Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.
[[II]]
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Kunſtlehre.
Verlagsexpedition der
Verlagsbuchhandlung von Carl Mäcken
in Reutlingen.
1857.
[[III]]
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.
Gebrauche für Vorleſungen
Die Künſte.
Viertes Heft:
Die Muſik.
Verlagsexpedition der
Verlagsbuchhandlung von Carl Mäcken
in Reutlingen.
1857.
Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.
[[V]]
Inhaltsverzeichniß.
- Dritter Theil.
Die ſubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen
oder
die Kunſt. - Zweiter Abſchnitt.
Die Künſte. - Zweite Gattung.
Die ſubjective Kunſtform oder die Muſik. - §§. Seite.
- a.Das Weſen der Muſik.
- α. Ueberhaupt 746—766 775—840
- β. Die einzelnen Momente.
- Das Tonmaterial und ſeine Gliederung 767—778 840—914
- Der Höhenunterſchied der Töne und Tonlagen überhaupt 768 847—851
- Das Tonſyſtem und die Intervallverhältniſſe 769—770 851—864
- Die Tonleiter und die Tongeſchlechter 771—772 864—872
- Die Tonarten 773 872—881
- Harmonie 774—775 881—900
- Rhythmus 776—777 900—912
- Dynamik des Tons 778 912—914
- Die Compoſition und ihre weſentlichen Formen.
- Melodie 779 914—924
- Die Gliederung in Theile, Perioden und Sätze 780 924—932
- Die Stimmenführung; Uebergang zur Polyphonie 781 932—936
- Stimmenverknüpfung und Stimmenverflechtung 782 936—938
- Contrapunct, Nachahmung, Canon, Fuge 783—784 938—948
- Strenge und freie Polyphonie 785 948—950
- Cycliſche Compoſitionsform; mehrtheiliges,
größeres Tonſtück 786 950—952 - Erſte (triadiſche) Form des mehrtheiligen Tonſtücks;
- Rondo; Variation; Form der freien Gedankenentwicklung 787—790 952—962
- Das größere, aus mehrtheiligen Sätzen beſtehende Tonſtück 791 962—965
- Der muſikaliſche Styl.
- Stylgeſetz; Ausdruck, Tonmalerei 792 965—971
- Stylarten 793 971—976
[VI]
- §§. Seite
- b.Die Zweige der Muſik.
- Eintheilung 794—79 976—979
- Unterſchied der Vocal- und Inſtrumentalmuſik 796 980—983
- Verhältniß beider zu einander 797—798 983—988
- α. Die Vocalmuſik.
- Ihre Eintheilung 799 988—989
- Lied, Ballade, Romanze 800—801 989—998
- Recitativ, declamatoriſcher Geſang, Arie 802 998—1011
- Polyphone Vocalmuſik; Chor 803 1011—1016
- Größere Geſangwerke, Cantate, Motett, Hymnodie, Meſſe 804 1016—1023
- β. Die Inſtrumentalmuſik.
- Die Inſtrumente 805—806 1023—1049
- Eintheilung des Inſtrumentalſatzes 807 1049—1050
- Soloſatz, mehrſtimmiger Soloſatz, Harmonie-, Concert-,
Orcheſterſatz 808—810 1050—1066 - Die Gattungen der Inſtrumentalmuſik 811 1066—1067
- Das einfache Inſtrumentaltonſtück 812 1067—1069
- Das mehrtheilige Inſtrumentaltonſtück; Tanz, Marſch 813 1069—1073
- Die Eröffnungs- und Einleitungsmuſik; Ouvertüre 814 1074—1080
- Größere Tonſtücke, Sonate, Quartett u. ſ. w., Concert,
Symphonie, freie Formen 815—816 1080—1098 - γ. Vocal- und Inſtrumentalmuſik in Einheit und
Wechſelwirkung. - Begründung und Zweck derſelben; das durch ſie ent-
ſtehende Tonwerk im Allgemeinen 817—818 1098—1103 - Das epiſchlyriſche Tonwerk, das Oratorium 819 1103—1110
- Das dramatiſchlyriſche Tonwerk, die Oper; ihre An-
lage und Dispoſition, die Wahl der Stoffe, die ver-
ſchiedenen Gattungen 820—821 1110—1122 - c.Die Geſchichte der Muſik.
- Eigenthümlichkeit und treibende Gegenſätze ihrer Ent-
wicklung 822 1122—1125 - Die Muſik des Alterthums 823 1125—1129
- Die Muſik des Mittelalters 824 1129—1133
- Die moderne Muſik.
- Die italieniſche Kirchenmuſik des 16. Jahrhunderts 825 1133—1135
- Die kirchliche und weltliche Muſik in Italien ſeit dem
17. Jahrhundert 826 1135—1139 - Die deutſche Muſik bis Bach und Händel 827 1139—1142
- Die franzöſiſche Muſik; Gluck 828 1142—1143
- Die Muſik ſeit Haydn und Mozart 829—831 1143—1148
- Die neueſten Richtungen 832 1148—1151
- Anhang.Die Tanzkunſt 833 1152—1158
Zweite Gattung.
Die ſubjective Kunſtform oder die Muſik.
a.
Das Weſen der Muſik.
α. Ueberhaupt.
§. 746.
Der Schritt zur Auflöſung der Objectivität, welcher in der Malerei ſich
ankündigt (vergl. §. 659), muß ausgeführt, der Gegenſtand ganz in das Subject
hereingezogen und in deſſen innere Bewegtheit aufgehoben werden, damit erſt
die Subjectivität in ihr volles Recht eintrete. Nur dadurch wird es möglich,
daß auf einer weiteren Stufe, welche allerdings durch den Begriff des Schönen
und ſeine Begründung im Lebensgeſetze ſelbſt gefordert iſt, das Object nunmehr
als eine neue Schöpfung wieder aus dem Geiſt hervorgehe.
Der Eintritt der Muſik iſt in der Malerei ſo vorbereitet, daß man
ſagen kann, man höre überall ihren Schritt ſchon an der Pforte. Es iſt
in der Lehre dieſer Kunſt auf allen weſentlichen Puncten gezeigt, wie ſie
an der Grenze der bildenden Künſte ſteht, wie zuerſt überhaupt durch das
Prinzip ihrer Darſtellungsweiſe, wonach ſie einen bloßen Schein der Dinge
auf die Fläche wirft, ſodann durch das Ueberwiegen des Ausdrucks, die
vielgeſtaltige Handlung, die Aufnahme der elementariſch ergoſſenen Medien,
namentlich aber durch die Magie der Farbe der Charakter der Objectivität
ſo eben ſich verflüchtigen zu wollen ſcheint, es iſt dieſe Beleuchtung ins-
beſondere in dem angeführten §. durch die Worte zuſammengefaßt, es ſei
die ſubjective Bewegtheit in dem Maaße eingedrungen, daß zum Durchbruch
ihres Uebergewichts nur noch ein Schritt fehle. Hegel’s treffender Ausdruck
iſt, daß in der Magie des Colorits das Objective gleichſam ſchon zu ver-
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 51
[776]ſchweben beginne und die Wirkung faſt nicht mehr durch etwas Materielles
geſchehe (Aeſth. B. 3, 126). Allein die Malerei iſt und bleibt noch bildende
Kunſt, ſtellt ihr ideales Weltbild noch dem Subject gegenüber als ein Object,
das außer ihm, der eigentlichen Bewegung ermangelnd, im Raume verharrt.
Welche tiefen Mängel ſelbſt für die reichſte unter den bildenden Künſten
hieraus fließen, haben wir geſehen. Wie warm ſie ſich auch an das Innere
des Zuſchauers ſchmiegt, die Scheidewand zwiſchen ihr und ihm bleibt ſtehen,
die ausſchließende Natur des Räumlichen legt ſich zwiſchen beide. Es iſt
am gegenwärtigen Orte nicht die Aufgabe, dieß in der beſtimmten Richtung
auseinanderzuſetzen, daß noch einmal gezeigt würde, was Alles die Dar-
ſtellungsmittel der Malerei nicht zu geben vermögen, um dadurch unmittelbar
zu der Nothwendigkeit fortzuführen, daß ein anderes Darſtellungsmittel er-
griffen werde, ſondern wir ſprechen erſt von dem geiſtigen Act und ſeinem
Grundgeſetz im Ganzen und Großen. Dieſes, das Grundgeſetz der Ein-
theilung der Kunſt in Künſte, haben wir (§. 537) in dem Fortgange von
der Objectivität zur Subjectivität und zur höheren Einigung beider gefunden,
derſelben Kategorie, worauf die Stufen des Syſtems: das Naturſchöne, die
Phantaſie, die Kunſt beruhen. Der Geiſt der Kunſt ſtellt das Abbild ſeines
inneren Gebildes zuerſt als Object in den Raum hinaus, wo es dem Zu-
ſchauer begegnet wie der naturſchöne Gegenſtand. Er gewinnt durch dieſen
Act die ganze Schärfe und Klarheit der Gegenüberſtellung, aber er verliert
auch ſo viel, daß er in ſeinem Gebiete denſelben Weg wiederholen muß,
den die Phantaſie vor der Kunſt einſchlug, als ſie das naturſchöne Object
zuerſt ganz aufzehrte, in ihr Inneres nahm, in ein blos inneres Bild ver-
wandelte. Der Künſtler hat den Stoff, den er als Inhalt eines Sculptur-
werks, Gemäldes räumlich von ſich abſtößt, wohl vorher im Innern gehegt
und durchdrungen, aber dieſe Durchdringung wird ſchon im Innern keine
vollendete, es wird eine Antitheſe in der Syntheſe geweſen, ein Reſt
von Fremdheit wird zurückgeblieben ſein und eben dieß wird der Zuſchauer
fühlen, denn alles räumliche Sein trägt den Charakter des Ausſchließenden.
Es muß eine noch innigere, eine abſolute Durchdringung geben, worin das
Gegenüber ganz flüſſiges Ineinander, das Hinausgeſtellte ganz innerſtes
Eigenthum bleibt, und zwar ſchon im innern Acte ſelbſt, wo ebendaher
derjenige, der das Kunſtwerk genießt, mit ſeinem innerſten Selbſt darein
eingeht oder umgekehrt es in ſein innerſtes Selbſt eingehen, dieſe Zwei
ineinander aufgehen fühlt. Zu §. 551, S. 176 iſt geſagt: es werde in
einer auf die bildende Kunſt folgenden zweiten Kunſtform ein Ineinander-
gähren von Object und Subject eintreten, welches inniger, aber dunkler
ſei, als das Verhalten in der bildenden Kunſt; dieſe ſei mehr und weniger,
als jene vorerſt auf ſie folgende ſubjective Form; die Beſtimmtheit der Gegen-
überſtellung zwiſchen dem Naturſchönen und Künſtler, dem Künſtler und ſeinem
[777] Werke ſei ebenſo ſehr noch eine Behaftung mit der Natur, ein Bedürfen des
gegebenen Glieds in der Antitheſe; mit dem „Zurückſchlingen der Welt in
das Herz,“ das jene ſubjective Kunſt zu vollziehen haben werde, ſei die
Klarheit des Gegenſchlags, aber auch dieſe Behaftung mit dem Object auf-
gehoben und eine Wiederherſtellung des letzteren vorbereitet, welche von
ungleich hellerem Bewußtſein begleitet ſein werde. Von den zwei Seiten,
welche in dieſen Sätzen hervortreten, iſt zuerſt ſchlechthin diejenige zu betonen,
von welcher dieſer neue Schritt der Kunſt als unendlicher Fortſchritt er-
ſcheint. Die Kunſt muß jetzt den Standpunct des ſubjectiven Idealiſmus
einnehmen und ſie wird ſein Unrecht theilen, aber hier gilt vorerſt ſein Recht.
Die Philoſophie mußte den Realiſmus zerſtören und erſt die Wahrheit, daß
das Subject Inhalt, Maaß und Ziel aller Dinge iſt, bis zu der Spitze
treiben, wo es unmöglich war, aus dem Subject, das allen Gegenſtand
verſchlungen hatte, wieder ein Object zu conſtruiren, ehe ſie den Weg zum
Wiederaufbau der Welt, zum Ideal-Realiſmus fand; ebenſo muß die Kunſt,
nachdem ſie in der bildenden Form das Object dem Geiſte gegenüber hin-
geſtellt und ſtehen gelaſſen, die Wahrheit, daß alles Object nur ſo viel iſt,
als es für den Geiſt iſt, erſt dahin treiben, daß ſie daſſelbe völlig aufzehrt,
ehe ſie es aus dieſem Grab und Schacht neugeboren, vom Geiſte geſetzt
und durchdrungen wieder zu Tage bringt. Allerdings aber läßt ſich dieß
gar nicht aufſtellen, ohne daß ſogleich auch das Unrecht dieſes Standpuncts
ausgeſprochen wird. Auch der §. ſagt daher bereits, daß der Eintritt der
Kunſt in das Prinzip der reinen Subjectivität ein nothwendiger Durchgang
zu einem höheren Dritten ſei, und behauptet dieß als Forderung des Be-
griffs des Schönen und ſeiner Begründung im Lebensgeſetze ſelbſt. Das
Schöne iſt die Idee in begrenzter Erſcheinung; alle Erſcheinung der Idee iſt
aber weſentlich Erſcheinung in der Form des Sichtbaren. Die Idee iſt
das Leben, das Leben aber iſt die Bewegung der Kräfte, welche in Körpern
Geſtalt haben; das Daſein der Idee iſt daher vor Allem Verkörperung.
In dem organiſchen Körper blitzt aus der feinſten Bildung der Materie der
Geiſt auf, der unendlich mehr, als alle Materie, richtiger die Wahrheit aller
Materie iſt, aber nicht anders, als ſo, daß ſie ſeine Baſis, ſein Organ bleibt.
Die Kunſt wird daher das Sichtbare der Körperwelt nun verlaſſen dürfen,
um es wieder zu ſuchen, ſie wird es nicht getilgt, ſondern in Wahrheit
nur verborgen haben und daraus folgt, daß diejenige Kunſtform, welche
ſich auf dieſen Standpunct ſtellt, einen eigenthümlich zweiſeitigen, ebenſo-
ſehr weiter, nach einer höheren Stufe, weiſenden, als für ſich berechtigten
und ſelbſtändigen Charakter tragen wird: ein Begriff, der im Folgenden zu
entwickeln und dann mit dem ganzen Gewichte der Ausdrücklichkeit heraus-
zuſtellen iſt. Jede Kunſt zeigt durch ihre Mängel hinüber auf die andern,
keine ſo fühlbar, ſo ſchwebend, wie die Muſik.
51*
[778]
§. 747.
Das Subject, welches allen Gegenſtand aufgehoben in ſich trägt, kann in
der Kunſt nur das fühlende ſein. Vermöge innerer Nothwendigkeit beſteht
daher im Leben der Phantaſie eine beſondere Form, worin dieſelbe mit ihrem
ganzen Weſen ſich auf den Standpunct des Moments der Empfindung ſtellt und
blos innerhalb derſelben bildet (vergl. §. 404). Die Auffaſſung der empfindenden
Phantaſie iſt ſchlechthin eigenthümlich, durch keine andere zu erſetzen und eben-
dadurch berufen, eine ſelbſtändige Kunſtform zu begründen.
Zuerſt ein Wort zum Schutze des Wechſels zwiſchen den Ausdrücken:
Gefühl und Empfindung. Die pſychologiſche Terminologie iſt gewohnt,
Empfindung vom ſinnlichen, Gefühl vom geiſtigen Innewerden zu gebrauchen.
Allein die Sprache bezeichnet unbeſtritten auch rein ſinnliche Erregungen der
Luſt und Unluſt als Gefühle, und umgekehrt wendet ſie mit ſolcher Beſtimmt-
heit das Wort Empfindung im intenſiven, geiſtigen Sinn an, daß wir uns
ſchon in §. 404. jener Schulvorſchrift nicht bequemen konnten. Iſt eine
Unterſcheidung im Sprachgebrauche wahrzunehmen, ſo ſcheint ſie uns darin
zu beſtehen, daß man mit dem Ausdruck Empfinden gewöhnlich den An-
eignungs-Act eines Objects bezeichnet, Gefühl aber abſolut von dem ganzen
Verhalten der Seele zu gebrauchen vorzieht; man ſagt lieber: dieß im Ge-
mälde, Gedicht u. ſ. w. iſt empfunden, als: gefühlt. Da nun die Unter-
ſchiede der Phantaſie in §. 404. darauf begründet ſind, daß dieſe ſich mit
ihrem ganzen Weſen in den Standpunct des einen oder andern der Acte
legt, welche die Momente ihrer Thätigkeit bilden, ſo wurde ſchon dort geſetzt:
empfindende Phantaſie, weil dieſe darin beſteht, daß die äſthetiſche Schöpfer-
kraft ſich auf jene Seite der Anſchauung, welche im Acte des innigen An-
eignens beſteht, und auf jenen Anfang der bildenden Erzeugung wirft, welche
den Stoff erſt in das unbeſtimmte Weben begeiſterter Stimmung taucht. —
Von blos ſinnlichem Gefühle kann in der Aeſthetik natürlich nicht die Rede
ſein. Eigentlich gibt es gar kein ſolches, denn was auf die Sinne ſo oder
anders, ihre organiſche Stimmung fördernd oder ſtörend einwirkt, muß erſt
von der Seele ergriffen, ihrem Innewerden angeeignet ſein, ehe es ein
beſtimmtes Gefühl, Luſt oder Unluſt, bewirkt. Eine Seelenſtimmung nun,
die nur auf einem ſo apperzipirten bloßen Sinnen-Eindruck beruht, iſt aller-
dings ein blos ſinnliches Gefühl zu nennen in Vergleichung mit andern.
Die Kunſt aber hat mit dieſem Gebiete nichts zu ſchaffen. Das ganze Syſtem
des Sinnenlebens tritt jedoch in der Einbildungskraft als ein innerlich ge-
ſetztes noch einmal auf und ſo gibt es eine Welt von Stimmungen, welche
eine verinnerlichte Reminiſcenz der ſinnlichen Gefühle darſtellen. Auf dieſe
[779] kann allerdings die Kunſt ſich werfen und davon muß weiterhin mit Nach-
druck die Rede ſein, doch nur um zu zeigen, daß dieß nicht wahre Kunſt,
dieſe hat es nur mit dem Gefühle zu thun, das in näherem und nächſtem
oder entfernterem Sinn einen ethiſchen Kern hat.
Der gegenwärtige §. iſt nun eine weſentliche Ergänzung von §. 404; der
tiefere Beweis, daß im Organiſmus der Phantaſie eine Nothwendigkeit liegt,
in der empfindenden Form aufzutreten, wurde dort der vorliegenden Stelle
in der Kunſtlehre vorbehalten. Zunächſt ganz allgemein philoſophiſch hat
der vorh. §. begründet, daß die Kunſt eine beſondere Geſtalt erzeugen muß,
worin das Subject Alles, worin aller Gegenſtand in daſſelbe aufgegangen
iſt, daß dieſes einmal ganz und ausſchließlich zum Rechte kommen muß,
um zu zeigen, daß es auch in der bildenden Kunſt überall nicht das bloße
Object, ſondern ſeine Durchdringung und Durchgeiſtigung war, was dem
Stoffe ſeinen Kunſtwerth gab. Fragt es ſich nun, wie dieſe Forderung ſich
realiſiren ſoll, ſo leuchtet ein, daß dieß durch keinerlei Verhalten geſchehen
kann, worin der Geiſt auf gegebene Objecte als ſolche gerichtet iſt. Die
Anſchauung hat das Ihrige in der bildenden Kunſt, die auf ihren Stand-
punct ſich ſtellte, gethan; ob die verinnerlichte Anſchauung, die Vorſtellung,
alſo das Einbilden ganz allgemein, ebenfalls den Standpunct abgeben kann,
auf den die Phantaſie ſich ſtellt, kann hier nicht zur Sprache kommen, denn
auch dieſe Form beruht auf beſtimmtem Verhalten zu Objecten. Es bleibt
alſo nur das Subjectivſte im Subject, das Gefühl, als Organ der gefor-
derten Leiſtung übrig: die Form, von der ſich gar nichts prädiciren läßt,
was zu der Beſtimmung: mir iſt es ſo und ſo zu Muthe, in mir klingt
die Welt ſo und ſo an, irgend eine weitere, einem Object entnommene
Eigenſchaftsbeſtimmung hinzubrächte. Allein wir ſind im äſthetiſchen
Gebiete, wir reden nicht vom Gefühl überhaupt, ſondern von der Phan-
taſie als Gefühl, alſo von dem Gefühl, wie die Kraft der Phantaſie ſich
in daſſelbe legt und das Ganze ihrer Thätigkeit in dieſem Elemente durch-
führt, ſo daß, was in andern Gebieten Anſchauung, Einbildungskraft, Er-
zeugung des reinen inneren Urbilds iſt, auch hier, jedoch in anderem Sinn,
anderer Form vor ſich geht. Nach jener Bezeichnung wäre das Gefühl
eigentlich ein Unſagbares, Unausſprechliches, denn ohne alle und jede Hülfe
objectiver Prädicirung läßt ſich doch im Grunde kein Wort finden, zu ſagen,
wie mir zu Muth iſt; eben in dieſe Lücke aber werden wir nun die Phan-
taſie als empfindende eintreten ſehen. Es iſt im vorh. §. zugleich mit der
erſten Einführung in dieſes neue Gebiet ausgeſprochen, wie daſſelbe aller-
dings über ſich ſelbſt hinausweist, ebenſo beſtimmt aber iſt deſſen reine
Selbſtändigkeit behauptet. Dieß findet nun genau ſeine Anwendung auf
das Gefühl als Urheber der ſich nunmehr eröffnenden Kunſtform. Die
Phantaſie wird jene Lücke in gewiſſem Sinn ausfüllen, doch keineswegs ſo,
[780] daß das nun zu einer Welt von inneren Formen und Unterſchieden ent-
wickelte Element gegenüber dem Dringen des Geiſtes auf objective Beſtimmt-
heit nicht noch immer als eigenſchaftslos, unterſchiedslos ſich darſtellte:
dieß iſt die eine Seite, welche merkbarer, als in andern Künſten, fortleitet,
weiter weist; aber ebenſo gewiß iſt, daß das Gefühl mit jener Art von
Sprache, die es als Form der Phantaſie und Kunſt gewinnt, Solches ſagen
kann, was durch gar kein anderes Organ hinreichend geſagt werden kann.
Kein Bild, kein Wort kann dieß Eigenſte und Innerſte des Herzens aus-
ſprechen wie die Muſik, ihre Innigkeit iſt unvergleichlich, ſie iſt unerſetzlich,
ein rein ſelbſtändiges, in reiner Eigenkraft beſtehendes Weſen. Ja die
Betrachtung der Muſik müßte eigentlich in ganz anderem Umfang, als die
der andern Künſte, in die Pſychologie gezogen werden. Was die letzteren
betrifft, ſo genügt es dieſer Wiſſenſchaft, die inneren Unterſchiede der Phantaſie,
worauf ſie beruhen, im Allgemeinen aufzuzeigen, was aber das Gefühl ſei,
erfahren wir ſo entſchieden nur durch die Kunſtform, die es ſich durch die
Bildungskraft der Phantaſie in der Muſik gibt, daß eigentlich der Apparat
dieſer Kunſt vom Pſychologen zu Hülfe zu nehmen iſt, um das innere Leben
des Gefühls, auch abgeſehen von der Kunſt, zu beleuchten; von der An-
ſchauung, von der Vorſtellung wiſſen wir auch ohne die Kunſt, über das
Gefühl belehrt nur ſie uns.
§. 748.
Im Gefühle wird das Subject ſeiner ſelbſt inne, wie es in ſeinen Lebens-
bedingungen durch die objective Welt gefördert oder gehemmt iſt. Es vollzieht
nicht den unterſcheidenden Act des Bewußtſeins, welches Subject und Object
auseinanderhält und das letztere durch Prädicate beſtimmt; es wird in ſeiner
Reinheit nur gefaßt, wenn es von dieſem Acte, der es zwar zu begleiten pflegt,
in der Betrachtung ganz getrennt gehalten wird; es iſt daher vergleichungsweiſe
dunkel, indem es nur ſeine eigene Stimmung, nichts von dem Gegenſtand aus-
ſagt, durch den ſie erregt iſt. Es iſt aber eine ungleich tiefere Form des Seelen-
lebens, als das Bewußtſein, indem es die objective Welt in das innere Leben
des Selbſt und deſſen einfache Idealität verwandelt. Seine Bewegung iſt un-
willkührlich, aber ebenſo ſehr verhüllte Freiheit. In ihm iſt der reine Act des
Selbſtbewußtſeins, von dem alle Thätigkeit des Denkens und Wollens ausgeht,
in geiſtiger Naturform vorgebildet.
Um den Inhalt des §. zu erläutern, wird es am zweckmäßigſten ſein,
zuerſt die Begriffe: Bewußtſein und Selbſtbewußtſein klar zu unterſcheiden;
es wird dann die Natur des Gefühls, wie es die Mitte zwiſchen dieſen
beiden Acten, ja die Mitte der ganzen Geiſteswelt bildet, leichter zu faſſen
[781] ſein. Das Bewußtſein iſt der Act, wodurch das Subject in klarer Gegen-
überſtellung ſein Ich und das von außen gegebene Object auseinanderhält
und in der Unterſcheidung zugleich zuſammenfaßt. Es erwacht an der Hand
der ſinnlichen Wahrnehmung, d. h. insbeſondere an der Thätigkeit des Ge-
ſichtſinnes, denn dieſer iſt es, der Grenzen aufzeigt und die Raumvorſtellung
vermittelt, welche die nächſte Bedingung jenes unterſcheidenden Actes iſt;
wogegen die Sinne, welche auf unmittelbarer Berührung mit dem Gegen-
ſtand und ſeiner Auflöſung und Verflüchtigung beruhen: Taſtſinn, Geruch
und Geſchmack, als Sinne der nicht unterſcheidenden unmittelbaren Empfin-
dung tiefer im Gebiete der reinen, dunkeln Sinnlichkeit liegen. Nur der
Taſtſinn, ſofern er uns durch den Stoß auf das Feſte überhaupt von Körpern
überzeugt, hat näheren Antheil an jener Bedeutung des Geſichtſinns. Das
Bewußtſein iſt nun wohl klare, geiſtige Gegenüberſtellung und Zuſammen-
greifung des Subjects und Objects, aber noch kein Act höherer Einheits-
bildung. Das Ich geht noch nicht in ſich, um ſich als das wahrhaft Thätige
in dieſem Acte zu erfaſſen, ſondern erſcheint ſich nur in und mit dem Ob-
jecte, das ihm ein von außen gegebenes iſt; es iſt Antitheſe mit blos äußer-
licher Syntheſe, denn es bleibt ganz unentwickelt, ob in der Syntheſe das
Ich nur ein Aufnehmendes oder vielmehr ein wahrhaft Thätiges ſei, ganz
ähnlich, wie im phyſiſchen Sehen ohne Zutritt des Denkens die poſitive
Thätigkeit des Auges unbewußt vor ſich geht und der Gegenſtand einfach
dieſem Organe ſich zu geben ſcheint. Den Begriff der Antitheſe mit unvoll-
kommener Syntheſe haben wir in d. Anm. zu §. 746 ſchon auf das Ver-
halten des Geiſtes in der bildenden Kunſt angewandt, und wirklich ſteht
dieſe, obwohl mit unendlichem Gehalt erfüllt, noch auf dem Standpuncte
des bloßen Bewußtſeins. Wir kommen darauf zurück. — Das Selbſtbe-
wußtſein dagegen iſt der abſolute Act der Reflexion des Ich auf ſich ſelbſt,
in welchem die Antitheſe gegen ein von außen gegebenes Object nebſt der
blos äußerlichen Syntheſe abgeworfen und ſo das Ich nur ſein eigenes
Object iſt. Daß in dem Ich, wiefern es in dieſer Einheit des Unterſchiedenen
Object iſt, die ganze Welt der eigentlichen Objecte eingeſchloſſen liegt, daß
das Ich die unentfaltete Welteinheit iſt, dieß bleibt in dem abſtracten Uract
des Geiſtes, den wir Selbſtbewußtſein nennen, noch unerſchloſſen, als bloße
Möglichkeit zurückgehalten. In der That kann das Univerſum nicht anders
begriffen werden, denn als ein in unendlichem Ueberbau von Formen auf
Formen ſich wiederholendes Auseinanderlegen, Zuſammenfaſſen und In-
einanderſchieben, Wieder-Auseinanderlegen und Ineinsbilden eines ewig
geeinigten Gegenſatzes von zwei Gliedern, die wir je nach der Form und
Stufe verſchieden, ſchließlich aber als Subject und Object bezeichnen. Im
Selbſtbewußtſein iſt dieſe gegenſätzliche Weltbewegung in die einfache Einheit
des nur ſich ſelbſt in ſich gegenübertretenden Ich zuſammengeſpannt. Soll
[782] nun dieſelbe ſich entfalten, ſo muß das Selbſtbewußtſein ſich wieder mit dem
Bewußtſein vereinigen, das ein wirkliches, dem Subjecte zunächſt fremdes,
von außen gegebenes Object hinzubringt. Der Geiſt, der als Selbſtbewußt-
ſein ſich in ſeiner reinen Thätigkeit erfaßt hat, geht aber nun mit dieſer
Vorausſetzung ſeiner Autonomie an das gegebene Object und verarbeitet es
in das Seinige. Die Formen des Denkens und Wollens ſind die Reali-
ſirung des Selbſtbewußtſeins, die Entfaltung ſeines erſt unaufgeſchloſſenen
Weſens, wonach es nichts Anderes iſt, als die in den Einen, idealen Punct
des Ich, das ſich ſelbſt Object iſt, zurückgegangene Ausbreitung aller Dinge,
die ſich aus dem Puncte wieder auswickeln ſoll, nun aber ſo, daß der Geiſt
die thätige Macht iſt, die in ihrer Arbeit Alles durchdringt, das Object
denkend in den Begriff aufhebt und den Begriff wollend in objectives Da-
ſein überſetzt. Da nun keine Form des Geiſtes für ſich allein beſteht, ſo
haben wir zu fragen, wie ſich das Bewußtſein im oben beſtimmten, gewöhn-
lichen Sinn, d. h. abgeſehen von dieſer tieferen Vereinigung mit dem Selbſt-
bewußtſein, zum Denken verhalte, und die Antwort iſt, daß es nicht anders
auftritt, als mit einem Denken, aber, ſofern es eben unterſchieden iſt von
deſſen ganzem, prinzipiellem Prozeſſe, nur mit der formellen Thätigkeit des
Denkens, alſo ohne deſſen Fortgang zur ſpeculativen Idee. Ohne ſich von
der Grundlage jener, noch auf den Kategorieen der Sinnlichkeit ruhenden
Antitheſe von Subject und Object zu befreien, iſt alſo das Bewußtſein von
Denkbeſtimmungen durchzogen und gibt ſeinem Acte der unterſcheidenden
Gegenüberſtellung Ausdruck durch das Wort. Es beſtimmt das Object
und deſſen Verhältniß zum Subject, es prädicirt, es urtheilt. —
Vergleichen wir nun das Gefühl zuerſt mit dem bloßen Bewußtſein, ſo
iſt es nach der einen Seite ärmer, als dieſes: es prädicirt nicht, es urtheilt
nicht, es ſagt nichts vom Object aus. Es iſt dunkel, es iſt — oder ſcheint
blind und, wofern es keine Sprache, als die eigentlich ſogenannte, die des
Worts, geben ſoll, auch ſtumm. Im Gefühl werde ich mir des Verhält-
niſſes inne, in welchem ein Eindruck oder eine Summe von Eindrücken zu
meinen ſubjectiven Lebensbedingungen ſteht. Was für ein Object aber und
auf welchem Wege, durch welchen Proceß es dieſen Eindruck auf mich her-
vorgebracht hat, dieß habe ich, ſofern ich mich blos empfindend verhalte,
vergeſſen, ich vernehme nur mich ſelbſt, wie ich geſtimmt bin, bin nur
bei mir, verkehre nur mit mir, das Object iſt einfach in das Subject gefallen,
löst ſich in ihm zu einer bloßen Reſonnanz auf. Die Dinge klingen in mir
an, ihr Wiederhall iſt in meinem Innern, aber ich verhalte mich nur zu
dieſem Klang, nicht zu ſeiner Urſache im Object, höre das Echo, nicht den
Rufer. Kurz dem Gefühle fehlt das Licht des Gegenſchlags von Subject
und Object, es verhält ſich zum Bewußtſein wie Schlaf zum Wachen, das
Subject ſinkt in ſich hinein und verliert den Gegenſatz zur Außenwelt. Um
[783] dieſe Natur des Gefühls ſtreng zu faſſen, muß man daſſelbe rein für ſich
nehmen, wie es empiriſch nur als verſchwindender Moment vorkommt.
Der Geiſt iſt ſo ſehr ſeinem innerſten Weſen nach Bewußtſein, daß er
daſſelbe nur augenblicklich im Bewußtloſen auslöſchen kann und daß er
dieſes, ſowie es eingetreten, alsbald wieder mit jenem erfaßt. In der Er-
fahrung iſt daher das Gefühl eigentlich ſtets vom Bewußtſein begleitet und
dieſes gibt über deſſen objectiven Urſprung beſtimmte Ausſage. Die bis-
herige Pſychologie wußte die Lehre vom Gefühle nur dadurch zu einem
gewiſſen Umfang von Claſſificationen zu entwickeln, daß ſie von reinen
Gefühlen ſolche unterſchied, die einen ausgeſprochenen objectiven Inhalt
haben; das Schwere iſt freilich die Ausſonderung des reinen Gefühls aus
ſeiner Vermiſchung mit dem Bewußtſein, aber das Weſen deſſelben liegt in
ſeiner Wahrheit gerade nur dann vor, wenn vom objectiven Inhalt, wor-
über das begleitende Bewußtſein Rechenſchaft gibt, völlig abgeſehen wird.
Wir haben Augenblicke, wo es uns frei und heiter, bang und wehmüthig,
mild, rauh, düſter, warm, kalt u. ſ. w. zu Muth iſt, wir wiſſen nicht
warum, wir ahnen ein Gut oder Uebel, erinnern uns dunkel eines ſolchen,
ohne es zu kennen; Antonio im Kaufmann von Venedig ſagt, er wiſſe
nicht, was ihn traurig mache; wie er d’ran gekommen, wie’s ihm angeweht,
von was für Stoff es ſei, von was erzeugt, das ſolle er erſt erfahren:
dieß ſind die reinen Stimmungsmomente, aber eben nur Momente, denn
ſo wie wir verſuchen, die Stimmung zu bezeichnen, geſellt ſich ſchon das
Bewußtſein dazu, beginnt die Beziehung auf ein Object und folgt der Ueber-
gang in ein Denken oder ein Wollen. Wir können ſo das Gefühl zunächſt
mit jenen Sinnen-Empfindungen vergleichen, welche uns kein Bild eines
Gegenſtands vermitteln, wie der Taſtſinn, ſofern er nicht durch die Hand
ſich von den Formen überzeugt, ſondern nur Warm, Kalt, Glatt, Rauh
u. ſ. w. empfindet, der Geſchmack und Geruch; das Bewußtſein entſpricht
im Gegentheile genau oder dient vielmehr wirklich der Wahrnehmung durch
den Geſichtſinn, und wie ohne deſſen Hülfe jene Sinne nichts vom Object
als ſolchem erfahren, ſo das Gefühl nichts ohne Hülfe des Bewußtſeins.
Freilich geräth der erſte Theil dieſer Vergleichung dadurch in’s Schwierige,
daß das Gefühl vielmehr einem höheren Sinne, dem Gehör, entſpricht;
doch ohne daß wir für jetzt irgend näher darauf eingehen, dürfen wir bereits
geltend machen, daß das Gehör, obwohl auf ungleich geiſtigerer Stufe,
jenen dunkeln Sinnen tief verwandt iſt. Um ſo unmittelbarer wird unſere
Begriffsreihe gefördert durch den andern Theil der Vergleichung; denn unſer
obiger Satz, daß die bildende Kunſt der pſychiſchen Form des noch anti-
thetiſchen, aber dafür den Vortheil objectiver Klarheit genießenden Bewußt-
ſeins entſpreche, erhält nun die nähere Begründung, daß das Organ, mit
welchem und für welches ſie thätig iſt, das Auge, die eigentliche Baſis für
[784] dieſe Geiſtesform bildet. Dieſe Seite der Vergleichung führt nun aber auch
zu dem, was das Gefühl trotz ſeinem Dunkel, ja eben durch daſſelbe vor
dem Bewußtſein an Tiefe voraus hat. Es iſt in der Pſychologie oft be-
merkt, daß die Wahrnehmungen des Geſichtſinns vergleichungsweiſe gleich-
gültig ſeien, daß Formen und Farbenverhältniſſe niemals mit der perſön-
lichen Affection aufgenommen werden, wie die Verhältniſſe, die von jenen
dunkleren Sinnen ergriffen werden; ſo iſt nun auch das geiſtige Analogon
des Geſichtſinns, das Bewußtſein, gleichgültig. Das Gefühl dagegen iſt
der Moment, wo der Gegenſtand ſchlechthin verinnerlicht, zu dem Meinigen,
zu meiner eigenen, innerſten Bewegung wird; ſein Weſen iſt die abſolute
Theilnahme an den Dingen, oder vielmehr das abſolute Umſetzen der Dinge
in das Selbſt, dieß reine Zuſammenſchießen beider in Eines, das ein
bewegtes Ich iſt, das „Zurückſchlingen der Welt in das Herz.“ Was an
objectiver Klarheit verloren iſt, iſt an abſoluter Innigkeit gewonnen; die
ganze Welt geht ein in das Innere, wird dieſer einfache, ideale, oſcillirende
Punct. Vergleichen wir nun dieſen Act der unendlichen Verinnerlichung
mit dem Selbſtbewußtſein in ſeinem ſtrengen Unterſchiede vom bloßen
Bewußtſein, ſo ergibt ſich zunächſt, daß das Gefühl auf gleicher Höhe mit
demſelben ſteht, ſofern in beiden die äußere Antitheſe verſchwunden, Subject
und Object in Eins zuſammengefaßt ſind, das Außereinander der Dinge
zum einfachen reinen Inſichſein eingekehrt iſt. Das Selbſtbewußtſein aber
iſt in dieſem Inſichſein zugleich klare Scheidung und ebenſo klare Einigung
des Geſchiedenen, daher der große Ausgangspunct, von dem jene weitere
Scheidung beginnt, in welcher an die Stelle des Objects, wie es nur das
ſich entgegentretende Subject ſelbſt iſt, das wirkliche, äußere Object tritt,
um in das Subject ſo verarbeitet zu werden, daß dieſes nun auch in der
erſchloſſenen realen Welt ſein Gegenbild erkennt und zugleich im Handeln
ſich ſelbſt erſchließt und zur Objectivität expandirt. Nach dieſer Seite mit
dem Selbſtbewußtſein verglichen erſcheint nun das Gefühl dunkel wie in
Vergleichung mit dem Bewußtſein: es fehlt ihm nicht nur die Klarheit der
unterſcheidenden Gegenüberſtellung des gegebenen äußeren Objects, welche
dieſem, ſondern auch die das Ich in ſich ſcheidende Reflexion, die jenem
eigen iſt. Es ſteht jedoch an der Schwelle der letzteren; wir werden dieß
aus dem weſentlichen Grundgegenſatz erkennen, der ſeine innern Bewegungen
beſtimmt und von dem hier nur ſo viel ſchon hervorzuheben iſt: der Luſt
und Unluſt liegt eine Setzung und Negation des Subjects zu Grunde, ein
Analogon von Ich und Nicht-Ich, denn in der Luſt fühle ich mich poſitiv
beſtätigt und gefördert, in der Unluſt erwehrt ſich das Ich ſeiner ſelbſt, wie
es gegen ſeine Lebensbedingungen beſtimmt, in ſeinem Weſen verneint iſt.
Es fehlt das volle Licht der gewußten inneren Scheidung in dieſem Prozeſſe,
aber er iſt der wiewohl noch weiche Keim derſelben, ihr Anreiz und Vorbote,
[785] und inſofern iſt das Gefühl von Carus (Pſyche S. 288 ff.) richtig als der
Punct bezeichnet worden, wo die unbewußte Welt der Seele ſo eben an die
bewußte ſich mittheilt. Iſt nun aber das Gefühl nach der Seite der Klarheit
und der Schärfe der Contraction allerdings weniger auch als das Selbſt-
bewußtſein, ſo iſt es nach der andern Seite nicht nur, wie ſchon geſagt,
eine ihm analoge, ſondern eine ungleich vollere und offnere Form des Geiſtes,
als dieſer ſtricte Act der Selbſterfaſſung. Das Selbſtbewußtſein iſt nach dem
Obigen vollkommene Abſtraction von der realen Wirklichkeit deſſelben Gegen-
ſatzes, den es ſelbſt als idealen, rein formalen Punct in ſich darſtellt; das
Ich hat vollſtändig vergeſſen, daß es als Subject und Object in Einem
dieſe Ueberſetzung der ganzen Welt in die reine Form der Idealität iſt, und
es ſoll erſt daran gehen, dieſe Ueberſetzung wieder umzukehren und ſich als
Thätigkeit im Denken und Wollen zur Welt zu erweitern. Nun haben wir
zwar auch vom Gefühl geſagt, daß es nur ſich ſelbſt vernehme, aber es
vernimmt ſich ſo, daß es doch zugleich auf die umgebende Welt in ihrer
realen Mannigfaltigkeit mit abſoluter Theilnahme bezogen iſt. Im Selbſt-
bewußtſein ſind die unendlichen Fäden, welche von der Welt in das Subject
und von dieſem zu der Welt auslaufen, vorerſt abgeſchnitten, um durch
freie That neu geknüpft zu werden, im Gefühle ſind ſie in voller Thätig-
keit als Vermittler der tiefſten Sympathie, aber vergeſſen ſind ihre Enden
am Object. Im Gefühle vernehme ich mich als Welt-Centrum, im Selbſt-
bewußtſein weiß ich mich als abſoluten Punct. Im Gefühle ſind daher alle
die Formen, in welchen der Geiſt, der im Selbſtbewußtſein ſich zur Spitze
des Fürſichſeins zuſammengefaßt hat, von da wieder hinaus- und übergreift,
ſichtbarer vorbereitet, als in dieſer, obwohl in ſich ſo viel helleren und
acuteren Form. Wir werden ſehen, wie das Gefühl vorzüglich dadurch auf
die thätige, entwickelte Geiſteswelt hinausweist, daß ihm namentlich der
Uebergang in den Willen nahe liegt. Doch abgeſehen von dem wirklichen
Uebergang in die praktiſche Form des Geiſtes iſt das Gefühl ſchon an der
gegenwärtigen Stelle auch mit der Grundbeſtimmung derſelben, der Freiheit,
zuſammenzuhalten. Das Gefühl iſt unwillkührliches Geſtimmtſein, es iſt
mir angethan, angeweht, es iſt an mich gekommen ganz in der Weiſe der
Unmittelbarkeit, der Naturbegebenheit. Aber dieß iſt nicht die Unfreiheit,
mit welcher das Verhalten des Geiſtes behaftet iſt, der auf der Stufe des
bloßen Bewußtſeins ſeinen Beruf zur freien Selbſtbeſtimmung und Beſtim-
mung der Welt hinter den Eindrücken und Reizen des Objects zurückbehält
und ſich nun von dieſen treiben und führen läßt; das Gefühl kann darum
nicht unfrei genannt werden, weil es in dieſem antithetiſchen Sinne gar
keine Freiheit hat. Hier iſt das ganze Selbſt dem Eindruck ohne Rückhalt
hingegeben, aber indem es ihn ganz einläßt, nimmt es ihm auch ſeine
Fremdheit, ſeine Objectivität, ſein Gegebenſein, macht das Aufgenommene
[786] ganz zu dem Seinigen, verarbeitet es, ſetzt es ganz um in das rein ſub-
jective Leben. Wenn nichts mehr neben und außer mir iſt, bin ich auch
von Nichts in der Welt unfrei abhängig; ich bin durchaus durch das Auf-
genommene beſtimmt, aber eben weil ich es durchaus bin, ſo iſt keine neben
dieſem Beſtimmtſein im Hintergrunde zurückgehaltene Freiheit verkürzt und
unterdrückt, ich bin ganz bei mir und damit ganz frei, ganz Zuſtand und
ganz reine Selbſtbewegung, das ganze, freie Ich hat ſich ſelbſt ganz in der
Form der Nothwendigkeit, der Natur, ähnlich wie das Genie die höchſte
Freiheit und doch in Form der Naturnothwendigkeit ſchaffender Inſtinct iſt.
Wir ſagen, man ſolle nicht dem Gefühle folgen, es ſei ein trügeriſcher
Führer, da ſetzen wir die entwickelte Geiſteswelt voraus, wo neben dem
Gefühle der denkende Wille in ſein Recht getreten iſt; wir ſagen ein ander-
mal, das Gefühl leite ſicherer, als der Verſtand der Verſtändigen, da haben
wir das Gefühl als die implicirte Einheit aller Geiſteskräfte, die ihren
Compaß in ſich trägt, im Auge, und dieſer Sinn iſt es, in welchem es hier,
wo es allein für ſich eine ganze Kunſtform begründen ſoll, betrachtet wird.
Freilich auch auf dieſem Standpuncte reden wir von unreinem und reinem
Gefühl und verlangen, daß es in ſich ſelbſt den Kampf jenes Gegenſatzes
von Luſt und Unluſt zur Harmonie läutere; allein auch in ſeiner Iſolirung
unterliegt das Gefühl dem Geſetze der Zurechnung; eben weil das ganze
und volle Geiſtesleben flüſſig in ihm wogt, gibt es eine Schuld und eine
Tugend des Gefühls. Dieſe Seite wird allerdings in ihr volles Licht erſt
treten, wenn wir in das Concrete gehen und das Gefühl als Product eines
vorangegangenen perſönlichen Lebens betrachten, allein es iſt ebenſo wahr,
daß allen beſtimmten Gegenſätzen im Leben des Menſchen das Gefühl als
ein Grundgefühl ſeines ganzen Naturells vorangeht, Gut und Bös in ihm
vorbereitet iſt, und dieß genügt vorerſt, um den Begriff der Imputabilität
auf es anzuwenden. Derſelbe kann jedoch allerdings nicht in der Schärfe
gelten, wie in der Anwendung auf den Geiſt, der aus der dunkeln Einheit
des Gefühls herausgetreten iſt; die Beziehung bleibt dunkel, das Gefühl
liegt im Zwielicht zwiſchen Schuld und Unſchuld.
Es war nöthig, von dieſer Unterſuchung über das Weſen des Gefühls
und ſeiner Stelle unter den Hauptformen des Geiſtes auszugehen; es wird
ſich zeigen, daß dieß nicht umſonſt geſchehen iſt. Die gegebene Erörterung
ſchließt ſich zum Theil an die Auffaſſung von K. Th. Planck (die Weltalter
I. Theil).
§. 749.
Es ergibt ſich, daß das Gefühl die lebendige Mutter des geſammten
Geiſteslebens iſt. Es ſchwebt zwiſchen dem Sinnlichen und Unſinnlichen, die
beſtimmten Thätigkeiten des Geiſtes treten aus ſeinem Schooß hervor, werden
[787] von ihm begleitet, wie ſie es begleiten, wirken beſtimmend und bereichernd auf
es zurück und erlöſchen wieder in ihm. Vermöge dieſer ſeiner Stellung ſcheint
auch die gegenſtändliche Welt beſtändig an der Schwelle des Gefühls bereit zu
ſtehen und klingt in ihm eine ſtete Möglichkeit an, zu objectiver Beſtimmtheit,
zu wirklicher Ausſage über den Gegenſtand ſeiner Erregungen überzugehen.
Nach dem vorh. §. erſcheint das Gefühl zunächſt als Mitte zwiſchen
dem Bewußtſein und dem Selbſtbewußtſein; jenes verſinkt in ihm als
der tiefen Aneignung der Welt, worin die Antitheſe zwiſchen Subject und
Object ſchwindet; dieſes, obwohl nach anderer Seite ärmer, als das Gefühl,
tritt aus ihm hervor als Ausgangspunct der höchſten geiſtigen Thätigkeiten,
die auf klarer Scheidung beruhen. Das Bewußtſein muß, wie wir geſehen,
zu dieſen letzteren treten, um die objective Welt zu erfaſſen, als Form an
ſich aber ſteht es noch auf der ſinnlichen Kategorie des Ausſchließens, da
es Subject und Object nicht wahrhaft in Einheit ſetzt, ſondern nur ver-
knüpft. Daher liegt an der Grenze des Sinnlichen zunächſt das Bewußt-
ſein: der Aufgang des geiſtigen Tags im Dunkel der blos ſinnlich empfin-
denden Seele, der aber noch nicht die innere Einheit aller Dinge, ſondern
nur ihre Grenzen beleuchtet. Vermöge dieſes ſeines Mangels können wir
aber nun das Bewußtſein ohne logiſchen Widerſpruch mit der Sinnlichkeit
zuſammenfaſſen und an das Ende dieſes Ganzen wie an den Anfang des
reinen, ſelbſtbewußten geiſtigen Tages das Gefühl ſtellen. Die Sinn-
lichkeit läuft in ihm aus, der Geiſt taucht aus ihm auf; die Raumwelt
mit den Trennungen ihrer Grenzen geht nieder in ſeiner Nacht und ferne
dämmert der neue Tag des reinen Geiſtes. Das eigentlich ſinnliche Ver-
halten haben wir vom Gefühl als Prinzip einer Kunſtform ganz ausge-
ſchloſſen, aber es führen unendliche, unſichtbare Leiter zu ihm hinüber.
Wir ſtehen vor dem dunkeln Geheimniß des Nervenlebens, das nach der
einen Seite der Ausläufer des Sinnenlebens iſt, der deſſen concentrirteſte
Reize nach innen wirft, und auf der andern der Träger jeder reinſten
geiſtigen Thätigkeit. Hier handelt es ſich daher von einer innerlich reflec-
tirten und darum nur um ſo heißeren Sinnlichkeit, welche mit wunderbaren
Geiſtesahnungen ſich ſo nahe zuſammenfindet, daß beide jeden Moment
ineinander umſchlagen können. — Blicken wir nun vorwärts nach der Welt
des klaren, ſelbſtbewußten, im Denken und Wollen die Welt zur Einheit
durchdringenden Geiſtes, ſo kann zunächſt die Beſtimmung, daß das Gefühl
der dunkle Schooß ſei, woraus ſie auftaucht, nicht ſo verſtanden werden,
als könne nicht von ihm auch in jedes andere, niedrigere, auf der Stufe
des bloßen Bewußtſeins verbleibende Verhalten übergegangen werden; die
Pſychologie hat den geiſtigen Formen die Stelle anzuweiſen, die ſie ihrem
reinen Begriffe nach einnahmen, ſie darf aber darüber nicht vergeſſen, daß
[788] das Leben ein unendlicher Kreis von unendlichen Radien iſt, wo außer der
begriffsmäßigen Reihe jedes in jedes hinüberwirkt und hinüberführt. Das
Gefühl iſt auch nicht verſchwunden, wenn die Energie des ſcheidenden und
durch Scheidung einigenden Geiſtes aus ihm hervorgebrochen iſt: es be-
gleitet als Reminiſcenz des Urſprungs aus der dunkeln Innerlichkeit und
tiefſten Eigenheit jedes Thun, läuft als umſpielende Woge mit, accompagnirt
den wachen Geiſt auf ſeiner Bahn. In dieſer Begleitung wird es bald
abnehmen, zurückgedrängt werden, bald aber auch neue Zuſchüſſe erhalten;
das Unbewußte weicht dem Bewußten, es kann ſich aber auch im Hin-
ſchweben an ſeiner Seite durch daſſelbe bereichern: ein Moment, das in der
Frage über das Verhältniß der reinen oder Inſtrumental- und der beglei-
tenden Vocal-Muſik wichtig wird. — Endlich erlöſchen alle ſcheidenden
Geiſtesthätigkeiten im Gefühle; natürlich nicht immer, aber das Geiſtesleben
ſetzt ſich mit Nothwendigkeit ſeine Pauſen, wo es niedertaucht in dieſe Nacht
der einfachen Innigkeit. Dieſe Pauſen ſind nun zugleich Anſammlungen
jener einzelnen Bereicherungen, die es in ſeiner begleitenden Bewegung er-
halten hat, und aus dieſer tief bereicherten Subjectivität müſſen umgekehrt
die bewußten Thätigkeiten, wenn ſie abermals hervortreten, die vielfachſte
Nahrung ziehen. Eigentlich verſteht es ſich, daß das Gefühl leer, alſo
nicht vorhanden wäre, wenn nicht das bewußte Leben ihm Stoff zuführte,
aber es iſt zu unterſcheiden zwiſchen dem Gefühl, das ſich auf die allge-
meinſten Lebensreize gründet und zwiſchen dem im Fortſchritte ſich tiefer
und tiefer füllenden. Alle dieſe Verhältniſſe, Uebergänge ſind nun alſo
ſchlechthin flüſſig, ein beſtändiges Werden und Weichen, und wir haben ſo
eine allſeitige beſtändige Beziehung des ganzen Lebens auf das Gefühl; es
verhält ſich zu Allem und Jedem im Subjecte und zwar ſo, daß Alles und
Jedes nur durch dieſe centrale Grundaneignung wirklich dem Subject innerlich,
das Seinige, daß das Subject nur dadurch in und bei der Sache iſt (vergl.
Hegel Encykl. d. ph. W. §. 400 Anm.). Man nennt dieß im gewöhnlichen
Leben Wärme und den Menſchen, der die Thätigkeiten des Geiſtes ohne
dieſen Antheil des innerſten Selbſt vollzieht, kalt: eine tiefe Vergleichung
mit dem Naturleben, wo erſt mit dem höheren, innigeren thieriſch-organiſchen
Leben jene ſtetige Auflöſung und Erneuerung beginnt, die als Brennungs-
prozeß in der Wärme ſich kund gibt. Die ſtetige Zuſammenfaſſung des
ſubjectiven Lebens im Mittelpuncte des Gefühls heißt Gemüth; der Gemüth-
loſe behält ſich in ſeinem Verkehr mit der Welt zurück, er legt ſich nicht in
die Dinge oder, was daſſelbe iſt, läßt ſie nicht in ſich einfließen, ihm iſt
Alles blos ein Nebeneinander, und er ſelbſt ſteht zugleich unendlich über der
durchſchnittenen Welt.
Liegt nun dem Gefühle, wie gezeigt iſt, unmittelbar der ſtetige Ueber-
gang in die klar ſcheidenden Thätigkeiten des Geiſtes nahe, ſo muß mit
[789] ſeinen Bewegungen, auch wo es ganz in ſich bleibt, der Eindruck verbunden
ſein, als wollten dieſe ſo eben eintreten; ſie lauſchen beſtändig an der
Schwelle des Gefühls und mit ihnen das Object. Die Subjectivität des
Gefühls iſt alſo eine ſchwebende; ſowie man es feſthalten, fixiren will,
ſtellt ſich faſt unvermeidlich die Beziehung auf einen Gegenſtand ein. So
iſt z. B. die Furcht ein Gefühl, das nicht rein, ſondern vom Bewußtſein
begleitet iſt, denn ſie geht auf einen erkannten Gegenſtand; ziehe ich dieß
ab, ſo bleibt die unbeſtimmte Bangigkeit, an deren Horizont aber immer
wieder das Object, worin die Urſache dieſer Stimmung liegt, wie eine leichte
Wolke ſchwebt, die ſich zu verdichten und aufzuziehen im Begriff ſcheint.
Das Gefühl iſt objectlos und doch jeden Moment im Begriff, objectiv zu
werden. Setzen wir nun, was wir erſt im Verlauf ableiten werden, voraus,
daß das Gefühl eine eigene Kunſtform finden wird, die ihm ohne Worte
als Sprache dient, ſo wird die Folge dieſer ſtets fühlbaren Nähe der be-
wußten und gegenſtändlichen Welt die ſein, daß der, welcher dieſe Gefühls-
ſprache vernimmt, zugleich ſeine beſtimmteren Geiſtesthätigkeiten mitangeregt
fühlt: die Phantaſie als inneres Auge führt ihm Geſtalten vor, welche auf
den Wellen des Gefühlsrhythmus in traumartig verſchwimmenden Umriſſen
ſich bewegen; Erinnerungen, beſtimmte Vorſtellungen ſchießen ihm an, er
gibt dem ausgedrückten Gefühl ein beſtimmtes Object. So viele Zuhörer,
ſo verſchiedene Vorſtellungen, wiefern ſolche nur mit der Stimmungsfarbe
des im Kunſtwerk ausgeſprochenen Gefühls verträglich ſind, umgaukeln nun
den Fluß des letzteren; Jeder glaubt die beſonderen Geheimniſſe ſeiner Bruſt
aufgeſchloſſen. Und dieß iſt ſo wenig eine Trübung des dargeſtellten Ge-
fühls, daß es vielmehr nur eine Realiſirung der in ihm liegenden ſteten
Möglichkeit iſt, nach allen Seiten in die Form der Vorſtellung mit be-
ſtimmtem Inhalt überzugehen. Die Muſik gibt im Gefühl eingehüllt die
ganze Welt, der Zuhörer öffnet in unendlicher Verſchiedenheit die Hülle.
Allein wir haben ſchon oben auf einen höchſt weſentlichen Unterſchied auch
in der Kunſtform ſelbſt hingedeutet, deſſen nähere Begründung ſich nun von
ſelbſt ergibt: wie das Gefühl in ſeiner Reinheit, d. h. ohne begleitendes
Bewußtſein empiriſch nur als verſchwindender Moment vorkommt, wie es
vielmehr in ſeinem Weſen liegt, daß es ſtets im Sprung iſt, überzugehen
in die beſtimmte, Objecte aufzeigende Geiſteswelt, ſo wird es auch in der
Kunſt zu einer Anlehnung hinſtreben, worin eine andere, das Object nennende
Kunſt-Gattung ſeinem Dunkel zu Hülfe kommt und ihm beſtimmten Inhalt
gibt; daraus werden wir die Vocal-Muſik im Unterſchiede von der reinen,
d. h. der Inſtrumentalmuſik hervorgehen ſehen. In dieſer Verbindung wird
ſich nun das Gefühl eines beſtimmten Inhalts, eines Gegenſtands bewußt:
nun weiß ich, was mich bang oder frei, traurig oder heiter ſtimmt; nun
hat jene Schwierigkeit ein Ende, das mit dem Worte zu bezeichnen, was
[790] dem Worte ſich entzieht, und nun iſt den Zuhörern vorgezeichnet, mit
welcherlei Vorſtellungen ſie ihre Gemüthsbewegungen zu begleiten haben.
Es iſt zu §. 698 von der Landſchaft, dem der Muſik verwandteſten Zweige
der Malerei, geſagt worden, das in ihr niedergelegte Gefühl laſſe ſich nicht
recht in Worten ausdrücken, man wiſſe nur etwa zu ſagen: das fühlt ſich
ſo öde, ſo hart, ſo ſchwül, ſo dämmernd, ſo feucht an u. ſ. w. Ebenſo
fühlt ſich die bloße Inſtrumentalmuſik, wir ſuchen nach Ausdrücken und
wählen ſie aus dem Gebiete dunkler, halb phyſiologiſcher Zuſtände des atmo-
ſphäriſchen Lebens u. ſ. w.: ſanft, ſtürmiſch, dumpf, hell, verhüllt, offen,
ſchwungvoll, matt, geſpannt, gelöst, ſchleichend, beflügelt u. ſ. w.; an das
Wort des Dichters gelehnt gewinnt nun die Stimmung, die ihr Anſich ſo
unzulänglich auszuſprechen vermag, Körper und Inhalt, das Räthſel ſein
Wort. Wir haben aber in §. 748 geſehen, daß das Gefühl in ſeiner
Reinheit nur vorliegt, wo es von dem begleitenden Bewußtſein getrennt
wird, und ſomit ſtehen wir vor einer ſchwierigen Wahl: entweder reines
Gefühl, aber behaftet mit einem Bedürfniß der Ergänzung, die es deutet,
ſeiner Objectloſigkeit abhilft, oder gedeutetes, auf das Object bezogenes,
aber nicht mehr in ſeiner Reinheit vorliegendes Gefühl.
Eine gedankenreiche, durchaus anregende Schrift: Vom „Muſikaliſch-
Schönen“ u. ſ. w. von Hanslick widerlegt geiſtvoll die Anſicht, daß be-
ſtimmte, d. h. ein Object vorausſetzende Gefühle den Inhalt der Muſik bilden;
ſie geht aber weiter und behauptet, die Muſik könne auch nicht „unbeſtimmte
Gefühle“ zum Inhalt haben, denn Unbeſtimmtes darſtellen ſei ein Wider-
ſpruch. Allein was in gewiſſer Vergleichung unbeſtimmt iſt, kann in anderer
ganz beſtimmt ſein und wir werden im Folgenden uns mit derjenigen Be-
ſtimmtheit beſchäftigen, welche dem Gefühl in all ſeiner beziehungsweiſen
Unbeſtimmtheit allerdings eigen iſt; Hanslick ſelbſt deutet ſie mit demjenigen
an, was er treffend die reine Dynamik, die Bewegungsverhältniſſe
des Gefühls nennt. Dieſes dynamiſche Gefühlsleben muß nun aber ein
wirkliches Daſein haben auch abgeſehen von der Muſik, wiewohl wir es faſt
nur durch Rückſchlüſſe aus dieſer errathen, und ſo iſt es Inhalt der Muſik.
Was H. ſehr richtig gegen die falſche Trennung zwiſchen Inhalt und
Form ſagt, widerlegt nicht die Nothwendigkeit, beide Begriffe zu unter-
ſcheiden, und indem er ſich auch dagegen kehrt, bewegt er ſich in der
Tautologie, die geordnete Tonwelt als die Form und dieſe Form wieder
als den Inhalt der Muſik zu behaupten. Wie zwiſchen Seele und Körper
ſtreng zu unterſcheiden iſt, obwohl der Körper nur als die Realität der Seele,
die Seele als die Identität des Körpers richtig begriffen wird, ſo iſt die
Muſik zwar das untrennbare Ganze von Ton und Gefühl, tönendes Ge-
fühl, und doch muß die Analyſe beide auseinanderhalten, um ihre Einheit
zu zeigen. Daß man ohne Hülfe der Tonwelt das Gefühl nicht ergründen
[791] kann, daraus folgt nur, daß der Inhalt der Muſik jene Geiſtesform iſt, die
ſich durch Worte nicht zu offenbaren vermag: „füße Liebe denkt in Tönen,
denn Gedanken ſteh’n zu fern.“ Selbſt jene Theorieen von „beſtimmten
Gefühlen“ in der Muſik ſind nur in gewiſſem Sinne falſch, ſofern ihnen
nämlich die Meinung zu Grunde liegt, es laſſe ſich das Beſtimmte eines
Gefühls außerhalb der Muſik durch Begriff und Wort faſſen, ohne aus
dem Elemente des Gefühls herauszutreten, und man könne von einem ſo
definirten Gefühle ſprechen wie vom Stoffe, vom Süjet des Malers und
Dichters; ſie ſind nicht falſch, ſofern ſie ſagen wollen, daß jedes Muſikwerk
eine ſpezifiſch individuelle Stimmung zum Inhalt haben muß. — Zu der
Tautologie geſellt ſich übrigens in jener Schrift der unvermeidliche Wider-
ſpruch, daß hinterher doch „Gedanken und Gefühle, die theuerſten und
wichtigſten Bewegungen des Menſchengeiſts“, als „Gehalt“ der Tonkunſt
eingeräumt werden müſſen.
§. 750.
Das Gefühl durchdringt ſich mit dem Lebensgehalte des Individuums und1.
legt ſich mit dieſer Fülle in die einzelne Stimmung. Da aber in allen indivi-
duellen Unterſchieden die Grundbewegungen des menſchlichen Weſens dieſelben
ſind, ſo iſt der Charakter der Allgemeinheit und Nothwendigkeit durch dieſe
Individualität ebenſo wenig, als durch die Subjectivität des Gefühls überhaupt
ausgeſchloſſen. Jede menſchlich wahre individuelle Stimmung enthält das Gefühl2.
des Endlichen und Unendlichen in irgend einer Weiſe geeinigt und ſo die Be-
dingungen in ſich, die Idee in begrenzter Erſcheinung darzuſtellen. Die Idee
als Gefühl des Unendlichen begründet ein beſonderes Verhältniß zur Religion.
1. Natürlich werden in dem einen Muſikwerk mehr allgemein menſch-
liche Stimmungen in ihrer Einfachheit, in dem andern die tieferen Com-
plexionen des Gefühls, wie ſie nur bedeutenden Individuen eigen ſind,
zum Ausdruck kommen; das Letztere aber, als die höhere und weſentliche
Aufgabe der Tonkunſt, iſt hier in’s Auge zu faſſen, um das Leben des
Gefühls in ſeine tiefere Sättigung zu verfolgen. Es erhält nun ſeine
beſtimmtere Anwendung, was zum vorh. §. über die Bereicherung und
Ernährung des Gefühls durch das bewußte Leben geſagt iſt. In dem
unendlichen Kreislaufe des Seelenlebens wird der ganze Schatz eines vor-
hergegangenen Lebens, die ganze Summe der Erfahrungen, des Leidens
und Thuns der Perſönlichkeit in das Gefühl umgeſetzt und es ergänzt ſich
an dieſer Stelle, was über freie oder unfreie Beſtimmtheit des Gefühls
geſagt iſt: das Gefühl als Grundſtimmung des Individuums iſt das Er-
gebniß ſeines Lebens und alſo mittelbar das Werk ſeines Willens: ſchließ-
lich bin ich ſelbſt der Schöpfer meines Gefühlslebens. Dieſe, ſo mit dem
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 52
[792]Lebensgehalt erfüllte Grundſtimmung des Individuums legt ſich nun in
die einzelne Stimmung, wie ſie durch den Moment und ſeine Anläſſe
gegeben iſt, und hiemit zieht ſich der Begriff des Individuellen, d. h. des
Einzelnen, das ſeine nur ihm eigene Farbe hat, noch feſter und enger an. —
Nun haben wir das Gefühl als eine rein ſubjective (obwohl an der
Schwelle der Oeffnung zum Object ſich hinbewegende) Geiſtesform kennen
gelernt, die ebendarum „unſagbar“ iſt, wir haben jedoch immer in Ausſicht
geſtellt, daß ſich eine andere Form, als das Wort, für ihre Mittheilung
finden werde; jetzt dagegen tritt noch dieß Individuelle hinzu und erhöht
die Schwierigkeit. Das rein Individuelle iſt in gewiſſem Sinn immer
incommenſurabel; in der Malerei aber konnte dieß Incommenſurable kein
Hinderniß der Darſtellung, Mittheilung, des Verſtändniſſes ſein, denn es
ſchlägt ſich in der ſichtbaren Form nieder, in der es uns überhaupt geläufig
umgibt, hier dagegen, wo Alles im Schooße der Innerlichkeit verläuft,
ſcheint nun der zu findenden Mittheilungsform in dieſer neuen Inſtanz ein
unüberſteigliches Hinderniß zu erwachſen, indem ſich der Zweifel aufdrängt,
ob dieß Eigenſte, dieſe dunkle Tiefe überhaupt und vollends ohne allen
Anhalt des deutlichen Unterſcheidens von Objecten ſich ſoll verſtändlich
machen können. Dennoch gilt hier ganz daſſelbe, was von der ſichtbaren
Form: jede unendliche Eigenheit der individuellen Geſtalt iſt doch nichts
Anderes, als eine ſo nur auf dieſem Puncte gegebene Miſchung und
Complication der allgemeinen Gattungsform und daher auch der Gattung
verſtändlich und einleuchtend, ebenſo iſt die individuellſte Stimmung des
Gefühls doch nichts, als eine nur auf dieſem Puncte eigenthümlich gege-
bene Proportionsmiſchung der Elemente des Gefühls, welche der Gattung
gemeinſchaftlich ſind, ſo daß auch die individuellſte Geſtaltung des Gefühls-
lebens von Jedem verſtanden wird und verſtanden werden muß, in welchem
überhaupt daſſelbe nicht zurückgeblieben oder verkümmert iſt; was aber die
Mittheilungsform betrifft, ſo muß, wenn überhaupt eine ſolche für das
Gefühl ſich findet, dieſelbe auch ihre Mittel zum Ausdrucke des Individuell-
ſten miſchen können. So kommt denn dem Schönen in Gefühlsform die-
ſelbe Allgemeinheit und Nothwendigkeit zu, wie, mit Kant zu reden, dem
Geſchmacksurtheil in allen andern Gebieten.
2. Es könnte ſcheinen, als ſei durch den Uebertritt in das neue Element
unſer Grundbegriff des Schönen verloren gegangen. Allerdings ſteht,
wenn wir das Schöne als die Idee in der Form begrenzter Erſcheinung
beſtimmen, die objective Deutlichkeit der ſichtbaren Erſcheinung (welche
innerlich vorgeſtellt in der Poeſie ſich wieder herſtellt) im Vordergrunde deſſen,
was dieſer Begriff umfaßt, und es bleibt bei dem, was in §. 746 geſagt
iſt. Allein es iſt doch die objective Welt, welche im Gefühl aufgelöst,
in ein anderes Element, in das Subjective überſetzt iſt, es iſt die Raum-
[793] welt, die im Subject ausklingt, dieſes, mit einer Summe von Erſcheinun-
gen, deren Grundlage räumliches Daſein iſt, im tiefen innern Wechſelver-
kehr, muß, obwohl dieſer Verkehr alle objective Beſtimmtheit im Gefühl
auslöſcht, doch in ihrer Art auch ein geſchloſſenes Bild darſtellen können.
Dieß iſt die einzelne Stimmung. Die begrenzte Erſcheinung, die wir for-
dern, iſt nun in ihr gegeben, wie ſie durch ein Medium, das wir noch
dahingeſtellt ſein laſſen und das freilich kein ſichtbarer Körper ſein kann,
aber doch fähig ſein muß, das Individuelle, Gefüllte und Begrenzte dieſer
Stimmung auszudrücken, ſich den Sinnen und vermittelſt ihrer dem Geiſte
kund gibt. Dieſe Stimmung iſt zunächſt Abbild des Endlichen, eines
endlichen Verhältniſſes, d. h. der Zuſtand eines Einzelnen, der durch einen
Theil des Weltganzen ſo oder anders erregt iſt. Darin iſt zugleich gege-
ben, was wir im erſten Theile (§. 13. 15) die beſtimmte Idee nennen.
Wir ſetzen nun voraus, daß, noch abgeſehen von der Ideal-bildenden und
künſtleriſch thätigen Phantaſie das Gefühl auch die Rückführung dieſer
ihrer beſondern Stimmung auf die abſolute Idee, auf das Leben des Ganzen
in ſich enthalte. Der idealiſirenden Phantaſie iſt dadurch ihr Geſchäft nicht
abgenommen, denn auch das Gefühl, das ein Stück Welt sub specie
aeterni auffaßt, bleibt verglichen mit ihrer Bildungskraft noch formlos.
Dieſe Vorausſetzung iſt keine andere, als diejenige, welche in §. 392 für
alle Phantaſiethätigkeit aufgeſtellt iſt, und wir haben ſie bereits in dem
erſten Theile des gegenwärtigen §. wiederholt, denn Allgemeinheit und
Nothwendigkeit hat das Gefühl nur, ſofern es mit der Erregung durch
Endliches zugleich flüſſig die Bewegung zum Unendlichen enthält, das
Gefühl des Abſoluten iſt ja, um Schleiermacher’s Ausdruck zu brauchen,
Exiſtentialgefühl. Wir wiederholen jene Forderung von §. 392, daß der
Künſtler ein ganzer, vom Ewigen durchdrungener Menſch ſei, der alles
Einzelne in die Einheit der Idee zurückführt, nur deßwegen gerade hier,
weil der augenblickliche Schein entſtehen könnte, als ob uns auch nach
dieſer Seite unſere Definition des Schönen in dieſer eigenthümlichen Sphäre
verloren gehe; denn in andern Kunſtgebieten läßt ſich die Beziehung der
beſtimmten Idee zur abſoluten in Gedankenform herausfinden: es iſt Wirken
der ewigen Gerechtigkeit im Einzelſchickſal, es iſt Vollkommenheit der zeu-
genden Naturkraft, die eine Ausſicht auf die Vollkommenheit auch der
ſittlichen Welt eröffnet, u. ſ. w. Allein vielmehr umgekehrt verhält es ſich
bei näherer Betrachtung: das Unendliche iſt in keiner Form unmittelbarer
dem Geiſt gegenwärtig, als in der Gefühlsform, und jenes primitive Ver-
halten des Geiſtes, der alle Gegenſätze in ſich verſöhnt hat, die Religion
beſteht ja (vergl. §. 61) weſentlich in der Gefühlsform. Und ſo zeigt
ſich zwiſchen der Muſik und Religion ein Verhältniß von ſolcher Enge,
wie in den andern Künſten nicht. Dieſe ſind ihr verwandt durch die Form
52*
[794]der Vorſtellung, zu welcher das Gefühl in ihr fortgeht, und benützen das
Bild, das ſie erzeugt hat, als ſcheinbaren Zuwachs an Stoff. Die Muſik
thut dieß auch, allein ſie ſteht ſchon vor dieſem Stofftauſch, von dem es
ſich hier noch gar nicht handelt, mit ihr in jenem tiefen Verwandtſchafts-
verhältniſſe des urſprünglichen Elements. Durch dieſe Unterſcheidung iſt
bereits die falſche Folgerung ausgeſchloſſen, die Muſik müſſe ausdrücklich
religiöſe Empfindungen erregen. Die Religion ruht im Gefühl, aber jener
Fortgang zur Vorſtellung iſt ihr ganz weſentlich, daher iſt nur eine aus-
geſprochene Hinwendung des Gefühls zu den Geſtalten des Bilderkreiſes
dieſer Vorſtellung eigentlich religiös. In jenem ganz allgemeinen Sinn
einer tiefern Verwandtſchaft des Elements dagegen iſt alle Muſik, ſelbſt
eine gute Tanzmuſik, religiös. Die Forderung iſt immer nur, daß das
Sinnliche der Stimmung ſich in reine Harmonieen auflöſe, welche eine
weſentlich verſöhnte Empfindung zurücklaſſen, daß das Fühlen nicht dumpf
im gemeinen Wohlſein oder in der Zerriſſenheit des Schmerzes ſtehen bleibe.
Dieß führt auf das Verhältniß zwiſchen Luſt und Unluſt, wovon der
folgende §. handeln wird. Wir fordern auch vom muſikaliſchen Künſtler
ſo wenig, als von dem bildenden und dichtenden eine ſpezifiſch religiöſe
oder ethiſche Richtung, dem Allem iſt ſchon durch §. 392 und in der
metaphyſiſchen Grundlegung durch die Unterſuchungen über das Verhältniß
des Schönen zum Guten und zur Religion vorgebeugt. — Eine andere
Frage aber iſt, ob nicht, nachdem das Verhältniß der andern Künſte zur
Religion durch Zerſetzung des mythiſchen Bewußtſeins ſich aufgelöst, die
Muſik in dieſem Bunde, und zwar hier als ausdrücklich religiöſe, ver-
harren könne? Dieſe Frage entſteht darum, weil das Gefühl gegenſtandslos
iſt. Wir haben nämlich zwar geſagt, die Religion ſetze weſentlich ihrer
Gefühlserhebung einen mythiſchen Gegenſtand; es iſt aber doch denkbar,
daß eine Zeit kommt, wo ſie dem entwächst und als ihren wahren Gegen-
ſtand den verborgenen Kern alles Mythus, die reine Idee in der wunder-
loſen Energie der Wirklichkeit erkennt; dieſer Gegenſtand würde im Worte
nur ſehr ungenügend ausgedrückt, weil er eben kein einzelner Gegenſtand
iſt und nur die Philoſophie das rein Allgemeine zu beſtimmen vermag.
Die Muſik aber als Kunſt des objectloſen Gefühls wäre gerade die rechte
Form, das Gemüth zu dem unſichtbaren Geiſte des Ganzen zu erheben
und den Verluſt der bildenden Phantaſie durch die tiefen Bewegungen der
empfindenden zu erſetzen.
§. 751.
1.Unterſchiedslos in Vergleichung mit allem objectiv beſtimmten Verhalten
iſt das Gefühl doch in ſich eine Welt beſtimmter Unterſchiede und Gegen-
ſätze, und auf dieſen muß die Möglichkeit einer Darſtellung deſſelben beruhen.
[795] Der Grundgegenſatz, welcher das ganze Gefühlsleben beherrſcht und ſich zu
allen andern ſo verhält, daß dieſelben als weitere ſpezifiſche Theilungen erſchei-
nen, worin er zur Erſcheinung kommt, iſt der von Luſt und Unluſt. Das
Gefühl enthält in dieſer Form allerdings ein Analogon der Scheidung zwiſchen
Subject und Object in ſich. Im Affecte ſpannt es ſich gegen das Object
hin und zeigt hierin die Nähe des Uebergangs in die Form des Willens an.
Die Verhältniſſe, in denen Luſt und Unluſt ſich miſchen, ſind ſo unendlich, als2.
die Verhältnißſtellungen zwiſchen dem unmeßbar vielſeitigen Subject und Object,
Miſchung aber und ebendarum ein Zug von Wehmuth iſt der allgemeine Cha-
rakter des geläuterten Gefühls.
1. Es iſt zu §. 750, 1. geſagt, alle individuelle Empfindung ſei nur
eine eigene Miſchung der Elemente des Gefühls. Der Ausdruck jenes §.
„Grundbewegungen“ iſt alſo noch ungenau, es ſind bereits innere Unter-
ſchiede im Gefühle vorausgeſetzt und dieſe ſind nun aufzuſuchen. Die
Aufgabe einer philoſophiſchen Lehre von der Muſik beſteht darin, daß das
ganze Formenleben dieſe Kunſt überall mit dem Innern, das ſich in ihm
ausdrückt, zuſammengefaßt, auf das Leben der Empfindung zurückgeführt
werde. Die Wiſſenſchaft iſt hinter dieſer Aufgabe bisher zurückgeblieben,
weil ſie dieß Innere kurzweg als das Gefühl hinſtellte und in deſſen ein-
fachem Nebel nicht jene Eintheilungs-Linien aufzufinden wußte, die der
urſprüngliche Grund aller der Unterſcheidungen ſind, in welchen das For-
menleben der Tonkunſt ſich bewegt. Man hatte dort ein unterſchiedslos
Einfaches, hier ein Mannigfaltiges, das ſich aus einer Reihe unterſchiede-
ner Momente zuſammenbaut: kein Wunder, daß die Lehre von der Muſik
keine Baſis hatte, alſo keine philoſophiſche ſein konnte. Die Erörterung,
zu der wir nun übergehen, iſt ein Verſuch, welcher bei der äußerſt mangel-
haften Vorarbeit der Pſychologie und den dürftigen Anſätzen, welche die
Aeſthetik der Muſik gemacht hat, jene Kluft zu füllen, kaum mehr zu leiſten
vermag, als die Stellen aufzuzeigen, wo die Wiſſenſchaft zu graben hat. —
Das Leben des Gefühls erſcheint als ein Unterſchiedsloſes nur in Verglei-
chung mit der Klarheit des Bewußtſeins, das ſich in wachem Gegenſchlage
das Object gegenüberſtellt. Blickt man genauer in das Dunkel, ſo erkennt
das Auge in demſelben eine reiche Welt innerer Unterſchiede, die ſich nach
den Verhältniſſen, in die ſie zueinander treten, zu Gegenſätzen ſpannen.
Das Schwere iſt, zu beſtimmen, wie ſich zu allen übrigen der große
Grundgegenſatz verhalte, der die eigentliche Lebensform des Gefühls ſelbſt
iſt, der Gegenſatz von Luſt und Unluſt. Wir werden ſehen, daß er ſich
in gewiſſem Sinn allerdings zu ihnen verhält, wie das Weſen zur Er-
ſcheinung, aber für ſich genommen doch jeder der andern Unterſchiede und
Gegenſätze etwas Spezifiſches iſt, von dem man nicht ſagen kann, es drücke
[796] durch das eine ſeiner Momente Luſt, durch das andere Schmerz aus. Nur
in ihrer Verbindung und Geſammtbewegung werden uns jene weitern
Theilungen als der innere Seelen-Apparat erſcheinen, in welchem Luſt und
Unluſt ihr Leben, ihren Verlauf haben. Betrachten wir nun dieſen Grund-
gegenſatz, worin das Gefühl ſich bewegt, die Ebbe und Fluth dieſes
Meeres, ſo zeigt ſich derſelbe, wie ſchon zu §. 748 bemerkt iſt, als ein
Prozeß, durch welchen die Scheidung von Subject und Object, welche wir
in ihrer eigentlichen Form dem Gefühl abgeſprochen haben, doch auch in
dieſem dunkeln Element in ſeiner Art vollzogen wird. Luſt und Unluſt iſt
(wie es Lootze Mediziniſche Pſychologie oder Pſychologie der Seele treffend
bezeichnet) ein unbewußtes Vergleichen der Reizung mit der Function
oder Lebensbedingung; das fühlende Subject fragt zwar weder in der Luſt
noch in der Unluſt nach dem Prozeß und ſeiner Urſache im Gegenſtand,
wodurch es ſich dort als weſentlich bejaht und erhöht, hier als verneint
gehemmt vernimmt, es läßt den Faden, der in die Außenwelt führt, fallen,
aber es behält das dieſſeitige Ende des Fadens, die Wirkung und hält ſie
in einem obwohl dunkeln Orte der Rechnungs-Ablegung zuſammen mit
der Forderung, welche aus der Summe ſeiner innerſten Lebensbeſtimmtheit
ſich ergibt. In der Unluſt iſt allerdings dieß Unterſcheiden ohne Unter-
ſcheiden, dieß dunkle und doch ſo ſtarke Analogon des Bewußtſeins und
Selbſtbewußtſeins beſtimmter, denn wo ich mich in meinem innerſten Weſen
verneint fühle, wo das Selbſt und die Wirkung aus dem Object nicht
harmoniſch in Eines fließen, ſondern jenes ſich dieſer erwehrt, da ſtehe ich
auf der Schwelle zum ausdrücklichen Scheiden, ja es ſcheint jene dunkle
Vergleichung wirklich über das unbewußte Vernehmen ihres Reſultats hin-
aus bis auf das Object ſelbſt gehen, alſo deutlich werden zu müſſen.
Der feindliche Stoß droht das Gefühl aus ſeiner Bewußtloſigkeit heraus-
zuwerfen. Dennoch muß der Uebergang in eine klar ſcheidende Geiſtesform
vorerſt entſchieden ferne gehalten werden, wenn das Gefühl in ſeiner Rein-
heit erkannt werden ſoll. Das Gefühl als ſolches geht nicht aus ſich
heraus, es iſt kein Begehren und kein Verabſcheuen; wird es zu einem
ſolchen, ſo hat es ſich mit einer andern Geiſtesform verbunden, oder,
um weniger äußerlich zu bezeichnen, iſt in ſie übergegangen und nach dem
Uebergang nicht verſchwunden, aber nicht mehr das Ganze des Verhaltens.
Das rein fühlende Selbſt wogt nur in ſich, im Begehren und Wollen
ſpringt die Woge über den Rand des Gefäßes. Am klarſten wird auch
dieß, wenn man die einzige Sprache des Gefühls, obwohl wir ſie nur
erſt vorausſetzen, die Formenwelt der Muſik, zum Belege herbeizieht: in
der Oper wird uns vielfaches Begehren, Verabſcheuung, Wollen und
Handeln vergegenwärtigt, aber die Muſik an ſich, ohne Text und ohne
Schauſpiel, drückt nur aus, daß es den Perſonen in ihrem Innern ſo und
[797] ſo, freudig oder ſchmerzlich in unendlichen Miſchungen dieſer Gegenſätze,
zu Muth iſt. Der Gegenſtoß gegen den Stoß des Objects in der Unluſt
iſt noch kein Bewußtſein, ſondern ſelbſt noch Gefühl, dunkle Antitheſe; wenn
er ſich ſteigert, ſo ſteigert er ſich zunächſt nicht zum Bewußtſein, ſondern
zum Affecte. Das Weſen deſſelben iſt zunächſt nur dadurch zu beſtim-
men, daß auf den unterſcheidenden Geiſt hinübergeblickt wird, und man
verſteht unter Affect einen Erregungsgrad des Gefühls, welcher ſo eben
zu Aeußerungen, Handlungen fortzugehen im Begriff iſt, welche nicht
erfolgen ſollten, ohne daß die Kraft jener wachen Thätigkeit, des Bewußt-
ſeins und höher des Denkens, dazwiſchentritt. Das Poſitive dieſer nega-
tiven Beſtimmung iſt nur ein Grad. Alles, was wir zunächſt nur als
Stimmung bezeichnen, alſo eben Luſt und Unluſt in ihren unendlichen
Miſchungen, heißt Affect, wenn es zu der Stärke gelangt iſt, daß ſo eben
das Gefäß durch die Heftigkeit ſeines Wogens überfließen zu wollen ſcheint.
Betrachten wir nun das Gefühl rein für ſich, ſo ſiſtiren wir es eben in
dieſem Momente, und was in jener negativen Beſtimmung ethiſch Tadeln-
des liegt, fällt nun weg, es bleibt vielmehr in Kraft, daß das Gefühl
implicite der ganze Geiſt iſt, alſo auch ſo ſtark wogen mag, wie es will.
Wir fragen nicht, ob der Sturm verderblich iſt, er zeigt uns nur die
Herrlichkeit des Meers. Im Zuſammenhange des Ganzen der Pſychologie
aber wird dieſe Anſchwellung nach dem Willen hin über ihre Grenzen
verfolgt, und ſo leuchtet ein, daß das Gefühl, wie es nach unſerer Dar-
ſtellung in §. 749 überhaupt an der Schwelle der ſcheidenden Geiſtes-
thätigkeiten ſeiner allgemeinen Bedeutung nach liegt, ſo in ſeiner realen
Bewegung ſich weſentlich nach der Pforte des praktiſchen Geiſtes öffnet
(vergl. Planck a. a. O. S. 205). Eigentlich gehört, wie aus dem Geſagten
ſich ergibt, dieſer höhere Spannungsgrad zu den Kraft-Verhältniſſen des
Gefühls, zu denen wir nachher übergehen, doch war dieſe Seite der Auf-
hellung der Grundbegriffe wegen ſchon hier vorzunehmen. Uebrigens iſt,
wenn wir den Affect hier weſentlich mit dem Gefühle der Unluſt in Zu-
ſammenhang ſetzen, keineswegs blos an abwehrende Affecte zu denken:
auch der poſitive Affect, die Liebe, beruht auf einer Spannung, dem Gefühle
des Mangels, iſt alſo durch Unluſt vermittelt.
2. Das Selbſt iſt auf die objective Welt in unendlicher Weiſe bezo-
gen, denn die Welt wirkt auf es mit unendlichen Hebeln und es ſelbſt iſt
eine Welt, ja iſt die Welt: die in die einfache Idealität des Beiſichſeins
zuſammengefaßte Welt, eine Zuſammenfaſſung, die aber von vornen begin-
nen, realiſiren muß, was ſie nur an ſich iſt, ſo daß in unendlichem Rapport
eine lebendige Einheit der beiden, die urſprünglich daſſelbe Eine in doppelter
Geſtalt ſind, ſich erarbeiten muß. In dieſem Rapporte ſind die Fäden,
durch die der elektriſche Strom fließt, nicht zu zählen. Es gibt keine ein-
[798] fache Stimmung der Luſt oder der Unluſt; denn das Gemüth und der
Gegenſtand ſind beide ſchlechthin vielſeitig. Was dieſe Region der unend-
lichen Reſonnanz des Innern von Luſt erzittern macht, klingt in einer andern
als Schmerz an und umgekehrt, die Luſt im Schmerz ſpaltet ſich abermals
in Luſt und Schmerz und ebenſo der Schmerz in der Luſt, ja es ſind
genauer betrachtet nicht nur verſchiedene Anklänge ſo zu ſagen an verſchie-
denen Stellen, nicht nur ſolche Spaltungen, ſondern es iſt ein wirklicher
unendlicher Stellenwechſel, denn aus der Unendlichkeit der Beziehungen
folgt, daß, was in der einen Luſt iſt, in der andern Schmerz ſein kann,
und umgekehrt. Wir ſind ſchon hier auf eine allgemeine Relativität geführt,
worin es nichts Feſtes gibt, ſondern aller Begriff von Inhalt in den
Begriff unendlicher Verhältnißſtellungen übergeht. Unbeſchadet
dieſer unabſehlichen Miſchung, Verwicklung, Wendung wird, wo nicht im
Ganzen einer Stimmung, die ihren geſchloſſenen Ablauf hat, doch in einem
Stadium jeder Stimmung entweder Luſt oder Unluſt herrſchen. Hier aber
fordert das Geſetz des Schönen ſelbſt, daß dieſe Herrſchaft keine abſolute
ſei. Es gibt eine gemeine Luſt und einen gemeinen, graſſen Schmerz;
beide werden mannigfaltige Miſchungen mit ihrem Gegentheil darſtellen,
aber doch ſo, daß ſich dort die Miſchung in das Gefühl platter einfacher
Luſtigkeit, hier in den Schrei der Verzweiflung zuſammenfaßt. Die Läuterung
des Gefühls, wie wir ſie in §. 750, 2. als allgemeine Vorausſetzung hin-
geſtellt haben, duldet weder das Eine, noch das Andere. Das Herz, das
nicht in ſtoffartiger Unfreiheit vom Sturze der Empfindung fortgeriſſen
wird und das ſich die Gewißheit der Harmonie der Dinge durch keine
Erfahrung rauben läßt, ſchwebt ſelbſt über dem äußerſten Schmerz, ja es
fühlt, daß er ſchön iſt, und verſenkt ſich frei in dieſe Schönheit. Ebenſo-
wenig kennt die ächte Empfindung jenes reine Zufriedenſein mit einem
endlichen Zuſtande, das in der bloßen Luſtigkeit oder klebenden Behaglichkeit
ſich kund gibt. Jedes Wohlſein erſcheint im Lichte des Ideals als ein
vergängliches und die höchſte Luſt in der Verſöhnung mit dem Ewigen iſt
vom Gefühle des Opfers und der Unzulänglichkeit durchzittert. Es iſt
nur ein anderes Wort für die im allgemeinen Sinne des Worts religiöſe
Natur des ächten Gefühls, daß ihm ein Hauch der Wehmuth durchaus
weſentlich iſt, etwas von dem Gefühlstone, womit wir auf vergangene
Zeiten ſchönen Völkerlebens, auf die Kinderjahre zurückblicken. Das Gemüth
ſchwebt in jener Höhe, wovon alles Endliche in ſeiner Fülle, aber auch
wie ein ſo eben ſich Auflöſendes, ein hinſchwindender Flor empfunden wird.
Dieſe Luſt iſt freilich die Schlußempfindung auch des tiefſten Schmerzes
im reinen Gefühlsleben.
[799]
§. 752.
Die einzelne Stimmung iſt ein nur ſich ſelbſt gleiches Miſchungsverhältniß
von Luſt und Unluſt, das ſein eigenthümliches und geſchloſſenes Leben hat.
Der Verlauf deſſelben ſetzt eine Theilung in Momente und einen qualitati-
ven Unterſchied derſelben voraus, worin ſich das Gefühl weſentlich als ein in
Schwingungen bewegtes darſtellt. Die abſolute Grundlage dieſer Theilung bildet
ein in unendlichen Abſtufungen und Wechſelſtellungen ſich verſchiebender Unter-
ſchied der ſubſtantiellen Haltung im objectiven Lebensgrunde und der ſubjectiven
Ablöſung von demſelben, der mit dem Gegenſatze des Erhabenen und einfach
Schönen ſich berührt, ohne mit ihm identiſch zu ſein. Die einzelne Stimmung
nimmt eine beſtimmte Stelle in dieſer unendlichen Reihe zum Mittelpunct ihrer
weiteren Bewegung durch dieſelbe.
Es läßt ſich über die einzelne Stimmung, wie ſie zum Inhalt eines
Kunſtwerks zu werden beſtimmt iſt, Näheres nicht ausſagen, als was der
§. gibt. Das ganze Gefühlsleben eines Individuums legt ſich in eine, ſo
nicht wiederkehrende Proportion ſeiner unendlich miſchbaren Elemente, der
Luſt und Unluſt, und dieſe Stimmung hat nun ihren beſtimmten Schatz
von Lebenskraft, entfaltet ſich von ihrem ſpezifiſchen Mittelpunct und ſtrömt
fort, bis ſie erſchöpft iſt. Wir werden die Kategorie der Zeit, in der wir
uns mit dem Eintritte dieſer neuen Kunſtform befinden, an dem Puncte
dieſer Darſtellung des Gefühls ausdrücklich einführen, wo dieß gefordert
iſt; vorerſt handelt es ſich um das, was vorausgeſetzt iſt, damit ein Zeit-
verlauf möglich ſei: ein qualitativ Unterſchiedenes, das die Momente bildet,
aus welchen die Reihe des Zeitverlaufs beſteht. Es müſſen jetzt jene
„weiteren Theilungen“ auftreten, welche in §. 751 angekündigt ſind und
von welchen geſagt iſt, daß ſie ſpezifiſche, von dem Grundgegenſatze der
Luſt und Unluſt zunächſt ganz verſchiedene ſeien und nur in ihren Verbin-
dungen zuſammenwirkend den letzteren darſtellen. Hier treten dann zuerſt
die qualitativen Theilungen im Unterſchiede von den zeitlich qualitativen
auf. Sogleich die erſte, durchgreifende Grundtheilung offenbart nun die
ganze Schwierigkeit der Aufgabe. Der §. ſucht mit Worten zu bezeichnen,
was dem Unterſchiede der Tiefe und Höhe des Tons innerlich im Gemüths-
leben entſpricht. Es kann kein Vorwurf ſein, daß wir zu einer annähern-
den Erfaſſung dieſes tiefen, dunkeln Vorgangs nur durch einen Rückſchluß
aus der wirklichen Kunſt des Gefühls und des Syſtems ihrer Mittel zu
gelangen ſuchen. Die Thatſache eines tiefen pſychiſchen Unterſchieds in der
Wirkung des tiefen und hohen Tons liegt vor; es iſt die Seele, welche
den Unterſchied der Töne ſich als Ausdrucksmittel bereitet; was ſie aus-
drücken will, erfahren wir in dieſem Gebiete nur durch dieſes beſtimmte
[800] Ausdrucksmittel, in andern Gebieten hat ſie auch andere Mittel, wir können
den innern Vorgang klar faſſen und nachher den Uebergang zu dieſem
Ausdrucksmittel aufzeigen; das Gefühl aber hat eine andere genügende
Sprache außer der Muſik nicht, daher bleiben für ihr wiſſenſchaftliches Ver-
ſtändniß nur dieſe dunkeln Rückſchlüſſe. Die Lehre von der Muſik iſt bisher
nach einer kurzen Beſtimmung des Weſens des Gefühls ſogleich zum Ma-
terial übergegangen und dann hat ſie die pſychiſche Bedeutung der ver-
ſchiedenen techniſchen Formen geſucht. Sie hat daſſelbe gethan, was wir
hier vornehmen, nur an einer andern Stelle. Sie hat aus der Wirkung
auf die Urſache geſchloſſen und zu dieſem Zweck zunächſt die Wirkung dar-
geſtellt, wir ſchicken voran, was aus jenen Schlüſſen ſich ergibt, um
mindeſtens einen Anſtoß zur genaueren Unterſuchung des Gefühls zu geben.
Das Schwere liegt nun weſentlich darin, daß wir hier vor einem Geheim-
niſſe ſtehen, das in der dunkeln Mitte zwiſchen Phyſiologie und Pſychologie
liegt. Die Wirkung der Tonſchwingungen, richtiger die Wahl dieſes Mittels,
um ſich von außen entgegentreten zu laſſen, uns im Innern angelegt iſt,
muß ihren Grund darin haben, daß das Gefühl ſelbſt ein Leben von
Schwingungen iſt; das Dunkel ruht nun aber in dem doppelten, dem
eigentlichen und uneigentlichen Sinne dieſes Wortes. Es iſt durchaus
wahrſcheinlich, daß den Vorgängen des Gefühls Nervenbebungen als orga-
niſche Träger des Geiſtigen zu Grunde liegen, es muß weſentlich ein
Vibrationsleben ſein, aber was heißt Träger? was iſt dabei zu denken,
wenn wir nun den geiſtigen Vorgang ſelbſt nur als ein Schwing-
ungsleben bezeichnen können? Vom Geiſte können wir keine Schwingungen
ausſagen und doch haben wir kein anderes Wort, keine klarere Vorſtellung
als die, daß ſich die Nervenſchwingung wie eine Art ſymboliſches Bild in
ſeinem Innern reflectirt. Wir müſſen alſo bei dieſer Vorſtellung bleiben
und was ſich bei näherer Betrachtung ergibt, iſt nun ein Gegenſatz von
zweierlei Wogen im Bewegungsſtrome des Gefühls, den der §. zu faſſen
ſucht in der Beſtimmung, daß das Gefühl entweder ſubſtantiell im allge-
meinen, objectiven Lebensgrunde ſich hält oder ſubjectiv von demſelben ſich
ablöst. Es iſt nicht der Gegenſatz von Luſt und Unluſt; dieſe beiden
Grundſtimmungen bewegen ſich in unendlicher Abwechslung durch den Ge-
genſatz, von dem hier die Rede iſt: die mächtige, breite Woge, ein Bild
der ungetheilten, Alles in ihrem Urſchooß zuſammenhaltenden Kraftfülle des
Lebens kann in der Weiſe heranſchwellen, daß ich mich befriedigt in dieſe
Subſtanz miteingeſchloſſen fühle, ſie kann aber auch dem ſubjectiv freier
gelösten Gemüthe wie eine fremde Macht entgegenrollen, umgekehrt kann
das Gefühl der entbundenen Subjectivität im freien Spiele der Luſt ſich
ergehen oder ſchmerzvoll bis zur Verzweiflung ſich losgeriſſen empfinden
vom tragenden, haltenden Lebensgrunde. Dieſes Tragen und Halten wird
[801] von techniſch durchgreifender Bedeutung werden, wenn das Gefühl ſich in
Kunſtform darſtellt, es wird aber ſchon in deſſen innerer Welt das Sub-
ſtanzgefühl dem Subjectgefühle die abſolute Baſis ſein, ohne welche das
letztere ſich ganz in’s Bodenloſe verlöre. Jene Gefühlsſchwingungen, die
ſich im tiefen Ton darſtellen, gemahnen wie das Erhabene, und ſie werden
auch vorzüglich dieſer Form des Schönen angehören, aber keineswegs allein,
denn in den Bebungen der frei entlaſſenen Subjectivität, wenn ſie die eben
erwähnte Geſtalt annehmen, offenbart ſich das Furchtbare der Leidenſchaft,
der iſolirten Kraft, und dieß ſind auch Geſtalten des Erhabenen; umge-
kehrt kann je nach der Verhältnißſtellung die mächtig breite Schwingung,
die im tiefen Ton ihr Abbild ſucht, die Ruhe des Schönen, des mit der
Allmacht verſöhnten Ich darſtellen. Man kann aber dieſen Gegenſatz um
ſo weniger mit dem des Erhabenen und Schönen identificiren, da derſelbe
überhaupt noch eine ganz andere Bedeutung hat, als diejenige, in der er
hier zuerſt aufgeführt wird. Er überbaut, vervielfacht, verſchiebt ſich nämlich
in’s Unendliche, ſo daß, was in der einen Beziehung die ſubſtantiellere, in
anderer die ſubjectiv gelöstere Empfindung iſt; es tritt abſolute Relativität
ein und aus den unendlichen Verhältnißſtellungen der Glieder des Gegen-
ſatzes ſchafft ſich das Gefühl, gewiß nicht erſt in der Tonwelt, ſondern
ſchon in ſeinem innern dunkeln Leben, den Apparat ſeiner ganzen Ent-
wicklung, die Leiter, an welcher ſein Leben auf- und niederſteigt. Da aber
die einzelne Stimmung ihre individuelle Farbe hat, ſo wird in dieſen
dunkeln Vorgängen auch etwas ſein, was der Tonart entſpricht, eine
Neigung, ſich auf einer beſtimmten Vibrationshöhe der Seele feſtzuſetzen,
ſie zur Baſis des Gefühlsverlaufs zu nehmen, von ihr auszugehen, auf ſie
zurückzutreten.
§. 753.
Auf dieſer allgemeinen Grundlage macht ſich der Unterſchied des Kraft-
verhältniſſes im einzelnen Gefühlsmomente geltend; von beſonders durch-
greifender Bedeutung iſt aber der weitere eines voll und entſchieden hervortre-
tenden oder gedämpften und verhüllten Gefühlscharakters. Endlich faßt ſich
die qualitative Haltung des Gefühls in einer Eigenſchaft zuſammen, welche nur
uneigentlich, als Gefühlsfarbe, bezeichnet werden kann.
Die weiteren Unterſchiede, die nun vor uns liegen, ſind weit leichter
in ihren innern Urſprung zu verfolgen. Dahin gehört vor Allem die Ver-
ſchiedenheit der Intenſität des Gefühlsmoments, welche den einzelnen Ton
mit ſtärkerem, härterem, rauherem, oder ſchwächerem, weicherem, ſanfterem
Druck angibt; allerdings tritt dieſer Unterſchied in ſeine ganze Bedeutung
[802] erſt ein, wenn er ſich ſucceſſiv in einem Anſchwellen und Abſchwellen ent-
faltet, aber er iſt zuerſt für ſich in ſeiner getrennten Beſtimmtheit hinzu-
ſtellen. Es liegt im Weſen des Gefühls, daß es ſich jetzt mit voller Kraft
in den Moment ſtürzt, jetzt ſeine Maſſe bricht, vertheilt, leichter, ſchweben-
der, ſanfter auftritt bis zur hinſchwindenden Auflöſung, zum Verhauchen
und Sterben. Die ſtärkere Intenſität wird meiſt den Uebergang in den
volleren Affect bezeichnen, ein Hereinbrechen nach der Seite des Willens
hin, der zartere Gang iſt mehr reines Gefühl, das in ſich bleibt und ſeine
Schönheit genießt. — Weiter iſt in die Gefühlslehre auch das heraufzu-
nehmen, was in der Muſik Dur und Moll heißt: ein neuer, eigenthümlicher
Stimmungs-Dualiſmus, der ſich durch alle andern Unterſchiede hindurch-
zieht. Er fällt keineswegs mit dem Grundgegenſatze der Luſt und Unluſt
zuſammen. Dur iſt nicht nothwendig heiter, Moll nicht traurig, wehmüthig;
auch hart und weich, wovon der muſikaliſche Name gebildet iſt, bezeichnet
nicht richtig. Wir haben Stimmungen, wo es uns iſt, als fühlen wir
Alles nur gedämpft, nur wie durch einen halb verhüllenden Flor, das
Heitere ſowohl, als das Ernſte; wir haben andere, wo wir dieſen Schleier
lüften und die Welt mit kraftvoller Entſchiedenheit auf uns wirken laſſen.
Es iſt wie der Unterſchied eines ſachten und eines vollen Auftretens: dort
geht das Empfinden leiſe, als fürchtete es, mit der vollen Geltung ſeiner
Lichter und Schatten die Energie des Ich zu wecken; es iſt eine Stimmung
wie die des Mondlichts, wo wir im Verſchwimmen der Umriſſe alles Leben
gedämpft, dem Looſe des Vergehens hingegeben fühlen; hier dagegen wagt
die Empfindung ſich in den vollen Tag heraus, tritt entſchloſſen auf, fühlt
das Leben als kräftige und berechtigte Gegenwart, entſcheidet das Unent-
ſchiedene und will ſich in Alles und Jedes mit ungetheilter Klarheit und
Fülle legen. Jene Verhüllung bringt allerdings immer einen elegiſchen
Zug mit ſich, aber derſelbe ſchließt das Heitere nicht aus, ſondern dämpft
es nur, und umgekehrt ſcheut dieſe Lüftung der Hülle nicht die Trauer,
ſondern gibt ſich ihr hin wie ein Gemüth, das dem Schmerze ſein volles
Recht einräumen will. — Die dritte Unterſcheidung des §. bezieht ſich
auf das, was in der Muſik Klangfarbe heißt. Auch dieſe Modification
muß ſchon in der Gefühlslehre aufgeführt werden, denn der Muſiker ergreift
nicht verſchiedene Inſtrumente, um ſich über ihren verſchiedenen Gefühls-
ausdruck zu verwundern, ſondern wählt zwiſchen ihnen, weil er für die
eine Empfindungsweiſe jenes, für die andere dieſes entſprechend findet. Es
iſt ſchon früher auf die landſchaftliche Empfindung in der Malerei hinge-
wieſen worden, mit welcher ja das Subjective, der Muſik Verwandte ſo
fühlbar in dieſer Kunſt hervortritt; hier findet dieß nähere Anwendung:
wir haben für das Gefühl, das die Localtöne und der Hauptton in der
Landſchaft, die Producte eines Zuſammenwirkens der allgemeinen Medien
[803] mit den Stoffen des Feſten, mit Erde, Holz, Laub, Stein, Metall u. ſ. w.
hervorrufen, nur ſehr dürftige Namen, ja für die Natur der ganzen Ge-
fühlsweiſe ſelbſt entlehnen wir den Namen aus der Muſik, und ſo nun
für das ganz ähnliche Gebiet im reinen Gefühlsleben aus der Malerei.
Daß aber bei dem Erzittern von Holz, Saiten, Metall eine ganz verſchie-
den gefärbte Art der Stimmung entſteht, dieß muß im Innern angelegt
ſein. Dort leihen wir in dunkelm Symboliſiren unſere Seele der ſichtbaren
Natur, hier der hörbaren, es muß alſo in der Seele ſelbſt ein beſtimmtes,
eigenes Gebiet von Unterſchieden verborgen ſchlummern, das, ſobald der
Stoff hinzutritt, wach wird.
§. 754.
Das Gefühl iſt als eine rein geiſtige Form weſentlich Zeitleben. Der
zeitliche Verlauf einer Gefühlsſtimmung ſetzt voraus, daß ein die Welt der
körperlichen Bewegungen in der Natur beherrſchendes Meſſungsgeſetz, durch
welches die einzelnen Momente in qualitative Ordnungen ſich einreihen, auch
im Gemüthsleben ſich ankündigen wird. Nur dunkel und unentwickelt kann
die eine dieſer Ordnungen, welche in einer regelmäßigen Wiederkehr gleicher,
durch Accente gegliederter Zeitabſchnitte beſteht, vor der Erhebung in die Kunſt-
form dem Gefühl inwohnen, klarer und beſtimmter wird ſich die andere, höhere,
geltend machen, vermöge welcher die innerſten Stimmungsverhältniſſe beſtimmte
Grade der Beſchleunigung oder Verzögerung im Gange des Gefühls mit ſich
bringen. Innerhalb dieſer Ordnungen bedingt die Natur der innern Strömung
bald einen punctuellen, bald einen überleitenden Fortgang vom einzelnen Mo-
mente zum andern und fordert beſtimmte Ruhepuncte.
Genauer beſtimmt iſt das Gefühl wie aller Geiſt Qualität in Zeit-
form, d. h. in der Form des Nacheinander. Dieſe Qualität iſt an ſich
unzeitliche reine Intenſität, die ſich in Zeitmomente auseinanderlegt, aber
als das Identiſche in ihnen über ſie ebenſo ſehr übergreift und nach ihrem
Ablauf als das aus dieſem Auseinander in ſich zurückgekehrte einfach In-
tenſive ſich herſtellt. Im Gefühle tritt, weil ſich das Intenſive, Qualitative
hier nicht zum Lichte des Bewußtſeins unterſcheidet, der Begriff der Zeit
ſo ausdrücklich und vorherrſchend hervor, daß wir ſogar ſein Ganzes mit
dem Namen Bewegung, Bewegtſein bezeichnen. Dennoch haben wir die
dunkeln Qualitäten dieſer Geiſtesform, ſo weit es in der Wortſprache möglich,
zu beſtimmen geſucht. Dieſelben ſtellen ſich uns nun zunächſt als einzelne
Momente, genauer als zeitloſe Puncte dar; zwiſchen ihnen und dem eigent-
lichen Zeitverlaufe muß aber nothwendig etwas in der Mitte liegen zwiſchen
dem Einzelnen, dem kleinſten Theile, und zwiſchen dem Allgemeinen, dem
[804] Ganzen, ein vermittelndes Moment des Beſondern. Die Puncte laufen
in gleichmäßiger Continuität fort und expandiren ſich ſo zur unendlichen
Linie; es muß etwas eintreten, was die Linie in Einſchnitte von beſtimmter
Zeitdauer theilt und innerhalb derſelben weiter gliedert. Dieſes wichtige
Moment, den Takt, bringt in wirklicher Ausbildung natürlich erſt die
Kunſt hinzu; ſie kann es aber nicht aus dem Leeren nehmen, irgend ein
Keim, Anſatz muß in dem Gefühle ſelbſt, noch abgeſehen von der Erhebung
in die Kunſt, liegen. Es handelt ſich hier von einem allgemeinen Geſetze,
das zunächſt in der Sphäre der phyſiſchen Bewegungen ſichtbar iſt und
deſſen Bedeutung man leicht erkennt, wenn man zuſieht, wie manche Arbeiter
nicht die Hälfte deſſen leiſten, was ſie können, wenn ſie nicht ihr Werk
mit taktmäßigem Rufen oder Singen begleiten. Inſtinctmäßig ſetzt ſich der
phyſiſch thätige Menſch ein Syſtem wiederkehrender Zeitabſchnitte mit je
einer beſtimmten Gruppe von Momenten, die ſich in accentuirte und nicht
accentuirte theilen. Er ſpart und erhöht dadurch ſeine Kraft und er ahmt
hierin die Natur ſelbſt nach. Jede Kraft will und muß abwechſelnd ſich
ſpannen und nachlaſſen. Dieß geht durch das unorganiſche und organiſche
Reich. Das Periodiſche beherrſcht als Drehung den Lauf der Himmels-
körper, Flamme, Wind, Woge des Meeres, der See’n, des Waſſerfalls,
Athemholen und Herzſchlag der Thiere und Menſchen theilen die gleich-
fließende Linie in die beſtimmten Einſchnitte, worin ſich ſtärker angeſam-
melter Stoß von einem Momente des Nachlaſſens, ein Druck, ein Aus-
preſſen von einem Nachgeben und Einziehen unterſcheidet; in der Oekonomie
des animaliſchen Kraftaufwandes kehrt das Geſetz als Wechſel des Wachens
und Schlafes wieder. Selbſt die organiſch bauende Kraft arbeitet in geord-
neter an- und abſetzender Theilung als Zweige- und Blätterſtellung an der
Pflanze, in den Gelenkbildungen, Ausſtrahlungen und ausathmenden ein-
fachen Streckungen des Skeletts. Dem Gebiete blinder Nothwendigkeit
entſtiegen, aber noch als unbewußtes Thun gebunden, erſcheint der geordnete
Wechſelſchlag mit Hebung und Senkung, ſtärkerem und ſchwächerem Moment
im Fluge der Vögel, im Gange der Thiere und Menſchen, ſelbſt im Kriechen
der Raupe. In den freien Bewegungen des Menſchen ſcheint das Geſetz
verloren zu gehen, doch konnte der Tanz und die orcheſtiſch geregelte Pan-
tomime nicht ohne innern Grund, ohne einen im kunſtloſen Gebiete vor-
gebildeten Keim entſtehen. Gerade aber im Gebiete der höheren freien Thä-
tigkeit, der individuellen und gemeinſchaftlichen, tritt es deutlich wieder zu
Tage, denn nicht umſonſt, ſondern um mit ſeinen Kräften im weiteſten
Sinne des Worts durch die Einſchnitte des Anlaufs und Ablaufs, der
Sammlung und Abſpannung Haus zu halten, hat der Menſch ſein Leben
in Stunden, Wochen, Jahre u. ſ. w. getheilt, die Werktage mit Tagen
der Feier durchflochten. In den Mittelpunct des geiſtigen Lebens, in das
[805] Selbſtbewußtſein, verfolgt Hegel den innern Grund des Takts: es iſt die
Rückkehr des Ich in ſich ſelbſt aus der unbeſtimmten Continuität ſeines
Zeitlebens, das Abbrechen dieſer Linie, um ſeiner ſich zu erinnern und bei
ſich zu ſein, was uns im Takt unmittelbar entgegentritt (Aeſth. Th. 3.
S. 159 ff.). Der Geiſt als Kunſtthätigkeit hat nun dieſes Geſetz in die
Muſik eingetragen. Unſer Bewußtſein ſagt uns nichts darüber, daß er es
im Gefühle ſelbſt als dunkeln Keim vorgefunden hat. Wir kennen ſein
naturnothwendiges Vorbild nur im Gebiete des Sichtbaren, es entſchwindet
unſerer Beobachtung im dunkelſten Gebiete des Seelenlebens, aber dieſes
wird auch ſeinen Pulsſchlag heben und der meſſenden, zählenden Kunſt iſt
nur die Reminiſcenz der verborgenen Vorgänge verloren, die ſie befeſtigt
und ordnet. Ungleich deutlicher unterſcheiden wir im Gefühlsleben die
Grundlagen deſſen, was in der Kunſt das Tempo iſt; die Pſychologie hat
dieſen Punct vielfach berührt (vergl. z. B. Maaß, Verſuch über die Gefühle.
§. 10. Verſ. über die Leidenſch. §. 14). Hier ſind gewiſſe phyſiologiſche
Erſcheinungen nicht blos Beiſpiel, ſondern Symptom: der beſchleunigte oder
gehemmte, wild aufgeregte oder ſanft wallende, ſachte ſchleichende Puls,
Gang und das ganze Gebärdenſpiel weiſen unzweifelhaft auf ein inneres
Bewegungsleben, deſſen qualitative Unterſchiede zu Verhältniſſen der Lang-
ſamkeit und Schnelligkeit werden. So entſchieden aber dieſe Erſcheinungen
auch ſprechen, ſo führen ſie uns doch nur zu demſelben Geheimniß, vor
dem wir ſchon im §. 752 ſtillſtehen mußten: zu der Annahme eines Schwing-
ungslebens der Nerven, deſſen Begriff wir auf den Geiſt überzutragen ge-
nöthigt ſind, ohne das Wie finden zu können. Wir können nicht anders,
als bildlich, ſagen: das ſtark bewegte Gemüth ſchwingt ſchneller als das
ſanft bewegte u. ſ. w. Die Arten der Uebergänge von einem Gefühls-
moment zum andern, wie ſie ſich abſtracter in staccato und legato, inniger
in den verſchiedenſten Arten des Ueberleitens und Vermittelns ausdrücken,
und die Pauſen ſind es, die der Schlußſatz des §. ebenfalls als Ausfluß
innerer Geſetze des Gemüthslebens aufführt. Das Empfinden hat Augen-
blicke punctueller Affection, die ſich auch außerhalb der Muſik in der Selbſt-
beobachtung unterſcheiden laſſen, es ſind Momente der Unruhe, wo das
Gefühl nicht in den tenor einer Strömung münden kann, oder des ſtoß-
weiſe auftretenden Kraftgefühls; ein andermal, und dieß iſt ſeine naturge-
mäßere Bewegung, wogt es als ungetheilte Maſſe in der Continuität des
ſtarken oder wilden Erguſſes, der nicht duldet, daß die Momente ſich ab-
ſondern, weil er im vorhergehenden das folgende, im folgenden das vor-
hergehende innig haben und bewahren will. Die Pauſen ſind eine Zeit
der Stille, worin das Gefühl zu ſchweigen ſcheint, während in Wahrheit
das vorhergehende ausklingt und das werdende ſich vorbereitet.
[806]
§. 755.
Soll in dieſen Bedingungen eine ganze und geſchloſſene Stimmung die in
ihr gegebene unendlich eigene Miſchung von Luſt und Unluſt in einem Lebens-
prozeß entwickeln, ſo kann dieß nur vermöge einer Bewegung durch eine Reihe
einſtimmiger und widerſtreitender Verhältniſſe eines Qualitativen geſchehen.
Schon im Innern des Gefühlslebens kann dieſe Reihe nur dadurch ſich er-
zeugen, daß es die Stimmungsqualitäten §. 752 zu neuer Geltung ruft, indem
es dieſelben in beſtimmte Anziehungs- und Abſtoßungs-Verhältniſſe zu einander
ſetzt, die es in unendlichen Stellungen ſucceſſiv durchläuft und ſo die uner-
ſchöpfliche Welt der Harmonieen und Disharmonieen im Verkehr zwiſchen dem
Subject und den Objecten ſich im Innern zu vernehmen gibt.
Es liegt hier die ſchwierigſte Aufgabe für eine Philoſophie der Muſik
vor: die Melodie als die Darſtellung des Lebensprozeſſes einer Stimmung,
wie ſolche in nichts Anderem beſteht, als in einem Wandern durch die
Tonleiter, deren einzelne Töne nun aus der Reihe in unendliche Verbin-
dungen treten, aus der inneren Organiſation der Empfindung abzuleiten.
Wir haben in §. 752 die innere Bedeutung der Differenzen der Tonhöhe,
die in der beſtimmten Meſſung, durch welche die Kunſt ſie ordnet, Inter-
valle heißen, als einen Unterſchied des ſubſtantiell gehaltenen und ſubjectiv
gelösten Fühlens beſtimmt. Wenn nun die Muſik das Innerſte des Fühlens
in den Verhältnißſtellungen der Töne ausdrückt, wie ſie aus der Reihe der
Leiter heraus in eine Welt von Conſonanzen und Diſſonanzen zu einander
treten, welcher Zuſammenhang beſteht zwiſchen dem innern Prozeſſe des
Gefühls und dieſer äußeren Technik? Jene innere Lebensform des Gefühls,
die wir uns dunkel als ein Oſcilliren, ein Schwingen vorſtellen, ſcheint
die Welt der Erzitterungen, welche nach ihrer verſchiedenen Art dem tieferen
und höheren Ton entſprechen, in einer neuen Bedeutung zu verwenden:
aus dem urſprünglich einfachen, doch in unendlichen Stufen ſich überbauen-
den Gegenſatze eines Gefühls der Lebensmacht und eines Gefühls der freier
ſchwebenden Subjectivität wird eine unendliche Verhältnißſtellung; die
Schwingungen treten aus der Stufenreihe heraus in Wahlverwandtſchaften
und Abſtoßungen, das Gefühl läuft und ſpringt nun an ſeinen inneren
Bewegungsmomenten auf und nieder und legt im Einklang und Zwieſpalt
ihrer Verbindungen das Geheimniß ſeiner Freuden und Schmerzen, die
die Ahnung des großen Welträthſels von Gegenſätzen, Widerſprüchen und
deren Verſöhnungen nieder. Es kann hier nicht weiter gegangen werden;
der ſchwere Gegenſtand iſt wieder aufzufaſſen, wenn erſt vom Tone die
Rede iſt.
[807]
§. 756.
Der Lebenslauf einer Stimmung, wie ſie in dieſer neuen Verwendung ihrer
qualitativen Erregungsmomente ſich entfaltet, wird die Geſetze der Entwicklung
und des Umlaufs alles Lebens darſtellen: ein Anſteigen und Fallen, ſich Spannen
und Löſen, Verwandtes mit Verwandtem binden, ſtarke und milde Contraſte
Setzen und Verſöhnen, ſich in mehrere Strömungen Spalten, neue Quellen Auf-
nehmen, ſich wieder Sammeln, ſchließlich befriedigt in ſich Zurückkehren und
Ausathmen. In dieſer Strömung iſt es, wo das Gefühl an die Welt der auf
klarer Unterſcheidung ruhenden Geiſtesformen vernehmbar anſchwillt, ohne die
Grenze zu überſchreiten.
Die Erörterung des Rhythmus im höheren Sinne des Worts behalten
wir nicht deßwegen der Betrachtung der Compoſition vor, weil hier die
Aufſuchung der innern Quellen deſſen, was ſich in der Kunſtform niederlegt,
beſonders ſchwierig wäre, im Gegentheil hier iſt ungleich mehr Licht, als
in den getrennten einzelnen Gängen der bisherigen Unterſuchung. Schon
in der allgemeinen Kunſtlehre, wo wir den Begriff der Compoſition über-
haupt behandelten, §. 494—501, mußte überall auf die Muſik hingewieſen
werden, in welcher Alles, was wir Rhythmus in der tieferen Bedeutung
nennen, ſeinen beſtimmteſten Ausdruck findet und welche ebendaher auch
den Namen dafür hergibt. Das Gefühlsleben als ein weſentlich und nur
Bewegtes, Strömendes enthüllt uns am ungetheilteſten das organiſche
Bewegungsleben in aller Kunſt. Gerade aber, weil hier weniger Dunkel
iſt, dürfen wir es vorerſt an den im §. aufgeſtellten Momenten genügen
laſſen und die nähere Beleuchtung dem Orte vorbehalten, wo es ſich bereits
von der Kunſtform handelt. —
Der zweite Theil weist auf §. 749 zurück, wo gezeigt iſt, wie die Welt
des Bewußtſeins und aller beſtimmten Thätigkeiten, die auf ihm ruhen,
hiemit über die Welt der Objecte unmittelbar an der Schwelle des Gefühls
zu lauſchen ſcheinen. Dieß zeigt ſich nun in den rhythmiſchen Strömungen,
welche in der Melodie ihren Ausdruck finden. Deutlich meint man aus
dem anſchwellenden Sturme der Töne den Affect zu vernehmen, wie er
zum Entſchluß, zur That ſich ſteigert, ja man meint ein Object ſeiner
Sehnſucht, ſeines Zorns ſich vorſtellen zu müſſen, was wir lieben und
haſſen, taucht in uns auf; aber auch der denkende Geiſt glaubt ſich wieder-
zufinden: es klingt wie Frage, wie banger Zweifel, wie Antwort und
gefundene Lichtgedanken oder dunkler Abgrund, vor dem die Fragen unge-
löst hinſinken; wie eine entdeckte Wahrheit, die wiederholt, belegt, erläutert
wird. Wie ſich dieſe beſtimmten Geiſtesformen auf die verſchiedenen Er-
ſtreckungen der Zeit beziehen, ſo glauben wir jetzt wehmüthig zurückzublicken,
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 53
[808]jetzt die Gegenwart muthig oder ruhig und klar zu erfaſſen, jetzt hoffnungs-
voll, vertrauend, jetzt bang geſpannt oder finſter entſchloſſen in die Zukunft
zu ſchauen. Selbſterlebtes, alte Sagen, Völkergeſchicke, Natur und Staat
ſchweben uns in unbeſtimmten Bildern vor. Lehnt ſich das Gefühl an
das Bewußtſein, ſo bekommt dieß Alles Ort und Namen, aber wir werden
ſehen, daß die Verbindung mit dem Objecte aufzeigenden Geiſte nicht ſo
innig iſt, als es ſcheint.
§. 757.
Der Lebensprozeß des Gefühls als Zeitverlauf ruft einen neuen, tiefen
Qualitäts-Unterſchied in’s Leben: obwohl an ſich immer vielſeitig, iſt daſſelbe
doch vergleichungsweiſe entweder einfach oder mannigfach, eine Einheit gleich-
zeitig verſchiedener Arten, denſelben Strömungs-Inhalt zu empfinden, mag
dieſelbe als reicher Wiederhall des Gefühls in Einer Perſönlichkeit oder als
Empfindungsweiſe verſchiedener Perſönlichkeiten, Temperamente, Alter, Ge-
ſchlechter aufgefaßt werden. Jene einſtimmenden oder widerſtreitenden Verhält-
niß-Stellungen der urſprünglichen Qualitäts-Momente, worin das einfache Ge-
fühl ſeine Grundſtimmung ſucceſſiv ausdrückt (§. 755), treten nun auch für
die gleichzeitige Bewegung in Kraft.
Die Harmonie im engeren Sinne des Worts als gleichzeitiger Unter-
ſchied der Intervalle, Klänge, Melodien ſetzt den Unterſchied einer einfacheren
oder vielfacheren Reſonnanz deſſelben Gefühls im Innern voraus. Das
Gefühl iſt allerdings immer der ganze Menſch, allein der ganze Menſch
iſt individuell ärmer oder reicher, ein mit mehr oder weniger Saiten bezo-
genes Inſtrument, oder, wenn er auch ein vielſaitiges iſt, kann doch die
Empfindung entweder alle Regionen ſeines Innern in Bewegung ſetzen
oder nur einfach anklingen. Der mannigfachere Wiederhall Eines Gefühls
in der Bruſt eines Menſchen wird zugleich der Ausdruck davon ſein, daß
merkbarer ſeine verſchiedenen Geiſteskräfte mitergriffen in das Empfinden
einſtrömen, daß ſeine verſchiedenen Beziehungen zur Außenwelt, ſeine Er-
fahrungen und Erinnerungen in ihm erwachen. Der Eine Menſch iſt uns
nun immer zunächſt der Eine in dem Sinn, daß er uns alle repräſentirt.
Allein wie in allem Kunſtideal, ſo auch in dem Ideale der Kunſt der
Empfindung gilt nicht die formale Logik der Conſequenz, daß es, wenn
einmal das Ganze einer Gattung in ſeinem Individuum repräſentirt er-
ſcheint, nun dabei ſein Bewenden hätte, das Eine kann ſich vielmehr in
eine Vielheit auseinanderſchlagen und für die Grenze, wie weit der Auszug
aus der empiriſchen Vielheit gehen ſoll, gibt es kein Geſetz. So iſt auch
hier die Pforte weit offen, durch die der Menſch in einer Vielheit von
[809] Perſönlichkeiten eintreten mag, der gleichzeitige Reichthum des Gefühls hat
nun die Bedeutung des Geſammtgefühls dieſer Mehrheit, die mannigfache
Weiſe, daſſelbe zu empfinden, erſcheint wie ein Wiederhall deſſelben Gefühls
in verſchiedenen Formen der Menſchheit; dieſe Formen erweiſen ſich in ihren
Haupt-Unterſchieden weſentlich als die anthropologiſchen Typen: anders er-
zittert dieſelbe Stimmung im Jüngling, anders im Mann, anders in
den zwei Geſchlechtern, anders im Gemüthe des Melancholikers, als des
Sanguinikers, Cholerikers, Phlegmatikers. Man darf dabei nicht nur an
den unmittelbaren Ausdruck der Empfindung in der menſchlichen Stimme
denken, die Kunſt wird, was in dem natürlichen Organ liegt, durch tech-
niſche Verwendung äußern Materials in einem reichen Apparate verviel-
fältigen, auseinanderlegen; hier iſt noch nicht von den Mitteln der Dar-
ſtellung, ſondern von der innern Natur der Gefühlsbewegung die Rede.
In ihren gleichzeitigen Unterſchieden nun muß Einſtimmung ſein, allein
die Einſtimmung ſchließt nicht den Fortgang vom bloßen Unterſchied zum
Gegenſatz und Kampf aus; hier handelt es ſich dann um daſſelbe Syſtem
von einſtimmigen und widerſtreitenden inneren Schwingungsverhältniſſen,
wie im ſucceſſiven Verlauf einer Stimmung, und wälzt ſich nun der Strom
der Empfindung, durch ſo viele Zuflüſſe verſtärkt, deren Waſſer ſich in ihm
noch unterſcheiden, reich und mächtig nach dem Meere des Unendlichen.
§. 758.
Dieſe ganze Welt von Unterſchieden liegt im Leben des Gefühls nur ver-
ſchwimmend und verworren angedeutet, ſofern es nicht die Phantaſie iſt,
die als Ganzes auf dieſes eine ihrer Momente ſich ſtellt und die verhüllten
Keime zur vollen Entwicklung bringt. Nur durch dieſen Prozeß erhält die
Empfindung Licht und Geſtalt, wird der Uebergang in anderweitiges, ſtoffartiges
Verhalten abgeſchnitten und die Bewegung ihrer ſtreitenden Elemente in das
Bett der idealen Reinheit und Harmonie geleitet.
Wir haben es bisher gewagt, den Vorwurf nicht zu ſcheuen, daß wir
den Cirkel begehen, aus dem Abzuleitenden abzuleiten, um dann erſt jenes
aus dieſem abzuleiten, indem wir unſere Vermuthungen über das, was
der Formenwelt der Muſik im Innern des Gefühls zu Grunde liegt, eben
aus dieſer gewinnen, zu der wir dann als dem posterius übergehen. Der
Vorwurf wird jetzt die beſtimmtere Wendung nehmen: wenn ſo die muſi-
kaliſche Formenwelt im Gefühl an ſich vorgebildet liegt, wie kommt es,
daß Menſchen vom anerkannt tiefſten Gefühle völlig unmuſikaliſch ſind,
während ſo manches leichte muſikaliſche Talent offenbar oberflächlich fühlt?
Man erkennt jedoch leicht, daß dieſe Thatſache nimmermehr ein Recht
53*
[810]begründet, Inhalt und Form auseinanderzureißen. Die Phantaſie des
Gefühls oder das Gefühl als Kunſttalent kann ſich von dem Gefühl über-
haupt nicht ſo unterſcheiden, daß in dieſem das innere Vorbild, deſſen
Abbild jenes in der Geſtaltung der Töne niederlegt, nicht als Keim ange-
legt wäre, ſonſt käme ja durch die Formenwelt des Tones zu dem, was
ſie ausdrücken ſoll, etwas ganz Aeußerliches und Fremdes hinzu. Das
Wahre kann vielmehr nur dieß ſein, daß der Formkeim, der im Gefühl an
ſich liegt, bei rein und tief fühlenden, aber unmuſikaliſchen Naturen, gleich-
ſam an der Stelle, wo er ſich zum beſtimmtern innern Bilde und weiter
zum äußern Organ entwickeln ſollte, unterbunden iſt. Dieſe geheimnißvolle
phyſiologiſch-pſychologiſche Naturſchranke, die das Zuſammengehörige trennt,
iſt in der Muſik ungleich ſtärker, als in allen andern Kunſtgebieten, und
es wird dieß begreiflich werden, wenn wir das Gefühl mit der Natur des
muſikaliſchen Ausdrucksmittels enger zuſammenhalten, aber im Weſentlichen
haben wir doch in den andern Sphären dieſelbe Erſcheinung: der wahre
Hiſtoriker z. B. bringt ſich vom großen Geſchichtsmomente nicht nur den
reinen Inhalt zum lebendigen Bewußtſein, ſondern auch von ſeiner Ge-
ſtaltung, den Charakteren, Culturformen u. ſ. w. hat er eine reiche An-
ſchauung, aber er vermag dieſe nicht bis zur vollen, reinen, idealen Form
zu entwickeln, wie der hiſtoriſche Maler, dem der innerlich thätige Nerv
in vollkommener Schwingung zu Gebote ſteht und heraus bis in die
Fingerſpitzen geht. Was aber das äſthetiſche Talent betrifft, das ohne Ge-
haltstiefe mit Leichtigkeit bildet, ſo erklärt ſich dieß aus einer innern
Fähigkeit, ſich auch in den von Andern vorgefühlten Gehalt hineinzuverſetzen,
keineswegs iſt es ein abſtractes Formgeſchick ohne alle Beziehung zum
Inhalt. In gewiſſem Sinn gilt es allerdings auch vom wahren Genius,
daß man bei ihm jene ſubſtantielle Innigkeit des Gefühls, wie es ohne
Uebergang in den muſikaliſchen Ausdruck den gemüthvollen Menſchen erfüllt,
nicht ſuchen darf. Doch auch dieß iſt zunächſt nur daſſelbe, wie in aller
Kunſt: wir haben als allgemeine Vorbedingung des idealen Schaffens ächtes
Pathos verlangt (§. 392), aber der Niederſchlag der innern Wärme in
die Form, den reinen Schein ſetzt immer eine Abkühlung voraus und
vollendet ſie, nimmt der Begeiſterung mit ihrem pathologiſchen Charakter
ihren urſprünglichen directen Ernſt, ihre Eigentlichkeit; der Genius muß
im Pathos ſein und doch frei über demſelben ſchweben. In der Muſik
wird dieß nun ganz beſonders wahrnehmbar ſein, weil ſie eben die Kunſt
des Gefühls, alſo des Innigſten iſt: es ſchlüpft auf dem Puncte, wo es
in dem Menſchen, welcher ihm nicht die muſikaliſche Geſtalt gibt, ſich nach
anderweitigen Aeußerungsformen gewaltſam hindrängt, in unzulängliche,
aber tief erregte Seufzer und Worte ſich zuſammenpreßt, im Affect über
die Ufer ſchlägt, als reinere Wärme in Geſinnung und That ſich fortleitet
[811] und durch alles dieß ſich ebenſo ſehr in ſeiner Kraft bewährt, ſozuſagen
nebenaus in die Form, die freilich die allein genügende zur Darſtellung
iſt, aber verglichen mit dem Leben, das die Kräfte in ihrer ſubſtantiellen
Gewalt verwenden will, als eine ableitende, beziehungsweiſe Ausleerung
bewirkende Schleuſe erſcheint. Daher findet man die größten Muſiker im
Leben häufig gerade nicht ſentimental, vielmehr trocken. Dagegen iſt nun
die Kunſtform, in deren Bett ſie das Gefühl zu leiten vermocht, eben auch
die reine: ſie ſpricht das Gefühl, das im Worte vergeblich nach Mittheilung
ringt, ganz aus, bringt jene innere Dynamik und Statik, die wir nur
durch Rückſchluß eben aus dieſer Form in ihren Grundlinien anzudeuten
vermochten, zu Tage, und in ihr allein vollzieht ſich die Läuterung des
Gefühls in ſich ſelbſt zur idealen Reinheit, ſeine Erhebung in den Aether
der Harmonie.
§. 759.
Die empfindende Phantaſie kann für ihre künſtleriſche Darſtellung ein
Material weder entbehren, noch auch im bisherigen Sinne des Wortes zur
Anwendung bringen, denn ſie hat ein reines Zeitleben auszudrücken. Sie muß
alſo körperlichen Stoff zwar ergreifen, aber ſo verwenden, daß er ſein räum-
liches Daſein in ein Werden für Anderes in Zeitform aufhebt: dieß ge-
ſchieht in den Schwingungen des Tones, deren Medium die Luft iſt.
Die Kunſt iſolirt hiemit abermals eine Erſcheinungs-Seite des Objects, nämlich
die Bewegung, und ſie macht der Stummheit ein Ende, aber noch ohne zur
eigentlichen Sprache fortzugehen.
Streng genommen iſt Material weſentlich körperlicher Stoff; ob man
den Ton, dieß rein Bewegte, ein Material nennen könne oder nicht, dieß
iſt eine Frage, deren Amphibolie in der Sache ſelbſt liegt. Genau betrachtet,
beſtimmt ſich das Verhältniß ſo: erſt die Poeſie hat, wie wir ſehen werden,
gar kein Material mehr, die Muſik ſchwebt in der Mitte zwiſchen dem
Feſthalten und Aufgeben des Materials. Sie muß es feſthalten, weil die
Art der Phantaſie, die ihr zu Grunde liegt, keinen Inhalt in dem Sinne
hat, wie die Dichtkunſt, die ein geſchloſſenes Bild in die innere Anſchauung
überträgt, in dieſer Vergleichung iſt das Gefühl leer und muß daher
einen Halt an einem Körper haben. Sie muß es aufgeben, denn Material
als Körper iſt weſentlich räumlicher Stoff, und ſolcher kann nicht ein ob-
jectloſes Zeitleben des Geiſtes darſtellen. Sie ergreift es alſo und hebt
im Ergreifen ſeine räumliche Form als ſolche auf. Der Körper wird in
die ſchwingende Bewegung des Zitterns verſetzt, ſo daß Luftwellen von ihm
ausgehen, welche als Ton wahrgenommen werden. In dieſem Augenblick
[812] wird ſein räumliches Außereinander in das Nacheinander der Zeit aufgehoben,
er wird ſozuſagen flüſſig, es iſt ein inneres Zuſammenziehen und Ausdehnen,
Thätigkeit einer beſtimmten Art von Elaſtizität, Aeußerung einer „Quaſi-
Muſcularkraft“ (Krauſe Anfangsgr. d. allg. Theorie d. Muſik. S. 40),
die er beſitzt, und dieſe Aeußerung ſetzt ſich als Wellenbewegung in die
Luft fort. Er theilt ſich alſo mit, er gibt ſeine Iſolirung auf, er wird
für Anderes. Iſt dieſe Erzitterung, dieſe erſte Negation des räumlichen
Daſeins erfolgt, ſo ſtellt ſich durch die Reaction des Körpers gegen dieſe
Aufhebung in die Zeit, alſo durch eine zweite Negation (Hegel Aeſth.
Th. 3, S. 128) das blos räumliche Daſein her. Es iſt weſentlich, daß
der Körper bleibt und nur an ihm etwas vor ſich geht; es leuchtet bereits
ein, daß dieſer Vorgang im Techniſchen genau jenem Verhältniß im
Innern entſpricht, wonach das Object ſtets an der Schwelle des Gefühls
bereit zu ſtehen ſcheint (§. 749); man kann auch ſagen, daß ſich darin
ausdrückt, wie die Muſik ſo eben von der bildenden Kunſt, die an den
Raum gebunden iſt, herkommt. Die höchſte Entlaſtung der letzteren vom
ſchweren Stoffe war die Magie der Lichtwirkungen in der Malerei. Die
Lichtwelle iſt tief verwandt mit der Luftwelle; Farben und Töne ſtehen in
inniger Verwandtſchaft. Aber das maleriſche Licht iſt noch nachgeahmtes,
an den Raum gebanntes Licht; die Muſik dagegen iſt zwar an den Körper
gebannt, aber nur um ihm die nicht blos nachgeahmte, ſondern wirklich leben-
dige Luftwelle als ihr eigentliches, einziges Vehikel zu entlocken; ſie iſt frei,
hat den Fuß aus dem Boden gezogen, der Vogel unter den Künſten. Wir
haben alſo jetzt endlich die wirkliche Bewegung, aber ohne ein ſich bewegendes,
denn der Körper iſt zwar da, aber nicht er ſelbſt, ſondern nur ſein Erzittern
geht uns an. Die bildende Kunſt hat die Oberfläche der Körper im Raum
bewegungslos iſolirt, zuerſt als Baukunſt auch ohne ſcheinbare Bewegung,
dann als Plaſtik ſo, daß Bewegung nachgeahmt, aber als gefeſſelter Moment
gebannt wurde, dann als Malerei ebenſo, nur in ungleich freierer Ausdehnung
und unter Mitaufnahme der Farbe. Es ſoll aber nun endlich die eigentliche,
die wirkliche Bewegung in die Kunſt eintreten und indem dieß geſchieht,
wird ſie, um Alles zu erſchöpfen, was aus ihr entwickelt werden kann,
nach jenem Geſetze, daß die einzelnen Künſte die Erſcheinungsſeiten des
Naturſchönen iſoliren, um durch die Beſchränkung das Vollkommene zu
erreichen (§. 533), von ihrem Träger getrennt als Ganzes der Umfangs-
mittel einer Kunſt für ſich allein verwendet. Die Iſolirung iſt zugleich ein
Feſthalten des Tones vor ſeiner Bildung zur Sprache. Es iſt nun der
Kunſt die Zunge gelöst. Wir haben in §. 533 Anm. geſagt, die Kunſt
ſuche ſtufenweiſe die am meiſten ſprechende Form. Auf den Fortſchritt
in den Formen der bildenden Kunſt konnten wir dieſen Begriff nur un-
eigentlich anwenden; die Muſik ſteht an der Schwelle des eigentlichen
[813] Sprechens, ſie überſchreitet ſie nicht, aber ihr Schritt zur Offenbarung des
Innerſten im Ton iſt ein unendlicher.
§. 760.
Im Tone verräth der Körper ſein Kraftmaaß und ſeine innerſten Quali-
tätsverhältniſſe, die ſich in ſeiner Form niederſchlagen, und er entſpricht ſchon
dadurch dem Gefühle, welches objectlos und doch durch den Gehalt der Objecte
bewegt iſt. Um ihn jedoch zum Ausdruck des Gefühls in dieſer und jeder
Bedeutung des Wortes zu bilden, bedarf es einer Thätigkeit, welche ihn zu-
nächſt von ſeinem Urſprung völlig getrennt behandelt und welcher kein Na-
turvorbild im ſtrengen Sinne des Wortes zu Grunde liegt.
Die Muſik würde in abſtracter Lostrennung zwiſchen die übrigen Künſte
hingeſtellt, wenn der tiefe Zuſammenhang des Tons mit dem Körper ver-
kannt würde. Das Auge, das die Form des Körpers erfaßt, bewegt ſich,
beſchreibt eine Linie. Dieß iſt zunächſt nur die Bewegung des anſchauenden
Organs, aber der Körper iſt geworden, hat ſich gebaut und dieß war wirk-
liche Bewegung, Bewegung der ihn bauenden Kraft. Im Tone drücken
ſich nun zunächſt die innerſten Texturverhältniſſe des Körpers aus, ſie ſind
das Werk dieſer Kraft, und ſeine Geſtalt iſt der Ausfluß dieſer innerſten
Formation. Der Ton iſt ſo die freigewordene Linie der Form, „die zeitliche
Linie“ (vergl. Solger Vorl. üb. d. Aeſth. S. 340), er verräth den Kraft-
kern, woraus die Form geworden, er kann die nackte, blosgelegte Seele
des Körpers genannt werden. Die Muſik hat buchſtäblich und direct nichts
mit der äußern Geſtalt der Körper zu ſchaffen, aber es iſt weſentlich, daß
die innere Structur derſelben, die ſie zu ihrem Zwecke verwendet, an ſich
von dieſer nicht zu trennen iſt, und wir werden ſehen, welche tiefe Beziehung
zwiſchen der Muſik und allen andern Künſten ſich darauf gründet; zunächſt
iſt dieſer Satz nur eine Erweiterung, Vertiefung des früheren, der als
weſentliches Moment hervorhob, daß zum Tone der Körper immer voraus-
geſetzt bleibt, und ihm entſpricht auf der ſubjectiven Seite die mehr beſprochene
Objectnähe im Gefühl. Es verſteht ſich nun aber, daß dieſe höhere Be-
deutung des Tons ſich erſt auf einem Wege entwickeln kann, auf dem ſie
uns vielmehr ganz verloren zu gehen ſcheint. Das Klangleben der un-
organiſchen und der Pflanzenwelt erregt uns wohl eine dunkle Ahnung
der Geſtaltungen dieſer Gebiete auch ohne die Hülfe des Auges, der Thier-
und Menſchenſtimme fühlen wir an, daß ſie nur Ausdruck des Sichſelbſt-
vernehmens des höheren und höchſten Organiſmus ſein kann. Allein unſer
Satz will auf mehr, als dieß, hindeuten: er will ſagen, daß der Ton die
höheren, die bereits äſthetiſch ideal gedachten Rhythmen der Körperwelt
[814] und einen unendlichen Einklang ihrer Bewegungen in ahnungsvoller Nähe
vor das Gemüth führe, und das leiſtet der Ton nicht als unmittelbar
vernommenes Erzittern der Körper ohne Zuthat der Kunſt, die ihn doch
gerade dem Zuſammenhang mit dem Körper, dem er entſpringt, zunächſt
(von der menſchlichen Stimme nicht zu ſprechen, mit der es eine beſondere
Bewandtniß hat) entnimmt, in ein künſtliches Syſtem einreiht, das ihm
an ſich fremd iſt, und nach der Seite ſeines urſprünglichen Zuſammenhangs
nur die Klangfarbe in beſonderer Beziehung auf eine der Qualitäten des
Gefühls (vergl. §. 753 Schlußſatz) übrig läßt. Dieß iſt nachher wieder
aufzunehmen und zuerſt rein für ſich die Verarbeitung des Tonmaterials
als die völlige Abſtraction darzuſtellen, welche uns das Band jenes Zuſam-
menhangs ganz zu zerſchneiden ſcheint. Die Muſik hat kein Natur-
vorbild in dem Sinne, wie die Bildnerkunſt, Malerei und
Poeſie, oder, was daſſelbe ſagt, ſie hat nicht ſo, wie dieſe, einen Stoff
in der zweiten der Bedeutungen, die §. 55, Anm. 2. aufgeführt ſind: dort
bedeutete Stoff ein gegebenes Reales mit beſtimmtem Inhalt und beſtimmter
Form, das der Künſtler nachbildend umbildet (Süjet). Wir haben alſo
im ſo verſtandenen Stoffe ſowohl Inhalt, als auch Form, eine Einheit
beider, die in dem noch rohen Zuſtande des Naturſchönen vorliegt. Der
Künſtler, der einen ſolchen Stoff bearbeitet, erhöht gleichzeitig beide Seiten
ſo, daß durch die gereinigte Form der Inhalt rein ſich offenbart. Aller-
dings kann er aber beide Seiten in der Weiſe auch trennen, daß er zum
Zweck ſeiner Studien einen zweiten Stoff beizieht, an welchem er nur die
Form benützt: ein hiſtoriſcher Maler z. B. hat in der Scene, die er dar-
ſtellen will, eine Einheit von Inhalt und Form vor ſich, er macht aber
zum Zweck der vollkommeneren Darſtellung Studien nach andern Stoffen,
deren Inhalt zu ſeinem eigentlichen Gegenſtand in gar keiner Beziehung
ſteht, ſo daß er hier die bloße Form, Geſtalt, Tracht u. ſ. w. nachbildet,
um ſie dorthin überzutragen. Doch ſind dieß nur Ergänzungen, Nach-
hülfen, deren er namentlich dann bedarf, wenn er ſeinen Gegenſtand nur
aus der Ueberlieferung hat und ihm die blos innerliche Vorſtellung nicht
ausreicht, deſſen Form zur klaren Anſchauung zu erheben. Ganz unberück-
ſichtigt laſſen wir die Allegorie, wo die ganze Form aus einem dem
Inhalt fremden Gebiet entlehnt wird. In der Muſik nun hat man bei
der Frage der Nachbildung ſtatt jenes organiſchen Verhältniſſes, wo der
Künſtler ein ungetrenntes Ganzes an Inhalt und Form vor ſich hat,
gewöhnlich — und ebendieß iſt ſchon bezeichnend genug für die beſondere
Natur dieſer Kunſt — vielmehr ein ganz anderes im Sinne; man ſetzt
nämlich als ſelbſtverſtändlich voraus, daß der Inhalt vom Innern des
Tondichters komme und daß er, wofern ſich eine Vorlage für die Form
dieſes Inhalts finden laſſe, ſie auswärts in der Natur zu ſuchen habe.
[815] Belaſſen wir es nun zunächſt bei dieſer gewöhnlichen Auffaſſung, ſo können
wir uns auf §. 269 (wo zum Unorganiſchen auch das Holz und Beſtand-
theile des thieriſchen Leibs im vertrockneten, alſo unorganiſch gewordenen
Zuſtande zu rechnen ſind) und 290 (thieriſche Stimme), überhaupt aber
auf das allgemein Zugeſtandene berufen, daß Anſätze, Anklänge von
Melodie und Harmonie in der Natur hervortreten, aber nur, um alsbald
durch Abſprung zum ganz Formloſen die Erwartung zu täuſchen. Am
beſtimmteſten klingt die rhythmiſche Seite, Takt und Tempo an (vergl.
§. 754, Anm.), aber auch dieß ſo ungeregelt und unvollkommen, daß an
eine künſtleriſche Verwendung nicht zu denken iſt. Anders ſcheint ſich die
Sache zu geſtalten, wenn wir nach dem Menſchen blicken: hier wäre, wenn
dem Muſiker eine Stoffquelle in dieſem Gebiet flöße, Inhalt und Form
verbunden: der empfindende Menſch und der Ton ſeiner Stimme ſind
Eines. Allein der empfindende Menſch, als Stoff für den Muſiker
geſetzt, drückt nicht ſeine Empfindung in Tönen aus, ſofern er dieß thut,
iſt er nicht Stoff für den Muſiker, ſondern ſelbſt der Muſiker. Er ſpricht
vielmehr und eben im Sprechen vermag er, wie wir ja deutlich erkannt,
ſein Empfinden nur ganz unzulänglich anzudeuten. Die Sprache articulirt
den Ton durch die abſchließende Kraft des Mitlauters zum Ausdruck des
Bewußtſeins und nur mittelbar durch dieſes zum Ausdruck des Gefühls.
So enthält die Sprache allerdings in begleitender Weiſe etwas von Ton
als Gefühlsausdruck: dieß iſt der Tonfall und Rhythmus des Sprechens,
insbeſondere des gehobenen Sprechens, des Declamirens. Dieß Element
iſt jedoch eben dadurch, daß die Sprache weſentlich Ausdruck des Bewußt-
ſeins iſt, in einer Weiſe bedingt, eingeſchränkt, die man vom Standpuncte
der Muſik eine völlige Alteration nennen muß. Es wird immer eine
zweckmäßige und feine Aufgabe ſein, die Anſätze des Muſikaliſchen im
Sinnbegleitenden Tone der Rede zu belauſchen, wie neuerdings L. Köhler
(die Melodie der Sprache u. ſ. w.) und insbeſondere werden ſolche Studien
gegeben ſein, wenn es gilt, einem Zuſtande der Muſik entgegenzutreten,
wo dieſe Kunſt ſich gewöhnt hat, in ihrer Verbindung mit dem Worte
ſtatt eines freien Anſchluſſes in falſcher Selbſtändigkeit willkührlich von
deſſen Sinn abzuſchweifen, ja im Widerſpruch mit dieſem ſich breit zu
machen, ſie werden uns z. B. zeigen, wie verkehrt es iſt, eine ſehnſucht-
volle Frage in bequem fallender Tonreihe auszudrücken u. ſ. w., allein,
wenn man meint, in dieſem Gebiet ein durchgreifendes, poſitives Geſetz
ſuchen zu müſſen, ſo befindet man ſich in der falſchen Vorausſetzung, daß
in der Verbindung von Sprache und Ton die Poeſie und die Muſik zu
gleichen Theilen regieren, wie ſolche durch R. Wagner als Prinzip aufge-
ſtellt iſt. Wir werden dieſe neue Theorie ſeines Orts auffaſſen, hier genügt
es, darauf hingewieſen zu haben, daß der Sprachtonfall nur verlorene
[816] Anklänge einer Tonwelt enthalten kann, die für ſich allein vollkommener
Gefühls-Ausdruck ſein ſoll, daß er weſentlich alterirt iſt durch den Zweck
der Sprache, das Bewußtſein auszudrücken. Man darf daher Unterſuchun-
gen, wie die obige, nur ſehr genügſam führen, wenn man nicht in’s
Kleinliche und Geſuchte gerathen will. Die Sprache hat jedoch allerdings
auch unarticulirte Gefühlslaute in der Interjection. Ihre Tonhöhe
und ihr Tempo liegt unmittelbar an der Quelle der Empfindung und
gehört mehr, als alles Andere, zu den zerſtückelten, verlorenen Anklängen
von Muſik in der Natur. Allein nimmermehr iſt die Muſik durch ihre
Belauſchung entſtanden oder kann zu irgend einer Zeit ihre Formen nach
ihr bilden; denn ſie iſt eben nichts, als ein von der Sprache auf conti-
nuitätsloſe Einſilbigkeit zurückgedrängter, im Keim erſterbender Anſatz, die
Empfindung durch Muſik außer der Muſik auszudrücken. Ueberſehen wir
nun dieß ganze Gebiet des Naturſchönen, ſo erkennen wir die genaueſte
Analogie mit dem, was über das Verhältniß des Baukünſtlers zum Natur-
ſchönen in §. 558 geſagt iſt: nur entfernt und dunkel, ohne jede ausdrück-
liche Intention des Nachbildens, kann, wie dem Völkergeiſte in der Bil-
dung der Bauſtyle die zerworfenen Spuren der reinen Raumformen in
Erdbildung und Pflanze, ſo das Reich der Naturtöne dem Menſchen bei
Schöpfung der Muſik vorgeſchwebt haben oder vorſchweben. Die Muſik
iſt ohne Zweifel vom Spiel ausgegangen und zwar auf zwei Wegen.
Man machte an gewiſſen Körpern zufällig die Beobachtung, daß ſie Töne
von ſich geben, die eigenthümlich zur Empfindung ſprechen, daß dieſe Töne
in gewiſſem Verhältniſſe zu einander ſtehen, daß man dieſe Verhältniſſe
durch Ueberſpannen eines Felles über eine Höhle, durch Nebeneinanderziehen
von Saiten, durch Nebeneinanderſtellen von Röhren (die Syrinx), durch
Einbohren von Löchern in Röhren vermehren und ordnen kann: dieß war
der eine Weg, der in gewiſſem Sinne von außen nach innen geht; der
andere war der des Geſangs, der jedoch nicht in dem Sinne von innen
nach außen geht, daß man ſich vorſtellen dürfte, der Geſang ſei urſprünglich
der geiſtigeren Tiefe der Empfindung entſprungen; die Anfänge des
Geſangs wird man im Jauchzen der Gebirgsbewohner ſuchen müſſen, das
ſich in muſikaliſcher Uebung zum Jodeln, einem Singen ohne Wort, aus-
gebildet hat; jener unmittelbare Aufſchrei der Luſt ſchlägt gerade durch ſeine
Vollkräftigkeit in wirkliche Töne um, läßt einen natürlichen Tonfall,
ſelbſt eine Andeutung beſtimmter Intervalle erkennen, von deren Beobach-
tung man langſam zum künſtleriſchen Gefühlsausdruck fortging. Und
hieran knüpft ſich nun offenbar die einzig richtige Anwendung des Begriffs
von Stoff und Naturvorbild auf die Muſik: der Stoff, der Nachahmungs-
gegenſtand dieſer Kunſt iſt das Gefühlsleben in der Bruſt des Künſtlers;
jener Begriff läßt ſich aber nur in ſehr entfernter Weiſe anwenden, weil
[817] Stoff, Vorbild eigentlich einen Gegenſtand bezeichnet, der dem Künſtler klar
als Object gegenüberſteht und ihm eine bereits beſtimmte, obwohl im Ver-
hältniß zur Kunſtaufgabe noch rohe Form entgegenbringt, wogegen das
Gefühlsleben nicht nur mit der Subjectivität deſſen, der es darſtellen ſoll,
verwachſen, ſondern auch in ſeiner Formbeſtimmtheit vor der Darſtellung
ſo dunkel iſt, daß ſie der Künſtler ſelbſt erſt ahnt, indem er nun ganz
anders woher jene Form entlehnt, an welcher urſprünglich durch Zufall
die Fähigkeit entdeckt worden iſt, das Gefühl auszudrücken, und die er nun
zu dieſem Zweck ſelbſtändig weiter formt. Wendet man ſich nun nach
der andern Seite, nach dieſem „Anderswoher“, ſo iſt man geneigt, den
Begriff des Naturvorbilds auf ſie anzuwenden, wir haben aber gezeigt,
daß er hier nicht hergehört, weil die Tonwelt in der Natur nicht ein
Ganzes von Inhalt und beſtimmter Form iſt, das der Künſtler nur zu ideali-
ſiren hätte; will man ihn dennoch auf dieſe Seite übertragen, ſo kann
man es nur mit der ausdrücklichen Verwahrung, daß man dießmal unter
Stoff nur Anlaß zur Entdeckung einer frei zu bildenden, dem Seelenleben
dunkel entſprechenden Formwelt und benütztes, verwendetes Vehikel verſteht.
Entſchieden zutreffend iſt für die erſtere Seite, wo das Innere, das Gefühl
als Stoff bezeichnet wird, nur das negative Merkmal des Begriffs, daß
der Stoff vor ſeiner Bearbeitung immer ein relativ Rohes, Formloſes iſt,
indem die innere Stimmung vor dieſem Uebergang in die klare Form,
auch abgeſehen von dem ſpezifiſchen Dunkel ihrer Organiſation überhaupt
noch ungeordnet, mit allen Mängeln und Zufälligkeiten behaftet bleibt,
durch welche das Naturſchöne auch als ſichtbarer Gegenſtand der andern
Künſte ſtets getrübt iſt. — Noch bleibt übrig, den Begriff des Stoffes
oder Süjets in einem andern Sinne zu nehmen: ſo nämlich, daß der von
einer Kunſt ſchon verarbeitete Stoff einer andern noch einmal Stoff wird
(vergl. §. 543). Nun erhält der Muſiker ein Süjet vom Dichter, eine
Stimmung iſt ihm von dieſem (in Lied, Operntext u. ſ. w.) vorempfunden,
alſo objectiv gegeben. Allein dieß iſt ein unendlich loſeres Verhältniß,
als im Stofftauſch anderer Künſte. Der Muſiker überſetzt den Stoff nicht
etwa aus dem innerlich ſichtbar Vorgeſtellten in das äußerlich Sichtbare,
alſo zwar in eine andere Kunſt, aber eine ſolche, die mit der Stoffquelle
noch das Element des Bildes gemein hat, oder aus dem Epiſchen in das
Dramatiſche, alſo einen andern Zweig derſelben Kunſt, ſondern in eine
abſolut neue Form, welche, wie wir ſehen werden, mit dem Inhalte, den
ihr die Poeſie leiht, nicht in jenes congruente Verhältniß tritt, das einfach
als künſtleriſche Umbildung eines Stoffes bezeichnet werden könnte. Vergl.
über dieß Verhältniß, ſowie über die ganze Frage die treffenden Bemer-
kungen von Hanslick a.a.O. S. 49 ff., 83 ff.
[818]
§. 761.
Dieſe Thätigkeit, wodurch die vernommene Lufterſchütterung erſt zum Ton
im engeren Sinne des Wortes wird, iſt eine rein verſtändige, mathe-
matiſche. Sie ordnet auf Grundlage phyſikaliſcher Schwingungsgeſetze ein
Stufenſyſtem der Töne an, worin Alles auf gezählten Meſſungen beruht. Auch
diejenigen Unterſchiede, die durch Tiefe und Höhe jene qualitative Grundform
des Gefühls ausdrücken und das Hauptmittel für die Durchführung des
Charakters einer Stimmung abgeben, erweiſen ſich als urſprünglich quantitativ
und die innere Beziehung des Einklangs oder Mißklangs, in welche beſtimmte
Töne aus der Stufenreihe heraus zu einander treten, erklärt ſich aus arithme-
tiſcher Einfachheit oder Verwicklung. Das Ganze der muſikaliſchen Ausdrucks-
mittel beſteht alſo weſentlich in lauter Verhältniſſen.
Wir haben bisher in nothwendiger Vorausnahme und mit Vorbehalt
der genaueren Unterſcheidung das Ausdrucksmittel der Muſik ſchlechthin Ton
genannt, wiewohl in genauerer Beziehung nur der gemeſſene, in ein Syſtem
eingeordnete Gehörs-Eindruck Ton ſo heißt. Es liegt hier eine Schwierig-
keit des Ausdrucks; will man das Wort Ton durchaus auf dieſen ſtrengen
künſtleriſchen Sinn einſchränken, ſo ſchwankt man darüber, wie der Gehörs-
Eindruck außerhalb des muſikaliſchen Kunſt-Syſtems allgemein bezeichnet
werden ſoll. „Schall,“ wie Einige ſagen, hat zu beſtimmt die Neben-
bedeutung des Starken, was in gewiſſer Ferne vernommen wird, Klang eines
gewiſſen beſonderen Charakters, des Weichen, Spröden u. ſ. w., was weiter-
hin für die Muſik Bedeutung gewinnt. Es wird daher wohl dabei bleiben
müſſen, daß man „Ton“ im weiteren und engeren Sinne des Worts unter-
ſcheidet. — Wenn nun die völlige Ausbildung eines für jeden Gefühlsaus-
druck gefügigen Tonſyſtems als ein rein verſtändiges, mathematiſches Thun
beſtimmt wird, ſo verſteht ſich, daß hiemit nicht behauptet ſein ſoll, daß die
empfindende Phantaſie nicht lange Zeit mit dem bloßen Inſtincte, natür-
lichen Ohrenmaaß ausgereicht habe; ſo ſind ja die Proportionen in der
Bildnerkunſt Objecte des Meſſens und doch hatten viele Menſchenalter mit
dem Augenmaaß ausgereicht, ehe die Wiſſenſchaft die Regel feſtſetzte. Die
Wiſſenſchaft ſelbſt, nachdem ſie ſchon weit gelangt war, brauchte noch lange,
bis ſie von der Phyſik ihre ſchließliche Grundlegung durch die Wellenlehre
erhielt und von ihr jene Schwingungsgeſetze lernte, auf denen das ganze
Syſtem der muſikaliſchen Mittel beruht, und welche in der ſpeziellen Er-
örterung näher in’s Auge zu faſſen ſind. Hier iſt nur die arithmetiſche
Natur des zu Grunde liegenden Phyſikaliſchen zu betonen: die Höhen-
Unterſchiede der zu ſyſtematiſcher Stufenreihe geordneten Töne ſind in Ver-
hältniſſen der Schwingungsgeſchwindigkeit begründet, die Verhältnißzahlen
[819] ſind die Maaße der Intervalle und harmoniſches Tonverhältniß beruht auf
Einfachheit und Faßlichkeit des Zahlenverhältniſſes; wie denn durch bloße
Verdoppelung der Schwingungen jener zweite Ton (die Octave) entſteht,
der dem erſten vor allen andern wahlverwandt erſcheint. Kommt nun der
Unterſchied, der dem ganzen Syſteme zu Grunde liegt, auf verſchiedene
Zahl der Schwingungen zurück, ſo erhellt, daß nicht nur die Verhältniſſe
des Tacts und Tempo quantitativ ſind, ſondern auch diejenigen, welche in
Vergleichung mit denſelben als rein qualitativ erſcheinen, nämlich der Tiefe
und Höhe. Dieſe ſind es nun aber, in welchen das Gefühl ſich den Apparat
ſchafft, ſeine eigentlich qualitativen Bewegungen auszudrücken, wie ſie in
§. 752 aufgeführt ſind. Haben wir den dunkeln Vorgang im Innern ſelbſt
uns als ein Schwingungsleben vorzuſtellen geſucht, ſo ſchien es doch immer,
als müſſe man hier an Schwingungen verſchiedener Bewegungsart denken,
nun aber, im techniſchen Abbilde des pſychiſchen Vorbilds, kommt auch
dieſer tiefe Unterſchied des ſubſtantiellen und ſubjectiv gelösten Gefühls und
all der Reichthum wunderbarer Empfindungen, wozu er verwendet wird,
ſchließlich auf einen Unterſchied der Schnelligkeit und Langſamkeit zurück.
Die Feſtſetzung auf einer beſtimmten Stelle der Leiter, wodurch die innige
Eigenthümlichkeit einer individuellen Stimmung ihren Ausdruck findet, tritt
nun als Tonart auf und die tieferen Töne erſcheinen, wie als Träger der
Empfindung überhaupt, die ſie vor dem Bodenloſen bewahren, ſo techniſch
als die Träger des Einklangs der Töne; als eigentlich qualitativ bleibt nur
die beſondere Klangfarbe zurück, welche die ſpezielle Art der Cohäſion des
einzelnen Materials mit ſich bringt: ein höchſt wichtiges Moment allerdings,
denn eine tiefe Symbolik, die wir bereits mit den Eindrücken der Landſchaft
verglichen haben, beſtimmt das Gemüth, aus dem Erzittern der Körper nach
dem verſchiedenen Zuſammenhalt ihrer Atome ſich verſchiedene Stimmungen,
ſanftere, nervöſere aus dem weicheren, muthigere, ſtärkere, gleichſam muſcu-
löſere aus dem ſpröderen, namentlich den metalliſchen, entgegenkommen zu
laſſen; aber nicht beruht hierauf das Weſentliche des Lebensprinzips und
Lebensprozeſſes einer totalen Stimmung, dieſe iſt vielmehr im Großen und
Ganzen völlig an jenes rein quantitative Syſtem von Ausdrucksmitteln
gewieſen. Wir haben nun hier ein Ganzes von lauter Verhältniſſen. Alles
iſt relativ, nur durch ſeinen Platz, nur durch eine Größenvergleichung be-
ſtimmt. Der Ton heißt in dieſem Syſtem Intervall, denn nur der Zwiſchen-
raum zwiſchen ihm und andern, eben der quantitative Abſtand beſtimmt ſeine
Natur. Die Conſonanzen und Diſſonanzen, in welche einzelne Töne aus
der Continuität der Stufenreihe heraus zu einander treten, beruhen eben-
falls auf einem rein arithmetiſchen Verhältniß. Was ſich durch einfache,
überſchauliche Zahl exponirt, wird als Einklang, als conſonirender Accord,
was einen verwickelten Zählungsprozeß fordert, als unbefriedigende Auf-
[820] löſung erwartende Tonverbindung oder als voller Mißklang, als diſſoniren-
der Accord empfunden. Die harmoniſchen Töne fordern ſich wie die Er-
gänzungsfarben vermöge eines Naturgeſetzes, dort der Luftwellen, hier der
Lichtwellen, ſo nothwendig, daß der eine Ton den andern, obwohl nicht
angeſchlagenen, als ſein Echo hervorruft, und der reine Dreiklang aus
Grundton, Terz und Quint erſcheint als eine Grund-Einheit wie Blau,
Gelb und Roth: der vollſte Ausdruck eines reinen Beziehungsſyſtems von
Schwingungsgeſetzen, die der menſchliche Geiſt meſſend, das Gemeſſene
zählend zum Syſtem der Muſik ausgebildet hat.
§. 762.
Der Schein des Widerſpruchs zwiſchen der Innigkeit des Gefühls und
dieſer mathematiſchen Natur des Syſtems ſeiner Ausdrucksmittel löst ſich durch
die in §. 752—757 enthaltenen Beſtimmungen: eine Geiſtesform, von welcher
kein Inhalt ausgeſagt werden kann, welche vielmehr in lauter reinen Verhält-
nißſtellungen zwiſchen Subject und Object beſteht, läßt ſich nur durch gezählte
Schwingungen ausdrücken, die ihrem innern Bewegungsleben entſprechen. In
dieſem Sinne gilt es nicht blos von den elementariſchen Grundlagen, ſondern
ſelbſt von der freien Erfindung, daß die Muſik ein unbewußtes Rechnen iſt.
Für das unmittelbare Bewußtſein gibt es nicht leicht einen grelleren
Widerſpruch, als den, wie hier das Innigſte durch das Abſtracteſte, das
Wärmſte durch das Kälteſte ſeinen Ausdruck finden ſoll. Es iſt auch in
keiner Kunſt der Uebergang vom Innern durch die Schule zu deſſen Aus-
druck ſo ſchwer, der Unterricht ſo ermüdend und wo nicht ganz voll ent-
ſchiedenes Talent den entſprechenden Drang mit ſich führt, ſo ganz und gar
abſtoßend: zählen und immer zählen, um auf dem längſten Umwege durch
den abſoluten Froſt dahin zu gelangen, daß die Gluth des Herzens ſich in
das völlig Todte, in ein gerechnetes Nichts ergießen könne. So trocken
die Diſciplin der Plaſtik und Malerei ſcheinen mag, ſo hängt doch der
dürftigſte Strich des Schülers unendlich näher mit dem Gefühle zuſammen,
als das Taſten-, Takt-, Tempo- und Pauſen-Zählen des Anfängers in der
Muſik. Die Schwere dieſes Widerſpruchs hebt ſich durch den richtigen
Begriff der Zahl. Und dieſer erhellt an der hiſtoriſchen Stellung jener
Philoſophie, deren Prinzip war, daß das Weſen der Dinge in der Zahl
beſtehe, der Pythagoräiſchen. Sie hat erkannt, daß die Wahrheit des Da-
ſeins nicht die Materie ſein könne, ſie hat noch nicht erkannt, daß es die
Vernunft ſein müſſe; ſie ſteht in der Mitte zwiſchen der Joniſchen Philo-
ſophie, welche die Subſtanz in allem Einzelnen als Stoff, und zwiſchen der
Philoſophie der Eleaten, welche dieſelbe als denkende Kraft faßte, und greift
[821] demgemäß nach der Formel, womit wir Alles, ſowohl das Sinnliche,
als auch das Geiſtige nennen, welche keinen Inhalt bezeichnet und womit
man allen Inhalt faſſen kann, denn als Quantum läßt ſich, eben weil
das Quantum gegen den Inhalt gleichgültig iſt, Alles ohne Unterſchied
beſtimmen. Das Quantum ſchreitet in Häufung der Eins und Zuſammen-
faſſungen der Eins fort ohne innere Entwicklung, unter dieſen Fortſchreitungen
läßt ſich ſowohl die Vermehrung der Materie, als der Intenſität begreifen.
Tragen wir dieß über auf die Muſik, ſo iſt ihr Inhalt ein wahrhaft Quali-
tatives, das ſich aber, weil objectlos, unterſcheidungslos, nicht durch Worte
begreifen läßt, und ein Solches kann eben nur in die unſinnlich ſinnliche
Unterſcheidung der Zahl gefaßt werden. Unwahr für das Ganze des In-
halts der Philoſophie, iſt der Gedanke des Pythagoras wahr gerade für die
Enthüllungsſtufe des Welträthſels, welche die Muſik darſtellt. Pythagoras
will ſagen, daß die Form das Wahre der Dinge ſei, und er findet für ſie
keine Beſtimmung, als die, welche Alles unterſcheidet und verbindet, ſei es
nun als Stoff oder Form gefaßt. Die Form iſt weſentlich Verhältniß;
die Welt als Form begriffen iſt ein Eines, ſich in ſich unendlich unter-
ſcheidend und ſeine Unterſchiede in unendliche Stellungen zu einander ſetzend,
die aber eben als verſchiedene Stellungen des Einen ſchlechthin lebendig
aufeinander bezogen ſind; es gibt keinen Ort außerhalb dieſes Netzes, es
bleibt keine Materie neben der Form übrig, der Stoff läßt ſich unendlich
theilen, bei jeder Theilung iſt, was übrig bleibt, immer wieder ein Ge-
formtes. Die Zahl nun bezeichnet richtig das Verhältniß, ſofern ſie nichts
iſt, als eine unendliche Reihe geſetzter Puncte, die nur in ihrer Beziehung
zu einander etwas, außer ihr nichts ſind; ſie bezeichnet es aber unzureichend,
weil es ein lebendig qualitatives ſich Fortbeſtimmen des Einen zum Unter-
ſchied und der Wechſelbeziehung im Unterſchied iſt, wogegen die Vielheit in
der Zahl nur Häufung des Eins iſt und alle Stellungen der vielen Eins
zu einander gleichgültige, der Innerlichkeit ermangelnde Beziehungen ſind.
Es hat Sinn, wenn Pythagoras ſelbſt die Seele und das ſittliche und
vernünftige Leben des Geiſtes unter dem Begriff der Zahl faßt, und Tugend
ſelbſt als Zahlenharmonie beſtimmt; die geiſtigen Kräfte ſind weſentlich
Ordnungen einer Vielheit und wir müßten dieſe durch Zahl ausdrücken
können, wenn wir ſie gänzlich erkannt hätten; aber auf ſolchen Ordnungen
beruhen auch unendlich viele andere Erſcheinungen, welche zwar durch und
durch Form ſind, aber nicht in der Weiſe des Geiſtes. Nun aber iſt der
große Unterſchied zwiſchen den andern Geſtalten des Geiſtes und dem Ge-
fühle der, daß jene durch klare Scheidung zwiſchen Subject und Object
beſtimmten, ſagbaren Inhalt haben, dieſes aber, weil ihm jene Scheidung
abgeht, nicht. Wir haben es daher nur faſſen können als ein dunkles
Schwingungsleben, worin das Subject unendlichen Verhältnißſtellungen
[822] zwiſchen ſich und der in ihm wiederklingenden Welt der Objecte inne wird.
Dieß aber läßt ſich nur durch die Zahl ausdrücken. Die Zahl iſt nicht das
Gefühl, denn dieſes iſt im höchſten Sinne qualitativ, aber unerſchloſſene,
dem Denken als einem Sprechen, der Begriffsbeſtimmung durch das Wort
verhüllte Qualität, und da dieſe Qualität doch eine ganz ſelbſtändige Form
iſt, in die ſich der ganze Geiſt legt, da ſie alſo doch ihre volle Welt innerer
Unterſchiede haben muß, ſo kann ſie ihren Ausdruck nur in dem finden,
was zwar nur quantitativ iſt, aber das Verhältnißleben des Qualitativen
formulirt. Der wache, ſcheidende Geiſt muß ſich in ſeinen Formen, wie
ſchon bemerkt iſt, auch durch Zahlen ausdrücken laſſen, aber da er ſagen
kann, was er iſt, ſo hat die Zahl ihre Nothwendigkeit, hiemit ihr Intereſſe
verloren. Es iſt falſch, gegen die Geltung des Pythagoräiſchen Prinzips
in der Weiſe der Ariſtoxeniker zu ſagen, das muſikaliſch Schöne komme nur
aus dem Gemüthe, nicht aus der Zahl, ſofern dieſer Polemik die Meinung
zu Grunde liegt, das Schöne des Gefühls würde zerſtört, wenn man es
als unendlichen Wechſel von Verhältnißſtellungen auffaßt: dieß ſcheinbar
höchſt Farbloſe, der Innigkeit Baare iſt allerdings das qualitative Innere
des Gefühls ſelbſt und die Zahl drückt es zwar nur aus, iſt es nicht ſelbſt,
weil ſie qualitätslos iſt, drückt es aber auch allein aus. Das bekannte
Wort des Leibnitz: musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis
se numerare animi (Epist. ad divers. I., 144.) kann nur als höchſt geiſt-
reich anerkannt werden. Die Seele rechnet zwar nicht blos, aber ſie
durchläuft jene geiſtigen Verhältnißſtellungen in einer durch die jeweilige
Stimmung gegebenen Ordnung und würde dieſe nicht bilden und bauen,
wenn ſie nicht unbewußt zählte. Man kann auch die Geltung dieſes Worts
nicht beſchränken auf die elementaren Geſetze der Harmonie, wie ſie der
muſikaliſche Inſtinct unbewußt geſchaffen hat und im Componiren unbewußt
befolgt; das ganz Individuelle der Tondichtung ſelbſt iſt ein unendlich
eigenes Schaffen neuer innerer Verhältnißſtellungen des Gefühlslebens,
welche in ihren unendlichen Schwingungen der Geiſt gar nicht ordnen
könnte, wenn er ſie ſich nicht unbewußt als Puncte auseinanderhielte und
verbände und dieß iſt eben ein unbewußtes Zählen. Iſt nun das Kunſt-
werk vollendet, ſo kann dieſer unbewußte Prozeß zum bewußten erhoben
werden und muß es zum Behuf der Ausführung, ja der Erfinder ſelbſt,
wenn er ſein inneres Tönen und Weben in Zeichen niederlegt für dieſe,
muß bereits in das bewußte Zählen übergehen. Da aber die Zahl zwar
der einzige Ausdruck des Gefühlslebens, jedoch nicht das qualitative Weſen
des Gefühls ſelbſt iſt, ſo liegen dieſe zwei Prozeſſe, der unbewußte und
bewußte als zwei Welten auseinander: das fertige Werk kann wirklich nach-
gezählt werden, aber der beſte Rechner hätte es darum nicht erfinden können,
denn es iſt durch ein genial bewußtloſes Zählen entſtanden. Es verhält
[823] ſich hiemit gerade wie mit dem Meſſen in der Baukunſt vergl. §. 558,
Anm. S. 195. Der Satz, daß die Muſik ein unbewußtes Zählen ſei, wird
auch dadurch nicht umgeſtoßen, daß dieß Zählen ein weit verwickelterer
Prozeß iſt, als es auf den erſten Blick ſcheint, denn hinter den Zahlen-
Einheiten, mit welchen die Technik der Muſik unmittelbar ſchaltet, liegen
ungemein große Zahlen verborgen, da der Ton erſt hörbar wird, wenn
wenigſtens 30 Schwingungen in der Secunde erfolgen. Man bedenke, daß
ſelbſt der gewöhnliche Techniker, der zur Fertigkeit gelangt iſt, jenes dem
Schüler ſo ſchwere Zählen ganz inſtinctmäßig ausübt, daß alſo auch die
bewußte Arithmetik wieder im Naturdunkel erliſcht; ſo gut dieß möglich iſt,
kann es auch eine Arithmetik, die mit noch viel größeren Summen rechnet,
vor dem Bewußtſein geben.
§. 763.
Das Organ, durch welches die in Töne aufgelöste Welt der Objecte in
das Innere einzieht, iſt der Sinn des zeitlichen Vernehmens, das Gehör.
Das Kunſtwerk beſteht nicht anders, als ſo lang es ausgeführt wird, es wendet
ſich unmittelbar an den erzitternden Nerv und die innerſte Individualität in der
einfachen Urform ihres geiſtigen Daſeins, die Zeit. Daher ſeine elementariſche
Wirkung, welche vermöge der ſchwebenden Natur des Gefühls (vergl. §. 749)
in die tiefſte Erregung der Sinnlichkeit und überhaupt eine durchaus patho-
logiſche Stimmung übergehen kann. Die Muſik als Kunſt wühlt aber das
ganze Gefühlsleben nur auf, um es innerhalb ſeiner ſelbſt zur reinen Form in
dem doppelten Sinn eines freien Scheins und einer Wohlordnung, worin das
Weltganze als harmoniſches empfunden wird (vergl. §. 750 und 758), zu läutern.
Wir haben zuerſt das Weſen des Gefühls entwickelt, ununterſchieden,
ob vom Künſtler oder vom Zuhörer die Rede ſei; hierauf ſind wir zum
Künſtler herübergegangen. Dieſer legt ſein Empfinden im tönenden Kunſt-
werke nieder; indem er aus Körpern den Ton entwickelt, die Geſtaltenwelt
in Töne auflöst, ſo ſpricht er eben darin die Natur des Gefühls als die
in das bewegte Innewerden des Subjects aufgelöste Welt aus. Zwiſchen
einem Gefühlsleben und dem des Zuhörers, worin dieſelbe Stimmung geweckt
werden ſoll, liegt nun als die Pforte, durch welche der Gefühl-erfüllte Ton
gehen muß, der Sinn des Gehörs. Die Luftwelle ſetzt den Gehörsnerv in
die entſprechende vibrirende Bewegung und mit Einem Schlage beginnt jener
dunkle Prozeß, wodurch die ausgedrückte geiſtige Stimmung in dem centralen
Geiſtesorgan unter Mitſchwingen des geſammten Nervenlebens ſich reflectirt.
Vom Gehörſinne iſt das Weſentliche im erſten Theile §. 71 geſagt: er ſteht
in der tiefſten Beziehung zum Gefühle ſchon darum, weil er genau deſſen
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 54
[824]mittlerer Stellung zwiſchen Sinnlichkeit und Geiſt entſpricht; denn auf der
einen Seite liegt er unter der Höhe des contemplativen, gegenſtändlichen
Verhaltens, das vom äſthetiſchen Organe gefordert wird, da eben im Tone
ſich die Objectivität aufhebt und das vernehmende Subject in ſtoffartiger
Apprehenſion ſich mit dem Object ununterſchieden verſchlingt, auf der andern,
ſofern er das articulirte Wort vernimmt, weist er in ein Gebiet, dem das
Sinnliche bloßes Zeichen iſt, alſo über das Aeſthetiſche hinaus. Die Muſik
aber ergreift dieſen Sinn in jener erſten Function ſo, daß ſie in ſein un-
mittelbares, ſtoffartiges Verhalten ihre geiſtigen Ordnungen und mit ihnen
die Geiſtesahnung einführt, ohne ihn doch zum gegliederten Worte fortzu-
führen, das den ſcheidenden Act des Bewußtſeins, den erſchloſſenen Geiſt
ausdrückt; daran verändert im Weſentlichen auch die Vocalmuſik nichts,
denn ſie verſchwemmt das Wort durch muſikaliſche Entfaltung des Selbſt-
lauters wieder in das freie Tonleben, wiewohl ſie ſich an daſſelbe lehnt.
Es erhellt nun, wie wir bei vorläufiger Erwähnung das Gehör in §. 748,
Anm. mit den dunkeln Sinnen des Taſtens, Schmeckens, Riechens zuſammen
und zugleich hoch über ſie ſtellen konnten. Genaueres über die muſikaliſche
Function des Gehöres ſagt uns die Phyſiologie nicht: ein Punct, der
darüber belehrt, wie verfehlt es iſt, die Aeſthetik phyſiologiſch begründen zu
wollen. Das ſinnlich ſchärfſte Geſicht und Gehör kann dem Schönen in
Geſtalt und Ton völlig verſchloſſen ſein; ohne Frage iſt der Sinn des
Schönen angeboren und muß in einer Anlage der Organe zu gewiſſen
rhythmiſchen Functionen ſein urſprüngliches Daſein haben; wir können aber
dieſe nicht erforſchen und der allgemeine phyſiologiſche Bau ſagt uns nichts
darüber; das Schöne läßt ſich daher immer nur auf die innere Nothwen-
digkeit begründen, daß das Vollkommene nicht nur für den Glauben und
den Begriff, ſondern auch für die Anſchauung da ſei und daß für die
Realiſirung dieſer Nothwendigkeit der Geiſt in der Natur geſorgt haben
müſſe, und zwar dieß wieder in verſchiedenen Weiſen; denn wie jede all-
gemein menſchliche Anlage, z. B. das urſprüngliche Verhalten des Willens
zur objectiven Welt in den Temperamenten, ſo zerlegt und vertheilt ſich
auch der äſthetiſche Sinn in unterſchiedene beſondere Organiſationen, die,
obwohl ebenſo phyſiologiſch wie geiſtig, doch dem Naturforſcher unergründ-
lich ſind. Wir ſind mit dem Gefühlsleben in die Form der Zeit eingetreten,
das Vehikel mußte derſelben Form angehören; das Organ nun, das im
Tone die Empfindung erfaßt, iſt beides zugleich: der Sinn der unmittel-
baren Aufnahme des bewegten Innern und der Sinn der Zeit, wie das
Auge (mit dem Taſten) der Sinn der Aufnahme des Innern durch das
Aeußere und des Raums iſt. Das Kunſtwerk, das an dieſen Sinn ſich
wendet, iſt nur ſo lang, als es aufgeführt wird, es hat kein objectives
Beſtehen. Hiemit hat jene Bewegung in zwei Tempi ein Ende (vergl.
[825] §. 550, Schluß d. Anm.); die Kugel — um bei dem gebrauchten Bilde zu
bleiben — fährt, ohne Aufſchlag und Verweilen im Zwiſchenraume, direct
hinüber in das Herz des Hörers. So faßt es ihn denn auch unmittelbar
wie kein anderes Werk der Kunſt in ſeinem Nervenleben und in der ein-
fachen Grundform ſeines Daſeins, der Zeit. „Die Muſik befängt das
Bewußtſein, das keinem Object mehr gegenüberſteht und im Verluſte ſeiner
Freiheit von dem fortfluthenden Strome der Töne ſelbſt mit fortgeriſſen
wird; — Ich iſt in der Zeit und die Zeit iſt das Sein des Subjects
ſelber, daher dringt der Ton, deſſen Element die Zeit iſt, in das Selbſt ein,
faßt es in ſeinem einfachſten Daſein — das Subject wird als dieſe Perſon
in Anſpruch genommen“ — (Hegel Aeſth. Th. 3, S. 148, 149, 151).
Die volle Unmittelbarkeit dieſer „elementariſchen Macht“ zeigt ſich bekannt-
lich beſonders im rhythmiſchen Theile, wo die Wirkung ſo ſtark iſt, daß ſie
faſt nöthigend auf die Bewegungsorgane übergeht; doch ſind es nicht
ſolche in’s Phyſiologiſche ſich verlaufende Reize, worin die ganze Gewalt
des Eindrucks ſich geltend macht; es iſt vielmehr der Affect im Innerſten
des Gemüths, wie er auf jener dunkeln Nervenbrücke zwiſchen dem Geiſtigſten
und der, weil in das Innere geworfen, nur um ſo heißeren Sinnlichkeit
ſchwankt und ſchwebt (vergl. §. 749, Anm.), und wie ihn die Muſik zu-
nächſt in ſeiner ungebrochenen pathologiſchen Kraft aufregt. Die Alten
haben die Muſik vorzüglich von dieſer Seite betrachtet und die Sühnung
und Reinigung ſelbſt, die ſie von ihr verlangten, ſtoffartig, obwohl dieß
im ethiſch-religiöſen Sinne, verſtanden und darnach dieſe Kunſt unmittelbar
für Lebenszwecke verwendet; es fehlte ihnen hier der Standpunct des reinen
äſthetiſchen Scheins. Hält man dieſen feſt, ſo kann man auf die Muſik
ganz das Wort des Ariſtoteles von der Tragödie anwenden, daß ſie die
Leidenſchaften reinige, indem ſie dieſelben erweckt. In der Strenge des
Lebens hält der Menſch ſeine Empfindungen mit jener Schaam zurück,
welche das Innerſte, Weichſte wie eine Nacktheit der Seele verhüllt. Es
muß einen Ort geben, wo es erlaubt iſt, dieſer hinſchmelzenden Auflöſung,
dieſen ſtürmiſchen Aufregungen, dieſen rückhaltsloſen Geſtändniſſen jeder
ſchönen Schwäche ſich ganz hinzugeben, ſie recht zu erſchöpfen und im Er-
ſchöpfen, durch die Wohlordnung der Form zum freien Schein, zum reinen
Bilde einer harmoniſchen Welt umzugeſtalten. Schelling ſagt, das Gefühl
ſei ſchön, aber es ſolle im Grunde bleiben; hier darf und ſoll es an die
Oberfläche treten, darf ſeinen eigenen Tag leben, jetzt allein Recht haben,
um in dieſer Freiheit erſt wahrhaft ſchön zu werden. Allerdings iſt die
Muſik durch die Anſchmiegſamkeit ihrer durchaus beweglichen Natur, durch
die im Verhältniß zur Maſſenhaftigkeit der bildenden Kunſt ungemein redu-
zirte Körperſchwere ihrer Werkzeuge ganz anders, als jene, zu unmittelbarer
Einwirkung auf das Leben, die Geſellſchaft, die Familie, den Einzelnen
54*
[826]befähigt und berufen, der Dilettantiſmus iſt in keiner Kunſt ſo wohlthätig
und berechtigt, wie in dieſer, und ſo kann ſie jeden Moment mitten aus
den empiriſchen Bedingungen des Lebens herausheben und über die träge
Erdenſchwere der als Laſt gefühlten Zeit hinausheben, ſozuſagen die Zeit
innerhalb ihrer ſelbſt idealiſiren. Ja man kann die Muſik im tieferen Sinn
die Idealiſirung der Zeit wie die Baukunſt die Idealiſirung der unorganiſchen
Natur nennen.
§. 764.
Aus der Geſammtheit dieſer Grundbeſtimmungen ergibt ſich der weſentlich
amphiboliſche Charakter, welcher der Muſik in Vergleichung mit den andern
Künſten eigen iſt. Sie iſt das Ideal ſelbſt, die blosgelegte Seele aller Künſte,
das Geheimniß aller Form, eine Ahnung weltbauender Geſetze und ebenſoſehr
das verflüchtigte, unentfaltete Ideal, ſie hat Alles und Nichts, iſt ſinnlich und
unſinnlich, eine Quelle hohen und reinen Genuſſes, die doch Vielen völlig ver-
ſchloſſen iſt, Alle ermüdend, wenn ſie ein beſcheidenes Maaß der Dauer über-
ſchreitet, durch ihren innern Mangel zum Anſchluß an das Wort getrieben und
dann unſelbſtändig, in ihrer reinen Selbſtändigkeit aber von einem Gefühle
begleitet wie ein ungelöstes Räthſel.
Wir haben bereits in der Grundlegung des gegenwärtigen Gebiets,
§. 746, deſſen eigenthümliche Zweiſeitigkeit als weſentlichen Charakter auf-
geſtellt. Ueberſieht man nun, was über das Gefühl geſagt iſt, ſo bewährt
ſich nach allen Seiten an ihm als der Form, welche dieſes Gebiet ſchafft,
dieſer Charakter der Amphibolie. Es iſt ſinnlich und unſinnlich, unter-
ſchiedslos und doch reich an innern Unterſchieden, objectlos und läßt doch
das Object ahnen u. ſ. w. Die ausdrückliche Hervorhebung haben wir aber
bis zu der Stelle aufgeſchoben, wo bereits auch das Weſentliche der Dar-
ſtellungsmittel zur Sprache gekommen iſt und wo nun dieſer Begriff auf
das Ganze der Kunſtform ſeine klare Anwendung findet. Der hohe und
reine Werth derſelben wird durch das wiſſenſchaftliche Prädikat der Amphi-
bolie nicht heruntergeſetzt; die Muſik iſt eine volle und ganze Kunſt für ſich,
hat das ganze Schöne in ihrer Weiſe. Allein keines Dinges Vollkommen-
heit wird ohne Gefühl ſeiner Mängel und Grenzen betrachtet; dieſes Gefühl
weist im Gebiete der Kunſt von jeder einzelnen hinüber zu den andern
Künſten, welche das Erſcheinende von anderer Seite erfaſſen und jene
Mängel ergänzen, die Wiſſenſchaft aber, welche das Ganze der Künſte ver-
gleichend im Auge hat, erhebt es zum Begriff. Und dieſes Gefühl muß
allerdings in der Muſik ſtärker ſein, als in den andern Künſten, mit Aus-
nahme der Architektur, deren eigenthümliche Verwandtſchaft mit der Muſik
im Folgenden ausdrücklich zu beſprechen iſt; die höchſte Befriedigung wird
[827] mit einer Empfindung wie eines Sinkens in’s Bodenloſe oder eines Ver-
ſchwebens in’s Weite, einer dunkeln Sehnſucht nach einem Halt, einem
Feſten begleitet ſein. — Ganz allgemein iſt zuerſt zu ſagen, daß jene Be-
friedigung ein Gefühl der reinſten Idealität iſt, wie in keiner andern
Kunſt. Alle Kunſt iſt ja ein Formleben, eine reine Wirkung der Oberflächen
ohne den Durchmeſſer, ein Geiſt, nicht ein Stoff. Daraus macht die Muſik
Ernſt im engſten Sinne des Worts; es iſt in allen Künſten Muſik, ja der
Mittelpunct ihres Schönen iſt Muſik; das Geheimniß der Form in der
Statur, der Form und zugleich der Licht- und Farben-Einheit im Gemälde,
der dichteriſchen Geſtaltung für das innere Auge iſt ein Fluß, ein Rinnen
und Schweben geordneter Rhythmen, und dieß gilt nicht blos von dem,
was wir Form im näheren Sinne nennen, ſondern ebenſo von der Einheit
und Mannigfaltigkeit des geiſtigen, ethiſchen Inhalts, der Situation, Hand-
lung u. ſ. w. Wir haben ſchon §. 760, Anm. den Ton die blosgelegte
Seele des Körpers genannt, der geordnete Ton, die Muſik, verhält ſich nun
auf unendlich höherer Stufe ebenſo zu der äſthetiſch geordneten Körperwelt
der andern Künſte, ſie nimmt dieß Geheimniß der äſthetiſchen Verhältniſſe
aus ſeiner wirklichen oder (in der Poeſie) vorgeſtellten Körperhülle heraus
und entfaltet es nackt, körperlos für ſich; ſie iſt die zeitlich gewordene Linie
der Schönheit, wie der Ton an ſich die zeitlich gewordene Linie noch ohne
Beziehung auf die Schönheit. Bereits §. 542, Anm. iſt dieſe tiefe Be-
deutung der Tonkunſt berührt. So verſetzt ſie uns denn ſchlechthin in die
ideale Stimmung, welcher die ganze Welt eine zur Vollkommenheit geordnete,
vom ſtörenden Zufall freie Harmonie iſt. Wir ahnen in dem künſtleriſch
geordneten Tone die Ordnung der ganzen Welt, auch der körperlichen; uns
iſt, als ob nach dieſen Harmonieen das Weltgebäude ſich gefügt, das Breite
ſich geſtreckt, das Tiefe ſich geſenkt, das Hohe ſich emporgeſtreckt, das Runde
ſich gebogen und gewölbt hätte, die Sage von Amphion und die Vorſtellung
von der Sphärenharmonie gewinnt innere Wahrheit. Das Urſprüngliche,
der Kern der Darſtellung, das Bild der ſubjectiv menſchlichen Empfindung
geht mit dieſen großen objectiven Ahnungen ganz in Eines zuſammen, denn
das Herz fühlt ſich als Centrum der Welt, worin deren Einklang, aus dem
Mißklang ſich herſtellend, ſich zuſammenfaßt, es fühlt ſeine Schickſale als
Weltſchickſale. Allein dieſe vollendete Durchſichtigkeit des Formgeheimniſſes
iſt ebenſoſehr wieder auch gerade nicht die wahre Idealität. Die Form iſt
wohl das wahre Weſen aller Dinge, allein das Leben der Form iſt, daß
ſie ſich in unendlichen Geſtaltungen immer auf’s Neue als Stoff ſetzt, um
als höhere, geiſtigere Form aus ihm zu entſtehen. Das wahre Daſein
der Idee iſt daher und bleibt ein Daſein, das in Körpern thätig iſt, vergl.
§. 746, und ich ergreife die Form in ihrer Beſtimmtheit und an dem, was
ſie als ihr ſcheinbares Gegentheil ſetzt, am Körper im Raume. Dieſe be-
[828] ſtimmte Exiſtenz der Form hat die Muſik nach der einen Seite, ſoweit ſie
in den bildenden Künſten zur Erſcheinung gebracht iſt, verflüchtigt, nach der
andern, ſofern ſie in neuer Weiſe durch die Poeſie erſtehen ſoll, noch nicht
wiedererzeugt. Die Muſik iſt alſo vor lauter reiner Idealität ebenſoſehr nicht
wahre Idealität. Geahnt und dunkel vorſchwebend hat ſie die ganze Welt,
in klarer Wirklichkeit hat ſie nichts. Sie iſt die reichſte Kunſt: ſie ſpricht
das Innigſte aus, ſagt das Unſagbare, und ſie iſt die ärmſte Kunſt, ſagt
nichts. Sie erfaßt mit ihrer objectloſen Entzückung den reinen Geiſt an
jenem dunkeln Puncte, wo in den zarten Fäden des Nervenlebens der geiſtige
Phosphor aufblitzt, und dieſe Fäden ſind zugleich als der höchſte und letzte
Extract des Sinnlichen, die Träger der ſublimſten und gerade dadurch ſinn-
lichſten Sinnlichkeit. Die concentrirteſten Tiefen dieſer Kunſt der Innerlichkeit
zu entwickeln war der proteſtantiſchen Welt vorbehalten und doch hat ſie
der Breite, Popularität, Allgemeinheit des Sinns und der Fruchtbarkeit
nach jederzeit mehr in der ſinnlicheren Stimmung katholiſcher Bevölkerungen
geblüht. Auch das Eigenthümliche der Begabungs-Unterſchiede zeigt die
ganz beſondere Natur dieſer Kunſt. Es gibt allerdings keine Kunſtform,
für welche nicht einem Theile der menſchlichen Organiſationen die Gabe
verſagt wäre. Der äſthetiſche Sinn, ein weſentliches und untrennbares
Attribut der menſchlichen Gattung, iſt im Individuum mehr oder minder ein-
ſeitig, dem Einen iſt das plaſtiſche Formgefühl, dem Andern das maleriſche
Auge verſagt, aber ſo ganz todt und unverſtändlich ſind doch wohl dieſe
Gebiete der Kunſtwelt auch dem ſtumpferen Sinne nicht, wie es die Muſik
denen iſt, welchen einmal das muſikaliſche Gehör fehlt. Die Allgemeinheit
und Nothwendigkeit, die wir ſchon §. 750, Anm. 2. auch von dem Schönen
in reiner Gefühlsform behauptet haben, bleibt nichtsdeſtoweniger ſtehen, denn
es iſt eine Abnormität, wenn zwiſchen den rhythmiſchen Schwingungen einer
Seele und zwiſchen ihrem Gehörsſinn das Band rein zerſchnitten erſcheint.
Blos mangelhaft entwickelt wird man den muſikaliſchen Sinn durchſchnittlich
bei den Naturen finden, die ſehr entſchieden auf das Auge organiſirt ſind
und deren Geiſt auf ſcharfes, denkendes Unterſcheiden dringt; wogegen
muſikaliſche Anlage und Neigung mit mathematiſcher Begabung in engem
Zuſammenhang ſteht. Die Schärfe mathematiſchen Unterſcheidens verträgt
ſich trotz dem ſcheinbaren Widerſpruche ganz wohl mit einer Kunſtform, die
im Allgemeinen weiblich zu nennen iſt, aber einem Manne der philoſophiſchen
Strenge, wie Kant, lag es nahe, die Muſik, weil ſie im Spiele der Em-
pfindung nur unbeſtimmte Ideen erwecke, zu tief unter die bildende Kunſt
zu ſtellen, welche durch die Einbildungskraft dem Verſtande beſtimmte Ideen
zuführe und ſo die Erkenntnißvermögen erweitere (Kr. d. äſth. Urthlskr. §. 53);
er gibt zwar zu, daß die Muſik „inniglicher“ wirke, aber er überſieht, daß
eben in dieſer Innigkeit die Geiſtesahnung die zwar unbeſtimmtere, aber
[829] tiefere iſt. — Daß alle Muſik nur eine Weile ſchön iſt, liegt im Weſen des
Gefühls. Der Geiſt arbeitet mit ſolcher Gewalt innerer Nothwendigkeit aus
dem Unbewußten in das Bewußte, daß das Gefühl weſentlich ein Ver-
ſchwindendes, Uebergehendes iſt. Man kann nicht lang blos fühlen, man
kann nicht lang Muſik hören. Das Auge namentlich iſt hier ein feindlicher
Nebenbuhler des Ohrs; daß man die Muſiker während der Aufführung nicht
ſehen ſollte, iſt ein richtiger Gedanke. Da die Stimmung ein ſo zartes Ding
iſt, muß ſich die Muſik auch wohl hüten, da, wo man eben nicht zum Fühlen
aufgelegt iſt, ſich aufzudrängen, eingedenk, daß ich das Werk der andern
Künſte ſtehen laſſe, wenn ich nicht in der Laune bin, die Muſik aber hören
muß. Bekannte Erfahrungen haben Kant beſtimmt, die Muſik für eine
aufdringliche Kunſt zu erklären. Wahrhaft barbariſch iſt Tafelmuſik; der
Genuß des Eſſens erträgt keinerlei gleichzeitige Hebung in das Geiſtige,
als durch Geſpräch; die Muſik ſcheint uns das Eſſen wie eine Gemeinheit
vorzuwerfen und ſtört gerade dieſes einzige Mittel, uns zugleich geiſtiger
zu ſtimmen. Die bedeutungsvollſte Seite dieſer Amphibolie iſt das Ver-
hältniß zwiſchen reiner oder Inſtrumental- und angelehnter oder Vocal-
Muſik. Dieſes Verhältniß iſt durchaus ein dialektiſches und der Streit
darüber nothwendig ein unendlicher, wo immer das Denken über die ab-
ſtracte Disjunction nicht hinauszugehen vermag. Die Vocal-Muſik iſt nicht
reine Muſik, zunächſt weil ſie mit dem vollkommenſten Organe, der menſch-
lichen Stimme, auch einen Grad der Abhängigkeit vom Naturzufall in Kauf
nimmt, welchen das Inſtrument, das als paſſives Object, getrennt von der
Perſönlichkeit in deren Hand iſt, nicht unterliegt; das Material ſoll ja
(vergl. §. 490) todter Stoff ſein; ſie iſt es aber auch aus dem tieferen
Grunde, weil ſie das Gefühl nicht in ſeiner Reinheit, ſondern in ſeiner
Verbindung mit dem begleitenden Bewußtſein darſtellt. Die Muſik iſt ja
eben da, weil Worte nicht genügen, das Gefühlsleben auszudrücken. In
der Verbindung beider ſagt das Wort weniger, als der muſikaliſche Ton;
es ſagt mehr, dieß Mehr beſteht in Aufzeigung eines beſtimmten Objects,
aber die abſolute Innigkeit des Gefühls iſt es ja eben, die das Object auf-
löst, über dieſe Begrenzung überall hinausfluthet. Es iſt daher in der
Geſellung des Tons und des Objecte aufzeigenden Worts niemals völlige
Congruenz; der Geiſt des Tons ſchwebt zwiſchen durch, darüber hinaus,
läßt ſich nicht binden und iſt doch gebunden; man verliert ſo eben, nach-
dem man ſie ſo eben gewonnen, die Ueberzeugung, daß dieſe Töne gerade
und nothwendig dieß im Wort gegebene Object ausdrücken. Je ſtrenger an
den Text gebunden, je mehr declamatoriſch, deſto weniger ächt muſikaliſche
Schönheit, je reiner entwickelte Muſik, deſto loſere Abweichung vom Texte:
von beiden Seiten ein „fortwährendes Ueberſchreiten oder Nachgeben,“ daher
die Oper „ein conſtitutioneller Staat, der auf einem ſteten Kampfe zweier
[830] berechtigter Gewalten beruht, — eine Ehe zur linken Hand“ (Hanslick a.
a. O. S. 28, 31). Die bloße Inſtrumentalmuſik dagegen gibt das Gefühl
in ſeiner Reinheit, d. h. in ſeiner Bewußtloſigkeit; ebendarum aber iſt auch
der tiefe Mangel des Gefühls der ihrige, und wie der Geiſt in dieſe leben-
dige Mitte ſeiner Formen immer wieder untertaucht und immer wieder aus
dem dunkeln Grund an’s Licht, zur Deutlichkeit der Dinge ringt, ſo will
mitten im befriedigten Hinſchwimmen auf ihren Wogen jeden Moment ein
Reiz entſtehen, nun wieder an’s Land zu treten und den feſten Inhalt, der
immer am fernen Saum hinzuſchweben ſcheint, zu erkennen: ein Gefühl
eines ungelösten Räthſels, ein Gang wie durch einen ägyptiſchen Tempel
von Vorhof zu Vorhof ohne ein Anlangen bei einem Kerne, der die Be-
wegung abſchlöße; ein Entzücken, aber mit Schwindel. Dieſer Eindruck
gleicht jenem, den die einſeitige höchſte Ausbildung des Colorits in der
Malerei mit ſich führt, die wir eine gefährliche Spitze genannt haben:
man ſehnt ſich nach dem feſten Boden der Zeichnung, der beſtimmteren
Geltung des Objects. Auch würden nimmermehr alle Tiefen des Gefühls
ſich entfalten ohne das begleitende Bewußtſein. An beſtimmten Gegenſtänden
erſt ſchießt der ganze Reichthum der Gefühlswelt auf. Wie er aufſchießt,
ſo ertränkt ſich freilich alsbald die Beſtimmtheit des Objects wieder in den
Bebungen des Gefühls, aber nur um abermals durch beſtimmt aufgezeigte
Situation zu neuen Entfaltungen erregt zu werden. Dieß Verhältniß haben
wir vorbereitet in §. 749, Anm., wo geſagt iſt, daß das Gefühl durch das
begleitende Bewußtſein ſich ſtetig bereichert. Sucht man nun von dieſem
Herüber und Hinüber zwiſchen ſelbſtändiger und unſelbſtändiger Muſik bei
dem Gedanken auszuruhen, daß eine Vereinigung beider das Wahre ſein
werde, ſo hat man in dieſer allerdings die reichſte Geſtalt der Muſik. Jene
concrete Fülle und Vielſeitigkeit des Gefühls (vergl. §. 757) kann eine reichere
Verwirklichung nicht finden: der Geſang iſt jetzt der Kern des Gefühls,
ſelbſt ſchon vieltönig und einen Reichthum unterſchiedener Formen in dem
Einen Gefühle darſtellend, die Inſtrumentalmuſik iſt ſein noch reicherer
Wiederhall, der uns bald wie ein Wiederklingen unſerer Empfindung in der
Landſchaft, im weiten All, bald als ein unendlich ſich verdoppelndes Echo
in der Menſchenbruſt gemahnt. Allein in der That iſt darin jenes incon-
gruente Verhältniß von Wort und Ton, das zunächſt im Geſang allein vor
uns ſtand, nicht gelöst, ſondern durch die verdoppelte Macht der Muſik
nur noch erſchwert, ihr durch ſo viel Gewicht verſtärkter Schwung droht
den Text hinfortzureißen, zu überfluthen und wenn ſich hier wieder die
Aufforderung darzubieten ſcheint, daß die Muſik um ſo enger an dieſen
gebunden werde, ſo ſteht dem entgegen, daß ſie dadurch gefeſſelt den ver-
mehrten Reichthum ihrer Mittel nicht zu ſeiner ganzen Entfaltung bringen
könnte. — Dieſe ganze Amphibolie im Verhältniſſe zwiſchen Vocal- und
[831] Inſtrumentalmuſik ruht, wie man ſieht, auf dem Satze unſerer pſychologiſchen
Grundlegung (§. 749, Anm.): „wir ſtehen vor einer ſchwierigen Wahl:
entweder reines Gefühl, aber behaftet mit einem Bedürfniß der Ergänzung,
die es deutet, ſeiner Objectloſigkeit abhilft, oder gedeutetes, auf das Object
bezogenes, aber nicht mehr in ſeiner Reinheit vorliegendes Gefühl.“
§. 765.
Aus dieſer ſchwankenden, weſentlich ſubjectiven und doch die Ahnung des1.
Objects erweckenden Natur der Muſik ergibt ſich auch die Schwierigkeit der
Frage, wie weit dieſelbe fähig ſei, zu individualiſiren und ſo den großen
Gegenſatz der Stylprinzipien in ihrem Schooß auszubilden, womit unmittelbar
die andere zuſammenhängt, ob ſie des Komiſchen machtig ſei.2.
1. Die mathematiſche Grundlage der Muſik kann, ſo ſcheint es zunächſt,
ebenſowenig ein Hinderniß des Individuellen in ſeiner unendlichen Eigenheit
ſein, als die Proportionen in der Malerei. Der Maler darf nicht ſchlechthin
das Geſetz des Organiſmus verletzen, aber dieſſeits dieſer Grenze hat er einen
unendlichen Spielraum für alle die kleineren und größeren Abweichungen in
Form und Bewegung, durch welche die Regel der normalen Schönheit ſich
zum Ausdruck einer Exiſtenz bricht, welcher keine andere gleicht. Ebenſo gibt
es innerhalb der Geſetze des qualitativen Zuſammenſtimmens und quantita-
tiven Meſſens in der Muſik eine unendliche Möglichkeit von Ordnungen in
der Anwendung ſämmtlicher muſikaliſcher Mittel, der Tonart, des Takts,
Tempo’s, der Tonfolge als Melodie, der Harmonie, durch deren Erfindung
der Muſiker das ſchlechthin Eigene der Individualität zur Erſcheinung bringen
kann. Es gibt Geiſter, die ſich nicht über das Richtmaaß des Allgemeinen
oder eines gewiſſen Typus im Allgemeinen erheben; der Genius legt aber
immer im einzelnen muſikaliſchen Kunſtwerke die Individualität einer Stim-
mung, in der ganzen Reihe ſeiner Compoſitionen die Originalität eines
äſthetiſchen Charakters nieder. Er vermag aber auch die Individualität einer
Stimmung zum ſtetigen objectiven Charakterbild auszudehnen, das ihm der
Dichter vorgezeichnet hat. Hier kommt es denn darauf an, ob der Text
dieſes Bild mit jenen ſcharfen Zügen ausgeſtattet hat, die wir im Unter-
ſchiede von der plaſtiſch ſchönen, generaliſirenden Stylrichtung die individua-
liſirende und (in Beziehung auf den freieren Ausdruck der Natur, wie ſie ſich
in ihren Zufälligkeiten gehen läßt und auf das herbere Gepräge empiriſcher
Bedingtheit durch Alter, Stand u. dergl.) die naturaliſirende nennen. Liegt
eine ſolche Zeichnung vor, ſo fragt es ſich, wie weit der Muſiker dem
Dichter folgen könne. Bis auf einen gewiſſen Punct muß es möglich ſein;
es iſt ja überhaupt kein Zweifel, daß das unendlich Eigene des Charakters
[832] vor aller bewußten Zuſammenfaſſung und ſichtbaren Kundgebung im dunkeln
Schooße des Gefühls vorbereitet liegt, und ebenſo iſt oben gezeigt, daß der
Weg der wirklichen Ausbildung des Charakters, ſeine Erfahrungen und
Kämpfe, die ganze Geſchichte eines Geiſtes in das Gefühl einfließt, das wir
in dieſem Sinn als das Werk des Charakters bezeichnen durften. Allein es iſt
ebenſo wahr, daß das unendlich Eigene jenes Ineinander von Angeborenem
und durch Freiheit Erarbeiteten, das wir Charakter nennen, ſeine volle Be-
ſtimmtheit und Schärfe nur in der bewußten Begegnung mit Objecten zum
Ausdruck bringt, in dem doppelten Sinne, daß im Sichtbaren erſt das
Innere wahrhaft erſcheint, und daß es in der Reibung mit deutlich er-
kannten Objecten in der Form der Rede und Handlung ſich erſt dem Geiſte
zu erkennen gibt. Das Individuelle wird daher in der Muſik ſeinen Aus-
druck finden, aber nur wie ein Geahntes, das im Augenblick, wo man es
faſſen will, wieder als zu unbeſtimmt in’s Dunkel entſchwindet. Dieß gilt
nun von aller Muſik, nicht nur von der begleitenden; in dieſer aber wird
es den Dichter beſtimmen, nicht ſo ſcharf zu charakteriſiren, als er es für
den rein poetiſchen Zweck könnte oder wollte; je mehr er es dennoch thut,
deſto mehr wird ſich die Kluft zwiſchen Text und Muſik fühlbar machen,
das Eigenſte dieſes Charakters in Wort und That wird der Muſiker nicht
ausdrücken können, vielmehr, was er ausdrückt, wird zwiſchen einem bloßen
Typus im Allgemeinen, einer Maske und einem Individuum ſchwanken.
Wir müſſen übrigens in der volleren Ausprägung der Individualität eine
doppelte Seite unterſcheiden: nach der einen iſt ſie weſentlich die tiefere,
wie ja überhaupt die Eigenheit der Individualität als höher berechtigt in
die Kunſt eingetreten iſt mit dem Aufgang derjenigen Weltanſchauung, die
den Einzelnen um der Unendlichkeit des Bewußtſeins willen, die in ihm ſich
erſchloſſen, als eine Welt erkennt und anerkennt (§. 452); die bedeutendere
Tiefe iſt aber weſentlich die bedeutendere Vielſeitigkeit der innern Verſchlingung
der Kräfte, der vieltönigere Reflex der Dinge im Innern: alſo wird ein
Hauptmittel des individualiſirenden Styls die vollere Ausbildung der Har-
monie ſein. Nach der andern Seite iſt die ausgeſprochenere Individualität
die ſchärfere, ſie trägt herbere Gegenſätze, ſchroffere Uebergänge, unge-
wöhnlichere Reihen von Schwingungen in ſich: hiefür hat die Muſik das
Mittel der kühneren Diſſonanzen und der gewagteren melodiſchen Tonfolgen
und rythmiſchen Bewegungen. Das entgegengeſetzte Stylprinzip, das wir
als das der directen Idealiſirung kennen, wird ſich dagegen ſtrenger an die
einfachen Grundgeſetze des Rhythmiſchen, alſo Quantitativen, und an
die reine Schönheit der Melodie auf Grundlage der akuſtiſchen Conſonanzen
halten; dieſe Momente entſprechen dem der Zeichnung in der Malerei, an
welches ebenda die mehr plaſtiſche Stylrichtung ſich anſchließt. Je tiefer
nun die Individualität, je geſicherter der Charakter, deſto freier iſt das
[833] Spiel, in welchem ſich die empiriſchen Bedingtheiten, die Zufälligkeiten und
die härteren Züge, welche die Exiſtenz mit ſich führt, ergehen und feſtſetzen,
ohne daß darum die Idealität zerſtört würde: ſo hängt mit dem indivi-
dualiſirenden Style der naturaliſirende zuſammen. Die Lehre vom Styl-
geſetz im folg. Abſchnitt hat mit der näheren Ausführung des Geſagten
auch zu unterſuchen, welche Annäherungen an das für ſich Unſchöne der
härteren Naturwahrheit, der gemeineren Laune, der willkührlicheren Regung,
der häßlicheren Leidenſchaft, der eingefleiſchten Gewöhnung in der Muſik
möglich ſind.
2. Dieſe ganze Frage führt unmittelbar zu der über das Komiſche,
denn je ſchärfer die Eigenheiten und die naturwahren Züge, deſto mehr
gehen ſie in das Häßliche über, von dem es ſich nun fragt, ob und wie
weit es äſthetiſch auflösbar ſei. Der eine Weg dieſer Auflöſung iſt der des
Erhabenen. Eine Kraft mag ungeſtalt ſein und in ihren Wirkungen
Schönheit zerſtören: wenn nur dieſe Wirkungen furchtbar ſind, ſo gelangt
das Häßliche nicht zum Scheine ſelbſtändiger Fixirung, wie in dem entgegen-
geſetzten Prozeſſe des Komiſchen, wo das Endliche ſein Recht zurückfordert
und in vollem Eigenſinn ſich ſelbſt als das Ganze ſetzt. Auch iſt das Er-
habene ebendarum, weil hier das Endliche vor einer Uebermacht, die irgend-
wie ſtets Trägerin der Idee iſt, verſchwindet, für Sinne und Verſtand dunkel,
und ſo unterliegt es keinem Zweifel, daß die Muſik, die ihrer ätheriſchen
Natur nach auch den entfernten Schein eines für ſich fixirten Häßlichen
nicht dulden kann und die im Elemente des dunkeln Gefühls lebt, dieſer
Grundform des Schönen im vollſten Sinne mächtig iſt; ihre Mittel ſind
unerſchöpflich, eine Kraftfülle, die mehr oder minder zugleich ſittliche Macht
iſt und ſich bis zu einem Ausdrucke ſteigern kann, als vernähmen wir die
Donner und den Poſaunenſchall des jüngſten Gerichts, in ihrer Herrlichkeit
und ihren Schrecken einherwogen und hervorbrechen zu laſſen. Was nun
aber das Komiſche betrifft, ſo iſt das Häßliche hier nothwendig einſchneidender
und ſcheint ſich mehr als ſolches zu fixiren; es macht ſich breit als gälte es
poſitiv, weil hier das Endliche in all ſeiner Kleinheit und Laune ſein Recht
zurückfordert, und der plötzliche Anprall, der lapsus in der nun eintretenden
Bewegung iſt ebenfalls zunächſt immer ein Mißton, ein ſchneidend Häßliches.
Dieſer Umſchlag beſteht in einer plötzlichen Beleuchtung, der ein anſcheinend
Erhabenes vernichtet, indem er es für die Sinne und den Verſtand deutlich
macht; das Komiſche fordert alſo Anſchauung und Reflexion, fällt hiemit
ganz in das Gebiet des hellen Bewußtſeins. Die tiefere Bedeutung des
ganzen Acts aber haben wir in der Idee des ſtets bewegten Ineinander des
Endlichen und Unendlichen gefunden, welche ſchließlich zu dem Begriffe der
reinen Freiheit der Subjectivität führte, die ſich als die Macht weiß, jedes
Erhabene als ein dem Subject Fremdes jederzeit zerſtören zu dürfen, weil
[834] ſie es jederzeit als ihr Eigenes und Inneres herſtellt. In dieſer Tiefe ſeiner
Bedeutung ſetzt das Komiſche noch entſchiedener den ganz wachen, ſicheren
Geiſt voraus, der das dunkle Gefühl hinter ſich hat. Wie ſoll nun eine
Kunſt dieſen Vorgang darſtellen können, die ſo körperlos ideal iſt, die keine
Objecte aufzuzeigen vermag und darum auch nichts weiß von dem ſelbſt-
bewußten freien Ich und den höchſten Gegenſätzen, welche dieſes klar ein-
ander gegenüberſtellt? Und doch hat die Sache eine andere Seite. Der
komiſche Vorgang iſt recht im engſten Sinne des Worts eine Bewegung;
die Stoffe, um die es ſich handelt, werden gleichgültig, der plötzliche Con-
traſt, das Ineinander im Contraſt iſt Alles; das Subjective am Vorgang
aber iſt ſo ganz Stimmung, daß das Subject bis zur Unmittelbarkeit der
phyſiologiſchen Schüttlung überwältigt wird. Wir haben daher offenbar auch
hier eine Amphibolie, die ſich in dem Satz ausdrückt: die Muſik vermag das
Subjective am Komiſchen, richtiger, das Subjective am Subjectiven des
Komiſchen (denn ſubjectiv iſt der ganze Vorgang, auch in Anſchauung und
Denken, das Subjective am Subjectiven iſt die bloße Stimmungsſeite)
auszudrücken, und wie ſie überhaupt eine Ahnung des Objects erweckt, ſo
wird ſie dieß auch hier vermögen. Den erſten Theil dieſes Satzes hat F.
Hand klar ausgeſprochen (Aeſth. d. Tonkunſt I. Th. §. 79). Man kann
nun ſtreiten, ob dieß dann eigentlich Komiſches ſei, und das iſt eben die
Amphibolie. Durch welche Mittel die Muſik das Komiſche in dieſer Be-
ſchränkung ausdrücke, darüber iſt kein Zweifel: daſſelbe iſt ja weſentlich
widerſprechende Bewegung, in welcher die ſcheinbar anſteigende Linie plötzlich
durch eine andere abgeriſſen, über den Riß hinüberwirkt und umgekehrt die
abreißende Linie zurückwirkt; es ſind alſo Sprünge, es ſind unvermittelte
Uebergänge jeder Art, wodurch die Geſetze der Conſonanz und der quantitativ-
rhythmiſchen Ordnung wie durch plötzliche Willkühr aufgehoben werden und
doch ſo, daß die Nöthigung entſteht, das Widerſprechende in Eins zuſammen-
zufaſſen. Es iſt aber klar, daß der Boden ſehr gefährlich iſt, indem es
durchaus nahe liegt, ſtatt komiſcher Muſik eine Komik gegen alle Muſik
hervorzubringen, ſo daß nicht innerhalb der muſikaliſchen Stimmung gelacht
wird, ſondern außerhalb derſelben über die Sünde gegen ihre künſtleriſchen
Geſetze. Dann iſt die Muſik mehr Urſache, daß Andere witzig werden, als
ſelbſt witzig. Ein anderes Mittel iſt die Tonmalerei. Wir haben es dem
ſpeziellen Theil der Lehre von der Muſik vorbehalten, die Frage aufzuführen,
ob oder wie weit die Muſik malen darf. Daß ſie im Großen und Ganzen
zu verneinen iſt, folgt ſtreng aus der Begriffsbeſtimmung der Objectloſigkeit
des Gefühls. Allein die ſtrengen Grundbegriffe ſind überall nicht bis an
ihre äußerſten Grenzen rigoriſtiſch durchzuführen, wenn man nicht die leben-
dige Wirklichkeit zerſtören will, und ſo wird man die Tonmalerei wenigſtens
im Komiſchen, wie die Parabaſe in der alten Komödie, ſich gefallen laſſen
[835] müſſen, wenn ſie in ihren Schranken bleibt. — Es fragt ſich nun, ob nicht
die ganze Betrachtung ſich anders ſtelle, wenn von der begleitenden Muſik
die Rede iſt, denn hier zeigt der Text den komiſchen Vorgang für Anſchauung
und Verſtand auf und erhellt ihn dem tieferen Bewußtſein. Allein in Wahr-
heit wird ja in dieſem Verhältniſſe die Natur der Muſik nicht verändert;
nimmt man den Text weg, ſo wird man auch im Komiſchen nie ſagen
können, daß die Muſik gerade dieß Object ausdrücke, ſondern es bleibt nur
die komiſche Stimmung an ſich übrig, die ſie auch ohne Text ausdrücken kann.
Wie das Gefühl überhaupt durch das begleitende Bewußtſein bereichert wird,
ſo allerdings auch hier: unendlich komiſche Motive wären von der Muſik
nicht erfunden ohne Text, aber dieſe Bereicherung iſt nur eine Bereicherung
innerhalb der aufgezeigten Grenzen. Klar iſt, daß die Muſik in dieſer Ver-
bindung, da ſie den höchſten Werth darauf legen muß, daß ſie durch das
Anſchauliche unterſtützt werde, namentlich Motive der burlesk komiſchen
Stimmung gewinnt, denn die Burleske iſt weſentlich das anſchaulich Komiſche
im engeren Sinne des Worts. Allein hier iſt ſie auch der Verſuchung aus-
geſetzt, in das Gemeine der ungemiſchten Luſt zu verfallen, das wir in
§. 751, 2. verworfen haben. Der wahren Natur der Muſik entſpricht die
Tiefe des Humors in ſeiner wunderbaren Miſchung von Luſt und Unluſt,
ſeiner lächelnden Wehmuth. Und es fragt ſich, ob nicht die ſelbſtändige
Muſik dieſe höchſte Form des Komiſchen reiner zu entwickeln vermöge, als
die begleitende.
§. 766.
Im Syſtem der Künſte ſteht die Muſik in einer Beziehung tiefer Ver-1.
wandtſchaft bei tiefem Unterſchiede mit der Baukunſt. Wie dieſe iſt ſie eine
Kunſt der reinen Verhältniſſe, weſentlich meſſend, zählend; ebendaher fällt auch
bei ihr Erfindung und Ausführung auseinander; in derſelben Stellung wie die
Architektur als vorbereitende Urform vor die bildende Kunſt, tritt ſie vor die
Dichtkunſt, in tieferer Bedeutung aber erſcheint ſie als die mittlere Halle zwiſchen
der bildenden Kunſt und der Poeſie, worin der Geiſt von der Zerſtreuung im
Räumlichen zu einer Wiederherſtellung deſſelben in neuem Sinne ſich ſammelt.
Dem Zeitverhältniß nach iſt ſie zwar die früheſte Kunſt, zu ihrer wahren Geſtalt2.
aber kann ſie nur im Boden einer reifen und ſpäten Bildung gedeihen.
1. Die eigenthümliche Wahlverwandtſchaft zwiſchen Baukunſt und Muſik
haben wir ſchon in der Frage über die Anordnung der Künſte angedeutet
und die daraus entſpringenden, obwohl für uns nicht entſcheidenden Gründe
für eine andere Anordnung des Ganzen der Künſte berührt (§. 542, Anm.),
wir haben bei der Baukunſt ſelbſt bereits auf die Muſik hinübergewieſen,
als wir zeigten, wie ſie nur durch den Rhythmus der Verhältniſſe wirke,
[836] und das bekannte Wort Fr. Schlegel’s angeführt, ſie ſei eine gefrorne Muſik
(§. 557, Anm. 1.) Nicht ſcheint die Natur zweier Künſte entgegengeſetzter,
als die der Baukunſt und Tonkunſt: dort die ſpröde, bewegungsloſe, ſchwere
Materie, in ihrer Schwere geltend, die unorganiſche Natur, der Raum, hier
der körperloſe Ton, der nur Leben und Bewegung iſt, die Zeit, das fühlende
Herz, dort die objectivſte unter den objectiven Künſten, hier die ſchlechthin
ſubjective Kunſt. Das Merkwürdige iſt die innige Verwandtſchaft gerade
bei der Härte dieſes Unterſchieds. Dieſelbe liegt nun vor Allem in dem
Charakter der Allgemeinheit, der beide Künſte von allen andern als ſolchen
unterſcheidet, welche eine geſchloſſene Lebensgeſtalt, ein Inneres mit ſeinem
individuellen Körper geben, wogegen jene nur ein allgemeines Medium durch
das Netz abſtracter Ordnungen durchziehen. Da die feſte Geſtaltung im
Sichtbaren oder innerlich Vorgeſtellten den Aether des Allgemeinen in ein-
zelne, abgegrenzte Welten zerſprengt, ſo ſind Baukunſt und Muſik, wie wir
es von der letzteren ſchon in §. 764 ausgeſprochen haben, in gewiſſem Sinn
Künſte des Ideals im engeren Sinne des Worts, des reinen Aufſchwungs
an ſich, der Idee, die noch nicht in die Gegenſätze des Lebens ſich verſenkt.
In dieſem Sinne ſtellt Solger beide Künſte ſymmetriſch neben die Plaſtik
und Malerei: die Baukunſt tritt neben jene, die Muſik neben dieſe, wie
eine noch körperloſe Seele neben ihre körperliche Verdichtung. Wir werden
darauf zurückkommen, eine Seite dieſer Auffaſſung beibehalten, die andere
verändern und weſentlich ergänzen. Die Natur der reinen Allgemeinheit in
dieſen Künſten liegt nun näher darin, daß ſie Künſte der bloßen Stimmung
ſind: Künſte des Ideals in dem Sinn, daß ſie die ideale Stimmung über-
haupt darſtellen. Es iſt gezeigt worden, wie die Baukunſt von dem Inhalt,
der ihr Inneres in concreter Form erfüllen ſoll, die Stimmungsſeite ab-
löst und ſymboliſch andeutend für ſich darſtellt; iſt ſie dadurch, daß ſie die
Stimmung in der harten Materie kryſtalliſirt, gefrorne Muſik, ſo kann
man die Muſik, welche dieſes Band löst, aufgethaute Baukunſt nennen.
Schlagend zeigt ſich die Verwandtſchaft in den verſchiedenen Seiten des
Syſtems der Kunſtformen: das Quantitative als Takt offenbart ſich analog
in dem regelmäßig Wiederkehrenden der Säulenabſtände, der theilenden Ein-
rahmung durch umſäumende Glieder, das Qualitative, Höhe und Tiefe und
die Bewegung der Melodie, in den auf Grundlage feſter Geſetze frei wechſeln-
den Unterſchieden der architektoniſchen Erſtreckungen nach Höhe, Breite, Länge,
der Rhythmus der Compoſition in der Anordnung dieſer Verhältniſſe zu den
großen Gegenſätzen der ſtructiven Hauptglieder und ihrer Verbindung; die
Harmonie als gleichzeitiges Ertönen verſchiedener Stimmen und Melodieen
ſieht man klar ſich ausbilden, wo der einfache antike Bau zur organiſch
geeinigten Gruppe wird im mehrſchiffigen, kreuzförmigen Bau, deſſen
Wölbungen als reichere Accorde die reicher gegliederte Mannigfaltigkeit zu-
[837] ſammenfaſſen. Dieſe Analogieen ließen ſich leicht vermehren, allein man
darf nun nicht überſehen, wie der tiefe Unterſchied der Grundform beider
Künſte ſich gerade auch in der Seite der Verwandtſchaft ſelbſt geltend macht:
die Muſik als Kunſt der fühlenden Subjectivität verhält ſich zur Baukunſt
wie eine unendliche zu einer armen Welt; jene in ihrer höchſten, monu-
mentalen Thätigkeit gibt zwar immer eine Ahnung des Abſoluten als der
weltbauenden Kraft, aber nur ſparſam kann ſie dieß Grundgefühl in unter-
ſchiedene Stimmungstöne auseinanderlegen, die ganze Geſchichte der Bau-
kunſt befaßt ſich in wenigen Hauptmodificationen; die Muſik erregt, wie
wir geſehen, auch eine Ahnung des Sichtbaren und weltbauender, räumlich
ordnender Weltkräfte, aber nur, um über dieſe Ahnung fortzuführen zu der
höchſt concreten Einheit alles Lebens in der geiſtigen Unendlichkeit des
menſchlichen Innern, das in der warmen Gegenwart ſeiner vertieften Innig-
keit nur eine ferne Reminiſcenz der Planetenbauenden Urthätigkeit der Welt-
kraft bewahrt. Allerdings wird die Vorſtellung eines idealen Weltbaus in
der Baukunſt zugleich dunkel ſymboliſches Bild eines idealen Baues der
menſchlichen Geſellſchaft. Dieß ethiſch politiſche Element wirkt in die Muſik
entfernter herein, als in die Architektur; die muſikaliſchen Genien als Reprä-
ſentanten ihrer Zeit nach der politiſch geſchichtlichen Seite zu betrachten, hat
etwas Schwieriges und verführt leicht zu geſuchtem Symboliſiren. Die
Muſik aber iſt überhaupt auch an ſich nicht mehr ſymboliſch wie die Bau-
kunſt; die Kunſtform der Tonwelt ſpricht das Innere unmittelbar und direct
aus: ein neuer Beweis dafür, wie weſentlich es iſt, die Schwingungsver-
hältniſſe als im Innern des Gefühlslebens angelegt zu betrachten und dieſer
dunkeln Quelle nachzuſpüren. Wenn aber die Tonkunſt weniger nach dem
Weltgeſchichtlichen hinweist, ſo entfaltet ſie dagegen das ſubjective Leben
als rein Menſchliches in einer Unendlichkeit des Reichthums, welcher der
Baukunſt ganz verſchloſſen iſt. Und daraus folgt dann, daß ſie in dem
Architekturähnlichen Rahmen ihrer mathematiſchen Grundlagen einen ſchlecht-
hin weiteren Spielraum hat; ſie kennt ſo, wie die Baukunſt, kein Geſetz
der Regelmäßigkeit und Symmetrie; entſpricht z. B. der Takt den Säulen-
abſtänden, ſo wogt ja zwiſchen ſeinen Einſchnitten die Melodie frei in
unendlichem Wechſel der zwiſchen ſie eingegrenzten Töne, während in der
Baukunſt um die Säulenaxen, welche eigentlich die Takt-Theilung dar-
ſtellen, die äſthetiſche Form zwar als Säule ſich anſammelt, aber in gleicher
Wiederholung und mit leeren Zwiſchenräumen. Sucht man die Symmetrie
in den parallel ſich entſprechenden Wiederholungen gewiſſer Sätze in der
muſikaliſchen Compoſition, ſo ſind ſich doch dieſe niemals abſtract gleich,
ſondern unterſcheiden ſich wie Frage und Antwort, Einfaches und reich
Entwickeltes, Sehnſucht und Befriedigung u. ſ. w. Kurz hier ſchwebt ein
freier Geiſt zwiſchen den gleichen Ordnungen der Markſteine hin, dort ſind
[838] die Markſteine die Sache ſelbſt und es gilt nur, ihre ſtrengen Maſſen aus
der groben Kernform zur Schönheit umzubilden. — Noch aber iſt ein
weiteres weſentliches Moment der Verwandtſchaft hervorzuheben: das Aus-
einanderfallen der künſtleriſchen Schöpfung und der Ausführung. Sie hat
ihren Grund ebenfalls in der mathematiſchen Natur der Kunſtformen: wo
immer das Ausdrucksmittel ein ſolches iſt, das weſentlich gemeſſen und
gezählt wird, da legt der Künſtler ſein inneres Bild zunächſt nur in einem
abſtracten Schema nieder; in der Muſik mußte für dieſen Zweck ein beſon-
deres Zeichenſyſtem erfunden werden; was der Componiſt in dieſem ſym-
boliſchen Alphabet niederſchreibt, entſpricht dem Riß in der Baukunſt, und
dort wie hier kann nach dieſem Schema das Kunſtwerk von dem, der es
nimmermehr erfunden hätte, aber die Technik erlernt hat, ausgeführt werden,
weil das ideal Gemeſſene, Gezählte in der Anordnung einer Maſſe, dem
Anſchlagen von Inſtrumenten nur nachzumeſſen, nachzuzählen hat. Der
Unterſchied tritt freilich auch hier wieder hervor, indem der muſikaliſche Er-
finder nicht wegen der Gröbe des Kampfs mit einem maſſenhaften Material
auf die eigene Ausführung verzichten muß wie der Baukünſtler, ſondern
auch nur darum ſeine Erfindung zunächſt in einem bloßen Zeichengerüſte
abbildet, weil ſie ja dem Elemente der Zeit angehört, unbeſtimmt oft zum
Leben gelangen ſoll und ihren bleibenden Beſtand eben blos in der Zeichen-
ſchrift hat. Der Erfinder muß natürlich auch Executor ſein können, oft
exequirt haben, er exequirt probweiſe auch im Componiren, aber ein Virtuos
braucht er nicht zu ſein. Ein weiterer, tieferer Unterſchied iſt nun aber das,
daß in der Muſik eine blos mechaniſche Ausführung des Grundriſſes bis
auf einen gewiſſen Grad (denn ganz ohne Seele kann der Menſch nichts
thun und die buchſtäblich mechaniſche Muſik der Drehorgel, Spieluhr u. ſ. w.
iſt keine) zwar möglich iſt, daß aber die ächte Ausführung eine lebendige
Reproduction durch die eigene Empfindung ſein muß, die nun ſogar das
Kunſtwerk durch verſchiedene Arten und Grade des Ausdrucks weiter
individualiſirt; wogegen die ausführenden Kräfte in der Baukunſt rein
mechaniſch verfahren und ſelbſt das unmittelbar wärmer Gefühlte des
Ornaments ſo vorgezeichnet iſt, daß kein noch ſo inniges Gefühl des
Arbeiters davon oder dazu thun darf. — Erwägen wir nun die Unend-
lichkeit der neuen Welt, welche durch die Muſik in der Kunſt aufgegangen
iſt, ſo können wir ſie nicht wie Solger als die abſtractere, geiſtig durch-
ſichtigere Schweſter neben die Malerei ſtellen, ſondern müſſen ſie als den
brütenden Schooß betrachten, woraus die geiſtigſte Kunſt, die Poeſie, ge-
boren wird. Es verſteht ſich, daß das nicht heißen ſoll, der Dichter müſſe
vorher Muſiker ſein, ſondern nur begriffsmäßige Bedeutung hat, die ſich jedoch
real allerdings darin bewährt, daß nichts poetiſch heißen kann, was nicht
vor Allem den Eindruck des tief Empfundenen macht und im Gemüthe des
[839] Dichters unmittelbar mit dem anklingenden entſprechenden Sprachrhythmus
aufgeht. Darauf kommen wir zurück. So ſteht die Muſik als Vorhalle vor
der Dichtkunſt wie die Baukunſt vor den beiden andern bildenden Künſten.
Allein ſie hat zugleich die tiefſte Beziehung rückwärts zu dieſer ganzen
Gruppe der objectiven Künſte: dieſe klingen in ihr aus, der Stimmungs-
athem, der ſich in der Baukunſt kryſtalliſirt hat, in Plaſtik und Malerei
als warmer Lebenshauch aus der organiſchen Geſtalt und den elementariſchen
Medien uns entgegenkommt, aber immer ſich nicht befreien kann von ſeiner
räumlichen Feſſlung, hat Luft bekommen und ſtrömt frei aus. Erſcheint ſo
von der einen Seite das Räumliche als eine Feſſlung, ſo iſt es gegenüber
der idealen innigen Einfachheit des Gefühls ebenſoſehr Zerſtreuung. Von
ihr ſammelt ſich der Geiſt in der Kunſt der empfindenden Phantaſie, geht
in ſich, beſinnt ſich auf ſeine Tiefen und dieſe Sammlung iſt zugleich eben
die Vorbereitung auf eine neue Form, worin die räumliche Welt raumlos,
die ſichtbare innerlich geſchaut, daher unzerſtreut, geiſtig zuſammengehalten
und bereichert mit unendlichem neuem Inhalt ſich wieder entfalten ſoll.
Nun erſcheint alſo die Muſik als die mittlere Halle im großen Geſammtbau
der Künſte, die Halle der innern Sammlung, welche ebenſoſehr die Zuſam-
menziehung eines Ausgebreiteten als der Keim einer neuen Ausbreitung iſt,
und in dieſer ihrer Stellung drückt ſich eben das Weſen des Gefühls aus,
wie wir es in der obigen Grundlegung beſtimmt haben: als die lebendige
Mitte des Geiſteslebens.
2. Es gehört noch zur Betrachtung der allgemeinen Grundzüge der
Muſik, daß ihr zeitliches Vor oder Nach im Verhältniß zu den andern
Künſten in’s Auge gefaßt wird. Auch hier ſtoßen wir auf eine Zwei-
ſeitigkeit des Begriffs. Das Gefühl als die weſentlich ſubjective Geiſtesform
iſt zugleich die im vollſten Sinn unmittelbare; ſo findet es auch ſein Aus-
drucksmittel auf dem Wege des Inſtincts und gibt ihm ohne langen Kampf
mit ſprödem Materiale, alſo vor aller eigentlichen Schule den Grad von
Ausbildung, der nöthig iſt, um ſeine einfacheren Bewegungen ihm anzu-
vertrauen. Dieß iſt nun jene naive Kunſt, jene Kunſt vor der Kunſt vergl.
§. 519, 1., wo auch bereits geſagt iſt, daß es eine ſolche eigentlich nur in
der Poeſie und Muſik geben könne; genauer: in der unmittelbaren Ver-
bindung beider, dem Volksliede; die Inſtrumentalmuſik begleitet es,
bleibt aber auf diefer Stufe der bloßen Naturkunſt dürftiger, als der Ge-
ſang, weil das Material hier nicht das unmittelbar dem Fühlenden ſelbſt
eigene Werkzeug iſt, ſondern als gegenſtändlicher Stoff den längeren Kampf,
daher Kunſtübung, Schule ſchon urſprünglich fordert. Allein die Unmittel-
barkeit des Gefühls beſteht weſentlich in einer Auslöſchung vorausgeſetzter
Vermittlungen; es iſt einfach, aber ſeine Einfachheit eine gefüllte, und in
Wahrheit erreicht es ſein volles Leben erſt, wenn es eine ganze Welt von
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 55
[840]Vermittlungen hinter ſich hat; nur der Menſch, der viel erfahren, von einer
mannigfaltigen, vielſeitig getheilten Welt vielſeitig erregt, durch tauſend-
fältigen Stoß auf das Object tiefer in ſich gewieſen worden iſt, faßt ſich
der Welt gegenüber in gedrängter Innigkeit als Subject zuſammen und
nimmt ebenſo die Welt in ſich herein, wird eine Welt. Die im engeren
Sinne des Wortes einfachen Grund-Empfindungen des Menſchen, deſſen
Bildung noch Naturbildung iſt, enthalten wohl auch die Ahnung des Welt-
ganzen, wie es in das Herz des Menſchen eingegangen, aber unentwickelt,
tief und friſch, aber beſchränkt und arm. Selbſt wo beziehungsweiſe ein
großes Stück Geſchichte und Erfahrung durchlaufen iſt, wo die Muſik längſt
eine Kunſtübung hat, der tiefere Bruch aber, durch den der Geiſt ſich in
ſeine Subjectivität zurücknimmt, noch nicht erfolgt iſt, wird dieſe Kunſt in
einem Zuſtande bleiben, der jenem der Malerei entſpricht, wie in §. 716
geſchildert iſt: ſie wird gewiſſe Momente, die ſpezifiſch zu ihrem wahren
Weſen gehören, nicht zur Ausbildung bringen. Daher iſt die Muſik zwar
die früheſte, ebenſo ſehr aber, und dieß vielmehr iſt das Wahre, eine ſehr
ſpäte, durchaus moderne Kunſt.
β. Die einzelnen Momente.
§. 767.
Die Betrachtung der einzelnen Momente des Weſens der Muſik führt
zunächſt zur Erörterung des dieſer Kunſt eigenthümlichen, die muſikaliſche Com-
poſition bedingenden Materials. Von einem Material im gewöhnlichen
Sinne des Worts, von äußern und in der Natur bereits daliegenden Stoffen
und ſtofflichen Mitteln, wie die bildenden Künſte ſie haben, weiß die Muſik
nichts mehr, da in ihr die äußere Objectivirung der Gebilde der Phantaſie
mittelſt techniſcher Verarbeitung gegebener Elemente der Körperwelt aufgehört
2.hat. Wie das Material, in welchem die Muſik arbeitet, nur noch der innere
ideale Raum der Phantaſie des Zuhörers iſt, der ſie ihre Gebilde vorführt, ſo
3.iſt auch das Material, mit welchem ſie dieſelben erſchafft, nur noch das zwar
der Materie entlockte und durch Qualität und Structur materieller Körper
bedingte, aber für ſich immaterielle und erſt durch die eigene Thätigkeit des
Menſchen hervorgebrachte und künſtleriſch geſtaltete Element des Tons. Die
bildenden Künſte finden ihr Material vor; die Muſik ſchafft es ſich ſelbſt, in-
dem ſowohl die Erzeugung der Töne, als ihre Ordnung und Verknüpfung,
durch welche ſie ſich dazu eignen, ein brauchbares Material für die Compoſition
abzugeben, das eigene Werk der muſikaliſchen Phantaſie iſt.
[841]
1. Die Lehre vom Material iſt bei der Muſik von größerer Wichtigkeit
als bei den bildenden Künſten. Die letztern brauchen ihr Material nur als
Stoff, an deſſen Qualität ſie weit weniger gebunden ſind als die Muſik,
ſie drücken daher ihrem Stoffe mit freiem Belieben Formen und Geſtalten
auf, die anderwärts her, aus der Phantaſie oder aus der äußern Natur
(dem Naturſchönen) genommen ſind; nur die Malerei hat bereits an den
Farben ein Stoffelement von ſpezifiſch beſtimmter Eigenthümlichkeit, das ſie
nicht mit Willkür modificiren, ſondern nur verſchiedenartig benützen und
verarbeiten kann. In der Muſik dagegen beſteht das ganze künſtleriſche
Verfahren in nichts Anderem als in verſchiedenen Combinationen des
„Tonmaterials.“ Die Muſik trägt nicht ſo wie Plaſtik und Malerei ander-
wärts her genommene Geſtalten auf einen gegen dieſelben indifferenten Stoff
über, ſie errichtet nicht, wie die Architektur, aus unorganiſchen, formloſen
Maſſen ein Gebäude, deſſen Geſtalt von der Phantaſie ganz ſelbſtändig,
wenn auch immerhin mit Rückſicht auf die Beſchaffenheit des Materials,
conſtruirt iſt, ſie kann nicht objectiv bilden, nicht Geſtalten in eigentlichem
Sinne ſchaffen, ſie kann nur das Tonmaterial in Bewegung ſetzen, nur
Tonverknüpfungen verſchiedener Art hervorbringen; ihre Gebilde ſind blos
Reihen und Gewebe von Klängen, die nie zu plaſtiſcher Objectivität und
Individualität gelangen, und bei deren Hervorbringung ſie ſchlechthin ge-
bunden iſt an die Qualität des Materials ſelbſt, deſſen ſie ſich bedient, d. h.
an eine Reihe von Verhältniſſen der Intervalle, der Accorde, des Wohl-
und Mißklangs, welche in der natürlichen Gehörorganiſation ihre Grund-
lage haben und daher der künſtleriſchen Thätigkeit mit unabänderlicher Natur-
nothwendigkeit gegenüberſtehen; das Material der Muſik iſt nicht ein in-
differentes, formloſes, ſondern es hat ſchon in ſich ſelbſt eine Geſetzmäßigkeit,
eine Mannigfaltigkeit feſter, charakteriſtiſcher Formen und Verhältniſſe, welche
zwar unendlich viele und verſchiedene Toncombinationen zulaſſen und in
dieſer Beziehung der Compoſition den freiſten Spielraum gewähren, aber
ihr doch vorausgehen als gegebene Elemente, deren ſie ſich überall bedienen
muß. Wie die maleriſche Compoſition die natürlichen Farbencharaktere und
Farbenverhältniſſe einfach aus der Natur aufzunehmen hat, ſo die muſika-
liſche die natürlichen Tonverhältniſſe, ſie fußt überall auf ihnen, ſie kann
nur durch ſie wirken; in der rhythmiſchen Gliederung der Töne iſt ſie frei,
aber in der Verbindung der Töne ſelber nicht. Die muſikaliſche Compoſition
iſt blos eine mannigfaltige praktiſche Anwendung der in der Natur vor-
ausgegebenen verſchiedenartigen Beziehungen der Töne zu einander, und
die Kenntniß dieſer Beziehungen, die Kenntniß der natürlichen Beſchaffenheit
und Eigenthümlichkeit des Tonmaterials iſt daher eine weſentliche Voraus-
ſetzung für das Begreifen des Weſens der Compoſition ſelbſt, noch weit
mehr als es die Kenntniß der Farben für das Begreifen der Malerei, die
55*
[842]in der Hauptſache, in der Zeichnung vom Material frei iſt, irgend ſein
kann. — Allein dieſem Satze, daß in der Muſik „das Material die Com-
poſition bedingt,“ ſteht ebenſo auch der andere, ſcheinbar widerſprechende
gegenüber, daß nämlich das Tonmaterial durch die muſikaliſche Phantaſie
bedingt iſt, daß es durch ſie erſt zu Tage gefördert und für die Zwecke der
Compoſition zubereitet, organiſirt, künſtleriſch geſtaltet werden muß. Das
Material der Muſik iſt nicht ein einfach empiriſch gegebenes, wie bei den
bildenden Künſten, denen es der Hauptſache nach bereits zur Hand iſt,
wenn ſie ihr Werk beginnen; es iſt nur da als ein in der Natur ange-
legtes, aus ihr heraus zu entwickelndes, nicht aber als fertiges; es iſt ſelbſt
Kunſtproduct, es iſt ein Erzeugniß der muſikaliſchen Phantaſie, die an
Körpern und körperlichen Organen die Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr
wird und durch dieſe Wahrnehmung angeregt, die Töne und deren Ver-
bindungen, auf welchen die Muſik beruht, ſelbſt erſt hervorbringt, ordnet
und ausbildet. Daher namentlich die eigenthümliche Erſcheinung, daß das
muſikaliſche Material nach Umfang und Beſchaffenheit weſentlich abhängt
von dem Standpunct der Ausbildung, auf welchem die muſikaliſche Phan-
taſie ſelbſt angekommen iſt; wie die ausgebildetere Malerei ſelbſt neue Farb-
ſtoffe ſucht, um den künſtleriſchen Bedürfniſſen und Anforderungen, die auf
höhern Bildungsſtufen entſtehen, Genüge zu thun, ſo und zwar in noch
weit höherem Maaß iſt es auch bei der Muſik; es gibt Zeiten und Völker,
bei denen ein großer Theil deſſen, was wir Tonmaterial nennen, ganz
unbekannt oder doch ungenützt blieb, und daher auch die Ausbildung nicht
erhielt, deren es an ſich fähig iſt (Tongeſchlechter, Harmonie, rhyth-
miſche Formen u. ſ. w.). Das Tonmaterial muß, ehe es wirklich Material
für die Kunſt werden kann, eine Reihe von Geſtaltungen durchlaufen, die
ſich keineswegs gleich von ſelbſt verſtehen; daſſelbe iſt empiriſch zunächſt blos
gegeben als eine noch ganz unbeſtimmte, ungeordnete, innerhalb ihrer ſelbſt
beziehungsloſe Mannigfaltigkeit einer Maſſe von Einzeltönen und Klängen,
mittelſt welchen noch kein Kunſtwerk von ſchöner Form oder von beſtimmtem
Inhalt und Charakter zu Stande zu bringen wäre; dieſer chaotiſchen Ele-
mentargeſtalt muß es entkleidet und zu einem geordneten, bildſamen Ton-
ſyſtem erhoben werden; es muß z. B. Klarheit und Gefälligkeit der Ton-
folge hergeſtellt, es müſſen die charakteriſtiſchen Tonunterſchiede und Ton-
verhältniſſe, ohne die das Tonmaterial keine Möglichkeit mannigfaltiger
Combinationen und concreter Bildungen darböte, z. B. die Unterſchiede
höherer und niederer Tongebiete, die Eigenthümlichkeiten der Intervalle, die
harmoniſchen Verhältniſſe zu Tage gefördert, es muß endlich auch rhyth-
miſche Ordnung und Gliederung hinzugebracht ſein; dann erſt iſt das
Material vollſtändig da und vollkommen brauchbar. Dieß Alles, wie
namentlich die Intervall- und Harmonieverhältniſſe, iſt wohl von Natur
[843] begründet und präformirt im Weſen des Gehörs und des Gefühls, aber es
iſt damit noch nicht nothwendig auch im Bewußtſein da, es muß und
mußte Alles erſt allmälig durch jene Thätigkeit der muſikaliſchen Phantaſie
entdeckt, herausentwickelt und im Einzelnen näher beſtimmt werden. Auch
iſt dieſe der Compoſition vorausgehende künſtleriſche Geſtaltung des Ton-
materials gar nicht ſo klar in der Natur vorgezeichnet, daß ſie ſich für die
muſikaliſche Phantaſie ganz von ſelbſt, mit aller Sicherheit und Vollſtändig-
keit ergäbe. Die verſchiedenen Tonſyſteme verſchiedener Zeiten und Völker
zeigen, wie unſicher Alles wird, ſobald es ſich um das Speziellere, um den
Umfang der Tonreihe, um die normale Größe der Tondiſtanzen, um Ton-
geſchlechter und Tonarten handelt; Harmonie und (jetziger) Rhythmus ſind
großentheils eine Erfindung von ziemlich ſpätem Urſprung; natürlich iſt
Alles, aber nicht Alles iſt ſchon von der Natur empiriſch an die Hand ge-
geben und nicht Alles von ihr ſchon ſo feſt beſtimmt, daß nicht in einzelnen
Puncten abweichende Vorſtellungen ſich bilden könnten, oder wenigſtens die
naturgemäße Begründung von Dieſem oder Jenem (z. B. von unſerer
Durtonleiter) nicht hie und da ſchwierig nachzuweiſen wäre. Aus dieſem
ſchwebenden, unſichern Charakter der ſpeziellern Geſtaltung und Gliederung
des Tonmaterials entſteht für die muſikaliſche Aeſthetik die Aufgabe, nicht
nur die Beſchaffenheit des Tonmaterials, wie ſie ſich im Verlauf der Zeiten
gebildet hat, und ihre Bedeutung für die Compoſition zu analyſiren, ſon-
dern auch der Begründung, welche ſie im Weſen des Gehörs und des
Gefühls hat, nachzugehen, die akuſtiſchen und pſychologiſch äſthetiſchen
Geſetze, auf denen Alles beruht, zu erforſchen und ſo eine aus der Natur
geſchöpfte Theorie des Tonmaterials zu gewinnen.
2. Der §. berührt auch die Frage nach dem Material im zweiten Sinne
des Worts (vergl. §. 660) oder nach dem Medium, durch welches die Muſik
ihre Gebilde zur ſubjectiven Anſchauung bringt, ſie hörbar, vernehmlich
macht. Auch hier fällt alles Aeußere im Begriff des Materials weg; das
Material, in welchem die Muſik arbeitet, iſt die Phantaſie des Zuhörers
ſelbſt, welcher der Componiſt ſein Werk unmittelbar vor- oder „aufführt,“
indem er es mit den Mitteln, die er für daſſelbe gewählt, mit natürlichen
oder künſtlichen Muſikorganen, ertönen läßt. Durch die Aufführung, durch
die Umſetzung des von der Phantaſie des Künſtlers zunächſt blos gedachten
Tones in wirklichen Ton, fließt derſelbe unmittelbar über in die nachbil-
dende Phantaſie des Hörers; der Ton geht, nur flüchtig durch Stimmen
oder Inſtrumente für den Moment fixirt, von der einen Phantaſie hinüber
in die andere, ohne daß ein äußeres Medium zwiſchen beide hineinträte.
Auch hiemit trennt ſich die Muſik vollſtändig von den bildenden Künſten
und tritt auf Eine Seite mit der Poeſie, die gleichfalls nur für die Phan-
taſie arbeitet; das muſikaliſche Kunſtwerk gewinnt (§. 763) nur momentan
[844] ſubjective Exiſtenz im Geiſte deſſen, der es vernimmt; die hörende Phantaſie
muß ihm entgegenkommen, damit es zu realer Exiſtenz außer dem Geiſte
des Künſtlers gelange. Dieſes Entgegenkommen iſt zunächſt ein Verhältniß
der reinen Paſſivität, der ſchlechthinigen Empfänglichkeit; die hörende Phan-
taſie bekommt das Tonwerk nicht in einem Moment als Ganzes, als Fer-
tiges, das man überblicken, wieder bei Seite ſtellen, abermals beſchauen
kann und ſo fort, ſondern ſie bekommt es nur als ſucceſſiv ſich entfaltende
Reihe von Tonbewegungen, denen ſie continuirlich folgen, deren Vernehmung
ſie ſich ganz und unbedingt hingeben muß, nicht nur um nichts Einzelnes,
kein Glied der Reihe, ſondern namentlich um den innern Zuſammenhang
ſich nicht entgehen zu laſſen, der die einzelnen Glieder überall unter ſich
und mit dem Ganzen des „Tongewebes“ verflicht. Dieſe Paſſivität der
Hingabe an das Tonwerk wird zwar vermindert durch die Fixirung der
Töne in der Notenſchrift, welche ein freieres Ueberſchauen des Ganzen
ermöglicht; aber das wahre, den rechten Eindruck gebende Verhalten iſt
dieſes Tonleſen nicht, das Tonwerk kommt hiebei nie ganz zu derjenigen
Exiſtenz in der Phantaſie des (jetzt zum Leſer gewordenen) Hörers, die es
eigentlich haben ſoll und will; das Tempo, die verſchiedene Betonung und
Tonſtärke einzelner Stellen, der Fluß des Ganzen und der Theile, der
lebendige Zuſammenhang an jedem einzelnen Puncte, dieß Alles geht dem
Leſer mehr oder weniger verloren, und er verliert auch dadurch immer noch
etwas am vollen Eindruck, daß die nachbildende Thätigkeit der Phantaſie
durch die Verſtandesthätigkeit des fortwährenden Umſetzens der Tonzeichen
in Tonvorſtellungen gehemmt und eingeengt iſt; er verliert hiedurch noch
weit mehr als man z. B. beim Leſen eines Gedichtes einbüßt, weil das
Aufnehmen der Poeſie ſelbſt ſchon mehr zugleich Verſtandesthätigkeit iſt
und daher hier jenes Umſetzen der Zeichen in Vorſtellungen weniger ſtörend
einwirkt. Sogar das eigene Ausführen (Spielen) eines Tonſtückes, durch
welches jene Einſeitigkeit eines verſtandesmäßigen Tonleſens durch das
Hören der geleſenen oder auch aus unmittelbarer Erinnerung reproducirten
Töne wiederum einigermaßen ausgeglichen wird, iſt nicht dasjenige Ver-
halten, durch welches die Phantaſie das Kunſtwerk ganz und vollkommen
ſich aneignet; es iſt auch hier zu viel Selbſtthätigkeit, die das reine Ver-
nehmen des Gebotenen trübt, der Spieler greift ſeinem Spiel immer zugleich
vor, er iſt im Geiſt immer ſchon weiter voran als mit der Hand, die beiden
in ihm vereinigten Perſonen des Executors und des Hörers gehen doch
nicht recht zuſammen, jede greift der andern in’s Handwerk und läßt ſie
nicht frei für ſich agiren; nur wer ein Kunſtwerk durch Andere aufführt,
nur der Dirigent iſt ſo glücklich, Executor und Hörer zugleich ohne Schaden
für den Einen oder Andern ſein zu können. Oefteres Leſen und Vortragen
gleicht natürlich allmälig alle jene Mängel aus, indem durch die Wieder-
[845] holung eine ſo innige Bekanntſchaft mit dem Kunſtwerk ſich bildet, daß man
am Ende auch den ganzen vollen und lebendigen Eindruck hat, den das
paſſive Hören gewährt; aber auch dieß kommt dadurch zu Stande, daß die
allmälig erworbene genaue Kenntniß des Stückes die dem Aufnehmen hin-
derliche verſtändige Selbſtthätigkeit beim Leſen oder Vortrag mehr und mehr
entbehrlich macht und ſo dem rein empfänglichen Verhalten Raum geſchafft
wird. Die Phantaſie des Zuhörers iſt jedoch nicht in dem Sinne paſſiv,
aufnehmend, daß ſie nicht, nur in anderer Weiſe als bei eigenem Exequiren,
auch zugleich lebendig thätig ſich verhielte; ſie iſt kein todtes Material,
ſondern ſie bildet das Gehörte Schritt für Schritt nach, wie ſie beim Ge-
mälde von Geſtalt zu Geſtalt geht und damit eine concrete Anſchauung
des Ganzen gewinnt, ſie folgt den Tonbewegungen und hat daher nachher
ein Bild von ihnen in der Erinnerung, ſie faßt im Aufnehmen immer zu-
gleich ſelbſtthätig zuſammen, und von dieſem ſelbſtthätigen Zuſammenfaſſen
hängt es ab, ob das Kunſtwerk im Hörer wirklich bewußte Exiſtenz gewinnt,
ob es nicht blos in ſein Gehörorgan übergeht, ſondern auch vom Geiſte
angeeignet, als Ganzes empfunden und angeſchaut wird. Es iſt hier ein
ähnliches zweiſeitiges Verhältniß wie bei dem Tonmaterial; wie dieſes ein-
fach der Natur abzulauſchen iſt und doch ſelbſtthätig ihr erſt abgewonnen,
aus ihr heraus erſt producirt werden muß, ſo muß die hörende Phantaſie
dem Gange des Tonwerks in voller Hingebung lauſchen und ihn doch
mit bewußter Reproduction verfolgen, ſeine verſchiedenen Wendungen und
Richtungen von einander unterſcheiden und auf einander beziehen, bei allem
Einzelnen die Beziehung zum Uebrigen und zum Ganzen mitauffaſſen, ſie
hat nie blos einzelne Puncte und Knoten des Fadens, ſondern dieſen ſelbſt
überall in ununterbrochener Stetigkeit feſtzuhalten. Dieſes Auffaſſen und
Feſthalten kann natürlich bei längern, ungewöhnlichern, verwickeltern Ton-
reihen ſchwierig ſein, der Zuſammenhang, die Motivirung, das Verhältniß
eines Gliedes der Tonreihe zu einer folgenden kann möglicherweiſe unklar
und unverſtanden bleiben, weil es an Sinn für die muſikaliſchen Formen
und Verhältniſſe, an entwickelterer muſikaliſcher Phantaſie oder auch z. B.
bei dramatiſchen Werken an der erklärenden Zugabe des Wortes fehlt;
Naturanlage, Muſikkenntniß, Uebung im Auffaſſen muß da ſein, öfteres
Hören oder geradezu Studium muß zu Hülfe kommen, wenn die Phantaſie
im Stande ſein ſoll, alles Gehörte ſelbſtthätig zu verfolgen und zu begreifen.
Die andern Künſte fordern auch dieß weniger, weil ihre aus der Natur
und dem Leben genommenen oder doch analog gebildeten Geſtalten und
Schilderungen dem Bewußtſein etwas Gewohntes und Bekannteres ſind;
die Muſik aber hat ſolche objective Geſtalten nicht, ſie hat nur Geſtaltungen
des Tonmaterials, nur Verhältniſſe, Reihen, Combinationen, welchen eine
ſo unmittelbare Evidenz nicht zukommt und welche darum ſchwerer innerlich
[846] nachzuconſtruiren ſind; was bei der Architektur, Plaſtik, Malerei erſt das
Zweite iſt, das ſelbſtthätige Erfaſſen der Proportionen, des Zuſammenhangs
der Theile und Glieder, das iſt bei der Muſik das Erſte, die Bedingung,
ohne welche das Tonwerk für den Hörer gar nicht zur Exiſtenz kommt;
nur bei dem verwickeltern Drama findet etwas ganz Aehnliches ſtatt, indem
auch hier das Verfolgen des Ganges der Handlung das Allererſte iſt, was
der Zuſchauer thun muß, um das Ganze ſich ſelbſt anzueignen, — eine
Verwandtſchaft zwiſchen Muſik und Drama, die uns auch ſpäter wiederum
begegnen wird.
3. Kehren wir zum Material zurück, mit welchem die Muſik arbeitet,
und zerlegen es in ſeine Elemente, ſo iſt es zunächſt der einzelne Ton, den
ſie einem Körper durch eine von außen nach innen und von innen wieder
nach außen dringende Erregung und Erſchütterung ſeiner Moleküle abge-
winnt, um in dieſem ſchwingenden Erzittern körperlichen Stoffes die innere
Erregung des bewegten Gemüthslebens abzubilden. Ihr Material iſt ſo
nicht mehr materiell; materiell ſind nur die Mittel, die Organe, aus
welchen es zu Tage gefördert wird, es ſelbſt aber iſt ein Ideelles, ein
Dynamiſches, ein Product einer auf die Materie erregend wirkenden geiſtigen
Kraft, obwohl immer ein Ideelles, das, weil es nur aus der Materie
herauszuheben iſt, ſeiner concreten Beſchaffenheit nach durch die reelle
Qualität der Materie, durch ihre Textur, durch die Grade ihrer Elaſticität
und Beweglichkeit bedingt bleibt, ja ſelbſt erſt durch dieſes Nachklingen des
Materiellen in ihm auch für ſich concrete Qualität, beſtimmten Charakter,
eigenthümliche Farbe, Klang bekommen kann, ein Punct, an welchen ſich
ſpäter die Betrachtung der verſchiedenen Tonmittel (Inſtrumente) anknüpfen
wird. Um dieſer ſeiner ideellen, dynamiſchen Natur willen iſt der Ton auch
nur vorhanden, ſofern er ſtets auf’s Neue producirt, d. h. der für ſich
ſtummen Materie, wie der leuchtende Funke dem harten Stein durch An-
ſchlagen entlockt wird; der Ton iſt eine Sprache des Innern, welche dieſes
ſelbſt bildet, eine Sprache, welche das Innere unmittelbar aus dem eigenen
Organismus hervortreibt in der Menſchenſtimme, und die es ebenſo auch
aus der außermenſchlichen Natur hervorzutreiben weiß; die Muſik ſetzt die
Materie in eine Bewegung, die dem Gemüthe des Menſchen gehorcht, leiht
ihr Rede und Stimme, aus welcher dem Geiſt ſein eigenes Leben und
Bewegen wie ein wunderbares Echo entgegentönt. Der Satz, daß der Ton
nur iſt als ein Producirtes, Selbſtgeſchaffenes, gilt ſodann insbeſondere
auch von ſeiner beſtimmtern Qualität, wie er ſie haben muß, um einen
für die Kunſt brauchbaren Stoff abzugeben; die Erzeugung diſtincter und
reiner, voller und ſchöner, ſtärkerer und ſchwächerer Einzeltöne iſt bedingt
durch Aufmerkſamkeit des Gehörs und kommt zu Stande durch eine die
Forderungen deſſelben realiſirende Kunſtfertigkeit, ſei es nun des Sängers
[847] oder Spielers oder des Künſtlers, der muſikaliſche Inſtrumente fertigt; kurz,
es verhält ſich mit dem Einzeltone gerade ſo wie mit dem Tonmaterial
überhaupt, er iſt bereits Kunſtproduct, welchem die Natur vorarbeitet, das
aber erſt durch freie Phantaſiethätigkeit gewonnen wird.
§. 768.
Der Ton wird hervorgerufen durch regelmäßige Schwingungen eines1.
elaſtiſchen Körpers. Mit der verſchiedenen Geſchwindigkeit, in welcher die
einzelnen Schwingungen auf einander folgen, ſind die Unterſchiede der Höhe
und Tiefe der Töne gegeben. Empfindbar wird die Höhe eines Tons im2.
Verhältniß zu andern durch unbewußt vergleichende Auffaſſung der Zahl der
Schwingungen, welche während ſeiner Dauer den Hörnerv getroffen haben,
ſowie durch den qualitativ verſchiedenen Eindruck, welchen höhere und tiefere,
aus ſchnellern und langſamern Schwingungen entſtehende Töne auf das Gehör-
organ hervorbringen. Der Höhenunterſchied trennt jedoch nicht blos einzelne3.
Töne von einander, ſondern er theilt auch die ganze Tonmaſſe ab in ver-
ſchiedene, höhere und niederere Tonlagen und Tongebiete, durch deren
gegenſätzliche Beziehungen zu einander zuerſt ein Element charakteriſtiſchen
Unterſchiedes innerhalb des Tonmaterials hervortritt.
1. Die Natur kennt keine abſolute Starrheit und Ruhe. Das Gleich-
gewicht der Theile eines Körpers kann durch äußere Einwirkung aufgehoben
werden, und zwar entweder bleibend oder vorübergehend; nach geringen
Störungen ſtellt es ſich von ſelber wieder her: die Körper erweiſen ſich
elaftiſch. Ein Anſtoß von außen iſt im Stande einen Körper im Innerſten
erbeben zu machen; die zunächſt getroffenen Moleküle weichen aus, kehren
zurück, erhalten ſich einige Zeit in dieſer oscillirenden Bewegung und theilen
ſie zugleich den benachbarten Theilchen mit, ſo daß die Oscillation ſich
durch die Geſammtmaſſe des Körpers fortpflanzt, zuweilen ihn als Ganzes
in ſichtbare Erſchütterung verſetzt, ja ſelbſt noch auf andere ihn berührende
Körper ſich überträgt, insbeſondere auf die umgebende Luft und durch deren
Vermittlung auf unſer Gehörorgan; der irritirte Hörnerv ſchlägt die räthſel-
hafte Brücke zwiſchen Außen- und Innenwelt und läßt uns jenes Erzittern
als Schall vernehmen. Zum Ton veredelt ſich der Schall, wenn die
Schwingungen des Körpers regelmäßig erfolgen, d. h. in gleichen Zeit-
abſchnitten, in gleichem Rhythmus ſich wiederholen; erſt mit dieſer Regel-
mäßigkeit wird der Schall ein meßbares, den Eindruck einer beſtimmten
„Höhe“ oder „Tiefe“ gebendes und damit die Phantaſie klar und deutlich
anſprechendes Tönen, erſt mit dem Eintreten der Regel, des Ebenmaßes
beginnt die Muſik. Je kürzer die Zeitdauer einer Schwingung, je ſchneller
[848] die Geſammtbewegung iſt, deſto höher der Ton. Soll ein Ton dem Ohre
überhaupt noch wahrnehmbar ſein, ſo dürfen nach neuern Unterſuchungen
auf die Secunde nicht weniger als 8 und nicht mehr als 24000 (nach
Andern 36000) Schwingungen treffen; faßlich aber, d. h. nach Tiefe und
Höhe genau beſtimmbar, iſt der Ton nur zwiſchen den Grenzen von 16
Schwingungen und ungefähr 8500 Schwingungen in der Secunde (wobei
unter einer Schwingung hier die doppelte Zurücklegung des kleinen Wegs
verſtanden iſt, den die Theilchen des Körpers in abwechſelnd entgegengeſetzter
Richtung beſchreiben); das jetzt gewöhnliche Tonſyſtem geht über die Grenzen
von 16 und 4200 nicht leicht hinaus; Zahlen, immer noch weit genug von
einander entfernt, um nicht nur einer großen Zahl von Einzeltönen zwiſchen
ſich Raum, ſondern auch dieſe Einzeltöne ſich ſelbſt wiederum zu verſchieden-
artigen, dem oberſten und unterſten klaren Tone näher oder ferner liegen-
den, „hohen, tiefen und mittlern“ Tongebieten ſich gruppiren zu laſſen.
2. Die Höhenunterſchiede zwiſchen den Einzeltönen (die Intervalle der
Töne) beſtimmen ſich nach dem Verhältniß ihrer Schwingungsgeſchwindig-
keiten zu einander; dieſes Verhältniß faßt (§. 762. Anm.) das Gefühl
mittelſt unbewußten Vergleichens auf und erhält ſo den beſtimmten Eindruck
der größern oder kleinern Diſtanz zwiſchen beiden. Anzunehmen iſt übrigens,
daß dieſes Wahrnehmen der Höhe und Tiefe des Tons zugleich unterſtützt
iſt durch das qualitative, dynamiſche Moment der verſchiedenen,
mehr oder weniger ſcharfen Einwirkung, welche das Gehörorgan von den
verſchiedenen Tonſchwingungen erfährt. Die Alten wußten, weit richtiger
als wir, nichts von „hohen und tiefen,“ ſondern von „ſcharfen,“ akuten
und „ſchweren“ (ſtumpfen, dumpfen, weniger beweglichen) Tönen; in der
That, „höher und tiefer“ ſind nur uneigentliche, auf das Liegen aller Töne
in Einer ſtetigen Scale zwar paſſend hinweiſende, aber doch blos bildliche,
zufällige Bezeichnungen. Die ſchnelle Vibration des tönenden Körpers ver-
ſetzt auch das Gehörorgan in eine ſchnellere, gereiztere, ſchärfer ein-
ſchneidende Bewegung als die langſame (daher denn auch die „hohen“
Töne auf das Nervenſyſtem angreifender wirken als die mehr breiten,
ruhigen Töne der tiefern Lagen). Bei langſamer Schwingung ſteht der
Körper ſeinem Zuſtande der Ruhe, in welchem er tonlos iſt, d. h. der Ton-
loſigkeit ſelbſt noch näher, und der Ton behält daher, je „tiefer“ er iſt,
deſto mehr den Charakter geringerer Erregung der Elaſticität, geringerer
Schärfung des Klanges, womit auch der noch mehr materielle und elemen-
tariſche, weniger diſtincte, dem dunkeln Tiefen vergleichbare Laut dieſer Töne
zuſammenhängt. Je ſchneller aber die Schwingung, je raſcher der elaſtiſche
Körper aus dem Gleichgewicht ſeiner Theile geriſſen wird, je krampfhafter
er in ſich zuſammenzittert, deſto mehr empfängt auch die Empfindung den
Eindruck eines verſchärften, verdünnten, ſich mehr und mehr zuſpitzenden
[849] Erklingens; der hohe Ton iſt eben der geſchärftere und darum auch diſtinctere,
die materielle Schwere immer mehr abſtreifende, freiere, idealere, geflügeltere
und darum „höher“ erſcheinende Ton; ja — was für Späteres von Wich-
tigkeit iſt, — der hohe Ton iſt die eigentliche Realiſation des Tones, der
eigentliche Gegenſatz zur Tonloſigkeit, in der Reihe der hohen Töne realiſirt
ſich in immer ſteigender Entſchiedenheit das, was eben den Ton ausmacht,
die Herauspreſſung des Klanges aus der an ſich ſtummen Materie durch
ſchnelle Erſchütterung ihrer Theile, die Muſik iſt weſentlich Aufſteigen
aus der tonloſen Tiefe zu immer ſchärfern oder höhern Tönen, die auf-
ſteigende Bewegung iſt eben die tonerzeugende und darum das eigentlich
Lebendige, Schöpferiſche, ſich Bewegende an der Muſik, die abſteigende
Bewegung iſt nur die Rückkehr zu geringerer Volubilität des Tons, ſie iſt
bereits das Aufhören, das beginnende Verklingen, ſie iſt das Ende, wie
das Aufſteigen der Anfang und der lebendige Fortgang iſt. Dieſe Unter-
ſchiede des mehr oder weniger Scharfen fühlt die Gehörempfindung unmittel-
bar; wie die Töne an ſich ſelbſt verſchieden ſind, ſo iſt auch ihr Eindruck
an ſich ſelbſt ein verſchiedener und gibt ſich auch dem vergleichenden Hören
von ſelbſt als ein verſchiedener zu erkennen, obwohl weiterhin Reflexion
und Uebung dazu gehört, das beſtimmtere Verhältniß der Stumpfheit und
Schärfe (Tiefe und Höhe) zwiſchen einzelnen Tönen ſicher wahrzunehmen.
3. Die äſthetiſche Bedeutung der höhern und tiefern Töne und
Tonlagen für die muſikaliſche Kunſt iſt ſchon §. 752 erörtert. Das dort
Gegebene erhält nun hier eine noch genauere, aus dem Weſen der Ton-
erzeugung hergenommene Begründung. Die höhern, geſchärftern, der
materiellen Schwere entfliehenden, ideellern Töne ſind es, in welchen ſich
die „gelöste Subjectivität“ (ſ. d. §.) bewegt, zu denen ſie aufſteigt im
Jubel der Freude, wie in der ringenden, einen Ausweg ſuchenden Ver-
zweiflung des Schmerzes; die höhern, diſtinctern, freiern Töne ſind es, in
welchen ſich in der Regel die Melodie, die den klaren Ausdruck der Be-
wegtheit einer Stimmung gebende Aneinanderreihung von Tönen, bewegt,
wogegen die tiefern die ruhige elementare Grundlage jenes bewegten Auf-
und Abſteigens, die ſubſtantielle Baſis der zum Höchſten hinanſtrebenden
Subjectivität zu bilden haben. Wohl können in beſondern Fällen auch die
obern Töne die Rolle der untern übernehmen, indem die Töne der Harmonie
in ſie hinauf verlegt werden, während eine tiefere Stimme die Melodie über-
nimmt. Aber es hat dieß immer ſeinen ſpeziellen Grund und kann nicht
die Regel ſein, es tritt dann ein, wenn die Begleitung einer Baßmelodie
oder Paſſage es nicht anders geſtattet, oder wenn der Componiſt in einem
größern Tonſtück eine Melodie abwechſelnd in mannigfaltigen Tonlagen
auftreten laſſen will, oder erfüllt es den Zweck, einer Melodie bei ihrem
erſten Erſcheinen, z. B. im Anfang einer Symphonie, einen noch ruhigern,
[850] unentwickeltern, dumpfern Charakter zu geben und ſie erſt, nachdem ſie ſich
ſo zuvor in der dunkeln Tiefe geregt, zu ihrer eigentlichen Region der hohen
und klaren Töne aufſteigen zu laſſen; die Begleitung höherer Töne dient
in ſolchen Fällen dem Bedürfniß deutlicher Harmoniſirung ſowie der Vor-
bereitung der höhern Lagen, in welche nachher die Melodie ſelbſt empor-
gehoben wird. Die Melodie kann aber auch ohne eine ſolche Begleitung
höherer Töne in tiefern Lagen erſcheinen, und zwar entweder ganz ohne alle
Begleitung oder mit einer noch tiefern als ſie ſelbſt es iſt; hier, wo das
höhere Element ganz fehlt, iſt es vorzüglich der Charakter des ruhigern,
gefaßtern, ahnungsvollen, feierlichen, drohenden Ernſtes, oder auch bei be-
wegtern Tonſtücken des Wühlens, Arbeitens in der Tiefe, des Ankämpfens
gegen eine Gebundenheit, Schranke, Feſſel, was durch dieſe Verlegung der
Melodie in tiefere Lagen (z. B. im Uebergang zum Finale der Beethoven’-
ſchen Cmoll-Symphonie) hervorgebracht wird.
Der Begriff der Tonlage führt über zu dem der Tongebiete, d. h. der
Hauptregionen oder (mit Beziehung auf einzelne in einer ſolchen Tonregion
ſich bewegende Menſchenſtimmen, Inſtrumente) der Hauptſtimmen, in welche
die ganze Reihe der Töne in Bezug auf Höhe und Tiefe zerfällt. Eine
anſehnliche Reihe niederer Töne theilt mit dem niederſten immer noch im
Ganzen den Charakter des Dumpfen, Breiten, Tiefen; daſſelbe iſt der Fall
in den oberſten Lagen und ſo treten zunächſt zwei weſentlich verſchiedene
Tongebiete einander gegenüber, die tiefe und hohe Region, Baß und
Sopran, jener dumpf, ſchwer, unbehülflicher, aber ernſt, kräftig gehalten,
männlich ſubſtantiell, dieſer hell, leicht, fein, jugendlich weiblich, anmuthig,
beweglich und weich, ebenſo aber auch für das Scharfe, Durchdringende,
Einſchneidende weſentlich geeignet. Die Mittelregion zwiſchen beiden
theilt ſich ſelbſt wiederum in zwei Gebiete, deren jedes den Charakter der
höchſten und niederſten Region in ſich auf intereſſante Weiſe vereinigt dar-
ſtellt. Der Tenor iſt dem Sopran gegenüber tief, dem Baſſe gegenüber
ſelbſt wieder Sopran mit allen Eigenſchaften deſſelben, nur mit Ausnahme
des Einſchneidenden, das ihm natürlich fehlt, ſo daß vorzugsweiſe das
Helle, Weiche, Freie im Verein mit Männlichkeit, aber freilich ohne die
ſubſtantielle Tiefe und Kraft, an ihm hervortritt. Der Alt iſt der Baß
des Soprans, das Weibliche ohne das Kindlichjugendliche und Scharfe,
das anmuthig Runde, Volle, das Weiche und doch Ernſtere und Kräftigere.
Am ſprechendſten treten dieſe Gegenſätze und Beziehungen hervor bei der
Menſchenſtimme, bei welcher ſie durch die ihnen entſprechenden Alters- und
Geſchlechtsunterſchiede noch klarer als ſie es an ſich ſchon ſind in’s Licht geſetzt
werden; aber auch bei den Inſtrumenten kehren ſie wieder, ſo daß einerſeits
jedes Inſtrument von beſonders großem Umfange eine Scala dieſer charak-
teriſtiſchen Höhenunterſchiede, oft mit ganz merkwürdiger Aenderung der
[851] Klangfarbe, durchläuft und andererſeits unter den beſchränktern Inſtrumenten
jedes vorzugsweiſe den Charakter der einen oder andern Tonregion eigen-
thümlich darſtellt. Eine Beſchränkung der Muſik auf die eine oder andere
Region, eine Ausſchließung z. B. der höhern Stimmen vom Geſange, wie
ſie bei den Alten wenigſtens Regel war, bringt in das Tonmaterial eine
Einförmigkeit, welche die freie Bewegung der Muſik nur hindern kann.
So wenig das andere der neueſten Zeit angehörige Extrem, die unnöthige,
gewaltſame und unnatürliche Hinaufſchraubung des Geſangs zu ſchrillenden
und zirpenden Hochtönen irgend zu entſchuldigen iſt, da der Umfang des
Tonſyſtems, wie er früher gewöhnlich angenommen wurde, in der That
einer Muſik von Geiſt und Inhalt Raum genug verſtattet, um die mannig-
fachſten Differenzen und Gegenſätze der Tonhöhe anzuwenden: ſo wenig iſt
es zu billigen, wenn dieſer Raum nicht wirklich benützt wird; erſt hiemit
bekommt die Muſik Farbe und Contraſt, Leben und Mannigfaltigkeit.
Natürlich muß nicht in jedem einzelnen Tonwerke dieſe Verſchiedenheit der
Tonlagen und Tonregionen zur Anwendung kommen; es gehört zur
Mannigfaltigkeit der Muſikformen ſelbſt wieder, daß es auch Stücke gebe,
welche in engern Grenzen, ja in nur ganz wenigen Tönen ſich bewegen,
um damit Ruhe, Anſichhalten oder Aehnliches auszudrücken; aber ſolche
Stücke können nur eine einzelne und zwar untergeordnete Art der Muſik
bilden, die vielmehr eben in der Gegenüberſtellung, dem Wechſel, dem ein-
ander Antworten, dem zu einem Ganzen Zuſammenwirken der verſchiedenen
Stimmgebiete ihre eigenthümliche Belebtheit, Kraft und Fülle gewinnt.
Von ſelbſt verſteht es ſich, daß ſowohl der Contraſt als das Ent-
ſprechen und Zuſammenwirken der verſchiedenen Stimmen nur möglich iſt,
wenn die vier Tongebiete nicht beziehungslos auseinander fallen, ſondern
neben aller Beſonderheit wiederum in einem Verhältniß der Toneinheit, des
Zuſammenklingens zu einander ſtehen; wie dieſes ſich bildet, zeigt der nächſte
Paragraph.
§. 769.
Zwiſchen den dem Ohre noch vernehmlichen Grenzen der Höhe und Tiefe1.
liegt an und für ſich eine unendliche Menge von Tönen, welche den Abſtand
zwiſchen beiden Endpuncten in ſtetiger Aufeinanderfolge, in unendlich kleinen,
fließenden Unterſchieden von einander ausfüllen. Aber die muſikaliſche Phan-
taſie, geleitet durch die natürlichen Forderungen des Gehörſinns, greift, um
diſtincte Töne zu erhalten, aus jener unendlichen ſtetigen Reihe eine endliche
discontinuirliche Reihe neben einander liegender höherer und niederer Tonſtufen
in der Art heraus, daß zwiſchen der tiefern und der nächſtliegenden höhern
Stufe zwar kleine, aber doch deutlich anſprechende Unterſchiede der Lage
(Intervalle) entſtehen, die ſich ſelbſt wieder in weitere und engere, Ganz- und
[852]2.Halbtöne, theilen. Innerhalb dieſer Reihe, durch deren klare und gleichartige
Gliederung das Reich der Töne bereits zu einem geordneten Ganzen, zum
Tonſyſtem, erhoben iſt, treten aber auf Grund des natürlichen mathematiſchen
Verhältniſſes der Töne zu einander auch noch weitere, jene Gliederung erſt
wahrhaft vollendende Intervallverhältniſſe hervor, Verhältniſſe theils der Ein-
heit (Einſtimmigkeit), theils der mehr oder weniger ſpezifiſchen Zuſammen-
gehörigkeit entfernterer Töne unter ſich, das Verhältniß der Octave einer-,
das der Quint, Quart und großen Terz andererſeits, während den andern
größern Intervallen, Sext, Septime, kleiner Terz eine gleich ſpezifiſch aus-
geprägte Beziehung ihrer Töne zu einander nicht zukommt.
1. Vom unterſten bis zum oberſten wahrnehmbaren Tone ließen ſich,
wenn man die Höhenunterſchiede zwiſchen den Einzeltönen unendlich klein
nähme, unzählige Zwiſchenſtufen denken; es iſt aber klar, daß die Unter-
ſchiede der einander nächſtliegenden Töne deſto unbemerkbarer und unerfaß-
barer werden, je weniger ſie von einander abſtehen, und daß daher nicht
Kleinheit, ſondern eher Größe der Intervalle muſikaliſches Geſetz iſt. Zu
kleine Intervalle können weder allgemein deutlich vernommen, noch vom
ausübenden Muſiker leicht und ſicher hervorgebracht werden; ihr Gebrauch
würde allen Eindruck des Hellen, Durchſichtigen, Freien unmöglich machen;
wenn die Tonreihe in eine zu große Zahl kleiner Tonſtufen ſich zerſplittert,
ſo ſind die Nachbartöne einander zu nahe, die diſtantern durch zu viele
Zwiſchenſtufen von einander getrennt, ſowohl der klare Unterſchied als die
nähere Beziehung der Töne zu einander iſt aufgehoben. Manche Völker
des Alterthums, auch die Griechen, haben allerdings einen Werth auf kleine
Intervalle gelegt und daher neben dem Fortgang durch Ganz- und Halb-
töne auch den durch Viertelstöne für ſchön und effectreich gehalten, die ſo-
genannte enharmoniſche Tonleiter; aber eine ſolche Tonfolge kann doch nur
eine ſehr bedingte Anwendung finden, ſie würde bei längerem Gebrauch
wegen der Anſtrengung des Unterſcheidens der Intervalle, ſowie wegen des
Umſtandes, daß die Tonreihe in ſo ganz kleinen Abſätzen vorwärts rückte
oder vielmehr ſchliche, auf Gehör und Phantaſie theils unnatürlich ſpannend
und überreizend wirken, theils den Eindruck einer gedehnten, unklar gedrückten
und gepreßten Bewegung hervorbringen. Eine ſolche einerſeits nervös auf-
regende, andererſeits keinen freien und klaren Aufſchwung geſtattende Muſik
kann natürlich nur da Platz finden, wo das Bewußtſein noch nicht zu
wahrer Geiſtigkeit und Freiheit gekommen, ſondern noch mit einer ſinnlichen
Beſtimmtheit des Fühlens behaftet iſt, die auf der einen Seite heftige Er-
regung will, auf der andern einem trüben und dumpfen Empfinden ſich
nicht zu entwinden im Stande iſt. Bemerkenswerth iſt es in dieſer Be-
ziehung, daß dieſelben Völker, welche enharmoniſche Tonfolgen im Gebrauche
[853] haben (z. B. auch Araber, Aegypter, Hindus), zugleich diejenigen ſind, bei
welchen nicht das melodiſche und harmoniſche, ſondern das aufregende
rhythmiſche Element der Muſik vorherrſcht, noch mehr aber, daß ihr Ton-
ſyſtem nach Umfang der Höhe und Tiefe ein enges und beſchränktes iſt und
daher auch aus dieſem Grunde keinen Raum hat für gehörige Klarheit und
Mannigfaltigkeit der Töne; dieſe wird ja nur da möglich, wo das Ton-
ſyſtem nach beiden Seiten, nach oben und unten, hinlänglich ausgedehnt
iſt, um für alle möglichen hohen und tiefen und eben hiedurch beſtimmt von
einander geſchiedenen Tongattungen Platz zu bieten. Weite Ausdehnung
des Tonſyſtems bis zu den Grenzen des klar Vernehmlichen und innerhalb
dieſer Ausdehnung klare und diſtincte, einfach und mühelos hervorzubringende
und zu erfaſſende Diſtanzen der Nachbartöne, dieſes zuſammen erſt macht
natürlich und deutlich anſprechende, geſundkräftige, lebendigfreie und reich
gegliederte Muſik möglich; wie die Sprache des lebendig erregten Menſchen
nicht in continuirlicher Tonerhöhung und Tonverminderung auf- und ab-
gleitet, ſondern in freiem Schwunge klar geſchiedene höhere und niederere
Tonlagen ergreift, ſo auch die Muſik; es gibt für Gehör und Verſtand
nichts Widrigeres als eine ſtetige Hinauf- oder Herabſchiebung des Tones,
wie eine ſolche z. B. beim Stimmen einer Saite oder bei dem eben durch
dieſe Stetigkeit uns unausſtehlichen Hundegeheul ſtattfindet. Nur ſo viel iſt
hiebei zu fordern, daß die Diſtanzen der Einzeltöne nicht eine Weite haben,
bei welcher eine enge und fließende Verbindung derſelben unmöglich wäre.
Es iſt ein nicht minder weſentliches Geſetz, daß von jedem Tone nach
beiden Seiten ein fließender Uebergang in eine andere Tonſtufe möglich ſei,
weil Einheit des Mannigfaltigen nicht minder ein Poſtulat der Kunſt iſt
als die Mannigfaltigkeit; in dieſem Sinne muß das Tonſyſtem allerdings
eine continuirliche Reihe ſein ohne Lücken und Entfernungen, die nur eine
ſprungweiſe Hinundherbewegung auf ihm geſtatten würden. Dieſem Be-
dürfniß enger Verbindung und fließenden Uebergangs dienen in unſerem
Tonſyſtem namentlich die Halbtöne, die nicht nur zwiſchen den Ganz-
tönen überall nach freiem Belieben eingeſchaltet werden können, ſondern
auch längſt durch naturgemäße Praxis eine feſte Stellung auf gewiſſen
Stufen der Tonleitern angewieſen erhalten haben; durch ſie tritt dem
Momente klarer Diſtinctheit das ebenſo unentbehrliche der engen und
ſtetigen Verknüpfung ergänzend zur Seite, freilich immer in untergeordneter
Bedeutung, da der weniger klare, freie, gehobene Fortgang durch Halbtöne
nicht der vorherrſchende ſein kann.
2. In Betreff des im §. über die weitern weſentlichen Intervallver-
hältniſſe Geſagten iſt zunächſt auf die unmittelbare acuſtiſche Erfahrung
und ſodann auf die Ergebniſſe der Phyſik zu verweiſen, welche Dem, was
das Gefühl vom Tonſyſteme fordert, vielfach eine ſo ſchöne Beſtätigung
[854] geben. Wie es eine Thatſache iſt, daß im Sprechen, im Rufen, im natürlichen
Singen der Fortgang durch mindeſtens den Halb- und Ganztönen ent-
ſprechende Tondiſtanzen dem menſchlichen Gefühl ganz von ſelbſt nahe liegt,
ſo iſt es eine nicht minder gewiſſe Thatſache, daß auch gewiſſe größere
Intervalle für Gehör und Gefühl etwas ganz beſonders Einleuchtendes,
Faßliches, charakteriſtiſch Anſprechendes haben. Für’s Erſte nämlich begegnen
uns im Tonſyſteme höhere und niederere Töne, die für uns doch qualitativ
ganz dieſelben ſind, an denen wir keinen Unterſchied mehr wahrnehmen als
eben den quantitativen Unterſchied des Höhern und Tiefern, ſo daß es oft
ſchwer wird ſie auseinander zu halten, namentlich wenn ſie von verſchie-
denen muſikaliſchen Organen angeſchlagen werden, — die eintönigen,
uniſonen, ſogen. Octaventöne. Es treten ebenſo zweitens höhere und
niederere, nur etwa um die Hälfte des Octavenintervalls von einander
entfernte Töne auf, die wir zwar als qualitativ verſchieden empfinden, die
aber deßungeachtet untrennbar zuſammen zu gehören ſcheinen, indem das
Ueberſetzen von einem auf den andern und nicht minder das wechſelnde
Hinundhergehen zwiſchen beiden, ja ſelbſt das Fortgehen vom einen auf
den andern durch das ganze Tonſyſtem aufwärts uns durchaus leicht und
natürlich iſt, ja wenn einmal begonnen faſt geboten erſcheint, — die ſogen.
Quintentöne. Setzen wir einen beſtimmten Ton als Anfang einer
Octavenreihe (als Grundton), ſo ergibt ſich zudem das weitere Reſultat,
daß die über demſelben liegende Quint ſowohl beim Aufſteigen als beim
Abſteigen zwiſchen dem Grundton und ſeiner Octave als natürlicher Ver-
mittlungston ſich darbietet, der das Treffen der Octave weſentlich erleichtert
(was die andern Zwiſchentöne nicht thun), ſowie daß der Fortgang von
der Quint zur Octave des Grundtons hinauf für das Gefühl doch äſthetiſch
anſprechender und gefälliger iſt als der obige Fortgang von Quint zu
Quint u. ſ. f. Ein drittes ähnliches Verhältniß findet endlich innerhalb des
Quintenintervalls ſtatt bei der ſogen. großen Terz. Die große Terz des
Grundtons führt von letzterem ähnlich zur Quint hinüber, wie dieſe vom
Grundton (Prim) zur Octave, ſie iſt gleichfalls von jenem aus leicht zu
treffen, leichter z. B. als der auf ihn nächſtfolgende Nachbarton (die
Secund). Nur dadurch unterſcheidet ſie ſich weſentlich von der Quint, daß
der Fortgang in großen Terzen auf- und abwärts nicht mehr natürlich,
vielmehr ohne beſondere Aufmerkſamkeit und Tendenz ganz unvollziehbar iſt.
Auf die große Terz folgt naturgemäß vom Grundton aufwärts nicht wieder
eine große Terz, wie Quint auf Quint folgen kann, ſondern naturgemäß
folgt die Quint des Grundtons, die von ſeiner großen Terz etwas weniger
weit, nur um eine ſogen. kleine Terz abſteht; das Terzenintervall findet ſonach
im Quintenintervall ſeinen ergänzenden Abſchluß, es bleibt dieſem unter-
geordnet, die große Terz iſt nicht ſo wie die Quint Hauptton innerhalb
[855] der Octave, ſondern ein die Quint vorbereitender und die Quintdiſtanz aus-
füllender Vermittlungston, ein Verhältniß, das in dem Namen Dominante
für Quint, Mediante für Terz paſſend ausgedrückt iſt. Vergleichen wir
dieſe drei Hauptintervalle, ſo iſt das Octavenintervall einerſeits das ein-
fachſte und faßlichſte, andererſeits das ſelbſtändigſte, am meiſten in ſich
befriedigte, ſofern der Fortgang von Octave zu Octave nichts Wider-
ſprechendes, Unbehagliches an ſich hat, ſondern ganz natürlich und an-
ſprechend iſt; in zweiter Linie ſteht das Quintenintervall, es iſt bei aller
Natürlichkeit doch weniger ſelbſtändig, weil das Gefühl, nachdem die Quint
angeſchlagen iſt, doch hierauf den Grundton oder ſeine Octave lieber hört
als eine zweite Quint, wie wenn es aus dem durch die Quint geſetzten
Unterſchied wieder zur Einheit, zum Tone, von dem es ausgegangen, zurück-
ſtrebte; in dritter Linie endlich das Terzintervall, ſofern es der Quint
ähnlich untergeordnet iſt wie dieſe der Octave.
Mit allen dieſen Sätzen, welche die unmittelbare muſikaliſche Erfahrung,
Beobachtung, Singpraxis an die Hand gibt, treffen nun, zum Beweiſe, daß
hier keine Willkür ſtattfindet, die Entdeckungen der Phyſik über die mathe-
matiſchen Verhältniſſe dieſer Intervalle ſehr ſignificant zuſammen. Die
Octave entſteht, wenn auf 1 Schwingung des untern Tons 2 des obern
kommen, wenn z. B. eine Saite um’s Doppelte ſchneller als eine andere
ihr ſonſt gleiche erregt wird; bei der Quint kommen auf 2 Schwingungen
unten 3 oben, bei der großen Terz 5 obere auf 4 untere. Bei der Octave
alſo ſchwingt der obere Ton im Verhältniß zum untern mit 2facher, bei
der Quint mit 1 ½facher Schnelligkeit; in der Octav iſt die Dauer der
einzelnen obern Schwingung 2 mal, bei der Quint 1 ½mal kürzer als die
der untern. In der Octav kehrt alſo ganz daſſelbe Schwingungsverhältniß
wieder, wie bei der Prim, daſſelbe nur verdoppelte Schwingungstempo,
es iſt qualitativ ganz dieſelbe Erregung des Gehörorgans, nur um’s
Doppelte (4fache, 8fache u. ſ. f.) geſchärft. Am nächſten verwandt iſt das
Schwingungs- und Erregungsverhältniß bei der Quint, indem hier zwar
nicht Verdoppelung, aber 1 ½fache Beſchleunigung der Bewegung ſtattfindet,
welche zwiſchen der einfachen und gedoppelten in der Mitte liegt. Nicht ſo
ganz einfach verhält es ſich bei der großen Terz, welche merkwürdiger Weiſe
von den Alten, ja bis tief in’s Mittelalter hinein für ein (beim Zuſam-
menklang) nicht conſonirendes Intervall gehalten wurde, während ſie uns
ſchlechthin wohlgefällt. Ein ſo natürlich ſich von ſelbſt aufdrängendes
Mittelglied, wie die Quint zwiſchen den beiden Octaventönen, iſt ſie aller-
dings nicht, weder dem acuſtiſchen Eindruck noch dem Zahlenverhältniß nach;
das Verhältniß 4 : 5 hat keine nähere Analogie zu 2 : 3, wie dieſes ſie hat
zu 2 : 4 (1 : 2); blos die Aehnlichkeit findet ſtatt, daß wie in der Quint
den geraden Bewegungszahlen der Octaventöne eine ihnen nächſtliegende
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 56
[856]ungerade Bewegungszahl, alſo ein in letzterer Beziehung weſentlich ver-
ſchiedenes Bewegungsverhältniß entgegentritt, ſo auch bei der Terz daſſelbe
der Fall iſt, jedoch mit dem Unterſchied, daß die Bewegungsdifferenz geringer
und daher die Diſtanz zwiſchen Prim und Terz eben nur ſo groß iſt, um
der letztern eine Mittelſtellung zwiſchen Prim und Quint anzuweiſen —
weßwegen wohl den Alten die Terz als nicht ſcharf und diſtinct genug
erſchien. — Dieſes Zuſammentreffen der acuſtiſchen Faßlichkeit und Gefällig-
keit der Intervalle mit den mathematiſchen Geſchwindigkeitsverhältniſſen iſt
gewiß nicht zufällig. In der Octav empfindet das Gefühl daſſelbe Bewe-
gungsverhältniß wie im Grundton, es hat hier die Befriedigung in beiden
Tönen eine durchaus gleichartige Erregung wiederzufinden, auf der es wie
auf einem Ruhepunct ſtillhält, wenn es ſie erreicht hat; in der Quint
findet es ſich halbwegs der Octave zu gehoben, wie der rechnende Verſtand
in der Zahl 3 die Mitte zwiſchen 2 und 4, das mit ſeiner Hälfte vermehrte
(anderthalbfache) Zwei erkennt, das nur noch ein zweites Mal mit ſeiner
Hälfte vermehrt werden darf, um die Zahl Vier zu haben; in der Terz
findet immerhin eine ähnliche Erhebung zur Quint hin ſtatt, wie in dieſer
zur Octave. Sehr einfach, mathematiſch einfacher noch als das der Terz
iſt das Zahlenverhältniß der Quart, nämlich 3 : 4. Die Quart iſt ver-
möge dieſes Verhältniſſes das Intervall zwiſchen der Quint (3) und der
obern Octave (4) des Grundtons (2), und ſie ſteht daher zur Quint in
engſter Beziehung, ſie füllt mit ihr zuſammen die Octavenreihe aus; aber
ſie hat doch nicht gleiche Bedeutung mit ihr; vom Grundton aus führt die
Quart nicht zur Octave hin, wie die Quint es deßwegen thut, weil die
1 ½fache Beſchleunigung zwiſchen der einfachen Geſchwindigkeit (Grundton)
und der verdoppelten (Octavton) in der Mitte oder mit beiden in gleicher
Reihe liegt; auch der Terz kommt ſie inſofern nicht gleich, als ſie nicht
wie dieſe vermittelnd zu einem Hauptintervall, wie die Quint, hinführt;
die Quart iſt ein ſehr natürliches, befriedigendes Intervall, aber ſie iſt von
der Prim einerſeits zu entfernt, um ſo anſprechend wie die Terz auf ſie zu
folgen, und andererſeits ihr noch zu nah, um durch ſie zur Octav empor-
zuſteigen. — Weniger einfach ſind die Schwingungszahlverhältniſſe der
übrigen größern Intervalle. Bei der kleinen Terz, die in ähnlicher Weiſe
die große Terz zur Quint ergänzt, wie die Quart dieſe zur Octave, iſt das
Verhältniß 5 : 6, bei der großen Sext 3 : 5, bei der kleinen 5 : 8; bei der
kleinen Septime 5 : 9 oder (ohne leicht bemerkbaren Unterſchied des Tones)
9 : 16, bei der großen 8 : 15. Dieſen weniger einfachen Zahlenverhältniſſen
entſpricht auch die acuſtiſche Eigenthümlichkeit dieſer Intervalle. Die kleine
Terz macht, wenn ſie ſelbſtändig und nicht blos als naturgemäße Ergänzung
der großen Terz zur Quint auftritt, den Eindruck eines weniger natürlichen
und diſtincten Fortſchritts; die große und kleine Sext ſind vom Grundton
[857] zu entlegen, als daß ſie ohne die Mittelſtufe der Quart von ihm aus leicht
zu erreichen wären; die große Septime (15 : 8) klingt bereits wie ein
Uebergang zum Octaventon (16 : 8), leitet aber ebendeßwegen zu ihm mit
zwingender Gewalt hinüber und hat in dieſer Eigenſchaft (als „Leitton“)
allerdings wiederum eine beſondere Bedeutung. In ähnlicher Weiſe iſt das
Gefühl auch bei der Erhebung vom Grundton zur kleinen Septime nicht
beruhigt, ſondern muß nothwendig entweder zur großen und durch ſie zur
Octav vollends hinauf oder zur Sext und von da weiter bis zur Quart
herabgehen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Das Zahlenverhältniß der
großen Secund iſt, indem auch hier wie oben, zwei Verhältniſſe neben
einander Geltung haben, entweder 9 : 10 (kleiner) oder 8 : 9 (großer Ganz-
ton), das des großen Halbtons 15 : 16, des kleinen 24 : 25; für das Ge-
fühl liegt die große Secund zwiſchen Prim und Terz in der Mitte als die
von jener aus ſich natürlich ergebende und klar zur Terz hinüberführende
Tonſtufe, ein Verhältniß, das ſich auch bei der kleinen Secund im Ver-
hältniß zur großen wiederholt. — Gemeinſam iſt all dieſen Intervall-
verhältniſſen, die auf unſer Gehör den Eindruck des Natürlichen und
Beſtimmten machen, daß ſie ſich durch Zahlen ausdrücken, in welchen
überall 2, 3, 5 die letzten Factoren ſind. Wo verſuchsweiſe Zahlen wie
7, 11 u. ſ. w. als Factoren von Schwingungsgeſchwindigkeiten genommen
werden (7 : 8 und dergl.), da entſtehen Tonverhältniſſe, die den Eindruck
des Unklaren, Verſchwommenen machen; es muß, wie es ſcheint, wenn
das Gefühl eines anſprechenden Tonintervalls entſtehen ſoll, das Verhältniß
der Schwingungsgeſchwindigkeiten und der durch ſie hervorgebrachten Er-
regungen des Gehörorganes ein möglichſt einfaches ſein; die Verhältniſſe
von 1 zu 2 (4 zu 8 u. ſ. f.), 2 zu 3 (3 zu 4 u. ſ. f.), 2 oder 3 zu 5
(4 zu 5, 5 zu 6 u. ſ. f.) ſprechen allein oder vereinigt (z. B. 4, 5, 6
= Prim, Terz, Quint) Gefühl und Geiſt an durch das einfach Propor-
tionirte, leicht Zuſammenzuſchauende, das ſie an ſich haben. Der Geiſt
ſtrebt von Natur nothwendig nach Einheit, nach einfach klarer Pro-
portion des Verſchiedenen und vernimmt daher eine ſolche überall mit
Befriedigung; am größten iſt dieſe Befriedigung bei dem Verhältniß 1 : 2,
beim Zuſammentreffen der doppelt ſo ſtarken mit der hälftigen Erregung,
indem hier der Rhythmus der Bewegung dem Grundverhältniß nach ganz
identiſch iſt und jede der beiden Bewegungen auf die andere als mit ihr
identiſch hin- und zurückweist; ſchon geringer, aber doch durch die leichte
Vergleichbarkeit der beiderſeitigen Tempozahlen immer noch groß genug iſt
die Befriedigung bei dem Verhältniß 2 : 3, 3 : 4, 8 : 9, 4 : 5, weil hier
zweitheilige, gerade, und dreitheilige, ungerade Rhythmen einander gegen-
übertreten; weit geringer aber bei den Verhältniſſen, wo nicht 2 und 3
oder 5, ſondern zwei ungerade, 3 und 5, einander gegenüberſtehen und
56*
[858]die Unterſchiede der Zahlen überhaupt zu groß ſind, wie bei Sexten und
Septimen. Die Töne ſind Rhythmen und ſie rufen deſto mehr das befrie-
digende Gefühl der natürlichen Zuſammengehörigkeit hervor, je gleichartiger,
je einfacher zu einander in klares Verhältniß zu ſetzen ihre Schwingungs-
ſchnelligkeit iſt; das klarſte, am unmittelbarſten einigende, ja identificirende
Verhältniß iſt das durchaus ebenmäßige der einfachen Gedoppeltheit; das
nächſtklare die nicht zu große gerade Zahl gegenüberſtehend der ihr nächſten
ungeraden Zahl; weniger klar zwei ungerade und noch weniger gerade und
ungerade Zahlen, die numeriſch zu weit von einander abſtehen, bei dieſen
hört die engere Beziehung auf, ſie werden gegen einander gleichgültig; blos
beim Halbton ändert ſich dieſes wieder dadurch, daß hier (15 : 16) das
Gefühl der unmittelbaren quantitativen Nähe ſich natürlich unmittelbar auf-
drängt. Auf der andern Seite iſt jedoch neben der Thatſache, daß Gleich-
artigkeit der Schwingungsverhältniſſe befriedigt, auch ein zweites Moment
nicht zu überſehen; der Geiſt will nicht nur Eintönigkeit, einfache Zuſam-
mengehörigkeit, er weilt mit Befriedigung auf ihr und fordert ſie unbedingt,
damit die Tonreihe nicht ein einheitsloſes Aggregat verhältnißloſer Töne ſei,
aber er iſt trotzdem auch wieder im Einfachen, Unterſchiedsloſen unbefriedigt,
er fordert nicht abſtracte, ſondern concrete Einheit, Einheit Verſchiedener,
Mannigfaltigkeit, und darum findet unter den bisher betrachteten Intervallen
auch noch ein zweites Werthverhältniß ſtatt; das Gefühl verlangt gebieteriſch
neben den gleichartigen, abſolut klaren Intervallen auch ungleichartigere,
weniger waſſerklare, es gibt dieſen, wenn es die erſtern zu oft nach ein-
ander vernehmen muß, ſogleich den Vorzug, es will nicht Quintenzirkel,
ſondern nach der Quint die Quart, es fordert Ausfüllung der Octave durch
die Quint, der Quint durch die Terz u. ſ. f., es iſt befriedigt durch Einheit,
aber poſitiv gefällig iſt ihm nur die durch Mannigfaltigkeit ergänzte, belebte
Einheit, es iſt ihm im Leeren, Einartigen nicht wohl, obwohl es ſchließlich
zum Einartigen immer zurückſtrebt, um in ihm zur Ruhe zu kommen und
daher z. B. den Schluß eines Tonſtücks außer im Grundton ſelbſt entweder
in ſeiner Octave oder höchſtens in Terz oder Quint geſtattet, indem es eben
nach Durchlaufung der concretern Intervalle zu den einfachen und klaren
ſich wieder zurückwendet. Dieſe Zweiſeitigkeit des Werthverhältniſſes der
Hauptintervalle wird ſich noch beſtimmter herausſtellen, wenn wir nun dazu
fortgehen, die Bedeutung derſelben für die Ordnung und Gliederung des
Tonſyſtems überhaupt, ſowie für die muſikaliſche Compoſition zu betrachten.
§. 770.
Durch das Octavenverhältniß theilt ſich das Tonſyſtem ab in ein Syſtem
kleinerer, gleichſtimmiger, höherer und niederer Perioden; durch die andern
[859] Hauptintervalle gliedert ſich die Octave innerhalb ihrer ſelbſt wiederum zu
kleinern Abſchnitten, durch welche das Verhältniß der übrigen innerhalb der
Octave zu liegen kommenden Einzeltöne zu einander erſt ſeine genauere natur-
gemäße Beſtimmung empfängt. Zur Gliederung des Tonſyſtems tragen dieſe
Intervallverhältniſſe aber auch dadurch bei, daß vermöge des von der Natur
feſt beſtimmten Charakters, der dieſen Intervallen ſowohl für ſich als in ihrer
Verbindung mit einander eigen iſt, in ihnen die erſten Grundlagen zu natur-
gemäßer, charakteriſtiſcher, anſprechender Verbindung der Töne (zur Melodie
und Harmonie) gegeben ſind.
In §. 769, 1. iſt darauf hingewieſen, daß die Muſik vor Allem
diſtincte Intervalle bedarf, deutlich von einander geſchiedene Klänge, deren
keiner iſt was der andere, die Schärfe der Scheidung, der Auseinander-
haltung der einzelnen Momente iſt das Erſte, jeder Ton muß von ſeinem
Nachbar ſo weit abliegen, daß er unmittelbar als ein von ihm ſchlechthin
verſchiedener vernommen wird, und dieſe Diſtinction muß ſich durch die
ganze Tonreihe nach beiden Dimenſionen hin in gleicher Weiſe vertheilen.
Allein wie ſchon dieß Verhältniß der Nachbartöne zu einander von der Art
ſein muß, daß ſie ſich doch auch wiederum als Klänge vernehmen laſſen,
die einander nicht ſchlechthin fremd, ſondern nahe zuſammengehörig, einander
einfach proportionirt ſind: ſo tritt nun auch noch das weitere Poſtulat ein,
daß die Tonreihe nicht ein bloßes Aggregat verſchiedener, heterogener, ſich
fliehender Töne ſei, ſondern vielmehr ein Ganzes, innerhalb deſſen ſich auch
wieder eine Einheit, eine engere Zuſammengehörigkeit, eine ſpezifiſche Ver-
wandtſchaft einzelner ſeiner Theile und Stufen darſtellt. Die Tonreihe
würde ein beſtimmungs-, begriffs- und charakterloſes Nebeneinander atomi-
ſtiſcher Toneindrücke, wenn nicht auch auf einzelnen ihrer Puncte ein ſolches
qualitatives Einheits- oder Verwandtſchaftsverhältniß von Tönen zu ein-
ander hervorträte. Man kann ſich dieß veranſchaulichen, wenn man ſich
vorſtellt, die Tonreihe ſtiege in lauter Ganztönen aufwärts, die ſo weit
genommen wären, daß weder das Quinten- noch das Octavenverhältniß
irgendwo ſich ergäbe; in dieſem Fall wäre das Reſultat ein Progreß in’s
Unendliche, eine Reihe ohne Ende und Ziel, ohne Sinn und Zweck, eine
Reihe des abſtracten Unterſchieds, die durchaus in beziehungsloſe Tonatome
und Tondiſtanzen auseinander fiele, eine einſeitige Expanſion und Dis-
traction ohne alles Einheitsband. Einheit, klare innere Beziehung und
Verknüpfung, wie ſie hienach erforderlich iſt, kommt nun in die Tonreihe
zunächſt in unmittelbarſter einfachſter Weiſe durch das von der Natur an
die Hand gegebene Octavenverhältniß, durch die abſolute Einſtimmung
der Octaventöne; durch ſie theilt ſich die ganze Tonreihe in Octavenabſchnitte,
deren Anfang jedesmal durch den gleichlautenden, nur gehobenern und ſchärfern
[860] Ton markirt iſt; ſie zerlegt ſich in eine Reihe gleichartiger Perioden, welche
durch die ſtete Wiederkehr gleicher Töne innerhalb ihrer Identität und Ein-
heit in die Mannigfaltigkeit der Einzeltöne bringen. Die Octaveneintheilung
erſt gibt der Tonreihe Helligkeit, Gliederung, Beſtimmtheit; ſie thut der
Mannigfaltigkeit keinen Eintrag, ſofern ja die gleichlautenden Töne verſchie-
dener Octaven unter ſich doch immer noch differiren durch ihre verſchiedene
Höhe und Tiefe, aber ſie ſtellt allerdings vorzugsweiſe die Einheit her, ſo-
fern durch ſie die Einzeltöne in das Verhältniß der Identität unter ſich
gebracht werden; ſie flicht alle Tonlagen, Tonregionen, Stimmen, die
höchſten wie die tiefſten, zu untrennbarer Einheit gegenſeitigen Entſprechens
und Wiedertönens zuſammen; ſie reducirt die Geſammtzahl denkbarer Töne
auf den kleinen Kreis der wenigen eine Octave ausfüllenden Klänge, ſie
macht durch dieſe Gliederung, welche bewirkt, daß die Einzeltöne insgeſammt
mehrmals durch alle Tonlagen hindurch wiederkehren, alle Töne der Reihe
weit überſchaulicher, weit leichter zu erkennen und nach ihrem gegenſeitigen
Verhältniſſe zu beſtimmen, als es ohne das der Fall wäre, und ſie erwirkt
auch dieß doch ohne Beeinträchtigung der Mannigfaltigkeit; im Gegentheil
die Octaveneintheilung erzeugt ſelbſt eine ſolche, indem ſie Gelegenheit gibt,
denſelben Ton, dieſelben Accorde, dieſelbe Melodie die ganze Leiter höherer
und niederer Regionen durchwandern, ſie bald in höhern, bald in niedern
Gebieten, bald einfach, bald begleitet von entſprechenden Octaventönen
anderer Lagen erklingen zu laſſen. Einheit alſo in der Mannigfaltigkeit,
dieſe erſte Bedingung einer künſtleriſchen Geſtaltung des Tonmaterials, iſt
mit der Octaveneintheilung gegeben, daher die Hochhaltung der Octave in
griechiſcher Muſik und Philoſophie keineswegs verwunderſam ſein darf; mit
ihr hat die Muſik bereits ein wenn auch erſt ſehr einfaches Element der
Gliederung und Zuſammengruppirung der Töne gewonnen.
Auch die übrigen Hauptintervalle des Tonſyſtems tragen zur Einheit
und Gliederung der Töne bei, auch ſie ſind für das Ohr, weil ſie ein ein-
faches und doch beſtimmtes Verhältniß gegenſeitigen Entſprechens verſchie-
dener Klänge darſtellen, gleichſam Einſchnitte in die Klangreihe, durch welche
eine natürliche, von ſelbſt anſprechende, klare Syſtematik in’s Ganze gebracht
wird. Aber ſo einfach, ſo unmittelbar wie die Octave, ſind dieſe Intervalle
nicht, ſie bringen ebenſo ſehr auch Mannigfaltigkeit in’s Tonganze, ſie ſtellen
concretere Tonverhältniſſe dar, neben denen das Octavenverhältniß als ein
abſtractes, leeres, eintöniges erſcheint. Die Muſik bedarf auch noch weitere
Tonverhältniſſe, durch welche die Klänge ſich wiederum zu kleinern, in ſich
abgeſchloſſenen Reihen von beſtimmter Größe und beſtimmtem Charakter
gruppiren; es iſt ein Bedürfniß, innerhalb der Octave ſelbſt doch nicht blos
einen ganz gleichförmigen, unterſchiedsloſen Fortgang der die Reihe aus-
füllenden Töne, ſondern einen gegliederten Fortſchritt zu haben, in welchem
[861] ſich das ſchon der Octave zu Grund liegende Gruppirungsgeſetz nur in
anderer, ſpezifiſcherer Weiſe wiederholt. Wie die Octave den Abſchluß einer
Tonreihe und zugleich den Anfang einer neuen der vorhergehenden ent-
ſprechenden bildet, ſo ergibt ſich innerhalb ihrer ein ähnlicher Abſchnitt durch
die Quint. Die Quint iſt zwar nicht gleich der Octave ein Knotenpunct,
welcher Abſchluß und Anfang in ſich vereinigte, aber ſie iſt entſchieden der
Anfangspunct der neuen mit ihr beginnenden Reihe, von welchem aus,
wenn er einmal erreicht iſt, der weitere Fortgang (bis zur Octave) ganz
wie von ſelbſt gegeben erſcheint, ſo daß durch ſie das Ganze in zwei kleinere
gleichartige Reihen geſondert iſt. Die Quint iſt jedoch durch dieſe ihre zur
Octave hinleitende Stellung auch der Ton, auf welchen das Ohr beim
Sprung von einer Octave zur andern von ſelbſt wie auf eine den Ueber-
gang erleichternde Brücke zwiſchen beiden verfällt; ſie iſt daher ſo oft der
Mittelton, durch den die Muſik, wenn ſie möglichſt einfach und doch nicht
ohne alle Vermittlung von einer Octave zur andern übergehen will, dieſen
Uebergang bewerkſtelligt, und zwar ſowohl aufſteigend, als insbeſondere
abſteigend, wie namentlich am Schluß der Tonſtücke, wo die einfache Rück-
kehr zu einer tiefern Octave des Grundtons ſo häufig mittelſt Durchgangs
des Baſſes durch die Quinte geſchieht. Ebenſo iſt die Quint oder Domi-
nant auch da, wo es ſich nicht um den Uebergang von einer Octave zur
andern handelt, (meiſt von unten her, als untere Quint, wo ſie dem Grund-
ton näher liegt, oft aber auch mit guter, lebendiger Wirkung von oben
her) der natürliche Vorton des Grundtons der Octave, der Vorbereitungs-
ton, von welchem man zum Grundton (oder auch zu ſeiner Terz) aufſteigt,
welchen man dieſem voranſchickt, wenn das Tonwerk nicht unmittelbar mit
ihm ſelbſt, nicht uneingeleitet beginnen ſoll. Desgleichen iſt ſie ſonſt ein
vielgebrauchtes Intervall, das ſich z. B. wegen ſeiner engen Beziehung zum
Grundton und wegen ſeiner Mittelſtellung in der Octave nicht blos zur
Einleitung, ſondern auch zum eigentlichen, definitiven Anfang eines Ton-
ſtücks ſehr gut eignet, indem das alsbaldige Einſetzen auf der Quint ſtatt
auf dem zunächſt erwarteten tiefern Grundton einerſeits uns über den Grund-
ton des Ganzen nicht im Geringſten unklar läßt, andererſeits aber doch
einen eigenthümlichen Eindruck des Gehobenen und Schwunghaften, oder
des Leichten und Friſchen, des Hineintretens, des Sprungs in mediam
rem hervorbringt (z. B. Terzett und Menuett im erſten Finale von Don
Juan, Terzett im zweiten Act u. ſ.). Zum Schluſſe eignet ſich die Quint
eben wegen ihres Uebergangscharakters weniger, ſie kann aber auch hier
von großer Wirkung ſein, wenn eben dieß beabſichtigt wird, dem Schluß
den Charakter des Nichtabſchließenwollens, des Ungelösten, Schwebenden,
Ahnenden, Fernes Andeutenden zu geben (wie im Geſang des Gouverneurs
vor der Kirchhofſcene).
[862]
Verwandt mit der Quint, aber zugleich wieder von beſonderer Bedeu-
tung, iſt zunächſt die (große) Terz. Sie eröffnet zwar nicht eine neue
Reihe wie die Quint, ſie gliedert die Reihe nicht direct, ſondern blos mit-
telbar durch die ihr zukommende Wichtigkeit, in Folge welcher ſie eine
weſentliche Tonſtufe der normalen Tonreihe iſt und ihr nicht fehlen darf.
Ihre Hauptbedeutung iſt eine ausfüllende; ſie bietet eine nicht nur erleich-
ternde, ſondern eine weſentlich befriedigende, ja unentbehrliche Mittelſtufe
dar für den Uebergang von Prim zu Quint, der an ſich bei aller Natür-
lichkeit, die wir ihm zuerkennen müſſen, eben doch, wenn gleich weit weniger
als der von Octave zu Octave, immer noch ein Sprung iſt und bleibt.
Die Terz erſt gewährt beim Auf- und Abgehen auf den Hauptintervallen
der Tonreihe eine wahrhaft concrete Vermittlung; während bei längerem
Auf- und Abſteigen blos auf Grundton und Dominante doch wieder eine
allzu einfache, einförmige, nichtsſagende, leere, unnatürlich hüpfende Ton-
folge entſteht, ſo wird dagegen durch Hinzunahme der Terz dieſes Auf-
und Abſteigen ein zwar auch noch ganz ſimples und klares, aber doch zu-
gleich natürlich vermitteltes, volllautendes, nirgends eine Lücke fühlen laſſen-
des Auf- und Abwärtsſichbewegen, das ebendarum an ſich ſelbſt bereits
muſikaliſch ſchön, bereits vollkommen anſprechender Wohllaut, das erſte
wohllautende Intervallverhältniß iſt; wie die Octave, ſo iſt
auch die Quinte immer noch ein gar zu einfaches Tonverhältniß, Octav
und Quint ſind natürlich, aber ſie ſind nicht concret genug; concret wird
alle Muſik erſt mit dem Terzintervall. Die große Terz ſteht aber
auch, von dieſer ihrer vermittelnden Bedeutung abgeſehen, namentlich zum
Grundton in einer Beziehung, die ſie nicht minder wichtig macht. Es
kann zwar mit ihr, wenn ſie in die untere Octave verlegt iſt, nicht ſo
treffend wie mit der Dominante der Grundton von unten her eingeleitet
werden, weil nur die Dominante unmittelbar und beſtimmt auf den Haupt-
ton gebieteriſch hinweist. Wohl aber kann die Terz von oben her dem
Grundton vorangeſchickt oder mit ihr geradezu ſowohl angefangen als ge-
ſchloſſen werden. Der Anfang mit der Terz macht einen ähnlichen, nur
natürlichern und ruhigern Eindruck wie der mit der Quint, den Eindruck,
daß man alsbald auf einen höhern Punct, als man eigentlich erwartete,
gehoben wird, alſo wieder den des Freien, des Gehobenen, des nachdrücklich
Hervortretenden; am Schluß hat auch ſie, jedoch mit demſelben Unterſchied
von der Quint wie vorhin und daher weit häufiger als dieſe anwendbar,
die Wirkung des Nichtabſchließenden, weniger Beſtimmten, des Schweben-
den, romantiſch Verklingenden, Sehnſuchts- und Erwartungsvollen, des
Hinausweiſens in unbeſtimmte Fernen, es iſt ein Schluß und iſt doch keiner,
es iſt ein Stillhalten auf einer Stufe, die zur Höhe emporführt, von
welcher es uns nach oben zieht und auf der wir doch wider Willen feſt-
[863] gehalten werden und nun gleichſam verwundert uns umſchauen nach einem
Höhern und Fernern, das uns in Ausſicht geſtellt und doch nicht wirklich
geboten wird. — Die übrigen Intervalle haben für ſich nicht mehr gleiche
Wichtigkeit wie die eben beſprochenen. Die aufſteigende Quart mit der
Sext zuſammen füllt den Zwiſchenraum zwiſchen den Octaventönen wohl
auch in befriedigender (concreter), aber nicht in unmittelbar erwarteter Weiſe
aus; Terz und Quint können durch nichts Anderes erſetzt werden, man
fühlt namentlich den Fortgang vom Grundton zur Quart als zu weit vor-
geſchoben, als eine nicht natürliche Distraction, die Tonfolge 1468 treibt
mit Gewalt zu 1358 zurück. Die Quart wird zwar ſowohl nach der
großen als nach der kleinen Terz unbedingt erwartet, weil ſie acuſtiſch ein
Hauptintervall iſt, und ſie iſt ſo der natürlichſte Schlußſtein der erſten Hälfte
der Octave, der natürliche Vorton der Quint, der ſo mit dieſer zuſammen
die Octave in ihre zwei Hälften abtheilt; aber ſonſt fehlt ihr die tief ein-
greifende Bedeutung der letztern; ſie theilt dieſe Bedeutung nur da, wo ſie
als tiefere Octave der Quint unter dem Grundtone als deſſen hinabverlegte
Dominante liegt und ſo nicht blos im Quart-, ſondern zugleich im Quint-
verhältniß zu ihm ſich befindet.
Ganz vollſtändig kann die Bedeutung der verſchiedenen Haupt- und
Nebenintervalle natürlich erſt bei der Lehre von der Harmonie hervortreten,
wo ſie nicht mehr blos als Nach-, ſondern auch als zuſammentönendes
Neben- und Ineinander betrachtet werden. Indeß iſt es ſchon hier am
Platze, vorläufig darauf hinzuweiſen, daß auch harmoniſch betrachtet das
Verhältniß der Intervalle unter ſich ganz dieſelben Reſultate ergibt. Die
Octave dient der Muſik da, wo es eben um die abſolute Einſtimmigkeit
zu thun iſt; ſie kann in ſolchen Fällen gerade durch dieſe reine Einfachheit,
durch die Beſeitigung aller vermittelnden, ausfüllenden, wohlthuenden Zwi-
ſchenſtufen, durch die Leere, die ſie zu empfinden gibt, groß, erhaben, hohl,
unheimlich, geiſterhaft wirken. Der Monotonie des Octaveneinklangs tritt
zunächſt entgegen das Zuſammentönen von Grundton und Dominante;
aber gerade da zeigt es ſich, daß doch erſt mit der Terz Vermittlung, Voll-
ſtimmigkeit gegeben iſt. Grundton und Quint zuſammen erregen das Ge-
fühl einer unausgefüllten, traurigen, unbehaglichen, ſchreienden Leere, wo-
gegen die Terz ſchon für ſich mit dem Grundton einen befriedigenden
Zuſammenklang bildet. Der Haupt- und Grundaccord, der durchaus voll
anſpricht, iſt aber erſt Grundton Terz Quint zuſammen oder auch noch
vermehrt mit der obern Octave; mit ihm iſt der Urtypus, das concrete
Urbild aller Harmonie gegeben. Anders verhält es ſich dann gleich wieder
mit 1468; dieſer Accord könnte nicht wie 1358 gut für ſich allein,
z. B. als Accord eines harmoniſch geſtimmten Glockengeläutes, beſtehen, er
befriedigt für ſich nicht trotz allen Wohlklangs, er führt nothwendig zurück
[864] zu 1358, indem nur dieſer den Eindruck vollkommenen Zuſammengehörens
und natürlichen Aufeinanderfolgens, Entſprechens und Zuſammenklingens
der Töne, aus denen er beſteht, hervorzubringen vermag.
§. 771.
Das Tonſyſtem geſtaltet ſich zur Tonleiter, wenn unter Zugrundlegung
ſeiner Eintheilung in Octavenabſchnitte der Zwiſchenraum zwiſchen den Octaven-
tönen ſtetig durch eine Reihenfolge neben einander liegender Töne ausgefüllt wird.
Dieſe Reihenfolge kann von verſchiedener Art und verſchiedenem Charakter ſein
je nach der verſchiedenen Stellung, welche den Halb- und Ganztönen innerhalb
der Reihe angewieſen, und je nach der verſchiedenen Eigenthümlichkeit, welche
eben durch dieſe verſchiedene Stellung dem ganzen Fortgange aufgeprägt wird.
Der Hauptunterſchied iſt der zwiſchen Dur- und Molltonleiter; in der
erſtern iſt der Fortgang vorherrſchend ein den Charakter freien ungehemmten
Fortſchritts an ſich tragender Fortgang durch Ganztöne, indem in ihr die Halb-
töne ſo gelegt ſind, daß ſie nur die Stellung von Uebergangs- und Schluß-
tönen an einzelnen Hauptabſchnitten der Leiter einnehmen; in der Molltonleiter
2.dagegen findet das Umgekehrte ſtatt. Das Prinzip des Fortgangs durch Halb-
töne iſt rein durchgeführt in der chromatiſchen Leiter, welche aber hiedurch
die charakteriſtiſchen Verhältniſſe der Hauptintervalle verwiſcht und daher nur
untergeordnete Bedeutung anſprechen kann.
1. Streng genommen ſollte am Anfang des §. geſagt ſein, das Ton-
ſyſtem geſtalte ſich zur Tonleiter, wenn unter Zugrundlegung der Eintheilung
des Tonſyſtems in Octavenabſchnitte und der Octave in die zwei durch die
Dominante gegebenen Octavenhälften der Zwiſchenraum zwiſchen Prim und
Octav, ſowie zwiſchen beiden und der Dominante ſtetig (alſo eben leiterförmig)
durch Töne ausgefüllt wird. Mit der Abſcheidung des Tonſyſtems in Octa-
ven, mit dem Herausgreifen der Octavenperiode aus der ganzen Tonreihe
iſt die Geſtaltung der Tonfolge eben an das Octavverhältniß gebunden, muß
nach ihm ſich richten, und ſo entſteht die Aufgabe, die zwiſchen Grundton
und Octav liegenden Einzeltöne in der Art zu bilden und zu ordnen, daß
ihr Fortgang einerſeits den Zwiſchenraum in ſtetiger und gefälliger Mannig-
faltigkeit ausfülle, andererſeits in natürlicher Weiſe wieder zum Grundton
(in der Octave), deſſen Wiederkehr das Gefühl erwartet, hinführe. Soll
dieß geſchehen, ſo kann natürlich das Hauptintervall, die Dominante, in
der Leiter nicht fehlen, indem mit ihr ein ebenſo gefälliges als den Ueber-
gang von Prim zur Octave weſentlich vermittelndes Tonelement verloren
gienge; iſt aber einmal die Dominante in der Leiter, ſo zerfällt dieſe durch
ſie in zwei Abſchnitte, weil mit dem Eintreten der Dominante das Gefühl,
[865] eben mit ihr die Region der Prim ſchon verlaſſen zu haben und aus ihr in
die der Octave übergeſchritten zu ſein, ſich von ſelbſt einſtellt. Es handelt
ſich alſo genau geſprochen nicht mehr um Ausfüllung der Octavenreihe,
ſondern um Ausfüllung dieſer zwei Abſchnitte vor und nach der Dominante.
Die Ausfüllung — dieſe Bemerkung iſt nothwendig voranzuſtellen — ge-
ſchieht, weil nach §. 768, 2. die aufſteigende Bewegung die maßgebende
ſein muß, von unten her, oder ſie geſchieht ſo, daß der den Geſetzen des
Gefühls und der Phantaſie entſprechende Tonfortgang, durch den dieſe
Ausfüllung zu Stande kommen ſoll, von unten nach oben zu verwirklicht
wird. Dieſer Fortgang iſt nun zunächſt mittelſt Ganztönen zu machen, da
dieß einmal der natürliche, der einzig leichte, freie, klare Fortgang iſt.
Aber Ganztöne allein können darin doch nicht vorkommen, da in dieſem
Falle, wie eine einfache Rechnung mit den Intervallzahlen zeigt, weder von
der Prim aus die Dominante, noch von dieſer aus die Octave zu erreichen
wäre; Halbtöne ſind alſo nothwendig und zudem der Mannigfaltigkeit
wegen wünſchenswerth; es fragt ſich nur, wie ſie geſtellt werden, und es
iſt für den ganzen Charakter der Tonfolge entſcheidend, wie dieß geſchieht.
Werden ſie — dieß iſt das Erſte, worauf es ankommt — ſo geſtellt, daß
in beiden Abſchnitten der Tonreihe eine größere Periode von Ganztönen
erhalten bleibt, ſo herrſcht natürlich in der ganzen Reihenfolge der Charakter
der Bewegung durch Ganztöne vor; werden ſie aber ſo geſtellt, daß die
Ganztonbewegung nach kurzer Dauer ſogleich von der Halbtonbewegung
unterbrochen wird, ſo iſt der Eindruck des Ganzen der einer durch die
Halbtonbewegung immer wieder aufgehobenen und durchbrochenen Ganz-
tonbewegung, alſo — weil dieſes den Normalverlauf durchbrechende Element
eben als ſolches vorzugsweiſe hervortritt — eines Vorherrſchens der Halb-
tonbewegung. Ferner: werden die Halbtöne ſo geſtellt, daß ſie erſt am
Schluß der beiden Abſchnitte der Octave ſtehen, ſo ordnen ſie ſich auch
hiemit den Ganztönen als bloße Uebergangs- oder Schlußtöne unter und
tragen andererſeits auch zur Leichtigkeit, Klarheit, Gefälligkeit der ganzen
Leiter bei, weil gerade am Schluſſe ein kleineres Intervall, ein ſtetigerer
Uebergang gefordert iſt, damit das zu Ende Gehen, das nicht mehr weiter
Wollen der Bewegung klar hervortrete, die Bewegung gefällig ſich abrunde
und ausklinge; werden die Halbtöne aber ſo geſtellt, daß ſie ſchon in der
Mitte oder gar am Anfang der Leiter, ſowie ihrer einzelnen Abſchnitte ſtehen,
ſo erhalten ſie vorwiegende Bedeutung und geben zudem der ganzen Leiter-
bewegung einen ſchwerfälligern, dunklern, trübern Charakter, weil ihr
paſſende Schlüſſe fehlen. Dieß ſind die Momente, auf welchen die Unter-
ſchiede der Haupttonleitern und namentlich des Dur und Moll beruhen. Die
Durtonleiter iſt diejenige, in welcher die Ganztonbewegung vorherrſcht
und zugleich die befriedigendſten Schlußformen gegeben ſind. Zu Anfang
[866] beider Hälften haben wir zwei Perioden von Ganztönen, eine zweimalige
Fortſchreitung durch Ganztöne (c zu d, d zu e, g zu a, a zu h); der eine
Halbton ſchließt befriedigend das Ganze (h zu c); der zweite ſteht nicht,
wie man etwa erwarten könnte und wie es in der ſog. lydiſchen Tonart
wirklich der Fall iſt, vor der Quint (vor g), ſondern er ſteht richtiger eine
Stufe weiter zurück, zwiſchen Terz und Quart; er ſchließt dieſe letztere eng
an die Terz an, er faßt die Quart mit der Terz und durch ſie mit dem
erſten Abſchnitt der Octave überhaupt eng zuſammen, während er ſie von
der Quint durch den ſo entſtehenden Ganzton (f zu g) abtrennt; er bildet
ſo aus Prim Secund Terz Quart Eine Periode, was ganz richtig iſt,
weil mit der Quint ja ſelbſt ſchon eine zweite beginnt, er ſtellt die Quint
nach dieſer Seite ſelbſtändig hin und weist ſie der zweiten Octavhälfte zu,
der ſie an ſich ſchon angehört und die ohne ſie (d. h. wenn die Quint z. B.
durch die übermäßige Quart fis zur erſten Hälfte gezogen würde) zu klein
ausfiele; er macht alſo durch ſeine Stellung die beiden Hälften ſymmetriſch,
und er muß dieſe Stellung außerdem auch deswegen haben, weil ſonſt der
Tonleiter das natürliche Intervall der einfachen Quart verloren gehen oder
ein Widerſtreit der Scala mit den Intervallverhältniſſen ſowie mit den auf
dieſe gebauten Harmonieverhältniſſen entſtehen, die Scala eine übermäßige
Quart haben, die Harmonie aber deßungeachtet auf der einfachen Quart
beſtehen würde. So aber wird durch dieſe Stellung des Halbtons der erſte
Abſchnitt der Octave (c—f) zu einer für ſich ſtehenden, von der zweiten
deutlich geſchiedenen und zugleich zu einer in ſich ſelbſt vollkommen abge-
rundeten, die Momente des Anfangs, Fortgangs und Abſchluſſes in ſich
vollſtändig vereinigenden eigenen Periode abgeſchloſſen, welche eben hiedurch
auf die zweite, nach demſelben Geſetze gegliederte Periode (g—c) vorbereitend
hinweist und mit ihr zuſammen der Durſcala den Charakter eines ſymme-
triſch periodiſchgegliederten Ganzen verleiht. Einfaches, entſchiedenes Vor-
wärtsgehen oder Aufſteigen, verbunden mit wohlgefälligen Halt- und
Schlußpuncten und ſchöner Periodicität des Ganzen iſt ſo in Folge der hier
angenommenen Stellung der Halbtöne Charakter der Durleiter, um deß
willen ſie als die natürlichſte, heiterkräftige und ſchlechthin befriedigende
Tonfolge erſcheint. Auch bei abſteigender Bewegung bleibt dieſer Charakter,
obwohl er in ihr nicht ſo ſcharf hervortritt; auch hier ſchlüpft die Bewegung
über die Halbtöne, die ja hier nicht als Hemmung eines Aufſtrebens,
ſondern nur als den Uebergang zu tiefern Tönen vermittelnde und erleich-
ternde Zwiſchenglieder gefühlt werden können, leicht hinweg, und es ſcheint
namentlich darin eine Befriedigung zu liegen, daß durch den Beginn mit
der dem Octavton ganz nahe liegenden großen Septime dem Herabgehen
ſogleich der Typus des Bleibens in der Scala eben dieſes Tones, aus
welchem ſich die Tonbewegung mittelſt des Halbtons der Septime gleichſam
[867] unmittelbar loswickelt, aufgedrückt wird. Zugleich hat die Durleiter
namentlich den Vorzug der großen Terz, des natürlichen, wohlklingenden
Mittelglieds zwiſchen der Prim und den höhern Intervallen. — Ganz
anders die Molltonleiter. In ihr wird gerade das Intervall der
großen Terz und ebenſo das der großen Sext aufgehoben; der hier ſchon
nach der zweiten Stufe und dem entſprechend nach der Dominante (die
bleiben muß) eintretende Halbton wirkt hemmend, erſchwerend, von der
geradlinigen Bewegung ablenkend; nach oben zu fehlt es der Mollbewegung,
ſofern ſie auf die kleine Sext eigentlich die kleine Septime folgen laſſen muß,
an dem Moment der Zuſpitzung und des leichten Schluſſes durch die große
Septime, ſie ſchließt eigentlich ohne Schluß und damit in ſo unerträglicher
Weiſe, daß man für die aufſteigende Mollleiter aus der Durleiter die große
Septime entweder allein (as h) oder zu ihr noch die große Sext (a h)
entlehnen und ſo entweder das Prinzip des ſprungloſen Fortgangs durch
einfache Ganztöne oder den Mollcharakter preisgeben muß, jedenfalls aber
nur im Abſteigen eine reine Mollleiter zu Tage kommt. Sehr abweichend
iſt auch die Geſtaltung der Octave, die durch die Stellung der Halbtöne
in der Molleiter hervorgebracht wird. Die klare, ebenmäßige Gliederung,
die ſcharfe Zweitheilung der Durſcala iſt verſchwunden; die Halbtöne ſtehen
nicht mehr an den natürlichen Halt- und Endpuncten, ſie kommen zu früh,
ſie bilden keine Schlußcäſuren wie in Dur, ſie ſind nicht mehr Schluß-,
ſondern blos Bindetöne, welche durch die Bedeutung, mit der ſie in der
Mollleiter hervortreten, allerdings dieſer Scala den Charakter eines weniger
ſcharf gegliederten, ſtetigern, ſchleifendern und damit „weichern,“ ebendamit
aber etwas vom Verſchwommenen und Schleppenden an ſich tragenden
Fortgangs aufdrücken. Nicht zu verkennen iſt übrigens, daß in abſteigender
Bewegung die Mollleiter doch natürlicher erſcheint als in aufſteigender; die
abſteigende Bewegung fordert weniger Schwung und Fortſchritt, daher hier
die Mollbewegung weniger fremdartig für unſer Gefühl iſt, und zudem hat
die abſteigende Mollleiter den großen Vorzug vor der aufſteigenden, daß der
unnatürliche Schluß der letztern nach oben und die ebenſo unnatürliche Cor-
rection deſſelben durch Durtöne wegfällt.
Neben Dur und Moll laſſen ſich natürlich auch noch weitere Ton-
leitern denken, dergleichen wir im Alterthum und Mittelalter wirklich im
Gebrauche finden. Während die ſog. ioniſche mittelalterliche Tonart unſer
Dur iſt, weicht die ſog. lydiſche (F) dadurch von ihm ab, daß der erſte
Halbton der Scala erſt vor die Quint fällt (f g a h c); dieſe Stellung
hebt die ſchöne Gliederung der Octave auf, ſie gibt zwar der aufſteigenden
Leiter den nicht ungefälligen Charakter unaufhaltſam ohne Ruhepunct auf-
ſtrebenden Fortſchritts, aber ſie verunſtaltet die abſteigende Leiter, macht ſie
irrationell, indem in dem Halbton zwiſchen c und h durch die enge Ver-
[868] bindung dieſer beiden Töne die Bewegung in die Leiter der Dominante C
überſchweift (nach demſelben Geſetz, wie vorher f e die Leiter F ankündigt)
und dann doch wiederum ſchwerfällig in F zurückſinkt. Das Mixo-
lydiſche (G) iſt Dur mit kleiner Septime; es fehlt ihm hiemit, wenn
ſein Charakter rein feſtgehalten wird, für Melodie und Harmonie der Leitton,
der namentlich zu einem befriedigenden Schluſſe eines ganzen Tonſtücks
(z. B. fis g) und ebenſo zu präciſer Verknüpfung weſentlicher Accorde (z. B.
d fis a c, d g h) unentbehrlich iſt, daher ſchwebende Unbeſtimmtheit und
(wie auch bei den meiſten andern) eine Ungelenkigkeit der Tonverknüpfung
der Charakter dieſer Tonreihe iſt. Während die äoliſche Weiſe (A) mit
unſerem abſteigenden Moll identiſch iſt, weicht die doriſche (D) darin von
ihm ab, daß ſie zwar die kleine Terz (f), aber die große Sext (h) und kleine
Septime (c) hat, alſo das kräftige Dur und das trübere Moll in ſich
gewiſſermaßen vereinigt; die phrygiſche endlich (E) iſt das gerade um-
gekehrte Dur, indem hier die Halbtöne (f, c) nach der erſten und fünften
Stufe kommen, wie in Dur vor der letzten und nach der dritten; ſie iſt
das extrem gewordene Moll, ſie hat nicht nur deſſen Intervalle, kleine Terz
und kleine Sext, ſondern ſie hat vollends ganz den Charakter der Halbton-
bewegung, indem die aufſteigende Bewegung gleich mit dieſer beginnt und
ebenſo die abſteigende mit ihr (f e) ſchließt, ſo daß aufwärts die Bewegung
gleich von vorn herein bedeutſam gehemmt und zurückgehalten erſcheint, ab-
wärts aber der Schluß wegen des auf den Grundton drückenden Halbtons
ganz beſonders ſchwer wird und damit gleichfalls den Charakter eines Un-
gewöhnlichen, Bedeutſamen, eines auf die Seele drückenden Geheimniſſes,
einer noch nicht gelösten Spannung erhält. Es geht aus der gegebenen
Ueberſicht hervor, daß dieſe Nebenſcalen nicht ohne Eigenthümlichkeit ſind,
die dieſelben für den Ausdruck gewiſſer beſonderer Stimmungen und Be-
wegungen jederzeit geeignet machen kann, daher ſie auch in der modernen
Muſik hie und da zur Anwendung kommen; aber ſie haben doch unſern
Dur- und Molltonweiſen gegenüber zu wenig natürlichen, fließenden Fort-
gang und Schluß, ſie ſind größtentheils nicht reiner, ſondern gemiſchter
Gattung, ſie haben trotz des Bedeutſamen keine klar, weich und gefällig ſich
gliedernde Tonfolge, ſondern aus allen dieſen Urſachen etwas Schwebendes,
Nebelhaftes, Unaufgelöstes und doch zugleich Hartes, das oft wohl an
ſeinem Orte iſt, im Ganzen aber dieſe Tonleitergattungen hinter dem wohl-
proportionirten Dur und dem jedenfalls weichen, nicht gar zu ſchweren und
düſtern Moll immer mehr zurückgedrängt hat. Genauer wäre die Unvoll-
kommenheit und namentlich die Ungelenkigkeit dieſer Nebentonleitern nur
nachzuweiſen, wenn man zugleich auf die Art und Weiſe näher eingienge,
wie ſich in ihnen die einzelnen für den Fortgang eines mehrſtimmigen
Tonſtücks nothwendigen Hauptaccorde geſtalten; aber der Gegenſtand iſt zu
ſpeziell, als daß er hier behandelt werden könnte.
[869]
2. Die chromatiſche Leiter, die ſich in Halbtönen auf- und ab-
wärts bewegt, kann der in Ganz- und Halbtönen gehenden, „diatoniſchen“
gegenüber nur eine Nebenart ſein. Sie iſt theils zu indifferent, weil in ihr
Alles gleich iſt und namentlich die Intervallverhältniſſe ſich ganz verwiſchen,
theils nicht von freier und rüſtiger Bewegung; es drängt ſich in ihr Alles
zuſammen, will nicht recht auseinander; es iſt eine Linie, die ſich fort-
während in kleinſten Windungen ſchlängelt, ohne je auch zu einer einfach
decidirten geradausgehenden Bewegung zu kommen; es iſt die abſtracte Leiter,
die das Prinzip der Continuität übertreibt, die nur kleine, gleich zugemeſſene
Schritte machen will. Natürlich kann die chromatiſche Leiter ebendarum für
gewiſſe Zwecke ſehr bezeichnend und wirkſam ſein. Das einerſeits nicht recht
von der Stelle wollende, andererſeits trotz des erſchwerten Fortgangs unauf-
haltſam vor ſich gehende Fortrücken, Fortdrücken und Fortſchieben eignet ſich
trefflich, ein langſames Austönen einer innigen, von ſich ſelbſt nur mit
Mühe, mit Bedacht loskommenden Empfindung (ſo am Schluß des zweiten
Satzes des Beethoven’ſchen Septetts), oder ein gewaltſames, dringliches
Hinausſtreben zu einem Abſchluß, oder ein mächtiges Herandringen eines
Affectes, einer Seelenbewegung, auch Verwunderung, die nicht recht von
der Stelle kommt, Furcht, die ſich nicht zu rühren wagt, auszudrücken
(wie z. B. im Sextett des Don Juan das Chromatiſche in mehrfachen
Beziehungen dieſer Art angewandt iſt). Außerdem aber kann die chroma-
tiſche Leiter, für ſich oder mit der diatoniſchen combinirt, wegen ihrer Klein-
theiligkeit auch den mehr formellen Eindruck des Zierlichen, Feinen, des
zierlich Fortfließenden und Fortrollenden hervorbringen; nach dieſer Seite,
als figurirendes, ornamentiſches Element, hat ſie namentlich für die In-
ſtrummentalmuſik Bedeutung, welche um der Formenmannigfaltigkeit willen,
die ihr Geſetz iſt, nicht immer auf die diatoniſche Leiter oder Melodie ſich
beſchränken kann. Die chromatiſche Tonleiter iſt vollſtändiger als die
diatoniſche, ſie enthält alle überhaupt zur Anwendung kommenden Töne,
ſie iſt das ganz in ſeine kleinſten Theile zerlegte Tonſyſtem, das Tonſyſtem
als abſtracte, unterſchiedsloſe, aber überall ſtetig in ſich zuſammengehaltene,
ihre Glieder wie an einer Perlenſchnur engſt aneinander reihende Tonfolge;
darin liegt ſowohl ihre Einſeitigkeit als ihre Eigenthümlichkeit.
§. 772.
Der innere Unterſchied des Dur und Moll iſt ſo weſentlich, daß jede der
beiden Tonweiſen eine eigene Art von Tonſyſtem, ein eigenes Tongeſchlecht,
begründet. Beide Tongeſchlechter haben ihre Berechtigung und charakteriſtiſche
Bedeutung; aber Dur iſt nicht nur das kräftigere und freiere, ſondern auch
das einfachere, naturgemäßere, einer weit umfaſſendern Anwendung fähige
[870] Tongeſchlecht, während Moll in Folge ſeines gedämpften, gedrückten Charakters
den Typus abſtracter, rein in ſich und in ihre Zuſtände verſenkter Subjectivität
repräſentirt und ebendarum ſelbſt eine individuellere, beſchränktere Form iſt.
Der Unterſchied von Dur und Moll erſtreckt ſich natürlich nicht blos
auf die Leiter und nicht blos auf die Hauptintervalle in ihrem Nacheinander,
ſondern auch auf ſie in ihrem Zugleich oder auf die Accorde; Moll hat vor
Allem, was hier vorausgenommen werden muß, den Grundaccord aller
Harmonie, den Dreiklang auf den Grundton der Leiter (135), deßgleichen
den Dreiklang auf der Quart mit der kleinen Terz, ſo daß ſchon hiedurch auch
der Harmonie des Moll das Gepräge des Zurückgehaltenen, Gedämpften,
Herabgeſtimmten, obwohl damit auch einer gewiſſen Bedeutſamkeit aufgedrückt
wird, die eben in der Verſchiebung der Harmonie, in der Abweichung von
dem gewöhnlichen und natürlichen Stimmungsausdruck unmittelbar gegeben
iſt. Dur und Moll ſind daher völlig verſchiedene Tongeſchlechter, ſo ver-
ſchieden wie Licht und Dämmerung, frohe Kraft und gedrückte Weichheit
oder Wehmuth, worüber ſchon in §. 753 das Genauere ausgeſprochen iſt.
In dem dort Geſagten iſt bereits angedeutet, daß Moll nicht gerade blos
das Traurige, Weiche, ſondern überhaupt das „Verhüllte“ der Stimmung
iſt, das Verſenktſein des Subjects in eine Stimmung, der es ſich nicht zu
entwinden vermag, durch die es gebunden, an einfach freiem und kräftigem
Heraustreten aus ſich gehindert iſt. Moll repräſentirt das durch irgend
etwas in ſich zurückgeworfene, nicht frei in die Welt ſchauende, in ſich
gekehrte, mit etwas kämpfende Subject; es iſt ebendamit abſtract ſubjectiv,
es iſt nicht das der Objectivität geöffnete, ſondern unfrei in ſich reflectirte,
zurückgedrängte Gefühl, es iſt das Gefühl in einſeitiger Subjectivität. In
Dur klingt nicht von vornherein eine beſondere Stimmung an, es iſt
Gefühl, Erregung überhaupt, die ihren beſtimmtern Inhalt erſt durch den
Charakter des einzelnen Tonwerks erhält; aus Moll aber tönt gleich mit
dem erſten Klange dieß Subjective der Stimmung heraus, es ſagt uns
alsbald, daß wir das Subject vor uns haben als von einer beſondern
Stimmung befangen, beherrſcht, gepreßt, und ſo tritt denn zugleich über-
haupt das Subjective, das Empfinden als ſolches in Moll ſpezifiſch hervor.
Hierin liegt nun ſowohl ſeine Berechtigung als ſeine untergeordnete Stellung.
Die Muſik wäre nicht Muſik, nicht Kunſt der Empfindung, wenn ſie nicht
auch Mittel hätte, die Empfindung in ihrer Macht über das Ich, das
Subject als rein in ſich ſelbſt und ſein Fühlen verſenkt darzuſtellen; bloßes
Dur wäre, wie alles einfach Schöne, zu farblos, zu klar; die helle Färbung
fordert als Complement die dunkle, wenn ſie nicht eintönig und fade werden
will; kurz es muß auch Darſtellungen geben, in welchen der einfach leichte,
freie Gang der Muſik, wie ihn Dur repräſentirt, verſtellt, verſchoben,
[871] erſchwert und zurückgehalten wird durch Mollaccorde, Mollintervalle, Moll-
tonarten, damit dieſem Gegenſatze gegenüber das Dur in ſeiner Natur-
wahrheit und ſchönen Helligkeit wiederum um ſo beſtimmter hervortrete.
Auch die dem Moll verwandten Nebentonarten haben daran ihr Recht, auch
ſie haben in Folge ihrer gedämpften Accorde das Helldunkel, das man auch
zu ſehen begehrt, um an der Sonnenklarheit des Lichtes nicht zu ermüden.
Das Moll tritt mit Recht überall ein, wo es gilt, entweder überhaupt eine
beengende, beklemmende Stimmung zu ſchildern, oder eine ſonſt in Dur
einhergehende Bewegung mit einem Male als gehemmt, zurückgehalten,
ſich in ſich zurückziehend erſcheinen zu laſſen; in letzterem Falle iſt das in
Durſätze hineintretende Moll ein Hauptmittel der Muſik für Charakteriſtik
beſonders im Dramatiſchen (z. B. in Opernfinale’s, wie das erſte in Don
Juan, in bewegten Arien), wo ja eben die Hemmungen, das plötzliche Still-
und Anſichhalten in Folge eines Hinderniſſes, einer Angſt, Furcht, Vorſicht,
ebenſo das Umſchlagen, das Sichverdüſtern und Ernſterwerden der Stimmung
eine ſo große Rolle ſpielen; oft ſind es nur ganz kurze Taktreihen oder Perioden,
in welchen Moll wie eine den hellen Himmel plötzlich umnebelnde, alsbald
aber wieder zurückweichende Wolke zwiſchen hineintritt, um das momentane
Auftauchen einer tiefer ergreifenden, beängſtigenden Empfindung zu veran-
ſchaulichen (ſo der Gmoll-Accord im erſten Theil des Chors O Iſis u. ſ. w.).
Bald iſt es die Bangigkeit des Schmerzes, was Moll für ſich oder in ſolchen
Zwiſchenſätzen veranſchaulicht, bald auch die höchſte, herzergreifende Luſt, der
die gewohnten Ausdrucksmittel nicht mehr genügen (wie in einer Stelle des
Duetts aus Fidelio „O namenloſe Freude“), oder die ſanftere Rührung der
Freude (Oreſt in Iphigenie in Tauris unmittelbar vor dem Schlußchor),
oder das Schmachten der Liebe (Amoll-Duett in Figaro); auch das Fremd-
artige, Geiſterhafte (das Elfengetrippel in Mendelsſohn’s Ouvertüre zum
Sommernachtstraum), das Rauhe und Wilde (Gluck’s Scythenchöre, Trink-
lied der Soldaten in Gretry’s Richard), das Täppiſche und Ungelenke
(Osmin’s erſtes Lied in der Entführung) ſpricht die Muſik mit Recht in Moll
als der Tonweiſe aus, der einmal das Verſchleierte, Dumpfe, Schwere eigen iſt;
und wenn auf anderer Seite die Kirchenmuſik für Chöre und Chorale ſich des
Moll oder ſeiner Nebentonarten häufig, ja mit Vorliebe bedient, ſo geſchieht
auch dieß deswegen, um die Gefühle der Demuth, des gepreßten Herzens, der
Ehrfurcht, der ernſtdurchdrungenen Freude darin auszudrücken und der Ton-
ſprache überhaupt tiefere Bedeutſamkeit zu verleihen. Allein etwas Unauf-
gelöstes und etwas einſeitig Subjectives iſt in Moll immer. Es belaſtet die
Seele mit einem Druck, den ſie hinwegwünſcht wie einen dunkeln Flor, der das
Auge an freiem Aufſchauen hindert, es läßt unwillkürlich Löſung, Befreiung
erwarten, daher nicht ganz ohne Unrecht ältere Componiſten Stücke in Moll
mit dem Durdreiklang ſchließen; wir hören lieber Symphonieen, deren Moll
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 57
[872]in einen Satz aus Dur ausgeht, wir verkennen zwar die Wahrheit des
Ausdrucks, die Folgerichtigkeit der Durchführung nicht, wenn in Mozart’s
Gmoll-Symphonie das Moll auch im Schlußſatze dominirt, aber wir gehen
doch nicht ganz befriedigt davon hinweg; wir finden unwillkürlich den in
Dur ausgedrückten Ernſt oder Schmerz edler, männlicher, weil die Paſſivität
ſubjectiver Empfindung nicht ſo ſtark ſich geltend macht, die Empfindung
tritt in Moll zu naturaliſtiſch wahr mit ihrer Gepreßtheit und Weichheit
hervor, ſie iſt gleichſam noch nicht zu freier künſtleriſcher Idealität erhoben.
Und darum iſt Dur doch das Normaltongeſchlecht, Moll nur Ausnahme,
nur ein Gegenbild zu Dur, das in der Regel nicht das Vorwiegende ſein
kann und ſelbſt die religiöſe Muſik nicht einſeitig beherrſchen darf.
§. 773.
Auf jeder Stufe des Tonſyſtems kann eine nach dem Dur- oder Moll-
tongeſchlecht gebildete Leiter errichtet werden. Es entſteht ſo eine Mehrzahl von
Leitern, Tonarten, die nicht nur durch den verſchiedenen Grundton, ſondern
auch innerhalb der Octave durch verſchiedene Tonhöhe der einzelnen Tonſtufen
differiren, ſofern mit der Verſchiebung des Grundtons auch andere Leitertöne
in gleichem Verhältniſſe verändert, erhöht oder erniedrigt werden müſſen, damit
die Intervallverhältniſſe innerhalb der jedesmaligen neuen Leiter dieſelben bleiben.
2.Durch dieſes Auseinandergehen in verſchiedene Tonarten erhält das Tonſyſtem
einen neuen Zuwachs an concreter Gliederung; unter den einzelnen Tonarten
treten nämlich die mannigfaltigſten Verhältniſſe näherer oder fernerer Ver-
wandtſchaft hervor, welche die Grundlage des für die Muſik ſehr wichtigen
Verfahrens der Modulation, der Abwechslung mit Tonarten, abgeben;
3.deßgleichen erhält jede Tonart hauptſächlich durch die Höhe, die ſie innerhalb
des geſammten Tonſyſtems einnimmt, einen eigenthümlichen Klangcharakter.
1. Dem allgemeinen Unterſchied zwiſchen Dur und Moll iſt unter-
und beigeordnet der zwiſchen den auf den einzelnen Stufen der Tonſcala
entſtehenden Tonarten. Da was die ſpezielle Muſikwiſſenſchaft hierüber lehrt
vorausgeſetzt werden kann, ſo ſind nur die allgemeinern, für die Compoſition
bedeutenden Momente hervorzuheben. Und zwar zunächſt die Entſtehungs-
und hieraus ſich ergebenden Verwandtſchaftsverhältniſſe der verſchiedenen
Tonarten. In gewiſſem Sinne ſind natürlich alle, ſelbſt die auf den ent-
legenſten Stufen aufgebauten Tonarten unter einander verwandt, ſofern alle
in ſtetigem Fortgange letzlich aus Einer Tonart, die um einen feſten Aus-
gangspunct zu haben als „Normaltonart“ angenommen wird, entſtehen
durch Erhöhung oder Erniedrigung einzelner Stufen um einen Halbton,
die vorgenommen wird, um das Intervallverhältniß (nach Dur oder nach
[873] Moll), das durch den neuen Grundton verſchoben war, herzuſtellen.
Bleiben wir zunächſt bei den Durtonarten ſtehen, ſo bilden ſich neue Ton-
arten einmal durch Fortgang vom Grundton („Tonica“ der Tonart) zur
Quint; aus jeder Tonart entſteht, wenn ihre Dominante (Oberquint) als
Tonica einer neuen Scala genommen wird, eine zweite Tonart, die nur
durch einen einzigen, um eine kleine Secund erhöhten Ton von der erſten
verſchieden iſt, ſonſt aber noch alle Tonſtufen mit ihr gemein hat; ſo aus
der als Normaltonart angenommenen Tonart C die nächſtverwandte Ton-
art G mit fis, um die große Septime herzuſtellen u. ſ. w. Indeß ſo ſtetig
dieſer Uebergang von der einen zur andern Tonart iſt, ſo zeigt ſich doch bald,
daß jede ſpätere Tonart immer wenigere Töne mit den frühern gemein hat;
unter den Tonarten, die ſelbſt erſt auf erhöhten Tönen entſtehen (Fis,
Cis u. ſ. w.), hat nur noch Fis einen Ton (h) mit C gemein, ebenſo H
nur noch 2, E nur noch 3. Ein zweiter Weg, neue Tonarten zu bilden, iſt
das Herabgehen zur Unterquint (Oberquart), von C zu F, F zu B u. ſ. f.
Auch hier entſteht mit jeder neuen Tonart eine Differenz um einen halben
Ton, nur daß hier nicht die Septime um einen Halbton erhöht, ſondern
die Quart um einen Halbton erniedrigt wird, h zu b u. ſ. f. Dieſe letztern
Tonarten entſtehen ſomit auf eine ähnliche Weiſe wie die Molltonarten
durch Verkleinerung der Intervalle der Durtonart, und es werden daher
auch in der Wiſſenſchaft wie in der Praxis (z. B. beim Spiel auf Streich-
inſtrumenten) die Btöne der Dur- mit denen der Molltonarten als voll-
kommen identiſch angenommen, während die durch Erhöhung entſtehenden
Töne, die Kreuztöne (und die auf ihnen errichteten Tonarten), wie dieß die
Acuſtik nachweist und auch das Gefühl natürlich findet, ſtreng genommen
etwas tiefer liegen als die ihnen entſprechenden Btöne (z. B. ais tiefer als b,
cis tiefer als des u. ſ. f.); jene ſind dem urſprünglichen Tone (z. B. a)
noch näher liegende, kleine, dieſe aber in Verhältniß zu ihm große Halb-
töne. Bei der jetzigen Einrichtung des Tonſyſtems verſchwindet allerdings
wenigſtens für die Taſteninſtrumente dieſer Unterſchied vollkommen, weil
hier der Einfachheit wegen die Vorkehrung getroffen iſt, daß die entſprechen-
den B- und Kreuztöne durch eine und dieſelbe Taſte angeſchlagen, durch
dieſelbe Saite u. ſ. w. hervorgebracht werden; aber ein Gefühl des Unter-
ſchieds bleibt immer, namentlich bei der Führung der Streichinſtrumente und
ebenſo für die tonbildende Phantaſie zurück, ein Gefühl, das z. B. nicht
geſtattet, Tonarten, die auf dem Klavier ganz identiſch ſind, wie As und Gis,
als wirklich identiſch aufzufaſſen; As bleibt mit F, Es mit C näher verwandt
als Gis und Dis. Auch eine andere verwandte Einrichtung des gegenwärtigen
Tonſyſtems ſchwächt die Unterſchiede der Einzeltöne und Tonarten ab, die
ſog. gleichſchwebende Temperatur oder Herabſtimmung der Quinten; ſie hat
den Zweck, eine merkwürdige Differenz der Tonhöhe zu heben, die, wenn
57*
[874]die Quintendiſtanz rein oder voll (d. h. einfach als 2:3) genommen und
bei der Stimmung zu Grunde gelegt wird, ſich ergibt (indem z. B. bei
einer Reihe von zwölf reinen Quinten, die räumlich einer Reihe von ſieben
Octaven gleichſteht, der oberſte Ton dieſer Quintenreihe nicht in reinem
Octavverhältniß zu dem Tone, mit welchem die beiden Reihen gemein-
ſchaftlich begannen, ſondern um etwas höher ſteht, daher die Quinten und
mit ihnen die übrigen Nebenintervalle durch das ganze Tonſyſtem hindurch
etwas kleiner genommen werden, um überall Gleichheit und Octaveneinklang
herzuſtellen); auch dieſe gleichſchwebende Temperatur hat zur Folge, daß die
Octav ſich in zwölf völlig gleiche Halbtöne zerlegt und ſo die feinern Unter-
ſchiede zwiſchen großen und kleinen Halbtönen auf allen ſo geſtimmten In-
ſtrumenten verſchwinden. Allein ganz können auch hiedurch die urſprüng-
lichen Differenzen nicht verwiſcht werden; im Geſang oder bei der Begleitung
der Klaviere durch Streichinſtrumente machen ſie ſich unwillkürlich zum Nach-
theil der Tonreinheit geltend, indem auf letztern Terz, Quint u. ſ. f. dem
natürlichen Gefühle gemäß und ſomit reiner gegriffen werden. Daſſelbe iſt
der Fall mit den Kreuz- und Btönen, und es kann daher der Unterſchied
der beiderſeitigen Tonarten nie ganz verſchwinden, die Btonarten bleiben
von den andern für den innern muſikaliſchen Sinn ſtets geſchieden, ſo wenig
ſie auch in der Praxis überall auseinander gehalten oder von einem weniger
feinen Gehör überall ſicher unterſchieden werden können. Unter den Moll-
tonarten finden, wie ſich von ſelbſt verſteht, dieſelben Verwandtſchaftsver-
hältniſſe ſtatt wie unter den Durtonarten; diejenigen, welche unter ſich am
meiſten Töne gemein haben, ſtehen einander näher als die, bei welchen dieſe
Coincidenz abnimmt. Zwiſchen Dur- und Molltonarten aber findet ein
zweifaches Verwandtſchaftsverhältniß ſtatt: Dur- und Molltonarten, die den
Grundton mit einander gemein haben, bleiben aller Differenz ungeachtet
immer weſentlich verwandt, „Schweſtertonarten,“ einmal weil ſie dieſelbe
Lage innerhalb des ganzen Tonſyſtems haben; ſodann differirt die auf-
ſteigende Molltonart von der entſprechenden Durtonart in der Septime oder
auch in der Sext nicht, und eine weitere Annäherung iſt vorhanden in den
Accorden, ſofern ein Hauptaccord der Molltonart (z. B. C moll), der Drei-
klang auf der Dominante (g h d), identiſch iſt mit dem der Durtonart; es
muß nämlich der Dominantdreiklang der Mollleiter nothwendig die große
Terz (h) haben, da ſonſt die hier eben durch ſie zu vermittelnde enge Ver-
bindung (h c) mit dem Accord auf der Tonica c es g (g c es), eine enge
Verbindung, die wegen des ſtetigen Fortſchritts vom einen zum andern
durchaus nothwendig iſt, verloren gehen würde. „Paralleltonarten“ da-
gegen ſind die Dur- und Mollleitern, welche, wenigſtens in abſteigendem
Moll, alle Töne gemein haben, wie A moll und C dur, C moll und Es dur;
dieſe Verwandtſchaft iſt ſehr wichtig, ſofern ſie leichte, ſchnelle, frappante
[875] Uebergänge aus Moll in Dur und zwar in eine ſonſt auf verſchiedener
Höhe ſtehende Durleiter und umgekehrt möglich macht.
2. Die ältere Muſik trennte noch nicht zwiſchen Tongeſchlecht, Tonart,
Tonleiter; ſie ſtellte ihre Tonweiſen als feſte Typen neben einander; ſie
machte jede Stufe der Cſcala (h ausgenommen, weil h d f mit ſeinen zwei
kleinen Terzen keinen Drei-, weder Dur- noch Molldreiklang ergibt) zu einer
eigenen beſondern Tonweiſe, die Scala ſpaltete ſich für ſie in verſchiedene
Klanggeſchlechter, die nur beſchränkter Combinationen unter einander fähig
waren; doch konnte ſchon damals jede Tonart auch aufwärts oder abwärts
um ein Quartenintervall, z. B. die ioniſche Tonart (C) nach f (hyperioniſch)
oder g (hypoioniſch), ja bereits auch ausnahmsweiſe auf ſonſtige Stufen
der Leiter willkürlich verlegt werden. Die neuere Muſik hat mit Recht alle
dieſe Schranken vollkommen abgeworfen, ſie geſtattet auf jeder Stufe des
Tonſyſtems auch jedes Tongeſchlecht, Dur wie Moll, aufzubauen; die
muſikaliſche Bewegung wird hiedurch, ſowie durch ein Accordſyſtem, das die
Uebergänge erleichtert und vermannigfaltigt, weit freier und belebter; die
Muſik kann ſo nach Belieben Dur und Moll auf höhern oder niedern
Tonſtufen ertönen laſſen und ebenſo innerhalb des einzelnen Tonwerks die
vielfältigſten Uebergänge, Ausweichungen, „Modulationen“ in nähere oder
entferntere, verwandte oder diſparate Tonarten des einen oder andern
Klanggeſchlechts vornehmen; das jetzige Tonſyſtem erſt iſt ein ebenſo bunt
mannigfaltiges als flüſſiges Material, deſſen Elemente eine nicht zu berech-
nende Menge der verſchiedenartigſten Abwechslungen und Verſchlingungen
geſtatten, ohne den Künſtler durch irgend ein anderes Geſetz als durch das
des Wohlklangs ſowie der Faßlichkeit, Stetigkeit, Natürlichkeit, Motivirtheit
des Fortgangs zu binden. Kurz die freie Auswahl und Gegenüberſtellung
der Tonarten und ihre Combinirung oder die Modulation iſt in der neuern
Muſik mit Recht in den Vordergrund getreten; an ihr hauptſächlich hat ſie
ein formelles Element charakteriſtiſcher und lebendiger Mannigfaltigkeit er-
rungen, das ihr eine Art von Erſatz gewährt für die ihr ſonſt abgehende
concrete Geſtaltenfülle. Der Contraſt der Tonarten mehrerer Tonſätze und
ihr Wechſel innerhalb des einzelnen Tonſatzes iſt der Wirkung nach mit
nichts beſſer zu vergleichen als mit einem Contraſt und Wechſel von Scenen
und Scenerien, die an dem Auge des Zuſchauers vorübergehen; die Muſik
führt uns mit ihrem Tonartenwechſel herum in verſchiedenen Regionen des
Tonſyſtems, deren jede uns wieder anders als die vorhergehende anſpricht,
ſie führt uns oft in einfacherem Gange blos von einer Tonart zu einer
nächſtverwandten, ſo daß der Wechſel weniger bemerkbar wird, ſie verſetzt
uns aber ebenſo leicht mit einem Male oder mittelſt Uebergängen, die ſchnell
von der Grundtonart weiter abführen, hinein in Tongänge, welche ganz
neu, ja fremdartig klingen, wie eine Epiſode, die dem Ganzen doch Reiz
[876] verleiht, ſie kann weiterhin auch die Modulationen in raſcher Aufeinander-
folge häufen, wie im Sturm uns von einer Tonart in die andere treiben,
bis am Ende die Grund- oder nächſtverwandte Tonart wieder hervortritt
und ſo der bunte Wechſel wieder zur Ruhe gebracht, die verloren ſcheinende
Einheit des Ganzen mit ſich ſelbſt hergeſtellt wird. In der Mannigfaltigkeit
der Gedanken, die Ein größerer Tonſatz umfaßt, ſind der Muſik ziemlich
beſchränkende Grenzen geſetzt, da ſonſt kein einheitliches Kunſtwerk, ſondern
ein Melodieenaggregat entſtünde; aber die Modulation gleicht dieſe Be-
ſchränkung wieder aus, ſie läßt die Gedanken in verſchiedenen Lagen und
dadurch mit verſchiedenem Klang- und Stimmungscharakter auftreten, zeigt
ſie wechſelnd in neuen Farben und Stellungen, ganz in dem Maaße und
Umfange, wie der Gang und Charakter des einzelnen Tonwerks es fordert.
Vielheit der Gedanken und Modulation ſtehen daher häufig in umgekehrtem
Verhältniſſe; je mehr dieſe (und eine mit ihr Hand in Hand gehende
variirende Bearbeitung der Gedanken) die Hauptſache iſt, deſto eher kann
ein Tonſatz ſich auf wenige Hauptgedanken beſchränken, wogegen mannig-
faltige Modulation entbehrlicher wird, wenn der Gedankenentwicklung freier
Lauf gelaſſen iſt (man vergleiche z. B. die Ouvertüren zu Don Juan, Cosi
fan tutte, Titus, welche letztere ein Meiſterſtück von Modulation iſt, mit
der zu Figaro, deren ſprudelnder Erguß ſich viel nach rechts und links zu
wenden keine Zeit hat, ſondern mit Ausnahme weniger Seitenſprünge in
dem vereinigten Bette der Haupt- und ihrer Dominantentonart dahineilt).
Indeß auch da, wo die Modulation zurücktritt, iſt ſie von weſent-
licher Bedeutung, ſobald ein Tonſtück ſich nicht in ganz engen Grenzen
bewegt; ſie ſondert die verſchiedenen Hauptſätze von einander ab, ſie macht
die Wiederholung derſelben, wie ſie nothwendig iſt, um die Einheit des
Gedankens in einem Tonwerk feſtzuhalten, möglich ohne uniſone Einför-
migkeit, ſie gibt überhaupt der Muſik eine Freiheit, eine Möglichkeit der
Ausbreitung nach allen Seiten, die namentlich für pathetiſche, dramatiſche
Tonwerke unentbehrlich iſt, und von der nur da kein oder nur ein ſehr
ſparſamer Gebrauch gemacht wird, wo gerade durch Feſthalten der Grund-
tonart die Beſchränkung auf eine einfache Empfindung oder das Verharren
einer inniger gefühlten Stimmung in ſich ſelbſt veranſchaulicht, der Ton-
folge der Charakter der Einfachheit oder der an ſich haltenden Innigkeit
gegeben werden ſoll (wie z. B. in Liedern und liedartigen Inſtrumental-
ſätzen).
3. Die verſchiedenen Tonarten geben der Muſik ein Element der
Mannigfaltigkeit ſchon dadurch an die Hand, daß jede mehr oder weniger
nicht iſt was die andere, jede verſchiedene Töne und Tonverbindungen
(Accorde) hat, welche eben die Urſache davon ſind, daß die Abwechslung
mit den Tonarten ganz durch ſich ſelbſt vermannigfaltigend und hiedurch
[877] belebend, reizend u. ſ. w. wirkt. Allein es iſt eine weitere Frage, ob nicht
jede Tonart auch eine poſitive Charaktereigenthümlichkeit habe, welche ſie
für den Ausdruck einzelner Stimmungen, Empfindungen ſpezifiſch geeignet
mache, ſo daß das Verhältniß der Tonarten nicht allein jenes negative des
Unterſchiedes wäre, der blos in und mit ihrer contraſtirenden Gegenüber-
ſtellung hervortritt, ſondern auch ein inneres Verhältniß qualitativer Ver-
wandtſchaft und Differenz unter ihnen ſtattfände, etwa wie unter den Farben,
worüber §. 249 gehandelt iſt. Die muſikaliſchen Theoretiker neueſter Zeit
verweiſen den Glauben an beſondere Charaktere der Tonarten in das Gebiet
der Täuſchung und des Vorurtheils, während ältere Aeſthetiker, z. B. Hand,
ihn unbedenklich feſthielten; man wendet gegen ihn hauptſächlich dieß ein,
daß ſeit Einführung der gleichſchwebenden Temperatur ſich über jedem Tone
unſeres Tonſyſtems eine abſolut gleiche Stufenfolge erhebe und folglich von
einem Klangunterſchied zwiſchen den Tonarten, entſprechend dem zwiſchen
den Tongeſchlechtern, abſolut keine Rede ſein, ſondern blos die verſchiedene
Höhe der Lage des Grundtons und damit der Tonart überhaupt von
Einfluß auf ihren Klangcharakter ſein könne; alle übrigen Unterſchiede, die
man wahrzunehmen glaube, kommen darauf zurück, daß das Ohr durch die
herrſchende Orcheſterſtimmung und Klaviereinrichtung C dur als Grundtonart
und damit als den Ausdruck des Einfachen und entſchieden Klaren und
Kräftigen zu betrachten ſich gewöhnt habe und nun von hier aus jede andere
Tonart um ſo mehr ſich von jenem Charakter zu entfernen und vielmehr
dem Ausdruck aller gegentheiligen Empfindungen ſich darzubieten ſcheine,
je fremder ihre harmoniſchen Verhältniſſe denjenigen der Cdur-Harmonieen
ſind (ſo Zamminer, die Muſik in ihrer Beziehung zur Acuſtik S. 153).
Andererſeits wird durch den ſeit Jahrhunderten conſtanten Gebrauch einzelner
Tonarten für gewiſſe muſikaliſche Stimmungs- und Ausdrucksweiſen der
Gedanke doch immer nahe gelegt, ob nicht an der Lehre von den Tonarten-
charakteren irgend etwas wahr ſein möge, wenn auch natürlich nicht in der
Weiſe, daß eine Tonart heiter, eine zweite traurig, eine dritte ausgelaſſen,
eine vierte verzweiflungsvoll ſei — denn bei ſolchen Behauptungen trägt
man die Charaktere gewiſſer Tonſtücke auf ihre Tonarten über und iſt mit-
hin allerdings in völliger Selbſttäuſchung befangen, — wohl aber etwa ſo,
daß die Annahme einer Grundtonart und ebendamit die Vorſtellung von
beſtimmten Klangcharakteren der ihr ferner ſtehenden Tonarten keineswegs
Zufall ſei, ſondern wirkliche objective Gründe habe.
Als ſelbſtverſtändlich iſt von Allen zugegeben, daß es für ein Tonſtück
nicht gleichgültig ſein kann, auf welchem Tone der Scala es aufgebaut wird.
Jedes Stück durchläuft ſowohl mit ſeinen Melodieen als mit den begleiten-
den Harmonieen eine Reihe von Stufen, Intervallen, Regionen des Ton-
ſyſtems, ſeine melodiſchen und harmoniſchen Fortgänge kommen je nach
[878] Umſtänden bald in dieſe bald in jene Tonlage, ſie breiten ſich mehr oder
weniger in die Tiefe und Höhe aus, und da iſt es nun gar nicht gleich,
welchen Raum aus dem allgemeinen Tonſyſteme das Stück, ſeinem Haupt-
gange und ſeinen Haupttheilen nach betrachtet, gleichſam herausſchneidet,
welche Gebiete es vorzugsweiſe betritt, wie weit hinab oder hinauf ſeine
einzelnen melodiſchen Perioden, ſeine tiefern, mittlern und höhern Accorde
zu liegen kommen; ein Tonſtück aus C hat alle ſeine Lagen um einige
Stufen höher oder tiefer als eines aus G; in einem nach G transponirten
Stück dieſer Art werden Sätze und Accorde in ſehr verſchiedene Tonlagen
kommen, und es werden ſo beide durch dieſe verſchiedenen Poſitionen das
eine Mal einen tiefern, ſchwerern, dumpfern, das andere Mal einen höhern,
leichtern, ſchärfern Klangcharakter erhalten. Auch wird ein Tonſtück je nach
ſeiner Anlage von dieſer Tonſtufe, z. B. von C aus, ſich freier nach beiden
Seiten hin bewegen können, als etwa von G aus, indem der tiefſte und
höchſte deutlich vernehmliche und daher muſikaliſch brauchbare Ton der
Geſammtſcala eben das ſog. C nebſt ſeinen Octaven (16 u. ſ. w. Schwin-
gungen) iſt; doch iſt dieſer Punct von untergeordneter Wichtigkeit, da die
Ausbreitung nach den weiteſten Grenzen des Oben und Unten immer nur
Ausnahme iſt. Allein dieß iſt gewiß, daß die gewöhnlich gebrauchten, d. h.
die beſonders durch den Umfang der Menſchenſtimmen als normal vorge-
ſchriebenen Baß-, Tenor-, Alt- und Sopranlagen in jeder Tonart einen
eigenthümlichen Charakter und Klang haben, weil ſie in jeder etwas höher
oder tiefer liegen. Namentlich gilt dieß von den eigentlichen Mittel-
lagen (in den mittlern Octaven des Tonſyſtems). Ein Stück oder ein Satz
bewegt ſich ſtets und ſo auch in der Mittellage um ſeinen Grundton
herum; bei jeder Tonart aber ſteht der Grundton höher oder tiefer; ein
Variationenthema in der Mittellage von A (d. h. aus dem A der dritten
Violinſaite gehend) lautet daher gleich anders als eines in der Mittellage
von C (d. h. aus dem nächſthöhern C gehend); beide ſind nur um eine
kleine Terz von einander entfernt, aber das aus C gehende iſt immer höher,
leichter, heller als das andere, obwohl es mit wenigen Ausnahmen in der
Mitte bleiben wird. Setzen wir beide um eine Octave herab, ſo nimmt
das aus A gehende bereits einen ziemlich tiefen Ton an, das aus C weit
weniger, jenes iſt ſchon mehr Alt, dieſes weit mehr noch Sopran (deſſen
gewöhnliche Untergrenze bei der Menſchenſtimme eben das hier gemeinte C
iſt); ja es ſcheint hier ſogar das Reſultat ſich zu ergeben, daß C (was
freilich dann auch H und Cis ziemlich gleich zu gute kommt) für Tonſtücke,
die nun einmal eine Mittellage einnehmen wollen, einen größern Raum
gewährt als A oder G u. ſ. w., was von großer Bedeutung wäre, da auch
in größern Tonſtücken die Mittellage als Gegenſatz gegen die Extreme zu
beiden Seiten, als Region des Hellen und doch noch Vollen, Kräftigen
[879] und Runden immer eine Hauptregion bleibt. Wir ſtellen dieſen
Satz, daß C nebſt ſeinen Nachbartönen ſozuſagen die beſte Mittellage und
damit einen Vorzug in Bezug auf Helle und ruhige Tonkraft habe, daß es
zwei Octaventöne beſitze, die der Mittellage angehören, einen untern immer
noch hellen und einen obern immer noch nicht zu ſcharfen und ſpitzen,
während z. B. F, G, A ſie ſchon nicht mehr ſo haben, nicht als Behaup-
tung, ſondern als ein Ergebniß hin, das ſich vielleicht auch Andern beſtätigt;
wir können auch die weitere Vermuthung nicht unterdrücken, ob nicht über-
haupt C von Natur ſchon in einem freilich nicht näher zu erforſchenden
ſpezifiſchen Verhältniß zu unſerer Gehörorganiſation ſtehe, indem etwa der
Factor ſeiner Schwingungsgeſchwindigkeit dieſelbe in beſonderer Weiſe an-
ſpräche, ſo daß die Erwählung von C zur Grundtonart nicht ſo zufällig
wäre als es den Anſchein hat. Es iſt zwar natürlich und an einzelnen
Beiſpielen ſicher erwieſen, daß nicht alle Inſtrumente, Orcheſter, Stimm-
gabeln das gleiche C haben, indem z. B. bei franzöſiſchen und deutſchen
Theaterorcheſtern der gebräuchliche Normalton A zwiſchen 428 und 442
Schwingungen ſchwankt (Zamminer S. 13), aber es würde durch ſolche
Schwankungen an jenem Factor nur wenig verändert, und der Umſtand,
daß gerade C den erſten faßlichen Tiefton gibt, iſt doch vielleicht nicht ohne
Bedeutung. Ja es wäre ſogar nicht undenkbar, daß die Grundtonart ſelbſt
einem gewiſſen Schwanken, namentlich einer Inklination höher hinauf zu
rücken unterläge, indem es z. B. wohl möglich iſt, daß ein Zeitalter mehr
gedämpfte, ein anderes ſchärfere und höhere Töne haben will, wie ver-
ſchiedene Zeiten auch in Bezug auf ihre Anforderungen an kräftigen,
energiſchen Farbenton unter einander differiren; jenes hypothetiſch ange-
nommene ſpezifiſche Verhältniß des C zur Gehörorganiſation würde ſo zwar
um etwas alterirt, aber es würde auch da noch die letzte Grundlage für
die Bevorzugung der Ctonart bilden. — Von dieſen Vorausſetzungen aus
würde ſich der verſchiedene Charakter der Tonarten ſo beſtimmen: die einen
ſind in der Lage C benachbart und theilen ſeine Einfachheit, Kraft und
Helligkeit; bei B verſchwände die letztere ſchon, träte aber bei H Cis (Des), D
noch hervor, während andererſeits die beiden erſtern für das Gefühl etwas
Fremdartigeres und damit Bedeutſameres hätten, weil ſie in ihren Einzel-
tönen von C ſo ganz differiren. Es und E ſtehen ſchon höher und haben
daher in der Mittellage der beiden mittlern Octaven (oberhalb und unter-
halb des ViolinA) einen hellern, aber weniger kräftigen Klang, den z. B.
das unterſte SopranC durch ſeine und falls es begleitet iſt durch ſeiner
Accorde größere Tiefe hat; dieſe Einbuße an Kraft nähme zu bei den Ton-
arten F bis A, da dieſe, wenn ſie in der Mittellage bleiben wollen, noch
weniger als Es und E herabgehen können, und da ſie ebendamit innerhalb
der Sopranregion ſtets höher ſtehen als das unterſte SopranC, ohne doch
[880][andererſeits] wie C auch noch eine zweite immer noch tiefere Sopranlage
(C über dem ViolinA) einnehmen zu können. Andererſeits wären jedoch,
dem allgemeinen Gefühl entſprechend, F und G der Grundtonart auch wieder
näher verwandt durch die vielen Töne, die ſie mit ihr gemein haben,
während A und As nach dieſer Seite an E und Es, Fis an H ſich näher
anſchlöſſen. Weiter in’s Einzelne können die Differenzen nicht verfolgt
werden; es wäre durch das hier Bemerkte bereits hinlänglich erklärt,
warum C einfach, natürlich, kräftig, G einfach und natürlich ohne Kraft,
D wiederum energiſch und klangvoll, aber C ſchon unähnlicher, A leicht
und weich, E weich, aber noch gewichtiger und bereits weniger gewöhnlich,
H kräftig, aber ungewöhnlich und damit bedeutſam, F mit G aber auch
mit E verwandt und daher ſanft ohne leer zu ſein, B dumpfer als C, aber
an F in Weichheit anklingend, Es weich und gehaltvoll, aber noch natür-
licher (C noch ähnlicher) als E, As weich wie G, aber in ähnlicher Art
wie E weniger gewöhnlich erſcheint. Die Inſtrumente bringen freilich noch
weitere Unterſchiede hinzu und entſcheiden damit häufig über die Wahl des
Componiſten unter den Tonarten; auf Saiteninſtrumenten iſt E dur be-
ſonders klangvoll, die Blechinſtrumente klingen um ſo glänzender, je höher
ihre Stimmung iſt, z. B. in D und E dur, wogegen z. B. in B ihr Klang
ernſter iſt; auf dem Klavier bringen die Obertaſten eine etwas andere
Wirkung hervor als die übrigen, ſo daß an der hiemit entſtehenden ver-
ſchiedenen Klangfarbe der Tonarten dieſes Inſtrument gewiſſermaßen einen
Erſatz hat für die ihm ſonſt fehlende Tonmannigfaltigkeit. Der eigenthüm-
liche Klang einer Tonart (beſonders des Dreiklangs auf der Tonica) in den
mittlern Lagen, wie derſelbe bedingt iſt durch die Höhe der Scala, und die
größere oder kleinere Verwandtſchaft mit der Ctonart iſt es ſomit, was den
Tonartencharakteren zu Grund zu liegen ſcheint; was ſich aus dieſen zwei
Verhältniſſen nicht ergibt, iſt allerdings bloßes Vorurtheil. Die Mollton-
arten theilen natürlich den Charakter ihrer Schweſter- und Paralleltonarten,
daher z. B. C moll ſich kräftiger anläßt als G moll; aber ſpezieller hierauf
einzugehen wäre überflüſſig. — Mit den Anſichten Zamminer’s (a. a. O.)
kommt das Bisherige überein, nur daß wir auf die Tonhöhe mindeſtens
gleiches Gewicht, wie auf das Verhältniß zur Ctonart legen, und daß wir
den normalen Charakter der letztern für bloßen Zufall zu halten uns nicht
entſchließen können. Wenn früher in §. 752 geſagt iſt: „da die einzelne
Stimmung ihre individuelle Farbe hat, ſo wird in dieſen dunkeln Vor-
gängen (die eben den Charakter der Einzelſtimmung bedingen) auch etwas
ſein, was der Tonart entſpricht, eine Neigung ſich auf einer beſtimmten
Vibrationshöhe der Seele feſtzuſetzen, ſie zur Baſis des Gefühlsverlaufs
zu nehmen, von ihr auszugehen, auf ſie zurückzutreten,“ ſo iſt auch dort
auf die Tonhöhe der Hauptnachdruck gelegt; jede Stimmung wird gewiß
[881] zunächſt auf diejenige Tonart verfallen, deren durch ihre Höhe beſtimmter
(in den Mittellagen am klarſten hervortretender) Klangcharakter ihr un-
mittelbar entſpricht.
§. 774.
Töne des Geſammttonſyſtems können nicht blos nach einander, ſondern
auch zu gleicher Zeit erklingen; durch dieſe Gleichzeitigkeit kommt in das
Tonmaterial ein neues, obwohl in den Intervallverhältniſſen (§. 770) bereits
vorgebildetes Moment, das der Einſtimmung und Nichteinſtimmung, Harmonie
und Disharmonie. Das Zuſammenklingen einer Mehrheit verſchiedener Töne
kann je nach den Intervallverhältniſſen, in welchen ſie ſtehen, entweder völlig
befriedigen, oder Gehör und Gefühl unbedingt verletzen, oder auch den nicht
verletzenden, ſondern nur beunruhigenden Eindruck eines Zuſammengefaßtſeins
ſich nicht zuſammenreimender Töne in Eins und damit einer Spannung unter
ihnen hervorbringen, welche einerſeits auf das Gefühl ſelbſt ſpannend, auf-
regend und in dieſer Beziehung nicht mißfällig (vielmehr intereſſirend) wirkt,
andererſeits aber doch gebieteriſch eine Wiederaufhebung oder Löſung verlangt.
Unter dieſen drei Fällen kann der zweite, der Mißklang, die ſchlechthinige
Diſſonanz, nur als kurzes, raſch verklingendes, jedoch auch ſehr wirkſames
Durchgangsmoment gebraucht werden. In den beiden andern iſt ein Zuſammen-
klang zuſammenhörbarer Töne, ein Accord, im erſten ein einfach conſonirender,
im zweiten ein diſſonirender, gegeben; beide begreifen unter ſich verſchiedene
Unterarten von charakteriſtiſcher Wirkung und Bedeutung für die Tonver-
knüpfung.
Ein Verhältniß des Zuſammenklangs und zwar der Einſtimmigkeit
kam uns ſchon bei der Octave vor, und eben dort wurde auch darauf hin-
gedeutet, daß Intervalle, wie 1 3 5, 1 4 6 wohltönende Zuſammenklänge
oder Accorde geben, wie die Octave einen das Gefühl befriedigenden Ein-
klang ergibt. Streng genommen ſind jedoch Zuſammenklang und Accord
nicht ganz identiſch, indem ein Zweiklang, 1 und 3, 1 und 5 gewöhn-
lich noch nicht Accord genannt wird; zum Accord gehört eine Mehrheit von
Tönen, er iſt erſt da, wo beide Momente, das der Einheit und das der
Mannigfaltigkeit, vollſtändig vertreten ſind und eben aus der Mannig-
faltigkeit Einheit heraustönt; ein Accord iſt immer ſchon ein Tonganzes,
er gewährt die Befriedigung eben eines aus einem größern Ganzen ſich
ergebenden, concreten Zuſammenklanges. Aber die Elemente des Accords
ſind zunächſt allerdings eben conſonirende Intervalle, und das Accordver-
hältniß beruht daher ſchließlich ganz auf denſelben Momenten, in welchen
die §. 769 beſprochenen Intervallbeziehungen ihre Urſachen haben. Nur Eine
Ausnahme findet ſtatt; das Secund- und das Septimenintervall begründen,
[882] ſo befriedigend namentlich das erſte als Intervall an ſich, als Nacheinander
der beiden Töne iſt, keine Conſonanz, ſondern mehr oder weniger ſtarke
Diſſonanzen, die ſtärkſte die kleine Secund, ſchon geringere die große Secund
und große Septime, die geringſte die kleine Septime. Bei der großen
Wichtigkeit der Conſonanz und Diſſonanz für die Muſik verlohnt es ſich,
ihren phyſikaliſchen Bedingungen wo möglich auf den Grund zu ſehen, und
zu dieſem Behufe zunächſt das bloße Zuſammenklingen der Hauptintervalle,
aus welchem dann weiterhin die Accorde ſich bilden, in Betracht zu ziehen,
wobei ſich zugleich wieder zeigen wird, daß auch hier Bewegungsverhältniſſe,
Rhythmen es ſind, was über Conſonanz [und] Diſſonanz entſcheidet. Die
Octav macht den wohlthuenden, aber abſtracten, leerlaſſenden Eindruck
abſoluten Zuſammenſtimmens eines höhern und tiefern, ſchärfern und
weniger ſcharfen Tones. Da nämlich hier immer 2 Schwingungen des
obern Tones auf 1 des untern kommen, ſo iſt das Verhältniß dieß, daß
1) die Schwingungen beider möglichſt oft mit einander coincidiren,
indem nur 1 Plusſchwingung des obern Tons zwiſchen 2 Coincidenzen der
beiderſeitigen Vibrationen hineinfällt, und daß ebenſo 2) beide Töne ganz
nach demſelben Geſetz, ganz regelmäßig ſchwingen, indem der eine
gerade um’s Doppelte ſo ſtark ſchwingt als der andere; der obere folgt der
Schwingungsſchnelligkeit des untern, der untere gibt die Schwingungs-
ſchnelligkeit auch für die Schwingungen des obern an, ſchließt dieſe bereits
ganz in ſich, und die Plusſchwingungen des obern fallen genau in die
Mitte zwiſchen die coincidirenden Schwingungen (wie im \frac{4}{4} Takt 2 in die
Mitte von 1 und 3). Das Ohr fühlt daher einerſeits in wohlthuender
Deutlichkeit nach oben zu eine um’s Doppelte beſchleunigte oder geſchärfte
Erregung, aber es empfängt andererſeits auch den Eindruck 1) abſoluter
Congruenz und 2) abſolut regelmäßiger Bewegung, und dieſer Eindruck iſt
theils abſtract und leer wegen der faſt bis an Identität reichenden Con-
gruenz, theils auch wiederum wohlthuend, ſofern Congruenz und nicht
minder die Regelmäßigkeit auf das menſchliche Gefühl, vielleicht auch ſchon
auf das phyſiſche Senſorium, doch ſtets anſprechend und befriedigend ein-
wirkt. Bei der Quint kommen 2 untere Schwingungen auf 3 obere; hier
alſo tritt 1) die Coincidenz erſt ein nach der dritten der obern Schwingungen,
d. h. ſchon nicht ſo oft (im Verhältniß zu der Geſammtzahl aller Vibrationen),
wie bei der Octave, es ſind hier ſchon mehr nicht coincidirende Schwingungen
beiderſeits vorhanden; und 2) ſind die auf die Coincidenzmomente folgenden
obern Schwingungen nicht mehr in jenem einfach regelmäßigen Verhältniß
zu den entſprechenden untern, beide treffen nicht mehr ſozuſagen gleichmomentig
zuſammen, ſondern ſind nur im Allgemeinen gleichzeitig, ſie verſchieben ſich
gegen einander (wie Achtelstriolen gegen Achtel ſich verſchieben). Darum
findet ſich das Gehör hier in verſchiedenartiger Weiſe erregt, es wird nach
[883] zwei incongruenten Bewegungen hin gleichſam auseinandergezogen; durch
das baldige Wiedereintreten der Coincidenz wird jedoch dieſe Incongruenz
immer wieder zur Congruenz aufgehoben, und auch in der Incongruenz ſelbſt,
wie ſie hier iſt, liegt nichts Verletzendes, die beiden Bewegungen ſind ja
einerſeits ſo verſchieden von einander, daß ſie ein klares und darum an-
ſprechendes Gefühl zweier geſchiedener Tonerregungen geben, und ſie paſſen
andererſeits auch wieder zu einander, indem die obere Bewegung 1 ½mal
ſo ſchnell iſt als die untere, was immer noch ähnlich wie bei der Octav
ein ſehr einfaches, regelrechtes, harmonirendes, in ſeiner ſteten Wiederkehr
Seele und Nerv wohlthuend anſprechendes Verhältniß iſt. Aehnlich iſt es
bei der Terz, nur daß hier mehr als bei der Quint wohlthuender Ein-
druck der Congruenz ſtattfindet. Bei der Terz tritt die Coincidenz allerdings
erſt ein nach 4 Schwingungen des untern Tones oder nach 5 des obern,
und ſo empfängt auch hier das Ohr den Eindruck weſentlich verſchiedener
und auf verſchiedene Momente fallender Bewegungen, es wird getheilt,
(distrahirt) zwiſchen einer 4- und einer 5momentigen, zwiſchen einer
langſamern untern und einer 1 ¼mal ſchnellern (ſchärfern) obern Bewegung.
Aber dieſe Verſchiedenheit iſt wohlthuend, weil ſie immer noch den Eindruck
eines Unterſchiedenen und noch nicht den des Verworrenen gibt; ſie gewährt
zwar keinen ſo diſtincten Eindruck der Verſchiedenheit wie die Quint, aber
nach anderer Seite hin doch mehr Befriedigung; die 5theilige Bewegung
liegt der 4theiligen noch näher als die 3theilige der 2theiligen, ſo daß mit-
hin das befriedigende Gefühl im Unterſchiede doch etwas eng Verwandtes,
etwas ganz nahe Zuſammenpaſſendes, zwiſchen dem keine Lücke mehr iſt,
zu haben ſich ſtärker als dort einſtellt; es iſt dieß der „concrete“ Charakter
des Terzklangs im Gegenſatz zu dem immer noch abſtracten Quintenklang
(S. 862). Bei der Quart findet die Eigenthümlichkeit ſtatt, daß die
obere Bewegungszahl eine gerade (4), die untere eine ungerade (3) iſt.
Vermöge innerer Nothwendigkeit fühlt ſich das Gehör hier zu der geraden
(obern) als der regelrechtern ſtärker hingezogen, und daher eben, daß bei
der Quart der obere Ton als Hauptton gefühlt wird, kommt es wohl, daß
die Quart uns gefällt und natürlich erſcheint nicht als (untergeordnetes)
Intervall innerhalb der Octave (wo wir ja 3 und 5 vorziehen), ſondern
(S. 863) als untenliegende Dominante, als untere zum Grundtone
(deſſen Quint ſie innerhalb der Octave iſt) hinaufweiſende Quart; hier
haben wir den Grund des gebieteriſchen Hinaufweiſens der Dominante zum
über ihr liegenden Grundton, das weit ſtärker iſt als ſein Hinaufweiſen
zu ihr, wenn ſie über ihm liegt, und damit zugleich auch den Grund des
(erſt hier ſeine Erklärung findenden) Wohlgefallens am Abſchließen eines
Tonſtücks mit ſchnellem wiederholtem Wechſel zwiſchen unterer Quint und
Grundton, ſei es nun blos im Baſſe oder in der Melodie ſelbſt; ein
[884] ſolches Aufundab dieſer beiden Töne wirkt ebenſo belebend, aufregend,
ſofern es ein Hinundherhüpfen zwiſchen ſchon entferntern Tönen iſt, als
auch wiederum bewegung-abſchließend, ausathmend, indem in dieſer Figur
die bisherige mannigfaltigſt concrete Bewegung des Tonſtücks ſich ver-
einfacht zu einer Bewegung, in welcher nur noch der Alles abſchließende
Grundton ſelber mit ſeiner ihn immer wieder fordernden Dominante ſozu-
ſagen einen kurzen Wechſeltanz ausführt, um ſodann endlich wie alle andern
Töne auch ſie zu verabſchieden und allein als Schlußnote des Ganzen
ſtehen zu bleiben. — Ganz anders verhält ſich nun aber dieß Alles bei der
Secund. Beim großen Ganzton tritt die Coincidenz erſt ein nach der
achten Schwingung des untern, nach der neunten des obern (beim kleinen
Ganzton erſt nach \frac{10}{9}, beim Halbton erſt nach \frac{16}{15} Schwingungen), und
die zwiſcheninneliegenden Schwingungen beider Töne treten zudem alle in
verſchiedene Zeitmomente auseinander — dieß Beides gibt den Eindruck
eines weſentlich verſchiedenen Tones; — aber zugleich ſind nun die beider-
ſeitigen Vibrationen wiederum ſo wenig verſchieden, d. h. die Zeitmomente
der nicht coincidirenden Erzitterungen liegen einander ſo außerordentlich nahe
(indem die obere Vibration von der untern nur um ⅑, ⅒, \frac{1}{16} differirt
und zwar in einer ſchon an ſich ſelbſt außerordentlich ſchnellen Erregung),
und ſie wechſeln ihre Zeitſtellungen zu einander in ſo außerordentlich kleinen
Unterſchieden, daß neben der diſtincten Empfindung der Verſchiedenheit beider
Bewegungen doch der Eindruck einer complicirten Verworrenheit, eines
Hinundhergezerrtwerdens zwiſchen zwei verſchiedenen und doch ſtets in ein-
ander überfließenden Erregungen, der peinliche Wechſel zwiſchen Streben nach
Scheidung der beiden Töne und Unvermögen dieſe Scheidung zu haben ent-
ſteht. So macht denn das gleichzeitige Vernehmen von Nachbartönen den
Eindruck des Zuſammengedrängtſeins zweier heterogener und darum abſolut
auseinanderſtrebender Kräfte auf Einen Punct; es iſt der Eindruck des ab-
ſoluten Widerſpruchs, verletzender noch als eine Disharmonie der Farben,
beklemmend und zerreißend wie ein phyſiſcher Schmerz, und daher mit der
ſchlechthinigen, ſpannenden Erwartung alsbaldiger Wiederaufhebung des
Widerſpruchs verbunden. Am ſtärkſten iſt hier die Diſſonanz natürlich bei
der kleinen, ſchon ſchwächer bei der großen Secund. Das Verhältniß der
Schwingungen der Septime iſt dem der Secund verwandt; es iſt gleich-
falls ſehr complicirt, weil es ſich bereits dem Octavenrhythmus nähert, ohne
ihn doch zu erreichen; der Eindruck iſt daher hier ein ähnlicher, man hat
auch hier das Gefühl des Vereintſeins heterogener Töne; die Septime iſt
gewiſſermaßen ſelbſt nur eine umgekehrte und auseinander gerückte Secund,
da ihre Töne, wenn man der Prim ihre gleichlautende Octave ſubſtituirt,
im Secundenverhältniß zu einander ſtehen. Aber bei der großen Septime
(8:15) iſt der Eindruck der Diſſonanz dadurch etwas minder verletzend, daß
[885] wegen der großen Verſchiedenheit der Geſchwindigkeit der beiderſeitigen
Bewegungen doch ein weniger verworrener, vielmehr ein neben dem ſehr
diſtincter Eindruck der Tonverſchiedenheit und zugleich ein Gefühl des nur
noch kleinen Unterſchiedes der obern Bewegung von derjenigen, welche den
Octaveinklang herſtellen würde (16), vorhanden iſt (was bei der Secund
fehlt); durch dieſes Gefühl kommt die Empfindung des abſoluten Hin-
getriebenwerdens zum Octaveinklang und damit das Vorgefühl leichter
baldiger Auflöſung der Diſſonanz in die abſoluteſte Conſonanz herein, ſo
daß der Zuſammenklang ſchon nicht blos zerreißend und entzweiend, ſondern
ſpezifiſch ſpannend, forttreibend und daher mehr beunruhigend als verletzend
wirkt. Noch mehr iſt dieß der Fall bei der kleinen Septime (9:16
oder 5:9). Hier iſt gleichfalls, wenn auch weniger als bei der großen,
das Gefühl weiter Entfernung oder deutlicher Unterſcheidbarkeit der Töne,
das Gefühl in die höchſte innerhalb der Octave mögliche Region hinauf-
gehoben zu ſein, vorhanden; aber die beiden Bewegungen ſind in ihrem
Zuſammenſein doch weniger verworren (wie ſie es bei der großen Secund
weniger ſind als bei der kleinen), ſie treten mehr auseinander und ſtreben
daher auch weniger auseinander, und da zugleich die weite Entfernung
oder der große Bewegungsunterſchied die Empfindung des zu nahe Zuſam-
mengehörens auch wiederum mindert, ſo iſt hier gar kein eigentlicher, klar
bewußter Diſſonanzeindruck mehr vorhanden, ſondern ein dieſem Septimen-
zuſammenklang eben ſeinen eigenthümlichen Charakter und Reiz verleihendes
Gefühl einer dunkeln Unaufgelöstheit, einer weichern Spannung, einer
allerdings zu weit hinaufgreifenden, aber gar nicht ungefälligen Hebung.
Das nächſte conſonirende Intervall, zu welchem die kleine Septime hin-
treibt, iſt die blos um einen Halbton entfernte große Sext, das höchſte
nicht diſſonirende Intervall (3:5), das, wenn es für ſich allein mit der
Prim zuſammenklingt, einen ähnlichen Eindruck des Leeren und Hohlen,
jedoch zugleich mehr des Weiten und Gehobenen, gibt, wie die Quint, und
daher gleichfalls für die Harmonie von Wichtigkeit iſt. Daß kleine Terz
und Sext weniger rein und hell klingen, bedarf nach Früherem keiner weitern
Erläuterung mehr.
Auf der Grundlage der ſo eben betrachteten Zuſammenklänge der In-
tervalle erhebt ſich das reiche und doch einfache Syſtem der Accorde. Die
Bedingung des eigentlichen Accords iſt, daß er nicht etwa blos aus Grund-
ton Quint und Quart, Sext, Septime beſtehe, ſondern mindeſtens Ein
weiterer ergänzender Ton hinzutrete, ohne daß dieſer jedoch gerade räumlich
zwiſchen Grundton einer-, Quint u. ſ. w. andererſeits ſtehen müßte. Der
Accord muß mindeſtens Dreiklang ſein, damit die unbefriedigende Leere,
welche (mit Einer nachher zu erwähnenden Ausnahme) der bloße Zweiklang
beſonders größerer Intervalle an ſich hat, wieder aufgehoben, ein voller
[886] und enger Tonzuſammenhang hergeſtellt werde. Der Sinn für Harmonie
entwickelt ſich zwar ſowohl in der Geſchichte als bei einzelnen Individuen
in der Regel erſt ſpäter, weil es leichter iſt, dem einfachen Gange einer
Scale oder Melodie Schritt vor Schritt nachzufolgen, als zumal erklingende
Töne ebenſo zu unterſcheiden wie in der Unterſcheidung zugleich wieder als
Eins zu hören, wie überhaupt das Vorſtellen einzelner Dinge leichter iſt
als das Zuſammenſchauen coexiſtenter Mannigfaltigkeit, und in Folge dieſer
langſamern Entwicklung des Sinnes für Harmonie kommt es allerdings,
z. B. in der mittelalterlichen Muſik und im Volksgeſange vor, daß eine
Melodie blos mit Quinten, Quarten, Terzen in einförmigem Gange be-
gleitet und ſchon darin eine gewiſſe Befriedigung des Bedürfniſſes nach
Harmonie gefunden wird; aber es iſt dieſes eine Stufe unreifer Entwicklung,
die gegen die Naturgemäßheit und gegen den Vorzug vollerer Harmonieen
nichts beweiſen kann. Genauer betrachtet beſteht der conſonirende Accord
aus zwei unmittelbar neben einander liegenden Terzen, und zwar normaler
Weiſe aus einer großen und kleinen, c e, e g, oder muß er ſich doch darauf
zurückführen laſſen, wie dieß z. B. bei e c g, g c e, g e c der Fall iſt, oder
der conſonirende Accord iſt im Prinzip nichts Anderes als Tonica und
Quint mit dazwiſchenliegender Terz. Im diſſonirenden Accord dagegen,
im Septimenaccord (g h d f) und ebenſo im Nonenaccord (g h d f a), ſteckt
dem früher über die Septime Bemerkten zufolge, obwohl er auch aus Terzen
aufgebaut ſcheint, doch ein Secundverhältniß, im letztern ſogar ein doppeltes,
da der Grundton, in der Octave genommen, obere Secund des Septimen-
tons und untere Secund der None iſt, und dieſes Secundverhältniß, um
deß willen dieſe Accorde eben diſſonirende ſind, tritt in den ſog. Umkehrungen
des Septimenaccords, nämlich im ſog. Secundaccord (f g h d), Terzquart-
accord (d f g h) und Quintſextaccord (h d f g), geradezu hervor und gibt
dieſen Umkehrungen bereits einen weniger gefälligen, etwas dumpfern und
härtern Charakter; beim Septimenaccord mit großer Septime und beim
Nonenaccord kann der Aufbau in Terzen ohnedieß weit weniger leicht
verlaſſen werden, damit nicht z. B. bei letzterem 3 Nachbartöne (a g h)
unmittelbar neben einander kommen und ſo eine gräuliche Diſſonanz ent-
ſtehe. Bei den conſonirenden Accorden iſt die Terz das vermittelnde Glied,
welches die Leere ausfüllt; bei den diſſonirenden dagegen iſt der Aufbau
in Terzen das auseinanderhaltende Moment, das die Secundtöne trennt,
damit ſie nicht zu ſtark diſſoniren. Die Terz ſelbſt aber bedarf den Hinzu-
tritt eines dritten Klanges nicht nothwendig; Tonica, Terz und Octave
tönen ſchon für ſich allein zwar nicht klangreich, aber doch befriedigend,
indem durch das Hinzutreten der Octave dem ſchon für ſich wohllautenden
Terzzweiklang, dem nur nach oben eine abſchließende Abrundung fehlt,
dieſer Abſchluß in hinreichender Weiſe zu Theil wird; es ſcheint dieſe
[887] Eigenthümlichkeit der Terz eine Anomalie zu ſein, aber ſie beweist vielmehr
das vorhin und ſchon früher Ausgeſprochene, daß die Terz wegen der kleinern
Diſtanz ihrer Töne das iſt, was die volllautende Harmonie oder den Accord
bedingt. Dieſer eigenthümliche Charakter der Terz zeigt ſich dann auch darin,
daß im Septimenaccord (g h d f) eine Terz, d, h, wegfallen kann, ohne daß
er aufhörte Accord zu ſein; die eine überbleibende Terz läßt auch hier keine
Leere empfinden. Das Geſetz, daß in einem Zuſammenklang keine Leere ſein
darf, wenn er ein Accord ſein ſoll, ſchließt aber auf der andern Seite eine
Anwendung weiterer Intervalle in der Harmonie nicht aus; die weite
Lage der Accordtöne, z. B. e c g, c g e, g e c, e c g c u. ſ. w. kann vielmehr,
theils wenn dieſe Accorde eine über ihnen liegende Melodie begleiten, theils
auch wenn ſie allein auftreten, von ſehr treffender Wirkung ſein, durch die
Helligkeit und Klarheit, welche durch dieſe Auseinanderhaltung der zuſam-
mengehörenden Töne entſteht, oder durch den Ausdruck des Umfaſſenden,
Großartigen, der eben dadurch hervorgebracht wird, daß wenige Töne einen
weiten Raum des Tongebiets umſpannen; ja ſelbſt die bei dieſer Lage noch
bleibende, freilich nur relative Leere kann zu dieſem Eindruck des Bedeut-
ſamen mitwirken.
Nach ihrem Charakter und ihrer Bedeutung innerhalb eines ſich fort-
bewegenden Tonganzen unterſcheiden ſich die Accorde nicht blos in conſonirende
und diſſonirende, ſondern zugleich einestheils in ſelbſtändige und ſich
ſelbſtgenügende, anderntheils in unſelbſtändige, überleitende, Uebergang
und Auflöſung in andere Harmonieen poſtulirende Accorde, welche letztern
wiederum in verſchiedenen, theils nähern, theils entferntern Verwandtſchafts-
verhältniſſen zu den erſtgenannten ſtehen. Selbſtändig ſind die ſogen. Dur-
oder Molldreiklänge, c e (es) g; jedoch haben ſie, wie dieſes eigentlich
ſchon mit dem §. 770 über den Schluß mit Terz und Quint Bemerkten
geſagt iſt, dieſe Eigenſchaft nur, wenn die Octave der Tonica hinzutritt.
Wie der Fortgang durch die Intervalle der Prim, Terz, Quint, Octav ſich
ſelbſt genügender concreter Wohllaut iſt, ſo auch ihr Zuſammenklang; er
wird für ſich mit Befriedigung vernommen, er iſt der einfachſte Anfang
und der einzige, ein Tonganzes wirklich abrundende und zu wirklichem Ende
bringende Schluß, falls dieſer nicht ohne allen Accord gemacht wird; er iſt
der muſikaliſche Ausdruck abſoluter Befriedigtheit, der Sammlung, der Rück-
kehr in ſich ſelbſt, des Ruhens und Behagens, mit dem alle Bewegung
austönt und verklingt. Heiterkräftig iſt natürlich nur der Durdreiklang,
während der Molldreiklang dumpf, ernſt oder ſehnſüchtig ahnend ſich ver-
nehmen läßt und daher auch am Schluß nicht ſo abſolut befriedigt, wie
der erſtere. Der Dreiklang mit Octav kommt allerdings auch als über-
leitender Accord vor, indem er anderen, nachfolgenden Accorden, z. B.
c f a c, c e g b, den Weg bahnt. Es iſt ein allgemeines Geſetz, daß von
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 58
[888]jedem Accord aus, ſei es nun durch Aenderung einzelner ſeiner Töne oder
aller zuſammen in jeder Richtung fortgeſchritten werden kann, wenn der
Fortgang nur natürlich iſt, welche Natürlichkeit namentlich, obwohl nicht
ausſchließlich, dann vorhanden iſt, wenn wenigſtens an Einer Stelle der
Fortgang eine (ſtetige) Halbtonbewegung (S. 853) iſt; von dieſem Geſetz
macht der volle Dreiklang keine Ausnahme, aber er unterſcheidet ſich doch
dadurch, daß er auch für ſich gültig und befriedigend iſt, und er behält auch
als überleitender Accord einen Charakter natürlicher und ruhiger Harmonie,
den andere Accorde nicht haben. Unſelbſtändig, überleitend iſt bereits der
Dreiklang ohne obere Octav, weniger noch in ſeiner urſprünglichen Lage c e g,
die unter gewiſſen Bedingungen einen ganz guten Schluß und einen durch-
aus befriedigenden Anfang gibt, aber ſchon mehr in ſeinen „Umkehrungen,“
die durch Hinabſetzung der Terz oder Quint unter die Tonica entſtehen,
e c g (Sextaccord), g c e (Quartſextaccord); der letztere Accord z. B. kann
nicht für ſich ſelbſt beſtehen, er drängt zu dem Dominantdreiklangg h d,
weil dieſer die einfachere natürlichere Form des im Terzintervall aufgebauten
Accords für ſich hat, nothwendig hinab, oder breitet ſich die in ihm bereits
vorhandene höhere Hebung (die Sext) vollends aus zum Dominant-
ſeptimenaccordg h d f, um von da die Bewegung zu g c e zurück oder
zu a c e oder andern nachfolgenden Accorden fortzuſetzen. Der vorhin er-
wähnte Dominantdreiklang in ſeinen verſchiedenen Lagen und Umkehrungen
iſt derjenige Accord, zu welchem der auf der Tonica errichtete, „toniſche“
Dreiklang am einfachſten und gewöhnlichſten übergeht, wie ſchon an ſich
der Schritt von der Tonica zur Dominante von Natur der nächſte iſt; in
ganz einfachen Tonſtücken können alle andern Accorde fehlen, und auch in
größeren Werken beſtehen die letzten Takte oft aus nichts Anderem als
einem Wechſel dieſer einfachſten und nächſtliegenden Accorde; je einfacher
eine Tonreihe oder Melodie ſein will, deſto mehr darf ſie nur Wendungen
machen, welche die Begleitung eben blos dieſer Accorde erfordern. Ein
anderer Grund der engen Anziehung dieſer zwei Accorde iſt der, daß der
Dominantdreiklang (g h d, g d h) die große Septime oder den Leitton,
der auf die nur einen Halbton entlegene Tonica (c) weist, in ſich enthält
und daher von ihm aus der Fortgang zu der letztern unmittelbar nah liegt.
Andere Fortgänge, wie z. B. vom toniſchen Dreiklang zum Dreiklang auf
der zweiten oder vierten Stufe der Leiter oder von dieſen auf jenen zurück,
ſind nicht ausgeſchloſſen, aber ſie ſind nicht nothwendig und natürlich und
daher namentlich für den Schluß eines Tonſtücks in der Regel nicht geeignet.
Ueberleitende Accorde ſind nun aber weiter vor allen die Septimen- (und
Nonen-) Accorde, weil ſie gebieteriſch die Auflöſung der in ihnen enthaltenen
Spannung verlangen. Der wichtigſte und darum häufigſte Septimenaccord
iſt der Dominantſeptimenaccord, von C aus g h d f, welcher ganz beſtimmt
[889] zum Uebergang nach g c e drängt, weil die zu hoch hinauf geſchobene
Septime zur Sext herabdrückt, obwohl von ihm z. B. auch direct oder
mittelſt Umwandlung zum verminderten Septimenaccord (gis h d f) in
Amoll oder dur übergegangen, oder zunächſt ein anderer nächſtliegender
Septimenaccord, nach dieſem wieder ein dritter u. ſ. f. geſetzt werden kann,
ſo daß die Auflöſung ſich verzögert und erſt nach einer Reihe von Septimen-
accorden erfolgt. Um der in ihm liegenden Unaufgelöstheit und Spannung
willen kann weder dieſer noch ein anderer Septimenaccord ein Tonſtück
ſchließen, in der Regel es auch nicht anfangen, obwohl in einzelnen Fällen,
wie in Beethoven’s Prometheusouvertüre, ein eigenthümlicher Effect des
Unerwarteten, heftig Aufprallenden damit erreicht wird; wohl aber kann
inmitten eines Tonwerks länger auf ihm, namentlich in ſeiner urſprüng-
lichen Lage, verweilt werden, um eine raſche, heftige pathetiſche Bewegung
ihren Höhe- und Endpunct in dieſem Accord finden zu laſſen, der gerade
vermöge ſeines geſpannten, Löſung verlangenden Charakters ſich ebenſo dazu
eignet, ein mächtiges ſich zur Höhe Ringen, ein höchſtes Durchdrungenſein
von Schmerz, Sehnſucht, Liebe auszudrücken, als dazu, einen Paſſus, in
welchem ſolche Empfindungen ſich lebendig ausſprechen, zu beſchließen und
den Uebergang zu einer wieder ruhigern Bewegung anzubahnen. Kaum
weniger bedeutend iſt der auf der großen Septime oder dem Leitton der
Mollſcala errichtete, blos aus kleinen Terzen beſtehende Vierklang, der ſogen.
verminderte Septimenaccord (h d f as); er klingt ſeiner Zuſammen-
ſetzung gemäß etwas enger, beklemmter, pathetiſcher, wollüſtiger als der
Dominantſeptimenaccord, wiewohl auch noch gefällig; in Dur dagegen,
mit großer oberer Terz (h d f a) hat er etwas weniger gleichförmig Ab-
gerundetes, etwas Uebergreifendes, Ueberſchwellendkräftiges, jedoch nicht
das Einleuchtende und Natürliche des gleichmäßiger gebauten verminderten
Septimenaccords. Verwandt mit dem Durſeptimenaccord auf dem Leitton,
wiewohl weniger ungewöhnlichen Klangs, weil er nicht wie jener einen
verengten, „verminderten“ Dreiklang (h d f) hat, iſt der Septimenaccord
auf zweiter, dritter und ſechster Stufe der Durleiter (d f a c u. ſ. f.) oder
auf erſter, vierter und fünfter Stufe der (abſteigenden) Mollleiter (auch
weicher Septimenaccord genannt); die Spannung iſt bei dieſem Accord ſehr
groß, der Charakter des Unaufgelösten tritt in ihm weit entſchiedener hervor,
als beim gewöhnlichen oder verminderten Septimenaccord, es fehlt durch-
aus der dieſen beiden eigene Reiz des Unentſchiedenen und des durch die
Diſſonanz hindurchklingenden hellen Wohlklangs. Abſolut diſſonirend und
daher nur als Uebergangsaccorde zu gebrauchen ſind Accorde, in denen
Tonica und große Septim zuſammen kommen (c e g h, c es g h u. ſ. w.),
wogegen unter den Nonenaccorden der große (der Duraccord g h d f a)
einen ähnlichen nur noch kräftigern Eindruck zu großer Ueberfülle, zu weiten
58*
[890]Uebergreifens, wie der Durſeptimenaccord auf dem Leitton, der kleine aber
(der Mollaccord, … as) den des ſcharfen bittern Einſchneidens hervor-
bringt, daher auch die Nonenaccorde weſentlich Auflöſung verlangende, mit
dringendſter Nothwendigkeit zu andern überleitende Accorde ſind. Verwandt
mit den Septimenaccorden iſt endlich noch der ſogen. verminderte Drei-
klang (h d f, c es ges), durch ſeine zwei kleinen Terzen beengend und zu-
gleich als Dreiklang weniger voll und daher unbefriedigter wirkend als jene,
die er aber wegen ſeiner Verwandtſchaft mit ihnen bei weniger reicher Har-
monie häufig erſetzt.
Eine eigene Stellung unter den überleitenden Accorden nehmen Accorde
ein, die durch Veränderung von Tönen der Normalſcala entſtehen, nämlich
einerſeits der übermäßige Dreiklangc e gis, welcher wegen zu großer
Intervalle, wegen Ueberſchreitung der Quint mißfällt und daher den Ein-
druck einer zu hohen Schärfung des obern Tons hervorbringt; andererſeits
der doppeltverminderte Dreiklangcis es g, entſtehend durch
Hinaufrückung der Prim des Molldreiklangs, und endlich der hartver-
minderte Dreiklangc e ges, entſtehend durch Erhöhung der Terz des
verminderten Dreiklangs. Als ganz beſonders drängende Uebergangsaccorde
ſind alle dieſe Accorde ſehr wichtig, und unter ihnen beſonders der doppelt
verminderte Dreiklang, der namentlich in der Lage es g cis oder cis g es
energiſch auf den D dur-Dreiklang und durch ihn hindurch weiter auf G dur
oder moll hintreibt. Alle dieſe Accorde heißen, weil ſie durch Erhöhung
von Tönen der Leiter entſtehen und alſo Töne in ſich haben, welche der
normalen diatoniſchen Leiter fremd ſind, chromatiſche Accorde, eine Be-
nennung, die ebenſo auch den aus ihnen gebildeten, noch entſchiedener Auf-
löſung verlangenden Septimenaccorden (c e gis b oder g h dis f u. ſ. w.) zu-
kommt. Verwandt mit dem geſchärften Dreiklang oder, wenn die Terz ausfällt,
Zweiklang (c gis) iſt der Zweiklang mit erhöhter oder übermäßiger
Secundc dis (h cisis), gleichfalls nicht wohlgefällig, ſondern Auflöſung
fordernd. Merkwürdig iſt nun, was dieſen Zweiklang und die übermäßige
Quint betrifft, daß dieſelben Zuſammenklänge, wenn ſie als kleine Sext (c as)
oder kleine Terz (c es), d. h. wenn ſie vermöge des ganzen Zuſammenhangs
einer Tonreihe nicht als erhöhte Dur-, ſondern als Mollintervalle erſcheinen,
ganz und gar nichts von Mißfälligkeit oder gar Diſſonanz mehr an ſich
haben; es iſt auch dieß ein klarer Beweis, daß in unſerem Gehör, ſobald
es entwickelt und gebildet iſt, eine ſehr entſchiedene Syſtematik, ein Hören
des Einzelnen in ſtrengſtem Zuſammenhang mit dem Ganzen ſtattfindet,
vermöge deſſen der Eindruck acuſtiſch oder doch inſtrumental ganz identiſch
ſcheinender Töne ein ganz verſchiedener, ja entgegengeſetzter ſein kann;
gerade ſo hören wir auch Es dur als Scala auf der Terz von C moll, nicht
aber als Scala auf Dis oder auf der Secund von H dur, As als verwandt
[891] mit F, nicht als Gis, F als verwandt mit D moll u. ſ. w. (§. 773). —
Accorde, die man Durchgangsaccorde nennen kann, entſtehen durch die
ſogenannten Vorhalte, d. h. dadurch, daß bei der Aufeinanderfolge zweier
Accorde eine Stimme (z. B. d) des erſten Accords (h f g d) nach Anſchlagen
zweier Stimmen (c und e) des zweiten Accords (c e c) noch forttönt und
die dritte Stimme (c) des zweiten daher erſt nachträglich eintritt. Dieſe
ſich gleichſam verſpätenden Töne oder Vorhalte dienen, wie nur in anderer
Weiſe die geſchärften Zuſammenklänge, zur engern Verknüpfung des Ton-
fortgangs und können ganz eigenthümliche Effecte des Ineinanderüberfließens,
einander nur allmälig Ablöſens der Tonfolgen hervorbringen. Wiederum
verwandt hiemit iſt ein Accord, den man überladenen Accord nennen
kann; auf einen Accord folgt ein zweiter vollſtändig, aber es bleibt ein
Ton des erſtern, ſich gleichfalls verſpätend, unter oder über dieſem zweiten
Accorde ſtehen, oder tritt zu einem Accord ein Ton hinzu, der erſt Haupt-
ton des folgenden Accords werden ſoll, dieſem alſo vorgreift (z. B. am
Ende von Tonſtücken die Tonica zum Dominantſeptimenaccord). Ein ſolcher
fremder Ton kann während einer längern Reihe aufeinander folgender
Accorde liegen bleiben; ſolche Stellen heißen, wenn dieſer Ton, ſei es nun
Tonica oder Dominant, in der Tiefe liegt, Orgelpunct (weil auf dieſem
Inſtrument die Anwendung dieſer Form ſich ganz beſonders leicht und
wirkſam anwenden läßt). Zufällige Accorde endlich entſtehen, wenn
über einem liegenbleibenden Accord (z. B. dem toniſchen Dreiklang) eine
melodiſche Folge (z. B. die Scala) ſich bewegt und ſo der Accord zum Theil
mit Stufen der Tonleiter, die ihm an ſich fremd ſind, zuſammentönt; dieſe
Accorde, da ſie nur vorübergehende Zuſammenklänge ſind, werden kaum als
Diſſonanzen wahrgenommen, ſind aber gleichfalls ſehr wichtig und häufig,
da ſie einer beweglichen Melodie eine einfachere, ruhiger beharrende Har-
monie zur Baſis geben.
Aus dem über die verſchiedenen Gattungen der Accorde Bemerkten
geht zugleich hervor, daß ſich unter ihnen weſentliche Unterſchiede finden in
Bezug auf Einfachheit und Natürlichkeit. Alle über den Dur- oder Moll-
Dreiklang hinausgehenden, ſowohl die Septimen- und die ihnen verwandten
als die durch Hereinnahme leiterfremder Töne entſtehenden Accorde haben
etwas Ungewöhnliches, Spannendes, Drängendes, etwas halb Trübes, halb
Wollüſtiges, und ebenſo bringt ihr Gebrauch in die Tonverknüpfung, weil
ſie weit unmittelbarer als die Dreiklänge zur Auflöſung in nächſtſtehende,
namentlich nur um Halbtöne entlegene Accorde hinführen, einen Charakter
theils des leidenſchaftlich Drängenden, theils der weichen, innigen, reizen-
den, ſchmelzenden Continuität der einander ablöſenden Töne, den der Fort-
gang in Dreiklängen nie ſo erreichen kann; dieſer letztere iſt ruhiger, heller,
ernſter, weniger ſentimental pathetiſch, aber auch unvermittelter, härter und
[892] ſchroffer. Es ergibt ſich ſo rückſichtlich der Anwendung dieſer Accord-
gattungen ein Unterſchied zwiſchen einer ſtrengern und weichern Schreibart,
deren erſtere ſich möglichſt auf die Dreiklänge beſchränkt, die zweite mit
Vorliebe der Septimen- und chromatiſchen Accorde ſich bedient; es iſt dieß
nichts Anderes als ein Unterſchied zwiſchen directem und indirectem Idea-
liſmus in der Harmonie, auf den der folgende §. noch näher eingehen wird.
§. 775.
Während die entweder ſtetig gerade fortlaufende oder in verſchiedenen
Tonlagen und Intervallen hinundhergehende Bewegung auf der Tonleiter in der
Muſik das Moment des Linearen, des Umriſſes vertritt, das Moment, aus
welchem die Melodie ſich bildet, vertritt die Harmonie das maleriſche Moment;
ſie entſpricht dem, was in der Malerei Licht- und Schattengebung, Helldunkel,
Färbung iſt; ſie erhöht die Beſtimmtheit und den Ausdruck der Tonbewegung,
und ſie iſt dazu da, Fülle und Wärme, ſowie ſtrenge Einheit, continuirliche
2.Verknüpfung, Verſchmelzung und Weichheit in ſie zu bringen. An das Melo-
diſche knüpft ſich in der Muſik vorzugsweiſe, jedoch keineswegs in ausſchließender
3.Weiſe, der directe Idealiſmus an, an die Harmonie der indirecte, wie ſie auch
dasjenige Element der Muſik iſt, das durch die mit ihr gegebene Möglichkeit
ſelbſtändiger Stimmenführung dem Prinzip der Individualiſirung Rechnung trägt.
1. Als Hauptelemente des Tonmaterials haben ſich bis jetzt ergeben
die Bewegung auf den Einzeltönen der Scala und die Vereinigung der
Töne zu Zuſammenklängen und Accorden; es iſt nun zunächſt anzugeben,
wie ſich dieſe beiden Elemente zu einander verhalten, und welche Bedeutung
insbeſondere dem zweiten, der Harmonie, zukomme. Die Bewegung auf
der Scala durch Ganz- oder Halbtöne, durch größere oder kleinere Inter-
valle iſt das, wovon alle Muſik ausgeht. Es iſt natürlich, daß der Menſch,
der ſeiner Stimmung in Tönen Luft macht, oder den ein muſikaliſches In-
ſtrument, eine Syrinx, Flöte u. ſ. w., zum Spiel einladet, zunächſt an gar
nichts Anderes denkt, als an dieſes Auf- und Abgehen in Tönen, an dieſen
Wechſel der Hebung, Senkung, der abermaligen Hebung u. ſ. w., ſei es
nun daß er damit direct eine Empfindung, die ihn gerade bewegt, aus-
drücken, jauchzen, klagen, oder daß er zunächſt nur ſpielen, eine in ſich
mannigfaltige Tonreihe hervorbringen will, deren Wendungen ſein Gehör
und ſeine Phantaſie, letztere bildend und nachbildend zugleich, ſo lange
folgen, bis ein Abſchluß, ein Genughaben eintritt; ſowohl die directe, ſub-
jective Empfindungs- als die freiere objectivere ſpielende Muſik iſt zunächſt
eben Tonwechſel, Tonreihe, Scalenbewegung, ſei es nun continuirlich in
geradem Tongange oder Lauf, oder discontinuirlich zwiſchen größern Inter-
[893] vallen hin und her ſuchend, herumgehend und herumſpringend. Die Melodie
haben wir damit zwar noch nicht, aber ihre Anfänge, das melodiſche Element
der Muſik, das Bilden einer ſo oder anders geſtalteten Folge von Einzel-
tönen als eines für ſich beſtehenden, durch ſich ſelbſt befriedigenden muſika-
liſchen Erguſſes der Empfindung und der Phantaſie. Dieſes Aneinanderreihen,
Aneinanderfügen kann ganz zuſammenhangslos ſein, wie man Striche neben
und unter einander machen kann, die kein Bild geben, aber es kann auch
Zuſammenhang haben und hat ihn immer, wo Empfindung und Phantaſie
wirklich dabei ſind; die Empfindung ſtrebt in der Tonfolge ſich ſelbſt aus-
zudrücken und drückt ihr daher mittelſt der tonbildenden Phantaſie ihren
eigenen Charakter von Anfang bis zu Ende auf, die Phantaſie, wo ſie
mehr nur ſpielt, ergeht ſich, um ſich zu beſchäftigen, nicht in discreten Ton-
atomen (was nur der allererſte Anfang des Erwachens des muſikaliſchen
Gehörs intereſſant findet), ſondern in Toncombinationen, ſeien es nun
Reihen hinauf und hinab oder Wechſel zwiſchen Intervallen, deren Be-
ziehungen unter einander das Gehör anſprechen, Wechſel zwiſchen Höhe
und Tiefe u. ſ. w. Wo nun aber eine ſolche mannigfaltige und in der
Mannigfaltigkeit nur irgend inneren Bezug und Zuſammenhang an ſich
tragende Tonfolge producirt wird, da wird gleichſam aus der an ſich
unendlichen Menge möglicher Tonbewegungen eine beſtimmte charakteriſtiſche
Richtung der Tonbewegung, eine in die Länge ſich fortziehende Tongeſtalt
oder Tonfigur herausgeſchnitten, es iſt eine ſo oder anders fortgehende,
ſich ſo oder anders drehende und wendende Linie da, die unter der Voraus-
ſetzung, daß unter (oder auch über) ſie noch etwas Weiteres, den leeren
Raum unter (über) ihr paſſend Ausfüllendes hinzutreten werde, gleich auch
als ein Umriß, als eine einen ausgefüllten Raum begrenzende Linie be-
zeichnet werden kann. Die Bewegung auf der Scala und ihren Intervallen
zeichnet etwas hinein in das Reich der Töne, ſie producirt ein charakteriſtiſches
Bild, das ſchon an ſich ſelbſt etwas iſt, etwas darſtellt und bedeutet, mag
es nun directer Ausdruck einer beſtimmten Empfindung, alſo materiell
bedeutend oder mehr nur Combination von Tönen, die Gehör und Ein-
bildungskraft anſpricht und beſchäftigt, alſo von formeller Natur und Be-
deutſamkeit, oder Beides zugleich ſein. Auch das iſt nicht zu bezweifeln,
daß eine ſolche Tonfolge bereits eines beſtimmten, energiſchen Ausdrucks
fähig iſt, daß die mannigfaltigſten Nüançen der Stimmung und Empfindung
ſich in ſie legen können, namentlich wenn noch von den Mitteln, welche
der Rhythmus und die verſchiedene Stärke des Anſchlagens der Töne dar-
bieten, Gebrauch gemacht wird, ſowie endlich auch dieſes nicht, daß eine
ſolche Tonfolge, je nachdem ſie geſtaltet iſt, ganz für ſich allein den engſten
und befriedigendſten Zuſammenhang aller ihrer einzelnen Sätze und Satz-
theile haben und ſo auch von dieſer Seite her den Eindruck eines in ſich
[894] abgeſchloſſenen Kunſtwerks machen kann. — Aber etwas, das in der bloßen
Tonfolge nicht ſchon gegeben iſt, kommt in der Harmonie hinzu, die Be-
ſtimmtheit, die concrete Mannigfaltigkeit und concrete Wirkung, die im
Zuſammenklang ſelbſt und ebenſo in den Uebergängen der Zuſammenklänge
unter einander, in der Harmoniefolge gegeben iſt. Die bloße Tonfolge iſt,
außer da, wo ſie die weſentlichen Intervalle anſchlägt, eine freie, ſubjective,
ſie iſt ein Wechſel von Fortſchreitungen, der ebenſogut auch ein anderer ſein
könnte, es iſt keine acuſtiſch ſtrenge Nothwendigkeit und Beſtimmtheit, es
iſt kein Tonverhältniß darin, das als ein weſentliches, als ein unmittelbar
ſchon an ſich im Gehör liegendes und von ihm gefordertes gefühlt würde;
das hat erſt die Harmonie, denn in ihr treten auf Grund der natürlichen
Organiſation des Gehörs, welches die eine Tonverbindung als mehr oder
weniger conſonirend, die andere als mehr oder weniger diſſonirend, die eine
als in ſich ruhend, voll, geſättigt, eine andere als für ſich unbefriedigend,
zu einer andern forttreibend, den einen Accordfortgang als natürlich, er-
laubt, begründet und klar, den andern als das Gegentheil hievon empfindet,
gerade jene Tonverhältniſſe hervor, welche die bloße Tonfolge nicht hat;
das Ohr trifft hier auf ein Nach- und Nebeneinander nicht blos von Tönen,
ſondern von Tonverbindungen und Accordfolgen, deren jede es in vollſter
Beſtimmtheit ſo oder ſo, als gefällig oder als mißfällig, als beruhigend
oder als ſpannend, als feſthaltend oder als fortleitend, als normal oder als
nichtnormal fühlt; in der Harmonie erſt kommen Tonverhältniſſe
hervor, die von Natur ſo oder anders wirken, in ihr erſt ver-
körpert oder objectivirt ſich geradezu die natürliche Geſetzmäßigkeit der ganzen
acuſtiſchen Organiſation des Menſchen, ſie erſt läßt dem Ohr Töne in
Verbindungen entgegenklingen, die es ſelbſt fordert, von denen es ſelbſt
naturgemäß einen qualitativ beſtimmten Eindruck hat, ſie bringt weit mehr
als die einfache Tonfolge in die Muſik ein Naturſchönes, ein von Natur
Charakteriſtiſches, ein von Natur ſogleich beſtimmte Eindrücke Erregendes,
wie ganz Daſſelbe, nur mit weniger beſtimmtem ſinnlichem Eindruck, durch
die Farben und ihre Verbindungen in der Malerei geſchieht. Die Bewegung
in der Scala oder in Intervallen derſelben iſt wohl auch natürlich, an-
ſprechend, auch in irgend einer Weiſe charakteriſtiſch, aber ſie iſt es in
weniger ausgeſprochener Weiſe; die ſpezifiſchen acuſtiſchen Unterſchiede und
Eindrücke des Gefälligen und Mißfälligen, des Geſetzmäßigen u. ſ. w. gibt
erſt die Harmonie, und darum erſcheint uns die Tonfolge für ſich allein,
ſelbſt wenn ſie an ſich charakteriſtiſch geformt iſt, doch zu unbeſtimmt, zu
ſchwebend, ja unmotivirt und willkürlich; wir wollen, die Tonfolge ſolle
zugleich eine Harmoniefolge ſein, durch welche das Ganze größere Beſtimmt-
heit des Klangs und Eindrucks und ſtrengere Motivirung des Fortgangs
und Fortſchritts erhalte, durch welche namentlich ſowohl Erhebung und
[895] Aufſchwung als Nachlaſſen und Zurruhekommen der Melodiebewegung be-
ſtimmt angedeutet werde; wir verlangen, die Tonfolge ſolle auf der an ſich
klaren und geſetzmäßigen Baſis der Harmonie ſich bewegen, ſie ſolle aus
ihr emporwachſen und mit ihr in Einheit ſich erhalten, ſtatt für ſich allein
im Unbeſtimmten ſich ergehen zu wollen; Tonfolge ohne Harmonie iſt wie
ein Gedanke, deſſen nähere Vermittlung und Begründung durch einen Zu-
ſammenhang mit dem allgemeinen Gedanken- und Erkenntnißſyſtem vermißt
wird, ſie ſchwebt wie der Vogel in der Luft, in deſſen Bewegungen wir
eine natürliche Geſetzmäßigkeit wohl vorausſetzen, aber dieſelbe doch nicht
erkennen, ſo daß ſie uns unverſtanden bleiben und uns willkürlich, zufällig
erſcheinen. Die Harmonie gewährt dann für’s Zweite eine concrete
Mannigfaltigkeit von Klängen, von Färbungen der Töne,
welche die bloße Tonfolge in dieſer Weiſe nicht hat; ſie führt in den ver-
ſchiedenartigen Accorden, ſowie in ihren verſchiedenen Lagen und Umkehrungen,
eine Reihe von Klangbildern an uns vorüber, die ſo ſprechend und charak-
teriſtiſch ſind, daß die Muſik Harmoniefolgen ſogar ohne melodiſchen Ueberbau
anwenden kann, wiewohl nur als Ausnahme und auch da nicht ohne ge-
wiſſe natürlich anſprechende Intervallfortgänge, ſei es nun in der oberſten
Stimme (ſo im Andante der Donjuan-Ouvertüre) oder in der zweiten Haupt-
ſtimme, im Baſſe. Dieſelbe Mannigfaltigkeit bringt die Harmonie auch von
den einzelnen Klängen abgeſehen in den Fortgang des Ganzen, ſie kann, je
nachdem die Accordfolgen einfacher und leichter oder künſtlicher, weniger
natürlich und unmittelbar einleuchtend ſind, dem Fortſchritt des Tonwerks
den Charakter des Leichten, Fließenden und Klaren, nicht minder aber auch
den Charakter einer ernſten, ſchweren, an ſich haltenden, verwickelten, dunkeln,
oder einer einſchneidenden, ſchroffen Bewegung verleihen, ſie kann mit Beidem
abwechſeln und ſo Gegenſätze und Contraſte in die ganze Tonbewegung
bringen, wie Licht und Schatten, helle und dunkle Färbung; ſie kann deß-
gleichen auch an einzelnen Puncten der Tonfolge mittelſt Conſonanz und
Diſſonanz das Element des Gegenſatzes, der Entzweiung, der Spannung
auftreten laſſen, und auch dieſes wiederum in den verſchiedenſten Graden
von der leiſeſten Andeutung einer Beklemmung an bis hinauf zur erſchüt-
terndſten und zerreißendſten Darſtellung des Schmerzes. Alles was dem
rein Einfachen und Unmittelbaren gegenüber in das Gebiet der concreten
Mannigfaltigkeit gehört, ſpezifiſcher Ausdruck, Bedeutung, Tiefe, erhöhte
Kraft, draſtiſche Wirkung, Intenſität, Energie, ſteht der Harmonie zu Gebot
und wird erſt durch ſie vollkommen erreicht; ſie malt mit Licht und Schatten,
mit Farbe und Farbenmiſchung Dasjenige, was die melodiſche Tonfolge
nur andeutet und ahnen läßt, ſie belebt die Zeichnung, ſie fügt zur Linear-
bewegung eine Flächenbewegung, ſie läßt mit dem Tone das ganze Ton-
ſyſtem fortrücken in ſtets wechſelnden Stellungen und Verbindungen, welche
[896] genauer erklären und ſchärfer markiren, was die Tonfolge mit ihren Gängen
und Wendungen beabſichtigt. Dazu kommt aber auch, von dieſen qualitativen
Elementen abgeſehen, drittens ein quantitatives, das freilich ſelbſt wieder
ſogleich in ein qualitatives umſchlägt, nämlich die Ausfüllung des
neben der Scalenbewegung für das Gefühl übrig bleibenden leeren Raums
durch verwandte, mitfortſchreitende Klänge. Dieſe Füllung iſt gar nicht
etwa blos dazu da, ein Gefühl der Leere, das bei bloßer Melodiebewegung
entſtehen kann, ferne zu halten, ſondern ſie hat auch poſitive Bedeutung;
die Ausfüllung jenes Raums durch verwandte höhere und tiefere Klänge
gibt erſt wahre Muſik; ſie erſt iſt es, worin die Tonerzeugung vollſtändig
ſich realiſirt, d. h. wodurch ein wahres, von allen Seiten her an die Seele
herankommendes Erklingen der ſtillen Materie hervorgebracht und ſo der
Geiſt nicht nur von Einzeltönen berührt, ſondern in das Tonreich ſelbſt
ganz hinein gerückt, in das Tonmeer hineingetaucht, erſt ganz und voll-
kommen in muſikaliſche Erregung und Stimmung verſetzt wird. Der ein-
fachen Tonbewegung fehlt immer noch etwas zur Muſik im eigentlichen
Sinne, weil (vergl. §. 757) eben nur dann Gehör und Gefühl nach ihrer
ganzen Erregungsfähigkeit, im ganzen Bereich dieſer Erregungsfähigkeit
wirklich erregt, nur dann alle höheren und tieferen Saiten des Inneren
wirklich angeſchlagen, nur dann Gemüth und Phantaſie ganz und bis auf
den Grund nach allen Dimenſionen hin ergriffen und in Anſpruch genommen
werden, wenn mit den verſchiedenen Tonfolgen zugleich verſchiedene Ton-
lagen mit ihren eigenthümlichen Wirkungen ertönen. Ohne die Füllung
durch Harmonie iſt daher auch die volle Lebenswärme, die ganze zum
Herzen dringende ſeelenvolle Innigkeit nicht da, und es iſt, ſo viel auch in
dieſer Beziehung ſchon die einfache Tonfolge gerade durch (kunſtloſe) Ein-
fachheit zu leiſten vermag, doch ein rein vergebliches, in Unnatur aus-
artendes Unternehmen, wenn die melodiſche Bewegung dieſelbe um jeden
Preis durch ſich allein hervorbringen, wenn ſie da, wo es einmal nicht
geht, durch künſtliche Mittel des Zitterns, des ſeufzenden Verklingens u. ſ. w.
die der Harmonie vorzugsweiſe zugehörigen Wirkungen ſich ſelbſt zueignen
will. Zu dieſer ſpezifiſch muſikaliſchen ſeelenvollen Wirkung der Harmonie
trägt aber zugleich auch eine andere im Bisherigen noch nicht berührte
Eigenthümlichkeit bei. Die Harmonie tritt zur Melodie wohl als concretes,
beſtimmter motivirendes und wirkendes Element hinzu, aber ſie iſt nach
einer andern Seite hin auch wiederum ihr gegenüber ein Unbeſtimmtes,
wie die Farbe gegenüber von der Zeichnung; die Melodie zeichnet der
Seele eine beſtimmte Richtung der Tonbewegung vor, einen Gang, deſſen
Wendungen die Phantaſie überall in vollſter Klarheit und Diſtinctheit folgen
kann; die Harmonie dagegen ſchmilzt mehrere Töne zu Einem Klang zu-
ſammen, die Harmoniefolge läßt der Phantaſie nicht die Zeit, jedem einzelnen
[897] Uebergang der Töne des einen Accords in die des nachfolgenden direct zu
folgen, es iſt ſo in der Harmonie etwas Dunkles, Undurchſichtiges, Ge-
heimes, eine Weichheit ohne ſchärfere Umriſſe, ſie wirkt eben durch dieſes
unbeſtimmte romantiſche Wogen auf das Gemüth als ſolches, ſie thut hie-
durch zu der Einzelerregung, wie ſie die Melodie vorzeichnet, eine über das
Innere nach allen Seiten ſich verbreitende Geſammterregung hinzu, ſie
gibt zur beſtimmten Muſik Muſik überhaupt, ſie hüllt die klar
dahinſchreitende Tonfolge in ein magiſches Helldunkel von Klängen ein, die
wie Geiſter in dunklem Hintergrunde ſie umſchweben, um ihre Bewegung
in ſchönem, aber ſtillem Einklange zu begleiten. Wenn wir ſomit genöthigt
ſind, der Harmonie zwei ſcheinbar ganz entgegengeſetzte Bedeutungen beizu-
legen, die Bedeutung ſcharfer Charakteriſtik und weicher ſeelenvoller Innigkeit,
ſo ergibt ſich ganz Daſſelbe auch noch von anderer Seite her; wie die
Harmonie kräftige Tonmaſſen auf einzelne Puncte werfen und dieſe dadurch
ſtark markiren und hervorheben, wie ſie hiedurch in das Ganze einer Ton-
bewegung beſonders hervortretende Einſchnitte bringen kann, ſo vermittelt
ſie umgekehrt auch die Stetigkeit, den Fluß, die Bindung und Ver-
ſchmelzung der Theile, ſie verwandelt das bloße Nacheinander der Töne
in ein zuſammenhängendes, zuſammenfließendes Ineinander, innerhalb deſſen
Alles continuirlich zuſammenhängt, Eines aus dem Andern ſich entwickelt,
Eines in’s Andere hinüberführt, ſie kann wohl wie die Melodie größere
oder kleinere Intervalle überſpringen, unruhig hin und her gehen, ja ſogar
ſelbſt erſt durch ihren bewegtern Rhythmus ſtärkere Lebendigkeit zur Melodie
hinzubringen, aber ſie kann ebenſo auch für die lebhaftere discretere Be-
wegung der Melodie eine in einfachem, ruhigem, gebundenem Hinundher-
ſchreiten fortrückende Begleitung abgeben, ſie kann einer größern oder kleinern
Reihe von Tönen der Melodie einen oder wenige Accorde unterlegen, ſie
kann liegen bleiben oder ſich nur wenig verſchieben, während die Melodie
auf verſchiedenen Intervallen auf- und abſteigt, ſo daß die mannigfaltige
Beweglichkeit und Unruhe der Melodie an ihr eine einfache und verein-
fachende, das Viele zuſammenhaltende und bindende, das Mannigfaltige
verſchmelzende Unterlage erhält; die Melodie ſpaltet ſich in der Regel wie
eine mannigfaltigſt gewundene und gebrochene Linie in ein Nacheinander
einzelner einander ablöſender kleinerer Puncte, die aus der Tonreihe auf-
ſteigen, die Harmonie arbeitet mehr im Großen und Breiten, ſie legt der
kleintheiligen punctuellen Bewegung eine weniger getheilte, in größern Ab-
ſätzen, in längeren Windungen ſich fortziehende Maſſenbewegung unter, die
ſich der erſtern überall anſchmiegt, aber doch ein Band der Einheit um ſie
herſchlingt, durch welches Stetigkeit und Zuſammenhang in das Ganze
gebracht wird.
[898]
2. Die Muſik, obwohl das Gefühl und damit vorzugsweiſe das In-
dividuelle der Empfindungen, Stimmungen, Affecte, ihr Gebiet ausmacht,
ſteht doch in Beziehung auf die Geſetze der künſtleriſchen Behandlung und
Darſtellung weſentlich auf der Seite des directen Idealiſmus, ſie kann nur
harmoniſche oder die Disharmonie ſogleich wieder auflöſende Tonfolgen
und Tonverbindungen dulden, ſie kann nichts Häßliches ſich fixiren laſſen
(§. 765), ſie fordert, daß das Einzelne und das Ganze ſchön ſei, in
Wohlklang und Ebenmaaß ſich bewege, ſie hat es mit dem Gehör zu thun,
das den Mißklang direct als Verletzung fühlt und die Seele ihn als
ſolchen fühlen läßt. Ganz ausgeſchloſſen iſt aber damit (wie derſelbe §.
es ausſpricht) der indirecte Idealiſmus nicht, wie ſich dieſes einfach ſchon
darin ankündigt, daß das muſikaliſche Gefühl neben dem directen auch einen
indirecten, d. h. erſt aus der Löſung einer verwundenden Diſſonanz ſich
herſtellenden Wohlklang nicht nur duldet, ſondern mit Wohlgefallen und
Intereſſe aufnimmt. Der Harmonie fällt (vom Rhythmus hier noch ab-
geſehen) das Moment des indirecten Idealiſmus vorzugsweiſe zu wegen der
markirten Beſtimmtheit, die ihr eigen iſt, wegen ihrer Fähigkeit mannigfache
und ſtarke Farben, Contraſte, Gegenſätze auf die Bahn zu bringen. Aber
auch von der Melodie iſt es nicht ausgeſchloſſen, ſobald ſie den natür-
licheren und einfacheren Gang in ſchön gewundener, einfach klar gezeichneter
Linie verläßt und ſtatt deſſen in weiten Intervallen, in unerwarteten Wen-
dungen, Sprüngen, Stößen oder ſonſtigen dem einfach Schönen fremden
Bewegungen ſich ergeht; nur hat auch hier die Harmonie mitzuwirken,
theils um die Melodie im Ausdruck deſſen was ſie ſagen will zu unter-
ſtützen, theils um zu verhüten, daß die Abweichung der Melodie vom
Typus des einfach Schönen nicht in’s Unſchöne gerathe; die Harmonie
vertritt im letztern Fall das Prinzip des directen Idealiſmus neben dem des
indirecten, indem ſie ſich der exceſſiven Bewegung der Melodie als wohl-
klingende und in ſtrenger Geſetzmäßigkeit fortſchreitende Baſis unterlegt.
Geht die Individualiſirung nach der Seite des Komiſchen, des Humors,
der Keckheit, Luſtigkeit u. ſ. w., ſo wird ſie vorzugsweiſe dem leicht beweg-
lichen Elemente der Melodie zufallen; iſt ſie aber mehr ernſter, ſchwerer
Natur, handelt es ſich um Veranſchaulichung tieferer, ſchrofferer, das
Innerſte aufwühlender, gewaltſamer Erregungen und Erſchütterungen, ſo
hat die Harmonie die reichen Mittel aufzubieten, die ihr zu Gebot ſtehen.
Das einfach Schöne, die reine gegenſatzloſe Idealität gehört zunächſt der
Melodie an, weil ſchärfere Charakteriſtik und Bewegung in Gegenſätzen
ihr theils ganz fremd, theils wenigſtens nicht natürlich iſt; aber auch die
Harmonie muß, wenn in einem Tonwerk die reine Idealität ſprechend her-
vortreten ſoll, dazu mitwirken, ſei es nun durch Einfachheit und Helligkeit
der Accordfolge oder durch den ihr eigenthümlichen Schmelz und Wohllaut;
[899] wir wollen zwar von der Harmonie nicht blos dieſes, weil wir wiſſen,
daß ſie noch Weiteres leiſten kann, aber wir müſſen anerkennen, daß auch
dieſe direct ideale, klare und weiche Harmonie eine für ſich beſtehende und
berechtigte Kunſtform bildet, in welcher das unterſcheidende ideale Weſen
der Muſik den übrigen Künſten gegenüber zu ſeinem eigentlichſten Ausdruck
gelangt.
3. Ein Gegner der Harmonie war J. J. Rouſſeau; er ſprach den
Verdacht aus, alle Harmonie ſei am Ende nur eine gothiſche barbariſche
Erfindung, die gar nie gemacht worden wäre, wenn die neuern Völker
mehr Gefühl für die wahren Schönheiten der Kunſt, für wahrhaft natür-
liche und rührende Muſik beſäßen, wie die feingebildeten Griechen, deren
Muſik ohne Harmonie ſo wunderbare, unſere dagegen mit Harmonie ſo
ſchwache Wirkungen gehabt habe. Daß in einem Lande wie Frankreich,
das allerdings (von Volksgeſängen abgeſehen) nicht Heimath wahrhaft
natürlicher und rührender Muſik iſt, und in einem Jahrhunderte, wie das
vorige, in welchem allerdings Rückkehr von übertriebenem Cultus der Har-
monie zur melodiſchen Einfachheit noth that, von einem Manne, der überall
das Recht des unmittelbaren Gefühls vertrat, ſolche Anſichten aufgeſtellt
wurden, kann nicht auffallen. Nur auf Eines hätte R. ſich nicht berufen
ſollen, auf die griechiſche Muſik. Sah denn er, der Mann der individuellen
Freiheit, nicht, welch großer Fortſchritt zur Freiheit darin liegt, daß mittelſt
der Harmonie innerhalb mehrſtimmigen Geſangs jede Einzelſtimme ihren
eigenen Weg gehen, ſelbſtändig neben und mit den andern ſingen, ſelbſt-
thätig zu vollerer, großartigerer Geſtaltung des Ganzen mitwirken kann?
Einſtimmigkeit löst alle Individualität in’s Ganze auf, läßt alle perſön-
lichen Unterſchiede im Allgemeinen aufgehen, bringt aber ebenhiemit doch
nur ein unterſchiedsloſes, wenig gegliedertes Ganzes von wenig Ballaſt
und Volumen, von wenig Gewicht und Umfang hervor, ganz wie der
griechiſche Staat, der groß war durch das Aufgehen der Individuen im
Ganzen und klein war durch die fehlende Ausbildung der individuellen
Lebenskreiſe. Man ſagt, in rein germaniſchen Ländern ſinge das Volk
überall mehrſtimmig, in romaniſchen in der Regel einſtimmig; was läge
darin Anderes als der Unterſchied des germaniſchen Sinnes für Individua-
lität, der auch im Singen ſelbſtändig ſein will und nur an einem durch
Sonderung der Stimmen individuell belebten Geſange Freude empfindet,
vom romaniſchen Charakter, der zu dieſer Hochhaltung der Individualität
nie gekommen iſt? Ebenſo iſt dieſe Vorliebe des germaniſchen Geiſtes für
Harmonie weſentlich begründet nicht, wie Rouſſeau meint, in den groben
und ſtumpfen Organen dieſes nordiſchen Volkes, die mehr durch Stärke
und Getöſe der Stimmen als durch die Süßigkeit der Accente und die
Biegungen der Melodie gerührt werden müſſen — Harmonie und Gebrüll
[900] ſind ſehr verſchiedene Dinge, — ſondern ſie iſt begründet durch das innigere
und tiefere deutſche Gemüth, das weicher, voller, umfaſſender angeregt ſein
will als durch bloße Melodie. Die Melodie iſt freilich Anfang und Ende
aller Muſik, mit ihr ſteht und fällt die Muſik, was von der Harmonie
nicht geſagt werden kann, aber ſie iſt eben nur der Anfang, das primitiv
Einfache, das eine Erfüllung durch Harmonie fordert, und nur das Ende,
nur das Reſultat, das nur dann feſten Halt, klaren und motivirten Gang
gewinnen kann, wenn es aus der Harmonie und ihrer Folge wie die
Blüthe aus Stamm und Zweigen emporwächst und von ihr getragen wird.
Harmoniſche Muſik iſt ein Bild der ideedurchdrungenen Welt, des ganzen
großartig nach allen Dimenſionen ſich ausbreitenden, nach allen Richtungen
feſt und ſchön in ſich zuſammenhängenden und geordneten, überall concrete
Einzelgeſtaltungen aus ſeinem Schooße an die Oberfläche hervortreibenden
Univerſums; die Melodie iſt die Einzelgeſtalt, die Harmonie das Ganze,
auf dem ſie ruht und deſſen Theil und Glied ſie iſt; nur der vom Ganzen
losgeriſſene, einſam in ſich ſelbſt zurückgezogene, und damit doch zugleich
des wahren individuellen Lebens, der unendlich empfänglichen, ſich im
Ganzen und das Ganze in ſich fühlenden Gemüthstiefe verluſtig gegangene
Geiſt war im Stande, in der Melodie, in der frei in Lüften ſchwebenden,
die einzig wahre Muſik erkennen zu wollen.
§. 776.
Die Muſik als Bewegung in der Zeit bedarf für ihre einzelnen Töne
eine beſtimmte, größere oder kleinere Zeitdauer, zwiſchen deren Maximum und
Minimum eine Reihe der verſchiedenſten Tonzeitmaaße liegt. Das Zeitmaaß der
einzelnen Töne iſt innerhalb eines Tonganzen entweder ein durchgehends iden-
tiſches, oder müſſen, wenn das Tonganze Töne von verſchiedener Zeitdauer
(entweder nacheinander oder gleichzeitig) enthält, die Zeitmaaße ſeiner Töne
wenigſtens gleichartige, proportionale Zeitmaaße ſein, die ſich durch numeriſche
Theilung auf ein gleiches Grundmaaß zurückführen laſſen. Die aus dieſem
Verhältniß der Identität oder Proportionalität der Tonzeitmaaße reſultirende
geregelte Bewegung der Tonreihe und ihrer einzelnen Glieder iſt ihr Rhythmus.
Die Regelmäßigkeit des Rhythmus wird vollendet und damit feſte Ordnung und
klare Gliederung in die Geſammtbewegung der Tonreihe gebracht durch den
Takt, durch den Aufbau des Ganzen in ſtetig auf einander folgenden kleinen
Zeitabſchnitten von durchaus gleicher Dauer und von durchaus gleichem Zeitmaaß
ihrer einzelnen Glieder, welchem als beherrſchendem Grundmaaß die verſchie-
denen Zeitlängen der einzelnen Töne des Abſchnitts entweder direct entſprechen
2.oder indirect proportional ſich unterordnen. Richt minder weſentlich als geregeltes
Zeitmaaß iſt für die muſikaliſch rhythmiſche Bewegung die Belebtheit, die in ſie
[901] gebracht wird durch den auf einzelne rhythmiſche Glieder oder Takttheile gelegten
Accent und durch den hiemit gegebenen periodiſchen Wechſel von Hebung und
Senkung, accentuirten und nicht accentuirten Gliedern der Reihe. Je nach dem
numeriſchen Verhältniſſe der letztern zu den erſtern innerhalb des Takts be-
ſtimmen ſich die verſchiedenen Taktarten. Die (abſolute) Größe der Zeit-3.
dauer der einzelnen Takte oder ihrer Glieder ergibt das Tempo des Ganzen
mit ſeinen verſchiedenen Gattungen und Arten.
1. Der vorhergehende §. führte ſchon zu einer Berührung des ver-
ſchiedenen Zeitverhältniſſes, in welchem zuſammenklingende Töne und Ton-
reihen zu einander ſtehen können; in der Lehre von der Harmonie treten
zuerſt ſolche Verhältniſſe hervor, und wir haben daher die genauere Be-
ſprechung derſelben, ohne welche auch das Weſen der Melodie nicht voll-
ſtändig behandelt werden kann, hier anzureihen. Auszugehen iſt von der
verſchiedenen Zeitdauer der Töne überhaupt und dann von hier aus zu
ſehen, wie aus dieſer ganz abſtracten Grundlage die reiche Gliederung der
metriſchen und rhythmiſchen Verhältniſſe (der Kürze wegen befaſſen wir ſonſt
alles hieher Gehörige unter „Rhythmik“) ſich ergibt. — Der Einzelton für
ſich, ohne oder mit begleitendem Accord, kann an ſich eine Länge oder Kürze
von nicht näher zu beſtimmender Größe haben; hierüber läßt ſich im All-
gemeinen nur dieſes ſagen, daß die Länge des Tons (mit Ausnahme des
Orgelpuncts — und ſelbſt hier darf ſie nicht zu groß ſein —) ihre Grenze
findet an der Forderung, daß die einzelnen Töne die Bewegung des Ganzen
nicht durch ihre Länge übermäßig verlangſamen, oder mit langen Aufent-
halten hemmend unterbrechen, wie andererſeits die Kürze des Tons an der
deutlichen Vernehmlichkeit und Unterſcheidbarkeit, die mit der Kürze ſtetig
abnimmt, ihr Maaß hat. Der Satz, daß zwiſchen dieſen beiden Aeußerſten
eine Reihe von Zeitmaaßen liegt, unter welchen gewählt werden kann, bedarf
keiner näheren Erörterung; es braucht zu ihm blos hinzugefügt zu werden,
daß in der Wirklichkeit die an ſich unendliche Zahl dieſer Zeitmaaße ſich auf
wenige reducirt, weil die feineren Unterſchiede unter ihnen nicht mehr wahr-
genommen werden können. Gehen wir vom Einzelton zu einem Nach- und
Miteinander von Tönen fort, ſo können ſie alle wohl dieſelbe Zeitlänge
haben; das Ganze erhält hiedurch den Charakter vollkommen gleichartiger
ruhiger Bewegung, die aber, wenn ſie ausſchließlich und überall angewandt
werden wollte, natürlich ſich als einförmig und ſchleppend darſtellen müßte.
Verſchiedene Zeitdauer wird daher das Vorherrſchende ſein; dieſe
Verſchiedenheit aber kann ſich gleichfalls beziehen entweder auf die Töne in
ihrem Nacheinander oder in ihrem Miteinander, indem auch Töne von
verſchiedener Dauer zuſammenklingen können, wie wir ſchon in §. 774 bei
der Lehre von den conſonirenden und diſſonirenden Intervallen Aehnliches
[902] in Bezug auf die tonerzeugenden Schwingungsverhältniſſe geſehen haben.
Dieſe verſchiedene Zeitdauer darf nun in der Muſik nicht ohne Regel und
Geſetz ſein, eine vollkommen disparate Dauer der Einzeltöne innerhalb einer
Tonreihe würde dieſelbe aller Einheit, aller Gleichmäßigkeit und Symmetrie
berauben, und nichts liegt denn auch tiefer in der menſchlichen Natur, als
das unwillkürliche Verlangen, eine Tonfolge nach Einem beſtimmten Zeitmaaß
ſich bewegen zu hören; ſelbſt wo der muſikaliſche Sinn noch wenig entwickelt
iſt, bei Kindern, für Harmonie und eigentliche Melodie unempfänglichen
Völkern oder Individuen, für die „der Takt das Einzige iſt, was ſie in
der Muſik hören, weil’s einem da ſo recht in die Beine fährt,“ findet ſich
für gleichförmig rhythmiſche Bewegung eine Empfänglichkeit, über deren
Zuſammenhang mit allgemeineren, durch das ganze Natur- und Geiſtesleben
hindurchgehenden Bewegungs- und Bildungsgeſetzen §. 754 zu vergleichen
iſt. Zunächſt jedoch iſt dieſe Symmetrie nur in einer ganz allgemeinen Weiſe
gefordert, in welcher ſie noch nicht das iſt, was wir nachher als Takt-
mäßigkeit bezeichnen; es iſt zunächſt nur ſo viel unbedingtes Poſtulat, daß
die Dauer der längern und kürzern Töne innerhalb einer Tonfolge eine
gewiſſe Proportion unter ſich habe; es kann (recitativiſche) Tonfolgen geben
und gibt wirklich ſolche, nicht nur in der alten, ſondern auch in der neuern
Muſik, die ohne Takt mit einer ſolchen allgemeinen Proportion der Ton-
dauer ſich begnügen; es iſt genug, daß die kürzern und längern Tonzeiten
ſich in einfacher Weiſe auf ein ihnen gemeinſchaftlich zu Grunde liegendes
Zeitmaaß reduciren laſſen, daß z. B. die Dauer der kürzern Töne die Hälfte
oder das Viertel, das Drittel oder Sechstel oder auch etwa das Fünftel
der Dauer des längeren ſei; ſolche Proportionen der Zeitlängen ſind auch
hier, wie bei den Tonſchwingungen, natürlich, nahe liegend, leicht zu er-
faſſen und zu überſehen, ſie wahren die Regelmäßigkeit der Tonbewegung
in ihrem Nacheinander, und ſie machen es möglich, längere und kürzere
Töne, die gleichzeitig erklingen, klar zuſammenzufaſſen, indem die kürzeren
einfach aliquote Theile der längern ſind und ſich daher unter dieſe leicht wie
unter die höhere zuſammenfaſſende Einheit ſubſumiren laſſen. Ausnahmen
von dieſer numeriſchen Proportionalität der Töne können nur in beſondern
Fällen, wo z. B. das Tempo eines Tonſtücks ſich ſtetig beſchleunigt oder
verlangſamt, oder wo durch verlängerte Zeitdauer eine einzelne Stelle einer
Tonreihe ſtärker hervorzuheben iſt, geſtattet werden. Indeß auch eine die
Proportionalität der Zeitdauer der Einzeltöne ſtreng einhaltende Rhythmik,
die hiebei ſtehen bleibt und nicht zur Taktmäßigkeit fortgeht, kann, falls ſie
nicht etwa am Rhythmus der Rede, am Metrum der Poeſie, welcher die
Muſik ſich anſchließt, einen feſten Haltpunct gewinnt, nicht befriedigen.
Sie liegt einmal nicht in der Natur — denn die Natur verlangt durchaus
gleichförmiges Fortgehen einer einmal begonnenen Erregung bis zu ihrem
[903] Verklingen, da Ungleichförmigkeit ein Abbrechen einer bereits eingeſchlagenen
Richtung und ſomit eine nur mit Sträuben und Widerwillen aufgenommene
Störung iſt, wogegen fortgeſetzte Gleichförmigkeit der Bewegung den Genuß
gewährt, einer Erregungsweiſe, die einmal angeſchlagen iſt, nun ein für
allemal, bis das Ganze zu Ende iſt, frei zu folgen und ſich hinzugeben,
ohne jeden Augenblick wieder aus ihr durch ein anderes Maaß heraus-
geſchnellt zu werden; — ſie liegt ebenſowenig im Weſen des Geiſtes; nur
eine Empfindſamkeit, die in Einzelheiten ſich verliert, kann die nicht geregelte
Bewegung der geregelten ſchlechthin vorziehen, die geregelte iſt einerſeits in
Wahrheit die freiere, da wir eine nach feſtem Maaße vor ſich gehende Be-
wegung leichter faſſen und überſchauen, ſie iſt andererſeits die gemeſſenere
und damit kräftigere Art der Bewegung, die das Einzelne nicht einſeitig
für ſich hervortreten läßt, ſondern es dem Ganzen unterordnet. Wir können
daher in die Lobſprüche, die z. B. Krauſe dem „wandelnden freien Zeitmaaß“
ſpendet, nicht einſtimmen; wir müſſen vielmehr, ohne die Bedeutung, die
der freie Rhythmus beſonders für declamatoriſche Muſik hat, irgend zu ver-
kennen, darauf beharren, daß gleichförmiges Zeitmaaß, wie es im Takte ſich
realiſirt, die höchſte Form des Rhythmus iſt, welche die Muſik davor be-
wahrt, in eine verſchwommene Empfindungsmalerei zu verfallen; die Muſik
iſt nicht die unbeſtimmt aufundabwogende Empfindung ſelbſt, ſondern ihre
künſtleriſche Darſtellung, ihre objective Verkörperung, ſie würde ohne gleich-
mäßig beharrenden Rhythmus gerade dieſe Objectivität verlieren und in
das Empfindungsleben ſelbſt unterſchiedslos zurückfallen, ſtatt es klar und
geſetzmäßig zu veranſchaulichen. Eine gewiſſe ebenmäßige Bewegung iſt
natürlich dem „Aufundab“ der Empfindung nicht ſchlechthin fremd (§. 754),
auch die Empfindung iſt ein in einem ſchnellern oder langſamern Zeitmaaß
gleichförmig fortgehendes Erzittern, Pulſiren des Gemüthslebens; aber für
das Bewußtſein iſt dieſes Maaß nicht da, die bewußte Empfindung hängt
an den Gegenſtänden, die ſie erregen, folgt regellos den Gefühlen und
Phantaſien nach, die in ihr angeregt ſind, verliert ſich an Dieß und Jenes,
eilt ſchnell wieder zu Anderem fort; dieſes Ungeregelte ſucht die Muſik
ſymmetriſch zu gliedern, ſie bringt den Wechſel der Gefühle in den Rahmen
eines ganz beſtimmten Zeitmaaßes, ſie hebt dieſen im Gefühl ſelbſt innerlich
auch waltenden, aber ihm verborgenen regelmäßigen Rhythmus an’s Licht
des Bewußtſeins heraus, ſie ordnet die Einzelempfindungen in dieſe allge-
meine Form des Gefühlslebens, ſie wäre nicht mehr Kunſt, wenn ſie nicht
mit dem Einzelnen zugleich ſein allgemeines Weſen zur Anſchauung und
damit zugleich in das Einzelne Ordnung und Regel bringen wollte; wie
der Ton erſt entſteht durch regelmäßige Schwingungen, ſo die eigentliche
Tonkunſt erſt mit der Regelmäßigkeit des Taktzeitmaaßes, die Allem in ihr
feſten Halt gibt und dadurch zugleich ſie ſelbſt von der Gebundenheit an
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 59
[904]das Wortmetrum emancipirt, ſie ſelber erſt hinſtellt als beſondere, Maß
und Geſetz in ſich tragende, nicht anderwärts her borgende Kunſtgattung.
Zur vollſtändigen Realiſirung des Taktes gehört jedoch noch ein weiteres
Moment, das des rhythmiſchen Accentes, welches daher vorerſt in Betracht
zu ziehen iſt, ehe das Genauere über den Takt und ſeine Formen beſprochen
werden kann.
2. Die Tonbewegung, und zwar auch die ganz gleichmäßig und ſym-
metriſch geordnete, hätte keine Stetigkeit, keinen Fluß, ſie zerfiele immer
noch in iſolirte Tonatome, ſie wäre hart, ſchroff, eckig (und auch praktiſch
faſt unausführbar), ſie wäre ebendamit ohne Leben, Schwung und Kraft,
ſowie ohne ganz und vollkommen diſtincte Gliederung, wenn in ihr nicht
auch dasjenige Moment, das der §. als periodiſchen Wechſel accen-
tuirter und nicht accentuirter Takttheile bezeichnet, als beherrſchende
Grundform zur Anwendung käme. Es tritt hier wieder das für die Muſik
ſo wichtige Geſetz der Periodicität auf, das Geſetz periodiſcher Abwechslung
von Hebung und Senkung, Stoß und Ruhe, Vorſchreiten und Nachlaſſen
der Bewegung. An ſich iſt jeder Ton ein Anſatz zur Bewegung, ein
Hineingreifen in’s Tonſyſtem, ein Stoß auf den tönenden Körper und
damit auch auf Gehör und Gefühl ſelbſt; aber anders geſtaltet ſich die
Sache in der Tonreihe, dieſe kann nicht eine Reihe ſolcher Stöße ſein, ſie
wäre ſonſt ein unerträgliches, hackendes, am Ende in ſich ſelbſt erlahmendes
Einerlei, und es verſteht ſich daher für ale Muſik ganz von ſelbſt, die
Tonreihe zu theilen in Töne, auf welchen die unverminderte urſprüngliche
Kraft des Stoßes oder der Accent liegt, und in ſolche, bei denen dieſelbe
ſo bis zum Verſchwinden gemildert iſt, daß ſie neben dem auf den erſten
Ton fallenden Accent gar nicht mehr als ſolcher bemerkt, ſondern der zweite
(dritte u. ſ. w.) Ton ganz als accentlos vernommen wird. Damit ſind von
ſelbſt alle jene Uebelſtände beſeitigt; die Tonreihe geht dahin, ſich anmuthig
wiegend in dem ſteten Wechſel von Spannung und Nachlaß, Hebung und
Senkung, ſich immer wieder beruhigend und doch ſtets neue Kraft ſammelnd,
neue Anläufe nehmend, ebenſo ſchön in ſich zuſammenhängend als lebendig
bewegt durch die Reciprocität, mit welcher die ſtoßende Kraft zur Ruhe des
Nachlaſſes und dieſe wieder zur Erregung des Stoßes hinübereilt. Aus-
nahmsweiſe kann natürlich auch die ſtoßweiſe Fortbewegung für den Ausdruck
gewiſſer innerer Bewegungen gefordert, aber Regel kann ſie nicht ſein. —
Dieſer Rhythmus des Accentwechſels ſteht aber nun in einem ſehr weſent-
lichen Verhältniß zur Taktmäßigkeit. Er iſt zwar durch ſie nicht ſchlechthin
bedingt, er kann auch ohne ſie als einfacher Tonfall, wie z. B. in der Rede,
zur Erſcheinung kommen, aber er bedarf derſelben doch, um vollkommen
Realität zu erhalten; erſt wenn der Wechſel regelmäßiger Taktſchläge durch
eine ganze Tonreihe hindurch wiederkehrt, kann auch der Accentwechſel ſich
[905] gehörig geltend und bemerklich machen und die Wirkung wirklich thun, die
ihm zuſteht. Umgekehrt kommt auch die Taktmäßigkeit erſt durch den Wechſel
des Accents zu voller Realität und Klarheit; das Eintreten des Zeitab-
ſchnitts, den der Takt ausfüllt, wird nur dadurch bemerkbar, daß auf
ſeinen Anfang ein Nachdruck, ein Accent fällt, den die übrigen Takttheile
nicht haben. Deßgleichen empfängt der Takt erſt durch dieſe Scheidung der
Töne in accentuirte und nicht accentuirte nähere Beſtimmtheit und Geſtaltung.
Die beſtimmte Qualität, Art, Größe des Takts hängt nämlich lediglich
davon ab, in welchem numeriſchen Verhältniß die nicht accentuirten Takt-
theile zu den accentuirten ſtehen. An ſich kann dieſes Verhältniß der ver-
ſchiedenſten Art ſein, es können auf einen Takttheil, der den Accent hat,
oder auf eine Arſis 1, 2, 3, 4, ja 5, 6 und darüber Takttheile ohne ſolchen
Accent (Theſen) folgen, namentlich bei ſchnellerer Bewegung der Tonreihe.
Nur iſt von ſelbſt klar, daß dieſe Zahl unaccentuirter („ſchlechter“) Takt-
theile nicht zu groß ſein darf. Es iſt keine diſtincte Eintheilung und
Gliederung einer Reihe aufeinanderfolgender Töne möglich, wenn der accen-
tuirten Anfangspuncte im Verhältniß zu den nicht accentuirten Momenten
zu wenige ſind; je weiter einzelne Töne, beſonders bei langſamerem Tempo
(von welchem überhaupt bei der Betrachtung der rhythmiſchen Verhältniſſe
nie ſchlechthin abgeſehen werden kann), von dem accentuirten („guten“)
Takttheil entfernt ſind, deſto mehr zerfallen ſie in ein Nebeneinander ohne
Einheit, ohne feſte Bezogenheit, ohne diſtincte Sonderung von andern
Gliedern der Reihe; ja ſie verſelbſtändigen ſich unwillkürlich, ſie werden,
je weniger die accentuirende Kraft des guten Takttheils noch nachwirkt, je
mehr ſie aus der Gebundenheit an ihn heraustreten, deſto mehr eigene, für
ſich beſtehende, gleichſam ſich ſelbſt accentuirende Puncte der Reihe. Daher
iſt es ein nothwendiges, dem Gefühl ſich von ſelbſt aufdrängendes Geſetz,
daß die Takte nicht zu lang ſeien, ſondern der Wechſel zwiſchen Arſis und
Theſis nur in kleinen Gliedern vor ſich gehe. Am klarſten und diſtincteſten
iſt ſo wirklich diejenige Taktanordnung, bei welcher die Zeitlänge der Arſis
und die der Theſis einander möglichſt entſprechen, bei welcher alſo auf die
Arſis nur Eine gleich lange Theſis oder nicht mehr als zwei gleich lange
Theſen folgen, alſo der einfach zwei- und der einfach dreitheilige Takt. Auf
der andern Seite jedoch kann ſich die Muſik mit dieſen kurzen Takten, die
das Ganze der Tonreihe in ſo gar kleine Abſchnitte zerſpalten, auch wiederum
nicht begnügen; der Tonfall würde bei dieſer Kleintheiligkeit theils zu ein-
förmig, ſchleppend, theils (bei ſchnellerer Bewegung) zu hüpfend und
ſpringend, zu leicht, der Ruhe und Haltung zu ſehr entblöst; die Muſik
bedarf daher neben dieſen, an ihrem Orte ganz wohl brauchbaren einfachen
Taktarten auch zuſammengeſetztere, breitere Taktformen. Dieſe ergeben ſich
dadurch, daß die Größe des einfachen Takts doppelt oder dreifach genommen
59*
[906]und zugleich der zweiten und dritten Taktabtheilung eine gewiſſe Selb-
ſtändigkeit eingeräumt wird, indem auch auf ihren Anfangston eine eigene,
jedoch dem Accent des erſten Takttheils untergeordnet bleibende Arſis fällt,
ſo daß der Takt ſich ſymmetriſch zu kleinern in ihm befaßten Gruppen
gliedert und ſo nicht nur an Größe und Breite, ſondern auch an charak-
teriſtiſcher Mannigfaltigkeit gewinnt. Dem zweitheiligen Takt entſpricht der
viertheilige, dem dreitheiligen der ſechstheilige (mit Arſis auf dem erſten
und vierten Gliede), ſowie der neuntheilige Takt. Selten iſt der durch
Vervierfachung des dreitheiligen Takts entſtehende zwölftheilige, der für
gewöhnlich zu lang iſt, um eine eigene Taktperiode abzugeben, noch ſeltener
die noch größeren, und daſſelbe gilt auch von dem fünftheiligen (mit Arſis
blos auf dem erſten Takttheil), der keinen ganz natürlichen Rhythmus ent-
hält, jedoch als ein erweiterter, verlängerter dreitheiliger Takt hie und da
auch durch ſeine lebendighüpfende Bewegtheit von guter Wirkung ſein kann
(wie z. B. im Liede vom Prinz Eugen). Das weſentliche Prinzip des
Unterſchieds unter den Taktarten iſt das Verhältniß der Zahl der Theſen
zur Arſis; die Dreitheiligkeit eben in dieſem Sinne, daß auf jede der Arſen
des Taktes doppelt ſo viele Theſen kommen als im zweitheiligen, verleiht
durch dieſe Reducirung der Zahl der Arſen auf die Hälfte der Theſen und
durch die hiemit gegebene ſchwungreichere und unruhigere Bewegung dem
ſo gebildeten Takte ein vom zweitheiligen ſo weſentlich verſchiedenes Ge-
präge, daß ſogar eine zweite Art des ſechstheiligen Taktes, nämlich mit
drei Arſen (auf erſtem, drittem, fünftem Takttheil, \frac{6}{4} Takt), weil er rück-
ſichtlich ſeiner einzelnen Glieder zweitheilig iſt, nicht einfach zu den drei-
theiligen Taktarten gezählt, ſondern als eine mittlere Form betrachtet werden
muß, die ihrem prinzipiellen Charakter und Eindruck nach mit der zwei-
theiligen Taktform in weſentlicher Verwandtſchaft ſteht. Die äſthetiſche
Bedeutung der verſchiedenen Taktarten folgt einfach aus ihrem Weſen.
Das Moment gehobener, kräftiger, markirter, unruhiger, hüpfender Be-
wegung tritt hervor in den dreitheiligen Taktarten, ſie ſind die bewegtern
und entſprechen nach dieſer Seite am directeſten dem Weſen der Muſik,
ſofern ſie eben das bewegte Gefühl und Gemüth darzuſtellen hat. Die
zweitheiligen Taktformen geben der Tonfolge mehr Gleichförmigkeit, Haltung,
Gemeſſenheit, ſie ſind der Takt des reinen Gleichmaaßes, das über aller
Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit der Bewegung ruhig ſtehen bleibt, ſie
bilden die ſtrengere, kunſtmäßigere und inſofern höhere Form des Taktes;
der dreitheilige Takt läßt den Rhythmus, die charakteriſtiſche Bewegtheit
ſtärker hervortreten, der zweitheilige dagegen eben die Regelmäßigkeit, welche
das Weſen des Taktes überhaupt ausmacht; jener iſt der Rhythmus, dieſer
der Takt in erhöhter Potenz. Modificirt werden jedoch dieſe Unterſchiede
durch die Verſchiedenheit der engern und breitern, kürzern und weitern
[907] Taktarten; die größere Breite gibt auch der dreitheiligen Taktbewegung
(\frac{9}{8}, \frac{12}{8} Takt) mehr Gemeſſenheit und Gewicht durch die längern Ton-
reihen, die ſie zu Einem Taktganzen zuſammenfaßt, wogegen die Kürze auch
den zweitheiligen Takten ein Gepräge einer in kleinen Schritten vorwärts
gehenden, nirgends feſtern Fuß faſſenden Leichtigkeit und Unruhe aufdrückt.
Vermehrt wird die Mannigfaltigkeit der rhythmiſchen Gliederung noch
dadurch, daß es möglich iſt, ohne Beeinträchtigung des gleichförmigen Takt-
zeitmaaßes einem Ton zwei, drei und mehr Zeittheile des Taktes einnehmen
zu laſſen. Es gehören hieher namentlich die ſogen. punctirten Noten,
die drei oder anderthalb Theile des viertheiligen Taktes einnehmen, ſo daß
ſie dreimal ſo lang ſind als der ganze oder halbe Takttheil, der ihnen ent-
weder, was das Einfachere iſt, nachfolgt oder auch vorausgeſchickt wird;
im erſtern Fall iſt der längere Ton ein verlängerter und verſtärkter guter
Takttheil, im zweiten dagegen entſteht ein dem längern Ton gegenüber ver-
kürzter und hiemit dem an ſich geſetzmäßigen Vorherrſchen der Arſis wider-
ſprechender guter Takttheil; Beides trägt zum charakteriſtiſchen Ausdruck der
Tonbewegung weſentlich bei, indem das Verweilen auf einem langen Tone
vor einem kürzern nachdrücklich, d. h. kräftig und gewichtig zu neuer Be-
wegung anſetzend, wirkt, das unerwartete Ruhen auf einem längern Tone
aber, dem ein kürzerer vorangeht, einen eigenthümlichen Eindruck des Nach-
laſſens, Stillhaltens, Gehemmtſeins der Bewegung hervorbringt. Daſſelbe
iſt, obwohl in ſchwächerem Maaße, nach beiden Seiten hin der Fall, wenn
in dreitheiligen Takten entweder der erſte und zweite oder der zweite und
dritte Takttheil (oder Taktgruppentheil) zu Einem Tone zuſammengenommen
werden. Ganz beſonders wirkſam aber ſind die Accentverſchiebungen.
Wenn z. B. im viertheiligen Takt der zweite und dritte Takttheil zu Einem
Tone zuſammengenommen („ſyncopirt“) oder die letzte Note eines Taktes mit
der erſten des folgenden zu Einer verſchmolzen wird, ſo iſt hiedurch das
normale Taktverhältniß verſchoben; es wird entweder eine Arſis durch
Verſchmelzung mit der Theſis eliminirt, oder es wird eine Theſis durch
Zuſammennehmung mit der Arſis ſelbſt zu einem Takttheil, der den Accent
hat, erhoben. Welche von dieſen beiden Wirkungen im einzelnen Falle
beabſichtigt ſei, muß der Zuſammenhang der Tonfolge und ihr Vortrag
zeigen; die erſtere bringt in die Tonbewegung durch Neutraliſirung des
ſcharfen Abſchnittes der Arſis etwas Schwebendes, Fließendes, die zweite
aber bringt durch das Vorſchieben der Arſis den Effect erhöhten, markirten
Nachdrucks, gewaltſamen Unterbrechens der Gleichförmigkeit des Tonganges
hervor und iſt ſo ein Hauptmittel für energiſche, pathetiſche, leidenſchaftliche
Tonbewegungen. Auch der Charakter des Gepreßten und Geſpannten kann
durch dieſe und ähnliche Verſchiebungen einem Tongange aufgedrückt werden,
und zwar treten alle dieſe Wirkungen namentlich dann prägnant hervor,
[908] wenn die mitgehenden Stimmen die normale Takteintheilung feſthalten und
ſo ein Gegenſatz des Rhythmus der einen Stimme gegen den der andern
entſteht. Tauſch des Taktes in einem und demſelben Stücke, Miſchung
verſchiedener gleichzeitig ertönender Taktarten (wie im erſten Finale des
Don Juan) müſſen als zu unregelmäßig vereinzelte Ausnahmen bleiben; nur
die vorübergehende Combination der Zwei- und Mehrtheiligkeit mittelſt der
Triolen, Sertolen, Septolen u. ſ. w. iſt eine überall anwendbare, zur
Lebhaftigkeit und Mannigfaltigkeit beitragende Form. Vorſchläge, d. h.
kurze, vor oder zwiſchen die normalen Taktnoten ſchnell eingeſchobene, un-
gezählt bleibende Noten, oder ähnlich eingeſchobene verzierende Figuren
erhöhen die Belebtheit des Rhythmus gleichfalls, wie andererſeits die
accelerirte Bewegung des auf Inſtrumenten leichter als bei der Menſchen-
ſtimme ohne Naturwidrigkeit anwendbaren Trillers wiederum der nach-
drücklichen Hervorhebung einzelner Töne des Taktes oder ganzer Takte dient.
Ueber die Pauſen und den Unterſchied des gebundenen und ge-
brochenen Vortrags (legato und staccato) iſt in der Erörterung des
allgemeinen Weſens der Muſik (§. 754) das Erforderliche bereits bemerkt,
und es iſt daher nur dieß noch beizufügen, daß die große Zahl und Ver-
ſchiedenheit aller dieſer rhythmiſchen Formen zeigt, wie ſehr das jetzt ange-
nommene rhythmiſche Syſtem nicht nur naturgemäß, ſondern auch mit der
Freiheit der Compoſition in vollem Einklang iſt, indem es ihr den größten
Spielraum zu den kunſt- und effectreichſten Combinationen offen läßt.
3. Die Bedeutung des Tempo (vergl. §. 754) iſt hier nur noch
rückſichtlich ſeines Verhältniſſes zum Rhythmus in Betracht zu ziehen.
Beide ſtehen überall in Wechſelwirkung. Schnelleres oder langſameres
Tempo rückt die Takttheile enger zuſammen oder weiter aus einander; die
rhythmiſchen Glieder und Accente verlieren oder gewinnen hiemit an ſelb-
ſtändiger Bedeutung, an eigenem Gewichte. Je ſchneller das Ganze ſich
bewegt, deſto mehr ſinkt das durch die Accentuirung und durch die längere
Tondauer auf den einzelnen Theilen ruhende Gewicht, ſie verflüchtigen ſich,
löſen ſich in’s Ganze auf, ſo daß nicht mehr die ſchnell vorüberrauſchenden
einzelnen Rhythmen für ſich, ſondern die Geſammtbewegung Dasjenige iſt,
worin der Schwerpunct liegt, worauf Charakter und Eindruck des Stücks
beruhen. Das ſchnell bewegte Tonwerk wirkt mehr als Ganzes, das lang-
ſamer dahingehende mehr in ſeinen Einzelheiten; das erſtere läßt nicht Zeit
zum Beſchauen des Einzelnen, wie das letztere, es iſt ebendarum auch
weniger durchſichtig als dieſes und kann auch aus dieſem Grunde ſeinen
einzelnen kleinern Gliedern nicht die concrete Bedeutſamkeit zufließen laſſen,
wie ein Andante oder Adagio; jenes wirkt indirect, dieſes direct idealiſtiſch.
Ebenſo iſt Klein- oder Großtheiligkeit des Taktmetrums (Sechszehntel; halbe
Noten) von weſentlichem Einfluſſe auf den Geſchwindigkeitscharakter eines
[909] Tonſtückes oder einzelner Theile deſſelben; die beiderſeitigen Momente können
entweder zu Einem Zwecke, zu erhöhter Schnelligkeit oder (wie in einem
Chorgeſange) zu abſoluter, maaßvoller, ſchwerwiegender Langſamkeit zu-
ſammenwirken, oder können ſie in Gegenſatz zu einander treten, indem
beſchleunigterem Tempo langſamere, gehaltenerem Tempo ſchnellere Fort-
bewegung der Taktglieder gegenübertritt; im erſtern dieſer letztgenannten
Fälle hat die Geſchwindigkeit doch zugleich einen Charakter der Ruhe, ſie
iſt eine muntere, rüſtige, kräftige, nicht aber ungeſtüm eilende Schnelligkeit,
wogegen beim zweiten Falle die langſame Geſammtbewegung des Stücks
durch die in einzelnen Takten eintretende ſchnellere Theilbewegung kurz-
gliedriger gemacht oder „figurirt“ und durch dieſe leicht dahingehenden
Figuren ihres ruhigen Ganges ungeachtet belebt wird, wie ein ruhig hin-
wallender Strom durch leichtes Wellengekräuſel, das an ſeiner Oberfläche
ſpielt. In dieſen Combinationen des Tempo und des Rhythmus das
Richtige zu treffen, namentlich in längern Tonſtücken paſſend mit ihnen zu
wechſeln, im Adagio nicht zu wenig und nicht zu viel zu figuriren, im
Allegro nicht durch einſeitige Beſchleunigung (beſonders in Läufen) aus-
druckslos zu werden, überhaupt im Tonfall alles Mechaniſche, Charakter-
loſe, Plumpe zu vermeiden und alle Schönheit zu benützen, die ihm ab-
gewonnen werden kann, iſt eine Hauptaufgabe der Compoſition, an deren
befriedigender Löſung es ſich namentlich erprobt, ob der Tonſetzer mit freiem
Blick das Tonmaterial zu beherrſchen und ihm auch in dieſen feinſten und
abſtracteſten Beziehungen eine von künſtleriſchem Geiſte eingegebene Ge-
ſtaltung zu verleihen vermag.
§. 777.
Die allgemeine Bedeutung des rhythmiſchen Elements für die Muſik iſt1.
eine dreifache: es gibt der Bewegung Ordnung und Klarheit; es beſtimmt den
Bewegungscharakter des Tonwerks in eigenthümlicher Weiſe; und es verleiht
demſelben eine in aller mathematiſchen Geſetzmäßigkeit höchſt mannigfache und
kunſtvolle Gliederung, die ſich ſowohl auf die Zeitdauer der Töne in ihrem
Racheinander, als auf die Zuſammenordnung gleichzeitiger Töne bezieht. Eine2.
falſche Stellung erhält die Rhythmik, wenn ſie zur Hauptſache gemacht wird,
indem hiedurch die abſtract formelle Seite der Muſik einſeitig hervortritt und
ſo das eigentlich Muſikaliſche verloren geht.
1. Der erſte Satz des §. faßt die der Sache nach ſchon im Früheren
enthaltenen allgemeinen Momente in Eins zuſammen, um daran die Er-
örterung der allgemeinen Bedeutung des Rhythmus für das Weſen der
Muſik anzuknüpfen. Der geregelte Rhythmus iſt kurz geſagt das archi-
[910] tectoniſche Element der Tonkunſt. Er bringt in das freie Spiel der
Töne einmal Proportion, Symmetrie, durch welche es zu einer geordneten
Tonreihe mit klarem Verlaufe geſtaltet wird. Er bringt in daſſelbe ferner
einen beſtimmten Bewegungstypus, er gibt verſchiedene Bewegungsformen
her, innerhalb welcher die ganze allmälig hervortretende Tonreihe zu einem
gleichmäßig geformten Ganzen gleichſam anſchießt, wie eine nach gleich-
förmigem Typus ſich kryſtalliſirende Maſſe. Und zwar iſt dieſer Bewegungs-
charakter dabei doch ein außerordentlich mannigfacher, indem der Rhythmus
einem Tonwerk das Gepräge der reinſten Ruhe in der Bewegung auf-
drücken, ebenſo aber auch die lebendigſte, bis zum Stürmiſchen fortgehende
Erregung in daſſelbe bringen, wie beruhigend, ſo auch im höchſten Grad
aufregend wirken kann. Nicht minder mannigfaltig bei aller ſtrengen
Regelmäßigkeit iſt die Gliederung der Tonbewegung, welche durch die
muſikaliſche Rhythmik ermöglicht wird. Sie erlaubt den mannigfachſten
Wechſel der Tonlängen, ſie geſtattet ohne irgend Beeinträchtigung der
Geſetzmäßigkeit des Fortgangs jeden Augenblick den Uebergang vom lang-
ſamen zum ſchnellen Zeitmaaß, ſie ermöglicht überall die Einſchiebung
kleinerer kürzerer Zwiſchenglieder zwiſchen größere und längere, womit ſie
allerdings über die Architectur hinausgeht, die auch die Einfügung kleinerer
Glieder in regelmäßiger Wiederkehr verlangt, ſie geſtattet ferner überall eine
mathematiſchlogiſch ſtrenge und doch mannigfaltigſte Subſumtion kleinerer
Glieder unter größere, ſie läßt in mehrſtimmiger Muſik die eine Stimme
im 2-, 3-, 6fach verſtärktem Geſchwindigkeitsmaaß die andere begleiten, ſie
läßt verſchiedene Bewegungsverhältniſſe neben einander hergehen und doch
Ein Ganzes mit einander bilden, ſie läßt bald eine langſamere Tonreihe
über einer ſchnelleren ſich aufbauen, bald umgekehrt, ſie läßt ebenſo auch
die Reihen ganz mit einander vorſchreiten, ſie ſetzt gleichſam mehrere, ſei
es nun gleich oder verſchieden gegliederte und doch in Länge oder Breite
einander vollkommen entſprechende Stockwerke über einander, und auch
dieſes mit einer Freiheit, mit einer unabſehbaren Künſtlichkeit und Mannig-
faltigkeit, die in der Kunſt ſonſt kaum ihres Gleichen hat. Der Rhythmus
bindet, ordnet, charakteriſirt, belebt, gliedert den freien Gang der melodiſchen
Bewegung, er verknüpft mit ihr die Harmonie in verſchiedenſter Weiſe;
er iſt nach allen Seiten das formulirende Prinzip, das die verſchiedenen
Elemente des Tonmaterials feſt geſtaltet und unter einander zuſammenhält.
Der Rhythmus vertritt daher vorzugsweiſe das Prinzip des directen
Idealiſmus in der Muſik, er ermöglicht feſte gediegene Formen, er kann
durch einfache Gemeſſenheit des Gangs zum Ernſt, zur Würde, zur Er-
habenheit des Eindrucks oft wunderbar mitwirken, er hält die Bewegung
in Maaß und Schranke, ja er verbirgt ſie faſt, wenn er recht gleichmäßig
iſt, er bringt dann jenen Eindruck ruhiger, beſonnener Haltung des Ganzen
[911] hervor, bei welcher es mehr als ein allmälig auftauchendes und vorüber-
ziehendes Nebeneinander von Tongeſtalten, denn als ein flüchtig ſich ab-
ſpielendes Nacheinander von Tonreihen erſcheint. Aber auch der indirecte
Idealiſmus kann ſich des Rhythmus in wirkſamſter Weiſe bedienen;
nicht nur das gewaltig Aufregende, ſondern auch der Effect des Stoßenden,
Harten, Eckigen, Aufprallenden gehört, namentlich wenn zugleich die in
den verſchiedenen Graden der Tonſtärke gegebenen Mittel mit angewendet
werden, dem Gebiet des Rhythmus an, und nicht minder endlich gilt dieſes
vom Komiſchen, Luſtigen, Scurrilen, Behäbigen, Burlesken, Bizarren und
Barocken, indem ja gerade ſpringende, hüpfende, tanzende Bewegung,
ironiſirende Gravität langſamen Tongangs, oder andererſeits unerwartete
Schärfung und Beſchleunigung der Geſchwindigkeit, ferner plötzliche Pauſen,
überraſchendes Umſchlagen und Wechſeln des Zeitmaaßes, plötzliche Ver-
ſchiebung der normalen Accente, Tongänge und Tonſchläge, die wie
Stampfen, Pochen und Poltern ſich gebahren, die Hauptmittel der Muſik
für komiſche und verwandte Effecte ſind. Dieſes Alles muß natürlich auch
durch analoge Behandlung der Melodie und Begleitung mit erreicht werden;
auch in Melodie und Begleitung müſſen mittelſt hierauf berechneten Ge-
brauchs der Intervalle und Accorde die Sprünge, die ernſt oder komiſch-
pathetiſchen Erhebungen und Läufe, die gravitätiſch ſich ſchleppenden Ton-
ſchritte, die Ueberraſchungen, die Gewaltſamkeiten, die kreiſenden, hinund-
herhüpfenden Bewegungen auftreten, wenn draſtiſche und beſonders komiſche
Effecte hervorkommen ſollen, aber der Rhythmus iſt namentlich für Letzteres
immer das Weſentliche, indem nur durch ihn alle jene Contraſte, alle jene
mannigfaltigen und prägnanten Bewegungsfiguren ſchlagend hervortreten,
welche der muſikaliſche Ausdruck des Komiſchen ſind.
2. Im vorhergehenden §. zeigte ſich Gelegenheit, darauf hinzuweiſen, daß
die Bedeutung eines ſtreng geregelten Rhythmus nicht zu gering zu achten
ſei; es muß nun aber auch die andere Seite der Sache hervorgekehrt, auch
die Ueberſchätzung des Rhythmus bekämpft werden. Es liegt ſchon im
Weſen deſſelben, daß er eine abſtracte Form iſt, deren einſeitiges Hervor-
treten das wahrhaft Muſikaliſche nicht aufkommen läßt. Wenn das Haupt-
gewicht in einem Tonſtück ganz auf das rhythmiſche Element fällt, wenn
das Melodiſche und Harmoniſche gar nicht zu eigener Bedeutſamkeit ent-
wickelt, ſondern eigentlich nur dazu da ſind, die an ſich leere rhythmiſche
Bewegung auszufüllen und zu vermannigfaltigen, ſo iſt Charakter und
Eindruck des Ganzen nothwendig entweder ein vorherrſchend ſinnlicher, wie
bei einer ſchlechten Tanzmuſik, deren Bewegtheit nicht die tiefer in’s Innere
dringende Erregung, ſondern nur die äußere ſinnliche Aufgeregtheit iſt, oder
wenigſtens ein einſeitig pathetiſcher, d. h. der Eindruck der ſogleich in Auf-
geregtheit, Affect, Leidenſchaft aufbrauſenden, nicht auch in ſich ſelbſt ſich
[912] vertiefenden, ſich ſammelnden, innerlich austönenden Empfindung. In
beiden Fällen läßt das Tonſtück, ſelbſt wenn die rhythmiſche Bewegung an
ſich gar nicht einförmig, ſondern charakteriſtiſch gegliedert und variirt iſt,
doch weſentlich kalt, es wirkt nur äußerlich erregend, nicht aber anſprechend;
es treten einem da nur verſchiedene Bewegungsfiguren entgegen, denen das
Qualitativconcrete, das Tönen und Klingen fehlt; man bekommt nichts
Seeliſches, ſondern eigentlich nur die in der Erregtheit außer ſich ſeiende,
aus ſich herausgeriſſene Ichheit; man ſieht nur dieſe Aufgeregtheit in
künſtleriſche Form gebracht, man ſieht, können wir ſagen, mehr etwas, als
daß man etwas hört, man ſieht Tanz, Geſticulationen, Aeußerungen des
Affects, kurz man kommt, je mehr das rhythmiſche Element vorherrſcht,
aus der muſikaliſchen Sphäre deſto mehr heraus in die mimiſche, aus der
Kunſt des Tons in die der ſtummen körperlichen Geberde, aus der Kunſt
des Geſangs in die der pathetiſch erregten Rede. An ſeinem Ort hat dieſes
Alles, mit Maaß angewandt, wohl auch ſeine Berechtigung; aber durch-
gehendes Vorherrſchen des Rhythmus iſt ſchlechthin unmuſikaliſch und daher,
wo es wirklich ſich findet, Beweis des Mangels an wahrhaft muſikaliſcher
Begabung. Ein großes muſikaliſches Kunſtwerk wird immer auch Partien
haben, in welchen das rhythmiſche Element das Dominirende iſt; aber das
melodiſche und harmoniſche Element müſſen doch den erſten Platz behaupten,
und es iſt ihnen ebendarum auch geſtattet, ſich für ſich unter derartiger
Zurückdrängung rhythmiſcher Bewegtheit oder rhythmiſcher Regelmäßigkeit
geltend zu machen, daß Rhythmus oder Takt nur ganz allgemein als
ordnendes Maaß zu Grund liegen, ohne beſonders hervorzutreten. Es kann
dieß überall geſchehen, wo das Gemüthliche, Seeliſche, das ruhige Weben
des Gefühls in ſich zur Darſtellung kommen ſoll, und es gibt daher Ton-
ſtücke in nicht geringer Zahl, namentlich Lieder und Inſtrumentalandante’s,
in welchen der Fluß der melodiſchen und harmoniſchen Fortbewegung das
Intereſſe ſo ganz aufzehrt, daß die Taktform faſt unbemerkt bleibt, ja gar
nicht einmal ſtreng eingehalten wird. Marx hat (Muſiklehre S. 111) dieſes
Letztere in Bezug auf eine Stelle des Andante’s der Mozart’ſchen großen
Cdur-Symphonie nachgewieſen, welche übrigens nebendem durch eine ſich
länger fortziehende, ſehr ſcharf und einſchneidend wirkende Accentverſchiebung
in der Oberſtimme auch wiederum ein ſehr bezeichnendes Beiſpiel der Wichtigkeit
des Rhythmus abgibt.
§. 778.
Ein für den muſikaliſchen Ausdruck wichtiges quantitatives Element iſt die
größere oder geringere Intenſität des Tones, die Tonſtärke, durch deren ein-
ſeitige Benützung übrigens eine ähnliche unmuſikaliſche Aeußerlichkeit in die Muſik
kommen kann, wie durch einſeitiges Hervortreten des rhythmiſchen Elements.
[913]
Die durch den kräftigern oder ſchwächern Druck (Stoß) auf den
tönenden Körper hervorgebrachte größere oder kleinere Tonſtärke entſpricht
(§. 753) der größern oder kleinern Intenſität, mit welcher das Gefühl ſich
ausſprechen ſoll, und iſt daher von großer Bedeutung für den muſikaliſchen
Ausdruck. Großartige Effecte des Tönens und des Schalls, ſcharfe Anti-
theſen zwiſchen markiger Kraft und ſtiller Zartheit, reizende ſowohl als
ſpannende Wechſel in ſtetiger Zu- und Abnahme des Forte oder Piano
ſtehen hier der Muſik zu Gebote, und zwar, wie es ſcheint, in höchſt ein-
facher, leicht handzuhabender Weiſe. Allein nirgends iſt die Gefahr un-
muſikaliſcher Muſik größer als gerade hier, indem die Verſuchung ſehr nahe
liegt, durch den äußern Schalleffect oder durch den ſpannenden Reiz des
Crescendo und Decrescendo mangelnden innerlichen Ausdruck, der in den
muſikaliſchen Gedanken und in ihrer gediegenen und charaktervollen Aus-
führung ſelber vor Allem liegen muß, erſetzen zu wollen; die Muſik geht
in Lärm, der blos momentan körperlich wirkt, das Innere aber ſchlechthin
gleichgültig läßt oder es geradezu empört, und in ein hohles Spiel des
An- und Abſchwellens über, das oft gehört ſogleich abgenützt iſt. Und
auch von dieſem Mißbrauch abgeſehen, iſt die praktiſche Anwendung der
Tonſtärke zum Behuf des Ausdrucks und Effects keineswegs ſo einfacher
Natur als man glauben könnte. Man hat mit Recht bemerkt, die Mozart’-
ſche Gmoll-Symphonie mit ihren wenigen Blasinſtrumenten wirke auch
blos in quantitativ dynamiſcher Hinſicht weit ſtärker als manche neuere
Symphonien, deren Partituren von reich beſetzten Poſaunen- und Trom-
petenſtimmen ſtrotzen. Es iſt dieß z. B. der Fall im erſten Satze, nach der
zweiten Wiederholung des das Ganze beginnenden Thema’s, in der Partie,
wo die Oberſtimmen von lebhaft bewegtem Baſſe begleitet eine kräftig
ſtoßende Figur ausführen, und der große dynamiſche Effect dieſer Partie iſt
auch wirklich gar nicht blos durch das Forte, ſondern weſentlich auch eben
durch den kraftvoll belebten und klaren Rhythmus ſowohl der Haupt- als
der Nebenſtimmen bewirkt. Beiſpiele dieſer Art ließen ſich noch viele an-
führen; ſie zeigen alle, je klarer und heller die Tonbewegung und je belebter
und charakteriſtiſch markirter ihr Ausdruck iſt, deſto kräftiger wirkt ſie auch.
Alles unklar Gedachte, Trübe, Schwülſtige, Unlebendige verbreitet über die
Tonmaſſe eine Dumpfheit, die auch den Schalleffect abſtumpft; das Quali-
tative der Helligkeit der Klangmaſſen, der Friſche und des Feuers der Be-
wegung wirkt auch quantitativ energiſch, wogegen übermäßige Häufung
von Schallquantitäten geradezu die umgekehrte Folge hervorbringen kann,
indem ſie verurſacht, daß die einzelnen Schallkräfte, ſtatt die Kraft des
Ganzen jede an ihrem Theile zu verſtärken, vielmehr in dem betäubend
dröhnenden, unorganiſch lärmenden Ganzen wirkungslos verlöſchen. Es
findet alſo hier etwas ganz Aehnliches ſtatt, wie beim Rhythmus; das
[914] quantitative Dynamiſche muß dem qualitativen untergeordnet bleiben, und
nur wahrhaft künſtleriſcher Geiſt und Sinn iſt im Stande, die dynamiſchen
Mittel in der Art handzuhaben und ſie mit den innerlichen Mitteln des
Ausdrucks ſo zu verſchmelzen, daß alle Ausartung der Muſik in groben
Materialismus der Schallwirkung ferne gehalten wird.
Die Betrachtung der muſikaliſchen Geſtaltung des Tonmaterials und
der mit derſelben ſich ergebenden Mittel muſikaliſcher Wirkung iſt hiemit
abgeſchloſſen; wir gehen nun über zum Weſen und zur Entſtehung
des muſikaliſchen Kunſtwerks ſelbſt.
§. 779.
Das muſikaliſche Kunſtwerk entſteht dadurch, daß die Phantaſie
eine kürzere oder längere, einfachere oder zuſammengeſetztere Tonreihe ſchafft,
welche ſich durch die Art und Weiſe ihrer Bewegung auf Tönen und Inter-
vallen der Scala, ihres Tempo, ihres Rhythmus, ſowie auch ihrer Begleitung
als eine Tonfolge von natürlichem, unmittelbar einleuchtendem Fortgange, von
klarem, ſich in ſich ſelbſt abſchließendem Verlaufe, von beſtimmtem Charakter
und Ausdruck zu vernehmen gibt; alle Muſik iſt rhythmiſirte, charakteriſtiſch
2.geformte Tonfolge, oder Melodie. Nur iſt ſogleich als weſentlich zu beachten
der Unterſchied zwiſchen Melodie im engern und weitern Sinn; Melodie
im engern Sinn iſt eine Tonfolge, die mit ſelbſtändiger, charakteriſtiſcher, in
ſich abgeſchloſſener Bedeutung und ebendamit auch dann verſtändlich und an-
ſprechend auftritt, wenn ſie außerhalb des Zuſammenhangs mit einem größern
Ganzen und ohne Begleitung gehört wird; Melodie im weitern Sinn oder blos
melodiöſer Tongang dagegen eine ſolche, die nur innerhalb eines größern Zu-
ſammenhangs oder mit Begleitung klar und ſchön iſt, weil ihr für ſich etwas
zum Charakteriſtiſchen, Bedeutenden, in ſich Vollendeten fehlt.
1. Die muſikaliſche Compoſition unterſcheidet ſich von jeder andern
(die architectoniſche Ornamentik ausgenommen) durch ihre ganz abſolut
ſcheinende Freiheit; ſie hat ein bewegliches, der mannigfachſten Combinationen
fähiges Material, ſie iſt nicht an gegebene ſpezifiſche Formen der natürlichen
Exiſtenz oder des (ſprachlichen) Ausdrucks gebunden, wie Plaſtik, Malerei
und Poeſie, ſie ſcheint ſich das Alles ſelbſt hervorbringen zu können, und
kann es auch bis zu einem gewiſſen Grad, ſelbſt Rhythmus und Harmonie
laſſen ihr die größte Freiheit der Auswahl und Abwechslung. Aber dieſe
ihre Freiheit iſt auch wiederum ein erſchwerendes Moment; ſie ſtellt ihr die
Aufgabe, aus dem Formloſen, Unbeſtimmten, abſolut Freien etwas zu
ſchaffen, das Geſtalt, beſtimmten Sinn, ſpezifiſche Bedeutung habe (ein
Tonbild), ja ſogar etwas, das nicht den Eindruck des frei, willkürlich
[915] Gemachten, ſondern auch den des Natürlichen hervorbringe, ſo gut wie
irgend ein Naturſchönes oder ein dem Naturſchönen analog gebildetes Werk
anderer Künſte; auch das muſikaliſche Kunſtwerk muß objectiv, muß Geiſtiges
in Naturform ſein. Dieſes nun erreicht die Muſik, abgeſehen von den
einzelnen Ausnahmen, in welchen ein beſtimmter Ausdruck durch bloße
Accordfolgen erreicht oder der Ton zu blos rhythmiſchen Wirkungen ver-
wendet wird, durch Melodie; Melodie iſt nicht eine ſpezielle Form inner-
halb der Muſik neben andern Formen, ſondern ſie iſt die allerdings durch
Rhythmus und Harmonie bedingte und unterſtützte weſentliche Form, mit
welcher die Muſik ſelbſt erſt entſteht, ſie iſt die Form des muſikaliſchen
Kunſtwerks, wie Geſtaltenbildung die des plaſtiſchen; alles Andere iſt nur
Stoff, Element, Mittel, Material, erſt mit der Melodie kommt auch ein
Werk, eine Geſtalt, ein Kunſtgebilde hervor, das den Stoff belebt und in-
dividualiſirt; Lehre von der Form des muſikaliſchen Kunſtwerks und Melodik
ſind identiſch, nur mit Ausnahme davon, daß jene auch die begleitenden,
zur Melodie hinzutretenden Momente der Harmonie in ihrer Bedeutung
für die Melodie ſelbſt und die Muſik überhaupt zu erkennen hat. Analyſiren
wir die Geneſis des muſikaliſchen Kunſtwerks, ſo wird ſich dieß ganz von
ſelbſt herausſtellen. I. Die formloſe Maſſe von Tönen erhält Form einmal
dadurch, daß aus der unbeſtimmten Menge von Tönen ein begrenztes
Quantum ſich folgender, möglicherweiſe jedoch identiſcher, ſich nur wieder-
holender Töne (für ſich oder mit Begleitung) gleichſam herausgehoben wird.
Damit wäre aber erſt ein Nach- und Nebeneinander von Tönen gegeben
ohne Einheit, Ordnung und Gleichförmigkeit der Bewegung; dieſes zweite
Moment kommt hinzu durch Rhythmus, Takt und Tempo. Bliebe es
nun hiebei, ſo hätten wir nur eine rhythmiſirte Tonfolge, an der nichts
Beſtimmtes und Charakteriſtiſches wäre als der Rhythmus ſelbſt, der doch
für die Muſik nur Element, nicht das Ganze iſt; es muß alſo, damit ſie
wirklich muſikaliſch ſei, noch ein weiteres Qualitatives hinzukommen, d. h.
es muß auch die Tonfolge ſelbſt, abgeſehen vom Rhythmus, Mannigfaltig-
keit, Beſtimmtheit, Charakter, Einheit an ſich haben. II. Dieſes Qualitative
entſteht zuerſt damit, daß die Tonreihe eine Folge von Tönen ver-
ſchiedener Höhe und Tiefe, ein Auf- und Abſteigen auf Tönen und
Intervallen der Scala iſt; ſchon die Scala ſelbſt, rhythmiſch geſpielt, iſt
eine muſikaliſche Tonfolge, eine in ihrer Art bereits befriedigende Formirung
des formloſen Tonmaterials. Bleiben wir zunächſt bei der Scala ſtehen
(um uns die Melodie Schritt vor Schritt entſtehen zu laſſen und dadurch
ihr ſo ſchwer begrifflich zu erfaſſendes Weſen uns zu anſchaulichem Ver-
ſtändniß zu erheben), ſo thut ſich hier ſogleich ein Unterſchied hervor zwiſchen
der Bewegung auf der Scala ſelbſt und der Bewegung blos auf ihren
Hauptintervallen (Terz, Quint u. ſ. f.). Die erſtere gibt ein Ganzes, ein
[916] in ſich zuſammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht;
und dieſe Differenz hat darin ihren Grund, daß die erſte eine ſtetige Ton-
folge iſt, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern,
nächſtgelegenen fortſchreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere
ſich fügt, Eines zum Andern fortführt, in’s Andere überfließt; es iſt in ihr
eine Reihenordnung, ein Zuſammenhang, ein aus vielen ſich an einander
reihenden Gliedern erwachſendes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere,
abſtracte, dürre, ſtarre Form, ſondern ein inhalterfülltes und ein lebendig,
organiſch in ſich fortſchreitendes Ganzes iſt; ſie hat concrete Fülle, und ſie
hat Fluß und Leben, ſie iſt eine nirgends abgebrochene, fortſtrömende Linie,
nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen,
ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen
dagegen führt zwar wohlthuende und charakteriſtiſche Tonverhältniſſe vor
(§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit
zu großen Lücken, und darum macht ſie den Eindruck einer blos abſtracten
Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten
Inhalt, einer unzuſammenhängenden Punctenreihe. Zur muſikaliſchen Form
gehört alſo nicht blos Wechſel von Höhe und Tiefe überhaupt, ſondern
dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf
Tönen der Leiter, kurz Stetigkeit, Fluß der Tonfolge (Melodie).
Der discontinuirliche Wechſel zwiſchen entlegenen Tönen (z. B. das An-
ſchlagen der Hauptintervalle) iſt zwar nicht ſchlechthin ausgeſchloſſen, er
kann am gehörigen Ort auch ſeine Dienſte thun, wenn es der Sache oder
des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger ſtetige Tonfolge ſich
handelt, aber Stetigkeit iſt das Vorherrſchende, und ſie kann oft (z. B. in
Läufen) ganz für ſich allein befriedigen, da ſtetig auf einander folgende
Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben.
Nur darf dieſe den Charakter des Stetigen an ſich tragende Tonfolge weder
ein leeres, unterſchiedsloſes Einerlei, noch eine Reihe ohne diſtincte Gliederung
ſein, wenn ſie Kunſtform ſein will; die Scala z. B. iſt (§. 771) dieſes
erſt, wenn ſie ſo gebildet iſt, daß der Wechſel zwiſchen ganzen und halben
Tonweiten und die Periodiſirung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und
Gliederung in ſie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der
muſikaliſchen Form ſtellt ſich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar
vorherrſchend, aber nicht abſolut ſtetigen, keinen gleichförmigen, ſtets in
denſelben Tonweiten ſich bewegenden, ſondern einen zwiſchen verſchiedenen
Tonweiten wechſelnden Fortgang habe, und daß derſelbe kein aggregatartiger,
ſondern ein in ſich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß ſie eine in
kleinere Reihen ſich theilende und dadurch ebenſo mannigfaltige als wiederum
ebenmäßige, leicht überſchauliche und zur Einheit zuſammenzufaſſende Tonreihe
ſei; kurz die Tonfolge muß Intervallenwechſel und Periodicität
[917] haben. In erſter Beziehung darf ſie nicht einförmig und träg hinundher-
ſchleichen, um den Grundton ermüdend ſich herumbewegen, wie ſo viele
Kanon- und Madrigalmelodien älterer Jahrhunderte (die Kieſewetter’s Ge-
ſchichte der Muſik mittheilt); ſie darf auch nicht auf den Grad von Inter-
vallenwechſel ſich beſchränken, den die Scala anwendet, da in dieſer doch zu
wenig Mannigfaltigkeit der Abwechslung iſt, als daß ſie für ſich befriedigen
könnte; neben dem ſtetigen Fluß iſt Mannigfaltigkeit der Hebung und
Senkung, der Schritte und Wendungen unerläßliches Geſetz. In zweiter
Beziehung aber muß die Tonfolge aus ebenſo zuſammengehörigen als ſich
gegen einander abgrenzenden Gliedern beſtehen, ſie iſt ſo anzulegen, daß
von einem Ton aus ein gewiſſer Fortgang durch mehrere Töne bis zu
einem Puncte gemacht wird, mit welchem dann eine neue, von der vorher-
gehenden etwas abgehende Wendung des Fortgangs deutlich eintritt, auf
dieſe Wendung wieder eine andere folgt u. ſ. w. III. Indeß auch damit
haben wir noch nicht die ganze muſikaliſche Kunſtform; man vergleiche z. B.
eine mit einer Melodie in gleichem Schritte fortgehende nächſtuntere Be-
gleitungsſtimme, die nicht ſelbſt wieder melodiſch geführt iſt; in einer ſolchen
kann alles bisher Geforderte beiſammen ſein, und doch fehlt ihr noch gar
Vieles zur muſikaliſchen Form, ſie leuchtet nicht ein, ſie bedeutet nichts, ſie
hat keinen Charakter, keine Motivirung und Natürlichkeit des Fortſchritts
und Verlaufs, kein Leben und keinen Schwung, ſie gefällt nicht. Darin
erſt, auch Dieſes hinzuzuthun, ruht das Geheimniß der Muſik; wie es aber
hinzuzuthun ſei (oder was volle muſikaliſche Form gebe, was die Melodie
ſchließlich zur Melodie mache), dieß zu definiren, iſt einer der ſchwierigſten
Puncte der muſikaliſchen Aeſthetik. Erforderlich hiezu iſt weiter 1) Dieſes,
daß der Fortgang nicht blos ſtetig, wechſelnd, periodiſch, ſondern zugleich
gebunden iſt durch die in ſeinem Verlauf ſtets feſtgehaltene Beziehung zu
einem Grundton. Ein Tonbild, ein vollkommen einheitliches Tonganzes,
entſteht erſt dann, wenn die Tonfolge ein Aufundabſteigen von einem
Grundton aus iſt, das die Beziehung zu dieſem Grundton ſtets durch-
ſcheinen läßt und daher am Ende auch wieder in ihn zurückgeht (ein Geſetz,
das ſich ſelbſt dann nicht aufhebt, wenn ein Tonwerk aus mehreren Ton-
ſtücken mit verſchiedenen Grundtönen beſteht, indem dieſe Grundtöne der
einzelnen Stücke doch in Beziehung zu einander ſtehen und wo möglich der
Grundton des letzten Tonſtücks mit dem des erſten identiſch iſt). Gehen wir
zum Behuf beſtimmterer Orientirung zunächſt wieder auf die Scala zurück,
ſo befriedigt ſie nicht nur durch ihre Stetigkeit, (relative) Abwechslung und
Periodicität, ſondern durch die unwandelbare Beziehung aller ihrer Einzel-
töne zum Grundton; ſie iſt eigentlich nichts als dieſes, daß der Grundton
eine Tonreihe anhebt, welche zu ihm ſelbſt (Prim oder Octave) zurückgeht,
und welcher man, auch bevor dieß erreicht iſt, dieſe Beziehung auf ihn
[918] immer wieder durch drei Umſtände anmerkt, einmal dadurch, daß die ſtetige
Hinauf- und Herabbewegung ein Ankommen bei der Octave vermuthen läßt,
für’s zweite dadurch, daß die Bewegung innerhalb der Tonart des Grund-
tons bleibt, und für’s dritte dadurch, daß dieſe Bewegung die auf den
Grundton unmittelbar hinweiſenden Hauptſtufen der Leiter, Quint und Terz,
berührt. Eine ſolche Bewegung leuchtet ein, ſie iſt motivirt und in ſich
abgeſchloſſen — denn man ſieht, daß in ihr alles einen Zweck hat, man
ſieht, auf was ſie hinaus will, auf Vorführung aller Töne, die nach einem
beſtimmten Tongeſchlecht ſich vom Grundtone aus als Mitte zwiſchen ihm
und ſeinen Octaven ergeben, ſowie auf Wiedererreichen des Grundtones; —
ſie macht den Eindruck des natürlichen, nicht willkürlich ſubjectiven, ſondern
objectiv begründeten Fortſchritts — denn ſie geht vom Grundton aus vor-
wärts in Tonweiten, die der natürlichen Gehörorganiſation gemäß ſind,
und durch Tonſtufen, welche das Gehör als weſentliche, in charakteriſtiſcher
Beziehung zum Grundton ſtehende Intervalle ſogleich anſprechen; — ſie
gefällt, weil ſie die Bewegung vom Grundton aus und zu ihm zurück in
concreter lückenloſer Weiſe, mit immerhin mannigfachem Tonwechſel zur
Anſchauung bringt und dabei doch durch ihre Einfachheit Alles ausſchließt,
was dieſe Anſchaulichkeit verdunkeln oder ſtören könnte. Alle dieſe Ver-
hältniſſe, welche die Scala als Bewegung vom Grundton aus und zu ihm
zurück klar, natürlich und gefällig machen, kehren, nur in weniger einfacher
Weiſe und in großartigerem Maaßſtabe, bei aller kunſtmäßig geformten
Muſik, bei aller Melodie wieder und ſind Bedingung derſelben; klar wird
alle Muſik nur durch Feſthaltung des Grundtons und ſeiner Tonart, durch
Vermeidung zu vieler und entlegener Modulationen, durch rechtzeitiges
Zurückſteuern zum Ausgangspuncte; natürlich wird ſie bei kleinern Stücken
nur durch einen Tonfortgang, der die Hauptſtufen der gewählten Scala
auch mitergreift, ſie hervortreten läßt, hie und da auf ihnen ruht, bei
größern durch längere Ausweichungen nur in ſolche Tonarten, die zur
urſprünglichen in näherer Beziehung ſtehen; gefällig nur durch die ebenſo
mannigfaltige, wechſelreiche als einfach ungezwungene, anſchauliche Weiſe,
mit der ſie ebenſo den Fortgang vom Grundton oder der Grundtonart
hinweg wie die Zurückwendung zu ihnen bewerkſtelligt. In anderer Rück-
ſicht freilich, nämlich noch mannigfaltigeren Tonfolgen gegenüber, gefällt
die Scala nicht, weil ſie zu ſtetig und uniform iſt; ſie gefällt doch nur in
Vergleich mit gar zu einfachen Fortbewegungen, z. B. von Prim über Quint
zur Octave, ſowie in Vergleich mit ganz unbeſtimmt in’s Blaue gehenden
Tonaggregationen, und dieſer Punct führt uns nun 2) auf eine weitere
Hauptbedingung der muſikaliſchen Kunſtform, auf das Charakteriſtiſche
und Ausdrucksvolle. Das Charakteriſtiſche fehlt auch der Scala ihrer
Uniformität ungeachtet nicht, und wir gehen daher auch hier wieder von
[919] ihr aus. Sie hat nicht blos die Eigenthümlichkeit, daß ſich in ihr alles
auf den Grundton bezieht und ſo ihr Gang einleuchtende Klarheit, moti-
virten Fortſchritt, natürliche Geſetzmäßigkeit und befriedigende Einheit erhält;
ſondern ſie hat auch einen Charakter, eine Bedeutung, einen beſtimmten
Ausdruck; ſie ſtellt eine beſtimmte Art der Bewegung dar, nämlich die
geradlinige Bewegung zwiſchen zwei Puncten (Prim und Octav), oder
wenn ſie auf- und abwärts genommen wird, die in gerader Linie auf- und
abſteigende, in gerader Linie aus ſich heraus und in ſich wieder zurück-
gehende, kurz eine beſtimmte Art von Bewegung, die nicht nur andern
gegenüber ihre charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit, ſondern auch innerhalb der
verſchiedenen Bewegungsarten eine gewiſſe beſondere Bedeutung und Be-
deutſamkeit hat; die geradlinige Bewegung repräſentirt ja einen einfachen
regelrechten Fortgang nach oben, welcher ſo gut als weniger einfache in der
Muſik vorkommen darf und muß, indem er z. B. der ganz treffende Aus-
druck leichten oder entſchiedenen Vorwärtsgehens (wie im Schlußchor des
erſten Donjuanfinales), einfacher, ungehemmter Erhebung u. ſ. w. iſt, wie
auf der andern Seite die unmittelbar wieder in ſich zurückgehende Bewegung
der auf- und abwärts genommenen Scala eine einfache, gleichförmige, in
ſich kreiſende Aufeinanderfolge identiſcher Hebung und Senkung darſtellt,
die gleichfalls eine berechtigte, in ihrer Art zu treffendem Ausdruck geeignete
Bewegungsform iſt. Ganz ebenſo verhält es ſich mit der muſikaliſchen Form
überhaupt. Ein Tongebilde, eine Melodie muß auch durch die Art und
Weiſe ihrer Hebungen, Senkungen, Windungen, Schritte, Sprünge eine
eigenthümlich charakteriſtiſche und bedeutſame, irgendwie intereſſante Bewe-
gungsart darſtellen, wie in der bildenden Kunſt jeder Umriß Charakter und
Bedeutung haben ſoll; ein Tongebilde entſteht ſozuſagen damit, daß aus
den unendlich vielen an ſich möglichen Zuſammen- und Umſtellungen der
Töne eine einzige herausgegriffen wird, die ſo beſtimmt iſt in ihrer Art
und Weiſe, daß wir in ihr ſogleich einen eigenthümlichen Modus von
Toncombination, einen eigenen etwas Beſtimmtes ausdrückenden, einer
beſtimmten Bewegung der Empfindung, des Affects, des Willens u. ſ. w.
(ähnlich wie vorhin die Scala) entſprechenden Bewegungsmodus, einen
charakteriſtiſchen, etwas ſagenden Verlauf erkennen, wozu natürlich die
Rhythmik auch wiederum weſentlich mitwirken muß. An dieſes letztere
Moment ſchließt ſich ſodann 3) noch eine weitere Eigenthümlichkeit an; es
iſt nämlich in der hinaufſteigenden Scalenbewegung auch ein Rhythmus
(im höhern Sinn des Worts §. 500), ein Bewegungsrhythmus,
ein Aufſchwung, ein Zug nach oben, der mit dem Uebergang von der
Septime zur Octav wieder in Ruhe übergeht, und noch mehr iſt dieſer
Rhythmus in der auf- und abſteigenden Scala, indem hier dem Anſteigen
die Senkung, der abwärtstreibende Zug nach unten folgt, welcher gleich-
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 60
[920]falls erſt mit dem letzten Uebergang von der Secund zur Prim ſich wieder
beruhigt (ein Verhältniß, das unter Anderem durch die Scalenläufe im
Andante der Ouvertüre zu Don Juan vortrefflich in’s Licht geſetzt wird);
es iſt hinauf- wie hinabwärts ſowohl ein Anſchwellen, Forttreiben als auch
ein Nachlaſſen und Verklingen der Bewegung, ein Hinauf- und Herab-
drücken vom Anfangspunct zu den von ihm entferntern Mittellagen, von
dieſen wiederum zu dem dem Anfang entſprechenden Endpunct, ſodann von
dieſem herab wieder zur Mitte und von da zum Ausgangspunct zurück.
Dieſer Bewegungsrhythmus iſt es, welcher der Scala, und wie ihr auch
jeder andern Tonreihe, erſt vollkommen den Charakter eines in ſich abge-
ſchloſſenen, alle Momente, deren eine Bewegung fähig iſt, durchlaufenden,
in ſich lebendigen Tonganzen verleiht, das Empfindung und Phantaſie
ebenſo hebt und emporträgt, als es ſie wieder zur in ſich befriedigten
Ruhe herabläßt. Durch alle dieſe Eigenſchaften hat endlich die Scalen-
bewegung 4) auch vollkommenſte Naturſchönheit, ſie iſt ein Natur-
ſchönes, das man nicht anders haben möchte, ein Naturſchönes zwar von
ſehr großer Einfachheit und daher für ſich allein nicht befriedigend, aber
darin doch gefällig durch reine, unmittelbare, ungekünſtelte Objectivität.
Hiemit haben wir nun ſämmtliche Momente beiſammen, durch welche das
Tonmaterial zum Kunſtwerk ſich geſtaltet; wo alles Dieſes iſt: Begrenzung,
Taktmäßigkeit und Zeitmaaß, Wechſel in Höhe und Tiefe und doch Fluß
und Stetigkeit, Abwechslung der Tonweiten und periodiſche Gliederung, feſte
Beziehung auf einen Grundton, klar motivirte, natürliche, charakteriſtiſche
Bewegungsrichtung und lebendiger Bewegungsrhythmus, da iſt künſtleriſche
Compoſition (vergl. §. 495 ff.) und Eindruck einer ſolchen vorhanden.
Eine ſolche Tonreihe iſt aber zugleich nichts Anderes als Melodie (oder
eine Reihe, eine Geſammtheit von Melodieen); die Analyſe der Melodie in
ihrem Unterſchied von der bloßen Tonreihe führt ganz auf dieſelben Re-
quiſite, die ſich uns für die muſikaliſche Kunſtform überhaupt ergeben haben,
indem ja, wie die Erörterung an den Hauptpuncten es bereits hervorhob,
keine Melodie iſt, wo irgend eines derſelben fehlt, und wir haben ſo zu-
gleich den Satz, daß alle Muſik Melodie iſt. Die Fälle, in welchen
um beſonderer Wirkungen willen Rhythmus oder Harmonie allein dominiren,
können nur Ausnahmen ſein, da Rhythmus noch keine Muſik, Harmonie
aber Muſik noch ohne diſtincte und lebendige Form iſt. Maaß und Energie
der Bewegung gibt der Rhythmus; ſeelenvolle Innigkeit, Schmelz, aus-
drucksreiche Färbung und Markirung gibt die Harmonie; alles Andere aber,
Begrenzung, feſte Geſtalt, anſchaulichen Fortgang, Sinn und Klarheit,
directen Ausdruck der Stimmung und Empfindung, Charakter und Leben
erſt die Melodie; ſie erſt gibt zu der Färbung das Licht, den Umriß, die
Zeichnung, die Belebtheit und innerlichrhythmiſche Bewegtheit des Kunſtwerks
[921] hinzu. Bezeichnend iſt es in dieſer Beziehung, daß man nur eine melodiſche
oder melodiöſe Tonfolge einen „Gedanken“ nennt, ein Etwas, bei dem
man zu denken und nicht blos äußerlich an einander Gereihtes zu hören
bekommt; die Melodie iſt eine gedankenmäßige, das Viele zur Einheit eines
Ganzen geſtaltende Gliederung des Tonmaterials; ſie iſt, eben weil ſie die
abſolute Form iſt, die weder abſtracte Einheit noch abſtracte Vielheit duldet,
ſondern Beides zu concreter Geſtaltung verbindet und ein Ganzes aus
ihnen bildet, auch Gedanke, während Rhythmus abſtracte inhaltsleere Form,
Harmonie nur Ergänzung einer ſchon vorhandenen Form, kein einheitliches
Ganzes für ſich iſt und ebendeßwegen beide wohl gedankenmäßig ſein können,
aber noch keine „Gedanken“ ſind. Weiter kann hier auf die einzelnen Momente
des Weſens der Melodie noch nicht eingegangen werden; nur ſo viel iſt
noch zu bemerken, daß die Analyſe jeder gegebenen Melodie, die wirklich
anſpricht und gefällt, alle jene obigen Merkmale vom erſten bis zum letzten,
vom „begrenzten Quantum“ bis zur „Natürlichkeit und Gefälligkeit,“ ob-
wohl natürlich nicht überall alle in gleichem Verhältniſſe entwickelt (da
ſonſt keine Mannigfaltigkeit von Melodieen wäre), in ihr aufzeigen, und
daß ſich als Grund des Unbefriedigenden einer Melodie immer das Fehlen
des einen oder andern herausſtellen wird.
2. Der zweite Satz des §. macht einen Unterſchied zwiſchen Melodie
im engern und weitern Sinn. Es kann nämlich nicht gefordert
werden, daß ein Tonwerk blos aus ſolcher Melodie beſtehe, die ganz für
ſich allein ſelbſtändige charakteriſtiſche Bedeutung und Verſtändlichkeit,
durchaus regelmäßigen Verlauf, vollſtändig entwickelte Periodicität, ſchlecht-
hin gefällige Tonfolge u. ſ. w. habe. In größern Tonwerken entſtände
dadurch Einſeitigkeit, Uniformität, abſtracte Klarheit und abſtracte, leer und
kraftlos werdende Gefälligkeit; die Muſik, und beſonders die weniger als
die Menſchenſtimme auf einfach klaren, die Einzeltöne länger aushaltenden
Fortgang angewieſene Inſtrumentalmuſik, bedarf mannigfaltigere Formen,
ſie muß ſich auch ſozuſagen frei tummeln können, ohne alle jene Geſetze der
eigentlichen Melodie (Cantilene) zu beobachten, ſie muß Sätze bilden dürfen,
die wie z. B. die ſehr raſch in verſchiedenen Wendungen geſpielten Töne der
diatoniſchen oder chromatiſchen Scala mehr Figuren als ſelbſtändige Ton-
geſtalten geben, Figuren, in denen (vergl. §. 776, 3.) die einzelnen Töne
enger zuſammenrücken und weniger bedeuten, Figuren, die zur eigentlichen
Melodie ſich verhalten, wie etwa Arabesken zur plaſtiſchen Zeichnung.
Solche Figuren ſind allerdings auch melodiös; aber die einzelne Figur für
ſich iſt, wenn auch charakteriſtiſch, doch theils quantitativ, theils qualitativ
zu unbedeutend, von zu wenigem Gewicht, als daß ſie eigentliche Melodie
heißen könnte, ſo daß es mehr die Wiederholung oder Variirung der Figur
oder die Aneinanderreihung mehrerer ſolcher Figuren iſt, worauf das Be-
60*
[922]friedigende und Gefällige dieſes Fortgangs beruht, wie z. B. in ſo vielen
Orcheſtermelodieen, künſtlichern Arienpartien u. ſ. f. Oder kann der gerad-
linige Fortgang, ſei es nun einfach oder variirt durch einzelne Wendungen,
die jedoch dem geradlinigen Fortgang untergeordnet bleiben, angewendet
werden in Paſſagen, Läufen, Tongängen; ein ſolcher geradliniger
Fortgang iſt auch Melodie, wie ſich dieß oben bei der Betrachtung der
Scala ergab, er iſt aber doch nicht vollkommene Melodie, weil er zu wenig
Wechſel und Charakter darbietet; auch hier haben wir nur Melodie im
weitern Sinn. Ein dritter Fall iſt der, daß ein Tonwerk aus einem
möglichſt einfachen Gedanken durch Variirung ein größeres Ganzes aufbaut,
oder daß es aus einem kurzen Satz (Thema) Keime (Motive) heraushebt,
die weiter entwickelt, „thematiſch“ verarbeitet werden; ein ſolcher einfacher
Grundgedanke braucht auch nicht alle Erforderniſſe der Melodie zu ver-
einigen, er kann zu eng begrenzt, zu einfach ſein, um Melodie im vollen
Sinn des Worts zu heißen. Alle dieſe Melodieen im weitern Sinn
oder melodiöſen Sätze haben dieſes mit einander gemein, daß ſie, eben
weil ſie nur unvollkommene Melodieen ſind, blos innerhalb eines größern
Zuſammenhangs befriedigen und verſtändlich ſind. Verſchieden iſt ein vierter
Fall, wenn nämlich eine Melodie erſt durch die Accord- oder Stimmen-
begleitung vollen Sinn erhält, indem das Hauptgewicht auf den
charakteriſtiſchen Accordklängen und Stimmencombinationen liegt; auch da
kann der Wechſel, der Bewegungsrhythmus, der eigenthümliche Charakter
fehlen, der zur eigentlichen Melodie gehört, indem dieſe Momente von der
Harmonie oder von der kunſtreichen Stimmführung übernommen werden,
und ſo iſt auch hier nur Melodie im weitern Sinne vorhanden. Ganz
hört die Melodie nur da auf, wo die Accordfolge ſo das einzig Gewichtige
iſt, daß die Reihe der oberſten Accordtöne keinen für ſich irgend verſtänd-
lichen und bedeutenden Fortgang mehr bildet, oder wo einzelne Töne oder
Accorde (identiſche oder verſchiedene) ohne Verbindung unter ſich blos nach
einander mehrmals angeſchlagen werden; dieſes Fehlen der Melodie kann
aber nur ausnahmsweiſe vorkommen, indem die beſtimmte Melodiebewegung
durch ſolche noch unbeſtimmtere Töne und Tonfolgen eingeleitet, mit Unter-
brechungen weiter geführt oder abgeſchloſſen werden ſoll.
Daß die Melodie ſelbſt da, wo ſie für ſich charakteriſtiſche und ſchöne
Form hat, in der Regel die Harmonie poſtulirt, als die für volle Muſik
unentbehrliche Ergänzung, durch welche in ihren Gang feſterer Zuſammen-
halt, wahrer Fluß, beſtimmtere Charakteriſtik kommt, iſt im §. 775 bereits
ausgeführt. Insbeſondere aber gilt dieß von den melodiſchen Figuren,
die für ſich ſelbſt weniger Bedeutung haben; ſie ſind bei längerer Auf-
einanderfolge zu leer, zu leicht, zu ſchwebend ohne Harmonie und gehören
in dieſer Beziehung mit denjenigen Tonfolgen, die wir vorhin als vierte
[923] Art von Melodieen im weitern Sinne bezeichneten, zu einer Gattung zu-
ſammen.
Die Frage, welche dieſer beiden Arten von Melodie für die Muſik
höhere Bedeutung habe, iſt dahin zu entſcheiden, daß Muſik nie blos aus
melodiſchen Sätzen im weitern Sinn des Worts beſtehen kann. Die nur
uneigentlich melodiſche Compoſition ſteht allerdings in einer gewiſſen Be-
ziehung höher als die einfach melodiſche, ſie iſt freier, größerer Abwechslung
und Lebendigkeit fähig, ſie vertritt innerhalb der Melodie das Prinzip des
indirecten Idealiſmus, ohne das die Kunſt nie recht concret wird,
ſie ermöglicht die Inſtrumentalmuſik, welche eben die freieſte und concreteſte
muſikaliſche Kunſtform iſt. Aber ſie kann nie für ſich allein ein ſchönes
muſikaliſches Kunſtwerk hervorbringen; wenn innerhalb eines Tonganzen
nicht auch eigentliche Melodie zu Tage tritt, ſei es nun als Thema oder
innerhalb der figurirten Tonſätze, ſo fehlt etwas Weſentliches. Die figurirte
Bewegung iſt wegen ihrer Kleintheiligkeit die unruhigere, wegen der Man-
nigfaltigkeit von Figuren, die ſie an einander reihen muß, die wechſelvollere,
wegen der geringern Bedeutung, die in ihr das Einzelne für ſich hat, die
weniger helle und deutliche, ſie iſt mehr ein in mannigfaltigſten Wendungen
ſich fortziehendes Gewebe, als ein ruhig klar und einfach hinſchreitendes
Gebilde. Blos figurirter Muſik fehlt die Helligkeit, die Concentrirung auf
klar beſtimmten Gefühlsausdruck, es fehlt ihr die klare Sprache der Empfin-
dung, der einfach volle Erguß innerer Bewegung, und ſie muß daher ent-
weder einer Melodie, die das Hauptthema des Ganzen bildet, untergeordnet
ſein, aus ihr hervorwachſen als ihre Variirung oder thematiſche Verarbei-
tung, oder iſt es gefordert, daß ſie an einzelnen Puncten zur eigentlichen
Melodie übergehe, ſie aus ſich hervortreibe, um in ihr zur Sammlung, zur
ausgeſprochenen Klarheit, zur ruhig ſchönen Haltung zu kommen, ſie muß
ſich zu ihr entfalten, wie die Pflanze zur Blüthe und Blume, wie der
Organismus zum Auge, zu dem ruhigen und in Ruhe Alles ſagenden
Spiegel des bewegten Innern. Kleinere Tonſtücke, mit Ausnahme von
mehr techniſchen Etüden, einleitenden Präludien, zum Geſang überführenden
Recitativen u. ſ. w., können nur aus vorherrſchend eigentlicher Melodie
beſtehen, da ſie ſonſt keine Bedeutung für ſich hätten, während in größeren
Compoſitionen allerdings die eigentliche Melodie, wie ſchon bemerkt, ſchlecht-
hin unzureichend iſt, weil man nie blos das einfach Gefällige will. Das
Gebiet der eigentlichen Melodie iſt vorzugsweiſe die Vocalmuſik; in ihr die
Figurirung zu viel anwenden, iſt ein Widerſpruch, an dem manche ſonſt
mit höchſter Kunſt gearbeitete Werke älterer Componiſten und noch mehr eine
Unzahl von Opernarien kranken; der Widerſpruch war verzeihlich, ſo lange
die Inſtrumentalmuſik noch weniger ausgebildet und in ihrem Recht aner-
kannt war, aber er iſt es nicht mehr, ſeitdem die Möglichkeit da iſt, die
[924] beiden Arten von Melodie an die beiden Hauptgattungen der Compoſition
zu vertheilen. Ein ausſchließender Gegenſatz zwiſchen eigentlicher und un-
eigentlicher Melodie findet des weſentlichen Unterſchieds beider nicht ſtatt;
beide können, falls nur Fehler wie der eben angeführte vermieden werden,
in einem und demſelben Tonſtück zuſammen angewendet werden, ſo namentlich
in Inſtrumentalſtücken von einfachem und doch lebendig bewegtem Charakter,
wie Tänze, Märſche und dergleichen. Ja die eigentliche Melodie kann in
uneigentliche, in figurirte ſich verwandeln; die Richtung des Tonfortgangs,
ſeine lineare Bewegung bleibt im Allgemeinen dieſelbe und ſpezificirt ſich
doch in den einzelnen Theilen zu einer Mannigfaltigkeit von Wendungen,
welche größeres Leben in ihn bringen; die einzelnen Glieder (Noten, Takte)
der urſprünglichen Melodie verſelbſtändigen ſich, regen ſich, treiben kleinere
ineinander übergreifende Sproſſen und Zweige, und die Geſtalt des Ganzen
ſcheint deßungeachtet unverändert durch dieſe Zuthaten hindurch. An dieſer
Figurirung der Melodie hat die Muſik ein Hauptmittel der Belebung
und Mannigfaltigkeit, das auch die Vocalmuſik für dieſe Zwecke reichlich
verwenden kann.
§. 780.
Wie zwiſchen Melodie im engern und weitern Sinn zu unterſcheiden iſt,
ſo iſt auch die ihr weſentliche Periodicität eine doppelte; ſie bezieht ſich theils
auf die Anordnung des Ganzen, ſofern dieſe einen nach den Geſetzen der Sym-
metrie geſialteten Periodenbau darſtellen muß, theils auf die größern und kleinern
Glieder der längern periodiſchen Abſchnitte, indem auch dieſe untergeordneten
Glieder eigene, unter ſich zuſammengehörige Gruppen darſtellen müſſen. Quan-
titativ läßt die periodiſche Gliederung ſehr vielfache Unterſchiede der Zahl der
2.Haupt- und Unterabtheilungen zu; in qualitativer Beziehung aber iſt noth-
wendig, daß die einzelnen Theile und Gruppen bei aller Selbſtändigkeit natür-
lich, fließend, in lebendigem Bewegungsrhythmus ſich an einander anreihen.
1. Das ſo weich und ſchwebend ſcheinende Gebilde der Melodie verbirgt
in ſich eine ſtrenge Gliederung und Gruppirung, deren Nothwendigkeit der
vorhergehende §. nachgewieſen hat und deren Weſen nun noch ſpezieller zu
betrachten iſt. Am klarſten tritt ſie hervor bei der Melodie im engern
Sinne, während die blos melodiöſe Tonfolge wenigſtens in größern Ton-
ſtücken keinen ſo einfach beſtimmten Geſetzen der Anordnung unterworfen
iſt (§. 779, 2.), daher hier zunächſt nur von eigentlicher Melodie und kleinern
Melodieen im weitern Sinn die Rede iſt. Das melodiſche Tonſtück baut
ſich in der Regel auf aus zwei in Bezug auf Länge einander conformen
Haupttheilen; dieſelben können, wie namentlich in bewegtern Stücken (beſon-
ders Arien), auch einen dritten in die Mitte nehmen, aber die normale
[925] und für ſich ganz befriedigende Form iſt die Zweitheiligkeit. Durch
ſie ſtellt ſich die Melodie einerſeits dar als eine Tonfolge von nicht zu
kleinem Umfang, als ein nicht zu inhaltloſes, gehörigen Raum umſpannen-
des Ganzes; andrerſeits bewirkt ſie, daß das Nacheinander der Töne durch
Sonderung in Theile die ihm ſonſt fehlende Ueberſchaulichkeit und durch
gleiche (ſymmetriſche) Gruppirung eine Regelmäßigkeit des Verlaufs erhält,
ohne welche Einheit und Zuſammenſtimmung an ihm vermißt würde. Das
Ohr rechnet beſonders bei kleineren Tonſtücken unbewußt die Zeitlänge des
einen Theils nach und erwartet ihre Wiederkehr; wird ſie im zweiten Theil
gekürzt oder überſchritten, ſo entſteht, auch wenn der Fehler nicht bemerkt
wird, das unbehagliche Gefühl unſymmetriſcher Anlage (wie bei einem
Gebäude mit ungleichen Langſeiten), und es iſt daher, wo nicht der beſon-
dere Inhalt oder Charakter eines Stücks es anders verlangt und hiedurch
die Abweichung rechtfertigt, ein unabänderliches Geſetz, daß die zwei Theile
einander entſprechen; ſie müſſen mindeſtens, wenn nicht geradezu gleich,
doch einander proportional ſein, indem z. B. ein 12taktiger Theil auf einen
8taktigen folgt. Dieſelbe Gliederung fordert ein Tonſtück, wenn es nicht
unklar und unſymmetriſch ſein will, innerhalb der einzelnen Theile; die
Regel iſt auch hier, daß ſie aus Unterabtheilungen, gewöhnlich Perioden
genannt, gebildet werden; kleinere Melodieen, z. B. Lieder, Themas zu
Variationen, können auch blos aus Perioden oder aus periodiſirten Ab-
ſchnitten, die nicht förmlich als Theile von einander geſchieden ſind, (ſowie
andrerſeits größere melodiſche Stücke, deren Inhalt die Sonderung in größere
Theile nicht verſtattet, aus einer Reihe ſolcher Perioden oder Abſchnitte)
beſtehen. Ein 16taktiger Theil z. B. iſt ſchon zu lang, wenn er nicht peri-
odiſirt iſt; man hätte an ihm eine Reihenfolge ohne Einſchnitte und Ruhe-
puncte, welche weder klar überblickt noch mit dem Wohlgefallen, das nur
die gegliederte Anordnung gewährt, aufgenommen werden könnte; Aus-
nahmen von dieſer regelmäßigen Periodiſirung finden auch hier nur ſtatt
bei ſich länger hinziehenden figurirten Tonfolgen oder bei Figurirung ein-
zelner Stellen der Melodie durch Läufe, Verzierungen u. ſ. w. Die Theile
ſowohl als die Perioden und Abſchnitte haben, obwohl nicht in völlig
gleicher Weiſe, ein Merkmal mit einander gemein, ſie bilden geſonderte
Partien des Ganzen. Jeder Theil ſchließt den melodiſchen Fortgang ab;
beide Theile haben eigene Schlüſſe, die ſich nur dadurch von einander unter-
ſcheiden, daß um der Einheit des Ganzen willen der zweite Theil noth-
wendig im Grundton des Stückes ſchließt, der erſte aber nicht. Die Periode
iſt zwar nicht ſo ſelbſtändig wie der Theil, ſie kann ſich z. B. der nächſten
durch eigens dazu beſtimmte Zwiſchen- und Uebergangstöne anſchließen, ſie
hat nicht einen eigenen Schluß; aber einen Endpunct mit Schlußcharakter
muß ſie haben, der ſich durch den Gang der Tonfolge, ſowie der Begleitung,
[926] durch ein Zuruhekommen, Anhalten der Bewegung, namentlich durch Still-
halten auf der Tonica oder auf der Quint ankündigt. Dieſer äußern Aehn-
lichkeit der Conſtruction des Theils und der Periode liegt die innere zu
Grund, daß der Theil und die Periode mehr oder weniger ſelbſtändige
Theile des Ganzen ſind, eine Selbſtändigkeit, durch welche es eben ſeine
nothwendige Gliederung erhält. Es iſt zwar kein Theil ohne den andern,
keine Periode ohne die ihr vorhergehende oder folgende ganz und recht ver-
ſtändlich, da ſonſt die Einheit des Tonſtücks aufgehoben wäre, aber relativ
ſind ſie doch ein Ganzes für ſich. Der zweite Theil iſt eine entſprechende
Weiterführung oder theilweiſe Wiederholung des erſten, der erſte iſt eine
Vorbereitung des zweiten, ſo daß keiner ganz ſelbſtändig iſt; der erſte ſagt
nicht genug, nicht Alles ohne den zweiten, der zweite baut auf dem erſten
fort, er ſtände ohne ihn in der Luft; aber ſie verhalten ſich zu einander
doch immer zugleich wie Vor- und Nachbild, Bild und Gegenbild; es iſt
jeder doch ſelbſt ein Bild, wie zwei Gemälde, deren eines den Anfang, das
zweite den dem Anfang entſprechenden Abſchluß einer Handlung oder Be-
gebenheit darſtellen wollte, bei aller Zuſammengehörigkeit doch ſelbſtändig
gegen einander wären; gerade bis zu dieſer ſcharfen Sonderung in ſelb-
ſtändige Ganze muß die Theilung des Tonſtücks fortgehen, wenn ſie voll-
ſtändig ſein will. Eine ähnliche, wenn auch ſchon geringere Selbſtändigkeit
kommt ſowohl dem periodiſirten Abſchnitt als der Periode ſelbſt, alſo z. B.
der erſten viertaktigen Hälfte eines erſten Theils zu; ſie macht für ſich ſchon
weit mehr den Eindruck des Unvollſtändigen, das eine Ergänzung und
Weiterführung fordert, aber ſie iſt doch noch eine Tonfolge, die auch ſchon
ausgedehnt und charakteriſtiſch genug iſt, um ein Tonbild zu ſein, was
namentlich dann klar hervortritt, wenn mit der zweiten Periode eine neue
Tonart, die Tonart der Dominante eintritt; wäre nicht jede Periode ein
Tonbild, das ſich gegen das nächſtfolgende klar abhebt, ſo wäre der aus
Perioden beſtehende Theil eben auch nur eine Tonreihe, in der nichts Be-
zeichnendes, nichts Beſtimmtes zu Tage träte; er wäre eine gerade Linie,
eine Reihe von Puncten, ſo aber iſt er eine (in der erſten Periode) ſich
hebende und wieder zu einem Abſchluſſe ſich herabſenkende, eine (mit der
zweiten Periode) ſich hebende und ſich abermals ſenkende Wellenlinie, wie
die Muſik ſie fordert, weil ſie ihr Weſen in concreter Mannigfaltigkeit der
Bewegung eines beweglichen und nur in diſtincter Beweglichkeit ſchönen
Tonmaterials hat. Aber auch mit der Periode iſt die Gliederung noch
nicht vollendet. Die Periode iſt immer ſo groß, um ein relativ ſelbſtän-
diges Tonbild zu ſein; ſie hat alſo immer mindeſtens ſo viel Umfang
(z. B. 4, 6, 8, 10 u. ſ. w. Takte), daß auch in ihr Raum für Gliederung
iſt, wenn auch nur für eine einfache zweitheilige Gliederung, und ſie kann
wirklich als Periode, als ein Ganzes für ſich nur erſcheinen, wenn ſie dieſe
[927] Gliederung in Theile wirklich hat, d. h. wenn ſie ſo geſtaltet iſt, daß die
erſte Hälfte ſich von der zweiten ſondert, auf ſie vorbereitet, in ihr gleichſam
eine Antwort, ein Gegenbild, eine Ergänzung ihrer ſelbſt findet. Dieſe
Unterabtheilungen der Periode heißen Vorder- und Nachſatz, die beide
von einander auch äußerlich getrennt ſein können, jedoch nicht müſſen, wenn
nur die Richtung der Melodie nebſt der Begleitung einen Ruhe- oder
Wendepunct, einen Einſchnitt zwiſchen beiden Theilen kenntlich macht. Vor-
der- und Nachſatz ſind natürlich noch weniger ſelbſtändig als erſte und zweite
Periode, aber ſie bedeuten doch etwas für ſich, ſie geben eine eigene, bereits
irgendwie charakteriſtiſche Tonfigur, der man allerdings durch ihre Kürze
und Unabgeſchloſſenheit ſogleich anfühlt, daß ſie integrirender Theil eines
größern Tonganzen iſt. Die Theilung kann ſogar noch weiter herabgehen,
es kann innerhalb größerer Vorder- oder Nachſätze jedes Taktpaar, in klei-
neren jeder Takt ein beſonderes Glied mit eigenthümlicher Bewegung bilden;
aber überall nothwendig iſt namentlich dieſe letztere ganz beſtimmte Glie-
derung, ſo ſehr ſie zur Lebendigkeit und charakteriſtiſchen Geſtaltung beiträgt,
deswegen nicht mehr, weil eine gleichförmige Bewegung durch 2 oder bei
Tonſtücken von größerem Maaßſtab durch 4 und 5 Takte hindurch immer
noch kurz genug iſt, um auch ohne vermannigfaltigende Gliederung den
Eindruck einer klaren und anſprechenden Tonfolge zu machen. Die geſammte
Gliederung des melodiſchen Tonſtücks ſtellt ſich ſomit dar als ſymmetriſch
ſich eintheilend und abſtufend; es zerfällt in Theile mit größter, mittlerer,
kleinerer und kleinſter Selbſtändigkeit gegen einander, es zerfällt in Theile,
die im Verhältniß gegenſeitiger Ueber- und Unterordnung untereinander
ſtehen; es iſt ſo in der Gruppirung der Melodie eine gemeſſene architecto-
niſche Logik, auf deren Durchführung ihre Ueberſchaulichkeit und Einfachheit,
ihre Klarheit und Haltung, ihre Abrundung und Gefälligkeit, kurz ihre
Schönheit der Form nach beruht; ja ſelbſt zur Idealität und Erhabenheit
des Eindrucks kann ſie mitwirken eben durch die gemeſſene, ſichere Ruhe,
die mit ihr gegeben iſt. In bewegtern, dem Inhalt nach mannigfaltigern
Tonſtücken darf und ſoll die ſtreng mathematiſche Eintheilung freilich nicht
eingehalten werden; aber auch hier, wie desgleichen auch in größern Ton-
werken, ſind immer wenigſtens einige Partien ſymmetriſch gegliedert und
tragen ſo zur Ordnung und Natürlichkeit des Ganzen bei. Man vergleiche
z. B. die Arien „dieß Bildniß“ und „O Iſis“ in der Zauberflöte. In
der erſtern finden wir ſtrenge Gliederung nach gleichförmigen Sätzen und
Satzreihen nicht durchgehend, wir treffen in ihr der Zahl der Takte nach
ſehr ungleichartige Glieder, Sätze und Perioden, indem die Länge der ein-
zelnen Partien ſich ganz nach dem Inhalt der Empfindungen beſtimmt,
welche veranſchaulicht werden ſollen; dieſe Arie iſt mit Recht pſycho-
logiſch, nicht ſtreng logiſch conſtruirt, ſie ſchmiegt ſich den Bewegungen des
[928] Gemüths an, und die Ruhe, die wir deſſen ungeachtet an ihr bewundern,
hat der Meiſter ihr vorzugsweiſe durch andere Mittel, durch das gehaltene
Tempo, durch den ſchönen Fluß der Melodie, durch die kunſtreiche Compo-
ſition der einzelnen Haupttheile zu geben gewußt. Die Arie des Saraſtro
dagegen beſteht in vollkommenſter Regelmäßigkeit aus ſechs 8taktigen Pe-
rioden; ſie iſt, da der unumwundene, ſtrömende Erguß des Geſangs nir-
gends ein Abbrechen duldet, nicht in zwei Theile geſondert, ſondern erhält
nur durch das Einfallen des Chors am Ende der dritten und ſechsten
Periode eine gewiſſe Abgrenzung; aber gerade dieſe durchaus gleichförmige
und gleichmäßige Fortbewegung in einem und demſelben Rhythmus verleiht
ihr jenes Gepräge prieſterlicher Feierlichkeit, erhabener Seelenruhe, das im
Verein mit der ſeelenvollen Innigkeit und ſchönen Pracht der Melodie und
Harmonie dieſe Arie zu einer in ihrer Art einzigen Erſcheinung macht
(wogegen der ſchon wieder ſtärker bewegte Chor „O Iſis“ mit kleinern
und größern Sätzen wechſelt und überhaupt nicht dieſe ganz gleichförmige
periodiſche Anordnung zeigt). Eine feſte Beſtimmung der Zahl kann, wie
ſchon eigentlich für die Theile nicht, ſo noch weniger für die Perioden und
Sätze gegeben werden; letztere können je nach Umſtänden 2-, 3-, 4-, 5taktige
ſein u. ſ. w.; die Hauptſache iſt nicht die Zahl an ſich, ſondern die Sym-
metrie, vor Allem alſo gleiche Taktzahl des Vorder- und Nachſatzes, weil
Ungleichheit hier am ſtörendſten wirkt, wogegen die Taktzahl der Perioden
und der Theile dem Symmetrieverhältniß nicht ſo ſtreng unterworfen iſt,
weil hier je nach Bedarf Erweiterung, Verlängerung das Richtige ſein
kann. Je einfacher, überſchaulicher, in ſich abgeſchloſſener, je mehr nach
dem Prinzip des directen Idealiſmus abgefaßt das Stück iſt, deſto mehr
ſtrenge geradzahlige Symmetrie; je freier, mannigfaltiger, bewegter dagegen
das Ganze iſt oder je mehr es unter das Prinzip des indirecten Idealiſmus
fällt, deſto freier iſt auch die Handhabung der Symmetrie, obwohl ſie nie
ganz fehlen darf, ſondern wenigſtens einzelne Abſchnitte beherrſchen muß,
damit ſie innerhalb des Ganzen doch auch zur Erſcheinung komme und
ihm dadurch der Charakter der Ueberſichtlichkeit und Ordnung gewahrt werde.
Dieſes Nebeneinander von Gebundenheit an das Symmetriegeſetz und von
Freiheit in ſeiner Anwendung iſt tief begründet im Weſen der Muſik als
ſubjectiver, den Ausdruck immer wieder über die Form ſtellender Kunſt, ſowie
als Bewegung in der Zeit, die einerſeits Maaß und Gliederung weſentlich
braucht, aber andrerſeits eben doch nur ein Maaß und eine Gliederung
überhaupt, nicht wie die Architectur eine exakte, die Prüfung des meſſen-
den Auges aushaltende geometriſche Gliederung; es weist hin auf die Ver-
wandtſchaft der Muſik mit der Poeſie, deren Verſe und Strophen ſo ziemlich
daſſelbe ſind mit den muſikaliſchen Sätzen und Perioden, obwohl ſie in
Bezug auf die Zahl der Strophen ſowohl des ganzen Gedichts als ſeiner
[929] einzelnen Theile eine (für den Gedankenausdruck nothwendige) Freiheit hat,
welche der Muſik als weſentlich rhythmiſcher Kunſt verſagt iſt.
2. In der Theorie der Muſik iſt es gewöhnlich, die Taktgruppen,
welche zuſammen einen größern Satz oder auch kurze Perioden bilden,
Rhythmen zu nennen; dieſe Bezeichnung iſt in ſo fern paſſend, als die
Sonderung des Tonſtücks in Theile u. ſ. w. nicht nur der überſichtlichen
Gliederung dient, ſondern auch zum Bewegungsrhythmus in weſent-
licher Beziehung ſteht. Der Theil führt zum Theil, die Periode zur Periode,
der Vorder- zum Nachſatz, die Taktgruppe zur Taktgruppe hinüber; das erſte
Glied iſt allemal — dieß geht durch die ganze Muſik hindurch — ein An-
fangen, ein Anheben, das im zweiten Glied zur Vollendung oder zur Ruhe,
eine unvollkommen gebliebene Tonerhebung, die im zweiten zur Ergänzung
und Vervollſtändigung gelangt; das erſte Glied lüftet den Vorhang nur
halb, zeigt nur erſt ein halbes Tonbild, ganz bekommen wir es erſt im
zweiten; das erſte Glied führt uns irgendwie hinaus in das Reich der
Töne und Tongeſtalten, aber es läßt uns ſtehen auf halbem Weg, es gibt
uns keinen Abſchluß, zeigt uns den Rückweg nicht, dieß geſchieht erſt durch
das zweite. So kommt in die Muſik Hebung und Senkung, Spannung
und Löſung, Erwartung und Befriedigung, und hiedurch eben iſt die Muſik
theils für uns ſpannend, theils das wahrhafte Abbild des Gemüths, das
eben in dieſer die Ichheit ergreifenden, mit ſich fortführenden und erſt all-
mälig ſich wieder löſenden Spannung der Gefühle und Affecte ſein Leben
hat. Die eine Taktgruppe treibt mit der Richtung, die ihre Töne nehmen,
ſchlechthin fort zur nächſten; dieſe mit ihr zuſammen oder der Vorderſatz
zum Nachſatz, indem er ohne dieſen unvollſtändig erſcheint wie eine Frage,
die auf Antwort wartet; die Periode iſt nun zwar im Nachſatz zu einer
Beruhigung gekommen, aber ſie als Ganzes iſt doch wiederum nicht fertig
in ſich, ſondern erwartet ihre Ergänzung durch die zweite; aber auch mit
dieſer darf die Bewegung nicht aufhören, wenn nicht das Muſikſtück über-
haupt aufhören ſoll; will es nicht aufhören, ſo muß die zweite Periode mit
der erſten zuſammen wieder ein Unvollſtändiges ſein, das Ergänzung durch
Weiteres fordert oder doch erwarten läßt, eine Eigenſchaft, die namentlich
damit erreicht wird, daß mit der zweiten Periode eine Ausweichung in eine
andere Tonart und ſomit eine Abweichung des ganzen Tonſtücks von ſich
ſelbſt eintritt, die wieder aufgehoben werden muß und daher eine weitere
Fortſetzung der Tonreihe verlangt. Aus dieſen rhythmiſchen Beziehungen
der Sätze und Perioden ergibt ſich nun zugleich der Bewegungsrhythmus
des erſten Theils überhaupt; dieſer Bewegungsrhythmus iſt ein Complex
aus kleinern Rhythmen, in welchem die Spannung ſtets zunimmt; es iſt
zwar eine Bewegung, die innerhalb ihrer ſelbſt (in der zweiten Taktgruppe,
im Nachſatz und in der zweiten Periode) mehrere Ruhepuncte hat, und ſie
[930] trägt auch hievon abgeſehen gar nicht nothwendig den Charakter einſeitiger
Erregtheit an ſich, ſofern ſie zunächſt doch nur der blos allmälig ſich hebende
und daher verhältnißmäßig noch immer ruhigere Anfang des Ganzen iſt,
der die Hauptgedanken deſſelben exponirt; aber es iſt doch immer eine Be-
wegung, welche, namentlich bei Anwendung der Modulation, als Ganzes
unvollſtändig iſt und weiter treibt, ſo daß Alles zuſammengenommen das
Moment der noch nicht abgeſchloſſenen Hebung, der Spannung, der Er-
wartung das Uebergewicht behauptet; der erſte Theil iſt eine die Haupt-
gedanken gebende, aber ſie noch nicht weit genug fortführende Expoſition,
die eben weil ſie Manches noch zurückhält auch noch weiter vorwärts treibt.
Anders der zweite Theil (oder in kleineren Stücken die zweite Periode, ſo-
wie in nicht genau nach Theilen geſonderten Stücken, wie die vorhin an-
geführte Arie aus der Zauberflöte, die zweite Periodenreihe des Ganzen).
Steigt der erſte Theil auf, ſo ſteigt der zweite ab; führt jener vorwärts,
ſo führt dieſer zurück; ſpannte uns der erſte, ſo löst dieſer die Spannung
wieder in Ruhe und Befriedigung auf. Dieſes iſt nun aber nicht ſo gemeint,
als trete mit dem zweiten Theil ſogleich ein Nachlaſſen der Bewegung und
Lebendigkeit des Tonſtücks ein. Es kann dieß, außer wo Inhalt und Aus-
druck eine Ausnahme gebieten, ſchon deßwegen nicht ſtattfinden, weil die
Muſik doch immer Erhebung und Bewegung iſt und daher das Moment
des Nachlaſſens, ſo wenig es fehlen darf, doch dem Moment der Hebung
ſtets untergeordnet bleiben muß, und es iſt auch dadurch ausgeſchloſſen,
daß der erſte Theil eine immer nur erſt anſchwellende, vorwärtstreibende
Bewegung iſt, die den höchſten Grad der Hebung noch gar nicht erreicht hat.
Die Sache verhält ſich mithin vielmehr ſo, daß nur der ganze Charakter
und ganze Verlauf des zweiten Theils ein Nachlaſſen der Bewegung, ein
Sichlöſen einer Spannung darzuſtellen hat. Der zweite Theil hat daher
weſentlich ſelbſt auch noch Hebung, Aufſtreben, Fortſchritt in ſich; er ſetzt
zunächſt die Hebung des erſten Theils fort, vollendet ſie, führt ſie weiter,
ſteigert und verſtärkt ſie auch (ein Zweck, dem in größern Werken der den
zweiten Theil beginnende „Mittelſatz,“ der bewegteſte Theil des Ganzen,
ſeine Entſtehung verdankt). Iſt aber dieß geſchehen, dann tritt das Nach-
laſſen ein; die Bewegung ſammelt, beruhigt ſich, ſie kehrt namentlich zur
Grundtonart zurück, ja ſie wiederholt geradezu oft die erſte Periode oder
den ganzen erſten Theil, ſie läßt dieſe erſten Partien, denen nun, nachdem
ſie (im Anfang des zweiten Theils) die geforderte Ergänzung und Ver-
ſtärkung oder die Fortführung zu weitern Bewegungsformen, die ſie er-
warten ließen, bereits erhalten haben, der Charakter des Unbefriedigenden,
Unvollſtändigen und Erwartunganregenden benommen iſt, noch einmal auf-
treten als die Grundlage des Ganzen, zu welcher dieſes, nachdem es ſeinen
Kreislauf gemacht, nachdem es Alles, deſſen es fähig war, aus ſich hervor-
[931] getrieben hat, einfach zurückkehrt, um in ihr zur Ruhe zu kommen; höchſtens
am Schluß hebt und erweitert ſich der Grundgedanke noch einmal, um nicht
(wie dieſes allerdings häufig der Fall iſt) in leicht monotoner Wiederholung
und mattem Nachlaß zu verklingen, ſondern mit einem Nachklang des höhern
Aufſchwungs, der gegen das Ende des erſten Theils oder am Anfang des
zweiten genommen war, und ſo doch mit immer noch lebendig bewegtem
Wellenſchlag zu ſchließen (ein Moment, das ſich in größern Werken, z. B.
Symphonien, zu eigenen ſtärker erregten Schlußſätzen ausbreitet). Der
zweite Theil iſt ſo das vollkommenſte Gegenbild des erſten, er hat den um-
gekehrten Rhythmus, er fängt in und mit der Bewegtheit an, führt ſie eine
Weile noch fort, läßt ſie aber mehr und mehr ſich beruhigen; wie der erſte
aus immer wieder vorwärtstreibenden Rhythmen beſteht, ſo der zweite aus
Rhythmen, die immer mehr zur Ruhe hinführen, wovon ſelbſt die bewegtern
Rhythmen im Anfang des zweiten Theils nicht ausgeſchloſſen ſind, indem
gerade mit dem höchſten Grade der Erregung die Umkehr, der Nachlaß, die
Senkung bereits angebahnt, ja am beſtimmteſten motivirt iſt. Im Einzelnen
modificirt ſich dieſes Alles freilich auf mannigfaltige Weiſe, da theils Größe,
theils Charakter einzelner Tonwerke oft eine weit concretere Gliederung der
Haupttheile verlangen, indem z. B. in größern Compoſitionen ſchon im
erſten Theil neben dem Moment der Hebung das der Beruhigung ſtärker
vertreten ſein muß, als dieſes bei kleineren Melodieen möglich iſt; aber das
Geſetz iſt überall durch die größten wie durch die kleinſten Tonwerke hin-
durch eines und daſſelbe: Aufſchwung, Hebung, Spannung, damit ein
innerlich motivirter Fortgang, ein Intereſſe, — Nachlaſſen, Senkung,
Löſung, damit ein Reſultat und Abſchluß da ſei und nicht die Muſik eben
da abbreche, wo ſie blos umkehren und allmälig zur Beruhigung zurück-
lenken ſollte; alles Erklingen, ſei es nun eines Tones oder einer Tonreihe,
fordert Verklingen, alles Erzittern ein Ausbeben, eine Herſtellung des
Gleichgewichts; ſo nur iſt für den Geiſt Befriedigung, Vollendung, An-
ſchauung eines zur Einheit ſich abrundenden Ganzen da, und es wird daher
ſogleich als Uebelſtand gefühlt, wenn ein Kunſtwerk nicht zu lebendigem,
bewegtem Ausſichherausgehen, noch mehr, wenn es nicht zu einem erſt nach
Erſchöpfung aller Stufen und Grade der Bewegung eintretenden, dann aber
die Spannung völlig löſenden, die Bewegung zur Ruhe führenden Aus-
tönen, kurz zu einem natürlichen und befriedigenden Abſchluß gelangt.
Wirklich ſchöpferiſche Phantaſie (die namentlich eben das unter Anm. 1.
Geforderte verſteht, „für ſich unvollendete, zu weitern vorwärtstreibende“
und hiedurch den Fortgang belebende und motivirende Sätze zu bilden),
vermählt mit urſprünglichem, ſicher treffendem Sinne für Gleichmaaß,
allein kann dieſe Rhythmik des Tonwerks hervorbringen, deren gelungene
Vollendung weſentlich über den Totaleindruck des Ganzen entſcheidet; keine
[932] hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung,
ohne Ausgeſtaltung ſelbſtändiger, ſich gegen einander abhebender Gedanken-
gruppen, keine Gliederung ohne Lebendigkeit, keine einſeitige Erregtheit ohne
beſonnenes Zurückſtreben zur Ruhe, dieß ſind auch in der Muſik Grund-
geſetze, die nie veralten, ſondern immer nur in neuen Formen angewendet
werden können.
Natürliche, fließende, Einheit in’s Ganze bringende Fort- und Ueber-
gänge zwiſchen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Abſonderung
und Gliederung, verſtehen ſich von ſelbſt. Dieſes Moment mußte aber doch
beſonders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das
Tonſtück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur
Wiederholung von Sätzen des erſten zurücklenkt, iſt es von großer Wich-
tigkeit, daß dieſes Zurücklenken durch paſſende Uebergänge, z. B. von der
erſten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze abſchließenden
gehörig motivirt und ausgeführt erſcheine. Die Uebergänge ſind, obwohl
ſchon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und ſchwierig als die
Schlüſſe; ob der Componiſt das Tonmaterial wirklich beherrſcht, dieſes muß
ſich ganz beſonders daran zeigen, ob er im Stande iſt, Uebergänge einzu-
führen und zu bilden, welche wie in melodiſcher Beziehung ſo rückſichtlich
des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend
ſchroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem
beſtimmten Eindruck, daß das Einſchlagen einer andern Richtung oder der
Rückgang zu ſchon Dageweſenem ſich vorbereite, irgend etwas vermiſſen zu
laſſen.
§. 781.
Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere
und niedere Stimmen, deren Gang ſeiner Bezogenheit auf die Melodie unge-
achtet ſehr mannigfaltig ſein und daher auch mit einer gewiſſen, der Melodie
analogen charakteriſtiſchen Selbſtändigkeit ausgeſtattet werden kann. An dieſe
Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen knüpft ſich die Entſtehung der erſten über die
einfache Melodie hinausgehenden Form des zuſammengeſetzten muſika-
liſchen Kunſtwerks, die Entſtehung der polyphonen Muſik im
Gegenſatz zur homophonen.
Die Melodie iſt die Grundform der Muſik; aber ſie tritt zugleich,
worauf ſchon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als „einfache
Melodie“ andern und reichern Formen der Muſik gegenüber, ſofern das
Weſen der Muſik einen Fortſchritt über die einfache Melodie hinaus zu
entwickeltern und zuſammengeſetztern melodiſchen und melodiöſen Compo-
ſitionen fordert, wenn ſie nicht abſtract eintönig werden und auf zu enge,
[933] zu leichte, zu wenig ſagende Formen ſich beſchränken will. Mit dieſen
höhern Formen haben wir es jetzt zu thun und bemerken über die Ein-
theilung der ganzen Lehre vom zuſammengeſetzten muſikaliſchen Kunſtwerk
gleich dieß zum Voraus, daß die Hauptformen deſſelben am richtigſten
(auch der geſchichtlichen Entwicklung am beſten entſprechend) ſich ergeben
und claſſificiren, wenn man zunächſt reflectirt auf die Form, welche die
Melodie ſelbſt annehmen kann mittelſt concreter Ausbildung ihres eigenen
Prinzips, d. h. durch melodiſche Geſtaltung der Einzelſtimmen, durch welche
an die Stelle der einfachen Melodie ein Gewebe zuſammenklingender Me-
lodieen tritt, die „Polyphonie“ (indem dieſes Wort zur Bezeichnung einer
Vielheit ſelbſtändiger, „Vielſtimmigkeit“ dagegen zur Bezeichnung unſelb-
ſtändig begleitender Stimmen gebraucht wird). Dieſe Form iſt die erſte,
da die Melodie hier aus ſich ſelbſt nicht heraustritt, ſondern nur eine mit
andern Melodieen ſich umgebende und in Wechſelwirkung mit ihnen tretende
Melodie wird. Indeß wird die ſpeziellere Betrachtung der polyphonen Muſik
zeigen, daß die entwickeltern Arten derſelben bereits über die bloße Melodie
hinausführen zu einer Kunſtform, in welcher ſchon längere Reihen melodiſcher
Sätze mit einander zu einem Ganzen verflochten werden. Damit wird ſich
uns dann von ſelbſt der Uebergang zu der zweiten Hauptform des zuſam-
mengeſetzten Kunſtwerks ergeben, deren Weſen dieſes iſt, daß eine Reihe von
Melodieen und melodiöſen Sätzen oder weiterhin auch mehrere ſolcher Reihen
zuſammen an die Stelle der einfachen Melodie treten; dieſe Form hat die
einfache Melodie als Element in ſich, ſie kann ebenſo auch die Polyphonie
in ſich aufnehmen, und ſie iſt überhaupt dasjenige Gebiet, auf welchem die
Muſik erſt ganz frei die ganze Mannigfaltigkeit der Compoſition und Com-
bination, der ſie fähig iſt, zu entwickeln vermag, daher dieſe Form zuletzt
zu ſtellen iſt. Einfach (homophon) melodiſche, polyphon melodiſche, ganze
Reihen und Cyclen melodiſcher Tonſtücke vereinigende Muſik ſind die drei
Grundformen aller Tonkunſt, zu denen alle weitern Gattungen von Com-
poſitionen nur als untergeordnete Arten ſich verhalten. In der homophonen
Muſik dominirt das Prinzip der Melodie; in der polyphonen nimmt es das
der Harmonie in ſelbſtändiger Weiſe in ſich auf, die Melodie wird hier
Melodieenharmonie, harmoniſche Melodie; in der dritten Form handelt es
ſich um concretere Entwicklung der Melodie und der melodiöſen Sätze, ſowie
um Nebeneinanderſtellung melodiſcher und melodiöſer Sätze von verſchiedenem
und doch innerlich zuſammengehörigem Charakter, und daher wird für dieſe
dritte Form das rhythmiſche Prinzip beſonders wichtig; denn mannigfaltige
Melodiegeſtaltungen ſind durch Figurirung bedingt, welche letztere vor allem
durch weniger einfache und gleichförmige Rhythmiſirung zu Stande kommt,
und ebenſo iſt charakteriſtiſcher und mannigfaltiger Rhythmus ein Haupt-
band, das Reihen und Cyclen von Tonſtücken theils gliedert, theils unter
[934] ſich zuſammenhält; ja ſolche Reihen und Cyclen ſind weſentlich rhythmiſch
(im höhern Sinn des Worts) ſich fortbewegende Ganze, ſie ſind concrete
umfangreichere Realiſationen des „Bewegungsrhythmus,“ die „cycliſche“
Muſik iſt weſentlich auch rhythmiſche, aus Melodie und Melodieenharmonie
große „Rhythmen,“ große rhythmiſch gegliederte und bewegte Reihen auf-
erbauende Muſik. Kurz, wie die ganze Muſik aus Tonfolge, Zuſammen-
klang und Tonbewegung, aus Melodie, Harmonie und Rhythmus beſteht,
ſo ordnen ſich hienach ganz einfach auch ihre Hauptformen, die alles Ein-
zelne unter ſich begreifen. — Daß auch melodieloſe Harmonie und ebenſo
dominirender Rhythmus mit gänzlicher Unterordnung des melodiſchen und
harmoniſchen Elements möglich und anwendbar iſt, wurde ſchon früher
bemerkt; aber eigene Muſikkunſtformen ergeben ſich hieraus nicht, da bloße
Accordfolgen und bloße Tonſchläge nur vorübergehend in Anwendung
kommen können. —
Die Melodie muß nicht nothwendig, aber ſie kann und ſoll Begleitung
haben, wenn ſie wirklich ganz muſikaliſch ſein will; dieſes ſteht uns aus
Früherem feſt; Begleitung wird ſchon nahe gelegt durch die Unterſchiede der
Stimmen der Menſchen und Inſtrumente in Beziehung auf Höhe und Tiefe,
und wir finden daher wenigſtens Anfänge zu ihr überall, wo muſikaliſches
Gefühl rege iſt, wie z. B. namentlich in dem ſonſt ganz einfachen und
kunſtloſen Volksgeſang. Die Begleitung iſt nun aber wiederum mannig-
faltiger Formen fähig. Sie iſt zunächſt entweder uniſone Octavenbegleitung,
die unter gewiſſen Verhältniſſen großartig einfach, ſelbſt erhaben wirken
(S. 863), aber für ſich nicht genügen kann; oder iſt ſie eine die Melodie
blos unterſtützende und verdeutlichende, möglichſt einfache, für ſich unſelb-
ſtändige und nichts bedeutende Begleitung, die entweder in bloßen Zuſam-
menklängen oder in Accorden beſteht, alſo entweder ein- oder mehrſtimmig
iſt. Indeſſen zeigt ſich doch ſchon hier unter gewiſſen Bedingungen ein
Element der Selbſtändigkeit, nämlich zunächſt bei der unterſten Stimme.
Sie kann der Melodie nicht willenlos in ſtets gleichem Abſtand folgen;
der Führer der unterſten Stimme fühlt ſich vielmehr getrieben, zu den
Zuſammenklängen oder Accorden der obern Stimmen (oder auch zu dieſer
allein, aber eben dann unter der Vorausſetzung, daß Zwiſchenklänge eigent-
lich hinzuzudenken ſind oder mittönen ſollten) Grundtöne anzuſchlagen,
welche den Hauptaccorden, durch die die Melodie ſich hindurch bewegt, eine
ſelbſtändige Haltung und Betonung geben und zugleich den Fortgang vom
einen zum andern natürlich vermitteln. Jeder Accord kann in verſchiedenen
Stellungen ſeiner Töne zu einander genommen werden; einen dieſer Töne
ſchlägt die Melodie an, nimmt ihn für ſich in Anſpruch; der Begleitung
ſteht es zunächſt frei, die andern Töne nach Belieben zu ſtellen, aber dieſe
Willkür iſt dadurch beſchränkt, daß das Gefühl einen ſelbſtändigen vollen
[935] Klang der Harmonie und zugleich einen natürlichen in’s Ohr fallenden
Fortgang derſelben fordert. Dieſe Forderung hat zur Folge, daß diejenige
Lage der Accordtöne, in welcher der Grundton des Accords zu unterſt liegt,
ſtets wiederkehren, ja überhaupt vorherrſchen muß; denn der Accord tönt
für’s erſte am vollſten und ſelbſtändigſten, wenn ſein Grundton unten liegt,
und er gibt ebendamit für’s zweite auch ſich ſelbſt, hiemit aber zugleich
auch den ihm zunächſt verwandten Accord oder den Accord, zu welchem die
Tonfolge natürlicher Weiſe überzugehen hat, am deutlichſten zu erkennen.
Beginnt z. B. oder ſchließt ein Tonſtück mit einem Ton des toniſchen Drei-
klangs, ſo muß wenigſtens im letzten Falle die Tonica immer unten liegen,
damit Vollſtändigkeit und Abſchluß da ſei; geht die Melodiebewegung (z. B.
c, d) in den Dominantdreiklang oder Dominantſeptimenaccord, ſo iſt es
auch hier das Natürlichſte, die Dominante hinab zu legen; geht ſie von
der Septime (h) oder Secund zur Tonica zurück, ſo wird in der Begleitung
dieſen beiden erſtern Intervallen wiederum am beſten die Dominante zum
Grundton gegeben, da ſo der Fortgang vom Accord auf der Dominante (in
welchem jene liegen) zum Dreiklang der Tonica am klarſten markirt wird,
ſofern die Dominante zur Tonica hintreibt. Die unterſte Stimme hat mit-
hin ſtets die Tendenz, ſich in den Hauptintervallen und um ſie herum,
beſonders zwiſchen Tonica und Dominante, zu bewegen, und dieſe Bewegung,
die ſog. baßgemäße Bewegung, gibt dieſer Stimme bereits einen ſelbſtändigen
und zwar zu dem der Melodie contraſtirenden Charakter, es iſt der Charakter
einerſeits einer gewiſſen einförmig hin und her ſchreitenden gravitätiſchen
Gemeſſenheit, andrerſeits eines auf wenige Hauptrichtungen und kleinere
Tonweiten beſchränkten, aber nur um ſo beſtimmteren und klareren Ganges,
der durch ſeine kräftige und entſcheidende Accordintonation die Modulation
des ganzen Stücks verdeutlicht, ſie zu dirigiren, in Ordnung zu halten, zu
beherrſchen ſcheint. Während die oberſte Begleitungsſtimme am natürlichſten,
obwohl keineswegs ausſchließlich, meiſt in der untern Terz oder Sext dem
Gang der Melodie nachrückt, um denſelben hiedurch zu verdeutlichen und
zu unterſtützen, und deßhalb die Mittelſtimmen mehr ausfüllender als ſelb-
ſtändiger Natur ſind, tritt ſomit im Baß bereits ein Streben oder doch eine
Anlage zu melodieähnlicher Selbſtändigkeit hervor, die ihm auch um ſo eher
zukommt, da er der Melodie auch darin entſpricht, daß ſein Gang, weil er
nach unten, wie der der Melodie nach oben zu, abſchließt, nach einer Seite
hin frei, alſo weniger verdeckt und deßwegen diſtincter zu vernehmen iſt,
als der der Mittelſtimmen. Dieſe Selbſtändigkeit des Baſſes zeigt ſich auch
darin, daß er neben ſeiner gewöhnlichen Bewegung noch zwei ſpezifiſch
charakteriſtiſche Bewegungsformen anzunehmen im Stande iſt; der Baß kann
entweder dem Steigen und Sinken der Melodie, ſo weit es ſein Bewegungs-
geſetz geſtattet, folgen, oder er kann ſteigen, wenn ſie fällt, fallen, wenn ſie
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 61
[936]ſteigt, jenes die ſogen. gerade, dieſes die Gegenbewegung. Bei der geraden
Bewegung leiſtet er allerdings auf ſeine Selbſtändigkeit gewiſſermaaßen
Verzicht; ihr längerer Gebrauch würde einem Tonſtück die Haltung und
Gemeſſenheit benehmen, weil das lediglich nach der Melodie ſich richtende
Hinauf- und Herabſpringen der Unterſtimme den Eindruck des Unſteten,
des Mangels an Baſis macht, und dieſe Bewegung kommt daher vorzugs-
weiſe nur vor in Tongängen, wo die ganze Tonmaſſe mit Entſchiedenheit
hinauf- oder herabrückt, oder auch in kurzen Sätzen, z. B. in Horn- und
Trompetenpartien, denen eben dieſer Charakter des leicht hingeworfenen,
nicht auf beſondern Ausdruck, ſondern auf kräftige, raſche Intonation aus-
gehenden Tonwechſels gegeben werden ſoll. Um ſo ſelbſtändiger erſcheint
dagegen der Baß bei der Gegenbewegung. Durch ſie entſteht die intereſſante
Form, daß die Tonmaſſe aus einander und wieder zuſammenrückt, an Breite
zunimmt oder abnimmt und ſo gleichſam das Schauſpiel eines ſich mächtig
oder behaglich ausdehnenden und hinwiederum in enge Schranken oder zu
intenſiverer Gedrungenheit zuſammenziehenden Ganzen gewährt; es entſteht
ebenſo ein eigenthümliches Spiel der Stimmen, die ſich bald einander
nähern, bald einander fliehen, gegen einander jetzt vortreten, jetzt zurück-
weichen, ein Spiel, welches ſchon an ſich durch ſeine wechſelvolle Lebendig-
keit zur Schönheit eines Tonwerks beiträgt, und welches dann weiterhin
bei beſtimmterer Ausbildung des melodiſchen Gangs der einzelnen Stimmen,
z. B. in Chören, geradezu zum Ausdruck ſowohl contraſtirenden Entgegen-
tretens als wiederum harmoniſchen Entgegenkommens und Zuſammenfließens
verſchiedener Elemente und Kräfte gebraucht werden kann. Außer dem Baß
können auch die übrigen Stimmen der Melodie gegenüber die gerade oder
die Gegenbewegung einhalten oder ſie auch unter ſich vertheilen, ſo daß
auch ſie charakteriſtiſche Selbſtändigkeit erhalten. Dieſe Selbſtändigkeit läßt
ſich ſodann noch erweitern, indem ihnen ein mit der Melodie fortſchreiten-
der, aber doch ſelbſt dem Melodiſchen ſich annähernder Gang oder eine von
der Obermelodie abweichende Figurirung mit eigenem Rhythmus gegeben
oder endlich geradezu eigene Melodieen, welche neben der Obermelodie her-
gehen, jedoch ihr untergeordnet bleiben, in ſie verlegt werden (wie dieß
z. B. bei melodiöſer Inſtrumentalbegleitung einer Vocalmelodie der Fall iſt).
Bei allen dieſen Formen relativer Selbſtändigkeit der begleitenden Stimmen
bleibt jedoch die Muſik noch homophon, d. h. der Gang der ganzen Ton-
maſſe liegt immer noch in der Hauptmelodie, ſie allein hat volle Selb-
ſtändigkeit und hat für ſich allein vollen Sinn und klare Bedeutung, es
iſt immer noch eine Stimme, die von andern blos umſpielt und begleitet
wird.
[937]
§. 782.
Die relative Selbſtändigkeit der verſchiedenen Stimmen kann zunächſt dazu
fortſchreiten, daß die einſeitige Unterordnung der einen unter die andere auf-
hört und die Einzelſtimmen in der Art mit einander verknüpft und ver-
flochten werden, daß keine Stimme für ſich allein, ſondern nur ſie zuſammen
eine fortſchreitende Tonfolge bilden.
Den directen Uebergang von der Homophonie zur Polyphonie
bildet die Zuſammenſetzung der Tonfolge eines Stücks aus zwei oder
mehreren Stimmen, deren keine für ſich allein den Fortgang des Ganzen
vertritt, indem vielmehr jede nur mit einer oder mehreren andern Stimmen
zuſammen Melodie iſt und zur melodiſchen Bewegung der ganzen Tonmaſſe
ihren Beitrag gibt. Der nächſte Schritt dazu, der Homophonie eine con-
cretere Geſtaltung der Stimmführung entgegenzuſetzen, iſt offenbar der, die
abſolute Selbſtändigkeit einer einzelnen Stimme einfach aufzuheben und die
Stimmen ſo untereinander zu verbinden, daß eben nur dieſe Verbindung
von Stimmen, deren jede gleichſam blos ein Bruchtheil, einen kleinern
Anſatz oder ein größeres Fragment von Melodie darſtellt, dem Ganzen
melodiſchen Charakter verleiht. Die einfachere Form dieſer Verknüpfung
der Stimmen iſt, wenn ſie nach einander, ſich gegenſeitig antwortend und
ergänzend, auftreten, indem z. B. der zuerſt angeſchlagenen Baßſtimme eine
(anders geformte, aber ihr entſprechende) Oberſtimme antwortet. Die Auf-
hebung der abſoluten Selbſtändigkeit der Einzelſtimme hat hier noch nicht
den höchſten Grad erreicht, da jede, obwohl ſie für ſich kein fortlaufendes
vollſtändiges melodiſches Ganzes iſt, doch ihren eigenen melodiſchen Gang
hat. Eine verwickeltere concretere Geſtalt nimmt dagegen die Verbindung
der Stimmen an, wenn ſie zur Verflechtung oder Verwebung wird. Hier
(wie z. B. gleich nach dem Anfang der Ouvertüre zu Gluck’s Iphigenie in
Aulis) ertönen die verſchiedenen Stimmen zugleich, jede mit melodiſchem
oder melodiöſem Gang, aber doch jede in weſentlicher Beziehung auf die
andere, ſo daß der melodiſche Fortſchritt immer in beiden zugleich liegt;
keine Stimme iſt vollſtändig, für ſich Sinn gebend ohne die Ergänzung
durch die zugleich mittönende andere; beide zuſammen nehmen den Faden des
melodiſchen Fortſchritts nicht blos abwechſelnd nach einander auf, ſondern
führen ihn zu gleicher Zeit weiter; die eine Stimme ſetzt den Gang der
andern nicht blos fort, ſondern greift in ihn ein, motivirt und bedingt ihn,
ſo daß er ohne dieſe mittönende Stimme gar nicht verſtändlich iſt. Es
findet hier nicht mehr eine Ergänzung in der Weiſe des Nacheinanders,
ſondern des Ineinanders ſtatt, ein Verhältniß der Wechſelwirkung; die
Stimmen ſind hier Glieder, die erſt zuſammen ein organiſches Ganzes
ausmachen. Wegen dieſer engen Beziehung zu einander treten hier zugleich
61*
[938]auch concretere rhythmiſche Verhältniſſe ein; da der bewegtere charakteriſtiſch-
melodiſche Gang an die Stimmen ſich abwechſelnd vertheilt, ſo ergibt ſich
von ſelbſt, daß die eine Stimme, nachdem ſie denſelben an die andere ab-
gegeben hat, eine zuwartende, aushaltende, mehr begleitende Stellung
einnimmt, bis die Fortführung der Melodie wieder an ſie kommt u. ſ. f.
Einer beſtimmteren methodiſchen Behandlung unterliegen dieſe zwei Arten
der Stimmenverbindung der Natur der Sache nach nicht, da es ſich bei
ihnen ganz nur um das Einfache handelt, einander ablöſende oder in ein-
ander eingreifende Stimmen zu erfinden; aber obwohl in Folge hievon dieſe
Stimmführung weit weniger Gegenſtand der Muſikwiſſenſchaft iſt, als die
künſtlichern polyphonen Formen, ſo ſind ſie deſſen ungeachtet von der größten
Wichtigkeit in der Praxis, ſie ſtellen der Homophonie ein Entſprechen, ein
Hinundhergehen, ein Ineinanderfließen, kurz eine lebendige Verkettung und
Wechſelwirkung der Stimmen gegenüber, welche mit dem gewichtigern Ein-
druck des bereits Kunſtvollern die Klarheit des immer noch einfach Schönen
anſprechend verbindet.
§. 783.
Die vollſtändig entwickelte Polyphonie realiſirt ſich zunächſt in zwei Haupt-
formen, Contrapunct und Nachahmung, die ſich dadurch unterſcheiden,
daß die erſte Stimmen mit verſchiedenen Melodieen einander gegenüberſtellt,
die zweite aber dieſelbe Melodie oder dieſelben melodiſchen Sätze an verſchiedene
und zu verſchiedenen Zeiten eintretende Stimmen vertheilt.
Die bei der §. 782 betrachteten Form der Stimmverflechtung ver-
loren gegangene Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen wird hergeſtellt, wenn
jede Stimme Melodie für ſich iſt und doch alle zuſammen ein Ganzes, eine
harmoniſche Verknüpfung oder Verflechtung von Melodieen bilden. Auch
hier ſind nämlich Verknüpfung und Verflechtung, nur von anderer Art, zu
unterſcheiden. Melodieenverknüpfung iſt ein Nacheinander von Melodieen
oder melodiſchen Sätzen, von der in §. 782 beſprochenen Verknüpfung
melodiſcher Bruchtheile dadurch verſchieden, daß es hier größere ſelbſtändige
melodiſche Sätze oder geradezu ganze Melodieen ſind, die mit einander ver-
einigt werden, einander antworten und einander ablöſen (wie häufig in
Duetten, Terzetten u. ſ. w.); jeder Satz tönt für ſich, läßt hierauf den
andern folgen, wiederholt ſich oder ſetzt ſich fort, nachdem der andere ver-
klungen iſt u. ſ. w., ſo daß das Ganze wie eine Kette von Ringen erſcheint,
die in ſchönem Wechſel ſich an einander reihen. Das Weſen der Polyphonie
iſt hierin freilich beinahe ganz zurückgetreten, indem die verſchiedenen Stimmen
nur an einzelnen Knotenpuncten, nämlich in den Takten, in welchen ſie
einander ablöſen, vorübergehend gleichzeitig ertönen; ja ſelbſt dieſes Letztere
[939] kann fehlen, und die ſtreng polyphone Form iſt daher hier, wo es ſich um
größere melodiſche Sätze oder um ganze Melodieen handelt, nur die Ver-
flechtung, welche die ſelbſtändigen Sätze nicht mit einander abwechſeln,
ſondern zuſammentönen und ſie doch in ihrer Selbſtändigkeit ſich behaupten
läßt. Paſſend iſt der für ſolche Verflechtungen mehrerer Melodieen gang-
bare Name Contrapunct; es ſtehen hier wirklich Reihen gegen Reihen,
durch eigenthümlichen Gang und durch eigenthümlichen Rhythmus, der ſie
aus einander hält, von einander geſchieden, jede ein Ganzes für ſich, aber
doch jede vollkommen charakteriſtiſch und bedeutend nur in ihrer Verbindung
mit der ihr gegenüberſtehenden. Wie überhaupt die Harmonie das maleriſche
Element der Muſik vertritt, ſo insbeſondere dann, wenn ſie zum Contra-
punct ſich fortbildet; es treten ſelbſtändige Geſtalten neben einander, aber
in ſtrenger gegenſeitiger Bezogenheit, jede ergänzt und hinwiederum nach
ihrer beſondern Eigenthümlichkeit in’s Licht geſetzt durch die andere, beide
an einander gebunden durch Gleichheit des Umfangs, der Tonart, des
Takts, der Begleitung, wenn ſolche dabei iſt, des allgemeinen Inhalts und
Charakters, und doch jede ſich entſchieden von der andern trennend in der
ſpezifiſchen Richtung oder Bewegung und in der ſpezielleren rhythmiſchen
Gliederung. Nur hat der Contrapunct der maleriſchen Zuſammengruppirung
contraſtirender Figuren (und ebenſo den früher betrachteten Verknüpfungs-
und Verflechtungsformen) gegenüber wiederum die Eigenthümlichkeit, daß
die Selbſtändigkeit der beiden zuſammengeketteten Reihen bei ihm weit fühl-
barer, mit entſchieden ſpannendem Eindruck hervortritt. Wir ſehen ſie
nicht als ein einfach ſich ergänzendes Nebeneinander, ſondern wir haben
beide zugleich, wir müſſen ſie zuſammenhören und wir hören daher um ſo
mehr ihre ſchlechthinige Verſchiedenheit; wir werden, wenn wir beide ver-
folgen wollen, nach verſchiedenen Seiten hin distrahirt, es iſt, als ob die
Muſik, deren Weſen einheitliche Tonverſchmelzung iſt, dieſe ihre Natur
aufgeben und in’s Gegentheil verkehren wollte; wir fühlen beim Eintreten
einer in größerem Maaßſtab durchgeführten contrapunctiſchen Behandlung
ſogleich, daß die gewöhnliche Muſik abgebrochen und uns die Aufgabe geſtellt
wird, eine ganz andere Muſik zu vernehmen, in welcher das urſprüngliche
muſikaliſche Verhältniß der Einheit und der Verſchiedenheit umgekehrt iſt und
die Verſchiedenheit überwiegt über die Einheit, wir ſehen den Raum ſich
erweitern zu einer Scene, auf der ſelbſtändige Geſtalten und Kräfte zuſammen
und gegen einander agiren, die Lyrik wird zum lyriſchen Drama, die Sub-
jectivität geht aus einander zu einer Mehrheit von Subjecten, die in Gegen-
ſatz und Harmonie zumal ihre Gefühle darſtellen. In gewiſſer Beziehung iſt
der Contrapunct freilich auch wiederum eine weſentliche Verwirklichung des
Begriffs der Muſik; die bewegte Subjectivität, mit der ſie zu thun hat,
kommt hier zu ihrem vollen Recht, ſie tritt auf als beſondere, neben andern
[940] ſtehende Individualität, die einzelnen Stimmen ordnen ſich nicht mehr dem
Ganzen unter, ſondern machen ſich in ihrem Fürſichſein geltend, und das
andere Element des Weſens der Muſik, die Einheit und Harmonie, iſt doch
als zuſammenhaltendes Band vorhanden, die Einzelſubjectivität bleibt inner-
halb des Ganzen und wirkt zu dem von dieſem ausgehenden Totaleffect mit,
wie die begleitenden Stimmen den Eindruck einer homophon melodiſchen
Tonreihe verſtärken und vervollſtändigen. Allein die Umkehrung des ur-
ſprünglichen Verhältniſſes der beiden Elemente und die damit gegebene
Spannung bleibt nicht minder und wird noch verſtärkt durch die ſubjective
Schwierigkeit, den verſchiedenen Tonbewegungen genau zu folgen; es haftet
der contrapunctiſchen Muſik der Uebelſtand an, daß der weniger im Unter-
ſcheiden Geübte nur eine verworrene Einheit von Stimmen hört ohne Viel-
heit oder nur eine Verſchiedenheit ohne Einheit. Aus all dieſen Gründen
geſtattet der Contrapunct nur eine beſchränkte Anwendung; er iſt da an
ſeinem Platz, wo weder ein Aufgehen vieler Stimmen zur Einheit einer
identiſchen Geſammtſtimmung noch ein einfaches Hervortreten einer ſub-
jectiven Einzelſtimmung, ſondern eben ein in der Mitte zwiſchen Beiden
Liegendes beabſichtigt iſt, eine Wechſelwirkung ſelbſtändiger Stimmen, die
entweder geradezu eine in allen ihren Gliedern lebendig bewegte Mehrheit
von Perſonen darſtellen will oder den mehr allgemeinen Zweck hat, durch
die Vervielfältigung der vortragenden Stimmen und durch die breitere, man-
nigfaltigere, kunſtreichere Ausführung den Ausdruck einer Empfindung mit
einer ihrem Inhalte entſprechenden höhern Bedeutſamkeit auszuſtatten. Ohne
dieſe Zwecke iſt der Contrapunct unmotivirt und ſinkt zu einer ebenſo leeren
als pedantiſchen Form, zu unerquicklicher Künſtelei herab; aber innerhalb
des ihm angewieſenen Gebiets iſt er, ſei es nun in kürzerer oder längerer
Anwendung, unentbehrlich und von intenſivſter Wirkung, daher z. B. auch
die in freierer Weiſe ſich bewegende Opernmuſik nicht nur, wo Enſemble-
ſtücke von ſelbſt darauf führen, ſondern auch ohne dieſe beſtimmte Veran-
laſſung wohl daran thut, hie und da der contrapunctiſchen Compoſition ſich
zu bedienen, um durch ſie dem weichen Fluß der homophon melodiſchen
Muſik an geeigneter Stelle ein ſtrengeres Element beizugeben. Die ſpeziellere
Geſtaltung des Contrapuncts iſt ſehr mannigfaltig; es iſt nicht nur ein
einfacher Contrapunct, ſondern auch ein Contrapunct mit Umkehrung der
Stimmen (der gewöhnlich allein dieſen Namen führt) möglich; während
beim erſten mehrere höhere und niederere Stimmen ſelbſtändig neben ein-
ander hergehen, ſchreitet die zweite Art dazu fort, zwei Stimmen zu erfinden,
die ſich zugleich eignen, ihre Stelle im Tonſyſtem zu vertauſchen, indem
die eine zuerſt als Ober-, dann in der Octave oder einem andern Intervall
als Unterſtimme auftritt; daſſelbe thut der „dreifache“ Contrapunct mit drei
Stimmen u. ſ. f. Die muſikaliſche Erfindung iſt freilich hier ſehr beengt,
[941] da jede Stimme ſo gedacht ſein muß, daß ſie mit den andern zuſammen in
jeder Lage, oben oder unten, ein harmoniſchmelodiſches Ganzes bilden kann;
aber es wird dadurch der weitere Vortheil erreicht, daß die Melodieen ihre
Plätze wechſeln und dadurch theils neue Toncombinationen hervorbringen,
theils in verſchiedenen Tonlagen (Baß, Tenor u. ſ. f.) zu ſtehen kommen;
die Melodieen erſcheinen jetzt als verſchiedene Stimmen, und die Stimmen
bekommen verſchiedene Melodieen vorzutragen; die Melodieen durchlaufen
verſchiedene Tonhöhen und erſcheinen daher in mannigfaltiger Färbung und
Schattirung; die Stimmen werden Träger verſchiedener Bewegungen, ſie
erweitern ihren Umkreis und Inhalt, ſie ſingen oder ſpielen jede das Ganze
ab; ſo iſt ſowohl das Ganze in mannigfaltigerer Weiſe dargeſtellt, als auch
die Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen vergrößert und doch Alles aus Einem
Guß und in ſtrengſter Einheit unter ſich gehalten.
Die zuletzt hervorgehobene Seite des mehrfachen Contrapuncts, daß
in ihm eine und dieſelbe Melodie in verſchiedenen Tonlagen erſcheint, führt
über zu einer weitern Hauptform der polyphonen Muſik, zur Nachahmung.
Eine Tonfolge kann zuerſt in einer Stimme auftreten, dann auch in andern,
die eben hiedurch nachahmende Stimmen werden. Dieſe, zunächſt wiederum
der „Verknüpfung“ der Stimmen näher ſtehende Form iſt äußerſt mannig-
faltig. Nachahmen laſſen ſich Figuren, Takte, ganze Perioden, Theile,
Melodieen; die Nachahmung kann einfach oder mehrfach ſein, d. h. in einer
oder mehrern Stimmen geſchehen; dieſe nachahmenden Stimmen können
von der nachgeahmten und deßgleichen von einander ſelbſt in verſchiedenen
Intervallen, Octav, Quint u. ſ. f. abſtehen; es ſteht frei, die obern oder
untern Stimmen in beliebiger Folge vortragen und nachahmen zu laſſen;
die Nachahmung ſelbſt geſchieht entweder blos in der Form der „Ver-
knüpfung,“ d. h. ſo daß ein Satz von der zweiten Stimme erſt nachgeahmt
wird, wenn die erſte mit ihm vollſtändig zu Ende iſt, oder zugleich in der
Form der „Verflechtung“ („enge Nachahmung“), d. h. ſo daß die zweite
Stimme ſchon nachzuahmen beginnt, wenn die erſte nur erſt einen Theil
des nachzuahmenden Satzes vorgetragen hat; dieſer nachahmenden Stimme
kann eine dritte folgen, gleichfalls bevor der Satz von der erſten ganz be-
endigt iſt u. ſ. w. Ein weiterer Unterſchied iſt ſodann der, daß eine Ton-
reihe entweder ganz oder nur theilweiſe aus nachgeahmten und nachahmenden
Sätzen beſteht. Das Erſtere kommt am einfachſten dadurch zu Stande,
daß die erſte Stimme nach dem Vortrag des Satzes ſchweigt und ebenſo
jede folgende, nachdem ſie ihn nachgeahmt; wegen der hiedurch entſtehenden
Leerheit kann aber dieſe Form natürlich nur ſelten, namentlich in Ueber-
gängen oder in Schlußſätzen gebraucht werden, in welchen die Tonbewe-
gungen ſich naturgemäß vereinfachen, und auch da gewöhnlich doch ſo, daß
die Nachahmungen wenigſtens nicht ohne begleitende Harmonie auftreten.
[942] Eine andere Art und Weiſe iſt die, eine Zeit lang ſämmtliche Stimmen
vortragen, nachahmen, wieder vortragen und wieder nachahmen zu laſſen,
ſo daß in die ganze Tonreihe, eine zur Füllung dienende Nebenbegleitung
etwa ausgenommen, nichts aufgenommen wird, als der fortwährend aller-
ſeits nachgeahmte Satz, ſei es nun ganz unverändert, oder mit kleinen Ab-
weichungen der Modulation, wie dieß z. B. in den durch ihre Nachahmungen
ſo wohl bekannten Stellen der Don Juan-Ouvertüre der Fall iſt. Dieſe Art
der Nachahmung, an einem ſelbſtändigen Tonſtück regelmäßig und vollſtändig
durchgeführt, iſt der ſogen. Kanon. Eine Melodie wird hier von mehrern
Stimmen, die nach einander eintreten und nachdem ſie eingetreten ſind un-
unterbrochen fortfahren, vorgetragen, und zwar von jeder gleich und von
Anfang bis zu Ende, ſo daß die eine Stimme der andern immer um einen
Theil des Tonſtücks voraus iſt. Die Zeit des Eintretens der verſchiedenen
Stimmen kann verſchieden ſein. Es kann erfolgen, nachdem die vorangehende
Stimme bereits eine ganze Periode oder wenigſtens einen ganzen Satz des
Tonſtücks vorgetragen hat, ſo daß eine Stimme der andern eben um eine
Periode, einen Satz voraus iſt und ſo im Verlauf des Ganzen die ver-
ſchiedenen Perioden oder Sätze allmälig unter einander zu ſtehen kommen.
Dieſe Form, die man den periodiſchen Kanon nennen könnte, iſt die ein-
fachſte, durchſichtigſte und eigentlich auch kanoniſchſte d. h. regelrechteſte,
weil hier das Eintreten der Stimmen nicht willkürlich beſtimmt wird, ſondern
an die der Melodie weſentliche Satz- oder Periodeneintheilung anknüpft
und ſo zugleich dieſe ſelbſt hervorhebt; es kommt ferner bei dieſer Form
das ſchöne Verhältniß heraus, daß die melodiſchen Bewegungen der Perioden
oder Sätze ſich in das Verhältniß der Harmonie oder Ergänzung zu einander
begeben, oder daß jede Periode die andere nicht nur fortſetzt, ſondern auch
begleitet, und endlich iſt darin auch ein ſehr regelrechter Bewegungsrhythmus,
indem die Tonbewegung nur allmälig und ſtufenweiſe ſich verſtärkt. Kunſt-
reicher und verwickelter wird der Kanon, wenn die Stimmen bälder ein-
treten, ſo daß ſie nur um wenige Takte oder Noten einander voraus ſind;
die Stimmen treten hier weit weniger klar aus einander, ſo daß hiemit das
Ganze den Eindruck eines ſtreng in ſich verketteten, mit jedem neuen Takte
neue Verflechtungen eingehenden Tongewebes hervorbringt. Beachtenswerth
iſt, daß mit Nachahmung und Kanon auch das contrapunctiſche Verhältniß
wiederkehrt. Tonſtücke beider Art können allerdings auch ſo angelegt werden,
daß die über einander zu ſtehen kommenden Sätze rhythmiſch conform ſind
und ſo in ein einfacher harmoniſch begleitendes Verhältniß zu einander
treten; aber es kommt mehr Lebendigkeit und Gedrungenheit in das Ganze,
wenn dieſe Conformität vermieden wird und die verſchiedenen über einander
kommenden Stimmen durch rhythmiſche Differenz entſchiedener den Charakter
ſelbſtändiger und ſomit eigentlich contrapunetiſch einander gegenüberſtehender
Tonreihen erhalten.
[943]
Die praktiſche Anwendbarkeit der Nachahmung überſteigt bei Weitem
die des Contrapuncts. Die Nachahmung iſt eine weit freiere, leichtere,
den Componiſten viel weniger beengende und viel faßlichere Form als jener;
ſie hat den Vortheil, daß ſie ſich in allen möglichen Formen, ſowohl in
längerer kunſtmäßiger Durchführung als nur ganz vorübergehend wie ein
ſchnell auftauchendes und wieder verſchwindendes Ornament anwenden läßt,
während der Contrapunct nothwendig ganze Sätze und Perioden bedarf,
um ſich gehörig entwickeln zu können. In äſthetiſcher Beziehung iſt ſie das
gerade Gegenbild des Contrapuncts; wie dieſer Mannigfaltigkeit darſtellt
in Einheit, ſo die Nachahmung Einheit in der Mannigfaltigkeit, ſie dient
vorherrſchend der Einheit, indem ſie verſchiedenen Stimmen ganz einen und
denſelben Inhalt gibt, ſie verleiht damit dem Kunſtwerk Identität und
Gleichartigkeit ſeiner Theile, engern Zuſammenhang, feſtere Haltung. Indeß
wie der Contrapunct ſeine mannigfaltigen Stimmen zu ſtrenger Gebunden-
heit zuſammenhält und hiedurch auch wiederum die ſtrenge harmoniſche Ein-
heit des Vielen, in der die Muſik ihr Weſen hat, recht concret veranſchaulicht,
ſo fördert die Nachahmung auch wiederum die Mannigfaltigkeit, ſie läßt
denſelben Gedanken in verſchiedenen Lagen erſcheinen, die Stimmen einander
antworten, und ſie gibt durch dieſe Vervielfältigung des einzelnen Gedankens
dem Tonſtück lebhaften, anmuthigen Wechſel, der beſonders mittelſt An-
wendung verſchiedener Inſtrumente ſehr erhöht werden kann. Was von
der Nachahmung überhaupt gilt, findet auf den Kanon freilich nicht un-
mittelbare Anwendung. Der einfache periodiſche Kanon läßt die Identität
der Stimmen, aus denen er beſteht, klar durchſcheinen; hiedurch entſteht bei
öfterer Wiederholung leicht Monotonie, es tritt als ein Mangel hervor,
daß die Stimmen, die doch einmal verſchiedene Stimmen ſind, doch immer
nur dieſelbe Melodie abſingen, und dieſer Kanon iſt daher doch nur in
ſeltenern Fällen, wo eben dieſe abſolute Gleichheit bezweckt wird, wie in
Quartetten und ähnlichen Stücken, die eine mehrere Individuen nach einander
ganz gleichförmig ergreifende Stimmung darſtellen ſollen (wie im erſten Akt
des Fidelio), ganz an ſeinem Platze. Der Werth des kunſtreichern Kanon
iſt im Obigen bereits hervorgehoben; aber es iſt doch auch hier beizufügen,
daß er die Compoſition ſehr beengt, daß wegen ſeiner ſchweren Ueberſicht-
lichkeit der Eindruck bei ihm ſelten ſo groß ſein wird wie die Kunſt, die
auf ihn verwendet werden muß, und daß er leicht in’s Kunſtſtück ausarten
kann, das blos den Werth geſchickter Erfindung und Verarbeitung eines
paſſenden Thema’s hat.
§. 784.
Ihre Vollendung findet die polyphone Muſik durch die Fuge. In ihr1.
treten die Formen der Nachahmung und des Contrapuncts nicht in vorüber-
[944] gehender Anwendung, ſondern als Grundgeſetz der ganzen Geſtaltung eines
größern Tonſtücks auf, und zwar ſo unter ſich verbunden, daß ſowohl das
durch die Nachahmung vertretene Prinzip der Wiederholung melodiſcher Sätze
durch mehrere Stimmen als das Prinzip contrapunctiſcher Selbſtändigkeit der
2.Stimmen gegen einander zur Realiſirung gelangt. In Folge der vollſtändigen
Durchführung und der durchgehenden Verknüpfung beider Prinzipien vereinigt
die Fuge ſtrenge Einheit der Grundgedanken mit wechſelnder Mannigfaltigkeit
und reicher Fülle der harmoniſchen Combinationen, ſowie mit lebendiger Be-
wegtheit der ſich über einander aufbauenden und einander ablöſenden Stimmen
in einer Weiſe, welche Alles erſchöpft, was die polyphone Muſik zu leiſten
vermag, welche aber auf der andern Seite doch die Einſeitigkeit dieſer muſikaliſchen
Form, den Mangel an ungebundener Melodieentwicklung, deſto mehr hervor-
treten läßt, je mehr gerade in der Fuge das Prinzip der Mannigfaltigkeit und
Selbſtändigkeit der Stimmführung bereits zu größerer Berechtigung gelangt iſt.
1. Sowohl nach dem Geſetz des Contrapuncts als nach dem der Nach-
ahmung können eigene Tonſtücke gebildet werden. Aber beim Contrapunct
ſind die einander correſpondirenden und ihre Stimmlagen austauſchenden
Tonſätze gleich lange und gleichzeitig eintretende Reihen, die eben deswegen
ſtets in demſelben Verhältniß zu einander bleiben und keine weitere Man-
nigfaltigkeit geſtatten, als daß alle Tonſätze nach einander die Plätze wechſeln,
abwechſelnd über und unter einander zu ſtehen kommen; bei der Nachahmung
treten zwar die Stimmen zu verſchiedenen Zeiten ein, aber ſie ſelbſt ſind
ihrem Inhalte nach ſo gleich und ähnlich, daß das Ganze leicht monoton
wird; kurz der Contrapunct hat Einförmigkeit der Bewegung, die Nach-
ahmung Einförmigkeit der Gedanken, und es iſt daher ganz natürlich, daß
die eine Form ſich zu ergänzen ſucht durch die andere; es iſt dieß namentlich
dann natürlich, wenn ein größeres Tonganzes geſchaffen werden ſoll, indem
gerade in einem ſolchen die Einförmigkeit nur um ſo auffälliger hervortreten
würde. Dieſe Vereinigung beider Formen iſt die Fuge (das kunſtreiche
„Satzgefüge“); die Fuge iſt eine ſtreng geregelte Nachahmung mit contra-
punctiſcher Stimmenverflechtung. Sie bildet ſich zunächſt aus zwei Sätzen
von verſchiedener metriſcher Conſtruction, die jedoch wie Theile einer Periode
zuſammenhängen können; der erſte Satz wird von einer Stimme ergriffen,
mit dem Beginn des zweiten tritt der erſte Satz in einer zweiten die erſt-
eingetretene nachahmenden Stimme auf, während die erſte zu gleicher Zeit
den zweiten Satz vorträgt; ſo kommen die zwei Sätze contrapunctiſch über
einander, daher der zweite Satz Gegenſatz, der erſte dagegen Thema ge-
nannt wird, weil er der Hauptgedanke bleibt, welcher zuerſt für ſich auftritt
und von den Einzelſtimmen immer zuerſt angeſchlagen wird, während der
zweite Satz nicht für ſich, ſondern ſogleich in Verbindung mit dem erſten
[945] und in Unterordnung unter ihn auftritt. Auch „Führer“ wird der Haupt-
ſatz paſſend genannt, weniger paſſend „Gefährte,“ wenn er auf anderer
Stufe der Scala als zuerſt und etwa auch mit einigen Veränderungen
wiederholt wird. Der Verlauf der Fuge beſteht darin, daß die Aufnahme
des Thema’s durch eine weitere Stimme ſich mehrmals wiederholt, bis es
an allen (2, 3, 4, ſelten mehr) Stimmen herumgekommen iſt; jede Stimme
gibt das Thema an die nächſtfolgende weiter und tritt, indem ſie dieſes
thut, in die untergeordnete Stelle des „Gegenſatzes“ zurück, daher dieſer,
indem er ſo allmälig in mehrern nach einander kommenden Stimmen fort-
geführt wird, auch in harmoniſcher Beziehung allmälig vollſtimmiger, je
nach Umſtänden in den einzelnen Stimmen mannigfach verändert und er-
weitert und jedenfalls zum Thema in verſchiedene contrapunctiſche Stellungen
verſetzt wird, durch die erſt wahres Leben und reicher Wechſel in das Ganze
kommt. Wenn das Thema mit ſo begleitendem Gegenſatz durch ſämmtliche
Stimmen hindurch geführt iſt, ſo könnte die Fuge an ſich aufhören; ſie
wird aber in der Regel weiter geführt, um die begonnene mannigfaltige
Bewegung nicht zu ſchnell wieder abzubrechen. Es folgt daher auf dieſe
erſte Durchführung ein ſelbſt wieder kunſtreich ausgeführter, mit Thema
und Gegenſatz jedoch blos verwandter „Zwiſchenſatz,“ der zu einer neuen
Durchführung überleitet, in welcher die Ordnung des Eintritts der Stimmen
und damit die contrapunctiſchen Verhältniſſe unter ihnen andere ſind als
das erſte Mal u. ſ. f. Wenn die Fuge dem Schluß ſich nähert, tritt paſſend
die ſogen. Engführung ein, d. h. die Stimmen treten näher zuſammen,
faſſen das Thema auf, und zwar in der Weiſe des ſtrengern Kanons nicht
gleichzeitig, ſondern kurz nach einander eintretend, ſo daß eine eng ver-
ſchlungene Stimmführung entſteht, die von ſehr guter Wirkung iſt; denn
dieſes nähere Zuſammentreten der Stimmen und ihre Vereinigung im Thema
ſtellt ſowohl einen Einheits- und Beruhigungspunct dar, gegenüber den
vielfachen und weiten Ausſchreitungen, welche ſie im Verlauf der Fuge un-
ternommen haben, als zugleich einen Knotenpunct, an welchem die bis jetzt
zerſtreuten und freier wirkenden Kräfte zuſammenrücken, auf einander ein-
dringen, ſich in einander verwickeln, um erſt, nachdem ſo auch dieſe engſte,
geſpannteſte Form der Stimmenverflechtung erſchöpft iſt, in und mit der
Löſung der Spannung vom Schauplatz abzutreten. Auch ein Orgelpunct
(S. 891), über welchem Nachahmungen des Thema’s hörbar werden und
dieſes ſo gleichſam in ſeinen letzten bewegten Schwingungen auszittert,
bildet einen paſſenden Schluß des Ganzen, da die durch den Orgelpunct
zum Stehen gebrachte Harmoniebaſis einen ebenſo kräftigen als beruhigenden
Contraſt zu dem bisherigen Durcheinanderlaufen aller Stimmen darbietet
und das allmälige Ausklingen des Hauptgedankens ohnedieß eine zum Ab-
ſchluß ganz beſonders geeignete Form iſt. Es kommt ganz auf den Umfang
[946] und die Anlage der einzelnen Fuge an, ob ſie alle dieſe Formen in ſich
aufnehmen, desgleichen in wie weit ſie während ihres Verlaufs freiere und
ſtrengere Nachahmungen, künſtlichere contrapunctiſche Ausführungen der
Haupt-, Gegen- und Zwiſchenſätze in größerer Zahl auf die Bahn bringen
will; auch zwei (ſelten mehr) Thema’s können zu Grund gelegt und dann
wiederum in verſchiedenſter Weiſe an die Stimmen vertheilt werden. Oder
wird das Thema ſelbſt verkehrt, oder metriſch verändert, „verkleinert“ oder
„vergrößert,“ d. h. die Zeitwerthe ſeiner Noten halbirt (gedrittelt) oder ver-
doppelt, ein Verfahren, durch das die Bewegung je nach Bedürfniß be-
ſchleunigt oder verlangſamt wird. Das verkleinerte Thema kann ſodann
auch neben der urſprünglichen Form oder neben der Vergrößerung hergehen,
ſo daß hiemit eine neue Complexion verſchiedener und doch verwandter Stimmen
entſteht. Kurz, wenn nur das Hauptgeſetz der Fuge, Durchführung der
Themen durch alle Stimmen nebſt Gegenſatz, das Durchherrſchende bleibt,
ſo kann ſie weiterhin alle ſonſtigen Formen polyphoner Muſik, ſowie man-
nigfaltige Modulationen, Verſtärkungen des Thema’s und der andern Sätze
durch Nebenharmonieen in ſich aufnehmen; denn in ihr iſt nicht Einfachheit,
ſondern Vermannigfaltigung, Verflechtung, volle und vielgeſtaltige Bewegung
der Hauptzweck, wiewohl natürlich in manchen Fällen auch eine einfachere
Ausführung nothwendig und von guter Wirkung iſt.
2. Um ihres ebenſo reichen als bewegten Organismus willen iſt die
Fuge die eigentliche Kunſtform für reich gegliederte und rhythmiſch erregtere
Maſſenbewegung, ſie iſt ein ſprechendes Bild einer der Reihe nach alle ein-
zelnen Glieder einer Maſſe ergreifenden, von den übrigen lebendig mitge-
fühlten und lebhaft begleiteten Empfindung; ſie verdichtet einerſeits durch die
Verflechtung der zu einander hinzutretenden Stimmen das Tonganze zu
maſſenhafter Breite und tiefer Intenſität, und ſie ſteigert andrerſeits durch
das allmälige Ertönen der Hauptſätze aus allen Stimmlagen, ſowie durch
die kunſtreichen Nebenausführungen die rhythmiſche Erregtheit in ſteigendem
Maaße, bis dieſelbe endlich, nachdem die Spannung den höchſten Grad erreicht
hat, ſich doch wiederum auch beruhigt und gleichſam erſchöpft in ſich zuſam-
menſinkt. Was ſchon vom Contrapunct geſagt wurde, daß mit ihm die
Muſik ihre gewöhnliche, einfach harmoniſche Haltung aufgebe und ſich zu
einer ihrem Weſen ſcheinbar widerſprechenden Selbſtändigkeit der Tonreihen
ausbreite, dieß gilt noch weit mehr von der Fuge wegen ihrer weit reichern
Anlage; ſie kann nicht unpaſſend einer Maſſe verglichen werden, die, nach-
dem ſie vorher in geſchloſſenem Zuge gleichförmig vorwärts geſchritten war,
mit einem Male ſich expandirt, ſich in Kolonnen und Reihen ſondert, welche
nun ſelbſtändige und doch in weſentlicher Beziehung zu einander ſtehende
Bewegungen ausführen, bis ſie endlich ſich einander wiederum nähern und
wieder zu Einem Ganzen zuſammentreten. Nur bleibt auch bei der Fuge
[947] alle dieſe contraſtirende Mannigfaltigkeit ſtreng gebunden an das Geſetz der
Einheit der Hauptgedanken; es iſt in ihr doch nur Alles Wiederholung,
verſchiedene Gegenüberſtellung derſelben Gedanken, und ſie eignet ſich daher
doch blos zur Darſtellung ſolcher Empfindungen und Erregungen, die an
ſich von der Art ſind, daß dieſe ſtete Wiederholung, dieſes ſtete Drehen
und Wenden eines und deſſelben Inhalts, dieſes Sichhineinarbeiten in ihn
in der Natur der Sache liegt, alſo zur Darſtellung von Empfindungen,
die eine Maſſe beherrſchen, in denen ſich all ihr Fühlen concentrirt, von
welchen ſie nicht hinweg, welche ſie vielmehr immer auf’s Neue in ſtets
geſteigerter und erhöhter Weiſe ausſprechen will, oder ohne dieſe ſpeziellere
Beziehung auf beſtimmte Empfindungen zu ſolchen Tonwerken (z. B. In-
ſtrumentalſtücken), welche durch das beharrliche Feſthalten und ſtrenge Durch-
arbeiten einheitlicher Grundgedanken den Eindruck des Gewichtigen, des
Verzichts auf freiere und leichtere Beweglichkeit, des Ernſten und Feierlichen
hervorbringen wollen. Auch in der Fuge, wie im Contrapunct, ſind Ein-
heit und Mannigfaltigkeit gegen einander geſpannt; die erſtere hält die
letztere, welche die ihr gezogenen Schranken ſtets durchbrechen zu wollen
ſcheint, mit eiſernen Armen ſtets davon zurück, ſie bändigt den ſelbſtändigen
Flug der Stimmen, lenkt ihn immer wieder zurück in die alte, zu Anfang
betretene Bahn; der „Führer“ iſt überall hinten und vorn und führt ſtrengſte
Aufſicht, er erhebt ſeine Stimme ſtets auf’s Neue, um das mächtig wogende
Ganze in Ordnung zu halten, und doch iſt die Selbſtändigkeit der einzelnen
Glieder bereits ſo groß, daß ſie die mannigfaltigſten und verwickeltſten
Schwenkungen und Wendungen ausführen, wie wenn ſie nirgends ſtille
halten, ſondern den um ſie geſchloſſenen Zauberkreis bald hier bald dort
ſprengen möchten. Die Fuge iſt ſo wohl die rechte Form für das ernſt von
einer großen Empfindung bewegte Geſammtgefühl, aber ſie iſt viel zu eng
für den ganzen weiten Umkreis menſchlicher Stimmungen und Erregungen;
ſobald ſie munter oder gar luſtig wird, merkt man ihr an, daß es ihr mit
ſich ſelbſt nicht ernſt, daß ſie da ein bloßes Phantaſieſpiel iſt; für das
Heitere und Freudige hat ſie, da ſie ihre Sätze zum Behuf der Durchführ-
barkeit durch alle Stimmen und Stimmencombinationen möglichſt einfach
einrichten muß, zu wenig melodiſchen Fluß, zu wenig Beweglichkeit und
Ungebundenheit, ſowie andrerſeits auch viel zu wenig Natürlichkeit, Unbe-
fangenheit und Formſchönheit. Im Gegentheil, es iſt in der Regel nichts
abſtracter, unliebſamer, einförmiger, ja oft weniger beſagend, es iſt nichts
mehr erſt durch die Ausführung intereſſant werdend als der Anfang einer
Fuge mit der obligaten Einfachheit ſeines Thema’s und der nicht minder
obligaten, nur beweglichern und gegliedertern Unanſehnlichkeit ſeines Gegen-
ſatzes; anſprechend, direct gefällig iſt die Fuge nie, ſie hat Ernſt, Gemeſſen-
heit, Strenge, aber keine Milde und Weichheit. Ja ſelbſt für das einfach
[948] Ernſte und Gewichtige iſt ſie nicht die geeignete Form; dafür iſt ſie wie-
derum zu unruhig und bewegt; ſie iſt Erregtheit durch etwas Ernſtes, aber
nicht der Ernſt ſelbſt; ſie hat vom directen Idealiſmus, in deſſen Gebiet
das einfach Ernſte (wie es z. B. im weniger kunſtreichern vollen Chor-
geſange ſich darſtellt) gehört, nur das Element der ſtrengen Einheit und
Geſetzmäßigkeit, in der Hauptſache aber gehört ſie dem indirecten Idealis-
mus an, indem ihr äſthetiſcher Eindruck doch erſt aus der Totalität der in
ihr vereinigten und nur in der Vereinigung wirkſamen Elemente entſpringt;
es fehlt ihr wie die einfache Formſchönheit ſo die ruhige Erhabenheit, ſie
hat architectoniſche Gemeſſenheit der Conſtruction, aber nicht ruhige archi-
tectoniſche Haltung, ſie iſt lebendige Erregungs-, nicht an ſich haltende
Stimmungsmuſik.
Dem Werth der Fuge, den ſie an ihrem Orte hat, ſoll durch dieſe
Bemerkungen nicht das Geringſte entzogen werden; es gibt Vieles, was
nur die Fuge ausſprechen und malen kann, und ſie wird nie veralten, ſo
lange die Muſik nicht aufhören wird, mit ernſten Dingen und insbeſon-
dere mit maſſenbewegenden Empfindungen ſich zu befaſſen. Aber wie dieſe
nicht das Einzige ſind, wie es neben ihnen mit gleichem Rechte einerſeits
auch einen erhaben ruhigen Ernſt und andrerſeits einen unabſehbaren Kreis
frei ſich ergehender individueller Gefühle gibt, ſo iſt auch die Fuge nur eine
der vielen Formen der Muſik, die nicht einſeitig gepflegt und geſchätzt
werden darf, und wie jene „ernſten Erregungen“ pſychologiſch ſchon ganz
auf dem Uebergange von der ernſten Stimmung zu einer eben ganz unruhig
werden wollenden Beweglichkeit ſtehen, ſo iſt auch die Fuge dieſe Mitte
zwiſchen gemeſſener Einheit und lebendiger Mannigfaltigkeit, die beide Ele-
mente ſchon in Spannung gegen einander zeigt und daher bereits auf andere
Kunſtformen hinausweist, in welchen dieſe Spannung durch Freilaſſung
der Mannigfaltigkeit ſich wiederum löſen muß.
§. 785.
Wie bei Rhythmus und Harmonie, ſo tritt auch bei der polyphonen Muſik
der Unterſchied einer ſtrengern und freiern Behandlung ein, durch welche
letztere dieſe Muſikform aus den engen Grenzen ihrer Gattung heraustritt und
auch für andere, freiere Muſikgattungen anwendbar wird.
Schon bei der Nachahmung wurde darauf hingewieſen, daß ſie
der mannigfaltigſten Anwendungen und Formen fähig ſei; es iſt dieß der
Fall, ſofern ſie theils nach Belieben vorübergehend an jeder paſſenden Stelle
eines ſonſt ganz frei ſich bewegenden Tonſtücks gebraucht werden kann,
theils auch ſie ſelbſt nicht nothwendig „ſtreng“ ſein muß, indem ſie ſich
[949] vielmehr quantitative und qualitative Modificationen des nachzuahmenden
Satzes, Verlängerungen und Verkürzungen, „Vergrößerungen und Verklei-
nerungen“, Aenderungen der Intervalle, auch Verkehrungen des Ganzes
einer Tonfigur erlauben kann. Aehnliches tritt ein beim Contrapunct.
Die Muſik hat den beneidenswerthen Vorzug, innerhalb der Symmetrie des
Ganzen, die ſtets gewahrt ſein muß, doch im Einzelnen irregulär ſein zu
dürfen; ſo kann ſie auch im Contrapunct die Stimmen nicht nur umkeh-
ren (ihre Lage vertauſchen), ſondern auch ihre Richtung (hinab oder hinauf)
verkehren, um hiedurch mehr Leben und Wechſel in’s Ganze zu bringen.
Der Kanon ſcheint am wenigſten Freiheit zu geſtatten, da ſein Weſen
eben in der gleichförmigen Stimmenwiederholung beſteht; aber auch er kann,
wenn er nur ſonſt den Gang der Stimmen genau einhält, ihn abwechſelnd
auch verkehren; auch er kann in größern Tonſtücken vorübergehend vorkom-
men oder ſich in eine Tonbewegung von freierem Gange auflöſen, um
nicht monoton zu werden (ſo im Fidelio). Große Freiheit der Behandlung
geſtattet endlich die Fuge. Nicht nur können einzelne Partien einer voll-
ſtändigen Fuge, wie Engführung und Orgelpunct, fehlen, ſondern es können
auch die Zwiſchenſätze größern Raum einnehmen, oder einzelne Motive des
Thema’s oder Gegenſatzes herausgegriffen und ohne Mitgehen der andern
Fugenſtimmen für ſich allein eine Zeit lang weiter ausgeführt, neue Mo-
tive und neue Melodieen an ſie angeknüpft, aus ihnen herausentwickelt,
über ſie hergebaut werden. Durch dieſes letztere Verfahren entſteht die ſog.
freie Fuge, die ganz als eigene Kunſtgattung, nicht etwa als Abart zu
betrachten iſt. Sie macht mit Recht von der unendlich mannigfaltigen
Entwicklungsfähigkeit aller muſikaliſchen Gedanken Gebrauch, und ſie hält
deßungeachtet den Charakter der Fuge feſt, ſofern ſie die urſprünglichen
Gedanken, auch wenn ſie neue aus oder über ihnen formirt, doch nicht
fallen läßt, ſondern ſie den neu hinzugefügten mindeſtens als Unterlage
und Begleitung zur Seite gibt. In ſolchen freiern Partien öffnet und
erhellt ſich die Fuge gleichſam und emancipirt ſich von ſich ſelbſt; es tritt
aus dem ſpannenden, innerlich unruhigen, immer etwas undurchſichtigen
Ineinanderarbeiten ſelbſtändiger und doch unſelbſtändig an einander geketteter
Stimmen ein klares, die Spannung löſendes Reſultat hervor, ein einfach
geradausſchreitender, ungehemmt ſich vorwärts bewegender und dadurch bei
aller etwaigen Belebtheit an ſich doch beruhigterer Gang einer einzelnen
Stimme oder der ganzen Tonmaſſe; es iſt eine ähnliche Löſung einer
Spannung, wie ſie beim Uebergang von einem Auflöſung verlangenden
Accord zu einem einfach befriedigenden, eine ähnliche freie Erhebung, wie
ſie beim Fortgehen von undurchſichtigern harmoniſchen Fortbewegungen zu
einfach melodiſcher Tonfolge ſtatt hat. Verwandt mit der freien Fuge iſt
in Bezug auf Wirkung die vorübergehende Anwendung einzelner fugirter,
[950] ſowie contrapunctiſcher, nachahmender und kanoniſcher Sätze innerhalb eines
ſonſt ganz in freiem homophonem Styl gehaltenen Tonganzen. Hier
(z. B. im „Mittelſatze“ eines Symphonirſatzes) iſt das Verhältniß dieſes,
daß die freie, einfache Bewegung zu einer gebundenern, verwickeltern ſich
verdichtet; die Stimmen, die bisher homophon waren, ſpannen ſich für
einige Zeit gegen einander, um ein in ſich mannigfaltigeres, lebendigeres,
gedrungeneres Tonbild hervorzubringen und damit die Geſammtbewegung
zur höchſten Höhe der Erregtheit oder Energie hinanzuführen. Hier iſt
umgekehrt die polyphone Verwicklung Reſultat der homophonen Einzel-
bewegung, das erſt dann wieder verlaſſen wird, nachdem auch dieſes ver-
wickeltere Gegeneinanderarbeiten der Töne ſeinen Kreislauf durch verſchie-
dene Stimmen hindurch vollendet hat; es wird ein Knoten vorbereitet, in
den polyphonen Sätzen wirklich geſchürzt und wieder entwirrt und hiemit
der Rückgang zur Hauptbewegung, zur Homophonie gemacht, die nun um
ſo mehr mit dem Eindruck des Leichten und Freien einhergeht, nachdem ſie
die polyphoniſche Verwicklung ſich ſelbſt als ihren Gegenſatz gegenüberge-
ſtellt, ſich in ſie wie in eine dunklere Region hinein verloren und ſich wie-
der aus ihr herausgefunden hat. Es iſt klar, daß ſolche polyphone Sätze
ihre vollſte Berechtigung haben, daß ein ganz richtiges Gefühl auf ſie ge-
führt hat, und daß ſie ſo wenig als die ſtrengen polyphonen Formen je
veralten können, ſo wahr es immerhin bleibt, daß in frühern Jahrhun-
derten viel zu großer Werth auf dieſe gelegt worden iſt.
Eine beſondere Anwendung findet die Polyphonie endlich noch als
Begleitung einfacher melodiſcher Sätze. Eine homophone Tonbewegung,
eine Einzelſtimme kann mit contrapunctiſchen, nachahmenden, fugirten Sätzen
umgeben werden; namentlich ward früher der Contrapunct zu derartiger
Begleitung einer Hauptſtimme, des ſog. cantus firmus, gebraucht. Häu-
fig iſt auch die eine von zwei contrapunctiſch zuſammengehenden Stimmen
ſelbſt Hauptſtimme, ein Verfahren, bei welchem zwar die gleiche Selbſtän-
digkeit der Stimmen verloren geht, dagegen mehr Einheit in der ganzen
Bewegung iſt, ſo daß natürlich auch dieſe Form des Contrapuncts, welche
in freier Weiſe beſonders die Inſtrumentalmuſik anwenden kann, um ein
Thema mit Nebenmelodieen zu umſpielen, nicht im Geringſten zu bean-
ſtanden iſt.
§. 786.
Die zweite Form des zuſammengeſetzten muſikaliſchen Kunſt-
werks (§. 781) entſteht dadurch, daß die Muſik über die Form des ein-
fachen für ſich beſtehenden melodiſchen Tonſtücks hinausgeht und ſich ausbreitet
zu einer Reihenfolge von melodiſchen oder melodiöſen Sätzen, die zuſammen ein
Ganzes ausmachen. Innerhalb dieſer Gattung ſind aber gleich drei Unterarten
[951] zu unterſcheiden. Die Reihenfolge iſt entweder α) ſelbſt wiederum eine einfachere,
d. h. ein aus mehrern Sätzen beſtehendes, mehrtheiliges Tonſtück, deſſen
Sätze blos Abſchnitte oder Theile Eines Ganzen ſind; oder iſt ſie β) eine zu-
ſammengeſetztere, d. h. ein Tonſtück mit mehrern Sätzen, die ſelbſtändige,
obwohl unter einander zuſammengehörige Ganze ſind; oder iſt ſie endlich γ) ein
größeres Tonwerk, das ebenſo einfache als auch mehrtheilige und aus
mehrern Sätzen beſtehende Tonſtücke in ſich aufnehmen und ein umfaſſenderes
Ganzes aus ihnen bilden kann. Ein zweiter, mehr innerer Unterſchied dieſes2.
zuſammengeſetzten Kunſtwerks beruht darauf, daß es ſich bildet entweder auf
dem Wege der Aneinanderreihung verſchiedener Tonſätze oder auf dem
Wege thematiſcher Ausführung muſikaliſcher Grundgedanken.
1. „Einfaches Tonſtück“ und „einfache Melodie“ (§. 781) ſind nicht
Daſſelbe, aber verwandt; eine Fuge oder eine ſonſtige größere melodiſche
oder melodiöſe Compoſition, die blos aus einander entſprechenden Perioden
und periodiſirten Theilen beſteht, iſt ein einfaches Tonſtück (eine ſelbſt wie-
der einfache Form des zuſammengeſetzten Kunſtwerks), mag ſie nun homo-
phon oder polyphon ſein (die Terminologie iſt hier eben wegen Mangels
an hinreichend verſchiedenen Bezeichnungen ſchwierig). Es iſt aber klar,
daß ein und derſelbe Grundcharakter und Bewegungsrhythmus ſich durch
eine Mehrheit von Tonſtücken hindurchziehen kann, deren Zahl keiner feſten
Grenze unterliegt, ſondern nur an die Bedingung geknüpft iſt, daß nicht
gar zu viele, um ihrer Menge und Mannigfaltigkeit willen unüberſehbare,
zu keinem Totaleindruck zuſammengehende Tonſtücke an einander gereiht
werden. Die im §. angegebenen Arten dieſer Form des zuſammengeſetzten
muſikaliſchen Kunſtwerks bedürfen daher keiner nähern Deduction, ſie liegen
in der Natur der Sache. Um für dieſelben einen gemeinſchaftlichen Namen
zu haben, könnte man ſie einfach als die cycliſche Compoſitionsform be-
zeichnen. Streng genommen ſcheint dieſe Bezeichnung nur für die zuletzt aufge-
führte Unterart (das „Tonwerk“) anwendbar, aber ſie paßt auch auf die übrigen,
da ſelbſt das kleinſte zuſammengeſetzte Tonſtück cycliſch, d. h. nicht blos ein
Neben- oder Nacheinander von Sätzen, ſondern ein aus dieſem Nacheinander
in ſich ſelbſt, in ſeinen Anfang ſich umbiegendes Ganzes, alſo ein Cyclus
iſt, ſei es nun daß der Anfangsſatz geradezu (wie z. B. beim Menuett)
nach den Mittelſätzen wiederholt oder wenigſtens der letzte Satz dem erſten
mehr oder weniger conform gebildet iſt. Die aus ſelbſtändigen Sätzen (in
dem Sinne, wie ein Symphonienadagio „Satz“ genannt wird) beſtehenden
Tonſtücke ſollte man eigentlich zum Unterſchied von den blos „mehrtheiligen“
mehrſätzige nennen dürfen, da die Sprache kein anderes Wort dafür darbietet.
2. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das cycliſche Kunſtwerk nicht in
ähnlicher Weiſe feſte Hauptformen haben kann wie die polyphone Muſik.
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 62
[952]Einerſeits herrſcht in ihm weit größere Freiheit, da es die Geſtalt der An-
einanderreihung von Sätzen oder ganzen Tonſtücken hat, die höchſt mannig-
fach ſein kann, wenn nur Ein Grundcharakter und Bewegungsrhythmus
durch das Ganze geht; andrerſeits iſt es, je weiter es ſeinen Umfang aus-
dehnt, deſto nothwendiger an einen Text gebunden, der es zu einem Ganzen
zuſammenhält, indem in einem Tonwerk ohne Text z. B. von der Größe
eines Oratoriums oder gar einer Oper die Anſchaulichkeit, das klare Her-
vortreten einer beherrſchenden Grundidee ſowie des Zuſammenhangs der
Theile verloren gehen würde, und zwar ſelbſt bei der größten, Beethoven
noch überragenden Fähigkeit eines Componiſten, charaktervolle und eben
hiedurch anſchauliche Tongemälde in umfaſſendem Maaßſtabe hervorzubringen.
Hier, wo wir nur erſt im Allgemeinen ſtehen, kann daher nur von kleinern
und größern „Tonſtücken“, nicht aber von „Tonwerken“ die Rede ſein. —
Das Eintheilungsprinzip, nach welchem das Folgende im Speziellern ſich
gliedert, iſt ein ähnliches wie dasjenige, auf welchem die Trennung von
homophoner und polyphoner Muſik beruht. Das mehrtheilige und das
aus mehrern Sätzen beſtehende Tonſtück entſteht nämlich entweder auf dem
Wege der Vergrößerung und Vervielfältigung, der Combination und Annexa-
tion mehrerer Abſchnitte, oder auf dem der Evolution, der mannigfaltigen
Ausführung eines und deſſelben Grundgedankens (entſprechend den poly-
phonen Themenausführungen).
§. 787.
α) Das dem einfachen muſikaliſchen Kunſtwerk noch ganz nahe ſtehende,
aus ihm durch einfache Vergrößerung oder Anwendung umfaſſenderer Formen
hervorgehende mehrtheilige Tonſtück iſt dasjenige, in welchem ſich an
einen kurzen zweitheiligen Satz ein dritter anreiht. Die ſo entſtehenden drei
Theile können einander gleichſtehen, indem der zweite und dritte zum erſten
ſich einfach verhalten wie Fortſetzung und Abſchluß; oder kann, indem der erſte
und zweite unter ſich enger zuſammengehören, der dritte, das ſog. Trio, das
dann ſelbſt wiederum zweitheilig ſein darf, ihnen gegenüberſtehen als beſonderer
Satz mit charakteriſtiſcher, den beiden andern Sätzen contraſtirend und ergän-
zend gegenübertretender Eigenthümlichkeit.
Mit der zweiten Form des zuſammengeſetzten Kunſtwerks beginnt eine
auch nach den verdienſtvollen Vorarbeiten in Marx’s Compoſitionslehre
begrifflich ſchwer zu umfaſſende Freiheit und Mannigfaltigkeit der muſikaliſchen
Formen. Die im §. gegebene Eintheilung des „mehrtheiligen“ Tonſtücks
hat jedoch ihre gute Begründung in dem Weſen der Sache, und es finden
ſich daher auch beide Arten überall angewandt. Die erſte iſt mehr Satz-
[953] reihe, die zweite mehr förmlicher Satzcyclus; die erſte iſt unbeſtimmterer
Art und läßt daher auch eine weniger ſcharfe Sonderung der Theile ſowie
eine Erweiterung zu noch größerer Zahl derſelben zu; die zweite hat mehr
Abgeſchloſſenheit, Abrundung und beſtimmte Gliederung; die erſte iſt mannig-
facher anzuwenden, z. B. in größern Geſangſtücken, durchcomponirten
Liedern u. ſ. w. ſo gut als in Märſchen und dergleichen; die zweite fällt
wenigſtens in ihrer ſtrengen, die Theile beſtimmt von einander ſondernden
Form vorzugsweiſe der Inſtrumentalmuſik zu, da der contraſtirende Charak-
ter, mit dem das Trio den übrigen Theilen gegenübertritt, für die weniger
mannigfaltig bewegte Vocalmuſik ſich weniger eignet, ſie iſt aber auch von
dieſer nicht ausgeſchloſſen, indem z. B. Geſangſtücke mit kürzerem, vom
Uebrigen verſchieden geſtaltetem Mittelſatze (ſo das ſchöne Finale des erſten
Akts von Idomeneo) ihr angehören. Das dreitheilige Tonſtück mit Trio
iſt ſonach nicht etwa eine untergeordnete, beſchränkte, ſondern eine weſent-
liche Muſikgattung, der eine große Zahl der ſchönſten Compoſitionen ent-
ſpringt; ſie iſt dieſes durch das in ihr zur Anwendung kommende Geſetz
des Contraſtes. Das Trio entſteht nämlich eben dadurch, daß beabſichtigt
wird, irgendwie contraſtirende Tonbewegungen in einem Muſikſtück einander
gegenüberzuſtellen, und zwar iſt es der auch für weitere Muſikformen ſehr
wichtige Contraſt des ſtärker und weniger Erregten oder der erregtern und
ruhigern Empfindung, der hier zu beſtimmter Verwirklichung gelangt. Auf
die erregtere Empfindung folgt naturgemäß die ruhigere als das Reſultat,
zu dem ſie hinführt, in dem ſie ausruht und ausklingt; auf die ruhigere
ebenſo auch die erregtere als die geſteigerte Empfindung, zu der die ruhigere
allmälig anſchwillt, in welche ſie plötzlich durch irgend etwas getrieben über-
geht, um hernach zu ſich ſelber wieder zurückzukehren. Schon die einfache
Melodie und ſchon die concretern Formen der polyphonen Muſik wenden
dieſes Geſetz an; aber erſt hier wird es ſtreng durchgeführt, erſt hier wird
es zum Grundprinzip der Geſtaltung des ganzen Tonſtücks gemacht. Na-
türlicher und darum auch gewöhnlicher iſt es, daß das Trio die ruhigere
Empfindung übernimmt; die ſtärkere Erregtheit nimmt ſchon an ſich weitern
Raum in Anſpruch, um ſich gehörig auszuſprechen und auszubreiten, und
es kommt dazu der äußere Umſtand, daß es wie natürlich meiſt kleinere
bewegtere Tonſtücke (Märſche, Tänze oder verwandte Stücke in Sympho-
nien) ſind, welche dieſer Form ſich bedienen, ſo daß der ruhigern Empfin-
dung nur ein geringerer Raum zugemeſſen werden kann. Das Trio iſt
daher meiſt einfach melodiös, leicht, graciös, behaglich, humoriſtiſch, den
figuren- und harmoniereichern, lebhafter rhythmiſch bewegten, kräftiger ein-
herſtürmenden Hauptſätzen gegenüber; es erſcheint gern in dem klaren Dur,
wenn die Hauptſätze in düſterem Moll auftreten (wie z. B. in dem unüber-
trefflichen Menuett von Mozart’s Gmoll-Symphonie), es tritt wie heiteres
62*
[954]Spiel oder wie eine den ſonſt unaufhaltſamen Fortgang der Handlung
unterbrechende Epiſode oder wie eine zur Ruhe einladende Pauſe, wie freund-
licher Sonnenſtrahl zu den intenſiver, unruhiger vorwärtsdrängenden und
darum auch undurchſichtigern Hauptſätzen hinzu oder zwiſchen ſie hinein,
indem es das Gewöhnliche iſt, daß die Hauptſätze als der wichtigere und
ſelbſtändigere Theil des Ganzen, nachdem ihnen im Trio ein ergänzendes,
milderndes Gegenbild gegenübergeſtellt worden iſt, am Schluß wiederholt
werden, um ſie damit eben als das, was ſie ſind, als die Hauptbeſtand-
theile, auf welchen vorzugsweiſe das Gewicht des Ganzen ruht, erſcheinen
zu laſſen. Auszuſchließen iſt aber auch die andere Art des Contraſtes nicht;
das Trio kann auch als Mittelſtück auftreten, in welchem die Bewegung
ſich zuſammennimmt, ſteigert und höher anſchwillt (wie in dem bemerkens-
werthen zweiten Satz des Menuetttrio der großen Mozart’ſchen Cdur-Sym-
phonie) oder doch wenigſtens ernſter, innerlicher, intenſiver, gedrungener
wird (wie im Mittelſatze des Scherzo von Beethoven’s Adur-Symphonie).
Doch bleibt immer die erſtere Art die der Grundidee dieſer ganzen Muſik-
form entſprechendere; die Bewegtheit mitten in die Ruhe hereingeworfen
hat etwas Unerwartetes, Befremdendes, während die Ruhe eine ihr voraus-
gehende Bewegung naturgemäß ablöst. — Aus dem Weſen des dreitheili-
gen Tonſtücks mit Trio folgt von ſelbſt, daß es wie die Einzelmelodie
ebenſowohl ſelbſtändig wie als Theil eines größern Ganzen auftreten kann.
Durch das Eine oder Andere wird jedoch an ſeinem eigenthümlichen Cha-
rakter contraſtirender Ergänzung nichts geändert, zu welcher hier das in
§. 780 erwähnte Verhältniß der Gegenbildlichkeit zwiſchen erſtem und zwei-
tem Theile fortgebildet iſt.
§. 788.
Den Uebergang von dem durch Anreihung und Combination entſtehenden
Tonſtück zu dem auf thematiſcher Ausführung beruhenden bildet die Rondo-
form. Hier erweitert ſich der Hauptgedanke zu einem oder mehrern unterge-
ordneten Uebengedanken, worauf der Hauptgedanke und ihm folgend die Ue-
bengedanken, im Einzelnen verſchieden gewendet und erweitert, jedoch mit
Feſthaltung der Grundtonart für den erſtern, ſich mehrmals wiederholen, bis das
Ganze mit ihm oder einem ihn enthaltenden größern Schlußſatz zu Ende geht.
Das Rondo, ſchon durch ſeinen Namen ſich als Hauptart der cycliſchen
Muſik charakteriſirend, ſchließt ſich ſehr nahe an den dreitheiligen Satz mit
Trio an, ſofern auch bei dieſem die Haupttheile nach dem Trio ſich wieder-
holen. Es unterſcheidet ſich aber von ihm doch wiederum weſentlich dadurch,
daß es nur Einen Hauptgedanken hat und dagegen mehrere Nebengedanken
[955] geſtattet, ſodann dadurch, daß die Theile nicht abſchließend von einander
geſondert ſind, ſondern continuirlich zuſammenhängen und endlich durch die
mannigfaltigen Veränderungen namentlich der Nebengedanken, die hier nicht
nur zuläßig, ſondern auch um Einförmigkeit zu vermeiden gefordert ſind,
ſobald das Rondo ſich nicht auf einen ganz kleinen Umfang beſchränkt.
Kurz, das Rondo iſt eine die Vielheit beſtimmter der Einheit des Gedankens
unterordnende und andrerſeits doch eine freiere, weniger ſcharf gegliederte
Form; es iſt der umgekehrte Refrain, es iſt ein Strophengedicht, das mit
dem Hauptgedanken ſtets wieder beginnt, nachdem die Nebenſätze zu dem-
ſelben hinzugethan ſind; es gehört nach jener erſten Seite dem directen
Idealiſmus an, unter den der dreitheilige Satz mit Trio durchaus fällt,
nach der zweiten aber bereits dem indirecten Idealiſmus, der die Strenge
der Form verläßt. Den Uebergang zu dem auf Evolution und thematiſcher
Gedankenverarbeitung beruhenden Kunſtwerk bildet es dadurch, daß es nicht
anreiht, ſondern „erweitert,“ nicht zwei oder drei melodiſche Sätze blos an
einander fügt, ſondern die Nebengedanken in organiſcher Continuität aus
dem Hauptgedanken ſich herausentfalten und im weitern Verlauf beide ſich
zu einzelnen Erweiterungen und Veränderungen fortentwickeln läßt. Die
muſikaliſche Berechtigung dieſer Form ergibt ſich daraus, daß ſie in eigen-
thümlicher Art Einheit mit Mannigfaltigkeit verbindet; die Einheit umſpielt
ſich hier mit Mannigfaltigkeit, aus der ſie immer wieder, wenn auch mit
dieſer oder jener Modification, emportaucht; es iſt die kreisförmige, in ſich
ſelbſt zurückkehrende, einen Gedanken immer wieder fixirende (hiemit an die
Fuge erinnernde) Bewegung, deren Rhythmus allerdings vorherrſchend nicht
ein fortſchreitender, ſich ſteigernder, ſondern ein weſentlich an ſich haltender,
regelmäßig zwiſchen Hebung und Nachlaß, zwiſchen Aufſteigen zum Haupt-
und Herabſteigen zu den Nebengedanken hinundhergehender Rhythmus iſt,
wiewohl auch hier (z. B. in der Arie der Donna Anna aus F dur) die
Steigerung nicht ſchlechthin ausgeſchloſſen iſt. Das Rondo iſt ſo natur-
gemäß, wie die einfache Melodie; es iſt das ganz natürliche ſtete Zurück-
kommen der Empfindung oder Phantaſie zu einem ſie vorzugsweiſe be-
ſchäftigenden Gefühlsinhalt, und es iſt daher die geeignete Form für Ton-
ſtücke, in welchen die Innigkeit einer ſich immer wieder auf Einen Punct
concentrirenden Empfindung veranſchaulicht, oder ein die muſikaliſche Phan-
taſie durch ſich ſelbſt anſprechender, charakteriſtiſcher, reizender Gedanke um-
ſponnen von der Ornamentik beiherſpielender Nebengedanken wiederholt
vorgetragen, oder endlich bewegtern Tonſätzen gegenüber (z. B. in Andantes
von Sonaten u. ſ. w.) eine in der Beſchränkung auf Einen Hauptge-
danken behaglich ausruhende Stimmung dargelegt werden ſoll. Von ſelbſt
verſteht es ſich auch hier, daß das Rondo entweder ſelbſtändig oder als
Theil eines größern Ganzen auftreten kann. In letzterem Falle eignet es
[956] ſich beſonders auch zum Schlußſtück; ſowohl wegen ſeines gehaltenern, bei
Einem Gedanken ſich beruhigenden, zwiſchen ihm und den Nebenſätzen ſich
hinundherſchaukelnden Charakters als nach Seiten der Beharrlichkeit, mit der
es einen Hauptſatz ſtets in den Vordergrund drängt, iſt es ganz dazu an-
gethan, die Rolle des Schlußſtücks zu übernehmen, wenn in dieſem der.
Sturm der Bewegung des Ganzen zu Ende gehen und ſich entweder zur
ſtillern Sammlung abklären oder ſich noch einmal kräftig zu energiſch wie-
derholender Ausſprache ſtarker und mächtiger Empfindungen zuſammenfaſſen
ſoll. Umfang und ſpezielle Geſtaltung des Einzelnen können beim Rondo
als freierer Muſikform ſehr mannigfaltig ſein. Namentlich iſt große Freiheit
zuläßig bei der Behandlung des Nebenſatzes, welcher ebenſowohl blos die
Form eines unſelbſtändigen, für ſich bedeutungsloſern Tonganges als die
eines dem Hauptgedanken an Gewicht nahezu an die Seite rückenden
„Seitenſatzes“ erhält, je nachdem der Geſammtcharakter des Stückes es
verlangt. Desgleichen kann Ein Nebenſatz genügen oder zu ihm ein zweiter
hinzutreten; der Hauptgedanke kann das eine Mal mit dem erſten, das
andere Mal mit dem zweiten oder auch jedesmal mit beiden zuſammen auf-
treten; die Nebenſätze können ſich erweitern, im Einzelnen ſich verändern,
„Zwiſchenſätze“ zwiſchen ſich und den Hauptgedanken einſchieben, und na-
mentlich der Schluß kann mit dem Hauptgedanken allein oder mit einer
Combination aus ihm und den Nebengedanken gemacht werden.
So naturgemäß und künſtleriſch berechtigt die Rondoform iſt, ſo haften
ihr doch zwei Einſeitigkeiten an, die noch zu weitern Formen forttreiben;
es überwiegt in ihr die Einheit über die Mannigfaltigkeit, und die Mannig-
faltigkeit, ſoweit ſie in den Nebengedanken auftritt, iſt dann doch wiederum
zu frei, zu wenig unter ein beſtimmtes Geſetz geſtellt, zu ſehr der Phantaſie
überlaſſen. Das Ueberwiegen der Einheit führt die Gefahr der Eintönigkeit
und Einförmigkeit ſowohl des muſikaliſchen Inhalts als des Rhythmus mit
ſich; die Freiheit in der Geſtaltung der Nebenſätze benimmt dem Ganzen den
Charakter einer ſtreng gegliederten Kunſtform, ſie läßt es als ein Gedicht mit
Epiſoden erſcheinen, in welchem dieſe letztern einen unverhältnißmäßigen
Raum einnehmen, ſie gibt dem Rondo zwar den eigenthümlichen Reiz
romantiſchpoetiſcher Mannigfaltigkeit und Ungebundenheit, aber ſie ſchließt
es aus den Werken ſtrengern und höhern Styles aus, daher es z. B. im
Ganzen doch beſſer für die Concert- als für die Symphoniegattung ſich
eignet und in bedeutſamern Tonſtücken ſehr oft nicht für ſich allein ange-
wandt, ſondern zu andern Satzformen von ihm übergegangen wird. Kurz,
die Mannigfaltigkeit kommt in ihm einerſeits zu kurz und macht ſich andrer-
ſeits auch wiederum zu ſehr geltend auf Koſten der höhern Einheit des
Gedankens. Dieſe Einſeitigkeit hebt ſich auf in zwei weitern Formen des
cycliſchen Kunſtwerks, einmal in der Variation, und ſodann in den zu
[957] thematiſcher Verarbeitung der Grundgedanken fortgehenden mehrtheiligen
Tonſätzen, beides Formen, welche an die Stelle des Prinzips der Anreihung
entſchieden das der Entwicklung ſetzen.
§. 789.
Die Variation iſt die erſte Hauptart der auf dem Prinzip der Ent-
wicklung oder thematiſchen Ausführung beruhenden Form der cycliſchen Muſik.
Sie ſteht einerſeits dem einfachen homophonen Kunſtwerk am nächſten, indem
ſie nichts iſt als ein in gleicher Tonart mit mannigfachen Veränderungen ſich
wiederholender melodiſcher Satz; ſie bildet andrerſeits den entſchiedenſten, an
die polyphone Muſik erinnernden Gegenſatz zu aller blos durch Aneinander-
reihung von Tonſätzen oder blos durch Erweiterung entſtehenden Muſik, indem
in ihr der ganze muſikaliſche Inhalt durch Entwicklung des Thema’s zu neuen
Formen erzeugt und höchſtens am Anfang und Schluß ſelbſtändigere, obwohl
mit dem Thema verwandte Sätze angefügt werden.
Die Variation wird zwar blos in der Inſtrumentalmuſik angewendet,
weil ſie in vollſtändiger Durchführung ſich für die weniger mannigfaltige
und formenreiche Vocalmuſik weniger eignet; aber ſie iſt doch eine Muſik-
form allgemeinern Charakters, da ſie ganz auf denſelben Prinzipien beruht,
wie alle bisher betrachteten concreten Compoſitionsformen, und zudem iſt
die figurirte Vocalmuſik (vgl. S. 924) im Grund bereits eine Variation,
eine Species der letztern, die auch bei Inſtrumentalvariationen (einfacherer
Art) häufig genug iſt. Das eigenthümliche Weſen der Muſik tritt eben in
der Variation in ganz ſprechender Weiſe hervor; die Variation iſt möglich
durch die Unbeſtimmtheit und Freiheit der muſikaliſchen Formen im Gegen-
ſatze zu den plaſtiſchen und maleriſchen; ſie ruht darauf, daß ein und derſelbe
Gedanke, wenn nur die Ton- und Taktfolge im Allgemeinen feſtgehalten
wird, doch in verſchiedener Figurirung, Rhythmiſirung, Stimmenvertheilung,
Stimmenverflechtung, Contrapunctirung, Fugirung erſcheinen kann. Die
urſprüngliche Tonfolge ſcheint hinter allen dieſen Veränderungen durch, wie
die Geſammtrichtung einer gewundenen Linie immer ſichtbar bleibt, auch
wenn ſie an einzelnen Puncten im Kleinen vielfach gebrochen und geſchlängelt
dargeſtellt wird; der Inhalt bleibt derſelbe, die Form ändert ſich. Zugleich
jedoch iſt dieſe Aenderung der Form nicht ſchlechthin gleichgültig; mit der
Aenderung der Form wechſelt natürlich und ſoll auch mehr oder weniger
wechſeln der Bewegungsmodus, und damit die Stimmung, der Ausdruck,
der Charakter der urſprünglichen Melodie, ſie ſoll ſich ſelbſt zu neuen und
Neues enthaltenden Geſtaltungen fortentwickeln, und auch der ganze Cyclus
von Variationen ſoll nicht blos ein Aggregat, eine Kette ſein, in der alle
[958] Ringe gleich ſind, ſondern es ſoll ein Fortſchritt vom Einfachern zum Zu-
ſammengeſetztern, vom Ruhigern zum Bewegtern, vom Ernſtern zum Leich-
tern und umgekehrt ſich darſtellen, es ſoll in ihm ein ſich allmälig hebender
und endlich wiederum harmoniſch verklingender Bewegungsrhythmus zu
Tage treten. Allerdings liegt es nahe, die Variation vorzugsweiſe als Spiel
mit mannigfaltigen Formen zu behandeln, bei dem es um nichts zu thun
iſt als eben um die Mannigfaltigkeit ſelbſt und den in ihr liegenden Reiz,
und es kann auch dieſer Behandlungsweiſe ihre Berechtigung nicht abge-
ſprochen werden, da die Kunſt und namentlich die Inſtrumentalmuſik, welcher
die Variation hauptſächlich zufällt, dieſes freie Phantaſieſpiel nicht nur nicht
ausſchließt, ſondern es im Gegentheil poſtulirt als eine die Freiheit der
künſtleriſchen Geſtaltung, die Freiheit, mit der der Gedanke das Gegebene
beherrſcht und zu immer neuen Formen umwandelt, ganz beſonders zur
Darſtellung bringende Gattung; aber ſelbſt hier darf Fortſchritt und Rhyth-
mus der Bewegung nicht fehlen, wenn er auch nicht gerade auf ſignificante
Weiſe hervortritt, und es iſt daher namentlich am Schluß eine Erweiterung
des Variationencyclus zu freiern, das Thema ſelbſtändig fortbildenden, nicht
mehr blos variirenden Sätzen, ein Hinausgehen über den engen Kreis des
Thema’s zu breitern, weitſchichtigern Tonſtücken, welche z. B. die Form
längerer Adagio’s oder des Tanzes oder Marſches haben können, von ſehr
guter Wirkung. Entbehrlich iſt eine ſolche Erweiterung eigentlich nur dann,
wenn ſchon in die Variationen ſelbſt ein höherer Gehalt und ein entſchie-
dener Fortſchritt in Bezug auf Kraft, Individualiſirung, Bedeutſamkeit,
Tiefe gelegt, oder wenn die Variation nicht als ein weſentlich nichts Neues
zu Tage förderndes Formenſpiel, ſondern als Fortentwicklung des Grund-
gedankens zu neuen charakteriſtiſchen Geſtaltungen ſeiner ſelbſt behandelt wird.
Mittelſt erfindungsreicher Anwendung der Mittel der Harmonie, des Rhyth-
mus, der Stimmführung kann dieſe Fortführung eines an ſich einfachen
und leichten Thema’s zu gehalt- und charaktervollern Geſtaltungen in ſehr
wirkſamer, ja großartiger Weiſe bewerkſtelligt werden, wenn die Geiſtestiefe
und der Ideenreichthum auf Seiten des Componiſten dazu in vollem Maaße
vorhanden iſt; die Muſik kann auf dieſem Gebiete Triumphe höchſter Art
feiern, indem hier der Künſtler, trotzdem daß er in jedem Takte an das
Thema ſtreng gebunden bleibt, ihm doch ganz neue Wendungen zu entlocken,
es in höhere Formen umzuwandeln, eine in ihm latente höhere Bedeut-
ſamkeit aus ihm hervorzuzaubern weiß. Die Variation iſt ſo wirklich ein
ganz geeignetes Feld für Bewährung des muſikaliſchen Genies nach der
Seite des Gehaltes wie nach der der reinen Form; das Unbedeutendſte und
Leichteſte, die ſpielende Unterhaltung durch mancherlei Wendungen, aber
auch das Größte und Schwerſte, die ſchöpferiſche Entwicklung gehaltreicher
und charakteriſtiſcher Tongebilde aus einfachen Grundelementen fällt der
[959] Variation zu; ſie belebt, ſie verdichtet und vertieft das helle und klare
Grundmotiv, ſie läßt aus ſeinen Keimen Organismen mannigfachſter Art
und Stufenfolge hervorwachſen, deren jeder eine neue im urſprünglichen
Thema enthaltene mögliche Form deſſelben zu lebendiger Anſchauung bringt,
ſie offenbart die unendlich mannigfaltige Bildſamkeit des Muſikaliſchen, die
Unerſchöpflichkeit der Mittel, welche der Muſik zu Gebote ſtehen, um ihre
Gebilde reicher, voller, gewichtiger zu machen; die Muſik wird in ihr deco-
rativ, aber ſie wird auch productiv, freiſtes und doch in feſten Schranken
und Grenzen ſich bewegendes Spiel der rein künſtleriſchen, lediglich auf
ſchöpferiſche Formenentwicklung bedachten, in ihr ungehemmt ſich bewegenden
Phantaſie; ja es iſt in der That auch etwas tiefer Geiſtiges in der Va-
riation, ſie ſtellt einerſeits mehr oder weniger erſchöpfend einen Cyclus
partikulärer Geſtaltungen auf, deren ein Thema fähig iſt, ſie läßt ein und
daſſelbe individuelle Gebilde eine ganze Reihe verſchiedener Entwicklungs-
weiſen und Entwicklungsſtufen durchlaufen, die es annehmen kann, ohne
ſein urſprüngliches Weſen zu verlieren, ſie läßt andrerſeits die allgemein
muſikaliſchen Bewegungstypen, Stimmungsarten, Compoſitionsformen nach
einander an Einem Thema heraustreten, ſie erweitert hiemit das Individuelle
zu einem univerſellen Bilde, ſie drängt ebenſo das Allgemeine in den Rahmen
des Einzelbildes hinein, ſie iſt eine Erweiterung des einfachen Gedankens
zu einer Gallerie von Bildern, welche ihn ſelbſt in immer neuen muſikaliſchen
Formen und damit eine Reihe verſchiedener Formen der Muſik ſelbſt, ein
Miniaturbild muſikaliſcher Formenmannigfaltigkeit überhaupt uns vor Au-
gen ſtellt.
Die Variation hat dem über ſie Bemerkten zufolge ihre volle äſthetiſche
Berechtigung, die nie veralten kann; ſie iſt zudem ſo naturgemäß, wie irgend
ein künſtleriſches Spiel es iſt, ſie entſteht auch in ihren höhern Formen
dadurch, daß das Einfache die ihrer Formenfülle bewußte Phantaſie reizt,
es zu reichern Geſtaltungen zu entwickeln. Ihre Anwendung iſt allerdings
eine beſchränkte; ſie kann namentlich nicht regelmäßig als Theil eines größern
Tonſtücks erſcheinen, ſie kann eigentlich nicht Theil ſein, weil ſie an ſich
ſchon Ganzes iſt, das in den mannigfachen Wendungen, welche es durch-
läuft, für ſich gehört und verfolgt ſein will; tritt ſie in einem größern
Werk auf, ſo kann ſie ſich nicht gehörig ausbreiten, nicht alle Formen vor-
bringen, deren ſie fähig wäre, und thut ſie es doch, ſo iſt es gleich ein
Zeichen, daß das ganze Tonſtück (z. B. eine Sonate) mehr der aggregat-
artigen Form, die ſelbſtändige Sätze an einander reiht, als der ſtreng ein-
heitlichen Kunſtform angehören will. — Einſeitig iſt die Variation, ähnlich
wie das Rondo, durch ihre Einförmigkeit. Sie hat zwar vor dem Rondo
eine ſtrengere Gedankeneinheit voraus; aber dieß ſchlägt auch wieder zu
ihrem Nachtheil aus, ſie enthält ſtets dieſelben Grundmotive und iſt dadurch
[960] zugleich genöthigt ſtets wieder von vorne anzufangen, ein Ganzes von
Variationen zerfällt in ſelbſtändige Stücke, die einander verwandt, aber jedes
wieder ein Ganzes für ſich ſind. In dieſer Beziehung gehört die Variation
ſelbſt wieder der aggregatartigen Muſikform an, ſie hat zu wenig Continuität,
Fluß und ungehemmten Fortgang. Wie das Rondo zur Variation fort-
treibt, damit ſtrengere und zugleich reicher entwickelte Gedankeneinheit erzielt
werde, ſo treibt die Variation zu einer noch höheren Kunſtform fort, welche
Gedankeneinheit hat ohne Einförmigkeit, reiche Gedankenentwicklung ohne
Zerſplitterung in ſelbſtändige variirende Stücke. Dieſe Form entſteht da-
durch, daß die cycliſche Muſik wieder zurückkehrt zur Grundform aller Muſik,
d. h. zu der in Perioden und (kleinere) Sätze ſich gliedernden Zweitheiligkeit,
die aber das Erweiterungsprinzip des Rondo und das Entwicklungs- oder
Verarbeitungsprinzip der Variation in ſich aufnimmt und auf dieſem Wege
große, die beiden Elemente der Einheit und der Mannigfaltigkeit völlig
befriedigend vereinigende Tonſätze hervorbringt.
§. 790.
Die zweite Hauptart der auf dem Prinzip thematiſcher Ausführung be-
ruhenden cycliſchen Muſik iſt die Compoſitionsform, die man kurz als die
Form der freien muſikaliſchen Gedankenentwicklung bezeichnen
kann. Ein in ſich bereits mannigfaltig gegliederter Hauptgedanke führt un-
mittelbar oder durch Zwiſchenſätze zu einem zweiten, mit innerer Nothwendigkeit
aus ihm hervorgehenden, in andrer Tonart auftretenden fort, mit deſſen voll-
ſtändiger Durchführung, ſowie mit hinzukommenden Nebenſätzen oder kürzern
Wiederholungen, variirenden Entwicklungen des erſten Hauptgedankens, zunächſt
ein Abſchluß eintritt. Aus dem ſo gebildeten erſten Theil entwickelt ſich ein
zweiter, welcher in der Regel den erſten durch modulatoriſch, harmoniſch und
rhythmiſch noch reichere und belebtere Bearbeitung von Gedanken deſſelben weiter
führt und ſodann allmälig wieder in den einfachern und ruhigern Gang des
erſten Theils einlenkt, um mit ihm, wiewohl wiederum nicht ohne einzelne
Erweiterungen, Veränderungen, Entwicklungen ſeiner Gedanken oder auch mit
Fortführung derſelben zu eigenen Schlußſätzen, in der Grundtonart zu ſchließen.
So entſteht ein Satz, in welchem Einheit ſich ſelbſt zur Mannigfaltigkeit organiſch
erweitert und fortentwickelt, dieſe Mannigfaltigkeit aber ebenſo naturgemäß zur
Einheit wiederum zurückgeht und ſo neben allem Wechſel die vollſtändigſte,
fließendſte, einheitliche Abrundung des ganzen Tonbilds erzielt wird.
Die Grundform der Muſik, Zweitheiligkeit ſich gliedernd in Perioden
und (kleinere) Sätze, war in den bis jetzt betrachteten Formen nicht das
beherrſchende Prinzip der ganzen Anordnung des Tonſtücks; als ſolches
[961] tritt ſie nun wieder hervor in der Kunſtform der freien Gedankenentwicklung
(auch die Form der Evolution könnte man ſie nennen), welche jene Zwei-
theiligkeit in großartigerem Maaßſtab wieder anwendet, um innerhalb dieſes
Rahmens eine die Prinzipien des Rondo’s und der Variation, ſowie nach
Umſtänden auch die der Polyphonie in ſich verſchmelzende höhere Com-
poſitionsgattung hervorzubringen. Es fallen unter dieſelbe ſowohl Geſang-
ſtücke von größerem Umfange, Arien, die nach dem erſten Theile zu con-
creterer Verarbeitung der Hauptgedanken fortſchreiten, als beſonders Inſtru-
mentalſtücke, Sonaten- und Symphonieſätze, Ouvertüren u. ſ. w. Die
Evolutionsform iſt geradezu die höchſte Form der Compoſition, ſie iſt die
der Urform nächſte und darum klarſte und anſchaulichſte, beſtgegliederte, und
ſie iſt zugleich die concreteſte, entwicklungsfähigſte, zur Aufnahme aller
andern Formprinzipien in ſich geeignetſte Muſik. Sie iſt ihrem ganzen
Plane nach durchaus einfach überſichtliche zweitheilige Melodie, nur daß
ſie die Perioden der Theile zu größern Hauptſätzen erweitert, Neben- und
Zwiſchenſätze zwiſchen dieſe einſchiebt und den zweiten Theil mit mannig-
faltigen Umgeſtaltungen des erſten bereichert, die dem Ganzen mehr Be-
wegungsrhythmus verleihen als die Melodie für ſich es vermöchte; ſie iſt
ebenſo, im Einzelnen betrachtet, erweiternd wie das Rondo, entwickelnd wie
die Variation, combinirend wie die Polyphonie, indem ſie namentlich zum
Behuf ihrer thematiſchen Ausführungen Stimmenverflechtung, Contrapunct,
Nachahmung, Fugirung anwendet; ſie hat ferner vor allen dieſen Formen
theils die Mannigfaltigkeit voraus, theils die Freiheit, ſie wiederholt nicht
einſeitig wie das Rondo, ſtellt nicht wie dieſes blos Nebenſätze zum Haupt-
ſatz hin, ſondern hat eine wirkliche Mehrheit ſelbſtändiger und doch innerlich
zuſammengehöriger Sätze, ſie hat eine in wirkliche Mannigfaltigkeit aus-
einandergehende, nicht abſtracte Einheit, ſie gebraucht die Formen der Po-
lyphonie ganz ungebunden, ſo lange und wie ſie will, ohne an ein abſtractes
Formgeſetz ſich zu kehren und ſo das Formelle zur Hauptſache zu machen;
endlich thut ſie „in der Regel,“ d. h. da wo ſie ſich ganz vollſtändig in
ihrer ganzen Eigenthümlichkeit und namentlich in ihrem ſpezifiſchen Unter-
ſchied von der Rondoform entwickelt, zu dem allen noch Eines hinzu, die
Ausweitung und Ausarbeitung kleinerer Perioden, Sätze und Satzglieder
(Motive) zu größern Sätzen, was auch wieder nur eine ſpezielle Art von
Evolution, Herausentwicklung größerer Gedanken aus kleinern iſt. Das
Genauere namentlich über dieſen letztern Punct muß jedoch der Lehre von
den Muſikzweigen vorbehalten bleiben, weil dieſe Form ſo mannigfache, erſt
in den einzelnen Zweigen beſonders der Inſtrumentalmuſik ſpezifiſch hervor-
tretende Unterarten in ſich ſchließt, daß eine ſchon hier genauer als der §.
auf das Einzelne eingehende Beſprechung dem ſpäter zu Sagenden unpaſſend
vorgreifen würde.
[962]
Bei der der Muſik vor allen andern Künſten eigenen Freiheit der
Bewegung iſt es nicht anders zu erwarten, als daß dieſe Form „der freien
Gedankenentwicklung“ auch vollends die im §. ihren Grundzügen nach auf-
geſtellte Gliederung, ſo wenig beengend ſie an ſich iſt, aufgibt und ſich
zu abſoluter Freiheit fortbewegt. Abgeſehen von den Fällen, in welchen
auf dem Gebiete der Vocalmuſik, z. B. bei dem Recitativ und auch bei der
Arie dieſe Freiheit durch den wiederzugebenden Inhalt veranlaßt, ebendamit
aber durch dieſen auch wieder bedingt und in Schranken gehalten iſt, gehört
hieher namentlich die freie „Phantaſie“ der Inſtrumentalmuſik, ſowie
Inſtrumentalwerke, welche ſich ihr mehr oder weniger annähern. Es ergibt
ſich jedoch von ſelbſt, daß dieſelbe nur eine Nebenform ſein kann trotz des
großartigen Gedanken- und Formenreichthums, den der Componiſt je nach
ſeiner Individualität in ſie zu legen vermag; ſie iſt eben eine „individuelle“
Form, welche der muſikaliſchen Stimmung und Laune, der muſikaliſchen
Bildungs- und Geſtaltungsluſt freien Spielraum gewährt, aber neben den
geſetzmäßig gegliederten Formen nur den Rang eines Neben- und Beiwerks,
eines momentanen ungebundenen Spieles des muſikaliſchen Genius behaupten
kann, von welchem er ſelbſt mit innerer Nothwendigkeit zu ſtrengern Ge-
dankenformen hin- oder zurückgetrieben wird.
§. 791.
β) Das aus mehrtheiligen Sätzenbeſtehende größere Ton-
ſtück iſt diejenige Form, in welcher ſich (abgeſehen von umfaſſenderen Ton-
werken) die cycliſche Muſik vollendet. Es entſteht dadurch, daß die Compoſition
ſich ausbreitet zu einer kleinern oder größern Zahl ſelbſtändiger Sätze, die, nach
Inhalt, Form, Bewegung, theilweiſe auch nach Tonarten verſchieden, doch zu-
gleich durch gemeinſame Charaktereigenthümlichkeit verbunden ſind und ein
innerhalb ſeiner ſelbſt fortſchreitendes, rhythmiſch ſich fortbewegendes Ganzes
bilden.
Die Sätze werden abermals Theile; ſo entſteht „das Tonſtück mit
mehrern Sätzen“ (§. 786), im Großen daſſelbe was das dreitheilige Ton-
ſtück (§. 787.) im Kleinen, und dieſes ſelbſt je nach Bedarf, z. B. als
dreitheiliges melodiſches Zwiſchenſtück oder als Marſch, Tanz, Scherz, in
ſich aufnehmend, wie andrerſeits auch polyphone Sätze, Variation, Rondo,
beſonders aber die im vorhergehenden §. behandelte Form (weil ſie für
freien Gedankenfortſchritt die geeignetſte iſt) innerhalb ſeiner als Theile auf-
treten können. Es wird hier gleich ein größeres Ganzes concipirt und auf
eine Ausdehnung zu mehrern Sätzen berechnet, ſeien es nun 2 oder 3 oder
darüber, obwohl für großartigere Orcheſtermuſik die Vierzahl an ſich die
[963] paſſendſte iſt, weil ſie einen nicht zu beſchränkten und doch auch nicht zu
weit ausgedehnten, zugleich durch die Symmetrie der Theilung des Ganzen
in zwei Hälften befriedigenden Cyclus von Tonſätzen darſtellt. Der erſte
Satz führt zum zweiten hinan oder kommt in ihm zur Ruhe, der erſte
findet im zweiten ſein Gegenbild, ſeinen Gegenſatz oder ſein poſitives Re-
ſultat, ſeinen Abſchluß, der zweite zieht wiederum in der einen oder in der
andern Weiſe einen dritten nach ſich u. ſ. w., bis im Schlußſatz Alles
kräftig austönt oder die Bewegung ruhig ſich abklärt; dieß iſt im Allge-
meinen der Typus dieſer höchſten Form cycliſcher Muſik, die größern lyriſchen
und dramatiſchen Vocalſtücken ſowie unter Inſtrumentalwerken namentlich
Sonaten und Symphonieen zu Grunde liegt. Die Formfreiheit der Muſik
iſt auch hier ſo groß, daß im Einzelnen die mannigfaltigſten Geſtaltungen
in Bezug auf Zahl, Länge, Conſtruction und gegenſeitiges Verhältniß der
Sätze möglich ſind. Doch laſſen ſich die weſentlichen Grundunterſchiede,
die hier möglich ſind, wohl von einander ſondern. Das Tonſtück iſt ent-
weder blos zweitheilig; die Bewegung iſt zuerſt ruhigere Stimmung oder
Empfindung (ſ. S. 953) in langſamerem Tempo, auf welche dann erregtere
Muſik folgt (wie in größern Arien ein Allegro auf ein Andante); oder iſt
der Gang der umgekehrte, wiewohl dieſes der ſeltenere Fall iſt, weil bei
langſamerem Tempo das Gefühl des Austönens, des zur vollen Ruhe Hin-
treibens der Bewegung weniger leicht entſteht; ruhige Stimmung braucht
langſames Tempo, aber der Prozeß der Beruhigung, des erſt zur Ruhe
Kommens erfordert in der Regel eine ſchnellere Bewegung, das langſamere
Tempo hält uns an einem Gedanken gleichſam in contemplativer Ruhe feſt,
das ſchnellere aber iſt geeignet uns fühlen zu laſſen, daß die Hauptſache
bereits geſagt iſt und Alles zum Abſchluſſe drängt. Oder iſt das Tonſtück
mehr als zweitheilig; dann iſt, obwohl auch hier von (längern) Adagio’s
oder Andantes zu Allegro’s und Preſto’s aufgeſtiegen werden kann, der
Gang naturgemäß in der Regel ein weniger einfacher: zuerſt „erregtere,“
uns gleich oder nach kurzer langſamer Einleitung in den lebendigen und
lebendigergreifenden Strom der Tonbewegung hineinverſetzende, dann ruhigere
„Stimmungs- oder Empfindungsmuſik,“ bei der das Gemüth ſich wieder
ſammelt und nun auch zartere, innigere, gerührtere Gefühle zum Worte
kommen können, hierauf Neuanheben der Erregung, neuer Aufſchwung des
lange genug im Schmelz der Empfindung, in der Stille der Contemplation,
im Ernſt der Trauer und dergleichen zurückgehaltenen Geiſtes zu belebterem,
muntererm, kräftigerm Einhergehen in einem oder in zwei Sätzen, womit
das Ganze naturgemäß ſich abſchließt, indem es ſo die Momente der Er-
hebung und Erregung, der Rückkehr aus ihr zur ſinnigen Ruhe des ſich
wieder ſammelnden Selbſtbewußtſeins, der neuen Aufraffung, des endlichen
raſchen Zumſchluſſebringens der ganzen Empfindungsbewegung, kurz den
[964] ganzen Prozeß, in dem alles Gefühls- und Geiſtesleben ſich bewegt, voll-
ſtändig durchlaufen hat. Dieß der eine Grundunterſchied. Der andere
betrifft das innere Verhältniß der Sätze zu einander. Dieſes Verhältniß
iſt äußerlicher oder innerlicher, es iſt nämlich entweder das des Wechſels
oder das des Contraſtes oder das eines qualitativen, intenſiven Bewegungs-
rhythmus. Irgend ein Bewegungsrhythmus iſt (S. 934) natürlich bei
dieſer Kunſtform immer, weil ſie zwiſchen Erregungs- und Stimmungs-
muſik hinundhergeht; aber er kann ein äußerlicher, formeller, dem Tonſtück
ſelbſt nicht immanenter ſein, wenn die erregtern und die ruhigern Sätze blos
entfernter unter ſich verwandt, zu ſelbſtändig gegen einander, blos nach dem
Geſetz und zum Behuf rhythmiſcher Mannigfaltigkeit oder rhythmiſchen
Contraſts neben einander geſtellt ſind; hier gefallen mehr die einzelnen Sätze
für ſich und zugleich ihr Wechſel und Gegenſatz, aber ein tieferer Zuſam-
menhang und Fortgang iſt nicht vorhanden. Dieſer iſt erſt dann da, wenn
der Bewegungsrhythmus innerlich, intenſiv iſt, wenn die Sätze in dem
Verhältniß zu einander ſtehen, daß der eine zum andern hintreibt, daß die
ſcharf ausgeſprochene Unruhe, Spannung, Bewegtheit, Gedrücktheit des einen
ihre ebenſo entſchieden hervortretende Beruhigung, Löſung, Befreiung im
andern findet, kurz, wenn der Fortgang etwas vom Dramatiſchen, von
Verwicklung an ſich hat. Schon das Verhältniß des Contraſts iſt tiefer
als das des bloßen Wechſels, indem es ein Bild des durch das ganze
Leben hindurchgehenden Gegenſatzes von Luſt und Unluſt, Bewegung und
Ruhe, Erregung und Sammlung, Affect oder That und Selbſtbeſinnung,
Herausgehen aus ſich und Rückkehr zu ſich darſtellt; aber noch tiefer iſt
das des dramatiſchen Fortgangs, bei welchem die beiderſeitigen Elemente in
eine innere Beziehung zu einander treten, indem das Gemüth wirklich als
durch dieſe Stadien der Erhebung, der Niederdrückung, der abermaligen Er-
hebung u. ſ. f. hindurchgehend, ſich hindurchkämpfend dargeſtellt wird. Einen
ihrer Form wirklich vollſtändig adäquaten, Alles was ſie leiſten kann wirklich
leiſtenden Inhalt, ſowie vollkommene innere Einheit der Sätze unter einander
bekommt dieſe Gattung von Tonſtücken nur durch dieſen dramatiſchen Be-
wegungsrhythmus, der nicht blos Wechſel und Contraſt, ſondern auch Fort-
gang und Prozeß iſt und hiemit alle Beziehungen zuſammenfaßt, die bei
einer längern Tonbewegung möglich ſind. Natürlich ſollen nicht alle Werke
dieſer Gattung eine ſolche dramatiſche Bewegtheit haben; das epiſche, aggre-
girende Prinzip hat auch ſeine Berechtigung; aber die höchſte Stufe iſt die
dramatiſche Conſtruction deßungeachtet, weil hier das formelle Nebeneinander
durch das Band innerlicher Einheit überwunden, und weil erſt in ihr neben
reicher Entwicklung des melodiſchen und harmoniſchen Elements auch das
rhythmiſche zu ſeiner vollen Entfaltung gekommen iſt, welches doch für
dieſe ganze Muſikgattung das unterſcheidende iſt.
[965]
Die möglichen Formen des muſikaliſchen Kunſtwerks ſind, abgeſehen
vom „umfaſſendern Tonwerk“, das uns in ſeiner ſpeziellern Beſtimmtheit
erſt mit der Gliederung der Muſik in ihre großen zwei Hauptzweige entſteht,
erſchöpft, da andere nicht mehr denkbar ſind; wir wenden uns daher zur
Lehre vom Styl, die zugleich den Uebergang zu der von den Zweigen bildet.
§. 792.
Der Reichthum an ausdrucksvollen und charakteriſtiſchen, an ſtreng geſetz-
mäßigen, wie an leichten, gefälligen und wirkungsreichen Formen, welcher der
Muſik zu Gebote ſteht, und die ſcheinbar unumſchränkte Freiheit, mit welcher
in ihr der Künſtler durch keine typiſchen Naturvorbilder gebunden, ſein Mate-
rial in mannigfaltigſter Weiſe handzuhaben vermag, führt die muſikaliſche Com-
poſition beſonders leicht zu Einſeitigkeiten und Willkührlichkeiten, die das
natürliche Gefühl als ſolche erkennt und denen auch die wiſſenſchaftliche Betrach-
tung entgegenzutreten hat durch Aufſtellung der Geſetze des muſikali-
ſchen Styls. Der eine Fehler, welcher nahe liegt, iſt geſuchtes falſches Stre-
ben nach Ausdruck, nach Beſtimmtheit, nach naturaliſtiſcher Objectivität und
überconcreter Individualiſirung (einſeitig indirecter Idealiſmus), verbunden mit
Mißachtung der Geſetze der Klarheit, Gefälligkeit und Rundung, der Eben-
mäßigkeit und Idealität, kurz Ueberwiegen des Moments des Inhalts über
das der Form. Der andere dagegen iſt einſeitiger Formalismus, Formencultus
(directer Idealiſmus), Formeffect, ſowie abſtracte, farb- und inhaltloſe Ton-
bewegung. Dieſen Einſeitigkeiten gegenüber verlangt das Weſen der Muſik,
hierin zur Poeſie ſich ähnlich verhaltend wie Architectur und Plaſtik zur Ma-
lerei, ein Gleichgewicht der beiden Elemente, von welchem möglichſt wenig und
eher zu Gunſten des formalen als des objectiv materialen Elements abzu-
weichen iſt.
An die Betrachtung der muſikaliſchen Kunſtformen reihen wir die Lehre
vom Styl an, die ſowohl ihrer (im gegenwärtigen §. beſprochenen) nega-
tiven als ihrer poſitiven Seite nach dieſen ganzen Kreis der verſchiedenen
Geſtaltungen des Tonmaterials vorausſetzt. Die im §. aufgeſtellten Sätze
ſind jetzt ziemlich allgemein anerkannt; es bedurfte aber Zeit genug, bis ſie
durchzudringen vermochten, und es fehlt auch gegenwärtig nicht an Rich-
tungen von ganz entgegengeſetzter Art. Das ganze Material der Muſik
iſt weſentlich ein ſchwebendes, welchem die körperliche Maſſenhaftigkeit, die
geometriſche Formbeſtimmtheit, die ſinnliche Objectivität, die verſtändige,
erpreſſive Deutlichkeit des Materials der andern Künſte ſchlechthin abgeht.
Dieſen Charakter des Schwebenden, das nicht bauen, bilden, zeichnen,
malen, ſchildern kann, ſondern von allem Dieſem nur eine Analogie zuläßt,
[966] darf die Muſik nicht verleugnen wollen, d. h. ſie darf, obwohl ſie nichts
als Gefühlsausdruck iſt, deßungeachtet nicht nach einer Beſtimmtheit des
Einzelausdrucks, noch weniger nach einer Objectivität und Individualität
ſtreben, die nicht in ihrem Weſen liegt. Sie kann Maſſen aufthürmen,
um mit der Architectur im quantitativ Erhabenen zu wetteifern, aber ſie
verliert damit ihre eigenthümliche melodiſche Beweglichkeit, die nichts Starres
und Abſtractes duldet, ſie iſt innerlichſt architectoniſch in ihrer Gliederung,
aber ſie darf nicht, was blos innerliches Geſetz iſt, materiell herauskehren,
nicht die Anſchauung architectoniſcher Objecte erregen wollen, gerade wie
die Architectur maleriſch ſein, aber nicht ſelbſt malen, plaſtiſch bilden kann
und darf; ſie kann Bewegungen von Körpern, Blitze und Donnerſchläge,
Kanonaden, Windesbrauſen, Platzregen, Pferdegetrappel, Karavanenzüge,
öden Wüſtenſandes Wehen, Gebrumm und Gebrüll und Gezwitſcher, Ge-
ſchrei und Geflüſter, Gezänk und Schlägerei, Geächze Verwundeter, Schnurren
von Spinnrädern, Sprudeln von Quellen, Rauſchen der Waſſerfälle, ja
am Ende ſelbſt Sieden und Braten direct nachahmen, aber ſie gibt damit
nur ſich ſelbſt auf, ſie tritt aus dem Gebiet der Kunſt heraus in das der
gemeinen Wirklichkeit, aus dem Gebiet des Tones und der melodiſchen
harmoniſchen und rhythmiſchen Tonverhältniſſe heraus in das ſinnliche Ge-
biet des Geräuſches, Schalles, Knalles und Gezirpes, und ſie erweckt zudem
mit allen ſolchen Verſuchen, weil ſie doch immer halb und unklar bleiben,
blos das unbehagliche Gefühl des Unzureichenden ihrer Mittel. Auch
Innerliches, Geiſtiges, Individuelles kann ſie direct wiederzugeben verſuchen;
ſie kann den ſtolzen Schritt des Uebermüthigen, den Unmuth des Uebellaunigen,
den Leichtſinn des Verſchwenders, die Unbehülflichkeit des Schwerfälligen,
das eckige Weſen des Herben und Schroffen, den ſtechenden Schmerz der
Eiferſucht, die romantiſche Stimmung einer Landſchaft unmittelbar natura-
liſtiſch ausdrücken oder abbilden wollen durch melodiſche, rhythmiſche, har-
moniſche Künſte, ſie kann namentlich fehlgehen in Schilderungen des Häß-
lichen und des Komiſchen durch unkünſtleriſche, aller Formſchönheit ſpottende
Mißtöne, Contraſte, Ueberraſchungen, plumpes Poltern, zu große Häu-
fung übermäßiger Intervalle u. ſ. w. Aber alles Dieſes, jede förmliche
Zeichnung, jede ganz direct nachbildende Malerei und Schilderung gehört
nicht in ihr Gebiet, außer etwa da, wo durch ſolche Dinge von Seiten
des Componiſten mit ſelbſtbewußtem Humor eine recht burleske Komik, eine
recht treffende Ironie, eine ſcherzhaft idylliſche Heiterkeit beabſichtigt wird,
und auch da nur vorübergehend, da der Humor die Kunſtgeſetze nur vor-
übergehend bei Seite zu ſtellen berechtigt iſt, wenn die Sache nicht ernſt,
das Spiel mit dem Geſetz nicht grober Verſtoß gegen daſſelbe werden ſoll.
Nicht die Dinge ſelbſt, ſondern ihren Eindruck auf die Empfindung hat
die Muſik darzuſtellen, einen Eindruck, der immer weniger concret, weniger
[967] objectiv iſt als der Gegenſtand, der ihn hervorruft. Ja auch die Empfin-
dung ſelbſt darf ſie nicht zu ſtark, nicht zu ſcharf, nicht zu detaillirt heraus-
treten laſſen, wenn ſie nicht ſchwer und dumpf oder weich und ſüßlich oder
peinlich ſchneidend oder regel- und einheitslos werden ſoll; gerade dieſes
Sinnlichnaturaliſtiſche (vgl. S. 872) hat die Kunſt der Empfindung abzu-
ſtreifen, ſie hat den Beruf die Empfindung immer zugleich zu idealiſiren
(vgl. S. 903), ſie ſowohl in beweglichere, leichtere, gefällige, als in kräf-
tiger ſtyliſirte und wohlgegliederte Formen zu erheben; ſie ſtellt zwar einer
Kunſt wie die Architectur gegenüber „den Ausdruck über die Form“ (S. 928),
d. h. über beſtimmte, numeriſch exacte Form, aber nicht über die Form
überhaupt, ſie iſt deſto mehr an die Geſetze der Idealität, des Maaßes,
der Unterordnung des Details unter das Ganze gebunden, je weniger ſie
der Hinſtellung einer feſten, anſchaulichen Einzelgeſtalt fähig iſt. Die Frage,
ob und wieweit die Muſik malen dürfe, iſt jedoch hiemit noch nicht abge-
macht; die Muſik muß doch auch in gewiſſem Sinne objectiv darſtellen,
da ſonſt aller Charakter, aller beſtimmtere Stimmungsgehalt, alle drama-
tiſche Belebung verloren ginge, und wenn wir ſagen, nicht die Dinge,
ſondern ihren Eindruck ſolle ſie ſchildern, ſo iſt ja im Eindruck, in der vom
Ding erregten Empfindung das Ding ſelbſt als Urſache, als Anlaß, als
das was eben dieſer Empfindung ihren beſtimmten Inhalt, ihren Charakter,
ihre Farbe (Schrecken, Grauen u. ſ. w.) gibt, auch mitgeſetzt, folglich darf
nicht nur, ſondern muß gemalt werden, wie z. B. Haydn zu Anfang der
Schöpfung das Chaos, das Aufflammen des Lichtes zu malen nicht unter-
laſſen konnte, wenn er ſeinen Gegenſtand vollkommen muſikaliſch wieder-
geben wollte. Allein gerade in dieſem Einwand liegt auch die Löſung der
Frage; der Wiederhall des Dinges in der Empfindung iſt doch nicht mehr
das ganze und reine Ding ſelbſt, die Empfindung wird zwar beſtimmt und
ſo oder ſo gefärbt durch das Ding, aber ſie hat von ihm doch nur ein
allgemeines Bild, einen allgemeinen Reflex in ſich, dem eben die ſpezifiſch-
ſinnliche Beſtimmtheit, z. B. daß ein ſchreckendes Geräuſch gerade Donner
oder ein Grauenerregendes gerade eine Sandwüſte oder ein Ermuthigendes
gerade eine herbeieilende Reiterſchaar iſt, bereits abgeſtreift iſt. Dieſen vom
Ding in die Empfindung miteingehenden allgemeinen Reflex braucht die
Muſik zwar nicht nothwendig und überall zu malen, wenn ſie nur die
Empfindung ſelbſt recht malt, ſie kann ihn aber allerdings auch mitmalen,
wenn ſie ausdrücklich, ernſt- oder ſcherzhaft, ſich objectiver- als gewöhnlich
halten will, aber ſie darf ihn doch nur mitmalen, wie z. B. Haydn’s Chaos
nicht blos Chaosvorſtellung ſein will, ſondern ebenſoſehr Veranſchaulichung
einer feierlich erwartungsvollen Stimmung, eines dumpfen Webens und
Hinundherwogens der Empfindung, die keinen beſtimmten Gegenſtand vor
ſich hat, ſondern nur erſt nebelhafte Geſtalten ſich erheben und durcheinan-
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 63
[968]der ſich bewegen ſieht, und ſie darf ihn für’s Zweite nur ſo mitmalen, daß
die malenden Töne, Figuren doch zugleich, auch abgeſehen von Dem was
ſie nachbilden, muſikaliſch, melodiſch, harmoniſch, rhythmiſch, klar und ſchön
ſind. Was aber Charaktermalerei betrifft, ſo kann die Muſik hier eher
objectiv darſtellen, weil die beſtimmte Haltung eines Charakters ſowie ſeine
eigenthümlichen Stimmungen, Gefühle, Affecte, Leidenſchaften nichts An-
deres ſind als Bewegungen, Erregungen, Spannungen, welche die Muſik
ausdrücken kann und welche gerade ihr eigenthümliches Gebiet ausmachen;
aber ſie darf ſie nicht unmittelbar abformen und ſie darf namentlich nicht etwa
einzelne Tonfiguren bilden wollen, welche direct Zorn, Schmerz, Niedergedrückt-
heit, Stolz und dergleichen wieder geben ſollen, ſondern ſie muß immer in den
ganzen Verlauf einer kürzern oder längern Tonbewegung eine Beſchaffenheit,
eine eigenthümliche Bewegtheit legen, welche jene Stimmungen veranſchau-
licht; einzelne Stiche, Stöße, Riſſe, Hebungen ſind noch keine muſikaliſche
Schilderung von Empfindungen, Stimmungen, Aufwallungen, ſie bilden
dieſelben, wie z. B. ſtechenden Schmerz, zerreißende Eiferſucht, unmittelbar
phyſiſch, momentan mimiſch nach, ſtatt ſie muſikaliſch, d. h. in der Form
der Expanſion in eine Zeitbewegung, die der Entwicklung der muſikaliſchen
Mittel (Melodie, Harmoniefolge, Contraſte und Wechſel der Rhythmen und
Tonſtärken) Raum läßt, wiederzugeben. Der einfache Kanon für das
muſikaliſche Verfahren iſt der: drückt die Muſik unmittelbar ein Object aus,
ſo daß wir es wiedererkennen, wie wenn wir es ſähen oder hörten, ſo iſt
das falſche Tonmalerei, namentlich wenn gar keine ſpezifiſch muſikaliſche
Wirkung mehr dabei iſt; deutet ſie ein Object blos an, ſo daß es ohne beglei-
tendes Wort nicht klar iſt, was gemeint ſei, ſo iſt die Malerei recht; ver-
anſchaulicht ſie eine Stimmung, Empfindung, Leidenſchaft blos durch einzelne
Tonfiguren oder Klänge, ſo iſt es wiederum verfehlt; gibt ſie aber Ton-
reihen und Tonſtücken eine die Gemüthsbewegung nachbildende Bewegungs-
eigenthümlichkeit (z. B. Schnelligkeit und Langſamkeit, An- und Abſchwellen,
intenſive Spannung oder frohe Leichtigkeit, Vorwärtsgehen, -drängen,
-ſtürmen u. ſ. w. vgl. S. 919), ſo iſt das Verfahren das rechte. Es iſt
wenigſtens in Zeiten, in welchen die allgemeinern Stoffe, Liebe, Sehnſucht
u. dgl., ſchon erſchöpft ſind, ſogar gut, wenn der Componiſt von beſtimm-
ten, durch Ereigniſſe, Naturanſchauungen, Reflexionen über Glück und Un-
glück u. ſ. w. hervorgerufenen Empfindungen ausgeht, um ſeine Phantaſie
durch ſolche beſtimmte Empfindungen recht concret anzuregen, ſie auf einen
Empfindungskreis recht entſchieden zu concentriren; aber in der Ausführung
muß das Materielle zurücktreten und nur im Charakter der Empfindung
ſelbſt (z. B. in der Wehmuth) auch die Veranlaſſung (verlorenes Glück)
mittelbar ſich abſpiegeln. Zugleich iſt der obige Kanon noch durch eine
weitere Regel zu ergänzen: mit Ausnahme einzelner Fälle, in welchen, wie
[969] z. B. im Recitativ oder in der melodramatiſchen Begleitung einer beſtimm-
ten Handlung mit Inſtrumenten, das muſikaliſche Element ſich nicht voll-
ſtändig zu entwickeln Raum hat, muß der Inhalt in die Form, die Em-
pfindungsbewegung in die Tonbewegung ſo ganz übergegangen ſein, ſo
ganz in Tönen ſich verkörpert haben, daß das Tonſtück dem Gefühl und
der Phantaſie ein wenigſtens in der Hauptſache verſtändliches und gefälliges
Tonbild abgibt, auch wenn auf das was es andeuten will nicht reflectirt
wird; ein Tonſtück darf die Empfindung nicht blos andeuten (ſo wenig als
die Malerei den Körper), ſondern ſoll ſie muſikaliſch geradezu zeichnen und
malen, es ſoll den Charakter der Empfindungsbewegung in die ganze Ton-
bewegung übertragen als beherrſchende, Alles durchdringende, aus Allem
hervortönende Einheit — hiezu und zu nichts Anderem gibt es Muſik und
iſt die Muſik fähig —; wenn dieſe Einheit da iſt, wenn ſie dem Tonſtück
einheitlichen Charakter und Rhythmus gibt, ſo iſt es ebendamit verſtändlich
und gefällig, auch wenn man nicht weiß, was eigentlich gemeint iſt, ob-
wohl natürlich der Genuß größer, der Eindruck tiefer iſt, wenn die Idee
des Tonſetzers entweder durch den begleitenden Text uns bekannt iſt oder
ſich doch beim Anhören ſeines Werks mit einer gewiſſen Klarheit und Wahr-
ſcheinlichkeit zu erkennen gibt. Eine Muſik dagegen, welche noch mehr
ſagen und malen will als die Muſik überhaupt geben kann, welche (wie
z. B. ſelbſt Beethoven’s große Ouverture zu Leonore) in der Inſtrumental-
einleitung die Oper ihrem ganzen ſpeziellen Verlaufe nach vorauszugeben
ſucht, eine Muſik, die hiemit voll von latenten Beziehungen auf Einzelnes
und Empiriſches iſt, das der Hörer nicht weiß oder ſich erſt aus erklärenden
Programmen mühſam hinzudenken muß, kurz eine Muſik, die einen Inhalt
haben will, der in die Form gar nicht übergehen kann und darum auch
nicht in ſie übergegangen iſt, kann natürlich (ſofern ſie nämlich nicht
nebenbei doch einzelnes wirklich Muſikaliſche darbietet) für ſich auch nicht
klar und gefällig ſein, ſondern ſie kann (unter der ſo eben angegebenen
Vorausſetzung) nur den Eindruck eines Etwas machen, zu welchem man
keinen Schlüſſel beſitzt, eines unfertigen Mitteldings, welches weder einen
Ausdruck, einen wirklich heraustretenden Inhalt und Charakter, noch eine
Form, eine muſikaliſche Entfaltung und Entwicklung hat, ja geradezu eines
Zwitters, welcher weder Gemälde noch Muſik iſt, ſondern Ton- und Klang-
ſymbolik (im übeln Sinne des Worts), die nicht durch Tiefe, ſondern durch
Unklarheit geheimnißvoll ſcheint; ein falſches Zuviel des Ausdrucks und
der Zeichnung ſchlägt von ſelbſt um in das Gegentheil des Beabſichtigten,
in ein Nichtzuſtandekommen eines wirklichen Tonbildes; das muſikaliſche
Kunſtwerk (das nicht von vornherein blos begleitender Art ſein will und
ſoll) muß vollſtändig einleuchten und gefallen, wie jedes andere, und in
dieſer Beziehung haben alle Diejenigen, welche auf die Form den Nachdruck
63*
[970]legen und der Muſik einen eigentlichen Inhalt geradezu abſprechen, nicht
ſchlechthin Unrecht, ſofern nämlich was ſie meinen Dieſes iſt, die Muſik
müſſe vor Allem muſikaliſch klar und ſchön ſein, ſie ſei ein unendlich reiches
Syſtem von Tonbewegungen und Tonverknüpfungen, die ſchon an und für
ſich ſelbſt durch ihre eigene Form, durch geſetzmäßige und zugleich mannig-
faltige Verwendung der muſikaliſchen Mittel, Melodie, Harmonie, Perio-
dicität, Rhythmus u. ſ. f. wirken können und ſollen. Nur iſt dem beizu-
fügen, daß alle dieſe Tonbewegungen doch blos, ſofern ſie zugleich ein
bewegtes geiſtiges Leben nachbilden, künſtleriſch wirken, daß ſie ſelbſt da,
wo ſie ſich auf ſpeziellern Gefühlsausdruck nicht einlaſſen, doch ein Ausdruck
des Gefühlslebens überhaupt in irgend einer ſeiner Erregungsweiſen ſind,
und daß ihnen auch die Eigenſchaft des Charakteriſtiſchen, wenn ſie ſchön
ſein wollen, nie fehlen darf; gerade mit dieſem Moment des Ausdrucks
und der Charakteriſtik iſt aber der Muſik doch ein „Inhalt“ gewonnen, näm-
lich die Darſtellung beſtimmter Empfindungen und je nach Umſtänden auch
Andeutung empfindungenerregender Objecte.
Die Muſik, wurde oben geſagt, ſoll den Charakter des Schwebenden
nicht verleugnen, über das Empfindungsgebiet nicht hinausgehen wollen;
um ſo mehr folgt auch hieraus, daß ſie durch die Form wirken, daß ſie
ihr ätheriſches Material in feſte, klare, acuſtiſch gefällige, die Phantaſie
beſchäftigende und draſtiſch erregende Formen bringen muß. Die feſte Form
(Periodicität, Stimmenverflechtung, thematiſche Entwicklung u. ſ. w.) be-
wahrt ſie vor nebelhafter Unbeſtimmtheit und Verſchwommenheit, vor Halt-,
Zuſammenhang- und Geſtaltloſigkeit, die gefällige und draſtiſche Form (Fluß
und Figurirung der Melodie, Wohllaut der Harmonie, ſchlagender Rhyth-
mus) ſichert ſie vor Nüchternheit, Eintönigkeit, indifferenter Farb- und Wir-
kungsloſigkeit; die Muſik bedarf in letzterer Beziehung wirklich Anmuth
einer-, „Effect“ andrerſeits, damit Gehör, Gefühl, Phantaſie gleichſam gereizt
und genöthigt werden, ihre duftigen Gebilde einzuſaugen, ihnen ungetheilt
zu folgen und ſich ihnen hinzugeben und ſo einen lebendigen Eindruck von
ihnen zu empfangen. Aber es iſt klar, daß durch dieſe Forderung, die
Muſik ſolle ſich ſelbſt an die Form binden und den Hörer durch die Form
feſſeln, weder pedantiſcher Formalismus, der blos in den polyphonen Kunſt-
formen das Heil erblickt, noch ein Formencultus, dem über Melodiereiz
Harmonie und Ausdruck, über Figuren und Coloraturen oder andrerſeits
über harmoniſchem Schmelz die Melodie ſelbſt verloren geht, noch endlich
ein abſtracter Formeffect, der durch rhythmiſche Mittel überraſcht, übertäubt
und aufregt, irgend gerechtfertigt iſt. Dieſen Einſeitigkeiten gegenüber hat
die Forderung des Inhalts, der gedanken- und gefühlvollen Belebtheit, des
Ausdrucks und Charakters, der innern Wahrheit und Tiefe, die Forderung,
daß in der Muſik beſtimmte Empfindung ſei und ſich rein auspräge, ihre
[971] volle Berechtigung. Das Gleichgewicht beider Elemente, des Inhalts und
der Form, iſt es, worauf die Schönheit der Muſik entſchieden beruht; nur
freilich mit der nähern Beſtimmung, daß ſie doch mehr Muſik bleibt beim
Uebergewicht des formalen als bei dem des objectiv materialen Factors.
Innerhalb der ſubjectiven Kunſtform iſt die Muſik trotz aller ihrer Freiheit
der Architectur gegenüber doch ähnlich wie dieſe an die Formſchönheit
gebunden, weil die eigenthümliche Beſchaffenheit ihres Materials dieſe for-
dert (S. 898), wogegen ſie für die Darſtellung des eigentlich Concreten
nicht zureicht. Materiell ſchildern und ſo durch concreten Inhalt intereſſiren,
wie Malerei und beſonders Poeſie, kann ſie nun einmal nicht und ſie iſt
nicht mehr ſie ſelbſt, ſobald ſie es verſucht, wogegen ſie doch wenigſtens
Muſik und immer noch Bild des mannigfach bewegten Gefühlslebens bleibt,
wenn ſie einſeitig melodiſirt, harmoniſirt, fugirt u. ſ. w.; die Trockenheit
und Steifigkeit des Formaliſmus, die Fadheit und Seichtigkeit des Formen-
cultus halten ſich doch noch innerhalb der Grenzen der Muſik ſelber, ſo
lange jene nicht zu rein unacuſtiſchem und ausdrucksloſem mathematiſchem
Calcul, dieſe nicht zu leerem Geklingel ausartet, während alle Sachen- und
Ideenmalerei, wo ſie nicht vorübergehend eine Begründung durch beſondere
Umſtände und Zwecke erhält, unmuſikaliſch froſtig und hölzern oder unkünſt-
leriſch nebelhaft und dunkel iſt. Der rhythmiſche Formeffect, der ſchon ſehr
nahe an den materialiſtiſchen Schalleffect ſtreift und mit dieſem gerne ſich
verbindet, iſt freilich auch unmuſikaliſch, indem auch mit ihm dem Gehör
und Gefühl nichts mehr geboten wird (S. 912). Das Gleichgewicht beider
Elemente mit leiſem Uebergewicht der Form als Hauptelementes der Muſik
iſt das eigentlich Muſikaliſche; intereſſanter, ſpannender, geiſtreicher und
geiſtvoller nimmt das Uebergewicht eines ideellen oder eines ſcharf charak-
teriſtiſchen, objectiven Inhalts ſich freilich aus, aber die Gefahr des Ueber-
ſchweifens über die Grenzen der Muſik liegt dabei außerordentlich nahe,
daher denn z. B. Beethoven nicht in Werken der letztern Art (wie in der
großen Ouvertüre zu Leonore), ſondern in denjenigen am bewundernswer-
theſten iſt, in welchen er das ſtarke Hervortreten des Inhalts nicht zum
Ueberwiegen werden läßt, ſondern es, wie namentlich in der Cmoll- und
Adur-Symphonie, aufwiegt durch ſtreng ſyſtematiſche Form, reiche Themen-
verarbeitung, fließende, anmuthige und friſche Melodie, kurz durch eine rein
muſikaliſche Haltung des Ganzen, die alle Mittel der Muſik erſchöpfend
gebraucht und doch innerhalb ihrer Schranken ſich bewegt.
§. 793.
Die Entſchiedenheit, mit welcher das muſikaliſche Stylgeſetz möglichſtes Gleich-
gewicht des Inhalts und der Form verlangt, ſchließt ſolche Stylarten nicht
[972] aus, in welchen trotz des Ineinanders beider Momente, durch das namentlich
der für die Muſik überall unentbehrliche Gefühlsausdruck bedingt iſt, doch das
eine oder andere das vorherrſchend beſtimmende iſt. Ueberwiegt die Form, ſo
entſteht daraus nach der einen Seite der ſtrenge, hohe, ideale (plaſtiſche), nach
der andern der anmuthige, reizende, draſtiſche (auf Effect ausgehende) Styl; über-
wiegt der Inhalt, ſo ergibt ſich der freie und weiterhin entweder der ausdrucks-
reiche, gefühlsweiche, ſentimentale, rührende, pathetiſche, oder der charakteriſtiſche,
naturaliſtiſche, individualiſirende (maleriſche) Styl; das Gleichgewicht gibt den ſchö-
nen Styl, der von den übrigen die mit ihm ſelbſt verträglichen Elemente, Idealität,
Anmuth, Charakteriſtik, an ſich hat und ſie doch zugleich zur Einheit verſchmilzt.
Mannigfache Miſchungen, namentlich der Strenge und Hoheit mit Charak-
teriſtik und innigerem Ausdruck, der Anmuth mit Weichheit, des Draſtiſchen
mit Naturaliſmus, ſind möglich und gehören mit zur Vollſtändigkeit der Stylarten.
Die im §. gegebene, an §. 531 ſich anſchließende Eintheilung bedarf
nach Dem, was im vorigen über das Stylgeſetz geſagt wurde, keiner nähern
Rechtfertigung. Die Muſik wäre nicht die freie Kunſt, die ſie iſt, wenn
dieſe Freiheit ſich nicht auch in der Möglichkeit mannigfacher Stylarten
bewährte. Die Hauptunterſcheidung des §. fällt mit der des directen und
indirecten Idealiſmus zuſammen, deren auch das Moment des Charakteriſti-
ſchen in ſich aufnehmendes Gleichgewicht mit Recht der eigentlich ſchöne
Styl zu nennen iſt. Wenn der §. deßungeachtet nicht die Kategorie von
directem und indirectem Idealiſmus, ſondern das Verhältniß von Inhalt
und Form voranſtellt und zum Ausgangspunkte nimmt, ſo hat dieß ſeinen
Grund darin, daß bei der Muſik, weil ſie nicht objectiv darſtellende Kunſt
iſt, die Frage eben nach jenem Verhältniß, d. h. die Frage, ob die Muſik
überhaupt einen Inhalt habe, und wieweit und wie ein ſolcher in ihr zur
Darſtellung komme, die Grundfrage iſt, ſo daß die Begriffe von directem
und indirectem Idealiſmus eine eben hierauf beruhende weitere Bedeutung
haben als z. B. in der Malerei; in letzterer handelt es ſich blos um die
Frage, ob jedes einzelne Object formſchön dargeſtellt werden müſſe oder
nicht, ſo daß hier directer Idealiſmus die Bedeutung der Schönheit des
einzelnen Objects hat; in der Muſik dagegen fragt es ſich, ob überhaupt
ein beſtimmter objectiver Inhalt dargeſtellt oder blos das Tonmaterial nach
den Geſetzen des Wohllauts, des melodiſchen Fluſſes, der Symmetrie, Perio-
dicität, kunſtreichen Stimmencomplexion u. ſ. w. formal ſchön gegliedert
werden ſoll, und hiemit erhält der Begriff des directen Idealiſmus in ihr den
Sinn des Prinzips der reinen Formſchönheit, die nie einem Inhalte (z. B. ernſter
oder ſcherzhafter Charakteriſtik) zu lieb von der Linie der Idealität abweicht.
Eine Analogie des ſtrengen Styls in ſeinem Gegenſatz zum freien
iſt uns bei den polyphonen Formen vorgekommen, bei welchen eine gebun-
[973] denere und eine freiere Behandlungsweiſe einander gegenüberſtehen. Aber
nur eine Analogie; denn hier handelt es ſich nicht mehr um das rein
Techniſche der Compoſition, ſondern um die ſtreng formale Auffaſſung und
Behandlung, die im gebundenen wie im nichtgebundenen Styl dieſelbe ſein
kann, die aber allerdings vorzugsweiſe den erſtern wählen wird, weil er
das Zurücktreten des Subjectiven, des Ausdrucksreichen, des Weichen u. ſ. w.,
alſo eben die formale Strenge, ganz von ſelbſt in ſich ſchließt. Streng iſt
der muſikaliſche Styl, wenn er die reine Form feſthält im Gegenſatze zu
ausmalenden Nüancirungen, wenn er in Melodie, Harmonie, Modulation,
Stimmführung, Rhythmus die Vielheit, Mannigfaltigkeit, Färbung, Figuri-
rung innerhalb der Grenzen ſtets feſtgehaltener Haupt- und Grundformen
zurückhält, ſo daß die Bewegung gebunden, beherrſcht, in Schranken gehalten
erſcheint durch dieſe ſich ſtets gleich bleibende, alles Einzelne umklammernde,
keinem Einzelnen ein beſonderes Heraustreten geſtattende Grundform; na-
mentlich Bevorzugung der Haupt- und Grundaccorde, Vermeidung der
weniger einfachen Harmonieen, der Verzierungen, der entbehrlichen Ueber-
gänge, der in’s Weite ſchweifenden Melodiebewegung, unruhig ſpringender
Modulation, ausdrucksreicher dynamiſcher Mittel (S. 913.), gehört zum
ſtrengen Styl, welcher übrigens etwas ganz Anderes iſt als der in §. 792
verworfene Formaliſmus und namentlich nie ausdruckslos iſt, da er ſonſt
kein Styl, ſondern eine Abart wäre. Der hohe und der ideale Styl
bedarf dieſes ſich ſelbſt gleiche, daher auch die Polyphonie bevorzugende
Feſtſtehen allgemeiner Grundformen nicht; er iſt noch weit weniger als der
ſtrenge Styl blos poſitiv formal, formenvorführend, er geht ganz entſchieden
mehr auf die Form überhaupt als auf gleichmäßige Anwendung und regel-
rechte Durchführung beſtimmter Formengattungen, weil mit dem Hohen und
Idealen das Enge, Beſchränktmethodiſche ſich nicht verträgt, das in ſchlecht-
hiniger Unterwerfung unter gegebene Formen liegen würde, er braucht
dieſelben auch, um große, breite, feſte Grundverhältniſſe an ihnen zu haben,
die der Tonbewegung einen Typus und Ausdruck des Ernſten und Gewich-
tigen verleihen, aber er gebraucht ſie nur ſo weit, als ſie dieß leiſten, er
hat mit dem ſtrengen gemein die Vermeidung der Individualiſirung, aber
er ſtrebt mehr nach Großheit, maaßvoller Einfachheit, reiner Durchſichtig-
keit überhaupt als nach Anwendung künſtlicherer Behandlungsarten, ja er
wählt gerne einfachere Formen (wie z. B. Mozart in der Zauberflöte), um
mehr plaſtiſche Klarheit und idealen Schwung, den der ſtrenge Styl immer
bis zu einem gewiſſen Grade niederhält, zu gewinnen. Indeß findet hier
zugleich der Unterſchied ſtatt, daß der hohe Styl der künſtlichern Formen
ſich noch mehr als der ideale bedient, weil er vorzugsweiſe dahin ſtrebt, die
ganze Bewegung in feſten Maaßen und Schranken zu halten und damit
alles Leichte, zu Bewegliche von ihr zu entfernen, ihr nicht nur Gewicht,
[974] ſondern auch entſchieden hervortretende Würde zu verleihen; der ideale Styl
dagegen, namentlich wo er zum eigentlich ſchwungvollen wird, bedarf gerade
eine gewiſſe Leichtigkeit der Bewegung, denn es liegt in ſeinem Weſen, die
Form bereits zu größerer Freiheit zu entlaſſen und eben durch dieſe, doch
zugleich in reiner Klarheit, in gehaltener Gemeſſenheit und Geſetzmäßigkeit,
in ruhiger, kunſtloſer Einfachheit dahinſchwebende und dahinwallende Frei-
heit der Bewegung dem Ganzen das Gepräge der Idealität, d. h. nicht
blos einer negativ erhabenen Hoheit, ſondern auch einer poſitiven Hebung
und Gehobenheit aufzudrücken, die in jedem Tone und Accorde frei beweg-
tes, frei ſich aufſchwingendes Leben athmet. Anmuthig, reizend,
draſtiſch wird der Styl durch feine und berechnete Durchbildung des Fluſſes
und Schmelzes der Melodie, der Stimmführung, der Uebergänge, der Har-
monie, der Verzierungen, durch chromatiſche Fortgänge, durch wollüſtig oder
gelind ſpannende Accorde, nach anderer Seite durch ſchlagende, überraſchende
Harmonieen und Rhythmen; hier wendet ſich die Form der verſchönernden
Pflege des Einzelnen zu, es iſt nicht mehr die Form als feſtes Maaß,
ſondern als kunſtreiche Formirung, welche das ſpezifiſch Muſikaliſche des
formellen Wohllauts, der frappanten Erregung auf die höchſte Stufe der
Ausbildung zu bringen ſucht. Dem ſtrengen Styl gegenüber gehört natür-
lich der anmuthige, reizende, draſtiſche Styl ſchon auf die Seite des freien;
aber er iſt, wenn er wirklich conſequent durchgeführt wird und nicht etwa
blos (wie bei Mozart) neben und am ſchönen Styl erſcheint, doch nicht
der ganz freie Styl, er hat auch einen Formaliſmus, nur von anderer
Art als der ſtrenge Styl ihn hat. Unter freiem Styl verſtehen wir
dem ſo eben Bemerkten gemäß nicht blos den ungebundenen im Gegenſatz
zum gebundenen, ſondern den überhaupt nichtformaliſtiſchen, einfachen Styl;
er begreift einerſeits die weiter folgenden Stylarten als beſondere Arten
unter ſich, tritt aber andrerſeits ihnen auch wieder als eigene Species gegen-
über, ohne jedoch alle und jede Verbindung mit ihnen auszuſchließen, da
er eine ſolche bedarf, um nicht zu leicht zu werden, ſondern nebendem auch
beſtimmtere Farbe und Haltung zu erlangen; als für ſich beſtehende Species
tritt er namentlich in der recitativiſchen Muſik auf, wo dieſe nicht auf
ſpezifiſchen Ausdruck, ſondern blos auf allgemein gehaltenen muſikaliſchen
Vortrag eines eigentlicher Compoſition nicht fähigen Wortinhaltes ausgeht.
Ausdruck kann natürlich keiner wirklichen Muſik, weder der ſtrengen und
hohen noch der anmuthigen ganz fehlen, da alle Muſik Kunſt der Empfin-
dung iſt; aber es iſt darum nicht jede Muſik ſpezifiſch Muſik des Ausdrucks;
der ausdrucksvolle, ausdrucksreiche Styl beginnt doch erſt da, wo
wie die leichtern ſo auch die formalen Stylarten aufhören, da beide das
beſondere, volle Heraustreten einzelner Erregungen, Stimmungen und Stim-
mungsmomente verſchmähen, bei welchem die Muſik ganz nur Abbild des
[975] Gefühles ſelbſt ſein und dieſes in ſeiner ganzen drängenden Wärme und
treibenden Lebendigkeit darlegen will. Sobald daher der ausdrucksreiche Styl
entſchieden fortgeht zu dem gefühlsweichen, gefühlsſeligen, ſentimentalen
und rührenden oder zu dem erregtern pathetiſchen Styl, ſo tritt er
ſogleich in vollen Gegenſatz zu der männlichen Ernſthaftigkeit des ſtrengen
und zu der ruhenden Großheit des hohen, ſowie auch zu der maaßvollen
Haltung des idealen Styls; er nähert ſich dem graziöſen und draſtiſchen
Styl, bleibt aber dadurch von ihm qualitativ verſchieden, daß er nicht die
ſpezifiſchmuſikaliſche Form als ſolche cultivirt und ſteigert, ſondern ſie ledig-
lich als Mittel benützt, um einen Inhalt durch ſie zu veranſchaulichen, Tiefe
der Empfindung, Freude und Schmerz, Wonne und Trauer, elegiſche Rüh-
rung, Zorn und Liebe, ſtolzes Pathos und heftigen Affect in ſie zu legen.
Zum idealen Styl, der ſich zum Natürlichen, ſcharf Charakteriſtiſchen nicht
herabläßt, wie der hohe nicht zum Paſſiven und Weichen, ſteht ſpezifiſch
entgegen der charakteriſirende, zeichnende, malende Styl. Hier
ſchreitet die Muſik bis zu den äußerſten Grenzen des ihr Möglichen fort, ſie
wird darſtellend, objectivirend, ſie wird epiſche, dramatiſche, orcheſtiſche,
Natur und Individualitäten ſchildernde Charakter- und Genremuſik, die
ſich natürlich je nach Bedarf mit dem energiſchen, für Darſtellung von
Maſſenbewegungen geeigneten ſtrengen Styl, ebenſo mit dem anmuthigen,
draſtiſchen, ausdruckreichen verbindet. Der ſchöne Styl iſt der freie,
Anmuth, Reiz und Effect nie einſeitig erſtrebende, auf Ausdruck bedachte,
aber ihn von einſeitigem gefühligem Sichvordrängen zurückhaltende, gemüth-
reiche, aber nicht ſentimentaliſirende, das Charakteriſtiſche, Individuelle,
Naturaliſtiſche mit dem reinen Duft gehobener und frei ſchwebender Idea-
lität umgebende, auch die ſtrengen Formen mit Abſtreifung ihrer abſtracten
Regelmäßigkeit frei in ſich verarbeitende Styl, der nichts, was die Muſik
an Formen und Mitteln bietet, verſchmäht, ebenſo aber Alles zu in ſich
geſättigter, abgerundeter, klarer Einheit zuſammenfaßt. Er befriedigt zwar
für ſich allein nicht alle Anforderungen, da man das Hohe und Ideale,
das Charakteriſtiſche, das Anmuthige u. ſ. w. nicht blos als Element,
ſondern auch in eigener ſelbſtändiger Ausprägung vernehmen will, aber er
iſt der Gipfel des muſikaliſchen Styls durch ſeine Univerſalität, durch ſeine
allſeitige Vollendung und durch die Selbſtbeſchränkung, mit welcher er überall
der Form, dem directen Idealiſmus, der in der Muſik nun einmal Haupt-
ſache iſt, Rechnung zu tragen weiß.
Die mannigfaltigen Miſchungen und Combinationen der verſchiedenen
Stylarten noch weiter der Reihe nach aufzuzählen, iſt überflüſſig, da ſie ſich
von ſelbſt ergeben, und da zudem von ſelbſt klar iſt, welche Stylarten ver-
bunden werden können und welche nicht. Der ſtrenge Styl kann höchſt
charakteriſtiſche und pathetiſche Gedanken in die feſten Formen hüllen, von
[976] denen er keinen Schritt breit abweicht, obwohl er nur dann ganz er ſelbſt
iſt, wenn er ſeine Gedanken einfach wählt und lediglich den Ernſt und die
Kraft, die in der Beugung alles Individuellen unter die Form liegt, her-
vorzukehren ſich zur Aufgabe macht. Der hohe Styl dagegen verſchmäht
zwar nicht alles Pathos, aber alle naturaliſtiſche Charakteriſtik ſowie den
Reiz und das gefühlig Ausdrucksreiche, und es gibt daher nichts Wider-
ſprechenderes und Widerlicheres als die Ausartung der hohen, z. B. der
religiöſen Muſik in graziöſe Sentimentalität. Ueber das für die Muſik
beſonderes wichtige Verhältniß des ausdrucksvollen, die Empfindung unmittel-
bar wiedergebenden (ſubjectiven) Styls zum charakteriſtiſchen, darſtellenden
(objectiven) Styl wird mehr die Rede ſein aus Anlaß der Betrachtung des
Verhältniſſes von Vocal- und Inſtrumentalmuſik, zu der nun mit der Lehre
von den Zweigen überzugehen iſt. Ebenſo kann der Unterſchied zwiſchen
religiöſer und weltlicher Muſik, von denen die erſtere Strenge Hoheit und
Idealität mit Innigkeit und charakteriſtiſcher Mannigfaltigkeit des Gefühls-
ausdrucks vereinigt, die letztere aber alle Stylarten und unter ihnen wieder
insbeſondere die freiern und leichtern miſcht und combinirt, erſt im Fol-
genden ſeine Stelle finden.
b.
Die Zweige der Muſik.
§. 794.
Bei der Eintheilung der Muſik in Gattungen und Arten iſt zunächſt zu
Grunde zu legen der Unterſchied des Materials, durch welchen die Geſammt-
muſik in zwei große Zweige, Vocal- und Inſtrumentalmuſik, zerfällt.
Dieſer Eintheilungsgrund iſt kein blos äußerer, da das Auseinandergehen der
Muſik in dieſe beiden Gattungen auf einem innern Momente, auf dem Streben
neben der ſubjectiv unmittelbaren Form des Geſangs auch die objectiv freiere
Form des Inſtrumentenſpiels zu haben, beruht; und er iſt zugleich der höchſte
Eintheilungsgrund, da die Muſik als Kunſt der Subjectivität, der empfindenden
Phantaſie in erſter Linie nur eben danach ſich in ſich ſelbſt unterſcheiden und
gliedern kann, ob die Form der ſubjectiven Unmittelbarkeit, des einfachen
Empfindungsausdrucks rein feſtgehalten, oder ob ſie nach der Seite des Objec-
tiven hin fortgebildet wird durch Hinzunahme verſchiedenartiger äußerer Muſik-
organe, welche der Phantaſie einen Kreis von freiern, mannigfaltigern Dar-
2.ſtellungen des Seelenlebens eröffnen. Dieſer Unterſchied von ſubjectiver und
objectivſubjectiver Muſik tritt aber ſodann auch innerhalb der beiden Haupt-
gattungen wiederum in beſonderer Weiſe auf; die Vocalmuſik kann vermöge
[977] ihrer Anlehnung an die Poeſie neben der abſtract ſubjectiven (lyriſchen) auch
eine objectivere, mehr darſtellende (epiſche, dramatiſche) Haltung annehmen,
ohne damit aus ihrer ſubjectiven Unmittelbarkeit herauszutreten; die Inſtru-
mentalmuſik kann desgleichen das Lyriſche in ihrer Weiſe und mit ihren Mitteln
reproduciren, ohne den ihr weſentlichen objectivern Typus einzubüßen, und
ebenſo iſt auch eine Combination der beiden Hauptgattungen möglich ſowie zur
Vollſtändigkeit der Formen muſikaliſcher Darſtellung nothwendig, mit welcher
eine dritte, Geſang und Inſtrumente vereinigende Gattung
gegeben iſt.
1. Die Doppelheit des Materials, mit welchem die Muſik arbeitet,
veranlaßt ihr Auseinandergehen in zwei Hauptgattungen, durch deren con-
crete, zu den mannigfachſten Combinationen ſtoffgebende Eigenthümlichkeit
ſie gewiſſermaßen entſchädigt wird für die engen Schranken der Subjectivität,
in welchen ſie ſich den andern Künſten gegenüber bewegen muß. Die
Inſtrumentalmuſik iſt, wie der folgende §. näher zeigen wird, objectiverer
und freierer Art als die Vocalmuſik, wie denn ſie ſelbſt und ihre vollkom-
menere Ausbildung aus nichts Anderem hervorgegangen iſt, als aus dem
durch Entdeckung tönender Körper angeregten Beſtreben, mannigfaltigere,
beliebiger handzuhabende Muſik zu beſitzen, als der bloße Geſang ſie bietet,
und dieſe zweite Art von Muſik zu einer Begleitung von Handlungen
(Proceſſionen, Opfern, Tänzen, Märſchen u. ſ. w.) anzuwenden, welche in
dieſer Art und dieſem Umfang die in ihren Mitteln viel beſchränktere Men-
ſchenſtimme weder ausführen kann noch auszuführen beſtimmt iſt. Der
äußere Eintheilungsgrund iſt alſo zugleich ein innerer; die Vocalmuſik iſt
naturwüchſige unmittelbare Empfindungsmuſik, die Inſtrumentalmuſik tech-
niſch vermittelte, mannigfaltiger malende Darſtellungsmuſik; jene iſt rein
ſubjectiv, dieſe objectivſubjectiv. Schon die zuſammengeſetztern Kunſtformen
ſtellen im Gegenſatz zur einfachen Melodie einen ähnlichen Fortſchritt vom
rein Subjectiven zum objectiv Concreten, Geſtaltenreichern dar; wie ſich
ſchon dort die Muſik nach dem Geſetze, daß die Subjectivität über den
einfachen Stimmungsausdruck zu reichern und vermitteltern Geſtaltungen
hinſtrebt, in eine Reihe verſchiedener Hauptformen gliederte, ſo theilt ſie
ſich nach demſelben Geſetz ein in zwei Gattungen, deren jede alle dieſe
Formen wiederum innerhalb ihrer ſelbſt auftreten laſſen kann. Aus letzterem
Umſtande folgt zugleich, daß der Unterſchied von Vocal- und Inſtrumental-
muſik logiſch das oberſte Eintheilungsprinzip iſt; denn es iſt das allgemeinſte,
jede dieſer beiden iſt in ihrer Art die ganze Muſik, während jene Formen
nur ſpezielle Arten muſikaliſcher Kunſtwerke ſind.
2. Der zweite Satz des §. iſt im Bisherigen namentlich durch Das-
jenige eingeleitet, was in §. 793 über den Unterſchied des plaſtiſchen und
[978] malenden Styls geſagt ward; er findet ebenſo ſeine Vorbereitung in der
Lehre von den Kunſtformen, in welchen uns bereits noch ganz abgeſehen
von der Unterſcheidung zwiſchen Vocal- und Inſtrumentalmuſik der Unter-
ſchied rein ſubjectiver und concret objectiver Muſikarten entgegentrat. Die
Vocalmuſik kann mit Hinzunahme eines erläuternden Textes auch malen,
individualiſiren, wie z. B. in der Arie gegenüber vom Liede, das in der
einfachen Stimmung bleibt; die Inſtrumentalmuſik kann auch ſingen, indem
ſie eines ausgedehntern Gebrauchs ihrer Mittel ſich begibt und ſich auf
unmittelbaren Gefühlsausdruck concentrirt, und doch iſt hiemit der Grund-
unterſchied nicht aufgehoben; charakteriſtiſch malender Geſang bleibt doch
Geſang, unmittelbarer und einfach natürlicher Herzenserguß des ſeine ei-
genen Empfindungen hier nur beſtimmter als im Liede kundgebenden In-
dividuums, ſelbſt das erzählende Recitativ nicht ausgenommen, Inſtrumen-
talgeſang bleibt immer Inſtrumentenſpiel (S. 892), aus der unmittelbaren
Subjectivität hinausverlegtes, künſtleriſch innerhalb einer andern Gattung
reproducirtes Lied, Bild des Lieds, nicht dieſes ſelbſt; epiſchdramatiſcher
Geſang iſt doch immer Lyrik, wie Romanze und Ballade, Inſtrumental-
lyrik bleibt immer ein charakteriſtiſches, maleriſches Tonbild, das uns als
einzelne neben andern ſtehende Form der ihrem ganzen Weſen nach charak-
teriſtiſchern und formenreichern Inſtrumentalmuſik anſpricht, die Geſangs-
lyrik aber keineswegs erſetzt oder als gleich mit ihr gefühlt wird. Das
Genauere über dieſe Unterſchiede iſt der Beſprechung des Speziellen vorzu-
behalten; daſſelbe gilt von dem, was der §. über die dritte, Geſang und
Inſtrumente vereinigende Gattung ſagt, deren Weſen erſt nach der beſtimmtern
Erörterung des Verhältniſſes der beiden Hauptarten eingehender behandelt
werden kann.
§. 795.
Weitere Neben- und Unterabtheilungen beruhen theils auf den Unter-
ſchieden der „Formen des muſikaliſchen Kunſtwerks“ (§. 781 — 791), die
innerhalb der beiden Hauptgattungen wieder beſonders geartet auftreten, und
auf den Unterſchieden der Style, theils auf der Verſchiedenheit der Stoffe,
welche letztere mehr für die Vocal- als für die Inſtrumentalmuſik umfaſſende
Bedeutung hat, übrigens auch in dieſer wie in jener ſich wiederum mannigfach
differenzirt.
Ein- und mehrſtimmige, homophone und polyphone, einfache und
mehrtheilige (cycliſche) Vocal- und Inſtrumentalmuſik treten neben einander
auf, und die Zahl dieſer Arten vermehrt ſich namentlich durch die ver-
ſchiedenen Anwendungen und Combinationen der Inſtrumente. Die Styl-
[979] arten ergeben gleichfalls verſchiedene Arten von Tonſtücken und Tonwerken.
Aber gerade bei der nähern Beſtimmung und Gliederung hievon kann von
einem andern, materiellen Eintheilungsprinzip, vom Prinzip des Stoffes,
nicht abgeſehen werden. Die Differenz der Stoffe, der mannigfachen Empfin-
dungsunterſchiede (Luſt und Unluſt u. ſ. w.), der verſchiedenen Gefühls-
und Stimmungskreiſe und zwar namentlich der für die Muſik (§. 750, 2.)
ſo wichtige Unterſchied zwiſchen Religiöſem und Weltlichem ſowie zwiſchen
den einzelnen Gebieten des letztern greift ſo weit durch alle, auch durch
die Inſtrumentalzweige hindurch, daß die durch die Unterſchiede der Kunſt-
formen und Style begründeten Arten ſtets zugleich dem einen oder andern
ſtofflichen Zweige zufallen, ja aus der Verſchiedenheit der Stoffe ſelbſt erſt
ſich herausbilden und daher dieſe immer mitzuberückſichtigen iſt. Die religiöſe
Muſik fordert ſo ſpezifiſch hohe Idealität des Styls und Innigkeit des
Ausdrucks ohne ſubjective Sentimentalität und individualiſtiſche Stimmungs-
nüancirung, daß ſie ihren Erzeugniſſen einen ganz beſondern Charakter
aufdrückt, der nur im Oratorium eine Verbindung mit der freiern Schön-
heit, Anmuth und Bewegtheit des weltlichen Styls eingeht, und ſie breitet
ſich zugleich zu einer Mannigfaltigkeit von Unterarten aus, die insgeſammt
wieder ihre Eigenthümlichkeit haben; die weltliche Muſik hat größere for-
melle Mannigfaltigkeit, aber ſie umfaßt auch materiell ſo verſchiedene
Sphären, Ernſt und Scherz, Tragik und Komik, allgemeinere Gefühls- und
Stimmungsſchilderung und daneben wiederum concrete Gebiete, wie Krie-
geriſches, Tanz, Idylle, daß ſich für ſie auch hieraus die mannigfachſten
Beſonderungen ergeben. Dieſe beſondern Unterarten religiöſer und welt-
licher Muſik geben den Formen- und Stylarten erſt ihre Erfüllung mit be-
ſtimmtem Inhalt und Charakter, und es müſſen daher bei der ſpeziellen
Zweiglehre immer beide Hauptgeſichtspunkte, die formellen und materiellen,
mit einander verknüpft werden. Es ergibt ſich von ſelbſt, daß die Ein-
theilung nach materiellen Geſichtspunkten vor Allem für die Vocalmuſik
wichtig iſt, weil ſie mit dem Inhalte, den ſie ausdrückt, ſo ganz und un-
mittelbar verwachſen iſt; z. B. gerade der Unterſchied des Religiöſen und
Weltlichen iſt für die Vocalmuſik feſter abgegrenzt, tritt in ihr ausgeprägter
hervor, als in der Inſtrumentalmuſik, die für ſich allein mehr das Ideale,
Feierliche, Ausdrucksvolle überhaupt als das ſpezifiſch Religiöſe, Kirchliche
darſtellen kann; in der Inſtrumentalmuſik wiegen die formellen Eintheilungs-
prinzipien vor, ihr eigenthümliches Gebiet iſt eben die Formenmannigfal-
tigkeit, aber auch bei ihr iſt das Materielle keineswegs untergeordnet, wie
ſich dieß z. B. einfach daraus ergibt, daß der Unterſchied des Ernſten und
Scherzhaften gerade für die Gliederung der hauptſächlich auf reiche Form-
entwicklung angelegten größern Inſtrumentalwerke von ſo weſentlicher Be-
deutung iſt.
[980]
§. 796.
Der Unterſchied zwiſchen Vocal- und Inſtrumentalmuſik iſt dem zwiſchen
einfacher und zuſammengeſetzter Kunſtform in gewiſſer Oeziehung analog; er
kommt nämlich darauf zurück, daß die Vocalmuſik die ſubjectivere, aber un-
mittelbarere, gebundenere, weniger formenreiche, die Inſtrumentalmuſik die
objectivere, aber freiere, beweglichere und mannigfaltigere Muſikform iſt.
Sowohl die Erörterung des Tonmaterials als insbeſondere die Be-
trachtung der einfachern und zuſammengeſetztern Muſikformen führte ſchon
früher mehrmals zur Berührung des Unterſchiedes zwiſchen Vocal- und
Inſtrumentalmuſik. Jene Formen ſind zwar durch dieſe Theilung nicht erſt
bedingt, ſondern unabhängig von ihr, aber ſie ſtehen zu ihr in weſentlicher
Beziehung, indem ſich nicht alle Hauptformen gleich gut und gleich voll-
ſtändig in Vocal- und in Inſtrumentalmuſik verwirklichen laſſen, ſondern
die einen mehr auf jene, die andern mehr auf dieſe angewieſen ſind. Was
der eigentlichen Melodie näher ſteht, ſei ſie nun einſtimmig oder mehr-
ſtimmig, homophon oder polyphon, fällt der Vocalmuſik, was nicht mehr
einfach melodiſch, ſondern melodiös, figurirt iſt, der Inſtrumentalmuſik vor-
zugsweiſe anheim, und zu dieſem Unterſchiede treten nun die weitern, jedoch
verwandten Momente hinzu, daß die Vocalmuſik überhaupt weniger for-
menreich, mehr für unmittelbaren ſubjectiven Gefühlserguß beſtimmt, die
Inſtrumentalmuſik dagegen ſowohl durch die Mannigfaltigkeit und charakte-
riſtiſche Eigenthümlichkeit der Organe, die ihr zu Gebote ſtehen, als durch
die größere Freiheit der Handhabung derſelben zu den verſchiedenartigſten,
nüancirteſten, bewegungsreichſten Tonſchöpfungen, ſowie zu einer über den
bloßen Gefühlsausdruck hinausgehenden objectivern Darſtellung muſikaliſcher
Gedanken befähigt iſt.
„Singen“ und „Spielen“ iſt (vgl. S. 892) der populäre, in der
That höchſt treffende Ausdruck für die beiden Muſikarten. Die Vocalmuſik
ſingt; ſie entſteht dadurch, daß eine Empfindung unmittelbar ſich äußert,
und ſie enthält und will nichts Anderes, als eben dieſe unmittelbare Em-
pfindungsäußerung. Sie iſt ſomit durchaus innerlich, ſubjectiv; denn die
Empfindung, die innere Bewegung tritt in ihr wirklich ſo ganz und gar
unmittelbar heraus, wie ſie nur überhaupt in der Kunſt heraustreten kann,
und eben nur dieſes Heraustreten-, Lautwerdenlaſſen eines Gefühls iſt der
Zweck; der Singende will ſeinem Gefühle freien Lauf verſtatten und Sprache
verleihen, der Hörende will im Geſang eben dieſes ſich unmittelbar äußernde
Gefühl vernehmen, allerdings zugleich in ſchöner Form, aber doch in ſolcher
Form, die nichts als die ſich vernehmenlaſſen wollende Stimmung oder
Empfindung ſelbſt zum Inhalte hat. Schärfere, ſpeziell darſtellende (ma-
[981] lende) Charakteriſirung einzelner Momente, concretere harmoniſche und rhyth-
miſche Kunſt, ſowie auch Darlegung rein formeller Geſangskunſt (Virtuo-
ſität) iſt nicht ausgeſchloſſen, aber dieß Alles kann hier nur in beſchränkterer
Weiſe erreicht werden, da das Naturorgan auf kunſtreichere, figurirtere Be-
wegungen nicht oder nur in geringerem Grad angelegt und vor Allem auf
den Ausdruck angewieſen iſt; dieſer iſt im Geſang das Weſentliche; der
Geſang muß vor Allem, was er von Natur iſt, ſein und bleiben, ſeeliſch,
in die Empfindung verſenkt, ſie unmittelbar aushauchend; die tönebil-
dende Phantaſie dient hier dem Empfinden blos als Mittel
der Aeußerung ſeiner ſelbſt. Die Inſtrumentalmuſik dagegen ſpielt;
die empfindende Phantaſie hat hier ein Organ vor ſich, an dem ſie die
Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr geworden oder dem dieſelbe durch ab-
ſichtliche Technik gegeben iſt; dieſes Organ ſetzt ſie in Bewegung, wohl
auch getrieben durch das Gefühl, das ſich in Tönen ausſprechen will, aber
die Empfindung tritt doch nicht ſo unmittelbar und nicht ſo ſich ſelbſt gleich
heraus, wie im Geſang; das äußere Werkzeug folgt nicht ſo unmittelbar
dem innern Gefühle, ſchmiegt ſich ihm nicht ſo rein und unbedingt an wie
das Stimmorgan, etwas von der Unmittelbarkeit des Ausdrucks oder etwas
von Innigkeit geht bei der mechaniſchen Uebertragung der muſikaliſchen
Empfindung auf das Organ, das zudem als materielle Maſſe Widerſtand
entgegenſetzt, immer verloren, und das Organ iſt immer ein Selbſtändiges,
das zunächſt ſeinen eigenen, nicht des Menſchen Ton von ſich gibt und
ſomit auch nur ein Abbild, nicht aber den directen Ausdruck der den Menſchen
bewegenden Stimmung geben kann. Sodann ſteht der Spielende den Tö-
nen ſeines Organs freier gegenüber als der Singende; er iſt nicht ſelbſt
in den Ton, den er hervorbringt, verſenkt, nicht unmittelbar mit ihm ver-
wachſen, ſondern er hat ihn ſich gegenüber als ein Anderes, er verhält ſich
zu ihm nicht unmittelbar producirend, ſondern weit mehr zugleich reflectirend,
beobachtend, die Töne des Inſtruments treten ihm abgelöst von der eigenen
Subjectivität als Figuren, Bilder gegenüber, deren Geſtalt und Bewegung
die Phantaſie neben dem daß ſie ſie producirt weit freier verfolgen kann
und wirklich mit ſpezifiſchem Intereſſe verfolgt, weil es eben Figuren, Bilder
ſind. Die Phantaſie iſt alſo hier weit mehr für ſich thätig als beim Ge-
ſang und erhebt weit mehr Anſprüche darauf, daß auch ihr etwas ſie ſpe-
zifiſch Angehendes geboten werde. Kurz, nicht Gefühlserguß, ſondern min-
deſtens ebenſoſehr Phantaſiebeſchäftigung iſt hier Zweck; die Tonbilder ſollen
allerdings, weil Töne nichts Anderes als Gefühle malen können, durchaus
Abbilder einer Gemüthsſtimmung ſein, aber ausgeführtere, ſelbſtändigere,
durch concretere Formen und Figuren die Phantaſie als ſolche anregende,
beſchäftigende, in freie Thätigkeit, „freies Spiel“ verſetzende Bilder. Endlich
bieten die Inſtrumente dem Spieler durch ihre leichtere, beliebigere Hand-
[982] habung eine ſo reiche Möglichkeit hervorzubringender Figuren und Bewe-
gungen und durch ihre charakteriſtiſchen Eigenthümlichkeiten eine ſo große
Verſchiedenheit von Klangfarben an, daß ſie auch nach dieſer Seite die
Phantaſie für ſich in Anſpruch nehmen und in Thätigkeit verſetzen; ſie reizen
die Phantaſie zu mannigfaltigerer, namentlich rhythmiſcher Formenproduction,
die über das bloße Gefühlsäußerungsbedürfniß weit hinausgeht, und dieſe
Formenproduction beſchäftigt ebenſo auch die Phantaſie des Hörers in gleicher
Selbſtändigkeit und Unabhängigkeit. Mit Einem Worte: die Inſtrumental-
muſik iſt nicht bloßer Gefühlserguß, ſondern auch Phantaſieſpiel, ſie iſt nicht
bloße Sprache des Herzens, ſondern auch objective Bethätigung des Ver-
mögens der empfindenden Phantaſie zur Hervorbringung mannigfaltiger,
für ſich ſelbſt gefälliger und bedeutſamer Tonformen und Toncombinationen
oder (S. 921.) muſikaliſcher Gedanken; ſie iſt freie Thätigkeit, die über
dem Gegenſtande ſchwebt, Thätigkeit der Phantaſie, die nicht blos dem
Gefühle dient, ſondern auch des Gefühles ſich als Stoffes be-
dient, deſſen künſtleriſche Abbildung oder Darſtellung ihr
ſelbſt Zweck iſt, ſie verfährt freier, wie ſie an ſich ſelbſt betrachtet freier,
mannigfaltiger, beweglicher, formenreicher iſt als der Geſang. Die Vocal-
muſik iſt ſubjectiv, die Inſtrumentalmuſik in der Subjectivität zugleich objectiv;
jene iſt Aeußerung des Gefühls, dieſe Darſtellung, welche die Darſtellung,
die Form zugleich zum Selbſtzweck macht; jene kommt aus der Innerlich-
keit und ihrem einfachern Ausdruck nie ganz heraus und ſoll es auch nicht,
dieſe aber geht weiter zu den mannigfachſten Bewegungsformen und Klang-
figuren, die überhaupt denkbar ſind, und bildet dieſe in ſelbſtändiger Weiſe
ungehemmt aus, wie und wieweit ſie es irgend vermag. Der Gegenſatz
iſt kein ausſchließender; wie der Geſang auch bis zu einem gewiſſen Grade
das Moment der ſpezifiſchen Form, der Charakteriſtik, der melodiöſen Figuren,
der polyphonen Künſtlichkeit in ſich aufnehmen kann, ſo kann ja auch die
Inſtrumentalmuſik einfach melodiſch ſein; aber es iſt das nicht ihr eigen-
thümliches und wichtigſtes Gebiet, ſie iſt und bleibt Spiel, freie und man-
nigfach charakteriſtiſche Formenerzeugung; die Vocalmuſik iſt plaſtiſch, die
Inſtrumentalmuſik maleriſch; jene iſt Natur in Form der Kunſt, die nicht
mehr gibt als die Haupt- und Grundzüge der Natur, dieſe aber iſt Kunſt,
welche die Natur in feinſter und individualiſirteſter Ausarbeitung der ſie
darſtellenden Formen und Farben zeigt und hierin ihre Hauptaufgabe hat.
— Der Unterſchied zwiſchen Vocal- und Inſtrumentalmuſik beruht ſomit
ſchließlich auf nichts Anderem, als darauf, daß die zwei Elemente, die in
der Muſik als Kunſt der „empfindenden Phantaſie“ enthalten ſind, Em-
pfindung und Phantaſie, aus einander treten, ſich gewiſſermaaßen verſelb-
ſtändigen, ein Unterſchied, der jedoch die Einheit nicht aufhebt, und zwar
weder die unmittelbare, indem, wie eben bemerkt, auch die Vocalmuſik in
[983] die freiere Sphäre der Inſtrumentalmuſik hinübergreift wie dieſe in die der
Vocalmuſik, noch die mittelbare, indem beide mit einander zuſammentreten
und gerade in dieſer Vereinigung, in der ſie ſich gegenſeitig verſtärken, heben
und ergänzen, ebenſo großartige als charakteriſtiſche Geſammtwirkungen her-
vorbringen können.
§. 797.
Die Vocalmuſik iſt zwar inſofern nicht reine Muſik als der Geſang des
Hinzutretens eines das Gefühl erklärenden Textes bedarf; aber ſie repräſentirt
nach einer andern Seite doch das eigentlich Muſikaliſche, ſofern ſie auf unmit-
telbaren Gefühlsausdruck ſich beſchränkt, wogegen die Inſtrumentalmuſik mit
ihrer objectivern, phantaſiereichern Richtung auf Hinſtellung ſelbſtändigerer For-
men bereits dem Typus anderer, nämlich der darſtellenden Künſte ſich anzu-
nähern beginnt.
Schon in §. 749 und 764 iſt die einſeitige Anſicht abgelehnt, als
hätte die Muſik blos mit Formen, muſikaliſchen Figuren, nicht aber mit
wirklichem Gefühlsausdruck zu thun, und als wäre ebendarum nur Inſtru-
mentalmuſik, die allerdings freier in Formen ſpielt, wirkliche Muſik. Das
dort Geſagte wird nun hier geradezu dahin weiter fortbeſtimmt, die Vocal-
muſik ſei in gewiſſem Sinne die wahre, eigentliche Muſik. Jene iſt, wie
es S. 829 heißt, nicht reine Muſik, weil ſie das Gefühl nicht in ſeiner
Reinheit, ſondern in ſeiner Verbindung mit dem begleitenden Bewußtſein
darſtellt. D. h. die Muſik tritt in ihr nicht allein, ſondern zugleich mit
der Rede auf, als Ausdruck eines beſtimmten, in der Rede ausgedrückten
Gefühles. Aber in anderer Beziehung iſt gerade dieß eigentlich Muſik,
weil hier über den Gefühlsausdruck (wofern nicht Geſangvirtuoſität Haupt-
zweck iſt) nicht hinausgegangen, nicht zu große Formbeſtimmtheit (Figuration,
Malerei) erſtrebt wird, was eben durch die begleitende Rede unnöthig iſt.
Jedes Gefühl iſt, obwohl mehr oder weniger dunkel, doch ein ſo und nicht
anders gewordenes und ſeiendes, ein ſchlechthin beſtimmtes, und es iſt da-
her (ſ. S. 791) ganz dem Weſen der Muſik entſprechend, daß ſie beſtimmt
in Worten fixirte Gefühle ſingt und daß ſie nicht ſingt ohne ſolche Fixirung;
es wirkt hiezu auch der Umſtand mit, daß es dem Weſen des Menſchen
als ſelbſtbewußten Subjects widerſpräche, blos Töne hervorzubringen, blos
Inſtrument zu ſein, der Menſch, wenn er ſingen will, muß Bewußtes,
Beſtimmtes ſingen wollen; er ſetzt entweder Worte, Gedichte in Muſik, um
ihren Gefühlsinhalt auch muſikaliſch ſich vergegenſtändlichen, um ſie auch
ſingen zu können, oder er erfindet, wenn er ſingen will, muſikaliſch com-
ponirbare Texte oder greift zu ſchon componirten, in beiden Fällen iſt ihm
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 64
[984]das Singen, aber das inhaltbewußte Singen, Selbſtzweck. So tief uns
auch die Inſtrumentalmuſik durch Reichthum, Großartigkeit, dramatiſche
Verflechtung und Fortbewegung ergreifen und ſtaunenmachen mag, ſie geht
doch über das unterſcheidende, ſpezifiſche Weſen der Muſik ſchon auch hinaus,
ſie iſt phantaſievolle Poeſie, die ſich in freiem Gedankenflug über den ein-
fachen Gefühlsausdruck erhebt, ſie iſt Malerei, die ihn mit mannigfachſten
Klangfarben umgibt, ſie iſt Zeichnung, die ihn ausſchmückt mit einem ver-
ſchlungenen Gewebe von Figurationen, deren wechſelnde Formen bereits die
Phantaſie, die innere Anſchauung, überhaupt, nicht mehr blos die em-
pfindende Phantaſie als ſolche oder die Empfindung ſelber anſprechen. Weil
ſomit hier die Muſik über ihren ſpezifiſchen Charakter hinaus ſich erweitert
und zugleich Phantaſiekunſt, allgemeine Kunſt wird, oder weil eben in der
Inſtrumentalmuſik ſich das realiſirt, was §. 542 (bei der Entwicklung des
Satzes, daß die einzelnen Künſte nur die Wirklichkeit der Kunſt an ſich
ſind und daher vielfach in einander übergreifen) geſagt iſt, daß nämlich der
Ton ſelbſt auch „als geſtaltenerzeugende Kraft“ auftritt, daß er auch für
die Phantaſie wirkt, auch vor ihr „ſchwebende Geſtalten“ aufſteigen läßt:
ſo fühlen wir uns in ihr, ſobald ſie ſich entſchieden auf dieſe letztere
Seite wendet, doch bereits an der Grenze des rein Muſikaliſchen, wir ſtehen
da gleichſam in einem Mittelgebiete allgemeinerer Gattung, in welchem wir
ſchon mehr als bloße Muſik vor uns ſehen, und da das Ganze nun doch
Phantaſieſpiel bleibt, zu keiner vollen Beſtimmtheit der Geſtalt oder des
Ausdrucks gelangt, ſondern in der Romantik des Geſtaltloſen verharrt, ſo
macht ſich am Ende gebieteriſch die Forderung der Rückkehr zu beſtimmterem
Gefühlsausdrucke geltend; von der Inſtrumentalmuſik müſſen wir ſchließlich
(vgl. S. 830.) entweder hinweg zur concretern Kunſt der reinen Phantaſie,
zur Poeſie, zu deren Einleitung und Begleitung ſie ſich ebendarum ſo treff-
lich eignet, oder wir müſſen — darum ſchloß gerade der größte Inſtrumen-
talcomponiſt ſeine letzte Symphonie in dieſer Weiſe, getrieben durch die
innere Nothwendigkeit ſein Herzensgefühl beſtimmter auszuſprechen — zurück
zum Geſange, der uns zur urſprünglichen Heimath der Muſik, zum unmit-
telbar klaren Empfindungserguſſe, zurückführt. Als „Künſtler“ überhaupt,
als Heros der Phantaſie würde der reine Inſtrumentalcomponiſt den in
ſeinem Fach gleich großen Vocalcomponiſten uns in Schatten ſtellen; aber
der größere „Muſiker“ bliebe uns doch wiederum der Letztere, weil er die
Empfindungen des Herzens im Ton uns offenbart, nicht aber vorherrſchend
an die Phantaſie ſich wendet, deren Anſprüche auch die übrigen Künſte,
nicht blos die Muſik, zu befriedigen im Stande ſind. Inwiefern die In-
ſtrumentalmuſik allerdings gerade durch ihren unendlichen Geſtaltenreich-
thum, der ſie nach der einen Seite über die Grenzen der Muſik hinauszu-
führen droht, nach der andern doch in Einem Punkte auch muſikaliſch
[985] über der Vocalmuſik ſtehe, wird §. 798 zeigen; aber im Ganzen, in ihrem
Verhältniß zur Idee der Muſik überhaupt betrachtet, kann ſie nicht über ſie
geſtellt werden; die (letztlich durch die Beethoven’ſchen Inſtrumentalwerke
veranlaßte) unbedingte Höherſtellung der Inſtrumentalmuſik gehört einer
bereits wieder im Zurückweichen begriffenen ideellen Richtung an, welche
das allgemein künſtleriſche Element einſeitig betont und hierüber die jeder
Kunſt durch ihre beſondere Natur vorgezeichneten Aufgaben und Grenzen
zu unterſchätzen geneigt iſt.
§. 798.
Aus §. 797 ergibt ſich in Betreff der Stellung der beiden Hauptgattungen,
daß die Vocalmuſik die vorangehende, den Mittelpunct bildende, die Inſtru-
mentalmuſik ſich bei- und unterordnende Gattung iſt. Sie hat vor letzterer
auch dieß voraus, daß ſie größere Reihen zuſammenhängender Tonſtücke bilden
kann, wozu jene nicht fähig iſt, weil ihr mit dem erklärenden Worte ein Haupt-
mittel zu beſtimmterem Inhaltsausdruck abgeht. Innerhalb ihrer natürlichen
Grenzen aber behauptet die Inſtrumentalmuſik eine Selbſtändigkeit, die eine
reine Ausbildung auch dieſer Gattung um ſo mehr fordert, als ihr doch der
eigenthümliche Vorzug beiwohnt, durch die Mannigfaltigkeit ihrer Formen und
Organe eine einzelne Stimmung ungleich umfaſſender, mannigfaltiger und vor
Allem freier ausführen zu können, als der bloße Geſang es zu thun vermöchte.
Die höchſte Form der Muſik iſt ebendarum eine Vereinigung beider, in welcher
die Vocalmuſik voranſteht, der hinzutretenden Inſtrumentalmuſik aber zugleich
hinlänglicher Raum gegeben iſt, um auch ihrerſeits in möglichſter Vollſtändig-
keit und Wirkſamkeit ſich zu entfalten.
Die Vocalmuſik iſt der unmittelbare, durch Anlehnung an das Wort
klare und beſtimmte und in dieſer ſo gewonnenen Beſtimmtheit ſich ſelbſt ge-
nügende Gefühlsausdruck. Mit ihr iſt die Muſik im Weſentlichen da; die
Inſtrumentalmuſik dagegen iſt eine höhere und weitergreifende Ausbildung,
welche das Weſen der Muſik, ſtatt objectiver Geſtaltenproduction blos das
Subjective der Empfindung zum Object zu machen, alles Objective in’s
fühlende Subject zurückzunehmen, nicht in ſo ſpezifiſcher Beſchränkung eben
auf dieſen Zweck wie jene verwirklicht. Die Vocalmuſik iſt ferner eben
wegen dieſer Beſtimmtheit und dieſer Subjectivität weſentlich ſelbſtändig, ſie
kann nicht als Zugabe der andern Gattung erſcheinen, da das Beſtimmtere
nicht einem Unbeſtimmten, das Subjective nicht einem Objectiven als bloßes
Accidens ſich unterordnen kann; wenn Menſchen die Staffage eines Land-
ſchaftgemäldes bilden, ſo iſt hier das Verhältniß ein anderes, der Menſch
bildet Ein Ganzes mit der Natur, er iſt ihr homogen, ja er iſt ein Theil
64*
[986]von ihr und nach dieſer Seite ihr untergeordnet, während bei Menſchenge-
ſang und Inſtrumentenſpiel dieſe Homogeneität und dieſe höhere Stellung
des zweiten Factors nicht ſtattfindet. Der Geſang läßt ſich daher von In-
ſtrumenten einleiten, begleiten, verſtärken, aber nicht umgekehrt; die In-
ſtrumentalmuſik verhält ſich zum Geſang, ſofern ſie die in ihm
hervortretenden Empfindungen noch mit weitern Formen muſikaliſcher Dar-
ſtellung umgibt, ähnlich wie er ſelbſt zu der Empfindung, die er
darſtellt; ſie tritt daher namentlich dann begleitend zu ihm hinzu, wenn er
ſelbſt, wie z. B. in der Arie, ſchon mehr in’s Einzelne und Mannigfaltige
eingeht, ſie fügt die concretere Ausführung ſolcher Stimmungsgemälde bei,
gerade wie der Geſang zur Empfindung hinzutritt, wenn dieſelbe aus ihrem
dumpfen Weben in ſich ſelbſt zu einem beſtimmtern Ausdruck ihres Inhalts
herausſtrebt. Die Anlehnung des Geſanges an das Wort hat aber noch
den weitern Vortheil, daß durch ſie allein größere „cycliſche“ Tonwerke mög-
lich werden. Längere Reihen von Inſtrumentalſätzen, wenn auch noch ſo
kunſtreich nach den Geſetzen der Abwechslung, des Contraſtes, des Bewe-
gungsrhythmus, des dramatiſchen Fortganges gegliedert, ſind eine Unmög-
lichkeit, ſie würden in Folge der Unbeſtimmtheit, die das Fehlen des Wortes
mit ſich führt, den Geiſt, der vergeblich nach Licht in dieſen geſtaltloſen
Tongeweben ſuchte, völlig abſpannen und abſtumpfen, daher ſchon Ouver-
türen und Symphonien nicht zu lang ſein dürfen; Beſtimmtheit des Textes
iſt nothwendig erforderlich, wenn die Muſik nicht auf kurze Tonſtücke be-
ſchränkt, ſondern auch zu umfaſſendern Tongebilden größeren Styls befähigt
ſein ſoll. — Allein im Gegenſatz hiezu tritt nun eben auch der eigenthüm-
liche Vorzug der Inſtrumentalmuſik hervor. Sie vermag nicht größere
Reihen von Stimmungen vorzuführen, wohl aber einzelne Stimmungen in
einer Weiſe in’s Große, Weite und Tiefe zu malen, zu der dem Geſang
die Mittel fehlen, ſie vermag die Einzelſtimmung (ſofern dieſe innerhalb
ihrer ſelbſt auch wiederum eine in’s Unendliche analyſirbare Mannigfaltig-
keit von Gefühlen, Luſt und Unluſt, Ruhe und Bewegung, Affect und
Reſignation u. ſ. w. enthalten kann) mit Hülfe der ihr zu Gebot ſtehenden
Maſſen, Klangfarben, verſtärkten Harmonieen, mannigfaltigen Rhythmen,
Figurirungen ſo ſchlechthin concret für die Phantaſie durchzuarbeiten bis
in ihre mannigfaltigſten und feinſten Wechſel, Nüancirungen, Abſtufungen,
Steigerungen hinein, daß ſelbſt der kunſtvollſte polyphone Geſang dadurch
überboten wird, wenn man nämlich von der Innigkeit des Ausdrucks ab-
ſieht, die dem Geſange ſtets vorzugsweiſe als ſein Eigenthum bleibt. Und
in dieſem Reichthum von Mitteln, Formen entwickelt ſie zugleich eine, der
Vocalmuſik wiederum verſagte, Freiheit, in der ſich ſo ſpezifiſch wie ſonſt
nirgends die Unendlichkeit des Geiſtes, die unbegrenzte Erregbarkeit und
Weite des Gefühls, die unabmeßbare Combinationskraft der Phantaſie
[987] reflectirt. Sie iſt nicht an das Naturorgan, nicht an erklärende Worte
gebunden; ſie bleibt bei aller concreten Mannigfaltigkeit doch ſtets im Un-
beſtimmten, Geſtaltloſen, im Reich der reinen Form, die den Inhalt (die
Stimmung und ihren Verlauf) blos ſymboliſch andeutet, nicht definitiv
ausdrückt; ſie bietet wohl innerlich Beſtimmtes, aber ſie ſagt es nicht, ſie
erhält ſich frei hievon, folgt nicht einzelnen Worten, Sätzen, ſondern be-
wegt ſich ungebunden, wie das Gefühl ſelbſt, bevor es ſich geſammelt und
in Worten ſich ausgeſprochen hat; ſie hat ebendamit auch ein mit der All-
gemeinheit des Denkens verwandtes Element, ſie gibt wohl viele Ton-
reihen, die an ſich gerade ſo concret ſind wie Vocalmelodieen, an Beſtimmt-
heit des Ausdrucks dieſen nichts nachgeben, aber ſie beläßt ſie ohne den
erklärenden Text, und damit läßt ſie ſie ſtehen wie allgemeine Typen, die
ſo oder anders aufgefaßt, gedeutet werden können, ſie hat auch mehr Raum
zu Tonbewegungen, die nicht eigentlich melodiſch ſind und ſo gleich von
vornherein nicht den Charakter ſpezifiſchen Gefühlsausdrucks an ſich tragen,
ſondern mehr das lebendig aufgeregte, aufgerüttelte, in Spannung ver-
ſetzte Gemüth überhaupt darſtellen, ſie muß ſich allerdings quantitativ
auf die Schilderung des Verlaufs einer einzelnen Stimmung beſchränken,
aber innerhalb dieſer hält ſie ſich mit ihren die Stimmung und deren Gang
erſchöpfend analyſirenden und doch das Qualitative, das Was des Ge-
ſchilderten blos andeutenden Tongeweben ſo ſehr im Allgemeinen, daß ſie
damit zugleich ein Abbild des in ſeine Innerlichkeit zurückgezogenen, die
allgemeinen Formen, Verhältniſſe, Verknüpfungen der Dinge an ſich vorüber-
ziehenlaſſenden Gedankenlebens wird. Der Geſang gibt die einzelne Stim-
mung direct, einfach, in wenig Worten; die Inſtrumentalmuſik dehnt ſie
aus in’s Weite und Breite, verfolgt und erſchöpft den ganzen Umkreis der
Gemüthsbewegungen, welche durch ſie hervorgerufen werden, ſchildert ſie in
den mannigfaltigſten Farben und Wendungen, und läßt zugleich Alles in
geiſterhafter Idealität; ſo kommt es, daß nicht blos das einzelne Gefühl,
ſondern das Leben des Gemüths überhaupt und nicht blos das Gemüths-
leben, ſondern auch der ganze Schwung und Reichthum der Phantaſie,
deſſen der Geiſt fähig iſt, ja ſeine eigene ideale Unendlichkeit und Freiheit
in ihr dem Bewußtſein gegenübertritt. Maleriſch ſchildernde, dramatiſch
entwickelnde und in vollkommenſter Lebendigkeit und Freiheit ſich bewegende,
die ganze Tiefe des Geiſtes und Gemüths enthüllende Darſtellung der Ein-
zelſtimmung iſt die Sphäre der Inſtrumentalmuſik; dieſe hat ſie anzubauen,
in ihr ſteht ſie da als eigene, vollberechtigte, das Tonmaterial erſt ganz
erſchöpfende, den Geſang überbietende Kunſt, und darum iſt auch nicht die
Vocalmuſik für ſich, ſondern ſie in ihrem Verein mit ihrer weniger ſeelen-
vollen, aber erfindungsreichern und mannigfaltiger ausgerüſteten Schweſter
die höchſte Form der Tonkunſt überhaupt. Es muß auch Kunſtwerke geben,
[988] in welchen die ganze Muſik mit allen Mitteln und Formen zuſammenwirkt,
alſo Kunſtwerke, die beide Gattungen vereinigen; in dieſer Einheit gehört
der Vortritt der ſelbſtbewußtern, klar vom Herzen zum Herzen redenden
Vocalmuſik, aber auch der andern muß es geſtattet ſein, ihren Reichthum
und ihre Kraft und Freiheit ungehemmt, ſo weit die Einheit es erlaubt,
zu entfalten, wenn ein vollſtändiges, uns ganz ausfüllendes, alle unſere
geiſtigen Kräfte in Anſpruch nehmendes und befriedigendes muſikaliſches
Kunſtwerk entſtehen ſoll. In der concreten Formenfülle der Inſtrumental-
muſik iſt es dann endlich auch begründet, daß ſie für die Vocalmuſik in
vielen Fällen unentbehrlich wird; ſobald die Vocalmuſik aus dem Gebiet des
einfach innigen Stimmungsausdrucks herausgeht, bedarf ſie inſtrumentaler
Begleitung, um mehr Fülle und Anſchaulichkeit zu gewinnen, und ſo zeigt
es ſich auch hieran, daß nicht Trennung beider Gattungen und einſeitige
Ueberſchätzung der einen oder andern, ſondern harmoniſche Vereinigung
beider die höhern künſtleriſchen Zwecke der Muſik erreichen hilft. — Das
Verhältniß der Inſtrumental- zur Vocalmuſik iſt dem hier Entwickelten gemäß
auch noch mit etwas Anderem, nämlich mit dem zwiſchen Melodie und
(ſelbſtändig rhythmiſirter) Harmonie zu vergleichen; Melodie iſt Ausdruck,
Harmonie verſtärkter, erwärmter, vermannigfaltigter Ausdruck; wie eben-
darum die Melodie der Harmonie voranſteht und doch in Tiefe, Wärme
und Kraft mit ihr nicht wetteifern kann und nicht volle Muſik iſt ohne ſie,
ſo behauptet die Vocalmuſik ihrer Schweſter gegenüber den erſten Rang,
muß ſie aber als die reicher ausgeſtattete Begleiterin und Gehülfin aner-
kennen, die Vieles allein leiſten und ohne die ſie ſelbſt nicht vollkommen
das muſikaliſche Gefühl befriedigen kann.
α. Die Vocalmuſik.
§. 799.
Die Gliederung der Vocalmuſik iſt in der allgemeinen Eintheilung der
Formen des muſikaliſchen Kunſtwerks in der Hauptſache bereits vorgezeichnet;
ſie zerfällt 1) qualitativ einerſeits in einfach melodiſchen und melodiöſen,
figurirenden, andrerſeits in ein- und mehrſtimmigen, in homophonen und poly-
phonen Geſang, 2) quantitativ in für ſich ſtehenden Einzelgeſang und größere
Geſangwerke. Die weitern Unterſchiede, welche zu dieſen hinzutreten, ſind die
zwiſchen rein ſubjectiver (lyriſcher) und objectiv ſubjectiver (darſtellender, epiſcher,
dramatiſcher), zwiſchen weltlicher und religiöſer, ſowie in formeller Beziehung
zwiſchen unbegleiteter und begleiteter Vocalmuſik; ebenſo reflectiren ſich die
verſchiedenen Stylarten und die Stimmungsunterſchiede auch in der Vocalmuſik.
[989]
Die im §. angegebenen Unterſchiede ſind durch die §§. über Melodie,
allgemeine Muſikformen, Stylarten, Vocal- und Inſtrumentalmuſik hin-
länglich motivirt und vorbereitet, ſo daß ſie keiner ſpeziellern Rechtfertigung
bedürfen. In welcher Art dieſe Unterſchiede bei den einzelnen Formen ſich
vielfach kreuzen und combiniren, wird bei der Entwicklung von ſelbſt her-
vortreten. Der Unterſchied des Volks- und Kunſtgeſangs iſt in die allge-
meine Eintheilung nicht aufgenommen, da er nur innerhalb der Liedform
ſeine Geltung hat. — Ein Zweifel könnte bei einigen in den nächſten §§.
beſprochenen Formen der Vocalmuſik, die in der Regel Inſtrumentalbegleitung
fordern (Arie u. ſ. w.), darüber entſtehen, ob ſie nicht etwa erſt zur dritten
Hauptgattung gehören, welche durch Vereinigung der Vocal- und Inſtru-
mentalmuſik zu Stande kommt; allein ſo lange die letztere blos begleitend
auftritt, nicht aber zugleich ſich ſelbſtändig entwickelt und eben durch dieſe
ſelbſtändige Entwicklung ihres eigenen Weſens zum Ganzen mitwirkt, haben
wir immer noch Vocalmuſik in Vereinigung mit Inſtrumenten, nicht aber
eine Einheit beider Hauptzweige, durch welche eine ganz neue Gattung
entſteht.
§. 800.
Die erſte Stufe der Vocalmuſik iſt das Lied, das „Stimmungsbild“ der
Muſik, die einfache Melodie, welche die in ein lyriſches Gedicht niedergelegte
Stimmung in ihrer einfachen Allgemeinheit muſikaliſch wiedergibt, entweder
mehr volksmäßig natürlich, in ungebundener Weiſe vor Allem den Ausdruck
anſtrebend, oder in kunſtmäßiger, die eine oder andere Stylart principiell durch-
führender, die Tendenz auf Ausdruck jedoch gleichfalls voranſtellender Form;
endlich entweder mit oder ohne Begleitung von Inſtrumenten und Nebenſtimmen,
mit oder ohne Mehrſtimmigkeit.
Den Naturgeſang ohne Worte, das zum Jodeln ausgebildete Jauchzen,
von dem ſchon S. 816 die Rede war, übergehen wir hier und wenden uns
gleich zu der beſtimmtern Form des Liedes, die aus dem poetiſchen Liede
hervorwächst und ſelbſt wiederum es mitproduciren hilft, indem das Ge-
ſangsbedürfniß ebenſo zur Liederdichtung anregt, wie die Liederdichtung zur
Liedercompoſition weiterführt. Das Lied iſt zunächſt rein lyriſch, die Lieder-
melodie will nichts ſein als der Ausdruck der Geſammtſtimmung des Ge-
dichtes nach ihrem eigenthümlichen Charakter der Erregtheit, der Luſt, des
Scherzes, der Trauer, der Wehmuth u. ſ. w. Das Lied geht einerſeits
auf beſtimmten Ausdruck und hat eben in ihm ſein Weſen, nicht etwa in
ſelbſtändigerer Ausbildung der muſikaliſchen Form, es iſt einfache Muſik,
deren Werth ausſchließlich in dem Sprechenden, Treffenden, Charakteriſtiſchen
beſteht; aber andrerſeits bleibt es bei der Geſammtſtimmung ſtehen, es ver-
[990] folgt nicht die einzelnen Wendungen und Momente der Dichtung, es malt,
charakteriſirt noch nicht Einzelnes, ſondern es bringt gleichſam den allge-
meinen Gefühlsgehalt, der die ganze Dichtung durchdringt, auf einen
kurzen, d. h. möglichſt plaſtiſch und anſchaulich ſich abrundenden Ausdruck,
es hebt jenen Gefühlsgehalt heraus, es löst den Duft der Empfindung,
der im Ganzen weht, von ihm ab; das Lied kehrt die Seele der Dichtung
heraus, macht die Gemüthsbewegung, welcher ſie entſproſſen war, in Tönen
offenbar, es faltet den in poetiſche Worte, Gedanken, Sätze auseinander
getretenen Inhalt des Gefühls wiederum zuſammen zur einfachen Gefühls-
form, ohne das Einzelne der poetiſchen Ausführung nachbilden, muſikaliſch
veranſchaulichen zu wollen. Dieſe einfache Allgemeinheit zeigt ſich als
Grundcharakter des Liedes namentlich darin, daß es für das in mehrere
Strophen zerfallende Gedicht nur Eine in jeder Strophe wiederkehrende
Melodie hat, es bleibt ſich wie das Metrum gleich, deſſen ſtarre Form es
in den weichen Fluß der Muſik auflöst, es kann natürlich, ſofern die An-
lage des Gedichtes es geſtattet oder geradezu fordert, in einzelne Takte,
Sätze, Perioden einen beſonders charakteriſtiſchen, einen etwas erhöhten
Ausdruck und Nachdruck legen, aber es tritt im Ganzen aus den Schranken
der einfachen Melodie nicht heraus. Allein dieſer Einfachheit ungeachtet iſt
das Lied ſo mannigfaltig wie die Unterſchiede der Stimmungen und die
auf ihnen beruhenden Unterſchiede lyriſcher Dichtungen ſelbſt es ſind; ja es
ſchließt, obwohl es auf Charakteriſtik einzelner Momente der Empfindung
ſich nicht (wie die Arie) einläßt, doch einen mehr individualiſirenden Natura-
liſmus nicht aus, ſondern es theilt ſich gerade hienach in zwei Hauptklaſſen,
in das weniger concrete Stimmungen ausdrückende, einfach empfindende
und das entſchiedener charakteriſtiſche, naturaliſtiſche Lied, welche beide
wiederum die mannigfachſten Unterarten unter ſich begreifen, indem z. B.
der erſten Klaſſe Lieder angehören, deren Gegenſtand die einfachen, allgemein
menſchlichen Gefühle und Stimmungen, elegiſche Empfindungen, Liebe,
Freude, Trauer und dergleichen bilden, der zweiten Klaſſe aber die con-
cretern Arten der Geſellſchaft-, Bundes-, Feſt-, Kriegs-, Trink-, Spottlieder,
der Lieder, welche geſchichtliche Erinnerungen oder Sagen feiern (ohne damit
aus dem einfach lyriſchen Charakter herauszutreten). Wegen ſeiner Ein-
fachheit und ſeiner blos dem unmittelbaren Ausdruck des natürlichen Ge-
fühls zugewandten Innigkeit iſt das Lied etwas Naturwüchſiges, das aus
dem Leben ſelbſt ſich erzeugen kann, auch wo es noch ganz an höherer
Ausbildung der muſikaliſchen Formen fehlt; ebenſo aber läßt es auch eine
künſtleriſche Behandlung zu, und ſo entſteht der weitere ſehr wichtige Unter-
ſchied des Volks- und Kunſtlieds. Das erſtere iſt das einfachere,
ungebundenere, formloſere, indem es in ihm nur um den möglichſt ſprechen-
den und natürlichen Empfindungserguß zu thun iſt; exacte Symmetrie der
[991] Periodiſirung, ſtrenges Ebenmaaß und feinere Geſtaltung des Rhythmus,
kunſtvolle Modulation, ja ſelbſt ſtrenges Feſthalten eines beſtimmten Ton-
geſchlechts (Dur oder Moll) wird hier noch nicht angeſtrebt und entſteht
mehr zufällig, aber Alles, was zum Ausdruck gehört, Klarheit und Be-
ſtimmtheit, kräftige Erregtheit, Derbheit, heitere Laune, Humor, Herzens-
freudigkeit, Liebesdrang, ſowie andrerſeits tiefe Weichheit, elegiſche Weh-
muth, traurige Sehnſucht, düſtere Melancholie, tritt in der Volksmelodie
mit einer Friſche, Urſprünglichkeit und Naivität hervor, die ſie nur mit der
Volkslyrik theilt, die Muſik tritt hier auf in dem Gewande unverkünſtelter
Natur, daher das Volkslied ſtets die reine Quelle bleibt, aus welcher auch
der höhern Tonkunſt jedes Zeitalters ſtets neue Läuterung und Erfriſchung
zuſtrömt. Eine weit ſchwerer und ſeltener gedeihende Pflanze iſt das Kunſt-
lied, es kann nicht gelingen, wenn die Kunſt aufgehört hat naiv zu ſein;
es ſoll allerdings ſeinen Charakter als Kunſtlied nicht verleugnen, ſondern
im Gegentheil alle Mittel der Kunſt, die auf ſo beſchränktem Gebiete an-
wendbar ſind, für ſich aufbieten, es ſoll nicht durch erkünſtelte Popularität,
ſondern durch ideale Einfachheit oder, wo es um dieß zu thun iſt, durch
treffenden, ſchlagenden Naturaliſmus wirken, aber es ſetzt Naivität ſowohl
des Fühlens ſelbſt als des Erfindens voraus; denn das Lied ſoll ja doch
immer den unmittelbarſten Ausdruck wirklicher Empfindung, der überhaupt
möglich iſt, geben, auch das Kunſtlied muß ſtets eine wirkliche, durch keine
Reflexion abgeſchwächte, abgeblaßte, beirrte Bewegtheit des Herzens ab-
ſpiegeln und das in einer Form, die gleichfalls überall dieſe ihrer ſelbſt
ſichere, unbeirrte, friſch zugreifende Unmittelbarkeit an ſich hat, und die
ebendarum nicht gemacht, künſtlich erdacht, ſondern nur, nachdem ſie aus
künſtleriſch gebildeter Phantaſie ſogleich in kunſtmäßigerer Geſtalt als das
Volkslied emportauchte, dann auch im Einzelnen kunſtmäßig ausgeführt
werden kann. Während das Volkslied ſeines mehr ſtofflichen Charakters
wegen ſich mehr nach den verſchiedenen Stimmungsqualitäten, wie ſie oben
der Hauptſache nach aufgezählt ſind, in verſchiedene Gattungen gliedert,
kommt beim Kunſtlied als der bewußtern, ideellern Form auch der Styl-
unterſchied in weſentlichen Betracht, der freilich mit dem Inhaltsunterſchied
ſelbſt wieder in enger Beziehung ſteht; einfache, ernſte Idealität, kräftig
malender Naturaliſmus, ſoweit er die Grenzen des Liedes nicht überſchreitet,
rührende Weichheit, reizende Anmuth ſind hier die Hauptunterſchiede, wo-
gegen das Erhabene im Liede nur annäherungsweiſe erreicht werden und
das Derbkomiſche nicht in ausgeführterer Weiſe in ihm vorkommen kann.
Verwandt, aber nicht zuſammenfallend mit dieſen Unterſchieden iſt der
zwiſchen religiöſem und weltlichem Liede; das erſtere iſt immer
ideal, kann aber ebenſoſehr den Charakter des Ernſten, des an ſich Halten-
den, als des Weichen, Gebrochenen an ſich haben, wogegen dem weltlichen
[992] Liede neben der Idealität und Weichheit das Naturaliſtiſche, das charak-
teriſtiſcher Individualiſirende, ebenſo das Anmuthige und nicht minder die
Fortführung der Weichheit der Empfindung bis zum Schmelz reiner Senti-
mentalität (im guten Sinne des Wortes), die eben im Liede den paſſenden
Ort zu ihrer Aeußerung findet, vor Allem zugehört. Das religiöſe Lied
fällt unter den oben aufgeführten zwei Hauptklaſſen der erſten, dem „einfach
empfindenden“ Liede zu; Einfachheit iſt bei aller Innigkeit ſein Geſetz; ein
religiöſes Lied, ſelbſt wenn es nicht von vorn herein zu einem Chorgeſang
beſtimmt iſt, muß immer allgemeiner Natur ſein, in dem Sinne, daß die
Andachtsſtimmung den beherrſchenden Grundton bildet und daher die ſpeziellere
Stimmungsindividualiſirung ausgeſchloſſen bleibt; das Natürlichmenſchliche
darf ſich hier nicht frei in die Weite und Breite ergehen, ſondern darf nur
erſcheinen als aufgelöst in die Idealität des frommen Gefühles überhaupt.
Die dem religiöſen Liede nicht minder weſentliche Idealität ſchließt aber
ebenſo auch ein zu ſtarkes, zu ausdruckreiches Hervortreten des Empfindens
ſelbſt aus (vgl. S. 975), die Empfindung darf hier nicht auftreten mit dem
Reiz und Schmelz des Schwelgens in ſich ſelbſt, des Anmuthiglockenden,
des Rührenwollens, und auch das Süße, Weiche, ſehnſüchtig oder weh-
müthig Zerfloſſene findet in dieſem Gebiete ſeine Stelle nur unter der Hülle
edler Idealität, die das Empfindſelige, Sentimentale, Schmachtende von
ihm abwehrt; kurz wie durch Naturaliſmus, ſo durch überfließende Anmuth
und Weichheit wird die Muſik weltlich, wogegen auf der andern Seite das
weltliche Lied, z. B. wo es ethiſchen Inhaltes iſt oder wo durch die Dichtung
eine Miſchung beider Gattungen (frommer Kriegesmuth, religiöſer Patrio-
tismus) an die Hand gegeben iſt, durch idealen Charakter ſich dem reli-
giöſen bis zur Ununterſcheidbarkeit annähern wird, nur etwa mit Ausnahme
der weniger activkräftigen Haltung, die ſich im religiöſen Lied immer noch
irgendwie ausprägen ſollte, weil die Ichheit hier nicht auf ſich ſelbſt geſtellt,
ſondern vom Gefühl der Abhängigkeit von einer univerſellern Macht durch-
drungen iſt. In formeller Beziehung iſt es natürlich nicht blos die Ton-
folge (nebſt Modulation und Harmonie), ſondern namentlich auch Rhythmus
(und Tempo), in deſſen verſchiedener Geſtaltung jene Unterſchiede ſich muſi-
kaliſch ausprägen; wie die Tonfolge bald einfachere, gleichförmigere, bald
geſchwungenere, verſchlungenere, in ſtärkerem Wechſel und Contraſt ſich
hebende und ſenkende, ſchärfer und eckiger ſich zuſpitzende Linien zieht, ſo
iſt auch der Rhythmus bald ruhiger, gehaltener, gleichartiger, bald auch
energiſch, provocirend, leicht, lebendig, ſpringend, wechſelvoll, wie der
Charakter des einzelnen Tonſtücks es erheiſcht. Eine weitere, zu dieſen
Stoff- und Stylunterſchieden noch hinzukommende Unterſcheidung iſt die
zwiſchen Liedern für verſchiedene Stimmen; die ſich hier ergebenden ſpeziellern
Unterſchiede ſind wiederum theils materieller Natur (Männergeſang, Kinder-
[993] lied u. ſ. w.), theils formeller Art, indem der verſchiedene Charakter der
Stimmen, wie er S. 850 angegeben iſt, auf die Geſtaltung dieſer Lieder-
gattungen von Einfluß iſt und in ihnen zu naturgemäßem Ausdruck
kommen ſoll.
Wir betrachteten das Lied bis jetzt noch ohne Rückſicht auf die Frage,
ob es als Einzelgeſang (Monodie) oder als uniſon vielſtimmiges oder als
mehrſtimmiges oder endlich mit oder ohne inſtrumentale Begleitung auftritt.
Monodie iſt das Lied ſeinem allgemeinen Begriffe nach nicht, da es in der
Regel die natürlichen und hiemit auch zu ſympathetiſchem Mitgefühle ge-
eigneten Empfindungen des Menſchenherzens ausſpricht, und ebenſowenig
ſchließt es an ſich die Begleitung aus; die letztere dient im Gegentheil zu
einer Verſtärkung, Verdeutlichung, charakteriſirenden Ausmalung des ein-
fachen Liedestones und Liedesausdrucks, die an ſich ſeine Wirkung nur
heben kann, wenn ſie nämlich ſeinem Charakter gemäß iſt und ſich dem
Geſang gebührend unterordnet, ſie thut zum Geſang einen inſtrumentalen
Wiederklang hinzu, der ihn gleichſam aus ſeiner Einſamkeit herausnimmt,
ihn voller, tonreicher macht; ſie umgibt ihn mit der Lieblichkeit der Har-
monie, durch die er an Innigkeit gewinnt, ſie muß nur etwa da noth-
wendig fehlen, wo das Lied, wie z. B. Gretchen’s „Meine Ruh’ iſt hin“
entſchieden einen ſtillen, verhüllten, beklemmten Monolog des Herzens mit
ſich ſelbſt darſtellen ſoll. Lieder ſolcher Art ſind natürlich auch weſentlich
monodiſch; und nicht minder, jedoch wohl begleitbar, ſind es alle die-
jenigen, welche etwas rein Individuelles oder ganz beſonders zarte Gefühle
ausſprechen; die Grenze iſt hier freilich ſchwer zu ziehen, und ſchlechthin iſt
von Liedern der letztgenannten Art jede Mehrheit mitſingender Stimmen
nicht auszuſchließen, wenn nur dieſe Nebenſtimmen ſelbſt in Führung und
Vortrag dem Liedcharakter angemeſſen ſind. Die Angemeſſenheit der uni-
ſonen Viel- oder der harmoniſchen Mehrſtimmigkeit nimmt zu, je mehr das
Lied allgemeinere Bedeutung, Lebendigkeit, Kraft, Wärme hat, ſo z. B. bei
nationalen, kriegeriſchen, geſellſchaftlichen Liedern; bei dieſen letztern wird ſie
geradezu zur Nothwendigkeit, und hiemit tritt denn auch die einzige con-
cretere Form auf, welcher das Lied fähig iſt, nämlich das Einandergegen-
übertreten einer Einzelſtimme und des mehrſtimmigen Geſangs, die bereits
in dramatiſirender Weiſe einander antworten. Lieder, die weſentlich auf
Vielſtimmigkeit angelegt ſind, machen eine eigene Gattung aus, das Chor-
lied (indem wir die Bezeichnung Chor für den über das einfach mehr-
ſtimmige oder uniſon vielſtimmige Lied hinausgehenden gewichtigern, ent-
wickeltere Muſikformen in ſich aufnehmenden vielſtimmigen Geſang auf-
behalten). Das Chorlied iſt ſchon weniger als das melodiſche Lied auf
Melodie und Rhythmus allein angewieſen, es wirkt auch durch Tonkraft und
Tonfülle, es kann ebendarum in die Melodie weniger ſpezifiſche Entwickelt-
[994] heit und Bedeutſamkeit legen, ſie und ihre Rhythmiſirung vereinfachen, ja
es muß Letzteres thun, wenn es allgemein ſingbares Volks- oder Gemeinde-
lied werden will. Davon gibt insbeſondere das volksmäßige religiöſe Chor-
lied, der Choral, eine klare Anſchauung. Der Choral ſtreift vermöge
innerer ſachlicher Nothwendigkeit alle ſpezifiſchere melodiſche und rhythmiſche
Gliederung ab, er ſucht den Gang des Geſangs und die Takteintheilung
möglichſt einfach und gleichförmig zu geſtalten, er gewinnt, was er hie-
durch an Mannigfaltigkeit und Belebtheit verliert, wieder theils durch die
ſicherer und leichter gewordene Bewegung der Maſſe, theils durch die Würde
und Ruhe, die in dieſem regelmäßigen Fortgange liegt, ſowie durch rhythmiſch
bewegtere und melodiöſere Zwiſchenſpiele zwiſchen den einzelnen Strophen,
welche der Maſſenbewegung zugleich die für ſie nothwendigen Ruhe- und
Sammlungsmomente gewähren, und welche ſchon aus dieſem Grunde nur
ein viel zu weit greifender Puritaniſmus vom Kirchengeſange ausſchließen
zu müſſen glauben kann. Im Choral kommt ſo die dem Liede weſentliche
Einfachheit, verbunden mit idealer Großheit und mit einer von aller Ueber-
weichheit fernen ernſtkräftigen Haltung, zu ihrer vollen Verwirklichung, der
Choral iſt das Lied in ſeiner eigentlichſten Geſtalt, auf ſeiner höchſten Potenz.
Die Harmonie der Inſtrumentalbegleitung überlaſſend, ſtrömt er im klaren
Octavenzuſammenklange aller Tonregionen machtvoll und gemeſſen einher,
das reinſte Bild des Zuſammengehens aller individuellen Empfindungen in
Ein ſie befaſſendes Allgemeines, verſchmähend alle ſpezielle Individualiſirung,
blos Eine Geſammtſtimmung darſtellend, in der die perſönlichen Gefühle
der Einzelnen wie zu Einem unauflösbaren Guſſe verſchmolzen ſind. Den
Gegenſatz zum Choral bildet dasjenige Chorlied, das einen großen oder den
größten Theil der Wirkung entweder in den Rhythmus oder in Harmonie
und Modulation legt; auch hier kann die Tonkunſt innerhalb enger Schranken,
oft nur durch einzelne an rechter Stelle angebrachte Harmoniewendungen,
die ſchönſten und charakteriſtiſchſten Effecte hervorbringen, obwohl natürlich
Ebenmaaß, Fluß, beſtimmter Charakter der Melodie die Haupteigenſchaften
des Liedes zu bilden haben; das vorzugsweiſe durch Harmonie wirkende
Chorlied nähert ſich bereits dem „Chore“ ſelbſt, in welchem die verſchiedenen
Tonmittel und Tonformen zu entwickelterer Anwendung gelangen.
Das Lied als die Realiſation der einfachen Melodie iſt wie dieſe
(§. 779) Anfang, Mitte und Ende aller Muſik; mit ihm erſt gewinnt ſie
Klarheit, Seele, Innigkeit; zur Liedform kehrt ſie überall, auch in In-
ſtrumentalwerken, zurück von den zuſammengeſetztern Kunſtformen; aus ihr
bildet ſie durch Figurirung, Variirung, Nachahmung u. ſ. w. dieſe höhern
Formen ſelbſt heraus; Lieder jeder Art, beſonders Volkslieder, Chorale fügt
die Compoſition gerne (freilich oft auch mißbräuchlich als Nothbehelf) in
größere Tonwerke ein, als Momente der Ruhe, in welchen die erregtere,
[995] verwickeltere und künſtlichere Tonbewegung ſich erweicht und ſammelt, ſich
abklärt und vereinfacht und das Gefühl in ſeiner urſprünglichen Natürlich-
keit und Innigkeit zum Worte kommen läßt. Aber die Sphäre des Liedes
iſt zu eng, ſein Gang und ſeine Mittel zu einfach, als daß ſchon die
Vocalmuſik, geſchweige denn die Inſtrumentalmuſik bei ihm ſtehen bleiben
könnte; die lyriſche Muſik würde zu elegiſch, zu wenig charakteriſtiſch ent-
wickelt, zu einförmig, wenn ſie auf das Lied ſich beſchränken wollte, und
das Lied muß daher reichere Geſtalten aus ſeinem Schooße hervorgehen
laſſen. Dieſes Ungenügende der Liedform kündigt ſich zuerſt damit an, daß
ſchon innerhalb ihrer ſelbſt ein Streben nach Erweiterung und mannig-
faltigerer Charakteriſtik hervortritt, durch welches ſie über ihre urſprüngliche
Geſtalt hinausgetrieben wird.
§. 801.
Aus der einfachen Liedform tritt das Kunſtlied zuerſt damit heraus, daß
es durch variirende Begleitung einen Wechſel und Lortſchritt in den
Ausdruck der lyriſchen Stimmung zu bringen ſucht. Hieran ſchließt ſich weiter
das durchcomponirte Lied, eine Form, die beſonders dann ihre Geltung
hat, wenn der Inhalt des Lieds nicht mehr rein lyriſch, ſondern erzählend,
epiſchlyriſch iſt, d. h. bei der Ballade, wiewohl das epiſchlyriſche Lied auch
innerhalb der einfachen Form bleiben kann, womit die Romanze gegeben iſt.
Variirung der Inſtrumentalbegleitung iſt eine durch das natürliche
Streben nach Mannigfaltigkeit und Abwechslung hervorgerufene Form, die
aber aus dem Liede bereits etwas Anderes macht als es urſprünglich iſt.
Die Melodie bleibt ſich in ihren Wiederholungen gleich, aber die Neben-
ſtimmen wechſeln; dadurch iſt ſogleich (falls nämlich die Abwechslung nicht
bloße bedeutungsloſe Form iſt) eine verſchiedenartige Nüancirung der Stim-
mung und mit ihr ein Fortgang, eine Fortbewegung von einer Stimmungs-
modification zur andern gegeben; das feſte, gerade durch die gleichförmige
Wiederholung des Ganzen um ſo mehr in’s Licht geſetzte Verweilen des
Gefühls auf Einer Grundſtimmung beginnt ſich zu lockern, die plaſtiſche
Geſtalt des Liedes bekommt Leben und Bewegung, welche ſeine ruhige
Gleichheit mit ſich ſelbſt erſchüttert, welche jedoch z. B. innerhalb größerer
Tonwerke, Opern u. ſ. w., in denen Vermannigfaltigung des Ausdrucks
ohnehin das Grundgeſetz bildet, ganz in Ordnung iſt, indem ſie das Lied
den ſonſt in dieſen Werken herrſchenden Formen annähert. Das in der
Begleitung variirte Lied bildet den Uebergang zum durchcomponirten, das
einzelne oder alle einzelnen Strophen mit eigenen, mehr oder weniger unter
ſich verwandten, natürlich aber von Einer Grundidee getragenen Melodieen
[996] ausſtattet. Schon beim lyriſchen Lied kann dieß eintreten, wenn es mehr
eine werdende, in ſtetigem Fortgange begriffene, ſich ſteigernde Stimmung,
oder eine reflectirtere, die Empfindungen beſtimmter auseinander legende,
nach verſchiedenen Seiten des Fühlens ſich hinwendende oder geradezu in
gegenſätzliche Gefühlsmomente (vgl. S. 796) ſich ſpaltende und aus ihnen
erſt wieder in ſich zurückkehrende Gemüthsbewegung darſtellt; hier muß die
Muſik, wenn nicht vielfach völlige Incongruenzen einzelner Theile des Ge-
dichtes mit der Geſangcompoſition entſtehen ſollen, dem Gange und den
Wendungen des Gedichtes nothwendig folgen und kann es auch mit vollſtem
Rechte, da ſie im Feſthalten des Grundtons, in beſchränkterer Anwendung
von Modulationen, ſowie in der Geſtaltung der Tonfolgen, Harmonieen
und Rhythmen immer Mittel genug beſitzt, um die Einheit des Ganzen
nicht verloren gehen zu laſſen. Innerhalb des eigentlich lyriſchen Liedes iſt
jedoch die durchgehende Compoſition immer Ausnahme, niemals Regel; ſie
iſt je nach Umſtänden Sache freier Wahl des Componiſten, der einen auch
einfacher Behandlung fähigen Text umfaſſender bearbeiten, eine reichere Fülle
von Empfindung in ihn hineinlegen kann, als er zunächſt zu enthalten ſchien.
Beſtimmter gefordert aber iſt ſie, wenn das Gedicht nicht einfach lyriſch,
ſondern erzählender Art iſt, ſo daß in ihm nicht blos ein Wechſel von Em-
pfindungen, die doch wieder zuſammen Ein Stimmungsganzes ausmachen,
ſondern zugleich ein realer Wechſel differenter, gegenſätzlicher Zuſtände,
Handlungen, Begebenheiten zur Entwicklung kommt, welche ebendarum auch
von beſtimmterem Wechſel und Contraſt der innern Zuſtände, der Stim-
mungen (ſowohl objectiv der Perſonen, deren Schickſale und Handlungen
Inhalt des Gedichtes ſind, als ſubjectiv des Zuſchauers und Hörers) be-
gleitet ſind. Dieſe epiſch- und, ſofern die Perſonen als ihre Empfindungen
ſelbſt ausſprechend auftreten, zugleich dramatiſch-lyriſche Poeſie iſt die
Ballade, die ſich zur muſikaliſchen Compoſition eignet, wenn das lyriſche
Element in ihr das hervorſtechende iſt. Die Muſik kann hier bereits eine
mannigfaltige Charakteriſtik, wie ſie das einfache Lied nicht zuläßt, ent-
wickeln, ſie kann den Geſang an einzelnen Stellen in’s Declamatoriſche
übergehen laſſen, um einen beſtimmtern dramatiſchen Ausdruck zu erzielen,
ſie findet ebenſo in freierer Modulation und kunſtvollerer Geſtaltung der
Begleitung, z. B. in ſelbſtändigen, den Geſang unterbrechenden, einzelne
Hauptwendungen der Erzählung einleitenden Zwiſchenſpielen Mittel zu con-
creterer Zeichnung, kurz ſie iſt hier durch den objectivern Stoff aufgefordert,
ſelbſt objective, darſtellende Muſik zu werden. Indeß leidet die Ballade, ſo
erfindungsreich ſie auch ausgeführt ſein mag, an dem Widerſpruch, daß die
Form doch die der einfachen muſikaliſchen Lyrik iſt; als Poeſie iſt ſie von
dieſem Widerſpruche frei, da ſie ihre Erzählung rein objectiv der Phantaſie
entgegenbringt, aber bei der muſikaliſchen Compoſition und Recitation wird
[997] die Form der Objectivität doch wiederum nicht wirklich feſtgehalten, das
Ganze wird in die Form eines lyriſchen Gefühlserguſſes gebracht, der
Vortragende muß abwechſelnd die Rolle des empfindenden Zuſchauers der
Handlung und die des dramatiſchen Darſtellers der in ihr redenden und
handelnden Perſonen übernehmen, es iſt eine ſtets in die Subjectivität
zurückgenommene Objectivität, ein Vorherrſchen der erſtern über die letztere,
das doch wiederum den Eindruck eines Mangels an Lebendigkeit des Ganzen,
des Mangels einer wahren, dem Inhalt adäquaten, für ſeine vollkommen
ſprechende Darſtellung zureichenden Kunſtform machen muß; die durchcom-
ponirte Ballade gehört mit Einem Wort einer einſeitig ſubjectiven Richtung
an, die auch das Objective ſubjectiv umgeſtaltet, ſie iſt keine reine Gattung.
Befriedigender iſt daher die, bei einfachern (z. B. Göthiſchen) Dichtungen
dieſer Art ſtatthafte, nichtdurchcomponirte, höchſtens die Begleitung wech-
ſelnde, etwa auch an einzelnen Stellen, z. B. am Schluſſe, die Melodie
ändernde, erweiternde, ihr mehr Kraft oder Innigkeit gebende Ballade, die
das Geſchichtliche nicht malend ſchildern, ſondern nur ſeine allgemeine Be-
deutſamkeit für das Gefühl, die Stimmung, die es durchweht, den Eindruck,
den es auf die Empfindung macht, veranſchaulichen, kurz wie das einfache
Lied durch den Ausdruck, nicht aber durch ſpeziellere Charakteriſtik wirken
will. Eine Nebenart nichtdurchcomponirter, ſondern einfach melodiſcher epiſch-
lyriſcher Lieder, die Romanze, entſteht, wenn das epiſche Element in
ihnen vorherrſcht, wenn das eigentlich Lyriſche, Weiche, Rührende zurücktritt
und das Ganze mehr eine objectiv plaſtiſche Haltung hat, die auch in der
Melodie ſich abſpiegelt. Die Romanze kann ernſter oder auch komiſcher Art
ſein, aber in beiden Fällen tritt der lyriſche Ausdruck zurück, es iſt weniger
auf Innigkeit, Wärme der Empfindung, als auf eine (wiewohl nicht ſpeziell
malende) charakteriſtiſche Geſtaltung der Tonfolge abgeſehen, die dem rein
Lyriſchen gegenüber das Gepräge der Ruhe, der Objectivität, des Anſich-
haltens, wie um anzudeuten, daß erzählt werden ſoll, an ſich trägt, dem
Inhalte aber deßungeachtet im Allgemeinen wohl entſpricht durch das Ge-
präge des Ernſtes, der Bedeutſamkeit oder andrerſeits des Komiſchheitern,
in das ſie ſich kleidet. Die Romanze ſchließt ſich nicht enger an den Text,
ſie ſchlägt mehr den allgemeinern, ernſt gewichtigen oder burlesken Erzähler-
ton an, der zum Bänkelſängertone herabſinkt, wenn aus der für die Romanze
weſentlichen Zurückhaltung des Ausdrucks Ausdrucksloſigkeit, mechaniſche oder
gar plumpe Recitation wird. Auch in die Inſtrumentalmuſik iſt die Romanze
übergegangen; ſie bezeichnet hier dem Rondo verwandte Sätze mit kürzerem,
leichtem, nicht auf Tiefe des Ausdrucks, ſondern auf klare, freie, wohl-
gefällige Tonfolge abzweckendem melodiſchem Hauptſatz, der wie die Lieder-
ſtrophe fortwährend in gleicher Weiſe, zuerſt ohne, ſodann mit Zwiſchen-
ſätzen, die ſich allmälig erweitern und vermehren können, ſich wiederholt
und endlich das Ganze abſchließt.
[998]
Das weſentlich auf variirende Begleitung angelegte Kunſtlied, die
Ballade und die Romanze ſind bereits mehr oder minder entſchieden
monodiſch. Am wenigſten noch das erſtere, da z. B. ein Chorlied
wechſelnde Inſtrumentalbegleitung wohl verträgt; doch iſt dieſe gerade beim
Chorlied, deſſen Hauptgewicht doch immer in dem vollkräftigen Ausdruck
der uniſonen oder harmoniſirten Melodie ſelbſt liegt, von geringerer innerer
Bedeutung; da wo die Begleitung wirklich höhere Bedeutung hat, da iſt
überhaupt der Ausdruck ein nüancirterer Ausdruck, der dem Chorgeſang
weniger angemeſſen und nur beim Einzelvortrag vollkommen zu erreichen iſt.
Aus demſelben Grund neigt ſich auch das durchcomponirte Lied vorherrſchend
der Monodie zu, ganz entſchieden aber die durchcomponirte Ballade, deren
ſpezifiſch malende, die verſchiedenſten Wendungen nehmende, freie Form ſie
mit Nothwendigkeit dem monodiſchen Vortrage zuweist; wenn dramatiſche
Chöre nicht minder reich ſind an kunſtvollern Wendungen, ſo iſt hiebei zu
beachten, daß dieſelben ganz und gar nichts Anderes ſind als der Ausdruck
einer eine Mehrheit von Perſonen bewegenden Geſammtſtimmung, wogegen
es der Ballade nicht weſentlich iſt, als Maſſengeſang aufzutreten. Der
Balladenſänger iſt nicht Publikum, das iſt vielmehr der Chor, ſondern er
iſt Erzähler, der vor das Publikum hintritt, und daher iſt die Ballade
Einzelgeſang. Nichtdurchcomponirte Balladen können allerdings von einer
Mehrheit geſungen werden; die Sänger ſind in dieſem Falle das von der
muſikaliſchen Erzählung lebendig bewegte, ſie dem Dichter und Tonſetzer
nachſingende Publikum; aber auch die nichtdurchcomponirte Ballade iſt,
wenn ihr Styl mehr epiſch darſtellend als lyriſch fühlend iſt, dem ſtrengen
Begriff nach Monodie. In gleicher Weiſe verhält es ſich mit der Romanze;
je beſtimmter ſie ihren objectiv plaſtiſchen, erzählenden Charakter bewahrt,
deſto mehr iſt ſie Monodie, die vom Publikum gehört, nicht aber mit-
geſungen werden kann, weil nicht ein allgemein menſchliches Gefühl,
ſondern ein charakteriſtiſches Tonbild ſpeziellern Inhalts ihr Weſen iſt.
§. 802.
Die Liedform hebt ſich auf und macht einer freiern Geſtaltung der Voral-
muſik Platz, wenn dieſelbe dazu fortſchreitet, dem muſikaliſch wiederzugebenden
Inhalte einen Ausdruck zu verleihen, welcher den einzelnen Momenten, in die
jener Inhalt ſich aus einander legt, folgt, und eben die charakteriſtiſche Dar-
ſtellung des Einzelnen ſich zum Zwecke ſetzt, ohne in dieſer Ausmalung der
Einzelmomente an irgend ein anderes Formprinzip als an das Geſetz, daß die
Einheit der Grundſtimmung des Ganzen mit hervortrete und bei dem Fortgang
von einem Momente zum andern Stetigkeit und Motivirung nie vermißt werde,
gebunden zu ſein, — Recitativ, declamatoriſcher Geſang und Arie.
[999]
Das Moment des charakteriſtiſchen Einzelausdrucks, das wir an der
Liedform vermißten und zu dem auch Ballade und Romanze ſich noch nicht
ganz entſchieden erheben, weil ſie die Wiederkehr gleicher oder gleichartiger
Strophen feſthalten, verwirklicht ſich vollſtändig in Recitativ, declamatoriſchem
Geſang und Arie. Die beiden erſtern erheben das declamatoriſche Element,
das uns ſchon bei der durchcomponirten Ballade begegnete, zu ſelbſtändiger
Ausbreitung, die Arie führt die lyriſche Charakteriſtik zu ihrer Vollendung.
Auf den erſten Anblick liegt die Arie dem Liede näher als das Recitativ,
ſo daß jene voranzuſtellen wäre, die Form der Arie entfernt ſich ja von
der des Liedes weit weniger als die des Recitativs; aber die Arie hat deß-
ungeachtet das declamatoriſche Prinzip ſelbſt wiederum in ſich, und es iſt
daher begrifflich das Richtigere, dem Liede zunächſt das Recitativ (und den
declamatoriſchen Geſang) als erſte die Liedform ganz ſprengende Muſik-
gattung gegenüberzuſtellen und erſt von ihm aus zur Arie fortzugehen.
Die Muſik ſtrebt Alles darzuſtellen, was die Empfindung irgend an-
regt, auch das Hiſtoriſche; ſie erhält namentlich in größern Geſangwerken
religiöſen, epiſchen, idylliſchen, dramatiſchen Inhalts Anlaß genug, einzelnes
Hiſtoriſche, an deſſen Recitation ſich dann nachher wiederum eigentlich lyriſche
Gefühlsergüſſe knüpfen, in der Weiſe des Geſangs vorzutragen, nicht etwa
blos um auch in ſolchen Partieen die muſikaliſche Form des ganzen Ton-
werks äußerlich feſtzuhalten, ſondern vor Allem, um durch die muſikaliſche
Darſtellung, die ſie auch dem Hiſtoriſchen zu Theil werden läßt, die Be-
deutung, welche es je nach Inhalt und Charakter für das Gefühl hat,
mehr oder weniger beſtimmt zu veranſchaulichen. So entſteht das epiſche
Recitativ, der objectiv epiſchen Liedform entſprechend wie die Arie der
ſubjectivlyriſchen. Bei dieſer Gattung des Recitativs geht nun freilich der
muſikaliſche Ausdruck inſofern wiederum verloren, als die Melodie hier auf-
hört und ein Mittelding zwiſchen ihr und der bloßen Rede an ihre Stelle
tritt, und es ſcheint daher von dieſem Recitative nicht geſagt werden zu
können, daß es ſich durch charakteriſtiſche Ausmalung der Einzelmomente
des Inhalts vom Liede unterſcheide; wo die Muſik auf Melodie verzichtet,
wo ſie ſich mit Tongängen begnügt, bei welchen es zu concreter Anwendung
ausdrucksvollerer muſikaliſcher Formen gar nicht kommt, da, hat es den
Anſchein, könne auch kein charakteriſirendes Eingehen in das Spezielle des
Inhalts erwartet werden. Allein das Minus von Ausdruck, das hier
allerdings eintritt, weil recitirt und nicht mehr liedartig geſungen wird, iſt
kein Null; wo es zu dieſem Null kommt, da iſt gar keine Muſik mehr;
innerhalb ſeiner den lyriſchen Fluß und Schmelz allerdings ausſchließenden
Objectivität iſt das Recitativ doch weſentlich gerade auf ſprechenden Aus-
druck und zwar eben des Einzelnen gerichtet. Die Muſik tritt hier aus
ihrer weſentlichen Form, der eigentlichen Melodie, heraus, aber doch in
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 65
[1000]keiner andern Abſicht, als um einem Inhalte, deſſen objectiver Charakter
keine melodiſche Compoſition erlaubt, eine muſikaliſche Faſſung zu geben,
welche Dasjenige an ihm, was für das Gefühl Bedeutung hat, charakteri-
ſtiſch hervorhebt; ſeelenvoller, in den Inhalt aufgehender Erguß kommt hier
nicht zu Stande und ebendeßwegen keine Melodie, keine der muſikaliſchen
Empfindung vollen Lauf laſſende, ſtetig dahinfließende, den Text ganz in
ſich auflöſende Tonreihe, aber deßungeachtet eine der Melodie analoge
Tonbewegung, die durch ihre ganze Haltung, durch Tempo, Rhythmus,
Modulation, durch die Art der Auf- und Abbewegung in Intervallen, der
Hebungen und Senkungen, durch Accentuation einzelner Stellen, durch
Steigerung des Tones, der innern Bewegung, des Affects, ſowie endlich
auch durch harmoniſche Begleitung einen ſpezifiſch muſikaliſchen Ausdruck
ſowohl der Geſammtſtimmung als insbeſondere einzelner Hauptmomente
erzielt. Gerade dieſe Hervorhebung einzelner Momente gibt dem erzählenden
Recitativ die Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit, die ihm an ſich der Melodie
gegenüber fehlt; eine unvollkommene, zur Ergänzung durch wahrhaft lyriſche
Muſik hintreibende und daher auch nicht populäre, ſondern aus Reflexion
entſtandene Kunſtform bleibt dieſes Recitativ immer, aber im Einzelnen
lebendig charakteriſiren und zeichnen kann es, in ausdrucksvollern Stellen
und Wendungen dieſer Art kehrt es gleichſam immer wieder zu dem muſi-
kaliſchen Typus zurück, den es durch ſeine übrige kältere, gebrochenere Weiſe
aufgeben zu wollen ſcheint; es iſt Rede, die eben anfängt muſikaliſch zu
werden, und die im Ganzen blos den muſikaliſchen Ton überhaupt anſchlägt,
im Einzelnen aber bereits Anſätze wirklich muſikaliſcher Rhythmik und Melodik
aus ſich hervortreibt. Das Gleiche findet ſodann auch ſtatt bei dem rein
lyriſchen und dem dramatiſch lyriſchen Recitativ, nur mit dem
Unterſchiede, daß es frei von der epiſchen Breite und Ruhe, die den ſpezi-
fiſchen Ausdruck mehr nur an einzelnen Stellen hervortreten läßt, von
Anfang an concentrirter, bewegter, affectvoller, nüancirter und daher einer
durchgehend feſtgehaltenen, in immer wieder neuen Formen erſcheinenden
Charakteriſtik fähiger iſt. Dieſe beiden Recitativgattungen entſtehen, wenn
die das Innere bewegende Empfindung zwar hervortritt, aber nicht in den
ſtetigen Fluß der Melodie einmündet, entweder weil es (ähnlich wie im
epiſchen Recitativ) um ein deutlicheres, das Einzelne markirter darlegendes
Ausſprechen des Gefühlsinhalts (z. B. in kirchlichem Geſang) zu thun iſt,
oder weil die Empfindung ſich noch nicht zu einfachem Ausſtrömen ihrer
ſelbſt geſammelt hat, ſondern noch zu ſehr reflectirend mit ihrem ſpeziellen
Inhalt, ihren Motiven beſchäftigt, noch zu ſtürmiſch aufgeregt, hinundher-
gezogen und -getrieben iſt, oder endlich (beſonders im Drama) weil der
Inhalt neben ſeinen Gefühlselementen auch andere, mehr der Reflexion an-
gehörige enthält, die für einfach melodiſchen Vortrag ſich nicht eignen, ſo
[1001] daß hier das dramatiſche Recitativ dem epiſchen ſich wiederum annähert.
Möglich iſt auch, daß der Fluß der Melodie wieder abgebrochen und in
recitativiſche Sätze übergegangen wird, wenn ein einzelnes bewegendes
Moment zur ſchärfern Ausſprache, zur Heraushebung aus dem gleichförmigen
Gange der Melodie drängt; in allen Fällen iſt es eben immer das Sich-
geltendmachen einzelner Elemente, was dazu treibt, die Recitativform an die
Stelle der Liedform zu ſetzen. In einem großen Vortheil befindet ſich das
lyriſche und dramatiſche Recitativ dem epiſchen gegenüber dadurch, daß es
bewegter und erregter und ſo nicht nur ſchon durch ſich ſelbſt muſikaliſcher
iſt, ſondern auch des Hülfsmittels malender, markirender, hebender, Fluß,
Wärme und Schmelz über das Ganze verbreitender Begleitung weit mehr
als jenes ſich bedienen darf; die reichere Begleitung kann ſo ziemlich Alles,
was dem Recitativ zum Muſikaliſchen fehlt, von ſich aus hinzuthun, ohne
ſeinen Charakter zu beeinträchtigen, ſie ſtellt neben die Worte, in denen
das Gemüth ſich Luft macht, das innere Wogen, Sehnen, Erzittern des
Gemüths ſelbſt, ſie läßt die bewegte Seele ſchauen, die bis jetzt nur in
gebrochenen Lauten ihre Empfindungen äußert; auf dieſem Gebiete kann die
Muſik die charaktervollſten und ergreifendſten Kunſtwerke ſchaffen, ſo ſchwierig
es freilich immer iſt, dem gebrochenen Redegang wahrhaft muſikaliſches Leben
einzuhauchen. Denn gebrochen, zertheilt in ſcharf auseinander gehaltene
Worte und Sätze bleibt das Recitativ immer, es beſteht eben in dieſer
Fixirung des Einzelnen, in dem Abwerfen einer das Ganze umſpannenden
und verſchmelzenden Melodie, in der Pronuntiation jeder Periode, jedes
Wortes, jeder Sylbe mit einem beſondern eben nur an dieſen Punkt ge-
hörenden Accent und Ausdruck, daher namentlich die fortwährenden ſtarken
Intervallwechſel oder vielmehr Sprünge, die eben die einzelnen Momente
von einander recht ſondern ſollen; es iſt immer eine nur angefangene,
ſtockende, vor der Reflexion nie in Gang kommende oder vor ihr wieder
zurückweichende Muſik, es iſt das Ueberwiegen des Inhalts über die Form,
es iſt eine muſikaliſch gehobene, rhythmiſirte Sprache, welche dabei doch
das was ſie iſt bleiben muß, eine gebrochene Wortreihe; das Recitativ iſt
eben noch nicht oder nicht mehr wirkliche Muſik und iſt daher auch keine
ſelbſtändige Muſikform, es bildet immer nur die Vorbereitung, den Ueber-
gang zu eigentlichem Geſange oder tritt es an einzelnen Punkten ſprechend
aus ihm hervor; ja das Recitativ muß, ſobald in ihm die Empfindung
eine tiefer bewegte iſt, dem melodiſchen Element innerhalb ſeiner ſelbſt Raum
geben, es muß wechſeln zwiſchen Wort- und eingefügten Melodiepartieen
(Arioſo), in welchem Wechſel dann allerdings der Kampf des Gemüths mit
ſich ſelbſt, das durch Reflexion und Affect immer wieder zurückgehaltene
Sichherausdrängen der Empfindung ſich auf wahrhaft dramatiſche Weiſe
darſtellt.
65*
[1002]
Der Hauptmangel des Recitativs, das Gebrochene, Atomiſtiſche, hebt
ſich zunächſt auf im declamatoriſchen Geſang. Das Recitativ iſt
auch Declamation, wenn nämlich ſein Ausdruck einfach und doch markirt
und das Gebrochene der Rede nicht zu ſtark iſt — denn Declamation iſt
ein Vortrag, der die Hervorhebung des Einzelnen weſentlich in Einheit hält
mit Veranſchaulichung des Ganges, des Fortſchritts, der Steigerung u. ſ. w.
des Ganzen, ſie verfährt nicht bruchſtückweiſe, ſondern ſie wirkt in und mit
dem Ganzen, ſie veranſchaulicht den dem Ganzen inwohnenden „Bewegungs-
rhythmus“, ſie erzielt Geſammteffect —; aber declamatoriſcher Geſang iſt
das Recitativ nicht, das unmelodiſche Recitativ iſt nicht Geſang und das
ganz melodiſch-werdende nicht declamatoriſch. Der declamatoriſche Geſang
iſt nicht mehr gebrochene Rede, ſondern er hat wie die Melodie Fluß,
Continuität, Biegſamkeit, aber er iſt auch noch nicht Melodie, er hält viel-
mehr innerhalb des continuirlichen Tonfortſchritts die Einzelworte feſt und
folgt einfach ihnen, ſo daß nicht melodiſche Ausführung, Dehnung, auch
nicht nothwendig melodiſche Gruppirung, Periodiſirung, ſondern blos melo-
diöſer Vortrag des Ganzen und ſeiner einzelnen Worte und Sätze zu Stande
kommt. Die altkirchliche Ritualmuſik bildete vorzugsweiſe dieſen declama-
toriſchen oder Sprechgeſang aus, der, um einen gewichtigen Inhalt deutlich
und doch mit muſikaliſchem Ausdruck ausgeſtattet zu pronuntiiren, die Worte
in das Gewand einfacher, gebundener, fließender melodiöſer Sätze kleidet,
ohne damit ſchon zu Melodieganzen fortzuſchreiten. Auch die Oratorien-
und die dramatiſche Muſik wendet dieſe Gattung mit großer Wirkung z. B.
in Chören an, die man mehr Sprech- als Singchöre nennen muß; Mendels-
ſohn hat in ſeinen Compoſitionen zu ſophokleiſchen Tragödien gezeigt, was
für ein lebendiger, draſtiſcher Eindruck mit dieſem Sprechgeſange zu erzielen
iſt; und nicht minder iſt von dieſer declamatoriſchen Singweiſe anzunehmen,
daß ſie die Hauptform der griechiſchen Muſik war und daß eben auf ihr
der tiefe Eindruck beruhte, den dieſe Muſik trotz ihrer einfachen Mittel her-
vorzubringen vermochte; ja ſie iſt ohne Zweifel überhaupt die älteſte Kunſt-
muſik. Der Eindruck des Sprechgeſangs iſt, wenigſtens im Moment, der
wirkſamſte, rührendſte, ſtärkſte; iſt der Sprechgeſang mehr lyriſcher Natur,
dem lyriſchen Recitativ verwandt, aber eben geſangreicher, ſo wirkt die Ein-
fachheit der melodiſchen Wendungen, mit welchen die Worte vorgetragen
werden, die Verſchmähung alles Künſtlichen, die Natürlichkeit und Hellig-
keit, die rein vom Herzen zum Herzen ſpricht, der ruhige, ſanfte, fließende
Wechſel zwiſchen Hebung und Senkung ebenſo erhebend als gewinnend und
eindringend; iſt aber der Sprechgeſang mehr dramatiſch und daher nament-
lich in rhythmiſcher Beziehung bewegter, gegliederter, geſchärfter, ſo macht
die Energie und Unmittelbarkeit, mit der hier die ganze im Textinhalt
latitirende Erregtheit, ohne alle melodiſche Dehnung und Erweichung nur
[1003] dem Wortrhythmus folgend, Schlag auf Schlag blitzartig ſich entladet, im
Augenblick des Hörens einen durch nichts zu überbietenden Eindruck draſti-
ſcher Kraft, dem nur die überwältigende Wirkung einer abſolut vollendeten
dramatiſchen Wortdeclamation nahe zu kommen vermag. Beide Arten des
Sprechgeſangs, die lyriſche mit ihrer lieblichen Herzlichkeit, und die drama-
tiſche mit ihrer hinreißenden Lebendigkeit ſind weit mehr als das Recitativ
weſentlich berechtigte Muſikgattungen; in ihnen iſt Muſik, Seele, Geſang,
zwar in allgemeinſter, einfachſter, aber ebendamit in potenzirteſter Weiſe;
aus ihnen könnte neben der Oper ein zweites mit muſikaliſchem Ausdruck
begleitetes Muſikdrama ſich entwickeln, falls nämlich eine ſpätere Entwick-
lung der Kunſt und der geiſtigen Anſchauungsweiſe überhaupt dahin führte,
Stoffe in der Art und Weiſe der griechiſchen Tragödie zu finden, die, in
der Mitte zwiſchen Oper und Wortdrama liegend, für muſikaliſche Decla-
mation ſich eigneten, ethiſch dramatiſche Stoffe, welche feierlich innigen
und kräftigen Ausdruck, aber keine breitere muſikaliſche Ausführung ver-
langten, ſo daß eben dieſe Mittelgattung die richtige für ſie wäre.
So hoch der declamatoriſche Geſang in den ſo eben hervorgehobenen
Beziehungen ſteht, ſo falſch wäre es nun aber deßungeachtet, in ihm die
höchſte oder gar einzige Form des über die Liedform hinausſtrebenden Ge-
ſanges zu erblicken. Es iſt Muſik in ihm, aber keine freie und ganze
Entfaltung der Muſik; er löst die Rede in Muſik auf, aber er bindet die
Muſik an Sylben, Worte, Sätze, Metrum; er kommt nicht oder nur zu-
fällig zur Realiſirung der der Muſik eigenthümlichen Formen gleichartiger
entſprechender Perioden; er führt immer von einer Wendung zur andern,
läßt keinen Gedanken ſich ſelbſtändig entwickeln, er wirkt nur in und mit
dem Worte, unterſtützt nur den Eindruck des letztern, es kommt in ihm
kein Tongebilde zu eigener Conſiſtenz, ſondern das Ganze ſchwebt oder rauſcht
vorüber wie das verhallende Wort ſelbſt; der muſikaliſchen Phantaſie wird
Nichts geboten, ſie geht leer aus, es war doch nur ein momentaner, mu-
ſikaliſchrhythmiſch erwärmter und belebter declamatoriſcher, nicht ein wirklich
muſikaliſcher Eindruck, den wir erhielten, das Einzelne des Inhalts ließ
auch hier die Form, die Kunſt nicht zu ihrem Rechte gelangen; ja der
Ausdruck ſelbſt trat ebendarum nicht voll und wirkſam genug hervor, weil
es nicht zur Entwicklung breiterer Formen kam, innerhalb welcher die einen
beſtimmtern Ausdruck bedingenden Mittel wirklich hätten vollſtändiger an-
gewandt werden können, kurz es war eben mehr Eindruck als Ausdruck,
es war muſikaliſche Rede, aber nicht Muſik. Es kann daher kein Zweifel
ſein, daß es auch noch eine andere, das Einzelne der Stimmung charak-
teriſtiſch mit vollem Ausdruck malende Art der Vocalmuſik geben muß, in
der nicht blos Muſik iſt, ſondern die ganz und vollkommen Muſik iſt. Die
Tonkunſt iſt ſo formenreich, daß es in der That ſonderbar wäre, wenn
[1004] gerade dieß, die concrete Darſtellung eines Empfindungsinhalts in allen
ſeinen Nüancen, Wechſeln, Steigerungen u. ſ. w., ihr verſagt ſein ſollte.
Mit Recitativ und Declamation begann einſt die Kunſtmuſik, aber ſie
ſchritt mit Recht fort zu dem wahrhaft muſikaliſchen Empfindungsgeſange,
zur Arie, ſie gerieth hiebei in einſeitige Cultivirung der Form auf Koſten
des Ausdrucks, aber dieſe vorübergehenden Verirrungen beweiſen gegen die
Wahrheit der Sache ſo wenig als überhaupt bekanntlichſt der Mißbrauch
jemals den rechten Gebrauch aufheben kann. Im Gegentheil, die Arie iſt
die Krone aller monodiſchen Vocalmuſik, ſie einigt den charakteriſtiſchen
Ausdruck des Einzelnen wiederum mit der ſtrengeren Form und dem leben-
digen Fluß der Melodie, ſie iſt das recitativiſchdeclamatoriſch gewordene
und doch wiederum vollkommen melodiſche Lied. Gerade weil die Arie
Beides zumal iſt, kann bei ihr leicht einſeitig das eine oder andere Element
geltend gemacht werden; überwiegt das Streben nach charakteriſtiſchem Aus-
druck, ſo nimmt ſie leicht die gebrochene, kühle Recitativform oder die pathe-
tiſche und doch bis zur Nüchternheit conciſe Form der dramatiſchen Decla-
mation an; iſt aber die Tendenz vorhanden, das rein muſikaliſche Element,
die Periodicität der Gliederung oder die reiche Entwicklung oder den Fluß
und Reiz der Melodie zur Geltung zu bringen, ſo wird ſie leicht ſteif
formaliſtiſch oder andrerſeits mit ſog. ſchönen Gedanken und deren Wieder-
holungen überladen oder weich, charakterlos, ja am Ende ein leeres, ſchnör-
kelhaftes Singſtück, das zu nichts Anderem nütze iſt als um die Kehlen-
fertigkeit des Sängers zu zeigen. Auch können ſehr wohl Mißgriffe in
der Anwendung der einzelnen Formen der Arie gemacht, z. B. eine Arie
mit reicher und darum an ſich der Wiederholung wohl werther Melodieent-
faltung in eine Situation verlegt werden, deren Eigenthümlichkeit nicht
geſtattet, daß das lyriſche Element der Herzensergießung ſich breit mache,
den Gang der Handlung aufhalte, während wir anderswo gerade da, wo
eine ſolche Ergießung ganz am Platze wäre, mit einer viel zu kurzen, un-
entwickelten Melodie abgefertigt werden. Allein dieß Alles beweist nichts
gegen die Arie ſelbſt, ſondern gegen Geſchmack und Takt des Componiſten;
ſoll es überhaupt Muſik als eigene Kunſt und nicht blos halbmuſikaliſche
Rhetorik geben, ſoll die ganze Muſik nicht auf den Standpunkt des ſechs-
zehnten Jahrhunderts oder vielmehr der atheniſchen Tragödie zurückgeſchraubt
werden, ſo iſt die Arie, die Rouſſeau mit Recht das Meiſterſtück der (Vo-
cal-)Tonkunſt nennt, in ihrer bleibenden Bedeutung anzuerkennen. Nur
in ihr ſpricht das Gemüth das was es erfüllt ganz, nach allen Seiten,
in ungehemmtem Erguſſe aus, nur in ihr legt ſich die Seele ganz hinein
in den Geſang, nur in ihr kommt das Individuelle zu ſeiner muſika-
liſchen Darſtellung, nur in ihr fühlen wir vollkommen mit, was das Innere
des Andern bewegt, da das Lied und der Chor jedes in ſeiner Art hiefür
[1005] zu allgemeiner Natur ſind; nur von der Arie empfangen wir den Eindruck
des vollkommenen, reine Form und charakteriſtiſche Wahrheit, Gefühlsinnig-
keit und ſcharfe pſychologiſche Entwicklung der einzelnen Gefühlsmomente
in ſich verknüpfenden Kunſtwerks der Vocalmuſik. Recitation iſt indirecter,
Declamation directer Idealiſmus, das Lied und die Arie vereinigen beide,
neigen ſich nach der einen oder andern Seite vorzugsweiſe hin, nur wie-
derum beide in verſchiedener Weiſe, das Lied hat zu wenig Raum, um beide
Elemente zu umfaſſenderer Entfaltung kommen zu laſſen, die Arie aber geht
zunächſt ein in die ganze Breite und concrete Beſtimmtheit des indirecten
Idealiſmus, weiß aber doch wiederum mittelſt ihrer periodiſchen Gliederung,
mittelſt ihrer innigen Verbindung und flüſſigen Verſchmelzung der Theile
das hohe, klare, einfach ſchöne Gepräge directer Idealiſirung demſelben auf-
zudrücken. Die verſchiedenen Formen der Arie ergeben ſich einfach daraus,
daß ſie entweder lyriſche oder dramatiſche Arie iſt, und daß ſich die eine
oder andere entweder mehr dem Liede oder dem Recitativ und Sprechgeſang
annähert; im erſten Falle findet ſtrophen- oder rondoartige Ausführung,
Wiederholung, Entwicklung der Gedanken und abgemeſſenere Periodiſirung
ihre Stelle, wogegen im zweiten der einfache Ausdruck des Inhaltes das
Ueberwiegende iſt. Welche Form anzuwenden ſei, ergibt ſich im einzelnen
Falle aus ihrem Zweck und aus der Situation, in der ſie geſungen wird
(vgl. S. 955). Ganz falſch iſt es natürlich, der Arie, die ſich ganz den
jeweiligen individuellen Empfindungen anzuſchmiegen hat, eine feſte allge-
meingültige Form geben und z. B. vorſchreiben zu wollen, daß und wie
einzelne Hauptgedanken wiederholt werden ſollen; das Eigenthümliche der
Arie iſt vielmehr, keine Form, d. h. wohl Form (rein muſikaliſche, melo-
diſche Form), aber nicht irgend eine beſtimmte Form zu haben, ſondern die
Form ganz dem Inhalt gemäß zu bemeſſen. Die Wiederholung wird ſtets
am Platze ſein, wenn die Situation ſo iſt, daß das Individuum als von
einer Empfindung beherrſcht, immer wieder auf ſie zurückkommend erſcheint;
auch in ſolchen Fällen, wo ja die Wiederholung gerade höchſt dramatiſch iſt,
ſie als undramatiſch, den Gang der Handlung ſtörend zu bezeichnen, wäre
ein abſolutes Mißverſtändniß einer modernen, einſeitig den dramatiſchen
Fortſchritt betonenden Richtung, die, wenn ſie folgerichtig ſein wollte, auch
aus dem Drama alle Expoſition der Gedanken und Gefühle verbannen
und aus ihm ein wahres Todtengerippe, eine geiſt- und lebloſe Folge von
Begebenheiten und Situationen zu machen verſuchen müßte. Das Richtige
über dieſe Frage liegt ſchon bei Mozart vor, der ſich, die bekannten Bra-
vourarien abgerechnet, von aller Schulform emancipirt und ganz nach Erfor-
derniß der einzelnen Fälle Arien theils von liedartiger, ſtreng periodiſirter, wie-
derholender, theils von ganz freier, lediglich dem Ausdruck folgender Form
componirt, übrigens auch in Arien der letztern Art keineswegs pedantiſch
[1006] prinzipiell alle und jede Wiederholung vermieden, ſondern, wo ſie natürlich
und zur einheitlichen Abrundung des Ganzen paſſend war, ſie gleichfalls
zur Anwendung gebracht hat (Tamino im erſten, Saraſtro im Anfang des
zweiten Acts der Zauberflöte). Wie ſehr ſodann im Weſen und in der
Form der Arie als der ganz freien Darlegung des Empfindungserguſſes
namentlich Dieſes liegt, dem Verlaufe, den Wechſeln, den Steigerungen
des Gefühls ungehemmt nachzugehen und durch dieſe lebendige Veranſchau-
lichung der Pulsſchläge des Herzens, durch voll und energiſch ſich entfal-
tenden Bewegungsrhythmus gerade wahrhaft dramatiſch, ja noch dramati-
ſcher als das Schauſpiel zu wirken (keineswegs aber, wie man meint, den
dramatiſchen Ausdruck zu ſtören), bedarf nur kurzer Erwähnung; mit der
Arie wäre nicht blos die Muſik, ſondern eine Hauptgattung des Drama
ſelbſt, das rein muſikaliſche, nur in der Muſik den adäquaten Ausdruck
ſeiner bewegtern Stimmungen und Situationen findende Drama, aus dem
Kreis der Künſte herausgeriſſen und vernichtet. Auf einen weſentlichen
Unterſchied zwiſchen Sprechgeſang und Arie iſt noch hinzuweiſen; die Decla-
mation ſchließt die Inſtrumentalbegleitung nicht gerade nothwendig aus,
namentlich die dramatiſche nicht, deren größere Erregtheit wohl durch Mit-
wirkung von Inſtrumenten ſtärker hervorgehoben werden kann, aber ſelbſt
hier darf dieſe Mitwirkung nur eine im eigentlichſten Sinne des Worts
„begleitende“ ſein, ſich aber nicht für ſich geltend machen wollen; die Decla-
mation ſchließt ſich ſo unmittelbar an das Wort an und verdankt alle ihre
Wahrheit und Wirkſamkeit ſo ſehr eben nur dieſer Unmittelbarkeit, mit der
ſie die einzelnen Worte und Sätze mit zutreffendem Ausdruck, Accent und
Ton hervorhebt, daß eine ſelbſtändigere Inſtrumentalmuſik ihre Klarheit
und Schärfe nur trüben, ihre Einfachheit nur in Schatten ſtellen, die
diſtincte Auffaſſung auf Seiten des Hörers nur unmöglich machen würde.
Noch mehr gilt dieß von der lyriſchen Declamation; auch neben ihr müſſen
die Inſtrumente entweder ſchweigen oder mit einer Begleitung ſich begnügen,
die den einfachen, kunſtloſen Eindruck der geſungenen Worte nicht ſtört und
beeinträchtigt durch Hinzuthat concreterer, den zarten Hauch, der über dem
Ganzen ſchwebt, verwiſchender, die reine ätheriſche Klarheit zerſtörender
Formen. Bei der Arie dagegen verhält es ſich in dieſer Beziehung gerade
wie bei dem Recitativ und dem kunſtreichern Liede; die malende Charakteriſtik
der Arie fordert mit Recht noch eine genauere Individualiſirung durch In-
ſtrumente, und auch der Eindruck, den die Arie machen ſoll, der Eindruck
des Ueberfließens des Gefühls in rückhaltloſe volle Aeußerung ſeiner ſelbſt,
wird nur erreicht, wenn die Stimme nicht allein ertönt, ſondern Orcheſter-
töne ſich zugeſellt, deren Harmonie und Klangfülle die ganze Tiefe und
Weite der Gemüthsbewegung, welche in den Einzeltönen der Melodie ſich
ausſpricht, veranſchaulichen; die Melodie für ſich, eben weil ſie nur ein
[1007] Nacheinander von Einzeltönen iſt, reicht nicht zu, um die Wärme und
Erregtheit des in allen ſeinen Regionen lebendig bewegten Gemüths voll-
kommen zur Erſcheinung zu bringen, dieß geſchieht erſt durch die Harmonie,
die mit dem Einzelnen das Ganze, mit dem Einfachen das Volle, mit der
Empfindung die Geſammtſtimmung gibt. Beſchränkt man die Vocalmuſik
auf declamatoriſchen Geſang, ſo ſei man ſo conſequent und gebe aller rei-
chern Inſtrumentalbegleitung den Abſchied; will man aber dieſe haben, ſo belaſſe
man es auch bei demjenigen; wozu ſie allein paßt, bei der Arie, wie ſie
durch Mozart zur Vollendung gekommen iſt. Es verſteht ſich, daß die
Begleitung dem Geſange untergeordnet bleiben muß, ſelbſt wenn ſie ſich
noch ſo reich und bedeutungsvoll ausbreitet; das Orcheſter kann ſelbſt im
Drama (blos mit Ausnahme ſolcher Fälle, wo es die Aufgabe hat, eine
neben dem Geſang hergehende Handlung, auf die er ſich ſelbſt bezieht, zu
veranſchaulichen) trotz aller concretern Individualiſirung der Figuren, Läufe
u. ſ. w. vorherrſchend doch nur mitſingen, nicht aber neben dem Geſange
ſelbſtändige Inſtrumentalmuſik aufführen wollen; ſeine Beſtimmung iſt zu-
nächſt einzig die, den Geſang zu heben und zu tragen, zu bewirken, daß
er mit der ganzen Innigkeit, mit der ganzen fließenden Weichheit, mit der
geſättigten vollen Kraft, mit der klaren Individualiſirung, die er eben in
der Arie haben muß, der empfindenden Phantaſie vorgeführt werde und ſo
in ihr mit derſelben Wärme und derſelben Beſtimmtheit des Eindrucks ſich
reflectire, mit welcher er aus dem Gemüthe des bewegten Individuums ſelbſt
hervortönt. Das iſt eben das Eigenthümliche der Arie, das Subjectivſte,
Individuellſte unmittelbar auszuſprechen und mitzutheilen, das Innerſte und
Verborgenſte herauszukehren, die Seele ſelbſt und was ſie bewegt überflie-
ßen zu laſſen in die Seele des Hörers; mit der Arie treten wir aus dem
Gebiete des Allgemeinern ganz und vollkommen hinein in das der einzelnen
Perſönlichkeit; dieſes Perſönliche mit ſeiner ganzen Eigenheit und Eigen-
thümlichkeit anſprechend, penetrant und ergreifend (wie Lied und Sprechge-
ſang), klar und anſchaulich (wie das Recitativ) hinzuſtellen, es herauszu-
leiten aus der ideellen Welt des Innern in die reale objective Welt iſt ihr
Beruf, daher ſie auch auf Seiten des Künſtlers eine „Objectivität“, eine
Fähigkeit das Subjectivſte in einfach zutreffenden, unmittelbar anſchaulichen
Formen zu reproduciren, vorausgeſetzt, die ihm nur eine reiche Phantaſie,
verbunden mit ebenſo großer, das Weſentliche direct erfaſſender Schärfe und
Klarheit des Geiſtes, ſowie mit feiner Empfänglichkeit für das Charak-
teriſtiſche gewähren kann. Nirgends iſt, weil alle dieſe Bedingungen nicht
überall beiſammen ſind, ſo viel Werthloſes, theils Steifes und Trockenes,
theils Inhaltloſes, blos formell Melodiſches producirt worden als auf dem
Gebiet der Arie; aber nirgends kommt auch die ganze Lebendigkeit und
Wärme der Muſik ſo wie in ihr zu Tage, wenn ſie nicht durch Unvermögen
oder Ungeſchmack verkümmert und verdorben wird.
[1008]
Die ſeit Gluck ſo vielfach beſprochene formelle Frage, ob die Arie der-
geſtalt an das Wort gebunden ſei, daß auf jede Sylbe nur Eine oder
höchſtens in Ausnahmefällen etliche Noten weiter fallen dürfen, erledigt ſich
einfach durch die Unterſcheidung zwiſchen ihr und dem declamatoriſchen Ge-
ſange. Nicht einmal dieſer iſt (wie auch das Lied ſeiner allgemeinern Hal-
tung ungeachtet nicht) ſo mechaniſch an die Sylbenfolge gekettet, daß er
nicht hie und da, wo mit einem Worte oder Satze der Strom der Empfin-
dung ſeinen Culminationspunct erreicht, weiter ausholen, das Gewicht,
das auf ſolche Puncte fällt, durch ausgeführtere melodiſche Wendungen
ausdrücken, daß er ebenſo nicht hie und da Manches wiederholen dürfte,
was von beſonderer Bedeutung iſt; Form und Inhalt kämen ja mit einan-
der in Widerſpruch, wenn der letztere auch da, wo er eine beſtimmtere
Markirung, ein Verweilen auf ihm fordert, ganz ebenſo kurz und ſchnell,
d. h. (S. 908) ganz ebenſo ungewichtig wie weniger gewichtige Momente,
behandelt würde. Noch viel weniger aber kann an die Arie eine Anfor-
derung dieſer Art geſtellt werden. Die Muſik iſt nun eben einmal die
Kunſt, welche zur Rede hinzutritt, um den dieſer letztern nicht erreichbaren
vollſtändigen Ausdruck der Wärme und Tiefe der Empfindung zu ihr hin-
zuzuthun, ſie „fängt da an, wo die Rede aufhört“; die Rede iſt etwas
Practiſchzweckmäßiges, ſie iſt der conciſe Gedankenausdruck, der
zum Behuf klarer und leichter Mittheilung des Gedachten aus einfachen,
leicht überſchaulichen Bezeichnungen (Worten) und Combinationen derſelben
(Sätzen) beſteht, und der ebendarum unverweilt vom Einen zum Andern
fortſchreitet, um das Gedankenbild in zuſammengedrängtem, ſchnell zuſam-
menzufaſſendem Umriß zu geben; die Muſik aber iſt dieß Alles nicht, ſie
iſt nicht logiſche Bezeichnung, nicht Syllabirung, nicht Abbreviatur, nicht
Geſchwindſchrift, nicht Mittel für den Zweck leichter und ſcharfer Gedanken-
verdeutlichung, zu all Dem wäre ſie außerordentlich unpaſſend gewählt,
ſondern ſie iſt breiter, voller Gefühlserguß, ſie iſt dazu erfunden,
um ſich auszuſingen, wie es einem um’s Herz iſt, um der ganzen das
Gemüth nicht oberflächlich momentan berührenden, ſondern es mehr oder
weniger tief und dauernd beherrſchenden, erfüllenden, ſchwellenden, nieder-
drückenden Bewegtheit einen natürlichen, nichts als ſich ſelbſt bezweckenden
Ausdruck zu geben, wie er ſich vermöge der Einrichtung der menſchlichen
Organiſation im Ton darbietet; die Rede ſetzt für Alles Ein Wort, ſpricht
Alles ein- höchſtens zweimal aus, auch wenn ſich gerade eben an dieſes
Wort, dieſen Namen u. ſ. w. im Augenblick, wo er ausgeſprochen wird,
die tiefſte und mannigfachſt bewegte Gemüthserregung knüpft, die Rede
kann eine ſolche Erregung wohl auch ausmalen in einer Folge von Sätzen,
Strophen, Gedichten, aber an einem einzelnen Punkte, wenn er auch inner-
halb des Ganzen noch ſo ſchwer wiegt, kann ſie nicht ſtillhalten, höchſtens
[1009] durch die Stellung im Satze und durch accentuirten Vortrag ſeine hohe
Bedeutung einigermaßen andeuten, denn die Logik oder der Umſtand, daß
ſie logiſche Gedankendarſtellung iſt, geſtattet es nicht anders; die Muſik
dagegen iſt von dieſer Gebundenheit frei, ſie muß ſie abwerfen, da ſie ſonſt
eben das ihr eigenthümlich Zukommende, das Gefühl, zurückdrängen, ver-
ſchweigen müßte, ſtatt es kundzuthun, und ſie kann ſie abwerfen, da das
längere Verweilen auf einem Puncte, wenn es nicht übermäßig iſt, die
Symmetrie und Ueberſchaulichkeit, die natürlich auch der muſikaliſche Aus-
druck haben muß, nicht beeinträchtigt, ſondern im Gegentheil die Gleichför-
migkeit des ſtreng periodiſchen Melodienbaus in ganz berechtigter Weiſe
durch Auslaſſungen dieſer Art unterbrochen wird. Rede und Muſik haben
nicht daſſelbe Tempo (Zeitmetrum), die Muſik richtet ſich in ihrem
Tempo, in ihrem Eilen und Verweilen nach der Empfin-
dung, nicht nach Begriff und Wort; „der Gedanke“, ſagt Moritz
ganz richtig, „hat Licht, die Empfindung Fülle; der Gedanke kann ſich auf
einmal äußern, die Empfindung nur nach und nach ſich ihrer Fülle entle-
digen; der Gedanke iſt ein Blitz, die Empfindung die regenſchwangere Wolke,
ihr Erguß iſt der langſamere oder ſchnellere Tropfenfall“. Die Läugnung
dieſes Unterſchieds zwiſchen Rede und Muſik, die Behauptung der ſyllabi-
ſchen Melodie als der einzig zuläſſigen iſt derſelbe Widerſpruch, wie wenn
man der lyriſchen Poeſie die Ausmalung einer Empfindung durch mehrere
Strophen hindurch verbieten, die Dispoſition der Scenen eines Drama’s,
die Skizze eines Gemäldes u. ſ. w. für den beſſern Ausdruck der Idee des
Ganzen erklären wollte, weil ſie alles überflüſſige Beiwerk bei Seite laſſe,
oder weil, wie Wagner und ſeine Schule in Bezug auf die Oper behauptet,
die breite Ausführung an dem Widerſpruch leide, das was blos Mittel
für den Ausdruck ſei zur Hauptſache zu machen. Melodie in der Muſik,
Ausführung in der Poeſie, Muſik im muſikaliſchen Drama ſind Zweck, nicht
Mittel (außer ſoweit alles Einzelne, was Zweck iſt, auch wieder Mittel iſt
für irgend etwas Allgemeineres, für vollſtändige Realiſirung der Idee der
Kunſt, ſowie für Förderung und Bereicherung des Geiſteslebens überhaupt),
Muſik und Kunſt überhaupt wollen nicht belehren, ſondern ſchön und aus-
drucks voll darſtellen (wiewohl ſie hiemit indirect auch Dieß und Jenes mit
tiefem Eindruck lehren können), man will in der Kunſt die Idee in voller
Realität, nicht in dürftig ſymboliſcher Andeutung, nicht in einem Ausdruck,
der blos Mittel iſt, man will ſehen, hören und genießen, und inſofern iſt
eine in Coloraturen, Läufen, Cadenzen das Maaß überſchreitende Arie,
wenn ſie nur Vocal- und nicht Inſtrumentalmelodie darbietet und keine
unnatürlichen Anforderungen an das Organ macht, immer noch dramatiſch
muſikaliſch, weil auch in dieſen Figuren an ſich ein immerhin adäquater
Ausdruck der ſtärkern Bewegtheit des Gemüthslebens, wie ſie eben im Drama
[1010] nicht im lyriſchen Lied zu Tage tritt, gegeben iſt. Die Arie iſt nicht blos
einfache Melodie, wie das Lied, ſondern auch figurirte; die Figuren mit ihren
ſchnell auf einander folgenden Wendungen ſtellen das Unruhige, aus dem
Gleichgewicht herausgehobene, unendlich Wechſelvolle der Gemüthsbewegtheit,
die Rouladen das ganze und volle Sichausladen und Sichauslaſſen der
durch alle Tonregionen hindurcheilenden, das ganze Tongebiet durchmeſſen-
den, nur durch dieſes Sichausbreiten zu größern Tondimenſionen
ſich ſelbſt genügenden Empfindung ſo treffend dar, daß gegen ihre (richtige)
Anwendung in der That nichts mit Fug eingewendet werden kann. — Um-
gangen werden konnte die Erörterung dieſer Fragen, obwohl ſie ganz einfach
mit der Frage, ob es eine Muſik überhaupt geben ſolle oder nicht, zuſam-
menfallen, an dieſem Orte deswegen nicht, weil neuerdings „die muſikaliſche
Melodie“ für undramatiſch erklärt worden iſt; wir beſtreiten die Möglich-
keit eines blos recitativiſch-declamatoriſchen muſikaliſchen Drama’s gar
nicht, aber wir leugnen, daß es das einzige und höchſte ſei, wir können
ihm nur einen ſehr engen Kreis, der über den der antiken Tragödie nicht
hinausginge, zuweiſen, und wir müßten zudem namentlich rückſichtlich der
mehr lyriſchen Partieen eines ſolchen einfachethiſchen Drama’s (auf welches in
der That das Kunſtwerk der Zukunft, wie es S. 208 u. ſ. f. ſich exponirt, hinaus-
kommt) als Hauptbedingung ſeiner etwaigen Entſtehung ein Wiederaufleben
einer einfachen ethiſchreligiöſen Anſchauungsweiſe und einer damit gegebenen
einfach humanen Gemüthsinnigkeit betrachten, zu welcher in Betracht der
geſpannten Verhältniſſe und der reflectirten, in ſich geſpaltenen Bildung des
modernen Lebens die Zeit wohl noch nicht da ſein dürfte. In Bezug auf
die bisherige dramatiſche Muſik aber iſt der Theorie der Zukunftsmuſiker
entgegenzuhalten, daß wir dramatiſch declamatoriſche Muſik ſchon längſt in
Fülle haben, und daß ſie alſo nicht erſt geſchaffen oder aus vermeintlichem
Untergange wieder hergeſtellt zu werden braucht; wir finden in Enſemble-
ſtücken, Quartetten, Terzetten, auch in Arien unſrer klaſſiſchen Opern ſehr
häufig, nämlich in allen Stellen, wo der Geſang mehr dem parlando als
der Melodie ſich nähert (ohne doch förmlich recitativiſch zu werden), den
Sprechgeſang ganz richtig angewendet; auch den Vergangenheitsmuſikern
war es von ſelbſt klar, daß in dramatiſchen Werken nicht Alles breit melo-
diſch fließend und ebenſo wenig Alles recitativiſch gebrochen, mit recitativi-
ſcher, das Einzelne geſondert hervorhebender Umſtändlichkeit componirt wer-
den kann, und die Vertheidiger der Zukunftsmuſik irren ſich mithin gewaltig,
wenn ſie uns ſagen, unſer jetziger muſikaliſcher Geſchmack ſei durch die „muſi-
kaliſche Melodie“, die uns noch immer „in den Ohren klinge“, ſo verdorben
und verwöhnt, daß er eine nicht abſolut muſikaliſche, declamatoriſche Melo-
die gar nicht mehr zu begreifen im Stande und daher auch einer richtigen
Würdigung der neueſten Richtung unfähig ſei.
[1011]
Recitativ und Arie haben zwar ihren Hauptort in größern lyriſchen,
epiſchen, dramatiſchen Werken, in Cantate, Oratorium und Oper; ſie waren
aber deßungeachtet ſchon hier zu betrachten; ſie entſtehen doch nicht einzig
und allein erſt mit dieſen breitern Muſikformen; das Recitativ bildet ſich,
wie oben erwähnt, ſchon aus dem umfangreichern Liede hervor, es iſt auch
Theil von dieſem, die Arie aber kann auch ſelbſtändig beſtehen als muſika-
liſcher Ausdruck einer Empfindung oder Stimmung, die durch Inhalt, Cha-
rakter, Situation ſo concret iſt, daß die Liedform zu allgemein für ſie wäre.
Allerdings aber iſt auch die Arie, dem Recitativ hierin gleichfalls verwandt,
vorzugsweiſe Theil eines größern Ganzen, da innerhalb des Verlaufs eines
ſolchen ſich am eheſten und am klarſten ſolche „concrete“ Stimmungen er-
geben, für welche die Arie die charakteriſtiſche Form iſt.
§. 803.
Dem Liede und den monodiſchen Formen des Recitativs und der Arie
ſtehen gegenüber die polyphonen Gattungen der Vocalmuſik, welche
von den mehrſtimmigen Soloſätzen (Duetten u. ſ. w.) an in immer ſteigender
Mannigfaltigkeit und Verwicklung ſich bis zu mehrchörigen Compoſitionen aus-
breiten und zugleich der Anwendung der kunſtreichern Formen der Figurirung
und Verflechtung der Stimmen, der Nachahmung und Fuge, des Canons und
Contrapuncts Raum verſtatten.
Die Polyphonie iſt der Vocal- und Inſtrumentalmuſik gemeinſam und
wurde daher ſchon bei den allgemeinen Formen des muſikaliſchen Kunſtwerks
beſprochen. Allerdings aber iſt der Geſang das Hauptgebiet für die ſyſte-
matiſch durchgeführte Polyphonie. Die Geſangſtimmen ſind zwar nicht man-
nigfaltigere, aber gewichtvollere, ſelbſtändigere Größen als die Inſtrumental-
ſtimmen, weil in jenen die menſchliche Subjectivität ſelbſt unmittelbar ſich
ausſpricht, und daher gehört die Polyphonie, deren Weſen und eigenthüm-
licher Eindruck eben im Zuſammentönenlaſſen ſelbſtändiger, in ihrem Zu-
ſammenſein ſelbſtändig bleibender, mit ſelbſtändigem Gewicht ſich vernehmen
laſſender Einzelſtimmen beſteht, vorzugsweiſe dem Geſange an. Auch hat
nur der Geſang in allen Lagen die einfache Helligkeit und Klarheit, die
Diſtinctheit, die deutliche Unterſcheidbarkeit der zuſammenerklingenden höhern
und tiefern Stimmen, die erforderlich iſt, um die polyphone Muſik recht
durchſichtig zu machen — ſelbſt die in den mittlern und obern Lagen ſo
helltönenden Rohrblasinſtrumente werden in der Tiefe dumpfer, wogegen
der Baß der Menſchenſtimme ſo voll, rund und klar iſt, wie irgend eine
andere Stimmregion, — und ſomit iſt auch von dieſer Seite her der Ge-
ſang das Hauptgebiet für die ſyſtematiſche Polyphonie, beſonders für die
[1012] Fuge, deren Haupteffect, das lebendige, unendlich ſchwungreiche Durcheinan-
derwogen der neben einander doch klar vernehmlich bleibenden Stimmen,
für die Inſtrumentalmuſik nicht in gleichem Grade erreichbar iſt. Jedoch
wie die kunſtgerechtern und ſtrengern kann der Geſang auch die freiern und
leichtern polyphonen Formen für lyriſche, beſonders religiöſe, und für dra-
matiſche Zwecke benützen; für ſie hat das Vocaltonſyſtem vollends Hellig-
keit, Beweglichkeit, Combinationsfähigkeit genug; eine und dieſelbe Gattung,
Duett, Terzett u. ſ. w., Chorgeſang kann entweder freier, einfach melodiſch,
lied-, recitativ-, arienartig, als Zuſammen- und als Wechſelgeſang, oder
ſtrenger, figurirt, mit Stimmenverflechtung, contrapunctiſch u. ſ. w. behandelt
werden. Die muſikaliſche Aeſthetik hat hier nichts zu thun, als auf die
großartige Mannigfaltigkeit ſchöner und charakteriſtiſcher Geſtaltungen, welche
hier der Tonkunſt offen ſtehen, einfach hinzuweiſen und formzerſtörenden
modernen Theorieen gegenüber, welche conſequenterweiſe auch ſie angreifen
müſſen, die Berechtigung und Nothwendigkeit aller dieſer Gattungen har-
moniſch-melodiſcher Vocalmuſik aus denſelben Gründen feſtzuhalten, welche
uns nicht erlaubten, mit J. J. Rouſſeau der Harmonie und mit jenen
Neuern „der muſikaliſchen Melodie“ den Abſchied zu geben. Muſik iſt nun
eben einmal Stimme (nicht Rede), Stimme aber iſt erſtens biegſam und
zweitens eines harmoniſchen Verhältniſſes zu andern Stimmen fähig; ſoll
es alſo Muſik geben, ſo iſt Biegung der Stimme, d. h. Melodie, und
Harmonie der Melodieen auch auszubilden; Muſik iſt ferner nun eben ein-
mal Gefühlsausdruck, zu andern Dingen iſt ſie nicht zu brauchen, ſie hat
Mittel, Gefühle mehrerer oder ganzer Maſſen ſowohl auseinanderzuhalten,
als auch zu harmoniſcher Einheit zuſammenklingen zu laſſen, und zwar ent-
weder contrapunctiſch als Zugleich oder imitatoriſch als ſich ablöſendes
Nacheinander; dieſe Mittel nicht zu gebrauchen, wäre gerade Daſſelbe, wie
wenn die bildende Kunſt blos einzelne Individuen darſtellen, die Poeſie des
Epos und des Drama ſich enthalten wollte; die polyphonen Formen können
alſo nie veralten, das Publikum der Zukunft wird ſtets auch in ihnen um
ſo mehr Befriedigung und Erhebung finden, je weniger die Kunſt ſelbſtän-
dige Stimmen, d. h. Melodieen, nicht bloße Tongänge, in Einheit zu ſetzen,
verloren gehen, und je weniger man dieſe Kunſt, welche das Schwerſte,
Einheit und concreteſte Mannigfaltigkeit in Einem, herzuſtellen weiß, durch
Aeußerlichkeiten frappant ſein ſollender Modulationen, Inſtrumenteneffecte
u. ſ. w. zu erſetzen bedacht ſein wird. Die kunſtgerecht polyphonen Formen
(mehrchörige Compoſitionen mit eingeſchloſſen) genügen nun aber, wie dieß
ſchon §. 784 bemerkt wurde, freilich nicht; den erhabenſten, beruhigendſten,
abſchließendſten, ſeelenvollſten Eindruck gewähren zuletzt doch immer die
einfachern Chöre, bei denen die Selbſtändigkeit der Stimmen doch nur
eine untergeordnete iſt; ſie erheben, ſie ſchließen ab, ſie ergreifen dadurch,
[1013] daß ſie die Einheit wiederum hervorkehren, daß ſie die Tonmaſſe ganz,
ungetheilt und dadurch ſowohl groß als ruhig, einfach und concentrirt zum
Gefühle reden laſſen; nur in ihnen iſt wahre Totalität, ſchwere Wucht,
Auflöſung aller individuellen Bewegungen und Empfindungen in den Strom
Einer univerſellen, allumfaſſenden, die Harmonie des Weltalls nachbildenden,
das Gemüth über alles Einzelne beſeligend hinaushebenden, in ſich geſät-
tigten großen Geſammtſtimmung; mit ihnen, mit den einfachern Chören
langen wir an beim Ende, bei dem höchſten und letzten Sammel- und
Ruhepunct, über den hinaus die Muſik uns nichts mehr zu bieten vermag;
in ihnen faßt ſie alle Kraft, alle Freude, alle Wehmuth, die aufgeboten
werden kann oder dargeſtellt werden ſoll, zu einem Geſammtbilde zuſammen,
das ſelbſt, wenn es trauriger Klaggeſang iſt, die unendlich beruhigende
Wirkung auf uns ausübt, die allem Hohen und Großen, aller Vereinigung
der Einzelexiſtenzen und Einzelkräfte zu Einer Totalwirkſamkeit eigen iſt.
Die einfachern Chöre eignen ſich wohl auch für die Darſtellung erregterer
Maſſenempfindungen, wenn es ſich nämlich um eine ſchlechthin einmüthig
bewegte Maſſe, wie z. B. um Kriegerchöre handelt; das Höchſte aber, was
ſie leiſten können, ſind doch jene zuſammenfaſſenden und abſchließenden Ge-
ſammtſtimmungen, über die hinaus kein weiteres Fortſchreiten der muſika-
liſchen Bewegung ſtattfindet. Allein damit verlieren die ſtreng polyphonen
Formen an ihrem Werthe nichts, ſie ſind da für alle bewegtern und zugleich
die einzelnen Individuen oder Theile eines Ganzen lebendiger durchdringen-
den Mehrheits- oder Maſſenempfindungen, ſie ſtellen die Mehrheit oder
Maſſe als eine in ihren Gliedern, Perſonen, Altern, Geſchlechtern von einer
Stimmung aufgeregte dar, ſie ſind dramatiſcher, wie jene lyriſcher, ſie führen
die Geſammtbewegung der beruhigten Auflöſung in Ein großes Ganzes
erſt entgegen; ſie können zwar (wie z. B. Schlußfugen) in vielen Fällen
auch ſelber abſchließen, indem auch ihnen in Stimmführung und Rhythmi-
ſtrung die Mittel zur allmäligen Herbeiführung eines beruhigenden Total-
eindrucks nicht durchaus fehlen, ſie ſind namentlich dann zum Schluſſe ge-
eignet, wenn das ganze Tonwerk ſo lebhaft erregt war, daß eine Abſchließung
mittelſt polyphoner Muſik im Gegenſatz zum Uebrigen immer noch beruhigend
wirkt, allein eigentlich ſind ſie doch dazu da, die Bewegung in Gang zu
bringen, ſie in’s Weite und Breite auszudehnen, ſie zu ſteigern und zu
vermannigfaltigen, ſie anſchwellen und immer lebendiger wogen und pul-
ſiren zu laſſen, bis der Culminationspunct erreicht und daher die Zeit zu
einfach großem Ausklingen des Ganzen gekommen iſt. Auch in den kleinern
mehrſtimmigen Tonſtücken, in Terzetten u. ſ. w. zeigt ſich dieſer Unterſchied
individuellerer Erregtheit, bei der die Stimmen ſich ſpalten, gegen einander
agiren, einander wechſelvoll ablöſen u. ſ. f., und ruhigerer, allgemeinerer
Haltung, bei der ſie zu Einem Geſammtgeſange verſchmelzen, ohne damit
[1014] ihre Eigenthümlichkeit ganz aufzugeben; man vergleiche z. B. das Terzett
im Anfang des zweiten Acts von Don Juan und das Terzett aus B dur
im erſten Finale, die den Unterſchied beider Arten ſo ſchlagend veranſchau-
lichen. So lange aber dieſer Unterſchied beſteht, werden auch die kleinern
künſtlich polyphonen Gattungen ſtets in Kraft bleiben; es wird namentlich
auch der Canon ſeine Geltung behalten, der die Mittheilung der Empfin-
dung von einem Individuum zu andern, das Auftauchen Eines Gefühls
in mehrern, dabei doch getrennt bleibenden, für ſich ſingenden Perſonen
ganz naturgemäß wiedergibt. Alſo auch hier keine neuen Formen, keine
Umſtürzung des Alten und weil es naturgemäß war auch Bewährten, ſon-
dern richtige Anwendung und Combination der verſchiedenen Gattungen!
Auszuſcheiden oder vielmehr längſt ausgeſchieden iſt nur die contrapunctiſche
Madrigalform, die polyphone Compoſition eines Liedtextes, die eben als
ſolche eine unhaltbare, widerſprechende Kunſtart war; das Richtige iſt für
das Lied ſeinem Begriffe nach uniſon oder harmoniſch begleitete Einſtim-
migkeit; erſt wo verſchiedene Perſonen mit verſchiedenem Geſangsinhalt
auftreten oder wo ein Geſangsinhalt ausdrücklich von verſchiedenen Per-
ſonen zugleich und zwar in ſelbſtändiger Weiſe ausgeſprochen werden ſoll,
tritt die Polyphonie ein, entweder frei oder kunſtgerecht, und entweder
als bloße Mehrſtimmigkeit (Duetten u. ſ. w.) oder als Allſtimmigkeit, als
alle Klaſſen, Geſchlechter, alle Individuen eines Standes u. ſ. w. vereini-
gender Chor, der eben hiedurch, daß er nicht blos Viel-, ſondern weſentlich
Allſtimmigkeit iſt, den univerſell abſchließenden Charakter erhält, welcher ihm
allein eigen iſt.
Die Eigenſchaft des Chors, daß er weſentlich „Allſtimmigkeit“ iſt,
hindert natürlich nicht, daß mehrere Chöre, von denen ſo jeder doch wieder
nur Theil einer noch größern „Allgemeinheit“ iſt, einander gegenübergeſtellt,
ebenſowenig daß Chöre aus Stimmen einer beſondern Tonregion, „Halb-
chöre,“ z. B. Männerchöre mit Ausſchluß des Alts und Soprans, gebildet
werden. Der Begriff der Allſtimmigkeit iſt ein doppelter; es kann darunter
entweder abſolute oder nur relative Allſtimmigkeit verſtanden ſein. Die ab-
ſolute Allſtimmigkeit mit ihrem umfaſſenden, mächtigen Eindruck wird aller-
dings nur erreicht durch einchörige und durch vollchörige, d. h. ſämmtliche
Stimmregionen vereinigende Compoſition (letztere gewöhnlich nicht ganz
treffend „gemiſchter“ Chor genannt); aber auch die relative Allſtimmigkeit
behauptet den Charakter der Großartigkeit, ſei es nun daß ſie als mehr-
chöriger Geſang zwei oder mehr ſelbſtändige Ganze gegen einander und
zuſammenführt, wodurch die erhabenſten und ſchlagendſten dramatiſchen
Wirkungen erreicht werden können, oder daß ſie als Halbchor auftritt, und
zwar insbeſondere als vollkräftiger Männerchor (da die obern Stimmen
wegen des Mangels der ſubſtantiellen Baßbaſis ſich zu ſelbſtändigem Chor-
[1015] geſange weniger eignen). Der Männerchor iſt an ſich nur Halbchor, aber
er hat die Mittel, die weſentliche Eigenſchaft des Ganzchors, d. h. das
Vereintſein tiefſter, mittlerer und höherer (nach oben zu abſchließender)
Stimmregionen, auf ſich ſelbſt überzutragen, ſofern der Tenor vom unterſten
Baſſe durch Höhe wie durch helle und weichere Klangfarbe ſich ſo ſpezifiſch
unterſcheidet und zugleich in Folge dieſes weiten Abſtandes ſo entſchieden
nicht nur Eine, ſondern zwei Mittelſtufen zwiſchen ſich und der unterſten
Stimme zuläßt, daß der (drei- oder vierſtimmige) Männerchor ein in ſich
ſelbſt durchaus concretes Abbild des eigentlich allſtimmigen Ganzchors iſt,
welches vor dieſem zudem das Kräftigere der tiefern Lage des Ganzen
voraus hat und ſo gerade ein Hauptmerkmal des Chors überhaupt, das
Kräftiggroße, zu ſpezifiſcher Anſchauung bringt. Im Ganzchor wird dieſes
Kräftiggroße wiederum gemildert und erweicht durch die mitwirkenden Ober-
ſtimmen; im männlichen Halbchor dagegen tritt es für ſich in voller Macht
und Activität heraus, und es entſteht zudem durch die Beſchränkung auf
die Unterſtimmen ein Charakter der Gleichartigkeit, der auch noch ein an-
deres Merkmal des Chores, das gleiche Durchdrungen-, Bewegt-, Begeiſtert-
ſein Aller von Einem Inhalte, Einer Geſammtſtimmung zwar unvollſtän-
diger, aber unmittelbarer und darum ſchlagender als der Ganzchor veran-
ſchaulicht. Dieſe zwei Momente, das Vollkräftige und das ſprechendere
Hervortreten der Einheit einer Geſammtſtimmung, weiſen dem Männerchor
eine ganz eigenthümliche Stellung unter den Formen der Muſik an, eine
Stellung, durch die er, obwohl er dem Lied gegenüber durch ſelbſtändigere
Stimmenführung ſchon kunſtgerechte Form iſt, doch aus dem Gebiete der
reinen Kunſt zugleich hinüberreicht in das des Lebens und zwar ſowohl
des ſocialen und religiöſen als ganz insbeſondere des nationalen Geſammt-
lebens. Der Männerchor iſt nicht eigentlich „volksmäßig“ — denn er iſt
ja Kunſtform, — aber er iſt national; er iſt auch ſocial und religiös,
aber er iſt für den geſelligen Zweck doch nicht einfach, leicht, populär, für
den religiöſen, gemeindlichen nicht allumfaſſend, nicht menſchheitlich genug;
national dagegen iſt er im vollſten Sinne des Worts, er hat noch nicht
die Schwierigkeiten und Feinheiten der ſtrengen Polyphonie und iſt ſo immer
noch „volksthümlich,“ er hat das zarte Nebenelement des Ganzchors nicht
mehr, ſondern repräſentirt durch ſeine reine Männlichkeit ſowie durch ſeine
individualiſirtere und kunſtmäßigere Stimmführung eben die „Nation,“ das
Volk als active, ihrer ſelbſt energiſch bewußte, von höhern Ideen kräftig
beſeelte, gebildete, aus frei zum Ganzen mitwirkenden Gliedern (S. 899)
beſtehende Geſammtheit. Natürlich eignet er ſich aus all dieſen Urſachen
auch zum Geſellſchaftlichen im Unterſchied vom blos Geſelligen, zum Aus-
druck der von einer Geſellſchaft vertretenen ethiſchen, künſtleriſchen Ideen,
aber doch vorzugsweiſe zum Nationalen, weil doch erſt in dieſem die ganze
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 66
[1016]Kraft und Vollſtimmigkeit, welcher der Männerchor fähig iſt, zur vollſtän-
digen Anwendung gelangt. Mit dem Männerchor wird ſo die Kunſtmuſik
unmittelbar praktiſch, ſie tritt in’s Leben hinein oder zurück mit einigender,
erhebender, maſſenverſchmelzender, allbegeiſternder Kraft; der Männerchor
bildet die Brücke, über welche die Kunſtmuſik überhaupt, auch mit ihren
ſtrengern Formen, allmälig in’s Leben der Geſammtheit hinüber ſich ver-
pflanzen kann, er macht auch die Kunſtmuſik zur Volksmuſik, er zieht ſie
aus der engen Sphäre muſikaliſcher Gelehrſamkeit heraus und führt ſie auf
den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um auch dem nationalen Geſammtleben
die erwärmende und einigende Kraft der Tonkunſt einzuhauchen und Das-
jenige, was dort bereits als Gefühl in den Einzelnen lebt, durch die Macht
des Geſangs zu einem alles verſchmelzenden und in immer weitern Kreiſen
zündenden Geſammtheitsausdruck zu bringen. Weiter findet ſich dieß Alles
ausgeführt in der Schrift „der volksthümliche deutſche Männergeſang“ von
Dr. O. Elben, in welcher zugleich die hiſtoriſchen Nachweiſungen über die
allmälige Herausbildung dieſer Muſikform gegeben ſind. Unter den „Män-
nergeſang“ fällt natürlich auch das von Männerſtimmen vorgetragene Chor-
lied (§. 801), und auch von ihm gilt bis zu einem gewiſſen Grade, was
im gegenwärtigen §. über den Männerchor geſagt wurde; aber die drei
Puncte, daß durch ihn der Kunſtgeſang national, der Volksgeſang kunſt-
mäßig und (durch die Stimmführung) ein ſich freier individualiſirender
wird, gehören dem Männerchor eigenthümlich an und machen ihn zu einer
ganz beſonders wichtigen, in ſeiner Art einzig daſtehenden Form der Ge-
ſammtmuſik.
§. 804.
Die Combination der verſchiedenen homophonen und polyphonen Formen
macht es der Muſik möglich, zuſammenhängende größere Geſangwerke
zu ſchaffen, und zwar hauptſächlich Werke kirchlichen Inhalts, ſofern bei
ausgedehntern Vocalcompoſitionen, die nicht dieſer Sphäre angehören, die Noth-
wendigkeit einer ſelbſtändigern Mitwirkung der Inſtrumentalmuſik ſich ſo ſehr
geltend macht, daß ſie nicht der Vocal-, ſondern der aus der Vereinigung beider
2.Hauptzweige entſtehenden Gattung beigezählt werden müſſen. Die verſchiedenen
Arten kirchlicher Geſangwerke unterliegen, ſofern ſie der Muſik zum Theil von
außen her durch die Inſtitutionen des Cultus gegeben ſind, keiner ſtrengern
muſikwiſſenſchaftlichen Beſtimmung; doch laſſen ſich im Allgemeinen unterſcheiden
Werke, in welchen die einfache mehr beſchauliche Verſenkung des Gemüths in
einen religiöſen Inhalt vorherrſcht, dann ſolche, in denen ein gehobenerer mehr
lyriſcher Aufſchwung zum Unendlichen das Charakteriſtiſche iſt, endlich ſolche,
welche, die zwei erſten Arten in ſich aufnehmend, den religiöſen Inhalt in ſeiner
[1017] ganzen objectiv ausgeſprochenen Beſtimmtheit, in ſeiner ganzen Höhe und Weite
dem Subject gegenüberſtellen und die Empfindungen, mit denen es ſich von ihm
erfüllt findet, zu muſikaliſchem Ausdrucke bringen. Nebenarten ſind die mehr
declamatoriſch-recitativiſchen Geſänge, deren Formen weniger feſt und entwickelt
ſind.
1. Die zahlreichen Formen der Vocalmuſik geben der Kunſt Gelegenheit
und Anlaß zu den mannigfaltigſten, wirkungsreichſten Combinationen, durch
welche größere Geſangwerke entſtehen. Monodie, Mehrſtimmigkeit, Poly-
phonie, einfacher und kunſtreich gegliederter Geſang laſſen ſich in vielfachſter
Art contraſtirend einander gegenüberſtellen, verwandtſchaftlich einander bei-
ordnen, nach dem Geſetz rhythmiſcher Steigerung und Wiederberuhigung
mit einander verknüpfen; durch dieſes Verfahren, durch die Combination
der Gattungen, bilden ſich, wie durch architectoniſche Gruppirung großartige
und charakteriſtiſche Gebäudecomplexe, Geſangscyclen, ebenſo belebt durch
Mannigfaltigkeit, Antitheſe und Fortſchritt als erhebend durch den Reich-
thum muſikaliſcher Formen, die hier nach und mit einander, eine die andere
ergänzend und weiter führend, auf den Schauplatz treten. Der geeignetſte
Name für dieſe größern Geſangwerke zuſammen wäre der der Cantate;
er wird jedoch gewöhnlich blos für Geſangwerke weltlichen und allgemein-
religiöſen Inhalts gebraucht, deren äußere Form eine freiere, nicht durch
kirchliche Sitte feſter beſtimmte iſt, ſowie andrerſeits nicht ganz paſſend hie
und da auch für objectiver gehaltene, epiſchdramatiſche Geſangwerke, die in
eine andere Klaſſe von Compoſitionen als die hier zu beſprechenden gehören.
Die Cantate im richtigen Sinne des Worts, als größeres lyriſches Ge-
ſangwerk, iſt eine Reproduction des Liedes auf höherer Stufe und in uni-
verſellerer Weiſe, ſie führt einen Inhalt von allgemein menſchlicher Bedeutung
muſikaliſch aus, einen Inhalt, der nicht blos Einzel-, ſondern Geſammtge-
fühl, und der ebenſo, was die ſpeziellere Geſtaltung betrifft, breiter aus-
einandergelegt, durch genauer eingehende, die Gedanken reicher entwickelnde
ſtrophiſche Poeſie beſtimmter in ſeine einzelnen Momente zerlegt iſt. Je
nachdem dieſe einzelnen Theile ſich mehr für den muſikaliſchen Ausdruck
durch eine oder mehrere Einzelſtimmen oder durch Chöre eignen, werden ſie
den einen oder andern zugewieſen, jedoch ſo, daß auch die Einzelgeſänge
das Gefühl der in der Cantate ſich ausſprechenden Geſammtheit ausſprechen;
die Stimmenvertheilung iſt blos muſikaliſches Mittel des Ausdrucks, indem
z. B. ein lebendiger bewegtes Schmerzgefühl paſſender in der weichern Mo-
nodie- als in der kräftigern Chorform dargeſtellt wird, ſachliche Bedeutung
hat ſie keine, es ſind nicht Arien, Duette u. ſ. w. verſchiedener Perſonen,
ſondern blos einzelner Stimmen, welche die Geſammtheit abwechſelnd in
ihrem Namen reden läßt. Die Inſtrumentalbegleitung iſt der Cantate, wenn
66*
[1018]ſie ſich vollſtändig entwickeln ſoll, nothwendig; bei Feſtcantaten wird ſie
ſchon der verſtärkten Wirkung wegen nicht leicht fehlen; bei religiöſem In-
halte wäre ſie an ſich eher entbehrlich, da auf dieſem Gebiete gerade
durch die Beſchränkung auf den Geſang ein eigenthümlicher Eindruck rein
in ſich verſenkter, rein nur das innere Gefühl ohne alles Nebenwerk aus-
ſprechender, einfachernſter Innigkeit hervorgebracht wird, allein ſie iſt auch
bei religiöſen Cantaten doch das Gewöhnliche, ſofern ſie nicht dem Cultus
dienen und daher bei ihnen die reichere Charakteriſtik dem religiöſen Ernſte
nicht aufgeopfert zu werden braucht. Von ſelbſt verſteht es ſich aber, daß
die Inſtrumentalmuſik dem Geſange weſentlich untergeordnet bleibt; die
Cantate erhält zwar durch die Vertheilung der einzelnen Inhaltsmomente
an verſchiedene Perſonen bereits eine objectivere, ſpezieller charakteriſirende
Geſtalt als das Alles in die Subjectivität des Einzelindividuums ein-
ſchließende Lied, und inſofern bedarf ſie auch mehr malende Charakteriſtik
durch Inſtrumente, welche eigentlich nichts thun, als daß ſie das Prinzip
der Vertheilung an mehrere Stimmen noch weiter fortſetzen, aber die in
der Cantate auftretenden Perſonen ſind ja nicht verſchiedene Perſönlichkeiten,
deren jede etwas Eigenes hätte und zum Ganzen mit hinzu brächte, ſondern
ſie ſind blos Theile, blos Stimmen des Ganzen ſelbſt, in der Cantate über-
wiegt die Einheit immer noch die Beſonderung, und daher kann auch die
Inſtrumentalbegleitung nur den Geſang einleiten und unterſtützen, nie aber
zu ſelbſtändiger Mitwirkung ſich erheben, außer wenn eine Cantate auf ein
ſpezielles, zur Inſtrumentalmalerei aufforderndes Ereigniß, wie Kampf
und Sieg, ihre Beziehung hat, und ſelbſt hier darf dieſelbe ſich nicht ſo
weit ausbreiten, daß dadurch die Wirkung des in Einem Zuge fortſchrei-
tenden Geſanges geſtört würde. In dieſem Ueberwiegen der Einheit über
das Beſondere liegt das Eigenthümliche, zugleich aber auch das Schwierige,
ja Undankbare der Cantate, ſobald ſie ſich, wie z. B. Neukomm’s Oſter-
morgen, zu größerem Umfange ausdehnt; es ſoll Vertheilung, Individuali-
ſirung der Stimmen ſtattfinden und doch nicht bis zu wirklichem Heraus-
treten des Einzelnen aus dem Ganzen fortgegangen, es ſoll die Mittellinie
getroffen werden zwiſchen dem Allgemeinen und Beſondern, es ſoll ſtarke
Färbung und farbloſe Allgemeinheit gleich ſehr vermieden werden, dieß
gelingt nicht immer und tritt auch, wenn es gelingt, nicht ſo von ſelbſt klar
und ſprechend hervor, wie bei Geſangwerken objectiverer Haltung und noch
umfaſſendern Umfanges; kurz die größere Cantate iſt nicht concret genug,
nicht hinlänglich mannigfaltig gegliedert, und auch wieder nicht einfach und
überſchaulich genug, ſie iſt ein weit ausgedehntes Lied, das doch nicht mehr
Lied iſt, ſie iſt eine Mittel- und Uebergangsgattung, die nicht ganz befrie-
digt und daher nur eine beſchränkte Geltung in Anſpruch nehmen kann.
[1019]
2. Die Schwierigkeiten, die bei der blos allgemein religiöſen Cantate
obwalten, verſchwinden bei andern Formen der Geſangmuſik, denen durch
ihre Bedeutung für den Cultus entweder ein einfacherer oder ein beſtimmter
charakteriſtiſcher Typus aufgedrückt iſt. Das Erſte iſt der Fall einmal bei
den kürzern Kirchencantaten (wie ſie z. B. in den erſten Bänden der
neuen Ausgabe S. Bach’s enthalten ſind), indem ſich dieſe auf wenigere,
leichter überſchauliche Theile beſchränken. Sodann bei den ſog. Motetten,
d. h. „Spruchgedichten“; es ſind dieß kürzere, oft nur aus wenigen (bibli-
ſchen oder ſonſther entnommenen) Sätzen beſtehende Texte, welche eine für
das religiöſe Gefühl bedeutende Wahrheit, Erinnerung, Lehre, Andachts-
empfindung enthalten, und welchen nun eine eben dieſer ihrer Bedeutung,
entſprechende, ſie ganz und voll ausdrückende und ausführende mehrſtimmige,
insbeſondere polyphone Compoſition unterlegt wird. Die Motetten ſind,
wenn ſie ſich an Sprüche mehr objectiven, hiſtoriſchreligiöſen Inhalts an-
ſchließen, eine Art didactiſcher Muſik; ſie gehören überhaupt, auch wo ihr
Inhalt ein lyriſch gehobener (z. B. ein Pſalmſpruch) iſt, weniger dem
Gebiet ſubjectiv erregten Aufſchwungs als der objectivern Sphäre einer
ruhiger ſich erbauenden contemplativen Stimmung an, ſie ſtellen ſich
die Aufgabe, einzelne religiöſe Grundgedanken und Grundgefühle, die in
gegebener feſter Form vorliegen, dem religiöſen Bewußtſein in erhebender,
wirkſamer Weiſe gegenüberzuſtellen, und darum eben iſt die Pronuntiation
durch Mehr- und Allſtimmigkeit, durch energiſche, die Gedanken in vereinigter
Kraft der Stimmen und immer neuen Wendungen darlegende Polyphonie,
ſowie dabei Beſchränkung des Textumfangs, Kürze ihre weſentliche Form;
nur beſondere Kunſt iſt im Stande, auch längere, z. B. Choraltexte mit
Anwendung mannigfaltigerer Geſangformen und in größerem Umfange
motettenartig zu componiren und dabei doch den Charakter der Energie
und Gedrungenheit nicht preiszugeben. Auch hier könnte man freilich ſagen:
die Motette mit ihrer im Verhältniß zu ihrem kurzen Texte doch immer
breiten Ausführung iſt ein Irrthum, wie die alte Oper, ſie macht die Muſik,
die blos Mittel des Ausdrucks ſein ſoll, zum Zweck. Allein wenn man
ſo redet, ſo laſſe man doch die Muſik ganz weg und declamire einen reli-
giöſen oder Sittenſpruch einfach und kurz ab, natürlich nicht ohne Aus-
druck; ſieht man denn nicht, daß der muſikaliſche Ausdruck, um den es
doch in der Muſik ohne Zweifel zu thun ſein möchte, wächst, je mehr man
die Muſik ihre Mittel entfalten läßt, und abnimmt, je engere Grenzen
man ihr ziehen will? So iſt es auch hier. Die Motette erfüllt voll-
kommen den Zweck, einem einzelnen Grundgedanken des religiöſen Geſammt-
bewußtſeins einen vollen, erſchöpfenden, hinter der innern Bedeutung nicht
zurückbleibenden Ausdruck zu verleihen, ſie läßt ihn als Allgemeines, das
in den einzelnen Gliedern der religiöſen Geſammtheit ſich lebendig reflectirt,
[1020] d. h. eben in breit ausgeführter Polyphonie auftreten. — Der mehr didac-
tiſcherbaulichen Motette tritt zunächſt gegenüber der Geſang poetiſch ſich
aufſchwingender Andacht, Pſalm und Hymne. Die Formen ſind hier,
namentlich bei manchen nicht einfach lyriſch, ſondern antiphoniſch geglieder-
ten, Wechſelreden verſchiedener Stimmen gegen einander ſtellenden altteſta-
mentlichen Pſalmen, weit mannigfaltiger; je nach Umſtänden kann die
Motettenform, allein oder mit andern gemiſcht, einfacher Chor, ein- und
mehrſtimmiger Sologeſang angewandt werden; nur die großartigere Feſt-
hymne, das Tedeum, bewegt ſich wie natürlich vorzugsweiſe in mehrſtimmi-
gem und polyphonem Geſang. Eine Hauptſache bei Pſalm- und Hymnodie
iſt das Erzielen eines umfaſſenden Totaleindrucks, weit mehr als bei der
mehr auf das Einzelne eingehenden längern Cantate; nur iſt dieſer Total-
eindruck qualitativ ein ſehr verſchiedener, je nachdem der Inhalt mehr in-
dividueller oder allgemeiner, mehr gehobener oder niedergedrückter, dankender,
verherrlichender oder ſehnender, flehender Art iſt. Inſtrumentalbegleitung
iſt bei allen dieſen Muſikgattungen, Kirchencantate, Motette, Hymne mehr
oder weniger entbehrlich, am meiſten bei der ruhiger gehaltenen Motette;
überall kann, wenn es um den Eindruck einfach ernſter Innigkeit zu thun
iſt, auf inſtrumentale Colorirung, namentlich auf rauſchendes Blech und auf
die Violine Verzicht geleiſtet werden; die Töne dieſes Inſtruments liegen
von der Menſchenſtimme, die in der Kirchenmuſik Hauptſache iſt, weil
in ihr eben die reine Hingabe des menſchlichen Gemüths an das Göttliche
zu ungetrübter Darſtellung kommen ſoll, viel zu weit ab, ſie klingen ihr
gegenüber zu künſtlich, nicht natürlich und einfach, nicht voll und weich
genug, nicht ſo unmittelbar der fühlenden Bruſt des Menſchen entſtrömend,
wie z. B. Töne der Blasorgane; in dem Alleinauftreten der Menſchen-
ſtimme dagegen liegt eine Schmuckloſigkeit, eine vor allem Prunk ſich
ſcheuende, ihn verſchmähende Demuth und ernſte Faſſung, und dabei doch
in Folge der Beſeitigung alles Deſſen, was das Hallen und Verhallen
des Tones hindern könnte, eine Klarheit, welche die Entweltlichung des
Geiſtes, die heilige Erhebung des Gemüths über alle Wirrniſſe und alles
Trübe der Endlichkeit, die in dieſer Erhebung liegende Seligkeit und Frei-
heit vortrefflich ausdrückt. Indeß folgt daraus nicht, daß, wie auch neuer-
dings wieder von Verehrern altkatholiſcher Kirchenmuſik angenommen wird,
reine Vocalmuſik ausſchließlich kirchliche Form ſei. Dieſe reine Idealität,
dieſe Negativität gegen das Endliche iſt doch nur die Eine Seite; das
religiöſe Gefühl hat auch ein poſitiveres und concreteres Verhältniß zu ſeinen
Gegenſtänden, es bleibt nicht ſtehen oder vielmehr ſchweben in jenem Hinweg
vom Endlichen zum Unendlichen, ſondern es erhebt ſich zu dieſem wirklich
hinauf als zu dem Abſoluten, in welchem es die über Alles übergreifende,
Alles ebenſo ordnende und niederhaltende als auch wiederum tragende,
[1021] hebende und verſöhnende Macht des Guten hat, und von deſſen Anſchauung
es daher auch wiederum zum Endlichen herabſteigt mit der verſöhnten An-
ſchauung ſeines Befaßtſeins im Unendlichen. Dieſe Seite des religiöſen
Gefühls darf und muß auch zu ihrem Rechte kommen; das Erhabene, Große,
Wohlthuende der Macht, Gerechtigkeit, Herablaſſung des Abſoluten muß
auch veranſchaulicht, die Ehrfurcht, Begeiſterung, Gemüthsberuhigung, Freude,
die ſich daran knüpft, auch ganz und voll ausgeſprochen werden, wenn das
religiöſe Gefühl in der religiöſen Muſik ſich ſelbſt vollſtändig wiederfinden
ſoll, und zwar iſt dieß namentlich dann der Fall, wenn die Andacht ſich
an einzelne beſtimmtere Momente des Verhältniſſes zwiſchen dem Unend-
lichen und Endlichen hält, wie in Pſalmen an die Erhabenheit des Gött-
lichen in der Natur, in Hymnen an das preiswürdige Walten des Göttli-
chen in der Geſchichte; wo die religiöſen Empfindungen ſo lebendig, ſo
concret werden, wie es hier der Fall iſt, würde reine Vocalmuſik zu ruhig
und farblos, nicht metallreich genug, ja zu beſcheiden, dem Gegenſtand nicht
ſeine volle Ehre anthuend erſcheinen. Wir müſſen alſo unterſcheiden zwi-
ſchen kirchlicher Muſik überhaupt und heiliger Muſik insbeſondere; wo dieſer
Charakter des Heiligen rein hervortreten ſoll, müſſen die Inſtrumente ſchwei-
gen; wo aber hierüber zu poſitivern Empfindungen fortgegangen wird, da
iſt Füllung, Verſtärkung und Charakteriſirung durch Inſtrumentalbegleitung
nicht nur geſtattet, ſondern nothwendig, obwohl in verſchiedenen Graden,
zunächſt Orgel und Bläſer, Violinen erſt dann, wenn ein kirchliches Muſik-
werk überhaupt und in jeder Beziehung ſo umfaſſend von den mannigfal-
tigen Mitteln der Tonkunſt Gebrauch macht, daß auch die Mitwirkung dieſer
Streichinſtrumente in dem großen Chore preiſender Stimmen nicht mehr
ſtörend, ſondern vielmehr als Erhöhung des Totaleindrucks willkommen iſt. —
Ihren Gipfel erreicht die kirchliche Muſik in größeren Compoſitionen, welche
die Eigenthümlichkeiten der Cantate, Motette u. ſ. w. in ſich vereinigen
und ſo zum Ausſprechen des geſammten religiöſen Inhalts in ſeiner ganzen
Höhe und Weite fortſchreiten, wie dieß in der chriſtlichen Meſſe geſchieht.
Sowohl die gewöhnliche Meſſe als das Requiem, das dem Ganzen nur
eine engere Beziehung auf die Perſönlichkeit des einzelnen Individuums
gibt, ſtellen einen Cyclus von Kirchengeſängen dar, welche den religiöſen
Inhalt ebenſo ſehr in ſeiner objectiv fixirten Beſtimmtheit als in ſeiner
unmittelbaren Bedeutung für die Menſchheit, als Gegenſtand der Gefühle
unbedingter Ehrfurcht und Dankbarkeit, unbedingten Sehnens und Ver-
trauens zur Anſchauung bringen. In der Meſſe, als dem Mittelpunkt des
Cultus, treten das Göttliche und Menſchliche in ihrem ganzen abſoluten
Unterſchiede einander entgegen und ebenſo als abſolut ſich einigende zuſam-
men; es iſt die Feier der Transſcendenz des Unendlichen und ſeiner Imma-
nenz im Endlichen, des Gegenſatzes zwiſchen beiden und ſeiner ewigen Auf-
[1022] hebung zumal, und ſo vereinigt ſie die religiöſen Grundgefühle des bangen
Bewußtſeins der Endlichkeit und des verſöhnenden Bewußtſeins der Auf-
hebung der Endlichkeit zur Gemeinſchaft mit dem Unendlichen unmittelbar
in ſich, das religiöſe Gefühl durchläuft in ihr alle Stadien des Proceſſes,
in dem es ſich bewegt, Andacht überhaupt, Furcht und Niedergeſchlagenheit,
unendliche Gewißheit der Verſöhnung. Die Meſſe iſt ſo nicht blos nach
der Seite ihres tiefen und ergreifenden Gefühlsinhalts, ſondern auch durch
den in ihr vorhandenen Fortgang und Fortſchritt, durch die innere Be-
wegung von einem Momente zum andern, die ſich ſchließlich in die abſo-
lute Beruhigtheit, in das abſolute Erfülltſein des Gemüths vom Verſöh-
nungsbewußtſein auflöst, durchaus muſikaliſch; ſie bietet der Tonkunſt den
trefflichſten Anlaß zur Aufbietung aller melodiſchen, harmoniſchen, rhyth-
miſchen Mittel, die ihr zu Gebote ſtehen; ſie kann den ruhigern, die Unter-
ſchiede und Gegenſätze weniger zur Entfaltung bringenden einfach harmo-
niſchmelodiſchen Typus, ebenſo aber zugleich mit Hülfe des Rhythmus auch
eine bewegtere, reicher entwickelte Haltung annehmen, indem im erſten Falle
die paſſivere Gefühlshingabe, im zweiten eine activere Form der Religioſität
zu Grund liegt, welche ſowohl von der Entzweiung des Endlichen mit dem
Unendlichen als von der Vollkommenheit der Verſöhnung zwiſchen beiden
und der Höhe, auf welche durch ſie das Subject geſtellt iſt, ein energiſcheres,
ſchärferes und lebendigeres Bewußtſein hat. In der Meſſe, weil ſie den
tiefſten und den ergreifendſten Gefühlsinhalt hat, erreicht die Vocalmuſik
ihre Vollendung ſowohl nach der Seite reiner Idealität als rückſichtlich
innerer ſubjectiver Bewegtheit; beide Elemente, (allgemein künſtleriſche)
Idealität und (ſpezifiſch muſikaliſche) Bewegtheit, treten hier im Großen
zuſammen, wie beim wirklich ausdrucksvollen Kunſtliede im Kleinen, obwohl
gewöhnlich unter Vorherrſchen des einen oder andern Elementes. Auf dieſem
Unterſchiede beruht auch die Anwendung oder Nichtanwendung der Inſtru-
mentalmuſik; ſie fehlt mit Recht, wenn die Meſſe eine rein idealiſche, hin-
gebende Gefühlsmuſik iſt, ſie iſt aber nothwendig, wenn die ſubjectivactivere
Frömmigkeitsform ſich in ihr ausſprechen ſoll, und ſie iſt auch für eine
paſſivere Religioſität nicht überall entbehrlich, weil auch ſie neben jener reinen
Idealität auch ſtärkere Färbungen des Ausdrucks ihrer Andachtsgefühle
bedarf. Feſthalten läßt ſich, wie Thatſachen zeigen, der Ausſchluß der
Inſtrumentation auf die Dauer niemals; die idealiſche Vocalmuſik kann
nur die Eine Seite der Kirchenmuſik bilden, nie die ganze, das Bedürfniß
nach concreterer Tonfülle und Tonmalerei macht ſich z. B. bei der Form
des Requiems wegen der hier ſtattfindenden nachdrucksvollern Vergegen-
ſtändlichung der ethiſchen Beziehungen zwiſchen dem Endlichen und Unend-
lichen unabweisbar geltend, und auch im ſonſtigen Cultus verlangt es
ſeine Berückſichtigung, da die Form der abſoluten Idealität nur unter
[1023] beſondern Verhältniſſen, bei beſonders ernſter Feierlichkeit die paſſende iſt
und bei ſteter Wiederholung auch einförmig und ermüdend würde.
Mit der religiöſen Muſik, auf deren weitere hiſtoriſch gegebene Formen
(Antiphonien, Litaneien, Lamentationen u. ſ. w.) der Schluß des §. der
Vollſtändigkeit wegen kurz hinweist, hat die Vocalmuſik quantitativ und
qualitativ ihre höchſte Höhe erreicht; eine ihr verwandte „ethiſche Muſik“
(vgl. S. 1003) würde, weil ſie doch weniger transſcendent wäre, der In-
ſtrumentalmuſik mehr Umfang einräumen und daher in die dritte Haupt-
gattung gehören, unter welche Oratorium und Oper fallen; wir gehen
daher zunächſt über zur Inſtrumentalmuſik.
β. Die Inſtrumentalmuſik.
§. 805.
Die Körperwelt bietet der Muſik eine Reihe von Organen an, welche der
menſchlichen Stimme in Bezug auf Weichheit, Innigkeit, Rundung des Tones
nachſtehen, aber ſie, alle zuſammengenommen, übertreffen nicht nur durch größere
Freiheit der Handhabung, durch raſchere Beweglichkeit, ſondern auch in Bezug
auf Umfang, Kraft, Intenſität, Dehnbarkeit des Tons, ſowie durch eine den
verſchiedenen Stimmungskreiſen und Stylarten entſprechende Mannigfaltigkeit
der Klangfarben. Am nächſten ſtehen in letzterer Rückſicht der Menſchenſtimme
die Blasinſtrumente, am fernſten diejenigen Saiteninſtrumente, denen
der Ton durch Anſchlagen oder Reißen entlockt wird, wiederum weniger fern
die Streichinſtrumente, in denen der Begriff des „Inſtruments“ als eines
allen künſtleriſchen Zwecken dienenden, vollkommen fügſamen Organes ſich am
vollſtändigſten realiſirt. Durch Conſtruction und Klangfarbe ſtehen die ver-
ſchiedenen Gattungen und Arten der Inſtrumente zugleich in ſpeziſiſchen Be-
ziehungen zu den Hauptelementen der Muſik, zu Melodie, Harmonie und
Rhythmus.
Von dem Weſen der Menſchenſtimme (das gerade durch ſeinen Contraſt
zu dem der Inſtrumente klar in’s Licht geſetzt und daher erſt hier ſpezieller
beſprochen wird) gilt in Vergleich mit den äußern Muſikorganen Daſſelbe,
was in §. 794 ff. von der Vocalmuſik überhaupt geſagt wurde. Sie iſt
das ſingende, die Empfindung direct ausſtrömende, die Bewegungen des
Innern in allen Graden, Stufen, Wechſeln, Nüancen mit vollſter Unmittel-
barkeit und Wahrheit wiedergebende, bei aller Kraft weich-innig dem Gefühl
ſich anſchmiegende Organ, das zugleich durch die eigenthümliche Rundung
und Klarheit ſeines Tones, welcher das eigentlich Scharfe, Spitze, Dünne,
[1024] Dumpfe fern bleibt, das unmittelbare Abbild der ganz und voll von einer
Empfindung ergriffenen und ſie rückhaltslos, offen und frei in harmoniſchem
Schmelz ausſtrömenden Seele darſtellt; nur iſt ſie andrerſeits rückſichtlich
des Umfangs, der Tonſtärke, der leichtern und feinern Beweglichkeit auch
wiederum beſchränkt und gebunden durch die natürliche Organiſation und
zudem trotz der Mannigfaltigkeit des Klanges der verſchiedenen Stimmlagen
und der individuellen Stimmeigenthümlichkeiten zu ſehr ſtets ſich ſelbſt gleich,
zu einartig, als daß ſie das alleinige Muſikorgan bilden könnte; die Stimme
iſt das einer großen Kraft, bis zu einem gewiſſen Grad einer intenſiven
Schärfung ſowie einer lebendigen Volubilität und eines mannigfach charak-
teriſtiſchen Ausdrucks wohl fähige, im Ganzen aber doch einfache und
„einfach ſchöne“ unter den Muſikorganen. Merkwürdig iſt es nun, wie
die Inſtrumente die Eigenthümlichkeit der Menſchenſtimme quantitativ und
qualitativ theils weiter führen, theils ergänzen. Sie thun zu ihr nicht blos
hinzu, was ihr fehlt in Bezug auf frei figurirende Beweglichkeit, Umfang,
Stärke, Gewalt, elaſtiſche, ſcharf einſchneidende Intenſität, langes, energiſch
gedrungenes, dehnendes, an- und abſchwellendes Aushalten des Tones,
ſondern ſie bringen auch eine Mannigfaltigkeit von Klangfarben herbei,
deren jede ihre eigene Bedeutung hat und die ebenſo ganz oder theilweiſe
zuſammengenommen zu den verſchiedenartigſten und wirkſamſten Combina-
tionen Gelegenheit geben. Dieſe Klangfarben ſind in den verſchiedenen
Eigenſchaften der Menſchenſtimme bereits auch wie im Keime vorgebildet;
aber ſie treten erſt in den Inſtrumenten ganz heraus, und zwar dieß ſo,
daß die eine Art derſelben der Stimme noch näher ſteht, nur ſie ſelbſt zu
reproduciren ſcheint, eine zweite dagegen ſich entſchieden von ihr entfernt,
eine dritte endlich, in welcher die Inſtrumentalmuſik ihre höchſte Vollendung
erreicht, ihr des Gegenſatzes gegen ſie ungeachtet ſich wiederum weſentlich
annähert. — Die Betrachtung der muſikaliſchen Inſtrumente, zu der wir
hiemit übergehen, führt namentlich auf das Ergebniß, daß nicht nur ihrer
Gliederung in Hauptgattungen die einfachen Unterſchiede des Subjectiven,
Objectiven, Subjectivobjectiven zu Grund liegen, ſondern auch die Unter-
arten der verſchiedenen Klaſſen, in bemerkenswerther Uebereinſtimmung, nach
den verſchiedenen Verhältniſſen des Subjectiven und Objectiven ſich beſtimmen;
es iſt eine Syſtematik contraſtirender Wechſelergänzung und verwandtſchaft-
licher Analogie in dieſer ſcheinbar ganz zufällig zuſammengewürfelten In-
ſtrumentenwelt, welche beinahe überraſcht, da ſie ſich ganz ungeſucht aufdrängt.
1. Die erſte der im §. angegebenen drei Hauptgattungen bilden die
Blasinſtrumente. In ihnen iſt, wie in der Stimme, der Ton ein
Hauch, der direct aus dem Innern kommt, und darum ſind ſie ihr noch
auf’s Engſte verwandt; ſie ſetzen, ähnlich wie das Stimmorgan, eine in
feſtem, und zwar cylindriſchem Raume, jedoch nicht zu ſchmal und eng ein-
[1025] geſchloſſene, aus ihm (in der Regel) frei herausſchwingende Luftſäule in
Bewegung, und ſie haben daher wie jenes den runden, vollen, hellen,
weichern Ton, wie er ſowohl der Conſtruction des Inſtruments als der
Natur des Elements (der Luftſäule) entſpricht; ſie ſchallen und hallen einer-
ſeits nicht dermaaßen frei wie Schlag- und Reißinſtrumente, ſie „tönen“
andrerſeits nicht ſo gebunden und gedämpft wie die Streichorgane, ſondern
ſie „klingen“ geſchloſſen und hell zugleich. Dieß Alles jedoch wiederum mit
mannigfaltigſten Unterſchieden, indem namentlich die Rohrblasorgane von
den Blechinſtrumenten ſich ſehr weſentlich unterſcheiden. Haucht die Menſchen-
ſtimme in der Regel einfach ihre Töne aus, ſo thun am ähnlichſten Daſſelbe
die Pfeife und die Flöte. Ein Luftſtrom wird in den geradlinig geformten,
feſt mit Holz oder Metall umſchloſſenen, meiſt runden, weitern oder engern,
aber nie ſo ſehr, daß ein eigentlich acuter Ton entſtände, ſchmalen Raum
einfach hineingehaucht und ſtrömt aus ihm frei wieder aus; ſo entſteht ein
immer geſchloſſener und gerundeter, in der Tiefe allerdings dumpferer, in
der Höhe allerdings ſchärferer, aber weſentlich doch einfach heller, mühelos
weicher, ſpannungsfreier, milder Ton, nicht eben ſehr ſcharf, intenſiv,
charakter- und bedeutungsvoll, ſondern im Verhältniß zu andern weniger
beſagend (daher das Cherubini zugeſchriebene Wort, daß etwas noch ennuyiren-
der ſei als Eine Flöte, nämlich zwei), aber lieblich, zart, rührend, elegiſch,
ideal durch ihre gleichſam unkörperliche Weichheit; „unſer Geiſt“, läßt der
Dichter ſie ſagen, „iſt himmelblau, führt Dich in die blaue Ferne, zarte
Klänge locken Dich im Gemiſch von andern Tönen, lieblich ſprechen wir
hinein, wenn die andern munter ſingen, deuten blaue Berge, Wolken,
lieben Himmel ſanft Dir an, wie der letzte leiſe Grund hinter grünen
friſchen Bäumen“; weniger direct gilt dieß Alles von der unfeinern Pfeife,
von dem luſtig ſchrillenden Piccolo, aber es findet auch auf ſie ſeine An-
wendung, auch ſie haben das Helle und auch das Weiche der ungehemmt
ſingenden Menſchenſtimme. — Die Einſeitigkeit der Flöte, die an’s Charak-
terloſe ſtreifende Rundung und Weichheit, verlangt einen Gegenſatz; neben
dem Idealen und einfach Gefälligen muß auch das Subjective, das Charak-
teriſtiſche, Ausdrucksreiche, Scharfe, Naturaliſtiſche vertreten ſein; dieß bietet
ſich dar in der Oboe. In ihr iſt die Erzeugung und Qualität des Tones
eine ganz andere; der Luftſtrom muß durch ein zuſammengepreßt vibriren-
des Mundſtück hindurch; damit wird ihm das Runde, Flüſſige, Ruhige des
Flötenklanges genommen, er wird gepreßt und zitternd und erhält zugleich
den Charakter eines theils materiell getrübtern, theils dünnern und ſpitzern
Tones, vergleichbar einem durch die einander genäherten Lippen mehr her-
vorgeblaſenen, herausgedrückten als frei herausgehauchten und durch dieſe
Beengung des Luftſtromes der idealen Klanghelligkeit ſchon ziemlich beraubten,
näſelnd gewordenen Tones. Die Oboe „klingt“ auch noch, aber nicht mehr
[1026] mit der geſangverwandten Unmittelbarkeit der Flöte, ſondern mit einem er-
heblichen Zuſatz von näſelnder Bedecktheit und einſchneidender Schärfe, ſie
iſt in der Tiefe kräftig, hart, ſchnarrend, ſchreiend, in der Höhe Daſſelbe,
nur dünner und ſpitzer und daher hier auch neckiſch, humoriſtiſch, in den
mittlern Lagen allerdings von zarter und feiner Eindringlichkeit, indem hier
der Ton ſich doch erweicht und erhellt und dabei durch die deßungeachtet
bleibende Schärfe und Bedecktheit eine ganz eigenthümliche, ſchmelzende,
auflöſende, ſchmeichelnde, geheim ergreifende, gemütherregende Farbe gewinnt;
„ungewiß ſchreit’ ich voran, Seele, willſt Du mit mir geh’n? auf, betritt
die dunkle Bahn, wundervolles Land zu ſeh’n: Licht zieht freundlich uns
voran, und es folgt auf grünen Matten hinter uns der braune Schatten.“
Die Leidenſchaft, die Liebe, die bange Erwartung, die tiefe Sehnſucht, der
wehthuende Schmerz, die herzzerreißende Klage ſprechen aus dieſem allerdings
am meiſten charakteriſtiſchen und ausdrucksreichen unter den der Menſchen-
ſtimme näher verwandten Inſtrumenten. Sofern die Oboe aber doch unter
dieſen bereits von der Menſchenſtimme am weiteſten abliegt, iſt es bezeichnend,
daß ſie mit den die Töne ebenſo verdünnenden als dämpfend bindenden
Streichinſtrumenten eine unverkennbare Verwandtſchaft hat; ſie ſteht zur
Flöte in einem analogen Verhältniß, wie die Violine zur Stimme. Einen
ähnlichen bedeckten und gedämpften, aber dabei vollern, weichern Ton zeigt
das Fagott, für das Weh- und Schwermüthige, ebenſo aber durch ſeine
wie Gutmüthigkeit ſich ausnehmende Unbeholfenheit und Schwerbeweglichkeit,
ſowie durch ſeinen in den meiſten Lagen nicht feinen, leicht zur Annäherung
an’s Grunzen zu bringenden Ton auch für den Humor, ſonſt namentlich zu
intenſiver, tondehnender Verſtärkung anderer Inſtrumentalbäſſe ſehr geeignet.
Gleichfalls weniger einfach und frei als in die Flöte ſtrömt die Luftmaſſe
in die Clarinette ein; ihr offeneres Mundſtück wie ihr ſonſtiger Bau
begünſtigt aber doch einen weit vollern, breitern, ſozuſagen fettern Ton als
der der Pfeifen- wie der Oboeninſtrumente. Der Luftſtrom breitet ſich zwar
auch hier nur allmälig von dem Mundſtück, das mit gepreßterem Hauch
angeblaſen wird, in die breitere Röhre aus und entſpricht hiemit wiederum
nicht den einfach hauchenden, ſondern den gepreßter ſich hervordrängenden
Tönen der Menſchenſtimme, auch er erhält etwas Zitterndes, Bebendes durch
den hierauf eingerichteten beweglichen Theil des Mundſtücks; aber er iſt doch
lange nicht ſo geklemmt, beengt, bedeckt, getrübt wie der Oboenton, er iſt
runder, heller, voller und freier. Auf dieſer vermittelnden Vereinigung des
nur weit vollern und fettern Flötentones und des gepreßtern, bebendern
Oboentons beruht die Eigenthümlichkeit der Clarinetteninſtrumente. Sie
ſtehen am höchſten unter den Rohrblasorganen; zwar weniger ſilberhelle
Klarheit, aber Weichheit, jedoch eine weit geſättigtere, vollere, männlichere
und zugleich innerlich bewegtere Weichheit ſteht ihnen zu Gebot, ſie haben
[1027] etwas Großartigeres und Bedeutſameres durch den mit kräftiger Beſtimmt-
heit ſtrahlenförmig ſich expandirenden, intenſivvollen Ton, der daher auch
zum kräftig und derb Luſtigen ſich gut eignet, ſie haben etwas wahrhaft
Zartes und Inniges ohne Schwäche und ohne das extrem-ſubjective Sen-
timent der Oboe, ſie haben eine ganz und voll, unabgeſchwächt und doch
ungezwungen, nicht zu ſubjectiv drängend und ſpannend ſich gebende Herz-
lichkeit, ſie entſprechen, wie die Flöte dem leichtern Sopran, graduell und
qualitativ dem in ſchöner zarter Fülle ſich ausſprechenden Alt der Menſchen-
ſtimme, auch da, wo ſie (wie Baßclarinette und Baſſethorn) in der Scala
noch tiefer hinabgehen, ſie klingen auch hier kräftig weich und rund mit
einem heranſchwellenden Ernſt, der ſie in dieſer Lage für das Schreckhafte,
Ahnungsvolle ſehr geeignet macht; die Clarinetteninſtrumente können wegen
ihres fetten Tons am eheſten zum Naturaliſtiſchen, Niedrigkomiſchen gebraucht
oder zum Gemeinen mißbraucht, aber wegen ihrer ſonſtigen Eigenthümlich-
keiten zum ſchönſten, reinſten, wahrhafteſten Ausdruck tief bewegter, in
unumwundener Aeußerung heraustretender Herzensgefühle verwendet werden.
Aus der gegebenen Charakteriſirung geht zugleich hervor, daß die Rohrblas-
inſtrumente, wie die Stimme, weſentlich melodiſche Organe ſind; ſie können
zwar natürlich, wie dieſe, auch harmoniſch wirken, aber ſie haben nicht nur
ſo viel Volubilität, um zur Melodie brauchbar, ſondern auch eine ſo aus-
geſprochene Rundung, Weichheit, Klarheit, Eindringlichkeit, einen ſolchen
Fluß der Töne, um gerade für die Melodie vor Allem geeignet zu ſein,
ſie ſind vorzugsweiſe und mehr als alle andern ſubjective Singinſtrumente.
Wenn die Menſchenſtimme hie und da nicht blos Töne aushaucht,
herauspreßt und herausdrückt, ſondern auch heftiger in ſich erbebt und mit
der ſei es nun tief ergreifenden oder energiſch niederſchmetternden Gewalt
dieſes innern Erbebens ſich vernehmen läßt, ſo entſprechen ihr nach dieſer
Seite die Blechinſtrumente, nur mit der nähern Beſtimmung, daß ſie
dieſes Erbeben auch in einen Ausdruck des unendlich ſanften und doch von
innerlichſter Ergriffenheit zeugenden Durchzittertſeins umzuwandeln im Stande
ſind. Schmetternde, jubelnde, tief dröhnende, mit ſchwerem Gewicht auf-
fallende Kraft, Fülle und Breite des Klanges, zwar auch nicht vollkommen
klar, ſondern in einen Flor des Helldunkels gehüllt, jedoch befreit von dem
Gebundenen des Klanges der Rohrinſtrumente, von der fettigen Weichheit
der Clarinette, von der ſpitzen Eindringlichkeit der Oboe und damit erhoben
zu unſagbarer Idealität und zugleich verbunden mit jener nervös durch-
zitterten Erregtheit macht das Eigenthümliche dieſer Inſtrumente aus, ſie
ſind die ſubjectiv innerlichſten, aber das Subjective am meiſten zu vollem
objectivem Heraustreten bringenden Inſtrumente. Von den ſtark zuſammen-
gepreßten Lippen aus voller Bruſt mit intenſiver oder an ſich haltender
Kraft, heftig oder ſanft, in die nicht mehr ſtarre, ſondern erregt mit-
[1028] vibrirende, lange, gewundene Metallröhre hineingetrieben, in ihr circulirend,
ſie erbeben machend drängt ſich der Luftſtrom ſtark oder mild erſchütternd
aus ihr hervor, zwar durch das miterregte Material dunkel ſchattirt, aber
voll, metallreich, weithin hallend; das energiſch Vibrirende, das dem dürren
Holze und der feſten Metallröhre nicht abzugewinnen war, wird hier endlich
Herr, die Materie wird beſiegt, zum Mitklingen genöthigt; der Ton auf
höchſter Potenz, als ſeele- und weltdurchzitternde, jetzt mit ſchmetternder
Gewalt, jetzt mit wonnigem Erbeben an die Pforten des Gemüthes pochende
Kraft iſt endlich da, er tritt an uns heran mit dem erhabenen Schauer des
Unendlichen, das Alles vor ſich nieder wirft, wie mit der ſüßen Luſt herz-
ergreifender Unwiderſtehlichkeit. Sie ſingen nicht mehr, dieſe Metalltöne —
ſie verſtehen ſich wenigſtens nur mit Widerſtreben dazu, — ſie haben hiefür
eben zu viel Metall, zu ſchweres Gewicht, zu ſtark ſchmetternde Kraft, zu
ſehr in’s Weite gehenden Wiederhall, ſie gleichen in dieſer negativen Be-
ziehung den tiefern Stimmlagen, die auch weniger beweglich ſind, ſie haben
einen Klang, bei dem der Ton ſchon für ſich ein Ganzes und Volles iſt,
nicht aber erſt in formen- und figurenreicher Beweglichkeit wirkſam wird,
ſie eignen ſich ebendamit entſchieden entweder zu einzelnen kraftvollern
Stößen oder zu einfachern Fortgängen, Hebungen, Sprüngen, welche nur
Hauptintervalle intoniren mit Uebergehung der Zwiſchenglieder, oder zu
nachdrücklichem Wiederholen und gewichtvollem Aushalten einzelner Klang-
ſtufen und Zuſammenklänge, nicht aber zu wirklicher Melodie, ſie paßten
dazu nicht, ſelbſt wenn ſie keine von ſelbſt davon abmahnende techniſche
Schwierigkeiten in den Weg legten, ſie ſind weſentlich ausfüllende Inſtru-
mente, ſowohl in dem Sinne, daß die Füllung, Verſtärkung, Vertiefung,
Färbung und Weichheit, welche die Harmonie in die Tonbewegung zu
bringen hat, ganz vorzugsweiſe ihnen zufällt, als auch in dem weitern,
daß ſie da eintreten, wo noch nicht oder nicht mehr fließend bewegliche
Melodie, ſondern Anſchlagen oder Aushalten einzelner Töne, Tongänge,
Accorde beabſichtigt wird. Das bei aller Tonfülle ſanfteſte und gemüth-
weichſte, das am meiſten romantiſche Blechinſtrument iſt das Horn, welches
ebendarum trotz ſeines weiten Abſtands von der Flöte doch dieſelbe Stelle
innerhalb ſeiner Gattung einnimmt wie dieſe in der ihrigen. Das ganze
und volle Wiederklingen der Empfindung im Innern des Gemüths, nicht
das Zerfließen in Gefühle, das der Oboe zufällt, ſondern das tiefe, un-
nennbar ergreifende, aber nicht ſinnlich ſchwache Durchbewegtſein von etwas,
kurz die ideale Gemüthsbewegung und Gemüthsſtimmung, welcher Art ſie
nun auch im Einzelnen ſei, gehört dieſem Inſtrumente an, in welchem zuerſt
die Inſtrumentalmuſik ein ſpezifiſch ihrem Charakter (S. 987) entſprechen-
des, die ganze Gemüthsweite, nicht das Einzelgefühl ausdrückendes Organ
erhält; wie die Flöte noch mehr ſtimmenartig das einfache Gefühl des
[1029] Herzens in kindlich naiver Weiſe ausſpricht, ſo thut es das Horn mit der
tiefern Gemüthsſtimmung in ernſtdurchdrungener, bewegterer, aber allerdings
in ähnlich treuherziger Art, weil ſo ganz und gar nichts Zurückhaltendes
in ihm, ſondern der ganze, reine, volle Erguß und Aushall des Tones
ſein Weſen iſt; ſein Ton trägt eben dieß, daß er aus voller Bruſt kommt,
an ſich und iſt eben dadurch ſo ganz eigenthümlich gemüthreicher Natur.
Männlicher, heller und zugleich wie die Oboe ſchärfer, ſpitziger, ſubjectiver
als das Horn iſt die Trompete; ſie repräſentirt vorzugsweiſe die Kraft,
das Siegesgewiſſe, Schwunghafte, Gehobene, Eindringendenergiſche, ſie iſt
nicht zunächſt für das Ernſte und Weiche, ſondern für Töne des Muthes
und Triumphes, der Freude und Freiheit vorhanden; aber auch ſie hat doch
nebendem eine weſentliche Beziehung zum Gemüth, ſie iſt auch ſchmetternd,
erbebenmachend, ſie hat auch das romantiſche, in weite Fernen winkende
Austönen des Klanges, ſowie ſein offenes Heraus- und Herantreten, und
ſie kann daher auch für ruhigere, innigere, nur nicht eben gerade ſentimen-
tale Herzensempfindungen höchſt wirkſam angewendet werden, wie z. B. in
dem ſchönen Andante der kleinern C dur-Symphonie Mozart’s. Weniger
äußerlich ſchmetternd, aber um ſo intenſiver erſchütternd, gehaltener, tiefer,
nachdrücklicher, breitern, vollern Klanges iſt die Poſaune; ſie iſt weder
ſo empfindſam wie das Horn noch ſo ſubjectiv energiſch wie die Trompete,
ſie hat (wie die Clarinetteninſtrumente) einen vermittelnden Charakter, eine
das ſubjective Moment weniger durchhören laſſende, zudem hauptſächlich
langgezogene Töne begünſtigende Spielart, einen weder ſanft hallenden noch
ſcharf ſtoßenden, ſondern wieder etwas mehr gebundenen, ſtraffen, ruhigen,
aber gedrungenen mächtigen Klang; durch dieſe an ſich haltende Ruhe im
Verein mit ihrer Nachdrücklichkeit und Tonfülle hat ſie eine Hoheit, Pracht,
Majeſtät, Feierlichkeit, einen tiefen, ergreifenden Ernſt, der auch in den
höhern Lagen bleibt, ſo daß ſie das idealſte und in der Idealität zugleich
effectreichſte aller Inſtrumente iſt, das freilich nur da dieſem ſeinem Charakter
gemäß wirkt, wo es nicht äußerlich zu bloßem Klangeffect gemißbraucht
wird. Jeder Styl und jeder Stimmungskreis hat ein ihm eigenthümlich
entſprechendes Inſtrument, aber vergeblich iſt es deßungeachtet, durch das
Inſtrument allein einer Tonbewegung einen Ausdruck und Charakter, ſei
es nun der Hoheit oder der Kraft oder der wahrhaft gefühlvollen Weichheit
verleihen zu wollen; das Inſtrument macht den Ausdruck nur vollſtändig
und vollkommen, aber es bleibt unwirkſam, wo der muſikaliſche Gedanke
mit dem durch das Inſtrument beabſichtigten Ausdruck im Mißverhältniß
oder gar im Widerſpruche ſteht.
2. Die directe Verwandtſchaft mit der Menſchenſtimme trat bei den
Blechinſtrumenten bereits entſchieden zurück, ſie greifen über das, was der
Stimme möglich iſt, ſchon ſehr weit hinaus, ſie reproduciren ſie nicht mehr,
[1030] ſondern ergänzen ſie, obwohl wir auch in ihnen eine gewiſſe Analogie mit
ihr nicht verkennen konnten. In ähnlicher Weiſe verhält es ſich nun mit
den durch Schlagen oder Reißen in Bewegung geſetzten Saiteninſtru-
menten oder den Lautinſtrumenten. Bei ihnen iſt der Ton ganz
und gar nicht mehr ein Hauch und nicht mehr ein innerhalb des Hauches
beſchloſſener, mit ihm entſtehender, dauernder und vergehender Klang, ſondern
er iſt Product eines mehr oder weniger intenſiven Druckes und Stoßes
und ein nach demſelben frei forttönender, in’s Weite ſich verlierender Laut,
wie ſchon bei den Blechinſtrumenten dieſes vom Inſtrument ſich mehr ent-
bindende Klingen und Hallen als ſpezifiſche Eigenthümlichkeit hervortritt.
Stoß und ſchneller Druck, Laut ſtehen auch der Stimme zu Gebot, aber
nicht (ſelbſt in eingeſchloſſenem Raume nicht) dieſes gleichweithingehende
ſelbſtändige Forthallen, dieſes ſich rings nach allen Seiten Verbreiten, dieſes
Nachtönen des in keine (Mund-) Höhle und Röhre eingeſchloſſenen, ſondern
in freiem Raum erzeugten, blos in einer reſonirenden Baſis gefangenen,
concentrirten und verſtärkten, keineswegs aber in ihr zurückgehaltenen Tones.
Stoß oder Schlag und Riß auf der einen, freies Vibriren und Verhallen
auf der andern Seite macht die Eigenthümlichkeit dieſer Inſtrumente aus,
die natürlich auch dann nicht aufgehoben wird, wenn durch angebrachte
Dämpfer das Fortvibriren auf möglichſt kurze Zeit beſchränkt wird, wie
beim Clavier, wo die allerdings (in den Körper des ganzen Inſtruments)
ſchon wieder mehr eingeſchloſſenen Töne ohne ſolche Vorrichtungen ſich unter
einander vermiſchen würden. Beide Merkmale, die ſtoßweiſe Entſtehung
und das freie Verhallen nach allen Seiten hin widerſprechen einander in
gewiſſer Beziehung, ergänzen ſich aber auch wieder. Durch die ſtoßweiſe
Entſtehung ſind die Töne ſelbſt eigentlich blos Stöße, augenblicklich ent-
ſtehende und ebenſo augenblicklich wieder aufgehobene „Laute,“ ſofern nur
im Augenblick des Stoßes und Riſſes ſelbſt die Straffheit der Saite, welche
ſie haben muß, um ſchnell vibriren zu können, entſchieden überwunden, ein
diſtincter Klang hervorgebracht wird; das was nachher von dieſem Laute
noch forttönt, iſt kein diſtincter Klang mehr, wie z. B. ein ausgehaltener
Hornton, ſondern ein weit weniger beſtimmtes und zudem mit der ſtetigen
Abnahme der Weiten der Schwingungen ſelbſt jeden Moment ſchwächer
werdendes Tönen, und ſo ſcheinen denn dieſe Saiteninſtrumente weſentlich
Inſtrumente des kurzen, diſtincten, articulirten Lautes und eben nur auf
dieſen und was mit ihm ſich erreichen läßt angewieſen zu ſein. Verhielte
es ſich wirklich ausſchließlich ſo, dann wäre dieſes Forttönen blos ein ſtö-
rendes, der Diſtinctheit der Laute feindliches Element, das man um jeden
Preis ganz zu beſeitigen ſuchen müßte. In der That, der wohlthuende
Eindruck eines aus ziemlicher Ferne gehörten Clavierſpiels, beruht er nicht
darauf, daß wir, da die Laute rein, ohne alle Spur von mitſummenden
[1031] Nebentönen und ſomit in voller gefälliger Klarheit zu hören bekommen?
Allein genauer betrachtet gilt dieß doch nur von den ſchnell nach einander
geſpielten Tönen; bei langſamerer Bewegung iſt ein längeres, nicht zu raſch
verklingendes Forttönen unentbehrlich und verleiht dem Ganzen doch erſt
neben der Diſtinctheit, die für ſich allein zu ſpitz, klanglos und hart wäre,
auch die Weichheit, die engere und fließendere Verbindung der Töne. Freilich
iſt es nicht eine ſo enge Verbindung, wie andere zum gleichförmigen Aus-
halten und ſtetigen Ineinanderüberführen der Töne geeignete Inſtrumente
ſie haben, ſondern eine Verbindung, die dadurch immer eine loſere iſt, daß
der vorangehende Ton mehr oder weniger merklich bereits im Abſchwellen
begriffen iſt, wenn der nächſtfolgende eintritt; aber dieſe Art von Verbin-
dung iſt hier, bei dieſen nur Laute erzeugenden Inſtrumenten eben die rechte,
ſie gibt ihnen die Zartheit zurück, die ſie durch das Stoßweiſetönen ver-
lieren, ſie ſchiebt zwiſchen die jedesmaligen Stöße oder zwiſchen die mit den
Stößen hervortretenden ſchlechthin diſtincten Laute Momente des Verklingens,
der Erweichung der Härte des Stoßes, des gleichſam Immateriellerwerdens
des Klanges hinein. Der oben angeführte ſchöne Eindruck eines in der
Ferne gehörten Claviers mag nebenbei auch dieß zu ſeiner Urſache haben,
daß wir die Töne weniger deutlich als Stöße, ſondern ätheriſcher, ſchwe-
bender, als weiche, leichte Klänge vernehmen; ſo iſt es aber auch ſonſt bei
allen Inſtrumenten dieſer Klaſſe, bei denen durch gehörige Reſonanz für
das Forttönen geſorgt iſt; der harten Diſtinctheit des Stoßes, des Riſſes,
der „Arſis“ (vgl. S. 904) tritt bei ihnen ſogleich die Weichheit des nach
dem Stoß durchaus frei, leicht, ſchwebend gewordenen und in dieſem Fort-
tönen immer mehr verſchwebenden Klanges entgegen oder vielmehr theils
mildernd, theils contraſtirend gegenüber, und damit haben nun dieſe Inſtru-
mente eine ganz ſpezifiſche Eigenthümlichkeit; ſie ſind hart, ſtark, ſcharf,
klar intonirend und weich austönend, verklingend zumal, ſie ſind glockenhell
und romantiſch in’s Weite verſchwimmend, kräftig und zart zugleich. Und
ebendeßwegen, weil ſie neben dem Diſtinctmarkirenden auch das zart Ver-
ſchwimmende haben, ſchließen ſie auch das Forttönen ſchon angeſchlagener
Klänge nicht aus, ſondern verwenden es zu eigenthümlicher Wirkung, ſie
umgeben durch dieſes ſich immer neu erzeugende Forttönen älterer Klänge
die diſtincte Tonbewegung mit Schallwellen, in denen nichts Einzelnes
mehr ſich unterſcheiden läßt, gleichſam mit einer duftig wehenden, das Ganze
einhüllenden und doch durchſichtigen, lichten Schallatmoſphäre, die ſowohl
den Eindruck der Fülle als der Verſchmelzung, den Eindruck einer unbeſtimmt
gewordenen und doch nach dieſen beiden Seiten hin noch wirkſamen Har-
monie hervorbringt. Alle dieſe Eigenthümlichkeiten reflectiren ſich nun in
den verſchiedenen Arten der Saiteninſtrumente mit mehrfachen Modificationen.
Die Schlagſaiteninſtrumente, Lyra mit Plectrum, Hackbrett und
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 67
[1032]beſonders Clavier, haben eine mildere, weniger hart und ſcharf articulirte
Intonation, auch ein weniger volles Nachklingen, ſie ſind hiemit einerſeits
weicher und heller, runderen Klanges, andrerſeits weniger hallend, weniger
romantiſch, nüchterner und ruhiger, ſie entſprechen innerhalb ihrer Art wie-
derum der Flöte. Um dieſer größern Milde und Einfachheit willen ſind
ſie weniger charakteriſtiſch und ausdrucksvoll, aber um ſo univerſeller, objec-
tiver, wozu auch ihre leichtere Handhabung mitwirkt, und ſo iſt denn ge-
rade das Clavier durch die Natur der Sache das Univerſalinſtrument ge-
worden, das von allen andern Muſikorganen etwas an ſich hat und ſie
gewiſſermaaßen erſetzen kann, weil es neben der ſcharfen Lautarticulation
doch des Weichen, Gefälligen, Sanften fähig iſt. Nicht ſo iſt es bei den
Saiteninſtrumenten, denen der Ton durch Reißen entlockt wird. Zunächſt
treten uns hier, in ähnlicher Antitheſe zu den Schlagſaiteninſtrumenten,
wie Oboe zur Flöte, Trompete zum Horne, entgegen die eigentlichen Laut-
inſtrumente, die Reißinſtrumente mit ſtark widerſtehenden und dünn
lautenden Saiten (namentlich Metallſaiten), Cither, Guitarre, Mandoline
u. ſ. w. Sie articuliren außerordentlich ſcharf, haben nach oben zu feine,
ſpitze, unendlich diſtincte, nach unten harte, kräftig ſtoßende Töne, aber
wenig Nachhall, ſie ſind eindringlich, aber das Weiche, Warme der Stimme
und der Blasinſtrumente fehlt, ſo lebendig ſie auch beſonders durch ſchnelles
Hingleiten auf Accordtönen (Arpeggiren) auf Phantaſie und Gemüth wirken
können. Die Harfe dagegen hat durch ihren Bau und durch Material
und Spannung ihrer Darmſaiten wieder einen nicht blos ſcharf articulirten,
kräftigen, ſondern auch einen weichern, vollern, frei, warm, romantiſch nach
allen Seiten hallenden Ton, der „Laut“ wird hier wieder zugleich „Klang,“
der in den untern Tönen großartig breit, in den mittlern gewichtvoll und
anmuthig zugleich, in den obern mit ſanfter Zartheit ſich vernehmen läßt.
Die Harfe hat unter den Lautinſtrumenten dieſelbe Stellung wie die Cla-
rinetteninſtrumente und Poſaunen innerhalb ihrer Gattungen, ſie iſt erhaben,
prächtig, ſeelenvoll, herzlich, innig, zugleich aber als ſcharf und leicht arti-
culirendes, gleichſam punktirendes Lautorgan beweglich, munter, ſelbſt ſpie-
lend und neckiſch, ſie iſt ein Inſtrument, das lange mit Unrecht zurücktreten
mußte und das durch das idealiſche Verhallen ſeiner Töne namentlich re-
ligiöſer und ähnlicher Muſik erſt die wahrhaft feierlich, feſtlich bewegte Weihe
gibt, ſoweit dieſelbe durch inſtrumentale Begleitung erzielt werden ſoll. Indeß
Eine Eigenſchaft hat eben doch auch die Harfe mit allen Lautinſtrumenten
gemein: die höhere Ruhe, die tiefere Intenſität des dehnbaren Tones und
die engere Verbindung und Verſchmelzung der Töne unter einander fehlt,
es iſt auf dieſen Inſtrumenten kein directer Aushauch des Innern, kein
energiſches und tiefbewegtes Sichergießen, kein völliges Hineintreten der
Empfindung in das Organ, keine Vermählung des Gefühls mit ihm mög-
[1033] lich, weil die Töne nicht Stand halten, nicht an- und abgeſchwellt, nicht mit
der Continuität in einander übergeführt werden können, die ebenſo reizend
als für den Ausdruck des Gefühls, wo es in ungehemmtem Fluſſe ſich
bewegt, ſchlechthin unentbehrlich iſt; die wahre Tiefe, die ſinnige Innigkeit
iſt allen dieſen Lautinſtrumenten unerreichbar, weil ſie weder das Hervor-
quellen einer Erregung aus dem Innerſten noch eben das ruhigſinnige
Verweilen bei einem Gefühlsinhalt mit ihren leichten und ſchnell entfliehenden
Tönen darzuſtellen im Stande ſind, und ſie erſcheinen daher ausſchließlich
oder zu viel gebraucht allerdings oberflächlich, klingelnd und klimpernd;
ganze und volle Muſik iſt nicht in ihnen, ihre Töne ſind Klänge, die der
Materie nur durch momentane Berührung entlockt ſind, nicht aber durch
beharrliches Hineinwirken (Blaſen, Drücken) in ſie abgewonnen werden, ſie
ſind allerdings romantiſch durch dieſe ihre Eigenſchaft als flüchtiger „Berüh-
rungstöne“ und ergreifend durch ihr eben hiemit gegebenes Verhallen, aber
Metall, Gewicht, Energie haben ſie nicht und können ſie nur annäherungs-
weiſe durch reiche Harmonie erreichen, wie dieß z. B. beim Clavier der Fall
iſt, ſie ſind ſchließlich doch blos das leichte Geſchütz in der Heeresmaſſe des
Orcheſters, ſie tönen am beſten zu Romanzen, Balladen, Ständchen, und
ſie ſind, auch wenn ſie ſich wie die Harfe zu höherer Feierlichkeit erheben,
in ihrer äſthetiſchen Wirkung eben nur den Blumenkränzen zu vergleichen,
deren ſaftige Farbenpracht zum feſtlichen Schmuck nothwendig gehört und
ihn eben feſtlich macht, obwohl ſie für ſich allein nur ein flüchtiges Entzückt-
werden durch den reichen und zarten Reiz der Pflanzenſchönheit, nicht aber
ein tieferes äſthetiſches Intereſſe zu erregen vermögen.
3. Das den Blasinſtrumenten verſagte Scharfarticulirte, unendlich Zarte,
Feine, Duftige der Lautinſtrumente wird erhalten, aber zugleich mit der
tiefinnerlichen Energie und Intenſität, mit der Flüſſigkeit und Wärme des
Tones, die den Blasinſtrumenten theils mit der Stimme gemeinſam, theils
in erhöhtem Maaße ihnen allein eigen iſt, wiederum vermählt in den
Streichinſtrumenten, der größten muſikaliſchtechniſchen Erfindung, die
je gemacht worden iſt. Sie ſind reine Kunſtwerke, während die übrigen
nur veredelte, vergrößerte, verwandelte Naturinſtrumente (Rohre, Kuhhörner,
Muſcheln, Sehnen) ſind; die Application des Bogens auf die Saite mußte
erſt gefunden werden, mit dem Bogen hat die Muſik weit mehr als mit
dem weniger beſagenden Plectrum oder Clavierhämmerchen den Zauberſtab
in die Hand genommen, durch den ſie in vollſter künſtleriſcher Freiheit der
Materie nach Belieben die verſchiedenſten Töne und Klangfarben entlocken
kann, welcher ſie zu ſprechendem Ausdruck der Empfindung bedarf. Die
Freiheit des Künſtlers, ſeine Emancipation vom Organe begann zwar ſchon
in den Lautinſtrumenten; während die geblaſene Muſik derſelbe Aushauch
iſt wie die geſungene, ſo daß hier der Inſtrumentiſt mit ſeinem Organe
67*
[1034]ganz verwachſen und in ähnlicher Weiſe von ihm abhängig iſt wie von
der Stimme, ſtehen der Kithariſt und Clavicembaliſt bereits frei über dem-
ſelben; aber dieſe Freiheit war hier erkauft durch eine zu groß werdende
Trennung zwiſchen dem Subject und Object, zwiſchen dem Künſtler und
dem Organe, der Künſtler konnte in das Organ nicht Alles hineinlegen,
was er fühlte, das Organ blieb zu objectiv, zu ſpröde und kalt, es duldete
ſeine Griffe und Riſſe, aber es antwortete ihm nur in gebrochenen Lauten,
die, wenn ſie auch ſchön und prachtvoll in’s Weite hallten, doch dem war-
men Leben des Gemüths ſo wenig entſprachen, als in der Vocalmuſik die
gebrochene Sylbenrecitation es vermochte. Durch den Bogen ſoll es nun
hiemit anders werden, durch ihn bekommt der Künſtler das widerſtrebende
Organ ganz in ſeine Gewalt, aber allerdings dadurch, daß er auch ſelbſt
weniger gewaltſam verfährt, es nicht mehr martert durch Schläge, Riſſe
und Kniffe — außer etwa hie und da zur Abwechslung, um das Inſtru-
ment auch ſeine Fähigkeit, als Lautinſtrument zu wirken (im pizzicato),
erproben zu laſſen, — ſondern ſich dazu verſteht, es blos zu ſtreichen mit
dem zart und weich ſich anfühlenden Medium des elaſtiſch-ſtraffen, glatten
Haarbündels, der die Saite mit ihrer rauhern Oberfläche durch ſein Auf-
undabziehen an ihr in fein vibrirende Bewegung verſetzt, ſie electriſirt, Funken
ihr entlockt, ohne ſie unſanft hinundherzuſtoßen, wie der fühlloſe Hammer
des Clavierſchlägers und der unbarmherzige Finger des Harfners es zu
thun gewohnt ſind. Die Poeſie der äußern Erſcheinung iſt damit freilich
weg, der freie, feierliche Anſtand des kithariſchen Apoll weicht der banauſiſchen
Handarbeit des jetzt bedächtigſt hinundherfahrenden, jetzt eifrigſt fuchtelnden
Violiniſten, welche ſeine Haltung kaum minder verunſtaltet als das Flöten-
ſpiel die jungfräulichen Geſichtszüge der Göttin Athena und nur wenn er
zum Contrabaſſe greift ihm wiederum beſſer anſteht durch den gewaltigen
Kampf mit dem brummenden Ungeheuer, das er mit ganzer Leibeskraft an-
faſſen und angreifen muß, um es zum Stehen und Reden zu bringen.
Aber aus dem proſaiſchen Apparat entſpringt um ſo reicher die Quelle
einer ebenſo zarten als gewaltigen und großartigen Poeſie des Tones; denn
er ermöglicht es dem Künſtler, ſeinem Inſtrumente Alles abzugewinnen,
was ein einzelnes muſikaliſches Organ überhaupt leiſten kann. Qualitativ
nämlich geſtattet der Gebrauch des Bogens ſowohl die ſchärfſten, ſpitzeſten
als die langgezogenſten, gedehnteſten Töne in ganz gleicher Vollkommenheit
hervorzubringen und zudem die einzelnen auf einander folgenden Töne ſo
eng zu verbinden, zu „ſchleifen,“ wie dieß auf keinem andern Inſtrument
möglich iſt. Der Bogen ſtreicht ſchnell an und gleitet ebenſo ſchnell wieder
ab, damit erhalten wir die momentanſten, feinſten oder auch ſtechendſten
Laute; er bleibt liegen, geht nur langſam auf und ab, dadurch haben wir
die Töne in unſrer Gewalt, der Zug des Armes hält länger aus als der
[1035] des Athems, und ſo können wir beliebig dehnen, beliebig unter einen Bo-
genzug eine größere oder kleinere Zahl von in einander geſchleiften Einzel-
tönen ſubſumiren; wie auf jenem raſchen und ſpitzen Abſetzen die Schärfe
und Klarheit des Inſtruments beruht, ſo auf dieſem Aushalten und Schleifen
ſeine Fähigkeit, ebenſo großartig gedehnt und ruhig als mit anmuthsvollſtem,
ſchmelzendſtem, ausdrucksreichſtem Fluß, mit jener Stetigkeit der Tonver-
knüpfung zu wirken, die wir ſchon mehrfach als Hauptbedingung der mu-
ſikaliſchen Schönheit erkannten. Quantitativ und dynamiſch ſind die Vor-
theile der Bogenführung gleich groß; das Spiel der Streichinſtrumente iſt
das allein ganz gelenkige, von mechaniſchen Schwierigkeiten ganz befreite,
ſoweit dieß überhaupt erreichbar iſt. Nicht nur das ſchnelle Herumgreifen
und Herumſpringen in den mannigfaltigſten Intervallen, das beliebig raſche
Aufundabgehen in der Leiter, ſondern namentlich das in außerordentlicher
Schnelligkeit wiederholte Anſtreichen eines Tones oder abwechſelnd zweier
Töne, ein Hauptmittel zur Energie der Tonbewegung, ſteht den Streich-
inſtrumenten zu; ſie ſind in dieſer Beziehung die ſpezifiſch rhythmiſchen
Inſtrumente, und, ſofern ſie ebenſo alle Mittel zum Vortrag jeder Art von
Melodie, namentlich der künſtlichern und verſchlungenern Melodieweiſen
haben, auch die ſpezifiſch „melodiöſen,“ figurirenden Inſtrumente, wogegen
Flöte und Genoſſen mehr einfach „melodiſche“ Organe ſind. Die Bogen-
führung geſtattet ferner die größten Contraſte und das feinſte ausdrucks-
vollſte An- und Abſchwellen zwiſchen Forte und Piano, ſie geſtattet kräftiges,
abſolut energiſches Stoßen und Reißen, intenſivſte Erhöhung der Spann-
kraft des Tones ebenſogut, wie einen durchaus leichten, getragenen Vortrag,
bei welchem aller Druck auf das Inſtrument ſo unhörbar wird, daß das
Inſtrument ſelbſt frei zu reden, der Ton des materiellen Elementes, das er
von dem Druck her an ſich hat, ganz entbunden in reiner zarteſter Idealität
dahinzuſchweben ſcheint; die Streichinſtrumente ſind nicht ſchon an ſich ſpe-
zifiſch ausdrucksreich, wie die Blechinſtrumente, aber ſie werden es unter
der Hand des Menſchen, und ſie gewähren die Möglichkeit zu einer weit
mannigfaltigern Nüancirung des Ausdrucks, als jene ſie zulaſſen. Durch
alle dieſe Eigenſchaften ſind ſie die vollkommenſte Verwirklichung des We-
ſens der Inſtrumentalmuſik in ihrem Unterſchiede von der Vocalmuſik, ſie
haben ganz die ſubjective Freiheit und am meiſten die objectivmannigfaltige
Geſtaltungsfähigkeit, welche die erſtere von der letztern unterſcheidet. Durch
ihre Diſtinctheit, Feinheit und Volubilität ſowie durch ihre Spannkraft und
gedrungene Energie ſtehen ſie ebenſo den übrigen Inſtrumenten gegenüber
als diejenigen Organe, welche vorzugsweiſe ſowohl die Stimmführung als
die dirigirende Baſis der Harmonie zu übernehmen, ſowohl die äußerſte
bewegliche Spitze als den ſubſtantiellen Kern des Orcheſters zu bilden und
damit zugleich den Eindruck des zu ſubjectiv Weichen, Schmelzenden oder
[1036] anderntheils des einſeitig Klangvollen und Breiten von ihm abzuwehren
haben, der durch das Vorherrſchen der verſchiedenen Gattungen von Blas-
inſtrumenten entſtehen würde. Auch innerhalb ihrer ſelbſt beſitzen ſie eine
ſehr ausgeſprochene Mannigfaltigkeit von Charaktereigenthümlichkeiten, durch
welche ſie vom übrigen Orcheſter gleichfalls als eigene, weit ſelbſtändigere
Inſtrumentalgattung ſich unterſcheiden. In der Violine ſind die Eigen-
ſchaften der Streichorgane überhaupt am vollſtändigſten vereinigt, obwohl
wegen der höhern Lage unter Vorherrſchen des Scharfen und Spitzen, wie
des Leichten und Beweglichen, des Weichen und Flüſſigen, ſowie mit einem
Charakter größerer Helligkeit, der eben mit der Höhe und mit der Leichtig-
keit dieſes kurz- und dünnſaitigen Inſtruments gegeben iſt. In der Viola
wird, ähnlich wie bei den der Altregion angehörigen Blasinſtrumenten, der
Ton wie der Bau des Inſtruments ſchon ſchwerer, härter, weniger dünn
und hell, auch bei ſanftem Anſtreichen kräftiger und gewichtiger, daher ſie
zur Violine durch alles dieſes höchſt reizend und ausdrucksvoll contraſtiren
kann. Bei dem Violoncell iſt Haupteigenthümlichkeit das völlige Auf-
hören der Helligkeit des Tones, ſeine völlige Bedecktheit; dieſelbe ſchließt
zwar eine bei ſtarkem Anſtreichen ſich ergebende klangvollere Reſonanz gar
nicht aus, aber ſie herrſcht durchaus vor, ſie gibt dem Inſtrument in höhern
Lagen etwas fein Näſelndes und damit etwas theils Liebliches, theils Hu-
moriſtiſches (das eben in dem Verdeckten, Zurückhaltenden, in dem ſich
gleichſam Verſteckthalten des Tones liegt), in den mittlern und tiefern Lagen
dagegen etwas gedämpft Ernſtes, welches im Verein mit der immer auch
vorhandenen ungemeinen Elaſticität und Biegſamkeit des Tones auf dem
Violoncell vorzugsweiſe das gemeſſen und doch ſanft Intenſive der Streich-
organe hervortreten läßt. Der Contrabaß hat das Leichte, Weiche,
Klangvollere, Bewegliche nicht mehr; er iſt ſchwer zur Anſprache zu bringen,
ſeine Töne laſſen dieß deutlich erkennen, ſie ſind ſelber ſchwer, aber abſolut
intenſiv, ſie ſind Töne, welche in Folge der ſie erzeugenden herbern Friction
etwas durchaus Geſpanntes, Gedrungenes, Straffgezogenes, ebendamit aber
etwas durchaus Energiſches, Subſtantielles haben, ſie ſind einerſeits wegen
des ſchwer beweglichen Saitenkörpers materiell dumpf, andrerſeits wegen
des ſtarken und entſchiedenen Striches, welcher ſie der ſtark bebenden Saite
abpreßt, ungemein kraftvoll, erſchütternd, weltbewegend mächtig, tiefernſt
und tiefſterregend, und dabei doch im Piano und mezzo Forte von einem
anſprechenden feinen Zug, dem man das Kräftige wohl anmerkt, obwohl
es ganz zurückzuweichen und ſich im Dunkeln halten zu wollen ſcheint.
Dieß die Kräfte und Tugenden des Streichquartetts, durch die es den kräf-
tigſten und doch zugleich feinſten Theil des Geſammtchors der Inſtrumente
bildet. — Ungerecht jedoch wäre es, wenn man eine Einſeitigkeit verkennen
wollte, die ihm anhängt und die ebendeßwegen ſeine Ergänzung durch andere
[1037] Muſikorgane fordert, ja in vielen Fällen es dieſen geradezu in blos beglei-
tender Stellung unterordnet. Der Ton der Streichinſtrumente iſt nämlich
Alles, nur nicht voll, breit, hell (wiewohl relativ die Violine immer hell
iſt in Vergleich mit den übrigen); der Ton iſt hier gefangen und gebunden
nicht blos im reſonirenden Körper des Inſtruments, ſondern auch durch
den Bogenſtrich, der kein freies, hallendes Vibriren, kurz keinen eigentlichen
Klang geſtattet (außer bei ſchnellem, kräftigem, ſtark reſonirendem Anſtrich),
der Ton iſt in Folge hievon theils dünn, dünner noch als bei den Laut-
inſtrumenten, bei denen er ſich durch das Verhallen wieder expandirt, theils
gedämpft, bedeckt, nicht hellklingend, es iſt der eigentliche „Ton“ (vibrirende
„Spannung“), aber auch der abſtracte, heiſere Ton, der zum klaren Laut
und vollen Klang ſich nicht fortbildet und daher der Menſchenſtimme doch
wiederum ſehr ferne ſteht. Inwiefern auch dieſes Gedämpfte, Zurückgehaltene
charakteriſtiſch verwendet werden kann, wird die Betrachtung des Streich-
quartetts zeigen; aber es iſt doch auch ein Mangel, der bewirkt, daß bloßes
Streichinſtrumentenſpiel bei längerem Hören einſeitig dumpf, farblos, ſchat-
tenhaft erſcheint und eine Sehnſucht nach dem Hinzutreten der hellen, klaren,
in lichten Farben ſpielenden Blasinſtrumente erweckt. Aus demſelben Grunde
eignen ſich die Streichorgane ſehr gut zu einer in den Hintergrund zurück-
tretenden Begleitung der Stimme, der Flöte und anderer klangreicherer In-
ſtrumente, ſie ſtellen ihnen eine deutlich intonirende und doch ſtille, die Klar-
heit der Melodie nicht beeinträchtigende Harmonie zur Seite, begeben ſich
aber hiemit in ein Verhältniß der Abhängigkeit und Unterordnung, das
nicht möglich wäre, wenn nicht auch an ihnen eine Einſeitigkeit, ein Mangel
an Tonfülle haftete. An einer ſolchen Einſeitigkeit darf es aber in der
That keinem Inſtrumente fehlen, da ſie ſich ſonſt nicht gegenſeitig zu Einem
Ganzen ergänzen würden; wie die verſchiedenen Regionen der Menſchen-
ſtimme jede ihr eigenthümlich Schönes und jede den übrigen gegenüber
auch ihr Unzureichendes und Mangelhaftes haben (vgl. S. 850), das aber
eben die Grundlage für ihre Vereinigung zu dem alle Stimmen in wirk-
ſamen Rapport zu einander ſetzenden Enſemble oder Chore abgibt, ſo iſt
es auch bei den Inſtrumenten, ſie ſind das Gebiet, in welchem der Ton
ſich beſondert, ſich nach verſchiedenen Richtungen hin vereinſeitigt, aber dieß
ſchließlich nur dazu, damit durch die Gegenüberſtellung und Zuſammenfaſſung
dieſer particularen und conträren Klänge die ganze, in ihre Unterſchiede
aus einander gelegte und ſie zu lebendiger Wechſelwirkung bringende Fülle
der Tonwelt zu concreter Manifeſtation gelange.
Auf eine vollſtändige Aufzählung auch untergeordneterer Inſtrumente
(Serpent, Bombardon u. ſ. w.), ſowie auf eine noch mehr in’s Einzelne
gehende Charakteriſtik derſelben, z. B. der verſchiedenen Arten höherer und
niederer Flöten, Clarinetten, Hörner, kann die muſikaliſche Aeſthetik ſich nicht
[1038] einlaſſen, da die allerdings auch hier ſich ergebenden mannigfaltigen Klang-
unterſchiede auf die weſentlichen Verhältniſſe der Inſtrumentengattungen zu
einander keinen weitern Einfluß haben, und da ſie zudem hauptſächlich auf
der größern oder geringern Tonhöhe beruhen, von deren Bedeutung für
den Klangcharakter ſchon in §. 768 und 773 die Rede war.
§. 806.
Aus den durch die Natur an die Hand gegebenen, der menſchlichen Ein-
zelſtimme entſprechenden Muſikorganen bildet die Kunſt Inſtrumente zuſammen-
geſetzterer Art, welche das gleichartige Ertönenlaſſen mehrerer Stimmen ermög-
lichen, und es entſteht ſo der weitere Unterſchied zwiſchen monodiſchen,
homophonen und mehrſtimmigen, polyphonen Inſtrumenten; die
letztern unterſcheiden ſich ſelbſt wieder (quantitativ) in einfach vielſtimmige und
in umfaſſendere Chorinſtrumente, (dynamiſch) in Inſtrumente relativer und
abſoluter Tonkraft und endlich (qualitativ) in ſolche von ſubjectiverem und von
ſchlechthin objectivem Charakter, — hauptſächlich Clavier und Orgel.
1. Während die Blasorgane, welche §. 805 aufzählt, wie die Men-
ſchenſtimme monodiſch ſind, traten uns in den Saiteninſtrumenten bereits
vielſtimmige Inſtrumente entgegen, am meiſten in den Reißinſtrumenten,
deren neben einander ausgeſpannte, möglicherweiſe ziemlich zahlreiche Saiten
ein gleichzeitiges Anſchlagen mehrerer Töne geſtatten, weniger ſchon wieder
in den Streichinſtrumenten, deren Tonſchönheit, Ausdruck und Volubilität
ſo entſchieden durch monodiſche Führung der Melodieen und Gänge bedingt
iſt, daß auf ihnen ſchon das arpeggirende und noch mehr das mehrſtim-
mige Spiel, ſo kräftig es auch im Forte dreinreißt, nur als Ausnahme
zur Anwendung kommt. Nicht nur mehrſtimmig, ſondern zugleich homo-
phon iſt dagegen das Clavier, deſſen allgemeiner Klangcharakter ſchon
beſprochen iſt. Es iſt „Univerſalinſtrument“ auch inſofern, als es ein Neben-
einanderſpiel verſchiedener, mehr oder weniger ſelbſtändiger Stimmen geſtattet,
wiewohl allerdings ſeine ganze Conſtruction doch wieder zu einfach iſt, als
daß ſelbſtändige Stimmführung, eigentliche Polyphonie dem Clavierſpiel
vorzugsweiſe zufallen könnte; das Hauptgebiet deſſelben iſt vielmehr die
Vielſtimmigkeit, die Polyphonie nur in freier, mit bloßer Vielſtimmigkeit
abwechſelnder Anwendung (natürlich mit Ausnahme des Zuſammenſpiels
mehrerer Individuen, von dem hier noch nicht die Rede iſt). Das Clavier
iſt für blos melodiſche Muſik nicht geeignet, weil es zu wenig fließende
Verbindung und Verſchmelzung der Töne zuläßt, es iſt vielmehr hauptſäch-
lich auf harmoniſirte Melodie angewieſen; aber daraus folgt keineswegs,
daß man es ganz als polyphones Inſtrument zu behandeln hätte. Die
[1039] neuere Zeit mit ihrem Streben nach abſoluter Ausbildung der einzelnen
Muſikzweige iſt auch hier in ein ganz unnatürliches Extrem, in eine völlige
Verkennung und Vermiſchung der Gattungen hineingerathen; „Orcheſtration
des Claviers“, Erhebung deſſelben zu vollkommenſter Polyphonie, iſt das
Ziel, das ſich einer der geiſtvollſten Meiſter des modernen Clavierſpiels
geſteckt hat, während doch damit gerade die eigenthümliche Wirkſamkeit und
Schönheit dieſes Inſtrumentes aufgehoben wird. Die wirkliche und aus-
ſchließliche Durchführung des polyphonen Prinzips auf dem Clavier iſt ein
Irrthum, denn ſie macht zur Hauptſache, was auf dem Clavier ſeiner Natur
nach nur Nebenſache ſein kann, die Selbſtändigkeit neben oder über einander
herlaufender Stimmen; Nebenſache muß dieſe der Natur des Claviers gemäß
immer ſein, weil die Toncharaktere aller Regionen der Clavierſcala doch
zu gleichartig und die ſtreng polyphone Spielart auf ihr doch zu gemacht
und erkünſtelt iſt, als daß ein wahrhaft diſtinctes und ein naturgemäß
erſcheinendes Zuſammenſpielen ſelbſtändiger Stimmen hier durchführbar wäre.
Harmoniſirte Melodie, nicht in Melodieen zerlegte Harmonie iſt das Feld
des Clavierſpiels, das Clavier iſt Enſemble-, aber nicht Chorinſtrument,
es iſt zu uniform, zu compact, als daß es anders denn als eine will-
kürliche Zerreißung einer natürlichen Tönecontinuität erſcheinen könnte, wenn
fortwährend eigene, freie Stimmen in den verſchiedenen Regionen ſeiner
Scala einander gegenübertreten; es hat in dieſen ſeinen Stimmregionen zu
wenig ſtreng geſchiedene Klangfarben, als daß es klar und deutlich bliebe,
wenn nicht Eine Prinzipalſtimme dominirt, und weder es ſelbſt noch die
ſpielende Hand iſt im Stande ein ungezwungenes Zuſammenklingen beſon-
ders geführter Stimmen auf die Dauer zu ermöglichen. Man kann es
daher nur beklagen, wenn man ſieht, wie durch die „Orcheſtration“ des
Claviers ſein urſprünglicher Charakter und Eindruck verwiſcht, wie an die
Stelle reich figurirter und entweder mit einfachen oder mit gleichfalls figu-
renreichen (frei polyphoniſchen) Harmonieen zart oder kräftig begleiteter
Melodie ein Gewebe von Melodieen und Läufen geſetzt wird, das uns als
perſönliche Virtuoſität Bewunderung abnöthigen mag, aber die wahre Ton-
fülle, Tonkraft und Tonklarheit preisgibt und den Charakter des Strebens
nach Unmöglichem, des Uebergreifens über das natürlich Gebotene nicht
verleugnen kann. Das Clavier iſt polyphon, aber es iſt polyphon in Un-
terordnung unter das homophone Prinzip; das Clavier weist ſchon durch
das ſchnelle Ausklingen ſeiner Töne darauf hin, daß es als Inſtrument
des Tonnacheinanders, nicht des Tonmiteinanders behandelt werden will,
außer ſoweit unter letzterem nicht wirklich polyphone Melodieenſimultaneität,
ſondern ein bloßes Anſchlagen harmoniſcher Nebentöne, Nebenfiguren, Neben-
läufe u. ſ. w. verſtanden wird. Durch den Verſuch polyphon zu ſpielen, beraubt
ſich der Clavierſpieler gerade des Hauptvortheils, den ihm dieſes Inſtrument
[1040] und die Applicatur der Hand auf ihm gewährt, des Vortheils in vollſter
Freiheit ein mannigfaltigſt verſtärktes und begleitetes Tonnacheinander her-
vorzubringen; er begibt ſich ſtatt deſſen hinein in ein Stimmen- und Läufe-
gewirr, dem das klare Sichabheben der Einzelſtimmen gegen einander, der
klare melodiöſe Umriß, die Freiheit der Bewegung abgeht. Die Mechanik
thut beim Clavier alles Mögliche, um dieſe Freiheit des Spiels zu fördern,
die Fingerübung desgleichen; aber die unrichtige Anſchauung von der Be-
ſtimmung des Claviers zu orcheſtriſcher Polyphonie macht Alles wiederum
vergeblich. Das Clavier iſt wie die Violine ein ſubjectives, freies, der
mannigfaltigſten Melodieenformen fähiges und dabei doch nicht einſam
monodiſches, ſondern vieltöniges, vollſtimmiges Inſtrument, es ergänzt das
melodiſche Prinzip durch das harmoniſche, es iſt eben dazu da, den melo-
diöſen Erguß nicht blos monodiſch, ſondern zugleich mit der vollen und
wo es nöthig iſt kräftigen harmoniſchen Begleitung ſich vollziehen zu laſſen,
die Monodie mit der ganzen Fülle, Mannigfaltigkeit und Stärke von Neben-
klängen, die ſie um ſich ganz, reich und intenſiv auszuſprechen bedarf, in
ein Inſtrument niederlegen zu können; das Clavier iſt wie die Arie, es
bietet ſich zunächſt dar zum Ausſprechen der Empfindung in klarem aber
dabei mannigfaltigſt geſtaltetem melodiſchem Umriß, und es reicht hiezu zu-
gleich die Inſtrumentalbegleitung dar, welche zur bewegtern Arie auch hin-
zutreten muß, ihr aber doch ſtets untergeordnet bleibt. Die Unterordnung
des harmoniſchen Prinzips unter das monodiſch melodiſche iſt allerdings
eine andere als bei der orcheſterbegleiteten Arie (oder dem von andern In-
ſtrumenten begleiteten homophonen Inſtrument), ſie iſt nämlich geringer als
dort, ſofern die Tonſtärke und die Inſtrumentalklangfarbe der ſtimmführenden
und der ſtimmbegleitenden Claviertöne die gleiche iſt; daraus ergibt ſich
auf dem Clavier die Eigenthümlichkeit, daß Melodie und Harmonie weit
weniger auseinandertreten, daß ſie Einen Guß bilden, in welchem Alles
gleichmäßig und feſt an einander gedrängt zuſammentönt; dieſes Compacte,
verbunden mit der Schlagkraft und der Helligkeit der Clavierlaute, trägt
vor Allem dazu bei, dieſem Inſtrument eine beſondere, durch nichts Anderes
zu erſetzende Stellung unter den Muſikorganen anzuweiſen. Aber gerade
hieraus folgt wiederum das Obige, daß das Clavier die verſchiedenen Stim-
men zuſammen, nicht aus einander halten, nicht zertrennen und zerſtreuen
darf, wenn es ſeinem Charakter getreu bleiben will; das Clavierſpiel ſoll
frei polyphon ſein, es ſoll unermüdlich im Kleinen figuriren, nachahmen
u. ſ. w., aber es muß doch die Homophonie obenanſtellen, es muß nach
dieſer Seite hin Lied mit mannigfaltiger Begleitung ſein, das von dem
Prinzip frei monodiſcher Melodieentwicklung nicht abgeht. Zuſammenſpiel
Mehrerer bewirkt wohl, daß die Polyphonie auch auf dem Clavier natür-
licher wird, weil dadurch ein diſtincteres Auseinandertreten der Stimmen
[1041] zu erreichen iſt; aber auch da iſt die Polyphonie immer etwas künſtlich
Hervorgebrachtes, das uns fremdartig anweht, weil ſie das Compactgleich-
förmige des Inſtruments vergeblich zu durchbrechen, das Eine und einfache
Inſtrument vergeblich zum Orcheſter oder Chor zu erweitern ſucht, und auch
der Triumph des Zuſammenſpiels auf Einem oder mehrern Clavieren beſteht
ſomit doch darin, daß die Polyphonie nur als Durchgangsmoment gebraucht,
im Uebrigen aber die wühlende Beweglichkeit der Finger und Hände dazu
verwendet wird, dem Inſtrument eben jene Einheit reicher Melodie mit
reicher Harmonie zu entlocken, in der ſein eigenthümliches Weſen beſteht.
Durch dieſe compacte Einheit, welche Melodie und Harmonie auf’s Engſte
an einander kettet, ſowie neben ihr durch die Diſtinctheit ſeiner Töne in
ihrem Nacheinander, welche das allzu Weiche und Schmelzende von ihm
abhält, hat das Clavier etwas Claſſiſches, d. h. einestheils ein Befaßt-
ſein des Einzelnen im Ganzen des Zuſammenklangs, das die beſondern
Stimmen nicht einſeitig heraustreten läßt, anderntheils etwas geſund, hart
Kräftiges, das wohl auch in’s Hölzerne ausarten kann und jedenfalls die
höhere muſikaliſche Feinheit vermiſſen läßt, das aber deßungeachtet einen
wohlthuenden Contraſt bildet zu dem Fließenden, Süßen, Nervenaufregenden
der übrigen Inſtrumente, daher in dieſer Hinſicht die Aufnahme von Clavier-
ſtücken in Concerte pſychologiſch ſehr gut begründet iſt; wie friſche erquick-
liche Morgenluft weht es uns an, wenn auf Flötengetändel, Oboenliebelei,
Hornromantik, Violingewimmer die präciſen, klaren, feſten Klänge des
Claviers an unſer Ohr ſchlagen und uns eine Erholung gewähren von
der ſubjectivern Muſik, die wir dort zu hören bekamen. Das Clavier iſt
wohl, wie oben bemerkt wurde, ſubjectiv in dem Sinne, daß es das Inſtru-
ment für freien Melodieerguß iſt; aber es iſt auch wiederum objectiv,
es widerſteht mit ſeiner kernigen Natur den zu feinen Nüancen der Em-
pfindung, es iſt antik; wie es Ein compactes Tonganzes gibt, ſo gibt es
einfach in dieſer oder jener Stärke anzuſchlagende, nicht an- und abzu-
ſchwellende oder gar tremulirende Töne, es ſondert zwar die Töne nicht
(wie die Violine durch ihre Gegenſtriche) mit reflectirter Schärfe von einan-
der, aber es ſetzt ſie mit einfacher Klarheit und Ruhe von einander ab,
ohne einem überzarten Ineinanderſchleifen derſelben Raum zu verſtatten.
Allein es iſt klar, daß auch dieſe Claſſicität und Objectivität des Claviers
verloren geht, wenn ſeine Stimmen zerſplittert und in aufregende Gegen-
überſtellungen und Abwechslungen gebracht werden, und es kann daher als
ein gutes Zeichen gelten, daß die Orcheſtration des Claviers doch wieder
im Zurückweichen begriffen iſt und eine claſſiſche Behandlung dieſes ganz
irrthümlich moderniſirten Inſtruments wiederum Raum gewinnt.
2. Einem andern polyphonen Inſtrument gegenüber tritt das Clavier
freilich wiederum auf die Seite der ſubjectiven Muſikorgane theils durch
[1042] ſeine leichtere und freiere Handhabung überhaupt, theils beſonders durch
den ausdrucksvollen Wechſel des Forte und Piano, den es ſeinem Spieler
verſtattet, ſowie auch durch ſeine dabei doch wie bei allen bisher betrachteten
Muſikorganen durch das Maaß menſchlich individueller Kraft beſchränkte
Tonſtärke. Dieſes Inſtrument iſt die Orgel, welche mit weit größerer
Fähigkeit für mannigfaltig polyphones Spiel eine ganz eigenthümliche Ge-
walt des Tones und eine alle Einmiſchung des rein Subjectiven ſchlechthin
von ſich weiſende Objectivität verbindet. Die Orgel iſt wieder ein Pfeifen-
inſtrument und damit ein Inſtrument der frei ein- und ausſtrömenden Luft,
durch welche auch hier ein runder, wenigſtens in den höhern Lagen heller, aber
unſcharfer, nicht eigentlich klarer und ein weniger als bei der Flöte dünner Ton
entſteht, letzteres, weil die Pfeifen hier weiter, namentlich kegelförmig gebohrt
ſind, und weil wohl auch das weiche Metall dem Klange alles Diſtincte und
Spitze benimmt. Der Klangfarbe nach ſteht ſomit die Orgel, wie alle
Rohrinſtrumente, der Menſchenſtimme ſehr nahe; aber eigenthümlich iſt ihr
einmal dieß, daß die Luft in ſie nicht gehaucht, ſondern ſtark eingeblaſen
wird, ſodann daß dieſes durch einen Mechanismus bewirkte Einblaſen ein
ſchlechthin gleichförmiges iſt, ſo daß der Ton beliebig ausgehalten werden
kann, und ſo lang er dauert unabänderlich ſich ſelbſt gleich feſtſteht, ſowie
endlich dieß, daß hier dem Aushalten nicht wie bei andern Muſikorganen
das fließende Schleifen zur Seite ſteht, ſondern die Töne durchaus discret
einander ablöſen, und zwar noch mehr als beim Clavier, bei welchem doch
immer ein leiſer Nachhall des eben verlaſſenen Tones neben dem neu an-
geſchlagenen forttönt. Auf dieſen drei Momenten beruhen zunächſt die zwei
Haupteigenſchaften der Orgel, ihre ideale, hohe durchgreifende Kraft und
ihre elementariſche, ſubſtantielle Objectivität. Ohne gerade eine beſonders
effectiv einſchneidende Tonſtärke zu haben, welche vielmehr bei der Orgel im
Verhältniß zu den Maſſen, welche ſie aufbietet, klein iſt, weil ihr die durch-
dringende Klarheit und Schärfe abgeht (ſ. S. 913), hat doch die Orgel
eine Kraft, die allen andern Inſtrumenten ſchlechthin verſagt iſt; zur An-
ſprache wird ſie vom Menſchen gebracht, aber in Bewegung wird ſie geſetzt
nicht von beſchränkter menſchlicher Lungen- und Muskelkraft, ſondern von
einer bereitgehaltenen elaſtiſchen Luftmaſſe, die einmal frei gelaſſen mit dem
intenſiven, unwiderſtehlichen Zuge einer entfeſſelten Naturkraft wirkt, neben
welchem alle menſchliche Kraftanſtrengung als Null erſcheint; wie eine man
weiß nicht woher kommende, dem dunkeln Schooß weltbewegender Kräfte
entſtiegene, geiſterhafte höhere Gewalt braust die vollgenommene Orgel,
beſonders in den Baßtönen, und auch wo nur einzelne, zartere Regiſter
erklingen, hat ihr Ton ein beſtimmtes, von allem Schwanken und Oscilliren
freies Auftreten, das den reinen Contraſt bildet zu den nie dieſer abſoluten
Sicherheit und Unwandelbarkeit fähigen Tönen anderer Organe; es iſt ein
[1043] Ideales, hereintretend in die gewöhnliche Realität, unbeirrt durch ſie hin-
durchſchreitend, unbedingt über ſie übergreifend, was aus der Orgel uns
entgegenzutönen ſcheint. Verſtärkt wird dieſer Eindruck der Idealität durch
das ſchlechthin Müheloſe ihrer Töne, das mit ihrer Conſtruction gegeben
iſt, es iſt kein Aufwand ſubjectiver Anſtrengung, kein bloßes Streben nach
Kraft, ſondern die reine, volle, in majeſtätiſcher Hoheit oder lieblicher Ruhe
ſich äußernde, ſich objectiv darſtellende Kraft ſelbſt, daher eben das eigent-
lich Hohe ſowie das von allem Drängenden, Pathetiſchen durchaus freie,
ruhig an uns herankommende Liebliche der Orgel vorzugsweiſe eigen iſt.
Allein auch abgeſehen von der Kraft hat die Orgel etwas Außergewöhn-
liches, Transſcendentobjectives. Es vollendet ſich erſt in ihr der
Begriff des Inſtruments als objectiven Muſikorgans in ſeinem reinen Ge-
genſatze zur Menſchenſtimme; die Blasinſtrumente ſind eigentlich nur Er-
weiterungen und Variationen der letztern ſelbſt, die Saiteninſtrumente haben
mit ihr dieß ganz gemein, daß ihr Ton durch ein Anſetzen eines vom
menſchlichen Willen geleiteten Organes, wie dort des Mundes, ſo hier der
Hand, entſteht; in der Orgel aber tönt endlich die, freilich durch menſchliche
Kunſt dafür zubereitete, Materie ſelbſt, ihre Töne ſind nicht mehr ſubjectiv, in ihr
erklingt Weltſtoff durch Weltkraft in Bewegung geſetzt, in ihr iſt die Muſik
ganz in’s Gebiet der außermenſchlichen Objectivität hinausverlegt, das Uni-
verſum redet aus ihr muſikaliſch, und ſie iſt daher auch eines ganz andern
Eindrucks fähig als die übrigen Organe, des Eindrucks nicht eines ſubjectiv
menſchlichen, ſondern eines objectiven, der Subjectivität vorausgehenden,
an ſie herankommenden, ſie durchdringenden, ſie aus ſich heraus verſetzenden,
ſie zum Object hinan hebenden Inhalts; ſie iſt das rechte Organ für eine
Muſik, aus welcher dem Menſchen ein Höheres als er ſelbſt, ein Anſich-
ſeiendes, Subſtantielles, Univerſales entgegentönen ſoll. Die Objectivität
der Orgel iſt nach dieſer Seite gegenüber der nur relativen des Claviers
eine ſo abſolute, daß hier beide Inſtrumente den völligſten Contraſt bilden;
wie das Clavier das Organ iſt für die Subjectivität der freien muſikaliſchen
Phantaſie, ſo die Orgel für die gebundene Phantaſie, d. h. für die von
einem objectiven Inhalt erfüllte, dieſen objectiven Inhalt (ſei es nun etwas
Ideales, Religiöſes oder mehr formell die Macht der Harmonie, der Reich-
thum der Polyphonie u. ſ. w.) zur Darſtellung bringenwollende Phantaſie;
empiriſch iſt natürlich ein freies Phantaſiren auch auf der Orgel möglich,
aber wenn es blos dieſes iſt, ſo iſt es eben keine Orgelphantaſie, ſondern
widerſpricht ſelbſt bei der eminenteſten Technik dem Charakter des Inſtru-
ments; denn ſeine Töne ſind nun einmal nicht ſubjectiv geſetzte, ſondern
ſelbſtändige, durch das Subject nur zur Anſprache gebrachte Klangrealitäten,
ſeine ganze Conſtruction iſt von der Art, daß durch ſie die ſubjective Kraft und
Freiheit eben in ihrer Kleinheit, Beſchränktheit und Gebundenheit erſcheint,
[1044] indem ja hier der Menſch nicht als autokratiſcher Herr des Werkzeugs, ſon-
dern als der dienende Vermittler fungirt, den das Organ allerdings braucht,
um die in ihm verborgenen Tonmaſſen an’s Licht treten zu laſſen; jeden-
falls bringt ein freies Phantaſieſpiel dieſen eigenthümlichen Charakter der
Orgel nicht zur Anſchauung, es benützt gerade die Hauptſache nicht, es läßt
die Orgel nicht auftreten mit der ſubſtantiellen Wucht eines durch ſich ſelbſt
ſchwer wiegenden Gehalts, durch welche ſie ſelber erſt ihrem Weſen gemäß
wirken, ſelber erſt ihre eigene Großartigkeit entfalten kann. In Zeiten leerer
und hohler Subjectivität iſt es daher ein Glück zu nennen, daß die Orgel
da iſt; unerbittlich und unbezwinglich ſteht ſie allem Mode- und Virtuoſen-
thum, das ihr wenigſtens nur in ſehr beſchränkter Weiſe beizukommen ver-
mag, aller Gleißnerei, Sentimentalität und Süßlichkeit gegenüber, ſie ver-
ſchmäht ſtolz den Bund mit aller Unmännlichkeit und Entnervtheit, ſie über-
dauert den Lärm und die vergänglichen Künſteleien des Tages, auf die ſie
wie ein Rieſe von ferner Höhe herabſchaut, des Zeitpuncts ruhig harrend,
wo das Kleinlichte und Geſpreizte in den Staub geſunken ſein und dem
Männlichkräftigen Platz gemacht haben wird. Dieſer ſubſtantiell objective
Charakter der Orgel beruht jedoch nicht blos auf der Art und Weiſe, in
welcher die Töne auf ihr hervorgebracht werden, ſondern auch auf den
beiden andern der zu Anfang erwähnten Momente, auf der Möglichkeit die
Töne unabänderlich auszuhalten, und auf der Unmöglichkeit ſie weichfließend
in einander überzuführen. Ihre Töne ſtehen feſt mit einer ebenſo intenſiven
als ruhigen Beharrlichkeit und Ausdauer, welche allein eine im Wechſel
der Stimmen bleibend beharrende, gleichmäßig fortklingende Harmonie, kurz
eben die Harmonie in ihrem weſentlichen Unterſchied von der Melodie und
namentlich eine die obern Stimmen kraftvoll tragende Baßgrundlage ermög-
licht; aber auch als Melodietöne ſind ſie von eigenthümlicher Wirkung, ſie
halten den Gang der Melodie gleichmäßig aufrecht und führen ihn ebenſo
gleichmäßig, ohne An- und Abſchwellen, ohne Möglichkeit vielfacher Wechſel
der Tonkraft fort, es reiht ſich einfach Ton an Ton ohne ſubjectiv aus-
drucksreiche Nüancirungen der Tonſtärke, es erklingt nur der Ton ſelbſt in
ſeiner Objectivität ohne individuelle Modification durch den Spieler und
doch andrerſeits in Bezug auf Zeitdauer und gleichbleibende Kraft ihm
willig zu Dienſten ſtehend, ſo daß das Spiel durch dieſe intenſive Con-
tinuität des Klingens an innerer Stärke, Ruhe, Feierlichkeit reich wieder
gewinnt, was es an Feinheit der Ausführung des Cinzelnen verliert. Auf
der andern Seite ſcheiden ſich die Töne mit derſelben Beſtimmtheit, mit der
jeder für ſich ausharrt, ſcharf von einander ab; ſo viel Fluß und Schmelz
als für die Muſik ſchlechthin unentbehrlich iſt, läßt ſich durch die liegen-
bleibende Harmonie und möglichſt gebundenes Spiel wohl erreichen und iſt
ſogar bis auf einen gewiſſen Grad von ſelber vorgeſchrieben durch den
[1045] Widerſtand, welchen der Orgelmechanismus einem gar zu gebrochenen, puncti-
renden Vortrag entgegenſetzt, aber dabei haben die Orgelklänge eben doch
in ihrem Nacheinander eine Diſtinctheit, eine Sprödigkeit, eine Art Indiffe-
renz gegen einander, bei welcher jeder Ton die Reihe neu zu beginnen
ſcheint und namentlich der Accentwechſel (§. 776) auf ein Minimum der
Bemerkbarkeit beſchränkt wird, ſo daß mithin auch nach dieſer Seite der
Subjectivität des ſchleifenden Hinüberziehens ſowie des beſonders Betonens
einzelner Noten aller freie Spielraum benommen iſt. Es iſt dieß zwar ein
Mangel der Orgel, daß ſie die freie Verfügung wie über die Mittel der
Dynamik ſo über die der Rhythmik nicht hat, aber dieſer Mangel iſt doch
bei ihr ſelbſt kein Widerſpruch, ſondern er ſteht in vollkommenem Einklang
mit ihrem Charakter, er dient dazu, denſelben noch bezeichnender herauszu-
heben; die Orgel leiſtet eben auch hier auf die ſubjective Freiheit beliebig
wechſelnder Wahl der Tonſtärke und beliebig betonender Accentuation, ſowie
auf die ſchöne Leichtigkeit des rhythmiſchen Accentwechſels Verzicht und
begnügt ſich mit der objectiven Macht der ihr immanenten allgemeinen
Gewalt des Tones, mit der imponirenden Kraft der Geſammtwirkung, mit
der Großartigkeit und Ruhe des gleichſchwebenden, ohne rhythmiſche Ein-
ſchnitte und Stöße dahingehenden Fortklingens, welches letztere zugleich auch
wiederum dazu beiträgt, dem Orgelſpiel eine nur ihm eigene Idealität und
Lieblichkeit zu verleihen. Ganz verleugnet ſich auch auf der Orgel der
„periodiſche Wechſel accentuirter und nichtaccentuirter Takttheile“ nicht, aber
er iſt wegen der geringen Einwirkung auf die Tongeſtaltung, welche der
complicirte Mechanismus zuläßt, ſo ſehr zurückgedrängt, daß jene „ruhige,
die Bewegtheit verhüllende Haltung des Ganzen“, welche S. 910 als Wir-
kung eines gleichmäßigen Rhythmus bezeichnet wurde, hier ganz von ſelbſt
eintritt. Fülle und Macht des Tonſturms und Ruhe des Tonfortgangs
ſind ſo bei der Orgel in einer gegenſeitigen Ergänzung vereinigt, welche
aller vielfachen Schranken des Inſtruments ungeachtet die Vereinigung der
größten und der lieblichſten Effecte auf ihm geſtattet und es ſo hauptſächlich
zum Inſtrument für das Religiöſe, ſowohl nach ſeiner erhabenen als nach
ſeiner milden, gemüthanſprechenden und doch von allem Pathetiſchſüßlichen
ſich frei haltenden Seite, gemacht hat. Es iſt jedoch kein Grund da, die
Orgel blos für das ſpezifiſch Kirchliche anzuwenden; jede große Geſammt-
empfindung ruhiger Art, wie ſie vor Allem dem Chore auszuſprechen zufällt,
findet an der Orgel ihre würdige Begleitung; unverträglich iſt ſie nur mit
dem bewegtern ſubjectivern Leben, da alles Erregte, Pulſirende, Spannend-
ſchwellende gänzlich außer ihrem Bereiche liegt. Von ſelbſt verſteht es ſich,
daß die der Orgel ſo ſpezifiſch zukommenden Eigenſchaften der Objectivität,
der Transſcendenz, der gleichförmigen Ruhe auch wiederum Einſeitigkeiten
ſind, ſofern ſie damit eben das Prinzip der Lebendigkeit, der ſubjectiven
[1046] Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreiſe von ſich
ausſchließt, und daß daher die Orgel für ſich allein in ihren Wirkungen
ſehr beſchränkt iſt; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende
iſt ſie unentbehrlich; denn nur ſie legt den leichten, frei beweglichen, dem
individuellen Belieben untergebenen, ſchwachen Organen der Stimme und
der Einzelinſtrumente eine feſtruhende, gewichtig ſtützende, nervig aushaltende
Baſis der Klangſtärke und Harmoniefülle unter, welche der Geſammtbe-
wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch
die mittönende Orgel erſcheint die Muſik als eine Tonbewegung, zu welcher
das Ganze der Weltharmonie mitklingt, als eine Bewegung, die nicht
in einſamer und einſeitiger Subjectivität auftritt, ſondern vermählt mit den
gewaltigen Tonkräften des Univerſums und rings von ihnen umſchloſſen
und getragen ſich nach oben ſchwingt; wie die Arie des Individuums zum
Chor der Geſammtheit, gerade ſo verhält ſich die Muſik der Einzelſtimmen
und Einzelinſtrumente zu orgelbegleiteter Muſik, nur daß Dasjenige, was
die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und ſubſtantieller iſt wegen der
transſcendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die ſubjective Muſik
umbrauſen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der ſie den leichtern,
wechſelvolleren Bewegungen der ſubjectiven Muſikorgane gegenüber das
flüchtige Tonelement zu ruhigfeſter Conſiſtenz fixiren.
Die Frage, inwieweit die Orgel ſich nicht blos zur Harmonie, ſondern
auch zur Polyphonie eigne, iſt in verwandter Weiſe zu beantworten,
wie beim Clavier. Manchen wird freilich ſchon das Aufwerfen dieſer Frage
wunderlich ſcheinen, da die größten Meiſter des polyphonen Satzes ihn
gerade auch auf die Orgel mit beſonderer Vorliebe angewandt haben. Aber
die Orgel, wenigſtens wie ſie bisher war, hat die Helligkeit und Diſtinct-
heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an-
ſprechenden Polyphonie zuſammengeſetzter Art erforderlich iſt. Die Orgel
iſt „orcheſtriſch polyphon“ durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche
ſie in ihren Regiſtern vereinigen kann, aber zur kunſtgerechten Polyphonie,
zu welcher ſie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung beſitzt,
paßt ſie, die Sache vorurtheilsfrei angeſehen, ganz vollkommen nur bei
einfachern Sätzen und nur bei langſamem Tempo, bei ſchnellerem blos dann,
wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern
Muſikorganen ausgeführten polyphonen Muſik bilden; in dieſem Falle wirkt
ſie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intenſität und
Fülle z. B. des Geſanges vortrefflich mit. Der Meiſter der Polyphonie
wird ſich freilich getrieben fühlen, das vielſtimmige Organum, bei deſſen
Spiel er zudem nicht auf den Dienſt der Hände beſchränkt iſt, zu künſt-
lichern Canon’s, Fugen u. ſ. w. zu benützen; aber hier iſt einer der Fälle,
wo die Intentionen ſubjectiver Virtuoſität und die Forderungen der Kunſt
[1047] aus einander gehen, die tiefen Orgeltöne ſind zu dumpf, als daß ſie den
hellern Klängen der höhern Regionen klar zur Seite gehen könnten, und
wenn wir auch zugeben, daß ſelbſt bei ſchnellerer Bewegung mittelſt paſſen-
der Wahl der Regiſter auch die mittlern und die weniger tiefen Stimmen
reicher polyphoniſch behandelt und dabei die tiefſten zu wirkſamer Beglei-
tung gebraucht werden können, ſo iſt damit doch der Satz, daß die Poly-
phonie auf der Orgel blos bedingte Anwendung findet, nur von einer
andern Seite her wiederum beſtätigt. Man kann auch nicht ſagen, das
Dumpfe der untern Töne ſei eben ein zufälliger Fehler, deſſen Beſeitigung
die Aufgabe der Technik ſei; im Gegentheil, mit dieſer Dumpfheit würde
eine Haupteigenthümlichkeit der Orgel, ihre geiſterhaft dröhnende elementare
Tiefe, ihre ſturmähnliche Grundgewalt verſchwinden. Ja die vollgenommene
Orgel hat ganz wiederum das Compactgleichartige des Claviers und wider-
ſtrebt auch aus dieſem Grunde der Polyphonie, und es hat daher dabei ſein
Bewenden, daß (wie auch Marx anerkennt) die Orgel zu immerhin mannig-
faltigem, aber doch namhaft beſchränktem polyphonem Spiel geeignet iſt.
Die Orgel iſt überhaupt nicht vorzugsweiſe Solo-, ſondern mehr beglei-
tendes, füllendes, einleitendes Chorinſtrument; ſo hoch ſie nach einer Seite
hin über allen ſubjectiven Muſikorganen ſteht, ſo übt ſie doch ihre Kraft
zum Gewaltigen wie zum Lieblichen wahrhaft nur im Verein mit Stimme
und Orcheſter aus. Für ſich iſt ſie zu unbeweglich, zu elementariſch ſtarr
und ungelenkig; ſie gibt der ſubjectiven Muſik Wucht und Subſtantialität,
aber ſie entbehrt, auf ſich beſchränkt, die Wärme des ſubjectiven Lebens, den
zarten Hauch der Innerlichkeit, den ſelbſt ihre lieblichen Regiſter nur an-
näherungsweiſe erreichen. Das Schreiende, Kreiſchende der volltönenden
Orgel kann die Technik vielleicht beſiegen, aber die eminente Klarheit der
Blasinſtrumente wird ihr ohne zu complicirten Mechanismus ſchwerlich
gegeben werden können, und es wird daher auch in dieſer Beziehung eine
nicht ganz zu idealer Reinheit geläuterte elementariſche Klangbeſchaffenheit
wohl immer an ihr hängen bleiben. Im Verein mit Stimmen- und Orcheſter-
chor wirkt auch dieſer Mangel nicht ſtörend, ſondern findet von ſelbſt ſeine
Ausgleichung, aber auch nur hier; die Orgel iſt eben, von welcher Seite
her man ſie betrachtet, ſelbſt wo ſie die Melodie mitführt, Harmonieinſtru-
ment, ſie leitet allen andern Organen die reichen Ströme der Harmonie
zu, und ſie iſt ſelbſt groß und ſchön nur in dieſem harmoniſchen Zuſam-
menwirken mit der Geſammtheit der übrigen Stimmen der Muſik, ſie ſteht
mit rieſiger Kraft über dieſen „menſchlichen“ Organen, aber ſie muß ſich
mit ihnen verſchmelzen, ſie muß den Bund eingehen mit menſchlicher Anmuth
und Zartheit, um nicht für ſich allein in unbehülflicher und ungeſchlachter
Maſſenhaftigkeit dazuſtehen. —
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 68
[1048]
Eine beſondere Bedeutung für die Muſik haben Orgel und Clavier
dadurch, daß ſich an ihnen, weil ſie das ganze Tonſyſtem von unten bis
oben als ein coexiſtentes repräſentiren, deſſen Einzelklänge harmoniſch ge-
ſtimmt ſein müſſen, ehe ſie zum Spiel brauchbar ſind, die Nothwendigkeit
der gleichſchwebenden Temperatur (S. 873 u. f.) vor Allem fühlbar macht.
Die ſubjectivern Organe, die Menſchenſtimme und unter den Inſtrumenten
beſonders die Streichinſtrumente, produciren die Töne ſtets von Neuem und
nicht mit dieſer beſtimmten Rückſicht auf den Zuſammenklang des Geſammt-
tonſyſtems, da ſie immer nur einzelne Regionen deſſelben durchwandern und
mit einander combiniren; ſie gehen vom einzelnen Intervall, vom ſubjectiven
Wohlgefallen an ſeiner Reinheit und Schärfe aus und ſchreiten erſt von
da zu weitern Tonverbindungen fort. Umgekehrt iſt es bei den objectiven
polyphonen Inſtrumenten. In ihnen iſt das Tonmaterial real objectivirt
ſeinem ganzen (gebräuchlichen) Umfange nach; es ſteht hier nicht mehr in
der Freiheit des Spielers, harmoniſche Unzuträglichkeiten, die ſich aus der
Beſtimmung der Intervalle nach ihrem unmittelbar gefälligen Eindruck für
das Tonganze ergeben, bei Seite liegen zu laſſen oder hintennach zu heben,
es muß vielmehr von vorn herein dafür geſorgt ſein, daß eine ſolche Un-
zuträglichkeit gar nicht entſtehe, es muß vorerſt ein harmoniſches Ganzes
hergeſtellt ſein, ehe die Bewegung in einzelnen ſeiner Regionen beginnen
kann. So iſt auch nach dieſer Seite die ſubjective Thätigkeit eine beſchränkte
und bedingte, der Spieler empfängt vom Inſtrument Töne, die bereits ge-
ſtimmt und zwar nach dem Geſetz geſtimmt ſind, daß in allem Einzelſpiel
die Beziehung auf den Geſammtzuſammenklang aller Töne mitberückſichtigt
und ihr zu lieb die an ſich ſubjectiv befriedigendere Schärfe der Einzelinter-
valle abgeſtumpft werde. Bei den Rohrblasinſtrumenten iſt dieſe Nöthigung
auch vorhanden, aber weniger dringend, wegen ihres kleinern Umfangs und
weil hier das Einzelinſtrument keine conſonirenden Töne hervorbringen kann;
erſt die umfaſſenden polyphonen Organe beugen die Tonbewegung voll-
kommen unter das objective Geſetz allſeitiger Harmonie und weiſen auch
hiemit darauf hin, daß ſie vor Allem als harmoniſche Inſtrumente zu
gebrauchen ſind.
Weitere polyphone Organe, wie namentlich die verſchiedenen Arten
der „Harmonika“, ſind hier nur kurz zu erwähnen, da ihr Material, theils
metallene Zungen, theils Stäbe aus Holz, Glas, Eiſen u. ſ. f., entweder
die Klarheit oder die Kraft nicht hat, die zu einem Inſtrument von eigen-
thümlicher Bedeutung innerhalb des Ganzen der Muſikorgane erforderlich
wäre. Wichtiger ſind die Schlaginſtrumente, welche die Schallkraft
und Klangfülle des Orcheſters vermehren und hie und da ſogar allein,
einleitend, vorbereitend, alternirend auftreten können, Pauke, Trommel,
Triangel u. ſ. w.; in ihnen geſellt ſich das Orcheſter wiederum mehr
[1049] elementariſche Tonkräfte bei, welche in ihrer Art ähnlich wie die Orgel der
Tonmaſſe einen Zuſatz des Durchſchlagenden, Uebergreifenden, des höchſt-
möglichen Stärkegrades und Klangreichthums verleihen, mit dem eine
Empfindung ausgeſprochen werden ſoll.
§. 807.
In der Inſtrumentalmuſik treten die Inſtrumente entweder monodiſch oder
mehrſtimmig oder allſtimmig auf, d. h. entweder als Einzelſtimmen, theils
unbegleitet, theils begleitet, oder verbunden zu kleinern oder größern Gruppen
theils gleicher, theils gemiſchter Gattung, oder endlich vereinigt zu einem Ganzen
der Inſtrumente, zum Orcheſter, das wenigſtens die wichtigſten Gattungen der-
ſelben umſchließt, ſo daß mit ihm ein voller Chor von Inſtrumenten, in welchem
alle Inſtrumentalkräfte zuſammenwirken, gegeben iſt, — Solo-, mehr-
ſtimmiger, Orcheſterſatz.
In §. 795 iſt bemerkt, daß bei der Eintheilung der Inſtrumentalmuſik
die formellen Theilungsprinzipien vorwiegen, weil ihr eigenthümliches Ge-
biet eben die freie Formenmannigfaltigkeit iſt. Schon §. 805 und 806
enthalten mittelbar zugleich eine Seite dieſer formellen Eintheilung, indem
die Lehre von den Charakteren und Klangfarben der verſchiedenen Inſtrumente
bereits verſchiedene Gattungen und Arten von Inſtrumentalmuſik, Rohrbläſer-
und Blechmuſik, Saiten- und Streichorganmuſik, Flöten-, Horn-, Violinen-,
Clavier- und Orgelmuſik u. ſ. w. begründen. Hier nun wird die Gliederung
weiter, nach dem Geſichtspunkt der Ein- und Mehrſtimmigkeit, fortgeſetzt,
und zwar hat ſich dieſe Theilung an die in §. 805 und 806 enthaltene
deßwegen unmittelbar anzuſchließen, weil die mit ihr ſich ergebende Com-
bination verſchiedener Inſtrumente und verſchiedener Inſtrumentengattungen
ſelbſt wieder neue Geſtaltungen der Tonbewegung, der Klangkraft und der
Klangfarbe erzeugt, ganz in derſelben Weiſe, wie die Inſtrumente überhaupt
zur Menſchenſtimme hinzutreten als Organe neuer, in dieſer noch nicht
gegebener Formen theils der Bewegung, theils der dynamiſchen Wirkung,
theils eigenthümlicher Klangqualitäten (§. 805). Bei der Vocalmuſik war
die Sache einfacher; dort konnte ſogleich zu den concreten Gattungen
des monodiſchen oder mehrſtimmigen Lieds, der Arie, der mehrſtimmigen
Soloſätze, des Chors u. ſ. w. fortgegangen werden, weil dieſe Gattungen
einfach daraus erwachſen, daß die Einzelſtimme für ſich oder mit andern
zuſammen auftritt. Hier aber verhält es ſich anders; zwiſchen die Betrach-
tung der concreten Gattungen, Inſtrumentallied, Tanz, Marſch, Concert,
Symphonie u. ſ. w. und die Betrachtung der verſchiedenen Inſtrumenten-
arten müſſen wir hier einſchieben die Erörterung der verſchiedenen Com-
68*
[1050]binationen der Inſtrumente; jene concreten Gattungen können ſich dieſer
Combinationen jede in ihrer Weiſe bis zu einem gewiſſen Umfang bedienen,
es kann z. B. ebenſogut Clavier- als Trompeten-, Harmonie (Bläſerchor)-,
Orcheſtermärſche geben, und ſie ſetzen daher die Lehre von den verſchiedenen
Combinationen bereits voraus (wie das Lied, der Chor die Lehre von
Melodie, Harmonie, Polyphonie vorausſetzte). Zunächſt iſt alſo hierauf
einzugehen, welche Bedeutung dem Solo-, dem mehrſtimmigen und dem
Orcheſterinſtrumentalſatz im Allgemeinen zukommt, und ſodann hieran erſt
die Betrachtung der concreten Gattungen anzureihen. — Das „mehrſtimmig“
iſt hier, indem uns in dieſem Zuſammenhang Stimme eine für ſich wirkſame
Inſtrumentalſtimme bedeutet, in einem andern Sinn als früher (§. 781)
genommen, nämlich ſo daß es keine Anwendung auf den mit blos beglei-
tenden Inſtrumentalſtimmen auftretenden Soloſatz findet, ſondern nur auf
Sätze, die für eine Mehrheit zuſammenwirkender Inſtrumente, jedoch nicht
für das ganze Orcheſter, beſtimmt ſind, ſei es nun daß in dieſer Mehrheit
die Einzelſtimme blos einfach, durch Ein Inſtrument (wie im Streichquartett),
oder vielfach (wie in der Harmoniemuſik) beſetzt iſt. Auch den Ausdruck
Polyphonie mußten wir im vorhergehenden §. noch in einem andern als
dem gewöhnlichen Sinne gebrauchen, indem ſich uns dort der Begriff
„orcheſtriſch polyphon“ als paſſendſte Bezeichnung der Mannigfaltigkeit
zugleich ertönender inſtrumentaler Klangfarben ergab; es verhält ſich mit
Beidem ähnlich wie mit dem Begriff des „Satzes“, der in der Theorie der
Muſik nicht weniger als viererlei, 1) die Hälfte einer Periode (S. 927),
2) den einen Haupt- oder Nebengedanken enthaltenden Theil eines Ton-
ſtücks (S. 956), 3) das Tonſtück, das Theil eines größern iſt (z. B. Satz
einer Symphonie) und 4) außerdem noch wie hier die Compoſition ihrer
techniſchen Seite nach (ſo auch homophoner, polyphoner Satz u. dergl.)
bezeichnen muß.
§. 808.
Der Inſtrumentalſoloſatz iſt eine Monodie des Einzelinſtruments,
welche entweder mehr eine dem Charakter deſſelben entſprechende Einzelſtimmung
wiederzugeben, oder mehr dieſen Charakter ſelbſt und die mit ihm gegebene
eigenthümliche Kunſtform zu veranſchaulichen, oder auch die Leiſtungsfähigkeit
des Inſtruments in’s Licht zu ſetzen hat. Wird an die Stelle dieſer Zwecke
die Darlegung der Leiſtungsfähigkeit des Spielers geſetzt, ſo iſt damit an die
Stelle eines künſtleriſchen Actes entweder die unkünſtleriſche Production bloßer
Fertigkeit oder die wenigſtens noch nicht künſtleriſche Manifeſtation ſubjectiver
Genialität oder Geiſtreichheit getreten. Die erſtere Art des Virtuoſenthums
hat jedoch eine äußere Berechtigung, ſofern ſie indirect zur Vervollkommnung
der Technik mitwirkt; die zweite hat einen Anſpruch auf Anerkennung theils
[1051] an ſich, theils ſofern im Gebiet der Inſtrumentalmuſik bei einer die Eigen-
thümlichkeit und Grenze des Organs überſchreitenden Behandlung doch weniger
Unnatur, Willkür und Widerſpruch iſt, als im Gebiet der von ſtrenger zu-
gemeſſenen Naturbedingungen abhängigen Vocalmuſik.
Die Sätze, welche der §. aufſtellt, haben den Zweck, dem Inſtrumental-
ſoloſpiel, das durch das moderne Virtuoſenthum vielfach in Verruf gekommen
und neuerdings auch hievon ganz abgeſehen von Wagner als höchſte Spitze
des „Egoismus“ ſich ſelbſt iſolirender Muſik gebrandmarkt worden iſt, theils
ſein begründetes Recht zuzuſprechen, theils die Schranken zu bezeichnen,
innerhalb welcher es ſich zu bewegen hat. Vor Allem kann darüber kein
Zweifel ſein, daß das Soloſpiel den eigenthümlichen Vorzug hat, der un-
mittelbarſte Ausdruck der Stimmung des Subjects zu ſein, der inner-
halb der Inſtrumentalmuſik möglich iſt; das einzelne Inſtrument ſteht ganz
unter der Gewalt ſeines Spielers und gibt den von ihm beabſichtigten
Empfindungsgehalt vollkommen wieder mit einer Leichtigkeit und wechſel-
vollen Beweglichkeit, mit einer Feinheit der Nüancirung, die für das Zu-
ſammenſpiel Mehrerer nicht in gleichem Grad erreichbar iſt, weil verſchiedene
Subjecte nie ſo zur Einheit weder eines kunſtvoller bewegten Spieles noch
des feinern Stimmungsausdrucks zuſammenzugehen vermögen; das In-
ſtrumentalſoloſpiel ſteht dem unmittelbaren Gefühlsausdruck, dem Lied- und
Ariengeſange am nächſten und überbietet ihn noch weit durch die Freiheit
der Technik; es kann daher ſo wenig als dieſer verworfen werden. Sodann
iſt es gewiß in Ordnung, wenn der Umſtand, daß jedes Inſtrument gewiſſen
Stimmungskreiſen vorzugsweiſe entſpricht, praktiſch gemacht, d. h. eine
Stimmung auf einem ihr beſtentſprechenden Inſtrument „geſungen“ oder
kunſtreicher „geſpielt“ wird (S. 980). Die unendliche Mannigfaltigkeit
der Stimmungen, Empfindungen, Erregungen verlangt in der Kunſt nach
adäquaten Ausdrucksmitteln; ſind ſolche nicht da, ſo ſind ſie zu ſuchen;
ſind ſie da, wie eben in den Inſtrumenten, ſo wäre es Thorheit, ſie nicht
in Thätigkeit zu ſetzen. Nicht jede Stimmung iſt für Harmonie oder
Orcheſter da; es gibt auch ſubjectivere, perſönlichere, ſowie in ſich
zurückgezogenere, einfachere, beſchränktere, ſtillere Stimmungen, denen
durch Vielſtimmigkeit und Polyphonie ein falſcher, entweder zu univerſeller
oder zu kräftig voller Ausdruck gegeben würde. Welche Stimmungs-,
Erregungskreiſe den einzelnen Inſtrumenten vorzugsweiſe zufallen, geht aus
§. 805 u. f. von ſelbſt hervor, und nur darauf iſt hier noch hinzuweiſen, daß
eine ſtrenge Ausſchließlichkeit nicht ſtattfindet, daß vielmehr Luſt und Unluſt,
idealiſchruhige und pathetiſcherregte Empfindung im Allgemeinen auf jedem
für das Soloſpiel geeigneten Inſtrument dargeſtellt werden können, daß aber
andrerſeits auf jedem der Stimmungsausdruck wiederum ſich eigenthümlich
[1052] modificirt, und doch jedes wegen ſeiner eigenthümlichen Beſchaffenheit in
Bezug auf Kraft, Helligkeit, Beweglichkeit u. ſ. w. für Eine oder für
mehrere beſtimmte Stimmungsarten am empfänglichſten und eben in ihnen
am wirkſamſten iſt. — Das Soloſpiel kann aber auch mehr rein inſtru-
mentaler Natur, d. h. (§. 796) auf objective Veranſchaulichung einer beſondern
Inſtrumentalkunſtform gerichtet ſein, es kann darauf abzwecken, der künſt-
leriſchen Phantaſie ein charakteriſtiſches Inſtrumentaltonbild vorzuführen; die
Empfindung, der Inhalt ſoll auch hier nicht fehlen, aber die Form, die
Ausführung, die Darlegung der dem Inſtrument naturgemäß abzugewinnen-
den Toncharaktere, Tonkräfte, Toncombinationen, Figuren u. ſ. w., kurz die
volle Belebung des Organs und der in ihm ſchlummernden Möglichkeiten
ſchöner muſikaliſcher Wirkung iſt die Hauptſache. Auch hiegegen iſt mit
Fug nichts einzuwenden; es würde im Gegentheil etwas Weſentliches ver-
loren gehen, wenn z. B. die große Mannigfaltigkeit von Geſtaltungen,
welche ein Variationencyclus eröffnet, niemals dazu benützt würde, in der
einen oder andern Violinvariation den Charakter dieſes Inſtruments nach
der einen oder andern Seite, ſeine Feinheit, Wärme, Beweglichkeit, die
Kraft großartiger Bogenführung u. ſ. w., zur Darſtellung zu bringen; was
an ſich ſchön und bedeutend iſt, muß auch an’s Licht des Bewußtſeins
herausgehoben, zur gemeinſamen Anſchauung Aller gebracht werden. Und
zwar iſt hievon auch ein ſolches Soloſpiel nicht auszuſchließen, welches
mehr das Quantitativtechniſche der „Leiſtungsfähigkeit“ eines Inſtruments,
der künſtlichen Schwierigkeiten, die es auf die Bahn zu bringen und ſieg-
reich zu überwinden erlaubt, hervorzukehren ſich zum Zwecke ſetzt; es entſteht
auch hiedurch ein concretes Bewußtſein der Eigenthümlichkeit und Wirkſamkeit
des Inſtruments und eine Anſchauung einer beſondern Kunſtart, welche ein-
fachern Productionen als berechtigter, das Prinzip bewegter Mannigfaltigkeit
der Stimmführung in höchſter Potenz darſtellender Contraſt gegenübertritt. —
Die weitern Sätze, welche der §. über das Soloſpiel aufſtellt, ſofern es in
eine Darlegung ſubjectiver Virtuoſität übergeht, bedürfen (beſonders bei
Vergleichung von §. 525, 409 f.) einer näheren Begründung nicht; was
über das geringere Maaß der Unnatur abſtracter Inſtrumentalvirtuoſität der
Geſangsvirtuoſität gegenüber geſagt iſt, leuchtet von ſelbſt ein, da das
Inſtrument von vorn herein ein unſelbſtändiges Werkzeug und ein rein
techniſches, freiſte Behandlung zulaſſendes, ja herausforderndes, zudem ein
todtes, in ſeinem Beſtande nicht zu alterirendes oder ſtets neu herzuſtellendes
Organ in der Hand des Spielers iſt, wogegen die Menſchenſtimme einer-
ſeits zu hoch ſteht, um zu einem bloßen Mittel virtuoſer Oſtentation des
Individuums herabgewürdigt werden zu dürfen, und andrerſeits zu zart,
zu kunſtvoll organiſirt, zu ausdrucksreich, wie als Naturgabe zu koſtbar iſt,
als daß ihre Verderbung, Verſchwendung und Hineinleitung in eine falſche
[1053] Geſangmethode nicht als eine äſthetiſche Sünde gefühlt werden müßte, die
zum Voraus allen Kunſtgenuß bei dergleichen Productionen unmöglich macht.
Blos bei denjenigen Inſtrumenten, welche zum Soloſpiel ſich gar nicht oder
nur unter ganz ungewöhnlichen, ſelten vorhandenen Bedingungen techniſcher
Meiſterſchaft eignen, wie Poſaune, Fagott, iſt die Unnatur eine ähnliche,
obwohl ſie auch hier weniger verletzend wirkt.
Die Begleitung des Soloſpiels kann je nach dem innern Charakter
des Tonſtücks monodiſch, vielſtimmig, orcheſtriſch ſein und ſowohl verſchiedene
Tonſtärken als mannigfaltigſte Klangfarben in Anwendung bringen, oder
auch auf ganz einfache, blos füllende Harmonie ſich beſchränken. Am ent-
ſchiedenſten verſchmäht die Orgel, wenn ſie als Soloinſtrument auftritt,
jede weitere Begleitung wegen ihres ganz eigenthümlichen Charakters, der,
wenn ſie Principalinſtrument iſt, eine Combination mit andern nicht leicht
zuläßt und ihrer auch nicht bedarf; ähnlich ſelbſtändig iſt auch die Harfe,
weniger ſchon das Clavier, durch deſſen Verbindung beſonders mit den
kräftig und doch zart ausfüllenden, tonaushaltenden Streichorganen die
Einſeitigkeit des Claviers ergänzt und ein ebenſo voller und gediegener als
doch feingedämpfter Harmonieklang hervorgebracht wird.
§. 809.
Der mehrſtimmige Inſtrumentalſatz combinirt mehrere Inſtrumente,
um ein durch die Natur derſelben und durch ihre qualitative und quantitative
Geſammtwirkung bedingtes Inſtrumentaltonbild hervorzubringen. Die Com-
binationen können einfacher oder zuſammengeſetzter, von gleich-
artiger oder von gemiſchter Gattung ſein, und entweder einen mehr-
ſtimmigen Soloſatz oder einen Harmonieſatz mit mehrfach beſetzten
Stimmen darſtellen; im Concertſatz ſind die Prinzipien des Solo- und des
Harmonieſatzes vereinigt.
Der in §. 808 zuletzt erwähnte Soloſatz der Harmonieinſtrumente,
Clavier, Orgel u. ſ. w., geht bereits über die Monodie zur Mehrſtimmigkeit,
über die Homophonie zur Polyphonie hinaus und bildet ſo den Uebergang
zu dem mehrere Inſtrumente vereinigenden Satz. Der unbegleiteten Monodie
des Einzelinſtruments entſpricht innerhalb des letztern der „mehrſtimmige
Soloſatz“, der begleiteten der „Concertſatz“, der einfacher begleiteten die
„gleichartige, einfachere“, der voller begleiteten die „gemiſchte, zuſammen-
geſetztere Art“ des mehrſtimmigen Satzes, ſowie insbeſondere der „Harmonie-
ſatz“, der jedoch zugleich den directen Gegenſatz zum monodiſchen Satze bildet.
Der mehrſtimmige Soloſatz iſt hier, wie in der Vocalmuſik, die erſte
Form, durch welche der „Egoismus“ des Einzelſpiels überwunden, die
[1054] Inſtrumentalkräfte zum Zuſammenwirken vereinigt werden, ſei es nun in
einfachern und freiern oder künſtlichern und ſtrengern polyphonen Formen,
die man am beſten insgeſammt unter dem gemeinſamen Namen des Sym-
phoniſchen befaßt, von „harmoniſch“ dadurch verſchieden, daß es auf eine
größere Selbſtändigkeit der zuſammenwirkenden Inſtrumente hinweist, von
„polyphoniſch“ (im Sinn von §. 781) nur dadurch, daß es dem Gebrauch
gemäß blos Inſtrumentalpolyphonie bedeutet (ein Sprachgebrauch, der ſeiner
ſcheinbaren Zufälligkeit ungeachtet doch ganz zutreffend iſt, ſofern, wie §. 803
zeigte, die Inſtrumentalpolyphonie weniger als die Vocalmuſik eine kunſt-
gerechte polyphone Sonderung aller Stimmregionen geſtattet und daher trotz
aller Klangfarbenmannigfaltigkeit doch mehr ſymphoniſch, als, wie man
erſtere bezeichnen könnte, antiphoniſch oder heterophoniſch iſt). Die Inſtru-
mentenzahl des mehrſtimmigen Soloſatzes unterliegt keiner feſten Begrenzung;
einfachere Formen (Duo’s, Trio’s, Quartette) verſtehen ſich von ſelbſt, zu-
ſammengeſetztere ſchon weniger leicht, weil mit der Vermehrung der Stimmen
die Schwierigkeit ihrer ſelbſtändigern Führung zunimmt; nur ſo viel läßt ſich
hierüber im Allgemeinen ſagen, daß die einfachere Form ſich beſſer eignet
für Sätze gleichartiger oder doch weniger gemiſchter Gattung (z. B. Streich-
quartett, Clavier und Streichinſtrumente), die zuſammengeſetztere aber mehr
für die gemiſchten, weil die Unterſchiede der Charaktere und Klangfarben
der vereinigten Inſtrumente eine vollzähligere und dabei doch mannigfaltige,
überall klar bleibende, wirkungsreiche Stimmencombination begünſtigen
(Sextett u. ſ. w.).
1. Unter den zahlreichen ſchönen und charakteriſtiſchen Formen, welche
ſich hier ergeben, iſt zunächſt beſonders der mehrſtimmige Soloſatz
für Streichinſtrumente hervorzuheben. Die diſtincte Tonſchärfe und
die ungemein figurenreiche Volubilität dieſer Inſtrumente machen ſie, und
zwar namentlich die höherliegenden (den Contrabaß weniger), für mannig-
faltige, in den einzelnen Regionen verſchieden rhythmiſirende Stimmen-
combinationen ganz vorzüglich geeignet, und zugleich ſteht dieſer reichen
Belebtheit der Tonbewegung hier jene feine Gedämpftheit, jene ätheriſche
Idealität des Klanges zur Seite, ſelbſt wiederum abwechſelnd mit nachdrück-
licher Entwicklung der elaſtiſchen Tonkraft, welche dieſen Inſtrumenten in-
wohnt. Nicht die volle, compacte, reiche Lebensentfaltung, welche im
Harmonie- und umfaſſendern Symphonieſatz zu Tage tritt, auch nicht die
reizende Fülle und Abwechslung von Klangwirkungen, zu denen der gemiſchte
Satz Gelegenheit bietet, iſt von dem Zuſammenwirken der Streichinſtrumente
zu erwarten, ſondern ihr Gebiet iſt nach der einen, formalen Seite hin das
Kunſtreiche des Ineinandergreifens der Stimmen, in materialer Beziehung
die Innerlichkeit eines nicht zu effectivem Schall und Klang heraustretenden,
ſondern ſtillgedämpften, faſt ſchattenhaften, in einzelnen Partien wohl auch
[1055] zu energiſcher, pathetiſcher Spannkraft ſich erhebenden, aber auch da das
Gedämpftſchattenhafte feſthaltenden Tongewebes, das wie aus feinen Fäden
ſich zuſammenflicht, alle concretere, derbere Realität dagegen, alle metall-
reiche Klangdynamik ferne von ſich hält. Beide Seiten, die formale und
die materiale, vereinigen ſich ſchließlich in einem und demſelben Reſultate,
darin nämlich, daß dieſe Muſik die geiſtigſte iſt — geiſtig nicht im ethiſchen
Sinn, ſondern in dem des Gedankenmäßigen, des Gegenſatzes zu ſinnlich
naturaliſtiſcher Lebensfülle; ſie führt uns aus dem lauten Lärm des Lebens
hinein in das ſtille Schattenreich des Idealen, in die unſinnliche Welt des
in ſich, in ſein verborgenſtes Gefühlsleben zurückgezogenen, dieſes Gefühls-
leben ſich ſelbſt innerlich gegenüberſtellenden Geiſtes, ſie realiſirt eben dieſe
ideelle Seite der Inſtrumentalmuſik (S. 987), ſie iſt eine Gedankenmuſik
der reinen Kunſt, aus der wir uns freilich bald wieder nach der vollen
Realität naturaliſtiſch klangreicherer Tonweiſen zurückſehnen, die uns aber
doch innerlich erhebt durch den hohen, von Sinnenreiz freien, einzig der
erfindungsreichen Feinheit kunſtvoller Compoſition gewidmeten Genuß, zu
welchem wir durch ſie gelangen. Sie erfordert aber eben darum auch weit
mehr innern Gehalt als andere Tonwerke, ſie muß durch ihn erſetzen, was
ihr abgeht an äußerer Fülle und Kraft; ein Zwiegeſpräch des Geiſtes, ein
Spielen des ſchöpferiſchen Gedankens mit ſich ſelbſt muß ſie abbilden, wenn
ſie nicht bedeutungslos werden, nicht auf den Standpunkt virtuoſer Be-
handlung der Einzelinſtrumente zurückſinken will. Am eheſten iſt dieß noch
geſtattet bei einfachern Tonſtücken dieſer Gattung, die eben um ihrer Ein-
fachheit willen weniger Anſprüche erheben und weniger Erwartungen erregen;
aber bei zuſammengeſetztern, wie namentlich bei Quartetten, iſt der Fall ein
anderer, ſie können allerdings (wie gewöhnlich bei Haydn und Mozart)
wegen der ungemeinen Dehnbarkeit aller muſikaliſchen Formen auch das ein-
fach Gemüthliche oder das ſchmelzend Weiche ſich zum Gegenſtande nehmen
oder auf künſtlichere Durchführung der Gedanken verzichten, aber dann
bringen ſie das Eigenthümliche der Quartettform auch nicht zu vollſtändiger
und befriedigender Erſcheinung; dieß geſchieht erſt, wenn ſie zu tieferem Ge-
fühlsinhalt und höherer Kunſt der Compoſition ſich erheben und ſo wirklich
ein lebendiges Bild des Webens des Geiſtes in ſich ſelbſt, der in ſich ver-
ſenkten, mit ſich ſelbſt beſchäftigten Innerlichkeit des Gedankens darſtellen. —
Der mehrſtimmige Soloſatz für Blasinſtrumente hat wiederum
einen andern Charakter und Zweck; er iſt weicher, offener, heller, klang-
reicher; er iſt auch ſtiller und gedämpfter Art, aber blos inſofern, als er
Soloſatz iſt, der die Einzelſtimmen nicht mehrfach beſetzt, er ſtellt ſchon ein
ungehemmteres Wachwerden und Sichergießen der Gefühle dar, er hält ſie
nicht mehr zurück im Innern der künſtleriſchen Phantaſie, ſondern läßt ſie
heraustreten, ſich ausſingen in dem hellen Klang und — wenn er Blas-
[1056] inſtrumente verſchiedener Art vereinigt — in dem reichen Farbenſpiel der
einander ablöſenden und antwortenden Inſtrumente; er iſt diejenige Species
der Compoſition, in welcher eben dieſes Moment der Klangfarben zum Behuf
eines ebenſo innigen als mannigfaltigen Gefühlsausdrucks zu voller Geltend-
machung gelangt; das Ideellgeiſtige und das intenſiv Energiſche der Streich-
inſtrumente fehlt ihm, er neigt ſich entſchieden theils zum Weichaufgelösten,
Süßen, Lieblichen, Idylliſchen, andrerſeits zum naturaliſtiſch Reizenden,
Luſtigen, Komiſchen hin, er gewährt weniger innerliche Befriedigung als
unmittelbares momentanes Wohlgefallen, und er hat daher die hohe Be-
deutung innerhalb des Kreiſes der verſchiedenen Muſikformen nicht, welche
z. B. dem Streichquartett zukommt; hieraus iſt es zu erklären, daß er von
den Meiſtern der Compoſition verhältnißmäßig ſeltener für ſich allein an-
gebaut und ſtatt deſſen mehr nur als Theil größerer Tonſtücke, Symphonieen,
Oratorien, Opern verwendet iſt, wiewohl jetzt die ſo viel weiter als früher
vorgeſchrittene Technik der Behandlung der Blasinſtrumente eine ausge-
dehntere Pflege dieſes Muſikzweiges gerade ſehr begünſtigen würde. —
Von dem gemiſchten mehrſtimmigen Soloſatz verſteht es ſich
durch ſich ſelbſt, daß er den umfaſſendſten Spielraum ſowohl für Gefühls-
ausdruck als reiche Gedankenerfindung eröffnet; den Combinationen der
Inſtrumente ſind durch die Natur der Sache wohl an gewiſſen Puncten
Grenzen geſteckt, indem z. B. Horn und Clavier entſchieden nicht zuſammen-
paſſen (weil Voll und Dünn unmöglich zuſammengehen), aber ſie ſind deß-
ungeachtet zahlreich und mannigfaltig genug, um dieſen Zweig der Com-
poſition zu einem ganz beſonders lohnenden zu machen. Nur der Mangel,
der aber kein Fehler, ſondern nur eine im Weſen der ganzen Species ſelbſt
liegende Einſeitigkeit iſt, haftet ihm an, daß die Combination gemiſchter
Organe immer etwas von Willkür an ſich hat; das Streichquartett hat
etwas feſt Umgrenztes, es iſt ein Ganzes in ſich, es zeichnet durch ſich ſelbſt
die Aufgabe, die der Künſtler ſich zu ſetzen, und die Methoden, die er zu
befolgen hat, klar vor, während z. B. das gemiſchte Septett einestheils zu
ſo mannigfaltigen Inſtrumentaleffecten Raum gewährt, daß die Wahl unter
ihnen ſchwanken muß, und anderntheils doch eine in ſich charakteriſtiſch ab-
geſchloſſene Totalwirkung, wie Quartett im Kleinen und Orcheſter im Großen,
nicht erzielen kann. Der gemiſchte Satz iſt eine weniger ſcharf beſtimmte
Form, deren Erfüllung mit einem vollkommen zutreffenden Inhalt ſchwerer
zu finden, Sache des Glücks und Takts des Componiſten iſt; er iſt nach
dieſer Seite eine Art muſikaliſcher Phantaſie, wenn er ſich auch rückſichtlich
der Anordnung ganz in den gewöhnlichen Formen des „Tonſtücks mit
mehrern Sätzen“ bewegt; er iſt eine Uebergangsform, in der Mitte ſtehend
zwiſchen Solo- und Orcheſterſatz und hat ebendaher das Schwebende und
Unbeſtimmte, das allen Mittelgattungen eigen iſt.
[1057]
2. Der Harmonieſatz iſt der erſte Anlauf dazu, durch Vereinigung
eines Chors von Inſtrumenten das dynamiſche Element der Inſtrumental-
muſik, ihre Klangfülle und Klangkraft, vollkommen hervortreten und die
einzelnen Inſtrumente zur Erzielung einer compacten Geſammtwirkung zu-
ſammentönen zu laſſen. Die verſchiedenen Stimmen ſind hier nicht mehr
Soloſtimmen und daher auch nicht mehr einfach vertreten (außer ſo weit
bei einzelnen Organen, wie Poſaune u. ſ. w., ihre Klangkraft mehrfache
Beſetzung entbehrlich macht), ſondern mehrfach; denn der Zweck iſt, eine
Totalwirkung hervorzubringen, an welcher die einzelnen Inſtrumente nicht
blos durch ihre Qualität, Klangfarbe, ſondern und zwar vorzugsweiſe durch
gemeinſame Klangkraft mitzuarbeiten haben; nicht auf Tonfarbenpolyphonie,
ſondern auf eine allerdings reich und ſtark gefärbte, aber dabei in ſich ver-
dichtete, voll und hell zuſammenklingende Tonkraft und Tonmaſſe iſt es
abgeſehen, innerhalb welcher die Einzelinſtrumente nur inſofern ſelbſtändiger
wirken, als auch hier neben der gleichförmigen Bewegung des Ganzen als
compacter Maſſe das Bedürfniß ſich geltend macht, zum Behuf theils der
Abwechslung, theils des Ausdrucks eine Variirung des Fortgangs eintreten
zu laſſen entweder durch einfachere, weniger ſtimmenreiche Abſchnitte und
Sätze (Trio’s und dgl.), in denen das Hauptinſtrument ſoloartig wirkt,
oder andrerſeits durch vorübergehende polyphone Behandlung, in welcher
eine oder mehrere Einzelſtimmen (z. B. kräftige Baßtöne) aus dem Ganzen
heraus- und ihm oder andern Stimmen in freiem Wechſelſpiele gegenüber-
treten. Der Name „Harmoniemuſik“ für dieſe Satzart hat eben darin ſeinen
Urſprung, daß ſie nicht mehr, wie der Soloſatz, auf Melodie oder Melo-
dieenverſchlingung, ſondern auf kräftige Geſammtwirkung ausgeht, in welcher
Charakter und Ausdruck der Melodie nur eines der mitwirkenden Momente
bildet, ja oft nur die untergeordnete Stellung des Rahmens, des Umriſſes
einnimmt, innerhalb deſſen die klangreiche Tonmaſſe ſich bewegen muß, um
Klarheit und Beſtimmtheit des Fortgangs zu haben. Die Harmoniemuſik
iſt durch dieſe ihre Compactheit in ihrer Art Daſſelbe, was der (einfache)
Chor in der Vocalmuſik, das Clavier und die Orgel unter den Einzelin-
ſtrumenten ſind; ſie geht aus dem Streben hervor, einen vollen, ungetheil-
ten Muſikeindruck zu haben, der Gehör und Phantaſie objectiv ergreift und
erfaßt, nicht aber wie der Soloſatz ſie blos anregt und zu beobachtender
Verfolgung ſeines Ganges und ſeiner Verzweigungen einlädt; in der Har-
moniemuſik ſtellt das Gefühl eine Klangfülle ſich gegenüber, in der es unter-
geht und untertaucht, um ſich von ihr und von der in ihr zu Tage treten-
den Empfindung in voller Hingebung durchdringen, durchwärmen, durch-
beben zu laſſen; ſie iſt die directe Negation der ideellen Stille und Ruhe
des geiſtigen Inſich- ſowie der Egoität des perſönlichen Fürſichſeins, ſie iſt
die Erfüllung des Raums mit hell aufſteigendem, von allen Seiten her
[1058] wiederklingendem Vollton eines Inſtrumentenchors, welcher eine Stimmung
nicht blos charakteriſtiſch malt und zeichnet, ſondern dem Hörer warm und
voll entgegenbringt als eine weithindringende, allbewegende, univerſelle
Empfindung, die auch ſein Bewußtſein lebendig erfüllen, ihn mit allen
Andern in Einem Geſammtgefühl vereinen ſoll. Die einfachern, weniger
ſtimmreichen Zwiſchenſätze und Zwiſchenperioden, von welchen oben die Rede
war, treten herein als Epiſoden, in welchen die Tonbewegung entweder
dünner, leichter, ſchwebender oder, bei energiſchem Erklingen klangvoller
Einzelinſtrumente, markirter, kräftiger eindringend wird; im erſtern Fall, z. B.
bei einem liedartigen Trio, wird der Eindruck ruhiger, weicher, es wird
Raum geſchafft für zartere, feinere, freier gehobenere Erregungen, es treten
Tonbewegungen auf, in denen wir behaglich ausruhen, weil ſie ſtiller und
gedämpfter uns in’s Ohr klingen, Tonbilder, denen wir mit Luft oder
Intereſſe folgen, weil die Maſſenwirkung zurückweicht und kunſtreichern
melodiöſen und rhythmiſchen Geſtaltungen Platz macht, ſo daß alſo hier
das Prinzip des Harmonieſatzes das des Soloſatzes ergänzend in ſich auf-
nimmt; im zweiten Falle aber werden wir herausgeriſſen aus dem gleich-
förmig hinwallenden Strome des bewegten Tonmeeres, es treten Einzel-
ſtimmen uns entgegen, die uns gemahnen wie Einzelkräfte, die etwas für
ſich bedeuten, für ſich wirken wollen, oder wie laute Signale, die auf etwas
Beſonderes, Außerordentliches hinweiſen und ſo ein Bild des nie in
reinem Gleichmaaß dahinſchwebenden, ſondern immer wieder durch Wechſel,
Contraſte, widerſtandhervorrufende Hemmungen u. ſ. w. lebendig bewegten
menſchlichen Daſeins geben. Indeß Zwiſchenſpiel bleibt im Harmonieſatze
dieß Alles; er bedarf dieſer Ausweichungen in das Prinzip des Soloſatzes
keineswegs nothwendig und überall, er kann ebenſo gut von Anfang bis
zu Ende ſeine unverminderte Klangfülle und compacte Maſſenhaftigkeit bei-
behalten, um durchaus mit gleich intenſiver Kraft oder wenigſtens mit gleich-
mäßig vollem Eindruck zu wirken. — Durch dieſen ſeinen Charakter gleich-
mäßiger, einfachgewichtiger Totalwirkung, welche die künſtlichern und ver-
wickeltern Muſikformen von ihm ausſchließt, iſt der Harmonieſatz dem Chore
auch noch in einer andern als der oben hervorgehobenen Rückſicht verwandt;
er iſt nämlich die volksmäßigſte Gattung der Inſtrumentalmuſik; er
ſtellt große, maſſenbewegende Empfindungen dar in einfacher und in ein-
drucksvoller Form zugleich, und er iſt daher nicht nur für Muſikſtücke, die
eben ſolche Empfindungen zu ihrem Inhalte haben, Tanz, Marſch u. ſ. w.,
ſondern auch für den Vortrag von Compoſitionen geeignet, welche, obwohl
urſprünglich nicht für Harmoniemuſik oder nicht blos für ſie beſtimmt, doch
von ſo einfacher und kräftiger und zugleich von ſo unmittelbar allgemein
anſprechender Natur ſind, daß ihre Production durch volle, klare, wohlklin-
gende, weithin hallende Harmoniemuſik ihrem Eindruck blos vortheilhaft iſt,
[1059] indem durch dieſelbe eben ihre dem Weſen des Harmonieſatzes entſprechende
Seite, d. h. eben ihre Einfachheit, Kraft und Gefälligkeit nur um ſo ſpre-
chender hervorgekehrt und in der geeignetſten Form in weitere Kreiſe getragen,
größeren Maſſen von Hörern dargeboten wird. Das Claſſiſche, das Gehalt-
reiche in einfachſchöner Form, iſt und wird als ſolches immer auch Gemein-
gut, Gegenſtand des allgemeinen Intereſſes, es wird „maſſenbewegend“,
ſelbſt wenn es ſeiner urſprünglichen Conception und Abzweckung nach ſich
dieſes Ziel nicht geſteckt hatte, und dazu, daß es auch dieſes wirklich werde
und bleibe, iſt die Harmoniemuſik vorhanden, ſie verbreitet und populariſirt
das Schöne, ſie führt, was die höhere Kunſt in volksthümlichem Sinne
gedichtet hat, dem Volke zu mit der ganzen unmittelbar in’s Ohr fallenden
Stärke, Klarheit und Schönheit des Klanges, welche hiezu erforderlich iſt.
— Seinem allgemeinen Begriffe nach iſt der Harmonieſatz auf keine der
beiden Hauptgattungen der Inſtrumente, Blas- und Streichorgane, beſchränkt;
er hat die eine oder die andere zu wählen, um ein gleichartiges und dadurch
compactes Tonganzes hervorzubringen, er kann ſich auch des vollen Strei-
cherchors bedienen, um mittelſt ſeiner ungemeinen Spannkraft und leichten
Beweglichkeit großartige oder reizende Wirkungen hervorzubringen, er wird
hiedurch namentlich zu mannigfaltigern und ſchlagendern rhythmiſchen Effecten
in den Stand geſetzt, und es iſt daher als Mangel zu bezeichnen, daß dieſe
Compoſitionsform verhältnißmäßig ſo gar ſelten iſt, obwohl z. B. ſo viele
Symphonieen, in welchen ſie vorübergehend vorkommt, ihre eigenthümliche
Kraft und Schönheit klar genug in’s Licht ſetzen. Aber Regel wird aller-
dings die Wahl der Blasinſtrumente ſein; denn die Seite der „Har-
monie“, daß Alles klingt und in Einen Klang zuſammengeht, daß es voll
und laut an’s Ohr ſchallt und tönt, wird nur durch die Blasorgane wahr-
haft realiſirt, und auch die unmittelbar anſprechende Gefälligkeit ſowie die
ergreifende Macht des Hallens in die Weite und Ferne, durch welche die
Harmoniemuſik vorzugsweiſe ſociale und volksthümliche Muſik wird, kommt
nur den Blasorganen zu, und es iſt ſomit dagegen nichts einzuwenden,
daß der Harmonieſatz der letztern ſich vorzugsweiſe bedient (obwohl ein
ſpezieller Mißſtand damit verbunden iſt, die zum Behuf der Erleichterung
des Spiels nothwendige Umwandlung der Hauptblechorgane in „Ventilin-
ſtrumente“, welche zwar gleiche Volubilität wie Clarinette u. ſ. w. beſitzen,
aber nicht mehr die „ſchütternde“, den ganzen Inſtrumentkörper gleich durch-
bebende Reſonanz und damit auch nicht mehr jenes tiefgehende Ergreifen,
jenes romantiſche in die Seele Dringen der urſprünglichen Blechorgane).
3. Die dritte Gattung des mehrſtimmigen Inſtrumentalſatzes iſt der
Concertſatz. Mit Concert wird zwar auch das Soloſpiel (z. B. einer
Violine) bezeichnet, das von andern ganz untergeordneten Stimmen begleitet
iſt; das Wort begünſtigt aber ſeiner urſprünglichen Bedeutung nach eher
[1060] den engern hier gewählten Gebrauch für eine Satzweiſe, welche die Prinzi-
pien des Solo- und des Harmonieſatzes vereinigt, indem neben dem Ein-
zelinſtrument, dem die Hauptrolle zugetheilt iſt, die Geſammttonmaſſe oder
innerhalb ihrer wiederum einzelne Inſtrumente ſelbſtändiger wirken, als es
bei bloßer Begleitung der Fall iſt. Das Hauptinſtrument tritt für ſich
auf und entfaltet vollkommen frei ſeine ganze Kraft und Formenmannig-
faltigkeit; aber der Chor der übrigen Inſtrumente tritt hinzu nicht nur
einleitend, begleitend und verſtärkend, ſondern auch ſelbſt frei mitwirkend,
ſo daß das Hauptinſtrument doch nur als einzelnes Glied der Geſammtheit
der Tonkräfte, als einzelne Stimme des ganzen Chors der vollen Muſik
erſcheint, das nicht blos für ſich ſein, nicht allein herrſchen und glänzen
will, ſondern an das Ganze ſich anlehnt, aus ihm Kraft ſchöpft, ihm die
Tonführung überläßt, wo der Ausdruck der Stimmung großartiger werden
ſoll, ſich aber immer auch wieder aus ihm mit glanzvoller Virtuoſität erhebt,
weil das Muſikſtück doch auf das Hervortreten des Einzelinſtruments in
ſeiner Eigenthümlichkeit angelegt iſt. Auch andere Inſtrumente treten
zum Hauptinſtrument hinzu, „concertiren“ gleichſam um die Hauptrolle
ſtreitend mit ihm, löſen es ab, und ziehen ſich dann wiederum zurück;
das Prinzip der Individualiſirung iſt hiemit folgerichtig noch um etwas
weiter, auch in die Inſtrumentation hinein, ausgebildet; ja es iſt auch mög-
lich, daß nur ſolche concertirende Nebeninſtrumente in der Art des mehr-
ſtimmigen Soloſatzes als kleinere Inſtrumentengruppe neben dem Hauptin-
ſtrument hergehen, während ſie bei vollerer Beſetzung zwiſchen dieſes und
den Geſammtchor der Inſtrumentenharmonie lebendig vermittelnd hineintreten.
Die Berechtigung und Bedeutung der Concertform beſteht darin, daß ſie
vermöge ihrer Anlage frei individualiſirende, alle techniſchen Mittel reich
entfaltende Beweglichkeit und großartige Maſſenwirkung, Anmuth und Kraft,
Reiz des Einzelſpiels und tieferen Gehalt des harmoniſchen Vollklangs in
ſich vereinigt; die Egoität des Spielers, des Einzelinſtruments und der auf
demſelben zur Darſtellung gebrachten, ſeinem Charakter entſprechenden beſon-
dern Stimmung tritt hier allerdings wieder auf, aber nicht losgeriſſen vom
Ganzen, ſondern innerhalb ſeiner und auf ihm ruhend, ganz ähnlich, wie
es bei einem Lied oder einer Arie mit Quartett, Chor und dgl. der Fall
iſt; das Einzelne und das Ganze treten aus einander, contraſtiren, gehen
für ſich ihren Weg, ſuchen ſich wieder und finden ſich, verſchmelzen ſich
jubelnd zu vollſter Einheit in ebenſo ſchönem und anmuthsvollem als ſtark
und tief ergreifendem Wechſelſpiel der Trennung und der Einigung. Es
verſteht ſich, daß dieſe Wirkungen nur möglich ſind, wenn die Concertform
nicht mit bedeutungsloſen Figuren und hohlen Bravourſtücken, ſondern mit
einem ihr wirklich entſprechenden, d. h. mit einem gemüth- oder ſchwung-
reichen Inhalt erfüllt wird; denn eben das Eine oder Andere dieſer beiden
[1061] eignet ſich zu der im Concertſatz ſtattfindenden Verbindung des virtuoſen
Einzelſpiels, dieſes feinſten, gefühlvollſten, belebteſten, ſiegesgewiß immer
höher und höher ſich ſchwingenden Ausdrucks der ſubjectiven Stimmung,
und des Chors der Inſtrumente, deren voller Zuſammenklang die Einzel-
ſtimmung hebt und trägt und ihr geſtattet, ſich zu der Bedeutſamkeit einer
univerſellen, alldurchdringenden und ebendarum im Chorus vorgetragenen
Geſammtheitsſtimmung zu erweitern. Gerade die ernſteſten und größten
Meiſter haben es daher nicht verſchmäht, die Concertform zwar nicht vor-
zugsweiſe, aber doch mit Liebe anzubauen als ein Nebengebiet, das auch
ſie anzog durch die ihm eigene Verſchmelzung des leichten, zarten, freibe-
wegten ſubjectiven Elements mit dem kräftigen Wiederhall voll und gediegen
anſprechender Harmoniemuſik. Der äußere Umſtand, daß das Concert nicht
blos Inſtrumentengruppen, ſondern auch das ganze Orcheſter dem Haupt-
inſtrument beigeſellen kann, beweist natürlich dagegen nichts, daß es eine
beſondere, vom Orcheſterſatz weſentlich zu unterſcheidende Muſikart iſt; zum
Orcheſterſatz gehört nicht blos dieß Quantitative, daß alle Inſtrument-
gattungen beiſammen ſind, ſondern vor Allem das Qualitative, daß das
ganze Tonſtück ſeinem Charakter nach Orcheſter- und nicht blos ein das
Orcheſter ſich beigeſellendes Soloſtück iſt; im Concert iſt das Hauptinſtru-
ment die Eine, der Inſtrumentenchor die andere Hauptſtimme, zu der ſodann
die concertirenden Nebeninſtrumente noch als weitere untergeordnete Stim-
men hinzutreten, es iſt alſo im Prinzip immer noch ein mehr-, nicht ein
allſtimmiger Inſtrumentalſatz.
§. 810.
Der Orcheſterſatz vereinigt mehr oder weniger alle Hauptgattungen von
Inſtrumenten zu einem Ganzen, in welchem dieſelben theils zu Einer alle Schall-
kräfte und Klangfarben verſchmelzenden gediegenen Tonmaſſe zuſammengenommen,
theils vereinzelt und in verſchiedenen Verbindungen und Stellungen gegen einan-
der geführt werden, ſo daß ſich in ihm der Kunſt ein der größten Kraftwir-
kungen wie der mannigfaltigſten Combinationen gleich ſehr fähiges Organ für
Tonwerke größeren Styls darbietet.
1. Das Orcheſter iſt der Chor der Inſtrumente, der Orcheſterſatz wie
der für Vocalchor der allſtimmige Satz, der zwar nicht numeriſch alle In-
ſtrumentenſpecies zuſammenſtellt, wohl aber qualitativ, indem er ein Ganzes
bildet aus den weſentlichen, einander ebenſo contraſtirend als ergänzend
gegenüberſtehenden Hauptgattungen. Von numeriſcher Vollſtändigkeit kann
in mannigfacher Weiſe abgeſehen, dieß und jenes Blasinſtrument wegge-
laſſen und ſo ein einfacheres Orcheſter gebildet werden; nur der Chor der
[1062] Streichinſtrumente kann in einer Vereinigung von Muſikorganen, die Orcheſter
ſein ſoll, niemals fehlen, ſchon darum nicht (außer dem S. 1035 Bemerk-
ten), weil der Begriff des Orcheſters im Gegenſatz zu andern Inſtrumen-
tencombinationen weſentlich das Merkmal der techniſchen Totalität, d. h.
des Vereintſeins aller Mittel für die Löſung aller der Inſtrumentalmuſik
eigenthümlichen Aufgaben enthält, dieſe Totalität aber ohne die Streich-
organe, in welchen allein volle techniſche Freiheit vorhanden iſt, nicht zu
erreichen wäre. Um dieſen Kern der Streichorgane her aber ſtets alle und
jede Inſtrumentenſpecies durch ein oder mehrere Exemplare vertreten zu
laſſen, des einfachern Orcheſters ſich zu ſchämen und überall nur aus dem
Vollen blaſen und toſen zu wollen, beſonders in einer eröffnenden Muſik
(Ouvertüre), die ihrer Natur nach nicht ſchon mit der höchſten Culmination der
Kräfte zu beginnen, ſondern auf dieſe nur erſt entfernt hinzuweiſen, nur
auf ſie vorzubereiten hätte, iſt immer Verfall der Muſik, ſei es nun daß
die Schuld mehr auf Seiten eines unmuſikaliſchen Publikums, dem der
Componiſt entweder leichtfertig oder berechnend ſich accommodirt, oder auf
Seiten des Letztern ſelbſt liegt, indem entweder in mehr naiver Weiſe der
Lärm oder in feinerer, reflectirterer Art nebendem die Technik aller möglichen
Klangfarben den ſchöpferiſchen Gedankenreichthum erſetzen ſoll. Die Klang-
farbe iſt allerdings von weſentlicher Bedeutung in der Behandlung des
Orcheſterſatzes (und zwar namentlich gegenwärtig, da die Lärmeffecte nach-
gerade nicht mehr wirken); aber nicht die ſelbſt wieder in das Lärmprinzip
umſchlagende Production aller und jeder klangfarbenerzeugenden Inſtrumen-
tencombinationen, nicht die Häufung der Klangeffecte iſt die Aufgabe; da-
mit gingen gerade manche Klangwirkungen, die für mannigfaltige Charak-
teriſtik unentbehrlich ſind, d. h. eben die durch einfachere Orcheſterbeſetzung
entſtehenden Färbungen des Tones verloren. Es macht einen ſehr großen
Unterſchied aus, ob in einer Symphonie die ſchmetternde Trompete, die
ſchmelzende Oboe, die kräftigere Clarinette, die liebliche Flöte fehlt; die ſo
entſtehenden einfachern Orcheſterformen liegen in der Mitte zwiſchen dem
„mehrſtimmigen“ und dem ganz vollſtimmigen Satz, ſie geben der Compo-
ſition gleich von vorn herein ein eigenthümliches Gepräge größerer oder
geringerer Gedämpftheit, Erregtheit, dieſer oder einer andern Gefühlsweiſe,
dieſes oder jenes Grades der Einfachheit oder Gewichtigkeit, der Leichtigkeit
oder der Tiefe u. ſ. f.; insbeſondere die Eröffnungsmuſik hat dieſen Grad
des leichtern oder ſchwerern Gewichts, auf welchem das von ihr eingelei-
tete Drama durch Gehalt und Charakter ſteht, ſchon durch die Orcheſterbe-
ſetzung ſelbſt anzudeuten, ſtatt z. B. durch volltönende Blasinſtrumentenſätze
Erwartungen einer Tiefe und Energie des Inhalts zu erregen, die hinten-
nach ſich durch nichts beſtätigen. Diejenige Orcheſterbeſetzung, welche blos
die Hauptgattungen, nicht aber auch die Unterarten der Inſtrumente vereinigt
[1063] und dabei etwa auch die Schlaginſtrumente wegläßt, iſt als „einfaches
Orcheſter“ zu bezeichnen; „volles Orcheſter“ iſt eine ſolche, welche
auch die Unterarten (ſowie die nothwendigſten Schlaginſtrumente) vollſtändig
vereinigt nur mit Ausnahme derjenigen, welche zu beſondern, gewöhnlich
nicht erforderlichen Wirkungen beſtimmt ſind, d. h. namentlich der Pracht-
und Kraftinſtrumente, Poſaune, Trommel u. ſ. w.; „voll“ iſt ein ſolches
Orcheſter bereits, weil ihm nichts fehlt zu kräftigem, ſchönem, mannigfaltig
charakteriſtiſchem Ausdruck der Stimmungen, mit denen die Kunſt in der
Regel zu thun hat; die Beſetzung dagegen, welche auch die Pracht- und
Kraftinſtrumente aufnimmt, geht bereits über das Volle, das keine Leere
empfinden läßt, hinaus, ſie ergibt das „verſtärkte Orcheſter,“ das
ſchon deßwegen immer Ausnahme iſt, weil ſeine Blas- und Schlaginſtrumente
ſelbſt den vollzähligſt beſetzten Chor der Streichinſtrumente ſo überwiegen,
daß es eigentlich zwei Orcheſter, zwei Inſtrumentalchöre ſind, die neben und
gegen einander agiren. Im „vollen Orcheſter“ iſt es anders, der ebenſo
ſtraffe als feine Violonen- und Violinenton behauptet hier das Uebergewicht,
er umſpannt und durchdringt die Tonmaſſe mit überlegener Kraft und hält
ſie ſo zu Einem Ganzen zuſammen, daher eben nur dieſes volle Orcheſter
auch das normale Orcheſter iſt.
2. Das Orcheſter wirkt theils als einheitliches Tonganzes, theils, das
Prinzip des ein- und mehrſtimmigen Satzes in ſich aufnehmend, als Neben-
und Miteinander der beſondern in ihm enthaltenen Inſtrumente und In-
ſtrumentengruppen. Im erſten Falle verſchmelzen ſich die Schallkräfte und
Klangfarben zu Einer „gediegenen“ Maſſe, obwohl auch hier wiederum
mannigfache Unterſchiede möglich ſind, indem die Gediegenheit abſolut iſt,
wenn die Blasinſtrumente den Streichorganen untergeordnet werden, aber
deſto mehr nur relativ wird, je mehr die erſtern an der Melodieführung
ſowie an der Harmoniefüllung ſelbſtändig theilnehmen (indem z. B. Hörner
und Trompeten nicht uniſon, z. B. in der Tonica, Dominante, ſondern in
vollgegliedertem Accorde mittönen). Der Klang dieſer Maſſe, der „Orcheſter-
klang,“ iſt vermöge der Combination aus den beiden Hauptgattungen
eine Miſchung von Straffheit und Weichheit, von an ſich haltender Inten-
ſität und breit ausſtrömender Fülle, von tonus und sonus, in welcher eben
nach dem ſo oder anders genommenen Miſchungsverhältniß das erſte Element
das zweite ſtärker oder nur geringer überwiegt; auch kann das zweite ge-
radezu die erſte Stelle einnehmen, indem die Streichorgane mit der Rolle
der Begleitung des Chors der Blasinſtrumente ſich begnügen; der Orcheſter-
klang hat ſo zwei Pole, zwiſchen denen er ſich in mannigfachen Abſtufungen
hinundherbewegt, obwohl im Ganzen der erſte, der intenſivere Pol der
Schwerpunct iſt, der nicht zu lange verlaſſen werden darf, da auf ſeiner
Einhaltung die Einheit ſowie die wahre innerliche Kraft des Orcheſters
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 69
[1064]beruht. Es wiederholt ſich ſo in der Behandlung des Orcheſters derſelbe
Unterſchied wie in ſeiner Beſetzung, der Unterſchied zwiſchen dem Einfachern
und Vollern, zwiſchen Concentration und breiter Freilaſſung der Einzelkräfte.
Dieſer Unterſchied ſetzt ſich nun aber noch weiter fort durch die Theilung
des Orcheſters in Inſtrumentengruppen und Einzelinſtrumente, an welcher
die Inſtrumentalmuſik vor der Vocalmuſik, die ihre gleichartiger zuſammen-
geſetzten Chöre nicht ſo leicht und nicht ſo mannigfaltig in Einzelſtimmen
auflöſen kann, wiederum einen weſentlichen Vorzug rückſichtlich der Beweg-
lichkeit und des Formenreichthums voraus hat. Je mannigfaltiger das
Orcheſter an ſich iſt, z. B. in Vergleich mit der compactern Harmoniemuſik,
deſto mehr liegt es in ſeinem Weſen, dieſe Mannigfaltigkeit nicht blos im
Zuſammenklang aller Simmen verſchwimmen, ſondern ſie auch für ſich heraus-
treten, das Beſondere (die Gruppen) und das Einzelne (die Inſtrumente)
theils mit dem Ganzen, theils unter ſich ſelbſt contraſtirend auftreten und
ſie überhaupt ſich frei bewegen zu laſſen, um ſo theils Abwechslung der
Klangmaſſe und des mit ihr gegebenen Gewichtes der Tonbewegung, theils
Abwechslung der Klangfarben und der inſtrumentalen Bewegungstypen hervor-
zubringen. Das Orcheſter iſt nicht nur Vollchor und damit Organ für das
Große, Gewichtige, Maſſenbewegende, Alldurchdringende, ſondern es iſt auch
„gemiſchter Chor,“ der ſeine Einzelſtimmen für ſich zu klarer Sonderung und
individueller Selbſtändigkeit entläßt, ſie aus ſich hervortreibt und wieder in ſich
zurücknimmt, ja ſich ſelbſt erſt allmälig aus dieſen nach einander emporquellenden
und allmälig in immer größere Maſſen zuſammenfließenden Einzelſtimmen
zuſammenſetzt; das Orcheſter iſt einem Meere zu vergleichen, das gewaltig
hinundherfluthet, aufbraust, ſchäumt oder auch in mildem Sonnenſchein
ruhig aufundabwogt im reizenden Wechſel der Hebungen und Senkungen
ſeiner von reichem Licht- und Farbenſpiel belebten Maſſen, das aber jeweilig
dieſe Maſſen auch zurückzieht und damit klare, dem Grund entſpringende
Quellen blos legt und ſie munter ſprudeln läßt, bis es zurückkehrt und ſie
überdeckt, um ſie wieder in ſeinen allumfaſſenden Schooß aufzunehmen; das
Orcheſter iſt ſchwer und leicht, maſſenhaft und feinbeweglich, rauſchend und
ſtill flüſternd, dramatiſch draſtiſch und lyriſch weich zumal, es iſt Harmonie
und Monodie zugleich, es iſt wie aller harmoniſchen Wirkungen ſo aller
rhythmiſchen Bewegungsformen, aller Melodieweiſen in gleichem Maaße
und in unerſchöpflicher Mannigfaltigkeit und Contraſtirung fähig; es iſt
und bleibt in erſter Linie Ganzes, volltönende, Alles verſchmelzende Maſſe,
aber ein Ganzes, welches das Beſondere und Individuelle zu ſeiner ganzen
Ausbreitung gelangen läßt und damit ſowohl dem Bedürfniſſe der Phantaſie
nach Reichthum und Wechſel als insbeſondere den Anforderungen des Ge-
fühls die vollſtändigſte Rechnung trägt, das (durch die verſchiedenen Inſtru-
mente) nach allen Seiten ſeiner Erregungsfähigkeit hin angeſprochen und
[1065] nicht blos durch Maſſengewalt erſchüttert oder gar erdrückt zu werden,
ſondern auch bei ſchönem Einzelſpiel frei aufzuathmen und auszuruhen be-
gehrt. Aus dieſer Doppelnatur des Orcheſters ergibt ſich auch hier wieder
eine zweifache Behandlungsweiſe, ein Oscilliren des Orcheſterſatzes zwiſchen
zwei Polen; der eine iſt die harmoniemuſikartige vorwiegende Behandlung
des Orcheſters als Maſſe, die Arbeit aus dem Vollen und in’s Volle,
der andere die Auffaſſung des Orcheſters mehr als „gemiſchten Chors,“
als eines Vereins verſchiedener lebendig contraſtirender Stimmen (wie bei
Haydn); dieſe beiden entgegengeſetzten Behandlungsweiſen können ſelbſt
wieder combinirt, Maſſenwirkung und Auflöſung in Einzelſtimmen in gleich
hoher Ausbildung verknüpft werden (wie bei Beethoven), oder wird der
Mittelweg eingehalten, der die beiden Seiten ſich nicht gegen einander in
Spannung ſetzen, ſondern Geſammtwirkung und Individualiſirung das
Gleichgewicht halten und ſtets in einander überfließen läßt (wie in der
Mozart’ſchen Inſtrumentalmuſik). — Auf Werke „größern Styls“ muß
der Orcheſterſatz ſtets beſchränkt bleiben; eine zu ſehr in’s Kleine figurirende,
wenn auch polyphoniſch kunſtreiche Filigranarbeit, eine überzarte, hyper-
romantiſche Zerſplitterung, Verflüchtigung, Aetheriſirung der Muſik, die der
ein- und mehrſtimmige Soloſatz (namentlich das Streichquartett) wohl zuläßt,
gehört z. B. in eine Symphonie nicht, ſondern kann innerhalb ihrer nur
kleinlich und erſchlaffend wirken, weil ſie ſich von der „Compactheit“ des
Orcheſters zu weit entfernt; aber dieſer größere Styl läßt verſchiedenartige
Modificationen zu, nicht blos das Hohe und „Große,“ ſondern auch das
einfach Schöne, das von zerfließender Weichheit ſowie von überfeinem Pinſel-
ſtrich ſich ferne hält und immer noch in kräftigen Zügen malt, gehört ihm
nicht minder an, und der Orcheſterſatz hat daher eine Mannigfaltigkeit, wie
der Satz für Einzelinſtrumente ſie nie erreicht. Mit dem innern Merkmal
des größern Styls hängt auch die äußere Forderung eines größern Umfangs
zuſammen; innerhalb zu enger Grenzen könnte das Orcheſter ſich weit nicht
genug entfalten, es entſtände ein Mißverhältniß zwiſchen den großen in
Bewegung geſetzten Mitteln und dem ſchnell und leicht verfliegenden Ton-
inhalt, für den ſie aufgeboten würden, und das Orcheſter kann daher nur
innerhalb umfaſſenderer Tonwerke Stücke von geringem Umfang ausführen.
— Die eminente Leiſtungsfähigkeit des Orcheſters, wie ſie beſonders durch
Beethoven enthüllt worden iſt, macht die Ueberſchätzung der Inſtrumental-
muſik dem Geſange gegenüber, die in §. 797 beſprochen wurde, ſehr leicht
erklärlich, das Vermögen der Menſchenſtimme ſcheint in der That in nichts
zuſammenzuſinken vor der Hoheit und Farbenpracht vollen Orcheſterklanges;
aber zu vergeſſen iſt auch das Andere nicht, daß das Orcheſter nach zwei
Rückſichten, nämlich ſofern es Maſſe und ſofern es Compoſitum iſt, hinter
dem Vocalchore auch wiederum zurückſteht, es hat als Maſſe nicht die Art
69*
[1066]von Beweglichkeit, die der Geſang hat, d. h. nicht die dem Empfindungs-
inhalt überall hin bis in’s Einzelnſte folgende ausdrucksreiche Schmiegſamkeit,
und es hat als Compoſitum nicht die ideale Einfachheit, die auch dem
volleſten Chore beiwohnt und ihm eine ſo unendliche Würde verleiht (§. 804),
es kann ſich deſſen, daß es ein Product reflectirter Technik aus mannig-
fachen heterogenen Stoffen iſt, niemals ganz entäußern, es beſitzt die Un-
mittelbarkeit und Friſche des Naturorganes nicht, und es kann daher ihm
wohl zur Seite, aber niemals über es geſtellt werden; ächt modern wäre
ein einſeitiger Cultus der Orcheſtermuſik, aber mit den Geſetzen der Natur
und der Tonkunſt, die als Kunſt des Empfindungsausdrucks ein ſo bieg-
ſames und ſprechendes Organ wie die Menſchenſtimme nicht hintanſetzen
darf, wird er in ſtetem Streite ſein. In dynamiſcher Beziehung freilich
kann der Chor mit dem Orcheſter nicht wetteifern, aber es iſt dieß ein
Vorzug des letztern, der auch ſeine Zweideutigkeit und bereits außerordentlich
viel zur Veräußerlichung der Inſtrumentalmuſik beigetragen hat. Ein Rieſen-
orcheſter, wie es H. Berlioz in Vorſchlag brachte, wird für innerlich gediegene
und kraftvolle Werke, wie die Beethoven’ſchen, ein würdiges Organ der
Ausführung ſein; aber mehr als dieß kann man ſich von ihm nicht ver-
ſprechen; ein Orcheſter, das noch verſtändlich und ſchön ſein ſoll, muß ſeine
Tonkraft ſtets innerhalb gewiſſer Grenzen halten, und ein gewiſſes Maaß
der Stärke ſeines Geſammtklanges iſt ohnedieß dadurch geboten, daß dieſer
zu der Klangkraft der in der Orcheſtermuſik mitauftretenden Soloinſtrumente
nothwendig in paſſendem Verhältniſſe ſtehen muß. Die abſolute Giganti-
ſirung des Orcheſters iſt derſelbe unwirkliche Traum wie die Orcheſtrirung
des Claviers es war.
§. 811.
Die concreten Gattungen der Inſtrumentalmuſik (§. 807. Anm. 786 ff.)
ſind: 1) einfaches Tonſtück, insbeſondere Lied; 2) mehrtheiliges Ton-
ſtück, Marſch, Tanz, Rondo, Variation, zweitheiliger Satz mit „freier Ge-
dankenentwicklung,“ beſonders Ouvertüre; 3) das größere Tonſtück aus
mehrern Sätzen beſtehend, Sonate, Duett, Trio u. ſ. w., Concert, Symphonie,
denen ſich als untergeordnet die mehr willkürlichen Phantaſieformen anreihen.
Die Inſtrumentalmuſik iſt urſprünglich einfaches Spiel mit dem vor-
gefundenen oder auch ſelbſt gefertigten Naturinſtrument, Muſchel, Rohr u. ſ. w.,
ein Spiel, welches, ſobald es über ein bloßes Hervorſtoßen von Einzeltönen,
an denen die Phantaſie ſich ergötzt oder die zu Rufen, Signalen dienen,
hinausgekommen iſt, zu Anfängen melodiöſer oder wirklich melodiſcher Ton-
bewegung fortſchreiten wird, wie die Singſtimme allmälig das Lied aus
ſich herausbildet. So ergibt ſich das einfache Inſtrumentaltonproduct, das
[1067] „Stück,“ noch kunſtloſer und ungeregelter als das Volkslied, aber auch
ſelbſt der Liedform fähig, aus welcher ſich ſpäter das inſtrumentale Kunſtlied
und das weiter ausgeführte inſtrumentale Cantabile, das liedartige Andante,
Allegretto u. ſ. w. entwickelt. Weniger Spiel als von Anfang an durch
beſtimmte praktiſche Zwecke bedingt iſt die Muſik des Tanzes, des Marſches,
der Proceſſion; mit ihr entwickelt ſich die Inſtrumentalmuſik nach ihrer der
Vocalmuſik entgegengeſetzten dynamiſch rhythmiſchen Seite, zuerſt ohne alles
melodiſche Element, allmälig aber daſſelbe in ſich aufnehmend und es mit
der lebendigen, draſtiſchen Beweglichkeit rhythmiſcher Muſik verſchmelzend.
Von dieſer Belebung der Melodie durch Rhythmus, des Rhythmus durch
Melodie gehen alle weitern Formen der eigentlichen Inſtrumentalmuſik aus;
die Gebundenheit an den äußern Zweck der Marſch- oder Tanzbegleitung
löst ſich, es bilden ſich Tonſtücke freierer Art, Erweiterungen des „Stücks“
und des Lieds durch Rondo, Variation u. ſ. w., aus denen ſodann wie
von ſelbſt die größern, mehrſätzigen Tonſtücke ſich zuſammenfügen. Dieß
die in der Natur der Sache liegende einfache Gliederung der Inſtrumental-
muſik. Jede der ſich in ihr ergebenden Gattungen hat ein beſtimmtes Ver-
hältniß zu den verſchiedenen Satzarten §. 807 ff., welches bei den einzelnen
zur Sprache kommen muß.
§. 812.
Das einfache Inſtrumentaltonſtück iſt eine primitive Phantaſieform,
welche durch Anwendung auf die verſchiedenen Inſtrumente ſehr mannigfaltig
wird. Der Vocalmuſik nähert es ſich an, wenn es ſich zum Inſtrumentallied
ausbildet, das als Kunſtlied hauptſächlich durch die charakteriſtiſche Verſchmelzung
der Melodie mit Harmonie Bedeutung gewinnt und daher vorzugsweiſe den
mehrſtimmigen Inſtrumenten zufällt.
Eine ſpeziellere Aufzählung und Betrachtung der „Stücke“ für Horn,
Trompete u. ſ. f. wäre nach dem über die Charaktere der verſchiedenen In-
ſtrumente früher Bemerkten überflüſſig; eine kurze Beſprechung erfordert blos
das inſtrumentale Kunſtlied, und zwar beſonders das „Lied ohne Worte.“
Dieſes Kunſtlied unterliegt der Gefahr, das Vocallied direct nachbilden zu
wollen und damit eine Weichheit und einfache Innigkeit der Melodie zu
erkünſteln, die der Inſtrumentalmuſik ein für allemal verſagt iſt durch ihr
ſtarreres Material. Deßungeachtet aber iſt kein Grund da, es mit der
neuſten Schule unbedingt zu verwerfen. Weichheit und Innigkeit ſind den
Inſtrumenten nicht ſchlechthin verſagt, ſondern nur graduell; dieſen ihnen
verliehenen Grad von Weichheit ihnen wirklich zu entlocken und für ſich
hinzuſtellen, kann nicht unerlaubt ſein. So viel aber iſt der Beſtreitung
[1068] des Liedes ohne Worte zuzugeſtehen, daß es zu hohler Sentimentalität,
d. h. zu einer Weichheit, der doch die innere Lebenswärme des Liedes fehlt,
herabſinkt, wenn es das Weſen der Inſtrumentalmuſik nicht auch in irgend
einer Weiſe in ſich aufnimmt. Dieß kann aber bei der Liedform nur die
Harmonie ſein, und zwar die inſtrumentale d. h. die kunſtreicher rhythmiſirte,
figurirte Harmonie; ſie iſt dem Inſtrumentallied viel weſentlicher als dem
Vocallied, ſie gibt ihm die Formenmannigfaltigkeit und Belebtheit, ohne
welche die eigentlich melodiſche Inſtrumentalcompoſition entweder hölzern
trocken oder ein gemachtes, falſches Gegenbild der weichen Geſangmuſik iſt.
Die Bezeichnung „Lieder ohne Worte“ iſt freilich irreführend, ſie erweckt
die Vorſtellung, als ob es um ein bloßes Geſanglied in Inſtrumentalform
zu thun wäre, dem gar nichts als der Text fehle, um Geſanglied zu ſein. —
Den mehrſtimmigen Inſtrumenten fällt das Inſtrumentallied ebendarum zu,
weil ſein Werth auf der unzertrennlichen Einheit der Melodie und Harmonie
beruht. Singinſtrumente (Flöte u. ſ. w.) mit Begleitung eignen ſich weniger,
weil hier Melodie und Harmonie aus einander fallen und ſo das Liedartige
der Hauptſtimme doch zu einſeitig hervortritt; auch ſtehen die Singinſtrumente
der menſchlichen Stimme zu nahe, als daß ihr Gebrauch für dieſe Kunſtform
dem Eindruck der Nachahmung und ſomit des Zwitterhaften entgehen könnte,
und es iſt ſomit auch aus dieſem Grunde das Inſtrumentallied den dem
Geſang ferner liegenden Harmonieinſtrumenten, wie dem Clavier, zuzu-
weiſen. — Der mit der Menſchenſtimme alternirende Vortrag von Lied-
melodieen durch Inſtrumente überhaupt und Singinſtrumente insbeſondere,
z. B. in größern Arien, wird von den ſo eben gemachten Bemerkungen
nicht getroffen; dort iſt das „Inſtrumentallied“ nur eine den Geſang ſelbſt
vorbereitende, einführende, wiederholende Zugabe, ein ihm vorangeſtelltes
oder beigeſelltes Gegenbild, das ihn nicht erſetzen, ſondern blos abbildlich
vervielfältigen will, um ihn dadurch in höherer Bedeutung erſcheinen zu
laſſen. Die zum Menſchengeſang in dieſer ſelbſtändigern Weiſe hinzutretende
Inſtrumentalcantilene dichtet zur Menſchenſtimme eine zweite, ähnliche, aber
ſubjectloſe, unperſönliche, ideale Geſangſtimme hinzu, die nirgendsher kommt
als aus dem Reich der Töne, der Empfindungswelt überhaupt, die aber
mit der im Geſange ſich ausdrückenden Empfindung des Individuums (oder
einer Mehrheit) ſympathiſirt, ſo daß dieſe letztere nicht als blos für ſich
ſeiend, ſondern als eine von der übrigen Welt (vgl. S. 830) mitgefühlte
und eben durch dieſes Mitgefühl zu höherer Bedeutung erhobene ſich darſtellt.
Das hier ſich ergebende Verhältniß der Sympathie der Welt mit der empfin-
denden Einzelſubjectivität läßt ſich in gewiſſer Beziehung auch auf das Lied
ohne Wort anwenden; auch in dieſem verlegen wir unſer muſikaliſch lyriſches
Empfinden in die Objectivität hinaus, laſſen es uns aus ihr als ein ver-
doppeltes und verſtärktes entgegentönen; aber damit iſt die Forderung, daß
[1069] das Inſtrumentallied das Weſen des inſtrumentalen Satzes in ſich aufnehme,
nicht beſeitigt, indem das Lied hier ganz in die objective Inſtrumentalſphäre
verſetzt, nicht blos ſympathiſirendes Abbild eines neben ihm erklingenden
Vocallieds iſt. Zudem ſind jene „ſympathiſirenden Inſtrumentalcantilenen,“
die z. B. eine Arienmelodie oder Theile derſelben vortragen, auch nicht ohne
Inſtrumentalcharakter theils durch beigegebene Begleitung, theils durch figu-
rirtere Ausführung im Einzelnen (wie dieß z. B. in den Mozart’ſchen
Opern, welche die Singmelodie ſo gern mit Inſtrumentenmelodieen concertiren
laſſen, in durchaus befriedigender Weiſe überall vorliegt). Weiter wird von
dieſer Bedeutung der Inſtrumentalmuſik als ſympathetiſcher Geſangbegleitung
im dritten Abſchnitt der Lehre von den Zweigen die Rede ſein.
§. 813.
Das mehrtheilige Inſtrumentaltonſtück hat zu ſeinen Haupt-
formen Tanz und Marſch, populäre, durch gegebene Zwecke beſtimmte
Gattungen, die aber dem Weſen der Muſik namentlich als rhythmiſcher Kunſt
ſo durchaus entſprechen, daß ſie äſthetiſch betrachtet beide keiner andern Muſik-
form nachſtehen, wiewohl der Marſch nicht die Mannigfaltigkeit von Geſtaltungen
zuläßt, welche mit der freiern Bewegung des Tanzes gegeben ſind.
1. Der Tanz geht urſprünglich aus von einer den Menſchen erfaſſenden,
in Schwung bringenden Freude, Begeiſterung, Erhebung; die Subjectivität
gibt ſich naiver oder bewußter dieſer ihr ganzes Weſen ergreifenden und
aus dem Zuſtand der Ruhe heraushebenden Bewegung hin und läßt ſich
von ihr fortreißen, um ganz in ihr aufzugehen und ſie ungehemmt gewähren
zu laſſen, bis der Drang eben in dieſer Bewegung zu ſein und in außer-
gewöhnlicher Erregung überhaupt zu ſein gerade durch jenes ganze Sich-
hingeben ſeine volle Befriedigung gefunden hat. Wie das Lied, ja die
Muſik überhaupt entſteht durch das Ergriffenwerden von einem Gefühle,
das dazu führt, der Aeußerung deſſelben durch Stimme und Ton freien
Lauf zu laſſen und ganz in dieſer Aeußerung zu ſein, den übrigen Be-
wußtſeinsinhalt aber bei Seite zu ſetzen, ſo iſt auch der Tanz dieſe Selbſt-
entäußerung der Subjectivität an eine Stimmung, die ſich ihrer bemächtigt,
ſie beflügelt und beſchwingt, bis ſie ſich ſelbſt genug gethan hat und eben-
damit der normale Zuſtand des ruhigen Selbſtbewußtſeins wieder eintritt.
Muſik und Tanz ſtehen alſo ſchon urſprünglich in ſehr naher Beziehung zu
einander, und damit iſt von ſelbſt gegeben, daß ſie auch zuſammentreten,
zuſammenwirken, einander hervorrufen, heben und unterſtützen können; frohe,
erhebende Muſik erregt die zum Tanze drängende Stimmung, bewirkt, daß
ſie länger anhält, ſteigert ſie über den Grad hinaus, den ſie für ſich allein
[1070] erreichen würde; der Tanz umgekehrt fordert Muſik, wo er nicht etwa aus-
nahmsweiſe in feierlichem Ernſt ſich ſelbſt Schweigen auferlegt, er fordert
eine Muſik, aus welcher ihm ſeine eigene Stimmung entgegentönt; denn
erſt wenn dieß der Fall iſt, wenn es den Tänzer von außen her ganz ſo
umrauſcht und umklingt, wie ihm innerlich zu Muthe iſt, gewinnt die
Stimmung für ihn die Objectivität, die alles Andere vergeſſen machende
Präponderanz, welche ſie haben muß, wenn er ganz und mit vollem Be-
hagen in ihr ſoll aufgehen können; ein ſtiller Tanz hat, von der vorhin
erwähnten Ausnahme abgeſehen, etwas Unnatürliches, ja Unheimliches,
weil das bewegende, anfeuernde Organon fehlt, das den hohen Grad der
Erregung, welcher im Tanze ſich darſtellt, als einen trotz ſeiner Ungewöhn-
lichkeit doch eben jetzt naturgemäß entſtandenen erſcheinen läßt; Tanz und
Muſik haben ſich ohne Zweifel von Anfang an überall mit einander ge-
bildet, wenn die Muſik zunächſt auch nur in Lärm, Schall und Geklingel
beſtand. Dasjenige Element, in welchem Tanz und Muſik eins ſind und
durch welches ſie zuſammenwirken, iſt das rhythmiſche und das dynamiſche.
Die Tanzbewegung kommt ganz von ſelbſt in einen irgendwie gleichförmigen
Rhythmus, da ein regelmäßiger Wechſel namentlich ſtärkerer Bewegung den
körperlichen Organen hier wie überall nothwendig, und da zudem durch die
Stimmung ſelbſt immer eine beſtimmte Bewegungsart, bald eine ruhigere,
mehr ſchrittmäßige, bald eine erregtere, mehr hüpfende, an die Hand gegeben
iſt; durchaus unentbehrlich wird ſodann dieſe Gleichförmigkeit der Bewegung
beim Zuſammentanz Mehrerer, der die urſprüngliche und weſentliche Form
des Tanzes iſt, da nur eine mehrere Individuen zugleich erfaſſende und
dadurch auch auf jeden Einzelnen ſtärker wirkende Erregung die Gewalt hat,
den Menſchen dergeſtalt aus ſich herauszuverſetzen und in Schwung zu
bringen wie es im Tanze der Fall iſt. Ebenſo iſt von Natur ein dynamiſches
Element im Tanze; er iſt ſanfter, zarter, ſchwebender, kräftiger, ſtoßender,
ſtampfender, je nachdem der Affect gedämpfter oder ſtärker, derber, aggreſſiver
iſt, der im Tanze ſich Luft macht. Zu dieſer Rhythmik und Dynamik des
Tanzes tritt nun die Rhythmik und Dynamik der Muſik wie ein Commentar
in Tönen hinzu; ſie objectivirt das Maaß und Tempo des Tanz-
rhythmus, ſie läßt es fortwährend hören, prägt es ein und bildet es vor,
ſie belebt es durch die Tonfiguren, die ſie ſo geſtaltet, daß auch melodiſch
immer das Hauptgewicht auf die Taktaccente kommt; ſie objectivirt ebenſo
die Kraft oder Zartheit oder die Abwechslung zwiſchen Beidem, welche der
jedesmaligen Tanzbewegung eigenthümlich iſt, ſie bildet das Zu- und Ab-
nehmen, das Steigen und Fallen der Energie der Bewegung ab, ſie markirt
die Puncte, auf welche die höchſte Kraftäußerung kommen ſoll, durch Ton-
maſſen, die ſie auf ſie wirft, ſie ſchiebt zwiſchen ſie wiederum Perioden ein
von gleichförmigerem und beruhigterem Charakter, während welcher die
[1071] Bewegung in gemeſſenem Gleichmaaß ihren Gang geht, läßt dann abermals
ſtärkere Klangeffecte hören, welche ihre Energie auf’s Neue beleben, u. ſ. f.
Ohne die Muſik könnte die Rhythmik und Dynamik des Tanzes zu ſo
beſtimmter Entfaltung gar nicht gelangen, ſie erſt bringt dieſe feinern Unter-
ſchiede in das Ganze hinein; die Tanzbewegung hat wohl einen innerlichen
Bewegungsrhythmus, ſie durchläuft wohl an ſich dieſe Stadien des An-
und Abſchwellens, der Zu- und Abnahme, aber ſie kann ihnen, wenn ſie
nicht zu förmlichem Kunſttanze ſich erhebt, keinen concreten Ausdruck geben,
dieſen übernimmt die Muſik und gibt ſo dem Tanze erſt wahres Leben,
beſtimmte Form und ebendamit auch den geiſtigern Charakter einer mit
Bewußtſein innerhalb einer ſolchen Form ſich bewegenden Thätigkeit. Dieſe
Belebung und Vergeiſtigung des Tanzes ſetzt ſich ſodann aber weiter fort
bis in’s Einzelnſte der Melodie, der Stimmenführung, des Harmoniegebrauchs,
der feinern metriſchen und rhythmiſchen Figurationen, der Anwendung und
Vertheilung der Inſtrumente; der Stimmungscharakter und der Bewegungs-
rhythmus des Ganzen wird durch dieß Alles in mannigfaltigſter, ſprechendſter
Weiſe veranſchaulicht; die Muſik ſpezificirt gleichſam die unendliche Menge
bewußter und nicht bewußter Gefühlserregungen, welche die durch einander
wogende Maſſe durchſtrömen, ſie läßt die Empfindungen erklingen, welche
an die Geſammtbewegung in den Individuen ſich anknüpfen, und in welchen
dieſe ſelbſt erſt wahrhaft concret und lebendig, ihrer ſelbſt wirklich bewußt
wird. Obwohl nun die Muſik hiemit zum Tanze hinzutritt in dienender
Stellung, ſo begibt ſie ſich damit doch nicht auf ein ihr fremdes, ſondern
im Gegentheil auf ein ihr ganz vorzugsweiſe wohlanſtehendes, für ſie außer-
ordentlich fruchtbares Gebiet. Ihre Stellung iſt eigentlich doch die bedeu-
tendere, ſofern ſie die Tanzſtimmung erſt zu einer bewußten macht oder zur
Tanzbewegung hinzutritt als ihr höheres, ideales Bewußtſein von ſich ſelbſt,
und es erwächst ihr aus dieſem Berufe ein unerſchöpflicher Reichthum ächt
muſikaliſcher Aufgaben, ſie erhält dadurch die Aufforderung zu Stimmungs-
gemälden verſchiedenſter Art vom Feierlichen und Gravitätiſchen bis zum
Luſtigen und Muthwilligfröhlichen herab; mit der Tanzmuſik erſteht das
muſikaliſche „Stimmungsbild“ (§. 699) kleinern Umfangs, das muſikaliſche
Genre, von welchem ſie ſich allerdings zu umfaſſendern Seelengemälden
größeren Styls erhebt, in welchem ſie aber doch mit Liebe verweilt, weil
ſie innerhalb dieſes begrenztern Umfangs und durch die freie Anwendung
draſtiſcher rhythmiſcher und dynamiſcher Mittel hier eine Anſchaulichkeit,
graciöſe Anmuth und ſicher treffende Wirkung erzielt, die bei größern Werken
nicht in dieſem Maaße mehr erreichbar iſt. Die Muſik iſt hier ganz in
ihrem Elemente; das an ſich ſo reiche Gebiet kann ihr zwar geſchmälert
werden durch die Mode, durch die einſeitige Richtung des Tanzes auf
ſtürmende Bewegtheit, welche die ausdrucksreichern, kräftigern, gemeſſenern
[1072] Formen, religiöſen und kriegeriſchen Tanz, Sarabande, Menuett, außer
Curs ſetzt und von ihnen nur den eigentlichen Kunſttanz, das mimiſche
Ballet, beibehält; aber auch innerhalb der weniger charakteriſtiſchen Gattungen
abſtracter Bewegung, Walzer, Galopp u. ſ. w., vermag ſie immer noch
eine Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, der Stimmung, des Pathos, der
Figuren, der Rhythmik, der Dynamik, der Farbenmiſchung, des geiſtreichen
Witzes in Contraſten und Ueberraſchungen zu entwickeln, aus der es uns
ſo ächt muſikaliſch anweht, daß wir dem ſchönen Spiel ſelbſt, wenn es zu
bunt und lärmend wird, nicht leicht zürnen, ſondern ihm ſeine Schwächen
und Uebergriffe, da es doch nur Spiel ſein will, weit eher verzeihen, als
wir es bei anmaaßlich auftretender, ſich ernſt anſtellender Effectmuſik höherer
Gattung zu thun im Stande ſind. Der ernſtere, namentlich zu höheren
Feierlichkeiten gehörende Tanz iſt freilich Spiel nur in dem Sinne, daß er
eine rein ideale Darſtellung kunſtvoll geregelter Körperbewegung iſt, aber
aller übrige Tanz iſt Spiel, zweckloſes Sichgehenlaſſen erhöhter Stimmung,
das keinen Anſpruch macht als den, ſich ſelbſt volle Genüge zu thun, er
iſt die abſolute Harmloſigkeit des einfachen Heraustretens innerer Erregtheit,
die aber allerdings in voller Ungehemmtheit und Kraft ſich äußern will
und daher auch der begleitenden Muſik ſtets mehr oder weniger dieſen
Charakter bunter Beweglichkeit und kräftigen Dreinſchlagens mit gutem
Recht aufdrücken wird. Auch in der Tanzmuſik gibt es ein Uebermaaß
und eine Ausartung in’s Leichtfertige, Süße, Lüſterne, krankhaft Erregte,
Plumpe; aber ſie iſt ebenſoſehr, und an ſich durchaus, das Gebiet geſund-
froher Heiterkeit, idealer Lebensfreude, freier Begeiſterung, friſcher Erfindungs-
luſt, das in ähnlicher Weiſe wie das Volkslied durch dieſe ſeine Eigen-
ſchaften ſeinen eigenen, durch nichts in Schatten zu ſtellenden Werth innerhalb
des reichen Kreiſes der Muſikformen behauptet. — Im Beſondern iſt noch
anzuführen, daß die Tanzmuſik nur in den vorzugsweiſe rhythmiſchen, d. h.
in den Violininſtrumenten, und zwar, ſofern ſie zugleich ſociale Muſik
iſt, in dem Verein derſelben, zu welchem immerhin Blasinſtrumente füllend,
colorirend und verſtärkend hinzutreten mögen, alſo im mehrſtimmigen Satz
für Streichorgane oder „einfaches Orcheſter,“ ihren entſprechenden Ausdruck
findet. Aeußere Verhältniſſe und Zwecke veranlaſſen häufig Verwendung
der Blasorgane, die aber verfehlt iſt, da dieſen das Elaſtiſche, Schnellende,
leicht Schreitende und Schwebende abgeht. Auf dem Boden des Tanzes
hat die Violinmuſik ſich entwickelt und ihr Vorrecht auf ihn ſollte ihr nicht
entzogen werden; ſie iſt auch am eheſten befähigt, jene Ausartungen in’s
Ueppige, Sentimentale, Rohe von der Tanzmuſik abzuwehren, welche durch
Mißbrauch der Blasinſtrumente in der Regel veranlaßt werden. — Eine
Verbindung des Tanzes mit orcheſtiſcher Vocalmuſik oder vielmehr ſtreng
rhythmiſcher Vocalmuſik mit entſprechend rhythmiſcher Orcheſtik iſt bei ruhiger,
[1073] feierlicher Bewegung wohl ausführbar, aber künſtleriſch gerechtfertigt nur
bei höchſt einfacher Geſtaltung des Geſangs, welche der einfach gemeſſenen
Bewegung des Tanzſchritts harmoniſch, in gleich einfachem Tonſchritt ſich
anſchließt; nur die Inſtrumentalmuſik kann neben dem Tanze in allen ſeinen
Formen ſich frei nach jeder Richtung hin entwickeln.
2. Der Marſch, das gleichmäßige Vorangehen einer geſchloſſenen
Maſſe zur Vornahme oder zur Mitbegehung einer gemeinſamen oder für
die Gemeinſamkeit bedeutenden Handlung, zu Wettkampf, Streit, religiöſer,
patriotiſcher und ſonſtiger Feier, geſellt ſich außer dem Marſchliede (und
beſſer als dieſes, da dem Geſang der einzelnen Individuen eine das Ganze
beherrſchende und durchdringende rhythmiſche Kraft nicht beiwohnt) auch die
inſtrumentale Marſchmuſik zu in ähnlicher Bedeutung wie der Tanz die
orcheſtiſche. Die Marſchmuſik objectivirt wie dieſe ſowohl das Zeitmaaß
der Bewegung als die Stimmung, welche gemäß der Bedeutung der vor-
zunehmenden oder anzuſchauenden Handlung die Gemüther erfüllt; der Zug
geht ſtill einher, den Rhythmen und Tönen der Muſik folgend und lauſchend,
indem er eben durch dieſe Hingebung an die Muſik theils in gleichmäßigem
Voranſchritt, theils vor Allem in der Stimmung, die ſie ausdrückt, erhalten
wird. Die der Marſchmuſik offen liegenden Stimmungskreiſe ſind beſchränkter
als die der Tanzmuſik, aber immer noch mannigfaltig, charakteriſtiſch und
namentlich ideal genug, um auch ihr einen reichen und ſehr dankbaren Stoff
darzubieten, feierliche Andacht, entſchloſſener Sieges- und ernſter Todesmuth,
triumphirender Jubel, feſtliche Freude, frohe Lebensluſt, tiefempfundene, ſchwer
an’s Herz ſchlagende Trauer; dieß Alles einfach plaſtiſch, damit die Unmittel-
barkeit des Eindrucks, das Schlagende der Wirkung nicht verfehlt, und doch
ausdrucksvoll, damit der höchſte Grad der Eindringlichkeit erreicht werde,
darzuſtellen iſt hier die Aufgabe, die vor Allem durch belebten, gehobenen,
der Stimmung adäquaten und doch gleichmäßigen Rhythmus, ſowie durch
volle, helle, markige Harmonie, durch gemeſſene, klar hinſchreitende, an
geeigneter Stelle ſchwungreich, freud- oder leidvoll ſich emporhebende Melodie
zu löſen iſt. Der Marſch, ſelbſt der jubilirende, hat weit mehr gehaltenes
Maaß als die Tanzmuſik, weil er nicht die Bewegung beflügeln, ſondern
ſie regeln und zuſammenhalten muß, er iſt mehr Takt, wie dieſe mehr
Rhythmus (vgl. S. 906), er einigt die Vielheit der Individuen zu Einer
Geſammtempfindung und Geſammtbewegung, während die Tanzmuſik neben
ihrer gleichfalls einigenden Wirkung die Gefühlserregtheit im Gang zu
erhalten, zu beleben und zu ſteigern hat; die Tanzmuſik ladet ein zu be-
geiſtertem oder fröhlichem Gebahren, der Marſch ordnet und beherrſcht ge-
bieteriſch die Bewegung, er gibt ihr ideales Maaß, Beſtimmtheit, Styl,
die Marſchmuſik iſt muſikaliſches Stylbild (§. 699), wie die Tanzmuſik
Stimmungsbild. — Die Ausführung des Marſches fällt der Harmoniemuſik
[1074] und den Schlaginſtrumenten oder dem „verſtärkten Orcheſter“ zu; die Streich-
inſtrumente ſind zwar ſo univerſeller Natur, daß ſie ſich auch für den Marſch
weit eher als die Blasorgane für den Tanz eignen und jedenfalls an der
Marſchmuſik mit Erfolg theilnehmen können, aber die volle Wirkung er-
reichen ſie nicht; die Klangfülle, das Schwere und Tiefdröhnende, wie das
Helle, Runde, friſch Dreinblaſende, das kräftige Dehnen und Aushalten,
wie das ſo wirkſame Abſetzen und Abſtoßen vollklingender Töne, das hier
erforderlich iſt, bieten nur die Blasinſtrumente dar, und die in gedämpfterer
Muſik geſetzten Prieſtermärſche in Idomeneo und Zauberflöte machen daher,
wenn ſie außerhalb ihres Zuſammenhangs, durch den ihre Inſtrumentation
bedingt iſt, gehört werden, lange nicht den Eindruck, den ſie rein in Har-
moniemuſik umgeſetzt hervorbringen. — Die normale Kunſtform iſt für Tanz
und Marſch die gleiche, Dreitheiligkeit mit Trio, wie ſich dieß aus der Zu-
ſammenhaltung von §. 787 mit dem in §. 809, 2. über Gliederung der
Harmoniemuſik Bemerkten und mit dem im gegenwärtigen §. Erörterten von
ſelbſt ergibt; an die Stelle der Dreitheiligkeit kann eher, namentlich in lang-
ſamer bewegten Tänzen und Märſchen, die Zweitheiligkeit treten (welche auch
wirklich die urſprüngliche Form war), als die Vier- und Mehrtheiligkeit,
damit das Geſchloſſene, Sprechende des Tonbildes nicht verloren gehe. —
Ein Miniaturbild des eigentlichen Marſches iſt der Claviermarſch, eine wegen
der kräftigen Vollſtimmigkeit und Compactheit dieſes Inſtruments im Kleinen
ſehr wirkſame Form, die ebendarum eine Hauptſpecies der Claviermuſik bildet.
§. 814.
Dem Tanz und Marſch reiht ſich als nächſtverwandt an die Eröffnungs-
muſik, wie jene nicht für ſich Selbſtzweck, aber deßungeachtet eine Haupt-
gattung der Juſtrumentalmuſik, weil ſie den Zweck hat, das Stimmungsgebiet,
welches die zu eröffnende Handlung umſchreibt, in der Form eines charakteri-
ſtiſchen Tonbildes von lebendiger Wirkung unmittelbar zu veranſchaulichen.
Allgemeinerer Art iſt die Einleitungsmuſik, ſofern ſie nur die Stimmung
überhaupt in Tönen zu malen hat, welcher die folgende Handlung angehört.
1. Der Marſch führt in längerem Zuge zu einer Handlung hin; die
Ouvertüre ſtellt uns unmittelbar vor den Vorhang, der ſie den Blicken
noch verhüllt, und läßt die Töne einer Muſik hören, welche der Handlung
eine ihrer Bedeutung entſprechende und ihren ganzen Charakter veran-
ſchaulichende Eröffnung voranſchicken will. Die Handlung iſt entweder eine
wirkliche, z. B. eine Feſtfeier, oder eine blos angeſchaute, ein poetiſches
Schauſpiel oder ein ſelbſt muſikaliſches Drama oder Epos; beide Arten von
Handlungen eignen ſich zu muſikaliſcher Eröffnung, ſie ſchlägt die Brücke
[1075] von der Proſa des gewöhnlichen Lebens zu der Feierlichkeit oder künſtleriſchen
Darſtellung, die vor ſich gehen ſoll, ſie thut dieß, indem ſie ein ihrem
Zwecke gemäß eng begrenztes, aber qualitativ um ſo ſprechenderes Bild der
Stimmung gibt, welche aus der zu erwartenden Handlung uns entgegen-
treten und in welche ebendamit ſie ſelbſt uns verſetzen wird; auf das Letztere,
auf das Hervorrufen der der Handlung entſprechenden ſubjectiven Stimmung,
iſt es bei der Feſtouvertüre, die mehr praktiſches Mittel für das Feſt ſelbſt
iſt, auf das Erſtere, auf objective Veranſchaulichung der der Handlung ſelbſt
ihren Charakter gebenden Stimmung, iſt es bei der Ouvertüre zum Drama
abgeſehen (indem wir die zum „Epos“ noch bei Seite laſſen); jene iſt rein
lyriſch, dieſe zugleich oder vorzugsweiſe dramatiſch ſchildernd, jene ſteht noch
in Einer Kategorie mit Tanz und Marſch, dieſe aber ſtellt das Moment
des Charakteriſtiſchen, des Inhalts ſo entſchieden in den Vordergrund, daß
ſie über jene Formen bereits weit hinausgreift in das Gebiet des concreten
Tongemäldes, das zunächſt nicht unmittelbar auf die Stimmung des Hörers
einwirken, ſondern ſeiner Phantaſie ein Bild einer beſtimmten Handlung,
d. h. der Stimmung oder der Mannigfaltigkeit von Stimmungen, welche
in einer Handlung enthalten ſind, entgegenbringen will. Es ließe ſich auch
eine Ouvertüre zu einem Drama denken, welche die Stimmung wiedergeben
wollte, in welche der Zuſchauer durch die Handlung und ihren Verlauf
verſetzt werden wird; aber man bekäme damit nur einen ſehr beſchränkten
Kreis von Ouvertüren, traurige und heitere, tragiſche und komiſche, erhebende
und rührende; die Ouvertüre würde zu wenig Beſtimmtes bieten, ſie würde
von dem unrichtigen Prinzip ausgehen, als ob es beim Drama nur um
eine ſubjective Stimmung, um Rührung, Ergötzung u. ſ. w. zu thun wäre;
die Ouvertüre muß alſo objectiv, Charakterbild einer Handlung
ſein. Dieß vermag ſie nun aber allerdings nur dadurch, daß ſie die Em-
pfindungen, Affecte, Erregungen, Leidenſchaften, kurz die Stimmungen
malt, von denen die Handlung ausgeht, deren unmittelbares Abbild ſie iſt,
die Stimmungen, in deren Umkreis ſie ſich bewegt, die in ihr rege werden,
in ihr zuſammen und auf einander treffen, ebenſo für’s Zweite ſolche
Stimmungen, die ſich innerhalb des Verlaufs der Handlung an einzelnen
Orten durch dieſes Aufeinandertreffen der Perſonen mit ihren Affecten,
Leidenſchaften u. ſ. w. erzeugen, und für’s Dritte die allgemeine Stimmungs-
ſpecies, unter welche die ganze Handlung durch den in ihr vorherrſchenden
Stimmungsgehalt ſich einreiht. Dieſe Arten von Stimmungen ſind weſentlich
zu unterſcheiden; die erſtern ſind die activen Stimmungen, die in einer
Handlung agiren und wenn ſie auch erſt durch ſie angeregt ſind doch thätig
in ſie eingreifen, die zweiter Art ſind paſſive Stimmungen, die durch
den Gang der Handlung in den Handelnden und Leidenden erzeugt werden,
ſie ſind wiederum lyriſch, das lyriſche Reſultat des Ganzen, ſo z. B. die
[1076] Stimmung heiteren Behagens, in welche die Verwicklungen eines komiſchen
Schauſpiels am Ende ſich auflöſen, die dritte Art endlich iſt eine Stimmung,
welche durch alle in der Handlung ſpielenden Einzelſtimmungen hindurch-
greift und auch in der Phantaſie des Zuſchauers als die Geſammt-
ſtimmung, der Grundton des Ganzen ſich reflectirt, wie z. B. das Gepräge
des Ernſtes, der Trauer, das von Anfang bis zu Ende über dem Ganzen
einer tragiſchen Handlung und der handelnden Perſonen ausgebreitet liegt.
Offenbar iſt es nun, daß die Ouvertüre ſich hauptſächlich an die activen
Stimmungen, d. h. an den Kreis menſchlicher Erregungen und Leiden-
ſchaften, welcher nun eben in dieſem Drama auf den Schauplatz tritt,
Lebensluſt, Kraftgefühl, Heroismus, Kampfluſt, Trotz, Liebe, Sehnſucht
u. ſ. w. zu halten hat; die paſſiven Stimmungen kann ſie im Einzelnen
nicht malen, da dieſe ſo ſpezifiſch durch den Gang der Handlung und die
einzelnen Wendungen deſſelben bedingt ſind, daß ſie nicht ſchon jetzt, wo
die Handlung ſelbſt noch nicht vorliegt, mit Anſchaulichkeit wiedergegeben
werden könnten, wogegen jene activen Stimmungen allgemein menſchliche,
in der Menſchenbruſt überhaupt ſchlummernde und daher, ſobald ihre Töne
muſikaliſch angeſchlagen werden, durch ſich ſelbſt klare und verſtändliche
Erregungen ſind, welche die Muſik recht gut malen kann; ſo wenig die
Eröffnungsmuſik den Gang der Handlung ſelbſt in ſeinen Einzelheiten
vorausgeben kann, da die Muſik nicht die Mittel zu ſo beſtimmter Schilde-
rung hat, ebenſowenig darf ſie die einzelnen Stimmungen, welche durch
einzelne Ereigniſſe hervorgerufen werden, in Tönen ſpeziell darſtellen wollen.
Von den paſſiven Stimmungen bleibt ihr daher faſt nur dieß übrig, etwa
am Schluß des Ganzen oder der Haupttheile die Endſtimmung, in
welche das Ganze ſich auflöst, ihrem weſentlichen Charakter nach noch auf-
treten, und ebenſo ſchon von Anfang an durch das Ganze hindurch die
Geſammtſtimmung, die über ihm ſchwebt, mehr oder weniger beſtimmt
hervorleuchten zu laſſen. Die activen Stimmungen bilden das dramatiſche,
die paſſiven das lyriſche Element der Ouvertüre; beide zu Einem Ganzen
zu verſchmelzen iſt ihre Aufgabe, da durch dieſe Vereinigung der höchſte der
Muſik mögliche Grad der Veranſchaulichung einer Handlung erreicht wird. —
Aus dieſer Zweiheit von Momenten geht zugleich eine zweifache Art von
Ouvertüren hervor, die mehr dramatiſche und die mehr lyriſche.
Die erſtere iſt mehr Charakter-, die letztere mehr Stimmungsbild (mit der
Ouvertüre zu feierlichen Acten verwandt, aber dadurch immer von ihr ver-
ſchieden, daß ſie nicht den Hörer in eine Stimmung verſetzen, ſondern die
Geſammtſtimmung der Handlung oder die durch ſie erzeugten paſſiven Einzel-
ſtimmungen vorzugsweiſe veranſchaulichen will). Die dramatiſche Ouvertüre
weist den lyriſchen Partien eine untergeordnete Stellung an, wie z. B. die
Figaroouvertüre zuerſt das bewegte Treiben der Handlung und der handeln-
[1077] den Perſonen zu malen, dann im letzten weich melodiſchen Satz des erſten
Theils die behaglich vergnügte Stimmung, die das Endreſultat ſein wird,
kurz anzudeuten, endlich aber, nachdem dieß Alles wiederholt iſt, in der
pianissimo beginnenden, immer ſtärker und belebter werdenden Schlußpartie,
wo Alles ſich jagt und überholt, den unendlichen Jubel, in den ſchließlich
Alles ausgeht und der auch jene ſanftern melodiſchen Klänge übertäubt,
darſtellen zu wollen ſcheint. Etwas anders iſt es in der Ouvertüre zu Don
Juan; ſie ſtellt das Wichtigſte, den niederſchmetternden, ſchmerzlich bange-
machenden Ernſt höherer Schickſalsgewalt, der in’s Leben hereintritt und es
entzweiſchneidet, zwar dramatiſch, aber doch zugleich mit der Wirkung voran,
daß dadurch überhaupt die ernſte, drohende Geſammtſtimmung, die im
Hintergrunde über der ganzen Handlung ſchwebt, veranſchaulicht wird,
worauf dann erſt im Allegro der eigentliche, rein dramatiſche Theil der
Ouvertüre folgt; ein ziemlich regelmäßiger Wechſel des Dramatiſchen und
Lyriſchen dagegen iſt wieder in Gluck’s Ouvertüre zur Iphigenie in Aulis zu
bemerken. Die mehr lyriſche Ouvertüre iſt vorzugsweiſe an die Geſammt-
ſtimmung des Ganzen oder, wenn auch ſie concreter verfahren will, an die
Hauptunterſchiede der Stimmung, durch die es ſich hindurchbewegt, gewieſen;
ſo iſt die Ouvertüre zu Idomeneo eigentlich blos eine Einleitungsmuſik, die
durch ihre düſtere, nur von wenigen Lichtblicken erhellte, unruhig und
ſchmerzlich erregte, endlich ganz in Klage ſich auflöſende Haltung allerdings
paſſend auf die Handlung vorbereitet; lyriſch iſt deßgleichen Beethoven’s
Egmontouvertüre, die ja nur verſchiedene Zuſtände, gedämpfte Trauer,
ſchmerzerfüllte Aufraffung und Erhebung, innige Zärtlichkeit und dann nach
plötzlichem Stillſtande jubelnde Freiheitsfreude an uns vorüberführt. Dem
Begriff der Ouvertüre entſpricht die dramatiſche Art mehr als die lyriſche,
ſie iſt concreter, anſchaulicher, kräftiger, ſie iſt ein Bild, während die lyriſche
ein zu farbenloſes Tongewebe iſt, außer wenn ſie, wie die zur Zauberflöte,
auf eine ihr doch nicht vollkommen erreichbare Schilderung des Wechſels der
Einzelſtimmungen verzichtet und ſtatt deſſen ſich darauf beſchränkt, ein zur
Totalſtimmung des Ganzen überhaupt paſſendes, durch Ausdruck, Form-
ſchönheit und Formenmannigfaltigkeit beſtimmtere Charakteriſtik erſetzendes
Tongemälde zu geben (und ſomit wiederum mehr der Feſtouvertüre ſich
anzunähern). — Die lyriſche Ouvertüre könnte des vollen Orcheſters eher
entbehren als die dramatiſche; dieſe aber bedarf es zu ihrer Charakteriſtik
der neben und gegen einander ſpielenden Affecte, Empfindungen, Leiden-
ſchaften, ſie braucht die Orcheſterpolyphonie nothwendig, um ein Bild einer
Handlung zu ſein, in welcher eine Mehrheit von Charakteren auftritt, ſie
braucht nicht minder die Geſammtmaſſe und Geſammtkraft des Orcheſters,
je größer, maſſenhafter der Kreis der Perſonen, je gewichtiger der Inhalt
und das Endreſultat der Handlung iſt.
[1078]
Der Verſuch, in einer Ouvertüre den ſpeziellen Gang der Handlung
vorauszugeben, iſt ſchon in §. 792 als ein widerſprechender bezeichnet. Aber
auch die dramatiſche Charakteriſtik darf nicht überconcret ſein, ſie muß wohl
das ganze Stimmungsgebiet, das die Handlung umſchreibt, umfaſſen, wie
z. B. die Titusouvertüre der Oper ſelbſt entſprechend, hauptſächlich Kampfes-
muth, Zärtlichkeit, Wirrniſſe gegen einander ſtreitender Maſſen zeichnen zu
wollen ſcheint, aber ſie kann qualitativ dieſe Hauptſtimmungen des Drama’s
nicht beſchreiben, ſondern nur Anklänge daran geben. Die Ouvertüre iſt
nicht eine Inhaltsanzeige oder gar ein Extract, ſondern ein Analogon
des muſikaliſchen Drama’s, wie z. B. ein lyriſches Gedicht, das Liebe und
Treue ſingt, ein Analogon eines Epos oder eines Drama’s iſt, in welchem
daſſelbe Thema zur Breite eines concreten geſchichtlichen Verlaufs ſich aus-
dehnt. Auch die dramatiſche Ouvertüre iſt ihrer Kunſtform nach noch Lyrik,
wie die Ballade es gleichfalls iſt; beide können eine Anſchaulichkeit nicht
bezwecken, die über ihre Grenzen hinausgeht. Nichts verſteht ſich ſo von
ſelbſt wie dieſer Satz, und gegen nichts wird deßungeachtet mehr verſtoßen,
obwohl Mozart und Mendelsſohn ſo klar zeigen, daß die Beſchränkung auf
die „Analogie“ keine Schranke für den Künſtler iſt, ſondern ihm Raum
genug zu reicher Ideenentwicklung verſtattet, ja gerade die wahre Freiheit
ihm erſt eröffnet, d. h. die Freiheit, nicht zu viel in die Ouvertüre hinein-
drängen, nicht zu beſtimmt ſein zu müſſen, ſondern die muſikaliſchen
Gedanken in aller Weite und Fülle ſich ausgeſtalten laſſen zu können. Es
iſt ein vom Weſen der Muſik abkommender Empirismus, in der Ouvertüre
die Oper ſelbſt zu ſuchen; die Muſik hat Mittel genug, eine Stimmung
und ſo auch die der Oper in mehrfacher Art, in directer, aber auch in
indirecter, mehr andeutender Weiſe zu ſchildern; das Letztere bezweckt die
Ouvertüre, ſie wäre höchſt überflüſſig, wenn ſie ſchon die Oper ſelbſt wäre,
ſie hat pſychologiſche Begründung nur, wenn ſie als zur Sache ſelbſt erſt
überleitende Vorandeutung gefaßt wird, ſie kann Intereſſe und Wohlgefallen
erregen eben nur durch dieſes Schweben in der Mitte zwiſchen ganz allgemein
gehaltener Einleitungsmuſik und der in der Oper ſelbſt erſt auftretenden
concreten Individualiſirung; ſobald ſie dieſe Mitte verläßt, wird ſie entweder
zu unbeſtimmt oder zu beſtimmt und damit gerade unklar, weil ihre con-
creten Beziehungen unverſtanden bleiben. Einzelne Stellen aus der Oper
ſelbſt finden ihren Ort in der Ouvertüre nicht in der Meinung, dieſe müſſe
die Hauptgedanken der Oper in ſich vereinigen, ſondern, wenn es geſchieht,
blos deßwegen, weil der Componiſt die Ueberzeugung hegt, in ſolchen Stellen
ſo ſehr den treffendſten Ausdruck der Hauptſtimmung des Ganzen zu haben,
daß auch für die Ouvertüre ein beſſerer und kräftigerer als ſie nicht zu finden
wäre. Sonſt aber, abgeſehen von verfehlter Detailmalerei, ſoll die Ouvertüre
allerdings der unmittelbarſte Wiederſchein der Oper ſein, ſie ſoll den Ernſt,
[1079] die Bedeutſamkeit, die Lebendigkeit der Handlung mit allen Tonmitteln ab-
bilden, und namentlich Eines ſoll ihr nicht fehlen, die Verwicklung, Steigerung
der Bewegung; wie die Handlung von einfachen Anfängen aus ſich erweitert,
größere Dimenſionen annimmt, verwickelter, ſchwieriger wird, ſo iſt auch die
Ouvertüre nur dann vollkommen dramatiſch, wenn ſie dieß abbildet durch
allmälige Erweiterung, Verſtärkung, Spannung, Verdichtung der Ton-
bewegung, die ſich aber ebenſo auch wieder auseinander wickelt und auflöst,
wie die Handlung; dieſer ſteigende und fallende Rhythmus iſt eine Haupt-
zierde der Ouvertüre, durch ihn iſt ſie ächt muſikaliſch, obwohl natürlich
nicht für alle Ouvertüren, z. B. zu leichtern Opern, gefordert werden kann,
daß dieſe Verwicklung gleich ſtark hervortrete. Dieſer Steigerung der Be-
wegung dient in der Ouvertüre vor Allem der kunſtreichere, vollſtimmigere,
die Stimmen kräftiger und raſcher gegen einander führende, ſie auch geradezu
polyphoniſch verflechtende „Mittelſatz“ (S. 950); hier, wo Alles enger zu-
ſammenrückt, ſich in einander wirrt, ſich jagt und verfolgt, hier ſtehen wir
mitten in der bewegteſten Handlung, hier ragt das Drama ſelbſt am an-
ſchaulichſten in die Ouvertüre herein, hier werden wir es am beſtimmteſten
inne, daß wir im Begriff ſind einer Handlung zuzuſchauen und ihr in alle
ihre Verſchlingungen zu folgen. Aufbau des Ganzen aus einem oder wenigen
Motiven (fugirte oder ſtreng thematiſche Arbeit S. 961) iſt für die drama-
tiſche Ouvertüre in der Regel nicht Geſetz; ſelbſt die fugirte Ouvertüre muß
ſich freier bewegen und zu eigenen Nebenſätzen fortſchreiten, wenn ſie ein
Bild der aus den Actionen mehrerer und mannigfach verſchiedener Indivi-
dualitäten ſich zuſammenſetzenden Handlung ſein will; die normale Form iſt
die Gliederung in Hauptabſchnitte, deren jeder einem Hauptſtimmungsmotiv
des Drama’s entſpricht, damit die verſchiedenen treibenden Elemente deſſelben
nach und neben einander in der Ouvertüre ſich abſpiegeln. Dieſe Abſchnitte
im Einzelnen ſelbſt wieder reich zu gliedern, ſie an einander in der Art
anzureihen, daß ſowohl das allmälige Wachſen der Handlung in die Breite,
die Erweiterung ihres Umfangs durch Hinzutreten neuer Momente, als ihre
innerliche Zunahme an Intenſität und Verwickeltheit lebendig veranſchaulicht,
nach Umſtänden auch ihr endlicher Verlauf angedeutet werde und ſo die ganze
Ouvertüre der Mannigfaltigkeit ihrer Sätze ungeachtet ein organiſch fort-
ſchreitendes Ganzes ſei, iſt die Aufgabe der Compoſition, über deren Löſung
die Theorie etwas Spezielleres nicht beſtimmen kann, außer etwa dieß, daß
die Ent- und Verwicklung, nicht aber der Schlußverlauf die Hauptſache iſt,
nicht nur weil die erſtere am beſten den Stoff zu einem lebendig bewegten
Tonbild liefert, ſondern auch deßwegen, weil eine zu beſtimmte Schilderung
des Schluſſes, wie z. B. im letzten Satz der Egmontouvertüre (der doch
richtiger erſt am Ende des ganzen Drama’s gehört wird), in zu großem
Abſtande ſich befindet zu der mit dem Aufgehen des Vorhangs beginnenden,
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 70
[1080]vom Schluß ſelbſt noch fern abliegenden allmäligen Entwicklung des Ganges
der Handlung; die Ouvertüre ſoll eben zu dieſer Entwicklung hinüberführen,
und daher iſt es das Richtigere, dieſe ſelbſt ihr zum Hauptinhalt zu geben
und die Ouvertüre lieber, wie Gluck und Mozart hie und da, introductions-
artig in die Oper ſelbſt direct übergehen zu laſſen, als ſie zu ſelbſtändig
hinzuſtellen; die Ouvertüre iſt zugleich Ouvertüre zum erſten Act, der
unmittelbar auf ſie folgt, und iſt mithin ſo zu geſtalten, daß dieſer ſich
ungezwungen an ſie anreiht.
2. Die Ouvertüre zum muſikaliſchen „Epos“ (Oratorium) iſt mehr
lyriſcher Natur, da dieſes Epos eine weniger bewegte und mannigfaltige,
ja oft, wie namentlich das religiöſe, blos eine ideale Handlung, eine heilige
Geſchichte oder ſelbſt eine nur in Form der Geſchichte auftretende Vergegen-
ſtändlichung von Hauptmomenten einer idealreligiöſen Anſchauung zu ſeinem
Inhalte hat. Einzelne Fälle, in welchen das Oratorium die Bewegtheit
des Drama’s, ſeinen Reichthum an gegeneinanderſtrebenden Kräften und an
Conflicten nahezu erreicht, bilden natürlich eine Ausnahme (wie z. B.
Händel’s Samſon). Doch ſind hier die Formen überhaupt weniger ſtreng;
das Oratorium kann ſich noch mehr als die Oper auch mit bloßer „Ein-
leitungsmuſik“ begnügen, die im Allgemeinen auf den in ihm waltenden
Stimmungsgehalt hinweist. Ueber die ſpeziellen Formen dieſer Art von
Muſik, z. B. das Präludium, iſt blos zu bemerken, daß ſie zu den freiern
Muſikgattungen gehören und daher je nach Umſtänden einfacher oder mit
mehr Aufwand von Kunſt, namentlich freier Polyphonie, die ſpannend, auf
etwas Gewichtiges aufmerkſam machend und damit ſpezifiſch „einleitend“
wirkt, behandelt werden können.
§. 815.
Ihren Höhepunct erreicht die Inſtrumentalmuſik in den umfangreichern
Formen zunächſt der größern Stücke für ein- oder mehrſtimmigen Soloſatz,
der Sonate und des Concerts.
Der §. erwähnt Variation, Rondo, Inſtrumentalfuge nicht. Die
erſtere iſt ſchon in §. 789 behandelt; auch über das Rondo iſt nach dem
in §. 788 Geſagten nichts hinzuzufügen; die Inſtrumentalfuge fällt, ſo
weit ſie überhaupt zuläßig iſt (§. 803), theils der „gebundenen Phantaſie“
(S. 1043), theils der freiern Polyphonie (§. 785), innerhalb der Inſtru-
mentalformen aber hauptſächlich der Ouvertüre (obwohl mit Einſchränkungen
S. 1079) anheim. Zudem treten dieſe Formen, ſelbſt die Variation nicht
immer ausgenommen, in der Regel als Theile des größern Tonſtücks
(§. 791) auf, zu welchem die Inſtrumentalmuſik mit innerer Nothwendigkeit
[1081] fortſchreitet, ſobald ſie die durch äußere Zwecke beſtimmten kleinern Stim-
mungs- und Charakterbilder (§. 812 u. ſ. f.) verläßt und ſich ſelbſtändig
auszubreiten beginnt. Der ihr mitgegebene Reichthum an Formen und
Wirkungen, ihre Fähigkeit zu mannigfaltigſt contraſtirenden, die verſchie-
denſten Grade der Steigerung (des Bewegungsrhythmus) durchlaufenden
Bewegungen kann nicht zur vollen Entfaltung kommen innerhalb des engen
Rahmens des einfachen oder blos mehrtheiligen Tonſtücks; es iſt z. B.
ganz natürlich, daß ein Beethoven die Schranken der Ouvertüre zu eng
fand und dadurch zu Ausſchreitungen über die ihr nothwendige Begrenzung
getrieben wurde; die reine Inſtrumentalmuſik muß ſich expandiren, ſo weit
die Gedankeneinheit der Compoſition es nur irgend geſtattet, ſie muß hinaus
über das geſchloſſene plaſtiſche Bild zum breit ſich hinlagernden, geſtalten-
vollen, lyriſchen, epiſchen, dramatiſchen Gemälde (§. 697), damit erſt ge-
winnt ſie Leben, Freiheit, Unendlichkeit.
1. Der ein- und mehrſtimmige Soloſatz kann rückſichtlich des Umfangs
auf die engen Grenzen des „Stücks“ (§. 811) oder des mehrtheiligen Ton-
ſtücks ſich beſchränken; das Violinſolo, das Duett, Trio u. ſ. w. kann
möglicherweiſe nur aus Einem Satze beſtehen. Indeß kommt hiemit ſchon
der Wechſel und Contraſt mannigfaltigerer rhythmiſcher Bewegung, welcher
namentlich das ganz frei ſich bewegende Einzelinſtrument fähig iſt, nicht zu
ſeinem Rechte, und der monodiſche Soloſatz drängt daher von ſelbſt zu
zwei, drei oder mehr Sätzen vorwärts; daſſelbe iſt der Fall beim mehr-
ſtimmigen, indem die Mannigfaltigkeit von Tonbewegungen, welche die
Combinirung mehrerer Inſtrumente ermöglicht, innerhalb Eines Satzes
nicht zu erſchöpfen iſt. Den hienach geforderten weitern Inhalt erreicht der
Soloſatz durch den in §. 791 bereits begründeten Wechſel und Contraſt
von „Erregungs- und Stimmungsmuſik“, der in dem größern und doch
für die Einheit des Ganzen nicht zu weiten Rahmen von zwei, drei,
vier, ſelten mehr Sätzen zur Erſcheinung kommt, oder (ſ. ebd.) er erreicht
ihn dadurch, daß er nicht eine Einzelempfindung, ſondern den Wechſel und
Gegenſatz von Empfindungen ſich zum Gegenſtande nimmt, der die Grund-
form des Gefühlslebens iſt, kurz dadurch, daß er nicht blos Stimmungs-,
ſondern Lebensbild wird, wie ſchon die Ouvertüre nichts mehr mit der
Einzelempfindung zu thun hatte, ſondern bereits ein Stück Leben, ein hiſto-
riſches Gemälde war. Eine ruhige, aber ſpannende, beſonders durch reichere
Harmonie, künſtliche Stimmführung den Hörer voll faſſende und feſſelnde
Einleitung kann, wenn das Tonſtück an ſich oder durch größeren Umfang
gewichtigerer Art iſt, vorhergehen; dann folgt als erſter Hauptabſchnitt ein
erregter Satz, der das Gemüth und die Phantaſie mit Entſchiedenheit
mitten in das Gebiet eines irgendwie bewegten, aus der Ruhe der Indiffe-
renz gebrachten, gehobenen, ſich kräftig regenden oder auch in Kampf ver-
70*
[1082]wickelten Seelenlebens hineinverſetzt; wie das Leben nicht träge, kraftloſe
Ruhe, ſondern nur da wirkliches, volles Leben iſt, wo es eine beſtimmte
Richtung, Strebung, einen Schwung zur Thätigkeit erhält durch lebendige
Anregungen, Affectionen, die es aus ſeiner Indifferenz herausheben und
erſt hintennach der Ruhe und Sammlung wieder Raum laſſen, ſo eröffnet
ſich hier die Muſik mit dem Moment der Sollicitation, des Anhebens,
Anſteigens, lebendigen Sichausſprechens innerer Erregung, mit einem Satz,
der durchaus entſchieden Bewegtheit athmet und, ſofern an dieſe alles Weitere
ſich anreihen muß, von weſentlichſter Wichtigkeit für den Totaleindruck des
ganzen Werks iſt. Tonſtücke, die mit längerem Adagio beginnen, machen
von vorn herein einen erſchwertern, trübern Eindruck; die Muſik tritt hier
nicht entſchieden genug an’s Leben heraus, löst ſich gleichſam nicht voll-
kommen los von der in ihr Gefühl verſenkten, ihm nachſinnenden Seele;
dieſe Form, ſo ausdrucksreich ſie hiedurch auch iſt, kann ebendarum nur
Nebenform ſein, da ſie nur auf vertieftere, innigere, ſanftere Seelenzuſtände
paßt, in denen Affect und Wille in ungewöhnlicherer Weiſe zurücktreten.
Auf die Unruhe, Erregtheit, ſtrebende Bewegtheit des erſten Satzes folgt
im zweiten, das Gemüth und die Phantaſie gleich anſprechend, die Ruhe,
die Zuſtändlichkeit, das an ſich ſelbſt hingegebene, ſich behaglich ſam-
melnde oder grübleriſch ſich in ſich vertiefende Fühlen, auf die überſchäu-
mende Fröhlichkeit, Lebens- und Thatenluſt die ſtille Zufriedenheit des Glücks,
das ernſtere Anſichhalten ſinniger Zurückziehung in ſich ſelbſt oder auch eine
plötzlich einbrechende, die Seele beſchäftigende, niederdrückende Schmerzens-
ſtimmung, auf Kampf und Streit Frieden und Stillſtand oder traurig in
ſich zurückſinkende Wehmuth. In dieſer Zuſtändlichkeit aber kann die Muſik,
ſobald ſie einmal ein größeres Ganzes geben will, nicht verharren, das
Leben fordert ſein Recht; nicht mit erſchlaffendem Behagen und Genießen,
nicht mit zehrendem Kummer und ermattender Sehnſucht kann ein Tonge-
mäloe ſchließen, das nicht etwas Einzelnes aus dem Leben herausgreifen,
ſondern Totalität, Lebensbild ſein will, ſondern es muß dieſe Zuſtändlich-
keit, dieſes Stehenbleiben des Rades der Bewegung, das immer etwas
Unlebendiges, Contemplativtheoretiſches, Kraftloſes hat, wieder negiren,
das Leben muß ſich aus der Raſt, aus der Reſignation, aus der Schmerz-
befangenheit wiederherſtellen zu ſich ſelbſt, zur Beweglichkeit, Thätigkeit,
Freiheit oder doch zum Ringen um dieſelbe, es muß ſich ſelbſt affirmiren,
es muß ſich abermals darſtellen als ſich ſelbſt, als Lebendiges, als vorwärts-
gehend, und zwar entweder als leicht dahineilendes Leben, das die wiederum
gewonnene Erregtheit mit Luſt und froher Kraft zum Schluſſe führt, oder
als Leben, das die an es gekommenen Gegenſätze, Entzweiungen, Kummer-
gefühle bekämpft und wo möglich verſöhnend überwindet. Damit iſt ganz
naturgemäß der bewegtere Schlußſatz und zugleich die zwei Haupt-
[1083] gattungen deſſelben gegeben; er iſt entweder einfacher, leicht und kräftig
belebter Endſatz, der die Bewegung des erſten Satzes wieder aufnimmt,
ihm ſelbſt aber an innerem Gewicht und verſchlungenem Bau nachſteht,
weil er im Gegenſatz zur Ruhe und Gehemmtheit des zweiten eben das
Leichte, das Abwerfen aller Hemmung und Feſſel, die ohne Störung und
Verwicklung geradlinigt dahinſtrömende, fröhlich und kräftig ſich gehen
laſſende, zu heiterem Schluß eilende Bewegung darſtellt, oder iſt der Schluß-
ſatz concreterer Natur, ein Bild des Kampfes, der das eine Mal bis zum
Ende anhält, ſo daß das Ganze nicht mit wirklicher Befriedigung (daher
z. B. in Moll, nicht in Dur) ſchließt, das andere Mal aber auch zum
Siege hindurchdringt, deſſen fröhliche Feier in kräftigen, heitern, humoriſtiſch
neckiſchen Sätzen das Ganze verſöhnend zu Ende führt. — Dieſer Wechſel,
Contraſt, Kampf, durch deſſen Vergegenſtändlichung die Muſik hier zum
Lebensbilde wird, kann ſich in drei Sätzen vollſtändig verwirklichen, aber
auch noch ein vierter Satz eignet ſich treffend dazu beizutragen, nämlich
ein Satz in Tanzform, ſofern dieſe der unmittelbarſte Ausdruck ſchwung-
reich ſich hebender, von Freude beflügelter, in Lebensluſt vergnügt ſich
wiegender Empfindung iſt; im Tanze wird am directeſten die „Zuſtändlich-
keit“, die Ruhe, der träge Unmuth negirt, der Tanz iſt ja eben dieſes Sich-
losreißen von der Indifferenz des Gleichgewichts, dieſes Sichaufraffen,
Hineineilen in lebendige Bewegtheit. Ein dieſer Form ſich bedienender,
ſie jedoch dem Charakter des Ganzen gemäß modificirender, mäßigender,
veredelnder Satz bietet ſich am beſten dazu dar, dem Adagio oder Andante
als ſeine Negation zu folgen und von ihm den Uebergang zu bilden zum
bewegten Schlußſatz, der, um das Ganze doch ſeinem gewichtigern Charakter
gemäß nicht gar zu leicht zu beſchließen, nicht ſelbſt Tanzform haben, ſondern
ſie nur als vorbereitende Einleitung ſich voranſtellen darf. Oft findet ſich
der Satz in Tanzform ſehr paſſend auch in Tonſtücken, die mit Adagio
beginnen und mit Allegro ſchließen, als vermittelnder Zwiſchenſatz zwiſchen
dieſen beiden; ſehr häufig nimmt er aber auch die Stelle nach dem erſten
Allegro ein und geht dem Andante vorher, ſei es nun um die Bewegtheit
des erſten Satzes, der in dieſen Fällen einen geringern Grad von Erregung
hat, höher zu ſteigern und ſo nach vollſtändiger Erſchöpfung des Momentes
der Bewegung um ſo ruhiger und ungeſtörter den ſtillern Klängen des
Andante ſich zu widmen, oder auch umgekehrt, um z. B. zwiſchen ein kraft-
voll bewegtes, ſchwerwiegendes Allegro und ein zartes, ſanftes Andante
einen leichtern, das Herabſteigen zur Ruhe des Andante vermittelnden Ueber-
gang einzuſchieben; doch normal iſt dieſe Stellung nicht, ſie hält das Be-
wegungsmoment zu lange in einſeitiger Weiſe feſt, was im einzelnen Falle
nur durch die hierauf angelegte Tendenz des ganzen Stücks modivirt ſein
kann. Von ſelbſt ergibt es ſich, daß der Satz in Tanzform vorkommen
[1084] kann nur in Inſtrumentalwerken größern Umfangs, ſowie daß er in Werken,
deren einzelne Sätze bereits ſehr in’s Breite ſich dehnen, paſſender wegge-
laſſen und etwa erſt am Schluß durch einen heitern Endſatz erſetzt wird;
auch muß er ſelbſt immer eine untergeordnete Stelle einnehmen und ſomit
ſeinen Umfang beſchränken, wenn er den Schlußſatz nicht überflüſſig machen,
anticipiren, ſein Intereſſe ſchmälern ſoll; man ſieht z. B. aus Beethoven’s
Adur-Symphonie, welche faſt extremen Mittel der Componiſt anwenden
muß, um nach einem großartiger angelegten Satz in Tanzform auch noch
dem Schlußſatz die ihm gebührende Bedeutſamkeit und Wirkungskraft zu
verleihen. Ebenſo iſt klar, daß je nach Charakter des einzelnen Tonſtücks
die Formen auch noch anders modificirt, dem Andante ein Allegretto oder
ein in gehaltenem Tempo vorwärtsſchreitender Marſch von ernſter Empfin-
dung ſubſtituirt, daß ebenſo der Satz in Tanzform durch ein Allegretto oder
Aehnliches erſetzt oder in einen Satz mit gehobenem dreitheiligem Rhyth-
mus, der gar nicht mehr tanzartig, ſondern nur noch ſpezifiſch gehobener
Bewegungsſatz iſt, umgewandelt, oder der Schlußſatz ganz oder theilweiſe
in lebendig erregter Marſchform componirt werden, oder endlich ein Thema
mit Variationen die Stelle eines oder mehrerer Hauptſätze des Ganzen,
beſonders des Andanteſatzes, einnehmen kann. Aber die normale Form bleibt
jene Dreiheit oder Vierheit von Sätzen, weil ſie das unmittelbare Bild des
Pulsſchlags der Wirklichkeit des Lebens darſtellt, deſſen Veranſchaulichung
das Motiv und der Sinn und Zweck dieſer ganzen Muſikgattung von
Anfang an iſt und bleibt.
2. Die Unterſchiede, zu welchen ſich dieſe Muſikgattung wiederum im
Einzelnen beſondert, ergeben ſich aus den Bemerkungen früherer §§. über
Solo-, Concert-, Orcheſterſatz. Das begleitete monodiſche Solo, beſon-
ders der Violine, iſt bereits hinlänglichen Ausdrucks und hinreichender For-
menmannigfaltigkeit fähig, um durch die Trias (oder Vierheit) von Sätzen
ſich hindurchzubewegen; es iſt ein Monolog des Individuums, in welchem
dieſes ſich darſtellt als der Reihe nach zu den Stimmungen ſich erhebend,
niederſenkend und wieder erhebend, die zuſammen in jener Trias ſich aus-
ſprechen. Die Hauptaufgabe iſt daher hier individuelle, ſubjectiv charak-
teriſtiſche Geſtaltung der Compoſition, ohne ſich in’s einſeitig Subjective,
Bizarre zu verlieren, und reicher, ſchöner Ausdruck, damit eben jener Ein-
druck der ſich ſelbſt mittheilenden, ihr Empfinden darlegenden Individualität
(§. 808) entſtehe; ſowohl um des Ausdrucks willen als zum Behuf der
Vermeidung der Eintönigkeit, der das Einzelinſtrument leicht verfällt, iſt
zugleich lebendiger Wechſel und Contraſt der Gedanken und Formen der
einzelnen Sätze gefordert, womit die Gelegenheit zu umfaſſender Darlegung
der Eigenthümlichkeit des Inſtruments und der Virtuoſität des Spiels von
ſelbſt gegeben iſt (Bedingungen, die namentlich in Molique’s Violincon-
[1085] certen ſehr ſchön realiſirt ſind). — Eine ganz eigenthümliche Form des
Soloſatzes entſteht durch die polyphonen Inſtrumente, insbeſondere das
Clavier. Dieſes ebenſo bewegliche als volle Organ iſt bereits mehrſtimmig,
es iſt eine Harmonie-, eine Concertmuſik, ein Orcheſter im Kleinen, es iſt
zwar ſo compact, daß es wie andere Soloinſtrumente nur eine individuelle,
nicht eine Geſammtheitsſtimmung ausſprechen kann, wenn es ſeinem Charakter
gemäß wirken will, aber es erlaubt, den Ausdruck dieſer Stimmung mit
einer Klang-, Farben- und Formenfülle auszuſtatten, welche dem Indivi-
duum die Möglichkeit eröffnet, die ganze Macht, Tiefe und Unendlichkeit
der Subjectivität, die ganze Mannigfaltigkeit und Intenſität voller menſch-
licher Gemüthsbewegtheit in die Töne des Inſtruments niederzulegen, und
zwar ſo, daß es dabei den muſikaliſchen Ausdruck dieſer Wärme und Fülle
von Inhalt ſchlechthin in ſeiner Gewalt behält, ſtatt ihn von außen her,
von einer fremden Begleitung und Verſtärkung zum Theil erſt borgen zu
müſſen. Das Clavier, weil es mit der Melodie die Harmonie verbindet
und dieſe letztere doch in die Hand des Subjects gibt, iſt das Hauptorgan
für das freie und volle Sichergehen des letztern; das Subject iſt in dieſem
Inſtrument rein für ſich und deßungeachtet, ja gerade auch hiedurch in
den Stand geſetzt, ſich rein und ganz in ihm auszuſprechen, intenſiv
und extenſiv, je nachdem das Eine oder das Andere Hauptzweck iſt, und
das Clavier iſt daher vor allen andern Inſtrumenten auf das größere,
das Empfindungsleben darſtellende Tonſtück als auf die Gattung hinge-
wieſen, in welcher es ſeine Haupttriumphe feiern kann. Das Clavierſtück
von dieſer Gattung iſt die Sonate (ein Name, der auch von andern
mehrſätzigen Inſtrumentalſtücken, z. B. ein- oder zweiſtimmigen Violincom-
poſitionen gebraucht, paſſender aber auf die polyphonen Inſtrumente beſchränkt
wird, um für dieſe ſo ganz eigenthümliche Compoſitionsgattung auch einen
beſondern Ausdruck zu haben). Die Sonate dehnt ſich zwar als Soloſtück
nicht immer bis zu dem Umfang von vier Sätzen aus, aber ſie iſt doch
ebendazu beſtimmt, einen reichen und ausdrucksvoll ſich gebenden ſubjectiven
Gefühlsinhalt zu entfalten, ſei es nun daß derſelbe ſich mehr in die Breite
ausdehnt als eine ſchöne, charakteriſtiſche, mannigfaltige Folge von zu-
ſammengehörenden Stimmungsbildern, oder daß er mehr Eine
die verſchiedenen Stadien des Gefühlslebens durchlaufende einheitliche
Stimmung in Form eines großen Tongemäldes entrollt. Im erſten
Fall iſt Reichthum der Phantaſie und Vielſeitigkeit des Empfindens, im
zweiten neben jener warme, tiefe, ſtarkfühlende, in Contraſte und Gegen-
ſätze eingehende, ſich in ſie vertiefende, ſich aus ihnen emporarbeitende Er-
regtheit des Ichs dasjenige, was in der Sonate hervortritt, und zwar iſt
es immer dieſes Zweite, worin die Clavierſonate ihren Gipfelpunct erreicht,
weil nur bei dieſer zweiten Form das ganz freie und alle Ausdrucksmittel
[1086] erſchöpfende Ausſichheraustreten des Subjects, zu welchem das Inſtrument
auffordert, zu Stande kommt. Die gemüthliche Sonate, wie wir die erſte
Form benennen können, (die Haydn-, Mozart’ſche) leiſtet noch nicht Alles,
was ſich hier leiſten läßt, dieß vollzieht ſich erſt in der zweiten (Beethoven’ſchen)
Art, in der Sonate der freien Gedankenentwicklung (obwohl dieſer Name
nicht vollſtändig zutrifft, weil das ideell, ſchattenhaft „Gedankenmäßige“,
das wir als charakteriſtiſche Eigenſchaft des Streichquartetts fanden, der
in reicher Klang- und Farbenfülle tönenden Sonate nicht zukommt, ſondern
vielmehr in ſcharfem Gegenſatze zu ihr ſteht). In der Hauptſache aber
ſind beide Formen einander gleich; das muſikaliſche Subject iſt in ihnen
ganz frei und ganz unmittelbar zu rein und voll muſikaliſcher Production
veranlaßt, es iſt ganz in ſich und ebenſo ganz befähigt und getrieben ſich
voll auszuſprechen; die Sonate iſt nur möglich, wo ſchöpferiſcher Reichthum
der Phantaſie und ein reiches charakteriſtiſch ausgeprägtes Empfindungs-
leben, dem es Selbſtzweck iſt, ſich zu äußern, vorhanden ſind und zu engſtem
Bande ſich vermählen; wo die Erfindungsgabe, noch mehr wo das poetiſche
Gemüthsleben, die Individualität eigenartigen Fühlens, am meiſten aber wo
der naive Drang zur Gefühlsäußerung verſchwunden, wo künſtliche Com-
bination, verflachende Reflexion, weiche Verſchwommenheit der Sentimen-
talität und vollends eine die Muſik nur als techniſches Fach und mit ein-
ſeitiger Tendenz auf dramatiſche Wirkung betreibende Verſtändigkeit an die
Stelle getreten ſind, da hört die Sonate auf, ihre Blüthezeit iſt auch die
der Muſik, ihr Welken das Zeichen, daß die „empfindende Phantaſie“ phan-
taſie- oder empfindungslos zu werden beginnt und ſich daher zu andern
Muſikgattungen flüchten muß, in welchen mit Empfindung ohne Phantaſie
(und ohne ausgeprägtern Charakter) oder mit Phantaſie ohne Empfindung
eher etwas zu leiſten iſt. Das Clavier kann auch mit andern Inſtrumenten
zu einer reicher beſetzten Sonate zuſammentreten, es kann die ſüße, luſtige
Flöte ſich beigeſellen, in Läufen mit ihr wechſeln und wetteifern, ihre lieb-
liche Melodie mit vollen Accorden und reichen Figuren begleiten, es kann
ſeine hellklingende Vollſtimmigkeit, ſeine ſtarken, ſcharf markirten, ſilberklaren
Laute mit den ernſtgedämpften, kräftig durchdringenden und doch wiederum
weichen, zarten, ſchwellenden Tönen der Violininſtrumente verbinden und
durch dieſe Vereinigung den höchſten Zauber gediegenen Wohlklanges,
lebendigſter Energie der Bewegung, reizendſten Tonſchmelzes hervorbringen;
aber der Charakter der Sonate als freien und vollen Ausdrucks des ſub-
jectiven Gefühlslebens wird dadurch nicht beeinträchtigt, ſondern nur ver-
ſtärkt, indem das kraft- und klangreiche Clavier die Nebeninſtrumente im
Grunde doch beherrſcht und ſie in ſeinen eigenen Kreis ausdrucksreichen
Erguſſes muſikaliſcher Empfindung mit hereinzieht.
[1087]
3. Das einfache oder gemiſchte mehrſtimmige Soloſtück, das Duo,
Trio, Quartett, Quintett u. ſ. w. geht einen bedeutenden Schritt
weiter, es läßt mehrere Stimmen ſelbſtändig (ſymphoniſch) zuſammenwirken
und ſtellt ſo ſchon eine wenn auch nicht nothwendig tiefere, ſo doch
mannigfaltiger erregte, nicht an Einem Faden fortlaufende, ſondern ver-
ſchiedene Kräfte gegen einander in Bewegung ſetzende, verſchiedene Stim-
mungsfarben miſchende Gefühlsentwicklung dar. Auch dieſe Form eignet
ſich daher ganz beſonders zu größern, ſonatenartigen Tonſtücken, in deren
drei oder vier Hauptſätzen die verſchiedenen Fäden, aus denen das Ganze
ſich zuſammenſpinnt, in die mannigfaltigſten Formen der Gegenüberſtellung
und des Zuſammenwirkens gebracht werden. Lebendig contraſtirende, hiedurch
zum Schwung des Ganzen nach Vermögen beitragende Stimmenbewegung
und Stimmenverflechtung im erſten Satze; im zweiten eine enger zuſammen-
rückende, zu klarem, weichem, tiefem Stimmungsausdruck zuſammentönende
Stimmführung, die jedoch im Verlauf auch dazu fortſchreitet, das Thema
kunſtreich auszubilden, es in verſchiedene Formen zu kleiden, deren jede ihm
eine neue bedeutende Seite abgewinnt; im dritten abermaliges Zuſammen-
rücken in geſchloſſenen Gliedern zu belebtem Chor- oder Wechſeltanz, der
im Trio zartere, lieblichere, auch etwa mit einem leichten Anflug von Weh-
muth oder Sehnſucht ſich verbindende Formen annimmt; endlich im Schlußſatz
entweder einfach abſchließende oder „concrete“, zu künſtlicherer Gegeneinan-
derführung der Stimmen fortgehende Geſammtbewegung (ſ. Anm. 1); dieß
ſind die Grundzüge, in welchen dieſe Form im Allgemeinen ſich halten
wird, nur daß die gemiſchte mehrſtimmige Compoſition durch mannigfaltige
Verwendung der Klangfarben mehr eine gemüthliche, die Compoſition für
Streichinſtrumente dagegen durch kunſtvolle Combination der Stimmen mehr
eine geiſtig anregende Wirkung erſtrebt (§. 809). Auch neigt ſich die
letztere mehr zu einer Vierzahl kürzerer, contraſtirend gebauter Sätze, um
Monotonie zu vermeiden, während die erſtere mit ihrer Klangfarbenpoly-
phonie leichter auch zu längern, weiter ausholenden, mannigfach variirenden
Sätzen ſich ausbreitet.
4. Auf lange, in’s Weite und Breite gehende Sätze iſt vor Allem
das Concert angewieſen. Denn hier handelt es ſich ganz beſonders um
ungebundene, ungehemmt austönende Gedankenentfaltung, damit beide Ele-
mente, das Einzelſpiel und die Mitwirkung des Orcheſters und der Neben-
inſtrumente, zu ihrem vollen Rechte kommen. Individuum und Geſammtheit
treten hier mit einander auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um ſich zu
zeigen und zu meſſen; ſtellt der mehrſtimmige Soloſatz meiſt noch Gefühle
dar, die im Innern der Seele auftauchen, zuſammentreffen, in Kampf gerathen,
in verſöhnter Harmonie ſich wieder zuſammenfinden, ſo tritt dagegen das
Concert in die Realität eines concretern Lebens heraus, es legt eine erhöhte
[1088] Seelenſtimmung des Individuums dar, die ſich ganz und voll gibt, die
ſich nicht blos, um ſich ſelbſt Genüge zu thun, in Tönen verkörpern, ſondern
gehört, vernommen werden, Anklang und Wiederhall finden will und ihn
wirklich findet in dem mittönenden, bald ſchweigenden, bald voll einfallenden,
bald ſcheinbar ſtill zuhorchenden, bald wiederum mitſingenden und kräftig
zuſtimmenden Chor der Inſtrumente. Zu dieſem Wechſelſpiel eignet ſich
am beſten ein vom normalen Orcheſter weſentlich verſchiedenes, ihm ſelbſtändig
und mit eigener individueller Kraft und Tonfülle gegenüberſtehendes Inſtru-
ment, am beſten alſo das Clavier; das Clavierconcert iſt eigentlich nur eine
aus der Innerlichkeit ſich nach außen wendende Clavierſonate, die ihre Klang-
fülle nicht mehr zu einſamem Spiel mit ſich ſelbſt zurückhält, ſondern ſie
frei nach allen Seiten entſendet und dazu den Wiederklang der übrigen
Inſtrumentenſtimmen ſich ſelbſt zugeſellt. Der Bau der Sätze iſt daher der
gleiche, mit Ausnahme der breitern, mannigfaltigern Anlage der Concert-
ſätze, die mit ihrem Zweck und mit der ihnen zu Gebote ſtehenden Inſtru-
mentalpolyphonie gegeben iſt; nur muß das Concert ſeiner Natur nach ein-
facher in qualitativer Beziehung, in Gedankengehalt und künſtlicher Anlage,
es muß vollkommen klar und durchſichtig ſein, weil nicht Vertiefung des
Subjects in ſich, ſondern ſein Herausgehen aus ſich ſelbſt zur Wechſelwir-
kung mit einer Welt außer ihm Gegenſtand der Darſtellung iſt. Die Sonate
geſtattet, weil ſie dazu da iſt, daß das Ich ſich, ſein Fühlen und nichts
weiter in ſie niederlege, die mannigfachſten Verwicklungen der Stimmführung,
ſie erlaubt Härten der Harmonie, die in einem Concert wie unverſtändlich
oder unſchön ſich ausnehmen; das Concert iſt die Arie der Inſtrumental-
muſik; nicht Tiefe, ſondern Klarheit und Kraft, der allerdings ein tieferer
Hintergrund anzufühlen iſt, lebendiger Ausdruck iſt in ihm die Aufgabe. Zu-
nächſt verdankt das Concert ſeine Exiſtenz freilich dem äußern Umſtande,
daß es das Bedürfniß befriedigt, die Virtuoſität des Einzelinſtruments mit
einer reichern und glänzendern Orcheſterbegleitung zu hören als beim gewöhn-
lichen Solo; aber dieſes Bedürfniß hat hiemit eine Kunſtgattung hervor-
getrieben, die ebenſo aus dem innern Weſen der Inſtrumentalmuſik folgt
und zu ihrer vollſtändigen Verwirklichung mitgehört; die Inſtrumentalmuſik
ſetzt hier das einzelne Inſtrument in Rapport mit dem Ganzen, ſie läßt die
Stimmen ſich ſelbſtändig entwickeln und ebenſo einander unterſtützen und
beantworten, und damit iſt es von ſelbſt gegeben, daß charakteriſtiſche Be-
lebtheit, Entfaltung der ganzen Beweglichkeit und Formenfülle der einzelnen
Stimmen, namentlich ein glänzend ſich emporhebendes, ſozuſagen provocirendes
Auftreten des Hauptinſtruments hier das Weſentliche iſt; die Einzelſtimme
ſoll hier in ihrer ganzen Leiſtungsfähigkeit angeſchaut werden, das Ganze
ſoll die Wirkung der Einzelſtimme ergänzen und heben, aber ſie nicht in
Schatten ſtellen, und die Einzelſtimme muß daher ihre ganze Kraft und
[1089] Schönheit aufbieten; nicht alſo die Rückſicht des Effects, des Ohrenkitzels,
ſondern die Idee der Kunſtform ſelbſt, die Idee des Wechſelſpiels des Ein-
zelnen mit dem Ganzen bewirkt, daß das Concert populärer, glänzender,
auf Ausdrucksmittel bedachter iſt als die Sonate und das Quartett; es iſt
in ihm nach dieſer Seite bereits etwas Dramatiſches, obwohl es in anderer
Rückſicht, ſofern nämlich das Dramatiſche die Bedeutung einer die Subjec-
tivität in Kämpfe und Gegenſätze hineinziehenden Verwicklung hat, jenen
Formen an dramatiſchem Charakter durchaus nachſtehen und ſich auf reiche,
klar hinſtrömende, in jedem Moment ſchöne Gedanken- und Formenent-
wicklung beſchränken muß. Das Concert iſt durchaus directer Idealiſmus,
es verwirklicht dieſen auf dem Boden der Inſtrumentalmuſik am reinſten,
es kehrt das Schöne des Inſtruments, des Orcheſters und ihres Gegen-
einanderſpiels heraus, es iſt damit freilich dem Nachtheil unterworfen, daß
für Sonate und Quartett ein charakteriſtiſcher und tiefer Gehalt leichter zu
gewinnen iſt, weil ſie das Seelenleben in ſeinen innerſten Verſchlingungen
erfaſſen und malen dürfen, aber es iſt ebendamit auch weniger ſubjectiv,
es iſt wie die Harmoniemuſik eine ſociale, volksthümliche Form, die weit
mehr, als es gewöhnlich geſchieht, neben dieſer ihrer maſſiveren Schweſter
zu allgemeinerer Verbreitung auch feinerer muſikaliſcher Kunſtanſchauungen
dienen könnte.
§. 816.
Mit den in §. 815 aufgeführten umfangreichern Formen gehört die
Symphonie zu Einer Hauptgattung zuſammen, unterſcheidet ſich aber von
ihnen dadurch, daß ſie einer vollern und breitern Gedankenentfaltung, einer
größern Mannigfaltigkeit des Inhalts, einer charakteriſtiſchern und tiefer be-
wegten Entwicklung fähig iſt, ſo daß mit ihr die Inſtrumentalmuſik formell
und materiell zu ihrer letzten Vollendung gelangt.
1. Das Volltönende, Kräftige, Breite, Farbenreiche, das Zuſammen-
ſein der Maſſenwirkung und des Einzelſpiels, das §. 810, 2. als das
Eigenthümliche des Orcheſterſatzes hervorhob, kommt auch deſſen höchſter
Form, der Symphonie, zu (ein Ausdruck, welcher dem gewöhnlich gewor-
denen Sprachgebrauch entſprechend ganz auf die große oder Orcheſter-
ſymphonie beſchränkt werden ſollte, für die er auch etymologiſch beſſer ſich
ſchickt, als namentlich für mehrſtimmige Soloſätze, indem z. B. wohl von
einem ſymphonieartigen, d. h. beide Inſtrumente zu gleich ſelbſtändigem
Zuſammenwirken vereinigenden und zu weiterem Umfang ſich ausdehnenden
Duo der Violine und Viola, nicht aber von einer Symphonie beider paſſend
geſprochen werden kann). In der Symphonie iſt die freie Bewegung des
monodiſchen Solo, die feine Stimmenverwebung des Streichquartetts, der
[1090] Farbenreichthum des gemiſchten Satzes, die Fülle und Tonklarheit des
Concertſatzes vereinigt und zugleich unter die höhere Potenz der Orcheſter-
muſik geſtellt, in welcher das Einzelne dem Ganzen untergeordnet iſt, inner-
halb deſſelben aber die ihm in der Harmoniemuſik verkümmerte Freiheit
individueller Bewegung in reichem Maaße genießt. In Folge dieſer Maſſen-
haftigkeit und Univerſalität iſt die Symphonie zu einer ganz andern Art
von Tongemälden berufen als die bisherigen Formen, ſie iſt, da ſie all-
ſtimmig iſt und da ſie namentlich die hell austönenden Blasinſtrumente mit
den ideellern Streichorganen vereinigt, ein Bild des in ſeiner ganzen Fülle
und Kraft, nach allen Seiten ſeiner Erregungsfähigkeit, in allen ſeinen
Regionen ſowohl innerlich bewegten als nach außen ſich erſchließenden Ge-
fühlslebens, ſie iſt ganzes, vollſtändiges Lebensbild und zwar
Bild ſowohl des Lebens, wie es zunächſt im ſtillern Bereich des Innern
ſich regt, als auch wie es von da mächtig und klar heraustritt an’s Licht
des Tages, alle ſeine Schwingen kräftig entfaltend, nichts verbergend, bald
in voller Selbſtmittheilung fröhlich einhergehend, bald in ihr Entlaſtung
und Erleichterung ſuchend von dem, was die Bruſt begeiſternd ſchwellt oder
das Herz drückend beengt. Die Univerſalität iſt der Symphonie allein eigen;
die Zeichnung innerlicher Seelenzuſtände hat ſie, obwohl ſchon in concreterer,
mehr maleriſcher Form, mit dem Streichquartett, das volle Heraustreten,
jedoch mit mehr Tiefe und Intenſität, mit dem Concert gemein, daher die
Gliederung in die drei oder vier Sätze auch für ſie ihre Geltung behält.
Sie kann ſich ebendeßwegen auch bald der einen, bald der andern Seite
mehr zuneigen, ſie kann das eine Mal (mit „einfachem Orcheſter“) mehr
quartettartig, das andere Mal mehr concertmäßig verfahren, obwohl im
erſten Falle die ſymphoniſche Kraft kleiner iſt, im zweiten der Gehalt leicht
nothleidet. Ja innerhalb jeder Symphonie ſelbſt kehren dieſe Unterſchiede
wieder; diejenigen ihrer Sätze und Theile der Sätze, in welchen (§. 815, 1.)
die Zurückziehung des Gefühlslebens in ſich, zu innerer Beſchaulichkeit,
Ruhe u. ſ. w. zur Darſtellung kommt, werden ſich immer der Quartett-,
die belebtern, ſchwungreichern der Concertmuſik verwandter zeigen. Deß-
gleichen werden an die letztere, ſowie an den monodiſchen und den mehr-
ſtimmigen Soloſatz für Blas- und gemiſchte Inſtrumente, ſolche Partien
erinnern, welche die Einzelinſtrumente zum Reden kommen laſſen, an das
Quartett aber diejenigen, in welchen das ganze Orcheſter oder eine einzelne
ſeiner Gruppen in engerer Stimmverwebung ſich vernehmen läßt. Hier
jedoch iſt der Vergleichungspunct ein anderer; es tritt nämlich an ihm die
univerſelle Formenmannigfaltigkeit der Symphonie hervor, ihre Formen-
mannigfaltigkeit, durch die ſie eines weit reichern Inhalts fähig iſt als die
übrigen Gattungen. Die Symphonie iſt nicht nur ganz heraustretende
Gefühlsmalerei, ſondern auch Malerei des ganzen Gefühlsgebiets; die in ihr
[1091] vereinigten Klangfarben und die ihr möglichen Toncombinationen klingen
ſo klar und charakteriſtiſch an die ſämmtlichen Erregungsarten, Stimmungs-
kreiſe und Empfindungsgebiete des Seelenlebens an, daß ſie dieſelben voll-
ſtändig zu erſchöpfen, ſie für ſich oder in größerer Vereinigung zu ſchildern
vermag. Es ergibt ſich hiemit für die Symphonie eine ähnliche, jedoch
mehrgliedrige Eintheilung wie für die Ouvertüre. Sie iſt einmal lyriſche
Symphonie, ſie ſtellt einen Wechſel, Contraſt und Fortgang verſchiedener
Stimmungen dar, die das Gefühl nach der Seite entweder der Luſt und
der Unluſt, oder der Erhebung und der Ruhe, des freudigkräftigen Auf-
ſchwungs und der Sammlung in ſich ſelbſt, der Begeiſterung und der
Rückkehr zu ſinniger Betrachtung nach einander afficirt zeigen; ſie hat in
dieſem Falle weniger charakteriſtiſche Färbung, weniger intenſive Ergriffenheit,
ſie geht nur aus auf klares und ausdrucksvolles Wiedergeben der Stimmungen;
ſie zerfällt jedoch ſchon innerhalb dieſes Gebietes gleich wieder in zwei
Unterarten, je nachdem ihre Lyrik (wie bei Haydn) eine einfachere, dem
Stimmungscharakter des Liedes und ſonſtiger gemüthlicher Muſik ſich an-
nähernde Bewegtheit der Empfindung oder (wie bei Mozart) eine bereits
wärmere, tiefergehende, großartigere, pathetiſchere Erregung des Gefühles iſt.
Eine zweite Form iſt die epiſchlyriſche, maleriſche Symphonie;
ſie ſtellt nicht blos Stimmungswechſel, ſondern eine Gefühlserregtheit von
qualitativ beſtimmter Art und Aeußerungsweiſe dar, ſie malt Naturempfin-
dungen, ſie malt Gefühle, von denen das Menſchenleben ſich bewegt zeigt,
ſociale Gefühle, wie ſie bei Einzelnen oder größern Maſſen nach verſchie-
denen Richtungen, der Freude oder des Leids, der behaglichen, ſtürmenden
Luſt oder des Ernſtes und der Trauer lebendig werden, ſie malt friedliche,
ebenſo aber auch kriegeriſche Stimmungen und deren Aeußerung, — idylliſche,
paſtorale, romantiſche, Freuden- und Tanzſymphonie, elegiſche, Kriegs- und
Siegesſymphonie. Anſätze zu ſolchen maleriſchen Schilderungen können auch
die kleinern Formen des Quartetts u. ſ. w. ausnahmsweiſe nicht ohne Glück
verſuchen, aber volle Mittel hat dazu erſt die Symphonie. Natürlich iſt es,
daß die einfachlyriſche und die epiſchlyriſche Symphonie häufig in einander
verſchmelzen; namentlich gibt dazu der dritte Satz, der Satz in Tanzform,
faſt von ſelbſt Anlaß, weil er ſelbſt immer ſchon etwas Maleriſches hat,
ſei es nun daß er die Vorſtellung eines wirklichen Tanzes erweckt, oder daß
er wenigſtens durch charakteriſtiſchere Stimmungsfarbe, die ihm immer
gegeben werden muß, um ihn nicht unbedeutend erſcheinen zu laſſen, über
das einfach Lyriſche hinausgeht, dem Idylliſchen, Elegiſchen u. ſ. w. ſich
annähert (wie z. B. das Trio des Menuetts in Mozart’s lyriſcher Gmoll-
Symphonie, das dem dunkel gefärbten, kräftig ſchreitenden Mollſatz gegen-
über wie eine momentan eröffnete Perſpective in ein heiter vergnügtes,
gemüthlich ſich wiegendes Naturdaſein ſich ausnimmt). Die einzelne
[1092] Symphonie kann auch mehrere jener Stimmungskreiſe vereinigen; ſo tritt
in die Behagen und Luſt ſprühende A dur-Tanzſymphonie Beethoven’s mit
wunderbarer Wirkung (im zweiten Satz) der Ernſt des Lebens hinein, zuerſt in
ſtillem Schritt, aber immer mehr anwachſend, immer ſchmerzlicher anfaſſend,
immer rührendere Klagen hervorrufend, bis er endlich noch einmal ſtark
aufleuchtend wie eine ſich zurückziehende unheimliche Rieſenfauſt verſchwin-
det, um dem bewegten Treiben einer Menge wieder Raum zu laſſen, die
bald fröhlich hüpfend und lärmend, bald wie in geſchloſſenen Reihen Arm
in Arm umherziehend ihr Feſt zu feiern ſcheint, bis Alles in dem großartig
bacchantiſchen Eilen und Jagen des letzten Satzes ſich auflöst. Die Ton-
malerei kommt in dieſer Gattung der Symphonie zu der ganzen Berechti-
gung, die ihr gebührt; die Muſik ſchafft hier Gebilde, die der Phantaſie
wie farbenreiche, aber der Klarheit des Umriſſes und daher der eigentlichen
Erkennbarkeit entbehrende Geſtalten aus der Wirklichkeit entgegentreten;
nirgends iſt es deutlicher als hier, daß die Muſik nie zeichnen, nur malen,
nur andeutende Züge geben und ihnen Farbe verleihen kann, daß ſie aber
allerdings ſich ſelbſt eines ihrer dankbarſten Gebiete berauben würde, wenn
ſie auf die Pracht, Gluth und Fülle der Färbung, die ſie hier aufzubieten
vermag, Verzicht leiſten müßte. Das tönende Orcheſter iſt das unendlich
wahre Bild des aus verſchiedenſten Kräften ſich zuſammenſetzenden, von den
verſchiedenſten Stimmungen bewegten Menſchenlebens, ein lebendig die
Stimmen gegen einander führender Orcheſterſatz macht den Componiſten
ſelbſt ohne Abſicht zum Maler einer bewegten Lebensſcene (wofür auch der
Inſtrumententanz im Anfang des zweiten Theils des erſten Satzes der
großen Mozart’ſchen C dur-Symphonie als Beiſpiel dienen kann); kurz die
Symphonie iſt durch die reichern und mannigfaltigern Formen und Farben
der Inſtrumentalmuſik weſentlich auf das Charakteriſtiſche, ſomit auf Lebens-
bilder (höheres Genre) hingewieſen. Die dritte Symphoniegattung iſt die
dramatiſchlyriſche (vgl. S. 964). In ihr kehrt das Subject aus der
Objectivität in ſich zurück und nimmt, ſtatt von der Außenwelt ſich mit
Bildern und Stimmungen erfüllen zu laſſen, wie in der höhern Sonate
ſein eigenes Leben, aber nicht dieſe oder jene einzelnen mehr beiher ſpielen-
den Stimmungen und Stimmungswechſel, wie ſie die lyriſche Symphonie
ſchildert, ſondern eine tiefere Stimmung zu ſeinem Gegenſtande, wie ſie
theils im Subject überhaupt, theils eben in dieſem Individuum durch das
Verhältniß zur Wirklichkeit, zum Gang der Dinge erzeugt werden, in welche
es ſich hineingeſtellt findet. Dasjenige, um was ſich ſchließlich das ganze
Leben mit all ſeinen Strebungen, Hoffnungen, Gefühlen dreht, die Har-
monie zwiſchen Subject und Object, zwiſchen dem Ich und dem Weltlauf,
wird hier zum Inhalt der Symphonie, die nun ihre reichen Farben und
Mittel dazu verwendet, den ganzen Verlauf der ſo mannigfaltigen, entgegen-
[1093] geſetzten und widerſpruchsvollen, tiefſtgehenden Stimmungen zu malen,
welche die Reflexion auf ſein Verhältniß zur Welt, auf das Schickſal im
Innerſten des Menſchen hervorruft. Es gibt hier nichts, wozu die Kraft
der Symphonie nicht ausreichte; die innerliche Ergriffenheit des Ganzen,
die einzelnen Wechſel und Gegenſätze der Stimmungen, der Streit verſchie-
dener Empfindungen mit einander, das Aufſtreben zu Kraft und Sieg, das
Zurückſinken zur Wehmuth und Sehnſucht, die abermalige Ermannung und
Aufraffung, die Erhebung zu ſeliger, freudenvoller Harmonie des Gemüths
mit ſich, mit der Welt und der Menſchheit, das ſind insgeſammt Dinge,
welche die höchſte und für ſie in vollkommenſter Weiſe lösbare Aufgabe der
Symphonie bilden, wie dieß nach Beethoven’s C- und D moll-Symphonieen
nur einfach geſagt zu werden braucht. Als höchſte Form erſcheint dieſe
dramatiſch lyriſche Symphonie auch dadurch, daß ſie die objective Formen-
mannigfaltigkeit der Inſtrumentalmuſik einerſeits zu reichſter Entwicklung
kommen läßt, andrerſeits aber dieſelbe auch wieder zurückbiegt zum eigentlich
Muſikaliſchen, zur unmittelbaren Schilderung des Herzensgefühls; dieſe Art
von Symphonie iſt mit aller ihrer dramatiſchen Lebendigkeit doch nur Ein
großartiger Gefühlserguß mit derſelben ſich einfach wie ſie iſt gebenden
Innigkeit, welche das Weſen der Vocalmuſik ausmacht. Die Inſtrumental-
muſik realiſirt ſich hier nicht blos nach der Seite ihrer beſondern Eigen-
thümlichkeit, ſondern läßt in ihr zugleich das allgemein Muſikaliſche zur
Erſcheinung kommen; mit der dramatiſchlyriſchen Symphonie ſchließt ſich ſo
der ganze weite Umkreis der Muſikformen harmoniſch ab, die Bewegung
kehrt wieder in ihren Anfang, zur unmittelbaren Gefühlsmuſik zurück; weitere
Formen können nur noch dadurch entſtehen, daß die an der Symphonie in
eminenteſter Weiſe zu Tag tretende Befähigung der Inſtrumentalmuſik zu
wirkſamer Mitausſprache des Gefühls nach allen ſeinen Richtungen Anlaß
zu einer Combination der Inſtrumente mit der Vocalmuſik gibt, um ſo
endlich alle Ausdrucksmittel zumal in erſchöpfender Wechſelwirkung zur An-
wendung zu bringen. —
2. Ueber die muſikaliſche Conſtruction der Symphonieſätze
iſt mit Rückſicht auf §. 790 hier beizufügen, daß ſie den Aufbau eines
größern Satzes aus Motiven eines kurzen Grundthema’s, die „thematiſche
Verarbeitung“ ganz beſonders begünſtigt. Die Mannigfaltigkeit der
Combinationen und Klangfarben iſt hier ſo groß, daß es ſehr gut möglich
iſt, das Motiv zu den verſchiedenſten Formen zu entwickeln, in welchen es
immer wieder neu, kräftiger, umfang-, farbenreicher oder ebenſo auch zarter,
leichter, feiner erſcheint als in der urſprünglichen Geſtalt. Am vollkommenſten
wird dieſe Conſtruction durchgeführt, wenn ein einziges Motiv ganz
kurzer Art den hervorſtechenden „Hauptgedanken“ des ganzen Satzes oder
zunächſt des „erſten Theils“ bildet, indem es durch Wiederholung in
[1094] mannigfaltigen melodiſchen Hebungen und Wendungen, in wechſelnder har-
moniſcher Begleitung, ſowie durch Ausweitung und nachahmende Fortbildung
zu verwandten Bewegungen ſich zur Dimenſion einer längern Tonreihe aus-
dehnt; der Symphonieſatz baut ſich ſo ganz organiſch auf aus einem Keime,
der nur was in ihm ſchon enthalten iſt aus ſich hervortreibt in mannig-
faltigen Unterſchieden der Geſtaltung, der Kraft, des Umfangs, und doch
ſo, daß alle Sproſſen nur Figurationen Einer Grundform ſind, die ſich in
ihnen fortwährend veräſtelt und verzweigt, bis der ganze Baum, groß und
umfangreich und deßungeachtet nur Vervielfältigung jenes Einen Urtypus,
vollendet daſteht. Die Conſtruction des Symphonieſatzes erhält hiedurch
eine Einheit des Grundgedankens, einen Charakter ſchöpferiſcher Evolution,
productiver Kraft, großartiger Expanſion, der gerade für dieſe das Seelen-
leben in großartigem Entfaltungs- und Erregungsprozeß darſtellende Muſik-
gattung beſonders ſich eignet, obwohl er beeinträchtigt wird, wenn die Aus-
führung des Grundmotivs zu hartnäckig ſyſtematiſch wird und ſo in eine
unſchöne Kleinlichkeit geräth. Verwandt mit dieſer Art thematiſcher Verar-
beitung iſt der in der Form der Nachahmung und der Fuge ſich bewegende
Symphonieſatz, nur daß in letzterem Falle das Motiv, weil es aus „Thema
und Gegenſatz“ beſteht, bereits breiter und daher jene Einfachheit des Ge-
dankens ſchon nicht mehr vorhanden iſt. Wiederum eine andere Art ergibt
ſich damit, daß ein gleichfalls nicht zu kurzes Thema nicht blos in andere
melodiſche und harmoniſche Formen ausgeweitet und übergeführt, ſondern
auch zerſtückt, in Motive getheilt und dieſe dann zu ſelbſtändigen
Figuren und Gedanken vergrößert und fortgebildet werden, eine Methode,
die ſich (wie z. B. im zweiten Theil des erſten Satzes von Beethoven’s
Cmoll-Symphonie) mit der erſtgenannten Art, der Evolution aus einfachem
Motiv, paſſend verbindet, aber auch für ſich beſtehen kann (wie im erſten
Satze von Mozart’s großer C dur-Symphonie); hier iſt nicht bloße Er-
panſion, ſondern auch Auseinandergehen, Auflöſung des Ganzen in Glieder,
die ſich ſchließlich ſelbſt wieder zu Einem größern Ganzen zuſammenordnen.
Eine Schwierigkeit entſteht bei all dieſen Formen thematiſcher Verarbeitung
für den zweiten Theil. Der Anfang des zweiten Theils (der „Mittelſatz“)
bildet den Höhepunct des ganzen Satzes, den Culminationspunct der Be-
wegung, und ſtellt dieß naturgemäß dar durch polyphone, verwickeltere
Satzbildung aus Elementen des erſten Theils, damit hiedurch eben die Be-
wegung des erſten Theils in dieſen belebtern Bewegungscharakter übergeleitet
werde (S. 950, 961); iſt nun aber der erſte Theil bereits ſo conſtruirt,
daß ſeine Grundelemente complicirtere Satzbildungen aus ſich hervorgetrieben
haben, ſo ſind dieſe eigentlich ſchon vorweggenommen, und es kann jeden-
falls leicht eine Einförmigkeit entſtehen, wenn ſo im zweiten Theil wieder
dieſelbe Conſtructionsform und damit derſelbe Inhalt erſcheint, wie im erſten.
[1095] Nur mit großer, kaum überall genügender Kunſt überwand Beethoven dieſe
Schwierigkeit im erſten Satz ſeiner C moll-Symphonie; es bietet ſich aber
ein von Mozart im erſten Satz der ſchon erwähnten C dur-Symphonie mit
Glück betretener Ausweg dar; es kann dem erſten Theil ein kurzer, das
Ganze paſſend abſchließender, ſeine Bewegtheit charakteriſtiſch recapitulirender
Schlußgedanke gegeben und dann dieſer zum Thema des „Mittelſatzes“
gemacht, in dieſem weiter ausgeführt werden; der Symphonieſatz erhält ſo
zwar eine Trias von Hauptgedanken, aber hiemit auch mehr Mannigfaltigkeit,
der Einheit unbeſchadet, wenn nur der dritte Gedanke innerlich mit den
übrigen eng zuſammengehört. Aehnlich iſt das Verfahren Mozart’s in dem
Andante der kleinern C dur-Symphonie; hier kommt am Anfang des zweiten
Theils ein neuer Nebengedanke hinzu, ein kräftiger, zuerſt im Baß auftreten-
der Tongang, der anfänglich zu der Weichheit des Hauptgedankens mit
ſeinem Ernſte ſchön contraſtirt, allmälig aber ſelbſt wieder in weichere Formen
ſich auflöst und ſo dem Grundcharakter des durch ihn belebter gewordenen
Ganzen ſich wieder unterordnet. Weiter können die ſpeziellen Formen der
Conſtruction hier nicht verfolgt werden, und es iſt ja von ſelbſt klar, daß
hier ein großer Spielraum gelaſſen iſt, indem es in der Hauptſache nicht
auf Identität, Gleichlaut der Theile des Ganzen, ſondern auf ihre innere
Wahlverwandtſchaft ankommt. Auch in Bezug auf die muſikaliſche Ge-
dankenfolge hat das aggregirende, anreihende Prinzip (S. 964) neben dem
ſtrenger einheitlichen ſein Recht, wie die epiſch in’s Breite malende Sym-
phonie neben der einfach lyriſchen und neben der in ſich concentrirtern
dramatiſchen. — Der „zweite Hauptgedanke“ des Symphonieſatzes
(§. 790) wird auch durch die ſtrengſte thematiſche Verarbeitung nicht aus-
geſchloſſen. Namentlich im erſten Satze kann er nicht fehlen; die dieſem
eigene Bewegtheit ſoll nicht nur in mannigfaltigerer Form ſich ausſprechen,
als es der Fall wäre, wenn der ganze Satz nur die einförmige Entwicklung
Eines Gedankens bildete, ſondern ſie muß ſchon deßwegen „zweitheilig“
auftreten, damit durch das Hinführen des erſten Hauptgedankens zu dem
zweiten, melodiſch, harmoniſch, rhythmiſch von ihm verſchiedenen Haupt-
gedanken ein höherer Rhythmus, eine wirkliche Voranbewegung, ein Fort-
gang zu neuer, durch das Vorhergehende hervorgerufener Richtung und
Farbe der Gefühlserregung in’s Ganze hereinkomme; nur wenn dieß der
Fall iſt, ſteht das Ganze nicht als Aggregat von Gedanken da, die mehr
oder weniger gleichgültig gegen einander ſind, ſondern als ein lebendig ſich
Bewegendes, in welchem ein Fortſchritt iſt von Urſache zu Wirkung, von
Motiv zu Reſultat, und welches eben hiedurch, daß in ihm Ein
Gefühl, Eine Erregung (erſter Hauptgedanke) ein zweites, drittes hervor-
ruft, Bild des Gefühlslebens iſt, dieſes unendlichen Ineinanders von
Empfindungen, Erregungen, deren jede wieder Anlaß und Motiv neuer
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 71
[1096]Empfindungen iſt u. ſ. f. Die muſikaliſche Compoſition iſt nun allerdings
genöthigt, aus dieſer Unendlichkeit von Erregungen eine einzelne Haupt-
ſtimmung und ihren Verlauf herauszugreifen, aber die Symphonie und der
einzelne Symphonieſatz entwirft doch dieſe Stimmungsbilder ſchon in einem
ſo großen Maaßſtabe, daß jenes Moment des Fortgangs von Urſache zu
Wirkung, von Motiv zu Reſultat in ihm nicht fehlen darf. Dieß wird
noch beſtimmter erhellen, wenn wir mit Rückſicht auf die früher den einzelnen
Sätzen der Symphonie zugewieſene Stellung und unter Zurückgehen auf
die pſychologiſche Begründung jenes „Fortgangs“ uns genauere Rechenſchaft
darüber geben, wie hier die Muſik verfahren muß, und warum uns das
Uebergehen von Einem Hauptgedanken zu einem zweiten, wie wir es ge-
wöhnlich hören, ſo durchaus natürlich und befriedigend erſcheint. Der erſte
Allegroſatz iſt (§. 815, 1) ein erregter, kräftig belebter; je mehr dieß der
Fall, je unruhiger und geſpannter die Erregung iſt, mit der er gleich oder
nach vorbereitenden kleinern Sätzen beginnt, je mehr ſie ſich ſodann geſteigert,
erbreitert und verdichtet hat, deſto mehr iſt zu erwarten, daß das Gemüth
aus ihr wieder zu ſich ſelbſt kommt, zurückblickt, der Stimmung ſich bewußt
wird, in welche es durch jene erſte Erregung verſetzt iſt; der Affect, die
Unruhe, die heftige Schmerzergriffenheit, der Aufſchwung, die Begeiſterung
u. ſ. w., hinterläßt eine Stimmung, ein Gefühl, in welchem das Gemüth
eben empfindet, wie ihm in Folge des Affects u. ſ. w. übel oder wohl zu
Muthe iſt, oder führt er zu einem neuen, in der Regel jedoch gefaßtern,
weniger unruhigen Affect hinüber, der aus ihm ſelbſt pſychologiſch ſich er-
gibt, z. B. die Schmerzergriffenheit zur Sehnſucht nach Freiheit u. ſ. f.;
das menſchliche Gefühlsleben ſtrömt, weil es ein bewußtes iſt, nicht
mechaniſch uno tenore fort, ſondern es iſt Prozeß, in welchem aus der
Affection, welcher das Gemüth zunächſt hingegeben iſt, etwas Neues, ein
ruhigeres, geſammelteres Gefühl des Zuſtands, in den die Affection das
Ich verſetzt, ſich entwickelt; das Ich nimmt ſich aus der einſeitigen Erregt-
heit, durch die es afficirt war, in ſich zurück, wird ſeiner ſelbſt wieder inne,
es ſtellt dem das Bewußtſein aus ſich herausreißenden Affect immer wieder
das Gefühl gegenüber, in welchem es wieder rein bei ſich iſt, aus welchem
aber ebenſo neue Affecte ſich wieder entwickeln können. Auch kann der erſte
Affect wieder in den Vordergrund des Gefühlslebens treten, wieder Meiſter
werden, ſich verſtärken, gerade weil er zurückgedrängt war und noch nicht
ganz durchgekämpft iſt — dieſen Höhepunct hat der den zweiten Theil er-
öffnende „Mittelſatz“ darzuſtellen; — aber ganz allein kann er nicht
dominiren, das wäre ungeiſtig, und darum läßt die Symphonie (wie auch
Sonate, Quartett u. ſ. w., für welche dieß Alles gleichfalls gilt) den erſten
bewegten Hauptgedanken fortführen zu einem zweiten, der innerhalb des
einzelnen Symphonieſatzes eine ähnliche Stellung einnimmt, wie das Andante
[1097] oder Adagio innerhalb der ganzen Symphonie; es iſt mehr Ruhe, Sammlung,
Zuſtändlichkeit, Klarheit und daher auch mehr melodiöſe Helligkeit in ihm,
aber allerdings eine Ruhe, die hier noch der Erregtheit untergeordnet bleibt
und erſt im Andante ganz für ſich hervortritt. Auch das Andante, wenn
es gedankenvoller iſt und nicht etwa leichtes Rondo oder Variationsſtück iſt,
führt die Tonbewegung von einer Empfindung zur andern fort, welche
Reſultat der erſtern iſt; ein Gefühl gebiert immer ein zweites, weil jedes
Gefühl ein Zuſtand iſt, deſſen Verhältniß zum ganzen Leben und Sein der
Ichheit abermals für ſie Urſache und Gegenſtand eigenen weitern Fühlens
wird. Selbſt der Tanzſatz zeigt keine blinde, taumelnde Erregtheit, er braust
zuerſt voll und unruhig einher, aber er erweicht und ſammelt ſich im Trio,
obwohl er deſſen nicht nothwendig bedarf, wenn er ſelbſt ſchon ernſtern Ton
und Charakter angenommen hat. Der Schlußſatz, wenn er einfacherer Natur
iſt (§. 815, 1), kann die Gliederung in zwei gleich wichtige Hauptgedanken
am eheſten entbehren, weil in ihm die Gefühlserregtheit bereits in dem
Stadium der Vereinfachung, der leichter, gegenſatzloſer werdenden Bewegt-
heit angekommen iſt, er kann ſich mit der Rondoform begnügen, wogegen
der concretere Schlußſatz, in welchem noch einmal Erregung, Streben und
Kampf auf den Schauplatz tritt, den zweiten Hauptgedanken wiederum
weſentlicher bedarf, um an ihm ein Element beruhigterer Bewegung zu
haben, das vom Ganzen den Charakter einſeitiger Erregtheit ferne hält.
Muſikaliſch kann freilich der zweite Hauptgedanke auch ganz oder theilweiſe
aus Elementen des erſten, des Hauptmotivs, herausgebildet ſein, aber es
thut dieß dem entſchiedenen Contraſt, in welchem er zum erſten Gedanken
ſteht, und der Bedeutung, die er hiemit im Ganzen hat, keinen Eintrag,
wie dieß namentlich an dem Beiſpiel des zweiten Hauptgedankens im erſten
Satz der Cmoll-Symphonie ſo klar erſichtlich iſt. Warum er in der Regel
melodiſcher, figurenärmer, durchſichtiger, liedartiger iſt als der alle Orcheſter-
kräfte in Bewegung ſetzende erſte Gedanke mit ſeinen Nebenſätzen, ergibt ſich
von ſelbſt aus ſeinem Zweck und Charakter; er verhält ſich zu jenem wie
die Melodie zu undurchſichtigern Harmoniegeweben (S. 923), die Tonbe-
wegung öffnet, erhellt, vereinfacht ſich in ihm, und daher finden namentlich
auch die Soloinſtrumente, beſonders die weichern Blasorgane, eben an
dieſem Orte hauptſächlich ihre charakteriſtiſche Verwendung. — Die ſpeziellere
Gliederung der Hauptſätze, z. B. das Geſetz, daß ein Hauptſatz die Theilung
in zwei Hauptgedanken innerhalb ſeiner ſelbſt abbildlich wiederholen kann,
muß die Aeſthetik der Muſikwiſſenſchaft überlaſſen; wie in der rhythmiſchen,
ſo kann auch in der Gedankengliederung eine Vielfachheit ſymmetriſcher Sub-
ſumtion kleinerer Theile unter größere ſtattfinden, die genauer aprioriſcher
Beſtimmung nicht unterliegt und nur an der Forderung ihre Grenze hat,
daß das Ganze dadurch nicht in zu viele kleine Theile und Theile von Theilen
71*
[1098]zerſtückelt werde. Auch die Lehre von den (ſchon früher mehrfach berührten)
fortleitenden Neben- und Zwiſchen-, ſowie von den Schlußſätzen ſowohl der
großen Sätze als der Theile und ihrer Hauptabſchnitte iſt zu ſpezieller Natur;
alles Einzelne in ihr beruht auf denſelben Geſetzen der Gliederung der Reihen,
des fließenden Fortgangs, des Bewegungsrhythmus, welche für die ganze
muſikaliſche Compoſition maaßgebend ſind.
Die durch gegebene Zwecke hervorgerufenen oder ganz freien Phan-
taſieformen, Etüde, Notturno (Serenade), Capriccio, Divertiſſement,
größere Phantaſie (S. 962) können alleſammt Schönes, Charakteriſtiſches,
Großartiges leiſten, ſie ſind, die eigentliche Etüde abgerechnet, Zier- und
Prachtblumen in dem reichen Garten der Muſik, welche neben ihren kraft-
und ſaftvollern Producten edlern und ſtrengern Styls immerhin ſo viel Raum
als ihnen beliebt einnehmen mögen, wenn ſie nur das Feld nicht allein
behaupten wollen; ſie ſind eine Poeſie der Muſik, zu welcher die muſikaliſche
Phantaſie hinſtrebt, um ſich in ihrer reinen Freiheit zu haben, mit welcher
ſie aber ebendarum auch bereits an der Grenze ihres Kunſtgebietes ange-
kommen iſt.
γ. Vocal- und Inſtrumentalmuſik in Einheit und Wechſelwirkung.
§. 817.
Die beiden Hauptgattungen treten naturgemäß zu einer Verbindung ihrer
beiderſeitigen Wirkungen zuſammen, da der einfache Gefühlserguß der Vocalmuſik
in der concreten Gefühlsmalerei der Inſtrumentalmuſik ganz von ſelbſt ſeine
Verſtärkung und belebende Vermannigfaltigung findet, wie hinwiederum der
Formenreichthum der letztern zu vollſtändiger Verwendung und allſeitiger Ent-
wicklung, ſowie zur Erfüllung mit ganz beſtimmtem Inhalt nur gelangt, wenn
ſie ſich auch zu geſangbegleitender Muſik ausbildet und zur muſikaliſchen Dar-
ſtellung des concretern Empfindungsinhalts, wie er der Geſangsmuſik durch
das zu Grund gelegte Wort zuſteht, ihrerſeits mitwirkt.
Daß der Geſang in dem Kraft- und Formenreichthum der Inſtrumental-
muſik eine Ergänzung, eine Verſtärkung und Belebung des Ausdrucks,
einen ſympathetiſchen Wiederhall nicht nur findet, [ſondern] auch ſucht, ſobald
er aus der Sphäre rein in ſich ſeiender Subjectivität (im unbegleiteten
Liede) und in ſich vertiefter Idealität (in der heiligen Muſik) zu vollerer,
kräftigerer, lebendigerer Aeußerung, zu ausgeſprochener Selbſtmittheilung des
[1099] Gefühls heraustritt, bedarf nach früher Erörtertem keiner Ausführung mehr.
Ebenſo klar iſt, daß die Inſtrumentalmuſik, wie ſie durch Begleitung des
Tanzes und Marſches, durch Eröffnung des Drama’s ihr Gebiet erweitert
und gerade hier zu ganz beſonders charakteriſtiſcher Tonmalerei Stoff erhält,
ſo auch durch Geſangsbegleitung ihre Formenmannigfaltigkeit weiter aus-
bilden und concretern Gehalt gewinnen kann, als wenn ſie blos innerhalb
ihrer ſelbſt verharren und aus ihrer nach der Seite des Inhalts doch immer
geſtaltlos unbeſtimmten Sphäre gar nicht heraustreten wollte. Wer blos
reine Inſtrumentalmuſik will, muß auch jene Formen, in welchen ſie begleitend
zu Handlungen ſich hinzugeſellt, (Marſch u. ſ. w.) verwerfen; wer aber
dieſe Formen, aus denen die Inſtrumentalmuſik ſich herangebildet und in
welchen ſie jederzeit die reichſten und charakteriſtiſchſten Wirkungen hervor-
gebracht hat, nicht als Mißbildungen, ſondern als naturgemäße Gattungen
betrachtet, in denen die Inſtrumentalmuſik eine ihr nicht aufgedrängte, ſondern
in ihrem eigenen Weſen liegende Befähigung zur Begleitung ausübt und
glänzend beurkundet, der kann auch in geſangbegleitender Inſtrumentalmuſik
keinen Widerſpruch finden; gerade weil ſie weit formenreicher iſt als der
Geſang, kann ſie auch die Form der Begleitungsmuſik an-
nehmen, die ihr Gelegenheit zu neuer Verwendung ihrer Mittel, zu neuen
Bewegungen und Stellungen und zugleich Aufforderung zum Streben nach
einer charakteriſtiſchen Inhaltsbeſtimmtheit bietet, durch welches ſie ſelbſt nur
gewinnen und ſich bereichern kann. Die Unterordnung, in welche ſie ſich
(§. 798) bei dieſem Bunde mit der Geſangsmuſik begeben muß, läßt ihr
immer noch Raum genug zu ſchöner Entfaltung ihres eigenen Weſens und
wird reichlich aufgewogen durch die erhöhte Pracht und Kraft, in welcher
ſie gerade in der Vereinigung prangt vermöge des mittelſt dieſer entſtehenden
Contraſtes zwiſchen der Einfachheit des Geſangs und der Klang- und Farben-
fülle des Inſtrumentenchors. Ja ſie gewinnt darin ſelbſt ein neues Leben,
eine ihr erſt in dieſer Vereinigung erwachſende Function, die Function nicht
nur verſtärkender und vermannigfaltigender, ſondern auch ſympathetiſch mit-
gehender, den theilnehmenden Wiederklang, den das ſubjective Gefühl in
der objectiven Welt außer ihm findet, darſtellender Begleitung (§. 812).
In Concert und Symphonie konnte dieß doch nur unvollkommen, uneigentlich
(ſymboliſch) geſchehen, weil hier den von andern Inſtrumenten umſpielten
und beantworteten Hauptſtimmen das klare, ſcharfe Gepräge eines einer
objectiven Welt gegenüberſtehenden Subjectiven fehlte; dieſes entſteht erſt
dann, wenn ſubjective und objective Muſik einander wirklich gegenüber-
treten, wie es da der Fall iſt, wo ein der Menſchenbruſt ſelbſt entſteigender
Geſang von Inſtrumenten begleitet wird, welche nichts Anderes ſind, als
äußere, von außenher tönende und ſomit eben die Sympathie einer Außen-
welt mit dem Subject darſtellende Naturobjecte.
[1100]
§. 818.
Die Vereinigung beider Gattungen ermöglicht Tonwerke größeren Um-
fangs und Styls, belebterer und ſchärferer Charakteriſirung, als die einzelne
Gattung für ſich ſie hervorbringen könnte, Tonwerke, welche nicht einzelne
Empfindungen und Stimmungen, ſondern eine in ſich abgeſchloſſene Reihe von
Gefühlen ſchildern, die ſich an ein dem Vewußtſein vorſchwebendes Ganzes
objectiver Anſchauung, Geſchichte, Handlung knüpfen, oder aus
einer ſolchen als in ihr enthalten ihm entgegentreten. Mit Werken dieſer
Art realiſirt die Compoſition eine Aufgabe, welche durch das eigenſte Weſen
der Muſik ſelbſt vorgezeichnet iſt, und durch deren Löſung ſie erſt zu ihrer
vollſtändigen Entfaltung gelangt.
Größere Tonwerke ſind der Inſtrumentalmuſik unmöglich wegen ihres
Mangels an anſchaulicher Inhaltsbeſtimmtheit, ebenſo aber auch der Vocal-
muſik wegen ihrer Einfachheit, die bei weiterer Ausdehnung zur Einförmigkeit
würde; anſchaulichen Inhalt hat der Geſangtext, mannigfaltigere Formbe-
lebung und ſchärfere Ausdrucksmittel der Inſtrumentenchor zu liefern. Findet
ſich dieß Beides zuſammen, ſo iſt das „Tonwerk“ (§. 786, 2.) möglich.
Es wäre ſchlimm für die Muſik, wenn ſie ſich auf „Tonſtücke“ beſchränken
müßte; in ihrem Weſen liegt es, allerdings mit Hülfe eines beſtimmtern
Inhalt und größern Zuſammenhang leihenden Textes, nicht nur einzelne
Tonbilder und Tongemälde, ſondern auch Reihen von ſolchen zu geben, die
zuſammen Ein umfaſſendes Ganzes bilden; ſie ſtrebt nach Totalität,
Entwicklung weit mehr als die bildenden Künſte, weil die Fixirung eines
einzelnen Gebildes in ſchlechthin concreter ſinnlicher Erſcheinung ihr nicht
in dem für ſich befriedigenden Grade der Vollkommenheit wie jenen zuſteht,
und weil ihr Stoff einmal kein anderer iſt als der unendlich bewegliche,
unruhige, in unaufhaltſamem Fortſchritt begriffene, ſich ſelbſt ſtets neu ge-
bärende Proceß des Gefühlslebens; ſie iſt nicht blos Bild, ſondern Reihe
von Bildern und kommt erſt damit zu voller Verwirklichung ihrer ſelbſt,
daß ſie dieſes iſt, daß ſie ſich zu einer Folge von Stimmungsbildern ent-
faltet, welche durch die Verhältniſſe des Contraſtes, der Motivirung, des
fortſchreitenden, aufundabwogenden Bewegungsrhythmus unter ſich zuſammen-
gehalten Ein größeres Ganzes conſtituiren. Sodann zerfällt ja auch das
Gefühlsleben ſelbſt gar nicht blos in eine Unzahl einzelner lediglich ſubjectiver,
einander zwar bedingender, aber dem Inhalte nach heterogener, nur durch
die Individualität, an der ſie haften, äußerlich zur Einheit einer Reihe
zuſammengehaltener Empfindungen; im Gegentheil über jenes unendliche
Chaos wechſelnder, ſingulärer, zufälliger idiopathiſcher Einzelempfindungen
heben ſich Gefühle tiefern, höhern, weitergreifenden Gehalts und Intereſſes,
[1101] ſympathetiſche Gefühle, Empfindungen religiöſer, ethiſcher, allgemeinmenſch-
licher (gemüthlicher) Natur empor, welche an großen, allgemein bedeutſamen,
für das menſchliche Gemüth als ſolches wichtigen, die Sympathie der
Menſchenbruſt überhaupt erregenden Gegenſtänden, Ereigniſſen, Anſchauungen
ihr Object haben, und dieſe Art von Gefühlen iſt nun nicht blos beſchränkt
auf jene unmittelbarern, ſelbſt wieder ſubjectivern Stimmungen der Andacht,
der Demuth, der Begeiſterung, welche wir bei der Betrachtung der kirchlichen
Muſik kennen lernten, ſondern ſie erſtreckt ſich weiter, ſie geht fort zu einer
fühlenden Betrachtung ganzer Reihen von Ereigniſſen oder von
Anſchauungen, welche religiöſe, ethiſche, gemüthliche Bedeutung für die
Subjectivität haben, zu der fühlenden Betrachtung bedeutungsvoller Ereigniſſe
und Anſchauungen, welche ſelbſt ſo inhalt- und umfangreich ſind, daß ſie
nicht innerhalb des engen Raumes des Pſalms, der Motette, der Meſſe,
des Lieds, der Ballade u. ſ. f. befaßt werden können, ſondern ſich ausdehnen
zu einem großen zuſammenhängenden Ganzen, zu einem „Cyclus“ von
Begebenheiten und Vorſtellungen, der in dieſer ſeiner ganzen Ausdehnung
Gegenſtand des Gefühls iſt, vom Gefühl des Anſchauenden lebendig empfunden
wird und ſo eine ſeinem objectiven Inhalt entſprechende große Reihenfolge
von Gefühlen, einen Cyclus von ſubjectiven Gefühlen in ihm erregt. Auch
Gefühle dieſer Art fallen unter das Gebiet der Muſik, ſie werden, wie alles
Gefühl, erſt durch ſie recht lebendig, und ſie gewähren andrerſeits ihr den
edelſten und zugleich umfaſſendſten Stoff, der überhaupt denkbar iſt, der
aber eben wegen ſeines weitern Umfangs Fixirung der Gefühle in andeu-
tendem Worte, alſo Vocal-, und wegen ſeiner concretern, objectiver entwickelten
Natur lebendigere, farbenreichere Charakteriſtik, alſo Inſtrumentalmuſik ver-
langt. Ein zweiter Grund, der die Muſik zu größern Tonwerken forttreibt
(und der mit dem vorigen zuſammen zugleich bereits die Grundlage der
Gliederung dieſes ganzen Muſikzweiges abgibt) iſt folgender. Zuſammen-
hängende „Gefühlscyclen“ (um dieſen bezeichnendſten Ausdruck beizubehalten)
bilden ſich auch dadurch, daß jede größere Folge von Begebenheiten
und Actionen, jede „Geſchichte“ und „Handlung,“ die nicht ganz
äußerlicher, zufälliger, mechaniſcher, bedeutungsloſer Art iſt, ihrer ſubjectiven
Seite nach nichts Anderes iſt, als eine Reihenfolge von „paſſiven und
activen“ Gefühlen (§. 814), welche durch das Geſchehende bedingt ſind
und das Geſchehen ſelbſt bedingen. Eine in der Sphäre bewußter, empfin-
dender, wollender Weſen vor ſich gehende, eben mit ihnen zu thun habende
Geſchichte löst ſich pſychologiſch betrachtet auf in eine Reihe von Zuſtänden,
Affectionen, Gefühlen, welche in den Betheiligten hervorgebracht werden
oder ſie, ſoweit ſie mithandeln, zu dieſem Handeln beſtimmen; daſſelbe iſt
bei einer Handlung der Fall, nur daß hier die zum Handeln beſtimmenden
activen Gefühle, Affecte, Leidenſchaften, Strebungen ſtärker und mit mehr
[1102] Bedeutung hervortreten als bei der bloßen Geſchichte, indem eigentlich ſie
den Kern des Ganzen ausmachen. So entſtehen mithin objective Ge-
fühlscyclen, Reihen von Gefühlen nicht des anſchauenden Subjects, ſondern
der bei der angeſchauten Geſchichte oder Handlung betheiligten Perſonen,
und dieſe objectiven Gefühlsreihen kann natürlich die Muſik ebenſogut als
jene noch ſubjectivern muſikaliſch darſtellen, denn es macht für ſie nichts
aus, ob ſie der ſubjectiven Stimmung des fühlenden und ſein Gefühl in
Tönen ausſprechen wollenden Subjects ſelbſt einen Ausdruck zu geben, oder
ob ſie Stimmungen leidender und handelnder Perſonen, denen das Subject
blos zuſieht, zu ſchildern hat, wenn nur dieſe Stimmungen muſikaliſch dar-
ſtellbar und zugleich ihrem Gehalte nach von der Art ſind, daß der Wunſch
ſie auch in Muſik zu hören, einen muſikaliſchen Eindruck von ihnen zu
empfangen wirklich entſtehen kann. Ja die Muſik erhält hiemit ein ganz
beſonders fruchtbares Gebiet; in „Geſchichte“ und „Handlung“ werden die
Gefühle, weil hier verſchiedene Individuen durch reale Ereigniſſe afficirt
werden, weil ſie das Erregendſte, Schwerſte, Schmerzlichſte, Furchtbarſte
erleiden, zu den verſchiedenartigſten, heftigſten, extremſten Affecten und Leiden-
ſchaften hingetrieben werden können, kurz, weil hier Individuen in das
Leben und ſeine Einwirkungen und Conflicte mitten hineinverſetzt ſind,
dergeſtalt intenſiv, innig, tief, durchgreifend, kurz dergeſtalt dramatiſch
bewegt und dergeſtalt mannigfaltig und individuell, oder ſie nehmen hier
ſo ſtarke und ſo concrete Färbungen an, daß die Muſik, ſobald ſie nur
einigermaaßen ihrer dynamiſchen und qualitativen Ausdrucksmittel bewußt
und Herr geworden iſt, dieſes Gebiet als ihre eigentlichſte Sphäre ergreifen
und anbauen muß, was ſie aber wiederum nur thun kann durch Fixirung
des darzuſtellenden Gefühlscyclus (der Geſchichte oder Handlung) in be-
ſtimmtem Wortinhalt und durch Verwendung der draſtiſchen Kräfte und
maleriſchen Formen der Inſtrumente, welche für den Ausdruck, ſowie ſchon
für die bei längeren Compoſitionen erforderliche Mannigfaltigkeit, unent-
behrlich ſind. Dieſe muſikaliſche Vergegenſtändlichung des einer Geſchichte
oder Handlung immanenten Gefühlsgehalts wird aber noch weiter führen;
die Theilnahme an demſelben, welche dazu treibt, ihn auch muſikaliſch dar-
geſtellt haben zu wollen, wird bald auch den Wunſch hervorrufen, die Ge-
ſchichte und insbeſondere die Handlung, weil in letzterer die Activität der
Perſonen den Schwerpunct bildet, nicht blos zu hören, ſondern auch zu
ſehen; die Sänger, welche ſich bereits dazu verſtanden haben, die Helden,
deren Thaten und Leiden ſie ſingen, muſikaliſch vorzuſtellen, werden es auch
dramatiſch zu thun ſich nicht lange weigern, ſie werden ſingende Schauſpieler
werden und als ſolche, accompagnirt von den Choriſten und Soliſten des
Orcheſters, die Handlungen und Geſchicke, die Empfindungen und Affecte
der vorgeſtellten Perſönlichkeiten ſo ganz unmittelbar und in ſolcher Ver-
[1103] bindung des mimiſchen Ausdrucks mit dem muſikaliſchen darſtellen, daß
dieſer letztere, um den es hier in erſter Linie zu thun iſt, dadurch an Klar-
heit und Leben unendlich gewinnen muß. Die Fähigkeit und der Beruf
der Muſik zu größern Tonwerken von einer Tiefe, Kraft und Schönheit
der Wirkung, welche ihr gewiß wohl anſteht und dem, was ſie auf andern
Gebieten leiſtet, gewiß nicht nachgeſetzt werden kann, iſt hiemit erwieſen; es
iſt gezeigt, daß es nicht eine Verirrung, wie der Purismus behauptet,
ſondern der folgerechte Fortſchritt zu einer ihr Weſen erſt vollſtändig reali-
ſirenden Kunſtform iſt, wenn ſie zur Geſchichte und zum Drama fortgeht,
und es kann ſich daher weiter nur um Betrachtung der ſpeziellern Geſtal-
tungen dieſer Kunſtform handeln. — Ein untergeordneter, aber nicht unwich-
tiger Punct, den die obige Erörterung noch bei Seite laſſen mußte, iſt der,
daß die Muſik auch Mittel hat, Ereigniſſe (z. B. Sturm, Erdbeben, ſanftes
Wogen, Säuſeln u. ſ. f.) und einzelne Actionen (z. B. Angriff, Marſch,
Kampf, Verwirrung, Flucht, Getümmel, Tanz u. ſ. f.) mit einem charakte-
riſtiſchen, ihren Eindruck auf Phantaſie und Empfindung (ihren Stimmungs-
gehalt) malenden Ausdruck begleitend hervorzuheben; auch dieſe Seite der
Muſik, die Tonmalerei, kann erſt dann zu voller und zu künſtleriſch
berechtigter Entwicklung gelangen, wenn ſie zu einer durch den Wortausdruck
oder die ſceniſche Darſtellung klar veranſchaulichten Begebenheit oder Hand-
lung hinzutritt und ſo ſelbſt klar und deutlich wird (ſ. S. 968); die Muſik
müßte auf eine große Zahl der ihr eigenthümlichſten Tonwirkungen ver-
zichten, wenn ſie nicht zu Werken fortginge, in welchen ſie Gelegenheit
erhält objectiven Ereigniſſen, Zuſtänden, Begebenheiten, Actionen, Bewe-
gungen muſikaliſchen Ausdruck zu verleihen und dadurch zugleich die Ver-
anſchaulichung der Stimmungen und Gefühle zu verſtärken, die an jene
Ereigniſſe u. ſ. w. ſich anknüpfen und deren Darſtellung für ſie allerdings
die Hauptſache bleibt.
§. 819.
Das Tonwerk, welches (§. 818) den einer objectiven Anſchauung, Ge-
ſchichte oder Handlung immanenten Gefühlsgehalt muſikaliſch wiedergibt, iſt
zunächſt, wie alle Muſik urſprünglich, lyriſch (d. h. noch ohne dramatiſche Dar-
ſtellung), aber es iſt bereits epiſch-lyriſch, weil es die muſikaliſche Darſtellung
der an ein beſtimmtes objectives Sein oder Geſchehen ſich knüpfenden oder in
ihm zu Tage tretenden Reihen von Stimmungen und Gefühlen bezweckt. Dieſes
epiſchlyriſche Tonwerk kann in dreierlei Hauptformen erſcheinen. Es iſt 1)
vorherrſchend lyriſch, indem die Ausſprache der für das anſchauende Subject an
die Vorſtellung eines objectiven Seins oder Geſchehens ſich knüpfenden Gefühle
überwiegt, lyriſches Oratorium. Es iſt 2) vorherrſchend oder rein epiſch,
[1104] indem die Segebenheit oder Handlung ähnlich wie im hiſtoriſchen Liede geſungen,
in der Form belebter muſikaliſcher Erzählung eines das Gefühl anſprechenden
und ſelbſt eine Reihenfolge von Gefühlen und Stimmungen darſtellenden Ge-
ſchehens vorgetragen wird, epiſche Cantate. Es iſt 3) in ſeiner epiſchly-
riſchen Haltung zugleich dramatiſch, indem es die Einzel- und Geſammtperſön-
lichkeiten, auf die das Ganze Bezug hat und deren Zuſtände und Thätigkeiten,
Stimmungen und Empfindungen den Inhalt und Verlauf des Ganzen ſelbſt
bilden, in der Form ſelbſtändiger, durch eigene Stimmen und Stimmenganze
repräſentirter Individuen neben und nach einander auftreten und ihre Gefühle
ſelbſt ausſprechen läßt, ſo daß der Gefühlsgehalt des Ganzen in allmäliger
Entfaltung dem Subject in völlig objectiver Form gegenübergeſtellt wird,
epiſchdramatiſches Oratorium. Streng zu ſondern ſind dieſe drei Haupt-
formen nicht, da eine ausführlichere Hereinnahme epiſcher Elemente in das
lyriſche, lyriſcher in das epiſche und epiſchdramatiſche Tonwerk unter Umſtänden
Jenes zur Belebung der Darſtellung, Dieſes zur Innigkeit des Stimmungsaus-
drucks weſentlich beitragen kann. Weitere Unterſchiede ergeben ſich aus dem
Inhalt, der religiös oder allgemeinerer Art iſt, ſowie daraus, daß er
entweder dem Gebiet idealer Anſchauung oder realer Objectivität
angehört, welche letztere dann wiederum entweder religiös oder hiſtoriſch
oder Lebensbild, Sittenbild (§. 702 ff.) iſt.
Der §. ſucht die ſchwierige, vielbeſprochene Frage über Begriff und
Eintheilung des Oratoriums und der verwandten Zweige der Muſik zu
erledigen. Die Sache iſt im Grund einfach. Das Oratorium beginnt da,
wo epiſche Muſik in größerem Maaßſtabe (als z. B. in Ballade) in die
lyriſche herein-, zu ihr herantritt. Innerhalb religiöſer Muſik bezeichnet
namentlich das Stabat mater den Fortgang von lyriſcher zu epiſchlyriſcher
Muſik; in der erſten Strophe bis pertransivit gladius iſt oratorienmäßige
Epik, aber ſie wird nicht fortgeſetzt, ſondern geht zur Lyrik theilnehmender
Klage und herzinniger Bitte zurück. Wirkliches, aber lyriſches Orato-
rium ſind Haydn’s „Worte des Erlöſers am Kreuze“; die Worte
treten in objectiver Weiſe, theils von Einzelſtimmen, theils vom Chor vor-
getragen, dem anſchauenden Subject, der Gemeinde gegenüber, deren an
die „Worte“ ſich knüpfende Empfindungen aber dann allerdings den Haupt-
inhalt der muſikaliſchen Compoſition ausmachen. Ebendeßwegen weil die-
ſes Lyriſche hier das Hauptmoment bildet, iſt auf rein epiſche oder gar
dramatiſche Form bei der Compoſition der Worte ſelbſt nicht Bedacht ge-
nommen, die Mehrzahl derſelben wird einfach, ohne alles erzählende Beiwerk
recitirt, und zwar in Choralform, nicht in Recitativ- oder Liedform (wie
das Geſetz der Dramatik es fordern würde), weil es ſich eben nur darum
handelt, ſie der Gemeinde gegenüberzuſtellen in einer der Gewichtigkeit, die
[1105] ſie als Mittelpunkt des Ganzen haben, vollkommen entſprechenden (darum
choriſchen) Form. Das „Ach mich dürſtet“ wird von einer Soloſtimme
vorgetragen, die aber nicht dramatiſch den Sprechenden ſelbſt, ſondern nur
einen epiſchen, die Worte dieſes Letztern berichtenden Erzähler vorſtellt;
hier macht ſich das epiſche Moment mehr geltend, wie auch nachher in der
inſtrumentalen Schilderung des Erdbebens, aber nur ganz im Vorübergehen.
In umfaſſenderem Maaßſtabe tritt das Epiſche, an einzelnen Puncten („Ja
nicht auf das Feſt“ u. ſ. w., „Laß ihn kreuzigen“ u. ſ. w.) zum wirklich
Dramatiſchen fortgehend, in das lyriſche Oratorium herein in Bach’s
Paſſionsmuſik. Sie iſt der Grundtendenz nach lyriſch, Betrachtung
der Leiden Chriſti, an die ſich überall ſogleich das Ausſprechen der Gefühle
des Subjects, der Gemeinde anſchließt, die für ſie ſich an jenes Leiden
knüpfen; aber ſie läßt auch der epiſchen und dramatiſchen Schilderung in
epiſchen Recitativen und dramatiſchen Chören ſo weiten Raum, daß ſie
eigentlich alle drei Formen des Oratoriums in ſich vereinigt. Nicht ſo
großen aber gleichfalls ſehr bedeutenden Umfang hat das Epiſche in Hän-
del’s Meſſias. Die Anlage iſt hier die: einzelne der Geſchichte und
Handlung gleichſam während ihres Verlaufes zuſchauende Stimmen erzählen
dieſelbe nach ihren einzelnen Momenten einem zuhörenden, idealen, die Ge-
meinde repräſentirenden Chor, jedoch ſo, daß die Erzählung nicht in die
epiſche Breite des Thatſächlichen eingeht, ſondern die innere Bedeutung
deſſelben überall als Hauptſache behandelt; dieſer erzählenden Schilderung,
die im dritten Theil („Merkt auf, ich ſag’ ein geheimes Wort“) auch zu
lehrhafter Anſprache übergeht, antwortet der Chor, bald vollſtimmig (d. h.
auch muſikaliſch als Chor), bald nur durch Quartett, bald auch blos durch
Einzelſtimmen ſich ausſprechend (z. B. in der Arie. „Iſt Gott für uns“),
indem er ſeine Gefühle darlegt, wie ſie an die einzelnen Momente der
Handlung ſich knüpfen. Einmal tritt auch ein dramatiſcher Chor ein („Er
trauete Gott“), der eigentlich zu vereinzelt neben den ſonſt faſt durchaus lyri-
ſchen Chören daſteht und daher in’s Ganze nicht recht paßt. Aus dem über
dieſe beiden Oratorien Geſagten geht zugleich hervor, daß die Vereinigung
der drei Gattungen, namentlich des Epiſchen und Lyriſchen (obwohl Ver-
fehltes dabei mitunterlaufen kann), nicht unerlaubt, ſondern je nach Anlage
des Ganzen ſehr wirkſam iſt. Je reicher das Objective ſich entwickelt, je
ausdrucksvoller es dargeſtellt wird, deſto mehr gewinnt auch das ſubjectiv
Lyriſche an Entwicklung, Farbe und Ausdruck; dem blos lyriſchen Orato-
rium fehlt es an concreter Schilderung und daher auch an eigentlich con-
creter Gefühlsfärbung. — Rein epiſch, höchſtens mit lyriſchen Beigaben
(z. B. Schlußſätzen) iſt die (epiſche) Cantate, wie z. B. Händel’s Alexan-
derfeſt. Eine Begebenheit oder Handlung, das Einzelne, was die in ihr
auftretenden Perſonen reden und thun, wird von zuſchauenden Perſönlich-
[1106] keiten der Reihe nach erzählt; weder ein der Handlung gegenübertretender
Chor iſt da, noch treten die Perſonen der Handlung ſelbſtredend auf. Aber
— und hierauf beruht der Unterſchied der „Cantate“ von Lied, Ballade
u. ſ. w. — die Handlung ſoll doch in größerem Styl, in der Form des
Tonwerks, nicht des bloßen Stücks, objectiv veranſchaulicht, ſie ſoll dem
Hörer geſchildert werden mit allen muſikaliſchen Mitteln, welche aufgeboten
werden können, um ihr inneres Leben, die in ihr immanenten, in ihr ſpie-
lenden und wirkſamen Gefühle, Affecte u. ſ. w. in voller Objectivität, in
kräftigem Heraustreten zu veranſchaulichen, und daher erzählt nicht blos
Eine Stimme (nicht blos ein Balladenſänger), ſondern die Erzählung
vertheilt ſich (wie bei der größern lyriſchen Cantate §. 804 die Ausſprache
der Gefühle) an verſchiedene muſikaliſche Perſönlichkeiten, an Recitativ- und
Arienſtimmen, an Terzette, Chöre u. ſ. w., je nachdem das einzelne Mo-
ment der Handlung durch ſeinen Inhalt mehr für den einfachern Solo-
oder für den gewichtigern, nachdrücklichern Enſemblevortrag ſich eignet;
bedeutſam verwickelte Momente, z. B. ſolche, in welchen Reden oder Hand-
lungen einer Mehrheit, einer Kriegertruppe oder dgl., erzählt werden, theilt
der Componiſt einem Chore, weniger bedeutende den Einzelſtimmen zu.
Die Cantate nimmt alſo in ihrer Stimmenvertheilung bereits Rückſicht auf
die Perſönlichkeiten der Handlung ſelbſt; die ſingenden Stimmen und Stimm-
ganzen bilden bereits die handelnden oder leidenden Einzel- und Geſammt-
perſönlichkeiten entſprechend ab, und es iſt ſomit nur noch ein kleiner Schritt
zum dramatiſchepiſchen Oratorium, das ein Drama, nur ohne ſceniſche
Darſtellung iſt, aber auch lyriſche Elemente, z. B. Geſänge eines zuſchauen-
den idealen Chors (wie in Mendelsſohn’s Paulus und am Schluſſe des
Elias), und ausführlichere epiſche Recitationen ſei es nun durch Einzel-
ſtimmen (wie die Oper es thut) oder an geeigneten, bedeutſamen Stellen
durch Chorſtimmen (wie mehrmals im zweiten Theil des Elias) in ſich
aufnehmen kann, ſo daß in letzterem Falle das Oratorium gerade wie die
Cantate verfährt. Im Ganzen jedoch iſt zu rathen, daß das dramatiſch-
epiſche Oratorium nicht zu viel lyriſche Zugaben erhalte, da die Lebendigkeit
der Handlung durch zu öftere Unterbrechungen nothleidet und ſo ein
erſchlaffendes Element in die Compoſition hereinkommt. Anders iſt es
beim lyriſchen Oratorium; dieſes kann in einzelnen Momenten ſich zu
dramatiſcher Objectivirung deſſen, was das Subject anſchaut und mit Em-
pfindung betrachtet, ſteigern (wie eben bei Bach), damit gewinnt das Werk
an Leben und Kraft; aber ein Herabgehen aus dem bewegtern dramatiſchen
in das weichere lyriſche Gebiet iſt immer mißlich, es wirkt leicht ſentimental,
abſchwächend (im Paulus z. B. iſt doch etwas zu viel Lyriſches, zu viel
Choral, am Schluß des im erſten Theil ſo dramatiſchen Elias auch; Händel
[1107] hat mit Recht dergleichen nicht in ſeinen epiſchen Oratorien, die eben auch
darum ſo ganz aus Einem Guß und von ſo ungetheilt kräftiger Wirkung ſind).
Die weitere Gliederung, religiöſes und weltliches, ideales oder real-
epiſches Oratorium, ergibt ſich von ſelbſt. Das ideale Oratorium,
wie Spohr’s letzte Dinge, das nicht eine Geſchichte, ſondern eine in epiſch-
dramatiſcher Form ſich darlegende ideale Anſchauung zu ſeinem Inhalte hat,
wird am eheſten auf dem Boden der Religion ſich bilden, jedoch ſtets
beſchränkte Bedeutung haben, weil es der concreten Beſtimmtheit, wie dieſer
Muſikzweig ſie fordert, zu ſehr entbehrt und daher auch der religiöſen Cantate
noch zu nahe bleibt. Das realepiſche Oratorium kann neben den
religiöſen auch ethiſche, heroiſche, patriotiſche, weltgeſchichtliche, ſowie Stoffe
aus der unmittelbaren Wirklichkeit des Lebens wählen, Alles mit gleich
guter Wirkung, obwohl die Aufgabe immer ſein wird, auch in nicht direct
religiöſen Oratorien ein religiöſes und ethiſches Grundgefühl
durchklingen zu laſſen, um dem Ganzen die höhere Weihe tiefern Empfin-
dungsgehalts und innigerer Ergriffenheit zu geben, die es nicht ſo entbehren
kann, wie die mehr auf Einzelcharakteriſtik und draſtiſche Wirkung ange-
wieſene Oper. Das Oratorium läßt ſeine Anſchauungen, Begebenheiten,
Handlungen und Perſonen noch nicht ſceniſch zu voller empiriſcher Wirk-
lichkeit heraustreten, es kann ebendarum auch weder zu ſpeziellerer Charak-
terentwicklung, die erſt bei concretem Verlauf einer in’s Breite ſich exponi-
renden Handlung anſchaulich wird, noch zu einer ſolchen reichern Entfaltung
der Handlung ſelbſt fortgehen, es erzählt die Handlung blos und erzählt
ſie nur in ihren Hauptmomenten, es läßt die activen Perſonen nicht wirk-
lich handeln, ſondern es läßt theils nur Andere ihre Handlungen und den
Eindruck derſelben auf ſich berichten, theils ſie ſelbſt blos die Hauptſtim-
mungen vortragen, in denen ſie handeln oder in die ſie durch den Gang
der Ereigniſſe verſetzt werden, es iſt alſo überall auf das Moment des Ge-
fühles als auf die Hauptſache hingewieſen, ein Oratorium, in welchem dieſes
nicht zu voller Entwicklung käme und nicht den Schwerpunkt des Ganzen
ausmachte, wäre etwas ſo Trockenes und Unlebendiges, daß es nicht ange-
hört werden könnte, und darum muß es auch einen tiefern, innigern d. h.
religiösethiſchen Gefühlsinhalt haben, in welchem zugleich die in der Hand-
lung auftretenden Einzelgefühle ihre Zuſammenfaſſung zu höherer Einheit
erhalten. Die ſchöne Vereinigung des Religiöſen mit Stoffen, die dem Gebiet
der unmittelbaren Wirklichkeit entnommen ſind, in Haydn’s Schöpfung
und Jahreszeiten iſt bekannt; dieſe Werke ſind aber zugleich, auch hievon
abgeſehen, Hauptbeiſpiele für die Oratorien, welche der §. als Lebens- oder
Sittenbilder bezeichnet. Sie ſind nicht mehr eigentliche Geſchichte oder
Handlung, aber ſie ſind, wie das Sittenbild überhaupt (§. 702), doch
epiſcher Natur, Schilderungen von Begebenheiten und Zuſtänden, an welche
[1108] ſowohl in dem betrachtenden Subject als in den an ihnen betheiligten
Perſonen die von dem Tonwerk muſikaliſch objectivirten Empfindungen ſich
knüpfen. Beachtenswerth iſt, wie in der „Schöpfung“ ein Fortgang vom
Epiſchlyriſchen zum Dramatiſchen ſtattfindet. In den beiden erſten Theilen
wird das Schöpfungswerk von einzelnen Engeln und von Chören geſungen,
welche zugleich Engelchöre repräſentiren; hier alſo herrſcht, indem die Hand-
lung von zuſchauenden Perſonen, die außerhalb derſelben ſtehen, vorgetragen
wird, die Weiſe der epiſchen Cantate, allerdings mit dem Unterſchiede, daß
dieſe Perſonen nicht abſtracte Perſonen (Erzähler), ſondern zugleich ſelbſt
wenigſtens innerlich an der Handlung ſich betheiligende, ſie mitfühlende
und ſie daher auch (in den Chören) mit Lobgeſängen verherrlichende Indi-
viduen ſind; vollſtändig aber beginnt die dramatiſche Form erſt im dritten
Theile mit dem erſten Menſchenpaare, das hier auf den Schauplatz tritt
und die Empfindungen ausſpricht, in die es ſich durch ſeinen Eintritt in
die göttliche Welt verſetzt findet. Der Unterſchied der Behandlung war
nothwendig durch die Natur der Sache; die Schöpfung ſelbſt konnte nicht
dramatiſch dargeſtellt werden; ebenſowenig aber wäre es paſſend geweſen,
im dritten Theil die epiſchrecitirende Form beizubehalten, es mußte vielmehr
hier zu der lebendigern dramatiſchen fortgegangen werden, wieder ein Beweis,
wie auf dem Gebiete des Oratoriums keine ſtrenge Sonderung der Behand-
lungsarten vorgeſchrieben werden kann.
Geſetz iſt für das Oratorium, daß die Muſik, auch wo der Inhalt
religiös erhaben iſt, muſikaliſch ſchön, d. h. directer Gefühlsausdruck,
ebendarum aber in den ſpezifiſch dramatiſchen, affectvollen Partien auch
vollſtändig dramatiſch bewegt ſei. Die Muſik wirkt hier nur durch ſich
ſelbſt, ſie allein muß den Text veranſchaulichen und beleben, ſie muß alſo
ein volles und ſchlechthin klares und charakteriſtiſches Heraustreten der
Gefühle und Erregungen zu ihrem Einen Zwecke machen. Nirgends iſt
daher vor Allem Melodie und bei gewichtigern, bewegtern Partien wirkſame
Harmonik und Rhythmik ſo unerläßlich wie hier; die rein lyriſche Muſik
kann einfacher verfahren, weil ſie weniger in der Charakteriſtik zu leiſten
hat, auf die im Oratorium Alles ankommt, weil es beſtimmte, an eine
concrete Anſchauung ſich anſchließende, aus beſtimmten Ereigniſſen, Hand-
lungen, Zuſtänden ſich entwickelnde Gefühle ganz allein in voller Anſchau-
lichkeit zu malen hat. Eine Hauptſtelle nehmen ebendeßwegen auch die
Chöre ein, ſowohl die lyriſchen als die dramatiſchen; ſie ſind im Oratorium
überall der Gipfel- und Schlußpunct, weil in ihnen ſowohl die Bewegtheit
der Handlung als beſonders der Reflex der Ereigniſſe und Actionen im
Gefühle der betheiligten Perſonen ſowie im ſubjectiven Bewußtſein ſeinen
umfaſſendſten, kräftigſten, unumwundenſten, vollſten, erhabenſten Ausdruck
erhält. Richtige Vertheilung der Stimmen, paſſende Folge der
[1109] Solo- und Enſemblepartien in Gemäßheit des Inhalts der einzelnen Par-
tien und entſprechend den Geſetzen des Wechſels und Contraſts, der Ab-
ſtufung und der Steigerung (des höhern Rhythmus) iſt natürlich eine
Hauptſache. Dankbar iſt beſonders die Stellung des Orcheſters; es
verſtärkt den Gefühlsausdruck, es begleitet den individuellen und den Chor-
geſang mit unſichtbaren, ſympathetiſch mitklingenden Stimmen, welche die
Bedeutung des Vorgetragenen in ihr volles Licht ſetzen (daher im Orato-
rium namentlich auch die Orgel mit ihren urkräftigen, weltdurchſchütternden
Tönen auftritt, wenn es gilt, den objectiven, ſubſtantiellen, transſcendenten,
übermenſchlichen Gehalt des Gegenſtandes in ſeiner vollen Wucht fühlen
zu laſſen); das Orcheſter malt die Gefühlseindrücke, die an Ereigniſſe, Be-
gebenheiten, im ſittenbildartigen Oratorium auch an Veranſchaulichung von
Naturgegenſtänden, mit denen das menſchliche Leben in Berührung kommt,
ſich anknüpfen, es belebt die dramatiſch bewegten Partien, kurz es wirkt
auch hier lyriſch, epiſchmaleriſch, dramatiſchpathetiſch wie in den entſprechen-
den Symphonieen, Quartetten, Sonaten u. ſ. f. Sind alle Geſetze dieſer
Kunſtform in einem Oratorium erfüllt, alle Mittel, die es gebrauchen darf
und ſoll, richtig verwendet, ſo ruht ein Zauber der Schönheit auf ihm,
der mit nichts beſſer zu vergleichen iſt als mit dem Wohlgefühl, in das ein
in Ausdruck und Farbe vollendetes, reich belebtes und doch in ruhigſter
Haltung vor uns ſtehendes Gemälde uns verſetzt. Wir ſind im Oratorium
aus der engen ſubjectiven Sphäre rein lyriſcher Muſik heraus, wir haben
eine Anſchauung, ein Bild vor uns, das ſich ohne alle einſeitige Erregtheit
allmälig entfaltet, klar und ruhig wie Sonnenſchein und doch eines ſchönen
Wechſels von Licht und Schatten, hellerer und dunklerer, einfacherer und
bunterer Färbung, anſprechender Lieblichkeit und ergreifender Erhabenheit,
ſanfterer und ſpannenderer Bewegung nicht entbehrend. Die Muſik bietet
im Oratorium ihre Mittel bereits in mannigfaltigerer und draſtiſcherer
Weiſe auf, aber ſie geht über das Maaß ausdrucksvoller Schönheit noch
nicht hinaus, weil ſie die verwickeltern, drängendern Momente der Hand-
lung vor unſern Blicken verbirgt und auch die handelnden Perſonen nur
vorübergehend oder gar nicht in derjenigen Aufgeregtheit zeigt, die erſt mit
der ſceniſchen Darſtellung verträglich iſt. Das Gefühl ergießt ſich voll, aber
nicht in ausſchreitendem Uebermaaß, es bleibt Alles innerhalb der Linie der
reinen Schönheit, das Ganze athmet eine ideale Zartheit, eine zurückhaltende
Jungfräulichkeit, welche der Oper allerdings fehlt, weil ſie die Conflicte
und Affecte des realen Lebens in ihrer ganzen Schärfe und Macht zur
Anſchauung bringen muß. Aber — und dieſe Seite der Sache iſt ebenſo-
wenig zu überſehen — die Oper kann doch dieſes Element der Idealität,
des feinern Gefühlsausdrucks ſowie des tiefen Gefühlsgehalts auch in ſich
aufnehmen, das Zarte mit dem Scharfeinſchneidenden, das Jungfräuliche
[1110] mit dem Männlichderben vereinigen, ſie kann die Kunſtform des Oratoriums
auf höherer Stufe reproduciren und mit dem vollſtändig entwickelten drama-
tiſchen Prinzip verſchmelzen, während das Oratorium in dieſes Gebiet nie
ganz einzutreten, ſondern es nur unvollſtändig abzubilden und nur im
Vorübergehen es zu berühren vermag; die Oper iſt eine univerſellere Form,
zu der das Oratorium geradezu ſelbſt hindrängt, je mehr es ſich der rein
lyriſchen Muſik gegenüber in ſeiner Eigenthümlichkeit, d. h. nach der drama-
tiſchen Seite hin entwickelt. So hat gerade Händel’s letztes Oratorium
Jephtha einen ſo entſchiedenen Charakter dramatiſcher Verwicklung und
dramatiſcher Erregtheit der Empfindungen und Affecte, daß die Oratorien-
form zu weich, zu zart, zu farblos erſcheint; gerade der Meiſter des Ora-
toriums mußte, nachdem er eine ſo große Reihe lyriſcher und epiſcher Werke
dieſer Gattung durchgearbeitet hatte, naturgemäß endlich wieder bei drama-
tiſchern Stoffen ankommen, die bereits nach vollſtändiger ſceniſcher Darſtellung
verlangen.
§. 820.
Das größere Tonwerk wird rein dramatiſchlyriſch, wenn es nicht
mehr den für das Subject an ein objectives Geſchehen ſich knüpfenden, ſondern
lediglich den in einer Handlung ſelbſt zu Tage tretenden Gefühlsinhalt d. h.
die Gefühle und Stimmungen der Perſonen der Handlung, wie dieſelben den
Gang der Handlung theils beſtimmen, theils durch ihn beſtimmt werden, muſi-
kaliſch darſtellt, und wenn es hiemit ſowohl eine ſceniſche Darſtellung der ganzen
Handlung, als auch eine Tonmalerei verbindet, welche allen beſonders hervor-
zuhebenden und muſikaliſcher Veranſchaulichung fähigen Momenten und Partien
der Handlung dieſe Veranſchaulichung zur Seite ſtellt.
Der §. hebt die muſikaliſche Begleitung der Handlung
erſt hier ausdrücklich hervor, weil ſie im Oratorium um ſeines ſubjectiv
innerlichen Charakters willen weniger bedeutend und durchgreifend iſt. Geht
die Veranſchaulichung einer Handlung bis zur vollſtändigen ſceniſchen Dar-
ſtellung fort, mit welcher eine reiche Zahl mannigfachſter im Oratorium
verſchwiegen bleibender oder blos kurz erzählter Einzelactionen, Situationen,
Zufälle, Ueberraſchungen, Schreckniſſe, Wirrniſſe, Tumulte, oder auch con-
crete Handlungen, wie Tanz, Marſch, Prozeſſion, Opfer, offen auf den
Schauplatz treten, ſo wird das Verhältniß anders, die Muſik muß hier
wirklich über die bloße Gefühls- und Affectsſchilderung zur Malerei von
Situationen, Begebenheiten und Handlungen oder doch zu einer ihre Be-
deutung andeutenden Begleitung fortgehen, ſie kann da nicht ſchweigen, wo
die Vorgänge auf der Bühne ſo laut reden, ſie muß auch dem Ohre einen
kräftigen und beſtimmten Eindruck von Dem geben, was das Auge in
[1111] lebendiger Wirklichkeit vor ſich ſieht; ſie muß den „Gefühlsgehalt“ der
Ereigniſſe und Handlungen gerade ſo objectiviren, wie die Gefühle ſelbſt,
einmal deßwegen, weil auch von letztern (z. B. dem Schrecken, der Unruhe,
der innern Vernichtung) ein vollſtändig klares muſikaliſches Bild erſt entſteht,
wenn ſie nicht gemalt werden, ohne zugleich die ſie bedingenden und beſtim-
menden Anläſſe (ſchreckendes, niederſchmetterndes Auftreten einer höhern
Natur- oder Schickſalsgewalt u. dgl.) zu malen, und für’s Zweite auch
hievon abgeſehen ſchon darum, weil jeder nicht indifferenten oder zu unbe-
deutenden Begebenheit, Lage und Action auch an ſich irgend ein Gefühls-
gehalt, ein Verhältniß zum Gefühl, eine Art auf das Gemüth ſo oder
anders zu wirken (zu ſchrecken, zu beunruhigen, lebhaft zu beſchäftigen, Be-
hagen zu erregen, komiſch zu ergötzen, frei aufathmen zu laſſen u. ſ. f.)
eigen iſt, ein Gefühlsgehalt, deſſen Nichtmalung der muſikaliſchen Darſtellung
der Geſammthandlung alles höhere Leben und alle beſtimmtere Färbung
entziehen würde. Das Mittel, das die Muſik dazu hat, ſind die Kräfte,
Klangfarben und charakteriſtiſchen Tonbewegungen des Orcheſters und der
einzelnen Inſtrumente. Das Oratorium ſteht noch immer wie der rein
lyriſchen, ſo der bloßen Vocalmuſik näher, weil es dieſe inſtrumentale Malerei
der Situationen und Handlungen nur in beſchränkterem Maaße anwendet;
erſt mit dem muſikaliſchen Drama tritt die Wechſelwirkung von Vocal- und
Inſtrumentalmuſik vollſtändig in Wirklichkeit, obwohl auch hier das durch
die Natur der Sache gebotene Verhältniß der Unterordnung des Orcheſters
unter den Geſang nicht aufgehoben werden darf, wenn nicht die Klarheit
und Schönheit des Ganzen zu Grunde gehen ſoll. Der Schwerpunct liegt
auch im muſikaliſchen Drama auf Seiten der Malerei des Innern, der
Empfindungen und Affecte, die ihr allein vollkommen gelingen kann; wird
dieſer Schwerpunkt verſchoben, ſo tritt der ſchon erwähnte Purismus in
ſein relatives Recht ein, der die Wahrheit und Innigkeit des melodiſchen
Gefühlsausdrucks für das Ein und Alles der Muſik erklärt. — Bloße In-
ſtrumentalbegleitung der Handlung eines (geſprochenen) Drama’s, das ſog.
Melodrama, iſt zuläſſig bei Werken, in welchen das Element der lyriſchen
Empfindung (wie z. B. theilweiſe in Göthe’s Egmont) ſich ſo entſchieden
geltend macht, daß muſikaliſche Begleitung einzelner Momente der Handlung,
in welchen dieſes lyriſche Element ganz für ſich heraustritt, naturgemäß
iſt und nichts Störendes in’s Ganze hereinbringt. In der Regel aber muß
der Gang des nichtmuſikaliſchen Drama’s einen Verlauf nehmen, der inner-
halb der Sphäre des realen nach außen gewendeten Handelns bleibt und
mithin ſolche Uebergänge in’s lyriſche Gebiet ausſchließt, daher das Melo-
drama und ebenſo die nur unter denſelben Bedingungen wie dieſes zuläſſige
Muſik der Zwiſchenacte blos eine exceptionelle Nebenform der drama-
tiſchen Muſik bilden kann. Daſſelbe gilt, nur in anderer Weiſe, vom Ballet,
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 72
[1112]dem pantomimiſchen Drama mit Inſtrumentalbegleitung, einer Form, die
durch ſich ſelbſt auf einen engen Kreis poetiſcher Darſtellungen beſchränkt
iſt, der Muſik aber allerdings Stoff zu charakteriſtiſchen Compoſitionen
gewähren kann.
§. 821.
Wenn das dramatiſche Tonwerk über die Schilderung einfacherer und
beſchränkterer Vorgänge zur eigentlichen „Handlung“ von größerem Umfang und
von concreter Entwicklung ſich ausdehnt, welche das Product der Charaktere
einer Mehrheit in ihr zuſammentreffender Perſonen und beſtimmter Verhältniſſe
und Situationen, in denen ſie ſich finden, iſt und ihrem ganzen Verlaufe nach
2.bis zu ihrem nothwendigen Abſchluſſe zur Darſtellung kommt, ſo iſt hiemit die
Oper gegeben. Die Muſik iſt in der Oper Selbſtzweck, nicht bloßes Mittel zu
einer Verſchärfung oder Verdeutlichung des dramatiſchen Ausdrucks, und die
Anlage des Drama’s muß daher der Muſik zu freier Entfaltung ihrer ſelbſt,
d. h. zu ungehemmter Gefühlsmalerei, die ihr Weſen iſt, Raum gewähren.
Andrerſeits iſt der Zweck der Oper eine rein dramatiſche, Handlung und zwar
eben dieſe beſtimmte Handlung zu muſikaliſchem Ausdruck erhebende Muſik,
der dramatiſche Ausdruck alſo Grundgeſetz der Opernmuſik. Beide Forderungen
finden ihre Vereinigung und Vermittlung darin, daß die Oper ſo angelegt iſt,
daß in der Handlung, im Drama ſelbſt der Gefühlsgehalt das Ueberwiegende
und überall Heraustretende iſt, das Drama ſomit ſelbſt einen muſikaliſchen Aus-
druck, der überall Gefühl in reichen Formen und Farben oder in freier Ent-
faltung der Mittel der Muſik malt, nicht nur zuläßt, ſondern geradezu fordert.
1. Kleinere Formen, wie die Scene, die nur eine einzelne dramatiſche
Situation oder (wie die Ode-ſymphonie Columbus von F. David) eine
Reihe ſolcher muſikaliſch, wiewohl ohne theatraliſche Darſtellung (ſomit noch
in der Art des Oratoriums) veranſchaulicht, das Sing- und Liederſpiel,
das Vaudeville (Singſpiel, das vorzugsweiſe Volkslieder in ſich auf-
nimmt), können als Uebergangsſtufen zwiſchen Oratorium ſowie zwiſchen
reiner Vocalmuſik und Oper wohl für ſich beſtehen, aber ſie bilden keine
Hauptgattung, weil es ihnen an einer ſich in ſich verwickelnden und ver-
tiefenden Handlung fehlt; ſie heben nur den Gefühlsgehalt einzelner Mo-
mente heraus, ſie ſind Situationsbilder (§. 711) oder Reihen von ſolchen
und laſſen daher auch mit der Muſik den Dialog abwechſeln, ſobald die
lyriſchen Momente vorüber ſind und die Handlung, d. h. das was ſie an
Handlung haben und dem es an muſikaliſch zu ſchildernder innerer drama-
tiſcher Erregtheit und Bedeutſamkeit fehlt, wieder ihren Verlauf nimmt.
Um muſikaliſch darſtellbar zu ſein, muß, wie ſchon §. 820 bemerkt iſt, die
Handlung ſtärkern Gefühlsgehalt, höhere Eindringlichkeit und Nachdrück-
[1113] lichkeit, intenſivere Wirkung auf Gefühl und Gemüth haben; wo kein
beſtimmter, ſcharfer Eindruck auf die Empfindung iſt, da iſt kein Stoff zur
Muſik; eine ſolche Nachdrücklichkeit und Eindringlichkeit aber gewinnt die
Handlung erſt bei concreterer Verwicklung, wie das eigentliche Drama ſie
darſtellt, und daher entſteht auch erſt mit dieſem die wahrhaft dramatiſche
Muſik, das vollkommen dramatiſche Tonwerk.
2. Die Sätze, welche die zweite Hälfte des §. aufſtellt, ſind ſchon in
§. 802 (der Wagner’ſchen Schule gegenüber) ſowie in §. 818 vorbereitet,
und es iſt daher hier blos genauer anzugeben, worin die Anlage der Oper
beſtehe, vermöge welcher in der Handlung ſelbſt der Gefühlsgehalt ſo über-
wiegt und ſo überall heraustritt, daß ſie ſelbſt nicht einen dürftig trockenen,
ſondern voll muſikaliſchen, alle Mittel melodiſcher, harmoniſcher, rhythmiſch-
dynamiſcher Entfaltung verwendenden Ausdruck poſtulirt. Der Gefühlsge-
halt muß 1) überwiegen; denn Lyrik bleibt die Muſik immer, da die
Tonmalerei, welche objective Ereigniſſe und Actionen begleitet, immer von
untergeordneter Stellung und Bedeutung bleiben muß, auch die Oper iſt
dramatiſchlyriſches Gedicht. Damit iſt gegeben, daß die Handlung der
Oper einfach ſein muß, einfach in dem Sinne, daß nicht zu viel Hand-
lung, zu viel „Action,“ d. h. nicht zu viele und zu große Partieen in ihr
ſind, in welchen gehandelt oder verhandelt wird, in welchen die Perſonen
aus der Sphäre des Gefühls in die breite Sphäre des Verſtändigpraktiſchen
hinaustreten. Eine Oper, welche zu viel Action und in ihr ihren Schwer-
punct hat, müßte manches Unmuſikaliſche muſikaliſch componiren und würde
ſelbſt, wenn dieſer Uebelſtand vermieden werden könnte, zu einer Breite und
Dehnung der muſikaliſchen Compoſition, die all den umfangreichen Ver-
ſchlingungen und Wendungen der in’s Detail ſich ausſpinnenden Actionen
zu folgen hätte, genöthigt werden, bei welcher nichts Anderes als Stoff-
überfüllung, Undurchſichtigkeit, Ermüdung herauskäme. Zu viel und zu
ſpezialiſirte Handlung abſorbirt zudem das Intereſſe an der Muſik; durch
Ueberladung mit Handlung wird die Oper allerdings ein Zwitter, ein
Compoſitum aus unverträglichen, nicht zur Einheit zuſammenzuſchauenden
Elementen (S. 829 f.), bei dem man bald die Muſik wegwünſcht, um die
Handlung rein zu haben und ſie nicht durch die Muſik ſtets retardirt zu
ſehen, oft aber auch die Handlung, um der Muſik ungeſtörter folgen zu
können. So kann es, um von andern Beiſpielen zu ſchweigen, nicht ge-
leugnet werden, daß die Oper Figaro in Vergleich mit Don Juan zu viel
Handlung und zu viele der muſikaliſchen Compoſition widerſtrebende Partieen
von zu undurchſichtiger Verwickeltheit und von zu wenig Gefühlsgehalt hat,
namentlich im erſten und letzten Finale, wo die muſikaliſche Recitation oft
noch bloße Form iſt und hinter der Bewegtheit der Action ganz zurücktritt,
während die beiden Finale’s in Don Juan nicht nur dramatiſche, ſondern
72*
[1114]ebenſoſehr die höchſte muſikaliſche Erregtheit und dabei eine Einfachheit
haben, die das muſikaliſche Intereſſe zu ſeinem Rechte kommen läßt, ohne
dem dramatiſchen Eintrag zu thun, wogegen dann allerdings die Zauber-
flöte wieder zu wenig Action hat, zu lyriſch, dem Oratorium zu nahe iſt;
nur ein „Ueberwiegen,“ nicht ein das Dramatiſche abſchwächendes Vor-
herrſchen des weichen lyriſchen Elements iſt in der Oper das Richtige.
Sodann muß 2) der Gefühlsgehalt überall heraustreten, qualitativ
oder quantitativ. Die Handlung der Oper kann z. B. keine dem Gebiet
des Verſtändigen angehörige Staatsaction, ſie muß vielmehr überall durch-
drungen ſein von der Poeſie des Gefühles, des ernſten oder heitern, des
tragiſchen oder komiſchen, ſie muß eine Handlung ſein, in der nicht Be-
rechnungen, ſondern Gefühle das Wort führen, in den Vordergrund treten,
thätig werden, in welcher ebenſo die Ereigniſſe, die Verwicklungen, die
Erfolge Gefühlsgehalt haben, eindrucksreich, gemütherregend u. ſ. w. ſind
(§. 820); die Empfindung, der Affect, die Leidenſchaft, die Gemüthsbewe-
gung, die Herzensſtimmung müſſen die Handlung bedingen und beſtimmen,
nicht der verſtändige Plan, das proſaiſche Vorgehen des berechnenden Willens
und Charakters, der Charakter darf hier nur auftreten mit der Wärme oder
mit der Erregbarkeit des Gefühls, die ihn unmittelbar zum Handeln treibt,
ſo daß ſein Handeln ſelbſt nur ein in Praxis umgeſetztes Fühlen, ein
innerlich bewegtes oder pathetiſch erregtes Handeln iſt. Aber auch quan-
titativ muß der Gefühlsgehalt überall heraustreten, d. h. die Gefühle müſſen
nicht nur die Handlung durchgängig beſtimmen und fortgehend erwärmen
und beleben, ſondern ſie müſſen auch für ſich zur Ausſprache und zur Dar-
ſtellung kommen, zur Ausſprache, indem die Handlung ſo angelegt iſt,
daß ſie ganz von ſelbſt, ganz ungezwungen und folgerecht, ohne regelwidrige
Hemmung des Fortgangs jezuweilen in Scenen ausmündet, in welchen ein
zu ihr gehöriges, durch ſie veranlaßtes oder zur Aeußerung gedrängtes
Gefühl Zeit hat ſich auszuſprechen, in Monologe, Dialoge des Gefühls,
ähnlichen Particen des Wortdrama’s vergleichbar, nur daß in letztern auch
nüchterne Reflexion und Ueberlegung zu Tage treten kann. Zu beſon-
derer Darſtellung aber müſſen die Gefühle kommen dadurch, daß inner-
halb der Geſammthandlung immer auch Situationen und Actionen ſich
ergeben, in welchen jene Belebung und Beſeelung des Handelns durch das
Gefühl in ganz ſpezifiſch ausgeprägter Weiſe heraustritt, affectvoll erregte,
gefühlvoll durchwärmte Scenen, ſowie neben dieſen auch ſolche, in welchen
durch Ereigniſſe, durch dieſe oder jene Erfolge der Handlung die Gefühle,
welche wir ſchon §. 814 „die paſſiven Stimmungen“ genannt haben, rege
und laut werden, alſo Scenen mit ergreifenden, erſchütternden, Jubel und
Luſt erregenden Wendungen des Stückes. Zu beachten iſt hier die Unter-
ſcheidung des affectvoll Erregten, Belebten und des gefühlsvoll Durch-
[1115] wärmten, Beſeelten; Beides iſt nicht Daſſelbe, und Beides muß bis auf
einen gewiſſen Grad ſtets neben einander in der Oper vorkommen; ohne
eine verhältnißmäßige Zahl affectvoller, lebendig erregter Scenen wird die
Oper ſelbſt bei ſonſtigem tiefſtem Gefühlsinhalt zu ſtill, zu farb- und leblos,
wie z. B. Fidelio dieſen Mangel zeigt; ohne gefühlsvoll bewegte Scenen
aber verliert ſie an Innigkeit, an muſikaliſcher Wärme und Tiefe, wie man
z. B. aus Don Juan empfindungsvollere Scenen, wie im Sextett, ohne
den höhern Gehalt des Ganzen zu beeinträchtigen nicht herausnehmen
dürfte und aus demſelben Grunde der Schluß des zweiten Finale’s bei
keiner Aufführung weggelaſſen werden ſollte (eine Abkürzung, die blos von
einſeitigem Intereſſe für das draſtiſch Erregte und damit von derſelben Ein-
ſeitigkeit ausgeht, welcher ein Adagio unerträglich iſt, weil ſie nur für
Allegro’s und Preſto’s Sinn hat).
Für die Anlage und Dispoſition des Operngedichts folgt
aus dem Bisherigen, ſowie aus den allgemeinmuſikaliſchen Geſetzen des
Wechſels, Contraſts, Rhythmus, der Gliederung und Gruppirung, 1) das
Geſetz der Beſchränkung und der Einfachheit der Handlung; z. B. wo-
möglich nur Zweizahl der Acte, da auf dem Boden der Muſik, die eine ſo
reiche Fülle von Gedanken und Formen in ſchneller Folge an dem Hörer
vorüberführt, nur das An- und Abſteigen der Handlung innerhalb dieſes
engern, zweitheiligen Rahmens oder in zwei einander correſpondirenden
Hälften ein wirklich überſchauliches, ſich von ſelbſt zu Einem Ganzen zu-
ſammenfaſſendes Geſammtbild und damit einen Totaleindruck gibt, während
zu viele Acte, ſelbſt wenn ſie nicht ermüden, jenen Rhythmus des An- und
Abſteigens nicht ſo klar hervortreten laſſen und zu ſehr in ſelbſtändige,
einander nicht mehr direct correſpondirende, als Einheit zuſammenzuſchauende
Ganze aus einander fallen (auch in der Oper iſt ſomit wie überall in der
Muſik die Zweitheiligkeit die Grundform); ebenſo ſchlechthin ſpannende,
aber nicht in’s Breite und Proſaiſche ſich verlierende, einfach und durchaus
anſchaulich ſich wieder löſende, das Muſikaliſche frei gewähren laſſende
Verwicklung. 2) Das Geſetz zunächſt der formalen Belebung und Ver-
mannigfaltigung des ſonſt eintönig werdenden Ganzen durch wech-
ſelndes Auftreten der verſchiedenen muſikaliſchen Formen, von Monodie und
Lied oder liedartiger Arie bis hinauf zum Chor (Duette u. ſ. f.), vom
einfachern Inſtrumentaltonſtück und einfacher Inſtrumentalbegleitung bis
hinauf zu ſymphoniſcher und voller Orcheſterverwendung. 3) Das mit dem
zweiten ſachlich zu demſelben Reſultat führende Geſetz des wechſelnden Hin-
undhergehens zwiſchen Scenen vorwärtsſchreitender Handlung und ſtillhal-
tender Ausſprache der Empfindung, zwiſchen Scenen affectvollen, draſtiſch
bewegten Zuſammen- und Gegeneinanderwirkens der Perſonen und Maſſen
und ruhigern Heraustretens der Gefühle einzelner beſonders betheiligter
[1116] Individuen, endlich zwiſchen Scenen activen, vorherrſchend thätigen, die
Handlung weiterführenden Charakters und hinwiederum ſolchen, welche mehr
abſchließender Natur ſind, indem in ihnen Reſultate, durch die Actionen
motivirte Erfolge, Begebenheiten nebſt lebendigem Ausdruck der durch ſie
erregten paſſiven Stimmungen zu Tage treten. Daß ſomit an der bis-
herigen Form der Oper mit ihrem Wechſel von Enſembleſtücken (beſonders
ſtark bewegten, alle Kräfte zuſammenführenden, große Abſchnitte oder Ab-
ſchlüſſe der Handlung darſtellenden Finale’s) und ein- oder mehrſtimmigen
Soloſtücken nichts Weſentliches geändert werden, daß man aus der Oper
weder ein in einſeitiger Erregtheit vorüberrauſchendes Finale oder Maſſen-
drama, noch ein ohne reichern Scenenwechſel ſich fortziehendes, mehr epiſches
als dramatiſches Gewebe von unmelodiſch recitativiſchen Dialogen kommender
und gehender Stimmen, wie man neuerdings will, machen kann, liegt am
Tage; ſelbſt das blos muſikbegleitete, der antiken Tragödie verwandte Drama
(§. 802), in welchem die muſikaliſche Gedankenentwicklung der poetiſchen
untergeordnet und ihr nur zur Erhöhung des lyriſchen Eindrucks beigegeben
wäre, könnte ohne Wechſel ein- und vielſtimmiger Muſikformen und ohne
geordnete ſceniſche Dispoſition nicht beſtehen.
In Betreff der Wahl der Stoffe für die Oper ergibt ſich aus der
Forderung, daß der Gefühlsgehalt überwiege und überall heraustrete, vor
Allem das Negative, daß aus ihr Handlungen, die zum Geſungenwerden
untauglich ſind, und Perſonen, denen ihrer ganzen Natur nach das Singen,
das gemüthbewegte Aufgehen in muſikaliſchen Gefühlserguß nicht beigelegt
werden kann, ſteife Charaktere, proſaiſche Rechner, reiſende Engländer mit
Regenſchirm und Shawl, betrogene Betrüger, falſche Propheten, bei denen
ſingender Herzenserguß nur noch eine Lüge weiter iſt, überallhin, nur nicht
in die Oper, gehören. Gefühlerwärmte Handlung und gefühlwarme Perſonen
können hier allein auftreten; wie alle Muſik Bild des Lebens iſt, ſo muß
vor Allem in der Oper der friſche Pulsſchlag wirklichen Lebens herrſchen,
wenn ſie nicht eine widerſprechende und widerliche Fiction, eine bemalte
Statue, eine geſchminkte Kokette ſein ſoll. Es iſt in ihr wahrlich ſchon
Fiction genug, da ſie den natürlichen Wortausdruck in einen erhöhten
Stimmungsausdruck umſetzt; dieſe Fiction iſt nur dann nicht unwahr, wenn
in den Perſonen ein ſo erregtes und bewegtes Leben iſt, daß der erhöhte
Stimmungsausdruck für ſie als der natürliche, d. h. als ein Ausdruck
erſcheint, der deßwegen an die Stelle des gewöhnlichen trete, weil das leb-
hafter wogende Gefühl zu einer ſtärkeren, die Schranken der Gewohnheit
und Convention, die Nüchternheit der Reflexion durchbrechenden Aeußerungs-
weiſe dränge. In dieſer Beziehung iſt ſchon die komiſche Oper weit
beſchränkter als das komiſche Drama; die reflectirtere Komik des Verſtandes,
des Witzes, der Intrigue iſt von ihr ausgeſchloſſen, ihre Sphäre iſt die
[1117] unmittelbare Gefühlskomik, die friſch in’s Leben heraustritt; komiſch heitere,
luſtige Stimmungen, komiſches Pathos und Poltern, komiſche Affecte der
Furcht, der Ueberraſchung; des Aergers, der getäuſchten Erwartung und
dergleichen bilden ihr Gebiet, da ſonſt die Compoſition an ihr keinen Stoff
fände, den ſie muſikaliſch beleben könnte. Aehnlich verhält es ſich mit der
ernſten Oper. Am wahrſten iſt ſie, wenn volle und frei ſich gebende
Gefühlserregtheit, Gefühlspoeſie oder tiefe, innerlich ergreifende, das Herz
zur Aeußerung treibende Gemüthsbewegtheit oder Beides zumal ihr Grundton
iſt; die Gefühlspoeſie der Lebensluſt, der Liebe, die Bewegtheit der Leiden-
ſchaft, der Begeiſterung, der opferbereiten Hingebung, der verletzten, Sühnung
eines Frevels ſuchenden Pietät, des heroiſchen Thatendranges, des Patrio-
tismus, des Glaubensmuthes, der Kindes-, Eltern-, Gatten- und Menſchen-
liebe, dieſe und verwandte Motive ſind die Sphäre, aus welcher die Oper
wählen muß. In dieſer Beziehung hat R. Wagner ganz Recht, wenn er
gegenüber einer Entartung des Opernweſens, welche unmuſikaliſchen Süjets
muſikaliſche Kleidung umhängt, wieder auf Gefühlsſtoffe dringt und ſolche
z. B. in der deutſchen Mythe ſucht; nur iſt es einſeitig, blos in einer
abſtracten, poetiſch überſpannten Hingebung und Aufopferung, wie ſeine
weiblichen Hauptfiguren ſie darſtellen, eine des muſikaliſchen Ausdrucks
würdige Gefühlsbeſtimmtheit finden zu wollen und überhaupt das poetiſche
Element der Oper in dem Maaße vorherrſchen zu laſſen, wie es hier
geſchieht. Die Gefühlspoeſie, wie die Oper ſie zu ſchildern hat, verlangt
freilich auch eine entſprechende poetiſche, nichtproſaiſche Umgebung; aber
damit iſt es noch nicht geſtattet, eine ganz abſtracte, phantaſtiſch mytho-
logiſche, abenteuerliche Poeſie auf die Bühne zu bringen, welche ja bekanntlich
mit dem Wunder nur ſehr ſparſam umgehen, nicht aber ſchlechthin Un-
wirkliches in Form eines Wirklichen in Scene ſetzen darf. Mozart’s Don
Juan, den Wagner nicht müde wird zu preiſen, zeigt am beſten was für
eine Poeſie in der Oper am beſten wirkt, nämlich eben die Poeſie des Ge-
fühls ſelbſt, nicht die des Mährchens, die Poeſie der Lebensluſt und Leiden-
ſchaft; dieſer Poeſie des Lebens tritt in der Perſon des „ſteinernen Gaſtes“
die mythiſche Poeſie allerdings zur Seite und gegenüber, aber in einer von
den realen Verhältniſſen der menſchlichen und ſittlichen Welt nicht zu weit
abliegenden Form, weil es doch nur der Geiſt des Gemordeten iſt, der
erſcheint, und weil ſich in ihm zugleich die Idee der ebenſo ernſt ſtrafenden
als mit Liebe zur Beſſerung mahnenden ewigen Gerechtigkeit treffend per-
ſonificirt. Die Oper kann an ſich wohl poetiſcher ſein als die eben genannte;
ſie darf uns in eine zauberhafte romantiſche Welt verſetzen, denn der Ge-
fühlsgehalt, der ihr die Hauptſache iſt, kann auch innerhalb einer ſolchen
ſich reich entwickeln, ja das Gefühl ſcheint in ihr in ſeinem eigentlichſten
Elemente zu ſein, weil eine poetiſche Welt nur der äußere Wiederſchein der
[1118] innern Poeſie des über die Schranken der Wirklichkeit ſich emporhebenden
Gefühles iſt; dieſe rein poetiſche oder romantiſche Oper, wie ſie
namentlich Weber ausgebildet, iſt wirklich eine vollberechtigte Gattung.
Aber eine bis zum Phantaſtiſchen gehende Steigerung des Romantiſchen
iſt unzuläſſig, da wenn aller feſte Boden der Wirklichkeit entſchwindet,
auch für wahres Gefühl, das doch allein muſikaliſch anſpricht, kein Platz
mehr iſt, ſondern in einer durch und durch unwirklichen Welt auch die Ge-
fühle zu leerem Scheine werden ohne Leben und Wirklichkeit, ohne Kraft
und Innigkeit, wie ſie zu muſikaliſchem Ausdruck als nothwendige Bedingung
erforderlich iſt. Auch iſt die romantiſche Oper, ſelbſt wenn ſie ſich von
ſolchen Extremen ferne hält, nicht die höchſte Gattung, eben weil in ihr
doch immer zu wenig Wirklichkeit, Subſtanz, Gediegenheit, zu wenig Mög-
lichkeit wirklicher dramatiſcher Spannung und Entwicklung, zu wenig ſelbſt-
thätiges Wollen und Handeln, zu viele Phantaſiegeſtalten (Geiſter u. ſ. w.),
welche die Sphäre des menſchlichen Handelns verengen, zu wenig Boden
für ſittliche und ſociale Verhältniſſe iſt, aus denen in Folge von Colliſionen
und Conflicten eine vollgewichtigere Gefühlserregtheit und beſonders eine
tiefergehende Gemüthsbewegtheit erwachſen kann; mit der Romantik wird
Alles Spiel der Phantaſie, mit dem Spiel aber entſchwindet die objective,
feſte Realität und damit auch der ernſtere und gediegenere Gefühlsgehalt.
In Don Juan wirkt das mythiſch Poetiſche nicht als Poetiſches, ſondern
lediglich als Bild einer ſittlichen Idee, die nichts Gedichtetes, ſondern abſolute
Wirklichkeit iſt, und auch das andere poetiſche Element dieſer Oper, die
Gefühlspoeſie der Lebensluſt, iſt nur ihre Eine Seite, ſie ruft durch den
Frevel, in den ſie ſtürzt, die Gemüthsbewegtheit der verletzten Pietät und
Freundſchaft gegen ſich auf, und erſt dadurch, daß dieſes ernſtere, tiefere,
den einfachen ſittlichen Verhältniſſen der Wirklichkeit entnommene Gemüths-
element die andere Seite des Ganzen ausmacht, wird dieſe Oper das was
ſie iſt, das ebenſo ſchöne als erhabene Werk, dem kein anderes ſich ver-
gleichen kann, weil es durch die Vereinigung beider Elemente und durch
die kräftige und entſcheidende Entwicklung, die beide in ihm erhalten, einen
ſonſt nirgends ſich ſo zuſammenfindenden Reichthum inhaltsvollſter Beziehungen
in ſich vereinigt. Die Gattung, unter welche Don Juan fällt, kann man
nicht wohl anders bezeichnen als durch den Namen ethiſchpoetiſche
Oper im Gegenſatz zur romantiſchpoetiſchen; ethiſchpoetiſch iſt die Oper
dann, wenn einerſeits dem ſubjectiven Element der Lebensluſt, des Genuſſes,
des Glückes ein objectives ethiſches Element gegenüber- oder geradezu ent-
gegentritt, und wenn andrerſeits beide Elemente nicht nur lebendig indivi-
dualiſirt, in lebhaft und innig fühlenden Individualitäten verkörpert, ſondern
das Ganze zugleich mehr oder weniger idealiſirt, über die gewöhnliche Sphäre
hinausgehoben iſt, damit durch dieſe Idealität diejenige proſaiſche Realität,
[1119] welche mit der Oper als dem Kunſtwerk des poetiſch erhöhten Stimmungs-
ausdrucks unverträglich iſt, gänzlich aus ihr entfernt werde, die ganze
Handlung und Umgebung das entſprechende Abbild der in dem Drama
herrſchenden erhöhten Stimmung ſei, und damit nicht minder die Indivi-
duen, welche die Vertreter der beiden Elemente, des ſubjectiven und des
objectiv ethiſchen ſind, in einer idealen Höhe und umfaſſenden Bedeutſam-
keit erſcheinen, vermöge welcher ſie nichts als die Träger des Prinzips, das
ſie repräſentiren, ſind und dieſes Prinzip in ihnen vollſtändig und voll-
kommen ſeinen Ausdruck findet (wie z. B. die Geſtalt des Don Juan in
dem Prinzip der freien Subjectivität, der einſeitigen Poeſie des Lebens ganz
aufgeht, der Comthur aber, oder in der Zauberflöte Saraſtro mit ſeinen
Prieſtern das ethiſche Prinzip in concreter Ausprägung darſtellt). Zu dieſer
ethiſchpoetiſchen Gattung gehört auch die heroiſche Oper; ſie iſt ein
etwas weniger idealiſtiſcher Zweig derſelben, ſie ſtellt der gewöhnlichen
Realität nicht eine ſchlechthin poetiſche, ſondern nur eine in großartigern
Formen ſich bewegende, großartigere Charaktere und großartige Motive und
Actionen zeigende Wirklichkeit entgegen, das ideal, mythiſch Poetiſche kann
auch in ſie hereingreifen, wie in Gluck’s Iphigenien, Alceſte, Armide, ſo
daß ſie ſich, wie z. B. die letztgenannte Oper, der romantiſchen Gattung
hierin annähert, aber ſie bleibt dadurch von ihr getrennt, daß die Ver-
wicklung auf ethiſchen Momenten mit beruht und daher im Kreiſe wirklicher,
nicht phantaſtiſcher Verhältniſſe ſich bewegt; die heroiſche Oper kann, wie
z. B. bei Spontini, das romantiſche Element auch ganz entbehren und ſich
mit derjenigen Idealität begnügen, die in der Größe der Charaktere und
in der ethiſchen Bedeutſamkeit der Motive und Verwicklungen liegt. Ein-
fach ethiſche Oper iſt diejenige, in welcher ethiſche Momente die Hand-
lung beſtimmen, aber die Geſtaltung des Ganzen aus den gegebenen Ver-
hältniſſen der empiriſchen Realität nicht heraustritt; dieſer Opergattung
fehlt die der erhöhten muſikaliſchen Stimmung entſprechende idealiſirte Form
und Umgebung, ſie läßt ſich ſchon etwas proſaiſch an, ſo daß das Muſikaliſche
den Eindruck willkürlicher, äußerlich bleibender Zuthat macht, ſo tief und ge-
haltvoll auch an ſich die Compoſition namentlich im Ausdruck der ethiſchen Ge-
fühle und Stimmungen ſein mag, wie z. B. in Fidelio und Waſſerträger.
Epiſche, hiſtoriſche Oper wäre die Gattung zu nennen, in welcher die
normalen Lebensverhältniſſe auch beibehalten, die Verwicklung dagegen zwar
umfaſſender und ernſter Natur, aber allgemeinerer Art und in ihrem concreten
Verlauf und Abſchluß nicht durch das Ethiſche bedingt und beſtimmt, ſondern
mehr Schickſal, Glück, Unglück überhaupt iſt; dieſe Gattung (wie z. B. Huge-
notten, Clemenza di Tito) iſt in Gefahr, für die muſikaliſche Compoſition
zu ſchwer und breit, zu ſehr mit realem Stoff überladen zu ſein oder auch
kein höheres geiſtiges Intereſſe zu bieten; Stoffe ſolcher Art, obwohl den
[1120] heroiſchen verwandt, gehören mehr dem Schauſpiel als der Oper an. Da-
gegen eignen ſich Stoffe aus der empiriſch reellen Welt für die Oper,
ſobald ſie eine einfachere Verwicklung haben und das Moment der Empfin-
dung (des Reinmenſchlichen) ſtärker hervortreten, voller ſich ausſprechen
laſſen; wenn die Handlung, obwohl an ſich nicht poetiſch, doch ganz in
Gefühl, Liebe u. ſ. w. aufgeht, ſo iſt das Ganze wenigſtens lyriſch, ge-
müthreich genug, um für muſikaliſche Compoſition zu paſſen; ſo z. B.
die Entführung aus dem Serail und ähnliche Stoffe von Opern und
Operetten namentlich älterer Zeit. Jedoch nicht blos die Lyrik, ſondern
auch die Komik belebt die unpoetiſche Realität zu einem Gebiet, das die
Opernmuſik mit beſonderem Glück anbauen kann; die komiſche Oper entſpricht
der heitern Tanzmuſik, wie die heroiſche der Marſch-, die lyriſche oder ge-
müthliche der Lied-, die ethiſchpoetiſche der dramatiſchen Symphoniemuſik
entſpricht, ſie ſtellt das bewegte Treiben und Gegeneinanderſpielen der ſich
frei ergehenden Subjectivitäten und ſubjectiven Affecte und Leidenſchaften
dar, ſie hat mit der romantiſch- und ethiſchpoetiſchen Oper die Poeſie, mit
der gemüthlichen die Gefühlsbelebtheit gemein und kann ſich daher auch
geradezu mit ihnen verbinden (wie in Don Juan, Zauberflöte, Entführung
u. ſ. f.) — eine Verbindung, die in der Muſik leichter durchzuführen iſt
als im Wortdrama, weil die in der Oper nun einmal herrſchende poetiſch
erhöhte Stimmung beide Gattungen eng unter ſich zuſammenhält; — die
komiſche Oper tritt aber ebenſo auch für ſich auf in einer nicht unbedeutenden
Mannigfaltigkeit von Unterarten, von denen die verwickeltere Converſations-
oper und die einfachere gemüthlich heitere, burleske Oper am weiteſten von
einander abſtehen. Während die erſtere der verſtändigern Komödie ohne
Muſik ſich annähert, bildet ſich die letztere weiter aus zum idylliſchen Lieder-
ſpiel (Schäferſpiel), zum Quodlibet, zur Poſſe, Nebenformen, in welchen
das Dramatiſche wieder verloren geht und davon nur das Allgemeine einer
Darſtellung heiter komiſcher Situationen und Handlungen übrig bleibt.
Der Name „Operette“ gibt keinen beſtimmten Begriff, da er ſich nur auf
den Umfang bezieht; die Operette kann noch ganz dramatiſch, wie das
einactige Luſtſpiel, ſie kann aber auch mehr lyriſches Singſpiel ſein und
dann zu den am Anfang des §. erwähnten Uebergangsformen gehören;
ebenſo gehören zu ihr diejenigen kleinern komiſchen Stücke, die ſich noch
nicht zu weit von einheitlicher Entwicklung der Handlung und vollſtändigerer
muſikaliſcher Begleitung derſelben entfernen. Daß wir der komiſchen Oper
nicht ſpeziell eine tragiſche, ſondern nur eine ernſte, ethiſche Oper überhaupt
gegenübergeſtellt haben, iſt darin begründet, daß die Tragik in der Oper
nicht dieſelbe Bedeutung und denſelben Umfang beanſpruchen kann, wie im
Woridrama. Die nothwendige Einfachheit der Handlung der Oper läßt
eine ausgeführtere tragiſche Verwicklung nicht zu, und die ernſte, ethiſch-
[1121] poetiſche Oper kann daher wohl auch eine tragiſche, aber nicht eine Tragödie
ſein und kann das Tragiſche nicht zum Hauptſtoffe haben, weil nicht jeder
Stoff dieſer Art die einfachere Opernbehandlung zuläßt. Ein weiterer Zweifel
könnte darüber entſtehen, ob innerhalb der Kategorie der ernſten Oper nicht
ein Unterſchied gemacht werden ſollte zwiſchen Opern, in welchen das
Einzelindividuum, und ſolchen, in denen eine größere Geſammt-
heit die Hauptperſon iſt und den Mittelpunct des Ganzen bildet. Das
Oratorium leiſtet Großes in dieſer letztern Gattung (Judas Maccabäus,
Israel in Aegypten); ſoll die Oper es ihm nicht gleichthun? ſoll ſie nicht
auch Völkergeſchicke auf die Bühne bringen und mit den Chören, die ſie
dazu aufzubieten hätte, großartigere Wirkungen erſtreben, als ſie es ge-
wöhnlich thut? Die Frage iſt zu bejahen, ſofern in dieſer Beziehung aller-
dings mehr geſchehen kann, als namentlich in der claſſiſchen Blüthezeit der
deutſchen Oper geſchehen iſt, aber zu verneinen, ſofern damit gemeint wäre,
es ſollte geradezu die Geſammtheit ſtatt des Einzelſubjects zum Mittelpunct
der Handlung gemacht werden. Dieß konnte bis jetzt ſelbſt von R. Wagner
nicht verſucht werden, weil nur das individuelle Leben ſo begrenzt und ſo
bedingt, ſo beweglich iſt, um in dem Wechſel der Activität ſowohl als der
Geſchicke dargeſtellt zu werden, ohne welchen es kein Drama und vollends
keine Oper gibt. Es wäre allerdings eine würdige Aufgabe der zukünftigen
Muſik, etwa in heroiſchen Opern, von welcher Gattung ohnedieß für die
Muſik mehr zu hoffen iſt als von der mythiſchromantiſchen, Individuum
und Geſammtheit in eine engere Verbindung zu bringen, in eine Verbindung
wie ſie von Händel in ſeinen Oratorien ausgeführt, von Gluck in kleinerem
Maaßſtabe verſucht wurde, und wie ſie Beethoven bei ſeiner sinfonia eroica
vorgeſchwebt haben mag. Einfach iſt die Sache freilich nicht; große Maſſen
ſind für die Oper bald zu ſchwer, und der tiefpraktiſche Ernſt, der ſolche
Tonwerke zu durchdringen hätte, könnte ſich mit dem Singen, das auf der
Bühne gerade durch ſeinen Contraſt zur gewöhnlichen Stimmungsäußerung
(zur Rede) ſich ſtets als etwas rein Poetiſches ausnimmt, leicht als un-
verträglich zeigen; die Frage muß daher eine offene bleiben und ihre Beant-
wortung von künftigen Entwicklungen erwartet werden.
Ueber die Stellung des Orcheſters in der Oper iſt nach früher
(beſonders §. 820) Bemerktem nur beizufügen, daß es nicht blos die Einzel-
geſänge, Arien, Chöre u. ſ. f. und nicht blos die einzelnen Handlungen
malend, ausführend, verſtärkend, ſympathiſirend begleitet, ſondern auch die
beharrliche harmoniſche Grundlage der großen Opermelodie bildet (vgl. S. 897).
Das Orcheſter ſchlingt ein Band der Einheit um das in Scenen, Hand-
lungen und Perſonen ſtets wechſelnde Ganze; wegen des Ueberwiegens
und Heraustretens des Gefühlsgehalts muß die Oper die Handlung in
eine Reihe von Scenen zerfällen, in welchen das Gefühl ſich ausſpricht,
[1122] die hiedurch momentan beeinträchtigte Continuität des Fortgangs ſtellt das
Orcheſter her, indem es Alles ſtets mit gleich unermüdeter Beweglichkeit
begleitet, den Faden ſtets lebendig weiter führt, Pauſen ausfüllt, Uebergänge
(wie z. B. im Sextett des Don Juan) von einer Wendung der Handlung
zur andern bildet u. ſ. f. Das Orcheſter beginnt die Handlung mit der
Ouvertüre (deren Weglaſſung den Uebelſtand mit ſich führt, daß wir ſo
nicht gleich dieſe zuſammenhaltende, hiemit auch den Totaleindruck erhöhende
Grundlage des Ganzen bekommen), es leitet ſie in belebtem Gange fort
durch alle Wechſel, hebt ſich und ſenkt ſich, vereinfacht und verſtärkt ſich
mit ihr, bezeichnet ihre Höhe und Ruhepuncte, ihre Verwicklungen und ihre
Abwicklung und ſchließt ſie mit Kraft und Beſtimmtheit ab, obwohl es hier
auf eine der Ouvertüre entſprechende reichere Entfaltung ſeiner Mittel ver-
zichten muß, indem ein hintennachkommender Nachhall der ſo reich bewegten
Muſik, mit welcher es die Handlung begleitete, nur matt und ſchwach er-
ſcheinen würde; die dramatiſche Muſik kann nicht enden mit einem lyriſchen
Nachklang, und an dieſem Puncte bleibt daher der ſymmetriſche Bau der
Oper unvollendet, auch dieß einer der Fälle, in welchen die Muſik die
Strenge der Form dem Ausdruck unterordnen muß.
c.
Die Geſchichte der Muſik.
§. 822.
Die Geſchichte der Muſik zeigt eine weit langſamere Entwicklung als die
der übrigen Künſte; die äußeren Momente, daß die Muſik als begleitende Kunſt
ſich ſchwerer zur Selbſtändigkeit entfaltet, und daß das Tonmaterial ohne be-
ſtimmtes Naturvorbild größtentheils erſt zu entdecken und zu geſtalten iſt, ehe
es Mittel eines künſtleriſchen muſikaliſchen Ausdrucks werden kann, wirken mit
der Idealität und Innerlichkeit des Weſens der Muſik ſelbſt zu dieſem Reſultate
2.zuſammen. Das treibende Motiv der Entwicklung iſt auch hier der Gegenſatz
und Streit der beiden Stylprinzipien, des directen und indirecten Idealiſmus,
zu welchem aber noch ein weiteres Moment, der Kampf des abſtract formali-
ſtiſchen Prinzips mit dem des freien Gefühlsausdrucks hinzukommt.
1. Die formal techniſchen Schwierigkeiten ſind bei der Muſik größer
als bei andern Künſten. Sie tritt zuerſt unſelbſtändig als Verſtärkung der
[1123] Rede, des Rufens, als Mittel zu Signalen, zur Erhöhung feierlicher oder
vergnügter Stimmung, als vorübergehendes Spiel mit Inſtrumentalklängen
auf; man kann lange gar nicht daran denken, dieſe nicht geſtaltenbildende
Kunſt doch als ſolche zu behandeln, ſie zu eigener Entwicklung zu erheben,
Tonbilder, Tongemälde aus dem Tone zu erſchaffen; wie die poetiſche Lyrik
nur ſchwer und ſpät zum Drama ſich herausringt, ſo und noch mehr die
Muſik zu beſonderem Fürſichſein. Die Schwierigkeit der Entdeckung und
künſtleriſchen Geſtaltung des Tonmaterials (§. 767, 1.) kommt hinzu; die
Herausfindung der mathematiſch acuſtiſchen Verhältniſſe fordert Beobachtung,
Reflexion und ſomit höhere Cultur (daher die langſamen Fortſchritte im
Mittelalter). Die Idealität der Muſik macht ſie unfaßbar, hält ſie lange
auf der Stufe des taſtenden Herumſuchens zurück, und auch von all dieſen
formellen Hemmniſſen abgeſehen, kann der Trieb zu concreterem muſikaliſchem
Gefühlsausdruck, mit welchem die Muſik erſt zu ihrer ganzen Innerlichkeit
vordringt, ſo lange nicht erwachen, als das ſubjective Gefühlsleben ſelbſt
gebunden und gehemmt oder noch zu wenig entwickelt iſt in Folge einer die
freie Berechtigung der Subjectivität noch nicht zur Anerkennung zulaſſenden
einſeitig objectiven oder dualiſtiſch unfreien Weltanſchauung. Die Muſik iſt
ein Sichſelbſtvernehmen des Subjects in ſeinem Gefühl, in welchem es ſich
nach Dem was es ſelbſt bewegt, nach ſeinen Empfindungen, Freuden,
Leiden, Hoffnungen gegenſtändlich wird; dieſes Sichſelbſtvernehmenwollen
hat überall und immer Keime und Blüthen des Volkslieds hervorgetrieben,
indem in der volksthümlichen Sphäre das individuelle Einzelleben von
lebendiger muſikaliſcher Aeußerung ſeines Gefühls nie zurückgehalten werden
konnte, aber auf dem Gebiet des öffentlichen, des religiöſen und politiſchen
Lebens fand dieſes Prinzip erſt mit dem Aufgang der modernen Zeit ſeine
Geltung, und es begegnet uns daher im Alterthum und Mittelalter die
merkwürdige Erſcheinung, daß der Muſik politiſch und religiös gerade die
entgegengeſetzte Beſtimmung zugewieſen wird, die Gefühlsäußerung in ob-
jective, der Willkür des Einzelſubjects entnommene plaſtiſche Formen zu
bringen, obwohl eine Reaction hiegegen, eine Regſamkeit des freien Prin-
zips, ſchon frühe ſich zeigt und endlich im Ausgang der mittlern Zeit
gewaltſam ſich Bahn bricht.
2. Auf dem Boden der Muſik bekämpfen einander dem zuletzt Bemerkten
zufolge nicht nur directer und indirecter Idealiſmus, reine Formſchönheit und
charakteriſtiſch individueller und naturaliſtiſcher Gefühlsausdruck, ſondern auch
Form und Ausdruck überhaupt (vergl. §. 792), objective Gebundenheit und
ſubjective Freiheit. Die religiöspolitiſche Praxis, die Theorie und der Zeit-
geſchmack vereinigen ſich von ſcheinbar ganz entlegenen Geſichtspuncten aus
in dem Streben, der Muſik feſte Formen zu geben; die erſtere ſuchte Typen
zu fixiren, in denen die Muſik unverändert ſich bewegen ſollte, um objective,
[1124] gleichmäßige Haltung, beſtimmten Styl, wie ihn z. B. kirchliche Zwecke
fordern, zu erhalten und zu bewahren; die Theorie fand ſich, ſobald man
in der künſtleriſchen Geſtaltung des Tonmaterials zu beſtimmten Reſultaten,
zur Unterſcheidung von Tonarten und Tongeſchlechtern, der conſonirenden
und diſſonirenden Accorde, der verſchiedenen Arten der Modulation, der
verſchiedenen Formen der Stimmverflechtung (Contrapunct u. ſ. f.), der Geſetze
der Gliederung der Tonſtücke (der Arien, der Marſch- und Tanzmuſik, der
Ouvertüre und Symphonie) vorgedrungen war, mit Naturnothwendigkeit
getrieben, dieſe Reſultate feſtzuhalten, in’s Einzelne auszubilden, ſie in
Syſteme zu bringen, welche der Compoſition die Geſetzmäßigkeit und Methode
verleihen ſollten, die gerade der Muſik ſo nöthig iſt wegen der Flüſſigkeit
und Freiheit ihres ganzen Weſens; die verſchiedenen Zeitalter übten einen
ähnlichen Zwang aus durch den Geſchmack, der zwar ſtets wechſelnd, aber
doch unter entſchiedenem Einfluß auf die Kunſt für gewiſſe Compoſitions-
gattungen (z. B. Contrapunct, Madrigal), für die eine oder andere Manier
der muſikaliſchen Figuren (z. B. der Arie), der Inſtrumentation u. ſ. f. ſich
entſchied, indem jede Zeit vermöge ihrer ganzen Bildungs- und Anſchauungs-
weiſe unwillkürlich eine Vorliebe für Formen hat, welche derſelben irgendwie
entſprechen. Gerade der freiſten aller Künſte hat ſich ſo ein Formalismus
typiſcher Obſervanz, grübelnder Theorie, einengender Deſpotie des Geſchmacks
angehängt, der ſie wiederholt mit Erſtarrung und Veräußerlichung bedrohte,
ebenſo aber auch durch ſeine Einſeitigkeit in gewiſſen Epochen ein nur um
ſo kräftigeres Erwachen des freien Prinzips hervorrief; die Geſchichte der
Muſik geht nicht in gerader Linie vorwärts, ſondern in dem fortwährenden
Wechſel und Kampf der beiden entgegengeſetzten Prinzipien, deren jedes ſein
Recht, aber auch jedes, wo es für ſich ſein will, ſeine Einſeitigkeit hat.
Auch der Gegenſatz des directen und indirecten Idealiſmus nimmt
nach einer Seite hin an dem Kampfe des formalen und des freien Prinzips
Theil; der directe Idealiſmus mit ſeiner Tendenz auf Schönheit der muſi-
kaliſchen Gebilde ſchafft ſich auch ſogleich feſte Formen, die er allerdings mit
ſchönem Inhalt (Ausdruck) erfüllt, die aber nur um ſo mehr ſich zu fixiren,
ſich als unabänderlich geltend zu machen ſuchen, je mehr in ihnen und
mittelſt ihrer geleiſtet worden iſt, er wählt ſeinem ganzen Prinzip gemäß
einfachere Harmonieen, Rhythmen, einfachere Gliederungen der Theile, Sätze
und Tonſtücke und ſtellt hiemit unabſichtlich feſte Typen hin, die ſodann der
indirecte Idealiſmus, um ſich frei und voll zu bewegen, ſprengen muß, ſo
daß dieſer letztere zu ſeinen übrigen Eigenſchaften, mit denen er dem directen
gegenüberſteht, auch noch die Tendenz auf reine Freiheit, die Neigung zu
transſcendentem Ueberfliegen feſter Maaße und Grenzen hinzu erhält; der
indirecte Idealiſmus der Malerei hat ſtets ſein Maaß an den gegebenen
Formen der Wirklichkeit, aber die Muſik hat ein ſolches nicht, ſie ſcheint
[1125] ſich in’s Unendliche expandiren zu können, und ſie neigt ſich dieſem Extreme
von Zeit zu Zeit wirklich zu, weil der Gefühlsausdruck einmal in abſolute
Form ſich nicht bannen läßt. Mit dem Bisherigen iſt jedoch nicht geſagt,
daß der directe Idealiſmus blos auf Seiten des Form-, der indirecte blos
auf Seiten des Freiheitsprinzips ſtehe; beide Gegenſätze ſind nicht identiſch,
ſie berühren ſich zwar mit einander, aber ſie haben auch noch eine zweite
Seite, von welcher aus ihr Verhältniß eine andere Geſtalt annimmt. Der
directe Idealiſmus hält die Form entſchieden feſt, aber er iſt nicht forma-
liſtiſch, er geht auf ſchönen Ausdruck des Einzelnen, er ſucht die typiſchen
Formen, wo er ſich ihrer bedient, freier und belebter, einfacher und durch-
ſichtiger zu machen (wie z. B. die römiſche Schule Canon und Contrapunct,
Mozart die Fuge); der indirecte Idealiſmus dagegen kann (wie bei S. Bach)
ſehr gut auch in typiſche Formen ſeinen tiefern Ausdruck, ſeine ſchärfere
Charakteriſtik, ſeine dunklern Harmonieen, ſeine kräftigern Farben legen,
obwohl er allerdings nur dann ganz in ſeiner Sphäre iſt und vollkommen
ſich verwirklicht, wenn er die Form zerbricht und frei dem Fluge des indi-
viduellen Genius folgt; die beiden Gegenſätze decken alſo einander nicht ganz,
wie dieß ſchon in §. 792 u. f. ſich geltend machte, ſie durchkreuzen ſich viel-
mehr blos an einigen Puncten. Der Gegenſatz des directen und indirecten
Idealiſmus iſt dem zwiſchen Form- und Freiheitsprinzip nicht ſubordinirt
als bloße Spezification von ihm, ſondern er ſteht neben, ja über ihm, denn
er iſt ein concreter Gegenſatz, deſſen beide Seiten wirklich etwas muſikaliſch
Ganzes für ſich ſind, während der zwiſchen Form- und Freiheitsprinzip ein
abſtracter Gegenſatz iſt, der in ſeiner Reinheit gar nicht erſcheinen kann,
weil weder die abſtracte Form noch die abſtracte Bewegungsfreiheit noch
Muſik wäre; aber auch der abſtractere Gegenſatz iſt in der Muſik von ſehr
großer hiſtoriſcher Bedeutung, welche darauf beruht, daß die Muſik einer-
ſeits nach feſten Formen ringen muß, um ein Geſetz zu haben, und andrer-
ſeits durch ſich ſelbſt doch ſtets wieder über ſie hinausgetrieben wird; es
wird ſich zeigen, daß das Freiheitsprinzip zuletzt nicht blos gegen die Form,
ſondern gegen den Inhalt und Ausdruck ſelbſt negativ wird und ſo die
extremſte Subjectivität in der Muſik Raum gewinnt.
§. 823.
Das Alterthum bringt es vermöge ſeines plaſtiſchen Charakters bis
zur Herſtellung eines künſtleriſch brauchbaren, ausdrucksfähigen Tonmaterials,
aber es ſucht den Ausdruck in dieſem künſtleriſch gegliederten Material ſelbſt,
in der auf ſcharffühlende Unterſcheidung gegründeten Verwendung der in den
Charakteren (Stimmungsunterſchieden) der verſchiedenen Tonlagen, Tonge-
ſchlechter, Tonarten, Rhythmen, Inſtrumentengattungen gegebenen allgemeinen
[1126] Ausdrucksmittel; es gelangt nicht zu einer Belebung des ſcharfgegliederten
Materials durch individualiſirende Melodie, durch eine das Tonſyſtem modula-
toriſch in Fluß ſetzende, concrete Accordklänge erzeugende Harmonie; die Muſik
bleibt daher unentwickelt, ſie hat Ausdruck, aber nur typiſchabſtracten, ſie hat
Schönheit, aber nur durch Begrenzung, durch abſolute Durchſichtigkeit, durch
Fernhaltung alles Concreten, das die Einfachheit des Stimmungsausdrucks
beeinträchtigt, ſie trennt ſich ebendarum auch nicht weſentlich los von dem Bunde
mit Poeſie und Orcheſtik, in welchem ſie ſich zu dieſer ebenſo ſcharfgegliederten
als einfachen Form entwickelt hat, ſie bleibt melodiöſe, rhythmiſirte Declamation
und Begleitungsmuſik, welche der poetiſch erregten Rede und mimiſchen Bewe-
gung Maaß, Takt und Stimmungston gibt; es iſt directer Idealiſmus, der
das Ungeregelte der Gefühlsäußerungen in ſchöne und beſtimmte Form bringt,
aber in dieſem Formalen ſtehen bleibt und ſo zum Formalismus wird.
Die Muſik des Orients könnte hier nicht in Betracht kommen, ſelbſt
wenn wir beſſer von ihr unterrichtet wären als wir es ſind. Kultur-
geſchichtlich iſt es allerdings von großem Intereſſe zu ſehen, wie z. B. der
zartfühlende Inder die feinern Klänge der Saiten-, der trockene Chineſe den
handgreiflichen Lärm und das ohrenfälligere Geklingel der Schlag- und
Klinginſtrumente vorzieht; es iſt ferner namentlich dieß nicht zu bezweifeln,
daß im iſraelitiſchen Volke der erhabenen und gefühlreichen Entwicklung,
die ſeine religiöſe Lyrik nahm, auch eine Geſtaltung der Geſang- und In-
ſtrumentenmuſik zur Seite ging, die ſich vor der der übrigen Semiten gewiß
durch Einfachheit und Würde auszeichnete; aber von freier muſikaliſcher Pro-
ductivität iſt keine Spur, der Geſang bewegte ſich in wenigen traditionellen
Tonweiſen, und die Inſtrumentenmuſik, wenn ſie auch für die damalige
Zeit prächtig und feſtlich war, kam über eine ganz einfache Begleitung der
Stimmen oder religiöſer Acte niemals hinaus, daher denn auch ſeit der
Berührung des jüdiſchen Geiſtes mit dem Hellenismus die griechiſche Muſik
die herrſchende und namentlich von den alexandriniſchen Juden nachgebildet
ward.
Die Griechen brechen auch in der Muſik für alle Folgezeit Bahn
durch die künſtleriſche Geſtaltung des Tonmaterials, deren klare und ſcharfe
Herausſtellung vor Allem ihr Werk iſt. Herſtellung von Saiteninſtrumenten
mit vollſtändiger Octave, Auffindung und Scheidung der diatoniſchen,
chromatiſchen und enharmoniſchen Leiter (welche letztere jedoch wegen der
Schwierigkeit des Fortgangs in Vierteltönen wieder aufgegeben ward, indem
derſelbe auf die Dauer der Klarheit des griechiſchen Geiſtes nicht zuſagen
konnte), Aufbau von (transponibeln) vier Moll- und drei Durtongeſchlechtern
auf den ſieben Tönen der diatoniſchen Leiter, welche nebſt ihren Nebenton-
arten ſpäter Grundlage der Kirchentonarten (obwohl zum Theil mit ver-
[1127] änderten Benennungen) wurden, Feſtſtellung von dreizehn Tonarten (toni)
auf beſtimmten Stufen des Tonſyſtems, feine Belauſchung des Stimmungs-
charakters aller dieſer Scalengattungen, ſowie des Klangcharakters der ver-
ſchiedenen Tonlagen, eine auf dieſe Beobachtung gegründete Verwendung
der Tonarten (und der Ausweichungen von der einen in die andere) für
die verſchiedenen Zweige der lyriſchen, dramatiſchen und orcheſtiſchen Muſik,
ſowie der verſchiedenen Tonlagen für Chor- und monodiſche Muſik, ins-
beſondere Herſtellung eines in kräftigernſtem Baſſe ſingenden Männerchoros
für die Tragödie, ſodann beſondere Pflege und höhere Ausbildung der feiner
geiſtigen Muſik der Saiteninſtrumente, taktmäßige Bewegung des Chor- und
Einzelgeſangs, gleichfalls mit Rückſicht auf die Stimmungsunterſchiede der
rhythmiſchen Bewegungsweiſen verſchieden geartet, dieß Alles gehört ganz
oder vorzugsweiſe den Griechen an. Sie ſelbſt ſchufen mit dieſen Mitteln
eine Muſik, die uns deßwegen fremdartig erſcheint, weil unſere Ausdrucks-
mittel weit concreter ſind als die ihrigen; den Griechen wirkten die ver-
ſchiedenen Stimmlagen, Baß, Bariton, Tenor als ſolche direct, jede
in Gemäßheit ihrer natürlichen Klangfarbe, die auch auf uns ihren Ein-
druck nicht verfehlt, ſie überließen ſich und lauſchten dem Eindruck ihrer
Moll- und Durleitern direct, dieß Alles gewann Charakter und Ausdruck
für ſie nicht erſt vermittelt durch reiche Melodieentwicklung, und nicht erſt
vermittelt durch Harmonik und damit verbundene feinere Rhythmiſirung der
Stimmführung, ſondern in rein unmittelbarer Weiſe, wie z. B. der Farbenton
eines Gemäldes ſchon durch ſich ſelbſt Ausdruck einer gewiſſen Stimmung iſt.
An beſtimmte Tonarten, Tonlagen, Taktbewegungen, Inſtrumente knüpfte
ſich im griechiſchen Bewußtſein der Eindruck einer beſtimmten Stimmung,
Gemüthsverfaſſung, Gemüthserregung, dieſe Stimmung hörte man heraus
in ihrer Eigenthümlichkeit, in ihrem Contraſt zu den andern, ſie fand man
einfach immer wieder, ſo oft die entſprechenden Töne erklangen; daher auch
die großen Wirkungen der Muſik auf das Gemüth, weil ſie ſogleich einen
beſtimmten Stimmungstypus mit allen in ihm enthaltenen ethiſchen Be-
ziehungen direct veranſchaulichte. Männlich, erhaben kräftig klang ihnen
das Doriſche (das ſpätere Phrygiſche), ecſtatiſch, hochfeierlich das Phrygiſche
(das ſpätere Doriſche), üppig, gehoben und muthvoll das Aeoliſche (unſer
Moll mit kleiner Septime), zur Klage geeignet, mild, kindlich das Lydiſche
(unſer Dur), etwas kräftiger wieder das Joniſche (Dur mit kleiner Septime),
indem, wie es ſcheint, das bedeutſame, erſchwerte, gleichſam Hemmungen
überwindende, ernſtere Dahinſchreiten der Molltonarten einen erhabenen und
erhebenden, das leichte, klare Dahingehen der Durtonarten aber einen mattern,
erſchlaffendern Eindruck auf den Sinn der Alten machte, ſo daß ihnen alſo
„Dur“ Moll und „Moll“ Dur war, ein charakteriſtiſcher Unterſchied der
antiken, ethiſchpraktiſchen, männlichen und der modernen, gemüthlichen, in
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 73
[1128]freiem Aufſchwung, in ungetrübtem Wohlgefühl individuellen Daſeins allein
befriedigten Empfindungsweiſe, der aber auch deßwegen nicht auffallen darf,
weil die Alten in Ermanglung der harmoniſchen Ausdrucksmittel ſolche in
der Tonbewegung ſelbſt ſuchen und daher diejenigen Tongeſchlechter bevor-
zugen mußten, welche bereits an ſich concrete Farbe haben und dieſelbe auch
der uniſonen Melodie mittheilen. Eine ſolche Muſik des unmittelbarſten
Idealiſmus war natürlich blos dadurch auf die Länge möglich, daß ſie keine
weitern Anſprüche machte als die, einerſeits den Stimmungsausdruck der
dramatiſchen und lyriſchen Poeſie zu verſtärken, zu ſchärfen, zu heben,
rhythmiſch zu beleben, jeder Art von Feier gleichſam als letzten, den Stim-
mungscharakter ſymboliſch klar bezeichnenden Umriß noch die Töne der einen
oder andern Scala in melodiſcher Bewegung beizugeben, andrerſeits aber
eben durch dieſe feſte und klare Tonſymbolik, ſowie durch das feſte Takt-
maaß, durch die Einfachheit des uniſonen Klanges, durch die gehaltene und
gemeſſene, wenig Intervallwechſel zulaſſende Melodiebewegung den Stim-
mungsausdruck zu idealiſiren, ihm im Gegenſatz zu allem Naturalismus
leidenſchaftlicher Erregtheit die Geſchloſſenheit in ſich ſelbſt, die höhere geiſtige
Ruhe zu verleihen, welche der plaſtiſche Sinn des Hellenenthums von der
Kunſt als eine Pflicht forderte, weil ſie auch das ſtärker erregte Leben in
feſtem, allgemeingültigem Maaß, in idealer Geſetzmäßigkeit darſtellen ſollte
(wovon ſelbſt nicht die bewegtere dithyrambiſche Weiſe, ſondern nur die
orgiaſtiſche Muſik dionyſiſcher Culte eine Ausnahme machte); die Muſik
wirkte nur zum Ganzen mit, als belebendes und als maaßgebendes Element
zugleich, und ſie blieb daher melodiſchrhythmiſche Declamation und Beglei-
tungsmuſik, ſie trat nur wenig aus dieſer Stellung heraus, die ſie feſt-
halten mußte, wenn nicht die mit ihr untrennbar verflochtene Dramatik
und Lyrik ſelbſt zu Grund gehen ſollte. Das naturgemäße Bedürfniß nach
concreterer Belebung der Muſik durch Harmonie machte ſich auch geltend;
die Monodie wurde bereits mit höhern und tiefern Octaven-, Quint-,
Quartklängen der Lyra begleitet; aber weiter zu gehen, auch die andern,
die ſogen. diaphoniſchen Intervalle, wie die Terz, anzuwenden oder gar den
Zwei- zum Dreiklang zu erweitern, dieß gelang nicht oder fand es, wenn
es verſucht ward, Mißbilligung; was die klare Durchſichtigkeit der Muſik
alterirte, galt dem griechiſchen Ohre als verletzend, und auch die Verſuche
diaphoniſche Intervalle anzuwenden hatten wohl mehr das Streben nach
größerer Mannigfaltigkeit, namentlich der Inſtrumentenmuſik, als ein Be-
dürfniß nach gefühlreicherer Erwärmung der uniſonen Muſik zu ihrer Grund-
lage; die Muſik ſollte ja überhaupt die Gefühle nicht aufregen, nicht ſchmelzend
auf das Gemüth wirken, ſondern dem das Gemüth erfaſſenden muſikaliſchen
Stimmungsausdruck ſtets zugleich Beſtimmtheit, klare Form, feſtes Maaß,
geregelte Bewegung geben und ſo in derſelben Art vor Allem beruhigen,
[1129] wie das Geſammtkunſtwerk mit ſeinen geſchloſſenen Formen überhaupt; nicht
die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurchſichtiges hat und gerade
auch hiedurch auflöſend und erweichend wirkt, ſondern eine ideale Harmonie,
die Harmonie der Reinheit diſtincter Klänge, die Harmonie der klar durch-
ſichtigen, direct ſymboliſchen Stimmungsveranſchaulichung, der Haltung und
der Gemeſſenheit war es, was man wollte; man verſchmähte, weil man die
Muſik wie die andern Künſte plaſtiſch auffaßte, ihr ſubjectives maleriſches
Element, das nun einmal verſchlungenere Tonbewegungen und Tonver-
knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kunſt, wo ſie
öffentlich auftrat, es zuließ. Die Muſik mußte aber mit dieſem directen
Idealiſmus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerſt klar und ſcharf
unterſchied (vergl. §. 769, 1,) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach
ſchönen Stimmungsausdruck ſuchte; erſt im Gegenſatz zu der hiemit gegebenen
typiſchen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders ſcharf geſchiedener Ton-
geſchlechter und zu der Kälte und Lebloſigkeit des monotonen Ein- und
Octavenklangs konnte ſich der Schmelz, der modulatoriſche Fluß, die Weich-
heit und Lebendigkeit harmoniſcher Muſik entwickeln.
§. 824.
Die Impulſe, welche das Chriſtenthum mit ſeinem das Gemüth im1.
Innerſten erfaſſenden und aufſchließenden Bewußtſein des ebenſo tiefen als ewig
zur Verſöhnung aufgehobenen Gegenſatzes zwiſchen dem Endlichen und Unend-
lichen der empfindenden Phantaſie gegeben hatte, ſchaffen nicht ſogleich eine
weſentlich neue muſikaliſche Kunſtform. Die Kirche erhält die höhere Muſik
und rettet ſie aus dem Alterthum in’s Mittelalter herüber, ſie ſtellt den Aus-
druck als allein beſtimmendes Prinzip auf, gibt dem Geſang mehr Innigkeit
und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typiſchen Formen
feſt. Die Melodie bleibt Sprechgeſang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort-
ſchreitend (Cantus planus), einſtimmig, die Anfänge zu harmoniſcher Begleitung
gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen dieſe2.
Monotonie durch die Ausbildung der Harmonie, welche gegen den Ausgang
des Mittelalters zur Polyphonie fortſchreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit
einer vollern und tiefern muſikaliſchen Darſtellung realiſirt ſich nur allmälig,
da die neugewonnene polyphone Harmonie zunächſt gegen die Melodie ſich ver-
ſelbſtändigt, gegen die Rückſicht auf den Stimmungsausdruck ſich abſchließt und
in eine leere Syſtematik, in eine abſtracte Form ausartet, welche der Geiſt
zunächſt noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche
er aber beharrlich feſthält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter
Individualiſirung der Stimmführung und geſetzmäßigen Fortſchritts der Ton-
folge vertreten iſt.
73*
[1130]
1. Die Anſätze zu belebterem Stimmungsausdruck, welche die wenigen
Notizen über den älteſten chriſtlichen Cultus durchblicken laſſen, bleiben ver-
einzelt und ohne Erfolg, indem die ecſtatiſchen Gefühlserregungen des ſog.
Zungenredens, in welchem der ſeiner Verſöhnung mit dem Göttlichen in
unendlicher Selbſtgewißheit ſich bewußt gewordene Geiſt offenbar eine neue,
ſeinem überwallenden Gefühl entſprechende Aeußerungsform ſuchte, zu geſtaltlos
waren, als daß ein neuer muſikaliſcher Stimmungsausdruck ſich aus ihnen
hätte entwickeln können; das ecſtatiſche Element, dieſer reine Gegenſatz zum
Antiken, tritt wieder zurück, der Kultus nimmt feſt geregelte Formen an;
der kirchliche Prieſter- und Chorgeſang erhält wieder eine ähnliche Beſtim-
mung wie im Alterthum, die Beſtimmung feierlich declamatoriſcher Beglei-
tung religiöſer Handlungen und feierlichen Vortrags religiöſer Geſänge,
Gebete, Hymnen, Pſalmen, evangeliſcher Abſchnitte u. ſ. f. Der Ausdruck
kommt aber mehr zu ſeinem Rechte, die Texte ſind einfacher, die Muſik kann
mehr für ſich heraustreten, als es in der ehemaligen Verbindung mit einem
concreten, ſtreng rhythmiſch gegliederten poetiſchen Inhalt möglich war, die
Stimmungsunterſchiede der Tonarten werden immer noch wirkſam verwendet,
aber der Stimmungsausdruck des einzelnen Geſangſtücks iſt jetzt das We-
ſentliche; ſo einfach Alles noch iſt, ſo weht doch in den Monodien des
kirchlichen, „gregorianiſchen“ Geſangs eine an den Inhalt ſich anſchmiegende
Weichheit, die auf höhere Formen der Ausbildung bereits hinausweist.
Die Muſik folgt in gleichlangen Noten, in gleichförmigem, nur zum Behuf
beſondern Ausdrucks größere Intervalle ergreifendem Vor- und Herum-
ſchreiten auf der Scala, ohne Takteintheilung, meiſt ſyllabiſch geformt dem
Texte und läßt deſſen Wort- und Sylbenrhythmus klar durchſcheinen, es
iſt nur Sprechgeſang, aber durch Wahl der Tonart, durch treffende Hebungen,
Senkungen, Wendungen muſikaliſch ausdrucksvoller, melodiöſer Sprechge-
ſang, obwohl von melodiſcher Gliederung, Periodiſirung noch nicht die Rede
iſt, es iſt alle äußere Form aufgelöst in die einfach der Stimmung nach-
gehende, ſie in Einem Zuge, ohne Ein- und Abſchnitte wiedergebende Aus-
ſprache des religiöſen Gefühlsinhalts; auch Schönheit der Muſik als ſolcher
iſt nicht Zweck, ſie iſt nur ſchön in ihrer treffend ausdrucksvollen Einheit
mit dem Inhalt, jedoch hier mit dem Unterſchied vom Antiken, daß die
größere Innigkeit des Ausdrucks, indem ſie zugleich eine durchaus klare
und einfache bleibt, auch eine muſikaliſche Schönheit einzelner Wendungen
mit ſich führt, welche die antike Muſik wohl nicht gekannt hatte. Kurz es
iſt ein indirecter Idealiſmus, aber noch nicht in Oppoſition gegen das
Prinzip einfacher Schönheit, ſondern dieſes ſelbſt innerhalb ſeiner reprodu-
cirend und neu geſtaltend in Folge der Unmittelbarkeit, mit welcher der
Geſang, obwohl er nicht mehr blos die „allgemeinen“ Ausdrucksmittel
gebraucht, doch überall die nächſtliegenden ergreift und ſo die Durchſichtig-
keit, die reine Idealität ſich bewahrt.
[1131]
2. Vollkommen wird die Muſik über das antike Prinzip erſt hinaus-
geführt durch die Einführung der Harmonie. Die Monotonie des uni-
ſonen, blos melodiſchen Geſangs ruft zwar auch in Italien, wo ſie ſich
vorzugsweiſe ausgebildet hat, ſchon ſeit dem ſiebenten Jahrhundert einzelne
Verſuche mehrſtimmiger Belebung des Geſangs (wie ſchon im Alterthum)
hervor, aber erſt vom deutſchen Geiſte wird ſie in ihrer ganzen Leerheit
empfunden, ſeitdem man hier zuerſt nur ſchüchtern taſtend auf die Harmo-
nieverhältniſſe der Intervalle aufmerkſam geworden war und angefangen
hatte die Hauptſtimme mit conſonirenden Nebentönen zu begleiten; mit
dieſer, wie es ſcheint, ſeit dem zehnten Jahrhundert in Flandern, wo auch
die Malerei einſt am beſtimmteſten den concreten ächt maleriſchen Styl der
flachern italieniſchen Anmuth entgegenſtellen ſollte, ſyſtematiſcher behandelten
und practiſch gemachten Erfindung beginnt erſt die Muſik der Neuzeit, die
ganze und volle Muſik überhaupt. Es war nichts Anderes als das Wohl-
gefallen am Mitklingen der einen Stimme zur andern und an den in dem-
ſelben zu Tage kommenden geſetzmäßigen Klangverhältniſſen, was einem
Hucbald u. A. für die Harmonie ein ſo belebtes Intereſſe einflößte; die
altitalieniſche Muſik ſetzte zwar mit Recht der antiken die Melodie, die Zu-
ſpitzung des abſtracten bloßen Tonganges zu individuellerer, dem ſubjectiven
Gefühl genügender Geſtaltung entgegen, aber ſie war in dieſer ſelbſt
wiederum plaſtiſchen Herausführung des Innern zur Selbſtdarſtellung in
einfach ebenmäßigem, planem Linienumriß ſtehen oder vielmehr ſchweben
geblieben, ſie hatte wie alle italieniſche Kunſt etwas einſeitig Superficielles,
ein Heraustreten des Innern an die Oberfläche in klarer, großartiger
Zeichnung, aber ohne Tiefe und Lebenswärme; hier aber iſt es anders,
man will erſtens nicht blos dieſes einfache Linienziehen, das von einem
Momente zum andern vorwärts ſchreitet und damit zwar einen klaren, aber
auch einen leeren Eindruck macht, man will nicht mehr den Einzelton, ſon-
dern ein Tonganzes, man will um jeden Preis der Längendimenſion die
in die Breite und Tiefe, dem dünnen Laute den volleren, wärmeren Klang,
dem Tonumriß die Tonfärbung, und man will zweitens dem tonus vagus,
der auf den Stufen der Leiter aufundabirrt, den beſtimmten Ton, beſtimmte
Klangverhältniſſe beigefügt haben, die in die Muſik ein Element der Geſetz-
mäßigkeit und ſomit neben der Wärme auch etwas Strafferes, Strengeres,
Tieferes bringen, man will nicht blos Kunſt, Melodiecompoſition, Subjec-
tivität, ſondern Natur, eine natürliche Geſetzmäßigkeit, eine Objectivität,
einen realen Hintergrund, auf welchem das Subjective ſich bewege, wie
dieß Alles auch die deutſche und beſonders die flandriſche Malerei (§. 728)
in entſchiedenſter Weiſe erſtrebte. Damit entſteht nun aber freilich auch eine
einſeitige Richtung in der Entwicklung, die alle ſonſtigen Cruditäten der
mittelalterlichen Kunſt noch weit hinter ſich läßt. Die Harmonie wird
[1132] zunächſt in abſtracter Selbſtändigkeit genommen; man begleitet die Haupt-
ſtimme mit fortgehenden Quarten und Quinten, als ob dieſe Klangverhält-
niſſe, weil ſie geſetzmäßig und natürlich ſind, nun überall angewandt werden
müßten, man zerſtört mit dieſen gleich fortlaufenden Zweiklängen nicht nur
alle Abwechslung, ſondern auch alle wirklich harmoniſche Fortſchreitung,
weil dabei alle natürliche Accordverbindung durch den Mechanismus des
Fortrückens in gleichen Intervallen unmöglich gemacht iſt. Allmälig, gegen
den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts ſind zwar endlich die richtigen
Grundſätze über den nothwendigen Intervallwechſel bei der Fortſchreitung
und über die Auflöſung der Accorde durchgedrungen, der Italiener Marchetto
von Padua und der Franzoſe Jean de Meurs ſtellen ſie auf, ſie bringen
in die Harmonie das wieder hinein, was ſie mit der Melodie gemein
haben muß, die Biegung, die Hebung und Senkung, durch die Accordwechſel
und Accordübergang ermöglicht wird, und es iſt ſomit die wahre Harmonik
gewonnen; zugleich hatte die Vertiefung des Geiſtes in die Harmonie vom
zwölften Jahrhundert an Anſtoß gegeben zur Ausbildung der Metrik und
Rhythmik, ſoweit ſie für das Nebeneinanderhergehen mehrerer Stimmen
erforderlich iſt, und es war alſo auch hiemit ein weiteres Element objectiver
Geſetzmäßigkeit, das in der altitalieniſchen Muſik verloren gegangen war,
wieder hergeſtellt. Allein dieſes Prinzip harmoniſcher Vielſtimmigkeit tritt
dem Prinzip des Ausdrucks, das bei jener noch rohen Harmonie gleichfort-
ſchreitender Intervalle ganz zerſtört war, abermals in den Weg und hebt
wiederum wie jene die Harmonie ſelbſt, die ſie zu cultiviren meint, auf.
Die Vielſtimmigkeit wird Polyphonie, einfacher, doppelter, mehrfacher Contra-
punct, Canon; der Geiſt arbeitet ſich, froh darüber, daß er in der Muſik
concrete Mannigfaltigkeit und ein Geſetz entdeckt hat, mit welchem ſich
kunſtvolle Tongebilde hervorbringen laſſen, in dieſe Polyphonie, in die Häu-
fung und Gegeneinanderſtellung der Stimmen ſo hinein, daß die Muſik
ſelbſt, der Ausdruck, die Melodie ihm verloren geht; die contrapunctiſche
Kunſt iſolirt ſich, wird zur mathematiſchen Technik, welche lange Zeit ſich
ſpröde verhält gegen das neben ihr, beſonders durch die Troubadours auf-
blühende melodiſche Lied; wie ein zu ſehr auf’s Einzelne gehendes Natur-
ſtudium der deutſchen und der niederländiſchen Malerei das Durchdringen
zu reiner Schönheit der Geſtalt vielfach verdirbt, ſo, nur in weit größerem
Maaße, iſt es auch hier, das Schöne geht im Gelehrten unter, die Form
im Formalismus. Es kann daher auch nicht anders kommen, als daß
dieſer Formalismus, weil es ihm am Intereſſe für den Inhalt fehlt, am
Ende, ſo ernſter Natur er zu ſein ſcheint, auch in leere Spielerei umſchlägt,
die zwar von den Meiſtern der Kunſt, wie von Josquin des Prés im
fünfzehnten Jahrhundert, nur nebenbei mit Humor betrieben wird, aber
deßungeachtet auf dem Wege iſt, die Muſik ganz von ihrem eigentlichen
[1133] Ziel, der Darſtellung lebendiger Gemüthserregung, abzulenken und des
Gehalts und Ernſtes ſie zu berauben. Zudem bleibt Ein Mangel der
monodiſchen Muſik, das ſchwebende Aufundabirren der Töne ohne feſte
Baßbaſis unbeſeitigt, die Melodie iſt nur multiplicirt, nicht aber eine Ge-
ſchloſſenheit des Kunſtwerks in ſich ſelbſt erreicht, die es nur erhält, wenn
die Harmonie ſich auch nach ihrer der Melodie entgegengeſetzten Seite, als
ſtützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an dieſem
Mangel tritt am klarſten hervor, welches an ſich doch berechtigte Motiv
dieſer einſeitig polyphonen Kunſt zu Grund liegt, es iſt die Stimmenfülle
und Stimmenſelbſtändigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußtſein
individueller Selbſtberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es iſt
das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit ſeiner
lebendigmaleriſchen Mannigfaltigkeit, was der an ſich trockenen Kunſtform
Reiz verleiht und ſie ſogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz
ihrer ſo abſtract ſcheinenden Syſtematik. Nirgends tritt das indirect ideali-
ſtiſche Prinzip, das auf Geſtaltenſchönheit verzichtet und auf weitem Umweg
mit vielen Härten und Schroffheiten eine Geſammtwirkung ſucht, ſo ſpre-
chend heraus und dem direct idealiſtiſchen entgegen, es tritt ihm entgegen
ſelber in der Weiſe der Form, die ſonſt Hauptmoment des andern Prinzips
iſt, weil eben dieſe Form doch das Moment der Individualität, ſowie das
eines naturaliſtiſchern Klang- und Figurenreichthums, zu ſeiner Berechtigung
bringt. Discantus, Auseinanderſingen, bei belebtern Stücken auch Fuga,
Stimmenjagen (welche erſt ſpäter zu dem ſymmetriſcher gebauten Stimmgefüge,
das die jetzige Fuge darſtellt, ſich fortbildete), nannte man dieſe contrapunc-
tiſchen Geſänge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Verſelbſtändigung
und das freie Gegeneinanderſpielen der Stimmen der Zeit ſelbſt als das
Charakteriſtiſche, als das was ſie eigentlich wollte, vorſchwebte; kommt es doch
vor Paleſtrina ſo weit, daß man in extremſter Oppoſition gegen die altkirch-
liche Monotonie in der Liturgie verſchiedene Stücke derſelben, ja nebenbei
weltliche Melodieen, zuſammen und durcheinander ſingt, weil eben die In-
dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr ſich fügen will.
§. 825.
Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine
Umbildung hauptſächlich der kirchlichen Vocalmuſik; ſie bringt in ſie eine Viel-
ſtimmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche ſie erſt wirk-
licher Chorgeſang, Muſik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem
religiöſen Inhalte bewegten Geſammtheit wird. Die niederländiſchen
Meiſter bilden ſie in dieſer Richtung immer weiter aus, das Moment des
rein Muſikaliſchen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl erſt
[1134]Orlandus Laſſus im ſechszehnten Jahrhundert dieſe Kunſtform zu der
Großartigkeit des Ausdrucks erhebt, der ſie fähig iſt. Zu derſelben Zeit wird
die harmoniſch polyphone Muſik in Italien von Paleſtrina auf eine Stufe
der Ausbildung erhoben, welche zugleich Grundlage eines neuen Styles wird.
Der religiöſe Ausdruck und die Klarheit werden Hauptgeſetz; die Polyphonie
wird mit ausdrucksvoller Weichheit des in einander Ueberfließens der Stimmen
und mit ebenſo durchſichtiger Auseinanderhaltung derſelben behandelt; das
melodiſche Prinzip der altkirchlichen Muſik wird wieder aufgenommen und durch
die Harmonie erwärmt und beſeelt, zugleich aber durch die lichte Einfachheit
dieſer Harmonie, durch ruhigen Rhythmus, durch beſchränkte Anwendung der
Figurirung dem Element des Ausdrucks eine ſtrenge Formſchönheit und eine
Hohheit und Großheit beigegeben, durch welche das die Grundlage bildende
indirect idealiſtiſche Prinzip der Klangfülle und Stimmenindividualiſirung in
erhabenſter Plaſtik wieder zur reinen Idealität verklärt iſt.
Die bedeutendſten niederländiſchen Meiſter, Dufay, Ockenheim, Josquin
de Prés führen in ernſter, jedoch noch trockener Weiſe, zum Theil in An-
lehnung an kirchliche oder Volksmelodieen, welche ſie mit contrapunctiſch
geführten, theils unter, theils über der Hauptſtimme herlaufenden Neben-
ſtimmen umgeben, die Polyphonie in die Vocalmuſik, insbeſondere in die
kirchliche, ein; am freieſten verfährt hierin Josquin, deſſen Charakteriſirung
durch Luther, daß ihm es die Noten machen müſſen, wie er es wolle, die
Andern aber, wie die Noten es haben wollen, zugleich zeigt, wie wenig es
bis zum ſechszehnten Jahrhundert im Ganzen gelungen iſt die ſpröden Kunſt-
formen zu beherrſchen, ihnen Leben und Geiſt einzuhauchen. Mit dem
höhern geiſtigen Aufſchwung des letztgenannten Jahrhunderts erreicht die
niederländiſche Schule ihren Höhepunct in den Werken des O. Laſſus,
welche eine reiche Stimmenfülle mit unverkennbarer Tendenz auf Großartig-
keit vereinigen, aber mit dem formaliſtiſchen Prinzip nicht in ſo ausge-
ſprochener Weiſe zu brechen die Abſicht haben, wie dieß in Italien geſchieht.
Hier, in Rom, tritt der Bruch ein zwiſchen dem abſtracten Formalismus
und der Forderung des Ausdrucks, der Klarheit und der Würde für die
kirchliche Muſik. Paleſtrina gibt der polyphonen Figuralmuſik zurück,
was ihr in dieſer Beziehung fehlt; er verwendet aber zugleich auch für die
einfache melodiſche Muſik des gregorianiſchen Sprechgeſangs die Harmonie
in wirkſamſter, großartigſter Weiſe. Die Melodie erhält an der Harmonie
eine tragende Baſis und damit feſtere Haltung und größere Kraft; die
Melodie wird in ihrer alten Einfachheit belaſſen, aber eben auf Grundlage
dieſer Einfachheit wird ſie mit der Harmonie, d. h. ſowohl mit bloßen
Accorden als mit ſelbſtändiger ſich bewegenden, antwortenden, ausfüllenden,
einzelne Wendungen ausführenden Nebenſtimmen dergeſtalt verſchmolzen,
[1135] daß das Ganze nur eine ſich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird,
eine Muſik, welche nicht blos melodiſch, ſondern harmoniſch anſpricht, die
Seele nicht blos melodiſchklar, ſondern auch harmoniſchweich ergreift, ſie
auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie entſtehenden Stimmungs-
töne (Ausdrucksſchattirungen), wie die Stimmen ſelbſt nichts für ſich bedeuten
wollen, ſondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in
daſſelbe zurückzugehen und zu ſeinem hellen weichen Klange mitzuwirken; es
iſt (S. 897) beſtimmte Muſik, umhaucht und umſchwebt von der Muſik
überhaupt. Zugleich aber iſt dieſe Harmonie eine ſo lichte, unweichliche,
gediegene, von allem Süßen und Pathetiſchen reine, einfache, durch die
antiken Tonarten allerdings ſehr beſtimmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß
Alles ebenſo ſehr klar aus einander tritt, als es zuſammenklingt, und Alles
ebenſo ruhig ſich gegen einander bewegt, als es ſchön in einander fließt;
desgleichen iſt der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim-
men z. B. kleine ſchnellere Tongänge ausgeführt werden), ſo ebenmäßig,
daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen ſcheint in der Bewegung,
nirgends geſtört oder erſchüttert wird. Von dramatiſcher Erregtheit iſt keine
Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es iſt eine
plaſtiſche Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen
wärmeren und beſtimmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht ausſchließt,
aber doch in der Art, daß der gleichbemeſſene Rhythmus des Ganzen auch
hier nur vorübergehend in einfacher Weiſe belebt wird, das Gleichgewicht,
in dem Alles ſich bewegt, ſomit keine Störung erleidet. Die Idealität
wird noch beſonders verſtärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus-
drucksmittel; die Menſchenſtimmen, zu mehrſtimmigen Solo’s oder Chören
vereinigt, ſprechen das Ganze aus für ſich allein und ohne ſelbſt ein ſubjec-
tives Ausdrucksvollſeinwollen in daſſelbe zu legen, die Sache allein ſoll
wirken und der Ausdruck vor Allem darin beſtehen, daß nichts ſich vor-
drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen ſtöre und abſchwäche.
§. 826.
Während die römiſche Schule den Styl Paleſtrina’s fortſetzt ſowohl
nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher
letztere beſonders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt ſich in
Italien ſeit dem Anfang des ſiebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen
Madrigalmuſik die Oper, welcher das Oratorium und eine höhere Aus-
bildung der Inſtrumentalmuſik für den Zweck der Geſangsbegleitung auf
dem Fuße folgt. Die weltliche Muſik wirkt auf die kirchliche zurück und
befördert das in dieſer ſelbſt erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach
freierer Ausbildung des melodiſchrhythmiſchen Elements, nach reicherer Figura-
[1136] tion, ohne zunächſt den Gehalt und die Strenge des Styls aufzuheben; die
religiöſe Muſik Italiens wird ſo dasjenige Gebiet, auf welchem die moderne Muſik,
ſo weit ſie nicht dramatiſch iſt, die Ausbildung zu einer die Form bemeiſternden,
ſie zum einfach ſchönen Ausdruck des Gefühlsinhalts erhebenden Claſſicität
erlangt, wiewohl dieſelbe am Ende des achtzehnten Jahrhunderts bereits in eine
der Tiefe ermangelnde Anmuth und Weichheit überzugehen beginnt. Die Oper
bildet das Recitativ, mit dem ſie begonnen, zur Arie fort und bringt hiemit
ein Hauptelement der dramatiſchen Muſik zu claſſiſcher Entwicklung, aber ſie
bewegt ſich in Italien von vorn herein in einſeitig melodiöſer Tendenz, welche
ſie hindert, ſich zum wirklich dramatiſchen Kunſtwerk auszubilden, und auch ſie
wieder einem Formalismus anheimfallen läßt, dem Formalismus einer die Oper
zum bloßen Rahmen für die verſchiedenen Formen der Geſangsmuſik zurichtenden
und dieſe ſelbſt in Singkunſt verwandelnden Vorliebe für das Aeußere der
Geſangsvirtuoſität.
Die italieniſche Muſik bleibt großartig und gediegen, ſo lange und
ſo weit ſie das urſprünglich deutſche Element der Harmonie als Grundlage
der Compoſition fortbeſtehen läßt. Die Polyphonie und die Verbindung
der Harmonie mit der Melodie war jedoch auch innerhalb des Prinzips
directer Idealiſirung, welchem die italieniſche Muſik dieſe ihr von außen
zugekommene Kunſtform wieder unterworfen hatte, noch weiterer Ausbildung
fähig, und es zeigt ſich daher ſchon in der römiſchen Schule eine über
Paleſtrina hinausgehende Entwicklung; die Weichheit der Harmonie, das
Gefühlvolle findet in Nanini und im ſiebenzehnten Jahrhundert in Allegri
ihre Hauptvertreter, deſſen berühmtes Miſerere die Melodie d. h. das in
dieſer ſelbſt, in ihren Wendungen und Hebungen liegende Ausdruckselement
ſchon ſelbſtändiger hervortreten läßt, ohne jedoch die Mitwirkung der
Harmonie in Paleſtrina’s Weiſe irgend an ausdrucksreicher Bedeutſamkeit
verlieren zu laſſen. Auf der andern Seite findet auch das Prinzip der
ſonſt mehr in Deutſchland ausgebildeten, möglichſt geſteigerten Vollſtimmig-
keit in ſeinem Zeitgenoſſen Benevoli ſeine Vertretung innerhalb der römiſchen
Schule, wiewohl immer noch mit verhältnißmäßig einfacher Figurirung der
Stimmen. Es lag in der Natur der Sache, wie des italieniſchen Geiſtes,
daß das melodiſche Element ſich mehr und mehr hervordrängen mußte, das
ſchon Paleſtrina ſelbſt dem einſeitig harmoniſchen entgegengeſtellt, dann
aber allerdings mit dieſem wieder untrennbar verſchmolzen hatte; eine ge-
wiſſe Gleichförmigkeit obligat wiederkehrender melodiöſer Wendungen, welche
ſtehendgewordenen harmoniſchen Combinationen (beſonders am Schluſſe der
Sätze und Perioden) dient, ſowie eine entſchiedene Mäßigung der ſelb-
ſtändigen Bewegung der polyphon zuſammenwirkenden Stimmen, iſt der
ältern römiſchen Schule noch eigen, weil ſie die Einzelſtimmen noch nicht
[1137] individualiſiren, ſondern ſie nur zum Ganzen mitwirken laſſen will; hiebei
aber konnte nicht beharrt werden, der italieniſche Charakter verlangte un-
mittelbar in’s Ohr fallende Klarheit des Ganges der Melodie, und dieſem
Trieb kann auch die römiſche Schule nicht widerſtehen. Vollkommen aber
wird dieſes Prinzip der Stimmenindividualiſirung in’s Leben eingeführt
erſt in Folge der Erfindung der Oper, die eben aus dem Drange der
italieniſchen Natur nach freier, nicht durch die Harmonie gebundener muſika-
liſcher Bewegung, nach freiem Ausdruck des Charakters und Verlaufs
ſubjectiver Stimmungen, wie ſolche im Drama auftreten, hervorgegangen
iſt. Die durch das Madrigal über die kirchliche Sphäre hinaus in weitere
Kreiſe gedrungene Vocalkunſtmuſik folgt endlich ſeit dem Schluſſe des ſechs-
zehenten Jahrhunderts dem auf andern Kunſtgebieten ſchon früher durchge-
brochenen Streben, die überlieferten ſtereotypen Formen zu verlaſſen und mit
vollkommen freier Handhabung der Mittel, mit freier Erfindung einer ſchön
charakteriſtiſchen, lediglich dem Weſen des eben vorliegenden Gegenſtandes ſelbſt
entnommenen Darſtellung der Kunſtſtoffe ſich zu widmen; angeregt durch
die Erinnerung an das antike Drama, beginnt man dramatiſche und zwar
zunächſt mythologiſche Stoffe, welche charakteriſtiſche, ſangbare Situationen
und Handlungen darbieten, mit Muſik in Scene zu ſetzen. Hiemit iſt der
Muſik ein neues Gebiet eröffnet, das Gebiet des beſtimmtern Ausdrucks
des Individuellen, des Pathetiſchen und des Rührenden, ſowie der dra-
matiſchen, die Entwicklung einer Stimmung verfolgenden, in ihr Einzelnes
eingehenden Schilderung. Die Opernmuſik iſt ebendeßwegen zunächſt blos
Recitation, hie und da wechſelnd mit kleinen, zuſammenfaſſenden, ab-
ſchließenden Chören, ſowie verbunden mit einer zur Belebung dienenden,
wenn gleich noch ſehr einfachen Inſtrumentenmuſik; aber das neue Prinzip
der Individualiſirung der Muſik iſt damit ſeiner noch ſehr unentwickelten
Geſtalt ungeachtet ein für allemal aufgeſtellt und verfehlt nicht vorherrſchenden
Anklang in Italien zu gewinnen. Das geiſtliche Drama, das Oratorium
und Cantate erhält im Verlauf des ſiebenzehenten Jahrhunderts, beſonders durch
Cariſſimi eine ſchöne, bewegte Recitation mit melodiſchen Arien und vollern,
kunſtreichern Chören vereinigende Ausbildung, durch welche dieſe Kunſtgattung
zwiſchen die im Ganzen noch ſehr muſikloſe Oper und die Harmoniefülle
der Kirchenmuſik in die Mitte tritt. Seit dieſer Zeit iſt nun ein entſchie-
dener Einfluß des von Oper und Oratorium vertretenen rhythmiſchmelodi-
ſchen Prinzips auf die kirchliche Muſik vorhanden. In Neapel und Venedig,
wo die Oper ihre Hauptſtätte findet, wird, nicht ohne Einflüſſe von
Deutſchland her, auch die Kirchenmuſik freier in Melodie, Rhythmus, Har-
monie und Charakteriſtik; die Stimmen werden individualiſirt, ſie treten
in den polyphoniſchen Werken ſchärfer und geſonderter aus einander, ſie
erhalten belebtere rhythmiſche Gliederung, mannigfaltige inſtrumentale Be-
[1138] gleitung, die Figurirung verdrängt immer mehr den ebenmäßigen Cantus
planus, der gregorianiſche Geſang iſt bald nicht mehr als Grundlage der
italieniſchen Kirchenmuſik zu erkennen; die freien Formen der recitativiſchen
und arioſen Monodie, des Vocalterzetts u. ſ. w. werden mit Vorliebe er-
griffen, die Harmonie und Modulation durch reichere Anwendung der zu-
ſammengeſetztern Accorde und durch Beſeitigung des ausſchließlichen Ge-
brauchs der Kirchentonarten mannigfaltiger und vielſeitiger; die charakteriſtiſche
Geſtaltung der einzelnen Tonſtücke je nach ihrem Inhalt und der ſubjectiveren
Auffaſſung des Componiſten verdrängt, namentlich in den ſog. Kirchen-
concerten mehr und mehr die typiſche Behandlung, ſo daß die Kirchenmuſik
allmälig einen reihen Kreis mannigfaltiger Productionen aus ſich empor-
treibt, der im ſechszehenten Jahrhundert noch unmöglich geſchienen hatte.
Der einſt durch die flandriſchen Meiſter und durch Paleſtrina gegebene
Impuls zu gehaltvoller und polyphoniſch tiefer Compoſition wirkt deßun-
geachtet auch außerhalb der römiſchen Schule fort; religiöſe Compoſitionen
der Gabrieli, Lotti, Caldara aus der formenreichen venetianiſchen und der
Scarlatti, Aſtorga, Durante, Leo aus der gelehrten neapolitaniſchen Schule
athmen immer noch religiöſe Kraft, Innigkeit und Würde, und erſt allmälig
machen im Laufe des achtzehenten Jahrhunderts dieſe Eigenſchaften bei
einem Marcello und Pergoleſi entſchiedener einer formellern Schönheit,
Anmuth und Weichheit Platz, welche mehr dem Oratorium und der Oper
als der kirchlichen Muſik angehört. Damit hat die Muſik in Italien ihren
Kreislauf vollendet; ſpätere Entwicklungen der italieniſchen Muſik ſtehen
weſentlich unter franzöſiſchem und deutſchem Einfluß; die Miſſion Italiens
iſt hier wie auf dem Gebiet der Malerei die Ergänzung des antiken plaſti-
ſchen Prinzips durch das concretere, realiſtiſchere moderngermaniſche Prinzip
und die Zurückführung dieſes letztern zur Schönheit der unmittelbar wohl-
gefälligen Erſcheinung. In Folge dieſer Tendenz war Italien auch die
Wiege der Oper geworden, die ja nur da entſtehen konnte, wo der Drang
zu freimelodiſcher, einfach ſchöner Muſik lebendig war. Aber hier reicht
nun das italieniſche Prinzip nicht vollkommen zu; Italien ſchuf die Oper,
ohne ſie ihrem wahren Begriff nach realiſiren zu können. Das trockene,
ſteife Recitativ treibt zur Arie fort, deren über das Lied weit hinaus-
gehende Beſtimmtheit und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks nur in Italien
zugleich mit dem ſchönen Fluß und dem leichten Schwung der Melodie,
ohne den ſie eckig und unbeholfen bleibt, ausgebildet werden konnte; die
Vereinigung dieſer beiden Elemente hat italieniſche Lebhaftigkeit und ita-
lieniſcher Formſinn geleiſtet. Aber je mehr die Geſangsmuſik zu dieſer
freien Schönheit ſich entwickelt, deſto mehr wird die ſchöne Form Selbſt-
zweck, deſto mehr geht die Vocalmuſik über in Geſangsvirtuoſität.
Nicht als ob blos das Mechaniſche der Technik Gegenſtand des Intereſſes
[1139] wäre; ſondern die Geſangkunſt wird in Italien, losgetrennt von höherem
dramatiſchem und tieferem Gemüthsausdruck, deßwegen für ſich Object,
weil das in ihr ſtattfindende vollkommene Heraustreten des Innern in
äußere ſinnliche Form, d. h. weil das draſtiſch Pathetiſche einer-, das
anmuthig Weiche andrerſeits, das im Geſange als unmittelbarer und
vollſter Aeußerung innerer Bewegtheit liegt, dem ebenſo ſüdlich lebhaften
und leicht erregbaren als formbegierigen, klare Anſchaulichkeit, treffende
Wirkung, packenden Eindruck verlangenden italieniſchen Geiſte als ein
Höchſtes und Letztes erſcheint; der Geſang iſt ihm für ſich ein lebendiges
plaſtiſches Kunſtwerk der bewegten Subjectivität, das als ſolches ihn be-
friedigt, ſo daß der Inhalt Nebenſache wird. Manches Schöne in Melodie
und Ausdruck mag mit den zahlloſen in den Schutt der Vergeſſenheit be-
grabenen Opern der zwei erſten Jahrhunderte dieſes Kunſtzweiges bis jetzt
verloren gegangen ſein; aber die muſikaliſche Dramatik konnte auf dieſem
Boden nicht gelingen.
§. 827.
In Deutſchland geht aus der Muſik der niederländiſchen Schule eine
ähnliche Blüthe harmoniſch melodiſcher Kunſtmuſik hervor, wie in Italien durch
Paleſtrina. Aber zu ihr tritt mit dem Proteſtantismus die volksthümlichere,
neben gleicher religiöſer Tiefe kräftigere und lebensvollere Form des Chorals
hinzu, welche auch auf jene Kunſtmuſik einen kräftig belebenden Einfluß aus-
übt, wie die Muſik in Deutſchland überhaupt von Anfang an eine mehr auf
innigen Gefühlsausdruck als auf Formſchönheit gehende Richtung einſchlägt.
Ebendeßwegen aber entwickelt ſich die deutſche Muſik langſamer zu einer eigen-
thümlichen Kunſtform; erſt im achtzehenten Jahrhundert erreicht ſie in Sebaſtian
Bach und Händel ihren erſtmaligen Höhepunct. In dem erſten dieſer beiden
Heroen iſt die ganze Strenge und Verwickeltheit harmoniſcher und polyphoner
Kunſt mit einer in die Formen derſelben in vollſter Wärme ſich ergießenden Ge-
müthsinnigkeit und Gefühlslebendigkeit, ſowie mit treffender, bis zum Dramatiſchen
fortgehender Charakteriſtik in einer Art und Weiſe verbunden, welche das
Prinzip des indirecten Idealiſmus in erhabenſter Verwirklichung darſtellt, aber
das plaſtiſche Element der Abrundung, der Durchſichtigkeit, der kunſtvollern
Dispoſition des Tonwerks, der einfach großartigen Styliſirung, der klaren
entſcheidenden muſikaliſchen Wirkung noch nicht ausbildet. Dieſes Element
tritt, durch italieniſchen Einfluß bedingt, in Händel auf, aber durch und durch
geſättigt mit Ernſt des Gefühls, mit Größe des Gedankens und Charakters,
mit umfaſſender, auch das Zarte und Liebliche in anmuthigen, jedoch immer
kraftdurchwehten Formen darſtellender, die Polyphonie zwar beſchränkender,
aber die einfachere Harmonie nur um ſo erhabener verwendender Univerſalität
des Ausdrucks. Während S. Bach ſeiner Eigenthümlichkeit gemäß die formen-
[1140] ſtrenge Kirchenmuſik und die formenreiche Inſtrumentalmuſik zu
ſeinen Hauptgebieten nimmt, bildet Händel vor Allem das Oratorium in
muſtergültiger Vollendung aus.
Die Muſik iſt wie eine moderne ſo insbeſondere eine weſentlich ger-
maniſche Kunſt, da ſie erſt mit dem germaniſchen Element der Harmonie
ſelbſtändige Kunſt und Kunſt vollen Gefühls- und Gemüthsausdrucks wird.
Es iſt daher natürlich, daß auch in Deutſchland die flandriſche Polyphonie
Vertreter erhält, die ſie, wie Paleſtrina’s Zeitgenoſſe Handl, nach der
Seite des Ausdrucks fortbilden. Abweichend aber iſt die deutſche Entwick-
lung von der italieniſchen ſchon darin, daß die Behandlung der polyphonen
Muſik ſchon im ſechszehenten Jahrhundert einen lebhafter rhythmiſch be-
wegten Charakter zeigt; die Kunſtmuſik, ſofern unter ihr vorzugsweiſe
Polyphonie verſtanden wird, iſt zwar ein deutſches Geiſtesproduct, aber
ihre Zurückführung zu der einfachern Form der Figuralmuſik, wie ſie in
Italien ſich vollzieht, kann in Deutſchland ſich nicht auf die Dauer be-
haupten, die deutſche Muſik ſprengt immer wieder die Feſſeln der abſtracten
Form, ſie iſt naturaliſtiſch lebendig, volksthümlich friſch und kräftig; nicht
Sprechgeſang, ſondern Melodie, nicht ideale Hoheit, welche die eigentlich
muſikaliſche Bewegtheit niederhält und nie recht zum Durchbruch kommen
läßt, ſondern der Realismus eines ungebundenen Heraustretens der Em-
pfindung, einer ſich ſelbſt nie genug thuenden, immer zu neuen Figuren
und Tonverknüpfungen greifenden, die Combinationen ſtets mehrenden und
ſteigernden poetiſcherregten Phantaſie iſt auch in der Muſik das ſpezifiſch
Deutſche, zu dem der Naturalismus italieniſcher Componiſten, wie er ſich
in der Vollchörigkeit und Stimmenhäufung eines Benevoli und Lotti dar-
ſtellt, ſich doch immer nur verhält, wie der Geſtalten- und Farbenreichthum
venetianiſcher Malerei zu der realiſtiſchen Fülle und Mannigfaltigkeit der
deutſchniederländiſchen, und ebendarum iſt in Deutſchland auch die Ent-
wicklung der Inſtrumentalmuſik, ſobald ſie begonnen hat, gleich von weit
größerer Bedeutung als in Italien. Vor Allem aber iſt das volksthümliche
religiöſe Lied, der Choral, eine ächt deutſche Kunſtform, wiewohl er zu-
erſt bei den Huſſiten mit charakteriſtiſcher Bedeutung auftritt; in ihm, der
ebendeßwegen auch aus dem Volksliede zu ſchöpfen nicht verſchmäht, iſt
das Ernſte und Tiefe des Religiöſen vereinigt mit der ſubjectiven Innigkeit
und Gefühlslebendigkeit, die ſich nicht in idealer Feierlichkeit ſelbſt wieder
die Schranke hoher Gemeſſenheit anlegt, ſondern in freiem und vollem
Herzenserguß ſich äußern will; der Choral erſt iſt vollkommen Gemeinde-
geſang, Geſang nicht einer idealen Gemeinde, die wieder zwiſchen die reale
und den Gegenſtand ihrer Anbetung hineintritt und dieſe Anbetung an
ihrer Stelle in objectiv typiſcher, kunſtvoll geregelter Weiſe vollzieht, ſondern
[1141] Geſang der realen Gemeinde ſelbſt, Geſang der Individuen, der Herzen,
nicht eines beauftragten, ſtellvertretenden Chors, welcher der Gemeinde
das, was ſie fühlt und fühlen ſoll, darzuſtellen hat und darum nicht ſelbſt
eine Geſammtheit rein unmittelbar von dem geſungenen Inhalte zur Aeußerung
getriebener Perſönlichkeiten iſt. Von ſelbſt ergibt es ſich bei dieſer Eigen-
thümlichkeit der deutſchen Muſik gegenüber der italieniſchen, daß ſie zu einer
ihr Weſen vollkommen ausdrückenden claſſiſchen Form, die hier viel ſchwerer
zu gewinnen war, nicht ſo bald gelangte; der Choral iſt wohl bereits
claſſiſch, aber er repräſentirt nur die Eine Seite, den ſubjectivern Charakter,
den hier das Empfindungsleben und der Empfindungsausdruck annimmt;
die andere dagegen, die individuelle Lebendigkeit der empfindenden Phantaſie,
die in ſolchen einfachern Formen ſich nicht genug thun kann, dieſe konnte
erſt allmälig eine ihr ganz entſprechende Aeußerungsweiſe finden, ſie erhielt
ihren adäquaten Ausdruck erſt in einer Polyphonie, die weit figurirter und
rhythmiſch belebter war als die italieniſche, in einer Polyphonie, die nament-
lich nicht mehr die gleichförmigere Bewegung des Canons, ſondern die Fuge,
die Nachahmung, die Stimmenfigurirung zur Hauptſache machte. Daher
iſt erſt S. Bach derjenige Muſiker, der den eigenthümlich deutſchen Styl
des indirecten Idealiſmus vollendet darſtellt in der Weiſe, die der §. aus-
ſpricht, freilich aber auch in der dort gleichfalls hervorgehobenen Einſeitigkeit
dieſer ganzen Stylrichtung, die ſich namentlich in der bei Bach noch nicht
zu künſtleriſcher Rundung erhobenen, zu ſehr figurirten, ſich zu viel winden-
den und ſchlängelnden, nicht klar zu einfach großem Ausdruck heraustretenden
Solo melodie bemerklich macht. Der Raum geſtattet nicht auf das Große
wie auf das noch Einſeitige dieſes Heros näher einzugehen, in welchem das
Syſtematiſchtechniſche der Compoſition ſeine höchſte Vollendung und die
erhabenſte und reichſte Durchdringung einerſeits mit tiefſter Andacht, innigſter
Herzensergriffenheit, ſüßeſter Lieblichkeit, andrerſeits (beſonders in Inſtru-
mentalwerken) mit unerſchöpflicher Gefühlsbelebtheit und Phantaſiefülle, mit
geſundeſter Freudigkeit, mit charakteriſtiſcher Formenmannigfaltigkeit, ſelbſt
mit dramatiſcher Anſchaulichkeit (in den Paſſionsmuſiken) erhalten hat, aber
doch zur Claſſicität plaſtiſcher Kunſt und einfach concentrirter muſikaliſcher
Wirkung nicht gekommen iſt, weil die Vertiefung in das Spezielle der For-
men und in den ſubjectiven Gefühlsgehalt ihn nicht dazu gelangen läßt.
Auch auf Händel kann nur kurz als auf Denjenigen hingewieſen werden,
der die deutſche Muſik zu dem Grade von Claſſicität und Wirkung, deſſen
ſie damals fähig war, hingeführt hat; das Große an ihm hebt der §. bereits
hervor; beizufügen iſt nur, daß auch Händel die Solomelodie noch nicht
überall in vollen Fluß und Schwung gebracht hat, obwohl ſie bereits viel
weiter als bei Bach entwickelt iſt und ihr bei Händel mehr die Leichtigkeit
als die Einfachheit fehlt (von Arien rein italieniſcher Manier hier abge-
[1142] ſehen); das zarte Gewebe der Einzelmelodie iſt zu fein und ſchwebend für
dieſen maſſiven Styl, der hauptſächlich den Chor großartig ausbildet, ſo
ſchön ſie auch oft durch kräftige Charakteriſtik und tiefen Ausdruck in ein-
zelnen Geſängen und Stellen ſich darſtellt.
§. 828.
In Frankreich entwickelt ſich ſeit der Mitte des ſiebenzehnten Jahrhun-
derts an der Oper das dramatiſche, ſowie überhaupt das draſtiſche, in Melodie
und beſonders im Rhythmus ſcharf zeichnende Element der Muſik; doch muß
auch hier dem Eindringen italieniſcher Geſangseinſeitigkeit, das nicht abzu-
wehren iſt, weil die zu nüchterne, zu antike franzöſiſche Art ein melodiſches
Gegengewicht fordert, durch den deutſchen Gluck eine Schranke entgegengeſetzt
werden. Wie Händel den indirecten Idealiſmus überfüllt werdender Polyphonie
zum directen Idealiſmus einfacherer Harmonie und energiſchen Gefühlsausdrucks
zurückführt, ſo macht Gluck den dramatiſchen Ausdruck zum Prinzip, ſchneidet
die Auswüchſe des Formelweſens in der Geſangmuſik ab, verwendet die Inſtru-
mentalmuſik zu vollerer und ſchärferer Charakteriſtik, wahrt trotz der Verein-
fachung des Geſangs das dramatiſche Pathos, breitet über die Oper durch ſeine
Chöre ein ächtdeutſches Element tiefer Gemüthsbewegtheit aus und ſchafft ſo
zum erſten Mal eine Oper von bleibender claſſiſcher Vollendung, der jedoch die
freiere Bewegtheit ſowohl der Charaktere als der Einzelmelodie, die Wärme
und der Schmelz des Ausdrucks, der volle, unumwundene Erguß muſikaliſchen
Gefühls und Phantaſiereichthums noch fehlt. Die ſpätere franzöſiſche Oper
ermäßigt dieſe Nüchternheit, ſie greift zu belebtern, der Melodieentwicklung
günſtigern Stoffen, bildet dabei das Draſtiſche und das Pathetiſche immer voll-
kommener aus, aber ſie entbehrt fortwährend den tiefen und vollen Farbenton
deutſcher Muſik, ſie behält dieſer gegenüber etwas Kühles und Aeußerliches;
Frankreich geſtaltet, ſtyliſirt die Oper, welche erſt Deutſchland mit muſika-
liſchem Gehalt wahrhaft zu erfüllen beſtimmt iſt; auch bleibt es außerhalb des
Drama’s in der höhern Muſik unfruchtbar.
Im Weſen des franzöſiſchen Geiſtes liegt es, daß er dem rhythmi-
ſchen Element der Muſik und Allem, was hiemit zuſammenhängt, dem
Draſtiſchen u. ſ. w. vorzugsweiſe ſich zuwendet; auch die Volksmelodie
entwickelt ſich zwar reich, denn die Faſſung des Lieds in kurzen muſikali-
ſchen Ausdruck ſagt der Neigung zum ſcharf Charakteriſtiſchen zu, aber ſie
entwickelt ſich ebendeßwegen auch nur in dieſer letztern Richtung. Die Oper
erhält (wie die Malerei §. 733) in Frankreich ſeit Lulli Styl, dramatiſche
Architectonik, bewegte Finale’s, Märſche, Tänze, ſcharfe muſikaliſchrhythmiſche
Zeichnung der Handlung, der Situationen, der Affecte, freilich aber auch
[1143] zu viel Dramatiſches, Ueberladung mit Stoff (große Oper, fünf Acte) und
mit Effect. Das Speziellere geſtattet keine nähere Ausführung; daß Gluck
dem Inhalt das Uebergewicht gibt über den Formalismus, daß ihm aber
das eigentlich Schöpferiſche, der Fluß fehlt trotz ſeiner heroiſchen Claſſicität
und trotz ſeiner nicht blos dramatiſch erregten, ſondern auch gefühlstiefen
Chöre, daß ebenſo die ſpätere franzöſiſche, ernſte wie komiſche Oper bis zu
Boieldieu u. A. herab in der im §. angegebenen Weiſe große ſtyliſtiſche Vor-
züge mit Mangel an Wärme vereinigt, iſt anerkannt.
§. 829.
Auf die Periode Gluck’s folgt in Deutſchland die Epoche der Entwick-
lung des freien und des ſchönen Styls durch Haydn und Mozart, mit
welcher die Muſik überhaupt zur claſſiſchen Vollendung, zur vollſtändigen Ent-
faltung ihrer Hauptformen endlich gelangt.
1. Der durch Bach und Händel vollendeten polyphonen und harmo-
niſchen Compoſition tritt der freie Styl in reicher melodiſcher Entfaltung
gegenüber und ſetzt das ſtreng formale Element zu einem untergeordneten
Moment des Ausdrucks herab. Der indirecte Idealiſmus des deutſchen
Geiſtes erſcheint jetzt in ungebundener Geſtalt, er ſprengt die Feſſeln, die
einſt ſein Tiefſinn ſich ſelbſt geſchaffen, und tritt in jugendlicher Friſche, durch
einfache Formen der muſikaliſchen Gliederung Freiheit und Klarheit zumal
gewinnend, zu der ganzen ächt maleriſchen Mannigfaltigkeit der Production
heraus, deren er fähig iſt; das goldene Zeitalter, der Frühling der Ton-
kunſt beginnt, die Inſtrumentalmuſik Haydn’s eröffnet ihrem Fluſſe freie
Bahn, auch die Vocalmuſik lernt durch ihn die Sprache der einfachen Ge-
fühle des Herzens, die Muſik kommt in ihm endlich zum klaren Bewußtſein,
daß ſie nicht Syſtem, Wiſſenſchaft, ſondern freie Bewegung, Lyrik iſt, ſie
wird wieder Gefühl und bleibt es, da in Deutſchland der neuitalieniſche
Geſangsformalismus keinen nationalen Boden findet. Aber die deutſche
Muſik iſt doch bereits zu tief und zu vielſeitig entwickelt und in zu ſtarke
Wechſelbeziehung mit Italien und Frankreich getreten, als daß dieſe Epoche
der frei werdenden Empfindung und Phantaſie nicht noch eine zweite höhere
Blüthe deutſcher Kunſt treiben ſollte; in Mozart faßt ſich der Genius
der zum freien Selbſtbewußtſein gelangten Muſik zur Erſcheinung in voller
Schönheit zuſammen; deutſcher Ernſt, der die Form zu achten und die
Formen in ihrer eigenthümlichen Bedeutung für den muſikaliſchen Ausdruck
anzuerkennen weiß, deutſche Wärme des Fühlens, welche in die Form ganz
und voll ſich hineinlegt, nichts Kühles und Froſtiges duldet, Melodie und
Harmonie innerlichſt beſeelt und ſie in vollem, reichem Fluß und Schmelz
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 74
[1144]ausſtrömen läßt, ſchöpferiſche Phantaſie, welche alle Arten des Stimmungs-
ausdrucks in vielſeitigſter Objectivität reproducirt, in jugendlicher Kraft und
Fülle Alles friſch anfaßt und das Tonmaterial in lebendig pulſirende und
ſchwingende Bewegung verſetzt im reinſten Gegenſatz zu der beſonders in
die Oper eingedrungenen formaliſtiſchen Steifigkeit, italieniſch plaſtiſcher
Sinn, welcher die Kraft mäßigt und ſie dadurch am rechten Orte um ſo
erhabener herantreten läßt, welcher die ſprudelnde Raſchheit genialer Bewegt-
heit in ſchönſtem Maaß und Gleichgewichte hält und allmälig den Meiſter
von dem Styl der erſten Periode, in welchem dieſe Bewegtheit culminirt,
zum maaßvoll, charakteriſtiſch ſchönen Styl der zweiten, von dieſem zum ideal-
ſchönen Styl der dritten Periode verklärend hinanführt, italieniſche Anmuth
und Weichheit, franzöſiſche Schärfe, Dramatik, Kunſt zu treffen vereinigen
ſich, um nun auch die freie deutſche Muſik zu einer ihrer Eigenthümlichkeit
und Univerſalität vollkommen entſprechenden claſſiſchen Form zu erheben;
die freie Schönheit iſt für die Muſik überhaupt gewonnen, die beiden Styl-
principien zu lebendigſter und wirkungsvollſter Einheit verſchmolzen, unter
den einzelnen Zweigen beſonders die Oper zu muſtergültiger Geſtalt und
zugleich zu einer ſchönen Mannigfaltigkeit verſchiedener Gattungen aus-
gebildet.
2. Der §. hebt die Wendung ſcharf hervor, welche die Muſik wie der
deutſche Geiſt überhaupt im vorigen Jahrhundert, in der Epoche der frei
werdenden, ebendamit auch zur Genialität ſich erhebenden Subjectivität
nimmt; namentlich Mozart iſt nur zu begreifen aus dieſer Erhebung des
Geiſtes zur Freiheit und zur vollen Bewegung in ihr, auf deren Höhe er
im Figaro angelangt iſt, wie andrerſeits ſpäter wieder eine komiſche Oper
(Cosi fan tutte) mit ihrer ſchon an die Zauberflöte mahnenden harmoniſch-
melodiſchen Weichheit und zartern Gefühlsbewegtheit den Uebergang zu
dieſer und damit den Uebergang von der mittlern Periode (Don Juan)
zur dritten, zum idealſchönen Styl bezeichnet. In der Inſtrumentalmuſik
iſt Mozart am größten in der Symphonie, die von der Haydn’ſchen gerade
ſo weit abſteht, wie das Dramatiſche vom Gemüthlichen; ſie iſt zwar nicht
dramatiſch im Sinn von §. 816, 1. ſie gehört zur höhern lyriſchen Gattung
(ebd.), aber ihre Lyrik hat eine weſentlich dramatiſch bewegte und dramatiſch
contraſtirende Tendenz; bei Haydn iſt die Muſik, die Form, bei Mozart
auch der Genius, die Subjectivität frei geworden und legt die ganze Erregt-
heit und Kraft ihres Selbſtgefühls, ihres reich und ſtark bewegten Lebens
und Empfindens in ihre Inſtrumentalwerke nieder. Das Quartett glückt
weniger; es wird Haydn gegenüber auch mehr erwärmt und innerlich belebt,
aber dieſe Erwärmung gelingt nur ausnahmsweiſe in einer dem Charakter
dieſes Zweiges wirklich entſprechenden Form; auch in der Claviermuſik geht
Mozart über die in ihrer Einfachheit Treffendes leiſtende Art Haydn’s
[1145] hinaus und ſucht eine vollere Entfaltung, ohne ſie ſchon recht zu finden;
ſein Genius entwickelt ſich vollkommen doch nur an ſchon vorliegenden
feſten Formen, wie die Oper und die dem Componiſten klarer als Quartett
und Clavier eine beſtimmte Aufgabe vorzeichnende Orcheſtermuſik. Haydn
hat daher vor Mozart vielfach eine einfache und doch farbenreichere, charak-
teriſtiſchere Inſtrumentalcompoſition voraus, er iſt ächt maleriſch, Mozart
dramatiſch plaſtiſch, ohne dieſen Typus ſchon überall befriedigend durchführen
zu können, wozu ihm auch die Zeit nicht gegeben war. So viel, um beiden
Männern gerecht zu ſein; weiteres ließe ſich nur unter Berückſichtigung
der einzelnen Hauptwerke und Hauptperioden der beiden Meiſter näher
erörtern; auch Männer, welche vor und neben Haydn die Epoche des freien
Styls eröffnen und neben ihm und Mozart wirken, E. Bach, ſpäter der
Komiker Dittersdorf u. ſ. w., können nicht ſpeziell beſprochen werden.
§. 830.
Die Epoche des freien Styls iſt mit Haydn und Mozart nicht abgeſchloſſen,
ſondern erſt angefangen, es bleibt ihm neben jenen noch ein weites Gebiet
übrig in der Gefühls- wie in der dramatiſchen Muſik, dieſes Gebiet wird jetzt
ergriffen von den verſchiedenſten Seiten her, und zwar einerſeits unter dem
vorbildlichen Einfluß Mozart’ſcher Fülle und Idealität, andrerſeits mit der in
der Natur des Entwicklungsganges ſelbſt liegenden Tendenz auf concretere Stoffe,
mannigfaltigere und individuellere Stylgeſtaltung, charakteriſtiſchere Tonmalerei,
vielſeitigern und ſtärkern Ausdruck und Effect, als der ſchöne Styl geſtattete; kurz
der indirecte Idealiſmus tritt aus demjenigen Bunde mit dem directen wieder
heraus, den er in Mozart geſchloſſen, er wird wieder das überwiegende Element.
Ein zweiter Genius des freien Geiſtes tritt zunächſt in Beethoven auf, der
die Form nun ganz dem Inhalte und zwar einem ſubjectiven Inhalte dienſtbar
macht; die Muſik wird Darſtellung der Subjectivität, des in ſich vertieften,
auf ſich und ſeine Beziehung zur objectiven Welt reflectirenden, die Anziehung
wie die Abſtoßung des Subjects durch die Objectivität gleich ſtark bis in’s
Innerſte hinein und nach allen Seiten hin fühlenden, in Allem ſeiner ſelbſt
kräftig bewußten und mit gleicher Kraft und phantaſievollſter Reflexion über
die Tonmittel gebietenden, ſie zur Herausſtellung des mächtigen Gefühlsinhalts,
von dem es erfüllt iſt, ächt deutſch in ſtets neuer, ſich ſelbſt nie genügender
Weiſe verwendenden Ichs.
Gleich ſtarkes und nach allen Seiten, um die es ſich in dieſem Gebiete
handeln kann, ſich erſtreckendes innerlichſtes Fühlen ſowohl der Anziehung
als der Abſtoßung zwiſchen Subject und Object iſt das Charakteriſtiſche des
Beethoven’ſchen Genius. Es iſt das volle Herz in ihm, das der Wirk-
74*
[1146]lichkeit freudig, kräftig, mit feuriger Liebe, mit Begeiſterung für alles Große
und Schöne in ihr entgegenſchlägt und bald dieſe Stimmungen, bald auch
die Wirklichkeit ſelbſt, welche ſie hervorgerufen, in Tönen ausſpricht, ſchildert,
malt und feiert (z. B. Paſtoral-, A dur-, heroiſche Symphonie); daſſelbe
Herz hat aber auch die Colliſion zwiſchen Subject und Object ſchmerzlich
empfunden und ſpricht daher auch die Entzweiung des Ichs mit Welt und
Schickſal, jedoch immer mit ſubjectiver Entſchiedenheit und Kraft, aus, ob-
wohl es ſchließlich zur Verſöhnung, zum Triumph über die Wehmuth, zum
reichſten Humor, zur herzensfreudigen Feier des Bruderbundes mit der
Menſchheit, zur dankbaren, alle Mittel aufbietenden, ſolennſten Verherrlichung
der höhern, die große Weltharmonie aufrecht erhaltenden, durch ſie auch
den Einzelnen beglückenden Ordnung der Dinge ſich immer wieder empor-
hebt. Dieſer an ſich großartig mächtige und vielſeitige, ebenſo ſubjectiv in
tiefſtem Ernſt und lebendigſter Ergriffenheit empfundene Gefühlsinhalt ſetzt
die muſikaliſche Phantaſie in eine gleich großartige und ſchwungvolle Be-
wegung, vollere und tiefere Harmonieen treten hervor, Tonkräfte und Klang-
farben ungekannter Art werden lebendig, die Formen wachſen in die Weite
und Breite, Orcheſter und Clavier werden zu Organen für den vollen
Wiederhall des erregten, in ſeine Stimmungen ſich immer tiefer hinein-
arbeitenden, überall unendlich groß fühlenden Gemüthes erhoben, die ganze
Fülle von Tonbewegungen und Toncombinationen, deren die Muſik fähig
iſt, ſcheint offenbar werden zu wollen. Auch des Klaren, Plaſtiſchen, ein-
fach Charakteriſtiſchen, Anmuthigen iſt der an Haydn und Mozart heran-
gebildete Genius Herr und weiß es anzuwenden, es bewahrt ihn davor,
die Grenzen der muſikaliſchen Darſtellung und die Geſetze der Deutlichkeit
ſowie der Anſchaulichkeit des Fortgangs öfter zu überſchreiten, die Claſſicität
geht nicht verloren. Aber als beherrſchendes Geſetz wird ſie allerdings nicht
feſtgehalten, der Inhalt iſt für die Formen oft zu reich oder zu tief oder
zu verwickelt, die Formen werden nicht blos geſtreckt, ſondern auch geſprengt
(wie in der letzten Symphonie), die Muſik iſt an der äußerſten Grenze
angekommen, der ſubjectiven Genialität Eingang in ſie verſtattet, obwohl
dieſe hier eine durchaus gehaltvolle und daher insbeſondere zur Darſtellung
ethiſcher Empfindungen in ihrer ganzen heiligen Tiefe und Innigkeit beru-
fene, den Menſchen und den Künſtler in ſonſt nie geſehener Gleichheit der
Achtungs- und Sympathiewürdigkeit darſtellende Subjectivität bleibt.
§. 831.
Die übrige nachmozartiſche Entwicklung tritt nicht in ſo ausgeſprochener
Weiſe auf die Seite des indirecten Idealiſmus, wie die beethoven’ſche Muſik.
Die italieniſche Oper, nachdem ſie in Cimaroſa Mozart einen in der Komik
[1147] nahezu ebenbürtigen Zeitgenoſſen zur Seite geſtellt, erhebt ſich in Cherubini
und Spontini, an Gluck anknüpfend, zu tieferem Ausdruck, zu heroiſcher
Kraft, zu energiſcher und glänzender Totalwirkung; Roſſini bereichert das
italieniſch melodiſche Element mit den Tonmitteln der deutſchen Muſik, zieht
aber die Oper zur Einſeitigkeit des Melodiereizes, der Geſangsanmuth und
Geſangsvirtuoſität, des äußern Effects wieder herab. Eine höhere Richtung
nimmt die Muſik bei den deutſchen Romantikern; am kräftigſten und
geiſtreichſten geſtaltet ſich dieſe Romantik bei Schubert, weicher, aber aus-
drucksvoll, gefühl-, formen- und farbenreich, poetiſch, obwohl auch zu viel
ſchimmernd und glänzend, bei Weber. Eine überaus regſame Production in
allen Zweigen des freien Styls bereichert auch neben jenen Hauptrichtungen die
Muſik mit Werken, die mehr oder weniger Einen Zug mit dieſen und unter
einander gemein haben, die Modernität, d. h. die mit Stoff und Form
abſolut frei waltende Subjectivität; eine Ausnahme hievon tritt da ein, wo
das ältere lyriſch melodiſche Element theils, wie bei Spohr, zum Subjectiv-
elegiſchen ſich fortbildet, theils die Liedcompoſition aus ſich hervortreibt,
indem in dieſer freien Gattung das neunzehente Jahrhundert eine hohe Stufe
der Vollendung erreicht.
Die Gefahr der modernen Muſik iſt dieß, daß ſie eine abſolut freie
iſt; ſie iſt durch keine Typen mehr gebunden; die Naivität Haydn’ſcher Ge-
müthlichkeit, die Mozart’ſche Objectivität künſtleriſchen Schaffens, die in
natürlichem Drange und mit der wonnigen Freude ſteten Gelingens die
gegebenen Formen mit einem Inhalte füllt, welcher erwärmen, Wirkung
thun, zeigen ſoll, was die Muſik vermag, die Objectivität, in der ſelbſt
Beethoven iſt, weil in ihm der Menſch den Muſiker zur Aeußerung treibt,
dieß Alles iſt mit dem freien Standpunct des modernen Bewußtſeins über-
wunden, die Muſik iſt mehr Phantaſie- als Empfindungsthätigkeit, daher
in ihr das Urſprüngliche und Urkräftige des unmittelbaren Hervorquellens
aus Gefühl, Gemüth und Charakter zurückweicht, am wenigſten bei Schubert,
deſſen Romantik z. B. in der Symphonie durch poetiſche Gedanken- und
Farbenfülle anſpricht und ihrer blumenreichen Mannigfaltigkeit ungeachtet
das entſchiedene Gepräge eines kräftig in die Tonwelt hineingreifenden, ächt
muſikaliſchen Charakters an ſich trägt; überhaupt iſt gerade die Romantik
diejenige Form der Modernität, die trotz ihrer über dem Inhalte ſtehenden
Subjectivität doch eine Ausfüllung des Lebens mit Poeſie und poetiſchem
Klange wirklich ſucht und ſo aus der Unmittelbarkeit nicht ganz heraus
iſt, — daher die hohe Bedeutung, welche außer Werken von Marſchner,
Schumann namentlich die Weber’ſche Oper durch ihre Poeſie des Tones
und ihre Verwendung der muſikaliſchen Mittel zu weich und hell wieder-
klingendem Gefühlsausdruck ſtets behaupten wird trotz der im §. hervorge-
[1148] hobenen, auch der romantiſchen Poeſie nur mit wenigen großen Ausnahmen
anhängenden Mängel. Die Modernität iſt an ſich nicht zu verwerfen,
ſie iſt eine Form der Muſik, welche deren Entwicklungsgang mit ſich bringt,
ſie findet ſich auch bei Beethoven in Werken, in welchen der Gefühlsinhalt
ſich weniger hervordrängt, ſie hat ihre Berechtigung in der ſtoffbeherrſchenden,
ſelbſtbewußt auftretenden Freiheit des muſikaliſchen Gedankens, Ausdrucks,
und Effects; aber daß hier die Gefahr des Effectmachens, des Brillanten,
des Inhaltsloſen u. ſ. w. nahe liegt, und daß dieſe Modernität nur ein
Durchgangspunct iſt, daß ſie eine Sättigung mit concreterem Gefühlsinhalt
fordert, iſt klar, da die Muſik Kunſt der empfindenden Phantaſie iſt. Eben-
darum kann ſie auch nicht das ganze Gebiet der Muſik beherrſchen; es
bleibt neben dem abſolut Modernen die Sphäre einfach melodiſcher Lyrik
namentlich durch die ſchön erblühende Liedcompoſition vertreten, in welcher
nicht blos durch Opern-, ſondern durch eine zahlreiche Reihe von Geſangs-
componiſten auch in dieſer Epoche noch eine reiche Fülle ächter und ächt-
deutſcher Muſik zu Tage gefördert wird; die Blüthe der claſſiſchen deutſchen
Poeſie wirkt auch auf die Muſik anregend und ruft die ſchönen Ton-
dichtungen eines Reichardt, Zelter, Schubert u. ſ. w. hervor, das
Volkslied wird beſonders durch Silcher wieder erweckt und die Gattung
des volksthümlichen Kunſtliedes von ihm mit ſchönen Productionen leicht-
anmuthiger wie ernſterer und tieferer Art bereichert, und auch der ſeit Nägeli
aufblühende Männergeſang zeigt, daß die moderne Kunſtmuſik, obwohl ſie
auch in dieſen eindringt, für ſich allein dem Bewußtſein der Zeit nicht
genügt.
§. 832.
Während die Muſik bei Meyerbeer in der Oper den Gipfel der Mo-
dernität erreicht, erlebt ſie in Mendelsſohn eine Nachblüthe, in welcher ſie
ſich der einſeitigen Modernität zu begeben, ſich mit reinem Gefühlsausdruck
und tiefem Gehalt wieder zu erfüllen, durch ſtrengere Formen feſtere Haltung
und objectivere Gedankenentwicklung neu zu gewinnen ſtrebt. Ein Gefühl, daß
die Muſik der Gegenwart in die gefährliche Bahn eines mit den Tonmitteln
willkürlich waltenden hohlen Subjectivismus gerathen ſei, macht ſich deßunge-
achtet in immer beſtimmterer Weiſe geltend und drängt Wagner zu dem
Verſuche, eine dramatiſche Muſik zu begründen, welche ſich der Poeſie als bloßes
Mittel zum Ausdruck ihres Inhaltes unterordnen, ſomit auf ſelbſtändige Ent-
wicklung der muſikaliſchen Kunſtformen verzichten ſoll. Daß die Muſik eine
derartige Rückkehr zum antiken Standpunct vollziehen und damit den Kreislauf
ihrer Entwicklung beendigen werde, iſt nicht anzunehmen, ein Fortſchritt der
Oper aber allerdings nur von neuen, der empfindenden Phantaſie ſich darbie-
tenden objectiven gehaltvollen Stoffen zu erwarten.
[1149]
So reich und erhebend der Entwicklungsgang der Muſik bis zur erſten
Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts iſt, ſo unbefriedigend, ja beun-
ruhigend iſt der Blick auf ihre letzte, jetzige Periode, die Kunſt der Sub-
jectivität ſcheint eben durch dieſen ihren ſubjectiven Charakter ihrer Selbſt-
auflöſung entgegengetrieben zu werden. Meyerbeer bezeichnet zwar in
der Oper einen Fortſchritt, indem er durch umfaſſenden und energiſchen
Gebrauch der dramatiſchen Mittel an die Stelle romantiſcher Weichheit und
italieniſcher Anmuth einen kräftigern Ausdruck, eine ſchärfere Charakteriſtik
des Einzelnen ſetzt, aber die plaſtiſche Klarheit und Schönheit der Muſik
kann neben der theatraliſchen Breite und Ueberfülle der großen Oper nicht
beſtehen, und an den Stoffen zeigt es ſich, daß die muſikaliſche Dichtung
des Charakters, die Muſik des tiefern Gehalts verluſtig gegangen, daß ſie
eine ſubjective Technik geworden iſt, welche nicht mehr durch empfindende
Phantaſie zu einem für die Muſik ſpezifiſch geeigneten Inhalte hingetrieben,
ſondern durch einſeitige Rückſicht auf die dramatiſche Wirkung zur Wahl
ihrer Süjet’s beſtimmt wird. Daß es ſo nicht fortgehen kann, oder auch,
daß ſo in’s Unendliche fortgemacht werden könnte, ohne daß damit für die
Muſik etwas Höheres wiedergewonnen wäre, dieſes Gefühl haben vor Allem
die Meyerbecr’ſchen Opern hervorgerufen, da ſie trotz der eminenten Be-
fähigung des Componiſten zum Muſikdrama der muſikaliſchen Empfindung
theils zu viel, theils zu wenig bieten, zu viel durch die Stoffmaſſe und den
äußern Glanz und Effect piquanter Situationen, zu wenig durch den
Mangel des poetiſchen Hauchs der Idealität und der Gefühlswärme, der
das Kunſtwerk durchwehen ſoll, ſowie durch das Gemachte, Geſchraubte,
das aus der Textdichtung ſo vielfach heraustritt. Anders hat für die Muſik
Mendelsſohn gewirkt; bei ihm iſt vor Allem edler Geſchmack, in ihm
tritt die Phantaſie auf als gebildet empfindende Phantaſie, es
iſt wieder Form und Gehalt, es iſt das Streben des wahrhaft gebildeten
Geiſtes da nach Beidem, die Muſik bekommt ideale Klarheit, Gedanken,
Gefühl, gediegene Compoſition, die freie Subjectivität verſenkt ſich in die
objectiven Formen, damit die Muſik wieder Kunſt werde, die ſcharfe Spitze
der Modernität biegt ſich um und erweicht ſich, die Tonkunſt wird wieder
Selbſtzweck, der Geiſt lebt und webt in ihr, taucht in ihre Fülle unter, um
Schätze zu heben, welche ältere verwandte Meiſter noch zurückgelaſſen; eine
neue Blüthe reiner, warmer und dabei fein poetiſcher Muſik ſcheint mitten
in einem durch Reflexion zerklüfteten, großartiger Production unfähigen
Zeitalter zu entſtehen, und auch an kräftiger Charakteriſtik, an geſundfroher
Friſche fehlt es den hervorſtechenden unter den Compoſitionen des Meiſters
nicht. Allein die Erſcheinung bleibt vereinzelt, und auch die andere Seite
der gebildet empfindenden Phantaſie macht ſich bemerklich, der Mangel an
durchgreifender Kraft, an einfacher Männlichkeit und ebendamit auch an der
[1150] vollen Lebenswärme, an Natur, die ſich gibt, es iſt zu viel Kunſtmuſik, es
ſind ſchöne Bilder, welche die Perſönlichkeit ihres Urhebers wohl überall
abſpiegeln, in welchen aber doch nicht ein ausgeprägter Charakter mit der
Wucht oder mit der Lebendigkeit unmittelbarer Empfindung activ, durch-
ſchlagend auftritt, es iſt mehr gebildete Reproduction als geniale Production;
das Modernitätsprinzip bleibt eben damit, daß der Componiſt dieſe zurück-
haltende Stellung des gebildeten Künſtlers einnimmt, doch wieder ſtehen,
und die Vorliebe für das Weiche und Romantiſche, das allerdings mit
ſchöner neuer Erfindung behandelt wird, zeigt, daß ein ſubſtantiellerer Ge-
halt auch hier jenem Modernitätsprinzip nicht gegenübergetreten iſt. Wirklich
befreit wird alſo auch hier die Muſik nicht von dem Extrem der Subjectivität,
auf das ſie durch die ganze Entwicklung hinausgedrängt iſt, und die Frage,
was werden ſoll, wird nur immer ſchwieriger, da die verſtändige Reflexion
mehr und mehr allgemeiner Zeitcharakter wird und auf die Naivität des
muſikaliſchen, namentlich melodiſchen Schaffens immer zerſetzender einwirkt.
Hieraus geht endlich in einfacher Conſequenz die ſchon in Früherem mehr-
fach beſprochene Richtung Wagner’s hervor. Die Muſik ſoll Mittel des
Ausdrucks werden, ſtatt ſich ſelbſtändig hinſtellen zu wollen und durch dieſe
Selbſtändigkeit Halt und Gehalt zu verlieren; in dieſem Poſtulat iſt das
Wahre enthalten, daß die Muſik wieder objectiven Inhalt bekommen ſoll,
und es iſt mit ihm doch zugleich die Reflexion an die Stelle der nun einmal
ſelbſt bei Mendelsſohn nicht mehr ſchöpferiſch wirkenden Phantaſie geſetzt;
die Modernität bekennt, daß ſie inhaltslos war und Inhalt ſuchen muß,
und ſie ſchwingt ſich zugleich nun erſt zur ganzen Abſolutheit empor, ſie
beſeitigt die Formen, durch welche die Muſik ſelbſtändige Kunſt wird, ſie
nimmt der Muſik ihre durch dieſe Formen bedingte Ausbreitung zu eigener
Geſtaltung und damit ihr Phantaſieelement, der künſtleriſche Verſtand wird
von ſeiner Gebundenheit an die Phantaſie frei gemacht, der muſikaliſche Satz
in eine Erfindung gefühlvoll vorgetragener Rede, in eine Melodiſirung und
Rhythmiſirung des Sprechens umgewandelt, bei welcher der Componiſt volle
Freiheit hat; denn dieſe Art von Compoſition, weil ſie nicht mehr auf die
Ausgeſtaltung einer beſtimmten Form, z. B. einer ein Ganzes von Worten
und Sätzen umſpannenden Melodie ausgeht, hat ſo ſehr nur mit dem
Einzelnſten, bei welchem alle Möglichkeit einer objectiven Beſtimmung für
die rechte und beſte Art des Ausdrucks ausgeht, ſo ſehr nur mit einer Maſſe
vereinzelter, zu keinem Ganzen zuſammenrückender melodiöſer Wendungen,
Hebungen, Accente u. ſ. f. zu thun, daß nun über die Compoſition nicht
mehr die Muſik, ſondern der Muſiker entſcheidet und auch wenn die Ent-
ſcheidung erfolgt iſt, das Ganze ein rein ſubjectives Werk bleibt, da mit
dem Wegfallen der beſtimmten muſikaliſchen Formen Alles zufällig geworden
iſt. Es iſt zu wünſchen, daß aus dieſer Richtung, welche es mit der Muſik
[1151] doch ernſt nimmt und durch die Verlegung einer ausdrucksreichern Färbung
in die begleitende Inſtrumentalmuſik Dasjenige, was ſie der Melodie nimmt,
auf anderer Seite ſelbſt wieder erſetzen zu müſſen zugibt, ein muſikbegleitetes
lyriſches Drama, eine Mittelgattung zwiſchen Oper und Schauſpiel (§. 802),
die aber doch mehr Melodieentfaltung haben müßte, dem Oratorium ver-
wandt, ſich entwickle; für die Oper aber, wie für die nicht blos begleitende
Muſik überhaupt, iſt zu hoffen, daß ihr mit neuen Stoffen, welche neue
Entwicklungen bringen werden, auch wieder eine Aera der Productivität
bevorſtehe, in welcher ein großartiger Inhalt, wie ihn bisher vorzugsweiſe
die franzöſiſche Oper in ihrer Weiſe hatte, auch auf deutſchem Boden in
wahrhaft muſikaliſcher, die beiden Stylprinzipien mit Kraft, Fülle und
Klarheit unter ſich neu verſchmelzender Geſtaltung erſcheinen wird.
[[1152]]
Anhang.
Die Tanzkunſt.
§. 833.
Mit der Gymnaſtik als einer lebendigen Sculptur (vergl. §. 647, 2.)
verbindet ſich die Muſik, indem ſie den Rhythmus des Tons und das in ihm
ſich entfaltende Gefühl in der Bewegung der menſchlichen Geſtalt verkörpert;
die alſo in das Sichtbare übergetragene Muſik oder muſikaliſch belebte, rhyth-
miſche Plaſtik iſt die Tanzkunſt oder Orcheſtik. Sie ſteht der ſelbſtändigen
Schönheit näher, als die Gymnaſtik, denn ſie iſt mehr zur reinen Darſtellung,
mehr zur Entwicklung der Schönheit beſtimmt und ungleich reicher im Ausdruck.
Dieſer erweitert ſich weſentlich, indem aus der orcheſtiſchen Geſammtbewegung
nicht blos der künſtlichere und ausdrucksvollere Tanz Einzelner, ſondern beſtimmter
die muſikaliſch geregelte Mimik, die Pantomime, heraustritt, und eine Hand-
2.lung darſtellt. In der Geſchichte der Orcheſtik macht ſich der Gegenſatz der
Style durch eine mehr darſtellende, objective und eine mehr auf geſelligen Genuß
und engeren, ſubjectiven Ausdruck beſchränkte Form des Tanzes geltend.
1. Die Tanzkunſt drückt das äſthetiſche Bewegungsleben des Tons zu-
nächſt in der horizontalen Richtung des Raumes aus, die Muſik wird zu
einer projicirten Figuration der Linie. Hierin hängt ſie mit den gymnaſti-
ſchen Maſſenbewegungen, den Evolutionen zuſammen, die bereits muſikaliſche
Begleitung fordern und ſo in die Orcheſtik herübergehen (vergl. Anm. 2. zu
§. 647). Die neuere Gymnaſtik verbindet gern mit ihren Uebungen Attitüden
des Einzelnen, die zwar auf Ausbildung der Kraft und Gewandtheit berech-
net ſind, aber doch zugleich ein äſthetiſches dramatiſches Bild ergeben;
dieß weist beſtimmter auf die Tanzkunſt hinüber; einen wirklichen Ueber-
gang in dieſe nahm die griechiſche Gymnaſtik durch eine Verbindung mit
rhythmiſch gemeſſenem Scheinkampfe, durch den Schwerttanz, der bei ſo
vielen Völkern vorkommt und wohl eine der urſprünglichſten Formen des
Tanzes iſt. Der andere Hauptpunct des Uebergangs iſt das Spiel (Ball-
ſpiel u. dgl.), das gemeſſene Ordnungen mit Begleitung von Geſang und
[1153] Muſik ganz naturgemäß annimmt. — Die Figuration der horizontalen Linie
iſt nur die eine, abſtracte Seite des Tanzes, die poſitive, concrete die Be-
wegung, wie ſie ſich während der Ortsveränderung und eben in deren
verſchiedener Qualität über die ganze Geſtalt nach allen Richtungen ver-
breitet. Die phyſiologiſche Wirkung, vermöge welcher die Muſik in die
Nerven, die Glieder und ſo in unwillkührliche Bewegung übergeht, wird
zum Gegenſtande der Kunſtthätigkeit und die Bewegung ſo zu einer gemeſſenen
und geordneten Ausſtrahlung des idealen Gefühlspuncts der Seelen-
Erregung in das Sichtbare, in den Raum. Hier iſt nun eine doppelte
Seite zu unterſcheiden: die Schönheit der Bewegungen ohne beſtimmtere
Beziehung auf einen Inhalt, der zum Ausdruck kommen ſoll; wie ja in
der Muſik ſelbſt, auch abgeſehen davon, daß das Innerliche, was ſie aus-
drückt, in gewiſſem Sinn immer unbeſtimmt bleibt, ein formellerer Genuß
des Schwebens und Wiegens in den Wellen der Töne von der gleichzei-
tigen tieferen Bewegung der Seele zu unterſcheiden iſt. Neben dem Spiele
der Füße, des Rumpfes iſt das der Arme und Hände (die im modernen
Ballet-Tanz ſo elend unthätig ſind), das Neigen und Beugen des Kopfes
weſentlich: „ſie rührt ſich, die Cymbeln zum Tanze zu ſchlagen, ſie weiß
ſich ſo lieblich im Kreiſe zu tragen, ſie neigt ſich und biegt ſich und reicht
ihm den Strauß“. Die plaſtiſche Schönheit der menſchlichen Geſtalt wird
zu lebendiger Muſik, die Muſik wird plaſtiſche Schönheit. Die Anmuth,
die Welle des Runden und Weichen als Ausdruck der fließenden, rinnenden
Natur des Tons iſt ſo ſehr Grundbeſtimmung, daß ſie auch die Gegenſätze
des Schönen, wie ſie in jeder leidenſchaftlich ſtarken, in der männlichen
Bewegung gegenüber der weiblichen, und im Grotesk-Tanz hervortreten,
beherrſchen und mildern muß. Zu der Bewegung des übrigen Körpers
kommt nun als beſtimmterer Seelen-Ausdruck noch weſentlich die Mitwir-
kung der Geſichtszüge. Dieß Moment führt uns dann unmittelbar zu der
nähern Aufgabe der Tanzkunſt: nämlich den ſpezifiſchen Inhalt, die quali-
tative Stimmung der Muſik in der Aufeinanderfolge der Bewegungen aus-
zudrücken. Wie beſchaffen ſolcher Inhalt ſei, läßt ſich nicht näher beſtimmen,
ehe man auf den großen Unterſchied des antiken und des modernen Tanzes
eingeht; was aber das Verhältniß zu der Muſik betrifft, ſo iſt klar, daß der
Tanz weniger und daß er mehr ſagt, als ſie. Weniger: denn in der Dar-
ſtellung für das Auge durch die Bewegung geht verloren jene Unendlichkeit
in der Muſik, die in irgend ein Gefühl die ganze Gefühlswelt legt und
ebendaher durch kein anderes Ausdrucksmittel zu erſchöpfen iſt; mehr, denn
das Unbeſtimmte wird beſtimmt, wie denn z. B. trauriger, ängſtlicher,
banger, heftiger, beſchleunigter, heiterer Ton als traurende, fürchtende,
zürnende, verſöhnte und glückliche Liebe zur Erſcheinung kommt. Es treten
nun aber hier verſchiedene Stufen der Beſtimmtheit des Ausdrucks ein,
[1154] welche ſich an ein weſentliches Unterſcheidungsmoment im Tanze knüpfen,
nämlich an das Auseinandertreten des Allgemeinen und Beſondern. Aus
der Bewegung größerer Maſſen treten Mehrere, tritt ein Paar, tritt endlich
eine einzelne Perſon hervor und ſtellt das Gefühl, das die Muſik andeutet,
beſtimmter dar, zunächſt durch reinen Tanz, der nur ſubjectiv bewegter,
mannigfaltiger, kunſtreicher iſt, als der Maſſentanz, welcher ſtets mehr
bloße Evolution bleibt, wobei aber ja nicht an die Kunſtſtücke des modernen
Ballets zu denken iſt. Von da nun geſchieht ein weiterer Schritt: die
Tänzer und Tänzerinnen, die aus der orcheſtiſchen Geſammtbewegung heraus-
treten, gehen in die Pantomime über und ſtellen durch ſie nun deutlicher
und ausgeprägter, als der reine Tanz es kann, eine Handlung dar.
Hier iſt zunächſt wohl zu unterſcheiden: es iſt nicht die Rede von der
freieren Pantomime ohne Muſik, wie ſie in den Harlekinaden der Italiener
auftritt, auch nicht von der muſikaliſch begleiteten des modernen Ballets;
die erſtere führt hinüber zur eigentlichen Mimik, iſt eine Lostrennung der
Action von der Declamation, und auch die zweite ſteht dem eigentlichen
Tanze, obwohl mit ihm äußerlich verbunden, bereits zu fern. Es gibt eine
Darſtellung von Handlung durch bloße Gebärden, in welcher das Spiel
derſelben einer gemeſſenen Reglung durch die Muſik unterliegt, ſo daß zwar
einige Freiheit, vor Allem die Intenſität des Ausdrucks dem Tänzer über-
laſſen iſt, aber doch die Hauptſtellungen, Bewegungen, Ortsveränderungen
vorgeſchrieben, feſt formulirt ſind. Ein Bild kann man ſich machen an
den Formen der katholiſchen Meſſe, welche der Reſt eines urſprünglichen
liturgiſch dramatiſchen Tanzes iſt; hier wurde das Begräbniß, die Auf-
ſuchung des Leichnams durch die Frauen, die Auferſtehung durch vorgeſchrie-
bene Gänge nach beſtimmten Theilen der Kirche, Stellungen, Bewegungen
dargeſtellt, wovon jetzt nur noch ein abgekürztes Hin- und Wiedergehen,
Verneigen u. ſ. w. am Altar übrig geblieben iſt. — Die Alten gingen,
allerdings erſt in der ſpäteren römiſchen Zeit, in der Ausbildung der Pan-
tomime bis dahin, daß Ein Tänzer die andern Perſonen und weiteren
Objecte, die ſich der Zuſchauer vorzuſtellen hatte, mimiſch anzeigte, ja mit
rapidem Wechſel der Maske, Kleidung und des Standortes alle Perſonen
einer Handlung tanzte, und ſie bewunderten darin noch mehr die pſychiſche
Fülle, Kraft und Einſicht, als die ſomatiſche Geſchicklichkeit (Lucian vom
Tanz c. 66). Ein Zuſammenwirken mehrerer pantomimiſcher Tänzer wird
natürlich dadurch nicht ausgeſchloſſen und bleibt vom Standpuncte des
darzuſtellenden Inhalts das Natürlichere. Die höchſte Fähigkeit, jeden
reichſten Inhalt darzuſtellen, wird nun erreicht, wenn die Pantomime nicht
blos von der Muſik, ſondern auch vom Geſange, deſſen Text den Inhalt
der Handlung wie im Drama ausſpricht, ſich begleiten läßt. Bei den
Alten that dieß urſprünglich der Tänzer ſelbſt, nachher trennten ſich die
[1155] Rollen und der Textgeſang wurde von Andern übernommen. Der Tanz
mit der Muſik tritt hier in die Stellung, welche dieſe für ſich in ihrer
Anlehnung an die Poeſie als Geſang gewinnt: der Umfang deſſen, was
ausgedrückt werden kann, dehnt ſich weit über das urſprüngliche Maaß,
die Welt der Leidenſchaften kann unendlich mannigfaltiger und tiefer erſchöpft
werden und zugleich mit ihr die Sphären, wie ſie ſich nach den Grund-
gegenſätzen des Schönen theilen, namentlich das Komiſche, was bei den
Alten zu einer höchſt ausgebildeten Gebärden-Satyre ſich ſteigerte. Mit dieſer
zur vollen, deutlichen Handlung zuſammengefaßten mimiſchen Orcheſtik wirkt
nun wieder das Geſammtſpiel des Chors zuſammen, der auf der Stufe der
einfacheren Tanzbewegung bleibt und mit ihren weniger ſpezialiſirten Mitteln
den pantomimiſchen Acteur wie ein Echo begleitet.
Blickt man auf die Gymnaſtik zurück, ſo erhellt, daß die Orcheſtik dem
rein Aeſthetiſchen näher liegt. Jene iſt weſentlich praktiſches, pädagogiſches,
politiſches Mittel und wird, wo ſie nicht käuflich ihre Künſte zeigt, nur
aus beſtimmten, feſtlichen Anläſſen der bloßen Darſtellung wegen ausgeübt,
ſie ſieht auf Schönheit und befördert ſie, aber mehr auf Ausbildung der
Kraft, und Ausdruck von Seelen-Leben iſt gar nicht ihre Abſicht, ſondern
ergibt ſich, und zwar in ſehr beſchränkter Weiſe, nur von ſelbſt bei der
Kraftübung. Bei der Orcheſtik verhält ſich dieß Alles umgekeht. Sie iſt
wohl auch pädagogiſches Mittel und gehört nach dieſer Seite zur Gymnaſtik
als ihr feinerer Theil, aber ſie eilt doch viel directer dem zweckloſen Zwecke
der ſchönen Darſtellung zu, in welcher das erhabene Bild der Kraft nur
ein Moment iſt; ſie ſieht es neben der reinen Darſtellung auch auf geſelligen
Genuß ab, in dieſem bildet aber neben der heilſamen Emotion der Säfte
und Nerven und der Erheiterung, die in den Anziehungen der Geſchlechter
liegt, eben das Zeigen und Schauen, alſo wieder das objective Bild ein
Hauptmoment. Uebrigens werden wir finden, wie hierin das Alterthum
und die neuere Zeit ſich unterſcheidet. Die Schattenſeite der Tanzkunſt
liegt darin, daß ſie eben um ſo viel, als ſie äſthetiſcher iſt, auch Gefahr
läuft, durch ihre Verwendung lebendigen Naturſtoffes zu einem Syſtem
anmuthvoller Bewegungen ſich zu pathologiſchen Reizen verführen zu laſſen;
was denn auch von jeher geſchehen iſt. Mit gutem Recht iſt ein Haupt-
thema einer Kunſt der ſchönen Bewegung die Liebe der Geſchlechter, aber
der Uebergang von dem Bilde der Luſt, das in allem Feuer rein bleibt,
zum gemeinen und ſtoffartigen Kitzel liegt nahe und ſchon die Griechen hatten
ihren Cancan, das pantomimiſche Theater der Römer ſo üppige und üppigere
Darſtellungen, als die orientaliſche Tanzbühne noch heute ſie aufweist.
Dem Tanze ſelbſt um dieſer Verirrung willen zu zürnen muß man aber
denen überlaſſen, die nur eine häßliche Sinnlichkeit kennen.
[1156]
2. Der geſchichtliche Gegenſatz der Style wendet ſich in dieſem Gebiet
anders, als in den bildenden Künſten und in der Poeſie. Dort iſt der
claſſiſche Styl einfacher, uncolorirter, hier dagegen unendlich mannigfaltiger,
reicher, bunter, als der moderne. Von der Höhe, dem Umfang der Tanz-
kunſt bei den Alten können wir uns nur ſchwer ein annäherendes Bild
machen. Damit ſcheint es in Widerſpruch zu ſtehen, wenn der antike Tanz
als weſentlich objectiv im Gegenſatze gegen den modernen bezeichnet werden
muß, denn die reichere Farbe und Fülle jener andern Künſte im Style der
neueren Zeit hat ja gerade in der vertieften und erweiterten Subjectivität
ihren inneren Grund. Die Sache verhält ſich aber hier ſo, daß gerade
die weniger entwickelte und in ſich gegangene Subjectivität in ungleich
weiterer Ausdehnung es wagen wird, das Leben durch ſtumme Bewegung
darzuſtellen, weil ſie eben ein Leben vor ſich hat, wo alles Innere in die
Geſtalt heraustritt. So iſt denn alſo gerade die urſprüngliche Hauptform
des Tanzes ſtreng objectiv: es iſt der Tanz in ſeiner religiöſen monumen-
talen Bedeutung als weſentlicher Theil des Cultus. Hier werden Thaten
und Leiden der Gottheit durch jene muſikaliſch geregelte Pantomime darge-
ſtellt, die aus der rhythmiſchen Maſſenbewegung des Chors heraustritt.
Vom Gottesdienſte begibt ſich die Orcheſtik auf die Bühne, aus dem Panto-
mimen wird der Schauſpieler, der Chor und ſeine orcheſtiſche Bewegung
bleibt. Und ſo herrſcht in allem Tanz, auch dem Feſttanze, der nicht zur
Bühne gehört, zunächſt das Gemeinſchaftliche, die Geſammtbewegung von
Maſſen, was an ſich ſchon objectiven Charakter trägt. Hiezu kommt nun
aber der reiche Inhalt deſſen, was hier zur Darſtellung kam: Weinleſe,
ländliche Geſchäfte verſchiedener Art, kriegeriſcher Kampf, ſtreng Objectives,
wie das Labyrinth von Kreta, menſchliches Thun und Leiden aus dem
reichen Gebiete der Sage. In ſeiner höchſten Ausbildung ſchafft ſich der
Tanz ſeine beſondere Bühne, die ganze Mythologie, ein Stoff, der an
orcheſtiſchen Motiven unendlich reich war und um den unſere Balletmeiſter
die Alten beneiden müſſen, wird durchgeſpielt, ja man tanzt Begriffe, wie
die Freiheit u. dergl. Neben dem höheren Kunſttanze ſchlingt ſich der ge-
ſellige in reicher Fülle, unendlichen Formen durch das Leben und ſchmückt
namentlich das Mahl. Aber auch dieſer iſt objectiv, nämlich in dem allge-
meineren Sinne, daß er mehr die Darſtellung für die Zuſchauer, als den
unmittelbaren Genuß für die Ausübenden zum Zweck hat. Die Geſchlechter,
die bei Homer noch in den Reigen vereinigt ſind, tanzen ſpäter durchaus
nur getrennt und gerade dieß begründet den mehr darſtellenden Charakter,
denn wo ſie vereinigt tanzen, nehmen ſie die Freude für ſich weg und
fragen wenig danach, wie es ausſieht. So wurde allerdings auch der
geſellige Tanz zum größern Theile Kunſttanz, Tänzer und Tänzerinnen von
Profeſſion tanzten bei Mahlen und andern Beluſtigungen; das Volk aber
[1157] behielt daneben ſeine choriſchen Tänze, die jedoch ebenfalls mehr auf Schau
angelegt waren, als auf bloße Unterhaltung der Tanzenden.
Der moderne Tanz iſt vorherrſchend geſelliger Genuß, hat auf dieſem
Gebiete faſt kein choriſches Element, keine rhythmiſchen Maſſenbewegungen
mehr, vereinigt durchaus die Geſchlechter, legt ſomit den Accent auf das
Vergnügen der Tanzenden, nicht der Zuſchauenden und hat kaum ein Be-
wußtſein, daß er auch in dieſer Behandlung eigentlich etwas darſtellt, und
zwar durchaus Beziehungen der Liebe. Dieß Thema kann an ſich ſubjectiv
genannt werden, und wo es ſo ſehr vorherrſcht, wie im modernen Tanze,
begründet es allein ſchon den Charakter, den dieſes Wort bezeichnet; ſub-
jectiv iſt aber ebenſoſehr das Abſehen vom Darſtellungszwecke, die Beſchrän-
kung der Tanzenden auf ihre Freude in der Ausübung. Die Italiener
haben darin immer noch antiken Sinn bewahrt, daß mehr für die Zuſchauer
getanzt wird, alle romaniſchen Völker darin, daß ſie mehr auf Grazie als
unmittelbaren Genuß ſehen. Unſer geſelliger Tanz iſt ferner an Formen
unendlich arm. Allerdings fehlt es ihm nicht an reichen Modificationen
ſeines herrſchenden erotiſchen Inhalts in den Nationaltänzen, und hier iſt
zunächſt eine Unterſcheidung nachzuholen, die der Tanz mit der Muſik und
Poeſie gemein hat. Temperament und Charakter der Stämme, Völker,
Zonen legt ſich vor allem ausgebildeten Bewußtſein über Sinn, Ausdruck
und Kunſtregel in der gleichzeitig erfundenen Tanzmuſik und Tanzweiſe
nieder. Es gibt alſo im Tanz eine naive Kunſt, wie in Poeſie und
Muſik. Auch die Alten theilten ihre geſelligen Tänze neben andern, auf
Gegenſtand, Anlaß, Tempo gegründeten Unterſcheidungen nach ihrem localen
Urſprung ein, bezeichneten ſie mit Stämme- und Völker-Namen und drückten
damit beſondere Charaktere aus. Die bewußte Kunſt entwickelt ihre Formen
zunächſt aus dieſem naiven Stoffe und ſchreitet dann zur eigentlichen Com-
poſition, endlich bis zur geregelten, dramatiſchen Handlung fort. Unſre
gebildete Geſellſchaft hat, noch nicht für höhere Kunſtdarſtellung, aber für
correcteren geſelligen Genuß verſchiedene Nationaltänze aufgenommen, ja
ſie recrutirt ihr Tanzbedürfniß eigentlich nur aus dieſer Quelle, ſtößt aber
dem entlehnten Stoffe ſeinen Naturton ab, ſtatt ihn zu veredeln, ja ſie
verſtümmelt ihn gern gerade in ſeinen edelſten Theilen, wie denn z. B.
unſer Walzer das Stück eines Tanzes iſt, der zuerſt im Finden, Fliehen,
ſcherzenden Schmollen und Meiden, Verſöhnung den Roman und erſt zuletzt
im längeren Drehen den Jubel der Hochzeit darſtellte; wir tanzen phan-
taſielos dieſe ohne den Roman. Nun fragt es ſich aber, ob wir auch die
höhere Kunſtform, die umfaſſende Compoſition zum reinen Zwecke der Dar-
ſtellung noch haben, und allerdings beſteht ſie in gewiſſer Geſtalt, nämlich
im Ballet. Es theilt ſich in drei Momente: Maſſentanz des Chors,
vereinzelter Tanz der aus ihm heraustretenden Tänzer und Tänzerinnen,
[1158] pantomimiſche Handlung. Die letztere iſt nicht mehr zugleich wirklicher
Tanz, wie bei den Alten; zwar wird ſie von der Muſik begleitet, aber
nicht zu eigentlich orcheſtiſcher Beſtimmtheit mit jenem geringeren Spielraum
des freien Theils der Bewegungen geregelt, wie bei den Alten. Der Kunſt-
tanz der heraustretenden Tänzer und Tänzerinnen iſt, wo nicht National-
tänze, wie die ſpaniſchen, ſlaviſchen, von ihnen ausgeführt werden, faſt
ausdrucklos und zum widerlichen Kunſtſtück herabgeſunken, welches das
Schwere mit dem Schönen verwechſelt; dieß führt nothwendig zum Schweren
auf Koſten des Schönen, zur häßlichen Verrenkung, und für die Beleidigung
der Anmuth entſchädigt der Kitzel der Entblößungen, den der Reiz des Ver-
botenen in einer Welt ſtrenger Dezenzbegriffe verdoppelt: ein Zuſtand, den
die Aeſthetik der Sittenpolizei anheimzugeben hat. Am meiſten Schönheit
iſt noch in den Chortänzen unſeres Ballets. Es wäre Zeit, daß aus
dieſen Reſten ein neuer, edlerer, theatraliſcher Kunſttanz entwickelt würde.
Berichtigung.
Seite 786 Zeile 3 von unten lies: „lebendige Mitte“ ſtatt lebendige Mutter.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Vischer, Friedrich Theodor. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpvd.0