. A. I, 1) neben den μύσται
καὶ ἐπόπται auch die ἀκόλουϑοι (nicht auch die δοῦλοι: diese einzufügen
lässt der Umfang der Lücke nicht zu: Suppl. C. I. A. I p. 4), d. h.
wohl die Sklaven der Mysten, die also nicht selbst Mysten sind, erwähnt
werden. Aber auch wenn Sklaven eingeweiht waren, kann es daneben
noch ungeweihte, nicht den μύσται zuzurechnende ἀκόλουϑοι der μύσται
gegeben haben. Bestimmt heisst es auf der eleusinischen Baukosten-
urkunde aus dem J. 329/8, C. I. A. II 834 b, col. 2, 71: μύησις δυοῖν
τῶν δημοσίων (der am Bau beschäftigten Staatssklaven) Δ Δ Δ (vgl. Z. 68).
Sonach wird es nicht nöthig sein, bei dem Kom. Theophilus (in Schol.
Dion. Thr. p. 724), wo Einer redet von seinem ἀγαπητὸς δεσπότης, durch
1).
Isokrates, Paneg. 28: Δήμητρος γὰρ ἀφικομένης εἰς τὴν χώραν —
καὶ δούσης δωρεὰς διττὰς, αἵπερ μέγισται τυγχάνουσιν οὖσαι, τούς τε καρποὺς
καὶ τὴν τελετήν, — — οὕτως ἡ πόλις ἡμῶν οὐ μόνον ϑεοφιλῶς ἀλλὰ καὶ
φιλανϑρώπως ἔσχεν, ὥστε κυρία γενομένη τοσούτων ἀγαϑῶν οὐκ ἐφϑόνησε τοῖς
ἄλλοις, ἀλλ̕ ὧν ἔλαβεν ἅπασι (allen Griechen meint er: s. § 157) μετέ-
δωκεν.
2).
μυεῖν δ̛ εἶναι τοῖς οὖσι Κηρύκων καὶ Εὐμολπιδῶν, bestimmt das
Gesetz C. I. A. I 1 (genauer Supplem. p. 3 f.) Z. 110. 111. Die μύησις
stand also ausschliesslich den Mitgliedern (aber sämmtlichen, auch den
nicht als Beamten an der jedesmaligen Feier betheiligten Mitgliedern)
der γένη der Eumolpiden und Keryken zu. (Vgl. Dittenberger, Hermes
20, 31 f.) Die bei Lobeck, Agl. 28 ff. gesammelten Beispiele von μύησις
widersprechen diesem Gesetze nicht: in dem Falle des Lysias, der die
Hetäre Metaneira ὑπέσχετο μυήσειν ([Demosth.] 59, 21), ist μυεῖν nur von
dem „Bezahlen der Kosten für die Einweihung“ zu verstehen (völlig
richtig urtheilte schon K. O. Müller, Recens. des Aglaoph., Kl. Schr.
2, 56). So auch bei Theophilus, com. III 626 Mein.: ἐμυήϑην ϑεοῖς
(durch, d. h. auf Kosten meines Herrn).
2).
den er ἐμυήϑη ϑεοῖς, an einen Freigelassenen zu denken (mit Meineke,
Comic. III 626), statt an einen Sklaven. — Die Liberalität war um so
grösser, da sonst von manchen der heiligsten Götterfeiern Athens Sklaven
ausdrücklich ausgeschlossen waren: vgl. Philo, q. omn. prob. lib. 20 p. 468 M.,
Casaubonus zu Athen. vol. 12 p. 495 Schw.
1).
Die πρόρρησις des Basileus, auch die Verkündigung des Hiero-
phanten und Daduchen schloss alle ἀνδροφόνοι von der Theilnahme an
den Mysterien aus: s. Lobeck, Agl. 15. Diese waren freilich auch von
allen anderen gottesdienstlichen Handlungen ausgeschlossen: Lobeck 17.
Auch τοῖς ἐν αἰτίᾳ befiehlt der Archon ἀπέχεσϑαι μυστηρίων καὶ τῶν ἄλλων
νομίμων (Pollux 8, 90): in der That war der des Mordes Angeklagte von
allen νόμιμα ausgeschlossen: Antiphon π. τοῦ χορ. § 36 (Bekk. anecd.
310, 8: schr. νομίμων).
2].
ὅσιοι μύσται Aristoph. Ran. 335. (So werden auch die Mysten der
Orphischen Mysterien οἱ ὅσιοι genannt: Plato Rep. 2, 363 C. Orph. hymn.
84, 3.) Wahrscheinlich steht ὅσιος hier in seinem ursprünglichen Sinne =
„rein“ (ὅσιαι χεῖρες u. dgl.). τὰς ὁσίους ἁγιστείας der eleusinischen Mysten
erwähnt Pseudoplaton, Axioch. 371 D. So wird ὁσιοῦν gebraucht von
ritualer Reinigung und Sühnung: den Mord φυγαῖσιν ὁσιοῦν Eurip. Orest.
508; den zurückkehrenden Todtschläger ὁσιοῦν, Demosth. Aristocrat. 73
(von der bakchischen Mysterienweihe: βάκχος ἐκλήϑην ὁσιωϑείς Eurip. fr.
472, 15). Bedenklich wäre es, wenn man annähme, die Mysten hätten
sich ὅσιοι genannt als die einzig Frommen und Gerechten (so ja freilich
sonst ὅσιος ἄνϑρωπος u. dgl.). Soweit ging ihr geistlicher Hochmuth
schwerlich, ja, im Grunde schrieben sie sich so viel eigenes Verdienst
gar nicht zu.
3).
Wie es scheint in einer feierlichen Verkündigung des Keryx: der
1).
τὰ μυστήρια ποιεῖν: Andocides de myst. 11. 12. — Der deutlicher
bezeichnende Ausdruck ἐξορχεῖσϑαι τὰ μυστήρια scheint nicht vor Aristides,
Lucian und dessen Nachahmer Alciphron nachweisbar zu sein. — Pseu-
dolysias adv. Andoc. 51: οὗτος ἐνδὺς στολήν, μιμούμενος τὰ ἱερὰ ἐπεδείκνυε
τοῖς ἀμυήτοις καὶ εἶπε τῇ φωνῇ τὰ ἀπόρρητα. Die ausgesprochenen ἀπόρ-
ρητα sind wohl die vom Hierophanten zu sprechenden heiligen Formeln.
2).
Wenigstens in späterer Zeit gab es viel zu hören: εἰς ἐφάμιλλον
κατέστη ταῖς ἀκοαῖς τὰ ὁρώμενα. Aristid. Eleusin. I 415 Dind. Mehrfach
ist von den schönen Stimmen der Hierophanten die Rede, von ὕμνοι, die
erschallten u. s. w.
3).
nach Sopater, διαίρ. ζητημ. (Walz, Rhet. gr. 8, 118, 24 f.) δημοσίᾳ ἐπι-
τάττει τὴν σιωπήν, beim Beginn der heiligen Handlungen.
1).
Die berühmten Aussagen des Pindar, Sophokles, Isokrates, Krina-
goras, Cicero u. s. w. stellt zusammen Lobeck, Agl. 69 ff. An Isokrates
(4, 28) anklingend Aristides, Eleusin. I 421 Dind.: ἀλλὰ μὴν τό γε κέρδος
τῆς πανηγύρεως οὐχ ὅσον ἡ παροῦσα εὐϑυμία — — ἀλλὰ καὶ περὶ τῆς τε-
λευτῆς ἡδίους ἔχειν τὰς ἐλπίδας. Derselbe, Panath. I 302: — τὰς ἀρρή-
τους τελετὰς ὧν τοῖς μετασχοῦσι καὶ μετὰ τὴν τοῦ βίου τελευτὴν βελτίω τὰ
πράγματα γίγνεσϑαι δοκεῖ. — Vgl. auch Welckers Zusammenstellung, Gr.
Götterl.
2, 519 ff., in der freilich vieles eingemischt ist, was mit den
Eleusinien keinen Zusammenhang hat.
1).
In der Zeit der lebendigen Religion und den Kreisen, die von
dieser sich die reine Empfindung bewahrt hatten. Denn freilich die alle-
gorisirende Mythendeutung gelehrter Kreise hatte schon im Alterthum
εἰς πνεύματα καὶ ῥεύματα καὶ σπόρους καὶ ἀρότους καὶ πάϑη γῆς καὶ μετα-
βολὰς ὡρῶν die Götter und die göttlichen Geschichten umgesetzt und auf-
gelöst, wie Plutarch, de Is. et Osir. 66 klagt. Diese Allegoriker, von
Anaxagoras und Metrodor an, sind die wahren Vorväter unserer Natur-
mythologen; aber doch giebt Jedermann zu, dass aus ihren Deutungen
lediglich gelernt werden kann, was der wahre Sinn griechischen Götter-
glaubens nun einmal sicherlich nicht war. Es ist doch beachtenswerth,
dass Prodikos, weil er ἥλιον καὶ σελήνην καὶ ποταμοὺς καὶ λειμῶνας καὶ
καρποὺς καὶ πᾶν τὸ τοιουτῶδες für die wahren Wesenheiten der griechischen
Götter ausgab, zu den ἄϑεοι gerechnet wird (Sext. Empir. math. 9, 51.
52). Quam tandem religionem reliquit? fragt mit Bezug auf diesen an-
tiken Propheten der „Naturreligion“ der Grieche, dem Cicero, nat. d.
1, 118 nachspricht. — Den antiken Allegorikern ist denn auch Persephone
nichts als τὸ διὰ τῶν καρπῶν φερόμενον πνεῦμα (so Kleanthes: Plut. a. a. O.);
nach Varro „bedeutet“ Persephone fecunditatem seminum, die bei Miss-
1).
wachs einst Orcus geraubt haben sollte u. s. w. (Augustin. C. D. 7, 20).
Bei Porphyrius ap. Euseb. praep. ev. 3, 11, 7. 9 begegnet sogar schon
die neuerdings wieder zu Ehren gebrachte Aufklärung, dass Κόρη nichts
anderes sei als eine (weibliche) Personificirung von κόρος = Schössling,
Pflanzenspross.
1).
Andeutung einer solchen Auslegung bei Salust. de dis et mundo
c. 4, p. 16 Or.: κατὰ τὴν ἐναντίαν ἰσημερίαν (nämlich die herbstliche)
ἡ τῆς Κόρης ἁρπαγὴ μυϑολογεῖται γενέσϑαι · ὃ δὴ κάϑοδός ἐστι τῶν ψυχῶν.
(Auf dem Standpunkte dieses Neoplatonikers liess sich die Analogie
wenigstens durchführen.) Auch Sopater διαίρ. ζητημ. bei Walz, Rhet. gr.
8, 115, 3 redet davon, dass τὸ τῆς ψυχῆς πρὸς τὸ ϑεῖον συγγενές in den
(eleusinischen) Mysterien bekräftigt werde.
1).
Schon hier sei darauf hingewiesen, dass eine eigentliche Lehre
vom unvergänglichen Leben der Seele des Menschen in der Ueberlieferung
des Alterthums durchaus als ersten unter den Griechen Philosophen, wie
Thales, oder Theosophen, wie Pherekydes (auch Pythagoras) zugeschrieben
wird. In welchem Sinne dies als ganz richtig gelten kann, wird unsere
fortgesetzte Betrachtung lehren. Die Mysterien von Eleusis, aus denen
manche Neuere den griechischen Unsterblichkeitsglauben ableiten möchten,
nennt kein antikes Zeugniss unter den Quellen solches Glaubens oder
solcher Lehre. Und auch dies mit vollstem Rechte.
2).
Sophocl. fr. 753 N.: ὡς τρὶς ὄλβιοι κεῖνοι βροτῶν, οἳ ταῦτα δερχ-
ϑέντες τέλη μόλωσ̕ ἐς Ἅιδου · τοῖσδε γὰρ μόνοις ἐκεῖ ζῆν ἔστι, τοῖς δ̛ ἄλλοισι
πάντ̕ ἐκεῖ κακά.
1).
Drastisch tritt diese Privilegirung der Geweiheten hervor in dem
bekannten Ausbruch des Diogenes: τί λέγεις, ἔφη, κρείττονα μοῖραν ἕξει
Παταικίων ὁ κλέπτης ἀποϑανὼν ἣ Ἐπαμεινώνδας, ὅτι μεμύηται; Plut. de aud.
poet
. 4. Laert. Diog. 6, 39; Julian or. 7, p. 308, 7 ff. Hertl. — Eine homi-
letische Ausführung der Worte des Diogenes bei Philo, de vict. offer. 12,
p. 261 M.: συμβαίνει πολλάκις τῶν μὲν ἀγαϑῶν ἀνδρῶν μηδένα μυεῖσϑαι,
λῃστὰς δὲ ἔστιν ὅτε καὶ καταποντιστὰς καὶ γυναικῶν ϑιάσους βδελυκτῶν καὶ
ἀκολάστων, ἐπὰν ἀργύριον παράσχωσι τοῖς τελοῦσι καὶ ἱεροφαντοῦσιν.
2).
Von dieser Art waren die ἱερά, welche der Hierophant „zeigte“,
und die sonst bei der Feier benutzt wurden; Götterbilder, allerlei Reli-
quien und Geräthe (wie die κίστη und der κάλαϑος: s. O. Jahn, Hermes 3,
327 f.): s. Lobeck, Agl. 51—62.
1).
Von dem wesentlich von anderem griechischem Götterdienst ab-
weichenden Charakter und Sinn der Verehrung der chthonischen Götter
redet (durch K. O. Müller angeregt) namentlich Preller oft und gern.
Beispielsweise in Paulys Realencykl. Art. Eleusis, III p. 108: „Der
Religionskreis, zu welchem der eleusinische Cult gehört, ist der der chtho-
nischen Götter, ein seit der ältesten Zeit in Griechenland heimischer und
viel verbreiteter Cultus, in welchem sich die Ideen von der segnenden
Fruchtbarkeit des mütterlichen Erdbodens und die von der Furchtbarkeit
des Todes, dessen Stätte die Erdtiefe, der alttestamentliche Scheol, zu
sein schien, auf wundersame, ahndungsvolle Weise kreuzen, in einer Weise,
welche von vornherein der klaren bestimmten Auffassung widerstrebte,
und somit von selbst zur mystischen, im Verborgenen andeutenden, sym-
bolisch verschleiernden Darstellung hinführen musste“. — Alles dies und
alle weiteren Ausführungen in gleichem Sinne beruhen auf dem unbeweis-
baren Axiom, dass die Thätigkeit der χϑόνιοι als Ackergötter und als
Götter des Seelenreiches sich „gekreuzt“ habe, die ahnungsvolle Ver-
schwommenheit des Uebrigen ergiebt sich daraus ganz von selbst. Aber
was ist hieran noch griechisch?
2).
— ἡ κρύψις ἡ μυστικὴ τῶν ἱερῶν σεμνοποιεῖ τὸ ϑεῖον, μιμουμένη τὴν
φύσιν αὐτοῦ φεύγουσαν ἡμῶν τὴν αἴσϑησιν. Strabo 10, 467.
1).
Wirklich gehen ja die Umdeutungen der, als Allegorien gefassten
Mysterien bei den Alten weit auseinander: s. Lobeck, Agl. 136—140. —
Auch Galen leiht den Mysterien von Eleusis einen allegorischen Sinn,
meint aber ἀμυδρὰ ἐκεῖνα πρὸς ἔνδειξιν ὧν σπεύδει διδάσκειν. (IV, p. 361 K.)
Das kann von den Ankündigungen seligen Schicksals der Mysten im
Hades nicht gegolten haben.
1).
Solche Verkündigung könnte zu den ἱεροφάντου ῥήσεις (Sopater,
διαίρ. ζητημ., Walz, Rhet. gr. 8, 123, 29. Vgl. Lobeck, Agl. 189) gehören.
2).
S. Lobeck, Agl. 52. 58 f.
3).
Von irgend welcher moralischen Verpflichtung in den Mysterien
und demgemäss moralischer Wirkung der Feier redet eigentlich nur An-
docides, de myst. 31: μεμύησϑε καὶ ἑωράκατε τοῖν ϑεοῖν τὰ ἱερά, ἵνα τιμω-
ρήσητε μὲν τοὺς ἀσεβοῦντας, σώζητε δὲ τοὺς μηδὲν ἀδικοῦντας. Wie das
gemeint ist, bleibt unklar. Bei Aristoph. Ran. 455 ff. steht das ὅσοι
μεμυήμεϑα nur lose neben dem: εὐσεβῆ διήγομεν τρόπον περὶ τοὺς ξένους
3).
καὶ τοὺς ἰδιώτας. (Von den samothrakischen Mysterien Diodor. 5, 49, 6:
γίνεσϑαι δέ φασι καὶ εὐσεβεστέρους καὶ δικαιοτέρους καὶ κατὰ πᾶν βελτίονας
ἑαυτῶν τοὺς τῶν μυστηρίων κοινωνήσαντας: wie es scheint, ohne eigene
Anstrengung, durch bequeme Gnadenwirkung.)
1).
Plutarch (die Hss. fälschlich Themistios) περὶ ψυχῆς bei Stob.
Flor. 120, 28, IV p. 107, 27 ff. Mein. Lucian, Καταπλ. 23.
1).
Paus. 9, 31, 5.
2).
Die Reste bei Kinkel, Fragm. epic. 1, 215 ff. — Diese Μινυάς
hat K. O. Müller, Orchom.2 p. 12 mit der Orphischen κατάβασις εἰς Ἅιδου
identificirt, und dieser Vermuthung hat sogar Lobeck, Agl. 360. 373,
wiewohl zweifelnd, zugestimmt. Sie beruht ganz allein darauf, dass un-
sichere Vermuthung die Orphische κατάβασις nach Clemens dem Prodikos
von Samos, nach Suidas dem Herodikos von Perinth (oder dem Kekrops
oder dem Orpheus von Kamarina) zuschrieb, die Minyas aber, nach
Paus. 4, 33, 7, unsichere Vermuthung einem Prodikos von Phokäa gab.
Müller identificirt erst den Prodikos von Samos mit dem Herodikos von
Perinth, dann beide mit dem Prodikos von Phokäa. Die Berechtigung
dieser Procedur ist nun schon sehr wenig „augenscheinlich“, vollends be-
denklich ist die einzig auf dieser willkürlichen Annahme fussende Iden-
tificirung der Orphischen κατάβασις εἰς ᾅδου mit der Minyas. Soll man
diese (nur mit fingirten und durchweg unhaltbaren Beispielen zu ver-
theidigende) Doppelbenennung eines erzählenden Gedichtes alter Zeit denk-
bar finden, so müsste mindestens doch glaublich nachgewiesen sein, wie der
Name Μινυάς (der in orphischer Litteratur keine Parallele findet, und als
Gegenstand der Dichtung ein Heldenabenteuer mit nur episodisch ein-
gelegter Nekyia vermuthen lässt) einem Gedicht überhaupt gegeben werden
konnte, als dessen vollen Inhalt sein Titel: κατάβασις εἰς Ἅιδου
vollkommen deutlich bezeichnet eine Hadesfahrt — natürlich des Orpheus
selbst (wie auch Lobeck 373 annimmt). Dazu steht Alles, was uns aus
der Nekyia der Minyas mitgetheilt wird, von Orphischer Art und Lehre,
wie sie sich am deutlichsten in einer solchen Vision des Lebens im Jen-
seits kundgeben musste, weit ab. Auch wird nie irgend eine der aus der
Minyas erhaltenen Angaben unter dem Namen des „Orpheus“ irgendwo
mitgetheilt, wie doch sonst mancherlei Höllenmythologie. Und nichts
1).
Hyperides Epitaph. p. 63. 65 (ed. Blass): Leosthenes wird ἐν
Ἅιδου antreffen die Helden des troischen, des Perserkrieges, und so auch
den Harmodios und Aristogeiton. Solche Wendungen sind stereotyp.
Vgl. Plato, Apol. 41 A — C. Epigramm aus Knossos auf einen im
Reiterkampf ausgezeichneten Kreter: Bull. corr. hell. 1889 p. 60 (v. 1. 2
nach Simonides, ep. 99, 3. 4. Bgk.), v. 9, 10: τοὔνεκά σε φϑιμένων καϑ̕
ὁμήγυριν ὁ κλυτὸς Ἅδης ἷσε πολισσούχῳ σύνϑρονον Ἰδομενεῖ.
2).
spricht dafür, dass der in der Minyas die atra atria Ditis Besuchende
Orpheus war: eher könnte man, bei unbefangener Auslegung, aus fr. 1
(Paus. 10, 28, 2) entnehmen, dass Theseus und Peirithoos es waren, deren
Hadesfahrt den Rahmen für die Hadesepisode des Gedichts abgab. Es
besteht mithin nicht der allergeringste Grund, die Minyas dem Kreise
der Orphischen Dichtung zuzurechnen, und, was aus ihrem Inhalt bekannt
ist, als Orphische Mythologeme auszugeben (was auch Lobeck selbst nicht
gethan hat: er kannte dazu Wesen und Sinn des wirklich Orphischen zu
genau).
1).
Kerberos wird genannt zuerst bei Hesiod Th. 311, es ist der-
selbe Hund des Hades, den Homer kennt und unbenannt lässt, ebenso
wie Hes. Th. 769 ff. Nach dieser Darstellung lässt er zwar alle, freund-
lich wedelnd, ein, wer aber wieder aus dem Hades zu entschlüpfen ver-
sucht, den frisst er auf. Dass Kerberos auch die in den Hades Ein-
gehenden schrecke, ist eine Vorstellung, die in späterer Zeit bisweilen
begegnet (in der man wohl gar seinen Namen davon ableitet, dass er τὰς
κῆρας, ὃ δηλοῖ τὰς ψυχάς, ἔχει βοράν: Porphyr. ap. Euseb. pr. ev. 3, 11
p. 110a. u. A.): τῷ Κερβέρῳ διαδάκνεσϑαι fürchten Abergläubige (Plut.
ne p. q. suav. v. sec. Ep. 1105 A; vgl. Virg. A. 6, 401. Apul. met. 1,
15 extr.), ihn zu besänftigen dienen die, den in den Hades Eingehenden
mitgegebenen Honigkuchen (Schol. Ar. Lys. 611. Virg. Aen. 6, 420.
Apul. met. 6, 19). Dass dies alte Vorstellung sei, lässt sich nicht nach-
weisen. Von der μελιτοῦττα für Todte redet Arist. Lys. 601, ohne solchen
Zweck anzudeuten, und an sich ist der Honigkuchen eher als Opfer für
unterirdische Schlangen (wie in der Trophonioshöhle: Arist. Nub. 507)
und als solche erscheinende Geister (daher bei Todtenopfern üblich) denk-
bar denn als Lockmittel für einen Hund. In den Versen des Sophokles
O. C. 1574 ff. findet Löschcke „Aus der Unterwelt“ (Progr. Dorpat 1888)
p. 9 die Vorstellung ausgesprochen, dass es einer Beschwichtigung des,
die ankommenden Seelen bedrohenden Kerberos bedürfe. In Wahrheit
ist dort nichts dergleichen auch nur angedeutet. Die in der überlieferten
Fassung unverständlichen, von Nauck wahrscheinlich richtig emendirten
(δός statt ὅν) und erklärten Worte enthalten eine Bitte des Chors an ein
Kind des Tartaros und der Ge, welches ὁ αἰένυπνος, das soll wohl heissen:
der für immer einschläfernde (nicht: schlafende) genannt wird (den παἰς
Γᾶς καὶ Ταρτάρου von dem αἰένυπνος zu unterscheiden — wie die Scholien
wollen — ist unthunlich). Der αἰένυπνος kann, wie schon die Scholien
bemerkt haben, kaum ein anderer als Thanatos sein (für Hesychos, an
den L. denkt, wäre das ein unbegreifliches Epitheton), der freilich sonst
nie Sohn des Tartaros und der Ge heisst (Hesychos ebensowenig, wohl
aber Typhon und Echidna, auf welche das Beiwort αἰένυπνος nicht passt.
Aber wer nennt ausser Sophokles O. C. 40 die Erinyen Töchter der
Ge und des Skotos?). Ihn bittet der Chor (nach Naucks Herstellung)
dem Oedipus bei seinem Gang in den Hades freie Bahn zu gewähren.
Allerlei Schrecknisse lagen ja auf dem Wege dahin, ὄφεις καὶ ϑηρία
(Arist. Ran. 143 ff., 278 ff. Man erinnere sich auch an Virgil, Aen. 6,
273 ff., 285 ff. u. a.); dass Kerberos zu diesen Schrecknissen gehöre,
1).
Als Volksglauben bezeichnet Agatharchides, de mari Er. p. 115,
14 ff. Müll: τῶν οὐκέτι ὄντων τοὺς τύπους ἐν πορϑμίδι διαπλεῖν, ἔχοντας
Χάρωνα ναύκληρον καὶ κυβερνήτην, ἵνα μὴ καταστραφέντες ἐκ-
φορᾶς ἐπιδέωνται πάλιν
.
2).
Vgl. v. Duhn, Archäol. Zeitung 1885, 19 ff. Jahrb. d. archäol.
Instit
. 2, 240 ff.
3).
Das Fährgeld für Charon (2 Obolen, statt des sonst regelmässig
entrichteten Einen Obols; der Grund ist nicht aufgeklärt) erwähnt zuerst
Aristophanes, Ran. 139. 270. Dass als solches die Münze gelten sollte, die
1).
deutet so wenig, wie z. B. Aristophanes in den „Fröschen“, Sophokles an,
vielmehr hat er ja von ihm V. 1569 ff. in Worten geredet, die Alles
eher als Gefährlichkeit für die Eintretenden bezeichnen. Sophokles also
kann nicht als Zeuge dafür gelten, dass die Griechen sich ihren Kerberos
gedacht hätten nach Art der beiden, die Todten zurückschreckenden
bunten Hunde des indischen Yama. Dass vollends griechische Ueber-
lieferung von zwei Höllenhunden gewusst habe, ist, da brauchbare Zeug-
nisse hiefür ganz fehlen, aus dem von Loeschcke besprochenen Bilde auf
einem Sarkophag aus Klazomenae, das einen nackten Knaben mit einem
Hahn in jeder Hand zwischen zwei (eher spielend als drohend) an-
springenden Hündinnen zeigt, unmöglich zu erschliessen. Das Bild hat
schwerlich mythischen Sinn. Hiermit also lässt sich die alte (schon
von Wilford ausgesprochene) Annahme, dass Κέρβερος nichts sei als einer
der beiden bunten (çabala) Hunde des Yama und eine Erfindung indo-
germanischer Urzeit, nicht stützen. Und im Uebrigen ist sie schlecht
genug gestützt. Vgl. Gruppe, Die griech. Culte und Mythen 1, 113. 114.
3).
man dem Todten zwischen die Zähne klemmte, wird von späteren Autoren
vielfach bezeugt. Die mancherlei Namen, mit denen man diesen Charon-
groschen benannte (καρκάδων [vgl. Lobeck, Prol. Path. 351], κατιτήριον,
δανάκη, schlechtweg ναῦλον: s. Hemsterhus. Lucian. Bipont. 2, 514 ff.), lassen
darauf schliessen, dass man sich gerne mit dieser Vorstellung und der in
ihr liegenden Symbolik beschäftigte. Dennoch kann man zweifeln, ob die
Sitte der Mitgabe eines kleinen Geldstückes wirklich entstanden ist aus
dem Wunsche, dem Todten einen Fährgroschen für den unterirdischen
Fergen mitzugeben; ob die Vorstellung von Charon und seinem Nachen
eine solche, förmlich dogmatische Festigkeit gehabt habe, um eine so
eigenthümliche Sitte aus sich zu erzeugen, scheint doch sehr fraglich.
Die Sitte selbst, jetzt, wie es scheint, in Griechenland fast nur aus Gräbern
späterer Zeit nachweisbar (s. Ross, Archäol. Aufs. 1, 29. 32. 57 Anm.,
Raoul Rochette, Mém. de l’ Inst. de France, Acad. des inscr. XIII p. 665 f.),
muss alt sein (wiewohl nicht älter, als der Gebrauch geprägten Geldes in
Griechenland), und hat sich mit der merkwürdigsten Zähigkeit in vielen
Gegenden des römischen Reiches bis in späte Zeit, ja durch das Mittel-
alter und bis in unsere Zeiten erhalten (vgl. z. B. Maury, La magie et
l’astrol. dans l’antiq
. 158, 2). Dass man sie mit der Dichtung vom Todten-
fährmann witzig in Verbindung brachte, und dass diese einleuchtende
Erklärung der seltsamen Sitte nachträglich zum Volksglauben wurde, ist
leicht verständlich. Die Sitte selbst dürfte man eher in Vergleichung zu
stellen haben mit allerlei Gebräuchen, durch die man vieler Orten die
Todten mit der winzigsten, fast nur symbolischen Gabe beim Begräbniss
und im Grabe abfindet (s. einiges der Art bei Tylor, Primit. cult. 1, 445 ff.).
Parva petunt Manes. pietas pro divite grata est munere. non avidos Styx
habet ima deos
. Der Obol mag kleinster, symbolischer Rest der nach
ältestem Seelenrecht unverkürzt dem Todten mitzugebenden Gesammthabe
desselben sein. τεϑνήξῃ, — ἐκ πολλῶν ὀβολὸν μοῦνον ἐνεγκάμενος: die
Worte des Antiphanes Maced. (Anth. Pal. 11, 168) drücken vielleicht (nur
in sentimentaler Färbung) den ursprünglichen Sinn der Mitgabe des Obols
treffender aus, als die Fabel vom Charongroschen (vgl. Anth. 11, 171, 7;
209, 3). Deutscher Aberglaube sagt: „Todten lege man Geld in den
Mund, so kommen sie, wenn sie einen Schatz verborgen haben, nicht
wieder“ (Grimm, d. Mythol.4 III 441, 207). Deutlich genug scheint hier
die, gewiss alte, Vorstellung durch, dass man durch die Mitgabe eines
Geldstückes dem Verstorbenen seinen Besitz abkaufe.
1).
Aristophanes, Tagenist. fr. 1, 9: διὰ ταῦτα γάρ τοι καὶ καλοῦνται
(οἱ νεκροὶ) μακάριοι · πᾶς γὰρ λέγει τις, ὁ μακαρίτης οἴχεται κτλ. μακαρίτης
war also schon damals ständige und damit ihres vollen Sinnes und
Werthes beraubte Bezeichnung des Verstorbenen, nicht anders als unser
(von den Griechen entlehntes) „selig“. Eigentlich bezeichnet es einen,
dem Leben der μάκαρες ϑεοὶ αἰὲν ἐόντες nahekommenden Zustand. Der
volle Sinn scheint noch durch in der Anrufung des heroisirten Perser-
königs: μακαρίτας ἰσοδαίμων βασιλεύς Aesch. Pcrs. 633 (νῦν δ̕ ἐστὶ μάκαιρα
δαίμων Eur. Alc. 1003). Vgl. auch Xenoph. Agesil. 11, 8: νομίζων τοὺς
εὐκλεῶς τετελευτηκότας μακαρίους. Solche Stellen lassen erkennen, dass
μακαρίτης, μακάριος der Todte nicht etwa κατ̕ ἀντίφρασιν genannt wird,
wie bisweilen χρηστός (Plut. Q. Gr. 5. Auf Grabschriften aber wohl meist
eigentlich gemeint), εὐκρινής (Phot. Suid. s. εὐκρινής). μακαρίτης von jüngst
Verstorbenen bei späteren Schriftstellern nicht selten. S. Ruhnken, Tim.
p. 59. Lehrs, Popul. Aufs.2 p. 344. Dorisch ζαμερίτας: Phot. s. μακα-
ρίτας. Nur scherzhaft kommt μακαρία „die Seligkeit“, das Land der
Seligen, d. i. der Todten, vor in Redensarten wie ἄπαγ̕ ἐς μακαρίαν
(Arist. Eq. 1151), βάλλ̕ ἐς μακαρίαν. So auch ἐς ὀλβίαν. ὡς εἰς μακαρίαν ·
τὸ εἰς ᾅδου. Phot.
1).
Die Strafe des Ixion für seine Undankbarkeit gegen Zeus bestand
nach älterer Sage darin, dass er, an ein geflügeltes Rad gefesselt, durch
die Luft gewirbelt wird. Dass Zeus ihn ἐταρτάρωσεν (Schol. Eurip. Phoen.
1185) muss jüngere oder doch spät durchgedrungene Sagenbildung sein:
nicht vor Apollonius Rhod. 3, 61 f. ist von Ixion im Hades die Rede,
nachher oft. Vgl. Klügmann, Annali dell’ Inst. 1873, p. 93—95 (die
Analogie mit der Strafe des Tantalos und ihrer Verschiebung liegt auf
der Hand. S. Comparetti, Philol. 32, 237).
2).
Aeschyl. Eum. 273 f. Vgl. Supplic. 230 f.
3).
Gorgias cap. 79 ff. (darnach Axioch. 371 B ff. u. a.). Wo Plato
sich dem populären Glauben näher hält, in der Apologie 41 A, spricht er
von den Richtern im Hades, Minos, Rhadamanthys, Aeakos καὶ Τριπτό-
λεμος καὶ ἄλλοι ὅσοι τῶν ἡμιϑέων δίκαιοι ἐγένοντο ἐν τῷ ἑαυτῶν βίῳ so,
dass von einem Gericht über die im Leben begangenen Thaten nichts
gesagt wird, vielmehr man annehmen muss, dass jene ἀληϑῶς δικασταί,
οἵπερ καὶ λέγονται ἐκεῖ δικάζειν eben unter den Todten ihr Richteramt
üben und in deren Streitigkeiten gerecht entscheiden, ganz so wie Minos
in der Nekyia der Odyssee (λ 568—71). Nur die Zahl der dort unten
weiter Richtenden ist vermehrt, sogar in’s Unbestimmte. Dies scheint
3).
der Hergang gewesen zu sein: dass die Andeutung in der Odyssee auf-
gefasst und, bei fortgesetzter Ausgestaltung des Hadesbildes, zunächst
einfach die Anzahl der gleich Minos unter den Todten und über sie
richtenden Heroen der Gerechtigkeit vermehrt wurde. Der vermehrten
Zahl solcher im Hades Richtenden übertrug dann eine (vielleicht nicht
ohne ägyptischen Einfluss) von dem jenseitigen Gericht dichtende philo-
sophisch-poetische Speculation das Gericht über die einst im Leben
begangenen Thaten der in den Hades Gelangenden. — Die Auswahl ist
leicht verständlich. Aeakos, Rhadamanthys und Minos gelten als Vor-
bilder der Gerechtigkeit: Demosth. de cor. 127. Den Minos als Richter
im Hades entnahm man der Odyssee λ 568 ff. Den Rhadamanthys kennt
als unter den lebendig in das Elysion Entrückten wohnend die Odyssee
δ 564. Dort ist er (nicht Richter: es giebt dort nichts zu richten, son-
dern) πάρεδρος des Kronos, nach Pindar Ol. 2, 75. Seit man das Elysion
in den Hades hineinzog (wovon später), findet auch Rh. seine Stelle im
Hades. Sein Ruhm als gerechtester Richter (s. Kratin. Χείρωνες fr. 11
Mein. Plat. Leg. 12, 948 B etc.; vgl. auch Plut. Thes. 16 extr.) liess
ihn leicht neben Minos seine Stelle als Richter über die Todten finden.
Auch Aeakos ist als Vorbild der εὐσέβεια (Isokr. 9, 14 u. A.), als Gesetz-
geber für Aegina, zum Richter in der Unterwelt berufen erschienen.
Aber seine Stellung als Richter war nicht so unbestritten wie die des
Minos und Rhadamanthys. Pindar, so oft er von Aeakos und Aeakiden
redet, deutet nichts an von einer ausgezeichneten Stelle des Aeakos im
Jenseits. Isokrates 9, 15: λέγεται παρὰ Πλούτωνι καὶ Κόρῃ μεγίστας τιμὰς
ἔχων παρεδρεύειν ἐκείνοις. Hier ist nur von Ehrung des A. durch einen
Sitz in der Nähe des Königspaares die Rede (vgl. Pindar, Ol. 2, 75 von
Rhadamanthys; Aristoph. Ran. 765: es ist Gesetz im Hades, dass der beste
Künstler λαμβάνει ϑρόνον τοῦ Πλούτωνος ἑξῆς; Proedria der μύσται im
Hades u. s. w.), nicht von Richteramt. Aeakos gilt als κλειδοῦχος des
Hades (Apollod. 3, 12, 6, 10; Kaibel, epigr. 646, 4), als πυλωρός (wie
sonst Hades selbst: πυλάρτης. Il. Θ 368) bei Lucian (d. mort. 13, 3;
20, 1. 6; 22, 3; de luct. 4; Philopseud. 25) und Philostratus (V. Apoll.
7, 31; p. 285, 32 Ks.). Das Schlüsselamt ist eine (für Aeakos vielleicht
in einem Zusammenhang des ihm gewidmeten Cultus mit chthonischen
Mächten begründete) hohe Auszeichnung: Schlüssel führen viele Götter,
Pluton selbst (Paus. 5, 20, 3) und andere (s. Tafel und Dissen zu Pind.,
Pyth. 8, 4). Es ist schwer zu glauben, dass, dieses eigenthümliche Ehren-
amt dem A. zu geben, eine spätere Erfindung sei als die ziemlich banale
Richterwürde. Wirklich scheint es, dass Euripides im Peirithoos (fr.
591 N.) Aeakos dem Herakles, als dieser in den Hades kam, als Ersten,
also wohl gleich am Thore, begegnen liess, und es lässt sich kaum be-
1].
Plato, Apol. 41 A. Offenbar ist dies attische Dichtung. Plato
nennt zwar den Triptolemos neben Minos und den anderen Richtern; es
scheint aber, dass der Vorstellung der Athener Minos, den bei ihnen
namentlich die Bühne als Landesfeind beschimpfte (s. Plut. Thes. 16),
unter den Vorbildern der Gerechtigkeit unbequem war, und dass sie ihn
durch ihren Triptolemos in der Dreizahl der Richter ersetzen wollten.
So findet sich denn Triptolemos nicht neben dem Minos, sondern an
seiner Stelle auf dem Unterweltsbild der Vase von Altamura (Tript.,
Aeakos, Rhadam.), auf einem analogen Bilde einer Amphora zu Karls-
ruhe (Aeak. Triptol; links abgebrochen wohl Rhadamanthys, nicht Minos.
Vgl. Winkler, Darst. d. Unterwelt auf unterit. Vasen p. 37). Dass übrigens
die drei Gerechten auf jenen Vasenbildern Gericht über die im Leben
begangenen Thaten halten, ist mit nichts angedeutet, ja genau genommen,
überhaupt nichts von richterlicher Thätigkeit. Deutlich ist nur dass sie,
eben als Muster der Gerechtigkeit, ἐπὶ ταῖσι τοῦ Πλούτωνος οἰκοῦσιν ϑύραις
(wie die Mysten bei Aristophanes, Ran. 163), sie geniessen das Recht
der πάρεδροι des Götterpaares, daher sie auch auf ϑρόνοι oder δίφροι
sitzen.
3).
zweifeln, dass es Erinnerung an das Euripideische. Stück war, welche
denjenigen, der gleich am Thor des Pluton dem Herakles begegnet, in
den „Fröschen“ (V. 464) als „Aeakos“ zu benennen bewog zwar nicht
den Aristophanes selbst (s. Hiller, Hermes 8, 455), aber einen belesenen
Grammatiker. Weil die Dichtung vom Schlüsselamt des Aeakos an der
Pforte des Hades alt und durch angesehene Zeugen vertreten war, ist,
trotz Plato, der Glaube an sein Richteramt nie ganz durchgedrungen.
1).
Ar. Ran. 145 ff. 273 ff. „Finsterniss und Schlamm“, σκότος καὶ
βόρβορος als Strafe und Strafort der ἀμύητοι καὶ ἀτέλεστοι stammt aus
Orphischer Lehre: s. Plato, Rep. 2, 363 D; Olympiod. ad Plat. Phaed.
69 C. Ungenau geredet, wird dies Schicksal allen ἀτέλεστοι überhaupt
angedroht: s. Plutarch, π. ψυχῆς bei Stobaeus Flor. 120, 28 (4, 108, 2
Mein.); Aristid. Eleusin. p. 421 Dind.; Plotin. Enn. 1, 6 p. 8 Kirchh. Plotin
deutet gewiss ganz treffend den Grund dieser eigenthümlichen Strafe an:
der Schlamm, in dem die Ungeweiheten stecken, bezeichnet sie als μὴ
κεκαϑαρμένους, der Reinigungen, wie sie die Orphischen Weihen anboten, nicht
theilhaftig Gewordene, die eben darum in ihrem alten Unrath ewig stecken
bleiben (und, wegen ihrer Unkenntniss der ϑεῖα, im Dunkel liegen). Es
ist eine allegorische Strafe, die nur im Gedankenkreise der Orphischen
Kathartik und Sühnung einen Sinn hat. Wenn sie bei Aristophanes auf
Uebertreter der wichtigsten bürgerlich-religiösen Gebote angewendet wird,
für die sie sich gar nicht eignet, so zeigt diese Entlehnung, dass man
eben eine angemessene Hadesstrafe für bürgerliche Vergehen noch nicht
ersonnen hatte. Man hatte sich offenbar begnügt, ganz im Allgemeinen
anzunehmen, dass im Hades die ἀσεβεῖς (oder doch einige besonders
Verruchte unter ihnen) bestraft würden. So redet auch der Verfasser der
ersten Rede gegen Aristogeiton (§ 53) von dem εἰς τοὺς ἀσεβεῖς ὠσϑῆναι
im Hades nur im Allgemeinsten, immerhin schon nach Platon und zu einer
Zeit, in der eschatologische Schreckvorstellungen bereits weiter ver-
breitet waren. — Die μεμυημένοι wohnen im Hades zunächst dem Pallaste
des Pluton selbst: Arist. Ran. 162 f., sie haben dort unten das Vorrecht
der προεδρία: Laert. Diog. 6, 39. Seit man einen χῶρος εὐσεβῶν und einen
χῶρος ἀσεβῶν im Hades unterschied, liess man wohl in dem χ. εὐσεβῶν
die Geweiheten, um ihnen doch noch ihre besondere Bevorzugung zu
belassen, die προεδρία haben. Auf solche Weise sucht z. B. der (schwerlich
vor dem 3. Jahrhundert schreibende) Verf. des Axiochos, p. 371 D die
eigentlich mit einander unvereinbaren Ansprüche der εὐσεβεῖς und der
μεμυημένοι auf Belohnung im Hades auszugleichen.
1).
Sext. Emp. adv. math. 9, 53. Suidas s. Διαγόρας.
2).
Hadesfahrten kamen vor in des Pherekrates Κραπάταλοι; Aristo-
phanes Βάτραχοι, Γηρυτάδης; Pseudopherekrates Μεταλλεῖς; wohl auch in
des Kratinos Τροφώνιος u. s. w.
3).
Schlaraffenland im Hades: s. namentlich Pseudopherekrates Με-
ταλλεῖς fr. I, II. p. 299 ff. Mein. Anlass zu solchen Scherzen gab ver-
muthlich die Orphische Verheissung eines ewigen Rausches für die Ge-
weiheten, bei dem συμπόσιον τῶν δσίων im Hades (Plato, Rep. 2, 363 C.
μακάρων εὐωχία Arist. Ran. 85), die Farben boten die auch in der
Komödie längst üblichen Ausmalungen des Wonnelebens unter Kronos
im goldenen Zeitalter (vgl. Pöschel, Das Märchen vom Schlaraffenland
7 ff.). Das goldene Zeitalter in der Vergangenheit, das Elysium in der
Zukunft hatten von jeher gleiche Farbe und Gestalt. S. oben S. 99, 2.
Aus diesen alten Ausmalungen eines längst verschwundenen oder nur im
Jenseits anzutreffenden Geisterreiches zieht die ganze griechische Litteratur
der Wunschländer (s. meinen Griech. Roman II § 2. 3) ihre Nahrung.
Sie macht im Grunde nur den Versuch, jene alten Phantasmen vom
Seelenlande in das Leben und auf die bewohnte Erde herüberzuziehen.
4).
ἔστι γ̕ εὐδαίμων πόλις παρὰ τὴν ἐρυϑρὰν ϑάλατταν. Aristoph. Av.
144 f. (Vgl. Griech. Roman. 201 ff.).
1).
λίμνη (der Acherusische See: Eurip. Alc. 444 und dann oft), Cha-
ron: V. 137 ff. 182 ff. 184 ff. — σκότος καὶ βόρβορος 144 ff. 279 ff.
289 ff. Aufenthalt und Leben der Mysten: 159. 163. 311 ff. 454 ff.
2).
τὸ Λήϑης πεδίον V. 186. Dies ist die älteste sicher nachweisbare
Erwähnung der Lethe, aber eine so beiläufige, dass man wohl sieht, wie
Aristophanes nur auf eine seinem Publikum wohlbekannte ältere Erfindung
anspielt. Plato verwendet das Λήϑης πεδίον mit dem Ἀμέλης ποταμός (nach-
her 621 C: Λήϑης ποταμός) bei seinem, die Palingenesie erläuternden und
begründenden Mythus am Schluss des „Staates“, 10,621 A. Verwenden
liess sich diese sinnreiche Dichtung für Anhänger der Metempsychosen-
lehre vortrefflich: aber dass sie (wie Manche gemeint haben) zum Behuf
dieser Lehre, also von Orphikern oder Pythagoreern, erfunden sei,
darauf weist nichts hin. Sie soll wohl ursprünglich nichts weiter als die
Bewusstlosigkeit der ἀμενηνὰ κάρηνα sinnbildlich erläutern. Spielt schon
Theognis (704. 705) darauf an: Περσεφόνην — ἥτε βροτοῖς παρέχει λήϑην,
βλάπτουσα νόοιο? Andere Erwähnungen der Λήϑης πύλαι, Λάϑας δόμοι,
des Λήϑης ὕδωρ sind jünger. (Bergks Versicherung: „Die Vorstellung
von dem Quell und Fluss Lethe ist sicher eine alte, volksmässige: jener
Brunnen ist nichts Anderes als der Götterquell: wer aus demselben
trinkt, vergisst alles Leid“ u. s. w. [Opusc. 2, 716] entbehrt jeder that-
sächlichen Begründung.)
1).
So wird man ja wohl die Worte verstehen müssen, mit denen
Pausanias (10, 28, 5), nach seiner albernen Manier, den Vorgang um-
schreibt, statt ihn einfach zu beschreiben.
2).
Paus. 10, 28, 4.
1).
Paus. 10, 31, 9. 11. Der Mythus beruht ersichtlich auf etymo-
logischem Spiele: diejenigen, welche die „Vollendung“ in den heiligen
τέλη versäumt haben, die ἀτελεῖς ἱερῶν (hymn. Cer. 482) müssen im Reich
der Persephone die ziellose Arbeit des Wasserschöpfens in zerbrochenen
Scherben, die Δαναΐδων ὑδρείας ἀτελεῖς (Axioch. 371 E) vollbringen. —
Dass der πίϑος τετρημένος sei, sagt Pausanias wohl nur aus Nachlässigkeit
nicht; es gehört wesentlich zur Sache (Plat. Gorg. 493 B. C., Philetaer.
com. ap. Ath. 14, 633 E, v. 5 u. s. w.). — Die Danaïden sind den
ἀμύητοι bei der Arbeit der Anfüllung des lecken Fasses wohl erst spät
substituirt worden: der Verf. des Axiochos ist für diese Umwandlung
unser ältester Zeuge. Als Grund für solche Bestrafung der Danaïden
wird die Ermordung der Aegyptossöhne im Ehebett angegeben: aber
warum dann gerade diese Strafe? Offenbar wird auch an den Danaos-
töchtern die Nichtvollendung eines wichtigen τέλος durch jene in Ewig-
keit ἀτελεῖς ὑδρεῖαι geahndet. Unvollendet war durch ihre eigne Schuld
ihr Ehebund (auch die Ehe wird ja oft ein τέλος genannt) — wobei
allerdings vorausgesetzt wird, dass ihre That nicht Sühnung und sie selbst
nicht neue Gatten gefunden hatten, sondern etwa gleich nach ihrer
Frevelthat in den Hades gesendet worden waren (vgl. Schol. Eur. Hecub.
886, p. 436, 14 Dind.). Vor der Hochzeit zu sterben, galt im Volke
als grosses Unglück (s. Welcker, Syll. ep.2 p. 49), vielleicht weil dann
kein zum Seelencult Berufener dem Verstorbenen nachblieb. Auf den
Gräbern der ἄγαμοι stellte man eine λουτροφόρος auf, sei es eine παῖς oder
κόρη λουτροφόρος oder ein λουτροφόρος genanntes Gefäss, dergleichen man
in gewissen Vasen ohne Boden wiedererkannt hat (s. Furtwängler,
Samml. Sabouroff, zu Taf. LVIII, LIX). Sollte hiemit ein ähnliches Ge-
schick der ἄγαμοι nach dem Tode angedeutet werden, wie es dann im
Besonderen den Danaïden, als mythischen Vorbildern der ἄγαμοι durch
eigne Schuld, angedichtet wurde, dergestalt, dass zugleich die (doch
vermuthlich ältere) Fabel von dem Fassschöpfen der ἀμύητοι durch die
Danaïdensage verdrängt wurde? — Uebrigens sollen diese vergeblich sich
Abmühenden nicht Abscheu, sondern Mitleid erwecken. Xenoph. Oecon.
7, 40: οὐχ ὁρᾷς, οἱ εἰς τὸν τετρημένον πίϑον ἀντλεῖν λεγόμενοι ὡς οἰκτί-
ρονται,
ὅτι μάτην πονεῖν δοκοῦσι; νὴ Δί̕, ἔφη ἡ γυνή, καὶ γὰρ τλήμονές
εἰσιν, εἰ τοῦτό γε ποιοῦσιν.
1).
Eurynomos, schwarzblauen Leibes, wie eine Schmeissfliege, mit
bleckenden Zähnen, auf einem Geierfell sitzend: Paus. 10, 28, 7. In der
Litteratur scheint seiner nirgends gedacht gewesen zu sein; ob die An-
gabe des Pausanias, dass er ein δαίμων τῶν ἐν Ἅιδου sei, der den Leichen
das Fleisch von den Knochen fresse, mehr als eine Vermuthung ist, bleibt
undeutlich. In der That soll wohl das Geierfell die Natur des darauf
sitzenden Dämons als eine dem Geier verwandte bezeichnen. Dass der
Geier Leichen frisst, haben die Alten oft beobachtet (s. Plut. Romul. 9
etc.: Leemans zu Horapollo p. 177). Welcker (Kl. Schr. 5, 117) sieht
in Eurynomos nichts als „die Verwesung“, also eine lediglich allegorische
Gestalt. Vielmehr dürfte er ein ganz concret gedachter (mit einem eu-
phemistischen Beinamen benannter) Höllengeist sein, nach Art jener
kleineren Höllengeister wie Lamia, Mormo, Gorgyra, Empusa u. s. w.
(von denen unten ein Wort), dem Maler aus irgend einer localen Ueber-
lieferung bekannt. Er frisst den Leichen das Fleisch ab: so nennt ein
spätes Epigramm (Kaibel 647, 16) den Todten λυπρὴν δαῖτα Χάρωνι.
Aber schon bei Sophocles, El. 543: Ἅιδης ἵμερον τέκνων τῶν ἐκείνης ἔσχε
δαίσασϑαι (s. Welcker, Syll. p. 94).
2).
Paus. 10, 28, 3. Vgl. O. Jahn, Hermes 3, 326.
3).
In den Grenzen der epischen Nekyen halten sich wesentlich auch
die Unterweltsbilder auf unteritalischen Vasen des 3. Jahrhunderts. Zu
einigen wenigen Typen der im Hades Büssenden (Sisyphos, Tantalos,
Danaïden) kommen Andeutungen aus den Hadesfahrten des Theseus und
Peirithoos, Herakles, Orpheus hinzu. Alle Ausdeutung in’s Mystisch-
Erbauliche (wie sie noch in Baumeisters Denkm. 1926—1930 angeboten
wird) hält man mit Recht jetzt ganz von diesen Bildern fern. Auf das
Loos der Menschen im Allgemeinen wird mit nichts angespielt. Auch
das, auf der Vase von Canosa links neben Orpheus stehende Elternpaar
3).
mit dem Knaben muss der Sagenwelt angehören. (Dionys und Ariadne,
wie Winkler, Darst. d. Unterw. auf unterit. Vasen 49 meint, kann freilich
das Paar unmöglich darstellen.)
1).
Plat. Phaedr. 265 A.
2).
z. B. Coel. Aurelian. (d. i. Soranus) morb. chron. I § 144 ff., Are-
taeus chron. pass. I 6 p. 84 K.
1).
Selbst die spät eingelegten Stellen, Il. Ξ 325, Od. ω 74 sind nicht
ganz unzweideutig. Sonst gilt entschieden durch beide Gedichte τὸ μὴ
παραδιδόναι Ὅμηρον Διόνυσον οἴνου εὑρετήν. (Schol. Od. ι 198.) Lehrs,
Aristarch.3 p. 181.
2).
Il. Z 132 ff. Als Scene ist offenbar eine bakchische Festfeier ge-
dacht. Dies zeigen die ϑύσϑλα, welche die Διωνύσοιο τιϑῆναι aus den
Händen fallen lassen. Das Uebrige ist dunkel. Wer unter den τιϑῆναι
des Dionys zu verstehen sei, wusste man schon im Alterthum nicht, daher
man umsomehr Namen zur Auswahl anbot (vgl. Nauck, Fr. trag.2 p. 17.
Voigt, Mythol. Lex. 1, 1049). Schwerlich wird man (mit Schol. A zu Z
129) aus der Erwähnung der τιϑῆναι zu schliessen haben, dass D. selbst
als νήπιος ἔτι καὶ παῖς gedacht sei. Seine ehemaligen τιϑῆναι folgen
ihm in bakchischer Feier auch nachdem er herangewachsen ist: ganz wie
hymn. Homer. 26, 3. 7—10. Zu einer Vorstellung des Dionys als λικνίτης
würde auch sein Meersprung (V. 135 ff.) nicht passen und besonders nicht
1).
Il. 22, 460: μεγάροιο διέσσυτο μαινάδι ἴση, παλλομένη κραδίην. Die
Beweiskraft dieser Stelle für die Bekanntschaft homerischer Hörer mit
dem Mänadenwesen (das doch nur, wenn es jedem vor Augen schwebte,
als εἰκών dienen konnte) lässt sich nicht auf die Weise, welche Lobeck
Agl. 285 versucht, beseitigen. μαινάς ist ja eben noch etwas anderes und
Specielleres als μαινομένη (Z 389).
2).
Dass im Cult des Dionys das μαίνεσϑαι das Ursprüngliche
war, der Wein sich erst später dazu gesellte u. s. w., hat bereits im
Jahre 1825, gegen J. H. Voss, O. Müller nachdrücklich hervorgehoben
(Kl. Schr. II 26 ff.). Man fängt aber erst in allerneuester Zeit vereinzelt
an, bei dem Versuch einer genetischen Darstellung der Dionysosreligion
von dieser Einsicht auszugehn: so namentlich Voigt in seiner bemerkens-
werthen Abhandlung über Dionysos in Roschers Myth. Lex. 1, 1029 ff.
3).
ὃς μαίνεσϑαι ἐνάγει ἀνϑρώπους Herodot 4, 79.
4).
z. B. den Odrysen, die doch weiter nördlich am Hebros sassen.
Pomp. Mela II § 18 nennt ausdrücklich die Gebirgszüge des Haemus,
der Rhodope, des Orbelus als sacros Liberi patris et coetu Maenadum
celebratos.
2).
das Beiwort μαινομένοιο (132). Freilich erweckt auch dieses Wort Be-
denken. Offenbar aus den homerischen Versen herausgesponnen und also
für uns werthlos sind die Berichte, in denen Spätere von der Raserei des
Dionys erzählen (schon Eumelos in der Εὐρωπία: Schol. AD. Z 131;
dann Pherekydes, Achaeus ἐν Ἴριδι: Philod. π. εὐσεβ. p. 36 [Nauck,
Fr. trag. p. 751]; Eurip. Cycl. 3. Wesentlich nach Pherek. wohl Apollod.
III 5, 1. Philistus fr. 57; Plato, Leg. 2, 672 B; Nicander, Ὀφιακ. fr. 30 etc.).
Grammatische Erklärer dachten auch wohl an eine Hypallage (μαινομένοιο
= μανιοποιοῦ, βακχείας παρασκευαστικοῦ. Schol. A. Z 132; vgl. Schol. B
p. 182 a, 43 f. Bekk.). Und in der That liegt hier wohl eine mythologische
oder sacrale Hypallage vor: die von dem Gott bewirkte Stimmung seiner
Umgebung (μαινόμενοι Σάτυροι Eur. Bacch. 129; die Ammen des Dionysos
rasend: Nonn. Dion. 9, 38 ff.) schlägt auf ihn selbst zurück. Das wäre nicht
ohne Beispiel (Dionys, als trunkenmachend, selbst trunken dargestellt:
Athen. 10, 428 E. u. a.).
1).
Lobeck, Aglaoph. 289 ff.
2).
Sabazios: Σαβάζιον τὸν Διόνυσον οἱ Θρᾷκες καλοῦσιν. Schol. Ar.
Vesp. 9. Vgl. Schol. Ar. Lys. 388; Diodor. IV 4, 1. Harpocrat. v. Σαβοί;
Alex. Polyh. bei Macrob. Sat. I 18, 11 (Sebadius: vgl. Apul. met. 8, 25
p. 150, 11). Sabos: Phot. (p. 495, 11. 12 Pors.) Hesych. s. v. Orph. hymn.
49, 2 u. s. w. Dass Andere den Sabazios einen phrygischen Gott nennen
können (Amphitheos π. Ἡρακλείαι β. b. Schol. Ar. Av. 874; Strabo X
p. 470; Hesych. s. v.) bestätigt nur die schon von den Alten einmüthig
hervorgehobene nächste Verwandtschaft der Thraker und Phryger. Als
oberster und Allgott der Thraker wird Sab. (den Andere mit dem Helios
identificiren: s. Alex. a. O. Vgl. Sophocl. fr. 523) auch wohl Ζεὺς Σα-
βάζιος genannt (vgl. Val. Max. I 13, 2) bes. auf Inss. (einige bei Rapp,
Dionysoscult [Progr.] p. 21. So noch: Ins. aus dem Piraeeus Ἐφημ. ἀρχ.
1883 p. 245; Ins. v. Pergamon 248, 33. 49; aus Pisidien: Papers of the
Amer. school at Athens
II p. 54, 56. Jovi Sabazio, Orelli inscr. 1259).
So findet man ja sogar Ζεὺς Βάκχος, Ζεὺς Ἥλιος (bull. de corr. hell. 6, 189).
— Der Name Σαβάζιος soll abgeleitet sein von σαβάζειν = εὐάζειν, διἀ
τὸν γενόμενον περὶ αὐτὸν εὐασμόν (ϑειασμόν): Schol. Ar. Av. 874. Lys. 388.
Dann wäre Βάκχος nur eine Umschreibung des gleichen Sinnes:
welchen Namen die Alten ja ebenfalls von βάζειν = εὐάζειν ableiten
(eigentlich wohl von W. Ϝαχ (ἀχέω) Βάκχος [mit Affrication]; reduplicirt
ϜιϜαχος, Ἴακχος, ἰαχέω, ἰακχέω). — Andere Namen des thrakischen
Dionysos sind folgende: Βασσαρεύς (Βάσσαρος Orph. hymn. 45, 2), ab-
geleitet von βασσάρα, dem langen (Fell-?) Gewande der Βασσαρίδες
(Βασσάραι: Et. M. v. Βασσάραι, aus Orion und Schol. Lycophr. 771 compi-
lirt) = Θρᾴκιαι βάκχαι. Bekk. Anecd. 222, 26 f.; Hesych. s. Βασσάραι.
Oder (was der Angabe des Hes. nicht widerspricht) von der Tracht des
Gottes selbst: Schol. Pers. 1, 101. (Der Βασσαρεύς wurde übrigens, wie der
griechische Dionys in ältester Kunst ja ebenfalls, bärtig, ja senili specie
dargestellt. Macrob. Sat. I 18, 9). Hiesse Βασσαρεύς „der mit dem
langen Fuchspelz Bekleidete“, so würde dieser Name stark erinnern an
den des ebenfalls thrakischen Gottes Ζάλμολξις (Ζάλμοξις), der von
ζαλμός = δορὰ ἄρκτου abgeleitet sein soll (Porphyr. v. Pyth. 14, freilich
1).
Jedenfalls sind aber unter den „Thrakern“, die nach Thucydides,
Ephorus u. A. in Phokis, Böotien u. s. w. ehemals ansässig gewesen sein
sollen, eben Thraker zu verstehen, nicht jenes von den wirklich thraki-
schen Stämmen angeblich ganz verschiedene, unleidlich brave und muster-
hafte Phantasievolk der „Musenthraker“, von denen nach K. O. Müller’s
Vorgang Viele vieles zu sagen wissen. Das Alterthum weiss nur von
Einer Gattung der Thraker. Diese stehen in Homers Darstellungen von
den Griechen nicht so weit in der Cultur ab wie später, nach den Schil-
derungen bei Herodot und Xenophon. Dennoch ist es hier wie dort
dasselbe Volk, von dem die Rede ist. Sie scheinen im Laufe der Zeit
gesunken zu sein, richtiger wohl, sie haben die Fortschritte der Anderen
(auch ihrer nach Kleinasien gewanderten und dort durch semitische Ein-
flüsse höher gebildeten phrygischen Stammesgenossen) nicht mitgemacht
und sind so zurückgeblieben. Sie sind, ähnlich z. B. den Kelten, über
einen Zustand halber Civilisirung nie hinaus zu bringen gewesen.
2).
aus Antonius Diogenes) und vielleicht „den in ein Bärenfell Gehüllten“
bedeutet (s. Fick, Spracheinh. d. Indog. Europas p. 418; Hehn, Culturpfl.2
p. 474). — Γίγων, ein Name des Dionysos (Et. M. 231, 28); vielleicht der
Name des Gottes in der ebendort erwähnten Stadt Gigonos und ἄκρα
Γιγωνίς an der Westseite der thrak. Chalkidike. — Unverständlich kurz
Etym. M. 186, 32: — βαλιά η διαποίκιλος. καὶ τὸν Διόνυσον Θρᾷκες. — Δύαλος
Διόνυσος παρὰ Παίοσιν. Hesych.
1).
μανίας ἐπαγωγὸν ὁμοκλάν. Aeschyl. in den Ἠδωνοί bei Strabo X
p. 470/71 (fr. 57), in Betreff der Musik bei den thrakischen Dionysos-
feiern überhaupt die Hauptstelle. Im Uebrigen ist es unthunlich, genau
zu scheiden zwischen den speciell auf thrakische Dionysosfeste und den
auf die ideale Dionysosfeier im Allgemeinen (nicht die thatsächlich
geübte rituale Abschwächung der Feier, wie sie vielfach in Griechenland
vorkam) bezüglichen Nachrichten der Alten. Beides fällt eben wesentlich
zusammen.
2).
σαβάζειν = εὐάζειν. Schol. Ar. Av. 874; Lys. 388.
3).
αἱ Βάκχαι σιγῶσιν. Diogenian. prov. 3, 43.
4).
Völliges Wirbeln um den eigenen Mittelpunkt (wie im Tanz der
Derwische) kommt wenigstens sonst in fanatischen Tanzfesten des Alter-
thums vor: — στροφὴν ὁλοσώματον ὥσπερ οί κάτοχοι δινεύοντες. Heliod.
Aethiop. 4, 17, p. 116, 1 Bk. (wie in dem spartanischen Tanz διαμαλέας
[?], den Silene und Satyrn ὑπότροχα ὀρχοῦνται. Poll. 4, 104).
5).
Eurip. Bacch. 138 ff. 673 ff. Thrakisch: assiduis Edonis fessa
choreis qualis in herboso concidit Apidano
— Propert. I 3, 5 f.
6).
Vgl. Schol. Pers. 1, 101. βασσάρα ursprünglich lydisch: Pollux
7, 59, offenbar in Erinnerung an die Worte des Aeschylus ἐν Ἠδωνοῖς·
ὅστις χιτῶνας βασσάρας τε Λυδίας ἔχει ποδήρεις (fr. 59).
7).
Aus griechischem Bakchantenthum bekannt. So aber schon thra-
kisch: in den (ganz auf thrakische Sitten bezüglichen) Ἠδωνοί erwähnte
Aeschylus die νεβρίδες, die er dort auch αἰγίδας nannte (fr. 64).
8).
Die Βάκχαι in Macedonien, die Μιμαλλόνες, in Allem den thraki-
1).
Mentis inops rapitur, quales audire solemus Threicias passis
Maenadas ire comis.
Ovid. Fast. 4, 457 f.
2).
Theophrast. char. 16 (p. 18, 7 Foss.); Artemidor, onirocr. 2, 13
p. 106, 9.
3).
Schlangen und Dolche in den Händen der μιμαλλόνες καὶ βασσάραι
καὶ λυδαί, im Aufzug des Ptolemaeus Philad.: Kallixenos b. Athen. 5, 198 E.
— Schlangen und ϑύρσοι im Apparat der ἔνοχοι τοῖς Ὀρφικοῖς καὶ τοῖς
περὶ τὸν Διόνυσον ὀργιασμοῖς γυναῖκες in Makedonien, der Κλώδωνες καὶ
Μιμαλλόνες, welche πολλὰ τοῖς Ἠδωνίσι καὶ ταῖς περὶ τὸν Αἷμον Θρῄσσαις
ὅμοια
δρῶσιν: Plut. Alex. 2 (bei Gelegenheit der Schlange der Olympias,
welche den thrakisch-dionysischen Weihen ganz besonders ergeben gewesen
sei. Vgl. den Brief der Ol. an Alexander, Ath. 14, 659 F) — ϑύρσοι der
makedonischen Μιμαλλόνες: Polyaen. 4, 1. Schol. Pers. 1, 99. — „Noch
jetzt“ schmückt Epheu die Thyrsosstäbe in Thraciae populis sollemnibus
sacris.
Plin. n. h. 16, § 144. — Der νάρϑηξ des Thyrsos eigentlich eine
Hirtenlanze: Clem. Alex. protrept. 11 c.
4).
Eurip. Bacch. 725 ff. und sonst oft.
8).
schen Bakchen gleich, κερατοφοροῦσι κατὰ μίμησιν Διονύσου. Schol. Lycophr.
1237 (Λαφυστίας κερασφόρους γυναῖκας).
1).
κατοχαὶ καὶ ἐνϑουσιασμοί im thrakisch-makedonischen Dionysos-
dienst: Plut. Alex. 2 (Die Mimallones imitantur furorem Liberi. Schol.
Pers. 1, 99) οἱ τῷ Σαβαζίῳ κάτοχοι: Porphyr. bei Jamblich. de myst. 3, 9;
p. 117, 16. βάκχος · ὁ μανιώδης, Eustath. zu Odyss. 4, 249; 2, 16. Κλώδω-
νες heissen die μαινάδες καὶ βάκχαι ἀπὸ τοῦ κατόχους γινομένας κλώζειν:
Etym. M. 521, 50. οἱ κάτοχοι τοῖς περὶ τὸν Διόνυσον ὀργιασμοῖς. Plut. Is. et
Os
. 35.
2).
οἱ βακχευόμενοι καὶ κορυβαντιῶντες ἐνϑουσιάζουσι μέχρις ἂν τὸ πο-
ϑούμενον ἴδωσιν. Philo de vita contemplat. 2, p. 473 M.
3).
Auch das wilde Schütteln und Umschwingen des Hauptes, das
durchaus, wie zahlreiche Dichterstellen und bildliche Darstellungen be-
weisen (ῥιψαύχενι σὺν κλόνῳ Pind. fr. 208. κρᾶτα σεῖσαι Eurip. Bacch. 178 etc.),
zum bakchischen Tanz und Cult gehört, musste (und sollte jedenfalls auch)
dazu beitragen, den Zustand der Verzückung und Raserei herbeizuführen.
(Wie allein schon ein solches lange fortgesetztes fanatisches Umwirbeln des
Kopfes, bei entsprechender Praedisposition des Geistes, zu völliger religiöser
ἔκστασις führen kann, lehrt ein nach Autopsie im Orient geschildertes
merkwürdiges Beispiel bei Moreau, du hachisch p. 290 ff.)
4).
Der Sinn der trieterischen (alle zwei Jahre wiederholten)
Dionysosfeste an vielen Orten Griechenlands (vgl. Weniger, Dionysosdienst
in Elis
. Progr. 1883, p. 8) war die Feier der Anwesenheit des Gottes.
Dies spricht deutlich aus, zugleich auch den Thrakern trieterische
Dionysosfeste zuschreibend, Diodor. 4, 3, 2 f: τοὺς Βοιωτοὺς καὶ τοὺς ἄλλους
Ἕλληνας καὶ Θρᾷκας — καταδεῖξαι τὰς τριετηρίδας ϑυσίας Διονύσῳ καὶ
τὸν ϑεὸν νομίζειν κατὰ τὸν χρόνον τοῦτον ποιεῖσϑαι τὰς παρὰ τοῖς ἀνϑρώποις
ἐπιφανείας. Jungfrauen und Weiber feiern dann τὴν παρουσίαν τοῦ
1).
ἀφανισμός und dann wieder ἐπιφάνεια des Dionys, das sind, wie
mehrfach bestimmt gesagt wird, die wechselnden und sich periodisch
wiederholenden entgegengesetzten Verhältnisse des Gottes zu den Men-
schen, nach denen sich die trieterischen Festzeiten gliedern. In diesem
Verschwinden und Wiederkehren des Gottes, wie es üblich ist, allegorische
Versinnbildlichung der Vernichtung und Wiederherstellung der Vegetation
zu sehen, besteht, ausser in den ein für allemal feststehenden Axiomen
der Lehre von der griechischen „Naturreligion“, keinerlei Veranlassung.
Der Gott gilt im eigentlichen und wörtlichen Sinne für zeitweilig der
Menschheit fern, im Geisterreiche weilend. So ist Apollo, nach delphi-
scher Legende, für Zeiten der Menschenwelt entrückt; er ist dann im
Lande der Hyperboreer, unzugänglich menschlichem Fusse oder Schiffe.
Man braucht sich nicht zu scheuen, ähnliche Sagen von zeitweiligem
Verschwinden (oder Schlafen, Gebundensein: Plut. de Is. et Osir. 69 extr.)
des Gottes bei uncivilisirten Völkern zur Erläuterung heranzuziehen. Etwa
was bei Dobrizhoffer, Geschichte der Abip. II p. 88 (der Uebers.) von dem
Glauben der Abiponen in Paraguay berichtet wird. Oder was von Neger-
stämmen in Westafrika erzählt wird, nach deren Glauben der Gott ge-
wöhnlich im Innern der Erde wohnt, zu regelmässig wiederkehrenden Zeiten
aber zu den Menschen heraufkommt, wo ihm dann die Mitglieder eines
mystischen Bundes ein Haus bauen, seine Orakel empfangen u. s. w.
(Réville, Rel. des peuples noncivil. 1, 110. 111). Auch Dionysos ist zeit-
weilig in der Unterwelt, im Reiche der Geister und Seelen. Deutlich
ist dies die Voraussetzung an dem Feste in Lerna, an welchem Dionys
„heraufgerufen“ wird aus der unergründlichen Quelle Alkyonia, durch die
ein Eingang in den Hades führte. Daher auch als Opfer ein Lamm τῷ
πυλαόχῳ, d. h. dem Hades selbst, in die Quelle geworfen wurde (Plut. Is. et
Os
. 35 nach Sokrates περὶ τῶν Ὁσίων; Sympos. 4, 6, 2. Pausan. 2, 36, 7; 37,
5. 6). Weil er im Reiche der Todten ist, lässt pragmatisirende Sage ihn
(von Perseus) getödtet und in den lernäischen Quell geworfen werden
(Lobeck, Agl. 574). So wusste man ja auch in Delphi vom Tode und
4).
Διονύσου. (Herbeirufung des Stiergottes in dem alterthümlichen Liede der
Elischen Weiber: Plut. Q. Gr. 36. Is. et Os. 35. Wo dann die Eleer
glauben τὸν ϑεόν σφισιν ἐπιφοιτᾶν ἐς τῶν Θυίων τὴν ἑορτήν: Paus. 6, 26, 1).
— Bakchos inmitten der Tanzenden: Eurip. Bacch. 145 ff., 306 f. u. ö.
An den trieterischen Festen zu Delphi Διόνυσος-Παρνασσὸν κάτα πηδᾷ
χορεύει παρϑένοις σὺν Δελφίσιν. Eurip. Hypsip., fr. 752. Dichterisch oft
so: s. Nauck zu Soph. O. R. 213. Antig. 1126 ff. — Thrakische trieteri-
sche Feiern: tuo motae proles Semeleia thyrso Ismariae celebrant repetita
triennia bacchae. Ovid. Met
. 9, 641 f. Tempus erat, quo sacra solent trie-
terica Baccho Sithoniae celebrare nurus. nox conscia sacris
etc. Met.
6, 587.
1).
Vgl. Eurip. Bacch. 913 ff. 1006.
2).
ταυρόφϑογγοι δ̕ὑπομυκῶνταί ποϑεν ἐξ ἀφανοῦς φοβεροὶ μῖμοι. Aeschyl.
Ἠδωνοί, in der Schilderung thrakischer Dionysosfeier (fr. 57). Dies diente
„gewiss den Theilnehmern an dem Feste das Gefühl der Nähe des Gottes
zu erwecken und dadurch den wilden Orgiasmus zu steigern“, wie Rapp
Progr. p. 19 sehr richtig bemerkt. Der unsichtbar brüllende Stier ist
der Gott selbst. (Dem vom Wahnsinn ergriffenen Pentheus erscheint
Dionysos als Stier: Eurip. Bacch. 918 ff.). — („Die Batloka, ein Stamm
im Norden von Transvaal, veranstalten jährlich eine Todtenfeier. Ver-
steckte Zauberer bringen dabei seltsame Flötentöne hervor, die das Volk
für Stimmen der Geister hält: „Der Modimo ist da“ heisst es.“. W. Schneider,
Die Relig. d. afrikan. Naturv. 143).
1).
der Wiedererweckung des Dionys; die wahre Vorstellung aber, nach der
D. „im Hause der Persephone geruht“ hat und zur Zeit der trieterischen
Feier wieder auf der Oberwelt erscheint, seinen κῶμον ἐγείρει, εὐάζων
κινῶν τε χορούς, wird unzweideutig ausgesprochen in Orph. hymn. 53.
Für die trieterische Dionysosfeier der Thraker ist die gleiche Vorstellung um-
somehr voraus zu setzen, da völlig derselbe Glaube an Verschwinden des
Gottes in sein Höhlenreich zu den Geistern und Seelen, und periodische
Wiederkehr in das Land der Lebendigen hervortritt in den Sagen von
dem thrakischen (getischen) Gotte Zalmoxis (s. unten). Warum Dionys
(der thrakische und in den griechischen Trieteriden verehrte) im Seelen-
reiche der Unterwelt sich aufhält, ist klar genug: auch dies ist sein
Reich. Und so versteht man, wie Dionys auch Herr der Seelen ist,
Ζαγρεύς, Νυκτέλιος, Ἰσοδαίτης (Plut. Ei ap. D. 9), d. h. mit lauter Bei-
namen des Hades genannt werden kann. Seine wahre, aus thrakischer
Religion übernommene, aber in griechischer Umbildung sehr stark ver-
änderte Gestalt hat sich, eben als die eines Herrn (ἄναξ, ἥρως) der
Seelen und Geister, theils in einigen griechischen Localculten, theils
im orphischen Dionysoscult erhalten. — Nach einer Reminiscenz an
die Vorstellung von periodischem Entschwinden des Dionys in die Unter-
welt ist die (ächt griechische) Sage von seinem einmaligen Hinabsteigen
in den Hades zum Zweck der Heraufholung der Semele ausgebildet. Aus
dem Verschwinden ins Reich der Geister hat ein ander Mal die Legende
ein Entlaufen des Dionys und Flucht zu den Musen gemacht: wovon man
an den Agrionien zu Chaeronea sprach (Plut. Sympos. VIII praef).
1).
Nachahmung der μαινάδες, die um den Gott sind, durch die an
den trieterischen Festen theilnehmenden Weiber: Diodor. 4, 3, 3. Nach-
ahmung der Νύμφαι τε καὶ Πᾶνες καὶ Σειληνοὶ καὶ Σάτυροι in der βακχεία:
Plato, Leg. 7, 815 C. Später nur rituales Herkommen, ursprünglich ohne
Zweifel wirkliche Hallucinationen der κάτοχοι. — Die Vorstellung, dass
den Gott (als συγχορευταὶ Διονύσου Aelian. V. H. 3, 40) ein Schwarm,
ϑίασος (ὁ τῷ Διονύσῳ παρεπόμενος ὄχλος, Ath. 8, 362 E) von Waldgeistern,
Satyrn und Silenen umtanze, muss auch thrakischer Religion eigen ge-
wesen sein. σαυάδαι (offenbar namensverwandt mit Σαβάζιος) hiessen οἱ
σειληνοί bei den (in dionysischer Religionsübung ganz von den Thrakern
abhängigen) Makedonen. Hesych. s. v. (vgl. Herodot 8, 138 extrem.).
2).
Die βακχεύοντες τῷ ϑεῷ (dem Sabazios, Sabos) heissen σάβοι καὶ
σάβαι καὶ σαβάζιοι Phot. s. σαβούς. Vgl. Eustath. Odyss. 2, 16 p. 1431, 46.
Harpocrat. (Phot.) s. σάβοι. Phot. s. παρασαβάζειν (p. 383, 16). Schol. Ar.
Av. 874. Diese Gleichsetzung der Gottheit und ihres ekstatischen Ver-
ehrers ist auch dem phrygischen Kybelecult eigen: wie die Göttin Κυβήβη,
so hiess ὁ κατεχόμενος τῇ μητρὶ τῶν ϑεῶν, Κύβηβος. Phot. s. κύβηβος, s.
κύβηβον. Eustath. a. a. O. Die Griechen übertrugen nur Vorstellungsweise
und Bezeichnungsart aus dem thrakischen Begeisterungscult auf ihren,
diesem nachgebildeten Dionysosdienst, wenn sie dann ebenfalls den eksta-
tischen Verehrer des Bakchos mit dessen Namen benannten. βάκχος
heisst ihnen der ὀργιαστὴς τοῦ ϑεοῦ. Es scheint, dass man auch die βάκχοι
des Dionysos oft mit dem altthrakischen Namen σάβοι benannte: σάβους
καὶ νῦν ἔτι πολλοὶ τοὺς βάκχους καλοῦσιν. Plut. Sympos. 4. 6, 2 (auch
Λαφύστιοι heissen, nach dem Διόνυσος Λαφύστιος, die diesen verehrenden
Βάκχοι: Lycophr. 1237 mit Schol.).
3).
Διόνυσος ὠμάδιος (Porphyr. abst. 2, 55) ὠμηστής (Plut. Themi-
stocles
3), λαφύστιος, ταυροφάγος (Sophocl. fr. 607). — Andere Male scheint
die Vorstellung durch, dass der Gott selbst der zerrissene und verschlungene
Stier sei. Die roheste Form des ἐν-ϑουσιασμός.
1).
Dionysos selbst trägt (wie auf Bildwerken oft) ebenfalls den
Thyrsos. Eurip. fr. 752 u. a.
2).
S. oben p. 302, 8 (ὁ βουκέρως Ἴακχος Sophocl. fr. 874, ταυροκέρως
ϑεός Eurip. Bacch. 100). Stiergestaltig, gehörnt wird der griechische
Dionysos oft genannt. Auch dies in Nachbildung des thrakischen
Glaubens. Den Sabazios κεραστίαν παρεισάγουσι: Diodor. 4, 4, 2 (vgl.
3. 64, 2). ῞ϒῃ ταυροκέρωτι Euphor. fr. 14. — Nach einer Andeutung des
Diodor. 4. 4, 2 scheint der Gott, der μυριόμορφος, auch (wie sonst Attis)
als Rinderhirt gedacht worden zu sein. Auf etwas derartiges mögen
auch die, wie es den Anschein hat, auf Sabaziosmysterien bezüglichen
unverständlichen Verse bei Clemens protr. 11 C. hinweisen. So ist auch
Dionys bisweilen als βουκόλος gedacht: ποιμένι δ̕ἀγραύλων ταύρων, Διὸς
αἰγιόχοιο ὑιέι κισσοχίτωνι heisst es in den Pseudoorph. Λιϑικά 260.
Wiederum als Nachbilder des Gottes selbst heissen dann seine μύσται
βουκόλοι (auf den Jnss. aus Kleinasien und Thrakien, von denen R. Schöll
redet, de communib. et coll. Graecis [Satura philol. Saupp.] p. 12 ff.).
archibucolus dei Liberi auf Jnss. der Stadt Rom. Und βουκόλος, βουκολεῖν
im bakchischen Cult schon bei Kratinos, Aristophanes, Euripides; νυκτι-
πόλου Ζαγρέως βούτας, Eurip. Cret. fr. 472, 11 (nach Diels). S. Crusius,
Rhein. Mus. 45, 266 f.; A. Dietrich, de hymnis Orph. (Marb. 1891) p. 3 ff.
3).
Die unter dem Namen des Olympos umlaufenden Flötenweisen
heissen ϑεῖα (Pseudoplat. Minos 318 B); κατέχεσϑαι ποιεῖ (Plat.
Sympos. 215 C), ὁμολογουμένως ποιεῖ τὰς ψυχὰς ἐνϑουσιαστικάς (Aristot.
Polit. 1340 a, 10). Cicero de divinat. I § 114: ergo et ei quorum animi,
spretis corporibus, evolant atque excurrunt foras, ardore aliquo incitati
atque inflammati, cernunt illa profecto quae raticinantes praenuntiant
:
1).
In solchen, die ἐνϑουσιασμοῦ κατακώχιμοι sind, wie Aristoteles
sie kennt; eigene μανικαὶ διαϑέσεις kennt Plato. Nicht unverwandt ist
die φύσις ϑειάζουσα wie nach Demokrit die des begeisterungsfähigen
Dichters ist.
2).
Bekannt ist die Trunksucht der Thraker, ihr alter Weinbau. Sie
brauten auch Bier aus Gerste: Athen. 10, 447 B C (vgl. Hehn, Culturpfl.
u. Hausth
.2 p. 126). Die (im Enthusiasmus wahrsagenden) Propheten
eines thrakischen Orakels wahrsagten plurimo mero sumpto. Aristot. bei
Macrob. Sat. 1, 18. 1. — Selbst die Weiber tranken ungemischten Wein
in Thrakien: Plato Leg. 1, 637 E.
3).
Von den Thrakern Pomp. Mela 2, 21 (daraus Solin. 10, 5)
epulantibus ubi super ignes quos circumsident quaedam semina ingesta
sunt, similis ebrietati hilaritas ex nidore contingit
. Ohne Zweifel waren
es Samenkörner des Hanfs (κάνναβις), die diese Wirkung hatten. Dass
die Thraker den Hanf kannten, sagt Herodot 4, 74 ausdrücklich. Sie
berauschten sich also mit einer Art von Haschisch (Haschisch ist ein
Extract aus cannabis indica). Aehnlich die Skythen, von deren Schwitz-
bädern in dicht geschlossenen Hütten Herodot 4, 75 erzählt: sie liessen
dabei Hanfsamen auf glühenden Steinen verdampfen, und müssen (wie-
wohl davon Herodot nichts sagt) nothwendiger Weise in eine tolle
Trunkenheit gerathen sein. Dies mag ein religiöser Act gewesen sein.
Rausch gilt bei „Naturvölkern“ meistens für einen religiös inspirirten
Zustand. Und die skythische Sitte findet die auffallendste Parallele an
dem Gebrauch der „Schwitzhütte“ bei nordamerikanischen Indianern,
dessen religiöse Bedeutung sicher ist (s. die Beschreibungen bei Klemm,
Culturgesch. 2, 175—178; J. G. Müller, Amerikan. Urrelig. 92). Berauschung
durch Rauch gew. „Früchte“ auch bei den Massageten: Herod. 1, 202.
Diese standen, vollberauscht, zuletzt auf um zu tanzen und zu singen. Als
Reizmittel zu ihren ekstatischen religiösen Tänzen könnten auch die
Thraker die Berauschung durch Haschischrauch leicht benutzt haben. —
3).
multisque rebus inflammantur tales animi qui corporibus non inhaerent;
ut ei qui sono quodam vocum et Phrygiis cantibus incitantur
. Eine
deutliche Beschreibung dessen, was man sich unter ἔκστασις und Koryban-
tiasmus (s. unten) vorstellte.
1).
Polak, Persien 2, 245 ff. — Liest man die nach eigenen Erfah-
rungen gegebenen Schilderungen der, den Haschischrausch begleitenden
Empfindungen und hallucinatorischen Zustände, wie sie z. B. Moreau
(de Tours), Du hachisch et de l’aliénation mentale (Paris 1845) darbietet
(besonders p. 23 f., 51 ff., 69 ff., 90, 147 ff., 151 f., 369 ff.), so hat man das
völlige Ebenbild des Zustandes vor sich, der der bakchischen Erregung
zugrunde liegt: eine förmliche ἔκστασις des Geistes, ein waches Träumen,
eine ὀλιγοχρόνιος μανία, der nur die bestimmte Leitung und Färbung
der Hallucinationen und Illusionen durch eingewurzelte religiös-phanta-
stische Voraussetzungen und äussere Veranstaltungen zur Nährung solcher
Phantasien fehlt, um in allem dem Wahnzustand ächter βάκχοι an den
dionysischen Nachtfesten gleich zu kommen (und die wehrlose Bestimm-
barkeit der Wahnvorstellungen durch äussere — z. B. musikalische —
und innere Einflüsse ist gerade ein Hauptmerkmal der Trunkenheit in
dieser fantasia des Haschisch). Uebrigens wirken auch andere Narkotika
ähnlich (Moreau p. 184 ff.).
2).
Plato, Jon 534 A (vielleicht eine Anspielung auf die Worte des
Aeschines Socrat. im Ἀλκιβιάδης [Aristid. π. ῥητορ., II 23 f. Dind.]).
3).
Eurip. Bacch. 141, 692 ff. (142: Συρίας δ̕ ὡς λιβάνου καπνός).
4).
Anaesthesie der Bakchen ἐπὶ δὲ βοστρύχοις πῦρ ἔφερον οὐδ̕ ἔκαιεν
Eurip. Bacch. 747. — suum Bacche non sentit saucia volnus, dum stupet
3).
Von der Erregung religiöser Hallucinationen durch Einathmen aromati-
schen Rauches hatten auch die Alten Erfahrung. [Galen] ὅρ. ἰατρ. 187
(XIX 462): ἐνϑουσιασμός ἐστι καϑάπερ ἐξίστανταί τινες ἐπὶ (ὑπὸ?) τῶν
ὑποϑυμιωμένων
ἐν τοῖς ἱεροῖς, \<φάσματα (om. edd.)\> ὁρῶντες ἢ τυμπάνων
ἢ αὐλῶν ἢ συμβόλων (schr. κυμβάλων) ἀκούοντες. Auch odorum delenimento
potest animus humanus externari
. Apul. apol. 43. — Räucherungen bei der
Korybantenweihe: s. unten. — Der γαγάτης λίϑος ὑποϑυμιαϑείς dient als
ἐπιληπτικῶν ἔλεγχος (Dioscorid. mat. med. 5, 145), erregt die Krämpfe der
von der ἱερὰ νόσος (Epilepsie) Besessenen. [Orph.] Lith. 478 ff. Ab. (vgl.
noch Damigeron de lapidib. 20, p. 179 Ab., Plin. n. h. 36, 142; auch
Galen XII 203 K).
1).
κατεχόμενος ἐκ τοῦ ϑεοῦ (Plat. Menon 99 D; Xenoph. Sympos. 1, 10.
κατεχόμενοι ὥσπερ αἱ βάκχαι: Plat. Jon 533 E; Sympos. 215 C. μανέντι
τε καὶ κατασχομένῳ: Phaedr. 244 E.) ἡ δ̕ἀφρὸν ἐξιεῖσα καὶ διαστρόφους κόρας
ἑλίσσουσ̕, οὐ φρονοῦσ̕ ἃ χρῆν φρονεῖν, ἐκ Βακχίου κατείχετο. Eurip. Bacch.
1111 f. κάτοχοι: oben p. 304, 1.
2).
ἔνϑεός τε γίγνεται καὶ ἔκφρων καὶ ὁ νοῦς οὐκέτι ἐν αὐτῷ ἔνεστιν.
Plat. Jon 534 B (dort auf die begeisterten Dichter übertragen, eigentlich
auf die Bakchen bezüglich).
3).
ἔκστασις, ἐξίστασϑαι wird oft von diesem Begeisterungszustande
gesagt. μαίνεσϑαι, ἐνϑουσιᾶν, ἔνϑεον γίνεσϑαι, ἐκστῆναι als gleichbedeutend
gebraucht von „begeisterten“ Propheten (Βάκιδες, Σίβυλλαι) und Poeten:
Aristot. probl. 30, 2 p. 954 a, 34—39. ἐξίσταται καί μαίνεται Arist. hist. an.
6, 22 p. 576 a, 12. Die religiösen ὀργιασμοί, ἐκστάσιας ψυχᾶς ἐπάγοντι:
Phintys in Stob. flor. 74, 61 a, p. 65, 26 ff. Mein. Die ἔκστασις ist ein Zu-
stand, in welchem die Seele sich selbst entfremdet scheint, wo sie αἱ οἰ-
κεῖαι κινήσεις οὐκ ἐνοχλοῦνται ἀλλ̕ ἀπορραπίζονται (Aristot. 464 a, 25). Der
im späteren Gebrauch sehr abgeschwächte und abgegriffene Ausdruck ist
ursprünglich, wie sich von selbst versteht, eigentlich gemeint, um einen
„Austritt“ der „Seele“ aus ihrem Leibe zu bezeichnen; so wie das τὸν
δ̕ἔλιπεν ψυχή, vom ohnmächtig Gewordenen gesagt, ursprünglich ebenfalls
eigentlich gemeint war und verstanden wurde (s. oben p. 8, 1). (Ganz
eigentlich gemeint noch in dem Pariser Zauberbuch, Z. 725 p. 63 Wess.:
4).
Edonis exululata iugis. Ovid. Trist. 4, 1, 41 f. qualis deo percussa maenas
— atque expers sui volnus dedit nec sensit
. Seneca, Troad. 682 ff. Gleiche
Empfindungslosigkeit gegen Schmerz zeigten (gewiss nicht immer heuchelnd)
die sie sich selbst verwundenden galli der Kybele, die Priester und
Priesterinnen der Mâ (Tibull. 1, 6, 45 ff.) in der Ekstase (auch von Pro-
pheten des Baal wird ähnliches berichtet, Reg. I 18, 28). S. im All-
gemeinen über die Anaesthesie der ὀρϑῶς κατεχόμενοι ὑπὸ τῶν ϑεῶν
Jamblich. myst. p. 110. Bei Schamanen, indischen Jogis, auch bei Einge-
borenen Nordamerikas hat man wirklich das Eintreten solcher Empfindungs-
losigkeit in religiöser Ueberreizung beobachtet.
1).
ἔκστασίς ἐστιν ὀλιγοχρόνιος μανία. Galen. ὅρ. ἰατρ. 485 (XIX p. 462).
μανίη ἔκστασίς ἐστι χρόνιος Aretaeus chron. pass. 1, 6 p. 78.
2).
Διόνυσον μαινόλην ὀργιάζουσι βάκχοι, ὠμοφαγίᾳ τὴν ἱερομανίαν
ἄγοντες, καὶ τελίσκουσι τὰς κρεωνομίας τῶν φόνων ἀνεστεμμένοι τοῖς ὄφεσιν,
ἐπολολύζοντες εὐαί Clem. Al. protr. 9 D.
3).
Die ἐνϑουσιῶντες ἐκ ϑεοῦ τινος werden diesem Gotte ähnlich,
λαμβάνουσι τὰ ἔϑη καὶ τὰ ἐπιτηδεύματα (τοῦ ϑεοῦ), καϑόσον δυνατὸν ϑεοῦ
ἀνϑρώπῳ μετασχεῖν. Plat. Phaedr. 253 A. Kühner gesagt: ἑαυτῶν ἐκστάν-
τας ὅλους ἐνιδρῦσϑαι τοῖς ϑεοῖς καὶ ἐνϑεάζειν. Procl. ad Remp. p. 59, 19
Sch. — οὐκ ἔκστασις ἁπλῶς οὕτως ἐστὶν, ἀλλὰ — nach seiner positiven
Bedeutung — ἐπὶ τὸ κρεῖττον ἀναγωγή καὶ μετάστασις. de myst. Aeg. 3, 7,
p. 114, 9.
4).
ἔνϑεοι γυναῖκες von den Bakchen, Soph. Antig. 963. αἱ Βάκχαι ὅταν
ἔνϑεοι γένωνται — Aeschines Socrat. bei Aristid. π. ῥητορ. (2, 23 Dind.)
ἔνϑεος ἥδε ἡ μανίη (die religiöse): Aretaeus p. 84. Was eigentlich das
ἔνϑεον εἶναι (plenum esse deo) bedeutet, wird deutlich definirt in Schol Eurip.
Hippol. 144: ἔνϑεοι λέγονται οἱ ὑπὸ φάσματός τινος ἀφαιρεϑέντες τὸν νοῦν,
καὶ ὑπ̕ ἐκείνου τοῦ ϑεοῦ τοῦ φασματοποιοῦ κατεχόμενοι καὶ τὰ δοκοῦντα
ἐκείνῳ ποιοῦντες. Der ἔνϑεος ist völlig in der Gewalt des Gottes, der Gott
spricht und handelt aus ihm. Sein eigenes Selbstbewusstsein ist dem
ἔνϑεος geschwunden: wie die ϑεῖοι ἄνδρες (welcher Ausdruck bei Plato
dasselbe wie sonst ἔνϑεοι ἄ. besagt), die ϑεομάντεις namentlich, λέγουσιν
μὲν ἀληϑῆ καὶ πολλά, ἴσασι δ̕οὐδὲν ὧν λέγουσιν. Plat. Men. 99 c. (Vom
begeisterten Propheten sagt Philo de spec. leg. p. 343 M: ἐνϑουσιᾷ γεγονὼς
ἐν ἀγνοίᾳ, μετανισταμένου μὲν τοῦ λογισμοῦ —, ἐπιπεφοιτηκότος δὲ καὶ ἐνῳκηκό-
τος τοῦ ϑείου πνεύματος καὶ πᾶσαν τῆς φωνῆς ὀργανοποιΐαν κρούοντος κτλ.
Vgl. Jamblich. de myst. 3, 4, p. 109).
3).
ὑπέκλυτος δ̕ἔσει τῇ ψυχῇ καὶ οὐκ ἐν σεαυτῷ ἔσει ὅταν σοι ἀποκρίνηται [der
citirte Gott]).
1).
ἔνϑεοι μάντεις (Bakiden, Sibyllen) Aristot. probl. 30, 2. ϑεομάντεις
Plat. Menon extr. μαντικὴ κατὰ τὸ ἔνϑεον, ὅπερ ἐστὶν ἐνϑεαστικόν Plut.
plac. phil. 5, 1, 1.
2).
μάντις δ̕ὁ δαίμων ὅδε (Dionysos) τὸ γὰρ βακχεύσιμον καὶ τὸ μανιῶδες
μαντικὴν πολλὴν ἔχει· ὅταν γὰρ ὁ ϑεὸς εἰς τὸ σῶμ̕ ἔλϑῃ πολύς, λέγειν τὸ μέλλον
τοὺς μεμηνότας ποιεῖ. Eurip. Bacch. 291 ff. Mit höchster Deutlichkeit und
Bestimmtheit ist hier der innere Zusammenhang der Begeisterungsmantik
mit der „Besessenheit“ der ekstatischen Erregung (nicht etwa der Trunken-
heit!) bezeichnet (so verstand den Euripides auch Plutarch, Symp. 7, 10
p. 716 B). Weissagende Maenaden: μαινάδας ϑυοσκόους Eurip. Bacch. 217. —
οὐδεὶς ἔννους ἐφάπτεται μαντικῆς ἐνϑέου καὶ ἀληϑοῦς, ἀλλ̕ ἢ καϑ̕ ὕπνον τὴν
τῆς φρονήσεως πεδηϑεὶς δύναμιν ἢ διὰ νόσον ἢ διά τινα ἐνϑουσιασμὸν
παραλλάξας. Plat. Tim. 71 E. νοσήματα μαντικὰ ἢ ἐνϑουσιαστικά machen die
begeisterten μάντεις zu solchen: Aristot. 954 a, 35. Solche Mantik ge-
schieht im furor, cum a corpore animus abstractus divino instinctu conci-
tatur
. Cic. de divin. 1 § 66. Berühmtes Beispiel Kassandra, aus welcher
deus inclusus corpore humano, non iam Cassandra loquitur (ibid. § 67).
Die Sibylle, welche μαινομένῳ στόματι wahrsagt (Heraklit); die im Zustand
der μανία weissagende Pythia zu Delphi. Wahrsagung der korybantisch
Besessenen und „rasenden“ Phryger: Arrian bei Eustath. zu Dion. Perieg. 809.
1).
Herodot 7, 111 (die Βησσοί scheint Her. für einen Theil, etwa für
ein Geschlecht unter den Satrern zu halten. Polybius, Strabo, Plinius,
Cass. Dio u. A. kennen sie als einen eigenen thrakischen Stamm): — πρό-
μαντις γυνὴ χρέουσα κατάπερ ἐν Δελφοῖσι, d. h. aber, sie prophezeite in
der Ekstase: denn so that es die Pythia in Delphi. (Schol. Arist. Plut. 40.
Plut. def. orac. 51. Deutlich beschreibt die bei ihrer religiösen Ekstase an-
genommenen Erscheinungen Lucan, Phars. 5, 166 ff.: artus Phoebados irru-
pit Paean, mentemque priorem expulit, atque hominem toto sibi cedere iussit
pectore. bacchatur demens aliena
u. s. w.)
2).
ὁ Θρῃξὶ μάντις Διόνυσος. Eurip. Hecub. 1245. Rhesos, im Pan-
gaios hausend, ist Βάκχου προφήτης Rhes. 965. ἀφικέσϑαι τοῖς Λειβηϑρίοις
παρὰ τοῦ Διονύσου μάντευμα ἐκ Θρᾴκης: Paus. 9, 30, 9. Aristoteles qui
Theologumena scripsit, apud Ligyreos
(vielleicht identisch mit den Λιγυ-
ρίσκοι, die Strabo 7 p. 296, als andere Benennung der Taurisker, erwähnt)
ait in Thracia esse adytum Libero consecratum, ex quo redduntur oracula.
Macrob. Sat. 1, 18, 1. Die Frau des Spartacus, selbst eine Thrakerin, war
μαντική τε καὶ κάτοχος τοῖς περὶ τὸν Δίονυσον ὀργιασμοῖς. Plut. Crass. 8. Octa-
vian befragte in Thrakien in Liberi patris luco barbara cerimonia das
Orakel: Suet. Octav. 94. Noch im J. 11 vor Chr. hatten die Besser einen
ἱερεὺς τοῦ Διονύσου Vologeses, der durch Prophezeiungen (πολλὰ ϑειάσας)
und τῇ παρὰ τοῦ ϑεοῦ δόξῃ sein Volk zum Aufstand gegen die Odrysen
fortriss (Cass. Dio 54, 34, 5). Den Odrysen hatte im J. 29 M. Crassus,
ὅτι τῷ Διονύσῳ πρόσκεινται, die von den Bessen besetzte Landschaft ἐν ᾗ
καὶ τὸν ϑεὸν ἀγάλλουσι, geschenkt: Cass. Dio 51, 25, 5.
1).
Beispielsweise vgl. man was berichtet wird über religiöse Tänze
der Ostiaken (Erman, Reise um die Erde [1833] I 1, 674 f.), den Haokah-
tanz der Dakotah, den „Medicintanz“ bei den Winnebago in N. Am.
(Schoolcraft, Indian Tribes III 487 ff., 286 ff.), den Tanz der Negersecte
Vaudou auf Haïti (Nouv. annales des voyages, 1858, T. III p. 90 ff.). Auf-
geregte religiöse Volkstänze im alten Peru: Müller, Amerik. Urrelig. 385.
In Australien: R. Brough Smyth, The Aborigines of Victoria [1878] 1, 166 ff.
Bei den Veddhas auf Ceylon die Tänze der als Dämonen vermummten
Teufelpriester (genannt Kattadias): Tennent, Ceylon 1, 540 f.; 2, 442. —
Aus dem Alterthum haben ja die Tanzfeste zu Ehren der „syrischen
Göttin“, der kappadocischen Ma, der phrygischen Bergmutter und des
Attis (diese wohl mit den thrakischen Feiern aus gleicher Wurzel ent-
sprungen, aber viel stärker als jene mit Elementen semitischer Culte
durchsetzt) nächste Verwandtschaft mit dem ekstatischen Cult in Thrakien.
Sonst mag namentlich erinnert werden an den Bericht des Posidonius bei
Strabo IV p. 198, Dionys. Perieg. 570 ff. von den nächtlichen lärmenden
Feiern, welche auf einer Insel an der Mündung der Loire die Weiber
der Namniten (Samniten, Amniten) Διονύσῳ κατεχόμεναι, in voller Raserei
(λύττα) dem „Dionysos“ widmeten.
2).
Dies ist überall der Sinn und Zweck jener angestrengten Prak-
tiken der „Zauberer“. Der Schamane fährt (mit seiner „Seele“) aus in
die Geisterwelt (vgl. besonders die unvergleichlich anschauliche Darstel-
lung bei Radloff, Aus Sibirien [1884] II 1—67; auch Erman, Zsch. f.
Ethnologie
2, 324 ff.; Aurel Krause, Die Tlinkitindianer [1885] p. 294 ff.);
1).
Beispielsweise Mariner, Tongainseln (deutsch) 110; Wrangel, Reise
in Sibirien
(Magazin der Reisebeschr. 38) 1, 286 f.; Radloff, Sibirien 2, 58.
Selbst der ehrliche Cranz, der von seinem Standpunkte aus das Treiben
der von ihm so trefflich beobachteten Angekoks unmöglich gerecht beur-
theilen konnte, giebt doch zu, dass vielen unter diesen wirkliche Visionen,
die ihnen „etwas Geisterisches“ vorspiegelten, gekommen seien. (Hist. von
Grönland
1, 272 f.).
2).
nicht anders die Zauberer der Lappen (s. Knud Leems, Nachr. über die
Lappen in Finmarken
[deutsch 1771] p. 236 ff.); der Angekok tritt in
Verkehr mit seinem Torngak (Cranz, Hist. v. Grönland2I p. 268 ff.);
die Butios verkehren mit den Zemen (Müller, Amerik. Urrelig. 181 f.), die
Piajen mit den Geistern (Müller 217); so wurde durch Tanz u. s. w. Ver-
kehr mit dem göttlichen „Grossvater“ hergestellt bei den Abiponen
(Dobrizhoffer, Gesch. der Abip. 2, 89. 95). Ausfahren der Seele ins Geister-
reich erzwingen auch, in ihren Convulsionen, die Zauberer der nord-
amerikanischen Indianer, der Bewohner des stillen Oceans (vgl. Tylor,
Primit. Cult. 2, 122) u. s. w. Ueberall glauben (von völlig übereinstim-
menden Anschauungen über Körper und Seele und deren Verhältniss zu
den Unsichtbaren ausgehend) solche Zauberer „in ihren ekstatischen Zu-
ständen die Schranken zwischen Diesseits und Jenseits durchbrechen zu
können“ (Müller a. O. 397); sich hiezu zu befähigen dienen ihnen alle die
Erregungen, mit denen sie sich selbst aufstacheln.
1).
Zauberer benannt mit dem Namen des Gottes (Keebet) bei den
Abiponen: Dobrizhoffer, Abip. 2, 317. Aehnlich anderswo: Müller, Amerikan.
Urrelig
. 77. Auf Tahiti nannte man den von einem Gotte Begeisterten,
so lange die Begeisterung dauerte (oft mehrere Tage lang) selbst „Gott“
oder mit dem Namen eines bestimmten Gottes (Waitz, Anthropol. 6, 383).
Bei einem afrikanischen Stamme nahe dem Nyansasee nimmt der herr-
schende Geist zeitweilig Besitz von einem Zauberer (oder einer Zaubererin),
der dann den Namen des Geistes trägt (Schneider, Rel. der afrik. Naturv.
151). Bisweilen drückt sich die Identität des Zauberers mit dem Gotte
dadurch aus, dass jener (ähnlich den thrakischen Βάκχοι) die Tracht des
Gottes annimmt und seine äussere Erscheinung nachahmt. So bei den
Teufelstänzern auf Ceylon u. A.
2).
Mehr philosophisch gerichtet, sucht sie freilich die Einigung mit
dem Höchsten, die ἔλλαμψις τῆς φύσεως τῆς πρώτης, vielmehr durch
tiefste Beschwichtigung des Sinnes und der Gedanken, durch das εἰς αὑτὴν
ξυλλέγεσϑαι καὶ ἀϑροίζεσϑαι der Seele (Plat.), ihr Abziehen von allem Ge-
stalteten und Einzelnen, zu erreichen. Die tiefste Stille des Gemüths
bewirkt dann die Vereinigung mit dem Einen vor aller Vielheit. So
bei den neoplatonischen Mystikern, bei den Buddhisten u. a.
1).
Γέται οἱ ἀϑανατίζοντες. Herod. 4, 93. 94 (ἀπαϑανατίζοντες Plato und
Andere. S. Wesseling zu Diodor. I p. 105, 32).
2).
— οὐδένα ἄλλον ϑεὸν νομίζοντες εἰ μὴ τὸν σφέτερον (eben den vorher
genannten Zalm.); Her. 4, 94 extr. Dort heisst es, dass die Geten πρὸς
βροντήν τε καὶ ἀστραπὴν τοξεύοντες ἄνω ἀπειλεῦσι τῷ ϑεῷ, οὐδένα κτλ. Wäre
— wie meist verstanden wird — unter ὁ ϑεός, dem die G. bei Gewittern
drohen, ihr Gott (Zalm.) gemeint, so wäre freilich die Motivirung der Be-
drohung dieses Gottes damit, dass sie nur ihn für den einzig wahren Gott
halten, seltsam, ja unsinnig. τῷ ϑεῷ bezieht sich aber vielmehr auf den
„Himmel“ beim Gewitter, nach gewöhnlichem griechischen, hier auf die
Geten nicht geschickt angewendeten Sprachgebrauch. Dieser donnernde
ϑεός ist durchaus nicht Zalmoxis (und also auch Zalm. nicht, wie man
wohl meint, ein „Himmelsgott“); nur den Z. halten die Geten für einen
Gott, das Donnernde ist ihnen kein wahrer Gott (höchstens ein böser
Geist oder ein Zauberer u. dgl.); um zu zeigen, dass sie dies nicht fürchten,
schiessen sie Pfeile dagegen ab, wohl hoffend, so das Gewitter zu brechen
(ähnliches ja an vielen Orten. Vgl. Grimm, D. Myth.4 p. 910; Dobriz-
hoffer, G. d. Abip. 2, 107. Lärm bei Mondfinsterniss: Weissenborn zu
Liv. 26, 5, 9. Reminiscenz an solche Sitte in der Heraklessage: Apollo-
dor 2, 5, 10, 5. Aus Herodot [indirect] Isigon. Mirab. 42. Vgl. auch den
1).
ἀϑανατίζουσι δὲ τόνδε τὸν τρόπον · · οὔτε ἀποϑνήσκειν ἑωυτοὺς νο-
μίζουσι ἰέναι τε τὸν ἀπολλύμενον παρὰ Ζάλμοξιν δαίμονα (οἱ δὲ αὐτῶν τὸν
αὐτὸν τοῦτον οὐνομάζουσι Γεβελέϊζιν). Herod. 4, 94. Hier wie im griechi-
schen Sprachgebrauch überall wird unter ἀϑάνατον εἶναι verstanden nicht
eine schattenhafte (wenn auch zeitlich unbegrenzte) Fortdauer der Seele
nach dem Tode, wie im homerischen Hades (denn das wäre ja, als Glaube
der Geten, für Herodot und seine Leser gar nichts Bemerkenswerthes
gewesen) sondern ein vollbewusstes und hierin dem Leben auf Erden
gleichstehendes Dasein ohne Ende.
2).
ἀϑανατίζουσι δὲ καὶ Τέριζοι (τερετιζοι Phot.) καὶ Κρόβυζοι καὶ τοὺς
ἀποϑανόντας ὡς Ζάλμοξίν φασιν οἴχεσϑαι. Phot. Suid. Etym. M. s. Ζάμολξις.
Die Krobyzen sind ein wohlbekannter thrakischer Stamm; die Terizen
werden sonst nirgends erwähnt, vielleicht darf man sie in der Gegend der
Τίριστις, Τίριξις ἄκρα (vgl. C. Müller zu Arrian peripl. Pont. eux. § 35)
= Cap Kaliakra suchen (dort auch Τιριστὶς πόλις Ptolem.). Dann wären
sie Nachbarn der Krobyzen.
3).
οὐκ ἀποϑνήσκειν ἀλλὰ μετοικίξεσϑαι νομίξοντες — von den Geten
Julian, Caes. 327 D. animas (putant) non extingui sed ad beatiora transire.
Pomp. Mela 2, 18.
4).
— τοὺς ἀποϑανόντας ὡς Ζάλμοξίν φασιν οἴχεσϑαι, ἥξειν δὲ αὖϑις.
καὶ ταῦτα ἀεὶ νομίζουσιν ἀληϑεύειν. ϑύουσι δὲ καὶ εὐωχοῦνται ὡς αὖϑις ἥξοντος
τοῦ ἀποϑανόντος. Phot. Suid. Etym. M. s. Ζάμολξις. Pomp. Mela 2, 18:
alii (unter den Thrakern) redituras putant animas obeuntium.
5).
Herod. 4, 95: Zalmoxis, Sklave des Pythagoras auf Samos, kommt,
freigelassen, mit Schätzen in sein armes Vaterland zurück, versammelt die
Vornehmsten des Stammes in einem Saal, bewirthet sie und überredet
sie zu dem Glauben, dass weder er noch sie noch ihre Nachkommen
2).
Bericht des Dio Cass. 59, 28, 6 von Caligula. — Palladius de re rust.
1, 35 p. 42, 11—13 Bip. [contra grandinem]).
5).
sterben, sondern dass sie alle nach dem Tode an einen Ort kommen
werden wo sie alles Gute im Ueberfluss haben. Dann zieht er sich in
ein heimlich erbautes unterirdisches Gemach zurück und bleibt dort drei
Jahre. Die Geten halten ihn für todt. Er aber kommt im 4. Jahre
wieder ans Licht und damit „wurde den Thrakern glaublich was ihnen
Zalmoxis gesagt hatte.“ Sonach musste er (was Herodot übergeht, auch
der aus Herodot abschreibende Pseudohellanicus π. νομ. βαρβαρ. bei Phot.
etc. s. Ζάμολξις) doch auch verkündigt haben, dass er und seine Anhänger
nach Ablauf einer bestimmten Zeit (von drei Jahren) aus dem Jenseits
lebendig wiederkehren würden. Und dass ein solcher Glaube an
„Wiederkehr“ des Verstorbenen in Thrakien bestand, wird ja in den, in der
vorangehenden Anmerkung angeführten Stellen deutlich bezeugt. Die,
selbst dem Herodot verdächtige (ihren Urhebern vermuthlich witzig
scheinende) Geschichte vom Betrug des Zalmoxis ist aber (ähnlich wie
die analogen Erzählungen von Pythagoras, Trophonios, darnach auch von
Empedotimos) nicht ganz frei erfunden, sondern nur eine euhemerisirende
Umbiegung wunderbarer Legenden. Das Entweichen des Zalmoxis in
ein unterirdisches Gemach ist eine Entstellung des Glaubens an seinen
dauernden Aufenthalt in einem hohlen Berge, einem ἀντρῶδές τι χωρίον
im Berge Kogaionon, wovon Strabo 7, 298 deutlich genug redet. In
jenem Berge sitzt der Gott, ähnlich wie Rhesos κρυπτὸς ἐν ἄντροις τῆς
ὑπαργύρου χϑονός des Pangaeosgebirges haust (s. oben p. 151, 2); er wohnt
dort ewig lebendig, wie Amphiaraos und Trophonios in ihren Höhlen:
mit diesen stellt den Zalmoxis eben darum zusammen Origenes adv.
Cels.
3, 34 (s. oben p. 113, 1). Man darf wohl sicher den Bericht des
Herodot (4, 94), wonach die ἀπολλύμενοι der Geten παρὰ Ζάλμοξιν δαί-
μονα gehen zu ewigem Leben, dahin ergänzen, dass sie eben in jenen
hohlen Berg, ein unterirdisches Reich der Wonne, zu dem Gotte gelangen.
Wenn Mnaseas den Zalmoxis dem Kronos gleichsetzt (Phot. Suid. Et.
M. s. Ζάμολξις), so liegt die Aehnlichkeit der beiden Götter ohne Frage
darin, dass Beide über den Geistern der Seligen im Jenseits walten. Der
thrakische Glaube muss aber von periodischem Erscheinen des Gottes auf
der Oberwelt gewusst haben. Das lehrt Herodots Erzählung von dem
Betrug des Zalmoxis (die Wiederkehr der Seelen, auf die jene Erzählung
ebenfalls hinweist, ist hierzu eine Art von Parallele). Ob stets nach
Ablauf von drei Jahren die ἐπιφάνεια des Gottes erwartet wurde (wie in
den Dionysosfeiern nach Ablauf von zwei Jahren: s. oben p. 304. 305)?
Unbekannt ist, ob auch diese thrakischen Stämme die ἐπιφάνεια des Gottes
mit enthusiastischen Festen feierten. Auf ein enthusiastisches Element
in dem Cult des Z. scheint es hinzuweisen, wenn man von den thra-
kischen „Aerzten des Zalmoxis“ hört (Plat. Charm. 156 D), und — was
mit der ἰατρική meist eng verbunden ist — von Mantik in diesem Cult.
1).
Hermippus bei Joseph. c. Ap. 1, 22.
2).
In der „Hekabe“ (1243 ff.) weissagt der Thraker Polymestor der
Hekabe, sie werde nach ihrem Tode eine Hündin werden πύρσ̕ ἔχουσα
δέρϒματα. Hek. fragt πῶς δ̕ οἶσϑα μορφῆς τῆς ἐμῆς μετάστασιν; Pol.:
ὁ Θρῃξὶ μάντις εἶπε Διόνυσος τάδε. Es sieht aus, als ob Euripides in der
Berührung des Glaubens an die Metempsychose ein Stück thrakischer
Nationaleigenthümlichkeit zu bieten gemeint habe. Er ist ein guter
Kenner dieser Dinge.
5).
Denn das will es ja bedeuten, wenn Z. selbst ein μάντις heisst (Strab.
16, 762, 4, 297; vgl. auch den sonst werthlosen Bericht des Ant. Diog. bei
Porphyr. v. Pyth. 14. 15). Endlich scheint (wie in den analogen Fällen,
die oben p. 307, 2; 318, 1 berührt sind) auf enthusiastischen Cult bei den
Geten hinzuweisen die Gleichsetzung des Priesters mit dem Gotte. Der
(König und Staat beherrschende: ähnlich dem ἱερεὺς τοῦ Διονύσου bei den
Bessern [oben p. 314, 2], vgl. Jordanes, Get. 71) Oberpriester hiess selbst
„Gott“: Strabo 7, 298. Daher übrigens lag die Verwandlung des schon
von Herodot (4, 96) ganz richtig als δαίμων τις Γέτῃσι ἐπιχώριος aner-
kannten Gottes Zalmoxis in einen Menschen der Vorzeit besonders nahe
(wie sie ja auch bei Strabo 7, 297 f. geschieht; vgl. Jordanes Get. 39).
Wenn der gegenwärtige Priester „Gott“ heisst, so wird, konnte man
schliessen, wohl auch der jetzt „Gott“ genannte Zalmoxis einst nur ein
Priester gewesen sein.
1).
Zusammenhang des thrakischen Dionysoscultes mit dem Unsterb-
lichkeitsglauben und Seelencult findet Rapp, Progr. p. 15 ff. bezeugt durch
die von Heuzey in thrakischen Gegenden gefundenen Inschriften. Ein zu
Doxato (bei Philippi) gefundenes Grabepigramm (C. I. L. III 686) sagt
von einem verstorbenen Jüngling (v. 12 ff.): reparatus vivis in Elysiis.
Sic placitum est divis, aeterna vivere forma qui bene de supero lumine sit
meritus. — nunc seu te Bromio signatae mystides ad se florigero in
prato congregem uti Satyrum, sive canistriferae poscunt sibi Naïdes aeque,
qui ducibus taedis agmina festa trahas
u. s. w. Es fehlt freilich alles auf
spezifisch thrakischen Cult hinweisende in dieser merkwürdigen Phantasie.
Dagegen deutet die Schenkung eines Bithus und Rufus an die thiasi Liberi
patris Tasibasteni
von 300 Denaren ex quorum reditu annuo rosalibus
(also an dem jährlichen Seelenfest) ad monimentum eorum vescentur
(C. I. L. III 703) schon durch den localen Beinamen des Dionys (vgl. ib. 704)
auf speciell thrakischen Cult des Gottes und Zusammenhang desselben mit
dem Seelencult hin. Auch die Verbindung, in die Euripides Hec. 1243 ff.
den Glauben an Palingenesie mit dem Orakel des thrakischen Dionys
setzt, scheint einen Zusammenhang dieses Glaubens mit dem Dionysoscult
vorauszusetzen.
2).
πολλοὶ μὲν ναρϑηκοφόροι, παῦροι δέ τε Βάκχοι. Der orphische Vers
(Lob. Agl. 813 ff.) will, eigentlich verstanden, besagen, dass unter der
1).
Selbst nach Aufhören der ἔκστασις scheinen dem Ekstatischen die ge-
habten Gesichte thatsächlichen Inhalt gehabt zu haben: οἷον συνέβη Ἀντι-
φέροντι τῷ Ὠρείτῃ καὶ ἄλλοις ἐξισταμένοις. τὰ ϒὰρ φαντάσματα ἔλεϒον ὡς ϒενό-
μενα καὶ ὡς μνημονεύοντες. Arist. π. μνήμης p. 450 a, 8. — „Zauberer, die
nachher zum Christenthum bekehrt wurden, waren gewöhnlich auch später
noch von der Wirklichkeit früherer Erscheinungen überzeugt, sie waren
ihnen als etwas Reales vorgekommen.“ Müller, Amerik. Urrel. 80. Zu
den dort gegebenen Beispielen vgl. noch Tylor, Primit. cult. 2, 120. Cranz,
Hist. von Grönl. 1, 272.
2).
S. oben p. 6 ff.
2).
grossen Zahl der Theilnehmer an den bakchischen Feiern doch nur wenige
sich mit Recht mit dem Namen des Gottes selbst benennen, als durch
ihre ekstatische Erregung mit ihm eins geworden. Es war hierzu eine
eigene morbide Anlage erforderlich. Dieselbe, welche unter anderen Ver-
hältnissen zum ächten Schamanen, Piaje u. s. w. befähigt.
1).
Herodot 5, 4 (von den Τραυσοί. So auch Hesych. s. Τραῦσοι). Die
Erzählung ging dann in den bleibenden Bestand der, zur Erläuterung des
Unstäten des νόμος benutzten νόμιμα βαρβαρικά über. Sie wird bald von
den Κρόβυζοι (bei denen auch der Unsterblichkeitsglaube blühen sollte,
s. oben p. 320, 2) erzählt: Isigon. mirab. 27, bald (vielleicht nach dem
Vorgang des Ephorus) von den Καυσιανοί: so Nic. Damasc. mirab. 18
(West.); Zenob. prov. 5, 25 p. 128, 5 Gott. (Καύσιοι, Καυσιανοί). So auch
in einem Rest irgendwelcher vor dem 3. Jahrhundert geschriebener νόμιμα
βαρβαρικά (die just dem Aristoteles zuzuschreiben keinerlei Grund ist)
bei Mahaffy, On the Flinders Petrie Papyri, Transscript. p. 29: Καυ-
σιανοῖς δὲ νόμιμον τοὺς μὲν γινομένους ϑρηνεῖν, τοὺς δὲ τελευτῶντας εὐδαι-
μονίζειν ὡς πολλῶν κακῶν (so oder πόνων ist wohl zu ergänzen, nach Euri-
pides in dem berühmten Fragment des Kresphontes: ἐχρῆν γὰρ ἡμᾶς
fr. 450, das wohl auf Herodots Bericht anspielt) ἀναπεπαυμένους.
Thraker im Allgemeinen, einen nicht bestimmt bezeichneten thrakischen
Stamm nennen Sext. Empir. Pyrrh. hypot. 3, 232, Val. Max. 2, 6, 12 (beide
1).
ὅσων κακῶν ἐξαπαλλαχϑεὶς ἐστὶ ἐν πάσῃ εὐδαιμονίῃ. Herod.
2).
S. Julian Caesar. 327 D. Pomp. Mela 2, 18. Von den Καυσιανιοί
ähnlich der Anonymus bei Mahaffy a. O. p. 29, 10—12. — Jamblich v.
Pyth.
173: infolge des von Zalmoxis gelehrten (pythagoreischen) Un-
sterblichkeitsglaubens ἔτι καὶ νῦν οἱ Γαλάται [diese weil von Zalm. unter-
richtet: gleiche fabelhafte Quelle wie bei Hippolyt. ref. haer. p. 9, 25 ff.
Mill.] καὶ οἱ Τράλεις καὶ πολλοὶ τῶν βαρβάρων τοὺς αὑτῶν ὑιοὺς πείϑουσιν,
ὡς οὐκ ἔστι φϑαρῆναι τὴν ψυχήν — καὶ ὅτι τὸν ϑάνατον οὐ φοβητέον, ἀλλὰ
πρός τοὺς κινδύνους εὐρώστως ἑκτέον. (Τράλεις] τραλις die Hs. Τράλλεις,
sachlich richtig, Scaliger. Aber ΤΡΑΛΕΙΣ heissen die, nach dem Stamme
genannten Pergamenischen Soldtruppen: Ins. v. Pergamon I, n. 13, 23. 59.
Die Traler waren ein südthrakischer Stamm: Plut. Agesil. 16 [vgl. Hesych.
s. Τραλλεῖς. Strabo 14, 649; p. 119, 15 Kram. Schr. Τραλλέων. Tralli
Thraeces
Liv. 38, 21, 2. Andremale nennt er die Traler Illyriorum genus
27, 32, 4. 31, 35, 1. Es scheint illyrische, von den thrakischen ganz ver-
schiedene Traler gegeben zu haben. Vgl. Steph. Byz. v. Βῆγις, Βόλουρος,
Τραλλία]).
3).
Appetitus maximus mortis. Martian. Capell. 6, 656. Vorzugsweise
die Thraker meint wohl auch Galen, wenn er von βαρβάρων ἐνίοις spricht,
welche die Meinung hegten, ὅτι τὸ ἀποϑνήσκειν ἐστὶ κυλόν (XIX p. 704).
1).
deutlich aus Sammlungen von νόμιμα βαρβαρικά schöpfend); Pomp. Mela
2, 18; Archias, anthol. Palat. 9, 111. Es gab also drei Quellen des Be-
richts: ausser Herodot noch zwei andere, in denen die Krobyzen oder die
Kausianer statt der bei Herodot erwähnten Trauser genannt waren.
1).
Dass Dionysos der griechische Name des Gottes ist, darf man
festhalten, wenngleich eine glaubliche Etymologie des Wortes noch nicht
gefunden ist. Der neulich gemachte Versuch einer Ableitung aus dem
Thrakischen hat wenig Einleuchtendes. Auch haben die Alten niemals
Διόνυσος (Διώνυσος, Δεύνυσος u. s. w.) als die thrakische Benennung des
Gottes angesehen und dafür ausgegeben, wie doch Σαβάζιος u. s. w. —
Läge in Διόνυσος etwas wie: Διὸς Νυσήϊος ὑιός, so wäre mit dem Namen
Dion. wohl gar schon die Sage von der Abstammung von Zeus (und
Semele) und also die Einfügung des fremden Gottes in die hellenische
Götterfamilie gegeben. Aber davon wissen die homerischen Gedichte
noch nichts (ausser in der späten, hesiodisirenden Stelle, Il. 14, 323 ff.)
und es ist kein Grund, einen solchen Sinn in dem Namen des Gottes zu
finden.
1).
Die Weiber in Böotien ἐνϑεώτατα ἐμάνησαν (vgl. Eurip. Bacch.)
ταῖς Λακεδαιμονίων γυναιξὶν ἐνέπεσέ τις οἶστρος βακχικὸς καὶ ταῖς τῶν
Χίων. Aelian. var. hist. 3, 42. Ganz allgemein vom Rasen der Weiber in
Argos (τῶν ἐν Ἄργεϊ γυναικῶν μανεισέων) redet Herodot 9, 34, wo andere
nur von Raserei der Töchter des Proitos sprechen. Beides schliesst sich
nicht aus, es sind zwei Stadien derselben Geschichte. Das μαίνεσϑαι der
gesammten weiblichen Bevölkerung ist nicht (wie es in späteren Berichten
allerdings bisweilen aussieht) eine Strafe des Dionysos, sondern nur ein
anderer Ausdruck für die Annahme seines Cultes (= βακχεύειν Ant. Lib. 10)
der eben im μαίνεσϑαι besteht. Das μαίνεσϑαι der einzelnen anfangs der,
epidemisch um sich greifenden, dionysischen Schwärmerei widerstrebenden
Frauen (auch der Töchter des Eleuther: Suid. s. μελαναιγ. Διόν.) ist eine
Strafe des erzürnten Gottes insoweit es sie zur Erwürgung der eigenen
Kinder treibt. — Das allgemein verbreitete „Rasen“ im neu eindringen-
den Dionysoscult berührt auch Diodor 4, 68, 4; Apollodor. 2, 2, 2, 5; Pau-
san. 2, 18, 4. Vgl. Nonnus Dionys. 47, 481 ff.
2).
Kampf des Perseus gegen den mit den Mänaden heranziehenden
1).
Deutlich ist dies namentlich in der auf Orchomenos bezüglichen
Sage: vgl. den Bericht bei Plut. Quaest. graec. 38. Auch für die übrigen
Sagen ist gleicher Anlass im Opferritual sehr wahrscheinlich. Vgl. Welcker,
Gr. Götterl. 1, 444 ff.
2).
Dionysos; Sieg des Perseus, aber endlich Versöhnung, Einrichtung eines
Cultus, Errichtung eines Heiligthums des Dionysos Kresios: Pausan. 2, 20, 4;
22, 1; 23, 7. 8. Aehnlich Nonnus, Dionys. 47, 475—741; Apollod. 3, 5,
2, 3; Schol. V. Il. 14, 319. Vgl. Meineke, Anal. Alex. 51. (Dionysos fällt im
Kampfe gegen Perseus: Dinarch „der Dichter“ bei Euseb. chron. Il, p. 44.
45 [a. 718 Abr.]. S. Lobeck, Agl. 573 f.) — Lykurg gehört eigentlich
nicht in diese Reihe; die Sage von ihm, wie sie Apollodor 3, 5, 1 (wahr-
scheinlich nach der Gestaltung, die Aeschylus ihr gegeben hatte) erzählt,
ist eine spätere Umdichtung der bei Homer erhaltenen Fabel nach dem
Vorbild der Geschichten von Pentheus und von den Minyaden oder von
den Proetiden.
1).
Vgl. noch Schol. Arist. Ach. 243.
2).
Vgl. Eurip. Bacch. 213 ff. 487. 32 ff. Die Töchter des Minyas
ἐπόϑουν τοὺς γαμέτας (s. Perizon.) καὶ διὰ τοῦτο οὐκ ἐγένοντο τῷ ϑεῷ μαι-
νάδες. Aelian. var. hist. 3, 42. Bezeichnend ist der in den Sagen überall
hervortretende Gegensatz der Hera, die die Ehe hütet, zu Dionysos.
3).
ὀρσιγύναικα Διόνυσον — unbek. Dichter bei Plut. de exil. 17;
Sympos.
4, 6, 1; de EI ap. D. 9. ἵλαϑι, εἰραφιῶτα, γυναιμανές: hymn.
Homer. 34, 17.
4).
Wie eine Ansteckung, eine Feuersbrunst. ἤδη τόδ̕ ἐγγὺς ὥστε πῦρ ἐφάπ-
τεται ὕβρισμα Βακχοῦ, ψόγος ἐς Ἕλληνας μέγας. Pentheus bei Eurip. Bacch. 777.
1).
S. die bei Hecker, Die gr. Volkskrankh. des Mittelalters2 p. 150 f.,
186 ff. mitgetheilten Berichte, besonders den des Petrus de Herentals (bei
Steph. Baluzius Vitae Pap. Avinionens. 1, 483). „quaedam nomina daemonio-
rum appellabant.
“ Der Tanzende cernit Mariae filium et coelum apertum.
— Die meister von der heiligen schrift di besworen der denzer endeiles, di
meinten, daz si besessen weren von dem bosen vigende.
(Limburger Chronik
p. 64, 26 ed. Wyss [Mon. Germ.]).
1).
Aufzählung bei Weniger, Dionysosdienst in Elis (1883) p. 8.
2).
In Delphi das Fest ἡρωΐς, an dem die dionysischen Thyiaden
betheiligt waren; eine Σεμέλης ἀναγωγή machte den Inhalt der δρώμενα
φανερῶς aus (Plut., Quaest. Gr. 12), der Name ἡρωΐς weist auf ein all-
gemeines Seelenfest hin (vgl. Voigt, Myth. Lex. 1, 1048) [ein anderes
allgemeines Heroenfest in Delphi, s. oben p. 170]. In Athen bildete das
grosse Seelenfest der Choën und Chytren (s. oben p. 216 ff.) einen Theil
der Anthesterien. Gerade an diesen ἀρχαιότερα Διονύσια (Thucyd. 2, 15, 3)
erscheint Dionysos nach altem Glauben als Herr der Seelen. So war
auch in Argos, einem der ältesten Sitze des Dionysoscultes, das diony-
sische Fest der Agriania zugleich ein Seelenfest: νεκύσια Hesych s.
ἀγρίανια (specialisirt: ἐπὶ μιᾷ τῶν Προίτου ϑυγατέρων [Iphinoë: Apollod.
2, 22, 8], Hesych. s. ἀγράνια; auch so ist es ein Todtenfest). — Aus
Plut. de EI ap. D. 9 ist, bei der ununterscheidbaren Vermengung delphi-
scher Cultverhältnisse mit den Meinungen ungenau bezeichneter ϑεολόγοι,
in der Plutarch sich in jenem Capitel gefällt, leider nicht mit Bestimmt-
heit zu entnehmen, ob es die Delpher sind, die Διόνυσον καὶ Ζαγρέα καὶ
Νυκτέλιον καὶ Ἰσοδαίτην ὀνομάζουσιν, oder ob dies nur von den ϑεολόγοι
(und dann wohl von Orphikern) gilt.
3).
Agrionien, dem „wilden“ Gotte (ὠμηστὴς καὶ ἀγριώνιος, im Gegen-
satz zum χαριδότης καὶ μειλίχιος Plut. Anton. 24) geweiht, in Theben, in
Argos. ἀγριώνια καὶ νυκτέλια, ὧν τὰ πολλὰ διὰ σκότους δρᾶται, den ὀλύμπια
ἱερά entgegengesetzt bei Plut. Q. Rom. 112. Bakchisches Getöse (ψόφος)
an den νυκτέλια: Plut. Sympos. 4, 6 p. 672 A. — Tempel des Dion.
Νυκτέλιος zu Megara: Paus. 1, 40, 6. Nächtliche Feiern (νύκτωρ τὰ πολλά
Eurip. Bacch. 486) an den Dionysien zu Lerna: Paus. 2, 37, 6; an dem
Feste des Διόνυσος Λαμπτήρ zu Pellene: Paus. 2, 37, 6 (ὄργια des Dionys
bei Melangeia in Arkadien: Paus. 8, 6, 5; zu Heraia: Paus. 8, 26, 1). —
Der orgiastische Dionysoscult scheint sich namentlich auch in Sparta ge-
1).
Welcker, Gr.. Götterl. 1, 444. — Auf Menschenopfer an thraki-
schen Dionysosfesten deutet doch die wunderliche Erzählung des Porphy-
rius, de abstin. 2, 8 von den Βάσσαροι (die er für einen Volksstamm zu
halten scheint) hin.
2).
Noch Clemens Alex., Arnobius, Firmicus Maternus reden von der
ὠμοφαγία der Bakchen als bestehender Cultsitte. S. Bernays, Die heraklit.
Briefe
73. Noch Galen spricht ebenso von der Schlangenzerreissung an
bakchischen Festen (citirt von Lobeck, Agl. 271, a): zum Fang der
Vipern κάλλιστός ἐστι καιρὸς-ὓν καὶ αὐτὸς ὁ Ἀνδρόμαχος (V. 79 ff. seines
Gedichtes) ὲδήλωσεν, ἡνίκα καὶ οἱ τῷ Διονύσῳ βακχεύοντες εἰώϑασι διασπᾶν
τὰς ἐχίδνας, παυομένου μὲν τοῦ ἦρος, οὄπω δ̕ ἠργμένου τοῦ ϑέρους (de antid.
1, 6; XIV 45 K.) ἡνίκα-ἐχίδνας sind Worte des Galen, nicht des Andro-
machos. Vgl. noch Prudent. adv. Symm. 1, 130 ff.
3).
Man erinnere sich der merkwürdigen Erzählung des Herodot (4, 79)
von dem Skythenkönig, der sich in Borysthenes einweihen liess in die
Orgien des Dionysos Bakcheios, ὃς μαίνεσϑαι ἐνάγει ἀνϑρώπους, und wie seinen
Skythen ein solcher Gottesdienst anstössig war. Er galt ihnen als specifisch
griechisch: ein Borysthenite sagt zu den Skythen: ἡμῶν γὰρ καταγελᾶτε, ὦ
Σκύϑαι, ὅτι βακχεύομεν καὶ ἡμᾶς ὁ ϑεὸς λαμβάνει. νῦν οὗτος ὁ δαίμων καὶ
τὸν ὑμέτερον βασιλέα λελάβηκε καὶ βακχεύει καὶ ὑπὸ τοῦ ϑεοῦ μαίνεται.
3).
halten zu haben. Von dem οἶστρος βακχικός, der einst die Weiber in
Sparta ergriff, redet Aelian v. h. 3, 42; von den fanatischen bakchischen
Feiern auf den Berggipfeln gibt eine Andeutung Alkman fr. 34 (aufs
gründlichste missgedeutet von Welcker, Kl. Schr. 4. 49 ff.). Sprichwört-
lich: virginibus bacchata Lacaenis Taygeta, Virg. Georg. 2, 487. Ein eigenes
Wort bezeichnete die bakchische Wuth dieser spartanischen Maenaden:
δύσμαιναι hiessen sie (Philargyr. zu Virg. G. 2, 487. Hesych. s. δύσμαιναι.
S. Meineke, Anal. Alex. 360). Neben der ekstatischen Bergfeier konnte
sehr wohl das Verbot des trunkenen Herumziehens in Stadt und Land
bestehn, von dem Plato, Leg. 1, 637 A. B. redet.
1).
Vgl. die merkwürdigen Berichte des Plutarch, mul. virt. 249 B,
bei Gell. 15, 10, Polyaen. 8, 63; und des Lucian πῶς δεῖ ἱστορίαν
συγγρ. 1.
2).
Anderer Art sind die mit ähnlichen Erscheinungen auftretenden,
aber der religiösen Färbung entbehrenden Formen vorübergehenden
Wahnsinns, die Aretaeus p. 82 K., Galen. VII p. 60. 61 (Fall des Theo-
philus) beschreiben.
1).
Erscheinungen des κορυβαντιασμός: Hören von Flötenklang: Plat.
Crito 54 D (Max. Tyr. diss. 38 p. 220 R), vgl. Cicero de divinat. I § 114.
Sehen von φαντασίαι: Dionys. Hal. de Demosth. 22 (und dieses Träumen
ohne Schlaf, einen der Hypnose ähnlichen Zustand, meint wohl Plinius
nat. hist. 11, 147: patentibus oculis dormiunt multi homines, quos cory-
bantiare Graeci dicunt
). Aufregung, Herzklopfen, Thränenerguss: Plat.
Symp. 215 E. Tanzwuth: οἱ κορυβαντιῶντες οὐκ ἔμφρονες ὄντες ὀρχοῦνται.
Plat. Ion. 534 A. „Nüchterne Trunkenheit“ μέϑη νηφάλιος der κορυβαν-
τιῶντες: Philo de mund. opif. p. 16 M. — Der Name drückt aus, dass
diese Kranken für „besessen“ von den Korybanten galten. κορυβαντιᾶν
τὸ Κορύβασι κατέχεσϑαι Schol. Ar. Vesp. 9. Denn die Korybanten μανίας
καὶ ἐκϑειασμοῦ εἰσιν ἐμποιητικοί Schol. Vesp. 8. ἔνϑεος ἐκ σεμνῶν Κορυ-
βάντων Eurip. Hippol. 142. Dort Schol.: Κορύβαντες μανίας αἴτιοι. ἔνϑεν
καὶ κορυβαντιᾶν. — Besonders anschaulich redet von der korybantischen
Raserei der Phryger Arrian an einer wenig beachteten Stelle, bei
Eustath. ad Dion. Perieg. 809: — μαίνονται τῇ Ῥέᾳ καὶ πρὸς Κορυβάντων
κατέχονται, ἤγουν κορυβαντιῶσι δαιμονῶντες. ὅταν δὲ κατάσχῃ αὐτοὺς τὸ
ϑεῖον, ἐλαυνόμενοι καὶ μέγα βοῶντες καὶ ὀρχούμενοι προϑεσπίζουσι τὰ μελ-
λοντα, ϑεοφορούμενοι καὶ μαινόμενοι. Man bemerkt leicht die voll-
kommene Aehnlichkeit dieses Zustandes mit der Ekstase im Bakchos-
dienst.
2).
Heilung der korybantisch Erregten durch Tanz und Musik: Plato,
Leg. 7, 790 D. E, 791 A. Dass im Besonderen die Flötenweisen des
Olympos die Eigenschaften haben sollten, als ϑεῖα, die zur korybantischen
Ekstase Neigenden (durch die begeisternde Wirkung, die sie auf solche
ausübten) kenntlich zu machen und zu heilen, lässt namentlich die Aus-
führung bei Plato, Symp. 215 C—E erkennen, in welcher ganz offenbar
die 215 E genannten κορυβαντιῶντες (da E nur die Anwendung des C im
Allgemeinen Gesagten giebt) nicht verschieden sind von den 215 C er-
wähnten ϑεῶν καὶ τελετῶν δεόμενοι. Auf die homöopathisch, durch Auf-
regung und Entladung des krankhaften Triebes zu bewirkende Heilung
der κορυβαντιῶντες geht also zunächst alles was von der phrygischen Ton-
art als ἐνϑουσιαστική, den μέλη Ὀλύμπου als die Seelen zum Enthusiasmus
aufregend gesagt wird (Aristot., Polit. p. 1340 b, 4. 5; 1342 b. 1 ff.,
1340 a, 8; Pseudoplat. Minos 318 B. Vgl. Cicero de divin. 1, 114). Die
2).
κορυβαντιῶντες meint Aristoteles auch Polit. p. 1342 a, 7 ff. — καὶ γὰρ
ὑπὸ ταύτης τῆς κινήσεως (nämlich τοῦ ἐνϑουσιασμοῦ) κατακώχιμοί τινές εἰσιν·
ἐκ δὲ τῶν ἱερῶν μελῶν ὁρῶμεν τούτους, ὅταν χρήσωνται τοῖς ὀργιάζουσι τὴν
ψυχὴν μέλεσι, καϑισταμένους ὥσπερ ἰατρείας τυχόντας καὶ καϑάρσεως. Ganz
analog setzt Plato Leg. 7, 790 D ff. auseinander, wie den μανικαὶ διαϑέσεις
der korybantisch Besessenen οὐχ ἡσυχία ἀλλὰ τοῦναντίον κίνησις verhelfe
zur Wiedergewinnung der ἕξεις ἔμφρονες. (Und aus diesen priesterlich-
musikalischen, nicht aus den eigentlich medicinischen Erfahrungen und
Praktiken hat Aristoteles, der Anregung des Plato, Rep. 10, 606 folgend,
die Vorstellung von der durch vehemente Entladung — und nicht, wie
neuerdings wieder erklärt wird, vermittelst Beruhigung der Affecte durch
einen „versöhnenden Schluss“ — bewirkten κάϑαρσις τῶν παϑημάτων auf die
Tragoedie übertragen). Dieser κάϑαρσις und ἰατρεία der κορυβαντιῶντες
dienten die Weihefeste der Korybanten (deren wahre Βάκχοι, „heils-
bedürftige“ und heilsfähige Theilnehmer, die κορυβαντιῶντες sind), die
ὲπὶ καϑαρμῷ τῆς μανίας vorgenommenen Κορυβάντων μυστήρια (Schol.
Ar. Vesp. 119. 120 [ἐκορυβάντιζε]), τελετὴ τῶν Κορυβάντων (Plato, Euthyd.
277 D; dabei die ϑρόνωσις: s. Dio Chrys. 12 p. 388 R; Lobeck, Aglaoph.
116. 369), die μητρῷα καὶ κορυβαντικά τέλη (Dionys. de Dem. 22). Bei
diesen, im Κορυβαντεῖον (Herodian. ed. Lentz 1, 375, 15; append. prov.
2, 23) vorgenommenen Weihefesten (κορυβαντισμός · κάϑαρσις μανίας Hesych.)
fand eben jene begeisternde Musik statt, und χορεία (Plato, Euth. a. O.)
ἦχοι z. B. Schall der τύμπανα (vgl. Arist. Vesp. 120 f. Lucian. dial. deor.
12, 1) auch, wie es scheint, Räucherungen (ὀσμαί: Dionys. Dem. 22, vgl.
oben p. 309 f. Anm. 3). Alle diese Erregungsmittel steigerten den patho-
logischen Hang der κορυβαντιῶντες und brachten ihnen durch dessen
heftige Entladung Erleichterung. — An der Thatsächlichkeit des Vor-
kommens solcher krankhaften Affectionen und ihrer Medication durch
Musik u. s. w. ist nicht zu zweifeln. Offenbar dieselbe Form psychischer
Störung war es, die im Mittelalter in Italien unter dem Namen des
Tarantismus ausbrach und Jahrhunderte lang sich wiederholte; auch
hiebei war Musik, der Klang einer ganz bestimmten Weise, Erregerin
und eben dadurch zuletzt Heilerin der Tanzwuth; vgl. Hecker, Die gr.
Volkskr. des
MA. 172. 176 ff. — Fabelhafter klingen andere Berichte der
Alten von der Heilung der Wuth, der Liebesleidenschaft, ja der Ischias,
durch Flötenmusik (Pythagoras, Empedokles, Damon, Theophrast). Die
Ueberzeugung von der heilenden Kraft der Musik, besonders der Flöten-
musik, scheint von den Erfahrungen an den καϑάρσεις der Korybantenfeste
ihren Ursprung genommen und sich dann ins Fabelhafte ausgedehnt zu
haben. An der Heilbarkeit der μανία durch cantiones tibiarum zweifelten
1).
ὦ μάκαρ ὅστις-ϑιασεύεται ψυχάν, ἐν ὄρεσσι βακχεύων, ὁσίοις καϑαρ-
μοῖσιν
Eurip. Bacch. 75 ff. — dicunt sacra Liberi ad purgationem ani-
mae pertinere
Serv. ad. Virg. Georg. 2, 389 (vgl. dens. zu Aen. 6, 741).
2).
Wie der Διόνυσος μειλίχιος (σαώτης, ἐλευϑερεύς), so der Δ. λύσιος
wird (der üblichen politischen Deutung zuwider) von Voigt, Mythol. Lex.
1, 1062 mit Recht als der „Befreier vom orgiastischen Wahnsinn“ auf-
gefasst. Diese Bedeutung ergiebt sich für den λύσιος schon aus der Ent-
gegensetzung mit dem Βάκχειος, welcher unbestritten der Gott ist ὃς
μαίνεσϑαι ἐνάγει ἀνϑρώπους (Herod.): in Korinth (Paus. 2, 2, 6) in
Sikyon (Paus. 2, 7, 5. 6). So Διόν. βακχεύς und μειλίχιος auf Naxos:
Ath. 3, 78 C.
3).
Der κατάλογος γυναικῶν, wie es scheint: fr. 54 Rz. Vielleicht
aber auch die Melampodie (fr. 184 Kink).
4).
ἐμάνησαν, ὡς Ἡσίοδός φησιν, ὅτι τὰς Διονύσου τελετὰς οὐ κατεδέχοντο.
Apollodor. bibl. 2, 2, 2, 2 (vgl. 1, 9, 12, 8). In derselben Geschichte (in
2).
auch Aerzte nicht: s. Coel. Aurel. morb. chron. I 5, 175. 178 (Asclepiades);
Coel. Aur. d. h. Soranus leugnet sie freilich (ib. § 176). Sie beruht ganz
auf der, dem κορυβαντισμός ursprünglich angehörigen Theorie von der
Heilung durch Steigerung und Brechung des Affects.
1).
Apollod. 2, 2, 2. Auf die Ἀργεῖαι γυναῖκες (die nach Apoll. § 5
auch von der Wuth angesteckt worden waren) im Allgemeinen bezog
sich die Heilung durch Mel. nach Herodot 9, 34; Diodor. 4, 68, 4 (-τὰς
Ἀργείας, ἢ ὥς τινες μᾶλλον φασί, τὰς Προιτίδας Eustath. a. O. κατὰ τὴν
ἱστορίαν). ϑεραπεύειν, sagt Diodor.; ἐκάϑηρεν Schol. Pind. Nem. 9, 30.
(purgavit Serv. a. O.).
2).
Μελάμπους παραλαβὼν τοὺς δυνατωτάτους τῶν νεανιῶν μετ̕ ἀλα-
λαγμοῦ καί τινος ἐνϑέου χορείας
ἐκ τῶν ὀρῶν αὐτἀς (die zuletzt sehr
zahlreich gewordenen rasenden Weiber: § 5. 6) ἐς Σικυῶνα συνεδίωξε
Apollod. 2, 2, 2, 7. — Dem Verfahren des Melampus entsprechend, und
vielleicht darauf bezüglich ist die Schilderung des Plato, Phaedr. 244 D. E.
ἀλλὰ μὴν νόσων γε καὶ πόνων τῶν μεγίστων, ἃ δὴ παλαιῶν ἐκ μηνιμάτων
ποϑὲν ἔν τισι τῶν γενῶν, ἡ μανία ἐγγενομένη καὶ προφητεύσασα οἷς ἔδει
ἀπαλλαγὴν εὕρετο, καταφυγοῦσα πρὸς ϑεῶν εὐχάς τε καὶ λατρείας, ὅϑεν δὴ
καϑαρμῶν τε καὶ τελετῶν τυχοῦσα ἐξάντη ἐποίησε τὸν ἑαυτῆς ἔχοντα πρός
τε τὸν παρόντα καὶ τὸν ἔπειτα χρόνον, λύσιν τῷ ὀρϑῶς μανέντι καὶ κατα-
σχομένῳ
τῶν παρόντων κακῶν εὑρομένη. Dies ist eine Beschreibung der
Heilkünste des bakchischen und korybantischen Enthusiasmus, aber auf
bestimmte einzelne, für alle spätere enthusiastische Kathartik vorbildliche
Vorgänge mythischer Vorzeit bezüglich.
3).
καϑαρμοί: Apoll. § 8. Die gewöhnlichen kathartischen Mittel,
σκίλλα, ἄσφαλτος, Wasser u. s. w. denkt sich angewendet Diphilus bei
Clem. Al. Strom. 7 p. 713 D. Die schwarze Niesswurz (ἐλλέβορος μέλας)
hiess im populären Ausdruck μελαμπόδιον, weil Melampus zuerst sie ge-
schnitten und verwendet haben sollte (Theophrast. h. pl. 9, 10, 4), näm-
lich als er die Προίτου ϑυγατέρας μανείσας heilte und „reinigte“ (Galen.
de atra bile 7; V 132: wohl nur aus Versehen nennt er die weisse Niess-
wurz), vgl. Dioscor. mat. med. 4, 149 (wo der alte καϑαρτής zu einem
4).
der nur, wahrscheinlich aus chronologischen Gründen, statt Proitos dessen
Enkel Anaxagoras eingesetzt ist): τὰς Ἀργείας γυναῖκας μανείσας διὰ τὴν
Διονύσου μῆνιν. Diodor. 4, 68, 4 (μανία — unter Anaxagoras — Paus.
2, 18, 4. Eustath. Il. 2, 568 p. 288, 28). — Sonst gilt Hera als die
Senderin der μανία: Acusil. bei Apollod. 2, 2, 2, 2. Pherecyd. in Schol.
Odyss. o, 255: Probus und Servius zu Virg. ecl. 6, 48. Dies ist spätere, auf
anderer Auffassung des „Rasens“ beruhende Sagenwendung.
1).
Melampus ὁ Ἕλλησιν ἐξηγησάμενος τοῦ Διονύσου τό τε οὔνομα καὶ
τὴν ϑυσίην καὶ τὴν πομπὴν τοῦ φαλλοῦ. Herod. 2, 49. Herodots dort
vorgebrachte Combinationen über den Zusammenhang des Mel. mit
Aegypten u. s. w. sind natürlich geschichtlich ganz werthlos und sein
eigener Besitz; aber gerade den Melampus als den Einführer dionysischer
Religion zu nennen, kann ihn nur eine ältere Ueberlieferung (eine sagen-
hafte, versteht sich) veranlasst haben. Man kann nicht daran zweifeln,
dass auch er, wie Hesiod, unter dem μανῆναι der von Mel. geheilten
argivischen Weiber (9, 34) eben dionysische Raserei versteht.
2).
Μελάμπους φίλτατος ὢν Ἀπόλλωνι — Hesiod. Eöen beim Schol.
Ap. Rhod. 1, 118. φίλος Ἀπόλλωνι Diodor. 6, 7, 7 Dind. Als apollini-
scher μάντις gilt, wie bei Homer alle μάντεις, ohne Zweifel Melampus
dem Dichter des Stammbaums der Melampodiden (der von der dionysischen
Seite der Thätigkeit des M. noch nichts weiss), Odyss. 15, 244 ff. Wie
er am Alpheios dem Apoll begegnend von diesem die Weihe als treff-
lichster μάντις empfing, erzählt Apollodor 1, 9, 11, 3. So heisst es auch
vom Polypheides, des Melampus Nachkommen, Odyss. 15, 252: αὐτὰρ
ὑπέρϑυμον Πολυφείδεα μάντιν Ἀπόλλων ϑῆκε βροτῶν ὄχ̕ ἄριστον, ἐπεὶ ϑάνεν
Ἀμφίαραος. — Ein anderer Nachkomme des Melampus, Polyeidos,
kommt nach Megara, den Alkathoos vom Morde seines Sohnes zu
„reinigen“, und stiftet ein Heiligthum dem Dionysos: Paus. 1, 43, 5.
3).
Μελάμπους τις αἰπόλος wird [daraus Plin. n. h. 25, 47]: den Grund erräth
man nach Theophr. h. pl. 9, 10, 2). — Der Ort wo die καϑαρμοί statt-
gefunden hatten und die καϑάρσια hingeworfen worden waren, wird,
je nach den Handhaben localer Naturerscheinungen, wechselnd und be-
liebig angegeben: in Arkadien zu Lusoi, in Elis am Fl. Anigros u. s. w.
Ovid. met. 15, 322 ff., Vitruv. 8, 3, 21; Paus. 8, 18, 7. 8; [vgl. Callim.
h. Dian. 233 ff.] 5, 5, 10; Strabo 8, 346 etc.
1).
S. oben p. 134.
2).
Plut. Is. et Os. 35. — Opfer (von Agamemnon) dem Dionys
dargebracht ἐν μυχοῖς Δελφινίου παρ̕ ἄντρα κερδῴου ϑεοῦ. Lycophr. 207 ff.
3).
Plut. EI ap. D. 9 extr. Drei Wintermonate dem Dionys heilig
(wie denn auch zu Athen die dionysischen Hauptfeste in die Monate
Gamelion, Anthesterion, Elaphebolion fallen). Nur während jener drei
Monate ist der Gott auf der Oberwelt. So theilt Kore drei (oder sechs)
Monate lang die Herrschaft im unterirdischen Reiche mit Aïdoneus,
den Rest des Jahres ist sie auf der Oberwelt, παρὰ μητρὶ καὶ ἄλλοις
ἀϑανάτοισιν.
4).
Διονύσῳ τῶν Δελφῶν οὐδὲν ἧττον ἢ τῷ Ἀπόλλωνι μέτεστιν. Plut.
EI ap. D. 9 init.
5).
τὰ δὲ νεφῶν τέ ἐστιν ἀνωτέρω τὰ ἄκρα (τοῦ Παρνασοῦ), καὶ αἱ
Θυιάδες ἐπὶ τούτοις τῷ Διονύσῳ καὶ τῷ Ἀπόλλωνι μαίνονται. Paus. 10, 32, 7.
Parnasus gemino petit aethera colle, mons Phoebo Bromioque sacer, cui
numine mixto Delphica Thebanae referunt trieterica Bacchae.
Lucan. Phars.
5, 72 ff. — Delphos der Sohn des Apollo und der Thyia, der ersten
Priesterin und Maenade des Dionys zu Delphi: Paus. 10, 6, 4.
6).
Δελφοὶ δὲ διπλῇ προσηγορίᾳ τιμῶσιν (σέ, den Apoll), Ἀπόλλωνα
καὶ Διόνυσον λέγοντες. Menander π. ἐπιδεικτ. p. 446, 5 Sp.
1).
Schol. Pind. argum. Pyth. p. 297 Böckh: — τοῦ προφητικοῦ τρί-
ποδος (in Delphi) ἐν ᾧ πρῶτος Διόνυσος ἐϑεμίστευσε — nachher: — δάκτυλον
(einen Theil des νόμος Πυϑικός) ἀπὸ Διονύσου, ὅτι πρῶτος οὗτος δοκεῖ ἀπὸ
τοῦ τρίποδος ϑεμιστεῦσαι. Dionysos scheint hier (da es doch vorher heisst,
dass in dem delphischen μαντεῖον πρώτη Νὺξ ἐχρησμῴδησεν) als πρόμαντις
der Nyx gedacht. So stand in Megara ein Tempel des Διόνυσος Νυκτέλιος
unmittelbar neben und wohl in engster Verbindung mit einem Νυκτὸς
μαντεῖον: Paus. 1, 40, 6.
2).
Paus. 1, 2, 5. Ribbeck, Anf. des Dionysosc. in Att. (1869) p. 8.
Vgl. Demosth. adv. Mid. 52. — Anordnung eines dionysischen Festes
durch das Orakel, in Kolone: Paus. 3, 13, 7; in Alea: Paus. 8, 23, 1
(hier mit Geisselung der Weiber, einem Ersatz alten Menschenopfers, wie
an der διαμαστίγωσις zu Sparta, an die Pausanias erinnert). Einsetzung
des Cultus des Διόνυσος Φαλλήν zu Methymna durch das Orakel: Paus.
10, 19, 3. — Als in Magnesia am Maeander in einer vom Sturm ge-
spaltenen Platane, ein Bild des Dionysos (ein wahrer Διόνυσος ἔνδενδρος)
erschienen war, befiehlt den Abgesandten der Stadt das delphische Orakel,
dem Dionys, der bis dahin keinen Tempel in Magnesia hatte, einen
solchen zu erbauen, einen Priester einzusetzen, und aus Theben, zur
Einrichtung des Cultes, Maenaden aus dem Geschlecht der Ino zu holen
(Μαινάδας αἳ γενεῆς Εἰνοῦς ἄπο Καδμηείης. In diesem γένος, das sich von
Ino, der Nährmutter des Bakchos, ableitete, war also zu Theben der Cult
des Dionysos erblich). Die von den Thebanern gewährten drei Maenaden
(Kosko, Baubo, Thettale genannt) richten den Cult des Gottes ein und
stiften ihm drei, lokal geschiedene ϑίασοι (drei ϑίασοι auch in Theben:
Eur. Bacch. 670 ff.), bleiben bis zu ihrem Tode in Magnesia und werden
1).
S. Rapp, Rhein. Mus. 27, der indessen, bei der im Allgemeinen
sehr zutreffenden Hervorhebung des wesentlich nur ritualen und andeuten-
den Charakters jener Festzüge und Tanzfeste, das in alter Zeit vorwiegende
und auch später gelegentlich immer wieder hervorbrechende ekstatische
Wesen der Dionysosfeiern (ohne dessen reales Dasein man niemals auf
eine ritualistisch symbolisirende Nachahmung eben dieser ἔκστασις ver-
fallen wäre) allzu stark in den Hintergrund schiebt. Wie selbst noch in
später Zeit wirkliche Ekstase und Selbstvergessenheit bei ihren heiligen
Nachtfeiern und deren vielfachen Erregungsmitteln die Thyiaden er-
2).
von der Stadt feierlich begraben (Kosko auf dem „Koskohügel“, Baubo
ἐν Ταβάρνει, Thettale πρὸς τῷ ϑεάτρῳ). ἀρχαῖος χρησμός, mit prosaischer
Erläuterung, erneuert von Ἀπολλώνειος Μοκόλλης, ἀρχαῖος μύστης (des
Dionysos): Mitth. d. arch. Inst. zu Athen 15 (1890) p. 331 f.
1).
ἣν διὰ μαντοσύνην τήν οἱ πόρε Φοῖβος Ἀπόλλων Il. 1, 72.
2).
τὸ ἄτεχνον καὶ ἀδίδακτον (τῆς μαντικῆς) τουτέστιν ἐνύπνια καὶ ἐνϑου-
σιασμοί — [Plut.] de vita et poes. Hom. 2, 212. Homerisch ist nur ἡ τῶν
ἐμφρόνων ζήτησις τοῦ μέλλοντος διά τε ὀρνίϑων ποιουμένη καὶ τῶν ἄλλων
σημείων (Plat. Phaedr. 244 c.).
3).
Jener Pseudoplutarch a. a. O. findet freilich in dem seltsamen
(übrigens jedenfalls von später Hand eingelegten) Bericht von Theo-
klymenos’ Verhalten unter den Freiern, Od. 20, 345—357 die Zeichnung
eines ἔνϑεος μάντις, ἔκ τινος ἐπιπνοίας σημαίνων τὰ μέλλοντα, aber in
Wahrheit ist dort von unnatürlicher Erregung nicht des Sehers, sondern viel-
mehr der Freier die Rede. S. Lobeck, Agl. 264. Aus Il. 1, 92 ff. 7, 44—53
1).
greifen konnte, führt in deutlichem Bilde Plutarchs Erzählung von den
in ihrer Raserei nach Amphissa verirrten Thyiaden (mul. virt. 249 E) vor
Augen, der Rapp p. 22 vergeblich thatsächlichen Gehalt abzusprechen
versucht. Anderes ist vorhin gelegentlich berührt.
1).
Pytho: Od. 8, 80; Il. 9, 404. Dodona: Il. 16, 234; Od. 14, 327 f.,
19, 296 f. Orakelbefragung wohl auch Od. 16, 402 f. S. Nägelsbach, Hom.
Theol.
2 p. 191 f.
2).
S. Lobeck, Aglaoph. 814 f. (schon der stets in Uebung gebliebene
Ausdruck ἀνεῖλεν ὁ ϑεός, ἡ Πυϑία beweist es). Vgl. auch Bergk, Gr.
Litteraturgesch.
1, 334. — In seiner Weise berichtet der hymn. in Mercur.
552—566, wie Apollo das Loosorakal zu Delphi, als zu wenig verlässig
und des Gottes unwürdig, aufgegeben habe.
3).
Denn auch der Fall des Helenos, Il. 7, 44 ff. (den Psplut. vit.
Hom.
2, 212 hierherzurechnen scheint) giebt hievon kein Beispiel (aus-
drücklich unterscheidet Cic. div. 1, 89 die Weissagung des Helenos von
der enthusiastischen der Kassandra).
4).
Selbst der homerische Hymnus auf den pythischen Apollo er-
wähnt, obwohl er doch die Einsetzung des Cultes und Orakels des Apoll
zu Delphi berichtet, nirgends (wie Lobeck, Agl. 264 treffend hervorhebt)
der Pythia. (Nach v. 306 f. sollte man meinen, dass die Wahrsagung
damals noch ausschliesslich männlichen μάντεις oder προφῆται zugefallen
sei).
3).
lässt sich erst recht nicht (mit Welcker, Götterl. 2, 11) auf Homers Kennt-
niss ekstatischer Wahrsagung schliessen. — Die Ableitung des W. μάντις
von μαίνεσϑαι, seit Plato oft wiederholt, würde allerdings schon in den Be-
griff des Wahrsagers überhaupt das Ekstatische legen. Aber diese Ableitung
ist ganz unsicher, ein Zusammenhang mit μανύω viel wahrscheinlicher.
1).
S. Eurip. Iph. Taur. 1230 ff. Die Orakel der Erdgottheiten ge-
schehen immer durch Incubation. — Von der vis illa terrae, quae mentem
Pythiae divino afflatu concitabat
spricht (als einer verschwundenen) schon
Cicero, de divin. 1 § 38 (wie es scheint nach Chrysipp.). Dann wird sie oft
erwähnt. Die Aufstellung des Dreifusses über dem Schlund, aus welchem
der begeisternde Hauch aufströmte, ist gewiss, mit Welcker Götterl. 2, 11,
als eine Reminiscenz an den alten Brauch des Erdorakels, das so mit der
direkten Inspirirung durch Apoll verknüpt wurde, aufzufassen. (Der ἐν-
ϑουσιασμός schliesst Anwendung anderer Erregungsmittel nicht aus. So
trinkt die Pythia auch aus der Begeisterungsquelle [wie die μάντεις zu
Klaros. S. Athen. Mittheil. XI. 430 ff.] und wird dadurch ἔνϑεος [Lucian.
Hermot. 60], gleichwie die Prophetin des Apollo Deiradiotes zu Argos durch
das Trinken von Opferblut κάτοχος ἐκ τοῦ ϑεοῦ γίνεται Paus. 2, 24, 1. Die
Pythia kaut, um begeistert zu werden, Blätter vom heiligen Lorbeer [Luc. bis
accus.
2], der δάφνη, ἧς ποτε γευσάμενος πετάλων ἀνέφηνεν ἀοιδὰς αὐτὸς
ἄναξ σκηπτοῦχος: hymn. mag. bei Abel, Orphica p. 288. In dem heiligen
Gewächs steckt die vis divina, man schlingt sie durch Kauen in sich selbst
hinein. Dies ist die solchen Vornahmen zu Grunde liegende alterthümlich
rohe Vorstellung, wie sie in einem ähnlichen Falle ganz unbefangen aus-
spricht Prophyrius, de abstin. 2, 48).
2).
Z. B. in Sparta: ἔστιν ἐπονομαζόμενον Γάσηπτον ἱερὸν Γῆς · Ἀπόλλων
δ̛ ὐπὲρ αὐτὸ ἵδρυται Μαλεάτης Paus. 3, 12, 8. — Die Legende von Apoll
und Daphne symbolisirt die Ueberwältigung der Erdmantik durch Apollo
und seine Art der Weissagung.
3).
S. oben p. 124. Welcker, Götterl. 1, 520 ff.
1).
S. oben p. 313 f.
2).
Zu Amphikleia in Phokis ein Orakel des Dionysos: πρόμαντις δὲ
ὁ ἱερεύς ἐστι, χρᾷ δὲ ἐκ τοῦ ϑεοῦ κάτοχος Paus. 10, 33, 11. — Wohl auf
Griechenland bezieht sich das Wort des Cornutus c. 30 p. 59, 20 (Lang):
καὶ μαντεῖα ἔσϑ̛ ὅπου τοῦ Διονύσου ἔχοντος —. Plutarch. Sympos. 7, 10, 2
p. 716 B: οἱ παλαιοὶ τὸν ϑεὸν (Dionysos) μαντικῆς πολλὴν ἔχειν ἡγοῦντο
μοῖραν.
3).
Dionysos erster Orakelspender in Delphi: Schol. Pind. argum.
Pyth.
p. 297 (s. oben p. 342,1.). — Dass in Delphi Apollo Erbe der
Mantik des Dionysos sei, nimmt auch Voigt, Mythol. Lex. 1, 1033/34
an, aber er setzt Dionys dem von Apoll verdrängten und erlegten Python
gleich, was sich schwerlich rechtfertigen lässt. Ich meine, dass nach
Verdrängung des chthonischen (Traum-)Orakels Apollo aus dionysischer
Mantik die ihm früher unbekannte Wahrsagung im furor divinus über-
nahm. — Einen völlig klaren und gewissen Einblick in die Verschiebungen
und Verschlingungen wechselnder Potenzen und Einflüsse gewinnen zu
können, aus denen zuletzt die Herrschaft des mannichfaltig zusammen-
gesetzten apollinischen Cultes an dem viel umstrittenen Mittelpunkt grie-
chischer Religion hervorging — das wird Niemand sich zutrauen dürfen.
1).
— ὅσους ἐξ Ἀπόλλωνος μανῆναι λέγουσι (die χρησμολόγους alter
Zeit): Paus. 1, 34, 4. μανία τοῦ χρησμολόγοσ Diogenian. prov. 6, 47. Auch
ἐπίπνοια „Inspiration“: Sittl, Gebärden der Gr. u. R. 345. ὁ ἐνϑουσιασμὸς
ἐπίπνευσίν τινα ϑείαν ἔχειν δοκεῖ Strabo X p. 467. — οἱ νυμφόληπτοι καὶ
ϑέοληπτοι τῶν ἀνϑρώπων, ἐπιπνοίᾳ δαιμονίου τινὸς ὥσπερ ἐνϑουσιάζοντες. Eth.
Eudem. 1214 a, 23.
2).
Ekstatische Erregung der Pythia: Diodor. 16, 26. Christlich ent-
stellt Schol. Arist. Plut. 39 (s. dazu Hemsterh.). ὅλη γίνεται τοῦ ϑεοῦ
Jamblich. de myst. 3, 11 p. 126, 15. Schilderung eines Vorfalls in dem
die wahrsagende Pythia vollständig ἔκφρων wurde: Plut. def. orac. 51.
3).
In der Begeisterungsmantik wird die Seele „frei“ vom Leibe:
animus ita solutus est et vacuus ut ei plane nihil sit cum corpore. Cic. de
divin.
1, 113; vgl. 70 (καϑ̛ ἑαυτὴν γίνεται ἡ ψυχή im Traume und den
μαντεῖαι: Aristot. bei Sext. adv. math. 9, 20, 21. ἡ ἀρχὴ [der νοῦς] ἀπο-
λυομένου τοῦ λόγου ἰσχύει μᾶλλον im Enthusiasmus: Eth. Eudem. 1248 a, 40;
vgl. 1225 a, 28). Das ist ἔκστασις im eigentlichen Verstande (s. oben p. 311 f).
Andere Male wird gesagt, dass der Gott in den Menschen fahre und
dessen Seele ausfülle: dann ist der Mensch ἔνϑεος (s. oben p. 312,4);
pleni et mixti deo vates (Minuc. Fel. 7, 6). Die Priesterin am Branchiden-
orakel δέχεται τὸν ϑεόν: Jamblich. myst. p. 127, 7. — ἐξοικίζεται ὁ ἐν ἡμῖν
νοῦς κατὰ τὴν τοῦ ϑείου πνεύματος ἄφιξιν, κατὰ δὲ τὴν μετανάστασιν αὐτοῦ
1).
S. Bergk, Gr. Litt. 1, 335 A. 58. Die Orakelverse galten als
Verse des Gottes selbst: Plut. de Pyth. orac. 5 ff. — Weil der Gott selbst
aus ihr redet, so kann die Pythia wahre Orakel eigentlich nur geben οὐκ
ἀποδάμου Ἀπόλλωνος τυχόντος (Pindar. Pyth. 4, 5), wenn Apollo in Delphi
anwesend ist, nicht (im Winter) fern im Hyperboreerlande. Darum wur-
den ursprünglich nur im Frühlingsmonat Bysios, in den wahrscheinlich
die ϑεοφάνια (Herodot 1, 51) fielen, Orakel gespendet (Plut. Quaest.
gr. 9). Wie bei den an das Lokal gebundenen Erdorakelgeistern (s. oben
p. 113), so auch bei den durch ἐνϑουσιασμός aus der inspirirten Pro-
phetin wirkenden Göttern ist, nach ältestem (später freilich leicht um-
gedeutetem und umgangenem) Glauben, körperliche Anwesenheit im
Orakelheiligthum während der Wahrsagung erforderlich, die bei diesen
nur eine zeitweilige sein kann. Wenn im Sommer Apollo auf Delos ist
(Virgil. Aen. 4, 143 ff.), findet im Apolloheiligthum zu Patara in Lykien
kein χρηστήριον statt (Herodot. 1, 182). Und im allgemeinen φυγόντων
ἢ μεταστάντων (τῶν περὶ τὰ μαντεῖα καὶ χρηστήρια τεταγμένων δαιμονίων)
ἀποβάλλει τὴν δύναμιν (τὰ μαντεῖα). Plut. def. or. 15.
3).
πάλιν ἐσοικίζεται, κτλ. Philo. Q. ver. div. her. 53 p. 511 M., von der ἔνϑεος
κατοχωτική τε μανία, ᾗ τὸ προφητικὸν γένος χρῆται (p. 509 M.) redend. (Vgl.
de spec. leg. p. 343 M). Dies war auch die in Delphi vorwiegende Vor-
stellung. Was Plutarch def. orac. 9 als εὔηϑες verwirft, τὸ οἴεσϑαι τὸν ϑεὸν
αὐτόν, ὥσπερ τοὺς ἐγγαστριμύϑους, ἐνδυόμενον εἰς τὰ σώματα τῶν προφητῶν
ὑποφϑέγγεσϑαι, τοῖς ἐκείνων στόμασι καὶ φωναῖς χρώμενον ὀργάνοις — das
eben war offenbar die eingewurzelte Meinung (τὸν ϑεὸν εἰς σῶμα καϑειργνύναι
ϑνητόν. Plut. Pyth. orac. 8). — Ausfahren der Seele oder Einfahren des
Gottes werden selten streng unterschieden; beide Vorstellungen mischen
sich. Es ist eben ein Zustand gedacht, in dem zwei zu eins würden, der
Mensch οἷον ἄλλος γενόμενος καὶ οὐκ αὐτός, ϑεὸς γενόμενος, μᾶλλον δὲ ὢν
eine Scheidung zwischen sich und der Gottheit nicht mehr empfände,
μεταξὺ γὰρ οὐδέν, οὐδ̛ ἔτι δύο ἀλλ̛ ἓν ἄμφω (wie die subtile Mystik des
Plotinus die ἔκστασις beschreibt, IX 9 ff.; XXXV 34 Kh.).
1).
μετ̕ ὀργιασμοῦ begangen wurde der Cult des Zeus auf Kreta:
Strabo 10, 468. Ebenso an manchen Orten der Cult der unter dem Namen
Artemis zusammengefassten vielen und unter einander sehr verschiedenen
weiblichen Gottheiten (s. Lobeck Agl. 1085 ff.; Meineke Anal. Alex. 361),
wobei bisweilen (s. Welcker, Götterl. 2, 392 f.; Müller Dor. 1, 390 ff.), aber
keineswegs allemal asiatischer Einfluss mitwirkte. Orgiasmus auch im
Dienste des Pan. Sonst aber vorwiegend in fremdländischen, früh in
Privatculte eingedrungenen Götterdiensten, dem phrygischen Kybelecult
u. s. w. Diese flossen mit bakchischem Dienst leicht ununterscheidbar
zusammen, und verbanden sich auch mit ächt griechischen Culten bis-
weilen, wie denn namentlich Pan sowohl der Kybele als dem Dionys sehr
nahe gerückt wird. Dunkel bleibt, wie weit der kretische Zeuscult wirk-
lich mit phrygischen Elementen versetzt war.
1).
Ein merkwürdiges Beispiel in Herodots Erzählung von dem ge-
blendeten Euenios in Apollonia, dem plötzlich ἔμφυτος (nicht erlernte)
μαντική kam (9, 94). Ein richtiger ϑεόμαντις (Plat. Apol. 22 C).
2).
Dass Βάκις und Σίβυλλα eigentlich Appellativa, Bezeichnungen
begeisterter χρησμωδοί waren (Σίβυλλα die παρωνυμία der Herophile: Plut.
Pyth. or. 14, wie Βάκις ein ἐπίϑετον des Pisistratus: Schol. Ar. Pac. 1071),
war den Alten wohl bekannt. Deutlich zur Bezeichnung je einer ganzen
Klasse von Wesen braucht die Worte Aristot. probl. 954 a, 36: von νοσή-
ματα μανικὰ καὶ ἐνϑουσιαστικά werden befallen die Σίβυλλαι καὶ Βάκιδες
καὶ ἔνϑεοι πάντες. So ist auch wohl, wenn alte Zeugen von „der Sibylle“,
„dem Bakis“ im Singular reden, zumeist das Wort als Gattungsbezeichnung
gedacht; wie ja auch, wo ἡ Πυϑία, ἡ Πυϑιάς gesagt wird, allermeist nicht
eine bestimmte einzelne Pythia, sondern der Gattungsbegriff der Pythien
2).
(resp. eine beliebige gerade fungirende Vertreterin der Gattung) zu ver-
stehen ist. Es ist also keineswegs gewiss, dass Heraklit u. s. w., wenn
sie von ἡ Σίβυλλα, Herodot u. A., wenn sie von Βάκις schlechtweg reden,
der Meinung waren, es habe nur Eine Sib., Einen B. gegeben. Der genaue
Sinn der appellativen Benennungen Βάκις, Σίβυλλα ist freilich, da die
Etymologie der Worte ganz dunkel ist, nicht erkennbar. Ob in den Be-
nennungen schon das Ekstatische dieser Propheten ausgedrückt ist? σιβυλ-
λαίνειν soll zwar sein = ἐνϑεάζειν (Diodor. 4, 66, 7), aber das Verbum ist
ja natürlich erst abgeleitet vom Namen Σίβυλλα (wie βακίζειν von Βάκις,
ἐρινύειν von Ἐρινύς und nicht umgekehrt). Wie weit an den persönlichen
Benennungen einzelner Sibyllen (Herophile, Demophile oder abgekürzt
Demo, Φυτώ oder wohl eher [nach Lachmann Tibull. 2, 5, 68] Φοιτώ [φοιτὰς
ἀγύρτρια Aesch. Ag. 1273] u. s. w.) und Bakiden (der arkadische B. soll
Kydas oder Aletes [vgl. Φοιτώ] gehiessen haben: Philetas Eph. in Schol.
Ar. Pac. 1071) irgend etwas auf geschichtlicher Erinnerung beruhen mag,
ist ganz unbestimmbar. Wir haben kaum irgend eine Handhabe, um aus
den ja keineswegs spärlichen Erzählungen von einzelnen Sibyllen einen
Kern von historischer Zuverlässigkeit zu gewinnen. Am verdächtigsten
ist, wie alles was auf diesem Gebiete dieser Mann berichtet, was Herakli-
des Pont. von der phrygischen (oder troischen) Sibylle erzählt hatte; am
ersten möchte man noch dem vertrauen, was von einer samischen Sibylle
Eratosthenes nach den antiquis annalibus Samiorum berichtet hatte (Varro
bei Lactant. inst. 1, 6, 9), wenn nur nicht etwa damit auf eine so nichts-
nutzige Geschichte, wie die bei Val. Max. 1, 5, 9 erhaltene, angespielt
wird. — Hinter Bakis nennt noch einen ganzen Schwarm von χρησμολόγοι
mit Namen Clemens Alex. Strom. I 333 C. D., offenbar nur zum Theil
rein der Sage angehörige, aber uns fast sämmtlich sonst nicht bekannt.
Möglicher Weise wirkliche Personen aus dem Prophetenzeitalter sind
Melesagoras von Eleusis (der, wie ein anderer Bakis, ἐκ νυμφῶν κάτο-
χος, in Athen weissagte: Max. Tyr. 38, 3; mit Amelesagoras, dem Ver-
fasser einer angeblich uralten Atthis, ihn zu identificiren [mit Müller
F. H. G. 2, 21 u. A.], besteht nicht die geringste Veranlassung) und Euklos
der Kyprier (dessen, in altkyprischer Sprache geschriebene χρησμοί [s.
M. Schmidt Kuhns Ztschr. IX [1860] p. 361 ff.] einiges Vertrauen er-
wecken; allerdings sollte er vor Homer geschrieben haben [Paus. 10, 24, 3;
Tatian ad Gr. 41], wodurch seine Person wieder fraglich wird).
1).
Von dieser Art waren die χρησμολόγοι des fünften und vierten,
auch schon des ausgehenden sechsten Jahrhunderts (denn Onomakritos
gehört völlig in diese Reihe). S. Lobeck, Agl. p. 978 ff. und 332. Sehr
selten hört man in diesen Zeiten noch von selbständig, im furor divinus,
Wahrsagenden, wie von jenem Amphilytos aus Akarnanien, der dem Pisi-
stratos, als er aus Eretria zurückkehrte vor der Schlacht ἐπὶ Παλληνίδι
begegnete und ἐνϑεάζων weissagte (Herod. 1, 62; Athener heisst er bei
[Plat.] Theag. 134 D — wo er neben Βάκις τε καὶ Σίβυλλα gestellt wird
— und Clemens Al. Strom. I 333 C). So traten vereinzelt auch spät noch
„Sibyllen“ auf (Phaennis, Athenaïs: s. Alexandre, Orac. Sibyll.1 II p. 21. 48).
2).
Bestimmt von zwei Sibyllen, der Herophile aus Erythrae und
der phrygischen Sibylle (die er mit der S. aus Marpessos oder Gergis
[Lactant. 1, 6, 12] identificirte: s. Alexandre Orac. Sibyll. 2 p. 25. 32) scheint
zuerst Heraklides Ponticus (s. Clemens Alex. Strom. I 323 C. D.) geredet
zu haben (ihm folgt, doch so, dass er als Dritte die Sib. von Sardes
hinzufügt, Philetas Ephes. beim Schol. Ar. Av. 962). Die phrygisch-
trojanische Sibylle setzte Herakl. in die Zeit „des Solon und Cyrus“
(Lactant. a. O.); wann er die erythraeische blühen liess, wissen wir nicht.
Vielleicht erst nach seiner Zeit traten χρησμοί der Herophile in die
Oeffentlichkeit, in denen sie die Τρωϊκά voraussagte: aus diesen Versen
1).
Die erythräische Sibylle wird bei Eusebius gesetzt auf ol. 9, 3
(der thörichte Zusatz ἐν Αἰγύπτῳ gehört nur dem Verf. des Chron. Pasch.
an, nicht dem Eusebius. Richtig Alexandre p. 80), die samische (Hero-
2).
schloss man nun, dass sie vor dem trojan. Krieg gelebt habe: so Paus
10, 12, 2, und so schon Apollodor von Erythrae: Lactant. 1, 6, 9. An den
Namen Herophile heftet sich fortan die Vorstellung höchsten Alters
(denn die von Pausanias als allerälteste genannte libysche Sibylle [Αίβυσσα
— Σίβυλλα im anagrammatischen Spiel], eine Erfindung des Euripides,
hat nie rechte Geltung gehabt. Vgl. Alexandre p. 74 f.). Sie erkannte
man wieder in der πρώτη Σίβυλλα die nach Delphi kam und dort prophe-
zeiete (Plut. Pyth. orac. 9); Herophile nennt diese ausdrücklich Paus.
10, 12, 1; desgleichen Bocchus bei Solin. p. 38, 21—24. Nach Heraclides
(s. Clem. a. O.) war es vielmehr die Φρυγία, die sich Artemis nennend
(ebenso, aus Her., Philetas a. O. vgl. Suidas s. Σιβ. Δελφίς), in Delphi wahr-
sagte. Hier knüpfte der Localpatriotismus der Bewohner von Troas an.
Ihre Sibylle ist die (von der Φρυγία des Heracl. nicht verschiedene) Mar-
pessische: mit welchen Künsteleien der Auslegung und Fälschungen der
Ueberlieferung ein Localhistoriker aus Troas (es muss nicht gerade Deme-
trios von Skepsis gewesen sein) es möglich machte, die marpessische
Sibylle, die sich selbst Artemis nannte, mit der Herophile zu identificiren
und zur wahren ἐρυϑραία zu stempeln, kann man aus Pausanias 10, 12, 2 ff.
entnehmen (aus gleicher Quelle wie Pausanias schöpft — wie Alexandre
p. 22 richtig bemerkt — Steph. Byz. s. Μερμησσός). — Auch von andern
Seiten ward die Angehörigkeit der Herophile (auf deren Besitz es haupt-
sächlich ankam) den Erythräern bestritten. Von der Herophile unter-
scheidet (als jünger) die Erythraea Bocchus bei Solin. p. 38, 24; in anderer
Weise auch Martian. Cap. 2, 159; bei Euseb. chron. 1305 Abr. wird
(jedenfalls nicht nach Eratosthenes) gar die Samische Sibylle und die
Herophile identificirt (um von der Herophile aus Ephesus in den Resten
des erweiterten Xanthus F. H. G. 3, 406. 408 zu schweigen). Aus der
Fabel von der marpessischen Herophile ist später herausgesponnen die
Geschichte von deren dem Aeneas gespendeten Wahrsagung: Tibull 2, 5,
67 f. Dionys. antiq. 1, 55, 4 (s. Alexandre p. 25). — Neben diesen ver-
schiedenen Bewerberinnen um den Namen Herophile (auch die cumanische
Sibylle sollte mit Herophile dieselbe sein) haben die übrigen Sibyllen nie
recht Existenz in der Ueberlieferung gewinnen können.
1).
phile) auf ol. 17, 1 (auf Eratosthenes diesen Ansatz zurückzuführen wäre
grundlose Willkür); bei Suidas s. Σίβυλλα Ἀπόλλωνος καὶ Λαμίας die ery-
thräische Sibylle 483 nach Einn. von Troja, das wäre ol. 20, 1 (700).
Heraklides Pont. setzt die phrygisch-troische Sibylle in die Zeit des Cyrus
und Solon (wohin auch Epimenides gehört, Aristeas und Abaris gesetzt
werden). Die Gründe für diese Zeitbestimmungen lassen sich nicht mehr
erkennen oder errathen. Auf jeden Fall schien den Chronologen, auf die
sie zurückgehen, die Sibylle jünger als die ältesten Pythien in Delphi. —
Auch die cumaeische Sibylle sollte nicht verschieden sein von der ery-
thraeischen ([Aristot.] mirab. 95 vielleicht nach Timaeus; Varro ap. Serv.
Aen. 6, 36; vgl. Dionys. ant. 4, 62, 6) und gleichwohl Zeitgenossin des
Tarquinius Priscus (die Cimmeria in Italia, die dem Aeneas weissagte,
unterschied man eben darum von der cumaeischen: Naevius und Calp. Piso
bei Varro, Lact. 1, 6, 9). Freilich half man sich hier mit dem in chrono-
logischen Nöthen beliebten Mittel der Annahme fabelhaft langer Lebens-
dauer. Die Sibylle ist πολυχρονιωτάτη (Ps. Aristot); sie lebt tausend
Jahre oder doch fast so lange (Phlegon. macrob. 4. Das dort angeführte
Sibyllenorakel hat auch Plutarch de Pyth. orac. 13 vor Augen. Aus
gleicher Quelle Ovid, Metam. 14, 132—153. Dort hat freilich die Sibylle
schon bis zu der Ankunft des Aeneas 700 Jahre gelebt; sie wird noch
300 Jahre leben, d. h. wohl etwa — ungenau gerechnet — bis zu der
Zeit des Tarquinius Priscus). In den bei Erythrae gefundenen, auf ein
Standbild der Sibylle bezüglichen Versen (Buresch, Wochenschr. f. klass.
Philol. 1891, p. 1042, Athen. Mittheil. 1892, p. 20) wird der erythräischen
Sibylle eine Lebensdauer von neunhundert Jahren gegeben — man sieht
nicht recht, ob bis zu der Zeit der Inschrift selbst und des νέος κτίστης von
Erythrae aus der Antoninenzeit, auf den der Schluss hinweist. Darnach
wäre diese Sibylle etwa 700 v. Chr. (wie bei Suidas) oder etwas früher
geboren. (Vielleicht aber gilt die lange Lebensdauer von der vor langen
Jahrhunderten verstorbenen Sibylle selbst, das αὖϑις δ̕ἐνϑάδε ἐγὼ ἧμαι —
v. 11 f. nur von ihrem Standbilde. Dann bliebe Anfang und Ende der
Lebenszeit der Sib. unbestimmt) — Cumaeae saecula vatis sprichwörtlich
geworden: s. Alexandre p. 57. Zuletzt gilt die Sibylle (wie in der Er-
zählung bei Petron) für ganz vom Tode vergessen.
1).
Odyss. 17, 383 ff.
2).
Ueber die Sibylle kommt der furor divinus von der Art, ut
quae sapiens non videat ea videat insanus, et is qui humanos sensus ami-
serit divinos assecutus sit.
Cicero de divin. 2, 110. Vgl. 1, 34. νοσήματα
μανικὰ καὶ ἐνϑουσιαστικά der Sibyllen und Bakiden: Aristot. probl. 954 a, 36.
Die Sibylle weissagt μαντικῇ χρωμένη ἐνϑέῳ Plat. Phaedr. 244 B; μαινομένη
τε καὶ ἐκ τοῦ ϑεοῦ κάτοχος Paus. 10, 12, 2; deo furibunda recepto Ovid.
met. 14, 107. In ihr ist divinitas et quaedam caelitum societas: Plin. n.
h.
7, 119. κατοχὴ καὶ ἐπίπνοια: Pseudojustin. coh. ad Gr. 35 E. So redet
denn auch in unseren Sibyllenorakeln die Sibylle oft von ihrer göttlichen
Raserei u. dgl.: z. B. II 4. 5; III 162 f., 295 ff.; IX 317, 320, 323 f., 294 f.
u. s. w. Raserei der cumaeischen Sibylle bei Virgil Aen. 6, 77 ff. — Bakis
hat seine Wahrsagergabe von den Nymphen (Arist. Pac. 1071), er ist
κατάσχετος ἐκ νυμφῶν, μανεὶς ἐκ νυμφῶν (Paus. 10, 12, 11; 4, 27, 4), νυμ-
φόληπτος (wie ϑεόληπτος, φοιβόληπτος, πανόληπτος, μητρόληπτος. Lym-
phati
: so Varro L. Lat. VII p. 365 Sp. Paul. Festi p. 120, 11 ff.; Placid.
p. 62, 15 ff. Deuerl.).
3).
Σίβυλλα δὲ μαινομένῳ στόματι κτλ. Heraklit bei Plut. Pyth. orac. 6.
(die Worte: χιλίων-ϑεοῦ gehören nicht mehr dem Heraklit, sondern dem
Plutarch. Clemens Strom. I 304 C benutzt nur den Plutarch). Unter
Heraklits Sibylle die Pythia zu verstehen (mit Bergk u. A.) ist (abgesehen
davon, dass die Pythia nie Σίβυλλα genannt wird) nach der Art wie
Plutarch a. O. die Worte des Her. einführt und c. 9 an c. 6 anknüpft,
unmöglich. Allerdings aber vergleicht Pl. die Art der Sibylle mit der
der Pythia.
1).
Homer kennt Kassandra als eine der Töchter des Priamos, und
zwar als Πριάμοιο ϑυγατρῶν εἶδος ἀρίστην (Il. 13, 365); wohl als solche ist
sie dem Agamemnon selbst als Beute zugefallen und wird mit ihm ge-
tödtet (Od. 11, 421 ff.). Von ihrer Wahrsagekraft erzählten zuerst die
Κόπρια. War es die Erzählung Il. 24, 699 ff., die ihr solche Vorschau des
Kommenden zuzutrauen die νεώτεροι veranlasste? (in Wahrheit ist dort
nur von der ahnenden συμπάϑεια der Tochter und Schwester, nicht von
Mantik die Rede: Schol. B. Ω 699). Später ist ihre Wahrsagekunst in
vielen Erzählungen ausgeschmückt worden. Von Bakchylides z. B.: Porph.
zu Horat. carm. 1, 15 (Bacchyl. fr. 29). Aeschylos stellt sie vor Augen als
Typus einer ekstatischen Seherin (φρενομανής, ϑεοφόρητος Agam. 1141.
1216). Als solche heisst sie bei Euripides μαντιπόλος βάκχη (Hec. 119),
φοιβάς (ib. 810). τὸ βακχεῖον κάρα τῆς ϑεσπιῳδοῦ Κασσάνδρας (666). Sie
wirft ihr Haupt, wie die Bakchen, ὅταν ϑεοῦ μαντόσυνοι πνεύσωσ̕ ἀνάγκαι
Jph. Aul. 756 ff.
2).
Von dem arkadischen Bakis (genannt Kydas oder Aletes) Θεόπομ-
πος
ἐν τῇ ϑ̅ τῶν Φιλιππικῶν ἄλλα τε πολλὰ ἱστορεῖ παράδοξα, καὶ ὅτι ποτὲ
τῶν Λακεδαιμονίων τὰς γυναῖκας μανείσας ἐκάϑηρεν, Ἀπόλλωνος τούτοις
τοῦτον καϑαρτὴν δόντος Schol. Arist. Pac. 1071. Die Geschichte ist der Sage
von Melampus und den Proetiden (oben p. 338 f.) sehr ähnlich.
3).
Vgl. z. B. Hippocrat. π. παρϑενίων II p. 528 K.: nach über-
standenen hysterischen Hallucinationen weihen die Weiber kostbare ἱμάτια
der Artemis κελευόντων τῶν μάντεων. Dies der allgemeine Name für die
μάγοι, καϑαρταί, ἀγύρται (Tiresias δόλιος ἀγύρτης Soph. O. R. 388; Kas-
sandra wird φοιτὰς ἀγύρτρια gescholten, Aesch. Ag. 1273), von deren Treiben
bei der Heilung der Epilepsie Hippokrates anderswo redet (I p. 588).
1).
καϑαρμοὶ — κατὰ τὴν μαντικήν. Plat. Cratyl. 405 A. B. Die μάν-
τεις
verstehen z. B. die den Oelbäumen schädlichen Nebel zauberhaft
abzuwenden: Theophrast. caus. plant. 2, 7, 5. Den μάντεις καὶ τερατο-
σκόποι, ἀγύρται καὶ μάντεις fallen die Künste der μαγγανεύματα, ἐπῳδαί,
καταδέσεις und ἐπαγωγαί der Götter zur Erfüllung ihrer Wünsche zu: Plat.
Rep. 2, 364 BC; Leg. 11, 933 C—E. Diese μάντεις entsprechen in allem
Wesentlichen den Zauberern und Medicinmännern der Naturvölker. Wahr-
sager, Arzt, Zauberer sind hier noch Eine Person. Ein mythisches Vor-
bild dieser griechischen „Medicinmänner“ ist Apis, von dem Aesch. Suppl.
260—270 erzählt (μάντεις auch als Opferpriester, besonders wo mit dem
Opfer eine, dem Homer noch ganz unbekannte Opfermantik und Be-
fragung des Götterwillens verbunden ist. Eurip. Heracl. 401, 819; Phoen.
1255 ff. und sonst nicht selten. Hermann, Gottesdienstl. Alterth. 33, 9).
2).
Hierfür die deutlichsten Zeugnisse bei Hippokrates de morbo sacro.
s. u. p. 364, 2. Hilfe bei inneren Krankheiten bringt in ältester Zeit natur-
gemäss der Zauberer; denn solche Krankheit entsteht unmittelbar durch
Einwirkung eines Gottes. στυγερὸς δέ οἱ ἔχραε δαίμων Odyss. 5, 396 (vgl.
10, 64) von einem Kranken der δηρὸν τηκόμενος darniederliegt. νοῦσος
Διὸς μεγάλου Od. 9, 411. Hier hilft der ἰατρόμαντις (Aesch. Ag. 263), der
zugleich μάντις ist und τερατοσκόπος und καϑαρτής, wie sein göttliches Vor-
bild, Apollo: Aesch. Eum. 62. 63. In einer langen Krankheit hielt sich
König Kleomenes I. von Sparta an καϑαρταὶ καὶ μάντεις. Plut. apophth.
Lacon.
p. 223 E (ι̅α̅).
3).
Il. 1, 313 f.; Od. 22, 491 ff. — Dass in der That die kathartischen
1).
Homer weiss noch nichts von Reinigung des Mörders oder Todt-
schlägers, s. oben p. 248, 1.
3).
Gebräuche erst ziemlich spät in Griechenland sich ausgebreitet haben
müssen, zeigt besonders das Fehlen fast jeder Anspielung auf solche Ge-
bräuche und die ihnen zu Grunde liegenden Suggestionen in Hesiods
Ἔργα καὶ Ἡμέραι, die doch des bäuerlichen Aberglaubens sonst so viel
enthalten (allenfalls findet sich dergleichen v. 733—736).
1).
Daher an den ἀμφιδρόμια alle, die mit der μαίωσις zu thun gehabt
hatten, ἀποκαϑαίρονται τὰς χεῖρας (Suid. s. ἀμφιδρ.), aber auch das Kind
selbst lustrirt wird, indem man es laufend um den Altar und das Altar-
feuer herumträgt. Offenbar ein Rest von ἀποτροπιασμὸς καὶ κάϑαρσις des
Kindes durch heiliges Feuer, wovon sich noch manche Spuren erhalten
haben: s. Grimm D. Mythol.4 1, 520 (vgl. Tylor Primit. cult. 2, 390. 399).
— Unreinheit der Wöchnerin bis zum 40. Tage nach der Geburt: s.
Welcker, Kl. Schr. 3, 197—199. — Bei Geburt eines Kindes hing man
in Attika Kränze von Oelbaumzweigen oder Wollbinden (ἔρια) an die
Hausthür, ähnlich wie man an die Thür des Hauses in dem eine Leiche
lag, Cypressenzweige stellte (oben p. 204, 1; zu kathartischen Zwecken
Schnüre von Meerzwiebeln an die Hausthüre hing, s. p. 363, 1): Hesych. s.
στέφανον ἐκφέρειν. Beides lustrale Mittel. Olivenzweige beim καϑαρμός:
Soph. O. C. 483 f. Virg. Aen. 6, 230. Wenn die Mutter dem ausgesetzten
Kinde einen Kranz aus Olivenzweigen mitgiebt (Eurip. Ion. 1436 ff.), so
ist dies ein apotropäisches Mittel so gut wie das Gorgonenhaupt auf dem
Gewebe, das sie ebenfalls (v. 1420 f.) dem Kinde mitgiebt (über dieses
s. O. Jahn, Bös. Blick 60). Die Olive ist auch den χϑόνιοι heilig (darum
Lagerung der Leiche auf Olivenblättern: s. oben p. 209, 3 [so, wie es
scheint, schon in mykenäischen Gräbern, s. Tsuntas, Ἐφημ. ἀρχαιολ. 1888
p. 136]. τοῖς ἀποϑανοῦσιν ἐλάας συνεκφέρουσι: Artemidor, onirocr. 4, 57
p. 236, 20. κοτίνῳ καὶ ταινίᾳ bekränzt die Göttin im Traum den Chios, und
weist den dem Tode Geweihten zu seinem μνῆμα: Chion. epist. 17, 2) und
darum für Lustration und ἀποτροπιασμοί geeignet. Das Haus, in dem ein
Kind geboren war, galt also für der „Reinigung“ bedürftig. Was man
aber hier als Unreinheit empfand, wird sehr deutlich ausgesprochen bei
Photius lex. s. ῥάμνος · ἀμίαντος ἡ πίττα · διὸ καὶ ἐν ταῖς γενέσεσι τῶν παι-
δίων (ταύτῃ) χρίουσι τὰς ὀικίας, εἰς ἀπέλασιν δαιμόνων (s. oben p. 217, 3).
Die Nähe dieser (chthonischen) δαίμονες ist das Verunreinigende.
2).
Aesch. Pers. 201 ff., 216 ff. Arist. Ran. 1340. Hippocr. de insomn.
II p. 10. 13 (Kühn) vgl. Becker, Charikles2 I 243.
3).
Vgl. Plut. sept. sap. conv. 3 p. 149 D, und dazu Wyttenb. VI
p. 930 f.
1).
Reinigung von Häusern (Odyss. 22, 481 ff.) z. B. [Demosth.] 47, 71.
Man reinigt οἰκίας καὶ πρόβατα mit schwarzem Elleborus (dem man zauber-
hafte Kräfte zutraute [s. oben p. 339, 3]; daher die abergläubischen Vor-
kehrungen bei seiner Ausgrabung: Theophr. h. pl. 9, 8, 8; Dioscor. mat.
med.
4, 149): Theophrast. hist. plant. 9, 10, 4; Dioscor. a. O. Grund zur
Reinigung giebt Berührung des Hauses durch unheimliche Dämonen.
Theophr. char. 16 p. 18, 15 Foss. vom δεισιδαίμων: καὶ πυκνὰ δε τὴν οἰκίαν
καϑᾶραι δεινός, Ἑκάτης φάσκων ἐπαγωγὴν γεγονέναι.
2).
Anwesenheit einer Leiche im Hause verunreinigt Wasser und
Feuer; es muss „reines“ Wasser und Feuer von anderswoher geholt
werden. S. (Argos) Plut. Quaest. Gr. 24. Oben p. 203 A. 2. Bei einem
Todtenfeste auf Lemnos wurden alle Feuer (als verunreinigt) gelöscht,
„reines“ Feuer aus Delos geholt und erst nach Beerdigung der ἐναγίσματα
ans Land gebracht und vertheilt. Philostr. heroic. p. 207, 26—208, 7
Kays. — Griechischer sowohl wie persischer Sitte entsprechend lässt
Alexander beim Begräbniss des Hephaestion τὸ παρὰ τοῖς Πέρσαις καλού-
μενον ἱερὸν πῦρ auslöschen, μέχρι ἂν τελέσῃ τὴν ἐκφοράν. Diodor. 17, 144, 4.
3).
„Wen der Grieche Sühnmittel gebrauchen sieht, bei dem setzt
er den Willen sich zu bekehren voraus“. Nägelsbach, Nachhom. Theol.
363. Wäre das richtig, so müsste man sich wundern diese „Voraussetzung“
niemals ausgesprochen zu sehn. Wohl liest man einmal davon, wie der
δεισιδαίμων sich kasteie und ἐξαγορεύει τινὰς ἁμαρτίας αὑτοῦ καὶ πλημμε-
λείας — aber welches sind diese ἁμαρτίαι? ὡς τόδε φαγόντος ἢ πιόντος ἢ
βαδίσαντος ὁδὸν ἣν οὐκ εἴα τὸ δαιμόνιον (Plut. de superstit. 8), nur rituale
Verfehlungen, nicht sittliche Vergehen. Und so ist es auf diesem ganzen
Gebiet. Die Vorstellungsweise die allem Reinigungswesen zu Grunde lag,
geläuterter Sittlichkeit späterer Zeit freilich nicht entsprach, aber herrschte
solange man überhaupt der Kathartik vertraute, spricht (missbilligend) Ovid
aus in den bekannten Versen, die man aber gut thut, sich ins Gedächtniss
zu rufen (Fast. 2, 35 ff.): Omne nefas omnemque mali purgamina causam
1).
Zur religiösen Reinigung ist Wasser aus fliessenden Quellen oder
Flüssen oder aus dem Meere erforderlich (ϑάλασσα κλύζει πάντα τἀνϑρώ-
πων κακά. Eur. Iph. T. 1167. Daher in orakelhafter Skaldensprache ἡ
ἀμίαντος = ϑάλαττα: Aesch. Pers. 578. Bei einem Opfer: ὁ ἱαρεὺς ἀποῤ-
ῥαίνεται ϑαλάσσᾳ; Opferkalender von Kos, Inscr. of Cos 38, Z. 23). Vieler-
lei hierher Gehöriges bei Lomeier de lustrat. cap. 17. Noch in dem aus
dem Fliessenden geschöpften Wasser schien die Kraft des Fortschwem-
mens und Weitertragens des Uebels lebendig. Bei besonders arger Be-
fleckung bedarf es einer Reinigung in vielen lebendig fliessenden Quellen.
κρηνάων ἀπὸ πέντε Empedocl. 452 (Mull.) ἀπὸ κρηνῶν τριῶν Menand.
Δεισιδαίμων 1, 6 (Mein.) Orestes se apud tria flumina circa Hebrum ex
responso purificavit
(vom Muttermorde): Lamprid. Heliogab. 7, 7. Oder bei
Rhegion in sieben Quellen die zu Einem Flusse zusammenfliessen: Varro
bei Prob. ad Vergil. p. 3, 4 Keil. Schol. in Theocrit. p. 1, 3 ff. Dübn.
(Vgl. Hermann Opusc. 2, 71 ff.). Sogar 14 Gewässer bei Mordreinigung:
Suidas 476 B/C Gaisf. s. ἀπὸ δὶς ἑπτὰ κυμάτων (Schluss eines iamb. oder
troch. Verses). Die ungemeine Zähigkeit des griechischen Rituals zeigt sich
auch hier. Noch spät begegnen dieselben kathartischen Vorschriften. Eine
Anweisung des Klarischen Orakels etwa aus dem 3. Jahrh. n. Chr. (bei
Buresch, Klaros p. 9) heisst die Heilsuchenden ἀπὸ Ναϊάδων ἑπτὰ ματεύειν
καϑαρὸν πότον ἐντύνεσϑαι, ὃν ϑειῶσαι πρόσσοϑεν (aus Il. Ψ 533 entlehnt,
aber zeitlich verstanden) ἐχρῆν καὶ ἐπεσσυμένως ἀφύσασϑαι, ῥῆναι τε δόμους
κτλ. Und in einem Zauberbuch (etwa des 4. Jahrh.) bei Parthey Abh.
d. Berl. Akad.
1865 p. 126 Z. 234. 235 wird vorgeschrieben, zum Zauber
zu schöpfen ὕδωρ πηγαῖον ἀπὸ ζ̅ πηγῶν. (Dann in mittelalterlichem Aber-
glauben: zur Hydromantie soll man „aus drei fliessenden Brunnen, aus
jeglichem ein wenig“ Wasser schöpfen u. s. w. Hartlieb bei Grimm D.
Myth.
4 III 428. Wohl Reminiscenz aus dem Alterthum. Vgl. Plin. n. h.
28, 46: e tribus puteis etc.)
3).
credebant nostri tollere posse senes. Graecia principium moris fuit: illa
nocentes impia lustratos ponere facta putat. — a! nimium faciles, qui
tristia crimina caedis fluminea tolli posse putetis aqua!
(vgl. Hippocrates I
p. 593, 4—10 K.).
1).
περιμάττειν, ἀπομάττειν (mit Lehm, Kleie u. dgl.): Wyttenbach ad
Plut. moral. VI p. 1006/7. ἐκάϑηρέ τε με καὶ ἀπέμαξε καὶ περιήγνισε δᾳδὶ
καὶ σκίλλῃ — Lucian Necyom. 7. Der Abergläubige pflegt ἱερείας καλέσας
σκίλλῃ ἢ σκύλακι κελεῦσαι αὑτὸν περικαϑᾶραι. Theophr. char. 16 extr.
Der σκίλλα traute man alle möglichen Heilkräfte zu (scurril ausgeführt in
dem Büchlein περὶ σκίλλης [Laert. D. 8, 47? κήλης Cobet] des Pythagoras:
Auszug bei Galen. π. εὐπορίστων III; XIV 567—569 K), vor allem galt sie
aber als καϑάρσιος (Artem.) καϑαρτικὴ πάσης κακίας (Schol. Theocr.
5, 121). Vgl. Kratin. Χείρωνες 7 (Mein.). Sie ist daher auch ἀλεξιφάρμακον,
ὅλη πρὸ τῶν ϑυρῶν κρεμαμένη (Dioscor. mat. med. 2, 202 extr.; so lehrte
Pythagoras: Plin. n. h. 20, 101), oder an der Thürschwelle vergraben:
Aristoph. Δαναΐδες fr. 8. Auch λύκων φϑαρτική ist sie: Artemidor. 3, 50
(s. Geopon. 15, 1, 6 mit Niclas’ Anm.). Als Dämonen vertreibend wird
sie dann eben auch als ἀπόμαγμα zu religiösen Reinigungen benutzt. —
Auch mit den Leichen geschlachteter (der Hekate geopferter) junger
Hunde werden die ἁγνισμοῦ δεόμενοι abgerieben (περιμάττονται); dies ist
der περισκυλακισμός Plut. Qu. Rom. 68.
2).
Eier als καϑάρσια: s. Lomeier de lustrat. (ed. II. Zutph. 1700)
p. 258 f. Der Glaube war, dass solche Eier das Unreine einschlucken:
ὰνελάμβανον τὰ τοῦ περικαϑαρϑέντος κακά. Auctor π. δεισιδαιμονίας bei
Clemens Al. Strom. 7, 713 B. — Auch Feigen (von denen die schwarzen
inferum deorum et avertentium in tutela sunt: Macrob. Sat. 3, 20, 2. 3)
werden ἐν καϑαρμοῖς verwendet: Eustath. Od. 7, 116 p. 1572, 57 (ist so
das περιμάττειν der Augen mit Feigen gemeint bei Pherekrates, Ath.
3, 78 D?). Davon Zeus συκάσιος = καϑάρσιος (Eustath.). Die Feige bestes
ἀλεξιφάρμακον: Aristot. bei Julian epist. 24 p. 505, 7 ff. Auf geheimniss-
volle Eigenschaften der Feige deutet der Glaube, dass den Feigenbaum
kein Blitz treffe (Plut. symp. V 9; Geopon. 11, 2, 7; Theophan. Nonn.
260, 288. Joh. Lyd. de mens. p. 140, 2. 152, 26 f. Roeth.). Wenn die φαρ-
μακοί an den Thargelien (s. unten p. 366, 3) Feigenschnüre um den Hals
tragen (Helladius bei Phot. bibl. p. 534 a, 5 ff.), mit Feigenästen (κράδαι)
und σκίλλαι gepeitscht werden (Hipponax fr. 4. 5. 8. Hesych. s. κραδίης νό-
μος), so hat auch hier (wie schon die Verbindung mit den σκίλλαι [vgl.
übrigens auch Theocrit. 7. 107; 5, 121] zeigt) die Feige kathartische Be-
deutung (unrichtig Müller, Dorier 1, 330). Bevor man die Sündenböcke,
φαρμακοί, aus der Stadt jagt und den Dämonen überlässt, werden sie —
eben mit κράδαι und σκίλλαι — „gereinigt“. So heisst es in der, solche
Sühnungsgebräuche parodirenden Geschichte von den Raben, die man dem
Λοιμός, wie eine Art von φαρμακοί, preisgiebt: περικαϑαίροντας ἐπῳδαῖς
ἀφιέναι ζῶντας, καὶ ἐπιλέγειν τῷ Λοιμῷ · φεῦγ̕ ἐς κόρακας. (Aristotel. fr.
1).
Was Griechen unter μίασμα verstanden, tritt sehr deutlich hervor
z. B. in dem Gespräch der Phaedra mit ihrer Amme bei Eurip. Hippol.
316 ff. Die Gemüthsverstörung der Phaedra erklärt sich nicht aus einer
Blutthat: χεῖρες μὲν ἁγναί, sagt Phaedra, φρὴν δ̕ἔχει μίασμά τι. Denkt nun
etwa die Amme bei diesem φρενὸς μίασμα der Ph. an eine sittliche
Verschuldung und Befleckung der Leidenden? Keineswegs, sondern sie
fragt: μῶν ἐξ ἐπακτοῦ πημονῆς ἐχϑρῶν τινος; kann sich also unter „Be-
fleckung“ des Geistes nichts anderes vorstellen, als eine Bezauberung,
einen von aussen her, durch ἐπαγωγή τινων δαιμονίων (Schol. S. u. p. 379
Anm.) und die verunreinigende Nähe solcher Dämonen der Ph. gekom-
menen Fleck. Dies war die volksthümliche Auffassung.
2).
Krankheiten kommen παγαιῶν ἐκ μηνιμάτων (Plat. Phaedr. 244 E)
d. h. durch den Groll der Seelen vergangener Geschlechter und der
χϑόνιοι (vgl. Lobeck Agl. 635—637). Insonderheit ist Wahnsinn ein
νοσεῖν ἐξ ἀλαστόρων (Soph. Trach. 1235) ein τάραγμα ταρτάρειον (Eurip.
Herc. fur. 89). Wie solche Krankheiten nicht Aerzte, sondern καϑαρταί,
μάγοι καὶ ἀγύρται, Sühnpriester, durch zauberhafte Mittel zu heilen unter-
nehmen, schildert an der Behandlung der „heiligen Krankheit“ Hippo-
krates, de morbo sacro I p. 587—594. Solche Leute, die sich als völlige
Zauberer einführen (p. 591) geben keinerlei medicinisches Heilmittel
(p. 589 extr.), sondern operiren theils mit καϑαρμοί und ἐπῳδαί, theils
mit vielfachen Enthaltungsvorschriften, ἁγνεῖαι καὶ καϑαρότητες (die zwar
Hipp. aus diätetischen Beobachtungen ableitet, die Katharten selbst aber
auf τὸ ϑεῖον καὶ τὸ δαιμόνιον zurückführen: p. 591. Und so war es offen-
2).
454. — Aehnlicher ἀποτροπιασμός: εἰς αἶγας ἀγρίας. S. die Erkl. zu Macar.
prov. 3, 59; Diogenian. 5, 49. τὴν νόσον, φασίν, ἐς αἶγας τρέψαι Philostr.
Heroic. 179, 8 Ks.
1).
Epoden zur Stillung des Blutes schon Odyss. 19, 457. Später ja
sehr oft erwähnt: zur zauberhaften Heilung von Krankheiten namentlich
der Epilepsie angewendet (Hippocr. I p. 587. 588 f. [Demosth.] 25, 79. 80);
bei der „Reinigung“ von Häusern und Herden mit Besprengungen durch
Niesswurz συνεπᾴδουσί τινα ἐπῳδήν Theophr. hist. pl. 9, 10, 4. (compre-
cationem solemnem
übersetzt Plin. n. h. 25, 49). Wehen der Gebärenden
gehemmt oder befördert durch Epoden: Plato Theaet. 149 C D. (Sonst
mancherlei bei Welcker, Kl. Schr. 3, 64 ff.). Der ursprüngliche Sinn
solcher Sprüche ist stets der einer Anrede und Beschwörung eines dämo-
nischen Wesens (eine Anrede noch ganz deutlich, wo Löwen oder
Schlangen durch Epoden besänftigt werden. Welcker a. O. 70, 14. 15.
Epoden bei der ῥιζοτομία sind ἐπικλήσεις des δαίμων ᾧ ἡ βοτάνη ἀνιέρωται:
s. Pariser Zauberbuch Z. 2973 ff.).
2).
Erzklang bei den ἀποκαϑάρσεις, Gespenster verscheuchend: s. oben
p. 248 A. 2 Vgl. noch Macrob. Sat. 5, 19, 11 ff. Claudian. IV. consul.
Hon.
149: nec te (gleich dem Juppiter) progenitum Cybeleius aere sonoro
lustravit Corybas.
Kathartisch wirkt Erzklang eben als Geister ver-
scheuchend. Vertreibung der Gespenster an den Lemurien, indem man Te-
mesaea concrepat aera
: Ovid. Fast. 5, 441 f. Darum χαλκοῦ αὐδὰν χϑονίαν
2).
bar auch gemeint. Was p. 589 von solchen Vorschriften angeführt wird,
läuft zumeist auf Enthaltung von Pflanzen und Thieren, die den Unter-
irdischen heilig sind, hinaus. Deutlich ist auch: ἱμάτιον μέλαν μὴ ἔχειν,
ϑανατῶδες γὰρ τὸ μέλαν. (Den inferi gehören alle Bäume mit schwar-
zen Beeren oder Früchten: Macrob. Sat. 3, 20, 3). Andrer Aberglaube
schliesst sich an: μηδὲ πόδα ἐπὶ ποδὶ ἔχειν, μηδὲ χεῖρα ἐπὶ χειρί · ταῦτα γὰρ
πάντα κωλύματα εἶναι. Der Glaube ist aus den Erzählungen von der
Geburt des Herakles bekannt. S. Welcker, Kl. Schr. 3, 191. Sittl, Ge-
bärden
126. (Etwas ganz Aehnliches im Pariser Zauberbuch 1052 ff. p. 71
Wess.) Den Grund aber der Krankheit fand man allemal in directem
Eingreifen eines δαίμων (p. 592. 593), das also abgewendet werden musste.
Der Gott ist es, nach dem populären Glauben, der τὸ ἀνϑρώπου σῶμα
μιαίνει (vgl. p. 593). Daher reinigen, καϑαίρουσι die Zauberer den Kranken,
αἵμασι καὶ τοῖσιν ἄλλοισι womit man μίασμά τι ἔχοντας oder Fluchbeladene
reinigt, und vergraben die καϑάρσια oder werfen sie ins Meer (καὶ εἰς
ἅλα λύματ̕ ἔβαλλον Il. 1, 314) oder tragen sie fort in abgelegene Berg-
gegenden (p. 593). Denn in den καϑάρσια sitzt nun das abgewaschene
μίασμα; und so treibt der Zauberer εἰς ὀρέων κεφαλὰς νούσους τε καὶ
ἄλγη (hymn. Orph. 36, 15).
1).
φόνῳ φόνον ἐκνίπτειν. Eurip. Iph. Taur. 1197. purgantur \<cruore\>
cum cruore polluuntur
—, Heraklit. (p. 335, 5 Schust.).
2).
Apoll. Rhod. 4, 703 ff. καϑαρμοῖς χοιροκτόνοις — Aesch. Eum.
283. 449 (αἵματος καϑαρσίου). K. O. Müller, Aesch. Eum. p. 146. Dar-
stellung des καϑαρμός des Orest auf bekannten Vasenbildern (Mon. dell’
inst
. 4, 48 u. s. w.).
3).
Dass die „Reinigung“ bei solchen und ähnlichen Blutbesudelungen
in Wahrheit in einer stellvertretenden Opferung und dadurch bewirkten
Ablösung des Grolls der Dämonen bestehe, führt im Ganzen richtig schon
der alte Meiners, Allg. Gesch. der Relig. 2, 137 aus. Das μίασμα, welches
an dem Mörder klebt, ist eben der Groll des Todten oder der unter-
irdischen Geister: deutlich so Antiphon Tetral. 3 α, 3 (s. oben p. 252).
Was den Sohn, der den Mord seines Vaters nicht gerächt hat, unrein
macht und von den Altären der Götter verdrängt, ist οὐχ ὁρωμένη πατρὸς
μῆνις (Aesch. Choeph. 293). — Bei Mord oder Todtschlag ist nicht nur
(wie bei jeder „Befleckung“) die Berührung des Unheimlichen das, was
den Menschen „unrein“ macht, sondern ausserdem noch der Groll der
von ihm geschädigten Seele (und deren Schutzgeister). Darum ist hier
ausser dem καϑαρμός auch noch ἱλασμός nöthig (s. oben p. 247 ff.). Man
sieht aber wohl, wie schwer beide Acte zu trennen waren und warum
sie so leicht zusammenflossen.
4).
Tödtung von φαρμακοί an den Thargelien ionischer Städte: Hip-
ponax fr. 37. Sonst bei ausserordentlichen Gelegenheiten, aber auch
regelmässig an den Thargelien zu Athen. Dies leugnet zwar Stengel,
2).
Eurip. Hel. 1347? Bei Sonnen- und Mondfinsternissen κινοῦσι χαλκὸν καὶ
σίδηρον ἄνϑρωποι πάντες, ὡς τοὺς δαίμονας ἀπελαύνοντες. Alex. Aphrod.
problem. 2, 46 p. 65, 28 Id. (dies der Zweck des crepitus dissonus bei
Mondfinsterniss: Plin n. h. 2, 54; Liv. 26, 5, 9; Tac. ann. 1, 28; vgl.
Tibull. 1, 8, 21 f.).
1).
Unter den Bestandtheilen eines Ἑκάτης δεῖπνον ἐν τῇ τριόδῳ auch
ὠὸν ἐκ καϑαρσίου: Lucian. dial. mort. 1, 1; oder die Hoden der zum
Reinigungsopfer gebrauchten Ferkel: Demosth. g. Konon 39. Die ὀξυ-
ϑύμια, Opfer für Hekate und die Seelen (s. oben p. 252) sind identisch
mit den καϑάρματα καὶ ἀπολύματα, die bei den Ἑκαταῖα auf die Dreiwege
geworfen werden: Didymus bei Harpocr. s. όξυϑύμια (vgl. Etymol. M. 626,
44. καϑάρσια sollen die Reinigungsopfer heissen, καϑάρματα dieselben so-
weit sie weggeworfen werden: Ammon. p. 79 Valck.). Hunde, deren
Leichname bei der „Reinigung“ gedient haben, werden nachher τῇ Ἑκάτῃ
hingeworfen μετὰ τῶν ἄλλων καϑαρσίων. Plut. Quaest. Rom. 68. Auch
das Blut und Wasser der Reinigungsopfer, ἀπόνιμμα, ist zugleich ein
Todtenopfer: Athen. 9, 409 E ff. Dass den unsichtbar anwesenden Geistern
4).
Hermes 22, 86 ff., aber gegen die bestimmten Zeugnisse können Erwä-
gungen allgemeiner Art nichts ausrichten. Es war zudem nur eine eigene
Art der Hinrichtung ohnehin Verurtheilter (zweier Männer nach Harpo-
crat. 180, 19; eines Mannes und einer Frau nach Hesych. s. φαρμακοί;
der Irrthum erklärt sich aus Hellad. bei Phot. bibl. p. 534 a, 3 ff.). Die
φαρμακοί dienen der Stadt als καϑάρσια (Harpocr. 180, 19): s. Hipponax
fr. 4; Hellad. a. O. Schol. Arist. Eq. 1136. φαρμακός = κάϑαρμα: Phot.
lex. 640, 8. Die φαρμακοί wurden entweder (getödtet und) verbrannt
(wie rechte Sühneopferthiere): so Tzetzes Chil. 5, 736 ff., wohl nach Hip-
ponax (für Athen scheint Verbrennung der φ. anzudeuten Eupolis, Δῆμοι
fr. 20; II 469 Mein.); oder gesteinigt: diese Todesart setzt (für Athen)
voraus die Legende des Istros bei Harpocr. 180, 23. Analoge Gebräuche
(verglichen von Müller, Dorier 1, 330) zu Abdera (Ovid, Ib. 465 f; nach
Schol. aus Kallimachos, der offenbar auf Apollonios die frommen Wünsche,
die Hipponax dem Bupalos gewidmet hatte, übertrug), zu Massilia (Petron.
fr. 1 Buech.: der φαρμακός wurde dort entweder vom Felsen gestürzt
oder saxis occidebatur a populo [so Lact. ad Stat.]). Offenbar altem
Brauche folgend, lässt Apollonius von Tyana bei Philostrat. V. Ap. 4,
10 zu Ephesus einen alten Bettler, der nichts als der Pestdämon selbst
war, vom Volke steinigen, zur „Reinigung“ der Stadt (καϑήρας τοὺς Ἐφε-
σίους τῆς νόσου — c. 11).
1).
Jährliche τελετή der Hekate auf Aegina, angeblich von Orpheus
gestiftet; dort war Hekate und ihre καϑαρμοί hülfreich gegen Wahnsinn
(den sie abwendet, wie sie ihn senden kann). Arist. Vesp. 122. S. Lobeck
Agl. 242. Die Weihe erhielt sich bis ins dritte Jahrh. n. Ch. — Pausanias
erwähnt sonst nur noch einen Tempel der Hekate in Argos: 2, 22, 7. —
Stadtgöttin war Hekate in Stratonikea (Tac. ann. 3, 20, Strabo 14, 660)
und (wie aus Inschr. bekannt) in andern Städten Kariens. Möglicher
Weise ist H. dort nur griechische Benennung einer einheimischen Gott-
heit. Aber griechisch war doch wohl der alte Cult der χϑόνιοι auf dem
Triopium bei Knidos (Böckh ad Schol. Pind. p. 314 f. C. I. Gr. I p. 45).
1).
die καϑάρματα auf den Dreiwegen hingeschüttet wurden, ist auch daran be-
merkbar, dass man sie ἀμεταστρεπτί hinschütten musste (s. unten p. 376, 3).
Auch in der Sitte der Argiver, die καϑάρματα in den lernäischen See zu
werfen (Zenob. 4, 86; Diogenian. 6, 7; Hesych. s. Λέρνη ϑεατῶν) ist aus-
gedrückt, dass diese kathartischen Mittel eine Opfergabe für die Geister
der Tiefe sein sollten: denn durch den lernäischen See führt ein Weg in
die Unterwelt (s. oben p. 305, 1).
1).
χϑονία καὶ νερτέρων πρύτανις: Sophron bei Schol. Theocrit. 2, 12.
Herrin geradezu im Hades, neben Pluton offenbar: Soph. Antig. 1199. Oft
wird sie χϑονία genannt. Ἀδμήτου (d. i. des Hades: K. O. Müller Proleg.
306) κόρη: Hesych. (sie selbst heisst ἀδμήτη hymn. Hec. 3 [p. 289 Ab.])
Tochter des Eubulos, d. h. des Hades: Orph. hymn. 72, 3 (sonst hat sie
freilich einen andern Stammbaum). Als χϑονία oft mit der Persephone
vermischt (und beide, weil sie in einzelnen Punkten sich berühren, mit
Artemis). — In der Transscription einer metrischen Inschrift aus Budrum
(Cilicien) im Journal of Hell. Stud. XI 252 erscheint eine Γῆ Ἑκάτη.
Das wäre freilich sehr bemerkenswerth. Aber auf dem Steine selbst steht
ganz richtig τὴν σεβόμεσϑ̕ Ἑκ[άτην].
2).
H. Göttin der Wochenstuben: Sophron. a. O. In Athen verehrt
als κουροτρόφος: Schol. Ar. Vesp. 804. Verehrung der Κουροτρόφος ἐν τῇ
τριόδῳ (also als Hekate) zu Samos [Herodot] v. Homeri 30. Hesiod Theog.
450: ϑῆκε δέ μιν (die Hekate) Κρονίδης κουροτρόφον. Γενετυλλίς, die Ge-
burtsgöttin, ist ἐοικυῖα τῇ Ἑκάτῃ. Hesych. s. Γεν. Die Eileithyia, der in
Argos Hunde geopfert wurden (Sokrates bei Plut. Qu. Rom. 52) ist doch
gewiss eine Hekate (wie sonst eine Artemis). ὑπὲρ παιδός eine Weihung
an Hekate: Ins. aus Larisa, Athen. Mittheil 11, 450. So ist H. auch
Hochzeitgöttin: als solche (ὅτι γαμήλιος ἡ Ἑκάτη Schol.) ruft, neben dem
Hymenaios, sie an Kassandra bei Eurip. Troad. 322. γαμήλιος ist Hekate
eben als χϑονία. So sind die χϑόνιοι vielfach bei Ehe und Geburt be-
theiligt: s. oben p. 226 f. Gaia: s. Welcker, Götterl. 1, 327. Opfer πρὸ
παίδων καὶ γαμηλίου τέλους an die Erinyen: Aesch. Eum. 835.
3).
Hekate beim Begräbnisse anwesend (fliehend πρὸς ἄνδρας νεκρὸν
φέροντας) Sophron. a. O. ἐρχομένα ἀνά τ̕ ἠρία παὶ μέλαν αἷμα Theocrit.
2, 13. χαίρουσα σκυλάκων ὑλακῇ καὶ αἵματι φοινῷ ἐν νέκυσι στείχουσα κατ̕
ἠρία τεϑνηώτων. hymn. in Hec. bei Hippol. ref. haeres. p. 72 Mill. — He-
kate bei allem Gräuel anwesend: s. die merkwürdigen Formeln bei Plut.
de superstit. 10 p. 170 B (Bergk, Poet. lyr.4 III p. 680). — Hekate leichen-
fressend gedacht (wie Eurynomos u. a. s. oben p. 293, 1) αἱμοπότις, καρδιό-
δαιτε, σαρκοφάγε, ἀωροβόρε redet sie der Hymnus an, v. 53. 54 (p. 294 f.
1).
S. oben p. 232, 1; 210, 3.
2).
Medea bei Eurip. Med. 398 ff.; οὐ γὰρ μὰ τὴν δέσποιναν ἥν ἐγὼ
(als Zauberin) σέβω μάλιστα πάντων καὶ ξυνεργὸν εἱλόμην, Ἑκάτην, μυχοῖς
ναίουσαν ἑστίας ἐμῆς. — Als πυρὸς δέσποινα (so die Hs.) wird, neben
Hephaestos, Δήμητρος κόρη angerufen bei Eurip. Phaeth. fr. 781, 59.
Gemeint ist wohl Hekate, hier wie oft (z. B. Eur. Ion. 1054) mit Perse-
phone, der Demeter Tochter, zusammengeworfen.
3).
Der Fromme schmückt und reinigt jeden Monat τὸν Ἑρμῆν καὶ
τὴν Ἑκάτην καὶ τὰ λοιπὰ τῶν ἱερῶν ἅ δὴ τοὺς προγόνους καταλιπεῖν —
Theopomp. bei Porphyr. de abstin. 2, 16 (p. 146, 8. 9). Also Hermes
und Hekate gehören zu den ϑεοὶ πατρῷοι des Hauses. — Hekateheilig-
thümer vor der Hausthüre (s. Lobeck Agl. 1336 f.), sowie die Heroen
an Hausthüren ihre sacella haben: s. oben p. 185, 2.
4).
Ganz der unheimlichen Seite entbehrt die Hekate, welche der in
Hesiods Theogonie eingelegte Preis der Hekate (v. 411—452) schildert.
Aber da ist Hekate so sehr Universalgöttin geworden, dass sie darüber
jede Bestimmtheit verloren hat. Das Ganze ist eine sonderbare Probe
von der Ausweitung, die in einem lebhaft betriebenen Localcult eine
einzelne Gottheit gewinnen konnte. Der Name dieses durch die ganze
Welt herrschenden Dämons wird dabei (da eben Alles auf den Einen
gehäuft ist) schliesslich gleichgiltig. Daher ist für das Wesen der Hekate
im Besonderen aus diesem Hymnus wenig zu lernen. (Man sollte aber
endlich einmal aufhören, diesen Hymnus auf Hekate „orphisch“ zu nennen.
Das ist hier noch mehr als sonst nichts als eine gedankenlose und sinn-
lose Redensart).
3).
Abel); φϑισίκηρε (κῆρες = ψυχαί: s oben p. 219, 2) ist ebenda, V. 44
herzustellen (ὠμοφάγοι χϑόνιοι angerufen im Pariser Zauberbuch 1444).
1).
Hekate (auf den Dreiwegen ναίουσα Sophocl. fr. 491) begegnet
den Menschen als ἀνταία ϑεός (Sophocl. fr. 311); sie selbst heisst ἀνταία
(Sophocl. fr. 311. 368. Vgl. Etym. M. 111, 50. Das dort Vorhergehende aus
Schol. Apoll. Rhod. 1, 1141) und so auch ein δαίμων den sie erscheinen
lässt: Hesych. s. ἀνταία. ἀνταῖος hier, wie meistens, mit dem Nebensinn
des Feindlichen. Hekate φαινομένη ἐν ἐκτόποις φάσμασιν Suid. s. Ἑκάτην
(aus Elias Cret. ad. Gregor. Nazianz. IV p. 487 Mign.) Sie erscheint
oder sendet Erscheinungen so Nachts wie am Tage: Εἰνοδία, ϑύγατερ Δά-
ματρος, ἃ τῶν νυκτιπόλων ἐφόδων ἀνάσσεις καὶ μεϑαμερίων. Eurip. Ion.
1054 ff. (Meilinoë, ein euphemistisch benanntes [vgl. oben p. 192, 2] dä-
monisches Wesen, Hekate oder Empusa, begegnet ἀνταίαις ἐφόδοισι κατὰ
ζοφοειδέα νύκτα. hymn. Orph. 71, 9). Am Mittag erscheint Hekate bei
Lucian, Philops. 22. Bei dieser Mittagsvision thut sich die Erde auf und
es wird τὰ ἐν Ἅιδου ἅπαντα sichtbar (c. 24). Dies erinnert an die Er-
zählung des Heraklides Pont. von Empedotimos, dem ἐν μεσημβρίᾳ σταϑερᾷ,
an einem einsamen Orte Pluton und Persephone erscheinen und das ganze
Seelenreich sichtbar wird (Procl. ad Plat. Remp. p. 19, 35 ff. Pitr.). Lucian
will wohl jenes Märchen parodiren. So hat er anderswo in derselben
Schrift eine fabulose Erzählung des Plutarch (π. ψυχῆς) ins Lächerliche
gewendet.
2).
Hekate selbst wird angerufen als Γοργὼ καὶ Μορμὼ καὶ Μήνη καὶ
πολύμορφε: hymn. bei Hipp. ref. haer. 4, 35 p. 73 Mill. Von der Hekate
Schol. Apoll. Rhod. 3, 861: λέγεται καὶ φάσματα ἐπιπέμπειν (s. Eurip. Hel.
570; vgl. Dio Chrys. or. 4 p. 168. 169 R.; Hesych. ὰνταία) τὰ καλούμενα
Ἑκάταια (φάσματα Ἑκατικά: Marin v. Procli 28) καὶ πολλάκις αὐτὴ μετα-
βάλλειν τὸ εἶδος, διὸ καὶ Ἔμπουσαν καλεῖσϑαι. Hekate-Empusa auch bei
Aristophanes in den Ταγηνισταί: Schol. Ar. Ran. 293. Hesych. s. Ἔμ-
πουσα. Also Hekate ist nicht verschieden von Gorgo, Mormo, Empusa.
Auch Βαυβώ (identisch mit Βαβώ auf einer Inschr. aus Paros: Ἀϑήναιον
5, 15?) heisst sie hymn. mag. p. 289 Ab. v. 2. (schwerlich verwandt mit
βαυβών, dem aus Herondas übel bekannten [βάβαλον · αἰδοῖον Hesych.].
Sondern wohl von βαύ, dem Laute des Hundebellens. βαυκύων, Pariser
Zauberbuch 1911.). Auch dies der Name eines riesigen Nachtgespenstes:
Orph. fr. 216 Ab. Lobeck p. 823. Sonst kennt man diese Namen als
die eigener Höllendämonen. Γοργύρα, Ἀχέροντος γυνή, Apollodor. π.
ϑεῶν bei Stob. ecl. 1, 49 p. 419, 15 W. vgl. Apoll. bibl. 1, 5, 3. Hiervon ist
wohl Γοργώ (als Hadesbewohnerin schon Odyss. 11, 634 gedacht; χϑονία
Γοργώ Eurip. Ion. 1058) nur die abgekürzte Form. Μορμολύκα · τιϑήνη
2).
des Acheron: Sophron b. Stob. l. l. p. 419, 17. 18 (neben Λάμια, Γοργώ,
Ἐφιάλτης als Märchengestalt genannt bei Strabo 1 p. 19). Μορμολύκειον:
s. Ruhnken. Tim. lex. p. 179 ff. Davon Abkürzung Μορμώ (Μομμώ, Hesych.;
mit Metathesis des ρ Μομβρώ, Hesych.). Diese auch in der Mehrzahl:
ὥσπερ μορμόνας παιδάρια (φοβοῦνται) Xen. Hell. 4, 4, 17. Hesych. μορμόνας ·
πλάνητας δαίμονας (also umgehend, wie bei Hesiod und in dem Pytha-
goreischen σύμβολον die Erinyen, wie der ἀλάστωρ, die unruhig umgehende
Seele, von ἀλᾶσϑαι benannt [so Lobeck, Paralip. 450]). Uebrigens in der
Mehrzahl auch Ἑκάτας Lucian Philops. 39 extr. (vielleicht nur generali-
sirend); τρισσῶν Ἑκατῶν Pariser Zauberbuch 2825 f.; Ἔμπουσαι (neben
ἄλλα εἴδωλα), Dionys. Perieg. 725 u. ö. Die Μορμώ ein Kinderschreck:
Μορμὼ δάκνει Theocrit. 15, 40. Ebenso ist ein kinderraubender Unhold
Λάμια. (Duris fr. 35; Diodor. 20, 41; Heraclit. incredib. 34 etc. Einiges
bei Friedländer, Darstell. a. d. Sitteng.4 1, 511 f. Hypokoristisch Λαμώ:
Schol. Ar. Eq. 62). Und Mormo heisst selbst Lamia: Μορμοῦς τῆς καὶ
Λαμίας Schol. Gregor. Naz. bei Ruhnken Tim. p. 182a. Mit Mormo und
Lamia identificirt wird, bei Schol. Theocrit. 15, 40, Γελλώ, das schon
von Sappho erwähnte kinderraubende Gespenst (Zenob. 3, 3 etc.). Auch
Καρκώ ist dasselbe wie Λάμια (Hesych). Lamia ist offenbar der all-
gemeine Name (vgl. auch oben p. 181), Mormo, Gello, Karko, auch Em-
pusa sind einzelne Lamien. Die aber in einander verschwimmen. Wie
Mormo und Gello zusammenfallen, so Gello und Empusa: Γελλὼ εἴδωλον
Ἐμπούσης Hesych. (Empusen, Lamien und Mormolyken dieselben: Philostr.
V. Apoll. 4, 25 p. 145, 16). Die Empusa, in immer wechselnden Gestalten
erscheinend (Arist. Ran. 289 ff.), begegnet wohl auch Nachts den Menschen
(νυκτερινὸν φάσμα ἡ Ἔμπουσα vit. Aeschin. init. S. Philostr. v. Apoll. 2, 4),
meist aber (wie Hekate bei Lucian) am Mittag, μεσημβρίας ὅταν τοῖς κατοι-
χομένοις ἐναγίζωσιν: Schol. Arist. Ran. 293. Sie ist das daemonium meri-
dianum
, das unter dem Namen Diana christliche Autoren kennen (s.
Lobeck, Aglaoph. 1092. Grimm D. Myth.4 972. Ueber den Mittagsteufel
s. Grimm III 342; Rochholz, D. Glaube u. Br. 1, 67 ff., Mannhardt
Ant. Wald- u. Feldc. 2, 135 f. Haberland, Ztsch. f. Völkerpsychol. 13,
310 ff.). Mit ihr, und mit Baubo, Gorgo, Mormo und also auch Gello,
Karko, Lamia ist Hekate, soweit sie als εἴδωλον auf der Oberwelt er-
scheint, identisch. — Das Verfliessen der Linien und Zusammenfallen
der Gestalten ist für diesen sinnetäuschenden Spuck charakteristisch.
In Wahrheit werden die einzelnen Namen (zum Theil onomatopoie-
tisch gebildete Schrecknamen) ursprünglich Benennungen der Ge-
1).
Der Schwarm der Hekate bringt nächtliche Angst und Krank-
heit: εἲτ̕ ἔνυπνον φάντασμα φοβῇ χϑονίας ϑ̕ Ἑκάτης κῶμον ἐδέξω.
Trag. inc. (Porson dachte an Aeschylus) fr. 375. Den Schwarm bilden
die νυκτίφαντοι πρόπολοι Ἐνοδίας: Eurip. Hel. 571. (Diese πρόπολοι τᾶς
ϑεοῦ sind wohl auch gemeint auf der defixio C. I. Gr. 5773). Es sind
keine anderen als die mit der Hekate umschweifenden Seelen Ver-
storbener. Nächtliche Schrecknisse bringen Ἑκάτης ἐπιβολαὶ καὶ ἡρώων
ἔφοδοι. Hippocr. morb sacr. I p. 593 K. Daher nennt hymn. Orph. 1, 3
die Hekate ψυχαῖς νεκύων μέτα βακχεύουσαν. Solche mit der Hekate
fahrende Seelen sind zumal die der ἄωροι, der vor dem Ende der ihnen
„bestimmten“ Lebenszeit Gestorbenen; πρὶν μοῖραν ἐξήκειν βίου (Soph.
Antig. 896. Vgl. Phrynich., Bekk. anecd. 24, 22. πρόμοιρος ἁρπαγή: Inscr.
of Cos
322) Gegen sie war Thanatos, ἐν ταχυτῆτι βίου παύων νεοηλίκας
ἀκμάς, ungerecht: hymn. Orph. 87, 5. 6; was ihnen an bewusstem Leben
auf Erden entzogen ist, müssen sie nun als entkörperte „Seelen“ ein-
bringen. aiunt, immatura morte praeventas (animas) eo usque vagari
istic, donec reliquatio compleatur aetatum, quas tum pervixissent, si non
intempestive obiissent
. Tertull. de anima 56. (Sie haften an der Stelle
ihres Grabes: ἥρωες ἀτυχεῖς, οἱ ἐν τῷ δεῖνι τόπῳ συνέχεσϑε, Pariser
Zauberb 1408. Vgl. C. I. Gr. 5858b). Darum wird auf Grabsteinen (und
sonst: Eur. Alc. 172 f.) oft als etwas besonders klägliches hervorgehoben,
dass der hier Bestattete als ἄωρος gestorben sei (s. Kaib. ep. lap. 12;
16; 193; 220, 1; 221, 2; 313, 2. 3. ἄτεκνος [und unverheirathet s. ob.
p. 292] ἄωρος: 236, 2. Vgl. 372, 32; 184, 3. C. I. Gr. 5574). Gello,
die selbst als παρϑένος ἀώρως ἐτελεύτησε, wird zum φάντασμα, das Kinder
tödtet und τοὺς τῶν ἀώρων ϑανάτους verschuldet (Zenob. 3, 3. Hesych.
2).
spenster einzelner Orte sein, die freilich zuletzt alle dieselbe Gesammt-
vorstellung ausdrückten und darum sich unter einander und mit der ver-
breitetsten Gestaltung dieser Art, der Hekate, deckten. Uebrigens ge-
hören diese, neben der Hekate stark depotenzirten und zuletzt (vielleicht
mit Ausnahme der Empusa) dem Kindermärchen überlassenen weiblichen
Dämonen sämmtlich, wie Hekate auch, der Unterwelt und dem Seelen-
reiche an. Bei Gorgyra (Gorgo) und Mormolyke (Mormo) ist dies ja aus-
gesprochen. Lamia, Gello reissen Kinder und sonst ἀώρους aus dem
Leben wie andre Höllengeister, Keren, Harpyien, Erinyen, Thanatos selbst.
Empusa kommt auf die Erde am Mittag, weil man da den Todten opferte
(Schol. Ran. 293. Mittagsopfer für Todte und Heroen: oben p. 139 A. 2).
Sie kommt zum Opfer für die Unterirdischen, weil sie eben selbst zu
diesen gehört. (So bekundet sich der chthonische Charakter der Sirenen
— die den Harpyien nächstverwandt sind — auch darin, dass sie nach
dem dämonistischen Volksglauben Mittags erscheinen [wie die Empusen],
Schlafende bedrücken u. s. w. S. Crusius, Philolog. 50, 97 ff.)
1).
s. Γελλώ). Die Seelen der ἄωροι müssen ruhelos umgehen. S. Plaut.
Mostell. 499 f. Sie eben sind es, die (ἀνέμων εἴδωλον ἔχοντες, hymn.
Hec.) mit der Hekate bei Nacht umherschweifen. Der Hekatehymnus
(bei Abel, Orphica p. 289; Pariser Zauberbuch Z. 2727 ff.) V. 10 ff. ruft
die Hekate an: δεῦρ̕ Ἑκάτη τριοδῖτι, πυρίπνοε, φάσματ̕ ἔχουσα (ἄγουσα
Meineke), ἥ τ̕ ἔλαχες δεινὰς μὲν ὁδοὺς (δεινάς τ̕ ἐφόδους?) χαλεπάς τ̕ ἐπι-
πομπάς, τὴν Ἑκάτην σε καλῶ σὺν ἀποφϑιμένοισιν ἀώροις κεἰ τινες ἡρώων
ϑάνον ἁγναῖοί τε (καὶ Mein., aber τέ voranzustellen ist hellenistischer Sprach-
gebrauch; oft so in Orac. Sibyll.) ἄπαιδες κτλ. Die ἄωροι werden daher
geradezu zu Spukgeistern κατ̕ ἐξοχήν. Wie jener Hymnus sie (mit
der Hekate) zu bösem Zauber aufruft, so wird in Defixionen, die man
in die Gräber (vorzugsweise eben solche von ἄωροι: s. die Vorschrift
in dem Pariser Zauberbuch 332 ff. 2215; 2220 f. Papyr. Anastasy
Z. 336 ff.; 353) legte, bisweilen ausdrücklich ein ἄωρος angerufen. λέγω
τῷ ἀώρῳ τῷ κ(ατὰ τοῦτον τὸν τόπον etc.): Defixio aus Rom. I. Gr. Sic.
et It.
1047. ἐξορκίζω σε, νεκύδαιμον ἄωρε: Bleitafel aus Karthago, Bull.
corr. hellén
. 1888 p. 299. Vgl. Pariser Zauberb. 342 f.; 1390 ff. παράδοτε
(den Verfluchten) ἀώροις, Bleitafel aus Alexandria, Rhein. Mus. 9, 37,
Z. 22. Mit den Ἑκάτης μελαίνης δαίμονες alterniren die ἄωροι συμφοραί
auf Flüchen bei Kaib. ep. lap. p. 149; Sterrett, Pap. of the Amer. school
of Athens
, 2, 168. — Auf die βιαιοϑάνατοι (oder βίαιοι: so in den
Zauberbüchern. βιοϑάνατον πνεῦμα, Paris. Zauberb. 1950), als eine be-
sondere Art der ἄωροι (s. Plaut. a. O.), trifft alles zu, was von den ἄωροι
gesagt worden ist. Sie finden keine Ruhe: s. oben p. 240, 1. Tertull. an.
56. 57. Serv. Aen. 4, 386, nach den physici. Vgl. auch Heliodor Aeth.
2, 5, p. 42, 20 ff. Bk. Um Aufnahme in den Hades muss ein so ums
Leben Gekommener βιαιοϑάνατος besonders flehen: Kaib. ep. lap. 624.
Vgl. Vergil. Aen. 4, 696 ff. Solche Seelen werden ἀλάστορες, Irrgeister:
s. oben p. 372 Anm. Umgehen eines βιαιοϑάνατος: Plut. Cimon 1. —
Endlich die Seelen Unbestatteter, der Seelenopfer und der Grabes-
wohnung nicht theilhaftig Gewordener (vgl. Eurip. Hecub. 31—50) müssen
ebenfalls umgehn (s. oben p. 201). Der ἄταφος wird ἐνϑάδε festgehalten:
Soph. Ant. 1070; er irrt auf der Erde um: ἀλαίνει Eurip. Troad. 1075.
Vgl. Tertull. an. 56. Eben darum können die Seelen der ἄταφοι von
Beschwörern zum Erscheinen und Antworten gezwungen werden. Helio-
dor. Aeth. p. 177, 15 ff. rite conditis Manibus hört das Umgehen der Seele
auf: Plin. epist. 7, 27, 11. Luc. Philops. 31 extr. — Gegen solche nächt-
liche Schreckbilder schützt die Kunst des μάντις und καϑαρτής (der ἀπο-
μάκτρια γραῦς, Plut. de superstit. 3; 166 A); solcher Unholde Abwendung
ist gerade rechte „Reinigung“. Eine Art von καϑάρσιον ist es auch, was
man anwendet, wenn die ἀπομαγδαλίαι (wie sonst den Hunden: Ath. 9,
409 D) hingeworfen werden den ἐν ταῖς ἀμφόδοις γινομένοις νοκτερινοῖς
φόβοις (Harmodios von Leprea bei Athen. 4, 149 C) d. h. der Hekate
und ihrem Schwarm (der ja auch in Hundegestalten erscheint).
1).
Hekate wird selbst (ohne Zweifel nach ältester Vorstellung) als
hundeköpfig gedacht (sie hat σκυλακώδεα φωνήν hymn. mag. 5, 17 Ab.),
ja als Hündin (s. Hesych Ἑκάτης ἄγαλμα, und besonders Bekk. anecd.
336, 31—337, 5. Hekate mit Kerberos identisch: Lyd. de mens. 3, 4
p. 88, 3 R. Geradezu als Hündin wird sie angerufen κυρία Ἑκάτη εἰνοδία,
κύων μέλαινα im Pariser Zauberbuch 1432 ff. [p. 80]); eben darum sind
ihr Hunde heilig und werden ihr geopfert (ältestes Zeugniss: Sophron in
Schol. Lycophr. 77). Die Hunde, mit denen sie bei Nacht herumschweift,
sind ebenso dämonische Wesen wie Hekate selbst. Porphyrius (solcher
Dinge besonders kundig) sagte σαφῶς, die Hunde der Hekate seien πονηροὶ
δαίμονες: Euseb. praep. ev. 4, 23, 7. 8. Ein solches als Hund erscheinen-
des Seelenwesen ist die Hekabe nach Lykophrons Darstellung, v. 1174
bis 1180. Hekabe wird durch Hekate (Brimo) verwandelt in eine ihrer
Begleiterinnen (ἑπωπίδα), die durch nächtliches Gebell die Menschen
schrecken, die der Göttin zu opfern versäumt haben. — Hunde als Bilder
der Seelen auf Grabreliefs? S. oben p. 221 Anm. (Erinyen als Hunde.
Keren als „Hunde des Hades“ gedacht: Apoll. Rhod. 4, 1665 ff. Anthol.
Pal. 7, 439, 3 u. s. w. Ruhnken, Epist. crit. I 94).
2).
S. Dilthey, Rhein. Mus. 25, 332 ff.
3).
Die italische Diana, längst mit der Hekate verschmolzen, blieb den
christianisirten Völkern des frühen Mittelalters vertraut (Erwähnungen
bei christl. Autoren: Grimm D. Mythol.4 235; 237; 778; 792; 972. O.
Jahn, Bös. Blick 108) und Mittelpunct des unendlichen Aberglaubens, der
sich aus griechisch-römischer Ueberlieferung in jene Zeiten hinüber-
geschleppt hat. Von nächtlichem Reiten vieler Weiber (d. h. „Seelen“
von Weibern) cum Diana, paganorum dea berichtet als verbreiteter Wahn-
vorstellung der, in den Streitigkeiten um das Hexenwesen so vielfach
angerufene sog. canon episcopi, der sich, wie es scheint, nicht über
Regino (Ende des 9. Jahrh.) zurückverfolgen lässt (von diesem aus der,
wie man meint, im 6. Jahrh. verfassten Pseudoaugustinischen Schrift de
spiritu et anima
entlehnt), dann durch Wiederholung bei Burkard von
Worms, in dem Decret des Gratian und sonst noch oft dem Mittelalter
ungemein vertraut wurde (Abdruck der Stelle des Burkard bei Grimm
D. Myth.4 III p. 405. Dass das Ganze ein canon des Concils von
Ancyra [314] sei, ist freilich nur eine irrige Meinung des Burkard).
Diesen Glauben an die nächtliche wilde Jagd der Diana mit den Seelen
darf man als einen Rest der alten Vorstellung von Hekate und ihrem
1).
ὁκόσα δείματα νυκτὸς παρίσταται, καὶ φόβοι καὶ παράνοιαι καὶ ἀνα-
πηδήσεις ἐκ τῆς κλίνης καὶ φόβητρα καὶ φεύξιες ἔξω, Ἑκάτης φασιν εἶναι
ἐπιβολὰς καὶ ἡρώων ἐφόδους, καϑαρμοῖσι τε χρέονται καὶ ἐπαοιδαῖς —
Hippocr. morb. sacr. p. 592 f. K. Vgl. Plut. de superstit. 3 p. 166 A.
Horat. A. P. 454. Hekate μανιῶν αἰτία Eustath. Il. 87, 31 (eben darum
auch Befreierin von Wahnsinn in den Weihen zu Aegina. S. oben p. 368, 1)
ἔνϑεος ἐξ Ἑκάτας Eurip. Hippol. 141. Hekateträume: Artemidor onirocr.
2, 37, p. 139, 1 ff. Die ἥρωες ἀποπλήκτους ποιεῖν δύνανται: Schol. Arist.
Av. 1490. Alpdrücken kommt (wie sonst von Pan als Ephialtes: Didy-
mus in Schol. Ar. Vesp. 1038 [schr. dort Εὐάπαν, von εὔα, dem Laut
des Ziegenmeckerns [Suid.], und Πᾶν. S. C. I. Gr. IV 8382]) auch wohl
von den ἥρωες. S. Rhein. Mus. 37, 467 Anm. Auch die Lamien und
Empusen scheint man als Nachtmahren gefürchtet zu haben: vgl. was von
ihrer verliebten Lüsternheit und Durst nach Menschenblut Apollonius
sagt, bei Philostr. v. Ap. 4, 25 p. 145, 18 ff (auch von Pan-Ephialtes —
ἐὰν δὲ συνουσιάζῃ Artemidor. p. 139, 21). Allgemein: ἀπὸ δαιμόνων
ἐνεργείας kommt das ὀνειρώσσειν: Suid. s. ὀνειροπολεῖν (2687 D). Sirenen:
Crusius, Philol. 50, 97 ff.
2).
„Hekatemahlzeiten“ waren ausser den καϑάρματα (s. oben p. 367, 1)
noch die eigens bereiteten Speisen, die man an den τριακάδες (s. oben
p. 215 A. 1) oder wohl auch an den νουμηνίαι (Schol. Arist. Plut.
544: κατὰ τὴν νουμηνίαν, ἑσπέρας; Opfer für Hekate und Hermes an
jeder νουμηνία: Theopomp. ap. Porphyr de abstin. 2, 16 p. 146, 7 N.)
der Hekate bereitete und hinstellte. Solche Hekatemahle meint Aristoph.
Plut. 594 ff; Sophocl. fr. 668; Plut. Symp. 7, 6 p. 709 A. Es mag frei-
lich auch um die Monatswende eine „Reinigung“ des Hauses vorgenommen
und so καϑάρσια und Ἑκάτης δεῖπνα doch wieder vermischt worden sein.
— Bestandtheile der Hekateopfer: Eier und gerösteter Käse (Schol.
Arist. Plut. 596), von Fischen τρίγλη und μαινάς (Athen. 7, 325 B ff.)
wohl auch Lichterkuchen (von Käse: πλακοῦντες διὰ τυροῦ. Paus. Lexicogr.
ap. Eustath. Il. 1165, 14) ἀμφιφῶντες (s. Lobeck Aglaoph. 1062 f.).
3).
Der καϑάρματα ἐκπέμψας wirft diese hin ἀστρόφοισιν ὄμμασιν
Aeschyl. Choeph. 98. 99. ἀμεταστρεπτὶ leerte man ἐν ταῖς τριόδοις das mit
3).
nächtlichen Schwarm ansehn, der sich in nordischen Ländern um so
eher lebendig erhielt, weil er sich mit den dort einheimischen Sagen vom
wilden Jäger und dem wüthenden Heere leicht vereinigen konnte.
3).
Reinigungsopfern gefüllte Getäss. Schol. zu jener Stelle. So geschieht
es auch sonst bei καϑαρμοί (Theocrit 24, 94 ff.), bei Erinyenopfern (Soph.
O. C. 490). Schon Odysseus muss beim Todtenopfer sich ἀπονόσφι τρα-
πέσϑαι (Odyss. 10, 528). Beim Sammeln der Zaubersäfte wendet Medea
die Augen ἐξοπίσω χερός (Soph. Ῥιζοτόμοι fr. 491. Apoll. Rhod. 4, 1315).
Einiges andere bei Lomeier de lustrat. p. 455 f. Das blieb dann stehende
Regel bei Opfern für χϑόνιοι und Zauberwerk, das sich immer auf Unter-
irdische bezieht. Noch bei Marcell. Empir. wird öfter, bei Anweisungen
zur Herstellung von φυσικά, eingeschärft: nec retro respice (z. B. 1, 54).
Aehnlich bei Plin. n. h. 21, 176; 29, 91. Neuerer Aberglaube hält es
nicht anders (vgl. z. B. Grimm D. Myth. III p. 444, 299; 446, 357; 453,
558; 467, 890; 477, 1137. Abwenden des Blicks vom wüthenden Heer:
Birlinger, Aus Schwaben. Neue Samml. I 90). Aber die Vorschrift ist
uralt. Auch im brahmanischen Todtenritual müssen gewisse Handlungen
ἀμεταστρεπτί ausgeführt werden (s. Max Müller, Zeitsch. d. d. morg. Ges.
9. p. XVI. XXI). Der Grund der Vorschrift ist leicht zu errathen.
Der sich Umsehende würde die Geister erblicken, die sich des
Hingeworfenen bemächtigen, und das brächte ihm Unglück. χαλεποὶ δὲ
ϑεοὶ φαίνεσϑαι ἐναργῶς. Darum muss Odysseus, wenn er den Schleier der
Leukothoë dieser wieder hinwirft ins Meer hinaus, αὐτὸς ἀπονόσφι τρα-
πέσϑαι (Odyss. 5, 350). Darum darf sich Orpheus nach der Eurydike,
als einer Unterirdischen, nicht umwenden. οἱ ἐντυγχάνοντες νυκτὸς ἥρωσι
διέστρεφον τὰς ὄψεις: Schol. Ar. Av. 1493. Deutlich redet Ovid, Fast.
5, 437 ff. Bei den Lemurien wirft der Opfernde die Bohnen hin aversus-
nec respicit. umbra putatur colligere et nullo terga vidente sequi
. Erst
wenn die Manes verscheucht sind, respicit (444). Eines der Pythagorei-
schen σύμβολα, dieser schätzbaren Reste griechischer Rockenphilosophie,
lautet: ἀποδημῶν τῆς οἰκίας μὴ ἐπιστρέφου · Ἐρινύες γὰρ μετέρχονται (Jam-
blich. Protr. p. 114, 29 Pist.). Hier ist der Grund der abergläubischen
Vorschrift (vgl. übrigens Grimm a. O. p. 435, 14; 446, 360) deutlich aus-
gesprochen; die Unterweltsgeister (umwandelnd auf Erden, wie am Fünften
nach Hesiod Op. 803) folgen dem Abreisenden; kehrte er sich um, so
würde er sie erblicken.
1).
Erscheinungen von εἴδωλα Todter (nicht, wie bei Homer, aus-
schliesslich im Traum, sondern vor offenen Augen). Hievon wussten
schon Gedichte des epischen Cyklus zu berichten. Erscheinung des Achill
in der kleinen Ilias (p. 37 Kink.), den Νόστοι (p. 53). Wie geläufig
solche Vorstellungen im 5. Jahrhundert waren, lassen die Geistererschei-
nungen in der Tragoedie (Aesch. Pers; Eum; Prom; Ψυχαγωγοί; Sophokl.
Πολυξένη; vgl. fr. 795. Eurip. Hecub. etc. Eine Todtenbeschwörung
fr. 912) erkennen. Geschichte von Simonides und dem dankbaren Todten
(Bergk zu Simonid. fr. 129), von Pelops und dem εἴδωλον des Killos (s.
Aug. Marx, Griech. Märchen von dankb. Thieren p. 114 f.).
2).
Seelenbeschwörungen an Oeffnungen der Unterwelt, in bestimmten
ψυχομαντεῖα, νεκυομαντεῖα. S. oben p. 198 Anm. Aber auch ψυχαγωγοί
gab es, die einzelne Seelen anderswo zu erscheinen zwingen konnten.
Eurip. Alcest. 1130 f Von solchen ψυχαγωγοί in Thessalien aus dem
5. Jahrhundert redet Plutarch bei Schol. Eur. Alc. 1128. Leute τούς τε
τεϑνεῶτας φάσκοντες ψυχαγωγεῖν καὶ ϑεοὺς ὑπισχνούμενοι πείϑειν, ϑυσίαις τς
καὶ εὐχαῖς καὶ ἐπῳδαῖς γοητεύοντες werden erwähnt bei Plato Leg. 10,
909 B. Die spätere Litteratur ist voll von solchen Seelencitirungen.
Citirung der Hekate später sehr beliebtes Zauberstück (s. Apoll. Rh.
3, 1030 f. etc. Recept zur Ausführung dieses Schwindels bei Hippol. ref.
haer
. 4, 35. 36). Von einer Ἑκάτης ἐπαγωγή weiss schon Theophrast
char. 16.
3).
ἀγύρται καὶ μάντεις versprechen ἐάν τίς τιν̕ ἐχϑρὸν πημῆναι ἐϑέλῃ,
μετὰ σμικρῶν δαπανῶν ὁμοίως δίκαιον ἀδίκῳ βλάψειν, ἐπαγωγαῖς τισι καὶ
καταδέσμοις τοὺς ϑεούς, ὥς φασι, πείϑοντές σφισιν ὐπηρετεῖν. Plat. Rep. II
364 C. Wie gross die Angst vor diesen Zauberkünsten (auch Wachs-
3).
bilder an Hausthüren, auf Gräbern, ἐπὶ τριόδοις befestigt, kommen — wie
in später Superstition so oft — schon vor) der μάντεις und τερατοσκόποι,
ihren καταδέσεις, ἐπαγωγαί, ὲπῳδαί und sonstigen μαγγανεῖαι war, sieht
man namentlich aus Plato Leg. XI 933 A—E. (Plato selbst weist die
Möglichkeit solcher Zauberwirkungen nicht ab; er konnte sie, bei seiner
Dämonentheorie, allenfalls gelten lassen. S. Symp. 203 A). ἐπαγωγαί
sind Geister- und Götterbannungen (s. Ruhnk. Tim. lex. p. 115. Gleich-
bedeutend ἐπιπομπαί: s. oben p. 249, 1. ἐπιπέμπειν oft in diesem Sinne in
hymn. Orph.). καταδέσεις, κατάδεσμοι sind die „Bindungen“, durch
die der Geisterbanner die Unsichtbaren magisch zwingt, seinen Willen zu
thun. καταδεῖν, καταδεσμεύειν bleibt der technische Ausdruck für diesen
Zwang in den Zauberbüchern bis in späteste Zeit. καταδέσεις, κατάδεσ-
μοι (Pap. Paris. 336) in ihrer Art sind die Devotionen oder Defixionen
(s. Gothofred. ad Cod. Theodos. 9, 16, 3 extr.), die man, auf Metall-
täfelchen geschrieben, in Mengen in Gräbern gefunden hat. Stets bedarf
es eines Zwanges; denn die Geister kommen ungern. Der Zauberer ist
(durch Kraft seiner Sprüche und Ceremonien) ihr Herr; er übt über sie
jene ἀνάγκη (ὁ ἐπάναγκος oft in den Zauberbüchern), πειϑανάγκη, von der
namentlich, angeregt durch Pythagoras von Rhodos, Porphyrius redet,
bei Euseb. praep. ev. 5, 8 (πείϑειν nennt es gemildert Plato); das äusserste
sind die βιαστικαὶ ἀπειλαί, von denen Jamblich. de myst. 6, 5 spricht.
(τὸ δεῖνα πράξεις κἂν ϑέλῃς κἂν μὴ ϑέλῃς: Refrain in dem Zauberhymnus
des Pariser Zauberbuches Z. 2242 ff.). Als völlige Wetterzauberer er-
scheinen die μάντεις und καϑαρταί bei Hippocr. morb. sacr. p. 591: sie
wollen (nach alter Kunst thessalischer Zauberfrauen) den Mond herab-
ziehen können, die Sonne verschwinden lassen, Regen oder Dürre herbei-
führen u. s. w. Ein γένος der ἀνεμοκοῖται in Korinth konnte τοὺς ἀνέμους
κοιμίζειν (Hesych. Suid. s. ἀνεμοκ. Vgl. Welcker, Kl. Schr. 3, 63). Gleiches
wie jene Katharten von sich rühmte spätere Sage von Abaris, Epi-
menides, Pythagoras u. s. w.: Porphyr. v. Pyth. 28. 29 (Jamblich. 135 f.);
Empedokles verheisst es seinem eigenen Schüler (464 ff. Mull. vgl. Welcker,
Kl. Schr. 3, 60 f.). — Dies Proben zauberhaften Treibens aus frühen
Zeiten. Die überfliessende Fülle solches Unwesens in späteren Perioden
soll hier nicht weiter berührt werden, als zur Erläuterung älterer Berichte
dienlich ist.
1).
Des Abaris hatte Pindar gedacht (Harpocr. s. Ἄβαρις), Herodot
erwähnt ihn 4, 36. Dort ist von dem Pfeil die Rede, den er mit sich trug
κατὰ πᾶσαν τὴν γῆν, und von seiner gänzlichen Nahrungsenthaltung (s.
Jamblich. V. Pyth. 141). Den Pfeil, ein σύμβολον τοῦ Ἀπόλλωνος (Ly-
curg. bei Eudoc. p. 34, 10), trägt Abaris in der Hand (die Vermuthung
Wesselings, neuerdings wieder vorgebracht, dass bei Herodot zu schreiben
sei ὡς τὸν ὀϊστὸς περιέφερε ist als sprachlich unhaltbar schon von Struve,
1).
Aristeas: Pindar fr. 271.
1).
Opusc. crit. 2, 269 f. nachgewiesen. Die Ausschmückung der Sage, wo-
nach Abaris, gleich Musaeos, durch die Luft flog auf seinem Pfeile [wohl
demselben, von dem Heraklides Pont. bei Eratosth. Catast. 29 Seltsames
erzählt] ist später als Herodot, auch als Lykurg. Sie liesse sich dem Hera-
klides Pont. zutrauen. S. Porphyr. V. Pyth. 29. Jamblich. V. P. 91. 136.
Himer. or. 25, 2. 4. Nonnus Dion. 11, 132 f. Procop. Gaz. epist. 96).
Abaris wird gedacht als ἔνϑεος (Eudoc.), als καϑαρτής und χρησμολόγος,
der Seuchen zauberhaft vertreibt (namentlich in Sparta. Dort Ausrich-
tung der κωλυτήρια, Abwehropfer; Gründung des Tempels der Κόρη σώτςιρα.
Apollon. mirab. 4 [wohl aus Theopomp: Rhein. Mus. 26, 558]; Jamblich.
92. 142. Pausan. 3, 13, 2), Erdbeben, Pest u. dgl. voraussagt (Apollon.),
Krankenheilung und Epoden lehrt (Plat. Charm. 158 D.), ein Vorbild
εὐκολίας καὶ λιτότητος καὶ δικαιοσύνης giebt (Strabo 7, 301). — Dieser, in
der Sage ziemlich unbestimmt gelassenen Gestalt bemächtigte sich dann
1) die athenische (wahrscheinlich recht junge) Cultlegende von der Stif-
tung der Proërosien (Harpocr. s. Ἄβαρις; Suidas s. προηροσίαι; Schol.
Ar. Eq. 729; aus Lykurgs Rede κατὰ Μενεσαίχμου) und 2) die pythago-
reische Legende. Dass der Bericht des Jamblichus V. P. 91—93. 147
(denn 215—217, Abaris und Pythagoras vor Phalaris, stammt zweifellos
aus Apollonius Tyan.) von dem Verkehr des Pyth. mit Abaris auf den
märchenhaften „Abaris“ des Heraklides Ponticus zurückgehe, wie Krische
de soc. Pythag. p. 38 und noch entschiedener Diels, Archiv f. Gesch. d.
Philos.
3, 468 behaupten, ist an sich sehr glaublich, nur mit nichts näher
nachzuweisen; es fehlt jede Spur gerade davon, dass bei Her. Abaris
im Verkehr mit Pythagoras vorkam. (Πυϑαγόρας ἐν τῷ πρὸς Ἄβαριν
λόγῳ bei Procl. in Tim. 141 D könnte ja wohl möglicher Weise, muss
aber nicht, wie Diels annimmt, auf den „Abaris“ des Heraklides sich be-
ziehen.) Jedenfalls ist die Verbindung des Abaris mit Pythagoras spät er-
sonnen; ob sie in der Aristotelischen Schrift περὶ τῶν Πυϑαγορείων schon er-
wähnt war und erwähnt werden konnte, ist ganz unbekannt. — Uebrigens
herrschte durchaus die Vorstellung, dass Abaris nicht in grauer Vorzeit
sondern in geschichtlich hellen Zeiten nach Griechenland gekommen sei.
Pindar liess dies geschehen κατὰ Κροῖσον τὸν Λυδῶν βασιλέα (wohl um die
Zeit der Σάρδεων ἅλωσις ol. 58, 3; 546), „andre“ (Harpocr.) schon in der
21. Olympiade (696). Die Gründe beider Zeitbestimmungen entgehen
uns. Wer mit Eusebius und Nikostratos (bei Harp.) den Abaris setzte
auf Ol. 53 (κατὰ τὴν ν̅γ̅ Ὀλυμπιάδα: denn so ist bei Harpocr. zu schrei-
ben; die richtige Schreibung hat, aus Harpokration, Suidas s. Ἄβ. er-
halten), konnte ihn noch als Zeitgenossen des Pythagoras gelten lassen;
nur ist diese Bestimmung nicht (wie Diels a. O. annimmt) so gewonnen,
dass A. um 40 Jahre älter als Pythagoras gesetzt wurde (die ἀκμὴ des
Pyth. fällt in Ol. 62 [s. Rhein. Mus. 26, 570] und dahin, nicht auf Ol. 63,
1).
Ekstase des Aristeas: τούτου φασὶ τὴν ψυχήν, ὅταν ἐβούλετο, ἐξιέναι
καὶ ἐπανιέναι πάλιν. Suid. v. Ἀριστέας. Sein Leib lag wie todt, ἡ δὲ ψυχὴ
ἐκδῦσα τοῦ σώματος ἐπλάζετο ἐν τῷ αἰϑέρι κτλ. Max. Tyr. 16, 2, p. 288 R.
(reperimus) Aristeae animam evolantem ex ore in Proconneso corvi effigie
Plin. n. h. 7, 174. (sehr ähnliche Vorstellungen anderwärts: Grimm,
D. Myth.4 906). Auch in den Ἀριμάσπεια hiess es, Aristeas sei zu den
Issedonen gekommen φοιβόλαμπτος γενόμενος (Herodot 4, 13), das soll
doch jedenfalls sein, auf eine wunderbare, Menschen sonst unmögliche
Weise, nämlich in apollinischer Ekstase (vgl. oben p. 356, 2 νυμφόληπτος
u. s. w. ἐν ἐκστάσει ἀποφοιβώμενος: Pariser Zauberbuch 737, p. 63 Wess.)
Und so lässt Maximus Tyr. 38, 3 p. 222 ff. den Aristeas berichten, wie
seine ψυχή, καταλιποῦσα τὸ σῶμα, bis zu den Hyperboreern gekommen sei
u. s. w. Diese Berichte stammen nicht aus Herodot, der ja vielmehr
berichtet, wie Aristeas in einer Walkmühle zu Prokonnesos stirbt, dann
aber sein Leib verschwindet und einem Manne bei Kyzikos begegnet.
Das wäre nicht ἔκστασις der Seele sondern Entrückung von Leib und
Seele zusammen. Hier scheint aber eine Ungenauigkeit des Herodot
vorzuliegen. Bei solchen Entrückungen ist die Pointe der Geschichte,
ja ihre eigentliche Bedeutung, allemal die, dass der Entrückte eben
nicht gestorben sei, sondern ohne Trennung von Leib und Seele, d. h.
ohne Tod, verschwunden, wie sonst nur die Seele allein im Tode thut.
So ist es in allen bisher in diesem Buche betrachteten Entrückungs-
geschichten (z. B. auch den Sagen vom Heros Euthymos: p. 181, Kleo-
medes: p. 167), so auch in der Sage von Romulus bei Plutarch Rom.
27. 28, die Plutarch mit Recht der Geschichte von Aristeas, wie sie
Herodot erzählt, sehr ähnlich findet; so in den zahlreichen Entrückungs-
sagen die, deutlich nach griechischem Muster, von latinischen und römi-
schen Königen erzählt werden (s. Preller, Röm. Mythol.2 p. 84 f. 704)
u. s. w. Es scheint demnach, als ob Herodot zwei Versionen der Sage
verschmolzen habe: nach der einen „stirbt“ Aristeas (diesmal und nachher
noch öfter), d. h. seine Seele trennt sich vom Leibe und lebt für sich;
nach der andern wird, ohne Eintritt des Todes Leib und Seele zusammen
„entrückt“. Nach beiden Versionen konnte dann Aristeas dem Manne
bei Kyzikos begegnen: wenn entrückt, mit seinem verschwundenen Leibe
1).
setzt sie auch „Eusebs Chronik“, nämlich die Armen. Uebers. und die
Hss. P. E. M. R. des Hieronymus). Vielleicht soll Abaris als Zeitgenosse
des Phalaris bezeichnet werden, dessen Regierung nach dem einen der
beiden Ansätze die Eusebius giebt, Ol. 53 (oder 52, 3) beginnt. (vgl.
Rhein. Mus. 36, 567.)
1).
Herod. 4, 15. Theopomp. bei Athen 13, 605 C: der eherne Lor-
beer war aufgestellt κατὰ τὴν Ἀριστέα τοῦ Προκοννησίου ἐπιδημίαν ὅτε ἔφησεν
ἐξ ῾ϒπερβορέων παραγεγονέναι. Das steht nicht bei Herodot, verträgt sich
aber mit dessen Erzählung. Nach Herodot berichtete A. den Meta-
pontinern, von allen Italioten sei Apollo nur zu ihnen gekommen, und
er selbst, Aristeas, im Gefolge des Gottes, als (dem Apollo heiliger)
Rabe. Dies letzte lässt wiederum darauf schliessen, dass auch dem Herodot
schon Sagen von dem Herumschweifen der Seele des Ar. bei todesartiger
Starrheit des Leibes bekannt waren. Denn der Rabe ist ja offenbar die
Seele des A. s. Plin. n. h. 7, 174. — Die ἐπιδημία des A. in Metapont
fiel, wie Herodot erschloss (ὡς συμβαλλόμενος-εὕρισκον), 240 (nicht 340)
Jahre nach dem zweiten ἀφανισμός des Mannes aus Prokonnesos. Da Ar.
in seinem Gedicht von dem Beginn des Kimmerierzuges geredet hatte
(Herod. 13), so könnte sein erster ἀφανισμός nicht vor 681 (als dem ersten
Jahre des Ardys, unter dem nach Herodot 1, 15 der Kimmerierzug be-
gann) fallen (auch ist Prokonnesos erst unter Gyges gegründet: Strabo
13, 587). Von da (und dies ist der allerfrüheste Termin) käme man nach
240 + 7 (Her. 14 extr.) Jahren in das Jahr 434, dies aber kann doch
Herodot unmöglich für das Jahr der mysteriösen Anwesenheit des A. in
Metapont ausgeben wollen. Er scheint einen der Rechenfehler, in denen
er stark ist, begangen zu haben. Wann er nun eigentlich die ver-
schiedenen Scenen der Aristeasgeschichte spielen lassen wollte, ist leider
nicht mehr auszumachen. (Auf keinen Fall hat Herodot — wie nach
Anderen Bergk annimmt — daran gedacht, den A. zum Lehrer des
Homer zu machen, den er etwa 856 blühen lässt [s. Rhein. Mus. 36, 397].
Er setzt ja den Kimmerierzug viel später. Als Lehrer des Homer [Strabo
14, 639; Tatian ad Gr. 41] konnte A. nur denen gelten, die den Homer
zum Zeitgenossen der Kimmerierzüge machten, wie namentlich Theopomp
[s. Rhein. Mus. 36, 559]). Worauf sich diejenigen Chronologen stützten,
die den Aristeas zum Zeitgenossen des Kroesus und Cyrus machten, und
Ol. 58, 3 blühen liessen (Suidas) ist unbekannt. Möglich ist es, dass
1).
(wie Romulus dem Julius Proculus), wenn aber die Seele den starr liegen-
den Leib allein verlassen hatte, so ist sie es die, als εἴδωλον ihres Leibes,
jenem Manne erscheint (ähnlich wie Pythagoras, Apollonius von Tyana
an zwei Orten zugleich gesehen werden). Diese letztere Sage scheint
die ächte und ursprüngliche zu sein, die zuerst erwähnten Berichte von
der ἔκστασις der Seele des A. führen auf sie hin, und so wohl verstand
es auch der Autor (wahrscheinlich Theopomp), dem Apollonius hist. mirab.
2 folgt.
1).
Dexikreon auf Samos: Plut. Quaest. Graec. 54. — Polyaratos
von Thasos, Phormion von Sparta: Clemens Strom. 1, 334 A. Phormion
ist näher bekannt durch seine wunderbaren Erlebnisse. Paus. 3, 16, 2. 3.
Theopomp bei Suidas s. Φορμίων. S. Meineke Fr. com. II p. 1227 bis
1233. — Am Schluss jener Aufzählung von μάντεις bei Clemens Strom.
1, 334 A wird genannt Ἐμπεδότιμος ὁ Συρακόσιος. Von einer ekstatischen
Vision dieses Empedotimos, in der er (nachdem ihm a quadam potestate
divina mortalis aspectus detersus
war) am Himmel inter cetera drei Thore
und drei Wege (zu den Göttern und dem Seelenreich) erblickte, berichtet
(offenbar dem Berichte eines älteren Erzählers, nicht einem Werke des
E. selbst folgend) Varro bei Serv. ad Virg. G. 1, 34. Jedenfalls aus
dieser Vision stammte auch was Empedotimos von dem Sitze der Seelen
in der Milchstrasse zu erzählen wusste: Suidas s. Ἐμπεδότιμος, s. Ἰουλιανός
(s. Rhein. Mus. 32, 331 A. 1). Vgl. Damascius bei Philoponus zu
Aristot. Meteor. 1, 218 Idel. περὶ φυσικῆς ἀκροάσεως nennt (wohl auf gut
Glück) Suidas s. Ἐμπ. die Schrift, in der Emp. seine Ansichten vor-
getragen haben soll (weil E. doch auch Nachrichten aus dem Jenseits
brachte, wird auch auf ihn die Geschichte von dem unterirdischen Ge-
mach u. s. w. übertragen in den Schol. Greg. Naz. carm. 6, 286 = Eudocia
p. 682, 15). Sonst erzählt nur Julian, epist. I p. 379, 13 ff. etwas von
1).
„Verwechslung [dies schwerlich] oder Verbindung mit Abaris“ der Grund
war (so Gutschmid bei Niese, Hom. Schiffskatal. p. 49 Anm.). Nur ist
von solcher Verbindung der Beiden schlechterdings nichts bekannt (sehr
Problematisches bei Crusius Mythol Lex. 1, 2814 f.). Vermuthlich aber
wird, wer diese Ansetzung billigte, die Ἀριμάσπεια wie Dionys, de Thucyd. 23;
π. ὕψους 10, 4, für dem Aristeas untergeschoben gehalten haben: denn die
sollten ja zur Zeit des Kimmerierzuges verfasst sein. An dem historischen
Dasein des Aristeas hat man im Alterthum nie gezweifelt, und auch uns
geben die Märchen, die sich um seinen Namen gesammelt haben, zu
solchem Zweifel noch keinen Grund. Die Sage von der übermässigen
Ausdehnung der Lebenszeit des Mannes (vom Kimmerierzuge bis zu der
offenbar viel späteren Zeit, in der er wirklich lebte) scheint wesentlich
auf Fictionen des Gedichtes der Ἀριμάσπεια zu beruhen, das auch wohl
die mysteriöse Erklärung dieses wunderlangen Daseins gab. Ob aber A.
selbst das Gedicht verfasst und sich selbst mit Wunderglanz geschmückt
hat, oder ein Anderer, Späterer seines sagenberühmten Namens sich be-
diente, das wissen wir nicht. Wenn auf die Angabe bei Suidas s. Πεί-
σανδρος Πείσωνος extr. Verlass wäre, möchte man dem A. selbst die An-
fertigung der Ἀριμάσπεια zutrauen. Jedenfalls war das Gedicht schon
Anfangs des 5. Jahrh. vorhanden: denn dass Aeschylus die Schilderung
der Greifen und Arimaspen im Prometheus (703 ff.) den Ἀριμάσπεια nach-
bilde, lässt sich nicht wohl bezweifeln.
1).
Apollon. hist. mirab. 3 (wohl aus Theopomp.). Plin. n. h. 7, 174.
Plut. gen. Socr. 22 p. 592 C (Ἑρμόδωρος: derselbe Schreibfehler bei Procl.
ad Pl. Remp. p. 63, 2 Sch.) Lucian, enc. musc. 7. Tertullian de an. 2. 44
(aus Soranos; vgl. Cael. Aurel. tard. pass. 1, 3, 55.) Orig. c. Cels. III 3, 32.
Derselbe Hermotimos von Klazomenae ist ohne Zweifel gemeint, wo ein
Ἑρμότιμος unter den früheren Verkörperungen der Seele des Pythagoras
genannt wird, wiewohl dessen Heimath entweder überhaupt nicht erwähnt
(so Diog. L. 8, 4 f.; Porphyr. vit. Pyth. 45; Tert. an. 28) oder als solche
fälschlich Milet genannt wird (so bei Hippol. ref. haer. p. 7 Mill.). Ganz
unhaltbare Combinationen über diesen Herm. bei Goettling, Opusc. acad.
211. — Nach Plinius hiessen die Feinde die (mit Zulassung seiner Frau)
zuletzt den Leib des H. verbrannten, Cantharidae. Wohl der Name
eines dem H. feindlichen γένος. — Auffallend ähnliche Geschichte in
indischer Ueberlieferung: s. Rhein. Mus. 26, 559 Anm. An irgend welchen
historischen Zusammenhang dieser Geschichte mit der von Hermotimos
1).
der Person des Empedotimos: wie er ermordet worden, sein Tod aber an
den Mördern von der Gottheit gerächt worden sei. Das beruht aber wohl auf
einer Verwechslung (sei es des Julian oder der Abschreiber) mit Ἑρμότιμος;
von der Strafe der Mörder des Hermot. im Jenseits erzählt Plut. gen.
Socr.
22. Jene Erzählung vom Aufenthalt der Seelen in der Milchstrasse war
dem Julian bekannt (bei Suidas s. Ἰουλιανός) aus Heraklides Ponticus
(und wohl ebendaher entnahmen sie Andere, wie Numenius bei Proclus ad
Remp. p. 37, 38 Pitr., Porphyrius, Jamblichus [bei Stob. ed. I p. 378,
12 W], auch schon Cicero Somn. Scip. § 15. 16). Eine ältere Quelle dieser
Vorstellung ist nicht bekannt (denn wenn „Pythagoras“ als ihr Vertreter
genannt wird, bei Julian u. A., so geht das eben auch auf Heraklides
zurück); und man konnte schon nach dem bisher Bekannten auf den
Verdacht geführt werden, dass die ganze Existenz und Geschichte dieses
sonst so merkwürdig unbekannten „grossen Empedotimos“ nur eine Er-
findung
des Heraklides Ponticus gewesen sein möge, die ihm in irgend
einem seiner Dialoge zu anmuthiger und bedeutender Einkleidung eigener
Phantasmen gedient haben könnte. Jetzt erfährt man etwas Genaueres
über die Erzählung des Heraklides von der Vision, in der Emp. (μετὰ
τοῦ σώματος: 20, 37) πᾶσαν τὴν περὶ τῶν ψυχῶν ἀλήϑειαν erblickt habe,
aus Proclus ad Plat. Remp. p. 19, 35—20, 2 Pitr. Hiernach wird es
vollends deutlich, dass Empedotimos nur eine Dialogfigur des Heraklides
war, und wohl so wenig jemals existirt hat wie Er der Sohn des Armenios
oder Thespesios von Soli oder dessen Vorbild Kleonymos von Athen
bei Klearch von Soli (Rhein. Mus. 32, 335).
1).
Daher die Sage, dass Apollo vom Morde des Python nicht (wie
meist berichtet wird) zu Tempe, sondern auf Kreta, in Tarrha, von Kar-
manor gereinigt worden sei. Pausan. 2, 7, 7; 2, 30, 3; 10, 6, 7 (Verse
der Phemonoë); 10, 16, 5. Die καϑάρσια für Zeus aus Kreta geholt:
Orpheus (Rhapsod.) fr. 183 (Ab). Vgl. das Orakel bei Oenom. Euseb. praep.
ev.
5, 31, 2. K. O. Müller Proleg. 158 f. — Kreta, alter Sitz der Mantik:
Onomakritos der Lokrer, der Lehrer des Thaletas, hält sich in Kreta auf
κατὰ τέχνην μαντικήν. Aristot. Polit. 1274 a, 25 ff.
2).
Vgl. oben p. 120 ff. Als Eingeweihter in den orgiastischen Zeus-
cultus auf Kreta (Strabo 10, 468) heisst Epimenides νέος Κούρης. Plut.
Sol. 12. Laert. Diog. 1, 115. — ἱερεὺς Διὸς καὶ ῾Ρέας nennt ihn Schol.
Clem. Alex. IV p. 103 Klotz.
3).
Sage von dem ἄλιμον des Epimenides: s. Griech. Roman. 156 f.
(Anm.). Bereitet namentlich aus ἀσφόδελος, μαλάχη, auch der essbaren
Wurzel einer Art der σκίλλα (Theophr. hist. plant. 7, 12, 1). Alles den
χϑόνιοι geweihte Pflanzen (über ἀσφόδελος s. namentlich Bekk. an. 457, 5 ff.
[auf Aristarch zurückgehend: s. Hesych. s. v.]), nur von Armen gelegent-
lich gegessen (Hesiod. Op. 41).
4).
οὗ (Ἐπιμενίδου) λόγος, ὡς ἐξίοι ἡ ψυχὴ ὁπόσον ἤϑελε χρόνον καὶ
πάλιν εἰσῄει ἐν τῷ σώματι. Suid. s. Ἐπιμ. Dasselbe will vermuthlich be-
sagen: προςπουηϑῆναι (λέγεται) πολλάκις ἀναβεβιωκέναι: Laert. D. 1, 114.
Epimenides, wie andere, μετὰ ϑάνατον ἐν τοῖς ζῶσι γενόμενος: Procl. ad
Remp. 17, 12 Pitr. Die Sage vom langen Höhlenschlaf, ein verbreitetes
Märchenmotiv (s. Rhein. Mus. 33, 209, A. 2; 35, 160) hat sich, ins Un-
geheuere gesteigert, an Epimenides geheftet als eine Art von volksmässiger
Umdeutung der Berichte von seinen zauberhaften Ekstasen. Als ekstatischen
Zustand versteht diesen Höhlenschlaf Max. Tyr. 16, 1: ἐν τοῦ Διὸς τοῦ
Δικταίου [s. oben p. 120, 3] τῷ ἄντρῳ κείμενος ὕπνῳ βαϑεῖ ἔτη συχνά [die
ψυχὴ des Hermotimos ἀπὸ τοῦ σώματος πλαζομένη ἀποδημεῖ ἐπὶ πολλὰ ἔτη:
Apollon. hist. mir. 3] ὄναρ ἔφη ἐντυχεῖν αὐτὸς ϑεοῖς κτλ. So wurde ihm
sein ὄνειρος διδάσκαλος: Max. Tyr. 38, 3 (vgl. auch Schol. Luc. Tim. 6).
1).
denke ich nicht mehr. Die gleichen Voraussetzungen haben dort wie hier
zu gleichen Ausspinnungen eines Märchens geführt. Sehr ähnliche Vor-
stellungen in deutschem Glauben: s. Grimm, D. Myth.4 III p. 456 N. 650.
1).
σοφὸς περὶ τὰ ϑεῖα (δεινὸς τὰ ϑεῖα Max. Tyr. 38, 3) τὴν ἐνϑουσια-
στικὴν
σοφίαν Plut. Sol. 12. Zu den ἔνϑεοι μάντεις, Bakis, Sibylle, stellt
den Epimenides Cicero de divin. 1, 18, 34. — Lange Einsamkeit gehört
zur Vorbereitung auf die Thätigkeit des ekstatischen Sehers (vgl. was von
einer Art von Gegenbild des Epimenides Plutarch def. orac. 21 erzählt).
Aus der Geschichte des Ep. hievon noch ein Rest in dem (freilich zu
rationalistisch gewendeten) Berichte des Theopomp: nicht geschlafen
habe er so lange, ἀλλὰ χρόνον τινὰ ἐκπατῆσαι, ἀσχολούμενον περὶ ῥιζοτο-
μίαν (deren der ἰατρόμαντις bedarf): Laert. 1, 112. Man fühlt sich erinnert
an die Art, wie in tiefer langer Einsamkeit, in strengem Fasten und Con-
centrirung der Phantasie der grönländische Angekok sich zum Geister-
banner ausbildet (Cranz, Hist. von Groenl. 1, 268), der nordamerikanische
Medicinmann wochenlang im einsamsten Walde sich zu seinen Halluci-
nationen förmlich erzieht, bis ihm die wirkliche Welt versinkt, die my-
stische Welt der Unsichtbaren, als die wahre Realität, fast greifbar deut-
lich wird, und er dann in voller Ekstate aus seinem Versteck hervor-
bricht. Es fehlt auch in der Religion der Culturvölker nicht an analogen
Veranstaltungen.
2).
Voraussage künftiger Ereignisse schreibt, wie Plato, Leg. 1, 642 D.
Laert. 1, 114, dem Ep. auch Cicero divin. 1 § 34 zu. Dagegen Aristot.
Rhet. 3, 17: περὶ τῶν ἐσομένων οὐν ἐμαντεύετο, ἀλλὰ περὶ τῶν γεγονότων
μὲν ἀδήλων δὲ. Wobei jedenfalls an Aufdeckung der nur dem Gotte und
dem Seher erkennbaren Gründe der Ereignisse, etwa Erklärung einer
Pest aus altem Frevel und Rache der Dämonen u. dgl. zu denken ist.
Wäre rationelle Erklärung zu verstehen, so brauchte es hiefür keinen
μάντις.
3).
Delos: Plut. sept. sap. conv. 14, p. 158 A (an Verwechslung dieses
μέγας καϑαρμός des Epimenides mit anderen, uns bekannteren Reinigungen
von Delos, der Pisistrateischen oder der des J. 426, zu denken, ist kein
Grund). Paus. 1, 14, 4: Epimenides πόλεις ἐκάϑηρεν ἄλλας τε καὶ τὴν
Ἀϑηναίων.
1).
Die Reinigung Athens von dem kylonischen ἄγος durch Epimeni-
des bestätigt jetzt auch die Aristotelische Ἀϑηναίων πολιτεία, c. l. extr.
Damit ist freilich nur eine schwache Gewähr für die geschichtliche That-
sächlichkeit des Ereignisses geboten. Aber es bedarf auch keiner starken
Autorität, um die neuerdings hervorgetretenen Zweifel an der Geschicht-
lichkeit der Berichte von der Reinigung des Epimenides und gar an dem
Dasein des Mannes zu zerstreuen. Gründe giebt er für diesen Zweifel
nicht. Dass die wirkliche Gestalt des Ep. hinter märchenhafter Umhüllung
fast ganz verschwunden ist, giebt natürlich noch kein Recht, seine Exi-
stenz zu bezweifeln (was würde sonst aus Pythagoras, Pherekydes von
Syros und so manchen Andern!); und vollends, weil andere Nachrichten von
E. und seinem Leben sagenhaft sind, darum auch die ganz und gar nicht
sagenhafte Geschichte von seiner Mordsühnung zu Athen zu den Mär-
chen zu rechnen, das ist eine sonderbare Umkehrung gesunder histori-
scher Methode. — Eine genauere Zeitbestimmung für die Reinigung
Athens ergiebt sich, wie der englische Herausgeber der Ἀϑ. πολ. sehr
richtig bemerkt, aus dem aristotelischen Berichte nicht; keineswegs folgt
(wie z. B. A. Bauer, Forsch. zu Arist. Ἀϑ. πολ. 44 ohne Weiteres an-
nimmt) aus seiner Darstellung, dass die Reinigung vor Drakons Archon-
tat (Ol. 39) fiel. Nun ist sehr wahrscheinlich, dass Alles was bei Plu-
tarch Sol. 12 bis zu τοὺς ὅρους (p. 165, 19 Sint. ed. min.) steht, aus Ari-
stoteles (wenn auch vielleicht nur indirect) entnommen ist. Darnach wäre
wohl auch bei Aristoteles die Anregung zur Verurtheilung der ἐναγεῖς
auf Solon zurückgeführt worden. Aber Solon ist bei Plutarch noch weit
von seiner νομοϑεσία entfernt: nur ἤδη δόξαν ἔχων heisst er c. 12 (erst
c. 14 folgt sein Archontat). Solons Archontat wird in der Ἀϑ. πολ. in
das J. 591/0 gesetzt (c. 14, 1, wo man sich vor willkürlichen Verände-
rungen der Zahlen hüten sollte), wie es auch bei Suid. Σόλων, Euseb.
chron. can. auf Ol. 47 bestimmt wird; die gleiche Zeit wird vorausgesetzt
bei Plut. Solon. 14 p. 168, 12. (Das erste Archontenjahr des Damasias
fällt hienach — cap. 13 — auf 582/1 = Ol. 49, 3, wohin auch alle übrige
ächte Ueberlieferung führt). Längere Zeit vor 591 fand also das Gericht
über die ἐναγεῖς und die Reinigung Athens durch Epimenides statt. Mög-
licher Weise giebt Suidas s. Ἐπιμενίδης η ἐκάϑηρε τὰς Ἀϑήνας τοῦ Κυλω-
νείου ἔγους κατὰ τὴν μ̅δ̅ Ὀλυμπιάδα (604/1) das richtige Datum (dass
im kirrhäischen Kriege ein Ἀλκμαίων Feldherr der Athener war [Plut.
Sol. 11] steht dem nicht entgegen). Die Angabe des Suidas ist nicht
(wie ich früher selbst, mit Bernhardy, annahm) aus Laert. Diog. entlehnt
und nach diesem zu corrigiren; denn bei Laertius (1, 110) wird der Zu-
sammenhang der Reinigung mit dem Κυλώνειον ἄγος nur als Meinung
Einiger (offenbar, trotz des ungenauen Ausdrucks, ist dies auch die des
Neanthes bei Ath. 13, 602 c) erwähnt, als eigentlicher Grund aber ein
1).
Einzelheiten des Sühneverfahrens bei Laert. D. 1, 110. 112. Nean-
thes b. Ath. 13, 602 C. Nicht die Menschenopfer sondern die sentimen-
tale Ausführung des Neanthes erklärt Polemo (Ath. 602 F) für erfunden.
Es sind durchaus Opfer für χϑόνιοι, die Ep. ausrichtet. So soll er auch
(wie Abaris in Sparta ein Heiligthum der Κόρη σώτειρα) in Athen, offen-
bar als Abschluss der Reinigung, τὰ ἱερὰ τῶν σεμνῶν ϑεῶν, d. h. der
Erinyen, begründet haben: Laert. 1, 112.
2).
Solcher Zusammenhang soll jedenfalls auch angedeutet werden,
wenn Aristeas nach Metapont, Phormion nach Kroton, beide also zu den
wichtigsten Sitzen des Pythagoreischen Bundes kommen. Auch Aristeas,
gleich Abaris, Epimenides u. s. w. gehört zu den Lieblingsgestalten der
Pythagoreer. S. Jamblich. V. P. 138.
1).
λοιμός genannt und (ebenso wie bei Eusebius chron. can.) die Reinigung
auf Ol. 46, d. h. wohl auf Ol. 46, 3, das angebliche Jahr der Solonischen
Gesetzgebung, gesetzt. — Plato, Leg. 1, 642 D. E macht der Erzählung von
der Sühnung des Κυλ. ἄγος durch Epimenides keine Concurrenz: durch
seinen Bericht, wie Epimenides im J. 500 in Athen gewesen sei und den
drohenden Perserzug um 10 Jahre aufgeschoben habe (so verstand Clemens
Al. Strom. 6, 631 B den Plato, wohl richtig: Aufschiebung bevorstehen-
der, vom Schicksal bestimmter Ereignisse durch die Gottheit oder ihre
Propheten ist Gegenstand mancher Sagen: vgl. Plat. Sympos. 201 D;
Herodot 1, 91; Athen. 13, 602 B; Euseb. praep. ev. 5, 35 p. 233 B. C. Vgl.
Virgil. Aen. 7, 313 ff., 8, 398 f. und was dazu Servius aus den libri Ache-
runtici
berichtet) hat er keinenfalls die Ueberlieferung von der viel älteren
[Reinigung] Athens durch Ep. bestreiten wollen. Wie derselbe Mann am
Ende des 7. und noch am Ende des 6. Jahrhunderts thätig sein konnte,
wird Plato wenig gekümmert haben, die Sage schrieb ja auch dem Ep.
ein wunderbar langes Leben zu. Jedenfalls ist es ganz unthunlich auf
Platos Bericht (zu dem ein, nach 490 ex eventu verfasstes, dem Epime-
nides untergeschobenes Orakel den Anlass gegeben haben mag, wie Schul-
tess, De Epimen. Crete [1877] p. 47 annimmt) die Chronologie des Lebens
des Epimenides zu begründen.
1).
Die „Theogonie“ die das Alterthum, ohne Aeusserung eines Zwei-
fels, unter dem Namen des Epimenides las und citirt, diesem abzusprechen
wäre man genöthigt, wenn wirklich in den Resten jener Theogonie sich
Anlehnung an Lehren des Anaximenes oder gar an die rhapsodische
Theogonie des Orpheus zeigte, wie Kern, de Orphei Ep. Pher. theog. 69 ff.
annimmt. Aber weder ist ein wirklicher Zusammenhang zwischen den
Meinungen des E. und jener Andern aus einigen ganz vagen Anklängen
des Einen an die Andern zu erschliessen, noch müsste, selbst wenn ein
Zusammenhang bestünde, Epimenides der Entlehnende sein. Jedenfalls
genügen solche angebliche Entlehnungen nicht, um uns zu nöthigen, die
Lebenszeit des Epimenides aus dem Ende des 7. Jahrhunderts an das
Ende des 6. Jahrhunderts herabzudrücken. Bestünden sie in Wirklichkeit,
so müsste vielmehr die Theogonie dem Ep. von einem Fälscher späterer
Zeit untergeschoben worden sein.
2).
Die Vorstellung einer auch theoretischen Thätigkeit verbindet sich
für Spätere offenbar mit dem Namen dieser Männer, wenn ihnen Epi-
menides (z. B. Diodor. 5, 80, 4), oder Abaris (Apollon. mirab. 4) ein ϑεο-
λόγος heisst, Aristeas ein ἀνὴρ φιλόσοφος (Max. Tyr. diss. 38 p. 222 R).
3).
Aristot. Metaph. 1, 3 p. 984 b, 19 f.
4).
In diesen tief erregten Zeiten müssen die Griechen vielfach die
Erfahrung von jenen abnormen aber keineswegs seltenen Erscheinungen
4).
des Seelenlebens gemacht haben, in denen eine Spaltung des Bewusst-
seins, ein Auseinandertreten des persönlichen Daseins in zwei (oder mehr)
Kreise mit gesonderten Centren eintritt, einander ablösend oder auch
gleichzeitig neben einander zwei Persönlichkeiten, ein doppelter Intellect
und ein doppelter Wille in Einem Menschen sich geltend und bemerklich
machen. Selbst voraussetzungslose psychologische Beobachtung unserer
Zeit weiss solche, bei gewissen neuropathischen Zuständen oft (freiwillig
oder unter dem Zwang experimenteller Veranstaltung) hervortretende Er-
scheinungen nicht anders zu beschreiben denn als eine Verdoppelung
(oder Vervielfältigung) der Person, Bildung eines zweiten Ich, eines zweiten
Bewusstseins nach oder neben dem ersten und normalen Bewusstsein,
dem das Dasein seines Doppelgängers regelmässig verborgen bleibt. (Wohl
am vollständigsten und höchst besonnen stellt diese Dinge dar Pierre
Janet, L’automatisme psychologique, Paris 1889). Wo solche Erschei-
nungen sich einer mit religiös spiritualistischen Voraussetzungen erfüllten
Vorstellungsweise darbieten, werden sie nothwendiger Weise eine diesen
Voraussetzungen entsprechende Auslegung finden. Das Auftauchen eines
intelligenten Willens in einem Menschen, ungewollt und unbemerkt von
der sonst in diesem Menschen waltenden Persönlichkeit, wird als das Ein-
fahren eines fremden Geistes in den Menschen oder das Verdrängen der
eigenen Seele des Menschen durch solchen fremden dämonischen oder
seelischen Gast aufgefasst werden. Und da nichts, bei allen Völkern und
zu allen Zeiten, verbreiteter war als die religiös spiritualistischen Vor-
aussetzungen solcher Erklärungsweise, so haben von jeher (und bis auf
unsere Tage) die selbst von solcher „Verdoppelung der Person“ Betrof-
fenen sogut wie ihre (wissenschaftlich nicht geschulte) Umgebung diese
räthselhaften Erscheinungen erklärt durch das was die Griechen ἔκστασις
nennen oder κατέχεσϑαι ἐκ ϑεοῦ. An thatsächlichen Erfahrungen solcher
Art pflegt es nicht zu fehlen, die Willkür liegt nur in der Auslegung der
Erfahrungen. Den Griechen blieb die Pythia das kenntlichste Erfahrungs-
beispiel für die „Besessenheit“ eines Menschen durch einen fremden Willen
und Geist, der dem Charakter, dem Wissen und der Art des „Mediums“
im Zustande vollen Bewusstseins (wie es zu geschehen pflegt) wenig ent-
sprach, als ein Fremdes eingedrungen zu sein schien. Die Sibyllen, Ba-
kiden, die Βάκχοι, Seher und Reinigungspriester, Epimenides, Aristeas
und so viele Andere waren weitere Beispiele für den Aufschwung der
Seele ins Göttliche oder Eingehen des Gottes in die Seele. Es konnte
nicht fehlen, dass an solchen Beispielen der Glaube an einen unmittel-
baren Zusammenhang der Seele mit dem Göttlichen, an deren eigene
Gottesnatur, sich aufrichtete, in ihnen sich, mehr als in irgend etwas sonst,
bekräftigt fühlte. Es ist nicht allein in Griechenland so gegangen.
1).
S. oben p. 29 A. 4. — Archilochus fr. 12: — κείνου κεφαλὴν καὶ
χαρίεντα μέλη Ἥφαιστος καϑαροῖσιν ἐν εἵμασιν ἀμφεπονήϑη. Eurip.
Orest. 30 f.: Die erschlagene Klytaemnestra πυρὶ καϑήγνισται δέμας.
(Schol. πάντα γὰρ καϑαίρει τὸ πῦρ, καὶ ἁγνὰ δοκεῖ εἶναι τὰ καιόμενα, τὰ δὲ
ἄταφα μεμιασμένα) Eurip. Suppl. 1219: — ἵν̕ αὐτῶν (der Bestatteten)
σώμαϑ̕ ἡγνίσϑη πυρί. Grabschrift aus Attika, Kaibel Ep. Gr. 104: ἐνϑάδε
Διάλογος καϑαρῷ πυρὶ γυῖα καϑήρας — ᾤχετ̕ ἐς ἀϑανάτους; offenbar nach
älterem Vorbild. Vgl. auch ibid 109, 5 (C. I. A. III 1325). — Wie das
Feuer τὰ προσαγόμενα καϑαίρει καὶ ἀπολύει τῶν ἐν τῇ ὕλῃ δεσμῶν, ἁφομοιοῖ
τοῖς ϑεοῖς u. s. führt aus Jamblich. de myst. 5, 12.
1).
Vgl. noch Plat. Leg. 3, 677 D E. Plut. fac. in o. l. 25.
1).
-ὅς ποτε καὶ τελετὰς μυστηρίδας εὕρετο Βάκχου Damagetus, anth. Pal.
7, 9, 5. διὸ καὶ τὰς ὑπὸ τοῦ Διονύσου γενομένας τελετὰς Ὀρφικὰς προσαγο-
ρευϑῆναι Diodor. 3, 65, 6. εὗρε δὲ Ὀρφεὺς τὰ Διονύσου μυστήρια Apollod.
1, 3, 2, 3 (Dionysum) Jove et Luna (natum), cui sacra Orphica putantur
confici:
Cic. nat. deor. 3, 58 (vgl. Lyd. de mens. p. 200, 2 Roeth.)
Βακχικά ein orphisches Gedicht: Suid s. Ὀρφεύς (vgl. Hiller, Hermes,
21, 364 f.). Daraus fr. 3 (ed. Abel); vielleicht auch fr. 152; 167; 169; 168.
τὰ Ὀρφικὰ καλούμενα und Βακχικά sind schon dem Herodot 2, 81 identisch.
1).
Wie dies der Beschluss von Rath und Volk in Athen über die
ἔμποροι Κιτιεῖς und ihr Heiligthum der „Aphrodite“ C. I. A. 2, 168 (a.
333/2) vor Augen führt. — Wie auch gelegentlich solcher fremde Mysterien-
cult nicht (wenigstens nicht ohne Widerstand) geduldet wurde, zeigt das
Beispiel der Ninos: Demosth. f. leg. 281 mit Schol. Dionys. Hal.
Dinarch. 11.
2).
ϑεοὶ ξενικοί. Hesych. S. Lobeck, Aglaoph. 627 ff. Ein unbenannter
ϑεὸς ξενικός C. I. A. 1, 273 f, 18. — Die Begründung solcher ϑίασοι für
fremde (oder doch in dem betreff. Staate nicht öffentlich verehrte)
Götter (z. B. auch auf Rhodos zahlreich: Bull. corr. hell. 1889 p. 364)
ging wohl stets auf Fremde zurück. Lauter Fremde z. B. genannt in
dem Beschluss der ϑιασῶται des karischen Zeus Labraundos (C. I. A.
2, 613 [a. 298/7]. Vgl. ibid. 614. Dittenb. Syll. 427). Kaufleute aus Kition
sind es, die in Athen den Dienst ihrer Aphrodite (Astarte) gründen, wie
vorher schon Aegypter dort τὸ τῆς Ἴσιδος ἱερόν errichtet haben (C. I. A.
2, 168). Zahlreich sind neben den Athenern die Fremden noch vertreten
unter den ὀνόματα τῶν ἐρανιστῶν eines Collegium der Σαβαζιασταί im
Peiraieus (2. Jahrh. v. Chr.): Ἐφημ. ἀρχαιολ. 1883 p. 245 f. Einheimische,
meist niedrigen Standes, schliessen sich allmählich dem ausländischen
Dienste an, und so wurzelt dieser in der Fremde ein. (Lauter athenische
Bürger bilden die Genossenschaft der Dionysiasten im Peiraieus, 2. Jahrh.
vor Chr. Athen. Mittheil. 9, 288).
1).
Die Bendidien sind früh (schon im 5. Jahrh.: C. I. A. 1, 210, fr.
k [p. 93]) in Athen Staatsfest geworden. Wie sich aber die Thraker
(die offenbar den Cult der Bendis in Athen — oder doch im Piraieus,
dem Sitz der meisten ϑίασοι — eingeführt hatten) auch dann eine be-
sondere Weise der Verehrung ihrer Göttin neben dem hellenisirten Cultus
bewahrten, lehrt die Andeutung des Plato, Rep. 1, 327 A. Jedenfalls schien
ihnen der griechisch gemodelte Dienst nicht mehr der rechte zu sein.
(Auch Bendis, gleich Dionysos, ist Gottheit des Diesseits und des Jenseits.
S. Hesych. s. δίλογχον).
2).
Angebliche Spuren orphischen Einflusses auf einzelne Abschnitte
der Ilias (Διὸς ἀπάτη) oder der Odyssee sind vollkommen trüglich. Auf
die hesiodische Theogonie hat orphische Lehre keinerlei Einfluss gehabt,
wohl aber ist umgekehrt die orphische Lehre durch die altgriechische
Theologie, deren Bruchstücke in dem hesiodischen Gedichte zusammen-
geordnet sind, stark beeinflusst worden.
1).
Ὀνομάκριτος — Διονύσῳ συνέϑηκεν ὄργια Paus. 8, 37, 5.
2).
Unter den Verfassern orphischer Gedichte die (nach Epigenes)
Clemens Strom. I p. 333 A und (nach Epigenes und einem zweiten Ge-
währsmann, beide wohl durch Dionys von Halikarnass den jüngeren ver-
mittelt) Suidas nennen, sind sicher Pythagoreer Brotinos (von Kroton
oder Metapont) und Kerkops (nicht der Milesier). Aus Unteritalien
oder Sicilien stammen Zopyros von Heraklea (wohl denselben meint
Jamblich. V. Pyth. p. 190, 5 N., wo er Zopyros zu den aus Tarent
stammenden P thagoreern rechnet), Orpheus von Kroton, Orpheus
von Kamarina
(Suid.), Timokles von Syrakus. Den Pythagoras
selbst nannten unter den Verfassern orphischer Gedichte die (mindestens
schon Anf. des 4. Jahrh. geschriebenen) Τριαγμοί des Pseudo-Jon. —
Sonst werden unter den vermutheten Urhebern orphischer Gedichte noch
genannt Theognetos ὁ Θετταλός, Prodikos von Samos, Herodikos
von Perinth, Persinos von Milet, alle uns unbekannt ausser Persinos,
den Obrecht nicht unwahrscheinlich mit dem von Pollux 9, 23 genannten
Hofpoeten des Eubulos von Atarneus identificirt (vgl. Lobeck. Agl. 359 f.
Bergk. Poet. Lyr.4 3, 655). Dies also ein Orphiker schon jüngerer Zeit.
1).
ὁμολογέουσι δὲ (scil. Αἰγύπτιοι) ταῦτα (Verbot der Beerdigung in Woll-
kleidern) τοῖσι Ὀρφικοῖσι καλεομένοισι καὶ Βακχικοῖσι, ἐοῦσι δὲ Αἰγυπτίοισι
καὶ Πυϑαγορείοισι. Her. 2, 81. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Herodot mit
diesen Worten die Ὀρφικά καὶ Βακχικά (die vier Dative sind sämmtlich
neutrius gen., nicht masculini) herleiten will von den Αἰγύπτια καὶ Πυϑα-
γόρεια, d. h. den selbst aus Aegypten entlehnten Pythagoreischen Satz-
ungen (vgl. Gomperz, Sitzungsber. d. Wiener Akad. 1886 p. 1032). Hätte
er (wie Zeller annimmt, Ber. d. Berliner Ak. 1889 p. 994, der vor καὶ
Πυϑ. ein Komma einsetzt) die Πυϑαγόρεια als von den Αἰγύπτια (und
die Ὀρφικά von ihnen) ganz unabhängig sich gedacht, so hätte er sie hier
gar nicht erwähnen dürfen.
2).
Herodots Meinung verpflichtet uns durchaus nicht zum Glauben.
Ihm muss Pythagoras als Urheber orphischer Doctrinen gelten, weil
dessen Zusammenhang mit Aegypten (vgl. Herod. 2, 123) gewiss schien
(was für die eigentlichen Ὀρφικοί nicht galt), und auf diese Weise der
ägyptische Ursprung jener Lehre, auf den es dem Her. allein ankam,
für nachgewiesen gelten konnte. — Das für die Priorität der Orphiker
oft angerufene Zeugniss des Philolaos (bei Clem. Strom. 3, 433 B. C.; vgl.
Cicero Hortens. fr. 85 Orell.) beweist freilich auch nicht recht was es
beweisen soll.
3).
fr. 143—151. (Vgl. Lobeck, Agl. 715 ff.). Hier geht indess orphi-
1).
Auf der andern Seite ist in den Gedanken orphischer Theologie
und Dichtung vieles unmittelbar altthrakischem Dionysosdienst entnommen,
was in Pythagoreischer Lehre völlig fehlt. Es hat darnach doch alle Wahr-
scheinlichkeit, dass auch solche Theologumena, die der Orphik mit dem
Pythagoreismus gemeinsam sind, in ihrer Wurzel aber auf den fanatischen
Dionysoscult zurückgingen oder am leichtesten aus ihm speculativ ent-
wickelt werden konnten, den Orphikern eben aus diesem gemeinsamen
Urquell der Mystik unmittelbar zugeflossen waren, nicht auf dem Umweg
über die pythagoreische Lehre. Die Orphik hält dem gemeinsamen Ur-
quell sich überall näher als der Pythagoreismus, und darf auch darum
für etwas älter als dieser und ohne seine Einwirkung entstanden gelten.
3).
scher und pythagoreischer Besitz ununterscheidbar in einander über.
fr. 143 (Πυϑαγορείως τε καὶ Ὀρφικῶς: Syrian) gehört in den von Proclus
mehrmals ausdrücklich so genannten εἰς τὸν ἀριϑμὸν Πυϑαγόρειος ὕμνος
(die Reste s. bei Nauck, Jamblich. Vit. Pyth. p. 228 fr. III); fr. 147
(Lyd. de mens.) offenbar desgleichen (s. Nauck a. O. p. 234 fr. IX); das-
selbe ist mindestens sehr wahrscheinlich für fr. 144—146, 148—151; und
wohl auch was Orpheus von der Zwölfzahl sagt (bei Procl. ad Remp.
p. 20, 24 ff. Pitr.) stammt aus diesem ὕμνος. Proclus aber (ad Remp.
p. 36, 30 ff. Pitr.) citirt aus dem ὕμνος (fr. III Nauck) V. 2—5, da aber
theilt er sie einem εἰς τὸν ἀριϑμὸν Ὀρφικὸς ὕμνος zu. Dieser orphisch-
pythagoreische ὕμνος hat jedenfalls mit der (rhapsodischen) Theogonie des
O. nichts zu thun. Dagegen aus der Theogonie entnommen sind die
Worte „τετράδα τετρακέρατον“ die nach Procl. a. O. p. 36, 33 μυριάκις
in der Ὀρφικὴ ϑεολογία vorkamen, vermuthlich als Beiwort des Zagreus,
des κερόεν βρέφος (Nonn. Dion. 6, 165) (wiewohl was hier Proclus von
der Διονυσιακὴ [d. h. des Zagreus] ϑεότης sagt, dass sie τετρὰς ἐστίν, viel-
mehr vom orphischen Phanes, dem vieräugigen, behauptet wird durch
Hermias [fr. 64]).
1).
Zopyros von Heraklea, Orpheus von Kroton (Tzetz. prol. in
Aristoph.: Ritschl, Opusc. 1, 207; Suidas s. Ὀρφεὺς Κροτωνιάτης, aus As-
klepiades von Myrlea).
2).
Die Schilderung der nächtlichen Weihen und der am Tage durch
die Stadt geführten Umzüge einer mystischen Secte, die Demosthenes de
cor.
259. 260 giebt, kann man nicht ohne Weiteres als eine Darstellung
orphischer Winkelmysterien betrachten (mit Lobeck, Agl. 646 ff. 652 ff.
695 f.). Die bei Harpocration und Photius dargebotene Deutung des dort
erwähnten ὰπομάττειν τῷ πηλῷ auf den speciell orphischen Mythus von
Zagreus und den Titanen ist willkürlich und mit dem Wortlaut bei
Demosthenes kaum zu vereinigen. Nicht klüger ist die Beziehung, die
dem Rufe ἄττης ὕης auf die ἄτη des von den Titanen zerissenen Dionysos
(Zagreus) im Etymol. M. 163, 53 gegeben wird. Eine gewisse Verwandt-
schaft zwischen den von Dem. geschilderten Σαβάζια καὶ Μητρῷα (Strab.
10, 471) und den Ὀρφικὰ ὄργια besteht ohne Zweifel, aber wie die Orphiker
niemals Sabaziosdiener heissen, ihr Gott niemals Σαβάζιος genannt wird,
so wird auch ihr Geheimdienst sich unterschieden haben von den, barba-
rischer Cultussitte vermuthlich noch näher gebliebenen Ceremonien der
Σαβαζιασταί (vgl. die Ins. Ἐφημ. ἀρχαιολ. 1883 p. 245 f. aus dem Ende des
2. Jahrh. vor Chr.), die Demosthenes im Auge hat.
1).
S. Lobeck Agl. 235 f.; 237; 242 f.
2).
Die praktische Seite der Thätigkeit der Orphiker erst späterer
Entartung der ursprünglich rein speculativ gerichteten Secte zuzuschreiben
(wie vielfach geschieht), ist eine geschichtlich nicht zu rechtfertigende
Willkür. Daraus dass eine deutlichere Schilderung dieser Thätigkeit uns
erst aus dem 4. Jahrhundert (bei Plato) erhalten ist, folgt natürlich nicht,
dass solche Thätigkeit vorher nicht bestand. Ueberdies wird schon als
Zeitgenoss des Königs Leotychides II. von Sparta (reg. 491—469) ein
ὀρφεοτελεστής Philippos erwähnt in einer Anekdote bei Plut. apophth.
Lacon.
224 E, die man nicht, aus vorgefasster Meinung, so leicht abweisen
kann, wie K. O. Müller Proleg. p. 381 thun möchte. In der telestisch-
kathartischen Praxis hat von Anfang an die orphische Secte ihren Nähr-
boden gehabt.
3).
Theophr. char. 16.
1).
αὐτοῦ (Ὀρφέως) μὲν εἶναι τὰ δόγματα, ταῦτα δέ φησιν (Aristot.)
Ὀνομάκριτον ἐν ἔπεσι κατατεῖναι. Aristot. π. φιλοσοφίας, fr. 10 Ros.
(Arist. ps.)
2).
Tatian ad Gr. 41 (p. 158 Ott.) will wohl nur von Redaction (συν-
τετάχϑαι) der εἰς Ὀρφέα ἀναφερόμενα, schon vorhandener orphischer Gedichte
durch Onomakritos reden (sowie On. auch nur διαϑέτης, d. h. Ordner, nicht
Erfinder, der χρησμοί des „Musaios“ heisst: Herod. 7, 6). Es finden sich
Spuren einer äusserlich die einzelnen Gedichte des Orpheus aneinander-
hängenden Redaction (ähnlich der Aneinanderhängung der Gedichte des
ep. Cyklus, des corpus Hesiodeum); voran vielleicht (wie in der Aufzäh-
lung bei Clemens Al. Strom. 1, 333 A) der grössere κρατήρ: s. Lobeck
Agl. 376. 417. 469. — Nur aus Tatian schöpft (wie auch Euseb. praep.
ev.
10, 11 p. 495 D) Clem. Al. Strom. 1, 332 D, wo aber Onom. bestimmt
zum Verfasser der εἰς Ὀρφέα φερόμενα ποιήματα wird. Kurzweg als
Verfasser der Ὀρφικά scheint On. auch gelten zu sollen in dem doxo-
graphischen Excerpt bei Sext. Emp. p. 126, 15; 462, 2 Bk. Galen, h.
philos.
p. 610, 15 (Diels): Ὀνομάκριτος ἐν τοῖς Ὀρφικοῖς. — Dagegen wird
in dem (freilich jedenfalls lückenhaften) Verzeichniss orphischer Gedichte
bei Clem. Strom. 1, 333 A keines dem On. zugesprochen, bei Suidas s.
Ὀρφεύς nur die χρησμοί (wobei keineswegs an Verwechslung mit den χρ.
des Musaios zu denken ist) und die τελεταί. Unbestimmte ἔπη des
Onom. erwähnt Pausanias (vgl. Ritschl, Opusc. 1, 241). Und irgend
welche Dichtungen unter Orpheus Namen muss auch Aristoteles (fr. 10)
dem Onomakritos zugeschrieben haben.
3).
Suid. s. Ὀρφεύς 2721 A. Gaisf.
1).
Onom. εἶναι τοὺς Τιτᾶνας τῷ Διονύσῳ τῶν παϑημάτων ἐποίησεν
αὐτουργούς. Paus. 8, 37, 5. An die „Theogonie“ denkt hierbei Lobeck,
Agl. 335: aber Niemand giebt irgend eine der mehreren orphischen Theo-
gonien dem Onomakritos als deren wahrem Verfasser. Man wird eher
an die τελεταί denken dürfen, die dem On. ausdrücklich zugeschrieben
werden, jedenfalls ja auf den praktischen Gottesdienst (die λύσεις, καϑαρ-
μοὶ ἀδικημάτων κτλ. ἃς δὴ τελετὰς καλοῦσιν [nicht: die mystischen βίβλοι
nennen sie τελετάς, wie Gruppe Gr. Culte u. Mythen 1, 640 versteht,
der übrigens sehr richtig gegen Abels Behandlung der τελεταί protestirt]
Plato Rep. 2, 364 E 365 A) sich bezogen und fast nothwendig (den ἱερὸς
λόγος zu den δρώμενα bietend) von dem Mittelpunkt des orgiastischen
Cultes, dem wichtigsten Gegenstand der orphischen τελεταί (s. Diodor.
5, 75, 4 Clem. Al. coh. p. 11 D), dem Nacherleben der πάϑη τοῦ Διονύσου
reden mussten.
2).
Eines der Gedichte (vermuthlich doch das der ῥαφῳδίαι, also der
ἱερὸς λόγος, liess den Orpheus sich ausdrücklich auf die ihm zu Theil gewor-
dene Offenbarung durch Apollo berufen: fr. 49 (Lobeck 469).
3).
Ausser den drei, bei Damascius unterschiedenen Theogonien hat
es (von andern zweifelhaften Spuren abgesehen) mindestens noch zwei
andere Variationen des gleichen Themas gegeben: s. fr. 85 (Alex. Aphrod.),
fr. 37; 38 (Clem. Rom.). Vgl. Gruppe, Gr. Culte u. Mythen 1, 640 f. —
Mit keiner andern Theogonie, wohl aber z. Th. mit Lactant. inst. 1, 13
1).
(Zeus) — πρωτογόνοιο χανὸν μένος Ἠρικεπαίου, τῶν πάντων δέμας
εἶχεν ἑῇ ὲνὶ γαστέρι κοίλῃ fr. 120 (aus den Rhapsodien). χανὼν schreibt
man mit Zoëga (Abh. 262 f.): aber χανὼν heisst nicht „erschnappend oder
verschlingend“ (Zoëga), höchstens, in schlechtem Spätgriechisch, das Gegen-
theil: fahren lassend (transitiv). Auch Lobeck’s (Agl. 519 Anm.) Auskunft
genügt nicht. Es hiess wohl ursprünglich χαδών.
2).
Der Vers kam in verschiedenen Gestaltungen des theogonischen
Gedichtes vor: fr. 33 (Plato?) 46 (Ps. aristot. de mundo) 123 (Rhapsod.).
Lobeck Agl. 520—532. Es scheint doch gewiss (denn Gruppe’s Zweifel,
Rhaps. Theog. 704 ff. gehen zu weit), dass schon in alten Fassungen der
orphischen Theogonie der Vers (Ζεὺς κεφαλὴ κτλ.: denn das war, wie
3).
(Orph. fr. 243) stimmt auch die Reihenfolge der Götterkönige überein,
die „Orpheus“ feststellte nach Nigid. Fig. bei Serv. ad V. ecl. 4, 10
(fr. 248). Doch muss diese Bemerkung nicht nothwendig aus einer „Theo-
gonie“ des O. genommen sein.
1).
Die Theokrasie wird von Anfang an zur orphischen Theologie
gehört haben (vgl. Lobeck, Agl. 614), wiewohl die stärksten Aussprüche
dieser Art (fr. 167. 169 [Macrob.], 168 [Diodor.], 201 [Rhaps.] etc.) jüngeren
Gedichten angehört haben mögen: dem „kleinen Mischkrug“ (fr. 160), in
dem bereits Chrysipp nachgeahmt scheint (fr. 164, 1. Lobeck, Agl. 735),
den Διαϑῆκαι (fr. 7 [Iustin. mart.]), einer Fälschung im jüdisch-christ-
lichen Interesse, in der indess alte Stücke der orphischen Litteratur be-
nutzt waren (der ἱερὸς λόγος: Lob. 450 ff.; 454). — Theokrasie begegnet
selbst bei altgläubigen Dichtern schon des 5. Jahrhunderts; aber von
ihnen geht sie nicht aus; wie den Orphikern, war sie, im sechsten Jahr-
hundert, den „Theologen“ Epimenides, Pherekydes geläufig (vgl. Kern
de theogon. 92).
2).
Die uns durch Berichte neoplatonischer Philosophen und einiger
2).
Gruppe richtig bemerkt, die älteste Fassung. κεφαλή = τελευτή. Vgl. Plat.
Tim. 69 B) vorkam, den dann die rhapsod. Theogonie, gleich vielem alten
Gut, nur aufnahm. Schon der orpheusgläubige Verf. der Rede gegen
Aristogeiton scheint, wie Lobeck bemerkt, auf die Worte anzuspie-
len, § 8.
2).
ihrer Zeitgenossen zugekommenen Mittheilungen aus einer in sich wohl
zusammenhängenden orphischen Theogonie und Anthropogonie stammen,
wie Lobeck mit vollem Recht angenommen hat, aus der ἐν ταῖς ῥαφῳ-
δίαις
Ὀρφικαῖς ϑεολογία, ἣν καὶ οἱ φιλόσοφοι διερμηνεύουσιν (Damasc. de
princ.
p. 380 K.), d. h. die seit Syrians Zeiten von den platonischen
Schulhäuptern in Vorlesungen erklärt (Ὀρφικαὶ συνουσίαι des Syrian: Procl.
in Tim. 96 B; Scholien des Proclus zu Orpheus, εἰ καὶ μὴ εἰς πάσας τὰς
ῥαφῳδίας: Marin. v. Procli 27), in Schriften erläutert wurden, nament-
lich um συμφωνίαν Ὀρφέως, Πυϑαγόρου καὶ Πλάτωνος zu erweisen (Schrift
des Syrian dieses Titels, von Suidas irrig auch dem Proclus gegeben:
s. R. Schöll zu Procl. in Rempubl. p. 5. Wohl aus der Schrift des
Syrian εἰς τὴν Ὀρφέως ϑεολογίαν stammt die Anführung der orphischen
Verse fr. 123. 124, die in der Θεοσοφία § 50 auf Συριανὸς ἐν τοῖς ἑαυ-
τοῦ πονήμασιν zurückgeführt wird; und aus Syrian dann auch wohl das
Citat ebendas. § 61 aus Orpheus ἐν τῇ τετάρτῃ ῥαφωδίᾳ). Die älteren
Neoplatoniker vor Syrian beachten die Orphica wenig: Plotin citirt nichts
daraus (spielt indessen vielleicht 26, 12 p. 247, 29 Kirchh. darauf an.
S. Lobeck p. 555), Jamblich nichts aus unmittelbarer Kenntniss, einiges
Porphyrius, der alles las (fr. 114; 123 [Euseb. aus Porph.]; 211), und
dieses unzweifelhaft aus den Rhapsodien. Ueberhaupt haben die Neo-
platoniker, wo sie O. aus eigener Kenntniss anführen (und nicht etwa
„Orpheus“ statt „Pythagoras“ nennen [s. oben p. 400 Anm.]), nur die
Rhapsodien benutzt (wie Lobeck 466 richtig feststellt; Abel hat das zum
Schaden seiner Fragmentensammlung verkannt). Der Titel des von ihnen
benutzten Gedichts war schwerlich Θεογονία (als Titel scheint diese Be-
zeichnung vorzukommen fr. 188 [Clem. Al. aus dem Autor π. κλοπῆς];
fr. 108 nur Inhaltsbezeichnung; fr. 310 Betrug. Bei Suidas in Gaisfords
Hss. allerdings auch eine ϑεογονία, ἔπη ‚ασ‘: aber die Verszahl stimmt in
verdächtiger Weise überein mit der des voranstehenden ὀνομαστικόν, ge-
nügt jedenfalls nicht für den grossen Umfang der ῥαψῳδίαι). Sehr wahr-
scheinlich bietet (wie schon Lobeck 716. 726 vermuthete) den Titel des
in mehrere ῥαψῳδίαι getheilten Gedichts die einzige Benennung einer in meh-
rere Rhapsodien zerfallenden orphischen Dichtung: ἱεροὶ λόγοι ἐν ῥαψῳδίαις
κδ (Suid.). Dieser ἱερὸς λόγος (der Plural bezeichnet nur die Mehrzahl der
Bücher) ist aber jedenfalls verschieden (was Lobeck 716 verkannte)
von dem ἱερὸς λόγος, den Epigenes (bei Clem. Strom. 1, 333 A) dem Pytha-
goreer Kerkops zuschrieb (und wenn Suid. die 24 Rhaps. dem Thessaler Theo-
gnetos oder dem Kerkops zuschreibt, so ist wohl eben auch der alte,
nicht in Rhapsodien getheilte ἱερὸς λόγος gemeint und mit dem weit-
läuftigen jüngern ἱερὸς λόγος verwechselt). Den älteren ἱερὸς λόγος meint
2).
Cicero, nat. deor. 1, 107, auch wohl Plutarch, Sympos. 2, 3, 2 (fr. 42);
auf den jüngeren ἱερὸς λόγος bezieht sich das Citat (aus dem 8. Buche)
im Etym. M.: fr. 44. Das den Neoplatonikern vorliegende Gedicht des
ἱερὸς λόγος in 24 Gesängen, aus dem die weit überwiegende Menge unsrer
Kenntnisse orphischer Theogonie stammt, ist nun freilich keinenfalls ein
Werk des 6. Jahrhunderts, etwa gar (wie Lobeck zu glauben geneigt
war: p. 693 f.) des Onomakritos. Es ist — leider! möchte man sagen —,
namentlich nach dem was zuletzt Gruppe (Jahrb. f. Philol. Suppl. 17, 689 ff.)
ausgeführt hat, unleugbar, dass eben das, was die Neoplatoniker voraus-
setzten (und Lobeck ihnen glaubte: p. 508; 529 f.; 602; 613), dass Plato
die „Rhapsodien“ gekannt und benutzt habe, nicht zutrifft. Und ein
andres Mittel, das hohe Alter dieser Form der orph. Theogonie nachzu-
weisen, haben wir nicht. Soweit wirklich (und nicht nur nach schwanken-
der Annahme) eine Uebereinstimmung in Inhalt oder Form zwischen den
Rhapsodien und Pherekydes, Heraklit, Parmenides (s. Lobeck p. 532,
g; Kern a. O. p. 52; Gruppe p. 708), Empedokles stattfindet, ist der
Dichter der Rhapsodien der Schuldner, nicht der Gläubiger. Sein Zeit-
alter lässt sich nicht bestimmen; dass erst Neoplatoniker ihn benutzen,
kommt hiefür nicht in Betracht; ob er jünger ist (wie ich meine) oder
älter als der (unbekannte) Hieronymos, dessen Bericht über eine orphische
Theogonie Damasc. princ. 381 f. anführt, ist nicht ganz deutlich. Auf
jeden Fall fasst Gruppe (p. 742) den Charakter seines weitläuftigen (der
Ilias an Umfang gleich oder zuvorkommenden) Gedichts richtig, wenn
er darin in der Hauptsache nichts als eine äusserliche Zusammenfügung
älterer orphischer Ueberlieferung sieht. An vielen Punkten lässt sich die
Uebereinstimmung der Rhapsodien mit altorphischer Lehre und Dich-
tung noch nachweisen; Verse alter orphischer Dichtung waren hier un-
verändert aufgenommen; Motive älterer orphischer Theogonie waren com-
binirt, bisweilen ohne Rücksicht auf ihren unvereinbaren Inhalt; ver-
schiedene Gestaltungen des gleichen Motivs standen hinter einander. So
hat man hier die (zuletzt dem Hesiod nachgebildete) κατάποσις zweimal:
erst verschlingt Zeus den Phanes, dann das Herz des Zagreus; im
Grunde will beides dasselbe besagen. Vielleicht ist älterer orphischer
Sage die Verschlingung des Zagreusherzens, jüngerer die des Phanes
entnommen. Wiewohl auch die Figur des Φάνης schon den älteren
Schichten orphischer Dichtung nicht fremd gewesen sein kann. Diodor
1, 11, 3 citirt einen, gewiss nicht den Rhapsodien entlehnten Vers des
„Orpheus“, in dem Φ. genannt (und dem Dionysos gleichgesetzt) ist.
Und auf einem, mit der die orphisirende Inschrift I. Gr. Sic. et It.
642 tragenden Tafel zusammengefaltet in demselben Grabe bei Sybaris
gefundenen Goldtäfelchen, steht, ausser unleserlichem sonstigen Inhalt,
eine Anzahl von Götternamen verzeichnet, darunter Φάνης (auch Πρω-
1).
Die religiöse Bedeutung der Götter muss es vornehmlich gewesen
sein, die ihnen ihre Person, selbst in dieser symbolisirenden Dichtung,
erhielt, verhinderte, dass sie ganz und gar nur Personificationen von Be-
griffen oder elementarischen Kräften wurden, auf welche die Religion
weiter gar keine Beziehung hätte haben können.
2).
In den Berichten der Neoplatoniker heisst dieser erste orphische
Dionysos stets Διόνυσος kurzweg (auch wohl Βάκχος: fr. 122). Nonnus, die
orphische Sage ausführend, nennt ihn Zagreus: Dion. 6, 165: (Perse-
phone) Ζαγρέα γειναμένη, mit deutlicher Anspielung auf Kallimachus,
fr. 171: υἶα Διώνυσον Ζαγρέα γειναμένη. Kall. scheint dort, wie auch sonst,
die orphische Fabel im Sinne zu haben. Διόνυσον τὸν καὶ Ζαγρέα
καλούμενον nennt den Gott der orphischen Sage Tzetzes zu Lyk. 355.
Ζαγρεύς, der grosse Jäger, ist ein Name des alles dahinraffenden Hades.
So noch Alkmaeonis fr. 3. Mit dem Dionysos der nächtlichen Schwarm-
feste wird Z. identificirt bei Euripides Kret. fr. 472, 10 (anspielend auch
Bacch. 1181 Kirchh.). Vgl. auch oben p. 306 A. Dionysos ist dann eben
als ein χϑόνιος gefasst (s. Hesych. s. Ζαγρεύς), und das war den Dichtern,
die ihn zum Sohn der Persephone machten, zweifellos vollkommen gegen-
wärtig: χϑόνιος ὁ τῆς Πεσεφόνης Διόνυσος (Harpocr. s. λεύκη). Sie hatten
ein ebenso klares Bewusstsein wie Heraklit davon, dass ὡυτὸς Ἅιδης καὶ
Διόνυσος, während ohne Zweifel in den Begehungen des öffentlichen
Dionysoscultes (auf welche doch wohl Heraklits Wort sich bezieht)
2).
τόγονος, hier, wie es scheint von Phanes, dem diese orphische Gestalt
meistens gleichgesetzt wird, unterschieden): s. Comparetti in den Notizie
degli scavi di antichità
1879 p. 157; 1880 p. 156. Damit ist das Dasein
dieser Erfindung orphischer Mythologie mindestens schon für das dritte
Jahrhundert vor Chr. (dem jene Täfelchen anzugehören scheinen) bezeugt.
— Und so wird man die Berichte der Rhapsodien, wenigstens da mit
einiger Zuversicht für die Reconstruirung orphischer Dichtung und Lehre
verwenden können, wo sich ein Anschluss derselben an ältere Lehren
und Phantasien orphischer Theologie nachweisen lässt.
1).
Uranos wirft die Titanen in den Tartaros: fr. 97. 100. Nach
Proclus (fr. 205) und (wohl nicht aus den Rhaps.) Arnobius (fr. 196) sollte
man meinen, nach der Zerreissung des Zagreus seien die Titanen von
Zeus in den Tartaros geworfen worden. Das steht zwar bei Arnobius
friedlich neben dem Bericht von der Vernichtung der Titanen durch
den Blitz des Zeus (ἡ Τιτάνων κεραύνωσις: Plut. es. carn. 996 C.), verträgt
sich damit aber doch offenbar nicht, und noch weniger mit der Erzählung
von der Entstehung der Menschen aus der Asche der Titanen, die nicht
nur Olympiodor kennt (ad Phaed. p. 68 Finckh. S. Lobeck p. 566) son-
dern auch, aus den Rhapsodien (wie jedenfalls auch Olymp.), Proclus:
ad Remp. 38, 8 Schöll. (vgl. p. 176, 13. 14). Es scheint demnach, dass
Proclus (und vielleicht auch Arnobius) die καταταρτάρωσις der Titanen
irrthümlich dem Zeus, statt dem Uranos, zugeschrieben hat.
2).
Nonn. Dion. 6, 173. Orph. fr. 195. Vielleicht richtig deutet
Proclus diese Verdoppelung der Gestalt des Gottes im Spiegel auf den
Beginn seines Eintrittes in die μεριστὴ δημιουργία. Anspielung auf eine
ähnliche Deutung dieses Διονύσου κάτοπτρον schon bei Plotin. 36, 12
p. 247, 29 Kirchh. (s. Lobeck p. 555). Auch in dem seltsamen Bericht
des Marsilius Ficinus über das crudelissimum apud Orpheum Narcissi
(Zagreus ein anderer Narciss?) fatum (fr. 315. Vgl. Plotin. 1, 8 p. 10,
23 ff. Kh.)? Das Eingehen des Einen Weltgrundes in die Vielheit der
Erscheinungen stellt zwar bestimmter erst die Zerreissung des Zagreus
vor, aber es hat in dieser, symbolische Andeutungen häufenden Poesie
nichts auffallendes, wenn das gleiche Motiv, in andrer Einkleidung, auch
vorher schon einmal flüchtig anklingend verwendet wird.
3).
Nonn. Dion. 6, 197 ff.
2).
dieses Bewusstsein verdunkelt war. — Dem Ἴακχος der Eleusinien (auf
den sich Orph. fr. 215, 2 bezieht) ist Zagreus-Dionysos nie gleichgesetzt
worden (wiewohl oft Dionysos allein).
1).
Paus. 8, 37, 5.
2).
S. Procl. in fr. 195. 198. 199. Jedenfalls also den Rhapsodien
folgt Nonnus, Dionys. 6, 169 ff.
3).
Kallimachos, Euphorion wussten von der Zerreissung des Gottes
durch die Titanen: Tzetz. ad Lycophr. 208 (aus dem vollständigeren
Etymol. M). Jedenfalls nicht aus den Rhapsodien kennen diese Sage
auch Diodor 5, 75, 4; Cornut. 30 (p. 62, 10 Lang); Plutarch de es. carn.
1, 7, p. 996 C; de Is. et Osir. 35 p. 364 F; Clemens Alex. (Orph. fr.
196. 200). — Eine flüchtige carrikaturartige Zeichnung auf einer in Rhodos
gefundenen, vielleicht in Attika verfertigten Hydria aus dem Anfang des
4. Jahrhunderts wird im Journal of hell. studies XI (1890) p. 343 ff. als
eine Darstellung der Zerreissung des Zagreus nach orphischer Dichtung
gefasst. Aber das Bild stimmt in keinem einzigen Punkte mit dem an-
geblich darauf dargestellten Gegenstand überein; die Deutung kann nicht
richtig sein.
4).
Ein richtiger ἱερὸς λόγος (wie ihn Orphiker z. B. auch über das
Verbot, in Wollenkleidern sich bestatten zu lassen, hatten. Herodot
2, 81 extr.), d. h. eine mythisch-legendarische Begründung ritualer Acte.
5).
Dass auch die orphischen ὄργια die Zerreissung des Stiers, nach
altthrakischem Gebrauch, kannten, lässt sich vielleicht daraus schliessen,
dass den Orpheus selbst in der Sage Zerreissung durch die Maenaden
trifft. Der Priester tritt an die Stelle des Gottes, erleidet was nach den
von ihm celebrirten δρώμενα der Gott erleidet: so geschieht es ja viel-
fach. So denn Ὀρφεὺς ἅτε τῶν Διονύσου τελετῶν ἡγεμὼν γενόμενος τὰ ὅμοια
παϑεῖν λέγεται τῷ σφετέρῳ ϑεῷ (Procl. ad Plat. Remp. p. 398). Dass der
1).
Die Einführung der aus hellenischer Mythologie herübergenommenen
Titanen in den thrakischen Mythus bezeichnet als das Werk des Onoma-
kritos ganz bestimmt Pausanias 8, 37, 5.
2).
Τιτῆνες κακομῆται, ὑπέρβιον ἦτορ ἔχοντες fr. 102. ἀμείλιχον ἦτορ
ἔχοντες καὶ φύσιν ἐκνομίην fr. 97. Schon bei Hesiod sind die Titanen dem
Vater verhasst als δεινότατοι παίδων (Theog. 155) Τιτανικὴ φύσις die
schlimme, aller Eidtreue abgeneigte: Plato, Leg. 3, 701 C (Cic. de leg.
3 § 5). Impios Titanas Horat. c. 3, 4, 42.
3).
Neoplatonisch subtilisirt wird diese Deutung des διαμελισμός des
Zagreus bei den Benutzern der orphischen Rhapsodien oft vorgetragen:
s. Lobeck 710 ff. Aber ähnlich auch schon bei Plutarch (EI ap. D. 9),
und es ist nicht zu verkennen, dass diese Deutung (von ihrer platoni-
sirenden Einhüllung befreit) wirklich den Sinn ausspricht, dem die Sage
nach der Absicht ihrer Erfinder dienen sollte. Dass eine Vorstellung,
nach welcher das Sonderdasein der Dinge durch einen Frevel in die
Welt gekommen ist, Theologen des 6. Jahrhunderts keineswegs fremd
sein musste, wird man zugeben, wenn man sich der Lehre des Anaxi-
mander erinnert, nach welcher die aus dem Einen ἄπειρον hervor-
gegangenen Vielheiten der Dinge eben hiermit eine ἀδικία begangen
haben, für die sie „Busse und Strafe“ zahlen müssen (fr. 2 Mull.).
Solche, die Naturvorgänge ethisirenden und damit personificirenden Vor-
stellungen werden dem Philosophen, zugleich mit dem quietistischen
Hange, in dem sie wurzeln, eher aus den Phantasmen mystischer Halb-
philosophen zugekommen sein als umgekehrt den Mystikern von dem
Philosophen.
5).
in den bakchischen Orgien zerrissene Stier den Gott selbst vorstellte
(und dies nicht allein im orphischen, sondern von jeher im thrakischen
Dienst), war den Alten vollkommen gegenwärtig; es wird mehrfach aus-
gesprochen (z. B. bei Firmic. Mat. error. prof. rel. 6, 5), ganz besonders
deutlich aber in dem orphischen ἱερὸς λόγος ausgedrückt.
1).
S. die Berichte bei Lobeck 565 f.; diese aus den Rhapsodien.
Dass in den Rhaps. die Menschenentstehung stand, und weiterhin die
Lehre von der Metempsychose u. s. w. ausgeführt wurde, geht aus Pro-
clus ad Remp. 116, 12 ff. Sch. hervor. Nur aus älterer orphischer
Dichtung, jedenfalls nicht aus den Rhapsodien, ist diese Dichtung dem
Dio Chrysost. 30 p. 333, 4 ff. zugekommen. Auch Plutarch will jedenfalls
auf sie anspielen, de esu carn. 1, 7 p. 996 c: τὸ ἐν ἡμῖν ἄλογον καὶ
ἄτακτον καὶ βίαιον οἱ παλαιοὶ Τιτᾶνας ὠνόμασαν, wohl auch Oppian, Hal.
5, 9. 10. Vielleicht auch Aelian fr. 89 p. 230, 19 f. Herch. (s. Lobeck
567 g). Schon Worte des Xenokrates (fr. 20, p. 166 Heinz.) scheinen
auf diesen orphischen Mythus anzuspielen. Die Rhapsodien folgen also
auch hier älterer orphischer Lehre und Poesie. Vgl. auch hymn. Orph. 37.
Ein Nachklang der orphischen Dichtung ist vielleicht was (irrthümlich?)
als hesiodische Ueberlieferung vorträgt Nicander, Ther. 8 ff. Gaben den
Anlass zu der Ableitung des Menschengeschlechts von den Titanen ältere
Phantasien, wie sie sich etwa ankündigen in Stellen wie hymn. Apoll.
Pyth. 157 f.: Τιτῆνές τε ϑεοί τῶν ἒξ ἄνδρες τε ϑεοί τε? Homerisch ist
das nicht (trotz des homerischen Zeus, πατὴρ ὰνδρῶν τε ϑεῶν τε), wie-
wohl möglicher Weise noch ganz anders gemeint als bei „Orpheus“.
2).
Dionysos ist der letzte der göttlichen Weltherrscher: fr. 114;
190 (und daher δεσπότης ἡμῶν Procl. ad Cratyl. p. 59; 114. Freilich
heisst bei Pr. auch z. B. Hermes ὁ δεσπότης ἡμῶν: ad Crat. p. 73).
Dionys ist der sechste Herrscher: denn Zeus, ihm vorangehend, ist der
fünfte: fr. 113 (85. 121. 122). Es wird gerechnet: 1. Phanes, 2. Nyx,
3. Uranos, 4. Kronos, 5. Zeus, 6. Dionysos. Das stellte Syrian fest
(fr. 85; Proclus folgt seinem Lehrer: fr. 85; 121) und die Reste der
Rhapsodien bestätigen es: fr. 86; 87; 96; 113. Es scheint aber wirklich,
als ob Plato, wie Syrian annahm, dieselbe Anordnung in der ihm vor-
liegenden orphischen Theogonie gelesen habe. Zwar den von ihm citirten
orphischen Vers: ἕκτῃ δ̕ἐν γενεῇ καταπαύσατε κόσμον (ϑυμόν Plut. EI ap.
D. 15, sinnlos. Las er ϑεσμόν?) ἀοιδῆς lasen offenbar, wie ihr Schweigen
hievon beweist, die Neoplatoniker nicht in den Rhapsodien, aber dass
die alte, von Plato gemeinte orphische Theogonie in der That ebenfalls
sechs Göttergenerationen kannte (dem pythagoreischen τέλειος ἀριϑμός zu
Ehren?) und in der sechsten Generation zu Ende kam, haben sie doch
richtig aus jenem Verse entnommen, den freilich Plato selbst, der ihn
nur spielend anführt, in etwas anderem Sinne verwendet (Anders Gruppe,
Die rhapsod. Theog. p. 693 f.). Es liegt also wirklich hier ein bedeutendes
1).
Die von der Entstehung der Menschen aus der Titanenasche
(oder dem Blute der Titanen) redenden Zeugen (Lobeck 565 ff.) reden so,
dass man annehmen muss, dies sei der erste Ursprung der Menschen
überhaupt. Damit lässt sich nicht leicht vereinen, was Proclus, wie
überall den Rhapsodien folgend, von dem goldenen und silbernen Men-
schengeschlecht unter Phanes und Kronos berichtet, dem erst als drittes
und letztes τὸ τιτανικὸν γένος folgte: fr. 244 und namentlich ad Remp.
38, 6 ff. Sch. Von ϑνητοί schon unter Phanes redet der Vers bei
Syrian ad Ar. Metaph. 935 a, 22 Us. (fr. 85). Ob diese verbesserte
Gestaltung der hesiodischen Sage von den Menschengeschlechtern, aus
einer älteren orphischen Theogonie (die vielleicht Lactantius benutzt:
fr. 243, vgl. fr. 248) auch mit aufgenommen, in den Rhapsodien unaus-
geglichen neben der Sage von der ersten Entstehung von Menschen aus
der Asche der Titanen stand, oder wie etwa diese schwer vereinbaren
Berichte dennoch mit einander ins Gleiche gesetzt waren, das entgeht
uns. (Wohl aus einer Schilderung des langen Lebens ältester Menschen-
geschlechter stammt fr. 246 [Plut.]: s. Lobeck p. 513. Eine Abstufung
mehrerer γενεαί vor dem titanischen Geschlecht setzt diese Schilderung
nicht nothwendig voraus).
2).
μέρος αὐτοῦ (τοῦ Διονύσου) ἐσμέν (nach orphischer Lehre) Olym-
piodor. ad Plat. Phaed. p. 3 Finckh. ὁ ἐν ἡμῖν νοῦς Διονυσιακός ἐστιν καὶ
ἄγαλμα ὄντως τοῦ Διονύσου. Procl. ad Cratyl. p. 82 (ρ̅λ̅γ̅). — Zerreissung,
2).
Anzeichen für die Uebereinstimmung der Rhapsodien mit einer älteren
orphischen Theogonie in dem Allgemeinsten des Aufbaues vor. Ob frei-
lich die sechs Herrscher der von Plato benutzten Dichtung die gleichen
waren wie die der Rhapsodien, das ist eine andere Frage; ob auch sie
als letzten Herrn den Dionysos nannte, steht dahin, bei dem Vorrang,
den orphischer Glaube dem Dionys einräumte, ist es aber sehr glaublich,
dass es so war.
1).
οἱ ἀμφὶ Ὀρφέα meinen, dass die Seele den Leib περίβολον ἔχει,
δεσμωτηρίου εἰκόνα. Plat. Cratyl. 400 C. Gewiss also ebenfalls orphisch
(wie auch die Scholien angeben) ὁ ἐν ἀπορρήτοις λεγόμενος λόγος, ὡς ἔν
τινι φρουρᾷ ἐσμεν οἱ ἄνϑρωποι κτλ. Plat. Phaed. 62 B. S. Lobeck 795 f.
2).
fr. 221 (Plat. Phaed. 62 B mit Schol.). Der gleiche Ausspruch
des Philolaos ist nach dem Zusammenhang der Platonischen Auseinander-
setzungen, Phaed. 61 E—62 B, offenbar aus dem Spruch der orphischen
ἀπόρρητα erst abgeleitet (so wie Phil. selbst sich ja für die, hiemit un-
löslich verbundene Lehre von der Einschliessung der ψυχή in das σῆμα
des σῶμα auf die παλαιοὶ ϑεολόγοι τε καὶ μάντεις beruft, fr. 23 Mull.). Die
Lehre blieb dann pythagoreisch: s. Euxitheos Pyth. bei Klearch. Athen.
4, 157 C. D.; Cic. Cat. mai. 20. Sie hatte einigen Boden auch in
volksthümlichem Glauben und Rechtsgebrauch. S. oben p. 202 A. 1.
3).
So die Ὀρφικὰ ἔπη καλούμενα bei Aristot. de an. 1, 5 p. 410 b,
28 ff.: τὴν ψυχὴν ἐκ τοῦ ὅλου εἰσιέναι ἀναπνεόντων φερομένην ὑπὸ τῶν ἀνέ-
μων. (Die antiken Ausleger bringen nichts neues hinzu). ἐκ τοῦ ὅλου
bedeutet wohl ganz unschuldig: aus dem Weltraum. Die ἄνεμοι als
dämonische Mächte gedacht, den Τριτοπάτορες (Τριτοπάτρεις attische Form:
Philoch. bei Suid. s. Τριτοπάτορες. Dittenb. Syll. inscr. 303: ὅρος ἱεροῦ
Τριτοπατρέων) untergeben und verwandt: s. oben p. 227, A. 1. Wie diese
Vorstellung mit anderen orphischen Glaubenssätzen (von der Läuterung
der Seelen im Hades u. s. w.) sich ausglich, wissen wir nicht. Ersicht-
2).
Wiederzusammensetzung und Wiederbelebung des Dionysos pflegen die
Hellenen εἰς τὸν περὶ ψυχῆς λόγον ἀνάγειν καὶ τροπολογεῖν. Orig. c. Cels.
4, 17 p. 21 Lomm.
1).
κύκλος τῆς γενέσεως (fr. 226), ὁ τῆς μοίρας τροχός, rota fati et gene-
rationis.
S. Lobeck 797 ff.
2).
οἱ δ̕αὐτοὶ πατέρες τε καὶ υἱέες ἐν μεγάροισιν (πολλάκις) ἠδ̕ ἄλοχοι
σεμναὶ κεδναί τε ϑύγατρες γίγνοντ̕ ἀλλήλων μεταμειβομένῃσι γενέϑλαις fr. 225
3).
lich nur ein Versuch solcher Ausgleichung ist es, wenn nach den Rhap-
sodien (fr. 224) die aus Menschen im Tode scheidenden Seelen zunächst
in den Hades geführt werden, die Seelen, die in Thieren gewohnt haben,
in der Luft flattern εἰσόκεν αὐτὰς ἄλλο ἀφαρπάζῃ μίγδην ἀνέμοιο πνοῇσιν.
Aristoteles weiss nichts von solcher Beschränkung. Plato, Phaed. 81 D.
(etwas anders 108 A. B.) droht, wie es scheint mit freier Benutzung or-
phischer Vorstellungen, allen μὴ καϑαρῶς ἀπολυϑεῖσαι ψυχαί ähnliches
Schicksal an, wie die Rhaps. den Thierseelen. (Annehmen liesse sich
ja, dass die ψυχαί, aus dem Hades zu neuer ἐνσωμάτωσις wieder ent-
lassen, zunächst eben im Winde um die Wohnplätze der Lebenden
schweben und so denn in einen neuen Leib eingeathmet werden. Wobei
immer noch ein praedestinirtes Zusammenkommen einer bestimmten Seele
mit dem, ihrem Läuterungszustande entsprechenden σῶμα denkbar bliebe).
— Einigen Einfluss auf die Einwurzelung der Vorstellung vom Luft-
aufenthalt der ψυχαί in späterer orphischer Dichtung mag auch das fast
populär gewordene (von Stoikern nicht zuerst aufgestellte, aber besonders
befestigte) Philosophem von dem Aufschweben der πνεύματα in ihr Ele-
ment, den Aether (wovon unten ein Wort), gewonnen haben. Und da
nun einmal das Seelenreich zum Theil in die Luft verlegt war, so deutete
diese spätorphische Dichtung auch den einen der vier Flüsse des Seelen-
reiches, den Ἀχέρων, als den ἀήρ (fr. 155. 156 [Rhaps.]). Hierin eine
Erinnerung an eine angeblich uralte Vorstellung zu sehen, nach welcher
auch der Okeanos eigentlich am Himmel floss u. s. w., ist trotz Bergk’s
phantasievollen Ausführungen (Opusc. 2, 691 ff. 696) keinerlei Grund. Die
Emporhebung des Seelenreiches in das Luftmeer ist unter Griechen
überall Ergebniss verhältnissmässig später, sehr nachträglich erst an-
gestellter Speculation. Man könnte sogar fragen, ob nicht bei der Ver-
setzung des Okeanos (= Milchstrasse?) an den Himmel ägyptische Ein-
flüsse (jedenfalls spät) eingewirkt haben. Den Aegyptern ist ja der Nil
am Himmelsgewölbe ganz geläufig.
1).
κύκλου τε λῆξαι καὶ ἀναπνεῦσαι κακότητος las wohl Proclus (fr. 226)
ad Tim. p. 330 B. (das ἂν λήξαι καὶ ἀναπνεύσαι — so accentuirt Schneider
dort richtig — stammt von Pr., der den Vers in seine Satzbildung einfügt.
Also nicht αὖ λῆξαι mit Gale und Lobeck p. 800). Hier ist Subject
die betende Seele. Dagegen in der Form die Simplicius (fr. 226) be-
wahrt hat: κύκλου τ̕ἀλλῦσαι καὶ ἀναψῦξαι κακότητος sind Subject die an-
gerufenen Götter, Objekt die ψυχή. Beidemale ist die Befreiung aus dem
Kreise als Gnade der Gottheit bezeichnet.
2).
fr. 76. Wohl den orphischen Versen (οὔτ̕ ἀγαϑοῦ παρεόντος κτλ.)
nachgeahmt sind die Verse des carmen aureum 55 ff. (p. 207 Nauck.).
Der Sinn ist: wenige achten des Heils, das ihnen Orpheus (oder Pytha-
goras) bringt, die ὅσιοι bilden stets eine kleine Minderheit.
2).
222. (Rhaps.). Hierin ist (wie Lobeck 797 treffend erklärt) das Dogma von
der periodischen Wiederkehr völlig gleicher Weltverhältnisse angedeutet.
Mit der Seelenwanderungslehre hing die Lehre von der völligen παλιγ-
γενεσία oder ἀποκατάστασις ἁπάντων (s. Gataker ad Marc. Anton. p. 385)
eng und fast nothwendig zusammen (unlogisch ist eigentlich vielmehr die
Annahme der Durchbrechung der Kreisbewegung bei Ausscheidung ein-
zelner Seelen). Sie fand sich daher bei Pythagoreern, denen sie schon
Eudemos fr. 51 Sp. zuschreibt (s. Porphyr. v. Pyth. 19 p. 26, 23 ff. N.
Pythagorisirend noch spät Synesius, Aegypt. 2, 7 p. 62 f. Krab.); von den
Pythagoreern entlehnte sie die Stoa (vornehmlich Chrysipp), die sich
nach ihrer Art in der pedantisch folgerichtigen Ausführung der barocken
Vorstellung gefiel. (Nach stoischem Vorgang wieder Plotin, XVIII. Kirchh.)
Es ist wenigstens durchaus glaublich, dass die Orphiker diese Theorie
schon früh ausgebildet (nicht etwa erst den Stoikern entlehnt) haben. Es
finden sich auch Spuren der Lehre vom grossen Weltjahre (die mit der
von der ἀποκατάστασις τῶν ἁπάντων stets eng zusammenhängt) in orphi-
scher Ueberlieferung: Lobeck 792 ff.
1).
fr. 208. 226. Διόνυσος λυσεύς, λύσιος, ϑεοὶ λύσιοι. S. Lobeck 809 f.
Vgl. auch fr. 311 (Ficin.).
2).
Ὀρφέα τ̕ ἄνακτ̕ ἔχων βάκχευε — Eurip. Hippol. 950 (ἄναξ, nicht
δεσπότης: v. 87).
3).
Ὀρφικὸς βίος. Plat. Leg. 6, 782 C. S. Lobeck 244 ff.
4).
Das Pythagoreische ἕπου ϑεῷ, ἀκολουϑεῖν τῷ ϑεῷ (Jamblich. V. P.
137 aus Aristoxenus) könnte man auch den Orphikern zum Wahlspruch
geben.
5).
ἄψυχος βορά der Orphiker: Eurip. Hippol. 951. Plat. Leg. 6, 782 C. D.
Vgl. Lobeck p. 246. So ist auch zu verstehen Arist. Ran. 1032: Ὀρφεὺς
μὲν γὰρ τελετάς ϑ̕ἡμῖν κατέδειξε φόνων (d. h. der Nahrung von getödteten
Thieren) τ̕ἀπέχεσϑαι. Missgedeutet bei Horat. A. P. 391 f.: silvestris
homines-caedibus et victu foedo deterruit Orpheus.
1).
Verbot der Beerdigung in Wollkleidern: Herod. 2, 81 (jedenfalls,
damit den Abgeschiedenen nichts ϑνησείδιον anhafte). Verbot, Eier zu
essen: s. Lobeck 251 (Eier sind Bestandtheile der Todtenopfer und Nah-
rung der χϑόνιοι, und darum verboten: so richtig Lobeck 477). Auch
orphische (wie sonst pythagoreische) Verse verboten, Bohnen zu essen
(s. Lobeck 251 ff.; Nauck, Jamblich. V. Pyth. p. 231 f.): der Grund ist
auch hier, dass die Bohnen, als Bestandtheil chthonischer Opfer, putantur
ad mortuos pertinere
(Fest.). S. Lobeck 254. Vgl. Crusius, Rhein. Mus.
39, 165. Es sind überall die gleichen Gründe, aus denen theils in Py-
thagoreischen Satzungen (s. Lobeck 247 ff.), theils in mystischem Cult der
χϑόνιοι (s. Rhein. Mus. 25, 560; 26, 561) gewisse Speisen untersagt
wurden: weil sie zu Opfern für Unterirdische, πρὸς τὰ περίδειπνα καὶ τὰς
προκλήσεις τῶν νεκρῶν verwendet, oder auch nur mit Namen genannt
wurden, die (wie ἐρέβινϑος, λάϑυρος) an ἔρεβος und λήϑη anklingen (Plut.
Quaest. Rom. 95). Die „Reinheit“ fordert vor allem das Abschneiden jedes
Vereinigungsbandes mit dem Reiche der Todten und der Seelengötter.
2).
Vgl. fr. 208.
3).
Die Seele ist in den Leib eingeschlossen ὡς δίκην διδούσης τῆς ψυχῆς
(nach den ἀμφὶ Ὀρφέα), ὧν δὴ ἔνεκα δίδωσιν. Plat. Cratyl. 400 C. Die nähere
Bezeichnung dieser „Schuld“ der Seele in orphischer Mythologie ist uns
nicht erhalten. Das Wesentliche ist aber, dass nach dieser Lehre das Leben
im Leibe der Naturbestimmung der Seele nicht gemäss, sondern zuwider ist.
4).
συμπόσιον τῶν ὁσίων Plat. Rep. 2, 363 C. ὁσίους μύστας hymn. Orph.
84, 3. S. oben p. 265 A. 2.
1).
ψυχὰς ἀϑανάτας κατάγει Κυλλήνιος Ἑρμῆς γαίης ἐς κευϑμῶνα
πελώριον fr. 224. (ἀϑάνατος würde man als Beiwort der ψυχή bei Homer
vergeblich suchen). Hermes χϑόνιος (pythagoreisch: Laert. D. 8, 31) ge-
leitet die Seelen hinab in den Hades und (zu neuen ἀνσωματώσεις) auch
wieder nach oben: hymn. Orph. 57, 6 ff.
2).
Vornehmlich die κατάβασις εἰς Ἅιδου. (Lobeck 373. Vgl. oben
p. 278, 2). Der Abstieg ging durch die Schlucht am Taenaron: s. p. 198, 1
und vgl. Orph. Argon. 41. — Auch andere orphische Gedichte mögen
von diesen Dingen gehandelt haben. πολλὰ μεμυϑολόγηται περὶ τῶν ἀν
Ἅιδου πραγνάτων τῷ τῆς Καλλιόπης: Julian. or. 7 p. 281, 3 Hertl.
3).
λύσεις καὶ καϑαρμοί Lebender und schon Gestorbener durch
orphische Priester: Plat. Rep. 2, 364 E. Lohn der Geweiheten im Hades:
s. die Anekdoten von Leotychides II. bei Plut. apophth. Lacon. 224 E.;
von Antisthenes bei Laert. Diog. 6, 4. Wer an die Fabeln vom zu-
schnappenden Kerberos, von dem Wassertragen in das durchlöcherte
Fass (oben p. 292 A. 1) glaubt, sucht hiegegen Schutz in τελεταὶ καὶ
καϑαρμοί: Plut. ne p. q. suav. v. sec. Epic. 27, p. 1105 B. Die Hoffnung auf
Unsterblichkeit der Seele begründet auf den Dionysosmysterien: Plut.
consol. ad uxor. 10 p. 611 D.
4).
Bezeichnend ist, wie der Glaube an Gericht und Strafen der ψυχαί
bei [Plato] Epist. 7, 335 A begründet wird — nicht auf volksthümliche
Annahme oder auf Dichtererzählung, sondern auf παλαιοί τε καὶ ἱεροὶ
λόγοι
. Vgl. oben p. 284 ff.
5).
fr. 154 (Strafe des gegen die Eltern Frevelnden im Hades? fr. 281).
1).
S. oben p. 288, A. 1.
2).
δεινὰ περιμένει. Plat. Rep. 2, 365 A. — Vgl. fr. 314 (Ficin).
3).
fr. 208 (Rhaps.) ὄργια τ̕ ἐκτελέσουσι (ἄνϑρωποι), λύσιν προγόνων
ἀϑεμίστων μαιόμενοι·
σὺ (scil. Dionysos) δὲ τοῖσιν (Dat. commodi), ἔχων
κράτος, οὕς κ̕ἐϑέλησϑα λύσεις ἔκ τε πόνων χαλεπῶν καὶ ἀπείρονος οἴστρου
(der Wiedergeburten). Dass diese Lehre von der Kraft der Fürbitte für
„arme Seelen“ Verstorbener altorphisch war, geht hervor aus dem, was
Plato Rep. 2, 364 B.C.; 364 E., 365 A. von den von Orphikern verheissenen
λύσεις τε καὶ καϑαρμοὶ Lebender und Todter, der ἀδικήματα αὐτοῦ ἢ
προγόνων sagt (bei Plato selbst, im Phaedon, hat man irrthümlich diese
Lehre finden wollen).
4).
πολλοὶ μὲν ναρϑηκοφόροι κτλ. war ein orphischer Vers. Lobeck
809. 813 f.
5).
fr. 154.
6).
ὁ κεκαϑαρμένος τε καὶ τελελεσμένος ἐκεῖσε (εἰς Ἅιδου) ἀφικόμενος μετὰ
ϑεῶν οἰκήσει. — fr. 228 (Plat.).
7).
συμπόσιον τῶν ὁσίων im Hades, μέϑη αἰώνιος ihr Lohn: Plato Rep.
2, 363 C. D. Plato nennt dort Musaeos und dessen Sohn (Eumolpos) als
Verkündiger dieser Verheissungen, und stellt diesen mit οἱ δὲ andere
entgegen, die anderes verhiessen, vielleicht andere orphische Gedichte
1).
Plat. Leg. 9, 870 DE; genauer ausgeführt für einen einzelnen
Fall, aus gleicher Quelle (νόμῳ — τῷ νῦν δή [= p. 870 DE] λεχϑέντι),
p. 872 DE, 873 A. — Die Vorstellung ist populär. Oft wird in Rache-
flüchen dem Thäter genau das angewünscht, was er den Andern erleiden
macht. Beispiele aus Sophokles (am nachdrücklichsten Trach. 1039 f.) bei
G. Wolff zu Soph. Aias 839. Aeschyl. Choeph. 309 ff. Agam. 1430. —
Neoplatonisch: Plotin. 42, 13 p. 333 Kchh. Porphyr. und Jamblich. bei
Aeneas Gaz. Theophr. p. 18.
2).
Man darf aber glauben, dass die Phantasien der Orphiker hier den
Ausführungen des Empedokles, Plato u. A. über die Reihenfolge der
Geburten ähnlich waren.
7).
(vgl. fr. 267). Aber Musaeos, wie er bei Plato stets eng mit Orpheus
verbunden vorkommt (Rep. 2, 364 E; Prot. 316 D; Apol. 41 A; Ion
536 B), vertritt zweifellos auch hier orphische Dichtung (unter seinem
Namen hatte man eine Litteratur wesentlich orphischen Charakters). Und
so scheint Plutarch, Compar. Cim. et Lucull. 1 mit Recht dem bei Plato
genannten Μουσαῖος einfach τὸν Ὀρφέα zu substituiren.
1).
σῶμα-σῆμα orphisch: Plat. Cratyl. 400 C.
2).
Gänzliches Ausscheiden aus der Welt der Geburten und des
Todes stellt ja das κύκλου τε λῆξαι — (fr. 226) den orphisch Frommen
bestimmt in Aussicht. Die positive Ergänzung zu dieser negativen Ver-
heissung bietet uns kein Bruchstück deutlich dar (auch Rückkehr der
Einzelseelen zu der Einen Seele des Alls wird nirgends angedeutet: wie-
wohl orphische Mythen — wohl späterer Entstehung — auf solche
Emanationslehre und endliche Remanation hinzuführen scheinen).
3).
fr. 1. 81. Den Mond hielten ja auch Pythagoreer (besonders
Philolaos) und Anaxagoras für bewohnt, gleich der Erde.
4).
So wenigstens Pythagoreer, auch spätere Platoniker (S. Griech.
Roman.
269. Wyttenb. zu Eunap. Vit. Soph. p. 117.). Aber schon Plato
setzt im Timaeus, besonders 42 B, eine solche Vorstellung voraus. Sie
konnte längst dem Volksglauben der Griechen (wie andrer Völker: vgl.
Tylor Prim. Cult. 2, 64) vertraut sein und von daher den Orphikern zu-
gekommen sein (ähnlich, wiewohl nicht gleich, ist der Volksglaube ὡς
ἀστέρες γιγνόμεϑ̕ ὅταν τις ἀποϑάνῆ: Arist. Pac. 831 f., den die Griechen
mit Völkern aller Erdtheile gemein hatten. Angeblich so auch „Pytha-
goras“: Comm. Bern. Lucan. 9, 9). — Auf die Aussage des Ficinus (fr. 321)
ist nicht zu bauen.
1).
Die orphischen Dichtungen müssen in dem Bericht von der Be-
handlung der Glieder des zerrissenen Zagreus-Dionysos uneinig gewesen
sein. Die Zerreissung des Gottes durch die Titanen scheint allen Ver-
sionen des theogonischen Gedichtes gemeinsam gewesen zu sein (s. oben
p. 411). Während aber nach der einen Darstellung die Titanen den
Gott verschlingen (ausser dem Herzen) und aus dem dionysisch-titanischen
Gehalte ihrer durch Blitz zerstörten Leiber das Menschengeschlecht ent-
steht (s. oben p. 413, 1), erzählen andere, dass die zerrissenen Glieder des
Gottes von Zeus dem Apollo gebracht und von diesem „am Parnass“ d. h.
zu Delphi beigesetzt wurden (s. Orph. fr. 200 [Clem. Alex.]; so Kalli-
machos, fr. 374). Die Rhapsodien führten die erste Version aus, ent-
hielten aber auch einen der zweiten ähnlichen Bericht (s. fr. 203. 204:
das ἑνἱζειν τὰ μερισϑέντα τοῦ Διονύσου μέλη durch Apollo bezieht sich
dort wohl auf die Anpassung der erhaltenen Glieder an einander zum
Begräbniss, nicht auf eine Neubelebung des Todten. So auch vermuth-
lich die Διονύσου μελῶν κολλήσεις bei Julian. adv. christ. p. 167, 7 Neum.
Aber von Wiederbelebung des nach der Zerreissung συντιϑεμένου Dionysos
redet Orig. adv. Cels. 4, 17 p. 21 Lomm.). Wo sie allein vorkommt,
schliesst die zweite Version die Anthropogonie aus der Titanenasche aus.
Es ist nicht zu verkennen, dass (wie schon K. O. Müller Proleg. 393 be-
1).
Von den thrakischen Mysern λέγει ὁ Ποσειδώνιος, καὶ ἐμψύχων
ἀπέχεσϑαι (was daher Pythagoras von Zalmoxis erlernt haben sollte:
Strab. p. 298) κατ̕ εὐσέβειαν, διὰ δὲ τοῦτο καὶ ϑρεμμάτων· μέλιτι δὲ χρῆσϑαι
καὶ γάλακτι καὶ τυρῷ, ζῶντας καϑ̕ ἡσυχίαν· διὰ δὲ τοῦτο καλεῖσϑαι ϑεο-
σεβεῖς τε καὶ καπνοβάτας (? καπνοκάπτας? Rauchschlucker. Von κάπτω.
Jedenfalls ein Spottname). εἶναι δέ τινας τῶν Θρᾳκῶν οἵ χωρὶς γυναικὸς
ζῶσιν, οὓς κτίστας καλεῖσϑαί, ἀνιερῶσϑαί τε διὰ τιμὴν καὶ μετ̕ ἀδείας ζῆν.
Strabo VII p. 296. Der religiöse Charakter dieser Askese tritt in
1).
merkt) diese zweite Version sich anlehnte an die delphische Sage vom
Grabe des Dionys am Dreifuss des Apollo (s. oben p. 123/4). Sie knüpft
hier an, aber im Uebrigen hat sie mit der ächt delphischen Legende
vom Entschwinden des Dionysos in die Unterwelt und seiner periodischen
Rückkehr auf die Oberwelt (s. oben p. 304 ff.) keinen Zusammenhang (mit
abschreckendem Erfolg und ohne innere Berechtigung wird die orphische
und die delphische Sage, als ob sie Stücke eines einzigen Ganzen wären,
durch- und in einander gearbeitet bei Lübbert, de Pindaro theologiae
Orph. censore, ind. schol. Bonn. hib.
1888 p. XIII ff.). Ob diese zweite
Version die von Onomakritos ausgeführte war, steht dahin. Sie sowohl
wie die erste ist jedenfalls viel älter, als die Rhapsodien, in denen beide,
scheint es, mit einander verknüpft und oberflächlich ausgeglichen waren
(beigesetzt konnten dann nur die von den Titanen etwa noch nicht ver-
schlungenen Glieder des Gottes werden). Zu der zweiten Version mag
eine von der, in der ersten gegebenen wesentlich verschiedene Anthro-
pogonie gehört haben, wie denn das Vorhandensein einer solchen wohl
aus dem zu erschliessen ist, was die Rhapsodien selbst von dem gol-
denen und silbernen Menschengeschlecht erzählten (s. p. 414 A. 1).
1).
2, 123. Seine Worte lassen deutlich erkennen, dass die griechi-
schen
Lehrer der Seelenwanderung, die er im Sinne hat (Pherekydes,
Pythagoras, Orphiker, Empedokles) von ägyptischem Ursprung dieser
Lehre nichts wussten (Rhein. Mus. 26, 556, 1).
1).
dem: κατ̕ εὐσέβειαν, dem Namen: ϑεοσεβεῖς und dem ἀνιερῶσϑαι hervor,
das von dem Mönchsorden der κτίσται gesagt wird. Von den Essenern
sagt Josephus, ant. Jud. 18, 1, 5: ζῶσι δ̕ οὐδὲν παρηλλαγμένως ἀλλ̕ ὅτι
μάλιστα ἐμφέροντες Δακῶν (d. i. Θρᾳκῶν, Γετῶν. Getae, Daci Romanis
dicti
Plin. n. h. 4, 80) τοῖς πολισταῖς καλουμένοις. Gemeint sind jedenfalls
dieselben thrakischen Asketen, die (mit sinngleicher Uebersetzung eines
thrakischen Wortes) Posidonius κτίσται nennt. Von ihnen gilt also, wie
von den Essenern, dass sie leben ohne Weiber, der Fleischnahrung sich
enthaltend, sonstiger Askese sich hingebend, in gemeinsamen Leben und
in Gütergemeinschaft. — Wie alt diese thrakische Askese sein mag, wie
sie mit der Dionysosreligion zusammenhing, und ob sie zu der asketi-
schen Richtung der Orphiker einen Anstoss gegeben hat und geben
konnte, lässt sich nicht bestimmen (An Il. 13, 4 ff. anknüpfend berichten
Viele Aehnliches von den nomadischen Skythen, nach Ephorus fr. 76. 78.
Oder von den fabelhaften Argimpäern: Herodot. 4, 23; Zenob. prov. 5, 25,
p. 129, 1 u. A. S. Griech. Roman 203. — ἀποχὴ ἐμψύχων auch der
Atlanten, und indischer Stämme: Herod. 4, 184; 3, 100).
1).
Allgemeine, durch Gesetz der Natur oder der Gottheit bestimmte
Seelenwanderung kennen ägyptische Monumente nicht. Man sieht aber
wohl, was in ägyptischer Ueberlieferung dem Herodot wie eine Seelen-
wanderungslehre erscheinen konnte. Vgl. Wiedemann, Erläut. zu Herodots
2. Buch
, p. 457 f.
2).
Es genügt, auf Tylors Zusammenstellungen (Primit. cult. 2, 3 ff.)
zu verweisen. — Im Alterthum trafen den Seelenwanderungsglauben
Griechen, ausser in Thrakien, namentlich bei keltischen Stämmen an
(Caes. b. Gall. 6, 14, 5; Diodor. 5, 28, 6; vgl. Timagenes bei Ammian.
Marcell. 15, 9, 8). Nur darum liess man den Pythagoras auch einen
Schüler gallischer Druiden sein: Alex. Polyh. bei Clem. Strom. 1, 304 B u. A.
3).
Dass auch Griechen die Vorstellung einer Wanderung der Seele
aus ihrem ersten Leib in einen beliebigen zweiten und dritten Leib (des
Eingehens τῆς τυχούσης ψυχῆς εἰς τὸ τυχὸν σῶμα nach Aristot.) nicht schwer
werden konnte, lässt sich schon daraus abnehmen, dass in volksthümlichen
Erzählungen der Griechen von Verwandlung eines Menschen in ein Thier
stets die Annahme herrscht, dass zwar der Leib ein anderer werde, die
„Seele“ aber in dem neuen Leibe dieselbe bleibe wie vorher. So schon aus-
gesprochen Odyss. κ 240 (vgl. Schol. κ 240. 329). Vgl. Ovid. met. 2, 485;
Nonn. Dion. 5, 322 f.; Aesop. fab. 294 (Halm.) [Luc.] Asin. 13. 15 init.;
Apul. met. 3, 26 Anf.; Augustin. Civ. Dei 18, 18 p. 278, 11 ff. Domb. etc.
(in allen Verwandlungsgeschichten ist dies die eigentliche Grundvoraus-
setzung; der Witz der Geschichte beruht eben hierauf. So von den
ältesten Zeiten herunter bis zu Voltaire’s Maulthiertreiber, der in ein
Maulthier verwandelt wird: et du vilain l’âme terrestre et crasse à peine
vit qu’elle eût changé de place.
). — Auch die Thiere haben ja eine ψυχή:
z. B. Odyss. ξ 426.
1).
Brahmanen und Buddhisten, Manichäer u. s. w.
2).
Eine feste Bezeichnung der „Seelenwanderung“ scheint die orphi-
sche Lehre nicht dargeboten zu haben. Später nannte man sie (mit
einer eigentlich auf den Begriff nicht recht zutreffenden Benennung)
παλιγγενεσία: dies scheint ihr ältester Name zu sein (αἱ ψυχαὶ πάλιν
γίγνονται
ἐκ τῶν τεϑνεώτων. Plat. Phaed. 70 C) und blieb ihr feier-
lichster. „Pythagoras“ non μετεμψύχωσιν sed παλιγγενεσίαν esse dicit: Serv.
Aen. 3, 68. μετενσωμάτωσις (mehrfach bei Hippol. refut. haer. u. s. w.) ist
nicht ungewöhnlich; der uns geläufigste Ausdruck: μετεμψύχωσις ist bei
Griechen gerade der am wenigsten übliche: er findet sich z. B. Diodor.
10, 6, 1; Galen IV 763 K; Tertullian de an. 31; Serv. Aen. 6, 532; 603;
Suid. s. Φερεκύδης. μετεμψυχοῦσϑαι: Schol. Apoll. Rhod. 1, 645.
1).
S. oben p. 6 ff.
1).
ψυχή = Leben, Lebensbegriff (freilich nie als Bezeichnung seeli-
scher Kraft während des Lebens) bei Homer (oben p. 43 f.). So auch bis-
weilen in den Resten der iambischen und elegischen Dichtung ältester Zeit:
1).
S. oben p. 4. 42. — Schon die homerischen Gedichte lassen in einem
einzelnen Fall ein leises Schwanken im Ausdruck und der psychologischen
Vorstellung erkennen, indem ϑυμός, die höchste und allgemeinste der
dem sichtbaren und lebendigen Menschen innewohnenden Lebenskräfte,
fast als Synonymon der ψυχή, des im lebendigen Menschen, abgetrennt
und an dessen gewöhnlichen Lebensthätigkeiten unbetheiligt, hausenden
Doppelgängers verwendet wird. Der ϑυμός, im Lebenden thätig, in den
φρένες beschlossen (ἐν φρεσί ϑυμός), und mit deren Untergang im Tode
(ψ 104) ebenfalls dem Untergang verfallen, verlässt bei Eintritt des Todes
den Leib, vergeht, während die ψυχή unversehrt davonschwebt. Deut-
lich wird der Unterschied festgehalten z. B. λ 220 ff (den Leib zerstört
das Feuer, ἐπεί κεν πρῶτα λίπῃ λεύκ̕ ὀστέα ϑυμός. ψυχὴ δ̕ ἠύτ̕ ὄνειρος
ἀποπταμένη πεπότηται). Gleichzeitig also verlassen ϑυμός und ψυχή den
Getödteten (ϑυμοῦ καὶ ψυχῆς κεκαδών Il. Λ 334 Od. φ 154), aber in sehr
verschiedener Weise. Die Verbindung wird aber zu einer Verwechslung,
wenn von dem ϑυμός einmal gesagt wird, dass im Tode er ἀπὸ μελέων
δόμον Ἄιδος εἴσω gehe (H 131), was ja in Wahrheit nur von der ganz
verschiedenen ψυχή gesagt werden kann. (Wenn nach gewichener Ohn-
macht gesagt wird, nicht dass die ψυχή — die doch es war, die den
Menschen verlassen hatte [s. p. 8, 1] — sondern dass ἐς φρένα ϑυμὸς ἀγέρϑη
[Il. X 475; Od. ε 458; ω 349], so ist hier nicht ϑυμός statt ψυχή ein-
getreten, sondern nur der Ausdruck ein abgekürzter: sowohl ψυχή als ϑυμός
sind dem Menschen nun wiedergekehrt [vgl. E 696 ff.], nur ϑυμός wird ge-
nannt. Eine Art Synekdoche). An jener Stelle, H 131, tritt also wirk-
lich ϑυμός statt ψυχή ein, sei es in Folge ungenauer Auffassung der
wahren Bedeutung beider, oder nur in nachlässiger Ausdrucksweise.
Niemals aber (das ist die Hauptsache) steht bei Homer umgekehrt ψυχή
in dem Sinne von ϑυμός (νόος, μένος, ἦτορ u. s. w.) als eine Bezeichnung
geistiger Kraft und deren Bethätigung im lebendigen und wachen Men-
schen. Eben dies aber und mehr, die Summe aller Geisteskräfte des
Menschen überhaupt, bezeichnet das Wort ψυχή im Sprachgebrauch der
(nicht theologisch gerichteten) Philosophen, für welche jener seelische
1).
Archiloch. 23; Tyrtaeus 10, 14; 11, 5; Solon 13, 46; Theognis 568 f.; 730
(Hipponax 43, 1?). — ψυχή = Leben in der sprüchwörtl. Redensart
περὶ ψυχῆς τρέχειν (s. Wessel. und Valck. zu Herodot 7, 57. Jacobs zu
Achill. Tat. p. 896). Oft ψ. = Leben im Sprachgebrauch der attischen
Redner (vgl. Meuss, Jahrb. f. Philol. 1889 p. 803).
1).
Doppelgänger des sichtbaren Menschen, den die Volkspsychologie als
ψυχή kannte, ausser Betrachtung blieb und das Wort ψυχή zur Benennung
des gesammten geistigen Inhaltes des Menschen frei wurde. Vom fünften
Jahrhundert an findet man auch im Sprachgebrauch nichtphilosophischer
Dichter und Prosaschriftsteller ψυχή ganz gewöhnlich, ja der Regel nach
in diesem Sinne verwandt. Nur Theologen und theologisirende Dichter
oder Philosophen haben dem Worte durchaus seinen alten und ursprüng-
lichen Sinn bewahrt. Und wo es sich um das im Tode von dem Leibe
des Menschen sich abtrennende Geisteswesen handelt, ist als dessen Be-
zeichnung durch alle Zeiten und auch im populären Ausdruck das Wort
ψυχή beibehalten worden. (Ganz selten einmal wird, wie Il. H 131,
ϑυμός so verwendet; ϑυμὸν-αἰϑὴρ λαμπρὸς ἔχει: Pseudoaristot. Pepl. 61,
wo in dem entsprechenden Epigramm, Kaibel 41, ψυχὴν steht.)
1).
ἔνιοι, darunter Choerilus von Samos: Laert. Diog. 1, 24 (aus Fa-
vorinus).
2).
Aristot. de an. 1, 2 p. 405 a, 20 f. „Aristoteles und Hippias“ bei
Laert. 1, 24. τὰ φυτὰ ἔμψυχα ζῷα: Doxogr. 438 a, 6; b, 1.
1).
Bildlich: Θαλῆς ᾠήϑη πάντα πλήρη ϑεῶν εἶναι. Aristot. de an.
1, 5; p. 411 a, 8. τὸν κόσμον (ἔμψυχον καὶ) δαιμόνων πλήρη, Laert. 1, 27.
Doxogr. 301 b, 2. Anspielung auf das ϑεῶν πλήρη πάντα (wie Krische,
Theol. Lehren der gr. Denker p. 37 bemerkt) bei Plato, Leg. 10, 899 B.
Halb scherzhafte Anspielung auf das Wort des Thales liegt vielleicht
in dem anekdotisch überlieferten Worte des Heraklit: εἶναι καὶ ἐνταῦϑα
— an seinem Heerde — ϑεούς (Aristot. part. anim. 1, 5 p. 645 a, 17 ff.
Daher auch dem H. selbst etwas verändert die Meinung des Thales zu-
geschrieben wird: πάντα ψυχῶν εἶναι καὶ δαιμόνων πλήρη: Laert. Diog. 9, 7
in der werthlosen ersten der zwei dort mitgetheilten Dogmenaufzählungen).
2).
Aristot. Phys. 3, 4 p. 203 b, 10—14. Doxogr. 559, 18.
3).
Anaximand. fr. 2 (Mull.). — Dass Anaximander die Seele für „luft-
artig“ erklärt habe, ist eine irrthümliche Behauptung des Theodoret.
S. Diels, Doxogr. 387 b, 10.
4).
Anax. in Doxogr. 278 a, 12 ff.; b, 8 ff.
5).
Anaximenes nennt τὸν ἀέρα ϑεόν, d. h. göttliche Kraft: Doxogr.
302 b, 5; 531 a, 17, b, 1. 2. Das ist jedenfalls in dem gleichen Sinne zu ver-
stehn, wie nach Anaximander τὸ ἄπειρον sein soll τὸ ϑεῖον (Aristot. Phys. 3,
4 p. 203 b, 13).
1).
ἓν πάντα εἶναι fragm. 1 (Byw.).
1).
Aristot. de an. I 2 p. 405 a, 25 ff. (Heraklit ist auch gemeint
p. 405 a, 5) Doxogr. 471, 2 ff. (Arius Didymus); 389 a, 3 ff.
2).
S. Aristot. a. a. O. Herakl. fr. 68.
3).
Sext. Empir. adv. math. 7, 127. 129—131.
4).
ὁ ϑεός ist das Allfeuer, das sich zur Welt wandelt, und zugleich
dessen Kraft (und λόγος: fr. 2. 92). fr. 36. — τὸ πῦρ ϑεὸν ὑπείληφεν
(Heraklit): Clemens Al. protr. 42 πῦρ νοερὸν τὸν ϑεὸν (εἶναι ἐφϑέγξατο):
Hippol. ref. haer. p. 10, 57. — „Zeus“ metonymische (daher: οὐκ ἐϑέλει
καὶ ἐϑέλει) Benennung dieses Allfeuers, des „allein Weisen“: fr. 65.
5).
ἡ ἐπιξενωϑεῖσα τοῖς ἡμετέροις σώμασιν ἀπὸ τοῦ περιέχοντος (d. i. dem
Allfeuer) μοῖρα heisst die Seele und ihre Vernunft bei Sext. Empir. adv.
math.
7, 130 (ἀπορροὴ καὶ μοῖρα ἐκ τοῦ φρονοῦντος: Plut. Is. et Osir. 77
p. 382 B), im Gedanken, wenn auch wohl nicht dem Ausdruck nach, völlig
heraklitisch.
1).
Dass Heraklit aus seiner Lehre vom unaufhörlichen, jede bleibende
Identität eines Gegenstandes mit sich selbst ausschliessenden Stoffwechsel
(fr. 40. 41. 42. 81) auch für die „Seele“, den geistigen Menschen, die
nothwendige, oben in freier Umschreibung ausgedrückte Consequenz ge-
zogen habe, ist namentlich aus Plutarch’s Ausführungen in dem ganz aus
den Gedanken des (zweimal darin ausdrücklich citirten) Heraklit auf-
gebauten 18. Capitel der Schrift de EI Delph. zu entnehmen. Es stirbt
nicht nur ὁ νέος εἰς τὸν ἀκμάζοντα κτλ., sondern ὁ χϑὲς (ἄνϑρωπος) εἰς τὸν
σήμερον τέϑνηκεν, ὁ δὲ σήμερον εἰς τὸν αὔριον ἀποϑνήσκει. μένει δ̕ οὐδείς,
οὐδ̕ ἔστιν εἷς, ἀλλὰ γιγνόμεϑα πολλοὶ περὶ ἓν φάντασμα κτλ. Vgl. cons. ad
Apoll.
10. Auf Heraklit geht jedenfalls auch zurück, was Plato, Sympos.
207 D ff. ausführt: wie jeder Mensch nur scheinbar einer und sich selbst
gleich sei, in Wahrheit schon im Leben stets „einen anderen und neuen
Menschen statt des alten und abgängigen zurücklasse“, und dies wie am
Körper so auch an der Seele. (Nur auf diesem, hier von Plato zugunsten
der ihm gerade bequemen Argumentation vorübergehend eingenommenen
Standpunkte heraklitischer Lehre rechtfertigt sich auch der Schluss: nur
durch die fortwährende Substituirung eines neuen Wesens, das dem alten
ähnlich sei, habe der Mensch Unsterblichkeit, nicht in ewiger Erhaltung
des eigenen Wesens, wie sie dem Göttlichen eigen sei. Als ernstlich ge-
meinte Lehre des Plato selbst lässt sich dies auf keine Weise verstehn.)
— Mit der heraklitischen Vernichtung der persönlichen Einheit des
Menschen spielt schon Epicharmos (oder ein Pseudoepicharm?) bei Laert.
Diog. 3, 11, v. 13—18 (vgl. Wyttenbach ad Plut. ser. n. vind. 559 A
[Moral. VII p. 397 f. Oxon.]; Bernays, Rhein. Mus. 8, 280 ff.). Vgl. auch
Seneca, epist. 58, 23.
1).
Die scheinbar entgegengesetzte Aussage: ψυχῇσι τέρψιν, μὴ ϑάνα-
τον, ὑγρῇσι γενέσϑαι κτλ. bei Porphyr. antr. nymph. 10 giebt nicht Worte
und wahre Meinung des Heraklit wieder, sondern nur die willkürliche
Deutung und Zurechtlegung heraklitischer Lehre durch Numenius (s. Gom-
perz, Sitzungsber. der Wiener Akad. Phil. Cl. 113, 1015 ff.).
1).
Eine Seelenwanderungslehre schreibt dem H. zu Schuster, Hera-
klit
(1873) p. 174 ff. Die hiefür in Anspruch genommenen Aussprüche
des H. (fr. 78; 67; 123) sagen aber nichts dergleichen aus, und es fehlen
in Heraklits Lehrsystem alle Voraussetzungen, auf denen sich ein Seelen-
wanderungsglaube aufbauen könnte.
2).
Um zu beweisen, dass Heraklit von einer Fortdauer der einzelnen
Seelen nach einer Trennung vom Leibe geredet habe, beruft man sich
(namentlich Zeller, Philos. d. Gr.4 1, 646 ff.; Pfleiderer, Die Philos.
des Heraklit im Lichte der Mysterienidee
[1886] p. 214 ff.) theils auf Be-
richte späterer Philosophen, theils auf eigene Aussprüche Heraklits.
Platonisirende Philosophen leihen allerdings dem Heraklit eine Seelen-
lehre, die von Präexistenz der einzelnen Seelen, deren „Fall in die
Geburt“ und Ausscheiden zu individuellem Sonderleben nach dem Tode
weiss (Numenius bei Porphyr. antr. Nymph. 10; Jamblich bei Stob. ecl.
1, 375, 7; 378, 21 ff. W; Aeneas Gaz. Theophr. p. 5. 7 Boiss.). Aber
diese Berichte sind ersichtlieh nur eigenmächtige Ausdeutungen hera-
klitischer Sätze (μεταβάλλον ἀναπαύεται, κάματός ἐστι τοῖς αὐτοῖς ἀεὶ μοχϑεῖν
καὶ ἄρχεσϑαι) in dem Sinne der jenen Philosophen selbst geläufigen Vor-
stellungen, homiletische, willkürlich geführte Betrachtungen über ganz
kurze und vieldeutige Texte, um so weniger als Zeugnisse über Heraklits
wahre Meinung zu verwenden, als Plotin (6, 1 p. 60, 20 Kirchh.) offen
eingesteht, dass in diesem Punkte Heraklit versäumt habe, σαφῆ ἡμῖν
ποιῆσαι τὸν λόγον. Andere lesen in heraklitische Aussprüche sogar die
orphische Lehre vom σῶμα-σῆμα, dem Begrabensein der Seele im Leibe
hinein (Philo, leg. alleg. 1, 33 p. 65 M.; Sext. Emp. hypot. 3, 230),
die man ihm doch im Ernst nicht zuschreiben kann. Dem H. sowenig
wie den Pythagoreern und Platonikern entsteht bei der Geburt des
Menschen die Seele (wie der Popularglaube annahm) ihrer Substanz nach
2).
aus dem Nichts (vielmehr war sie als Theil des Allfeuers, der Allpsyche
von Ewigkeit vorhanden); dass er aber eine Präexistenz körperfreier
Einzelseelen in geschlossener Individualität angenommen habe, folgt daraus
nicht, dass Spätere diese ihnen selbst fest eingeprägte Vorstellung auch
bei ihm wiederfinden wollen. Einzelne dunkle und, nach Art dieses in
sinnlichen Vergegenwärtigungen das Abstracte verhüllenden Denkers,
bildlich ausgedrückte Worte des Heraklit konnten zu solcher Auslegung
verleiten. Ἀϑάνατοι ϑνητοί, ϑνητοὶ ἀϑάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων ϑάνατον,
τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεϑνεῶτες (fr. 67). Das klingt ja als ob Heraklit, wie
die Mystiker, von einem Eingehen einzelner göttlicher Wesen (die man
denn auch in ungenauen Anführungen des Satzes einfach substituirte:
ϑεοὶ ϑνητοί, ἄνϑρωποι ἀϑάνατοι u. ä. Bernays, Heraklit. Briefe 39 ff.) in
menschliches Leben reden wolle. Und doch kann, seiner ganzen An-
schauung entsprechend, Heraklit nur gemeint haben, dass Ewiges und
Vergängliches, Göttliches und Menschliches gleich sei und in einander
umschlage; er hat τὸ ϑεῖον (auch ὁ ϑεός genannt: fr. 36; vgl. 61) für den
Augenblick personificirt zu einzelnen ἀϑάνατοι, gemeint ist aber nichts an-
deres als was ein anderes Mal gesagt wird: ταὐτὸ τὸ ζῶν καὶ τεϑνηκός (fr. 78),
βίος und ϑάνατος sind dasselbe (fr. 66). — Das eindrucksvolle Wort:
ἀνϑρώπους μένει τελευτήσαντας ἅσσα οὐκ ἔλπονται οὐδὲ δοκέουσι (fr. 122)
versteht freilich Clem. Al. von Strafen der Seele nach dem Tode. Aber
derselbe Clemens (Strom. 5, 549 C) weiss auch die heraklitische ἐκπύρωσις
(bei der ja Heraklit von einer κρίσις durch das Feuer redet: fr. 26) als
eine διὰ πυρὸς κάϑαρσις τῶν κακῶς βεβιωκότων auszudeuten. Er
giebt eben abgerissenen Sätzen einen Sinn nach eigenem Wissen und
Verstehn. Dem gleichen Satze (fr. 122) giebt Plutarch (bei Stob. Flor.
120, 28 extr.) einen ganz andern, tröstlichen Sinn (vgl. Schuster, Heraklit
p. 190 A. 1). Heraklit selbst braucht nichts anderes gemeint zu haben
als den Prozess der immer neuen Umwandlung, der den Menschen „nach
dem Tode erwartet“. — Andere Aussprüche zeugen nicht bündiger für
eine Unsterblichkeitslehre des Heraklit (Fr. 7 gehört gar nicht hierher).
„Im Kriege Gefallene ehren Götter [deren Dasein H. gewiss nicht leugnete
und nicht zu leugnen brauchte] und Menschen“ (fr. 102): dass ihr Lohn
etwas anderes als Ruhm, dass er selige Unsterblichkeit sei, deutet nicht ein-
mal Clemens (Strom. 4, 481 ff.) an, in H.’s Worten selbst liegt doch nichts
dergleichen. — Fr. 126 (der Thor): οὔτι γινώσκων ϑεοὺς οὐδ̕ ἥρωας οἵτινές
εἰσιν besagt nur, dass H. die gewöhnlichen Vorstellungen von Göttern und
Heroen nicht theilte, ergiebt aber nichts Positives. — Fr. 38: αἱ ψυχαὶ
ὀσμῶνται (wunderlich gesagt, aber nicht zu ändern. ὁσιοῦνται Pfleiderer;
aber nach dem Zusammenhang, in dem Plutarch [fac. o. l. 18 p. 943 E]
das Wort des Her. erwähnt, handelt es sich nicht um Reinigung der
Seelen im Hades, sondern um ihre Nährung und Erstarkung durch die
1).
So Pfleiderer a. a. O. p. 209 u. ö.
2).
Sibylle: fr. 12. Delphisches Orakel: 11. Kathartik: 130. Bakchisches
Wesen: 124.
3).
ὡυτὸς Ἅιδης καὶ Διόνυσος: fr. 127 (und insofern, weil mit hera-
klitischer Philosophie vereinbar, sollen die Dionysosmysterien gelten dürfen.
Das muss der Sinn des Ausspruchs sein). Andrerseits Tadel der ἀνιερωστί
von den Menschen begangener μυστήρια: 125 (da deren wahren Gehalt
die Feiernden nicht erfassen).
2).
ἀναϑυμίασις des feurigen Aethers [vgl. Sext. Emp. adv. Phys. 1, 73 nach
Posidonius]. Dies ἀναϑυμιᾶν [und wieder feurig werden] nennt Her. ὀσμᾶσ-
ϑαι) καϑ̕ ᾅδην. Soll man hieraus im Ernst schliessen, dass H. an einen
Hades nach homerischer Art geglaubt habe? ᾅδης ist metonymischer
Ausdruck für das Gegentheil des irdischen Lebens (so wird ᾅδης meto-
nymisch, als Gegensatz des φάος, verwendet bei dem heraklitisirenden
Pseudhippocr. de diaeta 1, 4 p. 632 Kühn). Für die Seelen bedeutet ᾅδης
die ὁδὸς κάτω; und der Sinn des Ausspruches ist: nach dem Verschwinden
im Tode werden die Seelen, wenn sie den Weg abwärts durch Wasser
und Erde durchmessen haben, aufsteigend durch Wasser zuletzt, reines,
trockenes „Feuer“ in sich einziehend, sich als „Seelen“ ganz wiederfinden.
— Aus dem unheilbar entstellten fr. 123 ist nichts Verständliches zu ge-
winnen. — Deutliche und unzweideutige Aussprüche des H., die von
seinem Glauben an Unsterblichkeit der Einzelseelen Zeugniss geben, liegen
nicht vor; solcher Aussprüche aber würde es bedürfen, ehe man dem
Heraklit eine Vorstellung beimessen könnte, die mit seiner übrigen Lehre,
wie allgemein zugestanden wird, in unvereinbarem Gegensatz steht. Deut-
lich sagt er, dass die Seele im Tode zu Wasser werde, das heisst aber,
dass sie als Seele = Feuer, vergeht. Wenn sein Glaube dem der
Mystiker nahe gekommen wäre (wie die Neoplatoniker ihm zutrauen), so
müsste ihm der Tod, die Befreiung der Seele aus den Fesseln der Leiblich-
keit und dem Reiche der niederen Elemente, als ein völliges Aufgehen
der Seele in ihr eigenstes Element, das Feuer, gegolten haben. Aber
das Gegentheil lehrt er: die Seele vergeht, wird Wasser, Erde, dann
wieder Wasser und zuletzt wieder Seele (fr. 68). Nur insoweit ist sie
unvergänglich.
1).
Immer noch eher als die Neoplatoniker, die dem H. eine der
orphisch-pythagoreischen ähnliche Seelenlehre zuschreiben, trifft dessen
wahre Meinung der Bericht des [Plut.] dogm. philos. 4, 7 (wo der Name
des Heraklit ausgefallen ist, wie aus Theodoret hervorgeht: s. Diels,
Doxogr. p. 392): — ἐξιοῦσαν (τὴν ἀνϑρώπου ψυχήν) εἰς τὴν τοῦ παντὸς
ψυχὴν ἀναχωρεῖν πρὸς τὸ ὁμογενές. Aus dieser (auch nicht wirklich zu-
treffenden) Deutung der Meinung des H. vom Schicksal der Seele nach
dem Tode geht aufs Neue soviel wenigstens hervor, dass die entgegen-
gesetzten Angaben der Neoplatoniker eben auch nur Deutungen, nicht
Zeugnisse, sind.
1).
Ἡράκλειτος ἠρεμίαν καὶ στάσιν ἐκ τῶν ὅλων ἀνῄρει · ἔστι γὰρ τοῦτο
τῶν νεκρῶν. Doxogr. p. 320. στάσις und ἠρεμία wären gar kein Leben,
auch nicht ein seliges, weltfernes, sondern Merkmale des „Todten“, d. h.
aber des nirgends in der Welt Existirenden, des Nichts.
2).
Polemik des Parmenides gegen Heraklit: v. 46 ff. Mull. (s. Ber-
nays, Rhein. Mus. 7, 115).
1).
Aristoteles (Sext. Empir. adv. math. 10, 46) ἀφυσίκους αὐτοὺς
κέκληκεν, ὅτι ἀρχὴ κινήσεώς ἐστιν ἡ φύσις, ἣν ἀνεῖλον φάμενοι μηδὲν κι-
νεῖσϑαι.
1).
Theophrast. de sens. et sensib. § 4.
2).
γεγενῆσϑαι τὴν τῶν πάντων φύσιν ἐκ ϑερμοῦ καὶ ψυχροῦ καὶ ξηροῦ
καὶ ὑγροῦ, λαμβανόντων εἰς ἄλληλα τὴν μεταβολήν, καὶ ψυχὴν κρᾶμα ὑπάρχειν
1).
Simplic. ad Aristot. Phys. p. 39 D.
2).
Parm., Schüler des Pythagoreers Diochaites, und des Ameinias,
2).
ἐκ τῶν προειρημένων κατὰ μηδενὸς τούτων ἐπικράτησιν. Zeno bei Laert.
9, 29. Die vier Grundbestandtheile, statt der zwei des Parmenides, mag
Zeno in Anlehnung an die vier „Wurzeln“ des Empedokles (deren je eine
durch eine der vier Eigenschaften ϑερμόν κτλ. bezeichnet wird) festgesetzt
haben. Auch das die ψυχή aus der gleichmässigen Mischung der vier
Eigenschaften entstehen soll, erinnert an Bestimmungen des Empedokles
vom φρονεῖν (Theophr. de sens. 10. 23 f.). Andrerseits überträgt Zeno auf
die ψυχή das, was von der ὑγίεια der pythagorisirende Arzt Alkmaeon
sagte (Doxogr. p. 442. Vgl. Aristot. de an. 408 a, 1); seine Ansicht
kommt schon fast der jener Pythagoreer gleich, denen die „Seele“ als
eine ἁρμονία des Kalten, Warmen u. s. w. galt (s. unten p. 462, 1). Sie
mag ihm (der als „Pythagoreer“ gilt: Strab. 6, 252) in der That aus den
Kreisen pythagorisirender Physiologen zugekommen sein.
1).
φιλοσοφίαν δὲ πρῶτος ὠνόμασε Πυϑαγόρας, καὶ ἑαυτὸν φιλόσοφον.
Laert. D. prooem. 12. (Die Ausführung freilich aus dem fingirten Dialog
des Heraklides Pont. Cic. Tusc. 5 § 8. 9.)
2).
Plat. Republ. 10, 600 A. B.
3).
πολυμαϑίη, ἱστορίη des Pythagoras: Heraklit fr. 16. 17. παντοίων
τὰ μάλιστα σοφῶν ἐπιήρανος ἔργων heisst P. bei Empedokles v. 429. —
Die Construction des Weltgebäudes nach Pythagoreischer Darstellung ist
schon, am Anfang des 5. Jahrhunderts, dem Parmenides bekannt, und
wird von ihm in einzelnen Punkten nachgeahmt (s. Krische, Theol. Lehren
d. gr. D.
102 ff. Wie weit Parm. im übrigen pythagoreische Lehren
polemisch berücksichtigt habe — wie neuerdings angenommen wird —
2).
wie es scheint, ebenfalls eines Pythagoreers: Sotion bei Laert. 9, 21. Zu
den Pythagoreern zählt ihn die damit freilich sehr freigiebige Ueber-
lieferung: Kallimach. fr. 100 d, 17; Strabo 6, p. 252; Vit. Pythag. bei
Photius cod. 249 p. 439 a, 37; Jamblich. V. P. 267 (mit Scholion, p. 190 N.).
Der pythagoreische Einfluss auf P. mag wesentlich ethischer Art ge-
wesen sein. εἰς ἡσυχίαν προετράπη ὑπὸ Ἀμεινίου: Laert. a. O. Παρμενίδειος
καὶ Πυϑαγόρειος βίος als gleichbedeutend neben einander: Cebes tab. 2 extr.
Die gute Staatsordnung von Elea bringt Strabo a. O. mit dem Pytha-
goreerthum des P. (und Zeno) in Zusammenhang. P. Gesetzgeber von
Elea: Speusippos π. φιλοσόφων bei Laert. D. 9, 23.
1).
Emp. 427 ff. Mull. — Dass dieses praeconium sich in der That
auf Pythagoras (wie Timaeus u. A. annahmen) bezieht und nicht auf
Parmenides (wie unbestimmte οἳ δέ bei Laert. 8, 54 meinen) scheinen doch
v. 430—432 zu beweisen, die auf eine wunderbare Kraft der ἀνάμνησις
hindeuten, die wohl dem Pyth., aber niemals dem Parm. von der Sage
zugeschrieben wurde.
3).
mag dahingestellt bleiben). Phantastische Zahlenspeculation wird schon
dem Pythagoras selbst zugeschrieben in den Aristot. Magna Moralia
1182 a, 11 ff.
1).
ψυχαί von denen die ganze Luft voll ist, von δαίμονες und ἥρωες
nicht unterschieden: Alex. Polyh. bei Laert. D. 8, 32 (in diesem Ab-
schnitt seines Berichtes, § 31 ff., altpythagoreische Vorstellungen wieder-
gebend. — Wenn bei Posidonius dieselbe Vorstellung ausgesprochen
wird, so folgt noch nicht, dass sie von dem Stoiker überhaupt herstammt.
Posidonius hat vielfach pythagoreische Ansichten seinerseits entlehnt und
ausgeschmückt). — Subtiler: Die Seele ist ἀϑάνατος, weil ewig bewegt
wie τὰ ϑεῖα πάντα, Mond, Sonne, Gestirne und Himmel: Alkmaeon bei
Aristot. de an. 405 a, 29 ff. (Vgl. Krische, Theol. Lehr. 75 f.) Hier schon
die Vorstellung dass die Menschenseele ἔοικε τοῖς ἀϑανάτοις. Die Ab-
leitung ihrer Unsterblichkeit und Göttlichkeit aus ihrer Herkunft von der
Weltseele (und Allgottheit), wie sie als pythagoreische Lehre mehrfach
hingestellt wird (Cic. n. d. 1, 27; de senect. 21; Laert. D. 8, 28; Sext.
Emp. math. 9, 127) zeigt zwar die Färbung des stoischen Pantheismus,
kann sich aber ihrem thatsächlichen Gehalt nach doch wohl auf alt-
pythagoreische Lehre zurückleiten (zweifelhaft bleibt freilich die Aecht-
heit des Bruchstückes des Philolaus, bei Stob. ecl. 1, 173, 2 ff. W). Die
Vorstellung, dass Seele und νοῦς des Menschen ihm zukommen aus einem
unpersönlichen ϑεῖον, einer allverbreiteten ἐν τῷ παντὶ φρόνησις muss schon
im fünften Jahrhundert eine sehr geläufige gewesen sein. Sie findet sich
ausgesprochen bei Xenophon, Memor. 1, 4, 8. 17; 4, 3, 14, sicherlich ja
nicht als dessen Originalgedanke sondern ihm irgendwoher zugeflossen
(und gewiss nicht von Sokrates her, auch nicht von Plato).
1).
ἐν φρουρᾷ. Plat. Phaed. 62 B. Auf pythagoreischen Glauben
führt das (mit einer unrichtigen Deutung des Wortes φρουρά) zurück
Cicero Cato maj. 73. Aehnlich der Pythagoreer Euxitheos b. Athen.
4, 157 C. S. Böckh, Philol. 179 ff. (Philolaos fr. 16 Mull. spricht von der
Weltseele oder dem Gotte, der alles ἐν φρουρᾷ halte und umfasse [s. Böckh
p. 151], ohne an die Menschenseele zu denken). Der Vergleich des
Lebens im Leibe mit einer φρουρά kann sehr wohl pythagoreisch sein;
dass er auch orphisch ist (s. oben p. 415), steht dem nicht im Wege.
Dieser Vergleich setzt schon voraus, dass das irdische Leben der Seele
als Strafe auferlegt sei. διά τινας τιμωρίας ist die Seele in den Leib ein-
geschlossen: Philol. fr. 23 mit Berufung auf die παλαιοὶ ϑεολόγοι τε καὶ
μάντιες (Jamblich. V. Pyth. 85: ἀγαϑὸν οἱ πόνοι — — ἐπὶ κολάσει γὰρ
ἐλϑόντας δεῖ κολασϑῆναι).
2).
Aristot. de an. 407 b, 22 ff.
3).
οἱ ἐν τῷ ταρτάρῳ durch Donner geschreckt nach der Meinung der
Πυϑαγόρειοι: Aristot. analyt. post. 94 b, 32 ff. σύνοδοι τῶν τεϑνεώτων im
Erdinnern: Aelian, var. hist. 4, 17 (vielleicht aus Aristot. π. τῶν Πυϑα-
γορείων). Schilderung der Zustände im Hades in der Pythagoreischen
Κατάβασις εἰς ᾅδου. Wie bei den Orphikern muss diese Läuterung und
Bestrafung in der Geisterwelt auch zu den ernstlich geglaubten Bestand-
theilen der Πυϑαγόρειοι μῦϑοι gehört haben.
4).
ἐκριφϑεῖσαν (aus dem Körper) αὐτὴν (τὴν ψυχὴν) ἐπὶ γῆς πλάζεσϑαι
ἐν τῷ ἀέρι ὁμοίαν τῷ σώματι (als rechtes εἴδωλον des Lebenden): Alex.
Polyh. b. Laert. D. 8, 31.
5).
Aristot. de an. 404 a, 16 ff.: manche nannten die ἐν τῷ ἀέρι ξύσματα
selbst „Seelen“, andre τὸ ταῦτα κινοῦν. Es mag ein Volksglaube zu Grunde
liegen, der aber schon halb ins Philosophische erhoben ist: die Seelen
werden (s. Aristot. Z. 19 f.) gleichgesetzt dem sichtbar immer bewegten.
Zweifellos war dies pythagoreische (wie auch altionische) Lehre. S. Alk-
maeon bei Arist. de an. 405 a, 29 ff. (Zweifelhafter ist die Richtigkeit der
Angabe Doxogr. 386 a, 13 ff. b, 8 ff.).
6).
Laert. D. 8, 32.
1).
Eingang der Menschenseele auch in Thierleiber setzt als pytha-
goreische Meinung schon Xenophanes in den spottenden Versen bei Laert.
D. 8, 36 voraus. Dass die Vorschrift der Enthaltung von Fleischnahrung
(wie bei Empedokles) mit diesem Glauben schon bei Altpythagoreern
begründet worden ist, hat alle Wahrscheinlichkeit (die „Weltseele“ mischt
freilich Sextus Empir. adv. math. 9, 127 ff. unzeitig stoisirend ein. Was
Sextus selbst aus Empedokles anführt, zeigt, dass dieser wenigstens die
ἀποχὴ ἐμψύχων nur mit der Metamorphose und keineswegs mit dem
ψυχῆς πνεῦμα das in allen Lebewesen walte motivirte, wie doch S. auch
ihm zuschreibt).
2).
Schon die Verse des Empedokles 430 ff. scheinen auf die wunder-
bare Fähigkeit des Pythagoras, längst Vergangenes aus früheren Lebens-
zuständen sich ins Gedächtniss zu rufen, anspielen zu sollen. Jedenfalls
früh ausgebildet worden muss die Sage sein, in der berichtet wird,
wie Pythagoras nachwies, dass er einst als Euphorbos der Panthoïde,
den Menelaos im troischen Kriege erlegte, gelebt habe. Diese Sage
wird sehr oft erzählt oder in Andeutungen berührt (s. Diodor. 10, 6, 1—3.
Schol. V. Il. P 28; Max. Tyr. 16 [I 287 f. R.]; Porphyr. V. Pyth. 26. 27;
Jamblich. V. P. 63; Philostr. V. Apoll. 1, 1, 1; 8, 7, 4; Heroïc. 17;
p. 192, 23 ff. Ks. Tatian ad Gr. 25; — Horat. c. 1, 28, 10; Ovid. met.
15, 160 ff.; Hygin. fab. 112; Lactant. inst. 3, 18, 15. Vgl. auch Kallimach.
fr. 83a [von Schneider völlig missverstanden], der den Pyth. selbst
„Euphorbos“ nennt, wie Horaz a. O., Luc. dial. mort. 20, 3), immer so,
dass zwischen Euphorbos und Pythagoras eine weitere ἐνσωμάτωσις der
Seele nicht angenommen oder geradezu (wie bei Lucian, gall. 17) ausdrück-
lich ausgeschlossen wird. (Warum gerade Euphorbos der Erkorene war?
Dass er durch seinen Vater Panthus besonders nah mit Apollo zusam-
menhängt, ähnlich wie Pythagoras [eine wahre ψυχὴ Ἀπολλωνιακή. Vgl.
auch Luc. Gall. 16] kann doch kaum [wie Goettling Opusc. 210; Krische
de soc. Pythag. 67 f. meinen] genügenden Anlass gegeben haben). Den
Euphorbos nahm in eine ganze Kette von Vorgeburten (Aethalides-Eu-
phorbos-Hermotimos-Pyrrhos, Fischer auf Delos-Pythagoras) auf Hera-
klides Ponticus:
Laert. Diog. 8, 4. 5 (übereinstimmend Hippol. ref. haer.
p. 7, 81 ff. Mill. Porphyr. v. Pyth. 45; Tertull. de an. 28. 31; Schol. Soph.
El. 62). Von Aethalides an (dem vielleicht, zu anderen Wundergaben,
die Gabe des wunderbaren Gedächtnisses erst Herakl. andichtete) reichte
hienach die Kraft der ἀνάμνησις im Leben und im Tode durch alle
Glieder der Kette bis zu Pyth. herunter (die Geschichte von dem Schild
2).
des Euphorbos wird hier, aus leicht zu errathenden Gründen, auf Hermo-
timos übertragen). Heraklides φησὶν περὶ αὑτοῦ τάδε λέγειν (τὸν Πυϑαγόραν)
heisst es bei Laertius; sehr möglich, dass der Ausdruck ungenau ist,
Heraklides nicht (wie die Worte des L. D. eigentlich besagen) auf eine
Aussage des Pythagoras (in einem Buche) sich berief, sondern ihn dies
alles (in einem Zwiegespräch) sagen liess. Hiebei wird er ausser der
Verkörperung als Euphorbos, die er aus der Sage übernahm, alles übrige
nach seiner Willkür gestaltet haben. Seine Fabel ist dann von Anderen
frei variirt worden: zwei, von der Fiktion des Her. ausgehende aber in
einzelnen Punkten von ihm abweichende Versionen (deren erste vertreten
οἱ Πυϑαγορικοί, die zweite Pythagoras selbst, in einem Buche? Πυϑαγόρας
φησίν, heisst es) stehen in den Schol. Apoll. Rhod. 1, 645. Was Gellius
4, 11, 14 mit Berufung auf Klearch und Dikäarch erzählt, weicht (ausser
bei Euphorbos) von Heraklides völlig ab (und ist in den Namen nicht zu
ändern), mag aber doch eine parodirende Umbiegung seiner Fabelei sein
(wie man sie zwar weniger dem Klearch, sehr wohl aber dem Dikäarch
zutrauen kann) und keine andren Quellen haben. Ermuntert durch solche
Vorgänger setzt dann Lucian im „Hahn“ (c. 19. 20) die Parodirung jener
Märchen fort. Ernsthaft benutzt scheinen die Berichte des Heraklides
zu sein in der γραφή, in welcher Pythagoras αὐτός φησι δι̕ ἑπτὰ καὶ διηκο-
σίων ἐτῶν ἐξ ἀΐδεω παραγεγενῆσϑαι εἰς ἀνϑρώπους (Laert. D. 8, 14): d. h.
wie Diels, Archiv f. Gesch. d. Philos. 3, 468 f. sehr wahrscheinlich macht,
in jenem dreigetheilten, nicht vor dem 3. Jahrh. in ionischem Dialekt ge-
schriebenen pseudopythagoreischen Buche, das Laert. D. 8, 6. 9. 10 nennt
und benutzt (vgl. Schol. Plat. Rep. 10, 600 B.). Wenn dort P. berichtet,
er sei „nach je 207 Jahren“ aus der Unterwelt wieder ans Licht ge-
kommen, so ist vielleicht, mit Zugrundelegung der Geburtenkette des
Heraklides und der Chronologie des Apollodor (dann freilich erst im
Anfang des letzten Jahrhunderts vor Chr.), so gerechnet: Pythagoras geb.
572, Pyrrhos 779, Hermotimos 986, Euphorbos 1193 (im 1. Jahre der
Τρωϊκά nach Eratosthenes und Apollodor), Aithalides 1400. Dabei wäre
freilich, von andrem abgesehen, mit plumpem Missgriff von Geburt zu
Geburt, statt vom Tode des A zur Geburt des B gerechnet. (Andre
Intervalle geben die Theologum. arithm. p. 40 [216 = 63; Laert. 8, 14
hiernach zu corrigiren — wie ich früher vorschlug — ist nicht räthlich.],
Schol. Bern. Lucan. 9, 1 p. 289, 12 Us. [462. Verschrieben statt 432
= 2 × 216? Vgl. Theol. ar. p. 40, 30 ff.]). — Eine pythagoreische Schrift
aus der Zeit vor Heraklides, in der von jenen Vorgeburten berichtet
worden wäre, lässt sich nicht mit Sicherheit nachweisen. Es könnte ja
scheinen (wie es einst mir schien, Rhein. Mus. 26, 558), als ob die Ver-
bindung, in welcher die Sagen von den Vorgeburten mit einem Bericht
2).
von der Hadesfahrt des Pythagoras stehen in Schol. Soph. El. 62 und bei
Tertullian, de an. 28, eine ursprüngliche sei, die Vorgeburten also in einer
pythagoreischen κατάβασις εἰς ᾅδου erzählt worden seien. Aber die Ver-
bindung ist eine willkürliche und in dem pythagoreischen Buch von der
Hadesfahrt so nicht denkbar: denn die Hadesfahrt wird dort in der
parodischen, die Wahrheit des Geschehenen aufhebenden Form erzählt,
die ihr Hermipp gegeben hatte. Auch ist nicht wohl denkbar, dass in
einer Hadesfahrt die Vorgeburten berichtet wurden, deren sich P. ja
lebend auf Erden und nicht in ekstatischem Zustande erinnerte, nicht aber
von ihnen im Hades erfuhr. Eher konnte umgekehrt in einem Bericht
über die Vorgeburten auch einiges über τὰ ἐν ᾅδου eingelegt sein; auch
darauf erstreckte sich die ἀνάμνησις: s. Laert. D. 8, 4 extr. (S. die treffen-
den Einwendungen gegen meine früheren Ausführungen bei G. Ettig,
Acheruntica, Leipz. Stud. 13. 289 f.) Alles dies gilt auch gegen Diels’
Annahme (a. a. O. p. 469), nach welcher Heraklides Ponticus von den Vor-
geburten des Pyth. bei Gelegenheit von dessen Hadesfahrt berichtet habe
(in der Schrift περὶ τῶν ἐν ᾅδου), und als Erster den Pyth. in die Unter-
welt habe fahren lassen. Dass er das überhaupt gethan hat, ist mit nichts
zu beweisen oder wahrscheinlich zu machen. Ohne jeden Anhalt nimmt
Diels an, dass, was Pythagoras, nach Schol. Ambros. Od. α 371, „φησίν“ ·
ἔξω γενόμενος τοῦ σώματος ἀκήκοα ἐμμελοῦς ἁρμονίας, P. sage nicht in einer
unter seinem Namen gehenden Schrift, sondern bei Heraklides (der in
jenem Scholion nicht genannt wird) in einem Dialog. Es besteht kein
Grund zu bezweifeln, dass jene Worte (wie Lobeck Agl. 944 annahm)
aus einer dem P. selbst untergeschobenen Schrift stammen, in der er
seine Ekstasis und ekstatischen Visionen schilderte (vgl. Schol. Aristot.
496 b, 1 f., 13 ff.). Ein weiteres bestimmtes Zeugniss für das Dasein einer
solchen Pythagoreischen Κατάβασις εἰς ᾅδου giebt es nicht (denn die γραφή
bei Laert. 8, 14 wird, wie bemerkt, besser anders gedeutet). Aber die
ziemlich frühe Entstehung wenigstens einer Sage von einer Hadesfahrt
des Pythagoras (und ganz bestimmter tendenziöser Berichte darüber)
bezeugt ja Hieronymos von Rhodos bei Laert. D. 8, 21 (dem man doch
nicht ohne bestimmten Grund — mit Hiller, Hier. Rh. fragm. p. 25 —
die Erfindung der Sage selbst zuschreiben darf. Was hätte auch Hier.
für ein Interesse haben können, so etwas frei zu erfinden?). Auch die
Verse des Komikers Aristophon bei Laert. 8, 38 lassen das Dasein sol-
cher Sagen im 3. Jahrh. voraussetzen. Ob die Schrift über die Höllen-
fahrt des P. die Sage hervorrief oder durch schon vorher umlaufende
Sagen hervorgerufen wurde, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls stand
aber in der Schrift kein Bericht von den Vorgeburten des P., von denen
(aber nicht von der Hadesfahrt des P.) in der That Heraklides Ponticus
zuerst ausgeführte (an die ältere Sage von P. und Euphorbos angelehnte)
Nachricht gab.
1).
Nach den Pythagoreern ist τὸ δίκαιον nichts anderes als τὸ ἀντιπε-
πονϑός, d. h. ἅ τις ἐποίησε ταῦτ̕ ἀντιπαϑεῖν. Aristot. Eth. Nic. 1132 b,
21 ff. Magn. Moral. 1194 a, 29 ff. (dasselbe in phantastischem Zahlenspiel:
Magn. Moral. 1182 a, 14. Schol. Aristot. 540 a, 19 ff., 541 b, 6 ff. Br. Theol.
arithm.
p. 28 f.). Dass diese ausgleichende Gerechtigkeit, deren Definition
die Pythagoreer aus volksthümlichen Aussprüchen (dem Vers des Rha-
damanthys bei Aristot. Eth. Nic. a. O., dem δράσαντι παϑεῖν und ähn-
lichen Formeln: Sammlung bei Blomfield Gloss. in Aesch. Choeph. 307.
Sophocl. fr. 209 N.) einfach herübernahmen, in den Wiedergeburten des
Menschen sich bethätige, darf man als die (hiemit erst über die üb-
liche Verwendung jenes τριγέρων μῦϑος hinausführende) Meinung der
Pythagoreer ohne weiteres annehmen, wenn man sich der völlig ana-
logen Anwendung dieser Vorstellung bei den Orphikern erinnert (s. oben
p. 422, 1).
2).
Πυϑαγόρειος τρόπος τοῦ βίου Plat. Rep. 10, 600 B.
3).
ἀκολουϑεῖν τῷ ϑεῷ Jamblich. V. Pyth. 137 (nach Aristoxenos)
ἕπου ϑεῷ Pythag. bei Stob. eccl. 2, 49, 16 W. S. Wyttenbach zu Plut.
ser. num. vind. 550 D.
4).
Enthaltung von Fleischspeisen oder mindestens vom Genuss des
Fleisches solcher Thiere die den Olympiern nicht geopfert werden (in
die ϑύσιμα ζῷα geht ἀνϑρώπου ψυχή bei der Seelenwanderung nicht ein:
Jamblich. V. P. 85), Enthaltung vom Genuss von Fischen, insbesondere
der τρίγλαι und μελάνουροι, vom Essen der Bohnen; leinene Gewandung
(noch im Tode: Herodot 2, 81), und noch einige Abstinenzen und rituale
Reinheitsbestrebungen schreiben alte Zeugen den Pythagoreern zu. Den
ganzen Apparat der sacralen ἁγνεία giebt auch den alten Pythagoreern
Alex. Polyh. bei Laert. D. 8, 33. Im Allgemeinen gewiss mit Recht.
Man pflegt alles dieses erst den entarteten Pythagoreern nach Zer-
sprengung des italischen Bundes zuzugestehn (so namentlich Krische
De societ. a Pyth. cond. scopo politico. Gött. 1831). Aber wenn aller-
dings Aristoxenos, der Zeitgenoss der letzten, wissenschaftlich gerichteten
1).
Bestrebungen in einer positiveren Richtung könnte man in Aus-
übung jener musikalischen κάϑαρσις ausgedrückt finden wollen, die Pytha-
goras und die Seinen nach einem kunstvollen System übten (vgl. Jamblich.
V. P. 64 ff.; 110 ff.; Schol. V. Il. 22, 391. Auch Quintil. inst. or. 9, 4, 12;
Porphyr. V. Pyth. 33 u. s. w.). — Was von pythagoreischer Moral und
moralischer Paraenese und Erziehung, meist in völlig rationalistischem
Sinne, von Aristoxenos berichtet wird, hat kaum geschichtlichen Werth.
2).
Gut formulirt den pythagoreischen Glauben Max. Tyr. diss. 16, I
287 R.: Πυϑαγόρας πρῶτος ἐν τοῖς Ἕλλησιν ἐτόλμησεν εἰπεῖν, ὅτι αὐτῷ τὸ
μὲν σῶμα τεϑνήξεται, ἡ δὲ ψυχὴ ἀναπτᾶσα οἰχήσεται, ἀϑανὴς καὶ ἀγήρως·
καὶ γὰρ εἶναι αὐτὴν πρὶν ἥκειν δεῦρο. d. h. das Leben der Seele ist
nicht nur endlos sondern auch anfangslos, die Seele ist unsterblich, weil
sie ewig ist.
3).
Das Ausscheiden der Seele aus dem κύκλος ἀνάγκης͵ ihre Rück-
4).
Pythagoreer, den alten Pythagoreern alle solche superstitiöse Vorstel-
lungen und Vorschriften abspricht, so gilt doch sein Zeugniss in Wahr-
heit nur für jene pythagoreischen Gelehrten, mit denen er verkehrte und
die ihm, anders als die (allerdings entarteten) asketischen Pythagoristen
der gleichen Zeit, den wahren Geist des alten Pythagoreerthums bewahrt
zu haben schienen. Alles weist aber darauf hin, dass das Wirksame in
dem noch lebendigen Sectenwesen, wie es Pythagoras begründet hatte, in
dem religiösen und mystisch-doctrinären Elemente wurzelte, dass eben das
im Pythagoreismus das älteste war, was er mit dem Glauben und der
religiösen Zucht der Orphiker gemein hat. Und hiezu gehört namentlich
das, was uns als altpythagoreische Askese geschildert wird. Altpytha-
goreisches Gut, freilich mit vielerlei fremden und jungen Bestandtheilen
vermischt, liegt denn auch in manchen der ἀκούσματα oder σύμβολα der
Pythagoreer vor, vornehmlich in denjenigen von ihnen (und sie sind zahl-
reich) die eine Vorschrift ritualer oder einfach superstitiöser Art geben.
Eine erneute Sammlung, Ordnung und Erläuterung dieser merkwürdigen
Bruchstücke könnte recht nützlich sein; Goettlings durchweg rationalisirende
Behandlung ist ihnen nicht gerecht geworden.
3).
kehr zu körperfreiem Geistesleben wird so deutlich wie bei den Orphi-
kern (und Empedokles) in älterer pythagoreischer Ueberlieferung den
„Reinen“ nirgends in Aussicht gestellt. Es ist aber kaum denkbar, dass
eine Lehre, die jede Einkörperung der Seele als eine Strafe, ihren Leib
als ihren Kerker, ihr Grabmal betrachtete, den wahren βάκχοι ihrer My-
sterien nicht am letzten Ende eine völlige und dauernde Befreiung von
aller Körperlichkeit und allem irdischen Leben in Aussicht gestellt haben
sollte. So erst konnte die lange Kette von Sterben und Wiedergeboren-
werden ihr Ende in einem wahren Erlösungsvorgang finden. Ewig fest-
gehalten in dem Kreise der Geburten, würde die Seele ewig gestraft wer-
den (dies ist z. B. die Vorstellung des Empedokles, v. 455 f.): das kann
aber nicht das letzte Ziel der Pythagoreischen Heilslehre gewesen sein.
Dass die (reine) Seele nach der Trennung vom Leibe im „Weltall“ (dem
κόσμος, oberhalb des οὐρανός) ein „körperfreies“ Leben führe, berichtet
als Lehre des Philolaos Claud. Mamertus de statu an. 2, 7 (Böckh.
Philol. 177). Sonst reden nur spätere Zeugen von dem Ausscheiden der
Seele: das Carmen aur. v. 70 f. (mit Benutzung des empedokleischen
Verses, 400 Mull.); Alex. Polyh. bei Laert. D. 8. 31 (ἄγεσϑαι τἀς καϑαρὰς
[ψυχὰς] ἐπὶ τὸν ὕψιστον „in altissimum locum“ Cobet. Aber eine Ellipse
von τόπος ist schwerlich zulässig. ὁ ὕψιστος = der höchste Gott wäre
hebraïsirender Ausdruck, wie man ihn doch auch dem Al. nicht zutrauen
kann [auch würde man, bei dieser Bedeutung von ὕ., erwarten: πρὸς τ. ὕ.].
ad superiores circulos kommen bene viventium animae, secundum philoso-
phorum altam scientiam
: Serv. Aen. 6, 127. Ob also: ὕψιστον \<κύκλον\>?
oder: ἐπὶ τὸ ὕψιστον). Von einem Ausscheiden der Seele nach dem Ab-
lauf ihrer περίοδοι muss, als pythagoreischem Glauben, auch Lucian Ver.
Hist.
2, 21 gewusst haben (pythagorisirend auch Virgil, Aen. 6, 744:
pauci laeta arva [Elysii] tenemus [für immer, ohne neue ἐνσωμάτωσις.
S. Serv. zu Aen. 6, 404. 426. 713]. Der Vers steht freilich nicht an
seiner Stelle, giebt aber ohne Zweifel Virgils Worte und, in diesem Ab-
schnitt pythagorisirende, Meinung wieder). Die Vorstellung, dass der
Kreis der Geburten nirgends zu durchbrechen sei, kann nicht als pytha-
goreisch, auch nicht als neupythagoreisch gelten (wenn einzelne spätere
Berichte, z. B. bei Laert. D. 8, 14 [aus Favorinus], Porphyr. V. Pyth. 19,
auch in der flüchtigen, mit fremdartigen Bestandtheilen überall durch-
setzten Darstellung pythagoreischer Lehre bei Ovid. Met. XV., von pytha-
goreischer Seelenwanderungslehre sprechen, ohne zugleich auf die Mög-
lichkeit des κύκλου λῆξαι hinzuweisen, so wird doch diese damit noch
nicht geleugnet, sondern nur, als für den Zusammenhang unerheblich, nicht
erwähnt). Griechische Seelenwanderungslehre ohne die Verheissung an
die ὅσιοι oder die φιλόσοφοι, dass sie aus dem Kreise der Geburten aus-
scheiden können (mindestens für eine Weltperiode: wie Syrian, schwer-
3).
lich auch Porphyrius, annahm) scheint es nie gegeben zu haben. Eine
solche Verheissung, als Krönung der Heilsverheissungen, auf die eine
Seelenwanderungslehre überall hinausgeht, konnte nur entbehrt werden,
wo das Wiedergeborenwerden selbst schon als eine Belohnung der
Frommen erschien (wie in der Lehre, die Josephus, bell. Jud. 2, 8, 14;
antiq. 18, 1, 3 den Pharisäern zuschreibt). Griechischen Anhängern der
Metempsychosenlehre galt irdische Wiedergeburt durchaus als eine Strafe,
eine Last, mindestens nicht als das wünschenswerthe Ziel des Seelen-
lebens. Wir müssen auch für den alten Pythagoreismus die Verheissung
des Ausscheidens aus dem Kreise der Wiedergeburten als Krone seiner
Heilsverkündigungen voraussetzen. Ohne diese letzte Spitze wäre der
Pythagoreismus wie ein Buddhismus ohne Verheissung der Erlangung des
Nirwana.
1).
Schüler des Pherekydes ist Pythagoras schon dem Andron von
Ephesos (vor Theopomp): Laert. D. 1, 119. Pherekydes gilt als „der
erste“, der die Unsterblichkeit der Seele (Cic. Tusc. 1 § 38), genauer die
Metempsychose (Suid. v. Φερεκ.) gelehrt habe (vgl. Preller, Rhein. Mus.
N. F. 4, 388 f.). In seiner mystischen Schrift muss man solche Lehren
angedeutet gefunden haben (vgl. Porphyr. antr. nymph. 31). Diese Lehre
scheint der Hauptgrund gewesen zu sein, der Spätere bewog, den alten
Theologen zum Lehrer des Pythagoras, als des wirksamsten Vertreters
der Seelenwanderungstheorie, zu machen. — Dass aber Pherekydes von
Syros den Glauben an die Seelenwanderung bereits durch das Beispiel
des Aethalides erläutert habe, ist eine unhaltbare Meinung. Was
Schol. Apoll. Rhod. 1, 645 aus „Pherekydes“ über den wechselnden Auf-
enthalt der ψυχή des Aethalides im Hades und auf der Erde berichtet,
gehört nicht (wie Goettling Opusc. 210 und Kern, de Orph. Epim. Pherec.
theog.
p. 89. 106 meinen) dem Theologen Pherekydes, sondern ohne allen
Zweifel dem Genealogen und Historiker: einzig diesen Ph. findet man,
und ihn sehr häufig, in den Schol. Apoll. benutzt. Uebrigens erkennt
man, aus der Art, wie die Aussagen der verschiedenen Zeugen in jenem
Scholion abgegrenzt sind, sehr deutlich, dass Pherekydes nur von dem
Wechsel des Aethalides im Aufenthalt unter und über der Erde geredet
hatte, aber als Aethalides, nicht indem er, im Wechsel der Geburten,
sich in andere auf Erden lebende Personen metamorphosirt. Pherekydes
gab offenbar eine phthiotische Localsage wieder, nach welcher Aethalides,
der Sohn des (chthonischen?) Hermes, wechselnd oben und unten lebt,
als ein ἑτερήμερος, wie nach lakedämonischer Sage die Dioskuren (Od. λ
301 ff. Dort, und nach älterer Auffassung [bei Alkman, Pindar u. s. w.]
durchaus, wechseln beide Dioskuren gleichzeitig mit dem Aufenhalt, erst
späte, umdeutende Dichtung [s. Hemsterhus. Lucian. Bipont. II p. 344]
lässt sie unter einander wechseln und einander ablösen). Erst Heraklides
Ponticus, der die Gestalt des Aethalides in die Reihe der Vorgeburten
des Pythagoras stellte (s. oben p. 454, 2) machte aus dem wechselnden Auf-
enthalt des Aethalides ein Sterben und Wiederaufleben — aber in an-
drer
Gestalt, also ein Beispiel der Metempsychose. Man sieht sehr
deutlich, warum gerade Aethalides ihm als Glied dieser Reihe geschickt
erschien, aber auch wie er die alte Wundersage, die Pherekydes littera-
risch festgehalten hatte, zu seinem besonderen Zweck willkürlich umbog.
Dass Hermes dem Aeth. auch Erinnerungskraft nach dem Tode verliehen
habe, sagte offenbar Pherekydes nicht (sonst würde diesem in dem
1).
Macrob. Somn. Scip. 1, 14, 19 giebt diese Ansicht dem Pythagoras
und Philolaos, letzterem wohl mit Recht, da diese Meinung, dass die
Seele κρᾶσις καὶ ἁρμονία sei des Warmen und Kalten, Trocknen und Feuch-
ten, woraus der Körper bestehe, Simmias bei Plato Phaed. cap. 36
nicht als selbsterrungene, sondern als ihm überlieferte Meinung vorbringt,
und von wem anders als seinem Lehrer Philolaos (Phaed. 61 D) in The-
ben überliefert? (Darum Ἁρμονίας τῆς Θηβαϊκῆς, 95 A). Claud. Mamert.
1).
Schol. Apoll. der Bericht hierüber zuertheilt sein), rechten Sinn hatte
dieses Privilegium auch erst in der Erzählung des Heraklides. Vermuth-
lich hat erst Her. diesen Zug der Sage angedichtet. Apollonius (1, 643 ff.)
folgt ihm darin, nicht aber, wenigstens nicht ganz deutlich (s. V. 646 ff.)
in dem was Her. von den Metempsychosen des Aeth. gefabelt hatte.
1).
S. Plat. Phaed. 86 C. D. Praeexistenz der Seele unmöglich, wenn
sie nur ἁρμονία des Leibes ist: ebendas. 92 A. B.
2).
Es war an und für sich fast unvermeidlich, dass eine, auf mysti-
schen Grundlehren errichtete, zugleich aber wissenschaftlichen Bestre-
bungen nicht fremde Gemeinde, wenn sie, wie die Pythagoreische, sich
weit und weiter ausdehnte (und praktische Zwecke verfolgte) sich in einen
engeren Kern der Wissenden und Befähigten, und einen oder mehrere
darum gelagerte Kreise von Laiengenossen, denen eine eigene, allgemei-
nerem Verständniss zugängliche Lehre zukam, zerlegte. So umgab im
Buddhismus den engen Kreis der Bikschu die Menge der „Verehrer“,
und ähnlich in christlichen Mönchsgenossenschaften. Eine Scheidung der
Anhänger des Pythagoras in Akusmatiker und Mathematiker (Pythago-
1).
de statu animae, 2. 7 giebt freilich dem Philolaos nur die Lehre, dass die
Seele mit dem Körper nach „ewiger und unkörperlicher Harmonie“
(convenientiam) verbunden sei; wobei eine selbständige Substanz der
Seele neben der des Körpers vorausgesetzt wäre. Das wird aber Miss-
verständniss der wahren Meinung des Phil. sein. Nur von seinen pytha-
goreischen Freunden mag doch auch Aristoxenos seine Lehre von der
Seele als Harmonie übernommen haben, vielleicht ist durch solche auch
Dikäarch angeregt, wenn er die „Seele“ eine ἁρμονία τῶν τεσσάρων στοι-
χείων nennt (Doxogr. p. 387), und zwar τῶν ἐν τῷ σώματι ϑερμῶν καὶ
ψυχρῶν καὶ ὑγρῶν καὶ ξηρῶν, nach Nemes. nat. hom. p. 69 Math., ganz
wie Simmias bei Plato (wenn nicht etwa dem Nem. hier eine Reminis-
cenz aus Plato irrig untergelaufen ist). — Vgl. auch oben p. 448f. Anm.
1).
Die Theilung der Seele oder der δυνάμεις der Seele in das λογι-
κόν und das ἄλογον habe vor Plato Pythagoras gelehrt, wie man, αὐτοῦ
τοῦ Πυϑαγόρου συγγράμματος οὐδενὸς εἰς ἡμᾶς σῳζομένου — aus den Schrif-
ten einiger seiner Anhänger entnehmen könne: Posidonius b. Galen de
Hipp. et Plat. dogm.
V (5, 478 vgl. 425 K.). Aus Posidonius offenbar
schöpft die gleiche Mittheilung Cicero Tusc. 4, 10. In der That zeigt das
Bruchstück aus Philolaos περὶ φύσεως in Theol. Arithm p. 20. 21 eine
Eintheilung der ἀρχαὶ τοῦ ζῷου τοῦ λογικοῦ (νοῦς im Kopfe, ἀνϑρώπου
ἀρχά — ψυχἀ καὶ αἴσϑησις im Herzen, ζῴου ἀρχά — ῥίζωσις καὶ ἀνάφυσις
im Nabel, φυτοῦ ἀρχά — σπέρματος καταβολά und γέννησις im αἰδοῖον,
ξυναπάντων ἀρχά), die auf den Gedanken, dass im höchsten Lebensorganis-
mus, auch alle andern niederen Organismen enthalten und verwendet
seien, hinausläuft, und im Gebiet des Seelischen eine Unterscheidung des
λογικόν (nach Denkkraft, νοῦς, als specifisch menschlichem, und Sinnes-
wahrnehmung αἴσϑησις, als auch den andern ζῶα eigen, gegliedert) von
dem ἄλογον (ῥίζωσις καὶ ἀνάφυσις, gleich dem αἴτιον τοῦ τρέφεσϑαι καὶ
αὔξεσϑαι, dem φυτικόν, einem Theil des ἄλογον τῆς ψυχῆς: Aristot.
Eth. Nicom. 1102 a, 32 ff.) nach Wesen und „Sitz“ im Menschen zeigt,
die wirklich einen Ansatz zu einer Theilung der Seele in λογικόν
und ἄλογον darbietet, wie sie Posidonius noch bei anderen Pythagoreern
ausgeführt gefunden haben muss. Einen deutlichen Unterschied zwi-
schen φρονεῖν (ξυνιέναι) und αἰσϑάνεσϑαι machte der pythagorisirende
Arzt Alkmaeon und zwar jedenfalls in einem anderen und tiefer schei-
denden Sinne. als Empedokles (den ihm Theophrast de sens. 25 ent-
gegensetzt), bei dem ja auch Denken und Wahrnehmung ausdrücklich ge-
schieden werden, das Denken (νοεῖν) aber auch nur ein σωματικόν τι
ὥσπερ τὸ αἰσϑάνεσϑαι und insofern ταὐτόν mit diesem ist (Aristot. de an.
3, 3). Bei Alkmaeon muss also das ξυνιέναι nicht σωματικόν gewesen sein.
Diese Pythagoreer waren auf dem Wege, von der Seele im Ganzen eine
ohne Vermittlung sinnlicher Wahrnehmung denkende Seele, den νοῦς,
abzusondern, und allein dieser, wie spätere Philosophie that, Göttlichkeit
2).
reer und Pythagoristen) u. s. w., wie sie alte Zeugen uns bezeichnen, hat
von vornherein nichts Unglaubliches.
1).
und Unvergänglichkeit beizulegen (τὸ λογικὸν [τῆς ψυχῆς] ἄφϑαρτον giebt
daher, ungeschichtlich voraneilend, der Doxograph 393 a, 10 als Lehre des
„Pythagoras“ an). — Wie sich freilich die Unterscheidung der ἀνϑρώπου
ἀρχά, eines allein dem Menschen zukommenden Seelenelementes, des
νοῦς, von der ζῴου ἀρχά (die auf αἴσϑησις und ψυχά, Lebenskraft, be-
schränkt ist) bei Philolaos vertragen konnte mit dem altpythagoreischen
Seelenwanderungsglauben, das ist nicht abzusehn. Die Seele
wandert nach jenem Glauben vom Menschen auch zum Thiere, und es
ist dabei Grundvoraussetzung, dass im Thiere dieselbe Seele wohnen
könne, wie im Menschen, dass πάντα τὰ γενόμενα ἔμψυχα ὁμογενῆ seien
(Porph. V. Pyth. 19. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 9, 127). Nach Philo-
laos ist ja aber die Seele des Thieres anders beschaffen, als die des
Menschen, ihr fehlt der νοῦς (nicht nur seine Wirksamkeit wird im Thiere
durch die δυσκρασία τοῦ σώματος verhindert, wie als Meinung des Pytha-
goras angegeben wird Doxogr. 432 a, 15 ff.) Dasselbe Bedenken kehrt
freilich bei Platos Seelenwanderungslehre wieder. — Alkmaeon, der das
ξυνιέναι allein dem Menschen zuschreibt, scheint die Seelenwanderungs-
lehre gar nicht gehabt zu haben.
1).
V. 401 ff. (Mull.).
2).
V. 462 ff.
3).
Satyrus bei Laert. D. 8, 59. — Berühmt blieb namentlich seine
zauberhafte Abwendung schlimmer Winde (vgl. V. 464) von Akragas
(s. Welcker, Kl. Schr. 3, 60. 61. — Die Eselshäute mit denen E. die Nord-
winde von Akragas fern hält, dienen jedenfalls als apotropäisch wirken-
des, Geister verscheuchendes Zaubermittel. So schützt man sich durch
Aufhängen des Fells einer Hyäne, eines Seehundes u. s. w. gegen Hagel
und Blitz [s. Geopon. I 14, 3. 5; I 16; und dazu Niclas’ Noten]. Diese
Felle ἔχουσι δύναμιν ἀντιπαϑῆ: Plut. Symp. 4, 2, 1).
4).
— ἐγὼ δ̕ὑμῖν ϑεὸς ἄμβροτος, οὐκέτι ϑνητός, πωλεῦμαι μετὰ πᾶσι
τετιμένος κτλ. 400 f.
1).
Ein später Nachklang in den begeisterten Versen des Lucrez zum
Preise des Empedokles 1, 717 ff.
2).
Die verbreitete Geschichte von dem Sprung des E. in den Krater
des Aetna (um durch völliges Verschwinden den Glauben, dass er nicht
gestorben [Lucian dial. mort. 20, 4] sondern lebendig „entrückt“ und
also Gott oder Heros geworden sei, hervorzurufen) setzt, als Parodie einer
ernstlich gemeinten Entrückungssage, bereits das Vorhandensein einer
solchen Sage voraus. Und der parodischen Erzählung widersprach schon
Pausanias, der Arzt, der Anhänger des Empedokles: Laert. D. 8, 69
(dies nicht aus der märchenhaften Erzählung des Heraklides Pont. Dass
P. vor Emp. gestorben sei, folgt noch nicht aus dem Epigramm bei
Laert. 8, 61, dessen Urheber ungewiss und jedenfalls wenig glaubwürdig ist).
Die ernst gemeinte Sage wird also gleich nach dem Abscheiden des E.
entstanden sein; sie nährte sich daran, dass man in der That nicht
wusste, wo E. gestorben sei (ϑάνατος ἄδηλος Timaeus bei Laert. 8, 71)
und kein Grabmal das seine Leiche barg zeigen konnte. (Dies bezeugt
ausdrücklich Timaeus, der im übrigen die Entrückungsfabel so gut wie
die Geschichte vom Sprung in den Aetna leugnete: Laert. 8, 72 p. 221,
19 f. Dem gegenüber hat es nichts zu bedeuten, dass irgend Jemand
[wie es scheint, Neanthes] bei Laert. 8, 73 behauptet, es gebe ein Grab
des E. in Megara). Freie Ausschmückung der Entrückungssage durch
Heraklides Ponticus περὶ νόσων: Laert. D. 8, 67. 68. (zur Vergeltung hing
der Hohn philosophischer Concurrenten dem Heraklides selbst eine bos-
haft gewendete Geschichte von künstlicher Entrückung an, durch die
auch er sich als Gott oder Heros legitimiren wollte: Laert. 5, 89 ff. Aus
andrer Quelle Suidas s. Ἡρακλ. Εὐϑύφρονος. Vgl. A. Marx, Griech.
Märchen von dankb. Thieren
p. 97 ff.). Allerlei flaue Varianten der Ge-
schichte vom Ende des E. bei Laert. 8, 74.
3).
S. oben p. 63 ff., 167 ff.
1).
Vgl. V. 113 ff.
2).
σαρκῶν χιτών: 414.
3).
Seine Behandlung der Scheintodten (ἄπνους) hat ganz das An-
sehen eines psychophysischen Experiments, das ihm freilich die
Richtigkeit gerade des irrationalen Theils seiner Seelenlehre bestätigen
sollte.
1).
γυίων πίστις unterschieden von dem νοεῖν V. 57; νόῳ δέρκεσϑαι
von dem δέρκεσϑαι ὄμμασιν 82. οὔτ̕ ἐπίδερκτα τάδ̕ ἄνδρασιν οὔτ̕ ἐπακουστά,
οὔτε νόῳ περίληπτα 42 f. — Anderswo freilich setzt E. (der durchweg pro-
saischer Genauigkeit in Anwendung technischer Bezeichnungen ausweicht)
νοῆσαι einfach = sinnlich wahrnehmen, nach epischer Sprechweise: z. B.
gleich V. 56 (doch ist es nicht ganz richtig, dass E. τὸ φρονεῖν καὶ τὸ
αἰσϑάνεσϑαι ταὐτό φησι, wie Aristoteles, de an. 427 a, 22 behauptet).
2).
378 ff: γαίῃ μὲν γὰρ γαῖαν ὀπώπαμεν u. s. w. (δρᾶν hier im weitesten
Sinne, εἶδος ἀντὶ γένους = αἰσϑάνεσϑαι. So wie νόῳ δέρκεσϑαι 82 steht =
αἰσϑάνεσϑαι, und wie sehr häufig Bezeichnungen einer einzelnen Wahr-
nehmungsart angewendet werden statt der eines andern εἶδος oder auch des
ganzen γένος der αἴσϑησις. Lobeck Rhemat. 334 ff.).
1).
372 ff.: αἵματος ἐν πελάγεσσι — τῇ τε νόημα μάλιστα κυκλίσκεται
ἀνϑρώποισιν· αἷμα γὰρ ἀνϑρώποις περικάρδιόν ἐστι νόημα. — Das Blut ist
der Sitz des φρονεῖν· ἐν τούτῳ γὰρ μάλιστα κεκρᾶσϑαι τὰ στοιχεῖα. Theophr.
de sens. 10. 23 f.
2).
eine Art συγγυμνασία τῶν αἰσϑήσεων, wie Asklepiades der Arzt
den Begriff der ψυχή bestimmte (Doxogr. 387 a, 7). Aehnlich dem, was
Aristoteles das πρῶτον αἰσϑητήριον nennt. — Dies, was E. das φρονεῖν
nennt, wäre doch wohl das ἑνοποιοῦν der Wahrnehmungen, das Aristoteles
bei E. vermisst (de an. 409 b, 30 ff., 410 a, 1—10; b, 10).
3).
τὸ νοεῖν ist σωματικὸν ὥσπερ τὸ αἰσϑάνεσϑαι. Aristot. de an.
427 a, 26.
4).
Aristot. metaph. 1009 b, 17 ff.
5).
298: πάντα γὰρ ἴσϑι φρόνησιν ἔχειν καὶ νώματος αἶσαν. Das πάντα
muss ganz wörtlich verstanden werden; denn da die Elemente es sind,
denen die Wahrnehmungskräfte inhaeriren (ἕκαστον τῶν στοιχείων ψυχὴν
εἶναι λέγει schreibt dem E. als seine Meinung zu Aristot. de an. 404 b,
12), Elemente aber in allen Dingen gemischt vorhanden sind, so haben
auch Steine u. s. w. φρόνησις und „einen Theil von Vernunft“ in sich
(wozu freilich nicht ganz stimmen will, dass erst das αἷμα φρόνησιν be-
wirkt: Theophr. de sens. 23). Den Pflanzen schrieb er volle Empfindung
und Wahrnehmung, selbst νοῦς und γνῶσις (ohne Blut?) zu: [Aristot.] de
plant.
815 a, 16 ff.; b, 16 f. Darum sind auch sie zur Herberge eines gefallenen
Dämons geeignet.
6).
Empedokles selbst braucht, in den uns erhaltenen Versen, das
1).
V. 113—119 lehren nicht (wie Plutarch adv. Colot. 12 verstand)
Praeexistenz und Fortdauer der Seelenkräfte innerhalb der Elementarwelt
nach dem Tode, sondern sprechen von der Unvergänglichkeit der Ele-
mentarbestandtheile des Menschenleibes auch nach dessen Auflösung.
2).
ἄτης λειμών heisst (V. 21; vgl. 16.) dem E. die Erde, nicht (wie an-
genommen worden ist) der Hades, von dem (als läuternder Zwischenstation
zwischen zwei Geburten) in seinen Versen nirgends die Rede ist. —
Dieser irdische Aufenthalt ist dem herabstürzenden Dämon durchaus ein
trauriger und elender: ἀσυνήϑης, ἀτερπὴς χῶρος (17. 18); ἄντρον ὑπόστεγον
6).
Wort ψυχή überhaupt nirgends. Er würde es aber auch schwerlich als
Bezeichnung der seelischen Kräfte des Leibes, selbst wenn er diese zu
einer substantiellen Einheit zusammengefasst dächte, haben gelten lassen.
Spätere Berichterstatter dagegen nennen in Darstellung der Lehren des
Empedokles eben diese so zu sagen somatischen Geisteskräfte ψυχή: so
Aristot. de an. 404 b, 9 ff.; 409 b, 23 ff. αἷμά φησιν εἶναι τὴν ψυχήν:
Galen. dogm. Hipp. et. Plat. II; 5, 283 K.; vgl. Cic. Tusc. 1 § 19; Ter-
tullian de an. 5.
1).
V. 3: εἶτέ τις (τῶν δαιμόνων) ἀμπλακίῃσι φόνῳ φίλα γυῖα μιήνῃ.
Gemeint ist βρῶσις σαρκῶν καὶ ἀλληλοφαγία (der ja nach Empedokles ein
„Mord“ eines Geistes aus gleichem Geschlecht vorausgehn muss: 440 ff.),
wie Plutarch umschreibt, de esu carn. I p. 996 B. Auch für den Gott ist
es ein Frevel, von blutigem Opfer zu geniessen, wie denn einst in der
goldenen Zeit (die E. jedenfalls nicht in den Φυσικά, nach deren Voraus-
setzungen eine solche Zeit überhaupt nie gewesen sein konnte, sondern
in einem andern Gedichte, in dem er von seinen philosophischen Lehren
absah, vermuthlich den καϑαρμοί, schilderte) nur unblutige Opfer dar-
gebracht wurden: v. 420 ff.
2).
V. 4. Für meineidige Götter ist dann die Erde der Ort der
Strafe und Verbannung. Eine Umbiegung der eindrucksvollen Darstellung
des Hesiod, Th. 793 ff. Im Tartarus werden neun Jahre lang (s. Hes.
Th. 801) dei pejerantes bestraft: Orpheus (nicht: Lucan in seinem „Or-
pheus“) bei Serv. Aen. 6, 585 (anspielend auch der Dichter, aus dessen
elegischen Versen das Bruchstück bei Serv. Aen. 6, 324 genommen ist:
τοῦ [scil. Στυγὸς ὕδατος] στυγνὸν πῶμα καὶ ἀϑανάτῳ: so wird wohl zu
schreiben sein). Statt der „Unterwelt“, des Tartarus, steht dann bei Em-
pedokles die Erde, als der schlimmste Ort des Jammers. Von ihm geht
die später oft (bei stoischen und anderen Halbphilosophen, besonders klar
bei Servius Aen. 6, 127; oft nur allegorisch, wie bei Lucret. 3, 978 ff.) an-
gedeutete und ausgeschmückte Vorstellung aus, dass das Reich der inferi
eben unsre, von Menschen bewohnte Erde, ein andrer ᾅδης gar nicht
vorhanden noch vonnöthen sei.
3).
30000 ὧραι, d. h. doch wohl: Jahre. 30000 bedeutet nichts be-
sonderes (z. B. nicht 300 Lebensläufe), es ist nur ein concreter Ausdruck
für: unzählbar viele (wie ja oft: s. Hirzel, Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss.
1885 p. 64 ff.). Diese ungeheure Zeitdauer entspricht, nach göttlichen
Verhältnissen und nach göttlichem Maass, dem μέγας ἐνιαυτός, der Ennaë-
teris, während welcher der irdische Mörder das Land seiner Blutthat zu
meiden hat. Denn die Nachbildung dieser Mordsühne durch ἀπενιαυτισ-
μός liegt ja in der Fiction des Emp. deutlich vor.
4).
v. 22 ff.
5).
ἀργαλέας βιότοιο κελεύϑους 8.
2).
29; das Leben hier unten, eine ζωὴ ἄβιος (38). Die in den Leib einge-
schlossenen δαίμονες sind wie todt: 416 (202?).
1).
Auch auf diese in die Leiblichkeit eingeschlossenen δαίμονες
wendet Empedokles nirgends die Bezeichnung ψυχαί an. Aber überall
werden sie ohne Umstände so genannt von den späteren Autoren, welche
Verse des Prooemiums der Φυσικά anführen, Plutarch, Plotinus, Hippo-
lytus u. A.
2).
Eigenthümlich ist dem E. der Versuch, die Art der „Verschul-
dung“ der Geister, um derentwillen sie zur ἐνσωμάτωσις verdammt sind,
genauer anzugeben, und die Ausdehnung der Metempsychose auch auf
Pflanzen (die nur aus Unkunde bisweilen von späten Berichterstattern
auch den Pythagoreern zugeschrieben wird).
3).
Völlig Unreine scheint E. nicht (wie Pythagoreer bisweilen) zu
ewigen Strafen im Hades (von dem und von denen er überhaupt nichts
weiss) verdammt zu haben, sondern ihnen immer neue Wiedergeburten
auf Erden, die Unmöglichkeit des κύκλου λῆξαι (vor der vollen Herrschaft
der φιλία), angedroht zu haben. Dies scheint, nach der Art, wie die
Worte bei Clemens Al. protr. 17 A citirt werden, der Sinn der v. 455 f.
zu sein.
1).
Wie man, freilich auch hier nur mit Vorbehalt, das κακότης,
κακότητες bei E. 454, 455 umschreiben könnte.
2).
440 f., 442 ff., 424 ff. Sehr merkwürdig bei einem Denker so alter
Zeit das über das πάντων νόμιμον, welches verbiete κτείνειν τὸ ἔμψυχον,
gesagte: v. 437 ff. — Sonstige Reste speciell kathartischer Vorschriften:
Reinigung mit Wasser aus fünf Quellen 452 f. (s. oben p. 362, 1); Enthal-
tung von Bohnen: 451; von Lorbeerblättern: 450. Lorbeer ist heilig als
eine der Zauberpflanzen, neben σκίλλα (s. oben p. 363, 1) und ῥάμνος (s.
p. 217, 3). Vgl. Geopon. 11, 2 u. s. w. Eine besondere Heiligkeit giebt dem
Lorbeer seine Bedeutung im apollinischen Cult. Empedokles scheint (wie
Pythagoras) dem Apollo vorzügliche Verehrung gewidmet zu haben: von
einem προοίμιον εἰς Ἀπόλλωνα, das er gedichtet habe, verlautet etwas bei
Laert. D. 8, 57; die hochgesteigerten Vorstellungen von einer Gottheit,
die, sinnlicher Wahrnehmung entzogen, nur φρὴν ἱερή sei, die E. in
v. 389—396 ausführt, galten ihm zunächst περὶ Ἀπόλλωνος (Ammon. in
Schol. Aristot. ed. Brand. 135 a, 23).
3).
Phantastisch v. 448 f. (Löwe, Lorbeer).
4).
457 ff. πρόμοι wohl absichtlich unbestimmt im Ausdruck: Königs-
würde war dem demokratisch gesinnten Empedokles schwerlich etwas be-
sonders Erhabenes. Er kannte sie kaum anders als in der Gestalt der
Tyrannis, und dieser ist er (wenn man auch die grell ausgeschmückten
Berichte des Timaeus, des Tyrannenfeindes, nicht wörtlich wird nehmen
wollen) thatkräftig entgegengetreten. Ihm selbst wurde die Königswürde
angetragen, er verschmähte sie aber als πάσης ἀρχῆς ἀλλότριος (Xanthos
und Aristoteles bei Laert. D. 8, 63). Er mochte sich gleichwohl, und mit
Recht, auch im Staatswesen, für einen der πρόμοι halten: denn es ist ja
offenbar, dass zu denen die εἰς τέλος geboren werden als μάντεις τε καὶ
ὑμνοπόλοι καὶ ἰητροί, καὶ πρόμοι ἀνϑρώποισιν ἐπιχϑονίοισι πέλονται um dann
nicht wiedergeboren zu werden, er vor Allen sich selbst zählt, ja sich
selbst zum Modell dieses höchsten und letzten Zustandes auf Erden nimmt.
Er war alles dieses gleichzeitig.
1).
459 ff. ἔνϑεν ἀναβλαστοῦσι ϑεοὶ τιμῇσι φέριστοι, ἀϑανάτοις ἄλλοισιν
ὁμέστιοι, ἔν τε τραπέζαις (schr. ἔν τε τράπεζοι. Tmesis; = ἐντράπεζοί τε) ·
εὔνιες ἀνδρείων ἀχέων, ἀπόκηροι, ἀτειρεῖς.
2).
Wie Plutarch de exil. 17 p 607 D zu thun geneigt ist.
3).
Wie Neuere mehrfach zu thun versucht haben.
1).
v. 92.
2).
S. oben p. 4 ff.
1).
Spät noch Plotin: διττὸν τὸ ἡμεῖς: das σῶμα, welches ist ein ϑηρίον
ζωωϑέν, und der davon verschiedene ἀληϑὴς ἄνϑρωπος u. s. w. (47, 10;
35, 5 Kh).
1).
Wenigstens sprach E. von der Ekstasis, demfuror der animi
purgamento
geschehe, und wohl zu unterscheiden sei von dem durch
alienatio mentis (φρονεῖν ἀλλοῖα V. 377) bewirkten. Coel. Aurel. tard. pass.
1, 144. 145. — Ein eigenes ἐνϑουσιαστικόν in der Seele als deren ϑειότατον:
Stoiker (und Plato) nach Doxogr. 639, 25. Ein eigenes, die Vereinigung
mit dem Göttlichen ermöglichendes Seelenorgan, als ἄνϑος τῆς οὐσίας
ἡμῶν, bei Proclus (Zeller, Phil. d. Gr.2 III 2, 738).
2).
τὸ ὅλον, die ganze Wahrheit des Seins und Werdens in der Welt,
kann der Mensch weder in sinnlicher Wahrnehmung noch mit dem νοῦς
erfassen: V. 36—43. Empedokles hat sie nun doch seiner Ueberzeugung
nach erfasst, er sitzt σοφίης ἐπ̕ ἄκροισι (52), αὐτὴν ἐπαγγέλλεται δώσειν τὴν
ἀλήϑειαν (Procl. in Tim. 106 E.). Woher kennt er aber diese Wahrheit,
wenn sie doch weder den Sinnen noch dem νοῦς sich offenbart? Es sind
jedenfalls die, seinen Seelendämon aus dem Götterreich herabgeleitenden
ψυχοπομποὶ δυνάμεις (Porphyr. de antro nymph. 8), die zu diesem sagen
(v. 43 f.): σὺ δ̕οὖν ἐπεὶ ὧδ̕ ἐλιάσϑης (d. h. „da du hierher — auf die
Erde — verschlagen bist“, nicht: da du es so verlangt hast, wie Bergk
opusc. 2, 23 erklärt; wobei ein schiefer Gedanke in verschrobenem Aus-
drucke herauskäme) πεύσεαι οὐ πλέον ἠὲ βροτείη μῆτις ὄπωπεν (so mit
Panzerbieter, für ὄρωρε. ὄπωπε wie V. 378). Demnach muss man wohl
annehmen, dass er seine höhere Weisheit (Einsicht in die μῖξίς τε διάλ-
λαξίς τε μιγέντων der Elemente, aber auch Schicksale und Aufgaben der
Seelendämonen u. s. w.), die auf Erden und im irdischen Leibe nicht zu
gewinnen ist, mitbringt aus seinem göttlichen Vorleben, dass sie also
allein dem, in den Leib versenkten Dämon oder der ψυχή im alten Sinne,
eigen ist, dem Empedokles wohl eine ἀνάμνησις (sicher nur als seltene
Begabung) an die Weisheit seines früheren Lebens zutraut. (Woher sonst
auch seine Kenntniss seiner früheren ἐνσωματώσεις 11. 12?) Er weiss
sogar noch mehr und tieferes als er mittheilen darf: dass er eine letzte,
für Menschenohren nicht taugende Weisheit aus Frömmigkeit zurückhalte,
sagen doch in der That die Verse 45—51 ganz deutlich aus (insoweit
haben ihn die Gewährsmänner [— ἄλλοι δ̕ἦσαν οἱ λέγοντες —] des Sext.
Empir. adv. math. 7, 122 ganz richtig verstanden).
1).
Die φιλία ist ihm (nicht seinen Worten nach, aber nach seinem
Sinn, wie ihn Aristoteles feststellt) αἰτία τῶν ἀγαϑῶν, τὸ δὲ νεῖκος τῶν κακῶν:
Aristot. metaph. 985 a, 4 ff.; 1075 b, 1—7. Daher die ἠπιόφρων Φιλότητος
ἀμεμφέος ἄμβροτος ὁρμή (201) entgegengesetzt wird dem Νεῖκος μαινόμενον
(10) οὐλόμενον (80) λυγρόν (380). Der σφαῖρος, in dem nur φιλία herrscht,
νεῖκος ganz verdrängt ist, heisst μονίῃ περιήγεϊ γαίων 168. 176.
2).
ϑεοὶ δολιχαίωνες 131. 141. Ganz dieselben sind die δαίμονες
οἵτε βίοιο λελόγχασι μακραίωνος 5. Neben diesen, auffallend bestimmt die
Lebensdauer der Götter begrenzenden Ausdrücken muss man Epi-
theta, mit denen Empedokles selbst als in Zukunft ϑεὸς ἄμβροτος, οὐκ
ἔτι ϑνητός (400) bezeichnet wird, nur so verstehn, dass mit ihnen ein
ferneres Sterben in menschlicher Einkörperung geleugnet wird (ebenso,
wenn die aus dem Kreise irdischer Geburten Ausgeschiedenen heissen
ἀπόκηροι, ἀτειρεῖς 461; nur mit herkömmlicher Bezeichnung die Götter
ἀϑάνατοι 460). Dass die δαίμονες dem Emp. schliesslich auch starben
1).
Von einer übersinnlichen Gottheit, die ganz φρὴν ἱερή sei, redet
Emped. 389—396; er nannte sie Apollon, die Schilderung sollte aber
auch περὶ παντὸς τοῦ ϑείου gelten. Diese Schilderung bezieht auf den
σφαῖρος Hippolytus, ref. haeres. p. 248 Mill. Der σφαῖρος, in dem keiner-
lei νεῖκος mehr ist, hiess dem E. ὁ ϑεός, ὁ εὐδαιμονέστατος ϑεός (Aristot.
410 b, 5, 6; 1000 b 3). Ganz nur als φρὴν ἰερή wird er aber den σφαῖρος
gewiss nicht gedacht haben. Es scheint vielmehr, dass im σφαῖρος, in
dem alles beisammen und vereinigt ist, auch die übersinnlich gedachte
Gotteskraft beschlossen ist. In dem Weltzustand der vom νεῖκος gebil-
deten Mannichfaltigkeit scheint von den Elementen und Kräften auch
die Gottheit getrennt gedacht zu sein. Der „wüthende Streit“ (10) dringt
dann aber auch in die Gottheit selbst ein und theilt sie in sich selbst;
so entstehen die Einzeldämonen als eine Selbstentzweiung des Göttlichen,
eine Abtrünnigkeit von dem Einen ϑεῖον; die Einzeldämonen sind φυγάδες
ϑεόϑεν (9). Die Einzeldämonen, in die Welt, seit sie besteht, verstrickt,
zuletzt, rein geworden, aus ihr wieder zu göttlicher Höhe aufgestiegen,
werden, wenn alles Einzelne von der φιλία wieder zusammengeschmolzen
wird, in die Allgottheit wieder zurückgenommen, um mit dieser in den
σφαῖρος einzugehn. — So können vermuthungsweise die Empedokleischen
Phantasien reconstruirt werden. Ganz ausreichende Aussagen bieten seine
Verse nicht für eine sichere Vergegenwärtigung dieses immer wiederholten
Processes. Einige Unklarheit mag diesem Versuch, Physiologie und Theo-
logie zu verschmelzen, von vorneherein angehaftet haben.
2).
giebt Plutarch def. orac. 16 p. 418 E ausdrücklich an. Vergänglichkeit
der Götter (nicht des ϑεῖον an sich) nahmen schon Anaximander und
Anaximenes an. Dem Emp. werden die Einzeldämonen zuletzt in den
Allgott, den σφαῖρος, resorbirt worden sein (wie die Einzelgötter den
Stoikern beim Weltbrand in den allein unvergänglichen Zeus).
1).
Lucret. 3, 370—373.
1).
Ueber Demokrits Seelenlehre steht alles Wesentliche bei Ari-
stoteles, de anima I 2, p. 403 b, 31—404 a, 16; 405 a, 7—13; I 3, p. 406 b,
15—22; de respir. 4, p. 471 b, 30—472 a, 17. — Die Luft ist voll von den
Theilen, die D. νοῦς καὶ ψυχή nennt: de respir. 472 a, 6—8. In der Luft
schwebende Atome sind es, die als „Sonnenstäubchen“ sichtbar werden,
von diesen ein Theil sind die Seelenatome (so muss man de an. 404 a,
3 ff. verstehen. Nur aus Aristoteles schöpft Jamblich. b. Stob. ecl. p. 384,
15 W.). Eine Modification der (von Aristot. ibid. 404 a, 16 ff. erwähnten)
Meinung der Pythagoreer, dass die Sonnenstäubchen „Seelen“ seien
(s. oben p. 453, 5). Die Einathmung der Weltstoffe als Bedingung des Le-
bens des Individuums ist dem Heraklit (s. Sext. Emp. adv. math. 7, 129)
nachgebildet.
1).
Die Seele, nach Demokrit, ἐκβαίνει μὲν τοῦ σώματος, ἐν δὲ τῷ
ἐκβαίνειν διαφορεῖται καὶ διασκεδάννυται. Jamblich. bei Stob. ecl. 384, 16 f. W.
2).
Demokrit φϑαρτὴν (εἶναί φησι τὴν ψυχήν) τῷ σώματι συνδιαφϑειρο-
μένην. Doxogr. 394 a, 8. Da die Zerstreuung der Seelenatome nicht mit
Einem Schlage vollendet sein wird, so mag der Tod bisweilen nur ein
scheinbarer sein, wenn viele, aber noch nicht alle Seelentheile entwichen
sind. Daher auch, bei etwaiger Wiederansammlung neuer Seelenatome,
ἀναβιώσεις Todtgeglaubter vorkommen. Von diesen scheint in der Schrift
περὶ τῶν ἐν Ἅιδου (Laert. D. 9, 46; zu den berühmtesten, wenigstens
populärsten Schriften des D. gerechnet in der Anekdote bei Athen. 4,
168 B; vgl. Pseudohippocr. epist. 10, 3 p. 291 Hch.) die Rede gewesen
zu sein: s. Procl. ad Remp. p. 61. 62 Sch. Aus dieser nur auf die nächste
Zeit nach dem (scheinbaren) Tode bezüglichen Annahme der Erhaltung
eines Lebensrestes (welche noch ziemlich richtig bezeichnet ist bei Plut.
plac. phil. 4, 4, 7, dem D. übrigens vielleicht durch eine ähnliche Beob-
achtung des Parmenides nahegelegt worden war [s. oben p. 448]), wurde
dann die Behauptung gebildet und dem D. zugeschrieben, dass überhaupt
τὰ νεκρὰ τῶν σωμάτων αἰσϑάνεται: so Alex. Aphrodis. in Schol. Aristot.
253 b, 42 Br., Stob. ecl. 477, 18 W. In wirklich „todten“, d. h. von
allen Seelenatomen verlassenen Körpern nahm D. jedenfalls keinerlei
αἴσϑησις an; gegen die, ihm dies zutrauende, Vergröberung seiner Mei-
nung, schon durch Epikur, haben wohl die Democritici, von denen
Cicero, Tusc. 1 § 82 redet, protestiren wollen. — Auf solche Betrach-
tungen rein physischer Art wird sich die Schrift περὶ τῶν ἐν Ἅιδου übri-
gens keineswegs beschränkt haben, sonst hätte Thrasylos (bei Laert. 9, 46)
sie nicht in die Classe der ἠϑικὰ βιβλία des D. stellen können. Was
freilich, von Demokrits Standpunkt aus, über „die Zustände in der Unter-
welt“ sich hätte sagen lassen, ist schwer einzusehn. Schwerlich wird
man auch den D. sich aufgelegt denken dürfen (wie, mit Heyne, Mullach
Dem. fr. p. 117. 118 annimmt), die Fabeleien der Dichter über das
Schattenreich zu widerlegen oder zu parodiren. Man kann nicht wissen,
ob die Schrift wirklich von D. verfasst war; spätere Fälschungen haben ja
den besonnensten der Materialisten mit Vorliebe zum Magus und Tausend-
künstler gemacht. (Noch an Demokrits Beobachtung der Möglichkeit des
ἀναβιοῦν ist, wie z. Th. die Schrift π. τ. ἐν ᾅδου, angelehnt die Anekdote,
die ihn dem Perserkönig die Wiederbelebung seiner verstorbenen Frau
versprechen lässt u. s. w.: eine Variation einer sinnreichen, in Orient
1).
Demokrit, von der unorganischen Natur in seinen Betrachtungen
ausgehend, wird auf die Annahme einer mechanischen Gesetzmässigkeit,
auch in der organischen Natur, geführt. Anaxagoras fasste gleich an-
fangs die organische Natur ins Auge, und deren höchste Entwicklung,
das Menschenthum. Von dorther überträgt sich ihm der Begriff des
Zweckes, des im Bewusstsein erfassten und verfolgten Zweckes, auf die
gesammte Natur, auch die unorganische. Er giebt der überall wirksam
gedachten teleologischen Gesetzmässigkeit einen Träger in einem Nach-
2).
und Occident weit verbreiteten Erzählung. S. meinen Vortrag über
griech. Novellendichtung, Verh. d. Philologenvers. zu Rostock [1875]
p. 68 f.) — Unter den „fragmenta moralia“ des Demokrit, die mit ver-
schwindenden Ausnahmen (z. B. fr. 7; 23; 48; 49 etc.) sämmtlich ge-
fälschte Fabrikarbeiten sehr geringer Art sind, stimmt eines, fr. 119
Mull., wenigstens mit dem überein, was D. von den Höllenstrafen wohl
gemeint haben könnte (gesagt hätte er es nun wohl „mit ein wenig
anderen Worten“; vollends eine so hässliche Wucherung, wie das spät-
griechisch klingende μυϑοπλαστέοντες würde ihm kaum in die Feder ge-
kommen sein). Auch im Gedanken ist nichts Demokritisches geblieben
in einem andren jener falsa, fr. moral. 1: ψυχὴ οἰκητήριον δαίμονος.
1).
Vgl. hiezu und zum Folgenden Heinze, Ber. d. Sächs. Ges. d.
Wiss. 1890 p. 1 ff.
2).
Allweise muss der νοῦς doch sein, wenn er γνώμην περὶ παντὸς
πᾶσαν ἴσχει (fr. 6 Mull.). Er hat geordnet (διεκόσμησε) nicht nur was
war und ist, sondern auch was sein wird: fr. 6. 12.
3).
Aristot. Phys. 256 b, 24 ff.
4).
ὁ γἀρ νοῦς (des Anaxagoras) εἷς: Aristot. metaph. 1069 b, 31. Da-
gegen die χρήματα ἄπειρα πλῆϑος: Anax. fr. 1.
5).
Ἀναξαγόρας φησὶ τὸν νοῦν κοινὸν οὐϑὲν οὐϑενὶ τῶν ἄλλων ἔχειν.
Aristot. de an. 1, 2 p. 405 b, 19 ff.; vgl. III 4 p. 429 b, 23 f.
6).
Anax. fr. 6: τὰ μὲν ἄλλα \<πάντα\> παντὸς μοῖραν μετέχει, νόος δέ
ἐστι ἄπειρον (? bildet nicht den erforderlichen Gegensatz zu dem Vorher-
gehenden. Vielleicht ἁπλόον? Vom νοῦς so Anax. nach Aristot. de an.
405 a, 16; 429 b, 23) καὶ αὐτοκρατὲς καὶ μέμικται οὐδενὶ χρήματι, ἀλλὰ
μοῦνος αὐτὸς ἐφ̕ ἑωυτοῦ ἐστι [ἁπλόον jetzt auch Zeller, Archiv f. G. d.
Philos. 5, 441].
1).
bild dessen, was ihm in Wahrheit allein ein Handeln nach vorbewussten
Zwecken gezeigt hatte, des menschlichen Geistes.
1).
ὅσα ψυχὴν ἔχει, καὶ τὰ μέζω καὶ τἀ ἐλάσσω, πάντων νόος κρατέει.
καὶ τῆς περιχωρήσιος τῆς συμπάσης νόος ἐκράτησε, ὥστε περιχωρῆσαι τὴν
ἀρχήν fr. 6. Das κρατεῖν bei dem Beginn der περιχώρησις soll jedenfalls
nicht durch Vermischung des νοῦς mit den σπέρματα, Eingehen des νοῦς
in diese, geschehen sein: weil der νοῦς ἀπαϑής und ἀμιγής ist, so κρατοίη
ἂν̕ ἀμιγὴς ὤν: Aristot. phys. 256 b, 27; vgl. 429 a, 18 f. Soll nun das
auch von dem νοῦς gelten, wenn er τῶν ψυχὴν ἐχόντων κρατέει? Aber
da ist er ja doch in den ζῷα, als μείζων oder ἐλάττων an sie, scheint es,
vertheilt. — Von selbst erinnert man sich hier der unlöslichen Aporien,
die in der Aristotelischen Lehre vom thätigen νοῦς liegen, der
ebenfalls ἀπαϑής, ἀμιγής, vom Leibe χωριστός, aller Attribute des Indivi-
duellen (das ganz in den niederen Seelenkräften liegt) entkleidet ist, also
wie ein allgemeiner göttlicher Geist erscheint, doch aber ein μόριον τῆς
ψυχῆς sein, ἐν τῇ ψυχῇ anwesend sein soll, im Leibe hausend, ohne doch
irgend etwas mit ihm gemein zu haben, jedenfalls aber als ein Individual-
geist gedacht wird. Bei Anaxagoras würden sich diese Aporien auch
auf die von Aristoteles so genannte ernährende, empfindende, begehrende
und bewegende Seele erstrecken: denn unterschiedslos alle „Theile“ der
Seele fasst er unter dem Begriff des νοῦς zusammen. — Die Schwierigkeit,
die Einheit und innere Continuität des (immateriellen, getheilt nicht vor-
stellbaren) Geistes mit seiner Individuation und Austheilung an die Vielheit
der Seelen zu vereinigen, kehrt in griechischer Philosophie noch oft wieder.
2).
διὰ πάντων ἰόντα: Plat. Cratyl. 413 C.
3).
ἐν παντὶ παντὸς μοῖρα ἔνεστι πλὴν νόου · ἔστι οἷσι δὲ καὶ νόος ἔνι. fr. 5.
4).
νόος δὲ πᾶς ὅμοιός ἐστι καὶ ὁ μέζων καὶ ὁ ἐλάσσων fr. 6.
1).
Aristot. de an. I 2 p. 404 b, 1—7: Anaxagoras nenne als τὸ
αἴτιον τοῦ καλῶς καὶ ὀρϑῶς oft τὸν νοῦν · ἑτέρωϑι δὲ (sage er) τοῦτον
εἶναι τὴν ψυχήν·
ἐν ἅπασι γὰρ ὑπάρχειν αὐτὸν τοῖς ζῴοις, καὶ μεγάλοις
καὶ μικροῖς, καὶ τιμίοις καὶ ἀτιμοτέροις (wobei denn unter dem also allen
ζῷα innewohnenden νοῦς nicht mehr ὁ κατὰ φρόνησιν λεγόμενος νοῦς ver-
standen werden könne). An. hatte sich unbestimmt ausgedrückt: ἧττον
διασαφεῖ περὶ αὐτῶν (das Verhältniss von νοῦς zu ψυχή). Vgl. 405 a 13 f.
Im Sinne des Anax. werden νοῦς καὶ ψυχή einfach gleichgesetzt von Plato,
Cratyl. 400 A.
2).
Laert. Diog. 2, 8: der Mond habe nach Anaxagoras οἰκήσεις
(ὰλλὰ καὶ λόφους καὶ φάραγγας). Von den Menschen und anderen ζῷα
auf dem Monde (denen dann wieder ein anderer Mond scheint) redet
wohl fr. 10. Anaxagoras τὴν σελήνην γῆν (d. h. einen bewohnbaren
Himmelskörper, wie die Erde) φησὶν εἶναι: Plat. Apolog. 26 D. Vgl. Hip-
polyt. ref. haer. p. 14, 91 Mill. — Man erinnert sich der orphisch-pytha-
goreischen Phantasien von dem Leben auf dem Monde (oben p. 423, 3. 4).
3).
An. rechnete die Pflanzen zu den ζῷα und schrieb ihnen Ge-
müthsbewegungen, ἥδεσϑαι καὶ λυπεῖσϑαι zu [Aristot.] de plant. 815 a, 18.
Wie Plato und Demokrit halte An. die Pflanzen für ζῷα ἔγγεια: Plut.
Quaest. nat. 1.
4).
Trotz seines Eingehens in die χρήματα soll jedenfalls der νοῦς
ungemischt und von ihnen unberührt bleiben: αὐτοκράτορα γὰρ αὐτὸν ὄντα
καὶ οὐδενὶ μεμιγμένον πάντα φησὶν αὐτὸν κοσμεῖν τὰ πράγματα διὰ πάντων
ἰόντα. Plat. Cratyl. 413 C. Also gleichzeitig das διὰ πάντων ἰέναι und die
Unvermischtheit, die ja immer wieder eingeschärft wird. So bleibt der
νοῦς auch dann noch ἐφ̕ ἑωυτοῦ (εἰ μὴ γὰρ ἐφ̕ ἑωυτοῦ ἦν, ἄλλῳ τέῳ ἐμέ-
μικτο ἄν· μετεῖχε δὲ ἄν ἁπάντων χρημάτων, εἰ ἐμέμικτό τεῳ · ἐν παντὶ γὰρ
παντὸς μοῖρα ἔνεστι κτλ. So ist vielleicht in fr. 6 zu lesen, mit Herstel-
lung eines geschlossenen Syllogismus. Bei der überlieferten Lesart ist das
Kolon: εἰ ἐμέμικτό τεῳ überflüssig und störend). Er nimmt in sich keine
Theile des andren auf.
1).
Plat. plac. phil. 5, 25, 2, in dem Capitel: ποτέροϋ ἐστὶν ὕπνος καὶ
ϑάνατος, ψυχῆς ἢ σώματος; Anaxagoras lehre: εἶναι δὲ καὶ ψυχῆς ϑάνατον
τὸν διαχωρισμόν. Die Worte können, schon wegen des Themas des ganzen
Capitels, nichts andres bedeuten als: es bestehe aber (wie des Körpers
so) auch der Seele Tod in ihrer Trennung (vom Leibe): τὸν διαχ. ist
Subject, εἶναι τῆς ψ. ϑάνατον Prädicat (nicht umgekehrt, wie Siebeck,
Gesch. d. Psychol. 1, 268 f. zu deuten scheint). Zu der gewaltthätigen Ver-
änderung Wyttenbachs (de immortalitate animi), Opusc. II 507 f.: εἶναι
δὲ καὶ τὸν ϑάνατον ψυχῆς διαχωρισμὸν καὶ σώματος liegt nicht die geringste
Berechtigung vor. Für eine solche Bestätigung der populären Auffassung
des Todes (weiter wäre es ja nichts) gerade den Anaxagoras aufzurufen,
hätte überhaupt kein Grund bestanden; an dieser Stelle kann aber eine
solche Definition des Todes erst recht nicht gestanden haben, da ja im
Thema des Capitels nur gefragt ist, ob der Tod sich auch auf die Seele
erstrecke, nicht was er sei. Unter ψυχή wird hier die Einzelseele ver-
standen, nicht der νοῦς als der Grund der Einzelseelen. Die Einzelseele
liess A. mit dem Tode untergehn; das ist gewiss. Ob die Placita auf
einen bestimmten Ausspruch des A. sich beziehen oder nur die Con-
sequenz seiner Lehren ziehen, ist freilich unmöglich zu bestimmen.
2).
fr. 17.
1).
Gelehrte und besonders Philosophen späterer Zeit achteten auf
Aeusserungen eines spiritualistisch gerichteten Glaubens in alter Dichtung;
so gut sie aus Pindar (und in dem unten zu erwähnenden Fall aus Me-
lanippides) Aussagen aushoben und festhielten, die für einen gesteigerten
Seelenglauben Zeugniss geben, würden sie uns auch aus anderen meli-
schen oder elegischen, iambischen Dichtern entsprechende Aeusserungen
mitgetheilt haben — wenn solche bei diesen anzutreffen gewesen wären.
Sie müssen aber z. B. in den als Vorbilder dieser Dichtungsgattung be-
rühmten ϑρῆνοι des Simonides gefehlt haben. Und so durchweg.
1).
Im Hades hat für alle Menschen jeder Genuss ein Ende; daher
Mahnung auf Erden der Jugendlust zu geniessen: Theognis 973 ff. vgl.
877 f. 1191 ff. 1009 f.; Solon 24; Theogn. 719 ff.
2).
ϑανάτῳ πάντες ὀφειλόμεϑα. Alter Spruch, oft wiederholt. Vgl.
Bergk zu Simonid. 122, 2; Nauck zu Soph. El. 1173.
3).
Hades selbst, in der Thätigkeit des Thanatos, entrafft die Seelen
zur Unterwelt. So schon bei Simon. Amorg. 1, 13 f.: τοὺς δ̕ Ἄρει δε-
δμημένους πέμπει μελαίνης. Ἀΐδης ὑπὸ χϑονός. Im metonymischen Ge-
brauch ist ja Ἅιδης für ϑάνατος seit Pindar ganz üblich. Daran
bekräftigte sich dann aber auch wieder die Verwendung des Namens
Ἅιδης statt des persönlichen Θάνατος. So namentlich bei Pindar, ol.
9, 33—35. Sonst z. B. epigr. Kaib. 89, 3. 4. τόνδε — μάρψας Ἅιδης οἱ
σκοτίας ἀμφέβαλεν πτέρυγας. Vgl. 201, 2; 252, 1. 2. So ist auch bei Eu-
ripides Alcest. 261 der statt des Thanatos genannte πτερωτὸς Ἅιδας nicht
zu verdrängen (auch nicht durch das an sich sinnreiche βλέπων — ᾅδαν).
4).
δηρὸν ἔνερϑεν γῆς ὀλέσας ψυχὴν κείσομαι ὥστε λίϑος ἄφϑογγος.
Theognis 567 f. — Der Zustand im Hades ganz nach homerischen Schil-
derungen gedacht: Theogn. 704—710.
5).
S. besonders Solon 13, 29 ff.; Theognis 731—742; 205 ff.
6).
Mimnerm. 2, 13: ἄλλος δ̕ αὖ παίδων ἐπιδεύεται, ὧντε μάλιστα ἱμεί-
ρων χατὰ γῆς ἔρχεται εἰς Ἀΐδην. Ohne Kinder kein gesicherter Seelen-
1).
Semonid. Amorg. 1; 3; Mimnerm. 2. Sol. 13, 63 ff. 14. Theognis
167 f. 425 ff. Man darf auch die resignirten Betrachtungen bei Herodot
7, 46; 1, 31 hier anfügen.
2).
Νυκτὸς ϑάλαμος [Ion.] fr. 8, 2.
3).
Ueber die Sage von Midas und dem Silen s. Griech. Roman.
p. 204 f. Ueber den alten, vielfach variirten Spruch: ἀρχὴν (oder: πάν-
των) μὲν μὴ φῦναι ἐπιχϑονίοισιν ἄριστον κτλ. s. Bergk, Opusc. 2, 214 f., Lyr.4
II p. 155 f.; Nietzsche, Rhein. Mus. 28, 212 ff. (dessen Annahme, dass der
Anfang ἀρχὴν — alt und ursprünglich sei [nur nicht seine verwickelte
Erklärung dafür] sich völlig bestätigt hat durch den Fund der Urform
des ἀγών: Mahaffy On the Flinders Petrie Papyri p. 70).
6).
cult. Aber man darf auch glauben, dass das menschlich natürliche Ge-
fühl, dass nicht ganz im Tode verschwindet, wem Kinder auf Erden
nachbleiben (daher ἀειγενές ἐστι καὶ ἀϑάνατον ὡς ϑνητῷ ἡ γέννησις nach
Plato’s Wort) bei solcher Werthschätzung des Kindersegens mitwirkte.
Dies giebt ja auch dem unter Griechen weitverbreiteten Glauben, dass der
Frevler, nach seinem Tode, in seinen Kindern und Kindeskindern gestraft,
noch selbst von der Strafe getroffen werde, erst Sinn und Begründung.
1).
Simonid. fr. 39; 38.
2).
fr. 137.
3).
Von dem in rühmlichem Kampfe Gefallenen Tyrtaeus 12, 31 f.:
οὺδέ ποτε κλέος ἐσϑλὸν ἀπόλλυται οὐδ̕ ὄνομ̕ αὐτοῦ, ἀλλ̕ ὑπὸ γῆς περ ἐὼν
γίγνεται ἀϑάνατος (im Nachruhm auf Erden). Theognis zu seinem Kyrnos
(343 ff.): im Leben werden meine Lieder dich berühmt machen, καὶ ὅταν
δνοφερῆς ὑπὸ κεύϑεσι γαίης βῇς πολυκωκύτους εἰς Ἀίδαο δόμους, οὐδὲ τότ̕
οὐδὲ ϑανὼν ἀπολεῖς κλέος ἀλλὰ μελήσεις ἄφϑιτον ἀνϑρώποις ἀιὲν ἔχων
ὄνομα u. s. w. Aeschyl. epigr. 3, 3 (p. 241 Bgk): ζωὸν δε φϑιμένων πέλεται
κλέος.
4).
Noch im Hades vernehmen die Todten χϑονίᾳ φρενί, wenn sie
selbst oder ihrer Nachgebliebenen ἀρεταί auf Erden gepriesen werden.
Pindar, Pyth. 5, 98 ff. Vgl. Ol. 8, 81 ff.; 14, 20 ff. Pseudo-Ion, Anthol.
Pal. 7, 43, 3 (an Euripides): ἴσϑι δ̕ὑπὸ χϑονὸς ὤν, ὅτι σοι κλέος ἄφϑιτον
ἔσται κτλ. — In Aussagen von Rednern des 4. Jahrhunderts, die Meuss,
Jahrb. f. Philol. 1889 p. 812 f. zusammenstellt, liegt doch nur eine sehr
abgeblasste Erinnerung an einen solchen Glauben.
5).
Semonid. Amorg. 2: τοῦ μὲν ϑανόντος οὐκ ἂν εὐϑυμοίμεϑα, εἴ τι φρο-
1).
Dies ergiebt sich leicht, wenn man durchmustert, was H. Meuss
über „die Vorstellungen vom Dasein nach dem Tode bei den attischen
Rednern“ zusammengestellt hat, Jahrb. f. Philol. 1889 p. 801—815. Für
den Seelencult und was sich ihm anschliesst, sind die Redner die gültig-
sten Zeugen, und als solche in den hierauf bezüglichen Abschnitten dieses
Buches vielfach vernommen worden.
2).
εἴ τινες τῶν τετελευτηκότων λάβοιεν τρόπῳ τινὶ τοῦ νῦν γιγνομένου
πράγματος αἴσϑησιν: so und ähnlich oft. Die Stellen citirt Westermann zu
Demosth. g. Leptin. 87. Vgl. auch Lehrs, Popul. Aufs. 329 ff. Es han-
delt sich übrigens immer nur um die Fähigkeit der Todten, Dinge die
auf der Erde geschehen, irgendwie zu vernehmen. Das Fortleben der
Todten wird nicht in Frage gestellt, vielmehr durchweg vorausgesetzt,
denn ohne diese Voraussetzung wäre ja nicht einmal für ein solches εἰ
— eine Möglichkeit gegeben.
5).
νοῖμεν, πλεῖον ἡμέρης μιῆς. — Stesichor. 51: ἀτελέστατα γὰρ καὶ ἀμάχανα τοὺς
ϑανόντας κλαίειν. 52: ϑανόντος ἀνδρὸς πᾶσ̕ ἀπόλλυται ποτ̕ ἀνϑρώπων χάρις.
1).
S. Nägelsbach, Nachhom. Theol. 420; Meuss a. a. O. p. 812.
2).
Dies hebt Lehrs, Popul. Aufs. 331 hervor. Es gilt aber noch
bestimmter und ausschliesslicher als dort gesagt wird. In der Ausführung
des Hyperides, ἐπιτάφ. col. XIII. XIV ist lediglich von dem Aufenthalt
der für das Vaterland Gefallenen im Hades die Rede (mit einer her-
kömmlichen Ausschmückung: s. oben p. 279, 1): dies hat schwerlich je-
mals ein Redner ausdrücklich bezweifelt oder geleugnet. Aber man kann
nicht sagen (mit Lehrs p. 331), dass Hyp. ausführe (wenn auch in andrer
Form), was Pseudodionys von Halik. rhetor. 6, 5 „für solche [vielmehr
für private — was ganz etwas andres ist —] Grabreden“ vorschreibe.
Dort wird ja empfohlen zu sagen, dass die Seele ἀϑάνατος sei und nun
„bei den Göttern“ wohne. Dergleichen zu sagen, kommt dem Hyperides
nicht in den Sinn (auch in dem bei Stob. flor. 124. 36 erhaltenen Stück
der Rede nicht). Vielmehr zeigt sich an der Vorschrift jenes Sophisten
(und stärker noch an dem, was Menander de encom. 414, 16 ff.; 421, 16 ff.
Sp. anempfiehlt) der grosse Unterschied des Styls sophistischer Leichen-
reden später Zeit von dem der Leichenreden altattischen Gepräges, be-
gründet jedenfalls auch durch einen wirklichen Unterschied der Empfindung
des Publicums solcher Reden in den beiden verschiedenen Zeitaltern.
Schon die Ausführung des Pseudodemosth. ἐπιτάφ. 34 (πάρεδροι τοῖς κάτω
ϑεοῖς, mit den ἀγαϑοὶ ἄνδρες früherer Zeit ἐν μακάρων νήσοις) ist So-
phistenwerk, wiewohl von dem Ueberschwang des Pseudodionys und des
Menander noch weit entfernt.
3).
ἀγήραντος ist nur die εὐλογίη der im Freiheitskampf Gefallenen:
Simonides epigr. 100, 4. Vgl. 106, 4 (mit Bergks Anm.). 99, 3. 4: οὐδὲ
τεϑνᾶσι ϑανόντες, ἐπεί σφ̕ ἀρετὴ καϑύπερϑεν κυδαίνουσ̕ ἀνάγει δώματος ἐξ
Ἀΐδεω (nachgeahmt in der Grabschrift auf Thrasymachos den Kreter: οὐδὲ
ϑανὼν ἀρετᾶς ὄνυμ̕ ὤλεσας, ἀλλά σε Φάμα κυδαίνουσ̕ ἀνάγει δώματος ἐξ
Ἀΐδα. Bull. de corresp. hell. 1889 p. 60).
1).
κλῦϑί μοι ὦ πάτερ, ϑαῦμα βροτῶν, τᾶς ἀειζώου μεδέων ψυχᾶς.
Melanippid. 6. ϑαῦμα βροτῶν (gebildet nach ϑαῦμα βροτοῖσι bei Homer)
kann von den, hier in Betracht kommenden Göttern wohl nur Dionys
heissen, Διώνυσος, χάρμα βροτοῖσιν, Il. 14, 325. Auch denkt man bei einem
Dithyrambendichter am liebsten an diesen Gott.
2).
Der Todte ἀμφ̕ Ἀχέροντι ναιετάων Nem. 4, 85. Ueberall diese
Voraussetzung: z. B. Pyth. 11, 19—22; Ol. 9, 33—35; Isthm. 8, 59 f. (ed.
Bergk.); fr. 207.
1).
ἔστι δὲ καί τι ϑανόντεσσιν μέρος καν νόμον ἐρδόμενον· κατακρύπτει
δ̕οὐ κόνις συγγόνων κεδνὰν χάριν. Ol. 8, 77 ff.
2).
Momentan wird so etwas fingirt, z. B. Ol. 14, 20 ff.; Ol. 8, 81 ff.;
Wirklicher Glaube an die Möglichkeit scheint am ersten durch Pyth.
5, 98 ff.
3).
Wer im Kampfe für das Vaterland fällt, den erwartet — nicht
Seligkeit, nur Ruhe. Isthm. 7, 26 ff. Wer καλὰ ἔρξαις ἀοιδᾶς ἄτερ εἰς
Ἀΐδα σταϑμόν gelangt, hat wenig Lohn für seine Mühe (der Ruhm durch
die ἀοιδά wäre eben der Lohn): Ol. 10, 91 ff. Vgl. Nem. 7, 30—32.
4).
Seltsam der δαίμων γενέϑλιος Ol. 13, 105 (in demselben Gedicht
auch der Ξενοφῶντος δαίμων, V. 28, was hier doch mehr ist als „Geschick“,
wie sonst wohl [P. 5, 114. J. 7, 43] δαίμων bei Pindar). Es scheint fast,
als ob das eine Bezeichnung des, dem Hause Glück bringenden Ahnen-
geistes, genius generis des ἥρως συγγενείας (s. oben p. 232, 1) sein
sollte.
5).
Amphiaraos: Ol. 6, 14; Nem. 9, 24 ff.; 10, 8 f. (Aus seiner Erd-
höhle sieht Amph. die Helden des Epigonenkriegs kämpfen: Pyth. 8, 39—56.
[An Befragung seines Orakels durch die Ἐπίγονοι — wie Dissen meint,
1).
Ol. 2, 25 f.
2).
ἀλλά τι προσφέρομεν ἔμπαν ἢ μέγαν νόον ἤτοι φύσιν ἀϑανάτοις
Nem. 6, 4 f.
3).
σκιᾶς ὄναρ ἄνϑρωπος P. 8, 95. ἓν ἀνδρῶν, ἓν ϑεῶν γένος, ἐκ μιᾶς
δὲ πνέομεν ματρὸς ἀμφότεροι· διείργει δὲ πᾶσα κεκριμένα δύναμις, ὡς τὸ μὲν
οὐδέν, ὁ δὲ χάλκεος ἀσφαλὲς αἰὲν ἕδος μένει οὐρανός. Nem. 6.
5).
ist nicht zu denken: dazu würde nicht passen das: ὧδ̕ εἶπε μαρνα-
μένων
43.]) — Ganymed zu ewigem Leben entrückt: Ol. 1, 44; 10, 104 f.
— Sonst zeitweilige Entrückung zu den Göttern oder von einem Ort der
Erde zu einem andern: Ol. 1, 36 ff.; 9, 58; P. 9, 5 ff.; J. 7, 20 f.
1).
fr. 131.
2).
Pindar redet in seinen Versen nur von dem αἰῶνος εἴδωλον; dass
er aber die ψυχή unter dieser Bezeichnung versteht, ist offenbar und
wird von Plutarch, der die Verse erhalten hat (cons. ad Apoll. 35 περὶ
ψυχῆς λέγων — vgl. Romul. 28), bezeugt. — ψυχά bezeichnet bei Pindar bis-
weilen das, was sonst wohl καρδία, φρήν heisst, Muth, Sinn (z. B. P. 1, 48;
4, 122; N. 9, 39; J. 4, 53 Bgk.; auch Ol. 2, 70, wohl auch P. 3, 41. Ge-
sinnung: N. 9, 32); das Wort ist bisweilen (auch noch homerisch) sinnes-
gleich mit ζωή: P. 3, 101 ψυχὰν λιπών. Gleichzeitig „Leben“ und den im
Lebenden wohnenden alter ego bezeichnet es Ol. 8, 39 ψυχὰς βάλον; ähn-
lich N. 1, 47. Der Dichter kennt aber auch noch den vollen Sinn von
ψυχά nach altem Glauben und Ausdruck. Ganz nach homerischem
Sprachgebrauch bedeutet ψυχά den seelischen Doppelgänger des Menschen,
der diesen überlebt, da wo von der ψυχά des Gestorbenen als noch exi-
stirend geredet wird: ψυχὰν κομίξαι P. 4, 159; Nem. 8, 44 f. σὺν Ἀγαμεμ-
νονίᾳ ψυχᾷ (wird Kassandra in den Hades gesendet) P. 11, 20 f.; Perse-
phone ἀνδιδοῖ ψυχὰς πάλιν (aus dem Hades) fr. 133, 3. Isthm. 1, 68: ψυχὰν
Ἀΐδᾳ τελέων (im Tode). — ψυχαί nach altem Sprachgebrauch auch
fr. 132, 1; aber das ist eine Fälschung. — Die seelischen Kräfte des Leben-
den, mit Einschluss des Intellects, oder gar den Intellect, νοῦς, allein
bezeichnet ψυχά bei Pindar niemals.
3).
καὶ σῶμα μὲν πάντων ἕπεται ϑανάτῳ περισϑενεῖ, ζωὸν δ̕ἔτι λείπεται
αἰῶνος εἴδωλον· τὸ γάρ ἐστι μόνον ἐκ ϑεῶν. fr. 131.
1).
οἷσι δὲ Φερσεφόνα ποινὰν παλαιοῦ πένϑεος δέξεται — fr. 133. Ge-
meint ist ohne Zweifel die alte Schuld der Seele, für die Pers. die
Busse in Empfang nimmt. Ein πένϑος kann diese Schuld nur genannt
werden, insofern die Empfängerin der Busse selbst als durch die schuld-
volle That in Leid gestürzt angesehen wird, die That eben der Perse-
phone Leid verursacht hat. Dass dies von der Göttin der Unterwelt
gelten soll, ist auffallend, lässt sich aber nicht (mit Dissen) fortinterpre-
tiren. Pindar hält sich durchaus an die Analogie des alten Mordsühne-
verfahrens. Diesem aber scheint die Vorstellung nicht fremd gewesen zu
sein, dass (ausser der ἀγχιστεία des Erschlagenen) auch die unterirdischen
Götter (als die Hüter der Seelen) durch die Mordthat unmittelbar ver-
letzt, in Trauer versetzt seien, und ihrerseits Busse zu empfangen haben.
Daher mit der Flucht des Mörders in einzelnen (ritual vorbildlichen)
Sagen Knechtschaft bei den χϑόνιοι verbunden ist: besonders Apollo
dient so nach der Erlegung des Python eine Ennaeteris dem Ἄδμητος,
d. i. dem Hades (einiges andere s. unten p. 503, 1). So dient bei Perse-
phone die schuldige, aus der Heimath verbannte Seele ein „grosses Jahr“
lang: das ist die ποινά die sie leistet.
2).
Ol. 2, 57—60. Hier ist nur von Gericht und [Vergeltung]im
Hades
die Rede. In den Worten: ϑανόντων μὲν ἐνϑάδ̕ αὐτίκ̕ ἀπάλαμνοι
φρενές ποινὰς ἔτισαν kann das ἐνϑάδε unmöglich, mit Aristarch, zu ποινὰς
ἔτισαν gezogen werden, so dass von Bestrafung der in der Unterwelt be-
gangenen Frevelthaten (an sich einer seltsamen Sache) bei neuer Wieder-
geburt auf der Erde die Rede wäre. ϑανόντες kurzweg kann doch
nicht bezeichnen die ϑανόντες καὶ ἀναβεβιωκότες, man kann nur
die nach einem Lebenslauf auf der Erde Verstorbenen und nun in der
Unterwelt Verweilenden darunter verstehn. Auch ist es kaum denk-
bar (woran Mommsen, adnot. crit. ad Olymp. p. 24 erinnert), dass die
Aufzählung des „Wissens von dem Zukünftigen“ (56) von Seiten eines
noch auf Erden lebenden Menschen, anfangen sollte mit dem was
dem Menschen nicht nach seinem Tode, sondern erst nach später er-
folgter abermaliger Erscheinung auf der Erde geschehen kann. Zuerst
muss doch gesagt werden, was geschehen wird, wenn der gegenwärtige
Zustand, der des Lebens auf Erden, aufgehört haben wird. Endlich ist
αὐτίκα zwar vortrefflich angebracht, wenn von dem alsbald nach dem
Tode folgenden Hadesgericht die Rede ist, aber sinnlos bei Aristarchs
Erklärung (daher Rauchenstein αὖτις schreibt mit müssiger Conjectur).
Dass das μὲν-δέ V. 57. 58 nöthige, Aristarchs Erklärung zu folgen (wie
1).
Olymp. 2, 67.
2).
Plutarch, de occ. viv. 7, die Verse des Pindar (fr. 130) citirend,
setzt hinzu: (die Flüsse des Erebos) δεχόμενοι καὶ ἀποκρύπτοντες ἀγνοίᾳ
καὶ λήϑῃ τοὺς κολαζομένους. Das könnte möglicher Weise Plutarchs
eigener Zusatz sein, da er von dem εἰς ἄγνοιαν αὑτὸν ἐμβαλεῖν u. ä., in dem
Kampfe gegen das Epikureische λάϑε βιώσας vielfach geredet hat, und das
nun etwa auch von sich aus dem Erebos schenkte. Es ist aber doch wohl
eine Paraphrase der Pindarischen Worte. Wenigstens stammt das was
bei Plutarch, in deutlicher Parallele zu der λήϑη der ἀσεβεῖς, gesagt wird,
von den μνῆμαι καὶ λόγοι der εὐσεβεῖς aus Pindar selbst: wie die An-
spielung hierauf bei Aristides I p. 146, 1 (Dind.) beweist. Aus dieser
Parallele geht übrigens mit Bestimmtheit hervor, dass die λήϑη nicht
(wie Lehrs, Popul. Aufs. 313 meint) Vergessenheit der κολαζόμενοι durch
die Ueberlebenden bedeutet, sondern Vergessenheit des frühern Lebens
2).
Lübbert meint, Ind. Schol. Bonn. hib. 1887 p. XVIII, — der übrigens
p. XIX f. in ganz unerlaubter Weise specifisch Platonische Phantasmen
in Pindar hineindeutet —) trifft nicht zu: dem ϑανόντων μέν 57 entspricht
erst 68 ὅσοι δ̕ἐτόλμασαν —, sowie dem αὐτίκα 57 entgegensteht das erst
viel später nach dreimaliger Wiederholung des Lebens Geschehende, das
68 ff. geschildert wird. Die δέ 58. 61 sind dem mit μέν 57 Eingeleiteten
untergeordnet (nicht entgegengesetzt) und führen es aus. Das ἐνϑάδε 57
könnte man ja, bei im übrigen richtiger Auslegung, mit einem Scholi-
asten mit ἀπάλαμνοι φρένες verbinden: die hier auf Erden frevelhaft ge-
wesenen φρένες. Aber ἀπάλαμνος heisst nicht sceleratus, impius (auch
nicht an den von Zacher, Diss. Hallens. III p. 234 hiefür angeführten
Stellen: Theognis 281, Simonid. 5, 3). Die ἀπάλαμνοι φρένες sind jeden-
falls synonym mit den ἀμενηνὰ κάρηνα des Homer, eine passende Bezeich-
nung der ψυχαί der Todten (freilich gar nicht der Wiedergeborenen, wie
Aristarch wollte). Es bleibt nichts übrig, als zu verbinden: ϑανόντων ἐν-
ϑάδε: simulac mortui sunt hic, s. decedunt hinc (Dissen). Der Satz τὰ
δ̕ἐν τᾷδε — muss entweder als genauere Ausführung des vorher schon
allgemein bezeichneten: ποινὰς ἔτισαν angesehen werden (so mit einem
Schol. Mommsen a. a. O.), oder als zusammen mit seinem Gegensatz ἴσαις
δὲ — (61 ff.) untergeordnet dem ποινὰς ἔτισαν. ποινά bedeutet bei Pindar
Vergeltung überhaupt, sowohl Busse als auch Lohn für gute That (vgl.
Pyth. 1, 59. Nem. 1, 70). Nähme man an, dass mit einer bei Pindar kaum
undenkbaren Brachylogie ποινὰς ἔτισαν gesagt sei, statt π. ἔτισαν καὶ ἐδέξαντο,
so wäre der Sinn: nach dem Tode empfangen die Seelen alsbald Vergel-
tung ihrer Thaten — und nun erst Scheidung der Bösen 58 ff., und der
Guten 61 ff. Man kann sich aber vielleicht bei Mommsens Erklärung be-
ruhigen.
1).
τοῖσι λάμπει μὲν μένος ἀελίου τὰν ἐνϑάδε νύκτα κάτω. fr. 129. Was
bei Homer Helios nur thun zu wollen droht: δύσομαι εἰς Ἀΐδαο καὶ ἐν
νεκύεσσι φαείνω, das thut er wirklich und regelmässig in der Zeit der
oberirdischen Nacht, nach dieser naiven Vorstellung. Dasselbe wird wohl
gemeint sein Ol. 2, 61 f.: ἴσον δὲ νύκτεσσιν αἰεὶ ἴσον ἐν ἐμέραις ἅλιον ἔχοντες
(so mit Böckh) leben die ἐσϑλοί an dem χῶρος εὐσεβῶν im Hades: sie
haben in Nächten und an Tagen gleiche Sonne (wie wir: wie ja auch
ein „als wir“ zu dem ἀπονέστερον 62 vorschwebt), nämlich ebensoviel da-
von wie wir auf Erden, nur in umgekehrter Zeitfolge. Nur den εὐσεβεῖς
scheint drunten die Sonne: μόνοις γὰρ ἡμῖν ἥλιος καὶ φέγγος ἱλαρόν ἐστι
singen die Geweiheten im Hades bei Aristoph. Ran. 454 f. (ihnen scheint
dort aber auch nur dieselbe Sonne wie uns: φῶς κάλλιστον ὥσπερ ἐνϑάδε
155. Das solemque suum sua sidera norunt ist erst später ersonnene
Subtilität). — Helios nachts im Hades scheinend noch in dem spätgriech.
Hymnus εἰς Ἥλιον (Abel, Orphica p. 291) v. 11: ἢν γαίης κευϑμῶνα μόλῃς
νεκύων τ̕έπὶ χῶρον. — Kaib. ep. lap. 228 b, 7, 8. Λητογενές, σὺ δὲ παῖδας
ἐν ἡρώεσσι φυλάσσοις, εὐσεβέων ἀεὶ χῶρον ἐπερχόμενος.
2).
Ol. 2, 68 ff.
2).
durch die κολαζόμενοι. Demnach muss man annehmen, dass Pindar die
Erhaltung der Erinnerung und des vollen Bewusstseins (wie die Odyssee
dem Tiresias allein 10, 494 f.) allein den Frommen im Hades als ein Vor-
recht zuertheilt, die Strafe der Gottlosen noch insbesondere durh λήϑη
(vgl. oben p. 290, 2) verschärft habe. Der λήϑη nicht verfallen zu sein im
Hades, das Wasser der Lethe nicht getrunken zu haben, wird in dichterisch-
religiösen Ausführungen späterer Zeit bisweilen den Frommen als beson-
derer Vorzug nachgesagt: z. B. Epigr. lap. Kaib. 204, 11 (1. Jahrh.
vor Ch.); 414, 10. Λήϑης und Μνημοσύνης πηγή im Hades (wie im
Trophoniosheiligthum zu Lebadea: Paus. 9, 39, 8): ibid. 1037.
1).
fr. 133. ἐνάτῳ ἔτεϊ. Gemeint ist ohne Frage: nach Ablauf einer
Ennaëteris (von 99 Monaten, d. h. 8 Jahren und 3 Schaltmonaten), die
ja nicht nur als Festcyclus (vorzugsweise, aber nicht ausschliesslich, Apol-
linischer) sondern besonders, in altem Sühneverfahren, als Periode der
Selbstverbannung nach einem Morde und der Dienstbarkeit des Uebel-
thäters in der Fremde vorkommt. Apollo dient nach der Erlegung des
Python μέγαν εἰς ἐνιαυτόν (d. h. eine Ennaëteris hindurch) bei Admetos
(d. h. dem Gott der Unterwelt) und kehrt dann gereinigt zurück (Müller,
Dorier2 I 322); ähnlich Herakles bei Eurystheus (hievon wenigstens eine
Spur bei Apollod. 2, 5, 11, 1: s. Müller, Dor. 1, 440). — Nach dem Morde
des Iphitos muss Herakles der Omphale als Knecht dienen (hier eigen-
thümliche Verbindung dieser Art der Mordsühne mit der Abkaufung des
Mordes von den Verwandten des Erschlagenen: Apollod. 2, 6, 2. 3; Diodor.
4, 31, 5) wonach er wieder „rein“ ist (ἁγνὸς ἦν Soph. Trach. 258). — Kadmos
dient nach der Tödtung des Drachen und der Σπαρτοί dem (chthonischen?)
Ares einen ἐνιαυτός von acht Jahren (Apollod. 3, 4, 2, 1. S. Müller,
Orchom. 213. — Hippotes muss, nach der Ermordung des Mantis, δέκα ἔτη
fliehen: Apollod. 2, 8, 3, 3). — Nach Analogie dieses Brauchs sollen auch
die Götter, die bei der Styx einen Meineid geschworen haben, neun
Jahre von den Olympiern verbannt sein (und in den Hades gebannt:
wie denn eine Knechtschaft im Dienste der χϑόνιοι der eigentliche Sinn
solches ἀπενιαυτισμός ist): Hesiod Th. 793 ff. Orph. fr. 157. In Erinne-
rung an diese Sühneverbannung lässt Pindar als Abschluss der irdischen
Wallfahrt (die selbst schon eine Verbannung ist) die Seele eine Ennaëteris
hindurch im Hades eine letzte Bussstation machen, nach deren Ablauf
endlich die ποινή für den alten Frevel als voll entrichtet gilt. — Das
Erdenleben und daran sich anschliessend der Hadesaufenthalt der Seele
gilt als eine Verbannung (wegen schweren Frevels): diese Vorstellung
lag sehr nahe, wenn als eigentliche Heimath der Seele ein Götterland
galt; sie findet sich (gewiss ohne allen Einfluss der kurzen Andeutungen
des Pindar) deutlich ausgeführt bei Empedokles (s. oben p. 471/2).
2).
fr. 133. Die Aehnlichkeit mit den Verheissungen des Empedokles
(457 ff.) springt in die Augen, erklärt sich aber wohl nicht aus Nach-
ahmung des Pindar durch E., sondern einfach aus der gleichen Richtung
phantastischen Denkens, das naturgemäss Beide zu ähnlichen Ergebnissen
führte. — Dem als König Geborenen steht, nach dieser Vorstellung, als
nächstes Loos die Erhebung zur Heroenwürde bevor. Die seltsame
Wendung, mit der Pindar Olymp. 2, 53—56 den Uebergang zu seinen
1).
fr. 133. — Zwischen fr. 133 und Ol. 2, 68 ff. bestehe, meint Dissen,
der Widerspruch, dass hier drei Lebensläufe auf Erden vor dem letzten
Ausscheiden gefordert werden, fr. 133 nur zwei. Dieser Unterschied
wäre ausgeglichen, wenn man, Mommsens Auslegung folgend (adnot. crit.
ad Olymp.
p. 30), auch in Ol. 2 nur zwei irdische Lebensläufe und einen
einzigen Hadesaufenthalt, zwischen ihnen liegend, angesetzt finden dürfte.
Aber das ἐς τρὶς ἑκατέρωϑι μείναντες (Ol. 2, 68. 69) lässt sich doch sprach-
lich kaum anders verstehen als: je dreimal auf jeder der beiden Seiten
(nicht: auf beiden Seiten, dort einmal, hier zweimal, zusammen drei-
mal). Es hindert aber auch nichts, in fr. 133 die gleiche Anzahl von
Lebensläufen (als Minimum 3) anzunehmen: es ist dort ja gar nicht gesagt,
dass die Geburt in Königswürde u. s. w. die nächste sein müsse nach
der ersten Geburt überhaupt; es können ihr auch zwei frühere Lebens-
läufe vorausliegen.
2).
S. oben p. 164 ff.
2).
eschatologischen Ausführungen macht: wer den πλοῦτος ἀρεταῖς δεδαι-
δαλμένος besitze, kenne die Zukunft, nämlich eben das, was dann von dem
Schicksal der Seele im Jenseits erzählt wird — diese Behauptung, die
dem tugendhaften Mächtigen zugleich höhere und tiefere Einsicht zuzu-
schreiben scheint, erklärt sich vielleicht aus dem, was in fr. 133 an-
gedeutet wird. Wer auf dieser höchsten Stufe irdischen Glückes angelangt
ist, muss daraus schliessen, dass ihm nunmehr, nach nochmaligem Tode,
heroisches Loos gewiss sei. Er weiss also, dass zwar — alles das ge-
schieht, was V. 57—67 berichtet wird, im besonderen aber ihm das be-
vorsteht, was V. 68 ff. folgt, und was als der eigentlich hier gemeinte In-
halt dessen, was jener „weiss“ (56) zu betrachten ist, dem das Uebrige
(56—67) nur der Vollständigkeit wegen vorausgeschickt ist. Theron also
— denn auf den zielt ja Alles — kann bestimmt voraus wissen, dass er
nach dem Tode zu den Heroen versammelt werden werde. Das will
Pindar hier sagen, oder (V. 83 ff.) den συνετοί zu verstehn geben. In
der That wurde Theron nach seinem Abscheiden mit ἡρωϊκαὶ τιμαί ge-
ehrt. (Diodor 11, 53, 2).
1).
ἔτειλαν Διὸς ὁδὸν παρὰ Κρόνου τύρσιν Ol. 2, 70. Was unter dem
„Weg des Zeus“ gedacht sei, verstanden vermuthlich die in mystischem
Sagenspiel bewanderten συνετοί, für die Pindar hier dichtet, leichter als
wir. Es muss wohl der Weg gemeint sein (wie Böckh annimmt), den
Zeus selbst wandelt, um zu jenem Eiland fern westlich im Okeanos,
Schiffen und Fussgängern unerreichbar wie das Hyperboreerland, zu ge-
langen. Eine eigene ἀϑανάτων ὁδός, wie in Homers Nymphengrotte
(Odyss. 13, 112). Nach Bergk, Opusc. II 708 ist es „gewiss“, dass Pindar
die Milchstrasse meine. Auf dieser ziehen die Götter zum Hause des
Zeus: Ovid Met. 1, 168 ff. So redet Orpheus fr. 123, 17 von ϑεῶν ὁδοὶ
οὐρανιώνων am Himmel. Die Seelen könnte auf der Milchstrasse nur
wandeln lassen, wer ihnen den Sitz im Himmel anwiese, wie später oft
geschieht. Und so ist (von Bergk nach Lobeck Agl. 935 angeführt) dem
Empedotimos des Heraklides Pont. (bei Philopon. zu Aristot. Meteor.
1, 218 Id. S. oben p. 385, 1) die Milchstrasse ὁδὸς ψυχῶν τῶν ᾅδην τὸν ἐν
οὐρανῷ διαπορευομένων. Aber Pindar verlegt seine μακάρων νῆσος in den
Ocean (V. 71 f.): wie man dorthin von dem Orte wo die Seelen nach
ihrem Tode sich befinden, auf der Milchstrasse gelangen könne, ist nicht
einzusehn (denn mit den ganz späten Phantasmen von dem Okeanos am
Himmel werden wir Pindar doch lieber verschonen). Quintus Smyrn.
11, 224 ff. (von Tafel herangezogen) weiss von einem eigenen Weg für
die Götter vom Himmel herunter zum Ἠλύσιον πεδίον. Aber der Weg,
auf dem die befreiten Seelen zum μακάρων νῆσος ziehen, beginnt keinen-
falls, wie jener Weg, am Himmel. Es ist eher an einen, nur Göttern
und Geistern gangbaren Weg von der bewohnten Erde über den pfad-
losen Ocean bis zu dessen „Quellen“, fern im Westen, zu denken.
2).
Ol. 2, 76. 77 war jedenfalls Kronos (wie Didymus, mit absurder
Ausdeutung freilich des Ueberlieferten, annahm) bezeichnet, nicht Zeus,
wie Aristarch meinte. Die arg entstellten, auch (durch Einschiebung
von Glossemen) ganz aus dem Metrum gewichenen Worte lassen sich
nicht mehr sicher herstellen; dem erforderlichen Sinne entsprechen die
Herstellungen der Byzantiner. — Was geschieht mit den unverbesserlich
Bösen? Man hatte, bei der Annahme der Seelenwanderungslehre, die
Wahl, ob man sie sich ewig von Körper zu Körper wandernd denken
wollte (so Empedokles) oder ob man sie in ewigen Strafen in der Hölle
büssen lassen wollte (so Plato u. A.). Pindar hat nach der Art der Ge-
legenheiten, bei denen er von diesen Dingen redet, keine Veranlassung
sich für diese oder jene Meinung zu entscheiden. Nur vom letzten Ge-
schick der Frommen hat er zu reden, das Schicksal der ἀσεβεῖς bleibt
2).
in halbem Dunkel. Auch hiervon freilich wird etwas gesagt in fr. 132:
ψυχαὶ ἀσεβέων schweben unter dem Himmelsgewölbe um die Erde (γαίᾳ
entweder corrupt oder dem Ausdruck nach ungriechisch), während die der
Frommen oberhalb des Himmelsgewölbes (ἐπουράνιοι) wohnend, den
„grossen Seligen“ besingen. Alles ist hier unpindarisch, die Dürftigkeit
und sogar Unrichtigkeit (μολπαῖς ἐν ὕμνοις) des Ausdrucks, der unverhüllte
Monotheismus in dem μάκαρα μέγαν, die Vorstellung, dass die Seligen
nichts thun als ewig den Einen Gott ansingen, die ganze Voraussetzung,
dass diese Seligen „im Himmel“ wohnen. Dies Letzte ist eine späteren
Griechen geläufige Phantasie, und so ist auch die Scheidung der Seelen
in ὑπουράνιοι und ἐπουράνιοι ihnen nicht unbekannt: vgl. Ep. lap. Kaib.
650, 9 ff. Pindar konnte so etwas nicht schreiben. Es ist sogar zweifel-
haft, ob Clemens Al., der (Strom. 4, 541 D.) als Verfasser der Verse nennt
τὸν μελοποιόν, dabei an Pindar dachte: Theodoret, der die zweite Hälfte
des Stücks dem Pindar zuschreibt, hat ja keine andre Quelle als eben
den Clemens. Das Ganze ist aber schwerlich überhaupt einem griechi-
schen Dichter alten Glaubens zuzuschreiben; es hat (wie Zeller, Philos.
d. Gr.
3 II 1, 19 A. 7 treffend andeutet) ganz das Ansehen einer jener
jüdischen Fälschungen, durch die jüdischer Monotheismus und damit
zusammenhängende Gedanken dem griechischen Alterthum angefabelt
werden sollten. Welcker, Kl. Schr. 5, 252 ff.; Götterl. 1, 741 f. (der höchst
unzutreffend die ψυχαὶ ὑπουράνιοι und ἐπουράνιοι jenes Stückes mit den,
hiemit gar nicht vergleichbaren δαίμονες ἐπιχϑόνιοι und ὑποχϑόνιοι des
Hesiod, Ἔ. 123. 141 in Verbindung bringt) meint, die Aechtheit jener
(schon von Dissen als Fälschung erkannten) Verse schützen zu können
durch Verweisung auf Horazens Wort von Pindars ϑρῆνοι (c. 4, 2, 21):
flebili sponsae iuvenem raptum plorat, et vires animumque moresque aureos
educit in astra nigroque invidet Orco.
Wäre hier auch von Versetzung der
abgeschiedenen Seelen unter die Sterne die Rede, so wäre durch ein
solches Zeugniss des Horaz doch nur Ein Anstoss in den fraglichen
Versen beseitigt, die ausserdem noch schlimmste Anstösse in Menge dar-
bieten. Aber Horaz redet gar nicht von Versetzung der „Seele“ in die
himmlischen Regionen. vires, animus, mores: das alles zusammen be-
zeichnet mit nichten die ψυχή, sondern das ἦϑος und die ἀρεταί des Ver-
storbenen. Pindar, will Horaz sagen, entreisst durch sein rühmendes Lied
das Andenken an die Art und die Verdienste des Jünglings des Ver-
gänglichkeit; nur von dem Ruhm, den der Dichter ihm zuwege bringe, ist
die Rede. Das educit in astra und invidet Orco heisst nichts weiter als:
er entreisst das Andenken des Todten der Vernichtung; ganz so wie es in
jenem Epigramm (oben p. 495, 3) heisst: οὐδὲ ϑανὼν ἀρετᾶς ὄνυμ̕ ὤλεσας,
ἀλλὰ σε Φάμα κυδαίνουσ̕ ἀνάγει δώματος ἐξ Ἀΐδα. Also aus Horazens
1).
Olymp. II feiert einen Sieg, den Theron Ol. 76 in Olympia er-
rungen hat, ist aber wahrscheinlich erst einige Zeit nach jenem Siege
verfasst. Theron starb Ol. 77, 1 oder 76, 4.
2).
Sicilien war reich an Culten der χϑόνιοι, deren Hierophanten Gelon,
Hieron und ihre Vorfahren waren (Herodot. 7, 153. Pind. Ol. 6, 95).
So war auch Akragas, die Stadt des Theron (und Heimath des Empedokles,
was auch nicht bedeutungslos ist) Φερσεφόνας ἕδος: Pind. Pyth. 12, 2; der
Persephone von Zeus als Brautgabe geschenkt: Schol. Pind. Ol. 2, 16 (wie
übrigens, neben anderen Städten, auch Pindars Vaterstadt, Theben:
Euphorion, fr. 48. Vgl. Eurip. Phoeniss. 684 ff. Von Eteokles, dem
Sohne des Oedipus leitete Therons Haus sich ab). Sehr möglich, dass
Hoffnungen auf eine selige Unsterblichkeit der Seele, wie sie sich im Cult
der χϑόνιοι und vorzugsweise der Persephone vielfach gebildet haben,
dem Theron aus solchem Cult vertraut und lieb waren.
2).
Worten am allerwenigsten kann man abnehmen, dass Pindar die Seelen
der εὐσεβεῖς in den Himmel versetzt habe (eher, dass er auch in den
ϑρῆνοι — wie sonst: s. p. 497, 3 — bisweilen nur die Unsterblichkeit
des Ruhms kannte: nur davon redet Horaz).
1).
Kenntniss mystischer Lehren hätte ja bei dem theologischen Zug
in Pindars Art nichts Auffallendes. Von den Eleusinien (deren Lehre
er übrigens nichts verdankt) redet er fr. 137. In fr. 131 redet er, in
leider völlig entstellten und wohl auch lückenhaft überlieferten Worten,
von „erlösenden Weihen“: ὀλβία δ̕ ἅπαντες αἶσα λυσίπονον τελετάν, wie
das (dactyloepitritische) Metrum verlangt, und nicht τελευτάν, steht bei
Plut. cons. ad Apoll. 35 auch in dem cod. Vatic. 139 (den ich verglichen
habe). Der Sinn des Satzes ist freilich nicht mehr aufzufinden.
1).
Inscr. gr. Sicil. et Ital. 641. — Die Aufzeichnung des ältesten
dieser Gedichte gehört dem vierten Jahrhundert vor Chr. an. Dennoch
konnten die Verse hier erwähnt werden, weil das Original oder vielmehr
die zwei Originale, denen die Gedichte nachgebildet sind, älter als die
älteste der drei erhaltenen Inschriften (die selbst schon starke Entstellungen
des Urtextes zeigt) waren und wenigstens nichts hindert zu glauben, dass
die Urformen dieser Verse bis ins fünfte Jahrhundert hinaufgingen. —
Das gemeinsame Vorbild der 2. und 3. Fassung ist, auch in den Theilen,
in denen es mit der 1. Fassung übereinstimmt, nicht aus diesem geflossen
sondern aus einer älteren Urform.
2).
Das Feminium: ἔρχομαι ἐκ καϑαρῶν καϑαρά — und (2, v. 6) νῦν
δ̕ ἱκέτις — freilich metrisch unmöglich — ἥκω bezieht sich wohl auf die
ψυχή, nicht auf das Geschlecht des Todten, so dass dreimal eine Frau
redete. Auch redet ja 1, 9 Persephone wie zu einem Manne; ὄλβιε καὶ
μακαριστέ, ϑεὸς δ̕ἔσῃ ἀντὶ βροτοῖο.
3).
V. 1. ἔρχομαι ἐκ καϑαρῶν καϑαρά, χϑονίων βασίλεια. So ist jeden-
falls (mit den Herausgebern) zu interpungiren, nicht (wie Hofmann thut)
— ἐκ καϑαρῶν, καϑαρὰ χϑ. β. „Rein von Reinen geboren“ (von nächster
Abstammung verstanden; fernere würde durch ἀπό bezeichnet werden).
So κάκιστος κἀκ κακῶν u. ä. (Nauck zu Soph. O. R. 1397; Phil. 874).
ἀγαϑοὶ ἐξ ἀγαϑῶν ὄντες Andoc. myst. 109.
4).
καϑαροί heissen die Eltern, καϑαρά die Seele des Todten selbst
jedenfalls als in τελεταί der χϑόνιοι „gereinigt, geheiligt“. Ebenso sonst
die Mysten ὅσιοι d. h. „die Reinen“: s. oben p. 265, 2.
1).
καὶ γὰρ ἐγὼν ὑμῶν γένος ὄλβιον εὔχομαι εἶμεν. So in allen drei
Fassungen.
2).
ἀλλά με μοῖρ̕ ἐδάμασσε καὶ ἀστεροπῆτα κεραυνῶν (so [κεραυνῶν
Partic.] die Urform, auf welche die Verschreibungen der drei Exemplare
hinführen, hergestellt von O. Hofmann, in Collitz’ Dialektinschr. 1654.
ἀστεροβλῆτα 1; das könnte jedenfalls nur sein = ἀστεροποβλῆτα, mag aber
nur irrthümlich dem ἀστεροπῆτα [= ἀστεροπητής homerisch] sich unter-
geschoben haben). So 1, 4. In Fassung 2 und 3: εἴτε με μοῖρ̕ ἐδάμασσ̕
εἴτ̕ ἀστεροπῆτα κεραυνῶν. Die Wahl zwischen natürlichem Tode, (dies
soll, wenn unterschieden von dem Blitztod, μοῖρα jedenfalls heissen) und
Tode durch Blitzstrahl hat doch der Verstorbene nicht; eines von beiden
(oder von mehreren) kann doch thatsächlich allein eingetreten sein. Man
hat offenbar in der Verlegenheit — da doch Blitztod in Wirklichkeit
sehr selten eintritt — den alten Vers so abgeändert, dass er allenfalls
auch auf einen, natürlichen Todes Verblichenen angewendet werden konnte.
Freilich ungeschickt genug. Ursprünglich kann — wie noch in 1 — nur
vom Blitztod die Rede gewesen sein, und es muss das ursprüngliche
Original der Verse sich wohl wirklich auf einen so ums Leben Gekommenen
bezogen haben. Dieser galt dann als schon durch die Art seines Todes
geweiht, als ἱερὸς νεκρός (wie der blitzerschlagene Kapaneus bei Eurip.
Suppl. 936 ff. heisst, der darum nicht mit verbrannt, sondern für sich
allein begraben werden soll, während sonst πολλοὶ οὔτε καίουσιν οὔτε
κατορύττουσιν [τοῦς διοβλήτους]: Plut. Symp. 4, 2, 3). S. oben p. 133 Anm.
Nur so verstanden hat die Angabe dieser eigenthümlichen Todesart hier
eine Beziehung: nun wird der also dem Leben Entrückte sicher ϑεὸς
ἀντὶ βροτοῖο werden.
3).
κύκλος τῆς γενέσεως, rota fati etc. Lobeck, Agl. 798 ff.
4).
ἱμερτοῦ δ̕ἐπέβαν στεφάνου ποσὶ καρπαλίμοισι, Δεσποίνας δ̕ὑπὸ κόλπον
ἔδυν χϑονίας βασιλείας: 1, 6. 7. Der στέφανος soll wohl den heiligen Be-
zirk, den Umkreis des Reiches der Persephone bezeichnen, wie A. Dieterich,
de hymn. Orph. 35 wahrscheinlich vermuthet. — Das ὑπὸ κόλπον ἔδυν
scheint einfach zu bedeuten: ich suche Schutz (als ἱκέτης) an ihrem mütter-
lichen Busen (oder Schoss). An die symbolischen Acte, durch die in
Mysterien die eheliche Verbindung mit der Göttin, auch die Geburt aus
der Göttin ausgedrückt wurde, denkt Dieterich p. 38 wohl ohne Grund.
1).
ὥς με πρόφρων πέμψῃ ἕδρας ἐς εὐαγέων. Die ἕδραι εὐαγέων ent-
sprechen dem χῶρος εὐσεβῶν bei anderen Dichtern und Fabulisten. Aber
in dem eigenthümlichen Ausdruck liegt abermals eine Hindeutung darauf,
dass dieser Wonnesitz den „Reinen“, in den Mysterien Geweiheten vor-
behalten sei: εὐαγής, der von jedem ἄγος befreite, ist ein ὅσιος (ὅσιος ἔστω
καὶ εὐαγής: Gesetz bei Andocid. de myst. 96). Auch im profanen Ge-
brauch behält das Wort seinen ursprünglichen Sinn: vielfach bedeutet es
(im Gegensatz zu σκοτώδης u. dgl.) hell, rein, klar (wo man denn, nach
dem Vorgang des Hemsterhus. zu Eurip. Supplic. 662, εὐαυγής einzu-
setzen pflegt, ohne hinreichenden Grund).
4).
Solche Acte zu bezeichnen, wären die Worte ὑ. κ. ἔδυν zu kurz und un-
genügend (auch fiele die Symbolik fort, wo die Göttin in Person an-
wesend ist). — Im Uebrigen ist es richtig, dass die Weihe gelegentlich
betrachtet wird wie eine Adoption von Seiten der Göttin oder des
Gottes, eine Aufnehmung des Geweiheten in das göttliche γένος. So
lässt sich z. B. im Axiochus 371 E die Bezeichnung des Axiochos als
γεννήτης τῶν ϑεῶν, dem Zusammenhang nach, kaum anders verstehn, als
dass man annimmt, Ax. sei als einer der μεμυημένοι (371 D) in das γένος
der Göttinnen aufgenommen worden. Ob die Seele des Geweiheten in
unsern Gedichten mit dem καὶ γὰρ ἐγὼν ὑμῶν γένος ὄλβιον εὔχομαι εἶμεν
auch eben dieses sagen will: durch den, in der μύησις liegenden Adoptions-
act bin ich in euer göttliches γένος aufgenommen worden?
1).
Man bemerkt leicht die Aehnlichkeit mit der Abstufung der Be-
lohnungen für die Frommen bei Pindar: χῶρος εὐσεβῶν im Hades; dann
erst Ausscheiden aus der Unterwelt wie aus dem Menschenleben. Nur
dass bei P. am letzten Ende die Seele zum ἥρως wird, hier zum ϑεός.
2).
I. Gr. Sic. et It. 642.
3).
641, 1 V. 10: ἔριφος ἐς γάλ̕ ἔπετον. 642, 4: ϑεὸς ἐγένου ἐξ ἀνϑρώ-
που. ἔριφος ἐς γάλα ἔπετες. Dass dieses „als Zicklein bin ich in die Milch
gefallen“ eine Vorbedingung zu dem: „ich bin ein Gott geworden“ sein soll,
geht aus der Zusammenstellung beider Aussagen in 642 hervor. Man
wird in dem Spruch jedenfalls ein σύνϑημα, σύμβολον der Mysten erken-
nen müssen, ähnlich den in anderen Geheimweihen gebräuchlichen: ἐκ
τυμπάνου ἔφαγον κτλ. (s. Lobeck Agl. 23 ff.), die sich auf symbolische
Handlungen bei der Weihe beziehen. Den bestimmten Sinn dieses
σύνϑημα können wir nicht errathen (Dieterichs Bemühungen, a. O. p. 35 f.
haben die Sache nicht aufklären können).
4).
Bemerkenswerth ist die Anweisung ἀλλ̕ ὁπόταμ ψυχὴ προλίπῃ
φάος ἀελίοιο, δεξιὸν εἰσιέναι πεφυλαγμένος εὖ μάλα πάντα (so etwa mag die,
nach dem Eindringen des erklärenden Zusatzes δεῖ τινα zerrüttete Zeile
4).
ursprünglich gelautet haben). Und zum Schluss: (ὦ)χαῖρε χαῖρε, δεξιὰν
ὁδοιπορῶν λειμῶνάς τε ἱεροὺς καὶ (nichts andres verbirgt sich wohl hinter
dem KAT der Inschrift. καί lang vor Vocal in 3. Thesis, ist selbst bei
Homer nicht unerhört) ἄλσεα Φερσεφονείας. Hier begegnet in verhältniss-
mässig früher Zeit die Sage von den zwei Wegen am Eingang der Unterwelt,
von denen der nach rechts laufende zum χῶρος εὐσεβῶν führt, der linke
zum Strafort für die ἄδικοι. Sie mag aus den Phantasien unteritalischer
mystischer Secten herstammen. δεξιόν und ἀριστερόν bedeutet in der pytha-
goreischen Tafel der Gegensätze — wie ja seit langem in der Oionistik —
dasselbe wie ἀγαϑόν und κακόν (Aristot. Metaphys. I 5, p. 986 a, 24 vgl. Jambl.
V. P. 156). — Das ϒ Pythagoreum bezeichnet die Theilung des Lebenswegs
nach rechts (zur Tugend) und links (zum Laster): Serv. ad Aen. 6, 136.
(Vgl. O. Jahn, zu Pers. p. 155 f.) Auf die zwei Wege in der Unterwelt, wohl
schon nach pythagoreischem Vorbild, übertragen von Plato, Rep. 10, 614 C
(τὼ ὁδώ Pl. Gorg. 524 A). Rechts die Quelle der Mnemosyne, links die
der Lethe: Grabtäfelchen von Petelia, Kaibel ep. lap. 1037 (I. Gr. Sic. et
It.
638). Von den zwei Wegen (von denen stets der nach rechts biegende
zum Heil führt) in der Unterwelt redet noch Virgil Aen. 6, 540 ff.;
Hegesipp. Anthol. Pal. 7, 545. Auch die jüdische Fälschung unter dem
Namen des Philemon: Com. ed. Mein. IV 67, 6 ff. — Drei Wege in der
Geisterwelt, die er in den Himmel verlegt, sieht der Empedotimos des
Heraklides Ponticus (s. oben p. 385, 1): Serv. ad Georg. 1, 34. Und auf
drei Wege in der Unterwelt spielt Plutarch de occ. viv. 7 an, indem er,
in dem Citat aus Pindars ϑρῆνος (fr. 129. 130), plötzlich, ohne vorher von
den beiden anderen Wegen irgend etwas gesagt zu haben, redet von der
τρίτη τῶν ἀνοσίως βεβιωκότων καὶ παρανόμων ὁδός, die in den Erebos
führe. Man sollte meinen, diese drei Wege habe er bei dem dort von
ihm durchaus benutzten Pindar schon angetroffen. Drei Wege konnte
annehmen, wer drei Schaaren der Seelen unterschied, indem er zwischen
die εὐσεβεῖς und die ἀσεβεῖς noch die nach keiner von beiden Seiten er-
heblich von der Mittelstrasse der gewöhnlichen Moral Abweichenden
stellte, die doch weder des Lohnes noch harter Strafe würdig waren.
Diesen fiele dann wohl, statt der Seligkeit oder den Leiden der zwei
anderen Classen, der indifferente Zustand der homerischen εἴδωλα καμόντων
zu. So deutlich durchgeführt bei Lucian, de luctu 7—9. (Virgil hat
auch drei Classen, setzt aber die Mittelnaturen in den limbus infantium,
hinter dem sich erst der Weg gabelt nach Elysium und Tartarus). Ob
schon Pindar gelegentlich (er braucht darin nicht consequent gewesen
zu sein) solche Dreitheilung der Seelen vortrug?
1).
Noch Plato lässt in seiner heftigen Bekämpfung der Dichter und
Dichtung — in der doch nach ihm οὐδὲν σπουδῆς χάριν, ἀλλὰ παιδιᾶς
ἕνεκα πάντα δρᾶται — erkennen, dass die altgriechische Meinung, die
rechten Lehrer des Volkes seien eben die Dichter, auch zu seiner Zeit
noch keineswegs abgethan war. Denn eben als Lehrer verstanden oder
missverstanden, scheinen sie ihm gefährlich und bekämpfenswerth.
1).
Nur die Volksmeinung wird, in besonders naivem Ausdruck, formu-
lirt bei Aristophanes, Ran. 1030: — ταῦτα γὰρ ἄνδρας χρὴ ποιητὰς ἀσκεῖν
σκέψαι γὰρ ἀπ̕ ἀρχῆς, ὡς ὠφέλιμοι τῶν ποιητῶν οἱ γενναῖοι γεγένηνται
κτλ. Und 1054 ff. (dort im besondern von den Tragikern): ἀποκρύπτειν χρὴ
τὸ πονηρὸν τόν γε ποιητήν, καὶ μὴ παράγειν μηδὲ διδάσκειν. τοῖς μὲν γὰρ
παιδαρίοισιν ἔστι διδάσκαλος ὅστις φράζει, τοῖς ἡβῶσιν δὲ ποιηταί.
1).
Angedeutet ist diese Vorstellung schon Il. Δ 160 ff. Dann bei
Hesiod ἔργ. 282 ff. Fest steht sie dem Herodot: vgl. 1, 91; 6, 86. Im
Uebrigen s. Nägelsbachs Zusammenstellungen, Nachhom. Theol. 34 f. Be-
sonders nachdrücklich redet Theognis 205 ff. 731 ff. Von attischen Autoren
vgl. Solon, fr. 13, 29 ff. (ἀναίτιοι ἔργα τίνουσιν) Eurip. Hippol. 831 ff.; 1375 ff.
(wo das: τὸν οὐδὲν ὄντ̕ ἐπαίτιον 1380 zu beachten ist); fragm. 980. Pseudo-
lys. 6, 20. Lycurg. Leocr. 79; als gewöhnliche Meinung kurz bezeichnet
bei Isocr. 11, 25. Vgl. Lysias bei Athen. 12, 552 f. Man erinnere sich
auch des Falles des Diagoras von Melos, des ἄϑεος: s. oben p. 288 f. —
Die Rechtfertigung dieser Vorstellung einer Bestrafung der Vergehen der
Väter an den Söhnen findet Plutarch, de ser. num. vind. 16, ganz dem
alten Glauben entsprechend, in der Einheit der Angehörigen des γένος:
im Sohne wird eben auch der Vater, wenngleich verstorben, bestraft.
Aus dem tief eingeprägten Gefühl der Einheit, Gemeinsamkeit, ununter-
brochenen Continuität der alten Familiencultgemeinde, wie der Seelencult
sie zur Voraussetzung hat, stammt diese Vorstellung.
2).
Gerade in diesem Punkte, dass nämlich Unheil nicht ohne Schuld
den Menschen treffe, bekennt der Chor, d. h. der Dichter, im Agamemnon
757 ff. δίχα δ̕ ἄλλων μονόφρων εἰμί.
1).
So retten die Stoiker die Forderung der Verantwortlichkeit des
Menschen für seine Handlungen, trotz der unentfliehbaren εἱμαρμένη: die
Handlung würde nicht zustande kommen, wenn nicht zu den nothwendig
sie bedingenden Ursachen die eigene συγκατάϑεσις des Menschen käme,
die, wiewohl selbst nicht frei, durchaus ἐφ̕ ἡμῖν bleibe und uns verant-
wortlich mache (Cic. de fato 18; Nemes. nat. hom. p. 291 Matth).
2).
Deutlich von V. 689 ff. an.
3).
τὰ γὰρ ἐκ προτέρων ἀπλακήματά νιν πρὸς τάσδ̕ (τὰς Ἐρινύας) ἀπάγει
Eum. 934.
4).
Erst als auch Eteokles und Polyneikes im Wechselmord gefallen
sind ἔληξε δαίμων. Sept. 960.
5).
Den homerischen Gedichten ist diese Vorstellung ganz geläufig
(s. Nägelsbach, Hom. Theol. 70 f.; 320 f.), auch in späterer Zeit kehrt sie
bei solchen Autoren, die populärer Anschauung überhaupt oder doch in
1).
ἀπάτης δικαίας οὐκ ἀποστατεῖ ϑεός fr. 301. Und so sind auch
die weniger deutlich den gerechten Zweck des göttlichen Trugs hervor-
hebenden anderen Aussagen des Dichters zu verstehen: Pers. 93 ff. 742;
fr. 156; 302. (Vgl. auch Suppl. 403 f.) — Ganz in Aeschyleischem Sinne
lässt Aristophanes seine Wolken reden, Nub. 1458 ff. Diese herbe Vor-
stellung muss doch wohl von der Bühne aus eine gewisse Verbreitung
gefunden haben. Lüge und Trug zu gerechtem Zweck waren (selbst für
ihre Götter) den Griechen nichts Anstössiges: daher Sokrates (bei Xeno-
phon), Plato, einige Stoiker ganz unbefangen Lügen dieser Art billigen
und empfehlen konnten (auf die Aeschyleischen Verse beruft sich, die
gleiche Theorie verfechtend, der Verfasser der Διαλέξεις, cap. 3).
2).
Agam. 1497—1507. Hier deutliche Gegenüberstellung der volks-
thümlichen Vorstellung, die alle Schuld auf den zur Unthat verlocken-
den ἀλάστωρ schiebt (hiervon noch ein Nachklang bei Sophocl. El.
197 ff.), und der geläuterten Ansicht des Dichters, die trotz der Mit-
hilfe des ἀλάστωρ daran festhält, dass der Thäter des Frevels nicht
ἀναίτιος sei.
3).
Der Todte des Cults seiner noch lebenden Angehörigen bedürftig:
Choëph. 484 f. (sein Grab ein βωμός: Cho. 106; χοαὶ γαμήλιοι für ihn: 486 f).
Als Besänftigung seines leicht erregten Zornes χοαὶ νερτέρων μειλίγματα:
Cho. 15. Der Todte hat noch Bewusstsein von dem was auf der Ober-
welt geschehen ist und geschieht: φρόνημα τοῦ ϑανόντος οὐ δαμάζει πυρὸς
5).
dem einzelnen Falle Ausdruck geben, sehr oft wieder: bei Theognis,
Herodot, besonders auch bei Euripides (vgl. Fr. Trag. adesp. 455), den
Rednern. S. Nägelsbach Nachhom. Theol. 54 ff.; 332 f. 378.
1).
Die Erinyen rächen nur den Mord eines Blutsverwandten, daher
nicht den des Gatten durch die Gattin: Eum. 210—212; 604 ff. Es
scheint aber die Meinung durch, dass sie im Besonderen bestellt seien als
Rächerinnen des Mordes der Mutter durch den Sohn. mehr als wenn
dieser den Vater erschlagen hätte: 658 ff. 736 ff. (Nachklang solcher Be-
trachtungen bei Soph. El. 341 ff. 532 ff. Eurip. Orest. 552 ff.; fragm. 1064).
Dies wird wohl alter (von Aesch. nicht mehr voll anerkannter) Volks-
glaube sein, der aber nicht (wie man vielfach annimmt) auf altem, in
Griechenland sonst nirgends nachweisbarem „Mutterrecht“ zu beruhen
braucht, sondern sich vielleicht einfach daraus erklärt, dass dem Vater
in seiner Sippe noch irdische Bluträcher (auch am eigenen Sohne) leben,
der Mutter dagegen, die aus ihrer Familie ausgeschieden ist, von dort-
her keine Blutrache kommen kann und in der Familie des Mannes kein
Bluträcher zugewachsen ist, der ihren Mord an ihrem eigenen Sohne zu
rächen hätte: daher für sie am entschiedensten und nothwendigsten die
dämonischen Bluträcher, die Erinyen, eintreten müssen, die immer nur
da wirksam gedacht werden, wo kein irdischer Bluträcher vorhanden
ist. — Natürlich soll nirgends geleugnet werden, dass es auch πατρὸς
εὺκταίαν Ἐρινύν (Sept. 721) gebe.
3).
μαλερὰ γνάϑος (Cho. 324 f.). In dem Wecklied, den Anrufungen der
Elektra und des Chors in den Choëphoren wird daher die Seele des Aga-
memnon durchaus als bewusst lebendig, den Anrufungen zugänglich (wie-
wohl ἐξ ἀμαυρᾶς φρενός 157) gedacht und demgemäss angeredet. (Vgl.
V. 139. 147 f. 156 f. 479 ff. Pers. 636 ff.). Es wird sogar erwartet, dass an
dem Rachewerk seine Seele, ungesehen erscheinend auf der Oberwelt,
thätlich theilnehme: ἄκουσον ἐς φάος μολών, ξὺν δὲ γενοῦ πρὸς ἐχϑρούς:
Cho. 459 f. (vgl. 489). So hofft in seiner Noth auch Eum. 598 Orest,
dass ἀρωγὰς ἐκ τάφου πέμψει πατήρ. Vor Allem hat der Ermordete An-
spruch auf Blutrache durch seine ἀγχιστεῖς (οὐδ̕ ἄπ̕ ἄλλων Cho. 472),
Apollo selbst hat dem Orest befohlen, sie auszuüben. Cho. 269 ff. etc.
Grässliche Folgen der Vernachlässigung dieser Pflicht: Cho. 278—296
(eine vielleicht interpolirte, aber ganz im Sinne des Volksglaubens ge-
haltene Ausführung der Worte des Aesch. selbst V. 271 ff.).
1).
δαίμων, ϑεός, δῖος ἀνάκτωρ, ἰσοδαίμων βασιλεύς heisst nur der todte
Perserkönig: Pers. 620. 633. 651. Das soll aber wohl persischen, nicht
griechischen Glauben charakterisiren (der griechische König ist auch im
Hades noch ein König: Choeph. 355—361; aber nicht ein δαίμων).
2).
κἀκεῖ δικάζει τἀμπλακήμαϑ̕, ὡς λόγος, Ζεὺς ἄλλος (vgl. Ζῆνα
τῶν κεκμηκότων 157) ἐν καμοῦσιν ὑστάτας δίκας. Suppl. 230 f. Vgl. 414 ff.
μέγας γὰρ Ἅιδης ἐστὶν εὔϑυνος βροτῶν ἔνερϑε χϑονός, δελτογράφῳ δέ πάντ̕
ἐπωπᾷ φρενί Eumen. 274 f. Auch im Hades geben die Erinyen den
Mörder nicht frei: Eum. 340. Die Hadesstrafe scheint nur als eine Er-
gänzung der (etwa ausbleibenden) Strafe des Frevels auf Erden einzu-
treten: ῥοπὴ δ̕ ἐπισκοπεῖ δίκας ταχεῖα τοὺς μἐν ἐν φάει, τὰ δ̕ ἐν μεταιχμίῳ
σκότου μένει χρονίζοντας ἄχη, τοὺς δ̕ ἄκρατος ἔχει νύξ. Choeph. 61 ff.
3).
τοὺς ϑανόντας εἰ ϑέλεις εὐεργετεῖν εἴτ̕ οὖν κακουργεῖν, ἀμφιδεξίως
ἔχει τῷ μήτε χαίρειν μήτε λυπεῖσϑαι νεκρούς fragm. 266. Das stimmt frei-
lich gar nicht zu Choeph. 324 f. und so vielen ähnlichen Aussprüchen, die
Bewusstsein und Empfindung (also auch χαίρειν und λυπεῖσϑαι) der Todten
3).
voraussetzen. Consequenz in diesen Dingen darf man eben bei einem
nicht-theologischen Dichter nicht suchen. Die ψυχή des Todten ein
Schatten ohne Lebenssaft: fr. 229. Der Tod eine Zuflucht vor irdischem
Leid: fr. 353. Der schnelle Tod, den der Chor sich wünscht, Agam. 1449 ff.
bringt τὸν ἀεὶ ἀτέλευτον ὕπνον, also einen Zustand der Bewusstlosigkeit,
wenn nicht völliger Nichtigkeit. — Der Schatten des Darius nimmt von
den persischen Grossen Abschied mit den Worten: ὑμεῖς δὲ, πρέσβεις,
χαίρετ̕, ἐν κακοῖς ὅμως ψυχὴν διδόντες ἡδονῇ καϑ̕ ἡμέραν, ὡς τοῖς ϑανοῦσι
πλοῦτος οὐδὲν ὠφελεῖ (Pers. 840 ff.). Diese Lebensauffassung soll vermuth-
lich orientalische Färbung tragen (wie jene Grabschrift des Sardanapal,
deren man sich hiebei mit Recht erinnert), die Begründung: ὡς τοῖς
ϑανοῦσι — wohl desgleichen.
1).
ἔνδικοι σφαγαί 37. Orest ist des väterlichen Hauses δίκῃ καϑαρ-
τὴς πρὸς ϑεῶν ὡρμημένος 70.
2).
Dass nach vollbrachtem Muttermord keine Erinys den Orest ver-
folgt, geschieht zwar auch deswegen, weil Sophokles, der mit der „Elektra“,
als isolirt für sich stehendem Drama, die Handlung ganz zu Ende und
zur Ruhe bringen will, keine neuen Fäden an dessen Ausgang anknüpfen
darf. Aber der Dichter hätte das so eben nicht einrichten können, wenn
ihm der Glaube an die Wesenhaftigkeit der Erinys, an das nothwendige
Weiterwirken der Rache in der Familie, nicht, gegen Aeschylos gehalten,
bereits verdunkelt, veraltet erschienen wäre. Das alte Familienblutrecht
ist ihm weniger bedeutend als das Recht des losgelösten Individuums.
1).
Flüchtige Hindeutungen El. 504 ff.; O. Col. 965. Antig. 856. Vgl.
584 ff. 594 ff.
1).
οὐ γὰρ ἴδοις ἄν ἀϑρῶν βροτὸν ὅστις ἄν, εἰ ϑεὸς ἄγοι, ἐκφυγεῖν δύναιτο.
O. C. 252. ὅταν δέ τις ϑεῶν βλάπτῃ, δύναιτ̕ ἂν οὐδ̕ ἂν ὁ σϑένων φυγεῖν.
El. 696 f. αἴσχη μέν, ὦ γυναῖκες, οὐδ̕ ἂν εἷς φύγοι βροτῶν ποϑ̕ ᾧ καὶ Ζεὺς
(als der alles lenkt und bestimmt: El. 175, O. C. 1085) ἐφορμήσῃ κακά ·
νόσους δ̕ἀνάγκη τὰς ϑεηλάτους φέρειν fr. 619.
2).
Phil. 191—200.
3).
So ist es durch Orakelspruch längst festgesetzt: 821 ff.; 1159 ff.
Es auszuführen zwingt Deianiren nicht eigentlich Gewalt oder Bethörung,
aber ein dunkler Drang, der ihre reinsten Absichten zum Ueblen umkehrt.
Sie selbst ist völlig schuldlos. ἥμαρτε χρηστὰ μωμένη.
1).
Den Grund und Sinn dieses Willens lernen wir nicht kennen,
nicht im Oed. Tyr., auch nicht in den nachträglich angestellten Betrach-
tungen des Oed. Col. Klar wird dort nur die völlige Schuldlosigkeit des
Oedipus, über den Grund des Götterwillens, der ihn in alle jene Gräuel
hineinstiess, weiss der Dulder nur zu sagen: ϑεοῖς γὰρ οὕτω ἦν φίλον, τάχ̕
ἄν τι μηνίουσιν εἰς γένος πάλαι (964 f.). Hier findet denn moderne Um-
deutung der Alten die „Wahrung einer sittlichen Weltordnung“ als Motiv
des Götterwillens ausgesprochen.
2).
καὶ γὰρ ἦν τῶν ϑεοσεβεστάτων Schol. El. 831.
3).
fr. 226: σοφὸς γὰρ οὐδεὶς πλὴν ὃν ἂν τιμᾷ ϑεός. ἀλλ̕ εἰς ϑεόν
σ̕ ὁρῶντα, κἂν ἔξω δίκης χωρεῖν κελεύῃ, κεῖσ̕ ὁδοιπορεῖν χρεών. αἰσχρὸν
γὰρ οὐδὲν ὧν ὑφηγοῦνται ϑεοί.
4).
Aias hat die Göttin gereizt, indem er sich vermaass, ihrer Hilfe
nicht zu bedürfen. Damit hat er sich ἀστεργῆ ϑεᾶς ὀργήν (776) zugezogen;
sie macht ihn wahnsinnig, damit er erkenne τὴν ϑεῶν ἰσχὺν ὅση (118).
Ihre Uebermacht, die Thorheit des Menschen, diese zu unterschätzen,
1).
Trach. 1266 f.; 1272 (wo freilich der Verdacht einer Trübung der
Ueberlieferung besteht), fr. 103. Im Philoktet ähnliches.
2).
Es giebt ein Gebiet unergründlicher göttlicher Geheimnisse: —
οὐ γὰρ ἂν τὰ ϑεῖα κρυπτόντων ϑεῶν μάϑοις ἂν, οὐδ̕ εἰ πάντ̕ ἐπεξέλϑοις
σκοπῶν. fr. 833. Vgl. O. R. 280 f. πολλὰ καὶ λαϑεῖν καλόν: fr. 80.
3).
Die Haltung der Athene im Prologos des „Aias“ macht eine
Ausnahme.
4).
beweist sie so. Aber um den Nachweis eines in irgend welchem Sinne
sittlichen Grundes oder Zweckes der Rachethat der Göttin bemüht sich
der fromme Dichter nicht. — Durch Hineindeuten von Vorstellungen, die
einer neueren Zeit geläufiger sind, macht man solche antike εὐσέβεια und
δεισιδαιμονία ihrer besonderen Art nach nicht verständlicher. Es begegnet
uns hier dieselbe Art der Götterscheu, die des Herodot (der nicht grundlos
ein Freund des Sopkokles war) Geschichtsdarstellung durchzieht, auch in
der Weise des Nikias, im Wesentlichen auch bei Xenophon sich ausprägt,
von Thukydides, zumeist auch (denn er schwankt) von Euripides ruhig
bei Seite gesetzt oder heftig verworfen wird. Ihre Art bezeichnet besser
als das übliche εὐσέβεια, der auch wohl vorkommende Ausdruck: ἡ πρὸς
τοὺς ϑεοὺς εὐλάβεια (adv. Neaer. 74).
1).
Odysseus beim Anblick des wahnsinnigen Aias: — ἐποικτίρω δέ
νιν δύστηνον ὄντα καίπερ ὄντα δυσμενῆ, ὁϑούνεκ̕ ἄτῃ συγκατέζευκται κακῇ,
οὐδὲν τὸ τούτου μᾶλλον ἢ τοὐμὸν σκοπῶν· ὁρῶ γὰρ ἡμᾶς οὐδὲν ὄντας ἄλλο
πλὴν εἴδωλ̕ ὅσοιπερ ζῶμεν, ἢ κούφην σκιάν. Ai. 121 ff.
2).
ἰὼ γενεαὶ βροτῶν κτλ. O. R. 1186 ff. ὅστις τοῦ πλέονος μέρους χρῄζει
O. C. 1211—1237. Vgl. fr. 12. 535. 536. 588. 859. 860.
3).
Auch der Antigone nicht, wie es bei flüchtiger und isolirender
Betrachtung solcher Verse wie Antig. 73 ff. scheinen könnte. Das ganze
Drama lehrt, dass Antigone den ἄγραπτα κἀσφαλῆ ϑεῶν νόμιμα und dem
Antriebe ihrer eigenen Liebesnatur folgt durchaus ohne Rücksicht auf das
was auf Erden und ohne Seitenblick auf das was drüben sich aus ihrer
„frommen Frevelthat“ ergeben könne.
1).
Vielfach: ἐν Ἅιδου κεκευϑότων (Antig. 911) μυχοὺς κιχεῖν τοῦ κάτω
ϑεοῦ (Ai. 571) u. ä. = gestorben sein (ein οἰκήτωρ des Erebos sein:
Ai. 395 ff. Wohl der Hades heisst πανδόκος ξενόστασις, fr. 252). Bezeich-
nend für die Vermischung der Vorstellung des Hadesreiches mit dem des
Grabes ist der nicht seltene Ausdruck: ἐν Ἅιδου, παρ̕ Ἅιδῃ κεῖσϑαι:
El. 463; O. R. 972; Phil. 861; φίλη μετ̕ αὐτοῦ κείσομαι φίλου μέτα Ant. 73.
Vgl. fr. 518.
2).
τὸν ἀπότροπον Ἅιδαν Ai. 607. — fr. 275.
3).
Der Todte σκιά Ai. 1257; σποδὸς καὶ σκιὰ ἀνωφελής El. 1159;
ein μηδέν: El. 1166; Ai. 1231. — Gleichwohl wird, nach homerischer
Art, eine gewisse Gestalt, eine Art halbbewussten Daseins der Schatten
im Hades vorausgesetzt: O. R. 1371 ff. — Zweifel: εἴ τις ἔστ̕ ἐκεῖ χάρις
El. 356.
4).
ϑανόντων οὐδὲν ἄλγος ἅπτεται O. C. 955. τοῖς γὰρ ϑανοῦσι μόχϑος
οὐ προσγίγνεται Trach. 1173. τοὺς γὰρ ϑανόντας οὐχ ὁρῶ λυπουμένους El. 1170
(Alle drei Verse spricht neuere Kritik dem Sophokles ab).
5).
Phil. 797 f.; Ai. 854; O. C. 1220 ff., fr. 636 (vgl. Aeschyl. fr. 255;
Fr. trag. adesp. 360. — λιμὴν κακῶν ὁ ϑάνατος, Gemeinplatz späterer
Moralisten [s. Wyttenb. Plut. Moral. VI. p. 720] aus der Tragödie über-
nommen). — Das Gegentheil: fr. 64. 275.
6).
Zusammengefasst: οἱ νέρτεροι, οἱ νέρτεροι ϑεοί O. C. 1661; Ant. 602.
Zumal Ἅιδης öfter genannt, Πλούτων (Ἅιδης στεναγμοῖς καὶ γόοις πλουτί-
ζεται O. R. 30; fr. 251), ὁ παρὰ τὸν Ἀχέροντα (τὰν Ἀχέροντος ἀκτάν Ant.
812. ἀκτὰν ἑσπέρου ϑεοῦ O. R. 177) ϑεὸς ἀνάσσων El. 182. Persephone
und Aïdoneus: O. C. 1556 ff. — Erinyen, Thanatos, Kerberos: O. C.
1568 ff. πομπαῖος Ἑρμῆς χϑόνιος Ai. 832. S. auch El. 110 ff. u. s. w. —
Ἅιδης (hier, wie öfter = Θάνατος) verlangt Menschen zu fressen, δαίσασ-
ϑαι: El. 542 f. Populäre Vorstellung oder doch Redewendung. S. oben
p. 293, 1.
1).
Hades, ὅς οὔτε τοὐπιεικὲς οὔτε τὴν χάριν οἶδεν, μόνην δ̕ἔστερξε τὴν
ἁπλῶς δίκην. fr. 703. Nämlich das Recht völliger Gleicheit (da alle irdi-
schen Unterschiede abgefallen sind): ὅ γ̕ Ἅιδης τοὺς νόμους ἴσους ποϑεῖ.
Ant. 519.
2).
ἡ γὰρ εὐσέβεια συνϑνῄσκει βροτοῖς (sie stirbt wenn der Mensch,
dem sie eigen war, stirbt, d. h. sie folgt ihm, seiner ψυχή, in die Unter-
welt. Verdorben scheint hier nichts), κἂν ζῶσι κἂν ϑάνωσιν οὐκ ἀπόλλυ-
ται. Phil. 1443 f.
3).
Ohne rituale Bestattung ist der Todte τῶν κάτωϑε ϑεῶν ἄμοιρος
ἀκτέριστος ἀνόσιος νέκυς. Ant. 1070 f.
4).
ἐντάφια, οἷα τοῖς κάτω νομίζεται El. 326. κτερίσματα 433. 931;
λουτρά 84. 434 (vgl. oben p. 222, 1); ἔμπυρα 405; χοαί 440. — El. 452 ff.:
bitte den Todten, dass er uns und dem Orest helfe, ὅπως τὸ λοιπὸν αὐτὸν
ἀφνεωτέραις χερσὶν στέφωμεν ἢ τὰ νῦν δωρούμεϑα (jetzt nur Locke und
Gürtel: 448 ff.) — Todtenopfer von Seiten der Feinde, ja deren Annähe-
rung an das Grab sind dem darin Liegenden unangenehm und verhasst:
El. 431 ff.; 442 ff. Ai. 1394 f. (Vgl. oben p. 223, 1). Hiebei ist, wie bei
dem Seelencult durchweg, Anwesenheit des Todten in der Grabeshöhle
1).
El. 1066 ff.
2).
οὐκ ἀπερίτροπος des Ermordeten ist der Gott der Unterwelt:
El. 184. Daher alle Götter und Geister des Hades angerufen werden,
selbst den Mord des Agamemnon zu rächen: El. 110—116. Als Vertre-
terin der Rechtsansprüche des Todten heisst Δίκη, ἡ ξύνοικος τῶν κάτω
ϑεῶν Ant. 451.
3).
Herakles, dem Hyllos seine letzten Aufträge gebend, droht diesem
zuletzt: εἰ δὲ μή, μενῶ σ̕ ἐγὼ καὶ νέρϑεν ὤν, ἀραῖος εἰς ἀεὶ βαρύς Trach.
1201 f. Vgl. fr. 367. S. oben p. 241 Anm.
4).
El. 459 f.: Elektra vermuthet, Agamemnon selbst habe der Kly-
tämnestra die δυςπρόσοπτ̕ ὀνείρατα geschickt. (Die Götter statt des Todten
hier durch Veränderung der Ueberlieferung — mit Nauck — als Traum-
sender einzusetzen, ist kein Grund. Auch ἥρωες können nächtliche Schreck-
bilder senden: s. oben p. 376, 1. Hier vermuthet Elektra, der ungerächte
Ermordete sei es, der selbst durch solche Vorboten seines Grimms seine
Bereitwilligkeit zur Rache mitzuwirken angekündigt habe. Das passt sehr
gut, und sogar ganz allein in den Zusammenhang ihrer Ermahnungen
an die Schwester.).
5).
ἀρωγός El. 454. ζῶσιν οἱ γᾶς κάτω κείμενοι. παλίρρυτον γὰρ αἷμα
ὑπεξαιροὐσι τῶν κτανόντων οἱ πάλαι ϑανόντες. El. 1419 f. „Der Todte
tödtet den Lebenden“: Nauck zu Trach. 1163.
6).
Fr. 753. 805.
4).
oder deren unmittelbarer Nähe vorausgesetzt, nicht sein Abscheiden in
ein unerreichbares Todtenland: welche Vorstellung, aus homerische Dich-
tung beibehalten, unausgeglichen neben jener anderen herzugehn pflegt.
1).
O. C. 1049 ff. 680. fr. 736.
2).
Oedipus stirbt nicht, sondern verschwindet (wird nicht mehr ge-
sehen: 1649), die Erdtiefe thut sich auf und entrafft ihn: 1661 f. 1681.
Gemeint ist eine Entrückung ohne Tod, wie bei Amphiaraos u. A.
Der Dichter lässt nur mit vorsichtig unbestimmten Worten das Wunder
beschreiben; gemeint ist aber nichts andres als eine Entrückung. ὤλετο
(1656) ἔϑανε wird also nur ungenau von seinem Abscheiden gesagt (s. oben
p. 107, 1). Der Bote 1583 f. will aber jedenfalls die Frage des Chors: ὄλωλε
γὰρ δύστηνος; nicht einfach bejahen sondern irgendwie andeuten, dass
Oedipus zwar ὄλωλε (1580) aber nicht einfach gestorben, sondern nur dem
irdischen Leben entrückt sei. Das corrupte: ὡς λελοιπότα κεῖνον τὸν ἀεὶ
(so lasen schon die Alexandriner) βίοτον ἐξεπίστασο genügt es daher nicht,
in τὸν αἰνόν, τὸν ἄβιον βίοτον zu verändern. Es mag etwas wie: τὸν ἔνϑα,
τὸν ἐν γῇ, τὸν ἀνδρῶν βίοτον ursprünglich dagestanden haben (so wie Medea
von ihren Kindern sagt: ἐς ἄλλο σχῆμ̕ ἀποστάντες βίου Eur. Med. 1039.
Eine Verstorbene ὑποκεχώρηκε αἰφνίδιον τοῦ καϑ̕ ἡμᾶς βίου. Ins. aus
Amorgos, Bull. de corr hellén. 1891, p. 576, Z. 9. 10).
3).
Deutliche Abwehr des Unglaubens an solche Wunder: V. 1665 f.
(ἔρρει δὲ τὰ ϑεῖα — dort besonders der Glaube an die, dem Sophokles
so wichtigen Orakel des Loxias — O. R. 906 ff.).
4).
Die Schuldlosigkeit des Oedipus, und wie er alles Grässliche nur
unwissend, unfreiwillig, ϑεῶν ἀγόντων (998) begangen habe, wird darum
1).
Man braucht nur unbefangen das Stück zu lesen, um zu sehn,
dass dieser wilde zornige mitleidlose, den Söhnen gräulich fluchende, der
Vaterstadt Unglück rachgierig vorausgeniessende Greis nichts hat von dem
„tiefen Gottesfrieden“, der „Verklärung des frommen Dulders“, welche die
herkömmliche Litterarexegese zumeist bei ihm wahrnehmen möchte. Der
Dichter, nicht gewohnt, mit faden Beschwichtigungsphrasen sich die Wirk-
lichkeit des Lebens zu verhängen, hat deutlich wahrgenommen, wie Un-
glück und Noth den Menschen nicht zu „verklären“ sondern herabzu-
drücken und unedel zu machen pflegen. Fromm ist sein Oedipus (er war
es von jeher, auch im O. R.), aber verwildert, ἠγρίωται ganz wie Philoktet
(Phil. 1321) in seinem Elend.
2).
Humanität Athens und seines Königs: 562 ff.; 1125 ff.
3).
Immer wieder wird es hervorgehoben, dass die Ansiedlung des
Oedipus unter attischem Boden den Athenern zum Heile, den Thebanern
zum Nachtheil gereichen solle (so hat es Apolls Orakel bestimmt): 92 f;
287 f.; 402; 409 ff.; 576 ff.; 621 ff. Der kostbare Besitz soll daher ver-
heimlicht werden (wie so oft Heroengräber: s. oben p. 152): 1520 ff.
Diese Erhöhung des Oedipus zum σωτήρ für Attika (459 f.) ist dem Dichter
offenbar das, was dem ganzen Mysterium, das er aufführen lässt, Sinn
und Wichtigkeit giebt.
4).
νῦν γὰρ ϑεοί σ̕ ὀρϑοῦσι, πρόσϑε δ̕ ὤλλυσαν. 394. Jetzt tragen die
Götter ὥραν τινά für Oedipus (385). Nach vielen πήματα πάλιν σφε δαίμων
δίκαιος αὔξοι (ἄν) 1565 f. Also Wohlthat nach langer Misshandlung; Ab-
wechslung, aber keine mit Recht in Anspruch zu nehmende Belohnung
oder Entschädigung. Alles ist Gnade.
4).
so nachdrücklich hervorgehoben, damit seine Erhöhung zum Heros
nicht einen Schuldbeladenen getroffen zu haben scheine. Aber positive
Tugenden leiht ihm der Dichter im Oed. Col. nicht, weit weniger als im
Oed. Tyr.
1).
Auch hierin ὡς ἄν τις εἷς τῶν χρηστῶν Ἀϑηναίων (Ion bei Athen.
13, 604 d.).
1).
Dem Prodikos giebt Welcker, Kl. Schr. 2, 497 ff. den grössten
Theil der in dem Pseudoplatonischen Ἀξίοχος ausgeführten Betrachtungen
über ἀϑανασία τῆς ψυχῆς (370 B ff.), den Zug der Seele nach dem himm-
lischen αἰϑήρ (366 A), sogar die Platonisirende Phantasie über das
Loos der Abgeschiedenen cap. 12 ff. Prodikos würde mit solchen Aus-
führungen weniger „ein Vorgänger des Sokrates“ (wie ihn W. nennt)
gewesen sein als ein Vorgänger des Plato. Aber in Wahrheit besteht
gar kein Grund, ihm aus dem lose zusammengefügten Conglomerat her-
kömmlicher Bestandtheile der λόγοι παραμυϑητικοί, welches die kleine,
1).
flüchtig aufgebaute Schrift darstellt, mehr zuzutheilen, als was ihm dort
ausdrücklich zugeschrieben wird: die Betrachtung über die Mühsal des
Lebens auf allen Altersstufen 366 D—367 C, und den Spruch: ὅτι ὁ ϑάνα-
τος οὔτε περὶ τοὺς ζῶντάς ἐστιν οὔτε περὶ τοὺς μετηλλαχότας κτλ.: 369 B.
(s. Buresch, Leipz. Stud. IX 8. 9.) Und diese beiden Abschnitte würden,
vereinigt, als Ansicht des Prodikos das Gegentheil dessen ergeben, was
ihm Welcker zuschrieb. Er würde sich als ein wahrer πεισιϑάνατος dar-
stellen (—ἐξ ἐκείνου ϑανατᾷ μου ἡ ψυχή 366 C), der nach den Mühen des
Lebens den Tod einfach als einen Ausweg in einen empfindungslosen
Zustand, ein völliges Nichts, erscheinen lassen wollte. Aber auf die Aus-
sagen jener Schrift ist überhaupt kein Verlass, sie scheint den Prodikos,
als den bei Plato so oft erwähnten „Lehrer“ des Sokrates, nur vorzu-
schieben, um einen bestimmten Gewährsmann (wie nachher den fabulosen
Gobryes) für das zu nennen, was sie den Sokrates nicht aus eigener
Autorität vorbringen lassen wollte. Der eine Ausspruch des angeblichen
Prodikos, ὅτι ὁ ϑάνατος — ist doch (wie Heinze, Ber. d. sächs. Ges. d.
Wiss.
1884, p. 332 bemerkt) gar zu deutlich aus Epikurs Kernspruch:
ὁ ϑάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς κτλ. (p. 61, 6 ff. Us. Vgl. p. 227, 30; Usener
p. 391; 395) einfach entlehnt. Die andre Ausführung (366 D ff.) stimmt
in verdächtiger Weise mit dem, was Teles p. 38 (Hens.), wie es scheint
ganz nach Krates dem Cyniker, vorbringt: es hat alle Wahrscheinlich-
keit, dass der Verfasser des Axiochos ebenfalls den Krates oder gar (wie
schon Wyttenbach, Plut. Moral. VI, p. 41 annahm) den Teles vor Augen
hatte, und das anderswoher Entlehnte seinen „Prodikos“ vortragen liess,
mit einer Fiction, wie sie die Verfasser solcher Dialoge sich nie übel
genommen haben. — Was also Prodikos über die Seele und ihre Be-
stimmung gesagt haben mag, wissen wir nicht.
1).
Thanatos setzt gleich im Prolog seine Ansprüche und sein Amt
auseinander. Er hat die Abgeschiedenen zu empfangen, schneidet ihnen
1).
Leichenklage: 100 ff. κόσμος, den Todten mitgegeben: 629 ff.
Trauer: den Pferden wird die Mähne beschnitten, kein Flöten- oder
Leyerklang in der Stadt, zwölf Monate lang: 438 ff. (πένϑος ἐτήσιον das
übliche: 347). Diese ausschweifenden Trauerkundgebungen wohl nach
dem in thessalischen Dynastengeschlechtern Ueblichen.
2).
Bestattung der Todten νόμος παλαιὸς δαιμόνων Suppl. 564; νόμιμα
ϑεῶν 19; allgemein hellenische Sitte: 509 f. — Bestattung des Polyneikes
trotz Kreons Verbot: Phoeniss. Schluss; Ἀντιγόνη.
3).
τοῖς γὰρ ϑανοῦσι χρὴ τὸν οὐ τεϑνηκότα τιμὰς διδόντα χϑόνιον εὐσε-
βεῖν ϑεόν. Phoeniss. 1325 f. ἐν εὐσεβεῖ γοῦν, νόμιμα μὴ κλέπτειν νεκρῶν
Hel. 1277. Grabehren sogar wichtiger als Wohlstand im Leben: Hecub.
317 f. — Klage um Missehrung des Grabes des Agamemnon: El. 323 ff.
Bitte um Begräbniss des Astyanax.: Troad. 1122 ff.; des Orestes: Iph.
Taur.
689 ff.; der Makaria: Heraclid. 588 ff. Der Schatten des ermor-
1).
die Stirnhaare ab (75 f.; wohl zum Zeichen der Besitzergreifung durch
die Unterirdischen; bei Virgil Aen. 4, 698 f. weiht auf gleiche Weise
Proserpina die Todten dem Orcus), führt sie dem Hades zu: 884. Er
kommt in Person zum Grabe, geniesst (wie sonst der Todte selbst: s. oben
p. 222, 3) von den Grabspenden: 855 ff. 862 f. Eigentlich ist er nur ein Diener
des Hades; aber da doch ᾅδης schon ganz gewöhnlich = ϑάνατος gebraucht
wurde, so wird Thanatos auch selbst geradezu Ἅιδης genannt (271:
s. oben p. 491, 3); nur als identisch mit Hades kann er ἄναξ νεκρῶν heissen
855 (δαιμόνων κοίρανος 1143). — In der Unterwelt Charon (ὁ ψυχοπομπός
371 f.), Kerberos: 260 ff. (471 f.); 371. Hades und Hermes χϑόνιος em-
pfangen die Todten; εἰ δέ τι κἀκεῖ πλέον ἔστ̕ ἀγαϑοῖς, so wird Alkestis
den Ehrensitz neben Persephone haben: 755 ff. Den Ueberlebenden gilt
sie, ihrer unvergleichlichen Güte wegen, als μάκαιρα δαίμων, ihr Grab
nicht als Todtenstätte, sondern als Ort der Verehrung: 999—1007. So
leichte Heroisirung kannte man vorzugsweise in Thessalien; der Dichter
will vermuthlich auch hiemit seinem Gedichte ein wenig thessalische
Localfärbung geben (δαίμων als Mittelwesen zwischen ϑεοί und ἄνϑρωποι.
So wiederholt schon bei Euripides: z. B. Troad. 55. 56; Med. 1380. So
zu verstehen das μέσον Hel. 1136?) — Ganz im Volkston: 637 f. χαῖρε
κἀν Ἅιδου δόμοις εὖ σοι γένοιτο (solches χαῖρε — ist das letzte Wort mit
dem man, ὡς νομίζεται, die Todte anredet, ἐξιοῦσαν ὑστάτην ὁδόν 620 f.).
Desgleichen (aber eigentlich mit der Vorstellung vom Aufenthalt der
Todten im Grabe, nicht im Hades): κοῦφα σοι χϑὼν ἐπάνωϑε πέσοι 477.
1).
χοαί für den Todten, z. B. Orest. 112 ff. El. 508 ff. Iph. Taur.
157 ff.
2).
χοαί machen den Todten εὐμενῆ für den Opfernden: Or. 119.
Die Kinder rufen die Seele des erschlagenen Vaters an, ihnen zu helfen:
El. 676 ff., überzeugt, dass πάντ̕ ἀκούει τάδε πατήρ: 683. Die Seele des
Todten schwebt um die Lebenden, alles vernehmend: Or. 667 ff. Anrufung
der Todten (mit Aufschlagen beider Hände auf die Erde: s. oben p. 111, 2):
Troad. 1294 ff. Hoffnung, der Angerufene werde die Seinigen σῶσαι:
Or. 789, ihnen helfen: El. 678. Anrufung an den im Hades verschwun-
denen: ἄρηξον, ἐλϑὲ καὶ σκιὰ φάνηϑί μοι: Herc. fur. 492 (freilich mit
der Cautel: εἴ τις φϑόγγος εἰσακούσεται ϑνητῶν παρ̕ Ἅιδῃ 488).
3).
Entrückungswunder berührt der Dichter mit deutlicher Vorliebe:
Entrückung des Kadmos und der Harmonia: Bacch. 1319 ff.; 1327 ff.; des
Peleus: Andr. 1225 ff.; der Helena: Orest. 1641 f.; des Herakles: Hera-
clid.
910 ff.; des Menelaos (dort mit unverkennbarem Hohn): Hel. 1677 ff.
Darnach am unechten Schluss der Iph. Aul. Entrückung der Iphigenia:
1597 ff. (πρὸς ϑεοὺς ἀφίπτατο 1605).
4).
Eurystheus, am Heiligthum der Athene Pallenis bestattet, wird
Athen zum Heil, dessen Feinden zum Schaden wirken: Heraclid. 1025 ff.
Er sagt: σοὶ μὲν εὔνους καὶ πόλει σωτήριος μέτοικος ἀεὶ κείσομαι κατὰ χϑο-
νός (1032 f.): d. h., er wird zum ἥρως σωτήρ des Landes werden (wie
Oedipus σωτήρ für Attika wird: Soph. O. C. 460; Brasidas Heros σωτήρ
der Amphipoliten: Thucyd. 5, 11, 2). Heroischer Cult des Hippolytos:
Hippol. 1417 ff.; fr. 446.
5).
Von den Erinyen ist, scheinbar ganz gläubig, die Rede, Iph.
Taur.
79 ff. und sonst.
3).
deten Polydoros fleht vor allem um Bestattung: Hecub. 47 ff. (31 f.; 779 f.).
Er ist ein Beispiel für das Umirren der ἄταφοι auf der Oberwelt: der
ἄϑαπτος ἀλαίνει: Troad. 1075 f. (s. oben p. 201; 374). — Bestattungsfeier
für solche, die im Meere umgekommen sind: Hel. 1056 ff. 1252 ff. Dort
freilich nur als Hebel für das Intriguenspiel verwendet
1).
Or. 248 f. Nicht viel anders auch Iph. Taur. 288—291.
2).
τὸ ϑηριῶδες τοῦτο καὶ μιαιφόνον — Or. 517. Orest hätte, statt
selbst zu morden, die Mörder seines Vaters gerichtlich belangen sollen:
Or. 490 ff. Agamemnon selbst würde, wenn man ihn hätte befragen
können, diese blutige Rache nicht gewünscht haben: Or. 280 ff. Einzig
Apolls unweiser Rath hat den Orest zum Muttermord verführt: El. 969 ff.;
1297 f.; Or. 277 ff.; 409; 583 ff. Nach der That empfindet Orest wohl
Reue, aber ohne jede religiöse Beängstigung: El. 1177 ff. (dennoch ist
viel von den ihn verfolgenden Erinyen der Mutter die Rede). Wie völlig
dem Dichter der Sinn für die ganze Kette der Vorstellungen von Blut-
rachepflicht u. s. w. geschwunden ist, fühlt sich besonders an der sophi-
stischen Kälte mit der hierüber in dem ἀγών zwischen Tyndareos und
Orest verhandelt wird: Or. 485—597, an der Spitzfindigkeit in der Rede
des Orest, Or. 924 ff.
1).
δοκῶ δὲ τοῖς ϑανοῦσι διαφέρειν βραχύ, εἰ πλουσίων τις τεύξεται κτε-
ρισμάτων· κενὸν δὲ γαύρωμ̕ ἐστὶ τῶν ζώντων τόδε. Troad. 1237 ff.
2).
fr. 176.
3).
οὐδὲν ἔσϑ̕ ὁ κατϑανών Alc. 392. Die Todten οἱ οὐκέτ̕ ὄντες: 333.
τοῖς (den Todten) μὲν γὰρ οὐδὲν ἄλγος ἅψεταί ποτε, πολλῶν δὲ μόχϑων
εὐκλεὴς ἐπάυσατο 943 f. Selbst der Ruhm aber ist dem Todten nichts.
Admet zu seinem Vater in jenem scurrilen Dialog: ϑάνῃ γε μέντοι δυσ-
κλεής, ὅταν ϑάνῃς. Worauf der Alte gleichmüthig: κακῶς ἀκούειν οὐ
μέλει ϑανόντι μοι (737. 38).
4).
Es könnte einfacher scheinen, alle mit dem herkömmlichen Glau-
ben übereinstimmenden Aeusserungen der Personen eines Dramas nur als
deren eigene, vom Ueberlieferten nicht abweichende Ansichten gelten zu
lassen, die der Dichter keineswegs für seine eigenen Ansichten ausgeben
wolle. Nicht aus seinen, nur aus ihren eigenen Vorstellungen und Mo-
tiven heraus können ja doch seine frei hingestellten und selbständig
agirenden Figuren reden und handeln. Aber im antiken Drama gilt
diese völlige Ablösung der Erscheinungen des dramatischen Bildes von
dem Bildner, dem Dichter des Dramas, nur in eingeschränktem Sinne.
Viel einschneidender als die Grössten unter den Neueren übt der antike
Dramatiker sein Richteramt: der Verlauf seines Gedichtes zeigt deutlich
an, welche Thaten und Charaktere ihm als verwerflich gelten, aber auch
welche [Meinungsäusserungen]/choice\> er billigt, welche nicht. Man denke etwa
an die Ausfälle des Oedipus und der Iokaste gegen die Götterwahrsprüche
im Oed. Tyr. (oder an die Erzählung des Seneca, epist. 115, 14: Eurip.
fr. 324). So darf man solche Aussprüche der Bühnenpersonen, die ohne
thatsächliche oder ausgesprochene Correctur bleiben, als solche ansehn,
die dem Dichter selbst nicht als verwerflich gelten. Euripides vollends
lässt seine Personen so häufig Meinungen und Lehren vortragen, die nur
seine eigenen Ansichten und Stimmungen ausdrücken können, dass man
auch da, wo ihre Aeusserungen mit den Annahmen des überlieferten
1).
Alc. 968 ff.; Hippol. 949 ff. — Askese der Mysten des Zeus und
des Zagreus, der Bergmutter und der Kureten: Κρῆτες, fr. 472.
2).
Polyid., fr. 638, Phrixos, fr. 833. Man meint hier meistens (z. B.
Bergk, Gr. Litt. 3, 475, 33) einen Anklang an Heraklit zu vernehmen.
Aber dessen: ἀϑάνατοι ϑνητοί, ϑνητοὶ ἀϑάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων ϑάνα-
τον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεϑνεῶτες (fr. 67) spricht ja deutlich aus, dass
„Tod“ und „Leben“ überhaupt relative Begriffe seien, Tod (des Einen,
des Feuers) und Leben (des Andern, des Wassers, der Erde) gleichzeitig
an demselben Object statthaben (s. fr. 68. 78). Darnach wäre, absolut
gesprochen, das Leben auf Erden nicht mehr Leben als Tod: das will
ja aber Euripides jedenfalls nicht sagen. Nur missdeutend geben Philo,
Sextus Empir. dem Heraklit die orphische Lehre vom „Tode“ der Seele,
wenn sie in das σῶμα als ihr σῆμα eingeschlossen werde (s. oben p. 442, 2).
Diese orphische Lehre aber ist es, die dem Euripides vorschwebt (wie sie
denn bei Plato, Gorg. 492 E, 493 A in unmittelbaren Zusammenhang mit
jenen Versen des Eur. gebracht wird): in ihr ist wirklich von einem „Tode“
der Seele im Leibesleben und ihrer Befreiung zu wahrem (nicht nur
relativem) Leben nach dem Tode die Rede, das „Leben“ ist ihr nur ein
missbräuchlich mit so auszeichnendem Namen benanntes (ὅ δὴ βίοτον
καλέουσι Emped. 117).
4).
Glaubens übereinkommen, zumeist annehmen darf, dass im Augenblick
solche Glaubensäusserungen die Ansicht des subjectivsten der Tragiker
wiedergeben. So ist z. B. unverkennbar, dass der fromme Klang, der die
Hiketiden ganz durchzieht (Unterwerfung der φρόνησις unter Gottes Weis-
heit: 218 ff., Hingebung an die Leitung der Götter: 595 ff., an Zeus’
Weltregierung: 737 ff.), und sich besonders in der Ausmalung des Theseus
als Muster der εὐσέβεια gefällt, der thatsächlichen Stimmung des Dichters
(der von sich selbst offenbar redet V. 182—185) in jenem Zeitpunkt ent-
spricht. Und auch sonst hat er vielfach, nur (ausser in den Bakchen)
meistens auf kurze Zeit, Velleitäten der Altgläubigkeit.
1).
Palingenesie nur spielend einmal ausgemalt als zu fordernde Be-
lohnung der Tugendhaften: Herc. fur. 654—666. (Vgl. Marc. Aurel. εἰς
ἑαυτὸν 12, 5).
2).
ὁ νοῦς γὰρ ἡμῶν ἐστιν ἐν ἑκάστῳ ϑεός. fr. 1018.
3).
fr. 839 (Chrysipp.); ganz physisch fr. 898, 7 ff. — fr. 1023: Αἰϑέρα
καὶ Γαῖαν πάντων γενέτειραν ἀείδω. fr. 1014.
4).
fr. 484 (Μελαν. ἡ σοφή): — ὡς οὐρανός τε γαῖα τ̕ ἦν μορφὴ μία
κτλ. Auch hier ist nur von einem antänglichen Beisammensein der später
1).
Dies wird besonders deutlich fr. 839, 8 ff.: bei der Scheidung der
Bestandtheile, aus denen πάντα besteht, erhält jedes der zwei, γῆ und
αἰϑήρ, sich völlig unvermindert und unvermischt. ϑνῄσκει δ̛ οὐδὲν τῶν
γιγνομένων διακρινόμενον δ̛ ἄλλο πρὸς ἄλλου μορφὴν ἰδίαν ἀπέδειξεν
(stellt sich in seinem Sonderdasein wieder her). Wobei man doch un-
willkürlich sich an die Worte des Anaxagoras erinnert fühlt: — οὐδὲν
γὰρ χρῆμα γίνεται, οὐδὲ ἀπόλλυται, ἀλλ̕ ἀπ̕ ἐόντων χρημάτων συμμίσγεταί
τε καὶ διακρίνεται, καὶ οὕτως ἂν ὀρϑῶς καλοῖεν τό τε γίνεσϑαι συμμίσγεσϑαι,
καὶ τὸ ἀπόλλυσϑαι διακρίνεσϑαι (fr. 17 Mull.).
2).
Dass nicht Anaxagoras, wenigstens nicht er allein, die philo-
sophischen Gedanken des Euripides bestimmte, nimmt man neuerdings
4).
gesonderten, aber von jeher als für sich bestehend zu denkenden Ur-
bestandtheile die Rede, nicht von einer Ableitung beider aus einem ge-
meinsamen einzigen Urelement oder einer Herleitung des einen aus dem
andern. Es mag hier wirklich, wie die alten Zeugen annehmen, dem Eur.
das ὁμοῦ πάντα χρήματα ἦν des Anaxagoras vorschweben, um so mehr
da auch bei Anaxagoras aus der allgemeinen Vermischung zuerst zwei
Massen, ἀήρ und αἰϑήρ, sich aussondern (freilich nicht so, dass der νοῦς
in dem αἰϑήρ mitbegriffen ist, wie bei Euripides). Es bleibt also auch
hier der Dualismus der Euripideischen Kosmogonie bestehen. Uebrigens
leuchtet in diesem Bruchstück (484) doch deutlich durch, dass bei allen
physiologischen Neigungen Eur. die mythische Vorstellung bei den
kosmogonischen Vorgängen nicht ganz abstreifen kann. Uranos und Gaia
empfahlen sich ihm sicherlich auch darum als Urpotenzen, weil die kos-
mogonische Dichtung seit langem diese an die Spitze der Götter und
der Welt gestellt hatte (αἰϑήρ erst ist die mehr physiologische Bezeich-
nung dessen was halb personificirt Οὐρανός heisst). Und daher wohl auch
erklärt es sich, dass die Materie (oder doch die robustere Materie, im
Unterschied vom αἰϑηρ, dem λεπτότατον πάντων χρημάτων) sich ihm in der
„Erde“ zusammenfasst. Er folgt hierin keinem der älteren Physiologen:
als Grundstoff hatte die Erde (wenigstens die Erde allein) keiner be-
stimmt (s. Ilberg, Quaest. Pseudhippocrat. [1883] p. 16 ff.). „Erde“ als
Inbegriff des Stofflichen, Geistverlassenen, mag ihm auch aus volksthüm-
lichem Ausdruck geläufig gewesen sein. Schon Il. 24, 54 heisst ja der
von Seele und Leben verlassene Leib κωφὴ γαῖα (vgl. Eurip. fr. 532,
757, 5). So kommt der Gegensatz von γῆ und αἰϑήρ dem Dichter fast
auf den von „Stoff“ und „Geist“ hinaus, nur dass einen „Geist“ ohne
jedes stoffliche Substrat er sich nicht denken konnte oder mochte und
daher auch sein αἰϑήρ noch einen stofflichen Rest bewahrt.
1).
Troad. 877 ff. Die Luft, Zeus benannt und identisch mit dem
νοῦς βροτῶν kann nur aus den Lehren des Diogenes entnommen sein.
Diels, Rhein. Mus. 42, 12.
2).
Diog. Apoll. fr. 3; 4; 5 (Mull.). Die Seele ist ἀὴρ ϑερμότερος
τοῦ ἔξω, ἐν ᾧ εἶμεν, wiewohl kälter als die Luft die παρὰ τῷ ἡλίῳ ist.
fr. 6. Also dem αἰϑήρ verwandter als dem ἀήρ (αἰϑήρ und ἀήρ damals
schon oft verwechselt; bei Euripides z. B. fr. 944 αἰϑήρ statt ἀήρ).
2).
mit Recht an. Von der Abtrennung des νοῦς von allem Stofflichen, wie
Anaxagoras sie wenigstens beabsichtigt, ist bei Eur. keine Spur. Der
Geist ist ihm an das eine der zwei Urelemente gebunden, dem anderen,
der Erde, ganz fremd; so entsteht ihm zwar auch ein Dualismus, aber
von anderem Aussehen als der des Anaxagoras. Auf Anklänge Euripi-
deischer Aeusserungen an Diogenes von Apollonia deutet Dümmler, Pro-
legom. zu Platons Staat
(Prog. Basel 1891) p. 48 hin: nur dass des Dichters
Ansichten, „die nächste Verwandtschaft“ mit dem monistischen System
des D. oder mit irgend einem Monismus zeigen, lässt sich nicht behaupten.
1).
Suppl. 1148 αἰϑὴρ ἔχει νιν ἤδη κτλ. Elektra sucht den todten
Vater im Aether: El. 59. Ein Sterbender: πνεῦμ̕ ἀφεὶς εἰς αἰϑέρα fr. 971
(anders Or. 1086 f.). Auch Suppl. 532—537 (dem Epicharm nachgeahmt)
ist doch wohl nur von dem αἰϑήρ als Wohnplatz, nicht als dem wesens-
gleichen Urelement der Seele die Rede.
2).
αἰϑὴρ οἴκησις Διός Eurip. fr. 487 (Melanippe).
3).
Epich. fr. inc. 7 p. 257 Lor.
1).
C. I. A. 1, 442: αἰϑὴρ μὲμ ψυχὰς ὑπεδέξατο, σώ [ματα δὲ χϑὼν]
τῶνδε —.
2).
συνεκρίϑη καὶ διεκρίϑη, κἀπῆλϑεν ὅϑεν ἦλϑεν πάλιν, γᾶ μὲν ἐς γᾶν,
πνεῦμ̕ ἄνω · τί τῶνδε χαλεπόν; οὐδὲ ἕν. Epich. bei Plut. consol. ad Apoll.
110 A. (Epich. fr. inc. 8). Hiermit ist noch nicht deutlich ausgesprochen,
dass das Seelen-πνεῦμα und der allgemeine αἰϑήρ wesensgleich, jenes ein
Theil von diesem sei. Wenn nicht doch eine Andeutung hiervon in
der Verwendung des Wortes πνεῦμα liegt. πνεῦμα als allgemeine Bezeich-
nung der ψυχή auch bei Epich. fr. inc. 7. Man wird für diesen später
(unter stoischem Einfluss) so verbreiteten Sprachgebrauch keinen älteren
Vertreter auffinden können als den Xenophanes, welcher πρῶτος ἀπε-
φήνατο ὅτι ἡ ψυχὴ πνεῦμα (Laert. Diog. 9, 19). Epicharm konnte hierin
dem Xenophanes (dessen Schriften er kannte: Aristot. metaph. 1010 a, 6)
folgen. Dann auch Euripides: Suppl. 534. Von Philosophen gebraucht,
bezeichnet der Ausdruck (wohl sicher schon dem Diogenes Apoll.) die
Wesensgleichheit der Seele mit der beseelten Luft: ἀήρ die äussere Luft,
πνεῦμα die Luft die im Innern des Menschen wohnt ([Hippocr.] π. φυσῶν
I 571 f. ed. Kühn, in dem aus Diog. Apoll. entlehnten Abschnitt).
1).
Mehrfache Berührung des Euripides mit Epicharmischen Versen
weist nach Wilamowitz, Eurip. Herakles 1, 29. Dass Euripides die Epi-
charmischen Dichtungen kannte, und nach ihrem philosophisch betrach-
tenden Gehalt schätzte, steht darnach fest. Doch sollen alle Anspielungen
des Euripides sich nur auf die (oder eine der) Fälschungen unter
Epicharms Namen beziehen, deren das Alterthum mehrere kannte. Der
Grund, der für diese Behauptung angeführt wird: „Komoedien hat Euri-
pides nicht citirt“ ist nichts als eine petitio principii. Attische zeit-
genössische Komoedien mag Eur. nicht „citirt“ haben; ob er es mit dem
gedankenreichen sicilischen Komiker, den Aristoteles, selbst Plato (Gorg.
505 E, namentlich Theaetet. 152 E) zu berücksichtigen nicht verschmähen,
ebenso hielt, steht eben zur Frage; mit einer beweislosen Verneinung dieses
Obersatzes ist nichts ausgerichtet. — Uebrigens wären das Fälscher einer
ganz einzigen species, die Perlen, wie das (von Euripides nachgeahmte)
νᾶφε καὶ — oder νόος ὁρῇ — lieber unter fremdem als unter eigenem Namen
hätten ausgehn lassen wollen. Die Bruchstücke der wirklich dem Epi-
charm untergeschobenen Πολιτεία bei Clemens (Strom. 5, 605 A/B, Lor.
p. 297) zeigen eine ganz andere Prägung.
2).
Weniger passend lässt sich an Archelaos als Vorbild des Euri-
pides denken: der, in seiner Vermittlung zwischen Anaxagoras und Dio-
genes, den νοῦς von der Mischung des Stofflichen (oder dem ἀήρ) nicht
trennte, aber doch unterschied, während dem Dichter αἰϑήρ und Geist
eines sind.
3).
αἰϑήρ = Ζεύς: fr. 941. αἰϑήρ — — Ζεὺς ὃς ἀνϑρώποις ὀνομάζεται.
fr. 877. Daher der Aether κορυφή ϑεῶν heisst fr. 919. — Ebenso ist dem
Diogenes Apoll. die Luft der Gott (Cic. nat. d. I. § 29), Zeus: Philodem.
π. εὐσ. p. 70 Gomp. Bei Eurip. fr. 941: τὸν ὑψοῦ τόνδ̛ ἄπειρον αἰϑέρα καὶ
1).
—εἰς ἀϑάνατον αἰϑέρ̕ ἐμπεσών Hel. 1015.
2).
ὁ ἐντὸς ἀὴρ (der allein αἰσϑάνεται, nicht die Sinne) μικρὸν μόριον
ὢν τοῦ ϑεοῦ: Diog. bei Theoprast. de sensib. 42.
3).
Die Lebensluft, oder Zeus, ist νοῦς βροτῶν. Troad. 879. Und
umgekehrt, der νοῦς in jedem von uns ist nichts andres als der Gott:
fr. 1018.
4).
ὁ νοῦς τῶν κατϑανόντων ζῇ μὲν οὔ, γνώμην δ̛ ἔχει ἀϑάνατον, εἰς
ἀϑάνατον αἰϑέρ̕ ἐμπεσών. Hel. 1013 ff. — Vieldeutig sind einige Stellen,
an denen der Sterbende bezeichnet wird als abscheidend εἰς ἄλλο σχῆμα
βίου (Med. 1026), ἐς ἄλλας βιότου μορφάς (Ion 1070), in ἕτερον αἰῶνα καὶ
μοῖραν (Iph. Aul. 1504). Es mag aber überall an ein persönliches Fort-
leben in einem Todtenreiche gedacht sein: wiewohl die Ausdrücke, wenn
sie weiter nichts besagen wollen, merkwürdig prägnant gewählt sind.
Man wird sich dabei (namentlich bei dem Verse der Med. 1026) erinnern
der merkwürdigen Verse des Isokrateers Philiskos bei Plut. v. X or. p. 243,
60 West: τῷ γὰρ ἐς ἄλλο σχῆμα μεϑαρμοσϑέντι καὶ ἄλλοις ἐν κόσμοισι βίου
σῶμα λαβονϑ̕ ἕτερον — vom verstorbenen Lysias gesagt. Aber hier scheint
doch wirklich auf eine Metempsychose angespielt zu werden, was dem
Euripides schwerlich zugetraut werden darf.
3).
γῆν πέριξ ἔχονϑ̕ ὑγραῖς ἐν ἀγκάλαις — ist der αἰϑήρ nicht verwechselt mit
ἀήρ (τὸν ὑψοῦ passt nur auf αἰϑήρ im eigentlichen Sinn) aber er fliesst
mit ἀήρ zusammen (—ὑγραῖς ἐν ἀγκ. kann von αἰϑήρ im eigentlichen
Sinne nicht gesagt werden), ganz so wie der ἀήρ des Diogenes auch den
αἰϑήρ mit umfasst. (Denn der heisse ἀὴρ παρὰ τῷ ἡλίῳ, fr. 6, ist eben
der αἰϑήρ und so im Grunde auch schon der warme ἀήρ in uns.)
1).
Eur. selbst eignet ihn sich an, fr. 189 (Antiope), und bestätigt
ihn durch so viele λόγων ἅμιλλαι, in denen er mit gleicher Scheinbarkeit
die entgegengesetzten Meinungen über die gleiche Sache zum Ausdruck
kommen lässt.
2).
ἀπειροσύνη ἄλλου βιότου u. s. w. Hippol. 190—196. τὸ ζῆν γὰρ
ἴσμεν, τοῦ ϑανεῖν δ̕ ἀπειρίᾳ πᾶς τις φοβεῖται φῶς λιπεῖν τόδ̕ ἡλίου. fr. 816,
10 f. (Phoinix).
3).
Der Todte γῆ καὶ σκιά: τὸ μηδὲν εἰς οὐδὲν ῥέπει fr. 532 (vgl.
fr. 533. 534). τὸ μὴ γενέσϑαι τῷ ϑανεῖν ἴσον · ὥσπερ οὐκ ἰδοῦσα φῶς weiss
die Gestorbene nichts von sich und ihrem Leiden. Troad. 632—644 (oft
in Consolationen nachgeahmter locus. Axioch. 365 D; Plut. cons. ad
Apoll.
15).
4).
φήμη τὸν ἐσϑλὸν κἀν μυχοῖς δείκνυσι γῆς fr. 865. ἀρετὴ δὲ κἂν
ϑάνῃ τις οὐκ ἀπόλλυται, ζῇ δ̕ οὐκέτ̕ ὄντος σώματος — fr. 734. Vgl. An-
drom.
761 ff. Beim Opfertode der Makaria weiss der Chor, Heraclid.
620 ff., nur den Ruhm, der sie erwarte, zum Troste vorzubringen: οὐδ̕
ἀκλεής νιν δόξα πρὸς ἀνϑρώπων ὑποδέξεται.
5).
Makaria, freiwillig in den Tod gehend, — εἴτι δὴ κατὰ χϑονός ·
εἴη γε μέντοι μηδέν. εἰ γὰρ ἕξομεν κἀκεῖ μερίμνας οἱ ϑανούμενοι βροτῶν,
οὐκ οἶδ̕ ὅποι τις τρέψεται · τὸ γὰρ ϑανεῖν κακῶν μέγιστον φάρμακον νομίζεται.
Heracl. 592 ff. — fr. 916.
1).
fr. 757 (das in V. 5 ff. gegebene Gedankenbild wird homiletisch
ausgeführt bei Epiktet, diss. II 6, 11—14). Androm. 1242 ff.
1).
Plat. Apolog. cap. 32 ff.
2).
Apol. 41 C/D.
3).
Apol. 29 A/B; 37 B.
4).
Xenophon, Cyrop. 8, 7, 17 ff. lässt den sterbenden Cyrus den
Glauben, dass die Seele den Leib überdauere, mehr aus Volksglauben
und Seelencult als aus halbphilosophischer Betrachtung (§ 20) rechtferti-
gen (vgl. oben p. 254, 1). Dann aber lässt er es dennoch ganz gelassen
unentschieden, ob denn nun die Seele den Leib verlasse und weiterlebe,
oder ob μένουσα ἡ ψυχὴ ἐν τῷ σώματι συναποϑνήσκει (§ 22). In jedem
1).
Plat. Phaedon 70 A; 77 B; 80 D. Diese Vorstellung der πολλοί
und der παῖδες sieht freilich eher aus wie ein Aberglaube als wie eine
Leugnung der substantiellen Fortdauer der ψυχή (wie es Plato darstellt).
Die Seele als Windgeist ist uns schon vielfach begegnet; fährt sie aus
ihrem Leibe, so reissen die andern Seelenwindgeister sie mit sich fort
(vgl. p. 9, 1), sonderlich wenn die Bewegung des Windes heftig ist. (Wenn
Einer sich aufhängt, entsteht nach deutschem Glauben Sturmwind: Grimm
D. Mythol.4 528. Das heisst wohl, das wüthende Heer, die personificirten
Sturmgeister [Grimm 526; vgl. oben p. 373 ff.], kommen und reissen die
arme ruhelose Seele an sich.)
2).
Vgl. Plat. Rep. 1, 330 D/E. — Ausgeführteres von diesen Dingen
in der Rede gegen Aristogeiton [Demosth. XXV] § 52. 53. Dies ist trotz
der populären Fassung nicht ohne Weiteres als allgemeiner Volksglaube
anzusprechen: der Verfasser dieser Rede ist Orpheusgläubiger, wie er selbst
§ 11 verräth.
3).
Plat. Rep. 10, 608 D.
4).
der beiden Fälle werde er nach dem Tode μηδὲν ἔτι κακὸν παϑεῖν: § 27.
— Aristot. σοφ. ἔλ. 17 p. 176 b, 16: πότερον φϑαρτὴ ἢ ἀϑάνατος ἡ ψυχὴ
τῶν ζῴων, οὐ διώρισται τοῖς πολλοῖς, in dieser Frage ἀμφιδοξοῦσι sie.
1).
Dass in der Πολιτεία zwei wesentlich verschiedene Entwicklungs-
stufen der Platonischen Lehre nur äusserlich verbunden übereinander ge-
stellt sind, dass im Besonderen, was von V 471 C bis zum Schluss des
7. Buches von den φιλόσοφοι, ihrer Erziehung und Stellung im Staate
(und ausserhalb des Staatswesens) gesagt wird, als ein Fremdartiges, an-
fangs nicht Vorausgesetztes und ursprünglich nicht im Plan des Ganzen
Liegendes nachträglich hinzugekommen ist zu der völlig abgeschlossenen
Ausmalung der καλλίπολις die in B. II—V 471 C geschildert wird — das
1).
scheint mir aus aufmerksamem und unbefangenem Studium des gesamm-
ten Werkes unverkennbar sich zu ergeben, und durch Krohn und Pfleiderer
vollständig bewiesen zu sein. Dass der erste Entwurf eines Staatsideals dem
Plato selbst als eine abgeschlossene Arbeit galt (die wohl auch bereits
für sich veröffentlicht war: Gellius 14, 3, 3) beweist der Eingang des
Timaeos. Hier wird (unter Voraussetzung einer ganz anderen Einkleidung
des Dialogs und ganz anderen Einleitung als uns jetzt in I cap. 1—II cap. 9
vorliegt) der Inhalt der Untersuchung in der Πολιτεία von II cap. 10 bis
genau zu V 460 C recapitulirt und ausdrücklich bemerkt (p. 19 A/B),
bis dahin und nicht weiter sei „gestern“ das Gespräch gegangen. Die
Stufen der Ausbildung des ganzen Werkes scheinen sich folgender Maassen
von einander abzusetzen. 1) Entwurf des Staates der φύλακες (kurz ge-
sagt), eingekleidet in ein Gespräch zwischen Sokrates, Kriton, Timaeos,
Hermokrates und einem weiteren Genossen; inhaltlich (abgesehen von der
Einleitung) wesentlich übereinstimmend mit Rep. II cap. 10 bis V 460 C.
2) Fortsetzung dieses Entwurfes durch die Erzählung von Altathen und
den Atlantikern. Deren Vollendung wurde, weil mittlerweile die Πολιτεία
selbst weitergeführt worden war, verschoben, die Ausführung des Timaeos
über die Welterschaffung sehr locker in den angelegten, jetzt frei verfüg-
baren Rahmen (erst spät) eingefügt, die Rahmenerzählung, in Τίμαιος und
Κριτίας, aber niemals zu Ende geführt. 3) Fortführung des ersten Ent-
wurfs noch wesentlich nach den ursprünglichen Grundsätzen, Rep. V
460 D—471 C (hier auch 466 E ff. eine kurze Ausführung über das Ver-
halten der Stadt im Kriege, als Ersatz für die im Τίμαιος beabsichtigte
genauere Ausmalung dieses Gegenstandes [Tim. 20 B f.]); VIII. IX (grössten-
theils) X, zweiter Theil (p. 608 C ff.). 4) Krönung des ganzen Gebäudes
durch die, freilich in den älteren Theilen der Anlage nicht vorausgesetzte,
in Wahrheit jene älteren Theile in ihrer unbedingten Geltung und Selbst-
genugsamkeit aufhebende, nicht nur sie ergänzende Einführung der φιλό-
σοφοι und ihrer Art der „Tugend“: V 471 C—VII extr.; IX 580 D bis 588 A;
X. erster Theil (bis 608 B). — Zuletzt Redaction des Ganzen; Voraus-
schickung (nicht nothwendig erst zur Zeit des letzten Abschlusses) der
neuen Einleitung, I cap. 1 bis II cap. 9; nothdürftige Ausgleichung der
disparaten Bestandtheile durch einzelne kleine Verweisungen, Einschrän-
kungen u. dgl.; auch wohl sprachliche Revision und Glättung des Ganzen.
— Dieses Ganze verräth seine Entstehung durch Ueberwachsen eines
ersten Planes durch einen, aus der fortschreitenden Entwicklung des Ver-
fassers selbst entsprungenen zweiten Plan noch deutlich genug. Plato
konnte gleichwohl beanspruchen, dass man das ganze Gebäude trotz der
vielfachen An- und Ausbauten in einem abweichenden Style, so wie er es
schliesslich (als ein merkwürdiges Denkmal der Wandlungen seines eignen
1).
Denkens hingestellt hat, als eine Einheit gelten lasse, weil er doch, selbst
auf der sublimsten Höhe der Mystik, in VI und VII, den Unterbau der
καλλίπολις in II—V keineswegs verwerfen will, sondern nur ihn eben zu
einem (freilich ursprünglich nicht als solchen gedachten und bezeichneten)
Unterbau herabsetzt, der sogar für die mystische Spitze die einzig er-
möglichende Voraussetzung bleibt, und für die grosse Mehrheit der Bür-
ger der καλλίπολις (denn der φιλόσοφοι werden immer nur ganz wenige
sein) seine Geltung, als eine Erziehungsanstalt für die Darstellung der
bürgerlichen Tugenden, behalten soll. — In dem ersten Entwurf nun ist
von einer eigentlich so zu nennenden Unsterblichkeitslehre keine Spur
zu finden, und auch die populärere Gestaltung des Glaubens an Fort-
leben der Seele nach dem Tode des Leibes hat dem Plato dort mindestens
keine Wichtigkeit und erhebliche Bedeutung. Was nach dem Tode kom-
men möge, sollen die φύλακες nicht beachten (III. cap. 1 ff.); zu zeigen,
dass die δικαιοσύνη in sich selbst ihren Lohn trage, ist Hauptaufgabe, die
Belohnungen, die nach dem Tode ihr in Aussicht gestellt werden, werden
nur ironisch erwähnt, II 363 C/D (366 A/B). Sokrates will ohne solche
Hoffnungen auskommen: 366 E ff. Die ἀϑανασία ψυχῆς wird, wie ein
Paradoxon, erst X 608 D eingeführt (in der Fortführung des ersten Ent-
wurfes) und zu beweisen versucht, und nun ergiebt sich denn auch die
Wichtigkeit der Frage nach dem was nach dem Tode der Seele warte
(614 A. ff.), und die Nothwendigkeit, nicht für dieses kurze Leben sondern
ὑπἐρ τοῦ ἅπαντος χρόνου zu sorgen (608 C), wovon in III—V keine Rede
war noch sein konnte. Endlich in VI. VII. ist die Unvergänglichkeit der
Seele in ihrer sublimsten Form Voraussetzung. Es ist klar, dass Platos
eigene Ansichten in diesem Punkte im Lauf der Zeit Wandlungen durch-
gemacht haben, die sich in den verschiedenen Schichten der Πολιτεία auch
nach deren Schlussredaction noch abspiegeln (vgl. Krohn, Der Platon.
Staat
p. 265; Pfleiderer, Platon. Frage [1888] p. 23 f.; 35 ff.).
1).
Die Erscheinung βούλεται, ὀρέγεται, προϑυμεῖται εἶναι was ihre Idee
ist. Phaedon. 74 D; 75 A; 75 B. Die Ideen als Zweckursachen, wie der
göttliche νοῦς des Aristoteles, der selbst unbewegt κινεῖ ὡς ἐρώμενον (wie
der Stoff ein Verlangen nach der Form, das Mögliche nach dem Wirk-
lichen hat). Festgehalten hat freilich Plato diese Weise, den Zusammen-
hang zwischen Erscheinung und unbewegter Idee zu verdeutlichen mehr
als zu erklären, nicht.
2).
νοήσει μετὰ λόγου περιληπτόν Tim. 27 D. οὗ οὔποτ̕ ἂν ἄλλῳ ἐπι-
λάβοιο ἢ τῷ τῆς διανοίας λογισμῷ Phaedon 79 A. αὐτὴ δἰ αὑτῆς ἡ ψυχὴ
τὰ κοινὰ φαίνεται περὶ πάντων ἐπισκοπεῖν Theaet. 185 D.
3).
Das prius ist dem Menschen eigentlich die Wahrnehmung seiner
eigenen Geistesthätigkeit in der νόησις μετὰ λόγου als einem von der δόξα
μετ̕ αἰσϑήσεως ἀλόγου wesentlich verschiedenen Verhalten, und erst von
hier aus führt ein Schluss zu der Annahme des Seins der νοούμενα. Tim.
51 B—52 A. Die Idee ist es, die wir im Begriff ergreifen, αὐτὴ ἡ οὐσία
ἧς λὁγον δίδομεν καὶ ἐρωτῶντες καὶ ἀποκρινόμενοι (Phaedon 78 D).
4).
Die ἐπιστήμη, welche allein die διαλεκτιή giebt (Rep. 7, 533. D. E)
ist ἀναμάρτητος. Rep. 5, 477 E.
1).
Von den drei εἴδη oder γένη, dem ὄν, dem γιγνόμενον, und dem
ἐν ᾧ γίγνεται (der χώρα): Tim. 48 E f. 52 A. B. D., ist jedenfalls das
Dritte der Seele ganz fremd. Wie die Weltseele (Tim. 35 A) mit der sie
gleich gemischt ist (41 D), ist auch die Einzelseele ein mittleres zwischen
dem ἀμερές der Idee und dem κατὰ τὰ σώματα μεριστόν, an beiden theil-
habend.
2).
Wahres, unveränderliches Sein hat nur das ἀειδές und darum
auch die Seele. Phaedon 79 A f.
3).
Phaedon cap. 54—56.
4).
ὁμοιότερον ψυχὴ σώματός ἐστι τῷ ἀειδεῖ (und d. i. τῷ ἀεὶ ὡσαύτως
ἔχοντι: 79 E) Phaedon 79 C. τῷ ϑείῳ καὶ ἀϑανάτῳ καὶ νοητῷ καὶ μονοειδεῖ
καὶ ἀδιαλύτῳ καὶ ὡσαύτως κατὰ ταὐτἀ ἔχοντι ἑαυτῷ ὁμοιότατον ψυχή:
80 A/B.
5).
ἀγένητον. Phaedr. cap. 24 (schlechtweg ἀΐδιος: Rep. 10, 611 B).
Die Seelenerschaffung im Timaeos soll jedenfalls nur den Ursprung des
Seelischen vom δημιουργός (nicht das zeitliche Werden der Seele) bedeu-
ten (s. Siebeck, Gesch. d. Psychol. I 1, 275 ff.). Ob Plato, wo er von der
Praeexistenz der Seelen redet, allemal an anfangloses Dasein der Seelen
denkt, ist freilich nicht auszumachen.
1).
Wie das Verhältniss der Einzelseelen zu der Seele des All zu
denken sei, ist weder aus der mythischen Darstellung des „Timaeos“ noch
aus der kurzen Bemerkung im Philebos 30 A zu entnehmen, dass die Seele
unsres Leibes „entnommen“ sei aus der Seele des σῶμα τοῦ παντός. Die
Fiction einer „Weltseele“ dient eben in Wahrheit anderen Zwecken als
dem der Ableitung der Einzelseelen aus einem gemeinsamen Urgrunde.
2).
Tim. 34 c. Leg. 10, 891 A—896 C.
3).
Die Seele stürzt nach der Darstellung des Phaedon (246 C) her-
unter in die Erdenwelt, wenn ὁ τῆς κάκης ἵππος, d. i. die ἐπιϑυμία in der
Seele nach der Erde strebt: 247 B. Also in Folge des Ueberwiegens
der begehrenden Triebe. Welches aber nur eintreten kann, weil das
λογιστικόν der Seele zu schwach geworden ist, um den Seelenwagen länger
zu lenken, wie seine Aufgabe war. Daher die tragenden Flügel, d. h.
die νόησις, dem Seelenrosse abfallen. Eine Schwächung des erkennenden
Seelentheils ist also der eigentliche Grund ihres Sturzes in die Sinnlich-
keit (wie denn auch je nach dem Maasse der Erkenntnissfähigkeit sich
die Art der ἐνσωμάτωσις der Seelen bestimmt, die Rückkehr zum τόπος
ὑπερουράνιος sich ebenfalls nach der Wiedergewinnung reinerer Erkennt-
niss bestimmt: 248 C ff., 249 A. C). Es ist also nicht, wie bei Empedokles
ein religiös-sittliches Vergehen was zur Verkörperung der Seelen führt,
sondern ein Verlust an Intellect, ein intellectueller Sündenfall.
4).
Die Seele wird im Timaeos gebildet, damit sie, einen Leib beseelend
und regierend, den Bestand der Schöpfung vollständig mache: ohne die ζῷα
wäre der οὐρανός (das Weltall) ἀτελής. Tim. 41 B ff. Nach dieser teleo-
logischen Begründung des Daseins der Seelen und ihrer ἐνσωμάτωσις würde
eben dies, ihre ἐνσωμάτωσις, im ursprünglichen Plane des δημιουργός lie-
gen und überhaupt kein Anlass zur Erschaffung der Seelen (durch den
δημιουργός und die Untergötter) sein, wenn sie nicht zur Belebung von
ζῷα und Verbindung mit σώματα bestimmt wären. Hiernach ist es offen-
bar inconsequent, wenn nun doch die Aufgabe der Seelen sein soll,
1).
Phaedr. 245 C—246 A. Die Seele τὸ αὑτὸ κινοῦν, und zwar stets,
ἀεικίνητον; sie ist τοῖς ἄλλοις ὅσα κινεῖται πηγὴ καὶ ἀρχὴ κινήσεως (der Leib
scheint nur sich selbst zu bewegen, was ihn bewegt ist die Seele in ihm:
246 C). Verginge die Seele, so müsste πᾶς οὐρανὸς πᾶσά τε γένεσις still-
stehn. Hier ist, wie überall im Φαῖδρος, von den Einzelseelen (ψυχή
collectiver Singular) die Rede. So doch auch Leg. 10, 894 E ff., 896 A ff.
(λόγος der Seele: ἡ δυναμένη αὐτὴ αὑτὴν κινεῖν κίνησις, sie ist die αἰτία
und der Ausgang aller Bewegung in der Welt, der Grund des Lebens,
denn lebendig ist, was αὐτὸ αὑτὸ κινεῖ 895 C); im Unterschied von der
ψυχὴ ἐνοικοῦσα ἐν ἅπασι τοῖς κινουμένοις ist erst p. 896 E ff. von der
(doppelten) Weltseele die Rede. Es giebt ja ausser in den beseelten Or-
ganismen noch viele κίνησις in der Welt.
2).
Phaedon cap. 43 u. ö.
3).
ψυχή auf der einen Seite, πᾶν τὸ ἄψυχον auf der anderen: Phaedr.
246 B, und so überall.
4).
möglichst bald und möglichst vollständig aus der Leiblichkeit auszuschei-
den und zu leiblosem Leben zurückzukehren: 42 B—D. Dies ist ein Rest
der alten theologischen Auffassung des Verhältnisses von Leib und
Seele zu einander, die im Phaedon (und sonst überall bei Plato) unverhüllt
besteht, mit seiner ganzen Ethik und Metaphysik aber viel zu fest ver-
wachsen war, als dass sie nicht selbst da, wo er, wie im Timaeos, den
Physiologen hervorkehren möchte, unberechtigter Weise dennoch hervor-
brechen sollte.
1).
Tim. cap. 41. In Summa: κακὸς ἑκὼν οὐδείς, διὰ δὲ πονηρὰν ἕξιν
τινὰ τοῦ σῶματος καὶ ἀπαίδευτον τροφὴν (Erziehung der Seele) ὁ κακὸς
γίγνεται κακός. 86 E.
2).
τὸ σωματοειδὲς ὃ τῇ ψυχῇ ἡ ὁμιλία τε καὶ ξυνουσία τοῦ σώματος
— — ἐνεποίησε ξύμφυτον κτλ. Phaedon 81 C. 83 D.
3).
Pythagoreern: s. oben p. 464, 1. Schwerlich Demokrit (Doxogr.
p. 390, 14). Die Dreitheilung besteht sehr wohl neben der auch vor-
kommenden Zweitheilung in λογιστικόν und ἀλόγιστον; dessen Theile sind
eben ϑυμός und ἐπιϑυμία.
4).
Erster Entwurf der Republik, II—V. Dort zwar aufs Engste ver-
bunden mit den drei Kasten oder Ständen des Staates, aber nicht diesen
zuliebe der Seele angedichtet; sondern wirklich ist die Trichotomie der
Seele das Ursprüngliche, aus dem die Dreitheilung der Bürgerschaft erst
erläutert und hergeleitet wird. S. IV 435 E. — Dass Plato von der
Dreitheilung der Seele niemals in vollem Ernst, sondern immer nur als
von einem halben Mythus, einer nur einstweilen giltigen Hypothese ge-
redet habe, — wie behauptet worden ist — wird einer unbefangenen
Betrachtung der die Dreitheilung ausführenden Abschnitte Platonischer
Schriften nicht glaublich erscheinen können.
1).
Dass der Grund, aus dem Plato seine, im ersten Entwurf der
Republik und noch im Phaedros festgehaltenen Vorstellung von der,
zum Wesen der Seele gehörigen Trichotomie ihrer Kräfte oder Theile
aufgab, ihre Unsterblichkeit und Berufung zum Verkehr mit dem ϑεῖον
καὶ ἀϑάνατον καὶ ἀεὶ ὄν war, zeigt deutlich Rep. 10, cap. 11. — Aus den
Affecten und Begierden durch welche die Seele ὑπὸ τοῦ σώματος „gefesselt“
wird, erklärt sich ihre Neigung sich nach dem Tode neu zu verkörpern.
Phaedon 83 C ff. Wären Affecte und Begierden mit ihr unlöslich ver-
bunden, so würde sie niemals aus dem Kreise der Wiedergeburten aus-
scheiden können. — Andererseits: geht in den Zustand jenseitiger Ver-
geltung nur das λογιστικόν, als die allein selbständig bestehende Seele
ein, so scheint ein Trieb zu neuer ἐνσωμάτωσις, der Sinnlichkeit und Be-
gierde voraussetzt, dieser einfachen, nicht zusammengesetzten Seele zu
fehlen (Dieses Bedenken macht noch dem Plotin Schwierigkeiten.). Plato
nimmt eine innere Entartung der reinen, ungetheilten Denkseele an, die
auch eine zukünftige Bestrafung und Läuterung und, bis zu völligem
Wiederreinwerden, Trieb und Nöthigung zu neuen ἐνσωματώσεις möglich
und denkbar macht, auch ohne dauernde Verkuppelung mit dem ϑυμοειδές
und dem ἐπιϑυμητικόν.
2).
τῇ ἀληϑεστάτῃ φύσει ist die Seele μονοειδής. Rep. X cap. 11.
Daher ist sie παράπαν ἀδιάλυτος ἢ ἐγγύς τι τούτου. Phaedon 80 B.
3).
Die Denkseele, ἀϑάνατον ἀρχὴν ϑνητοῦ ζῴου, bildet der δημιουργός,
die andern Seelenkräfte ϑυμός, ἐπιϑυμία (und αἴσϑησις daneben), ψυχῆς
ὅσον ϑνητόν (61 C), bilden dieser, erst bei ihrer Verbindung mit dem Leibe,
die Untergötter an. Tim. cap. 14. 15. 31. Die gleiche Vorstellung Rep.
10 cap. 11. — τὸ ἀειγενὲς μέρος τῆς ψυχῆς, unterschieden von dem ζωο-
γενές: Politic. 309 C.
1).
τὸ σῶμα καὶ αἱ τούτου ἐπιϑυμίαι Phaedon 66 C. ὑπὸ σώματος
leidet die leidenschaftlich erregte Seele: ib. 83 C. Im Tode ist die
Seele καϑαρὰ πάντων τῶν περὶ τὸ σῶμα κακῶν καὶ ἐπιϑυμιῶν Cratyl.
404 A.
2).
Tim. 43 C. Erst infolge dieser heftigen und widerspruchsvollen
Bewegung durch die sinnliche Wahrnehmung des Werdenden wird die
Seele (was ihr ursprünglich fremd ist) ἄνους, ὅταν εἰς σῶμα ἐνδεϑῇ ϑνητόν.
44 A. (Sie wird mit der Zeit wieder ἔμφρων und kann weise werden:
44 B/C. In den Thieren, die ja dieselbe Seele auch bewohnen kann,
wird sie stets ἄφρων bleiben, sollte man denken.)
3).
— σμικρὸν χρόνον, οὐδὲν μὲν οὖν πρὸς τὸν ἅπαντα (χρόνον). Rep.
6, 498 D.
4).
Der Tod wird ganz volksmässig (aber offenbar ganz ernsthaft
und ohne Accommodation) aufgefasst als τῆς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος ἀπαλ-
λαγή Phaedon 64 C. Gorg. 524 B. Hiebei pflegt denn die Seele οὐδαμῶς
καϑαρῶς εἰς Ἅιδου ἀφικέσϑαι, ἀλλ̕ ἀεὶ τοῦ σώματος ἀναπλέα ἐξιέναι Phaed.
83 C (ἀεί, d. h. mit Ausnahme der wenigen, weiterer Reinigung im Hades
nicht bedürftigen, vollendeten φιλόσοφοι: wie ja gerade der Φαίδων lehrt,
114 C; 80 E; 81 A.).
5).
Reinigungen, Strafen und Belohnungen im Jenseits: Gorg. 523 ff.;
Rep. 10, cap. 13 ff. (Vision des Er, Sohnes des Armenios; in der Fort-
1).
Wahl des neuen Lebenszustandes durch die Seele im Jenseits:
5).
setzung des ersten Entwurfes des Πολιτεία); Phaedon, cap. 59—62. Die
Einzelausführungen dieser mythischen Darstellungen, in denen sich wohl
noch scheiden liesse, was Plato aus alter Dichtung und Volkssage, was
aus theologischer, besonders Orphischer Lehrdichtung, auch was er etwa
(in Rep. X) aus orientalischen Phantasiebildern entnommen hat und worin er
über alles dieses selbständig hinausgeht, sollen hier nicht betrachtet werden
(einige Bemerkungen bei G. Ettig, Acheruntica, Leipz. Stud. XIII 305 ff.).
Unter den Seelen pflegt er drei (nur scheinbar zwei im Phaedr. 249 A) Classen
zu unterscheiden: die mit heilbaren Vergehen behafteten, die unheilbar
verbrecherischen (die er zu ewigen Strafen im Tartarus, ohne Wieder-
geburt, verurtheilt: Gorg. 525 C ff.; Rep. 10, 615 D; Phaedon 113 E) und
die ὁσίως βεβιωκότες, δίκαιοι καὶ ὅσιοι. So Gorg. 525 B. C; 526 C; Rep.
10, 615 B/C (hier kommen noch die ἄωροι hinzu, 615 C, denen sich doch
weder Lohn noch Strafe zuertheilen liess: von ihnen sagte Er ἄλλα, οὐκ
ἄξια μνήμης. Vermuthlich hatte mit ihnen schon ältere Theologie, nicht
zufrieden mit den Volkssagen vom Loose der ἄωροι [s. oben p. 373, 1], sich
abgequält: das war so recht eine Doctorfrage für diese Scholastiker des
Wahnglaubens). Im Φαίδων 113 D ff. wird die Sache noch feiner syste-
matisirt. Dort werden unterschieden: 1) die μέσως βεβιωκότες (che visser’
senz’ infamia e senza lode
), 2) οἱ ἀνιάτως ἔχοντες, 3) οἱ ἰάσιμα ἡμαρτηκότες,
4) οἱ διαφερόντως ὁσίως βεβιωκότες und 5) die crême dieser ὅσιοι, die wahren
Philosophen, οἱ φιλοσοφίᾳ ἱκανῶς καϑηράμενοι: diese werden gar nicht
wiedergeboren. Den anderen Classen wird Reinigung und Lohn oder
Strafe genau zugemessen. Hier entsprechen die 2., 3., 4. Classe den drei
Classen in Rep. X und Gorgias (die nach dem Vorgang älterer theologi-
scher Dichtung unterschieden sein könnten: s. oben p. 513 Anm.). Neu
sind die μέσως βεβιωκότες und die wahren Philosophen. Für diese genügt
nicht mehr der Aufenthalt auf den μακάρων νῆσοι (Gorg. 526 C) oder,
was dasselbe sagt, auf der wahren Oberfläche der Erde (Phaedon 114 B/C):
sie gehen ἐς μακάρων τινὰς εὐδαιμονίας (115 D), eigentlich: sie werden
aus der Zeitlichkeit ganz erlöst und treten in das unwandelbare „jetzt“
der Ewigkeit ein. (Was das gänzliche Ausscheiden der φιλόσοφοι betrifft,
so widerspricht die Darstellung der Republik X cap. 13 der im Φαίδων
nicht: es kann nur darum dort nicht davon die Rede sein, weil auf dem
λειμών [614 E] diese gänzlich ausscheidenden Seelen nicht erscheinen
können.) — Von diesen Darstellungen scheint die des Φαίδων die jüngste
zu sein. In den Νόμοι noch eine unbestimmtere Andeutung der Noth-
wendigkeit, nach dem Tode Vergeltung zu erleiden: X 904 C ff.
1).
ξυμμετρία Tim. 87 D.
2).
Mindestens dreien (wie bei Pindar Ol. 2, 68 ff.) nach Phaedr.
249 A. Zwischen je zwei Geburten ein Zwischenraum von 1000 Jahren
(Rep. 10, 615 A; Phaedr. 249 A/B): hiemit war solchen Märchen, wie die
von den verschiedenen Lebensläufen des Pythagoras (oben p. 454, 1) der
Boden entzogen.
3).
Verkörperungen als Thiere: Phaedr. 249 B; Rep. 10, 618 A;
620 ff.; Phaedon 81 E; Tim. 42 B/C. Dass dies weniger ernstlich gemeint
sei als alles andre was Plato von Metempsychosen berichtet, wird bei
ihm selbst mit nichts angedeutet. Nach Tim. 91 D—92 B hätten alle
Thiere Seelen, die einst in Menschenleibern gehaust haben; nach Phaedr.
249 B scheint es auch solche Thiere geben zu sollen, deren Seele nicht
vorher in einem Menschen gelebt hat (s. Procl. ad Rempubl. p. 113, 20
bis 116, 11 Sch. der Tim. und Phaedr. in Einklang zu bringen versteht.).
Die Vorstellung des Wohnens einer Menschenseele in einem Thiere hat
ja gerade bei Plato’s Seelenlehre ihre grossen Bedenken. Wenn (nach
Phaedr. 249 B/C) eine richtige Thierseele nicht in einen Menschenleib
fahren kann, weil ihr die, den Kern menschlicher Seelenthätigkeit aus-
machende Kraft der Dialektik oder νόησις fehlt, wie kann dann eine
richtige Menschenseele in einem Thierleibe wohnen, in dem sie, wie an
jedem Thiere offenbar ist, die νόησις nicht üben kann? (Eben darum haben
manche Platoniker — denen künstlichere Auslegungen [Sallust. de dis
et m.
20 Procl. Tim. 329 D. E] missfielen, — das Eingehen der Menschen-
seele in Thiere geleugnet: s. Augustin C. D. 10, 30; besonders Nemes. de
nat. hom.
p. 116 ff. Matth. Schon Lucrez [3, 760 f.] scheint solche Pla-
toniker im Auge zu haben.). Das λογιστικόν der Seele scheint den Thieren
1).
Rep. 10, 617 E ff. Phaedr. 249 B. Der Zweck dieser Aufstellung ist
Rep. 10, 617 E ausgesprochen: αἰτία ἑλομένου · ϑεὸς ἀναίτιος (vgl. Tim.
42 D). Theodicee also und volle Verantwortung des Menschen selbst für
seine Art und seine Thaten (s. auch 619 C). An Begründung einer de-
terministischen Theorie ist dabei nicht gedacht. — Die Wahl wird be-
stimmt durch die, im früheren Leben erworbene, besondere Beschaffenheit
der Seele und ihrer Neigungen (vgl. Phaedon 81 E; Leg. 10, 904 B/C).
Daher auch bei der ersten ἐνσωμάτωσις der Seele keine Wahl stattfindet
(Tim. 41 E); je nach dem Grade der Entartung aber den späteren Ge-
burten ein bestimmter Stufengang in peius vorgezeichnet sein kann (Tim.
42 B ff.): was sich mit der, aus dem eignen Wesen bestimmten Wahl ganz
wohl verträgt.
1).
τὴν εἰς τὸν νοητὸν τόπον τῆς ψυχῆς ἄνοδον Rep. 7, 517 B.
3).
zu fehlen oder jedenfalls nur unentwickelt innezuwohnen, wie den Kindern:
Rep. 4, 441 A/B. (Oder bleibt es dauernd in ἀφροσύνη gebunden? s. oben
p. 507. Eine solche Theorie von Lehrern der μετεμψύχωσις, wonach die
überall gleiche ψυχή nicht überall voll wirksam sei [vgl. Doxogr. 432 a, 15 ff.],
bekämpft Alex. Aphrodis. de an. p. 27 Br.). Nach der späteren Lehre Pla-
tos macht aber das λογιστικόν den ganzen Inhalt der Seele, ehe sie eingekör-
pert wird, aus: fehlt es den Thieren, so fehlt ihnen eigentlich die Seele
(denn ϑυμός und ἐπιϑυμία für sich sind nicht die Seele, sie kommen erst zu
der Seele, wenn diese in einen Leib tritt). Es scheint gewiss, dass Plato
die Seelenwanderung in Thiere von den Theologen und Pythagoreern
annahm, als ihm die Seele noch nicht als reine Denkkraft galt, sondern
auch (wie im Phaedros) ϑυμός und ἐπιϑυμία in sich einschloss; später
hat er die für die ethische Wirkung der Seelenwanderungslehre schwer
zu entbehrende Vorstellung auch neben seiner umgestalteten und subli-
mirten Seelenlehre stehn lassen (dagegen die Metempsychose in Pflanzen
— die zwar auch ζῷα sind, aber nur das ἐπιϑυμητικόν haben: Tim. 77 B
— hat er von Empedokles nicht übernommen [vgl. Proclus ad Rempubl.
p. 113, 3—19 Sch.], wohl auch deswegen nicht, weil für die Ethik diese
Vorstellung wirkungslos und indifferent war.).
1).
ἐπειδὴ δὲ ἀγένητόν ἐστι, καὶ ἀδιάφϑορον αὐτὸ ἀνάγκη εἶναι. Phaedr.
245 D. Der alte Schluss von der Anfangslosigkeit der Einzelseele (von
ihr redet Plato) auf die Endlosigkeit ihres Lebens.
2).
Dies kann Teichmüllers Ausführungen zugegeben werden. „Das
Individuum und die individuelle Seele ist nicht ein selbständiges Princip,
sondern nur ein Resultat der Mischung aus Idee und dem Princip des
Werdens“ (wiewohl Plato es nicht so ansieht); daher bei Plato „das
Individuelle nicht ewig ist (d. h. sein sollte), und die ewigen Principien
nicht individuell sind.“ (Stud. z. Gesch. d. Begr. [1874] p. 115. 142). Aber
alles was T. in diesem Sinne ausführt, dient nur einer Kritik der pla-
tonischen Seelenlehre, nicht einer Richtigstellung dessen was Plato wirk-
lich gelehrt hat. Er spricht von der Unsterblichkeit, d. h. Ewigkeit der
individuellen Seele überall, von einer Unvergänglichkeit nur der „all-
gemeinen Natur“ der Seele nirgends, und dieser Thatbestand ist mit der
Berücksichtigung einer von T. angerufenen, angeblichen „Orthodoxie“,
der Plato sich anbequeme, nicht entfernt erklärt. Dass Plato eine Vielheit
individueller Seelen und deren Unvergänglichkeit annahm, würde, wenn
nirgends sonsther, allein schon aus Rep. 10, 611 A vollständig bestimmt
zu erkennen sein: — ἀεὶ ἂν εἶεν αἱ αὐταί (ψυχαί). οὔτε γὰρ ἄν που ἐλάττους
γένοιντο μηδεμιᾶς ἀπολλυμένης, οὔτε αὖ πλείους. Hier ist unbestreitbar
Prädicat des ersten Satzes nur εἶεν: existiren werden immer dieselben
Seelen, nicht αἱ αὐταὶ εἶεν („die Seelen sind immer dieselben“), wie Teich-
müller, Platon. Frage 7 ff. annimmt, und es wird so deutlich wie nur
möglich die Unvergänglichkeit der in begrenzter Zahl existirenden Viel-
heit einzelner Seelen behauptet.
1).
Z. B. Berufung auf τελεταί, παλαιοὶ λόγοι ἐν ἀπορρήτοις λεγόμενοι,
speciell auf Orphische Lehre, wo er redet von der innerlichen Verschieden-
heit der Seele von allem Leiblichen; ihrem „Sterben“ im irdischen Leben,
Einschliessung der Seele in das σῶμα als ihr σῆμα, zur Strafe ihrer Ver-
fehlungen; Strafen und Läuterungen nach dem Tode im Ἅιδης, Seelen-
wanderungen, Unvergänglichkeit der Seele, Wohnen der Reinen bei den
Göttern. (Phaedon 60 B/C; 63 C; 69 C; 70 C; 81 A; 107 D ff.; Gorg.
493 A; Cratyl. 400 B/C; Meno 81 A ff.; Leg. 9, 870 D/E; 872 E). Daher
auch die Vorliebe für Vergleichung der höchsten philosophischen Thätig-
keit oder der vorzeitlichen Ideenschau mit den ἐποπτεῖαι der Mysterien:
Phaedr. 250 B/C u. ö.: Lobeck Agl. 128.
2).
Neun (in altgeheiligter Zahl) [Stufen] vom φιλόσοφος abwärts bis
zum τύραννος: Phaedr. 248 D/E.
1).
So spricht er es bei eigentlichen Mythenerzählungen mehrfach
aus. Vgl. auch Phaedon 85 C/D.
2).
Phaedr. 250 C (ὄστρεον); Rep. 10, 611 C/D (Glaukos).
3).
τὴν τοῦ ὄντος ϑήραν Phaedon 66 C (ὅταν αὐτὴ καϑ̕ αὑτὴν πραγ-
ματεύηται ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα. Theaetet. 187 A. αὐτῇ τῇ ψυχῇ ϑεατέον αὐτὰ
τὰ πράγματα, Phaed. 66 D).
1).
ξυναίτια Tim. 46 C ff.; νοῦς καὶ ἀνάγκη Tim. 47 E ff. (ὁ ϑεός ist
πολλῶν ἀναίτιος, nämlich τῶν κακῶν: Rep. 2, 379 A/C).
2).
Das σῶμα, mit dem die Seele verbunden ist, ein κακόν: Phaed.
66 B (δεσμοί der Seele: 67 D). Aus der Materie werden überall die
κακά in der Welt abgeleitet, bis in den „Gesetzen“ neben die εὐεργέτις
ψυχή der Welt noch eine böse und Böses bewirkende Weltseele tritt.
3).
Namentlich im Phaedon: καϑαρεύειν. κάϑαρσις. οἱ φιλοσοφίᾳ ἱκανῶς
καϑηράμενοι im Gegensatz zu den ἀκάϑαρτοι ψυχαί: 67 A ff.; 69 B/C;
80 E; 82 D; 108 B; 114 C. Katharsis der Seele durch Dialektik: Sophist.
230 C ff. Ausdrückliche Hinweisung auf die analoge Forderung der κά-
ϑαρσις bei den τὰς τελετὰς ἡμῖν καταστήσαντες: Phaed. 69 C.
4).
κάϑαρσις εἶναι τοῦτο ξυμβαίνει, τὸ χωρίζειν ὅ τι μάλιστα ἀπὸ τοῦ
σώματος τὴν ψυχὴν καὶ ἐϑίσαι αὐτὴν καϑ̕ αὑτὴν πανταχόϑεν ἐκ τοῦ σώματος
συναγείρεσϑαί τε καὶ ἀϑροίζεσϑαι, καὶ οἰκεῖν κατὰ τὸ δυνατὸν καὶ ἐν τῷ νῦν
παρόντι καὶ ἐν τῷ ἔπειτα μόνην καϑ̕ αὑτήν, ἐκλυομένην ὥσπερ ἐκ δεσμοῦ ἐκ
τοῦ σώματος. Phaed. 67 C. So sind δικαιοσύνη und ἀνδρεία, namentlich
aber φρόνησις, καϑαρμός τις. Phaed. 69 B/C. λύσις τε καὶ καϑαρμός der
φιλοσοφία: 82 D.
1).
εἰς αὑτὴν ξυλλέγεσϑαι καὶ ἀϑροίζεσϑαι und von der ἀπάτη der Sinne
ἀναχωρεῖν ὅσον μὴ ἀνάγκη αὐτοῖς χρῆσϑαι, lehrt φιλοσοφία die Seele: Phaed.
83 A. — ἐὰν καϑαρὰ ἡ ψυχὴ ἀπαλλάττηται — φεύγουσα τὸ σῶμα καὶ συνη-
ϑροισμένη αὐτὴ εἰς αὑτήν 80 E; 67 C.
2).
— καϑαροὶ ἀπαλλαττόμενοι τῆς τοῦ σώματος ἀφροσύνης — γνωσόμεϑα
δι̕ ἡμῶν αὐτῶν πᾶν τὸ εἱλικρινές. μὴ καϑαρῷ γὰρ καϑαροῦ ἐφάπτεσϑαι μὴ
οὐ ϑεμιτὸν ᾖ. Phaed. 67 A/B.
3).
Das ἀγαϑὸν, ἡ τοῦ ἀγαϑοῦ ἰδέα, αἰτία so der ἀλήϑεια als der ἐπι-
στήμη, aber mit beiden nicht identisch, die nur ἀγαϑοειδῆ sind, sondern
ἔτι μειζόνως τιμητέον, Ursache für die γιγνωσκόμενα nicht nur des γιγνώ-
σκεσϑαι sondern des εἶναι und der οὐσία, οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαϑοῦ ἀλλ̕
ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος. Rep. 6, cap. 19; 7,
517 B/C. Hier ist τὸ ἀγαϑόν, als Grund und wirkende Ursache alles Seins
selbst über das Sein hinausgerückt (wie dann bei den Neoplatonikern
durchaus), mit der Gottheit (dem ϑεῖος νοῦς, Phileb. 22 C) identisch, die
freilich im Timaeos neben die Ideen, deren oberste hier das ἀγαϑόν ist,
gestellt wird.
4).
ἡ τοῦ ἀγαϑοῦ ἰδέα μέγιστον μάϑημα. Rep. 6, 505 A.
5).
Die περιαγωγή der Seele Rep. VII init.
1).
Der Philosoph, ἐξιστάμενος τῶν ἀνϑρωπίνων σπουδασμάτων καὶ πρὸς
τῷ ϑείῳ γιγνόμενος, ἐνϑουσιάζων λέληϑε τοὺς πολλούς. Phaedr. 249 D.
2).
ὁ γὰρ συνοπτικὸς διαλεκτικός Rep. 7, 537 C. εἰς μίαν ἰδέαν συνο-
ρῶντα ἄγειν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα (und wiederum das Einheitliche
κατ̕ εἴδη τέμνειν) ist Sache des διαλεκτικός Phaedr. 265 D. ἐκ πολλῶν
αἰσϑήσεων εἰς ἓν λογισμῷ ξυναιρούμενον (ἰέναι): Phaedr. 249 B.
3).
Stufengang der Dialektik bis hinauf zum αὐτὸ ὃ ἔστιν ἀγαϑόν:
Rep. 7, 532 A f.; 6, 511 B/C; 7, 534 B ff. Zum αὐτὸ τὸ καλόν, Symp.
cap. 28. 29. Ziel: ἐπαναγωγὴ τοῦ βελτίστου ἐν ψυχῇ πρὸς τοῦ ἀρίστου ἐν
τοῖς οὖσι ϑέαν. Rep. 7, 532 C.
4).
Der philosophische Erotiker, am Schluss des dialektischen Auf-
stiegs, ἐξαίφνης κατόψεταί τι ϑαυμαστὸν τὴν φύσιν καλόν κτλ. Symp.
210 E. Wie in den τέλεα καὶ ἐποπτικὰ μυστήρια: 210 A. δλόκληρα καὶ
ἁπλᾶ καὶ εὐδαίμονα φάσματα μυούμενοί τε καὶ ἐποπτεύοντες ἐν αὐγῇ καϑαρᾷ —
Phaedr. 250 C. — Ein visionäres, plötzlich und nicht in discursivem
Denken erlangtes Erfassen des Weltzusammenhangs. Man sehe, wie, in
1).
Die Seele ἔοικε τῷ ϑείῳ Phaedon 80 A. Sie ist ξυγγενὴς τῷ τε
ϑείῳ καὶ ἀϑανάτῳ καὶ τῷ ἀεὶ ὄντι Rep. 10, 611 E. συγγένεια ϑεία des Men-
schen: Leg. 10, 899 D. Das Ewige und Unsterbliche ist als solches gött-
lich. Das wahre Ich des Menschen, das ἀϑάνατον, ψυχὴ ἐπονομαζόμενον,
geht nach dem Tode παρὰ ϑεοὺς ἄλλους: Leg. 12, 959 B.
2).
Das ϑεῖον, ἀϑανάτοις ὁμώνυμον der Seele, ἀϑάνατος ἀρχὴ ϑνητοῦ
ζῴου. Tim. 41 C; 42 E. Die φρόνησις der Seele (ihre „Flügel“: Phaedr.
246 D.) τῷ ϑείῳ ἔοικεν. Alcib. I, 133 C. — Tim. 90 A. C heisst dieses
κυριώτατον τῆς ψυχῆς εἶδος geradezu der δαίμων, den der Mensch ξύνοι-
κον ἐν αὑτῷ habe.
3).
Das Auge ἡλιοειδέστατον τῶν περὶ τὰς αἰσϑήσεις ὀργάνων. Rep. 6,
508 B (Goethe spielt auf diese Worte an, oder auf die daraus abgeleiteten
des Plotin, 1 [περὶ τοῦ καλοῦ] 19 [p. 12, 13 ff. Kh.]).
4).
ἐπιστήμη καὶ ἀλήϑεια sind beide ἀγαϑοειδῆ: Rep. 6, 509 A; die
Seele ein ϑεοειδές: Phaedon 95 C.
5).
Aus der φιλοσοφία der Seele und daraus ὧν ἅπτεται καὶ οἵων ἐφί-
εται ὁμιλιῶν lässt sich ihre wahre Natur, als ξυγγενὴς τῷ ϑείῳ καὶ ἀϑανάτῳ
καὶ τῷ ἀεὶ ὄντι erkennen. Rep. 10, 611 D/E. Phaedon 79 D. Mit dem
ξυγγενές der Seele berühren wir das ὄντως ὄν: Rep. 6, 490 B. Sind die
Ideen ewig, so auch unsre Seele: Phaedon 76 D/E. Durch das φρονεῖν
ἀϑάνατα καὶ ϑεῖα hat die ἀνϑρωπίνη φύσις, καϑ̕ ὅσον ἐνδέχεται (nämlich
mit dem νοῦς), selbst Theil an der ἀϑανασία Tim. 90 B/C. Dieser denkende
„Theil“ der Seele πρὸς τὴν ἐν οὐρανῷ ξυγγένειαν ἀπὸ γῆς ἡμᾶς αἴρει, ὡς
ὄντας φυτὸν οὐκ ἔγγειον ἀλλ̕ οὐράνιον. Tim. 90 A.
4).
Erinnerung an solche Platonische Stellen, Plotin das Eintreten der ἔκστασις
beschreibt: ὅταν ἡ ψυχὴ ἐξαίφνης φῶς λάβῃ κτλ. (43, 17; vgl. 29, 7 Kh.).
1).
λύειν τὴν ψυχήν vom Leibe und der sinnlichen Wahrnehmung:
Phaedon 83 A/B; 65 A; 67 D λύσις καὶ καϑαρμός der Seele durch φιλο-
σοφία: Phaedon 82 D; λύσις καὶ ἴασις τῶν δεσμῶν (des Leibes) καὶ τῆς
ὰφροσύνης Rep. 7, 515 C.
2).
ϑεῖος εἰς τὸ δυνατὸν ὰνϑρώπῳ γίγνεται der wahre Philosoph: Rep.
6, 500 D. ἀϑάνατος: Symp. 212 A. Mit dem ὂν ἀεί als dem ϑεῖον in
steter Berührung ist ὁ φιλόσοφος wie dieses den Augen τῆς τῶν πολλῶν
ψυχῆς schwer erkennbar: Soph. 254 A. καί μοι δοκεῖ ϑεὸς μὲν (wie sich
z. B. Empedokles nannte) ἀνὴρ οὐδαμῶς εἰναι, ϑεῖος μήν · πάντας γἀρ τοὺς
φιλοσόφους ἐγὼ τοιούτους προσαγορεύω. Soph. 216 B (ϑεῖος in einem ganz
anderen Sinne als sonst Plato von den χρησμῳδοὶ καὶ ϑεομάντεις als
ϑεῖοι [Meno 99 C] und von der ϑείᾳ μοίρᾳ ἄνευ νοῦ kommenden Einsicht
und Tugend der Nichtphilosophen redet).
3).
Rep. 6, 519 C; 540 B. — τῆς τοῦ ὄντος ϑέας, οἵαν ἡδονὴν ἔχει,
ἀδύνατον ἄλλῳ γεγεῦσϑαι πλὴν τῷ φιλοσόφῳ Rep. 9, 582 C (vgl. Phileb.).
4).
Die Flucht ἐνϑένδε ἐκεῖσε bewirkt ὁμοίωσιν ϑεῷ κατὰ τὸ δυνατὸν
Theaetet. 176 B. ὁμοιοῦσϑαι ϑεῷ Rep. 10, 613 A (τῷ κατανοουμένῳ τὸ αα-
τανοοῦν ἐξομοιῶσαι Tim. 90 D).
5).
Ausscheiden der durch Philosophie völlig „rein“ gewordenen Seele
aus dem Kreise der Geburten und dem Reiche der Sinnlichkeit. Schon
der „Phaedros“ lässt die Seele der φιλοσοφήσαντες nach dreimaliger ἐν-
σωμάτωσις für den Rest der zehntausendjährigen περίοδος ausscheiden;
der ἀεί und ohne Wanken Philosophirende aber bleibt für immer frei
vom Leibe. So muss man doch p. 248 C—249 A verstehen. Ausgeführter
dann im Φαίδων: Befreiung der φιλοσοφίᾳ ἱκανῶς καϑηράμενοι für immer
vom Leben im Leibe (ἄνευ σωμάτων ζῶσι τὸ παράπαν εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον:
Phaedon 114 C), Eingehen der reinen Seele zu dem ihr Verwandten (εἰς τὸ
1).
— οὐ ῥᾴδιον δηλῶσαι — Phaed. 114 C.
2).
Der ἀΐδιος οὐσία, τὸ ἔστι μόνον κατὰ τὸν ἀληϑῆ λόγον προσήκει
Tim. 37 E.
3).
Es ist richtig, dass erst in ihrer Gemeinschaft mit dem Leibe die
Seele in αἴσϑησις, ἐπιϑυμία, ϑυμός, in allen den Kräften, die sie in Be-
ziehung zu dem Werdenden und Wechselnden setzen, das gewinnt, was
man ihre individuelle Besonderheit nennen könnte, während die völlig
adaequate denkende Auffassung des immer Gleichen der vom Leibe be-
freiten Seele keinen individuell bestimmten Inhalt geben könnte. Nur
ist daraus nicht (mit Teichmüller, Plat. Fr. 40) zu schliessen, dass Plato
von einer Unsterblichkeit des Individuellen und der Individuen nichts
gewusst habe. Er hat sich die Frage nach dem Entstehen und dem Sitz
der Individuation der Seelen gar nicht mit Bestimmtheit gestellt; es
genügt ihm anzunehmen, dass eine Vielheit einzelner Seelen schon vor
ihrer Verflechtung mit dem Werdenden, lebendig war, um zu schliessen,
dass in Ewigkeit, auch nach dem letzten Ausscheiden aus der γένεσις, die
gleiche Vielheit einzelner Seelen lebendig sein werde; die numerische
5).
ξυγγενές Phaed. 84 B) und Gleichen, εἰς τὸ ὅμοιον αὐτῇ, τὸ ἀειδές (Phaedon
81 A), εἰς ϑεῶν γένος (Phaed. 80 B—D), zu der τοῦ ϑείου τε καὶ καϑαροῦ καὶ
μονοειδοῦς συνουσία (Phaed. 83 E). Mehr mythisch gefärbt noch: Tim. 42
B—D (ὁ τῶν κακῶν καϑαρὸς τόπος Theaet. 177 A). Durchaus eine in das
Philosophische erhöhete Umbildung der Erlösungslehre der Theologen (der
— orphisch — μεμυημένοι Phaed. 81 A).
1).
Phaedon 83 D.
2).
χωρίζειν ὅτι μάλιστα ἀπὸ τοῦ σώματος τὴν ψυχήν. Phaed. 67 C.
ἀναχωρεῖν 83 A.
3).
Verschiedenheit (in die sich, schwer begreiflich, das Raumlose, Immate-
rielle ihm zerlegt) vertritt ihm die qualitative Besonderheit, auf die sich
das Selbstbewusstsein dieser Vielen doch allein beziehen könnte. Nach
der Darstellung des Timaeus (cap. 14) sind die vom δημιουργός gebildeten
Seelen offenbar alle gleich (daher auch γένεσις πρώτη τεταγμένη μία πᾶσιν
41 E), erst im σῶμα und in Verbindung mit den sterblichen Seelentheilen
reagiren sie auf die Eindrücke von aussen verschieden (42 B ff.), sind also
verschieden geworden (im Phaedon ist es freilich so schon in der Prae-
existenz: aber da sind auch ϑυμός und ἐπιϑυμία schon in der Praeexistenz
mit der Seele verbunden). Die Einflüsse der niedern Seelentheile und
die τροφὴ παιδεύσεως (Tim. 44 B) macht auch die λογιστικά der Seelen
von einander verschieden, und diese erworbene individuelle Besonderheit,
Früchte der ungleichen παιδεία καὶ τροφή (das ist aber gerade das Gegen-
theil von der „allgemeinen Natur“ des Seelischen, die Teichmüller, Stud.
143 hier bezeichnet meint) nimmt die Seele auch mit an den Ort der
Rechtfertigung, in den Hades: Phaed. 107 D. Wenn sie aber durch rich-
tigste τροφὴ παιδεύσεως ganz καϑαρά, frei von allen Fesseln des Sinn-
lichen und Vergänglichen geworden ist, und zu körperfreiem Dasein in
das ἀειδές entschwindet, so ist freilich auch alles Sonderwesen des Indi-
viduums in ihr erloschen. Gleichwohl soll sie als selbstbewusstes Ich
ewig dauern: denn dass so es Plato meinte, ist nicht zu bezweifeln.
1).
Phaed. 64 A ff. 67 E.
2).
Phaed. 114 C.
3).
τοῦ σώματος πτόησις καὶ μανία Cratyl. 404 A.
4).
τῷ ξυγγενεῖ πλησιάσας καὶ μιγεὶς τῷ ὄντι ὄντως Rep. 6, 490 B.
5).
Die Seele ἐῶσα χαίρειν τὸ σῶμα καὶ καϑ̕ ὅσον δύναται οὐ κοινωνοῦσα
αὐτῷ ὀρέγεται τοῦ ὄντος. Phaed. 65 C. So sehnt sich die Erscheinung
nach der Idee: oben p. 560, 1.
6).
τῆς φρονήσεως κτῆσις Phaed. 65 A ff.
7).
πειρᾶσϑαι χρὴ ἐνϑένδε ἐκεῖσε φεύγειν ὅτι τάχιστα. φυγὴ δὲ ὁμοίω-
σις ϑεῷ κατὰ τὸ δυνατόν Theaet. 176 A. B.
1).
Rep. 7, 523 A—524 D.
2).
Mehr als alles andre erweckt das κάλλος in der Erscheinungswelt
die Erinnerung an das einst im Ideenreich Geschaute. Phaedr. 250 B,
250 D ff. Symp. cap. 28 ff. Plato hat hiefür eine besondere Begründung:
in Wahrheit tritt hier der künstlerische Grundtrieb, das aesthetische
Element in der philosophischen Betrachtung und Begeisterung des, seiner
Theorie nach den αἰσϑήσεις und aller Kunst als Nachbildnerin trügerischer
Nachbilder des allein Wirklichen so feindlich absagenden Denkers, stark
hervor.
3).
Nicht μάϑησις, nur ἀνάμνησις. Phaedr. 249 B/C; Meno cap. 14 ff.;
Phaedon cap. 18 ff. (Ueberall steht bei Plato diese Theorie in engster
1).
Rep. VII init.
2).
ὁμοίωσις δὲ ϑεῷ, δίκαιον καὶ ὅσιον μετὰ φρονήσεως γενέσϑαι Theaet.
176 A.
3).
εἰς ἀγορὰν οὐκ ἴσασι τὴν ὁδόν κτλ. Theaet. 173 D ff.
4).
Theaet. 172 C—177 C. Der Philosoph, des alltäglichen Lebens
und seiner Künste unkundig und dagegen völlig gleichgültig, gilt den
Gewöhnlichen, wenn er einmal in die Interessen des Marktes und der
Gerichte gezogen wird, für εὐήϑης, ἀνόητος, γελοῖος. Bisweilen δόξαν
παράσχοιντ̕ ἂν (οἱ ὄντως φιλόσοφοι) ὡς παντάπασιν ἔχοντες μανικῶς. Sophist.
216 D. Rep. 7, 517 A. Diese Stellen in Schriften aus Platos späterer
Zeit. Aber schon im Phaedr. 249 D: ἐξιστάμενος τῶν ἀνϑρωτίνων σπου-
δασμάτων καὶ πρὸς τῷ ϑείῳ γιγνόμενος νουϑετεῖται ὑπὸ τῶν πολλῶν ὡς
παρακινῶν κτλ.
5).
ἰδιωτεύειν ἀλλὰ μὴ δημοσιεύειν soll der Philosoph Apol. 32 A.
Wenigstens in den thatsächlich bestehenden πόλεις: Rep. 7, 520 B. Nach
dem Tode Belohnung ἀνδρὸς φιλοσόφου τὰ αὑτοῦ πράξαντος καὶ οὐ πολυ-
πραγμονήσαντος ἐν τῷ βίῳ Gorg. 526 C. ὥσπερ εἰς ϑηρία ἄνϑρωπος ἐμπε-
σών, wird der wahre Philosoph ἡσυχίαν ἔχειν καὶ τὰ αὑτοῦ πράττειν. Rep.
6, 496 D.
6).
τὰ τῶν ἀνϑρώπων πράγματα μεγάλης οὐκ ἄξια σπουδῆς. Leg. 7, 803 B.
3).
Verbindung mit der Seelenwanderungslehre, und es scheint, dass er sie
in der That aus Vorahnungen und Andeutungen älterer Lehrer der Me-
tempsychose entwickelt hat. S. oben p. 478, 2).
1).
Gorg. 521 D. ὁ ὡς ἀληϑῶς κυβερνητικός: Rep. 6, 488 E. (vgl.
auch Meno 99 E. 100 A).
2).
Nicht διάκονος καὶ ἐπιϑυμιῶν παρασκευαστής, vielmehr ein ἰατρός.
Gorg. 518 C; 521 A; vgl. 464 B ff.
3).
Gorg. 519 A. φλυαρίαι sind ihm alle diese Weltlichkeiten, wie
ihm alle Erscheinungen im Reiche des Werdenden nur φλυαρίαι sind:
Rep. 7, 515 D.
4).
Gorg. cap. 78 ff.
5).
οὗτος ὁ τρόπος ἄριστος τοῦ βίου Gorg. 527 E (darnach eigentlich,
ὅντινα χρὴ τρόπον ζῆν [500 C] und nicht nach dem Wesen der ῥητορική
wird im Γοργίας geforscht, und daher das tiefe Pathos des ganzen Dialogs).
6).
Gorg. 515 C ff.; 519 A ff. Summa: οὐδένα ἡμεῖς ἴσμεν ἄνδρα ἀγα-
ϑὸν γεγονότα τὰ πολιτικὰ ἐν τῇδε τῇ πόλει. 517 A.
1).
οὐχ ὡς καλόν τι ἀλλ̕ ὡς ἀναγκαῖον πράττοντες Rep. 7, 540 B.
2).
Sie ist jetzt der, den ἀπαίδευτοι unzugängliche σκοπὸς ἐν τῷ βίῳ,
οὗ στοχαζομένους δεῖ ἅπαντα πράττειν· Rep. 7, 519 C.
3).
Die ἄλλαι ἀρεταὶ καλούμεναι (auch die σοφία als eine praktische
Klugheit: 4, 428 B ff.) als ἐγγὺς οὖσαι τῶν τοῦ σώματος, treten ganz zu-
rück hinter der Tugend τοῦ φρονῆσαι, d. h. der Dialektik und Ideenschau:
Rep. 7, 518 D/E. Sie allein ist ein ϑειότερον, ein μεῖζον als jene bürger-
lichen Tugenden: Rep. 6, 504 D; hoch über der δημοτική τε καὶ πολιτικὴ
ἀρετὴ, ἐξ ἔϑους τε καὶ μελέτης γεγονυῖα ἄνευ φίλοσοφίας τε καὶ νοῦ steht die
Philosophie: Phaedon 82 B/C. — Dies ist, recht verstanden, auch der
Sinn der Untersuchung im Μένων, die sich zwar ausdrücklich nur mit
der ἀρετή beschäftigt, wie man sie gemeinhin auffasst, die auf ἀληϑὴς
δόξα beruht, durch Instinct (ϑεία μοῖρα) zustande kommt, dem Philo-
sophen aber gar nicht als ἀρετή im wahren Sinne gilt, als welche er
allein die zu dauerndem Besitz erlernbare, auf der Ideenlehre beruhende
ἐπιστήμη gelten lässt, auf die er diesesmal nur andeutend hinausweist.
1).
Rep. VII cap. 15. Vgl. VI cap. 2. 5.
2).
καὶ τοῦ μὲν (δόξης ἀληϑοῦς) πάντα ἄνδρα μετέχειν φατέον, νοῦ δὲ
ϑεούς, ἀνϑρώπων δὲ γένος βραχύ τι. Tim. 51 E.
3).
φιλόσοφον πλῆϑος ἀδύνατον εἶναι. Rep. 6, 494 A. φύσεις völlig
philosophischer Art πᾶς ἡμῖν ὁμολογήσει, ὀλιγάκις ἐν ἀνϑρώποις φύεσϑαι
καὶ ὀλίγας. Rep. 6, 491 B.
4).
Darein ich mich versenke, das wird mit mir zueins: ich bin, wenn
ich ihn denke, wie Gott der Quell des Seins.
5).
Rep. 7, 540 B.
1).
Anfangs wirkte in der Akademie der Geist der Altersphilosophie
des Plato weiter; und wie man da seine pythagorisirende Zahlenspeculation
fortbildete, seine Phantasien von dämonischen Mittelwesen zwischen Gott
und Menschen pedantisch systematisirte, den theologischen Zug seines Den-
kens zu einer trüben, lastenden Deisidaemonie forttrieb (Zeugniss hievon
giebt namentlich die Epinomis des Philipp von Opus, sonst im besonderen
alles was wir von den Speculationen des Xenokrates wissen), so blieb auch
seine Seelenlehre und der asketische Hang seiner Ethik eine Zeit lang
unter seinen Schülern in Geltung und Kraft. Dem Philipp von Opus ist
das Ziel des menschlichen Strebens ein seliges Abscheiden aus der Welt
(das freilich nur wenigen, nach seiner Auffassung Weisen zutheil werden
kann: 973 C ff.; 992 C); die Erde und das Leben versinkt diesem Mystiker
gänzlich, alle Inbrunst der Betrachtung wendet sich dem Göttlichen, das
sich in Mathematik und Astronomie offenbart, zu. Platonische Seelen-
lehre, ganz im mystisch-weltverneinenden Sinne, liegt den fabulirenden Aus-
führungen des Heraklides Ponticus (im Ἄβαρις, Ἐμπεδότιμος u. s. w.) zu-
grunde, wie selbst den jugendlichen Versuchen des Aristoteles (im Εὔδη-
1).
μος und wohl auch im Προτρεπτικός). Systematisirt, scheint es, hat, vom
spätesten Standpunkt Platonischer Speculation aus, auch diese Lehren
namentlich Xenokrates. Es mag Zufall sein, dass wir von asketischer
Sinnesrichtung und überweltlicher Tendenz auf Abscheidung der Seele
vom Sinnlichen nichts Zuverlässiges in Betreff des Xenokrates hören.
Dem Krantor dient (in dem viel gelesenen Büchlein περὶ πένϑους) Plato-
nische Seelenlehre und was sich an sie phantasievoll anschliessen liess,
schon wesentlich nur als litterarisches Reizmittel. Bereits sein Lehrer
Polemo lässt einen von Platonischer Mystik abgewendeten Sinn erkennen.
Mit Arkesilaos verschwindet die letzte Spur dieser Sinnesweise.
1).
τοῖς ἐλευϑέροις ἥκιστα ἔξεστιν ὅ τι ἔτυχε ποιεῖν, ἀλλὰ πάντα ἢ
τὰ πλεῖστα τέτακται. Aristot. Metaph. 1075 a, 19. Diese Art der Frei-
heit war jetzt gewesen und vorbei.
1).
Nicht als ob solche Regungen ganz gefehlt hätten. Man erinnert
sich (aus Kallimach. epigr. 25) jenes Kleombrotos aus Ambrakia, den die
Lectüre des Platonischen Phaedon antrieb, sich (wie es zu geschehen
pflegt, mit gründlicher Verkennung der Meinung seines Propheten) in
unmittelbarem Schwunge aus dem Leben in das Jenseits hinüber zu
retten: er gab sich selbst den Tod. Hier bricht einmal eine Stimmung
hervor, der ähnlich, von der aus seiner eigenen, viel späteren Zeit Epiktet
Zeugniss giebt, als einer unter hochgesinnten Jünglingen verbreiteten, ein
Drang, aus der Zerstreuung des Lebendigen im Menschendasein so schnell
wie möglich zu dem Allleben der Gottheit zurückzukehren, durch Ver-
nichtung des Einzellebens (Epictet. diss. 1, 9, 11 ff.). Das waren in jenen
Zeiten doch nur vereinzelte Zuckungen weltflüchtiger Schwärmerei. Der
Hedonismus konnte zu gleichem Schlusse führen, wie an dem Ἀποκαρτε-
ρῶν des Cyrenaikers Hegesias sich zeigte, des πεισιϑάνατος, dessen neben
jenem Kleombrotos Cicero erwähnt, Tuscul. I § 83. 84.
1).
τὸ σῶμά πως τῆς ψυχῆς ἕνεκεν (γέγονεν), wie ὁ πρίων τῆς πρίσεως
ἕνεκα, nicht umgekehrt. part. an. 1, 5. 645 b, 19.
2).
Die ψυχή verhält sich zum σῶμα wie die ὄψις zum Auge, als die
wirksame Kraft in dem ὄργανον (und nicht wie die ὅρασις, der einzelne
Thätigkeitsact der Sehkraft). Sie ist die πρώτη ἐντελέχεια ihres Leibes. de
an
. 2, 1. Nicht eine σύνϑεσις von σῶμα und ψυχή, sondern ein Bei-
sammensein wie des Wachses und der daraus geformten Kugel. Top.
151 b, 20 ff.; gen. an. 729 b, 9 ff.; de an. 412 b, 7.
3).
ἀπελϑούσης γοῦν (τῆς ψυχῆς) οὐκέτι ζῷόν ἐστιν, οὐδὲ τῶν μορίων
οὐδὲν τὸ αὐτὸ λείπεται, πλὴν τῷ σχήματι μόνον, καϑάπερ τὰ μυϑευόμενα
λιϑοῦσϑαι. part. an. 641 a, 18.
4).
Metaph. 10, 26 a, 5: περὶ ψυχῆς ἐνίας ϑεωρῆσαι τοῦ φυσικοῦ, ὅση
μὴ ἄνευ τῆς ὕλης ἐστίν. — οὐδὲ γὰρ πᾶσα ψυχὴ φύσις, ἀλλά τι μόριον
αὐτῆς — part. an. 641 b, 9. Ueber das κεχωρισμένον der Seele hat ὁ πρῶ-
τος φιλόσοφος zu handeln. de an. 403 b, 16.
1).
λέγω δὲ νοῦν, ᾧ διανοεῖται καὶ ὑπολαμβάνει ἡ ψυχή. de an. 429 a, 23.
2).
Der νοῦς und seine ϑεωρητικὴ δύναμις ἔοικε ψυχῆς γένος ἕτερον
εἶναι, καὶ τοῦτο μόνον ἐνδέχεται χωρίζεσϑαι, καϑάπερ τὸ ἀΐδιον τοῦ φϑαρτοῦ.
τὰ δὲ λοιπὰ μόρια τῆς ψυχῆς οὐκ ἔστι χωριστά κτλ. de an. 413 b, 25.
3).
Es ist unleugbar die Meinung des Aristoteles, dass der νοῦς un-
entstanden, ungeschaffen, von Ewigkeit war. S. Zeller, Sitzungsber. d.
Berl. Akad. 1882 p. 1033 ff.
4).
ϑύραϑεν ἐπεισέρχεται in den sich bildenden Menschen. gen. anim.
736 b. δ ϑύραϑεν νοῦς 744 b, 21.
5).
Der νοῦς ist ἀπαϑής, ἀμιγής, οὐ μέμικται τῷ σώματι; er hat kein
leibliches ὄργανον. de an. 3,4. οὐϑὲν αὐτοῦ (τοῦ νοῦ) τῇ ἐνεργείᾳ κοινωνεῖ
σωματικὴ ἐνέργεια. gen. an. 736 b, 28.
6).
μόριον τῆς ψυχῆς, de an. 429 a, 10 ff. ψυχὴ οὐχ ὅλη, ἀλλ̕ ἡ νοη-
τική. 429 a, 28. ἡ ψυχή ‒ μὴ πᾶσα, ἀλλ̕ ὁ νοῦς. Met. 1070 a, 26.
7).
Das ζῷον ein μικρὸς κόσμος. Phys. 252 b, 26.
8).
Der νοῦς, ϑειότερόν τι καὶ ἀπαϑές. de an. 408 b, 29. — τὸν νοῦν
ϑεῖον εἶναι μόνον. gen. an. 736 b, 28 (737 a, 10). εἴτε ϑεῖον ὂν εἴτε τῶν ἐν
ἡμῖν τὸ ϑειότατον Eth. Nic. 1177 a, 15. Der νοῦς ist τὸ συγγενέστατον den
Göttern. ib. 1179 a, 26. — τὸ ἀνϑρώπων γένος ἢ μόνον μετέχει τοῦ ϑείου
τῶν ἡμῖν γνωρίμων ζῴων ἢ μάλιστα πάντων. part. an. 636 a, 7.
1).
ἔργον τοῦ ϑειοτάτου τὸ νοεῖν καὶ φρονεῖν. part. an. 686 a, 28.
2).
Metaph. Λ 7. 9.
3).
Eth. Nic. 1178 b, 7—22. de caelo 292 b, 4 ff.
4).
Auch ἐπικαλύπτεται ὁ νοῦς ἐνίοτε πάϑει ἢ νόσῳ ἢ ὕπνῳ. gen. an.
429 a 7.
5).
ϑιγγάνειν wird die Thätigkeit des νοῦ ςöfter genannt, als ein un-
theilbar einfacher Act der Erkenntniss der ἀσύνϑετα, bei dem, eben weil
er nicht (wie das Urtheil) zusammengesetzt ist (aus Subject und Prädi-
cat), ein Irrthum nicht stattfinden kann (der Act kann nur entweder statt-
finden oder nicht; ἀληϑές oder ψεῦδος kommt bei ihm nicht in Frage):
Met. 1051 b, 16—26 (ϑιγεῖν 24. 25). 1072 b, 21.
6).
Die ἀληϑῆ καὶ πρῶτα καὶ ἄμεσα καὶ γνωριμώτερα καὶ πρότερα
καὶ αἴτια τοῦ συμπεράσματος. Anal. post. I 2. Dieser ἀμέσων ἐπιστήμη
ἀναπόδεικτος (72 b, 10) fällt dem νοῦς zu. Es giebt nur einen νοῦς, nicht
eine ἐπιστήμη (als ἕξις ἀποδεικτική: Eth. 1139 b, 31) τῶν ἀρχῶν, τῆς
ἀρχῆς τοῦ ἐπιστητοῦ. Eth. VI 6. So ist der νοῦς ἐπιστήμης ἀρχή: Anal.
post
. 100 b, 5—17. τῶν ἀκινήτων ὅρων καὶ πρώτων νοῦς ἐστὶ καὶ οὐ λόγος.
Eth. 1143 b, 1. (vgl. Magn. Moral. 1197 a, 20 ff.).
7).
τὸ κύριον Eth. Nic. 1178 a, 2 u. ö. Der νοῦς δοκεῖ ἄρχειν καὶ
ἡγεῖσϑαι. Eth. 1177 a, 14. Er herrscht insbesondere über die ὄρεξις (wie
ἡ ψυχή über das σῶμα) Polit. 1254 b, 5 (vgl. Eth. Nic. 1102 b, 29 ff.).
8).
ἐγκρατὴς oder ἀκρατὴς heisst der Mensch τῷ κρατεῖν τὸν νοῦν ἢ μή·
ὡς τούτου ἑκάστου ὄντος. Eth. Nic. 1168 b, 35. δόξειε δ̕ ἂν καὶ εἶναι ἕκα-
1).
In diesem Sinne macht einen Unterschied zwischen ratio und
animus, Cicero off. 1, 107 (nach Panaetius): intellegendum est, duabus
quasi nos a natura indutos esse personis, quarum una communis est, ex
eo quod omnes participes sumus rationis — —; altera autem, quae proprie
singulis est tributa
.
2).
ἅπαντα τὰ γινόμενα καὶ φϑειρόμενα φαίνεται. de coel. 279 b, 20 (τὸ
γενόμενον ἀνάγκη τέλος λαβεῖν phys. 203 b, 8). Dagegen ἅπαν τὸ ἄεὶ ὂν
ἁπλῶς ἄφϑαρτον. ὁμοίως δὲ καὶ ἀγένητον· de cael. 281 b, 25. εἰ τὸ ἀγένητον
ἄφϑαρτον καὶ τὸ ἄφϑαρτον ἀγένητον, ἀνάγκη καὶ τὸ „ἀΐδιον“ ἑκατέρῳ ἀκολου-
ϑεῖν, καὶ εἴτε τι ἀγένητον, ἀΐδιον, εἴτε τι ἄφϑαρτον, ἀΐδιον, κτλ. de coel. 282 a
31 ff. So ist denn auch der νοῦς (ἀπαϑής) als ungeworden ewig und un-
vergänglich (s. Zeller, Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1882 p. 1044 f.). Er
gehört zu den unvergänglichen οὐσίαι, die als solche τίμιαι καὶ ϑεῖαι sind
(part. an. 644 b, 22 ff.).
3).
Der νοῦς ὑπομένει bei der Trennung Metaph. 1070 a, 25. 26. Ge-
nauer der νοῦς ἀπαϑὴς (ποιητικός); während der νοῦς παϑητικὸς (dessen
Verhältniss zum ποιητικός sehr dunkel bleibt) φϑαρτός ist, ist der νοῦς
ποιητικὸς χωρισϑεὶς μόνον τοῦτο ὅπερ ἐστί, καὶ τοῦτο μόνον ἀϑάνατον καὶ
ἀΐδιον. de an. 430 a, 10—25.
8).
στος τοῦτο (der νοῦς). ib. 1178 a, 2. τῷ ἀνϑρώπῳ δὴ (κράτιστον καὶ ἥδιστον)
ὁ κατὰ νοῦν βίος, εἴπερ τοῦτο μάλιστα ἄνϑρωπος (hier doch nur, insofern
der Besitz des νοῦς den Menschen generell von anderen ζῷα unterscheidet):
ib. 1178 a, 6.
1).
de an. 408 b, 18 ff: Der νοῦς οὐ φϑείρεται, auch nicht ὑπὸ τῆς ἐν
τῷ γήρᾳ ἀμαυρώσεως — — — τὸ νοεῖν καὶ τὸ ϑεωρεῖν μαραίνεται (im Alter)
ἄλλου τινὸς ἔσω (? im Denkenden drinnen wird nichts vernichtet. Schr.
ἐν ᾧ, wie Z. 23, und verstehe: ἄλλου τινὸς ἐν ᾧ τὸ νοεῖν = ὁ νοῦς
ἔνεστι, nämlich des ganzen lebendigen Menschen) φϑειρομένου, αὐτὸ δὲ
ἀπαϑές ἐστιν (wie denn der νοῦς durchaus ἀναλλοίωτον ist, selbst seine
νόησις keine κίνησις ist, die λῆψις τῆς ἐπιστήμης in ihm keine ἀλλοίωσις:
de an. 407 a, 32; phys. 247 a, 28; b, 1 ff; 20 ff.) τὸ δὲ διανοεῖσϑαι (Denken
und Urtheilen) καὶ φιλεῖν ἢ μισεῖν οὐκ ἔστιν ἐκείνου πάϑη, ἀλλὰ τοῦδε τοῦ
ἔχοντος ἐκεῖνο, ᾗ ἐκεῖνο ἔχει. διὸ καὶ τούτου φϑειρομένου οὔτε μνημονεύει
οὔτε φιλεῖ. οὐ γὰρ ἐκείνου ἦν, ἀλλὰ τοῦ κοινοῦ (des mit dem νοῦς einst zu-
sammengewesenen), ὅ ἀπόλωλεν· ὁ δὲ νοῦς ἴσως ϑειότερόν τι καὶ ἀπαϑές
ἐστιν. In seinem Sondersein hat der νοῦς kein Gedächtniss: dies jeden-
falls sagt das: οὐ μνημονεύομεν, de an. 430 a, 23, wie man auch im übrigen
die Worte jenes Satzes verstehen will.
2).
Besonders im Εὔδημος (fr. 31—40 Ar. pseud.); vielleicht auch
im Προτρεπτικός.
3).
Denn so ist doch wohl fr. 36 (Εὔδ.) gemeint: der δαίμων ist die Seele
selbst. Vgl. fr. 35.
4).
de an. 407 b, 13—26; 414 a, 19—27. — Der νοῦς des Aristoteles
ist freilich doch auch ein τυχόν in einem anderen τυχόν, nicht als ein
1).
Nur als argumentum ad hominem wird einmal verwendet die Vor-
4).
Sonderwesen mit beliebigen Qualitäten in einem beliebigen Gefäss von
vielleicht zu ihm gar nicht stimmenden Qualitäten (wie nach dem Πυϑα-
γόρειος μῦϑος die ψυχή im σῶμα), aber doch in einem beseelten Individuum
von ganz bestimmten Qualitäten als ein Fremdes ohne alle bestimmte
Eigenart, also doch auch nicht von einer mit jenem zusammenstimmenden
Eigenart. Es verräth sich hier trotz allem die Herkunft des Aristote-
lischen μῦϑος vom νοῦς aus alttheologischen μῦϑοι.
1).
Eth. Nicom. K 7—9. — δοκεῖ ἡ φιλοσοφία ϑαυμαστὰς ἡδονὰς ἔχειν
καϑαριότητι καὶ τῷ βεβαίῳ. εὔλογον δε τοῖς εἰδόσι τῶν ζητούντων ἡδίω τὴν
διαγωγὴν εἶναι. Der σοφός bedarf keiner σύνεργοι (wie der σώφρων und der
ἀνδρεῖος), er ist der sich selbst αὐταρκέστατος. Die Thätigkeit des νοῦς ist
die werthvollste, als ϑεωρητική, und παρ̕ αὑτὴν οὐδενὸς ἐφίεται τέλους.
Ein ausreichend langes Leben in der theoretischen Thätigkeit des νοῦς
ist τελεία εὐδαιμονία ἀνϑρώπου, ja dies ist nicht mehr ein ἀνϑρώπινος βίος,
sondern κρείττων ἢ κατ̕ ἄνϑρωπον, ein ϑεῖος βίος, wie der νοῦς ϑεῖόν τι ἐν
ἀνϑρώπῳ ὑπάρχει. So soll man nicht ἀνϑρώπινα φρονεῖν sondern ἐφ̕ ὅσον
ἐνδέχεται ἀϑανατίζειν (schon im Leben unsterblich sein) καὶ πάντα ποιεῖν πρὸς
τὸ ζῆν κατὰ τὸ κράτιστον τῶν ἐν αὑτῷ (p. 1177 b, 31 ff.). Diese τελεία εὐδαι-
μονία, als eine ϑεωρητικὴ ἐνέργεια bringt die Denkenden den Göttern
1).
stellung, dass βέλτιον τῷ νῷ μὴ μετὰ σώματος εἶναι (καϑάπερ εἴωϑέ τε
λέγεσϑαι καὶ πολλοῖς συνδοκεῖ). de an. 407 b. 4.
1).
οἶμαι δὲ τοῦ γινώσκειν τὰ ὄντα καὶ φρονεῖν ἀφαιρεϑέντος οὐ βίον
ἀλλὰ χρόνον
εἶναι τὴν ἀϑανασίαν Plut. de Is. et Osir. 1 extr. Mit voller
1).
nahe, deren Leben nicht πράττειν (auch nicht tugendhaftes), nicht ποιεῖν,
sondern reine ϑεωρία ist, wie auch das Leben der Menschen (ihres allein
unter allen ζῷα) sein kann, ἐφ̕ ὅσον ὁμοίωμά τι τῆς τοιαύτης (ϑεωρητικῆς)
ἐνεργείας ὑπάρχει. (p. 1178 b, 7—32). — Nirgends auch nur der Schatten
eines Gedankens daran, dass die εὐδαιμονία des ϑεωρητικὸς βίος erst in
einem Jenseits τελεία werden könne, anderswo als im irdischen Leben
überhaupt denkbar sei. Nur μῆκος βίου τέλειον wird zur Bedingung der
τελεία εὐδαιμονία gemacht (1177 b, 25), aber nichts was ausserhalb und
jenseits des Lebens läge. Der ϑεωρητικὸς βίος findet hier auf Erden seine
volle abschliessende Entwicklung. — τέλειος βὸος zur Erlangung der εὐδαιμονία
nothwendig: Eth. 1100 a, 5; 1101 a, 16. Aber die εὐδαιμονία ist ganz be-
schlossen in den Grenzen des irdischen Lebens; den Todten εὐδαίμονα
zu nennen wäre παντελῶς ἄτοπον, da ihm die ἐνέργεια, welche das Wesen
der εὐδαιμονία macht, abgeht, nur ein geringer Schatten von Empfindung
den κεκμηκότες zukommen kann (fast homerische Auffassung): ibid. 1100 a,
11—29; 1101 a, 22—b, 9. — Da es unmöglich ist, dass das Einzelwesen einer
ununterbrochenen Dauer, des ἀεὶ καὶ ϑεῖον für sich selbst theilhaftig werde,
so beruht die Fortdauer nach dem Tode des Einzelnen nur in dem Fort-
bestehen des εἶδος, nicht des αὐτό (welches vergeht), sondern eines οἷον
αὐτό, welches in der Kette der Zeugungen auf Erden fortbesteht: de an.
415 a, 28—b, 7. gen. an. 731 a, 24—b, 1. (Nachahmung der Platonischen
Ausführungen, Symp. 206 C — 207 A [vgl. auch Leg. 4, 721 C; 6, 773 E;
Philo de incorrupt. mund. § 8 p. 495 M., nach Kritolaos]. Aristoteles
konnte viel eher an dieser Auffassung ernstlich festhalten, als, auf seinem
Standpunkte, Plato, der wohl nur, für den momentanen Bedarf seines
Dialogs, sich heraklitischer Vorstellungen, sie weiter ausführend, be-
mächtigt. S. oben p. 440, 1 f.).
1).
Theophrast discutirt, nach der Aporienmanier der Schule, die
Dunkelheiten und Schwierigkeiten der Lehre vom νοῦς, insbesondere von
dem doppelten νοῦς, dem ποιητικός und dem παϑητικός, bleibt aber, seiner
Art getreu, dennoch stehn bei dem unabänderlichen Schuldogma vom
νοῦς χωριστός, der ἔξωϑεν ὤν καὶ ὥσπερ ἐπίϑετος ὅμως σύμφυτος mit dem
Menschen sei, und wie ἀγέννητος, so auch ἄφϑαρτος. Fragm. 53 b p. 226 ff.;
53 p. 176 Wim. (Die ϑεωρία kommt dem νοῖς ϑιγόντι καὶ οἷον ἁψαμένῳ,
daher ohne ἀπάτη: fr. 12, § 25. Der νοῦς ist κρεῖττόν τι μέρος [τῆς ψυχῆς]
καὶ ϑειότερον. fr. 53; von ihm und seiner ϑεωρία muss man verstehen das
κατὰ δύναμιν ὁμοιοῦσϑαι ϑεῷ, das auch Th. verkündete: Julian. or. 6,
p. 239, 22 ff. Hertl.) Dass ihm die Unsterblichkeit des νοῦς für dieses Leben
und seine Führung irgend welche Bedeutung hätte, zeigt sich nirgends.
Ebensowenig in der Ethik des stark zu theologischer Betrachtung neigen-
den Eudemos. Das Ziel des Lebens, die ἀρετὴ τέλειος, welche ist
1).
Deutlichkeit unterscheidet von der ἀϑανασία τῆς ψυχῆς nach Platonischem
Dogma und der stoischen ἀπιδιαμονὴ τῆς ψυχῆς diese aristotelische Lehre
von der τοῦ νοῦ ἀϑανασία (οἱ πεισϑέντες περὶ τοῦ ϑύραϑεν νοῦ ὡς ἀϑανά-
του
[ϑανάτου die Ausgg.] καὶ μόνου [καινοῦ die Ausgg.] διαγωγὴν [=βίον]
ἕξοντος: so wird zu schreiben sein) als etwas ganz anderes Orig. c. Cels.
3, 80 p. 359 Lomm.
1).
καλοκἀγαϑία, ist ἡ τοῦ ϑεοῦ ϑεωρία, die der νοῦς, τὸ ἐν ἡμῖν ϑεῖον (1248 a,
27) ausübt; hiebei ἥκιστα αἰσϑάνεσϑαι τοῦ ἄλλου μέρους τῆς ψυχῆς ist das
beste (p. 1249 b). Um des γνωρίζειν willen wünscht der Mensch ζῆν ἀεί
(1245 a, 9), aber auf Erden, im Leibe; in ein Jenseits fällt kein Blick
(wie man am ersten bei diesem halbtheologischen Denker erwarten könnte,
der z. B. von der Ablösbarkeit des νοῦς vom λόγος [dem ἄλλο μέρος τῆς
ψυχῆς] im Leibesleben und seiner höheren Erkenntniss im Enthusiasmus
und Wahrtraum ernsthaft redet: 1214 a, 23; 1225 a, 28; 1248 a, 40). —
Noch dieser ersten Generation der Peripatetiker gehören Aristoxenos
und Dikaearch an, die eine eigene Substanz der „Seele“, welche nichts
als die „Harmonie“, das Resultat der Mischung der Körperstoffe sei,
nicht anerkennen. (Dik. ἀνᾑρηκε τὴν ὅλην ὑπόστασιν τῆς ψυχῆς. Atticus
bei Eus. praep. ev. 15, 810 A; Ar. und Dik. nullum omnino animum esse
dixerunt.
Cic. Tusc. 1 § 51; 21; 41 u. A.) Dikaearch hatte (in den
Λεσβιακοὶ λόγοι) die Unsterblichkeitslehre ausdrücklich bekämpft: Cic. § 77.
(Sehr auffallend bleibt, dass Dikaearch, der natürlich von einem separa-
bilis animus
nichts wusste [Cic. § 21] dennoch nicht nur an mantischen
Träumen — das liesse sich allenfalls verstehen, ἔχει γάρ τινα λόγον [s.
Aristot. 462 b ff.] — festhielt, sondern auch an der Wahrsagung im ἐν-
ϑουσιασμός [Cic. divin. 1 § 5. 113. Doxogr. p. 416 a], die stets das Dasein
einer „Seele“ als eigener Substanz und deren Abtrennbarkeit vom Leibe
zur dogmatischen Voraussetzung hat.) — Strato, „der Naturforscher“
(† 270), dem die Seele eine einheitliche Kraft ist, vom Leibe und den
αἰσϑήσεις untrennbar, der Glaube an den νοῦς χωριστός des Aristoteles
aber ganz abgeht, kann unmöglich an einer Unsterblichkeit, in welcher
Gestalt und Einschränkung immer, festgehalten haben. — Nachher folgt
die rein gelehrte und von der Philosophie so gut wie abgekehrte Zeit
der peripatetischen Secte. Mit der Rückwendung zu den Schriften des
Meisters (seit Andronikos) gewinnt die Schule neues Leben. Die Fragen
nach den Theilen der Seele, dem Verhältniss des νοῦς zur Seele (und zum
νοῦς παϑητικός) werden neu discutirt, es herrscht aber die Neigung vor,
den νοῦς ϑύραϑεν ἐπεισιών bei Seite zu setzen (vgl. die Definition der
Seele bei Andronikos: Galen π. τ. τῆς ψυχῆς ἠϑῶν IV 782 f.; Themist.
de an. II 56, 11; 59, 6 Sp.), daher auch die Unsterblichkeit (die nur
dem νοῦς zukam) zu leugnen (so Boëthos: Simplic. de an. p. 247, 24 ff.
Hayd. Anders wieder und noch über Aristoteles hinausgehend Kratippos,
der Zeitgenoss des Boëthos: Cic. de dirin. I § 70; vgl. § 5. 113).
Alexander von Aphrodisias, der grosse ἐξηγητής, weist den νοῦς ποιη-
τικός ganz aus der menschlichen Seele hinaus (es ist der göttliche νοῦς,
νοῦς und νοητὸν ἐνεργείᾳ stets und schon πρὸ τοῦ νοεῖσϑαι durch den ὑλι-
1).
ἕξις, φύσις, ἄλογος ψυχή, ψυχὴ λόγνο ἔχουσα καὶ διάνοιαν (Plut.
virt. moral. 451 B. C. u. A. Durch alles dies und als dieses Alles διήκει
ὁ νοῦς. Laert. D. 7, 138 f.)
2).
Unsere Seele ein ἀπόσπασμα des ἔμψυχος κόσμος Laert. 7, 143.
1).
κὸς νοῦς des Menschen, ϑύραϑεν in diesen — nicht örtlich und ohne Orts-
veränderung [p. 113 18 f] — eingehend in dem einzelnen Act des νοεῖν
durch den νοῦς ὑλικός, niemals aber ein μόριον καὶ δύναμίς τις τις ἡμετέ-
ρας ψυχῆς: de an. p. 107—109; p. 90 Br.). Er ist χωριστός und ἀϑάνατος,
ἀπαϑής u. s. w., die menschliche Seele aber, nichts anderes als das εἶδος
ihres σῶμα, und von diesem ἀχώριστος, vergeht, sammt ihrem νοῦς ὑλικός,
völlig im Tode, συμφϑείρεται τῷ σώματι. de an. p. 21, 22 f., p. 90, 16 f.
Das seelische Individuum also vergeht; der unvergängliche νοῦς hatte sich gar
nicht an die Individuen vertheilt. — Wesentliche und ernsthafte Bedeutung
hat für das Ganze der Lehre das rein logisch erschlossene, nicht empfundene
Dogma von der Unvergänglichkeit des individuellen νοῦς des Menschen
(und von einem solchen will doch Aristoteles selbst unzweifelhaft reden)
den Peripatetikern nie gehabt, so lange sie sich auf eigenem Boden er-
hielten. Zuletzt freilich verschlang auch sie der Strudel des Neoplatonismus.
1).
(ἡ ψυχὴ) ἀραιότερον πνεῦμα τῆς φύσεως καὶ λεπτομερέστερον —
Chrysipp. bei Plut. Stoic. rep. 1052 F. Die „Natur“ ist feucht gewor-
denes, die Seele trocken gebliebenes πνεῦμα (Galen. IV 783 f.).
2).
Das βρέφος entsteht als φυτόν, wird dann erst durch περίψυξις
(davon ψυχή!) ein ζῷον. Chrysipp bei Plut. Stoic. rep. 1052 F. So wird
ἐκ φύσεως ψυχή. Plut. de primo frig. 946 C.
3).
Fast könnte man, der Grundvorstellung des stoischen Pantheismus
entsprechend, mit einem halbstoischen Wort des Philo (q. det. pot. insid. 24),
die menschliche Seele nennen ein τῆς ϑείας ψυχῆς ἀπόσπασμα οὐ διαι-
ρετόν
(τέμνεται γὰρ οὐδὲν τοῦ ϑείου κατ̕ ἀπάρτησιν, ἀλλὰ μόνον ἐκτείνεται).
Es überwiegt aber doch in stoischer Dogmatik die Vorstellung von völliger
Abtrennung der einzelnen ἀποσπάσματα von dem allgemeinen ϑεῖον, ohne
dass freilich der Zusammenhang aller zum Ganzen und Einen ganz auf-
gehoben wäre.
2).
Oft heisst die Seele des Menschen ein ἀπόσπασμα τοῦ ϑεοῦ (Διός), ϑεία
ἀπόμοιρα, ἀπόρροια (Gataker. ad Marc. Aurel. p. 48. 211) oft auch geradezu
ϑεός (s. Bonhöffer Epiktet und die Stoa p. 76 f.).
1).
Nach altstoischer Lehre, wie sie Chrysipp systematisirt hatte, ist
die Seele völlig einheitlich, aus der Allvernunft des Gottes entflossene
Vernunft, der kein ἄλογον innewohnt. Ihre Triebe, ὁρμαί, müssen so ver-
nünftig sein, wie ihre Willensentscheidungen, κρίσεις, von aussen wirkt
auf sie die φύσις ein, die selbst als eine Entfaltung der höchsten Vernunft,
der Gottheit, nur gut und vernünftig sein kann. Es ist allerdings un-
fassbar, woher, wenn die Grundlehren der alten Stoa bestehen sollen,
falsche Urtheile, übermässige und böse Triebe entstehen können, ἡ τῆς
κακίας γένεσις ist hiebei unverständlich, wie den subtilen Erörterungen
des Chrysipp hierüber Posidonius entgegenhielt (s. Schmekel, Philos. d.
mittl. Stoa
p. 327 ff.).
1).
ἀκολούϑως τῇ φύσει ζῆν (es sind aber unsere φύσεις μέρη τῆς τοῦ
ὅλου) d. h. entsprechend dem κοινὸς νόμος, ὅσπερ ἐστὶν ὁ ὀρϑὸς λόγος ὁ
διὰ πάντων ἐρχόμενος, ὁ αὐτὸς ὢν τῷ Διί, καϑηγεμόνι τούτῳ τῆς τῶν ὅλων
διοικήσεως ὄντι. Chrysipp. bei Laert. 7, 87. 88. Meist nimmt diese Hin-
gebung an den vernunftbestimmten Weltlauf, das Deum sequere (Sen. vit.
beata
15, 5; epist. 16, 5; ἕπεσϑαι ϑεοῖς Epictet. diss. I 12, 5 ff. u. a.) den
Charakter eines mit Bewusstsein und συγκατάϑεσις hinnehmenden passiven
Geschehenlassens an: χρῶ μοι λοιπὸν εἰς ὃ ἄν ϑέλῃς, ὁμογνωμονῶ σοι, σὸς
εἰμί κτλ. Epictet. diss. II 16, 42. ϑέλε γίνεσϑαι τὰ γινόμενα ὡς γίνεται,
καὶ εὐροήσεις (dies klingt noch am ersten wie: Nehmt die Gottheit auf in
euren Willen —) ἐγχειρ. 8. Und so eigentlich schon in Kleanthes Versen:
ἄγου δὲ μ̕ ὦ Ζεῦ καὶ σύ γ̕ ἡ Πεπρωμένη κτλ. Und solche „Bejahung des
Weltlaufes“ in voll pantheistischem Sinne verstanden (wie denn Kleanthes
τὴν κοινὴν μόνην ἐκδέχεται φύσιν ἧ δεῖ ἀκολουϑεῖν, οὐκέτι δὲ καὶ τὴν ἐπὶ
μέρους. Laert. 7, 89), konnte auch zu einer activen Ethik von concretem
Gehalt nicht führen.
1).
Der σοφός ist μόνος ἐλεύϑερος· εἶναι γὰρ τὴν ἐλευϑερίαν ἐξουσίαν αὐτο-
πραγίας: Laert. 7, 121. Gesetze, Staatsverfassungen sind für ihn nicht
giltig: Cic. Acad. pr. 2, 136.
2).
Feinde und Fremde sind einander alle μὴ σπουδαῖοι, πολῖται καὶ
φίλοι καὶ οἰκεῖοι οἱ σπουδαῖοι μόνον. Zeno ἐν τῇ Πολιτείᾳ bei Laert.
7, 32. 33.
3).
ὁ παρ̕ ἑκάστῳ δαίμων, den man in Uebereinstimmung halten müsse
πρὸς τὴν τοῦ τῶν ὅλων διοικητοῦ βούλησιν. Laert. 7, 88 nach Chrysipp.
In der allein erhaltenen späteren stoischen Litteratur begegnet uns dieser
δαίμων des Einzelnen, sacer intra nos spiritus, vielfach (bei Seneca, Epiktet,
Mark Aurel; s. Bonhöffer Epiktet 83). Es wird da zumeist von ihm so
geredet, dass zwischen ihm und dem Menschen oder seiner Seele, auch
dem ἡγεμονικόν, ein Unterschied gemacht zu werden scheint. Zeus
παρέστησεν ἐπίτροπον ἑκάστῳ τὸν ἑκάστου δαίμονα καὶ παρέδωκε φυλάσ-
σειν αὐτὸν αὐτῷ κτλ. (Epiktet. diss. 1, 14, 12). ὁ δαίμων, ὃν ἑκάστῳ προ-
στάτην
καὶ ἡγεμόνα ὁ Ζεὺς ἔδωκεν (M. Aurel. 5, 27). ἀνάκρινον τὸ δαιμόνιον,
Epict. 3, 22, 53 (man kann es, wie Sokrates sein δαιμόνιον, befragen als
ein Andres und Gegenüberstehendes). Dieser δαίμων scheint also nicht
ohne Weiteres mit der „Seele“ des Menschen gleichgesetzt werden zu
können, wie der Dämon im Menschen, von dem die Theologen reden.
3).
Die Ausdrucksweise und Vorstellung lehnt sich vielmehr an das an, was
verbreiteter Volksglaube von dem Schutzgeist des Menschen zu sagen
wusste. ἅπαντι δαίμων ἀνδρὶ συμπαρίσταται εὐϑὺς γενομένῳ μυσταγωγὸς τοῦ βίου
Menander, Mein. Com. IV 238 (hier wird bereits die Vorstellung von
zwei dämonischen Lebensbegleitern abgewiesen, von der schon Euklides
der Sokratiker redete: Censorin. d. d. nat. 3, 3. Anders doch Phokylid.
fr. 15). Schon Plato redet (mit einem λέγεται) von dem δαίμων ὅςπερ
ζῶντα εἰλήχει (und die abgeschiedene Seele in den Hades geleite): Phae-
don
107 D. Aber der Glaube muss viel älter sein; er spricht sich ziem-
lich deutlich aus in Pindars Worten, Ol. 13, 27: (Ζεῦ πάτερ) Ξενοφῶντος
εὔϑυνε δαίμονος οὖρον, in denen der Uebergang zu der Bedeutung: Schicksal
in dem Worte δαίμων noch nicht ganz gemacht ist, der dann (bei Tra-
gikern u. a. Dichtern) sehr gewöhnlich gemacht wird, immer aber als voraus-
liegend den Glauben an solchen persönlichen dämonischen Lebensgenossen
zu denken nöthigt, ohne dessen Vorangang er gar nicht geschehen konnte
(δαίμων = πότμος Pindar P. 5, 114 f. und schon Theognis 161. 163. Wenn
Heraklit sagt: ἦϑος ἀνϑρώπῳ δαίμων [fr. 121], so heisst ihm δαίμων das
Lebensgeschick. Und ἦϑος und Lebenslage zugleich bedeutet es dem
Plato, Rep. 10, 617 D; οὐχ ὑμᾶς δαίμων λήξεται, ἀλλ̕ ὑμεῖς δαίμονα αἱρή-
σεσϑε: wo die Herleitung dieser metonymischen Anwendung des W. δαίμων
aus dem Glauben an den persönlichen Specialdämon des Einzelnen noch
sehr deutlich durchscheint. Aehnlich [Lys.] epitaph. 78. Die Metonymie
aber schon in der Ilias 8, 166 πάρος τοι δαίμονα δώσω = πότμον ἐφήσω.)
Dieser Specialdämon des Einzelnen, der sich ihm persönlich gegenüber-
stellen kann (wie dem Brutus sein δαίμων κακός: Plut. Brut. 36) ist von
dessen ψυχή verschieden, wiewohl sich denken liesse, dass er eigentlich
nur aus einer Projicirung der allzu selbständig gedachten eigenen ψυχή
ausserhalb des Menschen entstanden sein möge (ähnlich dem römischen
genius. — Die dämonischen φύλακες des Hesiod [oben p. 89 ff.] gehören in
andre Vorstellungsreihen). Den Stoikern also wird dieser Volksglaube als
Analogon vorgeschwebt haben, wenn sie von dem παρ̕ ἑκάστῳ δαίμων als
etwas von dem Menschen und seinem ἡγεμονικόν noch Verschiedenem reden.
Aber sie bedienen sich dieser Vorstellung doch nur als eines Bildes.
Eigentlich soll ihnen der δαίμων des Einzelnen bezeichnen dessen „urbild-
liche, ideale Persönlichkeit, gegenüber seiner empirischen Persönlichkeit“
(so sehr richtig Bonhöffer a. O. 84), das was der Mensch als intelligibler
Charakter ist, als empirischer erst werden soll (γένοι̕ οἷος ἐσσί —). So
ist der δαίμων verschieden von der ψυχή (διάνοια) und doch wieder mit
ihr identisch. Es wird ein halb allegorisches Spiel mit dem δαίμων als
Specialgenius und zugleich als Krone der menschlichen Person getrieben,
wie vorübergehend schon bei Plato ähnlich, Tim. 90 A. Schliesslich ist
1).
ὁ ϑάνατός ἐστι χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ σώματος — Chrysipp. bei
Nemes. de nat. hom. p. 81 Matth. Zeno und Chrysipp. bei Tertullian de
anima
5.
2).
Alles entsteht und vergeht, auch die Götter, ὁ δὲ Ζεὺς μόνος
ἀΐδιός ἐστι. Chrysipp. bei Plut. Stoic. repugn. 1052 A; commun. not.
1075 A ff. — ἐπιδιαμονή, nicht ἀϑανασία der Menschenseelen.
3).
(da die Stoa einen eigenen, von aussenher um den Menschen waltenden
Schutzdämon im Ernst nicht statuiren wollte) das ἡγεμονικόν von dem
δαίμων nicht verschieden: wie denn bei M. Aurel 5, 27 der δαίμων mit
dem ἀπόσπασμα Διός, dem ἑκάστου νοῦς καί λόγος völlig zusammenfällt
(vgl. 3, 3 extr.; 2, 13. 17; 3, 7: τὸν ἑαυτοῦ νοῦν καὶ δαίμονα). Dass aber
dies ἀπόσπασμα τοῦ ϑεοῦ ein δαίμων genannt werden kann, bekundet eine
Neigung, den Seelengeist als ein Selbstständiges, von dem allgemeinen
Urgrund des Göttlichen freier Abgetrenntes zu denken als der stoische
Pantheismus (dem der Ausdruck ἀπόσπασμα, ἀπόρροια τοῦ ϑεοῦ besser
entspricht) in strenger Auffassung zuliess. Man kam hier der theologischen
Auffassung der „Seele“ als eines in selbständiger Existenz beharrenden
Einzeldämons nahe. Völlig zu ihr über ging Posidonius, dem der einzelne,
im Menschen wohnende δαίμων, zwar συγγενὴς ὤν τῷ τὸν ὅλον κόσμον
διοικοῦντι (Pos. bei Galen. V 469), aber nicht mehr dessen unselbständiges
ἀπόσπασμα, sondern einer von vielen selbständigen, individuell bestimmten
Geistern ist, die in der Luft praeexistirend leben und bei der Geburt in
den Menschen einziehen (s. Bonhöffer a. O. 79. 80. Vgl. auch Schmekel,
Philos. d. mittl. Stoa 249 ff. 256).
1).
Κλεάνϑης μὲν οὖν πάσας (τὰς ψυχὰς) ἐπιδιαμένειν (λέγει) μέχρι
τῆς ἐκπυρώσεως, Χρύσιππος δὲ τὰς τῶν σοφῶν μόνον. Laert. D. 7, 157.
Ohne Nennung der zwei Gewährsmänner öfter wiederholt: Arius Did. bei
Euseb. praep. ev. 15, 822 A—C (die ψυχαὶ τῶν ἀφρόνων καὶ ἀλόγων ζῷων
vergehen sofort mit dem Tode des Leibes: C) u. a. — Die Chrysippische
Lehre auch Tac. Agric. 46: si, ut sapientibus placet, non cum corpore
extinguuntur magnae animae
(αἱ μεγάλαι ψυχαί. Plut. def. orac. 18). —
omnium quidem animos immortales esse sed fortium bonorumque dicinos.
Cic. de leg. 2, 27. Ungenau ausgedrückt.
2).
Die ἀσϑενεστέρα ψυχή (αὕτη δέ ἐστι τῶν ἀπαιδεύτων) vergeht
eher, ἡ δὲ ἰσχυροτέρα, οἵα ἐστὶ περὶ τοὺς σοφούς bleibt μέχρι τῆς ἐκπυρώ-
σεως. Doxogr. 393, a.
3).
Merkwürdig das Vorwiegen der materialistischen Auffassung bei
denjenigen Stoici, die, nach Seneca epist. 57, 7 existimant, animum ho-
minis magno pondere extriti permanere non posse et statim spargi, quia
fuerit illi exitus liber
(wobei man sich an den Volksglauben erinnert fühlt,
nach dem die Seele des bei Sturmwind Verstorbenen εὐϑὺς διαπεφύσηται
καὶ ἀπόλωλεν. Plat. Phaed. 70 A; 80 D. S. oben p. 556, 1).
4).
οὐ τὰ σώματα τὰς ψυχὰς συνέχει, ἀλλ̕ αἱ ψυχαὶ τὰ σώματα, ὥσπερ
καὶ ἡ κόλλα καὶ ἑαυτὴν καὶ τὰ ἐκτὸς κρατεῖ. Posidon. bei Achill. isag.
p. 133 E (Petav.). Aus Aristoteles (411 b, 7), aber, im Gegensatz zu den
Epikureern, ächt stoisch (vgl. Heinze, Xenokrates 100 f.).
5).
Sext. adv. phys. 1, 71—73. Die naiven, aber klaren Ausfüh-
rungen gehen wahrscheinlich, wie schon oft ausgesprochen worden ist
(von Corssen, De Posid. Rhodio [1878] p. 45 f. u. A.), auf Posidonius
zurück (ebenso wie die ähnlichen Betrachtungen bei Cicero, Tusc. 1, 42 ff.).
der aber hier, soviel sich bemerken lässt, keine Heterodoxie begeht.
6).
— καὶ γὰρ οὐδὲ τὰς ψυχὰς ἔνεστιν ὑπονοῆσαι κάτω φερομένας.
1).
Aufenthalt der „Seelen“ im Luftraum: Sext. adv. phys. 1, 73.
Cic. Tusc. 1 § 42, 43. Beide vermuthlich nach Posidonius. sapientum
animas in supernis mansionibus collocant (Stoici).
Tertull. an. 54. All-
gemein: εἰς τὸν ἀέρα μεϑίστασϑαι von den abgeschiedenen Seelen, M.
Aurel. 4, 21. ἐν τῷ περιέχοντι — διαμένειν τὰς τῶν ἀποϑανόντων ψυχάς:
Arius Did. bei Euseb. praep. 15, 822 A. (Stufengang in immer höhere
Regionen: Seneca ad. Marc. 25, 1, kaum recht stoisch). — Die Vorstel-
lung wird wohl altstoisch sein (sie mag schon der Meinung des Chrysipp
σφαιροειδεῖς — als feurige μετέωρα — τὰς ψυχὰς μετὰ ϑάνατον γίνεσϑαι
[Eustath. Il. 1288, 10] zu Grunde liegen); Posidonius scheint sie aus-
geschmückt zu haben, wohl mit Benutzung pythagoreisch-platonischer
Phantasmen, zu denen er überhaupt einen Zug hatte. Pythagoreer fabelten
von Seelen, die im Luftraum schwebten (s. oben p. 453, 5), von Sonne und
Mond als Aufenthalt der Seelen (s. oben 423, 4). Bei Posidonius be-
wohnen die Seelen τὸν ὑπὸ σελήνην τόπον (Sext. phys. 1, 73) als den für
göttliche aber nicht vollkommene Wesen geeigneten Ort. Sie sind das,
was man δαίμονες nennt (Sext. § 74) — oder ἥρωες (so stoisch: Laert.
7, 153), heroes et lares et genii stoisirend Varro (bei August. c. d. 7, 6
p. 282, 14 ff. Domb.); — von solchen ist die ganze Luft voll (Posid. bei
Cic. de div. 1, 64. Sehr ähnliches als pythagoreische Lehre bei Alex.
Polyh. bei Laert. 8, 32 S. oben p. 452, 1). Posidonius (zumal wenn er
wirklich in Cicero’s Somnium Scipionis benutzt ist) scheint aber nament-
lich den Phantasmen des Heraklides Ponticus und dessen Bericht
über die Vision des Empedotimos (s. oben p. 385, 1) nachgeeifert zu haben.
6).
λεπτομερεῖς γὰς οὖσαι εἰς τοὺς ἄνω μᾶλλον τόπους κουφοφοροῦσιν. Sext.
adv. phys. 1, 71. Schon dieser physische Grund genügte den Stoikern,
die Annahme eines Seelenreiches in der Tiefe unmöglich zu machen,
οὐδεὶς Ἅιδης, οὐδ̕ Ἀχέρων, οὐδὲ Κωκυτός κτλ. Epiktet. diss. 3, 13, 15.
Und dies ist durchaus stoische Lehre (s. Bonhöffer, Epiktet. p. 56 f.).
Vgl. Cic. Tusc. 1, 36 f.; Seneca Consol. ad Marc. 19, 4. Wenn Stoiker
gelegentlich von „inferi“, ἅιδης als Seelenwohnstätte reden, so ist das
nur bildlicher Ausdruck. Gemeint ist (wo die Worte nicht rein conven-
tionelle Redensart sind) die der Erde nähere Region, die untere Wolken- und
Luftschicht, ὁ παχυμερέστατος καὶ προςγειότατος ἀήρ (Cornutus nat. deor. 5.
Aehnlich Andere: s. R. Heinze, Xenokrates 147, 2), in der die unweisen
(feuchteren, weniger leichten) Seelen nach dem Tode sich aufhalten sollen
(circa terram, wie es, in stoischem Sinne, bei Tertull. an. 54 heisst, und
dies sind offenbar die Gegenden der inferi, von denen am Schluss des
Capitels geredet wird). Nur diesen, von den oberen Regionen geschie-
denen ἀήρ = ᾅδης kann auch Zeno gemeint haben, wenn er von loca
tenebrosa
redete, in denen die Seelen der Unweisen ihre Unweisheit zu
büssen hätten (von Lactant. Instit. 7, 7, 13 platonisirend umgedeutet).
1).
Seliges Schauen auf Erde und Gestirne dichtet, nach Posido-
nius, Cicero den Seelen im Luftraum an: Tusc. I §§ 44—47 (vgl. Seneca,
cons. ad. Marc. 25, 1. 2), ähnlich seinen Ausführungen im Somnium
Scipionis,
hier wie da entschieden in Anlehnung an Heraklides Ponticus.
1).
Durch diesen vor Allen war der Vorstellung von einem Seelenreich in
der Luft Gestalt gegeben; wie eifrig seine Phantasiebilder betrachtet
wurden, zeigen noch die Anführungen aus seinem Buche von Varro bis
herunter zu Proclus und Damascius. Die vom Leibe befreiten Seelen
aufwärts schweben zu lassen (und etwa auch auf Sternen und Mond, als
bewohnten Himmelskörpern — Doxogr. 343, 7 ff.; 356 a, 10 — anzu-
siedeln) musste ihn — ganz ähnlich wie nachher die Stoiker — veran-
lassen seine Annahme, dass die Seele ein αἰϑέριον σῶμα (Philopon.) sei
(φωτοειδής, ein lumen [Tertull. an. 9]). Hierin folgt er einer schon im
fünften Jahrhundert (bei Xenophanes, Epicharm, Euripides: s. oben
p. 549 ff.) verbreiteten, selbst volksthümlich gewordenen Ansicht, die
gleich von Anfang an auch zu der Consequenz geführt hatte, dass die be-
freite Seele εἰς τὸν ὅμοιον αἰϑέρα eingehn und sich in die oberen Regionen
(des Aethers) aufschwingen werde. Heraklides schmückt, phantastisch
philosophirend und astronomisirend, diese Vorstellungen aus; Posidonius
nimmt dessen Phantasmen auf; und so wurde, jedenfalls nicht ohne
einige Mitwirkung dieser halbphilosophischen Litteratur, der Glaube an
den Aufenthalt der „Seelen“ im Aether so populär, wie die Grabschriften
erkennen lassen (s. unten). —
1).
ἀπόσπασμα τοῦ ϑεοῦ.
2).
Oft wiederholtes stoisches Dogma (ausgeführt besonders bei
Seneca epist. 93). S. Gataker zu M. Aurel. (3, 7) p. 108. 109. Es be-
darf für die Glückseligkeit der (stoischen) Weisen nicht eines μῆκος βίου
τελείου, wie Aristoteles (s. oben p. 599 Anm.) meinte. Uebrigens stimmt hier
die Meinung der Stoa, dass es magni artificis est clusisse totum in exiguo;
tantum sapienti sua, quantum deo omnis aetas patet
(Seneca epist. 53, 11)
völlig überein mit der des Epikur. S. unten p. 624, 7.
3).
duo genera in der Seele nach Panaetius, der diese als inflammata
1).
φύσις und ψυχή. Pan. bei Nemes. nat. hom. p. 212 Matth.
Hierin zeigt sich unverkennbar die Tendenz zu einem psychologischen
Dualismus (Zeller Philos. d. Gr.2 3, 1, 505). Was weiter über die Thei-
lung der Seele durch Pan. vermuthet wird, bleibt sehr problematisch.
Bestimmter nur Cicero, Tusc. 1, 80 von Pan. redend: aegritudines iras
libidinesque semotas a mente et disclusas putat.
2).
Leugnung nicht nur der Unsterblichkeit, sondern auch der διαμονή
der Seelen nach dem Tode durch Panaetius: Cic. Tusc. 1, 78. 79. Zwei
Gründe werden dort angeführt: alles Gewordene (wie die Seele bei der
Geburt des Menschen) müsse untergehen (der aristotelische Grundsatz:
s. oben p. 595, 2); was Schmerz empfinden könne und empfinde (wie die
Seele) werde auch krank werden können; was krank werde, werde der-
einst auch vernichtet werden. (Also Vernichtung der Seele von innen
heraus, durch eigene Entartung, nicht durch äussere Gewalt im Welt-
brand, dessen periodisches Eintreten P. wenigstens bezweifelte). — Dass
Panaetius als drittes Argument dies vorgebracht habe: als zusammen-
gesetzt müsse die Seele sich im Tode in ihre Bestandtheile auflösen und
diese in andere Elemente sich wandeln, folgt zwar in keiner Weise aus
Cic. Tusc. 1, 42, wie Schmekel a. O. 309 behauptet; an sich aber musste
allerdings diese Betrachtung bei der Seelenlehre des Pan. sich fast von
selbst ergeben und war durch die Argumentation des Karneades gegen
die Unvergänglichkeit der Gottheit und jedes ζῷον, der P. im übrigen
nachgab, schon gewiesen.
3).
anima bezeichnete (Cic. Tusc. 1, 42). Es ist wenigstens sehr wahrschein-
lich, dass Panaetius die Seele als aus zwei Elementen (aër et ignis, wie
auch Boëthos, etwa Zeitgenoss des Panaetius [Comparetti Ind. Stoic.
p. 78 f.], nach Macrob. in S. Scip. 1, 14, 19) zusammengesetzt annahm,
nicht als einheitliches πνεῦμα ἔνϑερμον, wie die ältere Stoa (s. Schmekel
Philos. d. mittl. Stoa 324 f.).
1).
Posidonius unterscheidet in der Seele des Menschen nicht drei
Theile aber drei δυνάμεις μιᾶς οὐσίας ἐκ τῆς καρδίας ὁρμωμένης (Galen V
515), nämlich, wie Plato, das λογιστικόν, ϑυμοειδές, ἐπιϑυμητικόν (ibid. 476 f.
653). Diese beiden letzten sind die δυνάμεις ἄλογοι (nur φαντασίαι, als
Bestimmungen ihrer Triebe, bilden sich in ihnen: ib. 474. 399); nicht
Urtheile noch Folgen aus Urtheilen sind die πάϑη, sondern Erregungen
(κινήσεις) eben dieser δυνάμεις ἄλογοι (ib. 429 f. vgl. 378); so allein erklärt
sich, wie in dem Menschen, dessen Seele eben nicht (wie Chrysipp fest-
hielt) reine Vernunftkraft ist, Leidenschaft und Frevel entstehen kann
(vgl. auch Galen. IV 820). Es giebt somit in der Menschenseele auch
ein ἄλογον καὶ κακόδαιμον καὶ ἄϑεον neben dem δαίμων συγγενὴς τῷ τὸν
ὅλον κόσμον διοικοῦντι (Galen. V 469 f.). Wie das freilich möglich sein
soll, da doch die Seele Eine οὐσία ist und ganz göttliches πνεῦμα ihrem
Wesen nach, ist schwer zu sagen; ein ungöttliches oder widergöttliches
Princip in der Welt kennt auch Posidonius sonst nicht. Die Ethik der
Stoa hatte von jeher einen Dualismus gezeigt, der sich hier auch auf die
Physik überträgt, der er in stoischer Lehre ursprünglich fremd war. Von
ihm aus stärkere Betonung des (freilich von jeher bei Stoikern angenom-
menen) Gegensatzes zwischen „Seele“ und „Leib“, der inutilis caro ac
fluida
(Pos. bei Seneca epist. 92, 10). Und diesem Gegensatz entsprechend,
soll denn auch die „Seele“ nicht mit dem Leibe zugleich entstanden sein
oder erst nach dem Entstehen des Leibes sich bilden (γεγονέναι τὴν ψυχὴν
καὶ μεταγενεστέραν εἶναι [τοῦ σώματος]: Chrysipp. bei Plut. Stoic. rep. 1053 D),
sondern sie hat schon vorher gelebt, in göttlichem Sonderleben. Aus-
drücklich überliefert ist es nicht, dass Posidonius Praeexistenz der „Seele“
annahm: aber man giebt ihm diese Lehre, die ganz in der Richtung
seiner Gedanken lag, mit Recht, da sie in Ausführungen, in denen Cicero
oder Seneca dem Posidonius nachsprechen, mehrfach wie selbstverständ-
lich eingeführt wird (s. Corssen, De Posid. Rhod. p. 25 ff. Aus Sext.
phys. 1, 71 lässt sich indessen nicht, wie Heinze, Xenokrates 134, 2 meint,
die Lehre der Praeexistenz herauslesen). War der Seelen-δαίμων schon
vor seiner Verleiblichung, so kann er wohl nur bei der Zeugung des
1).
Menschen ϑύραϑεν in diesen eintreten, tractus extrinsecus, wie es bei
Cicero de div. 2, 119 heisst, in offenbarem Anschluss (wie Bonhöffer,
Epiktet 79 bemerkt) an eine mit ausdrücklicher Nennung auf Posidonius
zurückgeführte Ausführung in 1, 64, wo von den immortales animi, deren
die Luft voll sei, geredet wird. Aus ihrem praeexistenten Leben im Luft-
raum tritt die „Seele“ in den Menschen. Die Menge der einzelnen
körperlosen Seelen, nicht nur die Eine unpersönliche Seelensubstanz der
Welt, war lebendig schon vor ihrer ἐνσωμάτωσις: der stoische Pantheis-
mus löst sich bedenklich auf in einen Pandämonismus. Dennoch hielt
Posidonius, im Gegensatz zu Panaetius, seinem Lehrer, an der Lehre von
der periodischen Auflösung alles Lebens in die Eine Seele der Welt, in
das Urfeuer fest (vgl. Doxogr. 388 a, 18; b, 19). Darnach kann er das
Leben der bestimmten einzelnen Seelendämonen jeder Weltperiode nicht
wohl anders als vom Beginn eben je ihrer Weltperiode haben beginnen
lassen. Und auch das Fortleben der Seelen nach der Trennung vom
Leibe kann sich ihm nicht über die nächste ἐκπύρωσις hinaus erstreckt
haben (ungenau also immortales animi, Cicero de div. 1, 64 nach Posi-
donius). Er wird also, die Leugnung der Fortdauer, wie sie Panaetius
aufgestellt hatte, wieder verwerfend, doch nicht weiter als bis zu der
bedingten Unsterblichkeitslehre der alten Stoa zurückgekehrt sein. Da-
bei könnte er mit Chrysipp und andern Stoikern, eine περιοδικὴ παλιγ-
γενεσία (M. Aurel 11, 1) nach dem Weltbrande, in der alles sich wieder-
holen und auch jeder einzelne Mensch der früheren Weltperiode an
gleicher Stelle wieder erstehen werde (Chrys. bei Lact. inst. 7, 23, 3 u. a.
Orphisch-pythagoreisches Phantasma: s. oben p. 416, 2) angenommen haben:
das ergäbe (da das Einzelleben doch abgebrochen und von seiner ἀποκα-
τάστασις durch lange Zeiträume geschieden wäre) noch nicht eine ἀϑανασία
des Einzelnen. — Eine Reihe von μετενσωματώσεις der Seele als Lehre des
Posidonius anzusetzen — mit Heinze, Xenokr. 132 ff. — ist doch kein
ausreichender Grund: wiewohl an sich eine solche Vorstellung auch bei
Festhalten an der schliesslichen ἐκπύρωσις nicht unausdenkbar wäre. Aber
die verdächtigen Berichte mancher δοξογράφοι über stoische Lehre vom
μεταλλισμὸς ψυχῶν speciell auf Posidonius zu beziehen, giebt uns die
Wiederkehr solcher Anschauung bei Plutarch noch kein Recht, der wohl
hier und da dem Posidonius sich anschliesst, niemals aber auf Einmischung
platonischer oder selbsterdachter Phantasien verzichtet, so dass den ein-
zelnen Zügen seiner buntgemischten Bilder einen bestimmten Ursprung
nachsagen zu wollen, bedenklich bleibt.
1).
Dass Panaetius zu seinen Aufstellungen in Bezug auf Natur und
Schicksal der Seele wesentlich durch die Polemik des Karneades gegen
die Dogmatiker, speciell der stoischen Schule, veranlasst wurde, macht
Schmekel (D. Philos. der mittleren Stoa. 1892) recht einleuchtend. Weniger
deutlich ist die Rücksicht auf Karneades bei Posidonius und seinen
Heterodoxien. Aber gewiss ist ja, dass dieser sich gegen Chrysipp auf-
lehnt, von Panaetius stark abweicht, und damit ist wenigstens indirect
eine Beziehung auf Karneades, dessen Kritik Panaetius in Hauptpunkten
nachgegeben hatte, auch für Posidonius gegeben.
2).
Für das erste Buch der Tusculanen ist Benutzung des Posidonius
(über deren Ausdehnung man freilich verschiedenes vermuthen kann) all-
gemein zugestanden. Für das Somnium Scipionis ist sie wenigstens sehr
glaublich (s. Corssen De Posid. 40 ff.) — Die Vorliebe für solche Un-
sterblichkeitshoffnungen blieb bei Cicero (und wohl durchweg bei den
Gebildeten seiner Zeit und seiner Gesellschaft) nur eine künstlerische.
Wo er nicht rhetorisirt oder als Schriftsteller sich in Pose setzt, in
seinen Briefen namentlich, zeigt er keine Spur von Ueberzeugungen der
sonst mit Pathos vertretenen Richtung (s. Boissier, la religion rom. d’ Aug.
aux Antonins.
1, 58 f.).
1).
οὐ κατὰ ψιλὴν παράταξιν, ἀλλὰ λελογισμένως καὶ σεμνῶς, wenn
auch nicht durchaus ἀτραγῴδως (M. Aurel 11, 3).
2).
Nur untersuchen will Julius Kanus, als ihn Gaius in den Tod
schickt, ob an dem Unsterblichkeitsglauben etwas sei: Sen. tranq. an.
14, 8. 9. De natura animae et dissociatione spiritus corporisque inquirebat
Thrasea Paetus vor seiner Hinrichtung mit seinem Lehrer, Demetrius dem
Cyniker: Tac. ann. 16, 34. Eine feststehende Ueberzeugung in diesen
Fragen, die ihnen ein Motiv für ihr Heldenthum hätte werden können,
haben sie nicht (Cato liest vor seinem Selbstmord den Phaedon: Plut.
Cato min. 68. 70).
1).
nos quoque felices animae et aeterna sortitae, sagt die Seele des
Vaters der Marcia, Sen. cons. ad Marc. 26, 7, in antiqua elementa ver-
temur
bei der ἐκπύρωσις.
2).
Sen. epist. 88, 34.
3).
bellum somnium. Seneca ep. 102, 2.
4).
Wo Seneca positivere Vorstellungen von einem Leben nach dem
Tode gelten lässt, kommt er doch nicht hinaus über ein: fortasse, si modo
vera sapientium fama est
(ep. 63, 16) ein absichtliches Geltenlassen des
consensus hominum (ep. 117, 6) der opiniones magnorum virorum rem
gratissimam promittentium magis quam probantium
(ep. 102, 2). Dem Stil
der Trostreden entsprechend, lässt er solche Hoffnungen in den Conso-
lationes allenfalls eine lebhaftere Farbe gewinnen: ad Marc. 25, 1 ff.; ad
Helv.
11, 7; ad Polyb. 9, 8. Aber auch dort ist von persönlicher
Fortdauer kaum ernstlich die Rede. Und in denselben Schriften wird
der Tod auch einfach als Ende aller Schmerzen, aller Empfindung über-
haupt gepriesen: ad Marc. 19, 4. 5. Wir werden im Tode wieder sein,
wie vor der Geburt (ad Marc. 19, 5. epist. 54, 4: mors est non esse.
id quale sit, iam scio. hoc erit post me, quod ante me fuit. ep.
77, 11:
non eris: nec fuisti). Ob nun der Tod finis ist oder transitus (de prov.
6, 6; ep. 65, 24), er ist dem Weisen willkommen, der seine Lebenszeit,
wenn sie auch kurz war, wohl ausgefüllt hat; gehe er nun zu den Göttern
ein, oder bleibt nichts vom Menschen nach dem Tode, aeque magnum
animum habebit
(ep. 93, 10). nunquam magis divinum est (pectus huma-
num) quam ubi mortalitatem suam cogitat, et scit, in hoc natum hominem
ut vita defungeretur
cet. (ep. 120, 14) ipsum perire non est magnum. anima
in expedito est habenda
(Quaest. nat. 6, 32, 5). Bereit sein ist Alles. —
Fest zu stehn scheint dem Seneca von altstoischen Dogmen allein das
1).
Selten lauten die Aeusserungen des Kaisers über die Dinge nach
dem Tode wie die eines überzeugten Stoikers der alten Schule. Die
Seelen sind alle Theile der Einen νοερὰ ψυχή der Welt, die, wiewohl
auf so viele Einzelseelen ausgedehnt, doch als Einheit sich erhält: IX 8;
XII 30. Nach dem Tode wird die Einzelseele eine Zeitlang sich er-
halten, im Luftraum, bis sie in die Seele des All, εἰς τὸν τῶν ὅλων σπερ-
ματικὸν λόγον aufgenommen wird: IV 21. Hier ist von einer Erhaltung
der Person, auf unbestimmte Dauer, die Rede. Aber das ist nicht fest-
stehende Ueberzeugung M. Aurel’s. Zumeist lässt er die Wahl, ob man
annehmen wolle: σβέσις ἢ μετάστασις, d. h. sofort eintretender Untergang
der Einzelseele (wie Panaetius) oder deren Uebergang in den zeitweiligen
Aufenthalt im Seelenreiche der Luft (αἱ εἰς τὸν ἀέρα μεϑιστάμεναι ψυχαί
IV 21): V 33; oder σβέσις, μετάστασις (diese beiden bei der stoischen An-
nahme der ἕνωσις der Seele) oder gar σκεδασμός der Seelenelemente, falls die
Atomisten Recht haben: VII 32; VIII 25. VI 24 ein Dilemma, das auf
σκεδασμός oder σβέσις [= ληφϑῆναι εἰς τοὺς τοῦ κόσμου σπερματικοὺς λόγους]
hinauskommt. Also nicht mehr μετάστασις. Dasselbe soll wohl besagen X 7
ἤτοι σκεδασμὸς τῶν στοιχείων ἢ τροπή (wobei das πνευματικὸν εἰς τὸ ἀερῶδες
übergeht) und zwar τροπή nur des letzten πνευματικόν das man in sich
trug: denn hier ist (am Schluss des Capitels) sogar die Identität der
Einzelseele mit sich selbst, nach heraklitischer Weise (s. oben p. 440, 1),
aufgegeben. Andere Male wird die Wahl gelassen zwischen ἀναι-
σϑησία oder ἕτερος βίος nach dem Tode (III 3), oder αἴσϑησις ἑτεροία
in einem ἀλλοῖον ζῷον: VIII 58. Damit ist nicht Metempsychose an-
gedeutet (in der wohl die Hülle der Seele eine andere, aber nicht deren
4).
von der παλιγγενεσία in neuer Weltbildung: ep. 36, 10. 11. mors inter-
mittit vitam, non eripit: veniet iterum qui nos in lucem reponat dies.
Das
soll keineswegs ein Trost sein: multi recusarent, nisi oblitos reduceret.
Das Bewusstsein reisst also jedenfalls mit dem Tode in dieser Welt-
periode ab.
1).
Ich werde sterben ohne Empörung gegen Gott εἰδώς, ὅτι τὸ γενό-
μενον καὶ φϑαρῆναι δεῖ. οὐ γάρ εἰμι αἰὡν, ἀλλ̕ ἄνϑρωπος, μέρος τῶν πάντων,
ὡς ὥρα ἡμέρας· ἐνστῆναί με δεῖ ὡς τὴν ὥραν καὶ παρελϑεῖν ὡς ὥραν. Epict.
Diss. II 5, 13. Die Gegenwart muss der Zukunft Platz machen, ἵν̕ ἡ
περίοδος ἀνύηται τοῦ κόσμου (II 17. 18; IV 1, 106). Der Tod bringt
nicht völligen Untergang, οὐκ ἀπώλειαν, aber τῶν προτέρων εἰς ἕτερα μετα-
βολάς (III 24, 91—94). Die Person des Jetztlebenden geht aber jeden-
falls im Tode völlig unter. — Vgl. Bonhöffer, Epiktet 65 f.
1).
αἴσϑησις eine ἑτεροία wird), sondern eine Verwendung des im Tode ver-
hauchten Seelenpneuma zu anderen, durch keine Identität der Seelen-
person mit der früheren Lebensform verbundenen neuen Lebensformen.
Hiebei kann man wohl noch sagen: τοῦ ζῇν οὐ παύσῃ, aber von Erhal-
tung des Ich kann keine Rede sein. ἡ τῶν ὅλων φύσις versetzt und ver-
tauscht ihre Bestandtheile, alles ist im ewigen Wechsel: VIII 6; IX 28.
An eine Erhaltung der Person denkt ernstlich der Kaiser nicht: er sucht
zu verstehen, warum es so sein müsse; aber er hält offenbar für fest-
stehend, dass es so sei, dass in der That auch die Besten der Menschen
mit dem Tode völlig „erlöschen“: XII 5. Alles wandelt sich, das eine
vergeht, damit andres aus ihm entstehe: XII 21, und so muss auch der
Mensch sich sagen: μετ̕ οὐ πολὺ οὐδεὶς οὐδαμοῦ ἔσῃ (XII 21; VIII 5).
Und der Weise wird sich das beruhigt sagen; seine Seele ist ἕτοιμος, ἐὰν
ἤδη ἀπολυϑῆναι δέῃ τοῦ σώματος — XI 3. Unter Menschen lebend,
denen seine Sinnesart fremd ist, ἐν τῇ διαφωνίᾳ τῆς συμβιώσεως, seufzt
er zu Zeiten: ϑᾶττον ἔλϑοις, ὦ ϑάνατε — IX 3. — Vgl. Bonhöffer,
Epiktet 59 ff.
1).
Cornutus bei Stob. ecl. I 383, 24—384, 2 W.
2).
Die ψυχή ein σῶμα (ἀσώματον nur der leere Raum, nichts als
Durchgang für die σώματα) Laert. 10, 67. Sie ist ein σῶμα λεπτομερές,
παρ̕ ὅλον τὸ ἄϑροισμα (der Atome zum Körper) παρεσπαρμένον, προσεμ-
φερέστατον δὲ πνεύματι ϑερμοῦ τινα κρᾶσιν ἔχοντι Laert. 10, 63 (Lucret.
3, 126 ff. Genauer 3, 231—246). Das ἄϑροισμα ist es, was τὴν ψυχὴν
στεγάζει: § 64, vas quasi constitit eius Lucr. 3, 440. 555.
3).
Lucr. 3, 94 ff. 117 ff.
4).
Das ἄλογον, ὃ τῷ λοιπῷ παρέσπαρται σώματι, τὸ δὲ λογικὸν ἐν τῷ
ϑώρακι. Schol. Laert. 10, 67 (p. 21 Us.) fr. 312. 313 (Usen.) anima und
animus: Lucr. 3, 136 ff. Die anima, verkürzt, wenn dem Menschen Glie-
1).
Lucret. 3, 421—424.
2).
Lucret. 3, 445 ff.
3).
Die Seele διασπείρεται, λυομένου τοῦ ὅλου ἀϑροίσματος und kann
ausserhalb ihres ἄϑροισμα nicht mehr αἴσϑησις haben. Laert. 10, 65. 66.
Die Winde zerstreuen sie. Lucr. 3, 508 ff. καπνοῦ δίκην σκίδναται fr. 337.
ceu fumus. Lucr. 3, 456. 583.
4).
radicitus e vita se tollit et eicit. Lucr. 3, 877.
5).
Lucret. 3, 854—860; 847—853.
6).
οὐδὲ ταφῆς φροντιεῖν (τὸν σοφόν) — fr. 578. Vgl. Lucr. 3, 870 ff.
4).
der (denen sie ja eingefügt ist) entrissen werden, lässt doch den Men-
schen noch lebendig; der animus, vitai claustra coërcens, darf dem Men-
schen nicht verkürzt werden, sonst entweicht auch die anima und er
stirbt. Lucr. 3, 396 ff. Der animus ist in seinen Empfindungen unab-
hängiger von anima und corpus als diese umgekehrt von ihm. Lucr.
3, 145 ff.
1).
Laert. 10, 124. 125.
2).
ὁ ϑάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς, τὸ γὰρ διαλυϑὲν ἀναισϑητεῖ, τὸ δὲ ἀναι-
σϑητούμενον οὺδὲν πρὸς ἡμᾶς. κυρ. δόξ. II, Laert. 10, 139 (p. 71 Us.). Oft
wiederholt: s. Usener p. 391 f.
3).
dolor und morbus, leti fabricator uterque, betreffen auch die Seele:
Lucr. 3, 459 ff. 470 ff. 484 ff. Ewig kann nicht sein was sich in Theile
auflösen kann: 640 ff. 667 ff. Hauptargument: quod cum corpore nascitur,
cum corpore intereat necesse est.
Epic. fr. 336. (Es sind zum Theil die
gleichen Beweise die Karneades gegen die Annahme der Ewigkeit und
Unvergänglichkeit des obersten ζῷον, der Gottheit, richtet. K. wird sie
von Epikur entlehnt haben.)
4).
Vgl. κύρ. δόξ. XI, p. 73 f. Us.
5).
Die Einsicht μηδὲν πρὸς ἡμᾶς εἶναι τὸν ϑάνατον, ἀπόλαυστον ποιεῖ
τὸ τῆς ζῳῆς ϑνητόν, οὐκ ἄπειρον προτιϑεῖσα χρόνον ἀλλὰ τὸν τῆς ἀϑανασίας
ἀφελομένη πόϑον. Laert. 10, 124 (vgl. Metrodor (?) ed. Koerte, p. 588,
col. XVI).
6).
γεγόναμεν ἅπαξ, δὶς δὲ οὐκ ἔστι γενέϑαι κτλ. Daher carpe diem!
fr.
204; s. auch fr. 490—494. Metrodor fr. 53 Koert.
6).
Die Art der Bestattung oder Beseitigung des entseelten Leibes völlig
gleichgültig: Philodem. π. ϑανάτου p. 41. 42 Mekl.
1).
Laert. 10, 81.
2).
Gegen die Furcht vor Qualen und Strafen in der Unterwelt: fr.
340. 341. Lucr. 3. 1011 ff. (in diesem Leben giebt es Qualen wie sie
vom Hades gefabelt werden: Lucr. 3, 978 ff.).
3).
metus ille foras praeceps Acheruntis agendus, funditus humanam
qui vitam turbat ab imo, omnia suffundens mortis nigrore, neque ullam esse
voluptatem liquidam puramque relinquit.
Lucr. 3, 37 ff.
4).
Laert. 10, 126. ridiculum est, currere ad mortem taedio vitae —
fr.
496.
5).
artifex vitae. Seneca epist. 90, 27.
6).
— σὺ δὲ τῆς αὔριον οὐκ ὢν κύριος ἀναβάλλῃ τὸν καιρόν· ὁ δὲ πάν-
των βίος μελλησμῷ παραπόλλυται — fr. 204.
7).
negat Epicurus, ne diuturnitatem quidem temporis ad beate viven-
dum aliquid afferre, nec minorem voluptatem percipi in brevitate temporis
quam si sit illa sempiterna.
Cic. Fin. II § 87. Vgl. κύρ. δόξ. XIX (p. 75)
χρόνον οὐ τὸν μήκιστον ἀλλὰ τὸν ἥδιστον καρπίζεται (ὁ σοφός): Laert. 10, 126.
quae mala nos subigit vitai tanta cupido? Lucr. 3, 1077. eadem sunt
omnia semper:
ib. 945.
8).
ἡ διάνοια — — τὸν παντελῆ βίον παρεσκεύασεν καὶ οὐϑὲν ἔτι τοῦ
ἀπείρου χρόνου προςεδεήϑη. κύρ. δόξ. XX (p. 75).
1).
οὐκ ἔστι φυσικὴ κοινωνία τοῖς λογικοῖς πρὸς ἀλλήλους. — sibi quem-
que consulere — fr.
523. Fernhalten von ταῖς τῶν πληϑῶν ἀρχαῖς. fr.
554. 552. 9.
2).
οἱ νόμοι χάριν τῶν σοφῶν κεῖνται, οὐχ ὅπως μὴ ἀδικῶσιν, ἀλλ̕ ὅπως
μὴ ἀδικῶνται. fr. 530.
3).
οὐκέτι δεῖ σᾡζειν τοὺς Ἕλληνας οὐδ̕ ἐπὶ σοφίᾳ στεφάνων παρ̕ αὐτοῖς
τυγχάνειν —. Metrodor. fr. 41.
1).
S. p. 200 ff.
1).
Lucian de luctu: Waschen, Salben, Kränzen der Leiche; πρόϑεσις:
cap. 11. Heftige Klagen an der Leiche: 12; mit Begleitung des αὐλός: 19.
Dabei ein Vorsänger ϑρηνῶν σοφιστής: 20. Specialklage des Vaters: 13.
Der Todte liegt da mit umwickeltem und so vor hässlichem Auseinander-
klaffen geschützten Kinnbacken: 19 extr. ἐσϑής, κόσμος (wohl gar auch
Pferde und Diener) werden mit verbrannt oder mitbeigesetzt, zum Ge-
brauch des Todten: 14. ὀβολός dem Todten mitgegeben: 10. Nährung
des Todten durch χοαί und καϑαγίσματα: 9. Der Leichenstein bekränzt,
mit ἄκρατος beträufelt. Brandopfer: 19. περίδειπνον nach dreitägigem
Fasten: 24.
2).
Aus etwas früherer Zeit: schlimm ist es todt zu sein μὴ τυχόντα
τῶν νομίμων, ein Gräuel wenn der Sohn dem Vater τὰ νομιζόμενα nach
dem Tode nicht leistet. Dinarch. adv. Aristogit. 8. 18; vgl. [Demosth.]
25, 54. — Befriedigt sagt der Todte: πάνϑ̕ ὅσα τοῖς χρηστοῖς φϑιμένοις
1).
ὁμόταφοι unter anderen Genossenschaften erwähnt schon in einem
Solonischen Gesetz: Digest. 47, 22, 4. Dies wohl eigene collegia funera-
ticia.
Sonst finden sich (nicht eben sehr häufig) Spuren von gemeinsamen
Grabstätten von ϑίασοι: z. B. auf Kos, Inscr. of Cos 155—159. ἐρανισταί be-
statten ihr Mitglied: C. I. Att. II 3308; συμμύσται desgleichen: Athen. Mit-
theil.
9, 35; ein Mitglied steuert, als ταμίας des collegium, verstorbenen
Mitgliedern eines ἔρανος aus eigenen Mitteln bei εἰς τὴν ταφήν, τοῦ εὐσχημο-
νεῖν αὐτοὺς καὶ τετελευτηκότας κτλ. C. I. A. II 621 (um 150 v. Chr.) Ein
andrer ταμίας δέδωκεν τοῖς μεταλλάξασιν (ϑιασώταις) τὸ ταφικὸν παραχρῆμα:
Att. Ins., 3. Jh. v. Chr.; Ath. Mitth. 9, 388. Vgl. Rhodische Inschr.
Bull. corr. hell. 4, 138. Dionysiasten, Athenaisten in Tanagra ἔϑαψαν τὸν
δεῖνα: Collitz, Dialektins. 960—962. οἱ ϑίασοι πάντες und auch noch οἱ
ἔφηβοι καὶ οἱ νέοι, ὁ δῆμος, ἡ γερουσία setzen das Denkmal: C. I. Gr. 3101.
3112. (Teos) συνοδεῖται bestatten gemeinsam die Mitglieder ihrer σύνοδοι:
I. or. sept. Pont. Eux. II n. 60—65.
2).
δημοσία ταφή öfter. Beschlüsse, πανδημεὶ παραπέμψασϑαι τὸ σῶμα
τοῦ δεῖνος ἐπὶ τὴν κηδείαν αὐτοῦ: Ins. Amorgos, Bull. corr. hell. 1891,
p. 577 (Z. 26); p. 586 (Z. 17 ff.). Beschluss von Rath und Volk in Olbia
(1. Jahrh. v. Chr.): es sollen, wenn der Leichnam eines gewissen, in der
Fremde verstorbenen verdienten Bürgers in die Stadt gebracht werde, alle
Werkstätten geschlossen werden, die Bürger in schwarzer Kleidung seiner
ἐκφορά folgen, ein Reiterstandbild dem Todten errichtet werden, alljähr-
lich an den ἱπποδρομίαι für Achill der dem Todten verliehene goldene
Kranz ausgerufen werden u. s. w. I. or. sept. Pont. Eux. I n. 17, 22 ff. —
Ehrung des Verstorbenen durch einen goldenen Kranz: C. I. Gr. 3185;
Cic. pro Flacco § 75. Diese Beispiele aus Smyrna, wo solche Ehrung
besonders herkömmlich war. S. Böckh zu C. I. Gr. 3216.
3).
Besonders auf Amorgos scheint dies üblich gewesen zu sein:
S. C. I. Gr. 2264 b; vier Inss. aus Amorgos, bull. corr. hell. 1891 p. 574
2).
νόμος ἐστὶ γενέσϑαι, τῶνδε τυχὼν κἀγὼ τόνδε τάφον κατέχω. Kaib. epigr.
lap.
137. Vgl. 153, 7. 8.
1).
Das rituelle Begräbniss bei aller Kürze der Erzählung regelmässig
(als eine wichtige Angelegenheit) erwähnt in dem Roman des Xenophon
von Ephesus, in der Historia Apollonii. S. Griech. Roman 391, 3. 413, 1.
2).
Begräbniss intra urbem sucht in Athen für den ermordeten Mar-
cellus sein Freund vergeblich zu erlangen quod religione se impediri di-
cerent: neque id antea cuiquam concesserunt
(während in Rom einzelne
Bestattungen in der Stadt vorkamen, trotz des Verbotes der Zwölf Ta-
feln. Cic. de leg. II § 58): Servius an Cic. ad Fam. 4, 12, 3 (a. 45).
Erlaubt wird dort uti in quo vellent gymnasio eum sepelirent, und er
wird dann in nobilissimo orbis terrarum gymnasio, der Akademie, ver-
brannt und bestattet. ἐνταφὰ καὶ ϑέσις τοῦ σώματος ἐν τῷ γυμνασίῳ (eines
vornehmen Römers) in Kyme: Collitz Dialektins. 311. Als besondere
Ehre wird einem Wohlthäter der Stadt zuerkannt, dass seine Leiche in
oppidum introferatur
(in Smyrna: Cic. pro Flacco § 75), ἐνταφὰ κατὰ
πόλιν καὶ ταφὰ δαμοσία, ἐνταφὰ κατὰ πόλιν ἐν τῷ ἐπισαμοτάτῳ τοῦ γυμνασίου
τόπῳ. Knidos, Collitz 3501. 3502 (Zeit des Augustus). Die Stadt begräbt
einen Jüngling γυμνάδος ἐν τεμένει: Kaib. ep. lap. 222 (Amorgos). — Als
3).
(153/4 v. Chr.); 577; 586 (242 v. Chr.); 588 f. Der Areopagitische Rath
und das Volk von Athen beschliessen Errichtung von Standbildern zu
Ehren eines in Epidauros πρὸ ὥρας gestorbenen, vornehmen Jünglings
(T. Statilius Lamprias) und Absendung von Gesandtschaften um zu παρα-
μυϑήσασϑαι ἀπὸ τοῦ τῆς πόλεως ὀνόματος seine Eltern und seinen Gross-
vater Lamprias. Desgleichen schickt die Bürgerschaft von Sparta eine
Trostgesandtschaft an andre Verwandte desselben Jünglings (1. Jahrh.
n. Chr.) Fouilles d’ Epidaure I n. 205—209 (p. 67—70). Paros.: C. I. Gr.
2383 (Rath und Volk beschliessen, ein Standbild eines verstorbenen
Knaben zu errichten, ἐπὶ μέρους παραμυϑησόμενοι τὸν πατέρα); Aphrodisias
in Karien: C. I. Gr. 2776; 2775 b. c. d. Neapolis: C. I. Gr. 5836 (= I.
Sic. et It.
758). — Die Trostgründe sind übrigens, soweit sie angedeutet
werden, ganz von aller Theologie frei: φέρειν συμμέτρως τὰ τῆς λύπης
εἰδότας ὅτι ἀπαραίτητός ἐστιν ἡ ἐπὶ πάντων ἀνϑρώπων μοῖρα und ähnlich
(φέρειν τὸ συμβεβηκὸς ἀνϑρωπίνως. F. d’ Epid. I 209). Man erinnert
sich der παραμυϑητικοὶ λόγοι der Philosophen, die auch wohl einen litte-
rarischen Niederschlag solcher Tröstungen geben, wie sie thatsächlich
φιλόσοφοι den Trauernden ex officio zu spenden hatten (Plut. de superstit.
168 C; Dio Chrysost. 27, p. 529/30 R.).
1).
σῆμα, doch wohl Grab und Grabmal der Messia von ihrem Gatten
im eignen Hause gesetzt: Kaib. epigr. lap. 682 (Rom).
2).
Gegen Beschädigung und Beraubung der Grabmäler schon ein
Solonisches Gesetz: Cic. de leg. 2, 64. Dass solche Beraubung frühzeitig
öfter vorkam, zeigt schon das Dasein des eigens geprägten Wortes τυμ-
βωρύχος. Vielfache Rescripte der Kaiser des 4. Jahrhunderts gegen die
Grabschänder: Theod. cod. IX 17. Aber schon Kaiser des 2. und 3. Jahr-
hunderts hatten darüber zu befinden: s. Digest. 47, 12. Vgl. auch Paullus
Sentent. 1, 21, 4 ff. sepulcri violati actio: Quintilian decl. 299. 369. 373.
Grabräuber beliebte Romanfiguren: bei Xenophon von Ephesus, Chariton
u. a. Epigramme des Gregor von Nazianz über das Thema des beraubten
Grabes: Anthol. Palat. 8, 176 ff. Seit dem 4. Jahrhundert scheinen nament-
lich die Christen heidnischen Grabstätten gefährlich geworden zu sein
(vgl. Gothofred. Cod. Theod. III p. 150 Ritt.); ja, Geistliche betheiligten
sich vorzugsweise am Grabraub: Novell. Valentinian. 5 (p. 111 Ritt.),
Cassiodor. Var. 4, 18. bustuarii latrones (Amm. Marc. 28, 1, 12) damals
gewöhnliche Erscheinungen. Ein ägyptischer Einsiedler war früher ge-
wesen latronum maximus et sepulcrorum riolator. Rufin. vit. patr. 9
(p. 466 b; Rossw.).
3).
Selten im festländischen Griechenland, häufig in Thrakien, in
kleinasiatischen Griechenstädten und ganz besonders in Lykien finden sich
auf Grabsteinen solche Sepulcralmulten festgesetzt. Meist erst in römi-
scher Zeit, aber doch gelegentlich mit Berufung auf τὸν τῆς ἀσεβείας νόμον
der Stadt (auch in Kerkyra: C. I. Gr. 1933), Hinweisung auf das ἔγκλημα
τυμβωρυχίας, als auf ein locales Recht, das etwa durch kaiserliche Ver-
ordnung bestätigt werde (ὑπεύϑυνος ἔστω τοῖς διατάγμασι καὶ τοῖς πατρίοις
νόμοις. Ins. aus Tralles. S. Hirschfeld p. 121). Also nicht erst dem
römischen Brauch entlehnt, sondern altes Volksrecht, besonders in Lykien,
wo sich schon im 3. Jahrh. v. Chr. eine solche Bestimmung findet:
C. I. Gr. 4259. S. G. Hirschfeld, Königsberger Studien. I (1887) p. 85
bis 144.
2).
möglich setzt Ulpian, Digest. 47, 12, 3, 5 voraus, dass lex municipalis
permittat in civitate sepeliri.
1).
Flüche über Diejenigen, welche Unberechtigte in ein Grab legen
oder das Grab beschädigen würden, finden sich sehr selten im europäi-
schen Griechenland; z. B. Aegina: C. I. Gr. 2140 b. Thessalien: Bull.
corr. hell.
15, 568; Athen: C. I. A. III 1417—1428; darunter eine In-
schrift eines Thessaliers: 1427; christlich 1428; 1417—1422 von Herodes
Atticus der Appia Regilla und dem Polydeukion gesetzt (vgl. K. Keil,
Pauly’s Realenc.2 I 2101); sein Cokettiren mit dem Cult der χϑόνιοι be-
weist nichts für die allgemeine Auffassung seiner Mitbürger. Häufig sind
die Grabflüche besonders auf Inss. aus Lykien und Phrygien; aus Cili-
cien: Journ. of hell. stud. 1891 p. 228. 231. 267, einige auch auf hali-
karnassischen Grabsteinen. Samos: C. I. Gr. 2260. — Das Grab und sein
Friede wird in diesen Inss. unter den Schutz der Unterirdischen gestellt.
παραδίδωμι τοῖς καταχϑονίοις ϑεοῖς τοῦτο τὸ ἡρῷον φυλάσσειν κτλ. C. I. A.
III 1423. 1424. Wer das Grab verletzt, einen Fremden hineinlegt,
ἀσεβὴς ἔστω ϑεοῖς καταχϑονίοις (so in Lykien: C. I. Gr. 4207; 4290;
4292), ἀσεβήσει τὰ περὶ τοὺς ϑεούς τε καὶ ϑεὰς πάσας καὶ ἥρωας πάντας
(bei Itonos in Phthiotis: Bull. corr. hell. 15, 568). ἁμαρτωλὸς ἔστω ϑεοῖς
καταχϑονίοις C. I. Gr. 4252, b. 4259; 4300 e. i. k. v. 4307; 4308: alle aus
Lykien. (Die Formel begegnet schon auf einer lyk. Insch. aus d. J. 240
v. Chr., Bull. corr. hell. 1890 p. 164: ἁμαρτωλοὶ ἔστωσαν [die ein jähr-
liches Opfer an Zeus Soter versäumenden Archonten und Bürger] ϑεῶν
πάντων καὶ ἀποτινέτω ὁ ἄρχων κτλ. Also ganz ähnlich wie auf der ältesten
lyk. Ins. mit Sepulcralmult, C. I. Gr. 4259); ἔστω ἱερόσυλος ϑεοῖς οὐρα-
νίοις καὶ καταχϑονίοις C. I. Gr. 4253 (Pinara, Lykien). Das soll wohl
heissen: er wird als Uebertreter des Gesetzes gegen ἀσέβεια, ἱεροσυλία,
τυμβωρυχία, der als solcher zugleich gegen die Götter gehandelt hat,
gelten (s. Hirschfeld a. O. p. 120 f.). Specieller, ebenfalls auf lykischen
Inschr.: ἁμαρτωλὸς ἔστω ϑεῶν πάντων καὶ Λητοῦς καὶ τῶν τέκνων (als der
speciellen Landesgötter): C. I. 4259. 4303 (III p. 1138); 4303 e3 (p. 1139).
In Cilicien: ἔστω ἠσεβηκὼς ἔς τε τὸν Δία καὶ τὴν Σελήνην; Journ. of. hell.
Stud.
12, 231. Phrygisch χεχολωμένον ἔχοιτο Μῆνα καταχϑόνιον (Bull. c.
hell.
1886 p. 503, 6. ἐνορκιζόμεϑα Μῆνα καταχϑόνιον εἰς τοῦτο τὸ μνημεῖον
μηδένα εἰςελϑεῖν Pap. Amer. school. 3, 174). Dasselbe ist wohl gemeint
in den speciell phrygischen Drohungen: ἔστω αὐτῷ πρὸς τὸν ϑεόν, πρὸς
τὴν χεῖρα τοῦ ϑεοῦ, πρὸς τὸ μέγα ὄνομα τοῦ ϑεοῦ C. I. Gr. 3872 b
[p. 1099]; 3890; 3902; 3902 f.; 3902 o.; 3963. Pap. Americ. School. 3, 411.
Dass dies christliche Formeln seien — wie Ramsay, Journal of Hell.
studies
IV p. 400 f. annimmt — ist doch kaum glaublich. Eher — wie-
wohl Franz sich dagegen verwahrt — 3902 r: ἔσται αὐτῷ πρὸς τὸν ζῶντα
1).
Wenigstens in religiöser Hinsicht gilt, wiewohl mit starker Ein-
schränkung, dass die durch Asien und Aegypten in coloniae verstreuten
Griechen und Macedonier in Syros Parthos Aegyptios degenerarunt.
(Livius 38, 17, 11. 12). Gelernt haben (von den Römern abgesehen) von
den Griechen und einer ins Religiöse hinüberspielenden griechischen
1).
ϑεὸν καὶ νῦν καὶ ἐν τῇ κρισίμῳ ἡμέρᾳ, [κρίσις, wie es scheint = „Tod“
C. I. Gr. 6731. Ins. aus Rom, wegen des ἄγαλμά εἰμι Ἡλίου doch
schwerlich christlich]. τῆς τοῦ ϑεοῦ ὀργῆς μεϑέξεται C. I. A. III 1427.
Dunkle Drohung: οὐ γὰρ μὴ συνενείκῃ — C. I. Gr. 2140, b. (Aegina). —
Specieller wird dem Grabschänder geflucht: τούτῳ μὴ γῆ βατή, μὴ ϑάλασσα
πλωτή, ἀλλἀ ἐκρειζωϑήσεται παγγενεί (soweit, dem Sinne nach, auch die
ἀραί auf den Inss. des Herodes Atticus C. I. A. III 1417—1422). πᾶσι
τοῖς κακοῖς πεῖραν δώσει, καὶ φρείκῃ καὶ πυρετῷ καὶ τεταρταίῳ καὶ ἐλέφαντι
κτλ.: C. I. A. III 1423. 1424 (ebenso auf einer Bleitafel aus Kreta:
Athen. Mitth. 1893, p. 211). Der ersten Hälfte dieses Fluches ähnlich
(es ist der gewöhnliche Umfang von ἀραί und ὅρκοι) C. I. Gr. 2664.
2667 (Halikarnass); 4303 (p. 1138; Phrygien) δώσει τοῖς καταχϑονίοις ϑεοῖς
δίκην: 4190 (Kappadocien). ὄρφανα τέκνα λίποιτο, χῆρον βίον, οἶκον ἔρημον,
ἐν πυρὶ πάντα δάμοιτο, κακῶν ὕπο χεῖρας ὄλοιτο. 3862. 3875. 4000 (Phry-
gien). Phrygisch auch der Fluch: οὗτος δ̕ἀώροις περιπέσοιτο συμφοραῖς
(Kaib. ep. lap. p. 149; Papers of the American school of cl. st. at Athens
II 168), d. h. mögen ihm die Kinder ἄωροι sterben. Bisweilen noch der
Zusatz: καὶ μετὰ ϑάνατον δὲ λάβοι τοὺς ὑποχϑονίους ϑεούς τιμωροὺς καὶ
κεχολωμένους: C. I. 3915 (Phrygien). Zu den üblichen Flüchen noch:
ϑανόντι δὲ οὐδὲ ἡ γῆ παρέξει αὐτῷ τάφον: 2876 (Aphrodisias in Karien)
μήτε οὐρανὶς τὴν ψυχὴν αὐτοῦ παραδέξαιτο. Papers of the Amer. School
3, 411 (Pisidien) — Ganz barbarisch in Cilicien (Journ. of hellen. studies
1891 p. 267): — ἕξει πάντα τὰ ϑεῖα κεχολωμένα καὶ τὰς στυγερὰς Ἑρεινύας,
καὶ ἰδίου τέκνου ἥπατος γεύσεται. — Nach dem Muster solcher Grabflüche
auch die Bedrohung derer, die etwa die Bestimmungen zur Verehrung
des in seinem ἱεροϑέσιον (Ib, 13; IIIb, 3. Darnach statt ἱεροϑύσιον her-
zustellen bei Paus. 4, 32, 1) auf dem Nemrud-Dagh beigesetzten Königs
Antiochos von Komagene vernachlässigen: — εἰδότας ὅτι χαλεπὴ νέμεσις
βασιλικῶν δαιμόνων, τιμωρὸς ὁμοίως ἀμελίας τε καὶ ὕβρεως, ἀσέβειαν διώκει,
καϑωσιωμένων τε ἡρώων ἀτειμασϑεὶς νόμος ἀνειλάτους ἔχει ποινάς. τὸ μὲν
γὰρ ὅσιον ἅπαν κουφὸν ἔργον, τῆς δὲ ἀσεβείας ὀπισϑοβαρεῖς ἀνάγκαι (IIIa,
22 ff. Ber. d. Berl. Akad. 1883).
1).
Ganz spät noch, um den Frevel der Grabberaubung zu erläutern,
sagt Valentinian (ebensowohl den libri veteris sapientiae als christlicher
Vorstellung folgend): licet occasus necessitatem mens divina (des Men-
schen) non sentiat, amant tamen animae sedem corporum relictorum et
nescio qua sorte rationis occultae sepulcri honore laetantur.
(Nov. Valent. 5
p. 111 Ritt.).
2).
Nach Aufnahme der letzten Berechtigten ἀποιερῶσϑαι τὸν πλάταν,
ἀφηρωΐσϑαι τὸ μνημεῖον. C. I. Gr. 2827. 2834. κορακευϑήσεται, d. h. es
wird endgiltig verschlossen werden: 3919.
3).
ἐπεὰν δὲ τοῖς καμοῦσιν ἐγχυτλώσωμεν. Herondas 5, 84 (d. h. wenn
der Monat zu Ende sein wird: Todtenfest an den τριακάδες. S. oben
p. 215, 1. ἡμέρας ληγούσης καὶ μηνὸς φϑίνοντος εἰώϑασιν ἐναγίζειν οἱ
πολλοί Plut. Q. Rom. 34 p. 272 D). Todtenopfer am Grabe: s. noch
Lucian Charon 22.
4).
τάφος, δευόμενος γεράων. Ins. Athen (2. Jahrh. nach Chr.): Athen.
Mitth.
1892 p. 272; V. 6. ϑέλγειν ψυχὴν τεϑνηκότος ἀνδρός durch Grab-
spenden Kaib. ep. lap. 120, 9. 10.
5).
Epikteta: oben p. 229, 1 (der dort unter den Todtengaben er-
wähnte πάραξ wird nichts anderes sein als βάραξ — mit Vertauschung
von Tenuis und Media, wie in Dialekten zuweilen — ein Opferkuchen:
Ath. 4, 140 A. Bekk. anecd. 226, 1 ff. [βήρηξ]). — Sonst widmet etwa
der Sohn dem Vater τὴν ταφὴν καὶ τὸν ἐναγισμόν(C. I. Gr. 1976
[Thessalonike] 3645 [Lampsakos]); τὸ ἡρῷον κατεσκεύασεν εἰς αἰώνιον μνήμην
καὶ τῇ μετὰ ϑάνατον ἀφωσιωμένῃ ϑρησκείᾳ: C. I. Gr. 4224 d; III p. 1119
(Lykien). Der Verstorbene hat dem Rath der Stadt eine Summe zum
στεφανωτικόν vermacht (C. I. 3912; 3916: Hierapolis in Phrygien), d. h.
um von den Zinsen alljährlich sein Grabmal zu bekränzen: 3919. Einer
1).
Philosophie unter den Fremden eigentlich nur die starrsten zugleich und
geschmeidigsten, die Juden.
1).
Dies χαῖρε wiederholt den letzten Gruss mit dem man die Leiche
aus dem Hause entlässt (Eurip. Alcest. 620 f.). χαῖρέ μοι ὦ Πάτροκλε καὶ
εἰν Ἀΐδαο δόμοισιν ruft schon Achill (Il. 23, 179) dem auf dem Scheiter-
haufen liegenden Freunde zu. Auf Leichensteinen soll das χαῖρε jeden-
falls auch die dauernde Theilnahme der Nachgebliebenen und das
Empfinden dieser Theilnahme von Seiten des Todten bezeichnen. Oder
gar auch die Verehrung des Abgeschiedenen als eines κρείττων? Auch
Götter und Heroen redet man ja so an. χαῖρ̕ ἄναξ Ἡράκλεες u. dgl. —
Der Wanderer ruft χαῖρε: χαίρετε ἥρωες. ὁ παράγων σε ἀσπάζεται. Athen.
Mittheil.
9, 263. Vgl. Kaib. ep. lap. 218, 17. 18. 237, 7. 8.
2).
χαίρετε sagt der Todte zu den Ueberlebenden. Böckh zu C. I. Gr.
3775 (II p. 968) χαιρέτω ὁ ἀναγνούς I. Gr. Sic. et It. 350.
3).
χαίρετε ἥρωες. χαῖρε καὶ σὺ καὶ εὐόδει. C. I. Gr. 1956 (dort
mehr bei Böckh II p. 50; s. auch zu 3278). Inscr. of Cos 343. I. Gr.
Sic. et It.
60. 319.
4).
Einer von Stadtwegen Begrabenen ἐπεβόασε — beim Begräbniss
— ὁ δᾶμος τρὶς τὸ ὄνομα αὐτᾶς. Collitz, Dialektins. 3504 (Knidos; unter
5).
Genossenschaft stiftet Einer eine Summe, damit sie jährlich ihm zum
Gedächtniss eine εὐωχία halte, mit οἰνοποσία, Lichtern und Kränzen: 3028
(Ephesus). Zu einem jährlichen Gedächtnissfest an seiner γενέϑλιος ἡμέρα
(als dem richtigen Todtenfesttag: s. oben p. 215, 2): 3417 (Philadelphia
in Lydien). Weit grossartiger scheint eine Stiftung in Elatea (Bull. corresp.
hellén.
10, 382) gedacht zu sein: in der von dem Opfer eines Stiers, einer
εὐωχία, einem ἀγών die Rede ist.
1).
Grabstein des Q. Marcius Strato (etwa 2. Jahrh. nach Chr.),
Athen. Mittheil. 1892 p. 272. V. 5 ff.: τοίγαρ, ὅσοι Βρομίῳ Παφίῃ τε νέοι
μεμέλησϑε, δευόμενον γεράων μὴ παρανεῖσϑε τάφον· ἀλλὰ παραστείχοντες ἤ
οὔνομα κλεινὸν ὁμαρτῇ βωστρέετ̕ ἤ ῥαδινὰς συμπαταγεῖτε χέρας. Die Auf-
geforderten antworten: προσεννέπω Στράτωνα καὶ τιμῶ κρότῳ.
2).
Auf attischen Lekythen öfter dargestellt (Pottier Les lécythes
blancs
etc. p. 57).
3).
Götter, ihre Standbilder werden so verehrt. Sittl, Gebärden p. 182.
4).
βελτίονες καὶ κρείττονες. Aristoteles, Εὔδημος, fr. 37.
5).
χρηστοὺς ποιεῖν, euphemistisch für: ἀποκτιννύναι, in einem Vertrag
zwischen Tegea und Sparta. Aristoteles fr. 542.
6).
χρηστὲ χαῖρε (und ähnlich) mit und ohne ἥρως trifft man sehr ge-
wöhnlich auf Grabinschriften aus Thessalien, Böotien, kleinasiatischen
Landschaften an (auch auf Cypern). Auf attischen Grabsteinen scheint
die Bezeichnung als χρηστός sich auf Fremde, meist fremde Sklaven, zu
beschränken (s. K. Keil, Jahrb. f. Phil. Suppl. 4, 628; Gutscher, Die
att. Grabschriften
I p. 24; II p. 13).
7).
mit Gutscher a. O. I 24; II 39. — Daraus, dass in Attika Ein-
4).
Trajan). So wird der Name des ἥρως dreimal bei Opfer und Verehrung
ausgerufen: oben p. 163 Anm.
1).
χρηστῶν ϑεῶν. Herodot. 8, 111. — ὁ ἥρως (Protesilaos), χρηστὸς
ὤν, ξυγχωρεῖ (dass man in seinem τέμενος sich hinsetze) Philostrat. Heroic.
p. 134, 4 Ks. — Andere begütigende Anrufungen der Todten sind: ἄλυπε,
χρηστὲ καὶ ἄλυπε, ἄριστε χαῖρε (z. B. Inscr. of Cos 165. 263. 279).
7).
geborenen dieses Beiwort nicht gegeben zu werden pflegt, folgt indessen
noch nichts für die Vorstellung der Athener von ihren Todten (etwa als
eine weniger verklärende). Das Wort war einmal nicht herkömmlich in
Attika für diese Verwendung. Dagegen specifisch attisch war z. B. das
Wort μακαρίτης als Bezeichnung für die Verstorbenen (s. oben p. 283, 1),
das ja ganz unzweideutig von der auch in Attika verbreiteten Vorstellung
der Todten als „Seliger“ Zeugniss giebt.
1).
Pausan. 4, 27, 6.
2).
Pausan. 4, 32, 4.
3).
Paus. 9, 13, 5. 6. Opfer (ἐντέμνειν) einer weissen Stute für die
Heroïnen: Plut. Pelop. 20. 21. 22. Kurz angedeutet wird der Vorfall
schon bei Xenoph. Hell. 6, 4, 7. S. auch Diodor. 15, 54. Ausführliche
Erzählung von dem Schicksal der Mädchen bei Plutarch. narr. amat. 3.
Hieronym. adv. Jovin. 1, 41 (II 1, 308 D. Vall.). — αἱ Λεύκτρου ϑυγατέρες
Plut. Herod. mal. 11 p. 856 F.
4).
Λεωνίδεια in Sparta. C. I. Gr. 1421. Dabei (in dieser späten Zeit
1).
Marathon: Bekränzung und ἐναγισμός an dem πολυάνδρειον der
Helden von Marathon durch die Epheben: C. I. A. 2, 471, 26. Allgemeiner:
Aristides II p. 229 f. Dind. Nächtlicher Kampf der Geister dort: Paus.
1, 32, 4 (ältestes Vorbild der ähnlichen Legende die, bei Gelegenheit des
Berichts von dem Kampf der erschlagenen Hunnen und Römer, Damas-
cius. V. Isid. 63 mitzutheilen weiss).
2).
ἄνδρας] ἔϑ̕ ἥρωας σέβεται πατρίς κτλ. Inscr. of Cos 350 (Anfang
der Kaiserzeit).
3).
Von den attischen Tragikern meint Dio Chrysost. or. 15 p. 448
R., dass οὓς ἐκεῖνοι ἀποδεικνύουσιν ἥρωας, τούτοις φαίνονται ἐναγίζοντες
(οἱ Ἕλληνες) ὡς ἥρωσιν, καὶ τὰ ἡρῷα ἐκείνοις ᾠκοδομημένα ἰδεῖν ἐστιν.
— Das ist freilich nur von sehr beschränkter und bedingter Richtigkeit.
4).
Ἕκτορι ἔτι ϑύουσιν ἐν Ιλίῳ (ausdrücklich von seiner Zeit redend)
Luc. deor. conc. 12. Erscheinungen des H. in Troas: Max. Tyr. 15, 8
p. 283 R. Mirakel: Philostrat. Heroic. H. in Theben: Lycophr. 1204 ff.
5).
Der Ἡρωϊκός des Philostratos giebt hiervon vielfaches Zeugniss.
Bei weitem nicht alles, was er von den Heroen des troischen Krieges
erzählt, ist ihm überliefert worden, aber auch nicht alles, und namentlich
nicht alles was er (im ersten Theil des Gesprächs) von den noch gegen-
wärtig stattfindenden Erscheinungen und Machtbeweisen der Heroen be-
richtet, hat er erfunden. (Seine Erfindsamkeit ergeht sich vornehmlich
in dem was er von den Thaten ihres einstigen Lebens, Homer ergänzend
4).
selbst in Sparta nicht auffällig) „Reden“ über Leonidas und ein ἀγών an
dem nur Spartiaten theilnehmen durften: Paus. 3, 14, 1. C. I. Gr. 1417:
— ἀγωνισάμενοι τὸν ἐπιτάφιο[ν Λεωνίδου] καὶ Παυσανί [νυ καὶ τῶν λοι]πῶν
ἡρώω [ν ἀγῶνα].
1).
Noch 375 bewahrt Achill Attika vor Erdbeben (Zosim. 4, 18);
396 hält er Alarich von Athen ab: Zosim. 5, 6.
5).
und corrigirend, zu sagen weiss.) Nach Phil. 149, 32 ff. (ed. Kayser, 1871)
ὁρῶνται, wenigstens den Hirten auf der troischen Ebene, die Gestalten
der homerischen Helden (riesig gross: s. p. 136—140); φαίνονται in kriege-
rischer Rüstung: 131, 1. Hektor besonders erscheint, thut Wunder, sein
Standbild πολλὰ ἐργάζεται χρηστὰ κοινῇ τε καὶ ἐς ἕνα: p. 151. 152. Le-
gende von Antilochos: 155, 10 ff. Palamedes erscheint: p. 154. Er hat
an der Südseite der Troas, gegenüber Lesbos, ein altes Heiligthum, in
dem ihm ϑύουσιν ξυνιόντες οἱ τὰς ἀκταίας οἰκοῦντες πόλεις: p. 184, 21 ff.
(s. Vit. Apoll. Tyan. 4, 13). Heroenopfer für Palamedes 153, 29 ff. —
Mantische Kraft der ἥρωες: 135, 21 ff.; 148, 20 ff. (des Odysseus auf Ithaka
195, 5 ff.). Daher denn namentlich Protesilaos, der in Elaius auf dem
thrac. Chersonnes dem Winzer, den Phil. zum Erzähler macht, erscheint,
so vieles zu berichten weiss, auch was er nicht selbst erlebt und
gesehen hat. Protesilaos ist noch voll lebendig, ζῇ (130, 23); er hat
(wie Achill auf Leuke und sonst) seine ἱεροὶ δρόμοι, ἐν οἶς γυμνάζεται
(131, 31). Sein φάσμα, einem Widersacher erscheinend, macht diesen
blind (132, 9 ff. So macht Begegnung eines Heros öfter den Sterblichen
blind. S. Herodot. 6, 117. Stesichoros und die Dioskuren). Seinem
Schützling hält er Schlangen, wilde Thiere, alles Schädliche von seinem
Acker fern: 132, 15 ff. Er selbst ist bald ἐν Ἅιδου (wo er mit seiner Lao-
damia vereint ist), bald in Phthia, bald in Troas (143, 17 ff.). Er erscheint
zur Mittagszeit (443, 21. 32. Vgl. oben p. 372 f. Anm.). In seinem alten
schon von Herodot erwähnten (9, 116. 120; darauf anspielend Phil. 141,
12) Heiligthum zu Elaius ertheilt er Orakel, besonders an die Helden
jener Zeit, die Kämpfer an den Wettspielen (146, 13 ff.; 24 ff.; 147, 8 ff.;
15 ff. Es werden berühmte Zeitgenossen genannt: Eudaimon aus Alexan-
dria, Sieger in Olympia Ol. 237, der aus dem Γυμναστικός wohlbekannte
Helix). Er heilt Krankheiten, besonders Schwindsucht, Wassersucht,
Augenkrankheiten, Wechselfieber; auch in Liebespein hilft er (p. 147,
30 ff.). Auch in seiner phthiotischen Heimath, in Phylake (das er ja auch
besucht) spendet Prot. oft Orakel: 148, 24 ff. — Es ist der volle Umfang
heroischer Wunderthätigkeit, in dem sich, gleich den ἥρωες älterer Sage,
Prot. hier bewegt. — Am Ismaros in Thrakien erscheint und ὁρᾶται τοῖς
γεωργοῖς Maron Εὐανϑέος ὑιός (Odyss. 9, 197), der seine Reben segnet
(149, 3 ff.). Das Rhodopegebirge in Thrakien οἰκεῖ Rhesos; er führt
dort ein ritterliches Leben in Pferdezucht, Waffenübung und Jagd; frei-
willig stellen die Waldthiere sich zum Opfer an seinem Altar; der Heros
hält von den umliegenden κῶμαι die Pest fern (149, 7—19). — Die hier
herausgehobenen Sagenberichte des Phil. wird man im Wesentlichen als
volksthümlicher Ueberlieferung entlehnt betrachten dürfen.
1).
Plut. Lucull. 23. Appian, Mithrid. 83. Lucull war Römer genug,
das hochverehrte Standbild des A. den Bewohnern von Sinope zu ent-
führen, an das sich der hochgesteigerte Cult vornehmlich knüpfte. (ἐτίμων
— den A. — ὡς ϑεόν. ἦν δὲ καὶ μαντεῖον αὐτοῦ. Strabo 12, 546.)
2).
S. oben p. 182, 2. 3. — Heroon der Kyniska (der Schwester des
Agesilaos) in Sparta, als Olympiasiegerin. Paus. 3, 15, 1.
3).
Heilheroën: oben p. 173 ff. Ihr Cult und ihre Thätigkeit sind
uns als blühend gerade aus späterer Zeit zumeist bekannt. — Offenbar
jung ist der Heros Neryllinos in Troas, von dessen Verehrung, Kraft der
Heilung und Wahrsagung Athenagoras, apol. 26 erzählt (Lobeck Agl. 1171).
ὁ ξένος ἰατρός, Toxaris in Athen: s. Lucian. Scyth. 1. 2. (Den Eigennamen
des ξένος ἰατρός könnte Lucian allenfalls erfunden haben, sicherlich aber
nicht, was er von dessen Cult berichtet.). Dauernder Cult des Hippo-
krates
auf Kos noch zu Zeiten des Soranus: an seinem Geburtstag (s.
oben p. 215, 2) opfern die Koër ihm alljährlich als einem Heros (ἐναγίζειν):
Soranus bei Anon. vit. Hipp. 450, 13 West. (Mirakel an dem Grabe des
H. bei Larisa: ib. 451, 55 ff.). Der Arzt bei Luc. Philops. 21 bringt
seinem ehernen Hippokrates alljährlich ein förmliches Opfer (mehr als
ἐναγίζειν) dar. — Sehr nett und im richtigen Volkston gehalten ist die
Geschichte von der Zaubermacht des ebenfalls (einfach weil er ἥρως ist)
als Helfer in Krankheiten verehrten Pellichos, des korinthischen Feld-
herrn, dem der libysche Sclave die Goldmünzen gestohlen hatte, die man
ihm als Opfer darzubringen pflegte: Luc. Philops. 18—20.
4).
Anthol. Pal. 7, 694 (Ἀδδαίου. Wohl des Macedoniers).
5).
C. I. Gr. 4838 b. (s. oben p. 162, 2). Ein redender Name: εὐόδει
ruft der Todte dem Wanderer zum Gruss zurück: C. I. Gr. 1956.
1).
Beispielsweise noch: in Megara noch bis ins 4. Jahrhundert nach
Chr. von Seiten der Stadt Stieropfer für die in den Perserkriegen gefallenen
Heroen. C. I. Gr. septent. I. n. 52.
2).
Am Grabmal des Philopoemen: Plut. Philop. 21.
3).
ἐν τοῖς Ἡρωϊκοῖς καὶ ἐν ταῖς ἄλλαις ἑορταῖς — in Priansos und
Hierapytna auf Kreta (3. Jahrh. vor Chr.) C. I. Gr. 2556, 37. Jährlich
begangenes Fest der Ἡρῷα, an denen εὐχαριστήριοι ἀγῶνες für Asklepiades
und seine Mitkämpfer in einem Kriege der Stadt gefeiert wurden: Ehren-
decret für den Enkel dieses Asklepiades, in Eski-Manyas bei Kyzikos ge-
funden. Athen. Mittheil. 1884, p. 33.
4).
Im Schwur ruft man an die Götter καὶ ἥρωας καὶ ἡρωάσσας.
Dreros (Kreta): Cauer, del.1 38 A, 31 (3. Jahrh. v. Chr.). Vertrag von
Rhodos und Hierapytna (2. Jahrh. v. Chr.), Cauer 44, 3: εὔξασϑαι τῷ
Ἁλίῳ καὶ τᾷ Ῥόδῳ καὶ τοῖς ἄλλοις ϑεοῖς πᾶσι καὶ πάσαις καὶ τοῖς ἀρχα-
γέταις καὶ τοῖς ἥρωσι, ὅσοι ἔχοντι τὰν πόλιν καὶ τὰν χώραν τὰν Ῥοδίων —.
Bürgereid aus Chersonnesos (3. Jahrh.) Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1892
p. 480: ὀμνύω — — ἥρωας ὅσοι πόλιν καὶ χώραν καὶ τείχη ἔχοντι τὰ
Χερσονασιτᾶν. — Aehnliches aus älterer Zeit, oben p. 138, 2 (Dinarch. c.
Demosth.
64: μαρτύρομαι — — καὶ τοὺς ἥρωας τοὺς ἐγχωρίους κτλ.).
5).
z. B. Ins. aus Astypalaea, Bull. corr. hell. 1891, p. 632 (Nr. 4):
Quelle und Bäume stiftet Damatrios, S. des Hippias ϑεοῖς ἥρωσι τε —,
ἀϑλοφόρου τέχνας ἀντιδιδοὺς χάριτα. — Ein Grab geweiht ϑεοῖς ἥρωσι (C.
I. Gr.
3272 [Smyrna]), d. h. wohl ϑ. καὶ ἥρωσι (wie ϑεοῖς δαίμοσι 5827
u. ä.).
6).
Collegien von ἡρωισταί: Foucart, assoc. relig. 230 (49); 233 (56)
C. I. Att. 2, 630. In Böotien: Athen. Mittheil. 3, 299.
7).
z. B. Ins. eines der Sessel im Theater zu Athen: ἱερέως Ἀνάκοιν
καὶ ἥρωος ἐπιτεγίου. C. I. A. III 290.
1).
διαμένουσι δὲ καὶ ἐς τόδε τῷ Αἴαντι παρ̕ Ἀϑηναίοις τιμαί, αὐτῷ τε
καὶ Εὐρυσάκει Paus. 1, 35, 3. (Αἰάντεια auf Salamis im 1. Jahrh. v. Chr.
C. I. A. II 467—471). ἐναγίζουσι δὲ καὶ ἐς ἡμᾶς ἔτι τῷ Φορωνεῖ (in Argos)
2, 20, 3. καί οἱ (dem Theras) καὶ νῦν ἔτι οἱ Θηραῖοι κατ̕ ἔτος ἐναγί-
ζουσιν ὡς οἰκιστῇ. 3, 1, 8. Aehnlich bezeugt er noch bestehenden Heroen-
cult für Pandion in Megara (1, 14, 6) Tereus in Megara (1, 41, 9) Me-
lampus in Aegosthena (1, 44, 5) Aristomenes in Messenien (4, 14, 7)
Aetolos in Elis (ἐναγίζει ὁ γυμνασίαρχος ἔτι καὶ ἐς ἐμὲ καϑ̕ ἕκαστον
ἔτος τῷ Αἰτωλῷ 5, 4, 4) Sostratos, ἐρώμενος des Herakles, in Dyme (7,
17, 8) Iphikles in Phenea (8, 14, 9) erschlagene Knaben in Kaphyae
(8, 23, 6. 7), vier Gesetzgeber von Tegea (8, 48, 1), die Εὐσεβεῖς in
Katana (10, 28, 4. 5). — Natürlich ist nicht gesagt, dass die sehr zahl-
reichen Heroen, von deren Dienst P. nicht mit ebenso ausdrücklichen
Worten als einem fortbestehenden spricht, darum einen solchen nicht
mehr gehabt hätten.
2).
Plut. Aristid. 21.
3).
Arat gewann nach dem Tode von den Achäern ϑυσίαν καὶ τιμὰς
ἡρωϊκάς, an denen er sich, εἴπερ καὶ περὶ τοὺς ἀποιχομένους ἔστι τις αἴσϑη-
σις, erfreuen mag. Polyb. 8, 14, 8. Er wurde in Sikyon, als οἰκιστὴς καὶ
σωτὴρ τῆς πόλεως, an einem τόπος περίοπτος, benannt Ἀράτειον, beigesetzt
(vgl. Paus. 2, 8, 1; 9, 4). Man opferte ihm zweimal im Jahr, an dem
Tage, an dem er Sikyon befreit hatte, 5. Daisios, den Σωτήρια, und an
seinem Geburtstage; jenes Opfer stellte der Priester des Zeus Soter an,
jenes der Priester des Arat. Gesang der dionysischen τεχνῖται, Zug der
παῖδες und ἔφηβοι, geführt vom Gymnasiarchen, der bekränzten βουλή,
und der Bürger. Hievon noch δείγματα μικρά zu Plutarchs Zeit erhalten,
αἱ δὲ πλεῖσται τῶν τιμῶν ὑπὸ χρόνου καὶ πραγμάτων ἄλλων ἐκλελοίπασιν.
Plut. Arat. 53 (σωτήρ: vgl. das Epigramm bei Plut. 14).
1).
πάντες ἥρωας νομίζουσι τοὺς σφόδρα παλαιοὺς ἄνδρας, καὶ ἐὰν μηδὲν
ἐξαίρετον ἔχωσι, δι̕ αὐτὸν οἶμαι τὸν χρόνον. Allerdings nur einige von
ihnen haben auch förmliche τελετὰς ἡρώων. Dio Chrys. or. 31, p. 610.
Omnes qui patriam conservarint, adiuverint, auxerint werden unsterblich.
Cic. Somn. Scip. 3. Das ist auch zuviel behauptet.
2).
Pelopidas, Timoleon, Leosthenes, Arat heroisirt: s. Keil, Anal.
epigr. et onomatol.
p. 50—54. Kleomenes: Plut. Cleom. 39. Philopoemen:
Plut. Philop. 21. ἰσόϑεοι τιμαί, jährliches Stieropfer und Preislieder auf
Phil., gesungen von den νέοι: Diodor. 29, 18, Liv. 39, 50, 9. Dittenb.
Syll. 210. S. Keil a. O. p. 9 ff.
3).
In Sikyon galt Arat als Sohn des Asklepios, der als Schlange
seiner Mutter Aristodama genaht sei. Paus. 2, 10, 3; 4, 14. 7. 8. (be-
liebte Form einer Fabel von göttlicher Abstammung. Marx, Märchen
v. dankb. Thieren
122, 2).
1).
Die höchst anmuthige und charakteristische Geschichte von Dri-
makos, dem Hauptmann und Gesetzgeber der δραπέται auf Chios, erzählt
Nymphodor bei Athenaeus 6. cap. 88—90 als μικρὸν πρὸ ἡμῶν geschehen.
Er hatte ein ἡρῷον, worin er (von den δραπέται mit den Erstlingen alles
von ihnen Erbeuteten) verehrt wurde unter dem Namen des ἥρως εὐμενής.
Er erschien gern im Traum Herren, denen er οἰκετῶν ἐπιβουλάς ver-
kündigte.
2).
Hesych. Γαϑιάδας · ἥρωος ὄνομα, ὃς καὶ τοὺς καταφεύγοντας εἰς
αὐτὸν ῥύεται [καὶ] ϑανάτου.
3).
Pixodaros, ein Schafhirt bei Ephesos entdeckt auf eigenthümliche
Weise eine besonders vortreffliche Marmorart und meldet dies der Be-
hörde (zum Tempelbau). Er wird heroisirt und ἥρως εὐάγγελος umgetauft;
jeden Monat wird ihm von der Behörde ein Opfer dargebracht, hodieque.
Vitruv. 10, 7.
4).
Luc. macrob. 21 (über Athenodor: Fr. hist. gr. III 485 f.). —
Auf Kos war eine Exedra am Theater geweiht dem C. Stertinius Xeno-
phon (Leibarzt des Ks. Claudius) ἥρωι. Inscr. of Cos 93. — In Mitylene
gar Apotheose des Geschichtschreibers Theophanes (Freundes des Pom-
pejus; Γν. Πομπήϊος Ἱεροίτα ὑιὸς Θεοφάνης mit vollem Namen: Athen.
Mitth.
9, 87): Tac. ann. 6, 18. Θεοφάνης ϑεός auf Münzen der Stadt;
wie auch Σέξστον ἥρωα, Λεσβῶναξ ἥρως νέος u. ä. [auf] deren Münzen steht
(Head. Hist. numm. 488).
5).
In Messene auf einer Stele das Bild eines Aethidas, aus dem
Anfang des 3. Jahrhunderts vor Chr.; verehrt wurde statt seiner als Heros
ein gleichnamiger Nachkomme. Paus. 4, 32, 2. In Mantinea auf dem
Markte ein Heroon des Podares, der sich in der Schlacht bei Mantinea
(362) ausgezeichnet hatte. Drei Generationen vor der Anwesenheit des
Pausanias änderten die Mantineer die Aufschrift des Heroon, und wid-
meten es einem späteren Podares, einem Nachkommen des älteren P.,
schon aus römischer Zeit. Paus. 8, 9, 9.
1).
Vgl. Keil Anal. epigr. 62.
2).
Cult des Königs Lysimachos bei Lebzeiten: auf Samothrake,
Dittenberger, Syll. 138. (Archäol. Unters. auf Samothr. II 85, A. 2). Heroi-
sirung des Diogenes, Phrurarchen des Demetrios, der 229, von Arat be-
stochen, die macedonische Besatzung aus Attika führte. (Köhler, Hermes
7, 1 ff.) — ὑπὲρ τᾶς Νικία τοῦ δάμου υίοῦ, φιλοπάτριδος, ἥρωος, εὐεργέτα
δὲ τᾶς πόλιος, σωτηρίας eine Widmung ϑεοῖς πατρῴοις; Inscr. of Cos 76.
Gesetzt bei Lebzeiten (woher sonst σωτηρίας?) des „Heros“, der vielleicht
(wie die Herausgeber vermuthen) identisch ist mit dem Tyrannen von
Kos, Nikias, aus Strabo’s Zeit (Strab. 14, 658. Perizonius zu Aelian. var.
hist.
1, 29).
3).
ἥρως von einem Lebenden auf Inss. der Kaiserzeit bisweilen.
C. I. Gr. 2583 (Lyttos, Kreta) 3665 (ἡρωΐνη, lebend. Kyzikos, 2. Jahrh.)
Athen. Mittheil. 6, 121 (ebenfalls Kyzikos): ἱππαρχοῦντος Κλεομένους ἥρωος,
jedenfalls ja bei Lebzeiten.
4).
Als Demetrios Poliork. 303 Sikyon erobert und umbaut, widmen
ihm bei Lebzeiten die Bürger der nun „Demetrias“ genannten Stadt, als
κτίστῃ, Opfer, Feste und alljährliche ἀγῶνες. („ἀλλὰ ταῦτα μὲν ὁ χρόνος
1).
Diodor. 17, 115. Alexander hiess ihn, nach Befragung des
Ammonorakels, als ἥρως verehren (ihm ἐναγίζειν ὡς ἥρωϊ, nicht ὡς ϑεῷ
ϑύειν gestattete das Orakel). Arrian. anab. 7, 14, 7; 23, 6. Plut.
Alex. 72. (Alsbald ein ἡρῷον ihm in Alexandria Aeg. errichtet: Arr.
7, 23, 7). Dies schliesst nicht aus, dass man hie und da, in der Super-
stition und Kriecherei, die gleichmässig in Alexanders Bereich geflegt
wurden, den Heph. als Ἡφαιστίων ϑεὸς πάρεδρος verehrt habe, was wohl
nur zu allgemein behauptet Diodor. 17, 115, 6; Luc. cal. n. t. cred. 17.
18. (Alsbald erwies der neue Heros oder Gott seine Macht durch Er-
scheinungen, Traumgesichte, ἰάματα, μαντεῖαι: Luc. 17). — Gewaltiger
Pomp beim Begräbniss des Demetrios Poliork.: Plut. Demetr. 53.
2).
Es sei nochmals an das Testament der Epikteta und andre,
p. 633, 5 erwähnte Stiftungen erinnert. Oder an die ausgedehnten Trauer-
veranstaltungen des Herodes Atticus um Regilla und Polydeukes (ἥρως
Πολυδευκίων doch nur in dem herabgeminderten Sinne, den ἥρως damals
längst hatte, genannt): zusammengestellt von K. Keil, in Pauly’s Real-
encykl.
2 I 2101 ff. Nach griechischen Vorbildern (und — jedenfalls
griechischen — auctores qui dicant, fieri id oportere: ad Att. 12, 18, 1)
die ausschweifenden Trauerbezeugungen des Cicero um seine Tochter,
von deren architektonischem Theil er den Atticus, ad Att. XII, unter-
4).
ἠκύρωσεν“.) Diodor. 20, 102, 3. Später dergleichen ja oft: Marcellea,
Lucullea
u. s. w. kennt man. Aber das ging weiter. Die Bewohner von
Lete in Macedonien beschliessen für einen vornehmen Römer, im
Jahre 117 vor Chr. ausser anderen Ehren, τίϑεσϑαι αὐτῷ ἀγῶνα ἱππικὸν
κατ̕ ἔτος ἐν τῷ Δαισίῳ μηνί, ὅταν καὶ τοῖς ἄλλοις εὐεργέταις οἱ ἀγῶνες ἐπιτε-
λῶνται. (Arch. des missions scientif. 3. série, t. III, p. 278, no. 127).
Also allen εὐεργέται pflegte man dort bereits solche Spiele zu weihen.
1).
ὁ δᾶμος (einmal auch ἁ βουλὰ καὶ ὁ δᾶμος) ἀφηρώϊξε — Thera:
C. I. Gr. 2467 ff. ὁ δᾶμος ἐτίμασε (τὸν δεῖνα) — — ἥρωα. Thera: Athen.
Mittheil.
16, 166. Kaib ep. lap. 191. 192. —
2).
-φροντίσαι δὲ καὶ τοὺς ὀργεῶνας (Genossen eines Collegiums der
Dionysiasten) ὅπως ἀφηρωισϑεῖ Διονύσιος καὶ ἀνατεϑεῖ ἐν τῷ ἱερῷ παρὰ τὸν
ϑεόν, ὅπου καὶ ὁ πατὴρ αὐτοῦ, ἵνα ὑπάρχει κάλλιστον ὑπόμνημα αὐτοῦ εἰς τὸν
ἅπαντα χρόνον. Ins. aus dem Piraeeus, 2. Jahrh. v. Chr., Athen. Mittheil.
9, 291; Z. 46 ff. Eine Zunft, scheint es, der Gerber, in Argos widmet
eine Inschrift τῷ δεῖνι, κτίστᾳ ἥρωϊ. C. I. Gr. 1134.
3).
Wie jener Naulochos, den Philios aus Salamis dreimal, in Ge-
sellschaft der Demeter und Kore, im Traume sah, und der Stadt Priene
als ἥρωα σέβειν rieth. Kaib. ep. lap. 774.
4).
Κάρπος τὰν ἰδίαν γυναῖκα ἀφηρώϊξε. Thera: C. I. Gr. 2471. Und
2).
hält (eine ἀποϑέωσις nennt er es vielfach, was er beabsichtigt. conse-
crabo te: Consol. fr.
5 Or.). — Grabtempel der Pomptilla, die, eine andere
Alkestis, statt des Gatten, (dem sie nach Sardinien in das Exil gefolgt
war) in den Tod gegangen war, indem sie den Athem des Kranken in
sich eingesogen hatte, mit vielen griechischen und lateinischen In-
schriften, bei Cagliari auf Sardinien: Inscr. gr. Sic. et It. 607 (p. 144 ff.).
1. Jahrh. n. Chr.
1).
Gleichsetzung des Todten mit einem schon vorher verehrten
Heros anderen Namens ist freilich kaum sicher nachzuweisen. Von den
mancherlei Fällen, die man hierher rechnet, kommt höchstens die spar-
tanische Ins. Ἀριστοκλῆς ὁ καὶ Ζῆϑος (Ath. Mitth. 4 Taf. 8, 2) vielleicht
in Betracht. Gleichsetzung mit einem Gott (vermuthlich mit Anspielung
auf orgiastischen Cult dieses Gottes) kommt öfter vor. Imagines de-
functi, quas ad habitum dei Liberi formaverat (uxor), divinis percolens
honoribus
— Apuleius Met. 8, 7. (Vgl. Lobeck. Aglaoph. 1002, der auch
an das, doch nur entfernt anklingende Vorbild in dem Πρωτεσίλαος des
Euripides erinnert). Der Todte als Βάκχος (Kaib. ep. lap. 821), Διονύσου
ἄγαλμα (ibid. 705. So der Todte C. I. Gr. 6731: ἄγαλμά εἰμι Ἡλίου).
Und so mehrfach Abbildungen der Verstorbenen nach dem Typus des
Dionys, Asklepios, Hermes. Ross Archäol. Aufs. 1, 51. Deneken in
Roscher’s Mythol. Lex. 1, 2588.
2).
S. oben p. 166 ff.
4).
ebendort noch mehrfaches ἀφηρωΐζειν von Familienmitgliedern: 2472 b. c. d.;
2473. — Ἀνδροσϑένην Φίλωνος νέον ἥρωα — — ἡ μήτηρ. Macedonien:
Arch. des miss. scientif. III (1876) 295 (n. 130). So ist es wohl zu ver-
stehen, wenn in Grabepigrammen ein Familienmitglied das andere als ἥρως
anredet oder bezeichnet. Kaib. ep. lap. 483; 510; 552, 674. — ἥρως συγ-
γενείας C. I. A. III 1460 hat jedenfalls auch einen volleren Sinn als das
sonst übliche ἥρως.
1).
S. Keil, Syll. inscr. Boeot. p. 153.
2).
In Thespiae zeigen die Inss. erst seit der Kaiserzeit den Zusatz
ἥρως bei Namen Verstorbener. S. Dittenberger zu C. I. Gr. septentr.
2110, p. 367.
3).
Geordnete Sammlung vieler Beispiele des: ἥρως, ἥρως χρηστὲ
χαῖρε u. dgl. auf Grabinschriften bei Deneken in Roscher’s Mythol. Lex.
s. „Heros“ 1, 2549 ff.
4).
Wie schon Keil a. O. hervorhebt. — Noch im vollen Sinne steht
ἡρωΐνη jedenfalls, wenn Rath und Volk von Athen im 1. Jahrh. n. Chr.
eine vornehme Todte so bezeichnen: C. I. A. 3, 889. Oder wenn (zur
gleichen Zeit) sowohl das spartanische als das athenische Decret den P.
Statilius Lamprias (s. oben p. 628, 3) ausdrücklich ἥρωα nennt. (Fouilles
d’Epidaure
I n. 205—209).
5).
Curios ist, wie viel später, in christlicher Zeit ὁ ἥρως kurzweg
benannt wird (ganz synonym mit ὁ μακαρίτης) ein kürzlich Verstorbener:
ὁ ἥρως Εὐδόξιος, ὁ ἥρως Πατρίκιος, Ἰάμβλιχος in Schol. Basilic.
1).
ὕπνος ἔχει σε μάκαρ —, καὶ ζῇς ὡς ἥρως, καὶ νέκυς οὐκ ἐγένου.
Kaib. ep. lap. 433. Der ἥρως also etwas anderes, Lebendigeres als ein
νέκυς schlechtweg. ἀσπάζεσϑ̕ ἥρωα, τὸν οὐκ ἐδαμάσσατο λύπη (d. h. der
nicht zu nichte wurde durch den Tod) ibid. 296. Der Gatte τιμαῖς ἰσό-
μοιρον ἔϑηκε τὰν ὁμόλεκτρον ἥρωσιν: ibid. 189, 3. Einen stärkeren Nach-
druck und tiefere Bedeutung hat die Benennung ἥρως noch in Inschriften
wie z. B. C. I. Gr. 1627 (auf einen Nachkommen Plutarchs bezüglich);
4058 (— ἄνδρα φιλόλογον, καὶ πάσῃ ἀρετῇ κεκοσμημένον, εὐδαίμονα ἥρωα).
— οἱ βιοῦντες ὥσϑ̕ ἥρωες γενέσϑαι καὶ μετὰ ϑεῶν ἕξειν τὰς διατριβάς. Orig.
c. Cels. 3, 80, p. 359 Lomm. ϑεοί, ἥρωες, ἁπαξαπλῶς ψυχαί unterschieden
ibid. 3, 22, p. 276 (die Seele kann dirina fieri et a legibus mortalitatis
educi.
Arnob. 2, 62; vgl. Corn. Labeo bei Serv. Aen. 3, 168).
1).
ἄωροι, βιοϑάνατοι, ἄταφοι. S. oben p. 373 f. — ϑάπτειν καὶ ὁσιοῦν
τῇ Γῇ, bezeichnend, Philostr. Heroic. 182, 10 Ks.
2).
Plut. Dio 2: nur Kinder und Weiber und thörichte Menschen,
meinte man, sehen Geister, δαίμονα πονηρὸν ἐν αὑτοῖς δεισιδαιμονίαν ἔχοντες.
Plutarch meint, diese Ungläubigen damit widerlegen zu können, dass doch
selbst Dio und Brutus φάσματα kurz vor ihrem Tode gesehen haben.
3).
So in der Geschichte von Philinnion und Machates in Amphi-
polis, bei Phlegon mirab. 1. Procl. in Remp. p. 64 Sch. (s. Rhein. Mus.
32, 324 ff.). Vampyrartig sind die Erinyen gedacht bei Aeschylus, Eum.
264 f. (s. oben p. 246, 2) — Seelen Verstorbener als Alp, ἐφιάλτης, incubo,
den Feind bedrückend: Soran, bei Tertull. de an. 44; Coel. Aurel. tard.
pass.
1, 3, 55 (s. Rhein. Mus. 37, 467, 1).
1).
Der Φιλοψευδής ist ein wahres Vorrathshaus typischer Geschichten
von Geistererscheinungen und Zauberwirkungen aller Art. δαίμονας ἀνά-
γειν καὶ νεκροὺς ἑώλους ἀνακαλεῖν ist, nach diesen Weisheitslehrern, den
Zauberern eine Kleinigkeit: c. 13. Ein Beispiel solcher Geistercitirung
(des vor sieben Monaten gestorbenen Vaters des Glaukias) cap. 14. Er-
scheinung der todten Frau des Eukrates, deren goldene Sandale man mit
ihr zu verbrennen vergessen hat: cap. 29 (s. oben p. 32, 3). Umgehen
können sonst eigentlich nur αἱ τῶν βιαίως ἀποϑανόντων ψυχαί, nicht die der
κατὰ μοῖραν ἀποϑανόντων, wie der weise Pythagoreer c. 29 lehrt. Darauf
die Geschichte von dem Gespenst in Korinth, cap. 30. 31, die offenbar
aus verbreiteten Erzählungen entlehnt ist, da sie mit der von Plinius
epist. 7, 27 treuherzig wiedergegebenen Gespenstergeschichte sachlich
völlig übereinstimmt. δαίμονάς τινας εἶναι καὶ φάσματα καὶ νεκρῶν ψυχὰς
περιπολεῖν ὑπὲρ γῆς καὶ φαίνεσϑαι οἷς ἂν ϑέλωσιν (c. 29) steht diesen Weisen
jedenfalls fest. Auch der Lebende kann wohl einmal einen Einblick in
die Unterwelt thun: s. cap. 22—24. Seine Seele kann, vom Leibe ge-
trennt, in den Hades eingehn, und nachher, wieder in den Körper zurück-
gekehrt, erzählen, was sie gesehen hat. So ist dem Kleodemos die eigene
Seele, als sein Leib im Fieber lag, von einem Boten der Unterwelt dort
hinabgeführt aber wieder entlassen worden, weil sie aus Versehen statt
der des Nachbars, des Schmiedes Demylos, geholt worden ist: c. 25.
Diese erbauliche Geschichte ist unzweifelhaft eine Parodie des gläubigen
Berichts gleichen Inhalts in Plutarch’s Werk περὶ ψυχῆς: erhalten
bei Euseb. Praep. evang. 11, 36 p. 563. Plutarch erfand solche Geschichten
gewiss nicht willkürlich; er konnte diese etwa in älteren Sammlungen
von miraculösen ἀναβιώσεις antreffen, wie zie z. B. Chrysipp anzulegen
nicht verschmäht hatte. Dieses Verwechslungsmärchen ist dem Plutarch
um so gewisser aus volksthümlicher Ueberlieferung zugekommen, weil es
sich in solcher Ueberlieferung auch sonst antreffen lässt. Augustin de
cura pro mortuis ger.
§ 15 erzählt (von Curma dem curialis und Curma
dem faber ferrarius) eine ganz ähnliche Geschichte (die natürlich vor
kurzem sich in Afrika ereignet haben soll), und wieder, am Ende des
6. Jahrhunderts, kleidet Gregor d. Gr. eine Höllenvision in die gleiche
Form: dial. 4, 36, p. 384 A. B (Migne). Die Erfindungskraft der Gespenster-
fabulisten ist sehr beschränkt; sie wiederholen sich in wenigen immer
gleichen Motiven.
2).
S. Plutarch. Dio 2. 55 Cimon 1. Brut. 36 f. 48.
1).
Vgl. oben p. 198. 378 f.
2).
ψυχὰς ἡρώων ἀνακαλεῖν, unter den üblichen Künsten der Zauberer:
Cels. bei Origines adv. Cels. 1, 68 p. 127 Lomm.
1).
Anrufung der ἄωροι und sonstigen νεκυδαίμονες in Defixionen:
hiefür einige Beispiele oben p. 374 Anm. Auf den in Cypern (bei Kurion)
gefundenen Defixionen (oder παραϑῆκαι φιμωτικαὶ τοῦ ἀντιδίκου [I 39 u. ö.]
φιμωτικὰ καταϑέματα [V 15 u. ö.], wie sie sich selbst benennen) finden sich
unter den Anrufungen regelmässig solche an die δαίμονες πολυάνδριοι
(πεπελεκισμένοι καὶ ἐσ[ταυρωμένοι? oder ἐσκολοπισμένοι? vgl. Luc. Philops.
29] setzt VI 17 hinzu) καὶ βιοϑάνατοι καὶ ἄωροι καὶ ἄποροι ταφῆς (τῆς
ἱερᾶς ταφῆς VI 18): so I 30 f. u. ö. (πολυάνδριοι werden Seelen von Hin-
gerichteten sein sollen, die auf den gemeinsamen Begräbnissplätzen —
wie in Athen in Melite: Plut. Themist. 22 — hingeworfen werden, den
πολυάνδρια [vgl. Perizon. zu Aelian V. H. 12, 21]). βιοϑάνατοι εἴτε ξένοι
εἴτε ἐντόπιοι: IV 4. Gemeinsam angerufen werden: τύμβε πανδάκρυτε καὶ
χϑόνιοι ϑεοὶ καὶ Ἑκάτη χϑονία καὶ Ἑρμῆ χϑόνιε καὶ Πλούτων καὶ Ἐρινύες
ὑποχϑόνιοι καὶ ὑμεῖς οἱ ὧδε κατῳκημένοι ἄωροι καὶ ἀνώνυμοι. I 35 und immer
wieder (Proceedings of the society of bibl. archaeol. 13 [1890] p. 174 ff.).
— Anrufung von Todten auch noch: C. I. Gr. 539: καταδῶ αὐτούς σοι
Ὀνήσιμε 5858 b.: δαίμονες καὶ πνεύματα οἱ ἐν τῷ τόπῳ τούτῳ ϑηλυκῶν καὶ
ἀρρενικῶν ἐξορκίζω ὑμᾶς — Dieser Zauberbrauch war ungemein weit ver-
breitet. Defigi divis deprecationibus nemo non metuit. Plin. n. h. 28, 19
(im lateinischen Sprachgebiet war freilich all dieser Gräuel noch viel mehr
üblich als in griechischem).
1).
Daher bisweilen die wunderlichsten Vermischungen dieses mit
jenem Zustande. So, wenn Lucian (dial. mort. öfter, z. B. 18, 1; 20, 2;
und Necyom. 15. 17., Char. 24) die Todten im Hades als Gerippe denkt,
die auf einander liegen, je Einen Fuss Erde von Aeakos zuertheilt be-
kommen u. s. w. (Römern ist dergleichen Confusion geläufiger: nemo tam
puer est,
sagt Seneca epist. 24, 18, ut Cerberum timeat et tenebras et lar-
valem habitum nudis ossibus cohaerentium.
Propert. 5, 5, 3: Cerberus —
jejuno terreat ossa sono
u. s. w.). — Vermischung von Grab und Hades
auch in Ausdrücken wie: μετ̕ εὐσεβέεσσι κεῖσϑαι (Kaib. ep. lap. 259, 1)
σκῆνος νῦν κεῖμαι Πλουτέος ἐμμελάϑροις (ib. 226, 4). Vgl. oben p. 532, 1. —
Solche Vermischung der Vorstellungen lag um so näher als Ἅιδης auch
metonymisch statt τύμβος eintritt (s. unten p. 673, 1).
2).
ὁ πολὺς ὅμιλος, οὓς ἰδιώτας οἱ σοφοὶ καλοῦσιν, Ὁμήρῳ καὶ Ἡσιόδῳ
καί τοῖς ἄλλοις μυϑοποιοῖς περὶ τούτων πειϑόμενοι, τόπον τινὰ ὑπὸ τὴν γῆν
βαϑὺν Ἅιδην ὑπειλήφασι κτλ. Lucian. de luctu 2 (ausgeführt bis cap. 9).
Den Kerberos, die Anfüllung des durchlöcherten Fasses und sonstige
Hadesschrecken οὐ πάνυ πολλοὶ δεδίασι, meint Plutarch n. p. suav. v. 27,
1105 A. B, als μητέρων καὶ τιτϑῶν δόγματα καὶ λόγους μυϑώδεις. Doch
suche man eben aus Angst hievor τελετὰς καὶ καϑαρμούς auf.
3).
S. Griech. Roman 261. G. Ettig, Acheruntica (Leipz. Stud. 13,
251 ff.).
1).
Der Mensch hofft nach dem Tode τοὺς νῦν ὑβρίζοντας ὑπὸ πλούτου
καὶ δυνάμεως κτλ. zu sehn ἀξίαν δίκην τίνοντας Plut. n. p. suav. v. 1105 C.
Umkehrung der irdischen Verhältnisse im Hades: τὰ πράγμαπα ἐς τοὔμ-
παλιν ἀνεστραμμένα · ἡμεῖς μὲν γὰρ οἱ πένητες γελῶμεν, ἀνιῶνται δὲ καὶ οἰμώ-
ζουσιν οἱ πλούσιοι. Luc. καταπλ. 15. ἰσοτιμία, ἰσηγορία im Hades, καὶ ὅμοιοι
πάντες: Luc. dial. mort. 15, 2; 25, 2. Aequat omnes cinis. impares nas-
cimur, pares morimur
(Sen. ep. 91, 16). Beliebter Gemeinplatz: s. Ga-
taker ad M. Aurel. 6, 24 p. 235 f.
2).
Wie weit er dies wirklich that, ist natürlich mit Sicherheit nicht
festzustellen. Auf populärem Standpunkt steht im Ganzen der von Ori-
genes bekämpfte Celsus (kein Epikureer, wie Or. annimmt, aber überhaupt
kein professioneller Philosoph, vielmehr ein ἰδιώτης, philosophisch mannich-
fach, namentlich durch den damals verbreiteten halben Platonismus an-
geregt). Dieser sagt sehr nachdrücklich: μήτε τούτοις (den Christen)
εἴη μήτ̕ ἐμοὶ μήτ̕ ἄλλῳ τινί ἀνϑρώπων ἀποϑέσϑαι τὸ περὶ τοῦ κολασϑήσεσϑαι
1).
τιμωρίαι αἰώνιοι ὑπὸ γῆν καὶ κολασμοὶ φρικώδεις von Manchen nach
dem Tode erwartet (während andre im Tode nur eine ἀγαϑῶν στέρησις
sehen): Plut. virt. moral. 10; 450 A. Grässliche Martern im κολαστήριον
des Hades, Feuer und Geisselung u. s. w.: Luc. Necyom. 14 (noch ge-
steigert in Plutarch’s Hadesgemälden, de gen. Socr. und de s. num. vind.)
Feuer und Pech und Schwefel (s. Ettig., Acherunt. 340, 4) gehören zum
stehenden Apparat dieses Ortes der Qual; schon im Axiochos 372 A wer-
den die Sünder ἀιδίοις τιμωρίαις mit brennenden Fackeln gesengt (Vgl.
Lehrs, Popul. Aufs. 308 ff.). Wie weit solche (den christlichen Höllen-
malern z. Th. aus antiker Ueberlieferung sehr vertraut gewordene [vgl.
2).
τοὺς ἀδίκους καὶ γερῶν ἀξιωϑήσεσϑαι τοὺς δικαίους δόγμα (bei Orig. adv.
Cels.
3, 16 p. 270 Lomm.). — Andrerseits ist für die Stimmung der sehr
„weltlichen“ griechisch-römischen Gesellschaft, die am Ende des letzten
Jahrhunderts vor Chr. das Wort führte, bezeichnend, dass bei Cicero, am
Ende des Werkes de natura deorum (3, 81 ff.), unter den verschiedenen
Mitteln, eine Ausgleichung von Schuld und Strafe, Tugend und Belohnung
in menschlichen Lebensverhältnissen aufzuspüren, der Glaube an eine
endliche Vergeltung und Ausgleichung nach dem Tode gar nicht in Be-
tracht gezogen wird (sondern u. a. nur der Glaube an Bestrafung der Ver-
gehen der Väter an den Nachkommen auf Erden [§ 90 ff.], jener alte
Glaube der Griechen [s. oben p. 520, 1], der den Ausblick in ein Jenseits
ausschliesst). Von Cicero zu Celsus hatte sich die Stimmung der Men-
schen schon stark gewandelt; man weiss das ja aus tausend Anzeichen.
Auch das Jenseits sah man wohl im 2. Jahrh. bereits in anderem Lichte,
als zweihundert Jahre früher.
1).
S. oben p. 64 ff.
2).
Peleus, Kadmos, Achill auf der μακάρων νᾶσος: Pindar,
Ol. 2, 78 ff. (Peleus und Kadmos höchste Beispiele der εὐδαιμονία: Pyth.
3, 86 ff.). Dem Peleus verheisst Thetis bei Eurip. Andr. 1225 ff. unsterb-
liches Leben Νηρέως ἐν δόμοις. Von Kadmos (und seiner Harmonia)
muss ein altes Gedicht ausdrücklich so erzählt haben. Versetzung beider
(nach ihrem Abscheiden in Illyrien, wo ihre Gräber und die steinernen
Schlangen gezeigt wurden, in die sie verwandelt worden waren: s. C.
Müller zu Skylax § 24, p. 31) μακάρων ἐς αἶαν: Eurip. Bacch. 1327 f.;
ποιηταἱ und μυϑογράφοι bei Schol. Pind. P. 3, 153. Achill und Dio-
medes
νήσοις ἐν μακάρων, nach dem Skolion auf Harmodios: carm. popul.
fr. 10 Bgk. (So ist noch öfter davon die Rede, dass Achill auf den Inseln
der Seligen sei, oder auf dem, mit diesen durchweg gleich gesetzten
Ἠλύσιον πεδίον [ἠλύσιος λειμών auf der μακάρων νῆσος: Luc. Jupp. conf.
17, ver. hist. 2, 14]: z. B. Plat. Symp. 179 B; Apoll. Rhod. 4, 811. Sein
eigentlicher Aufenthalt, die Insel Leuke, ist eben auch eine μακάρων
νῆσος, von älterer Erfindung jedenfalls als die allgemeinen Inseln der
Seligen, von denen für uns zuerst Hesiod, Op. 159 ff. redet. So hat Dio-
medes eigentlich — nach seinem ἀφανισμός — ewiges Leben auf der
nach ihm benannten Insel im Adriatischen Meer [Ibykos bei Schol. Pind.
N. 10. 12; Strabo 6, 283. 284 u. A.], das Skolion setzt auch ihn an den
1).
Maury, La magie et l’astrol. dans l’antiq. 166 ff.]) Atrocitäten wirklich
volksthümlichem Glauben entsprechen, ist schwer genau festzustellen.
Aber Celsus z. B., der selbst an ewige Höllenstrafen glaubt (Orig. adv. C.
8, 49 p. 180) weiss sich doch zur Bekräftigung dieses Glaubens nur
auf die Lehren der ἐξηγηταὶ τελεσταί τε καὶ μυσταγωγοί gewisser (nicht
näher bezeichneter) ἱερά zu berufen: Orig. 8, 48 p. 177. Vgl. oben
p. 284 ff.; 420, 4.
1).
Fortunatorum memorant insulas, quo cuncti, qui aetatem egerint
caste suam, conveniant.
Plaut. Trin. 549 f. Für den παραμυϑητικὸς λόγος
schreibt Menander de encom. 414, 16 ff. vor zu sagen: πείϑομαι τὸν μετα-
στάντα τὸ ἠλύσιον πεδίον οἰκεῖν (dann gar: καὶ τάχα που μᾶλλον μετὰ ϑεῶν
διαιτᾶται νῦν). Aehnlich p. 421, 16. 17. Noch ganz spät: χάριν ἀμείψασϑαι
αὐτὸν εὔχομαι τοὺς ϑεούς, ἐν μακάρων νήσοις ἤδη συζῆν ἠξιωμένον. Suid. s.
s. Ἀντώνιος Ἀλεξανδρεύς (410 B Gaisf.), aus Damascius.
2).
Sertorius: Plut. Sert. 8. 9. Sallust. hist. I fr. 61. 62 (p. 92 ff.).
Kr. Florus 2, 10, 2 (Horat. epod. 16, 39 ff.). Man war ja aber (nach
phönicischen halbwahren Fabeleien: Gr. Roman. 215 ff.) die μακάρων νῆσοι
westlich von Afrika wirklich aufgefunden zu haben, überzeugt: Strabo 1
p. 3; 3 p. 150; Pomp. Mela 3, cap. 10; Plin n. h. 6, 202 ff.; Marcellus
2).
allgemeinen Wohnort der verklärten Heroën.). Dem Achill, bald auf Leuke,
bald auf den Inseln der Seligen, als Gattin zugesellt gilt Medea (im
Elysion: Ibykos, Simonides: Schol. Apoll. Rh. 4, 814; Apoll. Rh. 4,
811 ff.) Iphigenia, die ihm einst verlobte (auf Leuke: Ant. Lib. 37,
nach Nikander. Anders Lykophron 183 ff.) Helena (Paus. 3, 19, 11—13.
Konon narr. 18. Schol. Plat. Phaedr. 243 A. Philostr. Heroic. 244 ff.
Boiss.). — Alkmene, nachdem ihr Leib den Leichenträgern ver-
schwunden
ist (s. auch Plut. Romul. 28), nach den μακάρων νῆσοι
versetzt: Ant. Lib. 33, nach Pherekydes. Neoptolemos versetzt ἐς
ἠλύσιον πεδίον, μακάρων ἐπὶ γαῖαν: Quint. Smyrn. 3, 761 ff. Unter den
übrigen ἥρωες Agamemnon dort vorausgesetzt: Artemidor. On. 5,
16. — Immer bleibt in diesen Dichtungen die Insel der Seligen (das
Elysion) ein Wohnplatz besonders bevorzugter Heroen (und so auch noch,
wenn Harmodios in jenem Skolion dorthin versetzt wird. Selbst noch
in Lucians Scherzen, Ver. hist. 2, 17 ff.). Als allgemeine Wohnstätte der
εὐσεβεῖς fasst, nach theologischen Anregungen, spätere Phantastik dieses
Reich der Wonne.
1).
Leuke, wohin schon die Aithiopis den Achill zu ewigem Leben
entrückt werden liess (s. oben p. 81), ist wohl ursprünglich ein rein
mythisches Local, die Insel der farblosen Geister (wie Λευκὰς πέτρη
Od. 24, 11 am Eingange des Hades; vgl. Od. 10, 515. Derselbe Hades-
felsen jedenfalls ist es, von dem unglücklich Liebende in den Tod springen.
ἀρϑεὶς δηὖτ̕ ἀπὸ Λευκάδος πέτρης κτλ. Anakreon u. s. w. λεύκη die
Silberpappel als Hadesbaum und Bekränzung der Mysten in Eleusis.
λευκὴ κυπάρισσος am Hadeseingang: Kaib. ep. lap. 1037, 2). Es sind ver-
muthlich milesische Schiffer gewesen die im Schwarzen Meer diese Insel
des Achill localisirten (Cult des Achill bestand in Olbia, auch in Milet
selbst). Schon Alcaeus kennt den Helden als über das Skythenland
waltend (fr. 48, b.) ἐν Εὐξείνῳ πελάγει φαεννὰν Ἀχιλεὺς νᾶσον (ἔχει):
Pindar. N. 4, 49. Dann Eurip. Androm. 1232 ff.; Iph. T. 420 ff.; zuletzt
noch Quint. Smyrn. 3, 770 ff. Im besondern erkannte man die Insel
Leuke wieder in einem menschenleeren Inselchen, in weissen Kalkfelsen
aufsteigend vor der Mündung der Donau (Κέλτρου πρὸς ἐκβολαῖσι Lycophr.
189; gemeint ist vermuthlich der Istros, den der letzte Herausgeber mit
allzu einfacher Conjektur [Ἴστρου πρὸς ἐκβ.] geradezu substituirt), speciell
vor dem ψιλὸν στόμα, d. i. der nördlichsten Ausmündung des Flusses
(Kilia Mündung): Arrian § 31. (Dieselbe Insel meint wohl Skylax, Peripl.
§ 68). Leuke, εὐϑὺ Ἴστρου: Max. Tyr. 15, 7. Man will sie wieder erkennen
in der „Schlangeninsel“, die ungefähr in jener Gegend liegt. (H. Koehler,
2).
Αἰϑιοπ. bei Procl. ad Tim. p. 54 F. 55 A. 56 B. u. s. w. Die Geister-
insel im Norden: Plutarch. def. orac. 13; fragm. vol. V 764 ff. Wytt.;
Procop. Goth. 4, 20 (mitten im Festlande Libyens die μακάρων νῆσοι:
Herodot 3, 26; im böotischen Theben: Lycophr. 1204 c. Schol). Zum
Lande der Seligen lässt Alexander den Grossen vordringen Pseudocallisth.
2, 39 ff. Es mag manche solche Fabeln gegeben haben, die Lucian Ver.
hist.
2, 6 ff. parodirt, der mit seinen Gefährten ἔτι ζῶντες ἱεροῦ χωρίου
ἐπιβαίνουσιν (2, 10). Man konnte immer hoffen, bei den Antipodes das
Land der Seelen und der Seligen aufzufinden (vgl. Servius Aen. 6, 532);
wie denn bei vordringender Entdeckung der Erde man in Mittelalter
und neuerer Zeit vielfach ein solches Land aufgefunden zu haben ge-
meint hat.
1).
Mém. sur les îles et la course cons. à Achille etc. Mém. de l’acad. de
St. Petersb. 1826, § IV p. 599 ff.). Nur auf einer Verwechslung beruht
es, wenn bisweilen die langgestreckte Düne vor der Mündung des
Borysthenes, Ἀχιλλέως δρόμος genannt, mit Leuke identificirt wird (z. B.
Pomp. Mela 2, 98; Plin. n. h. 4, 93; auch Dion. Perieg. 541 ff.): auch
dort mag man von Epiphanien des Achill erzählt haben (gleichwie auf
anderen gleichbenannten Inseln: Dionysius von Olbia bei Schol. Apoll.
Rh. 2, 658); die Olbiopoliten widmeten dort dem Ἀχιλλεὺς Ποντάρχης
einen Cult. C. I. Gr. 2076. 2077. 2080. 2096 b—f. (I. or. sept. Pont. Eux.
I n. 77—83). Aber dauernden Aufenthalt des Heros kannte man nur
auf Leuke (auch dort ein δρόμος Ἀχιλλέως [Eurip. Iph. T. 422. Hesych.
s. Ἀχίλλ. πλάκα, Arrian § 32]; daher die Verwechslung). Seltsam ist,
dass diese Insel Strabo 7, 306 (der den Ἀχ. δρόμος — dessen schon
Herodot 4, 55 gedenkt — von Leuke völlig unterscheidet: 7, 307 f.) nicht
vor die Mündung des Istros sondern 500 Stadien entfernt von der
Mündung des Tyras (Dniestr) setzt. Denn fest bestimmt war jedenfalls
der Ort, an dem man dem Achill, als an seinem Geisteraufenthalt, Opfer
und Verehrung darbrachte: und dies war eben jene Insel vor der Donau-
mündung (κατὰ τοῦ Ἴστρου τὰς ἐκβολάς Paus. 3, 19, 11), von der Arrian
z. Th. nach Berichten von Augenzeugen erzählt (p. 399, 12 Ml.). Es
war eine unbewohnte, dicht bewaldete, nur von zahlreichen Vögeln be-
lebte Insel, auf der ein Tempel und Standbild des Achill sich vorfand,
darin ein Orakel (Arr. p. 398, 32), jedenfalls (da es ohne menschliche
Dazwischenkunft fungirte) ein Loosorakel, dessen sich die Anlandenden
selbst bedienen konnten. Die Vögel (wohl als Verkörperungen von
Heroen gedacht) reinigen jeden Morgen mit ihren im Meerwasser be-
netzten Flügeln den Tempel (Arrian. p. 398, 18 ff. Philostr. Heroic.
p. 212, 24 ff. Kays. — Ebenso die in Vögel verwandelten Gefährten des
Diomedes auf dessen Geisterinsel: Juba bei Plin. n. h. 10, 127). Ein
anderes Vogelwunder: Plin. n. h. 10, 78. Menschen dürfen auf der Insel
nicht wohnen, aber oft landen Schiffer auf ihr, die dann vor der Nacht
(wo die Geister umgehen) wieder abfahren müssen (dies bei Ammian.
Marcell. 22, 8, 35; Philostr. Heroic. p. 212, 30—213, 6). Der Tempel
zeigte zahlreiche Weihgeschenke, griechische und lateinische Inschriften
(s. I. ant. or. sept. Pont. Eux. I 171. 172); Opfer brachten die Landen-
den dem Achill von den Ziegen die, auf der Insel ausgesetzt, dort wild
lebten. Bisweilen erschien Achill den Besuchern der Insel, andere hörten
ihn den Paean singen. Auch im Traume (falls Einer unbeabsichtigt —
Traumorakel gab es dort nicht — einschlief) zeigte er sich bisweilen.
Schiffern gab er Weisungen. Zuweilen erschien er, wie die Dioskuren,
(als Flamme?) auf der Spitze des Schiffsmastes. (S. Arrian. Peripl. Pont.
Eux.
§ 32—34. Scymn. 790—96. Aus beiden Anon. peripl. pont. eux.
1).
Cicero, von den Entrückungen des Herakles und Romulus redend:
non corpora in caelum elata, non enim natura pateretur — (bei Augustin.
Civ. Dei 22, 4); nur ihre animi remanserunt et aeternitate fruuntur (nat.
d.
2, 62; vgl. 3, 12). In gleichem Sinne spricht von den alten Ent-
rückungsgeschichten (des Aristeas, Kleomedes, der Alkmene und dann
auch des Romulus) Plutarch, Romul. 28; nicht der Leib sei da mit der Seele
zugleich entschwunden, es sei παρὰ τὸ εἰκός, ἐκϑειάζειν τὸ ϑνητὸν τῆς
φύσεως ἅμα τοῖς ϑείοις (vgl. Pelopid. 16 extr.). Vgl. auch den (angeblich
alten) Hymnus des Philostratus auf den entrückten Achill, Heroic.
p. 208, 26 ff., Kays.
2).
Den Cult und die Orakelthätigkeit des Amphiaraos (nur noch zu
1).
§ 64—66. Max. Tyr. diss. 15, 7; p. 281 f. R. Paus. 3, 19, 11. Ammian.
Marcell. 22, 8, 35. Phantastisch, aber mit Benutzung guter Nachrichten
und durchaus im Charakter der ächten Sage — auch in der Geschichte
von der gespenstisch zerrissenen Jungfrau p. 215, 6—30 — ausgeführt
ist der Bericht des Philostratus, Heroïc. p. 211, 17—219, 6 Kays. Auch
die genau in das Jahr 164/3 vor Chr. gelegte Wundererzählung p. 216,
3—219, 6 wird Phil. schwerlich selbst erfunden haben). Nicht ganz
einsam soll Achill dort leben: Patroklos ist bei ihm (Arr. § 32. 34. Max.
Tyr. a. O.), Helena oder Iphigenia ist ihm als Gattin gesellt (s. oben);
auch die beiden Aias und Antilochos trifft (im 6. Jahrh. vor Chr.) Leo-
nymos aus Kroton dort an (Paus. 3, 19, 13; Konon narr. 18). Dionys.
Perieg. (unter Hadrian) 545: κεῖϑι δ̕ Ἀχιλλῆος καὶ ἡρώων φάτις ἄλλων
ψυχὰς εἱλίσσεσϑαι ἐρημαίας ἀνὰ βήσσας (missverständlich übertreibend
Avien descr. orb. 722 ff.). So wird die Insel, wenn auch in beschränkterem
Sinne, zu einer anderen μακάρων νῆσος (insula Achillea, eadem Leuce et
Macaron dicta.
Plin. n. h. 4, 93).
1).
Ἀστακίδην τὸν Κρῆτα, τὸν αἰπόλον, ἥρπασε νύμφη ἐξ ὀρέων καὶ νῦν
ἱερὸς Ἀστακίδης (er ist göttlich, d. h. unsterblich geworden). Kallimach.
epigr. 24. Gleicher Art ist die Sage von Hylas (ἀφανὴς ἐγένετο Ant. Lib.
26), von Bormos bei den Mariandynen (νυμφόληπτος, Hesych. s. Βῶρμον;
ἀφανισϑῆναι, Nymphis fr. 9); auch die Sage von Daphnis; und schon der
Geschichte von Odysseus bei Kalypso, die ihn in ihrer Höhle festhält
und unsterblich und nicht alternd für alle Zeit machen will, liegt eine
solche Nymphensage zu Grunde (selbst der Name der Nymphe bezeich-
net hier ihre Macht, den geliebten Sterblichen zu καλύπτειν, d. i. ἀφανῆ
ποιεῖν). Nur kommt hier, da der Zauber gebrochen wird, die ἀπαϑανάτισις
des Entrückten nicht zur Ausführung. Aehnliche Entrückung in anderen
Sagen von der Liebe einer Nymphe zu einem Jüngling (s. Griech. Roman
109, 1. Sehr altes Beispiel: die νηὶς Ἀβαρβαρέη und Bukolion, der
Sohn des Laomedon: Il. Z 21 ff.). Die Vorstellung, dass eine Entrückung
durch Nymphen ein ewiges Fortleben, nicht den Tod bedeute, blieb lebendig.
Ins. aus Rom (Kaib. ep. lap. 570, 9. 10): τοῖς πάρος οὖν μύϑοις πιστεύετε ·
παῖδα γὰρ ἐσϑλὴν ἥρπασαν ὠς τερπνὴν Ναΐδες, οὐ ϑάνατος. Und n. 571:
Νύμφαι κρηναῖαί με συνήρπασαν ἐκ βιότοιο, καὶ τάχα που τιμῆς εἵνεκα
τοῦτ̕ ἔπαϑον.
2).
Deutlich so von Berenike, der Gemahlin des Ptolemaeos Soter,
Theokrit 17, 46. Aphrodite anredend sagt dieser: σέϑεν δ̕ ἕνεκεν Βερενίκα εὐ-
ειδὴς Ἀχέροντα πολύστονον οὐκ ἐπέρασεν, ἀλλά μιν ἁρπάξασα, πάροιϑ̕ ἐπὶ
νῆα κατενϑεῖν κυανέαν καὶ στυγνὸν ἀεὶ πορϑμῆα καμόντων, ἐς ναὸν κατέϑηκας,
ἑᾶς δ̕ ἀπεδάσσαο τιμᾶς (als ϑεὰ πάρεδρος oder σύνναος. Vgl. Inschr. v.
Pergamon
Nr. 246, 8 ff.). Vgl. Theocr. 15, 106 ff. Sonst wird diese Vorstellung
wohl nicht so bestimmt ausgesprochen (dass die Entrückung eigentlich
Voraussetzung für das Abscheiden des vergötterten Fürsten ist, geht aber
auch aus der von Arrian. Anab. 7, 27, 3 unwillig verworfenen Erzählung
2).
Oropos) und des Trophonios (wie auch des Amphilochos in Kilikien)
kennen und beschreiben als noch bestehend Celsus, Pausanias. Eine In-
schrift aus Lebadea, 1. Hälfte des 3. Jahrh. nach Chr., C. I. Gr. septentr.
1, 3426 nennt eine Priesterin τῆς Ὁμονοίας τῶν Ἑλλήνων παρὰ τῷ
Τροφωνίῳ.
1).
Phaedr. 246 C. D: πλάττομεν — — ϑεόν, ἀϑάνατόν τι ζῷον, ἔχον
μὲν ψυχήν, ἔχον δὲ σῶμα, τὸν ἀεὶ δὲ χρόνον ταῦτα ξυμπεφυκότα. Nach dem
Willen des δημιουργός bleibt (wiewohl an sich τὸ δεϑὲν πᾶν λυτόν: hier-
auf anspielend Klearch bei Athen. 15, 670 B: ὅτι λυτὸν [λύεται die Hs.]
μὲν πᾶν τὸ δεδεμένον) Leib und Seele der Götter stets verbunden; daher
sind sie ἀϑάνατοι. Tim. 41 A/B.
2).
Hasisadra; Henoch: oben p. 72 f. Auch Moses wird ja entrückt
nach späterer Sage, und Elias. (Verschwinden des, nun und eben des-
wegen mit Opfern verehrten Hamilkar nach der Schlacht bei Panormos:
Herodot 7, 166. 167.). — Aegypten: von der ἐξ ἀνϑρώπων μετάστασις, d. i.
Entrückung, des Osiris redet Diodor. 1, 25, 7 (zum Ausdruck vgl.: Κάστωρ
καὶ Πολυδεύκης ἐξ ἀνϑρώπων ἠφανίσϑησαν Isocrat. Archid. 18 u. ä. öfter)
2).
hervor, dass Alexander d. Gr. sich habe in den Euphrat stürzen wollen,
ὡς ἀφανὴς ἐξ ἀνϑρώπων γενόμενος πιστοτέραν τὴν δόξαν παρὰ τοῖς ἔπειτα
ἐγκαταλείποι, ὅτι ἐκ ϑεοῦ τε αὐτῷ ἡ γένεσις καὶ παρὰ ϑεοὺς ἡ ἀποχώρησις.
Völlig der alte Entrückungsgedanke, wie in den Geschichten vom Ende
des Empedokles [s. oben p. 467, 2 Christliche Pamphletisten übertrugen
die Fabel auf Julian und sein Ende). Jedenfalls nach dem Vorgang der
hellenistischen Könige und der an ihren Höfen üblichen Consecrations-
fabeln (sie sterben nicht, sondern μεϑίστανται ἐξ ἀνϑρώπων, μεϑ. εἰς ϑεούς:
Dittenb. Syll. 246, 16; Ins. v. Pergamon 240, 4, Ins. aus Hierapolis bei
Fränkel, Ins. v. Perg. I p. 39 a) haben die römischen Kaiser sich ähn-
liche conventionelle Wundergeschichten gefallen lassen. Die Entrückung
des Gottes, der mit seiner vollen Person in caelum redit, wird als der
Vorgang beim Tode des Kaisers angedeutet auf den Consecrationsmünzen,
die den Verklärten durch einen Genius oder einen Vogel (wie den Adler,
den man aus dem rogus des Kaisers auffliegen liess; Cass. Dio 56, 42, 3;
74, 5, 5. Herodian 4, 2 extr.) in den Himmel getragen zeigen (Marquardt
Röm. Staatsverw. 3, 447, 3). Es fanden sich ja auch Leute, die eidlich
bekräftigten, wie sie die Entrückung des Kaisers, mit Leib und Seele,
in den Himmel selbst gesehen hätten, wie einst Julius Proculus die des
Romulus. So bei August’s Abscheiden (Cass. Dio 56, 46, 2) und bei dem
der Drusilla (id. 59, 11, 4; Seneca ἀποκολοκ. 1). Dies war das officiell
Vorausgesetzte, die einzige Weise in der Götter aus dem Leben scheiden
können.
1).
Erzählungen vom Verschwinden (non comparuit, nusquam appa-
ruit
= ἠφανίσϑη) des Aeneas und Turnus, des Königs Latinus, des Ro-
mulus u. A.: Preller, Röm. Mythol.2 p. 84. 85; 683, 2; 704. (Anchises: Pro-
cop. bell. Goth. 4, 22 extr.).
2).
So wie Caesar, nach Sueton, Jul. 88, in deorum numerum relatus
est non ore modo decernentium, sed et persuasione volgi.
3).
Cass. Dio. 79, 18. — Man möchte annehmen, dass eine Prophe-
zeihung von Wiederkehr des grossen Makedoniers umgelaufen sei und zu
solcher Verwirklichung des Vorausgesetzten den Muth und den Zuschau-
enden den Glauben gegeben habe. So war es ja bei dem falschen Nero
und im Mittelalter beim Auftreten des falschen Friedrich u. s. w. Der
abergläubische Cult des Alexander, gerade damals besonders blühend (vgl.
was von der Familie der Macriani erzählt wird bei Trebell. Polio, XXX
tyr. 14, 4—6), scheint diesen Hintergrund gehabt zu haben. Geradezu für
Avatâras des, in ihnen wieder aufgelebten Alexander haben sich Cara-
calla (Aur. Vict. epit. 21; vgl. Herod. 4, 8; Cass. Dio 77, 7. 8) und Alexander
Severus gehalten (dieser ist, jedenfalls ominis causa, erst bei seiner Er-
hebung zum Caesar Alexander benannt worden, soll am Todestage Ale-
xanders d. Gr. in dessen Tempel geboren sein: Lamprid. Al. Sev. 5, 1
13, 1. 3. 4, verehrte Al. aufs höchste und, heisst es geradezu bei Lampr.
64, 3, se magnum Alexandrum videri volebat).
4).
Die christlichen Erwartungen vom Wiedererscheinen des nur ver-
schwundenen, nicht gestorbenen Nero (als Antichrist) sind bekannt. Sie
begründeten sich aber auf den überall verbreiteten Glauben des Volkes,
den sich die verschiedenen Ψευδονέρωνες, die thatsächlich auftraten, zu-
nutze machten (Suet. Ncr. 57 Tacit. hist. 1, 2; 2, 8, Lucian adv. indoct. 20).
1).
Dies war die der vom Kaiser befohlenen Vergöttlichung des Ant. zu
Grunde liegende Vorstellung, wie aus dem Zusammenhang zu schliessen ist,
in dem Celsus bei Orig. adv. Cels. 3, 36 p. 296 Lomm. hievon redet. Celsus
hatte das Entschwinden des Antinous in unmittelbarem Zusammenhang
mit den Entrückungen des Kleomedes, Amphiaraos, Amphilochos u. A.
(cap. 33. 34) erwähnt. — Hier also Entrückung durch einen Flussgott (wie
sonst durch eine Wassernymphe: p. 663, 1). So verschwindet Aeneas im Fl.
Numicius (Serv. Aen. 12, 794. Schol. Veron. Aen. 1, 259. Dionys. Hal.
ant. 1, 64, 4. Arnob. 1, 36. Vgl. Ovid. Met. 12, 598 ff.; Liv. 1, 2, 6.) So
fabelte man Entrückung in einen Fluss Alexander dem Grossen an: s.
oben p. 663, 2. So verschwindet auch Euthymos in dem Flusse Kaikinas,
(der für seinen wahren Vater galt: Paus. 6, 6, 4): s. oben p. 181, 1.
2).
Philostrat. V. Apoll. 8, 29. 30 (nicht nach Damis, wie Ph. aus-
drücklich sagt; jedenfalls aber nach gläubigen Berichten aus den Reihen
der Anhänger des Ap.: im Thatsächlichen hat Phil. in der ganzen Bio-
graphie nichts selbst erfunden). Ap. stirbt entweder in Ephesos; oder
er verschwindet (ἀφανισϑῆναι) im Athenetempel zu Lindos; oder er ver-
schwindet auf Kreta im Heiligthum der Diktynna und steigt (αὐτῷ σώματι,
wie Eusebius adv. Hierocl. 408, 5 Ks. richtig versteht) zum Himmel. Dies
die bevorzugte Legende. Sein ἀφανισμός bestätigt sich dadurch, dass nir-
gends ein Grab oder Kenotaph des Ap. zu finden ist. Phil. 8, 31 extr.
— Die Nachahmung der Erzählung vom Verschwinden des Empedokles
liegt auf der Hand.
3).
τοῦ Ἀπολλωνίου ἐξ ἀνϑρώπων ἤδη ὄντος, ϑαυμαζομένου δὲ ἐπὶ τῇ
μεταβολῇ καὶ μηδ̕ ἀντιλέξαι ϑαρροῦντος μηδενός, ὡς οὐκ ἀϑάνατος εἴη —
Philostr. 8, 31. Darauf ein Mirakel von einem ungläubigen Thomas, den
Apollonius selbst bekehrt.
1).
Praeexistenz der Seelen, Heimkehr der Seelen der Frommen zu Gott,
Strafen der Unfrommen, durchaus ἀϑανασία aller Seelen als solcher. So
die Weisheit Salomonis. Völlig griechisch, platonisch-stoisch (in der Art
des erneuerten Pythagoreismus) ist die Seelenlehre der Essener, wie sie
Josephus, bell. jud. 2, 8, 11 beschreibt (S. F. Schwally, D. Leben nach
dem Tode nach d. Vorst. d. alten Israël.
u. s. w. [1892] p. 151 ff., 179 ff.)
Platonisches, griechisch Theologisches (V. 104, wo Bergk, Lyr.4 II p. 95
das überlief. ϑεοί sehr richtig gegen Bernays schützt), Stoisches (108)
mischt in unklarer Weise miteinander und mit der jüdischen Auferstehungs-
lehre (103 f.) der jüdische Verfasser der Pseudophokylideischen Verse
(ganz griechisch jedenfalls auch 115: ψυχὴ δ̕ ἀϑάνατος καὶ ἀγήρως ζῇ διὰ
παντός). Vollends in Philo’s Seelenlehre ist alles platonischen und sto-
ischen Anregungen entlehnt.
1).
So, wie es scheint, in Sikyon. Pausan. 2, 7, 2.
1).
Etwa in Ep. (= Epigr. graec. ex lapid. collecta ed. Kaibel) 35 a
(p. 517), dieses aber aus dem 4. Jahrh vor Chr. Spät (in Prosa) I. Gr.
Sic. et It.
1702.
2).
γαῖαν ἔχοις ἐλαφράν Ep. 195, 4 ähnlich 103, 7; 538, 7; 551, 4; 559, 3.
I. Gr. Sic. 329. — Schon Eurip. Alc. 477 ähnlich (s. oben p. 541 Anm.).
1).
Deutlich die Vermischung der Vorstellungen z. B. Ep. 700:
κοῦφον ἔχοις γαίης βάρος εὐσεβίης ἐνὶ χώρῳ, vgl. 222 b, 11. 12. — Das
wahre Motiv solcher Wünsche bei Lucian de luct. 48 angedeutet. Der
Todte zum klagenden Vater: — δέδιας μή σοι ἀποπνιγῶ κατακλεισϑεὶς
ἐν τῷ μνήματι;
2).
Φερσεφόνης ϑάλαμος, ϑάλαμοι. Ep. 35, 4; 50, 2; 201, 4; 231, 2
(„Simonides“, Anthol. Pal. 7, 507. 508). φϑιμένων ἀέναος ϑάλαμος: Ep. 143,
2. δόμος Νυκτός Anth. 7, 232 (man kann die Grabepigramme der Antho-
logie ohne Bedenken neben den Grabschriften der Steine benutzen; sie
sind theils deren Vorbilder, theils den wirklichen Grabinschriften nach-
gebildet, durchaus aber den gebildeteren unter diesen nahe verwandt).
3).
Λήϑης παυσίπονον πόμα Ep. 244, 9. ἤν καταβῇς ἐς πῶμα Λήϑης
261, 20. (Νύξ, λήϑης δῶρα φέρουσ̕ ἐπ̕ ἐμοί 312,) Μοῖραι καὶ Λήϑη με κατ-
ήγαγον εἰς Ἀίδαο. 521 (Anth. VII: Λήϑης δόμοι 25, 6; Λήϑης λιμήν 498;
Λήϑης πέλαγος 711. 716.)
4).
οἱ πλείους die Todten (wie plures lat. Plaut. Trin. 291. Petron 42).
ἐς πλεόνων: in den Hades. Ep. 373, 4; Anth. 7, 731, 6; 11, 42. Schon
Arist. Eccl. 1073: γραῦς ἀνεστηκυῖα παρὰ τῶν πλειόνων. Kallimach. epigr. 5
(Vgl. Boisson. ad Eunap. p. 309.) Noch heute: ̕στοὺς πολλούς. B. Schmidt,
Volksl. der Neugr. 1, 235.
5).
Ep. 266. μὴ μύρου, φίλ̕ ἄνερ, με · καὶ αὐτὸς ἐκεῖ γὰρ ὁδεύσας
εὑρήσεις τὴν σὴν σύγγαμον Ἐυτυχίην. 558, 5 ff. 397, 5. Phrygische Ins.
Papers of the Am. school 3, 305 (n. 427): der Vater an den verst. Sohn:
καὶ πολὺ τερσανέω τότε δάκρυον ἡνίκα σεῖο ψυχὴν ἀϑρήσω γῆν ὑποδυσάμενος.
6).
εἰ δέ τις ἐν φϑιμένοις κρίσις ὡς λόγος ἀμφὶ ϑανόντων Ep. 215, 5. Die
Todte rühmt im Hades vor Rhadamanthys die Pietät ihres Sohnes: 514, 5 f.
(vgl. 559, 3 f.). Auch in Anth. VII selten eine Erwähnung des Gerichts
(596 Agathias).
1).
Scheidung der Todten in zwei Schaaren wird vorausgesetzt, wo
dem Frommen das Wohnen ἐν μακάρεσσιν u. ä. vorausgesagt wird. Deut-
liche Scheidung der zwei oder drei Schaaren der Todten (s. oben p. 513
Anm.) selten auf Grabschriften. Ep. 650, 9 ff. (aber da ist die eine
Schaar ἐπιχϑονίη, die andere im Aether; stoisch). — Eine eigenthümliche
Combination, die drei Classen (im τόπος εὐσ. und ἀσεβῶν im Hades, und
im Aether) voraussetzt, in Epist. Socrat. 27, 1: — τοῦ εἴτε κατὰ γῆν ἐν
εὐσεβῶν χώρῳ ὄντος εἴτε κατ̕ ἄστρα (ὅπερ καὶ μάλα πείϑομαι) Σωκράτους.
— Ebenso Anth. 7, 370 (Diodor.) ἐν Διὸς (d. h. im Himmel) ἢ μακάρων.
2).
In den Grabschriften ist wohl nie von den Strafen der ἀσεβεῖς
die Rede. Auch in Anthol. VII kaum jemals (377, 7 f. Erykios).
3).
ψυχὴ δ̕ ἐς τὸ δίκαιον ἔβη (Ep. 502, 13), d. h. an den nach der
Gerechtigkeit ihr zukommenden Ort.
4).
ναίεις μακάρων νήσους ϑαλίῃ ἐνὶ πολλῇ Ep. 649, 2; 366, 6;
648, 9. νῆσον ἔχεις μακάρων: Ep. 413, 2; 107, 2. Anth. 7, 690, 4. μακά-
ρων πεδίον Ep. 516, 1. 2. Ἠλύσιον πεδίον: Ep. 414, 8. 150, 6. πεδία Ἠλύ-
σια 338, 2. 649, 3. χῶρος ἠλύσιος 618 a, 8. μετ̕ εὐσεβέων ἔσμεν ἐν Ἠλυσίῳ
554, 4. — ναίω δ̕ ἡρώων ἱερὸν δόμον, οὐκ Ἀχέροντος · τοῖον γὰρ βιότου
τέρμα σοφοῖσιν ἔνι: Ep. 228, 7. 8. ἡρώων χῶρον ἔχοις φϑίμενος: 539, 4. Λη-
τογενές, σὺ δὲ παῖδας ἐν ἡρώεσσι φυλάσσοις, εὐσεβέων αἰεὶ χῶρον ἐπερχόμενος:
228 b, 7 (p. 520). ᾤχετ̕ ἐς ἡμιϑέους 669 (σοὶ μὲν ἕδρη ϑείοισι παρ̕ ἀν-
δράσι. Anth. 7, 659, 3).
5).
Schilderung der Lieblichkeit der μακάρων νῆσοι und der elysi-
schen Gefilde, wo οὐδὲ ποϑεινὸς ἀνϑρώπων ἕτι βίοτος: Ep. 649. Anspruchs-
voller in dem Gedicht des Marcellus auf Regilla, die Gattin des Herodes
Atticus: Ep. 1046 (sie ist μεϑ̕ ἡρῴνησιν ἐν μακάρων νήσοισιν, ἵνα Κρόνος
1).
Deutlich z. B. der Ort, wo Rhadamanthys waltet, im Hades: Ep.
452, 18. 19.
2).
Der χῶρος εὐσεβέων deutlich im Innern des Hades: Ep. 237, 3. 4.
Ἀίδεω νυχίοιο μέλας ὑπεδέξατο κόλπος, εὐσεβέων ϑ̕ ὁσίην εὔνασεν ἐς κλισίην:
Ep. 237, 3. 4. Nicht selten werden Elysion und der Ort der εὐσεβέες
identificirt: z. B. Ep. 338: — εὐσεβέες δὲ ψυχὴν (scil. ἔχουσι) καὶ πεδίων
τέρμονες Ἠλυσίων. τοῦτο σαοφροσύνης ἔλαχον γέρας, ἀμβροσίην δὲ (die Un-
sterblichkeit ihrer Seele) σώματος ὑβριστὴς οὐκ ἐπάτησε χρόνος. ἀλλἀ νέη
νύμφῃσι (so der Stein: Athen. Mittheil. 4, 17) μετ̕ εὐσεβέεσσι κάϑηται.
— Wenn es ein Gericht im Hades giebt, οἰκήσεις εἰς δόμον εὐσεβέων: Ep.
215, 5. 6. Kore führt den Todten χῶρον ἐπ̕ εὐσεβέων 218, 15. 16. κἀστὶν
ἐν εὐσεβέων ἣν διὰ σωροσύνην 569, 12. εὐσεβέων χῶρος: 296. εὐσ. δόμος
222, 7. 8 εὐσεβἑων ναίοις ἱερὸν δόμον —: I. or. sept. Pont. Eux. 2, 298,
11. ψυχὴ δ̕ εὐσεβέων οἴχεται εἰς ϑάλαμον Ep. 90 (C. I. A. 2, 3004). εὐσ. εἰς
ἱεροὺς ϑαλάμους 222, b, 12. εὐσ. ἐν σκιεροῖς ϑαλάμοις 253, 6. ἐσϑλὰ δὲ
ναίω δώματα Φερσεφόνας χώρῳ ἐν εὐσεβέων 189, 5. 6. μετ̕ εὐσεβέεσσι κεῖσ-
ϑαι, ἄντ̕ ἀρετῆς 259. ϑῆκ̕ Ἀίδης ἐς μυχὸν εὐσεβέων 241 a, 18. εὐσεβίης
δὲ εἵνεκεν εὐσεβέων χῶρον ἔβη φϑίμενος: Ath. Mittheil. 11, 427. (bei Ko-
lophon). Späte Ins. Rom, I. Gr. Sic. et It. 1660: die Frau vom verst.
Manne: περὶ οὗ δέομαι τοὺς καταχϑονίους ϑεοὺς, τὴν ψυχὴν εἰς τοὺς εὐσε-
βέας κατατάξαι.
3).
Der χῶρος μακάρων im Himmel: ψυχὴ δ̕ ἀϑανάτων βουλαῖς ἐπι-
δήμιός ἐστιν ἄστροις καὶ ἱερὸν χῶρον ἔχει μακάρων: Ep. 324. 3. 4. καὶ ναί-
εις μακάρων νήσους — αἰγαῖς ἐν καϑαραῖσιν, Ὀλύμπου πλησίον ὄντως: 649,
2. 8. Das ἠλύσιον πεδίον ausserhalb der φϑιμένων δόμοι: 414, 8. 6.
5).
ἐμβασιλεύει [8. 9]; dorthin, ἐς ὠκέανον, hat sie Zeus mit sanften Winden
entsendet: 21 ff. Jetzt ist sie οὐ ϑνητή, ἀτὰρ οὐδὲ ϑέαινα, sondern eine
Heroine: 42 ff. In dem χορὸς προτεράων ἡμιϑεάων ist sie eine ὀπάων
νύμφη der Persephone: 51 ff.)
1).
ψυχὴ πρὸς Ὄλυμπον ἀνήλλατο. Ep. 646 a, 3. ψυχὴ δ̕ ἐν Ὀλύμ-
πῳ 159. 261, 11. ἦλϑεν δ̕ εἰς Ἀίδαο δέμας, ψυχὴ δ̕ ἐς Ὄλυμπον Anth. 7,
362, 3. (Ἄιδης hier = Grab, wie oft. Und ebenso Ep. 288, 45: ψυχὴ-
εἰς αἰϑέρα-ὀστέα εἰς Ἀίδην ἄτροπος εἷλε νόμος) μετὰ πότμον ὁρῶ φάος Οὐ-
λύμποιο Anth. 7, 678, 5. — ψυχὴν δ̕ ἐκ μελέων οὐρανὸς εὐρὺς ἔχει: Ep.
104, 6. ἦτορ δ̕ οὐρανῷ μετάρσιον 462, 6. ψυχή μοι ναίει δώματ̕ ἐπουράνια
261, 10 (und in ähnlichen Wendungen noch mehrmals in diesem Gedicht).
ἐς οὐρανίας ἀταρποὺς ψυχὴ παπταίνει σῶμ̕ ἀποδυσαμένη Anthol. 7. 737, 7.
Vgl. noch Anthol. VII 363, 3; 587, 2; 672, 1; IX 207. 208 — αἰϑὴρ
μὲν ψυχὰς ὑπεδέξατο Ep. 21. (5. Jahrh. vor Chr. S. oben p. 549 f.) Εὐρυ-
μάχου ψυχὴν καὶ ὑπερφιάλους διανοίας αἰϑὴρ ὑγρὸς ἔχει 41. (4. Jahrh. vor
Chr. Der Aether ist nicht „feucht“: αἰϑὴρ λαμπρὸς ἔχει ursprünglichere
Schreibung in dem entspr. Epigramm des Πέπλος. ὑγρός wäre der ἀήρ:
τὴν ψυχὴν ἀπέδωκεν ἐς ἀέρα Ep. 642. 7) ψυχὴ μὲν ἐς αἰϑέρα καὶ Διὸς
αὐλάς 288, 4. ψυχὴ δ̕ αἰϑέριον κατέχει πόλον 225, 3. ἐς αἴϑρην ψυχὴ ἔβη
ἐμέϑεν 325, 6. — ψυχὴ δ̕ ἀϑανάτων βουλαῖς ἐπιδήμιός ἐστιν ἄστροιςEp. 324, 3.
Aus Thyatira (Bull. corr. hell. 1887 p. 461): ϑάψεν δ̕ ἀδελφὸς Ἀρχέλαος
σῶμ̕ ἐμόν, ψυχὰ δέ μευ πρὸς ἄστρα καὶ ϑεοὺς ΕΣΙ (schr. ἔβη). Die eine
Schaar der Seelen τείρεσσι σύν αἰϑερίοισι χορεύει · ἧς στρατιῆς εἷς εἰμι
Ep. 650, 11, 12. (Diogenes) νῦν δὲ ϑανὼν ἀστέρας οἶκον ἔχει. Anthol. 7, 64, 4.
2).
ψυχὴ δ̕ ἐκ ῥεϑέων πταμένη μετὰ δαίμονας ἄλλους ἤλυϑε σή, ναίεις
δ̕ ἐν μακάρων δαπέδῳ Ep. 243, 5. 6. καί με ϑεῶν μακάρων κατέχει δόμος
ἇσσον ἰόντα, οὐρανίοις τε δόμοισι βλέπω φάος Ἠριγενείης 312, 6. — τὴν
σύνετον ψυχὴν μακάρων εἰς ἀέρα δοῦσα, πρόσϑεν μὲν ϑνητή, νῦν δὲ ϑεῶν
μέτοχος 654, 4. 5. — ἀλλὰ νῦν εἰς τοὺς ϑεούς I. Gr. Sic. et It. 1420. ὡς
δὲ φύσις μιν ἔλυσεν ἀπὸ χϑονός, ἀϑάνατοι μὲν αὐτὸν ἔχουσι ϑεοί, σῶμα δὲ
σηκὸς ὅδε Anth. 7, 61, 2; 570; 673, 3. 4.
3).
S. oben p. 549 ff.
4).
S. p. 609 ff. πνεῦμα: Ep. 250, 6. 613, 6: πνεῦμα λαβὼν δάνος οὐρα-
νόϑεν τελέσας χρόνον ἀνταπέδωκα. (πνεῦμα γάρ ἐστι ϑεοῦ χρῆσις ϑνητοῖσι
Pseudophocyl. 106). 156, 2: πνοιὴν αἰϑὴρ ἔλαβεν πάλιν, ὅςπερ ἔδωκεν.
(3. Jahrh. vor Chr. Köhler C. I. A. 2, 4135). — In theologisirender
Poesie später Zeit begegnet mehrfach diese populär gewordene Vorstel-
1).
ψυχὴν δ̕ ἀϑάνατον κοινὸς ἔχει ταμίας Ep. 35, 6 (C. I. A. 2, 3620.
4. Jh. vor Chr.). I. Gr. Sic. et It. 940, 3. 4: ἀϑανάτη ψυχὴ μὲν ἐν αἰϑέρι
καὶ Διὸς αὐγαῖς πωτᾶται. — ibid. 942: — ἐνϑάδε κεῖμαι, οὐχὶ ϑανών·
ϑνήσκειν μὴ λέγε τοὺς ἀγαϑούς (nach Kallimach. epigr. 11: τᾷδε Σάων —
ἱερὸν ὕπνον κοιμᾶται. ϑνάσκειν μὴ λέγε τοὺς ἀγαϑούς). — οὐκ ἔϑανες,
Πρώτη, μετέβης δ̕ἐς ἀμείνονα χῶρον — 649.
2).
Der volle Sinn dieses Ausdruckes noch (wie bei Kallim. ep. 11).
Ep. 559, 7: λέγε Ποπιλίην εὕδειν, ἄνερ· οὐ ϑεμιτὸν γὰρ ϑνήσκειν τοὺς
ἀγαϑούς, ἀλλ̕ ὕπνον ἡδὺν ἔχειν. Oefter als herkömmliche Redewendung:
433; 101, 4; 202, 1; 204, 7; σ̕ ἐκοίμισεν ὕπνος ὁ λήϑης 223, 3; 502, 2,
Anthol. 7, 29, 1; 30, 2; 260.
3).
Ep. 651: ϑνητὸν σῶμα — τὸ δ̕ἀϑάνατον ἐς μακάρων ἀνόρουσε κέαρ ·
ψυχὴ γὰρ ἀείζως ἣ τὸ ζῆν παρέχει καὶ ϑεόφιν κατέβη. — σῶμα χιτὼν ψυχῆς
(vgl. Empedocl. 414: σαρκῶν περιστέλλουσα χιτῶνι, scil. τὴν ψυχήν) · τὸν δέ
ϑεὸν σέβε μου (den Gott in mir, meine ψυχή). 261, 6: τὴν ψυχὴν δ̕ ἀϑα-
νάτην ἔλαχον. ἐν γαίῃ μὲν σῶμα τὸ συγγενές, οὐράνιος δὲ ἤλυϑεν ἡ ψυχὴ
δῶμα κατ̕ οὐ φϑίμενον κτλ. Vgl. 320, 6 ff.—594 (späte Grabschrift eines
philosophirenden Arztes; bei Rom gefunden) V. 7 ff.: οὐδ̕ ἄρα ϑνητὸς
ἔην, ὑπ̕ ἀνάγκης δ̕ ὑψιμέδοντος τύμβῳ εἰναλέῳ πεπεδημένος ἤνυσεν οἶμον.
ἐκ ῥεϑέων δ̕ἄμα στείχων σεμνὸν ἔβη Διὸς οἶκον. Versteht man τύμβῳ vom
wirklichen Grabe, so ergiebt sich kein verständlicher Sinn, wie man auch
das εἰναλέῳ ändere oder deute (εἰναλίῳ Franz, σιγαλέῳ Jacobs). Der
Poet will sagen: Der Verstorbene war (seinem Wesen, seiner Seele nach)
ein Unsterblicher, nur durch Götterschluss war er (seine Seele) an den
4).
lung. Z. B. χρησμός bei Stob. ecl. 1, 49, 46, I p. 414 W.: τὸ μὲν (τὸ
σῶμα) λυϑέν ἐστι κόνις, ψυχὴ δὲ πρὸς αἴϑρην σκίδναται, ὁππόϑεν ἦλϑε,
μετήορος εἰς αἰϑέρ̕ ἁπλοῦν (schr.: αἰϑέρ̕ ἐς ἁγνόν). Orakel des Apoll.
Tyan. bei Philostr. V. Ap. 8, 31: ἀϑάνατος ψυχὴ — μετὰ σῶμα μαρανϑέν
— ῥηιδίως προϑοροῦσα κεράννυται ἠέρι κούφῃ.
1).
Höchstens einmal: εἰ πάλιν ἔστι γενέσϑαι — —, εἰ δ̕οὐκ ἔστιν πάλιν
ἐλϑεῖν — Ep. 304. (Vgl. oben p. 546, 1).
2).
Die p. 674, 3 angeführten Stücke enthalten zwar theologisirende
aber nirgends speciell Platonische Meinungen oder Lehren. — In den
zahlreichen Stücken, die von einem Aufsteigen der Seele in den Aether,
zu den Sternen u. s. w. reden (oben p. 673, 1. 2.) Platonisirende Ansichten
zu erkennen (mit Lehrs., Popul. Aufs.2 p. 339 f.), ist kein Grund. Zwar
Alexis der Komiker (Mein. Com. 3, 455) fragt, ob nicht die Meinung,
dass der Leib nach dem Tode verwese, τὸ δ̕ ἀϑάνατον ἐξῆρε πρὸς τὸν ἀέρα,
Platonische Lehre sei: ταῦτ̕ οὐ σχολὴ Πλάτωνος; Aber er nennt eben
Platonisch jene seit langem und schon vor Platos Auftreten in Athen
populär gewordene Vorstellung vom Aufsteigen der Seele des Todten in
die oberen Regionen, ohne wirkliche Kenntniss von Plato’s Lehre zu
haben. In Wirklichkeit hat diese ja an jene verbreitete Meinung nicht
mehr als den vagsten Anklang und bildete und erhielt jene sich ohne
jeden Einfluss des Plato und seiner Schule.
3).
Ep. 650, 12: Zu der Schaar der Seligen, die τείρεσει σὺν αἰϑερίοισι
χορεύει, gehöre ich λαχὼν ϑεὸν ἡγεμονῆα. Die Schlussworte müssen auf
ein besonderes Pietätsverhältniss zu einem Gotte hinweisen sollen. Man
vgl. die Verheissung eines ägyptischen Zauberbuches bei Parthey, Abh.
d. Berl. Akad.
1865 p. 125, Z. 178 ff.: der herangezauberte Geist wird,
wenn du gestorben bist, σοῦ τὸ πνεῦμα βαστάξας εἰς ἀέρα ἄξει σὺν αὑτῷ,
εἰς γὰρ ᾅδην οὐ χωρήσει ἀέριον πνεῦμα συσταϑὲν (d. h. empfohlen)
3).
Leib gefesselt und vollendete im Leibe seinen Lauf, nach dessen Ende
er alsbald (wieder) in das Götterreich aufstieg. Also τύμβῳ εἰν ἀλαῷ
πεπεδημένος: gebannt in das „dunkle Grab“ des Leibes. σῶμα — σῆμα.
— 603: Der hier Begrabene ϑνητοῖς ψυχὴν πείσας ἐπὶ σώμασιν ἐλϑεῖν τὴν
αὑτοῦ, μέλεος, οὐκ ἀνέπεισε μένειν. Das soll heissen: er hat seine (vorher
körperlos lebende) Seele überredet, in das Reich der sterblichen Leiber
einzugehn (einen Leib zu bewohnen), konnte sie aber nicht überreden,
lange dort, in diesem irdischen Leben, auszuharren.
1).
Hermes der Geleitsmann der Seelen als ἄγγελος Φερσεφόνης: Ep.
575, 1. Hermes bringt die Seele zum Eubuleus und der Persephone: Ep.
272, 9 f. Er geleitet die Seele zum μακάρων ἠλύσιον πεδίον: 414, 9; 411,
zur Insel der Seeligen: 107, 2. Er führt sie an der Hand in den Himmel,
zu den seligen Göttern: 312, 8 ff
2).
Ep. 218, 15: ἀλλὰ σὺ, παμβασίλεια ϑεά, πολυώνυμε κούρα, τήνδ̕ ἄγ̕
ἐπ̕ εὐσεβέων χῶρον, ἔχουσα χερός. 452, 17 ff.: den Todten, seine Kinder,
seine Gattin δέχεο ἐς Ἅιδου (nicht Alle lässt der Hades zu; der Todte
betet: οἳ στύγιον χῶρον ὑποναίετε δαίμονες ἐσϑλοί, δέξασϑ̕ εἰς Ἀίδην κἀμὲ
τὸν οἰκτρότατον 624), πότνια νύμφη, καὶ ψυχὰς προὔπεμπε, ἵνα ξανϑὸς
Ῥαδάμανϑυς. Mit der Aufnahme und Geleitung durch die Gottheit selbst
soll jedenfalls noch eine besondere Gnade bezeichnet werden. Zum
Aufenthalt der εὐσεβεῖς gelangt, die vor allen Göttern der Persephone er-
geben war: I. Gr. Sic. et It. 1561. Auch Zeus geleitet die Seele. Ep.
511, 1: ἀντί σε κυδαλίμας ἀρετᾶς, πολυήρατε κοῦρε, ἦξεν ἐς Ἠλύσιον αὐτὸς
ἄναξ Κρονίδης (ϑεός: 516, 1. 2). — Griechischer Dichtung offenbar nach-
bildend sagt Tibull 1, 3, 58: Sed me, quod facilis tenero sum semper Amori,
Ipsa Venus campos ducet ad Elysios
(warum Venus, sagt der Dichter ja
selbst: sie hat er vor anderen verehrt. An eine Venus Libitinia ist nicht
zu denken). Phlegon, mirab. 3 p. 130, 16 ff. West. Φοῖβος Ἀπόλλων
Πύϑιος — μοι ἑὸν κρατερὸν ϑεράποντ̕ (den dämonischen Wolf) ἐπιπέμψας
ἤγαγεν εἰς μακάρων τε δόμους καὶ Περσεφονείης.
3).
κραταιῷ παρέδρῳ. Plato, Phaed. 107 D. ff.: Die Seele des Todten ge-
leitet der δαίμων ὅςπερ ζῶντα εἰλήχει zur Gerichtsstätte; von da geht sie
εἰς ᾅδου μετὰ ἡγεμόνος ἐκείνου ᾧ δὴ προστέτακται τοὺς ἐνϑένδε ἐκεῖσε
πορεῦσαι. Nachher noch ein ἄλλος ἡγεμών, der sie, scheint es, wieder
nach oben geleitet. Seligen Wohnsitz findet ἡ καϑαρῶς τε παὶ μετρίως
τὸν βίον διεξελϑοῦσα καὶ ξυνεμπόρων καὶ ἡγεμόνων ϑεῶν τυχοῦσα.
(108 C.). Aehnlich auf dem Grabmal der Vibia (in den Katakomben des
Praetextatus bei Rom): Mercurius nuntius führt sie (und Alcestis) vor
Dispater und Aeracura zum Gericht; darnach führt sie noch ein beson-
derer bonus angelus zum Mahl der Seligen (C. I. Lat. VI 142). Christ-
liches ist hierin so wenig, wie in dem ganzen Monument und seinen Bei-
schriften („Engel“ hatte heidnischer Glaube und Philosophie ja längst aus
jüdischer Religion angenommen). Ausser der Analogie der eben an-
geführten Platonischen Stelle kann noch verglichen werden, was Lucian,
Philops. 25 von dem νεανίας πάγκαλος erzählt, der die Seele in die Unter-
welt geleitet (οἱ ἀγαγόντες αὐτόν unbestimmter in der parallelen Erzählung
des Plutarch, bei Euseb. praep. ev. 11, 36 p. 563 D.).
1).
Isidote, Hierophantis in Eleusis (Enkelin des berühmten Sophi-
sten Isaios) nennt ihre Grabschrift (Ἐφημ. ἀρχαιολ. 1885 p. 149), v. 8 ff.:
ἔξοχον ἔν τ̕ ἀρεταῖς ἔν τε σαοφροσύναις · ἣν καὶ ἀμειβομένη Δηὼ μακάρων
ἐπὶ νήσσους ἤγαγε, παντοίης ἐκτὸς ἐπωδυνίης. (v. 20: ἣν καὶ Δημήτηρ
ὤπασεν ἀϑανάτοις).
2).
Durch ihren schönen Tod zeigte die Gottheit, ὡς ἄμεινον εἴη
ἀνϑρώπῳ τεϑνάναι μᾶλλον ἢ ζώειν, Herodot. 1, 31 ([Plat.] Axioch. 367 C.
Cic. Tuscul. 1, 113. Plut. cons. ad Apoll. 108 E. vgl. Ammian. Marcell.
25, 3, 15). — Die Grabschrift der Isidote erinnert an die Sage, v. 11:
δῶκε (Demeter) δὲ οἱ ϑάνατον γλυκερώτερον ἡδέος ὕπνου, πάγχυ καὶ Ἀργείων
φέρτερον ἠϊϑέων.
3).
Γηραλέην ψυχὴν ἐπ̕ ἀκμαίῳ σώματι Γλαῦκος καὶ κάλλει κεράσας
κρείττονα σωφροσύνην, ὄργια πᾶσιν ἔφαινε βροτοῖς φαεσίμβροτα Δηοῦς εἰναετές,
δεκάτῳ δ̕ ἦλϑε παρ̕ ἀϑανάτους. ἦ καλὸν ἐκ μακάρων μυστήριον, οὐ μόνον
εἶναι τὸν ϑάνατον ϑνητοῖς οὐ κακόν, ἀλλ̕ ἀγαϑόν. (Ἐφημ. ἀρχαιολ. 1883
p. 81. 82. 3. Jahrh. nach Chr.)
4).
Phrasenhaft [Dionys.] art. rhet. 6, 5: ἐπὶ τέλει (der Leichenrede)
περὶ ψυχῆς ἀναγκαῖον εἰπεῖν, ὅτι ἀϑάνατος, καὶ ὅτι τοὺς τοιούτους, ἐν ϑεοῖς
ὄντας, ἄμεινον ἴσως ἀπαλλάττειν.
5).
— τὸν ἀϑάνατοι φιλέεσκον · τοὔνεκα καὶ πηγαῖς λοῦσαν ἐν ἀνϑανάτοις
1).
εὐψύχει κυρία καὶ δοίη σοι ὁ Ὄσιρις τὸ ψυχρὸν ὕδωρ I. Gr. Sic. et It.
1488; 1705; 1782. Revue archéol. 1887 p. 201. (Einmal auch der Vers:
σοὶ δὲ Ὀσείριδος ἁγνὸν ὕδωρ Εἶσις χαρίσαιτο. Ins. a. Alexandria, Revue
archéol. 1887 p. 199). εὐψύχει μετὰ τοῦ Ὀσείριδος I. Sic. 2098. Der Todte ist
bei Osiris: Ep. 414, 5 f. Osiris als Herr im Reiche der Seligen: Defixio
aus Rom, I. Sic. et It. 1407: ὁ μέγας Ὄσειρις ὁ ἔχων τὴν κατεξουσίαν καὶ
τὸ βασίλειον τῶν νερτέρων ϑεῶν. — Es scheint, dass die Sage vom Mnemo-
synequell und seinem kalten Wasser von Griechen selbständig entwickelt
worden und erst nachträglich mit analogen ägyptischen Vorstellungen ver-
mischt oder in Parallele gebracht worden ist (nicht aber, wie z. B. Böttiger
Kl. Schr. 3, 263 annimmt, die ganze Vorstellung von vorneherein und
ausschliesslich ägyptisch und aus Aegypten importirt war). Aegyptische
Todtenbücher reden oft von dem frischen Wasser, das der Todte geniesse
(Maspero, Études de mythol. et d’archéol ég. [1893] 1, 366 f.) auch von
5).
(man erinnert sich der ἀϑάνατος πηγή, aus der Glaukos die ἀϑανασία
schöpfte: Schol. Plat. Rep. 10, 611 C.), καὶ μακάρων νήσους βάλλον ἐς
ἀϑανάτων Ep. 366, 4 ff. Es giebt im Hades eine Quelle der Lethe
(links) und eine Quelle der Mnemosyne (rechts), der kaltes Wasser (v. 5)
entströmt: aus ihr werden die Wächter der flehenden Seele zu trinken
geben καὶ τότ̕ ἔπειτ̕ ἄλλοισι μεϑ̕ ἡρώεσσιν ἀνάξει: Grabtäfelchen aus Petelia
(etwa aus dem 3. Jahrh. vor Chr.), I. Gr. Sic. et It 638 (Ep. 1037).
Verstümmelte Copie desselben Originals aus Eleuthernai auf Kreta: Bull
corr. hell.
1893 p. 122. Vgl. oben p. 513 Anm. Dies ist also das „Wasser
des Lebens“ (Grimm Märchen 97), von dem offenbar auch Psyche eigent-
lich der Venus bringen soll (Apul. met. 6, 13. 14. Ap. versteht frei-
lich einfach das Styxwasser darunter: aber wozu wäre das dienlich?).
Wunsch: ψυχρὸν ὕδωρ δοίη σοι ἄναξ ἐνέρων Ἀϊδωνεύς Ep. 658. ψυχῇ
διψώσῃ ψυχρὸν ὕδωρ μεταδός 719, 11. Dessen Sinn ist: mögest du in
vollem Bewusstsein weiterleben (der Todte wohnt ἅμα παισὶ ϑεῶν, καί
λήϑης οὐκ ἔπιεν λιβάδα 414, 10. οὐκ ἔπιον Λήϑης Ἀϊδωνίδος ἔσχατον
ὕδωρ, so dass ich noch verstehen kann, was die Nachgebliebenen um
mich klagen 204, 11. καὶ ϑνήσκων γὰρ ἔχω νόον οὔτινα βαιόν. 334, 5.
— Dichterisch spielend Anthol. 7, 346: σὺ δ̕ εἰ ϑέμις, ἐν φϑιμένοισι τοῦ
Λήϑης ἐπ̕ ἐμοὶ μή τι πίῃςὕδατος. — Vielleicht schon bei Pindar Aehn-
liches: s. oben p. 501, 2).
1).
Auf Sarkophagen in Isaurien Löwen als Deckel eines Sarko-
phags abgebildet, dabei Inschriften des Inhalts: ὁ δεῖνα ζῶν καὶ φρονῶν
ἀνέϑηκεν ἑαυτὸν λέοντα καὶ τὴν γυναῖκα αὐτοῦ προτέραν u. ä. Ein an-
deres Mal auf einem Sarkophag: Λούκιος ἀνέστησε (drei Namen) καὶ ἑαυ-
τὸν ἀετὸν
καὶ Ἄμμουκιν Βαβόου τὸν πατέρα ἀετὸν τειμῆς χάριν (Papers
of the American school of class. stud. at Athens
III p. 26. 91. 92). Diese
Ausdrücke (die auf ganz etwas anderes hinweisen, als auf das, sonst ja
nicht seltene Aufstellen von Löwen- oder Adlerbildern auf Gräbern) weiss
ich nicht anders zu verstehn, als dass die Verstorbenen sich selbst und
die von ihren Angehörigen Genannten (und nicht nur irgend welche sym-
bolische Bildwerke) aufstellten in der Gestalt, die sie in den Mithras-
mysterien gewonnen hatten, in denen Löwen und Löwinnen den 4. Grad
einnehmen, ἀετοί (oder ἱέρακες) den siebenten (Porphyr. de abst. 4, 16);
diese sonst auch πατέρες genannt.
2).
Die Seele des verstorbenen (wie es scheint — nach v. 1. 2. 6 ff.
— durch Blitzstrahl umgekommenen und also zu höherem Dasein ent-
rafften [s. oben p. 133. 510, 2]) Sohnes erscheint Nachts der Mutter, so be-
stätigend ihre eigene Aussage: οὐκ ἤμην βροτός: Ep. 320. Die Seele der
ἄωρος und ἀϑαλάμευτος verstorbenen Tochter erscheint den Eltern am
neunten Tage (v. 35) nach dem Tode: 372, 31 ff. (am 9. Tage ist die Zeit der
1).
dem aus dem Nil zu schöpfenden, dem Todten die Jugend erhaltenden
Wasser (Maspero: Notices et Extraits 24 [1883] p. 99. 100). Die For-
mel: möge dir Osiris das kalte Wasser (des ewigen Lebens) geben, scheint
aber auf original ägyptischen Monumenten nicht vorzukommen. Sie ist
doch wohl von ägyptischen Griechen ihrer eigenen älteren, original griechi-
schen Formel nachgebildet. — Auf christlichen Grabschriften öfter die
Formel: spiritum tuum dominus (oder deus Christus, oder auch ein heiliger
Martyr) refrigeret (Kraus, Realencykl. d. christl. Alterthümer s. refrigerium).
Das ist doch wohl (wie schon mehrfach vermuthet worden ist) Nachbil-
dung der heidnischen Formel, wie so vieles in altchristlichem Begräbniss-
wesen.
1).
ψυχὴ δὲ — sagt der Sohn und Schüler zu dem verstorbenen
Arzte Philadelphos, Ep. 243, 5 ff. — ἐκ ῥεϑέων πταμένη μετὰ δαίμονας
ἄλλους ἤλυϑε σή, ναίεις δ̕ ἐν μακάρων δαπέδῳ. ἵλαϑι καί μοι ὄπαζε νόσων
ἄκος, ὡς τὸ πάροιϑεν, νῦν γὰρ ϑειοτέρην μοῖραν ἔχεις βιότου.
2).
Auffallend die Vereinigung hochgesteigerter Hoffnungen mit
völliger Ungläubigkeit auf Einem Steine: Ep. 261.
3).
εἴ γέ τι ἔστι (ἐστέ?) κάτω C. I. Gr. 6442. — κατὰ γῆς εἴπερ χρη-
στοῖς γέρας ἐστίν: Ep. 48, 6; 61, 3. εἰ γ̕ ἐν φϑιμένοισί τις αἴσϑησις, τέκνον,
2).
ersten Todtenopfer zu Ende: oben p. 213. „Wiedererscheinen eines
Verblichenen findet gewöhnlich am neunten Tage nach dem Tode statt“:
deutscher Aberglaube bei Grimm D. Mythol.4 III p. 465 N. 856).
Bedeutungsvoll ist, dass die Erscheinende unvermählt gestorben ist. Die
ἄγαμοι wie die ἄωροι kommen nach dem Tode nicht zur Ruhe (s. oben
p. 373, 1); die Seele einer unvermählt gestorbenen Jungfrau spricht es
geradezu aus, dass ihresgleichen vorzugsweise noch Träumenden erscheinen
können: ἠιϑέοις γὰρ ἔδωκε ϑεὸς μετὰ μοῖραν ὀλέϑρου ὡς ζώουσι λαλεῖν
πᾶσιν ἐπχϑονίοις: Ep. 325, 7. 8. — Allgemeiner freilich 522, 12. 13:
σώματα γὰρ κατέλυσε Δίκη, ψυχὴ δὲ προπᾶσα ἀϑάνατος δι̕ ὅλου (so der
Stein: Athen. Mittheil. 14, 193) πωτωμένη παντ̕ ἐπακούει (vgl. Eurip. Orest.
667 ff.).
1).
Kallimach. epigr. 15. Ep. 646. 646 a (p. XV.) 372, 1 ff.
2).
ἡμεῖς δὲ πάντες οἱ κάτω τεϑνηκότες ὀστέα, τέφρα γεγόναμεν, ἄλλο
δ̕οὐδὲ ἕν Ep. 646, 5 f. vgl. 298, 3. 4. ἐκ γαίας βλαστὼν γαῖα πάλιν γέγονα
75 (3. Jahrh. vor Chr.). Vgl. 438. 311, 5: τοῦϑ̕ ὅ ποτ̕ ὤν (ich, der ich
einst lebendig war, bin geworden zu diesem, nämlich —) στήλη, τύμβος,
λίϑος, εἰκών. 513, 2 κεῖμαι ἀναίσϑητος ὥσπερ λίϑος (vgl. Theognis 567 f.) ἠὲ
σίδηρος. 551, 3: κεῖται λίϑος ὥς, ἡ πάνσοφος, ἡ περίβωτος.
3).
Ἕστηκεν μὲν Ἕρως (wohl auf dem Grabmal) εὕδων ὕπνον, ἐν
φϑιμένοις δὲ οὐ πόϑος, οὐ φιλότης ἔστι κατοιχομένοις. ἀλλ̕ ὁ ϑανὼν κεῖται
πεδίῳ λίϑος οἷα πεπηγώς, εἰχώρων ἁπαλῶν σάρκας ἀποσκεδάσας — ἐξ ὕδατος
καὶ γῆς καὶ πνεύματος (hier offenbar nicht im stoischen Sinn, sondern
einfach = ἀὴρ) ἦα πάροιϑεν· ἀλλὰ ϑανὼν κεῖμαι πᾶσι (allen Elementen)
τὰ πάντ̕ ἀποδούς. πᾶσιν τοῦτο μένει · τί δὲ τὸ πλέον; ὁππόϑεν ἦλϑεν, εἰς τοῦτ̕
αὖτ̕ ἐλύϑη σῶμα μαραινόμενον · (Ins. in Bukarest; Gomperz, Archäol.
epigraph. Mitth. a. Oest. 6, 30).
4).
πνεῦμα λαβὼν δάνος οὐρανόϑεν τελέσας χρόνον ἀνταπέδωκα Ep. 613, 6
(Populärphilosophischer Gemeinplatz: das Leben ist dem Menschen nur
leihweise gegeben. S. Wyttenbach zu Plut. consol. ad Apoll. 106 F;
Upton zu Epictet. diss. 1, 1, 32 Schw.).
5).
Grabschrift aus Amorgos (Athen. Mittheil. 1891 p. 176) schliessend:
τὸ τέλος ἀπέδωκα.
6).
δαίμων ὁ πικρὸς κτλ. Ep. 127, 3 (vgl. 59) ἀστόργου μοῖρα κίχεν
ϑανάτου 146, 3. δισσὰ δὲ τέκνα λιποῦσαν ὁ παντοβάρης λάβε μ̕ Ἅιδης,
ἄκριτον ἄστοργον ϑηρὸς ἔχων κραδίην (Tyrrheion in Akarnanien, Bull. corr.
hell.
1886 p. 178).
3).
ἐστίν —: Ep. 700, 4. εἰ δέ τίς ἐστι νόος παρὰ Ταρτάρῳ ἢ παρὰ Λήϑῃ —:
722, 5. εἰ γένος εὐσεβέων ζώει μετὰ τέρμα βίοιο: Anthol. 7, 673. — Vgl.
oben p. 494, 2.
1).
παύσασϑαι δεινοῦ πένϑους δεινοῦ τε κυδοιμοῦ · οὐδὲν γὰρ πλέον (ΠΑϹΙΝ
angeblich der Stein) ἐστι, ϑανόντα γὰρ οὐδένα (schr. οὐδὲν) ἐγείρει κτλ. Ins.
aus Larisa, Athen. Mittheil. 11, 451. εἰ δ̕ ἦν τοὺς ἀγαϑοὺς ἀνάγειν πάλιν
— Ins. aus Pherae, Bull. corr. hell. 1889 p. 404.
2).
οὐ κακός ἐστ̕ Ἀίδης. Trost mit dem allgemeinen Loose. Ep.
256, 9. 10; 282; 292, 6; 298.
3).
εὐψύχει, τέκνον, οὐδεὶς ἀϑάνατος. I. Gr. Sic. et It. 1531. 1536
(vgl. 1743 extr.) 1997 u. ö. C. I. Gr. 4463. 4467 (Syrien). εὐψύχει, Ἀτα-
λάντη, ὅσα γεννᾶται τελευτᾷ I. Sic. et It. 1832 καὶ ὁ Ἡρακλῆς ἀπέϑανεν.
1806. — Selbst auf christlichen Grabschriften wird diese Formel: εὐψύχει
(ἡ δεῖνα), οὐδεὶς ἀϑάνατος, wiederholt (V. Schultze, Die Katakomben 251).
4).
οὐκ ἤμην, γενόμην, οὐκ ἔσομ̕ οὐ μέλει μοι · ὁ βίος ταῦτα. I. Gr.
Sic. et It.
2190 (ursprünglich am Schluss etwa: οὐκ ἔσομαι · τί πλέον;
s. Gomperz, Arch. epigr. Mitth. a. Oesterr. 7, 149. Ztschr. f. öst.
Gymnas. 1878 p. 437) Ep. 1117: οὐκ ἤμην, γενόμην, ἤμην, οὐκ εἰμί ·
τοσαῦτα · εἰ δέ τις ἄλλο ἐρέει, ψεύσεται · οὐκ ἔσομαι. C. I. Gr. 6265: εὐ-
ψυχῶ, ὅστις οὐκ ἤμην καὶ ἐγενόμην, οὔκ εἰμι καὶ οὐ λυποῦμαι (vgl. auch
Ep. 502, 15; 646, 14. Anthol. 7, 339, 5. 6; 10, 118, 3. 4). Oft lateinisch.
Non eris: nec fuisti, Senec. epist. 77, 11 (vgl. oben p. 618, 4). Ausonius
p. 252 ed. Schenkl. „ex sepulchro latinae viae“: nec sum; nec fueram; genitus
tamen e nihilo sum. mitte, nec explores singula: talis eris.
(so ist wohl
zu schreiben). Vgl. C. I. Lat. 2, 1434; 5, 1813. 1939. 2893: 8, 2885
u. s. w.
5).
— γνοὺς ὡς ϑνατοῖς οὐδὲν γλυκερώτερον αὐγᾶς ζῆϑι — Ep. 560, 7.
Derbere Aufforderungen zum Genuss des flüchtigen Lebens: C. I. Gr.
3846 l (III p. 1070). Ep. 362, 5. παῖσον, τρύφησον, ζῆσον · ἀποϑανεῖν σε
δεῖ 439. 480 a, 7.
1).
εἰ καὶ — φροῦδον σῶμα — ἀλλ̕ ἀρετὰ βιοτᾶς αἰὲν ζωοῖσι μέτεστι,
ψυχᾶς μανύουσ̕ εὐκλέα σωφροσύνην Ep. 560, 10 ff. σῶμα μὲν ἐνϑάδ̕ ἔχει
σόν, Δίφιλε, γαῖα ϑανόντος, μνῆμα δὲ σῆς ἔλιπες πᾶσι δικαιοσύνης (und
ähnlich variirt): 56—58. Oder auch nur: — τέλεσεν δὲ καὶ ἐσσομένοισι
νοῆσαι στήλην: Athen. Mittheil. 1891 p. 263 V. 3 (Thessalien). Homerisch:
s. oben p. 62, 1 (σᾶμα τόζ̕ Ἰδαμενεὺς ποίησα ἵνα κλεὸς εἴη — alte Ins. aus
Rhodos: Atth. Mitth. 1891 p. 112. 243).
2).
Aus älterer Zeit (etwa 3. Jahrh. vor Chr.) Ep. 44: — ἣν ὁ σύνευνος
ἔστερξεν μὲν ζῶσαν ἐπένϑησεν δὲ ϑανοῦσαν. φῶς δ̕ ἔλιπ̕ εὐδαίμων, παῖδας παίδων
ἐπιδοῦσα. Schön auch 67; 81 b. Aber ähnlich auch in später Zeit: 647,
5—10. 556: eine Priesterin des Zeus preist ihr Geschick: εὔτεκνον, ἀστο-
νάχητον ἔχει τάφος · οὐ γὰρ ἀμαυρῶς δαίμονες ἡμετέρην ἔβλεπον εὐσεβίην.
— Um den Klang alter Rüstigkeit sich noch einmal zu erneuern, lasse
man sich zuletzt noch an Herodots Worte von Tellos aus Athen, den
Glücklichsten der Menschen, erinnern. Er stammte aus einer wohlbestellten
Stadt, hatte treffliche Kinder, sah noch Kinder von allen diesen, und
alle blieben am Leben. Und sein glückliches Leben krönte das herrlichste
Ende. In einer Schlacht der Athener gegen ihre Nachbaren gelang es
ihm die Feinde in die Flucht zu schlagen: da fiel er selbst im Kampfe,
und seine Vaterstadt bestattete ihn an der Stelle, wo er gefallen war
und ehrte ihn höchlich. (Her. 1, 30. Den zweiten Preis der Glückseligkeit
erkennt freilich Herodots Solon dem glücklichen Ende des Kleobis und
Biton zu; cap. 31. Hier kündigt sich doch schon eine veränderte Lebens-
stimmung an.)
1).
Mundus senescens. Cyprian ad Demetrian. 3 ff. Der Christ legt
die Verarmung und Verkommenheit des Lebens den Heiden zur Last.
1).
Zur Zeit des Constantin ein δᾳδοῦχος τῶν ἁγιωτάτων Ἐλευσῖνι
μυστηρίων (bezeichnender Weise ein eifriger Verehrer des Plato) Nikagoras
Minuc. fil. C. I. Gr. 4770. Julian schon als Jüngling in Eleusis ein-
geweiht: Eunap. vit. soph. p. 52. 53 (Boiss.). Damals freilich schon in
miserandam ruinam conciderat Eleusina:
Mamert. grat. act. Juliano 9.
Julian scheint auch hier den Cult neu befestigt zu haben. Valentinian I,
im Begriff, alle Nachtfeiern abzuschaffen (s. Cod. Theod. 9, 16, 7) duldete
doch, als Praetextatus, der Procos. Achaiae, ihm vorstellte, dass den Grie-
chen ἀβίωτος ὁ βίος sein werde, εἰ μέλλοιεν κωλύεσϑαι τὰ συνέχοντα τὸ
ἀνϑρώπειον γένος ἁγιώτατα μυστήρια κατὰ ϑεσμὸν ἐκτελεῖν, die fernere Feier
(Zosim. 4, 3). Im J. 375 hört man von Nestorios (wohl dem Vater des
Neoplatonikers Plutarch) als damals ἱεροφαντεῖν τεταγμένος (Zosim. 4, 18).
396, zur Zeit der Hierophantie eines durch seinen Eid eigentlich hievon
1).
Die Heiden schieben das Unglück der Zeiten auf das in die Welt ein-
getretene, zuletzt herrschend gewordene Christenthum (Tertull. apologet.
40 ff. Arnob. I. Augustin C. Dei). Es war schon ein vulgare proverbium:
Pluvia defit, causa Christiani sunt
(August. 2, 3). Die Christen gaben es
den Heiden zurück: dass alles in Natur und Leben schief geht, daran ist
allein paganorum exacerbata perfidia schuld (Leg. novell. Theodos. II,
I 3 p. 10 Ritt.).
1).
Die orphischen Hymnen, kaum doch vor dem 3. Jahrh. nach Chr.
verfasst, sind durchaus für thatsächlichen Cultgebrauch bestimmt (s. R.
Schöll De commun. et coll. quib. Graec. [Sat. Saupp.] p. 14 ff. Dieterich,
de hymnis Orph.), der das Bestehen orphischer Gemeinden voraussetzt. —
Es sind freilich nicht ausschliesslich orphische Gemeinden, auf die und
deren Glauben und Cult diese nur a potiori „orphisch“ genannten Hymnen
sich beziehen.
1).
ausgeschlossenen πατὴρ τῆς Μιϑριακῆς τελετῆς, wird das Heiligthum von
Eleusis durch Alarich, auf Anstachelung der ihn begleitenden Mönche,
niedergerissen (Eunap. V. Soph. p. 52. 53). Damit mag eine geordnete
Feier ein Ende gefunden [haben].
1).
Selige Unsterblichkeit verhiessen ihren Mysten wohl alle diese
Culte. Sicher der Isisdienst (vgl. Burckhardt, Die Zeit Constantins d.
Gr.
2 p. 195 ff.). Symbolischen Tod und Erweckung zu ewigem Leben
deutet als Inhalt der δρώμενα in den Isismysterien an Apuleius Met. 11,
21. 23. Der Geweihte ist nun renatus (cap. 21). So heissen auch die
Mysten des Mithras in aeternum renati (C. I. Lat. 6, 510. 736). Unsterb-
lichkeit war jedenfalls auch ihr Gewinn. Nach Tertullian. praescr. haer.
40 kam in den Mithrasmysterien eine imago resurrectionis vor.
Hierunter kann der christliche Autor doch nur eine eigentliche ἀνάστασις
τῆς σαρκός verstehn. Versprachen diese Mysterien ihren ὅσιοι eine Auf-
erstehung des Fleisches und ewiges Leben? Dieser Glaube an die ἀνά-
στασις νεκρῶν, den Griechen stets besonders anstössig (Act. apost. 17, 18.
32. Plotin. 25, 6 extr. Kh.), ist ja altpersisch (Theopomp. fr. 71. 72. s.
Hübschmann, Jahrb. f. protest. Theol. 5 [1879] p. 222 ff.), und doch wohl
aus Persien den Juden zugekommen. Er mag also auch den Kern der
Mithrasmysterien ausgemacht haben. — Die Seligkeitshoffnungen der
Sabaziosmysten illustriren die Bilder auf dem Denkmal der Vibia (in den
Katakomben des Praetextatus) und des Vincentius: numinis antistes Sabazis
Vincentius hic est, Qui sacra sancta deûm mente pia coluit
(Garrucci,
Tre sepolcri etc. [Nap. 1852] tav. I. II. III. — Wie dieser Vincentius,
der sich selbst einen Verehrer „der Götter“ nennt, und einen antistes
Sabazii
[denn so das: numinis antistes Sabazis zu verstehn, hat nicht den
geringsten Anstand. Die Bedenken, die V. Schultze, Die Katakomben
44 erhebt, haben keinen Grund: Sabazis = Sabazii ist nicht bedenklicher
als die Genitive Clodis, Helis: Ritschl, Opusc. 4, 454. 456; die Wort-
stellung num. a. Sab. erzwang das Metrum], bei christlichen Archäologen
als ein Christ passiren kann, ist schwer verständlich).
1).
ἡ ὄρεξις τοῦ ἀγαϑοῦ εἰς ἕν ὄντως ἄγει καὶ ἐπὶ τοῦτο σπεύδει πᾶσα
φύσις. Plotin. 22, 17 (Kirchh.) πάντα ὀρέγεται ἐκείνου καὶ ἐφίεται αὐτοῦ
φύσεως ἀνάγκῃ-ὡς ἄνευ αὐτοῦ οὐ δύναται εἶναι. 29, 12; 45, 2. ποϑεῖ δὲ πᾶν
τὸ γεννῆσαν (der νοῦς das πρῶτον, die ψυχὴ den νοῦς): 10, 7.
1).
αἱ ἔξω τοῦ αἰσϑητοῦ γενόμεναι (ψυχαί): Plotin. 15, 6. Im Tode
ἀνάγειν τὸ ἐν ἡμῖν ϑεῖον πρὸς τὸ ἐν τῷ παντὶ ϑεῖον Porphyr. V. Plot. 2.
Rückkehr εἰς πατρίδα: Plotin. 5, 1.
2).
XXX; namentlich § 16 ff.
3).
τὸ μὲν γὰρ αἰσχρὸν ἐναντίον καὶ τῇ φύσει καὶ τῷ ϑεῷ 44, 1.
4).
Flucht von dem ἐν σώματι κάλλος zu den τῆς ψυχῆς κάλλη u. s.
w.: 5, 2. Auch in der schönen Abh. π. τοῦ καλοῦ, I, § 8. Doch noch
in einem ganz anderen Sinne als Plato (Symp.) von dem Aufsteigen von
1).
— καὶ οὕτω ϑεῶν καὶ ἀνϑρώπων ϑείων καὶ εὐδαιμόνων βίος ἀπαλλαγὴ
τῶν τῇδε, βίος ἀνήδονος τῶν τῇδε, φυγὴ μόνου πρὸς μόνον 9, 11.
4).
den καλὰ σώματα zu den καλὰ ἐπιτηδεύματα κτλ. redet. Plotin verwahrt
sich ernstlich dagegen, dass sein Schönheitssinn etwa weniger φεύγειν τὸ
σῶμα mache als der Schönheitshass der Gnostiker: 30, 18. Auch er
wartet, nur weniger ungeduldig, hienieden lediglich auf die Zeit, wo er aus
jeder irdischen Behausung abscheiden könne: ibid.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 3. Psyche. Psyche. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpvp.0