und
Weiberverachtung.
».... ein Teil von jener Kraft,
»die stets das Böse will und stets das Gute schafft«.
Buche »Geschlecht und Charakter« geäußerten Anschauungen über »Die Frau und ihre Frage«
Verlag »DIE WAGE«, Wien, II., Floßgasse Nr. 12.
Für den Buchhandel: MORITZ PERLES, k. u. k. Hofbuchhandlung
Wien, I., Seilergasse Nr. 4.
Druck von Stern \& Steiner.
VORWORT.
Ein kurzes Vorwort sei an diejenigen gerichtet, denen
vielleicht schon der Titel dieser Broschüre Zweifel
erweckt an ihrer Berechtigung. Ich hörte vor kurzer
Zeit jemanden dies Thema, sowie alles, was mit Feminismus
im Zusammenhang steht, als »ausgesungen« bezeichnen.
Ausgesungen – abgedroschen. Was wäre darüber noch zu
sagen? Diese Ansicht muß umso verblüffender erscheinen, als
zur Zeit häufiger denn je dickleibige Werke herauskommen,
die ihr Thema, nämlich den Antifeminismus, der in seiner
extremsten Form zum direkten Haß und zur Verachtung
des weiblichen Geschlechtes führt, mit einer Gründlichkeit,
Hartnäckigkeit, Unermüdlichkeit und Weitschweifigkeit behandeln,
die besonders dadurch, daß sie meist auch bemüht
ist, aus allen Disziplinen der Wissenschaft Beweise herbeizuholen
und nicht selten die Resultate langwieriger Studien
für ihren vorbestimmten Zweck mit großem Fleiße zur
Stelle schafft, viel Beachtung und Anhängerschaft finden.
Und so lange dies der Fall ist, ist auch jede Gegenbewegung
berechtigt, besonders wenn das aufgehäufte
Material auf der anderen Seite durch gewalttätige Deduktion
zu der gewünschten Tendenz zusammengeschmiedet wurde
und beinahe Zeile für Zeile nach Widerlegung schreit. Es
hieße gewaltsam ersticken, was zur Aussprache drängt,
[IV] wollte man unter solchen Umständen ein Thema als »ausgesungen«
betrachten, besonders wenn ein Werk in den
weitesten Kreisen Beachtung gefunden hat, wie das Werk
Weiningers. Obwohl der Selbstmord des jungen Philosophen
diese Beachtung wesentlich erhöhte, wäre sie ihm jedenfalls
auch ohne diesen tragischen Anlaß in hohem Maße zuteil geworden,
schon durch seine ebenso frappierende, als für viele
vielleicht verlockende Tendenz einer kaum jemals in solch
maßloser Weise geäußerten Weiberverachtung, die auf einem
Unterbau schwerwissenschaftlicher Theorien postiert ist.
Für solche, die das Werk nicht kennen, möge als Anhaltspunkt
nur so viel von seinem Kern im Vorworte erwähnt
werden, daß eines seiner Hauptresultate in dem folgenden
schönen Ausspruch gipfelt, der noch dazu durch doppelten
Fettdruck hervorgehoben ist: »Der tiefststehende Mann steht
noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weib!«
Mit Wiener Literaturverhältnissen nicht Vertrauten sei
hier zur Kenntnis gebracht, daß nach dem Tode des Verfassers
das Werk an den hervorragendsten Stellen ausführlich
und meist im Tone höchster Bewunderung besprochen
wurde; daß seine Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit
es wie ein Bollwerk umtürmte, so daß auf seinen erstaunlich
unwissenschaftlich, sehr realistisch ausgesprochenen Kernpunkt
das grelle Licht der Kritik offenbar gar nicht zu
fallen wagte. Aber es wäre blind und ungerecht, die große
Beachtung, die das Werk fand, nur auf seine Tendenz und
auf das große Wissen, das sich in dem Werke ausspricht,
zurückzuführen. Nicht zu verkennen vielmehr ist die wahrhaft
geniale Veranlagung dieses unglücklichen jungen Mannes,
die sich in der tiefen Innerlichkeit, mit der ihm alles und
jedes zum Problem wird, offenbart. Aber gleichzeitig haftete
diesem merkwürdigen und tiefsinnigen Erleber aller begrifflichen
Probleme die verhängnisvolle Schwäche an, daß er
sofort jeden Boden verlor, sowie er aus dem Kreis seiner
[V] innerlichsten Spekulation heraustrat in die Wirklichkeit:
krampfhaft an seinem rauschartigen geistigen Erlebnis festhaltend,
geriet er da sofort in dröhnenden Konflikt mit der
Realität der Tatsachen. Daher seine verschrobene Wertung
lebendiger Fragen, daher die grotesken Resultate, zu denen
er in seinem Hauptproblem »Weib« mit seinem Hauptwerk
»Geschlecht und Charakter« gelangt ist. Und daher auch
kann man ihn wohl nicht als Genie, sondern nur als einen
Menschen von eminent genialischer Veranlagung bezeichnen.
Denn das Genie bringt etwas hervor, das an sich eine bleibende
Wahrheit, einen neuen Wert für die Menschheit
repräsentiert! – Aber gerade die Resultate, zu denen
Weininger gelangte, tragen den Todeskeim in sich, während
nur die Art, wie er zu ihnen gelangte, ein hochinteressantes,
aufregendes, geistiges Schauspiel gewährt.
Ein anderer Einwurf, der mir von einem seiner begeistertsten
Anhänger gemacht wurde, lautet merkwürdigerweise
dahin, es sei überhaupt kleinlich, gerade Weiningers
Verkehrtheiten und Verrennungen in bezug auf das Problem
»Weib«, die nicht ernster zu nehmen seien, als die Delirien
eines Fieberkranken (!), zum Stoff einer Schrift zu machen.
Wie? Gerade diese Ausführungen sollen nicht der Kritik
unterzogen werden?! Ja, aber warum denn nicht? Daß sie
»ohnehin kein Mensch ernst nehme«, ist sicherlich nicht
anzunehmen bei einem Werk, das eine so weitgehende
Beachtung fand, das jeden Denkenden verführerisch anzieht
(wenn es ihn nachher auch wieder umso ehrlicher abstößt).
Wären diese Anschauungen und Resultate nur mit
unterlaufen in einem Hauptwerk anderen Inhalts, anderer
Tendenz, dann könnte man sie vielleicht ignorieren; da sie
aber Selbstzweck des ganzen Werkes sind, der ganze Bau
nur um ihretwillen aufgetürmt wurde, alles was darin ist,
nur deshalb vorgeführt wird, um die Beweise zu erbringen
für das, was der Autor über das »Weib« zu sagen hat –
[VI] so ist es doch wohl mehr als begreiflich, wenn man auch
an dieses Tatsächliche, was da vorgebracht wird – als
Beleg der Verachtung alles Weiblichen – kritisch herantritt.
Steht natürlich jemand grundsätzlich auf anderem
Boden und verschließt sich grundsätzlich dieser Argumentation,
so wird ihn auch berghoch aufgehäuftes Material
nicht überzeugen; ob er jedoch den Autor ehrt, wenn
er dessen Aussprüche, gerade soweit sie sich auf Tatsachen
beziehen und seine Urteile und Resultate darstellen, von
vorneherein zum Stoff einer Polemik so wenig geeignet
hält, wie die Delirien eines Fieberkranken, bleibe dahingestellt.
Genialische Veranlagung macht nicht sakrosankt gegen
Kritik des Greifbaren, Positiven, das sie hervorbringt. Nur
so vielmehr ist die Möglichkeit geboten, jenes sonderbare
Phänomen zu begreifen, das in dem Auftreten und in der
Erscheinung solcher großer Intelligenzen liegt, die trotz
ihres Reichtums und ihrer Größe unter dem Zeichen der
Verheerung stehen. »Alles, was ich geschaffen habe, wird
zugrunde gehen müssen, weil es mit bösem Willen geschaffen
wurde.« Dieser Ausspruch Weiningers wird in
seiner letzten Schrift mitgeteilt. Er mußte – in seinem
Sinne – das »Böse wollen«, sowie er sein Reich verließ:
denn es liegt wie ein Fluch über manchen Menschen, daß
sie aus dem ihnen zugewiesenen Element nicht heraus
dürfen! Mancher, der stark und zielsicher auf festem Grunde
wandelt, scheitert kläglich, so wie er sich darüber erheben
will; dem Geiste Weiningers erging es umgekehrt; er war
stark in Höhen und Tiefen: aber er verlor sich, sobald er
die Erde berührte.
In einer Zeit, da die Frauenbewegung, die Arne Gaborg
den »größten Gedanken des XIX. Jahrhunderts« genannt
hat, ihren Zielen, wenn auch nur schrittweise,
immer näher und näher kommt, ist es begreiflich, daß ihr
eine Gegenbewegung erwächst, die ihr in stürmischem Tempo
an den Leib rückt. Aus den verschiedensten Lagern rekrutieren
sich deren Ritter. Hedwig Dohm hat sie in vier Kategorien
geteilt*), die aber der Vielfältigkeit dieser Gruppe durchaus
nicht genügen. Zuerst nennt sie die »Altgläubigen«, – das
sind die »Rückwärtsglaubenden«, eine Art Mumienanbeter,
voll Pietät für den Moder, voll Schauer gegen alles Werdende.
Der liebe Gott und »Naturgesetze« (von denen die
Wissenschaft nichts weiß) gehören zu ihrem Inventar. Dann
die »Herrenrechtler«, die weniger auf den lieben Gott
und seine »Gesetze«, als auf ihre eigenen, sehr irdischen
Rechte und Vorrechte sich berufen. Bei jeder Gelegenheit
betonen sie ihre Superiorität der Frau gegenüber, ängstlich
wollten sie an ihr festgehalten wissen – sie ist die letzte
Instanz des armen Schluckers, der von andern Männern
über die Achsel angesehen wird – denn wäre die Frau
nicht dümmer als er, wer wäre es denn?
Als dritten Typus nennt Hedwig Dohm den praktischen
Egoisten, den »Geschäfts-Antifeministen«, der die Konkurrentin
[2] fürchtet. Jedenfalls ist seine Furcht – die Brotfurcht
– begreiflicher als alle anderen Bedenken. Den vierten
im Bunde bezeichnet Frau Dohm als den »Ritter der Mater
dolorosa«, der den Tempel bedroht sieht, einen imaginären
Tempel, in dem das Weib, seiner Ansicht nach, nichts
anderes zu tun hat, als durch rührende und anmutige
lebende Bilder diese prosaische Welt zu verklären.
Aber diese Ritter des Antifeminismus, die Frau Dohm
in ihrem prächtigen, kraftvollen Buche aufzählt, gehören
zu der Gruppe der Ungefährlichen; es sind meist Ritter
von sehr trauriger Gestalt – sie verführen und blenden
kaum irgend jemanden, der nicht von vorneherein ihrer
Gesinnung wäre. Gefährlich und verführerisch sind nur die
anderen – die Ästhetiker. Dem beängstigenden Problem
»Nietzsche und die Frauen« weicht Frau Dohm nicht aus:
scharf, ruhig und fest faßt sie den herrlichsten Feind ins
Auge, und sie findet die Formel, die die Verirrung des einsamen
Großen erklärt, die Begründung für seinen seltsamen
Aberglauben, seine naive Fetischliebe zum Haremsystem,
diesem Produkte der »ungeheuern Vernunft Asiens«. Woher
kommt es, fragt sie sich, daß selbst vornehme, kühne und
tiefe Denker sich oft aller Logik, Wissenschaftlichkeit und
vor allem Gewissenhaftigkeit (den Tatsachen gegenüber)
bar erweisen? Daß sie dann mit Gefühlen, Instinkten, Intuitionen
und Wissenschaftlichkeit jonglieren? Nietzsche selbst
gibt ihr die Antwort: »Auch große Geister haben nur ihre
fünffingerbreite Erfahrung; gleich daneben hört ihr Nachdenken
auf und es beginnt ihr unendlich leerer Raum und
ihre Dummheit.«
Aber noch verführerischer, noch blendender als der
Dichter – kommt der Philosoph. Mittels übersinnlicher
Spekulation konstruiert er seine Waffen, und er, der Metaphysiker,
wäre der einzig zu fürchtende Feind, weil er sich
in Regionen bewegt, in denen sich nicht hart und wahrnehmbar
[3] »die Sachen stoßen«, – und je weniger verfolgbar
und kontrollierbar seine Hypothesen sind, um so mehr
Gläubige finden sie. »A beau mentir qui vient de loin« sagt
ein altes französisches Sprichwort. Aber auch er kann dem
Tatsächlichen nicht ausweichen, er muß von der abstrakten
Theorie zur Wirklichkeit übergehen – und paßt
sie nicht in die vorbereiteten Formen und Formeln (die er
schon deshalb nicht preisgibt, weil ihn ja ihre Konstruktion
unendlich viel Mühe kostete) – so wird ihr einfach Gewalt
angetan. Und das ist der Moment, wo er strauchelt, wo er
fällt, wo er seinen Nimbus verliert. Drückt da nämlich
irgendwo der Schuh, so wird er nicht weggeworfen, bewahre,
sondern wie im Aschenbrödelmärchen am lebenden Fuße
das abgehackt, was nicht hineinpassen will. Aber die Sache
stimmt nicht, sie verrät sich durch eine rote Spur, die selbst
kindlichste Einfalt und gutmütigste Gläubigkeit nicht übersehen
kann: Ruckediguck, Blut ist im Schuck!
Dieser Fall war der des Dr. Weininger, der jüngst
durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gemacht hat.
Sein Buch »Geschlecht und Charakter« ist eine wahre
Encyklopädie der Weiberverachtung. Es ist schwer, gegen
einen Toten zu sprechen. Stimmen von jenseits des Lebens
gebieten Ehrfurcht und Schweigen. Dies Buch aber ist eine
irdische Stimme, und daß sein Schöpfer in einer jener
tiefen, entsetzlichen Depressionen, wie sie alle Begabteren,
Strebenden und Ringenden kennen – einer Depression,
die der Selbstvernichtung unheimlich zutreibt und die zu
überwinden ein gewisses Maß physischer Kraft notwendig
ist, die er vielleicht nicht hatte, – seinem Leben ein Ende
machte, das verringert die irdische Wirkung des Buches
nicht, es erhöht sie vielmehr.
Über das Problem des Selbstmordes selbst – nicht
des Weiningerschen, sondern des Selbstmordes im allgemeinen
– teilen sich die Meinungen von jeher in zwei
[4] Hauptlager: die einen umgeben die freiwillige Abkürzung
des eigenen Lebens mit der Heldengloriole – die anderen
verdammen sie in Grund und Boden als Feigheit. Es wird
mit diesem Probleme ähnlich verfahren wie mit dem der
Sexualvorgänge: abwechselnd wird auch dieses in den
Himmel gehoben, als göttliches Mysterium empfunden –
dann wieder als tierisch und niedrig verdammt und verflucht.
Die Wahrheit wird wohl bei beiden Problemen –
wie bei so vielem – in der Mitte liegen und sich von
Fall zu Fall anders offenbaren.
Jedenfalls wäre der Selbstmord Weiningers, wenn er
wirklich seinem Prinzipe einer radikalen Abkehr vom Leben
entsprungen sein sollte, wie einige seiner Freunde behaupten
(andere sprechen von bösartiger Krankheit, unter der sein
ohnedies zerrütteter Körper, der einem nahen Verfall entgegenging,
zusammenbrach) – in seiner Art eine heroische
Besieglung seiner Anschauungen. Aber solche Anschauungen,
die vom Leben wegführen und der Vernichtung
zuführen, – sind für das Leben selbst unbrauchbar.
Sie mögen kostbar sein für einen mystisch-halluzinativen
Jenseitsglauben, vielleicht wonnig wie Haschisch in ihrer
berauschenden Wirkung, – aber das Leben selbst kann
nur auf Tatsachen bauen, – die wieder neues Leben,
neue Wirklichkeit, positives Vorwärtsrücken ergeben.
Nicht gegen den toten Mann soll sich diese Polemik
kehren, – sondern gegen das lebende Buch. Wie dieses
Buch die Frage erledigt, die sein und unser eigentliches
Thema ist, – dies soll durch kein vorgegriffenes Urteil
bezeichnet werden, sondern das Buch selbst möge in seinen
markantesten Stellen zum Worte kommen, auf die sich
dann die Antwort ergeben wird.
Wesen und Wert der beiden Geschlechter und ihre Beziehungen
zu einander bilden das Hauptthema des
Buches. Eingeleitet wird dieses Thema durch die Verkündigung
eines »[neuentdeckten] Gesetzes« über die Affinität
der Geschlechter. Dieses Gesetz, nach welchem jene Individuen
einander anziehen, die gegenseitig die ihnen fehlenden
Bruchteile an Männlichkeit und Weiblichkeit komplettieren,
hat zur Voraussetzung die Tatsache, daß kein Mensch ganz
M (Mann) oder ganz W (Weib) ist, sondern stets auch
Anlagen vom andern Geschlechte in sich hat. Daß niemand
aus einem Gusse ist und es ganz einheitliche Exemplare
irgend einer Art – reine Typen »an sich« – kaum irgendwo
gibt, ist eine altbekannte Tatsache, und es liegt kein
Grund vor, sie mit tiefgründiger Beredsamkeit auseinander
zu setzen, als wäre sie eben erst entdeckt; deswegen aber
kann man doch nicht – wie Weininger es tut – die
Gesamtheit der Menschen als »sexuelle Zwischenstufen«
bezeichnen, da die Geschlechtsmerkmale bei jedem normalen
Individuum genügend überwiegen, um diese Bezeichnung
auszuschließen. In fetten Lettern wird auch die uralte Wahrheit
vorgebracht, daß es nicht jedem Individuum gleichgültig
sei, mit welchem Individuum des anderen Geschlechtes
es eine sexuelle Vereinigung eingeht, daß nicht jeder Mann
für einen anderen Mann, nicht jedes Weib für ein anderes
[6] Weib seinem sexuellen Komplement gegenüber eintreten
kann. Ganz gewiß kann nicht irgend ein geschlechtlich
begehrtes Individuum durch jedes beliebige andere ersetzt
werden. Aber daß diese Anziehung gerade darauf beruht,
daß das eine Individuum in dem andern die ihm fehlenden
Bruchteile an Männlichkeit oder Weiblichkeit sucht – eine
Formel, die Weininger etwa so darstellt, daß ein Individuum
mit ¾ M + ¼ W sich von einem andern mit ¾ W + ¼ M
angezogen fühlen muß, – ist wohl eine etwas naive
Deduktion, denn Menschen decken einander nicht wie Zahlen.
Grüblerisch und im Entdeckerton wird diese Formel lang
und breit demonstriert. Als Prämisse setzt sie die angeblich
»von niemand zu bestreitende« Tatsache eines »ganz bestimmten
sexuellen Geschmackes« voraus, »der jedes Individuum
beherrscht« – und der eben auf dieses »Gesetz«
zurückzuführen sei. Diese Tatsache ist aber durchaus
zu bestreiten. Nicht jedes Individuum hat nur einen
einzigen Typus des anderen Geschlechtes zum Korrelate.
Es gibt wohl Leute, die ein bestimmtes sexuelles »Ideal«
haben, aber sie sind weitaus in der Minderheit; während
hingegen den meisten Menschen, soferne sie gesund und
unraffiniert sind, oft die verschiedensten Typen nacheinander
recht gut gefallen. Auf den alten Gemeinplatz, daß Gegensätze
einander anziehen, scheint die fulminante Entdeckung
hinauszulaufen; diese Tatsache stimmt aber nicht öfter als
etwa das Gegenteil, so daß zur Annahme eines sie bedingenden
Gesetzes die Berechtigung fehlt. Eine fast krankhafte
Ablehnung jeder Bezweiflung der eigenen Ausführungen
und der durch selbstkonstruierte Prämissen erzielten
Resultate macht sich in dem Buche ganz auffällig bemerkbar.
So heißt es eben in Bezug auf das besprochene »Gesetz« –
mit ängstlicher Beflissenheit schon im vorhinein jeden
Widerspruch abwehrend: »... es hat nicht das geringste
Unwahrscheinliche an sich; es steht ihm weder in der
[7] gewöhnlichen noch in der wissenschaftlich gereiften Erfahrung
das geringste entgegen.« (!) Des weiteren wird von dieser
gesetzmäßig zu begründen gesuchten sexuellen Anziehung
ausgesagt, daß sie fast »ausnahmslos eine gegenseitige ist«.
Und das stimmt erst recht nicht! Ein jeder fast strebt nach
einem andern als dem, der nach ihm strebt! »Ein Jüngling
liebte ein Mädchen – die hat einen anderen erwählt –
der andere liebt eine andere – und hat sich mit dieser
vermählt.« Eine uralte Geschichte, die ewig neu und wahr
bleibt. Und eine Vereinigung ist fast immer auf der einen
Seite ein Kompromiss – eine Art Resignation – und glückliche
Ausnahmen bestätigen nur diese Regel.
Hochinteressant ist das vielseitige Wissen, welches besonders
aus den Disziplinen der Botanik und Mathematik
zur Unterstützung der eigenen Thesen herbeigeholt wird
und sich auf einem mit sicherer Hand konstruierten Geleise
den Zielen und Zwecken, denen es zu dienen bestimmt ist,
zubewegt: Ergebnisse einer eminenten, aber nichts weniger
als »voraussetzungslosen« Forschung. Solange sich Weininger
in konstatierender Weise an das rein Wissenschaftliche
hält – sei es auch hypothetisch – imponiert der tiefgründige
Scharfsinn, mit dem besonders Analogien aus
Tier- und Pflanzenreich herbeigezogen werden, um irgend
eine Formel, wie eben das interessant, ja künstlerisch gedachte,
aber phantastische und unhaltbare Gesetz von der
Affinität der Geschlechter zwecks wechselseitigen Ausgleiches
von Potentialdifferenzen (nirgends ist die Natur zweckloser,
wüstlingshaft verschwenderischer als gerade in der Liebe!)
– zu illustrieren. Es fesselt und interessiert die dialektische
Gewandtheit, die Agilität des Geistes, die sofort in Zahlen und
Ziffern herauszubekommen sucht, – was sie schon als vorgezeugtes
Resultat bereithält und auf die der von Weininger
selbst zitierte Kantsche Ausspruch von der »Eitelkeit auf das
mathematische Gepränge« recht gut zu passen scheint.
[8] Unter das »Gesetz« wird dann auch das Phänomen der
Homosexualität subsumiert. Nichts weniger als originell ist
die Enthüllung, daß Homosexuelle Merkmale des anderen Geschlechtes
im Wesen und auch im äußeren Habitus manchmal
aufweisen. Aber es ist geradezu terroristisch, gewisse Züge,
Eigenschaften und Anlagen als nur »männliche« oder nur
»weibliche« zu bezeichnen, die oftmals weder das eine noch das
andere, sondern nur menschliche sind. Wer zum Beispiel
unerotische Kollegialität zwischen beiden Geschlechtern befürworte
und durchführen könne, habe schon einen starken
Einschlag des anderen Geschlechtes in sich – und ist,
nach Weininger, gar kein »richtiger« Mann, respektive kein
richtiges Weib!
Mit den Worten »richtig«, »echt«, »absolut«, »an sich«
wird in Weiningers sämtlichen Ausführungen ein haarsträubender
Mißbrauch getrieben. Sie dienen geradezu als
Verklausulierungen der »verwirrenden Wirklichkeit« gegenüber
dort, wo sich diese – subordinationswidrigerweise –
durchaus nicht in das Prokrustesbett seiner Formeln und
Gesetze hineinpressen lassen will. Dann war es eben kein
»echter« Typus, kein »echter« Jude, kein »echtes« Weib –
sondern eine der vielen »Zwischenstufen«!
Er selbst bezeichnet den »Juden an sich« oder das
»Weib an sich« als metaphysische Begriffe, weil sie so
echt (d. h. mit erstaunlichen Defekten und Monstrositäten
behaftet), nach seiner eigenen Aussage – gar nicht existieren.
– Umso verwerflicher muß dann die Irreführung
erscheinen – durch Besprechung der Juden oder der
Weiber – während das Ur-Jüdische und das Ur-Weibliche
»an sich« gemeint sind, – wobei auch noch fraglich bleibt,
ob diese gedachten, konstruierten Typen wirklich die von
ihnen ausgesagten Merkmale aufweisen würden, wenn sie
existierten. Es ist dies eine »Echtheit«, der das Leben und
alle Tendenzen einer natürlichen Vorwärtsbewegung unausgesetzt
[9] entgegenarbeiten, denn jedes Individuum, das da
vorwärts und aufwärts strebt, wird aus der Beschränkung
seiner bloßen nationalen und Gattungs-»Art« herauszutreten
suchen, um dafür immer menschlicher, immer kultur-»echter«
zu werden. Schildert daher jemand, wie Weininger,
das Weibliche und denkt sich diesen Typus in seiner
äußersten Undifferenziertheit (die in einer wilden Urzeit liegt),
behaftet mit allen Lastern und Schwächen seiner speziellen
Art – so hätte er ihm billigerweise das Männliche ebenfalls
im kulturfremden Urzustand als den Typus alles Rohen,
Gewalttätigen, Mörderischen entgegenstellen müssen.*)
Um aber auf jene »unechten« Männer oder Weiber
– solche z. B., die sich unerotische Kollegialität mit dem
anderen Geschlechte vorstellen können – zurückzukommen,
sei hier eine auf sie bezügliche »Forderung« mitgeteilt, die
Weininger als neu und zuerst von ihm ausgehend bezeichnet:
– und das ist sie in der Tat, – ebenso wie sie an Monstrosität
kaum zu übertreffen ist. Er verurteilt nämlich den
Brauch, daß die Menschen bei ihrer Geburt nach ihren äußerlichen,
primären Geschlechtsmerkmalen in das Geschlecht, auf
welches jene hinweisen, eingereiht werden, anstatt daß man
auf ihre sekundären Geschlechtsmerkmale (wie Beschaffenheit
anderer Körperteile als der Zeugungsorgane, Anlagen, Neigungen
etc.) in Betracht ziehe, bevor man die schicksalsschwere
Einreihung vornehme!!! Das ist das Hexeneinmaleins,
und wer es ersonnen hat, dem wird eins zu drei und
drei zu vier, der verwechselt in geradezu blinder Konfusion
alle Beziehungen der Dinge zu einander. Daß die Verschiedenheit
zwischen Männlichem und Weiblichem an jedem
Körperteile zum Ausdrucke kommt**), daß z. B. auch ein
[10] Mann weibliche Hände oder eine Frau knabenhafte Hüften
haben kann, ist eine bekannte Tatsache; daß aber das
Geschlecht in den Zeugungsorganen, diesen »Brennpunkten
des Willens«, wie sie Schopenhauer genannt hat, kulminiert,
ist doch wohl eine so einleuchtende Tatsache, daß
die Berechtigung, nach ihr das Geschlecht zu bestimmen,
wohl nur einem krankhaft verstrickten Geiste zweifelhaft
erscheinen kann. Man stelle sich diese neue »Forderung«,
die einen köstlichen Stoff für Lustspieldichter darbietet, in
Wirklichkeit durchgeführt vor: vor allem wird die
Geschlechtsbestimmung, die jetzt die Hebamme mit echt
weiblicher Oberflächlichkeit auf den ersten Blick am Neugeborenen
vornimmt, aufgeschoben werden müssen, bis sich
die »sekundären« Geschlechtsmerkmale sichtbar entwickelt
haben. Also: »Geschlecht unbekannt« wird es fürderhin
heißen müssen. Wächst dann das Kind heran und zeigt
solche Merkmale, vermag es z. B. als (wahrscheinlicher)
Jüngling oder als (wahrscheinliches) Weib kollegialen, unerotischen
Umgang mit Altersgenossen des (mutmaßlich)
anderen Geschlechtes zu pflegen, so ist es klar, daß es
kein »richtiger« Mann, respektive kein »richtiges« Weib ist,
und eine Einreihung in das andere Geschlecht, mit dem
sich so verdächtig ungefährlich verkehren läßt, scheint
geboten. Bei den modernen pädagogischen Tendenzen,
die sogar auf Ko-Edukation (gemeinsame Erziehung beider
Geschlechter) hinzielen und wahrscheinlich die Möglichkeit
einer unerotischen Massenkollegialität, eines von Scheu und
Komödie befreiten kameradschaftlichen Verkehres der jungen
Menschen untereinander mit sich bringen dürften, – müßte
die Umstellung in das andere Geschlecht gleich in Massen
erfolgen und die Vertauschung von Höschen und Röckchen
am besten wechselseitig vorgenommen werden. Man muß
solche Menschen (die unerotische Kollegialität mit dem
anderen Geschlechte zu halten vermögen) kennen und sich
[11] die »Anregung«, daß sie auf Grund dessen nicht die
»schicksalsschwere Einreihung« in ihr Geschlecht erfahren
hätten, sondern ins andere übergehen sollten, ausgeführt
denken, um die Ulkigkeit eines solchen Effektes voll zu
begreifen!
Man würde es nicht für möglich halten, daß in einem
Buche, das sich ernsthaft gibt und ernsthaft in den weitesten
Kreisen aufgenommen wurde, solche Vorschläge entwickelt
werden, man traut seiner Auffassung nicht recht, bis man
es mehrfach und unzweideutig wiederholt findet! Der Autor
spricht auch – in fetten Lettern – von Individuen, die
»zur Hälfte Mann und zur Hälfte Weib sind« (?!), – und
nicht in der Pathologie bekannte Spezialfälle meint er damit,
nicht bei Barnum \& [Bailey] ausgestellte Mißgeburten, sondern
Individuen mit menschlichen Weichheiten (das sind die
verweiblichten) oder menschlichen Härten (die vermännlichten),
die angeblich auf ihr Geschlecht nicht »passen«
und sie daher in das andere verweisen! Das Neue der
eigenen Darlegung wird dabei mit besonderer Deutlichkeit
betont, gewöhnlich um irgend etwas besonders Monströses
zu verkünden. So sei z. B. die Homosexualität nicht als
Anomalie zu betrachten, sondern als die normale Geschlechtlichkeit
der sexuellen »Zwischenstufen« (?), indeß »die
Extreme nur Idealfälle sind!« (!) Jeder Satz beinahe –
Zeile für Zeile – windet neue Irrschlüsse ineinander. Daß
bei eingesperrten Stieren oder abgesperrten Menschen
(Matrosen, Gefangenen, Mönchen) die Homosexualität gebräuchlich
ist, beweist ihm – nicht etwa, daß ein gezwungenes
Vorliebnehmenmüssen mangels andersgeschlechtlicher
Komplemente sie dazu treibt, sondern – er erblickt darin
»eine der stärksten Bestätigungen des aufgestellten Gesetzes
der sexuellen Anziehung«. (!)
Der Schlußresolution dieses Kapitels, die dafür eintritt,
daß Homosexuelle weder durch das Irrenhaus noch
[12] durch das Strafrecht zur Verantwortung zu ziehen sind,
sondern man sie einfach Befriedigung suchen lassen soll, wo
und wie sie sie finden, ist vollständig beizustimmen, –
natürlich nur soferne es sich um Erwachsene handelt und
nicht um die Verführung minderjähriger Kinder. Weininger
selbst glaubt nicht an Homosexualität durch Verführung
oder Gewohnheit, sondern nur durch angeborene Anlage wie
er überhaupt überall wurzelhafte Anlagen sieht, wo es sich
oft um sichtlich Erworbenes, Erzogenes handelt. Er begründet
diesen Unglauben an »Verführung« mit einem wahrhaft unglaublichen
Argument – nämlich: »Was wäre es dann mit
dem ersten Verführer? Würde dieser vom Gotte Hermaphroditos
unterwiesen?«
Nachdem uns endlich noch enthüllt wird, daß dem
gewöhnlichen, sozusagen dem »normalen« Homosexuellen das
typische Bild des Weibes seiner ganzen Natur nach
ein Greuel ist, eine Enthüllung, die umso interessanter
ist, als sie den Schlüssel für so manche »wissenschaftlich
fundierte« Weiberverachtung enthalten dürfte – wird abschließend
von der ganzen eigenen Theorie ausgesagt –
»daß sie völlig widerspruchslos und in sich geschlossen
erscheint und eine völlig befriedigende Erklärung aller
Phänomene ermögliche«. Von der Bescheidenheit, ja Demut,
die dem Autor dieses Buches im persönlichen Verkehr eigen
gewesen sein soll, ist jedenfalls in dem Buche selbst nichts
zu merken. In vielen Fällen ist ein unsicheres, verschüchtertes
Auftreten – eben diese Bescheidenheit – auf
Mangel an physischem Selbstbewußtsein zurückzuführen
– und ein umso eifrigerer Grimm gegen eine bestimmte
Vorstellung stammt meist aus derselben Quelle.
Recht auffällig macht sich das Bedürfnis bemerkbar,
an jeder Erscheinung, sei sie auch noch so einfach und
sinnfällig, solange herumzudeuteln bis sie kompliziert und verwickelt
erscheint – um dann eine umständliche Lösung
[13] dieses selbstgewundenen Knotens vorzunehmen. Das Selbstverständliche
– durch sich selbst Verständliche – durch
seinen Tatbestand sich Erklärende – scheint ihm weitschweifiger
Erklärungen bedürftig – so z. B. die Tatsache,
daß kein Mensch ganz so ist wie der andere. Die psychologische
Verschiedenheit der Menschen erklärt er damit,
– daß jeder Mensch zwischen Mann und Weib »oszilliere«,
und der Grad dieser »Oszillation« ergebe ihre Verschiedenheit.
Darauf sei auch das wechselnde körperliche Aussehen zurückzuführen!!!
So fühlen z. B. »manche Menschen am Abend
‚männlicher‘ als am Morgen«; – recht begreiflich ... Die
Vergewaltigung aller Erscheinungen durch Formeln, gegen
die sich diese meist ihrer ganzen Natur nach sträuben,
ruft nach und nach den Eindruck einer beherrschenden
maniakalischen Vorstellung hervor. Erstaunlich ist die Oberflächlichkeit,
mit der die Merkmale der »Männlichkeit« und
»Weiblichkeit« aufgezählt werden. So heißt es z. B. als das
Merkmal »männlicher« Weiber, daß sie – studieren, Sport
treiben und – kein Mieder tragen!!! Sollen dies wirklich
die Anzeichen »männlicher Anlagen« sein – nicht vielleicht
eher die Resultate einer vernünftigen Propaganda?!
Freilich – Nietzsche hat ja schon in dem Zeitungslesen
der Weiber ihre Vermännlichung und damit die
»Verhäßlichung Europas« befürchtet! Übrigens tritt Weininger
nicht etwa gegen diese Vermännlichung auf; nur nennt er
Vermännlichung schlechtweg alles, was von rechtswegen
Vermenschlichung heißen soll und dem Manne zumindest
ebenso nottut wie der Frau. Alle Kultur geht ja dahin, das
Urtümliche zu differenzieren, das Individuum über die
bloße Gattungssphäre emporzuheben und in diesem Sinne
soll jede Nur-Weiblichkeit, aber auch jede Nur-Männlichkeit
einer verfeinerten und vertieften Menschlichkeit
Raum geben; ohne aber das Eigentümliche, Unersetzliche,
zum Fortbestand der Gattung Notwendige der eigenen
[14] Art und Gattung preiszugeben – wie es Weininger in
seinem Haß gegen weibliche Art im besonderen und
gegen den Fortbestand der Gattung im weiteren – verlangt.
Daß aber seine blinde Verneinung des Weiblichen
ihn in letzter Konsequenz dahinführt, eine allgemeine Vermenschlichung
zu befürworten – nennt er sie auch fälschlich
»Vermännlichung«, – gibt die Berechtigung, ihn und
sein Werk als einen Teil »von jener Kraft, die stets das
Böse will und stets das Gute schafft«, zu betrachten.
Nach diesen weitschweifigen Präliminarien kommt der
Verfasser endlich zu jener Frage, deren »theoretischer und
praktischer (!) Lösung dieses Buch gewidmet ist« –
nämlich zur Frauenfrage – »soferne sie nicht« – man
höre und staune über die merkwürdige Klausel – »theoretisch
eine Frage der Ethnologie und Nationalökonomie, also
der Sozialwissenschaft im weitesten Sinne, praktisch eine
Frage der Rechts- und Wirtschaftsordnung, der sozialen
Politik ist«. Das ist sie aber doch in eminentester Weise!
Von ihrem wirtschaftlichen Hintergrunde absehen, heißt,
einen metaphysischen Begriff, der erst in letzter Linie in
Betracht kommt, an Stelle des wahrhaft treibenden, ehernen
Motives der Frauenbewegung setzen – der gebieterischen,
wirtschaftlichen Gründe, – die sich gegenüber dem tragischen
Mißverhältnis zwischen blühender, brauchbarer, unbenützter
Kraft und materieller Not oder Abhängigkeit nicht
mehr länger zurückweisen ließen. Aber nicht die wirtschaftlichen,
die gesellschaftlichen, die moralischen Bestrebungen
der Frauenbewegung will Weininger als Emanzipation bezeichnet
wissen – sondern – (man rate erstaunt, was
sonst noch bleibt) – »das Phänomen des Willens der Frau
– dem Manne ‚innerlich gleich‘ zu werden«. Aber den hat
sie ja gar nicht!
Man komme nicht immer wieder mit der abgeschmackten
Phrase, die man der Frauenbewegung (und der Sozialdemokratie)
[15]fälschlich in den Mund legt und die in der
plumpen Formel gipfelt: alle sollen »gleich« sein! Auf
Aufhebung aller individuellen Variation, die allein das Leben
reizvoll und beziehungsreich gestaltet, zielt weder die Frauenbewegung
noch die Sozialdemokratie ab, indem sie gleiche
oder einander analoge wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklungsmöglichkeiten für jedes Individuum verlangen.
Nach Weininger hat aber das »echte« Weib gar
nicht die Fähigkeit zu diesem Emanzipationsziel (das glücklicherweise
gar nicht existiert, ihn aber das wahre und rechte
dünkt) zu gelangen. Das »echte« Weib ist das, welches kein
oder nicht genug »M« in sich hat, während hingegen alle
Frauen, die irgendwie geistig oder künstlerisch hervorragen,
dies lediglich dem starken Einschlag an »M« danken, der
in ihnen steckt! Eine für den, der sie handhabt, ebenso
bequeme, als für den, dem sie zugemutet wird, kuriose
Logik!
Es scheint wahrlich ein ebenso billiger als terroristischer
Spaß – alles das, was klug, tüchtig, hervorragend
an Frauen ist (da es nun einmal doch nicht wegzuleugnen
und wegzudisputieren geht), dem in ihnen wirksamen Anteil
an »M« zuzuschreiben – und alles Kleine, Feige, Schwache
der männlichen Menschheit einfach ihren Prozentsatz an
»W« zu nennen! Eine Debatte über solch eine These wäre
mehr als lächerlich, da das leere Aufeinanderdröhnen selbstkonstruierter
Fiktionen sie selbst und ihren Wertgehalt genügend
charakterisiert. Wo sich diese Fiktionen gar in der
Wirklichkeit nach Beweisen umsehen, werden sie immer
erfinderischer und immer humoristischer. So seien z. B.
hervorragende, bedeutende Frauen auch durch »ein körperlich
dem Manne angenähertes Aussehen« erkennbar! Ein
Lachen allein kann die Antwort auf diese Behauptung
bilden, der ein einziger Blick in die Wirklichkeit widerspricht.
[16] Diese tiefsinnig vorgebrachte Beobachtung scheint aus
»Meggendorfers Illustrierten« geschöpft; jede Bewegung bringt
ja gewiß neue Karikaturen mit sich, die in weit übers Ziel
hinausschießenden Äußerlichkeiten ihre Gesinnung dokumentieren
wollen. So mag es auch kleine Frauenzimmer geben,
die einen männlichen Habitus sich anzuzüchten bemüht sind,
– um beachtet zu werden. Daß die Bedeutenderen sich unter
ihnen befinden, ist rundweg zu verneinen – ebenso die
Behauptung, daß körperlich-maskuline Anlagen einer bedeutenden
Frau eigen sein müssen und sie als solche
»erkennbar« machen. Vielmehr kenne ich hochbedeutende
Frauen, die gleichzeitig einen reizenden, berückenden weiblichen
Typus repräsentieren. Die deutsche Dichterin, die im
vorigen Jahre hier zu Gaste war und die das stärkste
deutsche Romantalent der Gegenwart repräsentiert, ein
Talent, das an Kraft, Wucht und erschütternder Tiefe seinesgleichen
derzeit in Deutschland nicht hat, ist ein entzückendes
»molliges Weiberl« (ich wähle absichtlich, um des
Kontrastes willen, diesen Ausdruck), eine sieghafte, blonde,
rheinische Schönheit, die nichts »Männliches« in ihrem
äußeren Habitus aufweist, man müßte denn (wie Weininger
dies tatsächlich auch tut) eine gut entwickelte Stirn,
ein prächtiges Schädelgehäuse und vielleicht zwei in Klugheit
strahlende schöne Augen a priori als »männlich« bezeichnen.
Zahllose andere schweben mir vor – jene großen
Frauen der Bühne – bei denen gerade der Zauber ihres
Geschlechtes kulminiert, große, »einsame Seelen« mit echt
weiblichen Schicksalen; an eine Bildhauerin muß ich denken,
an ihre Werke, an diese gewaltigen Steine, denen eine imponierende
Geistigkeit und eine imponierende Kraft Seele
gegeben, so daß sie zu leben, zu rufen, zu ringen und zu
leiden scheinen wie das Leben selbst; und die Person dieser
(noch nicht allgemein bekannten) Künstlerin: ein zartes
[17] Mädchen von vielleicht allzu zartbesaiteter Weiblichkeit, das
fast scheu unter seinen Werken wandelt.
Die »Männlichkeit« im Weibe ist nach Weininger die
»Bedingung ihres Höherstehens«, daher auch – man höre!
– »homosexuelle Liebe gerade das Weib mehr ehrt als
das heterosexuelle Verhältnis«! Denn was das Weib zum
Weibe zieht, wäre die ihm innewohnende Männlichkeit (wie
steht's dann aber mit der Partnerin?), während es »das
Weibliche ist, das das Weib zum Manne treibt«; gewiß:
Weiblichkeit ist nun aber einmal ein »Greuel«, daher »ehrt«
sie die homosexuelle Liebe! Jedenfalls recht interessante
Resultate einer pathologischen Aversion, die nur aus dem
einen Grund verdient ernstlich diskutiert zu werden, weil
sie mit ungeheuerlicher Anmaßung konsequent das Krankhafte
für das Gesunde einsetzt und dementsprechend ihre
»Gesetze« konstruiert. Ein weiteres Merkmal, wodurch
bedeutende Frauen »ihren Gehalt an Männlichkeit« offenbaren,
sei der Umstand, daß ihr männliches sexuelles Komplement
fast nie ein »echter« Mann ist. Ja, aber warum ist
er es meistens nicht? Weil es deren, wie mir scheint, überhaupt
nicht allzu viele gibt. Finden sich bedeutende
Menschen, werden sie einander wohl zu würdigen wissen,
was gerade die Beispiele beweisen, die Weininger zur Unterstützung
seiner Anschauung anführt: die Schriftstellerin
Daniel Stern war die Geliebte von Franz Liszt, der nach
Weininger »etwas Weibliches an sich hatte«, ebenso wie –
nun kommt in der Tat eine sensationelle Enthüllung – wie
– Wagner! Wagner der Gigant – verweiblicht! Nun,
jedenfalls wäre es selbst bei den bedeutendsten Frauen
nicht zu verwundern, wenn solcher Unmännlichkeit
ihr ganzes Herz zufliegt. Auch daß Mysia, die berühmte
pythagoräische Philosophin, dem stärksten Athleten ihres
Landes ihre Hand versprach, zeigt nicht gerade von der
Abneigung der bedeutenden Frau gegen das »echt Männliche«.
[18] Daß Vittoria Colonna, die Dichterin, die Liebe
eines Michel Angelo genoß, beweist wohl, daß sie gewaltiger
Männlichkeit nicht abhold war; – ebenso die selten
erhabene Liebes- und Ehegeschichte der englischen Dichterin
Elisabeth Barret, an deren Krankenlager der gefeierte
Browning trat – schön und strahlend wie ein junger
Gott, gefeiert, berühmt, stark und liebreich – um sich nie
wieder von der von ihm angebeteten Frau zu trennen; und
diese beiden Menschen, die beide zu den bedeutendsten
ihrer Epoche gehörten, die in ihrem dichterischen Schaffen
beide nicht erlahmten, führten das innigste, verständnistiefste,
zärtlichste und glücklichste Eheleben!
Auch daß Schriftstellerinnen »so oft« (?) einen Männernamen
annehmen, hat nach Weininger einen »tieferen«
Grund, als man glaubt: »das Motiv zur Wahl eines männlichen
Pseudonyms muß in dem Gefühle liegen, daß nur
ein solches der eigenen Natur korrespondiert«. So? Nicht
viel eher in dem Vorurteil, welches lange Zeit gegen die
literarische Betätigung der Frauen herrschte, und das selbst
noch in der Zeit der Sonja Kowalewska so stark war, daß
ihr Vater deren Schwester aus dem Hause jagen wollte,
als er erfuhr, diese habe dem Dostojewsky für seine Zeitschrift
eine Novelle »verkauft«, – indem er seinen Zorn
damit begründete, – eine Frau, die heute ihre Novelle
»verkaufe«, – verkaufe morgen ihren Leib! – Heute noch
ist es Frauen sehr schwer, redaktionelle Stellungen zu
erlangen, welche Männer, die ihnen an literarischer Befähigung
und an Namen gleichstehen, mühelos erlangen;
ein weiblicher Theaterreferent – fix angestellt und besoldet
– scheint noch immer eine ungeheuerliche Vorstellung,
die, um sich durchzusetzen, mit tausend Schwierigkeiten zu
kämpfen hat, so daß es nicht verwunderlich wäre, wenn
ein männliches Pseudonym für dieses Amt benützt würde –
lebten wir nicht in einer Zeit, wo es schon aus Prinzip
[19] geboten erscheint, auch in den angefochtensten literarischen
Situationen die weibliche Autorenschaft zu bekennen ....
In dieser zum Kampfe drängenden farbebekennenden
Zeit der neueren Literaturperiode sind denn auch die männlichen
Pseudonyme weiblicher Autoren immer seltener [geworden],
so daß der Grund für ihr ehemaliges Überwiegen
wohl kaum in maskulinen Anlagen, sondern in äußeren Verhältnissen
zu suchen ist.
Die »wahre« (innerliche) Emanzipation des Weibes
wird von Weininger nicht verworfen (wohl aber für unmöglich
erklärt), – aber – »der Unsinn der Emanzipationsbestrebungen
liegt in der Bewegung, in der Agitation«.
»Unsinn« – der entsetzliche Kampf nach Brot, »Unsinn«
der endlich erfolgte Zusammenschluß der als einzelne
Hilflosen, »Unsinn« die planmäßige Organisation der nur
durch ihr Geschlecht von zahllosen wichtigsten Erwerbszweigen
Ausgeschlossenen, die auf die immer seltener gewordene
»Versorgung durch den Mann« – oder aber auf
Hunger, Prostitution oder erdrückende Familienabhängigkeit
angewiesen waren! »Unsinn« die mächtige Propaganda, die
die Ringenden kampfesfähig machen, die ihnen die Mittel
erkämpfen soll, sich vor widerstandslosem, sicherem
Untergang zu retten, »Unsinn« das Sichaufraffen aller jener
weiblichen Existenzen, die nicht »als Leichen auf dem Wege
liegen bleiben« wollen, wie dies nach der Ansicht eines
mir bekannten, sonst bedeutenden Philosophen »nun einmal
sein muß«.
Und warum ist diese Bewegung, diese Agitation nach
Weininger »Unsinn«? Weil »nur durch diese« (und außerdem
»aus Motiven der Eitelkeit – des Männerfanges!« –
Herrjemine!) viele Frauen jetzt Bildungs- und Berufsbestrebungen
entwickeln, deren bloße »psychische Bedürfnisse« sie
nicht dazu getrieben hätten!
[20] Daß es noch andere als »psychische Bedürfnisse« gibt,
nämlich zwingende ökonomische Bedürfnisse, wird bei Weininger
mit keiner Silbe in betracht gezogen. Angenommen
selbst, es wären wirklich nicht immer echte und tiefe
psychische Bedürfnisse, die jemanden zur Ausübung eines
ernsten Berufes und zu ernstem Bildungsstreben führen, so
wird doch wohl jedermann, der die Mühen, Lasten, Verantwortungen
und Schwierigkeiten eines Studiums oder eines
Berufes auf sich nimmt und zu erringen sucht, ernste und
zwingende Gründe hiefür haben – und kaum einer bloßen
Mode folgen!
Natürlich folgt die »Resolution« – in fetten Lettern
– auf dem Fuße: freien Zulaß zu allem – aber nur denjenigen
Frauen, deren »wahre psychische Bedürfnisse« sie
zu »männlicher Beschäftigung« treiben! »Fort mit der ‚unwahren‘
Revolutionierung – weg mit der ganzen Frauenbewegung!«
Solches wird großartig und pompös in Doppelfettdruck
verkündet! – Ganz abgesehen von der bereits erörterten
Verlogenheit – oder Verblendung – welche in den Berufsbestrebungen
der Frauen andere als ernste und zwingende
Gründe zu sehen vermag, – möchte ich doch gerne wissen,
wie man bei der Zulassung zu den Universitäten, zum
Studium und zum Erwerb die »wahren psychischen Bedürfnisse«
denn erkennen soll, um die, die von ihnen getrieben
werden, von den anderen – fernzuhaltenden – solchen, die
vielleicht »nur« von ökonomischen Bedürfnissen getrieben
sind, zu sondern? Vielleicht an dem »männlichen Habitus«
– den sie gewöhnlich gar nicht haben?
Des weiteren wird vorgeschlagen – zwecks Konstatierung
weiblicher Minderwertigkeit – ein Verzeichnis bedeutender
Männer mit dem bedeutender Frauen zu vergleichen
und die erdrückende Überfülle auf dem ersteren zu
ersehen. Ganz gewiß hat es unvergleichlich mehr und
[21] stärkere männliche Genies gegeben als weibliche. Aber sie
gingen auch anders gerüstet, von anderen Voraussetzungen
und Anforderungen der Mitwelt geleitet, in den Kampf! Was
beim Manne als seine selbstverständliche Aufgabe gefordert
wurde, daß er sich Stellung und Bedeutung in der Welt erringe,
tauchte bei der weiblichen Erziehung vergangener Jahrhunderte
nicht einmal als Erwägung auf, und weibliche Ausnahmswesen
mußten einen entsetzlichen, erbitterten Kampf gegen Familie,
Herkommen, Sitte, Gesellschaft – ganze Berge wegverrammelnder
Traditionen – bestehen, um nur überhaupt auf
den Platz zu kommen, auf dem sie beginnen konnten,
um nur überhaupt jenen Boden unter die Füße zu bekommen,
der für den Mann, als ihm gebührend, selbstverständlich
da war. Daß nur wenige diesen gewaltsamen
Sprung aus den tausend Fesseln, mit denen man ihr Geschlecht
umschloß, vollführen konnten – nur die Überragendsten
– daß auch diese Wenigen nicht die Höhe der
größten Männer erreichten, erklärt sich ersichtlich genug
daraus, daß sie eben schon mit erschöpften Kräften am
Kampfplatz anlangten, daß eine Unmenge Energie für die
Vorarbeiten verbraucht werden mußte. Und daß das
Anwachsen des weiblichen Genies auf jenen Gebieten, die
ihm wahrhaft freigemacht wurden, mit jenem der Männer
gleichen Schritt hält, beweisen die großen weiblichen Dichternamen,
welche in den letzten kaum fünfzig Jahren, da dies
Gebiet für die Frauen durch Zulaß zu [Bildungsstätten]gangbarer
gemacht wurde, auftauchten, beweisen die Namen der
genialen Schauspielerinnen, welche von denen der männlichen
Kollegen nicht überstrahlt werden, obzwar man auch
für diesen Beruf die Frau für unbefähigt hielt,
Weiberrollen von Männern spielen ließ und sie ihn erst seit
kaum drei Jahrhunderten ausübt, in welcher Zeit sie seine
höchsten bisher erreichten Gipfel, vollwertig und gleichwertig
mit dem Manne, erklommen hat.
[22] Zur Zeit der Renaissance soll es diese Fesseln nicht gegeben
haben, weibliche Bildungsbestrebungen im Gegenteil
gerne gesehen worden sein, und die Frau hätte (nach Weininger)
damals Gelegenheit gehabt, »zur ungestörten Entfaltung ihrer
geistigen [Entwicklungsmöglichkeiten]«. Die hat sie denn auch
entfaltet zu ästhetischen Zwecken und Zielen, denn
nur solche waren ihr frei gegeben, und die kamen
natürlich nur für die Frauen der begünstigten, vornehmen
Kreise in Frage, wo sich denn auch eine Blüte weiblicher
»Schöngeistigkeit« entwickelte, auf die damals wahre Hymnen
gesungen wurden: daß aber den Frauen der Renaissance –
in ihrer Gesamtheit, nicht als Ausnahmschance – auch soziale
Ämter eröffnet und damit die einzig ernsthafte Anregung
ihnen gegeben worden wäre, ist nicht bekannt, vielmehr
saß trotz Renaissance und Humanismus diese Gesamtheit
in den Frauengemächern und spann.
Das Hauptmoment aller sozialen Erscheinungen, nämlich
das wirtschaftlich-materiell-soziale Moment existiert für
Weininger nicht, wird entweder überhaupt nicht erwähnt
oder rundweg geleugnet. So wagt er es denn auch, die unerhörte
Behauptung aufzustellen, der Zusammenhang der
ökonomischen Verhältnisse mit der Frauenfrage sei ein
viel lockererer als er gewöhnlich hingestellt wird!!! Nur
bei den Frauen aus dem Proletariat, die sich in die Fabrik
oder zur Bauarbeit drängen, anerkenne er diesen Zusammenhang!
Der Kampf um das materielle Auskommen habe mit
dem Kampfe um einen geistigen Lebensinhalt (»wenn« ein
solcher vorhanden sei!!!) nichts zu tun und sei scharf von
ihm zu trennen!
Ja, sollen sich denn die Frauen, die ein materielles
Auskommen suchen und brauchen, alle zum Ziegelschupfen
drängen und nur zum Ziegelschupfen? Sollen sie nicht ein
Anrecht haben, von einer höher qualifizierten und besser
bezahlten Beschäftigung, eben jener, die vielleicht gerade
[23] ihrem geistigen Lebensinhalt entspricht, auch eine materielle
Existenzmöglichkeit zu erzielen? Verzichten denn Männer
in akademischen Berufen (oder anderen, die eine gewisse
Bildung voraussetzen) auf ein Einkommen aus diesen Berufen
(denen sie sich doch voll und ganz widmen müssen,
um in ihnen etwas zu leisten), leben sie samt und sonders
von ihren Renten und begnügen sie sich mit dem »geistigen
Lebensinhalt«, den ihnen diese Berufe vielleicht geben?!
Daß die Frauen es endlich satt haben, sich entweder
zu prostituieren oder zu versklaven (oder nur zum Ziegelschupfen
»freien Zutritt« zu erhalten), daß sie endlich auch
ihre geistigen Fähigkeiten nutzbar gemacht und bewertet
wissen wollen, ist die Grundlage jener »Bewegung«, die
für Weininger ein »Unsinn« ist. Und daß dieser Kampf um Brot
mit dem Kampf nach Daseinsinhalt endlich Hand in Hand
gehen könne, ist das vornehmste Ziel der Emanzipation.
Und dieses Ziel kann mit nichten das »einzelne Individuum
für sich allein erkämpfen«, wie Weininger dies fordert, dem
die Massenbewegung der Frauen wie ein »großes, wildes
Heer« erscheint, das die »wahre« Befreiung nicht erringen
könne. Es gibt keine »wahre« Befreiung ohne wirtschaftliche
Befreiung! Und in dem Kampfe danach wäre das »einzelne
Individuum für sich allein« hilflos verloren, – wehr-
und waffenlos würde es von der kompakten Masse der
Gegner – auch ein »großes, wildes Heer« – in Grund
und Boden getreten! Um neue soziale Tendenzen durchzusetzen,
um dem Trust auf allen Linien gerüstet zu begegnen,
bedarf es des Zusammenschlusses aller einheitlichen
Willen, – des »Unsinns« der Organisation.
Wenn »M« über die Psychologie von »W« »Enthüllungen«
zu machen im Begriffe ist, pflegt er manchmal
von einer Art Gewissensbissen befallen zu werden,
leisen Zweifeln an der Richtigkeit der abgegebenen lapidaren
Urteile. Woher und wieso »M« überhaupt imstande sein soll,
die geheimsten psychischen Vorgänge im Weibe zu »enthüllen«,
darauf hat Weininger natürlich seine Antworten.
Das Recht dazu gebe ihm nämlich erstlich die Frau
selbst, da sie entweder Falsches von sich aussage oder überhaupt
nichts zu sagen wisse; so habe z. B. noch keine
Frau ihre Empfindungen und Gefühle während der Schwangerschaft
zum Ausdruck gebracht; Scham hätte sie gewiß
nicht daran gehindert, fährt er fort, denn nichts läge einer
schwangeren Frau ferner als Scham über ihren Zustand.
Wie schamlos es von Seite des Mannes wäre, diese
Scham zu erwarten, scheint er aber gar nicht zu
ahnen!
Daß sich in früheren, unfernen Zeiten ein wahrer
Sturm gegen eine Frau erhoben hätte, die es gewagt hätte,
ohne Pseudonym literarische Bekenntnisse über den Zustand
ihrer Schwangerschaft zu geben, ignoriert er vollständig;
auch daß sich in der kurzen Epoche, da überhaupt realistische
Darstellungen der Lebensvorgänge, wie sie sich bar
aller verlogenen Illusionen wirklich abspielen, in der Literatur
[25] sich Raum verschafft haben, auch die Frauen – oft mit
wenig Talent, oft aber auch mit geradezu elementarem
Talent und wahrhaft unerschrockenem Mut – sich daran
beteiligt haben, daß gerade über diesen Gegenstand von
Seite von Ärztinnen, Dichterinnen, Sozialreformerinnen und
Nationalökonominnen bereits eine kleine Literatur vorliegt,
scheint er gar nicht zu wissen.
Ebenso fest fundiert ist auch die andere Antwort, die
auf die Frage, woher die Möglichkeit solcher Enthüllungen
dem Manne kommen solle, gegeben wird: aus dem, was in
den Männern selbst an »W« ist!
Nun, gerade über das Phänomen der Schwangerschaft
dürfte sich von diesem »W« (im »M«) kaum Verläßliches
aussagen lassen!
Und auf Grund dieses erbrachten »Befähigungsnachweises«
wird nun in der Tat »ausgesagt«.
Vor allem wird der »psychologische Unterschied
zwischen M und W« nach weitschweifigen Auseinandersetzungen
über deren physiologische »Unterschiede« –
kurz und bündig, ohne Beweise, wohl aber mit einer Fülle
falscher Behauptungen – damit erklärt, W gehe vollständig
im Geschlechtsleben, »in der Sphäre der Begattung« auf,
während M noch für eine Menge anderer Dinge Interesse
habe: »für Kampf und Spiel, Geselligkeit und Gelage, Diskussion
und Wissenschaft, Geschäft und Politik, Religion
und Kunst.«
So?! Nur »M« hat für diese Dinge Interesse?! Und
wenn ich als Frau (mit tausenden anderen Frauen) auf
diese kühne Behauptung, die allein die Trägerin der These
sein soll, W sei ganz und gar Sexualität und sonst nichts,
– wenn ich nun daherkomme – und aussage und beweise,
daß ich ebenfalls »ausgefüllt und eingenommen bin« von
all diesen Dingen, ja gerade von diesen Dingen, von
[26] Kampf und Spiel, von Geselligkeit und Gelage, – jawohl! –
von Diskussion und Wissenschaft, von Geschäft und Politik,
von Religion und Kunst, – jawohl! – und nicht eine dieser
Interessen aus meinem Leben scheiden könnte, – was dann?
Dann – ja dann ist nicht etwa die These falsch und
flach und hohl – sondern ich und die Tausende von andern
Frauen, die mit mir daherkamen, sind eben keine »echten«
Frauen, sondern nur zu zwei Dritteln oder gar nur zur
Hälfte Frauen! – Einen bequemeren und platteren Schild
hat kaum irgend jemand sich jemals geschmiedet! – Daß
man von einer »Echtheit«, das heißt hier Kulturfremdheit
und Verwilderung, die von Tag zu Tag seltener wird und
deren vollständiges Verschwinden eben nur von der Eroberung
größerer Bildungsmöglichkeiten abhängt, – nicht ausgehen
darf, um ein »Gesetz« aus ihr zu konstruieren, das für
Millionen Exemplare, die dieser »Echtheit« längst entsprungen
sind, Gültigkeit haben soll, – das ist so flach auf der Hand
liegend, daß es beinahe eine Schande ist, es erst zu explizieren.
Überhaupt wird Weiningers Polemik in dem Moment, wo
sie aus den Grenzen der reinen Spekulation heraustritt in
den Kreis der Erfahrungen, der Tatsachen, des sichtbarlich
Wahrnehmbaren erstaunlich platt. So heißt es gleich nach
der so fest fundierten Behauptung, W gehe ganz und gar
in der Sexualsphäre auf, – an Entwicklung möge glauben
wer da wolle, nur darauf komme es an, wie sie (die
Frauen, an anderer Stelle die Juden) heute sind. So? Nur
darauf kommt es an, wie sie heute sind? Nicht etwa auch
darauf, wie sie wurden und wie sie sichtlich werden? –
In rasender Rotation bewegen sich die Gestirne, Glühendes
erstarrt, Starres wird flüssig, Flüssiges verdampft, Äonen
türmen Gebirge auf und waschen sie wieder fort, Meere
werden zu Land und Länder zu Meer, tausende Formen
durchläuft das Leben, ehe die primitive Zelle in komplizierter
Vielfältigkeit triumphiert, alles wandelt sich ruhlos,
[27] alles wird, wächst, schwindet, kehrt wieder, – nirgends
Stillestehen und Ende, – »alles fließt« – und im Buche
eines Gelehrten des XX. Jahrhunderts wird Wandlung durch
Entwicklung – bezweifelt!
Weininger verläßt nun vollständig das Gebiet der
Theorie und begibt sich auf den Boden der Tatsachen. Aussage
folgt auf Aussage, – und was da kurz und eilig, in
rascher Folge nacheinander behauptet wird, ohne durch die
geringste reale Beweisführung gestützt zu sein, mutet wie ein
einziges Wirrsal an, – ein Labyrinth, in dem sich der, der
es konstruierte, selbst nicht mehr zurechtfindet. Mit einer
so dezidierten Bestimmtheit werden da fixe Vorstellungen
als unanzweifelbare Tatsachen hingestellt, – daß sie der
Polemik förmlich entheben, da ihre monströse Verkehrtheit
schon durch ihre Zitierung erhellt:
»W befaßt sich mit außergeschlechtlichen Dingen nur
für den Mann, den sie liebt, oder um des Mannes willen,
von dem sie geliebt sein möchte.« Lüge! Mehr läßt sich
auf eine solche Behauptung nicht erwidern. »Ein Interesse
für diese Dinge an sich fehlt ihr vollständig.« Abermals
Lüge, einfach schlechtweg Lüge!
Wenn eine »echte« Frau z. B. Latein lerne, so tue
sie das nur, um etwa ihren Sohn darin zu überhören! –
Bedarf die – Albernheit (man kann es beim besten Willen
nicht anders nennen) dieser Behauptung und ihrer Benützung
als Faktor zur Beweisführung weiblicher Minderwertigkeit
– einer Debatte?
Daß W »nichts ist als Sexualität« – M »noch etwas
darüber« – das zeige sich besonders deutlich in der Art,
wie M und W ihren Eintritt in die Periode der Geschlechtsreife
erleben. M empfinde die Zeit der Pubertät krisenhaft
und beunruhigend, was auch begründet sei durch – hier
wird ein physiologisches Phänomen genannt – »über das
der Wille keine Gewalt hat«. Das Weib aber finde sich
[28] ganz leicht in die Pubertät. – So? Ist es dem Autor
gänzlich unbekannt, wie eminent krisenhaft, beunruhigend,
aufregend und gefährlich gerade beim Weibe diese Epoche
sich ankündigt, – da ja auch sie von einem Phänomen
begleitet ist, – »über das der Wille keine Gewalt hat«?!
Unbekannt auch, daß hysterische Schwärmereien, die
gewöhnlich blinde Aufopferung und entsetztes Abwenden
von aller bewußten Sexualität (die mit geheimen Schauern
wie eine fremde, feindliche Macht geahnt wird) zum Substrate
haben, gerade in dieser Zeit emporschießen, daß eine
übersinnliche Hingabe zur treibenden Kraft des ganzen
Wesens wird, – wie sie Ibsen in Kaja Fosli und in der
Hedwig der »Wildente«, Hauptmann in Ottegebe im »Armen
Heinrich« verkörperten?!
»Besonders deutlich« beweisen daher Behauptungen
solcher Art nur das Eine: daß alles, was ist und wie immer
es ist, herbeigeholt, und alles, was nicht ist, konstruiert
wird, um vorgefaßte Fiktionen zu stützen.
Ein blindes Vorbeisausen am wahrhaft Ursächlichen,
an wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, in denen
die Gründe so mancher Erscheinungen wurzeln, ist ganz
auffällig ersichtlich und kulminiert in verwirrender Verwechslung
natürlicher Anlagen mit bloßen Zeiterscheinungen
von rein sozialer Natur. Warum – so wird gefragt –
denken Knaben nicht ans Heiraten, während selbst die
kleinsten Mädchen schon darauf »erpicht zu sein scheinen«?
Sehr einfach: weil die Mädchen von einem Erziehungsplan,
der eine andere selbständige Existenz als die Heirat nicht
in Betracht ziehen konnte, darauf gedrillt wurden. Darum
denken sie schon bei der Puppe ans Heiraten, geradeso wie
Buben, denen man den Säbel als Spielzeug in die Hand
gibt, sich gewöhnlich eine kriegerische Karriere in lockenden
Farben ausmalen, womit doch sicher nicht bewiesen ist,
daß sie ihrer »Anlage« nach Menschenschlächter sind und
[29] in ihrem späteren Leben begeisterte Anhänger des Militarismus
»bleiben« werden.
Nur wahrhafte Blindheit für alle sozialen Zusammenhänge
konnte auch die unglaublich naive Frage stellen,
warum denn beim Weibe die Brautnacht eine so viel
größere Rolle spiele als beim Manne der erste geschlechtliche
Akt. Dio mio! Es soll ein Beweis der absoluten, alles andere
ausschließenden Sexualität von »W« sein, daß die Brautnacht
der Frau – ihre Defloration durch den Einzigen,
dem sie voraussichtlich angehören wird, mit dem sich ihr
ganzes Schicksal eng verbindet, – daß diese Nacht, die ein
aufwühlendes physisches und psychisches Erlebnis bringt,
nachdem schon der vorangegangene Tag ihr eine ganz
neue soziale Stellung, eine Umwälzung ihrer wirtschaftlichen
Existenz bezeichnete, – der Frau mehr bedeutet, als dem
Manne der Fall in die Arme der ersten Dirne, mit der ihn
eine Stunde später keine noch so flüchtige Beziehung mehr
verbindet! Und trotzdem wird auch dieses Erlebnis von
feinfühligeren Männern als aufwühlendes, aufregendes und
lange nachwirkendes Geschehnis empfunden, – weil eben
physiologische Veränderungen jeden Organismus auch
psychisch erschüttern.
Unsinn auf Unsinn wird mit Tiefsinn vorgetragen:
nur beim Weibe sei die Sexualität »diffus« ausgebreitet
über den ganzen Körper, jede Berührung an welcher Stelle
immer errege sie sexuell. Ist das nicht gerade umgekehrt
beim Manne der Fall – und die Möglichkeit, sexuell erregt
zu werden, bei »M« nichts weniger als »streng lokalisiert?!«
Da das Weib durch und durch Sexualität ist, kenne es
natürlich überhaupt keine andern Begriffe; ja es könne überhaupt
keinen Begriff bewußt erfassen, es fehle ihm die
Bewußtheit, es könne nur in verschwommenen Vorstellungen,
»in Heniden« denken – daher sei ihm selbst
ein »intellegibles Ich« abzusprechen, – eine Seele! »Darum«
[30] könnte es auch niemals ein weibliches Genie geben, –
»denn« – wie könnte ein seelenloses Wesen Genie haben?
Gewiß eine klappende, – klappernde Logik, eine Logik
mit gebrochenen Gelenken und durcheinander geschüttelten
Gliedern!
»Das« Weib lebt weniger bewußt als »der« Mann!
Ja, vielleicht, – unter ganz bestimmten Verhältnissen. In
vollkommen geschützten Bourgeoiskreisen vielleicht, wo die
Tätigkeit der Frau sich ausschließlich auf ihr häusliches
Milieu beschränkt, während der Mann durch seinen Beruf
im Kontakt mit dem Leben steht und daher – vielleicht –
eine »bewußtere« Existenz führt als sie. Aber wie steht's
zum Beispiel beim Arbeiter, wo der Mann nicht Handel,
Industrie, Wissenschaft oder Kunst, sondern aufreibende,
schwere Taglöhnerarbeit betreibt? Führt er auch ein »[bewußteres]«
Leben als »das Weib«, oder leben sie nicht etwa
beide (soferne noch kein frischer Windzug politischer Stellungnahme
zu ihnen gedrungen ist) ein dumpfes, stumpfes, erkenntnisloses
und qualenreiches Frohndasein?! Der Bäckergeselle
z. B., der, wie jüngst durch eine Enquête eruiert wurde,
in manchen Fällen von Abends 8 Uhr bis Mittags 12 Uhr
beim Teigtrog steht, dann von 12 bis 8 Uhr den notwendigsten
Schlaf nachholt und um 8 Uhr wieder in die Backstube
geht, lebt er etwa ein »bewußteres« Dasein als »das« Weib?!
Alle diese Einzelheiten zeigen aber deutlich, daß es
sich überall darum handelt, gerade den frischen Luftzug
einer maßvollen Betätigung, eines Berufes, der nicht den
ganzen Menschen frißt, der ihm Zeit läßt zur Selbstbestimmung
und zum Kontakt mit der Welt und ihn dabei menschenwürdig
ernährt, den Menschen erringen zu helfen, um ihnen
eine Seele zu geben. Weder im abgesperrten Heim, noch
im Ghetto, noch am Teigtrog läßt sich »Seele« erwerben,
kann sich Intellegiblität entwickeln.
Ausgehend von der falschen Voraussetzung, der ganze
theoretische Streit in der Frauenfrage drehe sich
darum, »wer geistig höher veranlagt sei, die Männer
oder die Frauen«, eine Voraussetzung, die umso naiver und
lächerlicher ist, als es ja darauf gar nicht ankommt,
um den Wert einer Gattung zu bestimmen und eine von
solchen Gesichtspunkten ausgehende Bewertung einen
erbärmlich kleinlichen Standpunkt verraten würde, gelangt
Weininger zum Problem der Begabung und Genialität überhaupt.
Dieser Abschnitt seines Buches scheint mir die
anderen Kapitel wie eine Warte zu überragen, trotzdem auch
hier unvermutete, vehemente Sprünge in die unsinnigsten
Schlußfolgerungen die sinnigsten Auseinandersetzungen abreißen
und verzerren und den Eindruck wilder Purzelbäume
hervorrufen, die ein ruhiges, schönes Wandeln plötzlich
unterbrechen. Glänzend und plastisch, von unzweideutiger
Prägnanz ist der Stil, eine wunderbare Klarheit herrscht vor,
solange die fixe Idee nicht mitspricht. Abgesehen von einigen
Ausfällen von peinlicher Banalität, die eine interessant ansetzende
Gedankenreihe manchmal grob unterbrechen, – wie
z. B. die nicht sehr originelle Mitteilung, daß »ganz große«
Männer nicht dem jungen Fuchse auf der Mensur »gleichen«,
noch dem jungen Mädchen, das sich über die neue Toilette
nur freut, weil ihre Freundinnen sich darüber ärgern, – finden
[32] sich da feine und zum Teile auch eigenartige Beobachtungen
über das Wesen des genialen Menschen, bis wieder ein
mehr als gewagtes Salto mortale die ganze Betrachtung
zerreißt.
Schon die Behauptung, daß das geniale Bewußtsein
das vom »Henidenstadium« (vom Stadium der verschwommenen,
mehr instinktiven als intellektuellen Vorstellungen)
am weitesten entfernte sei, ist sehr zu bezweifeln: ist doch
das Phänomen der halluzinativen, visionären Genialität
und Produktionsfähigkeit zahllose Male beobachtet worden,
ja es ist fast als typisch zu betrachten, da bei den meisten
und bedeutendsten unter den »Schaffenden« der Zustand
der Produktion fast immer von einer Art visionärer Entzücktheit
getragen ist, die weitab liegt von »grellster Klarheit
und Helle« mit der derselbe Schaffende sich vielleicht als
Kritiker betätigen kann. Wenn nur gar aus dieser Behauptung,
die sich durchaus nicht als stichhältig erweist, gefolgert
wird, Genialität offenbare sich als eine Art höherer
Männlichkeit und »darum« könne W nicht genial sein, so
ist dies gewiß eine fast kindische Dialektik zu nennen, die
sich der abstrakten Spekulation entrückt, und ins Licht der
realen Wirklichkeit gestellt, an ihren gewaltsam aneinandergeschraubten
Zusammenhängen erkenntlich macht. Die auf
das Weib sich beziehende Schlußresumierung der aus der
ganzen Theorie gewonnenen Resultate zeigt den traurigen
Mut einer kaum glaublichen Unverfrorenheit: die Frau bringe
der Genialität kein anderes Verständnis entgegen, als eines,
das sich eventuell an die Persönlichkeit eines noch lebenden
Trägers knüpft!
Aus solchen Aussprüchen, aus denen sich der auf
Tatsachen sich beziehende und berufende Teil dieses Buches
zusammensetzt und die deswegen in Debatte gezogen werden
müssen, erhellt ein klägliches Abgleiten und Danebengreifen,
sowie das nachgiebige Gebiet der Spekulation verlassen und
[33] das harte der Tatsachen und der praktischen Folgerung
betreten wird: kein noch so »wissenschaftlich« angelegtes
und mit innerlicher Tiefe entworfenes Fundament kann für
einen Bau von Bedeutung sein und ihm zu Werte verhelfen,
wenn der Bau selbst aus morschem Material gezimmert ist,
das die Verwesung schon in sich trägt.
Neben sehr treffenden Kriterien der genialen Veranlagung
werden solche von erstaunlicher Einfalt aufgestellt,
die den Autor schließlich zu der Behauptung führen, kein
männliches Wesen sei ganz ungenial! So mancher, der von
seiner Genialität bisher keine Ahnung gehabt hat, wird dies
schmunzelnd zur Kenntnis nehmen! Die »absolute Bedeutungslosigkeit«
der Frauen wird durch Aufzählung verschiedener
Berufe erhärtet, in denen die Frauen nichts geleistet
hätten, ohne daß mit einer Silbe daran gerührt wird, ob sie
wohl die historische Möglichkeit dazu hatten oder nicht.
Daß sie in der Musikgeschichte, in der Architektur, in der
Plastik und Philosophie nicht das Geringste geleistet hätten,
wird ihnen vorgehalten, in einem Atem wird aber gleich
darauf eingestanden, der weibliche Baumeister sei »eine fast
nur Mitleid weckende Vorstellung«. Daß diese Vorstellung
und andere ähnliche jahrhundertelang überhaupt einen Wall
bildeten, der alles weibliche Streben von solchen Richtungen
ablenkte, wird natürlich nicht gesagt; auch nicht, daß, seit in
diesen Wall durch den Ansturm der Frauenbewegung einige
Breschen geschlagen wurden, sehr tüchtige und bemerkenswerte
weibliche Leistungen sowohl in der Architektur (man
denke an die nach dem Leben gezeichnete Figur der Ursine
in Reickes berühmtem Roman: »Das grüne Huhn«) als besonders
in der Plastik zu verzeichnen sind: Sondererscheinungen
natürlich, aber die geringe Zahl erklärt sich
doch klar genug daraus, daß es ja eine selbstverständliche
Erziehung jedes Mädchens zu einem Berufe noch nicht gibt,
daher der Prozentsatz, der sich trotz des Mangels an Förderung
[34] und Antreibung aus eigener Kraft zu einem Berufe
schwieriger wissenschaftlicher oder künstlerischer Natur
durchringt, doch naturgemäß ein weit geringerer sein muß,
als die Anzahl der Männer, die alle zur Berufswahl verhalten
werden.
Daß die Frauen in der Philosophie nichts geleistet
hätten, ist unrichtig, nur gestatteten ihnen die Zeitverhältnisse
meistens nicht, dozierend oder publizierend vor die
Öffentlichkeit zu treten; im Mittelalter entwickelte sich ein
hohes geistiges Kulturleben der Frauen – hinter den
Mauern der Klöster. In den lichten Zeiten blühenden
Hellenentums waren die Philosophinnen Griechenlands, zu
denen die früher erwähnte Mysia, Theana und andere
gehörten, bekannt und berühmt. Gerade für die Philosophie
ist die Begabung der Frauen unzweifelhaft, denn die weibliche
Natur neigt viel eher zu kontemplativer, nach innen gekehrter
Betrachtung, als zu irgend welcher äußeren Agitation,
obzwar sie unter dem Ansporn der Notwendigkeit auch
diesen Mangel – eine Art seelischer Schwerfälligkeit
– aufzuheben vermag, wie die rührigen Betätigungen der
Frauenvereine beweisen.
Daß die Frauen in der Musikgeschichte nichts leisteten,
dürfte wohl mit ihrem Mangel an entsprechender beruflicher
Betätigung (in der Orchestermusik, als Kapellmeister etc.)
herrühren, die sie in fortwährenden Kontakt mit musikalischer
Theorie und musikalischer Praxis brächte; vielleicht
ist auch wirklich eine geringere Begabung dazu vorhanden,
denn es soll ja durchaus nicht geleugnet werden, daß für
manches Schaffensgebiet das weibliche Geschlecht weniger
befähigt ist als das männliche, z. B. dürfte das in der
Chirurgie ganz sicher der Fall sein. Weil aber irgend eine
Spezies nicht ganz »gleiche« Talente hat wie eine andere,
ist sie doch gewiß nicht minderwertig, soferne sie auf einem
andern Gebiete brauchbar ist. Die gegenseitige Unentbehrlichkeit,
[35] Unersetzlichkeit der beiden Geschlechter für einander
bedingt schon ihre Gleichwertigkeit! Eine geistige Rangordnung
ist überhaupt – so will es mir scheinen – nur von
Individuum zu Individuum anwendbar; nicht einmal unter
Völkern und Stämmen darf das vergleichende Urteil eine
Abfertigung en masse sein, geschweige denn dort, wo es sich
um die eine Riesenhälfte der Menschheit handelt, die mit ein
paar mühsam herbeigeschleppten Grenzpfählen in eine eigene
Wertabteilung sperren zu wollen, eine lächerliche Torheit
ist, weil in jedem Augenblick Millionen Individuen aus der
bloßen Gattungssphäre heraus- und über diese Grenzen
hinüberspringen.
Eine »echt weibliche Anlage« darin zu sehen, daß
viele Frauen ihre Männer belügen und betrügen und nur
kleinliche Wirtschaftsinteressen kennen, scheint eine Verblendung,
die nur in dem überraschenden Bekenntnis des Autors,
daß »jeder hervorragende Mensch zeitweise an fixen Ideen
leide«, ihren Schlüssel haben dürfte. Ist es ein »Naturgesetz«,
daß viele Frauen lügen und trügen oder tun sie dies nicht vielleicht
deshalb, weil sie abhängig und wirtschaftlich ewig bevormundet
sind?! Und wenn sie sich nur für Kleinlichkeiten interessieren,
dürfte das nicht darin seinen Grund haben, daß
größere Interessen in ihrem armseligen Hausdasein überhaupt
nicht an sie herantreten? Und haben Männer in ähnlich
eingeengtem sozialen Wirkungskreis etwa einen größeren
Horizont? Und muß dies so bleiben, unabänderlich – ein
»Naturgesetz«?!
Die Anwürfe gegen das weibliche Geschlecht, die den
Hauptteil und Kernpunkt dieses vielbesprochenen Werkes
bilden, zerschmelzen bei der geringsten kritischen Beleuchtung
wie dünner Schnee in der Wärme. Man staunt, daß
die Tendenz des Werkes überhaupt ernst genommen werden
konnte, da deren Argumente ihre Hohlheit und Plattheit so
sichtlich zur Schau tragen, soferne nicht geradezu ohne
[36] jedes Argument Aussprüche von gehässiger Unwahrheit als
»Tatsachen« vorgetragen werden; zum Beispiel der, W
verfüge überhaupt nur über eine Klasse von Erinnerungen:
solche, die mit dem Geschlechtstrieb und der Fortpflanzung
zusammenhängen!! Andere Erinnerungen als an den Geliebten,
Bewerber, Hochzeitsnacht, Kind und Puppen, »Zahl,
Größe und Preis der Bukette, die sie auf dem Balle erhielt,
und an jedes Kompliment ohne Ausnahme, das ihr je
gemacht wurde«, habe das »echte« Weib aus seinem Leben
überhaupt nicht!! Das »echte« Weib! Ja, wo steckt es denn,
das Urtier?!
Es existieren gewiß weibliche Gehirnchen, in denen
Erinnerungen solcher Art vorherrschend sind: aber das
beweist doch nur, daß kein anderes Material für die Erinnerung
vorhanden ist, daß keine wichtigeren Erlebnisse
in solch ein Dasein getreten sind, daß dieses also um seinen
besten und wertvollsten Inhalt betrogen wurde. Man gebe
ihnen Beruf und Beschäftigung, und die Kotilloneindrücke
dürften merklich verblassen. Daß es dem psychischen Leben
der Frauen aber nicht nur an Gedächtnis, sondern auch an
»Kontinuität« gebricht, wird daraus abgeleitet, daß sie sich
eher und leichter in äußerlich veränderte Verhältnisse hineinfinden
als Männer. Während zum Beispiel Männer, die plötzlich
reich geworden sind, noch lange den Parvenü verraten,
finden sich die Frauen viel schneller in die veränderte
Stellung; nun, das scheint mir eher eine ganz gute Qualität
zu sein als eine schlechte, nämlich die, daß sie eben in
Äußerlichkeiten nicht verwurzeln.
Einen merkwürdig frömmelnden Beigeschmack hat die
Lobpreisung der Pietät. So sehr Ehrfurcht vor allen
echten Werten geboten ist und den, der ihrer fähig ist,
selbst ehrt, umso weniger erscheint die bloße Pietät als
ein wirklich wertverratendes Phänomen. Unantastbare Verehrung
zu fordern für Vergangenes und Gewesenes, oft aus
[37] gar keinem anderen Grunde als eben weil es tot und vergangen
ist, scheint mir ein gewaltsames Einengen aller
Kritik und daher auch der Möglichkeit einer Weiterentwicklung
und führt zweifelsohne zu blinder Glorifizierung des Vergangenen
und prinzipieller Verdammung alles Werdenden
und Künftigen, wie sich dies auch tatsächlich in Weiningers
Buch ganz auffällig zeigt: seit 150 Jahren, – so behauptet
er, – sei Deutschland ohne großen Künstler und ohne
großen Denker. Eine sehr kühne Behauptung! Und wie
verträgt sie sich mit seiner Stellung zu Wagner, den er den
größten Genius aller Zeiten nennt?!
Wenn er diese kühne Behauptung zu unterstützen
meint, indem er ausführt, man müsse immer wieder nach
den Werken der Klassiker greifen, man müsse zum Beispiel
Klopstock immer wieder aufschlagen, um ungeduldige Erwartung
bei der Lektüre zu empfinden (?!), so dürfte er das
Beispiel nicht allzu überzeugend gewählt haben! Seit
150 Jahren kein Dichter in Deutschland, der so bedeutend
fesselnd und anregend wäre wie – Klopstock?!
Pietät für das Vergangene bedingt aber, nach Weininger,
vor allem Pietät gegen sich selbst, gegen die eigene
Vergangenheit. Ja, warum soll sie denn aber durchaus mit
Pietät verehrt werden, diese wie immer geartete Vergangenheit?!
Und ist es wirklich ein »Merkmal des hervorragenden
Menschen«, daß er mit »weihevoller Sorgfalt« den scheinbar
geringfügigsten Dingen aus seinem Leben einen Wert beilegt?!
So sehr instruktiv es ist, in Nebensächlichem,
»scheinbar Geringfügigem« treibende Momente der Entwicklung
zu erkennen, vielleicht kleine Anstöße größerer Konsequenzen,
– so sehr übertrieben muß es erscheinen, einen
»weihevollen« Selbstkult mit solchen Erinnerungen zu treiben,
denn dann wäre ja die vorerwähnte allzu getreue Erinnerung
des »echten« Weibes an Ball- und Liebesabenteuer und
die weihevolle Sorgfalt, mit der diese Erinnerung angeblich
[38] gepflegt wird, auch »ein Merkmal des hervorragenden
Menschen«.
Aber nein: denn dem Weibe geht die Pietät ab, was
schon aus dem Beispiel der – Witwen zu ersehen sei, mit
deren Pietät für den heimgegangenen Gatten es so schlecht
steht, daß die Frevlerinnen manchmal sogar einen zweiten
nehmen.
Daß sich die indischen Witwen pietätvoll verbrennen
ließen, um an Stelle des im Tode vorausgegangenen Gatten
rücksichtsvoll die dunkle, schwere Pforte, die sich nach
indischer Vorstellung dröhnend hinter dem vom Leben Geschiedenen
schließt, aufzufangen, beweist also wohl ihre
»Vermännlichung« (denn das ist identisch mit Höherstehung)
gegenüber den vom Geiste frecher Aufklärung erfüllten
Europäerinnen?! Warum eine besondere Pietät der
Witwen für ihren verstorbenen Gatten zu verlangen sein
sollte, wenn nicht auch bei seinen Lebzeiten ein inniges
Verhältnis zwischen den Eheleuten herrschte, ist nicht recht
ersichtlich. War dies aber der Fall, so bleibt auch eine
treue, warme, schmerzliche Erinnerung, ja nicht selten ein
nie wieder zu bannendes Leid und oft eine fanatische Hingabe
an den Toten zurück, wofür Sage und Geschichte genügende
Beispiele liefern. Von »edlen Frauen«, die die
Witwenhaube nie wieder ablegten, wird uns schon im Lesebuche
erzählt, aber vom trostlosen Witwer ist noch nichts
vermeldet worden. Wie steht's denn mit seiner Pietät?
Aus Pietät für das Vergangene, Vergehende erkläre
sich auch das Unsterblichkeitsbedürfnis, welches angeblich
den Frauen »völlig abgeht«. Im Gegenteil, die meisten
haben es. Aber das Unsterblichkeitsbedürfnis, ja selbst
die Erklärung des (leicht begreiflichen) Wunsches nach
psychischer Unsterblichkeit, die Weininger zutreffend in
Gefühlsgründen findet, können noch nicht den Glauben
an ein individuelles Fortleben nach dem Tode demjenigen
[39] geben, der ihn nicht hat, wenn er auch noch so stark das
Bedürfnis danach empfindet: denn Gefühlsgründe ändern
kein Titelchen an der Auffassung der Vernunft.
Natürlich hat das Weib auch keine Logik. Es kennt
weder logisches »Gesetz« noch moralische »Pflicht«. »Also«
hat es überhaupt kein Ich. »Das absolute (?) Weib hat
kein Ich.« Dies ist nach Aussage des Verfassers »ein letztes,
wozu alle Analyse des Weibes führt«. Als historische Stützen
seiner Anschauung beruft er sich auf – die Chinesen! Seit
ältester Zeit sprechen sie dem Weibe eine eigene Seele ab.
Sie zählen nur die Knaben, haben sie nur Töchter, so betrachten
sie sich als kinderlos, – die Chinesen! Nun wissen
wir, wie wir es zu machen haben!
Übrigens geht's auch bei uns diesbezüglich noch recht
chinesisch zu: Las man doch jüngst in einer Tageszeitung
in einem Bericht über das italienische Königspaar, der es
den Lesern offenbar »menschlich näherbringen« sollte, die
Königin Elena habe bei ihrer ersten Entbindung den König
und ihre Schwiegermutter »mit Tränen in den Augen« »um
Verzeihung gebeten«, daß das Kind ein Mädchen sei!
Chinesenfreunde können also zufrieden sein.
Daß unter den Kirchenvätern Augustinus eine höhere
Meinung vom Weibe gehabt habe als Tertullian und
Origenes wird dem innigen Verhältnis des ersteren zu seiner
Mutter zugeschrieben. Es scheint also die Bewertung des
Weibes von Privaterlebnissen abzuhängen, weshalb wir uns
auch über die Seelenlosigkeit, Ichlosigkeit etc. beruhigen
können; ebenso über die »Verhältnislosigkeit« des Weibes.
W hat nämlich »kein Verhältnis zu –« nun folgt irgend
ein Phänomen (Wahrheit, Ethik, Scham, Mitleid etc.) –
eine ständig wiederkehrende Phrase.
Die Seele des Menschen – des Mannmenschen natürlich
– sei ein Mikrokosmus: er habe »alles« in sich und
könne daher alles werden, je nachdem, was er »in sich
[40] begünstige«: Höchst- oder Tiefststehender, Tier, Pflanze, ja
sogar Weib! (Ja, aber – in Parenthese bemerkt – wie erfährt
man denn nur, da er doch nur das eine oder das andere
wirklich wird, was »alles« in ihm steckt?) »Die Frau aber kann
nie zum Manne werden!« Wehe, wehe über sie! Überhaupt
ist sie eigentlich nichts anderes als ein »rudimentärer Mann«!
Die »Vollendung« zum Ganz-Mann bleibt ihr natürlich versagt.
So Strindberg in seiner Apotheose des Weiningerschen
Werkes, die man als die Meinung einer Autorität
immer wieder anführen hört: eine beinahe lachhafte Vorstellung,
jemanden als [Autorität] in einer Sache nennen zu
hören, die eine Verherrlichung seiner eigenen, weltbekannten
fixen Idee, seiner eigenen manischen Vorstellung,
ohne deren Erwähnung sein Name gar nicht genannt werden
kann, bedeutet. Strindberg, der seit mehr als dreißig Jahren
vor der breitesten Öffentlichkeit »am Weibe leidet« (um
das bekannte Nietzsche-Wort »am Leben leiden« passend zu
variieren), – als kritische Autorität für ein Buch des Weiberhasses!
Jawohl, er, Strindberg, hat die Tendenz des Buches
und die auf sie bezüglichen Ausführungen ernst genommen!
Aber Strindberg, der einst ein großer Dichter war, nimmt
nun auch Legenden für konkrete Ereignisse, sieht Halluzinationen
für Wirklichkeit an, glaubt sich überall von
Gespenstern umgeben und hält sich selbst, seines ehemaligen
Atheismus halber, für einen Höllenbraten, nach
dem Satan selbst (in leibhaftiger Gestalt!) die Krallen ausstreckt
und dem er nur entrinnen zu können glaubte durch
bußfertige Rückkehr in den Schoß der – Kirche! Ist er also
wirklich Autorität, und gar da, wo seine eigene schmerzensreiche
Wahnidee in Frage kommt?!
Die Tiefe und Breite der ganzen Anlage des Buches,
die Versenkung in alle Disziplinen der Wissenschaft erscheint
wie eine tragische Versprengung der besten Kräfte,
wenn man die greifbaren Resultate, – die Aussprüche, die
[41] dieses Hinabtauchen zum Urquell aller Weisheit zeitigte,
vernimmt: »Das Denken des Weibes ist eine Art Schmecken«,
oder: »selbst die Phantasie des Weibes ist Irrtum und Lüge,
die des Mannes hingegen erst höhere Wahrheit«! Jeder
Mann kann zum Genie werden, wenn auch mancher erst
in seiner Todesstunde! (Es verliere also keiner die Hoffnung!)
Ja, die Frau ist nicht einmal antimoralisch, denn
das würde »ein Verhältnis zur« Moral voraussetzen, –
sondern »sie ist nur amoralisch, gemein«. Auch das
Mitleid und die Schamhaftigkeit der Frau hänge nur mit
ihrer Sexualität zusammen. »Im alten Weib ist nie ein
Funken jener angeblichen Güte mehr.« Wirklich? Ich kenne
alte Frauen, die wie Priesterinnen – so gut, so klug, so
hehr – erscheinen! Man lese den Artikel »Die alte Frau«,
der in Hedwig Dohms Buche »Die Mütter«*) enthalten ist!
Verstattet man aber der Frau nur jenen Interessen- und
Pflichtenkreis, der mit ihrer Sexualität in Verbindung steht,
dann freilich schwindet mit dieser ihr ganzer Inhalt! Ist es
dann aber ihre »Anlage« oder ihre Erziehung, die Schuld
trägt an dieser barbarischen Beengung?! – Der Verfasser
scheint seine Anschauungen über »das Weib«, soferne sie
sich nicht auf die Dirne beziehen, aus Kaffeekränzchen
geholt zu haben: »Eine Frau konversiert oder schnattert,
aber sie redet nicht.« Frauenversammlungen, Frauenvorträge
und die Parteitage der über die ganze zivilisierte Welt verbreiteten
Frauenvereine, die in ihrer Propaganda wohl nicht
um einen Zoll weiter kämen, würden sie sich nicht strengster
Sachlichkeit befleißen, geben beredtes Zeugnis für die Haltbarkeit
dieses Ausspruches. Die Tauglichkeit der Frauen zur
Krankenpflege – ein Beweis ihres Mitleids? Im Gegenteil. Der
Mann allein hat Mitleid, denn »er könnte die Schmerzen der
Kranken nicht mitansehen, .. Qualen und Tod nicht mitmachen«.
[42] Und der Arzt? Ist er eine Art verweiblichter Bestie,
weil er die Schmerzen der Kranken mitansehen kann?
Auch »schamhaft« ist nur der Mann! Er wisse es!
Als Beweis werden Behauptungen aufgestellt, die vielleicht
auf Dirnen passen, die ich aber bei anständigen Frauen
noch nie beobachtet habe .. Auch daß der einzelne Mann
kein Interesse für die Nacktheit des anderen Mannes hat,
ist falsch, besonders seit sportliche Betätigung bei allen
gesunden jungen Leuten überhand genommen hat und sie
schon deswegen Interesse an der körperlichen Bildung der
andern haben. Dieses Interesse, respektive die Freude am
eigenen Körper als Schamlosigkeit zu verdammen, ist eine Anschauung,
die der fanatischen Mystik des Mittelalters entspricht,
die nur den »Geist« anerkannte, ohne zu bedenken, daß
derselbe in einem elenden Körper ebenfalls entarten muß.
W ist herzlos, nur M besitzt Gemüt. Beweis: »Nichts
macht M so glücklich, als wenn ihn ein Mädchen liebt;
selbst wenn sie ihn nicht von Anbeginn gefesselt hat,
ist dann doch die Gefahr, Feuer zu fangen, für ihn sehr
groß.« Rührend! Rührend! Daher die Millionen verlassener
liebender Mädchen und Frauen! – Es gibt eine Fülle von
»Symptomen echter Gemeinheit« an der Frau: z. B. der
Neid der Mütter, wenn die Töchter anderer eher heiraten
als die eigenen. Nicht die bange, entsetzliche Angst, daß
die einzige Karte, auf die törichterweise die ganze Zukunft
gesetzt wurde, verliert, spricht aus diesen Müttern –
sondern »echte Gemeinheit«.
Ins Unendliche ließen sich diese Aussprüche einer
kaum glaublichen Verblendung anführen. Aber es drängt
uns, zur Hauptsache zu kommen, nämlich der famosen Einteilung
der Frauen in Mütter und Dirnen. Beide Gattungen
werden von Weininger gleich bewertet, ja die verächtlichere
scheint nach seiner Darstellung noch die »Mutter«. Den
Nachweis, daß jede Frau in eine seiner Kategorien
[43] gehört, macht er sich, wie alle seine auf reale Tatsachen
bezüglichen »Beweise«, recht leicht. Da er aber schon »die
Bereitwilligkeit, sich flüchtig berühren oder streifen zu lassen«,
– »Dirneninstinkte« nennt, ja, was ist dann um Himmelswillen
der Mann, der meist noch ganz andere »Bereitwilligkeiten«
hat?!
Was die Prostitution betrifft, so meint Weininger, eine
solche Erscheinung müsse »in der Natur des menschlichen
Weibes liegen«, ein solcher Hang müsse »in einem Weibe
organisch, von Geburt an liegen!« Nun verläßt mich beinahe
die Langmut ruhiger Kritik. Wie?! Nicht in dem
unerbittlich abwärts treibenden Elend, in der Brotlosigkeit,
in der erbärmlichen Entlohnung weiblicher Arbeit, der
Stellenlosigkeit, der Ehelosigkeit, mit einem Wort: nicht
in den Grundzügen unserer herrlichen, vom Manne für den
Mann gemachten gesellschaftlichen »Ordnung« liegt die Ursache
der Prostitution, sondern in der Vorliebe für diesen
beglückenden Beruf?!
Muß nicht, im Gegenteil, in der Natur solcher Männer
eine Vorliebe für die Prostitution liegen, die ohne Zwang,
ohne damit nach Brot zu streben, sondern aus freier Wahl
die Nächte ihrer besten Jahre mit geschlechtlichen Ausschweifungen
verbringen?!
Mit kindlicher Einfalt wird gefragt, warum denn der
verarmte Mann nicht die Prostitution zum Broterwerb wähle!
Warum??
Erstens: weil er mehr Stellen findet als das Weib.
Zweitens: weil er damit schlechte Geschäfte machen
würde, da die Zahl der Weiber, die männliche Prostituierte
auszuhalten das Bedürfnis haben, immerhin (trotzdem es
ihrer gibt) eine geringe ist.
Drittens: weil er von »unehrlichen« Berufen für den
des Schwindlers, Betrügers, Hochstaplers mehr Gelegenheit
hat als das Weib.
[44] Viertens endlich: weil er es physisch nicht leisten könnte.
Das ist brutal ausgedrückt, aber die empörende Fragestellung
zwingt zu unzweideutiger Antwort!
Übrigens hat jede »alleinstehende« Dirne ihren Zuhälter,
und der steht gewiß nicht höher als die Dirne selbst.
Im Gegenteil: noch unendlich tief unter ihr!
Die Polemik wird aber geradezu – schändend, wenn
behauptet wird, um den Dirneninstinkt, der zum Teil in
jedem Weibe stecke, zu beweisen, »daß ein letzter Rest
sexueller Wirkung von jedem Sohn auf seine Mutter
ausgeht!«
Ein Ausspruch von geradezu scheußlicher Entartung!
Die »Mutter« stehe übrigens intellektuell sehr tief. Sie
sei verächtlich, weil ihre Liebe wahllos und zudringlich
ist, weil sie blinde Zärtlichkeit besitze für »alles, was je
mit ihr durch eine Nabelschnur verbunden war«. »Bedeutende
Menschen können deshalb stets nur Prostituierte
lieben!« Merkwürdige und recht nette Eigenheiten haben
diese »bedeutenden Menschen«. Natürlich »stützt« sich das
alles wieder auf die blinde Verschanzung in die eigene
lächerliche Einteilung. Daß es Menschen – weibliche
Menschen – gibt, die außer »Mutter oder Dirne« noch
Künstler oder Kaufleute, Sportgeschöpfe oder Botanikerinnen,
Stickkünstlerinnen oder Mathematikerinnen und hunderterlei
anderes ihrer innersten Veranlagung nach sind, weiß der
Verfasser offenbar nicht.
Dafür berichtet er feine Unterschiede zwischen Dirne
und Mutter; der Dirne liege nur am Manne, der Mutter am
Kind. Falsch! Der Dirne liegt gewöhnlich gar nichts am
Mann, sondern nur am Geld, und der Mutter liegt gewiß
nicht nur am Kind, sondern auch am Vater des Kindes,
soferne der nur ein rechter Vater ist.
In endloser, ermüdender Länge wird ein einmal aufgestellter
»Satz« variiert, wiederholt, verknäult und wieder
[45] gelöst. Manch interessante Parallele blitzt dabei auf, zum
Beispiel die, zwischen Eroberer und großer Dirne, die beide
als Gottesgeißeln empfunden werden. Köstlich ist die Verwicklung
in die eigenen gewundenen Fäden zum Beispiel
dort, wo über die Treue gesprochen wird:
Ist nämlich die Frau untreu, so ist sie es, weil sie
überhaupt »kein der Zeitlichkeit entrücktes Ich hat«, daher
»ganz gedankenlos« ist und ohne »Verständnis für die
bindende Kraft eines Vertrages«.
Ist aber der Mann untreu, so ist er es nur, weil er
sein intellegibles Ich nicht hat zu Worte kommen lassen!
(Und wo bleibt sein »Verständnis für die bindende Kraft
eines Vertrages«? Es schlief wohl gerade?)
Ist er treu, so ist er es eben seines intellegiblen Wesens
halber.
Ist sie aber treu, so ist sie es aus »Hörigkeitsinstinkt«
– »hündisch nachlaufend ... voll instinktiver, zäher Anhänglichkeit«!
Preisfrage: Wie soll sie also sein, treu oder untreu,
um weniger verächtlich zu erscheinen?
Eine erstaunlich tief verwurzelte Konfusion im Kopfe
eines Dreiundzwanzigjährigen, ein wahres Phänomen von
einem Rattenkönig! So selbstsicher wird oft das genaue
Gegenteil von der Wahrheit vorgetragen, daß man erst
durch die ins Auge springende Absurdheit zur Widerlegung
veranlaßt wird. Der Mythos von Leda wird als Beweis angeführt,
daß die Frau zur Sodomie mehr Neigung habe als
der Mann! Was beweist aber der Mythos gegenüber der
Wirklichkeit? Wer benützt heute noch – im Orient ist
dies an der Tagesordnung – Ziegen, Stuten, Hennen zu
geschlechtlichem Mißbrauch, – Mann oder Weib?!
Nach der Einleitung einer Beweiskette wird diese gewöhnlich
mitten drin abgebrochen und unbewiesen wird
der »Schluß« angehängt, während man die entscheidende
[46] Wendung noch erwartet. So wird zum Beispiel auseinandergesetzt,
daß die Frau meist Scheu empfinde vor männlicher
Nacktheit, und dies wird – man staune! – als Beweis betrachtet
dafür, »daß die Frauen von der Liebe nicht die
Schönheit wollen, sondern – etwas anderes!« Von der Liebe
werden sie wohl die Liebe wollen, und »die« Schönheit in
ihr zu finden hoffen. Die vorangehenden Ausführungen über
männliche und weibliche Nacktheit sind von beinahe obszöner
Brutalität und von einem fast wilden Hasse gegen alles Natürlich-Geschlechtliche
erfüllt. Schon die Debatte überhaupt,
ob diese Vorgänge und ihre Organe »schön« oder »nicht
schön« sind, verrät einen falschen Standpunkt, da es sich
um Naturnotwendiges handelt, das schon durch seinen
eminenten Zweck für eine solche Bewertung gar nicht geeignet
ist. Es ist ihm ein »Rätsel«, warum gerade die Frau
vom Mann geliebt wird! Warum gerade die Frau??
Ja, soll denn der Mann nur Hennen, Ziegen, Stuten oder
Knaben lieben?! Und warum wird denn »gerade der Mann«
von der Frau geliebt? Vermutlich weil es nur diese zwei Arten
Menschen gibt. Weininger weiß übrigens für dieses »Rätsel«,
warum die Frau geliebt wird, eine hochpoetische Erklärung:
bei der Menschwerdung habe nämlich der Mann durch einen
»metaphysischen Akt« (?) die Seele für sich allein behalten!
Aus welchem Motive vermöge man freilich »noch
nicht« abzusehen! (Wirklich nicht? Vielleicht läßt sich's
durch Algebra herausbringen?) Dieses sein Unrecht büßt
er nun in der Liebe, durch die er ihr »die geraubte Seele
zurückzugeben sucht«! Er bittet ihr also seine Schuld durch
die Leiden der Liebe ab! Aber halt! Wie ist's denn,
wenn sie ihn liebt? Was bittet sie ihm durch die Leiden
ihrer Liebe ab?
Will sie ihm auch eine »geraubte Seele« schenken?
Aber richtig, sie hat ja keine!
Was das Weib nicht ist, nicht kann und nicht will,
wurde bislang erörtert. Wozu es also überhaupt da ist,
welchen Zweck es hat, wird nun auseinandergesetzt.
Und nun folgt sorgfältig vorbereitet die herrliche Entdeckung,
auf die der Verfasser nicht wenig stolz ist. Nicht etwa selbst
den niedrigsten, den Gattungszweck spricht er der Frau zu,
sondern sie ist nur um der »Kuppelei« willen da! Was er da
vorbringt in endloser Wiederholung und Ausspinnung (das
Buch könne schlechthin auch tausend Seiten haben anstatt
fünfhundert) ist so verworren, verfilzt, mit Ekelhaftem und
Unwahrem vollgestopft, daß man es kaum entwirren kann. Der
Gedanke an die sexuelle Vereinigung irgend eines Paares sei
der dominierende im weiblichen Dasein! Er versteigt sich zu
folgender Behauptung, die ich hier wörtlich zitiere: »Die
Erregung der Mutter am Hochzeitstage der Tochter ist keine
andere als die der Leserin von Prévost oder von Sudermanns
‚Katzensteg‘.« Keine andere?! In der Tat, ein tiefer
Menschenkenner!
Das Weib sei überhaupt vollständig unfrei, denn es
stehe immer unter dem »Bedürfnis (!), vergewaltigt zu werden« (!),
es sei ganz und gar im Banne männlicher Sexualität.
(Es wird dort noch anders ausgedrückt.) Ist nicht,
ohne einen Anwurf daraus machen zu wollen, gerade umgekehrt,
eher der Mann weit abhängiger von der sexuellen
[48] Befriedigung und ihrer – in den meisten Fällen – sicher
bedürftiger als das Weib, schon um des Detumeszenztriebes
willen, den ja das Weib nicht hat?! Der simple Beweis
dafür ist die Tatsache, daß kaum ein Mann, der nicht durch
Krankhaftigkeit irgend welcher Art daran gehindert ist,
stirbt, ohne je ein Weib besessen zu haben (war es nur
eines, so ist er auch schon ein Unikum), während tatsächlich
tausende von Frauen virgines intactae bleiben, gänzlich geschlechtslos
leben.
Es soll durchaus keine Tugend aus wahrscheinlicher
Not gemacht werden, wir wissen ganz gut, daß sie nur
selten aus freier Wahl, sondern meist aus wirtschaftlichen
oder moralischen Bedenken Jungfrauen bleiben; wäre aber
der Geschlechtstrieb in ihnen dominierend und sie ganz und
gar Sexualgeschöpfe, so würden wohl auch sie Mittel und
Wege finden, ihre Virginität los zu werden.
Aussprüche, die in ihrer Verrennung und Verblendung
gerade das Verkehrte treffen, dürfen uns bei einem Manne
nicht wundern, dessen Sucht, alle Erscheinungen in einmal
aufgestellte, an Zahl und Charakteristik mehr als dürftige
»Klassen« einzupferchen, sei es auch mit blinder Gewalt,
sich zu den lächerlichsten Etikettierungen versteigt. Da das
Weib nur »Mutter« oder nur »Dirne« sein kann, wird das
weibliche Geschlecht folgendermaßen »beschrieben«: Die
Dirne ist es, die die gute Tänzerin ist, nach Unterhaltung,
Geselligkeit, nach dem Spaziergang (!! welch ein Dirneninstinkt)
und dem Vergnügungslokal, nach Seebad und
Kurort, Theater und Konzert verlangt, während die »Mutter«
eine stets geschäftige, stets geschmacklos gekleidete
Frau ist (wörtlich!), die sich auch daran erkenntlich macht,
daß sie – Speisereste aufhebt. Eine recht erschöpfende
Einteilung! Nun wollen wir mal etwas ähnliches aufstellen:
Die Männer – sagen wir – bestehen aus »Vätern« und
»Strizzis«. Die Väter sind geschmacklos gekleidet, lassen
[49] bei schlechten Schneidern arbeiten, rauchen die Pfeife etc.
Die »Strizzis« gehen zum Ronacher, in Seebäder, Theater
und in die Schwimmschule: Eine würdige Analogie!
Etwas »anderes« kann das Weib nicht sein; ja selbst
»die Existenz eines verbrecherischen Weibes kann nicht
zugegeben werden: die Frauen stehen nicht so hoch!« Ist
sie große Verbrecherin, so ist sie eben »vermännlicht« –
gerade so wie der Zuhälter, Kuppler etc. »eigentlich kein
Mann« sei, sondern zu den »sexuellen Zwischenstufen«
gehöre.
Ich greife mir an den Kopf: Ausführungen, die mit
solchen Mitteln arbeiten, die fast durchwegs aus Konstruktionen
solcher Art ihre Beweise und Argumentationen
zusammensetzen, wurden genial genannt! Der König hat
neue Kleider! Er hat prachtvolle Kleider! Alles schreit, er
hat sie, denn die Parole ist ausgegeben, er muß sie nun
haben, trotzdem seine Blößen sichtbar sind: ein Märchen
mit tiefem Sinn, das sich bei uns öfters abspielt, als man
glauben sollte.
Gibt es Verkehrtheiten und Verlästerungen in dem Buche,
die eines humoristischen Beigeschmackes nicht entbehren,
so daß man sie mitunter recht heiter finden
kann, so gibt es hingegen auch Ausführungen darin, wo aller
Humor schweigt, wo einem eine starre Entrüstung das Blut
stocken macht. Ein wilder Haß gegen alles Natürliche, eine
bösartige Verdächtigung und Verfolgung jeder sinnlichen
Daseinsfreude, eine auf Kosten alles Körperlich-Fröhlichen
entartete Geistigkeit, die den Leib und seine Pflege verachtet,
eine schier bankerotte Phantasie, die sich in Verleumdung und
Verleugnung alles Irdisch-Sinnlichen ergeht und sich gleichzeitig
im Übersinnlichen zu den willkürlichsten Hypothesen
versteigt, zeitigen ihre Blüten in den Anschauungen, die sie
verkünden: So hätte zum Beispiel für den höherstehenden
Mann das Mädchen, das er begehren, und das Mädchen,
das er »lieben, aber nie begehren könnte« (?) eine ganz
verschiedene Gestalt! Ein schmachvoller Dualismus, will
mir scheinen! Ferner: Es gibt überhaupt nur platonische
Liebe! »Was sonst noch Liebe genannt wird, gehört in das
Reich der Säue!«
Nur wer nie ein Weib in Liebe gewonnen, sondern
es nur unter den Schauern der Prostitution besessen hat,
wer überhaupt nie ein Weib gekannt hat, sondern nur sein
Zerrbild, – die Dirne, – nur wer sich eines krankhaften
[51] Defektes noch mit Überhebung brüstet, konnte diesen Ausspruch
tun – und die anderen ähnlichen Aussprüche und
fulminanten Offenbarungen über »das« Weib! Nur der kann
auch behaupten, daß der Mann, sofort nachdem er das
Weib besessen hat, es verachtet, – der es in Wahrheit
nie besessen hat!
In einer Fußnote wird ganz unumwunden erklärt, daß
es keinen bedeutenden Menschen geben könne, der in –
der geschlechtlichen Vereinigung (es wird dort kürzer und
brutaler ausgedrückt) – »mehr sähe als einen tierischen,
schweinischen, ekelhaften Akt, oder gar das tiefste, heiligste
Mysterium«.
Alle bedeutenden Menschen – so wird weiter gefolgert
– müßten daher sicherlich ihre Sexualität durch die (sogenannten)
geschlechtlichen Perversionen befriedigen, da sie
unbedingt am gewöhnlichen geschlechtlichen Akte »vorbei
wollen«!!!
Gewiß wäre es unrichtig, in diesem Akte »an sich«
etwas Heilig-Mystisches zu sehen, da er unter Umständen
gewiß eine Erniedrigung bedeuten kann; immerhin aber ist
es doch etwas, was jeden gesunden, lebensmutigen, menschlicher
Empfindungen fähigen Menschen mit Entrüstung und
schier verächtlichem Mitleid erfüllen muß, den natürlichsten
Lebensvorgang verunglimpft und gebrandmarkt, die Flamme,
von der die ganze Welt glüht, als höllisches Feuer verdächtigt
zu sehen!
Als Kriterium des bedeutenden Menschen abnorme
Sexualtriebe fordern und Verachtung, »Vorbeiwollen« am
normalen Liebesakt voraussetzen, heißt einen Goethe z. B.
mit jämmerlichen Füßen treten, und ein solcher Ausspruch
eines Menschen macht alle seine andern befremdlichen Aussprüche
– begreiflich!
Während die Frau durch den Gedanken an die Vereinigung
irgend eines Paares angeblich in »fieberhafte
[52] Erregung« gerate, gewinne ein solcher Gedanke über einen
Mann keine Gewalt, er stehe »außer und über einem solchen
Erlebnis!« Wirklich?! Die Welt wird einfach auf den Kopf
gestellt. In Wahrheit bedarf es gar nicht erst einer deutlichen
Vorstellung jener Vereinigung, um bei M Erregung
hervorzurufen, bekanntlich genügt dazu schon das Rauschen
eines seidenen Kleides.
»Als der Mann sexuell ward, da schuf er das Weib.« Aus
diesem tiefen Grunde ist »das Weib die Schuld des Mannes«;
die Kuppelei sei da, »weil alle Schuld von selbst sich zu
vermehren trachtet«. Überall sieht er Zweck und Absicht,
Schuld und Grund: überall ein »damit«, nirgends ein »daher«
– außer ein solches, hinter dem wieder eine »Bestimmung«
steht. Alle seine Argumentationen bezeichnet er kurz und
bündig als »unwiderleglich«, alle Gegenmeinung als »völlig
unannehmbar«, jeden, der widerspricht, als »frechen
Schwätzer«. Basta!
Wohin eine krankhafte Sucht, Willen und Zweck
hinter alle Erscheinungen zu verpflanzen, führen kann, möge
ein Satz wie der folgende illustrieren: »Wir erschrecken vor
dem Gedanken an den Tod, wehren uns gegen ihn, klammern
uns an das irdische Dasein und beweisen dadurch (!), daß
wir geboren zu werden wünschten als wir geboren wurden,
indem wir noch immer in dieser Welt geboren zu werden
verlangen.« (!!!) Ein spekulatives Zurückgreifen, das mit
den abenteuerlich phantastischen Schlüssen mittelalterlicher
Scholastik viel Ähnlichkeit besitzt, tiefe Verstricktheit in
buddhistische Vorstellungen und die vollständige Umneblung
eines ursprünglich kritischen Geistes durch religiös-mystischen
Wahn, erhellt aus solchen Aussprüchen. Gewisse Experimente
der Wissenschaft, z. B. die Geschlechtsbildung, erklären
zu wollen, bezeichnet er, aus derselben mystisch-theosophischen
Befangenheit, als »ein unkeusches Anpacken
mysteriöser Vorgänge«. Ein kurioser Standpunkt in der
[53] »Wissenschaft«! Die »unkeuscheste« Wissenschaft ist demnach
die Chemie, der sich »daher« auch so viele Juden zuwenden.
Mit den Juden verfährt er genau so wie mit den Weibern.
Er sagt von ihnen die scheußlichsten, niedrigsten Qualitäten
aus. Stimmt es aber nicht, dann war es eben kein »echter«
Jude. Dem Juden räumt er auch die Möglichkeit ein, sich
vollständig über das Jüdische zu erheben, während er der
Frau die Möglichkeit dieser Erhebung ins Reinmenschliche
abspricht; da er selbst Jude war, schien diese vorsichtige
Klausel geboten. Daß nicht nur »das Jüdische«, sondern
auch jedes andere »nur Nationale« abstoßend ist, weil es
immer eine enge Begrenzung des Menschlichen bedeutet,
bleibt natürlich ungesagt. Das Kapitel über das Judentum
enthält übrigens viel des Geistreichen und Tiefen – soweit
es analytisch vorgeht, – und überschnappt sofort ins Groteske,
sowie die eigenen »Folgerungen« einsetzen.
Dieselben Merkmale weisen viele der früheren Kapitel
auf, und aus diesem Grunde werden auch solche Leser,
die mit dem Autor sympathisieren, den Eindruck haben,
daß die einzelnen Kapitel immer groß angelegt und vielversprechend
erscheinen, Tiefen und Höhen verheißend
einsetzen, um dann abzufallen und zu enttäuschen; dort
nämlich, wo die eigenmächtige Synthese beginnt, das eigene
»Aufbauen« nach der oft sehr scharfsinnigen Analyse: da
wird alles merkwürdig flach und oberflächlich und vor allem
unrichtig, blind neben den wirklichen Tatsachen vorbeisausend,
auf ein »gedachtes«, vorherkonstruiertes, popanzartiges
»Ziel«. Immer wieder verschlingt sich oft Gesagtes
ineinander, bis wieder neue Glieder zappelnd daraus hervorschießen,
um sich wieder zu verschlingen und zu verknäueln.
Überall sieht er »Ideen«, »Prinzipe«, wurzelhafte Anlagen,
wo es sich meist um historisch Er-Wachsenes handelt; überall
ist die Blindheit für das geschichtliche und wirtschaftliche
[54] Element, welches formenbildend und artenändernd wirksam
ist, ersichtlich, die große Rolle, die ihm bei allen Vorgängen
und Erscheinungen zufällt, wird geleugnet und alles auf
eine Art metaphysischer Bestimmung zurückgeführt.
Die Behauptung, »der echte Jude wie das echte Weib
leben beide nur in der Gattung, nicht als Individualitäten«,
wird durch das Wörtchen »echt«, mit dem sie sich
vorsichtig verklausuliert, als das empfunden, was gewöhnlich
als »jüdische Dreherei« bezeichnet wird, besonders, da
schon auf der nächsten Seite die Bemerkung folgt, »es
gibt einen absoluten Juden so wenig als einen absoluten
Christen« (und ein »absolutes« Weib). »Nur seichteste Oberflächlichkeit«
könne glauben, »daß der Mensch durch seine
Umgebung gebildet werde«. Nur seichteste Oberflächlichkeit
kann leugnen, daß der Mensch durch seine Umgebung
zumindest beeinflußt wird, und daß diese Beeinflussung oftmals
zu Bildungen, Neubildungen, Herausbildungen führt!
Wer dies leugnet, leugnet alle Entwicklungsmöglichkeit.
Warum gibt es denn eben keinen »absoluten« Juden
oder Christen, keinen »echten« Mann oder kein »echtes«
Weib? Weil eben äußere Eindrücke beständig erziehlich
wirksam sind. Aus eben diesem Grunde konnte auch der
Jude kein »Monadologe« werden (wie ihm Weininger vorhält),
so lange er im Ghetto lebte; darum ward er – was
richtig ist – ein »Grenzverwischer«, darum seine »Gemeinsamkeit«,
sein »Zusammenhalten« auch in der Familie: es
erklärt sich all dies historisch dadurch, daß gleichgestellte
Existenzen, die unter Ausnahmsgesetzen in fremdem Land
leben, auf engen Anschluß untereinander angewiesen sind.
Warum das jüdische Volk keine Aristokratie besitzt, daher
keinen grenzenfixierenden Sinn beweist?! Erstlich besaß es
sie, so lange es im eigenen Lande als freies Volk lebte.
Zweitens kann man nicht mehr von einem »Volk« reden,
wenn es sich um Angehörige einer Nation handelt, die durch
[55] Zersprengung über die ganze Welt längst aufgehört haben,
ein »Volk« zu sein. Endlich erscheint mir der Mangel an
Kastengeist nur günstig und wertvoll und »Grenzverwischung«
in diesem Sinne nur ersprießlich.
Von gänzlicher, schier unbegreiflicher Verblendung
zeugt aber der Vorwurf, daß der Jude »gleich dem Weibe«
(die Analogien werden krampfhaft herbeigeholt) im Fremden
»keinen Halt« hat, in ihm »keine Wurzeln schlägt«. Symbolisch
erscheine daher »sein Mangel an irgend welcher
Bodenständigkeit in seinem so tiefen Unverständnis für
allen Grundbesitz und seiner Vorliebe für das mobile
Kapital«.
Herr des Himmels! Soll man sich vielleicht ankaufen
auf einem beständig zitternden, unterwühlten, bedrohten
Boden?! Ist es gar so »symbolisch«, daß die Juden, die in
riesigen Scharen aus Rußland oder Rumänien hinausgetrieben,
die in Kischenew abgeschlachtet und geplündert
wurden, in solchem Boden keine »Wurzeln schlugen«, und
daß auch die Juden anderer Länder ihre ewig unterwühlte
Situation erfassen und lieber nach mobilem, in Bewegung
zu setzendem Kapital trachten, als nach »Bodenständigkeit«?!
Die großen Persönlichkeiten des Judentums werden
natürlich vom Verfasser als solche angezweifelt. Als »fast
jeder Größe entbehrend« bezeichnet er Heine – Heine, der
der Menschheit einen so beseligenden Schatz hinterlassen hat,
einen schier unerschöpflichen Brunnen, in den hineinzutauchen
immer wieder Mut, Trost, Befreiung und Erhebung
gewährt – nicht etwa durch seinen Witz und Sarkasmus,
sondern durch seine nie wieder erreichte, tiefinnige, tief
vergeistigte Lyrik. Als ebenso »überschätzt« betrachtet wird
auch Spinoza. Diese Wertung – besser Entwertung – zu
beurteilen, habe ich zu wenig Wissen. Doch auch da scheint
mir ein terroristisches Aufpflanzen von dem, was gerade
[56] er, Weininger, Größe nennt, als willkürliches Kriterium zu
dominieren. Daß man auf hundertfache Art groß und genial
sein kann, auch wenn man nicht genau in der Richtung,
die abzustecken ihm gerade beliebt, sich bewegt, scheint er
nicht in Betracht zu ziehen. Er hält Spinoza vor, daß ihm
alles weniger »Problem« denn »mathematische Methode«
war, die alles selbstverständlich erscheinen lasse. Es
scheint aber nichts weniger als ein Nachteil einer Methode,
wenn sie dies vermag; umgekehrt jedoch kann einen nachgerade
ein Grausen erfassen, wenn das Einfachste und Selbstverständlichste
in so viele Formeln verstrickt wird, bis es
wirr und kompliziert erscheint, so daß die umständliche
»Lösung« dieses »Problems« sich dann als »Tat« gebärdet,
auch wenn sie sich mit dem Resultate deckt, das man
mühelos auf den ersten Blick gewinnt. Menschen aber,
denen selbst das Einfachste erst begreiflich wird, wenn sie
sich durch ein Gewirr von Umwegen dazu durchgewunden
haben, die in jedem Fall durch ein Gestrüpp von Philosophie
durch müssen, die sogar imstande sind, auch dann
noch an der offen zutage liegenden Wahrheit vorbeizutappen,
bloß weil sie irgend ein Irrlichterchen der Spekulation weglockt,
beweisen einen Mangel gesunder Instinkte, sind
daher zum Urteil »an sich« sozusagen physiologisch
unfähig. Den Gesamteindruck einer Erscheinung wahrnehmen
kann nur, wer über seine physiologischen Sinneswerkzeuge
vollzählig verfügt: da darf auch der Instinkt nicht
fehlen, denn er ist das, was man als das Geruchsorgan der
Seele bezeichnen könnte.
Von den Juden kommt der Verfasser wieder zu den
Weibern. Es drängt ihn offenbar, sich noch einmal zusammenfassend
über sie zu äußern: So wenig wie der Jude, ist das
Weib eine »Monade«. Aber wie alles und jedes in der Welt,
repräsentiert auch »es« eine »Idee«: »W repräsentiert die Idee
des Nichts.« Er kommt nun zum köstlichsten aller Resultate:
[57] »Da« die Frau amoralisch und alogisch ist, alles Seiende
aber ein moralisches und logisches Sein ist, so – ist
sie überhaupt nicht. Ganz abgesehen von dem witzigen
Resultat: man beachte nur die wirre Verkehrung der einzelnen
logischen Glieder! Anstatt zu folgern: alle Logik und Moral
muß sich im Sein, im Wesenhaften dokumentieren, heißt es in
monströser Verkehrung: In allem Sein ist Moral und Logik.
Da die Frau aber nach seiner Aussage keine hat, muß natürlich
»herauskommen«, daß sie überhaupt »nicht ist«. Wahrscheinlich
ist sie also nur eine Art Spuk, ein Massenaberglauben!
Überraschend wie alle seine Resümierungen sind auch
seine letzten. Trotz allem, was er von der Frau ausgesagt
hat, verlangt er für sie die »gleichen Rechte« wie für den
Mann. Er tritt für ihre Emanzipation ein, nur muß sie vollkommene
Entgeschlechtlichung bedeuten!! Auch den letzten
Schluß, der sich aus dieser Forderung ergibt, zieht er in
Betracht, nämlich den Aussterbe-Etat, auf den logischerweise
die Menschheit geraten müßte: Die Ausrottung der menschlichen
Gattung scheint ihm aber sogar ein erstrebenswertes
Ziel! »Alle Fécondité ist ekelhaft.« Dieser Satz charakterisiert
eine das Leben hassende Natur, die notwendigerweise
nur Vernichtungstendenzen produzieren kann. Bedarf der
Ausdruck dieser Endtendenzen überhaupt einer Antwort, so
wäre es die, daß nicht einzusehen ist, warum wir bedacht sein
sollten, diesen Planeten zu räumen – für irgend ein zweifelhaftes
anderes Geschlecht, das sich dann auf ihm zum Leben
entwickeln könnte ...
Übrigens weiß auch er die »Rechte«, die er angeblich
für die Frau verlangt, »weise« zu beschränken. Von der
Gesetzgebung, von der Leitung eines Gemeinwesens sei
»vorderhand« die Frau fernzuhalten gleich – »Kindern,
Schwachsinnigen und Verbrechern«. Denn – »Recht und
Unrecht der Frau kann ganz genau ermittelt werden, ohne
daß die Frauen selbst mitbeschließen«.
[58] Dieser Satz ist – es läßt sich anders nicht bezeichnen
– eine Schamlosigkeit. (Trotzdem in diesem Buch so viel
von »Schamhaftigkeit« die Rede ist.) Wie schön »Recht und
Unrecht« für die Frau »ermittelt« wurde, muß selbst
Blinden und Tauben klar werden aus einer Gesetzgebung,
die das Weib in seiner katastrophalsten, hilflosesten Lage
recht-, schutz- und hilflos läßt. Von all dem andern, was zu
ihrer Beschränkung und Einengung für sie »ermittelt« wurde,
will ich jetzt ganz absehen, nur das Krasseste soll berührt
werden, die Tatsache, daß die arbeitsunfähige Schwangere,
die sich also, falls sie subsistenzlos ist, im Zustand absolutester
Hilflosigkeit befindet, keine Ansprüche an den
Vater des Kindes hat, er sei, wer er sei, er habe, was er
habe; die Tatsache, daß sie auch für die Kosten der Entbindung
keinen rechtlichen Anspruch weder an den Vater
noch an die Gesellschaft besitzt, daß sie – die Gebärende!!
– keinen Anspruch auf Unterschlupf und Pflege für sich
und das Kind hat (im Findelhaus finden nur die wenigsten
Aufnahme und unter Umständen, denen ein abschreckendes
Odium anhaftet), und daß sie erst nach der schwersten
Stunde Alimente für das Kind beanspruchen kann, die aber
niemals ausreichen, die Kosten seiner Erhaltung auch nur annähernd
zu decken. So schön kann Recht und Unrecht für die
Frauen ermittelt werden, »ohne daß sie selbst mitbeschließen«.
Zum Schlusse schlägt in dem Buche Weiningers ein
beinahe irrsinniger Ton durch: es wird nämlich festgestellt,
»daß dieses Buch die größte Ehre ist, welche den Frauen
je erwiesen wurde«. Aber können uns die tollsten Sprünge
wundern in einem Buche, das noch auf derselben Seite den
einzigen wahrhaftigen, richtigen Ausspruch tut, der allein
dem ganzen Buch ins Gesicht schlägt, der allein genügt,
um es zu richten und zu werten, da es ihn als eine (verspätete)
Vorschrift für andere gibt, während es ihn selbst
mit Füßen trat, nämlich den Ausspruch:
[59] »Man hat die Frau als Einzelwesen und nach der Idee
der Freiheit, nicht als Gattungswesen (!), nicht nach einem
aus der Empirie (?!) oder aus den Liebesbedürfnissen des
Mannes hergeleiteten Maßstabe zu beurteilen.«
Und so richten diese letzten spärlichen Worte die
eigene Tat und das eigene Werk.
Die Berechtigung des Weiberhasses und der Weiberverachtung
erkennt man aus den Argumenten, auf
denen sie steht und mit denen sie fällt.
Aus jenen Weiningers, die sich offensichtlich als Verkehrung,
Verleugnung oder Verblendung gegenüber den Tatsachen
darstellen, erhellt am schärfsten, daß sie immer identisch
sein müssen und nur identisch sein können mit Vernichtungstendenzen,
die das Leben zielsicher ausstoßt. Vom
Wahne geboren, gleichen sie spukhaften Gespenster-Erscheinungen,
die nur für den existieren, dessen fieberndes Hirn
sie beschwor, und die trotz der Hartnäckigkeit seiner Halluzination
auch nicht um einen Schatten wirklicher werden.
Es gibt eine Tatsächlichkeit, eine harte Wirklichkeit
der Dinge (immer in dem relativen Bereich unserer Sinnesorgane
natürlich), die von hypothetischen Konklusionen, die
mit ihr selbst durch keine wirkliche Beziehung verbunden
sind, nicht im geringsten verändert oder gar umgestoßen
werden kann. Eine Methode, die sich darin ergeht, in der
Luft hängende metaphysische, höchst subjektive Voraussetzungen
solange mit einander zu multiplizieren, auf jede
Art zu verkreuzen und zu verschlingen, bis ein vorgewolltes
Resultat herauskommt, in welches dann das wirkliche Leben
hineingepreßt wird, mag es nun mit dem »Luft-Schluß«
übereinstimmen oder nicht, enthält nicht die Möglichkeit,
beachtenswerte Resultate zutage zu fördern. Das hieße, dem
wildesten geistigen Abenteurer- und Don Quixotetum Tür
[61] und Tor öffnen, hieße jenen grotesken Versuchen und
»Berechnungen« wissenschaftliche Existenzberechtigung geben,
mit denen die Scholastiker zum Beispiele »ausrechneten«,
wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können, hieße
von neuem den absurden Terrorismus der Spekulation aufpflanzen,
der mehrmals in der Geschichte der Philosophie
dieselbe zum Gegenstand des Widerwillens und der Lächerlichkeit
für alle gesunden Geister machte, aus welcher Entwertung
sie sich in der neueren Zeit erst durch Kant und
Schopenhauer wieder erhob – um unter deren Nachfolgern
wieder in Mißkredit zu sinken – bis sie von Herbert
Spencer auf den festen Boden der Tatsachen gestellt und
dadurch aus der Sphäre leerer Gaukeleien in die einer unanzweifelbaren
Disziplin verpflanzt wurde.
Daß ein Mensch wie Weininger, begabt mit feinster
Sensitivität und Reaktionsfähigkeit, stumpf und blind sein
konnte gegen die einfachste Logik der Tatsachen, erklärt
sich vielleicht aus der Gefahr, die gerade diese Fähigkeit
des innerlichen Erlebens für solche Geister birgt, denen das
harte, reinigende, alles Falsche ab- und ausstoßende Element
der gesunden Instinkte, die Grundbedingung der Urteilsfähigkeit,
fehlt, so daß sie den Eindruck hervorrufen, als fräße ein
Wurm an ihrem besten Mark, als müßten sie mit schier
physischer Notwendigkeit, sowie sie die Hand ausstrecken,
unbedingt – unter dem Zwange ihrer Art – immer das
Falsche, das Dunkle, die Verwesung ergreifen. Charakteristisch
für ihn, dem scheinbar »alles« zum Problem wird, ist die
Tatsache, daß ihm in Wahrheit nur das Gedankliche, nur
das Begriffliche zum Probleme ward, während er an die
großen Tatsachenprobleme, deren Lösung für die Menschheit
Wohl oder Wehe, hinauf oder hinunter, Zermalmung oder
Erhebung, unsäglichen Jammer oder unendliche Glücksmöglichkeit
bedeuten, nicht einmal mit einer Ahnung anstreift.
So hat er in seinem Werk lange Betrachtungen, die oft
[62] weitab von seinem Thema lagen und die er sich nach der
Art übervoller junger Menschen scheinbar vom Herzen
schreiben wollte, angehäuft: über Zeit, Wert, Genie, Unsterblichkeit,
Gedächtnis, Logik, Ethik, Philosophie, Psychologie
etc. Dagegen kommt er nicht ein einziges Mal zum
Beispiel auf das Problem des Krieges zu sprechen, auch
das Problem des Sozialismus streift er nur flüchtig und
oberflächlich, trotzdem beide seinem Thema naheliegen. Fast
denkt man ein wenig an Ibsens Professor Begriffenfeld (Peer
Gynt), der nur zum Metaphysikum in Beziehungen steht, für
den nichts anderes eine »Frage« ist.
Gerade die Innerlichkeit, mit der er alles, was überhaupt
für ihn zum Problem wird, erlebt, birgt für ihn, den
ungesunden Geist, die Gefahr, daß sie ihn zu den subjektivsten
Schlüssen verleitet, die nur durch und für seinen
Wunsch und Willen vorhanden sind und die wie nächtliche
Visionen vor dem Lichte des Tages – der objektiven Wirklichkeit
– zergehen. In der Deutung der platonischen Ideen,
die in den Dingen liegen, ist für ihn die Gefahr enthalten,
Dinge in Beziehung zu einander zu bringen, die sie in Wahrheit
nicht haben, Beziehungen, die jedes einzelne Individuum
anders verknüpfen würde, ins Gegenteil umkehren könnte,
und die daher zum Verluste jedes gemeinsamen Bodens
führen, zur Einbuße aller Wahrscheinlichkeit. Was wir schlechthin
Wirklichkeit nennen, ist ja natürlich nicht das wahre
Wesen der Dinge, aber es ist zumindest die durch die gleiche
Beschaffenheit der Sinnesorgane konstruierte allgemeine Wahrnehmbarkeit,
die einen Boden der Verständigung bietet und
als allgemein gültiger Ersatz der ewig unerforschlichen
»wahren« Wesenheit des Seins einzig annehmbar.
Wohin das Hineintragen subjektivster Vorstellungen,
das willkürliche Herstellen von Beziehungen, die gewalttätige
Einpressung in selbstgeschaffene Kategorien, die
Deduktion alles Bestehenden in vorgegossene Formen den
[63] verirrten Weininger schließlich führten, geht nicht nur aus
seiner Behandlung der Probleme »Weib« oder »Juden« hervor,
sondern auch aus der in seinem Nachlaßwerk enthaltenen
»Tierpsychologie«. Da wird der Hund »erkannt« als
die Idee des Verbrechers, das Pferd als die des Irrsinns,
Floh und Wanze als »Symbole für etwas, wovon Gott sich
abgekehrt hat« u. s. f. Aus denselben »inneren Gründen«
betrachtet er jede Krankheit als »Schuld« und findet die
Auffassung, welche die Kranken und Aussätzigen fragen läßt,
»was sie verbrochen hätten, daß Gott sie züchtige«, sehr
tief. Die absonderliche »Zurück-Dreh-Tendenz« all seiner
Auffassungen offenbart sich in der Annahme, der Mord sei
eine »Selbstrechtfertigung« des Verbrechers, »er sucht sich
durch ihn zu beweisen, daß nichts ist«!!
Mit einer schier organischen Verkehrtheit legt er allen Erscheinungen
die verdrehtesten Ursachen unter und muß ihnen
daher auch natürlich die entgegengesetztesten Absichten zuschreiben
und die konfusesten Folgerungen aus ihnen ziehen:
»Man liebt seine physischen Eltern; darin liegt wohl ein Hinweis
darauf, daß man sie erwählt hat.«!!! Oder: »Die Fixsterne
‚bedeuten‘ (?) den Engel im Menschen. Darum orientiert
sich der Mensch nach ihnen; und darum! besitzen die Frauen
keinen Sinn für den gestirnten Himmel: weil ihnen der
Sinn für den Engel im Mann abgeht.«!!!
Diese Proben aus Weiningers Nachlaßwerk werden
manchen vielleicht als nicht unter den Titel dieser Schrift
gehörig erscheinen. Dennoch sind sie es, da sie unzweideutigen
Aufschluß geben über die Stellung, die eine urteilende
Intelligenz, welche sich in der Art Weiningers zum Problem
der »Frau und ihrer Frage« verhalten hat, charakteristischerweise
anderen Problemen gegenüber einnimmt. Die Annahme
liegt daher nicht fern, daß bei allem, was Weiningers große
Intelligenz und geistige Elastizität erfaßte und berührte, die
Sensitivität des Epileptikers das Verzerrende war, diese Sensitivität,
[64] die alles aus den natürlichen Dimensionen heraustreibt,
die die Umrisse aller Dinge entstellt und verkehrt,
bis ihr alles in Nacht, Wirrnis und wütender Ekstase versinkt.
Sein Biograph teilt uns mit, daß Weininger Epileptiker
und gleichzeitig ein mit Verbrecheranlagen belasteter
Mensch war.*)" Da aber die Sehnsucht nach dem Guten und
Sittlichen ohne Zweifel in ihm überwiegend war, erklärt
sich auch seine innige Verherrlichung der Kantschen Ethik,
die er hoch über die selbstverständliche Sittlichkeit der
schönen Seele stellt. Wenn aber auch jene Sittlichkeit die
gegen ihre triebhaften, bösen Anlagen den Kampf führt, eben
dieses Kampfes halber vielleicht die ergreifendere ist, so
ändert das doch nichts an der Tatsache, daß die von der
Welt wie eine strahlende Gabe empfundene Individuation der
selbstverständlichen Sittlichkeit die gottähnlichere ist und
daher als die vollkommenere empfunden wird.
Ein krankhafter Geist kann und wird niemals die
Meinung der Welt revolutionieren. Bedeutungslos bleibt daher
seine manische Verfolgung irgend eines Gegenstandes einer
seiner – gewöhnlich physischen – »Aversionen«.
Weiningers Werk, das mit ungeheuerer Mühe ein großes,
begriffliches Material nach einer vorgezeichneten Tendenz
zusammenschmiedete, um seine abnorme, lebensfeindliche
Aversion als normal und einzig sittlich darzustellen, ist mit
allen Merkzeichen manischer Verblendung an den Tatsachen
vorübergesaust, und seine Argumente zerschellten beim ersten
Zusammenstoß mit der Wirklichkeit. So hat es denn mit der
»Frau und ihrer Frage« in Wahrheit nichts zu schaffen.
Was diese Frage selbst betrifft, so ist eine Erörterung derselben
unter dem Gesichtspunkt, ob die Frauen »höher«
oder »tiefer« stehen als die Männer, von vorneherein
verfehlt. Darum habe ich mich nirgends für die weibliche
Genialität ins Zeug gelegt, habe auch nicht berühmte weibliche
Namen aufmarschieren lassen, denn darauf kommt es
wahrhaftig beim heutigen Stande dieser Frage gar nicht an.
Erstlich könnte ein Vergleich der positiven Fähigkeiten nur
in einer Epoche vollständiger sozialer Gleichberechtigung der
beiden Geschlechter ein vernünftiges, unverfälschtes Resultat
ergeben, zweitens lautet die zwingende Parole heute nicht
nur, die Frau will leisten, sondern sie muß leisten: gebieterisch
verweisen sie die wirtschaftlichen Verhältnisse auf
eine eigene Berufswahl, da die »Versorgung durch die Ehe«,
durch den immer schwierigeren Existenzkampf, den heute
auch der Mann infolge des immer mächtiger werdenden
Großkapitals und der immer unheimlicher anwachsenden
Belastung der Staatseinkünfte durch den Militarismus zu
führen hat, mehr als illusorisch geworden ist. Ein Mädchen
für diese einzige Chance zu erziehen und es mit Blumengießen,
Staubabwischen und Klavierklimpern seine besten
und tüchtigsten Jahre verlieren lassen, hieße heute ein verbrecherisches
Spiel mit menschlichen Kräften und menschlichen
Schicksalen treiben. Überdies müßte ein auf solch
einziger Chance sich aufbauendes Schicksal auf alle Fälle
[66] ein entehrendes werden, durch die absolute Wahllosigkeit,
mit der dann danach gegriffen werden müßte.
Die Frau muß also für die Möglichkeit einer Berufswahl
vorbereitet und erzogen werden. Selbstverständlich
muß daher auch ihr Bemühen erscheinen, diese Möglichkeit
auf die weitesten Gebiete auszudehnen, sie aus engherzigen
Beschränkungen frei zu machen und auf größere und befriedigendere
Wirkungskreise zu übertragen. Ist sie dazu
»weniger begabt«, so lasse man das nur ihre Sorge sein.
Sie wird dann eben mehr Mühe aufwenden müssen, um den
vorgeschriebenen Bedingungen zu entsprechen. Praktisch
hat sich indes eine solche mindere Begabung der Frau noch
nirgends dokumentiert, es ist nirgends beobachtet worden,
daß eine Frau von einem neu erschlossenen Posten hätte
entlassen werden müssen, weil sie den üblichen Anforderungen
nicht entsprach. Es ist auch wahrscheinlich, daß
man sich nicht gegen alle Anlage und Fähigkeit zu irgend
etwas drängt, sondern immer das der eigenen Natur Passende
zu erringen trachtet.
»Minderbegabt« und durchaus ungeeignet scheint mir
die Frau nur für einen einzigen Beruf, und das ist gerade
der, zu dem man ihr seit altersher unbeschränkten »freien
Zutritt« gelassen hat: der Beruf der schweren Taglöhner-
und Fabriksarbeit.
Von der Hungergeißel hineingetrieben, büßt die Unselige
mit schweren Schädigungen an ihrem Geschlechte
und an ihrer Nachkommenschaft, Schädigungen, die die
Rasse treffen, – die Schuld des Kapitalismus, der dem
Arbeiter für Einsetzung seiner ganzen Kraft nicht soviel
Einkommen gewährt, daß er Weib und Kind erhalten kann.
Und während dieses Weib selbst hinaus muß in einen unnatürlichen
Frondienst, bleibt das Heim unversorgt, die
Kinder ohne Aufsicht und Pflege, denn soviel, um eine
helfende Hand zu bezahlen, kann auch die Arbeit beider
[67] nicht erschwingen: darum ihr Herren, wendet euch mit
eurem Ruf: »Die Frau gehört ins Haus«, vor allem an die
Proletarierin, die tatsächlich hineingehört, da es ohne sie
verfällt, wendet euch mit diesem Ruf an das Unternehmertum,
damit es ihr diese Möglichkeit gewähre!
Was die bürgerlichen Berufe, um deren uneingeschränkte
Zulassung heute gekämpft werden muß, selbst betrifft, so
glaube man ja nicht, daß ich die Berufstätigkeit der Frau als
ein Glück betrachte. Glück und Befriedigung gewährt wohl
nur künstlerische oder wissenschaftliche Betätigung – die
sogenannten freien Berufe – im Gegensatz zu den sicheren
Brotberufen. (Die Verfasserin dieser Zeilen gehört selbst zu
den Menschen, die nur mit großer Überwindung auch nur zwei
Tage hintereinander ganz das gleiche tun können.) An dem
grauen, trostlosen Einerlei der meisten Brotberufe leiden aber
auch die Männer. Daß die Frauen um Zulaß zu diesen Berufen
kämpfen, beweist am besten, daß nicht Abenteurerlust, sondern
zwingende soziale Gründe sie aus dem »Hause« heraustreiben.
Aus innerer Vorliebe strebt man wahrhaftig nicht
ins Amt oder ins Bureau: aber wenn man die Wahl hat,
zu verhungern oder sich bei Verwandten herumzudrücken,
oder aber sich zu prostituieren – mit oder ohne Ehe
– so geht man eben doch noch lieber ins Bureau; ja,
selbst dann schon, wenn man ganz ohne jede ernste Beschäftigung
in tödlicher Langeweile und Inhaltslosigkeit
und in beständiger Abhängigkeit »im Hause« herumstreift.
Führt man als störendes Hindernis weiblicher Berufstätigkeit
die Geschlechtsfunktionen, vor allem die Mutterschaft
an, – denn selbstverständlich muß die Erwerbsmöglichkeit
auch für die verheiratete Frau beansprucht werden,
– so ist gegen diesen Einwurf einzuwenden, daß die schuldige
Rücksicht, die man der berufstätigen Frau zur Zeit,
da sie der Schonung bedarf, ganz gewiß zu erweisen
hat (nicht, daß sie ihrer überhaupt nicht bedürfte, wie viele
[68] Feministinnen meinen), einfach als eine soziale Pflicht zum
Wohle der Rasse zu betrachten ist, deren Erfüllung aber
nicht mehr Zeit beansprucht als etwa das Militärjahr des
Mannes, welches doch noch nie als Grund für die Unfähigkeit,
einen Beruf auszuüben, angeführt wurde.
In der Tat, selbst wenn wir annehmen, daß die Mutterwerdung
der Frau zwei Monate Urlaub beansprucht, einen
vor, einen nach der Entbindung, mehr bedarf es bei vernünftiger
Lebensweise ganz gewiß nicht, so müßte die sehr
stattliche Ziffer sechsmaligen Kindersegens angenommen
werden, um dem Militärjahr gleichzukommen. Was endlich
die verflixten drei Tage im Monat betrifft, so verursachen
sie vielen Frauen überhaupt kein wesentliches Unbehagen
und bedürften daher kaum besonderer Berücksichtigung;
angenommen aber selbst, es würde einer derartigen Indisposition
Rechnung getragen, so könnte und dürfte dies einen
wohlgeordneten Betrieb so wenig aus dem Geleise bringen,
als etwa die Waffenübungen, die gleich auf Wochen hinaus
den jungen Mann abberufen.
Der dritte Grund, warum eine Wertung von vorneherein
auf falschem Boden steht, die davon ausgeht, ob der
Mann oder das Weib »geistig höherstehend« oder für diesen
oder jenen Beruf »begabter« sei, liegt in der einfachen Tatsache,
daß solche Vergleiche, die gewiß von Individuum zu
Individuum jedesmal andere Resultate ergeben, überhaupt
nicht geeignet sind, den Wert einer Persönlichkeit oder gar
einer Gattung zu bestimmen. Ob eine Frau als Bahninspektor,
Zahnärztin, Agentin, Telephonistin, Mathematikerin oder
Malerin tüchtiger oder untüchtiger ist als ein männlicher
Kollege, ist höchst gleichgültig für ihren Wert. Es kann
höchstens ihren (eng an ihre Person geknüpften) Wert als
Malerin, Zahnärztin etc. bestimmen und wird sie allein die
Konsequenzen ihrer eventuellen Untüchtigkeit wirtschaftlich
zu tragen haben, kommt aber bei der Bewertung des ganzen
[69] Geschlechtes gegenüber dem anderen Geschlechte überhaupt
nicht in Frage. Es gibt Frauen genug, die überhaupt keinen
Beruf ausüben, die vielleicht gar keine besonderen Talente
haben, und die durch ihr bloßes Dasein ihre ganze Umgebung
erheben und beglücken. (Sein und Wesen entstammen
nicht umsonst sprachlich derselben Wurzel.) Kein
Geschlecht kann »wertvoller«, keines »minderwertiger« sein
als das andere, denn schon durch ihre unersetzliche unentbehrliche
Funktion der gegenseitigen Ergänzung sind beide Geschlechter
für einander gleichwertig.
Eine vergleichende Wertung gibt es nur von Mensch
zu Mensch, von Fall zu Fall, aber nicht zwischen den Typen
Mann und Weib.
Die Schnecke, die hermaphroditisch ist, repräsentiert
schon als einzelnes, ungepaartes Individuum den Typus
Schnecke. Aber erst Mann und Weib zusammen ergeben den
Genus »Mensch«. Männerhaß oder Weiberverachtung sind
abnorme Erscheinungen, die ihre Hinfälligkeit im eigensten
Wesen tragen. Der Haß eines Geschlechtes gegen das andere
und seine Herabsetzung und Herabwertung war immer das
Zeichen des Verfalls, der Entartung, der Verwesung – des
einzelnen, wenn vom einzelnen geübt, ganzer Völker, wenn in
Massen um sich greifend. Die sexuellen Perversitäten, die
diese Erscheinungen in unmittelbarem Gefolge hatten, waren
stets der Ruin noch so gesunder Kräfte; Griechen und Römer
waren im Stadium des Verfalls und Niederganges, da die
Knabenliebe bei ihnen Überhand nahm, und der Orient, der das
Weib am tiefsten drückt, ist auch politisch ein lendenlahmer
»kranker Mann«.
Hinter uns aber stehen nicht die ersatzbereiten Kräfte
unverbrauchter Völkerstämme, wie die Germanen hinter dem
zugrunde gehenden Altertum. An Spannkraft und Nerven
werden von einem auf die Spitze getriebenen Daseinskampf
so hohe Anforderungen gestellt, daß es Wahnsinn wäre, die
[70] Glücksmöglichkeiten, die in herzlichen, achtungsvollen Beziehungen
zwischen den beiden Geschlechtern liegen, auch
noch gewaltsam zu verwüsten. Es bedarf keiner »Vermännlichung«
des Weibes, um es zu erheben, wohl aber wird
eine stete, unaufhaltsame Vermenschlichung des Mannes
und des Weibes beide einander nur inniger zuführen, ihre
Beziehungen vertiefen und adeln und durch natürliche Züchtung
eines immer vollendeteren Typus die Gesamtheit heben
und der Vervollkommnung näher bringen.
Von GRETE MEISEL-HESS sind im Verlag
von Hermann Seemann Nachfolger erschienen:
»In der modernen Weltanschauung.« Broschiert M. 2.50
»Fanny Roth.« Eine Jung-Frauengeschichte. 2. Auflage.
Broschiert M. 2.50
»Suchende Seelen.« Drei Erzählungen. Broschiert M. 2.
»Annie-Bianka.« Eine Reisegeschichte. 2. Auflage.
Broschiert M. 1.—
In Vorbereitung:
»Eine sonderbare Hochzeitsreise.«
Neue Novellen.
Schriftstellerin spiegelt, in Hans von Kahlenbergs (Helene von Montbarts)
phantastisch-groteskem »apokalyptischem« Roman: »Der letzte Mann«.
Briefe in Abrede gestellt, der Biograph berief sich aber in seiner Antwort
auf die wiederholte eigene Aussage des Verstorbenen.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Weiberhaß und Weiberverachtung. Weiberhaß und Weiberverachtung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpvk.0